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PRESENTED
The
University of
1
Toronto
The University of Strassburg,
GERM AN Y.
JANUARY IOth, 1891
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ARTEMIS
a.'jis dem. ::o..ä.tLü o
PRAXITELES
UND
DIE NIOBEGRUPPE
NEBST
ERKLÄRUNG EINIGER VASENBILDER.
VON
D« K. FRIEDERICHS.
k
^^
LEIPZIG.
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER.
1855.
cj^i?^af
SEINEM HOCHVEREHRTEN LEHRER
HERRN
PROFESSOR EDUARD GERHARD
zu BERLIN
LN HERZLICHER LIEBE ITiD DANKBARKEIT
GEWIDMET.
PRAXITELES.
Vielleicht ist es der richtige Weg, einer umfassenden
Geschichte der griechischen Kunst, die uns noch immer
fehlt, durch Monographien über die einzelnen Künstler vor-
zuarbeiten. Ich versuche hier, das Bild eines Künstlers
zu entwerfen, über dessen Verdienste das Urtheil schwan-
kender ist, als bei irgend einem Andern. Haben Winckel-
mann und Visconti den Praxiteles unter die Sterne erster
Grösse gerechnet, so ist neuerdings sein Wcrth so sehr
herabgedrückt, dass er im strengsten Sinn nicht einmal als
Künstler mehr gelten darf. Diese letztere Ansicht ist um
so bemerkenswerther, weil sie gestützt auf eine grössere
Menge schriftstellerischer Zeugnisse den Schein der Urkund-
lichkeit vor jenen voraus hat. Ich sage den Schein, weil
ich durch eine eingehende Betrachtung dieser Nachrichten
und durch Hinzufügung einiger neuen den Beweis versuche,
dass das Lob jener Männer ein in jeder Hinsicht begrün-
detes ist, ja eher einer Steigerung als Schmälerung bedarf.
Zugleich möchte meine Abhandlung für die griechischen
Bildner eine ähnliche Behandlung versuchen, wie wir sie
bereits besitzen für die griechischen Dichter. Die Berech-
tigung derselben wird Niemand bestreiten, aber auch die "
Möglichkeit ist nicht so ganz abzuweisen. Was sich aus
Fragmenten, aus blossen Citaten machen lässt, wissen wir
in Betreff der Dichter ; für die Meister der bildenden Kunst
haben wir zwar noch weniger Anhaltspunkte, da uns von
den meisten ihrer Werke nur ihre einstmalige Existenz be-
kannt ist, doch aber ist es nur eine Forderung der Ge-
rechtigkeit und, Avie ich glaube, Wissenschaftlichkeit, auch
dem bloss erwähnten Werk eine Berechtigung einzuräumen
neben dem genauer beschriebenen und es zu benutzen zur
EntAverfung eines Gesammtbildes. Es mag einer hohen
1*
_ 4 —
Genialität mö<^licli sein, aus einem einzigen Torso den Cha-
rakter des Künstlers und seine Stellung in der Kunstge-
schichte zu bestimmen, die Wissenschaft muss anders ver-
fahren. Für sie kann und darf nicht ein einziges Werk
hinreichen, um sofort einen Schluss für die ganze ThUtig-
keit eines Künstlers daraus zu ziehen, zumal da man auf
diese Weise Gefahr läuft, eine durch den Begriff dieses
einzelnen Werkes nothwendige Eigenthümlichkeit als eine
allgemeine Eigenthümlichkeit des Künstlers aufzufassen.
Diese Gefahr ist nicht immer vermieden. Man hat gar oft
die Eigenschaft eines einzelnen Werkes sofort verallgemei-
nert, ohne zu fragen, ob denn die übrigen Werke dessel-
ben Künstlers ihrer Natur nach dieses Besondere zulassen,
und dadurch ist es gekommen, dass man die Thätigkeit
des vielseitigsten Künstlers in Grenzen eingeschlossen hat,
die zu eng sind für die Mannigfaltigkeit seiner Stoffe. Die
Gedankenwelt eines griechischen Bildners war gewiss eben
so reich, wie die eines Dichters; in diese muss man vor
Allem einzudringen versuchen, will man nicht Gefahr lau-
fen ein einseitiges Urtheil auszusprechen. Doppelt nöthig
ist das bei einem Künstler, von dem so viel Werke nam-
haft gemacht werden, wie von keinem andern, bei einem
Künstler, der viel verwandte, aber auch diametral verschie-
dene Stoffe, einen Hercules und einen Eros behandelt, der
Kolosse geschaffen hat so gut wie die zarteste Jugend.
Suchen wir aber vor Allem den Ideenkreis des Künstlers
zu bestimmen, so vermeiden wir eine weitere Einseitigkeit,
nämlich die, dass wir, wie oft geschehen, die Geschichte
der Plastik zu ausschliesslich auffassen als Geschichte der
plastischen Formen als solcher. Man verfolgt, wie die Ge-
stalt von Strenge und Gebundenheit übergeht zu Schwung
und Freiheit, aber man übergeht oft die Frage, was denn
die grössere oder geringere Weichheit, den strengeren oder
tliessenderen Rhythmus der plastischen Gestalt bedingt, und
doch ist dieselbe hier ebenso nothwendig aufzuwerfen, wie in
der Literaturgeschichte die Frage nach dem Verhältniss
der sprachlichen und metrischen Fonii eines Dichters zu
seinem Geist. Schon der allgemeine Begriff der Kunst führt
auf diese Untersuchuno-. Um aber den Gedankenkreis des
Künstlers zu bestimmen, dazu gehört mehr, als eine all-
gemeine Schilderung der Zeit, in welcher derselbe gelebt
hat, besonders wenn dieselbe, wie dies meist der Fall ist,
nur die allgemeinsten Verhältnisse berührt. Es wird ausser-
dem der Satz, dass der Künstler ein Sohn seiner Zeit ist,
nicht in der Beschränkung verstanden, in der er allein
richtig ist. Praxiteles hat in einer sittlich entarteten Zeit ge-
lebt, man hängt daher die Flecken dieser auch seinen Wer-
ken an? ohne zu bedenken, dass ein wahrhaft grosser
Künstler zwar in der geistigen Strömung seines Jahrhun-
derts steht wie jeder Andre, nicht aber ihr unterliegt. Viel-
mehr vermag er die Gedanken der Zeit rein und vollendet
darzustellen ohne Schwäche und Mängel und dadurch er-
hebt er sich über dieselbe. Ich komme hierauf zurück.
Eine weitere Frage von der höchsten Wichtigkeit ist die
nach der Stammeseigenthümlichkeit des Künstlers. Ich kann
hier natürlich dies Princip, die Kunst nach Stämmen zu
scheiden, welches trotz der mehrfachen Andeutung der be-
rühmtesten Gelehrten *) noch keinen Eingang in die Kunst-
geschichte gefunden hat, nicht ausführlich besprechen, aber
ich muss mich wenigstens mit ein paar Worten rechtferti-
gen, wenn ich bei den vielfachen Rückblicken, welche die
Betrachtung eines einzelnen Künstlers erfordert, mich ganz
ausschliesslich an die attische Kunst halte als eine Ent-
wicklung für sich, die sich aufs Bestimmteste sondert von
der übrigen Kunst. In Polyclet ist ein entschieden dori-
sches Element, sowohl in seinen Stoffen als in der Behand-
lung derselben. Seine abstract-formale Richtung entspricht
ganz dem formalen Charakter der dorischen Philosophie.
Myron aber ist eine so scharf ausgeprägte, eckige Natur,
wie kein Künstler überhaupt. Er ist in seiner Art der
erste, aber seine Art ist nicht die erste, ich möchte ihn
1) Hermann Stucl. d. gr. Künstler p. 8: „Um ganze Künstlergrup-
pen schlingt sich das Band einer geraeinsamen Oertlichkeit, deren ei-
genthümliches Gepräge noch von den Kennern späterer Jahrhunderte in
eben so scharfen Merkmalen wahrgenommen ward, als es uns hinsicht-
lich der Malerschulen neuerer Zeit möglich ist." O. Jahn, Die hellen.
Kunst p. 9. O. Müller, Wiener Jahrb. XXXVIII p. 274. Vgl. auch
Kugler Haudb. d. Kuustgesch. Zweite Aufl. p. 206.
— 6 —
den Holländer der antiken Kunst nennen. Waclismiith ^) und
j\Iüller ^) haben mit Recht auf ein boeotisches Element in
ihm hingewiesen und in der That Avird das Bild seiner
küstlichen Virtuosität^ seiner in ihrer Einseitigkeit genialen
Natur gänzlich verwischt, wenn man ihn nicht isolirt, son-
dern ohne Weiteres in den Verlauf der griechischen Kunst-
geschichte aufnimmt. Die attische Kunst dagegen hat die
ideale Richtung ihres Volks und sie bethätigt dieselbe schon
durch ihre »Stoffe, indem sie fast ausschliesslich Götter bil-
det, sie ist aber keinesAvegs in dieser idealen Richtung ein-
seitig, sondern verbindet mit ihr die lebensvollste Realität.
Diese Scheidung der Kunst nach Stämmen, ohne welche
man nie consequente Entwicklungen in der Kunstgeschichte
wird nachweisen können, scheint mir unumgänglich noth-
wendig, sobald man überhaupt eine verschiedene geistige
Anlage der Stämme anerkennt, denn die Kunst ist nur eine
Form des Geistes, wie Philosophie und Literatur.
Die Betrachtung der Zeit, in Avclcher der Künstler ge-
lebt und des Stammes, dem er angehört hat, sind allge-
meinere Gesichtspunkte für seine Beurtheilung, es bleiben
die speciellen wichtigeren übrig. Dahin rechne ich das
Eingehn in die Stoffe des Künstlers, die Scheidung der
ihm eigenthümlichen von denen, die auch Andre behan-
delt, die äusserst lehrreiche und oft mit Sicherheit anzu-
stellende Vergleichung der von ihm und Andern behandel-
ten gleichen Stoffe; ferner die Betrachtung des Materials,
dessen er sich bedient, vor Allem aber die Durchforschung
der über ihn erhaltenen, Nachrichten. Diese sind das Fun-
dament und müssen es bleiben besonders heutigen Tages,
wo die Subjectivität der Kunsterklärung so gross ist, dass
wenig Kunstdenkmäler gefunden Averden dürften, über
welche nicht die verschiedensten Urtheile laut geworden;
dann erst, Avenn die Urtheile der Schriftsteller über den
Künstler ausführlich und gründlich benutzt sind, gehe man
an die Vergleichung der erhaltenen AVerke. In dieser Be-
ziehung vermag ich freilich nur Avenig zu bieten, ich bitte
2) Hellen. Altertlmmskniule II, 2, 339 f.
3) Handb. d. Archaeol. §. 122, 1.
es damit zu entschuldigen, dass non cuivis contingit adirc
Roniam ; ich kenne nur die 8chiitze von München und
Berlin.
Damit möchten etwa die Hauptpunkte angedeutet sein,
die bei der Betrachtung eines Künstlers berücksichtigt wer-
den müssen; ich beginne mit den schriftstellerischen Nach-
richten über Praxiteles. —
I.
Die Nachricliten über Praxiteles sind ziemlich reich,
wenigstens reich genug, um die hauptsächlichsten Vorzüge
seiner Kunst kennen zu lernen, aber sehr verschiedenartig,
wie es auch bei andern Künstlern der Fall ist. Sie be-
ziehn sich bald auf einzelne Werke, bald auf seine Kunst
überhaupt, sie erwähnen ferner bald charakteristische Ei-
genschaften, bald seine künstlerische Vollkommenheit ohne
nähere Bestimmung. Brunn ') mischt sie durch einander,
er geht aus von einem einzelnen Werk und setzt ein allge-
meines Urtheil dahin, wo er von einzelnen Werken des
Praxiteles spricht. Schon der Ordnung wegen muss man
trennen, noch mehr aber, Avenn man gerecht verfahren will
gegen den Künstler. Dann wird man die allgemeinen Ur-
theile sammeln, um zu erfahren, welchen Rang das Alter-
thum dem Künstler angewiesen, eine Erfahrung, die auch
für die Kritik von Nutzen ist, insofern sie uns lehrt, mit
wem man es zu thun hat. Findet es sich dann, das man
einem der bewundertsten Künstler des Alterthums gegen-
über steht, so soll die Kritik mit ihrem Tadel billigerweise
sehr vorsichtig sein. Ich stelle zunächst die ganz allgemei-
nen Urtheile über Praxiteles zusammen, so viel ich habe
finden können. Selbst Bemerkungen wie die des Scholiasten
zum Lucian^), der vom Praxiteles sagt: ayal^atOTtOLog
dgiGTOs, ögrig xatsoxevaös ro sv KvlÖG) rijg 'JrpQOÖLtrjg
äyaXua sind zu crAvähnen, weil derartige Lobsprüche nicht
allen Künstlern ertheilt werden. Wohl ist mir ein solches
Urtheil über Phidias bekannt, aber nicht über Scopas, den
1) Griech. Künstlergesch. p. 355—358.
2) lupit. trag. v. 16. Jacobitz Vol. IV p. 174.
— 9 —
•
man als Zeitgenossen und vielfach verwandten Künstler
dem Praxiteles zu vergleichen pflegt und der von Brunn in
Widerspruch mit allen Zeugnissen weit über Praxiteles ge-
stellt wird. Bei Properz ^) heisst es :
Pliidiacus signo sc luppiter ornat ebnrno ,
Praxitelen patria vindieat urbe lapis.
Von ScojDas ist keine Rede. Praxiteles tritt hier als der,
Avelchcr gleichsam den Marmor gepachtet hat, neben Phi-
dias als den Künstler des Elfenbeins. Ebenso sagt Plinius ^):
Praxiteles marmore nobilitatus est, und an einer andern
Stelle ^) : marmoris gloria superavit etiam semet und ähn-
lich Statins ^) : laboriferi vivant quae marmora caelo Praxi-
telis. In einem Epigramm ''), welches die Grabschrift eines
Bildhauers enthält, heisst es:
TlQa^itdXovs t]vd-ovv lao^oos ovti, ibqhov.
Es soll die hohe VortrelFlichkeit des gestorbenen Bildhauers
bezeichnet werden durch die Vergleichung mit dem ersten
Künstler in Stein. Bei Phädrus *) lesen wir :
Ut quidam artifices uostro faciunt saeculo
Qui pretium operibus malus inveniunt novo ,
Si marmori adscripserunt Praxitelem suo ,
Myronem argento. Plus vetiistis nam favet
Tnvidia mordax, quam boiiis pracscutibus.
Es wird doch nicht Zufall sein, dass man gerade durch
den Namen des Praxiteles neuen Werken Ansehn zu geben
versuchte. Schon diese Stellen bcAveisen, dass Praxiteles
unbedingt als der erste IMarmorarbeiter im Alterthum ge-
golten hat ; Brunn ^) führt nur eine davon an, die des Pro-
perz ; die des Phaedrus , deren bei Myron '") Erwähnung
geschieht, fehlt in dem Abschnitt über Praxiteles. Es sind
ims ferner mehrere Stellen, namentlich bei Lucian, erhal-
ten, wo im Verlaufe eines Gesprächs über Kunst oder an-
dere Gegenstände berühmte Künstler erwähnt werden in
ähnlicher Weise, Avie wir bei Unterhaltungen über Dicht-
3) IV, 9, 16. 4) VII, cap. 39. 5) XXXVI, cap. 4. §. 5.
6) Silv. IV, 6, 26. 7) Bninck Anall. III, p. 307 n. 719.
8) V. Praef. 9) p. .336. 10) p. 145..
- 10 _
kniist un.sorn Götlic und Scliillor zu citircn pflcf^cn. An
solchen ►Stollen erscheint regelmässig Phidias, und neben
ihm sehr häufig Praxiteles. So heisst es im Somn. *'j: ^yj
HVöKX&fjg da tov (Sä^atog ro evtsVeg [iijde tfjg iad-^rog t(3
TiivaQov ano yccQ toiovrcov og^ä^svog zal OsLÖiag ixstvog
edst^s tov zlia xal nolvKlsixog tyjv 'Hqkv siQyäcato xal
MvQCJV 87tr}ved-r] zal UQu^trel tjg i&av^död- r], ferner de hi st.
conscr. '^): ö'Aojg da vo^lötsov tov lötOQiav axjyyQCicpovta
0ei8ia iQYivaL i] nga^itikEi eotxevaL yj ^AkKaiiivei t] ta al-
Kcp exeivoiv. Besonders ist aber zu erwähnen die Stelle bei
Philostr. '^) : oC Oaidtac de, eins, aal oi llga^iteleig ^(5v
avsX&ovtsg ig ovqavov xal aTto^a^ä^svot ta täv i^eäv ei'dr^
ts%vi]v avta iitOLOvvto rj etsQov tt i^v, o eq)L6tr] avtovg ra
TiXdttEiv. Und darauf Avird geantwortet, die Phantasie des
Künstlers habe seine Werke geschaffen. Diese Stellen be-
weisen wenigstens soviel, dass man den Praxiteles dem
grössten Bildner Phidias an die Seite gesetzt hat. Es giebt
aber noch andre Zeugnisse für seinen Ruhm. Brunn führt
in der Charakteristik des Myron '*) als Beweis für den
Ruhm dieses Künstlers die grosse Zahl der von ihm nam-
haft gemachten Werke an; dieselbe Bemerkung lesen wir
in der Beurtheilung des Scopas *^) , bei Praxiteles dagegen,
von dem mindestens ebensoviel Werke erwähnt werden , als
von Myron und Scopas zusammen, fehlt sie. Uebrigens
möchte ich hierauf nicht allzuviel Gewicht legen, da die
Erwähnung oder Nichterwähnung eines weniger berühmten
KünstAverks durch manche Zufälligkeiten veranlasst sein
kann. Das aber führe ich als Zeugniss für den Ruhm des
Praxiteles an, dass kein Künstler so viele Ideale geschaf-
fen, dass ferner von keinem Künstler des Alterthums so
viel eminent berühmte Werke genannt Averden, Avie
von ihm. Seine Aphrodite wetteifert an Ruhm mit dem
Zeus des Phidias; dazu kommt sein Eros, sein Satyr und
füge ich als Vermuthung hinzu, sein lacchos. Ferner zeii-
11) cap. 8. 12) cap, 51. Vgl. de sacrif. cap. 11.
13) Vita Apollou. VI, 19. Ebenao wichtig ist die Stelle bei Diod.
Exe. Hoescb. XXVI p. 512 Wess., auf die ich ziu'iickkomme.
14) p. 116. 15) p. 325.
— 11 —
gen für seinen Riilim einige Stellen der Alten'"), in denen
einzelne Werke des Praxiteles Werken eines Myron, ISco-
pas, ja eines Polyclet vorangestellt werden, während mir
kein Beispiel vorn Gegentheil bekannt ist. Endlich bedenke
man die häutige und zwar nie tadelnde Erwähnung dieses
Künstlers. Was aber Scopas betrifft, so schweigen diejeni-
gen Schriftsteller, denen wir unsre hauptsächlichsten Nach-
richten über Praxiteles verdanken, gänzlich über ihn, was
gewiss nicht der Fall sein würde, wenn er in ihren Augen
dem Praxiteles gleichgestanden hätte. Ich glaube, die an-
geführten Stellen genügen zur Schätzung seines Ruhms,
Brunn aber hätte erklären müssen, Avie dem Künstler, den
er schildert, so grosse Bewunderung gezollt Averden konnte.
II.
Ich gehe über zu den einzelnen Werken des Praxi-
teles, Avobei ich indessen, um eine unnütze Wiederholung
der Arbeit Andrer zu vermeiden, nur die bespreche, über
die ich etAvas Neues vorzubringen Aveiss. Eine Vermuthung
habe ich über den lacchos unscrs Künstlers. Pausanias ')
erAA'ähnt BikWerke des Praxiteles mit diesen Worten:
'Ecek^övTdv ÖS ig rrjv nöhv oixodo^rjficc ig jraQccöJievt]v iöti
tcjv TTO^jicöv, ag Tis^inovöi T«g ^Iv ava näv £TOg, rag de
xal xqÖvov diaksCnovTEg. xcd TcXrjöiov vaog iört zirj^rjtQog^
ayäk^axa df avt-l] rs xal rj Jtutg xal dcjda b%cov "lax%og' yi-
ygamac ds im rc5 tOL^a ygä^iiaöiv 'Attinotg egya sivat
IlQa^LtEXovg. Es sind unzAveifelhaft dieselben Statuen, die
bei Clem. Alex. ^) erAvähnt AA^erden, Avir erfahren aber aus
dieser Stelle nichts Näheres über sie. Cicero ^) hingegen
sagt: Quid (arbitramini) Athenienses (raereri volle), ut ex
marmore lacchum aut Paralum pictum aut ex aere Myronis
16) PHii. XXXVI, cap. 1 §. 5. Cic. Vcrr. IV, (>. Ich komme auf
diese Stellen zurück.
1) I, 2, 4. (Scbubart). 2) Adraouit. p. 41 B.
3) Verr. IV, cap. 00.
— 12 —
buculam (amittaut)V Zu dieser Stelle bemerkt Halm, der
lacchos sei vielleicht von Scopas oder Praxiteles, die beide
vorzugsweise in Marmor arbeiteten und sicli am liebsten in
Darstellungen aus dem Kreise des Dionysos und der Aphro-
dite bewegten. Gewiss wird man bei Erwähnung berühm-
ter Marmorwerke zAinächst an jene beiden Künstler den-
ken, von Scopas aber ist kein lacchos bekannt, wohl aber
von Praxiteles eben jener zu Athen. Dass dieser ein be-
rühmtes AVerk des Meisters gewesen ist, darf man Avohl
daraus schliessen, dass sein Name dabei geschrieben stand').
Es würde also der Gegenstand, der Ort, endlich die Be-
rühmtheit des Werks für die Identität des bei Cicero und
Pausanias erwähnten lacchos sprechen. Cicero giebt aber
eine Aufzählung der berühmtesten Kunstdenkmäler von
jeder dort angeführten Stadt, er erwähnt den Eros von
Thespiae, die Venus von Knidos, die coische des Apelles
u. s. w. ; der lacchos des Praxiteles wäre also das berühm-
teste Marmorwerk Athens gewesen zur Zeit des Cicero.
Damit hätten Avir ein neues Zeugniss seines Euhms, zugleich
aber, was ich Avegen des Periboetos, zu dem ich übergehe,
bemerke, ein Beispiel, dass auch eine Figur einer Gruppe
besondern Ruhm für sich erlangt hat.
2. Ueber den berühmten Satyr des Praxiteles bemerkt
Plinius ^) : (Praxiteles fecit) Liberum Patrem, Ebrietatem no-
bilemque una Satyrum quem Graeci periboeton cognomi-
nant. Es ist, wie Müller^) bemerkt, nicht ausgemacht, ob
der bei Pausanias '') erAvähnte , den Athenaeus ®) tov stcI
TQtTtoöav UarvQov nennt, derselbe ist. Neuerdings ist von
Stark') eine ausführliche Untersuchung über diesen Punkt
angestellt, mit dessen Resultaten, die auch in Overbeck's
kunstarchäologische Vorlesungen'") übergegangen sind, ich
jedoch nicht übereinstimmen kann, weil sie unvereinbar
4) Die Beispiele sind bekannt. Ich erinnere an den Namen des
Phidias am olympischen Zeus (Paus. V, 10, 2) an seiner Lemnierin
(Luc. Imag. c. 4) n. s. w.
5) XXXIV, cap. 10 §. 10.
6) Handb. der Archäol, §. 127, 2.
7) I, 20, 1. 8) XIII, 591 B.
9) Archäol. Studien p. 10 ff. 10) p. 116 ff.
— 13 —
mit den Worten der Sclu'iftsteller sind. Icli bespreche zu-
nächst die Stelle des Pausanias und hebe die Gründe Starks
einzeln heraus. Die Stelle heisst so : "Eöti dh oÖog ano rov
TlQvtcivsCov naXov^ivr] TQinoösg' «9?' ov xaXovöi t6 %a-
Qiov , vaol ^^sc5v ig tovto ^hyälot xao öcpiöiv ig)s6v^xaöL
TQLTiodsg, x^^^o^ f*^'^'5 ^'^^WV's ^^ u^iu iiuXiöru nsQii%ovrsg
siQyaGue'vcc. UätvQog yccQ sötiv, icp' a nQtt^LtEh]v ^syttai
cpQovfiöai iieya. Dann folgt die bekannte Anecdote von
Phryne's List und es heisst zum Schluss: ^qvv)] ^Iv cvtcj
rov "Eqcoxu aiQsircci ")• ^lOvviSa de iv t« vaa tw nlr^oCov
2^ärvQÖg söri, TCatg xal öCdcoöiv sxnco^a. "Eqcoxu d' £6t)]x6tcc
o^ov xal zJcovvöov 0v^L^og sjtOLTjöev. Die erste Frage ist
die, ob Pausauias von einem oder von zwei Satyrn spricht.
Heyne zAveifelte, hielt es jedoch für wahrscheinlicher, dass
zwei gemeint seien, ebenso stimmten Walz und Schubart
und Siebeiis in ihren Ausgaben, Jacobs'^) und O. Müller'^).
Gegen diese Auffassung macht Stark eine Reihe von Grün-
den geltend. «Es ist durch 0Qvvr} (lav ein förmlicher Ge-
gensatz eingeleitet, wir wissen nun, dass Phryne den Eros
gewählt hat , wo und wie ist nun aber der Satyi- aufgestellt ?
Er ist dem Dionysos geweiht in einem vaog der Tripoden-
strasse; also mit ^lovvöa de beginnt der Gegensatz, der
zugleich die Gruppirung angiebt». Sollte em Gegensalz
eingeleitet werden, so hätte Pausanias sagen müssen: ^qv-
vrj TOI' ^Iv "Egara aigetrai^ 6 de UdrvQog etc. Nach dem
Sprachgebrauch des Periegeten hätte man eher die entgegen-
gesetzte Bemerkung erwartet, nämlich die, dass mit ftlv
ovra das Vorangegangene abgeschlossen sei und im Folgen-
den zu etwas Neuem übergegangen werde. Denn an un-
zähligen Stellen '^) gebraucht Pausanias die Ausdrücke ^Iv
11) Wenn ilie folgende Ausführung- richtig ist, so muss liier nicht
ein Kolon, sondern ein Punkt gesetzt werden.
12) Antiqq, Aufs. II. p. 63 N. k.
13) Wieland's Att. Mus. III, p. 24.
14) Zus. zu Leake's Topogr. p. 453 der Uebersetzung von Rieniicker.
15) So gleich am Schluss dieses Kapitels: 'A&rjvai (ilv ovrcog ....
r"v&rjGav. Eid Si etc. Vgl. I, 44, 9. 19, 4. 37, 1. II, 3, 11.4, 4. III, 16,
3. VII, 17, 4. 24, 4. VIII, 20, 4. 33, 4. 38, 8. IX, 25, 10. 28, 4. X,
23, 14 etc.
— 14 —
ov'roj, ^£v TotoiJrog etc. am Schluss einer Erzählung oder
Beselireibung-, ganz wie wir sagen «und so nun ge.scliah
es» und fährt dann fort mit dem continuativon öf, wo an
einen Gegensatz nicht zu denken ist. Diese Beispiele Hes-
sen sich mit mehr Recht anführen für die Nothwendigkeit
der Trennung, jedenfalls sprechen sie gegen die Nothwen-
digkeit der Verbindung. Stark erkennt ferner die von !Sie-
belis geltend gemachte Schwierigkeit an, die in dem Feh-
len des Artikels liege, da auch rov "Eqcoxu vorhergehe.
Vielleicht, meint er, sei zu emendiren, oder aber die A\'orte
I^KXVQÖg iöTL Tcatg seien als strenge Wiederholung des oben
begonnenen Satzes zu fassen. Das Erstere doch nur, wenn
zwingende Gründe da sind; was das Letztere betrifft, so
will ich den Fall setzen, dass eine solche Wiederaufnahme
ohne eine dies anzeigende Partikel, etwa ovv, möglich sei,
es müssten dann aber die wiederaufnehmenden Worte un-
mittelbar auf die den Zusammenhang unterbrechende Er-
zählung folgen, hier aber sind sie durch ^iovvöoj de iv tö
vaa TW nXriGiov davon getrennt. Stark « Ohne dieses Letz-
tere (die strenge Wiederholung des oben begonnenen Satzes)
ist ja übrigens die Ortsbezeichnung iv ta vaa ra nX^pCov
ganz dunkel, es kann nur verstanden werden: der dem
Prytaneion zunächst liegende Tempel». AA^enn }nan so be-
zieht, dann ist die Ortsbezeichnung dunkel. Denn wie kann
man das nXriöCov auf das entfernt stehende, im Anfang des
Kapitels erwähnte IlQVTavsiov beziehn, zumal da eine ganze
Ei'zählung dazwischen geschoben ist! Ferner würde Pau-
sanias nach dieser Annahme zuerst über den Inhalt eines
vaog eine Geschichte erzählen und dann erst hinterher seine
Lage bestimmen. Endlich avozu diese Ortsbezeichnung,
wenn Pausanias vom Prytaneion ausgehend nur einen
vaog erwähnt? Denn wollte er diesen einen vccög als dem
Prytaneion zunächst liegend bezeichnen im Gegensatz zu
den übrigen entfernter liegenden, so musste er sagen: TcXrj-
üLOv toi} ÜQVTavsiov. Ich verstehe die Stelle so : Vom Pry-
taneion geht die Tripodenstrasse aus; dort stehen Tempel
mit Dreifüssen darauf, in denen viel Merkwürdiges ist.
UdrvQog yccQ iöriv, d. h. denn dort ist der Satyr, auf den
Praxiteles stolz gewesen sein soll. Dieser Satyr steht also
— 15 —
auf einem dieser vccoC und wenn Pausanias nach Erzäli-
lung der Anecdote fortfährt mit zJcovvöa Ös iv t« vaä tä
nXr]0Cov^ so meint er damit den auf diesen ersten vaoq
folgenden zweiten, g-anz ebenso wie I, 43,6. Stark meint,
der Satz ZlccrvQog yÜQ sönv sei sichtlich nur angefangen,
woraus geht das hervor V Doch nicht etwa aus der Aus-
lassung des ganz selbstverständlichen «dort» oder «in ei-
nem dieser vaoC», wofür doch wohl Belege nicht angeführt
zu werden brauchen? Aus dieser Weglassung eines ganz
selbstverständlichen Wortes hat die Stelle einen Schein von
Dunkelheit bekommen. Es ist also von zwei Tempeln und
daher von zwei Satyrn die Rede. Dadurch bekommt auch
das dem zweiten hinzugefügte natg eine angemessene Be-
ziehung. Es steht im Gegensatz zum ersten; der den
Becher reichende Satyr ist als Knabe gebildet, jener erste
also nicht als Knabe, sondern in einer andern Altersstufe.
Die zweite Frage ist die: Wo hat der berühmte Satyr ge-
standen? Hier hat O. Müller") offenbar Recht, wenn er
sagt, die Statuen waren frei zAvischen den Füssen des Drei-
fusses aufgestellt, indem ihnen die Füsse zu einer Einfas-
sung, der Kessel zu einem Dache diente. Denn nur so hat
das TtsQiExovTss Sinn. Stark indessen behauptet, die Sta-
tuen müssten «jedenfalls» in den Tempeln gestanden haben.
«Wozu wären diese Rundtempel überhaupt erbaut, wenn
nicht Statuen aufzunehmen?» Um als ßrjfia des Dreifusses
zu dienen, und die sogenannte Laterne des Demosthenes
liefert dafür ein Beispiel. Denn dass diese nur als ßfj^a
gedient hat, dass in ihrem Innern keine Statuen gestanden
haben können, konnte Stark bei Leake *') lesen. Dieser
bemerkt weiter ^®) vollkommen richtig: «Die Zwischenräume
ZAvischen den Säulen, die bei der Laterne des Demosthenes
verschlossen, möchten offen gelassen sein bei dem imog 6
nXriGCov)). Was Stark weiter anführt, soll doch Avohl nicht
zur Begründung seiner Ansicht gesagt sein ; denn wenn
anderswo von Statuen im vaög die Rede ist, so folgt ja
16) Zus. zu Leake p. 453.
17) p. 220 der Uebersetzung- von Kleuäcker.
18) p. 221.
— 16 —
daraus nicht, dass es überall so g'ewesen. ^^'er niciit will-
kürlich interpretiren will, der wird die Ansicht Müllers
theilen. Dass aber Statuen in Dreifüssen aufgestellt wur-
den, dafür fehlt es bekanntlich nicht an Belegen''^). Die
dritte Frage ist, ob und wie die Stelle des Plinius *), in
w'elcher der berühmte Satyr mit Bacchus und Ebrietas grup-
pirt erscheint, zu vereinigen ist mit den Worten des Pau-
sanias, welcher den Satyr allein erwähnt^"). Stark, der also
den Periboetos identificirt mit dem becherreichenden Satyr-
knaben, welcher neben dem Dionysos und Eros des Thy-
milos stand , behauptet, diese Gruppe sei ebendieselbe, welche
Plinius erwähnt. Er sagt: «dass Plinius, welcher ungenau
(woher weiss Stark das?) die ganze Gruppe dem Meister
zuschreibt, statt des bacchischen oft ganz ins Weibliche
übergehenden Eros eine Ebrietas also Mid^r} sah, darf uns
nicht wamdern (!), da in ganz ähnlichen Gruppen diese er-
scheint». Mit solchen Annahmen — der nackte Eros, der
also jedem Beschauer sofort sein Geschlecht offenbarte, ver-
w^echselt mit der doch jedenfalls bekleideten Msd^rjl — kann
man Alles beweisen; übrigens scheint Stark selbst dies nicht
urgiren zu w^oUen. Seine Ansicht fällt mit der falschen
Voraussetzung, dass Pausanias nur von einem Satyr spricht.
Visconti, der wohl eine Widerlegung verdient hätte, hat
die Stellen des Plinius und Pausanias auf die einfachste
und natürlichste Weise vereinigt. Er bemerkt^'): Le Bac-
chus et rivresse etaient les deux autres statues, qui rem-
plissaient les intervalles entre les pieds du trepied. Pau-
19) Vgl. Thiersch Bpoch. p. 147. Nr. 31.
*) Die Ansicht FriebeLs (Graec. Satyr, fr. p. 35) wird berichtigt
durch O. Jahn (Sachs. GeselLsch. d. Wiss. 1850 p. 107 n. 3).
20) Bei Brunn p. 338 lieisst es , man habe „ziemlich allgemein"
eine Verwechslung mit einem andern Satyr bei Plinius angenommen,
und ebenso sagt Overbeck. Die Citate fehlen; Sillig (Catal. artif. j).
381 n. 1) ist, soviel ich weiss, der Einzige, der von einem Irrthum
des Plinius spricht. Dagegen ist bei Heyne (Antiq. Aufs.), Visconti
(Mus. Pio-Clem.), Böttiger (Audeut.) Hirt (Gesch. d. bild. K,), Welcker
(Bonner Kunstmus.), O. Müller (Ilandb.),- wo überall von diesem Satyr
die Rede ist, nichts von einem Irrthum des Plinius zu lesen.
21) Mus. Pio-Clem. II, p. 218 N. 2.
— 17 —
sanias hat also von den drei im Dreifuss una befindliclion
Figuren nur die berühmteste, den Satyr, genannt. Diese
Annahme ist natürlich nicht gewiss , aber es steht ihr Nichts
im Wege. Stark ^^) freilieh bemerkt: «es ist jedenfalls auf-
fallend, dass von der Gruppe eines Künstlers nur eine
einzige Gestalt Beinamen und Ruhm sich erAvorben hat,
die übrigen Theile also weit an künstlerischem Werth zu-
rückgestanden haben.» Man muss sich doch wundern über
solche Folgerungen. An Eauchs Friedrichsdenkmal in Ber-
lin ist die eine Figur so vollendet wie die andere, und doch
wird den Figuren Kants und Lessing 's besondere Bewun-
derung zu Theil. Die Figuren des östlichen Parthenongie-
bels sind .gewiss alle gleich vollendet und doch hat die lie-
gende weibliche Figur besonderen Ruhm. Ständen die Nio-
biden in künstlerischer Hinsicht sich gleich, es würden
doch Unterschiede gemacht werden. Denn es kann bei
gleicher künstlerischer Vollendung eine glückliche Stellung,
eine neue originelle Auffassung und mancher andere Grund
einer Figur besonderen Ruhm verschaffen; und dass solche
Gründe, wenn irgendwo, so bei dem Satyr vorhanden waren,
versuche ich unten nachzuweisen. Es bleibt noch eine Frage
übrig, nämlich die, Avas mit dem becherreichenden Satyr-
knaben anzufangen sei. Denn hier bemerkt Stark: «Es
wäre doch höchst merkwürdig, wenn Pausanias die Statue
eines Satyros genauer schildert, aber seinen Künstler nicht
nennt, Avährend er die zwei dazu gehörigen, von ihm nur
beiläufig erwähnten Statuen einem für uns wenigstens sonst
gar nicht bekannten Künstler zuweist. Es bekommt das
nur einen Sinn, wenn eben von dem Künstler des Satyros
schon länger die Rede war und das war sie.» Höchst merk-
würdig w'äre es nicht, wie schon die Vergleichung von
Paus. II, 21, 8. 9. lehren kann, wo von zwei zu einander
gehörigen Statuen nur der Künstler der einen genannt wird,
allein nach meiner Ansicht steht Kichts im Wege, auch
den zweiten Satyr dem Künstler zuzuschreiben, von dem
«schon länger die Rede war». Vielleicht ist dann dieser
2*2) Ihm stimmen Brnnn iiml Overbeck bei.
— 18 —
Knabe mit dein exitco^ua zu identificiren mit dem (Jenopho-
rus des Plinius,. wie Brunn") meint, denn es ist keines-
wegs notli wendig, den Oenopliorus mit Hirt^^) für einen
8chlaucliträg(;r zu halten, dem man vielleicht eher das Epi-
theton döxocpoQog gegeben haben würde. Bestimmt unrich-
tig aber ist die Vermuthung von Walz *■') , der Oonophorus
des Plinius sei wohl einerlei mit dem in zwei Epigrammen ^"j
erwähnten praxitelischen Pan, der einen Schlauch trug.
Denn dieser Pan war aus pontelischem (nicht aus parischem,
wie Brunn p. 339 schreibt) Marmor, der Oenophorus dage-
gen wird bei Plinius unter den Bronzewerken aufgeführt.
Ich bin danach zu folgendem Resultat gekommen: Der in
der angeführten Stelle des Pausanias zuerst erwähnte Satyr
ist zu identificiren mit dem von Plinius als Periboetos be-
zeichneten; der den Becher reichende Satyrknabe mit dem
Oenophorus des Plinius, und dazu kommt als dritter Satyr
des Praxiteles der, welcher nach Pausanias (I, 43, 5) in
Megara stand.
Der classischen Ausführung Viscontis '') , der die be-
rühmtesten Archäologen und Bildhauer^'*) zugestimmt haben
23) p. 339. Ueber den Periboetos herrscht übrigens bei Brunn
einige Verwirrung-. Es heisst (p. 338) , Plinius habe sicli in Betreff des
Periboetos geirrt , die Walirscheinlichkeit spreche für den Satyr in
einem Tempel der Dreifusstrasse, der als Knabe gebildet war mit dem
Becher in der Hand und (p, 309) mit dem Eros und Dionysos des Thy-
milos zusammen stand. Damit vergleiche man die Bemerkungen über
den an einen Baumstamm gelehnten, vom Flötenspiel ausruhenden Sa-
tyr auf p. 351. 352. Man erwartet, dass Brunn die Zurückführung
desselben auf den praxitelischen Periboetos auf's Entschiedenste abweise,
denn sein Periboetos ist ja ein becherreichender Knabe, hat also mit
jener Statue nichts zn schaffen , allein das geschieht keineswegs , viel-
mehr wird die Möglichkeit, dass in jenem Satyr der Periboetos erhal-
ten sei, durchaus nicht geläugnet
24) Gesch. d. .bild. K. p. 217.
25) Pauly's Realencyclop. s, v. Praxiteles p. 37.
26) Brunck Anall. II, p. 383 n. 4. III, p. 218 n. 315.
27) Pio-Clem. II, p. 215—220.
28) "Welcker Bonner Kunstmus. Zweite Aufl. p. 25. Braun Griech.
Götterl. p. 493. Wagner Kunstbl. 1830 p. 145. O. Müller, Handb.
§. 127. 2. u. A.
— 19 —
und die zwar nichts absolut Zwing-endes aber Alles anführt,
■svas sich in Ermangelung positiver Nachrichten anführen
lässt, Aveiss ich Nichts hinzuzufügen, als etwa dies, dass
die ]5cwunderung des Altorthums sich gerade bei diesem
Satyr aufs Vortrefflichste erklärt. Derjenige freilich kann
sie nicht erklären , Avelcher die des Künstlers wie des Alter-
tlunns gleich unwürdige Ansicht hegt, es sei jener Satyr
nur ein Bild sinnlicher Lust und sinnlichen Behagens. Man
wird aber fragen müssen, wie verhält sich diese Statue zu
den Vorstellungen, welche die Alten von den Satyrn hat-
ten. Hesiod-^) spricht von dem nichtsnutzigen Geschlecht
der Satyi'n, Euripides ^") nennt sie Thiere, im Satyrdrama
belustigten sie das Publikum mit Bocksgedanken und Bocks-
sprüngen, auf den älteren Vasen erscheinen sie bald als
unzüchtige Schlingel, bald als lustige Bauern mit der Aus-
gelassenheit in den Beinen, sie sind immer toll und voll
und immer hässlich. Wie gereinigt und verklärt erscheint
dagegen der Satyr des Praxiteles. Er zeigt süsse Ruhe, da
doch sonst der Satyr nicht eher zu ruhen pflegt, als bis ihn
der Rausch übermannt; sinnend und träumend, ohne Thä-
tigkeit, in seiner Stellung dem schönsten Gotte gleich, of-
fenbart er ein anderes Wesen, als jene springende Dämo-
nenschaar, die immer beschäftigt sein muss, sei es nun mit
dem Schlauch oder mit der Nymphe. Was die Griechen an
ihm bewunderten, war der Contrast, in dem diese Figur
mit ihren durch die Poesie bestimmten Vorstellungen stand,
sie sahen die Gewalt der Kunst auch über das Gemeine,
sie sahen den Thiermensch im Heiligenschein der Schönheit.
Nie hat die Kunst ihre adelnde Kraft besser bewährt. Eine
Zauberin gleich der Medea hat sie aus hässlicher Thiernatur
die jugendlich schöne Gestalt eines Halbgottes geschaffen.
Wohl preise man den Künstler, der ein Bild sucht für das
Göttlichste und Höchste, aber man schelte nicht den, der
barmherzig auch das Gemeine hinaufhebt in das Reich der
Schönheit. Der Satyr des Praxiteles ist eine eben so neue,
überraschende Schöpfung wie der Zeus des Phidias, und
2'.)) fr. CXXIX Göttliug. Zweite Aufl. p. 281.
30) Cycl. 624.
2*
— 20 —
sowenig Phidias einem Andern nachgeschaffen, als dem
Paradeigma in seinem Geist, ebensowenig hat irgend Je-
mand dem Praxiteles vorgearbeitet, vielmehr standen ihm
alle Vorstellungen entgegen. Dies eine Werk macht ihn
zmn Avahrhaft grossen Künstler, denn es ist das Kennzei-
chen des Meisters, dass er das Keue hervorbringt; aber
nicht für den flüchtigen Augenblick, sondern als Vorbild
für alle kommenden Zeiten.
Der Baumstamm ül)rigoiis, auf den sich der Satyr
stützt, ist die Abbreviatur des Waldes. Er ist eine Stütze
für die Figur, aber auch für den Verstand. Der Satyr
steht in seinem Wald, wie der Gott in seinem Tempel.
Die Stützen sind der Marmortechnik unentbehrlich, aber
die Kunst macht überall das Nothwendige zum Schönen,
sie sind da, um die einsame Statue mit Leben und Mannig-
faltigkeit zu umgeben. Unzählige^') Statuen des Dionysos
stützen sich auf einen Baumstamm, an dem eine Rebe hin-
aufgTÜnt; sie wuchs in der Phantasie des Griechen zu einer
blühenden Weinlaube, die wie ein lebendiger Rahmen den
Gott einschloss, der sie geschaffen. Denn Nichts ist un-
griechischer, als die Statue anzusehen, wie ein aus dem
Raum losgetrenntes Wesen, das nicht hat, wo es stehe.
3. Eros. Der Tiefsinn eines praxitelischen Erosbildes
lässt sich selbst aus den Beschreibungen eines Callistra-
tus^^) erkennen. Diese sind daher vorzugsweise zu be-
nutzen, da von den berühmtesten Erosbildern des Meisters
keine ausführlichen Nachrichten auf uns gekommen sind ").
Auf das Lob freilich, welches der Sophist dem Künstler
spendet, möchte ich nicht allzuviel geben, weil dieselben
hohlen Phrasen überall wiederkehren^^). Die Eroten des
31) Vgl. Clarac Mus. de sculpt. pl. 678 A no. 1584 A. 1595 A.
1619 C. pl. 678 C n. 1595 C. E. F. pl. 678 E no. 1586. 1595 H etc. etc.
32) Stat. IV u. XI.
33) Die auf den Eros zu Tlicspiae und zu Parion bezügliclien Ge-
schichten, welche zti seltsamen Folgerungen benutzt sind, werden füg-
lich im Zusammenhang mit den ähnlichen die knidische Aphrodite be-
treffenden besprochen.
34) Vgl. Welcker Praef. p. LXXII. Brunn beruft sich p. 334 auf
— 21 —
Callistratiis '•'), beide aus Erz, waren dargestellt in der
Blüthe der Jugend. Die rechte Hand des Ersteren ruhte
auf dem Haupte, in der Linken trug er den Bogen ^'*), er
hatte also ganz dieselbe Stellung, wie der Apollo der Gym-
nasien; ihre Bedeutung erklärt Lucian^'') so: t6 (iyaX^a de
avTOv {'AkoIIcovos tov yJvxsiov) 6(>«S, tov inl t/; attjktj
xsKhiiBVov^ tfj aQiCtSQa {xav to to^ov a^ovra ^ y] Öi^ia de
vtiIq Tijg x£(palfjg avaxixlaGfiEV)] gIstceq ex xa^dtov ^axgoi)
avaTtavoaevov deCxvvöi rov d'eöv. Dies Aufliegen des rech-
ten Armes auf dem Haupt, welches sich auch vielfach bei
Schlafenden^*^) findet, zeigen besonders oft die Apollo- und
Bacchusstatuen ^^) und vielleicht ist Praxiteles der Erfinder
dieser Stellung, die dann später vielfach Aviederholt wurde,
(las Lob des Callistratus für die Mäuade des Scopas. Bei Praxiteles
tiudet dasselbe keine Erwäbnung.
35) Heyne Opusc. Acad. V, p. 205 und mit ibm Böttiger Andcut. p. I(i8
und Feuerbacb Nacligel. Sehr, lieransgeg. v. Hettner III, p. 116 ver-
muthen einen Irrthum des Sopliisten über den Namen des Künstlers,
Heyne freilich nur mit einem polest (luhiiari. Er bemerkt , man wisse
nicht, wo der Eros (stat. IV) aufgestellt gewesen sei, ausserdem wür-
den nur Marmorbilder des Eros von Praxiteles erwähnt. Letzteres ist
doch wohl kein Grund; was Ersteres betrifft, so ist es überhaupt nicht
Sitte des Callistratus, den Ort seiner Statuen genau anzugeben. Von
dem Narcissus (stat. V) heisst es: aXaoq rjv ■nal iv avrcp nqrjvrj . . .
BLOrrj'ASi äs etv' ccvxij NcxQ^iaGog ; von dem Dionysos des Praxiteles
(stat. VIII) : cclßog r]v -aoi Jiovvaog statijyiei ; von dem Centaur (stat.
XII): SV totg TtqoTivXaiOLg zov vsco; von dem Indos (stat. III): Tcaga
KQijvrjv Eiarrjusi ; von dem Eros des Praxiteles (stat. XI) : stc uKQono-
Ifi; und bei der Miinade des Scopas (stat. II) wird wie bei dem an-
dern praxitelischen Eros gar nichts über den Ort ihrer Aufstellung hin-
zugefügt. Mit Recht führen daher Müller Handb. §. 127, 3 und Brunn
p. 341 sie unter Praxiteles auf.
36) Es ist ein Irrthum, wenn Böttiger Andeut. p. 168 und Gerhard
Beschreib, d. Stadt Rom I p. 289 einen Eros des Callistratus bogen-
spannend nennen. Böttiger giebt ihm auch einen Pfeil, von dem vol-
lends Nichts zu lesen ist.
37) Anachars. c. 7. Vgl. Jacobs zu Philostr. p. 693.
38) z. B. am barbarin. Faun , an der schlafenden Ariadne etc., und
wo Sterbende als schlafend dargestellt sind , wie beim sterbenden Nio-
biden.
39) Müller A. D. II, 126. 127. 128. 355. 356 etc.
— 22 —
(Iciiu die IW'uutzuiii;' ^^c•llOu yeljraiu-liiir .Mutivu ist bckannt-
lieli nicht selten. Der Eros, den Callistratus beschreibt,
war dargestellt in deni Alter, in dem mit der aufsprossen-
den Blütho des Körpers jene ahnungsvolle BoAvegung der
Seele beginnt, die den Blick des Jünglings von der Aussen-
Avelt, die ihn bis dahin reizte, abzieht in die neue unbe-
kannte Welt, die in seinem Innern entsteht. Er war ver-
sunken in das Geheimniss seines eignen Wesens, seine
blühenden Locken fielen nieder auf die Stirn, sie flochten
gleichsam ein Ketz um die süssen Träume seines Hauptes.
Leicht hatte er also das Haupt gesenkt, wie der vaticanische
Torso. Von dem Auge des Einen hcisst es: iyavQovro de
£ig ysAata, i^jtvQov n xcd ^eChiov i^ o^^ärav öiavyö/^av,
von dem des Andern o(u.,ua ds ifisgcodsg atöot öv^^iiysg,
cifpQodiGCov ys^ov xägitog (nach der Verbessening von Ja-
cobs p. 720.). Es waren also Gegensätze darin vereinigt,
Gluth und Sanftheit, Scham und Liebessehnsucht. Am
wichtigsten scheint mir folgende Stelle: ccTca^os ijv, ^ci%o-
^e'vrjv rfj a7cX6T)]Tt Ty]v ovölccv b^cov ^ xcd TCQog ro vygov
ijysTO^ iöxEQyinivog vyQortjtog, und ebenso heisst es von
dem Andern: vyQog ^ev ))i/, ccholqcov ^alaxotrjtog (nach
Jacobs p. 692, die handschriftliche Lesart giebt keinen
Sinn\ In der ^Mischung dieser Gegensätze liegt das Tief-
sinnige und Schöne dieses Kunstwerks. Es ist das Wer-
den der Liebe dargestellt. Die süsse Peitho der Liebe
fliesst wie ein sanfter Strom durch seinen Körper, sie be-
zwingt ihn schmeichelnd und verwandelt ilm in ihr eignes
Wesen. Betrachten Avir nach diesen Beschreibungen den
vaticanischen Torso, so springt seine VerAvandtschaft in die
Augen. Auch hier die Fülle der Locken, die träumerische
Senkung des Kopfes^") und jener Glanz des Auges, aus
40) Ueber die verschiedenen Bedeutungen des zur Erde gesenkten
Kopfes Hesse sich eine ganze Abhandlung schreiben. Ich weiss nicht,
ob es schon bemerkt ist, dass Bräute ganz constant mit gesenktem
Kopf erscheinen als Zeichen der verecundia, womit sich dann meist die
bekannte Geberde der Schüchternheit (Creuzer z. Gall. alter Draniat.
p. 33) verbindet. So die Hebe im Berl. Mus. 1016. Vgl. Miliin Gall.
Myth. n. 540. 541. Stackeiberg Grab. Griechl. 32. 42. Miliin Point,
de V. 44, Gerhard's Denkm. u. Forschg. 1853 Taf. 54, J. etc. Es
23
dem der erste »Stralil des Liebefrüliliugs hervordringt. Wie
die Natur geheimnissvoll ist, wo ein neues Leben an's Licht
strebt, so fühlt man in diesem Werk der Kunst das ganze
Geheimniss der erwachenden Liebe ^°''). Dass dieser vati-
canische Torso auf einen praxitelischen Eros zurückzufüh-
ren ist, scheint mir danach unzAveifelhaft , wie es auch all-
gemein angenommen wird, auf welchen aber, weiss ich
nicht und sehe keine Möglichkeit, es zu bestimmen. Den
in vielen Nachbildungen auf uns gekommenen bogenspan-
nenden Eros auch auf Praxiteles zurückzuführen, wie Ger-
hard ^') Avill, stehe ich sehr an. Von. Praxiteles wird kein
Bogenspanner erwähnt, und die ganze Auffassung ist eine
durchaus verschiedene. Die langen Locken des Epheben
sind gefallen, ein anmuthiger Krauskopf steht vor uns; dort
ein gesenktes Haupt, ein träumerisches Auge; hier eine
freie Stirn, ein heiterer Blick; dort ein Jüngling, hier ein
Knabe; dieser hat den Bogen zum Gebrauch, jener nur als
zierendes Attribut; dieser hat kleine Flügel, wie sie dem
Flattergeist der erotischen Poesie entsprechen, jener lange,
als der Gott, der über das weite Meer schweift, wie So-
phocles singt. Der Tiefsinn fehlt dem Bogenspanner, die
Liebe ist nicht mehr eine tiefe Sehnsucht, sondern eine
Wunde, hervorgebracht durch den Pfeil eines muthwilligen
Schelms. Man kann mir einwenden, dass ein Künstler,
der so oft den Eros gebildet wie Praxiteles, ihn auch ein-
mal leicht und spielend dargestellt haben könne. Aber da-
gegen spricht, dass die beiden Eroten des Callistratus und
der vaticanische in ihrer Auffassung die entschiedenste Ver-
wandtschaft zeigen, dass es daher Avahrscheinlich ist, Pra-
xiteles habe seinen Erosgestalten nicht die Verschiedenheit
gegeben, die wir nach Gerhard annehmen müssten. Der
kann als Beleg dienen , dass der Sinn für weibliche Zartheit den Grie-
chen keineswegs mangelte.
40 b) Ganz anders urtheilt Panoflca (Abh. d. Berl. Akad. 1853.
p. 50 f.), der von der nicht begründeten Voraussetzung ausgeht, dass
im praxitelischen Eros eine Species des ganzen Erosbegi'iffes dargestellt
sei. Das Epigramm üVjrigens an seinem Sockel ist richtig übersetzt
von Jacobs in Wieland's Att. Mus. III p. 25.
41) a. a. O.
— 24 —
bogenspannende Eros ist das Work eines Künstlers, der wie
Bernhardy ") von den alexandrinisclien Dichtern sagt ((ohne
geistlos zu sein, der hohem Begeisterung entbehrt», Aväh-
rend der vaticanische einen Künstler voraussetzt, der sich
begeistert in den Gedanken seines Werkes vertieft hat.
Visconti ") vermuthet bekanntlich in dem Ersteren die Nach-
bildung eines lysippischen Bronzewerks.
4. Die knidische Aphrodite. Plinius **) berichtet über
sie: Ante omnia est, non solum Praxitelis, verum in toto
orbe terrarura, Venus, quam ut viderent, multi navigave-
runt Cnidum. Duas fecerat simulque vendebat, altorain
velata specie, quam ob id quidem praetulerunt, quorvun con-
ditio erat, Coi, cum eodem pretio detulisset, severum id ac
pudicum arbitrantes: reiectam Cnidii emerunt immensa dif-
ferentia famae. Voluit eam postca a Cnidiis mercari rex
Nicomedes, totum aes alienum quod erat ingens civitatis
dissoluturum se promittens. Omnia perpeti maluere, nee
immerito: illo enim signo Praxiteles nobilitavit Cnidum.
Aedicula eins tota aperitur, ut conspici possit undique ef-
figies, dea favente ipsa, ut creditur, facta. Ncc minor ex
quacunque parte admiratio est. Fenint amore captum quen-
dam, cum delituisset noetu, simulacro cohaesisse, eiusque
cupiditatis esse indicem maculam. Sunt in Cnido insula et
alia signa marmorea illustrium artificum : Liber Pater Brya-
xidis et alter Scopae et Minerva •, nee *'") malus aliud Vene-
ris Praxiteliae specimen, quam quod inter haec sola memo-
ratur "). Schon dieser überschwängliche Ruhm hätte das
42) Griech. Lit. Gesell. Zweite AiiH. I, p. 483.
43) Mus. Pio-Cl, I, p. 125.
44) XXXVI, c. 4 §. 5.
45) Brunn p. 340. Anm. 1. bemerkt von dieseu Woi'ten, sie seien
ihm unklar ; ich zweifle keinen Augenblick , tlass sie so verstanden wer-
den müssen: Es sind auf Cnidos auch andere Marmorbilder berühmter
Künstler es giebt aber keinen andern stärkern Beweis für die
praxitelische Aphrodite, als dass sie unter diesen immer nur allein ge-
priesen wird. Die sie umgebenden Kunstwerke des Scopas und Bryaxis
sind auch vortrefflich, doch aber wird nur von ihr allein gesprochen
und das ist das grösste specimen , die beste Probe ihrer Schönheit.
46) Vgl. Plin. VII c. 30. Cic. Verr. IV c. 00.
— 25 —
Urtlicil Biium's *') zurücklialtcu sollen. Die nähei-e Charac-
teristik dieses Werkes giebt uns Lucian an drei Stellen,
nicht an zweien 5 Brunn hat eine höchst Avichtige übergangen
und die beiden angeführten zu einer ihrem Zusammenhang
widersprechenden Folgerung benutzt. Es Avird aus Luc.
Amor. c. 13. und Imag. c. 4. folgender Schluss gezogen ^^):
«Bei den Werken eines Phidias, Myron, Polyclet, selbst
eines Scopas ist es die Gewalt der Idee, lebendigste Natur-
wahrheit, schönstes Ebenmass, die höchste Begeisterung,
was die BcAVunderung hervorruft. Hier ist es, um es zu-
nächst kurz auszudrücken, die rein sinnliche Erscheinung,
welche durch sich selbst und allein Gefallen erAvecken soll. »
Diesem Urtheil AAärd dann die Beschrcänkung beigefügt, dass
die Göttin noch keineswegs als Aphrodite Hetära zu denken
sei, es bleibt aber dabei, dass die körperliche Schönheit,
der sinnliche Reiz des Aveiblichen Körpers das Ueberge-
AA'icht behaupte. In dem Dialog «Imagines» Avird die Smyr-
.näerin Panthca beschrieben hinsichtlich ihrer äusseren und
inneren Schönheit. Im ersten Thoil des Gesprächs construirt
Lykinos ihre äussere Schönheit aus den vollkommensten
Theilen berühmter Bildsäulen, der knidischen Aphrodite,
der Aphrodite des Alkamenes, der Sosandra '") des Kaiamis,
47) Die Worte (p. 346), die kuidische Aphrodite sei «geAviss dess-
halb zu so ausserordeutlichem Ansehen gelangt, weil sie der geistigen
Eigen thümlichkeit des Künstlers am meisten entsprach » , sind mir völlig
unverständlich.
48) p. 347.
49) Es sei mir ein Wort über diese Statue erlaubt. Soviel ich
weiss, existiren nur Vermuthungen über sie. Hirt (Gesch. d. b. K.
p. 155) vermuthet in ihr eine Priesterin, oder eine Arrhephore der Po-
lias ; Preller (Gerhard's Archäol. Zeitg. IV p. 343 f.) einen Beinamen
der Aphrodite und ihm stimmt Feuerbach bei (Nachl. II p. 173). Durch
Vergleichuug von Luc. de imag. c. 18. 7. 13. mit der oben angeführten
Stelle scheint es mir unwidersprechlich , dass Sosandra ein Beiname der
Hera ist. Im Anfange des Gesprächs de imag. erzählt Polystratos dem
Lykinos , die schöne Smyrnäerin habe sich beklagt , dass er (Lykinos)
sie verglichen mit der Hera und Aphrodite, c. 7 u. 13; es sei ihr diese
Vergleichung frevelhaft vorgekommen. Dagegen vertheidigt sich nun
Lykinos von c. 17 an iind es heisst in cap. 18: viisq äh ov XQH f^^o-
Xoyrjcac&cd , tovto ißtiv , ort t^ Iv KviSto -ncd rrj iv Ktjnois xat Hga
— 26 —
der lemnischen Athene und der Amazone des Phidias. Dann
sagt PolystratoiJ c. J 1 : (Sv ^ev i'otxag zu TtQoxtiQu
Taiira, ^e'yco de ro oco^a xal rt]v yiOQ(pr]v ^ a-jiaiveiv xav dt
tilg tpvxfjs Kya&cjv a&t'atog ei ovös oiöd^a Ö6ov xo xaklog
ixitvo iöxiv avxrjs ^axQoj xivt ccfiSLvov xal d^eoEidäöxsQov
Tov aäfiatog. Darauf (c. 12) bittet Lykinos, Polystratoö
mr»ge ein Bild ihrer Seele entwerfen, cog ^rj f'^ ijuLaaiag
Orcüfia^oiftt avT}]v. Das thut Polystratos und es werden
c. 23 die Öchildcrungen des Körpers und der JSecle zusam-
mengethan. AVie konnte nun Brunn die Stelle Imag. 4 be-
nutzen zu dem Urtheil, die Aphrodite des Praxiteles sei
nur eine sinnliche Schönheit gewesen, da es nach dem Zu-
sammenhang klar ist, dass im ersten Theil des Gesprächs
nur von äusserer Schönheit die Rede ist und sein konnte,
da, nicht bloss von der knidischen Aphrodite, sondern auch
von allen übrigen Statuen nur Eigenschaften der äusseren
Form und Erscheinung angeführt Averden? Die Stelle ist
also zu benutzen, ohne jene Folgerung daraus zu ziehen.
Die zweite Stelle Lucian's (Amor. c. 13), die Brunn anführt,
ist ebenso unrichtig angewandt. Lykinos erzählt dem Thco-
mnestos von einem herrlichen Paar von Liebesrittern, einem
8QC3XLx6v i.Evyog^ wie er es c. 11 spöttelnd nennt. Der
Eine ist ein yvvcaxoTtcTtrjg, der Andere ein jtcado7it7ir]g^ und
diese Herren in ihrer Verschiedenheit Avitzig zu characte-
risiren, ist der Zweck des ersten Theiles unseres Gesprä-
y.ccl 'A&rjVK ttjv fiOQcpriv uvaiiXäztcov ii'-aaaa' xavzä aoi i'xjuErpo: böo^s
HC(l VTCfQ TOI' TiöSa. In dem Dialog «Imagines», in dem Lykinos eben
jene Vergleichung mit Göttinnen angestellt hat, über welche ei- sich
hier rechtfertigen soll, wird Hera gar nicht erwähnt, vielmehr erscheint
dort an eben der Stelle, wo hier die Hera aufgeführt wird, die Sosan-
dra des Kaiamis. Sollen nun die beiden Dialoge zusammenstimmen,
und sie müssen es, weil der eine nur die AiJologie des andern ist, so
muss Sosandra ein Beiname der Hera sein. In den Imag. werden die
Göttinnen mit ihren Beinamen genannt , weil nur von Statuen die Kede
ist, in dem Dialog de Imag. wird statt der «Lemnierin» Athene, statt
der «Sosandra» Hera selbst gesetzt, weil Lykinos sich gegen den Vor-
wurf verwahren will , die Frau mit den Göttinnen selbst verglichen zu
haben. Uebrigens hat Sosandra als Beiname der Hera eine Analogie an
der Hera 'AXe^uvÖQog in Sicyon (Schol. Piud. Nem. 9, 30 Heyne).
— 27 —
ches. Schon ihr Aeusseres initerseheidet sich ihrer Sinnes-
art gemäss (c. 9), ebenso ihr IlausAvesen; der Eine, Kalli-
kratidas, liat eine Dienerschaft von Knaben, der Andere,
Charikles, von Weibern (c. 10). Nun folgt der HauptAvitz,
der freilicli meinem Gefühl wenig zusagt. Lykinos führt
dies treffliche Gespann zur knidischen Aphrodite, um auch
hier ihre verschiedenen Neigungen zu characterisireu. Der
Weiberheld ist entzückt von ihrer vordem, der Päderast
von ihrer hintern Seite ! Wenn nun die Worte solcher
Leute, die entschieden spöttelnd behandelt sind, benutzt
werden zu dem Schluss, dass ein Wunelerwerk des Erdballs
eine sinnliche Schönheit gewesen sei, so wollen wir auch
die mancherlei Anecdoten über die Dichter der Griechen
sofort als massgebend hinstellen, Avir AA'ollen es glauben,
AA^as Athenäus^") über die Niobe des Sophocles sagt und
Avas dergleichen mehr ist. Brunn Avill «immerhin (!) von
der stark sinnlichen Färbung, namentlich bei Beschreibung
der hintern Seite, etAvas in Abzug bringen», aber es soll
Nichts in Abzug gebracht Averden, sondern es soll die Stelle
so verstanden AA^erden, Avie sie verstanden Averden muss.
Es ist nicht genug für die Kritik, zu fragen, ob Jemand
dies und Jenes über die Aphrodite sagt, sie hat weiter zu
fragen, Aver sagt es und in welchem Zusammenhang wird
es gesagt. Und dann ist die AntAA^ort diese: ein Päderast
sagt es und spöttelnd geschieht dieses Menschen ErAvähnung;
und der Schluss heisst: Ein Päderast konnte nur loben,
Avas einem Päderasten zusagt, er hat ja als solcher keinen
Sinn für Adel und Hoheit. Denn dass sinnliche Menschen
nur mit sinnlichen Augen die Kunst betrachten, ist doch
Avohl eine Thatsache, die ich nicht erst zu bcAveisen braiiche.
Was sagt aber Lykinos von der Aphrodite ? Er nennt sie
ro trjs UQa^Lts^ovg £vx£Q£LCig ovraq anarpQÖöixov ^ ähnlich
dem Wort des Plinius: efhgies dea favente ipsa, ut credi-
tur, facta. Nach Brunn hätte also die Gottheit dem Künst-
ler geholfen, ihr eignes Afterbild zu schaffen, Avährend sie
— und das ist der Sinn dieses Volksglaubens — ihm bei-
gestanden hat, ihr ganzes leibhaftiges Wesen zur Erschei-
50) XIII p. 601. a. Vgl. Welcker's Griech. Trag. I, 297,
— 28 —
nung zu bringen, als sei es uiiUKigiich, so viel 8cli(»nlieit
ohne Göttcrhiiltc zu schaffen. Dann sagt Lykinos weiter
(c. 13): rj [ilv ovu d-eog ev ^ea<p xa^iÖQvrat — IIr(Qic:g Ös
^.t&ov datda^^a näkkiörov — V7t{Q)](pccvov xcd OeörjQorc ye-
ktoTt ^iKQOv vno^siötaöa. Tiäu de rö xßAAog avTrjg axä-
IvTirov ovde^iäs iö&fjtog a^Tt^x^^^VS yeyi'l-ivcoTai. , 7tXt)v ööa
Tfi ireQa xst^l xi]v aiÖco Ishid-oTog szlkqvztsiv. toöovrö ye
^}]v }j örj^LOVQyog ia%vöa ztxvrj', coGzs trjv avTitvnov ovta
xai xaQXBQai' toj) Xid'ov (pvöiv axdöTotg nskedtv iTttJtQSJtsiv.
Liegt nun in diesem Urtheil etwas Unwürdiges, liegt irgend
ein Anhaltspunkt für die Behauptungen Brunn's darin ? Ly-
kinos nennt die Aphrodite das schönste Kunstgebilde —
das beste Zeugniss , das er ihr geben konnte — ; er sagt,
die Kunst habe die spröde und harte Natur des Hteins über-
wunden — das besste Zeugniss für den Künstler. Was
sollte er in aller Welt an der Aphrodite wohl eher loben,
als ihre Schönheit! Wenn aber Brunn fortwährend trennt
zwischen geistiger und sinnlicher Schönheit, so hat er nicht
bedacht, Avas denn das Wort xaXog für den Griechen be-
deutet, Avorüber ich nur auf die schönen Worte Hermann's ^')
verweisen kann. Endlich ist ja ganz und gar das V7i£Q)']q)a-
vov übersehen. Zunächst ist es falsch bezogen, denn Avenn
Brunn ^^) übersetzt « die Göttin steht in der Mitte des Tem-
pels, aus parischem Stein das schönste Kunstgebilde, hoch
erhaben und den Mund ein wenig Avie zu leisem Lächeln
öffnend», so Avird doch Jeder das «hoch erhaben» auf die
Göttin beziehen, es müsste also vnsQYitpav og dastehen. Aber
es steht vji8Qt]cpavov und dies niuss sich ebenso Avie hlxqÖv
beziehen auf VTto^eiöicjöa. Denn das soll ausgedrückt Aver-
den dass die Aphrodite erhaben lächelt als Göttin und leise
A^erstohlen Avie ein sehnsüchtig Weib ^^^). Wie vortrefflich
dieses Wort ihrem Character entspricht, wird sich unten
51) Stud. d. gr. Künstl. p. 25 u. N. 123. 52) p. 346.
52 b) Die altern Ausgaben des Lucian setzen ein Kolon hinter vtifq-
jjcpavov und verbinden es danach mit Satdal^ia. Aber dann steht das
Jiai unerklärlich da ; die Interpunktion von Jacobitz in seinen beiden
Ausgaben ist unwidersprechlich richtig inid nach ihr scheint mir keine
andere Beziehung möglich , als die, welche ich oben gegeben habe.
— 29 —
zeigen, Brunn aber hätte cTocli ausführen sollen, was er
sich unter dem VTTSQycpccvov gedacht hat. Es ist aber noch
die Geschichte da von dem Jüngling, dessen Leidenschaft
das Bild befleckt hat, denn hieraus wird Brunn ohne Zwei-
fel dasselbe folgern, was er über den Eros des Praxiteles
bemerkt ■'') : «Welche Bedeutung aber der Künstler dem
sinnlichen, kijrperlichen Reiz in der Darstellung eingeräumt
hatte, zeigen sowohl die Anspielungen Lucian's^^), als in
noch höherem Grade die Verirrungen einer griechischen
Phantasie, welche den Eros zu Parion, Avie die knidische
Aphrodite befleckten.» Man wundert sich doch billig über
solche Folgerungen, noch mehr aber über die Inconsequenz
Brunn"s._^ Von der Aphrodite des Phidias wird erzählt, sie
reize den Beschauer zur Wollust, aber das ist nach Brunn ^^)
«Missverständniss oder spätere Erfindung» (!). Jedermann
Avird fragen, warum beurtheilt Brunn dieselben Geschichten
bei Praxiteles anders? Weil es ihm gefiel, den Praxiteles
zu beurtheilen im Widerspruch mit aller Urkunde. Wollte
er das, so hätte er wenigstens consequent sein und den
Griechen sowohl Schönheits - als Sittlichkeitsgefühl abspre-
chen sollen, denn ohne dies bleibt die Bewunderung, wekdie
sie dem Praxiteles überhaupt und seinen einzelnen Werken
zollten , als unaufgelöster Widerspruch stehen. Göthe ^^) be-
merkt: ((die Tradition sagt, dass brutale Menschen gegen
plastische Meisterwerke von sinnlichen Begierden entzündet
wurden»; ich glaube nicht, dass die vorliegenden Erzäh-
lungen so zu beurtheilen sind, vielmehr folge ich der Er-
klärung, die schon Wieland ") angedeutet hat. Denn sehen
wir jene Geschichten näher an. Bei Philostratus ^^) ist die
Rede von einem Menschen, der bei uns sofort in's Tollhaus
53) p. 349 f.
54) Amor. 11 u. 17. Njich dem oben Bemerkten bedarf es nielit
einer neuen Ausführung, um zu zeigen, wie falsch diese Stellen verstan-
den sind.
55) p. 205. Anm. 1.
56) Ueber Diderot in d. Propyl. T, 2. p. 20.
57) Ueber d. Ideale etc. Bd. 45 p. 210. Vgl. Feuerbach Vatic. Ap.
p. 304 N. 10.
58) Vgl. Apollon. VI, 40 p. 128 ed. Kayser.
— 80 —
wandern müsstc. Er will sich alles Ernstes mit der kni-
dischen Aphrodite verheirathen und Apollonius liat ]\Iühe,
ihn zur Vernunft zu bringen, da sein Vorhal)en den Kni-
diern keineswegs wunderbar erselioint. liier heisst es:
xaltöag (Apollonius) ovv tov d-Qvnrö^avov r/'^fro ccvtov, ei
Q^sovg vsvö^ixs^ tov ö' ovrco voiiCt,Biv %-£ovc; (ptjßavTog, tag
nal aQcSv avrcSv aal tcov yd^cov fiv}]^ov£v6avtog^ ovg &v-
Gsiv rjystto, os ^bv noLi^tal, ag))^, inaCgovöi rovg 'JyxCöag
Tf nul rovg TJrilmg %Ealg ^vt,vyf^vca eiTtorrsg, iya de tisqI
TOV igäv xccl BQäo&cci tods yLyvcoöxa. Und wie sucht nun
Apollonius ihn zurückzubringen von seinem A'orhaben?
Wir erwarten, er wird ihm begreiflich zu machen suchen,
mit einer Bildsäule lasse sich keine Ehe schliessen. Kei-
neswegs, vielmehr sagt er, Götter lieben nur Götter, es
tlarf nur zwischen Gleichen Liebe bestehen, wer dieses Ge-
setz übertritt, den triflft die Strafe des Ixion. Und der
IMann ging darauf hin und opferte vtisq ^vyyvä^tjg. Diese
Geschichte wird nur dadurch erklärt, dass das Götterbild
für den Griechen nicht ein Bild, sondern die Avirklichc Gott-
heit war, nicht ctAvas Todtes, sondern der lebendige Leib
der Gottheit, den ihr Numen erfüllt ^'*). Ebenso wird die
andere Geschichte von der Befleckung der knidischen Aphro-
dite bei Lucian ^°) , welche die Tempelwärterin dem Lyki-
nos und seinen Begleitern erzählt, nicht als etwas Wunder-
bares, sondern nur als ein Frevel gegen die Gottheit mit-
p-etheilt. Hier ist auch von brutaler Sinnlichkeit nicht die
Rede, vielmehr hat die ganze Erzählung einen durchaus
schwärmerischen Character. Der Jüngling steht Tage lang
vor der Göttin, die Augen auf sie gerichtet, er schneidet
sein iCAcpQOÖCrri xaAij» in alle Bävmie, er versucht ein Wür-
felorakel, bis ihn endlich die Leidenschaft zum Excess
treibt. Die Deisidämonie hat ihn verlassen , er sieht in der
Göttin nicht mehr einen Gegenstand der Verehrung , son-
dern der Liebe. Dass aber die meisten dieser Erzählungen
sich auf Bilder des Eros und der Aphrodite, beziehen, er-
ö
59) Dies ist von Feuerbacli Vatic. Ap. p. 24 f. sehr schön aus-
geführt. Vgl. auch Bütticher Tektonik II p. 130.
60) Amor. c. 15 f.
— 31 —
klärt sich von selbst. Eben die (iewalt der Hchönlieit über
das griechische Gemüth; die so mächtig ist, dass sie die
fromme Scheu aus dem Herzen drängt, ferner der Glaube,
dass die Statue der leibhaftige Gott ist, sind die Ursache
solcher Erscheinungen und man könnte fragen, ob diese
Erzählungen sich nicht vielmehr als Beweise für die höchste
Lebendigkeit und zauberhafte Schönheit jener Statuen an-
führen Hessen, zumal da sie sich an solche knüpfen, von
deren L.obe das Alterthum voll ist?
Aber es bleiben noch zwei Epigramme^'), welche Brunn
anführt zu einer ähnlichen Folgerung, wie die Stellen Lu-
cian's. Das eine heisst:
Aq^Qoyei'Oiig Ilacpnjg ^a&eov TfSQidsQuso KukXog
Kai Xe^sig' aivcS xov (pQiiya tfjg KQiGscog.
Axd'löa ÖEQKO^evog itali JJccklaöa^ rovro ßojjßeig'
(og ßovxt]g o IlaQig Ttivde TCdQETQO^^aöe.
das andere:
Tav Kviöiav Kv&eQEicuv löcov^ ^f'^^i to-Dro xfi' siTXOig-
avTCK xal &VCCTCÖV ccqx^ ''^^ ad'avarcov •
rav ö ivl KEKQOTTLÖaig doQv&ccQasa IlulXaöa IevGGcov
avöaoEig- ovrag ßovKoXog i]v o ÜK^ig.
Hieraus wird nun gefolgert''-), ((dass auch die Alten
schon diesen Gegensatz (zwischen körperlicher und gei-
stiger Schönheit) in seiner ganzen Schärfe empfanden, leh-
ren jene beiden Epigramme auf die knidische Aphrodite
und die lemnische Athene, in denen Paris ein Rinderhirt
gescholten wird, weil er den körperlichen Reizen der Aphro-
dite den Preis vor der geistigen Schönheit der Athene zu-
erkannt habe» (!). Fragt man nun zunächst, warum sich
diese Epigramme auf die lemnische Athene des Phidias be-
ziehen sollen, so ist die Antwort, weil es Brunn so be-
liebte; wahrscheinlich um jenen Gegensatz aufstellen zu
können zwischen dem specifisch schönsten Werk des Phi-
61) Bninck Anall. III p. 200, u. 248. I p. 262.
62) p. 348 u. 204.
— 32 —
clias und dos Praxiteles. Hütte er genauer die Epigramme
ansehen wollen, so hätte er einen positiven Gegengrund
gegen die Beziehung auf die Lemnierin gefunden. Es wird
der Athene in dem zweiten das Beiwort doQvd^aQO}]g gege-
ben. Wie passt nun dieses auf die durch ihre Schönheit
berühmte Lemnierin, die unbewaffnet, nicht als streitbare
Jungfrau gebildet war, wofür Brunn (p. 183) selbst die
Stellen anführt? Vielmehr weist dieses Epitheton entweder
auf die Parthenos oder auf die Promachos, am passendsten
ist es für letztere. Nicht so gewiss ist die Beziehung des
ersten Epigramms, doch spricht das Beiwort 'yir⁣ jeden-
falls mehr für eine von jenen beiden, als für die von der
Lemnierin auf die Akropolis gCAveihte. Ferner: Wo steht
etwas von dem Gegensatz zwischen körperlicher und gei-
stiger Schönheit? Brunn müsste denn etwa ^dd^sov xäXlog
übersetzen wollen «sinnliche Schönheit». Wo steht, dass
Paris «den körperlichen Reizen der Aphrodite den Preis
vor der geistigen Schönheit der Athene zuerkannt habe»?
Es macht eigne Empfindungen, bei solcher Exegese einen
Praxiteles tadeln zu hören. Li den Epigrammen ist es be-
kanntlich nicht selten, dass man das Lob von Hera-, Athene-
oder Aphroditebildern bezieht auf das Parisurtheil *'^) ; so ge-
schieht es auch hier. Der Sinn des ersteren (von dem übri-
gens noch nicht ausgemacht ist, ob es sich auf die Kni-
dierin bezieht) ist: Sieht man die göttliche Schönheit der
Aphrodite, so wird man einstimmen in das Urtheil des Pa-
ris; sieht man aber die attische Pallas, so wird man sagen:
Welch' ein Tölpel war Paris, dass er an dieser vorüber-
ging! Das andere sagt: Siehst du die knidische Aphro-
dite, Fremdling, so möchtest du wohl sagen: Herrsche al-
lein über Sterbliche und Unsterbliche ; erblickst du aber die
speerkühne Pallas, so wirst du sagen: der Paris war in
Wahrheit ein Rinderhirt, d. h. er hatte kein Urtheil über
Schönheit. Wer wird nun wohl nach Ausdruck und Paral-
lelismus der Disticha einen andern Sinn finden können , als
63) Vgl. Bninck Anall. I p. 281, no. 41. p. 15, n. 32. Martial.
Epigr. X, 89 etc.
— 38 —
den: Diejenige ist die schönere, vor welcher der Beschauer
grade steht?
Die dritte Stelle über die knidische Aphrodite steht bei
Lucian de imag. c. 23. Hier rechtfertigt sich Lykinos vor
der als anwesend gedachten Sniyrnäerin mit diesen Worten :
iya dh — '^dtj yÜQ ^s jtQod^srcci, rccXrjQ-sg siTtstv — - ov dsatg
^.id-ov xal xalxov t] ikecpavtog TCSTiotrjusvoig. xa da vti ccv-
Q^QaTiav ysysvrj^sva ovx ccGeßsg ol^at av&Qcojtoig sCxa^eiv •
fxxog st ^rj 6v roüro Eivat xi]v 'Ad'r]väv vjiSLXfjcpag x6 vito
0£iötov TCSTikaö^Bvov 7] xovxo xrjv ov QavCav 'AcpQOÖtXljV^
ö inoirjOs IlQa^LXsXrjg iv KvLÖa ov nävv nokl(ov ixc5v d. h.
ich habe, dich nicht Göttinnen verglichen^ sondern Werken,
die von Menschenhänden gemacht sind; das ist aber kein
Frevel, du müsstest denn geglaubt haben, dass das von
Phidias gebildete Werk Athene sei oder das von Praxite-
les verfertigte die himmlische Aphrodite, da es doch, wie
weiter folgt, nur Abbilder seien, denn die wirklichen Bil-
der der Gottheiten seien menschlicher Nachahmung uner-
reichbar. Hier wird also die knidische Aphrodite ein Ab-
bild der himmlischen Aphrodite genannt und darin liegt der
beste Gegenbeweis gegen Schmähungen. — Wie verhält
sich nun diese Aphrodite des Praxiteles zu den früheren
Darstellungen der Gottheit? Sie unterscheidet sich wesent-
lich von der frühern Auffassung und heisst doch ovgavCa
wie jene. Ein einziges Wort löst diesen Widerspruch, Die
Aphrodite des Praxiteles ist Ideal. Sie ist die himmlische
Aphrodite, aber sie ist es nicht allein, sie ist nicht eine
Seite der Aphrodite, sondern die Aphrodite. Auf diese
Bedeutung des Ideals hat soviel ich weiss, nui' Feuerbach *^)
in einer kurzen Notiz hingewiesen, man erlaube mir daher
eine etwas nähere Begründung. Feuerbach bemerkt: «Das
Wesen der Urbilder, wie sie ein Phidias, ein Polyclet schu-
fen , beruht in der Totalität. » Das griechische Götterideal
tritt dem in tausend Gestalten zersplitterten Gott des Le-
bens grade so gegenüber, wie der sokratische Begriff der
bunten Fülle des Einzelnen. Nicht die Schönheit allein
64) Nachg-el. Sehr. III, 60.
— 34 —
haben die Gi'iechen an ihren Göttern bewundert, sondern
ebensosehr die Ganzheit; sie sahen die zersplitterte Viel-
heit des Lebens in der Kunst als Ganzes, und es liegt ein
tiefer Sinn darin, wenn es heisst, der Künstler habe den
Gott gesehen. Geht man der Geschichte der einzelnen Göt-
terbegriffe nach, so lässt sich bei manchen genau nach-
weisen, wie aus einem ursprünglich als Einheit gedachten
Götterwesen sich im Laufe der Zeit eine Menge von Göt-
tergestalten entwickelt hat, die nicht mehr das Ganze, son-
dern nur eine Seite, eine Wesensäusserung der ursprüng-
lichen Einheit darstellen. Jene ältesten mit Attributen über-
ladenen Idole zeigen noch diese ursprüngliche Einheit.
Denn wohl sieht es seltsam und lächerlich aus, wenn die-
sen Idolen der Götter alles Mögliche angehängt wird; aber
es liegt der tiefe Sinn darin, alle Wesensäusserungen der
Gottheit zu vereinigen, zu sammeln in einen Leib. Sehen
wir nicht auch bei Homer Aehnliches ? ®^) Denn ist es ein
Unterschied, wenn Homer dem einen Gott die Thätigkeit
eines andern beilegt, wenn er die Epitheta tauscht, wenn
er z. B. dem Zeus das Epitheton des Hades giebt ''®) , oder
wenn ein Cultbild mit Attributen erscheint, die uns sonst
in der Hand anderer Gottheiten zu begegnen pflegen ? Geht
man nun aus von diesen Schöpfungen eines fromm unschul-
digen Triebes, der in sich selbst einheitlich auch auf seine
Gottheit Alles überträgt, was er fühlt; verfolgt man, wie
sich aus dieser ein Wesen nach dem andern ablöst, wie
das, was ursprünglich nur eine Kraft eines ganzen Wesens
war, zu einer selbständigen Gestalt wird; rechnet man
hiezu die Reizbarkeit der griechischen Phantasie , die immer
grösser wurde, je mehr neue Eindrücke die Geschichte ihr
bot, und man wird den Idealschöpfu^jgen der griechischen
Kunst eine tiefere Bedeutung zuerkennen, als die ist, dass
sie die Lust am Schönen befriedigten. Es ist derselbe
Sinn, der das Ideal eines Gottes geschaffen und der das
alterthümliche Cultbild mit Attributen behängt, es ist auch
65) Ich erinnere an Nagelsbach's schöne Untersuchuug-en in seiner
«homerischen Theologie».
66) II. IX, 457.
— 35 —
derselbe Inhalt in beiden, nur die Form, die Erscheinung
ist verschieden. Die fromme Ahnung einer grossen einheit-
lichen Gottheit, welche das rohe Schnitzbild erweckt, ist
zum Schauen des wirklich erscheinenden Gottes geworden
im Ideal. Was der Grieche hineinschaute in sein Schnitz-
bild, das schaute ihm entgegen aus seinem Ideal; die ah-
nungsvolle Zeichensprache des erstem ist erhabene Gestal-
tensprache geworden in letzterm. Wäre der Sinn der Grie-
clien nicht genährt, wäre seine Phantasie nicht angeregt
durch die Fülle der Idee, die der Leib seines Schnitzbildes
bai'g, er hätte nie seine Ideale geschaffen. Es ist ein
grosser Sprung vom Schnitzbild zum Ideal in künstlerischer
Hinsicht, aber sie sind religiös ganz dasselbe. Das Ideal
schlummert im Schnitzbild, der Künstler hat es geweckt;
er hat die Idee beibehalten, aber er hat sie umkleidet mit
der Schönheit der Form und dadurch erst ist sie sichtbar,
ist sie gegenwärtig geworden. Nun hat die unendliche Welt
der Ahnung Gestalt gewonnen in der Kunst, die göttliche
Kraft ist göttliche Person geworden. Man meint die Grie-
chen hoch zu stellen, wenn man die Empfänglichkeit für
das Schöne ihnen beilegt, man setzt sie herab, wenn man
nur dieses an ihnen hervorhebt. Die Bewunderung, welche
der Grieche seinen Götteridealen zollte, war ebensosehr re-
ligiöser Drang, wie die Lust am Schönen. Sehen wir in's
griechische Leben. Niemand wird läugnen, dass ein be-
sonderes Organ nach Vereinzelung, nach Zersplitterung im
griechischen Geist lag: jedes sittliche Verhältniss hatte sei-
nen Vorsteher mit dem darauf bezüglichen Epitheton, jede
Tageszeit, ja jede Beschäftigung ihren bestimmten Gott,
jedes bedeutende Ereigniss bewirkte die Aufstellung eines
neuen Gottes als des Retters in diesem bestimmten Fall —
wohin wäre der griechische Gottesbegriff gerathen, wenn
nicht die Kunst mit der Ganzheit ihrer Ideale, ich möchte
sagen mit ihrer monotheistischen Tendenz dieser tausend-
fältigen Zersplitterung des einen Begriffs entgegengetreten
wäre ! Zertrümmert und zerstückt war der Gottesbegrift' im
Leben, die Kunst sammelte seine zerstreuten Glieder in
einen Leib, sie stellte nicht eine Seite des Gottes, sondern
den ganzen Gott dar, nicht einen Gott, sondern den
3*
— 36 —
Gott. Darin liegt der nicht zu berechnende Einfluss, die
befreiende, erhebende Wirkung der Götterideale auf das
griechische Gemüth. Wohl haben auch die Dichter, wohl
hat der Psalmenschwung eines Aeschylus einen Zeus ge-
schaffen, der gleich erhaben ist wie der des Phidias; aber
er bildete ihn im schnell verrauschenden Wort, Phidias
stellte ihn hin als lebendigen Körper. Vergegenwärtigen
wir uns nur den Eindruck des olympischen Zeus. Schon
die Alten rühmten, dass nicht nur Hoheit und Majestät,
sondern auch Milde und Friede in seinen Zügen wohnten;
sie sahen den Strafenden, aber auch den Erbarmenden, den
Wächter des Eides, aber auch den Hort der Flehenden,
sie sahen die Einzelzeusse des Lebens vereinigt in ihm. Er
thronte von Golde überstrahlt wie im Sonnenglanz auf den
Höhen des Olympos; die Bilderschrift seines Sessels ver-
kündete sein Wesen, seine Thaten. Als mächtigen Herr-
scher über den ganzen Erdball bezeichneten ihn Atlas und
Prometheus, die Enden der Welt, aber als der gnädige,
versöhnte Gott schickt er seinen liebsten Sohn zur Befreiung
der gestraften Titanen; Niobe mit ihren Kindern zeugt von
ihm als dem Rächer der Hybris, denn um sein Haupt wan-
deln die Hören, die Wächterinnen sittlicher und natürlicher
Ordnung. Das Ganze des ZeusbegriÖs wollte Phidias den
Griechen offenbaren. Das thut jedes Ideal, und vielleicht
liegt uns die Entstehung desselben bei keiner andern Gott-
heit so deutlich vor, als bei der Aphrodite, für die ich
das Gesagte anwenden möchte. Aus der ursprünglichen
Einheit ihres Wesens löst sich bereits in früher Zeit eine
besondere Gestalt ab, die Pandemos; es ist uns ausdi'ücklich
überliefert, dass Theseus den Cult der Pandemos zu dem
der Urania hinzugefügt hat "). In Megalopolis standen eine
Urania und Pandemos neben einer dritten namenlosen^®);
in Theben standen Urania, Pandemos, Apostrophia neben
einander"*). An diese verschiedenen Gestalten der Aphro-
dite schloss sich auch die Kunst vor Praxiteles an; Phidias
67) Paus. I, 14, 0. 22, 3. Vgl. Gerhard über Veuusidole, in den
Abhandl. d. Berl. Akad. 1843. p. 4.
68) Paus. 8, 32, 2. 69) Paus. 9, 16, 3.
— 37 —
bildete eine Aphrodite mit der Schildkröte in der einsei-
tigen Auffassung- als Urania, Scopas eine auf einem Bock
sitzende Pandemos; ein Temenos umfasste beide ^''), aber
noch nicht ein Leib. Die ganze Aphrodite , in welcher die
Gegensätze der frühern Zeit aufgehoben erscheinen, ist die
praxitelische zu Knidos; sie ist weder das Eine noch das
Andre oder sie ist das Eine sowohl Avie das Andre, weil sie
beides ist. Bekannt sind Schillers Worte '*) über die Mi-
schung der Gegensätze in der luno Ludovisi, Aehnliches
gilt von der Aphrodite , denn eben die Vereinigung des Ent-
gegengesetzten ist das Wesen des Ideals und daher kommt
es, dass die berühmtesten Kimstkenner sich in Widerspruch
befinden können über den Ausdruck eines Idealkopfs, was
nicht der Fall wäre, wenn eine Seite sich entschieden aus-
prägte. Ist das Gesagte richtig, so erklärt sich die Be-
wunderung der knidischen Aphrodite, von der das Alter-
thum voll ist. Man erblickte die ganze leibhaftige Gottheit
im Mavmorbild des Praxiteles.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied der älteren Aphro-
ditedarstellungen von der praxitelischen ist der, dass jene
noch ganz frei erscheinen von dem, was ihr .Wesen ist; sie
verleihen Liebe, aber sie fühlen sie selber nicht. Wir wis-
sen das theils aus der Erzählung über die Aphrodite des
Agoracritus , theils aus einem erhaltenen Bildwerk, welches
nach dem Urtheil der vortrefflichsten Kunstforscher der Zeit
des Phidias nahe steht, ich meine die Venus von Milo ''^).
Konnte Agoracritus seine Aphrodite in eine Nemesis um-
wandeln, so muss sie ernst und erhaben, als hohe, hehre
Göttin gebildet gCAvesen sein , ohne selbst Sehnsucht und
Verlangen zu fühlen. Und so ist auch jene Statue eine er-
habene Herrscherin ohne Mangel und Bedürfniss. Diese
einseitige Hoheit verschwindet in der praxitelischen Aphro-
dite; sie fühlt die Wonne ihres Wesens und Kunde davon
70) Paus. 6, 25, 2.
71) Aesthet. Erziehung d. Menschen. Br. 15.
72) Die Ansicht, welche in ihr eine Wiederholung der kölschen
Aphrodite des Praxiteles erblickt , steht denn doch etwas allzu stark in
Widerspruch mit den Nachrichten über den Künstler und mit dem Cha-
rakter der Werke, die man mit Sicherheit auf ihn zurückführen darf.
X d
— 38 —
giebt der Glanz ihres Auges, sie fühlt ihren eigenen Be-
griff wie der Eros des Praxiteles. Diese Umwandlung, die
uns in derselben Weise beim Dionysos begegnen wird, ist
religionsgeschichtlich ebenso wichtig wie künstlerisch: in
jener Hinsicht, — was ich hier natürlich nicht weiter aus-
führen kann — weil die göttliche Person nicht mehr frei
ist von ihrem Begriff, in dieser, weil der Ausdruck der
Empfindung , der vSeele durchdringen und zur Geltung kom-
men musste. Dies ist aber ein Punkt, auf den alle spe-
cielleren Nachrichten über Praxiteles führen.
Es ist oft daran erinnert, dass die Nacktheit der Aphro-
dite in Zusammenhang stehe mit dem Verfall der Sitten,
mit dem Aufkommen des Hetärenwesens ; ich bin weit ent-
fernt, diesen Zusammenhang zu läugnen. Es konnte nicht
eher eine nackte Aphrodite gebildet werden, als in dieser
Zeit; kein Künstler der frühern Zeit konnte es wagen, ja
er konnte nicht einmal den Gedanken fassen zu der nack-
ten Darstellung der Göttin, weil noch die Sitte zu grosse
Gewalt ausübte. Nur darf man den innern Zusanmienhang,
in dem jedes Erzeugniss zu der Zeit steht, in der es ge-
schaffen, nicht so verstehen, als sei die nackte Aphrodite
Folge jener Richtung. Die Gedanken, die Leben iind Kunst
bewegen, sind dieselben, aber ihre Erscheinung ist oft
grundverschieden. Derselbe Gedanke, der wie ein Thau-
tropfen seine Schönheit verliert im Schmutz des Lebens,
wird von der Kunst dargestellt in ursprünglicher Unschuld,
als sei er so eben herabgestiegen aus seiner lichten Heimat.
Es ist nicht wahr, dass in sittlich entarteten Zeiten die
Kunst sofort auch eine entartete sein müsse, vielmehr gilt
ier ein schönes Wort O. Müllers"): «Was man öfter in
der Geschichte des geistigen Lebens bemerkt hat , nicht die
Zustände, in denen die Völker noch ohne Schwanken auf
der Bahn der guten Sitte einhergehn, wo die Grundpfeiler
ehrenfester Gesinnung und ixnschuldigen Wandeins durch
keine untergrabenden Gewalten der Leidenschaften und des
Raisonnements erschüttert sind, sind diejenigen, in denen
die schönsten Früchte der Kunst reifen; es ist als wenn
73) Griech. Literaturgesch. II p, 20.
— 39 —
das Grosse und P]dle im Menschen des Anreizes bedürfte,
den es durch die naheliegende Gefahr der Entartung und
Verführung erhält, um in den Werken der Kunst sich zu
zeigen und das im Leben entschwundene Glück hier noch
eine Zeit festzuhalten». Dass aber die knidische Venus
voll Adel und Keuschheit gewesen, können wir ja auch aus
den erhaltenen Nachbildungen lernen. Dazu kommt noch
dies: Nach dem Ideal, nach dem Ganzen strebte, Avie ich
oben bemerkte, die Kunst; dieses Ideal zeigt die knidische
Aphrodite, war dessen VerAvirklichung anders möglich als
durch die nackte Göttin? Es sollen sich in ihr Sinnlich-
keit und Sittlichkeit mischen, Menschliches und Göttliches,
Adel und Verlangen, in welcher andern Aphrodite ist die-
ses geschehn und konnte dieses geschehn? Die Knospe tritt
heraus aus der Hülle des Kelches, wenn sie reif ist, der
Welt ihre Schönheit zu zeigen; das Gewand der Aphrodite
fiel und vor den Augen des Alterthums stand die Göttin
der Schönheit ^*).
Die erhaltenen Nachbildungen der knidischen Aphro-
dite zu registriren wäre eine überflüssige Wiederholung der
Arbeit Andrer, ich erlaube mir nur ein paar Bemerkungen
über zwei Statuen, von denen die eine der Knidierin in
ihrer Auffassung eben so nahe zu kommen scheint, wie die
andere ihr fern steht, ich meine die Venus aus Palasjt
^raschi in München und die mediceische. Denn noch im-
mer behandelt man die Frage, ob die mediceische Venus
ein Bild der knidischen sei, als eine nicht ganz entschie-
dene , da doch Müller ^') mit dem grössten Recht bemerkt,
dass die Frage wohl als abgemacht anzusehn sei. A. Stahr'^®)
74) Anders rechtfertigt ihre Nacktheit Feuerbach Nachl. III p. 119 f.
75) Hall. Literaturztg. 1835 II p. 239.
76) Torso. Kunst, Künstler und Kunstwerke der Alten. Braun-
schweig 1855 p. 337. (In diesem Buche enthält der Abschnitt über
Scopas und Praxiteles, den ich genauer studirt habe, weder eigene For-
schung noch einen fördernden Gedanken; er ist vielmehr eine Zusam-
menstellung aus den Schriften der sehr bös behandelten ,, Professoren
des Alterthums" bald mit, aber eben so oft ohne Anführungszeichen.
Ich werde nicht alle, aber hinlänglich viele Belege für dieses Urtheil
anführen. Dass aber solche namenlose Entlehnungen auch anderswo
_ 40 —
sagt, es sei nicht absolut gewiss, ob die ]Vlünz(! der Plau-
tilla die berühmte praxitelische Statue darstelle und führt
dann die Gründe auf, die auch bei Heyne ") zu lesen sind.
So lange der Grundsatz gilt, den unter Andern Levezow ■"*)
sehr gründlich ausgeführt hat und der, soviel ich weiss,
noch nicht umgestossen ist, dass die Alten das ihre Stadt
Auszeichnende auf ihre Münzen setzten, so lange ist es
gewiss, dass die auf der knidischen Münze erscheinende
Figur ein Abbild der praxitelischen Aprodite , dass also die
mediceische nicht auf sie zurückzuführen ist. Ein neuer
Grund, soviel ich weiss, gegen ihre Identität ist die Hal-
tung des Kopfes. Die Münze zeigt den Kopf im Profil,
dass dies nicht auf die Statue zurückzuführen ist, hat schon
Visconti ^"j bemerkt. Die knidische Statue Avar ein Tem-
pelbild und dieses musste das Antlitz dem eintretenden Be-
schauer zeigen. Ein Tempelbild mit seitwärts gev/andtem
Haupt hat es nie gegeben und konnte es nicht geben. Ist
auch das Urtheil, welches Müller^") über die mediceische
Venus fällt, etwas zu hart, so muss ich doch aufs Ent-
schiedenste Feuerbach*') widersprechen, welcher meint, sie
habe den Geist der praxitelischen am treusten bewahrt.
Eben das göttlich Erhabene, das in letzterer mit dem höchsten
Liebreiz vereinigt war, fehlt ihr und dazu kommt die gänz-
liche Verschiedenheit der Stellung, die durch eine Verglei-
chung mit der Münze sofort in die Augen springt und na-
türlich für den Ausdruck sehr wesentlich ist. Schon das
leise Zusammenschmiegen der Schenkel, das veranlasst
wird durch dasselbe Gefühl, Avelches die linke Hand be-
nicht fehlen, hat mich ein flüchtiges Lesen auch der übrigen Abschnitte
gelehrt. So sind auf p. 161 und 164 zwei Gedanken über den olympi-
schen Zeus aus Böttiger's Andeutungen p. 96, 97 und 103 genommen
und mit p. 215 vergleiche man Feuerbach Nachl. (ein Buch, das in
ausgedehntestem Maase benutzt ist) III, p. 10.
77) Antiq. Aufs. I p. 125.
78) Ueber die Frage, ob die medic. Venus ein Bild der knidischen
sei p. 46 ff.
79) Mus. Pio-Clem. I, p. 113 N. 1.
80) a. a. O.
81) Nachl. III, p. 124.
— 41 —
wegt, untersdieidet die Münze von der mehr entfalteten
Stellung der mediceischen Venus.
Dagegen betrachte man die Müncliener Statue ! Es kann
die Wasserlilie nicht keuscher sein, die gleich ihr eine
Tochter der Fluthcn ist. Nackt und hülflos steht sie vor
uns, die Göttin überschwänglichen Glücks, dass man sie
ein Kind des Plutus und der Penia nennen möchte, wie
den Eros der Diotima. Durch das Auge dringt der Glanz
der Wonne, die sie birgt, wie der Duft aus der neu auf-
brechenden Knospe, aber die Scham will gleichsam diese
quellende Sehnsucht zurückdrängen, sie bewegt die Hand
und drückt leise die Schenkel zusammen. Gerade darin,
dass sie picht entfaltet, was sie ist, dass sie ihr eigenes
Wesen verschliesst und in sich zurückdrängt, liegt das
Keusche und Reine. Nur das seelenverwandte Organ wird
zum Verräther.
Das Gefäss neben der knidischen Aphrodite, auf wel-
ches sie das Gewand legt, fasse ich aber so auf, wie nach
meiner Ansicht viele Attribute ruhender Figuren aufzufas-
sen sind; es verknüpft mit der ruhenden Statue eine vor-
angegangene Thätigkeit, es drückt die Ruhe als eine ge-
wordene aus. Neben dem Apollino hängt an einem Baum-
stamm der Köcher, er soll die Ruhe des Gottes als eine auf
die Thätigkeit folgende darstellen, aber nicht als ein Sein
schlechthin. Ebenso ist es mit den Flöten in der Hand des
Satyrs. Der einsame, aus dem Zusammenhang der Zeit
losgerissene Moment, den die Plastik darstellt, wird da-
durch verknüpft mit einer Handlung, die Ruhe mit einer
BeAvegung, das Sein mit dem Werden. Das war eine tiefe
Noth wendigkeit für den griechischen Geist ^^), er suchte da-
82) Zeigt nicht die Sprache etwas ganz Aehnliches ? Denn wodurch
erklärt sich anders jener bekannte schöne Gebrauch des Perfekts von
Verben der Bewegung, da wo wir das Präsens eines Verbs der Kühe
setzen und denken? Simonides (fr. 114. Bergk p. 780) sagt:
@r]Q(öv fifv yKXQTiarog syco, d'vatcov d' ov syco vvv
qiQOVQcS, rmdf räcpa latvm ifißsßcccog.
Weitere Beispiele sind überflüssig, vgl. Nägelsbach z. II. a, 37. Nichts
ist ungriechischer, als der Gedanke eines abstract ruhenden Seins;
überall zieht man es in den Fluss der Bewegung und fasst es nur als
Resultat vorangegangener Thätigkeit. Auf einem ähnlichen Princip be-
— 42 —
durch den natürlichen Zusammenhang zwischen Ruhe und
Bewegung zu wahren, denn ihm ist sein Kunstwerk kein
aus Zeit noch aus Raum losgerissenes Wesen. Bei Ge-
wandstatuen wird dies Verknüpfen zweier Momente, wie
öfters bemerkt *^), durch die Bewegung des Gewandes aus-
gedrückt; wnr sehen oft eine Statue ihrer Stellung nach in
Ruhe, aber im Gewand rauscht noch die Bewegung, wie
eine allmählich verlaufende Welle.
5. Dionysos. Der praxitelische Dionysos, den Calli-
stratus^') beschreibt, unterscheidet sich von der altern Dar-
stellung des Gottes auf ähnliche Weise, wie die jüngere
Aphrodite von der älteren. Dem altern fehlt die tiefe Sehn-
sucht, die das Wesen des Jüngern ist. Zwar bleibt auch
er Gott in dem Kreise seiner Satyrn, im Rausch des Natur-
lebens, wie Prinz Heinrich König bleibt in der Kneipe
ruht nach meiner Ansicht die leise Oeffnnng des Mundes an griechi-
schen Statuen. Denn wenn Hegel (Aestliet. II p. 398) und mit ihm
Feuerbach (Nachl. II p. 16) dieselbe durch die an und für sich schöne
und richtige Bemerkung erklären, dass beim strengen, festen Hinblicken
auf bestimmte Gegenstände der Mund sich schliesst, bei dem blicklosen,
freien Bewusstsein dagegen sich leise öffnet, so widei^pi'icht dem, dass
die Götter nicht in so freien, beziehungslosen Momenten gedacht sind.
Geschlossne Lippen würden namentlich im Marmor etwas Todtes und
tStarres haben ; die leise Oeffnung des Mundes weckt den Begriff von
Thätigkeit und Leben. In der Malerei ist uns überliefert, wer zuerst
den Mund an seinen Figuren geöffnet hat, in der Plastik nicht, allein
auch hier wird es ein grosser Fortschritt gewesen sein. Geschlossne
Lippen, wie sie z. B. jene alten Terracotten bei Gerhard Ant. Bildw.
1 ff. zeigen, stellen die Gottheit als ein abgeschlossnes, in sich zurück-
gezogenes Sein dar; wird der Mund geöffnet, so tritt die Gottheit
gleichsam aus sich heraus und in Beziehung zu einem Andern ; sie redet
zum Menschen. Sieht man die Zeusmaske von Otricoli, ist es nicht,
als ob eine erbarmende Eede , etwa ein ov fiiv yaQ tC nov icziv ot^v-
QcötEQOV avSQÖg ihre Lippen bewegt? — Hiermit scheint Schnaase Ge-
schichte d. bild. K. II, 104 übereinzustimmen, indem er sagt, der
Mund sei stets ein wenig geöffnet ,,wie zur Rede".
83) Feuerbach Nachl. II, p. 34.
84) Stat. VIII. Stahr p. 361 identifizirt diesen Dionysos mit dem,
welcher nach Paus. VI, 26, 1 zu Elis in einem Tempel stand, weil er
den Callistratus nicht angesehen hat. Denn dieser sagt ciXcog jjv kkI
Jt.6vvaog narrj-nsi. Uebrigens vgl. mit p. 360 Müller's Handb. §. 383.
— 43 —
von Eastcheap, aber er ist sehnsüchtig und träumerisch.
Jener ältere Dionysos schaut mit freiem klarem Auge über
sein Reich, die Natur; seine vSeele ist still und heiter, wie
es dem Göttergemüth geziemt, aber der jüngere ist voll
Sehnsucht und Trübsinn. Sein Blick ist niedergebannt in
die Natur, deren Freude und Trauer in seinem Herzen
wiederklingt, sein Auge ist sehnsüchtig schwärmerisch
(ofificc ds Yiv tcvqI diavysg, ^avixov idstv)'^ das Götterge-
müth ist hinabgezogen ins Naturleben und fühlt tief die
Lust und das Weh seines eignen Wesens. Wir kommen
auch hier darauf, dass Praxiteles sein Hauptaugenmerk ge-
richtet hat auf die Darstellung der Seele.
III. •
Wenn ich nicht irre, so verräth Cicero an einigen
Stellen eine besondere Vorliebe für die Kunst des Praxi-
teles. Er sagt in der vierten Verrina ') : Videamus, quanta
ista pecunia fuerit, quae potuerit Heium, hominera maxinie
locupletem, minime avarum, ab humanitate, a pietate, a
religione deducere. Ita iussisti, opinor, ipsum in tabulas
referre: «haec omnia signa Praxiteli, Myronis, Polycliti
sestertium sex milibus et D vendita esse.» Rettulit. Recita
ex tabulis. luvat me haec praeclara nomina artilicum, quae
isti ad caelum ferunt, Verris aestimatione sie concidisse.
Cupidinem Praxiteli sestertium MDC! Profecto
hinc natum est «malo emere quam rogare»"^). Warum nun
dieser Ausruf über den Cupido des Praxiteles, wenn nicht
1) cap. 6.
2) Die vier Statuen scheinen Stück für Stück zu demselben Preis
verkauft zu sein oder richtiger als verkauft fingirt zu werden. Der
Gesammtpreis soll 6500 Sestertien betragen haben; freilich ist die Zahl
D in den Handschr. verderbt (vgl. Halm z. d. St.) allein da sie nur
die Hunderte angeht , so ist das nicht wesentlich. Für den praxiteli-
schen Cupido werden 1600 Sestertien angesetzt; diese Zahl mit 4 mul-
tiplicirt giebt 6400.
— 44 —
desswegen, Aveil bei ihm das Miss vorhältniss zwischen Preis
und Werth am grössten war, weil Cicero diese Statue für
die schönste von den vieren hielt? Und das ist um so be-
merkenswerther, weil er cap. 3 den Hercules des ]\lyron
egregie factus nennt, an den Kanephoren des Polyclet aber
eine eximia venustas rühmt. Weit wichtiger ist eine andre
►Stelle, die ich aber besser an das Ende dieser Ausführung
setze, weil ihre Bedeutung sofort in die Augen springt,
nachdem erst die weiteren characteristi sehen Urtheile über
die Kunst des Praxiteles erörtert sein werden.
Quintilian ^) bemerkt: Ad veritatem Lysippum ac Pra-
xitelem accessisse optime affirmant. Sieht man den Zusam-
menhang dieser Stelle an, wo es vom Polyclet heisst huma-
nae formae decorem addidit supra verum, wo dann vom
Phidias die Rede ist, dessen höchste Leistungen die Bil-
dungen der Götter seien, so ist es nicht zweifelhaft, dass
hier unter veritas das Anschliessen an die Natur verstan-
den ist im Gegensatz einer über dieselbe hinausgehenden
Kunst. Dass aber dieses Anschliessen an die Natur nicht
ein sklavisches Copiren derselben bedeuten soll, zeigt auf
der andern Seite die Bemerkung über den Demetrius, der
similitudinis amantior quam pulchritudinis genannt ward.
Daraus nun, dass zwei nach allen übrigen Nachrichten
gänzlich verschiedenen Künstlern ein und dasselbe Prädikat
der veritas beigelegt wird — was sich im Zusammenhang
jener Stelle sehr wohl begreift, denn in dem Gegensatz
gegen die supranaturalistische Richtung ihrer Vorgänger
treffen beide zusammen — darf man natürlich nicht fol-
gern, dass Quintilian sie nicht unterschieden wdssen wolle.
Auch Scopas heisst ein di^ficovQyos ccXrjdsiag*), man muss
fragen, worin diese Naturwahrheit bestanden habe und ob
sie das letzte Ziel seiner Kunst gewesen. Ein Gemälde
Raphael's hat veritas und ein Bild wie Potter's Kuh ist
ebenfalls ein verum; wir bedürfen weiterer Nachrichten, um
zu entscheiden, was wir uns unter der veritas des Quinc-
3) XII, 10, 9.
4) Callistr. II. Vgl. über die veritas Böttiger Andeut. p. 1&2 tind
Jacobs zu Philostr. p. 687.
— 45 —
tilian^ mit welcher das oben angeführte Urtheil des Statius :
Marmora qiiae vivant caelo Praxitelis , vollkommen stunmt^
zu denken haben. Brunn ^) erklärt in Einklang mit seinem
Princip, den Praxiteles als den Künstler der körperlichen
Schönheit zu fassen, die veritas als die naturgetreue Dar-
stellung der Oberfläche des Körpers. Zunächst leuchtet ein,
dass dies eine willkürliche Beschränkung eines allgemeinen
Urtheils auf etwas ganz Partielles ist. Ferner ist wohl zu.
begreifen, wie lebendige Stellungen oder ausdrucksvolle
Mienen einer Statue das Prädikat der veritas verschaffen
können, aber unbegreiflich ist, wie eine Eigenschaft, die
auch dei: Wachsgruppe eigen sein kann, dies vermögen soll.
Endlich hätte Quinctilian nach Brunns Ansicht ein Urtheil
ausgesprochen, das wesentlich auf das Technische sich be-
zieht; dass aber ein solches nicht gemeint sein kann, lehrt
ein Blick auf den Zusammenhang jener Stelle. Die veritas
des Praxiteles steht im Gegensatz zum Phidias. Sie be-
zieht sich, um das minder Wichtige voranzuschicken, zu-
nächst darauf, dass Praxiteles seinen Figuren ein der
menschlichen Grösse entsprechendes Körpermaas gegeben
hat. Die Kunst steigt herab von dem Kothurn, auf den
Phidias sie erhoben hatte. Zwar spricht Lucian*) von den
grossen Kolossen, wie sie Phidias oder Myron oder Praxi-
teles geschaffen; die Hera Teleia des Letztern zu Plataeae
nennt Pausanias ein ^eyäQ-Si äya^^a ^syu und von seiner
Artemis zu Antikyra sagt derselbe Berichterstatter ®), sie
sei an Grösse vtcsq trjv fi£yi6ri]v ywatza^ allein wir dürfen
gewiss annehmen, dass er für die Hauptmas^se seiner Sta-
tuen nicht das Maass der menschlichen Grösse überschrit-
ten haben wird. Aber nicht nur äusserlich hat er seine
Statuen dem menschlich Wahren angenähert, er hat sie
auch begabt mit Seele und Emptindung. Dies lehrt Dio-
dor®), welcher, von den berühmtesten Künstlern redend,
nur zwei namhaft macht, den Phidias und Praxiteles eben-
so wie Philostratus in der oben angefüKrten Stelle. Dio-
dor's Urtheil bezieht sich auf den Künstler überhaupt, es
5) p. 353. 6) Gall, cap. 24. 1) IX, 2, 7. 8) X, 37, 1.
9) Exe. Hoesch. 1. XXVI, 1. p. 512 Wess.
— 46 —
lautet so bestimmt wie kein andres, es stimmt mit allem
Resultaten , die sich von andern Seiten her für die Kunst
des Praxiteles ergeben, man sollte es daher zum Eckstein
dieser ganzen Untersuchung machen. Phidias, sagt Dio-
dor, sei ^äXiöta rsd-avfiaö^e'vog inl ry räv ikscpuvzCvav
ccyaX^cctcov xaraaxsv^ , von Praxiteles aber sagt er : 6 xa-
tafiC^ag axQcog xoiq h&ivoLg eQyoig tcc Tfjg ipvx'^S Tcdd^rj. Be-
trachten wir zunächst wie Brunn dieses Urtheil benutzt hat.
Er sag-t'"): «Den Ausdruck Diodor's, Pi'axiteles habe dem
Steine t6 t^^ i^vx^js ndd")] beigemischt, werden wir hier-
nach (Brunn spricht von den Silenen des Praxiteles, bei
denen «nicht der Charakter einer leidenschaftlichen Ausge-
lassenheit, sondern einer muntern gemiüthlichen Behaglich
keit vorauszusetzen sei » 5 wie daraus freilich die Unrich-
tigkeit des allgemeinen Ausspruches Diodor's folgt, sieht
man nicht ein) nicht in seinem strengsten Sinne gelten las-
sen dürfen». Warum nun Brunn das Wort dxQcag, das, wie
.Jeder sieht, nicht unwichtig ist, nicht angeführt hat, dar-
auf giebt es nur wieder die Antwort, dass Brunn nicht ein
urkundliches Bild von Praxiteles entw^erfen wollte, sondern
ein willkürliches. Es ist ferner falsch, w'enn er sag-t, er
könne das Urtheil Diodor's nicht «in seinem strengsten
Sinne» gelten lassen, vielmehr lässt- er es gar nicht gelten,
denn sein allgemeines Urtheil über Praxiteles ist dieses,
dass er «sein Augenmerk auf die Erscheinung des Körper-
lichen gerichtet habe»; dem widerspricht schnurstracks das
ebenfalls allgemeine Urtheil Diodor's. Es fragt sich, wie
das Wort Ttd&t] hier zu verstehen ist. Böttiger ") übersetzt
es «lebendigster Ausdruck der Seele und der Affecten» und
ähnlich erklärt Feuerbach '^). Wie die Alten T^d^og und
Ttd&og unterschieden haben, ist bekannt'*) aber das Wort
Tidd^og steht nicht immer in dem einseitigen Sinn als Gegen-
satz zum i^&og, sondern es hat auch eine allgemeinei-e Be-
deutung, es bedeutet allgemein die Stimmung der Seele,
10) p. 356.
It) Andent. p. lOi.
12) Nachl. III p. 107.
13) Vgl. die Stelleu bei Meyer zu Winckelmaun Buch 5. Kap. 3.
Anm. 1.
