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Full text of "Praxiteles und die Niobegruppe : nebst Erklärung einiger Vasenbilder"

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^91 


PRESENTED 

The 

University  of 

1 

Toronto 

The  University  of  Strassburg, 

GERM  AN  Y. 

JANUARY    IOth,    1891 

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ARTEMIS 


a.'jis    dem.    ::o..ä.tLü   o 


PRAXITELES 


UND 


DIE    NIOBEGRUPPE 


NEBST 


ERKLÄRUNG  EINIGER  VASENBILDER. 


VON 


D«  K.  FRIEDERICHS. 


k 


^^ 


LEIPZIG. 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER. 

1855. 


cj^i?^af 


SEINEM  HOCHVEREHRTEN  LEHRER 
HERRN 

PROFESSOR  EDUARD  GERHARD 

zu  BERLIN 
LN  HERZLICHER  LIEBE  ITiD  DANKBARKEIT 

GEWIDMET. 


PRAXITELES. 


Vielleicht  ist  es  der  richtige  Weg,  einer  umfassenden 
Geschichte  der  griechischen  Kunst,  die  uns  noch  immer 
fehlt,  durch  Monographien  über  die  einzelnen  Künstler  vor- 
zuarbeiten. Ich  versuche  hier,  das  Bild  eines  Künstlers 
zu  entwerfen,  über  dessen  Verdienste  das  Urtheil  schwan- 
kender ist,  als  bei  irgend  einem  Andern.  Haben  Winckel- 
mann  und  Visconti  den  Praxiteles  unter  die  Sterne  erster 
Grösse  gerechnet,  so  ist  neuerdings  sein  Wcrth  so  sehr 
herabgedrückt,  dass  er  im  strengsten  Sinn  nicht  einmal  als 
Künstler  mehr  gelten  darf.  Diese  letztere  Ansicht  ist  um 
so  bemerkenswerther,  weil  sie  gestützt  auf  eine  grössere 
Menge  schriftstellerischer  Zeugnisse  den  Schein  der  Urkund- 
lichkeit vor  jenen  voraus  hat.  Ich  sage  den  Schein,  weil 
ich  durch  eine  eingehende  Betrachtung  dieser  Nachrichten 
und  durch  Hinzufügung  einiger  neuen  den  Beweis  versuche, 
dass  das  Lob  jener  Männer  ein  in  jeder  Hinsicht  begrün- 
detes ist,  ja  eher  einer  Steigerung  als  Schmälerung  bedarf. 
Zugleich  möchte  meine  Abhandlung  für  die  griechischen 
Bildner  eine  ähnliche  Behandlung  versuchen,  wie  wir  sie 
bereits  besitzen  für  die  griechischen  Dichter.  Die  Berech- 
tigung derselben  wird  Niemand  bestreiten,  aber  auch  die  " 
Möglichkeit  ist  nicht  so  ganz  abzuweisen.  Was  sich  aus 
Fragmenten,  aus  blossen  Citaten  machen  lässt,  wissen  wir 
in  Betreff  der  Dichter ;  für  die  Meister  der  bildenden  Kunst 
haben  wir  zwar  noch  weniger  Anhaltspunkte,  da  uns  von 
den  meisten  ihrer  Werke  nur  ihre  einstmalige  Existenz  be- 
kannt ist,  doch  aber  ist  es  nur  eine  Forderung  der  Ge- 
rechtigkeit und,  Avie  ich  glaube,  Wissenschaftlichkeit,  auch 
dem  bloss  erwähnten  Werk  eine  Berechtigung  einzuräumen 
neben  dem  genauer  beschriebenen  und  es  zu  benutzen  zur 
EntAverfung   eines   Gesammtbildes.      Es    mag   einer    hohen 

1* 


_     4     — 

Genialität  mö<^licli  sein,  aus  einem  einzigen  Torso  den  Cha- 
rakter des  Künstlers  und  seine  Stellung  in  der  Kunstge- 
schichte zu  bestimmen,  die  Wissenschaft  muss  anders  ver- 
fahren. Für  sie  kann  und  darf  nicht  ein  einziges  Werk 
hinreichen,  um  sofort  einen  Schluss  für  die  ganze  ThUtig- 
keit  eines  Künstlers  daraus  zu  ziehen,  zumal  da  man  auf 
diese  Weise  Gefahr  läuft,  eine  durch  den  Begriff  dieses 
einzelnen  Werkes  nothwendige  Eigenthümlichkeit  als  eine 
allgemeine  Eigenthümlichkeit  des  Künstlers  aufzufassen. 
Diese  Gefahr  ist  nicht  immer  vermieden.  Man  hat  gar  oft 
die  Eigenschaft  eines  einzelnen  Werkes  sofort  verallgemei- 
nert, ohne  zu  fragen,  ob  denn  die  übrigen  Werke  dessel- 
ben Künstlers  ihrer  Natur  nach  dieses  Besondere  zulassen, 
und  dadurch  ist  es  gekommen,  dass  man  die  Thätigkeit 
des  vielseitigsten  Künstlers  in  Grenzen  eingeschlossen  hat, 
die  zu  eng  sind  für  die  Mannigfaltigkeit  seiner  Stoffe.  Die 
Gedankenwelt  eines  griechischen  Bildners  war  gewiss  eben 
so  reich,  wie  die  eines  Dichters;  in  diese  muss  man  vor 
Allem  einzudringen  versuchen,  will  man  nicht  Gefahr  lau- 
fen ein  einseitiges  Urtheil  auszusprechen.  Doppelt  nöthig 
ist  das  bei  einem  Künstler,  von  dem  so  viel  Werke  nam- 
haft gemacht  werden,  wie  von  keinem  andern,  bei  einem 
Künstler,  der  viel  verwandte,  aber  auch  diametral  verschie- 
dene Stoffe,  einen  Hercules  und  einen  Eros  behandelt,  der 
Kolosse  geschaffen  hat  so  gut  wie  die  zarteste  Jugend. 
Suchen  wir  aber  vor  Allem  den  Ideenkreis  des  Künstlers 
zu  bestimmen,  so  vermeiden  wir  eine  weitere  Einseitigkeit, 
nämlich  die,  dass  wir,  wie  oft  geschehen,  die  Geschichte 
der  Plastik  zu  ausschliesslich  auffassen  als  Geschichte  der 
plastischen  Formen  als  solcher.  Man  verfolgt,  wie  die  Ge- 
stalt von  Strenge  und  Gebundenheit  übergeht  zu  Schwung 
und  Freiheit,  aber  man  übergeht  oft  die  Frage,  was  denn 
die  grössere  oder  geringere  Weichheit,  den  strengeren  oder 
tliessenderen  Rhythmus  der  plastischen  Gestalt  bedingt,  und 
doch  ist  dieselbe  hier  ebenso  nothwendig  aufzuwerfen,  wie  in 
der  Literaturgeschichte  die  Frage  nach  dem  Verhältniss 
der  sprachlichen  und  metrischen  Fonii  eines  Dichters  zu 
seinem  Geist.  Schon  der  allgemeine  Begriff  der  Kunst  führt 
auf  diese  Untersuchuno-.     Um  aber  den  Gedankenkreis  des 


Künstlers  zu  bestimmen,  dazu  gehört  mehr,  als  eine  all- 
gemeine Schilderung  der  Zeit,  in  welcher  derselbe  gelebt 
hat,  besonders  wenn  dieselbe,  wie  dies  meist  der  Fall  ist, 
nur  die  allgemeinsten  Verhältnisse  berührt.  Es  wird  ausser- 
dem der  Satz,  dass  der  Künstler  ein  Sohn  seiner  Zeit  ist, 
nicht  in  der  Beschränkung  verstanden,  in  der  er  allein 
richtig  ist.  Praxiteles  hat  in  einer  sittlich  entarteten  Zeit  ge- 
lebt, man  hängt  daher  die  Flecken  dieser  auch  seinen  Wer- 
ken an?  ohne  zu  bedenken,  dass  ein  wahrhaft  grosser 
Künstler  zwar  in  der  geistigen  Strömung  seines  Jahrhun- 
derts steht  wie  jeder  Andre,  nicht  aber  ihr  unterliegt.  Viel- 
mehr vermag  er  die  Gedanken  der  Zeit  rein  und  vollendet 
darzustellen  ohne  Schwäche  und  Mängel  und  dadurch  er- 
hebt er  sich  über  dieselbe.  Ich  komme  hierauf  zurück. 
Eine  weitere  Frage  von  der  höchsten  Wichtigkeit  ist  die 
nach  der  Stammeseigenthümlichkeit  des  Künstlers.  Ich  kann 
hier  natürlich  dies  Princip,  die  Kunst  nach  Stämmen  zu 
scheiden,  welches  trotz  der  mehrfachen  Andeutung  der  be- 
rühmtesten Gelehrten  *)  noch  keinen  Eingang  in  die  Kunst- 
geschichte gefunden  hat,  nicht  ausführlich  besprechen,  aber 
ich  muss  mich  wenigstens  mit  ein  paar  Worten  rechtferti- 
gen, wenn  ich  bei  den  vielfachen  Rückblicken,  welche  die 
Betrachtung  eines  einzelnen  Künstlers  erfordert,  mich  ganz 
ausschliesslich  an  die  attische  Kunst  halte  als  eine  Ent- 
wicklung für  sich,  die  sich  aufs  Bestimmteste  sondert  von 
der  übrigen  Kunst.  In  Polyclet  ist  ein  entschieden  dori- 
sches Element,  sowohl  in  seinen  Stoffen  als  in  der  Behand- 
lung derselben.  Seine  abstract-formale  Richtung  entspricht 
ganz  dem  formalen  Charakter  der  dorischen  Philosophie. 
Myron  aber  ist  eine  so  scharf  ausgeprägte,  eckige  Natur, 
wie  kein  Künstler  überhaupt.  Er  ist  in  seiner  Art  der 
erste,  aber  seine  Art  ist  nicht   die   erste,   ich   möchte  ihn 


1)  Hermann  Stucl.  d.  gr.  Künstler  p.  8:  „Um  ganze  Künstlergrup- 
pen  schlingt  sich  das  Band  einer  geraeinsamen  Oertlichkeit,  deren  ei- 
genthümliches  Gepräge  noch  von  den  Kennern  späterer  Jahrhunderte  in 
eben  so  scharfen  Merkmalen  wahrgenommen  ward,  als  es  uns  hinsicht- 
lich der  Malerschulen  neuerer  Zeit  möglich  ist."  O.  Jahn,  Die  hellen. 
Kunst  p.  9.  O.  Müller,  Wiener  Jahrb.  XXXVIII  p.  274.  Vgl.  auch 
Kugler  Haudb.  d.  Kuustgesch.   Zweite  Aufl.  p.  206. 


—     6     — 

den  Holländer  der  antiken  Kunst  nennen.  Waclismiith  ^)  und 
j\Iüller  ^)  haben  mit  Recht  auf  ein  boeotisches  Element  in 
ihm  hingewiesen  und  in  der  That  Avird  das  Bild  seiner 
küstlichen  Virtuosität^  seiner  in  ihrer  Einseitigkeit  genialen 
Natur  gänzlich  verwischt,  wenn  man  ihn  nicht  isolirt,  son- 
dern ohne  Weiteres  in  den  Verlauf  der  griechischen  Kunst- 
geschichte aufnimmt.  Die  attische  Kunst  dagegen  hat  die 
ideale  Richtung  ihres  Volks  und  sie  bethätigt  dieselbe  schon 
durch  ihre  »Stoffe,  indem  sie  fast  ausschliesslich  Götter  bil- 
det, sie  ist  aber  keinesAvegs  in  dieser  idealen  Richtung  ein- 
seitig, sondern  verbindet  mit  ihr  die  lebensvollste  Realität. 
Diese  Scheidung  der  Kunst  nach  Stämmen,  ohne  welche 
man  nie  consequente  Entwicklungen  in  der  Kunstgeschichte 
wird  nachweisen  können,  scheint  mir  unumgänglich  noth- 
wendig,  sobald  man  überhaupt  eine  verschiedene  geistige 
Anlage  der  Stämme  anerkennt,  denn  die  Kunst  ist  nur  eine 
Form  des  Geistes,  wie  Philosophie  und  Literatur. 

Die  Betrachtung  der  Zeit,  in  Avclcher  der  Künstler  ge- 
lebt und  des  Stammes,  dem  er  angehört  hat,  sind  allge- 
meinere Gesichtspunkte  für  seine  Beurtheilung,  es  bleiben 
die  speciellen  wichtigeren  übrig.  Dahin  rechne  ich  das 
Eingehn  in  die  Stoffe  des  Künstlers,  die  Scheidung  der 
ihm  eigenthümlichen  von  denen,  die  auch  Andre  behan- 
delt, die  äusserst  lehrreiche  und  oft  mit  Sicherheit  anzu- 
stellende Vergleichung  der  von  ihm  und  Andern  behandel- 
ten gleichen  Stoffe;  ferner  die  Betrachtung  des  Materials, 
dessen  er  sich  bedient,  vor  Allem  aber  die  Durchforschung 
der  über  ihn  erhaltenen, Nachrichten.  Diese  sind  das  Fun- 
dament und  müssen  es  bleiben  besonders  heutigen  Tages, 
wo  die  Subjectivität  der  Kunsterklärung  so  gross  ist,  dass 
wenig  Kunstdenkmäler  gefunden  Averden  dürften,  über 
welche  nicht  die  verschiedensten  Urtheile  laut  geworden; 
dann  erst,  Avenn  die  Urtheile  der  Schriftsteller  über  den 
Künstler  ausführlich  und  gründlich  benutzt  sind,  gehe  man 
an  die  Vergleichung  der  erhaltenen  AVerke.  In  dieser  Be- 
ziehung vermag  ich  freilich  nur  Avenig  zu  bieten,   ich  bitte 


2)  Hellen.  Altertlmmskniule  II,  2,  339  f. 

3)  Handb.  d.  Archaeol.  §.   122,   1. 


es  damit  zu  entschuldigen,  dass  non  cuivis  contingit  adirc 
Roniam ;  ich  kenne  nur  die  8chiitze  von  München  und 
Berlin. 

Damit  möchten  etwa  die  Hauptpunkte  angedeutet  sein, 
die  bei  der  Betrachtung  eines  Künstlers  berücksichtigt  wer- 
den müssen;  ich  beginne  mit  den  schriftstellerischen  Nach- 
richten über  Praxiteles.  — 


I. 

Die  Nachricliten  über  Praxiteles  sind  ziemlich  reich, 
wenigstens  reich  genug,  um  die  hauptsächlichsten  Vorzüge 
seiner  Kunst  kennen  zu  lernen,  aber  sehr  verschiedenartig, 
wie  es  auch  bei  andern  Künstlern  der  Fall  ist.  Sie  be- 
ziehn  sich  bald  auf  einzelne  Werke,  bald  auf  seine  Kunst 
überhaupt,  sie  erwähnen  ferner  bald  charakteristische  Ei- 
genschaften, bald  seine  künstlerische  Vollkommenheit  ohne 
nähere  Bestimmung.  Brunn ')  mischt  sie  durch  einander, 
er  geht  aus  von  einem  einzelnen  Werk  und  setzt  ein  allge- 
meines Urtheil  dahin,  wo  er  von  einzelnen  Werken  des 
Praxiteles  spricht.  Schon  der  Ordnung  wegen  muss  man 
trennen,  noch  mehr  aber,  Avenn  man  gerecht  verfahren  will 
gegen  den  Künstler.  Dann  wird  man  die  allgemeinen  Ur- 
theile  sammeln,  um  zu  erfahren,  welchen  Rang  das  Alter- 
thum  dem  Künstler  angewiesen,  eine  Erfahrung,  die  auch 
für  die  Kritik  von  Nutzen  ist,  insofern  sie  uns  lehrt,  mit 
wem  man  es  zu  thun  hat.  Findet  es  sich  dann,  das  man 
einem  der  bewundertsten  Künstler  des  Alterthums  gegen- 
über steht,  so  soll  die  Kritik  mit  ihrem  Tadel  billigerweise 
sehr  vorsichtig  sein.  Ich  stelle  zunächst  die  ganz  allgemei- 
nen Urtheile  über  Praxiteles  zusammen,  so  viel  ich  habe 
finden  können.  Selbst  Bemerkungen  wie  die  des  Scholiasten 
zum  Lucian^),  der  vom  Praxiteles  sagt:  ayal^atOTtOLog 
dgiGTOs,  ögrig  xatsoxevaös  ro  sv  KvlÖG)  rijg  'JrpQOÖLtrjg 
äyaXua  sind  zu  crAvähnen,  weil  derartige  Lobsprüche  nicht 
allen  Künstlern  ertheilt  werden.  Wohl  ist  mir  ein  solches 
Urtheil  über  Phidias  bekannt,  aber  nicht  über  Scopas,  den 


1)  Griech.  Künstlergesch.  p.  355—358. 

2)  lupit.  trag.  v.   16.  Jacobitz  Vol.  IV  p.   174. 


—    9    — 

• 

man  als  Zeitgenossen  und  vielfach  verwandten  Künstler 
dem  Praxiteles  zu  vergleichen  pflegt  und  der  von  Brunn  in 
Widerspruch  mit  allen  Zeugnissen  weit  über  Praxiteles  ge- 
stellt wird.     Bei  Properz  ^)  heisst  es : 

Pliidiacus  signo  sc  luppiter  ornat  ebnrno , 
Praxitelen  patria  vindieat  urbe  lapis. 

Von  ScojDas  ist  keine  Rede.  Praxiteles  tritt  hier  als  der, 
Avelchcr  gleichsam  den  Marmor  gepachtet  hat,  neben  Phi- 
dias  als  den  Künstler  des  Elfenbeins.  Ebenso  sagt  Plinius  ^): 
Praxiteles  marmore  nobilitatus  est,  und  an  einer  andern 
Stelle  ^) :  marmoris  gloria  superavit  etiam  semet  und  ähn- 
lich Statins  ^) :  laboriferi  vivant  quae  marmora  caelo  Praxi- 
telis.  In  einem  Epigramm  ''),  welches  die  Grabschrift  eines 
Bildhauers  enthält,  heisst  es: 

TlQa^itdXovs  t]vd-ovv  lao^oos  ovti,  ibqhov. 
Es  soll  die  hohe  VortrelFlichkeit  des  gestorbenen  Bildhauers 
bezeichnet  werden  durch  die  Vergleichung  mit    dem   ersten 
Künstler  in  Stein.     Bei  Phädrus  *)  lesen  wir : 

Ut  quidam  artifices  uostro  faciunt  saeculo 
Qui  pretium  operibus  malus  inveniunt  novo , 
Si  marmori  adscripserunt  Praxitelem  suo , 
Myronem  argento.     Plus  vetiistis    nam  favet 
Tnvidia  mordax,  quam  boiiis   pracscutibus. 

Es  wird  doch  nicht  Zufall  sein,  dass  man  gerade  durch 
den  Namen  des  Praxiteles  neuen  Werken  Ansehn  zu  geben 
versuchte.  Schon  diese  Stellen  bcAveisen,  dass  Praxiteles 
unbedingt  als  der  erste  IMarmorarbeiter  im  Alterthum  ge- 
golten hat ;  Brunn  ^)  führt  nur  eine  davon  an,  die  des  Pro- 
perz ;  die  des  Phaedrus ,  deren  bei  Myron '")  Erwähnung 
geschieht,  fehlt  in  dem  Abschnitt  über  Praxiteles.  Es  sind 
ims  ferner  mehrere  Stellen,  namentlich  bei  Lucian,  erhal- 
ten, wo  im  Verlaufe  eines  Gesprächs  über  Kunst  oder  an- 
dere Gegenstände  berühmte  Künstler  erwähnt  werden  in 
ähnlicher  Weise,  Avie   wir  bei   Unterhaltungen   über  Dicht- 


3)  IV,  9,  16.         4)  VII,  cap.   39.         5)  XXXVI,  cap.   4.  §.  5. 
6)  Silv.  IV,  6,  26.         7)  Bninck   Anall.  III,  p.  307  n.  719. 
8)  V.  Praef.         9)  p.  .336.         10)  p.  145.. 


-       10     _ 

kniist  un.sorn  Götlic  und  Scliillor  zu  citircn  pflcf^cn.  An 
solchen  ►Stollen  erscheint  regelmässig  Phidias,  und  neben 
ihm  sehr  häufig  Praxiteles.  So  heisst  es  im  Somn.  *'j:  ^yj 
HVöKX&fjg  da  tov  (Sä^atog  ro  evtsVeg  [iijde  tfjg  iad-^rog  t(3 
TiivaQov  ano  yccQ  toiovrcov  og^ä^svog  zal  OsLÖiag  ixstvog 
edst^s  tov  zlia  xal  nolvKlsixog  tyjv  'Hqkv  siQyäcato  xal 
MvQCJV  87tr}ved-r]  zal  UQu^trel tjg  i&av^död-  r],  ferner  de  hi st. 
conscr. '^):  ö'Aojg  da  vo^lötsov  tov  lötOQiav  axjyyQCicpovta 
0ei8ia  iQYivaL  i]  nga^itikEi  eotxevaL  yj  ^AkKaiiivei  t]  ta  al- 
Kcp  exeivoiv.  Besonders  ist  aber  zu  erwähnen  die  Stelle  bei 
Philostr. '^) :  oC  Oaidtac  de,  eins,  aal  oi  llga^iteleig  ^(5v 
avsX&ovtsg  ig  ovqavov  xal  aTto^a^ä^svot  ta  täv  i^eäv  ei'dr^ 
ts%vi]v  avta  iitOLOvvto  rj  etsQov  tt  i^v,  o  eq)L6tr]  avtovg  ra 
TiXdttEiv.  Und  darauf  Avird  geantwortet,  die  Phantasie  des 
Künstlers  habe  seine  Werke  geschaffen.  Diese  Stellen  be- 
weisen wenigstens  soviel,  dass  man  den  Praxiteles  dem 
grössten  Bildner  Phidias  an  die  Seite  gesetzt  hat.  Es  giebt 
aber  noch  andre  Zeugnisse  für  seinen  Ruhm.  Brunn  führt 
in  der  Charakteristik  des  Myron  '*)  als  Beweis  für  den 
Ruhm  dieses  Künstlers  die  grosse  Zahl  der  von  ihm  nam- 
haft gemachten  Werke  an;  dieselbe  Bemerkung  lesen  wir 
in  der  Beurtheilung  des  Scopas  *^) ,  bei  Praxiteles  dagegen, 
von  dem  mindestens  ebensoviel  Werke  erwähnt  werden ,  als 
von  Myron  und  Scopas  zusammen,  fehlt  sie.  Uebrigens 
möchte  ich  hierauf  nicht  allzuviel  Gewicht  legen,  da  die 
Erwähnung  oder  Nichterwähnung  eines  weniger  berühmten 
KünstAverks  durch  manche  Zufälligkeiten  veranlasst  sein 
kann.  Das  aber  führe  ich  als  Zeugniss  für  den  Ruhm  des 
Praxiteles  an,  dass  kein  Künstler  so  viele  Ideale  geschaf- 
fen, dass  ferner  von  keinem  Künstler  des  Alterthums  so 
viel  eminent  berühmte  Werke  genannt  Averden,  Avie 
von  ihm.  Seine  Aphrodite  wetteifert  an  Ruhm  mit  dem 
Zeus  des  Phidias;  dazu  kommt  sein  Eros,  sein  Satyr  und 
füge  ich  als  Vermuthung  hinzu,  sein  lacchos.     Ferner  zeii- 


11)  cap.  8.        12)  cap,  51.  Vgl.  de  sacrif.  cap.   11. 

13)  Vita  Apollou.  VI,   19.     Ebenao  wichtig  ist    die  Stelle  bei  Diod. 
Exe.  Hoescb.  XXVI  p.  512  Wess.,  auf  die  ich  ziu'iickkomme. 

14)  p.  116.         15)  p.  325. 


—    11    — 

gen  für  seinen  Riilim  einige  Stellen  der  Alten'"),  in  denen 
einzelne  Werke  des  Praxiteles  Werken  eines  Myron,  ISco- 
pas,  ja  eines  Polyclet  vorangestellt  werden,  während  mir 
kein  Beispiel  vorn  Gegentheil  bekannt  ist.  Endlich  bedenke 
man  die  häutige  und  zwar  nie  tadelnde  Erwähnung  dieses 
Künstlers.  Was  aber  Scopas  betrifft,  so  schweigen  diejeni- 
gen Schriftsteller,  denen  wir  unsre  hauptsächlichsten  Nach- 
richten über  Praxiteles  verdanken,  gänzlich  über  ihn,  was 
gewiss  nicht  der  Fall  sein  würde,  wenn  er  in  ihren  Augen 
dem  Praxiteles  gleichgestanden  hätte.  Ich  glaube,  die  an- 
geführten Stellen  genügen  zur  Schätzung  seines  Ruhms, 
Brunn  aber  hätte  erklären  müssen,  Avie  dem  Künstler,  den 
er  schildert,  so  grosse  Bewunderung  gezollt  Averden  konnte. 


II. 

Ich  gehe  über  zu  den  einzelnen  Werken  des  Praxi- 
teles, Avobei  ich  indessen,  um  eine  unnütze  Wiederholung 
der  Arbeit  Andrer  zu  vermeiden,  nur  die  bespreche,  über 
die  ich  etAvas  Neues  vorzubringen  Aveiss.  Eine  Vermuthung 
habe  ich  über  den  lacchos  unscrs  Künstlers.  Pausanias  ') 
erAA'ähnt  BikWerke  des  Praxiteles  mit  diesen  Worten: 
'Ecek^övTdv  ÖS  ig  rrjv  nöhv  oixodo^rjficc  ig  jraQccöJievt]v  iöti 
tcjv  TTO^jicöv,  ag  Tis^inovöi  T«g  ^Iv  ava  näv  £TOg,  rag  de 
xal  xqÖvov  diaksCnovTEg.  xcd  TcXrjöiov  vaog  iört  zirj^rjtQog^ 
ayäk^axa  df  avt-l]  rs  xal  rj  Jtutg  xal  dcjda  b%cov  "lax%og'  yi- 
ygamac  ds  im  rc5  tOL^a  ygä^iiaöiv  'Attinotg  egya  sivat 
IlQa^LtEXovg.  Es  sind  unzAveifelhaft  dieselben  Statuen,  die 
bei  Clem.  Alex.  ^)  erAvähnt  AA^erden,  Avir  erfahren  aber  aus 
dieser  Stelle  nichts  Näheres  über  sie.  Cicero  ^)  hingegen 
sagt:  Quid  (arbitramini)  Athenienses  (raereri  volle),  ut  ex 
marmore  lacchum  aut  Paralum  pictum  aut  ex  aere  Myronis 


16)  PHii.  XXXVI,  cap.    1   §.  5.    Cic.  Vcrr.    IV,  (>.     Ich  komme  auf 
diese  Stellen  zurück. 

1)  I,  2,  4.  (Scbubart).         2)  Adraouit.  p.  41  B. 
3)  Verr.  IV,  cap.  00. 


—     12     — 

buculam  (amittaut)V  Zu  dieser  Stelle  bemerkt  Halm,  der 
lacchos  sei  vielleicht  von  Scopas  oder  Praxiteles,  die  beide 
vorzugsweise  in  Marmor  arbeiteten  und  sicli  am  liebsten  in 
Darstellungen  aus  dem  Kreise  des  Dionysos  und  der  Aphro- 
dite bewegten.  Gewiss  wird  man  bei  Erwähnung  berühm- 
ter Marmorwerke  zAinächst  an  jene  beiden  Künstler  den- 
ken, von  Scopas  aber  ist  kein  lacchos  bekannt,  wohl  aber 
von  Praxiteles  eben  jener  zu  Athen.  Dass  dieser  ein  be- 
rühmtes AVerk  des  Meisters  gewesen  ist,  darf  man  Avohl 
daraus  schliessen,  dass  sein  Name  dabei  geschrieben  stand'). 
Es  würde  also  der  Gegenstand,  der  Ort,  endlich  die  Be- 
rühmtheit des  Werks  für  die  Identität  des  bei  Cicero  und 
Pausanias  erwähnten  lacchos  sprechen.  Cicero  giebt  aber 
eine  Aufzählung  der  berühmtesten  Kunstdenkmäler  von 
jeder  dort  angeführten  Stadt,  er  erwähnt  den  Eros  von 
Thespiae,  die  Venus  von  Knidos,  die  coische  des  Apelles 
u.  s.  w. ;  der  lacchos  des  Praxiteles  wäre  also  das  berühm- 
teste Marmorwerk  Athens  gewesen  zur  Zeit  des  Cicero. 
Damit  hätten  Avir  ein  neues  Zeugniss  seines  Euhms,  zugleich 
aber,  was  ich  Avegen  des  Periboetos,  zu  dem  ich  übergehe, 
bemerke,  ein  Beispiel,  dass  auch  eine  Figur  einer  Gruppe 
besondern  Ruhm  für  sich  erlangt  hat. 

2.  Ueber  den  berühmten  Satyr  des  Praxiteles  bemerkt 
Plinius  ^) :  (Praxiteles  fecit)  Liberum  Patrem,  Ebrietatem  no- 
bilemque  una  Satyrum  quem  Graeci  periboeton  cognomi- 
nant.  Es  ist,  wie  Müller^)  bemerkt,  nicht  ausgemacht,  ob 
der  bei  Pausanias  '')  erAvähnte ,  den  Athenaeus  ®)  tov  stcI 
TQtTtoöav  UarvQov  nennt,  derselbe  ist.  Neuerdings  ist  von 
Stark')  eine  ausführliche  Untersuchung  über  diesen  Punkt 
angestellt,  mit  dessen  Resultaten,  die  auch  in  Overbeck's 
kunstarchäologische  Vorlesungen'")  übergegangen  sind,  ich 
jedoch   nicht  übereinstimmen   kann,    weil    sie    unvereinbar 


4)  Die  Beispiele  sind  bekannt.  Ich  erinnere  an  den  Namen  des 
Phidias  am  olympischen  Zeus  (Paus.  V,  10,  2)  an  seiner  Lemnierin 
(Luc.  Imag.  c.  4)  n.  s.  w. 

5)  XXXIV,  cap.  10  §.  10. 

6)  Handb.  der  Archäol,   §.   127,  2. 

7)  I,  20,  1.         8)  XIII,  591  B. 

9)  Archäol.  Studien  p.  10  ff.         10)  p.  116  ff. 


—     13     — 

mit  den  Worten  der  Sclu'iftsteller  sind.  Icli  bespreche  zu- 
nächst die  Stelle  des  Pausanias  und  hebe  die  Gründe  Starks 
einzeln  heraus.  Die  Stelle  heisst  so :  "Eöti  dh  oÖog  ano  rov 
TlQvtcivsCov  naXov^ivr]  TQinoösg'  «9?'  ov  xaXovöi  t6  %a- 
Qiov ,  vaol  ^^sc5v  ig  tovto  ^hyälot  xao  öcpiöiv  ig)s6v^xaöL 
TQLTiodsg,  x^^^o^  f*^'^'5  ^'^^WV's  ^^  u^iu  iiuXiöru  nsQii%ovrsg 
siQyaGue'vcc.  UätvQog  yccQ  sötiv,  icp'  a  nQtt^LtEh]v  ^syttai 
cpQovfiöai  iieya.  Dann  folgt  die  bekannte  Anecdote  von 
Phryne's  List  und  es  heisst  zum  Schluss:  ^qvv)]  ^Iv  cvtcj 
rov  "Eqcoxu  aiQsircci  ")•  ^lOvviSa  de  iv  t«  vaa  tw  nlr^oCov 
2^ärvQÖg  söri,  TCatg  xal  öCdcoöiv  sxnco^a.  "Eqcoxu  d'  £6t)]x6tcc 
o^ov  xal  zJcovvöov  0v^L^og  sjtOLTjöev.  Die  erste  Frage  ist 
die,  ob  Pausauias  von  einem  oder  von  zwei  Satyrn  spricht. 
Heyne  zAveifelte,  hielt  es  jedoch  für  wahrscheinlicher,  dass 
zwei  gemeint  seien,  ebenso  stimmten  Walz  und  Schubart 
und  Siebeiis  in  ihren  Ausgaben,  Jacobs'^)  und  O.  Müller'^). 
Gegen  diese  Auffassung  macht  Stark  eine  Reihe  von  Grün- 
den geltend.  «Es  ist  durch  0Qvvr}  (lav  ein  förmlicher  Ge- 
gensatz eingeleitet,  wir  wissen  nun,  dass  Phryne  den  Eros 
gewählt  hat ,  wo  und  wie  ist  nun  aber  der  Satyi-  aufgestellt  ? 
Er  ist  dem  Dionysos  geweiht  in  einem  vaog  der  Tripoden- 
strasse;  also  mit  ^lovvöa  de  beginnt  der  Gegensatz,  der 
zugleich  die  Gruppirung  angiebt».  Sollte  em  Gegensalz 
eingeleitet  werden,  so  hätte Pausanias  sagen  müssen:  ^qv- 
vrj  TOI'  ^Iv  "Egara  aigetrai^  6  de  UdrvQog  etc.  Nach  dem 
Sprachgebrauch  des  Periegeten  hätte  man  eher  die  entgegen- 
gesetzte Bemerkung  erwartet,  nämlich  die,  dass  mit  ftlv 
ovra  das  Vorangegangene  abgeschlossen  sei  und  im  Folgen- 
den zu  etwas  Neuem  übergegangen  werde.  Denn  an  un- 
zähligen Stellen  '^)  gebraucht  Pausanias  die  Ausdrücke  ^Iv 


11)  Wenn  ilie  folgende  Ausführung-  richtig  ist,  so  muss  liier  nicht 
ein  Kolon,  sondern  ein  Punkt  gesetzt  werden. 

12)  Antiqq,  Aufs.  II.  p.  63  N.    k. 

13)  Wieland's  Att.  Mus.  III,  p.  24. 

14)  Zus.  zu  Leake's  Topogr.  p.  453  der  Uebersetzung  von  Rieniicker. 

15)  So  gleich  am  Schluss  dieses  Kapitels:  'A&rjvai  (ilv  ovrcog  .... 
r"v&rjGav.  Eid  Si  etc.  Vgl.  I,  44,  9.  19,  4.  37,  1.  II,  3,  11.4,  4.  III,  16, 
3.  VII,  17,  4.  24,  4.  VIII,  20,  4.  33,  4.  38,  8.  IX,  25,  10.  28,  4.  X, 
23,   14  etc. 


—     14     — 

ov'roj,  ^£v  TotoiJrog  etc.  am  Schluss  einer  Erzählung  oder 
Beselireibung-,  ganz  wie  wir  sagen  «und  so  nun  ge.scliah 
es»  und  fährt  dann  fort  mit  dem  continuativon  öf,  wo  an 
einen  Gegensatz  nicht  zu  denken  ist.  Diese  Beispiele  Hes- 
sen sich  mit  mehr  Recht  anführen  für  die  Nothwendigkeit 
der  Trennung,  jedenfalls  sprechen  sie  gegen  die  Nothwen- 
digkeit der  Verbindung.  Stark  erkennt  ferner  die  von  !Sie- 
belis  geltend  gemachte  Schwierigkeit  an,  die  in  dem  Feh- 
len des  Artikels  liege,  da  auch  rov  "Eqcoxu  vorhergehe. 
Vielleicht,  meint  er,  sei  zu  emendiren,  oder  aber  die  A\'orte 
I^KXVQÖg  iöTL  Tcatg  seien  als  strenge  Wiederholung  des  oben 
begonnenen  Satzes  zu  fassen.  Das  Erstere  doch  nur,  wenn 
zwingende  Gründe  da  sind;  was  das  Letztere  betrifft,  so 
will  ich  den  Fall  setzen,  dass  eine  solche  Wiederaufnahme 
ohne  eine  dies  anzeigende  Partikel,  etwa  ovv,  möglich  sei, 
es  müssten  dann  aber  die  wiederaufnehmenden  Worte  un- 
mittelbar auf  die  den  Zusammenhang  unterbrechende  Er- 
zählung  folgen,  hier  aber  sind  sie  durch  ^iovvöoj  de  iv  tö 
vaa  TW  nXriGiov  davon  getrennt.  Stark  « Ohne  dieses  Letz- 
tere (die  strenge  Wiederholung  des  oben  begonnenen  Satzes) 
ist  ja  übrigens  die  Ortsbezeichnung  iv  ta  vaa  ra  nX^pCov 
ganz  dunkel,  es  kann  nur  verstanden  werden:  der  dem 
Prytaneion  zunächst  liegende  Tempel».  AA^enn  }nan  so  be- 
zieht, dann  ist  die  Ortsbezeichnung  dunkel.  Denn  wie  kann 
man  das  nXriöCov  auf  das  entfernt  stehende,  im  Anfang  des 
Kapitels  erwähnte  IlQVTavsiov  beziehn,  zumal  da  eine  ganze 
Ei'zählung  dazwischen  geschoben  ist!  Ferner  würde  Pau- 
sanias  nach  dieser  Annahme  zuerst  über  den  Inhalt  eines 
vaog  eine  Geschichte  erzählen  und  dann  erst  hinterher  seine 
Lage  bestimmen.  Endlich  avozu  diese  Ortsbezeichnung, 
wenn  Pausanias  vom  Prytaneion  ausgehend  nur  einen 
vaog  erwähnt?  Denn  wollte  er  diesen  einen  vccög  als  dem 
Prytaneion  zunächst  liegend  bezeichnen  im  Gegensatz  zu 
den  übrigen  entfernter  liegenden,  so  musste  er  sagen:  TcXrj- 
üLOv  toi}  ÜQVTavsiov.  Ich  verstehe  die  Stelle  so :  Vom  Pry- 
taneion geht  die  Tripodenstrasse  aus;  dort  stehen  Tempel 
mit  Dreifüssen  darauf,  in  denen  viel  Merkwürdiges  ist. 
UdrvQog  yccQ  iöriv,  d.  h.  denn  dort  ist  der  Satyr,  auf  den 
Praxiteles  stolz  gewesen  sein  soll.     Dieser  Satyr   steht  also 


—     15     — 

auf  einem  dieser  vccoC  und  wenn  Pausanias  nach  Erzäli- 
lung  der  Anecdote  fortfährt  mit  zJcovvöa  Ös  iv  t«  vaä  tä 
nXr]0Cov^  so  meint  er  damit  den  auf  diesen  ersten  vaoq 
folgenden  zweiten,  g-anz  ebenso  wie  I,  43,6.  Stark  meint, 
der  Satz  ZlccrvQog  yÜQ  sönv  sei  sichtlich  nur  angefangen, 
woraus  geht  das  hervor  V  Doch  nicht  etwa  aus  der  Aus- 
lassung des  ganz  selbstverständlichen  «dort»  oder  «in  ei- 
nem dieser  vaoC»,  wofür  doch  wohl  Belege  nicht  angeführt 
zu  werden  brauchen?  Aus  dieser  Weglassung  eines  ganz 
selbstverständlichen  Wortes  hat  die  Stelle  einen  Schein  von 
Dunkelheit  bekommen.  Es  ist  also  von  zwei  Tempeln  und 
daher  von  zwei  Satyrn  die  Rede.  Dadurch  bekommt  auch 
das  dem  zweiten  hinzugefügte  natg  eine  angemessene  Be- 
ziehung. Es  steht  im  Gegensatz  zum  ersten;  der  den 
Becher  reichende  Satyr  ist  als  Knabe  gebildet,  jener  erste 
also  nicht  als  Knabe,  sondern  in  einer  andern  Altersstufe. 
Die  zweite  Frage  ist  die:  Wo  hat  der  berühmte  Satyr  ge- 
standen? Hier  hat  O.  Müller")  offenbar  Recht,  wenn  er 
sagt,  die  Statuen  waren  frei  zAvischen  den  Füssen  des  Drei- 
fusses  aufgestellt,  indem  ihnen  die  Füsse  zu  einer  Einfas- 
sung, der  Kessel  zu  einem  Dache  diente.  Denn  nur  so  hat 
das  TtsQiExovTss  Sinn.  Stark  indessen  behauptet,  die  Sta- 
tuen müssten  «jedenfalls»  in  den  Tempeln  gestanden  haben. 
«Wozu  wären  diese  Rundtempel  überhaupt  erbaut,  wenn 
nicht  Statuen  aufzunehmen?»  Um  als  ßrjfia  des  Dreifusses 
zu  dienen,  und  die  sogenannte  Laterne  des  Demosthenes 
liefert  dafür  ein  Beispiel.  Denn  dass  diese  nur  als  ßfj^a 
gedient  hat,  dass  in  ihrem  Innern  keine  Statuen  gestanden 
haben  können,  konnte  Stark  bei  Leake  *')  lesen.  Dieser 
bemerkt  weiter  ^®)  vollkommen  richtig:  «Die  Zwischenräume 
ZAvischen  den  Säulen,  die  bei  der  Laterne  des  Demosthenes 
verschlossen,  möchten  offen  gelassen  sein  bei  dem  imog  6 
nXriGCov)).  Was  Stark  weiter  anführt,  soll  doch  Avohl  nicht 
zur  Begründung  seiner  Ansicht  gesagt  sein ;  denn  wenn 
anderswo  von  Statuen   im  vaög   die    Rede   ist,   so   folgt  ja 


16)  Zus.  zu  Leake  p.  453. 

17)  p.  220  der  Uebersetzung-  von  Kleuäcker. 

18)  p.  221. 


—     16     — 

daraus  nicht,  dass  es  überall  so  g'ewesen.  ^^'er  niciit  will- 
kürlich interpretiren  will,  der  wird  die  Ansicht  Müllers 
theilen.  Dass  aber  Statuen  in  Dreifüssen  aufgestellt  wur- 
den, dafür  fehlt  es  bekanntlich  nicht  an  Belegen''^).  Die 
dritte  Frage  ist,  ob  und  wie  die  Stelle  des  Plinius  *),  in 
w'elcher  der  berühmte  Satyr  mit  Bacchus  und  Ebrietas  grup- 
pirt  erscheint,  zu  vereinigen  ist  mit  den  Worten  des  Pau- 
sanias,  welcher  den  Satyr  allein  erwähnt^").  Stark,  der  also 
den  Periboetos  identificirt  mit  dem  becherreichenden  Satyr- 
knaben, welcher  neben  dem  Dionysos  und  Eros  des  Thy- 
milos  stand ,  behauptet,  diese  Gruppe  sei  ebendieselbe,  welche 
Plinius  erwähnt.  Er  sagt:  «dass  Plinius,  welcher  ungenau 
(woher  weiss  Stark  das?)  die  ganze  Gruppe  dem  Meister 
zuschreibt,  statt  des  bacchischen  oft  ganz  ins  Weibliche 
übergehenden  Eros  eine  Ebrietas  also  Mid^r}  sah,  darf  uns 
nicht  wamdern  (!),  da  in  ganz  ähnlichen  Gruppen  diese  er- 
scheint». Mit  solchen  Annahmen  —  der  nackte  Eros,  der 
also  jedem  Beschauer  sofort  sein  Geschlecht  offenbarte,  ver- 
w^echselt  mit  der  doch  jedenfalls  bekleideten  Msd^rjl  — kann 
man  Alles  beweisen;  übrigens  scheint  Stark  selbst  dies  nicht 
urgiren  zu  w^oUen.  Seine  Ansicht  fällt  mit  der  falschen 
Voraussetzung,  dass  Pausanias  nur  von  einem  Satyr  spricht. 
Visconti,  der  wohl  eine  Widerlegung  verdient  hätte,  hat 
die  Stellen  des  Plinius  und  Pausanias  auf  die  einfachste 
und  natürlichste  Weise  vereinigt.  Er  bemerkt^'):  Le  Bac- 
chus et  rivresse  etaient  les  deux  autres  statues,  qui  rem- 
plissaient  les   intervalles  entre  les  pieds  du  trepied.     Pau- 


19)  Vgl.  Thiersch  Bpoch.  p.   147.  Nr.  31. 

*)  Die  Ansicht  FriebeLs  (Graec.  Satyr,  fr.  p.  35)  wird  berichtigt 
durch  O.  Jahn  (Sachs.  GeselLsch.  d.  Wiss.  1850  p.  107   n.  3). 

20)  Bei  Brunn  p.  338  lieisst  es ,  man  habe  „ziemlich  allgemein" 
eine  Verwechslung  mit  einem  andern  Satyr  bei  Plinius  angenommen, 
und  ebenso  sagt  Overbeck.  Die  Citate  fehlen;  Sillig  (Catal.  artif.  j). 
381  n.  1)  ist,  soviel  ich  weiss,  der  Einzige,  der  von  einem  Irrthum 
des  Plinius  spricht.  Dagegen  ist  bei  Heyne  (Antiq.  Aufs.),  Visconti 
(Mus.  Pio-Clem.),  Böttiger  (Audeut.)  Hirt  (Gesch.  d.  bild.  K,),  Welcker 
(Bonner  Kunstmus.),  O.  Müller  (Ilandb.),-  wo  überall  von  diesem  Satyr 
die  Rede  ist,  nichts  von  einem  Irrthum  des  Plinius  zu  lesen. 

21)  Mus.  Pio-Clem.   II,  p.  218  N.  2. 


—     17     — 

sanias  hat  also  von  den  drei  im   Dreifuss  una    befindliclion 
Figuren  nur  die   berühmteste,   den   Satyr,   genannt.     Diese 
Annahme  ist  natürlich  nicht  gewiss ,  aber  es  steht  ihr  Nichts 
im  Wege.     Stark  ^^)  freilieh  bemerkt:  «es  ist  jedenfalls  auf- 
fallend,   dass    von    der  Gruppe    eines   Künstlers   nur    eine 
einzige    Gestalt   Beinamen   und    Ruhm    sich    erAvorben    hat, 
die  übrigen  Theile   also   weit   an    künstlerischem  Werth  zu- 
rückgestanden haben.»     Man  muss  sich  doch  wundern  über 
solche  Folgerungen.     An  Eauchs  Friedrichsdenkmal  in  Ber- 
lin ist  die  eine  Figur  so  vollendet  wie  die  andere,  und  doch 
wird   den  Figuren  Kants  und  Lessing 's    besondere   Bewun- 
derung zu  Theil.     Die  Figuren  des  östlichen  Parthenongie- 
bels sind  .gewiss  alle  gleich  vollendet  und  doch  hat  die  lie- 
gende weibliche  Figur  besonderen  Ruhm.     Ständen  die  Nio- 
biden    in    künstlerischer   Hinsicht    sich    gleich,    es    würden 
doch   Unterschiede    gemacht    werden.      Denn    es    kann   bei 
gleicher  künstlerischer  Vollendung  eine  glückliche  Stellung, 
eine  neue  originelle  Auffassung  und  mancher  andere  Grund 
einer  Figur  besonderen  Ruhm  verschaffen;  und  dass  solche 
Gründe,  wenn  irgendwo,  so  bei  dem  Satyr  vorhanden  waren, 
versuche  ich  unten  nachzuweisen.    Es  bleibt  noch  eine  Frage 
übrig,   nämlich  die,    Avas  mit   dem   becherreichenden  Satyr- 
knaben  anzufangen   sei.     Denn    hier  bemerkt   Stark:     «Es 
wäre  doch  höchst  merkwürdig,   wenn  Pausanias  die  Statue 
eines  Satyros  genauer  schildert,  aber  seinen  Künstler  nicht 
nennt,   Avährend   er  die  zwei  dazu  gehörigen,   von  ihm  nur 
beiläufig  erwähnten  Statuen  einem  für  uns  wenigstens  sonst 
gar  nicht    bekannten  Künstler   zuweist.      Es    bekommt   das 
nur  einen  Sinn,   wenn  eben  von  dem  Künstler   des  Satyros 
schon  länger  die  Rede  war  und  das  war  sie.»    Höchst  merk- 
würdig   w'äre    es    nicht,    wie    schon    die   Vergleichung   von 
Paus.  II,  21,  8.  9.  lehren  kann,    wo  von  zwei  zu  einander 
gehörigen  Statuen  nur  der  Künstler  der  einen  genannt  wird, 
allein   nach  meiner  Ansicht    steht  Kichts    im  Wege,    auch 
den   zweiten  Satyr   dem  Künstler   zuzuschreiben,    von   dem 
«schon  länger   die    Rede  war».      Vielleicht   ist   dann   dieser 


2*2)  Ihm  stimmen  Brnnn  iiml  Overbeck  bei. 


—     18     — 

Knabe  mit  dein  exitco^ua  zu  identificiren  mit  dem  (Jenopho- 
rus  des  Plinius,.  wie  Brunn")  meint,  denn  es  ist  keines- 
wegs notli wendig,  den  Oenopliorus  mit  Hirt^^)  für  einen 
8chlaucliträg(;r  zu  halten,  dem  man  vielleicht  eher  das  Epi- 
theton döxocpoQog  gegeben  haben  würde.  Bestimmt  unrich- 
tig aber  ist  die  Vermuthung  von  Walz  *■') ,  der  Oonophorus 
des  Plinius  sei  wohl  einerlei  mit  dem  in  zwei  Epigrammen  ^"j 
erwähnten  praxitelischen  Pan,  der  einen  Schlauch  trug. 
Denn  dieser  Pan  war  aus  pontelischem  (nicht  aus  parischem, 
wie  Brunn  p.  339  schreibt)  Marmor,  der  Oenophorus  dage- 
gen wird  bei  Plinius  unter  den  Bronzewerken  aufgeführt. 
Ich  bin  danach  zu  folgendem  Resultat  gekommen:  Der  in 
der  angeführten  Stelle  des  Pausanias  zuerst  erwähnte  Satyr 
ist  zu  identificiren  mit  dem  von  Plinius  als  Periboetos  be- 
zeichneten; der  den  Becher  reichende  Satyrknabe  mit  dem 
Oenophorus  des  Plinius,  und  dazu  kommt  als  dritter  Satyr 
des  Praxiteles  der,  welcher  nach  Pausanias  (I,  43,  5)  in 
Megara  stand. 

Der  classischen  Ausführung  Viscontis '') ,    der   die   be- 
rühmtesten Archäologen  und  Bildhauer^'*)  zugestimmt  haben 


23)  p.  339.  Ueber  den  Periboetos  herrscht  übrigens  bei  Brunn 
einige  Verwirrung-.  Es  heisst  (p.  338) ,  Plinius  habe  sicli  in  Betreff  des 
Periboetos  geirrt ,  die  Walirscheinlichkeit  spreche  für  den  Satyr  in 
einem  Tempel  der  Dreifusstrasse,  der  als  Knabe  gebildet  war  mit  dem 
Becher  in  der  Hand  und  (p,  309)  mit  dem  Eros  und  Dionysos  des  Thy- 
milos  zusammen  stand.  Damit  vergleiche  man  die  Bemerkungen  über 
den  an  einen  Baumstamm  gelehnten,  vom  Flötenspiel  ausruhenden  Sa- 
tyr auf  p.  351.  352.  Man  erwartet,  dass  Brunn  die  Zurückführung 
desselben  auf  den  praxitelischen  Periboetos  auf's  Entschiedenste  abweise, 
denn  sein  Periboetos  ist  ja  ein  becherreichender  Knabe,  hat  also  mit 
jener  Statue  nichts  zn  schaffen ,  allein  das  geschieht  keineswegs ,  viel- 
mehr wird  die  Möglichkeit,  dass  in  jenem  Satyr  der  Periboetos  erhal- 
ten sei,  durchaus  nicht  geläugnet 

24)  Gesch.  d.  .bild.  K.  p.  217. 

25)  Pauly's  Realencyclop.  s,  v.  Praxiteles  p.  37. 

26)  Brunck  Anall.  II,  p.  383  n.  4.  III,  p.  218  n.  315. 

27)  Pio-Clem.  II,  p.  215—220. 

28)  "Welcker  Bonner  Kunstmus.  Zweite  Aufl.  p.  25.  Braun  Griech. 
Götterl.  p.  493.  Wagner  Kunstbl.  1830  p.  145.  O.  Müller,  Handb. 
§.  127.  2.  u.  A. 


—     19     — 

und  die  zwar  nichts  absolut  Zwing-endes  aber  Alles  anführt, 
■svas  sich  in  Ermangelung  positiver  Nachrichten  anführen 
lässt,  Aveiss  ich  Nichts  hinzuzufügen,  als  etwa  dies,  dass 
die  ]5cwunderung  des  Altorthums  sich  gerade  bei  diesem 
Satyr  aufs  Vortrefflichste  erklärt.  Derjenige  freilich  kann 
sie  nicht  erklären ,  Avelcher  die  des  Künstlers  wie  des  Alter- 
tlunns  gleich  unwürdige  Ansicht  hegt,  es  sei  jener  Satyr 
nur  ein  Bild  sinnlicher  Lust  und  sinnlichen  Behagens.  Man 
wird  aber  fragen  müssen,  wie  verhält  sich  diese  Statue  zu 
den  Vorstellungen,  welche  die  Alten  von  den  Satyrn  hat- 
ten. Hesiod-^)  spricht  von  dem  nichtsnutzigen  Geschlecht 
der  Satyi'n,  Euripides  ^")  nennt  sie  Thiere,  im  Satyrdrama 
belustigten  sie  das  Publikum  mit  Bocksgedanken  und  Bocks- 
sprüngen, auf  den  älteren  Vasen  erscheinen  sie  bald  als 
unzüchtige  Schlingel,  bald  als  lustige  Bauern  mit  der  Aus- 
gelassenheit in  den  Beinen,  sie  sind  immer  toll  und  voll 
und  immer  hässlich.  Wie  gereinigt  und  verklärt  erscheint 
dagegen  der  Satyr  des  Praxiteles.  Er  zeigt  süsse  Ruhe,  da 
doch  sonst  der  Satyr  nicht  eher  zu  ruhen  pflegt,  als  bis  ihn 
der  Rausch  übermannt;  sinnend  und  träumend,  ohne  Thä- 
tigkeit,  in  seiner  Stellung  dem  schönsten  Gotte  gleich,  of- 
fenbart er  ein  anderes  Wesen,  als  jene  springende  Dämo- 
nenschaar,  die  immer  beschäftigt  sein  muss,  sei  es  nun  mit 
dem  Schlauch  oder  mit  der  Nymphe.  Was  die  Griechen  an 
ihm  bewunderten,  war  der  Contrast,  in  dem  diese  Figur 
mit  ihren  durch  die  Poesie  bestimmten  Vorstellungen  stand, 
sie  sahen  die  Gewalt  der  Kunst  auch  über  das  Gemeine, 
sie  sahen  den  Thiermensch  im  Heiligenschein  der  Schönheit. 
Nie  hat  die  Kunst  ihre  adelnde  Kraft  besser  bewährt.  Eine 
Zauberin  gleich  der  Medea  hat  sie  aus  hässlicher  Thiernatur 
die  jugendlich  schöne  Gestalt  eines  Halbgottes  geschaffen. 
Wohl  preise  man  den  Künstler,  der  ein  Bild  sucht  für  das 
Göttlichste  und  Höchste,  aber  man  schelte  nicht  den,  der 
barmherzig  auch  das  Gemeine  hinaufhebt  in  das  Reich  der 
Schönheit.  Der  Satyr  des  Praxiteles  ist  eine  eben  so  neue, 
überraschende  Schöpfung  wie   der  Zeus  des  Phidias,    und 


2'.))  fr.  CXXIX  Göttliug.     Zweite  Aufl.  p.  281. 
30)  Cycl.  624. 


2* 


—     20     — 

sowenig  Phidias  einem  Andern  nachgeschaffen,  als  dem 
Paradeigma  in  seinem  Geist,  ebensowenig  hat  irgend  Je- 
mand dem  Praxiteles  vorgearbeitet,  vielmehr  standen  ihm 
alle  Vorstellungen  entgegen.  Dies  eine  Werk  macht  ihn 
zmn  Avahrhaft  grossen  Künstler,  denn  es  ist  das  Kennzei- 
chen des  Meisters,  dass  er  das  Keue  hervorbringt;  aber 
nicht  für  den  flüchtigen  Augenblick,  sondern  als  Vorbild 
für  alle  kommenden  Zeiten. 

Der  Baumstamm  ül)rigoiis,  auf  den  sich  der  Satyr 
stützt,  ist  die  Abbreviatur  des  Waldes.  Er  ist  eine  Stütze 
für  die  Figur,  aber  auch  für  den  Verstand.  Der  Satyr 
steht  in  seinem  Wald,  wie  der  Gott  in  seinem  Tempel. 
Die  Stützen  sind  der  Marmortechnik  unentbehrlich,  aber 
die  Kunst  macht  überall  das  Nothwendige  zum  Schönen, 
sie  sind  da,  um  die  einsame  Statue  mit  Leben  und  Mannig- 
faltigkeit zu  umgeben.  Unzählige^')  Statuen  des  Dionysos 
stützen  sich  auf  einen  Baumstamm,  an  dem  eine  Rebe  hin- 
aufgTÜnt;  sie  wuchs  in  der  Phantasie  des  Griechen  zu  einer 
blühenden  Weinlaube,  die  wie  ein  lebendiger  Rahmen  den 
Gott  einschloss,  der  sie  geschaffen.  Denn  Nichts  ist  un- 
griechischer, als  die  Statue  anzusehen,  wie  ein  aus  dem 
Raum  losgetrenntes  Wesen,  das  nicht  hat,  wo  es  stehe. 

3.  Eros.  Der  Tiefsinn  eines  praxitelischen  Erosbildes 
lässt  sich  selbst  aus  den  Beschreibungen  eines  Callistra- 
tus^^)  erkennen.  Diese  sind  daher  vorzugsweise  zu  be- 
nutzen, da  von  den  berühmtesten  Erosbildern  des  Meisters 
keine  ausführlichen  Nachrichten  auf  uns  gekommen  sind  "). 
Auf  das  Lob  freilich,  welches  der  Sophist  dem  Künstler 
spendet,  möchte  ich  nicht  allzuviel  geben,  weil  dieselben 
hohlen  Phrasen   überall   wiederkehren^^).     Die  Eroten   des 


31)  Vgl.  Clarac  Mus.  de  sculpt.  pl.  678  A  no.  1584  A.  1595  A. 
1619  C.  pl.  678  C  n.  1595  C.  E.  F.  pl.  678  E  no.  1586.  1595  H  etc.  etc. 

32)  Stat.  IV  u.  XI. 

33)  Die  auf  den  Eros  zu  Tlicspiae  und  zu  Parion  bezügliclien  Ge- 
schichten, welche  zti  seltsamen  Folgerungen  benutzt  sind,  werden  füg- 
lich im  Zusammenhang  mit  den  ähnlichen  die  knidische  Aphrodite  be- 
treffenden besprochen. 

34)  Vgl.  Welcker  Praef.  p.  LXXII.     Brunn  beruft   sich  p.  334  auf 


—     21     — 

Callistratiis '•'),  beide  aus  Erz,  waren  dargestellt  in  der 
Blüthe  der  Jugend.  Die  rechte  Hand  des  Ersteren  ruhte 
auf  dem  Haupte,  in  der  Linken  trug  er  den  Bogen ^'*),  er 
hatte  also  ganz  dieselbe  Stellung,  wie  der  Apollo  der  Gym- 
nasien; ihre  Bedeutung  erklärt  Lucian^'')  so:  t6  (iyaX^a  de 
avTOv  {'AkoIIcovos  tov  yJvxsiov)  6(>«S,  tov  inl  t/;  attjktj 
xsKhiiBVov^  tfj  aQiCtSQa  {xav  to  to^ov  a^ovra  ^  y]  Öi^ia  de 
vtiIq  Tijg  x£(palfjg  avaxixlaGfiEV)]  gIstceq  ex  xa^dtov  ^axgoi) 
avaTtavoaevov  deCxvvöi  rov  d'eöv.  Dies  Aufliegen  des  rech- 
ten Armes  auf  dem  Haupt,  welches  sich  auch  vielfach  bei 
Schlafenden^*^)  findet,  zeigen  besonders  oft  die  Apollo-  und 
Bacchusstatuen  ^^)  und  vielleicht  ist  Praxiteles  der  Erfinder 
dieser  Stellung,    die  dann  später  vielfach  Aviederholt  wurde, 


(las  Lob    des  Callistratus    für    die  Mäuade    des  Scopas.      Bei    Praxiteles 
tiudet  dasselbe  keine  Erwäbnung. 

35)  Heyne  Opusc.  Acad.  V,  p.  205  und  mit  ibm  Böttiger  Andcut.  p.  I(i8 
und  Feuerbacb  Nacligel.  Sehr,  lieransgeg.  v.  Hettner  III,  p.  116  ver- 
muthen  einen  Irrthum  des  Sopliisten  über  den  Namen  des  Künstlers, 
Heyne  freilich  nur  mit  einem  polest  (luhiiari.  Er  bemerkt ,  man  wisse 
nicht,  wo  der  Eros  (stat.  IV)  aufgestellt  gewesen  sei,  ausserdem  wür- 
den nur  Marmorbilder  des  Eros  von  Praxiteles  erwähnt.  Letzteres  ist 
doch  wohl  kein  Grund;  was  Ersteres  betrifft,  so  ist  es  überhaupt  nicht 
Sitte  des  Callistratus,  den  Ort  seiner  Statuen  genau  anzugeben.  Von 
dem  Narcissus  (stat.  V)  heisst  es:  aXaoq  rjv  ■nal  iv  avrcp  nqrjvrj  .  .  . 
BLOrrj'ASi  äs  etv'  ccvxij  NcxQ^iaGog ;  von  dem  Dionysos  des  Praxiteles 
(stat.  VIII) :  cclßog  r]v  -aoi  Jiovvaog  statijyiei ;  von  dem  Centaur  (stat. 
XII):  SV  totg  TtqoTivXaiOLg  zov  vsco;  von  dem  Indos  (stat.  III):  Tcaga 
KQijvrjv  Eiarrjusi ;  von  dem  Eros  des  Praxiteles  (stat.  XI) :  stc  uKQono- 
Ifi;  und  bei  der  Miinade  des  Scopas  (stat.  II)  wird  wie  bei  dem  an- 
dern praxitelischen  Eros  gar  nichts  über  den  Ort  ihrer  Aufstellung  hin- 
zugefügt. Mit  Recht  führen  daher  Müller  Handb.  §.  127,  3  und  Brunn 
p.  341  sie  unter  Praxiteles  auf. 

36)  Es  ist  ein  Irrthum,  wenn  Böttiger  Andeut.  p.  168  und  Gerhard 
Beschreib,  d.  Stadt  Rom  I  p.  289  einen  Eros  des  Callistratus  bogen- 
spannend  nennen.  Böttiger  giebt  ihm  auch  einen  Pfeil,  von  dem  vol- 
lends Nichts  zu  lesen  ist. 

37)  Anachars.  c.  7.     Vgl.  Jacobs  zu  Philostr.  p.  693. 

38)  z.  B.  am  barbarin.  Faun ,  an  der  schlafenden  Ariadne  etc.,  und 
wo  Sterbende  als  schlafend  dargestellt  sind ,  wie  beim  sterbenden  Nio- 
biden. 

39)  Müller  A.  D.  II,   126.   127.  128.  355.  356  etc. 


—     22     — 

(Iciiu  die  IW'uutzuiii;'  ^^c•llOu  yeljraiu-liiir  .Mutivu  ist  bckannt- 
lieli  nicht  selten.  Der  Eros,  den  Callistratus  beschreibt, 
war  dargestellt  in  deni  Alter,  in  dem  mit  der  aufsprossen- 
den Blütho  des  Körpers  jene  ahnungsvolle  BoAvegung  der 
Seele  beginnt,  die  den  Blick  des  Jünglings  von  der  Aussen- 
Avelt,  die  ihn  bis  dahin  reizte,  abzieht  in  die  neue  unbe- 
kannte Welt,  die  in  seinem  Innern  entsteht.  Er  war  ver- 
sunken in  das  Geheimniss  seines  eignen  Wesens,  seine 
blühenden  Locken  fielen  nieder  auf  die  Stirn,  sie  flochten 
gleichsam  ein  Ketz  um  die  süssen  Träume  seines  Hauptes. 
Leicht  hatte  er  also  das  Haupt  gesenkt,  wie  der  vaticanische 
Torso.  Von  dem  Auge  des  Einen  hcisst  es:  iyavQovro  de 
£ig  ysAata,  i^jtvQov  n  xcd  ^eChiov  i^  o^^ärav  öiavyö/^av, 
von  dem  des  Andern  o(u.,ua  ds  ifisgcodsg  atöot  öv^^iiysg, 
cifpQodiGCov  ys^ov  xägitog  (nach  der  Verbessening  von  Ja- 
cobs p.  720.).  Es  waren  also  Gegensätze  darin  vereinigt, 
Gluth  und  Sanftheit,  Scham  und  Liebessehnsucht.  Am 
wichtigsten  scheint  mir  folgende  Stelle:  ccTca^os  ijv,  ^ci%o- 
^e'vrjv  rfj  a7cX6T)]Tt  Ty]v  ovölccv  b^cov ^  xcd  TCQog  ro  vygov 
ijysTO^  iöxEQyinivog  vyQortjtog,  und  ebenso  heisst  es  von 
dem  Andern:  vyQog  ^ev  ))i/,  ccholqcov  ^alaxotrjtog  (nach 
Jacobs  p.  692,  die  handschriftliche  Lesart  giebt  keinen 
Sinn\  In  der  ^Mischung  dieser  Gegensätze  liegt  das  Tief- 
sinnige und  Schöne  dieses  Kunstwerks.  Es  ist  das  Wer- 
den der  Liebe  dargestellt.  Die  süsse  Peitho  der  Liebe 
fliesst  wie  ein  sanfter  Strom  durch  seinen  Körper,  sie  be- 
zwingt ihn  schmeichelnd  und  verwandelt  ilm  in  ihr  eignes 
Wesen.  Betrachten  Avir  nach  diesen  Beschreibungen  den 
vaticanischen  Torso,  so  springt  seine  VerAvandtschaft  in  die 
Augen.  Auch  hier  die  Fülle  der  Locken,  die  träumerische 
Senkung   des  Kopfes^")    und  jener  Glanz   des  Auges,   aus 


40)  Ueber  die  verschiedenen  Bedeutungen  des  zur  Erde  gesenkten 
Kopfes  Hesse  sich  eine  ganze  Abhandlung  schreiben.  Ich  weiss  nicht, 
ob  es  schon  bemerkt  ist,  dass  Bräute  ganz  constant  mit  gesenktem 
Kopf  erscheinen  als  Zeichen  der  verecundia,  womit  sich  dann  meist  die 
bekannte  Geberde  der  Schüchternheit  (Creuzer  z.  Gall.  alter  Draniat. 
p.  33)  verbindet.  So  die  Hebe  im  Berl.  Mus.  1016.  Vgl.  Miliin  Gall. 
Myth.  n.  540.  541.  Stackeiberg  Grab.  Griechl.  32.  42.  Miliin  Point, 
de  V.   44,      Gerhard's   Denkm.   u.    Forschg.    1853   Taf.  54,  J.    etc.     Es 


23     

dem  der  erste  »Stralil  des  Liebefrüliliugs  hervordringt.  Wie 
die  Natur  geheimnissvoll  ist,  wo  ein  neues  Leben  an's  Licht 
strebt,  so  fühlt  man  in  diesem  Werk  der  Kunst  das  ganze 
Geheimniss  der  erwachenden  Liebe  ^°'').  Dass  dieser  vati- 
canische  Torso  auf  einen  praxitelischen  Eros  zurückzufüh- 
ren ist,  scheint  mir  danach  unzAveifelhaft ,  wie  es  auch  all- 
gemein angenommen  wird,  auf  welchen  aber,  weiss  ich 
nicht  und  sehe  keine  Möglichkeit,  es  zu  bestimmen.  Den 
in  vielen  Nachbildungen  auf  uns  gekommenen  bogenspan- 
nenden  Eros  auch  auf  Praxiteles  zurückzuführen,  wie  Ger- 
hard ^')  Avill,  stehe  ich  sehr  an.  Von.  Praxiteles  wird  kein 
Bogenspanner  erwähnt,  und  die  ganze  Auffassung  ist  eine 
durchaus  verschiedene.  Die  langen  Locken  des  Epheben 
sind  gefallen,  ein  anmuthiger Krauskopf  steht  vor  uns;  dort 
ein  gesenktes  Haupt,  ein  träumerisches  Auge;  hier  eine 
freie  Stirn,  ein  heiterer  Blick;  dort  ein  Jüngling,  hier  ein 
Knabe;  dieser  hat  den  Bogen  zum  Gebrauch,  jener  nur  als 
zierendes  Attribut;  dieser  hat  kleine  Flügel,  wie  sie  dem 
Flattergeist  der  erotischen  Poesie  entsprechen,  jener  lange, 
als  der  Gott,  der  über  das  weite  Meer  schweift,  wie  So- 
phocles  singt.  Der  Tiefsinn  fehlt  dem  Bogenspanner,  die 
Liebe  ist  nicht  mehr  eine  tiefe  Sehnsucht,  sondern  eine 
Wunde,  hervorgebracht  durch  den  Pfeil  eines  muthwilligen 
Schelms.  Man  kann  mir  einwenden,  dass  ein  Künstler, 
der  so  oft  den  Eros  gebildet  wie  Praxiteles,  ihn  auch  ein- 
mal leicht  und  spielend  dargestellt  haben  könne.  Aber  da- 
gegen spricht,  dass  die  beiden  Eroten  des  Callistratus  und 
der  vaticanische  in  ihrer  Auffassung  die  entschiedenste  Ver- 
wandtschaft zeigen,  dass  es  daher  Avahrscheinlich  ist,  Pra- 
xiteles habe  seinen  Erosgestalten  nicht  die  Verschiedenheit 
gegeben,   die  wir  nach   Gerhard    annehmen  müssten.     Der 


kann  als  Beleg  dienen ,  dass  der  Sinn  für  weibliche  Zartheit  den  Grie- 
chen keineswegs  mangelte. 

40  b)  Ganz  anders  urtheilt  Panoflca  (Abh.  d.  Berl.  Akad.  1853. 
p.  50  f.),  der  von  der  nicht  begründeten  Voraussetzung  ausgeht,  dass 
im  praxitelischen  Eros  eine  Species  des  ganzen  Erosbegi'iffes  dargestellt 
sei.  Das  Epigramm  üVjrigens  an  seinem  Sockel  ist  richtig  übersetzt 
von  Jacobs  in  Wieland's  Att.  Mus.  III  p.  25. 

41)  a.  a.  O. 


—     24     — 

bogenspannende  Eros  ist  das  Work  eines  Künstlers,  der  wie 
Bernhardy  ")  von  den  alexandrinisclien  Dichtern  sagt  ((ohne 
geistlos  zu  sein,  der  hohem  Begeisterung  entbehrt»,  Aväh- 
rend  der  vaticanische  einen  Künstler  voraussetzt,  der  sich 
begeistert  in  den  Gedanken  seines  Werkes  vertieft  hat. 
Visconti  ")  vermuthet  bekanntlich  in  dem  Ersteren  die  Nach- 
bildung eines  lysippischen  Bronzewerks. 

4.  Die  knidische  Aphrodite.  Plinius  **)  berichtet  über 
sie:  Ante  omnia  est,  non  solum  Praxitelis,  verum  in  toto 
orbe  terrarura,  Venus,  quam  ut  viderent,  multi  navigave- 
runt  Cnidum.  Duas  fecerat  simulque  vendebat,  altorain 
velata  specie,  quam  ob  id  quidem  praetulerunt,  quorvun  con- 
ditio erat,  Coi,  cum  eodem  pretio  detulisset,  severum  id  ac 
pudicum  arbitrantes:  reiectam  Cnidii  emerunt  immensa  dif- 
ferentia  famae.  Voluit  eam  postca  a  Cnidiis  mercari  rex 
Nicomedes,  totum  aes  alienum  quod  erat  ingens  civitatis 
dissoluturum  se  promittens.  Omnia  perpeti  maluere,  nee 
immerito:  illo  enim  signo  Praxiteles  nobilitavit  Cnidum. 
Aedicula  eins  tota  aperitur,  ut  conspici  possit  undique  ef- 
figies,  dea  favente  ipsa,  ut  creditur,  facta.  Ncc  minor  ex 
quacunque  parte  admiratio  est.  Fenint  amore  captum  quen- 
dam,  cum  delituisset  noetu,  simulacro  cohaesisse,  eiusque 
cupiditatis  esse  indicem  maculam.  Sunt  in  Cnido  insula  et 
alia  signa  marmorea  illustrium  artificum :  Liber  Pater  Brya- 
xidis  et  alter  Scopae  et  Minerva  •,  nee  *'")  malus  aliud  Vene- 
ris  Praxiteliae  specimen,  quam  quod  inter  haec  sola  memo- 
ratur ").      Schon  dieser    überschwängliche   Ruhm  hätte   das 


42)  Griech.  Lit.  Gesell.      Zweite  AiiH.  I,  p.  483. 

43)  Mus.  Pio-Cl,  I,  p.   125. 

44)  XXXVI,  c.  4  §.  5. 

45)  Brunn  p.  340.  Anm.  1.  bemerkt  von  dieseu  Woi'ten,  sie  seien 
ihm  unklar ;  ich  zweifle  keinen  Augenblick ,  tlass  sie  so  verstanden  wer- 
den müssen:     Es  sind  auf  Cnidos  auch  andere  Marmorbilder  berühmter 

Künstler   es   giebt    aber    keinen    andern    stärkern    Beweis    für   die 

praxitelische  Aphrodite,  als  dass  sie  unter  diesen  immer  nur  allein  ge- 
priesen wird.  Die  sie  umgebenden  Kunstwerke  des  Scopas  und  Bryaxis 
sind  auch  vortrefflich,  doch  aber  wird  nur  von  ihr  allein  gesprochen 
und  das  ist  das  grösste  specimen ,  die  beste  Probe  ihrer  Schönheit. 

46)  Vgl.  Plin.  VII  c.  30.     Cic.  Verr.  IV  c.  00. 


—     25     — 

Urtlicil  Biium's  *')  zurücklialtcu  sollen.  Die  nähei-e  Charac- 
teristik  dieses  Werkes  giebt  uns  Lucian  an  drei  Stellen, 
nicht  an  zweien  5  Brunn  hat  eine  höchst  Avichtige  übergangen 
und  die  beiden  angeführten  zu  einer  ihrem  Zusammenhang 
widersprechenden  Folgerung  benutzt.  Es  Avird  aus  Luc. 
Amor.  c.  13.  und  Imag.  c.  4.  folgender  Schluss  gezogen  ^^): 
«Bei  den  Werken  eines  Phidias,  Myron,  Polyclet,  selbst 
eines  Scopas  ist  es  die  Gewalt  der  Idee,  lebendigste  Natur- 
wahrheit, schönstes  Ebenmass,  die  höchste  Begeisterung, 
was  die  BcAVunderung  hervorruft.  Hier  ist  es,  um  es  zu- 
nächst kurz  auszudrücken,  die  rein  sinnliche  Erscheinung, 
welche  durch  sich  selbst  und  allein  Gefallen  erAvecken  soll. » 
Diesem  Urtheil  AAärd  dann  die  Beschrcänkung  beigefügt,  dass 
die  Göttin  noch  keineswegs  als  Aphrodite  Hetära  zu  denken 
sei,  es  bleibt  aber  dabei,  dass  die  körperliche  Schönheit, 
der  sinnliche  Reiz  des  Aveiblichen  Körpers  das  Ueberge- 
AA'icht  behaupte.  In  dem  Dialog  «Imagines»  Avird  die  Smyr- 
.näerin  Panthca  beschrieben  hinsichtlich  ihrer  äusseren  und 
inneren  Schönheit.  Im  ersten  Thoil  des  Gesprächs  construirt 
Lykinos  ihre  äussere  Schönheit  aus  den  vollkommensten 
Theilen  berühmter  Bildsäulen,  der  knidischen  Aphrodite, 
der  Aphrodite  des  Alkamenes,  der  Sosandra '")  des  Kaiamis, 


47)  Die  Worte  (p.  346),  die  kuidische  Aphrodite  sei  «geAviss  dess- 
halb  zu  so  ausserordeutlichem  Ansehen  gelangt,  weil  sie  der  geistigen 
Eigen thümlichkeit  des  Künstlers  am  meisten  entsprach »  ,  sind  mir  völlig 
unverständlich. 

48)  p.  347. 

49)  Es  sei  mir  ein  Wort  über  diese  Statue  erlaubt.  Soviel  ich 
weiss,  existiren  nur  Vermuthungen  über  sie.  Hirt  (Gesch.  d.  b.  K. 
p.  155)  vermuthet  in  ihr  eine  Priesterin,  oder  eine  Arrhephore  der  Po- 
lias ;  Preller  (Gerhard's  Archäol.  Zeitg.  IV  p.  343  f.)  einen  Beinamen 
der  Aphrodite  und  ihm  stimmt  Feuerbach  bei  (Nachl.  II  p.  173).  Durch 
Vergleichuug  von  Luc.  de  imag.  c.  18.  7.  13.  mit  der  oben  angeführten 
Stelle  scheint  es  mir  unwidersprechlich ,  dass  Sosandra  ein  Beiname  der 
Hera  ist.  Im  Anfange  des  Gesprächs  de  imag.  erzählt  Polystratos  dem 
Lykinos ,  die  schöne  Smyrnäerin  habe  sich  beklagt ,  dass  er  (Lykinos) 
sie  verglichen  mit  der  Hera  und  Aphrodite,  c.  7  u.  13;  es  sei  ihr  diese 
Vergleichung  frevelhaft  vorgekommen.  Dagegen  vertheidigt  sich  nun 
Lykinos  von  c.  17  an  iind  es  heisst  in  cap.  18:  viisq  äh  ov  XQH  f^^o- 
Xoyrjcac&cd ,  tovto  ißtiv ,  ort  t^  Iv  KviSto  -ncd  rrj  iv  Ktjnois  xat   Hga 


—     26     — 

der  lemnischen  Athene  und  der  Amazone  des  Phidias.    Dann 

sagt  PolystratoiJ  c.    J 1  :    (Sv  ^ev i'otxag    zu   TtQoxtiQu 

Taiira,  ^e'yco  de  ro  oco^a  xal  rt]v  yiOQ(pr]v ^  a-jiaiveiv  xav  dt 
tilg  tpvxfjs  Kya&cjv  a&t'atog  ei  ovös  oiöd^a  Ö6ov  xo  xaklog 
ixitvo  iöxiv  avxrjs  ^axQoj  xivt  ccfiSLvov  xal  d^eoEidäöxsQov 
Tov  aäfiatog.  Darauf  (c.  12)  bittet  Lykinos,  Polystratoö 
mr»ge  ein  Bild  ihrer  Seele  entwerfen,  cog  ^rj  f'^  ijuLaaiag 
Orcüfia^oiftt  avT}]v.  Das  thut  Polystratos  und  es  werden 
c.  23  die  Öchildcrungen  des  Körpers  und  der  JSecle  zusam- 
mengethan.  AVie  konnte  nun  Brunn  die  Stelle  Imag.  4  be- 
nutzen zu  dem  Urtheil,  die  Aphrodite  des  Praxiteles  sei 
nur  eine  sinnliche  Schönheit  gewesen,  da  es  nach  dem  Zu- 
sammenhang klar  ist,  dass  im  ersten  Theil  des  Gesprächs 
nur  von  äusserer  Schönheit  die  Rede  ist  und  sein  konnte, 
da,  nicht  bloss  von  der  knidischen  Aphrodite,  sondern  auch 
von  allen  übrigen  Statuen  nur  Eigenschaften  der  äusseren 
Form  und  Erscheinung  angeführt  Averden?  Die  Stelle  ist 
also  zu  benutzen,  ohne  jene  Folgerung  daraus  zu  ziehen. 
Die  zweite  Stelle  Lucian's  (Amor.  c.  13),  die  Brunn  anführt, 
ist  ebenso  unrichtig  angewandt.  Lykinos  erzählt  dem  Thco- 
mnestos  von  einem  herrlichen  Paar  von  Liebesrittern,  einem 
8QC3XLx6v  i.Evyog^  wie  er  es  c.  11  spöttelnd  nennt.  Der 
Eine  ist  ein  yvvcaxoTtcTtrjg,  der  Andere  ein  jtcado7it7ir]g^  und 
diese  Herren  in  ihrer  Verschiedenheit  Avitzig  zu  characte- 
risiren,   ist  der  Zweck  des  ersten  Theiles  unseres  Gesprä- 


y.ccl  'A&rjVK  ttjv  fiOQcpriv  uvaiiXäztcov  ii'-aaaa'  xavzä  aoi  i'xjuErpo:  böo^s 
HC(l  VTCfQ  TOI'  TiöSa.  In  dem  Dialog  «Imagines»,  in  dem  Lykinos  eben 
jene  Vergleichung  mit  Göttinnen  angestellt  hat,  über  welche  ei-  sich 
hier  rechtfertigen  soll,  wird  Hera  gar  nicht  erwähnt,  vielmehr  erscheint 
dort  an  eben  der  Stelle,  wo  hier  die  Hera  aufgeführt  wird,  die  Sosan- 
dra  des  Kaiamis.  Sollen  nun  die  beiden  Dialoge  zusammenstimmen, 
und  sie  müssen  es,  weil  der  eine  nur  die  AiJologie  des  andern  ist,  so 
muss  Sosandra  ein  Beiname  der  Hera  sein.  In  den  Imag.  werden  die 
Göttinnen  mit  ihren  Beinamen  genannt ,  weil  nur  von  Statuen  die  Kede 
ist,  in  dem  Dialog  de  Imag.  wird  statt  der  «Lemnierin»  Athene,  statt 
der  «Sosandra»  Hera  selbst  gesetzt,  weil  Lykinos  sich  gegen  den  Vor- 
wurf verwahren  will ,  die  Frau  mit  den  Göttinnen  selbst  verglichen  zu 
haben.  Uebrigens  hat  Sosandra  als  Beiname  der  Hera  eine  Analogie  an 
der  Hera  'AXe^uvÖQog  in  Sicyon  (Schol.  Piud.  Nem.  9,  30    Heyne). 


—     27     — 

ches.  Schon  ihr  Aeusseres  initerseheidet  sich  ihrer  Sinnes- 
art gemäss  (c.  9),  ebenso  ihr  IlausAvesen;  der  Eine,  Kalli- 
kratidas,  liat  eine  Dienerschaft  von  Knaben,  der  Andere, 
Charikles,  von  Weibern  (c.  10).  Nun  folgt  der  HauptAvitz, 
der  freilicli  meinem  Gefühl  wenig  zusagt.  Lykinos  führt 
dies  treffliche  Gespann  zur  knidischen  Aphrodite,  um  auch 
hier  ihre  verschiedenen  Neigungen  zu  characterisireu.  Der 
Weiberheld  ist  entzückt  von  ihrer  vordem,  der  Päderast 
von  ihrer  hintern  Seite !  Wenn  nun  die  Worte  solcher 
Leute,  die  entschieden  spöttelnd  behandelt  sind,  benutzt 
werden  zu  dem  Schluss,  dass  ein  Wunelerwerk  des  Erdballs 
eine  sinnliche  Schönheit  gewesen  sei,  so  wollen  wir  auch 
die  mancherlei  Anecdoten  über  die  Dichter  der  Griechen 
sofort  als  massgebend  hinstellen,  Avir  AA'ollen  es  glauben, 
AA^as  Athenäus^")  über  die  Niobe  des  Sophocles  sagt  und 
Avas  dergleichen  mehr  ist.  Brunn  Avill  «immerhin  (!)  von 
der  stark  sinnlichen  Färbung,  namentlich  bei  Beschreibung 
der  hintern  Seite,  etAvas  in  Abzug  bringen»,  aber  es  soll 
Nichts  in  Abzug  gebracht  Averden,  sondern  es  soll  die  Stelle 
so  verstanden  AA^erden,  Avie  sie  verstanden  Averden  muss. 
Es  ist  nicht  genug  für  die  Kritik,  zu  fragen,  ob  Jemand 
dies  und  Jenes  über  die  Aphrodite  sagt,  sie  hat  weiter  zu 
fragen,  Aver  sagt  es  und  in  welchem  Zusammenhang  wird 
es  gesagt.  Und  dann  ist  die  AntAA^ort  diese:  ein  Päderast 
sagt  es  und  spöttelnd  geschieht  dieses  Menschen  ErAvähnung; 
und  der  Schluss  heisst:  Ein  Päderast  konnte  nur  loben, 
Avas  einem  Päderasten  zusagt,  er  hat  ja  als  solcher  keinen 
Sinn  für  Adel  und  Hoheit.  Denn  dass  sinnliche  Menschen 
nur  mit  sinnlichen  Augen  die  Kunst  betrachten,  ist  doch 
Avohl  eine  Thatsache,  die  ich  nicht  erst  zu  bcAveisen  braiiche. 
Was  sagt  aber  Lykinos  von  der  Aphrodite  ?  Er  nennt  sie 
ro  trjs  UQa^Lts^ovg  £vx£Q£LCig  ovraq  anarpQÖöixov ^  ähnlich 
dem  Wort  des  Plinius:  efhgies  dea  favente  ipsa,  ut  credi- 
tur,  facta.  Nach  Brunn  hätte  also  die  Gottheit  dem  Künst- 
ler geholfen,  ihr  eignes  Afterbild  zu  schaffen,  Avährend  sie 
—  und  das  ist  der  Sinn  dieses  Volksglaubens  —  ihm  bei- 
gestanden hat,   ihr  ganzes  leibhaftiges  Wesen  zur  Erschei- 


50)  XIII  p.  601.  a.     Vgl.  Welcker's  Griech.  Trag.  I,  297, 


—     28     — 

nung  zu  bringen,  als  sei  es  uiiUKigiich,  so  viel  8cli(»nlieit 
ohne  Göttcrhiiltc  zu  schaffen.  Dann  sagt  Lykinos  weiter 
(c.  13):  rj  [ilv  ovu  d-eog  ev  ^ea<p  xa^iÖQvrat  —  IIr(Qic:g  Ös 
^.t&ov  datda^^a  näkkiörov  —  V7t{Q)](pccvov  xcd  OeörjQorc  ye- 
ktoTt  ^iKQOv  vno^siötaöa.  Tiäu  de  rö  xßAAog  avTrjg  axä- 
IvTirov  ovde^iäs  iö&fjtog  a^Tt^x^^^VS  yeyi'l-ivcoTai. ,  7tXt)v  ööa 
Tfi  ireQa  xst^l  xi]v  aiÖco  Ishid-oTog  szlkqvztsiv.  toöovrö  ye 
^}]v  }j  örj^LOVQyog  ia%vöa  ztxvrj',  coGzs  trjv  avTitvnov  ovta 
xai  xaQXBQai'  toj)  Xid'ov  (pvöiv  axdöTotg  nskedtv  iTttJtQSJtsiv. 
Liegt  nun  in  diesem  Urtheil  etwas  Unwürdiges,  liegt  irgend 
ein  Anhaltspunkt  für  die  Behauptungen  Brunn's  darin  ?  Ly- 
kinos nennt  die  Aphrodite  das  schönste  Kunstgebilde  — 
das  beste  Zeugniss ,  das  er  ihr  geben  konnte  —  ;  er  sagt, 
die  Kunst  habe  die  spröde  und  harte  Natur  des  Hteins  über- 
wunden —  das  besste  Zeugniss  für  den  Künstler.  Was 
sollte  er  in  aller  Welt  an  der  Aphrodite  wohl  eher  loben, 
als  ihre  Schönheit!  Wenn  aber  Brunn  fortwährend  trennt 
zwischen  geistiger  und  sinnlicher  Schönheit,  so  hat  er  nicht 
bedacht,  Avas  denn  das  Wort  xaXog  für  den  Griechen  be- 
deutet, Avorüber  ich  nur  auf  die  schönen  Worte  Hermann's  ^') 
verweisen  kann.  Endlich  ist  ja  ganz  und  gar  das  V7i£Q)']q)a- 
vov  übersehen.  Zunächst  ist  es  falsch  bezogen,  denn  Avenn 
Brunn  ^^)  übersetzt  « die  Göttin  steht  in  der  Mitte  des  Tem- 
pels, aus  parischem  Stein  das  schönste  Kunstgebilde,  hoch 
erhaben  und  den  Mund  ein  wenig  Avie  zu  leisem  Lächeln 
öffnend»,  so  Avird  doch  Jeder  das  «hoch  erhaben»  auf  die 
Göttin  beziehen,  es  müsste  also  vnsQYitpav og  dastehen.  Aber 
es  steht  vji8Qt]cpavov  und  dies  niuss  sich  ebenso  Avie  hlxqÖv 
beziehen  auf  VTto^eiöicjöa.  Denn  das  soll  ausgedrückt  Aver- 
den  dass  die  Aphrodite  erhaben  lächelt  als  Göttin  und  leise 
A^erstohlen  Avie  ein  sehnsüchtig  Weib  ^^^).  Wie  vortrefflich 
dieses   Wort  ihrem   Character   entspricht,    wird   sich   unten 


51)  Stud.  d.  gr.  Künstl.  p.  25  u.  N.  123.  52)  p.  346. 

52  b)  Die  altern  Ausgaben  des  Lucian  setzen  ein  Kolon  hinter  vtifq- 
jjcpavov  und  verbinden  es  danach  mit  Satdal^ia.  Aber  dann  steht  das 
Jiai  unerklärlich  da ;  die  Interpunktion  von  Jacobitz  in  seinen  beiden 
Ausgaben  ist  unwidersprechlich  richtig  inid  nach  ihr  scheint  mir  keine 
andere  Beziehung  möglich ,  als  die,  welche  ich  oben  gegeben  habe. 


—     29     — 

zeigen,  Brunn  aber  hätte  cTocli  ausführen  sollen,  was  er 
sich  unter  dem  VTTSQycpccvov  gedacht  hat.  Es  ist  aber  noch 
die  Geschichte  da  von  dem  Jüngling,  dessen  Leidenschaft 
das  Bild  befleckt  hat,  denn  hieraus  wird  Brunn  ohne  Zwei- 
fel dasselbe  folgern,  was  er  über  den  Eros  des  Praxiteles 
bemerkt  ■'') :  «Welche  Bedeutung  aber  der  Künstler  dem 
sinnlichen,  kijrperlichen  Reiz  in  der  Darstellung  eingeräumt 
hatte,  zeigen  sowohl  die  Anspielungen  Lucian's^^),  als  in 
noch  höherem  Grade  die  Verirrungen  einer  griechischen 
Phantasie,  welche  den  Eros  zu  Parion,  Avie  die  knidische 
Aphrodite  befleckten.»  Man  wundert  sich  doch  billig  über 
solche  Folgerungen,  noch  mehr  aber  über  die  Inconsequenz 
Brunn"s._^  Von  der  Aphrodite  des  Phidias  wird  erzählt,  sie 
reize  den  Beschauer  zur  Wollust,  aber  das  ist  nach  Brunn ^^) 
«Missverständniss  oder  spätere  Erfindung»  (!).  Jedermann 
Avird  fragen,  warum  beurtheilt  Brunn  dieselben  Geschichten 
bei  Praxiteles  anders?  Weil  es  ihm  gefiel,  den  Praxiteles 
zu  beurtheilen  im  Widerspruch  mit  aller  Urkunde.  Wollte 
er  das,  so  hätte  er  wenigstens  consequent  sein  und  den 
Griechen  sowohl  Schönheits  -  als  Sittlichkeitsgefühl  abspre- 
chen sollen,  denn  ohne  dies  bleibt  die  Bewunderung,  wekdie 
sie  dem  Praxiteles  überhaupt  und  seinen  einzelnen  Werken 
zollten ,  als  unaufgelöster  Widerspruch  stehen.  Göthe  ^^)  be- 
merkt: ((die  Tradition  sagt,  dass  brutale  Menschen  gegen 
plastische  Meisterwerke  von  sinnlichen  Begierden  entzündet 
wurden»;  ich  glaube  nicht,  dass  die  vorliegenden  Erzäh- 
lungen so  zu  beurtheilen  sind,  vielmehr  folge  ich  der  Er- 
klärung, die  schon  Wieland  ")  angedeutet  hat.  Denn  sehen 
wir  jene  Geschichten  näher  an.  Bei  Philostratus  ^^)  ist  die 
Rede  von  einem  Menschen,  der  bei  uns  sofort  in's  Tollhaus 


53)  p.  349  f. 

54)  Amor.  11  u.  17.  Njich  dem  oben  Bemerkten  bedarf  es  nielit 
einer  neuen  Ausführung,  um  zu  zeigen,  wie  falsch  diese  Stellen  verstan- 
den sind. 

55)  p.  205.  Anm.  1. 

56)  Ueber  Diderot  in  d.  Propyl.  T,  2.  p.  20. 

57)  Ueber  d.  Ideale  etc.  Bd.  45  p.  210.  Vgl.  Feuerbach  Vatic.  Ap. 
p.  304  N.  10. 

58)  Vgl.  Apollon.  VI,  40  p.   128  ed.  Kayser. 


—     80     — 

wandern  müsstc.  Er  will  sich  alles  Ernstes  mit  der  kni- 
dischen  Aphrodite  verheirathen  und  Apollonius  liat  ]\Iühe, 
ihn  zur  Vernunft  zu  bringen,  da  sein  Vorhal)en  den  Kni- 
diern  keineswegs  wunderbar  erselioint.  liier  heisst  es: 
xaltöag  (Apollonius)  ovv  tov  d-Qvnrö^avov  r/'^fro  ccvtov,  ei 
Q^sovg  vsvö^ixs^  tov  ö'  ovrco  voiiCt,Biv  %-£ovc;  (ptjßavTog,  tag 
nal  aQcSv  avrcSv  aal  tcov  yd^cov  fiv}]^ov£v6avtog^  ovg  &v- 
Gsiv  rjystto,  os  ^bv  noLi^tal,  ag))^,  inaCgovöi  rovg  'JyxCöag 
Tf  nul  rovg  TJrilmg  %Ealg  ^vt,vyf^vca  eiTtorrsg,  iya  de  tisqI 
TOV  igäv  xccl  BQäo&cci  tods  yLyvcoöxa.  Und  wie  sucht  nun 
Apollonius  ihn  zurückzubringen  von  seinem  A'orhaben? 
Wir  erwarten,  er  wird  ihm  begreiflich  zu  machen  suchen, 
mit  einer  Bildsäule  lasse  sich  keine  Ehe  schliessen.  Kei- 
neswegs, vielmehr  sagt  er,  Götter  lieben  nur  Götter,  es 
tlarf  nur  zwischen  Gleichen  Liebe  bestehen,  wer  dieses  Ge- 
setz übertritt,  den  triflft  die  Strafe  des  Ixion.  Und  der 
IMann  ging  darauf  hin  und  opferte  vtisq  ^vyyvä^tjg.  Diese 
Geschichte  wird  nur  dadurch  erklärt,  dass  das  Götterbild 
für  den  Griechen  nicht  ein  Bild,  sondern  die  Avirklichc  Gott- 
heit war,  nicht  ctAvas  Todtes,  sondern  der  lebendige  Leib 
der  Gottheit,  den  ihr  Numen  erfüllt  ^'*).  Ebenso  wird  die 
andere  Geschichte  von  der  Befleckung  der  knidischen  Aphro- 
dite bei  Lucian  ^°) ,  welche  die  Tempelwärterin  dem  Lyki- 
nos  und  seinen  Begleitern  erzählt,  nicht  als  etwas  Wunder- 
bares, sondern  nur  als  ein  Frevel  gegen  die  Gottheit  mit- 
p-etheilt.  Hier  ist  auch  von  brutaler  Sinnlichkeit  nicht  die 
Rede,  vielmehr  hat  die  ganze  Erzählung  einen  durchaus 
schwärmerischen  Character.  Der  Jüngling  steht  Tage  lang 
vor  der  Göttin,  die  Augen  auf  sie  gerichtet,  er  schneidet 
sein  iCAcpQOÖCrri  xaAij»  in  alle  Bävmie,  er  versucht  ein  Wür- 
felorakel, bis  ihn  endlich  die  Leidenschaft  zum  Excess 
treibt.  Die  Deisidämonie  hat  ihn  verlassen ,  er  sieht  in  der 
Göttin  nicht  mehr  einen  Gegenstand  der  Verehrung ,  son- 
dern der  Liebe.  Dass  aber  die  meisten  dieser  Erzählungen 
sich  auf  Bilder  des  Eros  und   der  Aphrodite,  beziehen,    er- 


ö 


59)  Dies  ist   von  Feuerbacli  Vatic.  Ap.    p.  24  f.   sehr   schön    aus- 
geführt.    Vgl.  auch  Bütticher  Tektonik  II  p.  130. 

60)  Amor.  c.  15  f. 


—     31      — 

klärt  sich  von  selbst.  Eben  die  (iewalt  der  Hchönlieit  über 
das  griechische  Gemüth;  die  so  mächtig  ist,  dass  sie  die 
fromme  Scheu  aus  dem  Herzen  drängt,  ferner  der  Glaube, 
dass  die  Statue  der  leibhaftige  Gott  ist,  sind  die  Ursache 
solcher  Erscheinungen  und  man  könnte  fragen,  ob  diese 
Erzählungen  sich  nicht  vielmehr  als  Beweise  für  die  höchste 
Lebendigkeit  und  zauberhafte  Schönheit  jener  Statuen  an- 
führen Hessen,  zumal  da  sie  sich  an  solche  knüpfen,  von 
deren  L.obe  das  Alterthum  voll  ist? 

Aber  es  bleiben  noch  zwei  Epigramme^'),  welche  Brunn 
anführt  zu  einer  ähnlichen  Folgerung,  wie  die  Stellen  Lu- 
cian's.     Das  eine  heisst: 

Aq^Qoyei'Oiig  Ilacpnjg  ^a&eov  TfSQidsQuso  KukXog 

Kai   Xe^sig'  aivcS  xov   (pQiiya  tfjg  KQiGscog. 
Axd'löa  ÖEQKO^evog  itali   JJccklaöa^  rovro  ßojjßeig' 

(og  ßovxt]g  o   IlaQig  Ttivde  TCdQETQO^^aöe. 

das  andere: 

Tav   Kviöiav  Kv&eQEicuv   löcov^  ^f'^^i  to-Dro  xfi'  siTXOig- 

avTCK  xal  &VCCTCÖV  ccqx^  ''^^  ad'avarcov  • 
rav  ö     ivl   KEKQOTTLÖaig  doQv&ccQasa  IlulXaöa  IevGGcov 

avöaoEig-   ovrag  ßovKoXog  i]v  o  ÜK^ig. 

Hieraus  wird  nun  gefolgert''-),  ((dass  auch  die  Alten 
schon  diesen  Gegensatz  (zwischen  körperlicher  und  gei- 
stiger Schönheit)  in  seiner  ganzen  Schärfe  empfanden,  leh- 
ren jene  beiden  Epigramme  auf  die  knidische  Aphrodite 
und  die  lemnische  Athene,  in  denen  Paris  ein  Rinderhirt 
gescholten  wird,  weil  er  den  körperlichen  Reizen  der  Aphro- 
dite den  Preis  vor  der  geistigen  Schönheit  der  Athene  zu- 
erkannt habe»  (!).  Fragt  man  nun  zunächst,  warum  sich 
diese  Epigramme  auf  die  lemnische  Athene  des  Phidias  be- 
ziehen sollen,  so  ist  die  Antwort,  weil  es  Brunn  so  be- 
liebte; wahrscheinlich  um  jenen  Gegensatz  aufstellen  zu 
können  zwischen  dem  specifisch    schönsten  Werk    des  Phi- 


61)  Bninck  Anall.  III  p.  200,  u.  248.  I  p.  262. 

62)  p.  348  u.  204. 


—     32     — 

clias  und  dos  Praxiteles.  Hütte  er  genauer  die  Epigramme 
ansehen  wollen,  so  hätte  er  einen  positiven  Gegengrund 
gegen  die  Beziehung  auf  die  Lemnierin  gefunden.  Es  wird 
der  Athene  in  dem  zweiten  das  Beiwort  doQvd^aQO}]g  gege- 
ben. Wie  passt  nun  dieses  auf  die  durch  ihre  Schönheit 
berühmte  Lemnierin,  die  unbewaffnet,  nicht  als  streitbare 
Jungfrau  gebildet  war,  wofür  Brunn  (p.  183)  selbst  die 
Stellen  anführt?  Vielmehr  weist  dieses  Epitheton  entweder 
auf  die  Parthenos  oder  auf  die  Promachos,  am  passendsten 
ist  es  für  letztere.  Nicht  so  gewiss  ist  die  Beziehung  des 
ersten  Epigramms,  doch  spricht  das  Beiwort  'yir&ic;  jeden- 
falls mehr  für  eine  von  jenen  beiden,  als  für  die  von  der 
Lemnierin  auf  die  Akropolis  gCAveihte.  Ferner:  Wo  steht 
etwas  von  dem  Gegensatz  zwischen  körperlicher  und  gei- 
stiger Schönheit?  Brunn  müsste  denn  etwa  ^dd^sov  xäXlog 
übersetzen  wollen  «sinnliche  Schönheit».  Wo  steht,  dass 
Paris  «den  körperlichen  Reizen  der  Aphrodite  den  Preis 
vor  der  geistigen  Schönheit  der  Athene  zuerkannt  habe»? 
Es  macht  eigne  Empfindungen,  bei  solcher  Exegese  einen 
Praxiteles  tadeln  zu  hören.  Li  den  Epigrammen  ist  es  be- 
kanntlich nicht  selten,  dass  man  das  Lob  von  Hera-,  Athene- 
oder Aphroditebildern  bezieht  auf  das  Parisurtheil  *'^) ;  so  ge- 
schieht es  auch  hier.  Der  Sinn  des  ersteren  (von  dem  übri- 
gens noch  nicht  ausgemacht  ist,  ob  es  sich  auf  die  Kni- 
dierin  bezieht)  ist:  Sieht  man  die  göttliche  Schönheit  der 
Aphrodite,  so  wird  man  einstimmen  in  das  Urtheil  des  Pa- 
ris; sieht  man  aber  die  attische  Pallas,  so  wird  man  sagen: 
Welch'  ein  Tölpel  war  Paris,  dass  er  an  dieser  vorüber- 
ging! Das  andere  sagt:  Siehst  du  die  knidische  Aphro- 
dite, Fremdling,  so  möchtest  du  wohl  sagen:  Herrsche  al- 
lein über  Sterbliche  und  Unsterbliche ;  erblickst  du  aber  die 
speerkühne  Pallas,  so  wirst  du  sagen:  der  Paris  war  in 
Wahrheit  ein  Rinderhirt,  d.  h.  er  hatte  kein  Urtheil  über 
Schönheit.  Wer  wird  nun  wohl  nach  Ausdruck  und  Paral- 
lelismus der  Disticha  einen  andern  Sinn  finden  können ,  als 


63)   Vgl.   Bninck   Anall.  I  p.    281,   no.  41.  p.  15,   n.   32.     Martial. 
Epigr.  X,  89  etc. 


—     38    — 

den:   Diejenige  ist  die  schönere,  vor  welcher  der  Beschauer 
grade  steht? 

Die  dritte  Stelle  über  die  knidische  Aphrodite  steht  bei 
Lucian  de  imag.  c.  23.  Hier  rechtfertigt  sich  Lykinos  vor 
der  als  anwesend  gedachten  Sniyrnäerin  mit  diesen  Worten : 
iya  dh  —  '^dtj  yÜQ  ^s  jtQod^srcci,  rccXrjQ-sg  siTtstv  — -  ov  dsatg 

^.id-ov  xal  xalxov  t]  ikecpavtog  TCSTiotrjusvoig.  xa  da  vti  ccv- 
Q^QaTiav  ysysvrj^sva  ovx  ccGeßsg  ol^at  av&Qcojtoig  sCxa^eiv  • 
fxxog  st  ^rj  6v  roüro  Eivat  xi]v  'Ad'r]väv  vjiSLXfjcpag  x6  vito 
0£iötov  TCSTikaö^Bvov  7]  xovxo  xrjv  ov QavCav  'AcpQOÖtXljV^ 
ö  inoirjOs  IlQa^LXsXrjg  iv  KvLÖa  ov  nävv  nokl(ov  ixc5v  d.  h. 
ich  habe,  dich  nicht  Göttinnen  verglichen^  sondern  Werken, 
die  von  Menschenhänden  gemacht  sind;  das  ist  aber  kein 
Frevel,  du  müsstest  denn  geglaubt  haben,  dass  das  von 
Phidias  gebildete  Werk  Athene  sei  oder  das  von  Praxite- 
les verfertigte  die  himmlische  Aphrodite,  da  es  doch,  wie 
weiter  folgt,  nur  Abbilder  seien,  denn  die  wirklichen  Bil- 
der der  Gottheiten  seien  menschlicher  Nachahmung  uner- 
reichbar. Hier  wird  also  die  knidische  Aphrodite  ein  Ab- 
bild der  himmlischen  Aphrodite  genannt  und  darin  liegt  der 
beste  Gegenbeweis  gegen  Schmähungen.  —  Wie  verhält 
sich  nun  diese  Aphrodite  des  Praxiteles  zu  den  früheren 
Darstellungen  der  Gottheit?  Sie  unterscheidet  sich  wesent- 
lich von  der  frühern  Auffassung  und  heisst  doch  ovgavCa 
wie  jene.  Ein  einziges  Wort  löst  diesen  Widerspruch,  Die 
Aphrodite  des  Praxiteles  ist  Ideal.  Sie  ist  die  himmlische 
Aphrodite,  aber  sie  ist  es  nicht  allein,  sie  ist  nicht  eine 
Seite  der  Aphrodite,  sondern  die  Aphrodite.  Auf  diese 
Bedeutung  des  Ideals  hat  soviel  ich  weiss,  nui'  Feuerbach  *^) 
in  einer  kurzen  Notiz  hingewiesen,  man  erlaube  mir  daher 
eine  etwas  nähere  Begründung.  Feuerbach  bemerkt:  «Das 
Wesen  der  Urbilder,  wie  sie  ein  Phidias,  ein  Polyclet  schu- 
fen ,  beruht  in  der  Totalität. »  Das  griechische  Götterideal 
tritt  dem  in  tausend  Gestalten  zersplitterten  Gott  des  Le- 
bens grade  so  gegenüber,  wie  der  sokratische  Begriff  der 
bunten   Fülle    des   Einzelnen.      Nicht    die    Schönheit    allein 


64)  Nachg-el.  Sehr.  III,  60. 


—     34     — 

haben  die  Gi'iechen  an  ihren  Göttern  bewundert,  sondern 
ebensosehr  die  Ganzheit;  sie  sahen  die  zersplitterte  Viel- 
heit des  Lebens  in  der  Kunst  als  Ganzes,  und  es  liegt  ein 
tiefer  Sinn  darin,  wenn  es  heisst,  der  Künstler  habe  den 
Gott  gesehen.  Geht  man  der  Geschichte  der  einzelnen  Göt- 
terbegriffe nach,  so  lässt  sich  bei  manchen  genau  nach- 
weisen, wie  aus  einem  ursprünglich  als  Einheit  gedachten 
Götterwesen  sich  im  Laufe  der  Zeit  eine  Menge  von  Göt- 
tergestalten entwickelt  hat,  die  nicht  mehr  das  Ganze,  son- 
dern nur  eine  Seite,  eine  Wesensäusserung  der  ursprüng- 
lichen Einheit  darstellen.  Jene  ältesten  mit  Attributen  über- 
ladenen Idole  zeigen  noch  diese  ursprüngliche  Einheit. 
Denn  wohl  sieht  es  seltsam  und  lächerlich  aus,  wenn  die- 
sen Idolen  der  Götter  alles  Mögliche  angehängt  wird;  aber 
es  liegt  der  tiefe  Sinn  darin,  alle  Wesensäusserungen  der 
Gottheit  zu  vereinigen,  zu  sammeln  in  einen  Leib.  Sehen 
wir  nicht  auch  bei  Homer  Aehnliches  ?  ®^)  Denn  ist  es  ein 
Unterschied,  wenn  Homer  dem  einen  Gott  die  Thätigkeit 
eines  andern  beilegt,  wenn  er  die  Epitheta  tauscht,  wenn 
er  z.  B.  dem  Zeus  das  Epitheton  des  Hades  giebt ''®) ,  oder 
wenn  ein  Cultbild  mit  Attributen  erscheint,  die  uns  sonst 
in  der  Hand  anderer  Gottheiten  zu  begegnen  pflegen  ?  Geht 
man  nun  aus  von  diesen  Schöpfungen  eines  fromm  unschul- 
digen Triebes,  der  in  sich  selbst  einheitlich  auch  auf  seine 
Gottheit  Alles  überträgt,  was  er  fühlt;  verfolgt  man,  wie 
sich  aus  dieser  ein  Wesen  nach  dem  andern  ablöst,  wie 
das,  was  ursprünglich  nur  eine  Kraft  eines  ganzen  Wesens 
war,  zu  einer  selbständigen  Gestalt  wird;  rechnet  man 
hiezu  die  Reizbarkeit  der  griechischen  Phantasie ,  die  immer 
grösser  wurde,  je  mehr  neue  Eindrücke  die  Geschichte  ihr 
bot,  und  man  wird  den  Idealschöpfu^jgen  der  griechischen 
Kunst  eine  tiefere  Bedeutung  zuerkennen,  als  die  ist,  dass 
sie  die  Lust  am  Schönen  befriedigten.  Es  ist  derselbe 
Sinn,  der  das  Ideal  eines  Gottes  geschaffen  und  der  das 
alterthümliche  Cultbild  mit  Attributen  behängt,    es  ist  auch 


65)  Ich  erinnere  an  Nagelsbach's  schöne  Untersuchuug-en    in    seiner 
«homerischen  Theologie». 

66)  II.  IX,  457. 


—     35     — 

derselbe  Inhalt  in  beiden,  nur  die  Form,  die  Erscheinung 
ist  verschieden.  Die  fromme  Ahnung  einer  grossen  einheit- 
lichen Gottheit,  welche  das  rohe  Schnitzbild  erweckt,  ist 
zum  Schauen  des  wirklich  erscheinenden  Gottes  geworden 
im  Ideal.  Was  der  Grieche  hineinschaute  in  sein  Schnitz- 
bild, das  schaute  ihm  entgegen  aus  seinem  Ideal;  die  ah- 
nungsvolle Zeichensprache  des  erstem  ist  erhabene  Gestal- 
tensprache geworden  in  letzterm.  Wäre  der  Sinn  der  Grie- 
clien  nicht  genährt,  wäre  seine  Phantasie  nicht  angeregt 
durch  die  Fülle  der  Idee,  die  der  Leib  seines  Schnitzbildes 
bai'g,  er  hätte  nie  seine  Ideale  geschaffen.  Es  ist  ein 
grosser  Sprung  vom  Schnitzbild  zum  Ideal  in  künstlerischer 
Hinsicht,  aber  sie  sind  religiös  ganz  dasselbe.  Das  Ideal 
schlummert  im  Schnitzbild,  der  Künstler  hat  es  geweckt; 
er  hat  die  Idee  beibehalten,  aber  er  hat  sie  umkleidet  mit 
der  Schönheit  der  Form  und  dadurch  erst  ist  sie  sichtbar, 
ist  sie  gegenwärtig  geworden.  Nun  hat  die  unendliche  Welt 
der  Ahnung  Gestalt  gewonnen  in  der  Kunst,  die  göttliche 
Kraft  ist  göttliche  Person  geworden.  Man  meint  die  Grie- 
chen hoch  zu  stellen,  wenn  man  die  Empfänglichkeit  für 
das  Schöne  ihnen  beilegt,  man  setzt  sie  herab,  wenn  man 
nur  dieses  an  ihnen  hervorhebt.  Die  Bewunderung,  welche 
der  Grieche  seinen  Götteridealen  zollte,  war  ebensosehr  re- 
ligiöser Drang,  wie  die  Lust  am  Schönen.  Sehen  wir  in's 
griechische  Leben.  Niemand  wird  läugnen,  dass  ein  be- 
sonderes Organ  nach  Vereinzelung,  nach  Zersplitterung  im 
griechischen  Geist  lag:  jedes  sittliche  Verhältniss  hatte  sei- 
nen Vorsteher  mit  dem  darauf  bezüglichen  Epitheton,  jede 
Tageszeit,  ja  jede  Beschäftigung  ihren  bestimmten  Gott, 
jedes  bedeutende  Ereigniss  bewirkte  die  Aufstellung  eines 
neuen  Gottes  als  des  Retters  in  diesem  bestimmten  Fall  — 
wohin  wäre  der  griechische  Gottesbegriff  gerathen,  wenn 
nicht  die  Kunst  mit  der  Ganzheit  ihrer  Ideale,  ich  möchte 
sagen  mit  ihrer  monotheistischen  Tendenz  dieser  tausend- 
fältigen Zersplitterung  des  einen  Begriffs  entgegengetreten 
wäre !  Zertrümmert  und  zerstückt  war  der  Gottesbegrift'  im 
Leben,  die  Kunst  sammelte  seine  zerstreuten  Glieder  in 
einen  Leib,  sie  stellte  nicht  eine  Seite  des  Gottes,  sondern 
den   ganzen   Gott    dar,     nicht    einen    Gott,    sondern    den 

3* 


—     36     — 

Gott.  Darin  liegt  der  nicht  zu  berechnende  Einfluss,  die 
befreiende,  erhebende  Wirkung  der  Götterideale  auf  das 
griechische  Gemüth.  Wohl  haben  auch  die  Dichter,  wohl 
hat  der  Psalmenschwung  eines  Aeschylus  einen  Zeus  ge- 
schaffen, der  gleich  erhaben  ist  wie  der  des  Phidias;  aber 
er  bildete  ihn  im  schnell  verrauschenden  Wort,  Phidias 
stellte  ihn  hin  als  lebendigen  Körper.  Vergegenwärtigen 
wir  uns  nur  den  Eindruck  des  olympischen  Zeus.  Schon 
die  Alten  rühmten,  dass  nicht  nur  Hoheit  und  Majestät, 
sondern  auch  Milde  und  Friede  in  seinen  Zügen  wohnten; 
sie  sahen  den  Strafenden,  aber  auch  den  Erbarmenden,  den 
Wächter  des  Eides,  aber  auch  den  Hort  der  Flehenden, 
sie  sahen  die  Einzelzeusse  des  Lebens  vereinigt  in  ihm.  Er 
thronte  von  Golde  überstrahlt  wie  im  Sonnenglanz  auf  den 
Höhen  des  Olympos;  die  Bilderschrift  seines  Sessels  ver- 
kündete sein  Wesen,  seine  Thaten.  Als  mächtigen  Herr- 
scher über  den  ganzen  Erdball  bezeichneten  ihn  Atlas  und 
Prometheus,  die  Enden  der  Welt,  aber  als  der  gnädige, 
versöhnte  Gott  schickt  er  seinen  liebsten  Sohn  zur  Befreiung 
der  gestraften  Titanen;  Niobe  mit  ihren  Kindern  zeugt  von 
ihm  als  dem  Rächer  der  Hybris,  denn  um  sein  Haupt  wan- 
deln die  Hören,  die  Wächterinnen  sittlicher  und  natürlicher 
Ordnung.  Das  Ganze  des  ZeusbegriÖs  wollte  Phidias  den 
Griechen  offenbaren.  Das  thut  jedes  Ideal,  und  vielleicht 
liegt  uns  die  Entstehung  desselben  bei  keiner  andern  Gott- 
heit so  deutlich  vor,  als  bei  der  Aphrodite,  für  die  ich 
das  Gesagte  anwenden  möchte.  Aus  der  ursprünglichen 
Einheit  ihres  Wesens  löst  sich  bereits  in  früher  Zeit  eine 
besondere  Gestalt  ab,  die  Pandemos;  es  ist  uns  ausdi'ücklich 
überliefert,  dass  Theseus  den  Cult  der  Pandemos  zu  dem 
der  Urania  hinzugefügt  hat  ").  In  Megalopolis  standen  eine 
Urania  und  Pandemos  neben  einer  dritten  namenlosen^®); 
in  Theben  standen  Urania,  Pandemos,  Apostrophia  neben 
einander"*).  An  diese  verschiedenen  Gestalten  der  Aphro- 
dite schloss  sich  auch  die  Kunst  vor  Praxiteles  an;  Phidias 


67)  Paus.  I,    14,   0.    22,   3.      Vgl.  Gerhard  über  Veuusidole,  in  den 
Abhandl.   d.  Berl.  Akad.    1843.  p.  4. 

68)  Paus.  8,  32,  2.         69)  Paus.  9,   16,  3. 


—     37     — 

bildete  eine  Aphrodite  mit  der  Schildkröte  in  der  einsei- 
tigen Auffassung-  als  Urania,  Scopas  eine  auf  einem  Bock 
sitzende  Pandemos;  ein  Temenos  umfasste  beide ^''),  aber 
noch  nicht  ein  Leib.  Die  ganze  Aphrodite ,  in  welcher  die 
Gegensätze  der  frühern  Zeit  aufgehoben  erscheinen,  ist  die 
praxitelische  zu  Knidos;  sie  ist  weder  das  Eine  noch  das 
Andre  oder  sie  ist  das  Eine  sowohl  Avie  das  Andre,  weil  sie 
beides  ist.  Bekannt  sind  Schillers  Worte  '*)  über  die  Mi- 
schung der  Gegensätze  in  der  luno  Ludovisi,  Aehnliches 
gilt  von  der  Aphrodite ,  denn  eben  die  Vereinigung  des  Ent- 
gegengesetzten ist  das  Wesen  des  Ideals  und  daher  kommt 
es,  dass  die  berühmtesten  Kimstkenner  sich  in  Widerspruch 
befinden  können  über  den  Ausdruck  eines  Idealkopfs,  was 
nicht  der  Fall  wäre,  wenn  eine  Seite  sich  entschieden  aus- 
prägte. Ist  das  Gesagte  richtig,  so  erklärt  sich  die  Be- 
wunderung der  knidischen  Aphrodite,  von  der  das  Alter- 
thum  voll  ist.  Man  erblickte  die  ganze  leibhaftige  Gottheit 
im  Mavmorbild  des  Praxiteles. 

Ein  weiterer  wesentlicher  Unterschied  der  älteren  Aphro- 
ditedarstellungen von  der  praxitelischen  ist  der,  dass  jene 
noch  ganz  frei  erscheinen  von  dem,  was  ihr  .Wesen  ist;  sie 
verleihen  Liebe,  aber  sie  fühlen  sie  selber  nicht.  Wir  wis- 
sen das  theils  aus  der  Erzählung  über  die  Aphrodite  des 
Agoracritus ,  theils  aus  einem  erhaltenen  Bildwerk,  welches 
nach  dem  Urtheil  der  vortrefflichsten  Kunstforscher  der  Zeit 
des  Phidias  nahe  steht,  ich  meine  die  Venus  von  Milo ''^). 
Konnte  Agoracritus  seine  Aphrodite  in  eine  Nemesis  um- 
wandeln, so  muss  sie  ernst  und  erhaben,  als  hohe,  hehre 
Göttin  gebildet  gCAvesen  sein ,  ohne  selbst  Sehnsucht  und 
Verlangen  zu  fühlen.  Und  so  ist  auch  jene  Statue  eine  er- 
habene Herrscherin  ohne  Mangel  und  Bedürfniss.  Diese 
einseitige  Hoheit  verschwindet  in  der  praxitelischen  Aphro- 
dite; sie  fühlt  die  Wonne  ihres  Wesens  und  Kunde  davon 


70)  Paus.  6,  25,  2. 

71)  Aesthet.  Erziehung  d.  Menschen.  Br.  15. 

72)  Die  Ansicht,  welche  in  ihr  eine  Wiederholung  der  kölschen 
Aphrodite  des  Praxiteles  erblickt ,  steht  denn  doch  etwas  allzu  stark  in 
Widerspruch  mit  den  Nachrichten  über  den  Künstler  und  mit  dem  Cha- 
rakter der  Werke,  die  man  mit  Sicherheit  auf  ihn  zurückführen  darf. 


X    d 


—    38    — 

giebt  der  Glanz  ihres  Auges,  sie  fühlt  ihren  eigenen  Be- 
griff wie  der  Eros  des  Praxiteles.  Diese  Umwandlung,  die 
uns  in  derselben  Weise  beim  Dionysos  begegnen  wird,  ist 
religionsgeschichtlich  ebenso  wichtig  wie  künstlerisch:  in 
jener  Hinsicht,  —  was  ich  hier  natürlich  nicht  weiter  aus- 
führen kann  —  weil  die  göttliche  Person  nicht  mehr  frei 
ist  von  ihrem  Begriff,  in  dieser,  weil  der  Ausdruck  der 
Empfindung ,  der  vSeele  durchdringen  und  zur  Geltung  kom- 
men musste.  Dies  ist  aber  ein  Punkt,  auf  den  alle  spe- 
cielleren  Nachrichten  über  Praxiteles  führen. 

Es  ist  oft  daran  erinnert,  dass  die  Nacktheit  der  Aphro- 
dite in  Zusammenhang  stehe  mit  dem  Verfall  der  Sitten, 
mit  dem  Aufkommen  des  Hetärenwesens ;  ich  bin  weit  ent- 
fernt, diesen  Zusammenhang  zu  läugnen.  Es  konnte  nicht 
eher  eine  nackte  Aphrodite  gebildet  werden,  als  in  dieser 
Zeit;  kein  Künstler  der  frühern  Zeit  konnte  es  wagen,  ja 
er  konnte  nicht  einmal  den  Gedanken  fassen  zu  der  nack- 
ten Darstellung  der  Göttin,  weil  noch  die  Sitte  zu  grosse 
Gewalt  ausübte.  Nur  darf  man  den  innern  Zusanmienhang, 
in  dem  jedes  Erzeugniss  zu  der  Zeit  steht,  in  der  es  ge- 
schaffen, nicht  so  verstehen,  als  sei  die  nackte  Aphrodite 
Folge  jener  Richtung.  Die  Gedanken,  die  Leben  iind  Kunst 
bewegen,  sind  dieselben,  aber  ihre  Erscheinung  ist  oft 
grundverschieden.  Derselbe  Gedanke,  der  wie  ein  Thau- 
tropfen  seine  Schönheit  verliert  im  Schmutz  des  Lebens, 
wird  von  der  Kunst  dargestellt  in  ursprünglicher  Unschuld, 
als  sei  er  so  eben  herabgestiegen  aus  seiner  lichten  Heimat. 
Es  ist  nicht  wahr,  dass  in  sittlich  entarteten  Zeiten  die 
Kunst  sofort  auch  eine  entartete  sein  müsse,  vielmehr  gilt 
ier  ein  schönes  Wort  O.  Müllers"):  «Was  man  öfter  in 
der  Geschichte  des  geistigen  Lebens  bemerkt  hat ,  nicht  die 
Zustände,  in  denen  die  Völker  noch  ohne  Schwanken  auf 
der  Bahn  der  guten  Sitte  einhergehn,  wo  die  Grundpfeiler 
ehrenfester  Gesinnung  und  ixnschuldigen  Wandeins  durch 
keine  untergrabenden  Gewalten  der  Leidenschaften  und  des 
Raisonnements  erschüttert  sind,  sind  diejenigen,  in  denen 
die  schönsten  Früchte   der   Kunst   reifen;   es    ist   als   wenn 


73)  Griech.  Literaturgesch.  II  p,  20. 


—    39     — 

das  Grosse  und  P]dle  im  Menschen  des  Anreizes  bedürfte, 
den  es  durch  die  naheliegende  Gefahr  der  Entartung  und 
Verführung  erhält,  um  in  den  Werken  der  Kunst  sich  zu 
zeigen  und  das  im  Leben  entschwundene  Glück  hier  noch 
eine  Zeit  festzuhalten».  Dass  aber  die  knidische  Venus 
voll  Adel  und  Keuschheit  gewesen,  können  wir  ja  auch  aus 
den  erhaltenen  Nachbildungen  lernen.  Dazu  kommt  noch 
dies:  Nach  dem  Ideal,  nach  dem  Ganzen  strebte,  Avie  ich 
oben  bemerkte,  die  Kunst;  dieses  Ideal  zeigt  die  knidische 
Aphrodite,  war  dessen  VerAvirklichung  anders  möglich  als 
durch  die  nackte  Göttin?  Es  sollen  sich  in  ihr  Sinnlich- 
keit und  Sittlichkeit  mischen,  Menschliches  und  Göttliches, 
Adel  und  Verlangen,  in  welcher  andern  Aphrodite  ist  die- 
ses geschehn  und  konnte  dieses  geschehn?  Die  Knospe  tritt 
heraus  aus  der  Hülle  des  Kelches,  wenn  sie  reif  ist,  der 
Welt  ihre  Schönheit  zu  zeigen;  das  Gewand  der  Aphrodite 
fiel  und  vor  den  Augen  des  Alterthums  stand  die  Göttin 
der  Schönheit  ^*). 

Die  erhaltenen  Nachbildungen  der  knidischen  Aphro- 
dite zu  registriren  wäre  eine  überflüssige  Wiederholung  der 
Arbeit  Andrer,  ich  erlaube  mir  nur  ein  paar  Bemerkungen 
über  zwei  Statuen,  von  denen  die  eine  der  Knidierin  in 
ihrer  Auffassung  eben  so  nahe  zu  kommen  scheint,  wie  die 
andere  ihr  fern  steht,  ich  meine  die  Venus  aus  Palasjt 
^raschi  in  München  und  die  mediceische.  Denn  noch  im- 
mer behandelt  man  die  Frage,  ob  die  mediceische  Venus 
ein  Bild  der  knidischen  sei,  als  eine  nicht  ganz  entschie- 
dene ,  da  doch  Müller  ^')  mit  dem  grössten  Recht  bemerkt, 
dass  die  Frage  wohl  als  abgemacht  anzusehn  sei.    A.  Stahr'^®) 


74)  Anders  rechtfertigt  ihre  Nacktheit  Feuerbach  Nachl.  III  p.  119  f. 

75)  Hall.  Literaturztg.  1835  II  p.  239. 