— 47 —
sowohl die ruhige, als die bewegte. Hierfür giebt Xeno-
phon ''') ein schlagendes Beispiel. Socrates fragt den Bild-
hauer Kleiton: To ds xccl ra Tcdd^rj rcöv noiovvtav ri 6c3-
liccrcov ccTto^i^stöd^at ov noist nva rsQipLV rotg ^fCJfifiVotg;
Eixog yovv ^ scpTq. Ovxovv xal rcov ^£V ^a%o^ivcov ccjisclrj-
tixa TC( o^i^ata ajietxaöteov, rcöv da vsvixtjxoTOv £V(pQaL-
vo^svcov 7] öipLQ ^L^r]XEa\ UcpöÖQK y\ ecpr]. Jet äga^ £'g)r],
xov avÖQLKVtOTCOiöv TCc TTJg Jpvx'^S SQycc ta sl'dsi jtQogsixä-
t,£i,v. Dass hier näO'rj in allgemeinem Sinn verstanden wer-
den musS;, lehrt das gleichbedeutende -ipvxrjg SQya und der
neueste Herausgeber der Memorabilien übersetzt näd^ri sehr
richtig durch « Seelenstimmungen ». Ist es nun nach die-
sem Beispiel möglich, den Ausspruch Diodor's in allge-
meinem Sinne aufzufassen, so scheint mir diese Erklärung
nothwendig, wenn man die Worte selbst ansieht. Nicht
auf Tcäd^r] liegt der Ton, sondern vielmehr auf -ipi^xVS, c^enn
dieses Wort steht im Gegensatz zu Xid^tvoLg und der Ge-
danke ist nicht der, dass Praxiteles eine Seite des Seelen-
lebens, die Leidenschaft dargestellt habe, sondern es heisst
allgemein: er hat in hohem Grade dem Stein die Stimmun-
gen der Seele eingeflösst. Man könnte nun gestützt auf
diesen Ausspruch Diodor's mit hinlänglicher Sicherheit be-
haupten, dass Praxiteles in der Bildung der Köpfe vor-
züglich gewesen sein müsse, denn der Träger des Aus-
drucks , der Theil des Körpers , in dem die Seele erscheint,
ist eben der Kopf; wir brauchen aber diesen Schluss gar
nicht zu machen, denn wir haben ein ausdrückliches Zeug-
niss, welches die praxitelischen Köpfe rühmt. Cicero*^)
spricht davon , dass , um seine eignen Worte zu gebrauchen,
casus veritatem imitari potest. Nun heisst es : Carneadem
fingere dicis de capite Panisci. Quasi non potuerit id eve-
nire casu, et non in omni marmore necesse sit inesse vel
Praxitelia capita. lila enim ipsa efficiuntur detractione,
nee quidquam illuc affei'tur a Praxitele: sed cum multa
sunt detracta et ad lineamenta oris perventum est, tum in-
tellegas , illud, quod iam expolitum sit, intus fuisse. Es
14) Memorab. III, 10, 8.
15) De divin. II, 21, 48.
— IS —
ist eine ähnliehe Aeusserung, wie die bekannte i\Iiehel An-
gelo's , dass die Statue bereits im Steine stecke. Die Worte
aber, sogar praxitelische Köpfe stecken im Stein, setzen
doch wohl voraus, dass Praxiteles in seinen Köpfen das
Höchste erreicht hat in der Darstellung dessen, was man
an einem Kopf zu loben pflegt, nämlich des Ausdrucks.
Blicken wir nun noch einmal anf Lucian's Imagines '*) zu-
rück. Zur Composition der smyrnäischen Schönheit wird
von der knidischen Aphrodite nur der Kopf genommen,
denn den übrigen Körper könne man wegen der Nacktheit
nicht brauchen; am Kopfe aber wird besonders gelobt die
Behandlung des Haares und der Stirn, der schöne Zug der
Augenbrauen und — das Feuchte, Glänzende und Liebliche
des Auges, also der Ausdruck in dem Organ, welches
Kunde giebt von der Seele. Wo wird von einer vorpraxi-
telischen Statue der Glanz des Auges erwähnt? Denn es
ist hier doch wohl von etwas Andern die Rede, als von
dem Glanz, den die in die Augenhöhlen eingesetzten Edel-
steine von sich gaben. Das ist der Flammenblick der Gott-
heit (^Sstva de ot oGOa cpccavd'sv), hier ist es die Seele, die
durch"s Auge leuchtet. Der Plastik ist eigentlich die Dar-
stellung des Auges versagt; auf dem Mangel des beweg-
lichsten, unruhigsten Organes, das mehr als jedes andre
den Menschen aus sich heraus in die Aussenwelt zieht, be-
ruht zum g-rossen Theil die abgeschlossne Ruhe der Statue,
aber auch der tief welmiüthige Eindruck , dessen sich wohl
Niemand erwehren wird, der zum ersten Male in ein An-
tikencabinet tritt. Die Statuen sind wie die blinden Sän-
ger des Alterthums eingeschlossen in ihre innere Welt, es
fehlt ihnen das Auge für die bunte Fülle der Erscheinung,
die Welt ist nicht da für sie, sie vermag nicht einzudrin-
gen in die Blinden. Aber auch sie vermögen nicht zu ant-
worten; ihre Seele kann nicht, wie ein Echo auf den Reiz
der Erscheinung heraustreten in das Auge , kann nicht leuch-
ten im Glanz der Freude, nicht umflort werden vom Schleier
der Welimuth, sie ist eingeschlossen und eingekerkert. Und
doch konnte man an der Aphrodite des Praxiteles ein glän-
16) cap. 6.
— 49 —
zend Auge loben , doch sah man die Schwärmerei im Auge
seines Dionysos , die Sehnsucht in dem seines Eros "), denn
er ist derBihlner der Seele. Man wird fragen müssen, wie
sich die Köpfe des Phidias zu denen des Praxiteles ver-
halten haben werden; sind sie etwa ohne Ausdruck gewe-
sen? Gewiss nicht, allein der feinere Ausdruck, die Dar-
stellung der Empfindung, die auch in der leisesten Falte
des Gesichts erscheint, fehlte ihnen und musste ihnen feh-
len. Ich will mich nicht auf einzelne Thatsachen berufen,
wie auf die Minerva des Phidias **) , die er im Wettstreit
mit seinem Schüler Alkamenes verfertigte, sondern nur im
Allgemeinen darauf hinweisen, dass bei einer Colossal-
statue alles' Feinere des Ausdrucks für das Auge völlig
verschwindet aus dem einfachen Grunde, weil die Entfer-
nung eine zu grosse ist. Ausserdem aber scheint das Er-
habene — denn dieses Prädikat gebührt wesentlich der
Kunst des Phidias — seiner Natur nach nur in grossen
Zügen zu wohnen und den feinern, seelenvolleren Ausdruck
wie eine Erniedrigung zu verschmähen'*). Es ist hier zwi-
schen Phidias und Praxiteles ein ähnliches Verhältniss, wie
zwischen Aeschylus und Sophocles. Die Characteristik der
sophocieischen Figuren ist feiner als die des Aeschylus,
dessen Gestalten gleichsam durch gewaltige Meisselschläge
geschaffen sind; so stellt Praxiteles den feinen Seelenaus-
druck dar statt der grossen erhabenen Züge, die Phidias
schafft. Und der Parthenonfries? Versucht man sich der
Gründe bewusst zu werden, worauf die Bewunderung des-
selben beruht, so ist es gerade das Fehlen dessen, was den
Praxiteles auszeichnet. Ein tiefer Seelenschlummer ist aus-
17) Callistr. VIII. IV. XI.
18) Vgl. über die bekannte Erzählung Wieland: Die Perspectiv iu
den Werken der Griecli. Maler Bd. 45 p. 155 f.
19) Man vergleiche hier auch die grossen, aber nicht seelenvollen
Züge der Venus von Milo. Sehr richtig bemerkt Thiersch Epoch. p.
374 dass die Züge der Venus von Medici „ungleich wärmer" seien.
Dass eine Aphrodite aus der Zeit des Phidias noch nicht den Schmelz
der Empfindung im Angesicht gezeigt haben kann, den Praxiteles der
seinigen gegeben, lehrt die Geschichte von der Aphrodite des Agora-
critus.
4
— 50 _
gebreitet über alle Figuren; grade darin liegt das AYohl-
tliuende fürs Geniütli. Man glaubt sieh versetzt in eine
Zeit der Sitten- und Gedankenunschuld, in welcher die
Welt des Gremüths, der Empfindung noch nicht herausge-
trieben ist aus sich selbst. Jene Jungfrauen, die auf das
Wort des Priesters lauschen, sind ganz Einfalt und An-
dacht, jene rosstummclnden Jünglinge ganz Lebensfrische
und Lebensfreude, aber die Seele schläft noch. Der in-
nerste Grund aber, dass Praxiteles nicht mehr die Ruhe
der Erhabenheit, nicht mehr den Frieden der Unschuld dar-
stellte, sondern das bewegte Leben der Seele in Mienen
und Zügen des Gesichtes zur Erscheinung brachte, liegt in
jener grossen culturhistorischeu Wendung um die Zeit des
peloponnesischen Krieges, die i'echt eigentlich das Leben
aus seinem Frieden aufgeschreckt hat. Oft hat man dar-
auf aufmerksam gemacht , wie in der antiken und moder-
nen Kunstentwicklung die Bildung des Kopfes und des
Leibes nicht gleichen Schritt mit einander halten; für die
Behauptung, dass die Bildung des Kopfes erst durch Praxi-
teles zur höchsten Vollkommenheit gebracht ist, brauche
ich mich nicht auf die innere Nothwendigkeit zu beziehn,
welche dieser Thatsache zu Grunde liegt, ich berufe mich
einfach auf das Urtheil Cicero's. Erst Praxiteles hat die
Psyche mit dem Stein vermählt xind im Marmor gleichsam
den Schlag des Herzens geweckt. —
lY.
Ich gehe über zu der Frage, warum die Bilder des
Eros, des Dionysos und der Aphrodite in der Kunst des
Praxiteles so sehr in den Vordergrund treten, denn man
wird mir zugeben, dass es nicht Zufall ist, wenn in der
einen Kunstperiode diese, in der andern jene Göttergestal-
ten ihre Ausbildung zum Ideal erhalten. Vielmehr lieg-t
eine innere Nothwendigkeit in der successiven Erscheinung
der verschiedenen Götterideale und wenn es mir gelingt,
— 51 —
zureichende Beweise für dieselbe beizubringen, so wird es
erlaubt sein, jene Ansicht, welche die Hand des Praxiteles
durch Phryne's Schönheit regiert sein lässt, zurückzuwei-
sen. Stalir'j meint ihn hochzustellen, indem er ihn zum
sentimentalen Anbeter der Hetäre macht, er weiss auch,
dass jenes Epigramm am Sockel des thespischen Eros vom
Künstler selbst gedichtet war'^) — was diejenigen, welche
die Quellen angesehn haben, nicht wissen — solche An-
sichten stellen in der That den Praxiteles eben so hoch,
Avie den ((Olympier» die Annahme, dass Aspasia ihm
seine Weisheit soufflirt habe. Keineswegs läugne ich das
Verhältniss des Künstlers, zur Phryne, aber ich läugne,
dass dieser Zufall, dieser persönliche Umstand der Grund
für die Idealschöpfungen des Eros und der Aphrodite ge-
wesen. Auch ohne eine Phryne wären sie geschaffen, es
verräth wenig Einsicht in geschichtliche Entwicklungen,
wenn man aus persönlichen Zufälligkeiten eine Thatsache
ableitet, auf deren Erscheinung die vorangehende Zeit viel-
fach hindeutet und vorbereitet.
1. Dass Eros erst spät in die Kunst eintritt, dafür liegt
der Grund zunächst darin, dass er ein sehr junger Gott in
Athen war. Erst im Zeitalter des Pisistratos hatte der
Athener Charmes ihm einen Altar in der Akademie errich-
tet; vorher hatte er keinen Cult in Athen ^). AVenn aber
ein neuer Gott aufgenommen wird in die Zahl der bereits
bestehenden, so hat er damit nicht sofort Gestalt gewonnen
im Volksbewusstsein, sondern es ist eine gewisse Zeitfrist
nothwendig, die ihn zu einem lebendig geglaubten Wesen
macht. Dann erst zieht ihn die Kunst, welche zu allen Zei-
ten durch die Religion angeregt ist, in ihren Kreis und so
wird uns denn weder von Phidias noch von seinen Schülern
eine Statue des Gottes genannt. Wie aber Eros allmählich
an Bedeutung und Einfluss gewinnt, das zeigt Nichts deut-
licher als die dramatische Poesie. Aeschylus kennt noch
nicht den Gott Eros *), bei Sophocles und Euripides tönen
1) p. 332. vgl. p. 341. 2) p. 358.
3) Paus. I, 30, 1.
■1) Klaujseu Tlicolog. Aescli. p. 91: Deum Aiuorem ;ipud Aeschyluln
4*
— r)2 —
Chorgesiinge zu seinem LoLe und besonders in den Stücken
des Letzteren tritt die Liebe als dramatisclies Motiv im
ausgedehntesten Maasse auf. Aber nicht allein die Poesie,
sondern auch, was ich nicht weiter auszuführen brauche,
das Leben zeugt durch manche neue Erscheinungen von
dem wachsenden Einfluss der Liebe, es hat daher die jün-
gere attische Schule in ihren Erosbildern nur die ihre Zeit
bewegenden Gedanken dargestellt.
2. Aphrodite. O. Müller ^) nennt die Tragödie des
Aeschylus eine virago ; auch die Kunst des Phidias lässt
sich so bezeichnen, es fehlt ihr das weiblich Seelenvolle.
Die Gottheit, welche am wenigsten AVeib ist, hat durch
Phidias ihre Vollendung erhalten, die, welche es am mei-
sten ist, durch Praxiteles. Z^var hat auch Ersterer die
Aphrodite mehrfach gebildet, allein in ernster und strenger
Auffassung, wie ich oben nachgewiesen habe, Praxiteles ist
der eigentliche Bildner des AVeibes ®). Auch dies wird vor-
bereitet durch Poesie und Leben. AVohl hat Aeschylus in
seiner Kassandra ein Frauenbild von unerreichbarer Zart-
heit geschaffen, aber die Tiefen einer Frauenseele haben
erst Sophocles und Euiüpides erschlossen, und immer wird
man, Avenn von Darstellung des weiblichen Gemüthes die
Rede ist , zunächst an eine Antigone und Electra , an eine
Deianira und Medea denken. Auch im Leben öffnet sich
die Pforte, Avelche die Frau verbarg, sie tritt heraus an die
Oeffentlichkeit ; mit der Auflösung des griechischen Lebens
erscheint das Element, welches in der Blüthezeit gänzlich
untergeordnet war. Wenn also Praxiteles das Ideal der
Weiblichkeit geschaffen, so ist er auch hierin der geistigen
Strömung der Zeit gefolgt.
3. Dionysos. Das Gefühl für die Natur nimmt bei den
Griechen in demselben Maasse zu, wie der Glaube an die
Götter abnimmt. Derjenige Dichter, der die Götter auf-
non invenimus — qui maximam apud Sophoclem habet potentiam
(n. 165).
5) Griecli. Literaturgescli, II p. 40.
6) Die Amazonenbilder, welche zur Zeit des Phidias ein nicht eben
seltner Vorwurf gewesen zu sein scheinen, verschwinden in der Jüngern
attischen Schule ganz und aar.
— 53 —
löst, hat das innigste Naturgefühl. Bernhardy '') hat die
feine Bemerkung gemacht, dass in Euripides bereits An-
klänge moderner Empfindsamkeit für die Erscheinungen
der Natur hervortreten, während seinen Vorgängern die
Natur nur wie die Bühne für Götter und Menschen ist.
Diese Erscheinung ist Avohl nothwendige Folge des wanken-
den Götterglaubens. So lange die Götter lebendig waren
im Bewusstsein des Volkes, galt die Natur nur als Schau-
platz ihres Wirkens, sie war abhängig und ohne selbstän-
diges Interesse; mit der Auflösung jener musste das Natur-
leben eine freiere Bedeutung gewinnen, man musste anfan-
gen, die Seele der Natur zu ahnen®). Diese Richtung offen-
bart sich 'nun auch in den Stoffen der Jüngern attischen
Schule. Es treten uns diejenigen Götter und Dämonen ent-
gegen, die in tieferm Zusammenhang mit der Natur stehen,
als die Götter des Phidias; es sind die Wesen, in denen
die Gegensätze des Naturlebens, selige Wonne und melan-
cholische Trauer sich vereinigen. Phidias hat die naturfrei-
sten und geistigsten Gottheiten gebildet, Zeus'') und Athene
und seine Aphrodite Avar noch eine ernste und strenge Herr-
scherin; nun aber tritt die Natur ein in das Gebiet der
Plastik. Praxiteles richtet sich auf die Darstellung des
Dionysos und mit ihm des Geschlechts der Satyrn, Silene
und Nymphen, er schafft die Demeter, Persephone, Flora,
Triptolemus; Scopas die Nereiden, die Wellenmädchen der
Griechen. IMit Recht bemerkt Müller *") in seiner schönen
Ausführung dieses Werks von Scopas, schon der Versuch,
7) Encyclop. v. Erscli und Griiber s. v. Euripides p. 141. Vgl.
Griech. Literaturgesch. Zweite Aufl. I p. 140.
8) Auch die Vasenbilder ziehen erst in ihren spätem Perioden statt
der Thaten von Göttern und Heroen Naturerscheinungen in den Kreis
ihrer Darstellungen. Wie selten sind z. B. Lichtgottheiten auf ar-
chaischen Vasen, und wo sie erscheinen, da sind sie fast durchgängig
nur mythologische Figuren wie Eos (Müller Denkm. d. n. K. I, XIX.
99) und Helios (Gerhard Lichtgottheiten, in den Sehr, der Berl. Akad.
1839. Taf. 1). Welch' inniges Natui-gefühl setzt dagegen der Sonnen-
aufgang des Musce Blacas voraus!
9) Ich braiiche wohl nicht zu bemerken, dass die Colossalbilduug
des Zeus durch Lysippus aus grundverschiedenen Motiven herzuleiten ist.
10) Handb. §. 125. 5 abgedruckt bei Stahr. p. 322.
— 54 —
diese Gruppe auszudenken, müsse uns mit dem innigsten
Wohlgefallen erfüllen; mit wie tiefem Gefühl muss aber
der Künstler sich in die Schönheit des Meeres versenkt
haben, in das Gleiten und Schweben der Wellen, die das
Vorbild gaben zum schlanken Loib der Nereide! Und wenn
es wahr ist, dass der Künstler empfinden muss, was er
schafft, welch' süsse Pein wird die Seele eines Praxiteles
durchschauert haben, als das Bild jenes Satyrn in ihr er-
wachte. Die Kolosse des Phidias fliehen vom Boden in die
unerreichbare Ferne des Erhabenen; zum Menschen, zur
Natur steigt die Kunst des Praxiteles herab, sie versenkt
sich in alle Lust und Wehmuth des Naturlebens. Er hat
das Thierische geadelt, er hatte selbst ein Auge für das
.unscheinbarste Thierchen, das am Boden kriecht • — ich er-
innere an seinen Sauroctonos. Welche Stellung diese Rich-
tung auf das Naturleben in der Entwicklung der Kunst ein-
nimmt, ist klar; sie vermittelt die supranaturalistische Er-
habenheit des Phidias mit der naturkopirenden veritas der
spätem Zeit. Die jüngere attische Schule hängt an der
Natur, aber nicht so, dass sie äussere Formen nachahmt,
sondern sie sucht die Seele des Naturlebens in den Göttern
und Dämonen der Natur zur Darstellung zu bringen. Dass
diese Richtung in den plastischen Formen vor Allem das
bewirken musste, was Diodor an Praxiteles lobt, leuch-
tet ein.
y.
Ich habe im Vorgehenden den Nachweis versucht, dass
die Gedankenwelt, welche in der Jüngern attischen Schule
Gestalt gewonnen, in Leben und Poesie vorgebildet wurde;
ich läugne aber, dass iln-e Darstellung irgend wie inficirt
gewesen von dem Verfall der Sitten. Die griechische Pla-
stik konnte gar nicht so schnell der zerstörenden Sitten-
verderbniss erliegen, wie das Leben und die Poesie. Eines-
— 55 —
theils liegt, woraul' Schnaase 'j und Feuerbacli '^) mit Recht
aufmerksam gemacht haben, in dem Wesen der Plastik ein
stabileres Element, anderntheils in ihrem ZAveck. Die
Schwankungen und Erregungen des Lebens, Avelche in die
Poesie vielfach hineinspielten, berührten die Plastik nicht
in dem Maasse, weil sie an den Cult geknüpft war. Dieser
ist beharrlich und stetig und so lange die Plastik mit ihm
verbunden war, ist auch sie unberührt geblieben von ver-
derbenden Einflüssen. Als aber diese Verbindung gelöst
wurde, beginnt die Kunst zu sinken. Dazu kommt ein
Drittes. Die Plastik ist eine spätere Blüthe des griechi-
schen Geistes als die Poesie. Ich begreife nicht, wie Sehern^)
sagen konnte, die dramatische Kunst habe mit der bilden-
den gleichen Schritt gehalten, noch weniger, wie Hettner "*)
soweit in ihrer Parallelisirüng gehen konnte, dass er der
Tragödie des Aeschylos Gestalten an die Seite stellt, wie
die herculanische Promachos, da es mir unwidersprechlich
scheint, dass die beiden Künste nicht gleichzeitig, sondern
nach einander sich entwickelt haben. Denn erst mit Peri-
cles konnte ein Höhenpunkt in der bildenden Kunst er-
reicht werden, schon desswegen nicht eher, weil erst durch
ihn die äusseren Mittel herbeigeschafft wurden, ohne welche
die Kunst des Phidias gar nicht möglich war. Da aber
hatte die Tragödie, welche nach ihrem Wesen von den
zwei für die Plastik gleich nothwendigen Bedingungen ei-
nes innerlich und äussei'lich reichen Lebens vorAviegend nur
des ersteren bedarf, ihr erstes Stadium vollendet; Aeschy-
los lag im Grabe, als Phidias seine höchsten Werke schuf.
Darin aber liegt die tiefe Gesetzmässigkeit der athenischen
Entwicklung, dass die Plastik der Tragödie nachfolgend
ein Triumvirat von Künstlern aufzuweisen hat, das die
mannigfachsten Berührungspunkte hat mit dem Triumvirat
der Tragiker.
Man Avird mir ein Bildwerk entgegenhalten, Avelches
allerdings auf Spuren von Unsittlichkeit in der Kunst des
1) Gesch. d. bild. K. II p. 139.
2) Nachl. III, p. 96.
3) Stud. d. gr. Künstl. p. 211.
4) Vorsch. z. bild. Kunst der Alten p. 21.
— 56 —
Praxiteles zu deuten scheint, seine flens niatrona und gau-
dens meretrix. '■') Allein Avir kennen nicht den Sinn dieser
Darstellung, denn etwas Tieferes, als das, was Plinius er-
wähnt, wird man wohl voraussetzen dürfen**). Aber sei es,
was Böttiger') daraus macht, so müssen wir doch zunächst
nicht unsere Begriffe von der Ehe hineintragen und fer-
ner dem Praxiteles die Entschuldigung nicht vorenthalten,
die wir andern Künstlern bereitwillig gewähren. Denn ich
brauche dafür nicht einzelne Belege anzuführen, dass wahr-
haft grosse Meister der bildenden wie redenden Kunst Ge-
genstände in den Kreis ihrer Darstellung gezogen haben,
an denen das sittliche Gefühl mit Eecht Anstoss nimmt.
Es offenbart sich darin die Doppelnatur der Kunst. Sie
wird bewegt von der Sehnsucht, die Schönheit des Gött-
lichen zu erreichen, aber daneben liegt der dämonische
Trieb, auch das sittlich Hässliche dem Auge einzuschmei-
cheln.
VI.
Es ist eine wichtige und interessante Neuerung der
Jüngern attischen Schule, dass sie im Gegensatz zu den
5) Plin. XXXIV cap. 19 §. 10.
6) Meyer Gesch. d. bild. K. II p. 112. Aiim. 141 sagt: * ohne Zwei-
fel lag im Ganzen des AVerks ein tiefer sittlicher Sinn und wir mögen
uns dasselbe nach Geist und Kunstzweck wenig verschieden denken von
den zwei berühmten Halbfiguren , Modestia und Vanitas von Leonardo
da Vinci. » Sollte vielleicht der Gegensatz zwischen Arete und Hedone
dargestellt sein etwa nach folgendem Epigramm (Brunck Anall. I p. 193
n. 14):
Ad £yco a tXujicov 'Aqstk naga xijds yicc&r]ii(XL
'HSovrj, cilcxiozcog ^ftgafisva nXo^ci^ovg,
9vudv KX^i fiByctla ß8ßoX)][iBvc<, fi'ntQ anaaiv
cc HanocpQcov TiQipig yiQfiaaov fftov v,iv.Qirai . '{
7) Andeut. p. 176. Man weiss nicht, was man dazu sagen soll,
wenn Böttiger den Hetärenkreis als das Kunstgebiet des Praxiteles be-
zeichnet.
0/
Einzelstatuen der frühern Künstler mit Vorliebe kleinere
Gruppen von je zwei und drei Personen bildet. Wie im
Drama dem einen Schauspieler der älteren Zeit durch Ae-
schylos der zweite, durch Sophocles der dritte hinzugefügt
wird, wie Socrates die zweite Person in die Philosophie ein-
führt, indem er den Dialog an die Stelle der Einzelrede
setzt, so treten auch in der Plastik statt der Einzelstatue
die Statuenvereine auf. Es sind nicht «dramatische» Grup-
pen, deren Entstehung wesentlich der rhodischen Schule
angehöi't'), sondern ((gesellschaftliche»^), Dreivereine von
Wesens verwandten Figuren ^). Namentlich verräth Praxite-
les eine besondere Neigung für solche Darstellungen. Es
Averden - von ihm erAvähnt : Demeter , Persephone , lacchos ;
Flora ^), Triptolemus, Ceres; Leto mit ihren Kindern zu
]\Iegara und dieselbe Gruppe zu Mantinea ; Dionysos , Ebrie-
tas und der Periboetos. Ueberall finden wir Gegensätze,
die sich in einer dritten Figur gleichsam einigen und auf-
lösen. Wie Sophocles die Gegensätze in seinen Characte-
ren liebt, wde er z. B. der männlichen Antigone die zarte
Weiblichkeit der Ismene gegenüberstellt, so erscheinen in
diesen Gruppen männliche Figuren mit den entsprechenden
weiblichen Gegenbildern. An einer Einzelstatue ist es nicht
die geringste Schönheit , wenn ' sich Gegensätze in ihren
1) O. Jahn Die hellen. Kunst p. 25. Schnaase Gesch. d. bild. K.
II, 326.
2) So unterscheidet fein Levezow; Famil. des Lykomedes p. 18.
Vgl. p. 22 und 23.
3) Es ist unrichtig, wenn Gruppe Ariadne p. 765 f. einen Haupt-
gedanken seines Buchs, den Fortschritt von der trilogischen Composi-
tion der Dramen zum Solostück in der Plastik als Uebergang von der
Gruppe zur Einzelstatue wiederfinden will. Phidias , den er sehr rich-
tig mit Aeschylos zusammenstellt, hat sein Augenmerk vorwiegend auf
Einzelstatuen gerichtet, ebenso Polyclet und Myron. Gruppen, wie die
für Tempelgiebel bestimmten können hier natürlich nicht herein gezogen
werden, weil sie zu allen Zeiten gemacht sind,
4) Heyne Comment. Götting. VIII, p. XXIX vermuthet in der Flora
eine Hora, da der Name Chloris , der nach Ovid Fast. V, 195 gleichbe-
deutend sei mit Flora, kaum vor Callimachus erwähnt werde. Aber
Chloris erscheint in dem Gemälde Polj'gnot's (Paus. X , 29 , 5) und
Welcker Alte Denkm. I, 161 erklärt sie durch Flora.
— 58 —
Gliedern entwickeln und doch das Ganze harmonisch, in
sich vollendet und versöhnt dasteht. So ist's auch in die-
sen Gruppen; man möchte sie Dreieinigkeiten nennen, ihre
Figuren sind verschiedene Wesen und doch alle eins. Kin-
lieit und Gegensatz, Trennung und Versöhnung spielen hier
reizvoll durch einander. Vergegenwärtigen wir uns die
Gruppe Demeter, Triptolemus, Flora. Der blühenden Jung-
frau gegenüber steht der blühende Jüngling, in der mütter-
lichen Ceres einigen sich beide , sie sind nur Ausflüsse ihres
Wesens, zwei Knospen an einem Zweig. Mit Avelchem
Zauber der Anmuth Avird ein Praxiteles diesen marmornen
Frühling ausgestattet haben ! Von Phidias Avird nichts Der-
artiges erwähnt, es ist seiner ganzen Natur fremd; ihn be-
Avegte ein voller grosser Gedanke, wie eine geAA'altige AVoge
ist jede seiner Schöpfungen, aber die Gruppen des Praxi-
teles sind ANde zwei liebliche Wellen, die gegen einander
spielen und streiten, um in ein Wesen zusammenzufliessen.
Es Averden uns noch andere sehr verwandte, doch aber et-
was verschiedene Gruppen erwähnt, die Peitho und Pare-
goros; Mänaden, Thyaden, Caryatiden und Silene \-on Pra-
xiteles; Eros, Himeros und Pothos von Scopas in demselben
Tempel vereinigt mit der Peitho und Paregoros des Er-
steren. Diese Gruppen unterscheiden sich von den vorher-
erAvähnten dadurch, dass sie nicht sowohl Gegensätze, als
vielmehr die verschiedenen Grade und Formen einer und
derselben Empfindung darstellen. Es ist eine Anatomie des
Gefühls, ein feines Spalten einer Empfindung, Avelches an
die Behandlung der Leidenschaft durch Euripides erinnert.
Worin liegt nun der Grund, dass solche Gruppen in der
Jüngern attischen Schule erscheinen? Ich habe schon im
Vorhergehenden auf einige verAvandte Erscheinungen hin-
gewiesen, es ist zunächst das bewegtere Leben, Avelches
die Entstehung dieser Gruppen bedingte. Denn eine Gruppe,
und zwar nicht bloss die handelnde, sondern auch die
ruhende ist immer beAvegter, als eine Einzelstatue, Aveil sie
dem Auge eine grössere Mannigfaltigkeit bietet. Ein Avei-
terer Grund möchte in der allgemeinen Richtung auf Ge-
gensatz, Scheidung ifnd Trennung liegen, die mit jenem
durch die Sophistik herbeigeführten culturhistorischen Wen-
— 59 —
depimkt gleichsam alle Poren des griechischen Lebens durch-
dringt. Die Eris tritt ein in die Welt, statt der Einheit
in Character und Denkungsart sehen wir überall IStreit und
Gegensatz. Dies ist von Andern besser ausgeführt, als
ich vermöchte, ich erwähne nur einen scheinbar unwesent-
lichen Punkt. Erinnert jene Gruppe des Scopas, Eros,
Himeros und Pothos nicht lebhaft an die Begriffsscheidung
eines Prodikos, von der Plato ^) eine erbauliche Probe
giebt? Sind diese drei Figuren nicht plastische Synonymen,
und hat hier der Plastiker nicht dieselbe Aufgabe, wie der
AVortkünstler, nämlich jede Gestalt im Ausdruck zu schei-
den von den übrigen und individuell zu characterisiren?
Denn dass Scopas dies gethan hat, bezweifle ich nicht trotz
des liebenswürdig einfältigen Pausanias *), der geneigt scheint
nur eine Naniensverschiedenheit anzuerkennen. Endlich
lässt sich noch ein Grund für das Auflvommen dieser Grup-
pen aus dem Wesen der praxitelischen Kunst herleiten,
wenn es mir nämlich erlaubt ist, dem Praxiteles das Prä-
dikat der Anmuth beizulegen, wie dem Phidias das der
Erhabenheit. Das Erhabene ist seinem Wesen nach ein-
sam, das Anmuthige gesellig, der Grieche hatte nicht eine
Charis. Jenes ist zu gross, um anders als allein zu sein,
dieses sucht nach Geschwistern; jenes ist reich, wie ein
König, dieses arm und bedürftig; jenes steigt hinauf zu
göttlicher Höhe, dieses herab zu menschlicher Schwäche.
Die wichtigere Frage ist die, was solche Gruppen in künst-
lerischer Hinsicht voraussetzen. Gewiss eine hohe Meister-
schaft in der Characteristik und wo bethätigt sich dieselbe
mehr, als in der Bildung des Kopfes? Betrachten wir nun
einmal den Verlauf der Plastik nach dieser Richtung hin.
Auf die erhabenen, aber wenig individualisirten Züge der
phidiassischen Statuen folgt die ausdrucksvolle IVIimik der
praxitelischen und daran schliessen sich die individuellen,
markirten Züge des Porträts, das schon einzeln mit Praxi-
teles , hauptsächlich aber gleich nach ihm in ausgedehnte-
stem Umfange in die Plastik eintritt. Je mehr das Indivi-
duum heraustrat im staatlichen und sittlichen Leben, um
5) Protag. p. 337 f. 6) I, 43, 6.
— 60 —
so individiiellor inid markirter Avurde der Ausdruck der
plastischen Gestalten. —
Yll.
Sehr richtig hat Brunn durchgehends den Grundsatz
festgehalten, das Material, in dem die einzelnen Künstler
gearbeitet haben, als bedingt durch die besondere Richtung
eines Jeden zu betrachten. Es ist nicht Zufall, dass Phi-
dias in Gold und Elfenbein gearbeitet, dass er chrysele-
phantine Kolosse in die schönsten Festtempel Griechen-
lands gestellt hat. Mussten nicht der olympische Zeus und
die Parthenos dem Griechen erscheinen wie herabgestiegen
vom Olympos in allem Glänze, in aller Strahlenglorie des
Göttlichen? Sah er den Zeus, dessen Anblick nach jener
tiefsinnigen Sage das Auge der sterblichen Semele nicht er-
trug, musste er nicht wie geblendet stehen vom Glänze des
Goldes, das den Gott der flammenden Blitze umgab? Den
köstlichsten Stoff, den der Mensch hatte, legte er um den
Leib seines Gottes, er kleidete ihn in ein göttlich Kleid.
Diese Stoffe schwinden aus äusseren wie inneren Gründen.
Nicht lange dauerte der Reichthum der perikleischen Zeit
und nicht lange behielt die Kunst die supranaturalistische
Richtung des Phidias. Die jüngere attische Schide steigt
herab zu dem natürlicheren ]\Iaterial , dem Marmor , der die
Farbe des menschlichen Körpers trägt. Die schönsten Ge-
stalten des Praxiteles sind jugendliche und weibliche Kör-
per, beiden entspricht die Natur des Marmors'). Denn die
Schärfe und Bestimmtheit der Form, welche das Erz vor-
aus hat, ist dem weiblichen Geschlecht und dem jugend-
1) Vergl. die geistvollen Bemerkungen Feuerbach's (Vatic. Apollo
p. 174 f.) Vischer Aesthet. III, p. 376 f. Bruun p. 354 (von dem Stahr
p. 327. 328 scheinbar einen Satz, in Wahrheit aber die ganze Stelle
entlehnt, wie es öfters z. B. auf p. 334. 335. (Feuerbach Nachl. III
p. 119. 121. 122) und anderswo geschieht).
— 61 —
liehen Lebensalter weniger eigen. Im männlichen Körper
drängt sich das Knochengerüst und die Muskulatur überall
bestimmt in scharfen Cäsuren hervor, im weiblichen werden
sie verdeckt durch die Fülle der Umkleidung, die einzelnen
Flächen sind nicht so scharf geschieden, sondern fliessen
in einander, so dass ein weicherer Rhythmus entsteht, wie
in einem Verse mit Aveiblichen Cäsuren. Aber auch im ju-
gendlichen männlichen Körper ist noch nicht die scharte
Begrenzung und ludividualisirung des reiferen Alters. Denn
parallel mit der Ausbildung des Characters geht die Durch-
bildung der körperlichen Form zu Schärfe und Klarheit.
Beides besitzt das jugendliche Alter in geringerem Maasse,
ebenso Wie das Weib ; der unbestimmteren Welt des Gefühls
entspricht der weiche Linienfluss des Körpers. Das Erz ist
ein Kunstproduct , der Marmor ein von der Natur Erzeugtes
und schon darum ist er sinnlicher, unmittelbarer als jenes.
Dazu kommt der Unterschied der Farbe ^). Das reine Weiss
macht den Marmor gleichsam zum Paradeigma des empiri-
schen Körpers. Der Marmor ist Natur, aber fleckenlose,
geläuterte Natur, Gottnatur; weisse Knaben nannten die
Griechen') Kinder der Götter. Das Erz ferner ist ver-
schlossen, in sich gekehrt, aber der Marmor liebt das Licht;
befähigt ihn nicht diese Eigenschaft vor allen anderen Stof-
fen zur Darstellung des Seelenausdrucks , der an Praxiteles
gerühmt wird? Kann wohl das Erz das feinere Spiel der
Mienen uns vorführen, kann es das Antlitz zeigen wie von
Seele durchleuchtet? Wie sehr die Griechen diese Unter-
schiede des Materials gefühlt haben, lehrt schon eine ober-
flächliche Musterung der Werke, von denen wir Kunde
haben. Für die Amazone ist Erz das vorwiegende Mate-
rial, denn für die virago schickt sich der männlichere
Stoff*), auf der andern Seite begegnen wir selten einer
ehernen Aphrodite. Die Athenebilder des Phidias sind
2) Sehr schön fülirt O. Jahn Die hellen. Kunst p. 9 aus , wie die
Sinnesart der griechischen Stämme sich auch in der Wahl des Mate-
rials bekundet.
3) Plat. Eep. V, 474 E,
4) Wie vortrefflich das Erz dem Amazoneucharacter entspricht,
kann das Werk von Kiss lehren.
— 02 —
chryselephautinisch und ehern; von seinen ApliroJiten war
die eine aus Gold und Elfenbein^ die beiden andern aus
Marmor. Wie nothwendig liegt in der formalen, abstracten
Richtung- Polyclet's der Gebrauch des Materials bedingt,
das wie kein anderes die abstracto Form darzustellen ver-
mag! wie nothwendig ist das Erz aus demselben Grunde
für die Kunst des Lysippus!^) Myrons kühne Stellungen
Avaren nur möglich in Erz, aber auch zu zart war der Mar-
mor für ihn. Nur unter dem heitern attischen Himmel ge-
dieh die Marmorbildnerei und sie blühte ; als die Blüthe
des Lebens längst gewichen war. Bekannt ist Hegels tief-
sinniges Wort, dass die griechische Geschichte mit einem
Jüngling anfange und ende; auch die Kunst beginnt mit
dem heitern Olymp Homers und schliesst mit den jugend-
lichen schönen Werken der Marmorbildnerei. Sie sind die
letzten Schöpfungen des griechischen Geistes, sie stehen
wie Denksteine auf dem Grabe des Griechenthums , um zu
zeugen von seiner Schönheit.
Wir haben über die Behandlung des Marmors durch
Praxiteles eine Nachricht, die uns noch immer Geheimniss
ist; ich meine die circumlitio. Diejenigen Marmorstatuen,
soll Praxiteles gesagt haben, halte er für seine besten,
quibus Nicias manum admovisset. "). Ich weiss dem, was
hierüber bereits gesagt ist. Nichts hinzuzufügen; nur möchte
ich mir einen bescheidenen AViderspruch gegen Welcker^)
erlauben, der die circumlitio für ein « Umstreichen der Ge-
wandränder, des Haares, etwa auch des Körpers mit einem
Köcherband u. dgl. » erklärt. Denn ist es wohl wahrschein-
lich, dass Praxiteles auf diese Dinge, die denn doch ver-
hältnismässig Nebensachen sind, den grossen Werth gelegt
habe, den jenes Urtheil voraussetzen lässt? Ferner: wenn
die circumlitio der Malerei sich auf die ganze Figur be-
zieht, wofür Welcker die Beispiele anführt, sollte sie in
der Plastik etwas ganz Partielles bezeichnen? Was in der
5) Dazu füge man die .scliüucn Bemerkungen Bröndsted's , Bronzen
von Siris p. 93.
6) Plin. XXXV, 40, 28.
1) zu Miiller's Handb. § 310. 4.
— 63 —
ersteren die Fläche, ist in letzterer der Körper; mir scheint
aus der Analogie der Malerei zu folgen, dass die eircuni-
litio sich auf den ganzen Körper bezieht. Unentschieden
lasse ich, ob der Oberfläche des Marmors «vielleicht ein
sanfter Schimmer von Farbe mitgetheilt ist», wie Müller**)
und Andere wollen, nur das glaube ich daraus folgern zu
dürfen, dass Praxiteles die Härte des Steins zu mildern
und zu erweichen gesucht hat. Das aber mag er nur ge-
than haben, um seine Körper wie fühlend und empfindend,
wie von Seele durchhaucht darzustellen, ähnlich wie Guido
Reni «der Maler der Seele, seine gen Himmel erhobene
Jungfrau mit jenem leichtvergänglichen Fleisch bekleidete,
dessen'Eigenschaft die welsche Sprache mit dem Namen der
morbidezza bezeichnet»^).
Yni.
Es bleibt mir noch übrig, das Verhältniss des Praxi-
teles zu Phidias und Scopas ') kurz zu bestimmen. Erste-
8) Wien. Jahrb. 1827 III p. 139. Vgl. ausser den vou Welcker
a. a. O. und Feuerbacli Vatic. Ap. p. 212 beigebrachten Stelleu noch
Schorn Stud. p. 314. Walz in Pauly's Realencycl. s. v, Praxiteles p. 39
und E. Braun Ruinen u. Museen Rom's p. 206 f. Waagen Kunstw. in
Engl, und Pai'is III, p. 128 bemerkt von einer Büste des Demetrios Po-
liorketes, man erkenne am Marmor die Spur einer röthlichen Farbe,
wodurch ohne Zweifel der Ton des Fleisches nachgeahmt gewesen sei.
9) Schelling: lieber das Verhältn. der bild. K. z. Natur. Zweite
Aufl. p. 52. 53.
1) lieber die Niobideufrage s. unten. Nur das bemerke ich hier,
dass die Verwandtschaft der beiden Künstler auf etwas Tieferm beruht,
als auf der Gleichheit des Materials und der behandelten Gegenstände,
wie Brunn p. 345. 346 meint. Myron, Polyclet und Lysippus sind alle
Erzbildner und haben alle mit Vorliebe Athleten gebildet, und doch
sind die Alten in ihrer Unterscheidung sehr sicher gewesen. Nach
Brunn p. 357 stehen sich Scopas und Praxiteles in allem Uebrigen dia-
metral entgegen: den Ersteren treibt der poetische Gedanke, der An-
dere richtet seinen Blick auf das Körperliche. Und bei einem solchen
Künstler sollte das Alterthum zweifelhaft gewesen sein, ob er der Ver-
fertiger der Niobegruppe sei?!
— 64 —
res ist oLonso leiclit; wie letzteres schwer. Pliidias besitzt
zwei Eigenscliaften , die wir öfters in hohen Naturen ver-
einigt sehen und die scheinbar im Widerspruch stehend,
viehnehr innig verwandt sind: Grösse und Einfalt. Auch
Aeschylos hat sie. Der Dichter, dessen ^Erhabenheit kein
anderer Grieche erreicht, hat auch ein Auge für den Vogel,
der um's Gebüsch jammert, für die neuvermählte Jungfrau,
die aus ihrem Schleier schaut ^). Phidias hat die höchste
Erhabenheit erreicht im olympischen Zeus, die höchste Ein-
falt im Fries des Parthenon. Auf Aeschylos folgt die see-
lenvolle Schönheit der sophocleischen, die leidenschaftliche
Kraft der euripideischen Tragödie; auf Phidias folgen zwei
Plästiker, deren Werke die psychologische Tiefe des Er-
stereU; die pathologische Gewalt des Letzteren darstellen.
Erinnert nicht die rasende Mänade des Scopas an des Eu-
ripides Bacchen und steht nicht die Niobegruppe da als der
beste Beweis., dass der Geist der Tragödie in die Plastik
übergegangen? Aber Scopas scheint kühner, feuriger als
der maassvollere Praxiteles. Er hat in Marmor Werke ge-
schaffen, die uns kaum ausführbar scheinen in diesem Stoff ;
er hat die rauschende Bewegung der Leidenschaft ergrif-
fen; seine Kunst ist pathologisch, die des Praxiteles psy-
chologisch.
Ich glaube mich in dieser Schilderung des Praxiteles
nicht von den Nachrichten der Alten entfernt zu haben. An
und für sich thöricht und imsern Nachrichten, wie dem
Gange der Kunst widersprechend, ist die Ansicht, welche
auf Phidias allein Alles überträgt und von einem Sinken
der Kunst spricht in einer Periode, in der ganz neue, gleich
wesentliche und bedeutende Richtungen verfolgt werden.
Die attische Plastik hat denselben Verlauf, der mehr als ein
Mal in der Geschichte der Kunst wiederkehrt; sie beginnt
mit dem Erhabenen und steigt herab zu Seele und Anmuth ;
Schelling führt in jener unsterblichen Abhandlung aus, wie
auch in der Natur dieselbe Entwickelung herrscht.
2) Agam. 1316. 1170. (Diiul.)
DIE NIOBEGRÜPPE.
Die Gruppe der Niobe und ihrer Kinder,
I.
Xcli versuche zunächst die weitere Ausführung eines
bereits mehrfach angedeuteten Gedankens, der, wenn es
mir gelingen sollte, ihm einige Wahrscheinlichkeit zu ge-
ben, vielleicht von Bedeutung sein dürfte für die Auffas-
sung unserer Statuenreihe. Die Gruppe, meine ich, steht
in der direktesten Beziehung zur gleichnamigen Tragödie
des Sophocles, sie stellt eine Sccne derselben dar. Ich kann
nicht ganz mit den Reconstructionen dieses Stücks, die bis
jetzt gemacht worden sind'), übereinstimmen, besonders in
einem für meinen Zweck wesentlichen Punkt bin ich an-
derer Ansicht; man erlaube mir daher, in aller Kürze die-
jenigen Pimkte herauszuheben, über die ich eine abwei-
chende Meinung habe. Zunächst glaube ich nicht, dass der
Tod der Söhne getrennt gewesen ist der Zeit oder dem Ort
nach von dem der Töchter, sondern alle Kinder werden
gleichzeitig getödtet auf der Bühne vor den Augen des Zu-
schauers. Welcker lässt den Tod der Söhne berichtet wer-
den, die Töchter dagegen auf der Bühne über den Leichen
der Brüder sterben. Er bemerkt, es gehe aus Fragmenten
hervor, dass der Tod der Söhne und der der Töchter ver-
schiedene Scenen bei Sophocles bildeten. Allein in Betreff
des Fragments bei Plutarch '^) : Tcov rov Zlo(poyiXEOvg Nio-
1) Biirmeister, De tabula, quae de Niobe eiusque liberis agit. Vis-
mar. 1836 p. 03 f. Welcker Griech. Tragöd. I p. 280 f. G. Hermann
Opusc. III p. 37 f, Wagner , Aesch. et Soph. perdit. fab. fr, p. 335 f.
2) Dindorf n. 393.
5*
— 68 —
ßiÖav ßalXofisvav xal Q'vrjöxövtav avccxaXstrui rig ovÖiva
akXov ovds 6v^nu%ov ij xov igaöt^v • (o cc^iq)' s^ov GnlXai
bemerkt er selbst, man könne an wirkliche Darstellung der
Scene denken. Hermann dachte so und auch Burmeister
bemei'kt : «Ilane tiliorum eladem ita factam puto, ut tan-
quam procul facta a spectatoribus posset conspici.» Das
zweite Fragment ^) würde nur dann gegen die gleichzeitige
Tckltung der Kinder sprechen, wenn die Beziehung gewiss
wäre, die Welcker ihm giebt. Aber warum können die
Worte :
nicht ebensogut von der Amme gesprochen sein, als von
einer Schwester V "*) Das dritte endlich, worauf AVclcker
fusst, ist die Schilderung Ovids. Ergeht aus von der Ueber-
einstimmung desselben mit Sophocles, allein mir scheint,
bei Ovid musste es anders sein. Was der darstellende
Dramatiker in einer Scene als ein Nebeneinander vorführt,
das verwandelt der erzählende Epiker in ein Nacheinander.
Ersterer concentrirt Alles in einen schönen Augenblick und
das Einzelne ist nur Moment im Ganzen; nicht so der Epi-
ker. Er verselbständigt diese einzelnen Momente, schildert
jeden mit besondern Zügen und reiht sie so zusammen, so
dass, was im Drama das Auge des Zuschauers mit einem
Blick umspannte, bei dem Erzähler sich nach einander ent-
wickelt. Alan übersieht nach meiner Ansicht die verschie-
denen Principien zweier Dichtungsarten, wenn man den
Gang, den Ovid der Fabel gegeben hat, sofort in die Tra-
gödie überträgt. Angenommen, dass Sophocles den Tod
aller Kinder zugleich dargestellt und dass Ovid den Tra-
giker vor Augen hatte, so konnte er doch diesen Umstand
unmöglich beibehalten. That er es, so gab er eine verwor-
rene, zerrissene Schilderung eines Factums, das im Drama
übersichtlich und verständlich war, weil mit dem Auge ge-
sehen. Ovid trennt und dadurch wird es ihm möglich, jedes
3) Diud. 11. 31«).
4) Die Bezielmng-, wclclie Bnrmei.ster p. 70 diesen Worten giebt,
will mir nicht znsasren.
— 69 —
Einzelne mit neuen Motiven auszuschmücken und seine Ein-
bildungskraft in vollstem Maasse zu bcthätigen. Den Tod
jedes einzelnen Bruders behandelt er wie ein Bild für sich;
das Einzelne, welches im Drama dem Eindruck des Gan-
zen durchaus untergeordnet war, tritt bei ihm selbständiger
hervor. Und dazu bedenke man, dass Ovid ein Dichter
von unerschöpflichem Reichthum der Erfindung ist. Ver-
setzen Avir eine solche Schilderung, wie sie Ovid von dem
Tode der Söhne giebt, ins Drama, nehmen wir mit Welcker
an, dass der Pädagog von dem getrennt hinter der Bühne
erfolgenden Tode der Brüder Nachricht gebracht, dass er
eine ausführliche rührende Rede gehalten hat — und es wird
einestheils eine in der Fabel liegende tragische Schönheit
geopfert, anderntheils das Gemüth des Zuschauers auf eine
wahrhaft entsetzliche Weise gefoltert. Halbirt werden soll
die Katastrophe, der Zuschauer, der das Schicksal der Nio-
biden wusste aus seinem Homer, soll erst die schreckliche
Nachricht von dem Tode der Söhne erfahren, er soll eine
lange, rührende Rede empfinden, um dann wieder neues
Entsetzen zu fühlen beim Untergang der Töchter. In der
That eine grausame Marter! Entsetzen, dann Milderung,
dann neues Entsetzen, eine Ironie auf die vorangehende
Stimmung, ß^onnte wohl der Zuschauer fähig sein in die-
ser grausamen Zwischenzeit zwischen dem Tode der Söhne
und Töchter für Rührung, für die weichen Empfindungen,
welche der Bericht des Pädagogen erwecken sollte ? Ich
zweifle sehr; aber dann, wenn der vernichtende Schlag da
ist, wenn das ganze Unglück geschehen, dann ist er em-
pfänglich, dann sucht er das Heilmittel der Rührung und
dann kommt auch Sophocles diesem Verlangen entgegen.
Es wird ferner eine tragische Schönheit geopfert, welche
die Alten sehr wohl gefühlt haben. Ich führe sie mit Dio-
dor's ^) Worten an: Toi^tcov (Artemis und Apollo) xard
tov ccvtov KttiQov xarato^svoävTcov tu tsxva rrjg Nlo-
ßrjg^ övvEßrj r^v TtQostQYj^svrjv vcp^ sva xatQOV o^ecog
äfia Bvrexvov xal arsxvov yEvsöd^at. Die kinder-
reiche Mutter wird zur kinderlosen in einem Augenblick;
5) IV, 74.
— 70 —
in dem Plötzlichen der Peripetie liegt ein tief tragisches
Moment. Wie sehr wird ferner das Tragische geschwächt,
wenn Niobe ihre Strafe nur zmn Theil sieht, zum Theil
hört! Denken Avir aber alle Kinder vor ihren Augen ge-
opfert und sie selbst noch gross und königlich im Ange-
sicht des Schrecklichsten , welche Scene kann sich dieser an
Erhabenheit messen ! Endlich scheint mir auch darin eine
Incongruenz zu liegen, dass wir uns nach Welcker"s An-
nahme Artemis und Apollo getrennt handelnd denken müs-
sen, da sie doch nach dem Mythus zusammen auftreten und
zusammen strafen. Ich vermuthe daher den gleichzeitigen
Tod der Geschwister.
Die zweite Abweichung ist die in Betreff des Schlusses.
Ein Wort Homer's scheint mir dabei übersehen. Er sagf*),
die Kinder der Niobe seien bestattet von den Göttern:
rovg 8 aQa trj dendr}] d-dipccv '9eol OvQavlcoveg.
Liegt nicht hierin ausgesprochen, dass der Zorn der Götter
nicht ewig dauert? Sie begraben die Leichen derer, die
sie getödtet; sie sind versöhnt, nachdem sie gestraft. Die-
ser Ausgang aber ist für das Drama wie geschaffen; es ist
eine Tröstung, eine Erhebung nothwendig nach so grossem
Leid; diese bringen die Götter selbst heran. Vielleicht
kann hiefür noch folgende Vermuthung sprechen. Nach
Welcker's schöner Auslegung des Fragments bei Photius ^)
ist Donner und Erdbeben am Schluss des Stückes gehört.
Als nun das letzte Stück des Sophocles, der Oedipus Colo-
neus, aufgeführt wurde, in dem dieselbe Erscheinung vor-
kommt, musste nicht nothwendig das Publikum an die
Niobe erinnert werden, zumal da die beiden Mythen eine
so auffallende Verwandtschaft zeigen, wie kaum zwei an-
dere? Manche Chorgesänge des Oedipus Rex könnten mit
der Veränderung, welche die äusserliche Verschiedenheit
bedingt, in der Niobe stehen; jenes ergreifende Schlusswort
könnte der Niobe gelten, so gut wie dem Oedipus. Er der
herrliche «allen berühmte» König von Theben wird arm wie
ein Bettler; sie die stolze kinderreiche Königin von The-
6) IL 24, 612. 7) s. v. vo§av.i'QHv.
— 71 —
ben wird bettelarm au KiiiLlcrn; er, der Kluge, glaubt der
Götter entbehren zu können'*), sie, die Glücklielic, verach-
tet die Gottheit; (Jedipus wird aus tiefstem Elend zur Ruhe
gerufen durch die Stimme des Zeus selbst, sollte dieselbe
Erscheinung in der Niobe einen andern Sinn haben V Es
scheint mir ganz angemessen, dass Zeus der unglücklichen
Mutter durch seinen Donner die Erhörung ihres Wunsches
verkündet habe.
Danach denke ich nnr den Gang des Stückes etwa so :
Wie Oedipus uns im Anfang des Oedipus Kex herrlich und
gefeiert entgegen tritt, so auch Niobe, die Königin The-
bens, aber ihr Glück ist ein vtiovAov. Manto erscheint
und ermahnt zur Verehrung der Letoiden, aber Niobe treibt
das Volk von den Altären. Hier mochte Sophocles einen
jener Chorgesänge einlegen, in denen der Friede eines
frommen unschuldigen Gemüths Avaltet, aber bange Ah-
nungen laut werden für das Schicksal der. Grossen und
Reichen. Der Chor mag ähnlich gesungen haben wie im
r)edipus: Ei' (loi ^vvatrj tpsQoi'Ti ^ot^a tav svösmov ayveiccv
käycnv agycnv za Tcccvtav und Worte wie : au da rtg vitag-
oTita %aQolv rj A6yo3 nogavarca, ^ixag acpößrjzos, ovös öai-
^6vo3v adr] ösßcjv, xaxd viv aXotro (loiQa mochten auch hier
den Zuschauer mahnen an die .cAvigen göttlichen Gesetze.
Dadurch breitete sich ein eigenthüraliches Helldunkel um
das Schicksal des Protagonisten ; das Gemüth des Zuschauers
wurde bewegt Avie von leisen Anzeichen eines nahenden
Sturms und vorbereitet auf die Rache. Da erscheinen Apollo
und Artemis. Söhne und Töchter denke ich mir beschäf-
tigt am Hause, oder: die Söhne eilen bei der Erscheinung
der Götter unter Angstgeschrei zum elterlichen Hause. Dies
Geschrei trifft das Ohr der Mutter und der Töchter im
Hause. Sie eilt heraus mit letztern und nun stürzen alle
Kinder vor ihren Augen. Dieser entsetzliche Moment wurde
dadurch gemildert, dass unter den sterbenden Kindern Züge
geschwisterlicher Liebe das Gemüth des Schauenden vom
Entsetzen zu Mitleid und Rührung stimmten ^) :
8) Ich folge hier den feinen Bemerkungen von Geffers in einem
Göttinger Schulprogramm «de culpa Oedipi.»
9) Aehnlich ist es, wenn Sophocles im Oed. R. den entsetzlichen
— 72 —
w a(i.q) ifxov ßreikai.
Die greisen Diener des Hauses, Amme und Pädagog, kla-
gen über den Leichen ihrer Pfleglinge, an die sie nun ver
geblich Liebe und Sorgfalt gewandt:
'H yaQ q)ih] 'yco Trovös rov rcQoq^cQvigov ... — '")
&aXTrov<jci y.cd ijjv/^ovoa xal 7tov(o novov
SK vvKxog aXXaG6ox)0a roi> Ka9 ij^sqkv.
InzAvischen steht Kiobe stumm vor Schmerz, aber ihr Oe-
müth wird sich öffnen und herausströmen wird der gewal-
tige IMutterschmerz. Nicht wie die Niobe des Aeschylus.
sondern menschlich wahr, menschlich fühlend hebt sie die
Arme zum Himmel und fleht die Götter um den Tod:
ovtcys idvöxEQccLVEV , ag aal ro ^^v i&eXeiv exhjittv Öta.
to ^sy£&og rfjg GvficpoQag xcd TOi)g dsovg ^Ttixalstöd'ca {<vaQ-
TtaöTov avrrjv yeveö&ca TtQog ccTtcöksiav rrjv xaXenatccxriv.
Darauf Donner und Erdbeben:
"Eqj(^0(iui ri fi aveig;
Und nun erscheint Zeus und giebt ihr Gewährung dessen,
warum sie bat, denn der Tod war ihr eine Wohlthat. Ver-
söhnt sind Götter und Menschen, die strafende Gottheit
wird zur gnädigen, Avir sehen in dem Fall des Irdischen
den Bestand des Göttlichen und jene heilige Wehmuth zieht
ein ins Gemüth, die überall da ist, wo die Blumen der
Erde höherer Ordnung geopfert werden. — Vergegenwär-
tigen wir uns nun jene Scene des Untergangs : Die Söhne
eilen heran, wie eine gescheuchte Heerde, in den Schutz
des Hauses-,, ihr Angstruf dringt zu den Ohren der Mutter
und Schwestern; diese eilen heraus mit fliegenden Gewän-
dern in die Arme des Verderbens. Nun hält der Tod
reiche Ernte, aber die Liebe ist mächtiger als er; der ster-
Aublick des geblendeten Oedijjus dem Zuscliauer nicht erspart, aber
gleich die weinenden Kinder an den unglücklichen Vater heranführt.
Menschliche Gefühle gehen nicht unter auch im härtesten Geschick.
10) Sollte die Form rj nicht der Amme besser anstehen, als der
Schwester? Welcker meint, eine der Schwestern sei wohl Sprecherin
für die geschwisterlichen Gefühle gewesen; wäre ein kommatisches Vers-
mass nicht angemessener für sie?
— 73 —
bende Bruder vergisst nicht seines Herzens Liebling, in
den Armen der Schwester stirbt die Schwester, aber wie ein
Fels im tobenden Meer steht die Mutter, die Königin — in
diese schauerlich schöne Scene schaue der Medusenblick der
Plastik und unsere Gruppe steht vor uns. Wie erstarrt in
eilender Bewegung steht die Mutter in dem vielstimmigen
Threnos ihrer Kinder, aber auch hier dauert die Liebe noch
im Tode. Schützend breitet die Mutter den Arm über die
Tochter; an den Bruder neigt die Schwester ihr sinkend
Haupt — und über allem Schmerz schwebt die Schönheit
wie ein Stern über wildem Meer. Es ist wahr, der Pla-
stiker kann alle einzelnen Motive, er kann seine Gruppen,
die in der Statuenreihe dieselbe Wirkung ausüben, wie in
der Tragödie, selbständig erfunden haben, aber bedenken
wir, dass unsere plastische Darstellung äusserlich und in-
nerlich stimmt mit der Scene des Drama's; bedenken wir,
dass uns eine Person entgegentritt, die wenigstens in Va-
senbildern auf ein dramatisches Vorbild uns hinzuweisen
pflegt, ich meine den Pädagogen; nehmen wir dazu den
Einfluss der Tragödie auf die Plastik überhaupt und den
Reiz, den eine solche Tragödie ausüben musste, so wird
man die Vermuthung nicht gewagt finden, dass der Künst-
ler unserer Gruppe eine dramatische Scene vor Augen ge-
habt habe. Von hier aus aber Hesse sich vielleicht ein
weiterer Grund für die Aufstellung der Figuren in grader
Linie beibringen, wofür Welcker ") sehr triftige Gründe an-
geführt hat. Auf der wenig tiefen Bühne des attischen
Theaters mussten die Figuren sich neben einander gruppi-
ren; die Mutter bildete wohl den Mittelpunkt der ganzen
Reihe, die Kinder waren auf beide Seiten vertheilt. So
wurde das Ganze sofort übersichtlich und fasslich; sollte
der Plastiker sich diesen Vortheil haben entgehen lassen?
Denn das wird sich nicht läugnen lassen, dass das Zusam-
menwirken der einzelnen Figuren zu einem Anblick nur
dann erreicht wird, wenn dieselben neben einander
stehen, aber unmöglich wird, sobald sie in einem Halb-
kreis, also hinter einander gestellt werden. Im erste-
ll) Alte Denkm. I, p. 264.
— 74 —
ren Fall haben wir zusainincnklingendo Töne, im letztern
eine Folge von Tönen,
n.
Bei der näheren Betraclitung der Gruppe muss ich zu-
nächst ausgehen von der Annahme Cockerells und Wel-
cker's, dass sie in dem Giebel eines Tempels gestanden
habe. Dann ist Avohl die erste Frage die, ob man die Zahl
der Kinder im Voraus festsetzen kann und darf. Welcker ')
•stellt die Zahl vierzehn als nothwendig hin, indem er,
worin ihm Niemand widersprechen wird, nachweist, dass
die meisten schriftstellerischen Quellen sieben Paare der
Kinder angeben und dass die Zahl sieben eine dem Apollo
heilige gewesen ist. Zur Uebertragung dieser Resultate
auf die Gruppe Avar aber der Aveitere BcAveis nöthig, dass
die Kunst solchen hieratischen Bezügen streng Rechnung-
getragen habe, was, wie ich glaube, nicht immer der Fall
war. Ich erinnere an die Giebelgruppe, welche Praxiteles
für das Herakleion in Theben gearbeitet hatte ^). Der
Künstler hatte weder zehn, noch zwölf Kämpfe dargestellt,
sondern elf. Wann freilich die Z^völfzahl der Heraklcs-
thaten festgesetzt ist, wissen Avir nicht; AA'ir haben darüljcr
nur eine Vermuthung, freilich eine sehr Avahrscheinliche,
von Welcker^), der auf Pisander diese Zahl zurückführt,
aber die Zahl elf scheint mir notlhvendig darauf hinzuAvei-
sen, dass der Raum das leitende Princip gcAA^esen ist und
Welcker selbst erkennt dies an, indem er bemerkt*), dass
der Künstler die herkömmlichen zwölf Athlen in diesem
Raum nicht brauchen konnte. Wir Averden daher auch für
den Künstler der Niobidengruppe die hieratischen Bezüge
nicht als eine nothAvendig zu beachtende Beschränkung auf-
stellen dürfen und das um so Aveniger, weil nach meiner
1) p. 235 ff. 2) Paus. IX, 11,6. 3) Ep. Cyclus p. 236.
4) A. Denkm. I, p. 207.
— 75 —
Einsicht mit der Annahme Welcker's die vorhandenen Fi-
guren sich nicht zu einer Giebelgruppe anordnen hissen.
Bevor ich dies zu beweisen versuche, gebe ich eine kurze
Musterung der Statuen, wobei ich indessen, um AViederho-
lungen zu vermeiden, nur die bespreche, über die ich eine
abweichende Ansicht habe. Am passendsten werden sich
dabei meine Bemerkungen an die Abbiklung Welcker's an-
lehnen, da ich auf dessen reichhaltige Abhandlung vor allen
andern Rücksicht nehmen muss. Was Welcker ausgeschie-
den hat, scheint mir auch nicht hineinzugeboren; von dem,
was er aufgenommen hat, sind wohl folgende Figuren nicht
zu bezweifeln: 1) Die Mutter mit der jüngsten Tochter
(8. 9.), 2)' die beiden Töchter links von der Mutter (7. 6.),
3) die vaticanische Gruppe (5. 4.) , 4) die beiden folgen-
den Söhne (3. 2.), 5) die Gruppe von Soissons (12. 13.),
6) der kniende Sohn (14.), 7) der sogenannte Narcissus
(15.), 8) der sterbende Sohn (16.). Das sind 4 Töchter,
7 Söhne und Mutter und Pädagog. Zu diesen nun die
Statue des Berliner Museums (10), von der eine Wieder-
holung in Mus. Borbon. ^) zu existiren scheint, zu rechnen *),
stehe ich sehr an. Schon früher hatte ich bedeutende Zwei-
fel, jetzt, nachdem die Statue im Gypsabguss zu den übri-
gen gestellt ist, scheint mir die Annahme rein unmöglich.
Betrachtet man die Figur für sich, so wird man Eins so-
fort vermissen, das Jugendliche und Zarte. Im Berliner
Museum '') ist ein Niobidenkopf , dessen Schönheit ganz der
Idee entspricht, die wir mit einer Tochter der Niobe zu
verbinden pflegen. Nase, Mund und Kinn sind ergänzt,
aber über die Wangen ist jener Hauch von Zartheit ge-
breitet, der die aufljlühcnde Knospe der Jugend umspielt.
Nichts von alle dem zeigt die Statue, keine Spur von Fa-
milienähnlichkeit; sie hat längst die Höhe des Lebens über-
schritten. Ist aber die Jugendlichkeit der Kinder nicht be-
5) Clarac. mus. de sculpt. PI. Ö70, 1276. Vgl.- Tom. IV p. 65.
6) So Tieck im Verzeichn. d. antik.' Bildli. werke Berlin's No. 217.
Gerb. Berl. Ant. Bildw. p. 82. Arcliäol. Ztg. 1814 p. 305 f. Drei
Vorlesgen p. 64. Welcker p, 281 f.
7) Tieck n. 38.
— 70 —
gründet im Mythus und nothwendig für unser Gefühl?
Denn nicht darin allein liegt das Erschütternde, dass die
Kinder fallen, sondern auch darin, dass sie fallen theils in
der Blüthe der Jahre, theils im unmündigen Alter. Die
jüngste Tochter entspricht dem jüngsten Sohn, sollte es
nicht ebenso sein mit der ältesten Tochter und dem älte-
sten Sohn? Unserer Niobide müssten wir aber nicht einen
Jüngling, sondern einen bärtigen Mann gegenüberstellen.
Lassen wir uns dies einstweilen gefallen und stellen wir
die Statue in die Gruppe. AVelchen Platz sie einnehmen
muss, darüber kann kein Zweifel sein; sie kann nur da
stehen, wohin Welcker sie gestellt hat, rechts neben der
Mutter. Welchen Antheil soll sie nehmen an der Hand-
lung? AVelcker sagt, sie trete heraus aus dem Hause und
nehme bei dem Anblick alle Kraft in sich zusammen. Aber
dass sie dieses thut, muss sieh doch in ihr ausprägen. Hat
nicht der zuinickge drängte Schmerz so gut seinen Ausdruck
wie der hervorbrechende? Kann das Erstere aber von
einer Statue gelten, die in keiner Bewegung, in keiner Falte
des Gewandes Anderes zu erkennen giebt, als Ruhe? Und
Avas ist natürlicher für eine Niobide in diesem Augenblick,
gross und heroisch zu erscheinen oder so, wie ihre Schwe-
stern zur Linken der Mutter? Vollends nun die Mutter
neben ihr ! AVelcker sagt , die heroische Grossheit der Toch-
ter werde überboten von der Mutter. Dieser wanken die
Knie, jene steht unerschüttert; in dem Gewände der Mutter
setzt sich der Aufruhr fort, der die Gewänder der fliehen-
den Töchter bewegt, das der Tochter fällt schwer zu Boden;
im Angesicht der Mutter ringen Schmerz und Hoheit, an
der Tochter zuckt keine Wimper. Ueberboten wird die
Tochter von der IMutter nur diirch die Formen des Körpers,
in Hinsicht auf Ausdruck und Bewegung ist sie die weitaus
heldenmüthigere. Ist aber nicht dies der zusammenhal-
tende Gedanke des Ganzen, dass von beiden Seiten der
Schreck heranstürmt an die Mutter, um hier an der Kraft
der Königin ein Gegengewicht zu finden? Aber schon vor-
her wäre er überAvunden in der Tochter.
Der Berliner Bildhauer, Hr. Wredow, dessen Güte ich
manche schöne Belehrung verdanke, sieht in unserer Figur
— 77 —
die Amme der Kinder, die Wagner*) für die Giiippe ver-
langte. Er machte mich aufmerksam auf die Magerkeit des
Busens, die unläugbar ist und auf die ungriechische Bil-
dung des Kopfes, die ebenfalls zugegeben werden muss ®),
wenngleich sie minder in die Augen springt. Auch diese
Annahme scheint mir ihre Schwierigkeiten zu haben. Dass
eine Amme als Gegenfigur für den Pädagogen ursprünglich
zur Gruppe gehört hat, scheint mir nicht ganz unwahr-
scheinlich, wie auch in der sophocleischen Tragödie die
Amme auftrat, allein wird man eine solche Figur nicht
gruppirt zu sehen wünschen mit einem Kinde, ebenso wie
der Pädagog in der Gruppe von Soissons einen Knaben
neben sich hat? Bekommt nicht erst dadurch die Er-
scheinung solcher Figuren Sinn und Bedeutung, dass sie
schützend neben ihren Pfleglingen stehen'? Unsere Figur
aber hat nach allem Anschein allein gestanden, denn wenn
auch der rechte Arm restaurirt ist, so verräth sich doch
in seiner Bewegung sowenig wie in der Haltung und dem
Blick der Statue irgend eine Beziehung auf eine Figur ne-
ben ihr. Auch scheint mir der Gewandwurf, dessen stolze
Schwere einer IMelpomene anstehen würde, unpassend für
eine Amme. Endlich möchte man fragen, ob nicht der
Künstler mit oder vielleicht statt der ausländischen Kopf-
bildung eine Annne durch Unterschiede der Gewandung
characterisirt haben würde. Denn hierin unterscheidet sie
sich nicht; sie trägt Chiton und Peplos wie die übrigen
Schwestern. Es wäre nicht schwer, der Figur einen Na-
men zu geben, der zu dieser Characterisirung passte, allein
ich unterlasse es, weil ich von der Wiederholung dersel-
ben nur eine Abbildung kenne; soviel scheint mir unwi-
dersprechlich, dass sie keine Tochter der Niobe vorstel-
len kann.
Eine zweite Tochter (11) ist, soviel ich weiss, nur von
Thiersch '") bezweifelt. Mir scheint ausser dem Grunde,
8) Kunstbl. 1830. No. 56 p. 223.
9) Die Nase ist restaurirt und zwar sehr hässlieh. In Betreff der
ül)rig-en Restaurationen vgl. Gerhard a. a. ü.
10) Epochen p. 3G7 Aura. (50.
— 78 —
den Thierscli aiif^ctulirt hat, noch Folgendes gegen sie als
Tochter zu sprechen. Sie unterscheidet sich von ihren
Schwestern durcli die Grewandung, sie trägt einen Ueber-
wurf über dem Chiton"). Ich weiss keinen Grund dafür;
das gleiche Schicksal hängt über allen Kindern, warum
diese Unterscheidung"? Sie ist störend und das um so mehr,
weil die Gewänder der Schwestern so behandelt sind, dass
die jugendlichen Körperformen deutlich hervortreten, und
das ist für den Eindruck nicht unwesentlich, weil es aucli
dem Auge zeigt, welch' zarte Knospen hier geopfert wer-
den. Man gebe ihnen ein doppelt Gewand , wie es die frag-
liche Figur trägt, und diese Schönheit ist vernichtet. Das
Zweite, woran ich Anstoss nehme, ist die Ruhe des Gewan-
des. Wenn der Sturm über das Meer fährt, da hebt sich
.jede Welle, hier hätten wir einen ruhigen Fleck in der
Mitte der rauschendsten Bewegung. Ist es aber wohl natür-
lich, eine Niobide in einer Figur zu erkennen, an deren
Gewand keine Falte zittert, während die Gewänder der
GescliAvister flattern, wie die Flügel gescheuchter Vögel,
während selbst die heroische Mutter sich nur mit IMühe zu
behaupten vermag in dem Sturm, der an sie heranstürmt V
Drittens vermisse ich, um den nicht unbedeutenden Alters-
unterschied zu übergehn, die Familienähnlichkeit. Ich
o'laube selbst die, Avelche die Statue als Niobide vertheidi-
gen, werden diesen Punkt wenigstens nicht entschieden in
Abrede stellen können , wie denn Meyer '-) nur bemerkt,
dass die Idee des Kopfes «im Allgemeinen» nicht von
den andern abweiche. Spricht dieses gegen die Figur als
Tochter der Niobe, so könnte Jemand sagen, sie möchte
eine Wärterin vorstellen, die den Töchtern beigegeben sei,
wie der Pädagog den Knaben. Sie wäre mit Fug und
Recht in der Gewandung unterschieden, für sie als unbe-
theiligte Person wäre die Ruhe des Gewandes, für sie fer-
ner die liebevolle Neigung des Hauptes, die zarte Theil-
nahme in ihrem Gesicht durchaus angemessen. Sie müsste
11) Meyer sagt Prupyl. II p. 5«. (17ÜU) '<D<a.s Untergewand besteht
aus zwei Stücken; desselben Obertheil reicht bis auf den halben Leib,
das andere kommt darunter hervor.»
12) p. 72.
— 79 —
dann gruppirt Averden mit einem Kinde '^). Stellen wir nnn
diese Gruppe rechts neben die Mutter, su haben wir zu-
13) Darin stimmen auch die meisten Ausleger iiberein, wenngleich
der Gedanke Cockerell's , den sterbenden Sohn vor sie hinzulegen, wohl
mit Recht zurückgewiesen ist. Vgl. Schlegel Bibl. univ. T. III Litte'-
rat. p. 123. Ramdohr Mal. und Bildhauerei in Rom II, p, 140. Wag-
ner p. 207. Meyer p, 71. Gerhard, Drei Vorles, p. 02. Müller, Text zu
den Denkm. p. 18. Feuerbach Nachl. III, p. 138. Auch mir scheint
trotz der schönen Bemerkungen, durch die Welcker p. 278 und Tren-
delenburg (Niobe. Einige Betrachtungen über das Schöne und Erhabene
p. 8. 26) ihre Einzelstellung motivirt haben, ein Gegenstand uothwen-
dig, auf den sich ihr Auge richtet. Dabei ist Folgendes übersehn.
Der Mantel geht über den rechten Schenkel und fällt dann senkrecht
zu Boden; der Theil, der über dem Schenkel liegt bildet mit dem her-
abfallenden eine Ecke, einen Winkel und in dem Scheitelpunkte dieses
Winkels sind Fingereindrücke bemerkbar. Dadurch erklärt sich der
senkrechte Fall; ohne diesen Knick, den Finger veranlasst haben müs-
sen, würde der Wurf des Mantels freier sein. Dieser Umstand giebt
Aufschluss über die Stellung der Figur. Unmittelbar vor dem Augen-
blick, den wir dargestellt sehn, lag ihre rechte Hand in jener Ecke
des Mantels. Ein Ereigniss vor ihr zog ihre Blicke auf sich, sie erhebt
wie staunend die Hand und das Gewand hält den empfangenen Ein-
druck und damit den vorhergehenden Augenblick fest. Der Arm ist
bis auf ein kleines Stück an der Schulter neu , allein er ist unzweifel-
haft richtig restaurirt. Wollte man etwa sagen , die Hand habe ur-
sprünglich in der Ecke des Mantels gelegen, so widerspricht dem die
Richtung des erhaltenen Stumpfes. Diesej- geht grade nach unten,
denkt man ihn verlängert, so geht er weit über jene Ecke hinaus. Ich
weiss einer solchen Behandlung des Gewandes aus dem Alterthimi kein
ganz analoges Beispiel an die Seite zu stellen; Mengs (Gedanken über
die Schönheit u. d. Geschmack in der Malerei p. 69) bemerkt dasselbe von
den Gemälden Raphael's. Verwandt ist, was man oft bemerken kann,
dass die Plastik den flüchtigsten Moment bannt , um den Beschauer zu
zwingen, ihn fortzuspinnen in seiner Phantasie, so dass ihre Ruhe
gleichsam in Fluss nnä Bewegung geräth. Dafür genüge es , an die
Krone aller Plastik zu erinnern, die liegende weibliche Figur vom Par-
thenon. Keine Sekunde länger kann das Gewand den blühenden Busen
bedecken, es ist ein Augenblick, dem man zui'ufen möchte ,, Verweile
doch , du bist so schön" ; aber weil ein so schwebender, gleichsam hän-
gender Augenblick gewählt ist, darum müssen unsre Gedanken ihn
fortsetzen; wir meinen das Gewand vor unsern Augen gleiten zu sehen.
Es kann dies übrigens als Beleg dienen , wie so gar Nichts von ab-
stracter Ruhe in der griechischen Plastik ist, wie vielmehr die rastlose
Bewegung von Augenblick zu Augenl)lick aus der Natur in sie über-
tragen wird.
— so —
nächst die Unsymmetrie, dass Wärterin und Pädagoft- auf
derselben Seite stehn, zweitens aber den weit störenderen
Umstand, dass die ganze Statuenreihe auseinander khiü't.
Auf der linken Seite strebt Alles zur Mutter hin, zu ihrer
Rechten soll eine Figur stehen, die von ihr abgewandt
nach der entgegengesetzten Seite gerichtet ist. Der Blick,
der nach Schlegel's Bemerkung immer auf die Mutter zu-
rückkehrt, muss anhalten bei dieser Figur und neu an-
setzen, ähnlich wie es die Stimme muss, wenn Avir über
einen Hiatus hinweglesen sollen. Diese Divergenz der Li-
nien, die wir uns am Ende des Giebels beim Narcissus
nach Welckers Aufstellung allenfalls gefallen lassen konn-
ten, wird völlig unerträglich in der Mitte, denn sie halbirt
die Gruppe. Von Kampf und Streit, wie am Aegineten-
tempel und westlichen Parthenongiebel ist hier nicht die
Rede; hier muss sich um den Protagonisten Alles concen-
triren. Diese Bedenken scheint auch Gerhard gehabt zu
haben, indem er bemerkt, man sei geneigt, die Tochter der
Mutter zunächst auf ihrer andern Seite sich zu denken.
Versuchen wir auch dies. Setzen wir unsre Gruppe links
neben die Mutter und etwa den Pädagogen unmittelbar
rechts neben sie, sodass die Mutter umgeben wäre von den
Dienern des Hauses, — wodurch zugleich eine Vermittlung
gegeben wäre von den colossalen Älaassen der Mutter zu der
Zartheit der Töchter — so bleibt der längst von Andern
bemerkte Uebelstand, dass sich in zwei neben einander
stehenden Statuen dasselbe Motiv wiederholt. Unsre Figvir
und die Mutter ziehn beide mit der Linken den Peplos in
die Höhe. Dieser Umstand scheint mir entscheidend zu
sein für die Ausscheidung der Ersteren ; nicht darauf kommt
es an, eine erträgliche Gruppe zusammenzustellen, sondern
Welcker bemerkt von imsrer „Niobide": Sie scheint bei dein Angst-
geschrei, das nothwendig eine solche Scene begleitet, nach ihren Ge-
schwistern sich hinzuwenden, auszuschauen welch Unglück sei, sie zu
empfangen. Aber passt hiezu das gesenkte Haupt? Trendelenburg
sagt, von der Schuld, die nur in der Mutter erscheinen könne, breche
etwa eine Ahndung in dieser sinnenden Tochter durch. Ich möchte diese
Ausnahme nicht gern machen. Wie die Linien des Marmors hinanstür-
men an den Mittelpunkt, so unsre Gedanken. Die Gruppe würde ihre
Spitze verlieren.
— 81 —
eine solche, die wir einem griechischen Meister zutrauen
können.
Ich gehe nun über zu der Aufstellung der übrigen
Figuren bei Welcker, deren linke Seite mit der Gerhards
und bis auf den Flussgott auch mit der Cockerells stimmt.
Auf dieser Seite haben fünf Kinder (3 — 7) bei allen den
Erklärern, die eine Griebelgruppe zu construiren ver-
sucht haben, dieselbe Stelle und es ist auch unter dieser
V^oraussetzung eine Trennung oder Umstellung derselben
schlechterdings unmöglich. Ich gehe nun über zu dem
Sohn N. 2. Gegen die Stelle, die Welcker ihm gegeben
hat, sprechen folgende Gründe:
a) Es kann die Mutter nicht die Mitte des Giebels
ausgefüllt haben, wenn die Höhe desselben so nahe dem
Ende schon der Figur dieses Sohnes gleichgekommen ist.
Die Höhe des Sohnes beträgt 1,400 metr. '^), so hoch muss
also der Giebel bereits an .der zweiten Figurenstelle gewe-
sen sein. Dann wird er in der Mitte an der achten Figu-
renstelle eine Höhe erreichen, für die das Maass der Mutter
2,305 nicht ausreichend ist. Es wird sich ergeben, dass
es auf kleine Verschiedenheiten nicht ankommt; ich nehme
daher runde Zahlen an und gebe absichtlich der Mutter
etwas mehr Grösse als sie hat; dadurch wird Welcker's
Aufstellung nur um so eher möglich. Der Sohn ist etwa
4 Fuss, die Mutter sei 7 Fuss (das ist mehr als einen hal-
ben Fuss zu viel) hoch. Nun folgt aus einem mathemati-
schen Gesetz, dass die Mutter verschwinden wird in der
Höhe des Giebels, mag man für die Länge desselben Zah-
len annehmen, welche man Avill. Hier sind einige An-
nahmen :
1. Die Hälfte des Giebels sei 15' lang, so wird der
betreffende Sohn ein Dreieck begrenzen, dessen Basis 4
bis höchstens 6' beträgt. Nach dem Satz, dass die gleich-
liegenden Seiten in ähnlichen Dreiecken proportional sind,
kommt folgende Folgerung heraus für die Frage : wie hoch
14) Die HöhenverlüUtnisse der Figuren mit und ohne Sockel giebt
Welcker p. 270.
6
— S2 —
muss ein Giobol sein, der 15' lang ist und 4 — G' von sei-
nem Ende eine 4' hohe Figur aufnehmen soHV
4 (Basis des kleinen Dreiecks) 15 (Basis des halben Giebels)
4 (Höhe des Sohnes) x (Höhe des Giebels)
X ^ 15'
Nehmen wir als Basis des kleinen Dreiecks 5', so wird der
Giebel 12', nehmen wir 6', so wird er 10' hoch.
2. Die Hälfte des Giebels sei 20' lang, so wird das
Dreieck, dessen Höhe der Sohn abgiebt 6 — 8' als Basis
haben. Die Gleichungen sind dann diese:
4"~5r T^^jT ~4~x~
x=13|' x = llf x==10.
3. Die Hälfte des Giebels sei 25' und die Sache stellt
sieh so :
Basis des kleinen Dreiecks = 8' — 10'.
_^__ 25 9 __ 25 TO 25
4 X 4 X- 4 X
X = 121 x=l]i x=10.
Diese Beispiele werden genügen , sie liefern immer das
Resultat, dass nach Welcker's Aufstellung die JMutter die
Giebelmitte bei Weitem nicht ausfüllen kann. Kehren wir
nun die Frage um und fragen: wie weit muss eine 4' hohe
Figur vom Ende eines Giebels entfernt stehn, der 7' hoch
ist?
1. Die halbe Giebellänge rz= 15' so ist
15 X (Basis des kleinen Dreiecks oder Entfer-
nung des Sohnes vom Giebelrande)
x-=.8i.
2. Die halbe Giebellänge = 20', so ist
20 ^x ^— J^
3. Die halbe Giebellänge = 25', so ist
''4 . ,.,
K^ = — X ^^ 14f
2d X '
Daraus folgt, dass in einem sieben Fuss hohen Giebel
eine vier Fuss hohe Figur mindestens um die Hälfte der
halben Giebellänge vom Ende des Giebels und demgemäss
— 83 —
höchstens um dieselbe Distanz von der Mitte entfernt
stehen muss. Der Sohn darf also dem Giebelende nicht
näher stehn, als seiner Mutter. Will man mir einwenden,
dass die Alten nicht streng nach einem mathematischen
Schema gearbeitet haben , so habe ich Nichts dagegen, allein
die Aufstellung Welcker's, für die ich meine Annahmen
günstiger gestellt habe, als genau ist, ist mathematisch un-
möglich '^).
b) Auf der rechten Seite Welcker's sind zwei Knieende
die Vermittler zwischen der liegenden und aufrechtstehen-
den Figur, auf der linken fällt es schroff ab vom Stehen-
den zur Liegenden. Das ist erstens gegen die Analogie
der übrigen Giebelgruppen, die wir besitzen. Am Aegi-
netentempel ist erst die vierte Figur aufrechtstehend, eben-
so am östlichen Giebel des Parthenon und am westlichen
geht es noch weiter hinauf; hier soll es schon die zweite
sein? Zweitens ist es ein Verstoss gegen die Symmetrie
und drittens ist es nicht bloss für das Auge störend, son-
dern auch für die Empfindui:ig-. Nicht sprungweise, son-
dern allmählich wünschen wir von der Spannung der Mitte
in die Ruhe des Todes am Ende geführt zu werden. Am
westlichen Giebel des Parthenon verliert sich der Streit in
der Mitte so allmählich in die Ruhe des Ilissus, als ver-
laufe eine hohe Welle des Meeres in ein stilles Flussbett.
Je näher dem Ende, um so mehr Ruhe, das ist ein für
den Raum des Giebelfeldes ebenso angemessenes, Avie für
das Gefühl wohlthätiges Gesetz. Nach Welcker's Aufstel-
lung wäre derjenige Sohn, der am stärksten ausschreitet,
also am bewegtesten ist, dem Ende der nächste.
c) Mit Recht scheint Wagner auf die Gleichheit der
Linien in den drei Söhnen zur Linken hingewiesen zu
haben , die ihn zu dem treffenden Vergleich veranlasste, sie
15) Was die Zeichnung betrifft, so fehlen darauf zunächst die Enden
des Giebels. Wurden sie mit gezeichnet und die liegenden Figuren in
sie hineingeschoben, so ergab sich gleich die Unmöglichkeit dieser Auf-
stellung. Ferner gehn die Köpfe der Söhne über den Giebel hinaus,
die der Töchter bleiben niclit unbeträchtlich darunter. Ueberhaupt aber
ist es unsicher, hier nach Zeichnungen zu urtheilen , weil leicht die
eine und andre Figur etwas zu klein gezeichnet wird.
6*
— 84 *-
seien «gleich Bäumen am Abhänge des Waldes, die der
Sturmwind umgelegt hat». Lassen wir ein)iial den Letzten
weg, so haben wir in den Bewegungen der Arme an den
Söhnen Gegensätze, ebenso wie an denen der voransehrei-
tenden Töchter. Der Sohn der vaticanischen Gruppe macht
mit dem rechten Arm dieselbe Bewegung, welche sein Nach-
folger mit dem linken macht. Dasselbe ist der Fäll bei
den Töchtern. Dadurch schliessen sich diese Paare von
Töchtern und Söhnen eng zusammen. Dieser Zusammen-
hang würde aufgehoben durch den dritten Sohn ; das Auge
würde suchen, die drei Söhne zu vereinigen.
Aus dieser Ausführung folgt, dass die Stellung des
Niobiden eine andere sein muss. Zwei Möglichkeiten sind
da; entweder: man dreht ihn herum und stellt ihn auf die
andre Seite, wie Müller gethan hat oder man lässt ihn, wo
er steht und füllt den Raum von ihm bis zur Ecke des
Giebels mit Figuren aus, wodurch wenigstens die Haupt-
schwierigkeiten wegfielen. Für Ei'steres, könnte Jemand
sagen, spreche, dass uns auf diese Weise sein Gesicht
entgegentrete, denn es sei ein natürliches Verlangen, in
diesem Augenblick der Angst und Noth vor Allem den
Körpertheil sehen zu Avollen, in dem dieselben vorzugs-
weise sich ausprägen. Allein dagegen spricht, was Meyer,
Wagner, Welcker übereinstimmend bemerken und nach
meiner Ansicht entscheidend ist, dass durch diese Aufstel-
lung das rechte Bein des Jünglings ganz vom Felsen, auf
den er tritt, verdeckt werden würde. Bleiben wir also bei
dem letztern Fall, und sehen uns um nach ausfüllenden
Statuen, so scheint der Narcissus nach der Richtung seines
Körpers auf die linke Seite zu gehören, wohin ihn auch
Müller gestellt hat. Nicht ganz klar sind mir Welcker's
(p. 284) «Er floh nach der Seite der Mutter, ward im
Rücken getroffen und sank». Dies Wort passt wohl für
die Aufstellung Müller's; wird er aber auf die rechte Seite
gesetzt, so scheint er von der Mutter wegfliehend im
Rücken getroffen zu sein. Dass die Geschosse der Götter
sich kreuzend gedacht werden müssen, beweisst das Mädchen
der vaticanischen Gruppe , welches die Wunde in der Brust
hat, allerdings; nur dehne man diese Vorstellung nicht so
— 85 —
weit aus, class sie die Klarheit des Ganzen str»rt. Und steht
nicht auch die gdeichfalls im Rücken getroffene Schwester
zur Linken der IMutter? Auch die Blicke der Figuren er-
Avecken die Vorstellung, dass die eine Gottheit die eine,
die andre die andre Seite verfolgt, denn zur Rechten sehen
der kniende Sohn und der Pädagog mit seinem Knaben
nach rechts, zur Linken zwei Söhne nach links. Die
übrigen Figuren müssen auf der rechten Seite stehen
bleiben.
Das Gesagte bezog sich auf die bisher gemachten Ver-
suche, eine Giebelgruppe zu construiren; ich wende mich
nun zu der Möglichkeit der Giebelgruppe überhaupt. Da-
gegen sciieinen mir folgende Gründe zu sprechen:
1 . Der Sohn N. 2 muss , wie oben bemerkt wurde , in
der Mitte des halben Giebels gestanden haben. Der Raum
von ihm bis zur Ecke muss ausgefüllt werden, natürlich
nicht mit eben so viel Statuen als vor ihm stehen, aber
mindestens mit dreien, von denen wir die eine liegend, die
beiden andern knieend denken mögen, so dass auch hier
die vierte Figur die erste aufrecht stehende wäre. Für die
rechte Seite des Giebels ist dieselbe Figurenzahl voraus-
zusetzen , wie für die linke ; wir bekommen dann für alle
Figuren die Gesammtzahl zwanzig, also fast ebensoviel wie
am hintern Giebel des Parthenon. Steht aber mit der nach
dieser Anzahl vorauszusetzenden Länge die Höhe des Gie-
bels, die durch die Mutter bestimmt wird, im VerhältnissV
Diese Frage ist um so mehr aufzuwerfen, weil die Niobi-
den nicht eng aneinander geschoben werden dürfen, theils
desswegen nicht, Aveil die ausgestreckten Arme und die
weitausschreitenden Füsse einzelner Figuren daran hindern,
theils, weil dann das Ganze gedrängt und allzu unruhig
erscheint.
2. Der Sohn N. 'S ist 1,517 metr. hoch, die Tochter N.
7 1,788, es würde also der Giebel über dem Raum, den
fünf Figuren einnehmen, nicht einmal um einen Fuss
steigen; auf 10 Fuss (denn das ist doch wohl das Minimum
für den Raum der fünf Figuren) käme nicht einmal ein
Fuss Elevation! Welche Länge und welch" spitzen Win-
kel müssen wir voraussetzen, wenn über fünf Figuren eine
— 86 —
fast horizontale Linie gezogen worden kann! Von der Toch-
ter aber zur nchenstehcnden IMutter steigt es dann plötzlich
um ein Bedeutendes in die Höhe. Ich setze nicht voraus,
dass die Figuren nach Zoll und Linien gearbeitet sind,
allein das kann ich einem griechischen Bildhauer nicht zu-
trauen, dass er die zweite Figur eines Giebelfeldes — von
der Mitte aus gerechnet — kaum um Haupteslänge unter-
schieden habe von der sechsten. Wer das annimmt, der
wird sich nicht daran stossen dürfen, wenn über dem
Haupt der einen Figur kaum Platz ist für eines Fingers
Breite, dagegen über dem der andern mehre Fuss hoch
leerer Raum ist, wenn also die über die Figuren gezogene
Höhenlinie nicht parallel aufsteigt mit der des Giebels, son-
dern ihre eigne, auf und absteigende Bewegung macht.
Man hat bemerkt, dass die Höhenabstufung der Statuen
für die Giebelgruppe spricht, man hat vergessen, dass die
leise Höhenabstufung gegen sie spricht. Ich brauche nicht
zu erinnern an den Aeginetentempel, an den Parthenon, an
denen der Giebel ganz anders in die Höhe steigt ; das sieht
Jeder ein, dass die beiden Töchter (6 u. 7) ihren Platz
nicht ausfüllen können, Avenn die Söhne mit der Mutter
unter ein Dach gestellt werden solleii. Wagner bemerkt
vollkommen richtig, der Unterschied der Grösse zwischen
einer und der andern Bildsäule sei nicht bedeutender, als
grade die Verschiedenheit des Alters ihn mit sich bringe.
Für eine Giebelgruppe Aväre er viel zu gering; so gering
aber musste ihn der Künstler machen, weil er aus leicht
begreiflichen Gründen weder ganz kleine Kinder, noch
solche, die bereits die Blüthezeit der Jugend überschritten,
darstellen konnte. Die Kinder fallen sämmtlich in einen
Zeitraum von nicht mehr als acht Jahren. Wenn sich also
hiedurch und, wie ich glaube, nur hiedurch die leise
Höhenabstufung der Figuren erklärt, so iindet die Rich-
tung der Figuren auf den Mittelpunkt darin ihre Erklärung,
dass wir eine dramatische Gi'uppe vor uns haben. Das be-
darf keiner weitern Ausführung, ohne einen Pimkt, auf
den sich Alles bezieht, ist eine solche Gruppe undenkbar.
3. Sehr treffend ist Wagner's Bemerkung, dass die lie-
genden Bildsäulen, welche in den Giebeln der Alten vor-
kommen, sich gewöhnlich auf den einen oder andern Arm
stützen, wodurch der Körper ctAvas erhoben werde und dem
Auge des Untenstehenden eine Fläche entgegenbiete, dass
dagegen von dem ausgestreckt liegenden Niobiden nur ein
Stückchen Arm und etAvas vom Schenkel gesehn werden
könne. Die Bemerkung Schlegel's hingegen, es werde sich
der Kopf des Knaben von unten gesehn, ganz zeigen,
scheint mir nach der Lage des Niobiden nicht möglich.
Fragt man, welche Ansicht für unsre Gruppe die vortheil-
hafteste ist, so scheint mir unzweifelhaft, dass mit der Auf-
stellung in einem Giebel ihre vorzüglichsten Schönheiten
für das Auge verschwinden, weil die Entfernung zu gross
ist. Die' zarte Schlankheit der im Nacken getroffenen Toch-
ter Avird dünn und dürr erscheinen und vor Allem Averden
die Züge im Gesicht der Mutter verschwimmen. Ich weiss
wohl, dass die Künstler der besten Zeit in der Ausarbei-
tung von Giebelstatuen nicht bloss für das Auge des Be-
schauers arbeiteten, sondern vor Allem darauf bedacht wa-
ren, ein Agalma für das Haus des Gottes zu schaffen, das
makellos sein rausste, Avie das Opferthier, das man der
Gottheit brachte, aber ich kann mir nicht denken, dass
Einer der alten Künstler, die, Avie Avir wissen, den Forde-
rungen des Auges Avohl Rechnung* zu tragen wussten, so
zarte Gestalten in eine so luftige Höhe gestellt haben soll.
4. Schon Levezow '®) hat bemerkt, dass die Gruppe nur
auf einer einzigen Basis gestanden habe. Die Zeichnungen
geben eine zusammenhängende -Fläche. Dass dieses ur-
sprünglich nicht der Fall gewesen sein kann, dafür geben
zwei Söhne (2 und 3) einen materiellen Beleg. Der linke
Fuss des Ersteren und der rechte des Letzteren reichen
fast hinab an die untere Fläche des Sockels. Stellt man
also die Figuren in einen Giebel, so. hat man Hügel neben
Hügel, aber keine Ebene.
Ich befürchte nicht den Einwand, dass die Florentiner
Statuen Werke von verschiedener Hand und Zeit seien,
dass daher beim Copiren Abänderungen in Betreff des
Grössenverhältnisses gemacht sein könnten, denn es stim-
Iß) Famil. des Lykomedes p. 'ii.
mcn die Höhen der vorhergehenden Figuren mit den An-
forderungen, welche IMythus und Kunst an den Verfertiger
stellten. In jugendlichem Alter (rjßdovtss II. 24, 604) sind
die Kinder geopfert; diese Grenze musste der Künstler ein-
halten und zwar nicht bloss aus dem Grunde, um dem My-
thus treu zu bleiben. Kleiner aber die Kinder darzustel-
len, als der jüngste Knabe und das jüngste Mädchen sind,
daran kann schon desswegen nicht gedacht werden, weil
die Darstellung kleiner Kinder zur Zeit des Scopas und
Praxiteles noch unbekannt ist. Oder aber man lasse jenen
Einwand gelten, so fallen meine mathematischen Argu-
mente, es fällt aber auch die Möglichkeit eines Reconstruc-
tions Versuches , ja die Möglichkeit, irgend eine Behauptung
über ihre einstmalige Aufstellung aufzustellen. Der Ge-
danke, die Gruppe wie ein steinern Motto in den Giebel
eines Apollotempels zu setzen, ist schön und poetisch, aber
mit den vorhandenen Figuren scheint er mir unausführbar.
Ich denke mir sie waren aufgestellt in einer graden Linie
und ich halte mich so lange an die Worte des Plinius , dass
sie in templo gestanden haben, bis die Unmöglichkeit die-
ser Aufstellung erwiesen ist, was bis jetzt nicht geschehn").
Trotz aller Bemühungen bin ich nur zu diesem negativen
Resultat gekommen ^®), allein wie ein Torso ohne Ergän-
zungen besser ist, als einer mit solchen Ergänzungen, die
sich nicht harmonisch einfügen, so ist auch der Rest einer
Gruppe besser, als eine ganze Gruppe, an der schliesslich
doch Niemand eine ungetrübte Freude empfinden kann.
Denn, wie oben bemerkt, darin liegt die grösste Schwierig-
keit , ein Ganzes zusammenzustellen , das eines Scopas oder
Praxiteles würdig ist.
17) Kann die Gruppe nicht in der Öeitenhalle einer Tempeicella
gestanden haben?
18) Die Hauptsehwierigkeit bei jeder Aufstelhing liegt in der Gleich-
förmigkeit der drei Söhne, von denen doch Keiner abgesondert werden
kann. Möglich wäre es indessen, dass zwischen 2 und 3 ursprünglich
eine Schwester gestanden hat. Es leuchtet ein , wie misslich es ist,
eine Gruppirung zu versuchen. Denn für die Annahme, es seien fast
alle Figuren auf uns gekommen, dafür sehe ich keinen Grund.
— 89 —
m.
Bevor ich übergehe zu den Zweifehi des Alterthunis
über den Künstler der Niobidengruppe , versuche ich den
Character derselben näher zu bestimmen.
Goethe bemerkt bei Gelegenheit der Laocoongruppe ')
«die bildende Kunst, die immer für den Moment arbeitet,
wird, sobald sie einen pathetischen Gegenstand wählt, den-
jenigen ergreifen, der Schrecken erweckt, da hingegen Poe-
sie sich an solche hält, die Furcht und Mitleid erregen.
Bei der Gruppe des Laocoon erregt das Leiden des Vaters
Schrecken, und zwar im höchsten Grade , an ihm hat die
Bildhauerkunst ihr Höchstes gethan; allein theils um den
Zirkel aller menschlichen Empfindungen zu durchlaufen,
theils um den heftigen Eindruck des Schreckens zu mil-
dern, erregte sie Mitleid für den Zustand des Jüngern Soh-
nes und Furcht für den altern, indem sie für diesen auch
noch Hoffnung übrig lässt». Diese Worte lassen sich auch
auf die Niobe anwenden, denn auch hier wird der erste
Eindruck der des Schreckens sein, er wird aber durch län-
gere Betrachtung in ein anderes Gefühl sich verwandeln,
ja er muss es, weil der Schrecken seiner Natur nach ein
momentanes Gefühl ist. Man schaue immer wieder und
wieder und die Gruppe wird zu einer stummen Tragödie.
Nicht bloss desswegen, weil auch hier Furcht und Mitleid
uns in gleicher Weise bewegen, weil wir fürchten für die
Tochter, die dahin flieht, wie das Reli vor dem Pfeil des
Jägers; weil das Herz uns blutet beim Anblick des Mäd-
chens, das «still wie eine geknickte Blume zu den Füssen
des Bruders niedersinkt»^), sondern besonders desswegen,
weil mit dem Versenken in die Gruppe die xd&aQOis na-
d^rjfiatciiv ins Gemüth einzieht, die wir empfinden beim Stu-
dium einer griechischen Tragödie. Wer freilich Nichts
sieht, als den jammervollen Untergang eines blühenden
Geschlechts, Nichts als «Entsetzen, Todesfurcht, ja den
jähen Tod selbst», der wird auch in einer griechischen
1) Propyl. I, 1 p. 16.
2) Feuerbach Nachl. III, p. 138 oder bei Stahr p. 380.
— 90 —
Tragödie nichts Anderes zu erkennen vermögen, als den
entsetzlichen Untergang einer Heldengrösse. Wold glauht
man beim Anschann der Gruppe ein jammernd toi ytvaal
ßQOtcJV ertönen zu hören, aber schlimm stände es um ei-
nen Scopas oder Praxiteles , Avenn nur dieser Eindruck aus
ihrem Werk gewonnen werden könnte. Man darf eine
solche Ansicht geradezu ungriechisch nennen, denn kein
einziges wahrhaft grosses Product des griechischen Geistes
wirkt niederschlagend oder trübend auf's Gemüth, sondern
erhebend und klärend. Bekannt ist das schöne Wort W.
V. Humboldt's: «Jede Ode Pindars, jeder grössere Clior
der Tragiker, jede Ode des Horaz durchläuft nur in un-
endlich abwechselnder Mannigfaltigkeit denselben Kreis.
Immer ist es die Erhabenheit der Götter, die Macht des
Schicksals, die Abhängigkeit des Menschen, aber auch die
Grösse der Gesinnung und die Höhe des Muths, durch
welche er sich gegen das Schicksal zu behaupten oder gar
über dasselbe zu erheben vermag. Daher die beruhigende
Wirkung, die jedes rein gestimmte Gemüth bei der Lesung
der Alten erfährt, dass sie auch den leidenschaftlichsten
Zustand heftiger Aufwallung oder erliegender Verzweiflung
allemal zur Ruhe herab und zum Muthe hinaufstimmen. »
Und , füge ich hinzu , auch Plato wirkt in dieser wahrhaft
beruhigenden und versöhnenden Weise, indem er uns bald
aus dem umstrickenden Netz des Einzelnen herausführt in
das bleibende Allgemeine, bald aus der trüben Sphäre der
Erscheinung hinaufliebt in das Lichtreieh der Ideen ; auch
Demosthenes, indem er das unwandelbare Sittengesetz hin-
einstellt in das Treiben der Zeit; ja in dem Strudel der
Komödie steht der ei'habene Schwung der Parabasc ^) und
selbst in der niedern Sphäre des Satyrspiels bleibt «die
Würde der Tragödie unversehrt». Sollte nun Avohl ein
Meisterwerk der Kunst, welche wir die speciflsch griechi-
sche Kunst zu nennen gewohnt sind., in Widerspruch stehn
mit diesem allgemeinen Gesetz aller übrigen Geistesäusse-
rungen der Griechen? Sollte hier kein Element vorhanden
3) Vgl. die schöne Bemerkung W. v. Humboldt's : Einleitung in die
Kawispr. p. 231.
— 91 —
sein, das uns emporhebt aus der Sphäre der Bangigkeit
und des »Schmerzes "? Suchen wir es aus der Gruppe selbst
zu gewinnen. Zunächst ist nicht genug zu betonen, dass
wir die Voraussetzungen mitbringen müssen, die dem Grie-
chen gegenwärtig waren bei der ßeschauung der Gruppe '*).
Eine Frevlerin gegen die Gottheit war die Niobe dem
Griechen; sah er ihr Schicksal im Stein vor Augen, so
musste freilich ihr gränzenloses Unglück sein Herz rühren,
aber er musste auf der andern Seite das gerechte Walten
einer beleidigten Gottheit erkennen und schon dieser Ge-
danke, hebt das Gemüth in demselben Maasse, als das Un-
glück es niederschlägt. Ferner: Niobe bleibt gross im
Schrecklithsten , bleibt Königin im Mutterschmerz ''), wir
bemitleiden sie, aber wii" bewundern sie auch. Verfolgt
man von der linken Seite ausgehend die Bewegungen der
einzelnen Figuren, so ist es, als brause ein Sturm heran
gegen die Mutter. Zwar ihr Gewand muss ihm folgen aber
er bricht sich an ihrem Haupt; dieses wendet sich ihm
entgegen. Ist aber diese Wendung des Kopfes nach der
rechten Seite, allen an sie heranstrebenden Linien entge-
gen, nicht der plastische Ausdruck ihres Widerstandes, ihrer
Fähigkeit, sich gross und königlich zu behaupten in dem
Untergange ihres Geschlechts? Zugleich wird das Auge
durch die Unterbrechung der Linien zum Innehalten ge-
zwungen, es bleibt haften an der Mutter und schaut in ihr
die Grösse selbst bei wankendem Knie. Das dritte Ele-
ment der kathartischen Wirkung ist die Schönheit. «An-
muth heiligt den Schmerz»®). Die Schönheit vermählt sich
dem Schmerz und dem Tode, sie ist das Ewige, Bleibende,
wie das Göttliche in der Tragödie. Es giebt . am Himmel
kein schöneres Schauspiel, als eine dunkle Wolke, die ein
Kranz von Licht umsäumt; in der Kunst nichts Schöneres,
als die thränenschwangere Miene der Niobe , um welche der
4) Weil diese uothwendige Forderung' iibersehn wurde , konnte in
den Propyl. I, 2, 65 der farnesische Stier als eine ,, brutale und g:rau-
same Scene" getadelt werden.
5) Vgl. Trendelenburg a. a. O. p. 2t). Welcker p. 292.
6) Schelling a. a. O. p. 40.
— 02 —
Glanz der Scliönheit sich ergiesst. AVolil zuckt der Scliracrz
in der Wimj)cr des Auges ; wohl öflfnen sich die Lippen zu
banger Klage, aber ungetrübt bleibt der Friede der Schön-
heit in der Noth des Irdischen. Unsre Augen mögen thrä-
nen; das Gemüth hebt sich in den Aether der Schönheit-
Schön der Gyps , der bleiche Doppelgänger des Steins , ist
so schön; wie schön ist sie erst im lebendigen Marmor!
Und tadelnd spricht man von der Schule, die dies Werk
geschaffen, sie habe statt göttlicher Ruhe und Erhabenheit
Leidenschaft und Pathos, Schmerz und Wehmuth darge-
stellt! Was giebt es Höheres, als ein schmerzdurchbroch-
nes Antlitz im Gottesfrieden der Schönheit? Dass Phidias
solch' einen Kopf, wie den der Niobe nicht dargestellt hat
und nicht darstellen konnte, bedarf keines Beweises und
sehr zu bezweifeln ist, ob unsre Bewunderung sich steigern
würde, wenn zu jenen göttlichen Leibern vom Parthenon
ihre Köpfe gefunden Avürden. Nichts ist richtiger als
Welcker's ') Wort «die Werke des Phidias haben allein der
Niobe nicht geschadet». Ist doch Nichts natürlicher, als
dass die Jüngern Attiker ihre eigenthümlichen Vorzüge so
gut haben, wie Phidias die seiuigen.
Um die Niobe, die «Mater dolorosa der alten Kunst»®)
schaart sich der geängstigte Chor der Kinder. Aber am
Ende herrscht die versöhnende Ruhe des Todes. Hier liegt
der sterbende Knabe, friedlich gebettet, unberührt von
Krampf und Starrheit. In ihm verstummt die Klage, der
Tod ist der Paean , wie Aeschylus '*) sagt.
IV.
In Betreff der Frage, ob die Niobidengruppe dem Sco-
7) p. 209. Vgl. stahl- p. .375. Welcker's Worte p. 292 finden sich
Avieder bei Stahr p. 377. 378, inid auch sonst fehlt es nicht an namen-
losen Entlehnungen.
8) Feuerbach Nachl. III, j). 137 = «tahr p. 374.
9) Fragm. Philoct. 229 Diud.
— 93 —
pas oder Praxiteles beizulegen sei, fällt in neuerer Zeit
die Mehrzahl der Stimmen dem Ersteren zu, ja man nennt
den Scopas als Künstler der Niobiden mit einer Entschie-
denheit '), die sehr bewundrungswürdig ist in einer Wissen-
schaft, die viel Unsichres aber wenig Sichres hat. Wie
unsicher es ist, wegen der härtern Arbeit die Gruppe dem
Scopas zuzusprechen, wie Winckelmann und nach ihm
Meyer thaten, darüber bemerkt Wagner (p. 251) «Es ist
eine sehr missliche, höchst trügerische Sache, bei antiken
KunstAverken nach der etwas grössern oder geringern Härte
des Stils so genau auf die Epoche, in welcher der Künst-
ler gelebt, schliessen zu wollen, wie z, B. Winckelmann
bei der Gruppe der Niobe gethan». Schlegel bemerkt (p.
132) «11 paroit que Praxiteie se plaisait dans rimitation de
la jeunesse et de la beaute calme; on cite au contraire
plusieurs ouvrages de Scopas d'une expression vive et pas-
siontje». Dieser Grund, obgleich von Welcker f(p, 219)
sehr triftig widerlegt, ist mehrfach wiederholt '^). Nehmen
wir zunächst an, dass Praxiteles sich nur in ruhigen Dar-
stellungen bewegt hat. Da wundert mich nur, wie man die
Kunstkenntnis s der Alten so gering anschlägt. Wie konnte
das Alterthum zweifelhaft sein? Ist es denn so schwer un-
ter dieser Bedingung zu entscheiden? Der oberflächlichste
Kenner hätte ja sofort sagen müssen, solche Gegenstände
habe nur Scopas bearbeitet. Die Alten sahen das Schöne
auf Weg und Steg; wir studiren die Kunst in Museen, wie
man Pflanzen studirt in Herbarien und so geringschätzig
behandeln Avir die Alten ^)? Will man so verfahren, Avie
im Extrem Brunn verfährt, der die körperliche Schönheit
als das Wesen der praxitelischen Kunst hinstellt, so sei
man consequent und lege die Kunstnachrichten aus dem
1) Overbeck kunstarcli. Vorles. yi. 141.
2) Brunn p. 357 f. So meint auch Waagen Kunstw. in Engl, und
Paris III p. 111 f. Mit Recht bestreitet AVelcker (A. Denkm. I p. 445)
die Unterschiede, die hier zwischen Scopas und Praxiteles gemacht wer-
den. Auch die Charakteristik , die Waagen von Praxiteles giebt, wider-
spricht den Nachrichten des Alterthums.
3) Ein feines Kunsturtheil aus dem Alterthum führt Hermann an,
Stud. d. griech. Künstl. p. 18 N. 102.
— 94 —
Altcrtlium ganz bei Seite, denn wer einem Künstler der
körperlichen Schönheit eine Gruppe wie die Niobe zutrauen
kann, ist ein Stümper, auf dessen Urtheil Nichts zu geben
ist. Zweitens aber ist die Annahme, dass Praxiteles nur
ruhige Darstellungen geschaffen, unrichtig. Von den Sile-
nen des Praxiteles sagt der Epigrauimatist *j :
Ti%vac el'vsxu Gsto ymI a Xi'&og oide ßQva^SLV.,
nQCi^lxeXeg • kvßov aal naXi ncofjLUöo^iai.
Seine IMänaden, von denen wir freilich Nichts wissen,
als ihre einstmalige Existenz, mögen nicht die Kühnheit
des gleichnamigen Werks von Scopas gehabt haben, sie
werden aber gewiss in Aufregung und Bewegung dargestellt
sein, denn das folgt aus ihrem Namen und Begriff, ausser-
dem aus dem Gegensatz zu den Thyaden, mit denen sie
gruppirt waren. Seine Katagusa — auch ein Mutterschmerz
— wird ein wenn nicht äusserlich, doch innerlich tiefbe-
wegtes Werk gewesen sein. Wenn Wagner (p. 245. 24G)
an den Niobiden grössere Einfachheit und Anspruchslosig-
keit, weniger Zierlichkeit findet als an den AViederholun-
gen des Periboetos, so wird es mir nicht einfallen, ihm zu
widersprechen, nur möchte ich mir die Frage erlauben, ob
sich nicht ein Grund denken lässt, grade an den Niobiden
sparsam zu sein mit Zierlichkeit und Feinheit. Man be-
trachte die sterbende im Nacken getroffene Tochter, diese
schöne gleichsam erbleichende Rose. Leise rieselt der Tod
die Glieder hinab, und das Gewand hält inne, als nehme
es Theil an der Lähmung des Körpers. Man gebe dem
Gewandwurf mehr Zierlichkeit und Feinheit und man darf
sich überzeugt halten, dass mit jeder neuen Zuthat der
Eindruck schwächer wird. Der Ausdruck dieser Figur
fordert die Einfachheit; grade dadurch ist die Statue so
vollendet, klar und schön. So ist es auch bei dem Sturz
im Mus. Chiaramonti. Vergleicht man ihn mit der ent-
sprechenden Figur der Gruppe, so bemerkt man an ihm
Nichts, was allein das Auge anginge, während letztere wie
überdeckt ist von unzähligen gebrochenen Linien, in denen
sich das Auge wie in einem Netz verliert. Wir verlangen
4) Brunck Auall. II p. 275. u. 2.
— 95 —
nur das durch den Gedanken Nothwendige zu sehn; das
soll uns fessehi und ergreifen, störend wäre ein Mehr von
Kunst und Feinheit. Beim Periboetos aber verhält sich die
Sache grade umgekehrt. Was dort schadet, nützt hier.
Denn es kam darauf an, ein thierisches Wesen zu adeln
dm'ch die Kunst. Je mehr Grazie und Feinheit, um so
mehr verliert der Satyr seine Satyrnatur und wird zu einem
höheren Wesen. Mengs, Visconti und Andere '") hielten den
Praxiteles für den Künstler der Gruppe, weil der Kopf der
Njobe ähnlich sei dem der knidischen Venus im Vatican,
Hr. Wredow findet Aehnlichkeit zwischen ihm und der kni-
dischen Venus in München. Auf die Epigramme, die zu
Gunsten des Praxiteles entscheiden, ist wenig zu geben;
kommt es darauf an. Gründe zu finden für ihn, so kann
man Folgendes sagen: Cicero lobt die praxitelischen Köpfe,
Diodor preist seine Meisterschaft im Ausdruck der Seele,
Sclielling ") bemerkt vom Kopf der Niobe, er sei ein Aeusser-
stes für die Darstellung der Seele in der Plastik, ein Ur-
theil, das gewiss Niemand bestreiten wird. Ja man könnte
jenen für Scopas geltend gemachten Grund mit mehr Recht
gegen ihn anführen und fragen, ob der Künstler eines so
extrem kühnen Werks, als welches uns seine Mänade ge-
schildert wird, den Köpfen der Statuen soviel Mässigung
und Milde gegeben, ob er nicht vielmehr den Ausdruck des
Schreckens und der Furcht stärker markirt haben würde?