76)  Torso.  Kunst,  Künstler  und  Kunstwerke  der  Alten.  Braun- 
schweig 1855  p.  337.  (In  diesem  Buche  enthält  der  Abschnitt  über 
Scopas  und  Praxiteles,  den  ich  genauer  studirt  habe,  weder  eigene  For- 
schung noch  einen  fördernden  Gedanken;  er  ist  vielmehr  eine  Zusam- 
menstellung aus  den  Schriften  der  sehr  bös  behandelten  ,, Professoren 
des  Alterthums"  bald  mit,  aber  eben  so  oft  ohne  Anführungszeichen. 
Ich  werde  nicht  alle,  aber  hinlänglich  viele  Belege  für  dieses  Urtheil 
anführen.     Dass    aber   solche   namenlose   Entlehnungen    auch   anderswo 


_     40     — 

sagt,  es  sei  nicht  absolut  gewiss,  ob  die  ]Vlünz(!  der  Plau- 
tilla  die  berühmte  praxitelische  Statue  darstelle  und  führt 
dann  die  Gründe  auf,  die  auch  bei  Heyne  ")  zu  lesen  sind. 
So  lange  der  Grundsatz  gilt,  den  unter  Andern  Levezow  ■"*) 
sehr  gründlich  ausgeführt  hat  und  der,  soviel  ich  weiss, 
noch  nicht  umgestossen  ist,  dass  die  Alten  das  ihre  Stadt 
Auszeichnende  auf  ihre  Münzen  setzten,  so  lange  ist  es 
gewiss,  dass  die  auf  der  knidischen  Münze  erscheinende 
Figur  ein  Abbild  der  praxitelischen  Aprodite ,  dass  also  die 
mediceische  nicht  auf  sie  zurückzuführen  ist.  Ein  neuer 
Grund,  soviel  ich  weiss,  gegen  ihre  Identität  ist  die  Hal- 
tung des  Kopfes.  Die  Münze  zeigt  den  Kopf  im  Profil, 
dass  dies  nicht  auf  die  Statue  zurückzuführen  ist,  hat  schon 
Visconti  ^"j  bemerkt.  Die  knidische  Statue  Avar  ein  Tem- 
pelbild und  dieses  musste  das  Antlitz  dem  eintretenden  Be- 
schauer zeigen.  Ein  Tempelbild  mit  seitwärts  gev/andtem 
Haupt  hat  es  nie  gegeben  und  konnte  es  nicht  geben.  Ist 
auch  das  Urtheil,  welches  Müller^")  über  die  mediceische 
Venus  fällt,  etwas  zu  hart,  so  muss  ich  doch  aufs  Ent- 
schiedenste Feuerbach*')  widersprechen,  welcher  meint,  sie 
habe  den  Geist  der  praxitelischen  am  treusten  bewahrt. 
Eben  das  göttlich  Erhabene,  das  in  letzterer  mit  dem  höchsten 
Liebreiz  vereinigt  war,  fehlt  ihr  und  dazu  kommt  die  gänz- 
liche Verschiedenheit  der  Stellung,  die  durch  eine  Verglei- 
chung  mit  der  Münze  sofort  in  die  Augen  springt  und  na- 
türlich für  den  Ausdruck  sehr  wesentlich  ist.  Schon  das 
leise  Zusammenschmiegen  der  Schenkel,  das  veranlasst 
wird   durch    dasselbe   Gefühl,   Avelches   die   linke   Hand  be- 


nicht  fehlen,  hat  mich  ein  flüchtiges  Lesen  auch  der  übrigen  Abschnitte 
gelehrt.  So  sind  auf  p.  161  und  164  zwei  Gedanken  über  den  olympi- 
schen Zeus  aus  Böttiger's  Andeutungen  p.  96,  97  und  103  genommen 
und  mit  p.  215  vergleiche  man  Feuerbach  Nachl.  (ein  Buch,  das  in 
ausgedehntestem  Maase  benutzt  ist)  III,  p.  10. 

77)  Antiq.  Aufs.  I  p.    125. 

78)  Ueber  die  Frage,  ob  die  medic.  Venus  ein  Bild  der  knidischen 
sei  p.  46  ff. 

79)  Mus.  Pio-Clem.  I,  p.   113  N.  1. 

80)  a.  a.  O. 

81)  Nachl.  III,  p.  124. 


—     41     — 

wegt,  untersdieidet  die  Münze  von  der  mehr  entfalteten 
Stellung  der  mediceischen  Venus. 

Dagegen  betrachte  man  die  Müncliener  Statue !  Es  kann 
die  Wasserlilie  nicht  keuscher  sein,  die  gleich  ihr  eine 
Tochter  der  Fluthcn  ist.  Nackt  und  hülflos  steht  sie  vor 
uns,  die  Göttin  überschwänglichen  Glücks,  dass  man  sie 
ein  Kind  des  Plutus  und  der  Penia  nennen  möchte,  wie 
den  Eros  der  Diotima.  Durch  das  Auge  dringt  der  Glanz 
der  Wonne,  die  sie  birgt,  wie  der  Duft  aus  der  neu  auf- 
brechenden Knospe,  aber  die  Scham  will  gleichsam  diese 
quellende  Sehnsucht  zurückdrängen,  sie  bewegt  die  Hand 
und  drückt  leise  die  Schenkel  zusammen.  Gerade  darin, 
dass  sie  picht  entfaltet,  was  sie  ist,  dass  sie  ihr  eigenes 
Wesen  verschliesst  und  in  sich  zurückdrängt,  liegt  das 
Keusche  und  Reine.  Nur  das  seelenverwandte  Organ  wird 
zum  Verräther. 

Das  Gefäss  neben  der  knidischen  Aphrodite,  auf  wel- 
ches sie  das  Gewand  legt,  fasse  ich  aber  so  auf,  wie  nach 
meiner  Ansicht  viele  Attribute  ruhender  Figuren  aufzufas- 
sen sind;  es  verknüpft  mit  der  ruhenden  Statue  eine  vor- 
angegangene Thätigkeit,  es  drückt  die  Ruhe  als  eine  ge- 
wordene aus.  Neben  dem  Apollino  hängt  an  einem  Baum- 
stamm der  Köcher,  er  soll  die  Ruhe  des  Gottes  als  eine  auf 
die  Thätigkeit  folgende  darstellen,  aber  nicht  als  ein  Sein 
schlechthin.  Ebenso  ist  es  mit  den  Flöten  in  der  Hand  des 
Satyrs.  Der  einsame,  aus  dem  Zusammenhang  der  Zeit 
losgerissene  Moment,  den  die  Plastik  darstellt,  wird  da- 
durch verknüpft  mit  einer  Handlung,  die  Ruhe  mit  einer 
BeAvegung,  das  Sein  mit  dem  Werden.  Das  war  eine  tiefe 
Noth wendigkeit  für  den  griechischen  Geist  ^^),  er  suchte  da- 

82)  Zeigt  nicht  die  Sprache  etwas  ganz  Aehnliches  ?  Denn  wodurch 
erklärt  sich  anders  jener  bekannte  schöne  Gebrauch  des  Perfekts  von 
Verben  der  Bewegung,  da  wo  wir  das  Präsens  eines  Verbs  der  Kühe 
setzen  und  denken?  Simonides  (fr.    114.  Bergk    p.  780)  sagt: 

@r]Q(öv  fifv  yKXQTiarog  syco,    d'vatcov  d'  ov  syco  vvv 

qiQOVQcS,  rmdf  räcpa  latvm    ifißsßcccog. 
Weitere  Beispiele  sind  überflüssig,  vgl.  Nägelsbach  z.  II.  a,  37.   Nichts 
ist    ungriechischer,    als    der    Gedanke    eines    abstract  ruhenden    Seins; 
überall  zieht  man  es  in  den  Fluss  der  Bewegung  und    fasst    es   nur   als 
Resultat  vorangegangener  Thätigkeit.     Auf  einem  ähnlichen  Princip  be- 


—     42     — 

durch  den  natürlichen  Zusammenhang  zwischen  Ruhe  und 
Bewegung  zu  wahren,  denn  ihm  ist  sein  Kunstwerk  kein 
aus  Zeit  noch  aus  Raum  losgerissenes  Wesen.  Bei  Ge- 
wandstatuen wird  dies  Verknüpfen  zweier  Momente,  wie 
öfters  bemerkt  *^),  durch  die  Bewegung  des  Gewandes  aus- 
gedrückt; wnr  sehen  oft  eine  Statue  ihrer  Stellung  nach  in 
Ruhe,  aber  im  Gewand  rauscht  noch  die  Bewegung,  wie 
eine  allmählich  verlaufende  Welle. 

5.  Dionysos.  Der  praxitelische  Dionysos,  den  Calli- 
stratus^')  beschreibt,  unterscheidet  sich  von  der  altern  Dar- 
stellung des  Gottes  auf  ähnliche  Weise,  wie  die  jüngere 
Aphrodite  von  der  älteren.  Dem  altern  fehlt  die  tiefe  Sehn- 
sucht, die  das  Wesen  des  Jüngern  ist.  Zwar  bleibt  auch 
er  Gott  in  dem  Kreise  seiner  Satyrn,  im  Rausch  des  Natur- 
lebens,   wie  Prinz    Heinrich    König  bleibt    in   der   Kneipe 


ruht  nach  meiner  Ansicht  die  leise  Oeffnnng  des  Mundes  an  griechi- 
schen Statuen.  Denn  wenn  Hegel  (Aestliet.  II  p.  398)  und  mit  ihm 
Feuerbach  (Nachl.  II  p.  16)  dieselbe  durch  die  an  und  für  sich  schöne 
und  richtige  Bemerkung  erklären,  dass  beim  strengen,  festen  Hinblicken 
auf  bestimmte  Gegenstände  der  Mund  sich  schliesst,  bei  dem  blicklosen, 
freien  Bewusstsein  dagegen  sich  leise  öffnet,  so  widei^pi'icht  dem,  dass 
die  Götter  nicht  in  so  freien,  beziehungslosen  Momenten  gedacht  sind. 
Geschlossne  Lippen  würden  namentlich  im  Marmor  etwas  Todtes  und 
tStarres  haben ;  die  leise  Oeffnung  des  Mundes  weckt  den  Begriff  von 
Thätigkeit  und  Leben.  In  der  Malerei  ist  uns  überliefert,  wer  zuerst 
den  Mund  an  seinen  Figuren  geöffnet  hat,  in  der  Plastik  nicht,  allein 
auch  hier  wird  es  ein  grosser  Fortschritt  gewesen  sein.  Geschlossne 
Lippen,  wie  sie  z.  B.  jene  alten  Terracotten  bei  Gerhard  Ant.  Bildw. 
1  ff.  zeigen,  stellen  die  Gottheit  als  ein  abgeschlossnes,  in  sich  zurück- 
gezogenes Sein  dar;  wird  der  Mund  geöffnet,  so  tritt  die  Gottheit 
gleichsam  aus  sich  heraus  und  in  Beziehung  zu  einem  Andern ;  sie  redet 
zum  Menschen.  Sieht  man  die  Zeusmaske  von  Otricoli,  ist  es  nicht, 
als  ob  eine  erbarmende  Eede ,  etwa  ein  ov  fiiv  yaQ  tC  nov  icziv  ot^v- 
QcötEQOV  avSQÖg  ihre  Lippen  bewegt?  —  Hiermit  scheint  Schnaase  Ge- 
schichte d.  bild.  K.  II,  104  übereinzustimmen,  indem  er  sagt,  der 
Mund  sei  stets  ein  wenig  geöffnet  ,,wie  zur  Rede". 

83)  Feuerbach  Nachl.  II,  p.  34. 

84)  Stat.  VIII.  Stahr  p.  361  identifizirt  diesen  Dionysos  mit  dem, 
welcher  nach  Paus.  VI,  26,  1  zu  Elis  in  einem  Tempel  stand,  weil  er 
den  Callistratus  nicht  angesehen  hat.  Denn  dieser  sagt  ciXcog  jjv  kkI 
Jt.6vvaog  narrj-nsi.      Uebrigens  vgl.  mit  p.  360  Müller's  Handb.  §.  383. 


—     43     — 

von  Eastcheap,  aber  er  ist  sehnsüchtig  und  träumerisch. 
Jener  ältere  Dionysos  schaut  mit  freiem  klarem  Auge  über 
sein  Reich,  die  Natur;  seine  vSeele  ist  still  und  heiter,  wie 
es  dem  Göttergemüth  geziemt,  aber  der  jüngere  ist  voll 
Sehnsucht  und  Trübsinn.  Sein  Blick  ist  niedergebannt  in 
die  Natur,  deren  Freude  und  Trauer  in  seinem  Herzen 
wiederklingt,  sein  Auge  ist  sehnsüchtig  schwärmerisch 
(ofificc  ds  Yiv  tcvqI  diavysg,  ^avixov  idstv)'^  das  Götterge- 
müth ist  hinabgezogen  ins  Naturleben  und  fühlt  tief  die 
Lust  und  das  Weh  seines  eignen  Wesens.  Wir  kommen 
auch  hier  darauf,  dass  Praxiteles  sein  Hauptaugenmerk  ge- 
richtet hat  auf  die  Darstellung  der  Seele. 


III.  • 

Wenn  ich  nicht  irre,  so  verräth  Cicero  an  einigen 
Stellen  eine  besondere  Vorliebe  für  die  Kunst  des  Praxi- 
teles. Er  sagt  in  der  vierten  Verrina  ') :  Videamus,  quanta 
ista  pecunia  fuerit,  quae  potuerit  Heium,  hominera  maxinie 
locupletem,  minime  avarum,  ab  humanitate,  a  pietate,  a 
religione  deducere.  Ita  iussisti,  opinor,  ipsum  in  tabulas 
referre:  «haec  omnia  signa  Praxiteli,  Myronis,  Polycliti 
sestertium  sex  milibus  et  D  vendita  esse.»  Rettulit.  Recita 
ex  tabulis.  luvat  me  haec  praeclara  nomina  artilicum,  quae 
isti  ad  caelum  ferunt,  Verris  aestimatione  sie  concidisse. 
Cupidinem  Praxiteli  sestertium  MDC!  Profecto 
hinc  natum  est  «malo  emere  quam  rogare»"^).  Warum  nun 
dieser  Ausruf  über  den  Cupido  des  Praxiteles,  wenn  nicht 


1)  cap.  6. 

2)  Die  vier  Statuen  scheinen  Stück  für  Stück  zu  demselben  Preis 
verkauft  zu  sein  oder  richtiger  als  verkauft  fingirt  zu  werden.  Der 
Gesammtpreis  soll  6500  Sestertien  betragen  haben;  freilich  ist  die  Zahl 
D  in  den  Handschr.  verderbt  (vgl.  Halm  z.  d.  St.)  allein  da  sie  nur 
die  Hunderte  angeht ,  so  ist  das  nicht  wesentlich.  Für  den  praxiteli- 
schen  Cupido  werden  1600  Sestertien  angesetzt;  diese  Zahl  mit  4  mul- 
tiplicirt  giebt  6400. 


—     44     — 

desswegen,  Aveil  bei  ihm  das  Miss vorhältniss  zwischen  Preis 
und  Werth  am  grössten  war,  weil  Cicero  diese  Statue  für 
die  schönste  von  den  vieren  hielt?  Und  das  ist  um  so  be- 
merkenswerther,  weil  er  cap.  3  den  Hercules  des  ]\lyron 
egregie  factus  nennt,  an  den  Kanephoren  des  Polyclet  aber 
eine  eximia  venustas  rühmt.  Weit  wichtiger  ist  eine  andre 
►Stelle,  die  ich  aber  besser  an  das  Ende  dieser  Ausführung 
setze,  weil  ihre  Bedeutung  sofort  in  die  Augen  springt, 
nachdem  erst  die  weiteren  characteristi sehen  Urtheile  über 
die  Kunst  des  Praxiteles  erörtert  sein   werden. 

Quintilian  ^)  bemerkt:  Ad  veritatem  Lysippum  ac  Pra- 
xitelem  accessisse  optime  affirmant.  Sieht  man  den  Zusam- 
menhang dieser  Stelle  an,  wo  es  vom  Polyclet  heisst  huma- 
nae  formae  decorem  addidit  supra  verum,  wo  dann  vom 
Phidias  die  Rede  ist,  dessen  höchste  Leistungen  die  Bil- 
dungen der  Götter  seien,  so  ist  es  nicht  zweifelhaft,  dass 
hier  unter  veritas  das  Anschliessen  an  die  Natur  verstan- 
den ist  im  Gegensatz  einer  über  dieselbe  hinausgehenden 
Kunst.  Dass  aber  dieses  Anschliessen  an  die  Natur  nicht 
ein  sklavisches  Copiren  derselben  bedeuten  soll,  zeigt  auf 
der  andern  Seite  die  Bemerkung  über  den  Demetrius,  der 
similitudinis  amantior  quam  pulchritudinis  genannt  ward. 
Daraus  nun,  dass  zwei  nach  allen  übrigen  Nachrichten 
gänzlich  verschiedenen  Künstlern  ein  und  dasselbe  Prädikat 
der  veritas  beigelegt  wird  —  was  sich  im  Zusammenhang 
jener  Stelle  sehr  wohl  begreift,  denn  in  dem  Gegensatz 
gegen  die  supranaturalistische  Richtung  ihrer  Vorgänger 
treffen  beide  zusammen  —  darf  man  natürlich  nicht  fol- 
gern, dass  Quintilian  sie  nicht  unterschieden  wdssen  wolle. 
Auch  Scopas  heisst  ein  di^ficovQyos  ccXrjdsiag*),  man  muss 
fragen,  worin  diese  Naturwahrheit  bestanden  habe  und  ob 
sie  das  letzte  Ziel  seiner  Kunst  gewesen.  Ein  Gemälde 
Raphael's  hat  veritas  und  ein  Bild  wie  Potter's  Kuh  ist 
ebenfalls  ein  verum;  wir  bedürfen  weiterer  Nachrichten,  um 
zu  entscheiden,  was  wir  uns  unter  der   veritas    des   Quinc- 


3)  XII,  10,  9. 

4)  Callistr.   II.  Vgl.  über  die  veritas  Böttiger   Andeut.    p.    1&2  tind 
Jacobs  zu  Philostr.  p.  687. 


—     45     — 

tilian^  mit  welcher  das  oben  angeführte  Urtheil  des  Statius : 
Marmora  qiiae  vivant  caelo  Praxitelis ,  vollkommen  stunmt^ 
zu  denken  haben.  Brunn  ^)  erklärt  in  Einklang  mit  seinem 
Princip,  den  Praxiteles  als  den  Künstler  der  körperlichen 
Schönheit  zu  fassen,  die  veritas  als  die  naturgetreue  Dar- 
stellung der  Oberfläche  des  Körpers.  Zunächst  leuchtet  ein, 
dass  dies  eine  willkürliche  Beschränkung  eines  allgemeinen 
Urtheils  auf  etwas  ganz  Partielles  ist.  Ferner  ist  wohl  zu. 
begreifen,  wie  lebendige  Stellungen  oder  ausdrucksvolle 
Mienen  einer  Statue  das  Prädikat  der  veritas  verschaffen 
können,  aber  unbegreiflich  ist,  wie  eine  Eigenschaft,  die 
auch  dei:  Wachsgruppe  eigen  sein  kann,  dies  vermögen  soll. 
Endlich  hätte  Quinctilian  nach  Brunns  Ansicht  ein  Urtheil 
ausgesprochen,  das  wesentlich  auf  das  Technische  sich  be- 
zieht; dass  aber  ein  solches  nicht  gemeint  sein  kann,  lehrt 
ein  Blick  auf  den  Zusammenhang  jener  Stelle.  Die  veritas 
des  Praxiteles  steht  im  Gegensatz  zum  Phidias.  Sie  be- 
zieht sich,  um  das  minder  Wichtige  voranzuschicken,  zu- 
nächst darauf,  dass  Praxiteles  seinen  Figuren  ein  der 
menschlichen  Grösse  entsprechendes  Körpermaas  gegeben 
hat.  Die  Kunst  steigt  herab  von  dem  Kothurn,  auf  den 
Phidias  sie  erhoben  hatte.  Zwar  spricht  Lucian*)  von  den 
grossen  Kolossen,  wie  sie  Phidias  oder  Myron  oder  Praxi- 
teles geschaffen;  die  Hera  Teleia  des  Letztern  zu  Plataeae 
nennt  Pausanias  ein  ^eyäQ-Si  äya^^a  ^syu  und  von  seiner 
Artemis  zu  Antikyra  sagt  derselbe  Berichterstatter  ®),  sie 
sei  an  Grösse  vtcsq  trjv  fi£yi6ri]v  ywatza^  allein  wir  dürfen 
gewiss  annehmen,  dass  er  für  die  Hauptmas^se  seiner  Sta- 
tuen nicht  das  Maass  der  menschlichen  Grösse  überschrit- 
ten haben  wird.  Aber  nicht  nur  äusserlich  hat  er  seine 
Statuen  dem  menschlich  Wahren  angenähert,  er  hat  sie 
auch  begabt  mit  Seele  und  Emptindung.  Dies  lehrt  Dio- 
dor®),  welcher,  von  den  berühmtesten  Künstlern  redend, 
nur  zwei  namhaft  macht,  den  Phidias  und  Praxiteles  eben- 
so wie  Philostratus  in  der  oben  angefüKrten  Stelle.  Dio- 
dor's  Urtheil   bezieht   sich  auf  den  Künstler  überhaupt,  es 


5)  p.  353.         6)  Gall,  cap.   24.         1)  IX,  2,  7.         8)  X,  37,  1. 
9)  Exe.  Hoesch.  1.  XXVI,   1.  p.  512  Wess. 


—     46     — 

lautet  so  bestimmt  wie  kein  andres,  es  stimmt  mit  allem 
Resultaten ,  die  sich  von  andern  Seiten  her  für  die  Kunst 
des  Praxiteles  ergeben,  man  sollte  es  daher  zum  Eckstein 
dieser  ganzen  Untersuchung  machen.  Phidias,  sagt  Dio- 
dor,  sei  ^äXiöta  rsd-avfiaö^e'vog  inl  ry  räv  ikscpuvzCvav 
ccyaX^cctcov  xaraaxsv^ ,  von  Praxiteles  aber  sagt  er  :  6  xa- 
tafiC^ag  axQcog  xoiq  h&ivoLg  eQyoig  tcc  Tfjg  ipvx'^S  Tcdd^rj.  Be- 
trachten wir  zunächst  wie  Brunn  dieses  Urtheil  benutzt  hat. 
Er  sag-t'"):  «Den  Ausdruck  Diodor's,  Pi'axiteles  habe  dem 
Steine  t6  t^^  i^vx^js  ndd")]  beigemischt,  werden  wir  hier- 
nach (Brunn  spricht  von  den  Silenen  des  Praxiteles,  bei 
denen  «nicht  der  Charakter  einer  leidenschaftlichen  Ausge- 
lassenheit, sondern  einer  muntern  gemiüthlichen  Behaglich 
keit  vorauszusetzen  sei » 5  wie  daraus  freilich  die  Unrich- 
tigkeit des  allgemeinen  Ausspruches  Diodor's  folgt,  sieht 
man  nicht  ein)  nicht  in  seinem  strengsten  Sinne  gelten  las- 
sen dürfen».  Warum  nun  Brunn  das  Wort  dxQcag,  das,  wie 
.Jeder  sieht,  nicht  unwichtig  ist,  nicht  angeführt  hat,  dar- 
auf giebt  es  nur  wieder  die  Antwort,  dass  Brunn  nicht  ein 
urkundliches  Bild  von  Praxiteles  entw^erfen  wollte,  sondern 
ein  willkürliches.  Es  ist  ferner  falsch,  w'enn  er  sag-t,  er 
könne  das  Urtheil  Diodor's  nicht  «in  seinem  strengsten 
Sinne»  gelten  lassen,  vielmehr  lässt- er  es  gar  nicht  gelten, 
denn  sein  allgemeines  Urtheil  über  Praxiteles  ist  dieses, 
dass  er  «sein  Augenmerk  auf  die  Erscheinung  des  Körper- 
lichen gerichtet  habe»;  dem  widerspricht  schnurstracks  das 
ebenfalls  allgemeine  Urtheil  Diodor's.  Es  fragt  sich,  wie 
das  Wort  Ttd&t]  hier  zu  verstehen  ist.  Böttiger  ")  übersetzt 
es  «lebendigster  Ausdruck  der  Seele  und  der  Affecten»  und 
ähnlich  erklärt  Feuerbach  '^).  Wie  die  Alten  T^d^og  und 
Ttd&og  unterschieden  haben,  ist  bekannt'*)  aber  das  Wort 
Tidd^og  steht  nicht  immer  in  dem  einseitigen  Sinn  als  Gegen- 
satz zum  i^&og,  sondern  es  hat  auch  eine  allgemeinei-e  Be- 
deutung, es   bedeutet   allgemein    die  Stimmung    der    Seele, 


10)  p.  356. 

It)  Andent.  p.   lOi. 

12)  Nachl.  III  p.   107. 

13)  Vgl.  die  Stelleu  bei  Meyer   zu    Winckelmaun    Buch    5.    Kap.  3. 
Anm.  1. 


—     47     — 

sowohl  die  ruhige,   als  die   bewegte.     Hierfür  giebt   Xeno- 
phon  ''')  ein  schlagendes  Beispiel.     Socrates  fragt  den  Bild- 
hauer Kleiton:    To   ds  xccl  ra  Tcdd^rj  rcöv  noiovvtav  ri  6c3- 
liccrcov   ccTto^i^stöd^at   ov   noist  nva  rsQipLV  rotg  ^fCJfifiVotg; 
Eixog  yovv  ^  scpTq.     Ovxovv  xal  rcov  ^£V  ^a%o^ivcov  ccjisclrj- 
tixa  TC(  o^i^ata   ajietxaöteov,   rcöv   da  vsvixtjxoTOv  £V(pQaL- 
vo^svcov  7]  öipLQ  ^L^r]XEa\   UcpöÖQK   y\  ecpr].     Jet  äga^   £'g)r], 
xov  avÖQLKVtOTCOiöv   TCc   TTJg  Jpvx'^S  SQycc   ta   sl'dsi  jtQogsixä- 
t,£i,v.     Dass  hier  näO'rj  in  allgemeinem  Sinn  verstanden  wer- 
den musS;,  lehrt  das  gleichbedeutende  -ipvxrjg  SQya   und   der 
neueste  Herausgeber  der  Memorabilien  übersetzt  näd^ri  sehr 
richtig   durch   « Seelenstimmungen ».     Ist  es   nun  nach  die- 
sem Beispiel  möglich,   den  Ausspruch  Diodor's  in   allge- 
meinem Sinne  aufzufassen,  so  scheint  mir  diese  Erklärung 
nothwendig,  wenn  man  die  Worte  selbst  ansieht.   Nicht 
auf  Tcäd^r]  liegt  der  Ton,  sondern  vielmehr  auf  -ipi^xVS,  c^enn 
dieses  Wort  steht  im  Gegensatz   zu  Xid^tvoLg   und  der   Ge- 
danke ist  nicht  der,  dass  Praxiteles  eine  Seite  des  Seelen- 
lebens, die  Leidenschaft  dargestellt  habe,  sondern  es  heisst 
allgemein:  er  hat  in  hohem  Grade  dem  Stein  die  Stimmun- 
gen der  Seele    eingeflösst.     Man  könnte   nun  gestützt    auf 
diesen  Ausspruch  Diodor's  mit  hinlänglicher  Sicherheit  be- 
haupten,  dass    Praxiteles   in   der   Bildung   der  Köpfe    vor- 
züglich   gewesen   sein   müsse,    denn    der   Träger  des  Aus- 
drucks ,  der  Theil  des  Körpers ,  in  dem  die  Seele  erscheint, 
ist  eben  der  Kopf;   wir  brauchen  aber  diesen   Schluss  gar 
nicht  zu  machen,  denn  wir  haben  ein  ausdrückliches  Zeug- 
niss,    welches   die   praxitelischen    Köpfe    rühmt.     Cicero*^) 
spricht  davon ,  dass ,  um  seine  eignen  Worte  zu  gebrauchen, 
casus  veritatem  imitari  potest.     Nun   heisst  es :    Carneadem 
fingere  dicis  de  capite  Panisci.     Quasi  non  potuerit  id  eve- 
nire  casu,  et  non  in  omni  marmore  necesse   sit  inesse  vel 
Praxitelia  capita.  lila  enim  ipsa  efficiuntur  detractione, 
nee   quidquam  illuc  affei'tur   a    Praxitele:    sed   cum    multa 
sunt  detracta  et  ad  lineamenta  oris  perventum  est,  tum  in- 
tellegas ,  illud,    quod  iam  expolitum   sit,    intus   fuisse.     Es 


14)  Memorab.  III,  10,  8. 

15)  De  divin.  II,  21,  48. 


—      IS     — 

ist  eine  ähnliehe  Aeusserung,  wie  die  bekannte  i\Iiehel  An- 
gelo's ,  dass  die  Statue  bereits  im  Steine  stecke.     Die  Worte 
aber,  sogar  praxitelische  Köpfe    stecken   im   Stein,    setzen 
doch  wohl  voraus,    dass   Praxiteles    in    seinen   Köpfen   das 
Höchste  erreicht  hat  in  der  Darstellung   dessen,   was   man 
an  einem  Kopf  zu   loben   pflegt,   nämlich    des   Ausdrucks. 
Blicken  wir  nun  noch  einmal   anf  Lucian's  Imagines  '*)  zu- 
rück.    Zur   Composition   der   smyrnäischen  Schönheit  wird 
von   der   knidischen   Aphrodite    nur    der   Kopf   genommen, 
denn  den  übrigen  Körper  könne  man  wegen  der  Nacktheit 
nicht  brauchen;   am  Kopfe  aber   wird  besonders  gelobt  die 
Behandlung  des  Haares  und  der  Stirn,  der  schöne  Zug  der 
Augenbrauen  und  —  das  Feuchte,  Glänzende  und  Liebliche 
des    Auges,    also    der    Ausdruck  in   dem    Organ,    welches 
Kunde  giebt  von  der  Seele.     Wo  wird  von  einer  vorpraxi- 
telischen  Statue  der  Glanz   des   Auges   erwähnt?    Denn  es 
ist  hier   doch   wohl   von   etwas  Andern    die  Rede,    als   von 
dem  Glanz,  den  die  in  die  Augenhöhlen  eingesetzten  Edel- 
steine von  sich  gaben.  Das  ist  der  Flammenblick  der  Gott- 
heit (^Sstva  de  ot  oGOa  cpccavd'sv),  hier  ist  es   die  Seele,  die 
durch"s  Auge  leuchtet.     Der  Plastik  ist  eigentlich  die  Dar- 
stellung  des  Auges    versagt;    auf   dem  Mangel  des  beweg- 
lichsten,  unruhigsten  Organes,    das   mehr  als  jedes   andre 
den  Menschen  aus  sich  heraus  in  die  Aussenwelt  zieht,  be- 
ruht zum  g-rossen  Theil  die  abgeschlossne  Ruhe  der  Statue, 
aber  auch  der  tief  welmiüthige  Eindruck ,   dessen  sich  wohl 
Niemand  erwehren  wird,  der  zum  ersten  Male   in  ein  An- 
tikencabinet  tritt.     Die    Statuen   sind  wie   die  blinden  Sän- 
ger des  Alterthums  eingeschlossen  in  ihre  innere   Welt,  es 
fehlt  ihnen  das  Auge  für  die  bunte  Fülle  der  Erscheinung, 
die  Welt  ist  nicht  da  für  sie,  sie  vermag   nicht  einzudrin- 
gen in  die  Blinden.     Aber  auch  sie  vermögen  nicht  zu  ant- 
worten; ihre  Seele  kann  nicht,  wie  ein  Echo  auf  den  Reiz 
der  Erscheinung  heraustreten  in  das  Auge ,  kann  nicht  leuch- 
ten im  Glanz  der  Freude,  nicht  umflort  werden  vom  Schleier 
der  Welimuth,  sie  ist  eingeschlossen  und  eingekerkert.  Und 
doch  konnte  man  an  der  Aphrodite  des  Praxiteles  ein  glän- 

16)  cap.  6. 


—     49     — 

zend  Auge  loben ,  doch  sah  man  die  Schwärmerei  im  Auge 
seines  Dionysos ,  die  Sehnsucht  in  dem  seines  Eros  "),  denn 
er  ist  derBihlner  der  Seele.  Man  wird  fragen  müssen,  wie 
sich  die  Köpfe  des  Phidias  zu  denen  des  Praxiteles  ver- 
halten haben  werden;  sind  sie  etwa  ohne  Ausdruck  gewe- 
sen? Gewiss  nicht,  allein  der  feinere  Ausdruck,  die  Dar- 
stellung der  Empfindung,  die  auch  in  der  leisesten  Falte 
des  Gesichts  erscheint,  fehlte  ihnen  und  musste  ihnen  feh- 
len. Ich  will  mich  nicht  auf  einzelne  Thatsachen  berufen, 
wie  auf  die  Minerva  des  Phidias  **) ,  die  er  im  Wettstreit 
mit  seinem  Schüler  Alkamenes  verfertigte,  sondern  nur  im 
Allgemeinen  darauf  hinweisen,  dass  bei  einer  Colossal- 
statue  alles'  Feinere  des  Ausdrucks  für  das  Auge  völlig 
verschwindet  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  die  Entfer- 
nung eine  zu  grosse  ist.  Ausserdem  aber  scheint  das  Er- 
habene —  denn  dieses  Prädikat  gebührt  wesentlich  der 
Kunst  des  Phidias  —  seiner  Natur  nach  nur  in  grossen 
Zügen  zu  wohnen  und  den  feinern,  seelenvolleren  Ausdruck 
wie  eine  Erniedrigung  zu  verschmähen'*).  Es  ist  hier  zwi- 
schen Phidias  und  Praxiteles  ein  ähnliches  Verhältniss,  wie 
zwischen  Aeschylus  und  Sophocles.  Die  Characteristik  der 
sophocieischen  Figuren  ist  feiner  als  die  des  Aeschylus, 
dessen  Gestalten  gleichsam  durch  gewaltige  Meisselschläge 
geschaffen  sind;  so  stellt  Praxiteles  den  feinen  Seelenaus- 
druck dar  statt  der  grossen  erhabenen  Züge,  die  Phidias 
schafft.  Und  der  Parthenonfries?  Versucht  man  sich  der 
Gründe  bewusst  zu  werden,  worauf  die  Bewunderung  des- 
selben beruht,  so  ist  es  gerade  das  Fehlen  dessen,  was  den 
Praxiteles  auszeichnet.     Ein  tiefer  Seelenschlummer  ist  aus- 


17)  Callistr.  VIII.  IV.  XI. 

18)  Vgl.  über  die  bekannte  Erzählung  Wieland:  Die  Perspectiv  iu 
den  Werken  der  Griecli.  Maler  Bd.  45  p.   155  f. 

19)  Man  vergleiche  hier  auch  die  grossen,  aber  nicht  seelenvollen 
Züge  der  Venus  von  Milo.  Sehr  richtig  bemerkt  Thiersch  Epoch.  p. 
374  dass  die  Züge  der  Venus  von  Medici  „ungleich  wärmer"  seien. 
Dass  eine  Aphrodite  aus  der  Zeit  des  Phidias  noch  nicht  den  Schmelz 
der  Empfindung  im  Angesicht  gezeigt  haben  kann,  den  Praxiteles  der 
seinigen  gegeben,  lehrt  die  Geschichte  von  der  Aphrodite  des  Agora- 
critus. 

4 


—     50     _ 

gebreitet  über  alle  Figuren;  grade  darin  liegt  das  AYohl- 
tliuende  fürs  Geniütli.  Man  glaubt  sieh  versetzt  in  eine 
Zeit  der  Sitten-  und  Gedankenunschuld,  in  welcher  die 
Welt  des  Gremüths,  der  Empfindung  noch  nicht  herausge- 
trieben ist  aus  sich  selbst.  Jene  Jungfrauen,  die  auf  das 
Wort  des  Priesters  lauschen,  sind  ganz  Einfalt  und  An- 
dacht, jene  rosstummclnden  Jünglinge  ganz  Lebensfrische 
und  Lebensfreude,  aber  die  Seele  schläft  noch.  Der  in- 
nerste Grund  aber,  dass  Praxiteles  nicht  mehr  die  Ruhe 
der  Erhabenheit,  nicht  mehr  den  Frieden  der  Unschuld  dar- 
stellte, sondern  das  bewegte  Leben  der  Seele  in  Mienen 
und  Zügen  des  Gesichtes  zur  Erscheinung  brachte,  liegt  in 
jener  grossen  culturhistorischeu  Wendung  um  die  Zeit  des 
peloponnesischen  Krieges,  die  i'echt  eigentlich  das  Leben 
aus  seinem  Frieden  aufgeschreckt  hat.  Oft  hat  man  dar- 
auf aufmerksam  gemacht ,  wie  in  der  antiken  und  moder- 
nen Kunstentwicklung  die  Bildung  des  Kopfes  und  des 
Leibes  nicht  gleichen  Schritt  mit  einander  halten;  für  die 
Behauptung,  dass  die  Bildung  des  Kopfes  erst  durch  Praxi- 
teles zur  höchsten  Vollkommenheit  gebracht  ist,  brauche 
ich  mich  nicht  auf  die  innere  Nothwendigkeit  zu  beziehn, 
welche  dieser  Thatsache  zu  Grunde  liegt,  ich  berufe  mich 
einfach  auf  das  Urtheil  Cicero's.  Erst  Praxiteles  hat  die 
Psyche  mit  dem  Stein  vermählt  xind  im  Marmor  gleichsam 
den  Schlag  des  Herzens  geweckt.  — 


lY. 

Ich  gehe  über  zu  der  Frage,  warum  die  Bilder  des 
Eros,  des  Dionysos  und  der  Aphrodite  in  der  Kunst  des 
Praxiteles  so  sehr  in  den  Vordergrund  treten,  denn  man 
wird  mir  zugeben,  dass  es  nicht  Zufall  ist,  wenn  in  der 
einen  Kunstperiode  diese,  in  der  andern  jene  Göttergestal- 
ten ihre  Ausbildung  zum  Ideal  erhalten.  Vielmehr  lieg-t 
eine  innere  Nothwendigkeit  in  der  successiven  Erscheinung 
der   verschiedenen   Götterideale   und   wenn  es   mir  gelingt, 


—     51     — 

zureichende  Beweise  für  dieselbe  beizubringen,  so  wird  es 
erlaubt  sein,  jene  Ansicht,  welche  die  Hand  des  Praxiteles 
durch  Phryne's  Schönheit  regiert  sein  lässt,  zurückzuwei- 
sen. Stalir'j  meint  ihn  hochzustellen,  indem  er  ihn  zum 
sentimentalen  Anbeter  der  Hetäre  macht,  er  weiss  auch, 
dass  jenes  Epigramm  am  Sockel  des  thespischen  Eros  vom 
Künstler  selbst  gedichtet  war'^)  —  was  diejenigen,  welche 
die  Quellen  angesehn  haben,  nicht  wissen  —  solche  An- 
sichten stellen  in  der  That  den  Praxiteles  eben  so  hoch, 
Avie  den  ((Olympier»  die  Annahme,  dass  Aspasia  ihm 
seine  Weisheit  soufflirt  habe.  Keineswegs  läugne  ich  das 
Verhältniss  des  Künstlers,  zur  Phryne,  aber  ich  läugne, 
dass  dieser  Zufall,  dieser  persönliche  Umstand  der  Grund 
für  die  Idealschöpfungen  des  Eros  und  der  Aphrodite  ge- 
wesen. Auch  ohne  eine  Phryne  wären  sie  geschaffen,  es 
verräth  wenig  Einsicht  in  geschichtliche  Entwicklungen, 
wenn  man  aus  persönlichen  Zufälligkeiten  eine  Thatsache 
ableitet,  auf  deren  Erscheinung  die  vorangehende  Zeit  viel- 
fach hindeutet  und  vorbereitet. 

1.  Dass  Eros  erst  spät  in  die  Kunst  eintritt,  dafür  liegt 
der  Grund  zunächst  darin,  dass  er  ein  sehr  junger  Gott  in 
Athen  war.  Erst  im  Zeitalter  des  Pisistratos  hatte  der 
Athener  Charmes  ihm  einen  Altar  in  der  Akademie  errich- 
tet; vorher  hatte  er  keinen  Cult  in  Athen  ^).  AVenn  aber 
ein  neuer  Gott  aufgenommen  wird  in  die  Zahl  der  bereits 
bestehenden,  so  hat  er  damit  nicht  sofort  Gestalt  gewonnen 
im  Volksbewusstsein,  sondern  es  ist  eine  gewisse  Zeitfrist 
nothwendig,  die  ihn  zu  einem  lebendig  geglaubten  Wesen 
macht.  Dann  erst  zieht  ihn  die  Kunst,  welche  zu  allen  Zei- 
ten durch  die  Religion  angeregt  ist,  in  ihren  Kreis  und  so 
wird  uns  denn  weder  von  Phidias  noch  von  seinen  Schülern 
eine  Statue  des  Gottes  genannt.  Wie  aber  Eros  allmählich 
an  Bedeutung  und  Einfluss  gewinnt,  das  zeigt  Nichts  deut- 
licher als  die  dramatische  Poesie.  Aeschylus  kennt  noch 
nicht  den  Gott  Eros  *),  bei  Sophocles   und   Euripides   tönen 


1)  p.  332.  vgl.  p.  341.         2)  p.  358. 
3)  Paus.  I,  30,  1. 

■1)  Klaujseu  Tlicolog.  Aescli.  p.  91:  Deum  Aiuorem  ;ipud  Aeschyluln 

4* 


—    r)2    — 

Chorgesiinge  zu  seinem  LoLe  und  besonders  in  den  Stücken 
des  Letzteren  tritt  die  Liebe  als  dramatisclies  Motiv  im 
ausgedehntesten  Maasse  auf.  Aber  nicht  allein  die  Poesie, 
sondern  auch,  was  ich  nicht  weiter  auszuführen  brauche, 
das  Leben  zeugt  durch  manche  neue  Erscheinungen  von 
dem  wachsenden  Einfluss  der  Liebe,  es  hat  daher  die  jün- 
gere attische  Schule  in  ihren  Erosbildern  nur  die  ihre  Zeit 
bewegenden  Gedanken  dargestellt. 

2.  Aphrodite.  O.  Müller  ^)  nennt  die  Tragödie  des 
Aeschylus  eine  virago ;  auch  die  Kunst  des  Phidias  lässt 
sich  so  bezeichnen,  es  fehlt  ihr  das  weiblich  Seelenvolle. 
Die  Gottheit,  welche  am  wenigsten  AVeib  ist,  hat  durch 
Phidias  ihre  Vollendung  erhalten,  die,  welche  es  am  mei- 
sten ist,  durch  Praxiteles.  Z^var  hat  auch  Ersterer  die 
Aphrodite  mehrfach  gebildet,  allein  in  ernster  und  strenger 
Auffassung,  wie  ich  oben  nachgewiesen  habe,  Praxiteles  ist 
der  eigentliche  Bildner  des  AVeibes  ®).  Auch  dies  wird  vor- 
bereitet durch  Poesie  und  Leben.  AVohl  hat  Aeschylus  in 
seiner  Kassandra  ein  Frauenbild  von  unerreichbarer  Zart- 
heit geschaffen,  aber  die  Tiefen  einer  Frauenseele  haben 
erst  Sophocles  und  Euiüpides  erschlossen,  und  immer  wird 
man,  Avenn  von  Darstellung  des  weiblichen  Gemüthes  die 
Rede  ist ,  zunächst  an  eine  Antigone  und  Electra ,  an  eine 
Deianira  und  Medea  denken.  Auch  im  Leben  öffnet  sich 
die  Pforte,  Avelche  die  Frau  verbarg,  sie  tritt  heraus  an  die 
Oeffentlichkeit ;  mit  der  Auflösung  des  griechischen  Lebens 
erscheint  das  Element,  welches  in  der  Blüthezeit  gänzlich 
untergeordnet  war.  Wenn  also  Praxiteles  das  Ideal  der 
Weiblichkeit  geschaffen,  so  ist  er  auch  hierin  der  geistigen 
Strömung  der  Zeit  gefolgt. 

3.  Dionysos.  Das  Gefühl  für  die  Natur  nimmt  bei  den 
Griechen  in  demselben  Maasse  zu,  wie  der  Glaube  an  die 
Götter  abnimmt.     Derjenige  Dichter,   der   die   Götter   auf- 


non    invenimus     —    qui    maximam    apud    Sophoclem    habet    potentiam 
(n.  165). 

5)  Griecli.  Literaturgescli,  II  p.  40. 

6)  Die  Amazonenbilder,  welche  zur  Zeit  des  Phidias  ein  nicht  eben 
seltner  Vorwurf  gewesen  zu  sein  scheinen,  verschwinden  in  der  Jüngern 
attischen  Schule  ganz  und  aar. 


—     53    — 

löst,  hat  das  innigste  Naturgefühl.  Bernhardy '')  hat  die 
feine  Bemerkung  gemacht,  dass  in  Euripides  bereits  An- 
klänge moderner  Empfindsamkeit  für  die  Erscheinungen 
der  Natur  hervortreten,  während  seinen  Vorgängern  die 
Natur  nur  wie  die  Bühne  für  Götter  und  Menschen  ist. 
Diese  Erscheinung  ist  Avohl  nothwendige  Folge  des  wanken- 
den Götterglaubens.  So  lange  die  Götter  lebendig  waren 
im  Bewusstsein  des  Volkes,  galt  die  Natur  nur  als  Schau- 
platz ihres  Wirkens,  sie  war  abhängig  und  ohne  selbstän- 
diges Interesse;  mit  der  Auflösung  jener  musste  das  Natur- 
leben eine  freiere  Bedeutung  gewinnen,  man  musste  anfan- 
gen, die  Seele  der  Natur  zu  ahnen®).  Diese  Richtung  offen- 
bart sich  'nun  auch  in  den  Stoffen  der  Jüngern  attischen 
Schule.  Es  treten  uns  diejenigen  Götter  und  Dämonen  ent- 
gegen, die  in  tieferm  Zusammenhang  mit  der  Natur  stehen, 
als  die  Götter  des  Phidias;  es  sind  die  Wesen,  in  denen 
die  Gegensätze  des  Naturlebens,  selige  Wonne  und  melan- 
cholische Trauer  sich  vereinigen.  Phidias  hat  die  naturfrei- 
sten und  geistigsten  Gottheiten  gebildet,  Zeus'')  und  Athene 
und  seine  Aphrodite  Avar  noch  eine  ernste  und  strenge  Herr- 
scherin; nun  aber  tritt  die  Natur  ein  in  das  Gebiet  der 
Plastik.  Praxiteles  richtet  sich  auf  die  Darstellung  des 
Dionysos  und  mit  ihm  des  Geschlechts  der  Satyrn,  Silene 
und  Nymphen,  er  schafft  die  Demeter,  Persephone,  Flora, 
Triptolemus;  Scopas  die  Nereiden,  die  Wellenmädchen  der 
Griechen.  IMit  Recht  bemerkt  Müller  *")  in  seiner  schönen 
Ausführung  dieses  Werks  von  Scopas,  schon  der  Versuch, 


7)  Encyclop.  v.  Erscli  und  Griiber  s.  v.  Euripides  p.  141.  Vgl. 
Griech.  Literaturgesch.  Zweite  Aufl.  I  p.  140. 

8)  Auch  die  Vasenbilder  ziehen  erst  in  ihren  spätem  Perioden  statt 
der  Thaten  von  Göttern  und  Heroen  Naturerscheinungen  in  den  Kreis 
ihrer  Darstellungen.  Wie  selten  sind  z.  B.  Lichtgottheiten  auf  ar- 
chaischen Vasen,  und  wo  sie  erscheinen,  da  sind  sie  fast  durchgängig 
nur  mythologische  Figuren  wie  Eos  (Müller  Denkm.  d.  n.  K.  I,  XIX. 
99)  und  Helios  (Gerhard  Lichtgottheiten,  in  den  Sehr,  der  Berl.  Akad. 
1839.  Taf.  1).  Welch'  inniges  Natui-gefühl  setzt  dagegen  der  Sonnen- 
aufgang des  Musce  Blacas  voraus! 

9)  Ich  braiiche  wohl  nicht  zu  bemerken,  dass  die  Colossalbilduug 
des  Zeus  durch  Lysippus  aus  grundverschiedenen  Motiven  herzuleiten  ist. 

10)  Handb.  §.   125.  5  abgedruckt  bei  Stahr.  p.  322. 


—     54     — 

diese  Gruppe  auszudenken,  müsse  uns  mit  dem  innigsten 
Wohlgefallen  erfüllen;  mit  wie  tiefem  Gefühl  muss  aber 
der  Künstler  sich  in  die  Schönheit  des  Meeres  versenkt 
haben,  in  das  Gleiten  und  Schweben  der  Wellen,  die  das 
Vorbild  gaben  zum  schlanken  Loib  der  Nereide!  Und  wenn 
es  wahr  ist,  dass  der  Künstler  empfinden  muss,  was  er 
schafft,  welch'  süsse  Pein  wird  die  Seele  eines  Praxiteles 
durchschauert  haben,  als  das  Bild  jenes  Satyrn  in  ihr  er- 
wachte. Die  Kolosse  des  Phidias  fliehen  vom  Boden  in  die 
unerreichbare  Ferne  des  Erhabenen;  zum  Menschen,  zur 
Natur  steigt  die  Kunst  des  Praxiteles  herab,  sie  versenkt 
sich  in  alle  Lust  und  Wehmuth  des  Naturlebens.  Er  hat 
das  Thierische  geadelt,  er  hatte  selbst  ein  Auge  für  das 
.unscheinbarste  Thierchen,  das  am  Boden  kriecht  • —  ich  er- 
innere an  seinen  Sauroctonos.  Welche  Stellung  diese  Rich- 
tung auf  das  Naturleben  in  der  Entwicklung  der  Kunst  ein- 
nimmt, ist  klar;  sie  vermittelt  die  supranaturalistische  Er- 
habenheit des  Phidias  mit  der  naturkopirenden  veritas  der 
spätem  Zeit.  Die  jüngere  attische  Schule  hängt  an  der 
Natur,  aber  nicht  so,  dass  sie  äussere  Formen  nachahmt, 
sondern  sie  sucht  die  Seele  des  Naturlebens  in  den  Göttern 
und  Dämonen  der  Natur  zur  Darstellung  zu  bringen.  Dass 
diese  Richtung  in  den  plastischen  Formen  vor  Allem  das 
bewirken  musste,  was  Diodor  an  Praxiteles  lobt,  leuch- 
tet ein. 


y. 

Ich  habe  im  Vorgehenden  den  Nachweis  versucht,  dass 
die  Gedankenwelt,  welche  in  der  Jüngern  attischen  Schule 
Gestalt  gewonnen,  in  Leben  und  Poesie  vorgebildet  wurde; 
ich  läugne  aber,  dass  iln-e  Darstellung  irgend  wie  inficirt 
gewesen  von  dem  Verfall  der  Sitten.  Die  griechische  Pla- 
stik konnte  gar  nicht  so  schnell  der  zerstörenden  Sitten- 
verderbniss  erliegen,  wie  das  Leben  und  die  Poesie.  Eines- 


—     55     — 

theils  liegt,  woraul'  Schnaase 'j  und  Feuerbacli '^)  mit  Recht 
aufmerksam  gemacht  haben,  in  dem  Wesen  der  Plastik  ein 
stabileres  Element,  anderntheils  in  ihrem  ZAveck.  Die 
Schwankungen  und  Erregungen  des  Lebens,  Avelche  in  die 
Poesie  vielfach  hineinspielten,  berührten  die  Plastik  nicht 
in  dem  Maasse,  weil  sie  an  den  Cult  geknüpft  war.  Dieser 
ist  beharrlich  und  stetig  und  so  lange  die  Plastik  mit  ihm 
verbunden  war,  ist  auch  sie  unberührt  geblieben  von  ver- 
derbenden Einflüssen.  Als  aber  diese  Verbindung  gelöst 
wurde,  beginnt  die  Kunst  zu  sinken.  Dazu  kommt  ein 
Drittes.  Die  Plastik  ist  eine  spätere  Blüthe  des  griechi- 
schen Geistes  als  die  Poesie.  Ich  begreife  nicht,  wie  Sehern^) 
sagen  konnte,  die  dramatische  Kunst  habe  mit  der  bilden- 
den gleichen  Schritt  gehalten,  noch  weniger,  wie  Hettner  "*) 
soweit  in  ihrer  Parallelisirüng  gehen  konnte,  dass  er  der 
Tragödie  des  Aeschylos  Gestalten  an  die  Seite  stellt,  wie 
die  herculanische  Promachos,  da  es  mir  unwidersprechlich 
scheint,  dass  die  beiden  Künste  nicht  gleichzeitig,  sondern 
nach  einander  sich  entwickelt  haben.  Denn  erst  mit  Peri- 
cles  konnte  ein  Höhenpunkt  in  der  bildenden  Kunst  er- 
reicht werden,  schon  desswegen  nicht  eher,  weil  erst  durch 
ihn  die  äusseren  Mittel  herbeigeschafft  wurden,  ohne  welche 
die  Kunst  des  Phidias  gar  nicht  möglich  war.  Da  aber 
hatte  die  Tragödie,  welche  nach  ihrem  Wesen  von  den 
zwei  für  die  Plastik  gleich  nothwendigen  Bedingungen  ei- 
nes innerlich  und  äussei'lich  reichen  Lebens  vorAviegend  nur 
des  ersteren  bedarf,  ihr  erstes  Stadium  vollendet;  Aeschy- 
los lag  im  Grabe,  als  Phidias  seine  höchsten  Werke  schuf. 
Darin  aber  liegt  die  tiefe  Gesetzmässigkeit  der  athenischen 
Entwicklung,  dass  die  Plastik  der  Tragödie  nachfolgend 
ein  Triumvirat  von  Künstlern  aufzuweisen  hat,  das  die 
mannigfachsten  Berührungspunkte  hat  mit  dem  Triumvirat 
der  Tragiker. 

Man    Avird   mir    ein  Bildwerk   entgegenhalten,   Avelches 
allerdings  auf  Spuren   von  Unsittlichkeit  in  der  Kunst   des 


1)  Gesch.  d.  bild.  K.  II  p.  139. 

2)  Nachl.  III,  p.  96. 

3)  Stud.  d.  gr.  Künstl.  p.  211. 

4)  Vorsch.  z.  bild.  Kunst  der  Alten  p.  21. 


—     56     — 

Praxiteles  zu  deuten  scheint,  seine  flens  niatrona  und  gau- 
dens  meretrix.  '■')  Allein  Avir  kennen  nicht  den  Sinn  dieser 
Darstellung,  denn  etwas  Tieferes,  als  das,  was  Plinius  er- 
wähnt, wird  man  wohl  voraussetzen  dürfen**).  Aber  sei  es, 
was  Böttiger')  daraus  macht,  so  müssen  wir  doch  zunächst 
nicht  unsere  Begriffe  von  der  Ehe  hineintragen  und  fer- 
ner dem  Praxiteles  die  Entschuldigung  nicht  vorenthalten, 
die  wir  andern  Künstlern  bereitwillig  gewähren.  Denn  ich 
brauche  dafür  nicht  einzelne  Belege  anzuführen,  dass  wahr- 
haft grosse  Meister  der  bildenden  wie  redenden  Kunst  Ge- 
genstände in  den  Kreis  ihrer  Darstellung  gezogen  haben, 
an  denen  das  sittliche  Gefühl  mit  Eecht  Anstoss  nimmt. 
Es  offenbart  sich  darin  die  Doppelnatur  der  Kunst.  Sie 
wird  bewegt  von  der  Sehnsucht,  die  Schönheit  des  Gött- 
lichen zu  erreichen,  aber  daneben  liegt  der  dämonische 
Trieb,  auch  das  sittlich  Hässliche  dem  Auge  einzuschmei- 
cheln. 


VI. 

Es    ist    eine   wichtige    und    interessante   Neuerung    der 
Jüngern   attischen  Schule,    dass   sie  im  Gegensatz  zu   den 


5)  Plin.  XXXIV  cap.   19  §.  10. 

6)  Meyer  Gesch.  d.  bild.  K.  II  p.  112.  Aiim.  141  sagt:  *  ohne  Zwei- 
fel lag  im  Ganzen  des  AVerks  ein  tiefer  sittlicher  Sinn  und  wir  mögen 
uns  dasselbe  nach  Geist  und  Kunstzweck  wenig  verschieden  denken  von 
den  zwei  berühmten  Halbfiguren ,  Modestia  und  Vanitas  von  Leonardo 
da  Vinci.  »  Sollte  vielleicht  der  Gegensatz  zwischen  Arete  und  Hedone 
dargestellt  sein  etwa  nach  folgendem  Epigramm  (Brunck  Anall.  I  p.  193 
n.   14): 

Ad    £yco  a  tXujicov  'Aqstk  naga  xijds  yicc&r]ii(XL 
'HSovrj,  cilcxiozcog  ^ftgafisva  nXo^ci^ovg, 
9vudv  KX^i  fiByctla  ß8ßoX)][iBvc<,  fi'ntQ  anaaiv 
cc  HanocpQcov  TiQipig  yiQfiaaov  fftov  v,iv.Qirai  . '{ 

7)  Andeut.  p.  176.  Man  weiss  nicht,  was  man  dazu  sagen  soll, 
wenn  Böttiger  den  Hetärenkreis  als  das  Kunstgebiet  des  Praxiteles  be- 
zeichnet. 


0/ 


Einzelstatuen  der  frühern  Künstler  mit  Vorliebe  kleinere 
Gruppen  von  je  zwei  und  drei  Personen  bildet.  Wie  im 
Drama  dem  einen  Schauspieler  der  älteren  Zeit  durch  Ae- 
schylos  der  zweite,  durch  Sophocles  der  dritte  hinzugefügt 
wird,  wie  Socrates  die  zweite  Person  in  die  Philosophie  ein- 
führt, indem  er  den  Dialog  an  die  Stelle  der  Einzelrede 
setzt,  so  treten  auch  in  der  Plastik  statt  der  Einzelstatue 
die  Statuenvereine  auf.  Es  sind  nicht  «dramatische»  Grup- 
pen, deren  Entstehung  wesentlich  der  rhodischen  Schule 
angehöi't'),  sondern  ((gesellschaftliche»^),  Dreivereine  von 
Wesens  verwandten  Figuren  ^).  Namentlich  verräth  Praxite- 
les eine  besondere  Neigung  für  solche  Darstellungen.  Es 
Averden  -  von  ihm  erAvähnt :  Demeter ,  Persephone ,  lacchos ; 
Flora ^),  Triptolemus,  Ceres;  Leto  mit  ihren  Kindern  zu 
]\Iegara  und  dieselbe  Gruppe  zu  Mantinea ;  Dionysos ,  Ebrie- 
tas  und  der  Periboetos.  Ueberall  finden  wir  Gegensätze, 
die  sich  in  einer  dritten  Figur  gleichsam  einigen  und  auf- 
lösen. Wie  Sophocles  die  Gegensätze  in  seinen  Characte- 
ren  liebt,  wde  er  z.  B.  der  männlichen  Antigone  die  zarte 
Weiblichkeit  der  Ismene  gegenüberstellt,  so  erscheinen  in 
diesen  Gruppen  männliche  Figuren  mit  den  entsprechenden 
weiblichen  Gegenbildern.  An  einer  Einzelstatue  ist  es  nicht 
die    geringste   Schönheit ,    wenn  '  sich  Gegensätze   in    ihren 


1)  O.  Jahn  Die  hellen.  Kunst  p.  25.  Schnaase  Gesch.  d.  bild.  K. 
II,  326. 

2)  So  unterscheidet  fein  Levezow;  Famil.  des  Lykomedes  p.  18. 
Vgl.  p.  22  und  23. 

3)  Es  ist  unrichtig,  wenn  Gruppe  Ariadne  p.  765  f.  einen  Haupt- 
gedanken seines  Buchs,  den  Fortschritt  von  der  trilogischen  Composi- 
tion  der  Dramen  zum  Solostück  in  der  Plastik  als  Uebergang  von  der 
Gruppe  zur  Einzelstatue  wiederfinden  will.  Phidias ,  den  er  sehr  rich- 
tig mit  Aeschylos  zusammenstellt,  hat  sein  Augenmerk  vorwiegend  auf 
Einzelstatuen  gerichtet,  ebenso  Polyclet  und  Myron.  Gruppen,  wie  die 
für  Tempelgiebel  bestimmten  können  hier  natürlich  nicht  herein  gezogen 
werden,  weil  sie  zu  allen  Zeiten  gemacht  sind, 

4)  Heyne  Comment.  Götting.  VIII,  p.  XXIX  vermuthet  in  der  Flora 
eine  Hora,  da  der  Name  Chloris ,  der  nach  Ovid  Fast.  V,  195  gleichbe- 
deutend sei  mit  Flora,  kaum  vor  Callimachus  erwähnt  werde.  Aber 
Chloris  erscheint  in  dem  Gemälde  Polj'gnot's  (Paus.  X ,  29 ,  5)  und 
Welcker  Alte  Denkm.  I,  161  erklärt  sie  durch  Flora. 


—     58     — 

Gliedern  entwickeln  und  doch  das  Ganze  harmonisch,  in 
sich  vollendet  und  versöhnt  dasteht.  So  ist's  auch  in  die- 
sen Gruppen;  man  möchte  sie  Dreieinigkeiten  nennen,  ihre 
Figuren  sind  verschiedene  Wesen  und  doch  alle  eins.  Kin- 
lieit  und  Gegensatz,  Trennung  und  Versöhnung  spielen  hier 
reizvoll  durch  einander.  Vergegenwärtigen  wir  uns  die 
Gruppe  Demeter,  Triptolemus,  Flora.  Der  blühenden  Jung- 
frau gegenüber  steht  der  blühende  Jüngling,  in  der  mütter- 
lichen Ceres  einigen  sich  beide ,  sie  sind  nur  Ausflüsse  ihres 
Wesens,  zwei  Knospen  an  einem  Zweig.  Mit  Avelchem 
Zauber  der  Anmuth  Avird  ein  Praxiteles  diesen  marmornen 
Frühling  ausgestattet  haben !  Von  Phidias  Avird  nichts  Der- 
artiges erwähnt,  es  ist  seiner  ganzen  Natur  fremd;  ihn  be- 
Avegte  ein  voller  grosser  Gedanke,  wie  eine  geAA'altige  AVoge 
ist  jede  seiner  Schöpfungen,  aber  die  Gruppen  des  Praxi- 
teles sind  ANde  zwei  liebliche  Wellen,  die  gegen  einander 
spielen  und  streiten,  um  in  ein  Wesen  zusammenzufliessen. 
Es  Averden  uns  noch  andere  sehr  verwandte,  doch  aber  et- 
was verschiedene  Gruppen  erwähnt,  die  Peitho  und  Pare- 
goros;  Mänaden,  Thyaden,  Caryatiden  und  Silene  \-on  Pra- 
xiteles; Eros,  Himeros  und  Pothos  von  Scopas  in  demselben 
Tempel  vereinigt  mit  der  Peitho  und  Paregoros  des  Er- 
steren.  Diese  Gruppen  unterscheiden  sich  von  den  vorher- 
erAvähnten  dadurch,  dass  sie  nicht  sowohl  Gegensätze,  als 
vielmehr  die  verschiedenen  Grade  und  Formen  einer  und 
derselben  Empfindung  darstellen.  Es  ist  eine  Anatomie  des 
Gefühls,  ein  feines  Spalten  einer  Empfindung,  Avelches  an 
die  Behandlung  der  Leidenschaft  durch  Euripides  erinnert. 
Worin  liegt  nun  der  Grund,  dass  solche  Gruppen  in  der 
Jüngern  attischen  Schule  erscheinen?  Ich  habe  schon  im 
Vorhergehenden  auf  einige  verAvandte  Erscheinungen  hin- 
gewiesen, es  ist  zunächst  das  bewegtere  Leben,  Avelches 
die  Entstehung  dieser  Gruppen  bedingte.  Denn  eine  Gruppe, 
und  zwar  nicht  bloss  die  handelnde,  sondern  auch  die 
ruhende  ist  immer  beAvegter,  als  eine  Einzelstatue,  Aveil  sie 
dem  Auge  eine  grössere  Mannigfaltigkeit  bietet.  Ein  Avei- 
terer  Grund  möchte  in  der  allgemeinen  Richtung  auf  Ge- 
gensatz, Scheidung  ifnd  Trennung  liegen,  die  mit  jenem 
durch  die  Sophistik  herbeigeführten  culturhistorischen  Wen- 


—     59    — 

depimkt  gleichsam  alle  Poren  des  griechischen  Lebens  durch- 
dringt. Die  Eris  tritt  ein  in  die  Welt,  statt  der  Einheit 
in  Character  und  Denkungsart  sehen  wir  überall  IStreit  und 
Gegensatz.  Dies  ist  von  Andern  besser  ausgeführt,  als 
ich  vermöchte,  ich  erwähne  nur  einen  scheinbar  unwesent- 
lichen Punkt.  Erinnert  jene  Gruppe  des  Scopas,  Eros, 
Himeros  und  Pothos  nicht  lebhaft  an  die  Begriffsscheidung 
eines  Prodikos,  von  der  Plato  ^)  eine  erbauliche  Probe 
giebt?  Sind  diese  drei  Figuren  nicht  plastische  Synonymen, 
und  hat  hier  der  Plastiker  nicht  dieselbe  Aufgabe,  wie  der 
AVortkünstler,  nämlich  jede  Gestalt  im  Ausdruck  zu  schei- 
den von  den  übrigen  und  individuell  zu  characterisiren? 
Denn  dass  Scopas  dies  gethan  hat,  bezweifle  ich  nicht  trotz 
des  liebenswürdig  einfältigen  Pausanias  *),  der  geneigt  scheint 
nur  eine  Naniensverschiedenheit  anzuerkennen.  Endlich 
lässt  sich  noch  ein  Grund  für  das  Auflvommen  dieser  Grup- 
pen aus  dem  Wesen  der  praxitelischen  Kunst  herleiten, 
wenn  es  mir  nämlich  erlaubt  ist,  dem  Praxiteles  das  Prä- 
dikat der  Anmuth  beizulegen,  wie  dem  Phidias  das  der 
Erhabenheit.  Das  Erhabene  ist  seinem  Wesen  nach  ein- 
sam, das  Anmuthige  gesellig,  der  Grieche  hatte  nicht  eine 
Charis.  Jenes  ist  zu  gross,  um  anders  als  allein  zu  sein, 
dieses  sucht  nach  Geschwistern;  jenes  ist  reich,  wie  ein 
König,  dieses  arm  und  bedürftig;  jenes  steigt  hinauf  zu 
göttlicher  Höhe,  dieses  herab  zu  menschlicher  Schwäche. 
Die  wichtigere  Frage  ist  die,  was  solche  Gruppen  in  künst- 
lerischer Hinsicht  voraussetzen.  Gewiss  eine  hohe  Meister- 
schaft in  der  Characteristik  und  wo  bethätigt  sich  dieselbe 
mehr,  als  in  der  Bildung  des  Kopfes?  Betrachten  wir  nun 
einmal  den  Verlauf  der  Plastik  nach  dieser  Richtung  hin. 
Auf  die  erhabenen,  aber  wenig  individualisirten  Züge  der 
phidiassischen  Statuen  folgt  die  ausdrucksvolle  IVIimik  der 
praxitelischen  und  daran  schliessen  sich  die  individuellen, 
markirten  Züge  des  Porträts,  das  schon  einzeln  mit  Praxi- 
teles ,  hauptsächlich  aber  gleich  nach  ihm  in  ausgedehnte- 
stem Umfange  in  die  Plastik  eintritt.  Je  mehr  das  Indivi- 
duum  heraustrat  im   staatlichen  und   sittlichen  Leben,    um 


5)  Protag.  p.  337  f.  6)  I,  43,  6. 


—     60     — 

so    individiiellor    inid    markirter    Avurde   der  Ausdruck    der 
plastischen  Gestalten.  — 


Yll. 

Sehr  richtig  hat  Brunn  durchgehends  den  Grundsatz 
festgehalten,  das  Material,  in  dem  die  einzelnen  Künstler 
gearbeitet  haben,  als  bedingt  durch  die  besondere  Richtung 
eines  Jeden  zu  betrachten.  Es  ist  nicht  Zufall,  dass  Phi- 
dias  in  Gold  und  Elfenbein  gearbeitet,  dass  er  chrysele- 
phantine  Kolosse  in  die  schönsten  Festtempel  Griechen- 
lands gestellt  hat.  Mussten  nicht  der  olympische  Zeus  und 
die  Parthenos  dem  Griechen  erscheinen  wie  herabgestiegen 
vom  Olympos  in  allem  Glänze,  in  aller  Strahlenglorie  des 
Göttlichen?  Sah  er  den  Zeus,  dessen  Anblick  nach  jener 
tiefsinnigen  Sage  das  Auge  der  sterblichen  Semele  nicht  er- 
trug, musste  er  nicht  wie  geblendet  stehen  vom  Glänze  des 
Goldes,  das  den  Gott  der  flammenden  Blitze  umgab?  Den 
köstlichsten  Stoff,  den  der  Mensch  hatte,  legte  er  um  den 
Leib  seines  Gottes,  er  kleidete  ihn  in  ein  göttlich  Kleid. 
Diese  Stoffe  schwinden  aus  äusseren  wie  inneren  Gründen. 
Nicht  lange  dauerte  der  Reichthum  der  perikleischen  Zeit 
und  nicht  lange  behielt  die  Kunst  die  supranaturalistische 
Richtung  des  Phidias.  Die  jüngere  attische  Schide  steigt 
herab  zu  dem  natürlicheren  ]\Iaterial ,  dem  Marmor ,  der  die 
Farbe  des  menschlichen  Körpers  trägt.  Die  schönsten  Ge- 
stalten des  Praxiteles  sind  jugendliche  und  weibliche  Kör- 
per, beiden  entspricht  die  Natur  des  Marmors').  Denn  die 
Schärfe  und  Bestimmtheit  der  Form,  welche  das  Erz  vor- 
aus hat,    ist  dem  weiblichen  Geschlecht    und    dem  jugend- 


1)  Vergl.  die  geistvollen  Bemerkungen  Feuerbach's  (Vatic.  Apollo 
p.  174  f.)  Vischer  Aesthet.  III,  p.  376  f.  Bruun  p.  354  (von  dem  Stahr 
p.  327.  328  scheinbar  einen  Satz,  in  Wahrheit  aber  die  ganze  Stelle 
entlehnt,  wie  es  öfters  z.  B.  auf  p.  334.  335.  (Feuerbach  Nachl.  III 
p.  119.  121.   122)  und  anderswo  geschieht). 


—     61     — 

liehen  Lebensalter  weniger  eigen.  Im  männlichen  Körper 
drängt  sich  das  Knochengerüst  und  die  Muskulatur  überall 
bestimmt  in  scharfen  Cäsuren  hervor,  im  weiblichen  werden 
sie  verdeckt  durch  die  Fülle  der  Umkleidung,  die  einzelnen 
Flächen  sind  nicht  so  scharf  geschieden,  sondern  fliessen 
in  einander,  so  dass  ein  weicherer  Rhythmus  entsteht,  wie 
in  einem  Verse  mit  Aveiblichen  Cäsuren.  Aber  auch  im  ju- 
gendlichen männlichen  Körper  ist  noch  nicht  die  scharte 
Begrenzung  und  ludividualisirung  des  reiferen  Alters.  Denn 
parallel  mit  der  Ausbildung  des  Characters  geht  die  Durch- 
bildung der  körperlichen  Form  zu  Schärfe  und  Klarheit. 
Beides  besitzt  das  jugendliche  Alter  in  geringerem  Maasse, 
ebenso  Wie  das  Weib ;  der  unbestimmteren  Welt  des  Gefühls 
entspricht  der  weiche  Linienfluss  des  Körpers.  Das  Erz  ist 
ein  Kunstproduct ,  der  Marmor  ein  von  der  Natur  Erzeugtes 
und  schon  darum  ist  er  sinnlicher,  unmittelbarer  als  jenes. 
Dazu  kommt  der  Unterschied  der  Farbe  ^).  Das  reine  Weiss 
macht  den  Marmor  gleichsam  zum  Paradeigma  des  empiri- 
schen Körpers.  Der  Marmor  ist  Natur,  aber  fleckenlose, 
geläuterte  Natur,  Gottnatur;  weisse  Knaben  nannten  die 
Griechen')  Kinder  der  Götter.  Das  Erz  ferner  ist  ver- 
schlossen, in  sich  gekehrt,  aber  der  Marmor  liebt  das  Licht; 
befähigt  ihn  nicht  diese  Eigenschaft  vor  allen  anderen  Stof- 
fen zur  Darstellung  des  Seelenausdrucks ,  der  an  Praxiteles 
gerühmt  wird?  Kann  wohl  das  Erz  das  feinere  Spiel  der 
Mienen  uns  vorführen,  kann  es  das  Antlitz  zeigen  wie  von 
Seele  durchleuchtet?  Wie  sehr  die  Griechen  diese  Unter- 
schiede des  Materials  gefühlt  haben,  lehrt  schon  eine  ober- 
flächliche Musterung  der  Werke,  von  denen  wir  Kunde 
haben.  Für  die  Amazone  ist  Erz  das  vorwiegende  Mate- 
rial, denn  für  die  virago  schickt  sich  der  männlichere 
Stoff*),  auf  der  andern  Seite  begegnen  wir  selten  einer 
ehernen   Aphrodite.      Die   Athenebilder    des    Phidias    sind 


2)  Sehr  schön  fülirt  O.  Jahn  Die  hellen.  Kunst  p.  9  aus ,  wie  die 
Sinnesart  der  griechischen  Stämme  sich  auch  in  der  Wahl  des  Mate- 
rials bekundet. 

3)  Plat.  Eep.  V,  474  E, 

4)  Wie  vortrefflich  das  Erz  dem  Amazoneucharacter  entspricht, 
kann  das  Werk  von  Kiss  lehren. 


—     02     — 

chryselephautinisch  und  ehern;  von  seinen  ApliroJiten  war 
die  eine  aus  Gold  und  Elfenbein^  die  beiden  andern  aus 
Marmor.  Wie  nothwendig  liegt  in  der  formalen,  abstracten 
Richtung-  Polyclet's  der  Gebrauch  des  Materials  bedingt, 
das  wie  kein  anderes  die  abstracto  Form  darzustellen  ver- 
mag! wie  nothwendig  ist  das  Erz  aus  demselben  Grunde 
für  die  Kunst  des  Lysippus!^)  Myrons  kühne  Stellungen 
Avaren  nur  möglich  in  Erz,  aber  auch  zu  zart  war  der  Mar- 
mor für  ihn.  Nur  unter  dem  heitern  attischen  Himmel  ge- 
dieh die  Marmorbildnerei  und  sie  blühte ;  als  die  Blüthe 
des  Lebens  längst  gewichen  war.  Bekannt  ist  Hegels  tief- 
sinniges Wort,  dass  die  griechische  Geschichte  mit  einem 
Jüngling  anfange  und  ende;  auch  die  Kunst  beginnt  mit 
dem  heitern  Olymp  Homers  und  schliesst  mit  den  jugend- 
lichen schönen  Werken  der  Marmorbildnerei.  Sie  sind  die 
letzten  Schöpfungen  des  griechischen  Geistes,  sie  stehen 
wie  Denksteine  auf  dem  Grabe  des  Griechenthums ,  um  zu 
zeugen  von  seiner  Schönheit. 

Wir  haben  über  die  Behandlung  des  Marmors  durch 
Praxiteles  eine  Nachricht,  die  uns  noch  immer  Geheimniss 
ist;  ich  meine  die  circumlitio.  Diejenigen  Marmorstatuen, 
soll  Praxiteles  gesagt  haben,  halte  er  für  seine  besten, 
quibus  Nicias  manum  admovisset. ").  Ich  weiss  dem,  was 
hierüber  bereits  gesagt  ist.  Nichts  hinzuzufügen;  nur  möchte 
ich  mir  einen  bescheidenen  AViderspruch  gegen  Welcker^) 
erlauben,  der  die  circumlitio  für  ein  « Umstreichen  der  Ge- 
wandränder, des  Haares,  etwa  auch  des  Körpers  mit  einem 
Köcherband  u.  dgl. »  erklärt.  Denn  ist  es  wohl  wahrschein- 
lich, dass  Praxiteles  auf  diese  Dinge,  die  denn  doch  ver- 
hältnismässig Nebensachen  sind,  den  grossen  Werth  gelegt 
habe,  den  jenes  Urtheil  voraussetzen  lässt?  Ferner:  wenn 
die  circumlitio  der  Malerei  sich  auf  die  ganze  Figur  be- 
zieht, wofür  Welcker  die  Beispiele  anführt,  sollte  sie  in 
der  Plastik  etwas  ganz  Partielles  bezeichnen?     Was  in  der 


5)  Dazu  füge  man  die  .scliüucn  Bemerkungen  Bröndsted's ,  Bronzen 
von  Siris  p.  93. 

6)  Plin.  XXXV,  40,  28. 

1)  zu  Miiller's  Handb.  §  310.  4. 


—    63     — 

ersteren  die  Fläche,  ist  in  letzterer  der  Körper;  mir  scheint 
aus  der  Analogie  der  Malerei  zu  folgen,  dass  die  eircuni- 
litio  sich  auf  den  ganzen  Körper  bezieht.  Unentschieden 
lasse  ich,  ob  der  Oberfläche  des  Marmors  «vielleicht  ein 
sanfter  Schimmer  von  Farbe  mitgetheilt  ist»,  wie  Müller**) 
und  Andere  wollen,  nur  das  glaube  ich  daraus  folgern  zu 
dürfen,  dass  Praxiteles  die  Härte  des  Steins  zu  mildern 
und  zu  erweichen  gesucht  hat.  Das  aber  mag  er  nur  ge- 
than  haben,  um  seine  Körper  wie  fühlend  und  empfindend, 
wie  von  Seele  durchhaucht  darzustellen,  ähnlich  wie  Guido 
Reni  «der  Maler  der  Seele,  seine  gen  Himmel  erhobene 
Jungfrau  mit  jenem  leichtvergänglichen  Fleisch  bekleidete, 
dessen'Eigenschaft  die  welsche  Sprache  mit  dem  Namen  der 
morbidezza  bezeichnet»^). 


Yni. 

Es  bleibt  mir  noch  übrig,   das   Verhältniss    des  Praxi- 
teles zu  Phidias   und  Scopas  ')    kurz  zu  bestimmen.     Erste- 


8)  Wien.  Jahrb.  1827  III  p.  139.  Vgl.  ausser  den  vou  Welcker 
a.  a.  O.  und  Feuerbacli  Vatic.  Ap.  p.  212  beigebrachten  Stelleu  noch 
Schorn  Stud.  p.  314.  Walz  in  Pauly's  Realencycl.  s.  v,  Praxiteles  p.  39 
und  E.  Braun  Ruinen  u.  Museen  Rom's  p.  206  f.  Waagen  Kunstw.  in 
Engl,  und  Pai'is  III,  p.  128  bemerkt  von  einer  Büste  des  Demetrios  Po- 
liorketes,  man  erkenne  am  Marmor  die  Spur  einer  röthlichen  Farbe, 
wodurch  ohne  Zweifel  der  Ton  des  Fleisches  nachgeahmt  gewesen  sei. 

9)  Schelling:  lieber  das  Verhältn.  der  bild.  K.  z.  Natur.  Zweite 
Aufl.  p.  52.  53. 

1)  lieber  die  Niobideufrage  s.  unten.  Nur  das  bemerke  ich  hier, 
dass  die  Verwandtschaft  der  beiden  Künstler  auf  etwas  Tieferm  beruht, 
als  auf  der  Gleichheit  des  Materials  und  der  behandelten  Gegenstände, 
wie  Brunn  p.  345.  346  meint.  Myron,  Polyclet  und  Lysippus  sind  alle 
Erzbildner  und  haben  alle  mit  Vorliebe  Athleten  gebildet,  und  doch 
sind  die  Alten  in  ihrer  Unterscheidung  sehr  sicher  gewesen.  Nach 
Brunn  p.  357  stehen  sich  Scopas  und  Praxiteles  in  allem  Uebrigen  dia- 
metral entgegen:  den  Ersteren  treibt  der  poetische  Gedanke,  der  An- 
dere richtet  seinen  Blick  auf  das  Körperliche.  Und  bei  einem  solchen 
Künstler  sollte  das  Alterthum  zweifelhaft  gewesen  sein,  ob  er  der  Ver- 
fertiger der  Niobegruppe  sei?! 


—     64     — 

res  ist  oLonso  leiclit;  wie  letzteres  schwer.  Pliidias  besitzt 
zwei  Eigenscliaften ,  die  wir  öfters  in  hohen  Naturen  ver- 
einigt sehen  und  die  scheinbar  im  Widerspruch  stehend, 
viehnehr  innig  verwandt  sind:  Grösse  und  Einfalt.  Auch 
Aeschylos  hat  sie.  Der  Dichter,  dessen  ^Erhabenheit  kein 
anderer  Grieche  erreicht,  hat  auch  ein  Auge  für  den  Vogel, 
der  um's  Gebüsch  jammert,  für  die  neuvermählte  Jungfrau, 
die  aus  ihrem  Schleier  schaut  ^).  Phidias  hat  die  höchste 
Erhabenheit  erreicht  im  olympischen  Zeus,  die  höchste  Ein- 
falt im  Fries  des  Parthenon.  Auf  Aeschylos  folgt  die  see- 
lenvolle Schönheit  der  sophocleischen,  die  leidenschaftliche 
Kraft  der  euripideischen  Tragödie;  auf  Phidias  folgen  zwei 
Plästiker,  deren  Werke  die  psychologische  Tiefe  des  Er- 
stereU;  die  pathologische  Gewalt  des  Letzteren  darstellen. 
Erinnert  nicht  die  rasende  Mänade  des  Scopas  an  des  Eu- 
ripides  Bacchen  und  steht  nicht  die  Niobegruppe  da  als  der 
beste  Beweis.,  dass  der  Geist  der  Tragödie  in  die  Plastik 
übergegangen?  Aber  Scopas  scheint  kühner,  feuriger  als 
der  maassvollere  Praxiteles.  Er  hat  in  Marmor  Werke  ge- 
schaffen, die  uns  kaum  ausführbar  scheinen  in  diesem  Stoff ; 
er  hat  die  rauschende  Bewegung  der  Leidenschaft  ergrif- 
fen; seine  Kunst  ist  pathologisch,  die  des  Praxiteles  psy- 
chologisch. 

Ich  glaube  mich  in  dieser  Schilderung  des  Praxiteles 
nicht  von  den  Nachrichten  der  Alten  entfernt  zu  haben.  An 
und  für  sich  thöricht  und  imsern  Nachrichten,  wie  dem 
Gange  der  Kunst  widersprechend,  ist  die  Ansicht,  welche 
auf  Phidias  allein  Alles  überträgt  und  von  einem  Sinken 
der  Kunst  spricht  in  einer  Periode,  in  der  ganz  neue,  gleich 
wesentliche  und  bedeutende  Richtungen  verfolgt  werden. 
Die  attische  Plastik  hat  denselben  Verlauf,  der  mehr  als  ein 
Mal  in  der  Geschichte  der  Kunst  wiederkehrt;  sie  beginnt 
mit  dem  Erhabenen  und  steigt  herab  zu  Seele  und  Anmuth ; 
Schelling  führt  in  jener  unsterblichen  Abhandlung  aus,  wie 
auch  in  der  Natur  dieselbe  Entwickelung  herrscht. 


2)  Agam.  1316.    1170.  (Diiul.) 


DIE  NIOBEGRÜPPE. 


Die  Gruppe  der  Niobe  und  ihrer  Kinder, 


I. 

Xcli  versuche  zunächst  die  weitere  Ausführung  eines 
bereits  mehrfach  angedeuteten  Gedankens,  der,  wenn  es 
mir  gelingen  sollte,  ihm  einige  Wahrscheinlichkeit  zu  ge- 
ben, vielleicht  von  Bedeutung  sein  dürfte  für  die  Auffas- 
sung unserer  Statuenreihe.  Die  Gruppe,  meine  ich,  steht 
in  der  direktesten  Beziehung  zur  gleichnamigen  Tragödie 
des  Sophocles,  sie  stellt  eine  Sccne  derselben  dar.  Ich  kann 
nicht  ganz  mit  den  Reconstructionen  dieses  Stücks,  die  bis 
jetzt  gemacht  worden  sind'),  übereinstimmen,  besonders  in 
einem  für  meinen  Zweck  wesentlichen  Punkt  bin  ich  an- 
derer Ansicht;  man  erlaube  mir  daher,  in  aller  Kürze  die- 
jenigen Pimkte  herauszuheben,  über  die  ich  eine  abwei- 
chende Meinung  habe.  Zunächst  glaube  ich  nicht,  dass  der 
Tod  der  Söhne  getrennt  gewesen  ist  der  Zeit  oder  dem  Ort 
nach  von  dem  der  Töchter,  sondern  alle  Kinder  werden 
gleichzeitig  getödtet  auf  der  Bühne  vor  den  Augen  des  Zu- 
schauers. Welcker  lässt  den  Tod  der  Söhne  berichtet  wer- 
den, die  Töchter  dagegen  auf  der  Bühne  über  den  Leichen 
der  Brüder  sterben.  Er  bemerkt,  es  gehe  aus  Fragmenten 
hervor,  dass  der  Tod  der  Söhne  und  der  der  Töchter  ver- 
schiedene Scenen  bei  Sophocles  bildeten.  Allein  in  Betreff 
des  Fragments  bei  Plutarch  '^) :    Tcov  rov  Zlo(poyiXEOvg  Nio- 


1)  Biirmeister,  De  tabula,  quae  de  Niobe  eiusque  liberis  agit.  Vis- 
mar.  1836  p.  03  f.  Welcker  Griech.  Tragöd.  I  p.  280  f.  G.  Hermann 
Opusc.  III  p.  37  f,     Wagner ,  Aesch.  et  Soph.  perdit.  fab.  fr,  p.  335  f. 

2)  Dindorf  n.  393. 

5* 


—    68     — 

ßiÖav  ßalXofisvav  xal  Q'vrjöxövtav  avccxaXstrui  rig  ovÖiva 
akXov  ovds  6v^nu%ov  ij  xov  igaöt^v  •  (o  cc^iq)'  s^ov  GnlXai 
bemerkt  er  selbst,  man  könne  an  wirkliche  Darstellung  der 
Scene  denken.  Hermann  dachte  so  und  auch  Burmeister 
bemei'kt :  «Ilane  tiliorum  eladem  ita  factam  puto,  ut  tan- 
quam  procul  facta  a  spectatoribus  posset  conspici.»  Das 
zweite  Fragment  ^)  würde  nur  dann  gegen  die  gleichzeitige 
Tckltung  der  Kinder  sprechen,  wenn  die  Beziehung  gewiss 
wäre,  die  Welcker  ihm  giebt.  Aber  warum  können  die 
Worte : 

nicht  ebensogut  von  der  Amme  gesprochen  sein,  als  von 
einer  Schwester V "*)  Das  dritte  endlich,  worauf  AVclcker 
fusst,  ist  die  Schilderung  Ovids.  Ergeht  aus  von  der  Ueber- 
einstimmung  desselben  mit  Sophocles,  allein  mir  scheint, 
bei  Ovid  musste  es  anders  sein.  Was  der  darstellende 
Dramatiker  in  einer  Scene  als  ein  Nebeneinander  vorführt, 
das  verwandelt  der  erzählende  Epiker  in  ein  Nacheinander. 
Ersterer  concentrirt  Alles  in  einen  schönen  Augenblick  und 
das  Einzelne  ist  nur  Moment  im  Ganzen;  nicht  so  der  Epi- 
ker. Er  verselbständigt  diese  einzelnen  Momente,  schildert 
jeden  mit  besondern  Zügen  und  reiht  sie  so  zusammen,  so 
dass,  was  im  Drama  das  Auge  des  Zuschauers  mit  einem 
Blick  umspannte,  bei  dem  Erzähler  sich  nach  einander  ent- 
wickelt. Alan  übersieht  nach  meiner  Ansicht  die  verschie- 
denen Principien  zweier  Dichtungsarten,  wenn  man  den 
Gang,  den  Ovid  der  Fabel  gegeben  hat,  sofort  in  die  Tra- 
gödie überträgt.  Angenommen,  dass  Sophocles  den  Tod 
aller  Kinder  zugleich  dargestellt  und  dass  Ovid  den  Tra- 
giker vor  Augen  hatte,  so  konnte  er  doch  diesen  Umstand 
unmöglich  beibehalten.  That  er  es,  so  gab  er  eine  verwor- 
rene, zerrissene  Schilderung  eines  Factums,  das  im  Drama 
übersichtlich  und  verständlich  war,  weil  mit  dem  Auge  ge- 
sehen.   Ovid  trennt  und  dadurch  wird  es  ihm  möglich,  jedes 


3)  Diud.  11.  31«). 

4)  Die  Bezielmng-,    wclclie    Bnrmei.ster  p.  70  diesen  Worten   giebt, 
will  mir  nicht  znsasren. 


—     69    — 

Einzelne  mit  neuen  Motiven  auszuschmücken  und  seine  Ein- 
bildungskraft in  vollstem  Maasse  zu  bcthätigen.  Den  Tod 
jedes  einzelnen  Bruders  behandelt  er  wie  ein  Bild  für  sich; 
das  Einzelne,  welches  im  Drama  dem  Eindruck  des  Gan- 
zen durchaus  untergeordnet  war,  tritt  bei  ihm  selbständiger 
hervor.  Und  dazu  bedenke  man,  dass  Ovid  ein  Dichter 
von  unerschöpflichem  Reichthum  der  Erfindung  ist.  Ver- 
setzen Avir  eine  solche  Schilderung,  wie  sie  Ovid  von  dem 
Tode  der  Söhne  giebt,  ins  Drama,  nehmen  wir  mit  Welcker 
an,  dass  der  Pädagog  von  dem  getrennt  hinter  der  Bühne 
erfolgenden  Tode  der  Brüder  Nachricht  gebracht,  dass  er 
eine  ausführliche  rührende  Rede  gehalten  hat  —  und  es  wird 
einestheils  eine  in  der  Fabel  liegende  tragische  Schönheit 
geopfert,  anderntheils  das  Gemüth  des  Zuschauers  auf  eine 
wahrhaft  entsetzliche  Weise  gefoltert.  Halbirt  werden  soll 
die  Katastrophe,  der  Zuschauer,  der  das  Schicksal  der  Nio- 
biden  wusste  aus  seinem  Homer,  soll  erst  die  schreckliche 
Nachricht  von  dem  Tode  der  Söhne  erfahren,  er  soll  eine 
lange,  rührende  Rede  empfinden,  um  dann  wieder  neues 
Entsetzen  zu  fühlen  beim  Untergang  der  Töchter.  In  der 
That  eine  grausame  Marter!  Entsetzen,  dann  Milderung, 
dann  neues  Entsetzen,  eine  Ironie  auf  die  vorangehende 
Stimmung,  ß^onnte  wohl  der  Zuschauer  fähig  sein  in  die- 
ser grausamen  Zwischenzeit  zwischen  dem  Tode  der  Söhne 
und  Töchter  für  Rührung,  für  die  weichen  Empfindungen, 
welche  der  Bericht  des  Pädagogen  erwecken  sollte  ?  Ich 
zweifle  sehr;  aber  dann,  wenn  der  vernichtende  Schlag  da 
ist,  wenn  das  ganze  Unglück  geschehen,  dann  ist  er  em- 
pfänglich, dann  sucht  er  das  Heilmittel  der  Rührung  und 
dann  kommt  auch  Sophocles  diesem  Verlangen  entgegen. 
Es  wird  ferner  eine  tragische  Schönheit  geopfert,  welche 
die  Alten  sehr  wohl  gefühlt  haben.  Ich  führe  sie  mit  Dio- 
dor's  ^)  Worten  an:  Toi^tcov  (Artemis  und  Apollo)  xard 
tov  ccvtov  KttiQov  xarato^svoävTcov  tu  tsxva  rrjg  Nlo- 
ßrjg^  övvEßrj  r^v  TtQostQYj^svrjv  vcp^  sva  xatQOV  o^ecog 
äfia  Bvrexvov  xal  arsxvov  yEvsöd^at.  Die  kinder- 
reiche Mutter   wird   zur  kinderlosen    in    einem  Augenblick; 

5)  IV,  74. 


—     70     — 

in  dem  Plötzlichen  der  Peripetie  liegt  ein  tief  tragisches 
Moment.  Wie  sehr  wird  ferner  das  Tragische  geschwächt, 
wenn  Niobe  ihre  Strafe  nur  zmn  Theil  sieht,  zum  Theil 
hört!  Denken  Avir  aber  alle  Kinder  vor  ihren  Augen  ge- 
opfert und  sie  selbst  noch  gross  und  königlich  im  Ange- 
sicht des  Schrecklichsten ,  welche  Scene  kann  sich  dieser  an 
Erhabenheit  messen !  Endlich  scheint  mir  auch  darin  eine 
Incongruenz  zu  liegen,  dass  wir  uns  nach  Welcker"s  An- 
nahme Artemis  und  Apollo  getrennt  handelnd  denken  müs- 
sen, da  sie  doch  nach  dem  Mythus  zusammen  auftreten  und 
zusammen  strafen.  Ich  vermuthe  daher  den  gleichzeitigen 
Tod  der  Geschwister. 

Die  zweite  Abweichung  ist  die  in  Betreff  des  Schlusses. 
Ein  Wort  Homer's  scheint  mir  dabei  übersehen.  Er  sagf*), 
die  Kinder  der  Niobe  seien  bestattet  von  den  Göttern: 

rovg  8    aQa  trj  dendr}]  d-dipccv  '9eol    OvQavlcoveg. 

Liegt  nicht  hierin  ausgesprochen,  dass  der  Zorn  der  Götter 
nicht  ewig  dauert?  Sie  begraben  die  Leichen  derer,  die 
sie  getödtet;  sie  sind  versöhnt,  nachdem  sie  gestraft.  Die- 
ser Ausgang  aber  ist  für  das  Drama  wie  geschaffen;  es  ist 
eine  Tröstung,  eine  Erhebung  nothwendig  nach  so  grossem 
Leid;  diese  bringen  die  Götter  selbst  heran.  Vielleicht 
kann  hiefür  noch  folgende  Vermuthung  sprechen.  Nach 
Welcker's  schöner  Auslegung  des  Fragments  bei  Photius  ^) 
ist  Donner  und  Erdbeben  am  Schluss  des  Stückes  gehört. 
Als  nun  das  letzte  Stück  des  Sophocles,  der  Oedipus  Colo- 
neus,  aufgeführt  wurde,  in  dem  dieselbe  Erscheinung  vor- 
kommt, musste  nicht  nothwendig  das  Publikum  an  die 
Niobe  erinnert  werden,  zumal  da  die  beiden  Mythen  eine 
so  auffallende  Verwandtschaft  zeigen,  wie  kaum  zwei  an- 
dere? Manche  Chorgesänge  des  Oedipus  Rex  könnten  mit 
der  Veränderung,  welche  die  äusserliche  Verschiedenheit 
bedingt,  in  der  Niobe  stehen;  jenes  ergreifende  Schlusswort 
könnte  der  Niobe  gelten,  so  gut  wie  dem  Oedipus.  Er  der 
herrliche  «allen  berühmte»  König  von  Theben  wird  arm  wie 
ein  Bettler;  sie   die    stolze   kinderreiche  Königin  von  The- 


6)  IL  24,  612.         7)  s.  v.  vo§av.i'QHv. 


—     71     — 

ben  wird  bettelarm  au  KiiiLlcrn;  er,  der  Kluge,  glaubt  der 
Götter  entbehren  zu  können'*),  sie,  die  Glücklielic,  verach- 
tet die  Gottheit;  (Jedipus  wird  aus  tiefstem  Elend  zur  Ruhe 
gerufen  durch  die  Stimme  des  Zeus  selbst,  sollte  dieselbe 
Erscheinung  in  der  Niobe  einen  andern  Sinn  haben  V  Es 
scheint  mir  ganz  angemessen,  dass  Zeus  der  unglücklichen 
Mutter  durch  seinen  Donner  die  Erhörung  ihres  Wunsches 
verkündet  habe. 

Danach  denke  ich  nnr  den  Gang  des  Stückes  etwa  so : 
Wie  Oedipus  uns  im  Anfang  des  Oedipus  Kex  herrlich  und 
gefeiert  entgegen  tritt,  so  auch  Niobe,  die  Königin  The- 
bens, aber  ihr  Glück  ist  ein  vtiovAov.  Manto  erscheint 
und  ermahnt  zur  Verehrung  der  Letoiden,  aber  Niobe  treibt 
das  Volk  von  den  Altären.  Hier  mochte  Sophocles  einen 
jener  Chorgesänge  einlegen,  in  denen  der  Friede  eines 
frommen  unschuldigen  Gemüths  Avaltet,  aber  bange  Ah- 
nungen laut  werden  für  das  Schicksal  der.  Grossen  und 
Reichen.  Der  Chor  mag  ähnlich  gesungen  haben  wie  im 
r)edipus:  Ei'  (loi  ^vvatrj  tpsQoi'Ti  ^ot^a  tav  svösmov  ayveiccv 
käycnv  agycnv  za  Tcccvtav  und  Worte  wie :  au  da  rtg  vitag- 
oTita  %aQolv  rj  A6yo3  nogavarca,  ^ixag  acpößrjzos,  ovös  öai- 
^6vo3v  adr]  ösßcjv,  xaxd  viv  aXotro  (loiQa  mochten  auch  hier 
den  Zuschauer  mahnen  an  die  .cAvigen  göttlichen  Gesetze. 
Dadurch  breitete  sich  ein  eigenthüraliches  Helldunkel  um 
das  Schicksal  des  Protagonisten ;  das  Gemüth  des  Zuschauers 
wurde  bewegt  Avie  von  leisen  Anzeichen  eines  nahenden 
Sturms  und  vorbereitet  auf  die  Rache.  Da  erscheinen  Apollo 
und  Artemis.  Söhne  und  Töchter  denke  ich  mir  beschäf- 
tigt am  Hause,  oder:  die  Söhne  eilen  bei  der  Erscheinung 
der  Götter  unter  Angstgeschrei  zum  elterlichen  Hause.  Dies 
Geschrei  trifft  das  Ohr  der  Mutter  und  der  Töchter  im 
Hause.  Sie  eilt  heraus  mit  letztern  und  nun  stürzen  alle 
Kinder  vor  ihren  Augen.  Dieser  entsetzliche  Moment  wurde 
dadurch  gemildert,  dass  unter  den  sterbenden  Kindern  Züge 
geschwisterlicher  Liebe  das  Gemüth  des  Schauenden  vom 
Entsetzen  zu  Mitleid  und  Rührung  stimmten  ^) : 

8)  Ich   folge   hier   den   feinen   Bemerkungen    von    Geffers    in    einem 
Göttinger  Schulprogramm  «de  culpa  Oedipi.» 

9)  Aehnlich   ist  es,   wenn  Sophocles   im  Oed.  R.    den   entsetzlichen 


—     72     — 

w  a(i.q)     ifxov  ßreikai. 
Die  greisen  Diener  des  Hauses,    Amme  und  Pädagog,   kla- 
gen über  den  Leichen  ihrer  Pfleglinge,  an  die  sie  nun  ver 
geblich  Liebe  und  Sorgfalt  gewandt: 

'H  yaQ    q)ih]  'yco  Trovös  rov  rcQoq^cQvigov  ... — '") 

&aXTrov<jci  y.cd   ijjv/^ovoa  xal  7tov(o  novov 
SK  vvKxog  aXXaG6ox)0a  roi>  Ka9    ij^sqkv. 

InzAvischen  steht  Kiobe  stumm  vor  Schmerz,  aber  ihr  Oe- 
müth  wird  sich  öffnen  und  herausströmen  wird  der  gewal- 
tige IMutterschmerz.  Nicht  wie  die  Niobe  des  Aeschylus. 
sondern  menschlich  wahr,  menschlich  fühlend  hebt  sie  die 
Arme  zum  Himmel  und  fleht  die  Götter  um  den  Tod: 

ovtcys  idvöxEQccLVEV ,  ag  aal  ro  ^^v  i&eXeiv  exhjittv  Öta. 
to  ^sy£&og  rfjg  GvficpoQag  xcd  TOi)g  dsovg  ^Ttixalstöd'ca  {<vaQ- 
TtaöTov  avrrjv  yeveö&ca  TtQog  ccTtcöksiav  rrjv  xaXenatccxriv. 
Darauf  Donner  und  Erdbeben: 

"Eqj(^0(iui  ri  fi  aveig; 
Und  nun  erscheint  Zeus  und  giebt  ihr  Gewährung  dessen, 
warum  sie  bat,  denn  der  Tod  war  ihr  eine  Wohlthat.  Ver- 
söhnt sind  Götter  und  Menschen,  die  strafende  Gottheit 
wird  zur  gnädigen,  Avir  sehen  in  dem  Fall  des  Irdischen 
den  Bestand  des  Göttlichen  und  jene  heilige  Wehmuth  zieht 
ein  ins  Gemüth,  die  überall  da  ist,  wo  die  Blumen  der 
Erde  höherer  Ordnung  geopfert  werden.  —  Vergegenwär- 
tigen wir  uns  nun  jene  Scene  des  Untergangs :  Die  Söhne 
eilen  heran,  wie  eine  gescheuchte  Heerde,  in  den  Schutz 
des  Hauses-,,  ihr  Angstruf  dringt  zu  den  Ohren  der  Mutter 
und  Schwestern;  diese  eilen  heraus  mit  fliegenden  Gewän- 
dern in  die  Arme  des  Verderbens.  Nun  hält  der  Tod 
reiche  Ernte,  aber  die  Liebe  ist  mächtiger  als  er;  der  ster- 


Aublick  des  geblendeten  Oedijjus  dem  Zuscliauer  nicht  erspart,  aber 
gleich  die  weinenden  Kinder  an  den  unglücklichen  Vater  heranführt. 
Menschliche  Gefühle  gehen  nicht  unter  auch  im  härtesten  Geschick. 

10)  Sollte  die  Form  rj  nicht  der  Amme  besser  anstehen,  als  der 
Schwester?  Welcker  meint,  eine  der  Schwestern  sei  wohl  Sprecherin 
für  die  geschwisterlichen  Gefühle  gewesen;  wäre  ein  kommatisches  Vers- 
mass  nicht  angemessener  für  sie? 


—     73     — 

bende  Bruder  vergisst  nicht  seines  Herzens  Liebling,  in 
den  Armen  der  Schwester  stirbt  die  Schwester,  aber  wie  ein 
Fels  im  tobenden  Meer  steht  die  Mutter,  die  Königin  —  in 
diese  schauerlich  schöne  Scene  schaue  der  Medusenblick  der 
Plastik  und  unsere  Gruppe  steht  vor  uns.  Wie  erstarrt  in 
eilender  Bewegung  steht  die  Mutter  in  dem  vielstimmigen 
Threnos  ihrer  Kinder,  aber  auch  hier  dauert  die  Liebe  noch 
im  Tode.  Schützend  breitet  die  Mutter  den  Arm  über  die 
Tochter;  an  den  Bruder  neigt  die  Schwester  ihr  sinkend 
Haupt  —  und  über  allem  Schmerz  schwebt  die  Schönheit 
wie  ein  Stern  über  wildem  Meer.  Es  ist  wahr,  der  Pla- 
stiker kann  alle  einzelnen  Motive,  er  kann  seine  Gruppen, 
die  in  der  Statuenreihe  dieselbe  Wirkung  ausüben,  wie  in 
der  Tragödie,  selbständig  erfunden  haben,  aber  bedenken 
wir,  dass  unsere  plastische  Darstellung  äusserlich  und  in- 
nerlich stimmt  mit  der  Scene  des  Drama's;  bedenken  wir, 
dass  uns  eine  Person  entgegentritt,  die  wenigstens  in  Va- 
senbildern auf  ein  dramatisches  Vorbild  uns  hinzuweisen 
pflegt,  ich  meine  den  Pädagogen;  nehmen  wir  dazu  den 
Einfluss  der  Tragödie  auf  die  Plastik  überhaupt  und  den 
Reiz,  den  eine  solche  Tragödie  ausüben  musste,  so  wird 
man  die  Vermuthung  nicht  gewagt  finden,  dass  der  Künst- 
ler unserer  Gruppe  eine  dramatische  Scene  vor  Augen  ge- 
habt habe.  Von  hier  aus  aber  Hesse  sich  vielleicht  ein 
weiterer  Grund  für  die  Aufstellung  der  Figuren  in  grader 
Linie  beibringen,  wofür  Welcker  ")  sehr  triftige  Gründe  an- 
geführt hat.  Auf  der  wenig  tiefen  Bühne  des  attischen 
Theaters  mussten  die  Figuren  sich  neben  einander  gruppi- 
ren;  die  Mutter  bildete  wohl  den  Mittelpunkt  der  ganzen 
Reihe,  die  Kinder  waren  auf  beide  Seiten  vertheilt.  So 
wurde  das  Ganze  sofort  übersichtlich  und  fasslich;  sollte 
der  Plastiker  sich  diesen  Vortheil  haben  entgehen  lassen? 
Denn  das  wird  sich  nicht  läugnen  lassen,  dass  das  Zusam- 
menwirken der  einzelnen  Figuren  zu  einem  Anblick  nur 
dann  erreicht  wird,  wenn  dieselben  neben  einander 
stehen,  aber  unmöglich  wird,  sobald  sie  in  einem  Halb- 
kreis,  also  hinter  einander  gestellt  werden.     Im   erste- 


ll) Alte  Denkm.  I,  p.  264. 


—     74     — 

ren  Fall   haben   wir  zusainincnklingendo   Töne,    im  letztern 
eine  Folge  von  Tönen, 


n. 

Bei  der  näheren  Betraclitung  der  Gruppe  muss  ich  zu- 
nächst ausgehen  von  der  Annahme  Cockerells  und  Wel- 
cker's,  dass  sie  in  dem  Giebel  eines  Tempels  gestanden 
habe.  Dann  ist  Avohl  die  erste  Frage  die,  ob  man  die  Zahl 
der  Kinder  im  Voraus  festsetzen  kann  und  darf.  Welcker ') 
•stellt  die  Zahl  vierzehn  als  nothwendig  hin,  indem  er, 
worin  ihm  Niemand  widersprechen  wird,  nachweist,  dass 
die  meisten  schriftstellerischen  Quellen  sieben  Paare  der 
Kinder  angeben  und  dass  die  Zahl  sieben  eine  dem  Apollo 
heilige  gewesen  ist.  Zur  Uebertragung  dieser  Resultate 
auf  die  Gruppe  Avar  aber  der  Aveitere  BcAveis  nöthig,  dass 
die  Kunst  solchen  hieratischen  Bezügen  streng  Rechnung- 
getragen  habe,  was,  wie  ich  glaube,  nicht  immer  der  Fall 
war.  Ich  erinnere  an  die  Giebelgruppe,  welche  Praxiteles 
für  das  Herakleion  in  Theben  gearbeitet  hatte  ^).  Der 
Künstler  hatte  weder  zehn,  noch  zwölf  Kämpfe  dargestellt, 
sondern  elf.  Wann  freilich  die  Z^völfzahl  der  Heraklcs- 
thaten  festgesetzt  ist,  wissen  Avir  nicht;  AA'ir  haben  darüljcr 
nur  eine  Vermuthung,  freilich  eine  sehr  Avahrscheinliche, 
von  Welcker^),  der  auf  Pisander  diese  Zahl  zurückführt, 
aber  die  Zahl  elf  scheint  mir  notlhvendig  darauf  hinzuAvei- 
sen,  dass  der  Raum  das  leitende  Princip  gcAA^esen  ist  und 
Welcker  selbst  erkennt  dies  an,  indem  er  bemerkt*),  dass 
der  Künstler  die  herkömmlichen  zwölf  Athlen  in  diesem 
Raum  nicht  brauchen  konnte.  Wir  Averden  daher  auch  für 
den  Künstler  der  Niobidengruppe  die  hieratischen  Bezüge 
nicht  als  eine  nothAvendig  zu  beachtende  Beschränkung  auf- 
stellen  dürfen  und  das  um    so  Aveniger,    weil    nach   meiner 


1)  p.  235  ff.         2)  Paus.  IX,  11,6.         3)  Ep.  Cyclus  p.  236. 
4)  A.  Denkm.  I,  p.  207. 


—     75     — 

Einsicht  mit  der  Annahme  Welcker's  die  vorhandenen  Fi- 
guren sich  nicht  zu  einer  Giebelgruppe  anordnen  hissen. 
Bevor  ich  dies  zu  beweisen  versuche,  gebe  ich  eine  kurze 
Musterung  der  Statuen,  wobei  ich  indessen,  um  AViederho- 
lungen  zu  vermeiden,  nur  die  bespreche,  über  die  ich  eine 
abweichende  Ansicht  habe.  Am  passendsten  werden  sich 
dabei  meine  Bemerkungen  an  die  Abbiklung  Welcker's  an- 
lehnen, da  ich  auf  dessen  reichhaltige  Abhandlung  vor  allen 
andern  Rücksicht  nehmen  muss.  Was  Welcker  ausgeschie- 
den hat,  scheint  mir  auch  nicht  hineinzugeboren;  von  dem, 
was  er  aufgenommen  hat,  sind  wohl  folgende  Figuren  nicht 
zu  bezweifeln:  1)  Die  Mutter  mit  der  jüngsten  Tochter 
(8.  9.),  2)' die  beiden  Töchter  links  von  der  Mutter  (7.  6.), 
3)  die  vaticanische  Gruppe  (5.  4.) ,  4)  die  beiden  folgen- 
den Söhne  (3.  2.),  5)  die  Gruppe  von  Soissons  (12.  13.), 
6)  der  kniende  Sohn  (14.),  7)  der  sogenannte  Narcissus 
(15.),  8)  der  sterbende  Sohn  (16.).  Das  sind  4  Töchter, 
7  Söhne  und  Mutter  und  Pädagog.  Zu  diesen  nun  die 
Statue  des  Berliner  Museums  (10),  von  der  eine  Wieder- 
holung in  Mus.  Borbon.  ^)  zu  existiren  scheint,  zu  rechnen  *), 
stehe  ich  sehr  an.  Schon  früher  hatte  ich  bedeutende  Zwei- 
fel, jetzt,  nachdem  die  Statue  im  Gypsabguss  zu  den  übri- 
gen gestellt  ist,  scheint  mir  die  Annahme  rein  unmöglich. 
Betrachtet  man  die  Figur  für  sich,  so  wird  man  Eins  so- 
fort vermissen,  das  Jugendliche  und  Zarte.  Im  Berliner 
Museum '')  ist  ein  Niobidenkopf ,  dessen  Schönheit  ganz  der 
Idee  entspricht,  die  wir  mit  einer  Tochter  der  Niobe  zu 
verbinden  pflegen.  Nase,  Mund  und  Kinn  sind  ergänzt, 
aber  über  die  Wangen  ist  jener  Hauch  von  Zartheit  ge- 
breitet, der  die  aufljlühcnde  Knospe  der  Jugend  umspielt. 
Nichts  von  alle  dem  zeigt  die  Statue,  keine  Spur  von  Fa- 
milienähnlichkeit; sie  hat  längst  die  Höhe  des  Lebens  über- 
schritten.    Ist  aber  die  Jugendlichkeit  der  Kinder  nicht  be- 


5)  Clarac.  mus.  de  sculpt.  PI.  Ö70,  1276.     Vgl.- Tom.  IV  p.  65. 

6)  So  Tieck  im  Verzeichn.  d.  antik.' Bildli. werke  Berlin's  No.  217. 
Gerb.  Berl.  Ant.  Bildw.  p.  82.  Arcliäol.  Ztg.  1814  p.  305  f.  Drei 
Vorlesgen  p.  64.     Welcker  p,  281  f. 

7)  Tieck  n.  38. 


—     70     — 

gründet  im  Mythus  und  nothwendig  für  unser  Gefühl? 
Denn  nicht  darin  allein  liegt  das  Erschütternde,  dass  die 
Kinder  fallen,  sondern  auch  darin,  dass  sie  fallen  theils  in 
der  Blüthe  der  Jahre,  theils  im  unmündigen  Alter.  Die 
jüngste  Tochter  entspricht  dem  jüngsten  Sohn,  sollte  es 
nicht  ebenso  sein  mit  der  ältesten  Tochter  und  dem  älte- 
sten Sohn?  Unserer  Niobide  müssten  wir  aber  nicht  einen 
Jüngling,  sondern  einen  bärtigen  Mann  gegenüberstellen. 
Lassen  wir  uns  dies  einstweilen  gefallen  und  stellen  wir 
die  Statue  in  die  Gruppe.  AVelchen  Platz  sie  einnehmen 
muss,  darüber  kann  kein  Zweifel  sein;  sie  kann  nur  da 
stehen,  wohin  Welcker  sie  gestellt  hat,  rechts  neben  der 
Mutter.  Welchen  Antheil  soll  sie  nehmen  an  der  Hand- 
lung? AVelcker  sagt,  sie  trete  heraus  aus  dem  Hause  und 
nehme  bei  dem  Anblick  alle  Kraft  in  sich  zusammen.  Aber 
dass  sie  dieses  thut,  muss  sieh  doch  in  ihr  ausprägen.  Hat 
nicht  der  zuinickge drängte  Schmerz  so  gut  seinen  Ausdruck 
wie  der  hervorbrechende?  Kann  das  Erstere  aber  von 
einer  Statue  gelten,  die  in  keiner  Bewegung,  in  keiner  Falte 
des  Gewandes  Anderes  zu  erkennen  giebt,  als  Ruhe?  Und 
Avas  ist  natürlicher  für  eine  Niobide  in  diesem  Augenblick, 
gross  und  heroisch  zu  erscheinen  oder  so,  wie  ihre  Schwe- 
stern zur  Linken  der  Mutter?  Vollends  nun  die  Mutter 
neben  ihr !  AVelcker  sagt ,  die  heroische  Grossheit  der  Toch- 
ter werde  überboten  von  der  Mutter.  Dieser  wanken  die 
Knie,  jene  steht  unerschüttert;  in  dem  Gewände  der  Mutter 
setzt  sich  der  Aufruhr  fort,  der  die  Gewänder  der  fliehen- 
den Töchter  bewegt,  das  der  Tochter  fällt  schwer  zu  Boden; 
im  Angesicht  der  Mutter  ringen  Schmerz  und  Hoheit,  an 
der  Tochter  zuckt  keine  Wimper.  Ueberboten  wird  die 
Tochter  von  der  IMutter  nur  diirch  die  Formen  des  Körpers, 
in  Hinsicht  auf  Ausdruck  und  Bewegung  ist  sie  die  weitaus 
heldenmüthigere.  Ist  aber  nicht  dies  der  zusammenhal- 
tende Gedanke  des  Ganzen,  dass  von  beiden  Seiten  der 
Schreck  heranstürmt  an  die  Mutter,  um  hier  an  der  Kraft 
der  Königin  ein  Gegengewicht  zu  finden?  Aber  schon  vor- 
her wäre  er  überAvunden  in  der  Tochter. 

Der  Berliner  Bildhauer,  Hr.  Wredow,  dessen  Güte  ich 
manche  schöne  Belehrung  verdanke,  sieht  in  unserer  Figur 


—     77     — 

die  Amme  der  Kinder,  die  Wagner*)  für  die  Giiippe  ver- 
langte. Er  machte  mich  aufmerksam  auf  die  Magerkeit  des 
Busens,  die  unläugbar  ist  und  auf  die  ungriechische  Bil- 
dung des  Kopfes,  die  ebenfalls  zugegeben  werden  muss  ®), 
wenngleich  sie  minder  in  die  Augen  springt.  Auch  diese 
Annahme  scheint  mir  ihre  Schwierigkeiten  zu  haben.  Dass 
eine  Amme  als  Gegenfigur  für  den  Pädagogen  ursprünglich 
zur  Gruppe  gehört  hat,  scheint  mir  nicht  ganz  unwahr- 
scheinlich, wie  auch  in  der  sophocleischen  Tragödie  die 
Amme  auftrat,  allein  wird  man  eine  solche  Figur  nicht 
gruppirt  zu  sehen  wünschen  mit  einem  Kinde,  ebenso  wie 
der  Pädagog  in  der  Gruppe  von  Soissons  einen  Knaben 
neben  sich  hat?  Bekommt  nicht  erst  dadurch  die  Er- 
scheinung solcher  Figuren  Sinn  und  Bedeutung,  dass  sie 
schützend  neben  ihren  Pfleglingen  stehen'?  Unsere  Figur 
aber  hat  nach  allem  Anschein  allein  gestanden,  denn  wenn 
auch  der  rechte  Arm  restaurirt  ist,  so  verräth  sich  doch 
in  seiner  Bewegung  sowenig  wie  in  der  Haltung  und  dem 
Blick  der  Statue  irgend  eine  Beziehung  auf  eine  Figur  ne- 
ben ihr.  Auch  scheint  mir  der  Gewandwurf,  dessen  stolze 
Schwere  einer  IMelpomene  anstehen  würde,  unpassend  für 
eine  Amme.  Endlich  möchte  man  fragen,  ob  nicht  der 
Künstler  mit  oder  vielleicht  statt  der  ausländischen  Kopf- 
bildung eine  Annne  durch  Unterschiede  der  Gewandung 
characterisirt  haben  würde.  Denn  hierin  unterscheidet  sie 
sich  nicht;  sie  trägt  Chiton  und  Peplos  wie  die  übrigen 
Schwestern.  Es  wäre  nicht  schwer,  der  Figur  einen  Na- 
men zu  geben,  der  zu  dieser  Characterisirung  passte,  allein 
ich  unterlasse  es,  weil  ich  von  der  Wiederholung  dersel- 
ben nur  eine  Abbildung  kenne;  soviel  scheint  mir  unwi- 
dersprechlich,  dass  sie  keine  Tochter  der  Niobe  vorstel- 
len kann. 

Eine  zweite  Tochter  (11)  ist,  soviel  ich  weiss,  nur  von 
Thiersch '")   bezweifelt.      Mir    scheint  ausser    dem    Grunde, 


8)  Kunstbl.  1830.  No.  56  p.  223. 

9)  Die  Nase  ist   restaurirt   und  zwar  sehr  hässlieh.     In  Betreff   der 
ül)rig-en  Restaurationen  vgl.  Gerhard  a.  a.  ü. 

10)  Epochen  p.  3G7  Aura.  (50. 


—     78     — 

den  Thierscli  aiif^ctulirt  hat,  noch  Folgendes  gegen  sie  als 
Tochter  zu  sprechen.  Sie  unterscheidet  sich  von  ihren 
Schwestern  durcli  die  Grewandung,  sie  trägt  einen  Ueber- 
wurf  über  dem  Chiton").  Ich  weiss  keinen  Grund  dafür; 
das  gleiche  Schicksal  hängt  über  allen  Kindern,  warum 
diese  Unterscheidung"?  Sie  ist  störend  und  das  um  so  mehr, 
weil  die  Gewänder  der  Schwestern  so  behandelt  sind,  dass 
die  jugendlichen  Körperformen  deutlich  hervortreten,  und 
das  ist  für  den  Eindruck  nicht  unwesentlich,  weil  es  aucli 
dem  Auge  zeigt,  welch'  zarte  Knospen  hier  geopfert  wer- 
den. Man  gebe  ihnen  ein  doppelt  Gewand ,  wie  es  die  frag- 
liche Figur  trägt,  und  diese  Schönheit  ist  vernichtet.  Das 
Zweite,  woran  ich  Anstoss  nehme,  ist  die  Ruhe  des  Gewan- 
des. Wenn  der  Sturm  über  das  Meer  fährt,  da  hebt  sich 
.jede  Welle,  hier  hätten  wir  einen  ruhigen  Fleck  in  der 
Mitte  der  rauschendsten  Bewegung.  Ist  es  aber  wohl  natür- 
lich, eine  Niobide  in  einer  Figur  zu  erkennen,  an  deren 
Gewand  keine  Falte  zittert,  während  die  Gewänder  der 
GescliAvister  flattern,  wie  die  Flügel  gescheuchter  Vögel, 
während  selbst  die  heroische  Mutter  sich  nur  mit  IMühe  zu 
behaupten  vermag  in  dem  Sturm,  der  an  sie  heranstürmt V 
Drittens  vermisse  ich,  um  den  nicht  unbedeutenden  Alters- 
unterschied zu  übergehn,  die  Familienähnlichkeit.  Ich 
o'laube  selbst  die,  Avelche  die  Statue  als  Niobide  vertheidi- 
gen,  werden  diesen  Punkt  wenigstens  nicht  entschieden  in 
Abrede  stellen  können ,  wie  denn  Meyer '-)  nur  bemerkt, 
dass  die  Idee  des  Kopfes  «im  Allgemeinen»  nicht  von 
den  andern  abweiche.  Spricht  dieses  gegen  die  Figur  als 
Tochter  der  Niobe,  so  könnte  Jemand  sagen,  sie  möchte 
eine  Wärterin  vorstellen,  die  den  Töchtern  beigegeben  sei, 
wie  der  Pädagog  den  Knaben.  Sie  wäre  mit  Fug  und 
Recht  in  der  Gewandung  unterschieden,  für  sie  als  unbe- 
theiligte  Person  wäre  die  Ruhe  des  Gewandes,  für  sie  fer- 
ner die  liebevolle  Neigung  des  Hauptes,  die  zarte  Theil- 
nahme  in  ihrem  Gesicht  durchaus  angemessen.     Sie  müsste 


11)  Meyer  sagt  Prupyl.  II  p.  5«.  (17ÜU)  '<D<a.s  Untergewand  besteht 
aus  zwei  Stücken;  desselben  Obertheil  reicht  bis  auf  den  halben  Leib, 
das  andere  kommt  darunter  hervor.» 

12)  p.  72. 


—     79     — 


dann  gruppirt  Averden  mit  einem  Kinde  '^).     Stellen  wir  nnn 
diese  Gruppe  rechts    neben   die  Mutter,    su    haben    wir   zu- 


13)  Darin  stimmen  auch  die  meisten  Ausleger  iiberein,  wenngleich 
der  Gedanke  Cockerell's ,  den  sterbenden  Sohn  vor  sie  hinzulegen,  wohl 
mit  Recht  zurückgewiesen  ist.  Vgl.  Schlegel  Bibl.  univ.  T.  III  Litte'- 
rat.  p.  123.  Ramdohr  Mal.  und  Bildhauerei  in  Rom  II,  p,  140.  Wag- 
ner p.  207.  Meyer  p,  71.  Gerhard,  Drei  Vorles,  p.  02.  Müller,  Text  zu 
den  Denkm.  p.  18.  Feuerbach  Nachl.  III,  p.  138.  Auch  mir  scheint 
trotz  der  schönen  Bemerkungen,  durch  die  Welcker  p.  278  und  Tren- 
delenburg (Niobe.  Einige  Betrachtungen  über  das  Schöne  und  Erhabene 
p.  8.  26)  ihre  Einzelstellung  motivirt  haben,  ein  Gegenstand  uothwen- 
dig,  auf  den  sich  ihr  Auge  richtet.  Dabei  ist  Folgendes  übersehn. 
Der  Mantel  geht  über  den  rechten  Schenkel  und  fällt  dann  senkrecht 
zu  Boden;  der  Theil,  der  über  dem  Schenkel  liegt  bildet  mit  dem  her- 
abfallenden eine  Ecke,  einen  Winkel  und  in  dem  Scheitelpunkte  dieses 
Winkels  sind  Fingereindrücke  bemerkbar.  Dadurch  erklärt  sich  der 
senkrechte  Fall;  ohne  diesen  Knick,  den  Finger  veranlasst  haben  müs- 
sen, würde  der  Wurf  des  Mantels  freier  sein.  Dieser  Umstand  giebt 
Aufschluss  über  die  Stellung  der  Figur.  Unmittelbar  vor  dem  Augen- 
blick, den  wir  dargestellt  sehn,  lag  ihre  rechte  Hand  in  jener  Ecke 
des  Mantels.  Ein  Ereigniss  vor  ihr  zog  ihre  Blicke  auf  sich,  sie  erhebt 
wie  staunend  die  Hand  und  das  Gewand  hält  den  empfangenen  Ein- 
druck und  damit  den  vorhergehenden  Augenblick  fest.  Der  Arm  ist 
bis  auf  ein  kleines  Stück  an  der  Schulter  neu ,  allein  er  ist  unzweifel- 
haft richtig  restaurirt.  Wollte  man  etwa  sagen ,  die  Hand  habe  ur- 
sprünglich in  der  Ecke  des  Mantels  gelegen,  so  widerspricht  dem  die 
Richtung  des  erhaltenen  Stumpfes.  Diesej-  geht  grade  nach  unten, 
denkt  man  ihn  verlängert,  so  geht  er  weit  über  jene  Ecke  hinaus.  Ich 
weiss  einer  solchen  Behandlung  des  Gewandes  aus  dem  Alterthimi  kein 
ganz  analoges  Beispiel  an  die  Seite  zu  stellen;  Mengs  (Gedanken  über 
die  Schönheit  u.  d.  Geschmack  in  der  Malerei  p.  69)  bemerkt  dasselbe  von 
den  Gemälden  Raphael's.  Verwandt  ist,  was  man  oft  bemerken  kann, 
dass  die  Plastik  den  flüchtigsten  Moment  bannt ,  um  den  Beschauer  zu 
zwingen,  ihn  fortzuspinnen  in  seiner  Phantasie,  so  dass  ihre  Ruhe 
gleichsam  in  Fluss  nnä  Bewegung  geräth.  Dafür  genüge  es ,  an  die 
Krone  aller  Plastik  zu  erinnern,  die  liegende  weibliche  Figur  vom  Par- 
thenon. Keine  Sekunde  länger  kann  das  Gewand  den  blühenden  Busen 
bedecken,  es  ist  ein  Augenblick,  dem  man  zui'ufen  möchte  ,, Verweile 
doch ,  du  bist  so  schön" ;  aber  weil  ein  so  schwebender,  gleichsam  hän- 
gender Augenblick  gewählt  ist,  darum  müssen  unsre  Gedanken  ihn 
fortsetzen;  wir  meinen  das  Gewand  vor  unsern  Augen  gleiten  zu  sehen. 
Es  kann  dies  übrigens  als  Beleg  dienen ,  wie  so  gar  Nichts  von  ab- 
stracter  Ruhe  in  der  griechischen  Plastik  ist,  wie  vielmehr  die  rastlose 
Bewegung  von  Augenblick  zu  Augenl)lick  aus  der  Natur  in  sie  über- 
tragen wird. 


—    so    — 

nächst  die  Unsymmetrie,  dass  Wärterin  und  Pädagoft-  auf 
derselben  Seite  stehn,  zweitens  aber  den  weit  störenderen 
Umstand,  dass  die  ganze  Statuenreihe  auseinander  khiü't. 
Auf  der  linken  Seite  strebt  Alles  zur  Mutter  hin,  zu  ihrer 
Rechten  soll  eine  Figur  stehen,  die  von  ihr  abgewandt 
nach  der  entgegengesetzten  Seite  gerichtet  ist.  Der  Blick, 
der  nach  Schlegel's  Bemerkung  immer  auf  die  Mutter  zu- 
rückkehrt, muss  anhalten  bei  dieser  Figur  und  neu  an- 
setzen, ähnlich  wie  es  die  Stimme  muss,  wenn  Avir  über 
einen  Hiatus  hinweglesen  sollen.  Diese  Divergenz  der  Li- 
nien, die  wir  uns  am  Ende  des  Giebels  beim  Narcissus 
nach  Welckers  Aufstellung  allenfalls  gefallen  lassen  konn- 
ten, wird  völlig  unerträglich  in  der  Mitte,  denn  sie  halbirt 
die  Gruppe.  Von  Kampf  und  Streit,  wie  am  Aegineten- 
tempel  und  westlichen  Parthenongiebel  ist  hier  nicht  die 
Rede;  hier  muss  sich  um  den  Protagonisten  Alles  concen- 
triren.  Diese  Bedenken  scheint  auch  Gerhard  gehabt  zu 
haben,  indem  er  bemerkt,  man  sei  geneigt,  die  Tochter  der 
Mutter  zunächst  auf  ihrer  andern  Seite  sich  zu  denken. 
Versuchen  wir  auch  dies.  Setzen  wir  unsre  Gruppe  links 
neben  die  Mutter  und  etwa  den  Pädagogen  unmittelbar 
rechts  neben  sie,  sodass  die  Mutter  umgeben  wäre  von  den 
Dienern  des  Hauses,  —  wodurch  zugleich  eine  Vermittlung 
gegeben  wäre  von  den  colossalen  Älaassen  der  Mutter  zu  der 
Zartheit  der  Töchter  —  so  bleibt  der  längst  von  Andern 
bemerkte  Uebelstand,  dass  sich  in  zwei  neben  einander 
stehenden  Statuen  dasselbe  Motiv  wiederholt.  Unsre  Figvir 
und  die  Mutter  ziehn  beide  mit  der  Linken  den  Peplos  in 
die  Höhe.  Dieser  Umstand  scheint  mir  entscheidend  zu 
sein  für  die  Ausscheidung  der  Ersteren ;  nicht  darauf  kommt 
es  an,  eine  erträgliche  Gruppe  zusammenzustellen,  sondern 


Welcker  bemerkt  von  imsrer  „Niobide":  Sie  scheint  bei  dein  Angst- 
geschrei, das  nothwendig  eine  solche  Scene  begleitet,  nach  ihren  Ge- 
schwistern sich  hinzuwenden,  auszuschauen  welch  Unglück  sei,  sie  zu 
empfangen.  Aber  passt  hiezu  das  gesenkte  Haupt?  Trendelenburg 
sagt,  von  der  Schuld,  die  nur  in  der  Mutter  erscheinen  könne,  breche 
etwa  eine  Ahndung  in  dieser  sinnenden  Tochter  durch.  Ich  möchte  diese 
Ausnahme  nicht  gern  machen.  Wie  die  Linien  des  Marmors  hinanstür- 
men an  den  Mittelpunkt,  so  unsre  Gedanken.  Die  Gruppe  würde  ihre 
Spitze  verlieren. 


—     81     — 

eine   solche,   die   wir  einem  griechischen   Meister  zutrauen 
können. 

Ich  gehe  nun  über  zu  der  Aufstellung  der  übrigen 
Figuren  bei  Welcker,  deren  linke  Seite  mit  der  Gerhards 
und  bis  auf  den  Flussgott  auch  mit  der  Cockerells  stimmt. 
Auf  dieser  Seite  haben  fünf  Kinder  (3  —  7)  bei  allen  den 
Erklärern,  die  eine  Griebelgruppe  zu  construiren  ver- 
sucht haben,  dieselbe  Stelle  und  es  ist  auch  unter  dieser 
V^oraussetzung  eine  Trennung  oder  Umstellung  derselben 
schlechterdings  unmöglich.  Ich  gehe  nun  über  zu  dem 
Sohn  N.  2.  Gegen  die  Stelle,  die  Welcker  ihm  gegeben 
hat,  sprechen  folgende  Gründe: 

a)  Es  kann  die  Mutter  nicht  die  Mitte  des  Giebels 
ausgefüllt  haben,  wenn  die  Höhe  desselben  so  nahe  dem 
Ende  schon  der  Figur  dieses  Sohnes  gleichgekommen  ist. 
Die  Höhe  des  Sohnes  beträgt  1,400  metr.  '^),  so  hoch  muss 
also  der  Giebel  bereits  an  .der  zweiten  Figurenstelle  gewe- 
sen sein.  Dann  wird  er  in  der  Mitte  an  der  achten  Figu- 
renstelle eine  Höhe  erreichen,  für  die  das  Maass  der  Mutter 
2,305  nicht  ausreichend  ist.  Es  wird  sich  ergeben,  dass 
es  auf  kleine  Verschiedenheiten  nicht  ankommt;  ich  nehme 
daher  runde  Zahlen  an  und  gebe  absichtlich  der  Mutter 
etwas  mehr  Grösse  als  sie  hat;  dadurch  wird  Welcker's 
Aufstellung  nur  um  so  eher  möglich.  Der  Sohn  ist  etwa 
4  Fuss,  die  Mutter  sei  7  Fuss  (das  ist  mehr  als  einen  hal- 
ben Fuss  zu  viel)  hoch.  Nun  folgt  aus  einem  mathemati- 
schen Gesetz,  dass  die  Mutter  verschwinden  wird  in  der 
Höhe  des  Giebels,  mag  man  für  die  Länge  desselben  Zah- 
len annehmen,  welche  man  Avill.  Hier  sind  einige  An- 
nahmen : 

1.  Die  Hälfte  des  Giebels  sei  15'  lang,  so  wird  der 
betreffende  Sohn  ein  Dreieck  begrenzen,  dessen  Basis  4 
bis  höchstens  6'  beträgt.  Nach  dem  Satz,  dass  die  gleich- 
liegenden Seiten  in  ähnlichen  Dreiecken  proportional  sind, 
kommt  folgende  Folgerung  heraus  für  die  Frage :  wie  hoch 


14)  Die  HöhenverlüUtnisse  der  Figuren  mit  und  ohne   Sockel   giebt 
Welcker  p.  270. 

6 


—     S2     — 

muss  ein  Giobol   sein,   der    15'  lang  ist  und  4  —  G'  von  sei- 
nem Ende  eine  4'  hohe  Figur  aufnehmen  soHV 
4  (Basis  des  kleinen  Dreiecks)     15  (Basis  des  halben  Giebels) 

4  (Höhe  des  Sohnes)  x  (Höhe  des  Giebels) 

X  ^  15' 
Nehmen  wir  als  Basis  des  kleinen  Dreiecks  5',  so  wird  der 
Giebel  12',  nehmen  wir  6',   so  wird   er  10'  hoch. 

2.  Die  Hälfte  des  Giebels  sei  20'  lang,  so  wird  das 
Dreieck,  dessen  Höhe  der  Sohn  abgiebt  6  —  8'  als  Basis 
haben.     Die  Gleichungen  sind  dann  diese: 

4"~5r  T^^jT  ~4~x~ 

x=13|'  x  =  llf  x==10. 

3.  Die  Hälfte  des  Giebels  sei  25'  und  die  Sache  stellt 
sieh  so : 

Basis  des  kleinen  Dreiecks  =  8' — 10'. 

_^__  25  9  __  25  TO         25 

4         X  4         X-  4         X 

X  =  121  x=l]i  x=10. 

Diese  Beispiele  werden  genügen ,  sie  liefern  immer  das 
Resultat,  dass  nach  Welcker's  Aufstellung  die  JMutter  die 
Giebelmitte  bei  Weitem  nicht  ausfüllen  kann.  Kehren  wir 
nun  die  Frage  um  und  fragen:  wie  weit  muss  eine  4'  hohe 
Figur  vom  Ende  eines  Giebels  entfernt  stehn,  der  7'  hoch 
ist? 

1.  Die  halbe  Giebellänge  rz=  15'  so  ist 

15        X     (Basis  des  kleinen  Dreiecks  oder  Entfer- 
nung des   Sohnes  vom  Giebelrande) 
x-=.8i. 

2.  Die  halbe  Giebellänge  =  20',  so   ist 

20  ^x  ^—  J^ 

3.  Die  halbe  Giebellänge  =  25',  so  ist 

''4  .  ,., 

K^  =  —         X  ^^  14f 
2d         X  ' 

Daraus  folgt,  dass  in  einem  sieben  Fuss  hohen  Giebel 
eine  vier  Fuss  hohe  Figur  mindestens  um  die  Hälfte  der 
halben  Giebellänge  vom  Ende  des  Giebels  und  demgemäss 


—    83    — 

höchstens  um  dieselbe  Distanz  von  der  Mitte  entfernt 
stehen  muss.  Der  Sohn  darf  also  dem  Giebelende  nicht 
näher  stehn,  als  seiner  Mutter.  Will  man  mir  einwenden, 
dass  die  Alten  nicht  streng  nach  einem  mathematischen 
Schema  gearbeitet  haben ,  so  habe  ich  Nichts  dagegen,  allein 
die  Aufstellung  Welcker's,  für  die  ich  meine  Annahmen 
günstiger  gestellt  habe,  als  genau  ist,  ist  mathematisch  un- 
möglich '^). 

b)  Auf  der  rechten  Seite  Welcker's  sind  zwei  Knieende 
die  Vermittler  zwischen  der  liegenden  und  aufrechtstehen- 
den Figur,  auf  der  linken  fällt  es  schroff  ab  vom  Stehen- 
den zur  Liegenden.  Das  ist  erstens  gegen  die  Analogie 
der  übrigen  Giebelgruppen,  die  wir  besitzen.  Am  Aegi- 
netentempel  ist  erst  die  vierte  Figur  aufrechtstehend,  eben- 
so am  östlichen  Giebel  des  Parthenon  und  am  westlichen 
geht  es  noch  weiter  hinauf;  hier  soll  es  schon  die  zweite 
sein?  Zweitens  ist  es  ein  Verstoss  gegen  die  Symmetrie 
und  drittens  ist  es  nicht  bloss  für  das  Auge  störend,  son- 
dern auch  für  die  Empfindui:ig-.  Nicht  sprungweise,  son- 
dern allmählich  wünschen  wir  von  der  Spannung  der  Mitte 
in  die  Ruhe  des  Todes  am  Ende  geführt  zu  werden.  Am 
westlichen  Giebel  des  Parthenon  verliert  sich  der  Streit  in 
der  Mitte  so  allmählich  in  die  Ruhe  des  Ilissus,  als  ver- 
laufe eine  hohe  Welle  des  Meeres  in  ein  stilles  Flussbett. 
Je  näher  dem  Ende,  um  so  mehr  Ruhe,  das  ist  ein  für 
den  Raum  des  Giebelfeldes  ebenso  angemessenes,  Avie  für 
das  Gefühl  wohlthätiges  Gesetz.  Nach  Welcker's  Aufstel- 
lung wäre  derjenige  Sohn,  der  am  stärksten  ausschreitet, 
also  am  bewegtesten  ist,  dem  Ende  der  nächste. 

c)  Mit  Recht  scheint  Wagner  auf  die  Gleichheit  der 
Linien  in  den  drei  Söhnen  zur  Linken  hingewiesen  zu 
haben ,  die  ihn  zu  dem  treffenden  Vergleich  veranlasste,  sie 


15)  Was  die  Zeichnung  betrifft,  so  fehlen  darauf  zunächst  die  Enden 
des  Giebels.  Wurden  sie  mit  gezeichnet  und  die  liegenden  Figuren  in 
sie  hineingeschoben,  so  ergab  sich  gleich  die  Unmöglichkeit  dieser  Auf- 
stellung. Ferner  gehn  die  Köpfe  der  Söhne  über  den  Giebel  hinaus, 
die  der  Töchter  bleiben  niclit  unbeträchtlich  darunter.  Ueberhaupt  aber 
ist  es  unsicher,  hier  nach  Zeichnungen  zu  urtheilen ,  weil  leicht  die 
eine  und  andre  Figur  etwas  zu  klein  gezeichnet  wird. 

6* 


—     84     *- 

seien  «gleich  Bäumen  am  Abhänge  des  Waldes,  die  der 
Sturmwind  umgelegt  hat».  Lassen  wir  ein)iial  den  Letzten 
weg,  so  haben  wir  in  den  Bewegungen  der  Arme  an  den 
Söhnen  Gegensätze,  ebenso  wie  an  denen  der  voransehrei- 
tenden  Töchter.  Der  Sohn  der  vaticanischen  Gruppe  macht 
mit  dem  rechten  Arm  dieselbe  Bewegung,  welche  sein  Nach- 
folger mit  dem  linken  macht.  Dasselbe  ist  der  Fäll  bei 
den  Töchtern.  Dadurch  schliessen  sich  diese  Paare  von 
Töchtern  und  Söhnen  eng  zusammen.  Dieser  Zusammen- 
hang würde  aufgehoben  durch  den  dritten  Sohn ;  das  Auge 
würde  suchen,  die  drei  Söhne  zu  vereinigen. 

Aus  dieser  Ausführung  folgt,  dass  die  Stellung  des 
Niobiden  eine  andere  sein  muss.  Zwei  Möglichkeiten  sind 
da;  entweder:  man  dreht  ihn  herum  und  stellt  ihn  auf  die 
andre  Seite,  wie  Müller  gethan  hat  oder  man  lässt  ihn,  wo 
er  steht  und  füllt  den  Raum  von  ihm  bis  zur  Ecke  des 
Giebels  mit  Figuren  aus,  wodurch  wenigstens  die  Haupt- 
schwierigkeiten wegfielen.  Für  Ei'steres,  könnte  Jemand 
sagen,  spreche,  dass  uns  auf  diese  Weise  sein  Gesicht 
entgegentrete,  denn  es  sei  ein  natürliches  Verlangen,  in 
diesem  Augenblick  der  Angst  und  Noth  vor  Allem  den 
Körpertheil  sehen  zu  Avollen,  in  dem  dieselben  vorzugs- 
weise sich  ausprägen.  Allein  dagegen  spricht,  was  Meyer, 
Wagner,  Welcker  übereinstimmend  bemerken  und  nach 
meiner  Ansicht  entscheidend  ist,  dass  durch  diese  Aufstel- 
lung das  rechte  Bein  des  Jünglings  ganz  vom  Felsen,  auf 
den  er  tritt,  verdeckt  werden  würde.  Bleiben  wir  also  bei 
dem  letztern  Fall,  und  sehen  uns  um  nach  ausfüllenden 
Statuen,  so  scheint  der  Narcissus  nach  der  Richtung  seines 
Körpers  auf  die  linke  Seite  zu  gehören,  wohin  ihn  auch 
Müller  gestellt  hat.  Nicht  ganz  klar  sind  mir  Welcker's 
(p.  284)  «Er  floh  nach  der  Seite  der  Mutter,  ward  im 
Rücken  getroffen  und  sank».  Dies  Wort  passt  wohl  für 
die  Aufstellung  Müller's;  wird  er  aber  auf  die  rechte  Seite 
gesetzt,  so  scheint  er  von  der  Mutter  wegfliehend  im 
Rücken  getroffen  zu  sein.  Dass  die  Geschosse  der  Götter 
sich  kreuzend  gedacht  werden  müssen,  beweisst  das  Mädchen 
der  vaticanischen  Gruppe ,  welches  die  Wunde  in  der  Brust 
hat,  allerdings;  nur  dehne  man  diese   Vorstellung   nicht  so 


—     85     — 

weit  aus,  class  sie  die  Klarheit  des  Ganzen  str»rt.  Und  steht 
nicht  auch  die  gdeichfalls  im  Rücken  getroffene  Schwester 
zur  Linken  der  IMutter?  Auch  die  Blicke  der  Figuren  er- 
Avecken  die  Vorstellung,  dass  die  eine  Gottheit  die  eine, 
die  andre  die  andre  Seite  verfolgt,  denn  zur  Rechten  sehen 
der  kniende  Sohn  und  der  Pädagog  mit  seinem  Knaben 
nach  rechts,  zur  Linken  zwei  Söhne  nach  links.  Die 
übrigen  Figuren  müssen  auf  der  rechten  Seite  stehen 
bleiben. 

Das  Gesagte  bezog  sich  auf  die  bisher  gemachten  Ver- 
suche, eine  Giebelgruppe  zu  construiren;  ich  wende  mich 
nun  zu  der  Möglichkeit  der  Giebelgruppe  überhaupt.  Da- 
gegen sciieinen  mir  folgende  Gründe  zu  sprechen: 

1 .  Der  Sohn  N.  2  muss ,  wie  oben  bemerkt  wurde ,  in 
der  Mitte  des  halben  Giebels  gestanden  haben.  Der  Raum 
von  ihm  bis  zur  Ecke  muss  ausgefüllt  werden,  natürlich 
nicht  mit  eben  so  viel  Statuen  als  vor  ihm  stehen,  aber 
mindestens  mit  dreien,  von  denen  wir  die  eine  liegend,  die 
beiden  andern  knieend  denken  mögen,  so  dass  auch  hier 
die  vierte  Figur  die  erste  aufrecht  stehende  wäre.  Für  die 
rechte  Seite  des  Giebels  ist  dieselbe  Figurenzahl  voraus- 
zusetzen ,  wie  für  die  linke ;  wir  bekommen  dann  für  alle 
Figuren  die  Gesammtzahl  zwanzig,  also  fast  ebensoviel  wie 
am  hintern  Giebel  des  Parthenon.  Steht  aber  mit  der  nach 
dieser  Anzahl  vorauszusetzenden  Länge  die  Höhe  des  Gie- 
bels, die  durch  die  Mutter  bestimmt  wird,  im  VerhältnissV 
Diese  Frage  ist  um  so  mehr  aufzuwerfen,  weil  die  Niobi- 
den  nicht  eng  aneinander  geschoben  werden  dürfen,  theils 
desswegen  nicht,  Aveil  die  ausgestreckten  Arme  und  die 
weitausschreitenden  Füsse  einzelner  Figuren  daran  hindern, 
theils,  weil  dann  das  Ganze  gedrängt  und  allzu  unruhig 
erscheint. 

2.  Der  Sohn  N.  'S  ist  1,517  metr.  hoch,  die  Tochter  N. 
7  1,788,  es  würde  also  der  Giebel  über  dem  Raum,  den 
fünf  Figuren  einnehmen,  nicht  einmal  um  einen  Fuss 
steigen;  auf  10  Fuss  (denn  das  ist  doch  wohl  das  Minimum 
für  den  Raum  der  fünf  Figuren)  käme  nicht  einmal  ein 
Fuss  Elevation!  Welche  Länge  und  welch"  spitzen  Win- 
kel müssen  wir  voraussetzen,  wenn  über  fünf  Figuren  eine 


—     86    — 

fast  horizontale  Linie  gezogen  worden  kann!  Von  der  Toch- 
ter aber  zur  nchenstehcnden  IMutter  steigt  es  dann  plötzlich 
um  ein  Bedeutendes  in  die  Höhe.  Ich  setze  nicht  voraus, 
dass  die  Figuren  nach  Zoll  und  Linien  gearbeitet  sind, 
allein  das  kann  ich  einem  griechischen  Bildhauer  nicht  zu- 
trauen, dass  er  die  zweite  Figur  eines  Giebelfeldes  —  von 
der  Mitte  aus  gerechnet  —  kaum  um  Haupteslänge  unter- 
schieden habe  von  der  sechsten.  Wer  das  annimmt,  der 
wird  sich  nicht  daran  stossen  dürfen,  wenn  über  dem 
Haupt  der  einen  Figur  kaum  Platz  ist  für  eines  Fingers 
Breite,  dagegen  über  dem  der  andern  mehre  Fuss  hoch 
leerer  Raum  ist,  wenn  also  die  über  die  Figuren  gezogene 
Höhenlinie  nicht  parallel  aufsteigt  mit  der  des  Giebels,  son- 
dern ihre  eigne,  auf  und  absteigende  Bewegung  macht. 
Man  hat  bemerkt,  dass  die  Höhenabstufung  der  Statuen 
für  die  Giebelgruppe  spricht,  man  hat  vergessen,  dass  die 
leise  Höhenabstufung  gegen  sie  spricht.  Ich  brauche  nicht 
zu  erinnern  an  den  Aeginetentempel,  an  den  Parthenon,  an 
denen  der  Giebel  ganz  anders  in  die  Höhe  steigt ;  das  sieht 
Jeder  ein,  dass  die  beiden  Töchter  (6  u.  7)  ihren  Platz 
nicht  ausfüllen  können,  Avenn  die  Söhne  mit  der  Mutter 
unter  ein  Dach  gestellt  werden  solleii.  Wagner  bemerkt 
vollkommen  richtig,  der  Unterschied  der  Grösse  zwischen 
einer  und  der  andern  Bildsäule  sei  nicht  bedeutender,  als 
grade  die  Verschiedenheit  des  Alters  ihn  mit  sich  bringe. 
Für  eine  Giebelgruppe  Aväre  er  viel  zu  gering;  so  gering 
aber  musste  ihn  der  Künstler  machen,  weil  er  aus  leicht 
begreiflichen  Gründen  weder  ganz  kleine  Kinder,  noch 
solche,  die  bereits  die  Blüthezeit  der  Jugend  überschritten, 
darstellen  konnte.  Die  Kinder  fallen  sämmtlich  in  einen 
Zeitraum  von  nicht  mehr  als  acht  Jahren.  Wenn  sich  also 
hiedurch  und,  wie  ich  glaube,  nur  hiedurch  die  leise 
Höhenabstufung  der  Figuren  erklärt,  so  iindet  die  Rich- 
tung der  Figuren  auf  den  Mittelpunkt  darin  ihre  Erklärung, 
dass  wir  eine  dramatische  Gi'uppe  vor  uns  haben.  Das  be- 
darf keiner  weitern  Ausführung,  ohne  einen  Pimkt,  auf 
den  sich  Alles  bezieht,  ist  eine  solche  Gruppe  undenkbar. 
3.  Sehr  treffend  ist  Wagner's  Bemerkung,  dass  die  lie- 
genden Bildsäulen,  welche  in   den   Giebeln  der   Alten  vor- 


kommen,  sich  gewöhnlich  auf  den  einen  oder  andern  Arm 
stützen,  wodurch  der  Körper  ctAvas  erhoben  werde  und  dem 
Auge  des  Untenstehenden  eine  Fläche  entgegenbiete,  dass 
dagegen  von  dem  ausgestreckt  liegenden  Niobiden  nur  ein 
Stückchen  Arm  und  etAvas  vom  Schenkel  gesehn  werden 
könne.  Die  Bemerkung  Schlegel's  hingegen,  es  werde  sich 
der  Kopf  des  Knaben  von  unten  gesehn,  ganz  zeigen, 
scheint  mir  nach  der  Lage  des  Niobiden  nicht  möglich. 
Fragt  man,  welche  Ansicht  für  unsre  Gruppe  die  vortheil- 
hafteste  ist,  so  scheint  mir  unzweifelhaft,  dass  mit  der  Auf- 
stellung in  einem  Giebel  ihre  vorzüglichsten  Schönheiten 
für  das  Auge  verschwinden,  weil  die  Entfernung  zu  gross 
ist.  Die'  zarte  Schlankheit  der  im  Nacken  getroffenen  Toch- 
ter Avird  dünn  und  dürr  erscheinen  und  vor  Allem  Averden 
die  Züge  im  Gesicht  der  Mutter  verschwimmen.  Ich  weiss 
wohl,  dass  die  Künstler  der  besten  Zeit  in  der  Ausarbei- 
tung von  Giebelstatuen  nicht  bloss  für  das  Auge  des  Be- 
schauers arbeiteten,  sondern  vor  Allem  darauf  bedacht  wa- 
ren, ein  Agalma  für  das  Haus  des  Gottes  zu  schaffen,  das 
makellos  sein  rausste,  Avie  das  Opferthier,  das  man  der 
Gottheit  brachte,  aber  ich  kann  mir  nicht  denken,  dass 
Einer  der  alten  Künstler,  die,  Avie  Avir  wissen,  den  Forde- 
rungen des  Auges  Avohl  Rechnung*  zu  tragen  wussten,  so 
zarte  Gestalten  in  eine   so  luftige  Höhe  gestellt  haben  soll. 

4.  Schon  Levezow '®)  hat  bemerkt,  dass  die  Gruppe  nur 
auf  einer  einzigen  Basis  gestanden  habe.  Die  Zeichnungen 
geben  eine  zusammenhängende  -Fläche.  Dass  dieses  ur- 
sprünglich nicht  der  Fall  gewesen  sein  kann,  dafür  geben 
zwei  Söhne  (2  und  3)  einen  materiellen  Beleg.  Der  linke 
Fuss  des  Ersteren  und  der  rechte  des  Letzteren  reichen 
fast  hinab  an  die  untere  Fläche  des  Sockels.  Stellt  man 
also  die  Figuren  in  einen  Giebel,  so.  hat  man  Hügel  neben 
Hügel,  aber  keine  Ebene. 

Ich  befürchte  nicht  den  Einwand,  dass  die  Florentiner 
Statuen  Werke  von  verschiedener  Hand  und  Zeit  seien, 
dass  daher  beim  Copiren  Abänderungen  in  Betreff  des 
Grössenverhältnisses  gemacht  sein  könnten,   denn    es   stim- 


Iß)  Famil.  des  Lykomedes  p.  'ii. 


mcn  die  Höhen  der  vorhergehenden  Figuren   mit   den  An- 
forderungen, welche  IMythus  und  Kunst  an  den  Verfertiger 
stellten.     In  jugendlichem  Alter  (rjßdovtss  II.  24,  604)  sind 
die  Kinder  geopfert;  diese  Grenze  musste  der  Künstler  ein- 
halten und  zwar  nicht  bloss  aus  dem  Grunde,  um  dem  My- 
thus treu   zu   bleiben.     Kleiner  aber  die  Kinder  darzustel- 
len, als  der  jüngste  Knabe  und  das  jüngste  Mädchen  sind, 
daran  kann   schon  desswegen  nicht  gedacht  werden,   weil 
die  Darstellung  kleiner  Kinder    zur  Zeit    des    Scopas    und 
Praxiteles  noch  unbekannt  ist.     Oder  aber  man  lasse  jenen 
Einwand    gelten,    so    fallen   meine    mathematischen   Argu- 
mente, es  fällt  aber  auch  die  Möglichkeit  eines  Reconstruc- 
tions Versuches ,  ja  die  Möglichkeit,  irgend  eine  Behauptung 
über  ihre    einstmalige  Aufstellung   aufzustellen.     Der    Ge- 
danke, die   Gruppe   wie   ein   steinern  Motto  in  den  Giebel 
eines  Apollotempels  zu  setzen,  ist  schön  und  poetisch,  aber 
mit  den  vorhandenen  Figuren  scheint  er  mir  unausführbar. 
Ich  denke  mir  sie  waren  aufgestellt  in   einer  graden  Linie 
und  ich  halte  mich  so  lange  an  die  Worte  des  Plinius ,  dass 
sie  in  templo  gestanden  haben,   bis  die  Unmöglichkeit  die- 
ser Aufstellung  erwiesen  ist,  was  bis  jetzt  nicht  geschehn"). 
Trotz  aller  Bemühungen  bin  ich   nur   zu  diesem  negativen 
Resultat  gekommen  ^®),  allein  wie    ein  Torso    ohne  Ergän- 
zungen besser  ist,  als   einer  mit  solchen   Ergänzungen,  die 
sich  nicht  harmonisch  einfügen,  so  ist  auch  der  Rest  einer 
Gruppe  besser,  als  eine  ganze  Gruppe,  an  der  schliesslich 
doch    Niemand    eine    ungetrübte    Freude    empfinden    kann. 
Denn,  wie  oben  bemerkt,  darin  liegt  die  grösste  Schwierig- 
keit ,  ein  Ganzes  zusammenzustellen ,  das  eines  Scopas  oder 
Praxiteles  würdig  ist. 


17)  Kann  die  Gruppe  nicht  in  der  Öeitenhalle  einer  Tempeicella 
gestanden  haben? 

18)  Die  Hauptsehwierigkeit  bei  jeder  Aufstelhing  liegt  in  der  Gleich- 
förmigkeit der  drei  Söhne,  von  denen  doch  Keiner  abgesondert  werden 
kann.  Möglich  wäre  es  indessen,  dass  zwischen  2  und  3  ursprünglich 
eine  Schwester  gestanden  hat.  Es  leuchtet  ein ,  wie  misslich  es  ist, 
eine  Gruppirung  zu  versuchen.  Denn  für  die  Annahme,  es  seien  fast 
alle  Figuren  auf  uns  gekommen,  dafür  sehe  ich  keinen  Grund. 


—     89    — 

m. 

Bevor  ich  übergehe  zu  den  Zweifehi  des  Alterthunis 
über  den  Künstler  der  Niobidengruppe ,  versuche  ich  den 
Character  derselben  näher  zu  bestimmen. 

Goethe  bemerkt  bei  Gelegenheit  der  Laocoongruppe  ') 
«die  bildende  Kunst,  die  immer  für  den  Moment  arbeitet, 
wird,  sobald  sie  einen  pathetischen  Gegenstand  wählt,  den- 
jenigen ergreifen,  der  Schrecken  erweckt,  da  hingegen  Poe- 
sie sich  an  solche  hält,  die  Furcht  und  Mitleid  erregen. 
Bei  der  Gruppe  des  Laocoon  erregt  das  Leiden  des  Vaters 
Schrecken,  und  zwar  im  höchsten  Grade ,  an  ihm  hat  die 
Bildhauerkunst  ihr  Höchstes  gethan;  allein  theils  um  den 
Zirkel  aller  menschlichen  Empfindungen  zu  durchlaufen, 
theils  um  den  heftigen  Eindruck  des  Schreckens  zu  mil- 
dern, erregte  sie  Mitleid  für  den  Zustand  des  Jüngern  Soh- 
nes und  Furcht  für  den  altern,  indem  sie  für  diesen  auch 
noch  Hoffnung  übrig  lässt».  Diese  Worte  lassen  sich  auch 
auf  die  Niobe  anwenden,  denn  auch  hier  wird  der  erste 
Eindruck  der  des  Schreckens  sein,  er  wird  aber  durch  län- 
gere Betrachtung  in  ein  anderes  Gefühl  sich  verwandeln, 
ja  er  muss  es,  weil  der  Schrecken  seiner  Natur  nach  ein 
momentanes  Gefühl  ist.  Man  schaue  immer  wieder  und 
wieder  und  die  Gruppe  wird  zu  einer  stummen  Tragödie. 
Nicht  bloss  desswegen,  weil  auch  hier  Furcht  und  Mitleid 
uns  in  gleicher  Weise  bewegen,  weil  wir  fürchten  für  die 
Tochter,  die  dahin  flieht,  wie  das  Reli  vor  dem  Pfeil  des 
Jägers;  weil  das  Herz  uns  blutet  beim  Anblick  des  Mäd- 
chens, das  «still  wie  eine  geknickte  Blume  zu  den  Füssen 
des  Bruders  niedersinkt»^),  sondern  besonders  desswegen, 
weil  mit  dem  Versenken  in  die  Gruppe  die  xd&aQOis  na- 
d^rjfiatciiv  ins  Gemüth  einzieht,  die  wir  empfinden  beim  Stu- 
dium einer  griechischen  Tragödie.  Wer  freilich  Nichts 
sieht,  als  den  jammervollen  Untergang  eines  blühenden 
Geschlechts,  Nichts  als  «Entsetzen,  Todesfurcht,  ja  den 
jähen   Tod    selbst»,    der    wird    auch    in    einer   griechischen 

1)  Propyl.  I,  1  p.   16. 

2)  Feuerbach  Nachl.  III,  p.  138  oder  bei  Stahr  p.  380. 


—     90    — 

Tragödie  nichts  Anderes  zu  erkennen  vermögen,  als  den 
entsetzlichen  Untergang  einer  Heldengrösse.  Wold  glauht 
man  beim  Anschann  der  Gruppe  ein  jammernd  toi  ytvaal 
ßQOtcJV  ertönen  zu  hören,  aber  schlimm  stände  es  um  ei- 
nen Scopas  oder  Praxiteles ,  Avenn  nur  dieser  Eindruck  aus 
ihrem  Werk  gewonnen  werden  könnte.  Man  darf  eine 
solche  Ansicht  geradezu  ungriechisch  nennen,  denn  kein 
einziges  wahrhaft  grosses  Product  des  griechischen  Geistes 
wirkt  niederschlagend  oder  trübend  auf's  Gemüth,  sondern 
erhebend  und  klärend.  Bekannt  ist  das  schöne  Wort  W. 
V.  Humboldt's:  «Jede  Ode  Pindars,  jeder  grössere  Clior 
der  Tragiker,  jede  Ode  des  Horaz  durchläuft  nur  in  un- 
endlich abwechselnder  Mannigfaltigkeit  denselben  Kreis. 
Immer  ist  es  die  Erhabenheit  der  Götter,  die  Macht  des 
Schicksals,  die  Abhängigkeit  des  Menschen,  aber  auch  die 
Grösse  der  Gesinnung  und  die  Höhe  des  Muths,  durch 
welche  er  sich  gegen  das  Schicksal  zu  behaupten  oder  gar 
über  dasselbe  zu  erheben  vermag.  Daher  die  beruhigende 
Wirkung,  die  jedes  rein  gestimmte  Gemüth  bei  der  Lesung 
der  Alten  erfährt,  dass  sie  auch  den  leidenschaftlichsten 
Zustand  heftiger  Aufwallung  oder  erliegender  Verzweiflung 
allemal  zur  Ruhe  herab  und  zum  Muthe  hinaufstimmen. » 
Und ,  füge  ich  hinzu ,  auch  Plato  wirkt  in  dieser  wahrhaft 
beruhigenden  und  versöhnenden  Weise,  indem  er  uns  bald 
aus  dem  umstrickenden  Netz  des  Einzelnen  herausführt  in 
das  bleibende  Allgemeine,  bald  aus  der  trüben  Sphäre  der 
Erscheinung  hinaufliebt  in  das  Lichtreieh  der  Ideen ;  auch 
Demosthenes,  indem  er  das  unwandelbare  Sittengesetz  hin- 
einstellt in  das  Treiben  der  Zeit;  ja  in  dem  Strudel  der 
Komödie  steht  der  ei'habene  Schwung  der  Parabasc  ^)  und 
selbst  in  der  niedern  Sphäre  des  Satyrspiels  bleibt  «die 
Würde  der  Tragödie  unversehrt».  Sollte  nun  Avohl  ein 
Meisterwerk  der  Kunst,  welche  wir  die  speciflsch  griechi- 
sche Kunst  zu  nennen  gewohnt  sind.,  in  Widerspruch  stehn 
mit  diesem  allgemeinen  Gesetz  aller  übrigen  Geistesäusse- 
rungen  der  Griechen?     Sollte  hier  kein  Element  vorhanden 


3)  Vgl.  die  schöne  Bemerkung  W.  v.  Humboldt's :  Einleitung  in  die 
Kawispr.  p.  231. 


—     91     — 

sein,  das  uns  emporhebt  aus  der  Sphäre  der  Bangigkeit 
und  des  »Schmerzes "?  Suchen  wir  es  aus  der  Gruppe  selbst 
zu  gewinnen.  Zunächst  ist  nicht  genug  zu  betonen,  dass 
wir  die  Voraussetzungen  mitbringen  müssen,  die  dem  Grie- 
chen gegenwärtig  waren  bei  der  ßeschauung  der  Gruppe  '*). 
Eine  Frevlerin  gegen  die  Gottheit  war  die  Niobe  dem 
Griechen;  sah  er  ihr  Schicksal  im  Stein  vor  Augen,  so 
musste  freilich  ihr  gränzenloses  Unglück  sein  Herz  rühren, 
aber  er  musste  auf  der  andern  Seite  das  gerechte  Walten 
einer  beleidigten  Gottheit  erkennen  und  schon  dieser  Ge- 
danke, hebt  das  Gemüth  in  demselben  Maasse,  als  das  Un- 
glück es  niederschlägt.  Ferner:  Niobe  bleibt  gross  im 
Schrecklithsten ,  bleibt  Königin  im  Mutterschmerz ''),  wir 
bemitleiden  sie,  aber  wii"  bewundern  sie  auch.  Verfolgt 
man  von  der  linken  Seite  ausgehend  die  Bewegungen  der 
einzelnen  Figuren,  so  ist  es,  als  brause  ein  Sturm  heran 
gegen  die  Mutter.  Zwar  ihr  Gewand  muss  ihm  folgen  aber 
er  bricht  sich  an  ihrem  Haupt;  dieses  wendet  sich  ihm 
entgegen.  Ist  aber  diese  Wendung  des  Kopfes  nach  der 
rechten  Seite,  allen  an  sie  heranstrebenden  Linien  entge- 
gen, nicht  der  plastische  Ausdruck  ihres  Widerstandes,  ihrer 
Fähigkeit,  sich  gross  und  königlich  zu  behaupten  in  dem 
Untergange  ihres  Geschlechts?  Zugleich  wird  das  Auge 
durch  die  Unterbrechung  der  Linien  zum  Innehalten  ge- 
zwungen, es  bleibt  haften  an  der  Mutter  und  schaut  in  ihr 
die  Grösse  selbst  bei  wankendem  Knie.  Das  dritte  Ele- 
ment der  kathartischen  Wirkung  ist  die  Schönheit.  «An- 
muth  heiligt  den  Schmerz»®).  Die  Schönheit  vermählt  sich 
dem  Schmerz  und  dem  Tode,  sie  ist  das  Ewige,  Bleibende, 
wie  das  Göttliche  in  der  Tragödie.  Es  giebt .  am  Himmel 
kein  schöneres  Schauspiel,  als  eine  dunkle  Wolke,  die  ein 
Kranz  von  Licht  umsäumt;  in  der  Kunst  nichts  Schöneres, 
als  die  thränenschwangere  Miene  der  Niobe ,  um  welche  der 


4)  Weil  diese  uothwendige  Forderung'  iibersehn  wurde ,  konnte  in 
den  Propyl.  I,  2,  65  der  farnesische  Stier  als  eine  ,, brutale  und  g:rau- 
same  Scene"  getadelt  werden. 

5)  Vgl.  Trendelenburg  a.  a.  O.  p.  2t).  Welcker  p.  292. 

6)  Schelling  a.  a.  O.  p.  40. 


—     02     — 

Glanz  der  Scliönheit  sich  ergiesst.  AVolil  zuckt  der  Scliracrz 
in  der  Wimj)cr  des  Auges ;  wohl  öflfnen  sich  die  Lippen  zu 
banger  Klage,  aber  ungetrübt  bleibt  der  Friede  der  Schön- 
heit in  der  Noth  des  Irdischen.  Unsre  Augen  mögen  thrä- 
nen;  das  Gemüth  hebt  sich  in  den  Aether  der  Schönheit- 
Schön  der  Gyps ,  der  bleiche  Doppelgänger  des  Steins ,  ist 
so  schön;  wie  schön  ist  sie  erst  im  lebendigen  Marmor! 
Und  tadelnd  spricht  man  von  der  Schule,  die  dies  Werk 
geschaffen,  sie  habe  statt  göttlicher  Ruhe  und  Erhabenheit 
Leidenschaft  und  Pathos,  Schmerz  und  Wehmuth  darge- 
stellt! Was  giebt  es  Höheres,  als  ein  schmerzdurchbroch- 
nes  Antlitz  im  Gottesfrieden  der  Schönheit?  Dass  Phidias 
solch'  einen  Kopf,  wie  den  der  Niobe  nicht  dargestellt  hat 
und  nicht  darstellen  konnte,  bedarf  keines  Beweises  und 
sehr  zu  bezweifeln  ist,  ob  unsre  Bewunderung  sich  steigern 
würde,  wenn  zu  jenen  göttlichen  Leibern  vom  Parthenon 
ihre  Köpfe  gefunden  Avürden.  Nichts  ist  richtiger  als 
Welcker's ')  Wort  «die  Werke  des  Phidias  haben  allein  der 
Niobe  nicht  geschadet».  Ist  doch  Nichts  natürlicher,  als 
dass  die  Jüngern  Attiker  ihre  eigenthümlichen  Vorzüge  so 
gut  haben,  wie  Phidias  die  seiuigen. 

Um  die  Niobe,  die  «Mater  dolorosa  der  alten  Kunst»®) 
schaart  sich  der  geängstigte  Chor  der  Kinder.  Aber  am 
Ende  herrscht  die  versöhnende  Ruhe  des  Todes.  Hier  liegt 
der  sterbende  Knabe,  friedlich  gebettet,  unberührt  von 
Krampf  und  Starrheit.  In  ihm  verstummt  die  Klage,  der 
Tod  ist  der  Paean ,  wie  Aeschylus  '*)  sagt. 


IV. 

In  Betreff  der  Frage,  ob  die  Niobidengruppe  dem  Sco- 


7)  p.  209.  Vgl.  stahl-  p.  .375.  Welcker's  Worte  p.  292  finden  sich 
Avieder  bei  Stahr  p.  377.  378,  inid  auch  sonst  fehlt  es  nicht  an  namen- 
losen Entlehnungen. 

8)  Feuerbach  Nachl.  III,  j).   137  =  «tahr  p.   374. 

9)  Fragm.  Philoct.  229  Diud. 


—    93     — 

pas  oder  Praxiteles  beizulegen  sei,  fällt  in  neuerer  Zeit 
die  Mehrzahl  der  Stimmen  dem  Ersteren  zu,  ja  man  nennt 
den  Scopas  als  Künstler  der  Niobiden  mit  einer  Entschie- 
denheit '),  die  sehr  bewundrungswürdig  ist  in  einer  Wissen- 
schaft, die  viel  Unsichres  aber  wenig  Sichres  hat.  Wie 
unsicher  es  ist,  wegen  der  härtern  Arbeit  die  Gruppe  dem 
Scopas  zuzusprechen,  wie  Winckelmann  und  nach  ihm 
Meyer  thaten,  darüber  bemerkt  Wagner  (p.  251)  «Es  ist 
eine  sehr  missliche,  höchst  trügerische  Sache,  bei  antiken 
KunstAverken  nach  der  etwas  grössern  oder  geringern  Härte 
des  Stils  so  genau  auf  die  Epoche,  in  welcher  der  Künst- 
ler gelebt,  schliessen  zu  wollen,  wie  z,  B.  Winckelmann 
bei  der  Gruppe  der  Niobe  gethan».  Schlegel  bemerkt  (p. 
132)  «11  paroit  que  Praxiteie  se  plaisait  dans  rimitation  de 
la  jeunesse  et  de  la  beaute  calme;  on  cite  au  contraire 
plusieurs  ouvrages  de  Scopas  d'une  expression  vive  et  pas- 
siontje».  Dieser  Grund,  obgleich  von  Welcker  f(p,  219) 
sehr  triftig  widerlegt,  ist  mehrfach  wiederholt '^).  Nehmen 
wir  zunächst  an,  dass  Praxiteles  sich  nur  in  ruhigen  Dar- 
stellungen bewegt  hat.  Da  wundert  mich  nur,  wie  man  die 
Kunstkenntnis s  der  Alten  so  gering  anschlägt.  Wie  konnte 
das  Alterthum  zweifelhaft  sein?  Ist  es  denn  so  schwer  un- 
ter dieser  Bedingung  zu  entscheiden?  Der  oberflächlichste 
Kenner  hätte  ja  sofort  sagen  müssen,  solche  Gegenstände 
habe  nur  Scopas  bearbeitet.  Die  Alten  sahen  das  Schöne 
auf  Weg  und  Steg;  wir  studiren  die  Kunst  in  Museen,  wie 
man  Pflanzen  studirt  in  Herbarien  und  so  geringschätzig 
behandeln  Avir  die  Alten ^)?  Will  man  so  verfahren,  Avie 
im  Extrem  Brunn  verfährt,  der  die  körperliche  Schönheit 
als  das  Wesen  der  praxitelischen  Kunst  hinstellt,  so  sei 
man  consequent   und  lege    die   Kunstnachrichten   aus   dem 


1)  Overbeck  kunstarcli.  Vorles.  yi.  141. 

2)  Brunn  p.  357  f.  So  meint  auch  Waagen  Kunstw.  in  Engl,  und 
Paris  III  p.  111  f.  Mit  Recht  bestreitet  AVelcker  (A.  Denkm.  I  p.  445) 
die  Unterschiede,  die  hier  zwischen  Scopas  und  Praxiteles  gemacht  wer- 
den. Auch  die  Charakteristik ,  die  Waagen  von  Praxiteles  giebt,  wider- 
spricht den  Nachrichten   des  Alterthums. 

3)  Ein  feines  Kunsturtheil  aus  dem  Alterthum  führt  Hermann  an, 
Stud.  d.  griech.   Künstl.  p.   18  N.  102. 


—     94     — 

Altcrtlium  ganz  bei  Seite,  denn  wer  einem  Künstler  der 
körperlichen  Schönheit  eine  Gruppe  wie  die  Niobe  zutrauen 
kann,  ist  ein  Stümper,  auf  dessen  Urtheil  Nichts  zu  geben 
ist.  Zweitens  aber  ist  die  Annahme,  dass  Praxiteles  nur 
ruhige  Darstellungen  geschaffen,  unrichtig.  Von  den  Sile- 
nen  des  Praxiteles  sagt  der  Epigrauimatist  *j : 

Ti%vac  el'vsxu  Gsto  ymI  a  Xi'&og  oide  ßQva^SLV., 

nQCi^lxeXeg  •  kvßov  aal  naXi  ncofjLUöo^iai. 
Seine  IMänaden,  von  denen  wir  freilich  Nichts  wissen, 
als  ihre  einstmalige  Existenz,  mögen  nicht  die  Kühnheit 
des  gleichnamigen  Werks  von  Scopas  gehabt  haben,  sie 
werden  aber  gewiss  in  Aufregung  und  Bewegung  dargestellt 
sein,  denn  das  folgt  aus  ihrem  Namen  und  Begriff,  ausser- 
dem aus  dem  Gegensatz  zu  den  Thyaden,  mit  denen  sie 
gruppirt  waren.  Seine  Katagusa  —  auch  ein  Mutterschmerz 
—  wird  ein  wenn  nicht  äusserlich,  doch  innerlich  tiefbe- 
wegtes Werk  gewesen  sein.  Wenn  Wagner  (p.  245.  24G) 
an  den  Niobiden  grössere  Einfachheit  und  Anspruchslosig- 
keit, weniger  Zierlichkeit  findet  als  an  den  AViederholun- 
gen  des  Periboetos,  so  wird  es  mir  nicht  einfallen,  ihm  zu 
widersprechen,  nur  möchte  ich  mir  die  Frage  erlauben,  ob 
sich  nicht  ein  Grund  denken  lässt,  grade  an  den  Niobiden 
sparsam  zu  sein  mit  Zierlichkeit  und  Feinheit.  Man  be- 
trachte die  sterbende  im  Nacken  getroffene  Tochter,  diese 
schöne  gleichsam  erbleichende  Rose.  Leise  rieselt  der  Tod 
die  Glieder  hinab,  und  das  Gewand  hält  inne,  als  nehme 
es  Theil  an  der  Lähmung  des  Körpers.  Man  gebe  dem 
Gewandwurf  mehr  Zierlichkeit  und  Feinheit  und  man  darf 
sich  überzeugt  halten,  dass  mit  jeder  neuen  Zuthat  der 
Eindruck  schwächer  wird.  Der  Ausdruck  dieser  Figur 
fordert  die  Einfachheit;  grade  dadurch  ist  die  Statue  so 
vollendet,  klar  und  schön.  So  ist  es  auch  bei  dem  Sturz 
im  Mus.  Chiaramonti.  Vergleicht  man  ihn  mit  der  ent- 
sprechenden Figur  der  Gruppe,  so  bemerkt  man  an  ihm 
Nichts,  was  allein  das  Auge  anginge,  während  letztere  wie 
überdeckt  ist  von  unzähligen  gebrochenen  Linien,  in  denen 
sich  das  Auge  wie  in  einem  Netz   verliert.     Wir  verlangen 


4)  Brunck  Auall.  II  p.  275.  u.  2. 


—     95     — 

nur  das  durch  den  Gedanken  Nothwendige  zu  sehn;  das 
soll  uns  fessehi  und  ergreifen,  störend  wäre  ein  Mehr  von 
Kunst  und  Feinheit.  Beim  Periboetos  aber  verhält  sich  die 
Sache  grade  umgekehrt.  Was  dort  schadet,  nützt  hier. 
Denn  es  kam  darauf  an,  ein  thierisches  Wesen  zu  adeln 
dm'ch  die  Kunst.  Je  mehr  Grazie  und  Feinheit,  um  so 
mehr  verliert  der  Satyr  seine  Satyrnatur  und  wird  zu  einem 
höheren  Wesen.  Mengs,  Visconti  und  Andere  '")  hielten  den 
Praxiteles  für  den  Künstler  der  Gruppe,  weil  der  Kopf  der 
Njobe  ähnlich  sei  dem  der  knidischen  Venus  im  Vatican, 
Hr.  Wredow  findet  Aehnlichkeit  zwischen  ihm  und  der  kni- 
dischen Venus  in  München.  Auf  die  Epigramme,  die  zu 
Gunsten  des  Praxiteles  entscheiden,  ist  wenig  zu  geben; 
kommt  es  darauf  an.  Gründe  zu  finden  für  ihn,  so  kann 
man  Folgendes  sagen:  Cicero  lobt  die  praxitelischen  Köpfe, 
Diodor  preist  seine  Meisterschaft  im  Ausdruck  der  Seele, 
Sclielling  ")  bemerkt  vom  Kopf  der  Niobe,  er  sei  ein  Aeusser- 
stes  für  die  Darstellung  der  Seele  in  der  Plastik,  ein  Ur- 
theil,  das  gewiss  Niemand  bestreiten  wird.  Ja  man  könnte 
jenen  für  Scopas  geltend  gemachten  Grund  mit  mehr  Recht 
gegen  ihn  anführen  und  fragen,  ob  der  Künstler  eines  so 
extrem  kühnen  Werks,  als  welches  uns  seine  Mänade  ge- 
schildert wird,  den  Köpfen  der  Statuen  soviel  Mässigung 
und  Milde  gegeben,  ob  er  nicht  vielmehr  den  Ausdruck  des 
Schreckens  und  der  Furcht  stärker  markirt  haben  würde? 
Von  diesen  Gründen  beruht  der  erstere  auf  positiven  Nach- 
richten, ich  bin  aber  weit  entfernt,  darauf  hin  zu  behaup- 
ten, Praxiteles  habe  die  Gruppe  gemacht,  denn  ein  solches 
Urtheil  schliesst  eine  Geringschätzung  des  Kunstverständ- 
nisses der  Alten  in  sich,  zu  der  uns  Nichts  berechtigt.  Man 
muss  daher,  wie  auch  Welcker  meint,  die  Frage  unent- 
schieden lassen.  Richtig  aber  hat  man  aus  dem  Zweifel 
des  Alterthums  auf  die  Verwandtschaft  der  beiden  Künstler 
geschlossen,  die  denn  freilich  in  etAvas  Tiefern  zu  suchen 
ist,  als  worin  Brunn  sie  findet.  Es  muss  in  der  Niobe- 
gruppe  ein  Element  vorhanden  sein,  das  auf  die  Kunst  des 


5)  Vgl.  die  Anführungen  bei  Welcker  p.  218. 

6)  p.  53.  vgl.  p.  41   f. 


_     96     — 

Scopas,  ein  andres,  das  auf  die  des  Praxiteles  Anwen- 
dung leidet.  Was  ich  oben  als  Eigenthümlichkeit  eines 
Joden  angefidn't  habe,  findet  sich  vereinigt  in  der  Gruppe, 
ich  halte  das  für  eine  Bestätigung  jener  Unterscheidung. 
Wir  sehn  die  pathologische  Kraft  des  Scopas ,  die  psycho- 
logische Tiefe  des  Praxiteles,  den  Sturm  der  Verzweiflung, 
aber  auch  die  schmerzlichste  Offenbarung  der  Seele;  rau- 
schende Bewegung,  wilde  Flucht,  aber  darüber  schwebt  der 
Friede  der  Anmuth.  In  diesen  Gegensätzen  wird  sich  die 
Kunst  des  Scopas  und  Praxiteles  bewegt  haben,  so  dass  bei 
dem  Einen  das  eine,  bei  dem  andern  das  andre  Element  in 
den  Vordergrund  getreten  ist.  Ist  das  Gesagte  richtig,  so 
dürfte  für  Jeden  die  Entscheidung  für  Scopas  oder  Praxi- 
teles schwer  fallen;  ich  wenigstens  vermöchte  sie  nicht  zu 
2'eben  und  vielleicht  erklärt  sich  auf  diese  Weise  der  Zwei- 
fei  des  Alterthums,  für  den  ich  sonst  keinen  Grund  angeben 
kann. 


DIE  ARTEMIS 

aus  dem  PaUist  Coloiina   im  Museum    zu   Berliu. 


Artemis   Colonna. 

diSia  ^r'i  aoi  idövTi  uG&^vriq  xiq  STtai- 
vsccii  äo^a ,  naQa  toaovrov  (Xfisivcov 
cpaviitai.  Lucian. 

{^chon  Gerhard ')  dachte  in  seiner  Beschreibung  dieser 
Statue  an  Praxiteles ;  ich  hoffe  ^  mich  wird  die  folgende 
Ausführung  wenigstens  entschuldigen,  dass  ich  sie  einer 
Besprechung  dieses  Künstlers  anreihe.  Etwas  näher  auf  sie 
einzugehn  wird  gewiss  nicht  schaden,  da  ausser  einigen 
kurzen  Erwähnungen  von  Meyer  ^),  Müller  ^),  Feuerbach  •*) 
Nichts  zur  Beurtheilung  derselben  vorliegt,  ihr  Wertli  aber 
nicht  überschätzt  wird,  wenn  man  behauptet,  dass  sie  die 
vielgepriesene  Artemis  von  Versailles  an  Schönheit  weit 
übertrifft.  Eine  Abbildung  —  die  einzige,  welche  ich  kenne 
—  findet  sich  bei  Müller  °),  doch  ist  dieselbe  einestheils 
etwas  vierschrötig  ausgefallen,  anderntheils  nicht  von  der 
Seite  aufgenommen,  von  der  die  Statue  gesehn  sein  will, 
nämlich  von  der  rechten. 

Den  Kopf  loben  die  Ausleger  besonders,  Meyer  nennt 
ihn  den  schönsten  unter  allen  von  dieser  Göttin  erhaltenen 
und  in  der  That  ist  es  schwer,  seiner  Schönheit  mit  Wor- 
ten nahe  zu  kommen.     Er  ist   ein   Idealkopf  in   dem  oben 


1)  Berlin's  Antike  Bildw.  p.  45.  Von  dieser  Beschreibung  giebt 
Stahr  p.  368  f.  einen  armen  Auszug,  fast  ganz  mit  denselben  Worten. 
Ein  Irrthum  findet  sich  bei  Gerhard:  Der  Köcher  der  Statue  ist  nicht 
geöffnet,  sondern  geschlossen. 

2)  Zu  Winckelm.  Buch  5.  Kap.  2.  §.  9. 

3)  Handb.  §.  304,  3.  Text  z.  d.  Denkm.  p.   19. 

4)  Nachl.  III,  p.   129. 

5)  Denkm.  d.  a.  K.  II,  10,   1(57. 

7* 


~     100     — 

angedeuteten  Sinne.  Nicht  eine  Seite  der  Artemis ,  ihr  gan- 
zes tiefsinniges  Wesen  steht  vor  uns'').  Dieliter  geben  uns 
einzelne  Züge;  was  wir  aus  ihnen  samraehi  und  zusammen- 
setzen sehen  wir  hier  mit  einem  Blick.  Mit  der  Anmuth  der 
Jungfrau  vereinigt  sich  der  Ernst  der  hinraffenden  Göttin. 
Nicht  gleichgültig  ist  der  Ausdruck,  kalt  und  streng,  dass 
man  ausrufen  möchte: 

0  Gott!    Aus  diesen  Zügen  spricht  kein  Herz. 

Keine  Leidenschaft  bewegt  ihre  Mienen,  keine  Regung  des 
Gefühls,  aber  sie  sind  umflossen  von  göttlicher  Anmuth. 
Die  Lippen  der  Artemis  von  Versailles  hebt  der  Unmuth, 
wir  fühlen  uns  näher  gerückt,  Aveil  eine  Eigenschaft  unsres 
eignen  Wesens  uns  begegnet.  Das  Haupt  des  vaticanischen 
Apollo  ist  oben  heiter,  wie  der  glanzvolle  Olymp,  aber  un- 
ten am  Munde  sammeln  sich  die  Wolken  des  ünnraths,  wir 
fühlen  Leidenschaft  und  Erregung;  aber  vergebens  spähen 
wir  in  der  Artemis  Colonna  ein  Theilchen  unsers  Selbst 
wiederzufinden,  sie  stösst  uns  zurück  wie  ein  kalt  Gorgo- 
nenhaupt.  Und  doch  fesselt  uns  die  unsägliche  Anmuth, 
die  gleich  dem  Gold  an  hephästischen  Gebilden')  ihre  Züge 
umfliesst.  Schlank  ist  sie,  wie  die  Jägerin  auf  des  Tayge- 
tos' Höhen,  aber  ernst  wie  die  Richterin  derKallisto,  sanft 
ist  ihr  Pfeil,  aber  er  bringt  den  Tod.  Fast  schneidend 
empfindet  man  an  dieser  Statue  die  Wirkung  des  griechi- 
schen Profils,  sie  wird  erhöht  durch  die  Kälte  des  Aus- 
drucks. Unser  Auge  ist  gewöhnt  an  die  Linien  der  orga- 
nischen Natur,  diese  bewegt  sich  fast  überall  in  wellenför- 
migen Schwingungen,  welche  sinken  um  wieder  zu  stei- 
gen, enden,  um  wieder  zu  beginnen,  wir  sprechen  von 
Einförmigkeit  und  Starrheit,  wo  uns  grade  Linien  begegnen. 
Denn  die  grade  Linie  ist  die  des  lang  hinstreckenden  To- 
des, der  die  Wellen  des  Lebens  glättet  in  ein  langes  Einer-      ^ 


6)  Dies  drücken   die  altern  Idole  der   Artemis    durch    die  Attribute, 
Bogen  und  Fackel  aus.     Sie   ist  Lebens-  und  Todesgöttin. 

7)  cos  ^  oz£  TLg  j^QVOüV  TiSQix^vetcci  KQyvQcp  dvrjg 
i'SQig,  6v  'Hq)ai6xog  ösdasv  xaJ  Rälkag  'A&rjvr] 
xixvriv  ncevTOi'rjv ,  x^qlsvtu  Sb  sgycc  zsXstei , 

(og  ccQce  ro3  ^atix^vf  ;uaptv  v.?cpali]  te  -nal  wfioig. 

Odyss.  0,  232  f. 


—     101     — 

lei;  sie  erweckt  aber  auch  den  Gedanken  des  gleichmässig 
Verlaufenden,  des  EAvigen,  Ungestörten.  So  ist  es  hier. 
Dazu  kommt  der  Blick  der  Göttin.  Ihn  reizt  kein  Gegen- 
stand;  er  ist  ziellos  in  die  Ferne  gerichtet;  auch  dies  trägt 
bei,  uns  ein  Wesen  fühlen  zu  lassen,  das  still  himvandelt 
wie  die  Nothwendigkeit  des  Todes. 

Gerhard  nennt  die  Statue  sehr  richtig  «acht  griechisch 
gedacht»;  sie  ist  nicht  geboren  im  Rausch  eines  begeisterten 
Augenblicks,  gleich  dem  vaticanischen  Apollo,  der  schön 
ist  wie  der  Gedanke  eines  Dichters;  sein  Künstler  war  ent- 
zückt von  der  Schönheit  des  Gottes , .  der  Künstler  der  Ar- 
temis hat  gläubig  seine  Gottheit  empfunden.  Darin  liegt 
ein  grosser  Unterschied.  Ein  Anderes  ist  die  Darstellung 
eines  schönen  Phantasiegebildes,  ein  Anderes  wenn  der 
Künstler  durchdrungen  ist  von  der  Realität  seines  Gottes. 

Gehen  wir  ein  in  die  Einzelheiten  des  Kopfes ,  so  muss 
es  auffallen ,  wie  treffend  alle  Bemerkimgen  der  Alten  über 
«praxitelische  Köpfe»  auf  ihn  anwendbar  sind.  Er  ist  von 
schöner  runder  Form,  wie  die  der  Niobiden,  wie  ihn  auch 
Lucian  an  der  Knidischen  Venus  bewundert  haben  mag, 
von  der  er  den  Kopf  entlehnt  in  seinen  ((Bildern»*).  Das 
Haar  erhebt  sich  über  der  Stirn  mit  grösserer  Fülle,  als  an 
den  Töchtern  der  Niobe  und  beschreibt  einen  schönen  Bo- 
gen über  der  gradeu  Linie  des  Profils.  Ohne  Schärfe  ist 
der  Augenknochen,  das  Gewölbe  des  offenen,  w^eithin- 
schauenden  Auges.  Seine  zartgeschwungene  Linie  erinnert 
an  das  ocpQvcov  to  svyQa^^ov^  welches  Lucian^)  lobt  an 
der  Knidierin.     Als   das   Schönste  aber  preist  Gerhard  mit 


8)  Wie  die  Kleinheit  des  Kopfes  an  der  Mediceischen  Venus  ein 
Beweis  ist  gegen  ihre  Identität  mit  der  knidischen  —  erst  Lysipptis 
hat  die  Köpfe  kleiner  gemacht  —  so  spricht  der  ehenfalls  verhältniss- 
mässig  kleine  Kopf  der  Artemis  von  Versailles  schon  allein  dagegen ,  in 
dieser  Statue  ein  praxitelisches  Ideal  zu  finden ,  wie  Feuerbach  (Nachl. 
III  p.  130)  will.  Die  Köpfe  des  Theseus  vom  Parthenon,  vieler  Jüng- 
linge am  Fries,  auch  der  Venus  von  Milo  sind  mehr  länglich  als  rund. 
Der  Hinterkopf,  der  am  Theseus  ziemlich  tief  liegt  und  auffallend  tief 
an  dem  sogenannten  Weber'schen  Kopf,  scheint  später  höher  Linaufge- 
rückt  worden  zu  sein,  wie  man  ihn  z.  B.  am  Periboetos  sieht. 

9)  Imag.  c.  6.  Die  richtige  Erklärung  giebt  Meyer  zu  Winckelm. 
B.   5.  Kap.  5.  §.  24. 


—     102     — 

Recht  die  dünnen,  überaus  zarten  und  feinen  Lippen;  er 
erwähnt  dabei  das  Wort  des  Petroriius  (cap.  126):  oscukim 
quäle  Praxiteles  habere  Dianam  credidit.  Sie  sind  nicht 
schmeichelnd,  wie  die  Lippen  der  Pcitho'"),  sondern  von 
ernsterer  Anmuth,  wie  sie  der  ewig  jungfräulichen  Göttin 
gebühren. 

Die  Göttin  ist  dargestellt  in  massig  eilender,  nicht 
hastiger  Bewegung;  dadurch  treten  die  schönen  Umrisse  der 
Glieder  aus  dem  Gewände  hervor.  Ihr  ganzer  Körper  ist 
vornübergeneigt,  sie  erscheint  uns  wie  schwebend.  Das 
Gewand  kräuselt  sich  bald  in  zierlichen  Falten,  bald  be- 
wegt es  sich  in  langen  tiefgefurchten  Linien.  Das  Köcher- 
band, welches  die  Brust  durchschneidet,  veranlasst  die  an- 
muthigste  Verwirrung,  tausend  kleine  Falten  umspielen  die 
sti'engen,  doch  nicht  unreifen  Formen  des  Busens.  Der 
übergeschlagene  Chiton  reicht  bis  über  den  Leib  der  Göt- 
tin; hier  bewegen  sich  schöngeschwungene  Bogenlinien  in 
reizvollem  Contrast  mit  den  lang  sich  senkenden  Falten 
des  Gewandschoosses.  So  vereinigen  sich  Anmuth  und  Ernst 
auch  im  Gewände.  Für  die  Vortrefflichkeit  der  Arbeit  be- 
rufe ich  mich  auf  Meyer's  und  Hrn.  Wredow's  Urtheil. 

Es  könnte  scheinen,  unsere  Statue  sei  als  pfeilabsen- 
dende Göttin  gedacht.  Der  rechte  Arm.  ist  zurückgezogen 
wie  vom  Anspannen  der  Bogensehne,  der  linke  liegt  zwar 
nicht  in  der  Schusslage,  aber  man  könnte  sagen,  die  Göt- 
tin habe  so  eben  den  Schuss  gethan,  sie  lasse  die  bogen- 
bewehrte  erhobene  Linke  sinken  und  ihr  Auge  folge  dem 
Fluge  des  Geschosses.  So  scheint  Feuerbach  die  Figur 
aufzufassen  und  allerdings  wäre  ihre  Stellung  dem  nicht 
widersprechend.  Er  zieht  die  schöne  Statue  des  Vaticans  ") 
zur  Vergleichung  herbei,  die  er  mit  Visconti'^)  den  Niobi- 
den  oder  dem  Tityos  gegenüber  stehend  denkt.  Allein  hie- 
be! ist  nicht  zu  übersehen,  dass  der  Köcher  an  unserer 
Statue   geschlossen   ist.      Verbietet    aber    ein    geschlossener 


10)  Anacreont.   (15  Bergk.) 

XBilog,  ola  TJei&ovg 
nQOKalovfifvov  cpilruia. 

11)  Mus.  Pio-Clem.  I,  29. 

12)  Mus.  Pio-Clem,  I,  251. 


—     1U8     — 

Köcher  nicht  absohit  den  Gedanken  an  den  Gebrauch  des 
Pfeiles  y  wie  ihn  ein  geöffneter  wenigstens  bei  bewegten  Sta- 
tuen hervorruft?  '^)  Wollte  der  Künstler  in  seinem  Werk 
eine  pfeilsendende  Artemis  erkannt  wissen,  so  kam  er  der 
Phantasie  des  Schauenden  zu  Hülfe,  wenn  er  den  Köcher 
offen  Hess,  er  führte  sie  irre,  wenn  er  ihn  schloss  und  ar- 
beitete dadurch  sich  selbst  entgegen.  Auch  der  ziellose 
Blick  der  Statue  möchte  daran  hindern,  sie  einem  Feinde 
gegenüber  zu  denken;  von  Spannung  und  Interesse  verräth 
sich  überhaupt  Nichts  in  ihr.  Hat  sie  den  Bogen  gehalten, 
wie  der  Ergänzer  es  angenommen,  so  kann  er  ihr  nicht 
zum  Gebrauch  gegeben  sein.  Misslich  ist  es,  die  Attribute 
zu  bestimmen.  Müller  meint,  sie  habe  in  beiden  Händen 
Fackeln  getragen,  ebensogut  möglich  ist,  dass  sie  in  der 
Linken  den  Bogen,  in  der  Rechten  eine  Fackel  getragen, 
wie  die  Artemis  zu  Segesta  und  andere  Tempelbilder  **). 
Es  sind  noch  zwei  Eigenthümlichkeiten  zu  bemerken,  zu- 
erst, was  auch  Gerhard  anführt,  die  Perikarpien  an  den 
Armen,  dann  die  durchbohrten  Ohrläppchen.  Von  andern 
Gottheiten  ist  der  Schmuck  der  Ohrringe  auch  an  Statuen 
bekannt'"),  von  der  Artemis  kann  ich  ihn  nur  auf  Münzen 
nachweisen'").  Es  brachte  mich  dies  auf  die  Vermuthung, 
in  unserer  Statue  ein  Tempelbild  zu  sehen ,  für  welches  die- 
ser Schmuck,  wie  der  ganze  Ausdruck  der  Figur  vortreff- 
lich sich  eignen  würde.  Eine  Bestätigung  dafür  finde  ich 
in  der  bestimmten  Aeusserung  des  Hrn.  Wredow,  er  habe 
bei  seinem  Aufenthalt  in  Italien  in  Erfahrung  gebracht, 
dass  die  Statue  innerhalb  eines  Tempelraumes  gefunden  sei. 
Nach  dieser  Ausführung  erlaube  man  mir  die  beschei- 
dene Vermuthung,  dass  unsere  Artemis  zurückgehe  auf  die 


13)  So  Avird  man  sich  schwer  heim  vaticanischen  Apollo  von  dem 
Gedanken  losmachen  können,  dass  der  Gott  seinen  Pfeil  wirklich  gfe- 
brancht  hat.  Stände  er  den  Eumeniden  gegenüber,  er  würde  mit  ab- 
wehrend ei'hobener  Rechten  erscheinen ,  ähnlich  wie  ihn  ein  Vasenbild 
dieses  Gegenstandes  zeigt  (Overbeck  Gall.  her.  Bildw.  Taf.  29,  4). 

14)  Cic.  Verr.  IV,  c.  34.     Vgl.  Müller  Handb.  §  364.  4. 

15)  Vgl.  Winckelm.  Buch  6  Kap.  2  §  14. 

16)  Vgl.  die  Artemis  Soteira  auf  der  Münze  von  Syracus  Müller 
Deukm.   II,   15,   163  a.,  von  Stymphalos  I,  41,   180. 


—     104     — 

In-auronische  Artemis  des  Praxiteles,  welche  Pausanias '^) 
auf  der  Burg  von  Athen  sah.  Was  gegen  diese  Verniu- 
thung  spricht,  weiss  ich  nicht;  was  für  sie  spricht,  ist 
nicht  zwingend.  Aber  was  können  wir  in  Ermangelung  po- 
sitiver Entscheidungsgründe  Anderes  thun,  als  die  Statue 
selbst  fragen,  was  sie  ist?  Sind  Avir  nicht  in  den  meisten 
Fällen  darauf  angewiesen,  nach  dem  Geist,  der  uns  ent- 
gegenweht aus  einem  Werk,  auf  seine  Zeit  und  wo  mög- 
lich auf  seinen  Künstler  zu  schliessen?  Wahrhaft  antik 
ist  die  Statue  und  wahrhaft  tiefsinnig  zugleich,  weil  sie  die 
tiefsten  Gregensätze  in  sich  schliesst,  weil  sie  nicht  das 
schöne  Bild  einer  Jägerin,  sondern  das  Wesen  einer  Gott- 
heit darstellt.  In  die  jüngere  attische  Schule  aber  fällt  die 
Ausbildung  des  Artemisideals ;  geht  unsere  Statue  auf  einen 
griechischen  Meister  zurück ,  so  würden  gegen  andere  Künst- 
ler und  Zeiten  Gegengründe  in  Schaaren  beizubringen  sein. 
Und  -wie,  fragen  wir,  wird  ein  Praxiteles  die  finstere  Göt- 
tin von  Brauron'*)  gebildet  haben?  Müller*^)  setzt  in  seine 
Zeit  die  Umbildung  derGorgone;  er,  der  grosse  Zauber- 
künstler, der  das  Satyrgeschlecht  in  den  Schmelztiegel  der 
Kunst  warf,  wird  jene  finstere  Gottheit  in  eine  ernste,  aber 
schöne  Euraenide  verwandelt  haben.  Beben  mochten  die 
attischen  Mädchen  vor  dem  Ernst  der  keuschen  Jungfrau; 
aber  lieben  mussten  sie  die  Anmuth  der  kinderpflegenden 
Gottheit.  So  ist  die  Artemis  Colonna;  ihr  Anblick  erweckt 
ein  Gefühl  gemischt  aus  Grauen  und  Entzücken,  als  träten 
wir  ein  in  den  Eumenidenhain  des  Sophocles,  in  dem  die 
Nachtigallen  schlagen.  — 


17)  I,  23,  7. 

18)  Vgl.   Hermann   Antiq.    II ,  §  62 ,   1)  ff.      Lauer  Syst.    d.   griecli. 
Mythol.  p.  293  f. 

19)  Hall.  Litztg.   1835.  II,  p.   178. 


VASENBILDER. 

i .  Die  xViislö.sung  von  Hector's  Leiche. 

2.  Orestes  in  Delphi. 

3.  Die  erste  Scene  des  sophocleischen  Ocdipus  Rex. 

4.  Der  Tod  des  Archenioros. 


I.     Die  Auslösung  von  Hector'.s  Leiche. 

Apulische  Vase,  abgebildet  in  denMonum.  dell'  Instit. 
V,  tav.  J 1  und  in  Overbeck's  Gallerie  heroischer  Bildwerke 
Taf.  XX  n.  4,  besprochen  von:  Minervini  Bullet.  Napol. 
IV  p.  106  f.  Gerhard  Archäol.  Zeitg.  1844  p.  231  f. 
Schmidt  Ann.  delF  Inst.  XXI  p.  240  f.   Overbeck  p.  472  f.  — 

Mit  Recht  lobt  Overbeck  die  Zeichnung  dieses  Bildes, 
nicht  geringeres  Lob,  glaube  ich,  verdient  die  Erfindung. 
Die  obere  Reihe  besteht  aus  fünf  Figuren ,  deren  Mittelpunkt 
Achill  ist.  Er  sitzt  trauernd  auf  seinem  Ruhebett ;  rechts 
von  ihm  steht  Athene,  links  Hermes.  Die  Anwesenheit  der 
Ersteren,  welche  zu  ähnlichem  Zwecke,  wie  hier,  auf  dem 
von  Thiersch  *)  herausgegebenen  Silbergefäss  neben  Neopto- 
lemos  erscheint,  wird  nicht  dadurch  motiviii;,  dass  man  sie 
als  Schutzgöttin  der  Achäer  anwesend  denkt.  Erwägt  man, 
dass  grade  Athene  es  Avar,  welche  dem  Achill  Beistand  lei- 
stete im  Kampf  gegen  den  verhassten  Troer  ^) ,  so  hat  ihre 
Erscheinung  hier  über  der  Leiche  des  Letzteren  einen  tie- 
fern Sinn.  Sie  hat  dem  Lebenden  gezüriit ;  mit  dem  Todten 
ist  sie  versöhnt,  sie  bittet  selbst  für  seine  Leiche.  Es  ist 
eine  Anerkennung  der  Heldenhaftigkeit  des  Hector  in  der- 
selben Weise,  wie  sie  bei  Sophocles^)  die  des  in  Wahn- 
sinn gefallenen  Ajax  anerkennt,  und  wie  sie  dort  den  Sie- 
ger Odysseus,  nachdem  sie  ihm  zur  Prüfung  die  Erniedri- 
gung des  Gegners  gezeigt  hat,  zum  Maasshalten  und  zur 
frommen  Scheu  gegen  die  Götter  ermahnt  (v.  127),  so  steht 


1)  Königl.  B.  Akad.  d,  Wiss.  1848  p.  107  f. 

2)  II.  22,    214  f.     So   erscheint   Athene    oft    dem   Achill   im    Kampf 
gegen  Hector  zur  Seite  stehend,  z.  B.  Overbeck  Taf.  XIX  no.  .3.  4. 

3)  Ajax   118. 


—     108    — 

sie  liier  über  der  entstellten  Leiche  des  Feindes  mit  der 
Mahnung-  an  den  Sieger  Achill,  Maass  zu  halten  in  der 
Rache.  Sie  selbst  ist  es,  die  den  Ajax  mit  Blindheit  ge- 
schlagen und  doch  seine  Heldennatur  anerkennt;  so  er- 
scheint hier  dieselbe  Gottheit,  die  den  Hector  durch  den 
Achill  vernichtet  hatte ,  zum  Schutz  seiner  Leiche  *).  Her- 
mes, der  den  Priamos  in  das  Zelt  des  Achilleus  geführt 
hatte,  vereinigt  seine  Bemühungen  mit  denen  der  Athene. 
Dass  er  mit  der  Rechten  seinen  Stab  ausstreckt,  scheint 
mir  nur  Bezeichnung  seiner  Rede  zu  sein.  Nimmt  man 
mit  Schmidt  an,  dass  er  gleichsam  einen  Zauber  auf  Achil- 
leus ausüben  wolle  durch  seinen  Stab ,  so  wird  das ,  was  freier 
Edelmuth  war,  als  durch  bewussflose  Nöthigung  geschehen 
erklärt.  Es  würde  eine  solche  Annahme  dem  Character 
Achilleus',  wie  ihnWelcker^)  so  schön  schildert,  bedeuten- 
den Eintrag  thun.  An  dem  linken  Ende  der  oberen  Reihe 
erscheint  Nestor,  ihm  gegenüber  an  der  rechten  Seite  sein 
Sohn  Antilochos,  wie  die  Erklärer  richtig  statt  des  ver- 
schriebenen Amphilochos  lesen.  Es  mag  sein,  dass  Erste- 
rer  hier  als  der  «süsse  Redner»  erscheint,  wenngleich  seine 
Rede  nicht  immer  das  Herz  des  Peliden  zu  rühren  verstand, 
und  Letzterer  als  Freund  des  Achilleus,  aber  es  liegt  noch 
eine  andere  Beziehung  ihrer  Erscheinung  zu  Grunde,  die 
ich  aus  ihrer  offenbaren  Gegenüberstellung  folgere,  nämlich 
der  Vergleich  mit  Priamos  und  Hector.  Niemand  stand  im 
ganzen  Heer  der  Achäer  dem  Priamos  näher  als  Nestor. 
Ihm  gleich  als  Greis  und  als  Vater  sollte  er  auch  einen 
Sohn  beweinen,  wie  jener;  einen  Sohn,  der  im  Kampf  für 
ihn  gefallen  ^) ,  wie  Hector  im  Kampf  für  das  Reich  seines 
Vaters.  Nestor  ist  unter  allen  Achäern  der,  welcher  am 
meisten  den  Schmerz  des  Priamos  zu  würdigen  und  zu  füh- 
len vermochte.  Es  wiederholt  sich  in  ihm  und  Antilochos 
das  Geschick  des  Priamos  und  Hector,  daher  ihre  Gegen- 
überstellung '').  —  Die    untere  Figurenreihe   stellt   für    den 

4)  Aehnlicli  ist  es,  wenn  II.  24,  612  die  Kinder  der  Niobe  von  den 
Göttern  bestattet  werden,  von  denen  sie  vernichtet  sind. 

5)  Trilog.  p.  429. 

6)  Find.  Pyth.  6,  30  f. 

7)  Man  möchte  hier  Phoenix  erwarten,  wie  er    auf  andern  Darstel- 


—     J09     — 

Verstand  einen  der  Zeit  nach  auf  die  obere  folgenden  Mo- 
juent  dar  —  denn  sehr  richtig  bemerkt  Gerhard,  dass  die 
Auslieferung  des  Leichnams  bereits  erfolgt  ist  —  aber  für 
die  poetische  Anschauung  existirt  dieser  Zeitunterschied 
nicht.  Scenen,  die  verschiedenen  Zeiten  angehören,  rückt 
die  Kunst  zusammen  mit  Hintansetzung  dieser  Verschieden- 
heit, und  sie  darf  es,  sofern  sie  diese  einzelnen  Scenen  zu 
der  Einheit  einess  Gedankens  zusammenzuschliessen  ver- 
steht. Auf  der  canosischen  Medeavase®)  sind  weit  entfern- 
ter liegende  Zeiten  verknüpft,  als  hier  und  doch  verbindet 
sich  Alles  zu  einer  Idee.  So  ist  es  auch  hier.  Wir  sehen 
oben  die  Bitte,  unten  die  Erfüllung;  das  sind  Begriffe,  die 
sich  so  nothwendig  verbinden  und  zusanmienschliessen,  dass 
der  Gedanke  des  Nacheinander  gar  nicht  aufkommt.  Was 
der  Dichter  in  zeitlicher  Folge  erzählt,  stellt  der  Künstler 
als  nebeneinander  stehende  Scenen  dar,  an  die  man  nicht 
den  Begriff  der  Zeit  hinantragen  darf.  Eine  ideale  Einheit 
verbindet  sie.  Die  Leiche  Hector's  wird  von  zwei  Dienern 
herangetragen,  um  mit  Golde  aufgewogen  zu  werden.  Bei 
dem  Anblick  des  todten  Sohnes  erwacht  der  Schmerz  des 
Vaters  von  Neuem,  denn  grade  dieser  Moment  ist  darge- 
stellt, wo  Priamos  die  Leiche  erblickt.  So  werden  seine 
Geberden  motivirt.  Verzweiflungsvoll  greift  er  mit  der 
Rechten  nach  dem  Haupt,  um  sein  Haar  zu  raufen,  mit  der 
Linken  streckt  er  den  Zweig  über  die  Leiche,  als  wollte  er 
sie  bekränzen.  Dass  der  Vater  die  Leiche  des  Sohnes  er- 
blickt, ist  eine  Abweichung  vom  Epos,  von  der  ich  nicht 
weiss,  ob  sie  der  Tragödie,  Aeschylos'  Phrygern^J,  ange- 
hört oder  originelle  Erfindung  des  Künstlers  ist.  Li  der 
Ilias  ^"j  wird  Hector's  Leiche  den  Augen  des  Vaters  ent- 
rückt; wenn  man  bedenkt,  dass  Aeschylos  die  Leichenwage 
eingeführt,  —  ein  Umstand,  der  mit  Recht  die  Erklärer  auf 
seine  Tragödie  als  Quelle  unsers  Bildes   zurückgeleitet   hat 


langen  desselben  Gegenstandes  erscheint  (Overb.  Tat".  XX,  9,  12).  Eben 
sein  Fehlen  weist  darauf  hin ,  dass  unseren  Künstler  in  der  Wahl  sei- 
ner Personen  besondere  Intentionen  geleitet  haben. 

8)  Miliin  Tomb.  de  Canosa  pl.  7. 

9)  Welcker  Tril.  p,  424  f. 

10)  24,  583, 


—     110     —      - 

—  so  möchte  man  glauben,  dass  er  dem  Priamos  den  er- 
schiitternden  Anblick  der  Leiche  nicht  erspart  hat.  Die 
Erüudimg  der  Leichenwage,  die  durch  die  ilias  ")  veran- 
lasst sein  kann,  in  der  Achilleus  zum  sterbenden  Hector 
spricht : 

ag  OVK  k'öd'    6g  öfjg  ye  Kvvag  y.egjakrjg  ajcakakKOi, 
ovd'  si   Ksv  öena-Kig  te  kuI  crK06i-i')'jQt.t    anoivu 
öTjfawff'  ivd-ad^   ayovzeg.  vnoö'/^covraL   de  y.al  üklw 
ovo'   ei'  Ksv  a,avxov  yqvßa  eQvaaGQ-ui  avayoi 
/JUQÖavLÖijg  ÜQUifiog  etc.] 

ist  etwas  so  Gre waltiges,  dass  ich  um  keinen  Preis  die  An- 
spielung darin  finden  möchte,  die  Schmidt  vermuthet,  wel- 
cher nämlich  mit  Bezug  auf  die  Seelenwägung  (II.  22,  209  f.) 
eine  Andeutung  auf  das  baldige  Ende  des  Achilleus  darin 
sieht.  Die  Aufwägung  der  Leiche  spricht  Achill  als  das 
Aeusserste  aus,  was  dem  Vater  möglich  sei  und  während 
bei  der  Auslösung  des  Leichnams  nach  der  llias  immer  nur 
von  einer  unbestimmten  Vielheit  der  Greschenke  die  Rede 
ist  {anBQsCGL  anoiva  II.  24,  502)  hatte  Aeschylos  in  gross- 
artig  concreter  An.schaulichkeit  eben  dies  Aeusserste  darge- 
stellt. Dazu  kommt,  dass  man  die  Analogie  des  Bernay'- 
schen  Silbergefässes  '^j ,  wo  ebenfalls  die  Wage  erscheint, 
ohne  irgendwelche  Möglichkeit  der  Andeutung,  die  Schmidt 
vermuthet,  nicht  wird  übersehen  dürfen.  Was  die  Anwe- 
senheit der  Thetis  betrifft,  so  stimme  ich  in  ihrer  Motivi- 
rung  mit  Overbeck  überein.  Wo  es  galt,  weichere  Re- 
gungen in  Achill  zu  wecken,  durfte  die  Mutter  nicht  feh- 
len. Die  letzte  Figur  zur  Rechten  in  der  untern  Reihe, 
den  ich,  wie  die  Erklärer,  als  Myrmidonen  fasse,  bezeigt 
nach  Schmidt  ihre  Verwunderung  über  die  Auslieferung  des 
Leichnam's.  Overbeck  sagt  ohne  nähere  Bestinunung  «er 
habe  Blick  und  Schritt  wahrscheinlich  auf  Hectors  Leiche 
gerichtet».  Wie  seine  Bewegung  Verwunderung  ausdrücken 
kann ,  sehe  ich  nicht  ein ;  auch  wäre  eine  Person  von  die- 
sem Ausdruck  ganz   überflüssig,  ja    störend.     Mir    scheint, 


11)  22,  348  f- 

12)  Overbeck  Taf.  XX,  12. 


—   111    — 

er  kommt  heran,  um  Einsprache  zu  thun,  um  wo  möglich 
die  Auslieferung  der  Leiche  zu  verhindern.  Dem  entspricht 
die  Bewegung  seiner  Rechten.  Vielleicht  lässt  sich  aus  der 
Ilias '^)  seine  Erscheinung  motiviren: 

SKTOg  ^isv   dl]   Af|o,  yeQOv  g)iks,  (irj  rig  A-jiCdiov 
ivd-dö    irrekd'ipti'  ßovhjcpoQog .  o'i  xi  (loi  aht 
ßovXag  ßovksvovGt  naQtjjxevoi^  rj  •heilig  iöriv. 
räv  ei'  rig  6e  iSotxo  d-otjv  dia  vvKxa  ^iXciivav . 
avTiK    civ  i^etTtoi  AyafieiivovL  noL^ivt  kucov  ^ 
Y.cci  '/.SV  avdß kfjötg  IvOiog  vexQolo  ysvfixtti. 

Er  characterisirt  die  Stimmung  des  Heeres.  Zugleich  hebt 
sein  Auftreten  den  Character  des  Achill.  Die  roheren  Ge- 
müther der  Ivlyrmidonen .  die  er  repräsentirt,  kennen  nicht 
das  edlere  Gefühl  ihres  Führers;  sie  sehen  in  dem  gefalle- 
nen Troer  nur  den  verhassten  Mörder  des  Patroclos ;  sie 
treibt  das  einzige  Gefühl  der  Rache.  Von  den  beiden  Flü- 
gelknaben ist  nach  Schmidt  der  zur  Linken  im  Begriff, 
Hector's  Leiche  zu  bekränzen,  der  zur  Rechten  eine  An- 
spielung auf  die  Leichenfeier  des  Patroclos ,  denn  es  sei 
nicht  auffallend,  dass  der  mystische  Todtencult  späterer 
Zeiten  in  das  Heroenalter  übertragen  werde.  Diese  An- 
spielung auf  Patroclos  ist  einestheils-,  wie  Overbeck  bemerkt, 
nicht  deutlich,  anderntheils  zerstört  sie  die  Einheit  des  Bil- 
des. Denn  die  Anspielungen,  die  Schmidt  hier  findet,  auf 
Patroclos'  Leichenfeier  und  auf  Achilles"  Tod,  ziehen  die 
Gedanken  ab  vom  Mittelpunkt  des  Bildes  und  lassen  sie 
nach  allen  Seiten  auseinandergehen.  Um  Hector's  Leiche 
dreht  sich  Alles,  warum  will  man  jedem  der  beiden  Eroten 
eine  besondere  Beziehung  beilegen  und  sie  nicht  vielmehr 
beide  auf  Hector  beziehen  ?  Kranz  (als  Todtenkranz  ")  — 
Aristoph.  Eccl.  v.  538  —  z.  B.  auf  der  Archemorosvase), 
Tänie  und  Schale   sind  die   auf  Gräberdarstellungen  durch- 


13)  24,  650  f. 

14)  Nach  Voss  bei  Welcker  A.  Denkm.  I,  370  auf  die  durchrannte 
Laufbahn  des  Lebens  zu  bezielien.  Overbeck  p.  475  bemerkt,  er  habe 
«statt  der  gewöhnlichen  Grabattribute  einen  Kranz».  Vgl.  hingegen 
schon  Lessing  Wie  die  Alten  etc.  Bd.  V,  p.  284. 


—     112     — 

gängig  erscheinenden  Geräthe'^),  warum  sollen  diese  Eroten 
nicht  die  Bestattung  Hector's  andeuten?  Wenn  dieses  Amt 
Eroten  übertragen  ist,  so  braucht  man  nicht  gleich  an  my- 
stische Genien  zu  denken;  bei  Philostr.  Imag.  II,  30  zün- 
den Eroten  den  Scheiterhaufen  der  Euadne  an,  wobei  ge- 
wiss Niemand  an  Mysticismus  denken  wird.  Für  mich  liegt 
eine  gewisse  Zartheit  darin,  dass  grade  Eroten  den  entstell- 
ten Leichnam  schmücken  und  bestatten  sollen.  Keineswegs 
sind  diese  beiden  Knaben  etAvas  Ueberflüssiges  oder  Stö- 
rendes ,  sondern  eine  sehr  schöne  Zuthat  des  Künstlers ,  die 
in  engster  Beziehung  zu  Hector  steht.  Sie  erwecken  den 
Gedanken,  dass  der  misshandelten  und  geschändeten  Leiche 
des  edelsten  Troers  doch  zuletzt  die  gebührende  Ehre  des 
Begräbnisses  zu  Theil  geworden  ist,  und  in  dieser  Auffas- 
sung sind  sie  der  versöhnende  Abschluss  des  Ganzen.  — 

Wundervoll  ist  die  Mischung  und  Abstufung  der  Affecte 
in  unserm  Bilde.  Unten  der  verzweifelte  Schmerz  des  Pria- 
mos,  über  ihm  die  tiefe  Trauer  Achills;  links  das  sinnende 
Mitleid  Nestors,  rechts  die  stille  Ruhe  des  Antilochos! 
Wie  im  Drama ,  so  wird  in  der  Kunst  allem  Bewegten  sanfte 
Ruhe  beigemischt,  es  wird  der  stürmische  Wogenschlag  der 
Leiden  und  Leidenschaften  wie  mit  heiterer  Meeresstille 
umkränzt. 


n.     Orestes  iii  Delphi. 

Vasenbild,  abgebildet  in  Gerhards  Denkm.  und  For- 
schungen 1853.  Taf.  59,  erklärt  von  C.  v.  Paucker  p.  129  ff. 

Der  Erklärer  erkennt  in  diesem  Bilde  unter  Voraus- 
setzung eines  nicht  überlieferten  Mythus  die  Dioskuren  in 
Delphi.  Nur  sehr  zwingende  Gründe  können  nach  meiner 
Ansicht  solche  Annahmen  entschuldigen ;  diese  finde  ich  hier 
aber  so  wenig,  dass  vielmehr  Manches  gegen  die  Erklärung 
spricht.      Dass    die    pythische   Orakelstätte    dargestellt    ist. 


15)  z.  B.  im  Berl.  Mus,   1054.     Erstere  zur  Sclimückung  der  Grab- 
stelle wie  No,  951.  1027.  2029.     R.  Rochette  Monum.  lued.  PI.  30.  78. 


—     113     — 

scheint  gewiss  und  ist  durch  v.  Paucker  ausführlich  aus- 
einandergesetzt; seine  Gründe  für  die  Dioskuren  sind  fol- 
gende. Zunächst  die  Anwesenheit  des  Zeus,  denn  diesen 
erkennt  er  in  der  bärtigen,  Scepter  tragenden  Figur  an  der 
linken  Seite  des  Bildes.  Warum  sie  Zeus  sein  soll,  dafür 
ist  kein  Grund  angegeben;  ich  gebe  gern  zu,  dass  der 
ganze  Habitus  der  Figur  dem  Zeus  nicht  unangemessen 
ist,  aber  liegt  es  nicht  näher,  in  einer  delphischen  Orakel- 
scene  an  eine  andere  Person  zu  denken,  den  7iQoq)ritr]g? 
Die  Gottheit  spricht  an  der  Orakelstätte  durch  ihre  Diener 
und  diese  erwartet  man  im  Gespräch  mit  dpnen,  die  zum 
Orakel  kommen,  nicht  die  Gottheit  selbst,  am  allerwenig- 
sten den  Zeus.  Auch  der  glückverheissende  Vogel,  der  zur 
Rechten  der  beiden  Jünglinge  fliegt,  würde  seine  Bedeutung 
verlieren,  wenn  der  Gott,  der  ihn  sendet,  selbst  anwesend 
wäre.  Die  weiteren  Gründe  v.  Paucker's  sind  hergenom- 
men von  der  Verschiedenheit  der  beiden  herankommenden 
Jünglinge  in  Tracht,  Stellung,  Haltung  der  Lanzen  u.  s.  w., 
Avas  alles  bis  in's  Kleinste  symbolisch  bestimmt  sein  soll. 
Dass  der  Eine  der  Jünglinge  die  Lanze  in  der  Rechten, 
der  Andere  in  der  Linken  trägt,  Avird  mit  Verweisung  auf 
eine  Stelle  des  Suidas  als  den  Dioskui'en  eigenthümlich  er- 
klärt. Ich  glaube,  die  Vasenerklärung  verliert  alle  Sicher- 
heit, Avenn  man  die  einzelne  Erscheinung  eines  Bildes  für 
sich  betrachtet,  ohne  sich  nach  Analogien  umzusehen.  Man 
braucht  nicht  gar  viel  Vasen  zu  vergleichen,  um  zu  dem 
Resultat  zu  kommen,  dass  die  Verschiedenheit  im  Tragen 
der  Lanzen  aus  rein  künstlerischen  Absichten  entspringt. 
Und  der  Grund  hiefür  ist  leicht  einzusehen.  Er  liegt  darin, 
dass  jede  fortschreitende  Kunst  in  der  einzelnen  Figur  und 
in  der  Gruppe  Gegensätze  zu  entwickeln  strebt.  So  ist  es 
in  der  Architektur;  der  monolithe  Bau  ist  eine  gegensatz- 
lose Einheit;  sobald  sich  der  Gegensatz  tragender  und  ge- 
tragener Glieder  entAvickelt,  entsteht  Schönheit  und  Leben. 
Denn  der  Gegensatz  ruft  die  BcAvegung,  das  Entgegenstre- 
ben zweier  Principien  hervor.  Die  uralten  Terracotten  der 
Plastik ')  entsprechen  ganz  den  Monolithen  der  Architektur, 


1)  Beisp.  bei  Gerhard  Ant.  Bildw.  Taf.  1  tf. 


—     114     — 

sie  zeigen  noch  Nichts  von  Trennung  und  G-egensatz  in  den 
Gliedern.  Sobald  ein  künstlerisches  Streben  erwacht,  sucht 
man  den  Gegensatz.  Sollte  von  diesem  durchaus  nothwen- 
digen  Fortschritte  der  Kunst  Nichts  in  die  Malerei  überge- 
gangen, sollte  hier  symbolische  Bestimmung  sein,  was  dort 
Jedermann  als  künstlerisches  Princip  anerkennt?  Und  in 
Betreff  der  Gruppirung  haben  die  alten  Maler  ebensogut 
gewusst,  wie  die  Plastiker,  dass  durch  gleiche  Stellungen 
eine  Gruppe  auseinanderfällt,  durch  gegensätzliche  sich  zu- 
samrnenschliesst.  Dieselbe  schöne  Gruppirung,  die  wir  be- 
wundern an  der  Gruppe  von  St.  Ildefonso  zeigt  z.  B.  ein 
pompejanisches  Wandgemälde,  welches  Iphigenia  in  der 
Mitte  zwischen  Orest  und  Pylades  zeigt  ^).  Die  beiden 
Jünglinge  sind  bis  in's  Kleinste  gegensätzlich  gruppirt,  in 
der  Stellung  der  Füsse,  in  der  Biegung  des  Körpers,  in 
der  Haltung  der  Lanzen;  diese  Gegensätze  schliessen  sich 
mit  der  Iphigenia  zur  schönsten  Harmonie  zusammen.  In 
der  Entwickelung  der  Vasenmalerei  ist  der  ]\Iangel  oder  das 
Vorhandensein  gegensätzlicher  Anordnung  ein  durchgrei- 
fendes Kriterium  des  Stils.  Die  Figuren  der  archaischen 
Malerei  stehen  wie  commandirt,  sie  haben  keine  gegensätz- 
liche, sondern  absolut  gleiche  Stellung,  jede  Figur  gleicht 
in  ihrer  Bewegung  vollkommen  der  andern.  Dagegen  ver- 
gleiche man  die  schönen  Gruppen  auf  der  Archemorosvase. 
Kapaneus  und  Parthenopaios  bilden  zusammen  einen  Gegen- 
satz zu  Euneos  und  seinem  Begleiter  und  jede  dieser  Grup- 
pen enthält  in  sich  wieder  Gegensätze  in  der  Stellung  und 
Haltung  der  Lanzen.  Die  Beispiele  für  die  Verschiedenheit 
im  Tragen  der  Lanzen  sind  unzählig'').  Auf  den  archaischen 
Parisurtheilen  tragen  die  Göttinnen  Scepter  oder  Lanze  alle 
in  derselben  Hand ;  auf  denen  des  vorgerückteren  Stils  tritt 
eine  Abwechslung  ein*).  Nach  diesen  Analogien  wird  man 
auch  unser  Bild  beurtheilen  müssen.  Die  Stellung  ferner 
der  beiden  Jünglinge  soll  symbolisch  auf  Auf-  und  Nieder- 
gang deuten,  die  des  Erstem  sei  eine  auf-,  die  des  Letztern 


2)  Overbeck  Gall.  Taf.  XXX,  12.     Vgl.  Taf.  XXIV,  19. 

3)  Vgl.  Overb.II,  5.  XII, 9.  XIII,7.  XXVIII,7.  XXIX,  11.  XXX,  12  etc. 

4)  Vgl.  Overb.  IX,  3.  7  mit  X,  3.  4. 


—     115     — 

eine  absteigende.     Wie  man  die  Stellung  des  Jünglings  zur 
Rechten  des  Bildes  eine  absteigende  nennen  kann,  sehe  ich 
nicht  ein,   aber  gesetzt,    sie  wäre   es,    so  muss   man  doch 
auch  hier  fragen,   ob  ein  solcher  Unterschied   sich  durch- 
gängig bei  den  Dioskuren  findet,    denn  nur  in  diesem  Fall 
ist  ein  anderer  Grund   anzunehmen,    als   künstlerische  Ab- 
sicht.    Schon  das  Vasenbild  bei  Müller    (A.  Denkm.  I,  46, 
212)  liefert  den  Gegenbeweis.    Kastor  erscheint  dort  in  der- 
selben  aufsteigenden   Stellung,    die   hier  nach'v.  Paucker's 
Ansicht  den  Polydeukes  characterisirt.     Es  liegt  gewiss  eine 
unverdiente  Geringschätzung   der  Vaseumaler  darin,    wenn 
man  ihnen  alles  Eigne  nimmt  und  sogar  Stellung  und  Hal- 
tung der' Figuren  nicht    als   künstlerische  Erfindung,    son- 
dern als  symbolisch   bestinnnt   ansieht.     Und   doch  hat   ein 
Zeuxis   Zeichnungen    für   die   Topfmaler    geliefert!^).      Ein 
weiterer  Grund  für  die  Dioskuren   ist  nach  v.  Paucker  die 
Verschiedenheit   der   Fussbekleidung.      Wie    auf  der  Talos- 
vase  '^y,   so  sei  hier  nur  dem  Einen  der  Brüder  die  Fussbe- 
kleidung  gegeben.     Dies  Argument  ist  ebenso  unzulässig, 
wie  die  übrigen.    Auf  dem  Gemälde  bei  Hirt  (Bilderb.  XXVI, 
14)  haben  beide  Dioskuren  Schuhe,  es  wechselt  hier  ebenso 
wie  bei  andern  Pei'sonen.     So  hat  lasen  (Annali  dell'  Inst. 
XX  tav.  d"  Agg.  G.)  Schuhe ,  nach  Panofka  ^)  als  Thessa- 
1er ;    auf  der  Talosvase,   wie  auf  dem   Bilde   des   Drachen- 
kampfes (Ann.  XXI,  tav.  d'  Agg.  I*)  fehlen  sie  ihm.    Orest 
und  Pylades   erscheinen  bald  mit,    bald    ohne   Schuhe   und 
häufig  hat  nur  Einer  von  ihnen  Fussbekleidung®).    Auf  der 
Archemorosvase  ist  Parthenopaios  unbeschuht  im  Gegensatz 
zu  Kapaneus.     Will   man  nicht  gradezu  Nachlässigkeit  an- 
nehmen,   wofür   bekanntlich    grade    die    apulische    Malerei 
reichliche  Belege  giebt*),  so  weiss  ich  keinen  andern  Grund, 
als  ein  Streben  nach  Abwechslung. 

Die  Erklärung  v.  Paucker's    ging  von  Unsicherheiten 


5)  Plin.  XXXV,  cap.  36,  §  4.      Vgl.  Tliierscli,    Ueber    ein  Silberge- 
fäss  etc.     Königl.  B.  Akad.  d.  Wiss.  1848  p.  130. 

6)  Gerhard  Archäol.  Ztg.   1846.  Tat.  44. 

.   7)  Ann.  XX   p.   168.         8)  Overb.  Taf.  XXIX.  XXX, 
9)  So   gleich  unsere  Vase.     Die  äusserste  Figur  links  hat  nur    eine 
Sandale. 

8* 


—     116     — 

aus/musste  daher  auch  zum  Unsichern  kommen.  Dagegen 
spricht  ausserdem  dies.  Der  am  recliteu  Ende  des  Bildes 
erscheinende  Jüngling  hat  weit  mehr  das  Aussehen  eines 
begleitenden  Freundes,  als  das  eines  Gleichbetheilig-ten. 
Dass  er  wenigstens  nicht  in  demselben  Maasse  intcressirt 
ist,  scheint  mir  offenbar.  Ferner  ist  die  Handbewegung  der 
Priesterin  nach  meiner  Ansicht  ganz  anders  aufzufassen. 
Wie  die  Figur  an  den  furor  der  Sibylle  (Virg.  Aen.  VI, 
48  f.)  erinnern  kann,  begreife  ich  nicht,  ebensowenig  wie 
die  Auffassung  der  Priesterin  als  einer  Declamirenden. 
Man  streckt  doch  beim  Declamiren  den  Arm  vor,  aber  hier 
zieht  ihn  die  Priesterin  zurück,  sie  erhebt  ferner,  was  na- 
mentlich die  Rechte  deutlich  zeigt,  die  Hände  wie  abweh- 
rend und  zurückweisend.  Erstaunen,  vielleicht  ein  leichter 
Schreck  ist  es ,  was  sich  in  ihrer  Handbewegung  ausspriclit ; 
und  wie  lässt  sich  dies  anders  motiviren,  als  durch  die  Rede 
des  vor  ihr  stehenden  Jünglings? 

Mehre  Erklärungen  hat  v.  Paucker  zurückgewiesen,  die 
mir  auch  nicht  zu  passen  scheinen,  aber  mich  wundert, 
dass  er  nicht  an  den  Orakelspruch  gedacht  hat,  der  viel- 
leicht von  allen  der  berühmteste  ist,  ich  meine  den,  welcher 
dem  Orestes  die  Rache  an  der  Mutter  befohlen  hat.  Ich 
glaube,  auf  diese  Orakelbefragung  des  Orestes  lässt  sich 
unser  Bild  ungezwungen  deuten.  Electra  hatte  den  in  Pho- 
cis  lebenden  Orest  durch  wiederholte  Boten  an  die  dem  ge- 
mordeten Vater  schuldige  Rache  erinnert.  Er  macht  sich 
auf  zum  delphischeu  Gott  und  erhält  hier  den  gewaltigen 
Orakelspruch  (fisyaa&svrjg  XQi]6ii6g  Aesch.  Choeph.  270  f.), 
an  den  Mördern  des  Vaters  die  gebührende  Strafe  zu  voll- 
ziehen. Auf  unserer  Vase  sehen  wir  Orest  im  Gespräch 
mit  der  TiQü^avtig;  er  erzählt  ihr  sein  Begehr  und  diese 
Erzählung  ist's,  was  die  Handbewegung  der  Frau  veran- 
lasst. Die  Priesterin  bebt  gleichsam  zurück  vor  seinen 
Worten,  aber  der  zur  Rechten  fliegende  glück verheissende 
Vogel  lässt  uns  über  den  Ausgang  nicht  zweifelhaft.  Der 
Jüngling  hinter  Orest  ist  Pylades,  der  am  andern  Ende  des 
Bildes   erscheinende  Bärtige    der  7tQoq)^Tt]g^'^),    dessen  Er- 


10)  Hermanu  Autiqq.  II,  41)  u.  13. 


—     117     — 

scheiniing-  ganz  dem  Habitus  entspricht,  den  uns  die  mit 
gottesdienstliclicn  Verrichtungen  beschäftigten  Personen  zei- 
gen'*). Die  AnAvesenheit  des  Hermes  wird  motivirt  durch 
Bilder  und  Schriftsteller.  Auf  zwei  Vasen  '^)  erscheint  Her- 
mes neben  Orcst  und  Electra  an  der  Stelle  des  Agamem- 
non; in  den  Choephoren  (v.  2)  ruft  Orest  ihn  an  zur  Bun- 
desgenossenschaft bei  seinem  Vorhaben  und  an  vielen  andern 
Stellen*')  wird  er  besonders  zur  Rache  aufgerufen.  Da- 
durch also,  dass  er  besonders  Helfer  ist  in  dem  Unterneh- 
men, über  welches  Orest  hier  das  Oi'akel  befragt,  wird  seine 
Erscheinung  begründet.  Nicht  leicht  hat  ein  Orakelspruch 
so  grosse  Berühmtheit  erlangt,  wie  der,  welcher  die  Rache 
an  der  Mutter  befohlen  hat,  und  wenn  meiner  Deutung  die- 
ses Bildes  sonst  Nichts  im  Wege  steht,  so  verdient  sie  dess- 
Avegen  den  Vorzug,  weil  sie  sich  auf  ein  durch  die  Dichter 
berühmt  gewordenes  Factum  stützt."). 


in.    Die  erste  Scene  des  sophocleischen 
Oedipus  Rex. 

Die  Vase  ist  abgebildet  in:  R.  Rochette  Monum.  Ined. 
PI.  78.  Inghirami  Vasi  fitt.  III,  248.  Overbeck  GaJl.  Taf. 
2,  11,  besprochen  von:  Raoul  Rochette  p.  409  f.  Lettres 
archeol.  p.  170.  Inghirami  (Avelcher  ganz  der  Erklärung 
Rochette's  folgt)  p.  94—96.  Müller  Gott.  Gel.  Anzgen  1834 
p.  182  f.  Handb.  §.  412.  3.  Welcker  A.  D.  III,  p.  393  f. 
Panofka  Archaeol.  Ztg.  1845  p.  33  f.    Overbeck  p.  63  f. 

Ich  halte  fest  an  der  mythischen  Deutung  Müller's  im 


11)  Overb.  Taf.  XIV,  9.  Arcbäol.  Ztg.  1845.  Taf.  35.  36.  Aun, 
XX,  tav.  d'  Agg.  K.  L.  etc. 

12)  Overb.  Taf.  XXVIII,  5.     Millingen  Peint.  d.  V.  pl.  45. 

13)  Aesch.  Choeph.  124  f.  727.  Soph.  Elect,  111.  1395.  Mit  List 
(ßöloiai  Electr.  35  f.)  soll  Orest  nach  Apollo's  Spruch  das  Rachewerk 
ausführen ,  Hermes  aber  ist  SoXtog. 

14)  Vgl.  O,  Jahn,  Arcbäol.  Aufs.  p.  150. 


—     118    — 

Gegensatz  zu  der  mystischen  des  ersten  Herauso-ebers, 
Raoul  Koclicttc,  welcher  die  Einführung  eines  Knaben  in 
die  Mysterien  dargestellt  wissen  will ').  Müller  erblickt  hier 
Oedipus  im  Wortwechsel  mit  Tiresias  nach  Soph.  Ocd.  Tyr- 
V.  315  f.  und  ihm  stimmen  die  übrigen  Erklärer  bei.  Ver- 
gleicht man  die  sophocleische  Scene  mit  unserm  Gemälde, 
so  wird  man  nicht  läugnen  können,  dass  der  Ausdruck 
desselben  seinem  Vorbilde  wenig  entspricht.  Die  Haltung 
des  Oedipus  ist  durchaus  nicht  dem  heftigen  Auftritt  ange- 
messen, den  wir  bei  Sophocles  lesen.  Niemand  wird  sich 
nach  der  Darstellung  des  Dichters  den  Oedipus  ruhig  sitzend 
denken,  sondern  aufs  Höchste  gereizt  und  erbittert.  Denn 
die  Leidenschaftlichkeit  ist  ja  sein  eigentlicher  Character- 
zug.  Nach  Müllers  Annahme  hätte  der  Maler  grade  das 
nicht  dargestellt,  was  den  Oedipus  besonders  eigen  ist.  Ich 
schlage  desswegen  vor,  unsre  Vase  auf  den  Anfang  des 
sophocleischen  Stücks  zu  beziehn.  Die  beiden  Personen, 
die  man  bisher  als  Tiresias  von  einem  Knaben  geführt  an- 
gesehen hat,  sind  nach  meiner  Annahme  der  Zeuspriester, 
der  im  Anfang  des  Stücks  als  Sprecher  der  thebanischen 
Bürgerschaft  erscheint,  mit  Einem  der  Knaben,  welche  fle- 
hend (iXTTjQtolg  xladoLöiv  i^eötsfi^svoi  v.  3)  zum  Palast  des 
Oedipus  wallen,  um  von  seiner  Weisheit  die  Mittel  zur  Ab- 
wehr der  Pest  zu  erfragen.  Der  Künstler  konnte  nicht 
besser  die  allgemeine  Noth  der  Bürger  bezeichnen,  als  da- 
durch, dass  er  die  zarte  Jugend  und  das  hohe  Alter  zu 
ihren  Repräsentanten  wählte  und  bei  Sophocles  selbst  wer- 
den V.  16.  17.  die  flehenden  Knaben  mit  den  bejahrten 
Priestern  ■  zu  einem  schönen  Gegensatz  zusammengestellt. 
Bei  dieser  Annahme  finden  manche  Einzelheiten  eine,  wie 
ich  glaube,  treffendere  Erklärung.  Zunächst  ist  die  auf 
Tiresias  gedeutete  Person  abweichend  von  den  sonstigen 
Vorstellungen  desselben  nicht  blind,  ein  Umstand,  den 
Rochette  mit  demselben   Rechte   betont,  mit    dem  Welcker 


1)  Schon  das  Vogelscepter  in  der  Hand  öer  sitzenden  Figur  in  der 
untern  Reihe  ist  etwas  dem  „Pontife-Roi"  durchaus  Unangemessenes; 
es  characterisirt  den  weltlichen  König  (Miliin  Toml).  de  Canose  pl.  7. 
Overb.  Taf.  28,  2.). 


—     1J9     — 

(A.  D.  III  p.  212)  ihn  geltend  macht  gegen  Millingen  in 
Betreff  des  Vasenbildes  bei  Millingen  Peint.  de  V.  PI.  23, 
Avelches  Letzterer  auf  Oedipus  in  Kolonos,  Ersterer  auf 
Atreus  und  Thyestes  bezieht.  Welcker  begegnet  diesem 
Einwand  durch  folgende  Worte:  «dem  Tiresias  waren  die 
Augen  nicht  ausgestochen  und  eine  Blindheit  giebt  es,  die 
man  den  Augen  nicht  ansieht;  durch  die  Stellung  und  Füh- 
rung des  lorbeerbekränzten  Sehers  ist.  die  Blindheit  hin- 
länglich ausgedrückt,  um  einer  Entstellung  der  Augen  zum 
Kennzeichen  entbehren  zu  können»,  und  ähnlich  sagt  Over- 
beck  «die  Blindheit  des  Sehers  ist,  weil  sie  nicht  in  un- 
mittelbarem Zusammenhang  mit  der  augenblicklichen  Situa- 
tion und  Begebenheit  steht  (wie  dies  z.  B.  bei  dem  eben 
durch  Hecabe  geblendeten  Polymestor  auf  der  Vase  Taf. 
28,  2  der  Fall  ist)  durch  den  führenden  Knaben  ausreichend 
bezieichnet».  Ich  kann  mir  nicht  denken,  dass  die  Blind- 
heit etwas  so  Unwesentliches  ist,  dass  sie  je  nach  der  dar- 
gestellten Situation  ausgedrückt  oder  weggelassen  Averden 
dürfte.  Bei  einem  Seher  zumal  ist  sie  etwas  Wesentliches, 
besonders  beim  Seher  Tiresias  im  sophocleischen  Drama. 
Der  Lorbeerzweig  ferner  in  der  Hand  des  Knaben,  der  ihm 
nach  meiner  Auffassung  als  ixstTjg  gegeben  ist,  wäre  nach 
der  Erklärung  Müller's  mindestens  überflüssig,  und  auffal- 
lend wäre  auch  das  mit  einem  Tempolchen  geschmückte 
Scepter  in  der  Hand  des  Tiresias.  Müller  meint,  es  könne 
ein  mantisches  Skeptron  sein,  indessen  scheint  mir  das 
Tempelchen  auf  demselben  zu  sprechend  für  seine  Bestim- 
mung, um  es  anders  als  auf  einen  Priester  beziehn  zu  kön- 
nen. Panofl?;a  sagt,  das  Scepter  characterisire  den  Tiresias 
als  Priester  und  Seher,  aber  Tiresias  ist  nur  Seher  und  ein 
solcher  hat  keine  Beziehung  zu  einem  Tempel.  Das  am 
Scepter  herabhängende,  mit  Troddeln  besetzte  Band  findet 
sich  vielfach  an  den  Schlüsseln  von  Priesterinnen ').  Mehr 
aber  als  diese  Einzelheiten  urgire  ich  die  Haltung  des 
Oedipus,  die  zu  ruhig  ist,  um  ihn  dem  Tiresias  gegenüber 
zu  denken.  Ich  glaube,  es  widerspricht  nicht  dem  Bilde, 
die  Scene  dargestellt *zu  sehn,  in  welcher  Oedipus   der  fle- 


2)  O.  Jahn  Ann.  XX  p.  20<). 


—        120       :— 

hendcn  Bürgerschaft  Theben's   die  tröstende  Versicherung 
ertheilt,   dass   er  7Aim    delphischen    Gott    gesandt    habe    um 
Rettung  aus  der  "Noth.     Nehmen  wir  diesen  Moment  an  für 
unser  Bikl,  so  treffen  wir  denselben,  von  dem    das   Drama 
als  Ausgangspunkt    der   stufenweise    fortschreitenden    Ent- 
hüllung anhebt:  die  Pest  liegt  über  Theben,  Oedipus  forscht 
nach  dem  Zorn  des  pestsendenden  Gottes  und  erfährt  sein 
eignes   Unheil.     Und    sehr    schön    ist    grade   dieser    Aus- 
gangspunkt   der   tragischen   Entwicklung    vom   Künstler 
gewählt,  denn  er  ruft  dem  Beschauer   den   ganzen  Verlauf 
des  Dramas  vor   die   Seele;   er    zwing-t  uns,    das   Geschick 
des  Oedipus  bis   zu   seiner  schrecklichsten   Höhe  selber  im 
Geiste  zu  verfolgen.     Woher  aber  Schuld  und  Unglück  des 
Oedipvis    stammt,    das    zeigt    die    hinter  Oedipus    stehende 
Figur,  in  der  ich    mit  Müller,   Welcker  und  Overbeck   lo- 
kaste erkenne  ^).     Overbeck  Avill  veranlasst  durch   die   der 
lokaste  beigegebenen   Attribute,    Spiegel    und    Badbecken, 
den  ganzen  Auftritt  «in's  Innere  des  Hauses  und  gleichsam 
der   Familie »    verlegen.     Dies   ist   nicht   griechisch  ■*),  auch 
widerspricht  der  neben  lokaste  aufsprossende  Z^veig.     Das 
Beispiel  Polygnot's  ^)    kann   uns   lehren,   dass  man   eine   so 
äusserliche  Genauigkeit   nicht  verlangen  darf,   zumal  wenn 
tiefere  Gründe  den  Künstler  zu   dieser  Abweichung  veran- 
lassten.    Polygnot  hatte  in  seiner  Zerstörung  Ilion's  in  ei- 
ner Scene  ein  Geräth   der   avkri   und    der    innern   Frauen- 
gemächer mit  einander  verbunden,  das    XovtriQiov  und  den 
ßaiiog.     Mochte    er    durch    das    Badbecken    den  Gedanken 
ausdrücken  wollen,    das  Schrecken   und   Verwirrung  bis  in 
das  Innerste    der  Häuser   dringen,    so   hat    er   es   doch  mit 
dem  ßa^iog  zu  einer  Scene  vereinigt.     Der   Altar  aber  ist 
wohl  der  des  Z«i)g  SQXstog  nach   cap.    27,  2,   wo    Pausanias 
den    Platz,    den  Priamos    in  Polygnots  Gemälde    einnahm, 
dadurch  motivirt,  dass  er  nach  Lesches  fern  vom  SQxstog 


3)  Panofka  nennt  sie  Dirke  aber  ohne  ihre  Erscheinung  zu  moti- 
viren  und  ohne  zu  begründen  ,  warum  grade  «hier  der  Spiegel  den  Na- 
men begründen  soll. 

4)  Vgl.  O.  Müller  Literat.  Gesch.  II    p.  50.  204. 

5)  Paus.  X,  26,  0. 


—     121     — 

getödtet  sei.  Auch  unter  den  Vasenbildern  finden  sich  Bei- 
spiele, Avo  einGeräth  des  innern  Hauses  keineswegs  in  dem 
ihm  eigentlich  bestimmten  Raum  erscheint.  So  ist  auf  ei- 
ner Vase  des  Berliner  Museums  *)  in  der  Mitte  des  Bildes 
ein  Steinsitz,  zur  Seite  ein  Badbecken  gemalt.  Mir  gelten 
die  Attribute  der  locaste,  Spiegel  und  Badbecken,  als  tref- 
fender Ausdruck  ihres  Characters  (Soph.  Oed.  Tyi'.  v.  977  f.) 
Auf  der  Stadt  lastet  die  Pest,  die  Bürger  flehen  um  Ret- 
tung, aber  lokaste  ist  sorglos  mit  Putz  und  Schmuck  be- 
schäftigt (fixfj  y.QKtL<jxov  triv).  Wodurch  Hesse  sich  besser 
ihre  leichtsinnige  Verachtung  göttlicher  Schickungen  cha- 
racterisiren?  In  Betreff  der  obern  Götterreihe  darf  man 
meiner  Ansicht  nach  nicht  an  die  thebanischen  Localgott- 
heiten  denken,  die  nur  in  äusserm  Zusammenhang  mit 
Oedipus  stehn;  sie  haben  innerlichen  Bezug  zu  ihm.  Ueber- 
haupt  kann  ich  mir  nicht  denken,  dass  diese  Götterver- 
sammlungen der  Vasen  irgendwo  als  theilnahmlose  Zuschauer 
oder  als  Bezeichnungen  der  Oertlichkeit  zu  fassen  sind. 
Ich  wüsste  nicht,  warum  sie  nicht  aus  demselben  Grunde 
gemalt  sein  sollten ,  aus  dem  auf  neuen  Gemälden  Gott  und 
Christus  über  Märtyrerdarstellungen  und  andern  Scenen 
erscheinen.  Sie  erscheinen  als  die  Lenker  menschlicher 
Geschicke,  bald  strafend  und  rächend,  wie  über  den  Nio- 
biden,  bald  heilend  und  beruhigend  wie  auf  der  Archemo- 
rosvase. Nicht  bloss  künstlerisch  anstössig,  sondern  auch 
verletzend  für  das  Gefühl  wäre  es,  wollte  man  sich  theil- 
nahmlose Götter  über  leidenden  MenscKen  denken.  Die 
archaische  Vasenmalerei  stellt  wie 'das  Epos  neben  den 
kämpfenden  Helden  die  schützende  Gottheit;  die  spätere 
dramatische  Malerei  will  ihre  Götter  ebenso  angesehn  wis- 
sen ,  wie  sie  in  der  Tragödie  erschienen  und  es  liegt  etwas 
tief  Wohlthuendes  darin,  über  bcAvegten  Darstellungen,  wie 
z.  B.  auf  der  Medeavase  von  Canosa'')  die  stille  Ruhe  der 
obern  Götter  zu  sehn.  Unser  Bild  zeigt  deutlicher  als  an- 
derswo die  Bedeutung  dieser  Göttererscheinungen.  Für 
Apollo  erkennt  Müller  eine  tiefere  Beziehung  zum  Geschick 

6)  Gerhard  Berlin's  Ant.  Bildw.    No,   1018. 

7)  Miliin  Tomb.    de    Canose    PI.    7.     V.ffl.   O.   Jahn    Archaeol.    Ztjr. 
1847  p.  34  .f. 


-      122     — 

des  Oeclipus  an;  in  Betreff  der  zu  seiner  Linken  sitzenden 
(rottheit,  die  ich  mit  den  Erklären!  für  Aphrodite  halte, 
bemerkt  Welcker  sehr  richtig  «sie  habe  zugleich  Bezug  auf 
den  Stoff,  auf  die  Liebesverbindung,  die  so  unglücklicli 
sich  entwickelte»,  nur  glaube  ich,  dass  sie  einzig  und 
allein  aus  diesem  Grunde  erscheint;  die  dritte  Grottlieit 
dagegen  fasst  man  als  die  thebische  Pallas  Onkaea.  So 
viel  ich  weiss,  steht  diese  in  keiner  Innern  Beziehung 
zum  Oedipus ;  sie  würde  also  nur  als  Gottheit  des  Locals 
erscheinen.  Warum  aber  grade  diese?  LTnd  ist  es  nicht 
eine  auffallende  Licongruenz,  zwei  innerlich  so  tief  bethei- 
ligten Gottheiten  eine  dritte  nur  äusserlich  verbundene  hin- 
zuzufügen? Man  beachte  ferner  den  Ausdruck.  Apollo  ist, 
wie  die  bedeutsame  Erhebung  seiner  Hand  beweist,  der  Re- 
dende ;  beide  Göttinnen  horchen  ihm  zu,  sie  haben  beide  das 
Haupt  auf  ihn  gerichtet  und  auch  daraus  darf  man  schlies- 
sen,  dass  sie  beide  in  gleicher  Weise  betheiligt  sind.  Der 
Zusammenhang  scheint  mir  dieser :  unten  herrscht  die  Pest, 
oben  erscheint  der  Gott,  der  sie  gesandt  hat.  Zu  seiner 
Linken  erscheint  Aphrodite  als  die  Gottheit  der  XiyiTQa 
dvgavv^a  des  Oedipus  (Oed.  Colon,  v.  525),  zu  seiner  Rech- 
ten die  athenische  Gottheit,  in  deren  Gebiet  das  Leiden 
des  Oedipus  ein  Ende  hat  (Oed.  Col.  v.  87  ff).  Erstere 
bezeichnet  den  unseligen  Anfang,  Letztere  den  glücklichen 
Schluss  seiner  Leiden;  Apollo  aber  verkündet  den  beiden 
.Göttinnen,  wie  das  Geschick  des  Oedipus  sich  erfüllen 
wird.  So  ruft  das  Bild  die  ganze  Kette  der  Leiden  hervor, 
die  den  Oedipus  betrafen,  enthält  aber  in  der  Person  der 
Athene  die  Hinweisung  auf  die  x^^Q^  tSQ^iia^  wo  den  schwer 
Geprüften  Erlösung  und  Verklärung  erwartete. 

Die  neben  der  Aphrodite  befindliche  Lampe  bezieht 
Müller  auf  erotische  Pervigilien  und  Welcker  begründet 
dies  weiter*).  Ich  bezweifle  nicht,  dass  sie  diesen  Sinn 
haben  kann**),  aber  man  möchte  gern  von  einem  so  hoch- 


8)  Kl.  Sehr.  II  p.  137. 

9)  In  einem  Epio^ramme  des  Meleager  (Brunck   Auall.    I   p.    88    n. 
114)  heisst  es: 

"Av&Sficc  601  MelsayQog  sov  av[t,naCiiT,oqa  Ivxvov. 
KvTCQi  cpClri,  (ivarrjv  acov  &sro  navvvxtScov. 