Von diesen Gründen beruht der erstere auf positiven Nach-
richten, ich bin aber weit entfernt, darauf hin zu behaup-
ten, Praxiteles habe die Gruppe gemacht, denn ein solches
Urtheil schliesst eine Geringschätzung des Kunstverständ-
nisses der Alten in sich, zu der uns Nichts berechtigt. Man
muss daher, wie auch Welcker meint, die Frage unent-
schieden lassen. Richtig aber hat man aus dem Zweifel
des Alterthums auf die Verwandtschaft der beiden Künstler
geschlossen, die denn freilich in etAvas Tiefern zu suchen
ist, als worin Brunn sie findet. Es muss in der Niobe-
gruppe ein Element vorhanden sein, das auf die Kunst des
5) Vgl. die Anführungen bei Welcker p. 218.
6) p. 53. vgl. p. 41 f.
_ 96 —
Scopas, ein andres, das auf die des Praxiteles Anwen-
dung leidet. Was ich oben als Eigenthümlichkeit eines
Joden angefidn't habe, findet sich vereinigt in der Gruppe,
ich halte das für eine Bestätigung jener Unterscheidung.
Wir sehn die pathologische Kraft des Scopas , die psycho-
logische Tiefe des Praxiteles, den Sturm der Verzweiflung,
aber auch die schmerzlichste Offenbarung der Seele; rau-
schende Bewegung, wilde Flucht, aber darüber schwebt der
Friede der Anmuth. In diesen Gegensätzen wird sich die
Kunst des Scopas und Praxiteles bewegt haben, so dass bei
dem Einen das eine, bei dem andern das andre Element in
den Vordergrund getreten ist. Ist das Gesagte richtig, so
dürfte für Jeden die Entscheidung für Scopas oder Praxi-
teles schwer fallen; ich wenigstens vermöchte sie nicht zu
2'eben und vielleicht erklärt sich auf diese Weise der Zwei-
fei des Alterthums, für den ich sonst keinen Grund angeben
kann.
DIE ARTEMIS
aus dem PaUist Coloiina im Museum zu Berliu.
Artemis Colonna.
diSia ^r'i aoi idövTi uG&^vriq xiq STtai-
vsccii äo^a , naQa toaovrov (Xfisivcov
cpaviitai. Lucian.
{^chon Gerhard ') dachte in seiner Beschreibung dieser
Statue an Praxiteles ; ich hoffe ^ mich wird die folgende
Ausführung wenigstens entschuldigen, dass ich sie einer
Besprechung dieses Künstlers anreihe. Etwas näher auf sie
einzugehn wird gewiss nicht schaden, da ausser einigen
kurzen Erwähnungen von Meyer ^), Müller ^), Feuerbach •*)
Nichts zur Beurtheilung derselben vorliegt, ihr Wertli aber
nicht überschätzt wird, wenn man behauptet, dass sie die
vielgepriesene Artemis von Versailles an Schönheit weit
übertrifft. Eine Abbildung — die einzige, welche ich kenne
— findet sich bei Müller °), doch ist dieselbe einestheils
etwas vierschrötig ausgefallen, anderntheils nicht von der
Seite aufgenommen, von der die Statue gesehn sein will,
nämlich von der rechten.
Den Kopf loben die Ausleger besonders, Meyer nennt
ihn den schönsten unter allen von dieser Göttin erhaltenen
und in der That ist es schwer, seiner Schönheit mit Wor-
ten nahe zu kommen. Er ist ein Idealkopf in dem oben
1) Berlin's Antike Bildw. p. 45. Von dieser Beschreibung giebt
Stahr p. 368 f. einen armen Auszug, fast ganz mit denselben Worten.
Ein Irrthum findet sich bei Gerhard: Der Köcher der Statue ist nicht
geöffnet, sondern geschlossen.
2) Zu Winckelm. Buch 5. Kap. 2. §. 9.
3) Handb. §. 304, 3. Text z. d. Denkm. p. 19.
4) Nachl. III, p. 129.
5) Denkm. d. a. K. II, 10, 1(57.
7*
~ 100 —
angedeuteten Sinne. Nicht eine Seite der Artemis , ihr gan-
zes tiefsinniges Wesen steht vor uns''). Dieliter geben uns
einzelne Züge; was wir aus ihnen samraehi und zusammen-
setzen sehen wir hier mit einem Blick. Mit der Anmuth der
Jungfrau vereinigt sich der Ernst der hinraffenden Göttin.
Nicht gleichgültig ist der Ausdruck, kalt und streng, dass
man ausrufen möchte:
0 Gott! Aus diesen Zügen spricht kein Herz.
Keine Leidenschaft bewegt ihre Mienen, keine Regung des
Gefühls, aber sie sind umflossen von göttlicher Anmuth.
Die Lippen der Artemis von Versailles hebt der Unmuth,
wir fühlen uns näher gerückt, Aveil eine Eigenschaft unsres
eignen Wesens uns begegnet. Das Haupt des vaticanischen
Apollo ist oben heiter, wie der glanzvolle Olymp, aber un-
ten am Munde sammeln sich die Wolken des ünnraths, wir
fühlen Leidenschaft und Erregung; aber vergebens spähen
wir in der Artemis Colonna ein Theilchen unsers Selbst
wiederzufinden, sie stösst uns zurück wie ein kalt Gorgo-
nenhaupt. Und doch fesselt uns die unsägliche Anmuth,
die gleich dem Gold an hephästischen Gebilden') ihre Züge
umfliesst. Schlank ist sie, wie die Jägerin auf des Tayge-
tos' Höhen, aber ernst wie die Richterin derKallisto, sanft
ist ihr Pfeil, aber er bringt den Tod. Fast schneidend
empfindet man an dieser Statue die Wirkung des griechi-
schen Profils, sie wird erhöht durch die Kälte des Aus-
drucks. Unser Auge ist gewöhnt an die Linien der orga-
nischen Natur, diese bewegt sich fast überall in wellenför-
migen Schwingungen, welche sinken um wieder zu stei-
gen, enden, um wieder zu beginnen, wir sprechen von
Einförmigkeit und Starrheit, wo uns grade Linien begegnen.
Denn die grade Linie ist die des lang hinstreckenden To-
des, der die Wellen des Lebens glättet in ein langes Einer- ^
6) Dies drücken die altern Idole der Artemis durch die Attribute,
Bogen und Fackel aus. Sie ist Lebens- und Todesgöttin.
7) cos ^ oz£ TLg j^QVOüV TiSQix^vetcci KQyvQcp dvrjg
i'SQig, 6v 'Hq)ai6xog ösdasv xaJ Rälkag 'A&rjvr]
xixvriv ncevTOi'rjv , x^qlsvtu Sb sgycc zsXstei ,
(og ccQce ro3 ^atix^vf ;uaptv v.?cpali] te -nal wfioig.
Odyss. 0, 232 f.
— 101 —
lei; sie erweckt aber auch den Gedanken des gleichmässig
Verlaufenden, des EAvigen, Ungestörten. So ist es hier.
Dazu kommt der Blick der Göttin. Ihn reizt kein Gegen-
stand; er ist ziellos in die Ferne gerichtet; auch dies trägt
bei, uns ein Wesen fühlen zu lassen, das still himvandelt
wie die Nothwendigkeit des Todes.
Gerhard nennt die Statue sehr richtig «acht griechisch
gedacht»; sie ist nicht geboren im Rausch eines begeisterten
Augenblicks, gleich dem vaticanischen Apollo, der schön
ist wie der Gedanke eines Dichters; sein Künstler war ent-
zückt von der Schönheit des Gottes , . der Künstler der Ar-
temis hat gläubig seine Gottheit empfunden. Darin liegt
ein grosser Unterschied. Ein Anderes ist die Darstellung
eines schönen Phantasiegebildes, ein Anderes wenn der
Künstler durchdrungen ist von der Realität seines Gottes.
Gehen wir ein in die Einzelheiten des Kopfes , so muss
es auffallen , wie treffend alle Bemerkimgen der Alten über
«praxitelische Köpfe» auf ihn anwendbar sind. Er ist von
schöner runder Form, wie die der Niobiden, wie ihn auch
Lucian an der Knidischen Venus bewundert haben mag,
von der er den Kopf entlehnt in seinen ((Bildern»*). Das
Haar erhebt sich über der Stirn mit grösserer Fülle, als an
den Töchtern der Niobe und beschreibt einen schönen Bo-
gen über der gradeu Linie des Profils. Ohne Schärfe ist
der Augenknochen, das Gewölbe des offenen, w^eithin-
schauenden Auges. Seine zartgeschwungene Linie erinnert
an das ocpQvcov to svyQa^^ov^ welches Lucian^) lobt an
der Knidierin. Als das Schönste aber preist Gerhard mit
8) Wie die Kleinheit des Kopfes an der Mediceischen Venus ein
Beweis ist gegen ihre Identität mit der knidischen — erst Lysipptis
hat die Köpfe kleiner gemacht — so spricht der ehenfalls verhältniss-
mässig kleine Kopf der Artemis von Versailles schon allein dagegen , in
dieser Statue ein praxitelisches Ideal zu finden , wie Feuerbach (Nachl.
III p. 130) will. Die Köpfe des Theseus vom Parthenon, vieler Jüng-
linge am Fries, auch der Venus von Milo sind mehr länglich als rund.
Der Hinterkopf, der am Theseus ziemlich tief liegt und auffallend tief
an dem sogenannten Weber'schen Kopf, scheint später höher Linaufge-
rückt worden zu sein, wie man ihn z. B. am Periboetos sieht.
9) Imag. c. 6. Die richtige Erklärung giebt Meyer zu Winckelm.
B. 5. Kap. 5. §. 24.
— 102 —
Recht die dünnen, überaus zarten und feinen Lippen; er
erwähnt dabei das Wort des Petroriius (cap. 126): oscukim
quäle Praxiteles habere Dianam credidit. Sie sind nicht
schmeichelnd, wie die Lippen der Pcitho'"), sondern von
ernsterer Anmuth, wie sie der ewig jungfräulichen Göttin
gebühren.
Die Göttin ist dargestellt in massig eilender, nicht
hastiger Bewegung; dadurch treten die schönen Umrisse der
Glieder aus dem Gewände hervor. Ihr ganzer Körper ist
vornübergeneigt, sie erscheint uns wie schwebend. Das
Gewand kräuselt sich bald in zierlichen Falten, bald be-
wegt es sich in langen tiefgefurchten Linien. Das Köcher-
band, welches die Brust durchschneidet, veranlasst die an-
muthigste Verwirrung, tausend kleine Falten umspielen die
sti'engen, doch nicht unreifen Formen des Busens. Der
übergeschlagene Chiton reicht bis über den Leib der Göt-
tin; hier bewegen sich schöngeschwungene Bogenlinien in
reizvollem Contrast mit den lang sich senkenden Falten
des Gewandschoosses. So vereinigen sich Anmuth und Ernst
auch im Gewände. Für die Vortrefflichkeit der Arbeit be-
rufe ich mich auf Meyer's und Hrn. Wredow's Urtheil.
Es könnte scheinen, unsere Statue sei als pfeilabsen-
dende Göttin gedacht. Der rechte Arm. ist zurückgezogen
wie vom Anspannen der Bogensehne, der linke liegt zwar
nicht in der Schusslage, aber man könnte sagen, die Göt-
tin habe so eben den Schuss gethan, sie lasse die bogen-
bewehrte erhobene Linke sinken und ihr Auge folge dem
Fluge des Geschosses. So scheint Feuerbach die Figur
aufzufassen und allerdings wäre ihre Stellung dem nicht
widersprechend. Er zieht die schöne Statue des Vaticans ")
zur Vergleichung herbei, die er mit Visconti'^) den Niobi-
den oder dem Tityos gegenüber stehend denkt. Allein hie-
be! ist nicht zu übersehen, dass der Köcher an unserer
Statue geschlossen ist. Verbietet aber ein geschlossener
10) Anacreont. (15 Bergk.)
XBilog, ola TJei&ovg
nQOKalovfifvov cpilruia.
11) Mus. Pio-Clem. I, 29.
12) Mus. Pio-Clem, I, 251.
— 1U8 —
Köcher nicht absohit den Gedanken an den Gebrauch des
Pfeiles y wie ihn ein geöffneter wenigstens bei bewegten Sta-
tuen hervorruft? '^) Wollte der Künstler in seinem Werk
eine pfeilsendende Artemis erkannt wissen, so kam er der
Phantasie des Schauenden zu Hülfe, wenn er den Köcher
offen Hess, er führte sie irre, wenn er ihn schloss und ar-
beitete dadurch sich selbst entgegen. Auch der ziellose
Blick der Statue möchte daran hindern, sie einem Feinde
gegenüber zu denken; von Spannung und Interesse verräth
sich überhaupt Nichts in ihr. Hat sie den Bogen gehalten,
wie der Ergänzer es angenommen, so kann er ihr nicht
zum Gebrauch gegeben sein. Misslich ist es, die Attribute
zu bestimmen. Müller meint, sie habe in beiden Händen
Fackeln getragen, ebensogut möglich ist, dass sie in der
Linken den Bogen, in der Rechten eine Fackel getragen,
wie die Artemis zu Segesta und andere Tempelbilder **).
Es sind noch zwei Eigenthümlichkeiten zu bemerken, zu-
erst, was auch Gerhard anführt, die Perikarpien an den
Armen, dann die durchbohrten Ohrläppchen. Von andern
Gottheiten ist der Schmuck der Ohrringe auch an Statuen
bekannt'"), von der Artemis kann ich ihn nur auf Münzen
nachweisen'"). Es brachte mich dies auf die Vermuthung,
in unserer Statue ein Tempelbild zu sehen , für welches die-
ser Schmuck, wie der ganze Ausdruck der Figur vortreff-
lich sich eignen würde. Eine Bestätigung dafür finde ich
in der bestimmten Aeusserung des Hrn. Wredow, er habe
bei seinem Aufenthalt in Italien in Erfahrung gebracht,
dass die Statue innerhalb eines Tempelraumes gefunden sei.
Nach dieser Ausführung erlaube man mir die beschei-
dene Vermuthung, dass unsere Artemis zurückgehe auf die
13) So Avird man sich schwer heim vaticanischen Apollo von dem
Gedanken losmachen können, dass der Gott seinen Pfeil wirklich gfe-
brancht hat. Stände er den Eumeniden gegenüber, er würde mit ab-
wehrend ei'hobener Rechten erscheinen , ähnlich wie ihn ein Vasenbild
dieses Gegenstandes zeigt (Overbeck Gall. her. Bildw. Taf. 29, 4).
14) Cic. Verr. IV, c. 34. Vgl. Müller Handb. § 364. 4.
15) Vgl. Winckelm. Buch 6 Kap. 2 § 14.
16) Vgl. die Artemis Soteira auf der Münze von Syracus Müller
Deukm. II, 15, 163 a., von Stymphalos I, 41, 180.
— 104 —
In-auronische Artemis des Praxiteles, welche Pausanias '^)
auf der Burg von Athen sah. Was gegen diese Verniu-
thung spricht, weiss ich nicht; was für sie spricht, ist
nicht zwingend. Aber was können wir in Ermangelung po-
sitiver Entscheidungsgründe Anderes thun, als die Statue
selbst fragen, was sie ist? Sind Avir nicht in den meisten
Fällen darauf angewiesen, nach dem Geist, der uns ent-
gegenweht aus einem Werk, auf seine Zeit und wo mög-
lich auf seinen Künstler zu schliessen? Wahrhaft antik
ist die Statue und wahrhaft tiefsinnig zugleich, weil sie die
tiefsten Gregensätze in sich schliesst, weil sie nicht das
schöne Bild einer Jägerin, sondern das Wesen einer Gott-
heit darstellt. In die jüngere attische Schule aber fällt die
Ausbildung des Artemisideals ; geht unsere Statue auf einen
griechischen Meister zurück , so würden gegen andere Künst-
ler und Zeiten Gegengründe in Schaaren beizubringen sein.
Und -wie, fragen wir, wird ein Praxiteles die finstere Göt-
tin von Brauron'*) gebildet haben? Müller*^) setzt in seine
Zeit die Umbildung derGorgone; er, der grosse Zauber-
künstler, der das Satyrgeschlecht in den Schmelztiegel der
Kunst warf, wird jene finstere Gottheit in eine ernste, aber
schöne Euraenide verwandelt haben. Beben mochten die
attischen Mädchen vor dem Ernst der keuschen Jungfrau;
aber lieben mussten sie die Anmuth der kinderpflegenden
Gottheit. So ist die Artemis Colonna; ihr Anblick erweckt
ein Gefühl gemischt aus Grauen und Entzücken, als träten
wir ein in den Eumenidenhain des Sophocles, in dem die
Nachtigallen schlagen. —
17) I, 23, 7.
18) Vgl. Hermann Antiq. II , § 62 , 1) ff. Lauer Syst. d. griecli.
Mythol. p. 293 f.
19) Hall. Litztg. 1835. II, p. 178.
VASENBILDER.
i . Die xViislö.sung von Hector's Leiche.
2. Orestes in Delphi.
3. Die erste Scene des sophocleischen Ocdipus Rex.
4. Der Tod des Archenioros.
I. Die Auslösung von Hector'.s Leiche.
Apulische Vase, abgebildet in denMonum. dell' Instit.
V, tav. J 1 und in Overbeck's Gallerie heroischer Bildwerke
Taf. XX n. 4, besprochen von: Minervini Bullet. Napol.
IV p. 106 f. Gerhard Archäol. Zeitg. 1844 p. 231 f.
Schmidt Ann. delF Inst. XXI p. 240 f. Overbeck p. 472 f. —
Mit Recht lobt Overbeck die Zeichnung dieses Bildes,
nicht geringeres Lob, glaube ich, verdient die Erfindung.
Die obere Reihe besteht aus fünf Figuren , deren Mittelpunkt
Achill ist. Er sitzt trauernd auf seinem Ruhebett ; rechts
von ihm steht Athene, links Hermes. Die Anwesenheit der
Ersteren, welche zu ähnlichem Zwecke, wie hier, auf dem
von Thiersch *) herausgegebenen Silbergefäss neben Neopto-
lemos erscheint, wird nicht dadurch motiviii;, dass man sie
als Schutzgöttin der Achäer anwesend denkt. Erwägt man,
dass grade Athene es Avar, welche dem Achill Beistand lei-
stete im Kampf gegen den verhassten Troer ^) , so hat ihre
Erscheinung hier über der Leiche des Letzteren einen tie-
fern Sinn. Sie hat dem Lebenden gezüriit ; mit dem Todten
ist sie versöhnt, sie bittet selbst für seine Leiche. Es ist
eine Anerkennung der Heldenhaftigkeit des Hector in der-
selben Weise, wie sie bei Sophocles^) die des in Wahn-
sinn gefallenen Ajax anerkennt, und wie sie dort den Sie-
ger Odysseus, nachdem sie ihm zur Prüfung die Erniedri-
gung des Gegners gezeigt hat, zum Maasshalten und zur
frommen Scheu gegen die Götter ermahnt (v. 127), so steht
1) Königl. B. Akad. d, Wiss. 1848 p. 107 f.
2) II. 22, 214 f. So erscheint Athene oft dem Achill im Kampf
gegen Hector zur Seite stehend, z. B. Overbeck Taf. XIX no. .3. 4.
3) Ajax 118.
— 108 —
sie liier über der entstellten Leiche des Feindes mit der
Mahnung- an den Sieger Achill, Maass zu halten in der
Rache. Sie selbst ist es, die den Ajax mit Blindheit ge-
schlagen und doch seine Heldennatur anerkennt; so er-
scheint hier dieselbe Gottheit, die den Hector durch den
Achill vernichtet hatte , zum Schutz seiner Leiche *). Her-
mes, der den Priamos in das Zelt des Achilleus geführt
hatte, vereinigt seine Bemühungen mit denen der Athene.
Dass er mit der Rechten seinen Stab ausstreckt, scheint
mir nur Bezeichnung seiner Rede zu sein. Nimmt man
mit Schmidt an, dass er gleichsam einen Zauber auf Achil-
leus ausüben wolle durch seinen Stab , so wird das , was freier
Edelmuth war, als durch bewussflose Nöthigung geschehen
erklärt. Es würde eine solche Annahme dem Character
Achilleus', wie ihnWelcker^) so schön schildert, bedeuten-
den Eintrag thun. An dem linken Ende der oberen Reihe
erscheint Nestor, ihm gegenüber an der rechten Seite sein
Sohn Antilochos, wie die Erklärer richtig statt des ver-
schriebenen Amphilochos lesen. Es mag sein, dass Erste-
rer hier als der «süsse Redner» erscheint, wenngleich seine
Rede nicht immer das Herz des Peliden zu rühren verstand,
und Letzterer als Freund des Achilleus, aber es liegt noch
eine andere Beziehung ihrer Erscheinung zu Grunde, die
ich aus ihrer offenbaren Gegenüberstellung folgere, nämlich
der Vergleich mit Priamos und Hector. Niemand stand im
ganzen Heer der Achäer dem Priamos näher als Nestor.
Ihm gleich als Greis und als Vater sollte er auch einen
Sohn beweinen, wie jener; einen Sohn, der im Kampf für
ihn gefallen ^) , wie Hector im Kampf für das Reich seines
Vaters. Nestor ist unter allen Achäern der, welcher am
meisten den Schmerz des Priamos zu würdigen und zu füh-
len vermochte. Es wiederholt sich in ihm und Antilochos
das Geschick des Priamos und Hector, daher ihre Gegen-
überstellung ''). — Die untere Figurenreihe stellt für den
4) Aehnlicli ist es, wenn II. 24, 612 die Kinder der Niobe von den
Göttern bestattet werden, von denen sie vernichtet sind.
5) Trilog. p. 429.
6) Find. Pyth. 6, 30 f.
7) Man möchte hier Phoenix erwarten, wie er auf andern Darstel-
— J09 —
Verstand einen der Zeit nach auf die obere folgenden Mo-
juent dar — denn sehr richtig bemerkt Gerhard, dass die
Auslieferung des Leichnams bereits erfolgt ist — aber für
die poetische Anschauung existirt dieser Zeitunterschied
nicht. Scenen, die verschiedenen Zeiten angehören, rückt
die Kunst zusammen mit Hintansetzung dieser Verschieden-
heit, und sie darf es, sofern sie diese einzelnen Scenen zu
der Einheit einess Gedankens zusammenzuschliessen ver-
steht. Auf der canosischen Medeavase®) sind weit entfern-
ter liegende Zeiten verknüpft, als hier und doch verbindet
sich Alles zu einer Idee. So ist es auch hier. Wir sehen
oben die Bitte, unten die Erfüllung; das sind Begriffe, die
sich so nothwendig verbinden und zusanmienschliessen, dass
der Gedanke des Nacheinander gar nicht aufkommt. Was
der Dichter in zeitlicher Folge erzählt, stellt der Künstler
als nebeneinander stehende Scenen dar, an die man nicht
den Begriff der Zeit hinantragen darf. Eine ideale Einheit
verbindet sie. Die Leiche Hector's wird von zwei Dienern
herangetragen, um mit Golde aufgewogen zu werden. Bei
dem Anblick des todten Sohnes erwacht der Schmerz des
Vaters von Neuem, denn grade dieser Moment ist darge-
stellt, wo Priamos die Leiche erblickt. So werden seine
Geberden motivirt. Verzweiflungsvoll greift er mit der
Rechten nach dem Haupt, um sein Haar zu raufen, mit der
Linken streckt er den Zweig über die Leiche, als wollte er
sie bekränzen. Dass der Vater die Leiche des Sohnes er-
blickt, ist eine Abweichung vom Epos, von der ich nicht
weiss, ob sie der Tragödie, Aeschylos' Phrygern^J, ange-
hört oder originelle Erfindung des Künstlers ist. Li der
Ilias ^"j wird Hector's Leiche den Augen des Vaters ent-
rückt; wenn man bedenkt, dass Aeschylos die Leichenwage
eingeführt, — ein Umstand, der mit Recht die Erklärer auf
seine Tragödie als Quelle unsers Bildes zurückgeleitet hat
langen desselben Gegenstandes erscheint (Overb. Tat". XX, 9, 12). Eben
sein Fehlen weist darauf hin , dass unseren Künstler in der Wahl sei-
ner Personen besondere Intentionen geleitet haben.
8) Miliin Tomb. de Canosa pl. 7.
9) Welcker Tril. p, 424 f.
10) 24, 583,
— 110 — -
— so möchte man glauben, dass er dem Priamos den er-
schiitternden Anblick der Leiche nicht erspart hat. Die
Erüudimg der Leichenwage, die durch die ilias ") veran-
lasst sein kann, in der Achilleus zum sterbenden Hector
spricht :
ag OVK k'öd' 6g öfjg ye Kvvag y.egjakrjg ajcakakKOi,
ovd' si Ksv öena-Kig te kuI crK06i-i')'jQt.t anoivu
öTjfawff' ivd-ad^ ayovzeg. vnoö'/^covraL de y.al üklw
ovo' ei' Ksv a,avxov yqvßa eQvaaGQ-ui avayoi
/JUQÖavLÖijg ÜQUifiog etc.]
ist etwas so Gre waltiges, dass ich um keinen Preis die An-
spielung darin finden möchte, die Schmidt vermuthet, wel-
cher nämlich mit Bezug auf die Seelenwägung (II. 22, 209 f.)
eine Andeutung auf das baldige Ende des Achilleus darin
sieht. Die Aufwägung der Leiche spricht Achill als das
Aeusserste aus, was dem Vater möglich sei und während
bei der Auslösung des Leichnams nach der llias immer nur
von einer unbestimmten Vielheit der Greschenke die Rede
ist {anBQsCGL anoiva II. 24, 502) hatte Aeschylos in gross-
artig concreter An.schaulichkeit eben dies Aeusserste darge-
stellt. Dazu kommt, dass man die Analogie des Bernay'-
schen Silbergefässes '^j , wo ebenfalls die Wage erscheint,
ohne irgendwelche Möglichkeit der Andeutung, die Schmidt
vermuthet, nicht wird übersehen dürfen. Was die Anwe-
senheit der Thetis betrifft, so stimme ich in ihrer Motivi-
rung mit Overbeck überein. Wo es galt, weichere Re-
gungen in Achill zu wecken, durfte die Mutter nicht feh-
len. Die letzte Figur zur Rechten in der untern Reihe,
den ich, wie die Erklärer, als Myrmidonen fasse, bezeigt
nach Schmidt ihre Verwunderung über die Auslieferung des
Leichnam's. Overbeck sagt ohne nähere Bestinunung «er
habe Blick und Schritt wahrscheinlich auf Hectors Leiche
gerichtet». Wie seine Bewegung Verwunderung ausdrücken
kann , sehe ich nicht ein ; auch wäre eine Person von die-
sem Ausdruck ganz überflüssig, ja störend. Mir scheint,
11) 22, 348 f-
12) Overbeck Taf. XX, 12.
— 111 —
er kommt heran, um Einsprache zu thun, um wo möglich
die Auslieferung der Leiche zu verhindern. Dem entspricht
die Bewegung seiner Rechten. Vielleicht lässt sich aus der
Ilias '^) seine Erscheinung motiviren:
SKTOg ^isv dl] Af|o, yeQOv g)iks, (irj rig A-jiCdiov
ivd-dö irrekd'ipti' ßovhjcpoQog . o'i xi (loi aht
ßovXag ßovksvovGt naQtjjxevoi^ rj •heilig iöriv.
räv ei' rig 6e iSotxo d-otjv dia vvKxa ^iXciivav .
avTiK civ i^etTtoi AyafieiivovL noL^ivt kucov ^
Y.cci '/.SV avdß kfjötg IvOiog vexQolo ysvfixtti.
Er characterisirt die Stimmung des Heeres. Zugleich hebt
sein Auftreten den Character des Achill. Die roheren Ge-
müther der Ivlyrmidonen . die er repräsentirt, kennen nicht
das edlere Gefühl ihres Führers; sie sehen in dem gefalle-
nen Troer nur den verhassten Mörder des Patroclos ; sie
treibt das einzige Gefühl der Rache. Von den beiden Flü-
gelknaben ist nach Schmidt der zur Linken im Begriff,
Hector's Leiche zu bekränzen, der zur Rechten eine An-
spielung auf die Leichenfeier des Patroclos , denn es sei
nicht auffallend, dass der mystische Todtencult späterer
Zeiten in das Heroenalter übertragen werde. Diese An-
spielung auf Patroclos ist einestheils-, wie Overbeck bemerkt,
nicht deutlich, anderntheils zerstört sie die Einheit des Bil-
des. Denn die Anspielungen, die Schmidt hier findet, auf
Patroclos' Leichenfeier und auf Achilles" Tod, ziehen die
Gedanken ab vom Mittelpunkt des Bildes und lassen sie
nach allen Seiten auseinandergehen. Um Hector's Leiche
dreht sich Alles, warum will man jedem der beiden Eroten
eine besondere Beziehung beilegen und sie nicht vielmehr
beide auf Hector beziehen ? Kranz (als Todtenkranz ") —
Aristoph. Eccl. v. 538 — z. B. auf der Archemorosvase),
Tänie und Schale sind die auf Gräberdarstellungen durch-
13) 24, 650 f.
14) Nach Voss bei Welcker A. Denkm. I, 370 auf die durchrannte
Laufbahn des Lebens zu bezielien. Overbeck p. 475 bemerkt, er habe
«statt der gewöhnlichen Grabattribute einen Kranz». Vgl. hingegen
schon Lessing Wie die Alten etc. Bd. V, p. 284.
— 112 —
gängig erscheinenden Geräthe'^), warum sollen diese Eroten
nicht die Bestattung Hector's andeuten? Wenn dieses Amt
Eroten übertragen ist, so braucht man nicht gleich an my-
stische Genien zu denken; bei Philostr. Imag. II, 30 zün-
den Eroten den Scheiterhaufen der Euadne an, wobei ge-
wiss Niemand an Mysticismus denken wird. Für mich liegt
eine gewisse Zartheit darin, dass grade Eroten den entstell-
ten Leichnam schmücken und bestatten sollen. Keineswegs
sind diese beiden Knaben etAvas Ueberflüssiges oder Stö-
rendes , sondern eine sehr schöne Zuthat des Künstlers , die
in engster Beziehung zu Hector steht. Sie erwecken den
Gedanken, dass der misshandelten und geschändeten Leiche
des edelsten Troers doch zuletzt die gebührende Ehre des
Begräbnisses zu Theil geworden ist, und in dieser Auffas-
sung sind sie der versöhnende Abschluss des Ganzen. —
Wundervoll ist die Mischung und Abstufung der Affecte
in unserm Bilde. Unten der verzweifelte Schmerz des Pria-
mos, über ihm die tiefe Trauer Achills; links das sinnende
Mitleid Nestors, rechts die stille Ruhe des Antilochos!
Wie im Drama , so wird in der Kunst allem Bewegten sanfte
Ruhe beigemischt, es wird der stürmische Wogenschlag der
Leiden und Leidenschaften wie mit heiterer Meeresstille
umkränzt.
n. Orestes iii Delphi.
Vasenbild, abgebildet in Gerhards Denkm. und For-
schungen 1853. Taf. 59, erklärt von C. v. Paucker p. 129 ff.
Der Erklärer erkennt in diesem Bilde unter Voraus-
setzung eines nicht überlieferten Mythus die Dioskuren in
Delphi. Nur sehr zwingende Gründe können nach meiner
Ansicht solche Annahmen entschuldigen ; diese finde ich hier
aber so wenig, dass vielmehr Manches gegen die Erklärung
spricht. Dass die pythische Orakelstätte dargestellt ist.
15) z. B. im Berl. Mus, 1054. Erstere zur Sclimückung der Grab-
stelle wie No, 951. 1027. 2029. R. Rochette Monum. lued. PI. 30. 78.
— 113 —
scheint gewiss und ist durch v. Paucker ausführlich aus-
einandergesetzt; seine Gründe für die Dioskuren sind fol-
gende. Zunächst die Anwesenheit des Zeus, denn diesen
erkennt er in der bärtigen, Scepter tragenden Figur an der
linken Seite des Bildes. Warum sie Zeus sein soll, dafür
ist kein Grund angegeben; ich gebe gern zu, dass der
ganze Habitus der Figur dem Zeus nicht unangemessen
ist, aber liegt es nicht näher, in einer delphischen Orakel-
scene an eine andere Person zu denken, den 7iQoq)ritr]g?
Die Gottheit spricht an der Orakelstätte durch ihre Diener
und diese erwartet man im Gespräch mit dpnen, die zum
Orakel kommen, nicht die Gottheit selbst, am allerwenig-
sten den Zeus. Auch der glückverheissende Vogel, der zur
Rechten der beiden Jünglinge fliegt, würde seine Bedeutung
verlieren, wenn der Gott, der ihn sendet, selbst anwesend
wäre. Die weiteren Gründe v. Paucker's sind hergenom-
men von der Verschiedenheit der beiden herankommenden
Jünglinge in Tracht, Stellung, Haltung der Lanzen u. s. w.,
Avas alles bis in's Kleinste symbolisch bestimmt sein soll.
Dass der Eine der Jünglinge die Lanze in der Rechten,
der Andere in der Linken trägt, Avird mit Verweisung auf
eine Stelle des Suidas als den Dioskui'en eigenthümlich er-
klärt. Ich glaube, die Vasenerklärung verliert alle Sicher-
heit, Avenn man die einzelne Erscheinung eines Bildes für
sich betrachtet, ohne sich nach Analogien umzusehen. Man
braucht nicht gar viel Vasen zu vergleichen, um zu dem
Resultat zu kommen, dass die Verschiedenheit im Tragen
der Lanzen aus rein künstlerischen Absichten entspringt.
Und der Grund hiefür ist leicht einzusehen. Er liegt darin,
dass jede fortschreitende Kunst in der einzelnen Figur und
in der Gruppe Gegensätze zu entwickeln strebt. So ist es
in der Architektur; der monolithe Bau ist eine gegensatz-
lose Einheit; sobald sich der Gegensatz tragender und ge-
tragener Glieder entAvickelt, entsteht Schönheit und Leben.
Denn der Gegensatz ruft die BcAvegung, das Entgegenstre-
ben zweier Principien hervor. Die uralten Terracotten der
Plastik ') entsprechen ganz den Monolithen der Architektur,
1) Beisp. bei Gerhard Ant. Bildw. Taf. 1 tf.
— 114 —
sie zeigen noch Nichts von Trennung und G-egensatz in den
Gliedern. Sobald ein künstlerisches Streben erwacht, sucht
man den Gegensatz. Sollte von diesem durchaus nothwen-
digen Fortschritte der Kunst Nichts in die Malerei überge-
gangen, sollte hier symbolische Bestimmung sein, was dort
Jedermann als künstlerisches Princip anerkennt? Und in
Betreff der Gruppirung haben die alten Maler ebensogut
gewusst, wie die Plastiker, dass durch gleiche Stellungen
eine Gruppe auseinanderfällt, durch gegensätzliche sich zu-
samrnenschliesst. Dieselbe schöne Gruppirung, die wir be-
wundern an der Gruppe von St. Ildefonso zeigt z. B. ein
pompejanisches Wandgemälde, welches Iphigenia in der
Mitte zwischen Orest und Pylades zeigt ^). Die beiden
Jünglinge sind bis in's Kleinste gegensätzlich gruppirt, in
der Stellung der Füsse, in der Biegung des Körpers, in
der Haltung der Lanzen; diese Gegensätze schliessen sich
mit der Iphigenia zur schönsten Harmonie zusammen. In
der Entwickelung der Vasenmalerei ist der ]\Iangel oder das
Vorhandensein gegensätzlicher Anordnung ein durchgrei-
fendes Kriterium des Stils. Die Figuren der archaischen
Malerei stehen wie commandirt, sie haben keine gegensätz-
liche, sondern absolut gleiche Stellung, jede Figur gleicht
in ihrer Bewegung vollkommen der andern. Dagegen ver-
gleiche man die schönen Gruppen auf der Archemorosvase.
Kapaneus und Parthenopaios bilden zusammen einen Gegen-
satz zu Euneos und seinem Begleiter und jede dieser Grup-
pen enthält in sich wieder Gegensätze in der Stellung und
Haltung der Lanzen. Die Beispiele für die Verschiedenheit
im Tragen der Lanzen sind unzählig''). Auf den archaischen
Parisurtheilen tragen die Göttinnen Scepter oder Lanze alle
in derselben Hand ; auf denen des vorgerückteren Stils tritt
eine Abwechslung ein*). Nach diesen Analogien wird man
auch unser Bild beurtheilen müssen. Die Stellung ferner
der beiden Jünglinge soll symbolisch auf Auf- und Nieder-
gang deuten, die des Erstem sei eine auf-, die des Letztern
2) Overbeck Gall. Taf. XXX, 12. Vgl. Taf. XXIV, 19.
3) Vgl. Overb.II, 5. XII, 9. XIII,7. XXVIII,7. XXIX, 11. XXX, 12 etc.
4) Vgl. Overb. IX, 3. 7 mit X, 3. 4.
— 115 —
eine absteigende. Wie man die Stellung des Jünglings zur
Rechten des Bildes eine absteigende nennen kann, sehe ich
nicht ein, aber gesetzt, sie wäre es, so muss man doch
auch hier fragen, ob ein solcher Unterschied sich durch-
gängig bei den Dioskuren findet, denn nur in diesem Fall
ist ein anderer Grund anzunehmen, als künstlerische Ab-
sicht. Schon das Vasenbild bei Müller (A. Denkm. I, 46,
212) liefert den Gegenbeweis. Kastor erscheint dort in der-
selben aufsteigenden Stellung, die hier nach'v. Paucker's
Ansicht den Polydeukes characterisirt. Es liegt gewiss eine
unverdiente Geringschätzung der Vaseumaler darin, wenn
man ihnen alles Eigne nimmt und sogar Stellung und Hal-
tung der' Figuren nicht als künstlerische Erfindung, son-
dern als symbolisch bestinnnt ansieht. Und doch hat ein
Zeuxis Zeichnungen für die Topfmaler geliefert!^). Ein
weiterer Grund für die Dioskuren ist nach v. Paucker die
Verschiedenheit der Fussbekleidung. Wie auf der Talos-
vase '^y, so sei hier nur dem Einen der Brüder die Fussbe-
kleidung gegeben. Dies Argument ist ebenso unzulässig,
wie die übrigen. Auf dem Gemälde bei Hirt (Bilderb. XXVI,
14) haben beide Dioskuren Schuhe, es wechselt hier ebenso
wie bei andern Pei'sonen. So hat lasen (Annali dell' Inst.
XX tav. d" Agg. G.) Schuhe , nach Panofka ^) als Thessa-
1er ; auf der Talosvase, wie auf dem Bilde des Drachen-
kampfes (Ann. XXI, tav. d' Agg. I*) fehlen sie ihm. Orest
und Pylades erscheinen bald mit, bald ohne Schuhe und
häufig hat nur Einer von ihnen Fussbekleidung®). Auf der
Archemorosvase ist Parthenopaios unbeschuht im Gegensatz
zu Kapaneus. Will man nicht gradezu Nachlässigkeit an-
nehmen, wofür bekanntlich grade die apulische Malerei
reichliche Belege giebt*), so weiss ich keinen andern Grund,
als ein Streben nach Abwechslung.
Die Erklärung v. Paucker's ging von Unsicherheiten
5) Plin. XXXV, cap. 36, § 4. Vgl. Tliierscli, Ueber ein Silberge-
fäss etc. Königl. B. Akad. d. Wiss. 1848 p. 130.
6) Gerhard Archäol. Ztg. 1846. Tat. 44.
. 7) Ann. XX p. 168. 8) Overb. Taf. XXIX. XXX,
9) So gleich unsere Vase. Die äusserste Figur links hat nur eine
Sandale.
8*
— 116 —
aus/musste daher auch zum Unsichern kommen. Dagegen
spricht ausserdem dies. Der am recliteu Ende des Bildes
erscheinende Jüngling hat weit mehr das Aussehen eines
begleitenden Freundes, als das eines Gleichbetheilig-ten.
Dass er wenigstens nicht in demselben Maasse intcressirt
ist, scheint mir offenbar. Ferner ist die Handbewegung der
Priesterin nach meiner Ansicht ganz anders aufzufassen.
Wie die Figur an den furor der Sibylle (Virg. Aen. VI,
48 f.) erinnern kann, begreife ich nicht, ebensowenig wie
die Auffassung der Priesterin als einer Declamirenden.
Man streckt doch beim Declamiren den Arm vor, aber hier
zieht ihn die Priesterin zurück, sie erhebt ferner, was na-
mentlich die Rechte deutlich zeigt, die Hände wie abweh-
rend und zurückweisend. Erstaunen, vielleicht ein leichter
Schreck ist es , was sich in ihrer Handbewegung ausspriclit ;
und wie lässt sich dies anders motiviren, als durch die Rede
des vor ihr stehenden Jünglings?
Mehre Erklärungen hat v. Paucker zurückgewiesen, die
mir auch nicht zu passen scheinen, aber mich wundert,
dass er nicht an den Orakelspruch gedacht hat, der viel-
leicht von allen der berühmteste ist, ich meine den, welcher
dem Orestes die Rache an der Mutter befohlen hat. Ich
glaube, auf diese Orakelbefragung des Orestes lässt sich
unser Bild ungezwungen deuten. Electra hatte den in Pho-
cis lebenden Orest durch wiederholte Boten an die dem ge-
mordeten Vater schuldige Rache erinnert. Er macht sich
auf zum delphischeu Gott und erhält hier den gewaltigen
Orakelspruch (fisyaa&svrjg XQi]6ii6g Aesch. Choeph. 270 f.),
an den Mördern des Vaters die gebührende Strafe zu voll-
ziehen. Auf unserer Vase sehen wir Orest im Gespräch
mit der TiQü^avtig; er erzählt ihr sein Begehr und diese
Erzählung ist's, was die Handbewegung der Frau veran-
lasst. Die Priesterin bebt gleichsam zurück vor seinen
Worten, aber der zur Rechten fliegende glück verheissende
Vogel lässt uns über den Ausgang nicht zweifelhaft. Der
Jüngling hinter Orest ist Pylades, der am andern Ende des
Bildes erscheinende Bärtige der 7tQoq)^Tt]g^'^), dessen Er-
10) Hermanu Autiqq. II, 41) u. 13.
— 117 —
scheiniing- ganz dem Habitus entspricht, den uns die mit
gottesdienstliclicn Verrichtungen beschäftigten Personen zei-
gen'*). Die AnAvesenheit des Hermes wird motivirt durch
Bilder und Schriftsteller. Auf zwei Vasen '^) erscheint Her-
mes neben Orcst und Electra an der Stelle des Agamem-
non; in den Choephoren (v. 2) ruft Orest ihn an zur Bun-
desgenossenschaft bei seinem Vorhaben und an vielen andern
Stellen*') wird er besonders zur Rache aufgerufen. Da-
durch also, dass er besonders Helfer ist in dem Unterneh-
men, über welches Orest hier das Oi'akel befragt, wird seine
Erscheinung begründet. Nicht leicht hat ein Orakelspruch
so grosse Berühmtheit erlangt, wie der, welcher die Rache
an der Mutter befohlen hat, und wenn meiner Deutung die-
ses Bildes sonst Nichts im Wege steht, so verdient sie dess-
Avegen den Vorzug, weil sie sich auf ein durch die Dichter
berühmt gewordenes Factum stützt.").
in. Die erste Scene des sophocleischen
Oedipus Rex.
Die Vase ist abgebildet in: R. Rochette Monum. Ined.
PI. 78. Inghirami Vasi fitt. III, 248. Overbeck GaJl. Taf.
2, 11, besprochen von: Raoul Rochette p. 409 f. Lettres
archeol. p. 170. Inghirami (Avelcher ganz der Erklärung
Rochette's folgt) p. 94—96. Müller Gott. Gel. Anzgen 1834
p. 182 f. Handb. §. 412. 3. Welcker A. D. III, p. 393 f.
Panofka Archaeol. Ztg. 1845 p. 33 f. Overbeck p. 63 f.
Ich halte fest an der mythischen Deutung Müller's im
11) Overb. Taf. XIV, 9. Arcbäol. Ztg. 1845. Taf. 35. 36. Aun,
XX, tav. d' Agg. K. L. etc.
12) Overb. Taf. XXVIII, 5. Millingen Peint. d. V. pl. 45.
13) Aesch. Choeph. 124 f. 727. Soph. Elect, 111. 1395. Mit List
(ßöloiai Electr. 35 f.) soll Orest nach Apollo's Spruch das Rachewerk
ausführen , Hermes aber ist SoXtog.
14) Vgl. O, Jahn, Arcbäol. Aufs. p. 150.
— 118 —
Gegensatz zu der mystischen des ersten Herauso-ebers,
Raoul Koclicttc, welcher die Einführung eines Knaben in
die Mysterien dargestellt wissen will '). Müller erblickt hier
Oedipus im Wortwechsel mit Tiresias nach Soph. Ocd. Tyr-
V. 315 f. und ihm stimmen die übrigen Erklärer bei. Ver-
gleicht man die sophocleische Scene mit unserm Gemälde,
so wird man nicht läugnen können, dass der Ausdruck
desselben seinem Vorbilde wenig entspricht. Die Haltung
des Oedipus ist durchaus nicht dem heftigen Auftritt ange-
messen, den wir bei Sophocles lesen. Niemand wird sich
nach der Darstellung des Dichters den Oedipus ruhig sitzend
denken, sondern aufs Höchste gereizt und erbittert. Denn
die Leidenschaftlichkeit ist ja sein eigentlicher Character-
zug. Nach Müllers Annahme hätte der Maler grade das
nicht dargestellt, was den Oedipus besonders eigen ist. Ich
schlage desswegen vor, unsre Vase auf den Anfang des
sophocleischen Stücks zu beziehn. Die beiden Personen,
die man bisher als Tiresias von einem Knaben geführt an-
gesehen hat, sind nach meiner Annahme der Zeuspriester,
der im Anfang des Stücks als Sprecher der thebanischen
Bürgerschaft erscheint, mit Einem der Knaben, welche fle-
hend (iXTTjQtolg xladoLöiv i^eötsfi^svoi v. 3) zum Palast des
Oedipus wallen, um von seiner Weisheit die Mittel zur Ab-
wehr der Pest zu erfragen. Der Künstler konnte nicht
besser die allgemeine Noth der Bürger bezeichnen, als da-
durch, dass er die zarte Jugend und das hohe Alter zu
ihren Repräsentanten wählte und bei Sophocles selbst wer-
den V. 16. 17. die flehenden Knaben mit den bejahrten
Priestern ■ zu einem schönen Gegensatz zusammengestellt.
Bei dieser Annahme finden manche Einzelheiten eine, wie
ich glaube, treffendere Erklärung. Zunächst ist die auf
Tiresias gedeutete Person abweichend von den sonstigen
Vorstellungen desselben nicht blind, ein Umstand, den
Rochette mit demselben Rechte betont, mit dem Welcker
1) Schon das Vogelscepter in der Hand öer sitzenden Figur in der
untern Reihe ist etwas dem „Pontife-Roi" durchaus Unangemessenes;
es characterisirt den weltlichen König (Miliin Toml). de Canose pl. 7.
Overb. Taf. 28, 2.).
— 1J9 —
(A. D. III p. 212) ihn geltend macht gegen Millingen in
Betreff des Vasenbildes bei Millingen Peint. de V. PI. 23,
Avelches Letzterer auf Oedipus in Kolonos, Ersterer auf
Atreus und Thyestes bezieht. Welcker begegnet diesem
Einwand durch folgende Worte: «dem Tiresias waren die
Augen nicht ausgestochen und eine Blindheit giebt es, die
man den Augen nicht ansieht; durch die Stellung und Füh-
rung des lorbeerbekränzten Sehers ist. die Blindheit hin-
länglich ausgedrückt, um einer Entstellung der Augen zum
Kennzeichen entbehren zu können», und ähnlich sagt Over-
beck «die Blindheit des Sehers ist, weil sie nicht in un-
mittelbarem Zusammenhang mit der augenblicklichen Situa-
tion und Begebenheit steht (wie dies z. B. bei dem eben
durch Hecabe geblendeten Polymestor auf der Vase Taf.
28, 2 der Fall ist) durch den führenden Knaben ausreichend
bezieichnet». Ich kann mir nicht denken, dass die Blind-
heit etwas so Unwesentliches ist, dass sie je nach der dar-
gestellten Situation ausgedrückt oder weggelassen Averden
dürfte. Bei einem Seher zumal ist sie etwas Wesentliches,
besonders beim Seher Tiresias im sophocleischen Drama.
Der Lorbeerzweig ferner in der Hand des Knaben, der ihm
nach meiner Auffassung als ixstTjg gegeben ist, wäre nach
der Erklärung Müller's mindestens überflüssig, und auffal-
lend wäre auch das mit einem Tempolchen geschmückte
Scepter in der Hand des Tiresias. Müller meint, es könne
ein mantisches Skeptron sein, indessen scheint mir das
Tempelchen auf demselben zu sprechend für seine Bestim-
mung, um es anders als auf einen Priester beziehn zu kön-
nen. Panofl?;a sagt, das Scepter characterisire den Tiresias
als Priester und Seher, aber Tiresias ist nur Seher und ein
solcher hat keine Beziehung zu einem Tempel. Das am
Scepter herabhängende, mit Troddeln besetzte Band findet
sich vielfach an den Schlüsseln von Priesterinnen '). Mehr
aber als diese Einzelheiten urgire ich die Haltung des
Oedipus, die zu ruhig ist, um ihn dem Tiresias gegenüber
zu denken. Ich glaube, es widerspricht nicht dem Bilde,
die Scene dargestellt *zu sehn, in welcher Oedipus der fle-
2) O. Jahn Ann. XX p. 20<).
— 120 :—
hendcn Bürgerschaft Theben's die tröstende Versicherung
ertheilt, dass er 7Aim delphischen Gott gesandt habe um
Rettung aus der "Noth. Nehmen wir diesen Moment an für
unser Bikl, so treffen wir denselben, von dem das Drama
als Ausgangspunkt der stufenweise fortschreitenden Ent-
hüllung anhebt: die Pest liegt über Theben, Oedipus forscht
nach dem Zorn des pestsendenden Gottes und erfährt sein
eignes Unheil. Und sehr schön ist grade dieser Aus-
gangspunkt der tragischen Entwicklung vom Künstler
gewählt, denn er ruft dem Beschauer den ganzen Verlauf
des Dramas vor die Seele; er zwing-t uns, das Geschick
des Oedipus bis zu seiner schrecklichsten Höhe selber im
Geiste zu verfolgen. Woher aber Schuld und Unglück des
Oedipvis stammt, das zeigt die hinter Oedipus stehende
Figur, in der ich mit Müller, Welcker und Overbeck lo-
kaste erkenne ^). Overbeck Avill veranlasst durch die der
lokaste beigegebenen Attribute, Spiegel und Badbecken,
den ganzen Auftritt «in's Innere des Hauses und gleichsam
der Familie » verlegen. Dies ist nicht griechisch ■*), auch
widerspricht der neben lokaste aufsprossende Z^veig. Das
Beispiel Polygnot's ^) kann uns lehren, dass man eine so
äusserliche Genauigkeit nicht verlangen darf, zumal wenn
tiefere Gründe den Künstler zu dieser Abweichung veran-
lassten. Polygnot hatte in seiner Zerstörung Ilion's in ei-
ner Scene ein Geräth der avkri und der innern Frauen-
gemächer mit einander verbunden, das XovtriQiov und den
ßaiiog. Mochte er durch das Badbecken den Gedanken
ausdrücken wollen, das Schrecken und Verwirrung bis in
das Innerste der Häuser dringen, so hat er es doch mit
dem ßa^iog zu einer Scene vereinigt. Der Altar aber ist
wohl der des Z«i)g SQXstog nach cap. 27, 2, wo Pausanias
den Platz, den Priamos in Polygnots Gemälde einnahm,
dadurch motivirt, dass er nach Lesches fern vom SQxstog
3) Panofka nennt sie Dirke aber ohne ihre Erscheinung zu moti-
viren und ohne zu begründen , warum grade «hier der Spiegel den Na-
men begründen soll.
4) Vgl. O. Müller Literat. Gesch. II p. 50. 204.
5) Paus. X, 26, 0.
— 121 —
getödtet sei. Auch unter den Vasenbildern finden sich Bei-
spiele, Avo einGeräth des innern Hauses keineswegs in dem
ihm eigentlich bestimmten Raum erscheint. So ist auf ei-
ner Vase des Berliner Museums *) in der Mitte des Bildes
ein Steinsitz, zur Seite ein Badbecken gemalt. Mir gelten
die Attribute der locaste, Spiegel und Badbecken, als tref-
fender Ausdruck ihres Characters (Soph. Oed. Tyi'. v. 977 f.)
Auf der Stadt lastet die Pest, die Bürger flehen um Ret-
tung, aber lokaste ist sorglos mit Putz und Schmuck be-
schäftigt (fixfj y.QKtL<jxov triv). Wodurch Hesse sich besser
ihre leichtsinnige Verachtung göttlicher Schickungen cha-
racterisiren? In Betreff der obern Götterreihe darf man
meiner Ansicht nach nicht an die thebanischen Localgott-
heiten denken, die nur in äusserm Zusammenhang mit
Oedipus stehn; sie haben innerlichen Bezug zu ihm. Ueber-
haupt kann ich mir nicht denken, dass diese Götterver-
sammlungen der Vasen irgendwo als theilnahmlose Zuschauer
oder als Bezeichnungen der Oertlichkeit zu fassen sind.
Ich wüsste nicht, warum sie nicht aus demselben Grunde
gemalt sein sollten , aus dem auf neuen Gemälden Gott und
Christus über Märtyrerdarstellungen und andern Scenen
erscheinen. Sie erscheinen als die Lenker menschlicher
Geschicke, bald strafend und rächend, wie über den Nio-
biden, bald heilend und beruhigend wie auf der Archemo-
rosvase. Nicht bloss künstlerisch anstössig, sondern auch
verletzend für das Gefühl wäre es, wollte man sich theil-
nahmlose Götter über leidenden MenscKen denken. Die
archaische Vasenmalerei stellt wie 'das Epos neben den
kämpfenden Helden die schützende Gottheit; die spätere
dramatische Malerei will ihre Götter ebenso angesehn wis-
sen , wie sie in der Tragödie erschienen und es liegt etwas
tief Wohlthuendes darin, über bcAvegten Darstellungen, wie
z. B. auf der Medeavase von Canosa'') die stille Ruhe der
obern Götter zu sehn. Unser Bild zeigt deutlicher als an-
derswo die Bedeutung dieser Göttererscheinungen. Für
Apollo erkennt Müller eine tiefere Beziehung zum Geschick
6) Gerhard Berlin's Ant. Bildw. No, 1018.
7) Miliin Tomb. de Canose PI. 7. V.ffl. O. Jahn Archaeol. Ztjr.
1847 p. 34 .f.
- 122 —
des Oeclipus an; in Betreff der zu seiner Linken sitzenden
(rottheit, die ich mit den Erklären! für Aphrodite halte,
bemerkt Welcker sehr richtig «sie habe zugleich Bezug auf
den Stoff, auf die Liebesverbindung, die so unglücklicli
sich entwickelte», nur glaube ich, dass sie einzig und
allein aus diesem Grunde erscheint; die dritte Grottlieit
dagegen fasst man als die thebische Pallas Onkaea. So
viel ich weiss, steht diese in keiner Innern Beziehung
zum Oedipus ; sie würde also nur als Gottheit des Locals
erscheinen. Warum aber grade diese? LTnd ist es nicht
eine auffallende Licongruenz, zwei innerlich so tief bethei-
ligten Gottheiten eine dritte nur äusserlich verbundene hin-
zuzufügen? Man beachte ferner den Ausdruck. Apollo ist,
wie die bedeutsame Erhebung seiner Hand beweist, der Re-
dende ; beide Göttinnen horchen ihm zu, sie haben beide das
Haupt auf ihn gerichtet und auch daraus darf man schlies-
sen, dass sie beide in gleicher Weise betheiligt sind. Der
Zusammenhang scheint mir dieser : unten herrscht die Pest,
oben erscheint der Gott, der sie gesandt hat. Zu seiner
Linken erscheint Aphrodite als die Gottheit der XiyiTQa
dvgavv^a des Oedipus (Oed. Colon, v. 525), zu seiner Rech-
ten die athenische Gottheit, in deren Gebiet das Leiden
des Oedipus ein Ende hat (Oed. Col. v. 87 ff). Erstere
bezeichnet den unseligen Anfang, Letztere den glücklichen
Schluss seiner Leiden; Apollo aber verkündet den beiden
.Göttinnen, wie das Geschick des Oedipus sich erfüllen
wird. So ruft das Bild die ganze Kette der Leiden hervor,
die den Oedipus betrafen, enthält aber in der Person der
Athene die Hinweisung auf die x^^Q^ tSQ^iia^ wo den schwer
Geprüften Erlösung und Verklärung erwartete.
Die neben der Aphrodite befindliche Lampe bezieht
Müller auf erotische Pervigilien und Welcker begründet
dies weiter*). Ich bezweifle nicht, dass sie diesen Sinn
haben kann**), aber man möchte gern von einem so hoch-
8) Kl. Sehr. II p. 137.
9) In einem Epio^ramme des Meleager (Brunck Auall. I p. 88 n.
114) heisst es:
"Av&Sficc 601 MelsayQog sov av[t,naCiiT,oqa Ivxvov.
KvTCQi cpClri, (ivarrjv acov &sro navvvxtScov.
— 123 —
tragischen ]\Iythus , wie dem des Oedipiis, solche Gedanken
fernhalten, zumal da doch sonst den Göttern Attribute ge-
geben werden, die der dargestellten Situation durcha'us an-
gemessen sind. Es scheint mir keinesAvegs nothwendig,
die Lampe speciell auf Aphrodite zu beziehn, sie kann auch
dem ganzen Raum angehören, den die drei Götter ein-
nehmen, ebenso wie der Candelaber auf der oben bespro-
chenen Priamosvase. Das Symbol steht vereinzelt da ; sieht
man sich im antiken Cult nach Belegen um, so liegt es
nahe, an die Tempellampe und ihre Bedeutung zu denken.
An diese knüpfen sich die Gedanken der Reinheit und
Heiligkeit '") ; vielleicht darf man hier durch die Lampe die
Götter und ihren Sitz als heilig und rein bezeichnet sehn
im Gegensatz zu der Pest, die über Theben verhängt ist,
im Gegensatz zum Oedipus als ivayr,g, und darf man mit
Rochette den über Apollo aufgehängten Stierschädel fassen
als maniere symbolique dindiquer un temple "), so gereicht
das zur Bestätigung meiner Ansicht.
Li Betreff der neben Apollo befindlichen Kästchen
schliesse ich mich Müller's Ansieht an. Mit Panofka's Er-
klärung kann ich schon desswegen nicht übereinstimmen,
weil sie nur den einen vorliegenden Fall berücksiclitigt.
Man wird aber gewiss nicht für jeden besondern Fall eine
besondere Erklärung dieser Geräthe aufstellen dürfen. Viel-
fach mögen sie dienen als Mittel für graziöse Haltungen
der Figuren oder auch nur, wie manches Andere in der
unteritalischen Malerei den Zweck der Raumfüllung haben.
IV. Der Tod des Ai'chemoros.
Die Vase ist abgebildet bei Gerhard Archemoros und
die Hesperiden. Eine aus den Abhandl. der königl. Akad.
besond. abgedruckte Vasenerklärung Berlin. 1S3S Taf. 1.
10) Vgl. Bötticher Tektonik II p. 177 f.
11) Vgl. Feuerbach Naclil. IV p. 81.
— 124 —
und bei Ovcrbeck Taf. 4, 3., besprochen von Braun Bul-
let, deir Inst. 1835 p. 193 f. Gerhard a. u. O. Overbeck
p. 114—119.
Der hauptsächlichste Unterschied meiner Auffassung
dieses Bildes von der der Erklärer besteht darin, dass ich
dasselbe nicht in zwei aufeinanderfolgende Scenen zerlege,
sondern als Einheit auffasse. Für alle Oefässe ähnlicher
Form, Kalpis, Hydria, Krater, Stamnos u. s. w. , deren
Darstellungen sich mit einem Blick übersehu lassen, scheint
mir, wo nicht mehrere Figurenreihen durch Striche getrennt
sind, diese Auffassung möglichst festzuhalten, im Gegen-
satz zu Kylix, Pinax und ähnlichen Gefässen, die in ihren-
Darstellungen mehr dem Relief entsprechen. Auf unsrer
Amphora soll sich nach der Erklärer Ansicht eine Figur
"der mittleren Reihe in der untern wiederholen, ganz nach
Art des Reliefs, in dessen verschiedenen Scenen ein und
dieselbe Figur oft wiederkehrt. Ist diese Annahme richtig,
so kann allerdings nicht von einem einheitlichen Ganzen
die Rede sein; es sprechen aber nicht bloss innere Gründe
dagegen — die Gesammtidee des Bildes, welche die engste
Verbindung der einzelnen Scenen fordert, würde zerstört
und zerstückt — sondern auch unläugbar äussere. Es soll
nämlich die in der untern Reihe erscheinende Frau, welche
den Leichnam des Archemoros bekränzt, dieselbe sein mit
der, welche in der mittlem durch Namensbeischrift als
Hypsipyle bezeichnet ist. Dem steht entgegen, dass Er-
stere nach der Zeichnung Gerhard's ganz entschieden kahl-
oder weissköpfig ist. Letztere dagegen blühendes Haai
trägt. Die Zeichnung Overbeck's giebt freilich der untern
Frau dieselben Haare, Avie der obern; da dieselbe aber,
wie im. Text (p. 114) bemerkt wird, nach der Gerhard's
angefertigt ist, so darf ich es für ein Versehn erklären, so-
wie es ein weiteres Versehn ist, dass statt der am Saum
von Amphiaraos' Gewände befindlichen bei Gerhard deut-
lich sichtbaren Flügelfiguren nur undeutliche Striche ge-
zeichnet sind. Zu dieser Verschiedenheit der Haare kommt
die Verschiedenheit der Grösse. Die drei in den Inter-
columnien stehenden Hauptpersonen des Ganzen sind durch
ihre Grösse ganz entschieden hervorgehoben; auch das hin-
— 125 —
clert^ die Hypsipyle wiederholt zu denken. Ich erkenne in
der greisen Frau unten eine Person, die auf Bildwerken
noch zu wenig nachgewiesen ist, nämlich die Amme des
Archemoros, denn es steht Nichts im Wege, die Hypsipyle,
welche nur eine von Lemnos gekaufte Sklavin war, als
Wärterin aufzufassen. Aus ihrer Geschichte scheint sogar
hervorzugehn, dass sie nicht die Amme, sondern nur die
Wärterin des Archemoros gOAvesen ist, da sie ausserhalb
des Hauses auf einer Wiese mit dem Kinde beschäftigt von
den argi vischen Heerführern angetroffen wurde '). Die Thä-
tigkeit der Amme aber, wie es auch dem Alter, in dem sie
uns zu erscheinen pflegt, angemessen ist, scheint aufs Haus
beschränkt gewesen zu sein^). Das Verhältniss der Amme
aber zu ihrem Pflegling ist ebenso ein Pietätsverhältniss,
wie das des Pädagogen und in gleicher Weise durch die
Tragödie aitsgebildet ^). Sie ist daher eine eben so noth-
wendige Theilnehmerin an Freud' und Leid ihres Hauses,
wie jener. Mit dem Pädagogen vereint erscheint sie auf
der canosischen Medeavase *) ; hier ist durch die symmetri-
sche Gegenüberstellung beider, indem sie gleich weit ent-
fernt vom Könighause stchn, ihr gleicher Bezug zu demsel-
ben ausgesprochen. Ausser einigen unten anzuführenden
Reliefs glaube ich sie auf zwei vielbesprochenen Wandge-
mälden aus Pompeji und Herculanum '") zu erkennen. Dass
auf diesen die Personen der Haupthandlung Orestes, Pyla-
des, Iphigenia sind, ist überzeugend von Lorsch **) nachge-
wiesen, gegen seine Erklärung der Nebenpersonen theile
1) Argum. Pind. ^em. 2.
2) Eustath z. II. VI, 39'J. riz&UL Kt zovg zizQ-ovg TiciQtxov-
6ca, oniQ iazl ^laczovg, g'l cov y,ul ßQScpog vnoztz&iov z6 vTtonä^iov
zi&r}vol Ss i'zL Ö£ y.al zgocpol, cov z6 aQasvL'KOv ol ZQOtpSig, a[ zov äX_
Xov Tiovov iisza zov dnoyaXayiziafjidv avcidsxd^t'fvcci rjyovv TtEQtcpi-
QOvaat tial TiQognaC^ovaat zoig tgocpifioig Kai cclXcog imiislcäig iyizQi-
(povaai. Yg\. Hermann Antiq. III, 33. 5. Zur letzten Klasse gehörte
3) Aescli. Choeph. 743 f. Soph. Niob. fr. 400 Dind.
4) O, Jahn Archaeol. Ztg. 1847 p. 36.
5) Overbeck Taf. XXX, 13. 14.
6) Archaeol. Ztg. 1848 p. 249 f. So erklärte schon Kochette p.
423. 424.
— 12G —
ich die Bedenken Gerhards') und O verbeck", s ^). Offenbar
ist, dass ausser der Gottheit die drei übrigen Figuren die-
selben auf beiden Gemälden sind , offenbar ferner, nach der
Tlieilnahme , die sie ausdrücken, dass sie Freunde sind.
Wer steht aber von den noch lebenden Mitgliedern des
Atridenhauses dem Orest und der Iphigenia näher als die
Schwester Electra und mit ihr der Pädagog und die Amme ®) V
Gegen die Anwesenheit der Erstei'en bemerkt Overbeck, sie
sei nicht aus alten Quellen zu motiviren. Nach unsern Quel-
len ist bei der Wiedererkennungsseene in Tauris Niemand
zugegen gewesen, als bei Euripides der Chor der kriegs-
gefangenen Griechinnen; die hier erscheinenden Personen
wären unerklärbar, wie viele andre auf andren Gemälden,
wenn wir dieses Princip der Motivirung durch Dichterquel-
len bis auf alle einzelnen Personen ausdehnen, also den
Maler nur zum Referenten des Dichters ohne alle Selbstän-
digkeit und Freiheit machen wollten. Auf dem Gemälde
No. 14. ist eine Brüstung gezogen zwischen den handeln-
den und schauenden Figuren. Letztere werden von Erste-
ren nicht bemerkt, sie sind als ungesehene Theilnehmcr zu
denken und der Gedanke ist der, dass die Gottheit um die
Erkennung Orests durch Iphigenia die noch lebenden Reste
des Atridenhauses vereinigt hat, so dass wir eine Wieder-
vereinigung Aller vor uns sehn. Dass aber der Schwester
Electra die treuen Diener des Hauses zugesellt sind, be-
darf für den Pädagogen nach der Electra des Sophocles,
für die Amme nach den Choephoren des Aeschylus keiner
weitern Motivirung. Diesen Personen entspricht der Habi-
tus der hier erscheinenden Figuren, von denen Overbeck
sehr richtig bemerkt, dass sie nicht von königlichem An-
sehn sind. Namentlich ist in dem Alten auf No. 14, der
die Hände auf einen Stab stützt, der Pädagog sehr treffend
bezeichnet und die Amme, die auf der Zeichnung bei
7) In einer Anmerkung zy Lerscli p. 203.
8) p. 740.
9) Lersch erklärte die Figuren für Electra nebst den Schatten von
Agamemnon und Klytaemestra. Köchelte erklärt sie für eine Priesterin,
die beiden Alten für Einwohner von Tauris. Aber was sollen hier
müssige Zuschauer?
— 127 —
Rochettc '") deutlich sichtbare greise Haare hat, ist durch
das Kopftuch characterisirt '*). Die gebückte Haltung der
auf No. J3. entsprechenden Figur passt ebenfalls vollkom-
men auf die Amme. — Pädagog und Amme sind ferner auf
zwei Sarkophagreliefs verkannt '^). Das eine stellt den Tod
der Alcestis ganz nach der euripideischen Tragödie dar '^).
Hier nimmt Gerhard ^*) den in der zAveiten Scene des Bil-
des neben Admet erscheinenden Alten für Asklepios, der
eine Schlange trage. Die Schlange scheint mir ein Stock
zu sein, wie der Pädagog ihn zu füln'en pflegt. Gegen
Asklepios spricht, dass der Alte offenbar den Mund zur
Klage geöffnet hat ; auch wäre seine Anwesenheit auffallend
in einer'Scene, wo seine Kunst nicht mehr hilft. Die Amme
steht hier neben dem Lager der Sterbenden. In dem zwei-
ten Relief '^) sehen wir den Lebenslauf eines Menschen ^ on
seiner Geburt bis zum Tode. Die erste Scene stellt die
Geburt, die zweite den Unterricht des Kindes dar. Li je-
ner ist die Amme, in dieser der Pädagog mit dem Knaben
beschäftigt; man erwartet sie daher auch bei seinem Tode,
der in der dritten Scene dargestellt ist, wiederzufinden.
Hier sitzt an dem einen Ende des Sterbelagers der Vater,
am andern die Mutter; neben Ersterem steht der Pädagog
(nach Rochette der Arzt) ganz in seiner gewöhnlichen Er-
scheinung, ihm gegenüber neben der Mutter die Amme (nach
Rochette eine praefica) *^). — Danach erkenne ich auch auf
der Archemorosvase in der neben dem Pädagogen stehen-
den Frau die Amme des Archemoros, der es wohl zukommt,
ihrem Pflegling den Todtenkranz aufzusetzen.
Ueber den Moment, den unser Bild darstellt, habe ich
10) PI. 76, 6.
11) O. Jahn Arch. Ztg. 1847 p. 8G ii. 2U.
12) Gerhard Ant. Bilclw. XXVIII und Rochette Mon. Ine'd. PI.- 77, 1.
13) Die Vergleichung mit der Tragödie macht "Vieles deutlieh. So
erklärt sich z. B. die Bewegung Apollo's aiis v. 22. 23.
14) Text zu den antik. Bildw. p. 273.
15) Vgl. Rochette p. 406 f.
16) Die in der vierten Scene dem Wagen des Hades voranschrei-
tende Figur ist doch wohl sichrer auf Hermes ipr^onoimög zu deuten,
als auf Einen der Dioskuren.
— 128 —
eine von den Erklärern etwas abweichende Ansicht. 0er-
hard und (Jverbeck sagen übereinstimmend , die Mutter habe
«'so eben» die Trauerbotschaft Von ihres Kindes Tode ver-
nommen, sie fassen also die mittlere Darstellung als der
Zeit nach der untern voraufgehend. Nothwendig scheint
mir diese Zeitverschiedenheit nicht zu sein; der Ausdi'uck
der Eurydike macht goAviss die Annahme eines spätem
Moments nöthig. Hätte sie so eben des Knaben Tod er-
fahren, wir würden sie nicht mit dem Ausdruck sinnender
Trauer*'); sondern in einer, sei es durch Zorn, sei es durch
Schmerz leidenschaftlich erregten Stellung finden "*). Die
Heftigkeit ihres Schmerzes hat sich bereits aufgelöst in
sanfte Wehmuth; warum Avollen wir sie nicht anwesend
denken bei der Prothesis der Leiche und so das ganze Bild
in einen Zeitmoment setzen V An ihrer Rechten steht die,
w^elche das Unheil gestiftet, an ihrer Linken der, welcher
es zu heben sucht, Erstere entschuldigend, Letzterer trö-
stend. Darf man dem Amphiaraos ein Wort in den Mund
legen, so nwchte ich nicht ein adlgemeines Trostwort
wählen, wie Ov erbeck fr. 7 Eurip. Hypsip. :
"Ecpv ^£v ovo eis ogTtg ov noval ßgot c5v
sondern ein seherisches, zugleich auf das ganze Bild
Bezug habendes , etwa das , welches ihm Statins ") in den
Mund legt:
Mansuris donandus honoribus infans.
Als Seher characterisii-en ihn die Flügelfiguren am
Saum seines Gewandes, wie Gerhard^") sehr richtig be-
merkt und die Erhebung seiner Hand zeigt eine bedeu-
17) Eine Andeutung von Zorn (Gerhard p. 7) kann ich weder im
Gesichtsausdruck noch in der Haltung- und Geberde der Eurydike er-
kennen.
18) lieber ilire Haltung und Geberde, die ganz der Iphigenia am
sogenannten Altar des Kleomenes entspricht, verweise ich auf O. Jahn's
schöne Ausführung Archaeol. Beitr. p. 382. •
19) Theb. V, 741.
20) Nachschr. z. seiner Abhandl. p. 73. Vergleichen lassen sich die
Vögel an der Chlamys des Memnon 'in Polyguot's Gemälde. Paus. X,
31, 6.
— 129 —
tende Rede/'). Er verkündet der Mutter, dass ein glän-
zendes Festspiel den Grabhügel ihres Kindes für alle Zei-
ten verherrlichen werde und die oben erscheinenden Götter
sind die gegenwärtige Erfüllung seiner Rede. Zwei Be-
gleiter folgen dem Aniphiaraos, Parthenopaios und Kapa-
neus. Sie sind anwesend nach der Erklärer Ansicht, damit
es der Fürsprache des Amphiaraos für Hypsipyle keines-
falls an Nachdruck fehle, eine Absicht, wie Gerhard hin-
zufügt, in deren Folge andre Erzähler der Archemorossage
den Tydeus, den sie sammt Adrastos statt der beiden hier
vorgestellten Helden erwähnen, in Streit mit Lycurgos ge-
rathen mussten, dessen Person hier ganz fehlt. Aber liegt
wohl in unserm Bilde auch nur die Spur einer Andeutung-
bevorstehenden Kampfes? Der Maler hat den weggelassen,
gegen den nur der Kampf geführt werden konnte , den Vater,
er hat allein die trauernde Mutter dargestellt, sollte daraus
nicht der Schluss erlaubt sein, dass er den Gedanken eines
möglichen Kampfes grade hat fern halten wollen? Die
argivischen Helden sind es, die den Archemoros begraben *^)
und an seinem Grabe die nemeischen Spiele begehn; über
ihnen erscheint Zeus der Nymphe Nemea die Einsetzung
derselben verheissend, sie erscheinen als die Vollstrecker
des göttlichen Willens. Dass aber grade Kapaneus und Par-
21) Diese Erhebung der drei Finger , die in der neuern Malerei und
Sculptur constant als Gestus des Segens erscheint, namentlicli am Chri-
stuskinde , ist zu häufig , um ihr eine engere Bedeutung geben zu dür-
fen als die, dass sie die Begleiterin jeder wichtigen und bedeutsamen
Rede ist. Apulei. Metam. II p. 125 beschreibt sie als Handbewegung
der Redner: Porrigit dextram et ad instar oratörum conformat articu.
lum duobusque infimis conclusis digitis ceteros eminentes porrigit. Ich
habe sie nur auf itali sehen Vasen gefunden; sie erscheint aber schon
auf schwarzfigurigen , auf denen gemeiniglich die ganze Hand agirt.
Beispiele sind: Gerhard Auserles. Vasenb. II, 131 (Hermes bei der Her-
aufholung des Cerberus durch Herakles) und No. 1584 des Berl. Mus.
(palästrisch). Für rothfigurige Vasen und Wandgemälde vgl. Müller A.
D. I, 56. 275. a. Overbeck II, 11. IV, 2. VII, 8. XXX, 13. 4. Archae-
olog. Ztg. 1844. Taf. 13. 1849 Taf. 4. 1854 Taf. 54, 1. 1848. Taf. 15.
Monum. d. Inst. II, ,30. Miliin Gall. Myth. CLXXVI, 647. 647*. Auf
Reliefs ist der Gestus begreiflicher Weise selten , ganz deutlich bei
Becker August. III, 113.
22) Vgl. die Citate bei Gerhard p. 4 ff.
9
— 130 —
thenopaios neben Araphiai'aos als Repräsentanten der sieben
Heerführer gewählt sind, hat Avohl nur den malerischen
(Jrund, eine angenehme Abwechslung hervorzubringen.
Sieht man vertical heranter, so wechselt immer bärtige
Männlichkeit mit unbärtiger Zartheit, Zeus, Parthenopaios,
der ältere Diener, ebenso Nemea, Kapaneus und der jün-
gere Diener; dasselbe ist der Fall wenn man horizontal
sieht, Zeus und Nemea; Amphiaraos, Parthenopaios, Kapa-
neus; der ältere und der jüngere Diener. Die Gruppe des
Parthenopaios und des Kapaneus stimmt sehr überein mit
der gegenüberstehenden des Euneos und seines Begleiters,
den Gerhard Thoas , Braun Diiphilos nennt. Kapaneus ent-
spricht dem Euneos. Beide stützen sich mit der Linken
auf ihre Lanzen, beide haben ganz dieselbe Stellung, das
linke Bein über das rechte geschlagen, beide endlich die-
selbe Bewegung der Rechten. Parthenopaios gleicht dage-
gen dem Jüngern Begleiter des Euneos, sie tragen beide
die Lanze in der Rechten, auch igt eine Uebereinstimmung
in der Krümmung des einen Beines nicht zu verkeimen.
Diese Symmetrie ist aber nicht bis zur völligen Gleichheit
ausgedehnt. Euneos entspricht wieder dem Parthenopaios
hinsichtlich der Kopfbedeckung und der Stellung am Pa-
läste; in denselben Stücken stimmt Kapaneus mit Thoas.
Die Gruppen jede für sich und in ihrem Verhältniss zu ein-
ander betrachtet, beweisen eine feine künstlerische Behand-
lung. Aus ihrem symmetrischen Entsprechen nehme ich
auch den Grund warum Parthenopaios und Kapaneus nackt
sind his auf die Chlamys, im Gegensatz zu Amphiaraos.
Hinzufügen lässt sich noch, dass sie nach ihi'er Bedeutung
für das Bild von Letzterem unterschieden werden mussten.
Sie sind zwar im Mythus gleichberechtigte nnd gleichste-
hende Heerführer, aber für unser Bild ist der Seher Am-
phiaraos als Verkündiger der nemeischen Spiele so sehr die
Hauptperson , dass Parthenopaios und Kapaneus nur als sein
Gefolge gelten und als solches sich merklich von ihm un-
terscheiden mussten.
Wie Kapaneus und Parthenopaios zu Amphiaraos, zu-
gleich aber als Anordner der nemeischen Festspiele zu der
obern Gruppe von Zeus und Nemea in Bezug stehn, so ge-
hören Euneos und Thoas zu Hypsipyle und zugleich zu dem
— 181 —
über ihnen Lelindlichen Dionysos. Wie die Erklärer be-
merken, erscheint Dionysos, der die Gefilde Nemeas aus-
getrocknet hatte, als versöhnter Gott mit der Leier und
dasselbe gilt von dem ihm gegenübersitzenden Zeus ^^), bei
dem nur noch hinzuzufügen, dass er wie zu den olympi-
schen Spielen, deren Einsetzung am Halse des Gefässes
dargestellt ist, so zu den nemeischen ^^) als Festgott in be-
sondrer Beziehung stand. Etwas niedriger als er sitzt die
Nymphe Nemea die Hand bittend zu ihm erhoben, dass
der Fluch, der auf ihrem Boden ruhte, von ihr genommen
werde. In der erhobenen Linken des Zeus liegt die Ge-
währung, dass die Herrlichkeit der nemeischen Spiele ihr
als Ersatz werde zu Theil werden.
Die unterste Figurenreihe bezieht sich auf die Protlie-
sis der Leiche. Archemoros liegt auf einem Paradebett
mehr als Jüngling denn als Knabe gebildet. Das ist ein
Widerspruch mit den schriftlichen Zeugnissen, die Gerhard
(p. JJ No. 4) anführt, denen ich ein Fragment aus der
Hypsipyle des Euripides ^^) hinzufüge , die in vielen Stücken
dem Maler Vorbild gewesen zu sein scheint: Ov (pavkcog
yaQ av ö6'E,et,8v 6 TiaQcc ra Tcoirjrf] '^}iq)ia^£COs TtccQa^v&et-
O&ai TYjv 'AQieiiOQOv ^yjraQa dva%£Qaivovaav ort, v^Jtiog
Sv o Ätttg zal ayav cccjQog iteksvrtjös. Archemoros ist
also auch bei Euripides als Knabe eingeführt. Wir müs-
sen daher, soweit sich nach den vorhandenen Quellen ur-
theilen lässt, die Jünglingsbildung, wie sie auf unserm
Bild erscheint , dem Maler als eigne unabhängige Erfindung
beilegen ^^). Für diese AbAveiclmng vom Dichter weiss ich
keinen andern Grund, als den, dass es mir tragischer und
für malerische Darstellung angemessen erscheint, statt ei-
nes Kindes einen Jüngling der Blüthe seiner Jahre nahe
hingerafft zu sehn. Seiner Leiche zunächst stehen die, un-
ter deren Händen er aufgewachsen und es ist ein rühren-
23) Der aus der Hand gelegte Blitz auch Monum. d. Inst. II, W.
24) Argiim Find. Nem. Heyne p. G60. G61. Nem. III, 115 mit d.
schol. lind schol. Nem. VI, 21.
25) fr. 6. Diud.
26) Auch anderswo findet sich diese Abweichung. Vgl. Overbeck
p. 12.
— i:}2 —
der Zug; tlass dein Pädagogen die Leier in die Hand ge-
geben ist. Die Amme ist im Begriff, ihm den Todtenkranz
aufzusetzen, während ihre Linke nach den schönen Worten
Gerhards (p. 11) aden für immer Verstummten um einen
Laut seines Mundes zu mahnen scheint«, wenn nicht etwa
mehr im Anschluss an antike Sitte diese HandbcAvegung
erklärt werden muss auf das Zudrücken der Augen und des
Mundes"). Hinter der Bahre steht eine Frau, einen aus-
gespannten Sonnenschirm über den Todten haltend. Die
gewöhnliche Bedeutung des häutig^*) auf Vasenbildern vor-
kommenden Sonnenschirms, dass er die «vornehme Frau»
bezeichnet ^') ist hier natürlich nicht anzuwenden. Ich
dachte an Helios als ayvog O-fdg (Find. Ol. VII, 00) und
an die Abwehr eines fiLaöficc; Hermann (Antiq. III, 39 n.
17.) hat dieselbe Ansicht. Gerhard's Auffassung scheint mir
durch Hermann widerlegt; Overbeck sagt «die Dienerin
hält mit aufgespanntem Sonnenschirm die heissen Strahlen
der Sonne ab» (?). Die beiden Figuren hinter dei- den
Sonnenschirm haltenden Frau sind ergänzt ^°) , es lässt sich
aber, wie mir scheint, mit ziemlicher Sicherheit bestim-
men, wie der Raum ursprünglich ausgefüllt gewesen sein
wird. Gerhard und Schulz (Nachschr. p. 73) meinen, es
seien in die Handlung eingreifende Personen des Mythus
dargestellt. Zu Avählen sei nur zwischen Lycurgos und
Adrastos; sie entscheiden sich für Letzteren. Aber dage-
gen spricht dass die Figuren nach ihrer Zusammengehörig-
keit streng auf die verschiedenen Reihen vertheilt sind.
Oben erscheinen nur Götter, in der Mitte Heroen, unten
Diener. Diese Composition würde gänzlich gestört, wenn
27) ovSb fiOL ^rXi] iovtl jisq stg AtSao
X^Qat xkt' ocp&alfiovg sls^iv Gvv rs otdfi fQEiaai.
Hom. Od. XI, 425.
28) z. B. Millingeu Peint. d. V. PI. 26. 53. Berlin. Mus. 1611.
20) Bött.iger Vasengem. II p. 150. O. Jahn Zeitschr. f. Altortliuni-
wiss. 1842 p. 891.
SO) lieber die Ergänzungen, auch in Betreff der Hörnerspitzen des
Satyrs oder richtiger Panisken (Gerhard p. 72), über die noch Overbeck
in Zweifel ist, hat Gerhard in seiner Nachschrift p. 71 f. die vollstän-
digsten Mittlieilungen nach einem Bericht von Schulz gegeben.
— 133 —
Adrast unter den Dienern erschiene. Er konnte nur in die
mittlere Reihe zu seinen Waffenbrüdern gestellt werden:
und ebenso musste Lycurg seinen Platz unter den Haupt-
personen des Bildes finden. Nur unbedeutendere und un-
betheiligtere Personen können an dieser Stelle des Bildes
vorausgesetzt werden. Zur Rechten der Leiche erscheinen
lauter männliche Diener; ich glaube die grosse Symmetrie
des Bildes berechtigt zu dem Schluss, dass ihnen auf der
gegenüberliegenden Seite weibliche entsprochen haben. Es
bleibt noch die Frage nach dem Verhältniss unsers Bildes
zu seiner dichterischen Quelle zu erörtern. Welcker ^') und
Gerhard (p. 28) haben die Hypsipyle des Euripides als
das Vorbild unsers Malers erkannt; eine genaue Scheidung
zwischen dem, was eigne Erfindung des Malers, und dem,
was aus dem Dichter entlehnt ist, lässt sich da, wo nur
Fragmente erhalten sind, nicht anstellen; einige Punkte
wird man indessen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit fest-
setzen können. 0 verbeck geht so Aveit, dass er dem Maler
alles Eigne abspricht, ihn vollständig zum Copisten des
Dichters macht. Was hier dargestellt ist, soll auch in der
Tragödie enthalten gewesen sein, Avas hier fehlt, soll auch
in jener gefehlt haben. Das ist für die Tragödie eine all-
zuschnellc Kritik und für den Maler ein grosses Unrecht.
Was bei dem Bilde zunächst auffällt, ist die Weglassung
des Vaters, des Lycurgos. Overbeck sagt ohne Gründe an-
zugeben, er werde in der Tragödie nicht aufgetreten sein.
Welcker hat das Gegentheil höchst wahrscheinlich gemacht,
indem er ihm fr. 7
xccxotg t6 xsQdog rrjg diKrjg vtceqtbqov
in den Mund legt, dass gewiss Niemandem besser zukommt
als dem Lycurgos. Aus fr. 8
e^oj yaQ OQyrjg Ttäg avrjQ öocpärsQOs
welches Welcker sehr schön dem Amphiäraos zutheilt, folgt
ferner, dass Streit und Heftigkeit vorgefallen ist. Ist denn
da der Vater nicht eine unumgänglich nothwendige Person?
Welchen Grund sollte Euripides gehabt haben, den Lycurg
nicht darzustellen? Ich glaube, man kann mit Sicherheit
31) Griech. Trag. II p. 559.
— 134 —
das Gegcntheil hohaupten und es dem IVIaler als eigne Er-
findung vindiciren, dass er den Lycurgos weggelassen hat.
Und ein Grund für diese Neuerung lässt sich .wohl denken.
Der ganze Character des Bildes wäre verändert, wenn der
Künstler neben die Eurydike den Lykurgos gestellt hätte.
Es ist wesentlich für unser Bild, dass die Mutter allein
im Centrum des Ganzen steht; das ist ein Hauptgrund
für den schwcrmüthigen Ausdruck, der wie ein Schleier
über die Darstellung ausgebreitet ist. Diesen Character
des Bildes hätte die Erscheinung des Lykurgos durchaus
zerstört, denn nur für die Mutter eignet sich die wehmü-
thige Trauer. Auch würde unser Interesse getheilt, wenn
neben der Mutter Lykurgos stände, es würde das Bild sei-
nen Mittelpunkt, auf den immer unser Blick zurückkehrt,
verlieren. Es soll ferner aus der Tragödie sein, dass Hy-
psipyle (denn diese wiederholt sich, wie oben bemerkt,
nach Overbeck's Ansicht in der untern Reihe) und nicht
die argivischen Helden, wie nach den Quellen, die Lei-
chenfeier besorgt, «es liege die Entsühnung darin ausge-
sprochen»; ferner soll die obere Götterreihe aus der Tra-
gödie sein; «die füglich durch eine Theophanie geschlossen
und gelöst sein mag». Aber was bleibt für die Götter zu
lösen, wenn der Hypsipyle die Leichenbestattung übertra-
gen wird, wenn sie also versöhnt ist mit den Eltern? In-
dess erledigt sich die erstere Bemerkung Overbeck's schon
damit, dass Hypsipyle nicht die bestattende Frau sein kann.
Nach dem Namen des Stücks, nach den Fragmenten, nach
sonstigen Nachrichten, nach der Analogie der übrigen
Stücke des Euripides lässt sich nur annehmen, dass das
Drama sich um das Geschick der Hypsipyle bewegt und
dass der zu lösende Knoten darin bestanden habe , die Hypsi-
pyle vor dem Zorn der Eltern des Archemoros zu retten.
Dass diese Lösung aber durch die beiden Söhne der Lem-
nierin und durch Dionysos, ihren Grossvater, der den Pro-
log zum Stücke sprach, geschehen sei, hat Welcker (p. 560)
mit der grössten Wahrscheinlichkeit angenommen. Des
Dionysos Erscheinung am Ende des Stücks zur Rettung sei-
ner Enkelin ist ebenso wahrscheinlich, wie die des Zeus
und der Nemea unwahrscheinlich. Diese erinnern vielmehr.
— 135 —
obwohl der wchmüthige Cliaractcr dos ßildcs euripidcischcn
Geist athmct, an die Ncmea des Aeschylos'*). Auf dies
Drama scheint der Gedanke des Künstlers zurückzuführen,
den Tod des Archemoros zu verherrlichen durch die mit
ihm verknüpfte Einsetzung der nemeischen Spiele, ebenso
wie Aeschylos in seinen Isthmiasten mit dem Tod des Me-
likertes die Einrichtung der isthmischen Spiele dargestellt
hatte ''). Ueberhaupt ist es nicht die Weise des Euripidcs,
seinen Dramen den Hintergrund grossartiger nationaler und
religiöser Institute zu geben. Die auf unserm Bilde er-
scheinende Nemea weist sogar ganz, bestimmt auf Aeschy-
los^"*). Soviel folgt hieraus, dass man nicht berechtigt ist,
unsre Vase in allen ihren Einzelheiten auf die Tragödie
des Eui'ipides zurückzuführen. Warum sollte aber der Ma-
ler nicht aus zwei Tragödien ähnlichen Inhalts, aus der
Nemea des Aeschylos und der Hypsipyle des Euripides ge-
schöpft und Motive aus beiden mit selbständiger Freiheit
verschmolzen haben können ? Die Vortrefflichkeit der Com-
position lässt eher auf einen Künstler von eigner Erfin-
dung schliessen, als auf den unfreien Nachzeichner eines
Dichters ^'^).
32) Welckei- Trilog. p. 359 f.
33) Welcker Trilog. p. 339.
34) Argum. Piutl. Nem. Heyne p. 659.
35) Es ist mir aufgefallen, dass Overbeclc hier bei einem vollen-
deten Bilde des spätem Stils und bei den oben besprochenen Wandge-
mälden den Künstler ganz abhängig, dagegen den Verfertiger zweier
weit älterer Bilder ganz frei von Dichterquellen hinstellt. Ich meine
zwei Vasenbilder, die den Priamos flehend vor Achill zeigen. Das erste
ist eine s c h w a r z figurige Amphora (Overb. p. 468 no. 135), das an-
dere eine rothfigurige Kylix des altern Stils (Taf. XX. n. 3 p. 471). Sie
haben das Gemeinsame, dass die Leiche Hector's unter dem Sessel
Achill's liegt. Letzteres beschreibt Overbeck so: «Achilleus, eine impo-
sante Heldenfigur, zeusartig in seinen Mantel gekleidet, liegt auf einer
reichen Klisia zechend, denn er wird von einer Schönen (Briseis) be-
kränzt und hält eine Kylix, und schmausend, denn ein Tisch mit Spei-
sen steht vor ihm. Das ist nicht nach dem Epos und ebenso gewiss
nicht nach einer der uns bekannten tragischen Poesien.» Ich erlaube
mir, die Worte der Ilias (XXIV, 475) beizufügen:
vtov S' aiisXriysv iöcaSjjg ('JxiX^vg)
SG&av Mal TiLViov an nai nctQ änsixo zQaTte^a,
— 136 —
Ich erlaube mir noch eine Bemerkung über den Ge-
sammtausdruck des Bikles. Mit der tiefen Schwennuth,
die es athmet, die allerdings gemildert Avird durch die Er-
scheinung der Götter, verbindet sich eine eigenthüraliche
Feierlichkeit. Sie wird bewirkt durch den Mangel aller hef-
tigeren Bewegungen, durch die vierfache Wiederkehr des-
selben bedeutsamen Gestus, durch die strenge Symmetrie
und endlich durch die genaue Scheidung der drei Figuren-
reihen. Durch Letzteres weiss die Vasenmalerei sehr schön
den Character des ganzen Bildes dem Auge beim ersten
Anblick anzudeuten. Der Revers der Archemorosvase (Ger-
hard Taf. 2) zeigt Nichts von der gradlinigen Gemessen-
heit des Vorderbildes. Ueberall auf- und absteigende, wel-
lenförmig geschwungene Linien ne>)st der grössten Mannig-
faltigkeit der Stellungen; dadurch erhält er den Character
des Leichten, anmuthig Bewegten und steht in einem schö-
nen Gegensatz zu der schweren Ruhe seines Gegenbildes.
Bacchische Darstellungen und andere verwandten Characters
zeigen oft ihre Figuren gleichsam verstreut über den Raum,
als habe sich Alles temere et casu so gemacht; sie vermei-
Mir scheint, mit diesen Worten stimmt das Bild auf's Genaueste. Und
diese Uebereinstimmung macht mich misstrauisch gegen das, was Over-
beck von der unter dem Sessel Achill's liegenden Leiche sagt: «Die
bildende Kunst hat im ganzen Bereich ihrer Mittel keinen grossartigeren
Ausdruck für den furchtbaren Zorn und Groll des Achilleus finden kön-
nen , als dies Lagern über der Leiche bei Schmaus und Zechen, v Ich
zweifle, ob das die Intention des Malers gewesen ist, da sich auch das
Liegen der Leiche unter dem Sessel Achill's wohl daraus erklärt, dass
in der Ilias (XXIV, 583) dem Priamos der Anblick seines todten Soh-
nes erspart wird. So hatte übrigens schon Rochette (Mon. Ine'd. p. 270
n. 4) erklärt. Spätem und vollendeten Bildwerken die Freiheit in der
Erfindung abzusprechen , älteren und unvollendeten dagegen sie beizu-
legen, ist eine Umkehr eines natürlichen Gesetzes, dem zufolge die äl-
tere Kunst treu an dem gegebenen Stoff festhält, die freiere dagegen
sich mannigfaltige Abweichungen erlaubte. Obgleich ich keineswegs der
altern Vasenmalerei alle freie Erfindung schlechthin absprechen will, so
habe ich doch , soweit meine Kenntniss reicht , das relata refero für die-
selbe als durchgreifendes und für die Erklärung nicht unwichtiges Prin-
cip bestätigt gefunden. In dem vorliegenden Fall ist jedenfalls die
Uebereinstimmung mit dem Epos zu gross, um davon abweichen zu
dürfen.
— 137 —
den die horizontale Symmetrielinie, die das Archemoroshild
zeigt lind erhalten dadurch den Ausdruck des Ungezwunge-
nen und Freien. Interessant ist in dieser Beziehung die
canosische Medeavase. Hier laufen die Linien bei Weitem
nicht so ruhig, wie auf unserm Bilde und die Figuren sind
nicht so gradlinig gruppirt. Das ist^ aber ganz der Ver-
wirrung und Bestürzung angemessen, die dort so schön
wiedergegeben sind.
Ueber dem Archemorosbilde ist der Wagenkampf des
Pelops und Oenomaos dargestellt. Ich verweise hierüber
auf Gerhard's Erklärung (p. 25 f.) , die ich nur wiedei'holen
könnte. In Betreff des unter den Pferden des Oenomaos
erscheinenden Häsleins möchte ich mich indessen der Deu-
tung Brauns^") (di pessimo augurio, come lo avean gli an-
tichi) anschliessen, wie sie auch von Gerhard (Text z. d.
ant. Bildw. p. 289) anerkannt wird. Der Ort, an dem es
erscheint, unter den Pferden des Oenomaos, macht seine
Beziehung auf diesen nothwendig. So steht es als unglück-
liche Vorbedeutung für Letztern im Gegensatz zu dem glück-
verheissenden Eros, der über dem Gespann des Pelops
schwebt. Auch die Sirene möchte ich dem Ausdruck des
Archemorosbildes gemäss als Muse der Todtenklage ") fas-
sen, wie sie auf Sophocles' Grabe stand.
Dass die obere Darstellung aiif die Gründung der olym-
pischen Spiele Bezug hat wie die untere auf die der nemei-
schen, ist offenbar. Zwar ist es gegen die gewöhnliche
Ueberlieferung, dass Pelops die olympischen Spiele einge-
setzt habe, indessen hat der von ihm begangene Agon alle
übrigen verdunkelt ^*) und anderswo erscheint er als Stif-
ter ^^). Darauf und auf eine ursächliche Verbindung dieser
Stiftung mit dem Tode des Oenomaos deutet auch die Dar-
stellung im Giebelfeld des Zeustempels zu Olympia. Wie
unten der Tod des Archemoros als Veranlassung der ne-
meischen, so ist oben der des Oenomaos, den uns der an
der an der Wagenachse fehlende Nagel erwarten lässt, als
36) Bullet. 1835 p. 109.
37) Vgl. Stackeiberg Grab. Griechl. p. 32 und das Titelblatt.
38) Pausan. V, 8, 1.
39) Hermann Antiq. II, 49, 2. Welcker A. D. I, p. 183 u. 10.
— 138 —
Veranlassung der olympischen Spiele dargestellt. Zeus aber
verbindet beide; denn er war Festgott in Olympia wie in
Nemea.
Ich knüpfe an dieses Bild die Erörterung eines inter-
essanten Unterschiedes der altern und spätem Vasenmale-
rei, der vielleicht noch nicht in seiner Ausdehnung darge-
legt ist. In Kampf- .und Mordscenen liebt die ältere Zeit
den Culminationspunkt, die spätere einen demselben vor-
hergehenden oder nachfolgenden Punkt darzustellen. Mit
dem Unterschiede der schwarz- und rothhgurigen Vasen fällt
diese Verschiedenheit zwar nicht ganz streng zusammen,
doch aber gehört die erstere Darstellung üljerwiegend den
schwarzfigurigen Vasen an. Stephani*") zählt dreizehn ar-
chaische Vasen auf ^') , welche den Theseus im Kampf mit
Minotauros zeigen. Von diesen stellen neun Bilder ^^) den
Augenblick dar, in dem das Schwert des Theseus dem Mi-
notauros bereits in die Brust gestossen ist. Von rothfigu-
rigen Gefässen erwähnt Stephani (p. 72) vier^^), ich füge
drei hinzu'**). Alle diese zeigen einen vorhergehenden Mo-
ment; Theseus hält das Schwert erhoben, hat aber noch
nicht den tödtlichen Stoss geführt ■*'). Stephani führt (p. 68.
76) noch zwei Wandgemälde''^) an, auf denen die Leiche
des Minotauros erscheint. Diese scheinen ihn zu der Be-
merkung (p. 76) veranlasst zu haben, die älteste Zeit habe
eine Scheu gehabt, Todte zu bilden, daher habe sie den
der Tödtung zunächst vorhergehenden Augenblick gewählt.
Gewiss unrichtig; ich erinnere an die unzähligen Darstel-
lungen, wo um einen Leichnam gekämpft wird; an die
Schleifung Hector's, an die Eberjagden, in denen fast re-
40) Kampf des Theseus mit Minotauros. Leipzig 1842 , p. 66.
41) Steph. Taf. 1. 2. 3. 4. 6. 7, 8. 9. 10. Becker August. III, 15J.
Miliin Gall. Myth. CXXXI, 490. Inghir. Vasi fitt. III, 297.
42) Steph. 1. 2. 3. 6. 7. 8. 10. Becker August. III, 154. Millin
Gall. Myth. CXXXI, 490.
-43) Miliin CXXXI, 492. O. Jahn Vasenb. Taf. II. Dubois-Maisonn.
PI. 68. Miliin Peint. II, 78, 6.
44) Mus. Gregor. II, 57, 1 a. 62, la. 2 a.
45) Vgl. das rothfigurige Bild, Hermes und Argos bei Panofka:
Argos Panoptes, Sehr. d. Berl. Akad. 1837. Taf. 3, 2.
46) Miliin G. M. CXXVIII , 491. Mus. Borb. X, 51.
— 139 —
gelmässig ein Todter unter dem Eber liegt, an den Kampf
des Hercules mit Geryon, avo wir durchgängig den todten
Eurytion erblicken u. s. w. Alles das gehört wesentlich
dem altern Vasenstil an, von einer Scheu, Todte zu bilden,
ist keine Rede*^). In jenen beiden Wandgemälden wird
nicht der Kampf dargestellt, sondern es kam auf das aus
demselben Resultirende an, auf die Freude der geretteten
Jünglinge und Jungfrauen und auf das Verhältniss des The-
seus zur Ariadne. Der blosse Kampf als solcher interessirt
die archaische Malerei und zwar nicht der bevorstehende,
sondern sie liebt es, den Helden mitten darin begriffen zu
zeigen. Ich erinnere an die Heracleskämpfe mit Triton,
Acheloos- und dem Löwen. Constant wird der Augenblick
dargestellt, avo Heracles im Begriff ist, dem Thier die Rip-
pen zu brechen**). Dass aber in den Kämpfen grade die-
ser Höhenpunkt uns A'orgeführt wird, hat nur seinen Grund
in dem unendlichen Ringen nach Ausdruck und Leben, das
die archaischen Vasen zeigen. Es ist wie ein neu er-
Avachender Trieb, der sich ungebunden maasslos geltend
macht. Daher die excentrischen Stellungen der Figuren,
daher auch die Wahl der Stoffe. Das Zarte und Feine ist
fast ganz ausgeschlossen''^), die Kämpfe der Heroen, vor
47) Bemerkenswerth ist die Stellung- der Gottheit in Kampfscenen.
Wie im Epos , so erscheint sie auf den scliwarzfigurig^en Vasen mitten
im Gewühl des Kampfes, in der unmittelbarsten Berührung: mit
dem Tode (Gerhard Auserl. Vasenb. II, 105. 122. Overbeck Taf. XV, 12.
XXIII, 1). Das ist auf den spätem Vasen nicht mehr der Fall und
hier kann man vielleicht ausser der Wirkung des geläuterten Geschmacks
die Tragödie anführen, in der, soviel ich weiss, zuerst der Gedanke
ausgesprochen wird, dass der Tod die Götter befleckt (Eurip. Ale. 22.
Hippol. 1437).
48) Höchst interessant und characteristisch für die Lebendigkeit,
welche die archaischen Vasen atiszeichnet, scheint mir die Stellung und
Bewegung des lolaos im Löwenkampf bei Gerhard Etrusk. und Kampan.
Vasenb. Taf. 12. Gerhard (p. 15) bemerkt , lolaos sei erwartungsvoll,
aber dem entsprechen seine Geberden nicht. Er macht ganz genau die
Bewegung des Heracles nach. Der treue Knappe ist entzückt von sei-
nes Herrn kräftigen Griffen, er nimmt so lebhaften Antheil, dass er sie
unwillkürlich selber nachmacht. Vgl. Berl. Mus. 1978.
49) Die Musen kenne ich nur auf der Klitiasvase und hier sind sie
nur das Orchester des Olymp's.
— 140 —
t
Allem des Heracles, sind der diesem Trieb allein ent-
sprechende Gegenstand. Wie man die ältesten mit Tliier-
figiiren und Arabesken phantastisch geschmückten Vasen
das Märchenalter der Malerei nennen möchte ^") , so sind die
schwarzfigurigen das Heroenaltcr. Ungebändigte Kraftfülle
characterisirt es; es muss möglichst heiss hergehen. Wie
aber auf das Heroenalter die Zeit der Sittigung und des
Gesetzes folgte, so folgt auf das schrankenlose Uebermaass
des archaischen Stils der maassvolle Adel des schönen. Als
weitere Belege führe ich an die Schlangenkämpfe. Die
unschätzbare Vase bei Welcker (A. D. III, Taf, 6) stellt
den Heracles mitten im heissesten Kampfe dar^'); drei
Schlangenhälse durchsticht er mit einem Stoss. Damit ver-
gleiche man die spätem Drachenkämpfe des Kadmos und
lason, in denen immer der bevorstehende Kampf dargestellt
ist. Interessant ist das dem ältesten Stil der rothtigurigen
Vasen angehörige Orestesbild des Berliner Museums^*).
Sehr richtig bemerken die Ausleger'^), es sei nicht nach
der Tragödie gearbeitet; es stellt einen Moment vor, der
auf der Bühne nicht vorkam. Das Schwert des Orestes
steckt in der Brust des Aegisthos und ein starker Blut-
strom schiesst hervor; das Bild zeigt also den Augenblick
der Durchbohrung selbst, ganz dem Character der archai-
schen Vasen gemäss. Warum nun später nicht mehr der
Gipfelpunkt der That, sondern ein ihm vorhergehender oder
nachfolgender Moment dargestellt ist, davon kann man den
Grund in der Läuterung des Geschmacks und Aiisbildung
des künstlerischen Gefühls suchen, denn es ist klar, dass
die archaische Weise beiden nicht entspricht '"*) , für manche
50) Entspriclit ihnen nicht in der Literatur die Thierfabel?
51) Derselbe Augenblick ist darg-estellt bei Gerhard Auserles. Va-
senb. II, 95.
52) Gerhard. Berl. Ant. Bildw. No. 1(H)7. Etr. u. Kamp. Vasenli.
Taf. 24. Overbeck Taf. XXVIII N. 10.
53) Gerhard p. 35. Overbeck p. 696.
54) Es genüg-t, an Lessing's Laocoon zu erinnern. Die neuere Ma-
lerei zeigt bekanntlich ähnliche Erscheinungen. Man vergleiche z. B.
die verschiedenen Darstellungen von Stephanus' Märtyrertod. Auf einem
altdeutschen Bild in der Moritzkapelle zu Nürnberg liegt ein schwerer
Stein auf dem Haupt des Märtyrers und aus tausend Wunden spritzt
— 141 —
Darstellungen kann aber auch hier die ]^ühne eingewirkt
haben ; da diese die Gräuelseone selbst hinter die Seene zu
verlegen pflegte^''). Die etruskische Kunst hat dagegen den
Moment festgehalten , von dem die Griechen ausgegangen
sind; consequent zeigt sie das Gräuel selbst. Aiax vom
Schwerte durchbohrt, Eteocles und Polyneikes sich gegen-
seitig das Sclnvert in die Brust stossend, Oedipus in dem
Augenblick der Blendung , Menoikeus sich durchbohrend,
Orestes der Mutter das Schwert in den Nacken stossend^®)
— alle diese Gegenstände zeigen den Augenblick, der in
der griechischen Tragödie für den Zuschauer unsichtbar
war und den wir auf keinem griechischen Bildwerk wieder-
finden. —
Der 'Revers unserer Archemorosvase würde eine aus-
gedehnte mythologische Untersuchung erfordern; ich erlaube
mir nur ein Wort über die muthmaassliche Bestimmung
des Gefässes. Gerhard (p. 67) vermuthet ein Hochzeitsge-
schenk, O. Müller") deutet den von der Schlange umwun-
denen Hesperidenbaum als Symbol einer in Dunkel und
Schrecken gehüllten Seligkeit, eine Beziehung, die von Ei*-
stei-em (p. 68) bestritten wird. Gegen Gerhards Ansicht
scheint mir zweierlei zu sprechen. Erstens ist es wohl
nicht passend, ein Hochzeitsgeschenk mit dem Bilde des
Todes zu schmücken, zweitens scheint Gerhard den Hera-
cles übersehen zu haben, auf den doch Alles ankommt.
Von seiner treuen Begleiterin Athene geführt ist er an die
dcas Blut. Die Grässliclikeit ist hier auf die höchste Spitze getrieben.
Wie ganz anders hat Raphael den Gegenstand behandelt.
55) Phiiostr. "Vit. Apoll. VI, 11., welche Worte jedoch richtig ein-
geschränkt werden von Feuerbach Vatic. Ap. 332 f. So macht auch
die Niobe des Sophocles eine Ausnahme und es lassen sich die Vasen-
bilder dieses Gegenstandes, welche die Tödtung selbst darstellen, als
Beleg anführen, denn nicht Referirtes, sondern wirklich Dargestelltes
findet sich auf den nach der Tragödie gearbeiteten Vasen wieder.
56) Overb. XXIV, 2. V, 12. Müller A. D. I, 62, 316. Overbeck
VI, 2. Rochette Mon. Ined. 29, 1. Vgl. den Tod des Agrius nach IJh-
den Abb. der Berl. Akad. 1827 p. 202 f. und die barbarische Abschlach-
tung der Troer am Grabe des Patroclos (Overb. XIX n. 13 und derselbe
Gegenstand Roch. PI. 21, 1).
57) Handb. § 431 . 2.
— 142 —
Grenzen der Welt gekommen. An ilin tlattert die Nike
heran, für ihn sind, wenn ich nicht irre, der Kranz und
die Tänie bestimmt, die wir in den Händen zweier He.spe-
riden erblicken. Bekannt ist, dass nach schriftstellerischen
und monumentalen Nachrichten das Hesperidenabenteuer
auch als letztes Athlon erscheint, dürfte man den Heracles
nicht fassen als den Sieger, der nach iMühe und Noth ein-
zieht in ein seliges Freudenleben? Zwar bemerkt Völcker^^j,
dass kein Schriftsteller die Hesperiden in Elysium wohnen
lasse, aber ein Fragment Piudars^®; scheint für eine Ver-
mischung Elysium's und der Hesperiden zu sprechen. Pin-
dar, welcher nie die Hesperiden erwähnt, spricht hier bei
der Beschreibung des Lebens der Seligen von goldenen
Früchten im Elysium, sollte es nicht erlaubt sein, dies
als eine Entlehnung aus dem Hesperideugarten anzusehen V
Dass - die Vermischung nahe lag , wird Niemand läugnen ;
beide liegen im Westen, beide sind ein Ort des üppigsten
Natursegens. Die Namen der Hesperiden deuten auf den
Glanz der scheidenden Sonne , die untergehende Sonne aber
ealt als ein Bild des Todes®"). Ich schliesse mich danach
der Auffassung Müllers an und zu dieser sepulcralen Deu-
tung scheint am Besten der unvermeidliche bacchische
Schwärm, der über dem Hesperidenbilde erscheint, zu stim-
men, den ich nicht anders zu deuten vermag, als auf die
fisQ^rj aiojVtog"), die der Lohn der Geweihten war.
Welche Beziehung den Avers und Revers unseres Ge-
fässes verknüpft, darüber habe ich nvir eine unsichere Ver-
muthung; dass eine solche vorhanden ist, bezweifle ich
nicht. Die Vorderseite erinnert an zwei berühmte Wett-
spiele, das Hesperidenbild zeigt den Heracles, das Vorbild
aller Athleten. Pindar pflegt seinen Siegern das Bild des
Letztern als nachahmungswürdiges Beispiel hinzustellen,
58) Myth. Geogr. p. 118.
59) Threu. 1 Diss. ed. Schneid.
60) Yg\. Göttling. z. Hesiod. Theog. v. 518. Ein weiterer Ver-
gleichspunkt zwischen Sonnenlauf und menschlichem Leben Hegt darin,
dass man beide als növog, den Sonnenuntergang wie den Tod als avix-
■jiavGiq fasste. Minnerm. fr. 12 (Bergk).
61) Plat. Rep. II p. 803 D.
— 143 —
vielleicht lieget ein ähnlicher Gedanke unserer Vase zn
Grunde. Sie könnte das Grab eines Doppelsiegers in Olym-
pia und Nemea geschmückt haben, der gekämpft und ge-
stritten nach dem Vorbild des Heracles. Mit freundlichen
Erinnerungen des vergangenen Lebens sollten die Grabge-
fässe den Todten umgeben®*), für einen Athleten gab es
keine schönere Erinnerung, als die an seine Siege, keine
tröstendere Aussicht als das Geschick des Heracles, der
den Siegerkranz empfängt von den hellstimmigen Jung-
frauen Hesperiens und einzieht in ein müheloses Freuden-
leben. —
(i2) Ifcim. Antiq. III, 40, 24.
B e r i c h t i g- u ng' e n.
Auf p. 13 Zeile 14 v. oben: statt „Heyne" lies ., Heyne "^f
» » 21 Aura. 35. Z. 4 v. oben: statt „dubitari" lies .,sub dubitari'
» » 22 Z. 19 V. oben: statt „KTrAoTrjTi" lies ccjtalörrjn''
» » 82 » 9 V. unten: » ,,Griebelrande" lies ,,(>iebelen<le"
» » 87 » 13 V. » » „nur" lies „nie"
» » 117 » 5 V. oben: » Stelle" lies „Stele'"
» » 124 » 2 V. » » „a. u. O." lies .,a. a. O."'
Die
Pliilostratisclien Bilder.
Ein Beitrag"
zur
Charakteristik der alten Kunst
Dr. K. Friederichs,
a. 0. Professor an der Universität und Directorial -Assistenten
am königl. Museum in Berlin.
Erlangen,
Verlag von Andreas Deichert.
1860.
•3 hT
Druck von Junge & Sohn in Erlangen.
Herrn
Professor Dr. 0. Jahn
in Bonn
in dankharer Verehrung"
gewidmet.
Hochverehrter Herr!
Die Widmung dieses Buches wollen Sie als einen Aus-
druck dankbarer Verehrung freundlich auftiehmen. Wenn ich
auch nicht von Jhnen persönlich gelernt habe, so verdanke
ich doch Ihren Schriften Belehrung und Anregung in reich-
stem Maasse , besonders aber die. Freude an methodischer
Untersuchung. Es ist gewiss nicht bloss meine Ansicht,
dass durch Jhre Schriften ein neuer Ansatz in der Erklärung
alter Kunstwerke gemacht ist.
Verstatten Sie mir, dass ich Ihnen kurz die allgemeinen
Grundsätze vortrage, die ich in diesem Buch befolgt habe,
die mir überhaupt in der Kunsterklärung maassgebend zu
sein scheinen. Es ist eine Freude für einen Jüngern, einem
erfahrneren Mann, auf dessen wohlwollende Theilnahme er
vertrauen darf, seine Ansichten vorzulegen. Möchten Sie
aus meinen Erörterungen erkennen, dass die Grundsätze, die
Sie theoretisch und praktisch ausgeführt haben, nicht ohne
W^irkung auf mich geblieben sind!
VI
Von dem Satz ausgehend, dass die Kunst der Alten
Gegenstand der Archaeologie sei, stelle ich zwei Forderun-
gen an den Erklärer eines Kunstwerks. Er soll zuerst das
Bild des Kunstwerks, wie es im Geist des Künstlers existirte
vor seiner Ausführung in der Materie, sich klar machen.
Unter diesem Bilde — ich will es nach Analogie eines von
W. von Humboldt für die Sprachwissenschaft gebrauchten
Ausdrucks die innere Kunstform nennen — verstehe ich nicht
das, was wir die Idee eines Kunstwerks nennen, es ist viel-
mehr etwas ganz Konkretes, es ist der im Geiste des Künst-
lers umgebildete Stoff, den Kultus und Dichtung, Menschen-
leben und Natur boten. Diese Umwandlung ist das Erste,
was zu untersuchen ist, es muss der Stoff der Wirklichkeit,
von welchem der Künstler ausging, verglichen werden mit
dem im Kunstwerk umgebildeten Stoff. Die Kunst eines
einzelnen Künstlers und eines ganzen Volks ist nur eine be-
sondere individuelle Darstellung der innern und äussern
Welt, ebenso wie die Sprache. Das Maass aber und die
Art der Umbildung ist im letzten Grunde abhängig von der
GeisteseigenthümHchkeit des Schaffenden. Diese Sätze wer-
den Sie, hochverehrter Herr, mir gewiss nicht bestreiten;
wären sie aber lebendig in der Wissenschaft, so hätte man,
um zunächst von meinem Fall zu reden, die philostratischen
„Bilder" nicht für wirkliche Bilder halten können, denn man
hätte ja zuerst das Verhältniss dieser angeblichen Kunst-
werke zu dem Stoff, aus dem sie genommen sind, unter-
suchen müssen und würde dann bald gefunden haben, dass
ihnen die zum Kunstwerk nothwendige Umbildung fehlt.
Sodann aber könnten nicht mehr die weitverbreiteten Erklä-
rungsweisen bestehn, nach welchen die Kunstwerke nur
vn
Dlustrationen der Mythologie und der Antiquitäten sind.
Die erste dieser Richtungen , die sich besonders an die Va-
sen knüpft, geht von der Voraussestzung aus, dass Götter
und Heroen als das dargestellt seien, was sie etwa ursprüng-
lich gewesen sind , als Naturkräfte. Diese falsche Voraus-
setzung, die gar nicht einmal als Voraussetzung empfunden
wird, hat für die Erklärung im Einzelnen die Folge, dass
Alles, Gewandung, Geberden u. s. w. symbolisch, d. h. so
gedeutet wird, dass eine Beziehung auf das Naturelenient
herauskommt, welches der betreffenden F%ur zu Grunde lie-
gen soll.^ Sagen Sie selbst, ob dies nicht der Grundirrthum
ist, der so viele und nicht bloss ausländische Vasenwerke
durchzieht; und doch, wenn man nicht aus dem Charakter
der Vasen selbst erkennen konnte, dass es sich um etwas
ganz Anderes, als um Darstellung von Naturkräften handelt,
so hätte die eine Thatsache , dass die grosse Menge dieser
Bilder aus der Poesie, aus dem dichterisch bearbeiteten My-
thus geschöpft ist, auf einen andern Weg führen müssen.