—     123     — 

tragischen  ]\Iythus  ,  wie  dem  des  Oedipiis,  solche  Gedanken 
fernhalten,  zumal  da  doch  sonst  den  Göttern  Attribute  ge- 
geben werden,  die  der  dargestellten  Situation  durcha'us  an- 
gemessen sind.  Es  scheint  mir  keinesAvegs  nothwendig, 
die  Lampe  speciell  auf  Aphrodite  zu  beziehn,  sie  kann  auch 
dem  ganzen  Raum  angehören,  den  die  drei  Götter  ein- 
nehmen, ebenso  wie  der  Candelaber  auf  der  oben  bespro- 
chenen Priamosvase.  Das  Symbol  steht  vereinzelt  da ;  sieht 
man  sich  im  antiken  Cult  nach  Belegen  um,  so  liegt  es 
nahe,  an  die  Tempellampe  und  ihre  Bedeutung  zu  denken. 
An  diese  knüpfen  sich  die  Gedanken  der  Reinheit  und 
Heiligkeit '") ;  vielleicht  darf  man  hier  durch  die  Lampe  die 
Götter  und  ihren  Sitz  als  heilig  und  rein  bezeichnet  sehn 
im  Gegensatz  zu  der  Pest,  die  über  Theben  verhängt  ist, 
im  Gegensatz  zum  Oedipus  als  ivayr,g,  und  darf  man  mit 
Rochette  den  über  Apollo  aufgehängten  Stierschädel  fassen 
als  maniere  symbolique  dindiquer  un  temple  "),  so  gereicht 
das  zur  Bestätigung  meiner  Ansicht. 

Li  Betreff  der  neben  Apollo  befindlichen  Kästchen 
schliesse  ich  mich  Müller's  Ansieht  an.  Mit  Panofka's  Er- 
klärung kann  ich  schon  desswegen  nicht  übereinstimmen, 
weil  sie  nur  den  einen  vorliegenden  Fall  berücksiclitigt. 
Man  wird  aber  gewiss  nicht  für  jeden  besondern  Fall  eine 
besondere  Erklärung  dieser  Geräthe  aufstellen  dürfen.  Viel- 
fach mögen  sie  dienen  als  Mittel  für  graziöse  Haltungen 
der  Figuren  oder  auch  nur,  wie  manches  Andere  in  der 
unteritalischen  Malerei  den  Zweck  der  Raumfüllung  haben. 


IV.     Der  Tod  des  Ai'chemoros. 

Die  Vase  ist  abgebildet  bei  Gerhard  Archemoros  und 
die  Hesperiden.  Eine  aus  den  Abhandl.  der  königl.  Akad. 
besond.    abgedruckte    Vasenerklärung    Berlin.    1S3S  Taf.    1. 


10)  Vgl.  Bötticher  Tektonik  II  p.   177  f. 

11)  Vgl.  Feuerbach  Naclil.  IV  p.  81. 


—     124     — 

und  bei  Ovcrbeck  Taf.  4,  3.,  besprochen  von  Braun  Bul- 
let, deir  Inst.  1835  p.  193  f.  Gerhard  a.  u.  O.  Overbeck 
p.  114—119. 

Der  hauptsächlichste  Unterschied  meiner  Auffassung 
dieses  Bildes  von  der  der  Erklärer  besteht  darin,  dass  ich 
dasselbe  nicht  in  zwei  aufeinanderfolgende  Scenen  zerlege, 
sondern  als  Einheit  auffasse.  Für  alle  Oefässe  ähnlicher 
Form,  Kalpis,  Hydria,  Krater,  Stamnos  u.  s.  w. ,  deren 
Darstellungen  sich  mit  einem  Blick  übersehu  lassen,  scheint 
mir,  wo  nicht  mehrere  Figurenreihen  durch  Striche  getrennt 
sind,  diese  Auffassung  möglichst  festzuhalten,  im  Gegen- 
satz zu  Kylix,  Pinax  und  ähnlichen  Gefässen,  die  in  ihren- 
Darstellungen  mehr  dem  Relief  entsprechen.  Auf  unsrer 
Amphora  soll  sich  nach  der  Erklärer  Ansicht  eine  Figur 
"der  mittleren  Reihe  in  der  untern  wiederholen,  ganz  nach 
Art  des  Reliefs,  in  dessen  verschiedenen  Scenen  ein  und 
dieselbe  Figur  oft  wiederkehrt.  Ist  diese  Annahme  richtig, 
so  kann  allerdings  nicht  von  einem  einheitlichen  Ganzen 
die  Rede  sein;  es  sprechen  aber  nicht  bloss  innere  Gründe 
dagegen  —  die  Gesammtidee  des  Bildes,  welche  die  engste 
Verbindung  der  einzelnen  Scenen  fordert,  würde  zerstört 
und  zerstückt  —  sondern  auch  unläugbar  äussere.  Es  soll 
nämlich  die  in  der  untern  Reihe  erscheinende  Frau,  welche 
den  Leichnam  des  Archemoros  bekränzt,  dieselbe  sein  mit 
der,  welche  in  der  mittlem  durch  Namensbeischrift  als 
Hypsipyle  bezeichnet  ist.  Dem  steht  entgegen,  dass  Er- 
stere  nach  der  Zeichnung  Gerhard's  ganz  entschieden  kahl- 
oder  weissköpfig  ist.  Letztere  dagegen  blühendes  Haai 
trägt.  Die  Zeichnung  Overbeck's  giebt  freilich  der  untern 
Frau  dieselben  Haare,  Avie  der  obern;  da  dieselbe  aber, 
wie  im.  Text  (p.  114)  bemerkt  wird,  nach  der  Gerhard's 
angefertigt  ist,  so  darf  ich  es  für  ein  Versehn  erklären,  so- 
wie es  ein  weiteres  Versehn  ist,  dass  statt  der  am  Saum 
von  Amphiaraos'  Gewände  befindlichen  bei  Gerhard  deut- 
lich sichtbaren  Flügelfiguren  nur  undeutliche  Striche  ge- 
zeichnet sind.  Zu  dieser  Verschiedenheit  der  Haare  kommt 
die  Verschiedenheit  der  Grösse.  Die  drei  in  den  Inter- 
columnien  stehenden  Hauptpersonen  des  Ganzen  sind  durch 
ihre  Grösse  ganz  entschieden  hervorgehoben;  auch  das  hin- 


—     125     — 

clert^  die  Hypsipyle  wiederholt  zu  denken.  Ich  erkenne  in 
der  greisen  Frau  unten  eine  Person,  die  auf  Bildwerken 
noch  zu  wenig  nachgewiesen  ist,  nämlich  die  Amme  des 
Archemoros,  denn  es  steht  Nichts  im  Wege,  die  Hypsipyle, 
welche  nur  eine  von  Lemnos  gekaufte  Sklavin  war,  als 
Wärterin  aufzufassen.  Aus  ihrer  Geschichte  scheint  sogar 
hervorzugehn,  dass  sie  nicht  die  Amme,  sondern  nur  die 
Wärterin  des  Archemoros  gOAvesen  ist,  da  sie  ausserhalb 
des  Hauses  auf  einer  Wiese  mit  dem  Kinde  beschäftigt  von 
den  argi vischen  Heerführern  angetroffen  wurde  ').  Die  Thä- 
tigkeit  der  Amme  aber,  wie  es  auch  dem  Alter,  in  dem  sie 
uns  zu  erscheinen  pflegt,  angemessen  ist,  scheint  aufs  Haus 
beschränkt  gewesen  zu  sein^).  Das  Verhältniss  der  Amme 
aber  zu  ihrem  Pflegling  ist  ebenso  ein  Pietätsverhältniss, 
wie  das  des  Pädagogen  und  in  gleicher  Weise  durch  die 
Tragödie  aitsgebildet  ^).  Sie  ist  daher  eine  eben  so  noth- 
wendige  Theilnehmerin  an  Freud'  und  Leid  ihres  Hauses, 
wie  jener.  Mit  dem  Pädagogen  vereint  erscheint  sie  auf 
der  canosischen  Medeavase  *) ;  hier  ist  durch  die  symmetri- 
sche Gegenüberstellung  beider,  indem  sie  gleich  weit  ent- 
fernt vom  Könighause  stchn,  ihr  gleicher  Bezug  zu  demsel- 
ben ausgesprochen.  Ausser  einigen  unten  anzuführenden 
Reliefs  glaube  ich  sie  auf  zwei  vielbesprochenen  Wandge- 
mälden aus  Pompeji  und  Herculanum  '")  zu  erkennen.  Dass 
auf  diesen  die  Personen  der  Haupthandlung  Orestes,  Pyla- 
des,  Iphigenia  sind,  ist  überzeugend  von  Lorsch  **)  nachge- 
wiesen,  gegen  seine   Erklärung  der  Nebenpersonen  theile 


1)  Argum.  Pind.  ^em.  2. 

2)  Eustath  z.  II.  VI,  39'J.  riz&UL Kt  zovg  zizQ-ovg   TiciQtxov- 

6ca,  oniQ  iazl  ^laczovg,  g'l  cov  y,ul  ßQScpog  vnoztz&iov  z6  vTtonä^iov 
zi&r}vol  Ss  i'zL  Ö£  y.al  zgocpol,  cov  z6  aQasvL'KOv  ol  ZQOtpSig,  a[  zov  äX_ 
Xov  Tiovov  iisza  zov  dnoyaXayiziafjidv  avcidsxd^t'fvcci  rjyovv  TtEQtcpi- 
QOvaat  tial  TiQognaC^ovaat  zoig  tgocpifioig  Kai  cclXcog  imiislcäig  iyizQi- 
(povaai.     Yg\.  Hermann  Antiq.  III,  33.    5.    Zur  letzten  Klasse    gehörte 

3)  Aescli.  Choeph.  743  f.  Soph.  Niob.  fr.  400  Dind. 

4)  O,  Jahn  Archaeol.  Ztg.    1847  p.  36. 

5)  Overbeck  Taf.  XXX,  13.  14. 

6)  Archaeol.  Ztg.   1848  p.   249   f.     So  erklärte    schon  Kochette  p. 
423.  424. 


—     12G     — 

ich  die  Bedenken  Gerhards')  und  O  verbeck", s  ^).  Offenbar 
ist,  dass  ausser  der  Gottheit  die  drei  übrigen  Figuren  die- 
selben auf  beiden  Gemälden  sind ,  offenbar  ferner,  nach  der 
Tlieilnahme ,  die  sie  ausdrücken,  dass  sie  Freunde  sind. 
Wer  steht  aber  von  den  noch  lebenden  Mitgliedern  des 
Atridenhauses  dem  Orest  und  der  Iphigenia  näher  als  die 
Schwester  Electra  und  mit  ihr  der  Pädagog  und  die  Amme  ®)  V 
Gegen  die  Anwesenheit  der  Erstei'en  bemerkt  Overbeck,  sie 
sei  nicht  aus  alten  Quellen  zu  motiviren.  Nach  unsern  Quel- 
len ist  bei  der  Wiedererkennungsseene  in  Tauris  Niemand 
zugegen  gewesen,  als  bei  Euripides  der  Chor  der  kriegs- 
gefangenen  Griechinnen;  die  hier  erscheinenden  Personen 
wären  unerklärbar,  wie  viele  andre  auf  andren  Gemälden, 
wenn  wir  dieses  Princip  der  Motivirung  durch  Dichterquel- 
len bis  auf  alle  einzelnen  Personen  ausdehnen,  also  den 
Maler  nur  zum  Referenten  des  Dichters  ohne  alle  Selbstän- 
digkeit und  Freiheit  machen  wollten.  Auf  dem  Gemälde 
No.  14.  ist  eine  Brüstung  gezogen  zwischen  den  handeln- 
den und  schauenden  Figuren.  Letztere  werden  von  Erste- 
ren  nicht  bemerkt,  sie  sind  als  ungesehene  Theilnehmcr  zu 
denken  und  der  Gedanke  ist  der,  dass  die  Gottheit  um  die 
Erkennung  Orests  durch  Iphigenia  die  noch  lebenden  Reste 
des  Atridenhauses  vereinigt  hat,  so  dass  wir  eine  Wieder- 
vereinigung Aller  vor  uns  sehn.  Dass  aber  der  Schwester 
Electra  die  treuen  Diener  des  Hauses  zugesellt  sind,  be- 
darf für  den  Pädagogen  nach  der  Electra  des  Sophocles, 
für  die  Amme  nach  den  Choephoren  des  Aeschylus  keiner 
weitern  Motivirung.  Diesen  Personen  entspricht  der  Habi- 
tus der  hier  erscheinenden  Figuren,  von  denen  Overbeck 
sehr  richtig  bemerkt,  dass  sie  nicht  von  königlichem  An- 
sehn sind.  Namentlich  ist  in  dem  Alten  auf  No.  14,  der 
die  Hände  auf  einen  Stab  stützt,  der  Pädagog  sehr  treffend 
bezeichnet   und    die   Amme,    die    auf    der    Zeichnung   bei 


7)  In  einer  Anmerkung  zy  Lerscli  p.  203. 

8)  p.  740. 

9)  Lersch  erklärte  die  Figuren  für  Electra  nebst  den  Schatten  von 
Agamemnon  und  Klytaemestra.  Köchelte  erklärt  sie  für  eine  Priesterin, 
die  beiden  Alten  für  Einwohner  von  Tauris.  Aber  was  sollen  hier 
müssige  Zuschauer? 


—     127     — 

Rochettc '")  deutlich  sichtbare  greise  Haare  hat,  ist  durch 
das  Kopftuch  characterisirt  '*).  Die  gebückte  Haltung  der 
auf  No.  J3.  entsprechenden  Figur  passt  ebenfalls  vollkom- 
men auf  die  Amme.  —  Pädagog  und  Amme  sind  ferner  auf 
zwei  Sarkophagreliefs  verkannt  '^).  Das  eine  stellt  den  Tod 
der  Alcestis  ganz  nach  der  euripideischen  Tragödie  dar  '^). 
Hier  nimmt  Gerhard  ^*)  den  in  der  zAveiten  Scene  des  Bil- 
des neben  Admet  erscheinenden  Alten  für  Asklepios,  der 
eine  Schlange  trage.  Die  Schlange  scheint  mir  ein  Stock 
zu  sein,  wie  der  Pädagog  ihn  zu  füln'en  pflegt.  Gegen 
Asklepios  spricht,  dass  der  Alte  offenbar  den  Mund  zur 
Klage  geöffnet  hat ;  auch  wäre  seine  Anwesenheit  auffallend 
in  einer'Scene,  wo  seine  Kunst  nicht  mehr  hilft.  Die  Amme 
steht  hier  neben  dem  Lager  der  Sterbenden.  In  dem  zwei- 
ten Relief  '^)  sehen  wir  den  Lebenslauf  eines  Menschen  ^  on 
seiner  Geburt  bis  zum  Tode.  Die  erste  Scene  stellt  die 
Geburt,  die  zweite  den  Unterricht  des  Kindes  dar.  Li  je- 
ner ist  die  Amme,  in  dieser  der  Pädagog  mit  dem  Knaben 
beschäftigt;  man  erwartet  sie  daher  auch  bei  seinem  Tode, 
der  in  der  dritten  Scene  dargestellt  ist,  wiederzufinden. 
Hier  sitzt  an  dem  einen  Ende  des  Sterbelagers  der  Vater, 
am  andern  die  Mutter;  neben  Ersterem  steht  der  Pädagog 
(nach  Rochette  der  Arzt)  ganz  in  seiner  gewöhnlichen  Er- 
scheinung, ihm  gegenüber  neben  der  Mutter  die  Amme  (nach 
Rochette  eine  praefica)  *^).  —  Danach  erkenne  ich  auch  auf 
der  Archemorosvase  in  der  neben  dem  Pädagogen  stehen- 
den Frau  die  Amme  des  Archemoros,  der  es  wohl  zukommt, 
ihrem  Pflegling  den  Todtenkranz  aufzusetzen. 

Ueber  den  Moment,  den  unser  Bild  darstellt,  habe  ich 


10)  PI.  76,  6. 

11)  O.  Jahn  Arch.  Ztg.  1847  p.  8G  ii.  2U. 

12)  Gerhard  Ant.  Bilclw.  XXVIII  und  Rochette  Mon.  Ine'd.  PI.- 77,  1. 

13)  Die  Vergleichung  mit  der  Tragödie  macht  "Vieles  deutlieh.  So 
erklärt  sich  z.  B.  die  Bewegung  Apollo's  aiis  v.  22.  23. 

14)  Text  zu  den  antik.  Bildw.  p.  273. 

15)  Vgl.  Rochette  p.  406  f. 

16)  Die  in  der  vierten  Scene  dem  Wagen  des  Hades  voranschrei- 
tende Figur  ist  doch  wohl  sichrer  auf  Hermes  ipr^onoimög  zu  deuten, 
als  auf  Einen  der  Dioskuren. 


—     128     — 

eine  von  den  Erklärern  etwas  abweichende  Ansicht.  0er- 
hard  und  (Jverbeck  sagen  übereinstimmend ,  die  Mutter  habe 
«'so  eben»  die  Trauerbotschaft  Von  ihres  Kindes  Tode  ver- 
nommen, sie  fassen  also  die  mittlere  Darstellung  als  der 
Zeit  nach  der  untern  voraufgehend.  Nothwendig  scheint 
mir  diese  Zeitverschiedenheit  nicht  zu  sein;  der  Ausdi'uck 
der  Eurydike  macht  goAviss  die  Annahme  eines  spätem 
Moments  nöthig.  Hätte  sie  so  eben  des  Knaben  Tod  er- 
fahren, wir  würden  sie  nicht  mit  dem  Ausdruck  sinnender 
Trauer*');  sondern  in  einer,  sei  es  durch  Zorn,  sei  es  durch 
Schmerz  leidenschaftlich  erregten  Stellung  finden  "*).  Die 
Heftigkeit  ihres  Schmerzes  hat  sich  bereits  aufgelöst  in 
sanfte  Wehmuth;  warum  Avollen  wir  sie  nicht  anwesend 
denken  bei  der  Prothesis  der  Leiche  und  so  das  ganze  Bild 
in  einen  Zeitmoment  setzen  V  An  ihrer  Rechten  steht  die, 
w^elche  das  Unheil  gestiftet,  an  ihrer  Linken  der,  welcher 
es  zu  heben  sucht,  Erstere  entschuldigend,  Letzterer  trö- 
stend. Darf  man  dem  Amphiaraos  ein  Wort  in  den  Mund 
legen,  so  nwchte  ich  nicht  ein  adlgemeines  Trostwort 
wählen,  wie  Ov erbeck  fr.  7  Eurip.  Hypsip. : 

"Ecpv  ^£v  ovo  eis  ogTtg  ov  noval  ßgot c5v 

sondern  ein  seherisches,  zugleich  auf  das  ganze  Bild 
Bezug  habendes ,  etwa  das ,  welches  ihm  Statins  ")  in  den 
Mund  legt: 

Mansuris  donandus  honoribus  infans. 

Als  Seher  characterisii-en  ihn  die  Flügelfiguren  am 
Saum  seines  Gewandes,  wie  Gerhard^")  sehr  richtig  be- 
merkt   und   die   Erhebung   seiner  Hand   zeigt    eine    bedeu- 


17)  Eine  Andeutung  von  Zorn  (Gerhard  p.  7)  kann  ich  weder  im 
Gesichtsausdruck  noch  in  der  Haltung-  und  Geberde  der  Eurydike  er- 
kennen. 

18)  lieber  ilire  Haltung  und  Geberde,  die  ganz  der  Iphigenia  am 
sogenannten  Altar  des  Kleomenes  entspricht,  verweise  ich  auf  O.  Jahn's 
schöne  Ausführung  Archaeol.  Beitr.  p.  382.    • 

19)  Theb.  V,  741. 

20)  Nachschr.  z.  seiner  Abhandl.  p.  73.  Vergleichen  lassen  sich  die 
Vögel  an  der  Chlamys  des  Memnon  'in  Polyguot's  Gemälde.  Paus.  X, 
31,  6. 


—     129     — 

tende  Rede/').  Er  verkündet  der  Mutter,  dass  ein  glän- 
zendes Festspiel  den  Grabhügel  ihres  Kindes  für  alle  Zei- 
ten verherrlichen  werde  und  die  oben  erscheinenden  Götter 
sind  die  gegenwärtige  Erfüllung  seiner  Rede.  Zwei  Be- 
gleiter folgen  dem  Aniphiaraos,  Parthenopaios  und  Kapa- 
neus.  Sie  sind  anwesend  nach  der  Erklärer  Ansicht,  damit 
es  der  Fürsprache  des  Amphiaraos  für  Hypsipyle  keines- 
falls an  Nachdruck  fehle,  eine  Absicht,  wie  Gerhard  hin- 
zufügt, in  deren  Folge  andre  Erzähler  der  Archemorossage 
den  Tydeus,  den  sie  sammt  Adrastos  statt  der  beiden  hier 
vorgestellten  Helden  erwähnen,  in  Streit  mit  Lycurgos  ge- 
rathen  mussten,  dessen  Person  hier  ganz  fehlt.  Aber  liegt 
wohl  in  unserm  Bilde  auch  nur  die  Spur  einer  Andeutung- 
bevorstehenden  Kampfes?  Der  Maler  hat  den  weggelassen, 
gegen  den  nur  der  Kampf  geführt  werden  konnte ,  den  Vater, 
er  hat  allein  die  trauernde  Mutter  dargestellt,  sollte  daraus 
nicht  der  Schluss  erlaubt  sein,  dass  er  den  Gedanken  eines 
möglichen  Kampfes  grade  hat  fern  halten  wollen?  Die 
argivischen  Helden  sind  es,  die  den  Archemoros  begraben  *^) 
und  an  seinem  Grabe  die  nemeischen  Spiele  begehn;  über 
ihnen  erscheint  Zeus  der  Nymphe  Nemea  die  Einsetzung 
derselben  verheissend,  sie  erscheinen  als  die  Vollstrecker 
des  göttlichen  Willens.    Dass  aber  grade  Kapaneus  und  Par- 


21)  Diese  Erhebung  der  drei  Finger ,  die  in  der  neuern  Malerei  und 
Sculptur  constant  als  Gestus  des  Segens  erscheint,  namentlicli  am  Chri- 
stuskinde ,  ist  zu  häufig ,  um  ihr  eine  engere  Bedeutung  geben  zu  dür- 
fen als  die,  dass  sie  die  Begleiterin  jeder  wichtigen  und  bedeutsamen 
Rede  ist.  Apulei.  Metam.  II  p.  125  beschreibt  sie  als  Handbewegung 
der  Redner:  Porrigit  dextram  et  ad  instar  oratörum  conformat  articu. 
lum  duobusque  infimis  conclusis  digitis  ceteros  eminentes  porrigit.  Ich 
habe  sie  nur  auf  itali  sehen  Vasen  gefunden;  sie  erscheint  aber  schon 
auf  schwarzfigurigen ,  auf  denen  gemeiniglich  die  ganze  Hand  agirt. 
Beispiele  sind:  Gerhard  Auserles.  Vasenb.  II,  131  (Hermes  bei  der  Her- 
aufholung des  Cerberus  durch  Herakles)  und  No.  1584  des  Berl.  Mus. 
(palästrisch).  Für  rothfigurige  Vasen  und  Wandgemälde  vgl.  Müller  A. 
D.  I,  56.  275.  a.  Overbeck  II,  11.  IV,  2.  VII,  8.  XXX,  13.  4.  Archae- 
olog.  Ztg.  1844.  Taf.  13.  1849  Taf.  4.  1854  Taf.  54,  1.  1848.  Taf.  15. 
Monum.  d.  Inst.  II,  ,30.  Miliin  Gall.  Myth.  CLXXVI,  647.  647*.  Auf 
Reliefs  ist  der  Gestus  begreiflicher  Weise  selten ,  ganz  deutlich  bei 
Becker  August.   III,   113. 

22)  Vgl.  die  Citate  bei  Gerhard  p.  4  ff. 

9 


—     130     — 

thenopaios  neben  Araphiai'aos  als  Repräsentanten  der  sieben 
Heerführer  gewählt  sind,  hat  Avohl  nur  den  malerischen 
(Jrund,  eine  angenehme  Abwechslung  hervorzubringen. 
Sieht  man  vertical  heranter,  so  wechselt  immer  bärtige 
Männlichkeit  mit  unbärtiger  Zartheit,  Zeus,  Parthenopaios, 
der  ältere  Diener,  ebenso  Nemea,  Kapaneus  und  der  jün- 
gere Diener;  dasselbe  ist  der  Fall  wenn  man  horizontal 
sieht,  Zeus  und  Nemea;  Amphiaraos,  Parthenopaios,  Kapa- 
neus; der  ältere  und  der  jüngere  Diener.  Die  Gruppe  des 
Parthenopaios  und  des  Kapaneus  stimmt  sehr  überein  mit 
der  gegenüberstehenden  des  Euneos  und  seines  Begleiters, 
den  Gerhard  Thoas ,  Braun  Diiphilos  nennt.  Kapaneus  ent- 
spricht dem  Euneos.  Beide  stützen  sich  mit  der  Linken 
auf  ihre  Lanzen,  beide  haben  ganz  dieselbe  Stellung,  das 
linke  Bein  über  das  rechte  geschlagen,  beide  endlich  die- 
selbe Bewegung  der  Rechten.  Parthenopaios  gleicht  dage- 
gen dem  Jüngern  Begleiter  des  Euneos,  sie  tragen  beide 
die  Lanze  in  der  Rechten,  auch  igt  eine  Uebereinstimmung 
in  der  Krümmung  des  einen  Beines  nicht  zu  verkeimen. 
Diese  Symmetrie  ist  aber  nicht  bis  zur  völligen  Gleichheit 
ausgedehnt.  Euneos  entspricht  wieder  dem  Parthenopaios 
hinsichtlich  der  Kopfbedeckung  und  der  Stellung  am  Pa- 
läste; in  denselben  Stücken  stimmt  Kapaneus  mit  Thoas. 
Die  Gruppen  jede  für  sich  und  in  ihrem  Verhältniss  zu  ein- 
ander betrachtet,  beweisen  eine  feine  künstlerische  Behand- 
lung. Aus  ihrem  symmetrischen  Entsprechen  nehme  ich 
auch  den  Grund  warum  Parthenopaios  und  Kapaneus  nackt 
sind  his  auf  die  Chlamys,  im  Gegensatz  zu  Amphiaraos. 
Hinzufügen  lässt  sich  noch,  dass  sie  nach  ihi'er  Bedeutung 
für  das  Bild  von  Letzterem  unterschieden  werden  mussten. 
Sie  sind  zwar  im  Mythus  gleichberechtigte  nnd  gleichste- 
hende Heerführer,  aber  für  unser  Bild  ist  der  Seher  Am- 
phiaraos als  Verkündiger  der  nemeischen  Spiele  so  sehr  die 
Hauptperson ,  dass  Parthenopaios  und  Kapaneus  nur  als  sein 
Gefolge  gelten  und  als  solches  sich  merklich  von  ihm  un- 
terscheiden mussten. 

Wie  Kapaneus  und  Parthenopaios  zu  Amphiaraos,  zu- 
gleich aber  als  Anordner  der  nemeischen  Festspiele  zu  der 
obern  Gruppe  von  Zeus  und  Nemea  in  Bezug  stehn,  so  ge- 
hören Euneos  und  Thoas  zu  Hypsipyle  und  zugleich  zu  dem 


—     181     — 

über  ihnen  Lelindlichen  Dionysos.  Wie  die  Erklärer  be- 
merken, erscheint  Dionysos,  der  die  Gefilde  Nemeas  aus- 
getrocknet hatte,  als  versöhnter  Gott  mit  der  Leier  und 
dasselbe  gilt  von  dem  ihm  gegenübersitzenden  Zeus  ^^),  bei 
dem  nur  noch  hinzuzufügen,  dass  er  wie  zu  den  olympi- 
schen Spielen,  deren  Einsetzung  am  Halse  des  Gefässes 
dargestellt  ist,  so  zu  den  nemeischen  ^^)  als  Festgott  in  be- 
sondrer Beziehung  stand.  Etwas  niedriger  als  er  sitzt  die 
Nymphe  Nemea  die  Hand  bittend  zu  ihm  erhoben,  dass 
der  Fluch,  der  auf  ihrem  Boden  ruhte,  von  ihr  genommen 
werde.  In  der  erhobenen  Linken  des  Zeus  liegt  die  Ge- 
währung, dass  die  Herrlichkeit  der  nemeischen  Spiele  ihr 
als  Ersatz  werde  zu  Theil  werden. 

Die  unterste  Figurenreihe  bezieht  sich  auf  die  Protlie- 
sis  der  Leiche.  Archemoros  liegt  auf  einem  Paradebett 
mehr  als  Jüngling  denn  als  Knabe  gebildet.  Das  ist  ein 
Widerspruch  mit  den  schriftlichen  Zeugnissen,  die  Gerhard 
(p.  JJ  No.  4)  anführt,  denen  ich  ein  Fragment  aus  der 
Hypsipyle  des  Euripides  ^^)  hinzufüge ,  die  in  vielen  Stücken 
dem  Maler  Vorbild  gewesen  zu  sein  scheint:  Ov  (pavkcog 
yaQ  av  ö6'E,et,8v  6  TiaQcc  ra  Tcoirjrf]  '^}iq)ia^£COs  TtccQa^v&et- 
O&ai  TYjv  'AQieiiOQOv  ^yjraQa  dva%£Qaivovaav  ort,  v^Jtiog 
Sv  o  Ätttg  zal  ayav  cccjQog  iteksvrtjös.  Archemoros  ist 
also  auch  bei  Euripides  als  Knabe  eingeführt.  Wir  müs- 
sen daher,  soweit  sich  nach  den  vorhandenen  Quellen  ur- 
theilen  lässt,  die  Jünglingsbildung,  wie  sie  auf  unserm 
Bild  erscheint ,  dem  Maler  als  eigne  unabhängige  Erfindung 
beilegen  ^^).  Für  diese  AbAveiclmng  vom  Dichter  weiss  ich 
keinen  andern  Grund,  als  den,  dass  es  mir  tragischer  und 
für  malerische  Darstellung  angemessen  erscheint,  statt  ei- 
nes Kindes  einen  Jüngling  der  Blüthe  seiner  Jahre  nahe 
hingerafft  zu  sehn.  Seiner  Leiche  zunächst  stehen  die,  un- 
ter deren  Händen  er  aufgewachsen  und  es   ist   ein  rühren- 


23)  Der  aus  der  Hand  gelegte  Blitz  auch  Monum.  d.  Inst.  II,  W. 

24)  Argiim  Find.  Nem.  Heyne  p.  G60.    G61.    Nem.    III,    115   mit    d. 
schol.  lind  schol.  Nem.  VI,  21. 

25)  fr.  6.  Diud. 

26)  Auch    anderswo    findet   sich    diese   Abweichung.    Vgl.    Overbeck 
p.   12. 


—    i:}2    — 

der  Zug;  tlass  dein  Pädagogen  die  Leier  in  die  Hand  ge- 
geben ist.  Die  Amme  ist  im  Begriff,  ihm  den  Todtenkranz 
aufzusetzen,  während  ihre  Linke  nach  den  schönen  Worten 
Gerhards  (p.  11)  aden  für  immer  Verstummten  um  einen 
Laut  seines  Mundes  zu  mahnen  scheint«,  wenn  nicht  etwa 
mehr  im  Anschluss  an  antike  Sitte  diese  HandbcAvegung 
erklärt  werden  muss  auf  das  Zudrücken  der  Augen  und  des 
Mundes").  Hinter  der  Bahre  steht  eine  Frau,  einen  aus- 
gespannten Sonnenschirm  über  den  Todten  haltend.  Die 
gewöhnliche  Bedeutung  des  häutig^*)  auf  Vasenbildern  vor- 
kommenden Sonnenschirms,  dass  er  die  «vornehme  Frau» 
bezeichnet  ^')  ist  hier  natürlich  nicht  anzuwenden.  Ich 
dachte  an  Helios  als  ayvog  O-fdg  (Find.  Ol.  VII,  00)  und 
an  die  Abwehr  eines  fiLaöficc;  Hermann  (Antiq.  III,  39  n. 
17.)  hat  dieselbe  Ansicht.  Gerhard's  Auffassung  scheint  mir 
durch  Hermann  widerlegt;  Overbeck  sagt  «die  Dienerin 
hält  mit  aufgespanntem  Sonnenschirm  die  heissen  Strahlen 
der  Sonne  ab»  (?).  Die  beiden  Figuren  hinter  dei-  den 
Sonnenschirm  haltenden  Frau  sind  ergänzt  ^°) ,  es  lässt  sich 
aber,  wie  mir  scheint,  mit  ziemlicher  Sicherheit  bestim- 
men, wie  der  Raum  ursprünglich  ausgefüllt  gewesen  sein 
wird.  Gerhard  und  Schulz  (Nachschr.  p.  73)  meinen,  es 
seien  in  die  Handlung  eingreifende  Personen  des  Mythus 
dargestellt.  Zu  Avählen  sei  nur  zwischen  Lycurgos  und 
Adrastos;  sie  entscheiden  sich  für  Letzteren.  Aber  dage- 
gen spricht  dass  die  Figuren  nach  ihrer  Zusammengehörig- 
keit streng  auf  die  verschiedenen  Reihen  vertheilt  sind. 
Oben  erscheinen  nur  Götter,  in  der  Mitte  Heroen,  unten 
Diener.     Diese   Composition   würde  gänzlich  gestört,  wenn 


27)  ovSb  fiOL   ^rXi]  iovtl  jisq  stg  AtSao 

X^Qat  xkt'  ocp&alfiovg  sls^iv  Gvv  rs  otdfi    fQEiaai. 

Hom.  Od.  XI,  425. 

28)  z.  B.  Millingeu  Peint.  d.    V.  PI.  26.  53.  Berlin.  Mus.    1611. 
20)  Bött.iger  Vasengem.  II  p.   150.    O.  Jahn  Zeitschr.  f.  Altortliuni- 

wiss.   1842  p.  891. 

SO)  lieber  die  Ergänzungen,  auch  in  Betreff  der  Hörnerspitzen  des 
Satyrs  oder  richtiger  Panisken  (Gerhard  p.  72),  über  die  noch  Overbeck 
in  Zweifel  ist,  hat  Gerhard  in  seiner  Nachschrift  p.  71  f.  die  vollstän- 
digsten Mittlieilungen  nach  einem  Bericht  von  Schulz  gegeben. 


—     133     — 

Adrast  unter  den  Dienern  erschiene.  Er  konnte  nur  in  die 
mittlere  Reihe  zu  seinen  Waffenbrüdern  gestellt  werden: 
und  ebenso  musste  Lycurg  seinen  Platz  unter  den  Haupt- 
personen des  Bildes  finden.  Nur  unbedeutendere  und  un- 
betheiligtere  Personen  können  an  dieser  Stelle  des  Bildes 
vorausgesetzt  werden.  Zur  Rechten  der  Leiche  erscheinen 
lauter  männliche  Diener;  ich  glaube  die  grosse  Symmetrie 
des  Bildes  berechtigt  zu  dem  Schluss,  dass  ihnen  auf  der 
gegenüberliegenden  Seite  weibliche  entsprochen  haben.  Es 
bleibt  noch  die  Frage  nach  dem  Verhältniss  unsers  Bildes 
zu  seiner  dichterischen  Quelle  zu  erörtern.  Welcker  ^')  und 
Gerhard  (p.  28)  haben  die  Hypsipyle  des  Euripides  als 
das  Vorbild  unsers  Malers  erkannt;  eine  genaue  Scheidung 
zwischen  dem,  was  eigne  Erfindung  des  Malers,  und  dem, 
was  aus  dem  Dichter  entlehnt  ist,  lässt  sich  da,  wo  nur 
Fragmente  erhalten  sind,  nicht  anstellen;  einige  Punkte 
wird  man  indessen  mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  fest- 
setzen können.  0 verbeck  geht  so  Aveit,  dass  er  dem  Maler 
alles  Eigne  abspricht,  ihn  vollständig  zum  Copisten  des 
Dichters  macht.  Was  hier  dargestellt  ist,  soll  auch  in  der 
Tragödie  enthalten  gewesen  sein,  Avas  hier  fehlt,  soll  auch 
in  jener  gefehlt  haben.  Das  ist  für  die  Tragödie  eine  all- 
zuschnellc  Kritik  und  für  den  Maler  ein  grosses  Unrecht. 
Was  bei  dem  Bilde  zunächst  auffällt,  ist  die  Weglassung 
des  Vaters,  des  Lycurgos.  Overbeck  sagt  ohne  Gründe  an- 
zugeben, er  werde  in  der  Tragödie  nicht  aufgetreten  sein. 
Welcker  hat  das  Gegentheil  höchst  wahrscheinlich  gemacht, 
indem  er  ihm  fr.  7 

xccxotg  t6  xsQdog  rrjg  diKrjg  vtceqtbqov 
in  den  Mund  legt,  dass  gewiss  Niemandem  besser  zukommt 
als  dem  Lycurgos.     Aus  fr.  8 

e^oj  yaQ  OQyrjg  Ttäg  avrjQ  öocpärsQOs 
welches  Welcker  sehr  schön  dem  Amphiäraos  zutheilt,  folgt 
ferner,  dass  Streit  und  Heftigkeit  vorgefallen  ist.  Ist  denn 
da  der  Vater  nicht  eine  unumgänglich  nothwendige  Person? 
Welchen  Grund  sollte  Euripides  gehabt  haben,  den  Lycurg 
nicht  darzustellen?     Ich  glaube,  man  kann  mit  Sicherheit 


31)  Griech.  Trag.   II  p.  559. 


—     134    — 

das  Gegcntheil  hohaupten  und  es  dem  IVIaler  als  eigne  Er- 
findung vindiciren,  dass  er  den  Lycurgos  weggelassen  hat. 
Und  ein  Grund  für  diese  Neuerung  lässt  sich  .wohl  denken. 
Der  ganze  Character  des  Bildes  wäre  verändert,  wenn  der 
Künstler  neben  die  Eurydike  den  Lykurgos  gestellt  hätte. 
Es  ist  wesentlich  für  unser  Bild,  dass  die  Mutter  allein 
im  Centrum  des  Ganzen  steht;  das  ist  ein  Hauptgrund 
für  den  schwcrmüthigen  Ausdruck,  der  wie  ein  Schleier 
über  die  Darstellung  ausgebreitet  ist.  Diesen  Character 
des  Bildes  hätte  die  Erscheinung  des  Lykurgos  durchaus 
zerstört,  denn  nur  für  die  Mutter  eignet  sich  die  wehmü- 
thige  Trauer.  Auch  würde  unser  Interesse  getheilt,  wenn 
neben  der  Mutter  Lykurgos  stände,  es  würde  das  Bild  sei- 
nen Mittelpunkt,  auf  den  immer  unser  Blick  zurückkehrt, 
verlieren.  Es  soll  ferner  aus  der  Tragödie  sein,  dass  Hy- 
psipyle  (denn  diese  wiederholt  sich,  wie  oben  bemerkt, 
nach  Overbeck's  Ansicht  in  der  untern  Reihe)  und  nicht 
die  argivischen  Helden,  wie  nach  den  Quellen,  die  Lei- 
chenfeier besorgt,  «es  liege  die  Entsühnung  darin  ausge- 
sprochen»; ferner  soll  die  obere  Götterreihe  aus  der  Tra- 
gödie sein;  «die  füglich  durch  eine  Theophanie  geschlossen 
und  gelöst  sein  mag».  Aber  was  bleibt  für  die  Götter  zu 
lösen,  wenn  der  Hypsipyle  die  Leichenbestattung  übertra- 
gen wird,  wenn  sie  also  versöhnt  ist  mit  den  Eltern?  In- 
dess  erledigt  sich  die  erstere  Bemerkung  Overbeck's  schon 
damit,  dass  Hypsipyle  nicht  die  bestattende  Frau  sein  kann. 
Nach  dem  Namen  des  Stücks,  nach  den  Fragmenten,  nach 
sonstigen  Nachrichten,  nach  der  Analogie  der  übrigen 
Stücke  des  Euripides  lässt  sich  nur  annehmen,  dass  das 
Drama  sich  um  das  Geschick  der  Hypsipyle  bewegt  und 
dass  der  zu  lösende  Knoten  darin  bestanden  habe ,  die  Hypsi- 
pyle vor  dem  Zorn  der  Eltern  des  Archemoros  zu  retten. 
Dass  diese  Lösung  aber  durch  die  beiden  Söhne  der  Lem- 
nierin  und  durch  Dionysos,  ihren  Grossvater,  der  den  Pro- 
log zum  Stücke  sprach,  geschehen  sei,  hat  Welcker  (p.  560) 
mit  der  grössten  Wahrscheinlichkeit  angenommen.  Des 
Dionysos  Erscheinung  am  Ende  des  Stücks  zur  Rettung  sei- 
ner Enkelin  ist  ebenso  wahrscheinlich,  wie  die  des  Zeus 
und  der  Nemea  unwahrscheinlich.     Diese  erinnern  vielmehr. 


—     135    — 

obwohl  der  wchmüthige  Cliaractcr  dos  ßildcs  euripidcischcn 
Geist  athmct,  an  die  Ncmea  des  Aeschylos'*).  Auf  dies 
Drama  scheint  der  Gedanke  des  Künstlers  zurückzuführen, 
den  Tod  des  Archemoros  zu  verherrlichen  durch  die  mit 
ihm  verknüpfte  Einsetzung  der  nemeischen  Spiele,  ebenso 
wie  Aeschylos  in  seinen  Isthmiasten  mit  dem  Tod  des  Me- 
likertes  die  Einrichtung  der  isthmischen  Spiele  dargestellt 
hatte '').  Ueberhaupt  ist  es  nicht  die  Weise  des  Euripidcs, 
seinen  Dramen  den  Hintergrund  grossartiger  nationaler  und 
religiöser  Institute  zu  geben.  Die  auf  unserm  Bilde  er- 
scheinende Nemea  weist  sogar  ganz,  bestimmt  auf  Aeschy- 
los^"*). Soviel  folgt  hieraus,  dass  man  nicht  berechtigt  ist, 
unsre  Vase  in  allen  ihren  Einzelheiten  auf  die  Tragödie 
des  Eui'ipides  zurückzuführen.  Warum  sollte  aber  der  Ma- 
ler nicht  aus  zwei  Tragödien  ähnlichen  Inhalts,  aus  der 
Nemea  des  Aeschylos  und  der  Hypsipyle  des  Euripides  ge- 
schöpft und  Motive  aus  beiden  mit  selbständiger  Freiheit 
verschmolzen  haben  können  ?  Die  Vortrefflichkeit  der  Com- 
position  lässt  eher  auf  einen  Künstler  von  eigner  Erfin- 
dung schliessen,  als  auf  den  unfreien  Nachzeichner  eines 
Dichters  ^'^). 


32)  Welckei-  Trilog.  p.  359  f. 

33)  Welcker  Trilog.  p.  339. 

34)  Argum.  Piutl.  Nem.  Heyne  p.  659. 

35)  Es  ist  mir  aufgefallen,  dass  Overbeclc  hier  bei  einem  vollen- 
deten Bilde  des  spätem  Stils  und  bei  den  oben  besprochenen  Wandge- 
mälden den  Künstler  ganz  abhängig,  dagegen  den  Verfertiger  zweier 
weit  älterer  Bilder  ganz  frei  von  Dichterquellen  hinstellt.  Ich  meine 
zwei  Vasenbilder,  die  den  Priamos  flehend  vor  Achill  zeigen.  Das  erste 
ist  eine  s  c h w  a r  z  figurige  Amphora  (Overb.  p.  468  no.  135),  das  an- 
dere eine  rothfigurige  Kylix  des  altern  Stils  (Taf.  XX.  n.  3  p.  471).  Sie 
haben  das  Gemeinsame,  dass  die  Leiche  Hector's  unter  dem  Sessel 
Achill's  liegt.  Letzteres  beschreibt  Overbeck  so:  «Achilleus,  eine  impo- 
sante Heldenfigur,  zeusartig  in  seinen  Mantel  gekleidet,  liegt  auf  einer 
reichen  Klisia  zechend,  denn  er  wird  von  einer  Schönen  (Briseis)  be- 
kränzt und  hält  eine  Kylix,  und  schmausend,  denn  ein  Tisch  mit  Spei- 
sen steht  vor  ihm.  Das  ist  nicht  nach  dem  Epos  und  ebenso  gewiss 
nicht  nach  einer  der  uns  bekannten  tragischen  Poesien.»  Ich  erlaube 
mir,  die  Worte  der  Ilias  (XXIV,  475)  beizufügen: 

vtov  S'  aiisXriysv  iöcaSjjg  ('JxiX^vg) 
SG&av  Mal  TiLViov  an  nai  nctQ  änsixo  zQaTte^a, 


—     136     — 

Ich  erlaube  mir  noch  eine  Bemerkung  über  den  Ge- 
sammtausdruck  des  Bikles.  Mit  der  tiefen  Schwennuth, 
die  es  athmet,  die  allerdings  gemildert  Avird  durch  die  Er- 
scheinung der  Götter,  verbindet  sich  eine  eigenthüraliche 
Feierlichkeit.  Sie  wird  bewirkt  durch  den  Mangel  aller  hef- 
tigeren Bewegungen,  durch  die  vierfache  Wiederkehr  des- 
selben bedeutsamen  Gestus,  durch  die  strenge  Symmetrie 
und  endlich  durch  die  genaue  Scheidung  der  drei  Figuren- 
reihen. Durch  Letzteres  weiss  die  Vasenmalerei  sehr  schön 
den  Character  des  ganzen  Bildes  dem  Auge  beim  ersten 
Anblick  anzudeuten.  Der  Revers  der  Archemorosvase  (Ger- 
hard Taf.  2)  zeigt  Nichts  von  der  gradlinigen  Gemessen- 
heit des  Vorderbildes.  Ueberall  auf-  und  absteigende,  wel- 
lenförmig geschwungene  Linien  ne>)st  der  grössten  Mannig- 
faltigkeit der  Stellungen;  dadurch  erhält  er  den  Character 
des  Leichten,  anmuthig  Bewegten  und  steht  in  einem  schö- 
nen Gegensatz  zu  der  schweren  Ruhe  seines  Gegenbildes. 
Bacchische  Darstellungen  und  andere  verwandten  Characters 
zeigen  oft  ihre  Figuren  gleichsam  verstreut  über  den  Raum, 
als  habe  sich  Alles  temere  et  casu  so  gemacht;  sie  vermei- 


Mir  scheint,  mit  diesen  Worten  stimmt  das  Bild  auf's  Genaueste.  Und 
diese  Uebereinstimmung  macht  mich  misstrauisch  gegen  das,  was  Over- 
beck  von  der  unter  dem  Sessel  Achill's  liegenden  Leiche  sagt:  «Die 
bildende  Kunst  hat  im  ganzen  Bereich  ihrer  Mittel  keinen  grossartigeren 
Ausdruck  für  den  furchtbaren  Zorn  und  Groll  des  Achilleus  finden  kön- 
nen ,  als  dies  Lagern  über  der  Leiche  bei  Schmaus  und  Zechen,  v  Ich 
zweifle,  ob  das  die  Intention  des  Malers  gewesen  ist,  da  sich  auch  das 
Liegen  der  Leiche  unter  dem  Sessel  Achill's  wohl  daraus  erklärt,  dass 
in  der  Ilias  (XXIV,  583)  dem  Priamos  der  Anblick  seines  todten  Soh- 
nes erspart  wird.  So  hatte  übrigens  schon  Rochette  (Mon.  Ine'd.  p.  270 
n.  4)  erklärt.  Spätem  und  vollendeten  Bildwerken  die  Freiheit  in  der 
Erfindung  abzusprechen ,  älteren  und  unvollendeten  dagegen  sie  beizu- 
legen, ist  eine  Umkehr  eines  natürlichen  Gesetzes,  dem  zufolge  die  äl- 
tere Kunst  treu  an  dem  gegebenen  Stoff  festhält,  die  freiere  dagegen 
sich  mannigfaltige  Abweichungen  erlaubte.  Obgleich  ich  keineswegs  der 
altern  Vasenmalerei  alle  freie  Erfindung  schlechthin  absprechen  will,  so 
habe  ich  doch ,  soweit  meine  Kenntniss  reicht ,  das  relata  refero  für  die- 
selbe als  durchgreifendes  und  für  die  Erklärung  nicht  unwichtiges  Prin- 
cip  bestätigt  gefunden.  In  dem  vorliegenden  Fall  ist  jedenfalls  die 
Uebereinstimmung  mit  dem  Epos  zu  gross,  um  davon  abweichen  zu 
dürfen. 


—     137     — 

den  die  horizontale  Symmetrielinie,  die  das  Archemoroshild 
zeigt  lind  erhalten  dadurch  den  Ausdruck  des  Ungezwunge- 
nen und  Freien.  Interessant  ist  in  dieser  Beziehung  die 
canosische  Medeavase.  Hier  laufen  die  Linien  bei  Weitem 
nicht  so  ruhig,  wie  auf  unserm  Bilde  und  die  Figuren  sind 
nicht  so  gradlinig  gruppirt.  Das  ist^  aber  ganz  der  Ver- 
wirrung und  Bestürzung  angemessen,  die  dort  so  schön 
wiedergegeben  sind. 

Ueber  dem  Archemorosbilde  ist  der  Wagenkampf  des 
Pelops  und  Oenomaos  dargestellt.  Ich  verweise  hierüber 
auf  Gerhard's  Erklärung  (p.  25  f.) ,  die  ich  nur  wiedei'holen 
könnte.  In  Betreff  des  unter  den  Pferden  des  Oenomaos 
erscheinenden  Häsleins  möchte  ich  mich  indessen  der  Deu- 
tung Brauns^")  (di  pessimo  augurio,  come  lo  avean  gli  an- 
tichi)  anschliessen,  wie  sie  auch  von  Gerhard  (Text  z.  d. 
ant.  Bildw.  p.  289)  anerkannt  wird.  Der  Ort,  an  dem  es 
erscheint,  unter  den  Pferden  des  Oenomaos,  macht  seine 
Beziehung  auf  diesen  nothwendig.  So  steht  es  als  unglück- 
liche Vorbedeutung  für  Letztern  im  Gegensatz  zu  dem  glück- 
verheissenden  Eros,  der  über  dem  Gespann  des  Pelops 
schwebt.  Auch  die  Sirene  möchte  ich  dem  Ausdruck  des 
Archemorosbildes  gemäss  als  Muse  der  Todtenklage  ")  fas- 
sen, wie  sie  auf  Sophocles'  Grabe  stand. 

Dass  die  obere  Darstellung  aiif  die  Gründung  der  olym- 
pischen Spiele  Bezug  hat  wie  die  untere  auf  die  der  nemei- 
schen,  ist  offenbar.  Zwar  ist  es  gegen  die  gewöhnliche 
Ueberlieferung,  dass  Pelops  die  olympischen  Spiele  einge- 
setzt habe,  indessen  hat  der  von  ihm  begangene  Agon  alle 
übrigen  verdunkelt  ^*)  und  anderswo  erscheint  er  als  Stif- 
ter ^^).  Darauf  und  auf  eine  ursächliche  Verbindung  dieser 
Stiftung  mit  dem  Tode  des  Oenomaos  deutet  auch  die  Dar- 
stellung im  Giebelfeld  des  Zeustempels  zu  Olympia.  Wie 
unten  der  Tod  des  Archemoros  als  Veranlassung  der  ne- 
meischen,  so  ist  oben  der  des  Oenomaos,  den  uns  der  an 
der  an  der  Wagenachse  fehlende  Nagel  erwarten  lässt,  als 


36)  Bullet.  1835  p.  109. 

37)  Vgl.   Stackeiberg  Grab.   Griechl.  p.  32  und  das  Titelblatt. 

38)  Pausan.  V,  8,   1. 

39)  Hermann  Antiq.  II,  49,  2.     Welcker  A.  D.  I,  p.  183  u.  10. 


—     138    — 

Veranlassung  der  olympischen  Spiele  dargestellt.  Zeus  aber 
verbindet  beide;  denn  er  war  Festgott  in  Olympia  wie  in 
Nemea. 

Ich  knüpfe  an  dieses  Bild  die  Erörterung  eines  inter- 
essanten Unterschiedes  der  altern  und  spätem  Vasenmale- 
rei, der  vielleicht  noch  nicht  in  seiner  Ausdehnung  darge- 
legt ist.  In  Kampf-  .und  Mordscenen  liebt  die  ältere  Zeit 
den  Culminationspunkt,  die  spätere  einen  demselben  vor- 
hergehenden oder  nachfolgenden  Punkt  darzustellen.  Mit 
dem  Unterschiede  der  schwarz-  und  rothhgurigen  Vasen  fällt 
diese  Verschiedenheit  zwar  nicht  ganz  streng  zusammen, 
doch  aber  gehört  die  erstere  Darstellung  üljerwiegend  den 
schwarzfigurigen  Vasen  an.  Stephani*")  zählt  dreizehn  ar- 
chaische Vasen  auf  ^') ,  welche  den  Theseus  im  Kampf  mit 
Minotauros  zeigen.  Von  diesen  stellen  neun  Bilder  ^^)  den 
Augenblick  dar,  in  dem  das  Schwert  des  Theseus  dem  Mi- 
notauros bereits  in  die  Brust  gestossen  ist.  Von  rothfigu- 
rigen  Gefässen  erwähnt  Stephani  (p.  72)  vier^^),  ich  füge 
drei  hinzu'**).  Alle  diese  zeigen  einen  vorhergehenden  Mo- 
ment; Theseus  hält  das  Schwert  erhoben,  hat  aber  noch 
nicht  den  tödtlichen  Stoss  geführt ■*').  Stephani  führt  (p.  68. 
76)  noch  zwei  Wandgemälde''^)  an,  auf  denen  die  Leiche 
des  Minotauros  erscheint.  Diese  scheinen  ihn  zu  der  Be- 
merkung (p.  76)  veranlasst  zu  haben,  die  älteste  Zeit  habe 
eine  Scheu  gehabt,  Todte  zu  bilden,  daher  habe  sie  den 
der  Tödtung  zunächst  vorhergehenden  Augenblick  gewählt. 
Gewiss  unrichtig;  ich  erinnere  an  die  unzähligen  Darstel- 
lungen, wo  um  einen  Leichnam  gekämpft  wird;  an  die 
Schleifung  Hector's,    an  die  Eberjagden,   in  denen  fast  re- 


40)  Kampf  des  Theseus  mit  Minotauros.    Leipzig  1842 ,  p.  66. 

41)  Steph.  Taf.  1.  2.  3.  4.  6.  7,  8.  9.  10.     Becker  August.  III,  15J. 
Miliin  Gall.   Myth.   CXXXI,  490.    Inghir.  Vasi  fitt.  III,  297. 

42)  Steph.  1.  2.  3.    6.  7.  8.  10.     Becker   August.  III,  154.     Millin 
Gall.  Myth.  CXXXI,  490. 

-43)  Miliin  CXXXI,  492.    O.  Jahn  Vasenb.  Taf.  II.    Dubois-Maisonn. 
PI.  68.     Miliin  Peint.  II,  78,  6. 

44)  Mus.  Gregor.  II,  57,  1  a.  62,  la.  2  a. 

45)  Vgl.  das    rothfigurige    Bild,    Hermes   und    Argos   bei    Panofka: 
Argos  Panoptes,  Sehr.  d.  Berl.  Akad.   1837.  Taf.  3,  2. 

46)  Miliin  G.  M.  CXXVIII ,  491.     Mus.  Borb.  X,  51. 


—     139    — 

gelmässig  ein  Todter  unter  dem  Eber  liegt,  an  den  Kampf 
des  Hercules  mit  Geryon,  avo  wir  durchgängig  den  todten 
Eurytion  erblicken  u.  s.  w.  Alles  das  gehört  wesentlich 
dem  altern  Vasenstil  an,  von  einer  Scheu,  Todte  zu  bilden, 
ist  keine  Rede*^).  In  jenen  beiden  Wandgemälden  wird 
nicht  der  Kampf  dargestellt,  sondern  es  kam  auf  das  aus 
demselben  Resultirende  an,  auf  die  Freude  der  geretteten 
Jünglinge  und  Jungfrauen  und  auf  das  Verhältniss  des  The- 
seus  zur  Ariadne.  Der  blosse  Kampf  als  solcher  interessirt 
die  archaische  Malerei  und  zwar  nicht  der  bevorstehende, 
sondern  sie  liebt  es,  den  Helden  mitten  darin  begriffen  zu 
zeigen.  Ich  erinnere  an  die  Heracleskämpfe  mit  Triton, 
Acheloos-  und  dem  Löwen.  Constant  wird  der  Augenblick 
dargestellt,  avo  Heracles  im  Begriff  ist,  dem  Thier  die  Rip- 
pen zu  brechen**).  Dass  aber  in  den  Kämpfen  grade  die- 
ser Höhenpunkt  uns  A'orgeführt  wird,  hat  nur  seinen  Grund 
in  dem  unendlichen  Ringen  nach  Ausdruck  und  Leben,  das 
die  archaischen  Vasen  zeigen.  Es  ist  wie  ein  neu  er- 
Avachender  Trieb,  der  sich  ungebunden  maasslos  geltend 
macht.  Daher  die  excentrischen  Stellungen  der  Figuren, 
daher  auch  die  Wahl  der  Stoffe.  Das  Zarte  und  Feine  ist 
fast  ganz   ausgeschlossen''^),   die  Kämpfe   der  Heroen,   vor 


47)  Bemerkenswerth  ist  die  Stellung-  der  Gottheit  in  Kampfscenen. 
Wie  im  Epos ,  so  erscheint  sie  auf  den  scliwarzfigurig^en  Vasen  mitten 
im  Gewühl  des  Kampfes,  in  der  unmittelbarsten  Berührung:  mit 
dem  Tode  (Gerhard  Auserl.  Vasenb.  II,  105.  122.  Overbeck  Taf.  XV,  12. 
XXIII,  1).  Das  ist  auf  den  spätem  Vasen  nicht  mehr  der  Fall  und 
hier  kann  man  vielleicht  ausser  der  Wirkung  des  geläuterten  Geschmacks 
die  Tragödie  anführen,  in  der,  soviel  ich  weiss,  zuerst  der  Gedanke 
ausgesprochen  wird,  dass  der  Tod  die  Götter  befleckt  (Eurip.  Ale.  22. 
Hippol.  1437). 

48)  Höchst  interessant  und  characteristisch  für  die  Lebendigkeit, 
welche  die  archaischen  Vasen  atiszeichnet,  scheint  mir  die  Stellung  und 
Bewegung  des  lolaos  im  Löwenkampf  bei  Gerhard  Etrusk.  und  Kampan. 
Vasenb.  Taf.  12.  Gerhard  (p.  15)  bemerkt ,  lolaos  sei  erwartungsvoll, 
aber  dem  entsprechen  seine  Geberden  nicht.  Er  macht  ganz  genau  die 
Bewegung  des  Heracles  nach.  Der  treue  Knappe  ist  entzückt  von  sei- 
nes Herrn  kräftigen  Griffen,  er  nimmt  so  lebhaften  Antheil,  dass  er  sie 
unwillkürlich  selber  nachmacht.     Vgl.  Berl.  Mus.   1978. 

49)  Die  Musen  kenne  ich  nur  auf  der  Klitiasvase  und  hier  sind  sie 
nur  das  Orchester  des  Olymp's. 


—     140     — 

t 

Allem  des  Heracles,  sind  der  diesem  Trieb  allein  ent- 
sprechende Gegenstand.  Wie  man  die  ältesten  mit  Tliier- 
figiiren  und  Arabesken  phantastisch  geschmückten  Vasen 
das  Märchenalter  der  Malerei  nennen  möchte  ^") ,  so  sind  die 
schwarzfigurigen  das  Heroenaltcr.  Ungebändigte  Kraftfülle 
characterisirt  es;  es  muss  möglichst  heiss  hergehen.  Wie 
aber  auf  das  Heroenalter  die  Zeit  der  Sittigung  und  des 
Gesetzes  folgte,  so  folgt  auf  das  schrankenlose  Uebermaass 
des  archaischen  Stils  der  maassvolle  Adel  des  schönen.  Als 
weitere  Belege  führe  ich  an  die  Schlangenkämpfe.  Die 
unschätzbare  Vase  bei  Welcker  (A.  D.  III,  Taf,  6)  stellt 
den  Heracles  mitten  im  heissesten  Kampfe  dar^');  drei 
Schlangenhälse  durchsticht  er  mit  einem  Stoss.  Damit  ver- 
gleiche man  die  spätem  Drachenkämpfe  des  Kadmos  und 
lason,  in  denen  immer  der  bevorstehende  Kampf  dargestellt 
ist.  Interessant  ist  das  dem  ältesten  Stil  der  rothtigurigen 
Vasen  angehörige  Orestesbild  des  Berliner  Museums^*). 
Sehr  richtig  bemerken  die  Ausleger'^),  es  sei  nicht  nach 
der  Tragödie  gearbeitet;  es  stellt  einen  Moment  vor,  der 
auf  der  Bühne  nicht  vorkam.  Das  Schwert  des  Orestes 
steckt  in  der  Brust  des  Aegisthos  und  ein  starker  Blut- 
strom schiesst  hervor;  das  Bild  zeigt  also  den  Augenblick 
der  Durchbohrung  selbst,  ganz  dem  Character  der  archai- 
schen Vasen  gemäss.  Warum  nun  später  nicht  mehr  der 
Gipfelpunkt  der  That,  sondern  ein  ihm  vorhergehender  oder 
nachfolgender  Moment  dargestellt  ist,  davon  kann  man  den 
Grund  in  der  Läuterung  des  Geschmacks  und  Aiisbildung 
des  künstlerischen  Gefühls  suchen,  denn  es  ist  klar,  dass 
die  archaische  Weise  beiden  nicht  entspricht  '"*) ,  für  manche 


50)  Entspriclit  ihnen  nicht  in  der  Literatur  die  Thierfabel? 

51)  Derselbe  Augenblick  ist  darg-estellt  bei  Gerhard  Auserles.  Va- 
senb.  II,  95. 

52)  Gerhard.  Berl.  Ant.  Bildw.  No.  1(H)7.  Etr.  u.  Kamp.  Vasenli. 
Taf.  24.     Overbeck  Taf.  XXVIII  N.  10. 

53)  Gerhard  p.  35.     Overbeck  p.  696. 

54)  Es  genüg-t,  an  Lessing's  Laocoon  zu  erinnern.  Die  neuere  Ma- 
lerei zeigt  bekanntlich  ähnliche  Erscheinungen.  Man  vergleiche  z.  B. 
die  verschiedenen  Darstellungen  von  Stephanus'  Märtyrertod.  Auf  einem 
altdeutschen  Bild  in  der  Moritzkapelle  zu  Nürnberg  liegt  ein  schwerer 
Stein    auf   dem  Haupt    des  Märtyrers   und   aus    tausend  Wunden    spritzt 


—     141     — 

Darstellungen  kann  aber  auch  hier  die  ]^ühne  eingewirkt 
haben ;  da  diese  die  Gräuelseone  selbst  hinter  die  Seene  zu 
verlegen  pflegte^'').  Die  etruskische Kunst  hat  dagegen  den 
Moment  festgehalten ,  von  dem  die  Griechen  ausgegangen 
sind;  consequent  zeigt  sie  das  Gräuel  selbst.  Aiax  vom 
Schwerte  durchbohrt,  Eteocles  und  Polyneikes  sich  gegen- 
seitig das  Sclnvert  in  die  Brust  stossend,  Oedipus  in  dem 
Augenblick  der  Blendung ,  Menoikeus  sich  durchbohrend, 
Orestes  der  Mutter  das  Schwert  in  den  Nacken  stossend^®) 
—  alle  diese  Gegenstände  zeigen  den  Augenblick,  der  in 
der  griechischen  Tragödie  für  den  Zuschauer  unsichtbar 
war  und  den  wir  auf  keinem  griechischen  Bildwerk  wieder- 
finden. — 

Der  'Revers  unserer  Archemorosvase  würde  eine  aus- 
gedehnte mythologische  Untersuchung  erfordern;  ich  erlaube 
mir  nur  ein  Wort  über  die  muthmaassliche  Bestimmung 
des  Gefässes.  Gerhard  (p.  67)  vermuthet  ein  Hochzeitsge- 
schenk, O.  Müller")  deutet  den  von  der  Schlange  umwun- 
denen Hesperidenbaum  als  Symbol  einer  in  Dunkel  und 
Schrecken  gehüllten  Seligkeit,  eine  Beziehung,  die  von  Ei*- 
stei-em  (p.  68)  bestritten  wird.  Gegen  Gerhards  Ansicht 
scheint  mir  zweierlei  zu  sprechen.  Erstens  ist  es  wohl 
nicht  passend,  ein  Hochzeitsgeschenk  mit  dem  Bilde  des 
Todes  zu  schmücken,  zweitens  scheint  Gerhard  den  Hera- 
cles  übersehen  zu  haben,  auf  den  doch  Alles  ankommt. 
Von  seiner  treuen  Begleiterin  Athene  geführt  ist  er  an  die 


dcas  Blut.     Die  Grässliclikeit   ist  hier  auf   die    höchste  Spitze  getrieben. 
Wie  ganz  anders  hat  Raphael  den  Gegenstand  behandelt. 

55)  Phiiostr.  "Vit.  Apoll.  VI,  11.,  welche  Worte  jedoch  richtig  ein- 
geschränkt werden  von  Feuerbach  Vatic.  Ap.  332  f.  So  macht  auch 
die  Niobe  des  Sophocles  eine  Ausnahme  und  es  lassen  sich  die  Vasen- 
bilder dieses  Gegenstandes,  welche  die  Tödtung  selbst  darstellen,  als 
Beleg  anführen,  denn  nicht  Referirtes,  sondern  wirklich  Dargestelltes 
findet  sich  auf  den  nach  der  Tragödie  gearbeiteten  Vasen  wieder. 

56)  Overb.  XXIV,  2.  V,  12.  Müller  A.  D.  I,  62,  316.  Overbeck 
VI,  2.  Rochette  Mon.  Ined.  29,  1.  Vgl.  den  Tod  des  Agrius  nach  IJh- 
den  Abb.  der  Berl.  Akad.  1827  p.  202  f.  und  die  barbarische  Abschlach- 
tung  der  Troer  am  Grabe  des  Patroclos  (Overb.  XIX  n.  13  und  derselbe 
Gegenstand  Roch.  PI.  21,  1). 

57)  Handb.  §  431 .  2. 


—     142     — 

Grenzen  der  Welt  gekommen.  An  ilin  tlattert  die  Nike 
heran,  für  ihn  sind,  wenn  ich  nicht  irre,  der  Kranz  und 
die  Tänie  bestimmt,  die  wir  in  den  Händen  zweier  He.spe- 
riden  erblicken.  Bekannt  ist,  dass  nach  schriftstellerischen 
und  monumentalen  Nachrichten  das  Hesperidenabenteuer 
auch  als  letztes  Athlon  erscheint,  dürfte  man  den  Heracles 
nicht  fassen  als  den  Sieger,  der  nach  iMühe  und  Noth  ein- 
zieht in  ein  seliges  Freudenleben?  Zwar  bemerkt  Völcker^^j, 
dass  kein  Schriftsteller  die  Hesperiden  in  Elysium  wohnen 
lasse,  aber  ein  Fragment  Piudars^®;  scheint  für  eine  Ver- 
mischung Elysium's  und  der  Hesperiden  zu  sprechen.  Pin- 
dar,  welcher  nie  die  Hesperiden  erwähnt,  spricht  hier  bei 
der  Beschreibung  des  Lebens  der  Seligen  von  goldenen 
Früchten  im  Elysium,  sollte  es  nicht  erlaubt  sein,  dies 
als  eine  Entlehnung  aus  dem  Hesperideugarten  anzusehen  V 
Dass  -  die  Vermischung  nahe  lag ,  wird  Niemand  läugnen  ; 
beide  liegen  im  Westen,  beide  sind  ein  Ort  des  üppigsten 
Natursegens.  Die  Namen  der  Hesperiden  deuten  auf  den 
Glanz  der  scheidenden  Sonne ,  die  untergehende  Sonne  aber 
ealt  als  ein  Bild  des  Todes®").  Ich  schliesse  mich  danach 
der  Auffassung  Müllers  an  und  zu  dieser  sepulcralen  Deu- 
tung scheint  am  Besten  der  unvermeidliche  bacchische 
Schwärm,  der  über  dem  Hesperidenbilde  erscheint,  zu  stim- 
men, den  ich  nicht  anders  zu  deuten  vermag,  als  auf  die 
fisQ^rj  aiojVtog"),  die  der  Lohn  der  Geweihten  war. 

Welche  Beziehung  den  Avers  und  Revers  unseres  Ge- 
fässes  verknüpft,  darüber  habe  ich  nvir  eine  unsichere  Ver- 
muthung;  dass  eine  solche  vorhanden  ist,  bezweifle  ich 
nicht.  Die  Vorderseite  erinnert  an  zwei  berühmte  Wett- 
spiele, das  Hesperidenbild  zeigt  den  Heracles,  das  Vorbild 
aller  Athleten.  Pindar  pflegt  seinen  Siegern  das  Bild  des 
Letztern    als    nachahmungswürdiges    Beispiel    hinzustellen, 


58)  Myth.  Geogr.  p.  118. 

59)  Threu.   1  Diss.   ed.  Schneid. 

60)  Yg\.  Göttling.  z.  Hesiod.  Theog.  v.  518.  Ein  weiterer  Ver- 
gleichspunkt zwischen  Sonnenlauf  und  menschlichem  Leben  Hegt  darin, 
dass  man  beide  als  növog,  den  Sonnenuntergang  wie  den  Tod  als  avix- 
■jiavGiq  fasste.     Minnerm.  fr.   12  (Bergk). 

61)  Plat.  Rep.  II  p.  803  D. 


—     143    — 

vielleicht  lieget  ein  ähnlicher  Gedanke  unserer  Vase  zn 
Grunde.  Sie  könnte  das  Grab  eines  Doppelsiegers  in  Olym- 
pia und  Nemea  geschmückt  haben,  der  gekämpft  und  ge- 
stritten nach  dem  Vorbild  des  Heracles.  Mit  freundlichen 
Erinnerungen  des  vergangenen  Lebens  sollten  die  Grabge- 
fässe  den  Todten  umgeben®*),  für  einen  Athleten  gab  es 
keine  schönere  Erinnerung,  als  die  an  seine  Siege,  keine 
tröstendere  Aussicht  als  das  Geschick  des  Heracles,  der 
den  Siegerkranz  empfängt  von  den  hellstimmigen  Jung- 
frauen Hesperiens  und  einzieht  in  ein  müheloses  Freuden- 
leben. — 


(i2)  Ifcim.  Antiq.  III,  40,  24. 


B  e  r  i  c  h  t  i  g-  u  ng'  e  n. 

Auf  p.  13  Zeile  14  v.  oben:  statt  „Heyne"  lies  ., Heyne   "^f 

»     »  21  Aura.  35.  Z.  4  v.    oben:  statt    „dubitari"  lies  .,sub  dubitari' 

»     »  22  Z.  19  V.   oben:   statt  „KTrAoTrjTi"  lies  ccjtalörrjn'' 

»     »  82    »      9  V.  unten:      »     ,,Griebelrande"   lies    ,,(>iebelen<le" 

»     »  87    »    13  V.        »  »     „nur"  lies  „nie" 

»     »  117    »      5  V.  oben:       »     Stelle"  lies  „Stele'" 

»     »  124    »      2  V.       »  »     „a.  u.  O."  lies   .,a.   a.   O."' 


Die 


Pliilostratisclien  Bilder. 

Ein   Beitrag" 


zur 


Charakteristik  der  alten  Kunst 


Dr.  K.  Friederichs, 


a.  0.  Professor  an   der  Universität  und  Directorial -Assistenten 
am  königl.  Museum  in  Berlin. 


Erlangen, 

Verlag     von    Andreas    Deichert. 

1860. 

•3  hT 


Druck  von  Junge  &  Sohn  in  Erlangen. 


Herrn 


Professor  Dr.  0.  Jahn 


in  Bonn 


in    dankharer   Verehrung" 


gewidmet. 


Hochverehrter  Herr! 


Die  Widmung  dieses  Buches  wollen  Sie  als  einen  Aus- 
druck dankbarer  Verehrung  freundlich  auftiehmen.  Wenn  ich 
auch  nicht  von  Jhnen  persönlich  gelernt  habe,  so  verdanke 
ich  doch  Ihren  Schriften  Belehrung  und  Anregung  in  reich- 
stem Maasse ,  besonders  aber  die.  Freude  an  methodischer 
Untersuchung.  Es  ist  gewiss  nicht  bloss  meine  Ansicht, 
dass  durch  Jhre  Schriften  ein  neuer  Ansatz  in  der  Erklärung 
alter  Kunstwerke  gemacht  ist. 

Verstatten  Sie  mir,  dass  ich  Ihnen  kurz  die  allgemeinen 
Grundsätze  vortrage,  die  ich  in  diesem  Buch  befolgt  habe, 
die  mir  überhaupt  in  der  Kunsterklärung  maassgebend  zu 
sein  scheinen.  Es  ist  eine  Freude  für  einen  Jüngern,  einem 
erfahrneren  Mann,  auf  dessen  wohlwollende  Theilnahme  er 
vertrauen  darf,  seine  Ansichten  vorzulegen.  Möchten  Sie 
aus  meinen  Erörterungen  erkennen,  dass  die  Grundsätze,  die 
Sie  theoretisch  und  praktisch  ausgeführt  haben,  nicht  ohne 
W^irkung  auf  mich  geblieben  sind! 


VI 

Von  dem  Satz  ausgehend,  dass  die  Kunst  der  Alten 
Gegenstand  der  Archaeologie  sei,  stelle  ich  zwei  Forderun- 
gen an  den  Erklärer  eines  Kunstwerks.  Er  soll  zuerst  das 
Bild  des  Kunstwerks,  wie  es  im  Geist  des  Künstlers  existirte 
vor  seiner  Ausführung  in  der  Materie,  sich  klar  machen. 
Unter  diesem  Bilde  —  ich  will  es  nach  Analogie  eines  von 
W.  von  Humboldt  für  die  Sprachwissenschaft  gebrauchten 
Ausdrucks  die  innere  Kunstform  nennen  —  verstehe  ich  nicht 
das,  was  wir  die  Idee  eines  Kunstwerks  nennen,  es  ist  viel- 
mehr etwas  ganz  Konkretes,  es  ist  der  im  Geiste  des  Künst- 
lers umgebildete  Stoff,  den  Kultus  und  Dichtung,  Menschen- 
leben und  Natur  boten.  Diese  Umwandlung  ist  das  Erste, 
was  zu  untersuchen  ist,  es  muss  der  Stoff  der  Wirklichkeit, 
von  welchem  der  Künstler  ausging,  verglichen  werden  mit 
dem  im  Kunstwerk  umgebildeten  Stoff.  Die  Kunst  eines 
einzelnen  Künstlers  und  eines  ganzen  Volks  ist  nur  eine  be- 
sondere individuelle  Darstellung  der  innern  und  äussern 
Welt,  ebenso  wie  die  Sprache.  Das  Maass  aber  und  die 
Art  der  Umbildung  ist  im  letzten  Grunde  abhängig  von  der 
GeisteseigenthümHchkeit  des  Schaffenden.  Diese  Sätze  wer- 
den Sie,  hochverehrter  Herr,  mir  gewiss  nicht  bestreiten; 
wären  sie  aber  lebendig  in  der  Wissenschaft,  so  hätte  man, 
um  zunächst  von  meinem  Fall  zu  reden,  die  philostratischen 
„Bilder"  nicht  für  wirkliche  Bilder  halten  können,  denn  man 
hätte  ja  zuerst  das  Verhältniss  dieser  angeblichen  Kunst- 
werke zu  dem  Stoff,  aus  dem  sie  genommen  sind,  unter- 
suchen müssen  und  würde  dann  bald  gefunden  haben,  dass 
ihnen  die  zum  Kunstwerk  nothwendige  Umbildung  fehlt. 
Sodann  aber  könnten  nicht  mehr  die  weitverbreiteten  Erklä- 
rungsweisen   bestehn,    nach    welchen    die  Kunstwerke    nur 


vn 

Dlustrationen  der  Mythologie  und  der  Antiquitäten  sind. 
Die  erste  dieser  Richtungen  ,  die  sich  besonders  an  die  Va- 
sen knüpft,  geht  von  der  Voraussestzung  aus,  dass  Götter 
und  Heroen  als  das  dargestellt  seien,  was  sie  etwa  ursprüng- 
lich gewesen  sind ,  als  Naturkräfte.  Diese  falsche  Voraus- 
setzung, die  gar  nicht  einmal  als  Voraussetzung  empfunden 
wird,  hat  für  die  Erklärung  im  Einzelnen  die  Folge,  dass 
Alles,  Gewandung,  Geberden  u.  s.  w.  symbolisch,  d.  h.  so 
gedeutet  wird,  dass  eine  Beziehung  auf  das  Naturelenient 
herauskommt,  welches  der  betreffenden  F%ur  zu  Grunde  lie- 
gen soll.^  Sagen  Sie  selbst,  ob  dies  nicht  der  Grundirrthum 
ist,  der  so  viele  und  nicht  bloss  ausländische  Vasenwerke 
durchzieht;  und  doch,  wenn  man  nicht  aus  dem  Charakter 
der  Vasen  selbst  erkennen  konnte,  dass  es  sich  um  etwas 
ganz  Anderes,  als  um  Darstellung  von  Naturkräften  handelt, 
so  hätte  die  eine  Thatsache ,  dass  die  grosse  Menge  dieser 
Bilder  aus  der  Poesie,  aus  dem  dichterisch  bearbeiteten  My- 
thus geschöpft  ist,  auf  einen  andern  Weg  führen  müssen. 
So  wenig  Homer  sich  seinen  Apollo  als  Kraft  denkt,  eben 
so  wenig  der  Vasenmaler,  der  aus  ihm  schöpft.  Diese  Rich- 
tung aber  ist  es,  von  welcher  die  trübe  Vermischung  von 
Mythologie  und  Archaeologie  ausgeht,  die,  soviel  ich  ein- 
sehe, weder  der  einen  noch  der  andern  Disciphn  Vortheil 
bringt.  Die  Erklärung  eines  Kunstwerks  hat  wol  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  mit  der  Mythologie  zu  schaffen ,  als  die 
Erklärung  eines  Dichters,  der  Mythen  gebraucht. 

Die  andre  Erklärungsweise  ist  nicht  im  Princip,  nur  im 
Ausgangspunkt  verschieden.  Auch  sie  nimmt  der  Kunst  ihre 
eigenthümliche  Sphäre,  indem  sie  dieselbe  zu  einer  Abschrei- 
beriu  der  Wirklichkeit  macht.    Man  sagt  z.  B.,  am  Fries  des 


VIII 

Parthenon  könne  kein  Festzug  dargestellt  sein,  weil  die 
Kränze  fehlen ,  die  in  den  Festzügen  der  Wirklichkeit  aller- 
dings nicht  fehlten.  Man  sagt  dies  mit  der  völligsten  Sicher- 
heit ohne  auch  nur  das  Bevvusstsein  zu  haben,  dass  dieser 
Einwand  auf  einer  Voraussetzung  beruht,  die  doch  wahrlich 
bewiesen  zu  werden  verdient.  Hätte  sich  der  Urheber  dieser 
Behauptung  zuerst  einmal  die  MögHchkeit  vorgestellt,  dass 
dies  ein  Punkt  sei,  in  Melchem  die  Kunst  abweicht,  hätte 
er  sich  sodann  die  Mühe  gegeben ,  plastische  Monumente 
mit  analogen  Daltetellungen  zu  vergleichen  und  auf  diese 
Weise  eine  empirische  Regel  zusammengesetzt,  dann  wäre 
sein  Verfahren  methodisch,  jetzt  ist  es  ein  willkürhches 
Hinüberspringen  auf  ein  Gebiet,  das  seine  besondern  Gesetze 
hat.  Die  Kunst  weicht  ab  von  der  Wirkhclilceit,  in  verschie- 
denem Grade  je  nach  der  Natur  des  Volks ,  und  innerhalb 
eines  und  desselben  Volks  ist  es  wiederum  je  nach  Gattung 
und  Zeit  eines  Monuments  verschieden.  Die  Regeln  dafür 
lassen  sich  nur  aus  der  sorgfältigen  Vergleichung  der  Monu- 
mente entnehmen,  wobei  Gattung  und  Zeit  genau  zu  schei- 
den sind.  Denn  dabei  kann  freihch  die  methodische  Kunst- 
erklärung nicht  bestehn,  wenn  mau,  was  oft  geschieht,  so 
verschiedenartige  Monumente,  wde  Vasen  und  Sarkophage, 
als  gleichartig  zusammenstellt. 

Die  zweite  Anforderung  an  den  Kunsterklärer  ist  die, 
mit  dem  Innern  Bild  des  Kunstwerks  das  äussere,  sichtbar 
gewordene  zu  vergleichen.  Ist  das,  was  dem  Künstler  zur 
Verwirklichung  vorschwebte,  rein  und  ohne  Hemmung  in  die 
Erscheinung  getreten?  Denn  es  wäre  ja  denkbar,  dass  die 
Materie,  der  Raum  und  manche  andre  Dinge  dem  Künstler 
eine  Beschränkung  auferlegten,  so  wie  auch  nach  Humboldt's 


IX 

Bemerkung  der  innern  Sprachform  an  dem  Laut  eine  Schwie- 
rigkeit entgegentritt,  die  nicht  immer  gleich  glücklich  über- 
wunden wird.  Im  vollendeten  Kunstwerk  ist  allerdings  völ- 
lige Uebereinstimmung  zwischen  dem  äussern  und  innern 
Bilde,  aber  anders  ist  das  Verhältniss  am  Anfang  und  am 
Ende  der  Kunstentwicklung.  Es  leuchtet  ein,  dass  auch 
hier  nur  durch  genaue  methodische  Vergleichung  der  Denk- 
mäler selbst  die  richtige  Scheidung  zwischen  den  innerlich 
beabsichtigten  und  den  durch  äussere  Bedingungen  hervor- 
gerufenen Elementen  der  Darstellung  vollzogen  werden 
kann. 

Ich  hoffe,  hochverehrter  Herr,  hinsichtlich  dieser  allge- 
meinen Sätze  auf  Ihre  Beistimmung,  ich  hoffe  auch  darauf 
hinsichtlich  des  vorliegenden  Buchs.  Sehn  Sie  es  mir  nach, 
wenn  es  etwas  ausführlicher  geworden  sein  sollte,  als  viel- 
leicht nöthig,  der  Glaube  an  die  einstmahge  Existenz  der 
philostratischen  Bilder  ist  im  Allgemeinen  so  fest,  dass  ich 
lieber  zu  viel,  als  zu  wenig  anführen  wollte;  sehn  Sie  es 
mir  auch  nach,  wenn  ich  manchmal  ein  Werk  der  erhalte- 
nen Kunst  herangezogen  habe,  ohne  dass  es  geradezu  nöthig 
war.  Ich  hatte  den  Wunsch,  wenn  ich's  könnte,  meinem 
Buch  einen  kleinen  von  der  Hauptbeweisführung  unabhängi- 
gen Werth  mitzugeben,  damit  es  nicht  gleich  veraltet  wäre, 
wenn's  ihm  gelingen  sollte,  von  seiner  Hauptthesis  zu  über- 
zeugen. Dass  ich  aber  in  meinem  Buch,  wo  an  mehreren 
Stellen  mit  grösseren  Reihen  von  Monumenten  operirt  wird, 
nichts  übersehn,  möchte  ich  am  allerwenigsten  Ihnen  gegen- 
über behaupten,  gestrebt  habe  ich  darnach  und  hoffe  soviel 
wenigstens,  dass  meine  Bemerkungen  aus  den  Kunstwerken 
selbst  herausgenommen  erscheinen  w^erdeu.    Und  so  lege  ich 


X 

denn  mit  der  Bitte  um  ein  wohlwollendes,  aber  nicht  —  ich 
sage  es  zum  Besten  der  Sache  und  um  meiner  eignen  För- 
derung willen  —  schonendes  Urtheil  das  Buch  vertrauens- 
voll in  Ihre  Hände. 

Berlin  im  Februar  1860. 

In  dankbarer  Verehrung 

K.  Friedericbs. 


Inhalt. 


Seite 

Geschichte  und  Methode  der  Untersuchung 1 

Erster  Abschnitt.     Die  Abhängigkeit  der  Plnlostrate    von  der 

Poesie 11 

Zweiter  Abschnitt.     Die  eignen  Erfindungen  der  Philostrate   .  140 

Schlussbetrachtung 199 

Excurs  I.     lieber  die  Entwicklung   der  Gesichtsformen  in  der 

griechischen  Kunst 205 

Excurs  II.     Ueber  die  Raumiullung  auf  den  Vasen     ....  209 

Excurs  III.     Zur  Geschichte  der  Composition 220 

Excurs  IV.     Ueber   den   Achillesschild    bei   Homer   und  dem 

jungem  Philostratus       223 

Excurs  V.     Ueber  Nacktheit    und  Bekleidung  in    der  griechi- 
schen Kunst 230 

Excurs  VI.     Ueber  die  Gestalt  des  Eros  in  Poesie  und  Kunst  240 

Excurs  VII.     Ueber  die  Personifikation  der  Natur       ....  246 


(beschichte  mul  Methode  der  lutersiichuug. 


H/iiie  eingeliendere  Prüfung  der  philostralischeii  Bilder 
hat  zuersf  Heyne  angestellt^).  Vor  ihm  behandelte  mau  sie 
arglos  als  das,  was  sie  sein  wollen,  als  wirkliche  Bilder; 
doch  meinten  schon  damals  einige,  wenn  auch  unbedeuten- 
dere Archaeolögen ,  die  gan^e  Gallerie  in  Neaper  möge  wol 
eine  reine  Erfindung  des  Philosti'atus  sein 2).  Sie  stützten 
sich  insbesondere  darauf,  dass  auf  manchen  Bildern  die  Ein- 
heit der  Handlung  fehle,  ein  Argument,  das  von  der  andern 
Seite  mit  Berufung  auf  Analogien ,  wenn  nicht  der  alten,  so 
doch  der  neuern  Kunst  zurückgewiesen  wurde ^).  Heyne  be- 
ginnt mit  der  Bemerkung,  er  habe  .keinen  Grund,  sich  für 
das  Eine  oder  das  Andx-e  zu  entscheiden ,  aus  dem  Schluss 
seiner  Untersuchung  aber  ersieht  man.  dass  trotz  aller  sophi- 
stischen Zusätze  die  Beschreibungen  ihm  auf  Grund  wirk- 
licher Bilder  gemacht  zu  sein  schienen.  Vieles  nämhch 
streicht  er  als  nicht  gesehen ,  sondern  nur  zu  rhetorischen 
Zwecken  hinzugefügt.  Er  verräth  darin  manchmal  ein  rich- 
tiges Gefühl,  besonders  in  dem  Bilde  des  Komos,  das  nach 
Philostratus    einen    und    denselben   Besriff   in    einer   Gestalt 


1)  Opusc.  V.  p.  12—195. 

2)  Man  vgl.  die  Citate  bei  Welcker-Jacolis  und  Kaj'ser  in  den 
Prolegg.  zu  iliren  Ausgaben. 

3)  Dies  thxit  Torkillus  Baden:  Commentatio  de  arte  ac  judicio 
Fl.  Philostrati  in  descr.  imaginibus,  Hafniae  1792 ,  welche 
Sclirift  ich  leider  nur  aus  den  Anführungen  Welcker's  kenne. 

1 


personifizirt  und  zugleich  in  seiner  realen  Erscheinung  dar- 
stellte, nacli  Heyne  dagegen  sicli  auf  die  eine  allegorische 
Figur  beschränkte;  indessen  ist  es  nicht  mehr  als  ein  unbe- 
stimmtes CTefühl,  was  ihn  leitet  in  der  Scheidung  des  wirklich 
Vorhandenen  und  vom  Rhetor  Hinzugelügten,  und  der  Maugel 
aller  Begründung  schwächt  noch  mehr  den  Eindruck  seines 
schwankend  ausgesprochenen  ürtheils.  Denn  zu  erörtern. 
Avenn  nicht  aus  Theorie  und  Empirie  der  Kunst  zugleich, 
wenigstens  aus  dem  Einen  oder  dem  Andren ,  warum  dies 
und  jenes  nicht  im  Bilde  gewesen  sein  könne,  dazu  macht 
Heyne  nicht  einmal  den  Versuch.  EImus  von  der  Art  Les- 
sings  war  nicht  in  ihm,  er  hat  nur  das  Verdienst,  die  Auf- 
merksamkeit auf  seinen  Gegenstand  gelenkt  zu  haben. 

Das  lebhafteste  Interesse  nahm  Göthe  am'Philostraius 'J. 
Die  Gemäldegallerie  wird  von  ihm  als  wirkhcli  vorausgesetzt, 
doch  sei  es  nöthig,  das  wirklich  Angeschaute  'von  der  red- 
nerischen Zuthat  zu  sondern,  was  durch  die  Wandgemälde 
und  Mosaiken  nuighch  gemacht  werde.  Es  ist  sehr  instruktiv, 
die  Veränderungen  zu  beobachten,  die  Göthe  mit  den  Bildern 
vornimmt,  sie  sollen  im  Verlauf  dieser  Untersuchung  zur 
Sprache  kommen;  die  Worte  des  Textes  werden  freilich 
etwas  sorglos  behandelt,  es  kommt,  vor,  dass  Göthe  das 
gerade  Gegentheil  von  demjenigen  annimmt,  was  die  Worte 
des  Schriftstellers  sagen.  Doch  \Aer  wollte  daraus  dem 
Dichter  einen  Vorwurf  machen !  Auch  verfolgte  er  ja  nicht 
wissenschaftliche  Zwecke,  seine  Absicht  war,  den  Künstlern 
lockende  Aufgaben  zu  zeigen. 

Sodann  haben  Welcker  und  Jakobs  den  Philostratus  be- 
arbeitet 2).  Sie  theilten  die  Arbeit  so,  dass  dem  Ersteren 
hauptsächlich  die  archäologische  Exegese,  dem  Letzteren 
die  Kritik  und  Erklärung  der  Sprache  zufiel.     Doch  hat  auch 


1)  Vgl.  Bd.  30. 

2)  Philostratoruin  imagincs  et  Calli^trati  titatuae.  Textum  ad 
fidem  vetenun  librorum  recensuit  et  commentarium  adjecit 
Fridericns  Jacobs,  observationes  arcliaeologici  praesertim  ar- 
gumenti  addidit  Frid.  Theoph.  Welcker.     Lipsiae  1825. 


Jakobs  die  Frage  erörtert,  ob  die  Beschreibungen  von  wirk- 
lichen Bildern  genommen  seien.  Er  kommt  dabei  auf  eine 
Vermuthuug,  auf  die  ich  aufmerksam  macheu  muss;  es  ist 
eine  Ahnung  des  Richtigen,  die  leider  aus  einem  durchaus 
falschen  Grunde  wieder  unterdrückt  wird.  Jakobs  weist 
nämlich  mit  ungemein  verdiensh  oller  Gelehrsamkeit  nach, 
dass  der  Wörterschatz  der  Philostrate  zum  grossen  Theil 
aus  Dichtern  genommen  .  sei ;  eben  dieser  Umstand  bringt 
ihn  p.  XIX  auf  die  Vermuthung  ,  vielleicht  seien  nicht  bloss 
die  Worte,  sondern  auch  die  Gegenstände  der  Gemälde 
selbst  aus  Dichtern  entlehnt.  Eine  genaue  Yergleichung  der 
Gemälde  mit  den  einschlägigen  Dichterstellen  würde  diese 
Vermuthung  zur  Gewissheit  erhoben  haben ,  Jakobs  nimmt 
sie  zurück  mit  der  Bemerkung,  was  aus  Dichtern  geschöpft 
sei,  gehe  nur  den  Schmuck  der  Rede,  nicht  die  Sachen 
selbst  an. 

Weleker  behauptet  auf  das  Entschiedenste  die  einstmalige 
Existenz  der  Bilder.  Es  konnten  nicht,  sagt  er,  ^oviele, 
solche,  so  grosse  Kunstwerke  erdichtet  werden  in  einer  Zeit, 
als  alle  Kunst  darniederlag.  Denn  der  Werth  dieser  Bilder 
sei  kein  geringer^  die  besseren  unter  ihnen  dürfe  man  nicht 
vergleichen  mit  den  erhaltenen  Wandgemäliien  und  Mosaiken, 
es  handle  sich  vielmehr  um  alte  griechische  Gemälde.  Nicht 
wenige  seien  darunter,  die  ihi-er  Erfindung  nach,  worüber 
allein  uns  ein  Urtheil  zustehe,  an  die  blühendste  Zeit  der 
Malerei  hinanreichten,  es  fehle  nicht  an  solchen,  welche  sonst 
bekannte  Werke  des  Apelles,  Aristides,  Zeuxis,  Apollodorus 
in's  Gedächtniss  riefen,  andere  seien  aus  späterer  Zeit,  schlecht 
oder  gänzüch  zu  verachten  keines.  Es  ist  zu  verwundern, 
dass  dieses  allgemeine  Urtheil  nicht  im  Einzelnen  begründet 
wurde,  wozu  Material  genug  vorhanden  Avar  auch  schon  zu 
der  Zeit,  als  Weleker  schrieb^  denn  der  Herkules  in  den 
Windeln,  die  Hesione  des  Jüngern  Philostratus  und  manche 
andre  Gegenstände  waren  auch  auf  den  Wandgemälden  zum 
Vorschein  gekommen,  die  Weleker  so  sehr  den  Bildern  des 
Philostratus  nachsetzt.  Warum  begnügte  er  sich  damit,  sie 
zu  citiren,    warum   verglich   er   sie   nicht    genau   nach  ihren 

1* 


4 

küM.slleri.sc'hen  Motiven?  Eine  .solche  Vergleichung  der  vor- 
handenen, dem  Gegenstand  nach  verMandten  Bilder  war  nicht 
bloss  hir  die  Werthsehätzung  der  jdiilostratisehen  Gemälde 
iiothwendig,  sondern  auch  für  die  sichere  Beantwortung  der 
Frage  über  ihre  einstmalige  Existenz.  Wenn  wir  wissen, 
die  Gegenstände  der  philoslratischen  Bilder  finden  sich 
auch  in  der  erhaltenen  Kunst,  so  entscheidet  das  nichts,  ja 
wenn  wir  einzelne  oder  auch  alle  Figuren  eines  philostratischeu 
Bildes  wiederfinden  auf  einem  erhaltenen  Werk,  so  entschei- 
det auch  das  noch  nichts.  Denn  ist  es  nothwendig,  dass 
diese  Figuren  einem  Kunstwerke  entnommen ,  können  sie 
nicht  ebensogut  dem  Mythus  entnommen  sein?  Können 
nicht  Philostratus  und  das  vorhandene  Bild,  das  dieselben 
Figuren  enthält,  aus  einem  und  demselben  Dritten,  aus  einem 
Dichter  geschöpft  haben,  der  den  Mythus  erzählt,  und  aus 
diesem  Grunde  übereinstimmen?  Dies  also  ist  nicht  ent- 
scheidend, es  kommt  nicht  an  auf  das  Was,  sondern  auf  das 
Wie,  auf  die  künstlerischen  Motive.  Wären  diese  ver- 
glichen ,  so  würde  sich  herausgestellt  haben  ,  dass  diejeni- 
gen der  pliilosl rauschen  Bilder,  die  überhaupt  zu  malen  sind, 
nicht  einnuil  mit  clem  schlechtesten  der  erhaltenen  Wandge- 
mälde den  Vergleich  aushalten. 

Aber  auch  die  Welcker'sche  Behandlung  der  Bilder  an 
sich  gestehe  ich  nicht  für  die  lichtige  hallen  zu  können. 
Wenn  man  nur,  bemerkt  Welcker,  diese  den  Dichtern  ent- 
nommene Art  der  Schilderung  recht  begriffen  habe,  so  werde 
man  keine  sichre  Zuthat  des  Rhetors  in  -dem  ganzen  Buch 
linden,  nicht  einmal  in  dem  unbedeutendsten  Beiwerk.  Ueber 
die  Eigenthümhckeit  dieser  den  Dichtern  entnommenen  Art 
der  Schilderung  finde  ich  keine  nähere  Auskunft;  in  den 
Anmerkungen,  die  Welcker  den  einzelneu  Bildern  beigefügt 
hat,  wird  nicht  Alles  ,  was  der  Rhetor  als  gesehen  vorträgt, 
auch  als  wirklich  vorhanden  angenommen,  es  wird  an 
seinen  Worlen  gestrichen  und  geändert,  wobei  die  Sprache 
nicht  immer  jierücksichtigt  wird  und  die  Begründung 
wenigstens  für  denjenigen  fehlt,  der  noch  nicht  von  der 
Wirklichkeit  der  Bilder  überzeugt  ist.     Denn  fast  sämmüiche 


Bemerkungen  Weickers  honilin  auf  der  Annalinie.  dass  Philo- 
stratus  Wirkliches  beschreibe;  \^'cleker  setzt  als  Thatsache 
voraus,  was  erst  zu  untersuchen  war,  und  diese  Voraus- 
setzung beherrscht  ihn  so  sehr,  dass"  er  die  auffallendsten 
Dinge  theils  niclit  sieht .  thcils  nach  seiner  einmal  gefassten 
Voraussetzung  beurtheilt ,  wobei  es  denn  zu  den  grössten 
AA'illkürhchkeiten  kommen  musste.  Dies  wird  später  im  Ein- 
zelnen angegeben  werden,  ich  werde  dabei  auch  gewisse  all- 
gemeine Principien  zu  besprechen  haben,  die  Welcker  von 
der  Wirklichkeit  der  philostratischen  Bilder  ausgehend  der 
alten  Kunst  zuschreibt.  Schon  vor  ihm  hatte  Tölkeu  ^)  den 
Versuch  gemacht ,  hauptsächlich  aus  dem  Philostratus  meh- 
rere von  J.essing  entwickelte  Principien  der  bildenden  Kunst 
überhaupt,  als  für  die  alte  Kunst  nicht  gültig  nachzuweisen: 
diese  neuen. Ansichten  haben  Verbreitung  gewonnen,  es  wäre 
natürlicher  gewesen,  wenn  sie  eine  neue  Untersuchung  über 
die  Glaubwürdigkeit  der  Philosti-ate ,  die  sie  zur  Voraussetz- 
ung haben,  veranlasst  hätten;  man  hätte  nicht  so  schnell 
ein  Buch  wie  Lessing's  Laokoon  aufgeben  sollen. 

Diese  Ansichten  fanden  Widerspruch  in  einem  kleinen 
Aufsatz  von  Franz  Passow^),  aus  dem  ich  hervorhebe,  was 
mir  von  Bedeutung  zu  sein  scheint.  Passow  macht  aufmerk- 
sam auf  die  merkwürdige  Unbestimmtheit  in  der  Beschreibung 
der  angeblichen  neapolitanischen  Gemäldegallerie ,  welche 
zudem    von   keinem    andern  Schriftsteller    erwähnt  werde  •''). 


1)  Ueber  das  verschiedene  Yerhältniss  der  aniiken  und  moder- 
nen Malerei  zur  Poesie,  ein  Nachtrag  zu  Lessing's  Laokoon. 
Berlin  1822. 

2)  Vermischte  Schriften  p.  223  —  236,  früher  in  der  Ztschr.  f. 
Alterthumswissenschaft  v.  J.  1836.  p.  571  ff- 

3)  Preller,  Polem.  Fragni.  p.  198  scheint  aus  diesem  Grunde 
die  neapolitanische  Halle  für  eine  Erdichtung  des  Philostratus 
zu  halten:  die  Beschreibungen  der  Bilder  aber,  meint  er. 
seien  aus  älteren  Schriftstellern ,  wie  Antigonus ,  Adaeus, 
Polemo  zusammengestellt  und  dann  rhetorisch  ausgeschmückf. 


Es  war,  sagt  der  ältere  Philostratus  —  denn  der  jüngere 
giebt  gar  keinen  Ort  für  seine  Bilder  an  —  eine  Halle  von 
vier,  mein  ich,  oder  auch  fünf  Stockwerken.  Spricht  so 
ein  Augenzeuge?  Sodann  werde  weder  Format  noch  Maass- 
stab der  Gemälde,  auch- nicht  die  Grösse  der  Figuren  ange- 
geben und  vom  Zeitalter,  von  der  Schule,  vom  Meister  er- 
fahre man  gleichfalls  kein  "Wort.  Hiegegen  ist  allerdings 
einzuwenden,  dass  auch  Lucian,  ja  selbst  der  treue  Pausa- 
nias  in  seinen  Beschreibungen  alter  Gemälde  die  meisten 
dieser  Forderungen  nicht  erfüllt,  nur  der  Mangel  der  Künst- 
lernamen scheint  auch  mir  um  so  auffallender,  als  aus  meh- 
ren Beispielen  zu  schliessen  ist,  dass  die  alten  Künstler 
ebenso  wie  die  neueren  ihren  Namen  auf  ihr  Werk  zu 
setzen  pflegten.  Der  Rhetor  sagt  zwar  in  der  Vorrede,  er 
rede  jetzt  nicht  von  den  Malern  noch  von  ihrer  Geschichte, 
sondern  von  Gemälden ,  allein  dies  ist  gesagt  im  Gegensatz 
zu  den  eben  vorher  erwähnten  Schriften  des  Kariers  Aristo- 
demus  über  die  berühmtesten  Maler  und  über  die  kunstsin- 
nigen Städte  und  Könige.  Er  gibt  damit  nur  das  allgemeine 
Thema  seiner  Schrift  an,  das  ihn 'aber  nicht  hindert,  gleich 
im  Folgenden  mitzutheilen ,  die  Gemälde  seien  von  meh- 
reren Malern  verfertigt.  Diese  Bemerkung  berechtigt  gewiss 
zu  der  Erwartung ,  dass  er  einige  Künstler  namhaft  machen 
werde,  aber  trotz  der  Menge  und  det|iillirten  Beschreibung 
der  Bilder  ist  kein  auch  mir  zufällig  erwähnter  Name  zu 
finden.  Ganz  anders  verfährt  Kallistratus ,  der  den  Philo- 
straten sonst  so  sehr  verwandt  ist;  er  erwähnt  die  Künst- 
ler ,  die  er  weiss ,  den  Skopas ,  Praxiteles ,  Lysippus  ,  und 
wie  sollte  er  auch  nicht  f  da  sie  ihm  ja  Gelegenheit  boten 
zu  hohlen  Phrasen  über  ihre  Kunst?  Ich  bin  weit  entfernt, 
diesen  Umstand  als  entscheidend  anzusehen,  ich  finde  ihn 
nur  auffallend  unter  der  Voraussetzung,  dass  Philostratus 
"Wirkliches  sah. 

Eitelkeit  und  Dünkel,  bemerkt  Passow  weiter,  verhin- 
derten den  Philostratus,  ein  einfacher  Exeget  zu  sein:  nur 
das  Selbstgemachte  konnte  in  seinen  Augen  ^Yerlh  haben. 
Es  ist  wahr,  die  Eitelkeit  des  Rhetors  wird  nur  von   seiner 


Geistlosigkeit  überboten  '),  und  sein  Styl  macht  den  Eindruck, 
dass  es  ihm  nicht  um  die  Sachb ,  sondern  nur  um  die  Form 
zu  thun  sei,  aber  auch  diesem  Grund  ist  in  Hinblick  auf 
den  KaUistratus  nicht  /-uviel  (-iewichl  beizulegen.  Wie  dieser 
nämhch  wirkUch  vorhandene  Kunstwerke,  die  er,  Avenn 
nicht  aus  eigener  Anschauung,  doch  aus  Beschreibungen 
kannte,  als  Anlass  benutzt  zu  den  abgeschmacktesten  rhe- 
torischen Ausführungen,  so  konnte  auch  Philostratus  von 
einem  wirklich  Vorhandenen  ausgehen ;  seiner  Eitelkeit  büeb 
noch  Spielraum  geiuig,  durch  Ausschmückung  und  Erwei- 
terung des  Thatsächlichen  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers 
auf  die  Person  des  Erzählers  zu  lenken. 

Drei  Momente ,  heisst  es  weiter,  seien  bei  der  Schilde- 
rung eines  Gemäldes  besonders  hervorzuheben,  die, Richtig- 
keit und  Sicherheit  der  Zeichnung,  die  Harmonie  der  Farben 
und  die  sinnvolle  Schönheit  der  Anordnung  und  Gruppirung. 
Aber  um  die  Zeichnung  habe  er  sich  gar  nicht  bekümmert, 
er  habe  keinen  Begriff  davon  und  ebensoM  enig  empfänglich 
sei  er  für  die  Farbe  und  für  die  Effecle  des  Lichts  und  des 
Schattens,  „Nur  an  Gold  und  Purpur  lässt  er  es  nicht 
fehlen;  wie  könnte  auch  einem  Sophisten  jemals  eine  Schilderung 
zu  kostbar  bedünken  ?  Das  ganze  übrige  Reich  der  Farbe 
behandelt  er  beinahe  als  nicht  vorhanden,  die  Folge  davon 
ist  bei  allem  gesuchten  Flimmer  die  starre  Trockenheit  für 
.den  Innern  Sinn,  die  sich  dem  Auge  beim  grellen  Wider- 
schein einer  nächtlichen  Feuersbrunst  aufdrängt,  ohne  Mil- 
derung durch  Uebergänge  und  Mitteltinten,"  Auch  der 
letzten  Forderung,  die  wegen  der  vielen  Personen  auf  den 
meisten  Bildern  hauptsächHch  nothwendig  gewesen,  sei  kein 
Genüge  geschehn.  Das  beweise  der  Widerspruch  der  Ge- 
lehrten, es  sei  nichts  den  Unbefangenen  ßefyiedigendes  zu 
erreichen. 


1)  Die  Erklärer  sind  anderer  Ansicht,  besonders  Kayser,  der 
ihn  elegantem  tbrmarum  spectatorem ,  sagacem  tjihöv  et 
7ii(&(JüV  interpretem  nennt. 


8 

Noch  sclilirnmer  übrijieiis  als  die.  Unterlassungssünden 
seien  die  Begehun'gSsündeii.  Philostralus  nelinu-  vor  allem 
auf  den  ethischen  und  ))athe(ischen  Ausdruck  der  Figuren 
Rücksicht,  aber  ohne  je  einzelne  sinnvolle  Züge  anzugeben, 
wodurch  der  Affect  ausgedrückt  sei.  „Nie  aber  wird  uns 
ein  Gesicht,  das  wir  nicht  gesehen  haben,  dadurch  veran- 
schaulicht, dass  uns  die  Leidenschaft  genannt  wird,  die  es 
grade  beherrscht  oder  die  Höhe ,  die  sie  erreicht  hat."  So- 
dann wird  die  Verletzung  der  Einheit  sowohl  in  der  Zeit 
als  im  Orte  hervorgehoben.  Es  komme  auf  einzelnen  neuern 
Bildern  allerdings  vor,  dass  sich  eine  Person  in  verschiede- 
ner Handlung  wiederhole,  aber  daraus  folge  nicht,  dass 
auch  griechische  Maler  sich  desselben  widersinnigen  Eingriffs 
des  Malers  in  das  Gebiet  des  Dichters  schuldig  gemacht 
hätten.  Seit  Torkil  Baden  freilich  zerschneide  man  jedes 
derartige  Bild  des  Philostratus  in  mehre  Handlungen,  aber 
das  sei  eine  Weise,  die  alles  aus  allem  machen  lasse.  End- 
lich sei  Unmögliches  dargestellt,  Dinge,  die  man  nicht  sehen 
könne.  PassoAv  sieht  demnach  die  Schrift  als  ein  freies  Ei*- 
zeugniss  der  Phantasie,  als  prosaisches  Idyll  an,  in  welches 
manche  Reminiscenz  aus  wirklich  gesehenen  Gemälden  ver- 
webt sein  möge. 

Man  wird  in  Passow's  Bemerkungen  ein  richtiges  künst- 
lerisches Gefühl  nicht  verkennen  können.  Sie  igeben  keinen 
Beweis,  aber  erwecken  doch  die  Präsumption .  dass  es  sich 
gar  nicht  um  wirkliche  Bilder  handle.  Pflicht  m  ar  es  daher, 
dass  diejenigen ,  welche  die  Wirklichkeit  der  Bilder  anneh- 
men, um  so  stärkere  Gegengründe  vorbrachten.  Dies  ist 
aber  nicht  geschehen  \). 

Die  gegenwärtige  Archäologie  folgt  den  Ansichten 
Welckers.  In  exegetischen  und  historischen  Büchern  werden  die 
philostratischen  Bilder  als  wirklich  einst   vorhanden  betrach- 


1)  0.  Müller  sagt  im  Handbuch  der  Archäol,  §  35,  Anm.  4, 
Passow  habe  gegen  Welcker  geschrieben  .,aus  Unkunde  der 
alten  Kunst." 


tet')  und  für  Erklärung'  und  Gcschiclile  der  Kunst  unbe- 
denklicli  ver'\\erlbL't.  iS'ur  in  den  Schriften  O.  Jahns  finde 
ich  mehrfache  Andeutungen,  wornach  ihr  Verfasser  sich  kei- 
nes\vei>s  unbedingt  der  herrschenden  Ansiclit  anschliesst^). 

Ich  werde  nun  nntersuclien .  ob  die  j)hilostratisehen  Bil- 
der die  Probe  aushahen,  die  jedes  Kunstwerk  aushält:  ich 
werde  sie  nach  derselben  Methode  behandeln,  die  an  jedes 
"VYerk  der  Kunst  angelegt  Avird  oder  angelegt  werden  muss. 
Nur  fällt  hier  die  Beurlheilung  des  Sichtbaren  am  Kunstwerk 
fast  ganz  weg,  denn  idier  die  Formen,  Farben,  Raumver- 
hältnisse u.  dgl.  zu  urtheilen ,  dazu  bietet  uns  Philostratus 
kaum  hie  und  da  einen  Anhaltspunkt.  Wir  sind  also  ganz 
auf  das  hinter  den  Formen  A^erborgene ,  auf  das-  innere  Bild, 
das  der  Seele  des  Künstlers  zur  Verwirklichung  vorschwebte, 
auf  die  innere  Kunstform  angewiesen. 

Die  zuerst  zu  beantwortende  Frage  ist  nun  ohne  Z^veifel 
diese:  woher  hat  der  Künstler  das  innere  Bild  seines  Kunst- 
werks? Ist  es  ein  freies  Erzeugniss  seiner  Phantasie  oder 
ging  der  Künstler  aus  von  einem  Bild  der  Natur,  von  der 
Erzählung  eines  Dichters  u.  s.  w.?  Diese  Frage  müssen  wir 
beantworten ,  um  die  Art  seines  Innern  Schaffens  zu  begrei- 
fen und  um  das  Eigne  zu  scheiden  von  dem  Herübergenom- 
menen. Die  griechische  Kunst  im  Ganzen  und  Grossen  hat 
ihren  Ausgangspunkt  im  Mythus  und  zwar  im  Mythus,  nicht 
wie  er  ursprünglich  war,  sondern  wie  die  Dichter  ihn  be- 
arbeitet hatten:  auch  die  philostratischen  Bilder  sind  zum 
weitaus  grössten  Tbeil  aus  den  mythischt-n  Erzähhmgen  der 


1)  Zum  Tlieil  spricht  man  mit  wunderbarer  Sicherheit  .  wie 
wenn  Brunn  Gesch.  der  griech.  Künstler  II  p.  249  bemerkt, 
„dass  ein  grosser  Theil  dieser  Beschreibungen  auf  berühmte 
Originale  zurückgehe." 

2)  Vgl.  schon  die  Schritt:  Pentheus  und  die  Mänaden  p.  8, 
besonders  aber  Archäol.  Beitr.  p.  288  Anm.  91  und  p.414i'.; 
an  letzter  Stelle  ist  allerdings  nur  von  einem  einzelnen  Bild 
die  Rede. 


10 

Dichter  geschöpl't ,  und  der  Schriftsteller  überhebt  uns  in 
vielen  Fällen  der  Mühe  des  Nachsuchens,  indem  er  selbst 
den  Dichter  itngiebl.  Wir  werden  also  zunächst  das  Ver- 
hältniss  der  philostratischen  Bilder  zu  der  Poesie,  aus  wel- 
cher sie  entnommen  sind,  zu  untersuchen  haben.  Sind  die 
Bilder  wirklich  Kunstwerke,  so  müssen  sich  Abweichungen 
von  der  Poesie  herausstellen,  entweder  Zusätze  oder  Weg- 
lassungen  oder  Veränderungen.  Denn  Dichlung  und  bildende 
Kunst  gehen  verschiedene  Wege;  ein  Scheines  dichterisches 
Gemälde  kann  in  die  Malerei  übertragen  sehr  uidtünstlerisch 
sein.  Es  wird  sich  aus  dieser  Untersuchung  ergeben,  dass 
die  Philostrate  den  Dichtern  nachschreiben,  wo  sie  ihnen 
nicht  nachsehreiben  sollten  und  umgekehrt  ihnen  nicht  nach- 
schreiben, wo  sie  ihnen  nachschreiben  sollten.  Sodann  sind 
zweitens  die  eignen  von  bestimmten  poetischen  Vorbildern 
unabhängigen  Erfindungen  der  beiden  Rhetoren ,  wie  ich  sie 
im  Voraus  benenne,  nach  ihrer  künstlerischen  Beschaffen- 
heit näher  zu  betrachten.  Den  Maassstab  unsrer  Beurtliei- 
lung  werden  wir  in  beiden  Abschnitten  von  der  Praxis  der 
erhaltenen  Denkmäler  und  von  den  in  der  Natur  der  bilden- 
den Kunst  begründeten  Gesetzen  entlehnen  ,  wir  werden  also 
sowohl  empirisch  als  rationell  unsern  Beweis  zu  fuhren  ver- 
suchen. — 


Erster  Abschnitt. 
Die  Abhäng^lg^keit  der  PInlostrate  von  der  Poesie. 


Die  philostratischen  Bilder  weichen  nicht  ab  von  der 
Dichtung,  wo  sie  abweichen  inussten,  sie  weichen  umge- 
kehrt ab,  wo  sie  nicht  abweichen  inussten.  Wir  betrachten 
den  ersten  Fall  zunächst. 

Die  Fälle,  in  denen  die  bildende  Kunst  von  der  Dich- 
tung abweicht,  sind  unzählig.  Gleich  in  der  Behandlung 
der  äussern  Gestalt  zeigt  sich  ein  Unterschied:  der  Künstler 
muss  oft  das  Gewand  entfernen,  mit  dem  der  Dichter  seine 
Figur  verhüllt  Bei  Virgil  erscheint  Laokoon  in  priester- 
lichem Ornat;  der  Künstler,  mag  er  ihm  nachgeahmt  haben 
oder  nicht,  als  Künstler  nuisste  er  ihn  völlig  nackt  darstel- 
len, wie  Lessing  lehrt.  Mit  diesen  Verschiedenheiten  in 
der  Behandlung  der  äussern  Gestalt  beginnen  wir:  natür- 
lich kommen  sie  nur  insoweit  zur  Sprache,  als  unsere  Auf- 
gabe verlangt. 

Der  jüngere  Philostratus  beschreibt  unter  Nr.  5  folgen- 
des Bild: 

Herkules  in  den  Windeln  befindlich  erdrückt  lachend 
die  von  der  Hera  gesandten  Schlangen,  in  jeder  Hand  eine 
fassend,  ohne  sich  um  die  Mutter  zu  kümmern,  die  daneben 
steht  von  Sinnen  und  in  grosser  Furcht.  Jene  aber  haben 
schon  nachgelassen  und  strecken  die  langgezogenen  Leiber 
über  die  Erde  und  neigen  unter  den  Händen  des  Kleinen 
ihre   Köpfe ,    an    denen   auch    von    den   Zähnen    etwas   zum. 


12 

Vorsrliein  lunninl ,  die  scharf  und  giftig  'sind.  Der  Kamm 
ahfr  hängt  ihnen  vom  Tode  auf  die  eine  Seite  herab:  die 
Augen  sehen  niclit:  die  Haut  isf  hleieh  und  hläuHcli.  Alk- 
mene  seheint  von  dem  ersten  Schreck  zu  sich  zu  kommen, 
aber  sie  traut  dem  noch  nicht,  was  sie  sieht.  Der  Scln-eck 
liess  sie  niclit  im  Bell  Hegen.  Du  sielist,  wie  sie  ohne 
Schuh  und  in  blossem  Chiton  vom  Lager  aufgefahren  mit 
ungeordnetem  Haar  die  Arme  ausbreitend  schreit ,  und  die 
Dienerinnen,  welche  der  Gebärenden  beistanden,  sprechen 
entsetzt  eine  jede  zu  ihrer  Nachbarin.  Die  aber  in  Waffen 
dort  und  der  mit  entbhisslem  Schwert  bereit  steht,  das  sind 
die  Edlen  der  Theltaner,  die  dem~  Amphitrvo  beistehn.  Ob 
dieser  entsetzt  ist,  oder  ob  er  sich  freut,  weiss  ich  nicht. 
Denn  seine  Hand  ist  noch  bereit,  das  Sinnen  seiner  Augen 
aber  legt  der  Hand  Zügel  an,  da  er  auch  iiichthat,  was 
er  abwehren  sollte  und  da  er  sieht,  dass  der  Vorgang  der 
"Weisheit  eines  Orakelspruches  bedarf.  Darum  ist  auch  Tire- 
sias  hier,  weissagend,  glaub'  ich-,  wie  gross  der  Knabe,  der 
jetzt  in  den  Windeln  liegt,  werden  wird.  Er  ist  aber  des 
Gottes  voll  gemalt  und  seherisch  athmend.  Auch  die  Nacht, 
in  welcher  dies  geschah,  ist  persönlich  gemalt,  mit  einer 
Fackel  sich  selbst  erleuchtend. 

Diese  Beschreibung  ist  die  Paraphrase  einer  pindari- 
schen  Stelle,  die  so  lautet  '):  Ich  will,  sagt  der  Dichter, 
eine  alte  Sage  anregen,  wie  der  Sohn  des  Zeus,  nachdem 
er  unter  dem  Mutterschooss  hervor,  dem  Weh  entrinnend 
an's  glanzvolle  Tageslicht  mit  seinem  Zwillingsbruder  ge- 
kommen M^ar,  wie  er  da  nicht  ohne  Bemerken  der  gold- 
thronenden Hera  in  die  krokusfarbenen  Windeln  einging. 
Sondern  die  Götterkönigin  grollend  im  Gemüth  sa»dte  j3lölz- 
lich  Schlangen.  Diese  drangen  die  Thüren  öffnend  in  den 
weiten  Raum  des  innersten  Gemachs,    besjerig  um  die  Kin- 


1)  Nem.  1.  34  ff.  Die  Erklärer  des  Philostratus  nennen  das 
hier  und  an  andern  ahnlichen  Stellen:  colores  duxit 
ex  etc. 


13 

der  die  schiiL'Ueu  Kieieni  zu  winden  ^  jeuer  aber  erliub  grad 
sein  Haupt  uud  versuehte  zum  ersten  Mal  den  Kampf,  je- 
derseits  eine  Schlange  am  Nacken  fassend  mit  seinen  un- 
entrinnbaren Händen;  den  gej)ressten  aber  Hess  die  Zeit  das 
Leben  entfliehen  aus  den  schreckhchen  Gliedern.  Das  Ge- 
schoss  unerträglichen  Schreckens  fuhr  in  die  Weiber ,  die 
Alkmene's  Kindheit  beistanden,  denn  auch  sie  selbst,  im 
blossen  Unterkleid  vom  Lager  springend  suchte  mit  jenen 
von  sich  fern  zu  halten  den  Frevel  der  Unlhiere.  Schnell 
aber  liefen  die  Führer  der  Kadmeer  allesammt  mit  ehernen 
Waffen  herzu  5  Amphitrjo  aber  kam  in  der  Hand  das  nackte 
SchAA-ert  schwingend,  von  heftigem  Schmerz  getroffen.  Denn 
häushches'  Leid  drückt  Jeden  in  gleicher  Weise,  schnell 
aber  ist  die  Seele  getröstet  bei  fremdem  Leid.  Er  stand 
aber  da  in  bangem  und  zugleich  süssem  Staunen,  denn  er 
sah  des  Sohnes  übermenschlichen  Muth  und  Kraft;  die  Un- 
sterbhchen  hatten  ihm  der  Boten  Bericht  ins  Gegentheil 
umgewandelt.  Und  er  berief  den  benachbarten  trefflichen 
Propheten  des  höchsten  Zeus ,  den  wahr  weissagenden  Tire- 
sias;  dieser  sagte  ihm  und  der  ganzen  Schaar,  welches  Ge- 
schick den  Herkules  geleiten,  was  für  Recht  verachtende 
Ungeheuer  er  auf  dem  Laude  und  im  Meer  tödten  werde 
u.  s.  w. 

Bis  auf  die  Figur  der  Nacht,  die  Unterredung  der  Die- 
nerinnen und  etwas  mehr  Detail  in  dem  Habitus  der  Alk- 
mene  schliesst  sich  Philostratus  genau  an  Pindar  an,  nur 
dass  bei  jenem  zu  einem  Moment  zusammengefasst  ist,  was 
der  Dichter  allmählich  entwickelt.  Doch  ist  dies  nicht  ohne 
Unklarheit  geschehn.  Denn  die  Figur  der  Alkmene  erblicken 
Mir  zuerst  als  von  Sinnen  und  in  grosser  Furcht,  sodann 
nachdem  uns  mitgetheilt,  dass  der  Tod  der  Schlangen  bereits 
erfolgt  sei,_  scheint  sie  sich  zu  sammeln;  gleich  nachher 
aber  schreit  sie  wieder  mit  ausgebreiteten  Armen.  In  wel- 
chem Moment  sollen  wir  sie  dargestellt  denken,  in  dem 
des  ersten  Schreckens  oder  in  einem  spätem?  Doch  dabei 
will  ich  mich  nicht  aufhalten;  wichtiger  ist  dies:  Bei  Philo- 
stratus   liegt   der  Knabe  in  den  Windeln,    auf  allen  er- 


14 

halteuen  Denkmälern  —  uiid  wir  haben  deren  in  Statuen  ^), 
Reliefs  2),  Gemälden  ^),  Münzen  "*)  und  Gemmen  •"»)  —  sitzt 
oder  kniet  er  nackt  auf  dem  Boden.  Und  konnte  wol 
der  bildende  Künstler  anders  verfahren?  Wenn  er  uns  nicht 
die  Kraft  der  jugendlichen  Gheder  zeigt,  wenn  er  den  Kna- 
ben in  Windeln  hüllt,  wie  können  wir  "begreifen,  dass  er 
Schlangen  erdrücken  kann,  wie  sollen  wir  ahnen,  was  aus 
ihm  werden  wird!  Pindar,  dem  Dichter,  steht  es  frei,  ihn 
hl  den  Windeln  liegen  zu  lassen,  denn  „bei  dem  Dichter 
ist  ein  Gewand  kein  Gewand:  es  verdeckt  nichts:  unsre 
Einbildungskraft  sieht  überall  hindurch"  *).  Wie  dagegen 
der  Künstler  verfahren  musste ,  das  fühlte  Göthe ,  indem  er 
schrieb:  ,, Herkules  in  Windeln.  Nicht  etwa  in  der  Wiege 
und  auch  nicht  einmal  in  Windeln,  sondern  ausgewindelt". 
Es  drängt  sich  daher  bei  dem  der  Sitte  und  den  Gesetzen 
der  Kunst  widersprechenden  Bild  des  Philostratus  unwillkür- 
lich die  Vermuthüng  auf,  der  Rhetor  möge  nicht  das  Bild 
eines  Malers,  sondern  das  Bild  eines  Dichters  vor  sich  ge- 
habt haben ,    das  Bild  des  Pindar ,   mit  welchem  das  seinige 


1)  Clarac,  mus.  de  sciilpt.  pl.  301  n.  1953:  pl.  781— 783;  Becker 
Augusteum  II.  89;  auch  in  kleinen  Bronzen  kommt  der  Ge- 
genstand vor,  so  im  Berliner  Museum  und  Mus.  borbon.  I,  8. 

2)  Visconti  Pio  -  Clem.  IV,  38;  Gerhard  Ant.  Bildw.  Taf.  64 
und  114. 

3)  Pitture  d"  Ereol.  I,  7,  auch  in  Millin's  Gal.  mytb.  97,  430. 

4)  Von  Theben  und  Tarent,  vgl.  MilHngen  vecueil  1.  13;  2,  15; 
die  von  Kroton  sind  besonders  schön, 

5)  Tölken  im  Verzeichiiiss  der  geschnitt.  Steine  in  Berlin  IV, 
54 — 57;  unter  diesen  aber  ist  Nr.  56  entschieden  modern, 
wofür  man  sich  kaum  auf  den  Stil  der  Gemme  zu  berufen 
braucht:  es  genügt  auf  den  Umstand  aufmerksam  zu  ma- 
chen, dass  Herkules,  der  als  neugebornes  Kind  die  Schlan- 
gen ei-würgte,  stehend  dargestellt  ist.  Auch  auf  dem  Car- 
neol  in  Bullet  Xapol.  I,  tav.  4,  Nr.  2  ist  der  schlangener- 
driickende  Herkules  dargestellt. 

6)  Worte  Lessing's  in  Laokoon  Cap.  V. 