So wenig Homer sich seinen Apollo als Kraft denkt, eben
so wenig der Vasenmaler, der aus ihm schöpft. Diese Rich-
tung aber ist es, von welcher die trübe Vermischung von
Mythologie und Archaeologie ausgeht, die, soviel ich ein-
sehe, weder der einen noch der andern Disciphn Vortheil
bringt. Die Erklärung eines Kunstwerks hat wol nicht mehr
und nicht weniger mit der Mythologie zu schaffen , als die
Erklärung eines Dichters, der Mythen gebraucht.
Die andre Erklärungsweise ist nicht im Princip, nur im
Ausgangspunkt verschieden. Auch sie nimmt der Kunst ihre
eigenthümliche Sphäre, indem sie dieselbe zu einer Abschrei-
beriu der Wirklichkeit macht. Man sagt z. B., am Fries des
VIII
Parthenon könne kein Festzug dargestellt sein, weil die
Kränze fehlen , die in den Festzügen der Wirklichkeit aller-
dings nicht fehlten. Man sagt dies mit der völligsten Sicher-
heit ohne auch nur das Bevvusstsein zu haben, dass dieser
Einwand auf einer Voraussetzung beruht, die doch wahrlich
bewiesen zu werden verdient. Hätte sich der Urheber dieser
Behauptung zuerst einmal die MögHchkeit vorgestellt, dass
dies ein Punkt sei, in Melchem die Kunst abweicht, hätte
er sich sodann die Mühe gegeben , plastische Monumente
mit analogen Daltetellungen zu vergleichen und auf diese
Weise eine empirische Regel zusammengesetzt, dann wäre
sein Verfahren methodisch, jetzt ist es ein willkürhches
Hinüberspringen auf ein Gebiet, das seine besondern Gesetze
hat. Die Kunst weicht ab von der Wirkhclilceit, in verschie-
denem Grade je nach der Natur des Volks , und innerhalb
eines und desselben Volks ist es wiederum je nach Gattung
und Zeit eines Monuments verschieden. Die Regeln dafür
lassen sich nur aus der sorgfältigen Vergleichung der Monu-
mente entnehmen, wobei Gattung und Zeit genau zu schei-
den sind. Denn dabei kann freihch die methodische Kunst-
erklärung nicht bestehn, wenn mau, was oft geschieht, so
verschiedenartige Monumente, wde Vasen und Sarkophage,
als gleichartig zusammenstellt.
Die zweite Anforderung an den Kunsterklärer ist die,
mit dem Innern Bild des Kunstwerks das äussere, sichtbar
gewordene zu vergleichen. Ist das, was dem Künstler zur
Verwirklichung vorschwebte, rein und ohne Hemmung in die
Erscheinung getreten? Denn es wäre ja denkbar, dass die
Materie, der Raum und manche andre Dinge dem Künstler
eine Beschränkung auferlegten, so wie auch nach Humboldt's
IX
Bemerkung der innern Sprachform an dem Laut eine Schwie-
rigkeit entgegentritt, die nicht immer gleich glücklich über-
wunden wird. Im vollendeten Kunstwerk ist allerdings völ-
lige Uebereinstimmung zwischen dem äussern und innern
Bilde, aber anders ist das Verhältniss am Anfang und am
Ende der Kunstentwicklung. Es leuchtet ein, dass auch
hier nur durch genaue methodische Vergleichung der Denk-
mäler selbst die richtige Scheidung zwischen den innerlich
beabsichtigten und den durch äussere Bedingungen hervor-
gerufenen Elementen der Darstellung vollzogen werden
kann.
Ich hoffe, hochverehrter Herr, hinsichtlich dieser allge-
meinen Sätze auf Ihre Beistimmung, ich hoffe auch darauf
hinsichtlich des vorliegenden Buchs. Sehn Sie es mir nach,
wenn es etwas ausführlicher geworden sein sollte, als viel-
leicht nöthig, der Glaube an die einstmahge Existenz der
philostratischen Bilder ist im Allgemeinen so fest, dass ich
lieber zu viel, als zu wenig anführen wollte; sehn Sie es
mir auch nach, wenn ich manchmal ein Werk der erhalte-
nen Kunst herangezogen habe, ohne dass es geradezu nöthig
war. Ich hatte den Wunsch, wenn ich's könnte, meinem
Buch einen kleinen von der Hauptbeweisführung unabhängi-
gen Werth mitzugeben, damit es nicht gleich veraltet wäre,
wenn's ihm gelingen sollte, von seiner Hauptthesis zu über-
zeugen. Dass ich aber in meinem Buch, wo an mehreren
Stellen mit grösseren Reihen von Monumenten operirt wird,
nichts übersehn, möchte ich am allerwenigsten Ihnen gegen-
über behaupten, gestrebt habe ich darnach und hoffe soviel
wenigstens, dass meine Bemerkungen aus den Kunstwerken
selbst herausgenommen erscheinen w^erdeu. Und so lege ich
X
denn mit der Bitte um ein wohlwollendes, aber nicht — ich
sage es zum Besten der Sache und um meiner eignen För-
derung willen — schonendes Urtheil das Buch vertrauens-
voll in Ihre Hände.
Berlin im Februar 1860.
In dankbarer Verehrung
K. Friedericbs.
Inhalt.
Seite
Geschichte und Methode der Untersuchung 1
Erster Abschnitt. Die Abhängigkeit der Plnlostrate von der
Poesie 11
Zweiter Abschnitt. Die eignen Erfindungen der Philostrate . 140
Schlussbetrachtung 199
Excurs I. lieber die Entwicklung der Gesichtsformen in der
griechischen Kunst 205
Excurs II. Ueber die Raumiullung auf den Vasen .... 209
Excurs III. Zur Geschichte der Composition 220
Excurs IV. Ueber den Achillesschild bei Homer und dem
jungem Philostratus 223
Excurs V. Ueber Nacktheit und Bekleidung in der griechi-
schen Kunst 230
Excurs VI. Ueber die Gestalt des Eros in Poesie und Kunst 240
Excurs VII. Ueber die Personifikation der Natur .... 246
(beschichte mul Methode der lutersiichuug.
H/iiie eingeliendere Prüfung der philostralischeii Bilder
hat zuersf Heyne angestellt^). Vor ihm behandelte mau sie
arglos als das, was sie sein wollen, als wirkliche Bilder;
doch meinten schon damals einige, wenn auch unbedeuten-
dere Archaeolögen , die gan^e Gallerie in Neaper möge wol
eine reine Erfindung des Philosti'atus sein 2). Sie stützten
sich insbesondere darauf, dass auf manchen Bildern die Ein-
heit der Handlung fehle, ein Argument, das von der andern
Seite mit Berufung auf Analogien , wenn nicht der alten, so
doch der neuern Kunst zurückgewiesen wurde ^). Heyne be-
ginnt mit der Bemerkung, er habe .keinen Grund, sich für
das Eine oder das Andx-e zu entscheiden , aus dem Schluss
seiner Untersuchung aber ersieht man. dass trotz aller sophi-
stischen Zusätze die Beschreibungen ihm auf Grund wirk-
licher Bilder gemacht zu sein schienen. Vieles nämhch
streicht er als nicht gesehen , sondern nur zu rhetorischen
Zwecken hinzugefügt. Er verräth darin manchmal ein rich-
tiges Gefühl, besonders in dem Bilde des Komos, das nach
Philostratus einen und denselben Besriff in einer Gestalt
1) Opusc. V. p. 12—195.
2) Man vgl. die Citate bei Welcker-Jacolis und Kaj'ser in den
Prolegg. zu iliren Ausgaben.
3) Dies thxit Torkillus Baden: Commentatio de arte ac judicio
Fl. Philostrati in descr. imaginibus, Hafniae 1792 , welche
Sclirift ich leider nur aus den Anführungen Welcker's kenne.
1
personifizirt und zugleich in seiner realen Erscheinung dar-
stellte, nacli Heyne dagegen sicli auf die eine allegorische
Figur beschränkte; indessen ist es nicht mehr als ein unbe-
stimmtes CTefühl, was ihn leitet in der Scheidung des wirklich
Vorhandenen und vom Rhetor Hinzugelügten, und der Maugel
aller Begründung schwächt noch mehr den Eindruck seines
schwankend ausgesprochenen ürtheils. Denn zu erörtern.
Avenn nicht aus Theorie und Empirie der Kunst zugleich,
wenigstens aus dem Einen oder dem Andren , warum dies
und jenes nicht im Bilde gewesen sein könne, dazu macht
Heyne nicht einmal den Versuch. EImus von der Art Les-
sings war nicht in ihm, er hat nur das Verdienst, die Auf-
merksamkeit auf seinen Gegenstand gelenkt zu haben.
Das lebhafteste Interesse nahm Göthe am'Philostraius 'J.
Die Gemäldegallerie wird von ihm als wirkhcli vorausgesetzt,
doch sei es nöthig, das wirklich Angeschaute 'von der red-
nerischen Zuthat zu sondern, was durch die Wandgemälde
und Mosaiken nuighch gemacht werde. Es ist sehr instruktiv,
die Veränderungen zu beobachten, die Göthe mit den Bildern
vornimmt, sie sollen im Verlauf dieser Untersuchung zur
Sprache kommen; die Worte des Textes werden freilich
etwas sorglos behandelt, es kommt, vor, dass Göthe das
gerade Gegentheil von demjenigen annimmt, was die Worte
des Schriftstellers sagen. Doch \Aer wollte daraus dem
Dichter einen Vorwurf machen ! Auch verfolgte er ja nicht
wissenschaftliche Zwecke, seine Absicht war, den Künstlern
lockende Aufgaben zu zeigen.
Sodann haben Welcker und Jakobs den Philostratus be-
arbeitet 2). Sie theilten die Arbeit so, dass dem Ersteren
hauptsächlich die archäologische Exegese, dem Letzteren
die Kritik und Erklärung der Sprache zufiel. Doch hat auch
1) Vgl. Bd. 30.
2) Philostratoruin imagincs et Calli^trati titatuae. Textum ad
fidem vetenun librorum recensuit et commentarium adjecit
Fridericns Jacobs, observationes arcliaeologici praesertim ar-
gumenti addidit Frid. Theoph. Welcker. Lipsiae 1825.
Jakobs die Frage erörtert, ob die Beschreibungen von wirk-
lichen Bildern genommen seien. Er kommt dabei auf eine
Vermuthuug, auf die ich aufmerksam macheu muss; es ist
eine Ahnung des Richtigen, die leider aus einem durchaus
falschen Grunde wieder unterdrückt wird. Jakobs weist
nämlich mit ungemein verdiensh oller Gelehrsamkeit nach,
dass der Wörterschatz der Philostrate zum grossen Theil
aus Dichtern genommen . sei ; eben dieser Umstand bringt
ihn p. XIX auf die Vermuthung , vielleicht seien nicht bloss
die Worte, sondern auch die Gegenstände der Gemälde
selbst aus Dichtern entlehnt. Eine genaue Yergleichung der
Gemälde mit den einschlägigen Dichterstellen würde diese
Vermuthung zur Gewissheit erhoben haben , Jakobs nimmt
sie zurück mit der Bemerkung, was aus Dichtern geschöpft
sei, gehe nur den Schmuck der Rede, nicht die Sachen
selbst an.
Weleker behauptet auf das Entschiedenste die einstmalige
Existenz der Bilder. Es konnten nicht, sagt er, ^oviele,
solche, so grosse Kunstwerke erdichtet werden in einer Zeit,
als alle Kunst darniederlag. Denn der Werth dieser Bilder
sei kein geringer^ die besseren unter ihnen dürfe man nicht
vergleichen mit den erhaltenen Wandgemäliien und Mosaiken,
es handle sich vielmehr um alte griechische Gemälde. Nicht
wenige seien darunter, die ihi-er Erfindung nach, worüber
allein uns ein Urtheil zustehe, an die blühendste Zeit der
Malerei hinanreichten, es fehle nicht an solchen, welche sonst
bekannte Werke des Apelles, Aristides, Zeuxis, Apollodorus
in's Gedächtniss riefen, andere seien aus späterer Zeit, schlecht
oder gänzüch zu verachten keines. Es ist zu verwundern,
dass dieses allgemeine Urtheil nicht im Einzelnen begründet
wurde, wozu Material genug vorhanden Avar auch schon zu
der Zeit, als Weleker schrieb^ denn der Herkules in den
Windeln, die Hesione des Jüngern Philostratus und manche
andre Gegenstände waren auch auf den Wandgemälden zum
Vorschein gekommen, die Weleker so sehr den Bildern des
Philostratus nachsetzt. Warum begnügte er sich damit, sie
zu citiren, warum verglich er sie nicht genau nach ihren
1*
4
küM.slleri.sc'hen Motiven? Eine .solche Vergleichung der vor-
handenen, dem Gegenstand nach verMandten Bilder war nicht
bloss hir die Werthsehätzung der jdiilostratisehen Gemälde
iiothwendig, sondern auch für die sichere Beantwortung der
Frage über ihre einstmalige Existenz. Wenn wir wissen,
die Gegenstände der philoslratischen Bilder finden sich
auch in der erhaltenen Kunst, so entscheidet das nichts, ja
wenn wir einzelne oder auch alle Figuren eines philostratischeu
Bildes wiederfinden auf einem erhaltenen Werk, so entschei-
det auch das noch nichts. Denn ist es nothwendig, dass
diese Figuren einem Kunstwerke entnommen , können sie
nicht ebensogut dem Mythus entnommen sein? Können
nicht Philostratus und das vorhandene Bild, das dieselben
Figuren enthält, aus einem und demselben Dritten, aus einem
Dichter geschöpft haben, der den Mythus erzählt, und aus
diesem Grunde übereinstimmen? Dies also ist nicht ent-
scheidend, es kommt nicht an auf das Was, sondern auf das
Wie, auf die künstlerischen Motive. Wären diese ver-
glichen , so würde sich herausgestellt haben , dass diejeni-
gen der pliilosl rauschen Bilder, die überhaupt zu malen sind,
nicht einnuil mit clem schlechtesten der erhaltenen Wandge-
mälde den Vergleich aushalten.
Aber auch die Welcker'sche Behandlung der Bilder an
sich gestehe ich nicht für die lichtige hallen zu können.
Wenn man nur, bemerkt Welcker, diese den Dichtern ent-
nommene Art der Schilderung recht begriffen habe, so werde
man keine sichre Zuthat des Rhetors in -dem ganzen Buch
linden, nicht einmal in dem unbedeutendsten Beiwerk. Ueber
die Eigenthümhckeit dieser den Dichtern entnommenen Art
der Schilderung finde ich keine nähere Auskunft; in den
Anmerkungen, die Welcker den einzelneu Bildern beigefügt
hat, wird nicht Alles , was der Rhetor als gesehen vorträgt,
auch als wirklich vorhanden angenommen, es wird an
seinen Worlen gestrichen und geändert, wobei die Sprache
nicht immer jierücksichtigt wird und die Begründung
wenigstens für denjenigen fehlt, der noch nicht von der
Wirklichkeit der Bilder überzeugt ist. Denn fast sämmüiche
Bemerkungen Weickers honilin auf der Annalinie. dass Philo-
stratus Wirkliches beschreibe; \^'cleker setzt als Thatsache
voraus, was erst zu untersuchen war, und diese Voraus-
setzung beherrscht ihn so sehr, dass" er die auffallendsten
Dinge theils niclit sieht . thcils nach seiner einmal gefassten
Voraussetzung beurtheilt , wobei es denn zu den grössten
AA'illkürhchkeiten kommen musste. Dies wird später im Ein-
zelnen angegeben werden, ich werde dabei auch gewisse all-
gemeine Principien zu besprechen haben, die Welcker von
der Wirklichkeit der philostratischen Bilder ausgehend der
alten Kunst zuschreibt. Schon vor ihm hatte Tölkeu ^) den
Versuch gemacht , hauptsächlich aus dem Philostratus meh-
rere von J.essing entwickelte Principien der bildenden Kunst
überhaupt, als für die alte Kunst nicht gültig nachzuweisen:
diese neuen. Ansichten haben Verbreitung gewonnen, es wäre
natürlicher gewesen, wenn sie eine neue Untersuchung über
die Glaubwürdigkeit der Philosti-ate , die sie zur Voraussetz-
ung haben, veranlasst hätten; man hätte nicht so schnell
ein Buch wie Lessing's Laokoon aufgeben sollen.
Diese Ansichten fanden Widerspruch in einem kleinen
Aufsatz von Franz Passow^), aus dem ich hervorhebe, was
mir von Bedeutung zu sein scheint. Passow macht aufmerk-
sam auf die merkwürdige Unbestimmtheit in der Beschreibung
der angeblichen neapolitanischen Gemäldegallerie , welche
zudem von keinem andern Schriftsteller erwähnt werde •'').
1) Ueber das verschiedene Yerhältniss der aniiken und moder-
nen Malerei zur Poesie, ein Nachtrag zu Lessing's Laokoon.
Berlin 1822.
2) Vermischte Schriften p. 223 — 236, früher in der Ztschr. f.
Alterthumswissenschaft v. J. 1836. p. 571 ff-
3) Preller, Polem. Fragni. p. 198 scheint aus diesem Grunde
die neapolitanische Halle für eine Erdichtung des Philostratus
zu halten: die Beschreibungen der Bilder aber, meint er.
seien aus älteren Schriftstellern , wie Antigonus , Adaeus,
Polemo zusammengestellt und dann rhetorisch ausgeschmückf.
Es war, sagt der ältere Philostratus — denn der jüngere
giebt gar keinen Ort für seine Bilder an — eine Halle von
vier, mein ich, oder auch fünf Stockwerken. Spricht so
ein Augenzeuge? Sodann werde weder Format noch Maass-
stab der Gemälde, auch- nicht die Grösse der Figuren ange-
geben und vom Zeitalter, von der Schule, vom Meister er-
fahre man gleichfalls kein "Wort. Hiegegen ist allerdings
einzuwenden, dass auch Lucian, ja selbst der treue Pausa-
nias in seinen Beschreibungen alter Gemälde die meisten
dieser Forderungen nicht erfüllt, nur der Mangel der Künst-
lernamen scheint auch mir um so auffallender, als aus meh-
ren Beispielen zu schliessen ist, dass die alten Künstler
ebenso wie die neueren ihren Namen auf ihr Werk zu
setzen pflegten. Der Rhetor sagt zwar in der Vorrede, er
rede jetzt nicht von den Malern noch von ihrer Geschichte,
sondern von Gemälden , allein dies ist gesagt im Gegensatz
zu den eben vorher erwähnten Schriften des Kariers Aristo-
demus über die berühmtesten Maler und über die kunstsin-
nigen Städte und Könige. Er gibt damit nur das allgemeine
Thema seiner Schrift an, das ihn 'aber nicht hindert, gleich
im Folgenden mitzutheilen , die Gemälde seien von meh-
reren Malern verfertigt. Diese Bemerkung berechtigt gewiss
zu der Erwartung , dass er einige Künstler namhaft machen
werde, aber trotz der Menge und det|iillirten Beschreibung
der Bilder ist kein auch mir zufällig erwähnter Name zu
finden. Ganz anders verfährt Kallistratus , der den Philo-
straten sonst so sehr verwandt ist; er erwähnt die Künst-
ler , die er weiss , den Skopas , Praxiteles , Lysippus , und
wie sollte er auch nicht f da sie ihm ja Gelegenheit boten
zu hohlen Phrasen über ihre Kunst? Ich bin weit entfernt,
diesen Umstand als entscheidend anzusehen, ich finde ihn
nur auffallend unter der Voraussetzung, dass Philostratus
"Wirkliches sah.
Eitelkeit und Dünkel, bemerkt Passow weiter, verhin-
derten den Philostratus, ein einfacher Exeget zu sein: nur
das Selbstgemachte konnte in seinen Augen ^Yerlh haben.
Es ist wahr, die Eitelkeit des Rhetors wird nur von seiner
Geistlosigkeit überboten '), und sein Styl macht den Eindruck,
dass es ihm nicht um die Sachb , sondern nur um die Form
zu thun sei, aber auch diesem Grund ist in Hinblick auf
den KaUistratus nicht /-uviel (-iewichl beizulegen. Wie dieser
nämhch wirkUch vorhandene Kunstwerke, die er, Avenn
nicht aus eigener Anschauung, doch aus Beschreibungen
kannte, als Anlass benutzt zu den abgeschmacktesten rhe-
torischen Ausführungen, so konnte auch Philostratus von
einem wirklich Vorhandenen ausgehen ; seiner Eitelkeit büeb
noch Spielraum geiuig, durch Ausschmückung und Erwei-
terung des Thatsächlichen die Aufmerksamkeit des Lesers
auf die Person des Erzählers zu lenken.
Drei Momente , heisst es weiter, seien bei der Schilde-
rung eines Gemäldes besonders hervorzuheben, die, Richtig-
keit und Sicherheit der Zeichnung, die Harmonie der Farben
und die sinnvolle Schönheit der Anordnung und Gruppirung.
Aber um die Zeichnung habe er sich gar nicht bekümmert,
er habe keinen Begriff davon und ebensoM enig empfänglich
sei er für die Farbe und für die Effecle des Lichts und des
Schattens, „Nur an Gold und Purpur lässt er es nicht
fehlen; wie könnte auch einem Sophisten jemals eine Schilderung
zu kostbar bedünken ? Das ganze übrige Reich der Farbe
behandelt er beinahe als nicht vorhanden, die Folge davon
ist bei allem gesuchten Flimmer die starre Trockenheit für
.den Innern Sinn, die sich dem Auge beim grellen Wider-
schein einer nächtlichen Feuersbrunst aufdrängt, ohne Mil-
derung durch Uebergänge und Mitteltinten," Auch der
letzten Forderung, die wegen der vielen Personen auf den
meisten Bildern hauptsächHch nothwendig gewesen, sei kein
Genüge geschehn. Das beweise der Widerspruch der Ge-
lehrten, es sei nichts den Unbefangenen ßefyiedigendes zu
erreichen.
1) Die Erklärer sind anderer Ansicht, besonders Kayser, der
ihn elegantem tbrmarum spectatorem , sagacem tjihöv et
7ii(&(JüV interpretem nennt.
8
Noch sclilirnmer übrijieiis als die. Unterlassungssünden
seien die Begehun'gSsündeii. Philostralus nelinu- vor allem
auf den ethischen und ))athe(ischen Ausdruck der Figuren
Rücksicht, aber ohne je einzelne sinnvolle Züge anzugeben,
wodurch der Affect ausgedrückt sei. „Nie aber wird uns
ein Gesicht, das wir nicht gesehen haben, dadurch veran-
schaulicht, dass uns die Leidenschaft genannt wird, die es
grade beherrscht oder die Höhe , die sie erreicht hat." So-
dann wird die Verletzung der Einheit sowohl in der Zeit
als im Orte hervorgehoben. Es komme auf einzelnen neuern
Bildern allerdings vor, dass sich eine Person in verschiede-
ner Handlung wiederhole, aber daraus folge nicht, dass
auch griechische Maler sich desselben widersinnigen Eingriffs
des Malers in das Gebiet des Dichters schuldig gemacht
hätten. Seit Torkil Baden freilich zerschneide man jedes
derartige Bild des Philostratus in mehre Handlungen, aber
das sei eine Weise, die alles aus allem machen lasse. End-
lich sei Unmögliches dargestellt, Dinge, die man nicht sehen
könne. PassoAv sieht demnach die Schrift als ein freies Ei*-
zeugniss der Phantasie, als prosaisches Idyll an, in welches
manche Reminiscenz aus wirklich gesehenen Gemälden ver-
webt sein möge.
Man wird in Passow's Bemerkungen ein richtiges künst-
lerisches Gefühl nicht verkennen können. Sie igeben keinen
Beweis, aber erwecken doch die Präsumption . dass es sich
gar nicht um wirkliche Bilder handle. Pflicht m ar es daher,
dass diejenigen , welche die Wirklichkeit der Bilder anneh-
men, um so stärkere Gegengründe vorbrachten. Dies ist
aber nicht geschehen \).
Die gegenwärtige Archäologie folgt den Ansichten
Welckers. In exegetischen und historischen Büchern werden die
philostratischen Bilder als wirklich einst vorhanden betrach-
1) 0. Müller sagt im Handbuch der Archäol, § 35, Anm. 4,
Passow habe gegen Welcker geschrieben .,aus Unkunde der
alten Kunst."
tet') und für Erklärung' und Gcschiclile der Kunst unbe-
denklicli ver'\\erlbL't. iS'ur in den Schriften O. Jahns finde
ich mehrfache Andeutungen, wornach ihr Verfasser sich kei-
nes\vei>s unbedingt der herrschenden Ansiclit anschliesst^).
Ich werde nun nntersuclien . ob die j)hilostratisehen Bil-
der die Probe aushahen, die jedes Kunstwerk aushält: ich
werde sie nach derselben Methode behandeln, die an jedes
"VYerk der Kunst angelegt Avird oder angelegt werden muss.
Nur fällt hier die Beurlheilung des Sichtbaren am Kunstwerk
fast ganz weg, denn idier die Formen, Farben, Raumver-
hältnisse u. dgl. zu urtheilen , dazu bietet uns Philostratus
kaum hie und da einen Anhaltspunkt. Wir sind also ganz
auf das hinter den Formen A^erborgene , auf das- innere Bild,
das der Seele des Künstlers zur Verwirklichung vorschwebte,
auf die innere Kunstform angewiesen.
Die zuerst zu beantwortende Frage ist nun ohne Z^veifel
diese: woher hat der Künstler das innere Bild seines Kunst-
werks? Ist es ein freies Erzeugniss seiner Phantasie oder
ging der Künstler aus von einem Bild der Natur, von der
Erzählung eines Dichters u. s. w.? Diese Frage müssen wir
beantworten , um die Art seines Innern Schaffens zu begrei-
fen und um das Eigne zu scheiden von dem Herübergenom-
menen. Die griechische Kunst im Ganzen und Grossen hat
ihren Ausgangspunkt im Mythus und zwar im Mythus, nicht
wie er ursprünglich war, sondern wie die Dichter ihn be-
arbeitet hatten: auch die philostratischen Bilder sind zum
weitaus grössten Tbeil aus den mythischt-n Erzähhmgen der
1) Zum Tlieil spricht man mit wunderbarer Sicherheit . wie
wenn Brunn Gesch. der griech. Künstler II p. 249 bemerkt,
„dass ein grosser Theil dieser Beschreibungen auf berühmte
Originale zurückgehe."
2) Vgl. schon die Schritt: Pentheus und die Mänaden p. 8,
besonders aber Archäol. Beitr. p. 288 Anm. 91 und p.414i'.;
an letzter Stelle ist allerdings nur von einem einzelnen Bild
die Rede.
10
Dichter geschöpl't , und der Schriftsteller überhebt uns in
vielen Fällen der Mühe des Nachsuchens, indem er selbst
den Dichter itngiebl. Wir werden also zunächst das Ver-
hältniss der philostratischen Bilder zu der Poesie, aus wel-
cher sie entnommen sind, zu untersuchen haben. Sind die
Bilder wirklich Kunstwerke, so müssen sich Abweichungen
von der Poesie herausstellen, entweder Zusätze oder Weg-
lassungen oder Veränderungen. Denn Dichlung und bildende
Kunst gehen verschiedene Wege; ein Scheines dichterisches
Gemälde kann in die Malerei übertragen sehr uidtünstlerisch
sein. Es wird sich aus dieser Untersuchung ergeben, dass
die Philostrate den Dichtern nachschreiben, wo sie ihnen
nicht nachsehreiben sollten und umgekehrt ihnen nicht nach-
schreiben, wo sie ihnen nachschreiben sollten. Sodann sind
zweitens die eignen von bestimmten poetischen Vorbildern
unabhängigen Erfindungen der beiden Rhetoren , wie ich sie
im Voraus benenne, nach ihrer künstlerischen Beschaffen-
heit näher zu betrachten. Den Maassstab unsrer Beurtliei-
lung werden wir in beiden Abschnitten von der Praxis der
erhaltenen Denkmäler und von den in der Natur der bilden-
den Kunst begründeten Gesetzen entlehnen , wir werden also
sowohl empirisch als rationell unsern Beweis zu fuhren ver-
suchen. —
Erster Abschnitt.
Die Abhäng^lg^keit der PInlostrate von der Poesie.
Die philostratischen Bilder weichen nicht ab von der
Dichtung, wo sie abweichen inussten, sie weichen umge-
kehrt ab, wo sie nicht abweichen inussten. Wir betrachten
den ersten Fall zunächst.
Die Fälle, in denen die bildende Kunst von der Dich-
tung abweicht, sind unzählig. Gleich in der Behandlung
der äussern Gestalt zeigt sich ein Unterschied: der Künstler
muss oft das Gewand entfernen, mit dem der Dichter seine
Figur verhüllt Bei Virgil erscheint Laokoon in priester-
lichem Ornat; der Künstler, mag er ihm nachgeahmt haben
oder nicht, als Künstler nuisste er ihn völlig nackt darstel-
len, wie Lessing lehrt. Mit diesen Verschiedenheiten in
der Behandlung der äussern Gestalt beginnen wir: natür-
lich kommen sie nur insoweit zur Sprache, als unsere Auf-
gabe verlangt.
Der jüngere Philostratus beschreibt unter Nr. 5 folgen-
des Bild:
Herkules in den Windeln befindlich erdrückt lachend
die von der Hera gesandten Schlangen, in jeder Hand eine
fassend, ohne sich um die Mutter zu kümmern, die daneben
steht von Sinnen und in grosser Furcht. Jene aber haben
schon nachgelassen und strecken die langgezogenen Leiber
über die Erde und neigen unter den Händen des Kleinen
ihre Köpfe , an denen auch von den Zähnen etwas zum.
12
Vorsrliein lunninl , die scharf und giftig 'sind. Der Kamm
ahfr hängt ihnen vom Tode auf die eine Seite herab: die
Augen sehen niclit: die Haut isf hleieh und hläuHcli. Alk-
mene seheint von dem ersten Schreck zu sich zu kommen,
aber sie traut dem noch nicht, was sie sieht. Der Scln-eck
liess sie niclit im Bell Hegen. Du sielist, wie sie ohne
Schuh und in blossem Chiton vom Lager aufgefahren mit
ungeordnetem Haar die Arme ausbreitend schreit , und die
Dienerinnen, welche der Gebärenden beistanden, sprechen
entsetzt eine jede zu ihrer Nachbarin. Die aber in Waffen
dort und der mit entbhisslem Schwert bereit steht, das sind
die Edlen der Theltaner, die dem~ Amphitrvo beistehn. Ob
dieser entsetzt ist, oder ob er sich freut, weiss ich nicht.
Denn seine Hand ist noch bereit, das Sinnen seiner Augen
aber legt der Hand Zügel an, da er auch iiichthat, was
er abwehren sollte und da er sieht, dass der Vorgang der
"Weisheit eines Orakelspruches bedarf. Darum ist auch Tire-
sias hier, weissagend, glaub' ich-, wie gross der Knabe, der
jetzt in den Windeln liegt, werden wird. Er ist aber des
Gottes voll gemalt und seherisch athmend. Auch die Nacht,
in welcher dies geschah, ist persönlich gemalt, mit einer
Fackel sich selbst erleuchtend.
Diese Beschreibung ist die Paraphrase einer pindari-
schen Stelle, die so lautet '): Ich will, sagt der Dichter,
eine alte Sage anregen, wie der Sohn des Zeus, nachdem
er unter dem Mutterschooss hervor, dem Weh entrinnend
an's glanzvolle Tageslicht mit seinem Zwillingsbruder ge-
kommen M^ar, wie er da nicht ohne Bemerken der gold-
thronenden Hera in die krokusfarbenen Windeln einging.
Sondern die Götterkönigin grollend im Gemüth sa»dte j3lölz-
lich Schlangen. Diese drangen die Thüren öffnend in den
weiten Raum des innersten Gemachs, besjerig um die Kin-
1) Nem. 1. 34 ff. Die Erklärer des Philostratus nennen das
hier und an andern ahnlichen Stellen: colores duxit
ex etc.
13
der die schiiL'Ueu Kieieni zu winden ^ jeuer aber erliub grad
sein Haupt uud versuehte zum ersten Mal den Kampf, je-
derseits eine Schlange am Nacken fassend mit seinen un-
entrinnbaren Händen; den gej)ressten aber Hess die Zeit das
Leben entfliehen aus den schreckhchen Gliedern. Das Ge-
schoss unerträglichen Schreckens fuhr in die Weiber , die
Alkmene's Kindheit beistanden, denn auch sie selbst, im
blossen Unterkleid vom Lager springend suchte mit jenen
von sich fern zu halten den Frevel der Unlhiere. Schnell
aber liefen die Führer der Kadmeer allesammt mit ehernen
Waffen herzu 5 Amphitrjo aber kam in der Hand das nackte
SchAA-ert schwingend, von heftigem Schmerz getroffen. Denn
häushches' Leid drückt Jeden in gleicher Weise, schnell
aber ist die Seele getröstet bei fremdem Leid. Er stand
aber da in bangem und zugleich süssem Staunen, denn er
sah des Sohnes übermenschlichen Muth und Kraft; die Un-
sterbhchen hatten ihm der Boten Bericht ins Gegentheil
umgewandelt. Und er berief den benachbarten trefflichen
Propheten des höchsten Zeus , den wahr weissagenden Tire-
sias; dieser sagte ihm und der ganzen Schaar, welches Ge-
schick den Herkules geleiten, was für Recht verachtende
Ungeheuer er auf dem Laude und im Meer tödten werde
u. s. w.
Bis auf die Figur der Nacht, die Unterredung der Die-
nerinnen und etwas mehr Detail in dem Habitus der Alk-
mene schliesst sich Philostratus genau an Pindar an, nur
dass bei jenem zu einem Moment zusammengefasst ist, was
der Dichter allmählich entwickelt. Doch ist dies nicht ohne
Unklarheit geschehn. Denn die Figur der Alkmene erblicken
Mir zuerst als von Sinnen und in grosser Furcht, sodann
nachdem uns mitgetheilt, dass der Tod der Schlangen bereits
erfolgt sei,_ scheint sie sich zu sammeln; gleich nachher
aber schreit sie wieder mit ausgebreiteten Armen. In wel-
chem Moment sollen wir sie dargestellt denken, in dem
des ersten Schreckens oder in einem spätem? Doch dabei
will ich mich nicht aufhalten; wichtiger ist dies: Bei Philo-
stratus liegt der Knabe in den Windeln, auf allen er-
14
halteuen Denkmälern — uiid wir haben deren in Statuen ^),
Reliefs 2), Gemälden ^), Münzen "*) und Gemmen •"») — sitzt
oder kniet er nackt auf dem Boden. Und konnte wol
der bildende Künstler anders verfahren? Wenn er uns nicht
die Kraft der jugendlichen Gheder zeigt, wenn er den Kna-
ben in Windeln hüllt, wie können wir "begreifen, dass er
Schlangen erdrücken kann, wie sollen wir ahnen, was aus
ihm werden wird! Pindar, dem Dichter, steht es frei, ihn
hl den Windeln liegen zu lassen, denn „bei dem Dichter
ist ein Gewand kein Gewand: es verdeckt nichts: unsre
Einbildungskraft sieht überall hindurch" *). Wie dagegen
der Künstler verfahren musste , das fühlte Göthe , indem er
schrieb: ,, Herkules in Windeln. Nicht etwa in der Wiege
und auch nicht einmal in Windeln, sondern ausgewindelt".
Es drängt sich daher bei dem der Sitte und den Gesetzen
der Kunst widersprechenden Bild des Philostratus unwillkür-
lich die Vermuthüng auf, der Rhetor möge nicht das Bild
eines Malers, sondern das Bild eines Dichters vor sich ge-
habt haben , das Bild des Pindar , mit welchem das seinige
1) Clarac, mus. de sciilpt. pl. 301 n. 1953: pl. 781— 783; Becker
Augusteum II. 89; auch in kleinen Bronzen kommt der Ge-
genstand vor, so im Berliner Museum und Mus. borbon. I, 8.
2) Visconti Pio - Clem. IV, 38; Gerhard Ant. Bildw. Taf. 64
und 114.
3) Pitture d" Ereol. I, 7, auch in Millin's Gal. mytb. 97, 430.
4) Von Theben und Tarent, vgl. MilHngen vecueil 1. 13; 2, 15;
die von Kroton sind besonders schön,
5) Tölken im Verzeichiiiss der geschnitt. Steine in Berlin IV,
54 — 57; unter diesen aber ist Nr. 56 entschieden modern,
wofür man sich kaum auf den Stil der Gemme zu berufen
braucht: es genügt auf den Umstand aufmerksam zu ma-
chen, dass Herkules, der als neugebornes Kind die Schlan-
gen ei-würgte, stehend dargestellt ist. Auch auf dem Car-
neol in Bullet Xapol. I, tav. 4, Nr. 2 ist der schlangener-
driickende Herkules dargestellt.
6) Worte Lessing's in Laokoon Cap. V.
15
in dieser chavacteiistisclu'n Einzelheit und auch im Uebrigen
so sehr übereinstimmt ^},
Aber es ist des Unkünstlerischen noch mehr in dieser
Beschreibung. Wir erörtern es sogleich , da es angemessen
erscheinen muss, die Hesprechung eines und desselben Bil-
des an mehren Orten soweit thunlich zu vermeiden. Frei-
hch ist das nicht immer möglich , denn nicht wenige Bilder
haben ausser den ihnen eigenthümlicheu Fehlern auch solche,
die ihnen mit vielen andern gemein sind.
Auf dem Bilde des Philostratus sind die Schlangen be-
reits todt, ihre Köpfe sind geneigt, ihre Leiber über die
Erde gestreckt. Granz anders auf allen erhaltenen Denkmä-
lern. Da sind die Schlangen noch nicht todt, daher auch
nicht so langweilig lang ausgestreckt, vielmehr umringein
sie die Gheder des Knaben und machen die äusserslen An-
strengungen; man sieht es aber an den kräftigen Griffen
und Gliedern des jungen Helden, dass er nicht loslassen
wird, ehe er sie todtgedrückt hat. Das ist der Moment,
den der Künstlej- wählen muss , denn kein Moment ist gün-
stiger, uns einen Begriff von der Kraft und eine Ahnung
von der Zukunft des Knaben zu geben. Sollte durchaus
Tiresias dargestellt werden , so brauchten darum die Schlan-
o-en noch nicht erdrückt zu sein: der herkulanische Maler
Hess den Tiresias weg und er that wohl daran. Was brau-
chen wir ihn auch, da wir aus Gliederbau und Thun des
Knaben seine Zukunft errathen? Denn mehr als dies AIl-
gejneine, dass Herkules einst ein gewaltiger Held sein
werde, sagt auch die Anwesenheit des Tiresias nicht. An-
1) Dass Alkmene den blossen Chiton trägt, ist für den Dichter
allerdings, aber nicht für den Künstler characteristisch.
Wäre dieser Philostratus mit Kunstwerken vertraut gewesen,
er liätte statt dieser Notiz auf die Unordnung im Gewände
der Alkmene aufmerksam gemacht, die eine nothwendige
Folge ihres Aufspringens ist. Der herkulanische Maler hat.
um die durch den Schreck verursachte Unordnung anzudeu-
ten, das Gewand von der einen Brust hcrabglciten lassen.
IG
ders luitürlich beim Dichlor, dem der Rhetor nachschrieb.
Pindar lä.sst durch den 'J'iresias die spätem grossen Thaten
und den endliclien Lohn des Herkules vorhersagen, er be-
durfte dieser Hinweisungen auf die Zukunft für den Zusam*
menhang seines Gedichts, für den Sieger, den er .besingt,
der auch gross ist durcii angeborne Tüchtigkeit. Dieser
soll sich ein Beispiel nehmen an den edlen Mi^hen des Her-
kules, er soll sich auch des Lohnes getrösten, der jenen er-
wartete. Pindar konnte die spätem Schicksale des Herku-
les aus eigner Person hinzufügen , wieviel schöner aber ist
«s, dass er das plaslischQ Bild festhält, das er vor uuseru
Augen entrollt hat, indem er den Tiresias herbeiruft! Für
das Kunstwerk aber fällt der ganze konkrete Lduilt der
Weissagung, auf den es bei Pindar grade ankommt, hinweg,
und so Avar für den Künstler die lebendige Darstellung des
Kampfes ohne den Seher jedenfalls besser, als der abstrakte
Seherspruch über der A'ollendeteii Tliat. Es ist daher klar,
dass Philostratus nur dem Pindar gedankenlos nachschreibt.
Weil der Dichter, der ein Nacheinander von Thatsachen
darstellt, die Schlangen mit der Zeit ihr Leben aushauchen
lässt, ebendarum tliut es auch der Rhetor.
Bei Philostratus und Pindar sehen wir Amphitryo mit
nacktem Schwert herbeieilen , in dem herkulanischen Bild
hat er noch nicht das Schwert entblösst , er ist vielmehr im
Begriff es zu thun; seine Hand liegt am Griff und ein Theil
der Klinge ist bereits sichtbar i)» Vortrefflich; es ist wie
1) Jacobs bemerkt p. 6JÜ: Ainphitr3'onis ibi (auf dem herku-
lanisclieu Biki) habitus prorsiis conspirat cum tabula iiostra.
Ich weiss nicht, was dieses prorsus bedeuten soll; nur hin-
sichtlich der Haltung- des Schwertes sind die Figuren zu ver-
gleichen und darin sind sie verschieden; weitere Verglei-
chungspunlvle bietet Philostratus nicht. Auf dem Relief bei
Visconti ist die innere Be\\egung im Ampliitryo auch sin-
nig characterisirt. Seine Hand bcfnidet sicli ganz in der
Niihe des Schwei'tgi'iffes, so dass man sieht, er hatte die Ab-
sicht, das Schwei't zu ziehen; aber sie luilt inne, wie ^on
einem plötzlichen Anblick gelahml.
17
an einer Statue der Medea, welche die Hand am Griff des
Schwerts hält und die Klinge zum Theil entblösst hat, so
dass wir das Zögern der Mutter zu empfinden glauben , die
zum Kindermord schreitet^). Aehnlich hier; das halbent-
1) iMilliu Gal. m.vth. 102, 407. In dieser Statue ist das Pathos
sehr gesteigert, man vergleiche nur die Stellung; sie macht
dalier geringern Eindruck, als die berühmte Figur des Timo-
maclius. Auch sehen die Kinder bereits ihr Geschick voraus
und suchen es abzuwehren. Der Bildhauer konnte nicht
wol anders verfahren-, um der Composition v^illen musste
er die Kinder trennen und jedes derselben zur Hauptfigur in
Beziehung setzen. Was aber das Bild des Timomachus be-
trifft, das ich für meinen Zweck gleich unten gebrauchen
muss, so schwankt man, in welchem von zwei pompejani-
schen Wandgemälden eine Nachbildung zu erkennen sei.
Das eine (Mus. Borb. X, 21) stellt Medea allein dar, das
Schwert in den herabhängenden, gefalteten Händen haltend
und so, meinen Panofka (Annali 1829 p. 244 ff.) undWelcker
(Kleine Sehr. III, 450 ff.), habe Timomachus sie gemalt.
Letzterer bemerkt, von diesem Bilde müsse das zweite (Mus.
Borb V, 33), welches neben der Medea, die „auch eine gute,
doch ungleich weniger tief gedachte Figur" sei, die Kinder
mit Astragalen spielend unter der Aufsicht des Pädagogen
darstellt, „bestimmt unterschieden werden." Bestimmt un-
terschieden werden? Da die zweite Medea mit der erstem
bis auf die Handhabung des Schwertes in Allem überein-
stimmt, in der Haltung des Kopfes, in der Stellung und Ge-
wandung? Ebenso wenig begreife ich , dass die zweite Me-
dea eine „ungleich weniger tief gedachte Figur" sein soll.
Gewiss ist sie eine deutlichere Medea, denn der allein stehen-
den Medea des ersten Bildes, die in herabhängenden, gefal-
teten Händen das Schwert hält, sehen wir nicht an, dass
sie ihre Waffe gebrauchen wird, aber derjenigen sehen wir's
an, welche die Hand am Schwertgriff hält. Auf diese letz-
tere aber passen allein die Epigramme ; von einer Medea,
die keine Miene macht, ihr Schwert zu ziehen, kann nicht ge-
sagt werden: t^ fAiV yeco awirevaev Ijil ^((fog, y ö'uvcci'eun
(Anall. III, 214, 299). Der Kampf widerstreitender Em-
pfindungen, den die Epigramme hervorheben, ist nur in der
2
18
blössle öchwort zeigt den Ampliilrjo als Milien, der nicliL
weiss, was Uiun. Wird er ziehen, denken wir, oder nicht?
Mcdca (los zweiten Bildes ausgedrückt, in dieser aber auch
vollendet schön. Ihre Hand fasst den Griff des Schwertes,
der Durst nach Rache treibt sie dazu , diesem Gefühl aber
wirkt entgegen der Blick, der auf die Kinder fällt, und so
erscheint sie zaudernd, schwankend zwischen zwei Empfin-
dungen. Das Schwert aber- hält sie versteckt an der Seite,
denn ihi'c ilutterliebe fiirchtet, die Kinder möchten es er-
blicken. Wie man nämlich die Kinder von dem Bild des
Timqmachus hat ausschliessen können, ist mir unbegreillich.
Meyer- bemerkte (Wien. Jahrb. 1831, 4, 166) ebenso wahr
gbls natürlich, man dürfe einem Timomachus nicht zutrauen,
dass er einen so vortheilhaften, mächtigen Contrast wie der,
wozu die harmlose Sicherheit der Kinder mit der Medea be-
nutzt werden könn'e, leichtsinnig übersehen habe. Dagegen
bemerkt Welcker: ,,Je mehr Timomachus den grossen Meistern
ähnlich war, um so mehr stand er natürlich über der ein-
seitigen und beschränkten Vorstellung , dass was aus einem
Gegenstand entwiekelt werden kann, auch immer in der
Darstellung mit ihm verbunden werden müsse. ^"^ Sehr wün-
schenswerth würe es gewesen, die Einseitigkeit und Be-
schränktheit dieser' Vorstellung an Beispielen nachgewiesen
zu sehen, nur -v'sürde man sich dabei den Philostratus ver-
bitten dürfen, aus dem Welcker z. B. Sen. II, 7 für sich an-
führen könnte. Ferner: alle Monumente mit Ausnahme eben
des ersten pompejanischen Bildes fügen die Kinder hinzu.
Sodann die Worte des einen Epigramms (Anall. III, 214,
299): rtxvojv sig fj6()ov i).y.ofAh'u)r, die freilich, wie Welcker
be'mei-kt, nicht als eigentlich und genau bezeichnend mit Si-
cherheit zu nehmen sein möchten, beweisen doch wenigstens
soviel, dass die Kinder überhaupt da waren, denn mit Pa-
nofka's Meinung, das sei bloss poetische Vorstellung, kann
man Alles erklären. Endlich, wenn die einzeln stehende
Medea dem Timomachus entspricht , so müssten wir sagen,
Timomachus sei von dem Maler des zweiten Bildes üb^r-
troffcn, dessen Abweichungen AAahrhaftig auf keinen Stüm-
per deuten. Vielmehr ist die einzeln stehende Medea eine -
aus der Gruppirui^g- herausgenommene ungefähre Copie nach
19
Er weiss es selbst nicht, er sieht die Schlangen, die sein
Kind bedrohen , aber er sieht zugleich , dass es seiner Hülfe
nicht bedarf, und so bleibt die Hand , die zur Rettung das
Schwert ziehen wollte, gleichsam auf halbem Wege stehen.
Ich behaupte nicht, dass die Stellung, in der wir den Am-
phitryo bei Philostratus erblicken, nicht von einem Maler
gewählt sein könne, es stand ihm ja frei, uns durch die
blosse Miene des Gesichts zu zeigen , dass Amphitryo nicht
das ausführen wird , was seine Stellung erwarten lässt , ich
stelle nur dem Philostratus das Verfahren eines denkenden
Künstlers entgegen, der uns schon in dem äussern Thun
das innere Schwanken zeigt, von dem seine Figur bewegt
wird. Di^s ist aber gerade der griechischen Kunst beson-
ders angemessen^ man hat öfter darauf aufmerksam ge-
macht, wie sorgfältig die griechische Kunst sich bemühte,
die Innern Zustände durch bestimmte äussere ayrnxara,
durch eine angemessene Haltung des Körpers auszudrücken.
Die dienenden Weiber sind sowie die vornehmen The-
baner dem Dichter und Rhetor gemein , nur dass sie bei
diesem zu einander sprechen. Dieser Zusatz ist merkwür-
dig genug. Ein denkender Künstler hätte das Weibervolk
eilig davon laufen lassen, eine jede auf ihre Rettung den-
kend , oder wie angewurzelt vom Schreck dargestellt mit
starren Augen auf das Unheil gerichtet — , wenn er über-
haupt diese vielen Nebenfiguren dargestellt hätte. Der Dichter
Timoraaclius. Sie hat dieselbe Wendung- des Kopfes , wie
die andre ; diese Wendung aber ist bei ihr nicht motivirt,
wie es bei der andern der Fall ist , an der^n Seite sich die
Kinder befinden. So erklärt sich auch , warum die erste
Medea das Schwert mehr wie' ein Attribut trägt, als weil
sie es gebi'auchen wird: das Objeet fehlt, gegen welches das
Schwert gebraucht werden soll. — Uebrigens findet • sich
die einzeln stehende Medea nicht genau auf den Gemmen
wieder; die schlaiT herabhängenden. Arme unterscheiden sie.
Noch mehr unterscheidet sich das Bild Mus. Borb. VIII, 22,
dem aber auch die Figur des Timomachus zu Grunde zu
liegen scheint.
2 *
20
kann seinen Hauptfiguren ganze Legionen von Begleitern
geben , sie bleiben Begleiter und beeinträchtigen nicht im
Mindesten das Hervortreten ihrer Führer; aber im Sichtba-
ren, im Raum eines Bildes entsteht Verwirrung, mindestens
Verdunkelung der Hauptfiguren und ihrer Sache, wenn der
untergeordneten Figuren zu viele sind. Wir kommen hierauf
zurück, da sich viele Beschreibungen der Philostrate durch
einen auffallenden Reichthum an untergeordneten Personen
auszeichnen. Ebenso wird über die Figur der Nacht ^), die
wir uns nach den Worten des Rhetors , wie auch Welcker
bemerkt, sowohl persönlich als unpersönhch dargestellt den-
ken müssen , in einem andern Zusammenhang gesprochen
werden, nur darauf ist hier aufmerksam zu machen, dass
die Nacht in keinem inaern Zusammenhang mit dem Bilde
steht. Ob Herkules am Tag oder bei Nacht die Schlangen
getödtet hat, ist völlig gleichgültig; das Dunkel der Nacht
von Fackellicht erhellt macht nur die oanze Scene etwas
1 ) Die Fackel als Attribut der Nacht scheint auf den ei'sten
Blick antrallend , doch kann sie aucli ihr gegeben werden,
wie dem Somnus, gesenkt nämlich. So ist es auf dem bei
Miliin G. mj-th. 89 , 353 mitgetheilten Bild einer französi-
schen Handschrift, wo neben dem vom göttlichen Geist ge-
troffenen Propheten Jesaias (eine Hand , von welcher Strah-
len auf ihn ausgehen, ist dargestellt) rechts der Knabe
"OqS^qos mit aufwHi-ts gerichteter Fackel, links aber die Nu§
steht,, eine Frau mit strahlendem Haupt und einem bogen-
förmig über dem Kopf gewölbten, sternenbesaten Schleier,
in der linken Hand eine gesenkte Fackel haltend. In die-
sem Bild scheinen antike Reminiscenzen zu Grunde zu lie-
gen. Dagegen glaube ich auch ohne Autopsie behaupten zu
dürfen , dass die merkwürdige Figur auf dem ReUef bei
Winck Mon. in. 27 und MilUn G. myth. 38, 168* (das Zocqu
in der "\'illa Borgliese , wo es sich befinden soll , umsonst
aulsuchte, vgl. Bassiril. I p. 7), die nackt, mit Fledermaus-
flügeln (?) , eine Fackel hoch haltend davon Jäuft, nicht an-
tik ist. * Sonst wüsste ich weder aus Monumenten noch
Schriftstellern etNAas zu vergleichen.
21
schauerlicher und hat sonst nichts mit dem Bilde zu schaffen.
Wo wir aber sonst ähnlichen Figuren auf Denkmälern be-
gegnen, wie z. B. auf den Darstellungen der Ariadne auf
Naxos, des Endymion u. s. w. , da sind sie noth wendig
für das Bild. Uebrigens lässt sich auch für die Figur der
Nacht ein dichterisches Vorbild nachweisen; in dem unter
Theokrit's Gedichten befindlichen „kleinen Herakles'-, der
detaiilirt ausmalt, was Pindar nur in grossen Umrissen gibt,
geht die That des Herkules bei Nacht vor sich und die Die-
nerinnen eilen mit Lampen herbei.
Man hat diese Beschreibung des Philostratus zur Charak-
teristik des Zeuxis benutzt, da sie im Wesentlichen überein-
stimme mit dem Bilde dieses Meisters, das den kleinen Her-
kules die Schlangen würgend darstellte in Gegenwart der
erschrockenen Eltern. Dieser Ansicht braucht man nicht ein-
mal die Fehler entgegenzuhalten , an denen das Bild leidet,
man darf sich nur auf die völlige Abhängigkeit desselben
vom Dichter berufen. Wir müssten annehmen, dass Zeuxis
sich seines eignen Denkens ganz begeben und nur den Pin-
dar in Farbe gesetzt habe. Ist aber das die Art der grossen
griechischen Meister? Ist es so in den Werken des Pol}--
gnot^) und Timomachus, die uns näher bekannt sind? Wel-
cher Dichter lässt die Kinder der Medea beim Knöchelspiel
ermordet werden, so wie sie Timomachus malte? ^) Dies
1) Man vgl. besonders die Sclirift von 0. Jahn über die polygno-
tischen Gemälde in der Lesche zu Delphi. Kiel 1841.
2) Dieses Bild lässt uns ahnen, was wir verloren haben an der
griechischen Malerei. Der Pädagog, den der Dichter dem
Künstler bot, steht links von der Mittelgruppe der lünder
und hält somit der rechts stehenden Medea das Gleichgewicht,
so dass eine schöne Symmetrie entsteht. Aber nicht bloss
räumlich, auch geistig steht er zur Medea in Gegensatz. Von
der einen Seite droht Verderben, auf der andern steht der
treue Begleiter und Hüter der Kinder, und indem der alte
Mann dasteht auf seinen Stock gestützt, mit Theilnahme das
unschuldige Spiel der Knaben betrachtend — wird nicht da-
durch unser Mitleid mit den Kindern gesteigert?
22
Bild lehi"t sehr deutlich, dass die gviechischen Meister nicht
bloss das Bild eines Dichters mit den nothM-endigen Aonde-
rungen in ihre Kunst übertrugen, sondern auch neue bedeu-
tende Züge einfügten , dass sie auch dichteten , nicht bloss
malten. Ja die Vasen, die Produkte von Handwerkern, bie-
ten uns eine Fülle selbständiger Zusätze zum dichterischen
Vorbild, selten zwar in der frühern, schwarzfigurigen Gattung,
deren liebenswürdige Eigenthümlichkeit eben in dem treuen
Anschluss an das objektiv Ueberheferte begründet liegt i),
sehr häufig dagegen in den rothfigurigen Malereien , wo die
Subjektivität sich regt. Ich erwähne nur eine, mit einem
Motiv ebenso rührend wie dort bei Timomachus : Danae mit
dem kleinen Perseus auf dem Arm soll in den Kasten ge-
sperrt werden 2). Auf diesem Bild hat der Knabe seinen
Spielball in der Hand, wie dort die Kinder der Medea harm-
los knöcheln ohne eine Ahnung dessen, v/as ihnen bevor-
steht. Und in unserm Fall enthält das herkulanische Bild
einen neuen hübschen Zug. Es ist nämlich auch der Zwil-
lingsbruder des Herkules dargestellt, auf dem Arm des Päda-
gogen^), wohin ihn seine Angst gebracht hat, die noch
1) Ein eigner, wundervoll gemüthlicher Zug ist z. B. in dem
schwarzfigurigen Bild bei Gerhard Auserl. V. 95: Herkules
ist vertieft in die lernäische Hydra; hinter ihm steht seine
Schutzgöttin mit einem Krug in der Hand, damit er auch
zu trinken hat nach der Arbeit So ist es auch wol zu be-
urtheilen, wenn bei Kriegern, die Abschied nehmen aou Va-
ter und Mutter oder Weib und Kind, der treue Haushund
nicht vergessen wird,
2) Abgeb. in Gerhard's vierzehntem Programm zum Berliner
Winckelmannsfest. Vgl. Welcker im N. Rh. Mus. 1855 p. 235 ff.
3) Diese richtige Benennung der Figur gab zuerst Jacobs a.a.O.
Pindar erwähnt den Iphikles im Anfang beiläufig, bei Theo-
crit dagegen wirft er sich an die Brust der Mutter. Möglich
also, dass hier der Dichter auf den Maler Eintluss hatte, aber
keineswegs gewiss. Denn das Alter des Idylls und des Bil-
des oder seines etwaigen Urbildes ist nicht auszumachen.
Jedenfalls ist die Hinzufügung des Pädagogen mit dem Kinde
vortrefflich, auch wegen der Gruppirung.
23
sichtbar ist in der Haltung seiner Anne. Ist es nicht ein
hübsches und für das Bild fruchtbares Motiv, dieser Konirast
zwischen den Zwillingen? Dies Bild ist überhaupt seiner Er-
iindji^ng nach vortreiTlieh ; der Fehler, den Göthe richtig her-
vorhebt, dass Herkules die Schlangen viel zu weit abwärts
angefasst habe, so dass sie ihn nach Belieben ritzen und
beissen könnten, mag der Nachlässigkeit des Copisten zuge-
schrieben werden.
Bei dem Bilde des Philosti-atus an Zeuxis zu denken,
hindert endlich no«h ein äusserer Grund. Das Bild dessel-
ben führt Plinius ^ ) mit folgenden Worten an : Hercules in-
fans dracones strangulans matre coram jiavente et Amphi-
tryone. Sind wir berechtigt, noch mehr Figuren, als die
genannten , im Bilde vorauszusetzen ? Hätte Plinius , ^^'ie er
es gev\;ühnlich thut, nur die eine Hauptfigur des BiWes ge-
nannt, dann wäre die Zahl der Figuren allerdings nicht zu
bestimmen; da er aber detaillirt, so scheint es am natürlich-
sten, das Bild mit den angegebenen Figuren beschlossen zu
glauben. Doch gesetzt, es waren noch untergeordnete Figu-
ren zugegen, so passt die Angabe des Plinius immer noch
nicht auf das Bild des Philostratus. Denn der Gegenstand
desselben ist nicht der Schlangen erdrückende Herkules, son-
dern die Weissagung des Tiresias über den Herkules, der
die Schlangen getödtet hat. Tiresias hat im Bilde eine her-
vorragendere Stellung, als Vater und Mutter de& kleinen
Helden; jenen also hätte Plinius eher erwähnen müssen, als
diese. —
1) XXX V^ 63.
24
Die falsche Nachahmung dei* Poesie, die wir au dem
in Windeln liegenden Herkules hervorhoben, findet sich auch,
wenn ich nicht irre, in einem andern Bilde des Jüngern Phi-
lostratus. Es ist das letzte (n. 17), nach der Meinung der
Herausgeber freilich nicht ganz erhalten, doch ist wenigstens
das Aussehen der Hauptfigur, wenn überhaupt noch andere
im Bilde waren, mitgetheilt. Philoktet nämhch war darge-
stellt, das Gesicht eingefallen von der Krankheit, die finstern
Brauen herabgezogen über die tiefliegenden, mattbhckenden
Augen, Haar und Bart verwildert, mit Lumpen umhüllt
(Qcixia äfXTtiaxöiievoq)^ die Fusssohle verbunden. Wie weit
diese Umhüllung den Körper bedeckte, wird zwar nicht ge-
sagt, sie ist aber offenbar der Grund, dass der Rhetor nur
das eingefallene Gesicht, nicht aber den abgezehrten Körper
des Leidenden erwähnt, den er eben wegen der Lumpen nicht
sah. Gerade hierin liegt das Auffallende ; der Dichter i) mag
den Philoktet mit Lumpen bekleiden, die ja bei ihm nichts
verdecken, der bildende Künstler dagegen darf den leidenden
Körper nicht verhüllen, er zerstört damit die unmittelbare,
lebendige Wirkung seines W'erkes. Nur auf geschnittenen
Steinen ist uns die Darstellung des leidenden Philoktet er-
halten ; er ist entweder ganz nackt oder die Chlamys bedeckt
ihm den Rücken und fällt über den linken Arm herab, so
dass die dem Betrachtenden zugekehrte Seite des Körpers
frei bleibt. 2). Ein Epigramm 3) aber beschreibt einen Phi-
1 ) Der Zug ist aus Sophokles, den Philostratus vor Augen hatte,
da er ihn gleich im Folgenden erwähnt. Philoktet sagt v. 274,
die Griechen hätten ihm bei ihrem Weggehen wenige Lumpen
((5az7;) hingelegt. Im Uebrigen mag, wie Jacobs meint, aus
dem Philoktet des Euripides manches entlehnt sein, da die
detaillirten rührenden Schilderungen ganz der Art dieses
Dichters angemessen sind.
2) Vgl. Michaelis in den Annali dell'inst. 1857 p. 232 ff. Ge-
nelli stellt in seinen Umrissen zu Homer den Philoktet ganz
nackt dar.
3) Anal. II, 490 n. 27. Man bezieht es wol mit Recht auf den
Philoktet des Parrhasius.
25
loktet, dem der Maler ein dürres, zusammengeschrumpftes
Fell gab, wodurch er ohne Zweifel die öde W^ldniss andeu-
ten wollte, in der keine menschliche Hand für die Bedeckung
der Blosse sorgt. Er folgte darin m'oI dem Euripides, der
den Philoktet in Felle gehüllt auf die Bühne brachte i), schwer-
lich aber folgte er ihm auch in dem \Yurf dieser Hülle. Das
Epigramm sagt nicht, wie das Fell angelegt war: schwerlich
anders, als es Sitte ist in der entwickelten Kunst, um den
Hals geknüpft und nach hinten herabhängend 2 ) , in der Weise
also , die den Forderungen der Kunst entspricht. Indessen
lässt sich das nicht ausmachen und auch für Pliilostratus
glaube ich es nur wahrscheinhch gemacht zu haben, dass
sein angebliches Bild gegen ein künstlerisches Gesetz ver-
stiess^), theils aus seiner Beschreibimg selbst, theils indem
ich mich auf die Analogie des vorigen Bildes berufe. —
1) Vg-1. Dio Chr_vsost. Or. 59, 305: Joof« S-rjoiioy xcü.vnrovaiv
avTÖv. Beim Philoktet des Sophokles könnte die Frage auf-
geworfen werden, wie es denn komme, dass Philoktet trotz
jahrelanger Einsamkeit noch ein von Menschen verfertigtes
Gewand habe. Diesen Einwand hebt der Dichter durch v. 309.
2) Vgl. z. B. die Darstellungen desEumaeus und Faustulus, dann
den Herkules bei Gerhard Auserles. 143.- Meist ist das Fell
des Herkules gegürtet, besonders in dem altern Stil der Va-
,sen, er trägt dann aber noch einen Chiton darunter, das Fell
allein würde ihn nicht ganz decken.
3) Analog sind die Darstellungen des leidenden, von Achilles
geheilten Telephus, doch können mir auch diese mit Aus-
nahme etwa des schönen etruskischen Spiegels ( Gerhard im
dritten Bei'liner Winckelmamisprogramm) nichts helfen. Denn
wenn auch Telephus auf den Vasen bis auf die Chlam^'s nackt
ist. so ist das doch nicht geschehen, um uns den leidenden
Körper zu zeigen , wovon ich eben keine Andeutung sehe.
Auf dem genannten Spiegel ist allerdings etwas von seinem
Leiden im Habitus des Körpers zu sehen; da ist er im We-
sentlichen nackt. Die etruskischen Aschenkisten köftnen hier
natürlich nicht verglichen werden.
IL
Von der Gewandung des Körpers wenden wir uns zur
Betrachtung der körperlichen Gestalt selbst, welche so wenig
wie ihr Kleid für den Dichter und bildenden Künstler die
gleiche Bedeutung hat. Dem lelzteren sind engere Schranken
gezogen , als dem ersteren. Der Dichter darf sich hinweg-
setzen über die Gesetze der menschlichen Gestalt, er darf
uns erzählen von hundertarmigen und hundertköpfigen Dä-
monen, ohne unsere Phantasie zu beleidigen. Denn das Bild
des Dichters ist ein rein geistiges , es schwebt leicht und
stofflos vor der Seele, ohne den Anspruch auf Wirklichkeit
zu machen ; das Bild des Künstlers aber kleidet sich in die
Formen des Sichtbaren, es will den Schein der Wirklichkeit
erregen und eben darum hat es an dieser seine Schranke.
Nicht als ob der Künstler nur das darstellen dürfte, was
wirklich existirt, er darf auch neue Schöpfungen wagen, wenn
er sie nur als existenzfähig darzustellen und Entstellungen
des menschlichen Typus zu vermeiden weiss, aber eben diese
Rücksicliten braucht der Dichter nicht zu nehmen, weil sein
Bild nicht wirklich scheinen will. Zudem gibt der Dichter
immer nur einzelne Züge imd überlässt es der Phantasie,
sich eine Gestalt daraus zu bilden. Aber eben diese auf An-
regung des Dichters geschaffene Gestalt ist nichts weniger
als fest begränzt^ wenn wir hören von den Hekatoncheiren,
von dem hundertköpfigen Tjphoeus, von der Scylla mit sechs
langen Hälsen und zwölf Beinen, so malt sich die Fhanlasie
diese Vorstellungen nicht zu einem sichern, deutlichen Bilde
ausj es bleibt bei schwankenden, in unheimliches Dunkel
27
sich verlierenden Umrissen. Auch aus diesem Grunde ist
das Gebiet der Poesie ein weiteres, da die bildende Kunst
sinnlich Deutliches darzustellen hat.
Was mich zu diesen allgemeinen Betrachlimgen, die im
Verlaufe dieser Untersuchung ausgeführt und mit Beispielen
belegt werden sollen, zunächst veranlasste, ist folgendes Bild
des älteren Philostratus (U, 18) :
Die Eykloi^en schneiden Getraide und sammeln Trau-
ben^). Der wildeste unter ihnen, Poljphem, wohnt hier, mit
einer Braue über einem Auge, mit einer breiten Nase, die
bis an die Lippe reicht. Vom Berge aus späht er nach Ga-
latea, er hat die Syrinx noch unter dem Arme und singt ein
Liebeslied unter einer Eiche. Er ist als ein wilder Bergbe-
wohner gemalt mit Haaren struppig wie Fichtenlaub, die
spitzen Zähne zeigend, an Brust und Bauch und bis an die
Zehen, überall zottig. Er glaubt sanft zu blicken ,' aber in
Wahrheit blickt er wild und heimtückisch. Galatea aber
spielt auf der stillen See, von einem Viergespann von Del-
phinen gezogen, die am Zügel geführt werden von den Mäd-
1) Heyne liess die übrigen Kyklopen weg, ebenso Welcker, der
übrigens die frucht- und' weinreiche Gegend beibehält-, sehr
merkwürdig, da Philostratus Saaten und Reben mit den Ern-
tenden in einem Zusammenhang erwähnt. 0. Jalm (Arch.
Beitr. p. 414) sagt, der Khetor erwähne die Kyklopen, wel-
che ernten ohne zu säen, Heerden besitzen und weder Haus
noch Markt kennen in einer Weise, dass man denken müsse,
sie seien auf dem Bilde vorgestellt. „Dies wäre aber wider
die Analogie der uns bekannten Gemälde, wo eine in solcher
Weise ausgeführte Staffage nicht vorkommt. Man muss daher
diese allgemeine Beschreibung des kyklopischen Lebens für
eir.^' Art von Einleitung zu dem eigentlichen Gegenstand des
Gemäldes halten.'' Dieser Orund ist sehr richtig unter der
Voraussetzung, dass Philostratus Wirkliches sah, eine Voraus-
setzung, die wir aber nicht machen. Dass er die übrigen
Kyklopen auch dargestellt wissen wollte, beweisen nach
meiner Ansicht schlagend die Worte, mit denen er von ihnen
zum Polyphem übergeht: Tovg /utv c(Xi.ovg ea. IIo).v(frjinog
Si xxX.
28
eben des Triton. Sie aber breitet über dem Kopf einen pur-
purnen Schleier gegen den Zephyr, von dem ein Schimmer
auf Kopf und Stirn fällt noch nicht so schön, wie die Blüthe
ihrer Wange. Die Haare flattern nicht im Winde, weil sie
feucht sind. Der rechte Ellenbogen tritt hervor, indem der
weisse Arm gebogen ist, und die Finger ruhen auf der zar-
ten Schulter. Arme und Brust sind schwellend gebildet und
Jugendfiille zeigt der Schenkel. Der Fuss aber berührt das
Meer, indem er gleichsam den Wagen steuert. Ein Wunder
sind die Augen, die über das weite Meer blicken.
So viel Worte, so viel Schnitzer, hauptsächlich veran-
lasst durch Dichternachahmung. Der Rhetor beginnt mit
»einer Reminiscenz aus Homer ij. Weil Homer sagt, dass
den Kyklopen ungesät und ungepflügt Waizen , Gerste und
Trauben wachsen — jedes natürlich zu seiner Zeit — , eben
darum finden wir Getraide und Trauben bei einander auf
dem Bilde des Rhetors, der nicht bedachte, dass Sommer
und Herbst, die in der Wirklichkeit nicht coexistireu, auch
nicht in dem Raum eines Bildes coexistiren können 2). Und
wie kommt's , dass wir auch die übrigen K3'klopen auf dem
angeblichen Bilde finden, die nirgends dargestellt sind in den
erhaltenen Denkmälern? W^eil der Rhetor seine Notizen aus
dem Homer anbringen wollte. Denn keinem Künstler konnte
es in den Sinn kommen, zu Polyphem noch andere K3"klo-
pen hinzuzufügen, nicht bloss desswegen , weil sein Bild da-
durch eine zu ausgedehnte Staffage erhalten würde, sondern
hauptsächlich desswegen, weil die öftere Wiederholung eines
Ungethüms, wie Polyphem, ersthch ein unerträgUcher Anblick
an sich ist, zweitens aber das Interesse an dem Einen auf-
1) Od. 9, 106 ff. wo man jeden Zug, ja jedes Wort findet, des-
sen sich Pliilostratus in den ersten vier Sätzen bedient, aus
denen ich aber nur dasjenige lierausgehoben habe, was deut-
lich als dargestellt bezeichnet wird.
2) Auch auf dem die Heren darstellenden Bilde (Sen. II. 34)
waren die Produkte verschiedener Jahreszeiten neben einan-
der dargestellt.
29
heben würde. Solche Wesen müssen in der Kunst als ein-
zig in ihrer Art erscheinen, dadurch allein werden sie er-
träglich und interessant 1).
Die Schilderung des Pol3'phein ist aus dem Gedicht des
Theokrit entnommen, in welchem der Kyklop die geliebte
Galatea besingt, die ihn verschmäht. Die eine Braue, das
eine Auge, die breite Nase, den zottigen Körper schildern
Rhetor und Dichter fast mit denselben Worten'^). Die Kunst
aber trennt sich in diesem Fall ganz von der Dichtung; sie
stellt den Polyphem nicht dar behaart am ganzen Leibe, wie
Papposilen, sie läset liicht die Nase bis an die Lippen reichen
und am wenigsten fällt es ihr ein, die Bildung des mensch-
lichen Hauptes so zu zerstören, wie es die der Dichtung
entsprechende Darstellung des einen Auges erfordern würde ').
Statt der Haare am Körper, welche das dichterische Bild
nicht entstellen , gibt die Kunst dem Polyphem ein Thierfell
als Bekleidung und charakterisirt dadurch auf eine ihr an-
gemessene Weise den wilden Waldbewohner; sein Gesicht
1) Auch bei Homer wohnt Polyphem allein für sich in Unge-
selligkeit v. 188 ff., welche Worte übrigens auch für das Ent-
\Yischen-des Odysseus und seiner Gefährten nothwendig sind.
2) Man vgl. Theokr. Jd. 11, 28 ff:
rivoiOxu) /«Qteoau xoqu , Tivog ävexu (ftvyeis.
divexu fÄOt XaGia iaIv 6(fQvg stt) nicrrl iHTcönb)
l| (OTOS T^TKTdl TTOrl SwTfQOl' fti? filK /.IKXod ,
eis S'dift)c<lfxog viriOTi , nlariia Sl (Ag inl /siXfi.
Und Philostratus sagt: /nütv /niv vneQTeCvwv 6(f>Qvv tov 6(f~
S^uXfxov ivog ovTog, nhneict dt r;/ ^tv\ ^nißca'vwv tou ;(ftXovg.
Den Haarwuchs am Körper erwähnt Theokrit v. 48. Vgl.
Ovid Metam. XIII, 846: rigidis hort-ent densissima saetis
Corpora.
•.3) Die auf Polyphem bezüglichen Denkmäler sind zusammen-
gestellt von 0. Jahn Arch. Bcitr. p.411 ff., welcher auch das
Auffallende des einen Auges hervorhebt. Hiezu kommt ein
neuerdings im Jahre 1847 entdecktes pompejanisches Bild,
das nach der Beschreibung im Bullet. Napol. VI p. 36 mit
dem von Jahn p. 417 besprochenen herkulanischen iu allem
Wesentlichen übereinstimmt.
30
aber bildet die ältere Kunst vollkommen menschlich, und
auch die spätere, ilie ein drittes Auge hinzulügt, zerstört
doch nicht den natürlichen Typus des menschhchen Kopfes ').
Es ist nämlich bemerkenswerth, dass die ältere Kunst harm-
loser verfährt in der Dai'bteliung der vom Mythus überliefer-
ten Ungeheuer ; sie stellt dieselben als gewühnliche Menschen
dar, ohne den Versuch zu machen, ihre besondere Natur
durch Besonderheiten der Körperbildung anzudeuten. Gerjon
ist in der älteren Kunst ein Dreiverein, dicht nebeneinander-
stehender Männer, nicht ein Wesen mit drei Oberkörpern,
wie später, und die Giganten werden zuerst ganz inenschlich,
später schlangentüssig dargestellt 2). Nur in der ältesten
Zeit wird oft die Menschengestalt dem Symbolischen geopfert;
die Vermehrung der Glieder, die Verbindung des mensch-
lichen Leibes mit thierischem Kopf, wie in der orientalischen
und ägyptischen Kunst ist in den Anfängen der griechischen
Kunstgeschichte durch mehrere Beispiele bezeugt^), aber der
anthropomorj)histische Zug in der griechischen Denkungsart,
der Gedanke, dass der menschhche Leib eine würdige Hülle
des Göttlichen sei, hat die Kunst schnell von der Stufe em-
porgehoben, welche die vorgiiechisehen Völker nicht verlas-
sen konnten.
i) Nur eine rohe Gemme (Tülkcn IV, n. 385), von dei^ auch
Jahn sagt, „ein solches Gemmenbild sei immer nur eine
schwache Stütze"', macht den Versuch, das Gesicht des P0I3''-
phem nach dem Dichter darzustellen. In der Abbildung bei
Jahn taf. II, 2 sieht es noch menschlicher ans, als es in Wahr-
heit ist 5 das Auge ist nämlich nur eine runde Vertiefung
ohne Andeutung -des Augapfels. Eine andere Berliner Gemme,
welche Tölken III, 191 richtig so erklärt: die Nereide Galatea
von einem Delphin getragen, Polyphem spielt auf einem Fel-
sen sitzend die Lyra" linde ich von Jahn nicht erwähnt.
2) Die Unnatur, dass dem Hermes die Flügel aus Kopf und
Füssen herauswachsen, ist erst später.
3) Nur der Minotaur bleibt von Anfang bis zu Ende der Kunst
stierköptig •, bei ihm hat es, wie oft bemerkt ist, seinen guten
Grund. Vgl. z. B. Feuerbach Gesch. d. gr. Plastik I, p. 7 f.
31
Der Kykloj) Imt die Syrinx unter dem Arm und singt
ein Liebeslied 'j. ^Yo/Al die Syrinx, da doch ein Insirunient
besser wäre, zu dem nmu singen kann? Auf den erhaltenen
Denkmälern hat er die Leier, roh verfertigt, wie es sich
schickt lür den \Ailden -Bergbewohner, der fern ist von
menschlicher Kultur, Ovid aber giebt ihm die Syrinx 2), das
Listrument der Hirten, und aus diesem Dichter oder aus
einem andern, der Hirten die Syrinx blasen lässt, schöpfte
oime Zweifel Philostratus. Er wusste, dass die Syrinx das
Instrument der Hirten ist und so gab er sie ihm, ohne zu
bedenken , dass sie in den gegenwärtigen Vorgang nicht
passt und somit uns nur die müssige Notiz mittheilen kann,
dass der Ky]\lop , ehe er angefangen zu singen , die Syrinx
geblasen hat. Denn kein anderer Sinn kann in dem Bilde
eines singenden Kyklopen, der die Syrinx unter dem Arm
hat, gefunden werden. Bei dem Dichter ist natih-lich die
Sache eine ganz andere, weil er nach einander seine Dinge
darstellt; die bildende Kunst aber ist auf einen Moment
angewiesen und darum musste der Künstler dem Kyklopen,
wie es auf den Wandgemälden geschehen ist, ein solches
Instrument geben , das zu dem dargestellten Moment passt.
Durch die Leier wird uns zugleich das Singen des Kyklopen
deutlicher gemacht.
Das Detail in der Schilderung der Galatea ist nicht
nachweisbar in der erhaltenen Literatur, wenn auch manches
Aehnliche sich findet 3). Ob ein Künstler aber die Nymphe
1) Den Inhalt dieses Liedes giebt Pliilostratus ausführlich an,
ganz wie der Dichter, obwohl er ein Gemälde beschreibt.
Dies ist bei ihm gewöhnlich; er erzählt uns was die Leute
auf seinem Bikle sagen und singen, obwohl ja kein Künstler
das ausdrücken kann, denn auch die markirteste Gestikula-
tion kann doch nur den Charakter einer Rede im Allgemei-
nen, nicht ihren Inhalt deutlich machen.
2) V. 781. ,
3) Das Gewand der Galatea breitet sich wie ein Segel über
ihrem Haupt aus. So sagt Moschus von der Europa v. 129:
xoknujOt] J" ilrif-iüiGi ninXoq ßuiyhi Evnconeiijg larCov oiü re
32
so dargestellt haben würde, ist mir mehr als zweifelhaft.
Zunächst weiss ich nicht, wie die Galatea auf ihrem \yagen
steht. Die Zügel hallen die Nereiden , oder wer unter den
Mädchen des Triton verstanden sein mag, nicht Galatea selbst ;
ebendarum ist es mir nicht klar, wie sie fessteht auf ihrem
"Wagen , zumal da sie mit dem einen Fuss das Wasser be-
rührt. Man sehe nur die raphaelische Galatea : eine Nymphe,
die in einem leichten Wagen durch die Fluthen fährt, muss
selbst die Zügel führen, sonst ist sie jeden Augenblick >der
Gefahr ausgesetzt, von dem schaukelnden W^agen herabzu-
gleiten. Nicht weniger unklar ist die Bewegung der rechten
Hand; diese liegt nämlich auf der Schuller, eine Haltung, die
mir ebenso unbequem als unverständlich erseheint. Göthe
verstand ganz anders. „Der rechte Arm, gebogen, stützt'
sich mit zierlichen Fingern leicht auf die weiche Hüfte" —
das wäre freilich hübsch und der Situation recht angemessen.
Der in die Hüfte gestemmte Arm zeigt etwas ZuversichtHches,
unter Umständen Herausforderndes an, und dies wäre wol
für die Galatea gegenüber dem liebeskranken Polyphem, den
sie verachtet, nicht unpassend.
Von dem linken Arm der Galatea, den wir uns das
Gewand haltend denken müssen und von ihren Begleiterin-
nen schweigt der Rhetor. Das ist so seine Art; er schildert
wie der Dichter, der auch nur einzelne Züge giebt Und es
der Phantasie überlässt, sich das Bild auszumalen; nur dass
letzterer ein Recht dazu hat, so" zu verfahren.
Die erhaltenen Monumente zeigen Galatea sitzend auf
dem Rücken eines Delphins, so wie Nereiden gewöhnhch
vtjös. Uebrigens habe ich auch nichts dagegen einzuwenden,
wenn man dies Motiv als eine Keniiniscenz von gesehenen
Kunstwerken lassen will. Gerade in der späteren Kunst, be-
sonders bei Darstellungen der Nereiden auf Sarkophagen ist,
wie auch '0. Jahn Ber. d. säehs. GescUsch. d. Wiss. 1854
p. 193 Anni. 159 bemerkt, das Motiv des bogenlormig über
dem Kopf ausgebreiteten Gewandes als gutes Mittel zur Raum-
füllung bis zur Ern>üdung wiederholt.
33
dargestellt werden. ^Yie viel anmuthiger ist sie in dieser
einfachen Erscheinung als in dem pomphaften Aufzug, den
uns der Rhetor schildert ! Wenn der Herrscher des Meers
seine Braut einholt , da mag's lebendig werden auf den Flu-
then , da mögen Nereiden und Tritonen herauftauchen und
das Paar geleiten, aber was soll solcher Pomp der einfachen
Nereide Galatea! Nicht an Raphael tadle ich das, ich tadle
es an dem alten Künstler, der im Mythus lebte.
Die Gestalt des Kyklopeu, sahen wir, war aus Dichtern,
nicht aus Kunstwerken genommen 5 eben dasselbe ist der
Fall mit dem Achelous auf folgendem Bild des Jüngern Phi-
lostratus (n, 4) :
Du fragst vielleicht, was das für ein Zusammenhang sei
zwischen dem Drachen, der hier hoch sich erhebt, den Bug
krümmend 13, braunrotli am Rücken, einen Bart herabsendend
unter gradaufstehender, sägenförmig gezackter Mähne, mit
wildem Blick, und dem stolzen Pferde 2), das unter einem
so grossen Bogen den Nacken biegend und die Erde an den
Füssen aufwühlend zum Angriff stürzen zu MoUen scheint,
und dieses halbthierischen Mannes. Denn er hat das Ge-
1) tytiQug rov nri/vp sagt der Schriftsteller; vgl. die Anm. zu
Lindau's Uebersetzung p. 996. Das mittlere Stück am Bo-
gen wird Tifj/vs genannt.
2) yavQov TE innov ; mehrere Erklärer schreiben nach dem
Vorgang von Jacobs für yuvQov tuvqou und 'innov ^^ird
entweder gestrichen oder auch verändert. Allein der gedan-
kenlose Mensch weicht hier von Sophokles ab nur aus dem
Grunde, um sich nicht zu wiederholen. Wirkliches hatte er
nicht vor Augen, verständig ist er auch nicht und so bringt
er hier das Pferd hinein und spart die Stiergestalt sich noch
auf. Ich kann daher nicht einmal glauben, dass er etwa an
die Rossgestalt des Poseidon gedacht habe, welche Gerhard
(A. V. II p. 110 Anm. 108) zum Schutz des innov vergleicht.
3
34
sieht eines Stiers und einen gewaltigen Bart, von dem Quellen
von Wasser ausströmen. In der Menge aber, die wie zu einem
Schauspiel zusammengeströmt ist , befindet sieh ein Mäd-
chen, nach- ihrem Schmuck zu schhessen, eine Braut. Es ist
Dejanira, die muthlos den Freier (Achelous) betrachtet, nicht
mit verschämten Wangen gemalt, sondern in grosser Furcht
über ihre Zukunft. Auch der Vater, Oineus, ist anwesend,
trauernd über sein Kind, und ein Jüngüng Herkules, der das
Löwenfell auszieht und die Keule in den Händen hält , so-
dann eine kräftige Heroine , mit Eichenlaub bekränzt , die
Nymphe Kalydon, mein' ich. Hier ist der Kampf noch be-
vorstehend; sieh aber auch, wie sie schon aneinander gerathen
sind. Und was den Anfang des Kampfes betrifft, so muss
er als derjenige eines Gottes und eines unerschütterlichen
Heros betrachtet werden, am Schluss aber verwandelt sich
der Fluss in ein Stierhörner tragendes Wiesen und stürmt ge-
gen Herkules. Dieser aber ergreift mit der linken Hand sein
rechtes Hörn und schlägt ihm das andere mit der Keule aus
den Schläfen. Darauf giebt jener abstehend vom Kampf mehr
Blut - als Wa^serquellen von sich ; Herkules aber vergnügt
über die That sieht auf Dejanira. Die Keule hat er auf die
Erde geworien und reicht ihr als Hochzeitsgeschenk das
Hörn des Achelous.
Zunächst machen wir nur darauf aufmerksam , dass das
Bild mehrere Scenen umfasst^). Zwei Scenen scheidet der
1) Hej'ue meinte unter grossen Klagen über Unklarheit, es
scheine der letzte Thcil des Kampfes dargestellt zu sein und
ebenso Welcker. Mau nimmt also aus dem einen Satze des
Rhetors, in dem das Volk, Dejanira, der Vater und Herkules
die Löwenhaut abwei'fend mit der Keule in den Händen er-
wähnt werden, die drei erstem heraus, den letztern aber
lässt man weg. Warum? Darauf fehlt die Antwort. Mir
ist das Verfahren hier und an vielen andern Stellen unbe-
greiflich, besonders bei Welcker, denn He5aie verräth überall
sein Schwanken. In dem vorliegenden Fall bedarf es nur
einer aufmerksamen Lektüre, um einzusehn, dass die Beschrei-
bung mehrere Scenen begreift.
35
Rhelor selbst aufs Deutlichste, er scheidet den bevorstehen-
den Kampf vom Kampf selbst. Der Kampf selbst aber ist
nicht eine Scene, er müsste vielmehr, wenn bildlich ausge-
führt, in mindestens zwei Scenen dargestellt werden, denn
Herkules erscheint in zwei verschiedenen Situationen; zuerst
hat er das eine Hörn desAchelous gepackt und schlägt ihm
mit d^r Keule das andre aus , sodann hat er die Keule von
sich geworfen und reicht der Dejanira seine Beute. Die
Beschreibung ist nämlich ganz zur Erzählung geworden, eine
Eigenthümlichkeit vieler philostratischer Bilder, die ich an
einem andern Beispiel erörtern werde. Ferner aber kann
ich nicht umhin, mit einem Wort auf die Beschreibung des
sich zum Kampf vorbereitenden Herkules hinzuweisen, wo
sich in zwei \Yorten der Rhetor unwillkürlich verräth. Er
sagt, Herkules habe die Keule in den Händen (£v raTy
"leqolv) , da er doch zumal in dieser Situation — er zieht
das Löwenfell aus — gewiss nur eine Hand dazu verwendet.
Ein Dichter spricht so, und natürlich mit Recht.
Der Rhetor hat sein Bild im Wesentlichen aus Sophokles
genommen, aus dem Eingang der Trachinierinneu. Dejanira,
das seelenvollste Weib, welches das Alterthum geschaffen,
erzählt dort, dass Achelous sie umfreit habe. In drei Ge-
stalten habe er sie vom Vater begehrt, bald als leibhaftiger
Stier, bald als schillernder gewundener Drache, bald stier-
hauptig mit menschlichem Leib 5 „aus dem buschigen Bart
aber ilossen Quellen immerströmenden Wassers." Von die-
sem Freier habe Herkules sie erlöst, sie wisse zwar nicht
wie; das könne nur der sagen, der furchtlos dem Schau-
spiel zihgesehn , sie selbst habe dagesessen von der Angst
überwälligt. Vor Sophokles dichtete man, Achelous sei in
Gestalt eines Stieres von Herkules bezwungen'); warum
1) So Pindar fr. ine. 223 Bergk und ebenso Apollodor 2, 7, 5
^ und Diod. Sic. IV, 35. Ovid dagegen (Met. 9, 62 flf.) folgt
dem Sophokles, dessen Abänderung seiner Dichtung willkom-
men sein musste, verbindet aber damit die Erzählung von
dem einen abgebrochnen Hörn.
3*
36
verlässt der Tragiker diese einfachere Erzälilung? warum
steigert er sie ins Grausigere? Weil es vortheilhaft ist für
sein Stück: denn je entsetzlicher Achelous ist, um so gros-
ser ist die Liebe der Dejanira zu ihrem Erretter. Es ist
einer der nicht seltenen Fälle, dass die Tragödie um tragi-
scher Wirkung willen von der schlichteren Erzählung der
früheren Dichter abAveicht. Was Achelous von Herkules er-
litten, erwähnt Sophokles nicht weiter; in der Schilderung
des Kampfes erscheint jener (v. 518) als Stier oder v.enig-
stens mit Stierhörneru, ebenso wie bei Philostratus, aber die
Entscheidung des Kampfes durch den Verlust des einen
Horns hat nur die gewöhnliche Erzählung, nicht Sophokles.
Für sein Stück war es volkommen genügend, nur die That-
sache der Ueberwindung des Achelous mitzutheileu ohne
weitere Details ; hätte er aber Details gegeben, er hätte nicht
ein Ungethüm, wie das von ihm geschilderte, so wohlfeilen
Kaufes, mit dem Verlust eines Hornes davon kommen lassen.
Philostratus dagegen verbindet mit der sophokleischen Schil-
derung den Sehluss der gewöhnlichen Erzählung; in seiner
ersten Sceue erscheinen Schlange, Pferd und stierhauptiger
Mann, in der zweiten haben wir es nur mit einem Stier-
hörner tragenden Wesen zu thun, dem ein Hörn abgebrochen
wird. Denn mit keinem "VA'ort wird augedeutet, dass die
Gestalten der ersten Scene im Kampf selbst mitwirken, sie
konnten ja auch gar nicht mitwirken , Aveun es sich bloss
um Abbrechung eines Horns handelt. Eine solche Verletzung
kann ja nur den Widerstand eines Stiers brechen, nicht den
des Drachen und der übrigen Gestalten. Was wird denn
aus diesen ? würden wir fi-agen, und eben die Nichtbeantwor-
tung dieser Frage durch den Rhetor zeigt^ dass er die übri-
gen Gestalten vom Kampf selbst fernhält i). Die Gestalten
1) Welckcr denkt sich den Achelous nach Analogie der Thetis
dargestellt. Alle Prämissen dieser Ansicht einmal zugegeben,
so bleibt noch immer der Unterschied, dass es sich gar nicht
um einen Ringkampf handelt, in dem der Gegner durch Ver-
wandlung zu entschlüpfen sucht, wie das der Fall ist bei
Thetis und Nereus.
37
des Drachen, des Pferdes und des stierköpfigen Mannes also
befinden sich nur in der ersten Scene, eine- und dieselbe
Person erscheint demnach in zwei Scenen, deren eine nur
die Fortsetzung der andern ist, in ganz verschiedener Ge-
stalt. Wie aber soll man sich die Plgur des Achelous in
der ersten Scene denken ? Entweder waren die A'erschiede-
nen Gestallen zu einem Körper zusammengesetzt i), oder sie
standen selbstständig neben einander. War das Letztere der
Fall, so stehn eben eine Schlange, ein Pferd und ein stier-
köpfiger Mann auf dem Bilde und Niemand weiss , was ge-
meint ist, im erstem Fall aber welch ■ ein bewegungsunfähi-
ges, unmögliches Ungethüm würde herauskommen ! Von dem
Pferd ist sichtbar Hals und Beine , von dem halbthierischen
Menschen aber der Stierkopf und auch wenigstens' noch
etwas Menschhches , denn sonst konnte ja überhaupt nicht
vom Menschen die Rede sein. Lassen sich aber diese Theile
zu einem lebensfähigen Ganzen vereinigen ? wir müssten
nämlich auf den Pferdehals das Menschliche und endlich den
Stierkopf folgen lassen. Die griechische Kunst hat nie ver-
sucht, vier verschiedene Organismen zusammenzufügen, wie
es hier der Fall sein würde ^J^ in der Chimaera versucht sie
es mit dreien, ich muss aber gestehu, nicht einmal diese
Bildung macht mir einen befriedigenden Eindruck. Die
Schlange zwar ist glücklich angebracht , sie bildet den
Schwanz des Ungeheuers, aber der Ziegenleib springt unver-
muthet aus dem Rücken des Löwen heraus , er springt an
einer Stelle heraus , an welcher die Natur nicht clen Ansatz
zu einer neuen Bildung gemacht hat. Darin eben liegt das
Unorganische dieses Wesens. Denn wenn wir die Sitte be-
obachten, welche die gute Zeit der Kunst in der Verbindung
menschlicher und thierischer Formen oder thierischer Formen
unter einander befolgt hat, so tritt uns als durchgreifendes
1) So meint Gerhard Auserles. V. II p. HO A. 108.
2) Auf den Gemmen, besonders im Kreis des Eros, finden sich
solclie Zusammensetzungen der tollsten Art. Das gehört
natürlich zur Karrikatur.
38
Gesetz dies entgegen, dass die Verbindung der verschieden-
artigen Leiber an einer Stelle stattfindet, wo die Natur selbst
eine neue Bildung beginnen lässt. Sodann aber müssen die
Organismen so zusammengefügt sein , dass an den ersten
Organismus sich derjenige Theil des zweiten anschliesst, der
auch im ersten gefolgt sein Miirde, wenn er nach seiner
eignen Natur ausgebildet wäre. Erst dadurch treten die
Theile solcher Schöpfungen aus dem Aggregatförmigen her-
aus in das Verhältniss einer nothwendigen gegenseitigen Er-
gänzung. Centaur, Triton, Scylla, Pan, Kekrops u. s. w. begin-
nen an der Hüfte thierische ßewegungsorgane anzunehmen,
also da, wo die Bildung des Oberleibes abgeschlossen ist
und der Ansatz zum Unterköi-per beginnt. Oder an den
phantastischen Thieren der See pflegt der Fischleib da
einzusetzen wo der Vorderkörper abgeschlossen ist: kurz
man wird finden, dass die griechische Kunst sich auf das
Sorgfältigste der von Natur gegebenen Ghederung des Orga-
nismus anschliesst.
Eine der Erscheinungen des Achelous ist noch beson-
ders hervorzuheben , bei welcher sich wieder , wie bei dem
Kjklopen eine Difl'erenz der Poesie und bildenden Kunst
herausstellt. Sophokles und Philostratus geben dem Achelous
ein Stierhaupt , in der Kunstr erscheint er entweder ganz
menschlich nur mit Hörnern auf der Stirn, oder als Stier
aber mit menschlichem Gesicht^). Das Menschlichste am
Menschen also, der Kopf bleibt erhalten. Die Poesie darf
1) Vgl. Millingen in Transactions of tlie Royal Society of Litera-
ture I, 1, p. 143 ff. und IT, 95 ff. An ersterer Stelle wird übri-
gens di^ sophokleische Stelle irrthümlich so erklärt, dass sie
mit der metapontischen Münze , auf welcher Achelous bis
auf die Stierhörner menschlich ist, übereinstimme. Zu der
doppelten Bildung des Achelous vergleicht Millingen aber
sehr richtig die Flussgötter auf sicilischen Münzen, dann auch
die Sirenen. Gerhard A. V. II, p. 107 giebt vollständig die
vorhandenen Darstellungen an, doch findet sich in Anm. 89-
der Irrthiim, dass auf der metapontischen Münze noch sonst
ein Achelous mit Stiergesicht vorkomme.
39
unbedenklich anders verlalireii, sie giehl auch dem Dionysos
Stiergestalt und Sliergesicht und warum soUte sie nicht?
Es sind Erscheinungsformen, Hüllen des Göttlichen, die un-
serm Innern Auge den Gott selbst nicht verbergen, aber dem
äussern Auge ist er verborgen, für welches die bildende
Kunst schafft. Der Dichter kann Erscheinung und Wesen
trennen, die in der bildenden Kunst unzertrennlich verbunden
sind; das GöttUche also unter thierischer Hülle bleibt gött-
lich bei jenem, bei diesem geht es verloren.
Das Bild hat auch sonst manches Sonderbare, doch be-
gnüge ich mich mit der Frage, warum denn Herkules die
Löwenhaut zu dem Kampf auszieht? Würde er ringen mit
Achelous, wie mit Antäus und Andern, so wäre nichts Auf-
fallendes dal>ei, aber er operirt ja mit der Keule').
Ein drittes Beispiel falscher Dichternachahmunw der be-
zeichneten Art liefert die „Hesiane" des Jüngern Philostratus
(n. 12):
Das Meerungeheuer, dem man die Hesione ausgesetzt
hat, ist gemalt mit grossen kreisrunden Augen, die fürchter-
lich in's Weite blicken. Ueber sie sind stachelartige Brauen
herabgezogen. Scharfe Zähne in dreifacher Reihe sehen aus
dem Mund hervor, die einen umgebogen und wie Angel-
haken gestaltet, die andern scharf an der Spitze und weit
vorragend. Ein gewaltiger Kopf aber erhebt sich aus dem
gekrümmten und ' geschmeidigen Nacken. Seine Grösse ist,
um es kurz zu sagen , unglaublich , aber der Anblick über-
füllt die Ungläubigen. Denn da sich das Ungethüm nicht
einmal sondern vielfach krümmt, so hegt Einiges unter dem
Spiegel des Wassers, nicht ganz deutlich zu sehn, das Andre
1) Er scTieint dies dem altern Philostratus nachgeschrieben zu
haben, der (II, '21) den Herkules gegen Antaeus die Löwen-
haut ablegen lässt. Da ist es allerdings passend.
40-
aber ragt heraus, für Inselchen würden es diejenigen halten,
die das Meer nicht kennen. AYir trafen das Thier in Ruhe;
jetzt aber in heftigem Schwung sich bewegend erregt es ein
gewaltiges Wellengetöse und das bei stiller See. Und der
"Wasserschwall, der von seinem Andrang auseinanderAveicht,
wogt zum Theil um die heraustretenden Glieder des Thiers,
sie bespülend und unten mit Schaum bedeckend, zum Theil
hat er sich ans Gestade geworfen. Die gekrümmten Schwanz-
flossen, die zu grosser Höhe das Meer aufwerfen, sind den
Segeln eines Schiffes zu vergleichen, in mannigfaltigen Far-
ben schimmernd. Herkules aber ist ohne Furcht. Löwenfell
und Keule liegen vor ihm; er steht nackt im Ausfall, den
linken Fuss vorsetzend, und die Unke Hüfte und Hand sind
ebenfalls vorgeworfen , die rechte Hand aber ist zur Span-
nung des Bogens zurückgezogen und zieht die Sehne an die
Brust. Das Mädchen aber ist an den Felsen gefesselt; die
Blüthe der jugendlichen Schönheit ist zwar in der jetzigen
Lage geschwunden, doch kann der Betrachter aus dem Vor-
handenen das Ganze errathen. Ihr Vater Laomedon ist,
denk' ich , innerhalb der Stadtmauern , den Vorgang über-
schauend. Denn der Umkreis einer Stadt ist dargestellt und
die Brustwehren sind voll von Menschen , welche flehend
ihre Hände zum Himmel erheben.
Dass auch hier das Ungethüm in zwei verschiedenen
Situationen auftritt, einmal ruhend, sodann in Bewegung,
wird einem aufmerksamen Leser nicht entgehen. Wir sehn
hier davon ab und betrachten die Gestalt desselben an und
für sich ohne Rücksicht auf die Situation. Drei Reihen von
Zähnen gibt der Rhetor dem Thier, eine Abnormität, die
in der Natur und eben darum auch in der Kunst nicht vor-
kommt. In der Poesie freilich ; in jedem Rachen der home-
rischen Scylla befanden sich drei Reihen von Zähnen^), und
1) Odyss. 12, 89 ff. :
TTJg ijToi nöStg ffa\ (fi'wJfz« nüvxtg hwqoi
f^ ö^ T^ Ol äeioal 7T(Qiui^x(ig^ h' <^f ixccOTi]
a/xeQSc(let] y.fcfaX}], Iv Sl tglaroi/oi otSövTfg
TTVXVol XCCi d^UUifS X. T. X.
41
was sollte Homer abgehalten haben, so zu dichten? Seine
Scylla mit ihren sechs Köpfen macht nicht den Anspruch,
den die Scylla auf einem Bilde macht, unser durch die For-
men der sichtltaren Natur gebildetes Auge zu befi-iedigen,
der Dichter hat nicht die Forderungen de§ äussern, nur des
Innern Auges zu erfüllen^).
Die Grösse des Ungethüms wird in das Unglaubliche
gesteigert, mit so allgemeinen , nichts sagenden Worten frei-
lich , Avie sie kein Augenzeuge gebrauchen würde. Soviel
müssen wir indess annehmen, dass das Thier durch Grösse
sich auszeichnete und dies genügt, um einen gewöhnlichen
Fehler der Philostrate auch hier vorauszusetzen. Alles Aus-
serordentliche nämlich wird von ilmen quantitativ gesteigert
und damit ein deutlicher Beweis gegeben, dass ihren Be-
schreibungen nichts Wirkliches zu Grunde lag. Der Leich-
nam des Kapaneus, dessen Bestattung durch die Angehörigen
auf einem Bilde dargestellt war (Sen. II , 30) , ist zu gross,
um ihn für den eines Menschen zu halten • auf einem andern
Bild (Sen. II, 29) liegen die Helden, die Theben zerstören
wollten, getödtet da, die übrigen grösser als Menschen,
Kapaneus aber einem Giganten gleich; die Gestalt des Her-
kules, der den Antaeus bekämpft, -geht über menschliches
Maass hinaus (Sen. H, 21); auch Aeetes, der die Argonau-
ten verfolgt, erscheint in übermenschhcher Grösse (Jun. ii),
das merkwürdigste Beispiel aber ist der Dämon auf dem
Bilde des Nil (Sen. I, 5), der so gemalt war, dass er als
bis an den Himmel reichend gedacht werden sollte.
Diese Beispiele werden genügen; wir fragen nun, liegt
diesen Schilderungen Anschauung zu Grunde?
Der Malerei sind hinsichthch des Kolossalen engere
1) Hier Hesse sich noch Vieles vergleichen, so der Drache
bei den Aepleln der Hesperiden, mit hundert Köpfen
nach Apollod. 2, 5, 12. Cerberns dem auch aus dem
Rücken Schlangen wachsen ibid. 12. So erscheinen diese
Wesen in der Poesie, anders bekanntlich in 'der bildenden
Kunst.
42
Gränzen gesteckt als der Plastik. Von Nero hören wir frei-
lich, dass er sich in einer Grösse von i2U Fuss auf Lein-
wand nuUen Hess; darüber aber wird Niemand anders ur-
theilen, als der IJerichterstatter, der es eine Tollheit nennt').
In Pompeji und Herkulauum gehören schon die lebensgrossen
Figuren /u den Seltenheiten , noch seltener sind diejenigen,
die um ein Weniges über Lebensgrösse hinausgehen 2). Die Pla-
stik dagegen bewegt sich freier; sie kann zwar auch dasMaass
überschreiten^ die Perioden der sinkenden Kunst, z.B. die Kunst
nach Alexander beweist es , ' die durch ^vahrhaft ungeheuer-
hche Werke Bewunderung, richtiger Yer^^ underung zu er-
regen suchte , aber auch in der edelsten Zeit der Kunst war
die Kolossalbildung nicht selten, sie war vielmehr der noth^
wendige Ausdruck für die erhabene Anschauung des Gött-
lichen, die damals in den Gemüthern lebte. Dieser Unter-
schied der beiden Künste liegt, wenn ich nicht irre, vornehm-
lich darin begi-ündet, dass die Plastik die volle Körpergestalt
nach ihren drei Dimensionen , die Malerei dagegen nur den
Schein des Körpers auf einer Fläche zur Anschauung bringt.
Wird nämhch dieser Schein weit über menschliclies Maass
hinaus verlängert, so erscheint er unAvahr, wir vermögen
solche Figuren nicht mehr als wirklich seheinend zu em-
pfinden , sie treten uns vielmehr entgegen als lange wesen-
lose, gespensterhafte Schatten, mit einem Wort der Schein
wird als Schein empfunden. Ein kolossales Werk der Pla-
stik dagegen bleibt uns, weil es in voller Körperlichkeit
auftritt, immer verwandt, wenn es auch quantitativ sich
noch so sehr unterscheidet. Der Maler, der kolossale Figuren
darstellen will, muss daher einen andern Weg .einschlagen,
er muss dem Beispiel des Timanthes folgen. Dieser geist-
reiche Künstler malle nämlich auf einem kleinen Bilde den
K3'klopen Polyphem und um die Grösse desselben an-
schaulich zu machen, malte er Satyrn hinzu, die mit dem
Thyrsus seinen Daumen' massen ^). Also relativ war der
1) Plin 35, 51.
2) Vgl. z. B. Zahn zu U, 3U. Avelhios Bullet. Nap.VI. p. JO.
3) Plin. 35, 74.
43
Kyklop gross; der Maler gibt in den kleinen hinzugefügten
Figuren uns den Maassstab, uaeh dem wir messen sollen,
wohl erkennend , dass es der Malerei versagt ist, in unmit-
telbarer Anschaulichkeit das Kolossale darzustellen. Anders
der Dichter; bei ihm darf Ka])aneus ein Grigant sein ^) und
alle übrigen Helden ül)erragen. Denn das Bild des Dichters
ist kein sinnlich sichtbares , an dem Unterschied der Grösse
nimmt daher die Phantasie um so weniger Anstoss, als die
Bilder der . einzelnen Helden aufeinander folgen. Die Phan-
tasie hat es zur Zeit immer nur mit ein^m zu thun. Aber
denke man sich die Worte des Dichters übertragen in die
bildende Kunst, so entstehn ganz andere Forderungen. Gleich
der Raum "will angemessen gefüllt sein , das Bild des Nil
müsste schon aus diesem einen Grunde für nicht wirklich
gehalten werden, weil es ganz und gar gegen das in keiner
andern Kunst so sorgfältig als in der griechischen gewahrte
Gesetz der ßaumausfüllung verstösst. An der einen Seite des
Bildes liegt der Nil umspielt von den Kindern, welche die
Ellen seines Wachsthums darstellen, auf der andern steht
der den Himmel berührende Dämon , der dem Nil sein Was-
ser zufüln-f. Dieser Dämon, der ohnehin das Interesse ganz
von dem Nil abzieht, der eine dichterische Reminiscenz ist 2),
hatte aber auch an sich ganz andere Proportionen , als
die Gegenfigur, denn dies ist man doch aus den Wor-
ten des Rhetors zu schhessen berechtigt. Aber was
1) Aesch. Sept. 423-
2) Vgl. d. Erkl. Uebrigens ist das Bild ein ganzes Nest von
Fehlern. Hier sei nur noch dies erwähnt, dass die das ägyp-
tische Lokal bezeichnenden Thiere, Krokodil etc., die so viel
ich weiss, auf keiner der nns erhaltenen zalilreichen Dar^^
Stellungen des Nil und ägyptischer Landschaften fehlen, hier
vermisst werden. Der Rhetor sagt, Krokodil nnd Nilpferd
seien verborgen in der Tiefe des Wassers, nni nicht den
Kindern Furcht einzutlössen. An der vatikanischen Statne
sehn wir zwei Kinder mit einem Krokodil spielend, und wa-
rum sollten- sie nicht? Sie sind ja nicht .'gewöhnliche, son-
dern allegorische Kinder!
44
für ein ungriechiseh componirtes Bild käme damit her-
aus ^j! Doch wichtiger ist Folgendes : ein Mensch, der
vom Dichter zu einem Giganten gesteigert wird, bleibt da-
rum immer ein Mensch: erscheint er aber im sichtbaren Bilde
als Gigant neben andern kleineren Figuren, so verliert er
die Gleichartigkeit mit letzleren und rückt in eine andere
Sphäre. Denn die Kunst kann es mit ihren sichtbaren For-
men ja nur eigentlich meinen, der Gigant des Dichters
aber ist eine uneigentliche Bezeichnung, es ist ein un-
1) Noch au einem zweiten Bild des Philostratus ist uns eine
Beurtheilung der ränmlichen Anordnung möglich. Es ist das
Bild, welches die Geburt der Athene darstellte (Sen. 2, 27).
Man rmiös sich die Anordnung so denken: in der Mitte der
Olymp — der Rhelor spricht freilich nur vom ovquvo? — ,
auf welchem Athene geboren wird im Beisein aller Götter,
an der einen Seite die Akropolis der Athener, au der andern
die der Khodier. Offenbar war nun der Olymp erhaben über
den Oertlichkeiten zur Linken und Rechten. Welcker dürfte
das nach seiner Bemerkung zu Jun. 5, bei der er übrigens
sich wol nicht des obigen Bildes erinnerte und die , an und
für sich betrachtet, sehr merkwürdig ist, am allerwenigsten
läugnen. Dann entstünde aber links und rechts ein höchst
unangenehmer leerer Fleck. Wenn freilich Welcker's Anord-
nung der poh'^gnotischen lliupersis richtig wäre, so wäre
autli an diesem philostratischen Bilde kein Anstoss zu neh-
men, indess sind dagegen namentlich von K. F. Hermann,
Epikrit. Betracht über die polygnot Gemälde in der Lesche
zu- Delphi, Progr. zum Winckelmannstage Gott. 1849 p.20, 21
die überzeugendsten Gründe geltend gemacht. Hermann's
positive Aufstellungen halte ich durchaus nicht für richtig,
aber dass ein in Form eines Dreiecks angeordnetes Bild auf
eine viereckige Wand übertragen erstlich gegen das Gesetz
der Raumfüllung verstösst und zweitens als Gegenstück eines
seinen viereckigen Raum füllenden Bildes auch gegen die
Sj'mmetrie, das wird auch von Hermann's Gegner, Overbeck
(Rh. Mus. N. F. VII, p. 438) anerkannt. Dieser Meinung ist
auch Ruhl in seinem an schönen Bemei'kiingen reichen Auf-
satz in Zeitschr. f. Alt. 1855, p. 391.
45
eigentlicher Ausdruck, um das Höchste übevmüthiger , roher
Kraft zu bezeichnen. Und nun vergegenwärtige man sich
das Bild, wo der Leichnam des Kapaneus grösser als dass
er für den eines Menschen gehalten werden könnte, bestattet
wird von den Angehörigen. AVer ist der Riese, fragen wir?
und wie kann man trauern über ein solches Ungelhüm?
Noch Aergeres aber wird uns zugeinuthet in dem Bild der
Antigone. Die Schwester bestattet den Bruder auf dem
Schlachtfeld, wo Leichnam an Leichnam liegt von Männern
und Pferden, und Waffen und Schlamm von Blut und Staub.
An der Mauer aber liegen die Leichen der übrigen Heer-
führer, grösser als Menschen, Kapaneus. aber einem Giganten
gleich ; und dies Alles ist Nebensache, nur zur Characteristik
der Situation dienend!
Die griechische Kunst unterscheidet die Heroen qualita-
tiv, nicht quantitativ. Herkules ist weder grösser noch
kleiner, als ein andrer Heros ^) , aber der Bau seines Kör-
pers unterscheidet ihn ausser den Attributen. Ja die Götter
selbst erscheinen in gleicher Grösse mit den Sterblichen,
%venn ich eine Klasse von Monumenten ausnehme , die ich
ausnehmen darf, weil sie praktischem Zweck dient, die Vo-
tivreliefs. Da pflegen freilich die Götter in weit grösserem
Maassstab dargestellt zu sein, als die anbetenden Menschen,
und der Grund mag darin liegen, dass das fromme Gefühl,
welches der Gottheit ein Geschenk bringt für Rettung aus
der Noth, auch äusserlich zeigen will, dass ihm die Gott-
heit ein Wesen ist alles Menschliche hoch überragend 2),
1) In der Poesie ist er allerdings wie auch Tydeus, klein von
Statur, vgl. die Stellen in K. F. Hermann's griech. Privatal-
tertluimern §.4, Anm. 7. Mit gutem Grunde, denn mit der
Vorstellung einer stämmigen, auslialtenden Kraft verbinden
wir die einer kleineren Statur, mit welcher sie ja auch in
Wirklichkeit häutiger vei'bunden ist als mit langaufgeschos-
senen Menschen.
2) Bei Grabmonumenten ist es manchmal zweifelhaft, ob nicht der
Grössenunterschied zwischen den adorirenden Menschen und
heroisirten Verstorbneu vom Raum herzuleiten sei. Vgl.
„ 46
aber hier handelt es sich nur um die Schüpfungen der freien,
zwecklosen Kunst und wie diese verfuhr, lehren die Vasen
und Wandgemälde. Wie könnte auch die Kunst anders ver-
fahren, wenn sie den Gott im Verkeiir mit den Sterblichen
darstellen will !
Doch wir kommen auf das Bild der Hesioue zurück.
Auf den vorhandenen Darstellungen ist (k)s Seethier eher
durch Kleinheit als durch Grösse ausgezeichnet im Verhält-
niss zu den Menschen. Die Künstler wollten auf etwas an-
deres die Augen des Betrachtenden lenken, auf das Wesent-
liche der Sache, auf das GeJstige, das in den Theilnehmern
der Handlung ausgeprägt, ist. Die ungebildete Menge mag
ein Ungethüm, wie das von Philostratus beschriebene, mit
rohem Staunen erfüllen, der denkende Künstler wird es ver-
stebn, auf das Bild des Mädchens, das zwischen Furcht und
Hoffnung schwankt, die Aufmerksamkeit zu ziehn. Das Bild
des Philostratus ist ein rohes S])ektakelstüek, auch ,die gaf-
fende Menge fehlt nicht, die auch bei dem Kampf des Herkules
und Achelous zugegen war i), und der Vater des Mädchens,
meint der Rhetor, sei auch wol unter den Zuschauern. Wie ist
es möglich, so Etwas für gemalt zu halten, gemalt in gi-iechi-
scher Kunst 2) ! Ein herkulanischer Maler hätte Gelegenheit
Welcker A. D. IL p. 260. Ehic beabsichtigte Kleinheit der
Figuren finde ich dagegen auf Reliefs, wie tlas von Eleusis
bei Müller II, 8, 96, wo der Demeter ein Opfer gebracht
wird. Denn hier ist über den kleinen adorirenden Figuren
leerer Raum gelassen.
1) Ebenso auf dem Bild des Arrhichion Sen. II, 6.
2) Wenn Priamus and Hekuba auf den Mauern Trqja's erschei-
nen bei Hektor's Schleifung, so hat das Sinn: Achill könnte
ja durch ihr Flehn erweicht werden. — Mir fällt ein spät-
römisches Relief ein bei Guattani Mon. ined. 17Ö5 p. 9 oder
. Miliin, Gal. myth. 133, 521*, wo der Wettkampf des Pelops
und Oenomaus dargestellt ist. Da sieht man mehre Köpfe
von Zuschauern, weil das Ganze als ein römisches Cirkus-
rennen aufgefasst ist. Vgl. das römische Relief in Annali
XI, tav. dAgg. N.
47
gehabt, die Zuscliauor anzubringen; er hat hinter der Hesione,
die zur Aussetzung geführt wird , eine Mauer augebracht, um
die Stadt anzudeuten, aber es ist nicht ein einziger Kopf
darüber sichtbar. Dagegen" steht neben der Hesione eine
Frau, welche das Mädchen stützt. Eine Freundin giebt ihr
das Geleite auf dem Weg in den Tod und spricht ihr Hoff-
nung ein , da die Befreier in der Nähe sind. Es ist aber
nicht ein Befreier da, auchTelamon, der künftige Gatte des
Mädchens ist anwesend und während Herkules noch in Un-
terredung begriffen ist mit dem Mädchen und ihrer Beglei-
terin, ist jener, der mehr als Herkules Betheiligte , schon im
BegTiff, einen Felsblock auf das Ungethüm zu schleudern.
Telamon aber fehlt ganz bei Philostratus und das ist sehr
merkwürdig. Denn auf allen Monumenten, die nicht durch
eine offenbare Raumnoth auf Abkürzung angewiesen sind i),
erscheint Telamon neben Herkules 2). Sie weichen darin
von dem literarisch Ueberlieferten ab, denn so weit wir be-
richtet sind , befreit Herkules die Hesione allein , da ihm aber
1) Dies glaube idi sagen zu dürfen von dem Glaskameo Arch.
Ztg. 1849 tat'. 6, h. A. wo schon das Sitzen der Hesione
durch die Bescliränkung des Raumes veranlasst ist , sodann
von dem Kölner Sarkophag in den Jahrb. des Vereins von
Alterthum^freunden im Rheinland VIT, taf. 3 , wo das Bild
einer Scene von zwei Figuren, dem Dreifussraub des Herku-
les, S3'mmetrisch gegenüber gestellt ist. Dass das von Wie-
seler im Bull, deir inst. 1852, p. 114 beschriebene Vasenbild
sich auf Herkules und Hesione beziehe, .scheint mir noch
nicht sicher.