15 

in  dieser  chavacteiistisclu'n  Einzelheit  und  auch  im  Uebrigen 
so  sehr  übereinstimmt  ^}, 

Aber  es  ist  des  Unkünstlerischen  noch  mehr  in  dieser 
Beschreibung.  Wir  erörtern  es  sogleich ,  da  es  angemessen 
erscheinen  muss,  die  Hesprechung  eines  und  desselben  Bil- 
des an  mehren  Orten  soweit  thunlich  zu  vermeiden.  Frei- 
hch  ist  das  nicht  immer  möglich ,  denn  nicht  wenige  Bilder 
haben  ausser  den  ihnen  eigenthümlicheu  Fehlern  auch  solche, 
die  ihnen  mit  vielen  andern  gemein  sind. 

Auf  dem  Bilde  des  Philostratus  sind  die  Schlangen  be- 
reits todt,  ihre  Köpfe  sind  geneigt,  ihre  Leiber  über  die 
Erde  gestreckt.  Granz  anders  auf  allen  erhaltenen  Denkmä- 
lern. Da  sind  die  Schlangen  noch  nicht  todt,  daher  auch 
nicht  so  langweilig  lang  ausgestreckt,  vielmehr  umringein 
sie  die  Gheder  des  Knaben  und  machen  die  äusserslen  An- 
strengungen; man  sieht  es  aber  an  den  kräftigen  Griffen 
und  Gliedern  des  jungen  Helden,  dass  er  nicht  loslassen 
wird,  ehe  er  sie  todtgedrückt  hat.  Das  ist  der  Moment, 
den  der  Künstlej-  wählen  muss ,  denn  kein  Moment  ist  gün- 
stiger, uns  einen  Begriff  von  der  Kraft  und  eine  Ahnung 
von  der  Zukunft  des  Knaben  zu  geben.  Sollte  durchaus 
Tiresias  dargestellt  werden ,  so  brauchten  darum  die  Schlan- 
o-en  noch  nicht  erdrückt  zu  sein:  der  herkulanische  Maler 
Hess  den  Tiresias  weg  und  er  that  wohl  daran.  Was  brau- 
chen wir  ihn  auch,  da  wir  aus  Gliederbau  und  Thun  des 
Knaben  seine  Zukunft  errathen?  Denn  mehr  als  dies  AIl- 
gejneine,  dass  Herkules  einst  ein  gewaltiger  Held  sein 
werde,    sagt   auch  die  Anwesenheit  des  Tiresias  nicht.     An- 


1)  Dass  Alkmene  den  blossen  Chiton  trägt,  ist  für  den  Dichter 
allerdings,  aber  nicht  für  den  Künstler  characteristisch. 
Wäre  dieser  Philostratus  mit  Kunstwerken  vertraut  gewesen, 
er  liätte  statt  dieser  Notiz  auf  die  Unordnung  im  Gewände 
der  Alkmene  aufmerksam  gemacht,  die  eine  nothwendige 
Folge  ihres  Aufspringens  ist.  Der  herkulanische  Maler  hat. 
um  die  durch  den  Schreck  verursachte  Unordnung  anzudeu- 
ten, das  Gewand  von  der  einen  Brust  hcrabglciten  lassen. 


IG 

ders  luitürlich  beim  Dichlor,  dem  der  Rhetor  nachschrieb. 
Pindar  lä.sst  durch  den  'J'iresias  die  spätem  grossen  Thaten 
und  den  endliclien  Lohn  des  Herkules  vorhersagen,  er  be- 
durfte dieser  Hinweisungen  auf  die  Zukunft  für  den  Zusam* 
menhang  seines  Gedichts,  für  den  Sieger,  den  er  .besingt, 
der  auch  gross  ist  durcii  angeborne  Tüchtigkeit.  Dieser 
soll  sich  ein  Beispiel  nehmen  an  den  edlen  Mi^hen  des  Her- 
kules, er  soll  sich  auch  des  Lohnes  getrösten,  der  jenen  er- 
wartete. Pindar  konnte  die  spätem  Schicksale  des  Herku- 
les aus  eigner  Person  hinzufügen ,  wieviel  schöner  aber  ist 
«s,  dass  er  das  plaslischQ  Bild  festhält,  das  er  vor  uuseru 
Augen  entrollt  hat,  indem  er  den  Tiresias  herbeiruft!  Für 
das  Kunstwerk  aber  fällt  der  ganze  konkrete  Lduilt  der 
Weissagung,  auf  den  es  bei  Pindar  grade  ankommt,  hinweg, 
und  so  Avar  für  den  Künstler  die  lebendige  Darstellung  des 
Kampfes  ohne  den  Seher  jedenfalls  besser,  als  der  abstrakte 
Seherspruch  über  der  A'ollendeteii  Tliat.  Es  ist  daher  klar, 
dass  Philostratus  nur  dem  Pindar  gedankenlos  nachschreibt. 
Weil  der  Dichter,  der  ein  Nacheinander  von  Thatsachen 
darstellt,  die  Schlangen  mit  der  Zeit  ihr  Leben  aushauchen 
lässt,  ebendarum  tliut  es  auch  der  Rhetor. 

Bei  Philostratus  und  Pindar  sehen  wir  Amphitryo  mit 
nacktem  Schwert  herbeieilen ,  in  dem  herkulanischen  Bild 
hat  er  noch  nicht  das  Schwert  entblösst ,  er  ist  vielmehr  im 
Begriff  es  zu  thun;  seine  Hand  liegt  am  Griff  und  ein  Theil 
der  Klinge    ist   bereits    sichtbar  i)»     Vortrefflich;    es   ist  wie 


1)  Jacobs  bemerkt  p.  6JÜ:  Ainphitr3'onis  ibi  (auf  dem  herku- 
lanisclieu  Biki)  habitus  prorsiis  conspirat  cum  tabula  iiostra. 
Ich  weiss  nicht,  was  dieses  prorsus  bedeuten  soll;  nur  hin- 
sichtlich der  Haltung-  des  Schwertes  sind  die  Figuren  zu  ver- 
gleichen und  darin  sind  sie  verschieden;  weitere  Verglei- 
chungspunlvle  bietet  Philostratus  nicht.  Auf  dem  Relief  bei 
Visconti  ist  die  innere  Be\\egung  im  Ampliitryo  auch  sin- 
nig characterisirt.  Seine  Hand  bcfnidet  sicli  ganz  in  der 
Niihe  des  Schwei'tgi'iffes,  so  dass  man  sieht,  er  hatte  die  Ab- 
sicht, das  Schwei't  zu  ziehen;  aber  sie  luilt  inne,  wie  ^on 
einem  plötzlichen  Anblick  gelahml. 


17 


an  einer  Statue  der  Medea,  welche  die  Hand  am  Griff  des 
Schwerts  hält  und  die  Klinge  zum  Theil  entblösst  hat,  so 
dass  wir  das  Zögern  der  Mutter  zu  empfinden  glauben ,  die 
zum   Kindermord   schreitet^).     Aehnlich   hier;    das  halbent- 


1)  iMilliu  Gal.  m.vth.  102,  407.  In  dieser  Statue  ist  das  Pathos 
sehr  gesteigert,  man  vergleiche  nur  die  Stellung;  sie  macht 
dalier  geringern  Eindruck,  als  die  berühmte  Figur  des  Timo- 
maclius.  Auch  sehen  die  Kinder  bereits  ihr  Geschick  voraus 
und  suchen  es  abzuwehren.  Der  Bildhauer  konnte  nicht 
wol  anders  verfahren-,  um  der  Composition  v^illen  musste 
er  die  Kinder  trennen  und  jedes  derselben  zur  Hauptfigur  in 
Beziehung  setzen.  Was  aber  das  Bild  des  Timomachus  be- 
trifft, das  ich  für  meinen  Zweck  gleich  unten  gebrauchen 
muss,  so  schwankt  man,  in  welchem  von  zwei  pompejani- 
schen  Wandgemälden  eine  Nachbildung  zu  erkennen  sei. 
Das  eine  (Mus.  Borb.  X,  21)  stellt  Medea  allein  dar,  das 
Schwert  in  den  herabhängenden,  gefalteten  Händen  haltend 
und  so,  meinen  Panofka  (Annali  1829  p.  244  ff.)  undWelcker 
(Kleine  Sehr.  III,  450  ff.),  habe  Timomachus  sie  gemalt. 
Letzterer  bemerkt,  von  diesem  Bilde  müsse  das  zweite  (Mus. 
Borb  V,  33),  welches  neben  der  Medea,  die  „auch  eine  gute, 
doch  ungleich  weniger  tief  gedachte  Figur"  sei,  die  Kinder 
mit  Astragalen  spielend  unter  der  Aufsicht  des  Pädagogen 
darstellt,  „bestimmt  unterschieden  werden."  Bestimmt  un- 
terschieden werden?  Da  die  zweite  Medea  mit  der  erstem 
bis  auf  die  Handhabung  des  Schwertes  in  Allem  überein- 
stimmt, in  der  Haltung  des  Kopfes,  in  der  Stellung  und  Ge- 
wandung? Ebenso  wenig  begreife  ich  ,  dass  die  zweite  Me- 
dea eine  „ungleich  weniger  tief  gedachte  Figur"  sein  soll. 
Gewiss  ist  sie  eine  deutlichere  Medea,  denn  der  allein  stehen- 
den Medea  des  ersten  Bildes,  die  in  herabhängenden,  gefal- 
teten Händen  das  Schwert  hält,  sehen  wir  nicht  an,  dass 
sie  ihre  Waffe  gebrauchen  wird,  aber  derjenigen  sehen  wir's 
an,  welche  die  Hand  am  Schwertgriff  hält.  Auf  diese  letz- 
tere aber  passen  allein  die  Epigramme ;  von  einer  Medea, 
die  keine  Miene  macht,  ihr  Schwert  zu  ziehen,  kann  nicht  ge- 
sagt werden:  t^  fAiV  yeco  awirevaev  Ijil  ^((fog,  y  ö'uvcci'eun 
(Anall.  III,  214,  299).  Der  Kampf  widerstreitender  Em- 
pfindungen, den  die  Epigramme  hervorheben,  ist  nur  in  der 

2 


18 

blössle  öchwort  zeigt   den  Ampliilrjo    als  Milien,    der    nicliL 
weiss,  was  Uiun.     Wird  er  ziehen,  denken  wir,  oder  nicht? 


Mcdca  (los  zweiten  Bildes  ausgedrückt,  in  dieser  aber  auch 
vollendet  schön.  Ihre  Hand  fasst  den  Griff  des  Schwertes, 
der  Durst  nach  Rache  treibt  sie  dazu ,  diesem  Gefühl  aber 
wirkt  entgegen  der  Blick,  der  auf  die  Kinder  fällt,  und  so 
erscheint  sie  zaudernd,  schwankend  zwischen  zwei  Empfin- 
dungen. Das  Schwert  aber-  hält  sie  versteckt  an  der  Seite, 
denn  ihi'c  ilutterliebe  fiirchtet,  die  Kinder  möchten  es  er- 
blicken. Wie  man  nämlich  die  Kinder  von  dem  Bild  des 
Timqmachus  hat  ausschliessen  können,  ist  mir  unbegreillich. 
Meyer- bemerkte  (Wien.  Jahrb.  1831,  4,  166)  ebenso  wahr 
gbls  natürlich,  man  dürfe  einem  Timomachus  nicht  zutrauen, 
dass  er  einen  so  vortheilhaften,  mächtigen  Contrast  wie  der, 
wozu  die  harmlose  Sicherheit  der  Kinder  mit  der  Medea  be- 
nutzt werden  könn'e,  leichtsinnig  übersehen  habe.  Dagegen 
bemerkt  Welcker:  ,,Je  mehr  Timomachus  den  grossen  Meistern 
ähnlich  war,  um  so  mehr  stand  er  natürlich  über  der  ein- 
seitigen und  beschränkten  Vorstellung ,  dass  was  aus  einem 
Gegenstand  entwiekelt  werden  kann,  auch  immer  in  der 
Darstellung  mit  ihm  verbunden  werden  müsse. ^"^  Sehr  wün- 
schenswerth  würe  es  gewesen,  die  Einseitigkeit  und  Be- 
schränktheit dieser'  Vorstellung  an  Beispielen  nachgewiesen 
zu  sehen,  nur  -v'sürde  man  sich  dabei  den  Philostratus  ver- 
bitten dürfen,  aus  dem  Welcker  z.  B.  Sen.  II,  7  für  sich  an- 
führen könnte.  Ferner:  alle  Monumente  mit  Ausnahme  eben 
des  ersten  pompejanischen  Bildes  fügen  die  Kinder  hinzu. 
Sodann  die  Worte  des  einen  Epigramms  (Anall.  III,  214, 
299):  rtxvojv  sig  fj6()ov  i).y.ofAh'u)r,  die  freilich,  wie  Welcker 
be'mei-kt,  nicht  als  eigentlich  und  genau  bezeichnend  mit  Si- 
cherheit zu  nehmen  sein  möchten,  beweisen  doch  wenigstens 
soviel,  dass  die  Kinder  überhaupt  da  waren,  denn  mit  Pa- 
nofka's  Meinung,  das  sei  bloss  poetische  Vorstellung,  kann 
man  Alles  erklären.  Endlich,  wenn  die  einzeln  stehende 
Medea  dem  Timomachus  entspricht ,  so  müssten  wir  sagen, 
Timomachus  sei  von  dem  Maler  des  zweiten  Bildes  üb^r- 
troffcn,  dessen  Abweichungen  AAahrhaftig  auf  keinen  Stüm- 
per deuten.  Vielmehr  ist  die  einzeln  stehende  Medea  eine  - 
aus  der  Gruppirui^g-  herausgenommene  ungefähre  Copie  nach 


19 

Er  weiss  es  selbst  nicht,  er  sieht  die  Schlangen,  die  sein 
Kind  bedrohen ,  aber  er  sieht  zugleich ,  dass  es  seiner  Hülfe 
nicht  bedarf,  und  so  bleibt  die  Hand  ,  die  zur  Rettung  das 
Schwert  ziehen  wollte,  gleichsam  auf  halbem  Wege  stehen. 
Ich  behaupte  nicht,  dass  die  Stellung,  in  der  wir  den  Am- 
phitryo  bei  Philostratus  erblicken,  nicht  von  einem  Maler 
gewählt  sein  könne,  es  stand  ihm  ja  frei,  uns  durch  die 
blosse  Miene  des  Gesichts  zu  zeigen ,  dass  Amphitryo  nicht 
das  ausführen  wird ,  was  seine  Stellung  erwarten  lässt ,  ich 
stelle  nur  dem  Philostratus  das  Verfahren  eines  denkenden 
Künstlers  entgegen,  der  uns  schon  in  dem  äussern  Thun 
das  innere  Schwanken  zeigt,  von  dem  seine  Figur  bewegt 
wird.  Di^s  ist  aber  gerade  der  griechischen  Kunst  beson- 
ders angemessen^  man  hat  öfter  darauf  aufmerksam  ge- 
macht, wie  sorgfältig  die  griechische  Kunst  sich  bemühte, 
die  Innern  Zustände  durch  bestimmte  äussere  ayrnxara, 
durch  eine  angemessene  Haltung  des  Körpers  auszudrücken. 
Die  dienenden  Weiber  sind  sowie  die  vornehmen  The- 
baner  dem  Dichter  und  Rhetor  gemein ,  nur  dass  sie  bei 
diesem  zu  einander  sprechen.  Dieser  Zusatz  ist  merkwür- 
dig genug.  Ein  denkender  Künstler  hätte  das  Weibervolk 
eilig  davon  laufen  lassen,  eine  jede  auf  ihre  Rettung  den- 
kend ,  oder  wie  angewurzelt  vom  Schreck  dargestellt  mit 
starren  Augen  auf  das  Unheil  gerichtet  — ,  wenn  er  über- 
haupt diese  vielen  Nebenfiguren  dargestellt  hätte.  Der  Dichter 


Timoraaclius.  Sie  hat  dieselbe  Wendung-  des  Kopfes ,  wie 
die  andre ;  diese  Wendung  aber  ist  bei  ihr  nicht  motivirt, 
wie  es  bei  der  andern  der  Fall  ist ,  an  der^n  Seite  sich  die 
Kinder  befinden.  So  erklärt  sich  auch ,  warum  die  erste 
Medea  das  Schwert  mehr  wie'  ein  Attribut  trägt,  als  weil 
sie  es  gebi'auchen  wird:  das  Objeet  fehlt,  gegen  welches  das 
Schwert  gebraucht  werden  soll.  —  Uebrigens  findet  •  sich 
die  einzeln  stehende  Medea  nicht  genau  auf  den  Gemmen 
wieder;  die  schlaiT  herabhängenden.  Arme  unterscheiden  sie. 
Noch  mehr  unterscheidet  sich  das  Bild  Mus.  Borb.  VIII,  22, 
dem  aber  auch  die  Figur  des  Timomachus  zu  Grunde  zu 
liegen  scheint. 

2  * 


20 

kann  seinen  Hauptfiguren  ganze  Legionen  von  Begleitern 
geben ,  sie  bleiben  Begleiter  und  beeinträchtigen  nicht  im 
Mindesten  das  Hervortreten  ihrer  Führer;  aber  im  Sichtba- 
ren, im  Raum  eines  Bildes  entsteht  Verwirrung,  mindestens 
Verdunkelung  der  Hauptfiguren  und  ihrer  Sache,  wenn  der 
untergeordneten  Figuren  zu  viele  sind.  Wir  kommen  hierauf 
zurück,  da  sich  viele  Beschreibungen  der  Philostrate  durch 
einen  auffallenden  Reichthum  an  untergeordneten  Personen 
auszeichnen.  Ebenso  wird  über  die  Figur  der  Nacht  ^),  die 
wir  uns  nach  den  Worten  des  Rhetors ,  wie  auch  Welcker 
bemerkt,  sowohl  persönlich  als  unpersönhch  dargestellt  den- 
ken müssen ,  in  einem  andern  Zusammenhang  gesprochen 
werden,  nur  darauf  ist  hier  aufmerksam  zu  machen,  dass 
die  Nacht  in  keinem  inaern  Zusammenhang  mit  dem  Bilde 
steht.  Ob  Herkules  am  Tag  oder  bei  Nacht  die  Schlangen 
getödtet  hat,  ist  völlig  gleichgültig;  das  Dunkel  der  Nacht 
von   Fackellicht   erhellt   macht   nur   die    oanze  Scene    etwas 


1 )  Die  Fackel  als  Attribut  der  Nacht  scheint  auf  den  ei'sten 
Blick  antrallend  ,  doch  kann  sie  aucli  ihr  gegeben  werden, 
wie  dem  Somnus,  gesenkt  nämlich.  So  ist  es  auf  dem  bei 
Miliin  G.  mj-th.  89 ,  353  mitgetheilten  Bild  einer  französi- 
schen Handschrift,  wo  neben  dem  vom  göttlichen  Geist  ge- 
troffenen Propheten  Jesaias  (eine  Hand ,  von  welcher  Strah- 
len auf  ihn  ausgehen,  ist  dargestellt)  rechts  der  Knabe 
"OqS^qos  mit  aufwHi-ts  gerichteter  Fackel,  links  aber  die  Nu§ 
steht,,  eine  Frau  mit  strahlendem  Haupt  und  einem  bogen- 
förmig über  dem  Kopf  gewölbten,  sternenbesaten  Schleier, 
in  der  linken  Hand  eine  gesenkte  Fackel  haltend.  In  die- 
sem Bild  scheinen  antike  Reminiscenzen  zu  Grunde  zu  lie- 
gen. Dagegen  glaube  ich  auch  ohne  Autopsie  behaupten  zu 
dürfen ,  dass  die  merkwürdige  Figur  auf  dem  ReUef  bei 
Winck  Mon.  in.  27  und  MilUn  G.  myth.  38,  168*  (das  Zocqu 
in  der  "\'illa  Borgliese ,  wo  es  sich  befinden  soll ,  umsonst 
aulsuchte,  vgl.  Bassiril.  I  p.  7),  die  nackt,  mit  Fledermaus- 
flügeln (?) ,  eine  Fackel  hoch  haltend  davon  Jäuft,  nicht  an- 
tik ist.  *  Sonst  wüsste  ich  weder  aus  Monumenten  noch 
Schriftstellern  etNAas  zu  vergleichen. 


21 

schauerlicher  und  hat  sonst  nichts  mit  dem  Bilde  zu  schaffen. 
Wo  wir  aber  sonst  ähnlichen  Figuren  auf  Denkmälern  be- 
gegnen, wie  z.  B.  auf  den  Darstellungen  der  Ariadne  auf 
Naxos,  des  Endymion  u.  s.  w. ,  da  sind  sie  noth wendig 
für  das  Bild.  Uebrigens  lässt  sich  auch  für  die  Figur  der 
Nacht  ein  dichterisches  Vorbild  nachweisen;  in  dem  unter 
Theokrit's  Gedichten  befindlichen  „kleinen  Herakles'-,  der 
detaiilirt  ausmalt,  was  Pindar  nur  in  grossen  Umrissen  gibt, 
geht  die  That  des  Herkules  bei  Nacht  vor  sich  und  die  Die- 
nerinnen eilen  mit  Lampen  herbei. 

Man  hat  diese  Beschreibung  des  Philostratus  zur  Charak- 
teristik des  Zeuxis  benutzt,  da  sie  im  Wesentlichen  überein- 
stimme mit  dem  Bilde  dieses  Meisters,  das  den  kleinen  Her- 
kules die  Schlangen  würgend  darstellte  in  Gegenwart  der 
erschrockenen  Eltern.  Dieser  Ansicht  braucht  man  nicht  ein- 
mal die  Fehler  entgegenzuhalten ,  an  denen  das  Bild  leidet, 
man  darf  sich  nur  auf  die  völlige  Abhängigkeit  desselben 
vom  Dichter  berufen.  Wir  müssten  annehmen,  dass  Zeuxis 
sich  seines  eignen  Denkens  ganz  begeben  und  nur  den  Pin- 
dar in  Farbe  gesetzt  habe.  Ist  aber  das  die  Art  der  grossen 
griechischen  Meister?  Ist  es  so  in  den  Werken  des  Pol}-- 
gnot^)  und  Timomachus,  die  uns  näher  bekannt  sind?  Wel- 
cher Dichter  lässt  die  Kinder  der  Medea  beim  Knöchelspiel 
ermordet   werden,   so    wie   sie  Timomachus  malte?  ^)     Dies 


1)  Man  vgl.  besonders  die  Sclirift  von  0.  Jahn  über  die  polygno- 
tischen  Gemälde  in  der  Lesche  zu  Delphi.     Kiel  1841. 

2)  Dieses  Bild  lässt  uns  ahnen,  was  wir  verloren  haben  an  der 
griechischen  Malerei.  Der  Pädagog,  den  der  Dichter  dem 
Künstler  bot,  steht  links  von  der  Mittelgruppe  der  lünder 
und  hält  somit  der  rechts  stehenden  Medea  das  Gleichgewicht, 
so  dass  eine  schöne  Symmetrie  entsteht.  Aber  nicht  bloss 
räumlich,  auch  geistig  steht  er  zur  Medea  in  Gegensatz.  Von 
der  einen  Seite  droht  Verderben,  auf  der  andern  steht  der 
treue  Begleiter  und  Hüter  der  Kinder,  und  indem  der  alte 
Mann  dasteht  auf  seinen  Stock  gestützt,  mit  Theilnahme  das 
unschuldige  Spiel  der  Knaben  betrachtend  —  wird  nicht  da- 
durch unser  Mitleid  mit  den  Kindern  gesteigert? 


22 

Bild  lehi"t  sehr  deutlich,  dass  die  gviechischen  Meister  nicht 
bloss  das  Bild  eines  Dichters  mit  den  nothM-endigen  Aonde- 
rungen  in  ihre  Kunst  übertrugen,  sondern  auch  neue  bedeu- 
tende Züge  einfügten ,  dass  sie  auch  dichteten ,  nicht  bloss 
malten.  Ja  die  Vasen,  die  Produkte  von  Handwerkern,  bie- 
ten uns  eine  Fülle  selbständiger  Zusätze  zum  dichterischen 
Vorbild,  selten  zwar  in  der  frühern,  schwarzfigurigen  Gattung, 
deren  liebenswürdige  Eigenthümlichkeit  eben  in  dem  treuen 
Anschluss  an  das  objektiv  Ueberheferte  begründet  liegt i), 
sehr  häufig  dagegen  in  den  rothfigurigen  Malereien ,  wo  die 
Subjektivität  sich  regt.  Ich  erwähne  nur  eine,  mit  einem 
Motiv  ebenso  rührend  wie  dort  bei  Timomachus :  Danae  mit 
dem  kleinen  Perseus  auf  dem  Arm  soll  in  den  Kasten  ge- 
sperrt werden  2).  Auf  diesem  Bild  hat  der  Knabe  seinen 
Spielball  in  der  Hand,  wie  dort  die  Kinder  der  Medea  harm- 
los knöcheln  ohne  eine  Ahnung  dessen,  v/as  ihnen  bevor- 
steht. Und  in  unserm  Fall  enthält  das  herkulanische  Bild 
einen  neuen  hübschen  Zug.  Es  ist  nämlich  auch  der  Zwil- 
lingsbruder des  Herkules  dargestellt,  auf  dem  Arm  des  Päda- 
gogen^),   wohin   ihn    seine  Angst   gebracht   hat,    die   noch 


1)  Ein  eigner,  wundervoll  gemüthlicher  Zug  ist  z.  B.  in  dem 
schwarzfigurigen  Bild  bei  Gerhard  Auserl.  V.  95:  Herkules 
ist  vertieft  in  die  lernäische  Hydra;  hinter  ihm  steht  seine 
Schutzgöttin  mit  einem  Krug  in  der  Hand,  damit  er  auch 
zu  trinken  hat  nach  der  Arbeit  So  ist  es  auch  wol  zu  be- 
urtheilen,  wenn  bei  Kriegern,  die  Abschied  nehmen  aou  Va- 
ter und  Mutter  oder  Weib  und  Kind,  der  treue  Haushund 
nicht  vergessen  wird, 

2)  Abgeb.  in  Gerhard's  vierzehntem  Programm  zum  Berliner 
Winckelmannsfest.  Vgl.  Welcker  im  N.  Rh.  Mus.  1855  p.  235  ff. 

3)  Diese  richtige  Benennung  der  Figur  gab  zuerst  Jacobs  a.a.O. 
Pindar  erwähnt  den  Iphikles  im  Anfang  beiläufig,  bei  Theo- 
crit  dagegen  wirft  er  sich  an  die  Brust  der  Mutter.  Möglich 
also,  dass  hier  der  Dichter  auf  den  Maler  Eintluss  hatte,  aber 
keineswegs  gewiss.  Denn  das  Alter  des  Idylls  und  des  Bil- 
des oder  seines  etwaigen  Urbildes  ist  nicht  auszumachen. 
Jedenfalls  ist  die  Hinzufügung  des  Pädagogen  mit  dem  Kinde 
vortrefflich,  auch  wegen  der  Gruppirung. 


23 

sichtbar  ist  in  der  Haltung  seiner  Anne.  Ist  es  nicht  ein 
hübsches  und  für  das  Bild  fruchtbares  Motiv,  dieser  Konirast 
zwischen  den  Zwillingen?  Dies  Bild  ist  überhaupt  seiner  Er- 
iindji^ng  nach  vortreiTlieh ;  der  Fehler,  den  Göthe  richtig  her- 
vorhebt, dass  Herkules  die  Schlangen  viel  zu  weit  abwärts 
angefasst  habe,  so  dass  sie  ihn  nach  Belieben  ritzen  und 
beissen  könnten,  mag  der  Nachlässigkeit  des  Copisten  zuge- 
schrieben werden. 

Bei  dem  Bilde  des  Philosti-atus  an  Zeuxis  zu  denken, 
hindert  endlich  no«h  ein  äusserer  Grund.  Das  Bild  dessel- 
ben führt  Plinius  ^ )  mit  folgenden  Worten  an :  Hercules  in- 
fans  dracones  strangulans  matre  coram  jiavente  et  Amphi- 
tryone.  Sind  wir  berechtigt,  noch  mehr  Figuren,  als  die 
genannten ,  im  Bilde  vorauszusetzen  ?  Hätte  Plinius ,  ^^'ie  er 
es  gev\;ühnlich  thut,  nur  die  eine  Hauptfigur  des  BiWes  ge- 
nannt, dann  wäre  die  Zahl  der  Figuren  allerdings  nicht  zu 
bestimmen;  da  er  aber  detaillirt,  so  scheint  es  am  natürlich- 
sten, das  Bild  mit  den  angegebenen  Figuren  beschlossen  zu 
glauben.  Doch  gesetzt,  es  waren  noch  untergeordnete  Figu- 
ren zugegen,  so  passt  die  Angabe  des  Plinius  immer  noch 
nicht  auf  das  Bild  des  Philostratus.  Denn  der  Gegenstand 
desselben  ist  nicht  der  Schlangen  erdrückende  Herkules,  son- 
dern die  Weissagung  des  Tiresias  über  den  Herkules,  der 
die  Schlangen  getödtet  hat.  Tiresias  hat  im  Bilde  eine  her- 
vorragendere Stellung,  als  Vater  und  Mutter  de&  kleinen 
Helden;  jenen  also  hätte  Plinius  eher  erwähnen  müssen,  als 
diese.  — 


1)  XXX V^  63. 


24 

Die  falsche  Nachahmung  dei*  Poesie,  die  wir  au  dem 
in  Windeln  liegenden  Herkules  hervorhoben,  findet  sich  auch, 
wenn  ich  nicht  irre,  in  einem  andern  Bilde  des  Jüngern  Phi- 
lostratus.  Es  ist  das  letzte  (n.  17),  nach  der  Meinung  der 
Herausgeber  freilich  nicht  ganz  erhalten,  doch  ist  wenigstens 
das  Aussehen  der  Hauptfigur,  wenn  überhaupt  noch  andere 
im  Bilde  waren,  mitgetheilt.  Philoktet  nämhch  war  darge- 
stellt, das  Gesicht  eingefallen  von  der  Krankheit,  die  finstern 
Brauen  herabgezogen  über  die  tiefliegenden,  mattbhckenden 
Augen,  Haar  und  Bart  verwildert,  mit  Lumpen  umhüllt 
(Qcixia  äfXTtiaxöiievoq)^  die  Fusssohle  verbunden.  Wie  weit 
diese  Umhüllung  den  Körper  bedeckte,  wird  zwar  nicht  ge- 
sagt, sie  ist  aber  offenbar  der  Grund,  dass  der  Rhetor  nur 
das  eingefallene  Gesicht,  nicht  aber  den  abgezehrten  Körper 
des  Leidenden  erwähnt,  den  er  eben  wegen  der  Lumpen  nicht 
sah.  Gerade  hierin  liegt  das  Auffallende ;  der  Dichter  i)  mag 
den  Philoktet  mit  Lumpen  bekleiden,  die  ja  bei  ihm  nichts 
verdecken,  der  bildende  Künstler  dagegen  darf  den  leidenden 
Körper  nicht  verhüllen,  er  zerstört  damit  die  unmittelbare, 
lebendige  Wirkung  seines  W'erkes.  Nur  auf  geschnittenen 
Steinen  ist  uns  die  Darstellung  des  leidenden  Philoktet  er- 
halten ;  er  ist  entweder  ganz  nackt  oder  die  Chlamys  bedeckt 
ihm  den  Rücken  und  fällt  über  den  linken  Arm  herab,  so 
dass  die  dem  Betrachtenden  zugekehrte  Seite  des  Körpers 
frei  bleibt.  2).     Ein  Epigramm  3)    aber   beschreibt  einen  Phi- 


1 )  Der  Zug  ist  aus  Sophokles,  den  Philostratus  vor  Augen  hatte, 
da  er  ihn  gleich  im  Folgenden  erwähnt.  Philoktet  sagt  v.  274, 
die  Griechen  hätten  ihm  bei  ihrem  Weggehen  wenige  Lumpen 
((5az7;)  hingelegt.  Im  Uebrigen  mag,  wie  Jacobs  meint,  aus 
dem  Philoktet  des  Euripides  manches  entlehnt  sein,  da  die 
detaillirten  rührenden  Schilderungen  ganz  der  Art  dieses 
Dichters  angemessen  sind. 

2)  Vgl.  Michaelis  in  den  Annali  dell'inst.  1857  p.  232  ff.  Ge- 
nelli  stellt  in  seinen  Umrissen  zu  Homer  den  Philoktet  ganz 
nackt  dar. 

3)  Anal.  II,  490  n.  27.  Man  bezieht  es  wol  mit  Recht  auf  den 
Philoktet  des  Parrhasius. 


25 

loktet,  dem  der  Maler  ein  dürres,  zusammengeschrumpftes 
Fell  gab,  wodurch  er  ohne  Zweifel  die  öde  W^ldniss  andeu- 
ten wollte,  in  der  keine  menschliche  Hand  für  die  Bedeckung 
der  Blosse  sorgt.  Er  folgte  darin  m'oI  dem  Euripides,  der 
den  Philoktet  in  Felle  gehüllt  auf  die  Bühne  brachte i),  schwer- 
lich aber  folgte  er  ihm  auch  in  dem  \Yurf  dieser  Hülle.  Das 
Epigramm  sagt  nicht,  wie  das  Fell  angelegt  war:  schwerlich 
anders,  als  es  Sitte  ist  in  der  entwickelten  Kunst,  um  den 
Hals  geknüpft  und  nach  hinten  herabhängend  2 ) ,  in  der  Weise 
also ,  die  den  Forderungen  der  Kunst  entspricht.  Indessen 
lässt  sich  das  nicht  ausmachen  und  auch  für  Pliilostratus 
glaube  ich  es  nur  wahrscheinhch  gemacht  zu  haben,  dass 
sein  angebliches  Bild  gegen  ein  künstlerisches  Gesetz  ver- 
stiess^),  theils  aus  seiner  Beschreibimg  selbst,  theils  indem 
ich  mich  auf  die  Analogie  des  vorigen  Bildes  berufe.  — 


1)  Vg-1.  Dio  Chr_vsost.  Or.  59,  305:  Joof«  S-rjoiioy  xcü.vnrovaiv 
avTÖv.  Beim  Philoktet  des  Sophokles  könnte  die  Frage  auf- 
geworfen werden,  wie  es  denn  komme,  dass  Philoktet  trotz 
jahrelanger  Einsamkeit  noch  ein  von  Menschen  verfertigtes 
Gewand  habe.  Diesen  Einwand  hebt  der  Dichter  durch  v.  309. 

2)  Vgl.  z.  B.  die  Darstellungen  desEumaeus  und  Faustulus,  dann 
den  Herkules  bei  Gerhard  Auserles.  143.-  Meist  ist  das  Fell 
des  Herkules  gegürtet,   besonders  in  dem  altern  Stil  der  Va- 

,sen,  er  trägt  dann  aber  noch  einen  Chiton  darunter,  das  Fell 
allein  würde  ihn  nicht  ganz  decken. 

3)  Analog  sind  die  Darstellungen  des  leidenden,  von  Achilles 
geheilten  Telephus,  doch  können  mir  auch  diese  mit  Aus- 
nahme etwa  des  schönen  etruskischen  Spiegels  ( Gerhard  im 
dritten  Bei'liner  Winckelmamisprogramm)  nichts  helfen.  Denn 
wenn  auch  Telephus  auf  den  Vasen  bis  auf  die  Chlam^'s  nackt 
ist.  so  ist  das  doch  nicht  geschehen,  um  uns  den  leidenden 
Körper  zu  zeigen ,  wovon  ich  eben  keine  Andeutung  sehe. 
Auf  dem  genannten  Spiegel  ist  allerdings  etwas  von  seinem 
Leiden  im  Habitus  des  Körpers  zu  sehen;  da  ist  er  im  We- 
sentlichen nackt.  Die  etruskischen  Aschenkisten  köftnen  hier 
natürlich  nicht  verglichen  werden. 


IL 


Von  der  Gewandung  des  Körpers  wenden  wir  uns  zur 
Betrachtung  der  körperlichen  Gestalt  selbst,  welche  so  wenig 
wie  ihr  Kleid  für  den  Dichter  und  bildenden  Künstler  die 
gleiche  Bedeutung  hat.  Dem  lelzteren  sind  engere  Schranken 
gezogen ,  als  dem  ersteren.  Der  Dichter  darf  sich  hinweg- 
setzen über  die  Gesetze  der  menschlichen  Gestalt,  er  darf 
uns  erzählen  von  hundertarmigen  und  hundertköpfigen  Dä- 
monen, ohne  unsere  Phantasie  zu  beleidigen.  Denn  das  Bild 
des  Dichters  ist  ein  rein  geistiges ,  es  schwebt  leicht  und 
stofflos  vor  der  Seele,  ohne  den  Anspruch  auf  Wirklichkeit 
zu  machen ;  das  Bild  des  Künstlers  aber  kleidet  sich  in  die 
Formen  des  Sichtbaren,  es  will  den  Schein  der  Wirklichkeit 
erregen  und  eben  darum  hat  es  an  dieser  seine  Schranke. 
Nicht  als  ob  der  Künstler  nur  das  darstellen  dürfte,  was 
wirklich  existirt,  er  darf  auch  neue  Schöpfungen  wagen,  wenn 
er  sie  nur  als  existenzfähig  darzustellen  und  Entstellungen 
des  menschlichen  Typus  zu  vermeiden  weiss,  aber  eben  diese 
Rücksicliten  braucht  der  Dichter  nicht  zu  nehmen,  weil  sein 
Bild  nicht  wirklich  scheinen  will.  Zudem  gibt  der  Dichter 
immer  nur  einzelne  Züge  imd  überlässt  es  der  Phantasie, 
sich  eine  Gestalt  daraus  zu  bilden.  Aber  eben  diese  auf  An- 
regung des  Dichters  geschaffene  Gestalt  ist  nichts  weniger 
als  fest  begränzt^  wenn  wir  hören  von  den  Hekatoncheiren, 
von  dem  hundertköpfigen  Tjphoeus,  von  der  Scylla  mit  sechs 
langen  Hälsen  und  zwölf  Beinen,  so  malt  sich  die  Fhanlasie 
diese  Vorstellungen  nicht  zu  einem  sichern,  deutlichen  Bilde 
ausj    es   bleibt   bei    schwankenden,    in  unheimliches  Dunkel 


27 

sich  verlierenden  Umrissen.  Auch  aus  diesem  Grunde  ist 
das  Gebiet  der  Poesie  ein  weiteres,  da  die  bildende  Kunst 
sinnlich  Deutliches  darzustellen  hat. 

Was  mich  zu  diesen  allgemeinen  Betrachlimgen,  die  im 
Verlaufe  dieser  Untersuchung  ausgeführt  und  mit  Beispielen 
belegt  werden  sollen,  zunächst  veranlasste,  ist  folgendes  Bild 
des  älteren  Philostratus  (U,  18)  : 

Die  Eykloi^en  schneiden  Getraide  und  sammeln  Trau- 
ben^). Der  wildeste  unter  ihnen,  Poljphem,  wohnt  hier,  mit 
einer  Braue  über  einem  Auge,  mit  einer  breiten  Nase,  die 
bis  an  die  Lippe  reicht.  Vom  Berge  aus  späht  er  nach  Ga- 
latea,  er  hat  die  Syrinx  noch  unter  dem  Arme  und  singt  ein 
Liebeslied  unter  einer  Eiche.  Er  ist  als  ein  wilder  Bergbe- 
wohner gemalt  mit  Haaren  struppig  wie  Fichtenlaub,  die 
spitzen  Zähne  zeigend,  an  Brust  und  Bauch  und  bis  an  die 
Zehen,  überall  zottig.  Er  glaubt  sanft  zu  blicken ,' aber  in 
Wahrheit  blickt  er  wild  und  heimtückisch.  Galatea  aber 
spielt  auf  der  stillen  See,  von  einem  Viergespann  von  Del- 
phinen gezogen,  die  am  Zügel  geführt  werden  von  den  Mäd- 


1)  Heyne  liess  die  übrigen  Kyklopen  weg,  ebenso  Welcker,  der 
übrigens  die  frucht-  und' weinreiche  Gegend  beibehält-,  sehr 
merkwürdig,  da  Philostratus  Saaten  und  Reben  mit  den  Ern- 
tenden in  einem  Zusammenhang  erwähnt.  0.  Jalm  (Arch. 
Beitr.  p.  414)  sagt,  der  Khetor  erwähne  die  Kyklopen,  wel- 
che ernten  ohne  zu  säen,  Heerden  besitzen  und  weder  Haus 
noch  Markt  kennen  in  einer  Weise,  dass  man  denken  müsse, 
sie  seien  auf  dem  Bilde  vorgestellt.  „Dies  wäre  aber  wider 
die  Analogie  der  uns  bekannten  Gemälde,  wo  eine  in  solcher 
Weise  ausgeführte  Staffage  nicht  vorkommt.  Man  muss  daher 
diese  allgemeine  Beschreibung  des  kyklopischen  Lebens  für 
eir.^'  Art  von  Einleitung  zu  dem  eigentlichen  Gegenstand  des 
Gemäldes  halten.''  Dieser  Orund  ist  sehr  richtig  unter  der 
Voraussetzung,  dass  Philostratus  Wirkliches  sah,  eine  Voraus- 
setzung, die  wir  aber  nicht  machen.  Dass  er  die  übrigen 
Kyklopen  auch  dargestellt  wissen  wollte,  beweisen  nach 
meiner  Ansicht  schlagend  die  Worte,  mit  denen  er  von  ihnen 
zum  Polyphem  übergeht:  Tovg  /utv  c(Xi.ovg  ea.  IIo).v(frjinog 
Si  xxX. 


28 

eben  des  Triton.  Sie  aber  breitet  über  dem  Kopf  einen  pur- 
purnen Schleier  gegen  den  Zephyr,  von  dem  ein  Schimmer 
auf  Kopf  und  Stirn  fällt  noch  nicht  so  schön,  wie  die  Blüthe 
ihrer  Wange.  Die  Haare  flattern  nicht  im  Winde,  weil  sie 
feucht  sind.  Der  rechte  Ellenbogen  tritt  hervor,  indem  der 
weisse  Arm  gebogen  ist,  und  die  Finger  ruhen  auf  der  zar- 
ten Schulter.  Arme  und  Brust  sind  schwellend  gebildet  und 
Jugendfiille  zeigt  der  Schenkel.  Der  Fuss  aber  berührt  das 
Meer,  indem  er  gleichsam  den  Wagen  steuert.  Ein  Wunder 
sind  die  Augen,  die  über  das  weite  Meer  blicken. 

So  viel  Worte,  so  viel  Schnitzer,  hauptsächlich  veran- 
lasst durch  Dichternachahmung.  Der  Rhetor  beginnt  mit 
»einer  Reminiscenz  aus  Homer ij.  Weil  Homer  sagt,  dass 
den  Kyklopen  ungesät  und  ungepflügt  Waizen ,  Gerste  und 
Trauben  wachsen  —  jedes  natürlich  zu  seiner  Zeit  — ,  eben 
darum  finden  wir  Getraide  und  Trauben  bei  einander  auf 
dem  Bilde  des  Rhetors,  der  nicht  bedachte,  dass  Sommer 
und  Herbst,  die  in  der  Wirklichkeit  nicht  coexistireu,  auch 
nicht  in  dem  Raum  eines  Bildes  coexistiren  können  2).  Und 
wie  kommt's ,  dass  wir  auch  die  übrigen  K3'klopen  auf  dem 
angeblichen  Bilde  finden,  die  nirgends  dargestellt  sind  in  den 
erhaltenen  Denkmälern?  W^eil  der  Rhetor  seine  Notizen  aus 
dem  Homer  anbringen  wollte.  Denn  keinem  Künstler  konnte 
es  in  den  Sinn  kommen,  zu  Polyphem  noch  andere  K3"klo- 
pen  hinzuzufügen,  nicht  bloss  desswegen ,  weil  sein  Bild  da- 
durch eine  zu  ausgedehnte  Staffage  erhalten  würde,  sondern 
hauptsächlich  desswegen,  weil  die  öftere  Wiederholung  eines 
Ungethüms,  wie  Polyphem,  ersthch  ein  unerträgUcher  Anblick 
an  sich  ist,    zweitens   aber  das  Interesse  an  dem  Einen  auf- 


1)  Od.  9,  106  ff.  wo  man  jeden  Zug,  ja  jedes  Wort  findet,  des- 
sen sich  Pliilostratus  in  den  ersten  vier  Sätzen  bedient,  aus 
denen  ich  aber  nur  dasjenige  lierausgehoben  habe,  was  deut- 
lich als  dargestellt  bezeichnet  wird. 

2)  Auch  auf  dem  die  Heren  darstellenden  Bilde  (Sen.  II.  34) 
waren  die  Produkte  verschiedener  Jahreszeiten  neben  einan- 
der dargestellt. 


29 

heben  würde.  Solche  Wesen  müssen  in  der  Kunst  als  ein- 
zig in  ihrer  Art  erscheinen,  dadurch  allein  werden  sie  er- 
träglich und  interessant  1). 

Die  Schilderung  des  Pol3'phein  ist  aus  dem  Gedicht  des 
Theokrit  entnommen,  in  welchem  der  Kyklop  die  geliebte 
Galatea  besingt,  die  ihn  verschmäht.  Die  eine  Braue,  das 
eine  Auge,  die  breite  Nase,  den  zottigen  Körper  schildern 
Rhetor  und  Dichter  fast  mit  denselben  Worten'^).  Die  Kunst 
aber  trennt  sich  in  diesem  Fall  ganz  von  der  Dichtung;  sie 
stellt  den  Polyphem  nicht  dar  behaart  am  ganzen  Leibe,  wie 
Papposilen,  sie  läset  liicht  die  Nase  bis  an  die  Lippen  reichen 
und  am  wenigsten  fällt  es  ihr  ein,  die  Bildung  des  mensch- 
lichen Hauptes  so  zu  zerstören,  wie  es  die  der  Dichtung 
entsprechende  Darstellung  des  einen  Auges  erfordern  würde '). 
Statt  der  Haare  am  Körper,  welche  das  dichterische  Bild 
nicht  entstellen ,  gibt  die  Kunst  dem  Polyphem  ein  Thierfell 
als  Bekleidung  und  charakterisirt  dadurch  auf  eine  ihr  an- 
gemessene  Weise   den   wilden  Waldbewohner;   sein   Gesicht 


1)  Auch  bei  Homer  wohnt  Polyphem  allein  für  sich  in  Unge- 
selligkeit  v.  188  ff.,  welche  Worte  übrigens  auch  für  das  Ent- 
\Yischen-des  Odysseus  und  seiner  Gefährten  nothwendig  sind. 

2)  Man  vgl.  Theokr.  Jd.  11,  28  ff: 

rivoiOxu)  /«Qteoau  xoqu ,  Tivog  ävexu  (ftvyeis. 
divexu  fÄOt  XaGia  iaIv  6(fQvg  stt)   nicrrl   iHTcönb) 

l|    (OTOS    T^TKTdl    TTOrl    SwTfQOl'    fti?    filK   /.IKXod  , 

eis  S'dift)c<lfxog  viriOTi ,  nlariia  Sl  (Ag  inl  /siXfi. 
Und  Philostratus  sagt:  /nütv  /niv  vneQTeCvwv  6(f>Qvv  tov  6(f~ 
S^uXfxov  ivog  ovTog,  nhneict  dt  r;/  ^tv\  ^nißca'vwv  tou  ;(ftXovg. 
Den  Haarwuchs  am  Körper  erwähnt  Theokrit  v.  48.  Vgl. 
Ovid  Metam.  XIII,  846:  rigidis  hort-ent  densissima  saetis 
Corpora. 
•.3)  Die  auf  Polyphem  bezüglichen  Denkmäler  sind  zusammen- 
gestellt von  0.  Jahn  Arch.  Bcitr.  p.411  ff.,  welcher  auch  das 
Auffallende  des  einen  Auges  hervorhebt.  Hiezu  kommt  ein 
neuerdings  im  Jahre  1847  entdecktes  pompejanisches  Bild, 
das  nach  der  Beschreibung  im  Bullet.  Napol.  VI  p.  36  mit 
dem  von  Jahn  p.  417  besprochenen  herkulanischen  iu  allem 
Wesentlichen  übereinstimmt. 


30 

aber  bildet  die  ältere  Kunst  vollkommen  menschlich,  und 
auch  die  spätere,  ilie  ein  drittes  Auge  hinzulügt,  zerstört 
doch  nicht  den  natürlichen  Typus  des  menschhchen  Kopfes '). 
Es  ist  nämlich  bemerkenswerth,  dass  die  ältere  Kunst  harm- 
loser verfährt  in  der  Dai'bteliung  der  vom  Mythus  überliefer- 
ten Ungeheuer ;  sie  stellt  dieselben  als  gewühnliche  Menschen 
dar,  ohne  den  Versuch  zu  machen,  ihre  besondere  Natur 
durch  Besonderheiten  der  Körperbildung  anzudeuten.  Gerjon 
ist  in  der  älteren  Kunst  ein  Dreiverein,  dicht  nebeneinander- 
stehender Männer,  nicht  ein  Wesen  mit  drei  Oberkörpern, 
wie  später,  und  die  Giganten  werden  zuerst  ganz  inenschlich, 
später  schlangentüssig  dargestellt  2).  Nur  in  der  ältesten 
Zeit  wird  oft  die  Menschengestalt  dem  Symbolischen  geopfert; 
die  Vermehrung  der  Glieder,  die  Verbindung  des  mensch- 
lichen Leibes  mit  thierischem  Kopf,  wie  in  der  orientalischen 
und  ägyptischen  Kunst  ist  in  den  Anfängen  der  griechischen 
Kunstgeschichte  durch  mehrere  Beispiele  bezeugt^),  aber  der 
anthropomorj)histische  Zug  in  der  griechischen  Denkungsart, 
der  Gedanke,  dass  der  menschhche  Leib  eine  würdige  Hülle 
des  Göttlichen  sei,  hat  die  Kunst  schnell  von  der  Stufe  em- 
porgehoben, welche  die  vorgiiechisehen  Völker  nicht  verlas- 
sen konnten. 


i)  Nur  eine  rohe  Gemme  (Tülkcn  IV,  n.  385),  von  dei^  auch 
Jahn  sagt,  „ein  solches  Gemmenbild  sei  immer  nur  eine 
schwache  Stütze"',  macht  den  Versuch,  das  Gesicht  des  P0I3''- 
phem  nach  dem  Dichter  darzustellen.  In  der  Abbildung  bei 
Jahn  taf.  II,  2  sieht  es  noch  menschlicher  ans,  als  es  in  Wahr- 
heit ist  5  das  Auge  ist  nämlich  nur  eine  runde  Vertiefung 
ohne  Andeutung -des  Augapfels.  Eine  andere  Berliner  Gemme, 
welche  Tölken  III,  191  richtig  so  erklärt:  die  Nereide  Galatea 
von  einem  Delphin  getragen,  Polyphem  spielt  auf  einem  Fel- 
sen sitzend  die  Lyra"  linde  ich  von  Jahn  nicht  erwähnt. 

2)  Die  Unnatur,  dass  dem  Hermes  die  Flügel  aus  Kopf  und 
Füssen  herauswachsen,  ist  erst  später. 

3)  Nur  der  Minotaur  bleibt  von  Anfang  bis  zu  Ende  der  Kunst 
stierköptig  •,  bei  ihm  hat  es,  wie  oft  bemerkt  ist,  seinen  guten 
Grund.     Vgl.  z.  B.  Feuerbach  Gesch.  d.  gr.  Plastik  I,  p.  7  f. 


31 

Der  Kykloj)  Imt  die  Syrinx  unter  dem  Arm  und  singt 
ein  Liebeslied 'j.  ^Yo/Al  die  Syrinx,  da  doch  ein  Insirunient 
besser  wäre,  zu  dem  nmu  singen  kann?  Auf  den  erhaltenen 
Denkmälern  hat  er  die  Leier,  roh  verfertigt,  wie  es  sich 
schickt  lür  den  \Ailden  -Bergbewohner,  der  fern  ist  von 
menschlicher  Kultur,  Ovid  aber  giebt  ihm  die  Syrinx 2),  das 
Listrument  der  Hirten,  und  aus  diesem  Dichter  oder  aus 
einem  andern,  der  Hirten  die  Syrinx  blasen  lässt,  schöpfte 
oime  Zweifel  Philostratus.  Er  wusste,  dass  die  Syrinx  das 
Instrument  der  Hirten  ist  und  so  gab  er  sie  ihm,  ohne  zu 
bedenken ,  dass  sie  in  den  gegenwärtigen  Vorgang  nicht 
passt  und  somit  uns  nur  die  müssige  Notiz  mittheilen  kann, 
dass  der  Ky]\lop ,  ehe  er  angefangen  zu  singen  ,  die  Syrinx 
geblasen  hat.  Denn  kein  anderer  Sinn  kann  in  dem  Bilde 
eines  singenden  Kyklopen,  der  die  Syrinx  unter  dem  Arm 
hat,  gefunden  werden.  Bei  dem  Dichter  ist  natih-lich  die 
Sache  eine  ganz  andere,  weil  er  nach  einander  seine  Dinge 
darstellt;  die  bildende  Kunst  aber  ist  auf  einen  Moment 
angewiesen  und  darum  musste  der  Künstler  dem  Kyklopen, 
wie  es  auf  den  Wandgemälden  geschehen  ist,  ein  solches 
Instrument  geben ,  das  zu  dem  dargestellten  Moment  passt. 
Durch  die  Leier  wird  uns  zugleich  das  Singen  des  Kyklopen 
deutlicher  gemacht. 

Das  Detail  in  der  Schilderung  der  Galatea  ist  nicht 
nachweisbar  in  der  erhaltenen  Literatur,  wenn  auch  manches 
Aehnliche  sich  findet  3).     Ob   ein  Künstler  aber  die  Nymphe 


1)  Den  Inhalt  dieses  Liedes  giebt  Pliilostratus  ausführlich  an, 
ganz  wie  der  Dichter,  obwohl  er  ein  Gemälde  beschreibt. 
Dies  ist  bei  ihm  gewöhnlich;  er  erzählt  uns  was  die  Leute 
auf  seinem  Bikle  sagen  und  singen,  obwohl  ja  kein  Künstler 
das  ausdrücken  kann,  denn  auch  die  markirteste  Gestikula- 
tion kann  doch  nur  den  Charakter  einer  Rede  im  Allgemei- 
nen, nicht  ihren  Inhalt  deutlich  machen. 

2)  V.  781.  , 

3)  Das  Gewand  der  Galatea  breitet  sich  wie  ein  Segel  über 
ihrem  Haupt  aus.  So  sagt  Moschus  von  der  Europa  v.  129: 
xoknujOt]  J"  ilrif-iüiGi  ninXoq  ßuiyhi  Evnconeiijg  larCov  oiü  re 


32 

so  dargestellt  haben  würde,  ist  mir  mehr  als  zweifelhaft. 
Zunächst  weiss  ich  nicht,  wie  die  Galatea  auf  ihrem  \yagen 
steht.  Die  Zügel  hallen  die  Nereiden  ,  oder  wer  unter  den 
Mädchen  des  Triton  verstanden  sein  mag,  nicht  Galatea  selbst ; 
ebendarum  ist  es  mir  nicht  klar,  wie  sie  fessteht  auf  ihrem 
"Wagen ,  zumal  da  sie  mit  dem  einen  Fuss  das  Wasser  be- 
rührt. Man  sehe  nur  die  raphaelische  Galatea :  eine  Nymphe, 
die  in  einem  leichten  Wagen  durch  die  Fluthen  fährt,  muss 
selbst  die  Zügel  führen,  sonst  ist  sie  jeden  Augenblick  >der 
Gefahr  ausgesetzt,  von  dem  schaukelnden  W^agen  herabzu- 
gleiten. Nicht  weniger  unklar  ist  die  Bewegung  der  rechten 
Hand;  diese  liegt  nämlich  auf  der  Schuller,  eine  Haltung,  die 
mir  ebenso  unbequem  als  unverständlich  erseheint.  Göthe 
verstand  ganz  anders.  „Der  rechte  Arm,  gebogen,  stützt' 
sich  mit  zierlichen  Fingern  leicht  auf  die  weiche  Hüfte"  — 
das  wäre  freilich  hübsch  und  der  Situation  recht  angemessen. 
Der  in  die  Hüfte  gestemmte  Arm  zeigt  etwas  ZuversichtHches, 
unter  Umständen  Herausforderndes  an,  und  dies  wäre  wol 
für  die  Galatea  gegenüber  dem  liebeskranken  Polyphem,  den 
sie  verachtet,  nicht  unpassend. 

Von  dem  linken  Arm  der  Galatea,  den  wir  uns  das 
Gewand  haltend  denken  müssen  und  von  ihren  Begleiterin- 
nen schweigt  der  Rhetor.  Das  ist  so  seine  Art;  er  schildert 
wie  der  Dichter,  der  auch  nur  einzelne  Züge  giebt  Und  es 
der  Phantasie  überlässt,  sich  das  Bild  auszumalen;  nur  dass 
letzterer  ein  Recht  dazu  hat,  so"  zu  verfahren. 

Die  erhaltenen  Monumente  zeigen  Galatea  sitzend  auf 
dem   Rücken   eines  Delphins,    so   wie   Nereiden    gewöhnhch 


vtjös.  Uebrigens  habe  ich  auch  nichts  dagegen  einzuwenden, 
wenn  man  dies  Motiv  als  eine  Keniiniscenz  von  gesehenen 
Kunstwerken  lassen  will.  Gerade  in  der  späteren  Kunst,  be- 
sonders bei  Darstellungen  der  Nereiden  auf  Sarkophagen  ist, 
wie  auch  '0.  Jahn  Ber.  d.  säehs.  GescUsch.  d.  Wiss.  1854 
p.  193  Anni.  159  bemerkt,  das  Motiv  des  bogenlormig  über 
dem  Kopf  ausgebreiteten  Gewandes  als  gutes  Mittel  zur  Raum- 
füllung bis  zur  Ern>üdung  wiederholt. 


33 

dargestellt  werden.  ^Yie  viel  anmuthiger  ist  sie  in  dieser 
einfachen  Erscheinung  als  in  dem  pomphaften  Aufzug,  den 
uns  der  Rhetor  schildert !  Wenn  der  Herrscher  des  Meers 
seine  Braut  einholt ,  da  mag's  lebendig  werden  auf  den  Flu- 
then ,  da  mögen  Nereiden  und  Tritonen  herauftauchen  und 
das  Paar  geleiten,  aber  was  soll  solcher  Pomp  der  einfachen 
Nereide  Galatea!  Nicht  an  Raphael  tadle  ich  das,  ich  tadle 
es  an  dem  alten  Künstler,  der  im  Mythus  lebte. 


Die  Gestalt  des  Kyklopeu,  sahen  wir,  war  aus  Dichtern, 
nicht  aus  Kunstwerken  genommen  5  eben  dasselbe  ist  der 
Fall  mit  dem  Achelous  auf  folgendem  Bild  des  Jüngern  Phi- 
lostratus   (n,  4) : 

Du  fragst  vielleicht,  was  das  für  ein  Zusammenhang  sei 
zwischen  dem  Drachen,  der  hier  hoch  sich  erhebt,  den  Bug 
krümmend  13,  braunrotli  am  Rücken,  einen  Bart  herabsendend 
unter  gradaufstehender,  sägenförmig  gezackter  Mähne,  mit 
wildem  Blick,  und  dem  stolzen  Pferde 2),  das  unter  einem 
so  grossen  Bogen  den  Nacken  biegend  und  die  Erde  an  den 
Füssen  aufwühlend  zum  Angriff  stürzen  zu  MoUen  scheint, 
und    dieses   halbthierischen  Mannes.     Denn    er    hat   das  Ge- 


1)  tytiQug  rov  nri/vp  sagt  der  Schriftsteller;  vgl.  die  Anm.  zu 
Lindau's  Uebersetzung  p.  996.  Das  mittlere  Stück  am  Bo- 
gen wird  Tifj/vs  genannt. 

2)  yavQov  TE  innov ;  mehrere  Erklärer  schreiben  nach  dem 
Vorgang  von  Jacobs  für  yuvQov  tuvqou  und  'innov  ^^ird 
entweder  gestrichen  oder  auch  verändert.  Allein  der  gedan- 
kenlose Mensch  weicht  hier  von  Sophokles  ab  nur  aus  dem 
Grunde,  um  sich  nicht  zu  wiederholen.  Wirkliches  hatte  er 
nicht  vor  Augen,  verständig  ist  er  auch  nicht  und  so  bringt 
er  hier  das  Pferd  hinein  und  spart  die  Stiergestalt  sich  noch 
auf.  Ich  kann  daher  nicht  einmal  glauben,  dass  er  etwa  an 
die  Rossgestalt  des  Poseidon  gedacht  habe,  welche  Gerhard 
(A.  V.  II  p.  110  Anm.  108)  zum  Schutz  des  innov  vergleicht. 

3 


34 

sieht  eines  Stiers  und  einen  gewaltigen  Bart,  von  dem  Quellen 
von  Wasser  ausströmen.  In  der  Menge  aber,  die  wie  zu  einem 
Schauspiel  zusammengeströmt  ist ,  befindet  sieh  ein  Mäd- 
chen, nach-  ihrem  Schmuck  zu  schhessen,  eine  Braut.  Es  ist 
Dejanira,  die  muthlos  den  Freier  (Achelous)  betrachtet,  nicht 
mit  verschämten  Wangen  gemalt,  sondern  in  grosser  Furcht 
über  ihre  Zukunft.  Auch  der  Vater,  Oineus,  ist  anwesend, 
trauernd  über  sein  Kind,  und  ein  Jüngüng  Herkules,  der  das 
Löwenfell  auszieht  und  die  Keule  in  den  Händen  hält ,  so- 
dann eine  kräftige  Heroine ,  mit  Eichenlaub  bekränzt ,  die 
Nymphe  Kalydon,  mein'  ich.  Hier  ist  der  Kampf  noch  be- 
vorstehend; sieh  aber  auch,  wie  sie  schon  aneinander  gerathen 
sind.  Und  was  den  Anfang  des  Kampfes  betrifft,  so  muss 
er  als  derjenige  eines  Gottes  und  eines  unerschütterlichen 
Heros  betrachtet  werden,  am  Schluss  aber  verwandelt  sich 
der  Fluss  in  ein  Stierhörner  tragendes  Wiesen  und  stürmt  ge- 
gen Herkules.  Dieser  aber  ergreift  mit  der  linken  Hand  sein 
rechtes  Hörn  und  schlägt  ihm  das  andere  mit  der  Keule  aus 
den  Schläfen.  Darauf  giebt  jener  abstehend  vom  Kampf  mehr 
Blut  -  als  Wa^serquellen  von  sich ;  Herkules  aber  vergnügt 
über  die  That  sieht  auf  Dejanira.  Die  Keule  hat  er  auf  die 
Erde  geworien  und  reicht  ihr  als  Hochzeitsgeschenk  das 
Hörn  des  Achelous. 

Zunächst  machen  wir  nur  darauf  aufmerksam ,  dass  das 
Bild  mehrere  Scenen    umfasst^).     Zwei  Scenen    scheidet  der 


1)  Hej'ue  meinte  unter  grossen  Klagen  über  Unklarheit,  es 
scheine  der  letzte  Thcil  des  Kampfes  dargestellt  zu  sein  und 
ebenso  Welcker.  Mau  nimmt  also  aus  dem  einen  Satze  des 
Rhetors,  in  dem  das  Volk,  Dejanira,  der  Vater  und  Herkules 
die  Löwenhaut  abwei'fend  mit  der  Keule  in  den  Händen  er- 
wähnt werden,  die  drei  erstem  heraus,  den  letztern  aber 
lässt  man  weg.  Warum?  Darauf  fehlt  die  Antwort.  Mir 
ist  das  Verfahren  hier  und  an  vielen  andern  Stellen  unbe- 
greiflich, besonders  bei  Welcker,  denn  He5aie  verräth  überall 
sein  Schwanken.  In  dem  vorliegenden  Fall  bedarf  es  nur 
einer  aufmerksamen  Lektüre,  um  einzusehn,  dass  die  Beschrei- 
bung mehrere  Scenen  begreift. 


35 

Rhelor  selbst  aufs  Deutlichste,  er  scheidet  den  bevorstehen- 
den Kampf  vom  Kampf  selbst.  Der  Kampf  selbst  aber  ist 
nicht  eine  Scene,  er  müsste  vielmehr,  wenn  bildlich  ausge- 
führt, in  mindestens  zwei  Scenen  dargestellt  werden,  denn 
Herkules  erscheint  in  zwei  verschiedenen  Situationen;  zuerst 
hat  er  das  eine  Hörn  desAchelous  gepackt  und  schlägt  ihm 
mit  d^r  Keule  das  andre  aus ,  sodann  hat  er  die  Keule  von 
sich  geworfen  und  reicht  der  Dejanira  seine  Beute.  Die 
Beschreibung  ist  nämlich  ganz  zur  Erzählung  geworden,  eine 
Eigenthümlichkeit  vieler  philostratischer  Bilder,  die  ich  an 
einem  andern  Beispiel  erörtern  werde.  Ferner  aber  kann 
ich  nicht  umhin,  mit  einem  Wort  auf  die  Beschreibung  des 
sich  zum  Kampf  vorbereitenden  Herkules  hinzuweisen,  wo 
sich  in  zwei  \Yorten  der  Rhetor  unwillkürlich  verräth.  Er 
sagt,  Herkules  habe  die  Keule  in  den  Händen  (£v  raTy 
"leqolv) ,  da  er  doch  zumal  in  dieser  Situation  —  er  zieht 
das  Löwenfell  aus  —  gewiss  nur  eine  Hand  dazu  verwendet. 
Ein  Dichter  spricht  so,  und  natürlich  mit  Recht. 

Der  Rhetor  hat  sein  Bild  im  Wesentlichen  aus  Sophokles 
genommen,  aus  dem  Eingang  der  Trachinierinneu.  Dejanira, 
das  seelenvollste  Weib,  welches  das  Alterthum  geschaffen, 
erzählt  dort,  dass  Achelous  sie  umfreit  habe.  In  drei  Ge- 
stalten habe  er  sie  vom  Vater  begehrt,  bald  als  leibhaftiger 
Stier,  bald  als  schillernder  gewundener  Drache,  bald  stier- 
hauptig  mit  menschlichem  Leib  5  „aus  dem  buschigen  Bart 
aber  ilossen  Quellen  immerströmenden  Wassers."  Von  die- 
sem Freier  habe  Herkules  sie  erlöst,  sie  wisse  zwar  nicht 
wie;  das  könne  nur  der  sagen,  der  furchtlos  dem  Schau- 
spiel zihgesehn ,  sie  selbst  habe  dagesessen  von  der  Angst 
überwälligt.  Vor  Sophokles  dichtete  man,  Achelous  sei  in 
Gestalt    eines   Stieres    von   Herkules    bezwungen');   warum 


1)  So  Pindar  fr.    ine.  223  Bergk  und  ebenso  Apollodor  2,  7,  5 
^       und  Diod.  Sic.   IV,  35.     Ovid    dagegen  (Met.  9,   62  flf.)  folgt 
dem  Sophokles,  dessen  Abänderung  seiner  Dichtung  willkom- 
men  sein   musste,    verbindet  aber   damit  die  Erzählung  von 
dem  einen  abgebrochnen  Hörn. 

3* 


36 

verlässt  der  Tragiker  diese  einfachere  Erzälilung?  warum 
steigert  er  sie  ins  Grausigere?  Weil  es  vortheilhaft  ist  für 
sein  Stück:  denn  je  entsetzlicher  Achelous  ist,  um  so  gros- 
ser ist  die  Liebe  der  Dejanira  zu  ihrem  Erretter.  Es  ist 
einer  der  nicht  seltenen  Fälle,  dass  die  Tragödie  um  tragi- 
scher Wirkung  willen  von  der  schlichteren  Erzählung  der 
früheren  Dichter  abAveicht.  Was  Achelous  von  Herkules  er- 
litten, erwähnt  Sophokles  nicht  weiter;  in  der  Schilderung 
des  Kampfes  erscheint  jener  (v.  518)  als  Stier  oder  v.enig- 
stens  mit  Stierhörneru,  ebenso  wie  bei  Philostratus,  aber  die 
Entscheidung  des  Kampfes  durch  den  Verlust  des  einen 
Horns  hat  nur  die  gewöhnliche  Erzählung,  nicht  Sophokles. 
Für  sein  Stück  war  es  volkommen  genügend,  nur  die  That- 
sache  der  Ueberwindung  des  Achelous  mitzutheileu  ohne 
weitere  Details ;  hätte  er  aber  Details  gegeben,  er  hätte  nicht 
ein  Ungethüm,  wie  das  von  ihm  geschilderte,  so  wohlfeilen 
Kaufes,  mit  dem  Verlust  eines  Hornes  davon  kommen  lassen. 
Philostratus  dagegen  verbindet  mit  der  sophokleischen  Schil- 
derung den  Sehluss  der  gewöhnlichen  Erzählung;  in  seiner 
ersten  Sceue  erscheinen  Schlange,  Pferd  und  stierhauptiger 
Mann,  in  der  zweiten  haben  wir  es  nur  mit  einem  Stier- 
hörner  tragenden  Wesen  zu  thun,  dem  ein  Hörn  abgebrochen 
wird.  Denn  mit  keinem  "VA'ort  wird  augedeutet,  dass  die 
Gestalten  der  ersten  Scene  im  Kampf  selbst  mitwirken,  sie 
konnten  ja  auch  gar  nicht  mitwirken  ,  Aveun  es  sich  bloss 
um  Abbrechung  eines  Horns  handelt.  Eine  solche  Verletzung 
kann  ja  nur  den  Widerstand  eines  Stiers  brechen,  nicht  den 
des  Drachen  und  der  übrigen  Gestalten.  Was  wird  denn 
aus  diesen  ?  würden  wir  fi-agen,  und  eben  die  Nichtbeantwor- 
tung  dieser  Frage  durch  den  Rhetor  zeigt^  dass  er  die  übri- 
gen Gestalten    vom  Kampf  selbst   fernhält i).     Die  Gestalten 


1)  Welckcr  denkt  sich  den  Achelous  nach  Analogie  der  Thetis 
dargestellt.  Alle  Prämissen  dieser  Ansicht  einmal  zugegeben, 
so  bleibt  noch  immer  der  Unterschied,  dass  es  sich  gar  nicht 
um  einen  Ringkampf  handelt,  in  dem  der  Gegner  durch  Ver- 
wandlung zu  entschlüpfen  sucht,  wie  das  der  Fall  ist  bei 
Thetis  und  Nereus. 


37 

des  Drachen,  des  Pferdes  und  des  stierköpfigen  Mannes  also 
befinden  sich  nur  in  der  ersten  Scene,  eine-  und  dieselbe 
Person  erscheint  demnach  in  zwei  Scenen,  deren  eine  nur 
die  Fortsetzung  der  andern  ist,  in  ganz  verschiedener  Ge- 
stalt. Wie  aber  soll  man  sich  die  Plgur  des  Achelous  in 
der  ersten  Scene  denken  ?  Entweder  waren  die  A'erschiede- 
nen  Gestallen  zu  einem  Körper  zusammengesetzt  i),  oder  sie 
standen  selbstständig  neben  einander.  War  das  Letztere  der 
Fall,  so  stehn  eben  eine  Schlange,  ein  Pferd  und  ein  stier- 
köpfiger Mann  auf  dem  Bilde  und  Niemand  weiss ,  was  ge- 
meint ist,  im  erstem  Fall  aber  welch  ■  ein  bewegungsunfähi- 
ges, unmögliches  Ungethüm  würde  herauskommen  !  Von  dem 
Pferd  ist  sichtbar  Hals  und  Beine ,  von  dem  halbthierischen 
Menschen  aber  der  Stierkopf  und  auch  wenigstens'  noch 
etwas  Menschhches ,  denn  sonst  konnte  ja  überhaupt  nicht 
vom  Menschen  die  Rede  sein.  Lassen  sich  aber  diese  Theile 
zu  einem  lebensfähigen  Ganzen  vereinigen  ?  wir  müssten 
nämlich  auf  den  Pferdehals  das  Menschliche  und  endlich  den 
Stierkopf  folgen  lassen.  Die  griechische  Kunst  hat  nie  ver- 
sucht, vier  verschiedene  Organismen  zusammenzufügen,  wie 
es  hier  der  Fall  sein  würde  ^J^  in  der  Chimaera  versucht  sie 
es  mit  dreien,  ich  muss  aber  gestehu,  nicht  einmal  diese 
Bildung  macht  mir  einen  befriedigenden  Eindruck.  Die 
Schlange  zwar  ist  glücklich  angebracht ,  sie  bildet  den 
Schwanz  des  Ungeheuers,  aber  der  Ziegenleib  springt  unver- 
muthet  aus  dem  Rücken  des  Löwen  heraus  ,  er  springt  an 
einer  Stelle  heraus ,  an  welcher  die  Natur  nicht  clen  Ansatz 
zu  einer  neuen  Bildung  gemacht  hat.  Darin  eben  liegt  das 
Unorganische  dieses  Wesens.  Denn  wenn  wir  die  Sitte  be- 
obachten, welche  die  gute  Zeit  der  Kunst  in  der  Verbindung 
menschlicher  und  thierischer  Formen  oder  thierischer  Formen 
unter  einander  befolgt  hat,   so   tritt   uns   als  durchgreifendes 


1)  So  meint  Gerhard  Auserles.  V.  II  p.  HO  A.  108. 

2)  Auf  den  Gemmen,  besonders  im  Kreis  des  Eros,  finden  sich 
solclie  Zusammensetzungen  der  tollsten  Art.  Das  gehört 
natürlich  zur  Karrikatur. 


38 

Gesetz  dies  entgegen,  dass  die  Verbindung  der  verschieden- 
artigen Leiber  an  einer  Stelle  stattfindet,  wo  die  Natur  selbst 
eine  neue  Bildung  beginnen  lässt.  Sodann  aber  müssen  die 
Organismen  so  zusammengefügt  sein ,  dass  an  den  ersten 
Organismus  sich  derjenige  Theil  des  zweiten  anschliesst,  der 
auch  im  ersten  gefolgt  sein  Miirde,  wenn  er  nach  seiner 
eignen  Natur  ausgebildet  wäre.  Erst  dadurch  treten  die 
Theile  solcher  Schöpfungen  aus  dem  Aggregatförmigen  her- 
aus in  das  Verhältniss  einer  nothwendigen  gegenseitigen  Er- 
gänzung. Centaur,  Triton,  Scylla,  Pan,  Kekrops  u.  s.  w.  begin- 
nen an  der  Hüfte  thierische  ßewegungsorgane  anzunehmen, 
also  da,  wo  die  Bildung  des  Oberleibes  abgeschlossen  ist 
und  der  Ansatz  zum  Unterköi-per  beginnt.  Oder  an  den 
phantastischen  Thieren  der  See  pflegt  der  Fischleib  da 
einzusetzen  wo  der  Vorderkörper  abgeschlossen  ist:  kurz 
man  wird  finden,  dass  die  griechische  Kunst  sich  auf  das 
Sorgfältigste  der  von  Natur  gegebenen  Ghederung  des  Orga- 
nismus anschliesst. 

Eine  der  Erscheinungen  des  Achelous  ist  noch  beson- 
ders hervorzuheben ,  bei  welcher  sich  wieder ,  wie  bei  dem 
Kjklopen  eine  Difl'erenz  der  Poesie  und  bildenden  Kunst 
herausstellt.  Sophokles  und  Philostratus  geben  dem  Achelous 
ein  Stierhaupt ,  in  der  Kunstr  erscheint  er  entweder  ganz 
menschlich  nur  mit  Hörnern  auf  der  Stirn,  oder  als  Stier 
aber  mit  menschlichem  Gesicht^).  Das  Menschlichste  am 
Menschen  also,    der  Kopf   bleibt  erhalten.     Die  Poesie    darf 


1)  Vgl.  Millingen  in  Transactions  of  tlie  Royal  Society  of  Litera- 
ture  I,  1,  p.  143  ff.  und  IT,  95  ff.  An  ersterer  Stelle  wird  übri- 
gens di^  sophokleische  Stelle  irrthümlich  so  erklärt,  dass  sie 
mit  der  metapontischen  Münze ,  auf  welcher  Achelous  bis 
auf  die  Stierhörner  menschlich  ist,  übereinstimme.  Zu  der 
doppelten  Bildung  des  Achelous  vergleicht  Millingen  aber 
sehr  richtig  die  Flussgötter  auf  sicilischen  Münzen,  dann  auch 
die  Sirenen.  Gerhard  A.  V.  II,  p.  107  giebt  vollständig  die 
vorhandenen  Darstellungen  an,  doch  findet  sich  in  Anm.  89- 
der  Irrthiim,  dass  auf  der  metapontischen  Münze  noch  sonst 
ein  Achelous  mit  Stiergesicht  vorkomme. 


39 

unbedenklich  anders  verlalireii,  sie  giehl  auch  dem  Dionysos 
Stiergestalt  und  Sliergesicht  und  warum  soUte  sie  nicht? 
Es  sind  Erscheinungsformen,  Hüllen  des  Göttlichen,  die  un- 
serm  Innern  Auge  den  Gott  selbst  nicht  verbergen,  aber  dem 
äussern  Auge  ist  er  verborgen,  für  welches  die  bildende 
Kunst  schafft.  Der  Dichter  kann  Erscheinung  und  Wesen 
trennen,  die  in  der  bildenden  Kunst  unzertrennlich  verbunden 
sind;  das  GöttUche  also  unter  thierischer  Hülle  bleibt  gött- 
lich bei  jenem,  bei  diesem  geht  es  verloren. 

Das  Bild  hat  auch  sonst  manches  Sonderbare,  doch  be- 
gnüge ich  mich  mit  der  Frage,  warum  denn  Herkules  die 
Löwenhaut  zu  dem  Kampf  auszieht?  Würde  er  ringen  mit 
Achelous,  wie  mit  Antäus  und  Andern,  so  wäre  nichts  Auf- 
fallendes dal>ei,   aber   er  operirt  ja  mit  der  Keule'). 


Ein  drittes  Beispiel  falscher  Dichternachahmunw  der  be- 
zeichneten Art  liefert  die  „Hesiane"  des  Jüngern  Philostratus 
(n.  12): 

Das  Meerungeheuer,  dem  man  die  Hesione  ausgesetzt 
hat,  ist  gemalt  mit  grossen  kreisrunden  Augen,  die  fürchter- 
lich in's  Weite  blicken.  Ueber  sie  sind  stachelartige  Brauen 
herabgezogen.  Scharfe  Zähne  in  dreifacher  Reihe  sehen  aus 
dem  Mund  hervor,  die  einen  umgebogen  und  wie  Angel- 
haken gestaltet,  die  andern  scharf  an  der  Spitze  und  weit 
vorragend.  Ein  gewaltiger  Kopf  aber  erhebt  sich  aus  dem 
gekrümmten  und '  geschmeidigen  Nacken.  Seine  Grösse  ist, 
um  es  kurz  zu  sagen ,  unglaublich ,  aber  der  Anblick  über- 
füllt die  Ungläubigen.  Denn  da  sich  das  Ungethüm  nicht 
einmal  sondern  vielfach  krümmt,  so  hegt  Einiges  unter  dem 
Spiegel  des  Wassers,  nicht  ganz  deutlich  zu  sehn,  das  Andre 


1)  Er  scTieint  dies  dem  altern  Philostratus  nachgeschrieben  zu 
haben,  der  (II,  '21)  den  Herkules  gegen  Antaeus  die  Löwen- 
haut ablegen  lässt.     Da  ist  es  allerdings  passend. 


40- 

aber  ragt  heraus,  für  Inselchen  würden  es  diejenigen  halten, 
die  das  Meer  nicht  kennen.  AYir  trafen  das  Thier  in  Ruhe; 
jetzt  aber  in  heftigem  Schwung  sich  bewegend  erregt  es  ein 
gewaltiges  Wellengetöse  und  das  bei  stiller  See.  Und  der 
"Wasserschwall,  der  von  seinem  Andrang  auseinanderAveicht, 
wogt  zum  Theil  um  die  heraustretenden  Glieder  des  Thiers, 
sie  bespülend  und  unten  mit  Schaum  bedeckend,  zum  Theil 
hat  er  sich  ans  Gestade  geworfen.  Die  gekrümmten  Schwanz- 
flossen, die  zu  grosser  Höhe  das  Meer  aufwerfen,  sind  den 
Segeln  eines  Schiffes  zu  vergleichen,  in  mannigfaltigen  Far- 
ben schimmernd.  Herkules  aber  ist  ohne  Furcht.  Löwenfell 
und  Keule  liegen  vor  ihm;  er  steht  nackt  im  Ausfall,  den 
linken  Fuss  vorsetzend,  und  die  Unke  Hüfte  und  Hand  sind 
ebenfalls  vorgeworfen ,  die  rechte  Hand  aber  ist  zur  Span- 
nung des  Bogens  zurückgezogen  und  zieht  die  Sehne  an  die 
Brust.  Das  Mädchen  aber  ist  an  den  Felsen  gefesselt;  die 
Blüthe  der  jugendlichen  Schönheit  ist  zwar  in  der  jetzigen 
Lage  geschwunden,  doch  kann  der  Betrachter  aus  dem  Vor- 
handenen das  Ganze  errathen.  Ihr  Vater  Laomedon  ist, 
denk'  ich ,  innerhalb  der  Stadtmauern ,  den  Vorgang  über- 
schauend. Denn  der  Umkreis  einer  Stadt  ist  dargestellt  und 
die  Brustwehren  sind  voll  von  Menschen  ,  welche  flehend 
ihre  Hände  zum  Himmel  erheben. 

Dass  auch  hier  das  Ungethüm  in  zwei  verschiedenen 
Situationen  auftritt,  einmal  ruhend,  sodann  in  Bewegung, 
wird  einem  aufmerksamen  Leser  nicht  entgehen.  Wir  sehn 
hier  davon  ab  und  betrachten  die  Gestalt  desselben  an  und 
für  sich  ohne  Rücksicht  auf  die  Situation.  Drei  Reihen  von 
Zähnen  gibt  der  Rhetor  dem  Thier,  eine  Abnormität,  die 
in  der  Natur  und  eben  darum  auch  in  der  Kunst  nicht  vor- 
kommt. In  der  Poesie  freilich ;  in  jedem  Rachen  der  home- 
rischen Scylla  befanden  sich  drei  Reihen  von  Zähnen^),  und 


1)  Odyss.  12,  89  ff.  : 

TTJg  ijToi  nöStg  ffa\  (fi'wJfz«  nüvxtg  hwqoi 
f^  ö^  T^  Ol  äeioal  7T(Qiui^x(ig^  h'  <^f  ixccOTi] 
a/xeQSc(let]  y.fcfaX}],  Iv  Sl  tglaroi/oi  otSövTfg 

TTVXVol    XCCi    d^UUifS    X.    T.    X. 


41 

was  sollte  Homer  abgehalten  haben,  so  zu  dichten?  Seine 
Scylla  mit  ihren  sechs  Köpfen  macht  nicht  den  Anspruch, 
den  die  Scylla  auf  einem  Bilde  macht,  unser  durch  die  For- 
men der  sichtltaren  Natur  gebildetes  Auge  zu  befi-iedigen, 
der  Dichter  hat  nicht  die  Forderungen  de§  äussern,  nur  des 
Innern  Auges  zu  erfüllen^). 

Die  Grösse  des  Ungethüms  wird  in  das  Unglaubliche 
gesteigert,  mit  so  allgemeinen ,  nichts  sagenden  Worten  frei- 
lich ,  Avie  sie  kein  Augenzeuge  gebrauchen  würde.  Soviel 
müssen  wir  indess  annehmen,  dass  das  Thier  durch  Grösse 
sich  auszeichnete  und  dies  genügt,  um  einen  gewöhnlichen 
Fehler  der  Philostrate  auch  hier  vorauszusetzen.  Alles  Aus- 
serordentliche nämlich  wird  von  ilmen  quantitativ  gesteigert 
und  damit  ein  deutlicher  Beweis  gegeben,  dass  ihren  Be- 
schreibungen nichts  Wirkliches  zu  Grunde  lag.  Der  Leich- 
nam des  Kapaneus,  dessen  Bestattung  durch  die  Angehörigen 
auf  einem  Bilde  dargestellt  war  (Sen.  II ,  30)  ,  ist  zu  gross, 
um  ihn  für  den  eines  Menschen  zu  halten  •  auf  einem  andern 
Bild  (Sen.  II,  29)  liegen  die  Helden,  die  Theben  zerstören 
wollten,  getödtet  da,  die  übrigen  grösser  als  Menschen, 
Kapaneus  aber  einem  Giganten  gleich;  die  Gestalt  des  Her- 
kules, der  den  Antaeus  bekämpft,  -geht  über  menschliches 
Maass  hinaus  (Sen.  H,  21);  auch  Aeetes,  der  die  Argonau- 
ten verfolgt,  erscheint  in  übermenschhcher  Grösse  (Jun.  ii), 
das  merkwürdigste  Beispiel  aber  ist  der  Dämon  auf  dem 
Bilde  des  Nil  (Sen.  I,  5),  der  so  gemalt  war,  dass  er  als 
bis  an  den  Himmel  reichend  gedacht  werden  sollte. 

Diese  Beispiele  werden  genügen;  wir  fragen  nun,  liegt 
diesen  Schilderungen  Anschauung  zu  Grunde? 

Der   Malerei     sind    hinsichthch    des   Kolossalen    engere 


1)  Hier  Hesse  sich  noch  Vieles  vergleichen,  so  der  Drache 
bei  den  Aepleln  der  Hesperiden,  mit  hundert  Köpfen 
nach  Apollod.  2,  5,  12.  Cerberns  dem  auch  aus  dem 
Rücken  Schlangen  wachsen  ibid.  12.  So  erscheinen  diese 
Wesen  in  der  Poesie,  anders  bekanntlich  in 'der  bildenden 
Kunst. 


42 

Gränzen  gesteckt  als  der  Plastik.  Von  Nero  hören  wir  frei- 
lich, dass  er  sich  in  einer  Grösse  von  i2U  Fuss  auf  Lein- 
wand nuUen  Hess;  darüber  aber  wird  Niemand  anders  ur- 
theilen,  als  der  IJerichterstatter,  der  es  eine  Tollheit  nennt'). 
In  Pompeji  und  Herkulauum  gehören  schon  die  lebensgrossen 
Figuren  /u  den  Seltenheiten ,  noch  seltener  sind  diejenigen, 
die  um  ein  Weniges  über  Lebensgrösse  hinausgehen  2).  Die  Pla- 
stik dagegen  bewegt  sich  freier;  sie  kann  zwar  auch  dasMaass 
überschreiten^ die  Perioden  der  sinkenden  Kunst, z.B.  die  Kunst 
nach  Alexander  beweist  es , '  die  durch  ^vahrhaft  ungeheuer- 
hche  Werke  Bewunderung,  richtiger  Yer^^  underung  zu  er- 
regen suchte ,  aber  auch  in  der  edelsten  Zeit  der  Kunst  war 
die  Kolossalbildung  nicht  selten,  sie  war  vielmehr  der  noth^ 
wendige  Ausdruck  für  die  erhabene  Anschauung  des  Gött- 
lichen, die  damals  in  den  Gemüthern  lebte.  Dieser  Unter- 
schied der  beiden  Künste  liegt,  wenn  ich  nicht  irre,  vornehm- 
lich darin  begi-ündet,  dass  die  Plastik  die  volle  Körpergestalt 
nach  ihren  drei  Dimensionen ,  die  Malerei  dagegen  nur  den 
Schein  des  Körpers  auf  einer  Fläche  zur  Anschauung  bringt. 
Wird  nämhch  dieser  Schein  weit  über  menschliclies  Maass 
hinaus  verlängert,  so  erscheint  er  unAvahr,  wir  vermögen 
solche  Figuren  nicht  mehr  als  wirklich  seheinend  zu  em- 
pfinden ,  sie  treten  uns  vielmehr  entgegen  als  lange  wesen- 
lose, gespensterhafte  Schatten,  mit  einem  Wort  der  Schein 
wird  als  Schein  empfunden.  Ein  kolossales  Werk  der  Pla- 
stik dagegen  bleibt  uns,  weil  es  in  voller  Körperlichkeit 
auftritt,  immer  verwandt,  wenn  es  auch  quantitativ  sich 
noch  so  sehr  unterscheidet.  Der  Maler,  der  kolossale  Figuren 
darstellen  will,  muss  daher  einen  andern  Weg  .einschlagen, 
er  muss  dem  Beispiel  des  Timanthes  folgen.  Dieser  geist- 
reiche Künstler  malle  nämlich  auf  einem  kleinen  Bilde  den 
K3'klopen  Polyphem  und  um  die  Grösse  desselben  an- 
schaulich zu  machen,  malte  er  Satyrn  hinzu,  die  mit  dem 
Thyrsus    seinen   Daumen' massen  ^).      Also   relativ    war   der 

1)  Plin    35,  51. 

2)  Vgl.  z.  B.  Zahn  zu  U,  3U.     Avelhios  Bullet.  Nap.VI.  p.  JO. 

3)  Plin.  35,  74. 


43 

Kyklop  gross;  der  Maler  gibt  in  den  kleinen  hinzugefügten 
Figuren  uns  den  Maassstab,  uaeh  dem  wir  messen  sollen, 
wohl  erkennend ,  dass  es  der  Malerei  versagt  ist,  in  unmit- 
telbarer Anschaulichkeit  das  Kolossale  darzustellen.  Anders 
der  Dichter;  bei  ihm  darf  Ka])aneus  ein  Grigant  sein  ^)  und 
alle  übrigen  Helden  ül)erragen.  Denn  das  Bild  des  Dichters 
ist  kein  sinnlich  sichtbares ,  an  dem  Unterschied  der  Grösse 
nimmt  daher  die  Phantasie  um  so  weniger  Anstoss,  als  die 
Bilder  der .  einzelnen  Helden  aufeinander  folgen.  Die  Phan- 
tasie hat  es  zur  Zeit  immer  nur  mit  ein^m  zu  thun.  Aber 
denke  man  sich  die  Worte  des  Dichters  übertragen  in  die 
bildende  Kunst,  so  entstehn  ganz  andere  Forderungen.  Gleich 
der  Raum  "will  angemessen  gefüllt  sein ,  das  Bild  des  Nil 
müsste  schon  aus  diesem  einen  Grunde  für  nicht  wirklich 
gehalten  werden,  weil  es  ganz  und  gar  gegen  das  in  keiner 
andern  Kunst  so  sorgfältig  als  in  der  griechischen  gewahrte 
Gesetz  der  ßaumausfüllung  verstösst.  An  der  einen  Seite  des 
Bildes  liegt  der  Nil  umspielt  von  den  Kindern,  welche  die 
Ellen  seines  Wachsthums  darstellen,  auf  der  andern  steht 
der  den  Himmel  berührende  Dämon ,  der  dem  Nil  sein  Was- 
ser zufüln-f.  Dieser  Dämon,  der  ohnehin  das  Interesse  ganz 
von  dem  Nil  abzieht,  der  eine  dichterische  Reminiscenz  ist 2), 
hatte  aber  auch  an  sich  ganz  andere  Proportionen  ,  als 
die  Gegenfigur,  denn  dies  ist  man  doch  aus  den  Wor- 
ten   des     Rhetors    zu     schhessen     berechtigt.      Aber     was 


1)  Aesch.  Sept.  423- 

2)  Vgl.  d.  Erkl.  Uebrigens  ist  das  Bild  ein  ganzes  Nest  von 
Fehlern.  Hier  sei  nur  noch  dies  erwähnt,  dass  die  das  ägyp- 
tische Lokal  bezeichnenden  Thiere,  Krokodil  etc.,  die  so  viel 
ich  weiss,  auf  keiner  der  nns  erhaltenen  zalilreichen  Dar^^ 
Stellungen  des  Nil  und  ägyptischer  Landschaften  fehlen,  hier 
vermisst  werden.  Der  Rhetor  sagt,  Krokodil  nnd  Nilpferd 
seien  verborgen  in  der  Tiefe  des  Wassers,  nni  nicht  den 
Kindern  Furcht  einzutlössen.  An  der  vatikanischen  Statne 
sehn  wir  zwei  Kinder  mit  einem  Krokodil  spielend,  und  wa- 
rum sollten-  sie  nicht?  Sie  sind  ja  nicht  .'gewöhnliche,  son- 
dern allegorische  Kinder! 


44 

für  ein  ungriechiseh  componirtes  Bild  käme  damit  her- 
aus ^j!  Doch  wichtiger  ist  Folgendes :  ein  Mensch,  der 
vom  Dichter  zu  einem  Giganten  gesteigert  wird,  bleibt  da- 
rum immer  ein  Mensch:  erscheint  er  aber  im  sichtbaren  Bilde 
als  Gigant  neben  andern  kleineren  Figuren,  so  verliert  er 
die  Gleichartigkeit  mit  letzleren  und  rückt  in  eine  andere 
Sphäre.  Denn  die  Kunst  kann  es  mit  ihren  sichtbaren  For- 
men ja  nur  eigentlich  meinen,  der  Gigant  des  Dichters 
aber  ist  eine  uneigentliche  Bezeichnung,   es   ist   ein    un- 


1)  Noch  au  einem  zweiten  Bild  des  Philostratus  ist  uns  eine 
Beurtheilung  der  ränmlichen  Anordnung  möglich.  Es  ist  das 
Bild,  welches  die  Geburt  der  Athene  darstellte  (Sen.  2,  27). 
Man  rmiös  sich  die  Anordnung  so  denken:  in  der  Mitte  der 
Olymp  —  der  Rhelor  spricht  freilich  nur  vom  ovquvo?  — , 
auf  welchem  Athene  geboren  wird  im  Beisein  aller  Götter, 
an  der  einen  Seite  die  Akropolis  der  Athener,  au  der  andern 
die  der  Khodier.  Offenbar  war  nun  der  Olymp  erhaben  über 
den  Oertlichkeiten  zur  Linken  und  Rechten.  Welcker  dürfte 
das  nach  seiner  Bemerkung  zu  Jun.  5,  bei  der  er  übrigens 
sich  wol  nicht  des  obigen  Bildes  erinnerte  und  die ,  an  und 
für  sich  betrachtet,  sehr  merkwürdig  ist,  am  allerwenigsten 
läugnen.  Dann  entstünde  aber  links  und  rechts  ein  höchst 
unangenehmer  leerer  Fleck.  Wenn  freilich  Welcker's  Anord- 
nung der  poh'^gnotischen  lliupersis  richtig  wäre,  so  wäre 
autli  an  diesem  philostratischen  Bilde  kein  Anstoss  zu  neh- 
men, indess  sind  dagegen  namentlich  von  K.  F.  Hermann, 
Epikrit.  Betracht  über  die  polygnot  Gemälde  in  der  Lesche 
zu- Delphi,  Progr.  zum  Winckelmannstage  Gott.  1849  p.20,  21 
die  überzeugendsten  Gründe  geltend  gemacht.  Hermann's 
positive  Aufstellungen  halte  ich  durchaus  nicht  für  richtig, 
aber  dass  ein  in  Form  eines  Dreiecks  angeordnetes  Bild  auf 
eine  viereckige  Wand  übertragen  erstlich  gegen  das  Gesetz 
der  Raumfüllung  verstösst  und  zweitens  als  Gegenstück  eines 
seinen  viereckigen  Raum  füllenden  Bildes  auch  gegen  die 
Sj'mmetrie,  das  wird  auch  von  Hermann's  Gegner,  Overbeck 
(Rh.  Mus.  N.  F.  VII,  p.  438)  anerkannt.  Dieser  Meinung  ist 
auch  Ruhl  in  seinem  an  schönen  Bemei'kiingen  reichen  Auf- 
satz in  Zeitschr.  f.  Alt.  1855,  p.  391. 


45 

eigentlicher  Ausdruck,  um  das  Höchste  übevmüthiger ,  roher 
Kraft  zu  bezeichnen.  Und  nun  vergegenwärtige  man  sich 
das  Bild,  wo  der  Leichnam  des  Kapaneus  grösser  als  dass 
er  für  den  eines  Menschen  gehalten  werden  könnte,  bestattet 
wird  von  den  Angehörigen.  AVer  ist  der  Riese,  fragen  wir? 
und  wie  kann  man  trauern  über  ein  solches  Ungelhüm? 
Noch  Aergeres  aber  wird  uns  zugeinuthet  in  dem  Bild  der 
Antigone.  Die  Schwester  bestattet  den  Bruder  auf  dem 
Schlachtfeld,  wo  Leichnam  an  Leichnam  liegt  von  Männern 
und  Pferden,  und  Waffen  und  Schlamm  von  Blut  und  Staub. 
An  der  Mauer  aber  liegen  die  Leichen  der  übrigen  Heer- 
führer, grösser  als  Menschen,  Kapaneus.  aber  einem  Giganten 
gleich ;  und  dies  Alles  ist  Nebensache,  nur  zur  Characteristik 
der  Situation  dienend! 

Die  griechische  Kunst  unterscheidet  die  Heroen  qualita- 
tiv, nicht  quantitativ.  Herkules  ist  weder  grösser  noch 
kleiner,  als  ein  andrer  Heros  ^) ,  aber  der  Bau  seines  Kör- 
pers unterscheidet  ihn  ausser  den  Attributen.  Ja  die  Götter 
selbst  erscheinen  in  gleicher  Grösse  mit  den  Sterblichen, 
%venn  ich  eine  Klasse  von  Monumenten  ausnehme ,  die  ich 
ausnehmen  darf,  weil  sie  praktischem  Zweck  dient,  die  Vo- 
tivreliefs.  Da  pflegen  freilich  die  Götter  in  weit  grösserem 
Maassstab  dargestellt  zu  sein,  als  die  anbetenden  Menschen, 
und  der  Grund  mag  darin  liegen,  dass  das  fromme  Gefühl, 
welches  der  Gottheit  ein  Geschenk  bringt  für  Rettung  aus 
der  Noth,  auch  äusserlich  zeigen  will,  dass  ihm  die  Gott- 
heit   ein   Wesen    ist    alles   Menschliche    hoch    überragend 2), 


1)  In  der  Poesie  ist  er  allerdings  wie  auch  Tydeus,  klein  von 
Statur,  vgl.  die  Stellen  in  K.  F.  Hermann's  griech.  Privatal- 
tertluimern  §.4,  Anm.  7.  Mit  gutem  Grunde,  denn  mit  der 
Vorstellung  einer  stämmigen,  auslialtenden  Kraft  verbinden 
wir  die  einer  kleineren  Statur,  mit  welcher  sie  ja  auch  in 
Wirklichkeit  häutiger  vei'bunden  ist  als  mit  langaufgeschos- 
senen Menschen. 

2)  Bei  Grabmonumenten  ist  es  manchmal  zweifelhaft,  ob  nicht  der 
Grössenunterschied  zwischen  den  adorirenden  Menschen  und 
heroisirten    Verstorbneu    vom   Raum    herzuleiten   sei.      Vgl. 


„     46 

aber  hier  handelt  es  sich  nur  um  die  Schüpfungen  der  freien, 
zwecklosen  Kunst  und  wie  diese  verfuhr,  lehren  die  Vasen 
und  Wandgemälde.  Wie  könnte  auch  die  Kunst  anders  ver- 
fahren, wenn  sie  den  Gott  im  Verkeiir  mit  den  Sterblichen 
darstellen  will ! 

Doch  wir  kommen  auf  das  Bild  der  Hesioue  zurück. 
Auf  den  vorhandenen  Darstellungen  ist  (k)s  Seethier  eher 
durch  Kleinheit  als  durch  Grösse  ausgezeichnet  im  Verhält- 
niss  zu  den  Menschen.  Die  Künstler  wollten  auf  etwas  an- 
deres die  Augen  des  Betrachtenden  lenken,  auf  das  Wesent- 
liche der  Sache,  auf  das  GeJstige,  das  in  den  Theilnehmern 
der  Handlung  ausgeprägt,  ist.  Die  ungebildete  Menge  mag 
ein  Ungethüm,  wie  das  von  Philostratus  beschriebene,  mit 
rohem  Staunen  erfüllen,  der  denkende  Künstler  wird  es  ver- 
stebn,  auf  das  Bild  des  Mädchens,  das  zwischen  Furcht  und 
Hoffnung  schwankt,  die  Aufmerksamkeit  zu  ziehn.  Das  Bild 
des  Philostratus  ist  ein  rohes  S])ektakelstüek,  auch  ,die  gaf- 
fende Menge  fehlt  nicht,  die  auch  bei  dem  Kampf  des  Herkules 
und  Achelous  zugegen  war  i),  und  der  Vater  des  Mädchens, 
meint  der  Rhetor,  sei  auch  wol  unter  den  Zuschauern.  Wie  ist 
es  möglich,  so  Etwas  für  gemalt  zu  halten,  gemalt  in  gi-iechi- 
scher  Kunst  2)  !     Ein  herkulanischer  Maler  hätte  Gelegenheit 


Welcker  A.  D.  IL  p.  260.  Ehic  beabsichtigte  Kleinheit  der 
Figuren  finde  ich  dagegen  auf  Reliefs,  wie  tlas  von  Eleusis 
bei  Müller  II,  8,  96,  wo  der  Demeter  ein  Opfer  gebracht 
wird.  Denn  hier  ist  über  den  kleinen  adorirenden  Figuren 
leerer  Raum  gelassen. 

1)  Ebenso  auf  dem  Bild  des  Arrhichion  Sen.  II,  6. 

2)  Wenn  Priamus  and  Hekuba  auf  den  Mauern  Trqja's  erschei- 
nen bei  Hektor's  Schleifung,  so  hat  das  Sinn:  Achill  könnte 
ja  durch  ihr  Flehn  erweicht  werden.  —  Mir  fällt  ein  spät- 
römisches Relief  ein  bei  Guattani  Mon.  ined.    17Ö5  p.  9    oder 

.  Miliin,  Gal.  myth.  133,  521*,  wo  der  Wettkampf  des  Pelops 
und  Oenomaus  dargestellt  ist.  Da  sieht  man  mehre  Köpfe 
von  Zuschauern,  weil  das  Ganze  als  ein  römisches  Cirkus- 
rennen  aufgefasst  ist.  Vgl.  das  römische  Relief  in  Annali 
XI,  tav.  dAgg.  N. 


47 

gehabt,  die  Zuscliauor  anzubringen;  er  hat  hinter  der  Hesione, 
die  zur  Aussetzung  geführt  wird ,  eine  Mauer  augebracht,  um 
die  Stadt  anzudeuten,  aber  es  ist  nicht  ein  einziger  Kopf 
darüber  sichtbar.  Dagegen"  steht  neben  der  Hesione  eine 
Frau,  welche  das  Mädchen  stützt.  Eine  Freundin  giebt  ihr 
das  Geleite  auf  dem  Weg  in  den  Tod  und  spricht  ihr  Hoff- 
nung ein ,  da  die  Befreier  in  der  Nähe  sind.  Es  ist  aber 
nicht  ein  Befreier  da,  auchTelamon,  der  künftige  Gatte  des 
Mädchens  ist  anwesend  und  während  Herkules  noch  in  Un- 
terredung begriffen  ist  mit  dem  Mädchen  und  ihrer  Beglei- 
terin, ist  jener,  der  mehr  als  Herkules  Betheiligte ,  schon  im 
BegTiff,  einen  Felsblock  auf  das  Ungethüm  zu  schleudern. 
Telamon  aber  fehlt  ganz  bei  Philostratus  und  das  ist  sehr 
merkwürdig.  Denn  auf  allen  Monumenten,  die  nicht  durch 
eine  offenbare  Raumnoth  auf  Abkürzung  angewiesen  sind  i), 
erscheint  Telamon  neben  Herkules  2).  Sie  weichen  darin 
von  dem  literarisch  Ueberlieferten  ab,  denn  so  weit  wir  be- 
richtet sind ,  befreit  Herkules  die  Hesione  allein ,  da  ihm  aber 


1)  Dies  glaube  idi  sagen  zu  dürfen  von  dem  Glaskameo  Arch. 
Ztg.  1849  tat'.  6,  h.  A.  wo  schon  das  Sitzen  der  Hesione 
durch  die  Bescliränkung  des  Raumes  veranlasst  ist ,  sodann 
von  dem  Kölner  Sarkophag  in  den  Jahrb.  des  Vereins  von 
Alterthum^freunden  im  Rheinland  VIT,  taf.  3 ,  wo  das  Bild 
einer  Scene  von  zwei  Figuren,  dem  Dreifussraub  des  Herku- 
les, S3'mmetrisch  gegenüber  gestellt  ist.  Dass  das  von  Wie- 
seler im  Bull,  deir  inst.  1852,  p.  114  beschriebene  Vasenbild 
sich  auf  Herkules  und  Hesione  beziehe,  .scheint  mir  noch 
nicht  sicher. 

2)  Vgl.  Pitt.  d'Ercol.  IV,  G2.  Winckelm.  Mon.  ined.  n.  66.  Cam- 
pana Op.  in  plast.  tav.  21.  Auf  dem  letzten  Bild  steht  Tela- 
mon voran  als  der  am  meisten  Betheilig^e  •,  die  Stellung  des 
Herkules  entspricht  genau  der  von  Philostratus  beschriebenen  i 
natürlich,  denn  es  ist  die  Stellung,  die  Jeder  einnehmen  muss, 
der  einen  Bogen  abschiesst,  so  dass  der  Herausgeber  nicht 
nöthig  hatte,  darauf  aufmerksam  zu  machen.  Sehr  richtig 
aber  bespricht  er  die  ausdrucksvolle  Haltung  der  Hesione. 
Philostratus  dagegen  macht  alberne  Phrasen  über  sie,  wozu 
mau  wahrhaftig  kein  Bild  von  ihr  gesehn  zu  haben  braucht. 


48 

Laomedon  den  bedungenen  Lohn  nicht  geben  will,  so  zieht 
er  in  Begleitung  des  Telauion  gegen  Troja  und  nach  der  Er- 
oberung der  Stadt  gibt  er  dem  Freunde  die  Braut.  Die 
Kunstwerke  rücken  die  Ereignisse  näher  zusammen ,  sie 
bringen  den  Telamon  schon  in  die.  erste  Reise  des  Herkules 
nach  Troja,  vielleicht  auf  Anregung  eines  Künstlers,  wahr- 
scheinlicher aber  scheint  mir,  dass  ein  Tragiker  so  dichtete, 
der  Schluss  mit  der  Hochzeit  hätte  wenigstens  in  den  erhal- 
tenen Tragödien  manche  Analogien.  Doch  sei  dem  wie  ihm 
w^oUe,  nach  den  vorhandenen  Kunstwerken  erwartet  man, 
auch  diesen  Zug  bei  Philostratus  zu  finden  und  sieht  sich 
daher  zu  der  Annahme  veranlasst ,  wie  anderswo ,  so  habe 
er  auch  hier  die  überlieferte  Erzählung  nachgeschrieben  3). 
Diese  Annahme  ist  um  so  berechtigter,  als  bekansitlich  die 
Darstellungen  eines  und  desselben  Gegenstandes  in  der  grie- 
chischen Kunst  immer  eine  merkwürdige  Aehnlichkeit  in  den 
wesentlichen  Momenten  zeigen.  Was  einmal  gut  Mar,  das 
wurde  wiederholt  und  nur  in  Einzelheiten  wich  man  a!),  um 
nicht  als  ganz  unselbständiger  Nachahmer  zu  arbeiten. 


Wir  können  noch  nicht  die  Betrachtung  der  äussern  Ge- 
stalt nach  ihrer  Verschiedenheit  in  Dichtung  und  Kunst  ab- 
schliessen,  Philostratus  bietet  noch  mehre  Fälle,  welche 
zwar  mit  den  obigen  unter  ein  Genus  fallen ,  doch  im  Ein- 
zelnen abweichen. 

Auf  einem  Bild  des  älteren  Philostratus  (2,  7)  war  die 
Trauer  um  den  von  Memnon  getödtelen  Antilochus  dar- 
gestellt : 


1)  Die  Verschiedenheit  zv^ischen  Kunst  und  Diclitung,  wie  sie 
in  diesem  Mythus  sich  herausstellte,  Ihidel  sich  ganz  ähnlich 
in  dem  Mythus  von  Kadmus  und  Harmonia.  Nur  die  Kunst- 
werke setzen  den  Drachenkampf  und  die  Hochzeit  in  ursäch- 
liche Verbindung,  nicht  die  Schriftsteller.  Vgl.  Welcker  A. 
D.  III,  p.  386. 


I 


49 

Memnou  aus  Aethiopien  angekommen  tödtet  den  Anti- 
lochus,  der  für  seinen  Valer  kämpfte,  und  setzt  die  Achäer 
in  Schrecken.  Denn  vor  Memnon  waren  die  Schwarzen  eine 
Fabel.  Die  Achäer  aber  im  Besitz  des  Leichnams  beweinen 
den  Antilochus,  Odysseus  kenntlich  an  dem  Verschlossenen 
und  Aufpassenden ,  Menelaus  am  Sanften ,  Agamemnon  am 
Gut! liehen.  Den  Diomedes  bezeichnet  das  ofifene  Wesen,  der 
Sohn  des  Telamon  ist  finster,  den  lokrischen  Ajax  aber  er- 
kennt man  an  dem  Beweglichen.  Und  das  Heer  betrauert 
den  Jüngling,  ihn  rings  umstehend.  Sie  haben  die  Lanzen 
in  die  Erde  gestemmt  und  stützen  sich  auf  sie  mit  überge- 
schlagenen Beinen ;  den  meisten  hängen  vor  Trauer  die 
Kopfe  herab.  Den  Achill  zeigt  seine  Gestalt  an  und  seine 
Grösse  und  das  abgeschnittene  Haar.  Er  klagt  an  der  Brust 
des  Antilochus  liegend.  Memnon  aber  steht  im  Aethiopen- 
lager  schrecklich  da  mit  der  Lanze  und  dem  Löwenfell,  grin- 
send gegen  Achill.  Dem  Antilochus  sprosst  schon  der  Bart, 
sonnengolden  ist  sein  Haar,  leicht  der  Schenkel  und  der 
Körper  passend  gebaut  zur  Leichtigkeit  des  Laufes ;  das  Blut 
aber  ist  wie  Purpur  auf  Elfenbein ,  da  ihm  die  Lanze  in  die 
Brust  gedi'ungen  ist.  Heiter  aber  und  lächelnd  ist  sein 
Anthtz. 

.  Memnon  hatte  auf  diesem  und  auf  einem  andern  Bilde 
(Sen.  1,  7)  schwarze  Gesichtsfarbe.  Nur  diese?  fragt  man 
sogleich;  Marum  sagt  nicht  der  Rhetor,  dass  er  auch  die 
Gesiehtsbildung  des  Schwarzen  hatte?  Oder  war  er  etwa 
ein  schwarz  angemalter  Weisser?  Nicht  denkbar;  der  Künst- 
ler musste  ihm  entweder  alle  oder  kein  Merkmal  des  Aethio- 
pen  geben ,  aber  ihn  mit  einer  Eigenschaft  ausstatten  ohne 
die  andren ,  ist  ein  Verstoss  gegen  die  Naturwahrheit.  Ehe 
wir  das  annehmen,  ist  es  natürlicher  zu  glauben,  dass  der 
Rhetor  die  übrigen  Eigenheiten  des  äthiopischen  Typus  über- 
sehn oder  zu  erwähnen  A^ergessen  habe.  Aber  dann  wider- 
spricht die  ganze  Menge  der  erhalteneu  Darstellungen ;  nur 
untergeordnete  Aethiopen ,  nie  aber  ist  der  Führer  in  dem 
Typus  seiner  Race  dargestellt.  Schon  auf  Vasen  mit  schwar- 
zen Figuren  finden  sich  Neger   auf  das  Deutlichste    characte- 

4 


50 

risirt,  aber  Memnon  selbst  ist  immer  ganz  Grieche').  Und 
warum  ist  ers?  Weil  in  der  griechischen  Kunst  der  Charac- 
ter  des  Mannes  dasjenige  ist ,  wornach  sich  seine  Gesichts- 
bildung bestimmt.  Dem  Busiris  lässt  man  die  nationale  Phy- 
siognomie 2),  der  nach  seinem  Character  nicht  den  edeln  Ty- 
pus beanspruchen  kann,  der  nothwendig  ist  für  den  in  die 
griechische  Sagenwelt  eng  verflochtenen  Sohn  der  Eos.  Nur 
in  der  Gewandung  characterisirt  man  den  edlen  Ausländer, 
und  selbst  hierin  unterscheidet  sich  die  frühere  Zeit  wesent- 
lich von  der  sj)ätern.  Denn  Orpheus,  Medea,  Paris  pflegen 
vollkommen  hellenisch  in  der  altern  Kunst  auszusehn.  Diese 
ältere  Kunst  ist  idealer,  unbekümmerter  um  das  Zusammen- 
stimmen mit  der  AYirkhchkeit ,  sie  fällt  vor  jenen  grossen 
kulturhistorischen  Wendepunkt,  in  welchem  das  griechische 
Volk  vom  Idealen  zum  Realen  sich  wandte. 

Doch  das  Princip  der  griechischen  Kunst,  den  Typus 
des  Gesichts  nicht  nach  de,m  äussern  Grund  der  Herkunft 
aus  der  Fremde,  sondern  nach  dem  Character  der  darzustel- 
lenden Figur  einzurichten,  ist  zu  wichtig,  um  nicht  ,  etwas 
näher  besprochen  zu  werden-'). 

Die  grade  Nase  war  eine  Eigenthümlichkeit  des  gri«- 
chischen  Nationaltypus.  Sie  wurde  daher  zuerst  ohne  Re- 
flexion als  ein  von  der  Natur  Gegebenes  nachgebildet.  Die 
Satyrn  z.  B.  auf  den  altern  Vasen  sind  im  Profil  nicht  ver- 
schieden von  den  übrigen  Figuren.  Es  konnte  aber  nicht 
fehlen  ,  dass  dasjenige ,  was  ursprünglich  als'  ein  Vorliegen- 
des naiv  benutzt  wird,  später  mit  künstlerischem  Verstand- 
niss  nach  seinem  Innern  Wesen ,  nach  seinem  Character  ver- 
wandt wurde.  So  ist  es  ja  überall.  In  Haar  und  Gewan- 
dung wird  die  älteste  Kunst  beherrscht  von  der  Sitte  des 
Lebens,     ein  neuer  grosser  Anfang  aber  ist   es,    wenn    statt 


1)  Wie  auf  der  Vase  des  Ama«is  bei  Gerhard  Auserl.  V.  207,-  so 
war  es  in  der  Unterwelt  Pol^ygnot's  •,  Paus.  10,  31,  5. 

2)  Vgl.  z.  B.  Micali   storia  tav.  90. 

3)  Die  geschichtliche  Ent\\ickhing  der  Gesichtsformen  giebt  der 
erste  Excurs. 


51 

der  Sitte  die  künstlei-ische  Nothwendigkeit  als  bestimmender 
Grund  eintritt.  Die  grade  Nase  ist  keineswegs  allen  grie- 
chischen Kunstdarstellungen  eigen :  zu  edel  wäre  sie  für  den 
Satyr  und  Pan,  auch  Herkules  in  der  Bildung  durch  Lysip- 
pus,  die  in  der  farnesischen  Statue  und  in  mehreren  herr- 
lichen Gemmen  vorliegt,  hat  sie  nicht  und  kann  sie  nicht 
haben.  Unter  der  mächtig  vorspringenden  ünterstirn,  die 
nicht  auf  Weisheit,  aber  auf  energisches  Wollen  deutet, 
springt  eine  gebogene  Nase  hervor;  sie  ist  die  für  den  Heros 
der  unbeugsamen,  wuchtigen  Kraft  angemessenste  Form.  Der 
Adel  des  griechischen  Profils  tritt  deutHch  hervor  in  der 
Umgebung  von  Figuren  mit  anderer  Gesiehtsbildung,  so  wenn 
Dionysos  Von  Satyrn  umgeben  ist.  Auch  neuere  Künstler 
haben  in  dieser  Art  herrliche  Contraste  erreicht;  man  ver- 
gleiche das  Profil  des  Pharisäers  mit  dem  des  Heilands  auf 
Tizians  Zinsgi'oschen ,  vor  Allem  aber  das  Abendmahl  des 
Leonardo.  Welch  ein  Gegensatz  zwischen  dem  Profil  des 
Verräthers,  dessen  Gesicht  der, tiefsinnige  Meister  in  dunklen 
Schatten  gehüllt  hat  —  als  hätte  ihm  die  wunderbare  Stelle 
im  Evangelium  Johannis  vorgeschwebt  —  und  den  reinen, 
edlen  Formen  des  neben  ihm  sitzenden  Johannes!  Der  Cha- 
racter  des  Mannes  also  ist  das  Entscheidende  und  darum 
stellten  die  griechischen  Künstler  den  Ausländer  je  nach  sei- 
nem Character  bald  als  Ausländer  dar,  bald  in  der  Phy- 
siognomie ihres  eigenen  Volkes^).- 

Und   was    fangen    wir    nun    mit    Philostratus     an?     Die 
Dichter    geben   Auskunft.      Sie   bezeichnen    Memnon  als  den 


1)  0.  Jahn  Archäol.  Beitr.  p.  424  Anm.  33  (vgl.  dessen  Einlei- 
leitung  zum  Münchner  Vasenkatalog  Anna.  1206)  giebt  noch 
andre  Beispiele  unhellenischer  Nasenform  ,  in  denen  die  Be- 
ziehung der  Form  zu  dem  betreffenden  Character ,  wie  ich 
'glaube,  nicht  schwer  zu  erkennen  ist.  Denn  dass  durch  die 
abweichende  Nasenform  nur  die  ausländische  Herkunft  cha- 
racterisirt  werden  sollte,  kann  ich  nach  den  Erörterungen  im 
Text  nicht  zugeben.  Sehr  Interessant  ist  auch  die  rondani- 
nische  Meduse  mit  ihrem  ganz  ungriechischen  Profil. 

4  * 


52 

Schwarzen '")  und  ebenso  der  Rhetor,  der  ihnen  nachschreibt, 
und  zwar  ebensoviel  nachschreibt,  als  jene  sagen.  Und  doch 
darf  sich  ber  Dichter  mit  dem  einen  Beiwort  begnügen  und 
das  \Yeite]'e  der  Phantasie  des  Lesers  überlassen.  Er  ist 
natürlich  aucli  nicht  dem  Gesetz  unterworfen,  das  sich  uns 
für  die  bildende  Kunst  herausgestellt  hat. 

Kicht  minder  merkwürdig  als  der  schwarze  Memnon 
ist  die  Charakteristik  der  den  Todten  umgebenden  Helden. 
Kenntlich  sollen  sie  sein  an  dem  Sanften,  Göttlichen  und  wie 
es  weiter  heisst?  Hatten  sie  denn  keine  Attribute?  Hatte 
Odjsseus  nicht  den  Schifferhut,  den  ihm  schon  ApoUodorus 
oder  Nikomachus,  Maler  auf  der  Gränze  des  fünften  und 
vierten  Jahrhunderts ,  gaben  2) ,  den  er  durchgehends  trägt 
in  den  erhaltenen  Kunstwerken?  Oder  sollte  der  Schiffer- 
hut der  Situation  nicht  entsprechen ,  Avaren  denn  keine  an- 
dern äussern  Zeichen  da,  um  die  einzelnen  Helden  zu  cha- 
rakterisiren  ?  Es  ist  sehr  auffallend ,  dass  bei  Philostratus 
so  wenig  von  Attributen  die  Rede  ist,  von  solchen  nämlich, 
die  hl  der  Poesie  nicht  vorkommen.  An  Nymphen  und 
Flussgöttern  erwähnt  er  nie  die  Urne,  ihr  ständiges  Attribut 
in  der  Kunst  ^),  Pan  ist  immer  ohne  seinen  Hirtenstab  und 
Olympus  Avird  (Sen.  i,  21)  auf  das  Ausführlichste  be- 
schrieben ,  aber  von  einer  phrygischen  Mütze  erfahren  wir 
nichts;  besonders  auffallend  aber  ist,  dass  uns  der  Rhetor 
die  schwierigsten  Figuren,  z.  B.  die  Personifikationen  der  Berg- 
wai-ten ,  die  das,  was  sie  vorstellen  sollten,  offenbar  nur 
durch  sprechende  Attribute  ausdrücken  konnten,  angiebt, 
ohne  ein  Wort  über  ihre  äussere  Charakteristik  zu  sagen. 
Und  merkMürdig  genug,  er  benennt  sie  ohne  Anstand,  ohne 
Zweifel.  Woher  das  komme,  ist  nicht  schwer  zu  sagen;  es 
sind  wieder  die  Dichter,  denen  der  Rhetor  folgt.  Denn  die 
Dichter,  welche  mit  einem  Wort  auch  die  schwierigste  Per- 


1)  Vgl.  die  Erklärer. 

2)  Brunn  Gesch.  d.  griech.  Künstler  II,  p.  71   und   168. 

3)  Nur  der  jüngere  Philostratus  erwähnt  sie  in  no.  8,    aber  als 
nicht  dargestellt. 


,      53 

soniHkation  deutlich  machen,  bedüiien  natürlich  nicht  — 
man  lese  die  lierrhche  Erörterung  in  Lei^sings  Laokoon 
Kap.  X  —  derjenigen  Attribute,  welche  der  Künstler  nöthig 
hat,  um  seine  Gestalt  kenntheh  /u  machen.  Was  Philostra- 
tus  dagegen  von  Attributen  bei  Dichtern  gefunden  hatte,  das 
wird  angebracht,  auch  wenn  es  höchst  unpassend  ist.  Auf 
einem  Bilde,  welches  Jason  und  Medea  darstellte  (Jun.  7), 
stützt  Eros  sich  auf  den  Bogen  und  hält  die  Fackel  in  der 
Hand.  Es  ist  mir  unter  den  Hunderten  unserer  Erosdarstel- 
lungen nur  eine  einzige  bekannt,  wo  der  Gott  Bogen  und 
Fackel  zugleich  hätte  und  in  dieser  einzigen  Darstellung  ist 
er  schlafend  dargestellt,  er  gebraucht  also  seine  Attribute 
nicht  1).  Und  ist  es  denn  nicht  höchst  ungeschickt,  deni  Eros 
zwei  Attribute  zu  geben,  die  beide  dasselbe  bedeuten?  Der 
Rhetor  hatte ,  wenn  ich  nicht  irre ,  so  ein  Gedieht ,  wie  das 
zweite  des  Moschus,  in  dem  die  gefährlichen  Wafien  des 
Eros  nach  einander  geschildert  werden,  gelesen  und  brachte 
nun  seine  Kenntnisse  am  unrechten  Ort  an.  In  demselben 
Bild  war  Jason  dargestellt  mit  einem  Schuh.  Wer  sieht 
hier  nicht  den  Rhetor ,  der  Reminiscenzen  seiner  Dichter- 
lektüre anbringt!  Stände  Jason  vor  Pehas,  so  trüge  er  mit 
Recht  nur  einen  Schuh,  denn  dieser  Zug  der  Sage  hat  ja 
nur  für  den  Pelias  Bedeutung,  der  das  Orakel  erhalten  hatte, 
er  möge  sich  vor  dem  Mann  mit  einem  Schuh  in  Acht  neh- 
men. Es  ist  also  ein  Zug,  der  den  Jason  nicht  als  Jason 
überhaupt,  sondern  nur  in  einem  besondern  Verhältniss  cha- 
rakterisü-t  und  was  soll  nun  dieser  Zug  in  einer  ganz  andern 
Situation,  in  dem  Verhältniss  des  Jason  zur  Medea^)  !    Auch 


1)  Ich  meine  den  öfter  wiederkehrenden  Typus  bei  Müller- 
Wieseler  II,  52,  661. 

2)  In  dem  Bild  des  Glaucus  (Sen.  II.  1.))  halten  die  50  Rude- 
rer der  Argo  mit  ihrem  Rudern  inne,  als  sie  den  Meerdämon 
erblicken.  Sollte  wohl  ein  Künstler  hierin  den  Dichtern  ge- 
folgt sein,  die  allerdings  die  Argo  als  ein  Schiflf  mit  fünfzig 
Ruderern  bezeichnen?  An  der  Argo  des  Philostratus  fehlte 
auch  der  alte  weissagerische  Balken  nicht;  gelehrt  war  also 
der  Künstler  gewiss ,  wenn  nur  nicht  unter  allen  solchen  im 


54 

das  vorliegende  Bild  enthält  eine  Reminiscenz  aus  Dichtern, 
auf  die  unschicklichste  Weise  angebracht:  Achill  hat  kurz- 
geschnittenes Haar,  aus  Trauer,  wie  der  Rhetor  sagt,  um 
Patroklus.  "Was  hat  dieser  Zug  mit  dem  vorliegenden  Bild 
zu  thun  ?  W^enn  Achill  die  Troer  am  Grabmal  des  Freundes 
opfert  oder  wenn  Priamus  den  Leichnam  des  Sohnes  von 
ihm  erbittet,  dann  hat  Achill  mit  Grund  kurzgeschnittene 
Haare,  weil  für  beide  Darstellungen  die  Trauer  um  den  Freund 
eine  wesentliche  Voraussetzung  ist,  die  wir  kennen  müssen: 
hier  höre  ich  nur  den  Rhetor,  der  eine  Reminiscenz  ein- 
schiebt. Und  was  ist  das  für  ein  unhomerischer,  weich- 
herziger Achill,  der  auf  dem  Bilde  trauert,  statt  nach  Rache 
zu  schreien!  Warum  benimmt  er  sich  nicht  so,  wie  der 
Achill  der  Vasenbilder,  der  über  dem  todten  Freunde  den 
Speer  schleudert  gegen  Memnon ,  der  nicht  vor,  sondern 
nach  der  Rache  trauert!  Und  andrerseits  jener  Memnon, 
den  der  Rhetor  so  recht  wild  hat  machen  wollen  durch  das 
Löwenfell,  mit  dem  er  ihn  bekleidet,  warum  ist  er  so  mit- 
leidig und  unverständig  zugleich  und  steht  jetzt  still  in  seinem 
Sieg?  Warum  benutzt  er  nicht  den  Augenblick,  um  noch 
mehrere  Griechen  zu  tödten?  Was  ist  es  überhaupt  für  ein 
Einfall,  dass  ein  Heer  —  es  ist  wieder  eine  reichliche  Menge 
da,  auf  beiden  Seiten  —  im  Angesicht  des  Feindes  ruhig 
dasteht  um  einen  gefallenen  Helden!  Denn  Antilochus  fiel 
nicht  in  einem  verabredeten  Einzelkampf,  dem  die  Heere 
ruhig  zuschauen ,  sondern  im  Getümmel  der  Schlacht. 