2) Vgl. Pitt. d'Ercol. IV, G2. Winckelm. Mon. ined. n. 66. Cam-
pana Op. in plast. tav. 21. Auf dem letzten Bild steht Tela-
mon voran als der am meisten Betheilig^e •, die Stellung des
Herkules entspricht genau der von Philostratus beschriebenen i
natürlich, denn es ist die Stellung, die Jeder einnehmen muss,
der einen Bogen abschiesst, so dass der Herausgeber nicht
nöthig hatte, darauf aufmerksam zu machen. Sehr richtig
aber bespricht er die ausdrucksvolle Haltung der Hesione.
Philostratus dagegen macht alberne Phrasen über sie, wozu
mau wahrhaftig kein Bild von ihr gesehn zu haben braucht.
48
Laomedon den bedungenen Lohn nicht geben will, so zieht
er in Begleitung des Telauion gegen Troja und nach der Er-
oberung der Stadt gibt er dem Freunde die Braut. Die
Kunstwerke rücken die Ereignisse näher zusammen , sie
bringen den Telamon schon in die. erste Reise des Herkules
nach Troja, vielleicht auf Anregung eines Künstlers, wahr-
scheinlicher aber scheint mir, dass ein Tragiker so dichtete,
der Schluss mit der Hochzeit hätte wenigstens in den erhal-
tenen Tragödien manche Analogien. Doch sei dem wie ihm
w^oUe, nach den vorhandenen Kunstwerken erwartet man,
auch diesen Zug bei Philostratus zu finden und sieht sich
daher zu der Annahme veranlasst , wie anderswo , so habe
er auch hier die überlieferte Erzählung nachgeschrieben 3).
Diese Annahme ist um so berechtigter, als bekansitlich die
Darstellungen eines und desselben Gegenstandes in der grie-
chischen Kunst immer eine merkwürdige Aehnlichkeit in den
wesentlichen Momenten zeigen. Was einmal gut Mar, das
wurde wiederholt und nur in Einzelheiten wich man a!), um
nicht als ganz unselbständiger Nachahmer zu arbeiten.
Wir können noch nicht die Betrachtung der äussern Ge-
stalt nach ihrer Verschiedenheit in Dichtung und Kunst ab-
schliessen, Philostratus bietet noch mehre Fälle, welche
zwar mit den obigen unter ein Genus fallen , doch im Ein-
zelnen abweichen.
Auf einem Bild des älteren Philostratus (2, 7) war die
Trauer um den von Memnon getödtelen Antilochus dar-
gestellt :
1) Die Verschiedenheit zv^ischen Kunst und Diclitung, wie sie
in diesem Mythus sich herausstellte, Ihidel sich ganz ähnlich
in dem Mythus von Kadmus und Harmonia. Nur die Kunst-
werke setzen den Drachenkampf und die Hochzeit in ursäch-
liche Verbindung, nicht die Schriftsteller. Vgl. Welcker A.
D. III, p. 386.
I
49
Memnou aus Aethiopien angekommen tödtet den Anti-
lochus, der für seinen Valer kämpfte, und setzt die Achäer
in Schrecken. Denn vor Memnon waren die Schwarzen eine
Fabel. Die Achäer aber im Besitz des Leichnams beweinen
den Antilochus, Odysseus kenntlich an dem Verschlossenen
und Aufpassenden , Menelaus am Sanften , Agamemnon am
Gut! liehen. Den Diomedes bezeichnet das ofifene Wesen, der
Sohn des Telamon ist finster, den lokrischen Ajax aber er-
kennt man an dem Beweglichen. Und das Heer betrauert
den Jüngling, ihn rings umstehend. Sie haben die Lanzen
in die Erde gestemmt und stützen sich auf sie mit überge-
schlagenen Beinen ; den meisten hängen vor Trauer die
Kopfe herab. Den Achill zeigt seine Gestalt an und seine
Grösse und das abgeschnittene Haar. Er klagt an der Brust
des Antilochus liegend. Memnon aber steht im Aethiopen-
lager schrecklich da mit der Lanze und dem Löwenfell, grin-
send gegen Achill. Dem Antilochus sprosst schon der Bart,
sonnengolden ist sein Haar, leicht der Schenkel und der
Körper passend gebaut zur Leichtigkeit des Laufes ; das Blut
aber ist wie Purpur auf Elfenbein , da ihm die Lanze in die
Brust gedi'ungen ist. Heiter aber und lächelnd ist sein
Anthtz.
. Memnon hatte auf diesem und auf einem andern Bilde
(Sen. 1, 7) schwarze Gesichtsfarbe. Nur diese? fragt man
sogleich; Marum sagt nicht der Rhetor, dass er auch die
Gesiehtsbildung des Schwarzen hatte? Oder war er etwa
ein schwarz angemalter Weisser? Nicht denkbar; der Künst-
ler musste ihm entweder alle oder kein Merkmal des Aethio-
pen geben , aber ihn mit einer Eigenschaft ausstatten ohne
die andren , ist ein Verstoss gegen die Naturwahrheit. Ehe
wir das annehmen, ist es natürlicher zu glauben, dass der
Rhetor die übrigen Eigenheiten des äthiopischen Typus über-
sehn oder zu erwähnen A^ergessen habe. Aber dann wider-
spricht die ganze Menge der erhalteneu Darstellungen ; nur
untergeordnete Aethiopen , nie aber ist der Führer in dem
Typus seiner Race dargestellt. Schon auf Vasen mit schwar-
zen Figuren finden sich Neger auf das Deutlichste characte-
4
50
risirt, aber Memnon selbst ist immer ganz Grieche'). Und
warum ist ers? Weil in der griechischen Kunst der Charac-
ter des Mannes dasjenige ist , wornach sich seine Gesichts-
bildung bestimmt. Dem Busiris lässt man die nationale Phy-
siognomie 2), der nach seinem Character nicht den edeln Ty-
pus beanspruchen kann, der nothwendig ist für den in die
griechische Sagenwelt eng verflochtenen Sohn der Eos. Nur
in der Gewandung characterisirt man den edlen Ausländer,
und selbst hierin unterscheidet sich die frühere Zeit wesent-
lich von der sj)ätern. Denn Orpheus, Medea, Paris pflegen
vollkommen hellenisch in der altern Kunst auszusehn. Diese
ältere Kunst ist idealer, unbekümmerter um das Zusammen-
stimmen mit der AYirkhchkeit , sie fällt vor jenen grossen
kulturhistorischen Wendepunkt, in welchem das griechische
Volk vom Idealen zum Realen sich wandte.
Doch das Princip der griechischen Kunst, den Typus
des Gesichts nicht nach de,m äussern Grund der Herkunft
aus der Fremde, sondern nach dem Character der darzustel-
lenden Figur einzurichten, ist zu wichtig, um nicht , etwas
näher besprochen zu werden-').
Die grade Nase war eine Eigenthümlichkeit des gri«-
chischen Nationaltypus. Sie wurde daher zuerst ohne Re-
flexion als ein von der Natur Gegebenes nachgebildet. Die
Satyrn z. B. auf den altern Vasen sind im Profil nicht ver-
schieden von den übrigen Figuren. Es konnte aber nicht
fehlen , dass dasjenige , was ursprünglich als' ein Vorliegen-
des naiv benutzt wird, später mit künstlerischem Verstand-
niss nach seinem Innern Wesen , nach seinem Character ver-
wandt wurde. So ist es ja überall. In Haar und Gewan-
dung wird die älteste Kunst beherrscht von der Sitte des
Lebens, ein neuer grosser Anfang aber ist es, wenn statt
1) Wie auf der Vase des Ama«is bei Gerhard Auserl. V. 207,- so
war es in der Unterwelt Pol^ygnot's •, Paus. 10, 31, 5.
2) Vgl. z. B. Micali storia tav. 90.
3) Die geschichtliche Ent\\ickhing der Gesichtsformen giebt der
erste Excurs.
51
der Sitte die künstlei-ische Nothwendigkeit als bestimmender
Grund eintritt. Die grade Nase ist keineswegs allen grie-
chischen Kunstdarstellungen eigen : zu edel wäre sie für den
Satyr und Pan, auch Herkules in der Bildung durch Lysip-
pus, die in der farnesischen Statue und in mehreren herr-
lichen Gemmen vorliegt, hat sie nicht und kann sie nicht
haben. Unter der mächtig vorspringenden ünterstirn, die
nicht auf Weisheit, aber auf energisches Wollen deutet,
springt eine gebogene Nase hervor; sie ist die für den Heros
der unbeugsamen, wuchtigen Kraft angemessenste Form. Der
Adel des griechischen Profils tritt deutHch hervor in der
Umgebung von Figuren mit anderer Gesiehtsbildung, so wenn
Dionysos Von Satyrn umgeben ist. Auch neuere Künstler
haben in dieser Art herrliche Contraste erreicht; man ver-
gleiche das Profil des Pharisäers mit dem des Heilands auf
Tizians Zinsgi'oschen , vor Allem aber das Abendmahl des
Leonardo. Welch ein Gegensatz zwischen dem Profil des
Verräthers, dessen Gesicht der, tiefsinnige Meister in dunklen
Schatten gehüllt hat — als hätte ihm die wunderbare Stelle
im Evangelium Johannis vorgeschwebt — und den reinen,
edlen Formen des neben ihm sitzenden Johannes! Der Cha-
racter des Mannes also ist das Entscheidende und darum
stellten die griechischen Künstler den Ausländer je nach sei-
nem Character bald als Ausländer dar, bald in der Phy-
siognomie ihres eigenen Volkes^).-
Und was fangen wir nun mit Philostratus an? Die
Dichter geben Auskunft. Sie bezeichnen Memnon als den
1) 0. Jahn Archäol. Beitr. p. 424 Anm. 33 (vgl. dessen Einlei-
leitung zum Münchner Vasenkatalog Anna. 1206) giebt noch
andre Beispiele unhellenischer Nasenform , in denen die Be-
ziehung der Form zu dem betreffenden Character , wie ich
'glaube, nicht schwer zu erkennen ist. Denn dass durch die
abweichende Nasenform nur die ausländische Herkunft cha-
racterisirt werden sollte, kann ich nach den Erörterungen im
Text nicht zugeben. Sehr Interessant ist auch die rondani-
nische Meduse mit ihrem ganz ungriechischen Profil.
4 *
52
Schwarzen '") und ebenso der Rhetor, der ihnen nachschreibt,
und zwar ebensoviel nachschreibt, als jene sagen. Und doch
darf sich ber Dichter mit dem einen Beiwort begnügen und
das \Yeite]'e der Phantasie des Lesers überlassen. Er ist
natürlich aucli nicht dem Gesetz unterworfen, das sich uns
für die bildende Kunst herausgestellt hat.
Kicht minder merkwürdig als der schwarze Memnon
ist die Charakteristik der den Todten umgebenden Helden.
Kenntlich sollen sie sein an dem Sanften, Göttlichen und wie
es weiter heisst? Hatten sie denn keine Attribute? Hatte
Odjsseus nicht den Schifferhut, den ihm schon ApoUodorus
oder Nikomachus, Maler auf der Gränze des fünften und
vierten Jahrhunderts , gaben 2) , den er durchgehends trägt
in den erhaltenen Kunstwerken? Oder sollte der Schiffer-
hut der Situation nicht entsprechen , Avaren denn keine an-
dern äussern Zeichen da, um die einzelnen Helden zu cha-
rakterisiren ? Es ist sehr auffallend , dass bei Philostratus
so wenig von Attributen die Rede ist, von solchen nämlich,
die hl der Poesie nicht vorkommen. An Nymphen und
Flussgöttern erwähnt er nie die Urne, ihr ständiges Attribut
in der Kunst ^), Pan ist immer ohne seinen Hirtenstab und
Olympus Avird (Sen. i, 21) auf das Ausführlichste be-
schrieben , aber von einer phrygischen Mütze erfahren wir
nichts; besonders auffallend aber ist, dass uns der Rhetor
die schwierigsten Figuren, z. B. die Personifikationen der Berg-
wai-ten , die das, was sie vorstellen sollten, offenbar nur
durch sprechende Attribute ausdrücken konnten, angiebt,
ohne ein Wort über ihre äussere Charakteristik zu sagen.
Und merkMürdig genug, er benennt sie ohne Anstand, ohne
Zweifel. Woher das komme, ist nicht schwer zu sagen; es
sind wieder die Dichter, denen der Rhetor folgt. Denn die
Dichter, welche mit einem Wort auch die schwierigste Per-
1) Vgl. die Erklärer.
2) Brunn Gesch. d. griech. Künstler II, p. 71 und 168.
3) Nur der jüngere Philostratus erwähnt sie in no. 8, aber als
nicht dargestellt.
, 53
soniHkation deutlich machen, bedüiien natürlich nicht —
man lese die lierrhche Erörterung in Lei^sings Laokoon
Kap. X — derjenigen Attribute, welche der Künstler nöthig
hat, um seine Gestalt kenntheh /u machen. Was Philostra-
tus dagegen von Attributen bei Dichtern gefunden hatte, das
wird angebracht, auch wenn es höchst unpassend ist. Auf
einem Bilde, welches Jason und Medea darstellte (Jun. 7),
stützt Eros sich auf den Bogen und hält die Fackel in der
Hand. Es ist mir unter den Hunderten unserer Erosdarstel-
lungen nur eine einzige bekannt, wo der Gott Bogen und
Fackel zugleich hätte und in dieser einzigen Darstellung ist
er schlafend dargestellt, er gebraucht also seine Attribute
nicht 1). Und ist es denn nicht höchst ungeschickt, deni Eros
zwei Attribute zu geben, die beide dasselbe bedeuten? Der
Rhetor hatte , wenn ich nicht irre , so ein Gedieht , wie das
zweite des Moschus, in dem die gefährlichen Wafien des
Eros nach einander geschildert werden, gelesen und brachte
nun seine Kenntnisse am unrechten Ort an. In demselben
Bild war Jason dargestellt mit einem Schuh. Wer sieht
hier nicht den Rhetor , der Reminiscenzen seiner Dichter-
lektüre anbringt! Stände Jason vor Pehas, so trüge er mit
Recht nur einen Schuh, denn dieser Zug der Sage hat ja
nur für den Pelias Bedeutung, der das Orakel erhalten hatte,
er möge sich vor dem Mann mit einem Schuh in Acht neh-
men. Es ist also ein Zug, der den Jason nicht als Jason
überhaupt, sondern nur in einem besondern Verhältniss cha-
rakterisü-t und was soll nun dieser Zug in einer ganz andern
Situation, in dem Verhältniss des Jason zur Medea^) ! Auch
1) Ich meine den öfter wiederkehrenden Typus bei Müller-
Wieseler II, 52, 661.
2) In dem Bild des Glaucus (Sen. II. 1.)) halten die 50 Rude-
rer der Argo mit ihrem Rudern inne, als sie den Meerdämon
erblicken. Sollte wohl ein Künstler hierin den Dichtern ge-
folgt sein, die allerdings die Argo als ein Schiflf mit fünfzig
Ruderern bezeichnen? An der Argo des Philostratus fehlte
auch der alte weissagerische Balken nicht; gelehrt war also
der Künstler gewiss , wenn nur nicht unter allen solchen im
54
das vorliegende Bild enthält eine Reminiscenz aus Dichtern,
auf die unschicklichste Weise angebracht: Achill hat kurz-
geschnittenes Haar, aus Trauer, wie der Rhetor sagt, um
Patroklus. "Was hat dieser Zug mit dem vorliegenden Bild
zu thun ? W^enn Achill die Troer am Grabmal des Freundes
opfert oder wenn Priamus den Leichnam des Sohnes von
ihm erbittet, dann hat Achill mit Grund kurzgeschnittene
Haare, weil für beide Darstellungen die Trauer um den Freund
eine wesentliche Voraussetzung ist, die wir kennen müssen:
hier höre ich nur den Rhetor, der eine Reminiscenz ein-
schiebt. Und was ist das für ein unhomerischer, weich-
herziger Achill, der auf dem Bilde trauert, statt nach Rache
zu schreien! Warum benimmt er sich nicht so, wie der
Achill der Vasenbilder, der über dem todten Freunde den
Speer schleudert gegen Memnon , der nicht vor, sondern
nach der Rache trauert! Und andrerseits jener Memnon,
den der Rhetor so recht wild hat machen wollen durch das
Löwenfell, mit dem er ihn bekleidet, warum ist er so mit-
leidig und unverständig zugleich und steht jetzt still in seinem
Sieg? Warum benutzt er nicht den Augenblick, um noch
mehrere Griechen zu tödten? Was ist es überhaupt für ein
Einfall, dass ein Heer — es ist wieder eine reichliche Menge
da, auf beiden Seiten — im Angesicht des Feindes ruhig
dasteht um einen gefallenen Helden! Denn Antilochus fiel
nicht in einem verabredeten Einzelkampf, dem die Heere
ruhig zuschauen , sondern im Getümmel der Schlacht.
Aber es wird noch ärger. Den Nestor, den Vater, für
welchen Antilochus gefallen , vermissen wir auf dem Bilde.
Es sei geschehn, sagt Welcker, damit nicht durch den Schmerz
des Vaters das Interesse von der Liebe des Achill abgezogen
werde, worauf das grösste Gewicht liege. Wenn also ein
neuerer Künstler den Heiland am Kreuz hängend ohne die
Mutter darstellte , so würden wir' mit Welcker , ich weiss
nicht ob lobend oder entschuldigend, sagen es sei geschehn.
besten Fall überflüssigen mythischen Notizen das Wesentliche
eines Kunstwerkes, das Künstlerische, zu Grunde ginge.
55
damit nicht durch den Sclimerz der Mutter das Interesse von
der Liebe des Johannes , des Freundes , abgezogen Averde,
worauf das grüsste Gewicht hege. Kann denn der Künstler
machen mit dem Mythus was " er will ocler schhessen sich
etwa die Trauer eines Vaters und eines Freundes aus ? Was
sollte denn den Künstlers bewogen haben , uns den Vater
aus den Augen zu rücken, dessen Anwesenheit ja die That
des Antilochus erst in ihrem rechten "NA'erth vor Augen führt?
Dass Antilochus für seinen Vater den Tod gefunden, das
pries an ihm das ganze Alterthum und ein alter Künstler
sollte den Vater an der Leiche des Sohnes weggelassen, dage-
gen eine Menge von Personen dargestellt haben, die im Ver-
gleich -zum Vater unbetheihgt genannt werden dürfen^)?
Ist dagegen dieses Gemälde nur das Produkt eines Rhetors,
so erklärt sich die Auslassung des Nestor sehr leicht. Wie
Jacobs nachweist, war das Verhältniss des Antilochus zum
Achill ein Problem, ein t,^TT}[jba der Grammatiker und eben
mit der Erörterung dieses Verhältnisses beginnt der Rhetor.
Bei solchem Ausgangspunkt konnte er natürhch den Vater
nicht brauchen.
Antilochus liegt todt am Boden , aber sein Gesicht ist
heiter, ja sogar lächelnd. So grüsst Menoikeus den Tod
1) Man könnte mir als eine sclieinbare Analogie für das pliilo-
stratische Bild eine Darstellung des Oplertodes der Iphigenie
entgegenhalten. Ich meine das von Zahn (II, 61) publicirte,
von Welcker (zu Müller's Archaeol. §. 415 p. 708) vollkom-
men richtig, wie mir scheint, erklärte Bild, auf welchem nur
' eine trauernde Figur anwesend ist, die ilieils wegen ihrer
Jugendlichkeit, theils wegen der Anwesenheit des Eros schwei'-
lich auf Agamemnon gedeutet werden darf, wie Jahn (Arch.
Beitr. p. 379 i will, sondern gewiss den Achill darstellen soll.
Hier also fehlt auch der Vater, für den das Madchen ebenso
wie Antilochus in den Tod ging, wenn auch durch die Schuld
des Vaters selbst. Ein Timanthes dachte anders-, allein auch
davon ganz abgesehen, so ist es doch ein grosser Unterschied,
ob die ferner Stehenden mit dem Vater fehlen, oder ob sie
anwesend sind ohne den Vater.
56
mit schönem und freundlichem Auge (Scn. 1, 4), obwohl das
Schwert bereits in seiner Brust steckt; so hat Arrhichion,
welcher seinen olympischen Sieg mit dem Leben erkaufte,
ein Lächeln auf seinem Gesicht (Sen. 2, 6), und die Panthia,
welche sich gleichfalls mit dem Schwert durchbohrt, hat noch
glänzende Augen und Röthe auf den Wangen (Sen. 2, 9).
Das letzte so, wie auf einem andern Bild (Sen. 2, 10) be-
trunkenen Männern die Köpfe abgeschlagen werden , ohne
dass die Weinröthe aus den Gesichtern weicht. Dies Bild
wird besonders behandelt werden; was aber das Sterben mit
lächelnder Miene betrifft, so ist zwar bekannt, dass die grie-
chische Kunst das Bild des Todes durch einen Schein des
Friedens zu erheitern sucht, dass sie den Sterbenden wie
schlafend darstellt i), dass aber Heiterkeit und Lächeln auf
dem Gesicht des Todten wohne, ist der hellenischen Anschau-
ung vom Tode durchaus zuwider.
Wie Memnon, so erscheint auch der Lib3'er Antaeus als
Schwarzer, zugleich aber in kurioser Missgestalt. Das Bild
ist folgendes (Sen. 2, 21):
Auf staubigem Raum 2) sieht man zwei Ringer, von
denen der eine sich den Ohrensehutz anlegt, der andre die
Löwenhaut von der Schulter zieht, und die nöthigen Hü-
1) Man vergleiche auch die attischen Grabsteine. Diese Monu-
mente mit ihrer edlen Einfachheit und verhaltenen Welimuth,
die tiefer ergreift als laut vorbrechende Klage, beweisen, mit
welcher Fassung man den Tod betrachtete, obwohl die Menge
des Volks wenigstens noch kein Heilmittel kannte. Was für ein
Abstand in künstlerischer und sittlicher Hinsicht zwischen
diesen und den etruskischen Grabsteinen mit den excentri-
schen Darstellungen der Todtenklage!
2) Kövig oXa iv nüXccig Ixfivais Inl nrjytj iXca'ov sagt der Rhe-
tor. An diesen Worten hat man vielfach Anstoss genommen ;
Welcker's Erklärung kann schon desswegen nicht gebilligt
werden, weil sie das ^y.tivaig unerklärt lasst. TTtiyy] steht
hier in einer nicht seltnen metaphorischen Bedeutung; vgl.
z. B. Find. Pyth. 4, 299 und Aesch. Pers. 238: ci()YvQov
57
gel und Stelen und eingegrabenen Buchstaben. Da liegen
die begraben, welche Antaeus überwiind. Herkules aber,
der die goldneu Aepfel bereits bei sich trägt, macht sich
gegen Antaeus fertig , noch keuchend vom Wege. In seinen
Augen sieht man , dass er sich den Ringkampf überlegt und
während Antaeus sich übermüthig benimmt, hat er seinem
Muthe Zügel angelegt. Er ist stark gemalt und voll Ge-
wandtheit wegen des Ebenmaasses seines Leibes. Seine Ge-
stalt aber geht über menschliche Grösse hinaus und blühende
Farbe hat er und die Adern sind %\ie vom Zorn aufgetrieben.
Antaeus aber gleicht einem Unthier, indem er beinahe eben-
so breit wie lang ist. Der Nacken befindet sich zwischen
aufgethürmten Schultern , von denen ein grosser Theil zum
Nacken geh()rt. Der Arm ist nach hinten herumgebogen,
wie die Schultern. Brust und Bauch wie mit dem Hammer
getrieben und der nicht grade, sondern sklavische Schenkel
zeigen zwar den Antaeus als kräftig, aber seine Kraft
ist Avie gefesselt und entbehrt der Kunst. Auch ist er
schwarz. Dies geht die Zeit vor dem Ringkampf an. Nun
siehst du sie aber auch ringend oder vielmehr gerungen
habend und den Hei'kules als Sieger. Er bekämpft ihn aber
oberhalb des Bodens, weil die Gaea ihm beistand. Oberhalb
der Weichen, wo die Rippen sind, hat er ihn gepackt, legt
ihn sich aufrechtstehend auf den Schenkel, drückt seine Arme
zusammen, setzt den Ellbogen an den weichen und keuchen-
den Bauch und presst ihm so den Athem aus und tödtet
ihn , indem die scharfen Rippen sich gegen die Leber wen-
den. Du siehst ihn jammernd und auf die Erde blickend,
die ihm nicht liilft, den Herkules aber in Kraft und lächelnd
über die That. Auf dem Gipfel des Berges aber musst du die
Götter dem Kampf zuschauend denken , eine goldne Wolke
ist gemalt, unter welcher sie, wie ich glaube, lagern. Hermes
aber kommt zum Herkules, um ihn zu bekränzen.
7rrjy^\ es ist das, woraus etwas in Fülle hervorgeht. tXni'ov
aber muss nicht von fXaiov, sondern von fkcciog abgeleitet
werden: die Quelle des Oelbaums ist Olympia, von wo der
Oelbaum in reicher Menge ausgeht.
58
In den erhaltenen Schriftstellern findet sich keine de-
taillirle Scliilderiing der Gestalt des Antaeus, die Denk-
mäler, (leren nielit wenige sind^), stellen ihn dar als ge-
wöhnlichen Menschen, nicht anders als den Herkules. Wie
könnten sie auch anders verfahren? Antaeus zwang die
Fremdhnge, die zu ihm kamen, zum Ringkampf und besiegte
sie; er war also rin guter Ringer. Daher musste doch der
Künstler ihm einen Körper geben, dem man ansieht, dass er
geschickt ist zum Ringen. Was kümmert diese einfache Er-
wägung den Rhetor! Er hatte gelesen bei Dichtern-) von
der unermesslichen Kraft des Antaeus und danach bildet er
selbständig, wie ich glaube, weil die ganze Beschreibung
so absurd ist, ein Ungethüm-"*), das zu keinem andern Kampf
so untauglich ist, als gerade zum Ringkampf.
In der ersten Scene rüstet sich das Unthier zum Kampf,
es legt die Ohrenklappen an. In einem Ringkampf Ohren-
klappen, die nur dem Faustkampf angehören und angehören
können, um das Ohr gegen Schläge zu schützen und auch
diesem wol nur in der Vorübung? Wenigstens ist mir un-
ter den A ielen der Wirklichkeit entsprechenden Darstellungen
des Faustkampfes keine bekannt, auf der Ohrenklappen
sichtbar wären. Es ist ein kleines, aber charakteristisches
Versehn desRhetors, wie wir sie noch mehrfach finden wer-
den. Aber es sei so in Wirklichkeit gewesen, durfte darum
1) Vergl. Gerhard Auserles. II, p. 102.
2) Vergl. Lucan. Phars. IV, 593 ff.
3) &rjoi(o yccQ rivi foixiv sagt er, um das Massige, Plumpe zu
bezeichnen. Was an diesem Ausdruck auszusetzen, sehe ich
nicht ein. — Bei dieser Gelegenheit übrigens maclie ich ein
für alle Male darauf aufmerksam, dass Jakobs a« mehreren
Stellen conjicirt nur geleitet von der Voraussetzung, dass
der Rhetor nichts Absurdes sage, so Sen. II, 2 für ig yövu
(^t Hl x^^of? will er avTovoi xtI. Böttiger (bei Jacobs) hat
richtig darauf aufmerksam gemacht, dass Achill so lange Arme
habe , weil der Lauf die Arme ausdehne. Nur bedachte der
Rhetor freilich nicht, dass dies Anbringen gelehrter Kennt-
nisse den Achill einem — Affen ähnlich macht.
59
diese "Wirklichkeit hier nachgeahmt \verden? Beachten wir
zunächst folgende analoge Fälle. Apollo, der den Hyacin-
thus unfrei-willig mit dem Diskus getödtet hat. steht auf der
Erderhöhung, von welcher aus man den Diskus in Wirklich-
keit zu schleudern pflegte (Sen. i, 24) 5 Apollo erscheint
mit Riemen an den Händen, um den wilden Wegelagerer
Phorbas zu bezwingen (Sen. 2, 19). Wer sieht nicht, dass
in diesen Fällen der Rhetor Dinge, die er gelesen hatte, auf
die unpassendste Weise einmischt ! Warum, fragen wir,
tödtet nicht Apollo, der ja der Riemen jiicht bedarf, den
Phorbas sofort ohne Vorbereitung? und wozu brauchen wir
die Erderhöhung der Wirklichkeit , die der Rhetor mit der
widerwärtigsten Breite beschreibt, wenn ein Gott mit seinem
Liebling Diskus warft*)? Und in unserm Fall, ist es nicht
albern, dass ein rohes Ungethüm wie Antaeus, sich noch
erst mit künstlichem .Geräth versieht, ehe es über seinen
Gegner herfällt? Wäre er ein Mensch wie Herkules und
forderte der Ringkampf eine besondere Vorrichtung, so wäre
Grund da, diese besondere Vorrichtung in das Bild aufzu-
nehmen, so wie die Faustkämpfer Amjkos und Polydeukes
an der fikoronischen Cista im Kostüm der Faustkämpfer
erscheinen 2). Aber das ist eben die Art des Philostratus,
dass er den Erzählungen der Schriftsteller, wo sich ein An-
1) Die Erderhöhung finde ich nicht einmal da angegeben, wo
Palästriten dargestellt sind, sich im Diskuswerfen übend.
2) Man vgl. noch Sen. 2, .31: Themistokles war dargestellt,
dem Perserkönig, zu dem er geflohn, seine Sache vortragend.
Er stand — auf einem Stein, wie es in Wirklichkeit Sitte
war, dass der Redner in Versammlungen auf einem ßrjua
stand. Hätten wir es mit einer Rathsversammlüng zu thun,
wie auf der Dariusvase, so wäre die Sache gut, aber ein
Flüchtling soll dargestellt werden, der den König für sich
einzunehmen sucht. Dadurch, dass der Rhetor seine Notiz
einmischte, wird das Bild sofort ein ganz andres; Themistokles
wird zu einem Griechen , der am persischen Hof lebt und
hier in der Versammlung das Wort führt; dass es sich aber
um die Angelegenheit des Flüchtlings Themistokles han-
delt, sagt das Bild nicht,
60
lass bietet, eigne Notizen, Reminiseenzcn seiner Lektüre auf
die gedankenloseste Weise einmischt. Manche „Bilder" sind
nichts anders als roh zusammengestoppehe Notizen *),
Es ist ferner nicht abzusehn, wozu die goldnen Acpfel
der Hesperiden iji das Bild hineingebracht sind. Oder sollen
sie etwa den Herkules als xaX'livixog bezeichnen und somit
i) Vgl. namentlich das „Dodona" betitelte Bild (Sen. 2, 33).
Bei dieser Gelegenheit sei es mir erlaubt , eine Figur , die
man als „dodonäiscbe Pi-iesterin'' bezeichnet hat, kurz zu be-
sprechen. Ich meine das in Stackelberg's Gräbern der Hell.^
Taf. 73, 5 abgebildete Erzfigürchen aus Patrae, eine Darstel-
hing, die ich nie ohne tiefe Rührung habe betrachten können.
Ein Mädchen steht da den linken Arm in die Seite gestemmt;
auf ihrer rechten Schulter sitzt ein Täubchen, das sich vor-
neigt nach dem Futter, welches in der erhobenen rechten
Hand des Mädchens vorauszusetzen ist. Was kann es lieb-
hch Innigeres geben als diese Gruppe! Ein Mädchen lockt
ein Vöglein; nun kam es und setzt sich auf ihre Schulter;
das Mädchen stellt sich fest hin — es stemmt den Arm in
die Seite — um nicht durch eine zufälhge Bewegung das
Thier zu scheuchen und hält ihm nun die Hand mit dem
Futter hin. Etwas zweifelhaft ist noch das Thier, es streckt
verlangend den Schnabel vor, doch nicht ganz ohne Besorg-
niss, ob die Gabe ehrlich gemeint sei, das Mädchen abeif
neigt leise innig ihr Köpfchen über das liebe Vöglein, —
eine Geberde, die zugleich formell die Gruppe zusammen-
schliesst. Das Schönste aber ist, dass das Mädchen sich
selbst unbewusst handelt, der Künstler dachte nicht an
den Beschauer, als er sein Werk schuf; es ist ein Fall wie
mit der zum Quell gehenden Nymphe in Tegel, eine vielfach
missverstandene Statue, deren Sinn ebenso tief als wahr in
einem Sonett W^. von Humboldt's ausgesprochen ist. Unser
liebliches Geni-ebild erklärte Stfickelberg als ,,eine dodonäi-
sche Priesterin mit einer auf ihrer Schulter sitzenden Taube,
welcher sie aus der erhobenen Ilachen Hand Nahrung reicht.'''
Es ist ps_vchologisch merkwürdig, dass ein so poetischer,
gemüthvoller Mann, wie Stackeiberg, so oft befangen ist in
einer Erklärungsweise, für welche die Kunst nur eine Illu-
stration zin- M3'tho]ogie ist und zwar eine Illustration der
unverständlichsten Art.
61
ein Prognostikon stellen lür den Ausgang des Kampfes mit
Antaeus ? Welcker bemerkt ohne Anstoss zu nehmen, Her-
kules komme von den Hesperiden. Allerdings ward Antaeus
überwunden bei dem Hesperidenabcnteuer — nach der ge-
wöhnlichen Sage freilieh vorher — und so stehn die Bege-
benheiten in historischem Zusammenhang, aber was soll
dieser historische Zusammenhang auf dem Bilde ? Ein Dich-
ter wird natürlich so verfahren, der die Thaten des Herkules
erzählt, aber ein Bild ist ein Abgeschnittnes , ein lür sich
Bestehendes und aus dem Geist geboren, in welchem die
Dinge nicht zufällig neben einander stehii, wie in der Wirk-
Kchkeit. Kein einziges der philostratischen Bilder hält die
Probe aus, wenn man die erste Forderung aller Kunst an
sie anlegt,. dass das Bild in sich nolhwendig, dass alles Ein-
zelne, so wie es ist, noth wendig sei nach der Idee des Gan-
zen. Denn ein Kunstwerk entsteht ja nicht durch Abmalen
der \YirkHclikeit, sei diese Wirklichkeit ein Bild der Natur
oder die Erzählung eines Dichters ; vielmehr bietet diese nur
den Stoß", mit dem der Geist des Künstlers die nothwendige
Umwandlung vornimmt.
Die unnatürliche Haltung des gepressten Antaeus wird
man leicht bemerken^). Wie kann er zu Boden blicken, da
er vielmehr den Kopf nach hinten werfen muss, um der Brust,
die nach Athem schnappt, Freiheit zu geben-) ! In den Worten
„auf die Erde blickt er'-, verräth deutlich der Rhetor, dass er
nur den Mythus ausführt. Soll nämlich dieser Blick ver-
ständhch sein, so musste die Gaea persönlich anwesend sein,
1) In den Stellungen versieht sich der Rhetor überhaupt öfter;
sehr begreiflich, da er hierin aus seinen Quellen nicht immer
Belehrung schöpfen konnte. Man vgl. noch die ungeschickte
Stellung des Narzisä (Seu. I, 2.3) mit den erhaltenen Monu-
menten.
2) Man vgl. das Bild in Sep. Nas. 13, worüber Welcker sagt:
Picturae genus est ad vulgarem veritatem et mores novitios
accommodatum, quod nos pedestre dicere solemus, tanquani
poeticae ac symbolicae veteris artis rationi adversum , was
ich nicht verstehe.
62
denn wenn Antaeus von der Erde Hülfe erwartet, so kann
ja diese nicht als passiver Stofif dargestellt sein.
Am merkwürdigsten ist aber die goldne Wolke. Der
Khetor glaubt, dass sich Götter darunter befinden; wer sich
das Bild gemalt denkt, wird nicht wissen, was das Ding be-
deuten soll. Ein Dichter könnte so sprechen, bei dem eine
Wolke nichts verdeckt, in der Kunst ist Erscheinung und
Wesen eins. Herines aber kommt, um den Herkules zu be-
kränzen. Hermes? Wenn wir die vorhandenen Denkmäler
vergleichen, so ist es in gymnischen wie musischen Agonen
Nike, welche den Sieger kränzt^). Hier stossen wir auf einen
Punkt, wo die Kenntniss der Dichter nicht genügt, um ein
Kunstwerk zu fingiren , denn die ungemein häufige V'erwen-
dung der Nike in der Kunst lässt sich aus den Dichtern
nicht herleiten und ebendarum, weil Philoslratus kein Kunst-
werk sah, giebt er das Amt der Nike\dem Hermes, als dem
Gott^der Palästra, wie Welcker bemerkt.
Auch in diesem Bild sind zwei Scenen deutlich zu un^
terscheiden. Wir kommen in dem Abschnitt darauf zurück,
welcher von der Trennung eines Bildes in mehre Scenen
handelt.
1) Selten auf schwarzfiguriigen Vasen, wie in München no. 1122;
an ihrer Stelle erscheint üfter die Schutzgöttin selbst mit dem
Kranz für ihren Helden in der Hand , die aber auch noch
später neben der Nilce als Kranzverleilierin erscheint, wie auf
der Berliner Kadmosvase. Bei Homer ist Nike noch nkht
Gestalt, und so ist in dem epischen Stil der Vasen ihre
Ersclieinung sehr selten, so wie die des Eros, der auch bei
Homer noch nicht vorkommt. Dieser äUere Vasenstil ver-
schmäht, wie aus vielen Beispielen ersichtlich , diese wenn
icli so sagen darf feineren, geistigeren Wesen, die einer we-
niger volkstliümlichen aber gebildeteren , philosophischeren
Zeit eigenthümlich sind. Die Entwicklung der Nike aus einer
ernsten, flügellosen Göttin geht dann immer mehr in's Leichte,
Anmuthige. Sie wird später, wie Eros als kleiner Knabe,
als kleines ]\[ädclien vielfach dargestellt und so wie Eros
verdoppelt. — Was unsern Fall betrifft , so vergleiche man
z. ß. die fikoronische Cista.
ni.
Wenn in irgend einem Punkt, so iinlersclieiden sich
Poesie und bildende Kunst in der Behandlung des Grässlichen,
und gerade die griechische Kunst entfernt sich hier mehr als
irgend eine andere Kunst von dem Verfahren der Poesie.
Bevor wir die Gründe entwickeln aus den Grunzen der
Künste, betrachten wir die Beispiele.
Unter tlem Titel „Kassandra" beschreibt der ältere Phi-
lostratus (2, 10) folgendes Bild^):
Hier sind Fackeln, die Licht spenden, denn es ist Nacht,
denke ich ; dort Mischkrüge von Gold , glänzender als das
Feuer. Voll sind die Tische von Speisen, an denen die
Helden speisten. Aber nichts von alledem ist in Ordnung.
Denn da die Schmauser im Sterben begriffen sind, so ist
dies umgeworfen, jenes zertreten, anderes liegt fern von ih-
nen und die Becher fallen ihnen aus den Händen, die mei-
sten voll von blutigem Koth. Die Sterbenden al)er haben
keine Kraft, denn sie sind betrunken. Was aber die Hal-
tung der Liegenden betrifft, dem Einen ist die Kehle zer-
schnitten, indem sie etwas Speise oder Trank schlürfte, dem
Andern ist der Kopf abgeschlagen, da er sich über den Misch-
krug bückte , dem Dritten die Hand , die den Becher hielt ;
dieser vom Lager fallend 2), zieht den Tisch nach sich, jener
1) Brunn 11, 255 ist geneigt, dies Bikl auf Tlieoros zurückzu-
führen und meint, es liefere den besten Commentar zu dem
Urtheil des Quintilian über Theon , welcher nach seiner Ver-
muthung identisch ist mit Theoros.
2) xkiri] sagt der Rhetor, indem er die spätere Sitte auf die he-
roische Zeit überträgt. So verfährt auch die bildende Kunst:
Achill liegt beim Essen auf den Vasen, die homerischen
Helden essen sitzend. Die 'Tragödie behandelt bekanntlich
eben so anachronistisch die heroische Zeit.
64
liegt auf Schultern und Kopf, der Dichter würde sagen, kopf-
über. Ein Dritter glaubt nicht an den Tod, der Letzte hat
nicht die Kraft zu entweichen, da ihm die Trunkenheit wie
eine Fessel anhaftet. Bleich aber ist keiner der Liegenden,
da die, welche beim Wein sterben, nicht sofort die Röthe
verlässt. Den Hauptplatz des Gemaches nimmt Agamemnon
ein , nicht auf troischen Gefilden liegend noch an den Ge-
staden eines Skamandros, sondern unter Kindern und Wei-
bern, ein Ochs an der Krippe. Aber noch trauriger ist das
Loos der Kassandra. Denn mit dem Beil steht neben ihr
Klytänmestra, wild bhckend und mit wüldem Haar und grau-
samem Arm. Sie aber zart und gottbegeistert, ist im BegritT,
sich über Agamemnon zu stürzen, von sich werfend die Bin-
den und gleichsam mit ihrer Kunst ihn umzäunend. Da
aber das Beil schon erhoben ist , wendet sie die Augen dort-
hin und schreit so jammervoll, dass auch Agamemnon mit
dem Rest seiner Seele dies hörend Mitleid empfindet. Er
wird dessen auch gedenken im Hades gegen Odysseus , in
der Versammlung der Schatten.
- Die letzten Worte, welche ich mit einigen andern, die
auch nicht die Darstellung selbst augehn, habe stehen las-
sen, damit die Nachahmung des Dichters um so deuthcher
hervortrete, weisen auf Homer, der im elften Buch der Od3's-
see den Agamemnon an Odysseus sein trauriges Ende er-
zählen lässt. Vergleicht man diese Erzählung mit der vor-
liegenden Beschreibung, so wird man eine vollständige Ueber-
einstimmung finden , nur dass letztere iii's Einzelne ausmalt,
was dort nur in den wesentlichsten Zügen angegeben ist.
Die W'orte Homers lauten so: Aegisth, erzählt Agamemnon,
tödtete mich mit der schändlichen Gattin, indem er mich
in's Haus rief und speiste, wie man einen Ochsen tödtet an
der Krippe. So starb ich im kläglichsten Tode; um mich herum
aber wurden meine Genossen unbarmherzig geschlachtet,
wie weisszahnige Eber bei Hochzeiten oder Schmansereien
reicher Männer. Du warst oft zugegen bei dem Tode von
Männern , mochten sie einzeln getödtet werden oder in der
Feldschlacht, aber das hättest du am meisten bejammert,
65
wenn du's gesehn hättest, wie A\ir am Misehkrug und an
vollen Tischen lagen im Saal und der ganze Fussboden von
Blut schäumte. Das Jammervollste aber war, als ich die
Stimme der Priamustochter Kassandra vernahm , welche die
tückische Klytämnestra neben mir tödtete u. s. w.
Ich kann nicht umhin , gleich zu fragen : ist dies nicht
ein empörendes Bild? Männer werden abgeschlachtet in
trunkenem Zustande mit der Weinrölhe im Gesicht — so
etwas sollte griechische Kunst gemalt haben? Das unbe-
fangene Gefühl, meine .ich, könnte mit der grössten Gewiss-
heit entscheiden, dass der Genius der griechischen Kunst
sich nie zu so widenvärtiger» Darstellung erniedrigt habe.
So wenig, wie zu folgender analoger Darstellung: Neben
den Rossen des Diomedes erbhckt man Krippen augefüllt mit
menschlichen Gliedern, Herkules aber trägt den halbzei-fi-es-
senen Körper seines Lieblings Abderus, den er den Pferden
entrissen hat, in der Löwenhaut (Sen. 2, 25). Auch auf
dem Bilde, das den Tod des Hippolyt darstellte (Sen. 2, 4),
erscheint der Körper des Jünglings in der grässlichsten Ver-
stinnmelung und nicht anders ist es, wenn (Sen. 1, 18) die
Angehörigen den zerrissenen Körper des Pentheus zusam-
menfügen *). Auch Göthe nahm Anstoss. An dem Bilde
des Abderus hebt er „die bedenkhche Darstellung der zer-
fleischten Glieder" hervor, „welche der Künstler, der uns die
Verstümmelung des Abderus so weislich verbarg — davon
sagt der Text nichts — reichlich in den Pferdekrippen aus-
1) Man vgl. auch noch den zei'hauenen Leichnam auf dem Bilde
der Panthia (Sen. II, 9). Die Panthia selbst hat zerkratzte
Wangen — als ob ihr Tod nicht genügte zum Bewejs ihrer
Liebe — was nicht bei einem Dichter, aber bei einem Maler
häselich ist. Trotz dieser zerkratzten Wangen aber hat sie
noch Röthe auf dem Gesicht! Sodann sind auf dem Bilde
des Phorbas (Sen. II, 19) Schädel an einem Baum aufge-
hängt, einige trockeiT, andre eben abgeschlagen und wieder
andre schon ganz zu nackten Schädeln geworden. Endlich
erblickte man auf dem Bilde des Pelops (Jun. 9) die Schä-
del der von Oenomaus getödteten Freier.
5
66
spendet." Dies Bedenken sucht er so zu heben: „Betrachtet
man die Forderungen genauer, so konnten freiUch die Ueber-
reste des barbarischen Futters nicht vermisst werden; man
beruhige sich mit dem Ausspruch : alles Nothwendige ist
schicklich."
,,ln den von uns dargestelllen und bearbeiteten Bildern
linden wir das Bedeutende niemals vermieden, sondern viel-
mehr dem Zuschauer mächtig entgegengebracht. So linden
wir die Köpfe und Schädel, welche der Strassenräuber (Phor-
bas) am alten Baume als Trophäen auTgehängt, ebensowenig
fehlen die Köpfe der Freier Hippodamias am Palaste des
Vaters^ aufgesteckt, und wie sollen \\ir uns bei den Strömen
Blutes benehmen, die in so manchen Bildern mit Staub ver-
mischt hin und wieder tliessen und stocken. Und so dürten
wir wohl sagen, der höchste Grundsatz der Alten war das
Bedeutende, das höchste Resultat aber einer glücklichen Be-
handlung das Schone."
Göthe bildet also auf Grund der philostratischen Bilder,
die er für wirklich einst existirend hielt, ein Princip für die
alte Kunst, das oft angeführt ist. Er thut es freihch mit
Widerstreben, wie man aus den angeführten Worten sieht,
aber frei seine Empfindung auszusprechen und solche Blut-
scenen für widerwärtig und daher ungriechisch zu erklären,
dazu im))onirte ihm der Philostratus zu sehr und er erfand
um seinetwillen ein neues Princip.
Wir stellen nun die Frage: wie behandelt die griechi-
sche Kunst — von dem Unterschied der Plastik und Malerei
in dieser Hinsicht wird vorläufig abgesehn — solche Mythen
oder Erzählungen , in denen eine Verstümmelung der mensch-
lichen Gestalt erwähnt wird ? Wie behandelt sie zunächst
die Schlachtscenen , in denen die Verstümmelung natürlich
zu sein scheint? Wenn Homer uns von abgeschlagenen
GHedern erzählt, folgt ihm darin die Kunst oder nicht? In
den unzähligen Kampfscenen griechischer Kunst sind nur
zwei Beispiele eines verstümmelten menschlichen Körpers
nachweisbar. Es sind zwei schwarzfigurige Vasen, beide
auf den Mythus des Troilus bezüglich, auf denen ein vom
67
Rumpf getrenntes Haupt sichtbar ist*). Es ist nicht zufällig,
dass grade die ältere Vasenmalerei diese Beispiele liefert,
welche, wie ich schon fi-üher bemerkt habe 2), in Kampf-
und Mordscenen noch nicht die edle Zurückhaltung der ent-
wickelten Kunst kennt, weil es ihr hauptsächüch darum zu
thun ist, die Wildheit des Kampfes recht anschaulich zu ma-
chen 3). In den Kampfscenen der griechischen Plastik ist
nirgends ein verstümmelter menschlicher Körper zu finden,
Avährend auf' den historischen Monumenten der Römer, z. B.
auf der Trajanssäule nicht selten abgehauene Köpfe vorkom-
men. Natürlich bot eine griechische Schlacht in ^Yirklich-
keit ebensogut wie eine römische ein solches Schauspiel dar,
aber während die Römer sich ganz an die Wirklichkeit hal-
ten*), zeigen uns die Griechen nur diejenigen Momente der
1) Die eine abgebildet in der Ai-ch. Ztg. 1856 t. 91: Achill
schleudert den Kopf gegen die Feinde, durch deren Schilde
der Anblick des blutenden Halses verdeckt wird; die andre
bei Overbeck Galt. Taf. 15, 12; auch hier ist der Leichnam
des Troilus sinnig so hinter den Altar gelegt, dass der Hals
verdeckt wird.
2) In meiner Schrift über Praxiteles u. s. vv. p. 138 ff.
3) Man vgl. den Kampf um die Leiche Achill's, Monum. dell'
inst. I, 51, — übei'haupt ein wundervolles Monument, so ganz
episch. Hier die Kämpfer in wahren Sturmschritten und die
Göttin, die ihren Helden Beistand leistet, an deren Aegis die
Schlangen so gewaltig züngeln , weil die Phantasie des Ma-
lers ganz voll ist von dem wilden Sti'auss; daneben die rüh-
rend trauliche Gruppe, wo Freund Sthenelos dem Diomedes
die verwundete Hand verbindet.
4) Nur in einem interessanten Punkt halten sich die Römer
nicht an die Wirklichkeit: es kommt in den Schlachtscenen
der römischen Monumente nie vor, dass ein Römer einem
Barbaren unterliegt. Immer ist der Römer siegreich, obwohl
in der Wirklichkeit ja auch Römer bluten mussten. Aber
das ist characteristisch für den Stolz des kriegerischen Volkes.
Die Griechen vei-fahren hierin anders; in Kämpfen mit Ama-
zonen lind Centauren, mit Persern u. s. w. ist der Grieche als
Gesammtheit allerdings, aber nicht immer als Einzelner sieg-
68
"Wirklichkeit, welche künstlerisch sind; sie zeigen uns die
Käuipfer in der spannendsten Situation, wenn der tödtende
Streich erfolgen soll , wenn der Körper sich in allen seinen
Muskeln spannt, sie zeigen Leben und Kraft, aber nicht das
Aviderwärtige Bild zerhackter Körper, an dem ein Henkers-
knecht Gefallen finden mag.
Die Köpfung von Ungeheuern , wie Meduse und Argus,
unterliegt wol einer andern Beurtheilung; ausser ihnen sind
fast nur plastische Monumente zu erwähnen, die gewöhnlich
auf Tydeus und Melanippus gedeutete Vorstellung ') und die
Agaue mit dem abgeschlagenen Kopf ihres Sohnes 2). End-
lich finden wir auf römischen Rehefs und auf einer Vase
späteren Stils in den Darstellungen des Oenomaus die Köpfe
der getödteten Freier über der Thür aufgehängt '). Also
einzeln und fast nur auf plastische n Monumenten kommt
dergleichen vor und vielleicht nie in der vollendeten Zeit*).
Jedenfalls ist auf den grossen Unterschied solcher Darstel-
lungen in Malerei und Plastik aufmerksam zu machen. Ein
abgehauener Kopf ist in der Malerei weit grässlicher als in
der Plastik, denn letztere giebt weit weniger von der Wirk-
reich; das ist natürlicher und auch schöner, weil die Einför-
migkeit vermieden wird.
1) Overbeck Gall. p.l31 f.
2) Vgl. Jahn Pentheus und dicMänaden-, dann noch die Gemme
bei Overbeck Gall. 16, 10, wo Diomedes das abgeschlagene
Haupt des Dolon in der Hand hält.
3) Vgl. Archäol. Ztg. 1855 Taf. 79. Die Vase, auf welcher üb-
rigens die Köpfe ohne alles Widerwärtige erscheinen, ist ab-
geb. Annali XH, tav. d'Agg. N.
4) Auf .einem alterthümlicheu Relief, welches die Tödtung des
Aegisth darstellt (Overbeck Gallerie her. Bildw. Taf. 28, 8)
dringen dem Aegisth die Eingeweide aus der Wunde. Das
ist ganz so wie bei den Dichtern; man vgl. z. B. Hom. 11.
21, 18J. Ovid. Mctam. 8, 402. Dabei ist zu bedenken, dass
Avir es erstlich mit einem plastischen, sodann mit einem Werk
der alterthümlichen Kunst zu thun haben, die, wie aus den
obigen Beispielen erhellt , noch nicht so maassvoll in der
Darstellung des Grässlichen vei-fuhr.
69
lichkeit wieder als crsterc. Ihr felill die Farbe und ebenda-
her ist auch in dem Fall, wenn sie ein abgeschlagenes
Haupt so darstellt, Avie Benveniito Cellini ganz ungriechisch
und unplasüsch die Meduse darstellte, nämlich mit herab-
hängenden starren Bhitströmen , der Eindruck weit weniger
widerwärtig. Die Malerei dagegen nuiss die Wirklichkeit zu
en-eichen suchen, weil sie die Mittel dazu hat, aber eben darin,
dass sie in einem Schauspiel, von dem wir gern die Augen
abwenden, den Sehein der Wirkhchkeit zu erreichen sucht,
liegt der Grund, dass Gräuelscenen in der Malerei weit gräss-
licher wirken als in der Plastik. Die griechische Kunst ver-
meidet sorgfältig alles sinnlich Grässliche,' dessen Eindruck
ja unmöglich ein rein ästhetischer sein kann ; sie steht hier
in entschiedenem Gegensatz zur christlichen. Der enthaup-
tete Täufer und manche andre Märtyrerdarstellungen haben
durchaus keine Analogien in griechischer Kunst. Göthe, der
diese Martern nicht ansehn mochte, empfand griechisch, dem
christhehen Künstler kam es auf den hinter dem Bilde lie-
genden Gedanken an, da die Qual Zeugniss ablegt von der
Kraft des Glaubens.
Aber nicht bloss negativ verhält sich die griechische
Kunst gegen das Grässliehe, sie geht noch weiter. In allen
Scenen nämlich , in denen es sich iiandelt um Tod und Un-
heil, wird nicht allein das sinnlich Grässliehe vermieden,
sondern es werden auch einzelne Gruppen oder Motive ein-
gelegt, die das Gemüth sanft und friedlieh stimmen. Die
griechische Kunst ist überall bemüht, den Eindruck des Wil-
den zu dämpfen, sie will versöhnen mit dein Schreckhchen,
sie will es auflösen in eine höhere Empfindung, sie will ne-
ben dem künstlerischen auch einen tief sittlichen , eineir sitt-
lich reinigenden Eindruck gewähren. Wie herrlich ist der
Untergang der Niobiden auch auf Vasengemälden behandelt !
Einzelne Kinder schliessen sich zusammen zu Gruppen der
Liebe und so verliert die Darstellung ihr Herbes. Skopas
liess in seiner Darstellung der kalydonischen Eberjagd den
verwundeten Ankaeus nicht verlassen daliegen , wie es wohl
der Fall ist auf Vasenbildern, sondern stützen durch einen
70
Freund, so dass der wilde Kampf unterbrochen wurde durch
eine Seene der Freundesliebe. Die Gruppe des Laokoon
verliert ihr Schreckliches durch die Geberde des älteren Kna-
ben, welcher die eigene Gefahr vergessend nur dem klagen-
den Vater zugewandt ist, und nicht anders ist es auf unter-
geordneten Werken. Der phigalische Fries, gewiss kein Mei-
sterwerk der Ausführung nach, mischt in das Getümmel wil-
den Kampfs Scenen der zartesten, rührendsten Art; man
sehe besonders diejenige, wo ein Krieger den verwundeten
Freund, mit sanftem Arm ihn stützend, aus dem Kampf
führt. Polygnot war nach der Ausführung 0. Jahn's') aus-
gezeichnet durch Milde und Mässigung in der Behandlung
der Gräuelscenen , indem er das Schrecklichste auf eine sin-
nige Art nur andeutete und errathen Hess, und wo wäre das
Schreckliche mehr gemildert als in dem edelsten Ueberbleib-
sel der griechischen Malerei, in dem Mosaik der Alexander-
schlacht ! Hier wäre wohl Gelegenheit gewesen zu blutigem
Anbhck in der Art des Philostratus, aber nur das Pferd blu-
tet unter dem durchbohrten Führer und das Entsetzen , das
uns befällt beim Anblick des grausigen Moments, löst sich
auf in eine edlere Empfindung, wenn wir den König be-
trachten, wie er die eigne Gefahr vergessend die Hand aus-
streckt nach seinem Feldherrn, der für ihn stirbt 2), L^nd
ist es anders in den untergeordneten ^Produkten des Hand-
Averks? Die Vivenziovase umgibt die ergreifendsten Scenen,
die Schlachtung des Priamus, die Schändung der Kassandra
mit friedlichen, tröstlichen Bildern: hier finden Akamas und
Demophon ihre Mutter wieder, dort zieht Aeneas mit Vater
und Sohn fort, um eine neue Heimat zu finden. Um auch
die Wandgemälde nicht zu vergessen, erinnere ich an das
pompejanische Bild, wo die Dirke geschleift werden soll:
die beleidigte Antiope selbst ist es, welche die Söhne zu
hindern sucht, an der Feindin die entsetzliche Strafe zu voll-
ziehn. Und ähnlich ist es, wenn auf einer Sarkophagdarstel-
1) Ueber die polygnot. Gem. in der Lesche zu Delphi p. 49,
2) Vgl. Welcker Kl. Sehr. III p. 460 ff.
71
hing die alte Amme den Orest ziinickz.ulmlteii sucht von der
Tödtung der Mutter, ihrer P'eindin. Diese Beispiele hesseii
sich leicht vermehren, sie sollten nur das allgemeine Verfali-
ren der griechischen Kunst ^ •» diesem Punkt constatircn,
das diametral verschieden ist von der etruskischen Kunst, die
grade Vorhebe hat lür gräuelvoUe Darstellungen^). In der
griechischen Kunst dagegen weht der Hauch der griechischen
Tragödie, insbesondre der sophokleischen, denn kein Dichter
hat es so verstanden, wie Sophokles. Angst, Schreck und
Entsetzen aufzulösen in tiefe, seelenvolle ^Yehmuth. AVas
erweckt mehr Schauder und Entsetzen als die Geschichte
des Oedipus? Alle Schande zieht der Dichter an das LichU
er erspart- nichts, aber dann bringt er in jener wunderbaren
Scene die unmündigen Kinder — unmündig führt er sie ein,
1) Wir wollen übrigens auch die römisclio Kinist iiiclit verges-
sen. Auf der Trajanssäule begegnen wir den zartesten, rüh-
rendsten Scenen, wohlthuenden Ruhepnnkten in dem Getüm-
mel des Kampfes. 3Ian sehe t. 18 bei Bartoli; wo der Leich-
nam eines Jünglings von bärtigen Kriegern mit zarter Theil-
nahme aus dem Kampf getragen wird, dann t. 92. 93, wo die
Dacier um z^^ ei gefallene Jüngliug-e trauern, und die Gruppe
auf t. 32, wo zwei Kriegci sich umarmen und küssen: es
sind wol Freunde; die sich todt geglaubt und nun wiederge-
funden haben.
2) Ein characteristischer Beleg ist der Tod des Ajax, der auf
einer etruskischen (Üverbeck Gall. Tat". 24, 2) und griechi-
echen Vase (Bullet. Napolet. N. .S. I. lav. 10 n. 4. b. 6. vgl.
Minervini p. 191) dargestellt ist. Dort hat sich Ajax bereits
in sein Schwert gestürzt, das Schwert ragt weit aus dem
durchbohrten Körper heraus ; hier ist er im Begriff, sich hin-
einzustürzen. Wie viel poetischer ist . der Moment, den die
griechische Vase darstellt! Mau vgl. ferner den etruskischen
Spiegel bei Gerhard I, 68: Da hat Minerva dem Akratos
einen Arm abgensseu und ist im Begriff, den Eigenthümer
desselben, der mit blutendem Stumpf daliegt, damit zu schla-
gen. Der griechische Maler Phasis dagegen malte den Ky-
negeiros, der bei Marathon beide Hände verlor, bevor er sie
verloren hatte; vgl. Brunn II p. 301.
72
um den Contrast zu schärfen — und den edclmüthigen
Kreon mit dem schuldbeladenen blinden Vater zusammen und
versöhnend, wie kein andres, sehHesst das Drama').
Schon diese allgemeinen Betrachtungen müssen Zweifel
erregen, ob die widerwärtigen Gräuelscenen des Philostratus
wirklich gemalt waren, betrachten wir aber auch diejenigen
vorhandenen Denkmäler, welche denselben Gegenstand mit
jenen darstellen. Den Tod des Agamemnon und der Kas-
sandra freilich finden wir auf griechischen Monumenten nir-
gends 2) und ebenso verhält es sich mit der Darstellung des
Abderus^). Vielleicht nicht zufällig, jedenfalls aber hätte
man den Tod gemalt nicht als bereits erfolgt, sondern als
bevorstehend, wie es durchgehends in solchen Fällen ge-
schieht ^). Aber der Tod des Hippolyt findet sich auch
sonst. Der Maler AntiphiJus hatte ihn gemalt in dem Augen-
blick , wo er vor dem Meerungeheuer zurückbebt (tauro
emisso expavescens) ; das ist ein ganz andrer Moment, als
der bei Philostratus beschriebene, es ist der wahrhaft künst-
lerische Moment, wo wir das traurige Loos des Jünglings
voraussehn , ohne dass ihm aber schon ein Haar gekrümmt
1) Es giebt freilich Kritiker, welche das letzte Drittel des Kö-
nig Oedipns streichen wollen. Ich muss gestehn, es ist wahr-
haft empörend, mit welchem Leichtsinn und Unverstand mau
die herrlichsten Produkte des Alterthums „kritisirt."'
2) Denn nur mit grosser Willkür ist das Vasenbild in Ovcrbeck's
Gall. Taf. 28, 4 auf diesen Gegenstand bezogen.
3) Roulez ( Melanges etc. IV, 4) und Minervini (Bullet. Nap. VI
p.'57) glaubten diesen Gegenstand auf einer Vase dargestellt,
was 0. Jahn (Arch. Aufs. p. 139) beseitigt. Die Darstellung
auf der Gemme bei Visconti Opere varie II p. 273 n. 366 ist
sehr zweifelhaft.
4) Was ich in meiner Schrift über Praxiteles etc. p. 138 ff. aus-
geführt habe, könnte ich jetzt durch eine grössere Anzahl
von Beispielen belegen. Man vgl. noch das Bild in der Ge-
mäldehalle neben den Prop)däen bei Paus. I, 22, 6: tov V//;.-
A^Wff räifov nXriatov ^iklovaä ^ari GtfäL.fadui /7o/r^fJ'/;. Da-
gegen sind der Menoikeus und die Panthia des Philostratus
in einem Augenblick dargestellt — das Schwert steckt be-
73
wäre 1). Auf den Sarkophagen aus römischer Zeit ist ein
späterer Moment dargeslelü : Hi])polyt liegt bereits am Bo-
den, aber ohne alle Entslellung, wie sie Philostratus an-
giebt^): nicht einmal die clruskische Kunst, die in der Dar-
stellung des Grässlichen so merklich abweicht von der edlen
Zurückhaltung der griechischen, nicht einmal diese kennt
einen verstümmelten Hipi^olyt. Dasselbe Verfahren beob-
achtet die Kunst in den ganz analogen Darstellungen des
Aktaeon. Aktaeon wurde von seinen Hunden zerfleischt, so
sagt der Mythus; aber auf einem Sarkophag, welcher seine
ganze Geschichte darstellt'), ist sein Leichnam, den die Ver-
Mandten auffinden, ohne alle Spuren von Entstellung. Und
was endlich die Geschichte des Pentheus betrifft, die nicht
selten dargestellt ist, so findet sich nirgends ein zerrissener
Körper, wie bei Philostratus*). Interessant ist aber die Ver-
schiedenheit dieser Darstellung auf den Vasen und Sarko
phagen. Letztere stehn der griechischen Art ungleich ferner,
rcits in ihren Leibern — an welchem die etruskische Kunst
besonders Gefallen halte. Man vgl. noch die Darstellung
des thebanisclien Brudermords anf etrnskischen "Sarkophagen
mit der Darstellung desselben Gegenstandes am Kasten des
Kypselus (Pausan^ 5, 19, 6)
1) Es ist mir unbegreiflich, wie Welcker behaupten konnte, bei
Philostratus sei derselbe Gegenstand dargestellt, wie von An-
tiphilus, und ebenso wundre ich mich, wie Brunn Gesch. d.
gr. K. II, 249 den Unterschied der beiden Bilder so ganz
und gar übersehn konnte.
2) Vgl. die von O.'Jahn Archäol. Beitr. p: 328 ff. besprochenen
Darstellungen. Hinzu kommt die im Arch. Anzeiger 1857
p. 27 erwähnte Vase und der in Monum. dell'Inst. 1857, tav. VI. 2
abgebildete Sarkophag.
3) Clarac pl. 113, n. 69. Miliin G. M. 101, 407. *
4) Die Monumente sind gesammelt von 0- Jahn, Pentheus und
die Mänaden. Hinzu kommt das VasenlVagment im Bullet.
Napol. IV, tav. 2 n. 3. Das abgeschlagene Haupt des Pentheus
in der Hand der Agaue auf plastischen Monumenten wird
nach dem oben Gesagten nicht als Stütze des philostratischen
Bildes geltend gemacht werden können.
74
als erstere. Die Sarko})hage sclieuen sich weniger vor un-
ruhigen . verwinten und peinlichen Darstellungen , ich er-
wähne nur die des gestürzten Oenomaus, die auf keiner Vase
sich findet: nur den bevorstehenden Sturz bringen die Vasen
zur Darstellung, nicht den späteren, peiniicheren Moment
des Sturzes selbst. Man vergleiche ferner die Bestrafung
des Marsyas. Der peinliche Moment, in dem Marsyas auf
den Sarkophagen erscheint, hängend am Kaum, die Arme
angebunden oben über dem Kopf, ist der Vasenmalerei ganz
fremd '). Diese Beobachtung bestätigt sich auch bei den
Darstellungen des Pentheus. Auf den Vasen wird er nur
bedroht, er steht aufrecht unter den rasenden Frauen, in de-
ren schwungvollen Bewegungen nicht der geringste Reiz der
Bilder liegt, auf den Sarkophagen dagegen liegt er am Bo-
den und die Frauen fassen seine Glieder, um sie ihm auszu-
reissen. In peinlich hülfloser Lage erscheint er, auf den Va-
sen ist sein Schicksal keineswegs entschieden. Aber zer-
rissen ist der Körper des Pentheus auch noch nicht auf den
Sarkophagen; das ist dem Philostratus ganz allein eigen-
Ihümlich, welcher — dem Euripides, dem Dichter nachschrieb.
Denn sollte nach dem Gesagten noch bezweifelt werden
können . dass Philostratus seine Gräuelseenen aus den Dich-
tern entlehnte? Nirgends ist die völlige Abhängigkeit vom
Dichter deutlicher, als in dem vorliegenden Bild der Kassan-
dra, das ich eben desswegen diesem Abschnitt vorgesetzt
habe. Nur detaiUirter ist die Besehreibung des Rhetors. Ho-
mer erwähnt mit einem Wort den Mischkruii und die vollen
1) Was die Griechen maassvoll darstellen, das wrd ins Ex-
centrische gesteigert auf den Sarkophagen. Die übertrieben
heftigen Geberden haben hier ihre eigentliche Stelle. Man
vergleiche den Raub der Kora und der Leukippiden , auch
den Untergang der Niobiden auf Sarkophagen, mit den betref-
fenden griechischen Darstellungen. Auch erwähne ich den
Atlas, der auf griechischen Monumenten steht, auf 'römi-
schen in mühseliger Stellung unter seiner Last zusam-
bricht.
75
Tische; das malt der Rhetor auf das Widerwärtigste aus*)
und setzt noch, wie in dem kleinen Herkules des Jüngern
Philostratus, die Fackeln hinzu, um die ganze Scene schauer-
licher zu machen. Eben diese Abhängigkeit vom Dichter
erklärt uns diese Gräuelscenen, für die man sich in den vor-
handenen Denkmälern vergebens nach einer Analogie um-
sieht. Und wie könnte es anders sein, da ja das GrässHche
für den Dichter und bildenden Künstler eine ganz verschie-
dene Bedeutung hat, weil dieser auf das äussere, jener auf
das innere Auge wirkt? "Wenn ein Dichter von abgeschla-
genen Köpfen redet, wer denkt sich die Köpfe in allem De-
tail der Wirklichkeit! Und wollte der Dichter sie schildern
ausführlich mit allem Detail, so würde diese Schilderung
noch immer nicht das W^iderwärtige an sich tragen, wie ein
gemaltes Bild , denn, das Bild des Dichters ist ein rein in
unsrer Phantasie vorhandenes, das Bild des Malers aber ist
äusserlich da, es tritt mit dem Anspruch auf, den Schein
der W^irklichkeit zu erregen und eben dieser Schein der
Wirklichkeit ist's, der uns in Gräuelscenen abstösst.
Betrachten ^vir nun das Bild der Kassandra im Einzel-
nen, so begegnen wir wie in fast allen Bildern des Philo-
stratus einer Sonderbarkeit, wemi man sich gehnde aus-
drücken will, nach der andern. Wird je wol ein Künstler
mit so rohem Sinn das Tragische seines Gegenstandes zer-
stören, wie es hier geschehn? und zwar das Tragische eines
Gegenstandes, in dessen Behandlung Dichter, wie Aeschylus,
vorangegangen ? Oder heisst es nicht das Tragische zerstören,
wenn die Männer in der B e t r u n k e n h e i t abgeschlachtet wer-
den ? Und was hat der Rhetor begriffen von der wunder-
barsten aller dichterischen Schöpfungen, von der Kassandra
des Aeschylus ! Nur die Worte sind aus dem Dichter zu-
1) Für das Schickliche und Unschickliche fehlt dem Rhetor über-
haupt das Organ. Atlas (II, 20) ist schweisstriefend gemalt,
ebenso Perseus (I. 29) und Andre. Ist es nöthig, zu bewei-
sen, dass dies nicht gemalt war? Parrhasius hatte einen
Schwerbewaffneten gemalt in certamine ita decurrentem ut
sudare videatur (Plin. 35, 71).
76
sammengeschrieben. Das Mädchen ist im Begriff, sich über
Agamemnon zu stürzen. Was S'oil das lieissen? was kann
das im Bilde anders heissen , als dass sie ihn geliebt hat?
Und die Kl^lämnestra muss demnach als durch Eifersucht
zu ihrer That veranlasst erscheinen, sie, welche der Dichter
blutig gross hinstellt als Rächerin der getödteten Iphigenia,
ja als Vollstreckerin des Rachegeistes, der im Hause der
Atriden waltet i) !
Auf den Gesichtern der getödteten Männer war noch
die Weinröthe sichtbar. Sehr befreindlich. Es ist allerdings
wahr, wenn ein Betrunkener mit von ^Yein gerülheten Backen
getödtet wird, so ist die Röthe noch eine kurze Zeit sicht-
bar, aber diese Zeit ist so kurz, das Blut tritt so schnell
zurück, dass kein Maler die starre Ruhe des Todes, die der
übrige Körper zeigt, mit einem so flüchtigen Moment im
Antlitz vereinigen würde. Sodann ist dieser Moment nicht
bloss flüchtig, sondern auch in fortwährendem Wechsel be-
griffen , die Röthe verliert immer mehr an Intensität und so
würde das Flüchtige und Wechselnde starr erscheinen im
Bilde und ebendadurch widerwärtig werden.
Mit wahrem Vergnügen malt der Rhetor den Tod der
Gefährten des Agamemnon aus. Er hat nicht an einem oder
zweien genug, er zählt ihrer sieben auf und vergisst nur uns
plausibel zu machen, wie die Klytämnestra , die allein von
den Feinden anwesend ist, sie alle hat tödten können. Doch
nicht alle, zwei sind noch am Leben; wie thöricht war
Klytämnestra, sie am Leben zu lassen und M'ie thö-
richt sind. diese, dass sie nicht dem Weib zu Leibe gehn!
Sie sind zu betrunken dazu ! Der Dichter erklärt es wieder,
dass die Klytämnestra allein die Männer getödtet hat, —
denn anderes kann ja das Bild, auf dem eine mit der Mord-
waffe angreifende Figur unter mehreren Todten und Ver-
wundeten sichtbar ist, nicht verstanden werden. Bei Homer
nämlich erzählt Agamemnon das Faktum zuerst summarisch;
1) Wilhelm von Humboldt in der Einleitung zu seiner Ueber-
setzung hat herrlich die Figuren der Klytämnestra und
Kassandra und überhaupt das ganze Stück erörtert.
77
er sagt, Aegisth und die Gattin Imben mich und meine Ge-
fährten getüdtet, natürlich, so denkt Jeder hinzu, mit der
nothigen Mannschaft. Sodann scliildert Agamemnon die
Scene des Untergangs im Einzehien und hiebei spricht er nur
von der Klytämnestra als Urheberin, sehr natürlich, da der
Gatte auf die Gattin mehr erzürnt sein musste, als auf den
Aegisth, der ja auch nur Helfershelfer war. Ebenso Philo-
stratus. Zuerst wird das Faktum summarisch erzählt, wobei
denn auch Züge vorkommen , die bei den Tragikern sich
finden, dann wird detailhrt das Gemälde beschrieben und
hier erscheint Khtämnestra allein, wie bei Homer. Jeder-
mann begreift, dass für die Untergaugsscene des Dichters
auch die Hülfe des vorerwähnten Aegisth Geltung hat und
supplirt ohne Bedenken die erforderliche Mannschaft, denn
der Dichter giebt ja nur Züge, welche die Phantasie des Le-
senden sich ausmalen soll. In das Gemälde aber, das ein
abgeschlossenes Ganze ist, den Aegisth und seine Knechte
hineinzusuppliren, wäre wol eine etwas starke Zumuthung^).
Yön dem Netz, dessen sich Klytämnestra zum Morde
des Agamemnon bediente, spricht Philosh-atus Anfangs, als
er den Mythus erzählt. Aber in der Beschreibung des
Bildes wird kein ^Yort weiter davon gesagt: und doch, wenn
er etwas Wirkliches vor sich hatte , konnte er umhin , es
wieder zu erwähnen? Oder war es ausgelassen? Warum
erwähnt er es denn vorher und zwar ohne zu sagen, es
finde sich bei Dichtern, nicht auf dem vorliegenden Bild?
Und kein Künstler hätte in einer Darstellung des getödteten
Agamemnon das Netz weggelassen. Man vergleiche die
eti-uskischen Todtenkisteu , auf denen der Gegenstand vor-
kommt: zudem ist das Netz für die Klytämnestra so charac-
1) Agamemnon hegt tr (Aitnaxioig y.al yvvcuois ^ welche Worte
gewiss aus einem Dichter entlehnt sind, wie es nachweisbar
ist von den umstehenden, vgh Aesch. Clioeph. 366. Welcker
bemerkt darüber: Midieres etiam praeter Ch'taemnestram et
Cassandram, ancillas nimirura. expressas fuisse, non credibile
est, quod moneo ob verba non urgenda Iv [letoaxioig xul
yvraiois. Solche Art der Kritik tann Alles aus Allem machen,
78
teristisch, zugleich seit Aeschylus so berühmt, dass kein spä-
terer Künstler — und die Tafelmalerei ist ja später als Ae-
schylus — dies Motiv aufgegeben haben würde, üie \^'ahr-
heit ist, dass Philostratus, ein Mensch von der grössten Bor-
nirtheit, das Netz desswegen im Bilde nicht erwähnt, weil
er schon vorher in der Erzählung des Mythus davon gespro-
chen. Es ist ein Fall , wie er oben vorkam in dem Bilde
des Achelous.
Wir können diesen Abschnitt nicht schliessen, ohne
einer Erörterung Lessings zu gedenken, die zu dem Gegen-
stande der unsrigen in naher Beziehung steht. Gleich in
den ersten Abschnitten des Laokoon wird das verschiedene
Verfahren des Dichters und bildenden Künstlers in der Dar-
stellung des Affekts nachgewiesen und aus der Verschieden-
heit der Künste hergeleitet. Freilich passt das Beispiel nicht,
von dem Lessing ausgeht, denn Laokoon seufzt nicht, son-
dern sehreit und muss schreien, aber es wären hundert andre
Beispiele zur Hand, wenn es nöthigwäre: die Erörterung bleibt
überzeugend, weil sie aus der Natur der Sache abgeleitet
ist. Es bleibt immer wahr — und keine Kunst bestätigt das
so sehr wie die griechische — , dass der Künstler nicht bis
zu dem höchsten Punkt des Affekts fortschreiten darf, den
der Dichter schildern darf und schildern muss, dass er viel-
mehr, und der Bildhauer noch mehr als der Maler, statt des
laut ausbrechenden Schmerzes jenen edel verhaltenen Schmei'z
darzustellen suchen muss, dessen stumme Beredtsamkeit viel-
leicht tiefer ergreift, als Thränen und laute Klage. Doch
dies weiter zu verfolgen , würde mich abführen , ich Avollte
mich nur der Uebereinstimmung mit Lessing freuen, denn
principiell laufen unsre Erörterungen auf dasselbe hinaus.
Lessing beweist, dass der Künstler dem Dichter nicht bis zu
dem höchsten Punkt des Affekts folgen dürfe: wir hatten es
mit objectiven Vorgängen zu thun und suchten hier zu be-
weisen, dass in der Darstellung blutiger Vorgänge der Künst-
ler dem Dichter nicht bis zum äussersten Gipfel des Schreck-
lichen folgen dürfe, weil das Schreckliche gesehn anders
A\irkt als gehört oder gelesen.
IV.
Die äussere Natur, Meer, Flüsse u. s. w. behandelt Phi-
lostratus genau so wie ein Dichter; die Künstler haben we-
der so verfahren noch konnten sie so verfahren. Der Dich-
ter kann das Meer beseelen, nicht der Künstler. Dies ist
der Hauptuntersehied.
Der ältere Philosti-atus besehreibt (I, 8) folgendes Bild :
Das Meer folgt und schmeichelt dem Poseidon, der auf einem
Wagen von Hippokampen gezogen daherkommt, heiter
blickend' und von heftiger Liebe bewegt. Er verlässt grade
das Meer um die Amymone zu ergreifen, die nicht wissend,
was er will, vor Schreck den Krug fallen lässt, mit dem
sie zum Wasser des Inachus zu gehn pflegt. Ihre weisse
Haut überglänzt Grold, dessen Glanz sich mit dem Wasser
mischt. Schon krümmt sich die Woge zur Vermählung,
noch bläulich, aber Poseidon malt sie dunkel.
Nur mit einem W'ort hebe ich die grosse Verschieden-
heit der vorhandenen Darstellungen dieses Mythus hervor.
Keine derselben hat eine Spur von dem Pomp des Rhetors.
Ist es wohl natürlich, dass Poseidon so feierlich zu einer
Liebschaft herankommt? Wäre er Bräutigam, wie auf dem
edlen Münchner Relief, oder bandelte es sich wie beim Raub
der Persephone um eine Entführung, so möchte er mit einem
Gespann von Hippokampen oder Tritonen kommen, aber er
ist hier ja ein Liebhaber, der in heimlicher Waldeseiusam-
keit, an der Quelle, wohin die pati'iarchalische Zeit die
Liebesbegegnungen verlegte, ein Mädchen überraschen will,
Aber was weiss ein Mensch wie Philostratus davon, was
der Situation angemessen ist; bei Dichtern hat er gelesen,
wie Poseidon über das Meer fährt, darum lässt er ihn auch
hier so erscheinen und zerstört damit all den idyllischen Reiz
dieser Begegnung ^).
1) Die Denkmäler sind zusammengeatellt von 0. Jahn Vasen-
80
Worauf es mir hier aber besonders ankommt , das ist
die Woge, die sieh zu einer Grotte krümmt, unter welcher
der Gott und das Mädclien verborgen der Liebe pflegen
können. Die Erklärer, weisen mehre übereinstimmende
Stellen von Dichtern und Dichter nachahmenden oder be-
nutzenden Schrift stellern nach; bei Homer vereinigt sich
Poseidon mit der T}to unter dem Gewölbe einer Woge, es
fragt sich nur, ob der Maler hierin dem Dichter folgen kann.
bilder p. 34 flf. Ich bezweifle nur, dass die beiden pompeja-
uischen Bilder diesen Mythus darstellen, sowie ich auch nicht
glaube, dass die öfter vorkommende Statue eines auf einen
Delphin gestützten Mädchens (Schoell Arch. Miltheil. p. 115),
die am herrlichsten reptjiscntirt ^\ird durch einen Torso des
Berliner Museums, von Jalin (Archaeol. Aufs. p. 28) richtig
auf Amymone gedeutet ist, worüber an einem andern Ort
mehr. Das erste der beiden Wandgemälde zeigt weder von
Quelle noch von Krug eine Spur: befremdlich ist ferner die
Nacktheit der Jungfrau, auch in Pompeji; man sollte an ein
Wesen des Meers denken und eben daher denkt man sie
kommend, da man nur Meer und einsciüiessende Felsen
sieht. Auch die Erklärung des zweiten sehr verstümmelten
Bildes ist mir fraglich, denn ein Zug, den Lucian \\ae es
scheint, nicht aus dem Mj'thus hat^ dürfte für ein pompeja-
nisches Bild nicht maassgebend sein. An Vasen sind seit
der Abhandlung Jahn's mehre hinzugekommen, man sehe
namentüch die el. ceram. III., 17 ff., wo freihch mit der in
diesem Werk herrschenden Kritiklosigkeit viele Figuren als
Amymone gedeutet werden, die aller nähern Charakteristika
entbehren, man vgl. pl. 20. 21. 22. 24. u. s. w. Zwischen
den frühern und spätem , übrigens sämmtlich rothfigurigen
Vasendarstellungen ist der auch anderswo oft bemerkbare
Unterschied, dass erstere sich durch eine grössere Einfachheit
auszeichnen. So fehlen die Baulichkeiten, das Brunnenhaus,
die fiir die grossen Gefässe des unteritalischen Stils so sehr
willkommen waren. Die herrliche Gemme bei Jahn Taf. IV,
C kommt auch vor in einem Glaskameo des Berhner Museums
und die wasserschöpfende Amymone ebendas. Tölken III,
181. 182, in zwei Pasten , von denen namentlich die letztere
vortrefflich ist.
8i
Der Dichter kann das Meer beseelen, ohne es zu verändern ;
an einer andern Stelle Homer's fährt Poseidon über
das Meer und dieses weicht wonnig seinem Herrn ausein-
ander i) ; es bleibt Meer vor unsrer Phantasie, wenn es
auch von den Empfindungen lebender Wesen durchdrungen
ist. Aber der Künstler malt ^Yasser, das nach physikalischen
Gesetzen zu beurtheilen ist, das nur aus äusserem Anstoss,
nicht aus einem innerlichen Antrieb bewegt erscheinen kann,
denn eben diese innere Beseelung, die der Dichter mit einem
Wort hineinlegt, kann der Künstler seinem Element nicht
mittheilen , weil die Natur sie ihm nicht mitgetheilt hat.
Oder er muss das Element verändern , menschliche Gestalt
annehmen lassen ; dann ist eben die adäquate Form da für
das, was er ausdrücken will, im andern Fall sollen wir an
ein Unsichtbares glauben in einem Körper, der dies Unsicht-
bare nicht zm- Erscheinung bringen kann. Der Dichter kann also
die Woge sich heben lassen zur Grotte, weil die Woge des
Dichters mitfühlt mit ihi*em Herrn , bei dem 3Ialer würden
wir für ihre Krümmung nach einem äussern Anlass suchen
und da dieser bei Philostratus fehlt, das Bild für unbegreif-
lich erklären müssen ^j. Noch unbegreiflicher aber ist das
Bild (Sen. 11 , 8) , auf dem der Flussgott Meles und die
1) 11. 13, 29: ytjS^oaüvtj (5'f ihäXaaau SiIotuto.
2) Aul" einer uuteritalischen Vase im Bullet. Nap. II , tav. 3.
El. cöram. III pl. 30 sitzen Poseidon und Amymone unter
einem Stralilenkreis , den die übrigen Erklärer als Höhle,
0. Müller aber (Handb. d. Arcliaeol. §. 35G, 3) als Wasser-
gewölbe deutet, als einen Tbalamos wie Philostratus Imag.
II. 8 einen beschreibe. Jlim stimmt Stephan! bei in seiner
Abhandlung über Nimbus und Strahlenkranz p. 19 (Mem.
de l'academ. des sciences de St. Petersbourg p. 379). Ich
glaube, wenn Philostratus nicht \\'äit, so wäre man nie auf
diese Ei'klärung gekommen. Denn wenn auch das „Wasser-
gewölbe" deutlich und wenn aiuch eine solche Vorstellung
den Vasen zuzutrauen wäre, so widerspricht schon die Ana-
logie des bei Wieseler II, 66, 843 mitgetheilten Bildes, wo
ebenfalls nicht eine einzelne Figur sondern eine ganze Gruppe
vou einem solchen Strahlenkreis eingeschlossen ist.
6
82
Nymphe Kvilheis, die ihn liebte, dargestellt war. Da heisst
es niinilich von dem Mädchen, „sie trinkt ohne Durst und
nimmt das "Wasser in die Hand und spricht mit dem rieseln-
den Wasser, als rede es, und- giesst verliebte Thränen hinein.
Jener aber sinnt auf ein Brautgemaeh und hebt die Woge
empor, welche von der Sonne gefärbt wird". Auch hier ver-
gleichen die Erklärer Berichte der Schriftsteller von Mädchen,
welche das Wasser der Flüsse, in welche sie verliebt sind,
berühren und in ihren Busen aufnehmen, aber die Frage werfen
sie nicht auf, ob diese Erzählungen für den bildenden Künst-
ler darstelll)ar seien. Die Krilheis auf dem Bilde erscheint
als wasserschöi)fend oder sich in irgend einer Weise mit
dem Wasser zu thun machend auf eine dem Betrachtenden
räthselhafte Weise, denn auf dem Bild ist Wasser einfach
Wasser, ohne dass eine Gottheit drin wirkt. Der Dichter
dagegen hat eine weitere Sphäre ; er kann Person und Sache
trennen, so dass dem seelenlosen Element ein naturbefreiter
Gott gegenübersteht, er kann sie al)er auch zusammentliessen
lassen , so dass in dem Element ein Dämon wirkt. Dies
letztere vermag der bildende Künstler niclit anschaulich zu
machen , er kann nur den freien Gott und die todte. Materie
darstellen. Denn wenn er den Flussgott malt in ' seinen
Fluthen liegend, so sind diese Fluthen doch nichts Anderes
als entseelte Materie, sie sind -seine Wohnung, sein Lager.
Und woher dieser Unterschied ? Weil der Dichter ein un
sichtbares, der Maler dagegen ein sichtbares Bild schafft,
das nach den Gesetzen des Sichtbaren beurtheilt wird. Dem
gemalten Wasser kann daher ebensowenig wie dem wirk-
lichen däinonische Kraft beioelegt werden.
Noch ein Bild ist -zu merkwürdig, um nicht näher be-
trachtet zu werden. Es wird so beschrieben (Sen. 1. 1):
Hier ist die hohe Stadl und die Zinnen Ilions, dann ein
grosses Feld hinreichend Asien gegen Europa aufzustellen.
Yiel Feuer strümt über die Ebne, viel auch die Ufer des
83
Stromes entlang, so dass dieser keine Bäume mehr Hat. Das
Feuer um Hephästos strömt dem AYasser zu und der Fluss-
gott ächzt und fleht den Hephästos an. Er hat aber kein
langes Haar, weil es ihm ringsum versengt ist, und Hephä-
stos ist nicht lahm, weil er läuft. Die Flamme des Feuers
ist nicht hellroth, noch wie gewöhnlich, sondern goldartig
und Sonnenfarben.
Dies Bild zeigt wieder die vöUige Abhängigkeit vom
Dichter. In allem Einzelnen folgt der Rhetor dem Homer
und ebendarum fügt er auch Dinge hinzu, die im Gemälde
nicht vorhanden sein konnten, wie es der Fall ist mit den
vom Feuer verzehrten Bäumen. Nur das Wesenthche lässt
er weg .und Hefert so ein corruptes, unverständliches Bild.
Achill nämUch fehlt, um dessentwillen dieser ganze Vorgang
sich ereignete. Wäre dieser da , so iiätten wir einen Grund
für das Thun des Skamander und Hephästos, den wir jetzt
vermissen, und die Stadt Troja hätte nicht bloss eine geo-
graphische, sondern eine ideelle Bedeutung für das Bild, sie
erschiene als der Gegenstand, um den gekämpft wird. Statt
dessen nimmt der Rhetor den Kampf von Wasser und Feuer
heraus als ein Effekt machendes Schauspiel, lässt die mythi-
schen Figuren des Skamander und Hephästos und die Stadt
Troja stehn und macht daraus ein besondres Gemälde, so
wie Lucian^) eben dieselbe Begebenheit zu einem besondern
Dialog verarbeitete. Doch es kam uns darauf an, auch in
diesem Bilde die Vermischung von Sache und Person nach-
zuweisen.
Bei Homer wirkt der Gott in seinem Element, Hephästos
im Feußr, Skamander im Wasser; dies ist es eben, was der
Künstler nicht zur Anschauung bringen kann, was aber auf
dem angeblichen Bilde. versucht ist. Man hat mit der Figur
des Skamander die der Donau auf der Trajanssäule vergli-
chen, der Vergleich trifft aber nicht zu. Denn auf dem Bild
des Philostratus soll das Element als thätig durch den in
ihm wirkenden Gott erscheinen, auf der Trajanssäule liegt
1) dial. mar. 11.
84
der Gott in ruhigen Fluihen, die niclits andres sind und sein
wollen als reales, seelenloses Wasser. Und Hephästos, von
dessen Attributen und Geberden der Rhetor kein Wort sagt,
weil der Dichter ihn hier im Stich Hess , steht mitten im
Feuer, so dass er verbrennen muss. Oder wenn das Feuer
kein wirkliches Feuer war, so sieht man nicht ein , wie der
Flussgott mit verbrannten Haaren ächzen und um Gnade
tlehn konnte. Dem Feuer des Künstlers, der den Schein
der Wirklichkeit erregen will, legen wir die Eigenschaften
des wirklichen Feuers bei; man wird mir nicht eine Darstel-
lung der vom Peleus verfolgten Thetis entgegenhalten, die
sich nach dem Mythus auch in Feuer verwandelt haben soll.
Auf einer schwarzfigurigen Vase') nämlich sind an den
Schultern der Thetis Flammen oder etwas dem Aehnliches
sichtbar; es bedarf kaum der Bemerkung, dass sie nur eine
Andeutung für den Verstand sind, dass sie ausdrücken sollen,
Thetis habe sich auch in Feuer verwandelt.
Das Bild des Amphion (Sen. I, lU) ist ebenfalls nur
ein dichterisches, nicht künstlerisches. Es stellte angebHch
den Amphion dar wie er durch die Macht seines Saitenspiels
und Gesangs die Steine zwingt, sich zur Mauer Thebens zu-
sammenziufügen. Nachdem der Kitharspieler beschrieben ist,
heisst es. weiter: Die Steine laufen zusammen und werden
zur Mauer; ein Theil ist schon aufgebaut, der andre steigt
in die Höhe, noch andre kommen eben heran. Die Steine
sind ehrgeizig und willig und folgsam der Musik; die Mauer
aber hat sieben Thore, soviel als die Lyra Saiten.
Man sieht, Philostratus verfährt hier ganz wie ein Dich-
ter; er legt den Steinen Empfindung und Bewegung bei.
Auf dem Bilde dagegen sind Steine eben Steine, todte Kör-
per, die physikalischen Gesetzen unterworfen sind. Wenn
daher ein Maler dem Philostratus nachmalen wollte, so würde
er uns nur den Amphion darstellen können neben einer halb-
1) Overbeck Gall. 7, 5.
85
voUendclen Mauer, die den Schauplatz der Handlung angeben
würde, singend und spielend; er würde uns aber nicht,
„laufende" Steine und noch weniger die Ursache ihres Lau-
fens begreiflich machen können, weil die gemalten Steine
ebensowenig mit Empfindung ausgestattet werden, wie die
wirklichen.
Auch in folgendem Bild des Jüngern Philostratus (n. 6)
wird man leicht denselben Fehler erkennen:
Dem Orpheus hören zu Löwe und ^ber und Hirsch und
Hase, die nicht von dem Löwen davonlaufen, und alle Thiere,
denen er auf der Jagd gefährlich ist, sind hier versammelt
ohne Furcht. Und Singvögel sind da und Dohle und Krähe
und der Adler, der beide Fittige wiegt und unverwandt auf
Orpheus sieht, ohne sich um das nahe Häslein zu beküm-
mern. Auch Wölfe sind da und unter ihnen Lämmer, wie
staunend. Der Maler hat aber auch die Bäume aus den
Wurzeln gerissen und führt sie heran als Zuhörer und stellt
sie um ihn herum, Fichte und Cypresse und Schwarzpappel
und Schwarzeiche und was es sonst für Bäume giebt, welche
ihre Zweige wie Hände zusammenfügen, damit er im Schat-
ten spiele.- — Die dann folgende Beschreibung des Orpheus
geht uns hier nicht weiter an.
Es fehlt nur noch, dass auch die Felsen herankommen,
die bei Dichtern allerdings dem Orpheus zuhören. Denn dies
angebliche Bild ist ein aus Dichtern ausgescliriebenes. Das
zwar könnte noch hingehn, dass er Thiere und Bäume in
unzählicher Menge einführt, was der Dichter aus gutem
Grunde thut, während der Künstler sich beschränken muss, —
wenn wir nur die B0;ume als Zuhörer des Orpheus begreifen
könnten. Man sehe die Kunstdarstellungen des Orpheus,
die nicht selten sind. Wo steht je ein aus dem Boden ge-
rissener Baum — das ist natürhch nothwendig, weil der
eingewurzelte Baum als zur Charakteristik des Lokals, der
Landschaft dienend betrachtet werden würde — neben ihm?
Wie kann er neben ihm stehn? Immer ist Orpheus umge-
86
ben von Thiereu und nur von diesen, denn der Künstler
kann ja nur solche Wesen als empfindlich gegen Musik dar-
stellen,, die es in Wirklichkeit sind, der Dichter aber kann
auch diejenigen Wesen beseelen, die in Wirkhchkeit keine
Empfindung haben. Beim Dichter, freihch in der griechischen
Dichtung weit beschränkter als in der orientahschen und
modernen, ist Blume, Baum und Quelle angefüllt mit mensch-
Kchen Empfindungen; will der Künstler die unbeseelte Natur
beseelt darstellen, so muss er ihre Gestalt verändern, er
muss sie menschliche Gestalt annehmen lassen.
Nach diesem Prinzip wird schhesslich auch folgender
Zug eines landschaftlichen Bildes (Sen. i , 9) zu beurthei-
len sein:
Eine Brücke von Palmen ist über den Fluss gelegt.
Denn der Künstler, welcher die Sage von den Palmen kannte,
dass die eine von ihnen männlich, die andere weibhch sei
und dass erstere die letzteren an sich ziehn und mit ihren
Zweigen sie umranken und sich über sie hinstrecken, hat
von jedem Geschlecht eine auf jedes Ufer gemalt. Da ist
nun die eine verliebt und neigt sich und setzt über den Strom.
Aber da der weibliche Baum noch entfernt steht, so kann
sie ihn nicht erreichen und liegt nun und thut Sklavendienste,
indem sie das Wasser überbrückt.
Blosse Interpretation des Rhetors sind, wie man sieht,
diese Worte nicht; der Verfertiger des angeblichen Bildes
muss allerdings den Versuch gemacht haben , künstlerisch
darzustellen, was nur im Wort darstellbar ist^). Denn stel-
len wir uns die Palme, die nicht abgebrochen ist, gemalt
1) Sen. I, 26 lieisst es von dem real dargestellten Olymp
(Welcker's vel-vel ist mir unbegreiflich): der Berg hat an
dem kleinen Hermes seine Freude, denn sein Lächeln ist wie
das eines Menschen {olov clvS^Qwnov, was eben beweist, dass
er nicht personificirt war). Man wird hierin leicht denselben
Fehler erkennen.
87
vor, so können wir nur denken, der Künstler habe das selt-
samste Naturspiel darstellen wollen, die Palme sei durch Zu-
fall so gewachsen.
"Was bisher von der verschiedenen Auffassung der äus-
sern Natur in bildender Kunst und Poesie erörtert wurde, be-
trifft die Kunst übcrhaiipt, nicht die Kunst eines besondern
Volks. ■ Jede Kunst muss von der Poesie abweichen in der
Beseelung des Leblosen. Die folgende Erörterung dagegen
bezieht sich auf eine Eigenthündichkeit der griechischen
Kunst. Sie beschäftigt sich nämlich mit der Frage, wie
Mond und Sonne, wie überhaupt die Lichtkörper dargestellt
seien in der alten Kunst. Der Künstler der Neuzeit kann
hier rivalisiren mit dem Dichter; die Sonne gilt beiden als
ein lichtaussendender Körper, dessen Wirkungen der eine
schildert, der andere darstellt. Lii Alterthum war das Ver-
hältniss der beiden Künste in diesem Punkt nicht ganz
dasselbe.
Wir gehn aus von folgendem Bild des altern Philostra-
tus (11, 29):
Auf dem Felde erblickt man- Todte an Todten liegend
und Pferde und Waffen und einen Blutkoth; an der Mauer
aber liegen die Leichen der Heerführer in übermenschlicher
Grösse, Kapaneus aber einem Giganten gleich. Den Polynices
aber, der auch gross ist wie jene, hat Antigone mit kräftigen
Armen umfasst, das Knie auf den Boden stützend. Der
Mond wirft ein unsicheres Licht. Von selbst entsprangen
aber ist der Schoss der Granate am Grabmal. Wunderbar
ist auch das Feuer bei der Bestattung, denn es mischt sich
nicht die Flamme, sondern flackert hierhin und dorthin und
offenbart das Unvereinbare des Begräbnisses.
Nur mit kurzen Worten will ich vorher aufmerksam
machen einmal auf die ausgeführte Staffage, die so vielen
Bildern des Philostratus eigenthümlich ist. Nicht an ein
paar Todten hat der Rhetor genug, nein sämmtliche Leichen
der Heerführer sind vorhanden und noch mehr, eine grosse
Anzahl der getödteten Knappen (Todte an Todten) , Pferde
und Waffen und dazu der Blutkoth — wie auf dem Bild der
Kassandra — , damit das Bild ja recht ■^videl^värtig werde. So-
dann bezweifle ich, ob je ein griechischer Maler die Gestalt
der sophokleischen Antigene so entstellt hätte, dass er sie
bei Nacht ihre That ausführen Hess. Was versteht so ein
Rhetor von sophokleischer Poesie, setzt er doch noch hinzu,
das Mädchen unterdrücke ihre Klagen um den Bruder wol
aus Furcht vor den Ohren der Wäditer ^) ! Endhch sind
die Bemerkungen über die Granate und die sich spaltende
Flamme nichts Andres als roh hinzugefügte-Notizen, die der
Rhetor in seinen Quellen vorfand^).
,, Der Mond wirft ein unsicheres Licht" sagt Philostratus;
diese Worte .siüd's, um derentwillen ich das Bild herausgeho-
ben habe. Denn ist es so gewiss, dass die alten Maler
Sonne und Mond als leuchtende Körper in ihren Werken
darstellten? Nicht wenige Eigenthümlichkeiten der neuern
Malerei werden stillschweigend in der alten vorausgesetzt, da
1) Der Zug ist übrigens nicht dem Rhetor e_igen, er kommt
bei Hygin Fab. 72 vor, welcher wahrscheinlich den Inhalt
der Euripideischen Antigene erzählt. Vgl. Welcker Griech.
' Trag. II p. 567 ff.
2) Heyne verstand unter den ivccyia/uctTcc die Verbrennung der
Leichen, Welcker dagegen nimmt das Wort in seinem eigent-
lichen Sinn und meint, es seien Todtenopfer auf einem Altar
verbrannt, wobei nur der Altar auf dem Schlachffeld bedenk-
lich . ist und besonders die seltsame Abweichung von der
hergebrachten Erzählung: das Auseinandergchn der Flamme
hat ja nur Sinn , wenn es die Leichen selbst sind , die ver"
brannt werden. Ich glaube daher auch, dass der Rhetor die
Verbrennung der Leichen meinte. Es würden demnach zwei
Scenen anzunehmen sein, wenn nicht vielmehr, was mir am
" wahrscheinlichsten scheint, der Rhetor die Notiz gedankenlos
aus seinen Quellen herübernahm , ohne sich darüber Sorge
zu machen, ob und wie sie gemalt zu denken sei. Dies Bild
übrigens nennt Overbeck (Gall. p. 143) ein „einfach schönes
Bild, welches allen Ansprüchen, die wir an antike Komposi-
tion zu machen haben, vollkommen genügt." (!)
89
man doch zunächst untersuchen sollte, ob sie vereinbar seien
mit der verschiedenen Geistesart des Alterthums.
Die griechische Poesie wechselt zwischen persönHcher
und unpersönlicher Auffassung der Gestirne. Aber dieser
Wechsel ist kein willkürlicher. Je schwungvoller, phantasie-
reicher die Darstellung ist, um so mehr überwiegt die per-
sönHche Anschauung. Das kindliche Epos betrachtet die
Gestirne als helle Lichter, über welche der Hirt sieh freut *);
es ist ganz im Einklang mit der ruhigen objektiven Art des
Epos, wenn^ die Lichtgottheiten noch wenig mythisches Leben
haben. Aber von dem Viergespann des , Helios , von dem
Wagen der Nacht und der Selene, von den weissen Rossen
der Hemera ist in Lyrik und Tragödie die Rede; diese Gat-
tungen der Poesie, depen mehr Leidenschaft und farbenreiche
Phantasie eigen ist, pflegen die LichtgoKheiten in glänzend
plastischer Persönhchkeit hinzustellen. Natürlich aber bleibt
auch dem plastisch gestalteten Gott die Kraft des unpersön-
lichen Naturobjekts.
W''ie verhält sich nun dem gegenüber die bildende Kunst ?
Die Plastik dürfen wir bei Seite setzen , denn es ist ohne
Weiteres klar, dass diese Kunst nur die personificirte Darstel-
lung wählen konnte; in der Malerei müssen wir scheiden
zwischen solchen Darstellungen, in denen ein Gestirn nur
Zuthat zu menschlichen Handlungen ist und Darstellungen
eines elementaren Vorgangs für sich. Im letzteren Fall sehn
wir immer in der erhalteneu Kunst menschliche Handlung
statt elementarer Kräfte; Sonnenaufgang und Sonnenunter-
gang sind dargest'Cllt als Handlungen eines persönlichen
Gottes , und die Sterne , welche beim Sonnenaufgang ver-
schwinden , erscheinen als Knaben , die sich in's Meer stür-
zen2). Was unsreKünstler also nach der Realität darzustel-
1) 11- 8, 555 fr, Vgl. Sapph. fr. 3.
2) Man wird mir nicht das Mosaik bei Guattani Mon. ined. 1781,
LI, das E. Braun in Annali X, 269 erklärt hat, entgegenhal-
fen. Hier steigt die Sonne, ein strahlenbekränztes Gesicht
hinter Bergen empor; vor ihr steht ein Stern, ikonisch ge-
bildet, am Himmel, ein zweiter aber personificirt als Mensch
90
len .suchen, das bildet der Grieche persüiiUch in Folge der
anthroj)omorphislischen Anschauungsweise seines Volks. Wenn
es jenen darauf ankommt, durch den Zauber der Beleuchtung
zu wirken, so will dieser interessiren durch die Lebendigkeit
einer menschlichen Handlung. Als Zuthat dagegen zu n)y-
thischen Handlungen sehn wir in der letzten Periode der
Vasenmalerei und auf den "Wandgemälden Sonne Mond und
Sterne manchmal unpersönlich dargestellt. Allein diese Zu-
thaten haben in vielen Fällen gar keine materielle Bedeutung;
von den Sternen ist wenigstens nachweisbar; dass sie durch-
aus nicht immer die Nachtzeit andeuten, sie sind vielmehr
in den meisten Fällen nur ein raumfüllendes Ornament wie
die Rosetten, mit denen sie wechsehi^). Auch die Sonnen-
scheibe, die auf unteritalischen Vasen verschiedenen mythi-
schen Darstellungen hinzugefügt ist, kann ohne Schaden für
das Bild entbehrt werden; man möchte glauben, auch sie
habe wie so manches Andre in diesem Stil nur formelle Be-
deutung 2). Dagegen kann wohl nicht geläugnet werden,
dass die Hinzufügung der Mondscheibe auf Vasen und Wand-
gemälden nicht ohne bestimmte Absicht geschehn ist; sie
findet sich nämlich auf solchen Darstellungen, wo die An-
deutung- der Nachtzeit nicht unwesentlich ist für die Auffas-
sung des Bildes ^l. Es ist begreifUch, dass man in solchen
dargestellt, ist bereits in's Meer getaucht. Hier ist also reale
Darstellung iind Personifikation auf einem und demselben
Bilde vereinigt; fehlerhaft genug, denn gleichartige Wesen
müssen in der Kunst gleiche Gestalt haben, sonst hört eben
ihre Gleichartigkeit auf. Man kann vergleichen den Fall, wo*
Psj'che auf einem und demselben Bild bald als Mädchen,
bald als Schmetterling dargestellt ist, wie bei Müller il, 53
668. Vgl. Jahn in Ber. d. süchs. Gesellsch. d. Wiss. 1851
p. 161.
1) Vgl. den Excurs II.
2) Die Beispiele hat Stephani a. a. 0. p. 26 Anm. 2 zusam-
mengestellt. Der personificirte Helios auf der Karlsruher
Parisvasc ist anders aufzufassen.
3) Overbeck Gall. Taf. 24, 20 und Bullet. Napol. VI, p. i. Es
sind Darstellungen des Palladienraubes und des Endj^mion.
91
Fällen, wo es sich nur um eine Andeutung für die Phantasie
handelt , wo nur die Zeit der dargestellten Handlung ange-
geben werden soll, den Lichtkörper nicht personificirte, son-
dern in seiner realen Form als ein bescheidenes Zeichen
hinzufügte. Aber mehr als die Form hat er nicht mit der
Realität gemein, das Licht fehlt ihm.
Sind wir aber berechtigt, nach diesen Thatsachen der
erhaltenen Gemälde auch die verlorenen Werke der alten
Malerei zu beurtheilen ? Dürfen wir dasjenige, was wir an
den uns erhaltenen untergeordneten Werken bemerken, an-
nehmen von den Bildern eines Apelles ? Es ist wahr, Licht-
effekte, die der Vasen- und Wandmalerei völhg fremd sind,
hatten in den Werken der grossen Meister ihre Stelle ; es
wird uns das Bild eines feueranblasenden Knaben von Anti-
philus genannt, das wir uns wol nicht anders denken kön-
nen als nach der Analogie verM-andter Darstellungen hollän-
discher Meister. Hienach scheint es natürlich anzunehmen,
' dass auch leuchtende Gestirne dargestellt seien, dass die
Maler nach Polygnot — denn diesem wird mit Recht alle
und jede Lichtwirkung abgesprochen — eben da, wo die
Vasenmaler sich mit Andeutungen begnügten, wirklich licht-
aussendende Körper malten und somit den übrigen Reizen
ihrer Bilder auch defi Zauber der Beleuchtung hinzufügten. Und
doch kann ich mich nicht zu dieser Annahme entschliessen.
Den alten Gemälden fehlte nämlich — dies wird zugegeben
und unten noch ausführlicher ^erörtert werden — das Land-
schaftliche, Eben aus diesem Grunde fehlten auch , wie ich
glaube, die Sonnen- und Mondbeleuchtungen. Es ist mir
nicht denkbar, dass man die unpersönliche Natur zum Theil
— das ganze Reich der Vegetation — nur andeutungs-
weise, s^ymbolisch, zum andern Theil aber — die Lichtkör-
per — nach ihrer realen Erscheinung dargestellt haben sollte.
Beide Gebiete mussten entweder naturwahr oder symbolisch
aufgefasst werden, eine Mischung verschiedener Darstellungs-
weisen ist nicht denkbar. Sodann aber erscheint es mir
zweifelhaft, ob es einem alten Künstler einfallen konnte, das
Licht , das er mit seinem Volk anschaute als gewirkt durch
92
einen porsönlichen Gott , für sich darzustellen getrennt von
seinem Urheber. Allerdings wurde schon durch die vorso-
kratische Philosophie die Natur entgöttert, die Gesammtheit
der Nation aber hielt trotzdem fest an den Anschauungen
Homers. Wir glauben demnach, dass die Gestirne in den
Meisterwerken der griechischen Kunst — wenn sie überhaupt
hinzugefügt wurden — in derselben nur andeutenden Art
angebracht waren, die uns auf den Vasen entgegentritt. Der
Mensch und seine That war der Mittelpunkt der griechischen
Malerei, so M'ie er es war in der Plastik.
Das philostratische Bild mit dem unsichern MondHcht
können wir demnach nicht als gemalt denken ^ es ist ein
dichterisches Bild, das aber von der alten Kunst nicht nach-
geahmt wurde.
Leichler werden wir mit folgenden Bildern, die wir auch
um der merkwürdigen Darstellung der Gestirne willen be-
sprechen, fertig werden können.
Der allere Philostratus beschreibt (I, 7) ein Bild, wel-
ches die Klage um Memnon darstellte*). Im obern Raum be-
fanden sich göttliche Wesen : „Eos trauernd um ihren Sohn
macht den Helios betrübt und bittet die Nacht eher zu koqi-
men und das Heer zurückzuhalten, damit sie unvermerkt den
Sohn fortnehmen könne.'' Zugleich befand sich auf dem
Bilde der sitzende Memnonskoloss — in welchen Memnon nach
der Sage verwandelt wurde — ,,und der Strahl des Helios
1) Es war die noös^foig des Memnon dargestellt und doch liegt
der Leiclinani — auf der Erde. Wenn der todte Antilochus
11, 7 auf der Erde liegt, so hat das Sinn, denn das Bild
sagt uns, dass er eben gefallen, aber hier, wo keine Feinde
da sind, wo die Klage um Memnon ganz i'iir sich allein dar-
gestellt war, da ist es sehr auffallend, dass der Leichnam
auf der Erde und nicht wie z. B. auf der Archemorusvase,
auf einem Paradebett oder einerBahre liegt. So war es natür-
lich auch im Leben Sitte.
93
trifft die Statue. Denn Helios scheint dem Menmon , indem
er ihm wie ein Plektruni auf den Mund falll , einen Laut zu
entlocken."
In der ersten Scene ist Helios personiticirt, in der zwei-
ten wird er als leuchtender Körper aufgefasst; darin liegt
das Merkwürdige des Bildes. Der Dichter kann so sprechen,
bei dem Person und Sache in einander fliessen, der Künst-
ler kann nur eins oder das andre darstellen.
Bemerkenswerth ist hier übrigens das Verfahren der Er-
klärer. Das über Eos Gesagte sei aus Dichtern geschöpft^)-
keine Kunst könne die Eos darstellen zugleich die Sonne
verdunkelnd und mit Bitten die Nacht angehend. Der Maler
habe die Tj-auer der Sonne und die nahe Ankunft der Nacht
durch Abnahme des Lichts und angemessenen Farbenton auf
dem Grund des Bildes ausgedrückt. Ist es nicht eine merk-
würdige Kritik, welche um ihrer unbewiesenen Voraussetzung
willen die auffallenden eben mit dieser Voraussetzung strei-
tenden Stellen nicht so interpretirt, wüe es die AYorte, son-
dern so ^^äe es die gemachte Voraussetzung verlangt? Hätte
sie nicht vielmehr die auffallenden Stellen, und w^enn es auch
nur eine einzige war, gerade zu Ausgangspunkten einer vor-
aussetzungslosen Untersuchung machen sollen? Denn eine
genaue Untersuchung derselben , welche sich nicht mit dem
vagen Satz begnügt, die Kunst könne dergleichen nicht dai--
stellen, welche dem Grund des Auffallenden nachgeht, musste
sofort erkennen lassen, dass eben derselbe Fehler, an dem
die Einzelheit leidet, ein Fehler der Bilder überhaupt sei.
Sodann besprechen wir das Bild' des Phaethon (Sen.
I, 11), das gemalt gedacht, in Confusion seines gleichen
sucht :
1) Zu den von Jakobs angeführten Stellen kommt nocli die bei
Qu. Smyrn. II, 625 ff- hinzu.
04
Die Naclü vertreibt um Mittag den Tag; der Kreis der
Sonne auf die Erde fliessend ruft die Sierne hervor: die Hö-
ren (liehen die Thove verki.ssend in das ihnen entgegentre-
tende Dunlvel und die Pferde aus dem Geschirr gefallen,
schiessen in ^^'uth dahin. Der Jüngling fällt lieraus und
stürzt hinab. Er ist am Haar verbrannt und seine Brust
dampft. Die Erde aber verzweifelt und hebt die, Arme em-
por, da das Platzfeuer auf sie niederkommt. Schwäne sind
am Eridanus, um den Knaben zu besingen, auch Zephyr ist
da, der sieh ihrer Flügel wie eines Instrumentes bedient. An
dem Ufer des Flusses stehen die Heliaden , schon bis zum
Nabel Bäume, auch Hände und Haar sind schon verwandelt.
Sie vergiessen golden schimmernde Thränen , die auf der
Röthe der "Wangen erglänzen, die Thränen auf der Brust
aber sind schon Gold. Auch der Flussoott klagt aus dem
Wasser hervorragend und breitet dem Phaethon den Bausch
aus; denn seine Stellung ist die eines Aufnehmenden i).
Einige Kleinigkeiten bemerke ich vorher. Die trauern-
den Schwestern haben rothe Backen trotz ihrer Trauer; na-
türlich, dem albernen Rhetor mussten die goldnen Thränen
auf rolhem Grund sehr schön vorkommen. Sodann sind die
Mädchen schon zum Theil verwandelt, der menschliche und
vegetabilische Organismus sind gemischt, ganz im Wider-
spruch mit dem Verfahren der erhaltenen Denkmäler. Wie-
sel^r, welcher die auf Phaethon bezüglichen Monumente neuer-
dings gesammelt und besprochen hat, bemerkt (p. 62), die
Verwandlung der Schwestern des Phaethon sei auf dem Ge-
mälde jfles Philostratus und auf dem unter n. 8 seiner Kupfex-
tafel abgebildeten geschnittenen Stein wirkhch angegeben,
auf den übrigen Denkmälern sei sie nur angedeutet durch
einen nebenstehenden Baum oder durch einen Zweig in der
Hand der Mädchen. Er hätte aher auch die obenerwähnte
]) Es ist mir uubegreitlich, wie Wieseler in seiner Schrift über
Pliaetlion p. 22 Anm. 2 die Worte tu yuo ff/^,«« iSi-^aun'ou
als sinnlos bezoiclmen und verandern konnte. Man vcrgl.,
wenn es dessen bedarf, Scn. I, 7: >i(cl lo G/ij/.(cc iitr xadrjuü'ov.
95
Gemme trennen sollen von dem philostraliselien Bild, denn
die Gemme zeigt drei völlig menschlich gebildete Mädchen,
an deren Fingerspitzen kleine Zweige sichtbar sind. Kann
eine solche Darstellung aber verglichen werden mit dem Bilde
des Philostratus ? Bei dem Rhetor ist das Menschliche mit
dem Vegetabilischen verschmolzen, dort aber ist der mensch-
liche Organismus völlig unversehrt, nur angefügt sind
Zweiglein als eine Andeutung für die Phantasie. Das Bild will
uns die Verwandlung sichtbar zeigen, die Gemme lässt sie
nur errathen. Dies andeutende Verfahren der Kunst bestätigen
auch die Knnstdarstellungen der Daphne. Der Mythus er-
zählt wie von den Heliaden, dass Daphne in einen Lorbeer-
baum ver.wandelt sei, aber stellt der Künstler auch so dar?
Auf einem herkulanischen Bild ^ ) steht neben dem Mädchen
ein Lorbeerspross , auf einem andern 2) aus Pompeji ist an
1) Mus. borbon. X, 58 Pitt. d'Ercol. IV, 28.
2) Mus. borbon. XII, 33. Vgl. die borghesisclie Statue der Daphne,
welche , soweit ich nach der Abbildung bei Clarac 540 B,
966 C urtheilen kann, von Wicseler a. a. 0. p. 62 A. 1 nicht
als Stütze des plülostratisclicn Bildes hätte angeführt werden
sollen. Denn bis auf die Fingerspitzen (ebenso die Gemme
bei Tülken 111,2, 759) ist die Fig-ur vollkommen menschlich;
beide Beine sind sichtbar und gehen nicht in's Vegetabilische
über, sondern werden umstrickt von den Zweigen, so dass
die Figur wie an den Boden gefesselt erscheint. Was aber
die Stelle bei Lucian (Ver. bist. I, 8) betrifft, so ist mir sehr
zweifelhaft, ob nicht auch für sie, die allerdings nur eine
beiläufige Bemerkung ist, der von dem Verfasser cap. 4 aus-
gesprochene Grundsatz gilt, dass er in dieser Schrift nichts
Wahres sagen ^^'olle. Endlich kann die Gruppe des Dionj'sos
und Ampelos, die Wieseler noch anführt, gar nicht verglichen
werden, weil es sich dabei gar nicht um eine Verwandlung
handelt, — man würde doch wol zum Mindesten etwas Angst
und Widerstreben in einem Knaben ausgedrückt finden, der
zum Weinstock werden soll. Vielmehr ist die Figur neben
Dionysos der pcrsonificirte Ampelos, welcher dem Dionysos die
Traube, seine Frucht bietet. Man darf sagen, die griechische
Kunst hat , wenn nicht in humoristischen Darstellungen wie
96
ihren Schelfe} ein Zweig angefügt, weniger schön, aber es
ist. doch auch hier das Menscldiche vüHig unversehrt darge-
stellt. Und hallen die Künsller nicht Recht, dass sie so ver-
fuhren? Wer Avürde an der halbverwandellen Daphne des
Bernini, ausgeführt mit aller technischen Virtuosität, das Ver-
gnügen emi)finden können, mit dem wir jene pompejanischen
Bilder — die keine Meisterstücke sind — l)etraehten? Der
Künstler, der die Verwandlungen darzustellen sucht, über-
schreitet nicht allein die Gränzen seiner Kunst, insofern er
einen gar nicht fixirbaren Pinikt fixirt, er zieht auch das
Interesse ab von dem, worauf er es concenlriren sollte. Denn
die Trauer der Schwestern um den Bruder, die Angst des
Mädchens vor dem Verfolger sind es, die unsre ganze Theil-
nahme in Anspruch nehmen. Dieses tiefere Interesse kann
nicht bestehen mit der kalten Bewunderung, die wir einer
geschickten Verschmelzung unverträglicher Organismen zollen.
Doch dies genügt für den Philostralus. Seine verwan-
delten Heliaden, sahn wir, sind ohne Analogie in den er-
haltenen Darstellungen 5 der Rhetor schrieb wieder dem Dich-
ter na<'h.
in der Verwandlung der Seeräuber und der Geführten des
Odysseus, Verwandlungen nie direkt darzustellen versucht;
die Verwandlung-- des Aktaeon wird ebenso wie die der He-
liaden und der Daphne durch kleine angefügte symbolische
Zeichen angedeutet, die das Menschliche im Wesentlichen
nicht beeinträchtigen. Ich weiss wol, dass er mitunter einen
Hirschkopf hat (vgl. Jahn Beitr. -p. 410), aber ich glaube
behaupten zu dürfen, dass in allen tragischen Situationen
eine solche Vermischung des Tliierischen und Menschlichen
eine Unmöglichkeit ist. In Betreff des Philostralus übrigens
ist schon dies sehr misslich , wenn seine Bilder nui- durch
ganz vereinzelte Versuche untergeordneter Künstler gestützt
werden können. Demnach betraclite ich auch die Verwand-
lung vonJCadmus und Harmonia (Sen. 1, 18) nur als etwas
dem Dichter Nachgeschriebenes. Hier würde man nicht ein-
mal erkennen können, dass es sich um eine Verwandlung
handle, man würde die ■ beiden für schlangenfüssige Wesen
halten, wie den Kckrops auf einer Erichthoniusvasc.
97
Ausser dem Phaethon, dessen verbranntes Haar nicht bei
dem Dichter Ovid, aber sehr widerwärtig ist auf dem Bilde,
war auch die Sonnenscheibe dargestellt. So nämlich muss
man nach den Worten des Rhetors verstehen ; die Erklärer
dagegen nehmen nach der Analogie erhaltener Bilder an, ein
Strahlenkreis habe den Kopf des Phaethon oder der Pferde
oder den ganzen Wagen umgeben. Dieser wäre dann als
Grund des Brandes anzusehen, wobei man nur fragen müsste,
wie er denn als brennender Körper — die Gaea leidet sehr
unter ihm — mit Menschen oder Thieren oder Geräthen ver-
bunden' werden könne. Wenn der Künstler dem Helios eine
Strahienkrone gibt, so ist ja dieses Attribut nichts Andres,
als eine Andeutung für unsre Phantasie 5 es soll uns die Figur
kenntlich machen, es kann aber als Attribut des persönlich
gestalteten Naturobjects nicht die Eigenschaften des unper-
sönhchen Dinges besitzen. Wollten wir uns aber den ganzen
persönlichen Helios umflossen denken von einem Lichtmeer
wie etwa den Heiland der neuern Kunst, so könnte doch
dieses Licht, in welchem eine Person lebt, nicht zugleich die
Wirkung eines verzehrenden Feuers haben. Doch um zu
wissen, wie Philostratus den Vorgang gesehen oder sich ge-
dacht, worauf es doch allein ankommt, bedurfte es dieser
Erörterung nicht i). Man lese nur' seine Beschreibung. Er»
spricht zuerst von einem blossen Naturvorgang und sodann
erzählt er den Mythus, der eben dasselbe ausdrückt. Denn
1 ) Von den Annahmen der Erklärer ist eine zu merkwürdig,
um nicht angeführt zu x-^trden. Einer derselben glaubt, weil
Philostratus den Vorgang in die Mittagszeit setzt, die perso-
nificirte Mesembria sei anwesend gewesen. Er erinnert dabei
an den Festzug des Antiochus, in welchem diese Figur aller-
dings mit andern ähnlichen Personifikationen erschien, sagt
aber nicht, wie er sich die Figur denkt. Icli wäre sehr neu-
gierig zu hören, ob und welche Aktion der Erldärer ihr ^u-
theilen würde. Nach meiner Meinung will Philostratus durch
die Worte Ix y.eat]fißQCug nur das Wunderbare des ganzen
Vorgangs steigern: in der hellsten Tageszeit zieht die Nacht
heraul".
7
98
die auf die Erde fliessende Sonnenscheibe ist mythisch aus-
gedrückt der herabstürzende Phaethon. Philostratus verfährt
also wie der Dichter, welcher wechseln kann zwischen dem
Naturobject, der Sonne, und dem in demselben wirkenden
Gott, dem Helios, der hier durch den Phaethon vertreten wird.
Ob und wie dies zu malen sei, darüber macht sich der Rhe-
tor keine Sorge ; wer es versucht, erhält ein Bild, in welchem
mythische und elementare Vorgänge, die beide dasselbe be-
deuten, in bunter Unordnung gemischt sind.
Uns ist der Sturz des Phaethon nur auf plastischen Mo-
numenten erhalten 5 es ist aber nach den obigen Ausführun-
gen wol nicht zu bezweifeln, dass auch der Maler alles Ele-
mentare in menschUcher Gestalt dargestellt haben würde.
Den Schluss bilde das schon erwähnte Gemälde des
Hippolyt, welches ebenfalls in der Behandlung der äussern
Natur einen dichterischen, nicht künstlei'ischen Character trägt.
Nur handelt es sich hier nicht darum , ob der Künstler das
Unpersönliche ohne es zu verändern, ohne es zu anthropo-
morpliisiren beseelen könne, wie es der Dichter vermag,
sondern darum , wie weit er vermittelst der Personifikation
dem Dichter in der Beseelung des Unpersönhchen folgen
kann und darf. Auf dem Bilde nämlich trauern um Hippolyt
mehrere auffallende Naturpersonifikationen, die allerdings dem
Rhetor ein Recht geben zu der Bemerkung, das Gemälde
selbst habe eine poetische KlagQ um den getödteten Jüng-
ling angeordnet. Die Bergwarten , so heisst es , als Frauen
gebildet zerfleischen ihre Wangen, die Wiesen in der Gestalt
blühender Jünglinge lassen ihre Blumen welken und die
Nymphen aus den Quellen hervorragend zerraufen ihr Haar
und lassen Wasser ihren Brüsten entsti'ömen^). Wer fühlt
1) Mehrere Irrthümer Welcker's berichtigt O, Jahn Beitr. jj. 329 f.
und hebt auch das Auffallende in der Erscheinung der Nym-
phen hervor.
99
sich nicht, indem er dies liest, in einen Dichter versetzt?*
Wer erinnert sieh nicht der Adonisklage des Bion, wo die
"Waldnymphen, wo Berge, Eichen, Flüsse und Quellen den
Adonis beweinen V oder des dem Moschus zugeschriebenen
Klagliedes auf den gestorbenen Bion und mancher andern
bei spiUern Dichtern? Wer aber könnte auch nur eine ein-
zige Analogie aus dem gesammten Denkmälervorrath an-
führen ?
Das, woran ich Anstoss nehme, sind die personificirten
Wiesen und Bergwarten, 80 sehr kann die Natur von dem
Künstler nicht specialisirt werden \ die Kunst kann nicht jede
Einzelheit einer Lokalität anthropomorphisiren , theils weil
die Mittel ihrer Charakteristik nicht ausreichen würden, be-
sonders aber desswegen, weil sie nur demjenigen eine selbst-
ständige Gestalt geben kann, das auch in der Wirklichkeit
sich als ein selbständiges Wesen geltend macht. Die Quelle,
der Berg treten als selbständige Dinge hervor^ auch die
Strassen und Plätze, die von den Römern personiücirt wer-
den, aber die Wiese kann erstlich nicht deutlich genug cha-
rakterisirt werden — der Berggott in der Gruppe des farne-
sischen Stiers hat dieselbe Characteristik wie die philosti'a-
tischen Wiesen — , sodann aber ist sie nichts für sich Be-
stehendes, sie wird untrennbar gedacht von dem Erdboden,
den sie bedeckt. Und ebenso ist die Bergwarte, von deren
Characteristik der Rhetor aus gutem Grunde schweigt, als
ein unselbständiger Theil des ganzen Berges nicht gesondert
für sich darzustellen. Der Dichter dagegen kann in jede
Einzelheit der Natur ein menschliches Herz legen. Sehn wir
einmal zu, ob die in Bion's Gedicht um Adonis klagende
Natur wol in die Kunst übergegangen. Auf einem pompe-
janischen Bild erblicken wir Aphrodite mit Eroten um den
verwundeten Adonis beschäftigt, dann aber, „sitzt unter einem
alten mit Binden geschmückten Baum eine Frau, welche,
das Kinn auf die linke Hand gestützt, traurig und ernst die-
ser Scene zusieht i)". Weiter ist Niemand zugegen; diese
1) 0. Jahn Beitr. p. 49.
100
Frau entspricht auf dem Bilde der ganzen Summe der ein-
zeln namhaft gemachten Naturgegenstände des Dichters, sie
repräsentirt das Lokal überhaupt i). Der Künstler also ver-
sucht so wenig mit dem Dichter zu rivalisiren, dass er nicht
einmal diejenigen Naturpersouifikationen anwendet, die seiner
Kunst möglieh sind. Denn er konnte den Berg und die
Quelle personificirt einführen, aber er fing gar nicht an zu
speciaJisiren , er fasste lieber die ganze Natur in einer Figur
zusammen, als dass er ein paar sijecielle Personifikationen dar-
stellte, die nolhwendig den Gedanken an die fehlenden nicht
darstellbaren erwecken 2), Der Dichter dagegen würde sehr
frostig sein, der nicht specialisirte ; gi-ade durch die sich
drängende Fülle der Einzelheiten erhalten wir die Vorstellung,
dass eine grosse Klage durch die ganze Natur gehe.
Die Bergwarten und "Wiesen des Philostratus also sind
dichterische Personifikationen; die Erklärer weisen die Stel-
len nach, woher sie entlehnt sind.
Solche Bilder wie das besprochene sind es vornehmlich,
mit welchen man den berühmten Satz des Simonides , dass
die Malerei eine -stumme Poesie und die Poesie eine redende
Malerei sei, zu begründen sucht ^). Es ist wahr, wenn man
die Beschreibungen der Philostrate von wirklichen Bildern
entnommen glaubt, so sind sie Beweise für diesen Satz, den
Lessing als einen Einfall bezeichnet, dessen wahrer Theil so
einleuchtend sei, dass man das Unbestimmte und Falsche,
welches er mit sich führe, übersehen zu müssen glaube.
Lessing hatte Recht; der Satz ist — auch ganz abgesehen
davon, dass mit den, philostratischen Bildern seine wesent-
lichste Stütze fällt — ein Einfall des Simonides, nur kein
ganz zufälhger, sondern sehr begreiflich nach der Natur die-
1) Es ist bekannt, dass dieses Verfahren das übliche ist.
2) Damit soll nicht gesagt sein, dass nicht auch noch andre
Gründe, z. B. die Verdunkelung der Hauptpersonen, dem
Künstler das Maasshalten in solchen untergeordneten Figuren
zur Pflicht machen.
3) Man sehe besonders die oben angeführte Schrift von Toelken,
10t
ses Dicliters. Betrachten wir zuerst die zweite Hälfte des-
selben, dass die Poesie eine redende Malerei sei — kann
wol etwas Falscheres ausgesagt werden von der griechischen
Poesie im Allgemeinen? Es mag nicht unrichtig sein von
Earipides, dessen poetischer Character die Notiz begreiflich
macht, dass er in seiner Jugend Maler gewesen; wer aber
möchte dies behaupten von einem Aeschylus ! Wenn dieser
mit ein paar ergreifenden Versen den Opfertod der Iphigenie
schildert, so' wendet jener deren sechzig auf zu dem Tod der
Pol3xena. Wer möchte dies ferner von. einem Pindar behaup-
ten, der oft nur ein einziges Wort zu einem ganzen Bilde
verwendet^)! Dagegen hat kein Dichter so \veiche schöne
Ausführlichkeit als eben der Urheber jenes Satzes ^j. Simo-
nides war Meister in zarten ausmalenden Schilderungen und
auch uns sind bestätigende Bruchstücke erhalten 5 eben darum
ist es wol nicht gewagt, wenn wir seinen Satz als einen
Ausdruck seiner individuellen dichterischen Art ansehen. Und
was die zweite Behauptung betrifft, dass die Malerei eine
stumme Poesie sei — was hatte denn Simonides für Gemälde
vor Augen, als er so sprach? Er kannte wol die des Poly-
gnot, für dessen Zerstörung Troja s er das Epigramm schrieb,
aber gerade diese Malerei scheint^ so weit wir urtheilen kön-
nen, wenig geeignet gewesen zu sein, mit ausmalender, schil-
dernder Poesie im Sinne des Simonides verglichen zu wer-
den. Denn die ganze äussere Natur, die der Dichter detail-
lirt schildert, war bei Polygnot nur vertreten durch symbo-
lische Andeutungen. —
J ) Was Homer betrifft, so liat W. v. Humboldt in den Betrach-
tungen über Hermann und Dorothea sehr tief und wahr be-
merkt, Homer habe mehr Form als Colorit.
2) Nur nicht in denjenigen Epigrammen , die sich auf grosse
politische Ereignisse beziehen,- worüber sehr gut Schneidewin
Simon. Cei reliq. p. 135 seqq. handelt.
V.
Eine sehr grosse Anzahl von philostratischen Bildern
zerfällt in mehrere Scenen , deren jede dieselben Figiu'en,
nur in verschiedner und zwar fortschreitender Aktion dar-
stellt. In den meisten Fällen sind die einzelnen Scenen deut-
lich von einander zu trennen, manchmal aber fliessen sie
so zusammen, das? eine Trennung unmöghch ist. "Wir be-
trachten den ersten Fall zuerst.
Das Bild des Penthens (Sen. I, 18) stellte die Zerreis-
sung desselben auf dem Kithäron dar und daneben in einer
zweiten Scene die Zusammenfügung des zerrissenen Körpers
durch die Angehörigen in Theben M- Auf einem andern
Bilde (Sen. II, 2) erblicken wir den kleinen Achill, Jagd-
beute zu seinem Erzieher Chiron schleppend und daneben
denselben Achill, auf dem Rücken des Centauren, das Reiten
lernend. Die Kämpfe des Herkules mit Antaeus und Ache-
lous (Sen. II, 21. Jun. 4) waren, -wie wir schon oben sahen,
als bevorstehend und bereits entschieden dargestellt und auch
der „Herkules unter den Pygmäen" (Sen. H, 22) bereift,
wie einem genauen Leser nicht entgehen wird, zwei Scenen
in sich, hier den schlafenden Herkules, den die P3'gmäen
angreifen, dort den erwachten Herkules, der die Feinde in
seine Löwenhaut steckt.
1) Welcker nimmt hier zwei getrennte Bilder an, anderswo
wie Sen. II, 2. 21 zwei getrennte Scenen, obwohl die Fälle
ganz dieselben sind. Diese willkürliche Behandlung des Tex-
tes, wornach das, was der Rhetor unter einem Titel berich-
tet, bald in verschiedene Bilder, bald in verschiedene Scenen
zerlegt wird , ist wieder veranlasst durch die Voraussetzung,
dass den Bildern Wirklichkeit entspreche.
103
Die aufgezählten Beispiele werden genügen : gerade dies
ist nun der Punkt, den man schon im vorigen Jahrhundert
gegen Philostratus gehend machte. Man vermisste die Ein-
heit in seinen Bildern._ Betrachten wir zunächst, wie man
ihn rechtfertigt oder rechtfertigen kann durch Analogien er-
haltener Denkmäler. Denn für die Wiederholung einer und
derselben Figur in einem Raum lässt sich eine nicht kleine
Anzahl von Beispielen aufzählen, und zwar nicht bloss von
Sarkophagen, die man schon verglichen hat; nur fragt sich,
ob diese Beispiele den philostratischen analog sind^).
Auf ein paar rothfigiu-igen Schaalen^) — um mit der
Vasenmalerei zu beginnen — , an jeder Seite der Schaale, ist
Theseus' doppelt dargestellt in verschiedner Aktion, jede Seite
zerfällt also in zwei Scenen mit Wiederholung einer und der-
selben Figur. Ebenso wiederholt sich auf dem obern Bild
schwarzfiguriger Hydiien Pallas in Kampfscenen^). Zwar
hat man in dem letzten Fall zwei ^•erschiedene Minerven
nach Maassgabe des in der Mythologie dieser Göttin hervor-
tretenden Duahsmus dargestellt finden wollen, allein auch
ajjgesehen von der Analogie der erwähnten Darstellungen
des Theseus, den man consequenterweise ebenfalls als einen
in sieh mythologisch verschiedenen auffassen müsste, so fehlt
jeder Beweis, dass der Maler, auf dessen Anschauung es
1) Die reia ornamentarische Vervielläliigung, wie wenn sich auf
einer Berliner Schaale mit Reliels (n. 1646) ganz nach Art
der schwarzen clusinischen Gelasse, dieselbe Vorstellung —
das Schiff des Odj^sseus — viermal wiederholt, gehört natür-
lich nicht hierher.
2) Gerhard Auserles. V. III, 232—234. Vgl. die schwarzfigurige
Schaale in München n. 418 in Jahn's Catalog.
3) El. ceram. I, 90 und Mus. Gregor. II, tav. 7. Das dritte Bei-
spiel, von Gerhard in Annali VII p. 38 f. beschrieben, steht
denjenigen Fällen näher, wo Vorderseite und Rückseite eines
Gefässes dieselbe oder nur leise verschiedene Darstellung
enthalten. Das Bild nämlich läuft um ein Gefäss in Lekythen-
form herum und die Scenen, in denen Pallas erscheint, sind
durch eine Mittelgruppe getrennt.
104
doch aliein anliommt, eine Versciiiedenheit der beiden Göttin-
nen beabsiclitigte. Er unterschied sie durchaus nicht, die
eine ist eine kämpfende Pallas so wie die andere, es heisst
also willkürlich hineintragen , wenn man von verschie-
denen Grotlheiten spricht; vielmehr wiederholt sich eine
und dieselbe Gottheit').
4) Was über die „doppelte Minerva" auf Kunstwerken von Iran-
zösiscben Archäologen geschrieben ist, glaube ich unberück-
sichtigt lassen zu dürfen, ich begnüge mich mit einigen
Gegenbemerkungen gegen Gerhard's achtes Winckelmanns-
programm: Zwei Minerven. Das dort mitgetheilte Relief
eines Spiegelgehäuses stellt eine Minerva ornamentarisch
wiederholt dar, nicht zwei wesensverschiedenc Minerven. Und
zwar ist es die kriegerische Göttin, die Pallas, die hier dar-
gestellt ist; die eine der beiden Figuren hat Schild und Speer
so wie die andre. Gerhai'd findet zwar, dass die Figur zur
Linken dadurch, dass sie den Speer in der linken Hand hat,
als „friedliche, Schirmgöttin'" bezeichnet sei, „der ihre den
Spee^^in der Rechten haltende Gefährtin als streitbare Trutz-
göttin gegenübersitzt.'' Aber — abgesehen davon, dass man
eine friedhche Göttin ganz ohne die Geräthe des Krieges
denkt — was Gei-hard aus mythologischen Gründen herleitet,
erklärt sich nach meiner Ansicht auf die einfachste Weise
aus einem Gruppirungsprincip. Wenn ein Künstler zwei Fi-
guren zu einer Gruppe zusammenstellt, so dürfen die gleichen
Glieder nicht das Gleiche thun, sonst erscheint die eine Figur
wie die Wiederholung der andern und die Gruppe fällt aus-
einander. Vielmehr müssen die entgegengesetzten Glieder
das Gleiche oder Aehnliche thun, dann schliesst sich die
Gruppe zur Einheit zusammen (vgl. meinen Aufsatz in der
Archaeol. Ztg. v. 1859 p. 67 ff.). So ist es hier; der linke
Arm der einen Figur thut das, was der rechte der andern
und umgekehrt. Dazu kommen dann in unserm Fall die
Raumverhältnisse. Wie konnten wol die Speere und Schilde
anders angebracht werden, als wie sie angebracht sind?
Uebrigens könnte ich die von Gerhard vorausgesetzte Sym-
bolik auch an sich nicht anders als höchst unverständlich
nennen, denn ist es für den kriegerischen oder friedlichen
Character einer Figur nicht ganz gleichgültig, ob sie mit der
105
Dies sind die mir bekannt gewordenen siehern Beispiele
der Vasenmalerei. Angenommen ist die Wiederholung einer
Figur in einem Raum noch sonst, es geschah aber aus flüch-
tiger Betrachtung der Denkmäler').
Die Theilung einer Fläche in zwei Soenen mit Wieder-
holung einer und derselben Figur findet sich also auf Schaa-
len und an dem schaalenförmig gebogenen Hals — ich
müsste genauer sagen, auf der Schulterfläche — von Krügen,
nicht am Bauch der Gefässe. Sollte das zufällig sein? Ich
glaube nicht, und die Begründung dieses Unterschiedes wird
mich eben auf das führen, was ich beweisen will, dass es
von der Art des zu füllenden Raumes abhängt, ob sich eine
und dieselbe Figur wiederholen darf Auf Schaalen herrscht
nämlich ein andres Compositionsprincip als auf Krügen. Die
linken oder rechten Hand den Speer aufstützt? Die zweite
Verschiedenheit der beiden Minerven soll dann die Andeutung
der Schlange sein, auf welcher die Hand der einen .,zu ruhen
scheint". Hierüber entscheide ich nach der Abbildung nicht,
wo die Schlange nicht eben deutlich ist; jedenfalls durfte ein
so unsicherer Thatbestand nicht zum Stützpunkt von Ver-
muthungen gemacht werden, die ich übrigens auch dann noch
bestreiten würde, wenn sich die Schlange als wirklich v,or-
handen herausstellen sollte. — Dann bleiben noch zwei
schwarzfigurige Vasen über, wo sich Pallas in einer Scene
wiederholt. Beide stellen die Einführung des Herkules bei
Zeus dar; die eine ist abgebildet in Gerhard's Programm n. 2,
die andere ebendas. Anm. 10 und Arch. Ztg. IV, 305 be-
sprochen. Auch hier sind die beiden Minerven entweder ganz
gleich oder durch so unbedeutende Verschiedenheiten getrennt,
dass man um so weniger an wesensverschiedene Göttinnen
denken darf, als die Darstellungen flüchtigen archaischen
Vasen angehören. Grade der Character dieser Monumente
lasst mich glauben, dass die zweite Minerva ohne weiteres
Nachdenken zur Raumausfüllung hinzugefügt sei.
1) Dahin gehört die Archemorusvase, worüber in meiner Schrift
über Praxiteles u. s. w. p. 124 gesprochen ist, sodann die
Vase Lamberg II, 4 wo sich nach der Meinung des Erklärers
Hermes dreimal wiederholt.
106
Gruppining um einen Mittelpunkt ist den letzteren, nament-
lich im rolhligungen Stil, eigen, aber die Auflösung einer
Figurenreihe in kleine, von einander getrennte Gruppen ist
das herrschende Compositionsprincip der Schaalen. Man be-
trachte nur, was für Darstellungen auf den Schaalen so
häufig sich finden. Es sind Kämpfe von Göttern und Gi-
ganten, in denen sich je ein Gott und Gigant zu einer Gruppe
zusammenzuschliessen pflegen, ferner Göttergelage, wo Paar
hinter Paar sitzt, besonders aber Darstellungen des täglichen
Lebens, palästrische , zart verschämte Liebesscenen u. s. w.,
wo man durchgehends kleine, in si^h abgeschlossene Grup-
pen, nicht die Richtvmg auf einen Mittelpunkt finden wird^).
Es kommen, das weiss ich allerdings, auch concentrisch
gruppirte Darstellungen auf Schaalen vor, aber wenn man,
wie das für solche Untersuchungen nöthig ist, die ganze
Masse des Erhaltenen vergleicht, so zeigt sich eine ganz ent-
schiedene Vorliebe für die Auflösung in kleine, getrennte
Gruppen. Diese Thatsache erkläre ich mir so : Das Bild
einer Schaale — es M-ird aus dem Vorhergehenden deutlich
sein , dass ich nur die Aussenbilder meine — ist wegen der
Form des Gefässes nicht gut mit einem Blick zu übersehen,
man muss die Schaale in der Hand drehen und nach einan-
der die Figuren betrachten ; das Bild am Bauch eines Kruges
dagegen übersieht man mit eiifem Blick. Diese Verschieden-
heit, glaube ich, erklärt die Verschiedenheit der Composition.
Weil der für das Aussenbild der Schaale bestimmte Raum
nicht mit einem Blick ganz zu übersehen ist, darum vermied
man auf Schaalen die centralisirte Darstellung, die auf
einen BHck berechnet ist; es ist ein neues Beispiel für das
feine Gefühl in der Anpassung von Bild und Raum, das sich
überall in der griechischen Kunst offenbart^). Eben aus
[) Für den Vasenkenner wird es der Beispiele nicht bedürfen;
indess vgl. z. B. den vierten Band von Gerhard's Auserles.
Vasen, der reich an Schaalen ist. "
2) Es ist etwas ganz AehnJiches, wenn wir die Tempelbrunnen
gern mit processionsähnlichen Zügen geschmückt finden. Der
107
diesem Grunde ist es zu erklären , wenn wir die Wieder-
holung einer und derselben Figm- nur auf Schaalen oder
schaalenförmig gebogenem Raum, niciil am Bauch eines Kru-
ges finden. Fände es sich auch hier, man müsste es (adeln,
indem ein Raum, den wir mit einem Blick übersehen, da-
durch zertheilt AAürde, so dass Bild und Raum nicht mehr
in einem nothwendigen Verhältniss zu einander ständen.
Aber keinen Anstoss hat die Wiederholung des Theseus auf
den oben erwähnten Sehaalen ; wir sehen wegen der beson-
dei-n Art des Raumes die beiden Figuren nicht zugleich,
sondern nacheinander •),
In der Gremäldehalle zu Athen befand sich ein W'and-
gemälde des Polygnot, welches die marathonisehe Schlacht
darstellte. Es zerfiel in drei Scenen 2) • man sah den Beginn
des Kampfes, den Moment der Entscheidung und die Flucht
der Barbaren. Aeusserst wahrscheinlich scheint mir, dass
sich in diesen drei Scenen Figuren wiederholten: ich kann
mir den Miltiades Aveder in der Entscheidung, noch in der
Verfolgung fehlend denken. War es so, dann würde wieder
der Raum die Wiederholung einer oder irfehrerer Figuren
rechtfertigen- Das Bild war ohne Zweifel von grosser Län-
genausdehnung und konnte daher nicht mit einem Blick über-
sehen werden. Die Wiederholung war daher eben so wenig-
auffällig, wie in neueren Bildern von ähnlicher Form. Auf
Raum ist nur nach und nach zn betrachten und so entspricht
ihm eine Darstellung, die nicht auf einen Blick berechnet
ist und beliebig verlängert werden kann, weil sie kein Cen-
trum hat. Zu vergleichen sind auch die büchsenförmigen
Gelasse ohne Henkel, um welche sich auch in ununterbroche-
ner Folge Figuren herumziehen ohne Beziehung auf einen
Mittelpunkt. Vgl. z. B. die Bacchantinnen bei Stackeiberg
Grab, d Hell. Taf. 24.
1) Dies gilt begi'eiflicherweise nicht bloss von bemalten Schaa-
len. Man vgl. die albanische Marmorschaale mit den zwölf
Thaten des Herkules bei Zoega bassiril. I, 62. 63.
2) Wie Böttiger Archaeol d. Malerei p. 249 Anm. und Brunn
Gesch. d. griech. Künstl. II. p. 21 mit Recht bemerken.
108
einem Bilde des Pinturicchio z. B. , das sich im Museum zu
Berlin befindet, ist die Geschichte des Tobias in drei fort-
schreitenden Momenten dargestellt. Das Bild ist von einer
friesartigen Gestalt, von grosser Längen- und gennger Breiten-
ausdehnung und so wird Niemand Anstoss nehmen.
Eben dasselbe gilt von einer Gattung plastischer Monu-
mente, von den Sarkophagen. Ein so schmaler, langge-
streckter Raum wie die Langseite eines Sarkophags, taugt
nicht für eine centralisirte Darstellung; das Auge übersieht
ihn nicht mit einem Mal, es war daher natürlich, ihn mit
successiv auf einander folgenden Seenen zu bedecken. Nur
müssen sich die Seenen klar sondern, und es dürfen ihrer
nicht zu viel sein , weil eine so starke Zerstückelung des
Raums wieder willkürlich erscheinen muss'). Man darf sagen,
dass sich in der von den Sarkophagen befolgten Regel, die
Fläche in drei Seenen zu zerlegen, ein richtiges Gefühl offen-
bart, zumal da, wo sich die Mittelgruppe durch Ausdehnung
etwas hervorhebt vor zwei gleich langen Seitengruppen.
Denn diese Dreitheilung ist die künstlerisch allein natürliche;
die Theilung in grade Zahlen muss vermieden werden , weil
sie das Ganze in Hälften auseinanderfallen lässt; eine Thei-
lung in fünf Felder aber würde nicht im Verhältniss stehn
zu der Länge des Raums, würde den Raum auf unangenehme
"Weise zerstückeln.
Endlich ist noch ein merkwürdiges, nicht mehr erhalte-
nes Giebelfeld zu erwähnen, in welchem sich eine und die-
selbe Figur nicht weniger als elfmal wiederholte. Praxiteles
bildete elf Thaten des Herkules für das Giebelfeld des diesem
Heros geweihten Heiligthums in Theben 2). Dies Verfahren
1) Am weitesten geht hierin, von den Herkulessarkophagen abge-
sehen , die in sechs Seenen zerlallende Sarkophagdarstellung
von Protesilaus und Laodamia bei Winckehnann, Mon.
Ined. 123.
2) Overbeck will zwar in seiner Gesch. d. griech. Plastik I, 226 f.
in dem Text des Pausanias 9, 11, 6 eine Lücke annehmen
und die elf Athlen in die Metopen verweisen. Allein von
109
widerspricht allerdings der in den meisten Fällen beobachte-
ten Sitte, das Giebelfeld mit einer centrahsirten Gruppe aus-
zufüllen 1) und es kann nicht geläuguet werden , dass das-
alleii kritischen Bedenken abgeselin , was sollen denn die
elf Atlilen in den Rletopen? Diese Zalil und die Weglassung
der Reinigung des eleisehen Landes und der stj-mphalischen
Vögel, was in Relief ja ohne Schwierigkeit darstellbar ist,
beweisen deutlich genug, dass es sich um freistehende Statuen,
nicht um Reliefs handelt. Sodann sollte uns doch die In-
schrift vom Erechtheum lehren, was für Künstler an den
untergeordneten Stellen der Gebäude arbeiteten.
1) Eine Ausnahme macht die Gruppe des Alkamenes im hin-
tern Giebelfeld des ol3'mpischen Zeustempcls. Paus. V, 10, 8
sagt: xctTct fiiv öt] tov deTov tü /.liGov IleiQLSovg iart' naQ«
^t avTov Tij fjitv EvQVTiwv fjQTiKXMg Ti]V yvvaTxä iari tov
77f/oA'/oi', y.(u {l/uvrwv KaivfifS zw UtiQl^^ii), rjj St OrjOfi/g
dfivrö^iut'oi; mltxti tov; KirrauQovg. Nach diesen Worten
wird sich Jedermann den Pirithous eingeschlossen denken von
Eurytion und Theseus; Welcker dagegen behauptet (A. D. I,
186) : ,,ohne Zweifel standKänous neben dem Peirithoos und auf
ihn folgte der Kentaur mit Hippodamien, was nach der Wort-
stellung des Pausanias anders genommen werden könnte."
„Ohne Zweifel?" Wer so glaubt, der wird de{n Pausanias
etwas Confusion und dem Alkamenes eine grosse Ungereimt-
heit zutrauen müssen. Denn wenn Pirithous zwischen zwei
Gefährten , zwischen Theseus und Käneus steht, so ist er ja
selbst nicht unmittelbar im Handgemenge, und eben dies,
dass der, dessen Frau geraubt wird, von dem Räuber getrennt
und überhaupt nicht am Leibe des Feindes steht, das wäre doch
wol eine Ungeschickliclikeit, die man Bedenken tragen sollte
einem griechischen Bildhauer zuzutrauen. Es kann daher
nicht einmal anders gewesen sein, als die Worte des Pausa-
nias sagen. Man stelle sich nun die Darstellung vor: Piri-
thous ist nach der einen Seite hin mit seinem Körper ge-
richtet, auf den Eurj^tion, den er bekämpft (dies geht aus dem
Ausdruck Kcuvtvg ci/iivvtov to} ITfiQi&oj hervor): der neben
Pirithous stehende Theseus dagegen richtet sich nach der ent-
gegengesetzten Seite auf die vor ihm befindlichen Centauren.
Also zwischen Theseus und Pirithous klafft die Darstellung
110
selbe der Art des zu füllenden Raums niehl entsprach, man
begreift aber auch leicht, was den Künstler zu dieser Anord-
nung veranlasste. Es war die Bestimmung des Heiligthums^
denn wie könnte das Giebelfeld eines Herkulestempels besser
ausgefüllt werden, als mit den Tliaten des Heros ? Um die-
ses äussern Zwecks willen brachte Praxiteles seiner Kunst
ein Opfer; es mag wol aus denselben oder ähnlichen Um-
ständen zu erklären sein, dass am Fries des Parthenon die
Symmetrie in auffallender Weise verletzt ist').
Nun wenden wir uns zu Philostratus zurück mit der
Frage, ob die besprochenen Fälle als Analogien für seine
in Scenen zerfallenden Bilder benutzt werden können. Der
gekrümmte und der lang ausgedehnte Raum, so sahn wir,
veranlasste in der erhaltenen Kunst die AYiederholung einer
und derselben Figur in verschiedenen, entweder neuen oder
fortschreitenden Handlungen. Keiner dieser Fälle pavBst auf
auseinander, das Ganze zerfiel in Gruppen, die Richtung auf
den Mittelpunkt fehlte Ist dies nun fehlerhaft , da es aller-
dings gegen die gewöhnliche Anordnung der Giebelgruppeu
verstösst? Vielmehr ist es ein Beispiel, wie die griechische
Kunst ein im Allgemeinen befolgtes Gesetz im einzelnen Fall
mit gutem Grund umstösst. Die Trennung in Gruppen war
nothwendig, um das Tumultuarische des ganzen Vorgangs
zu characterisiren. Eine centralisirte Gruppe hätte Alkamenes
nur dann erreicht, wenn er alle Centauren aut die eine, alle Geg-
ner auf die andere Seite gesetzt hätte, wie es am Aegineten-
tempel ist. Ich glaube, er that sehr wohl daran, dass er
nicht so verfulu". — hi dem Giebell'eld eines Thesaurus in
Olympia (Paus. 6, 19. 13) war, wie an dem Zeustempel in
Agrigent, der Kampf der Gitter und Giganten dargestellt.
Overbeck muss nach seiner Behauptung, dass in allen Gie-
belgruppen , die uns bekannt seien , mit Ausnahme der er-
wähnten praxitelischen , eine einheitlich geschlossene Hand-
lung dargestellt sei, annehmen, dass hier eine Trennung der
Parteien nach den beiden Flügeln des Giebels stattfand.
Ich muss das sehr bezweifeln, ich würde es bei diesem Ge-
genstand unnatürlich finden.
1 ) Vgl. Excurs III.
111
den Philostratiis. Seine Bilder waren Tafelbilder, also Flächen
wohl überschaubarer Arl , die gefüllt sein wollen dai-eh eine
einheiüiche Handlung und immer, soviel wir wissen und ver-
muthen können, auf diese Weise gefüllt wurden. Man könnte
sagen, die beireffenden Bilder des Philostratus hatten vielleicht
eine der Fläche von Sarkophagen entsjDrechende Gestalt, wie
das oben ^erwähnte des Pinturicchio , allein diese Form ver-
laugt ja eine grosse Anzahl von Figuren , die mehreren jener
Bilder abgeht. Denn das Bild, welches die Erziehung Achills
darstellte, enthielt zwei mal zwei Figuren, das des Antaeus
fünf. iVn Analogien also für dieScenentrennung der philostrati-
schen Bilder fehlt es ganz und gar. Und ist das Faktum
wol an _sich zu begreifen? Ist es nicht zu verwundern,
dass ein Maler den einheitlichen überschaubaren Raum eines
Bildes zertheilen sollte durch eine doppelte Scene? Warum
nimmt er nicht zwei Bilder, so dass jede Scene ihren beson-
deren Raum hat?
Aber man vertheidigt den Philostratus durch Analogien
der neuern Kunst ^). Es ist eine misshche Sache um eine
solche Vertheidigung. Man kann dem Zweifler seinen Ein-
wand nicht nehmen , es möge wol in der alten Kunst an-
ders gewesen sein. Und er hat Recht zu diesem Einwand.
In Dingen, die sich nicht von selbst- verstehn, von der Kunst
des einen Volkes auf diejenige des andern zu schhessen, ist
besonders nach dem heutigen Stand der Wissenschaft unzu-
1) Torkil Baden (bei Welck. zu 1, 18) führt ein Bild, angeblich
von Michel Angelo an, auf welchem der betende und der die
Jünger zum Wachen ermahnende Christus zusammen darge-
stellt waren. Mir sind mehre Bilder von quadrat er Form be-
kannt, wo sich eine und dieselbe Figur wiederholt aber nicht
auf demselben Grund. Aehnlich verführ Gliiberti in seinen
Reliefs vom Baptisteriam. Gleich in dem ersten sind die
Schöpfung des Weibes, das Leben im Paradies und die Ver-
treibung daraus zusammengestellt, so dass sich also Adam
und Eva dreimal wiederholen. Aber die einzelnen Gruppen
haben nicht gleich hohes Relief, wodurch die Wiederholung
einer und derselben Figur erträglicher wird.
112
lässig. Wir können die Kunst eines Volkes nicht anders
betrachten, als wie wir nach Humboldts Vorgang seine
Si)rache zu betrachten gclcrut haljeu oder zu lernen anfangen:
sie ist Darstellung einer bewondern Weltanschauung, Ausdruck
eines besondern Anschauens , Denkens und Empfindens.
Humboldt hebt an vielen Stellen seiner Einleitung die wun-
derbare Aehnlichkeit zwischen Sprache und Kunsi hervor;
wenn wir nun denjenigen tadeln, der den besonderen Ge-
brauch einer Sprache auch ohne Weiteres für eine andere
Sprache voraussetzt, sollen wir nicht auch den tadeln, der
in Dingen der Kunst so verfährt?
Doch ich habe vielleicht schon zu lange die MögHchkeit
festgehalten, in der wirklichen Kunst Analogien zu finden
für die Scenentrennung der philostratischen Bilder. Wenn
wir den Spuren nachgehn, die sich bei Philosti-atus selbst
finden, so werden wir bald einsehn, dass Analogien wirklicher
Kunst, aus welcher Zeit sie auch stammen mögen, gar nicht
angeführt werden können.
Bisher nämlich hatten wir nur diejenigen Bilder im Auge,
die in zwei deutlich tremibare Scenen zerfallen. Nun aber
giebt es auch Bilder, die nicht Beschreibungen von zwei
fixirten Momenten sind, sondern eine Folge von mehreren
Momenten, Handlungen nach ihrem ganzen Verlauf darstell-
ten, mit einem W'ort es giebt Erzählungen unter den
„Bildern" des Philostratus. Wir machten schon im Vorher-
gehenden darauf aufmerksam und das Folgende wird es mit
weiteren Beispielen bestätigen, dass man bei den Figuren
einiger Bilder nicht wissen könne, in welchem Punkt der
Künstler sie dargestellt habe; sie verrichten nämlich vor
unsern Augen eine ganze Handlung, in deren Verlauf ihre
äussere Erscheinung nothwendig wechseln muss i). Eben
1 ) Vgl. noch Scn. 1,12, wo Jünglinge zuerst jagen und dann
über den Bosporus setzen, was freilich Welcker längnet, in-
dem er sich nicht an die Worte kehrt. Er bemerkt auch
nicht, dass dies Bild zwei Jagdsccnen enthielt, gleicli zu An-
fang und dann gegen den Sehluss, hinter der Ochsenheerde.
113
diese bisher an Einzellieiten einiger Bilder hervorgeliobene
Eigenthümlichkeit wird uns jetzt als Eigenlhümlichkeit gan-
zer Bilder entgegentreten.
Man lese zunächst die Besehreibung des Bildes, welches
den Achill auf Skyros darstellte (Jun. 1). Ich will 0. Jahn^)
statt meiner sprechen lassen :
„Ganz abweichend von allen auf uns gekommenen
Kunstwerken ist das Gemälde, welches der jüngere Philo-
stratos beschreibt. Man sieht an einem Berge die Insel
Skyros als eine Frau von gedrungener Gestalt, das Haar mit
Schilf bekränzt, in einem schwarzblauen Gewände, in der
einen Hand einen Oelzweig, in der anderen eine Weinrebe;
eine Figur, welche die Gestalt und Natur der Insel völlig be-
zeichnet. Auch steht ein Thurm da, in dem die Jungfrauen
iin-e Wohnung haben, welche beschäftigt sind auf einer Wiese
Blumen zu pllücken, alle schön und in Farbe, Blick und
Bewegung acht jungfräulich, bis auf Achilleus, der durch das
sich sträubende Haar und den kühnen Blick die männhche
Natur verräth, welche er bald ganz offenbaren wird. Denn
Odysseus und Diomedes sind gegenwärtig, jener durch sei-
nen forschenden Blick, dieser durch den Ausdruck von Keck-
heil kenntlich, hinter ihnen steht ein Manu , welcher in die
Trompete stösst. Auf der Wiese ■ aber sind neben Körben
und anderen Geschenken, wie sie für Jungfrauen bestimmt
sind, auch Waffen hingestreut; die Mädchen eilen nach jenen,
Achilleus aber stürzt auf die Waffen zu und verräth sich
dadurch."
„Es ist schwer aus dieser Beschreibung zu entnehmen,
welcher Moment eigentlich dargestellt gewesen sei , weil die
Beschreibung des Gemäldes fast ganz zur Erzählung gewor-
den ist. So muss man eigenthch annehmen, dass zwei ver-
schiedene Scenen dargestellt waren, wie' die Jungfrauen und
mit ihnen Achilleus Blumen pflücken, und dann wie sie nach
Es ist ein characteristisclies Beispiel für das gedankenlose
Hinschreiben des Rhetors.
1) Arch. Beitr. p. 372.
114
den Geschenken greifen. Allein Philosh'atos hat doch diese
Scenen nicht genau von einander gesondert, sondern sie viel-
mehr in eine einzige Vorstellung zusammengezogen, so dass es
nun schwerlich zu entscheiden ist , in welches Verhältniss
der Hauptmoment und die Nebenumstände zu einander ge-
setzt waren. *•'
Weini ich statt der Worte: „die Beschreibung ist iast
ganz zur Erzählung geworden" , denen die Voraussetzung
der Wirkhchkeit zu Grunde Hegt, sagen darf: das ,,Bild" ist
eine Erzählung, nicht eine Beschreibung, so ist das Alles,
was ich hinzuzufügen habe.
Was aber von diesem Bilde gilt, das gilt in noch höhe-
rem Maasse von der „Geburt des Hermes^'- beim altern Phi-
lostratus (I, 26). Wir wollen die Erzählung des Rhetors
ausführlich mittheilen, weil es wenigstens, wenn man die Er-
klärer vergleicht, den Anscliehi hat, als könne gezwei-
felt werden, wie viel davon als wirldich dargestellt berich-
tet werde.
„Der ganz Kleine , der noch in den Windeln Liegende,
der, welcher die Ochsen in die Erdspalte treibt, ferner auch
der, welcher das Geschoss des Apollo raubt, das ist Hermes.
Sehr anmuthig ist der Diebstahl des Gottes. Denn man er-
zählt, dass Hermes, sobald er von der Maja geboren war,
Lust hatte zum Stehlen und sich darauf verstand, was er nicht
aus Armuth that , sondern aus Heiterkeit und Muthwillen.
Willst du aber seine Spur sehn, so sieh das, was sich im
Gemälde befindet. Er wird geboren auf dem Gipfel des
Olympus, oben auf dem Sitz der Götter. Dort, sagt Homer,
merke man weder die Regenschauer , noch höre man die
Winde, noch sei er je mit Schnee überschüttet wegen seiner
Höhe; er sei vöUig götthch uud frei von allen Leiden, an
denen die Berge der Menschen Theil haben. Des dort ge-
borenen Hermes warten die Hören. Auch diese sind ge-
malt, wie es die Zeit einer jeden mit sich bringt. Sie wickeln
ihn in Windeln, die schönsten Blumen darüber streuend, da-
mit er seine Windeln nicht schmucklos finde. Und diese
wenden sich nun zur Mutter des Hermes, die im Bett liegt;
115
er aber aus den Windeln heraussehlüpfend, kann schon gehn
und steigt vom Olympus herab. An ihm hat der Berg seine
Freude, denn sein Lächeln ist wie das eines Menschen ; denk
dir den Olympus vergnügt, weil Hermes dort geboren wurde.
Welches ist nun der Diebstahl ? Die Ochsen, welche weiden
am Fuss des Olymps , die da mit goldnen Htirnern und
weisser als Schnee — denn sie sind dem Apollo geweiht —
führt er eilig in eine Erdspalte , nicht damit sie zu Grunde
gehn , sondern damit sie auf einen Tag verschwinden , bis
es den Apollo verdriesse, und als habe er gar keinen Theil
an dem Geschehenen , schlüpft er wieder in die Windeln.
Auch Apollo ist da bei der Maja, die Ochsen zurückfordernd.
Die aber glaubt es nicht und meint, dass der Gott Possen
rede. Willst du auch wissen, was er sagt ? Denn er scheint
nicht bloss Laute, sondern auch etwas von einer Rede durch
seine Mienen zu offenbaren. Er sieht aus, als stehe er im
Begriff zur Maja zu sagen: dein Sohn, den du gestern ge-
boren , fügt mir Schaden zu. Denn die Ochsen , woran ich
meine Freude hatte, hat er in die Erde geworfen, ich weiss
nicht wo. Er soll nun umkommen und tiefer hinabgeworfen
\\erden als die Ochsen. Jene aber wundert sich darüber
und die Rede geht ihr nicht ein. Indem sie noch gegen
einander sprechen, stellt Sich Hermes hinter Apollo und leicht
den Rücken hinaufspringend , löst er geräuschlos den Bogen
und stiehlt ihn heimlich. Aber sein Diebstahl blieb nicht
verborgen. Da zeigt sich die W^eisheit des Malers. Er er-
heitert nänüich den Apollo und stellt ihn vergnügt dar. Das
Lachen aber ist gemässigt, wie auf einem Gesicht, wo Ver-
gnügen den Zorn überwindet" ').
1 ) Welcker meint, nur der letzte Theil, der Diebstahl des Bogens,
sei dargestellt und aus dem Vorhergelienden seien die Hören
mit den Windeln — ohne das Kind, das sie, wie der Rhetor
sagt, einwickeln — und der Olympus, der sich also auch
nicht, wie der Rhetor sagt, über den vom Berg herabsteigen-
den , sondern über den stehlenden Hermes freut, herüberzu-
nehmen. Man mag die Begründung bei ihm selbst nachlesen ;
die Voraussetzung der Wirklichkeit liegt wieder zu Grunde,
8*
116
Dies „Bild"' ist eine prosaische Erzählung dessen, Avas
der homerische Hymnus an Hermes enthält. Will man es
gemalt denken, so sind etwa 6 — T Scenen anzunehmen,
denn in so viel verschiedenen Situationen erblicken wir den
Hermes und mit ihm müssten sich auch die in seine Aktion
verwickelten Figui-en wiederholen. Selbst dies aber wäre
noch Willkür , ich könnte ebensogut doppelt und dreifach
soviel Scenen annehmen, es steht ganz in meinem Beheben,
in wieviel Theile ich die einheitliche Linie der Handlung
zerlegen will. Mit einem Wort, das „Bild" ist nicht gemalt
zu denken, es ist ein continuum , aus dem nur dieser oder
jener Punkt vom Künstler herausgenommen werden kann').
und danach wird dies vom Text beibehalten , jenes verwor-
fen, ohne Rücksicht darauf, wie sich's der Rhetor dachte.
Wenn es nöthig ist, so wili ich nur aufmerksam machen auf
den ersten Satz, in welchem der Rhetor den Inhalt des ganzen
Bildes zusaramenfasst, und darauf, dass die Geburtsscene ein-
geleitet wird mit den Worten : sieh das im Bilde Befindliche.
1) Der Rinderdiebstahl oder vielmehr die Entdeckung des klei-
nen Hermes ist sehr hübsch dargestellt auf einem Vasenbild
des Museo Gregoriano, welches liier kurz besprochen werden
mag, weil sein Erklärer (Arch. Ztg. II zu Taf 20) es nicht
verstanden hat. Dieser meint nämlich, die Höhle an der einen
Seite des Bildes sei die Höhle, in welcher Hermes geboren
wurde und es sei nach unserm Bild, anzunehmen, dass die
gestohlenen Rinder nicht in Pylos von Hermes verborgen
wurden, sondern ihm bei seiner Rückkehr nach Arkadien
folgten. Unsre Scene spiele in K^dlene , und Apollo werde
bei Maja (welche fehlt!) die Ausheferung des Hermes for-
dernd, von dieser auf das in den Windeln liegende unschul-
dige Kind hingewiesen. Diesen Moment habe der Maler ge-
wählt. Dass die Höhle zur Rechten nicht die Höhle ist, in
welcher Hermes geboren wurde — ■^^■as hat diese überhaupt
mit dem Bilde «u schaffen? — sondern diejenige, in welcher
die Rinder verborgen wurden, beweist der Stier, der mit hal-
bem Leib daraus hervorkommt und den Hermes beschnüf-
felt — ein gemüfldiches Motiv, wie oft Aehnliches auf den
Vasen vorkommt. Hermes ist entdeckt, Apollo steht vor
ihm und macht ihm Vorwürfe. Er aber liegt ganz ruhig
117
Aber, entgegnet man, es ist eine von den Dichtern ent-
lehnte EigenihümUchkeit der Rhetoren , dass sie das Kunst-
werk nicht als ein vollendetes beschreiben, sondern dass
sie eine Handlung, nicht einen Moment derselben, sondern
eine Handlung nach ihrem Verlauf zu erzählen scheinen.
Man verweist auf Lessing, die Verkeimung dieser Eigen-
thiimlichkeit sei der Grund gewesen , dass auch der ho-
merische Achillesschild für ein reines Phantasiebild gehal-
ten sei 1).
Lessing bemerkt im achtzehnten Abschnitt des Laokoon
zuerst über den homerischen Achillesschild im Allge-
meinen , dass er nicht als ein fertiger vollendeter wie der
AeneassQhild Virgil's, sondern als ein werdender gemalt
werde 2). Bei Homer, sagt er, sehn wir nicht das Schild,
sondern den göttlichen Meister, wie er das Schild ver-
fertigt.
Diese Bemerkung Lessing's kann von den Yertheidigern
des Philostralus nicht gemeint sein , denn sie betrifft nicht
die Darstellungen auf dem Schilde, sondern die Verfertigung
des Schildes selbst.
Im folgenden Abschnitt bespricht Lessing das auf dem
Schilde Dargestellte. Mit dem , was Homer von der fi-ied-
lichen Stadt sae:e, habe er nicht mehr als ein einziges Ge-
in seinem Stiefel und thut als wäre nichts geschehn. Da-
rin liegt die hübsche Pointe des Bildes, dass der kleine
Schelm dem bewegten Gott gegenüber so ganz ruhig harm-
los daliegt, ohne ein Glied zu i'ühren. Damit ist die Inten-
tion des Malers ausgesprochen, das Bild also erklärt; der
Erklärer hätte sich wirklich die Exfjositionen über den My-
thus sparen können, die ja gar nichts mit dem Bild zu thun
haben, vielmehr, wie man sieht, die Ursache seines Missver-
ständnisses sind.
1) Jacobs Proleg p. XVI.
2) Was für Virgil . das gilt auch für das Herkulesschild des
Hesiod. Dieser macht die Uebergänge von einem Bild zum
andern mit h' (V >i v ^ Homer mit tv ä'iTi'd^fi, iv cTf noirjae
etc. Dort also handelt es sich um ein todtes Sein, hier um
eine lebendige Thätigkeit.
118
mälde angeben wollen: „das Gemälde eines öffentlichen Rechts-
handels über die streitige Erlegung einer ansehnlichen Geld-
busse für einen verübten Todtschlag. Der Künstler, der
diesen Vorwurf ausführen soll, kann sich aul einmal nicht
mehr als einen einzigen Augenblick desselben zu Nutze
machen ; entweder den Augenblick der Anklage , oder der
Abhörung der Zeugen, oder des Urtheilsspruches, oder welchen
er sonst, vor oder nach, oder zwischen diesen Augenblicken,
für den bequemsten hält. Diesen einzigen Augenblick macht
er so prägnant wie möglich, und führt ihn mit allen den
Täuschungen aus, welche die Kunst in Darstellung sichtbarer
Gegenstände vor der Poesie voraus hat. Von dieser Seite
aber unendlich zurückgelassen, was kann der Dichter, der
eben diesen Vorwurf mit Worten malen soll, und nicht gänz-
lich verunglücken will, anders thun, als dass er sich gleich-
falls seiner eigenthümlichen Vortheile bedient? Und welches
sind diese? Die Freiheit, sich sowohl über das Vergangene
als über das Folgende des einzigen Augenblickes in dem
Kunstwerke auszubreiten, und das Vermögen, sonach uns
nicht allein das zu zeigen, was uns der Künstler zeigt, son-
dern auch das, was uns dieser nur kann errathen lassen".
Ebenso bezieht sich nach Lessing die Schilderung der bela-
gerten Stadt jiur auf ein einziges Gemälde. Boivin habe
Unrecht, der es in drei verschiedene Gemälde zertheilte. „Er
hätte es eben sowohl in zwölfe theilen können, als in drei.
Denn da er den Geist des Dichters einmal nicht fass.te und
von ihm verlangte, dass er den Einheiten des materiellen
Gemäldes sich unterwerfen müsse: so hätte er weit mehr
Uebertretungen dieser Einheiten finden können, dass es fas(
nöthig gewesen wäre, jedem besonderen Zuge des Dichters
ein besonderes Feld auf dem Schilde zu bestimmen".
Trifft nicht dieser Tadel, den Lessing gegen Boivin aus-
spricht, auch noch die heutigen Gelehrten, die nach den
Worten des Dichters ein Kunstwerk zu reconstruiren ver-
suchen?') Sie zertheilen die Schilderung der friedlichen und
1) Vgl. den Excurs IV.
119
der belagerten Stadt in je zwei oder drei Seenen , sie neh-
men aus der continiiirlichen Erzählung des Dichters zwei
oder drei Punkte heraus — warum gerade diese, erfährt
man nicht — und legen schon durch ihre von einander ab-
weichenden Theilungen den Beweis ab, dass sie sich auf
dem unrichtigen Wege befinden. Ihnen ist wie dem Boivin
zu sagen, dass sich die Schilderung der belagerten Stadt
ebensowohl in zwölf, als in drei Gemälde theilen lasse ^).
Lessing bestreitet also , dass man die Schilderung Ho-
mers malen könne. Aber allerdings das läugnet er nicht,
dass ein wirkhches Kunstwerk den Worten des Dichters zu
Grunde liege. Zehn Bilder, glaubt er, hatte Homer im Gan-
zen vor sjch, deren jedes nur einen Moment darstellte, diesen
einzelneu Moment aber erweitere der Dichter zu einer Hand-
lung, indem er das, was dem dargestellten Moment voran-
geht und folgt, hinzufüge.
Dies auf das philostratische Bild des kleinen Hermes
angewandt , so würde allerdings ein wirkliches Bild als
Grundlage der rhetorischen Erzählung vorauszusetzen sein,
man könnte freilieh nicht wissen, welchen Moment es
darstellte; Lessing meint von der Beschreibung der belager-
ten Stadt auch nur, dass ein Wirkhches zu Grunde lag,
aber er weiss nicht, welcher Moment darin fixirt war 2).
Allein fragen wir doch, aus welchen Gründen Lessing
ein wirkliches Kunstwerk als Ausgangspunkt der dichteri-
schen Erzählung annahm. Wenn die Erzählung Homer s als
solche nicht malbar ist, warum sollen wir trotzdem ein wirk-
liches Kunstwerk als ihre Yeranlassung annehmen ?
1) Sehr naiv sucht sich mit Lessing auseinanderzusetzen Cle-
mens: De Homeri clypeo Achilleo, Bonnae 1849 p. 9.
2) Welcker, welcher sich Lessing's Erörterungen anschliesst
(Ztschr. f. alte Kunst p. 568) , glaubt (ebendas. p. 563) den
Moment bestimmen zu dürfen, in welchem das Bild der be-
lagerten Stadt aut'gefasst war; es sei der Augenblick des
blutigsten Kampfes zur Darstellung gewählt. Warum grade
dieser, darauf vermisst man die Antwort. —
120
Wir stossen hier auf eine unbewiesene Vorausseizuns
Lessing's. Und diese Voraussetzung ist es, die ihn zur Auf-
stellung der Regel veranlasste, dass der Dichter, der den
fixirten Moment eines Kunstwerks besehreibe, das diesem
Moment Vorhergehende und Folgende hinzufüge^ dass er
den einen Moment erweitere zu einer ganzen Handlung. Er
folgert diese Regel aus dem einen Beispiele des homerischen
Achillesschildes und er folgert sie um der mitgebrachten
Voraussetzung willen.
Vielmehr ist, wenn ich nicht irre, die natürliche Schluss-
folgerung diese: Wenn der Dichter ein Kunstwerk beschrei-
ben will, so ist er beschränkt durch die Natur des zu Be-
schreibenden, er niuss den im Kunstwerk dargestellten Mo-
ment als solchen erkennen lassen, oder er verfehlt seinen
Zweck. Denn wenn er den einen Moment zu einer conti-
nuirlichen Handlung erweitert, in welcher eine und dieselbe
Person in wechselnden Situationen erscheint, so verschwin-
det das wirkliche Bild, das er beschreiben will , vor der Vor-
stellung des Hörers und der Dichter operirt selbständig, da
er doch nur das Organ des Künstlers sein sollte. Wenn
nun die Beschreibung, die Homer von der belagerten Stadt
gibt, nicht darstellbar ist'), so folgt eben daraus, dass er
kein wirkliches Kunstwerk beschreiben will, denn er hätte
es als solches kenntlich machen müssen. Vielmehr verfolgt
der Dichter nur den Zweck, den Schild, das Werk des
kunstfertigen Gottes, der Phantasie des Hörers als ein über-
aus reiches, -wunderbares Erzeugniss auszumalen 2). Die
1) Es sind aber auch andre Bilder des Schildes nicht darstellbar.
So heisst es in der Beschreibung des Tanzes, sie tanzten bald
den Rundtanz, bald den Reihentanz , wodurch doch deut-
lich genug ausgedrückt ist, dass es sich nicht um Beschrei-
bung eines künstlerisch dargestellten Moments handelt.
2) Diese Ansicht führt auch Lucas aus in dem Gymnasialpro-
gramm von Emmerich 1842 — 43 p. 5 1'. 0. Müller Kl. Sehr.
II, 615 meint gleichfalls, wenn auch aus andern Gründen,
der homerische Schild habe doch hauptsächlich nur als Phan-
tasiegebilde des Dichters Interesse.
121
ganze Welt bildet der Gott ab ; so kahl aber drückt sich
begreitlichenveise der Dichter nicht aus, sondern er detaillirt,
er liäuft Bild auf Bild und mit jedem neuen Zuge steigt un-
sere Bewunderung über den Wunderkünstler Hephästos.
0 dass man nicht den Dichter begriff,' dass man den
Achillesschild, das Werk eines Gottes, copii't glauben konnte
von einem Schilde der Wirklichkeit! Und all die Willkür-
lichkeiten, die nothwendig waren um dieser Annahme willen,
sie M'aren doch nicht im Stande , an der einmal gefassten
Voraussetzung irre zu machen.
Kehren wir nun zu Philostratus zurück und — machen
wir der Sache ein Ende, da sie wol spruchreif ist. Die
Dichternachahmung ist der Grund, warum sich in vielen
Bildern eine und dieselbe Person in verschiedener Aktion
wiederholt und kein Bild ist- beweisender dafür, als das des
kleinen Hermes. Denn während sonst die fortlaufende Er-
zählung des Dichters von dem Rhetor in zwei Scenen ge-
trennt ist, finden wir hier gar keine Scenenabtheilung, sondern
die Erzählung ist Erzählung gebheben. Freilich komilen die Be-
gebenheiten von der Geburt des Hermes bis zum Bogendieb-
stahl nicht wol in ein i)aar Scenen gebracht werden. Wo
es leicht möglich war, wie in der Erzählung des Pentheus,
da wird die dichterische Erzählung in zwei Scenen getrennt,
die der Zeit nach auf einander folgen , hier aber ist Hermes
in immerfort wechselnder Aktion, gleichsam in fortwährender
Verwandlung begriffen und ebendarum bleibt der Rhetor
ganz bei der dichterischen Erzählung.
VI.
In diesem Abschnitt betrachten wir einige Bilder, in
denen die bildliche Ausdrucksweise eines Dichters vom
Künstler nachgeahmt ist.
Der jüngere Philostratus beschreibt unter dem Titel
„Sophokles" ein Bild (n. 13), welches gemalt gedacht einen
äusserst komischeu Eindruck machen muss. Es ist folgen-
des: Sophokles blickt zur Erde, und Bienen fliegen über
ihm') und lassen geheimnissvolle Tropfen ihres Thaus auf
ihn fallen. Melpomene aber bietet ihm mit wohlwollendem
Blick ihre Gaben und Asklepios ist in der Nähe, freundlich
den Dichter anschauend.
Wer sich die Bienen , die dem Sophokles etwas auf den
Kopf träufeln, gemalt vorstellt, der wird, wie ich glaube,
an etwas ganz Andres denken, als au geheimnissvolle
Tropfen , er wird sich ferner höchlich verwundern über den
Mann, der zur Erde blickt, ohne sich um die Gefahr zu
kümmern, die seinem Kopfe von den lierumschwärmenden
Bienen droht. Mit einem Wort, die Bienen, die bei dem
Dichter uneigentliche Bienen sind, sind im Kunstwerk eigent-
liche ; darin liegt der Fehler. Von Schriftstellern , die aus-
gezeichnet waren durch die Süssigkeit ihrer Rede, heisst es
in anmuthigen Sagen und Dichtungen , dass ihnen von Bie-
nen Wachs oder Honig auf die Lippen gelegt sei. Wenn
nun Sage oder Dichtung so berichtet , so bemerkt Jeder
leicht, dass er es zu thun hat mit einem liebhchen Bilde,
das symbolisch zu deuten; wenn aber ein Maler so malt, so
nimmt man die Bienen als das , was sie eigentUeh * sind.
1) Nach den Worten des Rhetors sieht Sophokles zur Erde, zii-
gleich aber die Bienen, die über ihm fliegen. Kann Einer,
der von etwas Gesehenem berichtet, sich wol so \Nider-
sprechen ?
123
Also, vird man Irageu , kann die Biene nicht in uneigent-
licher Bedeutung dargestellt werden in der Kunst? Sie kann
es allerdings, Avenn nämlich der Maler uns zwingt, den Ge-
danken an reale Bienen ganz aufzugeben, wenn er seine
Darstellung so einrichtet, dass eine eigentliche Auffassung
nicht möglich ist. Eine Biene z. B. am Grabstein eines Dich-
ters wäre wol ebenso verständlich, wie der Adler, der nach
einem Epigramm auf dem Grabe Plato's stand. Aber schon
die blosse Vervielfältigung der Biene hebt die symbolische
Bedeutung auf, ein Schwärm von Bienen ruft unmittelbar
den Gedanken an die Realität hervor. Denn für den sym-
bolischen Gebrauch handelt es sich ja nur um eine Eigen-
schaft, welche die Biene als Biene besitzt, es genügt daher
eine einzige, oder vielmehr es darf nur eine einzige ver-
wandt werden , weil die grössere Anzahl für das Symboli-
sche nur ein mehrfacher Ausdruck für eine und dieselbe
Absicht, also lästiger Ueberfluss wäre und eben, weil man
einen solchen Fehler nicht voraussetzt, sondern nach einem
vernünftigen Grund sucht, die Gedanken ganz aus der sym-
bolischen Sphäre herausführt.
Was die Melpomene dem Dichter biete, erfahren wir
so wenig, als nähere Angaben über die Characteristik der
Muse. Es ist vermuthet worden, sie habe — einen Bienen-
korb gehalten i). Statt dies spasshafte Attribut der würde-
vollen Muse der Tragödie in die Hände zu geben , wollen
wir „die Gaben der Muse" lieber auf die Dichtkunst deuten
1) Noch wunderbarer übrigens als diese Vermutluing ist die
Begründung derselben aus dem Text des Schriftstellers. Ihr
Urheber sagt nämlich: Huic rationi fimdanientum substrnc-
tuui est ipso verborum Philostrati nexu. Accipe, inqi;it,
dona a dea tibi oblata; vides enim apes circa caput tuum
susurrantes. Die Worte des Textes heissen: di/ov tcc öidö-
fj-fvcc. l-l7i6ß).r]TK yceo ovx ilvai ra d^fcof Swok, oiOri-o nov i^
fvbg Twj' KrtXXiÖ7Tr,g d^maioTiZv ccxovaag. 'Oq^s yc(Q xccl r«?
fieXirrag, cög vntQniToVTuC aov xt).. Von dem xkI weiss die
Erklärung nichts und doch wirft dies Wörtleia die ganze
Erkläi'ung um.
124
und glauben in der Tliat niclit nöiliig zu haben, Belegstellen
oder Analogien beizubringen. Der Rhetor ischrieb nach, was
er bei Schrif'lsl ellern fand : nur ist die Gabe der Muse nicht
etwas sinnlich Greifbares, sondern eine unsichtbare Kraft
und daher als solche für den bildenden Künstler nicht dar-
stellbar.
Asklepios ist anwesend, weil der Rhetor die Notiz
kannte, nach welcher Sophokles einen Päan auf diesen
Gott geschrieben haben soll; man fragt aber erstaunt, ist
das M'esentlich für die Characteristik des Dichters? Oder
ist es nicht vielmehr vom künstlerischen Standpunkt eine hi-
storische Zufälligkeit V
Ganz Ähnlich ist das Bild des altern Philostratus (11,12),
M^elches die Geburt Pindars darstellte. Wenn wir, wie es
in der Regel geschah, die widerwärtigen Phrasen weglassen,
die der Rhetor zusetzt, so bleibt folgendes zurück:
In der Stadt schwärmen die Bienen an die Thür des
Daiphantus; denn eben ist Pindar geboren und liegt in Lor-
beer und Myrtenzweigen. Vor der Thür steht eiue Bildsäule
der Rliea, von Stein, wie es scheint. Auch die Nym]>hen
sind d« , thauig wie aus den Quellen kommend und Pan
tanzt mit fröhlicher Gestalt. Die Bienen im Innern aber um-
geben das Kind und legen Honig auf ihn , ihre Stachel
einziehend.
Ich wollte gern dem Rhetor alle Götter und Göttersta-
tuen mit sammt den Bienen schenken, wenn er mir nur da-
für eine Amme ^ für das neugeborne Kind geben wollte, so
wie ich auch auf dem Bild der Semele (Sen I, 14) , wel-
ches die Geburt des Dionysos vorstellte, das ganze Feuer-
werk und Donner und Blitz und den Kithäron , der darüber
trauert, dass Dinge auf ihm vorgehn werSen, die — zur
Verherrlichung des Dionysos dienen, in den Kauf gäbe um
eine Amme für den neugeborenen Gott. Der Rhetor fand
keine Amme in der Erzählung, die er nachschrieb, ei'wähnt;
aus demselben Grunde erfahren wir auch nichts von Vater
125
und Mutter des Knaben, wir wissen nicht einmal, ob sie an-
wesend waren. Oder sollte er die Amme weggelassen ha-
ben, um die Bienen nicht zu stören? Denn eine Amme
würde allerdings einen Bienenschwarm nicht in so nahe Be-
rührung mit ihrem Pflegling haben kommen lassen. Jeden-
falls erscheinen die Bienen nicht in rein symbolischer Be-
deutung, wie beim Dichter; sie thun an Pindar, was die
Wölfin that an Ronnüus und Remus, sie nähren ein hülfloses
Wesen leiblich. Freilich Merden wir fragen, warum grade
Bienen das Kind nähren und es wird die Antwort gegeben
werden müssen , dass es characteristisch sei für die Zukunft
des Kindes, mit Honig genährt zu sein, aber wie bei der
säugenden Wölfin , so ist auch hier die leibliche Ernährung
eines hülflosen Geschöpfes die Hauptsache, von welchei- bei
dem Dichter, dessen Erzählung der Maler wiedergeben wollte,
gar nicht die Rede ist.
Was das Uebrige betrifft , so sind es zusammengeschrie-
bene Notizen, historische Zufälligkeiten, die zur Characteri-
stik des Dichters nichts beitragen, oder richtiger eine falsche
Charakteristik geben müssen , weil man sie als bedeutungs-
voll fassen muss und berechtigt ist zu fassen. Vor Pindar's
Haus, wissen wir, stand eine Statue der Rhea, die Nymphen
aber undPan sind aus einer missverstandeneu Stelle des Dichters
selbst oder aus^ einer falschen Auslegung derselben geschöpft.
Dagegen hat der Rhetor guten Grund, nichts Derartiges vor-
zubringen, was wesentlich für den Pindar ist. So, sahn wir,
war es auch auf dem Bilde des Sophokles. Und doch sollte
man wol erwarten, zumal wenn man die erhaltenen oder li-
terarisch bezeugten Darstellungen vergleicht, wie z.B. die Statue
des Anakreon in Athen , der wie im Rausch singend darge-
stellt Avar — , dass ein griechischer Maler die Dichter seines
Volks, die er darstellen wollte, in characteristischer Weise
darzustellen vermochte. Diese philostratischen Bilder von So-
phokles und Pindar dagegen sind von Anfang bis zu Ende
Sammlungen von Notizen, mit rohem Sinn zusammenge-
stoppelt.
vn.
Wir lialien l)isher die Fälle betrachtet, in denen die Bil-
der der Philoslrate nicht abwichen von der Dichtung, obwohl
sie als Kunstwerke abweichen sollten; nun betrachten wir
den umgekehrten Fall, dass ein philostratisches Bild abweicht
von der Dichtung, wo die vorhandenen Denkmäler nicht ab-
weichen. Wir hätten diesen Abschnitt eigentlich in die zweite
Abtheilung des Buches verweisen sollen , allein das Bild, ,
das hier zergliedert werden wird , ist bis auf einen Punkt
in allem Uebrigen so ganz und gar von einem erhaltenen
dichterischen Original abhängig, dass es doch besser in der
ersten Abtheilung seinen Platz fand.
Es ist das Bild gemeint, welches den rasenden Herkules
darstellte (Sen. 2, 23):
Das Gemach, auf welches Herkules losstürmt, enthält
Megara und das noch übrige Kind. Die Körbe, Weihbecken,
die Opfergerste, die Scheiter und der Mischkrug, es ist alles
umgestürzt. Der Stier steht da, als Opfcrthiere aber sind
edle Kinder an den Altar geworfen und auf die Löwenhaut.
Der eine ist am Schlund getroffen und der Pfeil ist durch
die zarte Kehle gedrungen ; der andere liegt auf der Brust
und die Spitzen des Geschosses sind mitten durch die Ri])pen
gefahren; ihre Wangen aber sind benetzt') Den wahnsinni-
gen Herkules umringt die ganze Schaar der Diener, der eine
mit der Absicht ihn zu binden , der andere sich anstrengend
ihn zurückzuhalten, ein dritter schreiend. Der hängt an sei-
j ) In den Worten y.al urj ÜuvfAÜGijg^ d li^äxovciäi' ti tt««« tou
öiiXQvani scheint das tkqI tov SKXQvacti eine an don Rand
geschriebene Erklärung der Worte it ISüxQvaäv ti und so in
den Text gekommen zu sein.
127
nen Händen, dieser stellt ihm ein Rein, jene s])fiiiü,en an
ihn hinan. Ev aber hat kein Hewusstsein von ihnen, er wirft
die, welche sich ihm nähern, in die Höhe und tritt sie mit
Füssen, viel Schaum ausspuckend, wild und sonderbar
blickend, die Augen starr auf das richtend, was er thut. Die
Kehle brüllt und der Nacken füllt sich und die Adern schwel-
len auf. Die Erinnys aber , setzt ,der Rhetor hinzu , welche
dies vermochte , hast du oft auf dem Theater gesehen , hier
aber siehst du sie nicht. Denn im Herkules selbst nistete
sie sich eiii und tanzt mitten in ihm in seiner Brust, inwen-
dig hüpfend und seine Vernunft trübend.
Das Bild gehört zu denjenigen, deren dichterische Grund-
lage sich bis in die einzelnen Züge hinein nachweisen lässt.
Es ist aus dem rasenden Herkules des Euripides entlehnt.
Dieser lässt zwei Kinder am Altar des Zeus im Hofraum des
Hauses , als geopfert werden sollte , unter den Händen des
Vaters fallen, mit dem dritten flüchtet sich die Mutter in ein
Gemach, das sie verschliesst , das aber von Herkules erbro-
chen wird. Der Moment vor dem Einbruch war auf dem
philostratischen Bild dargestellt. Nun bemerke man aber
zunächst, wie komiseh gedankenlos der Rhetor dem Dichter
nachschreibt 1). Denn wie verhält es sich auf dem Bilde
mit der Mutter und dem noch lebenden Kinde? Sind sie
sichtbar oder nicht? Welcker bemerkt, die Megara sei in
den Thalamos geflohen und habe die Thüren geschlossen,
die der rasende Gatte jetzt im Begriff stehe zu erbrechen;
er bemerkt dies ohne zu bedenken, dass er damit dem Gesr-
ner die Waffen gegen sich in die Hände gibt. Ist nämlich
die Mutter mit dem Kinde in einem geschlossenen Thalamos,
so ist sie ja nicht sichtbar, der rasende Herkules scheint also
gegen eine Thür zu rasen und wird uns unverständlich.
1) Zu vergleichen ist die Eiiadne 11,30, welclie in den Scheiter-
haufen des Mannes „springt." Er hatte den Euripides vor
Augen, nur dass bei diesem das „Springen" Sinn hat, weil
sich seine Enadne von oben herab in's Feuer stürzt, wovon
der Rhetor nichts säst.
128
Anders bei dem Dichter. Bei ihm ist der Thalamos kein
Thalamos; die Einbildungskraft, welche von seiner Kunst iu
Anspruch genommen wird, .sieht überall hindurch. In/.wiischen
könnte man es mir bestreiten, dass die Megara nicht .sicht-
bar gewesen sei , denn mit ausdrücklichen Worten sagt es
der Schriftsteller allerdings nicht; man dürfe sich demnach
die Thür geciffnet denken. Diese Annahme würde das Nach-
denken des Künstlers in ein nicht weniger ungünstiges Licht
stellen. Wir würden fragen, warum schliesst denn nicht ent-
weder die bedrohte Mutter oder einer der vielen Diener die
Thüre? Denn an der Thüre selbst ist Herkules noch nicht
beschäftigt, weil er noch mit den Dienern zu thun hat, die
ihn zurückzuhalten suclien. Dies und der weitere Umstand,
dass der im Uebrigen so detaillirt schildernde Philostratus
von der Alegara und ihrem noch lebenden Kinde nur die
Worte sagt, der Thalamos umschliesse sie, lässt mich die
Annahme Welckers für richtig halten, womit denn das ge-
dankenlose Nachschreiben des Khetors offenbar vorliegt. Denn
füi- die Behauptung, dass der Künstler hier abweichen musste
vom Dichter, dass er uns den bedrohten Gegenstand selbst
zeigen musste, dafür dürfte sich vielleicht der Leser sowohl
Beispiele als weitere Erörterungen verbitten. Doch will ich
wenigstens kurz erinnern an die Darstellungen des Lykurgus,
der wie Herkules Weib und Kind im Wahnsinn tödtet.
Dies ist also ein Fall, wie die früher besprochenen, nun
aber weicht andrerseits das Bild ab, wo es nicht abA^eichen
sollte, — in der Darstellung des Wahnsinns nämlich.
Bei Euripides erschien die Lyssa; der Wahnsinn des
Herkules wurde dargestellt als von einer dämonischen Macht
gewirkt. Dies ist überhaupt die schöne Eigenthümlichkeit
der griechischen Tragödie. Abnorme Vorgänge im Gemüth
stellt sie dar als Wirkungen dämonischer Wesen, es wird
uns eine ganze Reihe solcher Theaterfiguren aufgezählt, z. B.^
OiffTOog und \lndTri '). Wie verfährt nun in diesem Fall
1) Wo von solchen dänioniäclicn Wesen in der Tragödie gespro-
chen wird, da ist ihnen meist ein wundervoll plastisches
129
die bildende Kunst? "Wie kann sie anders als dem Beispiel
der Tragödie Iblgen')? Die Eigeuthümlichkeit der griechi-
schen ^Yell anschau ung, von Dämonen abzuleiten, was wir
als einen rein innerlichen Vorgang auffassen, ist offenbar
keiner Kunst so förderlich , wie der bildenden , weil diese ja
nur durch sinnliche Anschauung, also am besten durch kon-
krete Gestalten geistige Vorgänge deutlich machen kann.
Die griechische Kunst steht hier in einem entschiedenen
Gegensatz zur christhchen , und namenthch zu den älteren
Perioden derselben. Die christhche Kunst lässt durch ab-
gekürzte oder symbolische Figuren, z. B. die aus den V\^ol-
ken reichende Hand, eine übernatürliche Einwirkung mehr
errathen, als dass sie sichtbar würde, aber die griechische
Kunst bildet jede Kraft zu einer vollen sinnhchen Gestalt.
Sie verliert damit die Möglichkeit, ein Uebernatürliches an-
zudeuten, das nur ahnungsvoll, nicht mit leibHchen Augen
zu schauen ist, worin der tiefe Sinn der christlichen Dar-
stellungsweise liegt, sie gewinnt aber die volle plastische
Deutlichkeit, indem sie die Ursache der dargestellten Wir-
kung sichtbar und zwar als eine solche sichtbar macht, in
welcher wir die Möglichkeit solcher Wirkungen anzuschauen
vermögen. Betrachten wir hienach die Vasen, die wir als
acht gTiechische Monumente zunächst, in Betracht zu ziehen
haben, so erbhcken wir neben der Medea, die das Schwert
Epitheton, ein mit — novg oder — onp zusammengesetztes
beigefügt, z.B. Seivönovg clnd. Das Epitheton bewirkt, dass
sofort ein konkretes Bild vor unserer Phantasie steht.
1) Eine eingehende Untersuchung über die Einwirkung der Tra-
gödie auf die biklende Kunst würde die interessantesten Re-
sultate ergeben ; so z. B. ist die merkwürdige Umwandlung
des Dionj'sos gewiss durch den Einfluss der Tragödie be-
wirkt. In den Bacchen des Euripides erschien der Gott ganz
genau so, wie in der spätem Plastik und wie auf den spä-
tem Vasen, welche noch bis weit in den rothfigurigen Stil
hinein nur den bärtigen Dionysos kenneu. Jedenfalls können
wir in den Kunstwerken kein Beispiel des Jüngern Dionysos
vor des Euripides Bacchen nachweisen,
9
130
schwingt gegen ihr Kind, neben Ljkurgus, der Weib und
Kind in der Raserei mordet, neben Tereus, der das Schänd-
lichste verüben will, ebenso wie bei dem Muttennörder Ore-
stes dämonische GestaUen. unter deren Macht die betreffenden
Figuren gestellt sind. Der Medea des Timomachus konnte
kein solcher Dämon zur Seite gestellt werden, denn diese
Medea schwankt noch, sie ist noch nicht der dunklen Macht
verfallen, die keine Liebe kennt, aber die Medea auf der
grossen Vase von Canosa, die wir heranstürmen sehen mit
dem nackten Schwert, die ihren Knaben am Haar fasst wie
ein Opferthier, ohne Scheu vor dem Altar, auf den er sich
geflüchtet, diese Medea ist wirklich von dämonischer Gewalt
besessen und darum steht neben ihr der Oistros. Was wir
aber auf den Vasen sehen, sollte es den Gemälden der
grossen Meister fi-emd gewesen sein? Es ist zwar nicht
ausgemacht, in wieweit die Vasen einen Schluss verstatten
auf die uns nicht erhaltenen Meisterwerke der griechischen
Malerei; indessen berechtigen doch namentlich die Aehnlich-
keiten, die sich zwischen ihnen und dem uns näher bekann-
ten Polygnot herausgestellt haben, zu der Annahme, dass
nicht sowohl die ganze Auffassung verschieden war, dass
vielmehr imr ein quantitativer, gradueller Unterschied bestand.
In unserm Fall dürfen wir um so tinbedenklicher von den
Vasen auf die Tafelmalerei schliessen , als der Maler durch
Hinzufügung solcher Gestalten einen entschiedenen Vortheil
erreicht. Denn die Anwesenheit dieser Dämonen macht die
von ihnen beherrschten Menschen erst mitleidenswert h.
Ein Vater oder eine Mutter, die das Schwert gegen ihr eig-
nes Kind schwingt, ist allein dargestellt immer ein Gegen-
stand des Absehens ^) ; sie erregt aber sogleich unser Mitleid,
sobald der Künstler das schreckliche Be2:inneu von einem
1) Auf dem schönen Relief bei Welcker A. D. II, 3, 8 sind die
den Lycurgus umgebenden Bacchanten und Bacchantinnen die
Erklärung für sein rasendes Beginnen; er wollte der bacchi-
schen Raserei, wie Pentheus, Einhalt thun. Anders fasst
Welcker die Darstellung.
131
Dämon gewirkt, also nicht aus ihrer eignen Seele stammend
darstellt. Es ist keine Darstellung des Wahnsinns von einem
griechischen Meister bekannt ^)^ Nearchos hatte den Herku-
les sowie Timomachus den Ajax 2) nach der Raserei ge-
1) Denn die insania Orestis des Theon (Pliu 35, 144) stellte
nach Pseudoplut. de aud. poet. p. 18 A den Muttermord dar.
2) Ueber den rasenden Ajax des Timomachus handelt Welcker
Kl. Sehr. III. 457 ff., nicht eben bündig, wie mir scheint.
Der Gegenstand des Bildes soll nicht der rasende, sondern
der gekränkte und darum seinen Tod " beschliessende Ajax
sein; di'es gehe aus einer Stelle Ovid's: sedet vultu fassus
Telamonius iram hervor. Zunächst einmal angenommen,
dass diese Stelle deutlich den gekränkten Ajax bezeichne,
so fragt man doch billig, warum soll diese eine Stelle ent-
scheidend sein gegenüber zwei andern, die beide überein-
stimmend den rasenden oder richtiger gerast habenden Ajax
angeben. (Die Stelle des Philost ratus Vit. Apoll. II, 22:
oü(J" KV ror Ahivrä ng tov Tiijo^ä/ov clyaadeir], og i^rj
ttVtcyiyQnTiTCd ccvt(^ jLiejurjvcög Mird übrigens von Welcker nicht
richtig construirt; Welcker nimmt cevnp fjf/ntjvwg zusammen
und übersetzt „sich* selbst zürnend": ich w^erde wol ohne
weitere Begründung «vtco zu uvccy^YQKTiTai nehmen, nämlich
„der von ihm (dem Timomachus) gemalt ist'- und fjeixqvcjg
mit gerast habend übersetzen dürfen). Das Wort Ovid's,
meint Welckei-, werde durch die sinnvolle Art, wie die alten
Maler überhaupt ihre Gegenstücke wählten und behandelten,
gewissermassen unterstützt. Welcker nimmt nämlich an, der
Ajax und die Medea, welche Ovid gleich im folgenden Vers
erwähnt, seien Gegenstücke gewesen. Dies ist möglich, wenn-
gleich ich dabei den Einwand nicht zu unterdrücken vermochte,
dass dem sitzenden Ajax nicht wol die stehende Medea
correspondirfen könne ; gesetzt, es war wirklich so, so liefert der
gerast habende Ajax, wie mir scheint, ein nicht minder gutes
Gegenstück zur Medea. Der Vergleichungspunkt liegt in dem
Widerstreit verschiedener Gefüllte in beiden (der im gekränkten
Ajax nicht vorhanden ist) : dort streiten Mutterliebe und Eifei*-
sucht, hier Scham und Zorn über die Feinde, die Alles ange-
richtet haben (wie bei Sophokles). Ovid hatte, heisst es weiter,
„ohne Zweifel die Bilder des Timomachus gesehen, da er
sie im Gegensatz mit andern unzüchtigen an demselben Ort
aufgehängten anführt.''' Das ist wahrscheinlich, aber ist
9 *
132
malt, aber das Bild des Aristophon : Priamus, Helena, Odys-
seus, Deiphohus, Dolon und unter ihnen die Leichtgläubigkeit
(CredulilasJ liefert den äussern Beweis, dass auch in den
Bildern der grossen Meister derartige dämonische 'Wesen
nicht fehlten. Aus diesen. Gründen muss die Bemerkung des
Philostratus, die Erinnvs sei wohl auf dem 'J'heater, nicht im
Bilde sichtbar, sehr bedenklich erscheinen; je grässlicher die
Scene ist — es sjnd ja schon zwei Kinder getödtet — , um
so nothwendiger war eine Figur wie die Lyssa, die bei dem
Tragiker auftrat.
Kurz mache ich noch darauf aufmerksam, dass da, wo
die Bemühungen der Diener angegeben A^erden , wieder Er-
nicht dieselbe Wahrsclieinliclikeit für den Epigraramatisten
da, der einen einzehien Zug im Bilde anführt? Indess ist
der Ausdruck Ovid's gar nicht mit Sicherheit so zu verstehen,
wie Welcker will. Denn warum kann der Zorn auf dem
Gesicht des Ajax nicht seinen Feinden gelten, als denjenigen,
die ihn in diese Schmach des Wahnsinns hineingebracht ha-
ben ? Darauf vermisst man die Antwort und auf das „sedet"
des Ovid achtet Welclcer nicht, das ich von dem gekränkten
Ajax nicht zu erklären vermöchte, das aber herrlich passt
auf den Ajax, der nacli dem Wahnsinn von Ivörperlidier und
geistiger Mattigkeit und dazu \on dem Gefühl der Scham
überwältigt ist. Sodann ist in dem Epigramm eine Bemer-
kung, die es wirklich nicht zweifelliaft lässt, in welcher Si-
tuation Ajax sich befand, die Bemerkung nämlich, dass sich
Thränen im Gesicht des Ajax befanden. Für wen nämlich
schickt sich die Tliräne? Das wäre ein Ajax, der über die
verweigerten Waffen Achill's weinte ! Aber edel ist die Thräne
aii dem Ajax, der weint über seine Schmach, über sein be-
schimpftes Heldenthum. Tekmessa sagt bei Sophokles, Ajax
habe zur Einsicht seiner That gelangt, laut gejammert, wie
sie es nie von ihm gehört habe und wie er es nur für feige
und kleinmüthige Männer schicklich gefunden. Eben diese
herrliclie Charactcristik des Sophokles, die den Ajax zu einem
wahrhaft edlen Helden macht, liatte Timomachus vor Augen,
indem er den Ajax mit Thränen im Gesicht malte. Es ist
ja auch aus allgemeinen Gründen wahi-scheinlich, dass Timo-
machus nach der Tragödie arbeitete. Die herrlichen Erörte-
rungen Lessing's bleiben somit in voller Wahrheit stehen.
133
Zählung sich findol statt Schilderung. Denn wenn es heisst,
die Diener hängen an Herkules, um ihn zurückzuhalten, so-
dann aber, Herkules schleudere die, welche ihm nahe kommen
empor und zertrete sie, so weiss man in der That nicht,
was eigenthch dargestellt war.
Die Opfergeräthe sind in unserm Bild auffallend detaillirt
angegeben. Alles was zu einem 0]ifer im wirklichen Leben
gehörte, ist vorhanden, selbst die Gerste fehlt nicht. Wozu,
fragt man unwillkürlich, dieser mühselige Fleiss? Das Opfer
ist hier ja nur ein Nebenumstand, der für sich kein Interesse
beansprucht, sondern nur um eines Andern willen da ist.
Es dient dazu, uns zu sagen, dass in einer heihgen Handlung
der Wahnsinn des Herkules ausbrach, es dient also zur Stei-
gerung des Grässlichen. Denn indem wir die schreckliche
That an einem heiligen Ort vorgehen sehen , avo sonst, der
Friede waltet, indem wir Menschen bluten sehen, wo nur
das Opferthier bluten soll , erscheint uns der wahnsinnige
Thäter um so wilder und wüthender. Um dies zu erreichen,
bedurfte es nur einer Andeutung, oder richtiger es durfte
nur eine Andeutung gegeben werden , damit sich nicht als
Hauptsache breit machen was nur untergeordnete Bedeutung
hat. Wir fanden diese Ausführlichkeit in untergeordnetem
Beiwerk schon oft bei Philostratus , ganz im Gegensatz zu
den erhaltenen Denkmälern. Auf Vasen ist nicht selten ein
Opfer dargestellt, man vergleiche z. B. die der Göttin Ghrjse
dargebrachten; nie aber wird man Alles dargestellt finden,
was in Wirklichkeit zum Opfer gehörte. Wenn nun aber
auf Darstellungen des Opfers als solchen genaue Wiedergabe
der Wirklichkeit nicht bezweckt wurde, wieviel weniger kann
es da der Fall gewesen sein, wo das Opfer nur Nebensache,
nur um eines Andern willen da ist. Homer schildert das
Opfer mit der detaillirten Treue, die eine wesentHche Eigen-
schaft des epischen Stils ist; bei ihm finden wir die Dinge,
die Philostratus aufzählt und, wie ich nicht im Geringsten
bezweifle, von ihm entlehnt hat. Ein Künstler hätte sich
begnügt, einen Altar zu malen und etwa ein umgeworfenes
Geräth dazu.
VIII,
Schliesslich noch ein jiRar Beispiele dafür, mit welchem
Unverstand Philostratus die Dichter ausschrieb. Auf eine
pindarische Stelle geht das Bild des altern Philostratus (I, 30)
zurück, welches den Pelops in seiner Begegnung mit Posei-
don darstellte. Pelops ersciiien in lydischer Tracht mit eben
keimendem Bart. So schrieb der Rhetor dem Dichter nach,
denn die Kunstwerke stellen den Pelops durchgehends un-
bärtig dar bis auf ein spätes lömisches Sarkophagrelief'),
das nur für diejenigen Erklärer eine Stütze abgeben kann,
welche weder auf Gattung noch Individuahtät eines Monu-
ments Rücksicht nehmen. Der Grund, aus dem die Kunst
abweicht vom Dichter , ist klar. Weil sie in Pelops den
zarten Asiaten darstellen will, darum stellt sie ihn, wie den
Paris, bartlos dar, wenn auch das Alter des Jünglings den
Anfang des Bartes nach der Regel der Wirklichkeit schon
erforderte. Aber die Wirkhchkeit ist hier keineswegs maass-
gebend , vielmehr entscheidet der Charakter der darzustellen-
den Figur. Apollo, Dionysos, Hermes' werden in der vollen-
deten Zeit der Kunst unbärtig dargestellt, obgleich das Alter,
in welchem sie erscheinen, in der Wirklichkeit schon Spuren
des Bartes zeigt 2).
1) Miliin G. M. 133, 521. In den zarten tovlos haben sich die
beiden Rhetoren übrigens verliebt-, wo es nur angeht, wird
er angebracht, so bei Memnon(Sen. 1,7), Amphion (Sen. I, 10),
Antilochus (11, 7), Orpheus (Jun. 6), Jason (Jun. 7), H^'a-
cinthus (Jun 14). Die Kunstwerke, die uns erhalten sind,
stimmen keineswegs überein.
2) Ebenso ist hinsichtlich der Schamhaare keineswegs die Re-
gel der Wirklichkeit das Entscheidende. An einem plastischen
Apollo sind sie sehr seifen, und doch hätte z. B. der vatika-
nische Apollo das Alter dazu. Der Apoxyomenos dagegen,
der nicht älter ist, muss sie haben. Wenn eine Gestalt in
135
Aus dem Meer kommt ein goldrier "Wagen , heisst es
weiter, von vier Pferden gezogen. Neben Pelops steht Po-
seidon, ihn an der Hechten fassend. Es ist Nacht auf dem
die Sphäre einer reineren, zarteren Schönheit gehoben werden
soll, so lässt man dies Anhängsel irdischer Bedürftigkeit
weg, wie an jenem Satyr, den man für praxitelisch hält, an
dem Stockholmer Endymion u. s. w. Dem kräftigen Mannesalter
dürfen sie natürlich nie fehlen. Was den weiblichen Körper
betriflft. so erinnere ich mich in plastischen Darstellungen keines
Beispiels, wo sie dargestellt wären, bis auf eine Berliner
Gemme, die nicht dieses Argumentes bedarf um als modern
erkannt zu werden. Sie stellt nach Tölken's Vermuthung
(IV,. 1, 117) den Herkules mit den Töchtern des Thestius
dar. {Die weibUche Scham selbst ist in der griechischen
Plastik mit Ausnahme der kleinen Bronzen sehr selten (z. B.
aiL einer Nike, die über dem Stier kniet, den sie opfern will,)
in griechischer Malerei öfter in mehr oder weniger obscönen
Vasenbildern, häufiger aber in etruskischer Kunst dargestellt,
besonders auf den Spiegeln, was sehr charakteristisch ist), —
Die Haare unter dem Arm sind soviel ich weiss, nur an dem
Gallier der Villa Ludovisi ausgedrückt. Vortreftlich , da es
sich in dieser Figur nicht um Darstellung eines Ideals, son-
dern charakteristischer Wirklichkeit handelte. Ebenso sind
in dieser Figur, wie an der verwandten Statue des „sterben-
den Fechters" die Augenbrauen plastisch ausgedrückt, was
bis dahin in der griechischen Kunst nicht üblich war. (Denn
aus dem farnesischen Herkules und dem Aesop in Villa
Albani, wo sie auch sichtbar sind, zu schliessen, es sei das
schon eine Eigenthümhchkeit des Lysipjius gewesen, wäre
voreilig. In der spätem römischen Zeit werden sie gewöhn-
lich dargestellt, nicht bloss beim Antinous, aber vorwiegend
bei Porträts). Aber nur an dem Mann , nicht an der Frau
des Galliers ; hier also weicht der Künstler von der Natur ab.
Warum ? Für den Mann ist es charakteristisch , dass sein
trotziges Auge unter buschigen Brauen hervorblitzt, das Weib
soll einen zarteren Eindruck machen. Winckelmann war viel
aufmerksamer auf solche Einzelheiten , die nur dem Unver-
ständigen Kleinigkeiten sind, als wir; wir sollten aber seine
Beobachtungen ergänzen und dann ihren Sinn, den Gedanken
zu finden suchen, der in der Thatsache als ihre Ursache
136
Bilde, nur wird der Knabe von seiner Schulter beleuchtet,
wie die Nacht vom Abendstern. Auch bei Pindar bittet
Pelops den Poseidon um das Gespann bei Nacht- Philostra-
eingeschlossen ist, denn erst dann ist ja ein Werk der Kunst
begriffen, wenn das Sichtbare in allen seinen Einzelheiten
als nothwendig erkannt ist durch das der Seele des Künst-
lers zur Verwirklichung vorschwebende innere Bild, durch
die innere Kunstlbrm. Ich darf hier noch wol eine derartige
Kleinigkeit anfügen. Winckelmann behauptete , die Götter
seien ohne Nerven (er meint Adern) und Sehnen gebildet.
Am Poseidonsrumpf aus dem Parthenon aber fand man
Adern und so rief man : Winckelmann hat Unrecht. Und
damit begnügt man sich, als sei die Sache abgethan. Viel-
mehr kam es jetzt darauf an, Winckelmann's aus einer Fülle
"V'on Beispielen abstrahirte Bemerkung zu vereinigeji mit der
neuen Thatsache und das war leicht, wenn man nur den
Sinn der Thatsache zu finden suchte, den Winckehnann im
Wesentlichen richtig erkannt hat. Man braucht nur zu lesen,
was er gleich weiter bemerkt (Buch 5, Kap'. 1 §. 28):
„Das Dasein und- der Mangel dieser Theile unterscheiden
einen Herkules , welcher wider Ungeheuer und gewaltsame
Menschen zu streiten hatte, und noch nicht an das Ziel sei-
ner Arbeiten gelanget war, von dem mit Feuer gereinigten
und zu dem Genuss der Seligkeit des Olj^mpus erhobenen
Körper desselben; jener ist in dem farnesischen Herkules,
und dieser in dem verstümmelten Sturze desselben im Bel-
vedere vorgestellt." Sodann macht er darauf aufmerksam,
dass sich die Adern in der Blüthe der Jahre wenig äussern.
Man muss nun fn Hinblick darauf, dass am Fries des Parthe-
non auch an jugendlichen Figuren die Adern sichtbar sind,
sich so ausdrücken: Alle Wesen, deren Natur es bedingt,
dass sie sich kleiden in eine reinere, leichtere, gleichsam
BtofFlosere Materie \a erden ohne Adern vorgestellt, obwohl
ihr Lebensalter in Wirklichkeit sie hervortreten liisst. Selbst
in leidenschaftlicher Handlung, wo sie beitragen zur Charak-
terisirung der Leidenschaft, sind sie wol nur dem Stande
voller Manneskraft eigen. Jedenfalls ist die Nachahmung der
Natur nicht das Entscheidende, sondern die Idee, der Charak-
ter der Figur baut sich seine Gestalt.
J37
tus entlehnt den Zug ohne ihn zu verstehn, denn er heht
ihn auf durch die leuchtende Schulter des Knaben, die er
aus einer vorhergehenden Stelle desselben pindarischen Ge-
dichtes aufnahm. Pindar lässt Gott und Mensch in nächt-
lichem Dunkel verkehren nach seiner hohen Anschauung
vom GöttHchen. Bei Homer findet ein unbefangener Verkehr
statt zwischen den Göttern und ihren Lieblingen, nach Pin-
dars Anschauung dagegen ist das menschliche Auge zu
schwach, um den Anblick der Gottheit zu ertragen und eben-
darum sucht Pelops den Poseidon , Jamus den Apollo zur
Nachtzeit auf. Die Kunst muss natürlich die homerische
Anschauung festhalten, Philostratus schrieb dem Pindar ge-
dankenlos nach.
In dem „die Hören"- betitelten Bilde des altern Philostra-
tus (II, 34) heisst es: Die Frühhngshoren befinden sich
über Hyacinthen und Rosen, die des Winters über lockerem
Land , die herbstlichen über Reben , die blonden Hören des
Sommers aber wandeln auf dem Haar der Aehren, ohne es
zu brechen oder zu biegen , sondern sie sind so leicht, dass
die Saat sich nicht einmal neigt.
Wir wollen uns die Zahl der Hören gefallen lassen^),
obwohl die Kunst für jede Jahreszeit nur einen Repräsen-
tanten hat, es kommt mir hier nur an auf das über die sommer-
lichen Hören Gesagte. Homer erzählt von den wunderbaren
Füllen, die der Windgott Boreas mit den Stuten des Königs
Erichthonius gezeugt hatte, dass sie, so oft sie hüpften über
das nährunggebende Feld, oben über die Frucht der Aehren
1) Welcker (zu Sen. II, 3 p. 57, 15) nimmt hier und an vielen
andern Stellen den Plural für den Singular nach einem
„idiotismus rhetoricus." Nach demselben Prinzip sollen mit
den Ausdrücken nyslt]^ nkrid-og nicht Viele, sondern Wenige
gemeint sein. Die Voraussetzung , dass Philostratiis Wirk-
liches sah, ist wieder der Grund solcher Willkür.
138
hinliden. oline sie zu Itreehon. Dies Wunder ist. begreiilich an
Sprösslingen des Windgotles: wie der Vater über die Aeliren
hinfährt, ohne sie, zu brechen, so die Abkömmlinge, deren
sturmgleiche Schnelligkeit dadurch ausgedrückt werden soll.
Desselben Bildes bedient sich Hesiod, um die Schncllfüssig-
keit des Iphiklos zu malen, und VirgH sagt von der Vols-
kerführeriii Camilhi , die nicht weiblicher Arbeit nachging,^
sondern gewohnt war, harte Schlachten zu ertragen und im
Lauf der Füsse den Winden zuvorkommen , sie würde oben
über die Halme selbst einer unversehrten Saat hinlaufen,
ohne die zarten Aehren zu verletzen. Vireil ahmt offenbar
nach, nur stellt er charakteristisch genug als blosse Möglich-
keit hin, was Homer als wunderbare Thatsache einfältig
berichtet^).
Dass Philostratus eine dieser drei Stellen vor Augen
hatte, ist nicht zu läugnen, er verstand sie nur nicht und
steigert das Bild ins Absurde. Nicht die Leichtigkeit, son-
dern die höchste Schnelligkeit , die windschnelle Bewegung,
die über den Boden hinfährt und ihn kaum berührt, wollen
jene Dichter mit ihren Schilderungen Acranschaulichen, sodann
sagen sie mir, dass die Aehren nicht gebrochen wurden von
den darüber Laufenden. Philostratus aber lässt die Aehren,
ja das Haar der Aehren sich nicht einmal neigen unter den
Füssen der Hören und eben durch diese Steigerung wird das
ganze Bild absurd.
Doch wir wollen uns das Bild noch gemalt denken,
Welcker nennt es ein opus elegantissimum. Dass die Hören,
obgleich flügellose Wesen, wie aus den Worten des Schrift-
stellers hervorgeht, in der Luft schweben, möchte man sich
allenfalls gefallen lassen, wiewohl es der Sitte der guten
Kunst widerstrebt 2). Denn auch das göttliche Wesen denkt
sich die alte Kunst mit physischer Schwere ausgestattet'),
1) Virg. Aen. 7. 809. Hesiod. Fr. 221 Göttling Hom. 11. 20. 227.
2) Tadelns\\erth scheint mir der Mars, der aul einem Gemälde
der Titusthermen zur Iha herabschwebt (Müller 11, 23. 253).
3) Der auf dem Meer wandelnde Christus hat keine Analogie in
der alten Kunst.
139
es bedarf der Flügel, wenn es sieh über dem Erdboden be-
wegen wilP). Aber darin liegt das Anstössige des Bildes,
dass das Feinste und Zarteste, die Spitzen der Aehren, die
dem leisesten Windhauch weichen, so mit den Hören in Ver-
bindung gesetzt sind, dass wir sie als Stütze derselben lassen
müssen und doch nicht fassen können, weil sie ganz ihre
Natur verläugnen. Die Hören haben eine Stütze und haben
sie auch wieder nicht, insofern diese Stütze nicht Stütze sein
kann , ja nicht einmal versucht es zu sein. Dieser Wider-
spruch ist es, der den Hauptanstoss erregt.
1) Die Selene auf gemalten Darstelhingen des Endj'mion erregt
die Vorstellung, als würde sie getragen von ihren wallenden
Gewändern.
Zweiter Abschniii.
Die eigfiien Erfindung^en der Pliiloslrate.
I.
Die Fehler, die wir im Vorgehenden an den Bildern der
Philostrate hervorhoben, waren in der Regel veranlasst durch
falsche Dichternachahmung, in einzelnen Fällen sahn wir in-
dess schon den Rhetor selbständig operiren, eigne Zusätze
machen zu dem überlieferten Mythus. Diese eignen Zusätze
und Erfindungen der Philostrate, die aus ihrer Belesenheit
oder Phantasie stammen, bilden das Thema des zweiten Ab-
schnittes. Es sind deren nicht wenige, besonders bei dem
älteren Philostratus. Das ist nämlich ein charakteristischer
Unterschied des altern und Jüngern Philostratus, dass ersterer
durchaus selbständiger, erfinderischer, letzterer weit abhängi-
ger ist von dem überlieferten Mythus; man vergleiche nur
das zweite, vierte, fünfte, sechste seiner Bilder. Leicht be-
greiflich, da er Nachahmer ist, wie er selbst in seinem Vor-
wort gesteht. Bei dem Jüngern Philostratus begegnen wir
daher nur einem einzigen Bilde, das nicht auf mj^thischer
oder historischer Grundlage beruhend eine freie Ei-findung
des Rhetors zu sein scheint. Der ältere hat deren nicht
wenige und zeigt in seinen Zusätzen eine originellere Ge-
schmacklosigkeit. Wir werden nun wie oben dies Eigne
der Rhetoren messen an der erhaltenen Kunst und an der
Theorie der Kunst überhaupt; die Fehler lassen sich wie dort
in bestimmte Klassen bringen. Wir beginnen mit dem Punkt,
den wir auch oben voranstellten, mit den Fehlern gegen die
hinsichtlich d(n- Gewandung befolgte Sitte der Kunst.
Der ältere Philostratus beschreibt (I, 16) folgendes Bild :
Die Werkstatt des Dädalus ist dargestellt. Um ihn stehn
Statuen herum ; er verräth in seinen klugen Mienen den
141
Athener, auch in seiner Tracht, er trägt nlimUch einen ahge-
schabten Mantel von dunkler Farbe und ist baari'uss. Man
sieht ihn mit der Zusaninienfügung der Kuh l)eschäftigt ; ne-
ben ihm arbeiten Eroten. Einige bohren, andre glätten,
noch andre suchen das Gleichgewicht zu ermitteln. Zwei
sind beim Sägen beschäftigt: einer steht auf der Erde, der
andre hoch auf der Maschine, und so führen sie die Säge
durch das Holz'). Pasiphae aber sieht draussen unter der
Rinderheerde nach dem Stier aus in dem Wahn, sie werde
ihn zu sich heranziehn durch ihre Gestalt und glänzende
Gewandung. Der Stier aber, Führer der Heerde, schönge-
hörnt und \^eiss, blickt heiter auf seine Kuh, die ganz weiss
ist mit schwarzem Kopf. Sie will aber den Stier nicht, sie
hüpft wie ein Mädchen , welches der ZudringHchkeit des
Liebhabers entrinnt.
Dädalus, sagt der Rhetor, war bekleidet mit einem dun-
keln TQi'ßcok', was ich durch Mantel übersetzt habe. Denn
unter TqlßMv wird immer das Obergewand der Männer, also
das, was wir Mantel nennen, verstanden, der"V§<'/!?wi/ ist nur
eine besondere Art desselben und zwar der Qualität nach
unterschieden, er bezeichnet nämlich ein dürftiges, abgeschab-
tes Obergewand 2). Darum tragen ihn die einfachen Men-
schen der alten Zeit, dann die Spartaner in Einklang mit
der Einfachheit ihrer Sitten und in Athen diejenigen, welche
spartanische Sitten nachahmten, besonders aber die Philoso-
phen seit Solu'ates, als Gegner des Luxus. Philostratus giebt
ihn (II, 32) auch dem Themistokles : „ein Mann recht attisch
mit dem Tribon gekleidet." Muss nicht eine solche Tracht
an dem Handwerker Dädalus im höchsten Grade auffallen?
1) „Der eine hat sicli geneigt um sich wieder zu erheben, der
andre hat sich erhoben um sich zu neigen. '■'■ Diese Worte
will Lindau als uniicht streichen, ,,denn beide Säger müssen
sich gleichzeitig neigen und aulrichten."' So ist es allei'dings
in der Wirklichkeit und sonach im Kunstwerk, aber wir dürfen
ja nicht die Voraussetzung machen, dass Philostratus Gesche-
henes beschreibe.
2 ) Man vgl. besonders K. F. Hermann's Privatalterth. § . 20, Anra. 14,
142
Man sehe die vielen Darstellungen von Zimmerleuten und
Schmieden dai"ch, den Bau der Argo , die Arbeiten des He-
phästos, des Epeios , des Dädalus, man wird immer linden,
dass der Werkmeister die Traciit des Handwerkers , den
Chiton, der die rechte Schulter l'rei lässt, einzeln auch einen
blossen Schurz um den Leib trägt. Und natürlich, der Hand-
werker muss leicht gekleidet sein. Freilich supplirt man an
unsrer Stelle, der Tribon sei hoch geschürzt gewesen, offen-
bar wieder desswegen, weil man ein wirkliches Bild annahm,
gewiss nicht im Sinne des Philostratus, der gar nicht all den
Handwerker, sondern nur an den Athcrner Dädalus
denkt, wie seine Worte deutlich beweisen; aber es sei ein-
mal so, immer ist der rqlß(t)v ein Obergewand, also ein
Kleidungsstück, das für einen Handarbeiter gar nicht existirt,
Oder meint man , der tqißbuv erschien auf dem Bild als ein
blosses Tuch um die Hüften gebunden, so frage ich eben,
wie Philostratus das einen rqißMv nennen konnte. Die
Sache ist, wie mir scheint, klar genug: Philostratus hatte
von dem rqißMv als einem specifisch attischen Kleidungstück
gelesen und nun gibt er es dem Athener Dädalus ohne
sich weitere Gedanken zu machen.
Die Kuh war im W'esentlichen fertig; so scheinen die
Worte des Schriftstellers anzudeuten und so war es noth-
wendig um zu begreifen, was Dädalus und Pasiphae mit ein-
ander zu thun haben. Nichtsdestoweniger aber sind noch
zwei Eroten beschäftigt, einen Balken zu zersägen. Wozu
nun, fragt man, wenn die Kuh schon Gestalt hat, eine Arbeit,
die da am Platz ist, wo das anzufertigende Ding noch ohne
alle Gestalt ist? Denn das Sägen mittelst eines Gerüstes
ü-eschieht bekanntlich bei dicken Balken, die der Länge nach
zu Brettern durchschnitten werden sollen '). Wenn man die
auf Dädalus und Pasiphae bezügUchen erhaltenen Monumente 2)
1) Der Vorgang ist dargestellt auf dem merkwürdigen pompe-
janischen Bild, das zuletzt in der Archaeol. Ztg. VIII (zu
Taf. 17) besprochen ist.
2) Sie sind znsammengestelll von 0, Jahn Arcliaeol. Beitr.
143
vergleicht, so wird zwar auch noch gearbeitet au der Kuh,
aber es ist die letzte Arbeit au dem iui Weseul liehen vollen-
deten Werk.
Wie Philoslratus die beiden sägenden Eroten besehreibi,
was er von ihrem Athemholen sagt, das les^ man bei ihm
selber nach; es ist so seine Art, Dinge, die sich von selbst
verstehn und die Niemand zu wissen begehrt, mit einer
wirklich' widerliehen Ausführlichkeit zu beschreiben.
Der Stier allein genügt dem Philostrat us nicht, der einem
Künstler genügen würde und dem Verfertiger eines pompe-
janischen Bildes genügte. Eine ganze Heerde ist anwesend
und der von der Pasiphae gehebte Stier verfolgt eine Kuh.
Wie gemein wäre die griechische Kunst, wenn dies Bild
wirklich gemalt gewesen wäre! Statt das Objekt der Liebe
in der Ferne zu zeigen, nur als erklärenden Grrund für die
Betrübniss der Pasiphae, erscheint sie hier als die unglück-
liche Nebenbuhlerin einer Kuh, eines bloss von sinnlichem
Trieb erfüllten Geschöpfes!
Die Kuh , welche der Stier verfolgt , ist schwarz mit
weissem Kopf Aehnliches dichtet der Rhetor auch an
andern Stellen. In dem Bilde der Eberjagd (I, 28) befand
sich ein Pferd, weiss mit schwarzem Kopf, ein andres (11,5)
war oben schwarz , an Beinen und Brust weiss, und eine
Centaurin (II, 3) hatte den menschlichen Theil weiss, den
thierischen schwarz. Diese wunderbare Centaurin werden
wir «päter noch genauer betrachten, ich muss es aber schon
hier aussprechen, dass alle diese Angaben nur dem albernen
Rhetor angehören, der nach Besondrem suchte. Es ist im-
mer ein seltnes Naturspiel, das solche Zeichnungen hervor-
bringt, wie die angegebenen, und eben solche auffallende
p. 237 ff., wozu die von Visconti Opfere varie II, p. 253 n.
312 erwähnte Gemme und dann das im Bullet. Nap. IV, 92
beschriebene- pompejanische Bild hinzu kommt. Was übri-
gens die Aehnlichkeiten betrifft, die zwischen diesem und
dem philostratischen Bild an der letztern Stelle gefunden
werden, so glaube ich vor denkenden Erklärern nicht nüthig
zu haben, näher daraul^ einzugehn.
144
Seltenlieilen muss der bildende Künstler vermeiden, weil er
uns die Frage nicht beantwortet, wozu es denn eines so gar
besoudern Thieres bedurfte und weil eine solche Effekt-
hascherei in einer untergeordneten Partie der Darstellung
demjenigen, worauf das Interesse ruht, nichts weniger als
förderlich ist.
Ein Bild des Jüngern Philostratus (n. 15) stellt die ka-
1} donische Eberjagd dar, an einige erhaltene Darstellungen
hinsichtlich der Figuren erinnernd ^ ) , worauf aber kein Ge-
wicht gelegt werden kann , weil die Figuren des Bildes —
Atalante, Meleager, Peleüs und Käneus — auch im Mythus
hervorgehoben sind, also ebensogut aus diesem entlehnt
sein können. Dagegen steckt in der Beschreibung der
Atalante vielleicht die Reminiscenz eines wirklich gesehenen
Kunstwerks, da sie in der Tracht, die ihr Philostratus giebt,
in den erhaltenen Kunstdarstellungen zu erscheinen pflegt.
Desto autfallender aber ist der Meleager. Der Rhetor be-
schreibt zuerst in der ausführhchsten Weise alle Körpertheile
desselben, so dass man glaubt, er sei nackt vorgestellt, aber
dann erfahren wir, das er Chiton irnd Chlamys trug. Er
weicht darin, Menn ich nicht irre, von allen Darstellungen
des Meleager als Siegers über den Eber ab; schon in dem
ältesten Vasenstil ist Meleager nackt dargestellt, so wie es
allein schickhch ist. Denn wenn überhaupt die Nacktheit
für jugendliche Heroen die gewöhnliche Erscheinungsform
1) Man vgl. namentlich das schöne jetzt in's Berliner Museum
übergegangene Terrakottarelief bei Jahn Ber. d. sächs.
Gesellsch. d. Wiss. 1848 p. 123 fl"., zu dessen Erklärung
ich nur hinzufüge, dass das Schwert in der Hand der
Atalante und die üoppclaxt in der Hand des Meleager sich
einfach, wie mir scheint, durch die räumlichen Verhältnisse
der Komposition erklären ; der Bogen als eine in die Ferne
wirkende Waffe, selbst die Lanze passt nicht so gut wie die
Doppelaxt für den gegebenen Raum.
' 145
ist'), so ist sie besonders da nothwendig, wo lebhafter Kampf
die Glieder spannt. Nur durch die Anschauung des unver-
hüllten Körpers wird uns die Kraft des jugendlichen Helden
deutlich, die sich hier erprobt, und wir begreifen, dass ihm
der Sieg zufallt. Es könnten , wie ich nicht läugne , von
einzelnen Vasenbildern Analogien für den Meleager des Phi-
lostratus entnommen werden , aber der grossen Menge der
Kunstdenkmäler, der Sitte der Kunst gegenüber bleibt er eine
durchaus auffallende Erscheinung 2).