Aber  es  wird  noch  ärger.  Den  Nestor,  den  Vater,  für 
welchen  Antilochus  gefallen ,  vermissen  wir  auf  dem  Bilde. 
Es  sei  geschehn,  sagt  Welcker,  damit  nicht  durch  den  Schmerz 
des  Vaters  das  Interesse  von  der  Liebe  des  Achill  abgezogen 
werde,  worauf  das  grösste  Gewicht  liege.  Wenn  also  ein 
neuerer  Künstler  den  Heiland  am  Kreuz  hängend  ohne  die 
Mutter  darstellte ,  so  würden  wir'  mit  Welcker ,  ich  weiss 
nicht  ob  lobend  oder  entschuldigend,  sagen  es  sei  geschehn. 


besten  Fall  überflüssigen  mythischen  Notizen  das  Wesentliche 
eines  Kunstwerkes,  das  Künstlerische,  zu  Grunde  ginge. 


55 

damit  nicht  durch  den  Sclimerz  der  Mutter  das  Interesse  von 
der  Liebe  des  Johannes ,  des  Freundes  ,  abgezogen  Averde, 
worauf  das  grüsste  Gewicht  hege.  Kann  denn  der  Künstler 
machen  mit  dem  Mythus  was "  er  will  ocler  schhessen  sich 
etwa  die  Trauer  eines  Vaters  und  eines  Freundes  aus  ?  Was 
sollte  denn  den  Künstlers  bewogen  haben ,  uns  den  Vater 
aus  den  Augen  zu  rücken,  dessen  Anwesenheit  ja  die  That 
des  Antilochus  erst  in  ihrem  rechten  "NA'erth  vor  Augen  führt? 
Dass  Antilochus  für  seinen  Vater  den  Tod  gefunden,  das 
pries  an  ihm  das  ganze  Alterthum  und  ein  alter  Künstler 
sollte  den  Vater  an  der  Leiche  des  Sohnes  weggelassen,  dage- 
gen eine  Menge  von  Personen  dargestellt  haben,  die  im  Ver- 
gleich -zum  Vater  unbetheihgt  genannt  werden  dürfen^)? 
Ist  dagegen  dieses  Gemälde  nur  das  Produkt  eines  Rhetors, 
so  erklärt  sich  die  Auslassung  des  Nestor  sehr  leicht.  Wie 
Jacobs  nachweist,  war  das  Verhältniss  des  Antilochus  zum 
Achill  ein  Problem,  ein  t,^TT}[jba  der  Grammatiker  und  eben 
mit  der  Erörterung  dieses  Verhältnisses  beginnt  der  Rhetor. 
Bei  solchem  Ausgangspunkt  konnte  er  natürhch  den  Vater 
nicht  brauchen. 

Antilochus  liegt   todt    am   Boden ,  aber  sein   Gesicht  ist 
heiter,    ja  sogar  lächelnd.     So   grüsst    Menoikeus    den  Tod 


1)  Man  könnte  mir  als  eine  sclieinbare  Analogie  für  das  pliilo- 
stratische  Bild  eine  Darstellung  des  Oplertodes  der  Iphigenie 
entgegenhalten.  Ich  meine  das  von  Zahn  (II,  61)  publicirte, 
von  Welcker  (zu  Müller's  Archaeol.  §.  415  p.  708)  vollkom- 
men richtig,  wie  mir  scheint,  erklärte  Bild,  auf  welchem  nur 
'  eine  trauernde  Figur  anwesend  ist,  die  ilieils  wegen  ihrer 
Jugendlichkeit,  theils  wegen  der  Anwesenheit  des  Eros  schwei'- 
lich  auf  Agamemnon  gedeutet  werden  darf,  wie  Jahn  (Arch. 
Beitr.  p.  379  i  will,  sondern  gewiss  den  Achill  darstellen  soll. 
Hier  also  fehlt  auch  der  Vater,  für  den  das  Madchen  ebenso 
wie  Antilochus  in  den  Tod  ging,  wenn  auch  durch  die  Schuld 
des  Vaters  selbst.  Ein  Timanthes  dachte  anders-,  allein  auch 
davon  ganz  abgesehen,  so  ist  es  doch  ein  grosser  Unterschied, 
ob  die  ferner  Stehenden  mit  dem  Vater  fehlen,  oder  ob  sie 
anwesend  sind  ohne  den  Vater. 


56 

mit  schönem  und  freundlichem  Auge  (Scn.  1,  4),  obwohl  das 
Schwert  bereits  in  seiner  Brust  steckt;  so  hat  Arrhichion, 
welcher  seinen  olympischen  Sieg  mit  dem  Leben  erkaufte, 
ein  Lächeln  auf  seinem  Gesicht  (Sen.  2,  6),  und  die  Panthia, 
welche  sich  gleichfalls  mit  dem  Schwert  durchbohrt,  hat  noch 
glänzende  Augen  und  Röthe  auf  den  Wangen  (Sen.  2,  9). 
Das  letzte  so,  wie  auf  einem  andern  Bild  (Sen.  2,  10)  be- 
trunkenen Männern  die  Köpfe  abgeschlagen  werden ,  ohne 
dass  die  Weinröthe  aus  den  Gesichtern  weicht.  Dies  Bild 
wird  besonders  behandelt  werden;  was  aber  das  Sterben  mit 
lächelnder  Miene  betrifft,  so  ist  zwar  bekannt,  dass  die  grie- 
chische Kunst  das  Bild  des  Todes  durch  einen  Schein  des 
Friedens  zu  erheitern  sucht,  dass  sie  den  Sterbenden  wie 
schlafend  darstellt  i),  dass  aber  Heiterkeit  und  Lächeln  auf 
dem  Gesicht  des  Todten  wohne,  ist  der  hellenischen  Anschau- 
ung vom  Tode  durchaus  zuwider. 


Wie  Memnon,  so  erscheint  auch  der  Lib3'er  Antaeus  als 
Schwarzer,  zugleich  aber  in  kurioser  Missgestalt.  Das  Bild 
ist  folgendes  (Sen.  2,  21): 

Auf  staubigem  Raum 2)  sieht  man  zwei  Ringer,  von 
denen  der  eine  sich  den  Ohrensehutz  anlegt,  der  andre  die 
Löwenhaut    von    der  Schulter  zieht,  und    die   nöthigen    Hü- 


1)  Man  vergleiche  auch  die  attischen  Grabsteine.  Diese  Monu- 
mente mit  ihrer  edlen  Einfachheit  und  verhaltenen  Welimuth, 
die  tiefer  ergreift  als  laut  vorbrechende  Klage,  beweisen,  mit 
welcher  Fassung  man  den  Tod  betrachtete,  obwohl  die  Menge 
des  Volks  wenigstens  noch  kein  Heilmittel  kannte.  Was  für  ein 
Abstand  in  künstlerischer  und  sittlicher  Hinsicht  zwischen 
diesen  und  den  etruskischen  Grabsteinen  mit  den  excentri- 
schen  Darstellungen  der  Todtenklage! 

2)  Kövig  oXa  iv  nüXccig  Ixfivais  Inl  nrjytj  iXca'ov  sagt  der  Rhe- 
tor.  An  diesen  Worten  hat  man  vielfach  Anstoss  genommen ; 
Welcker's  Erklärung  kann  schon  desswegen  nicht  gebilligt 
werden,  weil  sie  das  ^y.tivaig  unerklärt  lasst.  TTtiyy]  steht 
hier  in  einer  nicht  seltnen  metaphorischen  Bedeutung;  vgl. 
z.  B.    Find.   Pyth.    4,    299   und  Aesch.    Pers.   238:   ci()YvQov 


57 

gel  und  Stelen  und  eingegrabenen  Buchstaben.  Da  liegen 
die  begraben,  welche  Antaeus  überwiind.  Herkules  aber, 
der  die  goldneu  Aepfel  bereits  bei  sich  trägt,  macht  sich 
gegen  Antaeus  fertig ,  noch  keuchend  vom  Wege.  In  seinen 
Augen  sieht  man ,  dass  er  sich  den  Ringkampf  überlegt  und 
während  Antaeus  sich  übermüthig  benimmt,  hat  er  seinem 
Muthe  Zügel  angelegt.  Er  ist  stark  gemalt  und  voll  Ge- 
wandtheit wegen  des  Ebenmaasses  seines  Leibes.  Seine  Ge- 
stalt aber  geht  über  menschliche  Grösse  hinaus  und  blühende 
Farbe  hat  er  und  die  Adern  sind  %\ie  vom  Zorn  aufgetrieben. 
Antaeus  aber  gleicht  einem  Unthier,  indem  er  beinahe  eben- 
so breit  wie  lang  ist.  Der  Nacken  befindet  sich  zwischen 
aufgethürmten  Schultern  ,  von  denen  ein  grosser  Theil  zum 
Nacken  geh()rt.  Der  Arm  ist  nach  hinten  herumgebogen, 
wie  die  Schultern.  Brust  und  Bauch  wie  mit  dem  Hammer 
getrieben  und  der  nicht  grade,  sondern  sklavische  Schenkel 
zeigen  zwar  den  Antaeus  als  kräftig,  aber  seine  Kraft 
ist  Avie  gefesselt  und  entbehrt  der  Kunst.  Auch  ist  er 
schwarz.  Dies  geht  die  Zeit  vor  dem  Ringkampf  an.  Nun 
siehst  du  sie  aber  auch  ringend  oder  vielmehr  gerungen 
habend  und  den  Hei'kules  als  Sieger.  Er  bekämpft  ihn  aber 
oberhalb  des  Bodens,  weil  die  Gaea  ihm  beistand.  Oberhalb 
der  Weichen,  wo  die  Rippen  sind,  hat  er  ihn  gepackt,  legt 
ihn  sich  aufrechtstehend  auf  den  Schenkel,  drückt  seine  Arme 
zusammen,  setzt  den  Ellbogen  an  den  weichen  und  keuchen- 
den Bauch  und  presst  ihm  so  den  Athem  aus  und  tödtet 
ihn  ,  indem  die  scharfen  Rippen  sich  gegen  die  Leber  wen- 
den. Du  siehst  ihn  jammernd  und  auf  die  Erde  blickend, 
die  ihm  nicht  liilft,  den  Herkules  aber  in  Kraft  und  lächelnd 
über  die  That.  Auf  dem  Gipfel  des  Berges  aber  musst  du  die 
Götter  dem  Kampf  zuschauend  denken ,  eine  goldne  Wolke 
ist  gemalt,  unter  welcher  sie,  wie  ich  glaube,  lagern.  Hermes 
aber  kommt  zum  Herkules,  um  ihn  zu  bekränzen. 


7rrjy^\  es  ist  das,  woraus  etwas  in  Fülle  hervorgeht.  tXni'ov 
aber  muss  nicht  von  fXaiov,  sondern  von  fkcciog  abgeleitet 
werden:  die  Quelle  des  Oelbaums  ist  Olympia,  von  wo  der 
Oelbaum  in  reicher  Menge  ausgeht. 


58 

In  den  erhaltenen  Schriftstellern  findet  sich  keine  de- 
taillirle  Scliilderiing  der  Gestalt  des  Antaeus,  die  Denk- 
mäler, (leren  nielit  wenige  sind^),  stellen  ihn  dar  als  ge- 
wöhnlichen Menschen,  nicht  anders  als  den  Herkules.  Wie 
könnten  sie  auch  anders  verfahren?  Antaeus  zwang  die 
Fremdhnge,  die  zu  ihm  kamen,  zum  Ringkampf  und  besiegte 
sie;  er  war  also  rin  guter  Ringer.  Daher  musste  doch  der 
Künstler  ihm  einen  Körper  geben,  dem  man  ansieht,  dass  er 
geschickt  ist  zum  Ringen.  Was  kümmert  diese  einfache  Er- 
wägung den  Rhetor!  Er  hatte  gelesen  bei  Dichtern-)  von 
der  unermesslichen  Kraft  des  Antaeus  und  danach  bildet  er 
selbständig,  wie  ich  glaube,  weil  die  ganze  Beschreibung 
so  absurd  ist,  ein  Ungethüm-"*),  das  zu  keinem  andern  Kampf 
so  untauglich  ist,  als  gerade  zum  Ringkampf. 

In  der  ersten  Scene  rüstet  sich  das  Unthier  zum  Kampf, 
es  legt  die  Ohrenklappen  an.  In  einem  Ringkampf  Ohren- 
klappen, die  nur  dem  Faustkampf  angehören  und  angehören 
können,  um  das  Ohr  gegen  Schläge  zu  schützen  und  auch 
diesem  wol  nur  in  der  Vorübung?  Wenigstens  ist  mir  un- 
ter den  A  ielen  der  Wirklichkeit  entsprechenden  Darstellungen 
des  Faustkampfes  keine  bekannt,  auf  der  Ohrenklappen 
sichtbar  wären.  Es  ist  ein  kleines,  aber  charakteristisches 
Versehn  desRhetors,  wie  wir  sie  noch  mehrfach  finden  wer- 
den.    Aber  es  sei  so  in  Wirklichkeit  gewesen,  durfte  darum 


1)  Vergl.  Gerhard  Auserles.  II,  p.  102. 

2)  Vergl.  Lucan.  Phars.  IV,  593  ff. 

3)  &rjoi(o  yccQ  rivi  foixiv  sagt  er,  um  das  Massige,  Plumpe  zu 
bezeichnen.  Was  an  diesem  Ausdruck  auszusetzen,  sehe  ich 
nicht  ein.  —  Bei  dieser  Gelegenheit  übrigens  maclie  ich  ein 
für  alle  Male  darauf  aufmerksam,  dass  Jakobs  a«  mehreren 
Stellen  conjicirt  nur  geleitet  von  der  Voraussetzung,  dass 
der  Rhetor  nichts  Absurdes  sage,  so  Sen.  II,  2  für  ig  yövu 
(^t  Hl  x^^of?  will  er  avTovoi  xtI.  Böttiger  (bei  Jacobs)  hat 
richtig  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  Achill  so  lange  Arme 
habe ,  weil  der  Lauf  die  Arme  ausdehne.  Nur  bedachte  der 
Rhetor  freilich  nicht,  dass  dies  Anbringen  gelehrter  Kennt- 
nisse den  Achill  einem  —  Affen  ähnlich  macht. 


59 

diese  "Wirklichkeit  hier  nachgeahmt  \verden?  Beachten  wir 
zunächst  folgende  analoge  Fälle.  Apollo,  der  den  Hyacin- 
thus  unfrei-willig  mit  dem  Diskus  getödtet  hat.  steht  auf  der 
Erderhöhung,  von  welcher  aus  man  den  Diskus  in  Wirklich- 
keit zu  schleudern  pflegte  (Sen.  i,  24)  5  Apollo  erscheint 
mit  Riemen  an  den  Händen,  um  den  wilden  Wegelagerer 
Phorbas  zu  bezwingen  (Sen.  2,  19).  Wer  sieht  nicht,  dass 
in  diesen  Fällen  der  Rhetor  Dinge,  die  er  gelesen  hatte,  auf 
die  unpassendste  Weise  einmischt !  Warum,  fragen  wir, 
tödtet  nicht  Apollo,  der  ja  der  Riemen  jiicht  bedarf,  den 
Phorbas  sofort  ohne  Vorbereitung?  und  wozu  brauchen  wir 
die  Erderhöhung  der  Wirklichkeit ,  die  der  Rhetor  mit  der 
widerwärtigsten  Breite  beschreibt,  wenn  ein  Gott  mit  seinem 
Liebling  Diskus  warft*)?  Und  in  unserm  Fall,  ist  es  nicht 
albern,  dass  ein  rohes  Ungethüm  wie  Antaeus,  sich  noch 
erst  mit  künstlichem  .Geräth  versieht,  ehe  es  über  seinen 
Gegner  herfällt?  Wäre  er  ein  Mensch  wie  Herkules  und 
forderte  der  Ringkampf  eine  besondere  Vorrichtung,  so  wäre 
Grund  da,  diese  besondere  Vorrichtung  in  das  Bild  aufzu- 
nehmen, so  wie  die  Faustkämpfer  Amjkos  und  Polydeukes 
an  der  fikoronischen  Cista  im  Kostüm  der  Faustkämpfer 
erscheinen  2).  Aber  das  ist  eben  die  Art  des  Philostratus, 
dass  er  den  Erzählungen  der  Schriftsteller,  wo  sich  ein  An- 


1)  Die  Erderhöhung  finde  ich  nicht  einmal  da  angegeben,  wo 
Palästriten  dargestellt  sind,  sich  im  Diskuswerfen  übend. 

2)  Man  vgl.  noch  Sen.  2,  .31:  Themistokles  war  dargestellt, 
dem  Perserkönig,  zu  dem  er  geflohn,  seine  Sache  vortragend. 
Er  stand  —  auf  einem  Stein,  wie  es  in  Wirklichkeit  Sitte 
war,  dass  der  Redner  in  Versammlungen  auf  einem  ßrjua 
stand.  Hätten  wir  es  mit  einer  Rathsversammlüng  zu  thun, 
wie  auf  der  Dariusvase,  so  wäre  die  Sache  gut,  aber  ein 
Flüchtling  soll  dargestellt  werden,  der  den  König  für  sich 
einzunehmen  sucht.  Dadurch,  dass  der  Rhetor  seine  Notiz 
einmischte,  wird  das  Bild  sofort  ein  ganz  andres;  Themistokles 
wird  zu  einem  Griechen ,  der  am  persischen  Hof  lebt  und 
hier  in  der  Versammlung  das  Wort  führt;  dass  es  sich  aber 
um  die  Angelegenheit  des  Flüchtlings  Themistokles  han- 
delt, sagt  das  Bild  nicht, 


60 

lass  bietet,  eigne  Notizen,  Reminiseenzcn  seiner  Lektüre  auf 
die  gedankenloseste  Weise  einmischt.  Manche  „Bilder"  sind 
nichts  anders  als  roh  zusammengestoppehe  Notizen  *), 

Es  ist  ferner  nicht  abzusehn,  wozu  die  goldnen  Acpfel 
der  Hesperiden  iji  das  Bild  hineingebracht  sind.  Oder  sollen 
sie  etwa  den  Herkules    als  xaX'livixog  bezeichnen  und  somit 


i)  Vgl.  namentlich  das  „Dodona"  betitelte  Bild  (Sen.  2,  33). 
Bei  dieser  Gelegenheit  sei  es  mir  erlaubt ,  eine  Figur ,  die 
man  als  „dodonäiscbe  Pi-iesterin''  bezeichnet  hat,  kurz  zu  be- 
sprechen. Ich  meine  das  in  Stackelberg's  Gräbern  der  Hell.^ 
Taf.  73,  5  abgebildete  Erzfigürchen  aus  Patrae,  eine  Darstel- 
hing,  die  ich  nie  ohne  tiefe  Rührung  habe  betrachten  können. 
Ein  Mädchen  steht  da  den  linken  Arm  in  die  Seite  gestemmt; 
auf  ihrer  rechten  Schulter  sitzt  ein  Täubchen,  das  sich  vor- 
neigt nach  dem  Futter,  welches  in  der  erhobenen  rechten 
Hand  des  Mädchens  vorauszusetzen  ist.  Was  kann  es  lieb- 
hch  Innigeres  geben  als  diese  Gruppe!  Ein  Mädchen  lockt 
ein  Vöglein;  nun  kam  es  und  setzt  sich  auf  ihre  Schulter; 
das  Mädchen  stellt  sich  fest  hin  —  es  stemmt  den  Arm  in 
die  Seite  —  um  nicht  durch  eine  zufälhge  Bewegung  das 
Thier  zu  scheuchen  und  hält  ihm  nun  die  Hand  mit  dem 
Futter  hin.  Etwas  zweifelhaft  ist  noch  das  Thier,  es  streckt 
verlangend  den  Schnabel  vor,  doch  nicht  ganz  ohne  Besorg- 
niss,  ob  die  Gabe  ehrlich  gemeint  sei,  das  Mädchen  abeif 
neigt  leise  innig  ihr  Köpfchen  über  das  liebe  Vöglein,  — 
eine  Geberde,  die  zugleich  formell  die  Gruppe  zusammen- 
schliesst.  Das  Schönste  aber  ist,  dass  das  Mädchen  sich 
selbst  unbewusst  handelt,  der  Künstler  dachte  nicht  an 
den  Beschauer,  als  er  sein  Werk  schuf;  es  ist  ein  Fall  wie 
mit  der  zum  Quell  gehenden  Nymphe  in  Tegel,  eine  vielfach 
missverstandene  Statue,  deren  Sinn  ebenso  tief  als  wahr  in 
einem  Sonett  W^.  von  Humboldt's  ausgesprochen  ist.  Unser 
liebliches  Geni-ebild  erklärte  Stfickelberg  als  ,,eine  dodonäi- 
sche  Priesterin  mit  einer  auf  ihrer  Schulter  sitzenden  Taube, 
welcher  sie  aus  der  erhobenen  Ilachen  Hand  Nahrung  reicht.''' 
Es  ist  ps_vchologisch  merkwürdig,  dass  ein  so  poetischer, 
gemüthvoller  Mann,  wie  Stackeiberg,  so  oft  befangen  ist  in 
einer  Erklärungsweise,  für  welche  die  Kunst  nur  eine  Illu- 
stration zin-  M3'tho]ogie  ist  und  zwar  eine  Illustration  der 
unverständlichsten  Art. 


61 

ein  Prognostikon  stellen  lür  den  Ausgang  des  Kampfes  mit 
Antaeus  ?  Welcker  bemerkt  ohne  Anstoss  zu  nehmen,  Her- 
kules komme  von  den  Hesperiden.  Allerdings  ward  Antaeus 
überwunden  bei  dem  Hesperidenabcnteuer  —  nach  der  ge- 
wöhnlichen Sage  freilieh  vorher  —  und  so  stehn  die  Bege- 
benheiten in  historischem  Zusammenhang,  aber  was  soll 
dieser  historische  Zusammenhang  auf  dem  Bilde  ?  Ein  Dich- 
ter wird  natürlich  so  verfahren,  der  die  Thaten  des  Herkules 
erzählt,  aber  ein  Bild  ist  ein  Abgeschnittnes ,  ein  lür  sich 
Bestehendes  und  aus  dem  Geist  geboren,  in  welchem  die 
Dinge  nicht  zufällig  neben  einander  stehii,  wie  in  der  Wirk- 
Kchkeit.  Kein  einziges  der  philostratischen  Bilder  hält  die 
Probe  aus,  wenn  man  die  erste  Forderung  aller  Kunst  an 
sie  anlegt,. dass  das  Bild  in  sich  nolhwendig,  dass  alles  Ein- 
zelne, so  wie  es  ist,  noth wendig  sei  nach  der  Idee  des  Gan- 
zen. Denn  ein  Kunstwerk  entsteht  ja  nicht  durch  Abmalen 
der  \YirkHclikeit,  sei  diese  Wirklichkeit  ein  Bild  der  Natur 
oder  die  Erzählung  eines  Dichters ;  vielmehr  bietet  diese  nur 
den  Stoß",  mit  dem  der  Geist  des  Künstlers  die  nothwendige 
Umwandlung  vornimmt. 

Die  unnatürliche  Haltung  des  gepressten  Antaeus  wird 
man  leicht  bemerken^).  Wie  kann  er  zu  Boden  blicken,  da 
er  vielmehr  den  Kopf  nach  hinten  werfen  muss,  um  der  Brust, 
die  nach  Athem  schnappt,  Freiheit  zu  geben-)  !  In  den  Worten 
„auf  die  Erde  blickt  er'-,  verräth  deutlich  der  Rhetor,  dass  er 
nur  den  Mythus  ausführt.  Soll  nämlich  dieser  Blick  ver- 
ständhch  sein,  so  musste  die  Gaea  persönlich  anwesend  sein, 


1)  In  den  Stellungen  versieht  sich  der  Rhetor  überhaupt  öfter; 
sehr  begreiflich,  da  er  hierin  aus  seinen  Quellen  nicht  immer 
Belehrung  schöpfen  konnte.  Man  vgl.  noch  die  ungeschickte 
Stellung  des  Narzisä  (Seu.  I,  2.3)  mit  den  erhaltenen  Monu- 
menten. 

2)  Man  vgl.  das  Bild  in  Sep.  Nas.  13,  worüber  Welcker  sagt: 
Picturae  genus  est  ad  vulgarem  veritatem  et  mores  novitios 
accommodatum,  quod  nos  pedestre  dicere  solemus,  tanquani 
poeticae  ac  symbolicae  veteris  artis  rationi  adversum ,  was 
ich  nicht  verstehe. 


62 

denn  wenn  Antaeus  von  der  Erde  Hülfe  erwartet,  so  kann 
ja  diese  nicht  als  passiver  Stofif  dargestellt  sein. 

Am  merkwürdigsten  ist  aber  die  goldne  Wolke.  Der 
Khetor  glaubt,  dass  sich  Götter  darunter  befinden;  wer  sich 
das  Bild  gemalt  denkt,  wird  nicht  wissen,  was  das  Ding  be- 
deuten soll.  Ein  Dichter  könnte  so  sprechen,  bei  dem  eine 
Wolke  nichts  verdeckt,  in  der  Kunst  ist  Erscheinung  und 
Wesen  eins.  Herines  aber  kommt,  um  den  Herkules  zu  be- 
kränzen. Hermes?  Wenn  wir  die  vorhandenen  Denkmäler 
vergleichen,  so  ist  es  in  gymnischen  wie  musischen  Agonen 
Nike,  welche  den  Sieger  kränzt^).  Hier  stossen  wir  auf  einen 
Punkt,  wo  die  Kenntniss  der  Dichter  nicht  genügt,  um  ein 
Kunstwerk  zu  fingiren  ,  denn  die  ungemein  häufige  V'erwen- 
dung  der  Nike  in  der  Kunst  lässt  sich  aus  den  Dichtern 
nicht  herleiten  und  ebendarum,  weil  Philoslratus  kein  Kunst- 
werk sah,  giebt  er  das  Amt  der  Nike\dem  Hermes,  als  dem 
Gott^der  Palästra,  wie  Welcker  bemerkt. 

Auch  in  diesem  Bild  sind  zwei  Scenen  deutlich  zu  un^ 
terscheiden.  Wir  kommen  in  dem  Abschnitt  darauf  zurück, 
welcher  von  der  Trennung  eines  Bildes  in  mehre  Scenen 
handelt. 


1)  Selten  auf  schwarzfiguriigen  Vasen,  wie  in  München  no.  1122; 
an  ihrer  Stelle  erscheint  üfter  die  Schutzgöttin  selbst  mit  dem 
Kranz  für  ihren  Helden  in  der  Hand ,  die  aber  auch  noch 
später  neben  der  Nilce  als  Kranzverleilierin  erscheint,  wie  auf 
der  Berliner  Kadmosvase.  Bei  Homer  ist  Nike  noch  nkht 
Gestalt,  und  so  ist  in  dem  epischen  Stil  der  Vasen  ihre 
Ersclieinung  sehr  selten,  so  wie  die  des  Eros,  der  auch  bei 
Homer  noch  nicht  vorkommt.  Dieser  äUere  Vasenstil  ver- 
schmäht, wie  aus  vielen  Beispielen  ersichtlich ,  diese  wenn 
icli  so  sagen  darf  feineren,  geistigeren  Wesen,  die  einer  we- 
niger volkstliümlichen  aber  gebildeteren ,  philosophischeren 
Zeit  eigenthümlich  sind.  Die  Entwicklung  der  Nike  aus  einer 
ernsten,  flügellosen  Göttin  geht  dann  immer  mehr  in's  Leichte, 
Anmuthige.  Sie  wird  später,  wie  Eros  als  kleiner  Knabe, 
als  kleines  ]\[ädclien  vielfach  dargestellt  und  so  wie  Eros 
verdoppelt.  —  Was  unsern  Fall  betrifft ,  so  vergleiche  man 
z.  ß.  die  fikoronische  Cista. 


ni. 


Wenn  in  irgend  einem  Punkt,  so  iinlersclieiden  sich 
Poesie  und  bildende  Kunst  in  der  Behandlung  des  Grässlichen, 
und  gerade  die  griechische  Kunst  entfernt  sich  hier  mehr  als 
irgend  eine  andere  Kunst  von  dem  Verfahren  der  Poesie. 
Bevor  wir  die  Gründe  entwickeln  aus  den  Grunzen  der 
Künste,  betrachten  wir  die  Beispiele. 

Unter  tlem  Titel  „Kassandra"  beschreibt  der  ältere  Phi- 
lostratus  (2,  10)  folgendes  Bild^): 

Hier  sind  Fackeln,  die  Licht  spenden,  denn  es  ist  Nacht, 
denke  ich ;  dort  Mischkrüge  von  Gold ,  glänzender  als  das 
Feuer.  Voll  sind  die  Tische  von  Speisen,  an  denen  die 
Helden  speisten.  Aber  nichts  von  alledem  ist  in  Ordnung. 
Denn  da  die  Schmauser  im  Sterben  begriffen  sind,  so  ist 
dies  umgeworfen,  jenes  zertreten,  anderes  liegt  fern  von  ih- 
nen und  die  Becher  fallen  ihnen  aus  den  Händen,  die  mei- 
sten voll  von  blutigem  Koth.  Die  Sterbenden  al)er  haben 
keine  Kraft,  denn  sie  sind  betrunken.  Was  aber  die  Hal- 
tung der  Liegenden  betrifft,  dem  Einen  ist  die  Kehle  zer- 
schnitten, indem  sie  etwas  Speise  oder  Trank  schlürfte,  dem 
Andern  ist  der  Kopf  abgeschlagen,  da  er  sich  über  den  Misch- 
krug bückte ,  dem  Dritten  die  Hand ,  die  den  Becher  hielt ; 
dieser  vom  Lager  fallend  2),  zieht  den  Tisch  nach  sich,  jener 


1)  Brunn  11,  255  ist  geneigt,  dies  Bikl  auf  Tlieoros  zurückzu- 
führen und  meint,  es  liefere  den  besten  Commentar  zu  dem 
Urtheil  des  Quintilian  über  Theon ,  welcher  nach  seiner  Ver- 
muthung  identisch  ist  mit  Theoros. 

2)  xkiri]  sagt  der  Rhetor,  indem  er  die  spätere  Sitte  auf  die  he- 
roische Zeit  überträgt.  So  verfährt  auch  die  bildende  Kunst: 
Achill  liegt  beim  Essen  auf  den  Vasen,  die  homerischen 
Helden  essen  sitzend.  Die  'Tragödie  behandelt  bekanntlich 
eben  so  anachronistisch  die  heroische  Zeit. 


64 

liegt  auf  Schultern  und  Kopf,  der  Dichter  würde  sagen,  kopf- 
über. Ein  Dritter  glaubt  nicht  an  den  Tod,  der  Letzte  hat 
nicht  die  Kraft  zu  entweichen,  da  ihm  die  Trunkenheit  wie 
eine  Fessel  anhaftet.  Bleich  aber  ist  keiner  der  Liegenden, 
da  die,  welche  beim  Wein  sterben,  nicht  sofort  die  Röthe 
verlässt.  Den  Hauptplatz  des  Gemaches  nimmt  Agamemnon 
ein ,  nicht  auf  troischen  Gefilden  liegend  noch  an  den  Ge- 
staden eines  Skamandros,  sondern  unter  Kindern  und  Wei- 
bern, ein  Ochs  an  der  Krippe.  Aber  noch  trauriger  ist  das 
Loos  der  Kassandra.  Denn  mit  dem  Beil  steht  neben  ihr 
Klytänmestra,  wild  bhckend  und  mit  wüldem  Haar  und  grau- 
samem Arm.  Sie  aber  zart  und  gottbegeistert,  ist  im  BegritT, 
sich  über  Agamemnon  zu  stürzen,  von  sich  werfend  die  Bin- 
den und  gleichsam  mit  ihrer  Kunst  ihn  umzäunend.  Da 
aber  das  Beil  schon  erhoben  ist ,  wendet  sie  die  Augen  dort- 
hin und  schreit  so  jammervoll,  dass  auch  Agamemnon  mit 
dem  Rest  seiner  Seele  dies  hörend  Mitleid  empfindet.  Er 
wird  dessen  auch  gedenken  im  Hades  gegen  Odysseus ,  in 
der  Versammlung  der  Schatten. 

-  Die  letzten  Worte,  welche  ich  mit  einigen  andern,  die 
auch  nicht  die  Darstellung  selbst  augehn,  habe  stehen  las- 
sen, damit  die  Nachahmung  des  Dichters  um  so  deuthcher 
hervortrete,  weisen  auf  Homer,  der  im  elften  Buch  der  Od3's- 
see  den  Agamemnon  an  Odysseus  sein  trauriges  Ende  er- 
zählen lässt.  Vergleicht  man  diese  Erzählung  mit  der  vor- 
liegenden Beschreibung,  so  wird  man  eine  vollständige  Ueber- 
einstimmung  finden ,  nur  dass  letztere  iii's  Einzelne  ausmalt, 
was  dort  nur  in  den  wesentlichsten  Zügen  angegeben  ist. 
Die  W'orte  Homers  lauten  so:  Aegisth,  erzählt  Agamemnon, 
tödtete  mich  mit  der  schändlichen  Gattin,  indem  er  mich 
in's  Haus  rief  und  speiste,  wie  man  einen  Ochsen  tödtet  an 
der  Krippe.  So  starb  ich  im  kläglichsten  Tode;  um  mich  herum 
aber  wurden  meine  Genossen  unbarmherzig  geschlachtet, 
wie  weisszahnige  Eber  bei  Hochzeiten  oder  Schmansereien 
reicher  Männer.  Du  warst  oft  zugegen  bei  dem  Tode  von 
Männern  ,  mochten  sie  einzeln  getödtet  werden  oder  in  der 
Feldschlacht,    aber  das  hättest   du   am    meisten  bejammert, 


65 

wenn  du's  gesehn  hättest,  wie  A\ir  am  Misehkrug  und  an 
vollen  Tischen  lagen  im  Saal  und  der  ganze  Fussboden  von 
Blut  schäumte.  Das  Jammervollste  aber  war,  als  ich  die 
Stimme  der  Priamustochter  Kassandra  vernahm ,  welche  die 
tückische  Klytämnestra  neben  mir  tödtete  u.  s.  w. 

Ich  kann  nicht  umhin ,  gleich  zu  fragen :  ist  dies  nicht 
ein  empörendes  Bild?  Männer  werden  abgeschlachtet  in 
trunkenem  Zustande  mit  der  Weinrölhe  im  Gesicht  —  so 
etwas  sollte  griechische  Kunst  gemalt  haben?  Das  unbe- 
fangene Gefühl,  meine  .ich,  könnte  mit  der  grössten  Gewiss- 
heit entscheiden,  dass  der  Genius  der  griechischen  Kunst 
sich  nie  zu  so  widenvärtiger»  Darstellung  erniedrigt  habe. 
So  wenig,  wie  zu  folgender  analoger  Darstellung:  Neben 
den  Rossen  des  Diomedes  erbhckt  man  Krippen  augefüllt  mit 
menschlichen  Gliedern,  Herkules  aber  trägt  den  halbzei-fi-es- 
senen  Körper  seines  Lieblings  Abderus,  den  er  den  Pferden 
entrissen  hat,  in  der  Löwenhaut  (Sen.  2,  25).  Auch  auf 
dem  Bilde,  das  den  Tod  des  Hippolyt  darstellte  (Sen.  2,  4), 
erscheint  der  Körper  des  Jünglings  in  der  grässlichsten  Ver- 
stinnmelung  und  nicht  anders  ist  es,  wenn  (Sen.  1,  18)  die 
Angehörigen  den  zerrissenen  Körper  des  Pentheus  zusam- 
menfügen *).  Auch  Göthe  nahm  Anstoss.  An  dem  Bilde 
des  Abderus  hebt  er  „die  bedenkhche  Darstellung  der  zer- 
fleischten Glieder"  hervor,  „welche  der  Künstler,  der  uns  die 
Verstümmelung  des  Abderus  so  weislich  verbarg  —  davon 
sagt  der  Text  nichts  —    reichlich  in  den  Pferdekrippen  aus- 


1)  Man  vgl.  auch  noch  den  zei'hauenen  Leichnam  auf  dem  Bilde 
der  Panthia  (Sen.  II,  9).  Die  Panthia  selbst  hat  zerkratzte 
Wangen  —  als  ob  ihr  Tod  nicht  genügte  zum  Bewejs  ihrer 
Liebe  —  was  nicht  bei  einem  Dichter,  aber  bei  einem  Maler 
häselich  ist.  Trotz  dieser  zerkratzten  Wangen  aber  hat  sie 
noch  Röthe  auf  dem  Gesicht!  Sodann  sind  auf  dem  Bilde 
des  Phorbas  (Sen.  II,  19)  Schädel  an  einem  Baum  aufge- 
hängt, einige  trockeiT,  andre  eben  abgeschlagen  und  wieder 
andre  schon  ganz  zu  nackten  Schädeln  geworden.  Endlich 
erblickte  man  auf  dem  Bilde  des  Pelops  (Jun.  9)  die  Schä- 
del der  von  Oenomaus  getödteten  Freier. 

5 


66 

spendet."  Dies  Bedenken  sucht  er  so  zu  heben:  „Betrachtet 
man  die  Forderungen  genauer,  so  konnten  freiUch  die  Ueber- 
reste  des  barbarischen  Futters  nicht  vermisst  werden;  man 
beruhige  sich  mit  dem  Ausspruch :  alles  Nothwendige  ist 
schicklich." 

,,ln  den  von  uns  dargestelllen  und  bearbeiteten  Bildern 
linden  wir  das  Bedeutende  niemals  vermieden,  sondern  viel- 
mehr dem  Zuschauer  mächtig  entgegengebracht.  So  linden 
wir  die  Köpfe  und  Schädel,  welche  der  Strassenräuber  (Phor- 
bas)  am  alten  Baume  als  Trophäen  auTgehängt,  ebensowenig 
fehlen  die  Köpfe  der  Freier  Hippodamias  am  Palaste  des 
Vaters^  aufgesteckt,  und  wie  sollen  \\ir  uns  bei  den  Strömen 
Blutes  benehmen,  die  in  so  manchen  Bildern  mit  Staub  ver- 
mischt hin  und  wieder  tliessen  und  stocken.  Und  so  dürten 
wir  wohl  sagen,  der  höchste  Grundsatz  der  Alten  war  das 
Bedeutende,  das  höchste  Resultat  aber  einer  glücklichen  Be- 
handlung das  Schone." 

Göthe  bildet  also  auf  Grund  der  philostratischen  Bilder, 
die  er  für  wirklich  einst  existirend  hielt,  ein  Princip  für  die 
alte  Kunst,  das  oft  angeführt  ist.  Er  thut  es  freihch  mit 
Widerstreben,  wie  man  aus  den  angeführten  Worten  sieht, 
aber  frei  seine  Empfindung  auszusprechen  und  solche  Blut- 
scenen  für  widerwärtig  und  daher  ungriechisch  zu  erklären, 
dazu  im))onirte  ihm  der  Philostratus  zu  sehr  und  er  erfand 
um  seinetwillen  ein  neues  Princip. 

Wir  stellen  nun  die  Frage:  wie  behandelt  die  griechi- 
sche Kunst  —  von  dem  Unterschied  der  Plastik  und  Malerei 
in  dieser  Hinsicht  wird  vorläufig  abgesehn  —  solche  Mythen 
oder  Erzählungen ,  in  denen  eine  Verstümmelung  der  mensch- 
lichen Gestalt  erwähnt  wird  ?  Wie  behandelt  sie  zunächst 
die  Schlachtscenen ,  in  denen  die  Verstümmelung  natürlich 
zu  sein  scheint?  Wenn  Homer  uns  von  abgeschlagenen 
GHedern  erzählt,  folgt  ihm  darin  die  Kunst  oder  nicht?  In 
den  unzähligen  Kampfscenen  griechischer  Kunst  sind  nur 
zwei  Beispiele  eines  verstümmelten  menschlichen  Körpers 
nachweisbar.  Es  sind  zwei  schwarzfigurige  Vasen,  beide 
auf  den  Mythus    des  Troilus  bezüglich,    auf  denen    ein   vom 


67 

Rumpf  getrenntes  Haupt  sichtbar  ist*).  Es  ist  nicht  zufällig, 
dass  grade  die  ältere  Vasenmalerei  diese  Beispiele  liefert, 
welche,  wie  ich  schon  fi-üher  bemerkt  habe 2),  in  Kampf- 
und Mordscenen  noch  nicht  die  edle  Zurückhaltung  der  ent- 
wickelten Kunst  kennt,  weil  es  ihr  hauptsächüch  darum  zu 
thun  ist,  die  Wildheit  des  Kampfes  recht  anschaulich  zu  ma- 
chen 3).  In  den  Kampfscenen  der  griechischen  Plastik  ist 
nirgends  ein  verstümmelter  menschlicher  Körper  zu  finden, 
Avährend  auf' den  historischen  Monumenten  der  Römer,  z.  B. 
auf  der  Trajanssäule  nicht  selten  abgehauene  Köpfe  vorkom- 
men. Natürlich  bot  eine  griechische  Schlacht  in  ^Yirklich- 
keit  ebensogut  wie  eine  römische  ein  solches  Schauspiel  dar, 
aber  während  die  Römer  sich  ganz  an  die  Wirklichkeit  hal- 
ten*), zeigen  uns  die  Griechen  nur  diejenigen  Momente  der 


1)  Die  eine  abgebildet  in  der  Ai-ch.  Ztg.  1856  t.  91:  Achill 
schleudert  den  Kopf  gegen  die  Feinde,  durch  deren  Schilde 
der  Anblick  des  blutenden  Halses  verdeckt  wird;  die  andre 
bei  Overbeck  Galt.  Taf.  15,  12;  auch  hier  ist  der  Leichnam 
des  Troilus  sinnig  so  hinter  den  Altar  gelegt,  dass  der  Hals 
verdeckt  wird. 

2)  In  meiner  Schrift  über  Praxiteles  u.  s.  vv.  p.  138  ff. 

3)  Man  vgl.  den  Kampf  um  die  Leiche  Achill's,  Monum.  dell' 
inst.  I,  51, —  übei'haupt  ein  wundervolles  Monument,  so  ganz 
episch.  Hier  die  Kämpfer  in  wahren  Sturmschritten  und  die 
Göttin,  die  ihren  Helden  Beistand  leistet,  an  deren  Aegis  die 
Schlangen  so  gewaltig  züngeln ,  weil  die  Phantasie  des  Ma- 
lers ganz  voll  ist  von  dem  wilden  Sti'auss;  daneben  die  rüh- 
rend trauliche  Gruppe,  wo  Freund  Sthenelos  dem  Diomedes 
die  verwundete  Hand  verbindet. 

4)  Nur  in  einem  interessanten  Punkt  halten  sich  die  Römer 
nicht  an  die  Wirklichkeit:  es  kommt  in  den  Schlachtscenen 
der  römischen  Monumente  nie  vor,  dass  ein  Römer  einem 
Barbaren  unterliegt.  Immer  ist  der  Römer  siegreich,  obwohl 
in  der  Wirklichkeit  ja  auch  Römer  bluten  mussten.  Aber 
das  ist  characteristisch  für  den  Stolz  des  kriegerischen  Volkes. 
Die  Griechen  vei-fahren  hierin  anders;  in  Kämpfen  mit  Ama- 
zonen lind  Centauren,  mit  Persern  u.  s.  w.  ist  der  Grieche  als 
Gesammtheit  allerdings,  aber  nicht  immer  als  Einzelner  sieg- 


68 

"Wirklichkeit,  welche  künstlerisch  sind;  sie  zeigen  uns  die 
Käuipfer  in  der  spannendsten  Situation,  wenn  der  tödtende 
Streich  erfolgen  soll ,  wenn  der  Körper  sich  in  allen  seinen 
Muskeln  spannt,  sie  zeigen  Leben  und  Kraft,  aber  nicht  das 
Aviderwärtige  Bild  zerhackter  Körper,  an  dem  ein  Henkers- 
knecht Gefallen  finden  mag. 

Die  Köpfung  von  Ungeheuern ,  wie  Meduse  und  Argus, 
unterliegt  wol  einer  andern  Beurtheilung;  ausser  ihnen  sind 
fast  nur  plastische  Monumente  zu  erwähnen,  die  gewöhnlich 
auf  Tydeus  und  Melanippus  gedeutete  Vorstellung ')  und  die 
Agaue  mit  dem  abgeschlagenen  Kopf  ihres  Sohnes 2).  End- 
lich finden  wir  auf  römischen  Rehefs  und  auf  einer  Vase 
späteren  Stils  in  den  Darstellungen  des  Oenomaus  die  Köpfe 
der  getödteten  Freier  über  der  Thür  aufgehängt ').  Also 
einzeln  und  fast  nur  auf  plastische  n  Monumenten  kommt 
dergleichen  vor  und  vielleicht  nie  in  der  vollendeten  Zeit*). 
Jedenfalls  ist  auf  den  grossen  Unterschied  solcher  Darstel- 
lungen in  Malerei  und  Plastik  aufmerksam  zu  machen.  Ein 
abgehauener  Kopf  ist  in  der  Malerei  weit  grässlicher  als  in 
der  Plastik,  denn  letztere  giebt  weit  weniger  von  der  Wirk- 


reich; das  ist  natürlicher  und  auch  schöner,  weil  die  Einför- 
migkeit vermieden  wird. 

1)  Overbeck  Gall.  p.l31  f. 

2)  Vgl.  Jahn  Pentheus  und  dicMänaden-,  dann  noch  die  Gemme 
bei  Overbeck  Gall.  16,  10,  wo  Diomedes  das  abgeschlagene 
Haupt  des  Dolon  in  der  Hand  hält. 

3)  Vgl.  Archäol.  Ztg.  1855  Taf.  79.  Die  Vase,  auf  welcher  üb- 
rigens die  Köpfe  ohne  alles  Widerwärtige  erscheinen,  ist  ab- 
geb.  Annali  XH,  tav.  d'Agg.  N. 

4)  Auf  .einem  alterthümlicheu  Relief,  welches  die  Tödtung  des 
Aegisth  darstellt  (Overbeck  Gallerie  her.  Bildw.  Taf.  28,  8) 
dringen  dem  Aegisth  die  Eingeweide  aus  der  Wunde.  Das 
ist  ganz  so  wie  bei  den  Dichtern;  man  vgl.  z.  B.  Hom.  11. 
21,  18J.  Ovid.  Mctam.  8,  402.  Dabei  ist  zu  bedenken,  dass 
Avir  es  erstlich  mit  einem  plastischen,  sodann  mit  einem  Werk 
der  alterthümlichen  Kunst  zu  thun  haben,  die,  wie  aus  den 
obigen  Beispielen  erhellt ,  noch  nicht  so  maassvoll  in  der 
Darstellung  des  Grässlichen  vei-fuhr. 


69 

lichkeit  wieder  als  crsterc.  Ihr  felill  die  Farbe  und  ebenda- 
her ist  auch  in  dem  Fall,  wenn  sie  ein  abgeschlagenes 
Haupt  so  darstellt,  Avie  Benveniito  Cellini  ganz  ungriechisch 
und  unplasüsch  die  Meduse  darstellte,  nämlich  mit  herab- 
hängenden starren  Bhitströmen ,  der  Eindruck  weit  weniger 
widerwärtig.  Die  Malerei  dagegen  nuiss  die  Wirklichkeit  zu 
en-eichen  suchen,  weil  sie  die  Mittel  dazu  hat,  aber  eben  darin, 
dass  sie  in  einem  Schauspiel,  von  dem  wir  gern  die  Augen 
abwenden,  den  Sehein  der  Wirkhchkeit  zu  erreichen  sucht, 
liegt  der  Grund,  dass  Gräuelscenen  in  der  Malerei  weit  gräss- 
licher  wirken  als  in  der  Plastik.  Die  griechische  Kunst  ver- 
meidet sorgfältig  alles  sinnlich  Grässliche,'  dessen  Eindruck 
ja  unmöglich  ein  rein  ästhetischer  sein  kann  ;  sie  steht  hier 
in  entschiedenem  Gegensatz  zur  christlichen.  Der  enthaup- 
tete Täufer  und  manche  andre  Märtyrerdarstellungen  haben 
durchaus  keine  Analogien  in  griechischer  Kunst.  Göthe,  der 
diese  Martern  nicht  ansehn  mochte,  empfand  griechisch,  dem 
christhehen  Künstler  kam  es  auf  den  hinter  dem  Bilde  lie- 
genden Gedanken  an,  da  die  Qual  Zeugniss  ablegt  von  der 
Kraft  des  Glaubens. 

Aber  nicht  bloss  negativ  verhält  sich  die  griechische 
Kunst  gegen  das  Grässliehe,  sie  geht  noch  weiter.  In  allen 
Scenen  nämlich ,  in  denen  es  sich  iiandelt  um  Tod  und  Un- 
heil, wird  nicht  allein  das  sinnlich  Grässliehe  vermieden, 
sondern  es  werden  auch  einzelne  Gruppen  oder  Motive  ein- 
gelegt, die  das  Gemüth  sanft  und  friedlieh  stimmen.  Die 
griechische  Kunst  ist  überall  bemüht,  den  Eindruck  des  Wil- 
den zu  dämpfen,  sie  will  versöhnen  mit  dein  Schreckhchen, 
sie  will  es  auflösen  in  eine  höhere  Empfindung,  sie  will  ne- 
ben dem  künstlerischen  auch  einen  tief  sittlichen  ,  eineir  sitt- 
lich reinigenden  Eindruck  gewähren.  Wie  herrlich  ist  der 
Untergang  der  Niobiden  auch  auf  Vasengemälden  behandelt ! 
Einzelne  Kinder  schliessen  sich  zusammen  zu  Gruppen  der 
Liebe  und  so  verliert  die  Darstellung  ihr  Herbes.  Skopas 
liess  in  seiner  Darstellung  der  kalydonischen  Eberjagd  den 
verwundeten  Ankaeus  nicht  verlassen  daliegen ,  wie  es  wohl 
der  Fall  ist  auf  Vasenbildern,    sondern    stützen    durch  einen 


70 

Freund,  so  dass  der  wilde  Kampf  unterbrochen  wurde  durch 
eine  Seene  der  Freundesliebe.  Die  Gruppe  des  Laokoon 
verliert  ihr  Schreckliches  durch  die  Geberde  des  älteren  Kna- 
ben, welcher  die  eigene  Gefahr  vergessend  nur  dem  klagen- 
den Vater  zugewandt  ist,  und  nicht  anders  ist  es  auf  unter- 
geordneten Werken.  Der  phigalische  Fries,  gewiss  kein  Mei- 
sterwerk der  Ausführung  nach,  mischt  in  das  Getümmel  wil- 
den Kampfs  Scenen  der  zartesten,  rührendsten  Art;  man 
sehe  besonders  diejenige,  wo  ein  Krieger  den  verwundeten 
Freund,  mit  sanftem  Arm  ihn  stützend,  aus  dem  Kampf 
führt.  Polygnot  war  nach  der  Ausführung  0.  Jahn's')  aus- 
gezeichnet durch  Milde  und  Mässigung  in  der  Behandlung 
der  Gräuelscenen ,  indem  er  das  Schrecklichste  auf  eine  sin- 
nige Art  nur  andeutete  und  errathen  Hess,  und  wo  wäre  das 
Schreckliche  mehr  gemildert  als  in  dem  edelsten  Ueberbleib- 
sel  der  griechischen  Malerei,  in  dem  Mosaik  der  Alexander- 
schlacht !  Hier  wäre  wohl  Gelegenheit  gewesen  zu  blutigem 
Anbhck  in  der  Art  des  Philostratus,  aber  nur  das  Pferd  blu- 
tet unter  dem  durchbohrten  Führer  und  das  Entsetzen  ,  das 
uns  befällt  beim  Anblick  des  grausigen  Moments,  löst  sich 
auf  in  eine  edlere  Empfindung,  wenn  wir  den  König  be- 
trachten, wie  er  die  eigne  Gefahr  vergessend  die  Hand  aus- 
streckt nach  seinem  Feldherrn,  der  für  ihn  stirbt 2),  L^nd 
ist  es  anders  in  den  untergeordneten  ^Produkten  des  Hand- 
Averks?  Die  Vivenziovase  umgibt  die  ergreifendsten  Scenen, 
die  Schlachtung  des  Priamus,  die  Schändung  der  Kassandra 
mit  friedlichen,  tröstlichen  Bildern:  hier  finden  Akamas  und 
Demophon  ihre  Mutter  wieder,  dort  zieht  Aeneas  mit  Vater 
und  Sohn  fort,  um  eine  neue  Heimat  zu  finden.  Um  auch 
die  Wandgemälde  nicht  zu  vergessen,  erinnere  ich  an  das 
pompejanische  Bild,  wo  die  Dirke  geschleift  werden  soll: 
die  beleidigte  Antiope  selbst  ist  es,  welche  die  Söhne  zu 
hindern  sucht,  an  der  Feindin  die  entsetzliche  Strafe  zu  voll- 
ziehn.     Und  ähnlich  ist  es,  wenn  auf  einer  Sarkophagdarstel- 

1)  Ueber  die  polygnot.  Gem.  in  der  Lesche  zu  Delphi  p.  49, 

2)  Vgl.  Welcker  Kl.  Sehr.  III  p.  460  ff. 


71 

hing  die  alte  Amme  den  Orest  ziinickz.ulmlteii  sucht  von  der 
Tödtung  der  Mutter,  ihrer  P'eindin.  Diese  Beispiele  hesseii 
sich  leicht  vermehren,  sie  sollten  nur  das  allgemeine  Verfali- 
ren  der  griechischen  Kunst  ^  •»  diesem  Punkt  constatircn, 
das  diametral  verschieden  ist  von  der  etruskischen  Kunst,  die 
grade  Vorhebe  hat  lür  gräuelvoUe  Darstellungen^).  In  der 
griechischen  Kunst  dagegen  weht  der  Hauch  der  griechischen 
Tragödie,  insbesondre  der  sophokleischen,  denn  kein  Dichter 
hat  es  so  verstanden,  wie  Sophokles.  Angst,  Schreck  und 
Entsetzen  aufzulösen  in  tiefe,  seelenvolle  ^Yehmuth.  AVas 
erweckt  mehr  Schauder  und  Entsetzen  als  die  Geschichte 
des  Oedipus?  Alle  Schande  zieht  der  Dichter  an  das  LichU 
er  erspart-  nichts,  aber  dann  bringt  er  in  jener  wunderbaren 
Scene    die  unmündigen  Kinder  —  unmündig  führt  er  sie  ein, 


1)  Wir  wollen  übrigens  auch  die  römisclio  Kinist  iiiclit  verges- 
sen. Auf  der  Trajanssäule  begegnen  wir  den  zartesten,  rüh- 
rendsten Scenen,  wohlthuenden  Ruhepnnkten  in  dem  Getüm- 
mel des  Kampfes.  3Ian  sehe  t.  18  bei  Bartoli;  wo  der  Leich- 
nam eines  Jünglings  von  bärtigen  Kriegern  mit  zarter  Theil- 
nahme  aus  dem  Kampf  getragen  wird,  dann  t.  92.  93,  wo  die 
Dacier  um  z^^  ei  gefallene  Jüngliug-e  trauern,  und  die  Gruppe 
auf  t.  32,  wo  zwei  Kriegci  sich  umarmen  und  küssen:  es 
sind  wol  Freunde;  die  sich  todt  geglaubt  und  nun  wiederge- 
funden haben. 

2)  Ein  characteristischer  Beleg  ist  der  Tod  des  Ajax,  der  auf 
einer  etruskischen  (Üverbeck  Gall.  Tat".  24,  2)  und  griechi- 
echen  Vase  (Bullet.  Napolet.  N.  .S.  I.  lav.  10  n.  4.  b.  6.  vgl. 
Minervini  p.  191)  dargestellt  ist.  Dort  hat  sich  Ajax  bereits 
in  sein  Schwert  gestürzt,  das  Schwert  ragt  weit  aus  dem 
durchbohrten  Körper  heraus ;  hier  ist  er  im  Begriff,  sich  hin- 
einzustürzen. Wie  viel  poetischer  ist .  der  Moment,  den  die 
griechische  Vase  darstellt!  Mau  vgl.  ferner  den  etruskischen 
Spiegel  bei  Gerhard  I,  68:  Da  hat  Minerva  dem  Akratos 
einen  Arm  abgensseu  und  ist  im  Begriff,  den  Eigenthümer 
desselben,  der  mit  blutendem  Stumpf  daliegt,  damit  zu  schla- 
gen. Der  griechische  Maler  Phasis  dagegen  malte  den  Ky- 
negeiros,  der  bei  Marathon  beide  Hände  verlor,  bevor  er  sie 
verloren  hatte;  vgl.  Brunn  II  p.  301. 


72 

um  den  Contrast  zu  schärfen  —  und  den  edclmüthigen 
Kreon  mit  dem  schuldbeladenen  blinden  Vater  zusammen  und 
versöhnend,  wie  kein  andres,  sehHesst  das  Drama'). 

Schon  diese  allgemeinen  Betrachtungen  müssen  Zweifel 
erregen,  ob  die  widerwärtigen  Gräuelscenen  des  Philostratus 
wirklich  gemalt  waren,  betrachten  wir  aber  auch  diejenigen 
vorhandenen  Denkmäler,  welche  denselben  Gegenstand  mit 
jenen  darstellen.  Den  Tod  des  Agamemnon  und  der  Kas- 
sandra  freilich  finden  wir  auf  griechischen  Monumenten  nir- 
gends 2)  und  ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Darstellung  des 
Abderus^).  Vielleicht  nicht  zufällig,  jedenfalls  aber  hätte 
man  den  Tod  gemalt  nicht  als  bereits  erfolgt,  sondern  als 
bevorstehend,  wie  es  durchgehends  in  solchen  Fällen  ge- 
schieht ^).  Aber  der  Tod  des  Hippolyt  findet  sich  auch 
sonst.  Der  Maler  AntiphiJus  hatte  ihn  gemalt  in  dem  Augen- 
blick ,  wo  er  vor  dem  Meerungeheuer  zurückbebt  (tauro 
emisso  expavescens) ;  das  ist  ein  ganz  andrer  Moment,  als 
der  bei  Philostratus  beschriebene,  es  ist  der  wahrhaft  künst- 
lerische Moment,  wo  wir  das  traurige  Loos  des  Jünglings 
voraussehn ,   ohne   dass  ihm  aber  schon  ein  Haar  gekrümmt 


1)  Es  giebt  freilich  Kritiker,  welche  das  letzte  Drittel  des  Kö- 
nig Oedipns  streichen  wollen.  Ich  muss  gestehn,  es  ist  wahr- 
haft empörend,  mit  welchem  Leichtsinn  und  Unverstand  mau 
die  herrlichsten  Produkte  des  Alterthums  „kritisirt."' 

2)  Denn  nur  mit  grosser  Willkür  ist  das  Vasenbild  in  Ovcrbeck's 

Gall.  Taf.  28,  4  auf  diesen  Gegenstand  bezogen. 

3)  Roulez  (  Melanges  etc.  IV,  4)  und  Minervini  (Bullet.  Nap.  VI 
p.'57)  glaubten  diesen  Gegenstand  auf  einer  Vase  dargestellt, 
was  0.  Jahn  (Arch.  Aufs.  p.  139)  beseitigt.  Die  Darstellung 
auf  der  Gemme  bei  Visconti  Opere  varie  II  p.  273  n.  366  ist 
sehr  zweifelhaft. 

4)  Was  ich  in  meiner  Schrift  über  Praxiteles  etc.  p.  138  ff.  aus- 
geführt habe,  könnte  ich  jetzt  durch  eine  grössere  Anzahl 
von  Beispielen  belegen.  Man  vgl.  noch  das  Bild  in  der  Ge- 
mäldehalle neben  den  Prop)däen  bei  Paus.  I,  22,  6:  tov  V//;.- 
A^Wff  räifov  nXriatov  ^iklovaä  ^ari  GtfäL.fadui  /7o/r^fJ'/;.  Da- 
gegen sind  der  Menoikeus  und  die  Panthia  des  Philostratus 
in  einem  Augenblick  dargestellt  —    das    Schwert   steckt   be- 


73 

wäre  1).  Auf  den  Sarkophagen  aus  römischer  Zeit  ist  ein 
späterer  Moment  dargeslelü :  Hi])polyt  liegt  bereits  am  Bo- 
den,  aber  ohne  alle  Entslellung,  wie  sie  Philostratus  an- 
giebt^):  nicht  einmal  die  clruskische  Kunst,  die  in  der  Dar- 
stellung des  Grässlichen  so  merklich  abweicht  von  der  edlen 
Zurückhaltung  der  griechischen,  nicht  einmal  diese  kennt 
einen  verstümmelten  Hipi^olyt.  Dasselbe  Verfahren  beob- 
achtet die  Kunst  in  den  ganz  analogen  Darstellungen  des 
Aktaeon.  Aktaeon  wurde  von  seinen  Hunden  zerfleischt,  so 
sagt  der  Mythus;  aber  auf  einem  Sarkophag,  welcher  seine 
ganze  Geschichte  darstellt'),  ist  sein  Leichnam,  den  die  Ver- 
Mandten  auffinden,  ohne  alle  Spuren  von  Entstellung.  Und 
was  endlich  die  Geschichte  des  Pentheus  betrifft,  die  nicht 
selten  dargestellt  ist,  so  findet  sich  nirgends  ein  zerrissener 
Körper,  wie  bei  Philostratus*).  Interessant  ist  aber  die  Ver- 
schiedenheit dieser  Darstellung  auf  den  Vasen  und  Sarko 
phagen.     Letztere  stehn  der  griechischen  Art  ungleich  ferner, 


rcits  in  ihren  Leibern  —  an  welchem  die  etruskische  Kunst 
besonders  Gefallen  halte.  Man  vgl.  noch  die  Darstellung 
des  thebanisclien  Brudermords  anf  etrnskischen  "Sarkophagen 
mit  der  Darstellung  desselben  Gegenstandes  am  Kasten  des 
Kypselus  (Pausan^  5,  19,  6) 

1)  Es  ist  mir  unbegreiflich,  wie  Welcker  behaupten  konnte,  bei 
Philostratus  sei  derselbe  Gegenstand  dargestellt,  wie  von  An- 
tiphilus,  und  ebenso  wundre  ich  mich,  wie  Brunn  Gesch.  d. 
gr.  K.  II,  249  den  Unterschied  der  beiden  Bilder  so  ganz 
und  gar  übersehn  konnte. 

2)  Vgl.  die  von  O.'Jahn  Archäol.  Beitr.  p:  328  ff.  besprochenen 
Darstellungen.  Hinzu  kommt  die  im  Arch.  Anzeiger  1857 
p.  27  erwähnte  Vase  und  der  in  Monum.  dell'Inst.  1857,  tav.  VI.  2 
abgebildete  Sarkophag. 

3)  Clarac  pl.  113,  n.  69.  Miliin  G.  M.  101,  407.  * 

4)  Die  Monumente  sind  gesammelt  von  0-  Jahn,  Pentheus  und 
die  Mänaden.  Hinzu  kommt  das  VasenlVagment  im  Bullet. 
Napol.  IV,  tav.  2  n.  3.  Das  abgeschlagene  Haupt  des  Pentheus 
in  der  Hand  der  Agaue  auf  plastischen  Monumenten  wird 
nach  dem  oben  Gesagten  nicht  als  Stütze  des  philostratischen 
Bildes  geltend  gemacht  werden  können. 


74 

als  erstere.  Die  Sarko})hage  sclieuen  sich  weniger  vor  un- 
ruhigen .  verwinten  und  peinlichen  Darstellungen ,  ich  er- 
wähne nur  die  des  gestürzten  Oenomaus,  die  auf  keiner  Vase 
sich  findet:  nur  den  bevorstehenden  Sturz  bringen  die  Vasen 
zur  Darstellung,  nicht  den  späteren,  peiniicheren  Moment 
des  Sturzes  selbst.  Man  vergleiche  ferner  die  Bestrafung 
des  Marsyas.  Der  peinliche  Moment,  in  dem  Marsyas  auf 
den  Sarkophagen  erscheint,  hängend  am  Kaum,  die  Arme 
angebunden  oben  über  dem  Kopf,  ist  der  Vasenmalerei  ganz 
fremd  ').  Diese  Beobachtung  bestätigt  sich  auch  bei  den 
Darstellungen  des  Pentheus.  Auf  den  Vasen  wird  er  nur 
bedroht,  er  steht  aufrecht  unter  den  rasenden  Frauen,  in  de- 
ren schwungvollen  Bewegungen  nicht  der  geringste  Reiz  der 
Bilder  liegt,  auf  den  Sarkophagen  dagegen  liegt  er  am  Bo- 
den und  die  Frauen  fassen  seine  Glieder,  um  sie  ihm  auszu- 
reissen.  In  peinlich  hülfloser  Lage  erscheint  er,  auf  den  Va- 
sen ist  sein  Schicksal  keineswegs  entschieden.  Aber  zer- 
rissen ist  der  Körper  des  Pentheus  auch  noch  nicht  auf  den 
Sarkophagen;  das  ist  dem  Philostratus  ganz  allein  eigen- 
Ihümlich,  welcher  —  dem  Euripides,  dem  Dichter  nachschrieb. 
Denn  sollte  nach  dem  Gesagten  noch  bezweifelt  werden 
können .  dass  Philostratus  seine  Gräuelseenen  aus  den  Dich- 
tern entlehnte?  Nirgends  ist  die  völlige  Abhängigkeit  vom 
Dichter  deutlicher,  als  in  dem  vorliegenden  Bild  der  Kassan- 
dra,  das  ich  eben  desswegen  diesem  Abschnitt  vorgesetzt 
habe.  Nur  detaiUirter  ist  die  Besehreibung  des  Rhetors.  Ho- 
mer erwähnt  mit  einem  Wort  den  Mischkruii  und  die  vollen 


1)  Was  die  Griechen  maassvoll  darstellen,  das  wrd  ins  Ex- 
centrische  gesteigert  auf  den  Sarkophagen.  Die  übertrieben 
heftigen  Geberden  haben  hier  ihre  eigentliche  Stelle.  Man 
vergleiche  den  Raub  der  Kora  und  der  Leukippiden ,  auch 
den  Untergang  der  Niobiden  auf  Sarkophagen,  mit  den  betref- 
fenden griechischen  Darstellungen.  Auch  erwähne  ich  den 
Atlas,  der  auf  griechischen  Monumenten  steht,  auf  'römi- 
schen in  mühseliger  Stellung  unter  seiner  Last  zusam- 
bricht. 


75 

Tische;  das  malt  der  Rhetor  auf  das  Widerwärtigste  aus*) 
und  setzt  noch,  wie  in  dem  kleinen  Herkules  des  Jüngern 
Philostratus,  die  Fackeln  hinzu,  um  die  ganze  Scene  schauer- 
licher zu  machen.  Eben  diese  Abhängigkeit  vom  Dichter 
erklärt  uns  diese  Gräuelscenen,  für  die  man  sich  in  den  vor- 
handenen Denkmälern  vergebens  nach  einer  Analogie  um- 
sieht. Und  wie  könnte  es  anders  sein,  da  ja  das  GrässHche 
für  den  Dichter  und  bildenden  Künstler  eine  ganz  verschie- 
dene Bedeutung  hat,  weil  dieser  auf  das  äussere,  jener  auf 
das  innere  Auge  wirkt?  "Wenn  ein  Dichter  von  abgeschla- 
genen Köpfen  redet,  wer  denkt  sich  die  Köpfe  in  allem  De- 
tail der  Wirklichkeit!  Und  wollte  der  Dichter  sie  schildern 
ausführlich  mit  allem  Detail,  so  würde  diese  Schilderung 
noch  immer  nicht  das  W^iderwärtige  an  sich  tragen,  wie  ein 
gemaltes  Bild ,  denn,  das  Bild  des  Dichters  ist  ein  rein  in 
unsrer  Phantasie  vorhandenes,  das  Bild  des  Malers  aber  ist 
äusserlich  da,  es  tritt  mit  dem  Anspruch  auf,  den  Schein 
der  W^irklichkeit  zu  erregen  und  eben  dieser  Schein  der 
Wirklichkeit  ist's,  der  uns  in  Gräuelscenen  abstösst. 

Betrachten  ^vir  nun  das  Bild  der  Kassandra  im  Einzel- 
nen, so  begegnen  wir  wie  in  fast  allen  Bildern  des  Philo- 
stratus einer  Sonderbarkeit,  wemi  man  sich  gehnde  aus- 
drücken will,  nach  der  andern.  Wird  je  wol  ein  Künstler 
mit  so  rohem  Sinn  das  Tragische  seines  Gegenstandes  zer- 
stören, wie  es  hier  geschehn?  und  zwar  das  Tragische  eines 
Gegenstandes,  in  dessen  Behandlung  Dichter,  wie  Aeschylus, 
vorangegangen  ?  Oder  heisst  es  nicht  das  Tragische  zerstören, 
wenn  die  Männer  in  der  B  e  t  r  u  n  k  e  n  h  e  i  t  abgeschlachtet  wer- 
den ?  Und  was  hat  der  Rhetor  begriffen  von  der  wunder- 
barsten aller  dichterischen  Schöpfungen,  von  der  Kassandra 
des  Aeschylus !     Nur    die  Worte   sind   aus    dem  Dichter  zu- 


1)  Für  das  Schickliche  und  Unschickliche  fehlt  dem  Rhetor  über- 
haupt das  Organ.  Atlas  (II,  20)  ist  schweisstriefend  gemalt, 
ebenso  Perseus  (I.  29)  und  Andre.  Ist  es  nöthig,  zu  bewei- 
sen, dass  dies  nicht  gemalt  war?  Parrhasius  hatte  einen 
Schwerbewaffneten  gemalt  in  certamine  ita  decurrentem  ut 
sudare  videatur  (Plin.  35,  71). 


76 

sammengeschrieben.  Das  Mädchen  ist  im  Begriff,  sich  über 
Agamemnon  zu  stürzen.  Was  S'oil  das  lieissen?  was  kann 
das  im  Bilde  anders  heissen ,  als  dass  sie  ihn  geliebt  hat? 
Und  die  Kl^lämnestra  muss  demnach  als  durch  Eifersucht 
zu  ihrer  That  veranlasst  erscheinen,  sie,  welche  der  Dichter 
blutig  gross  hinstellt  als  Rächerin  der  getödteten  Iphigenia, 
ja  als  Vollstreckerin  des  Rachegeistes,  der  im  Hause  der 
Atriden  waltet  i)  ! 

Auf  den  Gesichtern  der  getödteten  Männer  war  noch 
die  Weinröthe  sichtbar.  Sehr  befreindlich.  Es  ist  allerdings 
wahr,  wenn  ein  Betrunkener  mit  von  ^Yein  gerülheten  Backen 
getödtet  wird,  so  ist  die  Röthe  noch  eine  kurze  Zeit  sicht- 
bar, aber  diese  Zeit  ist  so  kurz,  das  Blut  tritt  so  schnell 
zurück,  dass  kein  Maler  die  starre  Ruhe  des  Todes,  die  der 
übrige  Körper  zeigt,  mit  einem  so  flüchtigen  Moment  im 
Antlitz  vereinigen  würde.  Sodann  ist  dieser  Moment  nicht 
bloss  flüchtig,  sondern  auch  in  fortwährendem  Wechsel  be- 
griffen ,  die  Röthe  verliert  immer  mehr  an  Intensität  und  so 
würde  das  Flüchtige  und  Wechselnde  starr  erscheinen  im 
Bilde  und  ebendadurch  widerwärtig  werden. 

Mit  wahrem  Vergnügen  malt  der  Rhetor  den  Tod  der 
Gefährten  des  Agamemnon  aus.  Er  hat  nicht  an  einem  oder 
zweien  genug,  er  zählt  ihrer  sieben  auf  und  vergisst  nur  uns 
plausibel  zu  machen,  wie  die  Klytämnestra ,  die  allein  von 
den  Feinden  anwesend  ist,  sie  alle  hat  tödten  können.  Doch 
nicht  alle,  zwei  sind  noch  am  Leben;  wie  thöricht  war 
Klytämnestra,  sie  am  Leben  zu  lassen  und  M'ie  thö- 
richt sind. diese,  dass  sie  nicht  dem  Weib  zu  Leibe  gehn! 
Sie  sind  zu  betrunken  dazu !  Der  Dichter  erklärt  es  wieder, 
dass  die  Klytämnestra  allein  die  Männer  getödtet  hat,  — 
denn  anderes  kann  ja  das  Bild,  auf  dem  eine  mit  der  Mord- 
waffe angreifende  Figur  unter  mehreren  Todten  und  Ver- 
wundeten sichtbar  ist,  nicht  verstanden  werden.  Bei  Homer 
nämlich  erzählt  Agamemnon  das  Faktum  zuerst  summarisch; 


1)  Wilhelm  von  Humboldt  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ueber- 
setzung  hat  herrlich  die  Figuren  der  Klytämnestra  und 
Kassandra  und  überhaupt  das  ganze  Stück  erörtert. 


77 

er  sagt,  Aegisth  und  die  Gattin  Imben  mich  und  meine  Ge- 
fährten getüdtet,  natürlich,  so  denkt  Jeder  hinzu,  mit  der 
nothigen  Mannschaft.  Sodann  scliildert  Agamemnon  die 
Scene  des  Untergangs  im  Einzehien  und  hiebei  spricht  er  nur 
von  der  Klytämnestra  als  Urheberin,  sehr  natürlich,  da  der 
Gatte  auf  die  Gattin  mehr  erzürnt  sein  musste,  als  auf  den 
Aegisth,  der  ja  auch  nur  Helfershelfer  war.  Ebenso  Philo- 
stratus.  Zuerst  wird  das  Faktum  summarisch  erzählt,  wobei 
denn  auch  Züge  vorkommen ,  die  bei  den  Tragikern  sich 
finden,  dann  wird  detailhrt  das  Gemälde  beschrieben  und 
hier  erscheint  Khtämnestra  allein,  wie  bei  Homer.  Jeder- 
mann begreift,  dass  für  die  Untergaugsscene  des  Dichters 
auch  die  Hülfe  des  vorerwähnten  Aegisth  Geltung  hat  und 
supplirt  ohne  Bedenken  die  erforderliche  Mannschaft,  denn 
der  Dichter  giebt  ja  nur  Züge,  welche  die  Phantasie  des  Le- 
senden sich  ausmalen  soll.  In  das  Gemälde  aber,  das  ein 
abgeschlossenes  Ganze  ist,  den  Aegisth  und  seine  Knechte 
hineinzusuppliren,  wäre  wol  eine  etwas  starke  Zumuthung^). 
Yön  dem  Netz,  dessen  sich  Klytämnestra  zum  Morde 
des  Agamemnon  bediente,  spricht  Philosh-atus  Anfangs,  als 
er  den  Mythus  erzählt.  Aber  in  der  Beschreibung  des 
Bildes  wird  kein  ^Yort  weiter  davon  gesagt:  und  doch,  wenn 
er  etwas  Wirkliches  vor  sich  hatte ,  konnte  er  umhin ,  es 
wieder  zu  erwähnen?  Oder  war  es  ausgelassen?  Warum 
erwähnt  er  es  denn  vorher  und  zwar  ohne  zu  sagen,  es 
finde  sich  bei  Dichtern,  nicht  auf  dem  vorliegenden  Bild? 
Und  kein  Künstler  hätte  in  einer  Darstellung  des  getödteten 
Agamemnon  das  Netz  weggelassen.  Man  vergleiche  die 
eti-uskischen  Todtenkisteu ,  auf  denen  der  Gegenstand  vor- 
kommt: zudem  ist  das  Netz  für  die  Klytämnestra  so  charac- 


1)  Agamemnon  hegt  tr  (Aitnaxioig  y.al  yvvcuois ^  welche  Worte 
gewiss  aus  einem  Dichter  entlehnt  sind,  wie  es  nachweisbar 
ist  von  den  umstehenden,  vgh  Aesch.  Clioeph.  366.  Welcker 
bemerkt  darüber:  Midieres  etiam  praeter  Ch'taemnestram  et 
Cassandram,  ancillas  nimirura.  expressas  fuisse,  non  credibile 
est,  quod  moneo  ob  verba  non  urgenda  Iv  [letoaxioig  xul 
yvraiois.    Solche  Art  der  Kritik  tann  Alles  aus  Allem  machen, 


78 

teristisch,  zugleich  seit  Aeschylus  so  berühmt,  dass  kein  spä- 
terer Künstler  —  und  die  Tafelmalerei  ist  ja  später  als  Ae- 
schylus —  dies  Motiv  aufgegeben  haben  würde,  üie  \^'ahr- 
heit  ist,  dass  Philostratus,  ein  Mensch  von  der  grössten  Bor- 
nirtheit,  das  Netz  desswegen  im  Bilde  nicht  erwähnt,  weil 
er  schon  vorher  in  der  Erzählung  des  Mythus  davon  gespro- 
chen. Es  ist  ein  Fall ,  wie  er  oben  vorkam  in  dem  Bilde 
des  Achelous. 

Wir  können  diesen  Abschnitt  nicht  schliessen,  ohne 
einer  Erörterung  Lessings  zu  gedenken,  die  zu  dem  Gegen- 
stande der  unsrigen  in  naher  Beziehung  steht.  Gleich  in 
den  ersten  Abschnitten  des  Laokoon  wird  das  verschiedene 
Verfahren  des  Dichters  und  bildenden  Künstlers  in  der  Dar- 
stellung des  Affekts  nachgewiesen  und  aus  der  Verschieden- 
heit der  Künste  hergeleitet.  Freilich  passt  das  Beispiel  nicht, 
von  dem  Lessing  ausgeht,  denn  Laokoon  seufzt  nicht,  son- 
dern sehreit  und  muss  schreien,  aber  es  wären  hundert  andre 
Beispiele  zur  Hand,  wenn  es  nöthigwäre:  die  Erörterung  bleibt 
überzeugend,  weil  sie  aus  der  Natur  der  Sache  abgeleitet 
ist.  Es  bleibt  immer  wahr  —  und  keine  Kunst  bestätigt  das 
so  sehr  wie  die  griechische  — ,  dass  der  Künstler  nicht  bis 
zu  dem  höchsten  Punkt  des  Affekts  fortschreiten  darf,  den 
der  Dichter  schildern  darf  und  schildern  muss,  dass  er  viel- 
mehr, und  der  Bildhauer  noch  mehr  als  der  Maler,  statt  des 
laut  ausbrechenden  Schmerzes  jenen  edel  verhaltenen  Schmei'z 
darzustellen  suchen  muss,  dessen  stumme  Beredtsamkeit  viel- 
leicht tiefer  ergreift,  als  Thränen  und  laute  Klage.  Doch 
dies  weiter  zu  verfolgen ,  würde  mich  abführen ,  ich  Avollte 
mich  nur  der  Uebereinstimmung  mit  Lessing  freuen,  denn 
principiell  laufen  unsre  Erörterungen  auf  dasselbe  hinaus. 
Lessing  beweist,  dass  der  Künstler  dem  Dichter  nicht  bis  zu 
dem  höchsten  Punkt  des  Affekts  folgen  dürfe:  wir  hatten  es 
mit  objectiven  Vorgängen  zu  thun  und  suchten  hier  zu  be- 
weisen, dass  in  der  Darstellung  blutiger  Vorgänge  der  Künst- 
ler dem  Dichter  nicht  bis  zum  äussersten  Gipfel  des  Schreck- 
lichen folgen  dürfe,  weil  das  Schreckliche  gesehn  anders 
A\irkt  als  gehört  oder  gelesen. 


IV. 


Die  äussere  Natur,  Meer,  Flüsse  u.  s.  w.  behandelt  Phi- 
lostratus  genau  so  wie  ein  Dichter;  die  Künstler  haben  we- 
der so  verfahren  noch  konnten  sie  so  verfahren.  Der  Dich- 
ter kann  das  Meer  beseelen,  nicht  der  Künstler.  Dies  ist 
der  Hauptuntersehied. 

Der  ältere  Philosti-atus  besehreibt  (I,  8)  folgendes  Bild : 
Das  Meer  folgt  und  schmeichelt  dem  Poseidon,  der  auf  einem 
Wagen  von  Hippokampen  gezogen  daherkommt,  heiter 
blickend'  und  von  heftiger  Liebe  bewegt.  Er  verlässt  grade 
das  Meer  um  die  Amymone  zu  ergreifen,  die  nicht  wissend, 
was  er  will,  vor  Schreck  den  Krug  fallen  lässt,  mit  dem 
sie  zum  Wasser  des  Inachus  zu  gehn  pflegt.  Ihre  weisse 
Haut  überglänzt  Grold,  dessen  Glanz  sich  mit  dem  Wasser 
mischt.  Schon  krümmt  sich  die  Woge  zur  Vermählung, 
noch  bläulich,  aber  Poseidon  malt  sie  dunkel. 

Nur  mit  einem  W'ort  hebe  ich  die  grosse  Verschieden- 
heit der  vorhandenen  Darstellungen  dieses  Mythus  hervor. 
Keine  derselben  hat  eine  Spur  von  dem  Pomp  des  Rhetors. 
Ist  es  wohl  natürlich,  dass  Poseidon  so  feierlich  zu  einer 
Liebschaft  herankommt?  Wäre  er  Bräutigam,  wie  auf  dem 
edlen  Münchner  Relief,  oder  bandelte  es  sich  wie  beim  Raub 
der  Persephone  um  eine  Entführung,  so  möchte  er  mit  einem 
Gespann  von  Hippokampen  oder  Tritonen  kommen,  aber  er 
ist  hier  ja  ein  Liebhaber,  der  in  heimlicher  Waldeseiusam- 
keit,  an  der  Quelle,  wohin  die  pati'iarchalische  Zeit  die 
Liebesbegegnungen  verlegte,  ein  Mädchen  überraschen  will, 
Aber  was  weiss  ein  Mensch  wie  Philostratus  davon,  was 
der  Situation  angemessen  ist;  bei  Dichtern  hat  er  gelesen, 
wie  Poseidon  über  das  Meer  fährt,  darum  lässt  er  ihn  auch 
hier  so  erscheinen  und  zerstört  damit  all  den  idyllischen  Reiz 
dieser  Begegnung  ^). 

1)  Die   Denkmäler  sind   zusammengeatellt    von   0.  Jahn  Vasen- 


80 

Worauf  es  mir  hier  aber  besonders  ankommt ,  das  ist 
die  Woge,  die  sieh  zu  einer  Grotte  krümmt,  unter  welcher 
der  Gott  und  das  Mädclien  verborgen  der  Liebe  pflegen 
können.  Die  Erklärer,  weisen  mehre  übereinstimmende 
Stellen  von  Dichtern  und  Dichter  nachahmenden  oder  be- 
nutzenden Schrift  stellern  nach;  bei  Homer  vereinigt  sich 
Poseidon  mit  der  T}to  unter  dem  Gewölbe  einer  Woge,  es 
fragt  sich  nur,  ob  der  Maler  hierin  dem  Dichter  folgen  kann. 


bilder  p.  34  flf.  Ich  bezweifle  nur,  dass  die  beiden  pompeja- 
uischen  Bilder  diesen  Mythus  darstellen,  sowie  ich  auch  nicht 
glaube,  dass  die  öfter  vorkommende  Statue  eines  auf  einen 
Delphin  gestützten  Mädchens  (Schoell  Arch.  Miltheil.  p.  115), 
die  am  herrlichsten  reptjiscntirt  ^\ird  durch  einen  Torso  des 
Berliner  Museums,  von  Jalin  (Archaeol.  Aufs.  p.  28)  richtig 
auf  Amymone  gedeutet  ist,  worüber  an  einem  andern  Ort 
mehr.  Das  erste  der  beiden  Wandgemälde  zeigt  weder  von 
Quelle  noch  von  Krug  eine  Spur:  befremdlich  ist  ferner  die 
Nacktheit  der  Jungfrau,  auch  in  Pompeji;  man  sollte  an  ein 
Wesen  des  Meers  denken  und  eben  daher  denkt  man  sie 
kommend,  da  man  nur  Meer  und  einsciüiessende  Felsen 
sieht.  Auch  die  Erklärung  des  zweiten  sehr  verstümmelten 
Bildes  ist  mir  fraglich,  denn  ein  Zug,  den  Lucian  \\ae  es 
scheint,  nicht  aus  dem  Mj'thus  hat^  dürfte  für  ein  pompeja- 
nisches  Bild  nicht  maassgebend  sein.  An  Vasen  sind  seit 
der  Abhandlung  Jahn's  mehre  hinzugekommen,  man  sehe 
namentüch  die  el.  ceram.  III.,  17  ff.,  wo  freihch  mit  der  in 
diesem  Werk  herrschenden  Kritiklosigkeit  viele  Figuren  als 
Amymone  gedeutet  werden,  die  aller  nähern  Charakteristika 
entbehren,  man  vgl.  pl.  20.  21.  22.  24.  u.  s.  w.  Zwischen 
den  frühern  und  spätem ,  übrigens  sämmtlich  rothfigurigen 
Vasendarstellungen  ist  der  auch  anderswo  oft  bemerkbare 
Unterschied,  dass  erstere  sich  durch  eine  grössere  Einfachheit 
auszeichnen.  So  fehlen  die  Baulichkeiten,  das  Brunnenhaus, 
die  fiir  die  grossen  Gefässe  des  unteritalischen  Stils  so  sehr 
willkommen  waren.  Die  herrliche  Gemme  bei  Jahn  Taf.  IV, 
C  kommt  auch  vor  in  einem  Glaskameo  des  Berhner Museums 
und  die  wasserschöpfende  Amymone  ebendas.  Tölken  III, 
181.  182,  in  zwei  Pasten  ,  von  denen  namentlich  die  letztere 
vortrefflich  ist. 


8i 

Der  Dichter  kann  das  Meer  beseelen,  ohne  es  zu  verändern ; 
an  einer  andern  Stelle  Homer's  fährt  Poseidon  über 
das  Meer  und  dieses  weicht  wonnig  seinem  Herrn  ausein- 
ander i)  ;  es  bleibt  Meer  vor  unsrer  Phantasie,  wenn  es 
auch  von  den  Empfindungen  lebender  Wesen  durchdrungen 
ist.  Aber  der  Künstler  malt  ^Yasser,  das  nach  physikalischen 
Gesetzen  zu  beurtheilen  ist,  das  nur  aus  äusserem  Anstoss, 
nicht  aus  einem  innerlichen  Antrieb  bewegt  erscheinen  kann, 
denn  eben  diese  innere  Beseelung,  die  der  Dichter  mit  einem 
Wort  hineinlegt,  kann  der  Künstler  seinem  Element  nicht 
mittheilen ,  weil  die  Natur  sie  ihm  nicht  mitgetheilt  hat. 
Oder  er  muss  das  Element  verändern ,  menschliche  Gestalt 
annehmen  lassen  ;  dann  ist  eben  die  adäquate  Form  da  für 
das,  was  er  ausdrücken  will,  im  andern  Fall  sollen  wir  an 
ein  Unsichtbares  glauben  in  einem  Körper,  der  dies  Unsicht- 
bare nicht  zm- Erscheinung  bringen  kann.  Der  Dichter  kann  also 
die  Woge  sich  heben  lassen  zur  Grotte,  weil  die  Woge  des 
Dichters  mitfühlt  mit  ihi*em  Herrn ,  bei  dem  3Ialer  würden 
wir  für  ihre  Krümmung  nach  einem  äussern  Anlass  suchen 
und  da  dieser  bei  Philostratus  fehlt,  das  Bild  für  unbegreif- 
lich erklären  müssen  ^j.  Noch  unbegreiflicher  aber  ist  das 
Bild    (Sen.  11 ,   8) ,    auf  dem    der  Flussgott  Meles    und    die 


1)  11.  13,  29:  ytjS^oaüvtj  (5'f  ihäXaaau  SiIotuto. 

2)  Aul"  einer  uuteritalischen  Vase  im  Bullet.  Nap.  II  ,  tav.  3. 
El.  cöram.  III  pl.  30  sitzen  Poseidon  und  Amymone  unter 
einem  Stralilenkreis ,  den  die  übrigen  Erklärer  als  Höhle, 
0.  Müller  aber  (Handb.  d.  Arcliaeol.  §.  35G,  3)  als  Wasser- 
gewölbe deutet,  als  einen  Tbalamos  wie  Philostratus  Imag. 
II.  8  einen  beschreibe.  Jlim  stimmt  Stephan!  bei  in  seiner 
Abhandlung  über  Nimbus  und  Strahlenkranz  p.  19  (Mem. 
de  l'academ.  des  sciences  de  St.  Petersbourg  p.  379).  Ich 
glaube,  wenn  Philostratus  nicht  \\'äit,  so  wäre  man  nie  auf 
diese  Ei'klärung  gekommen.  Denn  wenn  auch  das  „Wasser- 
gewölbe" deutlich  und  wenn  aiuch  eine  solche  Vorstellung 
den  Vasen  zuzutrauen  wäre,  so  widerspricht  schon  die  Ana- 
logie des  bei  Wieseler  II,  66,  843  mitgetheilten  Bildes,  wo 
ebenfalls  nicht  eine  einzelne  Figur  sondern  eine  ganze  Gruppe 
vou  einem  solchen  Strahlenkreis  eingeschlossen  ist. 

6 


82 

Nymphe  Kvilheis,  die  ihn  liebte,  dargestellt  war.  Da  heisst 
es  niinilich  von  dem  Mädchen,  „sie  trinkt  ohne  Durst  und 
nimmt  das  "Wasser  in  die  Hand  und  spricht  mit  dem  rieseln- 
den Wasser,  als  rede  es,  und- giesst  verliebte  Thränen  hinein. 
Jener  aber  sinnt  auf  ein  Brautgemaeh  und  hebt  die  Woge 
empor,  welche  von  der  Sonne  gefärbt  wird".  Auch  hier  ver- 
gleichen die  Erklärer  Berichte  der  Schriftsteller  von  Mädchen, 
welche  das  Wasser  der  Flüsse,  in  welche  sie  verliebt  sind, 
berühren  und  in  ihren  Busen  aufnehmen,  aber  die  Frage  werfen 
sie  nicht  auf,  ob  diese  Erzählungen  für  den  bildenden  Künst- 
ler darstelll)ar  seien.  Die  Krilheis  auf  dem  Bilde  erscheint 
als  wasserschöi)fend  oder  sich  in  irgend  einer  Weise  mit 
dem  Wasser  zu  thun  machend  auf  eine  dem  Betrachtenden 
räthselhafte  Weise,  denn  auf  dem  Bild  ist  Wasser  einfach 
Wasser,  ohne  dass  eine  Gottheit  drin  wirkt.  Der  Dichter 
dagegen  hat  eine  weitere  Sphäre ;  er  kann  Person  und  Sache 
trennen,  so  dass  dem  seelenlosen  Element  ein  naturbefreiter 
Gott  gegenübersteht,  er  kann  sie  al)er  auch  zusammentliessen 
lassen ,  so  dass  in  dem  Element  ein  Dämon  wirkt.  Dies 
letztere  vermag  der  bildende  Künstler  niclit  anschaulich  zu 
machen ,  er  kann  nur  den  freien  Gott  und  die  todte.  Materie 
darstellen.  Denn  wenn  er  den  Flussgott  malt  in '  seinen 
Fluthen  liegend,  so  sind  diese  Fluthen  doch  nichts  Anderes 
als  entseelte  Materie,  sie  sind  -seine  Wohnung,  sein  Lager. 
Und  woher  dieser  Unterschied  ?  Weil  der  Dichter  ein  un 
sichtbares,  der  Maler  dagegen  ein  sichtbares  Bild  schafft, 
das  nach  den  Gesetzen  des  Sichtbaren  beurtheilt  wird.  Dem 
gemalten  Wasser  kann  daher  ebensowenig  wie  dem  wirk- 
lichen däinonische  Kraft  beioelegt  werden. 


Noch  ein  Bild  ist -zu  merkwürdig,  um  nicht  näher  be- 
trachtet zu  werden.    Es  wird  so  beschrieben  (Sen.  1.  1): 

Hier  ist  die  hohe  Stadl  und  die  Zinnen  Ilions,  dann  ein 
grosses  Feld  hinreichend  Asien  gegen  Europa  aufzustellen. 
Yiel  Feuer   strümt    über   die  Ebne,    viel   auch   die  Ufer   des 


83 

Stromes  entlang,  so  dass  dieser  keine  Bäume  mehr  Hat.  Das 
Feuer  um  Hephästos  strömt  dem  AYasser  zu  und  der  Fluss- 
gott ächzt  und  fleht  den  Hephästos  an.  Er  hat  aber  kein 
langes  Haar,  weil  es  ihm  ringsum  versengt  ist,  und  Hephä- 
stos ist  nicht  lahm,  weil  er  läuft.  Die  Flamme  des  Feuers 
ist  nicht  hellroth,  noch  wie  gewöhnlich,  sondern  goldartig 
und  Sonnenfarben. 

Dies  Bild  zeigt  wieder  die  vöUige  Abhängigkeit  vom 
Dichter.  In  allem  Einzelnen  folgt  der  Rhetor  dem  Homer 
und  ebendarum  fügt  er  auch  Dinge  hinzu,  die  im  Gemälde 
nicht  vorhanden  sein  konnten,  wie  es  der  Fall  ist  mit  den 
vom  Feuer  verzehrten  Bäumen.  Nur  das  Wesenthche  lässt 
er  weg  .und  Hefert  so  ein  corruptes,  unverständliches  Bild. 
Achill  nämUch  fehlt,  um  dessentwillen  dieser  ganze  Vorgang 
sich  ereignete.  Wäre  dieser  da ,  so  iiätten  wir  einen  Grund 
für  das  Thun  des  Skamander  und  Hephästos,  den  wir  jetzt 
vermissen,  und  die  Stadt  Troja  hätte  nicht  bloss  eine  geo- 
graphische, sondern  eine  ideelle  Bedeutung  für  das  Bild,  sie 
erschiene  als  der  Gegenstand,  um  den  gekämpft  wird.  Statt 
dessen  nimmt  der  Rhetor  den  Kampf  von  Wasser  und  Feuer 
heraus  als  ein  Effekt  machendes  Schauspiel,  lässt  die  mythi- 
schen Figuren  des  Skamander  und  Hephästos  und  die  Stadt 
Troja  stehn  und  macht  daraus  ein  besondres  Gemälde,  so 
wie  Lucian^)  eben  dieselbe  Begebenheit  zu  einem  besondern 
Dialog  verarbeitete.  Doch  es  kam  uns  darauf  an,  auch  in 
diesem  Bilde  die  Vermischung  von  Sache  und  Person  nach- 
zuweisen. 

Bei  Homer  wirkt  der  Gott  in  seinem  Element,  Hephästos 
im  Feußr,  Skamander  im  Wasser;  dies  ist  es  eben,  was  der 
Künstler  nicht  zur  Anschauung  bringen  kann,  was  aber  auf 
dem  angeblichen  Bilde. versucht  ist.  Man  hat  mit  der  Figur 
des  Skamander  die  der  Donau  auf  der  Trajanssäule  vergli- 
chen, der  Vergleich  trifft  aber  nicht  zu.  Denn  auf  dem  Bild 
des  Philostratus  soll  das  Element  als  thätig  durch  den  in 
ihm  wirkenden    Gott   erscheinen,    auf  der  Trajanssäule  liegt 

1)  dial.  mar.  11. 


84 

der  Gott  in  ruhigen  Fluihen,  die  niclits  andres  sind  und  sein 
wollen  als  reales,  seelenloses  Wasser.  Und  Hephästos,  von 
dessen  Attributen  und  Geberden  der  Rhetor  kein  Wort  sagt, 
weil  der  Dichter  ihn  hier  im  Stich  Hess ,  steht  mitten  im 
Feuer,  so  dass  er  verbrennen  muss.  Oder  wenn  das  Feuer 
kein  wirkliches  Feuer  war,  so  sieht  man  nicht  ein ,  wie  der 
Flussgott  mit  verbrannten  Haaren  ächzen  und  um  Gnade 
tlehn  konnte.  Dem  Feuer  des  Künstlers,  der  den  Schein 
der  Wirklichkeit  erregen  will,  legen  wir  die  Eigenschaften 
des  wirklichen  Feuers  bei;  man  wird  mir  nicht  eine  Darstel- 
lung der  vom  Peleus  verfolgten  Thetis  entgegenhalten,  die 
sich  nach  dem  Mythus  auch  in  Feuer  verwandelt  haben  soll. 
Auf  einer  schwarzfigurigen  Vase')  nämlich  sind  an  den 
Schultern  der  Thetis  Flammen  oder  etwas  dem  Aehnliches 
sichtbar;  es  bedarf  kaum  der  Bemerkung,  dass  sie  nur  eine 
Andeutung  für  den  Verstand  sind,  dass  sie  ausdrücken  sollen, 
Thetis  habe  sich  auch  in  Feuer  verwandelt. 


Das  Bild  des  Amphion  (Sen.  I,  lU)  ist  ebenfalls  nur 
ein  dichterisches,  nicht  künstlerisches.  Es  stellte  angebHch 
den  Amphion  dar  wie  er  durch  die  Macht  seines  Saitenspiels 
und  Gesangs  die  Steine  zwingt,  sich  zur  Mauer  Thebens  zu- 
sammenziufügen.  Nachdem  der  Kitharspieler  beschrieben  ist, 
heisst  es.  weiter:  Die  Steine  laufen  zusammen  und  werden 
zur  Mauer;  ein  Theil  ist  schon  aufgebaut,  der  andre  steigt 
in  die  Höhe,  noch  andre  kommen  eben  heran.  Die  Steine 
sind  ehrgeizig  und  willig  und  folgsam  der  Musik;  die  Mauer 
aber  hat  sieben  Thore,  soviel  als  die  Lyra  Saiten. 

Man  sieht,  Philostratus  verfährt  hier  ganz  wie  ein  Dich- 
ter; er  legt  den  Steinen  Empfindung  und  Bewegung  bei. 
Auf  dem  Bilde  dagegen  sind  Steine  eben  Steine,  todte  Kör- 
per, die  physikalischen  Gesetzen  unterworfen  sind.  Wenn 
daher  ein  Maler  dem  Philostratus  nachmalen  wollte,  so  würde 
er  uns  nur  den  Amphion  darstellen  können  neben  einer  halb- 


1)  Overbeck  Gall.  7,  5. 


85 

voUendclen  Mauer,  die  den  Schauplatz  der  Handlung  angeben 
würde,  singend  und  spielend;  er  würde  uns  aber  nicht, 
„laufende"  Steine  und  noch  weniger  die  Ursache  ihres  Lau- 
fens begreiflich  machen  können,  weil  die  gemalten  Steine 
ebensowenig  mit  Empfindung  ausgestattet  werden,  wie  die 
wirklichen. 


Auch  in  folgendem  Bild  des  Jüngern  Philostratus  (n.  6) 
wird  man  leicht  denselben  Fehler  erkennen: 

Dem  Orpheus  hören  zu  Löwe  und  ^ber  und  Hirsch  und 
Hase,  die  nicht  von  dem  Löwen  davonlaufen,  und  alle  Thiere, 
denen  er  auf  der  Jagd  gefährlich  ist,  sind  hier  versammelt 
ohne  Furcht.  Und  Singvögel  sind  da  und  Dohle  und  Krähe 
und  der  Adler,  der  beide  Fittige  wiegt  und  unverwandt  auf 
Orpheus  sieht,  ohne  sich  um  das  nahe  Häslein  zu  beküm- 
mern. Auch  Wölfe  sind  da  und  unter  ihnen  Lämmer,  wie 
staunend.  Der  Maler  hat  aber  auch  die  Bäume  aus  den 
Wurzeln  gerissen  und  führt  sie  heran  als  Zuhörer  und  stellt 
sie  um  ihn  herum,  Fichte  und  Cypresse  und  Schwarzpappel 
und  Schwarzeiche  und  was  es  sonst  für  Bäume  giebt,  welche 
ihre  Zweige  wie  Hände  zusammenfügen,  damit  er  im  Schat- 
ten spiele.- —  Die  dann  folgende  Beschreibung  des  Orpheus 
geht  uns  hier  nicht  weiter  an. 

Es  fehlt  nur  noch,  dass  auch  die  Felsen  herankommen, 
die  bei  Dichtern  allerdings  dem  Orpheus  zuhören.  Denn  dies 
angebliche  Bild  ist  ein  aus  Dichtern  ausgescliriebenes.  Das 
zwar  könnte  noch  hingehn,  dass  er  Thiere  und  Bäume  in 
unzählicher  Menge  einführt,  was  der  Dichter  aus  gutem 
Grunde  thut,  während  der  Künstler  sich  beschränken  muss, — 
wenn  wir  nur  die  B0;ume  als  Zuhörer  des  Orpheus  begreifen 
könnten.  Man  sehe  die  Kunstdarstellungen  des  Orpheus, 
die  nicht  selten  sind.  Wo  steht  je  ein  aus  dem  Boden  ge- 
rissener Baum  —  das  ist  natürhch  nothwendig,  weil  der 
eingewurzelte  Baum  als  zur  Charakteristik  des  Lokals,  der 
Landschaft  dienend  betrachtet  werden  würde  —  neben  ihm? 
Wie  kann  er  neben  ihm  stehn?     Immer  ist  Orpheus  umge- 


86 

ben  von  Thiereu  und  nur  von  diesen,  denn  der  Künstler 
kann  ja  nur  solche  Wesen  als  empfindlich  gegen  Musik  dar- 
stellen,, die  es  in  Wirklichkeit  sind,  der  Dichter  aber  kann 
auch  diejenigen  Wesen  beseelen,  die  in  Wirkhchkeit  keine 
Empfindung  haben.  Beim  Dichter,  freihch  in  der  griechischen 
Dichtung  weit  beschränkter  als  in  der  orientahschen  und 
modernen,  ist  Blume,  Baum  und  Quelle  angefüllt  mit  mensch- 
Kchen  Empfindungen;  will  der  Künstler  die  unbeseelte  Natur 
beseelt  darstellen,  so  muss  er  ihre  Gestalt  verändern,  er 
muss  sie  menschliche  Gestalt    annehmen  lassen. 


Nach  diesem  Prinzip  wird  schhesslich  auch  folgender 
Zug  eines  landschaftlichen  Bildes  (Sen.  i ,  9)  zu  beurthei- 
len  sein: 

Eine  Brücke  von  Palmen  ist  über  den  Fluss  gelegt. 
Denn  der  Künstler,  welcher  die  Sage  von  den  Palmen  kannte, 
dass  die  eine  von  ihnen  männlich,  die  andere  weibhch  sei 
und  dass  erstere  die  letzteren  an  sich  ziehn  und  mit  ihren 
Zweigen  sie  umranken  und  sich  über  sie  hinstrecken,  hat 
von  jedem  Geschlecht  eine  auf  jedes  Ufer  gemalt.  Da  ist 
nun  die  eine  verliebt  und  neigt  sich  und  setzt  über  den  Strom. 
Aber  da  der  weibliche  Baum  noch  entfernt  steht,  so  kann 
sie  ihn  nicht  erreichen  und  liegt  nun  und  thut  Sklavendienste, 
indem  sie  das  Wasser  überbrückt. 

Blosse  Interpretation  des  Rhetors  sind,  wie  man  sieht, 
diese  Worte  nicht;  der  Verfertiger  des  angeblichen  Bildes 
muss  allerdings  den  Versuch  gemacht  haben ,  künstlerisch 
darzustellen,  was  nur  im  Wort  darstellbar  ist^).  Denn  stel- 
len wir    uns   die   Palme,   die    nicht  abgebrochen  ist,   gemalt 


1)  Sen.  I,  26  lieisst  es  von  dem  real  dargestellten  Olymp 
(Welcker's  vel-vel  ist  mir  unbegreiflich):  der  Berg  hat  an 
dem  kleinen  Hermes  seine  Freude,  denn  sein  Lächeln  ist  wie 
das  eines  Menschen  {olov  clvS^Qwnov,  was  eben  beweist,  dass 
er  nicht  personificirt  war).  Man  wird  hierin  leicht  denselben 
Fehler  erkennen. 


87 

vor,  so  können  wir  nur  denken,  der  Künstler  habe  das  selt- 
samste Naturspiel  darstellen  wollen,  die  Palme  sei  durch  Zu- 
fall so  gewachsen. 


"Was  bisher  von  der  verschiedenen  Auffassung  der  äus- 
sern Natur  in  bildender  Kunst  und  Poesie  erörtert  wurde,  be- 
trifft die  Kunst  übcrhaiipt,  nicht  die  Kunst  eines  besondern 
Volks.  ■  Jede  Kunst  muss  von  der  Poesie  abweichen  in  der 
Beseelung  des  Leblosen.  Die  folgende  Erörterung  dagegen 
bezieht  sich  auf  eine  Eigenthündichkeit  der  griechischen 
Kunst.  Sie  beschäftigt  sich  nämlich  mit  der  Frage,  wie 
Mond  und  Sonne,  wie  überhaupt  die  Lichtkörper  dargestellt 
seien  in  der  alten  Kunst.  Der  Künstler  der  Neuzeit  kann 
hier  rivalisiren  mit  dem  Dichter;  die  Sonne  gilt  beiden  als 
ein  lichtaussendender  Körper,  dessen  Wirkungen  der  eine 
schildert,  der  andere  darstellt.  Lii  Alterthum  war  das  Ver- 
hältniss  der  beiden  Künste  in  diesem  Punkt  nicht  ganz 
dasselbe. 

Wir  gehn  aus  von  folgendem  Bild  des  altern  Philostra- 
tus  (11,  29): 

Auf  dem  Felde  erblickt  man-  Todte  an  Todten  liegend 
und  Pferde  und  Waffen  und  einen  Blutkoth;  an  der  Mauer 
aber  liegen  die  Leichen  der  Heerführer  in  übermenschlicher 
Grösse,  Kapaneus  aber  einem  Giganten  gleich.  Den  Polynices 
aber,  der  auch  gross  ist  wie  jene,  hat  Antigone  mit  kräftigen 
Armen  umfasst,  das  Knie  auf  den  Boden  stützend.  Der 
Mond  wirft  ein  unsicheres  Licht.  Von  selbst  entsprangen 
aber  ist  der  Schoss  der  Granate  am  Grabmal.  Wunderbar 
ist  auch  das  Feuer  bei  der  Bestattung,  denn  es  mischt  sich 
nicht  die  Flamme,  sondern  flackert  hierhin  und  dorthin  und 
offenbart  das  Unvereinbare  des  Begräbnisses. 

Nur  mit  kurzen  Worten  will  ich  vorher  aufmerksam 
machen  einmal  auf  die  ausgeführte  Staffage,  die  so  vielen 
Bildern  des  Philostratus  eigenthümlich  ist.  Nicht  an  ein 
paar  Todten  hat  der  Rhetor  genug,  nein  sämmtliche  Leichen 
der  Heerführer  sind  vorhanden  und   noch  mehr,   eine  grosse 


Anzahl  der  getödteten  Knappen  (Todte  an  Todten) ,  Pferde 
und  Waffen  und  dazu  der  Blutkoth  —  wie  auf  dem  Bild  der 
Kassandra  —  ,  damit  das  Bild  ja  recht  ■^videl^värtig  werde.  So- 
dann bezweifle  ich,  ob  je  ein  griechischer  Maler  die  Gestalt 
der  sophokleischen  Antigene  so  entstellt  hätte,  dass  er  sie 
bei  Nacht  ihre  That  ausführen  Hess.  Was  versteht  so  ein 
Rhetor  von  sophokleischer  Poesie,  setzt  er  doch  noch  hinzu, 
das  Mädchen  unterdrücke  ihre  Klagen  um  den  Bruder  wol 
aus  Furcht  vor  den  Ohren  der  Wäditer  ^)  !  Endhch  sind 
die  Bemerkungen  über  die  Granate  und  die  sich  spaltende 
Flamme  nichts  Andres  als  roh  hinzugefügte-Notizen,  die  der 
Rhetor  in  seinen  Quellen  vorfand^). 

,, Der  Mond  wirft  ein  unsicheres  Licht"  sagt  Philostratus; 
diese  Worte .siüd's,  um  derentwillen  ich  das  Bild  herausgeho- 
ben habe.  Denn  ist  es  so  gewiss,  dass  die  alten  Maler 
Sonne  und  Mond  als  leuchtende  Körper  in  ihren  Werken 
darstellten?  Nicht  wenige  Eigenthümlichkeiten  der  neuern 
Malerei  werden  stillschweigend  in  der  alten  vorausgesetzt,  da 


1)  Der  Zug  ist  übrigens  nicht  dem  Rhetor  e_igen,  er  kommt 
bei  Hygin  Fab.  72  vor,  welcher  wahrscheinlich  den  Inhalt 
der    Euripideischen    Antigene   erzählt.     Vgl.  Welcker  Griech. 

'  Trag.  II  p.  567  ff. 

2)  Heyne  verstand  unter  den  ivccyia/uctTcc  die  Verbrennung  der 
Leichen,  Welcker  dagegen  nimmt  das  Wort  in  seinem  eigent- 
lichen Sinn  und  meint,  es  seien  Todtenopfer  auf  einem  Altar 
verbrannt,  wobei  nur  der  Altar  auf  dem  Schlachffeld  bedenk- 
lich .  ist  und  besonders  die  seltsame  Abweichung  von  der 
hergebrachten  Erzählung:  das  Auseinandergchn  der  Flamme 
hat  ja  nur  Sinn ,  wenn  es  die  Leichen  selbst  sind  ,  die  ver" 
brannt  werden.  Ich  glaube  daher  auch,  dass  der  Rhetor  die 
Verbrennung  der  Leichen  meinte.  Es  würden  demnach  zwei 
Scenen  anzunehmen  sein,  wenn  nicht  vielmehr,  was  mir  am 

"  wahrscheinlichsten  scheint,  der  Rhetor  die  Notiz  gedankenlos 
aus  seinen  Quellen  herübernahm ,  ohne  sich  darüber  Sorge 
zu  machen,  ob  und  wie  sie  gemalt  zu  denken  sei.  Dies  Bild 
übrigens  nennt  Overbeck  (Gall.  p.  143)  ein  „einfach  schönes 
Bild,  welches  allen  Ansprüchen,  die  wir  an  antike  Komposi- 
tion zu  machen  haben,  vollkommen  genügt."  (!) 


89 

man  doch  zunächst  untersuchen  sollte,  ob  sie  vereinbar  seien 
mit  der  verschiedenen  Geistesart  des  Alterthums. 

Die  griechische  Poesie  wechselt  zwischen  persönHcher 
und  unpersönlicher  Auffassung  der  Gestirne.  Aber  dieser 
Wechsel  ist  kein  willkürlicher.  Je  schwungvoller,  phantasie- 
reicher die  Darstellung  ist,  um  so  mehr  überwiegt  die  per- 
sönHche  Anschauung.  Das  kindliche  Epos  betrachtet  die 
Gestirne  als  helle  Lichter,  über  welche  der  Hirt  sieh  freut  *); 
es  ist  ganz  im  Einklang  mit  der  ruhigen  objektiven  Art  des 
Epos,  wenn^  die  Lichtgottheiten  noch  wenig  mythisches  Leben 
haben.  Aber  von  dem  Viergespann  des , Helios ,  von  dem 
Wagen  der  Nacht  und  der  Selene,  von  den  weissen  Rossen 
der  Hemera  ist  in  Lyrik  und  Tragödie  die  Rede;  diese  Gat- 
tungen der  Poesie,  depen  mehr  Leidenschaft  und  farbenreiche 
Phantasie  eigen  ist,  pflegen  die  LichtgoKheiten  in  glänzend 
plastischer  Persönhchkeit  hinzustellen.  Natürlich  aber  bleibt 
auch  dem  plastisch  gestalteten  Gott  die  Kraft  des  unpersön- 
lichen Naturobjekts. 

W''ie  verhält  sich  nun  dem  gegenüber  die  bildende  Kunst  ? 
Die  Plastik  dürfen  wir  bei  Seite  setzen  ,  denn  es  ist  ohne 
Weiteres  klar,  dass  diese  Kunst  nur  die  personificirte  Darstel- 
lung wählen  konnte;  in  der  Malerei  müssen  wir  scheiden 
zwischen  solchen  Darstellungen,  in  denen  ein  Gestirn  nur 
Zuthat  zu  menschlichen  Handlungen  ist  und  Darstellungen 
eines  elementaren  Vorgangs  für  sich.  Im  letzteren  Fall  sehn 
wir  immer  in  der  erhalteneu  Kunst  menschliche  Handlung 
statt  elementarer  Kräfte;  Sonnenaufgang  und  Sonnenunter- 
gang sind  dargest'Cllt  als  Handlungen  eines  persönlichen 
Gottes ,  und  die  Sterne ,  welche  beim  Sonnenaufgang  ver- 
schwinden ,  erscheinen  als  Knaben ,  die  sich  in's  Meer  stür- 
zen2).     Was  unsreKünstler  also  nach  der  Realität  darzustel- 

1)  11-  8,  555  fr,     Vgl.  Sapph.  fr.  3. 

2)  Man  wird  mir  nicht  das  Mosaik  bei  Guattani  Mon.  ined.  1781, 
LI,  das  E.  Braun  in  Annali  X,  269  erklärt  hat,  entgegenhal- 
fen. Hier  steigt  die  Sonne,  ein  strahlenbekränztes  Gesicht 
hinter  Bergen  empor;  vor  ihr  steht  ein  Stern,  ikonisch  ge- 
bildet, am  Himmel,  ein  zweiter  aber  personificirt  als  Mensch 


90 

len  .suchen,  das  bildet  der  Grieche  persüiiUch  in  Folge  der 
anthroj)omorphislischen  Anschauungsweise  seines  Volks.  Wenn 
es  jenen  darauf  ankommt,  durch  den  Zauber  der  Beleuchtung 
zu  wirken,  so  will  dieser  interessiren  durch  die  Lebendigkeit 
einer  menschlichen  Handlung.  Als  Zuthat  dagegen  zu  n)y- 
thischen  Handlungen  sehn  wir  in  der  letzten  Periode  der 
Vasenmalerei  und  auf  den  "Wandgemälden  Sonne  Mond  und 
Sterne  manchmal  unpersönlich  dargestellt.  Allein  diese  Zu- 
thaten  haben  in  vielen  Fällen  gar  keine  materielle  Bedeutung; 
von  den  Sternen  ist  wenigstens  nachweisbar;  dass  sie  durch- 
aus nicht  immer  die  Nachtzeit  andeuten,  sie  sind  vielmehr 
in  den  meisten  Fällen  nur  ein  raumfüllendes  Ornament  wie 
die  Rosetten,  mit  denen  sie  wechsehi^).  Auch  die  Sonnen- 
scheibe, die  auf  unteritalischen  Vasen  verschiedenen  mythi- 
schen Darstellungen  hinzugefügt  ist,  kann  ohne  Schaden  für 
das  Bild  entbehrt  werden;  man  möchte  glauben,  auch  sie 
habe  wie  so  manches  Andre  in  diesem  Stil  nur  formelle  Be- 
deutung 2).  Dagegen  kann  wohl  nicht  geläugnet  werden, 
dass  die  Hinzufügung  der  Mondscheibe  auf  Vasen  und  Wand- 
gemälden nicht  ohne  bestimmte  Absicht  geschehn  ist;  sie 
findet  sich  nämlich  auf  solchen  Darstellungen,  wo  die  An- 
deutung- der  Nachtzeit  nicht  unwesentlich  ist  für  die  Auffas- 
sung  des  Bildes  ^l.     Es  ist  begreifUch,  dass  man  in  solchen 


dargestellt,  ist  bereits  in's  Meer  getaucht.  Hier  ist  also  reale 
Darstellung  iind  Personifikation  auf  einem  und  demselben 
Bilde  vereinigt;  fehlerhaft  genug,  denn  gleichartige  Wesen 
müssen  in  der  Kunst  gleiche  Gestalt  haben,  sonst  hört  eben 
ihre  Gleichartigkeit  auf.  Man  kann  vergleichen  den  Fall,  wo* 
Psj'che  auf  einem  und  demselben  Bild  bald  als  Mädchen, 
bald  als  Schmetterling  dargestellt  ist,  wie  bei  Müller  il,  53 
668.  Vgl.  Jahn  in  Ber.  d.  süchs.  Gesellsch.  d.  Wiss.  1851 
p.  161. 

1)  Vgl.  den  Excurs  II. 

2)  Die  Beispiele  hat  Stephani  a.  a.  0.  p.  26  Anm.  2  zusam- 
mengestellt. Der  personificirte  Helios  auf  der  Karlsruher 
Parisvasc  ist  anders  aufzufassen. 

3)  Overbeck  Gall.  Taf.  24,  20  und  Bullet.  Napol.  VI,  p.  i.  Es 
sind  Darstellungen  des  Palladienraubes  und  des  Endj^mion. 


91 

Fällen,  wo  es  sich  nur  um  eine  Andeutung  für  die  Phantasie 
handelt ,  wo  nur  die  Zeit  der  dargestellten  Handlung  ange- 
geben werden  soll,  den  Lichtkörper  nicht  personificirte,  son- 
dern in  seiner  realen  Form  als  ein  bescheidenes  Zeichen 
hinzufügte.  Aber  mehr  als  die  Form  hat  er  nicht  mit  der 
Realität  gemein,  das  Licht  fehlt  ihm. 

Sind  wir  aber  berechtigt,  nach  diesen  Thatsachen  der 
erhaltenen  Gemälde  auch  die  verlorenen  Werke  der  alten 
Malerei  zu  beurtheilen  ?  Dürfen  wir  dasjenige,  was  wir  an 
den  uns  erhaltenen  untergeordneten  Werken  bemerken,  an- 
nehmen von  den  Bildern  eines  Apelles  ?  Es  ist  wahr,  Licht- 
effekte, die  der  Vasen-  und  Wandmalerei  völhg  fremd  sind, 
hatten  in  den  Werken  der  grossen  Meister  ihre  Stelle ;  es 
wird  uns  das  Bild  eines  feueranblasenden  Knaben  von  Anti- 
philus  genannt,  das  wir  uns  wol  nicht  anders  denken  kön- 
nen als  nach  der  Analogie  verM-andter  Darstellungen  hollän- 
discher Meister.  Hienach  scheint  es  natürlich  anzunehmen, 
'  dass  auch  leuchtende  Gestirne  dargestellt  seien,  dass  die 
Maler  nach  Polygnot  —  denn  diesem  wird  mit  Recht  alle 
und  jede  Lichtwirkung  abgesprochen  —  eben  da,  wo  die 
Vasenmaler  sich  mit  Andeutungen  begnügten,  wirklich  licht- 
aussendende Körper  malten  und  somit  den  übrigen  Reizen 
ihrer  Bilder  auch  defi  Zauber  der  Beleuchtung  hinzufügten.  Und 
doch  kann  ich  mich  nicht  zu  dieser  Annahme  entschliessen. 
Den  alten  Gemälden  fehlte  nämlich  —  dies  wird  zugegeben 
und  unten  noch  ausführlicher  ^erörtert  werden  —  das  Land- 
schaftliche, Eben  aus  diesem  Grunde  fehlten  auch ,  wie  ich 
glaube,  die  Sonnen-  und  Mondbeleuchtungen.  Es  ist  mir 
nicht  denkbar,  dass  man  die  unpersönliche  Natur  zum  Theil 
—  das  ganze  Reich  der  Vegetation  —  nur  andeutungs- 
weise, s^ymbolisch,  zum  andern  Theil  aber  —  die  Lichtkör- 
per —  nach  ihrer  realen  Erscheinung  dargestellt  haben  sollte. 
Beide  Gebiete  mussten  entweder  naturwahr  oder  symbolisch 
aufgefasst  werden,  eine  Mischung  verschiedener  Darstellungs- 
weisen ist  nicht  denkbar.  Sodann  aber  erscheint  es  mir 
zweifelhaft,  ob  es  einem  alten  Künstler  einfallen  konnte,  das 
Licht ,  das  er  mit  seinem  Volk  anschaute  als  gewirkt  durch 


92 

einen  porsönlichen  Gott ,  für  sich  darzustellen  getrennt  von 
seinem  Urheber.  Allerdings  wurde  schon  durch  die  vorso- 
kratische  Philosophie  die  Natur  entgöttert,  die  Gesammtheit 
der  Nation  aber  hielt  trotzdem  fest  an  den  Anschauungen 
Homers.  Wir  glauben  demnach,  dass  die  Gestirne  in  den 
Meisterwerken  der  griechischen  Kunst  —  wenn  sie  überhaupt 
hinzugefügt  wurden  —  in  derselben  nur  andeutenden  Art 
angebracht  waren,  die  uns  auf  den  Vasen  entgegentritt.  Der 
Mensch  und  seine  That  war  der  Mittelpunkt  der  griechischen 
Malerei,  so  M'ie  er  es  war  in  der  Plastik. 

Das  philostratische  Bild  mit  dem  unsichern  MondHcht 
können  wir  demnach  nicht  als  gemalt  denken  ^  es  ist  ein 
dichterisches  Bild,  das  aber  von  der  alten  Kunst  nicht  nach- 
geahmt wurde. 


Leichler  werden  wir  mit  folgenden  Bildern,  die  wir  auch 
um  der  merkwürdigen  Darstellung  der  Gestirne  willen  be- 
sprechen, fertig  werden  können. 

Der  allere  Philostratus  beschreibt  (I,  7)  ein  Bild,  wel- 
ches die  Klage  um  Memnon  darstellte*).  Im  obern  Raum  be- 
fanden sich  göttliche  Wesen :  „Eos  trauernd  um  ihren  Sohn 
macht  den  Helios  betrübt  und  bittet  die  Nacht  eher  zu  koqi- 
men  und  das  Heer  zurückzuhalten,  damit  sie  unvermerkt  den 
Sohn  fortnehmen  könne.''  Zugleich  befand  sich  auf  dem 
Bilde  der  sitzende  Memnonskoloss —  in  welchen  Memnon  nach 
der  Sage  verwandelt   wurde    —  ,,und    der  Strahl   des  Helios 


1)  Es  war  die  noös^foig  des  Memnon  dargestellt  und  doch  liegt 
der  Leiclinani  —  auf  der  Erde.  Wenn  der  todte  Antilochus 
11,  7  auf  der  Erde  liegt,  so  hat  das  Sinn,  denn  das  Bild 
sagt  uns,  dass  er  eben  gefallen,  aber  hier,  wo  keine  Feinde 
da  sind,  wo  die  Klage  um  Memnon  ganz  i'iir  sich  allein  dar- 
gestellt war,  da  ist  es  sehr  auffallend,  dass  der  Leichnam 
auf  der  Erde  und  nicht  wie  z.  B.  auf  der  Archemorusvase, 
auf  einem  Paradebett  oder  einerBahre  liegt.  So  war  es  natür- 
lich auch  im  Leben  Sitte. 


93 

trifft  die  Statue.  Denn  Helios  scheint  dem  Menmon  ,  indem 
er  ihm  wie  ein  Plektruni  auf  den  Mund  falll ,  einen  Laut  zu 
entlocken." 

In  der  ersten  Scene  ist  Helios  personiticirt,  in  der  zwei- 
ten wird  er  als  leuchtender  Körper  aufgefasst;  darin  liegt 
das  Merkwürdige  des  Bildes.  Der  Dichter  kann  so  sprechen, 
bei  dem  Person  und  Sache  in  einander  fliessen,  der  Künst- 
ler kann  nur  eins  oder  das  andre  darstellen. 

Bemerkenswerth  ist  hier  übrigens  das  Verfahren  der  Er- 
klärer. Das  über  Eos  Gesagte  sei  aus  Dichtern  geschöpft^)- 
keine  Kunst  könne  die  Eos  darstellen  zugleich  die  Sonne 
verdunkelnd  und  mit  Bitten  die  Nacht  angehend.  Der  Maler 
habe  die  Tj-auer  der  Sonne  und  die  nahe  Ankunft  der  Nacht 
durch  Abnahme  des  Lichts  und  angemessenen  Farbenton  auf 
dem  Grund  des  Bildes  ausgedrückt.  Ist  es  nicht  eine  merk- 
würdige Kritik,  welche  um  ihrer  unbewiesenen  Voraussetzung 
willen  die  auffallenden  eben  mit  dieser  Voraussetzung  strei- 
tenden Stellen  nicht  so  interpretirt,  wüe  es  die  AYorte,  son- 
dern so  ^^äe  es  die  gemachte  Voraussetzung  verlangt?  Hätte 
sie  nicht  vielmehr  die  auffallenden  Stellen,  und  w^enn  es  auch 
nur  eine  einzige  war,  gerade  zu  Ausgangspunkten  einer  vor- 
aussetzungslosen Untersuchung  machen  sollen?  Denn  eine 
genaue  Untersuchung  derselben ,  welche  sich  nicht  mit  dem 
vagen  Satz  begnügt,  die  Kunst  könne  dergleichen  nicht  dai-- 
stellen,  welche  dem  Grund  des  Auffallenden  nachgeht,  musste 
sofort  erkennen  lassen,  dass  eben  derselbe  Fehler,  an  dem 
die  Einzelheit  leidet,  ein  Fehler  der  Bilder  überhaupt  sei. 