Auch das Bild des Amphiaraus (Sen. I, 27) kann hier
besprochen werden, wenn es auch noch mehrere andre Selt-
samkeiten enthält. Der Rhetor sagt:
Das Zweigespann (denn mit vier Pferden zu fahren,
war noch nicht Sitte in der heroischen Zeit, den kühnen
Hektor etwa ausgenommen) trägt den Amphiaraus, der mit
Binden und Lorbeer unter die Erde flieht. Er ist bewaffnet
mit Ausnahme des Helms, denn sein Haupt weiht er dem
Apollo, heilig und seherisch blickend. Auch Oropus ist da,
ein Jüngling unter bläulichen Weibern — das sind Meere —
und die Denkhöhle des Amphiaraus , eine heihge und gött-
hche Schlucht. Dort ist auch die Wahrheit mit weissem
Gewände und das Thor der Träume. Und Oneiros ist dort
1) Vgl. den Excurs V.
2) Von Ankäus sagt der Rhetor: aS^Qoov fxo^wr j6 cduu xcu
is TTokv dvfQQioyiog rov ^i]qov. Da ist wieder das Gefal-
len an dem Widerwärtigen , das so ganz der griechischen
Kunst fremd ist. Von dem getroffenen Eurypj^los heisst es
(Jun. 10): xQovvr)S6v ^x/tiTcu to cdfxa^ von dem getroffenen
Achelous (Jun. 4) : cufxuTo? i](^>] juäXXov ^ vdfiajog aifitjOi
xoovvovg dnayontvfov. Aehnlich sagt der ältere Philostratua
(I, 29) von dem durch Perseus getödteten Seeungeheuer :
IfxnXrififJivoovv TTrjyectg cdfiarog , irif wv iQvOocc y) S-uXaaau,
obwohl Persens gar kein Schwert, sondern nnr das Meduseu-
haupt hat. Solche Darstellungen erinnern an die Art der
Mordgeschichten auf Jahrmärkten.
10
146
in lässiger Gestalt und hat- ein weisses Gewand über einem
schwarzen und ein Hörn in den Händen.
Dem gerüstet liimiiiterfahrenden Amphiaraus ist aller-
dings ein spätes römisches Relief zu vergleichen ; die Sitte
der griechischen Kunst lernt man aus einem Relief von Oro-
pus und aus einem Monochrom von Herkulanum : beide
stellen den Amphiaraus nackt dar^).
Der Helm fehlt ihm, dagegen trägt er Binden und Lor-
beerkranz: es sieht aus, als habe er sich festlich kostümirt
für die Hinunterfahrt in die Erdschlucht. Binden und Lor-
beerkranz? die ja dasselbe bedeuten? Auf den Monumenten
finden wir eins oder das andre, nicht beide zusammen dar-
gestellt 2); Philostratus bringt sie beide an, wie er oben dem
Eros Bogen und Fackel gab, die beide ihm zukommen, aber
nicht zu gleicher Zeit.
Heilig und seherisch bückend fährt Amphiaraus unter
die Erde. Wie unnatürlich! Denn welcher Mensch bebte nicht,
wenn die Erde sich vor ihm aufthut! ^Yas menschlich wahr
ist, das zeigt jenes griechische Relief: Wie von einem plötz-
lichen Anblick getroffen , der allen Muth bi-icht , sinkt dem
Seher der Kopf auf die Brust herab, wie zurückbebend er-
scheint der ganze Körper , die Knie wanken, sie sind einge-
knickt, so dass kraftlos der Mann herabsinken würde, wenn
nicht die Hand den Rand des Wagens umfasst hielte^). Das
Auge des Sehers erbhckt die gähnende Erdtiefe, sein Geist
aber weiss, dass es kein Entrinnen giebt. Darum bricht die
Gestalt so kraftlos zusammen, um so rührender, als sie in
lieblicher Jugend und Schönheit erscheint.
Von Stellung und Geberden des Amphiaraus sagt der
Rhetor ^kein Wort, auch die Figur der Wahrheit wird nicht
näher beschrieben. Diese Verschwiegenheit beobachtet Phi-
1) Die Abbildungen s. b. Overbeck Gall. Taf. VI n. 6. 7- 9.
2) Nnr die Sieger in den Wettspielen sind mit Kj-anz und Tä-
uie zugleich geschmückt, wie man einzeln auf Vasen darge-
gestellt sieht. Das hat bekanntlich seinen guten Grund.
3) \gi. die Beschreibung Welcker's A. D. II, p. 176 ff.
147
lustratus in vielen Bildern ; sie ist sehr begreiflich, wenn meine
Annahme, dass er nichts Wirkliches sah, richtig ist.
Amphiaraus fährt auf einem Zweigespann, denn, sagt der
Rhetor, in der heroischen Zeit war das Viergespann noch
nicht üblich. Hier bringt die Belesenheit den Philostratus zu
Fall, denn die Kunst weicht hier ab von der Poesie, sie
lässt die Heroen auf Viergespannen fahren i). Sie kehrt sich
nicht an historische Treue, sondern begeht unbedenklich einen
Anachronismus, weil sie die herrliche stattliche Erscheinung
eines Helden besser durch das Viergespann ausdrücken kann.
Es ist das eine so allgemeine Sitte, dass ich mich durch das
erwähnte römische Relief, wo Amphiaraus auf einem Zweige-
spann f4hrt, um so weniger irre machen lassen kann, als
der besondere Charakter dieses Reliefs die Abweichung er-
klärt. Sie ist nämlich, wie ein Blick auf die Abbildung
lehrt, durch Raumnoth veranlasst, worin ja so viele Beson-
derheiten der römischen Sarkophagreliefs ihre Erklärung
finden.
Der Wagenlenker wird nicht erwähnt ^j , den wir auf
den Monumenten, allerdings wieder mit Ausnahme eben je-
nes römischen Reliefs finden. W^er aber mit dieser Gattung
von Kunstwerken vertraut ist, der wird auch nicht in die-
sem Punkt das Relief als Stütze des philostratischen Bildes
anführen wollen. Auf einem andern Sarkophagrelief ist der
Wagenlenker mitsanimt dem Waagen des Oenomaus wegge-
lassen ; der Raum ist voll, dachte der Steinmetz und so mag
er wegbleiben^), Philostratus aber Hess den Baton ohne
1) Oenomaus fälirt auf dem Kypseloskasten nach epischem Ge-
brauch mit zwei Pferden-, ich glaube nicht, dass Jemand
dies als Stütze des philostratischen Gemäklea geltend machen
möchte.
2) So wenig wie M}'i-tilos auf dem Bild des gestürzten Oeno-
maus (Sen. I, 17) als anwesend erwähnt wird.
3) Ich meine den Sarkophag aus Mons Archaeol. Ztg. 1855
Taf. 80, worüber ich Hrn. Ronlcz noch ein paar Worte ent-
gegnen möchte, der mit mir zugleich das Monument bespro-
chen hat und sich in der Arch. Ztg 1857 p. 27 ff. wegen
10*
148
Zweifel deswegen weg, weil die Schriftsteller, uus denen er
schöpfte, wenn sie von dem Ende des Aniphiaraus sprechen,
begreiflicherweise nur den Seher allein erwähnen; ihre Hö-
rer M'ussten ja, dass jeder Heros seinen Wagenlenker hat
und ergänzten ihn daher stillschweigend, oder wenn sie es
nicht thaten , so konnte das dem Dichter ganz gleichgültig
sein. Der Maler dagegen kann natürlich nicht den Baton
ergänzen lassen.
Die Meerweiber fügte der Rhetor gewiss nur desswegeii
hinzu, weil Oropus in der Nähe des Meeres lag. Die Lokal-
gottheit Oropus allein genügte ihm nicht, er fügt noch einige
Figuren hinzu, die nur ein geographisches Interesse befi'iedi-
gen können. Ebenso , nur noch schlimmer macht er s auf
dem Bilde des Palämon , das wir im Folgenden betrachten
werden. Uebrigens verstehe ich nicht, wie die „bläulichen
Weiber"' {yXavxd yvyaia) zu denken sind. Das Meer ist
allerdings bläulich, wenn aber der Rhetor das Epitheton des
Meeres auf die Meerweiber überträgt , so kann man nicht
anders glauben, als dass ihre Hautfarbe der des Meeres glich.
einiger ihm von mir nachgewiesener Irrthümer theils zu ent-
schuldigen, theils zu vertheidigen sucht. Die Entschuldigun-
gen wären um so besser unterblieben . als die Gründe , die
ihn zu der unrichtigen Erklärung veranlassten, Gegengriinde
luitten sein sollen; wenn er aber am Schluss derselben bemerkt,
„es bleibt mir nur übrig, was Hr. Friederichs zu thun ver-
säumt hat, die Abwesenheit des Wagenlenkers des Ocnomaos
als einen sehr beachlenswerthen Umstand auf unserem Bas-
relief hervorzuheben" — ist auch das Fehlen des Wagens
„ein sehr beachtenswerther Umstand"? — so muss ich ihm
bemerken , dass ich das gar nicht hervorgehoben haben
möchte und dass ich bedaure, dass Hr. Roulez das hervor-
gehoben hat, weil er dadurch beweist, dass er mit dem Cha-
rakter der Sarkophagdarstellungen wenig vertraut ist. Für
ihn scheint auch die erste Regel der Kunsterklärung , erst
den Charakter eines Monuments zu begreifen, ehe man zu
deuten anfängt, nicht zu existiren. Doch seine Entgegnung
w^ürde noch zu anderen Bemerkungen Veranlassung geben,
die ich hier unterdrücken muss.
149
Um die Wahrlieit der erlheilten Orakel zu bezeichnen,
ist die personificiHe Wahrheil unwesend: da es Traumorakel
sind , so bringt der Rhetor den personificirten Oneiros hinzu
und dabei fällt ihm dann die homerische Stelle von den
zwei Traumarten und Traumthoren ein. Gleich bringt er
sie an und — obgleich die Wahrheit ja schon da ist — um
zu bezeichnen , dass die in der Am])hiarausgrotte gesandten
'IVäume wahre Träume sind, die nach dem Homer aus
Thüren von Hörn hervorkommen, giebt er seinem Oneiros —
ein Hörn in die Hände, .,als demjenigen , der die Träume
durch die wahre Thür heraui'führt." Der alte Heyne ver-
wunderte sich sehr darüber, Welcker äussert sich gar nicht.
Dies Bild, das äl)rigens noch lange nicht das absm'deste
ist, kann das Verfahren des Rhetors besonders deutlich
machen. Seine Lektüre und sein Calcul, wenn man so sa-
gen darf, liegen überall klar vor Augen.
u.
Zahlreich sind die Fehler der Philostrate gegen die Alle-
gorie. Ein ganzes Nest davon ist das Bild der Palästra
(Sen. II, 32):
Das Land ist Arkadien und zwar die schönste Land-
schaft Arkadiens , die wir Ohmpia nennen , so beginnt der
Rhetor, denn er weiss immer, was nach unsern Anschauun-
gen und Kenntnissen von alter Kunst merkwürdig genug ist,
das Lokal der Handlung ohne Bedenken zu benennen, auch
da, wo es nicht im Mythus gegeben ist. Auf diesem Raum
befindet sich die männUche Jungfrau Palästra, umspielt von
Kindern — man weiss nicht, ob Mädchen oder Knaben —
den personificirten Ringergriffen i). Die Gestalt der Palästra
ist schwankend zwischen Jungfrau und Ephebe; das Haar
ist zu kurz, um es aufzuflechten, und die Brüste haben we-
nig Schwellung wie an einem zarten Knaben ; ihre Haut ist
von der Sonne gebräunt. Sie sitzt züchtig da mit einem
Oelzweig in dem nackten Busen.
Betrachten wir zunächst die Figur der Palästra. Es ist
ein Mädchen in blühenden Jahren, nur fehlt der Busen, der
zu diesen Jahren gehört. „Sie lobt nichts Weibliches", sagt
der Rhetor zur Motivirung des fehlenden Busens. 0 über
solche Albernheit ! Als ob das Mädchen dadurch an dem
Charakter der Männlichkeit verlöre, wenn sie die Fülle des
1) Jacobs versteht wie O. Müller Archeol §. 406. 2 unter den
naXaia^ma die varia genera certaminum, was schon die Be-
deutung dc6 Worts unmöglich macht. Dieser Irrthnm ver-
anlasste Ersteren weiter, die Worte xnäiiaror /nh' yän är] rö
^i'vrjfjufi'or Tri Tiäki] ganz falsch zu deuten auf das Pankra-
tion. Vielmehr ist der Sinn: xqÜiiotov fifv yciQ Srj tö §vvt]ju-
fifvov {nülaiofift. das Verschlungensein) rjy Trüh]. W^elcker
(A. D. I, 488) fasst die nakaCafiaju vollkommen richtig als
,, Stellungen des Ringspiels.'
151
Busens hat, welche ihr Alter erfordert. Worin heul hier der
Fehler? Bass der Khelor um des Allegorischen willen die
Gestalt AU einer üngestalt macht. In dem Glauben , ein
schwellender Busen schade dem Eindruck der Kraft und
Rüstigkeit, den die Palästra machen soll, bindet er uns ein
erwachsenes Mädchen ohne Busen auf. Die allegorische
Figur ist wie jede andre Figur durch die von der Natur ge-
gebenen Formen gebunden ; nur der Charakter derselben ist
abhängig von dem darzustellenden Begriff. Ein Künstler
hätte der Palästra gewiss einen vollen kräftigen Busen gege-
ben, wie einer Amazone oder Koma , er hätte ihr auch wol
das längere weibhche Haar gelassen, nur dass er es nicht
herabhängend, sondern aufgebunden gemalt haben würde.
Wie merkwürdig sind sodann die Attribute der philostratischen
Palästra! Ein Künstler, glaub' ich, hätte ihr dieselben At-
tribute gegeben, die der Palästrit hat, Oeltlasche und Strie-
gel. So wenigstens verfährt die Kunst alter und neuer Zeit
bei dergleichen Personifikationen. Die allegoi-ischen Figuren
der Künste haben die Attribute des Künstlers , wofür schon
das Alterthum ein Beispiel gibt , wenn das pompejanische
Bild, auf welchem eine weibhche Figur mit den Geräthen
des Enkausten, wie es scheint, dargestellt, von Welcker^)
richtig auf die personificirte Enkaustik gedeutet ist. Und
noch näher kommt die Statue des personificirten Agon in
Olympia 2), welcher Springgewichte in den Händen trug, also
ein Geräth des Wettkämpfers. Wäre die Palästra in dieser
Weise dargestellt, dann wäre der Sinn der Figur deutlich
gewesen: die Frau mit dem Oelzweig aber — der, wie der
Rhetor erklärt, auf den Gebrauch des Oels beim Ringen sich
bezieht — kann Niemand Palästra nennen , nur derjenige,
der sie erfand.
Noch auffallender ist die Darstellung der Ringergriffe
als personificirter Wesen. Können denn überhaupt die Rin-
gergriffe personificirt werden? Nur dasjenige kann personi-
1) Kl. Sehr. III p. 426.
2) Pausan. V, 26, 3.
152
ficirt werden . dem ein fester Begriff zu Grunde liegt , nicht
das, was zufällig ist und wechselnd. Und gesetzt ein Künst-
ler machte den Versuch, so würde er ganz anders verfahren
als Philostratus , dessen Kinder Niemand für allegorische
Wesen halten kann. Wären sie dargestellt jeder einen be-
stimmten Griff machend, der oft vorkam oder gelehrt wurde,
so käme eine , wenn auch absurde , doch verständliche Dar-
stellung heraus^ jetzt aber, da sie um die Palästra herum-
hüpfen , verdunkelt die Handlung des Hüpfens ganz und gar
ihr Wesen, d. h. den Kingergriff, dessen Darstellung sie sind.
Wie soll man sie daher für etwas Andres halten , als für
ganz gewöhnliche Kinder? Was aber sollen dann diese
Kinder auf dem Bilde?
Ein andres Bild des altern Philostratus (1, 2) stellte
den Komos dar, die Festlust, die nach dem Gelage noch
herumschwärmt und Ständchen singt, und zwar sowohl per-
sonificirt, als in ihrer realen Erscheinung. Man sah den
Komos als Knaben gebildet, dem Jünghngsalter nahe, wie er
dastand mit einem Jagdspeer in der einen, mit einer Fackel
in der andern Hand, eiiigeschlafen, den Kopf auf die Brust
neigend. Auf demselben Bild erbhckte man den realen Ko-
mos , einen Schwärm von Männern und Weibern in lärmen-
dem Aufzug. Betrachten wir zunächst den personificirten
Komos.
Er schläft — gleich dieser Umstand ist autfallend. Man
höre folgende treffende Bemerkung Lessings '): ,. Die Kunst
kann, bei Personificirung eines abstracten Begriffes, nur
bloss das Allgemeine und Wesenthche desselben ausdrücken,
auf alle Zufälligkeiten, welche Ausnahmen von diesem All-
gemeinen sein würden, muss sie Verzicht thun; denn der-
gleichen Zufälligkeiten des Dinges würden das Ding selbst
unkennthch machen, und ihr ist an der Kenntlichkeit zuerst
1) Wie die Alten den Tod gebildet, im l'ünften Eand p. 315
der ges. W. Vgl. den Laokoon Cap. VIII.
153
gelegen. Der Dicliter hingegen . der seinen personificirlen,
abstracten Begriff in die Classe handelnder Wesen erhebt,
kann ihn gewissermassen wider diesen Begriff selbst handeln
lassen und ihn in allen den Modifikationen einl'üln-en , die
ihm irgend ein einzelner Fall gibt, ohne dass wir im gering-
sten die eigentliche Natur desselben darüber aus den Augen
verlieren.*-' Dieser Satz ist, wie mir scheint, so einleuchtend
durch sich selbst, dass er der Beispiele nicht bedarf. Wenn
ein Künstler den Komos, die schwärmende Weinlust , perso-
niticirt darstellen will, so kann er ihm nur die Züge geben,
die der Sache selbst Mcsentlich eigenthiimlich sind. Kann
er ihn schlafen lassen? Freilich kami es in der Wirklich-
keit vorkpmmen , dass Einer in dem lustigen Schwärm müde
wird, und ein Maler, der in dem real dargestellten Komos
so malte, wäre nicht zu tadeln, aber für den Begriff des
Komos, welchen die Personifikation darstellen will, ist das
Schlafen nicht nur zufiUlig, sondern entgegengesetzt. Der
Komos soll als schwärmender, nicht als schlafender Jüng-
ling dargestellt sein, sonst kennt ihn Niemand. Die Figur
des Philostratus trug ferner einen Jagdspeer. Der Rhetor
dichtete so, weil er gelesen hatte, dass blutiger Hader oft
bei solchen Schwärmereien ausbrach. Das kam in Wirk-
lichkeit vor, ist aber für die Darstellung des Begriffs zufällig,
ja entgegengesetzt. In einem Jüngling mit Jagdspeer kann
Niemand einen Komos erkennen ^).
In der erhaltenen Kunst ist der Komos eine sehr seltene
Erscheinung. Auf Vasen findet man zwar häufig einen Silen
mit der Beischrift xcofiog-, aber dieser Silen ist gar nicht als
eine allegorische Figur aufzufassen. Er ist es so wenig, wie
die ihn begleitenden Satyrn und Bacchanünnen , denen ähn-
1 "i Grade an dies Bild kiüiplen sich nielu'ere selir merkwürdige
Vermuthungen. natürlich auf der Voraussetzung beruhend,,
dass den Bildern Wirklichkeit zu Grunde liege. Ich bemei'ke
nur, dass Welcker meint, unter nQoßöXiov sei ein besondres
Kleidungsstück zu verstehn, obwohl das Wort bei demselben
wnA auch bei andern Schriftstellern Jagdspeer bedeutet (vgl.
die Note von Jacobs).
154
liehe Namen Iteigeschrieben sind. Wenn -wir Namen begeg-
nen, wie Wein, Süsswein, Tanz, Muthwille, und ferner bei
Weibern solehen wie Friede, Meeresstille, Frohsinn, Gesang,
Keile, so ist durchaus nicht aus diesen Namen zu schliessen,
dass die Personen, die sie tragen, allegorische seien. Sie
sind gar nicht als solche gekennzeichnet vom Künstler, der
Kontos z. B. ist ein Satyr unter mehreren ohne auszeich-
nende Characteristik , ohne allegorische Individualität, Viel-
mehr beabsichtigten die alten Maler mit diesen Ueberschriften
gleichsam den ganzen Vorgang zu beleben , indem sie uns
mit Worten die Mächte nennen, die in solchem Kreise herr-
schen. Wir sollen lebendig empfinden, dass Frohsinn und
Muthwille das Lebenselement dieser F'iguren sind, aber als
Personifikationsversuche abstraeter Begriffe dürfen diese Dar-
stellungen nicht genommen werden , dazu fehlt es an aller
und jeder Andeutung ^). Eine acht allegorische Darstel-
lung des Komos findet sich allerdings auf einer Vase^), die
sich weil allegorisch , von den KMfiog genannten alten Sa-
tyrn sehr merklich unterscheidet. Die Vase ist sehr hübsch
und auch noch nicht ganz im Einzelnen richtig gedeutet.
Die Darstellung ist diese: In der Mitte sitzt Dionysos in
der älteren Erscheinungsform als bärtiger Mann, einen Be-
cher in der Hand haltend , den er dem vor ihm stehenden
als Satyrknabe gebildeten Komos hinhält, der sich anschickt,
daraus zu trinken. Hinter diesem steht Ariadne aus einem
Krug den Becher des Dionysos füllend: ihr entspricht auf
der andern Seite die Tragödie, welche einen Thyrsusstab
trägt, ein passendes Attribut für sie, da die Tragödie her-
vorgegangen ist aus bacchischen Festen. Auf der andern
Hand hält sie ein Häschen; wenn man den Blick der Figur,
1) Etwas anders, nämlich als ein Nichtkünnen der Vasenma-
ler, so dass der beigeschriebene Name die „Ergänzung der
künstlerischen Darstellung sei." lasst dies 0. Jahn Einleitung
p. 204. 205; mir scheint es ein Nicht wollen zu sein.
2) Gerhard Anserl. 56. Müller- Wieseler II, 46, 582. Das Bild
in der Archäol. Ztg. X laf. 37 kann auch wol als eine Alle-
gorie betrachtet werden.
155
der auf Komos geiichlel ist und die Art, wie sie das Häs-
chen hält, betrachtet, so kann man, wie mir scheint, nicht
zweifehl, dass sie das Thier dem Komos als Geschenk
bietet, wie ja grade dieses Thier häufig auf Vasen als freund-
liches Geschenk verehrt wird. Dass dagegen der Hase Attri-
but der Tragödie sei und nach seiner symbohschen Natur
zur Tragödie in Beziehung stehe, für diese Annahme der
Erklärer vermisse ich die Begründung. Betrachten wir nun
den Komos. Er ist klein, kinderhaft, ähnlich wie der My-
thus auf der Apotheose Homer's, um das Spielende, Früh-
liche, das in der Natur des Komos liegt, anzudeuten. Er
ist ferner ein Satyrkind, denn Muthwille, Ausgelassenheit ge-
hörte zu d^m "Wesen des Komos, und seine Handlung ist,
dass er trinkt aus dem Becher des Dionysos; natürlich, der
Weiugolt ist es, dessen Gabe den Komos nährt. So hatte
Pausias die Methe characterisirt , die er trinken Hess aus
einer Schaale^}. Kurz wir befinden uns in einer klar cha-
racterisirten allegorischen Darsfellung, ohne alles Frostige
freilich. Es ist eine herrliche Eigenschaft der griechischen
Kunst, dass sie überall, wo eine allegorische Gestalt mit-
andern zu einer Handlung zusammentritt, das kalt Durch-
sichtige, gleichsam Gläserne eines personificirten Begriffs
aufzuheben weiss, so dass man bei aller Klarheit der Alle-
gorie doch mit persönlichen Wesen zu thun zu haben
glaubt. So ist hier der Komos als Allegorie völlig klar,
aber das Bild hat nebenbei so viel rein persönhches Leben,
dass es auch abgesehn von dem mehr intellektuellen Interesse
an der Verkörperung eines Begriffs, als Darstellung einer
Handlung überhaupt das grösste Vergnügen gewährt.
Und wie sollen wir nun mit dem personificirten Komos
den realen Komos , den Schwärm der Männer und Weiber
1) Die Methe des Pausias war eine Personifikation, die Methe
in Olvmpia dagegen (Paus. 6. 24, 8), welche dem Silen den
Becher reichte, ist der Dämon der Trunkenheit. Es ist eine
verschiedene Auffassung wie auch z. B. an Hvpnos. Hypnos
selbst schlafend ist der personificirte Schlaf, über Andre sein
Hern ausgiessend der Dämon des Schlafes.
156
vpi-hindoii ? Alles wäre klar, wenn Komos sich ebenso zu
den Koma/.onten verhielte, wie Hymenäus zum Brautzuge,
wie Eros zu Liebenden. Als ein Anführer des Schwarmes.
als aufregender, begeisternder Dämon sollte er die Fackel
schwingen, — so dass er eben aufhören würde, die blosse
Personifikation eines Begritfs zu sein — dann wäre das Bild
nicht zu tadeln. Jetzt aber zerfällt es eigentlich in zwei
Bilder, denn der personificirte Komos sondert sich ab als
ein Bild für sich. Derselbe Begriff ist do])])elt darge-
stellt, allegorisch und real, so dass man das Bild gar nicht
in der Einheit eines Gedankens zusammenfassen kann. Dort
wird mehr das Interesse des Verstandes in Anspruch ge-
nommen , der die Congiuenz sucht zwischen Begriif und Er-
scheinung, hier ist es ein rein künstlerisches Interesse an
der Darstellung lebendiger körperlicher und geistiger En-e-
gung. Es konnte nur das Eine oder das Andre darge-
stellt werden.
In dem schon oben erwähnten „Dodona" betitelten Bilde
befand sich eine eherne Echo , die Hand auf den Mund le-
gend, „da ein ehernes Becken dem Zeus in Dodona geweiht
war, fast den ganzen Tag tönend und nur dann still, wenn
Jemand es anfasste." Hier sieht man wieder deutlich,
wie der Rhetor verfuhr. Das ununterbrochne Tönen (^/«^r)
in dem heiligen Raum, -„der voll von Klängen gemalt war"
personificirt er zu einer Echo, unter welcher also nicht der
Widerhall zu verstehn'), und weil das tönende Becken von
Erz war, darum ist auch die Echo von Erz. Und wie ist
der kuriose Gestus zu erklären? Das eherne Becken ist nur
durch Anfassen zur Ruhe zu bringen und eben dies soll
an der personificirten Echo anschaulich gemacht werden.
Sie legt den Finger an den Mund, um sich dadurch als ein
Wesen zu characterisiren , das nicht von selbst ruhig ist^}.
1) Wie auch Welcker bemerkt.
2) So scheint auch Welcker zu verstehn: patet, Echo aeream
157
Also: ein allegorisclies AYesen hebt sich selbst durch sehie
eigene Handhmg aal'. Den Harpokrates, der denselben Ge-
stus macht, deutete das AJterthum als einen Genius des
Schweigens eben wegen dieses Gestus, bei Philostratus soll
dieselbe Geberde das grade Gegentheil bezeichnen, sie soll
die Geschwätzigkeit selber characterisiren. ^A'enn doch we-
nigstens nicht sie selbst, sondern ein Andrer ihr den Mund
zuhielte, da ja auch das eherne Becken nicht durch sich
selbst still wird!
Wenden wir uns von diesem Produkt eines gedanken-
losen Menschen zu einem reizenden Werk griechischer Kunst.
Ich meine die einzige uns erhaltene Darstellung der Echo,
nicht jener philostratischen, sondern der neckischen Nymphe
des Widerhalls. Sie befindet sich auf einer Lampe des Ber-
liner Museums und da weder die hübsche Pointe des Bildes
noch die sinnig glückliche Characteristik der Echo ihren
Ausleger gefunden haben i), so darf ieh's wol ganz erklären.
Ich verstehe so: In der Mitte des Reliel^ auf einem Stein
sitzt Pan, in der linken Hand die Sjrinx haltend und zwar
so, dass man sieht, er hat sie eben vom Mund abgesetzt.
In der Rechten hält er erhoben seinen Krummstock, wie
zum Schlage bereit. Was ist es denn, das ihn störte? Hin-
ter seinem Rücken muss Etwas vorgegangen sein , denn er
dreht seinen Kopf herum. Auch die Ziege neben ihm ist
OS digito claudcre ad iiidicaiidum sonum miraculi instar
continuum, nisi vi reprimalur, et usque resonantem.
1) Wieseler: die Nymphe Echo, Göttingen 1854 p. 28 hat das
Bild sehr arg missverstanden. Derselbe will noch andre Dar-
stellungen der Echo gefunden haben. Ich kann mir nicht
denken, dass er diese Erklärungen noch jetzt festhält. Denn
was besonders dasjenige betrifft, was er von der zweiten-
pompejanischcn „Echo'- sagt, die sich auf eine Urne stützt,
so wird der gelehrte Archäolog gewiss zugeben, dass man
nach einem solchen Verfahren Alles aus Allem machen kann.
Die methodische Kunsterklärung hört dabei auf. ] — Abgebil-
det ist das Lampenrelief in der Archüol. Ztg. X, Tat". 39 und
bei Wieseler Vign. u. 1.
158
unruhig, sie springt an dem Baum hinauf, der hinter dem
Sitz des Pan steht. In den Zweigen dieses Baumes kommt
nun ein merkwürdig Mädchen zum Vorschein , eine Halb-
figur, wie mit dem Baum verwachsen und der Scene den
Rücken kehrend. Nehmen wir voriäulig an , dies sei die
Echo, so ist der Moment der ganzen Darstellung dieser:
Pan spielte auf der Syrinx, Echo anlwortet. Das macht ihn
stutzig, er glaubte sich allein, nun pfeift ihm Einer nach, und
nicht an Echo denkend, meint er, man will ihn äffen. Darum
sieht er sich um und hebt seinen Stock wie zum Schlage
bereit, darum springt auch die Ziege dahin, woher der Ruf
kam. Dass Pan nicht weiss , wer ihm seine Musik wieder-
holt, darin liegt die Pointe des Bildes. Und nun die Figur
der Echo, die so hübsch in der Ecke des Bildes gleichsam
schelmisch versteckt augebracht ist — sie ist wie mit dem
Baum verwachsen dargestellt, weil sie ein Wesen ist, das
an seinem Platz haftet, nicht naturfrei. Sie wohnt im Walde
und ruft heraus, wie man hineinruft. Und warum dreht sie
der Scene den Rücken ? Weil sie ein Wesen ist , das nur
hört, nicht sieht. Man drehe sie herum und gleich ist
die Figur unverständlich, sie würde von einer Lokalnymphe
nicht zu unterscheiden sein. Aber jetzt zeigt sie durch ihre
Stellung an, dass sie mit den Augen an der Scene gar nicht
betheiligt ist, sie hört nur und antwortet. Das ist .sinnvolle
Characteristik; das Bild kommt auch aus Athen.
Sehr merkwürdig ist die Figur des Eros von den Rhe-
toren behandelt, der zwar mehr mythisches Leben und darum
eine weitere Sphäre hat, als die besprochenen Personifi-
kationen, aber doch nicht gegen seinen Begriff handeln
kann. Das geschieht aber auf zwei Bildern des Jüngern Phi-
lostratus.
Das eine (Nr. 9) stellte das Opfer des Oenomaus an
den Ares dar, welches dem Wettkampf mit Pelops voranging.
Dabei war Eros beschäftigt, die Achse des Wagens einzu-
159
schneiden, inn dadiUTli den Sturz des Oenoniaus und somit
die glückliche Verbindung der Liebenden herbeizulühren. Er
thut dies niedergeschlagen, wodurch er, wie der Khetor sagt,
uns zweierlei zu bedenken giebt, einmal, dass die Hippoda-
mia gegen den Vater handelt, sodann die spätem Ereignisse
im Hause des Pelops^). Wer versteht das? wer kann das
verstehn? Eros repräsentirt die Liebe, er trauert, wenn es,
wie bei Narzissus, aus ist mit der Liebe, er triuni})hirt überall,
wo Liebe siegt. Mag dieser Sies,- der Liebe zu Stande kom-
1") Es ist mehren Bildern der Philostratc eigen, dass sie über
die Darstellung hinaus auf die Zukunft hinweisen. Unserni
Fall, am ähnlichsten ist der Kithäron (Sen. I, 14), welcher
bei dei' Geburt des Dionj'sos sich nipht ü-eut, wie man er-
warten sollte , sondern das Unglück beklagt , das bald auf
ihm Yorgehn soll (es ist Pentheus gemeint). Ich höre in
solchen Bemerkungen nur einen Rhetor , der sein Gelesenes
auf eine ajbsurde Weise anbringt. Welcker spricht (zu Sen. I,
7 und sonst) von einer nicht seltenen Prolepse in der Kunst
und führt dann lauter Beispiele aus dem Philostratus an.
Den Philostratus lassen wir nun billig aus dem Spiele, in der
wirklichen Kunst beschränkt sich die Prolepse auf folgende
Fälle. Ein mythischer oder historischer Kriegsheld hat bis-
weilen den Siegerkranz, bevor er noch gesiegt hat, bevor
der Sieg entschieden ist, z B. Kadmus auf der Berliner Vase
des Drachenkampfs, ein Krieger in dem Mosaik der Alexan-
derschlacht. Sodann lindet man auf griechischen Dar-
stellungen dos Wettkampfs zwischen Oenoniaus und Pelops
die interessante Prolepse, dass Pelops die Braut schon bei
sich auf dem Wagen hat, obwohl der Wettkampf noch o-av
nicht entschieden ist. So war es schon auf dem Kasten des
Kypselos ; auf römischen Monumenten , die sich mehr der
baaren Realität anschliessen , kommt dergleichen nicht vor.
Es ist allerdings ein Verstoss gegen die Wirklichkeit, aber
das Poetische der Darstellung gewinnt und man sieht gleich,
um was es sich handelt. Endlich Hesse sich noch das pom-
pejanische Bild anführen, das von Schelling, wi^e mir scheint,
durchaus richtig auf die Vermählung von Kronos und Rhea
gedeutet ist. Hier sind die drei Kinder dieser Ehe, obgleich
nach der Darstellung noch zukünftig, doch schon sichtbar.
160
men, wie er will, z. B. durch Gewalt, wie in der Entführung
der Kora, so kann das für Eros keinen Unterschied machen,
denn er hat einfach seinen Begrifl' zu erfüllen. Der Rhelor
aber nahm den Eros als Verkörperung der Stimmung Hii)po-
damia's , die um den Preis des Vaters ihrer Liebe folgt. Er
soll also zugleich die Liebe und das mit der Liebe Kämpfende,
mit einem Wort, er soll sich selbst und seinen Wiederpart
zugleich ausdrücken.
An dem Halse der berühmten Archemorosvase ist der
Wellkampf des Oenomaus und Pelops dargestellt: über dem
Wagen des liebenden Paares schweb! ein glückverheisseu-
der Eros.
Auf dem andern Bild (Nr. 7) sah man die Medea dem
Jason gegenüberstehend, bemüht die Liebe zu ihm niederzu-
kämpfen. Eros steht dabei mit übergeschlagenen Beinen auf
den Bogen sich stützend und die Fackel gegen die Erde
richtend, „da die Werke des Eros noch in der Zögerung
begriffen sind" , d. h. da die Liebe der Medea noch zögert,
noch nicht ganz die entgegenstehenden Empfindungen über-
wunden hat. Der Rhetor fasst also auch hier den Eros als
Verkörperung der ganzen Stimmung der Medea, da er doch
mit dem der Liebe Entgegenstehenden , als Scham u. s. w.
nichts zu thun hat, sondern nur seinen Begriff erfüllen kann.
Ein Künstler hätte wol den Eros ähnlich aufgefasst, wie er in
der Begegnung von Diana und Endjmion erscheint. Da
führt Eros die etwas zaudernde Göttin an der Hand, er zieht
sie vorwärts zu dem Schläfer hin, und so hätte er die Medea
an den Jason heranziehen müssen. Dann wäre Klarheit
dagewesen, dann konnte auch das jungfräuliche Widerstreben
schöner ausgedrückt werden.
Etwas anders ist der Fehler des „die Eroten" über-
schriebenen Bildes beim altern Philostratus (1 , 6) , das
aber doch auch in diesem Abschnitt zu besprechen ist,
denn sein Fehler Hegt darin, dass Eros auf einem und dem"
161
selben Bilde bald allegoriscli, bald nicht allegoiiseh darge-
stellt war.
Eroten, so heisst es, lesen Aeplel in einem Garten. Sie
haben Bogen und Kücher abgelegt und ihre Gewänder lie-
gen im Grase. Die Früchte sammeln sie in Körbe, ohne
sich der Leitern zu bedienen, denn sie fliegen an die Bäume
Iwnan. Einige aber tanzen, andre laufen durcheinander, diese
schlafen, jene essen Aepfel. Vier aber, die schönsten, treten
aus den übrigen heraus; ein Paar von ihnen \Aii'ft sich ge-
genseitig Aepfel zu, die beiden andern zielen mit dem Bogen
auf einander. Aber keine Drohung ist in ihrem Gesicht, son-
dern sie bieten sogar beide ihre Brust an, dass dort die Pfeile
haften mögen. Ein drittes Paar, von vielen Zuschauern um-
geben, ist im Ringkampf begriffen. Der eine piesst mit Ar-
men und Beinen seinen Gegner zusammen. Dieser erklärt
sieh nicht für besiegt, er bleibt grade aufrecht stehn, aber
einen Finger des Gegners biegt er weg, so dass die übrigen
nicht mehr haften. Jener aber beisst ihn dafür in's Ohr, wo-
rüber die umstehendeu Eroten zürnen und ihn mit Aepfeln
steinigen. Endlich war noch eine Hasenjagd der Eroten dar-
gestellt; der eine, heisst es, klatscht in die Hände, der an-
dre schreit, der dritte schwingt die Chlamys. Diese fliegen
über das Thicr hin mit Geschrei, die andern folgen zu Fuss.
Mehrere — es ist wieder eine ungeheure Menge von Figu-
ren da — wollten das Thier greifen, aber es entwischte ihnen
und sie purzelten hin und liegen nun da in verschiedeneu
Stellungen. Schliesslich war noch ein Opfer und Gebet der
Eroten an die Ai)hrodite dargestellt, das wir uns ersparen
wollen.
Bei flüchtiger Betrachtung des Bildes glauben wir eine
jener Darstellungen vor Augen zu haben, die auf Sarkopha-
gen und Wandmalereien so häutig sind, Darstellungen, in
denen die Eroten ihres eigentlichen Begriffs vöUig baar er-
scheinen ^). Es könnten in den meisten Fällen auch Kna-
1) Vgl. Excurs Vr,
11
162
ben ohne Flügel dargestellt sein, und es wechselt auch. Was
die Eroten tliun, ebendasselbe thun auch flügellose Kinder,
die Eroten sind in solchen Darstellungen gar nicht mehr als
mythologische ^'^'esen empfunden. So sehn wir sie denn
auch in Werken der erhaltenen Kunst ebenso wie bei Phi-
lostratus Früchte pflückend, wenn es auch nicht vorkommt,
dass einige von ihnen schlalen, wie der gedankenlose
Rhetor schreibt. Denn welches Kind wird wol schlafen, da
wo es 7,u naschen gibt! Doch das soll uns nicht weiter
kümmern , der Hauptfehler des Bildes liegt darin , dass die
Eroten zum Theil als anniuthige geflügelte Kinder in einer
für ihren ursprünglichen Begriff gleichgültigen Handlung, zum
Theil aber in einer symbolischen Handlung vorgestellt sind,
was nie auf einem und demselben Bild vereinigt vorkommt
und nicht vorkommen kann. Denn es ist nicht möglich,
ganz gleiche Wesen bald allegorisch, bald nicht allegorisch
zu fassen. Die Eroten, welche Aepfel pflücken, sollen uns
ergötzen durch ihr naives Benehmen, und Niemand soll den-
ken an den dem Eros ursprünglich zu Grunde liegenden Be-
gi'iff, denn dass hier die Aepfel, die allerdings eine erotische
Bedeutung hatten , nicht so verstanden werden können (der
Rhetor will sie freihch so verstanden wissen), geht ja daraus
hervor, dass die Eroten lustig hineinbeissen. Dies und das
Tanzen, Schlafen ujid Durcheinanderlaufen der andern Eroten
sind Handlungen von rein menschlichem Interesse, die auch
ohne grossen Unterschied von Kindern ohne Flügel ausge-
führt werden könnten. Aber die beiden Paare, die aus der
Menge heraustreten, besonders dasjenige der auf einander
schiesöenden Eroten, beanspruchen ein sjinbolisches Interesse;
hier ist es nicht die Handlung an sich, die bei dem zweiten
Paar gar nicht einmal verständlich ist, sondern der ihr zu
Grunde liegende Sinn, auf den es ankommt. „Schön ist
das Räthsel, so sagt der Rhetor; sieh zu, ob ich den Maler
verstehe; das ist Freundschaft und gegenseitige Sehnsucht.
Die, welche mit dem Apfel spielen, fangen an mit der Nei-
gung. Daher wirft der eine den Apfel fort, nachdem er ihn
geküsst hat (man \\ird freilich fragen, \Aie dies ^i'/J^crat; ans
1G3
dem Bild zu ersehn war), der andre erwartet ilin mit erho-
benen Händen, natürlich um ihn wieder zu küssen, sobald er
ihn hat, und zurückzuwerfen. Was aber das Paar der Bogen-
schützen betrifft, so befestigen sie die schon vorhandne Liebe.
Bei "dem Spiel jener handelt es sich um den Anfang der Liebe,
bei dem Bogenschiessen dieser um das Nichtaufhören der
Sehnsucht."- Es kommt mir hier nicht darauf an, zu unter-
suchen, ob diese vom Khetor ausgesprochenen Absichten so,
wie es hier geschehn sein soll, ilusserlich sichtbar werden
können , ich wollte nur darauf aufmerksam machen, dass
die Handlung namentlich des z\v'eiten Paars nicht anders als
symbolisch zu verstehn ist. Und nun das dritte Paar — was
der Rhetor darüber sagt, ist wieder Erzählung, nicht Beschrei-
bung — ist wieder nicht symbolisch, zu nehmen , denn dass
Einer dem Andern in's Ohrbeisst, ist doch wahrhaftig eine Hand-
lung, die unmöglich symbolisch verstanden werden kann. Eben-
so hat die Hasenjagd nur ein allgemein menschliches Interesse.
Der Hase ist zwar, wie der Rhetor nicht auszuführen ver-
gisst, ein Thier der Aphrodite, aber es würde keinen Unter-
schied machen, wenn z. B. ein Reh an seine Stelle gesetzt
wüi'de. Denn das Symbolische schwindet hier ganz; das naive
Benehmen der Eroten, das Springen und Purzeln ist's, was
hier intcressirt. Kurzum es wechsdt, bald interessirt uns
Eros als Eros, bald als anmuthiges geflügeltes Knäbchen
ohne mythologischen Inhalt und eben dieser Wechsel ist das
Auffallende. Gleich er s che inende Figuren müssen Inder
Kunst auch nach ihrem innern Wesen gleich sein.
Wir hatten es bisher mit den allegorischen Darstellun-
gen menschlicher Thätigkeiten und Empfindungen zu thun,
wir wenden uns nun zu der allegorischen Darstellung von
Naturgegenständen. Den Anfang mache das Bild des Nil
(Sen. I, 5), das von einem andern Gesichtspunkt aus schon
im Vorhergehenden besprochen \vurde. Es \\ird so be-
schrieben :
11 *
164
Aus dem ^^'assel• steigen dem Nil zarte und lächelnde
Kinder empor. Sie .sitzen auf seinen Sehnllern, hängen von
seinen Locken herab, schlafen in .seinem Arm und spielen
auf seiner Hrust , indess jener ihnen Blumen gibt. Keben
ihm , in Aethiopien , wo er seinen Ursprung hat , steht ein
Dämon, so gemalt, dass man ihn bis an den Himmel reichend
denken nmss , dessen Fuss an den Quellen sich befindet.
Auf diesen blickt der Fluss und bittet um viele Kinder.
Der himmelhohe Dämon ist, wie Welcker nachweist,
aus Pindar entlehnt. Er soll die in Aethioi)ien slatlfindenden
Regengüsse andeuten , denen man das Wachsthum des Nils
zuschrieb. Wie der Regen, &o reicht er vom Himmel auf die
Erde. Näheres über das Aussehn dieser wunderliaren Figur
wird nicht mitgetheilt, der Rhetor fand in den Quellen, die
er ausschrieb, nichts Weiteres vor.
Die Beschreibung des von den Kindern umgebenen Nils
erinnert an erhaltene Bildwerke, es mag eine Reminiscenz
des Rhetors darin sein , nur sind gleich wieder eigne Zutha-
ten hinzugefügt. Denn dass einige der allegorischen Kinder,
welche die wachsende Wasserfülle des Stromes bedeuten,
schlafend dargestellt waren , das entnahm der Rhetor gewiss
nicht von einem wirklich existirenden Kunstwerk.
Der äthiopische Dämon — woraus der Rhetor folgert,
dass er sich in Aethiopien befand, ist nicht ersichtlich —
hat nur ein naturhistorisches und eben darum kein künstle-
risches Interesse. Der Künstler macht uns diiich ihn die
Theorie anschaulich, dass die Anschwellung des Nils durch
die in Aethiopien fallenden Regen veranlasst werde. Es ist
nicht allein ein frostiger Zusatz , es wird auch die in den
Kinderfiguren ausgedrückte Allegorie aufgehoben , insofern
wir durch den äthiopischen Dämon veranlasst w erden , an
das reale Wasser zu denken. Das Bild ist doch nur so vor-
zustellen: An der einen Seile steht der himmelhohe Dämon,
seinen Fuss auf die Quellen setzend: von ihm ergiesst sich
ein Wasserstrom an den Nil, der von den aus dem Wasser
aufsteigenden Kindern umgeben die andre Seite des Bildes
einnimmt. Es ist also ein realer Fluss vorhanden, und eben-
165
darum können wir die Kinder nicht als das , was sie sein
sollen, nicht als allegorische, sondern nur als wirkliche Kin-
der auffassen, die im Wasser s])ielen. Wir köinien es um
so weniger, als der äthiopische Dämon uns immer an den
physischen Ursprung der Wasserfülle des Nils erinnert. Die-
sen Dämon muss!e der Künstler weglassen , er musste sieh
ferner beschränken auf eine Andeutung des Wassers als des
Elementes, in welchem der Flussgott lebt, so wie es ge-
sehehn ist in der vatikanischen Statue, die ein so schönes
Beispiel hefert für die sinnvolle Behandlung allegorischer
Figuren. Die Allegorie verlangt, dass die Kinder, die per-
soniticirten Ellen, einander überbieten, dass ein allmähliches
Steigen sichtbar sei, nnd so sind die Kinder an der Figur
des Nils hinauf gelagert , eins höher als das andre. Aber
nun ist eine Fülle naiver, rein menschlicher Motive hinzuge-
mischt, so dass wir fast den Sinn vergessen, den die Kinder
ausdrücken, dass wenigstens die Allegorie ihr Frostiges ver-
liert. Besonders hübsch ist der Knabe, der aus dem Füllhorn
herauskommt. Er hat den höchsten Platz errungen und
blickt nun selbstzufrieden mit zusammengeschlagenen Armen
um sich, wie ein Sieger, der Alle hinter sich gelassen.
Zu diesem Bilde ist nun die sowohl real als personi-
licirt dargestellte Nacht auf dem Bilde des kleinen Herkules
zu vergleichen, das wir schon besprachen, und ähnlich ist es,
wenn auf dem Bilde der Semele (Sen. 1, 14) Blitz und Don-
ner personificirt , vom Himmel stürmendes Platzfeuer aber
real dargestellt war , welches also , obwohl eine Wirkung
des Blitzes, doch als ein Ding für sich vorhanden ist^).
Man vergleicht zu dem letztern Bilde ein Gemälde des
Apelles, aber Apelles malte, wenn ich nicht irre, drei alle-
1) Auch auf dem Bilde des Phorbas (Sen. II, 19) stürzt Feuer
vom Himmel. Wenn ein alter Schriftsteller sich so ausdrückt,
so weiss man, wer der Urheber des Feuers ist , bildlich dar-
gestellt aber ist es etwas Unbegreifliches. Der. Verfertiger
des Jupiter Pluviiis auf der Antoniussäule dachte antiker,
indem er die Natui*erscheinung von einem persönlichen Ur-
heber ausgelin liess.
16<j
gorischc Fic^iiren . er mischte also riitht Allegorie und Reali-
tät i). Pinxit, sagt Plinius^), et quae pingi non possunt,.
tonitrua, fulgetra, fulgura , quae Bronten, Astrapen et Cerau-
nobolian appellarit. "Wozu die drei sj)eeificirten Namen,
wenn auf dem Bild das Gewitter als Natnrvorgang gemalt
war? Und die Ceraunobolia scheint deutlich an das Geräth
zu erinnern, das Zeus trägt, an den Donnerkeil, der in realer
Darstellung keinen Platz hat.
Es ist mir kein Beispiel bekannt, dass ein und dasselbe
Ding real und allegorisch zugleich dargestellt sei, und ich
glaube , es kann keins geben. Nur eine scheinbare Aus-
nahme macht ein merkwürdiges Bild des Protogenes. Dieser
Maler halte zwei Staatsschiffe der Athener als menschliche
Figuren dargestellt, als Beiwerk aber (in iis quae ])ictores
parerga appellant^) kleine wirkliche Trieren hinzugefügt.
Es war ein Zusatz, zu dem ihn die Besonderheit der Allegorie
veranlasste, er konnte sie niclit deutlich machen ohne ihn.
Die wirklichen Schiffe des Bildes sind wie ein verdeutlichen-
des Zeichen zu betrachten, das nur um eines Andern willen
da ist; diese untergeordnete Bedeutung machte der Künstler
deutlich, indem er sie klein und als Beiwerk malte.
Die Personifikation der äussern Natur hat ihre Grenzen.
Es giebt Fälle, wo nur die eigentliche Darstellung möglich
ist. Wenn es sich um Eigenschaften handelt, die nur das Ding
als solches hat, so kann natürlich von einer Personifikation
keine Rede sein. Aber nun betrachte man das Bild des
altern Philostratus (II, 14), welches die Landschaft Thessalien
1) 0. Müller freilich sagt im Handb. §. 141, 5, Apelles habe
Gewitter gemalt ., wahrscheinlich zugleich als Naturscenen
und als mj-thologisclie Personifikationen.'- Es ist mir abso-
lut unmöglich, ein solches Bild zu denken.
2) XXXV, 96.
3) Plin. XXXV. IUI.
167
und den Poseidon darstellte, wie er die Berge spaltete, die
den thessalischen Gewässern den Ausgang wehrten. Hier
waren die Flüsse Peneios und Titaresios menschlich gebildet,
und zwar lag der crstere auf den Ellenbogen gestützt *) und
nahm den Titaresios auf sieh.* Es heisst nämlich bei Homer,
dass der Titaresios, ein Nebenlluss des Peneios, sich nicht
mit dem letztern mische, sondern oben auf ihm wie Gel
schwimme. Dies soll nun allegorisch dadurch ausgedrückt
sein , dass ein Mensch den andern auf sich nimmt. Der al-
berne Rhetor wusste um die Personifikation der Flüsse in
der Kunst und richtet nun nach dieser allgemeinen Kennt-
niss den einzelneu Fall ein. Denn kann man darüber in
Zweifel sein, dass die persönliche Darstellung an diesem
Ort eine Absurdität sein würde? Das Merkwürdige der
Sache ist nur dann vorhanden, wenn die Gewässer real
dargestellt werden , wenn leichtes Wasser auf schwerem
Wasser schwimmt , aber personiticirt ist alles Merkwürdige
verschwunden und man erbHckt zwei Leute, den einen auf
dem andern liegend, ohne dass man weiss, was sie wollen
und was sie sind.
Wenn man die Bilder der Philostrate für wirkliche Bil-
der hält , so muss man glauben , es habe ganz in dem Be-
lieben des Künstlers gelegen, ob er die äussere Natur, von
welcher eine menschliche Handlung umgeben ist, persönlich
oder real darstellen wollte. Philostratus wenigstens wechselt
ganz nach Willkür. Das Meer z. B. ist bald persönlich,
bald real dargestellt unter ganz gleichen Verhältnissen, wo
es nur zur Charakteristik des Lokals dient. Und doch er-
innere ich mich nicht, auf irgend einem Werk der erhaltenen
Malerei das oder ein personificirtes Meer gesehn zu haben.
1) noTcifjtp yun oQriova&ai ov avvrj&fg sagt der Rhctor, woraus
man wol folgern kann, dass er sich doch nach der Kunst
darstellung der Flüsse umgesehn hatte.
168
Auf den römischen Wandgemälden ist du? Meer immer real
dargesielU, mag nun eine Handlung darauf vorgelm , wo die
unpersönliche Darstellung nothwendig ist, (»der nur die Cha-
rakteristik des Lokals beabsichtigt sein. Selbst die Plastik,
die ja im Pevsoniiiciren \veiter geht als die Malerei, weil sie,
wie schon Zoega*) sehr wahr bemerkt hat, die äussere Na-
tur nach ihrer Realiliit nur andeutend, nicht in extenso dar-
stellen kann, selbst diese kennt nur die Personifikation des
Meeres, nicht eines besondern Meeres.
Ein Bild, auf dem menschlieh gestaltete Meere und noch
andre recht merkwürdige Personifikationen von Naturgegen-
ständen vorkamen, trägt den Titel Palämon (Sen. II, 16).
Es wird so beschrieben :
Auf dem Isthmus opfert das korinthische Volk und König
Sisyphus; man erblickt auch den Fichtenhain des Poseidon,
am Meer gelegen. Ein Delphin bringt auf seinem Rücken
schlafend den Palämon, lautlos hingleitend durch die Meeres-
stille. Dem Herankommenden öffnet sich ein Heiligthum im
Isthmus, indem das Land durch Poseidon auseinandei*weicht,
welcher auch, wie ich glaube, dem Sisyphus die Ankunft
des Knaben vorhergesagt hat und dass ihm geopfert werden
müsse. Sisyphus aber opfert einen schwarzen Stier. Posei-
don lächelt zur Ankunft des Melikertes und heisst den Isth-
mus (den Berggott) die Brust entfalten und dem Knaben
"Wohnung werden. Der Berggott lehnt sich mit dem Rücken
an die Erde; an seiner Rechten ist ein Knabe, ich denke,
der Hafen Lechaeum , links befinden sich Mädchen , wol der
Hafen Kenchreae. Die Meere aber (das adriatische und ae-
geische,- welche der Isthmus trennt) sitzen schön und heiter
neben dem den Isthmus darstellenden Lande.
Wir halten uns , obwohl besonders der Poseidon , der
zugleich den Bergrücken — man kann sich nicht vorstellen
wie — auseinanderweichen lässt und den Berggott seine
Brust öffnen heisst, viel zu fragen gibt, nur an die Natur-
personifikationen. W^ir wollen uns auch daran nicht stossen.
1) Bassiril. I p. 169 ff.
1(39
dass die beiden Häfen Korintliö personificiit zugegen sind,
Korinth selb.sl dagegen durch seine Einwohner — woran
sah der Khcfor, dass .<ie nach Korinth gehören? — vertreten
ist, noch daran, dass das eine Meer real und personificirf,
das andre nur personifieirt erselieint, endlicli auch die Frage
unterdrücken, wie diese Personifikationen äusücrlich cliarak-
terisirt waren — mau würde nicht fertig werden, ^^ ollte man
alles Auffallende erörtern — , es genüge darauf hinzuweisen,
dass soviele und solche Personifikationen anwesend sind.
Der geographischen Figuren — denn das Bild ist wirklieh
eine figürlich dargestellte Landkarte zu nennen — sind nicht
w^eniger als sechs, wenn man für die Darstellung des Hafens
Kenchreae die geringste Zahl annimmt. Die erhaltene Kunst
pflegt einer Handlung nur eine Lukalgottheit hinzuzufügen^),
und wie könnte sie wol anders verfahren, da ja diese Lokal-
dämonen eine ganz untergeordnete Bedeutung für das Bild
haben! Der Knabe auf dem Delphin ist die Haui)tperson
des Bildes, auf seiner wunderbaren Ankunft ruht das Inte-
resse des Betrachtenden, alles dem Sinn nach Untergeordnete
muss aber auch in seiner äusserlichen Erscheinung als be-
scheidnes Beiwerk angebracht sein. Wären diese Lokaldä-
monen allein ohne das opfernde Volk auf dem Bilde, so
würden wir keinen Anstoss nehmen, dann wären sie Reprä-
sentanten des Landes und seiner Bewohner, jetzt aber da
das Volk selbst anwesend ist, haben sie lediglich geogra-
1) Die Giebelfelder und sptitern Sarkophagreliefs (Jahn Bcitr.
p. 17. 63) haben oft — aus Gründen des Raums und der
Symmetrie — zwei. Drei sind für das Parisrelief bei Overb.
Call. Tat". II, 12 vorauszusetzen; die drei ,. Nymphen'" auf
Tat". 11, 5 dagegen erkläre ich wie Overbeck p.'241, weil sie
eine Scene für sich bilden. Das alte Bild bei Paus. VI. 6, 11
(womit der Drachenkampl' des Kadnius im 31 us. ßorbon. 14,
28 mit den Lokalgöltern Ismenos, Krenaie, Thcbe zu ver-
gleichen ist) stellte freilich vier Lokaldäraonen dar, aber
das ist ein ganz anderer Fall Denn auf diesem Bilde waren
diese Dämonen die handelnden Figuren, also niclit Lokaldämo-
nen im eigentlichen Sinn, was sie nur da sind, wo sie als Theil-
nehmer menschlicher Handlungen erscheinen. Vgl.Excurs VII.
17U
phisches Interesse und sind um so lüstiger, je grösser ihre
Zahl ist.
Der Rhetor hat, das ist wahr, im Allgemeinen Kennt-
niss davon, dass Berg und Stadt von der Kunst personificirt
werden, aber nur im Allgemeinen, denn gleich das, was er
über die Darstellung der Hafenstadt Kenchreä sagt, zeigt,
wie wenig geschickt er war, Bilder zu tingiren. Die Stadt
Keyx^ecci war repräsentirt durch xöqai, der pluralischen
weiblichen Wortform entsprach eine Mehrheit von Mädchen.
Wäre das wirklich gemalt gewesen , es k()nnte nichts Abge-
schmackteres und Unverständlicheres gedacht werden. Es
fehlt aber nicht an Beispielen, M^elche die Sitte der Kunst
in diesem Fall deutlich machen. An der puteolanischen Ba-
sis finden wir die Stadt Alyai dargestellt, der Fall ist also
ganz analog. Sie ist eine Figur, wie die übrigen dort dar-
gestellten Städte. Und natürhch; das zu bezeichnende Ding,
die Stadt, kann als ein einheitliches Ganze nur durch eine
Figur repräsentirt werden. Die pluralische Wortform ist für
den Künstler eine reine Zufälligkeit, überhaupt hat er seine
Personifikationen nicht nach der Sprache, sondern nach der
Natur des zu bezeichnenden Dinges einzurichten.
Es' verhält sich -nicht anders hinsichtlich der Geschlechts-
ertheilung. Wenn man sagt, das Geschlecht der künstleri-
schen Personifikationen richte sich nach dem sprachHchen
Geschlecht der betreffenden Wörter, so ist das mindestens
falsch ausgedrückt. Zwar will ich dieser Ansicht nicht das
neutrale Geschlecht der Sprache entgegenhalten , das die
Kunst nicht darstellen kann, denn das Neutrum, glaube ich,
hat man stillschweigend in der erwähnten Regel ausgeschlos-
sen und nur 'Herr Gargallo-Grimaldii) dürfte an der männ-
lich dargestellten Hafenstadt AEX^itov Anstoss nehmen, nach
dessen Ansicht nämhch das neutrale Geschlecht der Sprache
durch zweigeschlechtige Dämonen in der Kunst nachgeahmt
wurde. Nicht als ob es dessen bedürfte , sondern nur für
diejenigen, die auch da Beispiele fordern, wo einfaches Nach-
1) Annali 1843 p. 28 Anm. 3.
171
denken Genii^rt, führe ich eine Stelle de.s Pausaniasi) an, wo
von einer Darstellung des JsJfia die Rede ist, das als Weib
gebildet war, offenbar nach Analogie der Erinnyen. Es ist
aber auch vorn Neutrum ganz abgosehn falseh zu behaupten'
dass der Künstler von dem sprachliehen Geschlecht der
W("»rter abhängig sei. Das Geschlecht, das die Sprache
einem Begriffe gibi , wird in >'ielen Fällen nicht mehr als
nothwendig em])funden nach der Natur des bezeichneten
Begriffs, bei einzelnen Wcirtern wechselt es auch im Lauf der
Zeit, wie in „«z'^-^^" und „Luft," kurzum das Geschlecht in
der Sprachö ist in vielen Fällen ursprünglich zwar nicht,
aber in der spätem Entwicklung etwas Conventionelles , et-
was traditionell Ueberkommenes, das von dem Sprechenden
nicht mehr nach seinem ursprünglichen Sinn gefühlt wird.
Wie unrichtig wäre es in diesem Fall, wenn der Künstler
das sprachliche also für das Bewusstsein seiner Zeit rein
willkürliche Geschlecht eines Begriffs als maassgebend für
seine Personifikation betrachten wollte! Vielmehr hat er
sich nach der Natur des Dinges selbst zu richten und wenn
seine Personifikation in den meisten Fällen das Geschlecht
des betreffenden W^ortes in der Sprache hat, so ist dies nur
deshalb der Fall, Aveil die sprachschaffende Phantasie eben-
sowohl wie der personificirende Künstler von der Natur des
bezeichneten Dinges in ihrer Geschlechtsertheilung bestimmt
wurde. Aber es giebt auch Konflikte, und zwar nicht bloss
in der neuern Kunst, deren Tyi)en vielfach entlehnt sind aus
dem Allerthum^), sondern auch in der alten. In der Dar-
stellung der Jahreszeiten stimmen Kunst und Sprache nicht
überein. Die Kunst giebt ihnen, wenn sie zusammen darge-
stellt werden, dasselbe Geschlecht , die Gewalt der Analogie
verlangt es 3), nur so wird es klar, dasis wir es mit wesens-
1) II, 3, 7. Was für eine lächerliche Figur miiss nach Herrn
Gargallo-Grimakli's Ansicht das Kncaog in dem Prometheus
des Aeschyhis gewesen sein!
2) Vgl Jahn Arch. Ztg. V, p. 40.
3) Aus demselben Grunde wird auch der Winter so wie die
172
gleichen Figuren zu thun halten. Und ob dies Geschlecht
das männliche oder \veii)liche ist, hängt nur von der An-
schauung des Künstlers ab. Die Jahreszeiten lassen sich
weiblich, horenähnlieh, sie lasseii sich ebensogut männlich
denken, als segens])endeade Genien wie Plutus oder bonus
eventus. Darum darf der Künstler wechseln, der geradezu
aufhören würde Künstler zu sein , wenn er abhängig wäre
von dem Geschlecht der Sjirache, das wie gesagt, in vielen
Fällen für das Bewusstsein des Sprechenden etwas Zufal-
liges ist.
Auch ein griechisches Vasenbild ist hier zu erwähnen,
auf welchem eine nach allem Anschein weibliche Figur die
Beischrift A'^ycoc hat^). Das Bild stellt in allegorischen
Figuren den Gedanken dar, dass dem Sieg der Keichthum
gehöre. Einem Dreifuss, der auf einer Basis steht, also einem
Siegeszeichen eilt Nike auf sprengender Quadriga zu. Ihr
entgegen eilt Plutus, die Rechte erhebend, als wolle er der
stürmischen Bewegung der Wagenlenkerin Einhalt gebieten —
denn ich kann in dieser Geberde nichts Allegorisches finden.
Hinter der Nike steht Chrysos, nach der Gewandung eine
entschieden weibliche Figur 2), mit einer Kanne in der Hand,
übrigen Jahreszeiten als Knabe oder Jüngling dargestellt,
obwohl wir uns den Winter für sich allein genommen nicht
imter diesem Bilde denken können. Der Dichter dagegen
hat ganz freien Spielraum. Ovid Hletam. II , 30 giebt dem
unter den übrigen Jahreszeiten befindlichen Winter graues
struppiges Haar. So könnte der Winter für sich allerdings
auch vom Künstler dargestellt werden, aber nicht im Verein
mit seinen Brüdern. Im letztern Fall kann sich die indivi-
duelle Charakleristik nur auf die Attribute beschränken, die
Gestalten selbst müssen gleich sein.
1) Stackeiberg Gräber d. Hell Tal". 17- Die Pointe des Bildes
ist, wie mir scheint, im Wesentlichen richtig von 0. Müller
in Gott. Gel. Anzgen 1837 p. 1017 angegeben, nur die Be-
ziehung auf die Siegespreise der Kinder ist hineingetragen.
2) Das Nackte ist allerdings nicht weiss gemalt, wie an der
Nike; es kommt aber auch sonst in diesem Stil vor, dass
nur die weibliche Hauptfigur, nicht die Nebenfiguren, am
173
die wir auch wol, wie den Dreifuss, als ein Siegsgeseheuk
nehmen müssen. Die Figur ist auflaliend, weil ja Plutus
schon da ist, dessen BegrifT das Gold einschliessl ; was aber
das Geschlecht betrifft, so kann ich mir wol denken, dass
ein Künstler, der einen Golddämon bilden will, ihn weiblich
Jasst nach Analogie der Glücksgüter austheilenden Tyche.
Das sprachliche Geschlecht ist auch in diesem Fall für das
Bewusslsein des Sprechenden etwas rein Zufälliges.
Nackten weiss ist. Vgl. El. ceram. III, 26. 27. Mein Freund
A. Conze stellt in seiner Promotionssclirift de Ps^'ches inia-
ginibus quibusdam die These auf, die Figur Clirysos sei
männlich. Es wäre mir sehr interessant, seine Gründe zu
kennen. — Ganz anders hat neuerdings Stephani a. a. O.
p. 12ö Anni. 5 die Inschrift gedeutet, er nimmt yj)vaüg für
ynvaoVi und zwar als femininum und will es am liebsten
als Epitheton der Nike verstehn. Dagegen , glaube ich,
spricht schon der Platz, den die liiächrift hat: XPYZ02:
ist von NTKH ganz getrennt.
III.
Auf nicht M'eriigen philoslratischen Bildern finden wir
die menschliche Handlung umgeben von landschaftlichem
Beiwerk, von Bäumen und Bergen, schwellendem Gras und
thauigen Blumen und auch solche Bilder finden sich, in denen
das Landschaftliche die Hauptsache ist. Dahin gehört be-
sonders das Bild, welches ,,die Sümpfe" betitelt ist (Sen. I, 9).
Der Boden ist feucht: es wächst Schilf und Sumpfkraut,
aucJi Tamariske und Galganr. Rings aber liegen liimmelra-
gende Berge, nicht von einer Art. Diese sind dünnerdig
und haben Fichtenwaldung, jene thonerdig und mit Cypressen
belaubt, ein unwirthlicher und rauher Berg aber ist mit Tan-
nen bewachsen. Quellen strömen von den Bergen und ver-
einigen ihr Wasser und so ist das Gefilde feuchter Grund.
Das "Wasser, dran Eppich schwillt, ist in vielen "Windungen
durch das Gemälde gezogen ; Enten schwimmen drauf und
blasen "W^asser in die Höhe. Auch Gänse sieht man und
Störche — fünf werden besonders beschrieben. Auf dem
schönsten "Wasser aber, das aus einer Quelle strömt und
von Amaranthen durchzogen ist, fahren Eroten auf Schwä-
nen , was im Einzelnen ausgeführt wird. Rings aber am
Ufer stehn die musikalischeren unter den Schwänen und Ze-
phyr, ein zarter gellügeller Knabe, haucht in ihre Flügel. —
Aus dem feuchten Grunde kommt ein breiter, schäumender
Fluss hervor. Auf einer Brücke passireu ihn Ziegenhirten
und Schäfer, hüpfende Ziegen und langsame Schaafe trei-
bend und auf der Syrinx spielend. Die Brücke aber ist ge-
bildet von einer männlichen Palme, die sich aus Liebe zu
der gegenüberliegenden weiblichen herüberbog.
Die Figur des Zephyr, der in die Fittige der Schwäne
bläst, ist eine Entlehnung aus spätem Schriftstellern, bei
welchen oft die Rede ist von dem Tönen, das Zephyr durch
175
Schwanenfedern streichend liervorrufe '). Das i.st verständ-
hch bei Schriftstellern, aber gemalt höchst unverständlich.
Sieht man nämlich auf dem Bilde die geblähten Flügel der
Schwäne und den blasenden Zephyr, so kann man nur den-
ken, es soll die Vorstellung eines starken Windes erregt
werden, man sieht freilich keinen Grund, wariun das sein
soll. Und wenn uns Jemand den beabsichtigten Sinn sagt,
so Averden wir es höchst komisch finden, dass Zephyr sich
der Schwäne zum Musiciren bedient, da er ja für sich blasen
kann, wie und wo er will. Kurzum, die Geschichte ist,
wenn nicht zu komischen Zwecken , wieder etwas nur im
Wort Darstellbares 2 ) .
Man, nimmt ferner Anstoss an der Sammlung verschie-
dener Bäume und verschiedener Erdreiche. Der landschaft-
liche Hintergrund soll ja nicht auf sich und seine Natur die
Aufmerksamkeit ziehn , / sondern ist nur um eines Andern
willen da. Die Sache ist Svol nicht anders zu beurtheilen,
als in dem „die Inseln" (Sen. II, 17) betitelten Bilde, wo
eine Insel ebenfalls eine ganze naturhistorische Sammlung
von Baumai-ten, Cypressen, Fichten, Tannen, Eichen und
Cedern erzeugt, — und dabei fällt mir weiter die Eberjagd
des altern Philostratus (I, 28) ein, wo eine Sannnlung von
Hundearten, nämlich kretische, indische, lakonische und lok-
rische vorhanden waren ^). Bedarf es noch weiterer Bei-
1) Vgl. die von Jacobs angeführten Stellen.
2) Dabei erAvähne ich den witzigen Einfall eines Laniiienverfer-
tigers (ßartoli Ic antiche liicerne III, 12), der ein Schiff dar-
stellte, dem Hafen nahe, dessen Mannschaft beschäftigt ist,
die Segel einzurelYen. Aber ein kleiner Windgott macht den
Leuten noch zu schafl'en; er sitzt auf dem Hinterdeck und
bläst mit einem Mnschelhorn — die Windgötter auf den er-
haltenen Monumenten, nicht der philoatratische, pflegen Blas-
instrumente zu haben — in das Segel, so dass es den Ein-
retfern noch Schwierigkeit machen wird.
3) Vgl. das Bild des Pan (Sen. 2, 11), wo die ver.^chiedenen
Arten der N3'niphen aufgezählt werden. Welcher Künstler
würde durch solche Anbringnng mythologischer Gelehrsani'
keit sein Bild verderben!
17G
spiele oder gur noch des Beweises, dass liier der Rhetor,
der absurde Rhetor spricht? Aber ein feinerer Fehler des
Bildes verdient wol eine etwas nähere Besprechung, da er
eine schöne Sitte der erhaltenen Kunst angeht. Der Cha-
racter des landschaftlichen Hintergrundes nämlich ist nicht
im Einklang mit dem Character der dargestellten Handlung.
Wie passt nämlich der unwirthliche mit düstern Tannen be-
wachsene Berg zu dem heitern Spiel der Eroten ? Eine
freundliche lachend sich ausbreitende Landschaft sollten sich
die Knaben zu ihren Spielen aussuchen.
Den Zusammenklang der landschaftlichen Scenerie mit
dem Character des Hauptobjects hat man an neuern Bildern
öfters hervorgehoben. Man ridimt es an Rajihael, dass er
seinen Madonnen gern eine anmuthige Landschaft zum Hin-
tergrund gebe, ganz mit ihrem Character in Einklang. So
war es auch in der alten Kunst und* es kann auch wol nicht
anders sein , da alles Einzelne des Kunstwerks ja aus einer
einheitlichen Stimmung hervorgeht. Wir können es nicht
controliren, wüe sich die vollendete griechische Malerei in
diesem Punkt benahm, wenn wir nicht das Berhner Centau-
renmosaik hieher ziehn dürfen, wo allerdings die Landschaft
mit der dargestellten Handlung auf das Schönste zusammen-
stimmt. Es ist eine öde kahle Felsgegend mit spärlichem
Schmuck von Vegetation, eine Gegend, die wir uns gemie-
den denken von Menschen, in der wir uns daher vergeblich
nach Hülfe umsehn für den Centauren, der sein Weib rä-
chen , aber auch sein Leben verlieren wird. Aber die
römischen Wandgemälde, auch die Vasen liefern eine Fülle
von Beispielen , so dass von ihnen ein Rückschluss zu ma-
chen ist. In was für einer Gegend sehn wir die Hesione
dem Meerungeheuer preisgegeben? Kahle Berge, dazu ein
paar Bäume ohne Laub, eine so öde trauernde Gegend
schickt sich für die traurige Aussetzung des Mädchens. So
jst es auch in den Darstellungen der Andromeda. Und die
von Theseus schlafend verlassene Ariadne erwacht unter her-
abhängenden Felsen , so dass sie das Gefühl der Verlassen-
heit um so stärker empfinden muss. Auf der andern Seite
177
sehe man die Darslellungen des Hylas, des Narzissus*), des
Endyniioii, es sind stille, gesclilosseue, .schön l)ekiubte Plätze,
wie sie der aufsucht, der sich freuen will an kühler Wal-
deseinsamkeit 2). Und was die Vasen betrifl't, so erwähne ich
das mit attischer Grazie gesättigte Bild ^) , wo die Peitho
dem Eros einen Käfig flicht. Da sitzt Aphrodite auf einem
Hügel, an dem Blumen blühn, rechts und links aber steht
ein fruchtschwerer Lorbeerbaum , dessen schlanker Wuchs
mit den graziösen Gestalten der Aphrodite und ihrer Beglei-
terinnen gleichsam wetteifert.
Ein arldres Bild des Philostratus bietet uns Gelegenheit
zu einer weitem Besprechung der alten Landschaftsmalerei.
Es ist das schon erwähnte, „die Inseln" betitelte. Zwar das
ganze Bild mitzutheilen, dazu kann ich mich nicht entschlies-
sen , denn es ist eine lange Sammlung von Absurditäten, die
zum Theil im Kopfe des Rhetors entsprungen, zum Theil
dadurch hervorgerufen sind, dass dichterische Beschreibungen
als malerische vorgeführt werden. Man lese nur die Be-
schreibung der vulkanischen Insel. Nachdem die Flammen
und Feuerströme beschrieben, die aus ihren Spalten hervor-
brechen und ans Meer wogen, keisst es : Aber die Malerei,
welche .gern den Dichtern folgt, schreibt der Insel auch
einen M3'thus zu , dass ein Gigant hier einst getrofien , da
er aber nicht sterben konnte , mit der Insel beladen sei, nun
aber noch nicht nachgebe, sondern unter der Erde befind-
lich den Kampf erneure und dieses ^euer mit Drohungen
aushauche. Dabei nimmt der Rhetor Gelegenheit, den Ty-
phoeus und Enkelados zu erwähnen , denen es eben so er-
1) Vgl. Overbeck in seinem Buch über Pompeji p. 422.
2) Man vgl. auch die Darstellung von Hypnos und Pasithea
oder wie sie sonst erklärt werden mag, und die Wandge-
mälde von den Lästrj'gonen, wo so schön durch starre Fel-
sen die unwirthliche Küste bezeichnet ist.
3) In Stackelberg's Gräbern der Hellenen t. 29. ..
12
178
gangen und fahrt, dann fori in der Beschreibung des Rüdes:
Auf dem Gipfel des Berges ist Zeus -sichtbar und schleudert
Blitze auf den Giganten. Dieser ermattet zwar schon , aber
vertraut doch noch der Gaea. Aber Gaea hat es schon auf-
gegeben, da Poseidon sie nicht stehn lässt u. s. -vv. Was isl
nun diese ganze Ausführung ? Ein Bild ? Vielmehr eine
gedankenlos nachgeschriebene Stelle des Pindar^j, denn wie
kann der Rhelor von dem Giganten sprechen? Das Bild
sagt es ihm nicht, denn wie der Rhetor selbst angibt, der
Gigant liegt unter der Erde, er ist also gar nicht sichtl)ar,
und Zeus oben auf dem Berg ist eine spasshafte Figur, da
man nicht sieht, gegen wen er seine BUtze schleudert. Ai)er
diese Stelle des Bildes ist nicht die einzig anstössige^ jede
Einzelheit und die ganze Zusammenstellung ist völlig unbe-
greitlich. Eß ist ein Gemisch von wilder Willkür, worin
man vergebens Einheit und Gedanken sucht.
Wir knüpfen unsre Betrachtung an eine der Inseln, die
nach des Rhetors Beschreibung einsam war, leer an Göttern
und Menschen. Sie wird beschrieben als steil hervorragend,
mit feuchtem Boden und die Bienen nährend mit Bergblumen.
W^ir fragen nun : hat je das Alterthum solche Darstellungen
hervorgebracht, ist etwas Analoges zu finden in den erhal-
tenen Denkmälern ? Mit andern W^orten, in welcher Aus-
dehnung war den Alten die Landschaftsmalerei bekannt ?
Veriblgen wir zunächst die Thatsachen mit genauer
Scheidung der Gattungen und Zeiten. Wir wollen die Va-
senmalerei voranstellen , die ja hoch hinaufreicht. Auf den
schwarzfigurigen Vasen ist der Schauplatz der Handlung sel-
ten characterisirt. Die Rebzweige , von denen so oft diese
Bilder durchzogen sind, haben nur formelle Bedeutung, sie
dienen zur Raumausfüllung, nicht zur Characterisirung des
Schauplatzes 2). Es findet sich ganz vereinzelt ein Baum,
dem man materielle Bedeutung beilegen muss, aber das sind
Ausnahmen. Wo aber eine äussere Realität nothwendig ist
1) Pyth. 1, 17 ff.
2) Vgl. Excurs II.
179
zum Verständuiss der Handlung, wie z. B. das "Wasser bei
schiffenden Personen, da begnügt man sich, wenn es real
dargestellt wird, mit dem blossen äusseren Umriss, man
zeichnet eine wellenförmige Linie in der schematischen Wie-
derholungsmanier, die zu den wesenthchsten P^igeuthümhch-
keiten der alten Kunst gehört, oder man verfährt symbo-
lisch, man gibt der Phantasie eine Andeutung, indem man
ein paar Fische hinmalt i). Man sieht deutlich, wie die
ganze äussere Natur für diese Kuuststufe nur ein ganz Ne-
bensächhches ist. Die ideale Welt des Mythus ist es, an
welcher diese Zeit hängt. Anders stellt sich die Sache , in
der roihtigurigen Malerei , in der aber auch für diese Unter-
suchung xlie Unterscheidung der Stile erforderhch ist. Der-
jenige Stil, welchen man den grossartigen zu nennen pflegt,
hat überhaupt eine Abneigung gegen alles Beiwerk, Er
gibt wol hie und da eine Andeutung, wenn sie nothwendig
ist zum Verständniss, er bezeichnet wol den Wald durch ein
Reh, Haus oder Palast durch eine Säule, aber sein eigent-
licher Character verschmäht doch dergleichen untergeordnetes
Beiwerk. Es würde seinem grossartigen Vortrag schaden,
auch er ist ganz vertieft in die grossen Bilder des Mythus.
1) Die Fische hören natürlich auf, symbolisch zu sein, sobald
Wasser dazu gemalt ist. — Die symbolische Bezeichnung
der Natur ist der römischen Wandmalerei fremd, wenn man
nicht das Krokodil zur Bezeichnung ägyptischen Lokals da-
hin rechnen will, dessen sich auch Nealkes in seinem Sclüacht-
bilde (Plin. 35, 142) bedient hatte. In der griechischen Va-
senmalerei geht sie durch aUe Stile hindurch. Man kann sa-
gen, dass das Wort des Plinius über Timanthes: plus in-
telligitur quam pingitur eigentlich für die ganze griechische
Malerei gilt. Auch von der symbolischen Bezeichnung der
Natur abgesehn, ist in griechischen Bildern Vieles, was nicht
durch unmittelbare Anschauung, sondern erst durch einen
Verstandesschluss verständlich ist. Die Polygnotischen Bilder
liefern dafür viel Beispiele, man vgl. 0. Jahn's Abhandlung
über Polyguot. — Uebrigens ist diese s5uiibolische Natur-
bezeichnung wieder ein Punkt, in dem die griechische Plastik
und Malerei übereinstimmen.
12 *
180
Dagegen derjenige Stil, der zur Annmtli und Zierlielikeit
neigt, behält zwar nocli in vielen Fällen die Andeutungs-
manier bei — auch er stellt z. K. Gebäude nicht in extenso,
sondern symbolisch durch eine Säule dar — , aber seinem
Character sind doch die zierlichen Blumen und Sträucher
angemessen, die auf den Bildern dieses Stils sich finden.
Dies ist eigentlich der erste Anfang der Landschaftsmalerei.
Wenn wir Bilder betrachten wie die Paris- und Kadmus-
vase*) in Berlin, so sieht man deuthch das Bestreben, einen
landschaftlichen Eindruck hervorzurufen , es soll nicht bloss
der mythische Vorgang, sondern auch die Scene dieses Vor-
gangs bezeichnet werden, wenn auch nur durch geringe
Mittel. Denn ein Eindruck, wie ihn die Wirklichkeit gibt,
wird nicht beabsichtigt; hie und da ein Zweig, das ist Alles,
es ist bescheidnes Beiwerk ohne den Anspruch, den Schein
der Wirklichkeit zu erregai^). Aber der Blick für die äus-
1) Von dem Reh auf der Kadmusvase bemerkt Welcker A. D.
III, 389 : „Eigen ist es, dass das Reh so weit von der Ar-
temis getrennt erscheint, und wie aus Neugierde vorange-
laufen ist." Eben diese Trennung beweist ja deutlich, dass
es gar nicht zur A^-temis, sondern zum Waldgrund gehört,
ebenso wie auf der Parisvase und sonst unzähhg oft.
2) So verfuhr auch Polygnot ; v6o)n tlvut noTUfiug ioixt sägt Pau-
sanias , was nach 0. Jahn : Ueber d. Polygnot. Gern p. 57
A. 5 eine Ausnahme sein soll , weil gewöhnlich die Lokalität
niclit durch landschaftliche Dekoration , sondern durch die
Personifikation des Orts dargestellt werde. Es wird in Ex-
curs VII ausgeführt, dass es ungerechtfertigt ist, die Lokal-
gottheiten der spätem Kunst auch für die frühere vorauszu-
setzen ; hier übrigens musste schon wegen des Schiffes das
Wasser real dargestellt werden. Aber nach genauer Wieder-
gabe der Realität strebte Polygnot durchaus niclit, sondern er
verfuhr mehr andeutungsweise. Man vgl. z. B. das Meer in
dem Sonnenaufgang des Musee Blacas ; manchmal, wie in
' den Charondarstellungen der polychromen attischen Lekythen,^
fehlt ganz die Andeutung des Wassers. Aus diesem Gruride,
weil durchaus nicht genaue Nachahmung der Wirkliclikeit
beabsichtigt, sondern nur eine Andeutung gegeben war, fügt
Pausanias 'ioixt liiuzu. ,
181
sere Tsatur, das Gefühl für die Anmnfh von Blumen und
Stväuchern ist da, von dem der frühere Stil kein Zeichen
gibt. Endlich der apulische Stil zeigt noch mehr Neigung,
der äussern Realität gerecht zu werden; er pflegt die Ge-
bäude in extenso darzustellen und liebt es, alle leeren Räume
mit Blumen. Sträuchern und Bäumen auszufüllen ohne die Zu-
rückhaltung des eben vorhergehenden Stils. Das schliesst
aber nicht ganz die symbolische Bezeichnungsweise aus.
So ist es namentlich die ganze oder abgekürzte Figur eines
Satyrs, welche der Phantasie die Vorstellung eines waldigen
Lokals geben soll. Man sieht jedenfalls in diesem Stil die
Neigung für anmuthige Naturumgebung am sichtbarsten her-
vortreten < wenn auch die einzelnen Bäume und Sträucher
noch nicht gesammelt sind zu einem geschlossenen Hinier-
grund, wie es in der römischen Wandmalerei geschieht ^).
Will man ein Beispiel, an dem sich deutlich die eben aus-
geführte Entwicklung verfolgen lässt, so nehme man eine
Darstellung, die alle Perioden der Kunst beschäftigt hat,
z. B. das Parisurtheil. In der ältesten Zeit fehlt alle und
jede landschaftliche Zuthat, aber immer mehr und mehr
spriessen Blumen und Sträucher aus dem Boden , bis zu-
letzt in der römischen Wandmalerei ein ganzer Jandschaft-
licher Hintergrund hinzugefügt ist 2). Hier ist es überhaupt
Sitte, die mythischen Begebenheiten mit landschaftlicher Sce-
nerie zu umgeben. Die römische Wandmalerei steht dem-
nach in einem bemerkenswerthen Gegensatz zu der gi'iechi-
^chen Kunst, wie sie in den Vasen vorliegt, und ebenso zu
1) Daran hindert schon der Relielstil der Vasen, den auch der
apulische Stil noch hat, wenn er sich auch durch manche
Eigenthümlichkeiten, wie z. B. das häufige Herausblicken
aus dem Bilde — er setzt wie die römische Wandmalerei
einen Betrachter voraus — von der frühern Art unterschei;let.
Der strenge Reliefstil der frühern Vasen ist besonders an
solchen Einzelheiten deutlich, wie wenn von dem Wagen des
Triptolemus immer nur ein Rad sichtbar ist.
2) Vgl. Nessus und Dejanira, Herkules mit dem Löwen und mit
Antäus, Europa aui' dem Stier u. s. w.
182
den freilich nur spärlichen Thatsachen , die uns über das
Verfahren der grossen Meister vorliegen, ' Darf man die Ale-
xanderschlacht auf einen hervorragenden griechischen Mei-
ster zurückführen, so bestätigt sie meine Behauptung; im
Uebrigen ist uns etwas von dem Verfahren des Polygnot be-
kannt. Dieser grosse Meister des älteren Stils verfuhr ganz
nach der idealen, um getreue Wiedergabe der Reahtät un-
bekümmerten Abkürzungsmanier , die oben an den Vasen
hervorgehoben wurde. Wie er eine ganze Flotte durch ein
Schiff'), ein ganzes Lager durch ein Zelt, so bezeichnete er
einen ganzen Hain durch einen Baum und den Meeresstrand
durch ein paar Steine 2). Ja er ging sogar so weit, dass er,
wie es oft sichtbar ist auf rothfigurigen Vasen, seine Figuren
in die Luft hineinmalte, ohne die den Hügel andeutende Li-
nie hinzuzufügen, auf dem sie sitzend gedacht werden sol-
len 3). Polygnot hätte die Grösse seines Stils beeinträch-
tigt, wenn' er die untergeordneten Reize von Busch und
Baum seinen Bildern hinzugefügt hätte. Freilich lässt
sich auch in den Gemälden der grossen Meister verfolgen,
dass der äussern Natur mehr Interesse zugewandt wurde :
1) Böttiger Archaeol. d. Mal. p. 316 vergleicht mit dem einen
Schiff bei Polygnot die zwölf Schiffe auf der tabula lliaca.
2) Vgl, Welcker: Ucber die Composition der Pol.ygnotischen
Gemälde u. s. w. in den Abhandl. d. Berl. Akad. 1847 p.lll.
3) Ueber die Worte des Pausanias X, 30, 6: iGnv i(ii^fjg fAfru
Tov ITktqoxIov oia Inl löifou rivhg ^OQ<filg xccfhfCöf^fvos be-
merkt Welcker a. a. 0. p. 139: „Der Hügel des Orpheus
war also wie auch in den spätem Vasengemälden nur durch
eine Linie angedeutet oder nicht einmal diess , sondern nur
nach der Figur und ihrem Verhältniss zu den andern der
Reihe vorauszusetzen." Mir scheint durch oi(c deutlich ge-
nug ausgedrückt zu sein, dass das Letztere der Fall war.
Das Verfahren der Vasenbilder hat übrigens hie und da zu
spasshaften Missverständnissen geführt, vgl. Wieseler's Erklä-
rung ^u Müller A. D. I, 46, 212. Dass die schwarzfigurigen
Vasen dies Verfahren nicht kennen, ist gfewiss nicht zufällig;
sie sind treuer und halten sich mehr an die Wirklichkeit, die
spätem sind sorgloser.
183
es heisst von Zeuxis, dass er seine CtnUiurin auf blühenden
Rasen (int x^-örjg £v^c(Xovg) le<»te. Allein aus der Praxis
der Vasenbilder ist wol der Schluss erlaubt, dass auch die
grossen Maler der Griechen der äussern Natur immer nur
eine untergeordnete Stelle einräumten und noch bestimmter
lässt sich behaupten, dass sie die äussere Natur als einziges
oder auch nur als Hauptobject wol nie zur Darstellung
brachten; keiner der erhaltenen Titel führt darauf und was
wir besitzen , widerspricht.
Auch die Plastik zeigt eine Zunahme des landschaft-
lichen Gefühls; man erinnere sich nur des f^arnesischen
Stiers, dessen Basis die waldige Giebirgsgegend des_Kithäron
darstelle;i soll. Schon die Reüefs vom Monument des Lysi-
krates characterisiren das Lokal mehr als sonst üblich ist.
Aus späterer Zeit sind namentlich die historischen Monu-
mente der Römer hervorzuheben, die ganz im Gegensatz zu
den idealer gehaltenen griechischen die äussere Natur,
Städte oder Castelle, Berge und Flüsse nach der Wirklich-
keit darstellen'). Denn das aus Ljcien stammende allerdings
von griechischen Händen iiearbeitete Relief, welches die Er-
oberuiig der Stadt Xanthos durch Harpagos darstellt, kann
unmöglich für die Weise der griechischen Kunst überhaupt
maassgebend sein 5 es entspricht vielmehr dem Character der
assyrischen Kunst, welche ebenso wie die historische Skulp-
tur der Römer — sie kennt ja überhaupt nur das Histori-
sche — die äussere Natur nach der Wirklichkeit darstellt.
Dagegen die Sarkophagreliefs aus römischer Zeit halten sich
1) Mit diesen Reliefs wären höchstens die Bilder des Philostra-
tus zu vergleichen, wo Städte dargestellt waren, wie das
Bild des Skaiuander, des Menoikeus, des Pyrrhos, der Anti-
gene n. s. w. (Das Bild des Aristides: oppido capto ad
matris morientis ex vulnere mammam adrepens infans ^^ird
man sich nach griechischen Analogien zu denken haben.)
Ebenso hätte der Figurenreichthum der philostratischen Bil-
der höchstens in römischen Werken seine Analogie, die eben,
dadurch etwas viel Unruhigeres, Veiwirrteres haben, als die
griechischen.
184
im Ganzen mehr an die personifieirende Darstelliinr^ der
äussern Natur, die von den Griechen entlehnt ist und der
Natur der Plastik ebensosehr entspricht, als die reale Dar-
stellung der Malerei.
Wir sehn also , dass die menschlichen Handlungen im-
mer mehr im Verlauf der Kunst mit landschaftlichem Bei-
werk umgeben werden. Was ist der Grund dieser That-
sache? Die Literatur der Griechen kann vielleicht zur Be-
antwortung dieser Frage dienlich sein. Es ist uämlich oft
bemerkt, dass die älteste Literaturgattung, das Epos, weni-
ger gemüthlichen Antheil nimmt an der äussern Natur, als
Lyrik und Drama'). Sie kann es nicht, da sie den Mythus
objectiv als etwas Ueberliefertes darstellt. Nun aber pflegen
wir grade der ältesten Kunst einen epischen Character bei-
zulegen; namentlich 0. Jahn hat jn der Entwicklung der
Vasenmalerei einen epischen, lyrischen und dramatischen
Stil sehr überzeugend nachgewiesen und so möchte denn,
was von dem Epos der Literatur gilt, auch von dem epi-
schen Stil der Malerei zu behaupten sein 23. Das Interesse
1) Vgl. besonders den ausl'ülirlichen Aufsatz von Caesar in der
Zeitschr. f. Alterth. 1849 p. 481 ff., der nur dem Pindar, wie
mir scheint, nicht gerecht ist. Denn abgesehn von Bildern
wie Isthm. 3, 36, so sollte die wunderbare freilich arg miss-
verstandne Stelle Nem. 7, 79, wo von den Lilien die Hede
ist, die im Thau des Meeres stehn, allein genügen, um ihm
die lebhal'teste Empfindung für die Natur zu vindiciren. Und
es gibt noch andre sprechende Stellen ; detaillii'tes Ausmalen
freilich ist überhaupt seine Sache nicht. Es scheint mir aber
überhaupt die Characteristik der pindarischen Poesie, wie sie
Caesar gibt, nicht die richtige zu sein.
2) A. Conze hat kürzlich in der Archaeol. Ztg. 1859 Taf 125
eine Vase aus Argos publicirt, die wol eins der schönsten^
Beispiele für die rührende Einfalt des epischen Vasenstils ist.
Man sehe, wie treu detaillirt uns der Maler den ganzen Vor-
gang erzidilt ; Herkules kam zu Wagen , und als er an Ort
und Stelle w ar, band er die Pferde los und Hess sie frei lau-
fen und während diese nun Laub fressen, macht er sich an's
Werk. Nur in dem alterthümlichen Stil ist ein solcher wahr-
haft epischer Vortrag möglich.
185
an Bergen und Flüssen, an Bäumen und Blumen erwacht
erst später, es erwacht mit den Bedürfnissen des eignen
Gemüths, es erwacht in derjenigen Poesie, welche mitfühlt
den Wechsel, Wonne und Weh des Naturlebens, in der Ly-
rik, und so sehn wir denn auch landschaftliche Zuthat in der
spätem Kunst hervortreten , aber immer nur , wie auch in
der Poesie, als Zuthat. Ein Landschaftsbild ist eben so
wenig vorhanden als ein Gedicht, dessen Zweck die Be-
schreibung einer schönen Gegend wäre. Immer ist die Na-
tur dem Menschen untergeordnet.
Aber es sind unter den römischen Wandmalereien spä-
terer Zeiten manche, welche auf den ersten Blick land-
schaftliche , Gemälde zu sein scheinen. Allerdings sind sie
verschieden von der griechischen Art , indem sie die mensch-
liche Handlung nicht mehr als Hauptobject, sondern als Bei-
werk behandeln; es gibt sogar Fälle, wo sie ganz fehlt.
Aber sie sind darum noch nicht Landschaften in unserm
Sinn. Betrachten wir zunächst die Erlhidung des Ludius.
Seine Malerei war, wie man richtig bemerkt hat i), eine Pro-
specl maierei: er malte Villen , Hallen, Gartenanlagen, Haine,
Wälder, Hügel, Wasserbehälter, Gräben, Flüsse, Ufer und
Menschen dazu in den Beschäftigungen des Landlebens. Wie
deutlich sieht man hierin die Neigungen des Römers zur
Kaiserzeit! Auf der Villa zu leben, wo möglieh in der küh-
lenden Nähe des Meeres, das war, wie die Schriftsteller be-
zeugen, die Liebhaberei des Römers und so wird denn die
Malerei des Ludius aus der herrsehenden Zeitrichtung ganz
begreiflich. Es ist uns manches in seiner Art gemalte Bild
erhalten , welches den Reiz des Landlebens anschaulich zu ,
machen^ bestimmt ist, aber Landschaften in unserm Sinne
sind CS nicht. Eher könnte man diejenigen Bilder Land-
schaften nennen . Avelehe die einsame Natur darstellen , in
welcher nur das Numen der Nymphen oder andrer ländlicher
Gottheiten waltet Es gibt mehre interessante Darstellungen
dieser Art: Berge, die einen stillen See einschliessen u. s. w.,
1) Brunn Gesch. der griech. Künster II, 315.
186
wo die Heiligthümer ländlicher Gottheiten sind i). Diese
Gemälde kommen iinsein Landschaften nahe, es liegt eine
bestimmte Stimmung hier in der Natur ausgedrückt, nur das
steht entgegen, dass die Götter hier wohnen. Darin eben
liegt der Grund, dass das Alterthum zur Landsehaltsmalerei
in unserm Sinn nicht kam, es sind die dämonischen Wesen,
die in Wald und Quelle wohnen und ihr Geist ist's, der
überall webt. Wären in diesen letztgenannten Bildern die
HeiUgthümer weggelassen, so wäre kein Unterschied mehr
von unsern Landschaften: aber so wie sie da sind, ist diese
Natur immer nur die Wohnung dämonischer Wesen. Die
Natur muss entseelt werden von Göttern , um durch die
Empfindung des Künstlers neu beseelt zu werden. Dies ist
die Voraussetzung der Landschaftsmalerei, und diese Voraus-
setzung fehlte dem Alterthum.
Wenden wir uns nun zurück zu dem Bilde des Philo-
sti-atus, so muss behauptet werden, dass die menschenleere
Insel, die er gemalt gesehn haben will, ohne alle Analogie
dasteht. Hätte er noch Heiligthümer ländlicher Gottheiten
hinzugesetzt, so hätte man sich das Bild denken können
nach der Art jener späten oben erwähnten Gemälde.
1) Vgl. Bartoli pict. antiq. tab 10, besonders tab. 13. Merk-
würdig ist das Bild im sepulcr. Nas. tab. 14, das den Her-
mes darstellt, der eine Wildniss betritt , deren Thiere durch
seine Erscheinung gescheucht werden. Etwa Hermes, der die
Insel der Kalypso betritt?
IV.
Vielleicht wird man die Anzahl der schon besprochenen
Bilder hinreichend finden zum Beweise unsres Satzes, und
in der That, man sollte glauben, dass wenn auch nur für
ein einziges Bild, ja für eine Einzelheit in einem Bilde der
überzeugende Beweis der NichtwirkHchkeit geführt würde,
dass damit die Autorität des ganzen Schriftstellers erschüt-
tert sei. Indessen auf die Gefahr hin, etwas Ueberflüssiges
zu sagen, aber in der Hoffnung, aus den Scheinbildern des
Philostratus Vortheil zu ziehn für die ächten Werke griechi-
scher Kunst, wollen wir noch ein paar Bilder zergliedern
und zwar wählen wir grade solche, die man in Bezug ge-
setzt hat zu Werken berühmter Meister. Unsre Betrachtungen
beschränkten sich ja, wie schon früher bemerkt wurde, nicht
■auf das knapp Nothwendige und so lasse sich der Leser
auch noch diese Erörterungen gefallen, wenn sie nur einen
kleinen Beitrag geben zur richtigeren Erkenntniss der alten
Kunst.
Der jüngere Philostratus beschreibt unter Nr. 2 folgen-
des Bild:
Der Phrygier ist besiegt; sein Blick ist verzweifelt, die
Flöte weggeworfen. An der Fichte steht er, von welcher
er, wie er Mciss, herabhängen soll und sieht auf den Bar-
baren, welcher das Messer für ihn wetzt. Dieser ist mit
seinen Händen beim Messer beschäftigt, aber mit funkelnden
Augen blickt er hinauf zum Marsyas und sein Haar steht
wild von einander, seine Backen sind von Mordlust geröthet,
die Brauen zusammengezogen und ein wildes Grinsen ist
auf seinem Gesicht. Apollo ruht sich aus auf einem Fels;
die Lyra, die in der Linken liegt, wird noch gespielt von
der linken Hand, die rechte liegt auf dem Schooss lose das
Piektrum haltend; sorglos sieht der Gott aus und ein La-
188
cheln ist auf seinem Gesicht. Auch der Fluesgott ist da,
welcher den Namen des Mars3'as annehmen wird, und eine
Heerde von Satyrn, den Marsya,s betrauernd und das Ausge-
lassne mit der Betrübtheit vereinigend.
Dies Bild wird auf Zeuxis zurückgeführt i), von welchem
ein Marsyas religatus bekannt ist. Malerisch möglich, ist
allerdings das Bild und der Umstand, dass der Marsyas des
Philostratus nicht gebunden ist — es wird wenigstens nicht
erwähnt — , so dass also der Titel des G-emäldes von Zeu-
xis nicht genau passen würde, mag übej|sehen werden.
Wenn nur das Bild seiner würdig wäre, das in der That
mit keinem einzigen der erhaltenen den Vergleich aushält !
Zunächst eine antiquarische Besonderheit. Von einer
Flöte spricht Philostratus, auf allen literarisch oder mo-
numental erhaltenen Darstellungen hat Marsyas die Doppel-
flöte. Auch der ältere Philosti-atus gibt dem Olympus (1,21)
nur eine Flöte, und doch erinnere ich mich nicht, auf irgend
einem griechischen Relief oder Gemälde — und die Flöte
kommt ja in bacchischen Scenen und Opferhandlungen häufig
genug vor — eine andre Flöte als die Doppelflöte gesehn
zu haben. Dichter gebrauchen dagegen oft den Singular,
wofür ich weder Stellen noch den Grund anzugeben brauche,
die Monumente folgen begreiflicherweise der Sitte des Lebens.
Von Apollo heisst es, Lächeln sei auf seinem Gesicht.
Ist das nicht empörend? Kann Apollo da lächeln, wo er
Vollstrecker einer gerechten Strafe ist? So wenig wie es
Dionj'sos kann als Bestrafer der Seeräuber, den der stumpf-
sinnige Rhetor (Sen. I, 19) ebenfalls lächeln lässt. Auf dem
Monument des Lysikrates sitzt Dionysos in ruhiger Schön-
heit da, ohne Erregung, wie es dem Gott geziemt, er tändelt
mit seinem Panther, aber dem niedern Volk der Sat3Tn über-
lässt er die Bestrafung der Räuber 2). Das Aergste aber
1) Von Brunn Gesch. II p. 83. welchem Michaelis beistimmt in
Ann. delV instit. 1858 p. 319.
2) Vgl. die schöne Ausführung in 0. Jahns Pentheus p. 15.
Wie ganz anders als bei Philostratus ist es in seinem Vor-
bild, dem homerischen Hymnus! Da lacht Dionj'sos darüber,
189
wird uns zugeniuthet in dem Bilde des Nessus (Jun. 16)')-
Da heisst es , dass der Knabe Hyllos über den von seines
Vaters Pfeil gelrülYenen Centauren vor Vergnügen in die
Hände klatsclie und dazu lache. AVas könnte es Unnatür-
licheres und Schändlicheres geben zumal bei einem Kinde,
als Lachen über einen Sterbenden, über einen unter Schmer-
zen Sterbenden?
Für die Satyrn — es ist wieder eine Heerde da — wäre
es wol angemessener, den Apollo um Gnade zu flehn, als
vor der Zeit zu trauern. Und Olympus fehlt, der eher da
sein sollte, als die Satyrn, weil er dem Marsyas näher steht,
der flehen sollte für seinen Lehrer wie auf den erhaltenen
Monumenten. Den Flussgott dagegen, der nur auf römi-
schen Monumenten vorkommt, hätte vielleicht ein Zeuxis
weggelassen, denn mit der Handlung steht er in keinem In-
nern Zusammenhang, er geht das spätere Schicksal des Mar-
s^'as an, das uns in diesem Augenblick gar nicht kümmert.
Uebrigens mag in einem Punkt eine Reminiscenz wirk-
lich gesehner Denkmäler zugegeben werden. Die Stellung
des Schleifers wird ganz so beschrieben , wie sie auf erhal-
tenen Monumenten sich findet.
0. Müller hatte eine höhere Vorstellung von der Kunst
des Zeuxjs, denn wenn wir auch die nachgewiesenen Fehler
einmal hinwegdenken, so würde das Bild doch immer ein
dem Mythus ohne eigne Zuthat des Künstlers nachgemaltes
bleiben und eben ein solches ist einem griechischen Meister
nicht zuzutrauen. 0. Müller hat in seinen alten Denkmä-
lern I, n. 204 ein herkulanisches Bild abbilden lassen, „zur
dass die Seeräuber ihn, den Gott, fessehi zu können glau-
ben, aber als er zur Bestrafung schreitet , da ist er ein wild
blickender Löwe. Ans solchen Zügen sieht man , was für
ein Mensch dieser Philostratus war.
1 ) Dies Bild ist übrigens auch sonst sehr merkwürdig. Her-
kules steht mit seinem Wagen im Fluss, warum? Weil der
M3-tluis so erzählt. Es liegt auf der Hand, dass liier ein
Künstler abweichen musste. Man vgl. zum Ueberfluss das
pompejanische Bild Mus. Borbon. VI, 36.
190
Erläuterung von Zeuxis: Marsyas religatus." Dies Bild ist aller-
dings seiner Erfindung nach wahrhalt könstlerisch. Marsyas steht
mit gebundenen Händen an dem Baum und lässt traurig den
Kopf herabhängen. Vor ihm |steht der Scythe mit dem Messer.
Dann folgt Olympus, der sieh in eiliger Bewegung dem Grotte
genähert und nun in bittender Geberde vor ihm kniet. Ne-
ben Apollo, welcher die Hand an die Kithar lehnend auf
einem Sessel sitzt, steht eine Frau, die, mag sie sein wer
sie will — eine Muse, wie sie in den bisherigen Erklärungen
genannt wird, ist sie schon wegen des Blumengewindes in
ihrer Hand gewiss nicht — , mit ausdrucks^•oller Wendung
des Kopfes den Gott um Barmherzigkeit bittet. Das ist eine
schöne, menschliche Zuthat zu dem Bilde, es ist nun die
EntSchliessung Apollos, nicht die Vollstreckung der Sti-afe,
an welche sich das Interesse knüpft , es ist der ps3'chologi-
sche Conflict zwischen Mitleid und gerechtem Zorn, der
unsre Theilnahme weckt. Von einem denkenden Künstler
also ist dies herkulanische Bild oder sein Vorbild entworfen,
ob dies aber Zeuxis gewesen, darüber steht uns keine Ent-
scheidung zu.
Der ältere Philostratus beschreibt H, 3 folgendes Bild:
Man erblickt den Pelion mit Eschen bewachsen und die
schönsten Höhlen und Quellen 5 Centaurinnen halten sich dort
auf mit ihren Jungen. Einige Junge liegen in den Windeln,
andere kriechen daraus hervor, diese seheinen zu weinen,
jene sind munter und lächeln, da die Brust gut fliesst; hier
hüpfen sie unter den Müttern, dort umklammern sie die nie-
dergekauerten ; eins aber wirft schon muthwilhg gegen die
Mutter einen Stein. Die ganz juiigen haben noch keine feste
Gestalt, die aber schon hüpfen, haben auch schon etwas
Derbes. Ihre Mähne ist noch im Werden und die Hufen
sind noch zart. Die Centaurinnen entwachsen weissen und
bräunlichen Pferden ; auch aus einem schwarzen Pferd wächst
eine weisse Centaurin hervor.
191
Wir wollen dieses Bild kurz zusammenstellen mit der
Centaurenlaiuilic des Zeuxis, die Lucian besehreibt, denn es
ist die Meinung ausgesproehei;i worden*), dass das philostra-
tische Bild und das berühmte Berliner Cenlaurenniosaik durch-
aus derselben Geistesrichtung entsprungen erseheine, die sieh
in Lucian's Schilderung finde.
Doch zunächst ein paar Einzelheiten. Die Vervielfälti-
gung der Höhlen, Quellen, Centain-en sind wir schon ge-
wohnt , aber die halb schwarze , halb ^A'eisse Centaurin ver-
dient wol ein näheres Eingehn. Bei der Bildung' des Cen-
tauren kommt es offenbar darauf an, die beiden Organismen
so zu verschmelzen, dass ein einheitliches neues Ganze ent-
steht, welches den Gedankep an eine Zusannnensetzung nicht
aufkommen lässt. An der Centaurenfamihe des Zeuxis wird
eben diese allmähliche Mischung des Thierischen und Mensch-
lichen gerühmt und wenn man das Centaurenmosaik in Ber-
lin vergleicht, so findet man zwar namentlich an dem männ-
lichen Centaur den Farbenton des Rossleibes etwas dunkler,
wie natürlich, aber von einem" grellen Contrast ist keine Rede.
Und wie wäre das möglich? Dadurch würde ja der Künst-
ler sich selbst entgegenarbeiten. Er will einen einheitlichen
Organismus schaffen; wenn er aber die beiden Bestandtheile
dieses Organismus mit diametral entgegengesetzten 'Farben
färbt, so erweckt er ja gerade den Gedanken der Zusammen-
setzung, des Aggregats, den er vernichten wollte.
Einige Junge, heisst es sodann, liegen in Windeln.
Der Rhetor überträgt, menschliche Verhältnisse auf die Cen-
tauren, welclie doch in diesem Punkt der thierischen Praxis
folgen müssen. Er thut es nicht absichtlich, es ist kein An-
lass zu glauben, dass er einen komischen Eindruck beab-
sichtigt habe. Komisch aber ist ein Thier in Windeln ge-
wickelt jedenfalls; es wäre da am Platze, wo man, wie in
einer Affenkomödie, men«chliche Sitten und Zustände durch
Thiere darstellen lässt.
Die Hauptsache aber ist, dass Zeuxis eine Familie von
1) Von Brunn Künstlergesch. II p. 83.
192
Centauren gemalt hatte, hier dagegen ist eine Menge von
Müttern und Jungen versammelt; dieser Unterschied ist so
wichtig, dass er eine Vergleichung der Bilder gar nicht zu-
lässt. Denn dadurch, dass Philostratus eine unbestimmte
Menge von Müttern und Jungen auftreten lässt, verliert sein
Bild alles tiefere Interesse, es könnten auch Pferde und Füllen
sein und es würde nichts verändert als nur die äusserliche
Gestalt. Die Beschränkung auf eine Familie gibt erst das
tiefere Interesse, insofern sie das Halbthierische unter die
Analogie des Menschenlebens rückt, insofern sie die Tugen-
den einer menschlichen Familie in halbthierischen Organismen
zur Erscheinung bringt. Das Säugen eines Jungen auf dem
philostratischen Bilde ist nur ein Akt des Instinktes, auf dem
Bilde des Zeuxis ist es zugleich eine That mütterlicher Liebe,
wie im Menschenleben. Goethe hebt es in seinem Aufsatz
über Myron's Kuh an verschiedenen Beispielen hervor, wie
gerade darin die grosse Wirkung solcher Gruppen liege, dass
im Thierischen Zärtlichkeit, Mütterlichkeit, kurz menschliches
Gefühl zur Erscheinung komme. Uad mehr noch als Thiere
muss ja die Centaurengestalt als eine zur Hälfte menschliche
auf diese Analogien des Menschlichen Anspruch machen.
Das Berliner Centaurenmosaik beschränkt sich wie das
Bild des Zeuxis auf eine Familie, aber dies ist auch der
einzige Vergleichungspunkt. Im Uebrigen stehn sie sich
diametral entgegen. Dieses ist ein Idyll, jenes eine ergrei-
fende Tragödie. Der männliche Centaur, von bräunlicher
Carnation, während sein Weib lichter gehalten ist, nach jenem
schönen Verfahren , von dem auch in Pompeji so wirkungs-
reiche Beispiele vorliegen, hat einen Felsblock geholt, um den
Tiger zu zerschmettern, der sein getödtetes Weib zerfleischt.
Ihm wäre der Untergang gewiss, wie auch schon neben ihm
ein getödteter Löwe von der Gegenwehr der Centauren zeugt.
Aber indem der Centaur den Felsblock hebt, um ihn auf den
Kopf des Tigers zu schleudern, erblickt er an seiner Seite
zum Sprunge bereit eine zweite Bestie. Dieser Augenblick
ist gewählt: auf den bei seinem todteu Weibe beschäftigten
Tiger ist die Bewegung des Centauren gerichtet, aber die
193
Augen richten sich auf den neuen Feind mit trüber Weh-
muth , die unter dem wilden Haar des Halbmensclien um so
ergreifender wirkt. Mit einem Feind wird er wol fertig,
aber nicht mit dem zweiten;. er sieht es selbst voraus, um
der Rache an seinem Weib willen soll er den Tod leiden.
Es ist ein wunderbar grosses Bild , dem wenige vergleich-
bar sind; aber gerade darin hat die ungeheure Wirkung
desselben ihren Grund, dass es ein menschliches Gefühl, dass
es die Liebe zum Weibe ist, die hier um den Preis des Le-
bens in einem Thiermenschen sich bethätigt. Der Centaur
erscheint uns trotz seiner Wildheit von Herzen mitleidens-
werth, weil er beseelt ist von einer grossen Empfindung,
die auch, den Menschen in Wildheit zu versetzen vermag.
Ob dieses Bild in irgend einer Beziehung zu Zeuxis stehe,
Avage ich nicht zu entscheiden; es finden sich allerdings
unter den Werken dieses Meisters einzelne, denen ein tragi-
scher Eindruck eigen gewesen zu sein scheint, aber soviel
scheint mir gewiss, dass man das Berliner Bild nicht als der-
selben Geistesrichtung mit jener idyUischen Familiensceue
des Zeuxis entsprungen bezeichnen darf.
Unter dem Titel Ariadne beschreibt der ältere Philostra-
tus (I, 15) folgendes Bild:
Dionysos angethan mit dem Purpurkleid und mit Rosen
bekränzt geht zur Ariadne; er ist berauscht von Liebe. Die
Bacchen gebrauchen jetzt nicht ihre Cymbeln, noch die Satyrn
ihre Flöten, selbst Pan hält inne mit seinen Sprüngen, um
nicht den Schlaf des Mädchens zu stören. Theseus aber hat
Ariadne vergessen, seine Sehnsucht geht nur auf Athen, sein
BHck geht nur dem Schiffe voraus. Ariadne aber liegt auf
Felsen, nackt bis zum Nabel, den Hals hintenübergelegt und
die ganze rechte Achselgrube ist sichtbar. Die hnke Hand
aber liegt auf dem Gewände , damit nicht der Wind ihre
Scham aufdecke.
13
194
Das Bild scheint, wenn man nicht genauer zusieht, mit
wirkhch vorhandenen übereinzustimmen Und allerdings eine
Reminiscenz von wirklich Gesehenem muss zugegeben wer-
den. Die Figur der Ariadne nämlich wird genau so beschrie-
ben, wie sie auf späteren Monutnenten — römischen Wand-
gemälden und Sarkophagen — erscheint. Nur pflegt man
in Pompeji der Schlafenden fein Mciche Kissen unterzu-
legen — M'ie die an den Meeresstrand kommen, das küm-
mert nicht — , denn wie kann ein so zartes Mädchen auf
rauhem Fels liegen ! i) Aber diese Uebereinstimmung ist
auch Alles; aus dem Uebrigen sieht man deutlich genug,
dass der Rhetor nicht ein Bild, sondern nur den Mj'thus vor
Augen hatte. Theseus, erzählt er, hat die Ariadne vergessen
und sieht nur dahin, wohin sein Kiel gerichtet ist: das ist
ein Zug, den kein Künstler, wenigstens kein denkender, kein
gi-ieehischer Künstler sich erlaubt hätte. Wie kann Theseus
ohne Innern Kampf eine Ariadne verlassen ! Dass es ihm
schwer geworden, zu gehen, dass er schwankt zwischen der
Liebe zur Heimat und zur Ariadne, das hätte der Künstler
darstellen , er hätte ihn wenigstens zurückblicken lassen sol-
len nach dem Mädchen. Eben dadurch hätte er den Reiz
des Mädchens gehoben und das Staunen des Dionysos und
seiner Gefährten begreiflich gemacht. So wie es hier xer-
langt wird, verfahren die erhaltenen Denkmäler, Avelche den
1) Die pompejanisclien Bilder sind reich an solchen Zeichen
weichlicher Sitte. Die Galatea z. B. bei Zahn 2, 30 hat den
Fächer und über ihr fliegt ein Eros mit Sonnenschirm : es
ist als ob sich eine zarte Dame aus Pompeji als Galatea habe
darstellen lassen. Die Putzsucht tritt überall hervor in dem
zierlichen Lockengekräusel, in den Ringen um Arme und
Füsse, die man selbst bei nackten Figuren findet! Der Er-
scheinung nach ist dies dasselbe, wie in der alterthümlichen
Kunst, die auch eine grosse Neigung zu Schmuck und Zier-
lichkeit hat, aber aus was für einer grundverschiedneu Seelen-
stimmung geht das hervor! Hier ist es die naive Fi-eude am
Zierlichen, das liebenswürdige Bestreben, Alles recht fein zu
machen, dort eine weiche, raffinirte Eleganz.
195
Abschied des Theseus darstellen i) ; eins ist da, welches wie
das philostratisehe Bild den gehenden Theseus und den kom-
menden Dionysos vereinigt, und auch hier geht Theseus mit
rückwärts gewandtem Haui)t. Der Mythus freilich lässt kurz
den Einen gehen und den Andern kommen; eben diesem
schrieb der Khetor nach.
Dionysos ist berauscht von Liebe, aber sein Gefolge —
Eros ist nicht da, denn der Mythus meldete nichts von
ihm — hält inne mit Cymbeln und Flöten, selbst Pan ist
ruhig, um nicht den Schlaf des Mädchens zu stören. O über
den stumpfsinnigen Rhetor, der so schreiben mochte! Man
sehe die erhaltenen Monumente 2). Das wäre ein rechter
Pan, dem' nicht lichterloh die Begierde ausschlüge beim An-
blick eines schlafenden noch dazu halb nackten Mädchens') !
So ist es, Pan und Satyrn können sich nicht halten vor Be-
gierde, so wie es ihrer Natur angemessen ist, Dionysos aber
pflegt zaudernd dargestellt zu werden , er muss getrieben
werden von seinen Begleitern, in denen das eine Gefühl des
sinnlichen Triebes lebt. In diesem Gegensatz der edlen Zu-
rückhaltung des Gottes, der versunken dasteht in die schlafende
Schönheit, und der drängenden Begier seines Gefolges liegt
1) Vgl. Jahn Arcliäol. Beitr. p. 280 ff. Hinzu kommt das von
Minervini im Bullet. Napolet. IV p. 91 beschriebene pompe-
janisclie Biid, wo ganz dieselbe Auffassung ist; dann der
Sarkophag in Constantinopel in Archaeol. Ztg. XV, Taf. 100,
■wo sich auch Theseus im Weggehn nach der Ariadne um-
sieht.
2) Es genügt auf 0. Müllers A. D. II , Taf. 35 und 36 zu
verweisen.
3) Zu diesem Bilde des Philostratus vergleiche man die senti-
mental verliebten Satyrn , die den Olympus umgeben 1 , 20.
Auf der andern Seite hat der geistesarme Rhetor die schöne
Fabel von Silen und Midas auf das Gründlichste zerstört.
Er zeigt uns (1, 22) einen thiciüschen Silen, betrunken schla-
fend, und das wäre denn ein Bild, eines griechischen Künst-
lers würdig! Die erhaltenen Monumente benehmen sich ganz
anders, vgl. die Vase in Monum. dell" instit. 4, 10.
13*
196
die eigenüiche Schönheit dieser Darstelhingen begründet;
wäre er nicht, gleich würde die Darstellung gemein und also
uninteressant werden. Aber dies Zaudern des Gottes lässt
ihn selbst als Gott erkennen und Ariadne wird nur noch
schöner dadurch. Der Rhetor aber, was weiss er davon,
was einem Gott geziemt; er kehrt die Sache gerade um; bei
ihm ist Dionysos trunken vor Liebe, sein Gefolge aber, ob-
wohl Wesen gemeinerer Natur, steht still, um nicht den
Schlaf des Mädchens zu stören.
Schliesslicri betrachten wir das Bild des lokrischen Ajax
(Sen. II, 13) :
Aus dem Meer ragen Felsen, um welche das Meer zischt.
Auf ihnen steht wild und übermüthig ein Held, der lokrische
Ajax. Sein Schiff ist getroffen und steht nun in Flammen,
er selbst rettete sich auf die gyräischen Felsen. Poseidon
aber kommt heran voll Zorn und schwingt den Dreizack,
um den Fels zu stürzen, auf dem Ajax steht.
xMan ist geneigt, dies Bild auf den Maler ApoUodorus
zurückzuführen, von dem ein Ajax fulmine incensus erwähnt
wird 1 ) .
Es gab zwei Erzählungen über den Tod des Ajax 2).
Nach der homerischen wurden seine Schiffe zerstört, er selbst
aber auf die gyräischen Felsen geworfen. Hier spricht er das
übermüthige Wort , er wolle auch gegen den Willen der
Götter dem Meer entrinnen. Darüber ergrimmt Poseidon
1) Auch Brunn (II p. 73) ist nicht abgeneigt, „nur kann aller-
dings die Bezeichnung Ajax fulmine incensus etwas zu knapp
und gesucht erscheinen für einen Ajax, dessen Schiff vom
Blitze getroffen ist, und der nun schiffbrüchig gegen Felsen
geschleudert den Göttern nucli trotzen will , während Posei-
don, sie zu rächen, heraneilt.''"
2) Vgl. die Stellen in Jacobi's luythul- Wörterbuch.
197
und spaltet den Fels mit seinem Dreizack und xwar so, dass
das Stück, auf welchem Ajax stand, ins Meer fällt. Das
Meer also, dem er entrinnen' zu können glaubte, verschlingt
ihn doch, das ist der acht epische Gedanke dieser Sage;
darum inuss auch Poseidon den Felsen, auf dem er steht,
nicht ihn selbst mit dem Dreizack berühren. Dieser Erzäh-
lung folgt Philostratus, wie man sieht; es ist characteristisch,
dass er uns niclit mittheilt, wie sein Poseidon herankommt,
was der Dichter auch nicht sagt, aber auch nicht zu sagen
braucht oder richtiger, nach dem Zusammenhang der Stelle
nicht sagen darf.
Die andere Erzählung ist weniger volksthümlich , aber
mehr für. die Tragödie gemacht. Es ist die beleidigte Göttin,
die Pallas, an deren Tempel und Priesterin er gefrevelt hatte,
die ihn mit dem Blitzstrahl lödtet^). Dieser Erzählung folgte
der Maler Apollodor, wenigstens stimmt der Titel seines Bil-
des nur mit dieser, nicht mit der ersten überein. Sein Bild
hat also mit dem Philostratus nichts zu schaffen.
Und warum gab wol Apollodor der spätem Sago den
Vorzug? Weil die erstere gar nicht künstlerisch darstellbar
ist. Poseidon richtet den Dreizack nicht gegen den Frevler
selbst, sondern gegen den Felsen. Man denke sich das ge-
malt und wir werden verwundert fragen, warum die Hand
des Gottes nicht den Frevler selbst treffe. "Was in der ho-
1) Es ist mir unbegreiflich, wie Welcker den Unierschied der
beiden Sagen, die so ganz verschiednen geistigen Stimmungen
entstammen, verwischen konnte (Griech. Tragüd. I. p. 161).
Und der Text des Schriftstellers wird wieder nicht berück-
sichtigt. Welcker sagt, der Zorn der Athene sei die innere
Triebfeder, wie auch die Odyssee in der Schilderung von
Poseidons Treiben selbst zu erkennen gebe. Grade das Ge-
gentheil sagt die Odyssee:
y.ai vv y.tv fxtfvyt xrjon X(u i/fhö^ttvög ntQ '4>'^iivri,
fi jit^ vniQifitikov enog fxßaXf y.cu ftiy ctän'irj.
Also das übermüthige Wort, nichts Andres, ist der Grund
seines Todes.
198
merischen Erzählung schön und bedcut.sam isl, das ist gemalt
lächerlich. Hier kann sich der Zorn des Gottes nur unmit-
telbar gegen den Frevler selbst wenden, denn so äusserl sich
eben der Zorn. Dann ist auch der Untergang des Ajax gewiss,
während er im andern Fall noch die Möglichkeit hat, zu ent-
kommen. Und alle sinnliche Deutlichkeit würde das Bild ver-
heren, es bedürfte eines Schlusses, um seinen Sinn zu be-
greifen.
Schhissbe trachtung-.
Es wäre das Leichteste gewesen, alle Bilder der Philo-
strate der Reihe nach zu zerghedeni , aber auch das Lang-
weiligste und UnA\ i.ssenschal'ilichste. Ich habe das zu ver-
meiden gesucht und glaube nun genug Beispiele angeführt
zu haben zur Beurtheilung der ])hilostratischen „Bilder."
Auch bei den besprochenen Bildern kam es. mir nicht darauf
an, sämmtliche Fehler hervorzuheben; wenn das Princip
einmal festgestellt ist, so kann leicht Jeder für sich die An-
wendung im Einzelnen machen. Zudem befinden sich unter
denjenigen, welche ich nicht berührt habe, gerade die absur-
desten; es widersteht mir, Bilder wie die „Gewebe'-' des
altern, die „Jäger"' des Jüngern Philostratus zu zergliedern.
Zwar genügt kein einziges unter den philostratischen Bildern
der ersten Anforderung an ein Kunstwerk , dass es Causali-
tätsnexus in sich enthalte. Denn das Kunstwerk ist etwas
aus dem Geist Gehörnes, es hat, wie Hegel sich einmal aus-
drückt, die Taufe des Geistigen erhalten , es können also in
ihm die Dinge nicht zufällig neben einander stehen, wie in
der Wirklichkeit. Misst man mit diesem JMaassstabe, den
uns ja eben die erhaltenen Kunstwerke bieten, die philostra-
tischen Bilder, so fallen sie sämmtlich in Stücke auseinander,
aber es gibt graduelle Unterschiede, je nachdem der Rhetor
selbständig operirt, oder nur entstellende Zusätze zum dich-
terischen Vorbild hinzufügt.
Die Absicht des Philostratus war, Bilder zu fingiren.
Es sind alle Gattungen in seiner angeblichen Gemäldegallerie
vertreten : neben den mythischen Darstellungen , die sich —
recht characteristisch — vornehmlich im Sentimentalen, Ver-
liebten und im Grässlichen bewegen und zum grossen Theil
200
aus dorn Eiiripidcs enllehnt sind, dessen pathetische Tragödie
einem Phrasenmaclier besonders willkommen sein musste,
finden wir historische Stücke, Allegorie, Genre, Naturdar-
stellungen und auch Thier- und Fruchtstücke. Auch darin
zeigt sich diese Absicht, dass er an ein paar Stellen die
Menge von gewissen im Bilde befindlichen Dingen nicht, wie
gewöhnlich, als unbestimmte Vielheit, sondern in bestimmten
Zahlen angibt. Sonst aber pflegt er keine Angaben zu
machen, die als von der Anschauung genommen angesehen
werden könnten : er pflegt nicht den Platz zu bestimmen,
den die Figuren im Bilde einnehmen , von links und rechts,
vor und hinter, unter und über spricht Philostratus sehr sel-
ten". Auch versucht er nicht, seinen Figuren individuelle
Verschiedenheiten anzudichten, man lese, wie er schöne Frauen
und Jünglinge beschreibt^)! Immer kehren dieselben Phra-
sen wieder, die Figuren sehen sich so ähnlich wie ein Ei
dem andern, und keine dieser Beschreibungen gibt ein Bild,
weil sie sich nur in den abstrakten Elementen der Schönheit,
wie Symmetrie u. dgl. bewegen. Solche Beschreibungen sind
freihch begreiflieh, wo die Anschauung fehlte. In den Kunst-
werken seiner Zeit aber sich umzusehen und mit ihrer Hülfe
seinen Fiktionen den Schein der Wirklichkeit zu geben, ver-
schmähte der Rhetor, aus Eitelkeit, wie ich glaube. "Wir
mussten allerdings einige Reminiscenzen aus wirklich ge-
sehenen Kunstwerken zugeben, die — was characteristisch
ist — mit Darstellungen römischer Monumente übereinstimm-
1) An Schmuck und Putz lässt er es nicht fehlen; natürlich das
hält so ein Mensch für schön. Man erinnei-e sich des Wortes
von Apelles (Clem. Alex. Protrept. II, 12): ^Trtlkijg 6 foj>'(»«-
(f'og xh((cG('(f.t€v6s Tiva töiv /nnH^rjTdiv 'Ekevtjv ovöfAtcn no'/.vxQV-
aov '/gnipfcrui , u> /uiiQnxiov^ tlntv^ /.itj Swäfifrog y()t't\pai
xalijV nkovaiav ntnoit]xag. Das Wort beweist, dass in der
griechischen Malerei Einfachheit und Anspruchslosigkeit der
äussern Erscheinung angestrebt wurde , wie man auch aus
den Vasen (mit Ausschluss der unteritalischen Art, die in
dieser Hinsicht sich mehr den römischen Wandmalereien
nähert) abnehmen kann.
201
ten, aber immer wnr es nur eine Einzelheit, nie ein ganzes
Bild^). Wie geringes Verständniss der Kunstwerke aber
Philostratus besass , das , glaube ich , ist durch die oben an-
gestellte Vergicichung mit den erhaltenen Werken klar ge-
worden. Er gab sich nicht die Mühe, eines Andern, eines
Künstlers Gedanken zu begreifen, es soll etwas Eignes sein'
er will seine Lektüre, seine Gelehrsamkeit und seine
Albernheit zum Besten geben ^j. Sowohl in der Sache als
in der Form.* Denn auch seine Wörter und Wendungen sind
aus Dichtern genommen , ohne Verständniss der Poesie und
Sprache. Er ist ein sprechendes Beispiel, wie die Form
werthlos ist ohne den Geist, der sie geschaffen. Ja sogar
widerwärtig sind die poetischen Floskeln des Rhetors, weil
sie so prätentiös auftreten. Es ist an vielen Stellen sichtlich,
dass es dem Rhetor nur darauf ankam, seine poetischen
Redewendungen zur Schau zu stellen , die seiner Eitelkeit
natürlich geistreich und gewählt erschienen, in Wahrheit aber
ein widerwärtiger Schein sind. Bei dem Dichter sind sie
der nothwendige Ausdruck seiner bewegten Seele, bei dem
Rhetor ein erborgter Flitter, der die Geistes- und Gemüths-
armuth des Menschen nicht verhüllt, sondern nur deutlicher
offenbart.
Aus der Reihe der Kunstsehriftsteller also ist Philostra-
tus zu streichen, aber wichtig bleibt er, ja er wird, wenn
die Resultate dieser Untersuchung richtig sind, noch wichti-
1) Die Hymnensängerinneii (Sen. 2. 1) indess, von denen Welcker
sagt: hanc tabulam perpendant ii , quibus, dum altius non
inquisiverint, de ejus (Philostrati) fide nondum plane persua-
sum est, kann ich nicht als eine solche Reminiscenz ansehn.
Die Bemerkungen Welcker s sind schon von Stephani, Nimbus
und Strahlenkranz p. 113 richtig beurtheilt. — Uebrigens
kommt es mir auf ein paar Reminiscenzen mehr oder weni-
ger nicht an.
2) Eben desswegen hat er. wenn ich nicht irre, den Knaben
eingeführt, dem er die Bilder erklärt. Man sieht es an meh-
reren Stellen sehr deutlich, dass dieser nur dazu da ist, um
die Abschweifungen des Rhetors gleichsam zu entschuldigen.
202
ger als bisher für die Literaturgeschichte des dritten Jahr-
hunderts^).
Und wie kam es, dass so viele kunstsinnige Männer,
dass namentlicii Goethe sich für den Philostratus begeisterte?
Es waren die ausgeschriebenen Dichter, die zu schön sind,
als davss sie nicht auch in der Behandlung eines Philostratus
Entzücken wecken müssten, es waren die herrüchen Stoffe,
die Philostratus eben in diesen Dichtererzählungen dem Künst-
ler bot. Das läugnen auch Avir begreiflicherweise nicht, dass
Homer und Pindar, Aeschylus und Euripides reich sind an
den edelsten, grüssten Vorwürfen für den bildenden Künstler,
aber wie bei den Stoffen, die Natur und Menschenleben bie-
ten, so bedarf es ebenso bei den Bildern der Dichter einer
Umbildung, wenn sie künstlerische Bilder werden sollen.
Diese Umbildung macht die innere Thätigkeit des Künstlers
aus, deren Folge dit Arl^eil in der Materie ist. Sie fehlt
den philostratischen ,, Bildern", und ebendarum sind es keine
Bilder.
Ich kann diese Untersuchung nicht schliessen, ohne dank-
bar des Mannes zu gedenken, von dem ich insbesondere für
die vorliegende Schrift die tiei'ste Anregung erfahren halye.
Ich meine Lessing. Er war der Erste, der Kunst und Poesie
methodisch verglich und damit der Arehaeologie ihre eigent-
liche Avissenschaftliche Grundlage gab. Grundverschieden
von Winckelmann hat er doch keine geringere Bedeutung für
die "Wissenschaft , als dieser. Seine Lebensschicksale boten
ihm wenig Anschauung der alten Kunst, aber seine Natur
war auch nicht dafür organisirt. Winckelmann war auf die
Anschauung gerichtet, Lessing auf die Erkenntniss, jener be-
geistert sich für die Form, dieser sucht, was hinter den For-
men liegt, den Gedanken: der Eine hebt sich empor zum
Ideal, der Andre dringt hindurch zur Idee. Möchte diese
Schrift ein Geringes beitragen zum erneuerten Studium Les-
sing's !
1) Die Literaturgattung des Pliilostratus hat als ihren Urlieber
wol Lucian de domo , nur dass dieser wirkliche Kunst\N erke
beschreibt.
E X c II r s e.
Excurs I.
leber die Entwicklung' der Gesichtsformeii iu der
griecliisclieu Kirnst.
Wer Unterschied der Physiognomie iu aUerthümlicher
und vollendeter Kunst ist besonders in drei Eigenthümlich-
keiten sehr deutlich. Erstens ist die ProfiUinie im alter-
thümlichen Stil schrägliegend, im vollendeten nähert sie sich
einer senkrechten Linie. Auf den Vasen ist es ein ganz durch-
gehender Unterschied und auch die ältesten Sculpturen, wie
der Apoll von Thera, der Fries von Assos , das samothraci-
sche Relief und manche andre, unterscheiden sich dadurch
sehr deutlich von dem Harpyienmonument, von dem Relief
der wagenbesteigenden Göttin aus Athen u. s. w., auf denen
die Profillinie bereits schon so ist, wie in der vollendeten
Kunst. Jene erinnern an die Peruginer Bronzen in der
Glyptothek zu München, deren Figuren ein fast vogelähn-
liches Profil haben. Die fortgeschrittene Kunst schiebt die
Stirn -vor , die im ältesten Stil zurücktritt, und gibt dadurch
ihren Gestalten ein menschhcheres , ein geistiges Ansehn.
Denselben Sinn hat die zweite wichtige Veränderung , die
sich auf die Lage der Augen bezieht^). Das Auge dringt
1) Dabei bemerke ich, dass die plastische Darstellung des Aug-
apfels auf Marmorwerken — denn malerisch geschah das
schon früh, wie überhaupt Manches früher malerisch aufge-
tragen ist, was später plastisch dargestellt wurde — , die
an spätem römischen Büsten so gewöhnlich ist, als an dem
200
im ältesten Stil aus dem Kopf iieraus, es ist ein rein sinn-
liclies Organ: aber im Fortgang der Kunst wird es immer tiefer
in den Schädel hineingeschoben und in demselben Maasse
fähig zum Ausdruck der Seele. Man könnte hier wol eine
P-rscheinung in der Literatur vergleichen. Wenn man nämlich
(htrnuf achtet, wie die Dichter vom Auge sprechen, so findet
sich bei Homer noch keine Stelle, worauf auf ein sentimen-
tales Interesse an diesem seelenkündenden Organ zu schlies-
sen wäre. Von den leuchtenden Augen der Götter, von
zornfunkelnden Augen ist die Rede^), aber wie ganz anders
klingt das, was wir in Lyrik und besonders in der Tragödie
finden! Ich will nur des Aeschylus Iphigenie erwähnen,
die aus den Augen das Geschoss des Mitleids entsendet, und
den E]ros des Euripides, dem süsse Sehnsucht vom Auge
träufelt, Schilderungen wie sie im Homer nicht vorkom-
men könnten.
Die dritte Eigenthümüchkeit bezieht sich mehr auf die
Miene , als auf die Form. Ich meine das Lächeln der alter-
thümlichen Kunstwerke. Was darüber Yerschiednes gesagt
ist, darf ich übergehn , weil es ohne zureichende Kenntniss
des Materials vermuthet ist; Bemerkungen wie diese, es sei
..huldvolles Lächeln'^ beabsichtigt ^) , würden immer nur auf
einzelne Stücke anwendbar sein, so dass man eine und die-
selbe Erscheinung bald so , bald so erklären müsste. Das
Lächeln ist eine allgemeine Erscheinuna: der alterthüm-
frühsten datirbaren Beipiel am farnesischen Herkules sicli
findet. Schon aus diesem Grunde hätte der in der Pariser
Bibliothek zum Vorschein gekommene Nointel'sche Marmor-
kopf eines Jünglings nicht zum Parthenon gereclinet wer-
den sollen.
1) Das Venusauge ist bei Homer noch nicht i';'(joj', es wäre zu
sentimental für ihn. er gibt ihr oufXKTa tuccoKccinorr«.
2) Welcker über den Apoll von Thera in A. D. I, 401. Bei
Overbeck (Gesch. d. Plast. I, p. 121) findet man etwas Ge-
dankenlosigkeit, insofern nur das Lächeln erklärt werden
soll, aber die Ausdruckslosigkeit des ganzen Kopfes erklärt
\% i r d.
207
liehen Kunst, auf Münzen niclil Mcuii>er deutlieh als in Re-
liefs und SlakuMi wwd aucli auf den Vasen sehr häufig. Es
findet sieh selbst noch In phidiassischen Werken, wenn näm-
lich der Webersehe Kopf, an den» es, freilieh ohne alles
Grinsende, noch unzweifelhaft wahrnehmbar ist, zum Parthe-
non gehört. Merkwürdig, dass man das „ehrbare und ver-
stohlene Lächeln", das der Sosandra des Kaiamis beigelegt
wird, nicht damit in A^erbindung gesetzt hat, da es ja offen-
bar dasselbe ist 3). Denn wie könnte z. B. der Ausdruck
der Göttinnen am Harpyienmonumenl treffender bezeichnet
werden ?
Und warum lach ein' denn nun die alten Kunstwerke?
Der Grund liegt in der Innigkeit der alterthümlichen Kunst.
Wer die Stimmung nachempfunden hat, aus der diese For-
men hervorgingen, wen die Keuschheit und Zartheit einer
Kunst gerührt hat, die eine ehrbare, bürgerliche, enge, treue
Zeit zum Hintergrund hat, wer das Streben nach Zierlichkeit
und Grazie begreift, dem treuster Fleiss, das gerade Gegen-
theil der leichtfertigen GeniaUtät, eines Kindes späterer Zeit,
die Hand leiht, der wird es begreiflich finden, wenn man
in die Miene des Antlitzes den Ausdruck einer freundlich
innigen Seele zu legen suchte. Es gelingt bald besser, bald
schlechter, je nach der Stufe der Kunst, wunderbar ergreifend
) Wenn die Mouuniente und scliriftstellerischen Notizen erst in
lebensvoller Verbindung behandelt werden , so %Aird man
auch die quadrata corpora des Polyclet mit den Stileigen-
thümlichkeiten der selinuntischen Metopen in eine und die-
selb.e Entwicklungsreilie setzen. Denn das Auszeichnende
dieser Sculpturen und zwar durch alle drei Perioden hin-
durch, die nur graduell darin unterschieden sind, besteht
eben in dem kurzproportioairten, vierschrötigen Körperbau.
Sehr schön und wahr hat 0. Jahn (Bar. d. sächs. Gesellsch.
d. Wiss. 1852 p. 56 vgl Taf. 4) denselben Stil in einigen si-
cilischen Terrakotten nachgewiesen, denen sich mehrere in
dem Kgl. Antiquarium zu Berlin anreihen. Derselbe ver-
gleicht auch vollkommen treffend die Reliefs von Olympia:
dieser selinuntische Stil war also nicht bloss lokal.
208
am Harpyieninonument, das überhaupt wol das seelenvollste
Produkt der alterthümlichen Kunst genannt werden kann.
Eines eigentlichen Beweises ist der Gegenstand nach seiner
Natur nicht fähig , hier gilt es , wenn irgendwo, nachzuem-
pfinden die Stimmung, die hinter den Formen liegt.
Dies Lächeln ist der erste Funke der Elmi)findung , der
aus der starren Ruhe des Steins , hervorbricht : es ist die
erste Regung der Seele, die nun frei ihre Schwingen hebt,
um zu dem Höchsten zu gelangen. Die vorgriechischen
Völker sind nicht bis zu dem Punkt gekommen, wo die Of-
fenbarung der Seele beginnt.
Excurs IL
lieber die RauiiifüUüiig «auf den Vasen.
Die Ausfüllung des Raumes ist so sehr ein Gesetz der
alten Kunst, dass der Mangel derselben zum Zweifel an der
Aechtheit des betreffenden Werks berechtigt. Um dieses Ge-
setzes willen erlaubt sieh die alte Kunst Verstösse, die man
tadeln niüsste, wenn sie nicht nothwendig wären, um den
wohlthuenden Eindruck eines angemessen angefüllten Rau-
mes hervorzubringen. Man hat oft darauf aufmerksam ge-
macht , dass am Fries des Parthenon die sitzenden , stehen-
den und reitenden Figuren gleich hoch seien, gegen die Na-
tur , aber der Raum verlangte es so. Dieser Isokephalismus
ist indess nichts dem Parthenon ausschliesslich Eignes, man
vergleiche das Harpyienmouument, die Metope des Vierge-
spanns aus Selinus, wo die Figur auf dem Wagen nicht
höher ist als die daneben stehenden, und ein andres Relief
aus Selinus 1). Das merkwürdigste Beispiel liefert aber wol
der Fries von Assos. Hier sind die liegenden Figuren in
unverhältnissmässiger Grösse und Breite gegen die stehenden
dargestellt; dies musste geschehn, wenn Liegende und Ste-
hende, wie es der Fall ist, mit den Köpfen gleich hoch hin-
aufreichen sollten. Auch am Parthenon sind die sitzenden
Figuren nicht bloss durch die Länge von den stehenden ver-
schieden; soll nun eine liegende Figur gleiche JHöhe haben
mit einer stehenden, so muss sie natürlich noch um so mehr
an Länge und Breite vergrossert werden. Auch ein merk-
würdiges Beispiel liefert ein Friesrelief von Aphrodisias, auf
dem Zeus als Gi2;antentödter durch merkwürdige Kleinheit
sich von den mitkämpfenden Göttern unterscheidet, was, wie
i) Serradifalco Antichita della Sicilia II, 27. Noch in der spä-
testen Zeit römischer Skulptur ist dies Gesetz befolgt; vgl.
das obere Bild des Berliner Musensarkophags in Archaeol.
Ztg. I, Taf 6.
14
210
auch Wieseler') bemerkt, sich nur durch die räumlichen
Verhähnisse erklärt. Ueberhau])t iu jeder Gattung von Mo-
numenten gibt es Beispiele], dass um des Raumes willen Fi-
guren verkleinert vrerden 2).
Es ist indess nicht meine Absicht , alle Gattungen der
Monumente in diese Erörterung hereinzuziehn; ich beschränke
mich auf die Vasen und will historisch verfolgen , wie man
der Kaumfüllung zu entsprechen suchte. Historisch zu ver-
fahren , genau die verschiedenen Perioden zu scheiden , ist
durchaus nothwendig, denn es ist von vornherein zu erAvar-
ten, dass die werdende Kunst sich mit den Forderungen des
Raums nicht so gut abzufinden weiss, wie die vollendete ^j,
dass sie sich äusserlicherer Mittel bedient, um den gegebenen
Raum zu füllen. Zugleich ist diese Untersuchung nicht un-
wichtig für die Exegese der Vasen, insofern sie eine genaue
Scheidung nothv\^endig macht zwischen denjenigen Ele-
menten der Darstellung, die wirkhch materielle Bedeutung
haben und den bloss formellen, durch Forderungen des Rau-
1) Zu IT, 66. 845 a seiner Denkmäler.
2) Oft auf Gemmen z. B. Tölken III. n. 58: Ares einen Gi-
ganten tödtend. Vgl. den Herkulessarkopliag bei Visconti
Pio-Clem. IV, 4, 7.
3) Dies lässt sich auch in sein* interessanter Weise bei den
iJ Unzen verfolgen. Mau gehe historisch z. B. die Münzen
von Metapont durch. Die numi incusi haben nur die Aehre
und auf der einen Seite derselben die Anfangsbuchstaben
der Stadt, so dass also der ganze Raum auf der andern
Seite der Aehre leer ist. Später wird auf der leeren Seite
etuas hinzugefügt, das Blatt der Aehre, eine Maus, ein Vo-
gel, ein Stern u. s. w., wodurch der auf der andern Seite be-
iindlichen Schrift das Gleichgewicht gehalten wird. Natür-
lich haben diese Zuthaten ihre besondre Bedeutung, sie sind
nicht bloss raumfüllend, aber zugleich raumfüllend. Eben
dasselbe findet man auf Krotonischen Münzen. Anfangs ist
die eine Seite neben dem Dreifuss leer , später wird ein
Storch u. s. vv. beigefügt als Gegengewicht der Schrift auf
der andern Seite. Ist hier aus diesen Beispielen nicht deut-
lich sichtbar, wie das Gefühl für Raumausfülluns fortschreitet?
211
mes bedingten. Freilich ist diese Scheidung nicht im Sinne
derjenigen exegetischen Richtung, welche kein anderes Er-
klärungsmittel als die Mythologie kennt und vielleicht unbe-
wusst die Vasen nicht als Produkte eines künstlerischen
Triebes, sondern als Produkte mythologischer Reflexion an-
sieht. Diese Richtung kennt gar nicht die Frage, ob dies
oder jenes Beiwerk symbolisch oder nicht symbolisch
sei; sie geht von der stillschweigenden Voraussetzung aus,
dass Alles symbolisch sei und nur über das Wie findet
Meinungsverschiedenheit statt.
Der älteste Vasenstil, den man den korinthischen zu
nennen pflegt, bedient sich als raumfüllender Mittel der Ro-
setten un^ phantastischen Blumenranken. Damit übersäet
er die Zwischenräume der Figuren in kindlicher Freude an
allerlei buntem Zierrat so sehr, dass der Raum mehr über-
füllt als ausgefüllt erscheint. Man sieht, dass diese Mittel
rein äusserlich sind , Avenn sie auch dem Character dieses
Stils entsprechen. Denn gerade zu den märchenhaften Thier-
figuren, die uns mit grosser Lebendigkeit entgegentreten,
stimmt sehr gut das Ornament seltsam phantastisch gezoge-
ner Blumenranken. Indessen bleiben doch diese Mittel, na-
mentlich die Rosetten, etwas rein ^eusserliches, was mit der
Darstellung selbst nichts zu schaffen hat; das aber verlangen
wir grade, dass dasjenige, was den Raum füllt, zugleich für
die Darstellung bedeutsam sei; erst dann kann man sagen,
Raum und Bild sind völlig eins geworden. Im schwarzfigu-
rigen Vasenstil verschwinden die Rosettea und Blumenranken
bis auf ganz vereinzelte Fälle. Da nämlich, wo Thierreihen
dargestellt sind nach Art des ältesten Stils, wird auch die
Rosette beibehalten; sonst aber hat man andre Mittel, den
Raum zu füllen, und zwar der verschiedensten Art ohne die
stereotype Art des vorhergehenden Stils; es regt sich auch
hierin die individuelle Freiheit. Zunächst dienen Inscliriften
und zwar sinnvolle und sinnlose zur Füllung des Raumes.
Die sinnvollen Inschriften dieses und des fi'ühern Stils sind
nämhch ganz anders angeordnet als später; sie sind nicht
regelmässig in einer Richtung fortlaufend über den Köpfen
14 ♦
212
der Figuren angebracht, wie das später der Fall ist, son-
dern sie finden sieh in den Zwischenräumen der Figuren,
zwischen den Beinen von Menschen und Thieren , kurjf sie
sind so angebracht, dass irgend ein leerer Fleck dadurch
ausgefüllt wird. Diese Anordnung beweist, dass die sinn-
vollen Inschriften ausser ihrer Beziehung zur Darstellung zu-
gleich der Raumausfüllung dienen sollten i). Die sinnlosen
Inschriften aber, die später verschwinden, hatten nur den
Zweck der Raumfüllung, da sie ja als sinnlos nicht zur Dar-
stellung gehören können, und mir scheint, die wunderhche
Art, wie sie über das ganze Bild verstreut alle leeren Flecke
ausfüllen, ist sprechend genug. Man hat indessen nach an-
dern Erklärungsgründen für diese sinnlosen Inschriften ge-
sucht, aus denen ich mich begnüge, die Ansicht O. Jahn's
hervorzuheben. Dieser meint 23, man habe in Ermangelung
wahrer Inschriften auch sinnlose nur scheinbare als einen
Schmuck dieser Gefässe angesehn, den man nicht missen
wollte. Dabei scheint aber übersehn, dass sich sehr häufig
auf einem und demselben Gefäss sinnvolle und sinnlose
Inschriften vereinigt finden. Eben diese Vasen sind, wie ich
glaube, für meine Ansicht selir beweisend. Man betrachte
nur das Bild in Gerhard's Auserles. taf. 236, das die Töd-
tung des Minotaurus darstellt. Links und rechts von der
Hauptgruppe stehn Männer und Frauen in ihre Mäntel ge-
hüllt in reicher Anzahl. Der Zwischenraum zwischen je
zwei Figuren ist durch eine vertikal laufende Inschrift aus-
1) So war es auch auf dem Kasten des K3'pselos, wie eine bis-
her nicht richtig verstandene Stelle des Pausanias beweist.
Die Inschriften, sagt er, laufen zum Theil gerade fort, zum
Theil sind sie ßovaTQoif^Söv zu lesen, aber auch sonst sind
sie in schwer zu verstehenden Windungen geschrieben (V,
17, 6: yiyQCtTTTCit J* in) r;) XaQVay.i xul ilXkujg t« iniyQ('(/u-
fiaia ii.iyf4oTs avyßal^ad^ai x^ü.tnoig'). Mit diesen letzten
Worten bezeichnet er genau die wunderlich gewundene Art,
in welcher die Inschriften auf den Vasen angebracht zu wer-
den pflegen.
2) Einleitung p. 114.
213
gefüllt, welche den deutlich lesbaren Namen der zunächst
stehenden Person angibt. Diese sinnvollen Inschriften aber
waren nicht lang genug, um den ganzen Zwischenraum zwi-
schen je zwei Personen zu füllen, darum fügte man über
den sinnvollen Inschriften sinnloses Geschreibsel in derselben
vertikalen Richtung laufend hinzu ^). Dies naive Mittel der
Raumfüllung verschwindet, wie schon bemerkt, in der spä-
tem Kunst.
Das zweite eben so häufige Mittel der Raumfüllung auf
den schwarzfigurigen Vasen sind die Rebzweige. Man hat
sie sehr häufig symbolisch erklärt, man hat darin Anspie-
lungen auf Dionysos erblicken wollen. Wenn man aber,
was doch -der einzig mögliche Weg ist, um über eine Ein-
zelheit in's Klare zu kommen , die Gesammtheit der Fälle
oder wenigstens möglichst viele Fälle vergleicht, so kann
diese Ansicht nicht bestehn. Ich läugne nicht, dass diese
Rebzweige, wenn sie in der Hand des Dionysos erscheinen,
ein characteristisches Attribut für den Gott sind, aber auch
in diesem Fall dienen sie zugleich der Raumfüllung; sonst
finden wir sie in allen möghchen mythischen Darstellungen,
in Scenen des fcägHchen Lebens, wo Epheben sich üben,
Mädchen Wasser holen, ja selbst in einer simplen Darstel-
lung von ein paar Rindern. Soll nun in allen diesen Fällen
eine Beziehung auf Dionysos herausgefunden werden oder
wird man nicht vielmehr sagen müssen, die Rebzweige sind
in den meisten Fällen nur raumfüllend, in Darstellungen des
Dionysos zugleich raumfüllend? Im ersteren Fall entspre-
chen sie den sinnlosen, im letztern den sinnvollen Inschriften,
Diese Ansicht empfiehlt sich besonders durch die Art, wie
sie gezogen sind; sie pflegen nämlich, wunderlich genug,
wenn sie symbolisch zu erklären wären, in alle leeren Flecke
1) Auf dem Bild im Mus. Gi-cgor. II, 67, 1 a wechseln einfache
Kreise als raumfüllendes Mittel mit Buchstaben ähnlichen
Zeichen ohne Sinn, wodurch auch der Zweck der letzteren
sein* deutlich ist.
214
des Bildes hineinzureichen ^). Man darf auch nicht daran
denken, dass diese Rebzweige etwa den Schauplatz der
Handlung bezeichnen sollten. Dieser Meinung steht nämUch
der Umstand entgegen , dass sie in sehr vielen Fällen gar
nicht auf dem Boden stehende Biiume sind, sondern nur
Ranken, die von den Körpern der Figuren auszugehen sehei-
nen 2). Aber auch da, wo das Erstere der Fall ist, nmss ich
läugnen, dass sie zur Characterisirung des Lokals dienen,
eben wegen der Art, wie die Zweige gezogen sind und we-
gen ihrer stetigen Wiederkehr.
Ferner werden allerhand Thiere zur Raurnfüllung ver-
wandt; hier kann man allerdings in einzelnen Fällen schwan-
ken, ob nicht neben dem Formellen zugleich Bedeutsamkeit
für die Darstellung beabsichtigt sei, mid dieses SchM-anken
ist grade bei einer Kunststufe, die eben bemüht ist, das For-
melle in ein zugleich Materielles zu verwandeln, sehr erklär-
lich ; M enn man aber immer möglichst viele Fälle vergleicht
und, was nicht genug hervorgehoben werden kann, den Platz
berücksichtigt, den das Beiwerk im Bilde einnimmt, so dürf-
ten sich die zweifelhaften Fälle auf ein Minimum reduciren.
Den Platz] zwischen den je acht Pferdebeinen eines Viergespan-
nes , die immer alle sichtbar sind , lässt die schwarzfigurige
Malerei sehr selten unausgefüllt. Wenn nicht Inschriften oder
Rebzweige hineinreichen, so stellt man — und das ist das
Gewöhnliche • — eine Figur so hinter die Pferde, dass die
Beine derselben den leeren Raum ausfüllen: auf mehreren
Vasen hat sich der Maler in höchst naiver Weise geholfen 3).
Es sind Bilder am Hals von dreihenkligen H} drien . deren
Bauch gleichfalls bemalt ist, und da hat nun der Maler die
Pallas des untern Bildes mit ihrem Helm so in die obere Dar-
stellung hineinragen lassen, dass grade der betreffende Raum
1) Ebenso und aus demselben Grunde werden die Kränze, mit
denen Figuren geschmückt sind, oft weit über den Kopf hin-
aus verlängert, z. B. Gerhard Auserles. 4, 316.
2) Sehr instruktiv ist auch das Bild in El. ceram. 11,40. wo von
einem Palmbanm Rebzweige ausgehn.
3) Z. B. Mus. Gregor. II, 7, 1. 2.
215
ausgefüllt wild. An eben derselben Stelle finden wir auch
Thiere der versehiedensteu Art. Auf einer Vase , welche
den Auszug eines Kriegers darstellt'), kriecht unter den
Pferdebeinen eine Eidechse in die Höhe, unverhältnissmässig
gross gemalt, um eben den Raum auszufüllen. Man hat dies
Beiwerk symbolisch gedeutet, man hat an die Bedeutung
der Eidechse als eines weissagerischen Thiers erinnert und
eben darum den ausziehenden Krieger für den Seher Am-
phiaraus erklärt. Allein wie unverständlich hätte der Maler
seine Absicht ausgedrückt durch die Stelle, die er dem Thier
gab! "VS'arum brachte er es nicht in die Nähe der Person,
zu der es bezogen werden soll? Und es ist ein ganz ähn-
liches Bild 2) mit demselben Thier an derselben Stelle vor-
handen, das unmöghch auf den Auszug des Amphiaraus be-
zogen M^erden kann: denn da keine Frau da ist, so* würde
die dieser Darstellung wesentliche Figur der Eriphyle fehlen.
Die Eidechse scheint mir demnach zum Zweck der Raum-
ausfüllung hineingemalt, so Avie die Sirene, die Gans''), die
sonstigen Vögel, ja sogar die kleinen Männer, die mehrfach
eben unter den Pferdebeinen vorkommen*). Aber auch die
1) Gerhard Auserl. 263.
2) In München n. 730 des Jahn'sclien Katalogs. Ob dagegen die
Eidechse bei Gerhard Auserl. 220 ebenso zu beurtheilen, da
sie einen ganz andern Platz im Bilde hat. ist mir zweifelhaft.
3) Gerhard Auserles. 107. 385. 322.
4) Gerhard Auserl. 310 und sonst. Auch unter Thronsesseln
finden wir dieselben kleinen Männer, z B. Gerhard Auserles. 7.
Hier sind sie offenbar als stützende Figuren gedacht, zu ver-
gleiclien dem von Figuren getragenen Thronsessel des amy-
kläischen Apollo. Bemerkenswerth ist übrigens , dass auf
Reliefs aus Ninive und Persepolis ganz älmlich unter Thron-
sesseln solche stützende Figuren sich linden . so dass hier
eine Entlehnung stattgefunden zu haben scheint. Vgl. Botta
et Flandin: Monum. de Ninive 1, 18 und Flandin et Coste
pl. 155. Was über diese Figuren in den Vasenerklärungen
bemerkt ist, glaube ich übergehn zu dürfen. Wirkhch un-
glaubliclieii Unsinn findet man in El. ccram. zu I, 59. — Dass
216
Vögel im obern Raum der Bilder, die so häufig sind, "nament-
lich in Rciler- und Kampfscencn, also in Scenen, die im
Freien vor sich gehen, haben meiner Ansicht nach keine
tiefere Bedeutung. Sie können nicht auf ein augurium be-
zogen werden, da sie beide Parteien einer Schlacht in glei-
cher Weise begleiten; es sind vielmehr die Vögel, die im
Freien fliegen und mit ihren ausgebreiteten Flügeln sehr gut
den Raum hinter dem Rücken eines Reiters ausfüllen, wo
sie durchgehends sich finden i). Dies sind die hauptsächhch-
sten Mittel des schwarzfigurigen Stils; Blumen und Sträucher
finden sich ganz ungewöhnlich selten 2), sie gehören einer
spätem Periode an. Es leuchtet ein, dass diese Mittel auch
noch, wenn auch in geringerm Grade als im ältesten Stil,
ungenügend sind, sie erscheinen auch noch wie etwas äusser-
lich Aufgesetztes, aber es zeigt sich doch das Bestreben, das
formell Nothwendige zu einem Sinnvollen zu machen. Wäre
dies nicht , so könnte nirgends ein Zweifel stattfinden und
selbst die sinnlosen Inschriften erregen doch wenigstens den
Schein, zur Darstellung zu gehören.
Es geht aber noch aus andern Dingen hervor, wie man
in jener Zeit den Raum noch als Beschränkung empfand.
Um des Raumes willen wird nicht selten eine Figur in
merkwürdiger Weise verkleinert. So ist es durchgehends in
den Darstellungen der vom Ajax verfolgten Kassandra, die
wie ein kleines Mädchen, nicht wie eine Jungfrau aussieht.
aber die kleinen Männer unter den Pferdebeinen nur in der
Absicht hinzugefügt sind , um den Raum zu füllen , bc\A eist
schlagend Micali stör. 86, 4, wo unter den Pferdebeinen ein
kleiner bärtiger, ithypliallischer Silen erscheint. Dass es ein
Silen ist, liegt allerdings in der Darstellung begründet, aber
dass er hier seinen Platz hat und grade nicht grösser ist,
als der Platz erlaubt, das geschieht um der Raumfiillung
willen.
1) Vielleicht sind sie von den assyrischen Reliefs entlehnt, wo
in Schlachtscenen adlerartige Vögel häufig vorkoinmen?
2) Und hauptsächlich wol in absichtlich alterthümlichen Dar-
stellungen, wie Gerhard Auserl. 105. 194.
217
Man hat hiefür alleihand andre Gründe angeführt ; mir scheint,
in dem grossen Schild der Pallas, an Avelche sie heranflieht,
liegt der Grund'). Man sehe nur die Bilder an; wenn die,
Kassandra in natürlicher Grösse dargestellt Avorden wäre,
so wäre sie zum grossen Theil eben durch den Schild ver-
deckt; nur aus diesem Grunde, um also ganz sichtbar zu
sein, ist sie so klein dargestellt. Endlich ist noch zu er-
wähnen, dass um des Raumes willen selbst eine nothwen-
dige Figur ausgelassen wird , so z. B. eine Göttin im Paris-
urtheiP), und dass andrerseits bedeutungslose Figuren in be-
liebiger Anzahl zu einer Handlung hinzugefügt w^erden').
Es lässt sich das namentlich sehr deutlich an den Kämpfen
der Heroen nachweisen. Wie verschieden ist der Zahl nach
das Personal, das dem kämpfenden Herkules oder Theseus
zusieht! Eben diese Verschiedenheit der Zahl ist ein deut-
licher Fingerzeig dafür, dass nicht mythologische, sondern
künstlerische Gründe Hinzufügung oder Weglassung dieser
zuschauenden Figuren bedingen, sie sind eben abhängig von
der Grösse des auszufüllenden Raumes. Daher dürfen für
solche raumfüllende Zuschauer durchaus nicht individuelle
Namen gesucht werden, da ja der Maler selbst nicht be-
stimmte Personen, sondern nur zuschauende Leute über-
haupt malen wollte.
In den rothfigurigen Stil reichen die raumfüllenden Mittel
des schwarzfigurigen hinein, die Rebzweige und sinnlosen
Inschriften , und die sinnvollen Inschriften werden so ange-
ordnet, dass sie zugleich den Raum ausfüllen. Derjenige
Stil aber, den man als den grossarligen zu bezeichnen pflegt,
ich meine den Stil, den Vasen wie die Boreasvasen in Berhn
und München i-epräsentiren , pflegt überhaupt alles raumfül-
lende BeiAverk zu verschmähen. Es ist das wirklich wesent-
lich, wie schon oben bemerkt wurde, mit seinem Charakter
1) So meint auch Gerhard in der Archaeol Ztg. VI, p. 211
Anm. 11.
2) Gerhard Auserl. 172. Vgl. Overbeck Gall. p. 255.
3) Wie auch Jahn Einleitung p. 166 bemerkt.
218
zusammenhangend. Man denke sich auf solchen Vasen auf-
spriessende Ptlanzeu oder auigehängte Kleidungsstücke, Ge-
räthe oder dergleichen, so würde gleich der ganze Charakter
zerstört; es kämen kleine untergeordnete Dinge hinein, wel-
che den reinen Eindruck des Grossartigen beeinträchtigen
würden. Anders aber ist die Sache in dem der Anmuth und
ZierHchkeit zuneigenden Stil der rothfigurigen Vasen. Da
treten wieder raumfüllende Ornamente hervor, aulgehängte
Binden namentlich in Frauendarstellungen, palästrische Ge-
räthe zwischen Epheben. und BlunKu und Sträucher in den
verschiedensten Darstellungen. Immer aber ist das Beiwerk
der Darstellung angemessen, es ist nicht etwas blos Formel-
les, sondern zugleich Materielles, es verdeutlicht und ver-
schönert die dargestellte Handlung. In diesem Stil also ist
erreicht, was der schwarzfigurige anstrebte.
In dem spätesten Vasenstil, den die unteritalische Malerei
darstellt, löst sich wieder der Einklang des Formellen und
Materiellen. Das Streben nach Putz und Pracht, das aller
entartenden Kunst eigen ist, gleichsam als wolle sie durch
bunten Flitter die Aufmerksamkeit von ihrer Innern Schwäche
ablenken, verleitet zu einer UeberfüUung des Raums. Das
Beiwerk wird gehäuft und man kümmert sich nicht mehr
darum, ob es zugleich Werth und Bedeutung hat für die
Darstellung, oder nicht'). Ganz äusserliche Mittel treten
wieder hervor, insbesondre die Rosette in der verschieden-
artigsten Form, dasselbe Mittel also, dessen sich freiUch aus
andern Ursachen der älteste Vasenstil bediente. Vornehm-
lich aber ist es die landschaftliche Scenerie, die Blumen und
Sträucher, womit dieser Stil die grossen Prachtgefässe , die
ihm eigen sind, zu füllen pflegt. Manchmal ist es zweifel-
haft, ebenso wie im schwarzfigurigen Stil , ob ein Ornament
blos formell oder auch zugleich materiell gemeint ist , und
dieser Zweifel scheint hier, wo der Einklang des Formellen
1) So tindet man aufgehängte Binden in Scenen. die im Freien
vor sich gehn, Weinblätter auch in nicht bacchischen Scenen,
■wie El. ceram. II, 23 u. s. w.
219
und Materiellen nicht mehr ganz gewahrt ist, eben so natür-
Hch, wie dort, wo er noch nicht ganz erreicht war. So ist
es bei den Sternen, die man so häufig in der unteritahschen
Malerei, immer aber, wenn ich nicht irre, in dem obern Raum
der Bilder findet. Dass sie in einigen Fällen Bedeutung ha-
ben, lässt sich beweisen 0, aber sie sind so häufig und zwar
in ganz verschiedenen Darstellungen, dass ich behaupten
möchte, sie seien vornehmlich um des Raumes willen hinein-
gemalt, wie die Rosetten, mit denen sie wechseln.
Es hat sich somit eine fortlaufende Entw^icklung heraus-
gestellt, deren Princip ich kurz so ausspreche: Raum und
Bild sind Anfangs zweierlei, sie decken sich nicht, es sind
formelle Zuthateu nöthig, um dem Raum Genüge zu thun.
Nun beginnt das Streben, das Formelle in ein Sinnvolles zu
verwandeln, und im vollendeten Vasenstil ist Raum uftd Bild
völhg eins, ohne Zwang des einen, ohne Ueberschuss des an-
dern. In der Periode der Entartung aber fallen Bild und
Raum wieder auseinander. —
1) Z. B. auf dem Palladienraub bei Overbeck Gall. 34, 20, wo
noch die Mondscheibe sichtbar ist.
Excurs III.
Zur Geschichte der Composition.
Es ist nicht meine Absicht, das ganze inhaltreiche Ca-
pitel von der Comjjositiou zu erschöpfen; ich beschränke
mich darauf, an einem deutUchen Beispiel nachzuweisen, wie
die strenge Gesetzmässigkeit der alterthümlichen Kunst, die
zwar am sichtbarsten ist in Haaranordnung und Ge^^•andung•,
aber auch die ganze Composition durchdringt, allmählich
der Freiheit und Mannigfaltigkeit weicht. Ich will die Com-
position der aeginetischen Bildwerke vergleichen mit der
Composition, die in den Gruppen vom Parthenon sich findet.
In dem erhaltenen Giebelfeld des äginetischen Minerven-
tempels stehen die korrespondirenden Figuren gleich weit
vom Mittelpunkt entfernt. Denken wir sie je zwei durch
eine Linie verbunden, so laufen diese Linien parallel, es ent-
steht das Schema der Periploke^). Nennen wir also die
Göttin a, Ajax b, Teukros c und so weiter, so erhalten Avir
folgende Figur:
e d c i ec h e d e
Dies strenge Responsionsgesetz ist nicht mehr vorhanden
am Parthenon, Hier herrscht wie in vielen andern Monu-
menten sowohl plastischen als malerischen, das Schema der
1) Ich entlehne diese Ausdrücke von Bergk Arch. Ztg, 3, 150 ff-,
olinc dessen Ansicht über die Composition des Kj^pselos-
kastens zu theilen. Was Overbeck N. Rh. Mus. VII, p. 435 ff.
über Composition geschrieben, glaube ich mit Stillschweigen
übergehn zu dürfen.
221
Emploke, d. h. die Linien, durch welche wir uns die korres-
pondirenden Figuren verbunden denken, hudVn nicht parallel,
sondern kreuzen sich. Betrachten wir zunächst die Gruppen
an der Ostseite des Frieses. Die Mittelgruppe — hier ist
eben die im Text erwähnte mir unerklärliche Unsjmmetrie,
dass einem Knaben zwei Mädchen entsprechen, um so auf-
fallender, als durch die divergirende Körperriehtung des Alten
und der Alten die fünf Figuren in zwei Theile zerlegt wer-
den — ist eingefasst von je 3 Gruppen sitzender Figuren,
und hier sind nun die korrespondirenden Gruppen nicht
gleichweit vom Mittelpunkt entfernt. Denn der ersten Gruppe
zur Linken (des Beschauers) entspricht die dritte Gruppe
zur Recl]ten, beide haben drei Figuren, zwei sitzende und
eine stehende, während alle übrigen Gruppen nur aus zwei
Figuren bestehn. Unter diesen übrigen vier Gruppen aber
entspricht die aus zwei Männern bestehende dritte Gruppe
zur Linken , der ebenfalls aus zwei Männern bestehenden
zweiten Gruppe zur Rechten, und es bleiben übrig die zweite
Gruppe zur Linken und die erste zur Rechten, jede aus je
einem Mann und einer Frau bestehend^). Bezeichnen wir
also das Centrum mit a, die erste Gruppe zur Linken mit b
und so weiter, so erhalten wir folgendes Schema:
ß 3
Dasselbe Verfahren der Emploke, der sich kreuzenden
Symmetrielinien, ist in den vom östlichen Giebelfeld erhalte-
nen Resten nachweisbar. Dem Sonnengott entspricht die
Mondgöttin ; auf jede dieser beiden Figuren folgt eine Gruppe
und eine Einzelfigur, aber in verschiedener Folge: auf der
Seite des Helios geht die Einzelfigur der Grui)pe, auf der
Seite der Selene die Gruppe der Einzelfigur voran, so dass
1 ) Denn dass man die Frau mit der Fackel oder was sonst für
ein Gcräth gemeint sein mag, für männlich gehalten hat, ist
gewiss uux- besondern Theorien zu lieb geschelin.
222
also, wenn die Gruppe a, die Einzelfigur b genannt wird,
folaendes Schema entsteht:
Jfelc^j' b a $ <t Setene-
Dass in solcher Compositionsweise ' ) im Vergleich zu
den aeginetisehen Gruppen ein Fortschritt zum Freieren liegt,
wird unmittelbar durch Vergleichung der Schemata deutlich
sein. —
1 ) Was sich so auf die einfachste Weise aus der Composition
ergibt, man sehe, wie Overbeck (Gesch. d. griech. Plastik
I p. 250) das erklart!
Exciirs TV.
IVber den Achillesschild bei Homer und dein
Jüngern Pliilostratas.
Im Text wurde uameutlich aus der Beschreibung der
belagerteh Stadt bewiesen, dass Homer kein wirkliches Kunst-
werk beschreibe. Ich füge zunächst noch ein paar philolo-
gische Bemerkungen hin/u, denn die Vermuthungen, die man
sich über den Scliild machte, haben, wie es so oft geht, den
Worten des Schriftstellers Gewalt angethau. Es handelt sich
um die Auslegung der Verse:
rrjp ö^ertqriv noliv a^(fi dvoy Grqatot siato Xaöop
Tsv/^sdi kaiiTTÖ^jisvoi. öiyia tJfe (JifiGiv rivöavt ßov}.^^
rjs öianquS^ieip ri updi/f^ nuvTa dÜGaad^ai,
xrrjcrit^ 6(Trjp> mokied-^ov inriqatov ivtbc iiqyoi.
o< öoii/Kö neCd^ovTO, /.öxoi ö'ined^Mqriffaovvo.
"Welcker (Zeitschr. p. 563) versteht unter den beiden
Heeren das der Belagerer und das der Städter. Mit den
Worten des Dichters setzt er sich gar nicht auseinander,
gegen die andre Ansicht, welche zwei feindliche Heere sta-
tuirt, bemerkt er: „Diese Doppelheit der feindlichen Macht
würde ein Nebenzug sein, der an siclv bier nicht zweckmäs-
sig angebracht wäre. Er ist aber nach den Worten keines-
wegs nothwendig anzunehmen, und hat noch die üble Folge,
dass die, welche nicht einig werden können, die Belagerer
unter einander alsdann sein müssten, was wiederum leer ist,
und einen leeren Gegenstand hat, ob sie nämlich die Stadt
zerstören oder alles unter sich beide vertheilen wollen. Da-
rüber konnte die Meinung nicht getheilt sein, da es nach
224
dem Kriegsgebrauch in eins fiel." Freilich, wenn uvöiy^a auf
die Theilung zwischen den beiden Heeren bezogen werden
müsste, dann handelte es sich tini einen leeren Gegenstand,
aber warum kann es nicht auf die Theilung zwischen den
Städtern und ihren Feinden bezogen werden, so wie
X, 120? — Clemens p. 20 hat dieselbe Ansicht. Lucas be-
merkt in seinem übrigens sehr schätzbaren Progrannn p. 2
Anni.: „Wenn Homer das Bild mit den Worten beginnt,
um die andre Stadt lagen zwei Heere, so ist dieses
dunkel gesprochen, kann aber nur von den Feinden und
ausgerückten Bürgern verstanden werden, aber so, dass die
letztern anticipirt sind." So meint auch Faesi und dieser
macht über ücfiaiv die ganz consequente, aber recht naive
Bemerkung, es sei „nach der Natur der Sache auf die Be-
lagerer (die auch im vorigen Verse vorzügUch gemeint sind)
zu beziehen." Statt „nach der Natur der Sache" wäre bes-
ser gesagt worden „nach meiner H3pothese". Die richtige
Ansicht sprechen Marx (Programm von Coesfeld 18*^/43
}). 10) und Lloyd in seiner im Uebrigen recht abenteuer-
lichen Abhandlung (The homeric design of the shield of
Achilles London 1854 p. 17) aus^ ich will versuchen, sie
zu begründen. Zunächst möchte ich die Vertreter der ent-
gegenstehenden Ansicht bitten, das d^rfi zu erklären. Welcker
und die Andern nehmen eine Rehefdarstellung an und glau-
ben, dass eins der^beiden Heere das städtische sei. Diese
Voraussetzungen zum Text hinzugebracht, so sitzt das eine
Heer vor, das andre hinter der Stadt, denn ä^ifi nö'/dv
eiaxo kann nichts andres heissen, als dass die Stadt in ihrer
Mitte war, dass die Stadt also die beiden Heere trennte.
Welcker sagt: ,,vor der Stadt sah man zwiefaches Kriegs-
volk, die Belagerer und die ausgerückten Städter", also er
kümmert sich um die Worte nicht. Die Präposition a^xxfi weist
deutlich auf zwei eins chliess ende, also feindliche
Heere, und diese beiden Heere waren, wie der folgende Satz
sagt, uneins, was mit der Stadt, die sich nicht ergeben will,
anzufangen sei. Die ganze Erzählung ist eben so einfach und
klar, als schön, sie ist mit Einflechtuug der dichterischen
225
Motive diese: Zwei feindliche Heere uinsohliessen eine Stadt,
68 ist also höchste Noth drinnen, so erzähll der Dichter, um
die That der Städter um so herrlicher zu machen. Aber die
Heere sind uneins , man schwankt zwischen harten und mil-
deren Vorschlägeji , zwischen Zerstörung und Gütertheilung.
Den Moment, da die Feinde berathen, also die Stadt in Ruhe
lassen, benutzen die Städter; eben um die That der Be-
lagerten möglich zu machen, erfand der Dichter die Berathung
der Feinde. Die Städter rücken nun aus, um Vieh für die
eingeschlossene Stadt zu holen, aber die Gewaltthätigkeit
an Hirten und Heerden dringt zu den Ohren des Feindes,
den wir v. 531 (eiQÜcoy nQonäqoidt xa^rjfiei'Oi) in der Be-
rathung, also eben da wiederfinden, wo wir ihn im Anfang
der Erzählung verlassen hatten , um zu den Städtern über-
zugehen. Dann folgt die Schlacht.
Betrachten wir nun den homerischen Schild archaeo-
logisch und zwar zuerst einmal die Welcker'sche Hypothese,
die so viel Beifall gefunden hat. Die fünf Lagen des Schildes,
meint ^^'eIeker, hätten sich nicht ganz gedeckt, sondern eine
die andere überragt, so dass die oberste an Umfang die kleinste,
die unterste die grosseste gewesen sei. Was für ein unprak-
tischer Schild, der am Rande einfach, im Buckel fünffach ist,
also den Mann auf höchst ungleichmässige Weise deckt!
Und einen solchen Schild sollen wir annehmen , ohne dass
uns nachgewiesen würde, dass die Alten solche Schilde hat-
ten ? Wo findet sieh denn unter den erhaltenen Schilden,
unter den Hunderten dargestellter Schilde ein so abnormes
Exemplar? Und endlich sollen wir einen solchen Schild an-
nehmen , ohne dass uns Homer etwas von der besonderen
Art dieses Schildes mittheilt? Es ist recht merkwürdig, dass
solche Annahmen die Runde durch alle. Bücher machen').
1) Noch merkwürdiger aber ibt das Argument, das zuerst Cle-
mens p. 7 ausgeführt hat. Die dritte Sehii-ht, d. h. die vor-
stossende Goldlage soll bedeckt gewe.>eu seiu mit den Bildern
des Pflügeuö, des Mähens und der Weinlese. In den ei'aten
dieser drei Scenen war. wie der Dii'liler bemerkt, das Pflug-
15
226
Aber abgesehen von dieser Vermuthung, so ist bereits
von 0. Müller bemerkt, dass die Gegenstände des homeri-
schen Schildes den Darstellungen der ältesten Kunst eben so
lern stehn, als diejenigen des hesiodischen Schildes ihr ver-
wandt sind. Allerdings haben einzelne der homerischen
Scenen ihre Analogie in alter Kunst (0. Jahn P^inleitg. p.lßS),
aber wo gäbe es für das erste Bild, welche« Himmel, Meer
und Erde unpersönlich darstellte, eine Analogie nicht nur in
der alten, sondern in der griechischen Kunst überhaupt ? Und
wie könnte es dafür eine Analogie geben? Gesetzt aber,
es wäre für alle Bilder Analoges in der erhaltenen Kunst
nachweisbar, so würde, wer die Kunstgeschichte kennt, im-
mer nur sagen können, die Elemente, die Bestandtheile sind
aus der Wirklichlceit entlehnt, aber die Zusammensetzung
derselben zu einem Ganzen gehört dem Dichter an. Denn
es soll die ganze Welt, die Wunder der Natur und das Men-
schenleben in seinen verschiedenen Verhältnissen auf einem
land, in der letzten der \Yeiiiberg von Gold. Für die zu
mähende Saat ^^ird dann das Gold als natürliche Farbe vo-
rausgesetzt und dann heisst es: In aliis quoque clipei ima-
ginibus singulae partes aureae sunt, ut in prima, quae nunc
sequitur, quartae laminae imagine boves ex hoc mctallo con-
iecti dicuntur, nusquam autem totam aliqnam imaginem prae-
ter eas , quae sunt tertiae laminae , anream esse invenimua.
Ganz sollen die Bilder der dritten Schicht von Gold sein?
Vielmehr sagt der Dichter ja nur, dass das, Pflugland, nicht
die Pflüge r, und der Weinberg, nicht die Traubensammler von
Gold waren. Kann man nicht also ebensogut das Bild der
Stierheerden, wo die Stiere und ihre Hirten von Gold waren,
auf die goldne .Schicht setzen, womit dann die ganze Con-
struction zusananentallen Avürde? Der Dichter sagt nicht
von allen Bildern, aus welchem Stoff sie bestanden, nur aus
dem poetischen Grund, weil er sich dann in langweiliger
Weise wiederholen müsste. Und die Beschreibung wird viel
schöner, denn jetzt ist Licht und Schatten im Bilde, dies tritt
glänzend hcwor, jenes in den Hintergrimd ; im andern Fall
wj$re es ein blendendes Metall flimmern, in welchem die Ein-
aejheiton zusammenÖüsseQ.
227
Raum zur Darstellung gebracht werden ; ein Bildwerk aber,
das auf diesem Gedanken beruht, will man in eine Zeit, oder
sogar der Zeit voransetzen, aus der die naiven Vaaenbilder
stammen! Mit einem solchen Bildwerk beginnt man die
Kunstgeschichte, so dass ein Höchstes am Anfang steht und
kindliche Versuche hinterdrein kommen^)! Wer genauer zu-
sieht, wird linden, dass die künstlerische Erfindung und die
künstlerische Darstellung in der Kunstgeschichte immer glei-
chen Schritt halten , was hier indessen nicht weiter ausge-
führt werden kann. Der hesiodische Schild, dessen einzelne
Bestandtheile, auch die nachgeahmten, Beschreibungen eines
Moments, nicht Erzählungen sind, wie das Bild der belager-
ten Stadt bei Homer, beruht auch nur seinen Elementen nach
auf Wirklichkeit, nicht als Ganzes; die Zusammenstellung
ist das W*erk des Dichters , wie schon daraus erhellt , dass
der Dichter Nachahmer ist.
Der homerische Schild kommt nun auch bei dem jüngeren
Philostratus (Nr, 10) vor. Das Bild ist dieses:
1) Brunn (KiinsQergesch. I, p. 25) bemerkt: ..Die Betrachtung
homcriricher Kunstwerke, uameutlich des Schildes (also auch
andrer?) und seiner streng künstlerischen Composiliou, kann
auf den Verdacht führen . dass die Kunst in jener Zeil auf
einer Siufe gestanden, von der sie in der nächstfolgenden
Epoche wieder herabgegangen , wie ja auch in der Poesie
die Cykliker den Homer nicht erreichten. •• Dieses ,,wie ja
auch^' ist sehr merkwürdig; die Cj'kliker erreichen den Ho-
mer nicht, weil sie Nachahmer sind, aber ist denn die nach-
homerische Kunst Nachahmerin der homerischen? Wo bleibt
der Vcrgleichungspunkt? — Auf die „Composition'' des ho-
merischen Schildes brauche ich nicht weiter einzugehen , \^'eil
der Schild keine Wirklichkeit hat und am a]ler\Aenigsten
die von Welcker vorausgesetzte Wirklichkeit , von \\ elcher
der Nachweis ,, streng künstlerischer Komposiiicnr- ausgeht.
Wenn Unbefangenheit da wäre, so würde man l'icht aus
poetischen Motiven herleiten, was jet/.L durch die willkühr
liehe Annahme eines zu Grunde liegenden Kunstwerks er-
klnrt wird.
15 *
228
Es ist die hochragende Ilios gemalt, von einer Mauer
umgeben, auf der andern Seite der Schiffshafen und die Meer-
enge des Hellespontus. Das Gefilde in der Mitte trennt der
Xanthus, der ruhig dahinfliesst in einem Bett von Lotus,
Binsen und zartem Rohr. Der Gott liegt mehr, als dass er
steht und hält den Fuss an die Quellen, mit ihrem Wasser
ihn benetzend. An beiden Ufern ist ein Heer, hier die My-
ser mit den Troern , dort die Hellenen. Die Troer sind er-
mattet, sie sitzen unter ihren Waffen und freuen sich der
Unterbrechung, die Myser dagegen voll Muth, so wie die
Myrmidonen, die allein von den Hellenen noch ft-isch sind.
Die beiden Jünglinge, Eurypylus und Pyrrhus, überragen die
Andern an Grösse; unter dem Helm sieht jedem der beiden
ein funkelndes Auge hervor. Sie tragen ihre väterlichen
Waffen. Eurypylus hat kein Zeichen auf dem Schild. Pyrrhus
aber hat den von Hephäst gefertigten Schild des Achill, der
nun in Folgendem nach Homer beschrieben wird. Dann
heisst es: Siehe, Eurypylus ist überwunden, Pyrrhus hat ihn
tödthch getroffen in der Achselhöhle, das Blut fliesst in Strö-
men. Ohne Seufzen Hegt er lang auf der Erde ausgestreckt;
Pyrrhus ist noch in der Siellung des Schlages: seine Hand
trieft von vielen^ Blut, das vom Schwert herahläuft. Die My-
ser gehen auf den Jüngling zu, er aber lächelt und stellt sich
dem Haufen entgegen.
Mit einem Wort hebe ich die ausgeführte Seenerie hervor
und dass die Personen hier wieder in wechselnden Stellungen
erscheinen. Ferner was ist das für ein Gedanke, den Eury-
pylus lang auf die Erde zu legen! Man sehe sich einmal
die Vasen an, z. B. die Kämpfe des Achill mit Hektor oder
Memnon. Liegt je der Gegner wol platt auf dem Boden?
Alle Schönheit der Gruppirung würde verloren gehn und auch
das psychologische Interesse würde beeinträchtigt. Wankend,
etwa in's Knie gesunken , stelle der Maler ihn dar, er zeige
den Helden nicht todt, sondern sterbend und noch in diesem
Augenblick die Ictzie Kraft zusammenraffend. Dann entsteht
ein Bild formell schön und von tiefem Interesse.
Was aber den Schild betrifft, muss es nicht geradezu
229
eine Geistesabwesenheit genannt werden , wenn einem Krie-
ger der mit dem ganzen Figureureichthum der homerischen
Besehreibung angeliilUe Schild des Achill in die Hand gege-
ben wird in einem Augenblick, da uns ganz was
Andres int eres sirt? Hier handelt es sich ja um den
Zweikampf des P_yTrhus und Eurypylus . wer hat aber un-
ter diesen Umständen ein Auge lür die Details des Schild-
sclimuckes? Wozu, ft-agt man, dieser mühselige Fleiss, auf
ein untergeordnetes Geräth verschwendet , dieser Fleiss , den
Niemand würdigt! Oder ist etwa das Bild um des Schildes
willen da ? Ein solcher Schild kann nur für sich gemalt werden,
denn er ist ein Kunstwerk für sich. In dem Zusammenhang
des philoslratischen Bildes aber ist er völlig Nebensache und
fordert doch, weil er so sehr mit Schmuck angefüllt ist, eine
Bedeutung für sich. Das ist ein Widerspruch, den sich ein
Künstler nicht hätte zu Schulden kommen lassen.
Excurs V.
l'cber Nacktheit uBd Bekleidung: in der g^riechischen
Kunst*).
Das "NVorl des Plinius: Graeca res nil velare, at contra
Romana ac militaris thoraees addere eharaeterisirt die Grie-
chen und Römer im Allgemeinen sehr gut: den orientali-
schen Völkern w-dv die Nacktheit in Leben und Kunst fremd.
Indessen niuss man doch vor allen Dingen Zeiten scheiden,
wenn man die Praxis der Kunst begreifen will: sogar in
der Geschichte der griechischen Sitte stellt sich heraus, dass
hinsichtlich der ISacktheit und Bekleidung des Körpers in
älterer und neuerer Zeit keineswegs völlige Uebereinstim-
mung herrschte. Es war in den i'rüheren Jahrhunderten
Griechenlands etwas von asiatischer Geiühlswcise herrschend,
das in der grossen Zeit nu.h den Perserkriegen abgestreift
wurde ^).
Wir betrachten zuerst die Entwicklung der Plastik
nach dieser Richtung hin, denn es leuchtet von selbst ein,
dass Plastik und Malerei hinsichthch der Bekleidung oder
Nacktheit nicht immer denselben Weg einschlagen. Die
Plastik beginnt weit früher mit der Nacktheit; unter den
ältesten Statuen findet sich bereits Apollo völlig nackt dar-
gestellt, ja unter den Werken des Dädalus wird schon ein
nackter Herkules aufgeführt. Ueberliaupt für Götter und
•) Visconti Op. var. 3. p. 47 — 62 hat sehr schön über das Co-
stüm der historischen Figuren in der Plastik geschrieben,
doch sind einige nicht unwichtige Gesichtspunkte übersehn
und Visconti hatte nicht die StoiTfülle. die jetzt vorliegt. Vgl.
auch 0. Müller im Handbuch §. 336.
1) Vgl. Grote Gesch. Griechenl. V, p. '212 der üebers.
231
Heroen war schon in alierthümlicher Zeit die Nacktheit die
durchgehende Form der Darstellung, doch fehlt es nicht an
bemerkenswcrilien Abweichungen. Der Hernie« des Onatae
trug Chiion und Chlamys, der Peröeus unfeiner alten seli-
nuntischen Metope und auf dem Terrakottarelief von Melos
ist nicht nackt dargestellt, so wie es der sj)ätern Kunst an-
gemessen wäre, und namentlich sciieint auf solchen Monu-
menten, die zum Cultus gehörten, die Götterwelt in einer
mehr feierlichen als zwanglosen Auffassung gern reich und
zierlich bekleidet dargestellt zu sein^). Aber nicht bloss in
den idealen Gestalten des Mythus, auch in den Figuren der
Geschichte und des Lebens wurde, wie es scheint, schon
früh nicht die Tracht der Wirkhchkeit als maassgebend an-
erkannt , vielmehr nach künstlerischen Gründen verfahren.
Am Parthenonfries sind bereits hinsichtlich der Gewandung
die künstlerischen Principien ganz und gar zur Anwendung
gekommen ^ die Gewandung der Jünglinge ist verschieden.
um alle Einförmigkeit zu vermeiden, auch nackte Jünglinge
bemerkt man in dem Festzug, was im griechischen Le-
ben natürlich nicht vorkam. Aber schon vorher haben wir
an der Gruppe des Kritios, welche die Tyrannenmörder
darstellte, einen Beweis, dass nicht das Kostüm der Wirk-
lichkeit, sondern der Charakter der- darzustellenden Figur den
Bildhauer bestimmte. Denn dies ist mit einem Wort das
Princip, das die vollendete Kunst befolgt, der Character, die
Idee der darzustellenden Figur entscheidet sowohl in idealen,
mythischen, als in historischen, realen Figuren. Betrachten
wir in ersterer Hinsicht nur die Götter, wie die Zeit der
vollendeten Plastik sie dargestellt hat. Die jungen Götter
erscheinen nackt, höchstens dass man ihnen noch die nichts
verdeckende Chlamys gibt, dies wundervolle, kurze, leichte
Kleidungsstück , das dem leichten bewegUchen WVsen der
Jugend so ganz angemessen scheint. Aber für Zeus eignet
1) Poseidon erscheint bekleidet auf der albanischen Ära (Zoega
101) ebenso, sowie auch Hephästus, auf dem Zwölfgötter-
altar u. s. w.
232
sich eJiK^ feierlichere Darstellung') und .su umgab man ihn
mit einem reichen Mantel, der aber den Oberleib frei Hess.
Poseidon kann seinem Wesen nach nicht so feierlich erschei-
nen, er wird nackt dargestellt als Meergott, der Beherrscher
der Unterwelt dagegen, dessen Darstellungen fi-eihch sehr
seifen sind, wol desswegen, weil sein Wesen nicht so plastisch
ausgebildet war, konnte nicht in freier, heitrer Nacktheit er-
scheinen. Und Avie munnigfaltig ist die Gewandung der
Göttinnen ! Das Mädchen Artemis erscheint wie die Parthe-
nos des Phidias in einfachem Chiton 2), die Hera dagegen
trägt in ihren edelsten Darstellungen über dem Chiton einen
Mantel, wodurch die ganze Gestalt ein würdevolleres An-
sehn erhält. Ja der Faltenv\'urf steht in enger Beziehung
zu der Idee der Gestalt. Ein sehr feiner Kunsterklärer,
E. Braun, bemerkte von der farnesischen Hera, man könne
an dieser Statue lernen, was junonischer Faltenwurf sei.
Es ist der Typus gemeint, der oft wiederkehrt und wol am
edelsten vertreten wird durch den aus Ephesus stammenden,
jetzt in Wien befindlichen Torso, und in der That die Falten
sind ungemein straff gezogen, es fehlt das Zufällige. Lässige,
wie man es wol an Statuen der Aphrodite bemerkt. Aber
auch in den historischen Darstellungen wird die Gewandung
künstlerisch behandelt. Die Griechen, die am Fries des Ni-
1) Zugleich ist zu bemerken, dass bei Sitzbiklern — und so
erschien ja Zeus in den edelsten Darstellungen — das Ge-
wand nothweiidig ist zur passenden Ausfüllung des Raums.
Eine ganz nackte Figur auf einem Sessel sitzend hat immer
etwas Kahles, gleichsam Durchsichtiges.
2) und zwar ist es, wie bei Nike, in der entwickelten Kunst
gewöhnlich der dorische Chiton, der nach meinem Gefühl
für die einfache Anrauth einer Jungfrau den Vorzug verdient
vor dem jonischen. Am Parthenongiebel ist der Wechsel
zwischen dorischem und jonischem Chiton vielleicht nicht zu-
fällig; es ist an sich zu vermuthen, dass die vollendete Kunst
in solchen Dingen mit Ketlexion veri'uhr. In der alterthüm-
lichen Kunst, besonders auf den Vasen, prävalirt der jonische
Chiton.
233
ketempels mit einander iiänipten, haben nidit die Tracht der
Wirkhehkeit. sie erscheinen fast alle naekl, wie Heroen; ebenso
die Griechen anf dem Schild , der die Schlacht von Arbela
darstellt '), wo auch die Perser durchaus nicht in ihrer Na-
tionaltracht dargestellt sind 2). So war es auch in den Werken
der pergamenischen Schule; nur die aus Lycien stammen-
den historischen Reliefs machen eine l)enierkensvverthe Aus-
nahme. Aber diese Reliefs — namentlich der kleinere der
beiden Friese — entfernen sich auch sonst sehr merklich von
griechischer Art. Die Darstellung einer Stadt in extenso,
über deren Mauern die Köpfe der Belagerten hinwegsehn,
erinnert, wie schon oben bemerkt wurde, ganz an assyrische
Reliefs und völlig ungriechisch ist der Kampf in Massen.
Es ist so äch( künstlerisch und insbesondre dem Reliefstil
so sehr entsprechend . wenn der Massenkampf der Wirklich-
keit in Einzelkampf aufgelöst wii-d. So ist es die Sitte der
griechischen Kunst; dadurch wird Mannigfaltigkeit der Grup-
pen erreicht und einförmig sich wiederholende, commandirte
Stellungen werden vermieden, dadurch wird zugleich der
ächte Reliefstil gewahrt, der verletzt wird, wo, wie in den
römischen Monumenten, Massen gegen Massen kämpfen.
Denn abgesehn davon, dass Klarheit und Einfochheit der
Verwirrung und Unruhe weichen, so müssen sich durch sol-
che Anordnung die Figuren fast ganz ablösen vom Hinter-
grund , während jene fest daran hängen. Wir dürfen dem-
nach sagen, die historische Plastik der Griechen ist weit
entfernt von historischer Treue hinsichtlich der Kleidung, aber
die römische haftet an der Realität. Da begegnen uns immer
behoste Barbaren und die Römer mit der ganzen militäri-
schen Ausstattung der Wirklichkeit. Nichts characterisirt
mehr das römische Volk, als die Art, wie es sich selbst und
seine Siege auf Triuraphmonumenten dargestellt hat. Fügen
wir nun noch einzelne historische Figuren hinzu , z. B. die
1) Miliin G. M. 90, 364.
2) Dagegen haben die Perser am Fi-ies des Niketempels zum
Theil Hosen, nicht alle, äer Abwechslung wegen, und zur
Characteristik des Kampfes genügten schon einige.
234
Darstellung des Alexander ain eines nackten Heros, so stellt
sich auch hier dasselbe Princip heraus. Natürlich einen
Dichter oder Philosophen nuckt darzustellen , wäre ein Un-
sinn, denn für die Idee solcher Darstellungen ist die Nackt-
heit nicht allein nicht wesenthch, sondern sogar sehr stö-
rend: dass man aber auch diese nicht in der Tracht des Le-
bens darstellte, lehrt auch die oberflächlichste Musterung.
Sie werden mit dem blossen Mantel bekleidet, und gesetzt,
dass sie manchmal im Leben im blossen Mantel ohne Chiton,
ohne Unterkleid erschienen, so ist doch nicht dieser zufälhge
Umstand der Wirklichkeit für den Künstler entscheidend ge-
wesen, vielmehr hat er den Chiton aus künstlerischen Grün-
den , als störenden Uebertluss weggelassen. Die griechische
Kunst der besten Zeit also behandelt die Gewandung der
historischen Figuren ebenso wie die der mythischen rein
künstlerisch — auch die der weiblichen Wesen. Die Nackt-
heit des weiblichen Körpers geht in der guten Zeit grade so
weit, als es der Character der darzustellenden Figur nothwen-
dig macht. Aphrodite — die Göttin, an welcher schon Ho-
mer die Schönheit solcher Körpertheile preist, die unter dem
Gewand liegen, wird mit gutem Grunde nackt dargestellt.
Das Gewand, dessen Mangel bei den andern Göttinnen den!
Character Eintrag thun würde . muss bei der Aphrodite feh-
len . wenn ihr ganzes volles Wesen zur Flrscbeinung kom-
men soll. Der blühenden Kunst kann man nicht den Vor-
wurf machen , dass sie auf Sinnenreiz wirke , sie verfährt
ganz nach innerer Nothwendigkeit , sie bildet die Gestalt
nach dem ihr inwohnenden Gedanken, aber die entartete
Kunst, die im Extrem durch die Sarkophage und Gemmen
repräsentirt wird, diese allerdings behandelt das Gewand
nicht mehr als ein von dem Character der darzustellenden
Figur Abhängiges. Denn wenn wir, um der vielen Heroinen,
wie Penthesilea, zu geschweigen, sogar Artemis und die Mu-
sen bis zur Hüfte entblösst dargestellt finden , so ist freilich
der Zusammenhang zwischen Character und Hülle der Figur
aufgehoben, das Gewand ist nicht mehr charactervoU, Sinnen-
reiz, also ein unkünstlerischer Zweck ist es, der dem Kunst-
235
1er vorschwebk'. In deniselbeu Maass aber, als die Lust an
der weiblichen Nacktheit zunimmt, erwacht das für entartete
Zeiten nicht weniger characteristische Bestreben, prätentiösen
Zierrat im die Gewänder zu hängen. AYo man Franzen an
den Kleidern iindet, da darf man sicher sein, römische Arbeit
vor sich zu haben ^ ),
Soweit die Plastik. jNüch interessanter ist die Verglei-
chuug der Malerei, weil uns diese Kunst, wenigstens eine,
wenn auch untergeordnete Gattung derselben, in ununter-
brochener Folge vorliegt. Die Plastik hat ja leider überall
Lücken , aber darauf beruht gerade der unschätzbare Werth
der Vasenmalerei, dass sie — und das gilt von ihr ganz
allein — .von den frühsten Versuchen bis zur spätesten Ent-
artung in einer Reihe ohne Lücke erhalten ist. Und wie
verfährt nun diese? Im älteren Stil ist die Nacktlieit keines-
wegs die gewöhnliche Erscheinung der Götter und Heroen.
Die kalydonischen Jäger allerdings sind schon nackt in dem
ältesten, sogenannten korinthischen Stil, aber gewöhnUch
1) Dies gilt natürlich nur von der Ausführung. Denn ich bin
keineswegs gemeint. Statuen A'\ie die vatikanische Ariadne
oder die capitolinische Venus ihrer Erfindung nach in römi-
sche Zeiten zu setzen. Grade in der Gewandung aber und
im Haar pflegen die Copisten entstellende Zuthalen aus dem
Geschmack ihrer Zeit zum Original hinzuzufügen. Nichts ist
instruktiver in dieser Beziehung als die Vergleichuug der
Niobide im Mus. Chiaramonti mit der entsprechenden Figur
der Florentiner Gruppe, die einen x'^*^^' yjiQi^MTÖg hat.
Ausserdem ist das Gewand über dem linken Fuss in die
Höhe gehoben, wie vom Wind zurückgeschlagen, was aber
nur bei kurzem Chiton wie an der Artemis von Versailles
möghch ist. Der Copisi tluit es um einer elenden Koketterie
willen, um den zarten Knöchel des Mädchens zu zeigen. Für
die Abänderungen im Haar ist sehr instruktiv die Vergleichung
des Berliner Nymphentorsos (von Jahn Arch. Aufs. p. 27
Amymone benannt) mit der Neapler Wiederholung bei Mül-
ler D, 25. 274. Letztere hat herabhängende Locken, wovon
941 dem Berliner Torso keine Spur sich findet: an ihm war
ohne Zweifel das Haar recht mädchenhaft angeordnet.
23(3
sind die Heroen — und da« reicht hinein in den rothtiguri-
gen Stil — auch in ihren Kämpfen bekleidet. Herkules z. B.
pflegt nur nackt zu sein, wenn er ringt mit Antaeus und mit
dem Löwen, der ihm vvsl die Löwenhaut liefern mussle: ge-
wöhnlich erscheint er mit dem Chiton und darüber mit der
Löwenhaut bekleidet'). Die Gewandung wird noch nicht
künstlerisch behandelt, sondern die Sitte des Lebens ist das
Maassgebende. E.s ist klar, dass die Kunst den grossen
Schritt, sich zu trennen von der Sitte der Zeit und rein nach
künstlerischem Gesetz zu verfahren, nicht sofort macht. Auch
das Haar wird noch nicht nach der Nothwendigkeit der Gestalt
behandelt; liebenswürdige gemüthliche Zöpfe sieht man darge-
stellt, die uns lebendig hineinversetzen in eine bürgei-lich be-
schränkte, alte, treue Zeit und um eine characterislische Einzel-
heit hervorzuheben: man beachte einmal das Pferdegeschirr,
wie es auf älteren und spätem Vasen dargestellt wird; dort
treue detaiUirte Nachahmung der Wirkhchkeit^), hier fehlen
die Stangen auf dem Rücken der Pferde, das Geschirr ist an-
deutungsweise behandelt, denn uatürhch dieser Stil hat auf
ganz etwas Anderes Acht. Der alte Stil hat die treue de-
taiUirte Darstellung des Epos, darin liegt die wahrhaft rüh-
rende Einfalt dieses Stils. Es soll immer deutlich sein, wie
sich Alles verhält und im Einzelnen vor sich geht. In unserm
Fall also ist noch nicht mit der Sitte des Lebens gebrochen,
sie wird noch nicht als lästiger Zwang empfunden und ab-
geworfen , vielmehr ist sie das Lebenselement des Künstlers,
in dem er sich fromm und einfältig bewegt. Ein characteri-
stisches Beispiel mag dies bew^eisen. Unter den Darstellun-
1) Vgl. noch die Gewandung des Triptolenius auf älteren und
jüngeren Vasen. Ursprünglich ist er bis an den Hals beklei-
det, später bis zur Hüfte.
2) Die Gemälde und ebenso die Sculpturen des älteren Stils
können daher im Ganzen als historische Dokumente für Sit-
ten und Einrichtungen des Lebens benutzt werden, grosse
Vorsicht ist aber nöthig für den Stil der vollkommen freien
Kunst.
237
gen des tägliclien Lebens auf späteren Vasen begegnen wir
nicht selten nackten Jünglingen Mädchen gegenüberstehend
im Gespräch und mit verschämter Neigung ein Blümlein
oder dergleichen anbietend; solche Darstellungen kennt der
alte Stil nicht — Obscoenitäten können natürlich nicht ver-
glichen werden. Und warum kennt er sie nicht? Weil das
Leben solche Scenen nicht kennt. Die Sitte des Lebens
wird im vollendeten Stil vielfach der künstlerischen Reflexion
aufgeopfert und mit Recht, denn im vollendeten Kunstwerk
ist die Wirklichkeit aufgehoben in ein ideales Gebiet. Wenn
man nun w^eiter die Erscheinung der Götter verfolgt, so zeigt
sich in dem sogenannten grossartigen Stil Vorliebe für lange,
reiche Bekleidung, sogar ein Poseidon ü-itt in langem Ge-
wand auf. Gewiss ist das ganz in dem feierlichen, ernsten
Character dieses Stils begründet. Aber der eigentlich schöne
Stil hat eine grössere Neigung zur Nacktheit; in ihm stellt
sich das Zwanglose, Unbefangene des griechischen Wesens
auch von dieser Seite am deutlichsten heraus. Hier erschei-
nen Götter und Heroen meist nackt. Freihch, muss zuge-
standen werden, so konsequent durchgeführt wie in der Pla-
stik ist das nicht und namentlich solclie Vasen wie die Ber-
liner Kadmusvase, die mit besonders detaillirter Zierlichkeit
gearbeitet sind, weichen wol eben wegen dieser ihrer Nei-
gung von dem Gewöhnlichen ab. Auch im unteritahschen
Stil herrscht im Allgemeinen ein künstlerisches Princip, An-
ordnung des Gewandes nach der der Gestalt zu Grunde lie-
genden Idee, denn auch in den vielen nach der Tragödie
gearbeiteten Scenen, die auch das feierhche Bühnenkostüm
herübergenommen haben , fehlt es doch nicht an solchen
Figuren , die wie Jason auf der canosischen Medeavase in
heroischer Nacktheit gegen den Gebrauch der Bühne darge-
.-stellt sind. Hinsichtlich der weiblichen Nacktheit — die
obscönen Darstellungen, die allen Stilen eigen sind, kommen
hihr natürlich nicht in Betracht — wird man auch fast durch
die ganze Entwicklung der Vasenmalerei den öfter erwähnten
Grundsatz befolgt finden. Eine nackte Aphrodite, die über
das Meer fähil. komnil vor, ferner halbnackte tanzende Bac-
238
chaMlimieii luul Aelinliohes, aber sollen ifil der Fall, wo sich
in dieser Beziehung eine Kiehlung auf Sinnenreiz oftenbarle.
Die drei Göttinnen des Parisurtheile.s sind , wenn ich mich
nicht irre, immer ganz bekleidet. Nur im apulischen Stil —
ich erinnere nur an die halbnackte Jo und Amymone —
findet es sich einzeln , dass die Nacktheit nicht in Character
oder Situation der dargestellten P'igur begi'ündet liegt. Frei-
lich darf nicht verkannt werden im Hinblick z. B. auf die
Helena des Zeuxis, dass die gi-ossen Meister nicht ganz zu
beurtheilen sind nach den Vasenbildern ^ ) , aber doch die
Art der griechischen Malerei im Allgemeinen spiegelt sich
gewiss in diesen Produkten des Handwerks wieder. Wie
ganz anders ist aber die Sitte in den römischen Wandgemäl-
den, zu geschweigen von den etruscischen Monumenten, ins-
besondere den Spiegeln, die eine moralisch aufs Aeusserste
gesunkene Zeit characterisiren. Ist es nicht fast Regel in
Pompeji, dass jede Frau bis zum Schooss nackt erscheint?
Man vergleiche die Darstellungen der Iphigenie — selbst
solche tief tragische Scenen erleiden den Zusatz des Sinnen-
reizes — , der Andromeda und wie sie alle heissen, man wird
finden, hier ist die Gewandung nicht mehr rein künstlerisch
behandelt, sondern nach der Lust sinnlich ralTinirter Seelen.
So wie in Pompeji verfährt man jetzt vielfach, nur dass man
die Grazie nicht kennt, die selbst dort noch herrscht. Ich
sah in München eine Gruppe, Oedipus und Antigone darstel-
lend von einem Künstler, von dem man viel erwartete: die
Antigone war — halbnackt.
Noch ist die Darstellung der Ausländer zu erörtern. Wenn
1) DemPolygnot hätte übrigens Brunn II, p. 23 nicht eine halb-
nackte Polyxena zutrauen sollen, indem er das auf Pol)'klet
lautende Epigramm des Pollianus, in welchem ein Gemälde
mit der Opferung der Polyxena beschrieben wird, auf die
Polyxena des Polygnot bezog. Er hätte sich auch wol an
Eurip. llec. 555 ff. erinnern können, mit welchen Versen das
Epigramm und somit das beschriebene Bild übereinstimmen.
Also kann auch der Zeit nach das in dem Epigramm be-
schriebene Bild nicht das polygnotische sein.
239
man die marathonische Schlaclit des Polygnol, die Alexander-
schlacht, die Dariusvase und die sonstigen Darstellungen der
Barbaren vergleicht, so sieht man, die Gewandung der Perser
entspricht der historischen Wirklichkeit. AuchOr])lieus, Medea,
Paris, zwar mythische Figuren aber doch Ausländer, werden,
wie schon oben angedeutet wurde, früher, auf den Vasen
lind bei Polygnot, allerdings hellenisirt, aber später im Na-
tionalkostüm dargestellt. Es scheint, dass das Erwachen
der historischen Bestrebungen in Griechenland, das ja An-
fangs ganz im Mythus, im Idealen lebt«, zum gi-össten Glück
namentlich für seine Kunst, später auf die Malerei Einfluss
gewann. Die Plastik schHesst sich nicht ganz so treu an
die Wirklichkeit an , es sind namentHch die Hosen , die sie
öfter als die Malerei weglässt *). Es geschieht gewiss
de.ss^vegen, weil das enganliegende Gewandstück der
Natur der Plastik widerstrebt, denn es wirft nicht nur
solche Falten, die durch das Motiv der Stellung veranlasst
sind, sondern auch solche, die dem Kleidungsstück als zusani-
mengeniiht und so zusammengenäht eigen sind. Und das
ist eben das Unplastische daran; das Gewand der Plastik
soll nur ,,das Echo der Gestalt" sein, es soll nur durch das
Thun der tragenden Gestalt Leben und Charactev erhalten,
1) Die Perser am Jüketempei , Paris am Aegineteugiebel
(auch in spätrömiscben Statuen und Reliefs, wie Atys,
für den sie aber und vielleicht auch für Paris ein Cha-
racteristikum des weichen Asiaten sein sollen) , die von He-
kules bekämpfte Amazone in einer selinuntischen Metope,
aucli der grössere Theil der Amazonen am Wiener Amazo-
nensarkophag haben Anaxyriden. Was sonst die Amazonen-
tracht betrifft in Plastik und Malerei, so hat schon Jahn Ein-
leitung p. 209 darauf aufmerksam gemacht, dass sie in der
.Malerei eng anliegende Beinkleider tragen, in der Tlastik
dagegen die Beine nackt za haben pflegen, vgl. die Ama-
zonendarstelluugen von Phigalia, Magnesia, vom Mausoleum
liiid die Einzelstatuen. Aber auch in der iiltern Malerei
hat Penthesilea noch nicht die Anaxyriden. Bei l'clops
schwankt es auf Vasen und Sarkophagen: bald hat er Ana-
xyriden, Icdil nicht.
Excurs VI.
üeber die Gestalt des Eros in Poesie und Kunst.
Von einer Gestalt des Eros ist zuerst in der griechi-
schen Lyrik die Rede. Homer kennt den Gott gar nicht,
das Wort a'qwg ist nur appellati^dseh bei ihm. Und natür-
lich, denn wie würde es mit dem objektiven Ton des Epos,
wie würde es mit der reflexionslosen Unschuld der epischen
Mensehen vereinbar sein, über die Liebe, die als einfacher
Naturtrieb empfunden und gestillt wird , zu. retlektiren , was
ja die Voraussetzung für die Existenz des Gottes ist, zumal
da Aphrodite dies Amt versieht ! Aber diejenige Poesie , in
welcher die subjektive Seelenstimmung in Wonne und Weh
zum Ausdruck kommt, die schafft einen Gott Eros; sie ver-
körpert oder vielmehr sie stellt die Empfindung, deren Aus-
druck sie ist, als Wirkung eines Gottes dar und beschäftigt
sich damit, dies Wesen des Gottes auszumalen. Bei Alk-
man und Ibykus, bei Sappho und Anakreon ist von einer
Gestalt des Eros die Rede. Und wie denkt man sich ihn V
Nach der Individualität der Dichter ist er verschieden.
Alkman, der traulichste Dichter der Griechen, lässt ihn auf
Blüthen spielen , wie ein Kind : Ibykus, ein Dichter von far-
benreicher Gluth der Phantasie, schildert ihn grossartiger
ohne Tändelei: Eros, sagt er, sendet verzehrende Blicke
aus dunkler Wimper des Auges auf mich. Anakreon ver-
gleicht ihn zwar an einer Stelle mit einem Schmied , der
ihn mit grossem Beil gehauen und dieser Eros ist, wie
0. Müller sich einmal ausdrückt, allerdings von ganz anderm
Kaliber, als der in der anakreontischen Sammlung operirende,
aber an einer andern Stelle erscheint er goldgelockt mit
einem Ball nach dem Dichter werfend, um ihn aufzufordern,
mit einem Mädchen Liebesspiele zu treiben. Da ist seine
241
Erscheinung so ganz der zarten tändelnden Grazie des teischen
Sängers angemessen. Die Sappho erwähnt ihn ein paar
Mal, sie lässt ihn mit purpurner Chlamys vom Himmel kom-
men und ein ander Mal vergleicht sie ihn mit einer süssen
und zugleich bittern Schlange, der man nicht eutgehn könne,
es scheint indess, dass Eros noch hinter Aphrodite zurück-
trat, der ja, wenn man genau historisch fortgeht, immer mehr
an Terrain gewinnt. Von den übrigen Lyrikern bietet nur
noch Pindar Stoff zur Erwähnung, der aber nur an einer
einzigen Stelle den personifizirten Eros kennt; er spricht
von den Eroten in der Mehrzahl als Hirten der Gaben der
Aphrodite; auch an dieser Stelle, sieht man, ist Aphrodite
diejenige, von der die Liebe ausgeht. Es ergibt sich hier-
aus, dass in der Lyrik Eros bereits als Gestalt erscheint,
nicht mehr als ungefornite Macht, aber eine feste Vorstel-
lung begegnet uns nicht. In der Tragödie dagegen finden
wir zunächst die durchgehende Anschauung von Geschossen
der Liebe; Avie ein Pfeil, der das Herz verwundet, wird die
Liebe gedacht und was die Gestalt des Eros betrifft, so be-
gegnen wir hier zuerst der Anschauung des Eros als eines
Bogenschützen 1). Es liegt im Wesen der Tragödie, welche
ja die Liebe als Grund tragischer Kollisionen behandelt, dass
sie ohne Tändelei, sondern mit tiefem Ernst, von der Macht
des Eros spricht. Dagegen ist die Poesie des Bion und
Moschus der eigentliche Sitz erotischer Tändeleien. Hier
wird Eros als Kind vorgestellt, wie man ihn nach tragischer
Anschauung sich unmöglich denken kann; sodann wird er
verdoppelt, was ebenfalls nach tragischer Anschauung un-
möglich ist und neben dem Attribut von Pfeil und Bogen
erscheint die Fackel. W^as ist der Sinn dieses Attributs?
Offenbar liegt der Vergleich der Liebe mit einem verzehren-
den Brand zu Grunde, es scheint, dass dieses neue Attribut
eine Schöpfung der Dichter ist.
Soweit die Thatsachen der Poesie, die ich zugleich nach
ihrem Innern Sinn zu begreifen versuchte. Es wird sich
1) z. B. Eiirip. Iphig. Aul. 621. Med. 519.
16
242
herausstellen, dass die Kunstvorstellungen, zu denen ich nun
übergehe, sich fasst überall an die Dichter anschliessen. Wir
betrachten zuerst die Skulptur. Die altern Kunstwerke , der
Kasten des Kypselos hat in den Scenen, in denen nach spä-
terer Sitte Eros erscheinen würde, nur die Aphrodite. Neben-
Jason und Medea, die ihre Vermählung feiern , steht Aphro-
dite ohne Eros; man sieht, dieser Stil schliesst sich dem
Epos an. Die älteste der erhaltenen Erosdarstellungen möchte
die eines aus Aegina stammenden Reliefs in alterthümlichen
und zwar aeginetischem StiH) sein, wo er als geflügelter
Jüngling ohne Attribute, bekleidet, wie es der alterthümlichem
Kunst eigen ist, erseheint. Hier sieht man also aus dem
Alter der Figur eine ernste Auffassung dargestellt und so
verfuhr Phidias, indem er am Fussgestell des olympischen
Zeus die Aphrodite von Eros empfangen Hess , denn es ist
undenkbar , dass er als Knabe dies Amt verrichtet habe.
Die Bildungen der sogenannten Jüngern attischen Schule
schliessen sich, wie sonst so vielfach , an die Tragödie an ;
hier trägt er das Attribut, das ihm die Tragiker gaben. Bogen
und Pfeil und seine Bildung als eines schwermüthigen Jüng-
lings stimmt ganz zur Auffassung der Tragödie. Die Darstel-
lungen des Eros dagegen als Knabe schliessen sich der tän-
delnden Poesie der Bukoliker an und es ist wol nicht zu
gewagt, wenn man nach dem durchgreifenden Abhängigkeits-
verhältniss der bildenden Kunst von der Poesie in dem Da-
tum jener Bukoliker einen terminus post quem für diese
Kunstvorstellungen annimmt. Als Knabe hat er nun auch
das Attribut der Fackel und wie es scheint, besonders da,
wo er mit der Psyche zu thun hat. Es ist wol nicht zu
läugnen, dass dieses Attribut namentlich da, wo die Psyche
als Schmetterling dargestellt ist, sich besser eignet als der
Bogen 5 es lässt sich die Qual der Seele, die von Eros ver-
1) Bei Welcker A. D. II taf. 3, 6 abgebildet. — Mit der Notiz
des schol. z.Aristoph. Av. 573: ncDTtQixov to t^v Ni'xtjv xul
rov "Eqioth iTTTicjwad^cd können wir nach unsern Darstellun-
gen nichts anfangen.
243
brannt wird, anschaulicher darstellen vermittelst der Fackel.
In der spätesten Zeit der Sculptur, auf Sarkophagen , wird
Eros , wie in den römischen Wandgemälden , ganz seines
mythologischen Gehalts entleert. Sein Thun ist nicht mehr
ein bedeutsames, sondern alle menschliche Arbeit und Spiel
wird von Eroten ausgeführt; er ist nur das Bild eines an-
muthigen geflügelten Knaben ohne mythologischen Gehalt,
es könnte ja an seiner Stelle ein einfacher Knabe ohne Flü-
gel erscheinen und so ist es auch; man sieht in spätem
Kunstwerken sehr oft Knaben ohne Flügel in derselben
Aktion wie Eroten i). Schon die Vervielfachung [ist eigent-
lich eine Verwischung seiner mythologischen Substanz und
sieht man ihn nun rein dekorativ an Sarkophagen und fries-
ähnlichen Reliefs unter Blumengewinden stehn, so kann wol
darüber kein Zweifel sein, dass der mythologische Inhalt
gänzlich aufgezehrt, dass er nur als eine traditionell über-
kommene Figur, die gefiel wegen ihrer anmuthigen Erschei-
nung , dargestellt wurde, ohne Bewusstsein oder wenigstens
ohne Rücksicht auf sein eigentliches ursprüngliches Wesen. —
Etwas verwickelter ist die historische Entwicklung der
Erosvorstellung in der Malerei. Der epische Stil der Vasen
maierei kennt ihn fast gar nicht; wenn er, was freilich sehr
selten, ein kleines Liebesabenteuer darstellt, wie das am Brun-
nen, das uns so lebendig in einfache patriarchalische Zeiten ver-
setzt, in denen nur der Gang zum Brunnen das Mädchen aus
dem Hause führte, so ist Eros nicht zugegen, wie es nach
späterer Sitte der Fall sein würde. Für den rothfigurigen Stil
aber kann man nicht so ohne Weiteres mit O.Jahn-) sagen,
dass die Darstellung als Jüngling die ältere sei; man muss
vielmehr trennen den Eros als Begleiter der Aphrodite und
als selbständig ohne Aphrodite erscheinendes Wesen. Für
letzteren ist 0. Jahn's Bemerkung vollkommen wahr, aber
mindestens gleichzeitig, wenigstens auf rothfigurigen Gefäs-
1) Vgl. die Bemerkung von Jahn in Ber. d. sächs. Gesellsch. d.
Wissensch. 1848 p. 46.
2) Einleit. p. 202.
16*
244
sen der ersten Periode sehn wir Aphrodite von kleinen
Eroten — schon in der Mehrzahl — umgeben i). Ueber-
haupt wo Eros neben Aphrodite erscheint auf den Vasen,
da ist er immer ein Kind 2)- wo er ohne sie erscheint, da
ist er zuerst ein Jüngling , später auch ein Kind. Dieser
Unterschied hat wol seinen guten Grund, sowie Nike neben
der Pallas ein Ideines Mädchen, allein stehend dagegen eine
Jungfrau ist. Weil Eros, wenn er mit Aphrodite vereinigt
ist, nur Ausfluss ihres Wesens, nur Verkörperung ihres Rei-
zes, nur der Bote und Vollstrecker ihrer Wirkungen ist,
darum eignet sich allein die Kindergestalt für solche Dar-
stellungen 3). Als Kind kann er auch vervielfacht werden,
als Jüngling aber repräsentirt er einen Begriff, während in
kinderhaften Eroten die Fülle der Reize zur Anschauung
kommt. Der jünghngshafte Eros aber erscheint in doppel-
tem Sinn auf den Vasen, einmal als der Dämon geschlecht-
licher Liebe und sodann als der Gott, der im Gymnasium
seinen Altar hatte , unter Palästriten. In der unteritalischen
Malerei pflegt Eros wie in der spätem Plastik kinderhaft zu
sein, so ganz dem wenig ernsten Charakter dieser Vasen
entsprechend^ diese Vasen sind der treue Spiegel einer leicht
1) Auf dem Parisurtheil des Hieron in Gerhard's Trinkschaalen
und Gef. Taf. 11 — 12, ebenso auf dem schwarzfigurigen
Parisurtheil in Creuzer's Dtsch. Sehr. Abthlg. II, Bd. I zu
p. 238.
2) Die Ausnahme auf dem Berliner Gefäss n. 1851 hat ihre be-
sondern Gründe , worüber man Overbeck Gall. p. 218
Anm. 60 vergleiche.
3) Also die Unselbständigkeit, die Abhängigkeit von der Aphro-
dite ist hier der Grund für die Bildung des Eros als Kind,
während wenn Eros allein als Kind dargestellt wird, eine
tändelnde Anschauung der Liebe dies bewirkt. — Jenem
ersten Fall ist verwandt die Darstellung der ei6io?.K als klei-
ner geflügelter Wesen, wie in Darstellungen der Schleifung
Hektor's, der Psychostasie und auf den pol3'chromen attischen
Lekythen. Was soll hier die Kleinheit ausdrücken ? Gewiss
das Unwesenhafte dieser Figuren.
245
gestimmten Zeit und grade die Anschauung vom Eros, wie
sie in Kunst und Poesie zu Tage tritt , ist culturhistorisch
von der äussersten Wichtigkeit. Dass dagegen Eros seines
Begriffes ganz entleert sei, das ist durch die Vasen noch
nicht zu belegen, erst in Pompeji ist es der Fall, wie schon
oben bemerkt wurde ^),
1) Sehr merkwürdig aber ist, dass Eros auf den Vasen nie mit
Bogen und Pfeil noch mit Fackel erscheint. (.Auf der Amy-
monevase in Neapel (Bullet. Napol. II tav. 3) hat er nur
einen Pfeil). Kranz, Tänie, Früchte und Schmuckgegenstände
hat er, als Eros der Paliistra auch die Leier. Woher kommt das?
Excurs VII.
lieber die Personifikation der Natnr.
Die sogenannten Lokalgötter, die Dämonen des Orts, auf
dem eine Handlung vor sich geht, haben eigentlich nur in
der römischen Kunst ihre Stelle. Was zunächst die schv/arz-
figurige Malerei betrifft, so hat sie kein einziges Beispiel
eines Ortsgenius aufzuweisen und ich glaube, sie kann keins
haben. Zwar hat man in Frauen , die den Kämpfen des
Herkules zusehn, Ortsnymphen zu erkennen geglaubt, aber
es ist geschehn in eiliger Uebertragung späteren Kunstge-
brauchs ganz verschiedener Denkmälergattungen — wie wenn
man in der Philologie den Sprachgebrauch Lucian's in den
Homer übertragen wollte — und aus dem leidigen Bestreben,
überall individuelle Namen zu geben , wobei man nur die
erste Frage zu beantworten vergass, ob denn der Künstler,
auf dessen Absicht es doch allein ankommt, eine individuelle
Figur hat darstellen wollen. Nirgends ist eine Charakteristik
sichtbar, die auf solche Annahmen führen könnte; die den
Heldenkämpfen zuschauenden, meist in ihre Mäntel gewickel-
ten Männer und Frauen sind, wie schon ihre wechselnde
Anzahl beweist, ganz generelle Figuren, es sind Leute die
zuschauen , und je nach dem Bedürfniss des Raums und
der Symmetrie sind sie in grosser oder in geringer Anzahl
oder auch gar nicht vorhanden. Diese generellen Figuren gehn
durch die ganze Vasenmalerei hindurch, nur dass sie später
nicht mehr so steife Zuschauer sind, wie in den ersten An-
fängen. Auf einer graziösen Vase fährt Aphrodite mit ge-
schwelltem Segel und mit flatterndem Haar über das Meer,
auf einem Felsen hinter ihr sitzt mit aufgestützter Hand ver-
tieft in die Betrachtung des wunderbaren Ereignisses ein
Jüngling, ein Jemand, an dem uns der Künstler die Wirkung
247
des Vorgangs sichtbar niaclil und damit auch unser Interesse
an dem Wunder steigert'). ^Yenn die Thaha entführt wird
von dem Adler, und der Künstler, der so malt, einen Jemand
hinzufügt in staunender Geberde über das Wunder, gewinnt
nicht das Bild an Lebendigkeit und werden auch wir nicht
gleich dem Beschauer im Bilde, zum Staunen über den merk-
würdigen Vorgang veranlasst-)? Und so ist es in vielen
Fällen; zu einem mythischen Vorgang Averden generelle Fi-
guren hinzugefügt, damit sich in ihnen die Stimmung dar-
stelle , die der Künstler dem Betrachtenden mitzutheilen
wünscht , es ist mit einem Wort die Schilderung durch die
Wirkung. So verfuhr schon Polj'gnot, indem er die Schön-
heit der Helena von umstehenden Frauen bewundernd^ja liess.
und bildenden Kunst; man wird sich bei dem Verfahren
des Poljgnot sogleich an die wunderbar wirksame homerische
Stelle erinnern , wo die troischen Greise die Helena bewun-
dern. Noch an andern Stellen Homer's ist es so, auch Pin-
dar hat dies schone Mittel oft benutzt 3). Thaten aber die
Künstler nicht recht daran, dass sie so verfuhren? Wird
nicht ein an sich wunderbares Ereigniss noch wunderbarer,
1) Weloker fasst A. D. 3, 254 wie Stackclberg, welclier Taf. 28
das Bild publicirt hat, die Jünglingsfigur, die aller und jeder
Charakteristik entbehrt, für einen Geliebten, von dem Aphro-
dite komme und der ihr nachschaue. Vgl. indess das Bild
in Gerhard's Ant. Bildw. taf. 44, v,'0 die Aphrodite auf einem
Schwan über das Meer fliegt.
2) Ich meine das bekannte Vasenbild bei Müller U , 3, 47. Es
wird mir aber nicht einfallen, mich auf eine ausführliche
Widerlegung derjenigen einzulassen, die in dieser und ähn-
lichen Figuren individuelle Wesen zu erkennen glaubten.
Es genügt darauf hinzuweisen, dass solchen Versuchen eine
Menge der willkürlichsten Annahmen zur Voraussetzung dient;
die Absicht des Künstlers zu finden, aus dem Aeussern,
Dargestellten das Innere , den Sinn, darauf kommt's ihnen
nicht an.
3) Vgl. meine Erklärungen zu Pindar II im Philologus XIII
p. 449 f.
248
wenn wir es reflectirt sehn in den lebhaften Geberden un-
betheiligter Figuren?
Auch in der rothfigurigen Malerei gibt es keine Lokal-
pei'sonifikationen in dem spätem Sinn^). Die inschriftlich
beglaubigte Nemea auf der Archemorusvase ist in die Hand-
lung des Bildes verwickelt, die Thebe auf der Berliner Kad-
niusvase ist eine Gottheit wie die übrigen dort anwesenden,
und Ismenos und Krenaie auf einer andern Kadmusvase ha-
ben auch noch mehr mythologische Substanz als die Lokal-
personifikationen der römischen Kunst. Denn darin liegt
eben der Unterschied , dass die genannten Figuren der Va-
sen nicht Personifikationen sind, sondern mythologische We-
sen, sie sind vorgefunden, nicht geschaffen, sie sind lebens-
voller als die abstrakten Figuren der spätem Zeit. Diese
sind reine Personifikationen und geben schon durch ihre
Stellung zu erkennen, dass sie verwachsen sind mit dem
Lokal, das sie repräsentiren, sie sind passiv nach ihrer Natur
und wenn sie auch Theilnahme zeigen durch Geberden, so
bleiben sie doch immer kalt und uninteressant und scheinen
entbehrlich. Urnen entsprechen in griechischer Kunst die
Satyrn und Pan. Denn durch diese mythologischen Figu-
ren deutet der spätere — nicht der schw arzfigurige — Va-
senstil eine waldige Landschaft an. Und was kann es Schö-
neres geben als dies Verfahren! Diese Wesen sind freie
Wesen, sie brauchen nicht langweilig lang auf dem Boden
zu liegen, sie können hüpfen und springen und wii-ksam bei-
tragen , um die Lebendigkeit einer Darstellung zu erhöhen.
Es sind die mythologischen Wald- und Bergbewohner, nicht
der personificirte Berggott, es ist also Leben und nicht kalte,
abstrakte Personifikation 2) .
1) Die zahlreiclien Annahmen dieser Art kann, wer aufmerksam
zusieht, leicht widerlegen. 0. Jahn ■will auf einem Vasen-
bild, das den Marsyas darstellt, eine Ortsnymphe erkennen
(Arch. Beitr. p. 281 Anm. 71)', es ist vielmehr Arterais mit
ihrem Reh.
2) Es ist hiernach deutlich, dass ich auch den Pan auf der be-
rühmten Sonnenaufgangsvase anders auffasse als Welcker
249
Aber auch die griechische Plastik steht hier im Gegen-
satz zur römischen. In der altern Plastik wüsste ich mich
auch nicht einer Lokalpersonifikafion zu erinnern. Denn die'
sogenannte Nymphe von Olympia ist nach ihrem obern Ge-
wandstück, das in Schnitt und Wurf genau einer Aegis
gleicht, für Pallas zu halten. Das erste Beispiel möchte der
Berggott am farnesischen Stier sein, der deutlich charakteri-
sirt ist als ein Lokaldämon.
Es hat sich somit an einem neuen Beispiel herausgestellt,
wie wenig Neigung die Griechen zu lebloser abstrakter Per-
sonifikation haben im Gegensatz zu den Römern, in deren
verständigem Wesen die Allegorie so \äele Anknüpfungspunkte
hat. Einen Todesgenius , ich meine den Somnus aeternus,
kennen nur die Römer, eine Sirene oder das freundlich weh-
müthige Bild des Verstorbenen im Kreise der Seinen, in den
Beschäftigungen des Lebens , stellen die griechischen i&rab-
steine dar. Namentlich aber hat die ältere griechische Kunst,
die der durch Sokrates begi'ündeten philosophischen Geistes-
richtung, aus welcher doch die allegorischen Wesen als aus
ihrem letzten Grunde hervorgegangen sind^), vorangeht,
eine Abneigung gegen die Allegorie. Nach einer sehr schö-
nen Bemerkung Welcker's^) malte Polygnot die Sünder in
A. D. ni, p. 54, der eine mythologische Beziehung des Pan
zur Selene hineinträgt , da er doch in eiuem allegorischen
Naturgemälde, wie es Welcker selbst nennt, nur „der Gott
des waldigen Gebirges sein kann, über dem die Sonne auf-
geht" (0. Jahn Beitr. p. 67 Anm, 50). So wie in einem an-
dern Sonnenaufgang verwunderte Satyrn das waldige Gebirg
andeuten , so hier Pan, und sein lebhafter Gestus über den
ganzen Vorgang erhöht auch unsre Theilnahme , er zwingt
auch uns zur Bewunderung. An zahlreichen Analogien so-
wohl für Pan als für Satyrn in dieser Bedeutung ist bekannt-
lich kein Mangel.
1) Auch auf der Bühne nahmen die Allegorien immer mehr
überhand, bei Aristophanes und in den Prologen der neuern
Komödie.
2) Ueber Polygnot p. 147.
250
Person, während später die Maler in den Nekyien den per-
sonificirten Fluch, Keid, Streit, Verläumdung, Empörung u. s.w.
malten, wie eine Stelle des Demosthenes bezeugt. Es ist zu
vergleichen, wenn am Fussgestell des olympischen Zeus die
einzelnen Kampfarten der frühern Zeit dargestellt waren
nicht als Personifikationen , sondern vermittelst historischer
oder genereller Figuren , denn das beweist die Figur des
Pantarkes, die sich unter ihnen befand.
Nachzutragen und zu verbessern ist folgendes : Zu p. 45 Anm. 2
möchte ich bestimmter ausgesprochen haben, dass diejenige Klasse
von Grabmonumenten , welclie man gewöhnlich als Todtenmahle
zu bezeichnen pflegt, — dass sie nicht das häusliche Mahl bezeich-
nen, scheint mir schon daraus sehr deutlich liervorzugehn, dass die
kleinei'n Figuren oft adorirend dargestellt sind — sich hinsicht-
lich der Kleinheit der Figuren ganz an die den Göttern gewidmeten
Votivreliefs anschliesst. Auf der andern Klasse der Grabreliefs da-
gegen, welche den heroisirten Verstorbenen allein oder im Ki'eise
der Seinen darstellen, beschränkt sich die Kleinheit auf die dienen-
den Figuren und ist hier aus der untergeordneten Bedeutung der-
selben zu erklären, wozu dann noch in mehreren Fällen die beson-
dern Raumverhältnisse hinzukommen. — Zu p. 68 sind nachzu-
tragen die auf den Orestesmythus bezüglichen römischen Sarko-
phagreliefs, wo das Heiligthum der taurischen Artemis durch aufge-
hängte menschliche Köpfe characterisirt ist. — Von Druckfehlern
sind hervorzuheben p. 20 Z. 6 v. u. „Zoega" statt „Zoequ", p. 32
Z. 5 v. o. „feststeht" statt „fesssteht"-, p. 38 Z. 2 v. u. „und sonst"
für „noch sonst", p. 42, Z. 2 v. u. „Avellino" für „Avellnos", p.4ß
Z. 13 V. o. „')" für „3)", p. 141 Z. 3 v. u. „Gesehenes" für „Ge-
schehenes", p. 160, Z. 7 v. 0. „Widerpart" für „Wiederpart". Leich-
tere Versehn wird der freundliche Leser selbst verbessern.
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