Sodann  besprechen  wir  das  Bild'  des  Phaethon  (Sen. 
I,  11),  das  gemalt  gedacht,  in  Confusion  seines  gleichen 
sucht : 


1)  Zu  den  von  Jakobs  angeführten  Stellen  kommt  nocli  die  bei 
Qu.  Smyrn.  II,  625  ff-  hinzu. 


04 

Die  Naclü  vertreibt  um  Mittag  den  Tag;  der  Kreis  der 
Sonne  auf  die  Erde  fliessend  ruft  die  Sierne  hervor:  die  Hö- 
ren (liehen  die  Thove  verki.ssend  in  das  ihnen  entgegentre- 
tende Dunlvel  und  die  Pferde  aus  dem  Geschirr  gefallen, 
schiessen  in  ^^'uth  dahin.  Der  Jüngling  fällt  lieraus  und 
stürzt  hinab.  Er  ist  am  Haar  verbrannt  und  seine  Brust 
dampft.  Die  Erde  aber  verzweifelt  und  hebt  die,  Arme  em- 
por, da  das  Platzfeuer  auf  sie  niederkommt.  Schwäne  sind 
am  Eridanus,  um  den  Knaben  zu  besingen,  auch  Zephyr  ist 
da,  der  sieh  ihrer  Flügel  wie  eines  Instrumentes  bedient.  An 
dem  Ufer  des  Flusses  stehen  die  Heliaden ,  schon  bis  zum 
Nabel  Bäume,  auch  Hände  und  Haar  sind  schon  verwandelt. 
Sie  vergiessen  golden  schimmernde  Thränen ,  die  auf  der 
Röthe  der  "Wangen  erglänzen,  die  Thränen  auf  der  Brust 
aber  sind  schon  Gold.  Auch  der  Flussoott  klagt  aus  dem 
Wasser  hervorragend  und  breitet  dem  Phaethon  den  Bausch 
aus;  denn  seine  Stellung  ist  die  eines  Aufnehmenden i). 

Einige  Kleinigkeiten  bemerke  ich  vorher.  Die  trauern- 
den Schwestern  haben  rothe  Backen  trotz  ihrer  Trauer;  na- 
türlich, dem  albernen  Rhetor  mussten  die  goldnen  Thränen 
auf  rolhem  Grund  sehr  schön  vorkommen.  Sodann  sind  die 
Mädchen  schon  zum  Theil  verwandelt,  der  menschliche  und 
vegetabilische  Organismus  sind  gemischt,  ganz  im  Wider- 
spruch mit  dem  Verfahren  der  erhaltenen  Denkmäler.  Wie- 
sel^r,  welcher  die  auf  Phaethon  bezüglichen  Monumente  neuer- 
dings gesammelt  und  besprochen  hat,  bemerkt  (p.  62),  die 
Verwandlung  der  Schwestern  des  Phaethon  sei  auf  dem  Ge- 
mälde jfles  Philostratus  und  auf  dem  unter  n.  8  seiner  Kupfex- 
tafel  abgebildeten  geschnittenen  Stein  wirkhch  angegeben, 
auf  den  übrigen  Denkmälern  sei  sie  nur  angedeutet  durch 
einen  nebenstehenden  Baum  oder  durch  einen  Zweig  in  der 
Hand  der  Mädchen.     Er  hätte   aher   auch   die  obenerwähnte 


])  Es  ist  mir  uubegreitlich,  wie  Wieseler  in  seiner  Schrift  über 
Pliaetlion  p.  22  Anm.  2  die  Worte  tu  yuo  ff/^,««  iSi-^aun'ou 
als  sinnlos  bezoiclmen  und  verandern  konnte.  Man  vcrgl., 
wenn  es  dessen  bedarf,  Scn.  I,  7:  >i(cl  lo  G/ij/.(cc  iitr  xadrjuü'ov. 


95 

Gemme  trennen  sollen  von  dem  philostraliselien  Bild,  denn 
die  Gemme  zeigt  drei  völlig  menschlich  gebildete  Mädchen, 
an  deren  Fingerspitzen  kleine  Zweige  sichtbar  sind.  Kann 
eine  solche  Darstellung  aber  verglichen  werden  mit  dem  Bilde 
des  Philostratus  ?  Bei  dem  Rhetor  ist  das  Menschliche  mit 
dem  Vegetabilischen  verschmolzen,  dort  aber  ist  der  mensch- 
liche Organismus  völlig  unversehrt,  nur  angefügt  sind 
Zweiglein  als  eine  Andeutung  für  die  Phantasie.  Das  Bild  will 
uns  die  Verwandlung  sichtbar  zeigen,  die  Gemme  lässt  sie 
nur  errathen.  Dies  andeutende  Verfahren  der  Kunst  bestätigen 
auch  die  Knnstdarstellungen  der  Daphne.  Der  Mythus  er- 
zählt wie  von  den  Heliaden,  dass  Daphne  in  einen  Lorbeer- 
baum ver.wandelt  sei,  aber  stellt  der  Künstler  auch  so  dar? 
Auf  einem  herkulanischen  Bild  ^ )  steht  neben  dem  Mädchen 
ein  Lorbeerspross ,    auf  einem    andern  2)    aus  Pompeji  ist  an 


1)  Mus.  borbon.  X,   58    Pitt.  d'Ercol.  IV,  28. 

2)  Mus.  borbon.  XII,  33.  Vgl.  die  borghesisclie  Statue  der  Daphne, 
welche ,  soweit  ich  nach  der  Abbildung  bei  Clarac  540  B, 
966  C  urtheilen  kann,  von  Wicseler  a.  a.  0.  p.  62  A.  1  nicht 
als  Stütze  des  plülostratisclicn  Bildes  hätte  angeführt  werden 
sollen.  Denn  bis  auf  die  Fingerspitzen  (ebenso  die  Gemme 
bei  Tülken  111,2,  759)  ist  die  Fig-ur  vollkommen  menschlich; 
beide  Beine  sind  sichtbar  und  gehen  nicht  in's  Vegetabilische 
über,  sondern  werden  umstrickt  von  den  Zweigen,  so  dass 
die  Figur  wie  an  den  Boden  gefesselt  erscheint.  Was  aber 
die  Stelle  bei  Lucian  (Ver.  bist.  I,  8)  betrifft,  so  ist  mir  sehr 
zweifelhaft,  ob  nicht  auch  für  sie,  die  allerdings  nur  eine 
beiläufige  Bemerkung  ist,  der  von  dem  Verfasser  cap.  4  aus- 
gesprochene Grundsatz  gilt,  dass  er  in  dieser  Schrift  nichts 
Wahres  sagen  ^^'olle.  Endlich  kann  die  Gruppe  des  Dionj'sos 
und  Ampelos,  die  Wieseler  noch  anführt,  gar  nicht  verglichen 
werden,  weil  es  sich  dabei  gar  nicht  um  eine  Verwandlung 
handelt,  —  man  würde  doch  wol  zum  Mindesten  etwas  Angst 
und  Widerstreben  in  einem  Knaben  ausgedrückt  finden,  der 
zum  Weinstock  werden  soll.  Vielmehr  ist  die  Figur  neben 
Dionysos  der  pcrsonificirte  Ampelos,  welcher  dem  Dionysos  die 
Traube,  seine  Frucht  bietet.  Man  darf  sagen,  die  griechische 
Kunst  hat ,    wenn   nicht  in  humoristischen  Darstellungen  wie 


96 

ihren  Schelfe}  ein  Zweig  angefügt,  weniger  schön,  aber  es 
ist.  doch  auch  hier  das  Menscldiche  vüHig  unversehrt  darge- 
stellt. Und  hallen  die  Künsller  nicht  Recht,  dass  sie  so  ver- 
fuhren? Wer  Avürde  an  der  halbverwandellen  Daphne  des 
Bernini,  ausgeführt  mit  aller  technischen  Virtuosität,  das  Ver- 
gnügen emi)finden  können,  mit  dem  wir  jene  pompejanischen 
Bilder  —  die  keine  Meisterstücke  sind  —  l)etraehten?  Der 
Künstler,  der  die  Verwandlungen  darzustellen  sucht,  über- 
schreitet nicht  allein  die  Gränzen  seiner  Kunst,  insofern  er 
einen  gar  nicht  fixirbaren  Pinikt  fixirt,  er  zieht  auch  das 
Interesse  ab  von  dem,  worauf  er  es  concenlriren  sollte.  Denn 
die  Trauer  der  Schwestern  um  den  Bruder,  die  Angst  des 
Mädchens  vor  dem  Verfolger  sind  es,  die  unsre  ganze  Theil- 
nahme  in  Anspruch  nehmen.  Dieses  tiefere  Interesse  kann 
nicht  bestehen  mit  der  kalten  Bewunderung,  die  wir  einer 
geschickten  Verschmelzung  unverträglicher  Organismen  zollen. 
Doch  dies  genügt  für  den  Philostralus.  Seine  verwan- 
delten Heliaden,  sahn  wir,  sind  ohne  Analogie  in  den  er- 
haltenen Darstellungen  5  der  Rhetor  schrieb  wieder  dem  Dich- 
ter na<'h. 


in  der  Verwandlung  der  Seeräuber  und  der  Geführten  des 
Odysseus,  Verwandlungen  nie  direkt  darzustellen  versucht; 
die  Verwandlung--  des  Aktaeon  wird  ebenso  wie  die  der  He- 
liaden und  der  Daphne  durch  kleine  angefügte  symbolische 
Zeichen  angedeutet,  die  das  Menschliche  im  Wesentlichen 
nicht  beeinträchtigen.  Ich  weiss  wol,  dass  er  mitunter  einen 
Hirschkopf  hat  (vgl.  Jahn  Beitr.  -p.  410),  aber  ich  glaube 
behaupten  zu  dürfen,  dass  in  allen  tragischen  Situationen 
eine  solche  Vermischung  des  Tliierischen  und  Menschlichen 
eine  Unmöglichkeit  ist.  In  Betreff  des  Philostralus  übrigens 
ist  schon  dies  sehr  misslich ,  wenn  seine  Bilder  nui-  durch 
ganz  vereinzelte  Versuche  untergeordneter  Künstler  gestützt 
werden  können.  Demnach  betraclite  ich  auch  die  Verwand- 
lung vonJCadmus  und  Harmonia  (Sen.  1,  18)  nur  als  etwas 
dem  Dichter  Nachgeschriebenes.  Hier  würde  man  nicht  ein- 
mal erkennen  können,  dass  es  sich  um  eine  Verwandlung 
handle,  man  würde  die  ■  beiden  für  schlangenfüssige  Wesen 
halten,  wie  den  Kckrops  auf  einer  Erichthoniusvasc. 


97 

Ausser  dem  Phaethon,  dessen  verbranntes  Haar  nicht  bei 
dem  Dichter  Ovid,  aber  sehr  widerwärtig  ist  auf  dem  Bilde, 
war   auch    die  Sonnenscheibe    dargestellt.     So  nämlich  muss 
man    nach  den  Worten  des  Rhetors  verstehen ;    die  Erklärer 
dagegen  nehmen  nach  der  Analogie  erhaltener  Bilder  an,  ein 
Strahlenkreis  habe  den  Kopf  des  Phaethon    oder   der  Pferde 
oder    den   ganzen  Wagen   umgeben.     Dieser  wäre   dann  als 
Grund  des  Brandes  anzusehen,  wobei  man  nur  fragen  müsste, 
wie  er  denn  als  brennender  Körper  —  die  Gaea  leidet  sehr 
unter  ihm  —  mit  Menschen  oder  Thieren  oder  Geräthen  ver- 
bunden' werden  könne.    Wenn  der  Künstler  dem  Helios  eine 
Strahienkrone  gibt,    so   ist  ja  dieses  Attribut  nichts  Andres, 
als  eine  Andeutung  für  unsre  Phantasie 5  es  soll  uns  die  Figur 
kenntlich  machen,    es  kann  aber  als  Attribut  des  persönlich 
gestalteten  Naturobjects  nicht   die  Eigenschaften   des   unper- 
sönhchen  Dinges  besitzen.   Wollten  wir  uns  aber  den  ganzen 
persönlichen  Helios  umflossen   denken   von   einem  Lichtmeer 
wie  etwa   den  Heiland    der   neuern  Kunst,    so    könnte   doch 
dieses  Licht,  in  welchem  eine  Person  lebt,  nicht  zugleich  die 
Wirkung    eines   verzehrenden   Feuers    haben.     Doch   um   zu 
wissen,  wie  Philostratus  den  Vorgang  gesehen  oder  sich  ge- 
dacht,   worauf  es  doch  allein  ankommt,   bedurfte    es  dieser 
Erörterung  nicht  i).     Man    lese  nur' seine  Beschreibung.     Er» 
spricht  zuerst  von  einem  blossen  Naturvorgang    und  sodann 
erzählt  er  den  Mythus,    der  eben  dasselbe  ausdrückt.     Denn 


1 )  Von  den  Annahmen  der  Erklärer  ist  eine  zu  merkwürdig, 
um  nicht  angeführt  zu  x-^trden.  Einer  derselben  glaubt,  weil 
Philostratus  den  Vorgang  in  die  Mittagszeit  setzt,  die  perso- 
nificirte  Mesembria  sei  anwesend  gewesen.  Er  erinnert  dabei 
an  den  Festzug  des  Antiochus,  in  welchem  diese  Figur  aller- 
dings mit  andern  ähnlichen  Personifikationen  erschien,  sagt 
aber  nicht,  wie  er  sich  die  Figur  denkt.  Icli  wäre  sehr  neu- 
gierig zu  hören,  ob  und  welche  Aktion  der  Erldärer  ihr  ^u- 
theilen  würde.  Nach  meiner  Meinung  will  Philostratus  durch 
die  Worte  Ix  y.eat]fißQCug  nur  das  Wunderbare  des  ganzen 
Vorgangs  steigern:  in  der  hellsten  Tageszeit  zieht  die  Nacht 
heraul". 

7 


98 

die  auf  die  Erde  fliessende  Sonnenscheibe  ist  mythisch  aus- 
gedrückt der  herabstürzende  Phaethon.  Philostratus  verfährt 
also  wie  der  Dichter,  welcher  wechseln  kann  zwischen  dem 
Naturobject,  der  Sonne,  und  dem  in  demselben  wirkenden 
Gott,  dem  Helios,  der  hier  durch  den  Phaethon  vertreten  wird. 
Ob  und  wie  dies  zu  malen  sei,  darüber  macht  sich  der  Rhe- 
tor  keine  Sorge ;  wer  es  versucht,  erhält  ein  Bild,  in  welchem 
mythische  und  elementare  Vorgänge,  die  beide  dasselbe  be- 
deuten, in  bunter  Unordnung  gemischt  sind. 

Uns  ist  der  Sturz  des  Phaethon  nur  auf  plastischen  Mo- 
numenten erhalten  5  es  ist  aber  nach  den  obigen  Ausführun- 
gen wol  nicht  zu  bezweifeln,  dass  auch  der  Maler  alles  Ele- 
mentare in  menschUcher  Gestalt  dargestellt  haben  würde. 


Den  Schluss  bilde  das  schon  erwähnte  Gemälde  des 
Hippolyt,  welches  ebenfalls  in  der  Behandlung  der  äussern 
Natur  einen  dichterischen,  nicht  künstlei'ischen  Character  trägt. 
Nur  handelt  es  sich  hier  nicht  darum ,  ob  der  Künstler  das 
Unpersönliche  ohne  es  zu  verändern,  ohne  es  zu  anthropo- 
morpliisiren  beseelen  könne,  wie  es  der  Dichter  vermag, 
sondern  darum ,  wie  weit  er  vermittelst  der  Personifikation 
dem  Dichter  in  der  Beseelung  des  Unpersönhchen  folgen 
kann  und  darf.  Auf  dem  Bilde  nämlich  trauern  um  Hippolyt 
mehrere  auffallende  Naturpersonifikationen,  die  allerdings  dem 
Rhetor  ein  Recht  geben  zu  der  Bemerkung,  das  Gemälde 
selbst  habe  eine  poetische  KlagQ  um  den  getödteten  Jüng- 
ling angeordnet.  Die  Bergwarten ,  so  heisst  es ,  als  Frauen 
gebildet  zerfleischen  ihre  Wangen,  die  Wiesen  in  der  Gestalt 
blühender  Jünglinge  lassen  ihre  Blumen  welken  und  die 
Nymphen  aus  den  Quellen  hervorragend  zerraufen  ihr  Haar 
und   lassen  Wasser  ihren  Brüsten    entsti'ömen^).     Wer  fühlt 


1)  Mehrere  Irrthümer  Welcker's  berichtigt  O,  Jahn  Beitr.  jj.  329  f. 
und  hebt  auch  das  Auffallende  in  der  Erscheinung  der  Nym- 
phen hervor. 


99 

sich  nicht,  indem  er  dies  liest,  in  einen  Dichter  versetzt?* 
Wer  erinnert  sieh  nicht  der  Adonisklage  des  Bion,  wo  die 
"Waldnymphen,  wo  Berge,  Eichen,  Flüsse  und  Quellen  den 
Adonis  beweinen  V  oder  des  dem  Moschus  zugeschriebenen 
Klagliedes  auf  den  gestorbenen  Bion  und  mancher  andern 
bei  spiUern  Dichtern?  Wer  aber  könnte  auch  nur  eine  ein- 
zige Analogie  aus  dem  gesammten  Denkmälervorrath  an- 
führen ? 

Das,  woran  ich  Anstoss  nehme,  sind  die  personificirten 
Wiesen  und  Bergwarten,  80  sehr  kann  die  Natur  von  dem 
Künstler  nicht  specialisirt  werden  \  die  Kunst  kann  nicht  jede 
Einzelheit  einer  Lokalität  anthropomorphisiren ,  theils  weil 
die  Mittel  ihrer  Charakteristik  nicht  ausreichen  würden,  be- 
sonders aber  desswegen,  weil  sie  nur  demjenigen  eine  selbst- 
ständige Gestalt  geben  kann,  das  auch  in  der  Wirklichkeit 
sich  als  ein  selbständiges  Wesen  geltend  macht.  Die  Quelle, 
der  Berg  treten  als  selbständige  Dinge  hervor^  auch  die 
Strassen  und  Plätze,  die  von  den  Römern  personiücirt  wer- 
den, aber  die  Wiese  kann  erstlich  nicht  deutlich  genug  cha- 
rakterisirt  werden  —  der  Berggott  in  der  Gruppe  des  farne- 
sischen  Stiers  hat  dieselbe  Characteristik  wie  die  philosti'a- 
tischen  Wiesen  — ,  sodann  aber  ist  sie  nichts  für  sich  Be- 
stehendes, sie  wird  untrennbar  gedacht  von  dem  Erdboden, 
den  sie  bedeckt.  Und  ebenso  ist  die  Bergwarte,  von  deren 
Characteristik  der  Rhetor  aus  gutem  Grunde  schweigt,  als 
ein  unselbständiger  Theil  des  ganzen  Berges  nicht  gesondert 
für  sich  darzustellen.  Der  Dichter  dagegen  kann  in  jede 
Einzelheit  der  Natur  ein  menschliches  Herz  legen.  Sehn  wir 
einmal  zu,  ob  die  in  Bion's  Gedicht  um  Adonis  klagende 
Natur  wol  in  die  Kunst  übergegangen.  Auf  einem  pompe- 
janischen  Bild  erblicken  wir  Aphrodite  mit  Eroten  um  den 
verwundeten  Adonis  beschäftigt,  dann  aber,  „sitzt  unter  einem 
alten  mit  Binden  geschmückten  Baum  eine  Frau,  welche, 
das  Kinn  auf  die  linke  Hand  gestützt,  traurig  und  ernst  die- 
ser Scene   zusieht i)".     Weiter  ist  Niemand    zugegen;    diese 


1)  0.  Jahn  Beitr.  p.  49. 


100 

Frau  entspricht  auf  dem  Bilde  der  ganzen  Summe  der  ein- 
zeln namhaft  gemachten  Naturgegenstände  des  Dichters,  sie 
repräsentirt  das  Lokal  überhaupt  i).  Der  Künstler  also  ver- 
sucht so  wenig  mit  dem  Dichter  zu  rivalisiren,  dass  er  nicht 
einmal  diejenigen  Naturpersouifikationen  anwendet,  die  seiner 
Kunst  möglieh  sind.  Denn  er  konnte  den  Berg  und  die 
Quelle  personificirt  einführen,  aber  er  fing  gar  nicht  an  zu 
speciaJisiren ,  er  fasste  lieber  die  ganze  Natur  in  einer  Figur 
zusammen,  als  dass  er  ein  paar  sijecielle  Personifikationen  dar- 
stellte, die  nolhwendig  den  Gedanken  an  die  fehlenden  nicht 
darstellbaren  erwecken 2),  Der  Dichter  dagegen  würde  sehr 
frostig  sein,  der  nicht  specialisirte ;  gi-ade  durch  die  sich 
drängende  Fülle  der  Einzelheiten  erhalten  wir  die  Vorstellung, 
dass  eine  grosse  Klage  durch  die  ganze  Natur  gehe. 

Die  Bergwarten  und  "Wiesen  des  Philostratus  also  sind 
dichterische  Personifikationen;  die  Erklärer  weisen  die  Stel- 
len nach,  woher  sie  entlehnt  sind. 

Solche  Bilder  wie  das  besprochene  sind  es  vornehmlich, 
mit  welchen  man  den  berühmten  Satz  des  Simonides ,  dass 
die  Malerei  eine -stumme  Poesie  und  die  Poesie  eine  redende 
Malerei  sei,  zu  begründen  sucht ^).  Es  ist  wahr,  wenn  man 
die  Beschreibungen  der  Philostrate  von  wirklichen  Bildern 
entnommen  glaubt,  so  sind  sie  Beweise  für  diesen  Satz,  den 
Lessing  als  einen  Einfall  bezeichnet,  dessen  wahrer  Theil  so 
einleuchtend  sei,  dass  man  das  Unbestimmte  und  Falsche, 
welches  er  mit  sich  führe,  übersehen  zu  müssen  glaube. 
Lessing  hatte  Recht;  der  Satz  ist  —  auch  ganz  abgesehen 
davon,  dass  mit  den,  philostratischen  Bildern  seine  wesent- 
lichste Stütze  fällt  —  ein  Einfall  des  Simonides,  nur  kein 
ganz  zufälhger,  sondern  sehr  begreiflich  nach  der  Natur  die- 


1)  Es  ist  bekannt,  dass  dieses  Verfahren  das  übliche  ist. 

2)  Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  dass  nicht  auch  noch  andre 
Gründe,  z.  B.  die  Verdunkelung  der  Hauptpersonen,  dem 
Künstler  das  Maasshalten  in  solchen  untergeordneten  Figuren 
zur  Pflicht  machen. 

3)  Man  sehe  besonders  die  oben  angeführte  Schrift  von  Toelken, 


10t 

ses  Dicliters.  Betrachten  wir  zuerst  die  zweite  Hälfte  des- 
selben, dass  die  Poesie  eine  redende  Malerei  sei  —  kann 
wol  etwas  Falscheres  ausgesagt  werden  von  der  griechischen 
Poesie  im  Allgemeinen?  Es  mag  nicht  unrichtig  sein  von 
Earipides,  dessen  poetischer  Character  die  Notiz  begreiflich 
macht,  dass  er  in  seiner  Jugend  Maler  gewesen;  wer  aber 
möchte  dies  behaupten  von  einem  Aeschylus !  Wenn  dieser 
mit  ein  paar  ergreifenden  Versen  den  Opfertod  der  Iphigenie 
schildert,  so'  wendet  jener  deren  sechzig  auf  zu  dem  Tod  der 
Pol3xena.  Wer  möchte  dies  ferner  von.  einem  Pindar  behaup- 
ten, der  oft  nur  ein  einziges  Wort  zu  einem  ganzen  Bilde 
verwendet^)!  Dagegen  hat  kein  Dichter  so  \veiche  schöne 
Ausführlichkeit  als  eben  der  Urheber  jenes  Satzes  ^j.  Simo- 
nides war  Meister  in  zarten  ausmalenden  Schilderungen  und 
auch  uns  sind  bestätigende  Bruchstücke  erhalten  5  eben  darum 
ist  es  wol  nicht  gewagt,  wenn  wir  seinen  Satz  als  einen 
Ausdruck  seiner  individuellen  dichterischen  Art  ansehen.  Und 
was  die  zweite  Behauptung  betrifft,  dass  die  Malerei  eine 
stumme  Poesie  sei  —  was  hatte  denn  Simonides  für  Gemälde 
vor  Augen,  als  er  so  sprach?  Er  kannte  wol  die  des  Poly- 
gnot,  für  dessen  Zerstörung  Troja  s  er  das  Epigramm  schrieb, 
aber  gerade  diese  Malerei  scheint^  so  weit  wir  urtheilen  kön- 
nen, wenig  geeignet  gewesen  zu  sein,  mit  ausmalender,  schil- 
dernder Poesie  im  Sinne  des  Simonides  verglichen  zu  wer- 
den. Denn  die  ganze  äussere  Natur,  die  der  Dichter  detail- 
lirt  schildert,  war  bei  Polygnot  nur  vertreten  durch  symbo- 
lische Andeutungen.  — 


J )  Was  Homer  betrifft,  so  liat  W.  v.  Humboldt  in  den  Betrach- 
tungen über  Hermann  und  Dorothea  sehr  tief  und  wahr  be- 
merkt, Homer  habe  mehr  Form  als  Colorit. 

2)  Nur  nicht  in  denjenigen  Epigrammen ,  die  sich  auf  grosse 
politische  Ereignisse  beziehen,- worüber  sehr  gut  Schneidewin 
Simon.  Cei  reliq.  p.   135  seqq.  handelt. 


V. 


Eine  sehr  grosse  Anzahl  von  philostratischen  Bildern 
zerfällt  in  mehrere  Scenen ,  deren  jede  dieselben  Figiu'en, 
nur  in  verschiedner  und  zwar  fortschreitender  Aktion  dar- 
stellt. In  den  meisten  Fällen  sind  die  einzelnen  Scenen  deut- 
lich von  einander  zu  trennen,  manchmal  aber  fliessen  sie 
so  zusammen,  das?  eine  Trennung  unmöghch  ist.  "Wir  be- 
trachten den  ersten  Fall  zuerst. 

Das  Bild  des  Penthens  (Sen.  I,  18)  stellte  die  Zerreis- 
sung  desselben  auf  dem  Kithäron  dar  und  daneben  in  einer 
zweiten  Scene  die  Zusammenfügung  des  zerrissenen  Körpers 
durch  die  Angehörigen  in  Theben  M-  Auf  einem  andern 
Bilde  (Sen.  II,  2)  erblicken  wir  den  kleinen  Achill,  Jagd- 
beute zu  seinem  Erzieher  Chiron  schleppend  und  daneben 
denselben  Achill,  auf  dem  Rücken  des  Centauren,  das  Reiten 
lernend.  Die  Kämpfe  des  Herkules  mit  Antaeus  und  Ache- 
lous  (Sen.  II,  21.  Jun.  4)  waren,  -wie  wir  schon  oben  sahen, 
als  bevorstehend  und  bereits  entschieden  dargestellt  und  auch 
der  „Herkules  unter  den  Pygmäen"  (Sen.  H,  22)  bereift, 
wie  einem  genauen  Leser  nicht  entgehen  wird,  zwei  Scenen 
in  sich,  hier  den  schlafenden  Herkules,  den  die  P3'gmäen 
angreifen,  dort  den  erwachten  Herkules,  der  die  Feinde  in 
seine  Löwenhaut  steckt. 


1)  Welcker  nimmt  hier  zwei  getrennte  Bilder  an,  anderswo 
wie  Sen.  II,  2.  21  zwei  getrennte  Scenen,  obwohl  die  Fälle 
ganz  dieselben  sind.  Diese  willkürliche  Behandlung  des  Tex- 
tes, wornach  das,  was  der  Rhetor  unter  einem  Titel  berich- 
tet, bald  in  verschiedene  Bilder,  bald  in  verschiedene  Scenen 
zerlegt  wird ,  ist  wieder  veranlasst  durch  die  Voraussetzung, 
dass  den  Bildern  Wirklichkeit  entspreche. 


103 

Die  aufgezählten  Beispiele  werden  genügen :  gerade  dies 
ist  nun  der  Punkt,  den  man  schon  im  vorigen  Jahrhundert 
gegen  Philostratus  gehend  machte.  Man  vermisste  die  Ein- 
heit in  seinen  Bildern._  Betrachten  wir  zunächst,  wie  man 
ihn  rechtfertigt  oder  rechtfertigen  kann  durch  Analogien  er- 
haltener Denkmäler.  Denn  für  die  Wiederholung  einer  und 
derselben  Figur  in  einem  Raum  lässt  sich  eine  nicht  kleine 
Anzahl  von  Beispielen  aufzählen,  und  zwar  nicht  bloss  von 
Sarkophagen,  die  man  schon  verglichen  hat;  nur  fragt  sich, 
ob  diese  Beispiele  den  philostratischen  analog  sind^). 

Auf  ein  paar  rothfigiu-igen  Schaalen^)  —  um  mit  der 
Vasenmalerei  zu  beginnen  — ,  an  jeder  Seite  der  Schaale,  ist 
Theseus' doppelt  dargestellt  in  verschiedner  Aktion,  jede  Seite 
zerfällt  also  in  zwei  Scenen  mit  Wiederholung  einer  und  der- 
selben Figur.  Ebenso  wiederholt  sich  auf  dem  obern  Bild 
schwarzfiguriger  Hydiien  Pallas  in  Kampfscenen^).  Zwar 
hat  man  in  dem  letzten  Fall  zwei  ^•erschiedene  Minerven 
nach  Maassgabe  des  in  der  Mythologie  dieser  Göttin  hervor- 
tretenden Duahsmus  dargestellt  finden  wollen,  allein  auch 
ajjgesehen  von  der  Analogie  der  erwähnten  Darstellungen 
des  Theseus,  den  man  consequenterweise  ebenfalls  als  einen 
in  sieh  mythologisch  verschiedenen  auffassen  müsste,  so  fehlt 
jeder  Beweis,    dass   der  Maler,    auf  dessen   Anschauung    es 


1)  Die  reia  ornamentarische  Vervielläliigung,  wie  wenn  sich  auf 
einer  Berliner  Schaale  mit  Reliels  (n.  1646)  ganz  nach  Art 
der  schwarzen  clusinischen  Gelasse,  dieselbe  Vorstellung  — 
das  Schiff  des  Odj^sseus  —  viermal  wiederholt,  gehört  natür- 
lich nicht  hierher. 

2)  Gerhard  Auserles.  V.  III,  232—234.  Vgl.  die  schwarzfigurige 
Schaale  in  München  n.  418  in  Jahn's  Catalog. 

3)  El.  ceram.  I,  90  und  Mus.  Gregor.  II,  tav.  7.  Das  dritte  Bei- 
spiel, von  Gerhard  in  Annali  VII  p.  38  f.  beschrieben,  steht 
denjenigen  Fällen  näher,  wo  Vorderseite  und  Rückseite  eines 
Gefässes  dieselbe  oder  nur  leise  verschiedene  Darstellung 
enthalten.  Das  Bild  nämlich  läuft  um  ein  Gefäss  in  Lekythen- 
form  herum  und  die  Scenen,  in  denen  Pallas  erscheint,  sind 
durch  eine  Mittelgruppe  getrennt. 


104 

doch  aliein  anliommt,  eine  Versciiiedenheit  der  beiden  Göttin- 
nen beabsiclitigte.  Er  unterschied  sie  durchaus  nicht,  die 
eine  ist  eine  kämpfende  Pallas  so  wie  die  andere,  es  heisst 
also  willkürlich  hineintragen ,  wenn  man  von  verschie- 
denen Grotlheiten  spricht;  vielmehr  wiederholt  sich  eine 
und  dieselbe  Gottheit'). 


4)  Was  über  die  „doppelte  Minerva"  auf  Kunstwerken  von  Iran- 
zösiscben  Archäologen  geschrieben  ist,  glaube  ich  unberück- 
sichtigt lassen  zu  dürfen,  ich  begnüge  mich  mit  einigen 
Gegenbemerkungen  gegen  Gerhard's  achtes  Winckelmanns- 
programm:  Zwei  Minerven.  Das  dort  mitgetheilte  Relief 
eines  Spiegelgehäuses  stellt  eine  Minerva  ornamentarisch 
wiederholt  dar,  nicht  zwei  wesensverschiedenc  Minerven.  Und 
zwar  ist  es  die  kriegerische  Göttin,  die  Pallas,  die  hier  dar- 
gestellt ist;  die  eine  der  beiden  Figuren  hat  Schild  und  Speer 
so  wie  die  andre.  Gerhai'd  findet  zwar,  dass  die  Figur  zur 
Linken  dadurch,  dass  sie  den  Speer  in  der  linken  Hand  hat, 
als  „friedliche,  Schirmgöttin'"  bezeichnet  sei,  „der  ihre  den 
Spee^^in  der  Rechten  haltende  Gefährtin  als  streitbare  Trutz- 
göttin gegenübersitzt.''  Aber  —  abgesehen  davon,  dass  man 
eine  friedhche  Göttin  ganz  ohne  die  Geräthe  des  Krieges 
denkt  —  was  Gei-hard  aus  mythologischen  Gründen  herleitet, 
erklärt  sich  nach  meiner  Ansicht  auf  die  einfachste  Weise 
aus  einem  Gruppirungsprincip.  Wenn  ein  Künstler  zwei  Fi- 
guren zu  einer  Gruppe  zusammenstellt,  so  dürfen  die  gleichen 
Glieder  nicht  das  Gleiche  thun,  sonst  erscheint  die  eine  Figur 
wie  die  Wiederholung  der  andern  und  die  Gruppe  fällt  aus- 
einander. Vielmehr  müssen  die  entgegengesetzten  Glieder 
das  Gleiche  oder  Aehnliche  thun,  dann  schliesst  sich  die 
Gruppe  zur  Einheit  zusammen  (vgl.  meinen  Aufsatz  in  der 
Archaeol.  Ztg.  v.  1859  p.  67  ff.).  So  ist  es  hier;  der  linke 
Arm  der  einen  Figur  thut  das,  was  der  rechte  der  andern 
und  umgekehrt.  Dazu  kommen  dann  in  unserm  Fall  die 
Raumverhältnisse.  Wie  konnten  wol  die  Speere  und  Schilde 
anders  angebracht  werden,  als  wie  sie  angebracht  sind? 
Uebrigens  könnte  ich  die  von  Gerhard  vorausgesetzte  Sym- 
bolik auch  an  sich  nicht  anders  als  höchst  unverständlich 
nennen,  denn  ist  es  für  den  kriegerischen  oder  friedlichen 
Character  einer  Figur  nicht  ganz  gleichgültig,  ob  sie  mit  der 


105 

Dies  sind  die  mir  bekannt  gewordenen  siehern  Beispiele 
der  Vasenmalerei.  Angenommen  ist  die  Wiederholung  einer 
Figur  in  einem  Raum  noch  sonst,  es  geschah  aber  aus  flüch- 
tiger Betrachtung  der  Denkmäler'). 

Die  Theilung  einer  Fläche  in  zwei  Soenen  mit  Wieder- 
holung einer  und  derselben  Figur  findet  sich  also  auf  Schaa- 
len  und  an  dem  schaalenförmig  gebogenen  Hals  —  ich 
müsste  genauer  sagen,  auf  der  Schulterfläche  —  von  Krügen, 
nicht  am  Bauch  der  Gefässe.  Sollte  das  zufällig  sein?  Ich 
glaube  nicht,  und  die  Begründung  dieses  Unterschiedes  wird 
mich  eben  auf  das  führen,  was  ich  beweisen  will,  dass  es 
von  der  Art  des  zu  füllenden  Raumes  abhängt,  ob  sich  eine 
und  dieselbe  Figur  wiederholen  darf  Auf  Schaalen  herrscht 
nämlich  ein  andres  Compositionsprincip  als  auf  Krügen.   Die 


linken  oder  rechten  Hand  den  Speer  aufstützt?  Die  zweite 
Verschiedenheit  der  beiden  Minerven  soll  dann  die  Andeutung 
der  Schlange  sein,  auf  welcher  die  Hand  der  einen  .,zu  ruhen 
scheint".  Hierüber  entscheide  ich  nach  der  Abbildung  nicht, 
wo  die  Schlange  nicht  eben  deutlich  ist;  jedenfalls  durfte  ein 
so  unsicherer  Thatbestand  nicht  zum  Stützpunkt  von  Ver- 
muthungen  gemacht  werden,  die  ich  übrigens  auch  dann  noch 
bestreiten  würde,  wenn  sich  die  Schlange  als  wirklich  v,or- 
handen  herausstellen  sollte.  —  Dann  bleiben  noch  zwei 
schwarzfigurige  Vasen  über,  wo  sich  Pallas  in  einer  Scene 
wiederholt.  Beide  stellen  die  Einführung  des  Herkules  bei 
Zeus  dar;  die  eine  ist  abgebildet  in  Gerhard's  Programm  n.  2, 
die  andere  ebendas.  Anm.  10  und  Arch.  Ztg.  IV,  305  be- 
sprochen. Auch  hier  sind  die  beiden  Minerven  entweder  ganz 
gleich  oder  durch  so  unbedeutende  Verschiedenheiten  getrennt, 
dass  man  um  so  weniger  an  wesensverschiedene  Göttinnen 
denken  darf,  als  die  Darstellungen  flüchtigen  archaischen 
Vasen  angehören.  Grade  der  Character  dieser  Monumente 
lasst  mich  glauben,  dass  die  zweite  Minerva  ohne  weiteres 
Nachdenken  zur  Raumausfüllung  hinzugefügt  sei. 
1)  Dahin  gehört  die  Archemorusvase,  worüber  in  meiner  Schrift 
über  Praxiteles  u.  s.  w.  p.  124  gesprochen  ist,  sodann  die 
Vase  Lamberg  II,  4  wo  sich  nach  der  Meinung  des  Erklärers 
Hermes  dreimal  wiederholt. 


106 

Gruppining  um  einen  Mittelpunkt  ist  den  letzteren,  nament- 
lich im  rolhligungen  Stil,  eigen,  aber  die  Auflösung  einer 
Figurenreihe  in  kleine,  von  einander  getrennte  Gruppen  ist 
das  herrschende  Compositionsprincip  der  Schaalen.  Man  be- 
trachte nur,  was  für  Darstellungen  auf  den  Schaalen  so 
häufig  sich  finden.  Es  sind  Kämpfe  von  Göttern  und  Gi- 
ganten, in  denen  sich  je  ein  Gott  und  Gigant  zu  einer  Gruppe 
zusammenzuschliessen  pflegen,  ferner  Göttergelage,  wo  Paar 
hinter  Paar  sitzt,  besonders  aber  Darstellungen  des  täglichen 
Lebens,  palästrische ,  zart  verschämte  Liebesscenen  u.  s.  w., 
wo  man  durchgehends  kleine,  in  si^h  abgeschlossene  Grup- 
pen, nicht  die  Richtvmg  auf  einen  Mittelpunkt  finden  wird^). 
Es  kommen,  das  weiss  ich  allerdings,  auch  concentrisch 
gruppirte  Darstellungen  auf  Schaalen  vor,  aber  wenn  man, 
wie  das  für  solche  Untersuchungen  nöthig  ist,  die  ganze 
Masse  des  Erhaltenen  vergleicht,  so  zeigt  sich  eine  ganz  ent- 
schiedene Vorliebe  für  die  Auflösung  in  kleine,  getrennte 
Gruppen.  Diese  Thatsache  erkläre  ich  mir  so :  Das  Bild 
einer  Schaale  —  es  M-ird  aus  dem  Vorhergehenden  deutlich 
sein ,  dass  ich  nur  die  Aussenbilder  meine  —  ist  wegen  der 
Form  des  Gefässes  nicht  gut  mit  einem  Blick  zu  übersehen, 
man  muss  die  Schaale  in  der  Hand  drehen  und  nach  einan- 
der die  Figuren  betrachten ;  das  Bild  am  Bauch  eines  Kruges 
dagegen  übersieht  man  mit  eiifem  Blick.  Diese  Verschieden- 
heit, glaube  ich,  erklärt  die  Verschiedenheit  der  Composition. 
Weil  der  für  das  Aussenbild  der  Schaale  bestimmte  Raum 
nicht  mit  einem  Blick  ganz  zu  übersehen  ist,  darum  vermied 
man  auf  Schaalen  die  centralisirte  Darstellung,  die  auf 
einen  BHck  berechnet  ist;  es  ist  ein  neues  Beispiel  für  das 
feine  Gefühl  in  der  Anpassung  von  Bild  und  Raum,  das  sich 
überall   in    der    griechischen   Kunst    offenbart^).     Eben    aus 


[)  Für  den  Vasenkenner   wird   es   der  Beispiele  nicht  bedürfen; 

indess    vgl.  z.  B.    den   vierten  Band   von  Gerhard's  Auserles. 

Vasen,  der  reich  an  Schaalen  ist.  " 

2)  Es  ist  etwas  ganz  AehnJiches,  wenn  wir  die  Tempelbrunnen 

gern  mit  processionsähnlichen  Zügen  geschmückt  finden.   Der 


107 

diesem  Grunde  ist  es  zu  erklären ,  wenn  wir  die  Wieder- 
holung einer  und  derselben  Figm-  nur  auf  Schaalen  oder 
schaalenförmig  gebogenem  Raum,  niciil  am  Bauch  eines  Kru- 
ges finden.  Fände  es  sich  auch  hier,  man  müsste  es  (adeln, 
indem  ein  Raum,  den  wir  mit  einem  Blick  übersehen,  da- 
durch zertheilt  AAürde,  so  dass  Bild  und  Raum  nicht  mehr 
in  einem  nothwendigen  Verhältniss  zu  einander  ständen. 
Aber  keinen  Anstoss  hat  die  Wiederholung  des  Theseus  auf 
den  oben  erwähnten  Sehaalen  ;  wir  sehen  wegen  der  beson- 
dei-n  Art  des  Raumes  die  beiden  Figuren  nicht  zugleich, 
sondern  nacheinander  •), 

In  der  Gremäldehalle  zu  Athen  befand  sich  ein  W'and- 
gemälde  des  Polygnot,  welches  die  marathonisehe  Schlacht 
darstellte.  Es  zerfiel  in  drei  Scenen  2)  •  man  sah  den  Beginn 
des  Kampfes,  den  Moment  der  Entscheidung  und  die  Flucht 
der  Barbaren.  Aeusserst  wahrscheinlich  scheint  mir,  dass 
sich  in  diesen  drei  Scenen  Figuren  wiederholten:  ich  kann 
mir  den  Miltiades  Aveder  in  der  Entscheidung,  noch  in  der 
Verfolgung  fehlend  denken.  War  es  so,  dann  würde  wieder 
der  Raum  die  Wiederholung  einer  oder  irfehrerer  Figuren 
rechtfertigen-  Das  Bild  war  ohne  Zweifel  von  grosser  Län- 
genausdehnung und  konnte  daher  nicht  mit  einem  Blick  über- 
sehen werden.  Die  Wiederholung  war  daher  eben  so  wenig- 
auffällig,    wie   in  neueren  Bildern  von  ähnlicher  Form.     Auf 


Raum  ist  nur  nach  und  nach  zn  betrachten  und  so  entspricht 
ihm  eine  Darstellung,  die  nicht  auf  einen  Blick  berechnet 
ist  und  beliebig  verlängert  werden  kann,  weil  sie  kein  Cen- 
trum hat.  Zu  vergleichen  sind  auch  die  büchsenförmigen 
Gelasse  ohne  Henkel,  um  welche  sich  auch  in  ununterbroche- 
ner Folge  Figuren  herumziehen  ohne  Beziehung  auf  einen 
Mittelpunkt.  Vgl.  z.  B.  die  Bacchantinnen  bei  Stackeiberg 
Grab,  d    Hell.  Taf.  24. 

1)  Dies  gilt  begi'eiflicherweise  nicht  bloss  von  bemalten  Schaa- 
len. Man  vgl.  die  albanische  Marmorschaale  mit  den  zwölf 
Thaten  des  Herkules  bei  Zoega  bassiril.  I,  62.  63. 

2)  Wie  Böttiger  Archaeol  d.  Malerei  p.  249  Anm.  und  Brunn 
Gesch.  d.  griech.  Künstl.  II.  p.  21  mit  Recht  bemerken. 


108 

einem  Bilde  des  Pinturicchio  z.  B. ,  das  sich  im  Museum  zu 
Berlin  befindet,  ist  die  Geschichte  des  Tobias  in  drei  fort- 
schreitenden Momenten  dargestellt.  Das  Bild  ist  von  einer 
friesartigen  Gestalt,  von  grosser  Längen-  und  gennger  Breiten- 
ausdehnung und  so  wird  Niemand  Anstoss  nehmen. 

Eben  dasselbe  gilt  von  einer  Gattung  plastischer  Monu- 
mente, von  den  Sarkophagen.  Ein  so  schmaler,  langge- 
streckter Raum  wie  die  Langseite  eines  Sarkophags,  taugt 
nicht  für  eine  centralisirte  Darstellung;  das  Auge  übersieht 
ihn  nicht  mit  einem  Mal,  es  war  daher  natürlich,  ihn  mit 
successiv  auf  einander  folgenden  Seenen  zu  bedecken.  Nur 
müssen  sich  die  Seenen  klar  sondern,  und  es  dürfen  ihrer 
nicht  zu  viel  sein ,  weil  eine  so  starke  Zerstückelung  des 
Raums  wieder  willkürlich  erscheinen  muss').  Man  darf  sagen, 
dass  sich  in  der  von  den  Sarkophagen  befolgten  Regel,  die 
Fläche  in  drei  Seenen  zu  zerlegen,  ein  richtiges  Gefühl  offen- 
bart, zumal  da,  wo  sich  die  Mittelgruppe  durch  Ausdehnung 
etwas  hervorhebt  vor  zwei  gleich  langen  Seitengruppen. 
Denn  diese  Dreitheilung  ist  die  künstlerisch  allein  natürliche; 
die  Theilung  in  grade  Zahlen  muss  vermieden  werden ,  weil 
sie  das  Ganze  in  Hälften  auseinanderfallen  lässt;  eine  Thei- 
lung in  fünf  Felder  aber  würde  nicht  im  Verhältniss  stehn 
zu  der  Länge  des  Raums,  würde  den  Raum  auf  unangenehme 
"Weise   zerstückeln. 

Endlich  ist  noch  ein  merkwürdiges,  nicht  mehr  erhalte- 
nes Giebelfeld  zu  erwähnen,  in  welchem  sich  eine  und  die- 
selbe Figur  nicht  weniger  als  elfmal  wiederholte.  Praxiteles 
bildete  elf  Thaten  des  Herkules  für  das  Giebelfeld  des  diesem 
Heros  geweihten  Heiligthums    in  Theben  2).     Dies  Verfahren 


1)  Am  weitesten  geht  hierin,  von  den  Herkulessarkophagen  abge- 
sehen ,  die  in  sechs  Seenen  zerlallende  Sarkophagdarstellung 
von  Protesilaus  und  Laodamia  bei  Winckehnann,  Mon. 
Ined.  123. 

2)  Overbeck  will  zwar  in  seiner  Gesch.  d.  griech.  Plastik  I,  226  f. 
in  dem  Text  des  Pausanias  9,  11,  6  eine  Lücke  annehmen 
und   die   elf  Athlen    in  die   Metopen    verweisen.     Allein    von 


109 

widerspricht  allerdings  der  in  den  meisten  Fällen  beobachte- 
ten Sitte,  das  Giebelfeld  mit  einer  centrahsirten  Gruppe  aus- 
zufüllen 1)    und  es  kann  nicht  geläuguet   werden ,    dass  das- 


alleii  kritischen  Bedenken  abgeselin ,  was  sollen  denn  die 
elf  Atlilen  in  den  Rletopen?  Diese  Zalil  und  die  Weglassung 
der  Reinigung  des  eleisehen  Landes  und  der  stj-mphalischen 
Vögel,  was  in  Relief  ja  ohne  Schwierigkeit  darstellbar  ist, 
beweisen  deutlich  genug,  dass  es  sich  um  freistehende  Statuen, 
nicht  um  Reliefs  handelt.  Sodann  sollte  uns  doch  die  In- 
schrift vom  Erechtheum  lehren,  was  für  Künstler  an  den 
untergeordneten  Stellen  der  Gebäude  arbeiteten. 
1)  Eine  Ausnahme  macht  die  Gruppe  des  Alkamenes  im  hin- 
tern Giebelfeld  des  ol3'mpischen  Zeustempcls.  Paus.  V,  10,  8 
sagt:  xctTct  fiiv  öt]  tov  deTov  tü  /.liGov  IleiQLSovg  iart'  naQ« 
^t  avTov  Tij  fjitv  EvQVTiwv  fjQTiKXMg  Ti]V  yvvaTxä  iari  tov 
77f/oA'/oi',  y.(u  {l/uvrwv  KaivfifS  zw  UtiQl^^ii),  rjj  St  OrjOfi/g 
dfivrö^iut'oi;  mltxti  tov;  KirrauQovg.  Nach  diesen  Worten 
wird  sich  Jedermann  den  Pirithous  eingeschlossen  denken  von 
Eurytion  und  Theseus;  Welcker  dagegen  behauptet  (A.  D.  I, 
186) :  ,,ohne  Zweifel  standKänous  neben  dem  Peirithoos  und  auf 
ihn  folgte  der  Kentaur  mit  Hippodamien,  was  nach  der  Wort- 
stellung des  Pausanias  anders  genommen  werden  könnte." 
„Ohne  Zweifel?"  Wer  so  glaubt,  der  wird  de{n  Pausanias 
etwas  Confusion  und  dem  Alkamenes  eine  grosse  Ungereimt- 
heit zutrauen  müssen.  Denn  wenn  Pirithous  zwischen  zwei 
Gefährten  ,  zwischen  Theseus  und  Käneus  steht,  so  ist  er  ja 
selbst  nicht  unmittelbar  im  Handgemenge,  und  eben  dies, 
dass  der,  dessen  Frau  geraubt  wird,  von  dem  Räuber  getrennt 
und  überhaupt  nicht  am  Leibe  des  Feindes  steht,  das  wäre  doch 
wol  eine  Ungeschickliclikeit,  die  man  Bedenken  tragen  sollte 
einem  griechischen  Bildhauer  zuzutrauen.  Es  kann  daher 
nicht  einmal  anders  gewesen  sein,  als  die  Worte  des  Pausa- 
nias sagen.  Man  stelle  sich  nun  die  Darstellung  vor:  Piri- 
thous ist  nach  der  einen  Seite  hin  mit  seinem  Körper  ge- 
richtet, auf  den  Eurj^tion,  den  er  bekämpft  (dies  geht  aus  dem 
Ausdruck  Kcuvtvg  ci/iivvtov  to}  ITfiQi&oj  hervor):  der  neben 
Pirithous  stehende  Theseus  dagegen  richtet  sich  nach  der  ent- 
gegengesetzten Seite  auf  die  vor  ihm  befindlichen  Centauren. 
Also  zwischen  Theseus    und  Pirithous   klafft    die  Darstellung 


110 

selbe  der  Art  des  zu  füllenden  Raums  niehl  entsprach,  man 
begreift  aber  auch  leicht,  was  den  Künstler  zu  dieser  Anord- 
nung veranlasste.  Es  war  die  Bestimmung  des  Heiligthums^ 
denn  wie  könnte  das  Giebelfeld  eines  Herkulestempels  besser 
ausgefüllt  werden,  als  mit  den  Tliaten  des  Heros  ?  Um  die- 
ses äussern  Zwecks  willen  brachte  Praxiteles  seiner  Kunst 
ein  Opfer;  es  mag  wol  aus  denselben  oder  ähnlichen  Um- 
ständen zu  erklären  sein,  dass  am  Fries  des  Parthenon  die 
Symmetrie  in  auffallender  Weise  verletzt  ist'). 

Nun  wenden  wir  uns  zu  Philostratus  zurück  mit  der 
Frage,  ob  die  besprochenen  Fälle  als  Analogien  für  seine 
in  Scenen  zerfallenden  Bilder  benutzt  werden  können.  Der 
gekrümmte  und  der  lang  ausgedehnte  Raum,  so  sahn  wir, 
veranlasste  in  der  erhaltenen  Kunst  die  AYiederholung  einer 
und  derselben  Figur  in  verschiedenen,  entweder  neuen  oder 
fortschreitenden  Handlungen.     Keiner  dieser  Fälle    pavBst  auf 


auseinander,  das  Ganze  zerfiel  in  Gruppen,  die  Richtung  auf 
den  Mittelpunkt  fehlte  Ist  dies  nun  fehlerhaft ,  da  es  aller- 
dings gegen  die  gewöhnliche  Anordnung  der  Giebelgruppeu 
verstösst?  Vielmehr  ist  es  ein  Beispiel,  wie  die  griechische 
Kunst  ein  im  Allgemeinen  befolgtes  Gesetz  im  einzelnen  Fall 
mit  gutem  Grund  umstösst.  Die  Trennung  in  Gruppen  war 
nothwendig,  um  das  Tumultuarische  des  ganzen  Vorgangs 
zu  characterisiren.  Eine  centralisirte  Gruppe  hätte  Alkamenes 
nur  dann  erreicht,  wenn  er  alle  Centauren  aut  die  eine,  alle  Geg- 
ner auf  die  andere  Seite  gesetzt  hätte,  wie  es  am  Aegineten- 
tempel  ist.  Ich  glaube,  er  that  sehr  wohl  daran,  dass  er 
nicht  so  verfulu".  —  hi  dem  Giebell'eld  eines  Thesaurus  in 
Olympia  (Paus.  6,  19.  13)  war,  wie  an  dem  Zeustempel  in 
Agrigent,  der  Kampf  der  Gitter  und  Giganten  dargestellt. 
Overbeck  muss  nach  seiner  Behauptung,  dass  in  allen  Gie- 
belgruppen ,  die  uns  bekannt  seien ,  mit  Ausnahme  der  er- 
wähnten praxitelischen ,  eine  einheitlich  geschlossene  Hand- 
lung dargestellt  sei,  annehmen,  dass  hier  eine  Trennung  der 
Parteien  nach  den  beiden  Flügeln  des  Giebels  stattfand. 
Ich  muss  das  sehr  bezweifeln,  ich  würde  es  bei  diesem  Ge- 
genstand unnatürlich  finden. 
1 )  Vgl.  Excurs  III. 


111 

den  Philostratiis.  Seine  Bilder  waren  Tafelbilder,  also  Flächen 
wohl  überschaubarer  Arl ,  die  gefüllt  sein  wollen  dai-eh  eine 
einheiüiche  Handlung  und  immer,  soviel  wir  wissen  und  ver- 
muthen  können,  auf  diese  Weise  gefüllt  wurden.  Man  könnte 
sagen,  die  beireffenden  Bilder  des  Philostratus  hatten  vielleicht 
eine  der  Fläche  von  Sarkophagen  entsjDrechende  Gestalt,  wie 
das  oben  ^erwähnte  des  Pinturicchio ,  allein  diese  Form  ver- 
laugt ja  eine  grosse  Anzahl  von  Figuren ,  die  mehreren  jener 
Bilder  abgeht.  Denn  das  Bild,  welches  die  Erziehung  Achills 
darstellte,  enthielt  zwei  mal  zwei  Figuren,  das  des  Antaeus 
fünf.  iVn  Analogien  also  für  dieScenentrennung  der  philostrati- 
schen  Bilder  fehlt  es  ganz  und  gar.  Und  ist  das  Faktum 
wol  an  _sich  zu  begreifen?  Ist  es  nicht  zu  verwundern, 
dass  ein  Maler  den  einheitlichen  überschaubaren  Raum  eines 
Bildes  zertheilen  sollte  durch  eine  doppelte  Scene?  Warum 
nimmt  er  nicht  zwei  Bilder,  so  dass  jede  Scene  ihren  beson- 
deren Raum  hat? 

Aber  man  vertheidigt  den  Philostratus  durch  Analogien 
der  neuern  Kunst  ^).  Es  ist  eine  misshche  Sache  um  eine 
solche  Vertheidigung.  Man  kann  dem  Zweifler  seinen  Ein- 
wand nicht  nehmen ,  es  möge  wol  in  der  alten  Kunst  an- 
ders gewesen  sein.  Und  er  hat  Recht  zu  diesem  Einwand. 
In  Dingen,  die  sich  nicht  von  selbst-  verstehn,  von  der  Kunst 
des  einen  Volkes  auf  diejenige  des  andern  zu  schhessen,  ist 
besonders  nach  dem  heutigen  Stand    der  Wissenschaft  unzu- 


1)  Torkil  Baden  (bei  Welck.  zu  1,  18)  führt  ein  Bild,  angeblich 
von  Michel  Angelo  an,  auf  welchem  der  betende  und  der  die 
Jünger  zum  Wachen  ermahnende  Christus  zusammen  darge- 
stellt waren.  Mir  sind  mehre  Bilder  von  quadrat  er  Form  be- 
kannt, wo  sich  eine  und  dieselbe  Figur  wiederholt  aber  nicht 
auf  demselben  Grund.  Aehnlich  verführ  Gliiberti  in  seinen 
Reliefs  vom  Baptisteriam.  Gleich  in  dem  ersten  sind  die 
Schöpfung  des  Weibes,  das  Leben  im  Paradies  und  die  Ver- 
treibung daraus  zusammengestellt,  so  dass  sich  also  Adam 
und  Eva  dreimal  wiederholen.  Aber  die  einzelnen  Gruppen 
haben  nicht  gleich  hohes  Relief,  wodurch  die  Wiederholung 
einer  und  derselben  Figur  erträglicher  wird. 


112 

lässig.  Wir  können  die  Kunst  eines  Volkes  nicht  anders 
betrachten,  als  wie  wir  nach  Humboldts  Vorgang  seine 
Si)rache  zu  betrachten  gclcrut  haljeu  oder  zu  lernen  anfangen: 
sie  ist  Darstellung  einer  bewondern  Weltanschauung,  Ausdruck 
eines  besondern  Anschauens ,  Denkens  und  Empfindens. 
Humboldt  hebt  an  vielen  Stellen  seiner  Einleitung  die  wun- 
derbare Aehnlichkeit  zwischen  Sprache  und  Kunsi  hervor; 
wenn  wir  nun  denjenigen  tadeln,  der  den  besonderen  Ge- 
brauch einer  Sprache  auch  ohne  Weiteres  für  eine  andere 
Sprache  voraussetzt,  sollen  wir  nicht  auch  den  tadeln,  der 
in  Dingen  der  Kunst  so  verfährt? 

Doch  ich  habe  vielleicht  schon  zu  lange  die  MögHchkeit 
festgehalten,  in  der  wirklichen  Kunst  Analogien  zu  finden 
für  die  Scenentrennung  der  philostratischen  Bilder.  Wenn 
wir  den  Spuren  nachgehn,  die  sich  bei  Philosti-atus  selbst 
finden,  so  werden  wir  bald  einsehn,  dass  Analogien  wirklicher 
Kunst,  aus  welcher  Zeit  sie  auch  stammen  mögen,  gar  nicht 
angeführt  werden  können. 

Bisher  nämlich  hatten  wir  nur  diejenigen  Bilder  im  Auge, 
die  in  zwei  deutlich  tremibare  Scenen  zerfallen.  Nun  aber 
giebt  es  auch  Bilder,  die  nicht  Beschreibungen  von  zwei 
fixirten  Momenten  sind,  sondern  eine  Folge  von  mehreren 
Momenten,  Handlungen  nach  ihrem  ganzen  Verlauf  darstell- 
ten, mit  einem  W'ort  es  giebt  Erzählungen  unter  den 
„Bildern"  des  Philostratus.  Wir  machten  schon  im  Vorher- 
gehenden darauf  aufmerksam  und  das  Folgende  wird  es  mit 
weiteren  Beispielen  bestätigen,  dass  man  bei  den  Figuren 
einiger  Bilder  nicht  wissen  könne,  in  welchem  Punkt  der 
Künstler  sie  dargestellt  habe;  sie  verrichten  nämlich  vor 
unsern  Augen  eine  ganze  Handlung,  in  deren  Verlauf  ihre 
äussere  Erscheinung    nothwendig   wechseln    muss  i).     Eben 


1 )  Vgl.  noch  Scn.  1,12,  wo  Jünglinge  zuerst  jagen  und  dann 
über  den  Bosporus  setzen,  was  freilich  Welcker  längnet,  in- 
dem er  sich  nicht  an  die  Worte  kehrt.  Er  bemerkt  auch 
nicht,  dass  dies  Bild  zwei  Jagdsccnen  enthielt,  gleicli  zu  An- 
fang und  dann  gegen  den  Sehluss,  hinter  der  Ochsenheerde. 


113 

diese  bisher  an  Einzellieiten  einiger  Bilder  hervorgeliobene 
Eigenthümlichkeit  wird  uns  jetzt  als  Eigenlhümlichkeit  gan- 
zer Bilder  entgegentreten. 

Man  lese  zunächst  die  Besehreibung  des  Bildes,  welches 
den  Achill  auf  Skyros  darstellte  (Jun.  1).  Ich  will  0.  Jahn^) 
statt  meiner  sprechen  lassen : 

„Ganz  abweichend  von  allen  auf  uns  gekommenen 
Kunstwerken  ist  das  Gemälde,  welches  der  jüngere  Philo- 
stratos  beschreibt.  Man  sieht  an  einem  Berge  die  Insel 
Skyros  als  eine  Frau  von  gedrungener  Gestalt,  das  Haar  mit 
Schilf  bekränzt,  in  einem  schwarzblauen  Gewände,  in  der 
einen  Hand  einen  Oelzweig,  in  der  anderen  eine  Weinrebe; 
eine  Figur,  welche  die  Gestalt  und  Natur  der  Insel  völlig  be- 
zeichnet. Auch  steht  ein  Thurm  da,  in  dem  die  Jungfrauen 
iin-e  Wohnung  haben,  welche  beschäftigt  sind  auf  einer  Wiese 
Blumen  zu  pllücken,  alle  schön  und  in  Farbe,  Blick  und 
Bewegung  acht  jungfräulich,  bis  auf  Achilleus,  der  durch  das 
sich  sträubende  Haar  und  den  kühnen  Blick  die  männhche 
Natur  verräth,  welche  er  bald  ganz  offenbaren  wird.  Denn 
Odysseus  und  Diomedes  sind  gegenwärtig,  jener  durch  sei- 
nen forschenden  Blick,  dieser  durch  den  Ausdruck  von  Keck- 
heil kenntlich,  hinter  ihnen  steht  ein  Manu ,  welcher  in  die 
Trompete  stösst.  Auf  der  Wiese  ■  aber  sind  neben  Körben 
und  anderen  Geschenken,  wie  sie  für  Jungfrauen  bestimmt 
sind,  auch  Waffen  hingestreut;  die  Mädchen  eilen  nach  jenen, 
Achilleus  aber  stürzt  auf  die  Waffen  zu  und  verräth  sich 
dadurch." 

„Es  ist  schwer  aus  dieser  Beschreibung  zu  entnehmen, 
welcher  Moment  eigentlich  dargestellt  gewesen  sei ,  weil  die 
Beschreibung  des  Gemäldes  fast  ganz  zur  Erzählung  gewor- 
den ist.  So  muss  man  eigenthch  annehmen,  dass  zwei  ver- 
schiedene Scenen  dargestellt  waren,  wie' die  Jungfrauen  und 
mit  ihnen  Achilleus  Blumen  pflücken,  und  dann  wie  sie  nach 


Es  ist  ein    characteristisclies  Beispiel    für    das    gedankenlose 
Hinschreiben  des  Rhetors. 
1)  Arch.  Beitr.  p.  372. 


114 

den  Geschenken  greifen.  Allein  Philosh'atos  hat  doch  diese 
Scenen  nicht  genau  von  einander  gesondert,  sondern  sie  viel- 
mehr in  eine  einzige  Vorstellung  zusammengezogen,  so  dass  es 
nun  schwerlich  zu  entscheiden  ist ,  in  welches  Verhältniss 
der  Hauptmoment  und  die  Nebenumstände  zu  einander  ge- 
setzt waren. *•' 

Weini  ich  statt  der  Worte:  „die  Beschreibung  ist  iast 
ganz  zur  Erzählung  geworden" ,  denen  die  Voraussetzung 
der  Wirkhchkeit  zu  Grunde  Hegt,  sagen  darf:  das  ,,Bild"  ist 
eine  Erzählung,  nicht  eine  Beschreibung,  so  ist  das  Alles, 
was  ich  hinzuzufügen  habe. 

Was  aber  von  diesem  Bilde  gilt,  das  gilt  in  noch  höhe- 
rem Maasse  von  der  „Geburt  des  Hermes^'-  beim  altern  Phi- 
lostratus  (I,  26).  Wir  wollen  die  Erzählung  des  Rhetors 
ausführlich  mittheilen,  weil  es  wenigstens,  wenn  man  die  Er- 
klärer vergleicht,  den  Anscliehi  hat,  als  könne  gezwei- 
felt werden,  wie  viel  davon  als  wirldich  dargestellt  berich- 
tet werde. 

„Der  ganz  Kleine ,  der  noch  in  den  Windeln  Liegende, 
der,  welcher  die  Ochsen  in  die  Erdspalte  treibt,  ferner  auch 
der,  welcher  das  Geschoss  des  Apollo  raubt,  das  ist  Hermes. 
Sehr  anmuthig  ist  der  Diebstahl  des  Gottes.  Denn  man  er- 
zählt, dass  Hermes,  sobald  er  von  der  Maja  geboren  war, 
Lust  hatte  zum  Stehlen  und  sich  darauf  verstand,  was  er  nicht 
aus  Armuth  that ,  sondern  aus  Heiterkeit  und  Muthwillen. 
Willst  du  aber  seine  Spur  sehn,  so  sieh  das,  was  sich  im 
Gemälde  befindet.  Er  wird  geboren  auf  dem  Gipfel  des 
Olympus,  oben  auf  dem  Sitz  der  Götter.  Dort,  sagt  Homer, 
merke  man  weder  die  Regenschauer ,  noch  höre  man  die 
Winde,  noch  sei  er  je  mit  Schnee  überschüttet  wegen  seiner 
Höhe;  er  sei  vöUig  götthch  uud  frei  von  allen  Leiden,  an 
denen  die  Berge  der  Menschen  Theil  haben.  Des  dort  ge- 
borenen Hermes  warten  die  Hören.  Auch  diese  sind  ge- 
malt, wie  es  die  Zeit  einer  jeden  mit  sich  bringt.  Sie  wickeln 
ihn  in  Windeln,  die  schönsten  Blumen  darüber  streuend,  da- 
mit er  seine  Windeln  nicht  schmucklos  finde.  Und  diese 
wenden  sich  nun  zur  Mutter  des  Hermes,  die  im  Bett  liegt; 


115 

er  aber  aus  den  Windeln  heraussehlüpfend,  kann  schon  gehn 
und  steigt  vom  Olympus  herab.  An  ihm  hat  der  Berg  seine 
Freude,  denn  sein  Lächeln  ist  wie  das  eines  Menschen ;  denk 
dir  den  Olympus  vergnügt,  weil  Hermes  dort  geboren  wurde. 
Welches  ist  nun  der  Diebstahl  ?  Die  Ochsen,  welche  weiden 
am  Fuss  des  Olymps ,  die  da  mit  goldnen  Htirnern  und 
weisser  als  Schnee  —  denn  sie  sind  dem  Apollo  geweiht  — 
führt  er  eilig  in  eine  Erdspalte ,  nicht  damit  sie  zu  Grunde 
gehn ,  sondern  damit  sie  auf  einen  Tag  verschwinden ,  bis 
es  den  Apollo  verdriesse,  und  als  habe  er  gar  keinen  Theil 
an  dem  Geschehenen ,  schlüpft  er  wieder  in  die  Windeln. 
Auch  Apollo  ist  da  bei  der  Maja,  die  Ochsen  zurückfordernd. 
Die  aber  glaubt  es  nicht  und  meint,  dass  der  Gott  Possen 
rede.  Willst  du  auch  wissen,  was  er  sagt  ?  Denn  er  scheint 
nicht  bloss  Laute,  sondern  auch  etwas  von  einer  Rede  durch 
seine  Mienen  zu  offenbaren.  Er  sieht  aus,  als  stehe  er  im 
Begriff  zur  Maja  zu  sagen:  dein  Sohn,  den  du  gestern  ge- 
boren ,  fügt  mir  Schaden  zu.  Denn  die  Ochsen  ,  woran  ich 
meine  Freude  hatte,  hat  er  in  die  Erde  geworfen,  ich  weiss 
nicht  wo.  Er  soll  nun  umkommen  und  tiefer  hinabgeworfen 
\\erden  als  die  Ochsen.  Jene  aber  wundert  sich  darüber 
und  die  Rede  geht  ihr  nicht  ein.  Indem  sie  noch  gegen 
einander  sprechen,  stellt  Sich  Hermes  hinter  Apollo  und  leicht 
den  Rücken  hinaufspringend ,  löst  er  geräuschlos  den  Bogen 
und  stiehlt  ihn  heimlich.  Aber  sein  Diebstahl  blieb  nicht 
verborgen.  Da  zeigt  sich  die  W^eisheit  des  Malers.  Er  er- 
heitert nänüich  den  Apollo  und  stellt  ihn  vergnügt  dar.  Das 
Lachen  aber  ist  gemässigt,  wie  auf  einem  Gesicht,  wo  Ver- 
gnügen den  Zorn  überwindet"  '). 


1 )  Welcker  meint,  nur  der  letzte  Theil,  der  Diebstahl  des  Bogens, 
sei  dargestellt  und  aus  dem  Vorhergelienden  seien  die  Hören 
mit  den  Windeln  —  ohne  das  Kind,  das  sie,  wie  der  Rhetor 
sagt,  einwickeln  —  und  der  Olympus,  der  sich  also  auch 
nicht,  wie  der  Rhetor  sagt,  über  den  vom  Berg  herabsteigen- 
den ,  sondern  über  den  stehlenden  Hermes  freut,  herüberzu- 
nehmen. Man  mag  die  Begründung  bei  ihm  selbst  nachlesen ; 
die  Voraussetzung  der  Wirklichkeit  liegt  wieder    zu  Grunde, 

8* 


116 

Dies  „Bild"'  ist  eine  prosaische  Erzählung  dessen,  Avas 
der  homerische  Hymnus  an  Hermes  enthält.  Will  man  es 
gemalt  denken,  so  sind  etwa  6  — T  Scenen  anzunehmen, 
denn  in  so  viel  verschiedenen  Situationen  erblicken  wir  den 
Hermes  und  mit  ihm  müssten  sich  auch  die  in  seine  Aktion 
verwickelten  Figui-en  wiederholen.  Selbst  dies  aber  wäre 
noch  Willkür  ,  ich  könnte  ebensogut  doppelt  und  dreifach 
soviel  Scenen  annehmen,  es  steht  ganz  in  meinem  Beheben, 
in  wieviel  Theile  ich  die  einheitliche  Linie  der  Handlung 
zerlegen  will.  Mit  einem  Wort,  das  „Bild"  ist  nicht  gemalt 
zu  denken,  es  ist  ein  continuum ,  aus  dem  nur  dieser  oder 
jener  Punkt  vom  Künstler  herausgenommen  werden  kann'). 


und  danach  wird  dies  vom  Text  beibehalten  ,  jenes  verwor- 
fen, ohne  Rücksicht  darauf,  wie  sich's  der  Rhetor  dachte. 
Wenn  es  nöthig  ist,  so  wili  ich  nur  aufmerksam  machen  auf 
den  ersten  Satz,  in  welchem  der  Rhetor  den  Inhalt  des  ganzen 
Bildes  zusaramenfasst,  und  darauf,  dass  die  Geburtsscene  ein- 
geleitet wird  mit  den  Worten :  sieh  das  im  Bilde  Befindliche. 
1)  Der  Rinderdiebstahl  oder  vielmehr  die  Entdeckung  des  klei- 
nen Hermes  ist  sehr  hübsch  dargestellt  auf  einem  Vasenbild 
des  Museo  Gregoriano,  welches  liier  kurz  besprochen  werden 
mag,  weil  sein  Erklärer  (Arch.  Ztg.  II  zu  Taf  20)  es  nicht 
verstanden  hat.  Dieser  meint  nämlich,  die  Höhle  an  der  einen 
Seite  des  Bildes  sei  die  Höhle,  in  welcher  Hermes  geboren 
wurde  und  es  sei  nach  unserm  Bild,  anzunehmen,  dass  die 
gestohlenen  Rinder  nicht  in  Pylos  von  Hermes  verborgen 
wurden,  sondern  ihm  bei  seiner  Rückkehr  nach  Arkadien 
folgten.  Unsre  Scene  spiele  in  K^dlene  ,  und  Apollo  werde 
bei  Maja  (welche  fehlt!)  die  Ausheferung  des  Hermes  for- 
dernd, von  dieser  auf  das  in  den  Windeln  liegende  unschul- 
dige Kind  hingewiesen.  Diesen  Moment  habe  der  Maler  ge- 
wählt. Dass  die  Höhle  zur  Rechten  nicht  die  Höhle  ist,  in 
welcher  Hermes  geboren  wurde  —  ■^^■as  hat  diese  überhaupt 
mit  dem  Bilde  «u  schaffen?  —  sondern  diejenige,  in  welcher 
die  Rinder  verborgen  wurden,  beweist  der  Stier,  der  mit  hal- 
bem Leib  daraus  hervorkommt  und  den  Hermes  beschnüf- 
felt —  ein  gemüfldiches  Motiv,  wie  oft  Aehnliches  auf  den 
Vasen  vorkommt.  Hermes  ist  entdeckt,  Apollo  steht  vor 
ihm    und    macht  ihm  Vorwürfe.     Er  aber  liegt  ganz  ruhig 


117 

Aber,  entgegnet  man,  es  ist  eine  von  den  Dichtern  ent- 
lehnte EigenihümUchkeit  der  Rhetoren ,  dass  sie  das  Kunst- 
werk nicht  als  ein  vollendetes  beschreiben,  sondern  dass 
sie  eine  Handlung,  nicht  einen  Moment  derselben,  sondern 
eine  Handlung  nach  ihrem  Verlauf  zu  erzählen  scheinen. 
Man  verweist  auf  Lessing,  die  Verkeimung  dieser  Eigen- 
thiimlichkeit  sei  der  Grund  gewesen ,  dass  auch  der  ho- 
merische Achillesschild  für  ein  reines  Phantasiebild  gehal- 
ten sei  1). 

Lessing  bemerkt  im  achtzehnten  Abschnitt  des  Laokoon 
zuerst  über  den  homerischen  Achillesschild  im  Allge- 
meinen ,  dass  er  nicht  als  ein  fertiger  vollendeter  wie  der 
AeneassQhild  Virgil's,  sondern  als  ein  werdender  gemalt 
werde 2).  Bei  Homer,  sagt  er,  sehn  wir  nicht  das  Schild, 
sondern  den  göttlichen  Meister,  wie  er  das  Schild  ver- 
fertigt. 

Diese  Bemerkung  Lessing's  kann  von  den  Yertheidigern 
des  Philostralus  nicht  gemeint  sein ,  denn  sie  betrifft  nicht 
die  Darstellungen  auf  dem  Schilde,  sondern  die  Verfertigung 
des  Schildes  selbst. 

Im  folgenden  Abschnitt  bespricht  Lessing  das  auf  dem 
Schilde  Dargestellte.  Mit  dem ,  was  Homer  von  der  fi-ied- 
lichen  Stadt  sae:e,    habe    er   nicht  mehr  als  ein  einziges  Ge- 


in  seinem  Stiefel  und  thut  als  wäre  nichts  geschehn.  Da- 
rin liegt  die  hübsche  Pointe  des  Bildes,  dass  der  kleine 
Schelm  dem  bewegten  Gott  gegenüber  so  ganz  ruhig  harm- 
los daliegt,  ohne  ein  Glied  zu  i'ühren.  Damit  ist  die  Inten- 
tion des  Malers  ausgesprochen,  das  Bild  also  erklärt;  der 
Erklärer  hätte  sich  wirklich  die  Exfjositionen  über  den  My- 
thus sparen  können,  die  ja  gar  nichts  mit  dem  Bild  zu  thun 
haben,  vielmehr,  wie  man  sieht,  die  Ursache  seines  Missver- 
ständnisses sind. 

1)  Jacobs  Proleg  p.  XVI. 

2)  Was  für  Virgil  .  das  gilt  auch  für  das  Herkulesschild  des 
Hesiod.  Dieser  macht  die  Uebergänge  von  einem  Bild  zum 
andern  mit  h'  (V  >i  v  ^  Homer  mit  tv  ä'iTi'd^fi,  iv  cTf  noirjae 
etc.  Dort  also  handelt  es  sich  um  ein  todtes  Sein,  hier  um 
eine  lebendige  Thätigkeit. 


118 

mälde  angeben  wollen:  „das  Gemälde  eines  öffentlichen  Rechts- 
handels über  die  streitige  Erlegung  einer  ansehnlichen  Geld- 
busse für  einen  verübten  Todtschlag.  Der  Künstler,  der 
diesen  Vorwurf  ausführen  soll,  kann  sich  aul  einmal  nicht 
mehr  als  einen  einzigen  Augenblick  desselben  zu  Nutze 
machen ;  entweder  den  Augenblick  der  Anklage ,  oder  der 
Abhörung  der  Zeugen,  oder  des  Urtheilsspruches,  oder  welchen 
er  sonst,  vor  oder  nach,  oder  zwischen  diesen  Augenblicken, 
für  den  bequemsten  hält.  Diesen  einzigen  Augenblick  macht 
er  so  prägnant  wie  möglich,  und  führt  ihn  mit  allen  den 
Täuschungen  aus,  welche  die  Kunst  in  Darstellung  sichtbarer 
Gegenstände  vor  der  Poesie  voraus  hat.  Von  dieser  Seite 
aber  unendlich  zurückgelassen,  was  kann  der  Dichter,  der 
eben  diesen  Vorwurf  mit  Worten  malen  soll,  und  nicht  gänz- 
lich verunglücken  will,  anders  thun,  als  dass  er  sich  gleich- 
falls seiner  eigenthümlichen  Vortheile  bedient?  Und  welches 
sind  diese?  Die  Freiheit,  sich  sowohl  über  das  Vergangene 
als  über  das  Folgende  des  einzigen  Augenblickes  in  dem 
Kunstwerke  auszubreiten,  und  das  Vermögen,  sonach  uns 
nicht  allein  das  zu  zeigen,  was  uns  der  Künstler  zeigt,  son- 
dern auch  das,  was  uns  dieser  nur  kann  errathen  lassen". 
Ebenso  bezieht  sich  nach  Lessing  die  Schilderung  der  bela- 
gerten Stadt  jiur  auf  ein  einziges  Gemälde.  Boivin  habe 
Unrecht,  der  es  in  drei  verschiedene  Gemälde  zertheilte.  „Er 
hätte  es  eben  sowohl  in  zwölfe  theilen  können,  als  in  drei. 
Denn  da  er  den  Geist  des  Dichters  einmal  nicht  fass.te  und 
von  ihm  verlangte,  dass  er  den  Einheiten  des  materiellen 
Gemäldes  sich  unterwerfen  müsse:  so  hätte  er  weit  mehr 
Uebertretungen  dieser  Einheiten  finden  können,  dass  es  fas( 
nöthig  gewesen  wäre,  jedem  besonderen  Zuge  des  Dichters 
ein  besonderes  Feld  auf  dem  Schilde  zu  bestimmen". 

Trifft  nicht  dieser  Tadel,  den  Lessing  gegen  Boivin  aus- 
spricht, auch  noch  die  heutigen  Gelehrten,  die  nach  den 
Worten  des  Dichters  ein  Kunstwerk  zu  reconstruiren  ver- 
suchen?') Sie  zertheilen  die  Schilderung  der  friedlichen  und 


1)  Vgl.  den  Excurs  IV. 


119 

der  belagerten  Stadt  in  je  zwei  oder  drei  Seenen ,  sie  neh- 
men aus  der  continiiirlichen  Erzählung  des  Dichters  zwei 
oder  drei  Punkte  heraus  —  warum  gerade  diese,  erfährt 
man  nicht  —  und  legen  schon  durch  ihre  von  einander  ab- 
weichenden Theilungen  den  Beweis  ab,  dass  sie  sich  auf 
dem  unrichtigen  Wege  befinden.  Ihnen  ist  wie  dem  Boivin 
zu  sagen,  dass  sich  die  Schilderung  der  belagerten  Stadt 
ebensowohl  in  zwölf,  als  in  drei  Gemälde  theilen  lasse  ^). 

Lessing  bestreitet  also ,  dass  man  die  Schilderung  Ho- 
mers  malen  könne.  Aber  allerdings  das  läugnet  er  nicht, 
dass  ein  wirkhches  Kunstwerk  den  Worten  des  Dichters  zu 
Grunde  liege.  Zehn  Bilder,  glaubt  er,  hatte  Homer  im  Gan- 
zen vor  sjch,  deren  jedes  nur  einen  Moment  darstellte,  diesen 
einzelneu  Moment  aber  erweitere  der  Dichter  zu  einer  Hand- 
lung, indem  er  das,  was  dem  dargestellten  Moment  voran- 
geht und  folgt,  hinzufüge. 

Dies  auf  das  philostratische  Bild  des  kleinen  Hermes 
angewandt ,  so  würde  allerdings  ein  wirkliches  Bild  als 
Grundlage  der  rhetorischen  Erzählung  vorauszusetzen  sein, 
man  könnte  freilieh  nicht  wissen,  welchen  Moment  es 
darstellte;  Lessing  meint  von  der  Beschreibung  der  belager- 
ten Stadt  auch  nur,  dass  ein  Wirkhches  zu  Grunde  lag, 
aber  er  weiss  nicht,  welcher  Moment  darin  fixirt  war 2). 

Allein  fragen  wir  doch,  aus  welchen  Gründen  Lessing 
ein  wirkliches  Kunstwerk  als  Ausgangspunkt  der  dichteri- 
schen Erzählung  annahm.  Wenn  die  Erzählung  Homer  s  als 
solche  nicht  malbar  ist,  warum  sollen  wir  trotzdem  ein  wirk- 
liches Kunstwerk  als  ihre  Yeranlassung  annehmen  ? 


1)  Sehr  naiv  sucht  sich  mit  Lessing  auseinanderzusetzen  Cle- 
mens:    De  Homeri  clypeo  Achilleo,  Bonnae   1849  p.  9. 

2)  Welcker,  welcher  sich  Lessing's  Erörterungen  anschliesst 
(Ztschr.  f.  alte  Kunst  p.  568) ,  glaubt  (ebendas.  p.  563)  den 
Moment  bestimmen  zu  dürfen,  in  welchem  das  Bild  der  be- 
lagerten Stadt  aut'gefasst  war;  es  sei  der  Augenblick  des 
blutigsten  Kampfes  zur  Darstellung  gewählt.  Warum  grade 
dieser,    darauf   vermisst  man   die  Antwort.  — 


120 

Wir  stossen  hier  auf  eine  unbewiesene  Vorausseizuns 
Lessing's.  Und  diese  Voraussetzung  ist  es,  die  ihn  zur  Auf- 
stellung der  Regel  veranlasste,  dass  der  Dichter,  der  den 
fixirten  Moment  eines  Kunstwerks  besehreibe,  das  diesem 
Moment  Vorhergehende  und  Folgende  hinzufüge^  dass  er 
den  einen  Moment  erweitere  zu  einer  ganzen  Handlung.  Er 
folgert  diese  Regel  aus  dem  einen  Beispiele  des  homerischen 
Achillesschildes  und  er  folgert  sie  um  der  mitgebrachten 
Voraussetzung  willen. 

Vielmehr  ist,  wenn  ich  nicht  irre,  die  natürliche  Schluss- 
folgerung diese:  Wenn  der  Dichter  ein  Kunstwerk  beschrei- 
ben will,  so  ist  er  beschränkt  durch  die  Natur  des  zu  Be- 
schreibenden, er  niuss  den  im  Kunstwerk  dargestellten  Mo- 
ment als  solchen  erkennen  lassen,  oder  er  verfehlt  seinen 
Zweck.  Denn  wenn  er  den  einen  Moment  zu  einer  conti- 
nuirlichen  Handlung  erweitert,  in  welcher  eine  und  dieselbe 
Person  in  wechselnden  Situationen  erscheint,  so  verschwin- 
det das  wirkliche  Bild,  das  er  beschreiben  will ,  vor  der  Vor- 
stellung des  Hörers  und  der  Dichter  operirt  selbständig,  da 
er  doch  nur  das  Organ  des  Künstlers  sein  sollte.  Wenn 
nun  die  Beschreibung,  die  Homer  von  der  belagerten  Stadt 
gibt,  nicht  darstellbar  ist'),  so  folgt  eben  daraus,  dass  er 
kein  wirkliches  Kunstwerk  beschreiben  will,  denn  er  hätte 
es  als  solches  kenntlich  machen  müssen.  Vielmehr  verfolgt 
der  Dichter  nur  den  Zweck,  den  Schild,  das  Werk  des 
kunstfertigen  Gottes,  der  Phantasie  des  Hörers  als  ein  über- 
aus   reiches,    -wunderbares   Erzeugniss     auszumalen 2).      Die 


1)  Es  sind  aber  auch  andre  Bilder  des  Schildes  nicht  darstellbar. 
So  heisst  es  in  der  Beschreibung  des  Tanzes,  sie  tanzten  bald 
den  Rundtanz,  bald  den  Reihentanz ,  wodurch  doch  deut- 
lich genug  ausgedrückt  ist,  dass  es  sich  nicht  um  Beschrei- 
bung eines  künstlerisch  dargestellten  Moments  handelt. 

2)  Diese  Ansicht  führt  auch  Lucas  aus  in  dem  Gymnasialpro- 
gramm von  Emmerich  1842 — 43  p.  5  1'.  0.  Müller  Kl.  Sehr. 
II,  615  meint  gleichfalls,  wenn  auch  aus  andern  Gründen, 
der  homerische  Schild  habe  doch  hauptsächlich  nur  als  Phan- 
tasiegebilde des  Dichters  Interesse. 


121 

ganze  Welt  bildet  der  Gott  ab ;  so  kahl  aber  drückt  sich 
begreitlichenveise  der  Dichter  nicht  aus,  sondern  er  detaillirt, 
er  liäuft  Bild  auf  Bild  und  mit  jedem  neuen  Zuge  steigt  un- 
sere Bewunderung  über  den  Wunderkünstler  Hephästos. 
0  dass  man  nicht  den  Dichter  begriff,'  dass  man  den 
Achillesschild,  das  Werk  eines  Gottes,  copii't  glauben  konnte 
von  einem  Schilde  der  Wirklichkeit!  Und  all  die  Willkür- 
lichkeiten, die  nothwendig  waren  um  dieser  Annahme  willen, 
sie  M'aren  doch  nicht  im  Stande ,  an  der  einmal  gefassten 
Voraussetzung  irre  zu  machen. 

Kehren  wir  nun  zu  Philostratus  zurück  und  —  machen 
wir  der  Sache  ein  Ende,  da  sie  wol  spruchreif  ist.  Die 
Dichternachahmung  ist  der  Grund,  warum  sich  in  vielen 
Bildern  eine  und  dieselbe  Person  in  verschiedener  Aktion 
wiederholt  und  kein  Bild  ist-  beweisender  dafür,  als  das  des 
kleinen  Hermes.  Denn  während  sonst  die  fortlaufende  Er- 
zählung des  Dichters  von  dem  Rhetor  in  zwei  Scenen  ge- 
trennt ist,  finden  wir  hier  gar  keine  Scenenabtheilung,  sondern 
die  Erzählung  ist  Erzählung  gebheben.  Freilich  komilen  die  Be- 
gebenheiten von  der  Geburt  des  Hermes  bis  zum  Bogendieb- 
stahl  nicht  wol  in  ein  i)aar  Scenen  gebracht  werden.  Wo 
es  leicht  möglich  war,  wie  in  der  Erzählung  des  Pentheus, 
da  wird  die  dichterische  Erzählung  in  zwei  Scenen  getrennt, 
die  der  Zeit  nach  auf  einander  folgen ,  hier  aber  ist  Hermes 
in  immerfort  wechselnder  Aktion,  gleichsam  in  fortwährender 
Verwandlung  begriffen  und  ebendarum  bleibt  der  Rhetor 
ganz  bei  der  dichterischen  Erzählung. 


VI. 

In  diesem  Abschnitt  betrachten  wir  einige  Bilder,  in 
denen  die  bildliche  Ausdrucksweise  eines  Dichters  vom 
Künstler  nachgeahmt  ist. 

Der  jüngere  Philostratus  beschreibt  unter  dem  Titel 
„Sophokles"  ein  Bild  (n.  13),  welches  gemalt  gedacht  einen 
äusserst  komischeu  Eindruck  machen  muss.  Es  ist  folgen- 
des: Sophokles  blickt  zur  Erde,  und  Bienen  fliegen  über 
ihm')  und  lassen  geheimnissvolle  Tropfen  ihres  Thaus  auf 
ihn  fallen.  Melpomene  aber  bietet  ihm  mit  wohlwollendem 
Blick  ihre  Gaben  und  Asklepios  ist  in  der  Nähe,  freundlich 
den  Dichter  anschauend. 

Wer  sich  die  Bienen ,  die  dem  Sophokles  etwas  auf  den 
Kopf  träufeln,  gemalt  vorstellt,  der  wird,  wie  ich  glaube, 
an  etwas  ganz  Andres  denken,  als  au  geheimnissvolle 
Tropfen ,  er  wird  sich  ferner  höchlich  verwundern  über  den 
Mann,  der  zur  Erde  blickt,  ohne  sich  um  die  Gefahr  zu 
kümmern,  die  seinem  Kopfe  von  den  lierumschwärmenden 
Bienen  droht.  Mit  einem  Wort,  die  Bienen,  die  bei  dem 
Dichter  uneigentliche  Bienen  sind,  sind  im  Kunstwerk  eigent- 
liche ;  darin  liegt  der  Fehler.  Von  Schriftstellern ,  die  aus- 
gezeichnet waren  durch  die  Süssigkeit  ihrer  Rede,  heisst  es 
in  anmuthigen  Sagen  und  Dichtungen ,  dass  ihnen  von  Bie- 
nen Wachs  oder  Honig  auf  die  Lippen  gelegt  sei.  Wenn 
nun  Sage  oder  Dichtung  so  berichtet ,  so  bemerkt  Jeder 
leicht,  dass  er  es  zu  thun  hat  mit  einem  liebhchen  Bilde, 
das  symbolisch  zu  deuten;  wenn  aber  ein  Maler  so  malt,  so 
nimmt   man   die  Bienen    als   das ,    was    sie    eigentUeh  *  sind. 


1)  Nach  den  Worten  des  Rhetors  sieht  Sophokles  zur  Erde,  zii- 
gleich  aber  die  Bienen,  die  über  ihm  fliegen.  Kann  Einer, 
der  von  etwas  Gesehenem  berichtet,  sich  wol  so  \Nider- 
sprechen  ? 


123 

Also,  vird  man  Irageu ,  kann  die  Biene  nicht  in  uneigent- 
licher Bedeutung  dargestellt  werden  in  der  Kunst?  Sie  kann 
es  allerdings,  Avenn  nämlich  der  Maler  uns  zwingt,  den  Ge- 
danken an  reale  Bienen  ganz  aufzugeben,  wenn  er  seine 
Darstellung  so  einrichtet,  dass  eine  eigentliche  Auffassung 
nicht  möglich  ist.  Eine  Biene  z.  B.  am  Grabstein  eines  Dich- 
ters wäre  wol  ebenso  verständlich,  wie  der  Adler,  der  nach 
einem  Epigramm  auf  dem  Grabe  Plato's  stand.  Aber  schon 
die  blosse  Vervielfältigung  der  Biene  hebt  die  symbolische 
Bedeutung  auf,  ein  Schwärm  von  Bienen  ruft  unmittelbar 
den  Gedanken  an  die  Realität  hervor.  Denn  für  den  sym- 
bolischen Gebrauch  handelt  es  sich  ja  nur  um  eine  Eigen- 
schaft, welche  die  Biene  als  Biene  besitzt,  es  genügt  daher 
eine  einzige,  oder  vielmehr  es  darf  nur  eine  einzige  ver- 
wandt werden ,  weil  die  grössere  Anzahl  für  das  Symboli- 
sche nur  ein  mehrfacher  Ausdruck  für  eine  und  dieselbe 
Absicht,  also  lästiger  Ueberfluss  wäre  und  eben,  weil  man 
einen  solchen  Fehler  nicht  voraussetzt,  sondern  nach  einem 
vernünftigen  Grund  sucht,  die  Gedanken  ganz  aus  der  sym- 
bolischen Sphäre  herausführt. 

Was  die  Melpomene  dem  Dichter  biete,  erfahren  wir 
so  wenig,  als  nähere  Angaben  über  die  Characteristik  der 
Muse.  Es  ist  vermuthet  worden,  sie  habe  —  einen  Bienen- 
korb gehalten  i).  Statt  dies  spasshafte  Attribut  der  würde- 
vollen Muse  der  Tragödie  in  die  Hände  zu  geben ,  wollen 
wir  „die   Gaben  der  Muse"  lieber  auf  die  Dichtkunst  deuten 


1)  Noch  wunderbarer  übrigens  als  diese  Vermutluing  ist  die 
Begründung  derselben  aus  dem  Text  des  Schriftstellers.  Ihr 
Urheber  sagt  nämlich:  Huic  rationi  fimdanientum  substrnc- 
tuui  est  ipso  verborum  Philostrati  nexu.  Accipe,  inqi;it, 
dona  a  dea  tibi  oblata;  vides  enim  apes  circa  caput  tuum 
susurrantes.  Die  Worte  des  Textes  heissen:  di/ov  tcc  öidö- 
fj-fvcc.  l-l7i6ß).r]TK  yceo  ovx  ilvai  ra  d^fcof  Swok,  oiOri-o  nov  i^ 
fvbg  Twj'  KrtXXiÖ7Tr,g  d^maioTiZv  ccxovaag.  'Oq^s  yc(Q  xccl  r«? 
fieXirrag,  cög  vntQniToVTuC  aov  xt)..  Von  dem  xkI  weiss  die 
Erklärung  nichts  und  doch  wirft  dies  Wörtleia  die  ganze 
Erkläi'ung  um. 


124 

und  glauben  in  der  Tliat  niclit  nöiliig  zu  haben,  Belegstellen 
oder  Analogien  beizubringen.  Der  Rhetor  ischrieb  nach,  was 
er  bei  Schrif'lsl ellern  fand  :  nur  ist  die  Gabe  der  Muse  nicht 
etwas  sinnlich  Greifbares,  sondern  eine  unsichtbare  Kraft 
und  daher  als  solche  für  den  bildenden  Künstler  nicht  dar- 
stellbar. 

Asklepios  ist  anwesend,  weil  der  Rhetor  die  Notiz 
kannte,  nach  welcher  Sophokles  einen  Päan  auf  diesen 
Gott  geschrieben  haben  soll;  man  fragt  aber  erstaunt,  ist 
das  M'esentlich  für  die  Characteristik  des  Dichters?  Oder 
ist  es  nicht  vielmehr  vom  künstlerischen  Standpunkt  eine  hi- 
storische Zufälligkeit  V 


Ganz  Ähnlich  ist  das  Bild  des  altern  Philostratus  (11,12), 
M^elches  die  Geburt  Pindars  darstellte.  Wenn  wir,  wie  es 
in  der  Regel  geschah,  die  widerwärtigen  Phrasen  weglassen, 
die  der  Rhetor  zusetzt,  so  bleibt  folgendes  zurück: 

In  der  Stadt  schwärmen  die  Bienen  an  die  Thür  des 
Daiphantus;  denn  eben  ist  Pindar  geboren  und  liegt  in  Lor- 
beer und  Myrtenzweigen.  Vor  der  Thür  steht  eiue  Bildsäule 
der  Rliea,  von  Stein,  wie  es  scheint.  Auch  die  Nym]>hen 
sind  d« ,  thauig  wie  aus  den  Quellen  kommend  und  Pan 
tanzt  mit  fröhlicher  Gestalt.  Die  Bienen  im  Innern  aber  um- 
geben das  Kind  und  legen  Honig  auf  ihn ,  ihre  Stachel 
einziehend. 

Ich  wollte  gern  dem  Rhetor  alle  Götter  und  Göttersta- 
tuen  mit  sammt  den  Bienen  schenken,  wenn  er  mir  nur  da- 
für eine  Amme  ^ für  das  neugeborne  Kind  geben  wollte,  so 
wie  ich  auch  auf  dem  Bild  der  Semele  (Sen  I,  14)  ,  wel- 
ches die  Geburt  des  Dionysos  vorstellte,  das  ganze  Feuer- 
werk und  Donner  und  Blitz  und  den  Kithäron ,  der  darüber 
trauert,  dass  Dinge  auf  ihm  vorgehn  werSen,  die  —  zur 
Verherrlichung  des  Dionysos  dienen,  in  den  Kauf  gäbe  um 
eine  Amme  für  den  neugeborenen  Gott.  Der  Rhetor  fand 
keine  Amme  in  der  Erzählung,  die  er  nachschrieb,  ei'wähnt; 
aus  demselben  Grunde  erfahren   wir   auch   nichts  von  Vater 


125 

und  Mutter  des  Knaben,  wir  wissen  nicht  einmal,  ob  sie  an- 
wesend waren.  Oder  sollte  er  die  Amme  weggelassen  ha- 
ben, um  die  Bienen  nicht  zu  stören?  Denn  eine  Amme 
würde  allerdings  einen  Bienenschwarm  nicht  in  so  nahe  Be- 
rührung mit  ihrem  Pflegling  haben  kommen  lassen.  Jeden- 
falls erscheinen  die  Bienen  nicht  in  rein  symbolischer  Be- 
deutung, wie  beim  Dichter;  sie  thun  an  Pindar,  was  die 
Wölfin  that  an  Ronnüus  und  Remus,  sie  nähren  ein  hülfloses 
Wesen  leiblich.  Freilich  Merden  wir  fragen,  warum  grade 
Bienen  das  Kind  nähren  und  es  wird  die  Antwort  gegeben 
werden  müssen ,  dass  es  characteristisch  sei  für  die  Zukunft 
des  Kindes,  mit  Honig  genährt  zu  sein,  aber  wie  bei  der 
säugenden  Wölfin ,  so  ist  auch  hier  die  leibliche  Ernährung 
eines  hülflosen  Geschöpfes  die  Hauptsache,  von  welchei-  bei 
dem  Dichter,  dessen  Erzählung  der  Maler  wiedergeben  wollte, 
gar  nicht  die  Rede  ist. 

Was  das  Uebrige  betrifft ,  so  sind  es  zusammengeschrie- 
bene Notizen,  historische  Zufälligkeiten,  die  zur  Characteri- 
stik  des  Dichters  nichts  beitragen,  oder  richtiger  eine  falsche 
Charakteristik  geben  müssen ,  weil  man  sie  als  bedeutungs- 
voll fassen  muss  und  berechtigt  ist  zu  fassen.  Vor  Pindar's 
Haus,  wissen  wir,  stand  eine  Statue  der  Rhea,  die  Nymphen 
aber  undPan  sind  aus  einer  missverstandeneu  Stelle  des  Dichters 
selbst  oder  aus^  einer  falschen  Auslegung  derselben  geschöpft. 
Dagegen  hat  der  Rhetor  guten  Grund,  nichts  Derartiges  vor- 
zubringen, was  wesentlich  für  den  Pindar  ist.  So,  sahn  wir, 
war  es  auch  auf  dem  Bilde  des  Sophokles.  Und  doch  sollte 
man  wol  erwarten,  zumal  wenn  man  die  erhaltenen  oder  li- 
terarisch bezeugten  Darstellungen  vergleicht,  wie  z.B.  die  Statue 
des  Anakreon  in  Athen ,  der  wie  im  Rausch  singend  darge- 
stellt Avar  — ,  dass  ein  griechischer  Maler  die  Dichter  seines 
Volks,  die  er  darstellen  wollte,  in  characteristischer  Weise 
darzustellen  vermochte.  Diese  philostratischen  Bilder  von  So- 
phokles und  Pindar  dagegen  sind  von  Anfang  bis  zu  Ende 
Sammlungen  von  Notizen,  mit  rohem  Sinn  zusammenge- 
stoppelt. 


vn. 


Wir  lialien  l)isher  die  Fälle  betrachtet,  in  denen  die  Bil- 
der der  Philoslrate  nicht  abwichen  von  der  Dichtung,  obwohl 
sie  als  Kunstwerke  abweichen  sollten;  nun  betrachten  wir 
den  umgekehrten  Fall,  dass  ein  philostratisches  Bild  abweicht 
von  der  Dichtung,  wo  die  vorhandenen  Denkmäler  nicht  ab- 
weichen. Wir  hätten  diesen  Abschnitt  eigentlich  in  die  zweite 
Abtheilung  des  Buches  verweisen  sollen ,  allein  das  Bild, , 
das  hier  zergliedert  werden  wird ,  ist  bis  auf  einen  Punkt 
in  allem  Uebrigen  so  ganz  und  gar  von  einem  erhaltenen 
dichterischen  Original  abhängig,  dass  es  doch  besser  in  der 
ersten  Abtheilung  seinen  Platz  fand. 

Es  ist  das  Bild  gemeint,  welches  den  rasenden  Herkules 
darstellte  (Sen.  2,  23): 

Das  Gemach,  auf  welches  Herkules  losstürmt,  enthält 
Megara  und  das  noch  übrige  Kind.  Die  Körbe,  Weihbecken, 
die  Opfergerste,  die  Scheiter  und  der  Mischkrug,  es  ist  alles 
umgestürzt.  Der  Stier  steht  da,  als  Opfcrthiere  aber  sind 
edle  Kinder  an  den  Altar  geworfen  und  auf  die  Löwenhaut. 
Der  eine  ist  am  Schlund  getroffen  und  der  Pfeil  ist  durch 
die  zarte  Kehle  gedrungen ;  der  andere  liegt  auf  der  Brust 
und  die  Spitzen  des  Geschosses  sind  mitten  durch  die  Ri])pen 
gefahren;  ihre  Wangen  aber  sind  benetzt')  Den  wahnsinni- 
gen Herkules  umringt  die  ganze  Schaar  der  Diener,  der  eine 
mit  der  Absicht  ihn  zu  binden ,  der  andere  sich  anstrengend 
ihn  zurückzuhalten,  ein  dritter  schreiend.    Der  hängt  an  sei- 


j )  In  den  Worten  y.al  urj  ÜuvfAÜGijg^  d  li^äxovciäi'  ti  tt«««  tou 
öiiXQvani  scheint  das  tkqI  tov  SKXQvacti  eine  an  don  Rand 
geschriebene  Erklärung  der  Worte  it  ISüxQvaäv  ti  und  so  in 
den  Text  gekommen  zu  sein. 


127 

nen  Händen,  dieser  stellt  ihm  ein  Rein,  jene  s])fiiiü,en  an 
ihn  hinan.  Ev  aber  hat  kein  Hewusstsein  von  ihnen,  er  wirft 
die,  welche  sich  ihm  nähern,  in  die  Höhe  und  tritt  sie  mit 
Füssen,  viel  Schaum  ausspuckend,  wild  und  sonderbar 
blickend,  die  Augen  starr  auf  das  richtend,  was  er  thut.  Die 
Kehle  brüllt  und  der  Nacken  füllt  sich  und  die  Adern  schwel- 
len auf.  Die  Erinnys  aber ,  setzt  ,der  Rhetor  hinzu ,  welche 
dies  vermochte ,  hast  du  oft  auf  dem  Theater  gesehen ,  hier 
aber  siehst  du  sie  nicht.  Denn  im  Herkules  selbst  nistete 
sie  sich  eiii  und  tanzt  mitten  in  ihm  in  seiner  Brust,  inwen- 
dig hüpfend  und  seine  Vernunft  trübend. 

Das  Bild  gehört  zu  denjenigen,  deren  dichterische  Grund- 
lage sich  bis  in  die  einzelnen  Züge  hinein  nachweisen  lässt. 
Es  ist  aus  dem  rasenden  Herkules  des  Euripides  entlehnt. 
Dieser  lässt  zwei  Kinder  am  Altar  des  Zeus  im  Hofraum  des 
Hauses ,  als  geopfert  werden  sollte ,  unter  den  Händen  des 
Vaters  fallen,  mit  dem  dritten  flüchtet  sich  die  Mutter  in  ein 
Gemach,  das  sie  verschliesst ,  das  aber  von  Herkules  erbro- 
chen wird.  Der  Moment  vor  dem  Einbruch  war  auf  dem 
philostratischen  Bild  dargestellt.  Nun  bemerke  man  aber 
zunächst,  wie  komiseh  gedankenlos  der  Rhetor  dem  Dichter 
nachschreibt  1).  Denn  wie  verhält  es  sich  auf  dem  Bilde 
mit  der  Mutter  und  dem  noch  lebenden  Kinde?  Sind  sie 
sichtbar  oder  nicht?  Welcker  bemerkt,  die  Megara  sei  in 
den  Thalamos  geflohen  und  habe  die  Thüren  geschlossen, 
die  der  rasende  Gatte  jetzt  im  Begriff  stehe  zu  erbrechen; 
er  bemerkt  dies  ohne  zu  bedenken,  dass  er  damit  dem  Gesr- 
ner  die  Waffen  gegen  sich  in  die  Hände  gibt.  Ist  nämlich 
die  Mutter  mit  dem  Kinde  in  einem  geschlossenen  Thalamos, 
so  ist  sie  ja  nicht  sichtbar,  der  rasende  Herkules  scheint  also 
gegen    eine   Thür    zu    rasen    und    wird    uns    unverständlich. 


1)  Zu  vergleichen  ist  die  Eiiadne  11,30,  welclie  in  den  Scheiter- 
haufen des  Mannes  „springt."  Er  hatte  den  Euripides  vor 
Augen,  nur  dass  bei  diesem  das  „Springen"  Sinn  hat,  weil 
sich  seine  Enadne  von  oben  herab  in's  Feuer  stürzt,  wovon 
der  Rhetor  nichts  säst. 


128 

Anders  bei  dem  Dichter.  Bei  ihm  ist  der  Thalamos  kein 
Thalamos;  die  Einbildungskraft,  welche  von  seiner  Kunst  iu 
Anspruch  genommen  wird,  .sieht  überall  hindurch.  In/.wiischen 
könnte  man  es  mir  bestreiten,  dass  die  Megara  nicht  .sicht- 
bar gewesen  sei ,  denn  mit  ausdrücklichen  Worten  sagt  es 
der  Schriftsteller  allerdings  nicht;  man  dürfe  sich  demnach 
die  Thür  geciffnet  denken.  Diese  Annahme  würde  das  Nach- 
denken des  Künstlers  in  ein  nicht  weniger  ungünstiges  Licht 
stellen.  Wir  würden  fragen,  warum  schliesst  denn  nicht  ent- 
weder die  bedrohte  Mutter  oder  einer  der  vielen  Diener  die 
Thüre?  Denn  an  der  Thüre  selbst  ist  Herkules  noch  nicht 
beschäftigt,  weil  er  noch  mit  den  Dienern  zu  thun  hat,  die 
ihn  zurückzuhalten  suclien.  Dies  und  der  weitere  Umstand, 
dass  der  im  Uebrigen  so  detaillirt  schildernde  Philostratus 
von  der  Alegara  und  ihrem  noch  lebenden  Kinde  nur  die 
Worte  sagt,  der  Thalamos  umschliesse  sie,  lässt  mich  die 
Annahme  Welckers  für  richtig  halten,  womit  denn  das  ge- 
dankenlose Nachschreiben  des  Khetors  offenbar  vorliegt.  Denn 
füi-  die  Behauptung,  dass  der  Künstler  hier  abweichen  musste 
vom  Dichter,  dass  er  uns  den  bedrohten  Gegenstand  selbst 
zeigen  musste,  dafür  dürfte  sich  vielleicht  der  Leser  sowohl 
Beispiele  als  weitere  Erörterungen  verbitten.  Doch  will  ich 
wenigstens  kurz  erinnern  an  die  Darstellungen  des  Lykurgus, 
der  wie  Herkules  Weib  und  Kind  im  Wahnsinn  tödtet. 

Dies  ist  also  ein  Fall,  wie  die  früher  besprochenen,  nun 
aber  weicht  andrerseits  das  Bild  ab,  wo  es  nicht  abA^eichen 
sollte,  —  in  der  Darstellung  des  Wahnsinns  nämlich. 

Bei  Euripides  erschien  die  Lyssa;  der  Wahnsinn  des 
Herkules  wurde  dargestellt  als  von  einer  dämonischen  Macht 
gewirkt.  Dies  ist  überhaupt  die  schöne  Eigenthümlichkeit 
der  griechischen  Tragödie.  Abnorme  Vorgänge  im  Gemüth 
stellt  sie  dar  als  Wirkungen  dämonischer  Wesen,  es  wird 
uns  eine  ganze  Reihe  solcher  Theaterfiguren  aufgezählt,  z.  B.^ 
OiffTOog   und  \lndTri  ').     Wie   verfährt    nun    in  diesem   Fall 


1)  Wo  von  solchen  dänioniäclicn  Wesen  in  der  Tragödie  gespro- 
chen wird,   da    ist    ihnen    meist   ein    wundervoll    plastisches 


129 

die  bildende  Kunst?  "Wie  kann  sie  anders  als  dem  Beispiel 
der  Tragödie  Iblgen')?  Die  Eigeuthümlichkeit  der  griechi- 
schen ^Yell anschau ung,  von  Dämonen  abzuleiten,  was  wir 
als  einen  rein  innerlichen  Vorgang  auffassen,  ist  offenbar 
keiner  Kunst  so  förderlich ,  wie  der  bildenden ,  weil  diese  ja 
nur  durch  sinnliche  Anschauung,  also  am  besten  durch  kon- 
krete Gestalten  geistige  Vorgänge  deutlich  machen  kann. 
Die  griechische  Kunst  steht  hier  in  einem  entschiedenen 
Gegensatz  zur  christhchen ,  und  namenthch  zu  den  älteren 
Perioden  derselben.  Die  christhche  Kunst  lässt  durch  ab- 
gekürzte oder  symbolische  Figuren,  z.  B.  die  aus  den  V\^ol- 
ken  reichende  Hand,  eine  übernatürliche  Einwirkung  mehr 
errathen,  als  dass  sie  sichtbar  würde,  aber  die  griechische 
Kunst  bildet  jede  Kraft  zu  einer  vollen  sinnhchen  Gestalt. 
Sie  verliert  damit  die  Möglichkeit,  ein  Uebernatürliches  an- 
zudeuten, das  nur  ahnungsvoll,  nicht  mit  leibHchen  Augen 
zu  schauen  ist,  worin  der  tiefe  Sinn  der  christlichen  Dar- 
stellungsweise liegt,  sie  gewinnt  aber  die  volle  plastische 
Deutlichkeit,  indem  sie  die  Ursache  der  dargestellten  Wir- 
kung sichtbar  und  zwar  als  eine  solche  sichtbar  macht,  in 
welcher  wir  die  Möglichkeit  solcher  Wirkungen  anzuschauen 
vermögen.  Betrachten  wir  hienach  die  Vasen,  die  wir  als 
acht  gTiechische  Monumente  zunächst,  in  Betracht  zu  ziehen 
haben,  so  erbhcken  wir  neben  der  Medea,    die  das  Schwert 


Epitheton,  ein  mit  —  novg  oder  —  onp  zusammengesetztes 
beigefügt,  z.B.  Seivönovg  clnd.  Das  Epitheton  bewirkt,  dass 
sofort  ein  konkretes  Bild  vor  unserer  Phantasie  steht. 
1)  Eine  eingehende  Untersuchung  über  die  Einwirkung  der  Tra- 
gödie auf  die  biklende  Kunst  würde  die  interessantesten  Re- 
sultate ergeben ;  so  z.  B.  ist  die  merkwürdige  Umwandlung 
des  Dionj'sos  gewiss  durch  den  Einfluss  der  Tragödie  be- 
wirkt. In  den  Bacchen  des  Euripides  erschien  der  Gott  ganz 
genau  so,  wie  in  der  spätem  Plastik  und  wie  auf  den  spä- 
tem Vasen,  welche  noch  bis  weit  in  den  rothfigurigen  Stil 
hinein  nur  den  bärtigen  Dionysos  kenneu.  Jedenfalls  können 
wir  in  den  Kunstwerken  kein  Beispiel  des  Jüngern  Dionysos 
vor    des  Euripides  Bacchen  nachweisen, 

9 


130 

schwingt  gegen  ihr  Kind,  neben  Ljkurgus,  der  Weib  und 
Kind  in  der  Raserei  mordet,  neben  Tereus,  der  das  Schänd- 
lichste verüben  will,  ebenso  wie  bei  dem  Muttennörder  Ore- 
stes dämonische  GestaUen.  unter  deren  Macht  die  betreffenden 
Figuren  gestellt  sind.  Der  Medea  des  Timomachus  konnte 
kein  solcher  Dämon  zur  Seite  gestellt  werden,  denn  diese 
Medea  schwankt  noch,  sie  ist  noch  nicht  der  dunklen  Macht 
verfallen,  die  keine  Liebe  kennt,  aber  die  Medea  auf  der 
grossen  Vase  von  Canosa,  die  wir  heranstürmen  sehen  mit 
dem  nackten  Schwert,  die  ihren  Knaben  am  Haar  fasst  wie 
ein  Opferthier,  ohne  Scheu  vor  dem  Altar,  auf  den  er  sich 
geflüchtet,  diese  Medea  ist  wirklich  von  dämonischer  Gewalt 
besessen  und  darum  steht  neben  ihr  der  Oistros.  Was  wir 
aber  auf  den  Vasen  sehen,  sollte  es  den  Gemälden  der 
grossen  Meister  fi-emd  gewesen  sein?  Es  ist  zwar  nicht 
ausgemacht,  in  wieweit  die  Vasen  einen  Schluss  verstatten 
auf  die  uns  nicht  erhaltenen  Meisterwerke  der  griechischen 
Malerei;  indessen  berechtigen  doch  namentlich  die  Aehnlich- 
keiten,  die  sich  zwischen  ihnen  und  dem  uns  näher  bekann- 
ten Polygnot  herausgestellt  haben,  zu  der  Annahme,  dass 
nicht  sowohl  die  ganze  Auffassung  verschieden  war,  dass 
vielmehr  imr  ein  quantitativer,  gradueller  Unterschied  bestand. 
In  unserm  Fall  dürfen  wir  um  so  tinbedenklicher  von  den 
Vasen  auf  die  Tafelmalerei  schliessen ,  als  der  Maler  durch 
Hinzufügung  solcher  Gestalten  einen  entschiedenen  Vortheil 
erreicht.  Denn  die  Anwesenheit  dieser  Dämonen  macht  die 
von  ihnen  beherrschten  Menschen  erst  mitleidenswert  h. 
Ein  Vater  oder  eine  Mutter,  die  das  Schwert  gegen  ihr  eig- 
nes Kind  schwingt,  ist  allein  dargestellt  immer  ein  Gegen- 
stand des  Absehens  ^)  ;  sie  erregt  aber  sogleich  unser  Mitleid, 
sobald   der  Künstler    das   schreckliche  Be2:inneu   von    einem 


1)  Auf  dem  schönen  Relief  bei  Welcker  A.  D.  II,  3,  8  sind  die 
den  Lycurgus  umgebenden  Bacchanten  und  Bacchantinnen  die 
Erklärung  für  sein  rasendes  Beginnen;  er  wollte  der  bacchi- 
schen  Raserei,  wie  Pentheus,  Einhalt  thun.  Anders  fasst 
Welcker  die  Darstellung. 


131 

Dämon  gewirkt,  also  nicht  aus  ihrer  eignen  Seele  stammend 
darstellt.  Es  ist  keine  Darstellung  des  Wahnsinns  von  einem 
griechischen  Meister  bekannt  ^)^  Nearchos  hatte  den  Herku- 
les   sowie  Timomachus   den  Ajax 2)    nach    der   Raserei    ge- 


1)  Denn  die  insania  Orestis  des  Theon  (Pliu  35,  144)  stellte 
nach  Pseudoplut.  de  aud.  poet.  p.  18  A  den  Muttermord  dar. 

2)  Ueber  den  rasenden  Ajax  des  Timomachus  handelt  Welcker 
Kl.  Sehr.  III.  457  ff.,  nicht  eben  bündig,  wie  mir  scheint. 
Der  Gegenstand  des  Bildes  soll  nicht  der  rasende,  sondern 
der  gekränkte  und  darum  seinen  Tod "  beschliessende  Ajax 
sein;  di'es  gehe  aus  einer  Stelle  Ovid's:  sedet  vultu  fassus 
Telamonius  iram  hervor.  Zunächst  einmal  angenommen, 
dass  diese  Stelle  deutlich  den  gekränkten  Ajax  bezeichne, 
so  fragt  man  doch  billig,  warum  soll  diese  eine  Stelle  ent- 
scheidend sein  gegenüber  zwei  andern,  die  beide  überein- 
stimmend den  rasenden  oder  richtiger  gerast  habenden  Ajax 
angeben.  (Die  Stelle  des  Philost ratus  Vit.  Apoll.  II,  22: 
oü(J"  KV  ror  Ahivrä  ng  tov  Tiijo^ä/ov  clyaadeir],  og  i^rj 
ttVtcyiyQnTiTCd  ccvt(^  jLiejurjvcög  Mird  übrigens  von  Welcker  nicht 
richtig  construirt;  Welcker  nimmt  cevnp  fjf/ntjvwg  zusammen 
und  übersetzt  „sich*  selbst  zürnend":  ich  w^erde  wol  ohne 
weitere  Begründung  «vtco  zu  uvccy^YQKTiTai  nehmen,  nämlich 
„der  von  ihm  (dem  Timomachus)  gemalt  ist'-  und  fjeixqvcjg 
mit  gerast  habend  übersetzen  dürfen).  Das  Wort  Ovid's, 
meint  Welckei-,  werde  durch  die  sinnvolle  Art,  wie  die  alten 
Maler  überhaupt  ihre  Gegenstücke  wählten  und  behandelten, 
gewissermassen  unterstützt.  Welcker  nimmt  nämlich  an,  der 
Ajax  und  die  Medea,  welche  Ovid  gleich  im  folgenden  Vers 
erwähnt,  seien  Gegenstücke  gewesen.  Dies  ist  möglich,  wenn- 
gleich ich  dabei  den  Einwand  nicht  zu  unterdrücken  vermochte, 
dass  dem  sitzenden  Ajax  nicht  wol  die  stehende  Medea 
correspondirfen  könne ;  gesetzt,  es  war  wirklich  so,  so  liefert  der 
gerast  habende  Ajax,  wie  mir  scheint,  ein  nicht  minder  gutes 
Gegenstück  zur  Medea.  Der  Vergleichungspunkt  liegt  in  dem 
Widerstreit  verschiedener  Gefüllte  in  beiden  (der  im  gekränkten 
Ajax  nicht  vorhanden  ist)  :  dort  streiten  Mutterliebe  und  Eifei*- 
sucht,  hier  Scham  und  Zorn  über  die  Feinde,  die  Alles  ange- 
richtet haben  (wie  bei  Sophokles).  Ovid  hatte,  heisst  es  weiter, 
„ohne  Zweifel  die  Bilder  des  Timomachus  gesehen,  da  er 
sie  im  Gegensatz  mit  andern  unzüchtigen  an  demselben  Ort 
aufgehängten  anführt.'''     Das  ist  wahrscheinlich,    aber  ist 

9    * 


132 

malt,  aber  das  Bild  des  Aristophon :  Priamus,  Helena,  Odys- 
seus,  Deiphohus,  Dolon  und  unter  ihnen  die  Leichtgläubigkeit 
(CredulilasJ  liefert  den  äussern  Beweis,  dass  auch  in  den 
Bildern  der  grossen  Meister  derartige  dämonische  'Wesen 
nicht  fehlten.  Aus  diesen.  Gründen  muss  die  Bemerkung  des 
Philostratus,  die  Erinnvs  sei  wohl  auf  dem  'J'heater,  nicht  im 
Bilde  sichtbar,  sehr  bedenklich  erscheinen;  je  grässlicher  die 
Scene  ist  —  es  sjnd  ja  schon  zwei  Kinder  getödtet  —  ,  um 
so  nothwendiger  war  eine  Figur  wie  die  Lyssa,  die  bei  dem 
Tragiker  auftrat. 

Kurz  mache  ich  noch  darauf  aufmerksam,  dass  da,  wo 
die  Bemühungen  der  Diener  angegeben  A^erden ,   wieder  Er- 


nicht    dieselbe    Wahrsclieinliclikeit   für   den   Epigraramatisten 
da,    der    einen    einzehien  Zug  im  Bilde  anführt?     Indess  ist 
der  Ausdruck  Ovid's  gar  nicht  mit  Sicherheit  so  zu  verstehen, 
wie  Welcker    will.     Denn    warum    kann    der   Zorn    auf  dem 
Gesicht  des  Ajax  nicht  seinen  Feinden  gelten,  als  denjenigen, 
die  ihn  in  diese  Schmach  des  Wahnsinns   hineingebracht  ha- 
ben ?  Darauf  vermisst  man  die  Antwort  und  auf  das  „sedet" 
des  Ovid  achtet  Welclcer  nicht,  das  ich  von  dem  gekränkten 
Ajax  nicht   zu  erklären   vermöchte,    das   aber   herrlich   passt 
auf  den  Ajax,  der  nacli  dem  Wahnsinn  von  Ivörperlidier  und 
geistiger  Mattigkeit    und    dazu    \on    dem    Gefühl   der  Scham 
überwältigt  ist.     Sodann   ist  in    dem  Epigramm  eine  Bemer- 
kung,  die  es  wirklich  nicht  zweifelliaft  lässt,    in  welcher  Si- 
tuation Ajax  sich  befand,  die  Bemerkung  nämlich,  dass  sich 
Thränen    im  Gesicht   des  Ajax  befanden.     Für  wen   nämlich 
schickt  sich  die  Tliräne?     Das  wäre  ein  Ajax,    der  über  die 
verweigerten  Waffen  Achill's  weinte  !  Aber  edel  ist  die  Thräne 
aii  dem  Ajax,   der  weint  über  seine  Schmach,  über  sein  be- 
schimpftes Heldenthum.     Tekmessa  sagt  bei  Sophokles,  Ajax 
habe  zur  Einsicht  seiner  That  gelangt,   laut  gejammert,  wie 
sie  es  nie  von  ihm  gehört  habe  und  wie  er  es  nur  für  feige 
und   kleinmüthige   Männer    schicklich    gefunden.     Eben   diese 
herrliclie  Charactcristik  des  Sophokles,  die  den  Ajax  zu  einem 
wahrhaft  edlen  Helden  macht,  liatte  Timomachus  vor  Augen, 
indem    er   den  Ajax    mit  Thränen   im  Gesicht   malte.     Es  ist 
ja  auch  aus  allgemeinen  Gründen  wahi-scheinlich,  dass  Timo- 
machus  nach  der  Tragödie  arbeitete.     Die  herrlichen  Erörte- 
rungen Lessing's  bleiben  somit  in  voller  Wahrheit  stehen. 


133 

Zählung  sich  findol  statt  Schilderung.  Denn  wenn  es  heisst, 
die  Diener  hängen  an  Herkules,  um  ihn  zurückzuhalten,  so- 
dann aber,  Herkules  schleudere  die,  welche  ihm  nahe  kommen 
empor  und  zertrete  sie,  so  weiss  man  in  der  That  nicht, 
was  eigenthch  dargestellt  war. 

Die  Opfergeräthe  sind  in  unserm  Bild  auffallend  detaillirt 
angegeben.  Alles  was  zu  einem  0]ifer  im  wirklichen  Leben 
gehörte,  ist  vorhanden,  selbst  die  Gerste  fehlt  nicht.  Wozu, 
fragt  man  unwillkürlich,  dieser  mühselige  Fleiss?  Das  Opfer 
ist  hier  ja  nur  ein  Nebenumstand,  der  für  sich  kein  Interesse 
beansprucht,  sondern  nur  um  eines  Andern  willen  da  ist. 
Es  dient  dazu,  uns  zu  sagen,  dass  in  einer  heihgen  Handlung 
der  Wahnsinn  des  Herkules  ausbrach,  es  dient  also  zur  Stei- 
gerung des  Grässlichen.  Denn  indem  wir  die  schreckliche 
That  an  einem  heiligen  Ort  vorgehen  sehen ,  avo  sonst,  der 
Friede  waltet,  indem  wir  Menschen  bluten  sehen,  wo  nur 
das  Opferthier  bluten  soll ,  erscheint  uns  der  wahnsinnige 
Thäter  um  so  wilder  und  wüthender.  Um  dies  zu  erreichen, 
bedurfte  es  nur  einer  Andeutung,  oder  richtiger  es  durfte 
nur  eine  Andeutung  gegeben  werden ,  damit  sich  nicht  als 
Hauptsache  breit  machen  was  nur  untergeordnete  Bedeutung 
hat.  Wir  fanden  diese  Ausführlichkeit  in  untergeordnetem 
Beiwerk  schon  oft  bei  Philostratus ,  ganz  im  Gegensatz  zu 
den  erhaltenen  Denkmälern.  Auf  Vasen  ist  nicht  selten  ein 
Opfer  dargestellt,  man  vergleiche  z.  B.  die  der  Göttin  Ghrjse 
dargebrachten;  nie  aber  wird  man  Alles  dargestellt  finden, 
was  in  Wirklichkeit  zum  Opfer  gehörte.  Wenn  nun  aber 
auf  Darstellungen  des  Opfers  als  solchen  genaue  Wiedergabe 
der  Wirklichkeit  nicht  bezweckt  wurde,  wieviel  weniger  kann 
es  da  der  Fall  gewesen  sein,  wo  das  Opfer  nur  Nebensache, 
nur  um  eines  Andern  willen  da  ist.  Homer  schildert  das 
Opfer  mit  der  detaillirten  Treue,  die  eine  wesentHche  Eigen- 
schaft des  epischen  Stils  ist;  bei  ihm  finden  wir  die  Dinge, 
die  Philostratus  aufzählt  und,  wie  ich  nicht  im  Geringsten 
bezweifle,  von  ihm  entlehnt  hat.  Ein  Künstler  hätte  sich 
begnügt,  einen  Altar  zu  malen  und  etwa  ein  umgeworfenes 
Geräth  dazu. 


VIII, 

Schliesslich  noch  ein  jiRar  Beispiele  dafür,  mit  welchem 
Unverstand  Philostratus  die  Dichter  ausschrieb.  Auf  eine 
pindarische  Stelle  geht  das  Bild  des  altern  Philostratus  (I,  30) 
zurück,  welches  den  Pelops  in  seiner  Begegnung  mit  Posei- 
don darstellte.  Pelops  ersciiien  in  lydischer  Tracht  mit  eben 
keimendem  Bart.  So  schrieb  der  Rhetor  dem  Dichter  nach, 
denn  die  Kunstwerke  stellen  den  Pelops  durchgehends  un- 
bärtig dar  bis  auf  ein  spätes  lömisches  Sarkophagrelief'), 
das  nur  für  diejenigen  Erklärer  eine  Stütze  abgeben  kann, 
welche  weder  auf  Gattung  noch  Individuahtät  eines  Monu- 
ments Rücksicht  nehmen.  Der  Grund,  aus  dem  die  Kunst 
abweicht  vom  Dichter ,  ist  klar.  Weil  sie  in  Pelops  den 
zarten  Asiaten  darstellen  will,  darum  stellt  sie  ihn,  wie  den 
Paris,  bartlos  dar,  wenn  auch  das  Alter  des  Jünglings  den 
Anfang  des  Bartes  nach  der  Regel  der  Wirklichkeit  schon 
erforderte.  Aber  die  Wirkhchkeit  ist  hier  keineswegs  maass- 
gebend ,  vielmehr  entscheidet  der  Charakter  der  darzustellen- 
den Figur.  Apollo,  Dionysos,  Hermes'  werden  in  der  vollen- 
deten Zeit  der  Kunst  unbärtig  dargestellt,  obgleich  das  Alter, 
in  welchem  sie  erscheinen,  in  der  Wirklichkeit  schon  Spuren 
des  Bartes  zeigt  2). 


1)  Miliin  G.  M.  133,  521.  In  den  zarten  tovlos  haben  sich  die 
beiden  Rhetoren  übrigens  verliebt-,  wo  es  nur  angeht,  wird 
er  angebracht,  so  bei  Memnon(Sen.  1,7),  Amphion  (Sen.  I,  10), 
Antilochus  (11,  7),  Orpheus  (Jun.  6),  Jason  (Jun.  7),  H^'a- 
cinthus  (Jun  14).  Die  Kunstwerke,  die  uns  erhalten  sind, 
stimmen  keineswegs  überein. 

2)  Ebenso  ist  hinsichtlich  der  Schamhaare  keineswegs  die  Re- 
gel der  Wirklichkeit  das  Entscheidende.  An  einem  plastischen 
Apollo  sind  sie  sehr  seifen,  und  doch  hätte  z.  B.  der  vatika- 
nische Apollo  das  Alter  dazu.  Der  Apoxyomenos  dagegen, 
der  nicht  älter  ist,   muss  sie  haben.     Wenn  eine  Gestalt  in 


135 

Aus  dem  Meer  kommt  ein  goldrier  "Wagen ,  heisst  es 
weiter,  von  vier  Pferden  gezogen.  Neben  Pelops  steht  Po- 
seidon, ihn  an  der  Hechten  fassend.     Es   ist  Nacht  auf  dem 


die  Sphäre  einer  reineren,  zarteren  Schönheit  gehoben  werden 
soll,  so  lässt  man  dies  Anhängsel  irdischer  Bedürftigkeit 
weg,  wie  an  jenem  Satyr,  den  man  für  praxitelisch  hält,  an 
dem  Stockholmer  Endymion  u.  s.  w.  Dem  kräftigen  Mannesalter 
dürfen  sie  natürlich  nie  fehlen.  Was  den  weiblichen  Körper 
betriflft.  so  erinnere  ich  mich  in  plastischen  Darstellungen  keines 
Beispiels,  wo  sie  dargestellt  wären,  bis  auf  eine  Berliner 
Gemme,  die  nicht  dieses  Argumentes  bedarf  um  als  modern 
erkannt  zu  werden.  Sie  stellt  nach  Tölken's  Vermuthung 
(IV,.  1,  117)  den  Herkules  mit  den  Töchtern  des  Thestius 
dar.  {Die  weibUche  Scham  selbst  ist  in  der  griechischen 
Plastik  mit  Ausnahme  der  kleinen  Bronzen  sehr  selten  (z.  B. 
aiL  einer  Nike,  die  über  dem  Stier  kniet,  den  sie  opfern  will,) 
in  griechischer  Malerei  öfter  in  mehr  oder  weniger  obscönen 
Vasenbildern,  häufiger  aber  in  etruskischer  Kunst  dargestellt, 
besonders  auf  den  Spiegeln,  was  sehr  charakteristisch  ist), — 
Die  Haare  unter  dem  Arm  sind  soviel  ich  weiss,  nur  an  dem 
Gallier  der  Villa  Ludovisi  ausgedrückt.  Vortreftlich ,  da  es 
sich  in  dieser  Figur  nicht  um  Darstellung  eines  Ideals,  son- 
dern charakteristischer  Wirklichkeit  handelte.  Ebenso  sind 
in  dieser  Figur,  wie  an  der  verwandten  Statue  des  „sterben- 
den Fechters"  die  Augenbrauen  plastisch  ausgedrückt,  was 
bis  dahin  in  der  griechischen  Kunst  nicht  üblich  war.  (Denn 
aus  dem  farnesischen  Herkules  und  dem  Aesop  in  Villa 
Albani,  wo  sie  auch  sichtbar  sind,  zu  schliessen,  es  sei  das 
schon  eine  Eigenthümhchkeit  des  Lysipjius  gewesen,  wäre 
voreilig.  In  der  spätem  römischen  Zeit  werden  sie  gewöhn- 
lich dargestellt,  nicht  bloss  beim  Antinous,  aber  vorwiegend 
bei  Porträts).  Aber  nur  an  dem  Mann  ,  nicht  an  der  Frau 
des  Galliers ;  hier  also  weicht  der  Künstler  von  der  Natur  ab. 
Warum  ?  Für  den  Mann  ist  es  charakteristisch ,  dass  sein 
trotziges  Auge  unter  buschigen  Brauen  hervorblitzt,  das  Weib 
soll  einen  zarteren  Eindruck  machen.  Winckelmann  war  viel 
aufmerksamer  auf  solche  Einzelheiten  ,  die  nur  dem  Unver- 
ständigen Kleinigkeiten  sind,  als  wir;  wir  sollten  aber  seine 
Beobachtungen  ergänzen  und  dann  ihren  Sinn,  den  Gedanken 
zu    finden   suchen,    der    in   der   Thatsache  als   ihre  Ursache 


136 

Bilde,  nur  wird  der  Knabe  von  seiner  Schulter  beleuchtet, 
wie  die  Nacht  vom  Abendstern.  Auch  bei  Pindar  bittet 
Pelops  den  Poseidon  um  das  Gespann  bei  Nacht-  Philostra- 


eingeschlossen  ist,  denn  erst  dann  ist  ja  ein  Werk  der  Kunst 
begriffen,  wenn  das  Sichtbare  in  allen  seinen  Einzelheiten 
als  nothwendig  erkannt  ist  durch  das  der  Seele  des  Künst- 
lers zur  Verwirklichung  vorschwebende  innere  Bild,  durch 
die  innere  Kunstlbrm.  Ich  darf  hier  noch  wol  eine  derartige 
Kleinigkeit  anfügen.  Winckelmann  behauptete ,  die  Götter 
seien  ohne  Nerven  (er  meint  Adern)  und  Sehnen  gebildet. 
Am  Poseidonsrumpf  aus  dem  Parthenon  aber  fand  man 
Adern  und  so  rief  man  :  Winckelmann  hat  Unrecht.  Und 
damit  begnügt  man  sich,  als  sei  die  Sache  abgethan.  Viel- 
mehr kam  es  jetzt  darauf  an,  Winckelmann's  aus  einer  Fülle 
"V'on  Beispielen  abstrahirte  Bemerkung  zu  vereinigeji  mit  der 
neuen  Thatsache  und  das  war  leicht,  wenn  man  nur  den 
Sinn  der  Thatsache  zu  finden  suchte,  den  Winckehnann  im 
Wesentlichen  richtig  erkannt  hat.  Man  braucht  nur  zu  lesen, 
was  er  gleich  weiter  bemerkt  (Buch  5,  Kap'.  1  §.  28): 
„Das  Dasein  und-  der  Mangel  dieser  Theile  unterscheiden 
einen  Herkules  ,  welcher  wider  Ungeheuer  und  gewaltsame 
Menschen  zu  streiten  hatte,  und  noch  nicht  an  das  Ziel  sei- 
ner Arbeiten  gelanget  war,  von  dem  mit  Feuer  gereinigten 
und  zu  dem  Genuss  der  Seligkeit  des  Olj^mpus  erhobenen 
Körper  desselben;  jener  ist  in  dem  farnesischen  Herkules, 
und  dieser  in  dem  verstümmelten  Sturze  desselben  im  Bel- 
vedere  vorgestellt."  Sodann  macht  er  darauf  aufmerksam, 
dass  sich  die  Adern  in  der  Blüthe  der  Jahre  wenig  äussern. 
Man  muss  nun  fn  Hinblick  darauf,  dass  am  Fries  des  Parthe- 
non auch  an  jugendlichen  Figuren  die  Adern  sichtbar  sind, 
sich  so  ausdrücken:  Alle  Wesen,  deren  Natur  es  bedingt, 
dass  sie  sich  kleiden  in  eine  reinere,  leichtere,  gleichsam 
BtofFlosere  Materie  \a erden  ohne  Adern  vorgestellt,  obwohl 
ihr  Lebensalter  in  Wirklichkeit  sie  hervortreten  liisst.  Selbst 
in  leidenschaftlicher  Handlung,  wo  sie  beitragen  zur  Charak- 
terisirung  der  Leidenschaft,  sind  sie  wol  nur  dem  Stande 
voller  Manneskraft  eigen.  Jedenfalls  ist  die  Nachahmung  der 
Natur  nicht  das  Entscheidende,  sondern  die  Idee,  der  Charak- 
ter der  Figur  baut  sich  seine  Gestalt. 


J37 

tus  entlehnt  den  Zug  ohne  ihn  zu  verstehn,  denn  er  heht 
ihn  auf  durch  die  leuchtende  Schulter  des  Knaben,  die  er 
aus  einer  vorhergehenden  Stelle  desselben  pindarischen  Ge- 
dichtes aufnahm.  Pindar  lässt  Gott  und  Mensch  in  nächt- 
lichem Dunkel  verkehren  nach  seiner  hohen  Anschauung 
vom  GöttHchen.  Bei  Homer  findet  ein  unbefangener  Verkehr 
statt  zwischen  den  Göttern  und  ihren  Lieblingen,  nach  Pin- 
dars  Anschauung  dagegen  ist  das  menschliche  Auge  zu 
schwach,  um  den  Anblick  der  Gottheit  zu  ertragen  und  eben- 
darum sucht  Pelops  den  Poseidon ,  Jamus  den  Apollo  zur 
Nachtzeit  auf.  Die  Kunst  muss  natürlich  die  homerische 
Anschauung  festhalten,  Philostratus  schrieb  dem  Pindar  ge- 
dankenlos nach. 


In  dem  „die  Hören"-  betitelten  Bilde  des  altern  Philostra- 
tus  (II,  34)  heisst  es:  Die  Frühhngshoren  befinden  sich 
über  Hyacinthen  und  Rosen,  die  des  Winters  über  lockerem 
Land ,  die  herbstlichen  über  Reben ,  die  blonden  Hören  des 
Sommers  aber  wandeln  auf  dem  Haar  der  Aehren,  ohne  es 
zu  brechen  oder  zu  biegen ,  sondern  sie  sind  so  leicht,  dass 
die  Saat  sich  nicht  einmal  neigt. 

Wir  wollen  uns  die  Zahl  der  Hören  gefallen  lassen^), 
obwohl  die  Kunst  für  jede  Jahreszeit  nur  einen  Repräsen- 
tanten hat,  es  kommt  mir  hier  nur  an  auf  das  über  die  sommer- 
lichen Hören  Gesagte.  Homer  erzählt  von  den  wunderbaren 
Füllen,  die  der  Windgott  Boreas  mit  den  Stuten  des  Königs 
Erichthonius  gezeugt  hatte,  dass  sie,  so  oft  sie  hüpften  über 
das  nährunggebende  Feld,  oben  über  die  Frucht  der  Aehren 


1)  Welcker  (zu  Sen.  II,  3  p.  57,  15)  nimmt  hier  und  an  vielen 
andern  Stellen  den  Plural  für  den  Singular  nach  einem 
„idiotismus  rhetoricus."  Nach  demselben  Prinzip  sollen  mit 
den  Ausdrücken  nyslt]^  nkrid-og  nicht  Viele,  sondern  Wenige 
gemeint  sein.  Die  Voraussetzung ,  dass  Philostratiis  Wirk- 
liches sah,  ist  wieder  der  Grund  solcher  Willkür. 


138 

hinliden.  oline  sie  zu  Itreehon.  Dies  Wunder  ist.  begreiilich  an 
Sprösslingen  des  Windgotles:  wie  der  Vater  über  die  Aeliren 
hinfährt,  ohne  sie, zu  brechen,  so  die  Abkömmlinge,  deren 
sturmgleiche  Schnelligkeit  dadurch  ausgedrückt  werden  soll. 
Desselben  Bildes  bedient  sich  Hesiod,  um  die  Schncllfüssig- 
keit  des  Iphiklos  zu  malen,  und  VirgH  sagt  von  der  Vols- 
kerführeriii  Camilhi ,  die  nicht  weiblicher  Arbeit  nachging,^ 
sondern  gewohnt  war,  harte  Schlachten  zu  ertragen  und  im 
Lauf  der  Füsse  den  Winden  zuvorkommen ,  sie  würde  oben 
über  die  Halme  selbst  einer  unversehrten  Saat  hinlaufen, 
ohne  die  zarten  Aehren  zu  verletzen.  Vireil  ahmt  offenbar 
nach,  nur  stellt  er  charakteristisch  genug  als  blosse  Möglich- 
keit hin,  was  Homer  als  wunderbare  Thatsache  einfältig 
berichtet^). 

Dass  Philostratus  eine  dieser  drei  Stellen  vor  Augen 
hatte,  ist  nicht  zu  läugnen,  er  verstand  sie  nur  nicht  und 
steigert  das  Bild  ins  Absurde.  Nicht  die  Leichtigkeit,  son- 
dern die  höchste  Schnelligkeit ,  die  windschnelle  Bewegung, 
die  über  den  Boden  hinfährt  und  ihn  kaum  berührt,  wollen 
jene  Dichter  mit  ihren  Schilderungen  Acranschaulichen,  sodann 
sagen  sie  mir,  dass  die  Aehren  nicht  gebrochen  wurden  von 
den  darüber  Laufenden.  Philostratus  aber  lässt  die  Aehren, 
ja  das  Haar  der  Aehren  sich  nicht  einmal  neigen  unter  den 
Füssen  der  Hören  und  eben  durch  diese  Steigerung  wird  das 
ganze  Bild  absurd. 

Doch  wir  wollen  uns  das  Bild  noch  gemalt  denken, 
Welcker  nennt  es  ein  opus  elegantissimum.  Dass  die  Hören, 
obgleich  flügellose  Wesen,  wie  aus  den  Worten  des  Schrift- 
stellers hervorgeht,  in  der  Luft  schweben,  möchte  man  sich 
allenfalls  gefallen  lassen,  wiewohl  es  der  Sitte  der  guten 
Kunst  widerstrebt  2).  Denn  auch  das  göttliche  Wesen  denkt 
sich   die    alte  Kunst    mit   physischer  Schwere  ausgestattet'), 


1)  Virg.  Aen.  7.  809.  Hesiod.  Fr.  221  Göttling    Hom.  11.  20.  227. 

2)  Tadelns\\erth  scheint  mir  der  Mars,    der  aul  einem  Gemälde 
der  Titusthermen  zur  Iha  herabschwebt  (Müller  11,  23.  253). 

3)  Der  auf  dem  Meer  wandelnde  Christus  hat  keine  Analogie  in 
der  alten  Kunst. 


139 

es  bedarf  der  Flügel,  wenn  es  sieh  über  dem  Erdboden  be- 
wegen wilP).  Aber  darin  liegt  das  Anstössige  des  Bildes, 
dass  das  Feinste  und  Zarteste,  die  Spitzen  der  Aehren,  die 
dem  leisesten  Windhauch  weichen,  so  mit  den  Hören  in  Ver- 
bindung gesetzt  sind,  dass  wir  sie  als  Stütze  derselben  lassen 
müssen  und  doch  nicht  fassen  können,  weil  sie  ganz  ihre 
Natur  verläugnen.  Die  Hören  haben  eine  Stütze  und  haben 
sie  auch  wieder  nicht,  insofern  diese  Stütze  nicht  Stütze  sein 
kann ,  ja  nicht  einmal  versucht  es  zu  sein.  Dieser  Wider- 
spruch ist  es,  der  den  Hauptanstoss  erregt. 


1)  Die  Selene  auf  gemalten  Darstelhingen  des  Endj'mion  erregt 
die  Vorstellung,  als  würde  sie  getragen  von  ihren  wallenden 
Gewändern. 


Zweiter  Abschniii. 
Die  eigfiien  Erfindung^en  der  Pliiloslrate. 

I. 

Die  Fehler,  die  wir  im  Vorgehenden  an  den  Bildern  der 
Philostrate  hervorhoben,  waren  in  der  Regel  veranlasst  durch 
falsche  Dichternachahmung,  in  einzelnen  Fällen  sahn  wir  in- 
dess  schon  den  Rhetor  selbständig  operiren,  eigne  Zusätze 
machen  zu  dem  überlieferten  Mythus.  Diese  eignen  Zusätze 
und  Erfindungen  der  Philostrate,  die  aus  ihrer  Belesenheit 
oder  Phantasie  stammen,  bilden  das  Thema  des  zweiten  Ab- 
schnittes. Es  sind  deren  nicht  wenige,  besonders  bei  dem 
älteren  Philostratus.  Das  ist  nämlich  ein  charakteristischer 
Unterschied  des  altern  und  Jüngern  Philostratus,  dass  ersterer 
durchaus  selbständiger,  erfinderischer,  letzterer  weit  abhängi- 
ger ist  von  dem  überlieferten  Mythus;  man  vergleiche  nur 
das  zweite,  vierte,  fünfte,  sechste  seiner  Bilder.  Leicht  be- 
greiflich, da  er  Nachahmer  ist,  wie  er  selbst  in  seinem  Vor- 
wort gesteht.  Bei  dem  Jüngern  Philostratus  begegnen  wir 
daher  nur  einem  einzigen  Bilde,  das  nicht  auf  mj^thischer 
oder  historischer  Grundlage  beruhend  eine  freie  Ei-findung 
des  Rhetors  zu  sein  scheint.  Der  ältere  hat  deren  nicht 
wenige  und  zeigt  in  seinen  Zusätzen  eine  originellere  Ge- 
schmacklosigkeit. Wir  werden  nun  wie  oben  dies  Eigne 
der  Rhetoren  messen  an  der  erhaltenen  Kunst  und  an  der 
Theorie  der  Kunst  überhaupt;  die  Fehler  lassen  sich  wie  dort 
in  bestimmte  Klassen  bringen.  Wir  beginnen  mit  dem  Punkt, 
den  wir  auch  oben  voranstellten,  mit  den  Fehlern  gegen  die 
hinsichtlich  d(n-  Gewandung  befolgte  Sitte  der  Kunst. 

Der  ältere  Philostratus  beschreibt  (I,  16)  folgendes  Bild : 
Die  Werkstatt  des  Dädalus  ist  dargestellt.  Um  ihn  stehn 
Statuen    herum ;    er    verräth    in    seinen  klugen   Mienen   den 


141 

Athener,  auch  in  seiner  Tracht,  er  trägt  nlimUch  einen  ahge- 
schabten  Mantel  von  dunkler  Farbe  und  ist  baari'uss.  Man 
sieht  ihn  mit  der  Zusaninienfügung  der  Kuh  l)eschäftigt ;  ne- 
ben ihm  arbeiten  Eroten.  Einige  bohren,  andre  glätten, 
noch  andre  suchen  das  Gleichgewicht  zu  ermitteln.  Zwei 
sind  beim  Sägen  beschäftigt:  einer  steht  auf  der  Erde,  der 
andre  hoch  auf  der  Maschine,  und  so  führen  sie  die  Säge 
durch  das  Holz').  Pasiphae  aber  sieht  draussen  unter  der 
Rinderheerde  nach  dem  Stier  aus  in  dem  Wahn,  sie  werde 
ihn  zu  sich  heranziehn  durch  ihre  Gestalt  und  glänzende 
Gewandung.  Der  Stier  aber,  Führer  der  Heerde,  schönge- 
hörnt und  \^eiss,  blickt  heiter  auf  seine  Kuh,  die  ganz  weiss 
ist  mit  schwarzem  Kopf.  Sie  will  aber  den  Stier  nicht,  sie 
hüpft  wie  ein  Mädchen ,  welches  der  ZudringHchkeit  des 
Liebhabers  entrinnt. 

Dädalus,  sagt  der  Rhetor,  war  bekleidet  mit  einem  dun- 
keln TQi'ßcok',  was  ich  durch  Mantel  übersetzt  habe.  Denn 
unter  TqlßMv  wird  immer  das  Obergewand  der  Männer,  also 
das,  was  wir  Mantel  nennen,  verstanden,  der"V§<'/!?wi/  ist  nur 
eine  besondere  Art  desselben  und  zwar  der  Qualität  nach 
unterschieden,  er  bezeichnet  nämlich  ein  dürftiges,  abgeschab- 
tes Obergewand 2).  Darum  tragen  ihn  die  einfachen  Men- 
schen der  alten  Zeit,  dann  die  Spartaner  in  Einklang  mit 
der  Einfachheit  ihrer  Sitten  und  in  Athen  diejenigen,  welche 
spartanische  Sitten  nachahmten,  besonders  aber  die  Philoso- 
phen seit  Solu'ates,  als  Gegner  des  Luxus.  Philostratus  giebt 
ihn  (II,  32)  auch  dem  Themistokles :  „ein  Mann  recht  attisch 
mit  dem  Tribon  gekleidet."  Muss  nicht  eine  solche  Tracht 
an  dem  Handwerker  Dädalus   im   höchsten  Grade  auffallen? 


1)  „Der  eine  hat  sicli  geneigt  um  sich  wieder  zu  erheben,  der 
andre  hat  sich  erhoben  um  sich  zu  neigen. '■'■  Diese  Worte 
will  Lindau  als  uniicht  streichen,  ,,denn  beide  Säger  müssen 
sich  gleichzeitig  neigen  und  aulrichten."'  So  ist  es  allei'dings 
in  der  Wirklichkeit  und  sonach  im  Kunstwerk,  aber  wir  dürfen 
ja  nicht  die  Voraussetzung  machen,  dass  Philostratus  Gesche- 
henes beschreibe. 

2 )  Man  vgl.  besonders  K.  F.  Hermann's Privatalterth.  § .  20,  Anra.  14, 


142 

Man  sehe  die  vielen  Darstellungen  von  Zimmerleuten  und 
Schmieden  dai"ch,  den  Bau  der  Argo ,  die  Arbeiten  des  He- 
phästos,  des  Epeios ,  des  Dädalus,  man  wird  immer  linden, 
dass  der  Werkmeister  die  Traciit  des  Handwerkers ,  den 
Chiton,  der  die  rechte  Schulter  l'rei  lässt,  einzeln  auch  einen 
blossen  Schurz  um  den  Leib  trägt.  Und  natürlich,  der  Hand- 
werker muss  leicht  gekleidet  sein.  Freilich  supplirt  man  an 
unsrer  Stelle,  der  Tribon  sei  hoch  geschürzt  gewesen,  offen- 
bar wieder  desswegen,  weil  man  ein  wirkliches  Bild  annahm, 
gewiss  nicht  im  Sinne  des  Philostratus,  der  gar  nicht  all  den 
Handwerker,  sondern  nur  an  den  Athcrner  Dädalus 
denkt,  wie  seine  Worte  deutlich  beweisen;  aber  es  sei  ein- 
mal so,  immer  ist  der  rqlß(t)v  ein  Obergewand,  also  ein 
Kleidungsstück,  das  für  einen  Handarbeiter  gar  nicht  existirt, 
Oder  meint  man ,  der  tqißbuv  erschien  auf  dem  Bild  als  ein 
blosses  Tuch  um  die  Hüften  gebunden,  so  frage  ich  eben, 
wie  Philostratus  das  einen  rqißMv  nennen  konnte.  Die 
Sache  ist,  wie  mir  scheint,  klar  genug:  Philostratus  hatte 
von  dem  rqißMv  als  einem  specifisch  attischen  Kleidungstück 
gelesen  und  nun  gibt  er  es  dem  Athener  Dädalus  ohne 
sich  weitere  Gedanken  zu  machen. 

Die  Kuh  war  im  W'esentlichen  fertig;  so  scheinen  die 
Worte  des  Schriftstellers  anzudeuten  und  so  war  es  noth- 
wendig  um  zu  begreifen,  was  Dädalus  und  Pasiphae  mit  ein- 
ander zu  thun  haben.  Nichtsdestoweniger  aber  sind  noch 
zwei  Eroten  beschäftigt,  einen  Balken  zu  zersägen.  Wozu 
nun,  fragt  man,  wenn  die  Kuh  schon  Gestalt  hat,  eine  Arbeit, 
die  da  am  Platz  ist,  wo  das  anzufertigende  Ding  noch  ohne 
alle  Gestalt  ist?  Denn  das  Sägen  mittelst  eines  Gerüstes 
ü-eschieht  bekanntlich  bei  dicken  Balken,  die  der  Länge  nach 
zu  Brettern  durchschnitten  werden  sollen ').  Wenn  man  die 
auf  Dädalus  und  Pasiphae  bezügUchen  erhaltenen  Monumente  2) 


1)  Der  Vorgang  ist  dargestellt  auf  dem  merkwürdigen  pompe- 
janischen  Bild,  das  zuletzt  in  der  Archaeol.  Ztg.  VIII  (zu 
Taf.  17)  besprochen  ist. 

2)  Sie    sind    znsammengestelll    von    0,    Jahn    Arcliaeol.    Beitr. 


143 

vergleicht,  so  wird  zwar  auch  noch  gearbeitet  au  der  Kuh, 
aber  es  ist  die  letzte  Arbeit  au  dem  iui  Weseul liehen  vollen- 
deten Werk. 

Wie  Philoslratus  die  beiden  sägenden  Eroten  besehreibi, 
was  er  von  ihrem  Athemholen  sagt,  das  les^  man  bei  ihm 
selber  nach;  es  ist  so  seine  Art,  Dinge,  die  sich  von  selbst 
verstehn  und  die  Niemand  zu  wissen  begehrt,  mit  einer 
wirklich' widerliehen  Ausführlichkeit  zu  beschreiben. 

Der  Stier  allein  genügt  dem  Philostrat us  nicht,  der  einem 
Künstler  genügen  würde  und  dem  Verfertiger  eines  pompe- 
janischen  Bildes  genügte.  Eine  ganze  Heerde  ist  anwesend 
und  der  von  der  Pasiphae  gehebte  Stier  verfolgt  eine  Kuh. 
Wie  gemein  wäre  die  griechische  Kunst,  wenn  dies  Bild 
wirklich  gemalt  gewesen  wäre!  Statt  das  Objekt  der  Liebe 
in  der  Ferne  zu  zeigen,  nur  als  erklärenden  Grrund  für  die 
Betrübniss  der  Pasiphae,  erscheint  sie  hier  als  die  unglück- 
liche Nebenbuhlerin  einer  Kuh,  eines  bloss  von  sinnlichem 
Trieb  erfüllten  Geschöpfes! 

Die  Kuh ,  welche  der  Stier  verfolgt ,  ist  schwarz  mit 
weissem  Kopf  Aehnliches  dichtet  der  Rhetor  auch  an 
andern  Stellen.  In  dem  Bilde  der  Eberjagd  (I,  28)  befand 
sich  ein  Pferd,  weiss  mit  schwarzem  Kopf,  ein  andres  (11,5) 
war  oben  schwarz ,  an  Beinen  und  Brust  weiss,  und  eine 
Centaurin  (II,  3)  hatte  den  menschlichen  Theil  weiss,  den 
thierischen  schwarz.  Diese  wunderbare  Centaurin  werden 
wir  «päter  noch  genauer  betrachten,  ich  muss  es  aber  schon 
hier  aussprechen,  dass  alle  diese  Angaben  nur  dem  albernen 
Rhetor  angehören,  der  nach  Besondrem  suchte.  Es  ist  im- 
mer ein  seltnes  Naturspiel,  das  solche  Zeichnungen  hervor- 
bringt,  wie    die  angegebenen,   und    eben  solche  auffallende 


p.  237  ff.,  wozu  die  von  Visconti  Opfere  varie  II,  p.  253  n. 
312  erwähnte  Gemme  und  dann  das  im  Bullet.  Nap.  IV,  92 
beschriebene-  pompejanische  Bild  hinzu  kommt.  Was  übri- 
gens die  Aehnlichkeiten  betrifft,  die  zwischen  diesem  und 
dem  philostratischen  Bild  an  der  letztern  Stelle  gefunden 
werden,  so  glaube  ich  vor  denkenden  Erklärern  nicht  nüthig 
zu  haben,  näher  daraul^  einzugehn. 


144 

Seltenlieilen  muss  der  bildende  Künstler  vermeiden,  weil  er 
uns  die  Frage  nicht  beantwortet,  wozu  es  denn  eines  so  gar 
besoudern  Thieres  bedurfte  und  weil  eine  solche  Effekt- 
hascherei in  einer  untergeordneten  Partie  der  Darstellung 
demjenigen,  worauf  das  Interesse  ruht,  nichts  weniger  als 
förderlich  ist. 


Ein  Bild  des  Jüngern  Philostratus  (n.  15)  stellt  die  ka- 
1} donische  Eberjagd  dar,  an  einige  erhaltene  Darstellungen 
hinsichtlich  der  Figuren  erinnernd  ^ )  ,  worauf  aber  kein  Ge- 
wicht gelegt  werden  kann ,  weil  die  Figuren  des  Bildes  — 
Atalante,  Meleager,  Peleüs  und  Käneus  —  auch  im  Mythus 
hervorgehoben  sind,  also  ebensogut  aus  diesem  entlehnt 
sein  können.  Dagegen  steckt  in  der  Beschreibung  der 
Atalante  vielleicht  die  Reminiscenz  eines  wirklich  gesehenen 
Kunstwerks,  da  sie  in  der  Tracht,  die  ihr  Philostratus  giebt, 
in  den  erhaltenen  Kunstdarstellungen  zu  erscheinen  pflegt. 
Desto  autfallender  aber  ist  der  Meleager.  Der  Rhetor  be- 
schreibt zuerst  in  der  ausführhchsten  Weise  alle  Körpertheile 
desselben,  so  dass  man  glaubt,  er  sei  nackt  vorgestellt,  aber 
dann  erfahren  wir,  das  er  Chiton  irnd  Chlamys  trug.  Er 
weicht  darin,  Menn  ich  nicht  irre,  von  allen  Darstellungen 
des  Meleager  als  Siegers  über  den  Eber  ab;  schon  in  dem 
ältesten  Vasenstil  ist  Meleager  nackt  dargestellt,  so  wie  es 
allein  schickhch  ist.  Denn  wenn  überhaupt  die  Nacktheit 
für    jugendliche   Heroen    die    gewöhnliche   Erscheinungsform 


1)  Man  vgl.  namentlich  das  schöne  jetzt  in's  Berliner  Museum 
übergegangene  Terrakottarelief  bei  Jahn  Ber.  d.  sächs. 
Gesellsch.  d.  Wiss.  1848  p.  123  fl".,  zu  dessen  Erklärung 
ich  nur  hinzufüge,  dass  das  Schwert  in  der  Hand  der 
Atalante  und  die  üoppclaxt  in  der  Hand  des  Meleager  sich 
einfach,  wie  mir  scheint,  durch  die  räumlichen  Verhältnisse 
der  Komposition  erklären  ;  der  Bogen  als  eine  in  die  Ferne 
wirkende  Waffe,  selbst  die  Lanze  passt  nicht  so  gut  wie  die 
Doppelaxt  für  den  gegebenen  Raum. 


'  145 

ist'),  so  ist  sie  besonders  da  nothwendig,  wo  lebhafter  Kampf 
die  Glieder  spannt.  Nur  durch  die  Anschauung  des  unver- 
hüllten Körpers  wird  uns  die  Kraft  des  jugendlichen  Helden 
deutlich,  die  sich  hier  erprobt,  und  wir  begreifen,  dass  ihm 
der  Sieg  zufallt.  Es  könnten ,  wie  ich  nicht  läugne ,  von 
einzelnen  Vasenbildern  Analogien  für  den  Meleager  des  Phi- 
lostratus  entnommen  werden  ,  aber  der  grossen  Menge  der 
Kunstdenkmäler,  der  Sitte  der  Kunst  gegenüber  bleibt  er  eine 
durchaus  auffallende  Erscheinung  2). 


Auch  das  Bild  des  Amphiaraus  (Sen.  I,  27)  kann  hier 
besprochen  werden,  wenn  es  auch  noch  mehrere  andre  Selt- 
samkeiten enthält.     Der  Rhetor  sagt: 

Das  Zweigespann  (denn  mit  vier  Pferden  zu  fahren, 
war  noch  nicht  Sitte  in  der  heroischen  Zeit,  den  kühnen 
Hektor  etwa  ausgenommen)  trägt  den  Amphiaraus,  der  mit 
Binden  und  Lorbeer  unter  die  Erde  flieht.  Er  ist  bewaffnet 
mit  Ausnahme  des  Helms,  denn  sein  Haupt  weiht  er  dem 
Apollo,  heilig  und  seherisch  blickend.  Auch  Oropus  ist  da, 
ein  Jüngling  unter  bläulichen  Weibern  —  das  sind  Meere  — 
und  die  Denkhöhle  des  Amphiaraus ,  eine  heihge  und  gött- 
hche  Schlucht.  Dort  ist  auch  die  Wahrheit  mit  weissem 
Gewände   und  das  Thor   der  Träume.     Und  Oneiros  ist  dort 


1)  Vgl.  den  Excurs  V. 

2)  Von  Ankäus  sagt  der  Rhetor:  aS^Qoov  fxo^wr  j6  cduu  xcu 
is  TTokv  dvfQQioyiog  rov  ^i]qov.  Da  ist  wieder  das  Gefal- 
len an  dem  Widerwärtigen ,  das  so  ganz  der  griechischen 
Kunst  fremd  ist.  Von  dem  getroffenen  Eurypj^los  heisst  es 
(Jun.  10):  xQovvr)S6v  ^x/tiTcu  to  cdfxa^  von  dem  getroffenen 
Achelous  (Jun.  4) :  cufxuTo?  i](^>]  juäXXov  ^  vdfiajog  aifitjOi 
xoovvovg  dnayontvfov.  Aehnlich  sagt  der  ältere  Philostratua 
(I,  29)  von  dem  durch  Perseus  getödteten  Seeungeheuer  : 
IfxnXrififJivoovv  TTrjyectg  cdfiarog ,  irif  wv  iQvOocc  y)  S-uXaaau, 
obwohl  Persens  gar  kein  Schwert,  sondern  nnr  das  Meduseu- 
haupt  hat.  Solche  Darstellungen  erinnern  an  die  Art  der 
Mordgeschichten  auf  Jahrmärkten. 

10 


146 

in  lässiger  Gestalt  und  hat-  ein  weisses  Gewand  über  einem 
schwarzen  und  ein  Hörn  in  den  Händen. 

Dem  gerüstet  liimiiiterfahrenden  Amphiaraus  ist  aller- 
dings ein  spätes  römisches  Relief  zu  vergleichen ;  die  Sitte 
der  griechischen  Kunst  lernt  man  aus  einem  Relief  von  Oro- 
pus  und  aus  einem  Monochrom  von  Herkulanum :  beide 
stellen  den  Amphiaraus  nackt  dar^). 

Der  Helm  fehlt  ihm,  dagegen  trägt  er  Binden  und  Lor- 
beerkranz: es  sieht  aus,  als  habe  er  sich  festlich  kostümirt 
für  die  Hinunterfahrt  in  die  Erdschlucht.  Binden  und  Lor- 
beerkranz? die  ja  dasselbe  bedeuten?  Auf  den  Monumenten 
finden  wir  eins  oder  das  andre,  nicht  beide  zusammen  dar- 
gestellt 2);  Philostratus  bringt  sie  beide  an,  wie  er  oben  dem 
Eros  Bogen  und  Fackel  gab,  die  beide  ihm  zukommen,  aber 
nicht  zu  gleicher  Zeit. 

Heilig  und  seherisch  bückend  fährt  Amphiaraus  unter 
die  Erde.  Wie  unnatürlich!  Denn  welcher  Mensch  bebte  nicht, 
wenn  die  Erde  sich  vor  ihm  aufthut!  ^Yas  menschlich  wahr 
ist,  das  zeigt  jenes  griechische  Relief:  Wie  von  einem  plötz- 
lichen Anblick  getroffen  ,  der  allen  Muth  bi-icht ,  sinkt  dem 
Seher  der  Kopf  auf  die  Brust  herab,  wie  zurückbebend  er- 
scheint der  ganze  Körper ,  die  Knie  wanken,  sie  sind  einge- 
knickt, so  dass  kraftlos  der  Mann  herabsinken  würde,  wenn 
nicht  die  Hand  den  Rand  des  Wagens  umfasst  hielte^).  Das 
Auge  des  Sehers  erbhckt  die  gähnende  Erdtiefe,  sein  Geist 
aber  weiss,  dass  es  kein  Entrinnen  giebt.  Darum  bricht  die 
Gestalt  so  kraftlos  zusammen,  um  so  rührender,  als  sie  in 
lieblicher  Jugend  und  Schönheit  erscheint. 

Von  Stellung  und  Geberden  des  Amphiaraus  sagt  der 
Rhetor  ^kein  Wort,  auch  die  Figur  der  Wahrheit  wird  nicht 
näher  beschrieben.     Diese  Verschwiegenheit   beobachtet  Phi- 


1)  Die  Abbildungen  s.  b.  Overbeck  Gall.  Taf.  VI  n.  6.  7-  9. 

2)  Nnr  die  Sieger  in  den  Wettspielen  sind  mit  Kj-anz  und  Tä- 
uie  zugleich  geschmückt,  wie  man  einzeln  auf  Vasen  darge- 
gestellt  sieht.     Das  hat  bekanntlich  seinen  guten  Grund. 

3)  \gi.  die  Beschreibung  Welcker's  A.  D.  II,  p.    176  ff. 


147 

lustratus  in  vielen  Bildern ;  sie  ist  sehr  begreiflich,  wenn  meine 
Annahme,  dass  er  nichts  Wirkliches  sah,  richtig  ist. 

Amphiaraus  fährt  auf  einem  Zweigespann,  denn,  sagt  der 
Rhetor,  in  der  heroischen  Zeit  war  das  Viergespann  noch 
nicht  üblich.  Hier  bringt  die  Belesenheit  den  Philostratus  zu 
Fall,  denn  die  Kunst  weicht  hier  ab  von  der  Poesie,  sie 
lässt  die  Heroen  auf  Viergespannen  fahren  i).  Sie  kehrt  sich 
nicht  an  historische  Treue,  sondern  begeht  unbedenklich  einen 
Anachronismus,  weil  sie  die  herrliche  stattliche  Erscheinung 
eines  Helden  besser  durch  das  Viergespann  ausdrücken  kann. 
Es  ist  das  eine  so  allgemeine  Sitte,  dass  ich  mich  durch  das 
erwähnte  römische  Relief,  wo  Amphiaraus  auf  einem  Zweige- 
spann f4hrt,  um  so  weniger  irre  machen  lassen  kann,  als 
der  besondere  Charakter  dieses  Reliefs  die  Abweichung  er- 
klärt. Sie  ist  nämlich,  wie  ein  Blick  auf  die  Abbildung 
lehrt,  durch  Raumnoth  veranlasst,  worin  ja  so  viele  Beson- 
derheiten der  römischen  Sarkophagreliefs  ihre  Erklärung 
finden. 

Der  Wagenlenker  wird  nicht  erwähnt  ^j  ,  den  wir  auf 
den  Monumenten,  allerdings  wieder  mit  Ausnahme  eben  je- 
nes römischen  Reliefs  finden.  W^er  aber  mit  dieser  Gattung 
von  Kunstwerken  vertraut  ist,  der  wird  auch  nicht  in  die- 
sem Punkt  das  Relief  als  Stütze  des  philostratischen  Bildes 
anführen  wollen.  Auf  einem  andern  Sarkophagrelief  ist  der 
Wagenlenker  mitsanimt  dem  Waagen  des  Oenomaus  wegge- 
lassen ;  der  Raum  ist  voll,  dachte  der  Steinmetz  und  so  mag 
er    wegbleiben^),     Philostratus    aber    Hess    den  Baton    ohne 


1)  Oenomaus  fälirt  auf  dem  Kypseloskasten  nach  epischem  Ge- 
brauch mit  zwei  Pferden-,  ich  glaube  nicht,  dass  Jemand 
dies  als  Stütze  des  philostratischen  Gemäklea  geltend  machen 
möchte. 

2)  So  wenig  wie  M}'i-tilos  auf  dem  Bild  des  gestürzten  Oeno- 
maus (Sen.  I,  17)  als  anwesend  erwähnt  wird. 

3)  Ich  meine  den  Sarkophag  aus  Mons  Archaeol.  Ztg.  1855 
Taf.  80,  worüber  ich  Hrn.  Ronlcz  noch  ein  paar  Worte  ent- 
gegnen möchte,  der  mit  mir  zugleich  das  Monument  bespro- 
chen  hat    und   sich   in   der   Arch.  Ztg   1857    p.  27  ff.  wegen 

10* 


148 

Zweifel  deswegen  weg,  weil  die  Schriftsteller,  uus  denen  er 
schöpfte,  wenn  sie  von  dem  Ende  des  Aniphiaraus  sprechen, 
begreiflicherweise  nur  den  Seher  allein  erwähnen;  ihre  Hö- 
rer M'ussten  ja,  dass  jeder  Heros  seinen  Wagenlenker  hat 
und  ergänzten  ihn  daher  stillschweigend,  oder  wenn  sie  es 
nicht  thaten ,  so  konnte  das  dem  Dichter  ganz  gleichgültig 
sein.  Der  Maler  dagegen  kann  natürlich  nicht  den  Baton 
ergänzen    lassen. 

Die  Meerweiber  fügte  der  Rhetor  gewiss  nur  desswegeii 
hinzu,  weil  Oropus  in  der  Nähe  des  Meeres  lag.  Die  Lokal- 
gottheit Oropus  allein  genügte  ihm  nicht,  er  fügt  noch  einige 
Figuren  hinzu,  die  nur  ein  geographisches  Interesse  befi'iedi- 
gen  können.  Ebenso ,  nur  noch  schlimmer  macht  er  s  auf 
dem  Bilde  des  Palämon ,  das  wir  im  Folgenden  betrachten 
werden.  Uebrigens  verstehe  ich  nicht,  wie  die  „bläulichen 
Weiber"'  {yXavxd  yvyaia)  zu  denken  sind.  Das  Meer  ist 
allerdings  bläulich,  wenn  aber  der  Rhetor  das  Epitheton  des 
Meeres  auf  die  Meerweiber  überträgt ,  so  kann  man  nicht 
anders  glauben,  als  dass  ihre  Hautfarbe  der  des  Meeres  glich. 


einiger  ihm  von  mir  nachgewiesener  Irrthümer  theils  zu  ent- 
schuldigen, theils  zu  vertheidigen  sucht.  Die  Entschuldigun- 
gen wären  um  so  besser  unterblieben  .  als  die  Gründe  ,  die 
ihn  zu  der  unrichtigen  Erklärung  veranlassten,  Gegengriinde 
luitten  sein  sollen;  wenn  er  aber  am  Schluss  derselben  bemerkt, 
„es  bleibt  mir  nur  übrig,  was  Hr.  Friederichs  zu  thun  ver- 
säumt hat,  die  Abwesenheit  des  Wagenlenkers  des  Ocnomaos 
als  einen  sehr  beachlenswerthen  Umstand  auf  unserem  Bas- 
relief hervorzuheben"  —  ist  auch  das  Fehlen  des  Wagens 
„ein  sehr  beachtenswerther  Umstand"?  —  so  muss  ich  ihm 
bemerken ,  dass  ich  das  gar  nicht  hervorgehoben  haben 
möchte  und  dass  ich  bedaure,  dass  Hr.  Roulez  das  hervor- 
gehoben hat,  weil  er  dadurch  beweist,  dass  er  mit  dem  Cha- 
rakter der  Sarkophagdarstellungen  wenig  vertraut  ist.  Für 
ihn  scheint  auch  die  erste  Regel  der  Kunsterklärung ,  erst 
den  Charakter  eines  Monuments  zu  begreifen,  ehe  man  zu 
deuten  anfängt,  nicht  zu  existiren.  Doch  seine  Entgegnung 
w^ürde  noch  zu  anderen  Bemerkungen  Veranlassung  geben, 
die  ich  hier  unterdrücken   muss. 


149 

Um  die  Wahrlieit  der  erlheilten  Orakel  zu  bezeichnen, 
ist  die  personificiHe  Wahrheil  unwesend:  da  es  Traumorakel 
sind ,  so  bringt  der  Rhetor  den  personificirten  Oneiros  hinzu 
und  dabei  fällt  ihm  dann  die  homerische  Stelle  von  den 
zwei  Traumarten  und  Traumthoren  ein.  Gleich  bringt  er 
sie  an  und  —  obgleich  die  Wahrheit  ja  schon  da  ist  —  um 
zu  bezeichnen ,  dass  die  in  der  Am])hiarausgrotte  gesandten 
'IVäume  wahre  Träume  sind,  die  nach  dem  Homer  aus 
Thüren  von  Hörn  hervorkommen,  giebt  er  seinem  Oneiros  — 
ein  Hörn  in  die  Hände,  .,als  demjenigen ,  der  die  Träume 
durch  die  wahre  Thür  heraui'führt."  Der  alte  Heyne  ver- 
wunderte sich  sehr  darüber,  Welcker  äussert  sich  gar  nicht. 

Dies  Bild,  das  äl)rigens  noch  lange  nicht  das  absm'deste 
ist,  kann  das  Verfahren  des  Rhetors  besonders  deutlich 
machen.  Seine  Lektüre  und  sein  Calcul,  wenn  man  so  sa- 
gen darf,  liegen  überall  klar  vor  Augen. 


u. 

Zahlreich  sind  die  Fehler  der  Philostrate  gegen  die  Alle- 
gorie. Ein  ganzes  Nest  davon  ist  das  Bild  der  Palästra 
(Sen.  II,  32): 

Das  Land  ist  Arkadien  und  zwar  die  schönste  Land- 
schaft Arkadiens ,  die  wir  Ohmpia  nennen ,  so  beginnt  der 
Rhetor,  denn  er  weiss  immer,  was  nach  unsern  Anschauun- 
gen und  Kenntnissen  von  alter  Kunst  merkwürdig  genug  ist, 
das  Lokal  der  Handlung  ohne  Bedenken  zu  benennen,  auch 
da,  wo  es  nicht  im  Mythus  gegeben  ist.  Auf  diesem  Raum 
befindet  sich  die  männUche  Jungfrau  Palästra,  umspielt  von 
Kindern  —  man  weiss  nicht,  ob  Mädchen  oder  Knaben  — 
den  personificirten  Ringergriffen  i).  Die  Gestalt  der  Palästra 
ist  schwankend  zwischen  Jungfrau  und  Ephebe;  das  Haar 
ist  zu  kurz,  um  es  aufzuflechten,  und  die  Brüste  haben  we- 
nig Schwellung  wie  an  einem  zarten  Knaben ;  ihre  Haut  ist 
von  der  Sonne  gebräunt.  Sie  sitzt  züchtig  da  mit  einem 
Oelzweig  in  dem  nackten  Busen. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Figur  der  Palästra.  Es  ist 
ein  Mädchen  in  blühenden  Jahren,  nur  fehlt  der  Busen,  der 
zu  diesen  Jahren  gehört.  „Sie  lobt  nichts  Weibliches",  sagt 
der  Rhetor  zur  Motivirung  des  fehlenden  Busens.  0  über 
solche  Albernheit !  Als  ob  das  Mädchen  dadurch  an  dem 
Charakter  der  Männlichkeit  verlöre,    wenn   sie  die  Fülle  des 


1)  Jacobs  versteht  wie  O.  Müller  Archeol  §.  406.  2  unter  den 
naXaia^ma  die  varia  genera  certaminum,  was  schon  die  Be- 
deutung dc6  Worts  unmöglich  macht.  Dieser  Irrthnm  ver- 
anlasste Ersteren  weiter,  die  Worte  xnäiiaror  /nh'  yän  är]  rö 
^i'vrjfjufi'or  Tri  Tiäki]  ganz  falsch  zu  deuten  auf  das  Pankra- 
tion.  Vielmehr  ist  der  Sinn:  xqÜiiotov  fifv  yciQ  Srj  tö  §vvt]ju- 
fifvov  {nülaiofift.  das  Verschlungensein)  rjy  Trüh].  W^elcker 
(A.  D.  I,  488)  fasst  die  nakaCafiaju  vollkommen  richtig  als 
,, Stellungen  des  Ringspiels.' 


151 

Busens  hat,  welche  ihr  Alter  erfordert.  Worin  heul  hier  der 
Fehler?  Bass  der  Khelor  um  des  Allegorischen  willen  die 
Gestalt  AU  einer  üngestalt  macht.  In  dem  Glauben ,  ein 
schwellender  Busen  schade  dem  Eindruck  der  Kraft  und 
Rüstigkeit,  den  die  Palästra  machen  soll,  bindet  er  uns  ein 
erwachsenes  Mädchen  ohne  Busen  auf.  Die  allegorische 
Figur  ist  wie  jede  andre  Figur  durch  die  von  der  Natur  ge- 
gebenen Formen  gebunden  ;  nur  der  Charakter  derselben  ist 
abhängig  von  dem  darzustellenden  Begriff.  Ein  Künstler 
hätte  der  Palästra  gewiss  einen  vollen  kräftigen  Busen  gege- 
ben, wie  einer  Amazone  oder  Koma ,  er  hätte  ihr  auch  wol 
das  längere  weibhche  Haar  gelassen,  nur  dass  er  es  nicht 
herabhängend,  sondern  aufgebunden  gemalt  haben  würde. 
Wie  merkwürdig  sind  sodann  die  Attribute  der  philostratischen 
Palästra!  Ein  Künstler,  glaub'  ich,  hätte  ihr  dieselben  At- 
tribute gegeben,  die  der  Palästrit  hat,  Oeltlasche  und  Strie- 
gel. So  wenigstens  verfährt  die  Kunst  alter  und  neuer  Zeit 
bei  dergleichen  Personifikationen.  Die  allegoi-ischen  Figuren 
der  Künste  haben  die  Attribute  des  Künstlers ,  wofür  schon 
das  Alterthum  ein  Beispiel  gibt ,  wenn  das  pompejanische 
Bild,  auf  welchem  eine  weibhche  Figur  mit  den  Geräthen 
des  Enkausten,  wie  es  scheint,  dargestellt,  von  Welcker^) 
richtig  auf  die  personificirte  Enkaustik  gedeutet  ist.  Und 
noch  näher  kommt  die  Statue  des  personificirten  Agon  in 
Olympia 2),  welcher  Springgewichte  in  den  Händen  trug,  also 
ein  Geräth  des  Wettkämpfers.  Wäre  die  Palästra  in  dieser 
Weise  dargestellt,  dann  wäre  der  Sinn  der  Figur  deutlich 
gewesen:  die  Frau  mit  dem  Oelzweig  aber  —  der,  wie  der 
Rhetor  erklärt,  auf  den  Gebrauch  des  Oels  beim  Ringen  sich 
bezieht  —  kann  Niemand  Palästra  nennen ,  nur  derjenige, 
der  sie  erfand. 

Noch  auffallender  ist  die  Darstellung  der  Ringergriffe 
als  personificirter  Wesen.  Können  denn  überhaupt  die  Rin- 
gergriffe personificirt  werden?     Nur   dasjenige  kann  personi- 


1)  Kl.  Sehr.  III  p.  426. 

2)  Pausan.  V,  26,  3. 


152 

ficirt  werden  .  dem  ein  fester  Begriff  zu  Grunde  liegt ,  nicht 
das,  was  zufällig  ist  und  wechselnd.  Und  gesetzt  ein  Künst- 
ler machte  den  Versuch,  so  würde  er  ganz  anders  verfahren 
als  Philostratus  ,  dessen  Kinder  Niemand  für  allegorische 
Wesen  halten  kann.  Wären  sie  dargestellt  jeder  einen  be- 
stimmten Griff  machend,  der  oft  vorkam  oder  gelehrt  wurde, 
so  käme  eine ,  wenn  auch  absurde ,  doch  verständliche  Dar- 
stellung heraus^  jetzt  aber,  da  sie  um  die  Palästra  herum- 
hüpfen ,  verdunkelt  die  Handlung  des  Hüpfens  ganz  und  gar 
ihr  Wesen,  d.  h.  den  Kingergriff,  dessen  Darstellung  sie  sind. 
Wie  soll  man  sie  daher  für  etwas  Andres  halten  ,  als  für 
ganz  gewöhnliche  Kinder?  Was  aber  sollen  dann  diese 
Kinder  auf  dem  Bilde? 


Ein  andres  Bild  des  altern  Philostratus  (1,  2)  stellte 
den  Komos  dar,  die  Festlust,  die  nach  dem  Gelage  noch 
herumschwärmt  und  Ständchen  singt,  und  zwar  sowohl  per- 
sonificirt,  als  in  ihrer  realen  Erscheinung.  Man  sah  den 
Komos  als  Knaben  gebildet,  dem  Jünghngsalter  nahe,  wie  er 
dastand  mit  einem  Jagdspeer  in  der  einen,  mit  einer  Fackel 
in  der  andern  Hand,  eiiigeschlafen,  den  Kopf  auf  die  Brust 
neigend.  Auf  demselben  Bild  erbhckte  man  den  realen  Ko- 
mos ,  einen  Schwärm  von  Männern  und  Weibern  in  lärmen- 
dem Aufzug.  Betrachten  wir  zunächst  den  personificirten 
Komos. 

Er  schläft  —  gleich  dieser  Umstand  ist  autfallend.  Man 
höre  folgende  treffende  Bemerkung  Lessings '):  ,. Die  Kunst 
kann,  bei  Personificirung  eines  abstracten  Begriffes,  nur 
bloss  das  Allgemeine  und  Wesenthche  desselben  ausdrücken, 
auf  alle  Zufälligkeiten,  welche  Ausnahmen  von  diesem  All- 
gemeinen sein  würden,  muss  sie  Verzicht  thun;  denn  der- 
gleichen Zufälligkeiten  des  Dinges  würden  das  Ding  selbst 
unkennthch  machen,  und  ihr  ist  an  der  Kenntlichkeit    zuerst 


1)  Wie  die  Alten    den  Tod    gebildet,    im    l'ünften  Eand    p.  315 
der  ges.  W.     Vgl.  den  Laokoon  Cap.  VIII. 


153 

gelegen.  Der  Dicliter  hingegen .  der  seinen  personificirlen, 
abstracten  Begriff  in  die  Classe  handelnder  Wesen  erhebt, 
kann  ihn  gewissermassen  wider  diesen  Begriff  selbst  handeln 
lassen  und  ihn  in  allen  den  Modifikationen  einl'üln-en ,  die 
ihm  irgend  ein  einzelner  Fall  gibt,  ohne  dass  wir  im  gering- 
sten die  eigentliche  Natur  desselben  darüber  aus  den  Augen 
verlieren.*-'  Dieser  Satz  ist,  wie  mir  scheint,  so  einleuchtend 
durch  sich  selbst,  dass  er  der  Beispiele  nicht  bedarf.  Wenn 
ein  Künstler  den  Komos,  die  schwärmende  Weinlust ,  perso- 
niticirt  darstellen  will,  so  kann  er  ihm  nur  die  Züge  geben, 
die  der  Sache  selbst  Mcsentlich  eigenthiimlich  sind.  Kann 
er  ihn  schlafen  lassen?  Freilich  kami  es  in  der  Wirklich- 
keit vorkpmmen ,  dass  Einer  in  dem  lustigen  Schwärm  müde 
wird,  und  ein  Maler,  der  in  dem  real  dargestellten  Komos 
so  malte,  wäre  nicht  zu  tadeln,  aber  für  den  Begriff  des 
Komos,  welchen  die  Personifikation  darstellen  will,  ist  das 
Schlafen  nicht  nur  zufiUlig,  sondern  entgegengesetzt.  Der 
Komos  soll  als  schwärmender,  nicht  als  schlafender  Jüng- 
ling dargestellt  sein,  sonst  kennt  ihn  Niemand.  Die  Figur 
des  Philostratus  trug  ferner  einen  Jagdspeer.  Der  Rhetor 
dichtete  so,  weil  er  gelesen  hatte,  dass  blutiger  Hader  oft 
bei  solchen  Schwärmereien  ausbrach.  Das  kam  in  Wirk- 
lichkeit vor,  ist  aber  für  die  Darstellung  des  Begriffs  zufällig, 
ja  entgegengesetzt.  In  einem  Jüngling  mit  Jagdspeer  kann 
Niemand  einen  Komos  erkennen  ^). 

In  der  erhaltenen  Kunst  ist  der  Komos  eine  sehr  seltene 
Erscheinung.  Auf  Vasen  findet  man  zwar  häufig  einen  Silen 
mit  der  Beischrift  xcofiog-,  aber  dieser  Silen  ist  gar  nicht  als 
eine  allegorische  Figur  aufzufassen.  Er  ist  es  so  wenig,  wie 
die  ihn  begleitenden  Satyrn  und  Bacchanünnen  ,  denen  ähn- 


1  "i  Grade  an  dies  Bild  kiüiplen  sich  nielu'ere  selir  merkwürdige 
Vermuthungen.  natürlich  auf  der  Voraussetzung  beruhend,, 
dass  den  Bildern  Wirklichkeit  zu  Grunde  liege.  Ich  bemei'ke 
nur,  dass  Welcker  meint,  unter  nQoßöXiov  sei  ein  besondres 
Kleidungsstück  zu  verstehn,  obwohl  das  Wort  bei  demselben 
wnA  auch  bei  andern  Schriftstellern  Jagdspeer  bedeutet  (vgl. 
die  Note  von  Jacobs). 


154 

liehe  Namen  Iteigeschrieben  sind.  Wenn  -wir  Namen  begeg- 
nen, wie  Wein,  Süsswein,  Tanz,  Muthwille,  und  ferner  bei 
Weibern  solehen  wie  Friede,  Meeresstille,  Frohsinn,  Gesang, 
Keile,  so  ist  durchaus  nicht  aus  diesen  Namen  zu  schliessen, 
dass  die  Personen,  die  sie  tragen,  allegorische  seien.  Sie 
sind  gar  nicht  als  solche  gekennzeichnet  vom  Künstler,  der 
Kontos  z.  B.  ist  ein  Satyr  unter  mehreren  ohne  auszeich- 
nende Characteristik ,  ohne  allegorische  Individualität,  Viel- 
mehr beabsichtigten  die  alten  Maler  mit  diesen  Ueberschriften 
gleichsam  den  ganzen  Vorgang  zu  beleben ,  indem  sie  uns 
mit  Worten  die  Mächte  nennen,  die  in  solchem  Kreise  herr- 
schen. Wir  sollen  lebendig  empfinden,  dass  Frohsinn  und 
Muthwille  das  Lebenselement  dieser  F'iguren  sind,  aber  als 
Personifikationsversuche  abstraeter  Begriffe  dürfen  diese  Dar- 
stellungen nicht  genommen  werden ,  dazu  fehlt  es  an  aller 
und  jeder  Andeutung  ^).  Eine  acht  allegorische  Darstel- 
lung des  Komos  findet  sich  allerdings  auf  einer  Vase^),  die 
sich  weil  allegorisch ,  von  den  KMfiog  genannten  alten  Sa- 
tyrn sehr  merklich  unterscheidet.  Die  Vase  ist  sehr  hübsch 
und  auch  noch  nicht  ganz  im  Einzelnen  richtig  gedeutet. 
Die  Darstellung  ist  diese:  In  der  Mitte  sitzt  Dionysos  in 
der  älteren  Erscheinungsform  als  bärtiger  Mann,  einen  Be- 
cher in  der  Hand  haltend ,  den  er  dem  vor  ihm  stehenden 
als  Satyrknabe  gebildeten  Komos  hinhält,  der  sich  anschickt, 
daraus  zu  trinken.  Hinter  diesem  steht  Ariadne  aus  einem 
Krug  den  Becher  des  Dionysos  füllend:  ihr  entspricht  auf 
der  andern  Seite  die  Tragödie,  welche  einen  Thyrsusstab 
trägt,  ein  passendes  Attribut  für  sie,  da  die  Tragödie  her- 
vorgegangen ist  aus  bacchischen  Festen.  Auf  der  andern 
Hand  hält  sie  ein  Häschen;  wenn  man  den  Blick  der  Figur, 


1)  Etwas  anders,  nämlich  als  ein  Nichtkünnen  der  Vasenma- 
ler, so  dass  der  beigeschriebene  Name  die  „Ergänzung  der 
künstlerischen  Darstellung  sei."  lasst  dies  0.  Jahn  Einleitung 
p.  204.  205;  mir  scheint  es  ein  Nicht  wollen  zu  sein. 

2)  Gerhard  Anserl.  56.  Müller- Wieseler  II,  46,  582.  Das  Bild 
in  der  Archäol.  Ztg.  X  laf.  37  kann  auch  wol  als  eine  Alle- 
gorie betrachtet  werden. 


155 

der  auf  Komos  geiichlel  ist  und  die  Art,  wie  sie  das  Häs- 
chen hält,  betrachtet,  so  kann  man,  wie  mir  scheint,  nicht 
zweifehl,  dass  sie  das  Thier  dem  Komos  als  Geschenk 
bietet,  wie  ja  grade  dieses  Thier  häufig  auf  Vasen  als  freund- 
liches Geschenk  verehrt  wird.  Dass  dagegen  der  Hase  Attri- 
but der  Tragödie  sei  und  nach  seiner  symbohschen  Natur 
zur  Tragödie  in  Beziehung  stehe,  für  diese  Annahme  der 
Erklärer  vermisse  ich  die  Begründung.  Betrachten  wir  nun 
den  Komos.  Er  ist  klein,  kinderhaft,  ähnlich  wie  der  My- 
thus auf  der  Apotheose  Homer's,  um  das  Spielende,  Früh- 
liche, das  in  der  Natur  des  Komos  liegt,  anzudeuten.  Er 
ist  ferner  ein  Satyrkind,  denn  Muthwille,  Ausgelassenheit  ge- 
hörte zu  d^m  "Wesen  des  Komos,  und  seine  Handlung  ist, 
dass  er  trinkt  aus  dem  Becher  des  Dionysos;  natürlich,  der 
Weiugolt  ist  es,  dessen  Gabe  den  Komos  nährt.  So  hatte 
Pausias  die  Methe  characterisirt ,  die  er  trinken  Hess  aus 
einer  Schaale^}.  Kurz  wir  befinden  uns  in  einer  klar  cha- 
racterisirten  allegorischen  Darsfellung,  ohne  alles  Frostige 
freilich.  Es  ist  eine  herrliche  Eigenschaft  der  griechischen 
Kunst,  dass  sie  überall,  wo  eine  allegorische  Gestalt  mit- 
andern  zu  einer  Handlung  zusammentritt,  das  kalt  Durch- 
sichtige, gleichsam  Gläserne  eines  personificirten  Begriffs 
aufzuheben  weiss,  so  dass  man  bei  aller  Klarheit  der  Alle- 
gorie doch  mit  persönlichen  Wesen  zu  thun  zu  haben 
glaubt.  So  ist  hier  der  Komos  als  Allegorie  völlig  klar, 
aber  das  Bild  hat  nebenbei  so  viel  rein  persönhches  Leben, 
dass  es  auch  abgesehn  von  dem  mehr  intellektuellen  Interesse 
an  der  Verkörperung  eines  Begriffs,  als  Darstellung  einer 
Handlung  überhaupt  das  grösste  Vergnügen  gewährt. 

Und  wie  sollen  wir  nun  mit  dem  personificirten  Komos 
den  realen  Komos ,    den  Schwärm    der  Männer    und  Weiber 


1)  Die  Methe  des  Pausias  war  eine  Personifikation,  die  Methe 
in  Olvmpia  dagegen  (Paus.  6.  24,  8),  welche  dem  Silen  den 
Becher  reichte,  ist  der  Dämon  der  Trunkenheit.  Es  ist  eine 
verschiedene  Auffassung  wie  auch  z.  B.  an  Hvpnos.  Hypnos 
selbst  schlafend  ist  der  personificirte  Schlaf,  über  Andre  sein 
Hern  ausgiessend  der  Dämon  des  Schlafes. 


156 

vpi-hindoii  ?  Alles  wäre  klar,  wenn  Komos  sich  ebenso  zu 
den  Koma/.onten  verhielte,  wie  Hymenäus  zum  Brautzuge, 
wie  Eros  zu  Liebenden.  Als  ein  Anführer  des  Schwarmes. 
als  aufregender,  begeisternder  Dämon  sollte  er  die  Fackel 
schwingen,  —  so  dass  er  eben  aufhören  würde,  die  blosse 
Personifikation  eines  Begritfs  zu  sein  —  dann  wäre  das  Bild 
nicht  zu  tadeln.  Jetzt  aber  zerfällt  es  eigentlich  in  zwei 
Bilder,  denn  der  personificirte  Komos  sondert  sich  ab  als 
ein  Bild  für  sich.  Derselbe  Begriff  ist  do])])elt  darge- 
stellt, allegorisch  und  real,  so  dass  man  das  Bild  gar  nicht 
in  der  Einheit  eines  Gedankens  zusammenfassen  kann.  Dort 
wird  mehr  das  Interesse  des  Verstandes  in  Anspruch  ge- 
nommen ,  der  die  Congiuenz  sucht  zwischen  Begriif  und  Er- 
scheinung, hier  ist  es  ein  rein  künstlerisches  Interesse  an 
der  Darstellung  lebendiger  körperlicher  und  geistiger  En-e- 
gung.  Es  konnte  nur  das  Eine  oder  das  Andre  darge- 
stellt werden. 


In  dem  schon  oben  erwähnten  „Dodona"  betitelten  Bilde 
befand  sich  eine  eherne  Echo ,  die  Hand  auf  den  Mund  le- 
gend, „da  ein  ehernes  Becken  dem  Zeus  in  Dodona  geweiht 
war,  fast  den  ganzen  Tag  tönend  und  nur  dann  still,  wenn 
Jemand  es  anfasste."  Hier  sieht  man  wieder  deutlich, 
wie  der  Rhetor  verfuhr.  Das  ununterbrochne  Tönen  (^/«^r) 
in  dem  heiligen  Raum,  -„der  voll  von  Klängen  gemalt  war" 
personificirt  er  zu  einer  Echo,  unter  welcher  also  nicht  der 
Widerhall  zu  verstehn'),  und  weil  das  tönende  Becken  von 
Erz  war,  darum  ist  auch  die  Echo  von  Erz.  Und  wie  ist 
der  kuriose  Gestus  zu  erklären?  Das  eherne  Becken  ist  nur 
durch  Anfassen  zur  Ruhe  zu  bringen  und  eben  dies  soll 
an  der  personificirten  Echo  anschaulich  gemacht  werden. 
Sie  legt  den  Finger  an  den  Mund,  um  sich  dadurch  als  ein 
Wesen  zu  characterisiren ,   das  nicht  von  selbst   ruhig   ist^}. 


1)  Wie  auch  Welcker  bemerkt. 

2)  So  scheint  auch  Welcker   zu  verstehn:    patet,    Echo    aeream 


157 

Also:  ein  allegorisclies  AYesen  hebt  sich  selbst  durch  sehie 
eigene  Handhmg  aal'.  Den  Harpokrates,  der  denselben  Ge- 
stus  macht,  deutete  das  AJterthum  als  einen  Genius  des 
Schweigens  eben  wegen  dieses  Gestus,  bei  Philostratus  soll 
dieselbe  Geberde  das  grade  Gegentheil  bezeichnen,  sie  soll 
die  Geschwätzigkeit  selber  characterisiren.  ^A'enn  doch  we- 
nigstens nicht  sie  selbst,  sondern  ein  Andrer  ihr  den  Mund 
zuhielte,  da  ja  auch  das  eherne  Becken  nicht  durch  sich 
selbst  still  wird! 

Wenden  wir  uns  von  diesem  Produkt  eines  gedanken- 
losen Menschen  zu  einem  reizenden  Werk  griechischer  Kunst. 
Ich  meine  die  einzige  uns  erhaltene  Darstellung  der  Echo, 
nicht  jener  philostratischen,  sondern  der  neckischen  Nymphe 
des  Widerhalls.  Sie  befindet  sich  auf  einer  Lampe  des  Ber- 
liner Museums  und  da  weder  die  hübsche  Pointe  des  Bildes 
noch  die  sinnig  glückliche  Characteristik  der  Echo  ihren 
Ausleger  gefunden  haben  i),  so  darf  ieh's  wol  ganz  erklären. 
Ich  verstehe  so:  In  der  Mitte  des  Reliel^  auf  einem  Stein 
sitzt  Pan,  in  der  linken  Hand  die  Sjrinx  haltend  und  zwar 
so,  dass  man  sieht,  er  hat  sie  eben  vom  Mund  abgesetzt. 
In  der  Rechten  hält  er  erhoben  seinen  Krummstock,  wie 
zum  Schlage  bereit.  Was  ist  es  denn,  das  ihn  störte?  Hin- 
ter seinem  Rücken  muss  Etwas  vorgegangen  sein ,  denn  er 
dreht  seinen  Kopf  herum.     Auch    die  Ziege    neben    ihm    ist 


OS  digito  claudcre  ad  iiidicaiidum  sonum  miraculi  instar 
continuum,  nisi  vi  reprimalur,  et  usque  resonantem. 
1)  Wieseler:  die  Nymphe  Echo,  Göttingen  1854  p.  28  hat  das 
Bild  sehr  arg  missverstanden.  Derselbe  will  noch  andre  Dar- 
stellungen der  Echo  gefunden  haben.  Ich  kann  mir  nicht 
denken,  dass  er  diese  Erklärungen  noch  jetzt  festhält.  Denn 
was  besonders  dasjenige  betrifft,  was  er  von  der  zweiten- 
pompejanischcn  „Echo'-  sagt,  die  sich  auf  eine  Urne  stützt, 
so  wird  der  gelehrte  Archäolog  gewiss  zugeben,  dass  man 
nach  einem  solchen  Verfahren  Alles  aus  Allem  machen  kann. 
Die  methodische  Kunsterklärung  hört  dabei  auf.  ] —  Abgebil- 
det ist  das  Lampenrelief  in  der  Archüol.  Ztg.  X,  Tat".  39  und 
bei  Wieseler  Vign.  u.  1. 


158 

unruhig,  sie  springt  an  dem  Baum  hinauf,  der  hinter  dem 
Sitz  des  Pan  steht.  In  den  Zweigen  dieses  Baumes  kommt 
nun  ein  merkwürdig  Mädchen  zum  Vorschein ,  eine  Halb- 
figur, wie  mit  dem  Baum  verwachsen  und  der  Scene  den 
Rücken  kehrend.  Nehmen  wir  voriäulig  an ,  dies  sei  die 
Echo,  so  ist  der  Moment  der  ganzen  Darstellung  dieser: 
Pan  spielte  auf  der  Syrinx,  Echo  anlwortet.  Das  macht  ihn 
stutzig,  er  glaubte  sich  allein,  nun  pfeift  ihm  Einer  nach,  und 
nicht  an  Echo  denkend,  meint  er,  man  will  ihn  äffen.  Darum 
sieht  er  sich  um  und  hebt  seinen  Stock  wie  zum  Schlage 
bereit,  darum  springt  auch  die  Ziege  dahin,  woher  der  Ruf 
kam.  Dass  Pan  nicht  weiss ,  wer  ihm  seine  Musik  wieder- 
holt, darin  liegt  die  Pointe  des  Bildes.  Und  nun  die  Figur 
der  Echo,  die  so  hübsch  in  der  Ecke  des  Bildes  gleichsam 
schelmisch  versteckt  augebracht  ist  —  sie  ist  wie  mit  dem 
Baum  verwachsen  dargestellt,  weil  sie  ein  Wesen  ist,  das 
an  seinem  Platz  haftet,  nicht  naturfrei.  Sie  wohnt  im  Walde 
und  ruft  heraus,  wie  man  hineinruft.  Und  warum  dreht  sie 
der  Scene  den  Rücken  ?  Weil  sie  ein  Wesen  ist ,  das  nur 
hört,  nicht  sieht.  Man  drehe  sie  herum  und  gleich  ist 
die  Figur  unverständlich,  sie  würde  von  einer  Lokalnymphe 
nicht  zu  unterscheiden  sein.  Aber  jetzt  zeigt  sie  durch  ihre 
Stellung  an,  dass  sie  mit  den  Augen  an  der  Scene  gar  nicht 
betheiligt  ist,  sie  hört  nur  und  antwortet.  Das  ist  .sinnvolle 
Characteristik;  das  Bild  kommt  auch  aus  Athen. 


Sehr  merkwürdig  ist  die  Figur  des  Eros  von  den  Rhe- 
toren  behandelt,  der  zwar  mehr  mythisches  Leben  und  darum 
eine  weitere  Sphäre  hat,  als  die  besprochenen  Personifi- 
kationen, aber  doch  nicht  gegen  seinen  Begriff  handeln 
kann.  Das  geschieht  aber  auf  zwei  Bildern  des  Jüngern  Phi- 
lostratus. 

Das  eine  (Nr.  9)  stellte  das  Opfer  des  Oenomaus  an 
den  Ares  dar,  welches  dem  Wettkampf  mit  Pelops  voranging. 
Dabei  war   Eros  beschäftigt,    die  Achse    des  Wagens   einzu- 


159 

schneiden,  inn  dadiUTli  den  Sturz  des  Oenoniaus  und  somit 
die  glückliche  Verbindung  der  Liebenden  herbeizulühren.  Er 
thut  dies  niedergeschlagen,  wodurch  er,  wie  der  Khetor  sagt, 
uns  zweierlei  zu  bedenken  giebt,  einmal,  dass  die  Hippoda- 
mia  gegen  den  Vater  handelt,  sodann  die  spätem  Ereignisse 
im  Hause  des  Pelops^).  Wer  versteht  das?  wer  kann  das 
verstehn?  Eros  repräsentirt  die  Liebe,  er  trauert,  wenn  es, 
wie  bei  Narzissus,  aus  ist  mit  der  Liebe,  er  triuni})hirt  überall, 
wo  Liebe  siegt.     Mag  dieser  Sies,-  der  Liebe  zu  Stande  kom- 


1")  Es  ist  mehren  Bildern  der  Philostratc  eigen,  dass  sie  über 
die  Darstellung  hinaus  auf  die  Zukunft  hinweisen.  Unserni 
Fall, am  ähnlichsten  ist  der  Kithäron  (Sen.  I,  14),  welcher 
bei  dei'  Geburt  des  Dionj'sos  sich  nipht  ü-eut,  wie  man  er- 
warten sollte ,  sondern  das  Unglück  beklagt ,  das  bald  auf 
ihm  Yorgehn  soll  (es  ist  Pentheus  gemeint).  Ich  höre  in 
solchen  Bemerkungen  nur  einen  Rhetor ,  der  sein  Gelesenes 
auf  eine  ajbsurde  Weise  anbringt.  Welcker  spricht  (zu  Sen.  I, 
7  und  sonst)  von  einer  nicht  seltenen  Prolepse  in  der  Kunst 
und  führt  dann  lauter  Beispiele  aus  dem  Philostratus  an. 
Den  Philostratus  lassen  wir  nun  billig  aus  dem  Spiele,  in  der 
wirklichen  Kunst  beschränkt  sich  die  Prolepse  auf  folgende 
Fälle.  Ein  mythischer  oder  historischer  Kriegsheld  hat  bis- 
weilen den  Siegerkranz,  bevor  er  noch  gesiegt  hat,  bevor 
der  Sieg  entschieden  ist,  z  B.  Kadmus  auf  der  Berliner  Vase 
des  Drachenkampfs,  ein  Krieger  in  dem  Mosaik  der  Alexan- 
derschlacht. Sodann  lindet  man  auf  griechischen  Dar- 
stellungen dos  Wettkampfs  zwischen  Oenoniaus  und  Pelops 
die  interessante  Prolepse,  dass  Pelops  die  Braut  schon  bei 
sich  auf  dem  Wagen  hat,  obwohl  der  Wettkampf  noch  o-av 
nicht  entschieden  ist.  So  war  es  schon  auf  dem  Kasten  des 
Kypselos ;  auf  römischen  Monumenten ,  die  sich  mehr  der 
baaren  Realität  anschliessen ,  kommt  dergleichen  nicht  vor. 
Es  ist  allerdings  ein  Verstoss  gegen  die  Wirklichkeit,  aber 
das  Poetische  der  Darstellung  gewinnt  und  man  sieht  gleich, 
um  was  es  sich  handelt.  Endlich  Hesse  sich  noch  das  pom- 
pejanische  Bild  anführen,  das  von  Schelling,  wi^e  mir  scheint, 
durchaus  richtig  auf  die  Vermählung  von  Kronos  und  Rhea 
gedeutet  ist.  Hier  sind  die  drei  Kinder  dieser  Ehe,  obgleich 
nach  der  Darstellung  noch  zukünftig,  doch  schon  sichtbar. 


160 

men,  wie  er  will,  z.  B. durch  Gewalt,  wie  in  der  Entführung 
der  Kora,  so  kann  das  für  Eros  keinen  Unterschied  machen, 
denn  er  hat  einfach  seinen  Begrifl'  zu  erfüllen.  Der  Rhelor 
aber  nahm  den  Eros  als  Verkörperung  der  Stimmung  Hii)po- 
damia's  ,  die  um  den  Preis  des  Vaters  ihrer  Liebe  folgt.  Er 
soll  also  zugleich  die  Liebe  und  das  mit  der  Liebe  Kämpfende, 
mit  einem  Wort,  er  soll  sich  selbst  und  seinen  Wiederpart 
zugleich  ausdrücken. 

An  dem  Halse  der  berühmten  Archemorosvase  ist  der 
Wellkampf  des  Oenomaus  und  Pelops  dargestellt:  über  dem 
Wagen  des  liebenden  Paares  schweb!  ein  glückverheisseu- 
der  Eros. 

Auf  dem  andern  Bild  (Nr.  7)  sah  man  die  Medea  dem 
Jason  gegenüberstehend,  bemüht  die  Liebe  zu  ihm  niederzu- 
kämpfen. Eros  steht  dabei  mit  übergeschlagenen  Beinen  auf 
den  Bogen  sich  stützend  und  die  Fackel  gegen  die  Erde 
richtend,  „da  die  Werke  des  Eros  noch  in  der  Zögerung 
begriffen  sind" ,  d.  h.  da  die  Liebe  der  Medea  noch  zögert, 
noch  nicht  ganz  die  entgegenstehenden  Empfindungen  über- 
wunden hat.  Der  Rhetor  fasst  also  auch  hier  den  Eros  als 
Verkörperung  der  ganzen  Stimmung  der  Medea,  da  er  doch 
mit  dem  der  Liebe  Entgegenstehenden ,  als  Scham  u.  s.  w. 
nichts  zu  thun  hat,  sondern  nur  seinen  Begriff  erfüllen  kann. 
Ein  Künstler  hätte  wol  den  Eros  ähnlich  aufgefasst,  wie  er  in 
der  Begegnung  von  Diana  und  Endjmion  erscheint.  Da 
führt  Eros  die  etwas  zaudernde  Göttin  an  der  Hand,  er  zieht 
sie  vorwärts  zu  dem  Schläfer  hin,  und  so  hätte  er  die  Medea 
an  den  Jason  heranziehen  müssen.  Dann  wäre  Klarheit 
dagewesen,  dann  konnte  auch  das  jungfräuliche  Widerstreben 
schöner  ausgedrückt  werden. 


Etwas  anders  ist  der  Fehler  des  „die  Eroten"  über- 
schriebenen  Bildes  beim  altern  Philostratus  (1 ,  6) ,  das 
aber  doch  auch  in  diesem  Abschnitt  zu  besprechen  ist, 
denn   sein  Fehler  Hegt  darin,  dass  Eros  auf  einem  und  dem" 


161 

selben  Bilde  bald  allegoriscli,  bald  nicht  allegoiiseh  darge- 
stellt war. 

Eroten,  so  heisst  es,  lesen  Aeplel  in  einem  Garten.  Sie 
haben  Bogen  und  Kücher  abgelegt  und  ihre  Gewänder  lie- 
gen im  Grase.  Die  Früchte  sammeln  sie  in  Körbe,  ohne 
sich  der  Leitern  zu  bedienen,  denn  sie  fliegen  an  die  Bäume 
Iwnan.  Einige  aber  tanzen,  andre  laufen  durcheinander,  diese 
schlafen,  jene  essen  Aepfel.  Vier  aber,  die  schönsten,  treten 
aus  den  übrigen  heraus;  ein  Paar  von  ihnen  \Aii'ft  sich  ge- 
genseitig Aepfel  zu,  die  beiden  andern  zielen  mit  dem  Bogen 
auf  einander.  Aber  keine  Drohung  ist  in  ihrem  Gesicht,  son- 
dern sie  bieten  sogar  beide  ihre  Brust  an,  dass  dort  die  Pfeile 
haften  mögen.  Ein  drittes  Paar,  von  vielen  Zuschauern  um- 
geben, ist  im  Ringkampf  begriffen.  Der  eine  piesst  mit  Ar- 
men und  Beinen  seinen  Gegner  zusammen.  Dieser  erklärt 
sieh  nicht  für  besiegt,  er  bleibt  grade  aufrecht  stehn,  aber 
einen  Finger  des  Gegners  biegt  er  weg,  so  dass  die  übrigen 
nicht  mehr  haften.  Jener  aber  beisst  ihn  dafür  in's  Ohr,  wo- 
rüber die  umstehendeu  Eroten  zürnen  und  ihn  mit  Aepfeln 
steinigen.  Endlich  war  noch  eine  Hasenjagd  der  Eroten  dar- 
gestellt; der  eine,  heisst  es,  klatscht  in  die  Hände,  der  an- 
dre schreit,  der  dritte  schwingt  die  Chlamys.  Diese  fliegen 
über  das  Thicr  hin  mit  Geschrei,  die  andern  folgen  zu  Fuss. 
Mehrere  —  es  ist  wieder  eine  ungeheure  Menge  von  Figu- 
ren da  —  wollten  das  Thier  greifen,  aber  es  entwischte  ihnen 
und  sie  purzelten  hin  und  liegen  nun  da  in  verschiedeneu 
Stellungen.  Schliesslich  war  noch  ein  Opfer  und  Gebet  der 
Eroten  an  die  Ai)hrodite  dargestellt,  das  wir  uns  ersparen 
wollen. 

Bei  flüchtiger  Betrachtung  des  Bildes  glauben  wir  eine 
jener  Darstellungen  vor  Augen  zu  haben,  die  auf  Sarkopha- 
gen und  Wandmalereien  so  häutig  sind,  Darstellungen,  in 
denen  die  Eroten  ihres  eigentlichen  Begriffs  vöUig  baar  er- 
scheinen ^).     Es  könnten    in  den   meisten  Fällen    auch  Kna- 


1)  Vgl.  Excurs  Vr, 

11 


162 

ben  ohne  Flügel  dargestellt  sein,  und  es  wechselt  auch.  Was 
die  Eroten  tliun,  ebendasselbe  thun  auch  flügellose  Kinder, 
die  Eroten  sind  in  solchen  Darstellungen  gar  nicht  mehr  als 
mythologische  ^'^'esen  empfunden.  So  sehn  wir  sie  denn 
auch  in  Werken  der  erhaltenen  Kunst  ebenso  wie  bei  Phi- 
lostratus  Früchte  pflückend,  wenn  es  auch  nicht  vorkommt, 
dass  einige  von  ihnen  schlalen,  wie  der  gedankenlose 
Rhetor  schreibt.  Denn  welches  Kind  wird  wol  schlafen,  da 
wo  es  7,u  naschen  gibt!  Doch  das  soll  uns  nicht  weiter 
kümmern ,  der  Hauptfehler  des  Bildes  liegt  darin ,  dass  die 
Eroten  zum  Theil  als  anniuthige  geflügelte  Kinder  in  einer 
für  ihren  ursprünglichen  Begriff  gleichgültigen  Handlung,  zum 
Theil  aber  in  einer  symbolischen  Handlung  vorgestellt  sind, 
was  nie  auf  einem  und  demselben  Bild  vereinigt  vorkommt 
und  nicht  vorkommen  kann.  Denn  es  ist  nicht  möglich, 
ganz  gleiche  Wesen  bald  allegorisch,  bald  nicht  allegorisch 
zu  fassen.  Die  Eroten,  welche  Aepfel  pflücken,  sollen  uns 
ergötzen  durch  ihr  naives  Benehmen,  und  Niemand  soll  den- 
ken an  den  dem  Eros  ursprünglich  zu  Grunde  liegenden  Be- 
gi'iff,  denn  dass  hier  die  Aepfel,  die  allerdings  eine  erotische 
Bedeutung  hatten ,  nicht  so  verstanden  werden  können  (der 
Rhetor  will  sie  freihch  so  verstanden  wissen),  geht  ja  daraus 
hervor,  dass  die  Eroten  lustig  hineinbeissen.  Dies  und  das 
Tanzen,  Schlafen  ujid  Durcheinanderlaufen  der  andern  Eroten 
sind  Handlungen  von  rein  menschlichem  Interesse,  die  auch 
ohne  grossen  Unterschied  von  Kindern  ohne  Flügel  ausge- 
führt werden  könnten.  Aber  die  beiden  Paare,  die  aus  der 
Menge  heraustreten,  besonders  dasjenige  der  auf  einander 
schiesöenden  Eroten,  beanspruchen  ein  sjinbolisches  Interesse; 
hier  ist  es  nicht  die  Handlung  an  sich,  die  bei  dem  zweiten 
Paar  gar  nicht  einmal  verständlich  ist,  sondern  der  ihr  zu 
Grunde  liegende  Sinn,  auf  den  es  ankommt.  „Schön  ist 
das  Räthsel,  so  sagt  der  Rhetor;  sieh  zu,  ob  ich  den  Maler 
verstehe;  das  ist  Freundschaft  und  gegenseitige  Sehnsucht. 
Die,  welche  mit  dem  Apfel  spielen,  fangen  an  mit  der  Nei- 
gung. Daher  wirft  der  eine  den  Apfel  fort,  nachdem  er  ihn 
geküsst  hat  (man  \\ird  freilich  fragen,  \Aie  dies  ^i'/J^crat;  ans 


1G3 

dem  Bild  zu  ersehn  war),  der  andre  erwartet  ilin  mit  erho- 
benen Händen,  natürlich  um  ihn  wieder  zu  küssen,  sobald  er 
ihn  hat,  und  zurückzuwerfen.  Was  aber  das  Paar  der  Bogen- 
schützen betrifft,  so  befestigen  sie  die  schon  vorhandne  Liebe. 
Bei  "dem  Spiel  jener  handelt  es  sich  um  den  Anfang  der  Liebe, 
bei  dem  Bogenschiessen  dieser  um  das  Nichtaufhören  der 
Sehnsucht."-  Es  kommt  mir  hier  nicht  darauf  an,  zu  unter- 
suchen, ob  diese  vom  Khetor  ausgesprochenen  Absichten  so, 
wie  es  hier  geschehn  sein  soll,  ilusserlich  sichtbar  werden 
können ,  ich  wollte  nur  darauf  aufmerksam  machen,  dass 
die  Handlung  namentlich  des  z\v'eiten  Paars  nicht  anders  als 
symbolisch  zu  verstehn  ist.  Und  nun  das  dritte  Paar  —  was 
der  Rhetor  darüber  sagt,  ist  wieder  Erzählung,  nicht  Beschrei- 
bung —  ist  wieder  nicht  symbolisch,  zu  nehmen  ,  denn  dass 
Einer  dem  Andern  in's  Ohrbeisst,  ist  doch  wahrhaftig  eine  Hand- 
lung, die  unmöglich  symbolisch  verstanden  werden  kann.  Eben- 
so hat  die  Hasenjagd  nur  ein  allgemein  menschliches  Interesse. 
Der  Hase  ist  zwar,  wie  der  Rhetor  nicht  auszuführen  ver- 
gisst,  ein  Thier  der  Aphrodite,  aber  es  würde  keinen  Unter- 
schied machen,  wenn  z.  B.  ein  Reh  an  seine  Stelle  gesetzt 
wüi'de.  Denn  das  Symbolische  schwindet  hier  ganz;  das  naive 
Benehmen  der  Eroten,  das  Springen  und  Purzeln  ist's,  was 
hier  intcressirt.  Kurzum  es  wechsdt,  bald  interessirt  uns 
Eros  als  Eros,  bald  als  anmuthiges  geflügeltes  Knäbchen 
ohne  mythologischen  Inhalt  und  eben  dieser  Wechsel  ist  das 
Auffallende.  Gleich  er  s  che  inende  Figuren  müssen  Inder 
Kunst  auch  nach  ihrem  innern  Wesen  gleich  sein. 


Wir  hatten  es  bisher  mit  den  allegorischen  Darstellun- 
gen menschlicher  Thätigkeiten  und  Empfindungen  zu  thun, 
wir  wenden  uns  nun  zu  der  allegorischen  Darstellung  von 
Naturgegenständen.  Den  Anfang  mache  das  Bild  des  Nil 
(Sen.  I,  5),  das  von  einem  andern  Gesichtspunkt  aus  schon 
im  Vorhergehenden  besprochen  \vurde.  Es  \\ird  so  be- 
schrieben : 

11  * 


164 

Aus  dem  ^^'assel•  steigen  dem  Nil  zarte  und  lächelnde 
Kinder  empor.  Sie  .sitzen  auf  seinen  Sehnllern,  hängen  von 
seinen  Locken  herab,  schlafen  in  .seinem  Arm  und  spielen 
auf  seiner  Hrust ,  indess  jener  ihnen  Blumen  gibt.  Keben 
ihm ,  in  Aethiopien  ,  wo  er  seinen  Ursprung  hat ,  steht  ein 
Dämon,  so  gemalt,  dass  man  ihn  bis  an  den  Himmel  reichend 
denken  nmss  ,  dessen  Fuss  an  den  Quellen  sich  befindet. 
Auf  diesen  blickt  der  Fluss  und  bittet   um  viele  Kinder. 

Der  himmelhohe  Dämon  ist,  wie  Welcker  nachweist, 
aus  Pindar  entlehnt.  Er  soll  die  in  Aethioi)ien  slatlfindenden 
Regengüsse  andeuten  ,  denen  man  das  Wachsthum  des  Nils 
zuschrieb.  Wie  der  Regen,  &o  reicht  er  vom  Himmel  auf  die 
Erde.  Näheres  über  das  Aussehn  dieser  wunderliaren  Figur 
wird  nicht  mitgetheilt,  der  Rhetor  fand  in  den  Quellen,  die 
er  ausschrieb,  nichts  Weiteres  vor. 

Die  Beschreibung  des  von  den  Kindern  umgebenen  Nils 
erinnert  an  erhaltene  Bildwerke,  es  mag  eine  Reminiscenz 
des  Rhetors  darin  sein ,  nur  sind  gleich  wieder  eigne  Zutha- 
ten  hinzugefügt.  Denn  dass  einige  der  allegorischen  Kinder, 
welche  die  wachsende  Wasserfülle  des  Stromes  bedeuten, 
schlafend  dargestellt  waren ,  das  entnahm  der  Rhetor  gewiss 
nicht  von  einem  wirklich  existirenden  Kunstwerk. 

Der  äthiopische  Dämon  —  woraus  der  Rhetor  folgert, 
dass  er  sich  in  Aethiopien  befand,  ist  nicht  ersichtlich  — 
hat  nur  ein  naturhistorisches  und  eben  darum  kein  künstle- 
risches Interesse.  Der  Künstler  macht  uns  diiich  ihn  die 
Theorie  anschaulich,  dass  die  Anschwellung  des  Nils  durch 
die  in  Aethiopien  fallenden  Regen  veranlasst  werde.  Es  ist 
nicht  allein  ein  frostiger  Zusatz  ,  es  wird  auch  die  in  den 
Kinderfiguren  ausgedrückte  Allegorie  aufgehoben ,  insofern 
wir  durch  den  äthiopischen  Dämon  veranlasst  w  erden ,  an 
das  reale  Wasser  zu  denken.  Das  Bild  ist  doch  nur  so  vor- 
zustellen: An  der  einen  Seile  steht  der  himmelhohe  Dämon, 
seinen  Fuss  auf  die  Quellen  setzend:  von  ihm  ergiesst  sich 
ein  Wasserstrom  an  den  Nil,  der  von  den  aus  dem  Wasser 
aufsteigenden  Kindern  umgeben  die  andre  Seite  des  Bildes 
einnimmt.     Es  ist  also  ein  realer  Fluss  vorhanden,  und  eben- 


165 

darum  können  wir  die  Kinder  nicht  als  das ,  was  sie  sein 
sollen,  nicht  als  allegorische,  sondern  nur  als  wirkliche  Kin- 
der auffassen,  die  im  Wasser  s])ielen.  Wir  köinien  es  um 
so  weniger,  als  der  äthiopische  Dämon  uns  immer  an  den 
physischen  Ursprung  der  Wasserfülle  des  Nils  erinnert.  Die- 
sen Dämon  muss!e  der  Künstler  weglassen  ,  er  musste  sieh 
ferner  beschränken  auf  eine  Andeutung  des  Wassers  als  des 
Elementes,  in  welchem  der  Flussgott  lebt,  so  wie  es  ge- 
sehehn  ist  in  der  vatikanischen  Statue,  die  ein  so  schönes 
Beispiel  hefert  für  die  sinnvolle  Behandlung  allegorischer 
Figuren.  Die  Allegorie  verlangt,  dass  die  Kinder,  die  per- 
soniticirten  Ellen,  einander  überbieten,  dass  ein  allmähliches 
Steigen  sichtbar  sei,  nnd  so  sind  die  Kinder  an  der  Figur 
des  Nils  hinauf  gelagert ,  eins  höher  als  das  andre.  Aber 
nun  ist  eine  Fülle  naiver,  rein  menschlicher  Motive  hinzuge- 
mischt, so  dass  wir  fast  den  Sinn  vergessen,  den  die  Kinder 
ausdrücken,  dass  wenigstens  die  Allegorie  ihr  Frostiges  ver- 
liert. Besonders  hübsch  ist  der  Knabe,  der  aus  dem  Füllhorn 
herauskommt.  Er  hat  den  höchsten  Platz  errungen  und 
blickt  nun  selbstzufrieden  mit  zusammengeschlagenen  Armen 
um  sich,  wie  ein  Sieger,  der  Alle  hinter  sich  gelassen. 

Zu  diesem  Bilde  ist  nun  die  sowohl  real  als  personi- 
licirt  dargestellte  Nacht  auf  dem  Bilde  des  kleinen  Herkules 
zu  vergleichen,  das  wir  schon  besprachen,  und  ähnlich  ist  es, 
wenn  auf  dem  Bilde  der  Semele  (Sen.  1,  14)  Blitz  und  Don- 
ner personificirt ,  vom  Himmel  stürmendes  Platzfeuer  aber 
real  dargestellt  war ,  welches  also ,  obwohl  eine  Wirkung 
des  Blitzes,  doch  als  ein  Ding  für  sich  vorhanden  ist^). 
Man  vergleicht  zu  dem  letztern  Bilde  ein  Gemälde  des 
Apelles,  aber  Apelles  malte,    wenn  ich  nicht  irre,  drei  alle- 


1)  Auch  auf  dem  Bilde  des  Phorbas  (Sen.  II,  19)  stürzt  Feuer 
vom  Himmel.  Wenn  ein  alter  Schriftsteller  sich  so  ausdrückt, 
so  weiss  man,  wer  der  Urheber  des  Feuers  ist ,  bildlich  dar- 
gestellt aber  ist  es  etwas  Unbegreifliches.  Der.  Verfertiger 
des  Jupiter  Pluviiis  auf  der  Antoniussäule  dachte  antiker, 
indem  er  die  Natui*erscheinung  von  einem  persönlichen  Ur- 
heber ausgelin  liess. 


16<j 

gorischc  Fic^iiren .  er  mischte  also  riitht  Allegorie  und  Reali- 
tät i).  Pinxit,  sagt  Plinius^),  et  quae  pingi  non  possunt,. 
tonitrua,  fulgetra,  fulgura ,  quae  Bronten,  Astrapen  et  Cerau- 
nobolian  appellarit.  "Wozu  die  drei  sj)eeificirten  Namen, 
wenn  auf  dem  Bild  das  Gewitter  als  Natnrvorgang  gemalt 
war?  Und  die  Ceraunobolia  scheint  deutlich  an  das  Geräth 
zu  erinnern,  das  Zeus  trägt,  an  den  Donnerkeil,  der  in  realer 
Darstellung  keinen  Platz  hat. 

Es  ist  mir  kein  Beispiel  bekannt,  dass  ein  und  dasselbe 
Ding  real  und  allegorisch  zugleich  dargestellt  sei,  und  ich 
glaube ,  es  kann  keins  geben.  Nur  eine  scheinbare  Aus- 
nahme macht  ein  merkwürdiges  Bild  des  Protogenes.  Dieser 
Maler  halte  zwei  Staatsschiffe  der  Athener  als  menschliche 
Figuren  dargestellt,  als  Beiwerk  aber  (in  iis  quae  ])ictores 
parerga  appellant^)  kleine  wirkliche  Trieren  hinzugefügt. 
Es  war  ein  Zusatz,  zu  dem  ihn  die  Besonderheit  der  Allegorie 
veranlasste,  er  konnte  sie  niclit  deutlich  machen  ohne  ihn. 
Die  wirklichen  Schiffe  des  Bildes  sind  wie  ein  verdeutlichen- 
des Zeichen  zu  betrachten,  das  nur  um  eines  Andern  willen 
da  ist;  diese  untergeordnete  Bedeutung  machte  der  Künstler 
deutlich,  indem  er  sie  klein  und  als  Beiwerk  malte. 


Die  Personifikation  der  äussern  Natur  hat  ihre  Grenzen. 
Es  giebt  Fälle,  wo  nur  die  eigentliche  Darstellung  möglich 
ist.  Wenn  es  sich  um  Eigenschaften  handelt,  die  nur  das  Ding 
als  solches  hat,  so  kann  natürlich  von  einer  Personifikation 
keine  Rede  sein.  Aber  nun  betrachte  man  das  Bild  des 
altern  Philostratus  (II,  14),  welches  die  Landschaft  Thessalien 


1)  0.  Müller  freilich  sagt  im  Handb.  §.  141,  5,  Apelles  habe 
Gewitter  gemalt  ., wahrscheinlich  zugleich  als  Naturscenen 
und  als  mj-thologisclie  Personifikationen.'-  Es  ist  mir  abso- 
lut unmöglich,  ein   solches  Bild  zu  denken. 

2)  XXXV,  96. 

3)  Plin.  XXXV.  IUI. 


167 

und  den  Poseidon  darstellte,  wie  er  die  Berge  spaltete,  die 
den  thessalischen  Gewässern  den  Ausgang  wehrten.  Hier 
waren  die  Flüsse  Peneios  und  Titaresios  menschlich  gebildet, 
und  zwar  lag  der  crstere  auf  den  Ellenbogen  gestützt  *)  und 
nahm  den  Titaresios  auf  sieh.*  Es  heisst  nämlich  bei  Homer, 
dass  der  Titaresios,  ein  Nebenlluss  des  Peneios,  sich  nicht 
mit  dem  letztern  mische,  sondern  oben  auf  ihm  wie  Gel 
schwimme.  Dies  soll  nun  allegorisch  dadurch  ausgedrückt 
sein ,  dass  ein  Mensch  den  andern  auf  sich  nimmt.  Der  al- 
berne Rhetor  wusste  um  die  Personifikation  der  Flüsse  in 
der  Kunst  und  richtet  nun  nach  dieser  allgemeinen  Kennt- 
niss  den  einzelneu  Fall  ein.  Denn  kann  man  darüber  in 
Zweifel  sein,  dass  die  persönliche  Darstellung  an  diesem 
Ort  eine  Absurdität  sein  würde?  Das  Merkwürdige  der 
Sache  ist  nur  dann  vorhanden,  wenn  die  Gewässer  real 
dargestellt  werden ,  wenn  leichtes  Wasser  auf  schwerem 
Wasser  schwimmt ,  aber  personiticirt  ist  alles  Merkwürdige 
verschwunden  und  man  erbHckt  zwei  Leute,  den  einen  auf 
dem  andern  liegend,  ohne  dass  man  weiss,  was  sie  wollen 
und  was  sie  sind. 


Wenn  man  die  Bilder  der  Philostrate  für  wirkliche  Bil- 
der hält ,  so  muss  man  glauben ,  es  habe  ganz  in  dem  Be- 
lieben des  Künstlers  gelegen,  ob  er  die  äussere  Natur,  von 
welcher  eine  menschliche  Handlung  umgeben  ist,  persönlich 
oder  real  darstellen  wollte.  Philostratus  wenigstens  wechselt 
ganz  nach  Willkür.  Das  Meer  z.  B.  ist  bald  persönlich, 
bald  real  dargestellt  unter  ganz  gleichen  Verhältnissen,  wo 
es  nur  zur  Charakteristik  des  Lokals  dient.  Und  doch  er- 
innere ich  mich  nicht,  auf  irgend  einem  Werk  der  erhaltenen 
Malerei  das  oder   ein  personificirtes  Meer  gesehn    zu  haben. 


1)  noTcifjtp  yun  oQriova&ai  ov  avvrj&fg  sagt  der  Rhctor,  woraus 
man  wol  folgern  kann,  dass  er  sich  doch  nach  der  Kunst 
darstellung  der  Flüsse  umgesehn  hatte. 


168 

Auf  den  römischen  Wandgemälden  ist  du?  Meer  immer  real 
dargesielU,  mag  nun  eine  Handlung  darauf  vorgelm ,  wo  die 
unpersönliche  Darstellung  nothwendig  ist,  (»der  nur  die  Cha- 
rakteristik des  Lokals  beabsichtigt  sein.  Selbst  die  Plastik, 
die  ja  im  Pevsoniiiciren  \veiter  geht  als  die  Malerei,  weil  sie, 
wie  schon  Zoega*)  sehr  wahr  bemerkt  hat,  die  äussere  Na- 
tur nach  ihrer  Realiliit  nur  andeutend,  nicht  in  extenso  dar- 
stellen kann,  selbst  diese  kennt  nur  die  Personifikation  des 
Meeres,  nicht  eines  besondern  Meeres. 

Ein  Bild,  auf  dem  menschlieh  gestaltete  Meere  und  noch 
andre  recht  merkwürdige  Personifikationen  von  Naturgegen- 
ständen vorkamen,  trägt  den  Titel  Palämon  (Sen.  II,  16). 
Es  wird  so  beschrieben : 

Auf  dem  Isthmus  opfert  das  korinthische  Volk  und  König 
Sisyphus;  man  erblickt  auch  den  Fichtenhain  des  Poseidon, 
am  Meer  gelegen.  Ein  Delphin  bringt  auf  seinem  Rücken 
schlafend  den  Palämon,  lautlos  hingleitend  durch  die  Meeres- 
stille. Dem  Herankommenden  öffnet  sich  ein  Heiligthum  im 
Isthmus,  indem  das  Land  durch  Poseidon  auseinandei*weicht, 
welcher  auch,  wie  ich  glaube,  dem  Sisyphus  die  Ankunft 
des  Knaben  vorhergesagt  hat  und  dass  ihm  geopfert  werden 
müsse.  Sisyphus  aber  opfert  einen  schwarzen  Stier.  Posei- 
don lächelt  zur  Ankunft  des  Melikertes  und  heisst  den  Isth- 
mus (den  Berggott)  die  Brust  entfalten  und  dem  Knaben 
"Wohnung  werden.  Der  Berggott  lehnt  sich  mit  dem  Rücken 
an  die  Erde;  an  seiner  Rechten  ist  ein  Knabe,  ich  denke, 
der  Hafen  Lechaeum ,  links  befinden  sich  Mädchen ,  wol  der 
Hafen  Kenchreae.  Die  Meere  aber  (das  adriatische  und  ae- 
geische,- welche  der  Isthmus  trennt)  sitzen  schön  und  heiter 
neben  dem  den  Isthmus  darstellenden  Lande. 

Wir  halten  uns ,  obwohl  besonders  der  Poseidon ,  der 
zugleich  den  Bergrücken  —  man  kann  sich  nicht  vorstellen 
wie  —  auseinanderweichen  lässt  und  den  Berggott  seine 
Brust  öffnen  heisst,  viel  zu  fragen  gibt,  nur  an  die  Natur- 
personifikationen.   W^ir  wollen  uns  auch  daran  nicht  stossen. 


1)  Bassiril.  I  p.  169  ff. 


1(39 

dass  die  beiden  Häfen  Korintliö  personificiit  zugegen  sind, 
Korinth  selb.sl  dagegen  durch  seine  Einwohner  —  woran 
sah  der  Khcfor,  dass  .<ie  nach  Korinth  gehören?  —  vertreten 
ist,  noch  daran,  dass  das  eine  Meer  real  und  personificirf, 
das  andre  nur  personifieirt  erselieint,  endlicli  auch  die  Frage 
unterdrücken,  wie  diese  Personifikationen  äusücrlich  cliarak- 
terisirt  waren  —  mau  würde  nicht  fertig  werden,  ^^  ollte  man 
alles  Auffallende  erörtern  — ,  es  genüge  darauf  hinzuweisen, 
dass  soviele  und  solche  Personifikationen  anwesend  sind. 
Der  geographischen  Figuren  —  denn  das  Bild  ist  wirklieh 
eine  figürlich  dargestellte  Landkarte  zu  nennen  —  sind  nicht 
w^eniger  als  sechs,  wenn  man  für  die  Darstellung  des  Hafens 
Kenchreae  die  geringste  Zahl  annimmt.  Die  erhaltene  Kunst 
pflegt  einer  Handlung  nur  eine  Lukalgottheit  hinzuzufügen^), 
und  wie  könnte  sie  wol  anders  verfahren,  da  ja  diese  Lokal- 
dämonen eine  ganz  untergeordnete  Bedeutung  für  das  Bild 
haben!  Der  Knabe  auf  dem  Delphin  ist  die  Haui)tperson 
des  Bildes,  auf  seiner  wunderbaren  Ankunft  ruht  das  Inte- 
resse des  Betrachtenden,  alles  dem  Sinn  nach  Untergeordnete 
muss  aber  auch  in  seiner  äusserlichen  Erscheinung  als  be- 
scheidnes Beiwerk  angebracht  sein.  Wären  diese  Lokaldä- 
monen allein  ohne  das  opfernde  Volk  auf  dem  Bilde,  so 
würden  wir  keinen  Anstoss  nehmen,  dann  wären  sie  Reprä- 
sentanten des  Landes  und  seiner  Bewohner,  jetzt  aber  da 
das  Volk    selbst   anwesend   ist,    haben   sie  lediglich  geogra- 


1)  Die  Giebelfelder  und  sptitern  Sarkophagreliefs  (Jahn  Bcitr. 
p.  17.  63)  haben  oft  —  aus  Gründen  des  Raums  und  der 
Symmetrie  —  zwei.  Drei  sind  für  das  Parisrelief  bei  Overb. 
Call.  Tat".  II,  12  vorauszusetzen;  die  drei  ,. Nymphen'"  auf 
Tat".  11,  5  dagegen  erkläre  ich  wie  Overbeck  p.'241,  weil  sie 
eine  Scene  für  sich  bilden.  Das  alte  Bild  bei  Paus.  VI.  6,  11 
(womit  der  Drachenkampl'  des  Kadnius  im  31  us.  ßorbon.  14, 
28  mit  den  Lokalgöltern  Ismenos,  Krenaie,  Thcbe  zu  ver- 
gleichen ist)  stellte  freilich  vier  Lokaldäraonen  dar,  aber 
das  ist  ein  ganz  anderer  Fall  Denn  auf  diesem  Bilde  waren 
diese  Dämonen  die  handelnden  Figuren,  also  niclit  Lokaldämo- 
nen im  eigentlichen  Sinn,  was  sie  nur  da  sind,  wo  sie  als  Theil- 
nehmer  menschlicher  Handlungen  erscheinen.  Vgl.Excurs  VII. 


17U 

phisches  Interesse  und  sind  um  so  lüstiger,  je  grösser  ihre 
Zahl  ist. 

Der  Rhetor  hat,  das  ist  wahr,  im  Allgemeinen  Kennt- 
niss  davon,  dass  Berg  und  Stadt  von  der  Kunst  personificirt 
werden,  aber  nur  im  Allgemeinen,  denn  gleich  das,  was  er 
über  die  Darstellung  der  Hafenstadt  Kenchreä  sagt,  zeigt, 
wie  wenig  geschickt  er  war,  Bilder  zu  tingiren.  Die  Stadt 
Keyx^ecci  war  repräsentirt  durch  xöqai,  der  pluralischen 
weiblichen  Wortform  entsprach  eine  Mehrheit  von  Mädchen. 
Wäre  das  wirklich  gemalt  gewesen ,  es  k()nnte  nichts  Abge- 
schmackteres und  Unverständlicheres  gedacht  werden.  Es 
fehlt  aber  nicht  an  Beispielen,  M^elche  die  Sitte  der  Kunst 
in  diesem  Fall  deutlich  machen.  An  der  puteolanischen  Ba- 
sis finden  wir  die  Stadt  Alyai  dargestellt,  der  Fall  ist  also 
ganz  analog.  Sie  ist  eine  Figur,  wie  die  übrigen  dort  dar- 
gestellten Städte.  Und  natürhch;  das  zu  bezeichnende  Ding, 
die  Stadt,  kann  als  ein  einheitliches  Ganze  nur  durch  eine 
Figur  repräsentirt  werden.  Die  pluralische  Wortform  ist  für 
den  Künstler  eine  reine  Zufälligkeit,  überhaupt  hat  er  seine 
Personifikationen  nicht  nach  der  Sprache,  sondern  nach  der 
Natur  des  zu  bezeichnenden  Dinges  einzurichten. 

Es' verhält  sich -nicht  anders  hinsichtlich  der  Geschlechts- 
ertheilung.  Wenn  man  sagt,  das  Geschlecht  der  künstleri- 
schen Personifikationen  richte  sich  nach  dem  sprachHchen 
Geschlecht  der  betreffenden  Wörter,  so  ist  das  mindestens 
falsch  ausgedrückt.  Zwar  will  ich  dieser  Ansicht  nicht  das 
neutrale  Geschlecht  der  Sprache  entgegenhalten ,  das  die 
Kunst  nicht  darstellen  kann,  denn  das  Neutrum,  glaube  ich, 
hat  man  stillschweigend  in  der  erwähnten  Regel  ausgeschlos- 
sen und  nur 'Herr  Gargallo-Grimaldii)  dürfte  an  der  männ- 
lich dargestellten  Hafenstadt  AEX^itov  Anstoss  nehmen,  nach 
dessen  Ansicht  nämhch  das  neutrale  Geschlecht  der  Sprache 
durch  zweigeschlechtige  Dämonen  in  der  Kunst  nachgeahmt 
wurde.  Nicht  als  ob  es  dessen  bedürfte ,  sondern  nur  für 
diejenigen,  die  auch  da  Beispiele  fordern,  wo  einfaches  Nach- 


1)  Annali  1843  p.  28  Anm.  3. 


171 

denken  Genii^rt,  führe  ich  eine  Stelle  de.s  Pausaniasi)  an,  wo 
von  einer  Darstellung  des  JsJfia  die  Rede  ist,  das  als  Weib 
gebildet  war,  offenbar  nach  Analogie  der  Erinnyen.  Es  ist 
aber  auch  vorn  Neutrum  ganz  abgosehn  falseh  zu  behaupten' 
dass  der  Künstler  von  dem  sprachliehen  Geschlecht  der 
W("»rter  abhängig  sei.  Das  Geschlecht,  das  die  Sprache 
einem  Begriffe  gibi ,  wird  in  >'ielen  Fällen  nicht  mehr  als 
nothwendig  em])funden  nach  der  Natur  des  bezeichneten 
Begriffs,  bei  einzelnen  Wcirtern  wechselt  es  auch  im  Lauf  der 
Zeit,  wie  in  „«z'^-^^"  und  „Luft,"  kurzum  das  Geschlecht  in 
der  Sprachö  ist  in  vielen  Fällen  ursprünglich  zwar  nicht, 
aber  in  der  spätem  Entwicklung  etwas  Conventionelles ,  et- 
was traditionell  Ueberkommenes,  das  von  dem  Sprechenden 
nicht  mehr  nach  seinem  ursprünglichen  Sinn  gefühlt  wird. 
Wie  unrichtig  wäre  es  in  diesem  Fall,  wenn  der  Künstler 
das  sprachliche  also  für  das  Bewusstsein  seiner  Zeit  rein 
willkürliche  Geschlecht  eines  Begriffs  als  maassgebend  für 
seine  Personifikation  betrachten  wollte!  Vielmehr  hat  er 
sich  nach  der  Natur  des  Dinges  selbst  zu  richten  und  wenn 
seine  Personifikation  in  den  meisten  Fällen  das  Geschlecht 
des  betreffenden  W^ortes  in  der  Sprache  hat,  so  ist  dies  nur 
deshalb  der  Fall,  Aveil  die  sprachschaffende  Phantasie  eben- 
sowohl wie  der  personificirende  Künstler  von  der  Natur  des 
bezeichneten  Dinges  in  ihrer  Geschlechtsertheilung  bestimmt 
wurde.  Aber  es  giebt  auch  Konflikte,  und  zwar  nicht  bloss 
in  der  neuern  Kunst,  deren  Tyi)en  vielfach  entlehnt  sind  aus 
dem  Allerthum^),  sondern  auch  in  der  alten.  In  der  Dar- 
stellung der  Jahreszeiten  stimmen  Kunst  und  Sprache  nicht 
überein.  Die  Kunst  giebt  ihnen,  wenn  sie  zusammen  darge- 
stellt werden,  dasselbe  Geschlecht ,  die  Gewalt  der  Analogie 
verlangt  es 3),  nur  so  wird  es  klar,  dasis  wir  es  mit  wesens- 


1)  II,  3,  7.  Was  für  eine  lächerliche  Figur  miiss  nach  Herrn 
Gargallo-Grimakli's  Ansicht  das  Kncaog  in  dem  Prometheus 
des  Aeschyhis  gewesen  sein! 

2)  Vgl  Jahn  Arch.  Ztg.  V,  p.  40. 

3)  Aus    demselben    Grunde   wird    auch    der  Winter   so   wie  die 


172 

gleichen  Figuren  zu  thun  halten.  Und  ob  dies  Geschlecht 
das  männliche  oder  \veii)liche  ist,  hängt  nur  von  der  An- 
schauung des  Künstlers  ab.  Die  Jahreszeiten  lassen  sich 
weiblich,  horenähnlieh,  sie  lasseii  sich  ebensogut  männlich 
denken,  als  segens])endeade  Genien  wie  Plutus  oder  bonus 
eventus.  Darum  darf  der  Künstler  wechseln,  der  geradezu 
aufhören  würde  Künstler  zu  sein  ,  wenn  er  abhängig  wäre 
von  dem  Geschlecht  der  Sjirache,  das  wie  gesagt,  in  vielen 
Fällen  für  das  Bewusstsein  des  Sprechenden  etwas  Zufal- 
liges ist. 

Auch  ein  griechisches  Vasenbild  ist  hier  zu  erwähnen, 
auf  welchem  eine  nach  allem  Anschein  weibliche  Figur  die 
Beischrift  A'^ycoc  hat^).  Das  Bild  stellt  in  allegorischen 
Figuren  den  Gedanken  dar,  dass  dem  Sieg  der  Keichthum 
gehöre.  Einem  Dreifuss,  der  auf  einer  Basis  steht,  also  einem 
Siegeszeichen  eilt  Nike  auf  sprengender  Quadriga  zu.  Ihr 
entgegen  eilt  Plutus,  die  Rechte  erhebend,  als  wolle  er  der 
stürmischen  Bewegung  der  Wagenlenkerin  Einhalt  gebieten  — 
denn  ich  kann  in  dieser  Geberde  nichts  Allegorisches  finden. 
Hinter  der  Nike  steht  Chrysos,  nach  der  Gewandung  eine 
entschieden  weibliche  Figur  2),  mit  einer  Kanne  in  der  Hand, 


übrigen  Jahreszeiten  als  Knabe  oder  Jüngling  dargestellt, 
obwohl  wir  uns  den  Winter  für  sich  allein  genommen  nicht 
imter  diesem  Bilde  denken  können.  Der  Dichter  dagegen 
hat  ganz  freien  Spielraum.  Ovid  Hletam.  II ,  30  giebt  dem 
unter  den  übrigen  Jahreszeiten  befindlichen  Winter  graues 
struppiges  Haar.  So  könnte  der  Winter  für  sich  allerdings 
auch  vom  Künstler  dargestellt  werden,  aber  nicht  im  Verein 
mit  seinen  Brüdern.  Im  letztern  Fall  kann  sich  die  indivi- 
duelle Charakleristik  nur  auf  die  Attribute  beschränken,  die 
Gestalten  selbst  müssen  gleich  sein. 
1)  Stackeiberg  Gräber  d.  Hell  Tal".  17-  Die  Pointe  des  Bildes 
ist,  wie  mir  scheint,  im  Wesentlichen  richtig  von  0.  Müller 
in  Gott.  Gel.  Anzgen  1837  p.  1017  angegeben,  nur  die  Be- 
ziehung auf  die  Siegespreise  der  Kinder  ist  hineingetragen. 
2)  Das  Nackte  ist  allerdings  nicht  weiss  gemalt,  wie  an  der 
Nike;  es  kommt  aber  auch  sonst  in  diesem  Stil  vor,  dass 
nur    die    weibliche  Hauptfigur,    nicht   die  Nebenfiguren,    am 


173 

die  wir  auch  wol,  wie  den  Dreifuss,  als  ein  Siegsgeseheuk 
nehmen  müssen.  Die  Figur  ist  auflaliend,  weil  ja  Plutus 
schon  da  ist,  dessen  BegrifT  das  Gold  einschliessl ;  was  aber 
das  Geschlecht  betrifft,  so  kann  ich  mir  wol  denken,  dass 
ein  Künstler,  der  einen  Golddämon  bilden  will,  ihn  weiblich 
Jasst  nach  Analogie  der  Glücksgüter  austheilenden  Tyche. 
Das  sprachliche  Geschlecht  ist  auch  in  diesem  Fall  für  das 
Bewusslsein  des  Sprechenden  etwas  rein  Zufälliges. 


Nackten  weiss  ist.  Vgl.  El.  ceram.  III,  26.  27.  Mein  Freund 
A.  Conze  stellt  in  seiner  Promotionssclirift  de  Ps^'ches  inia- 
ginibus  quibusdam  die  These  auf,  die  Figur  Clirysos  sei 
männlich.  Es  wäre  mir  sehr  interessant,  seine  Gründe  zu 
kennen.  —  Ganz  anders  hat  neuerdings  Stephani  a.  a.  O. 
p.  12ö  Anni.  5  die  Inschrift  gedeutet,  er  nimmt  yj)vaüg  für 
ynvaoVi  und  zwar  als  femininum  und  will  es  am  liebsten 
als  Epitheton  der  Nike  verstehn.  Dagegen ,  glaube  ich, 
spricht  schon  der  Platz,  den  die  liiächrift  hat:  XPYZ02: 
ist  von  NTKH  ganz  getrennt. 


III. 


Auf  nicht  M'eriigen  philoslratischen  Bildern  finden  wir 
die  menschliche  Handlung  umgeben  von  landschaftlichem 
Beiwerk,  von  Bäumen  und  Bergen,  schwellendem  Gras  und 
thauigen  Blumen  und  auch  solche  Bilder  finden  sich,  in  denen 
das  Landschaftliche  die  Hauptsache  ist.  Dahin  gehört  be- 
sonders das  Bild,  welches  ,,die  Sümpfe"  betitelt  ist  (Sen.  I,  9). 

Der  Boden  ist  feucht:  es  wächst  Schilf  und  Sumpfkraut, 
aucJi  Tamariske  und  Galganr.  Rings  aber  liegen  liimmelra- 
gende  Berge,  nicht  von  einer  Art.  Diese  sind  dünnerdig 
und  haben  Fichtenwaldung,  jene  thonerdig  und  mit  Cypressen 
belaubt,  ein  unwirthlicher  und  rauher  Berg  aber  ist  mit  Tan- 
nen bewachsen.  Quellen  strömen  von  den  Bergen  und  ver- 
einigen ihr  Wasser  und  so  ist  das  Gefilde  feuchter  Grund. 
Das  "Wasser,  dran  Eppich  schwillt,  ist  in  vielen  "Windungen 
durch  das  Gemälde  gezogen ;  Enten  schwimmen  drauf  und 
blasen  "W^asser  in  die  Höhe.  Auch  Gänse  sieht  man  und 
Störche  —  fünf  werden  besonders  beschrieben.  Auf  dem 
schönsten  "Wasser  aber,  das  aus  einer  Quelle  strömt  und 
von  Amaranthen  durchzogen  ist,  fahren  Eroten  auf  Schwä- 
nen ,  was  im  Einzelnen  ausgeführt  wird.  Rings  aber  am 
Ufer  stehn  die  musikalischeren  unter  den  Schwänen  und  Ze- 
phyr,  ein  zarter  gellügeller  Knabe,  haucht  in  ihre  Flügel.  — 
Aus  dem  feuchten  Grunde  kommt  ein  breiter,  schäumender 
Fluss  hervor.  Auf  einer  Brücke  passireu  ihn  Ziegenhirten 
und  Schäfer,  hüpfende  Ziegen  und  langsame  Schaafe  trei- 
bend und  auf  der  Syrinx  spielend.  Die  Brücke  aber  ist  ge- 
bildet von  einer  männlichen  Palme,  die  sich  aus  Liebe  zu 
der  gegenüberliegenden  weiblichen  herüberbog. 

Die  Figur  des  Zephyr,  der  in  die  Fittige  der  Schwäne 
bläst,  ist  eine  Entlehnung  aus  spätem  Schriftstellern,  bei 
welchen  oft  die  Rede  ist  von  dem  Tönen,  das  Zephyr  durch 


175 

Schwanenfedern  streichend  liervorrufe ').  Das  i.st  verständ- 
hch  bei  Schriftstellern,  aber  gemalt  höchst  unverständlich. 
Sieht  man  nämlich  auf  dem  Bilde  die  geblähten  Flügel  der 
Schwäne  und  den  blasenden  Zephyr,  so  kann  man  nur  den- 
ken, es  soll  die  Vorstellung  eines  starken  Windes  erregt 
werden,  man  sieht  freilich  keinen  Grund,  wariun  das  sein 
soll.  Und  wenn  uns  Jemand  den  beabsichtigten  Sinn  sagt, 
so  Averden  wir  es  höchst  komisch  finden,  dass  Zephyr  sich 
der  Schwäne  zum  Musiciren  bedient,  da  er  ja  für  sich  blasen 
kann,  wie  und  wo  er  will.  Kurzum,  die  Geschichte  ist, 
wenn  nicht  zu  komischen  Zwecken ,  wieder  etwas  nur  im 
Wort  Darstellbares  2 ) . 

Man,  nimmt  ferner  Anstoss  an  der  Sammlung  verschie- 
dener Bäume  und  verschiedener  Erdreiche.  Der  landschaft- 
liche Hintergrund  soll  ja  nicht  auf  sich  und  seine  Natur  die 
Aufmerksamkeit  ziehn  ,  /  sondern  ist  nur  um  eines  Andern 
willen  da.  Die  Sache  ist  Svol  nicht  anders  zu  beurtheilen, 
als  in  dem  „die  Inseln"  (Sen.  II,  17)  betitelten  Bilde,  wo 
eine  Insel  ebenfalls  eine  ganze  naturhistorische  Sammlung 
von  Baumai-ten,  Cypressen,  Fichten,  Tannen,  Eichen  und 
Cedern  erzeugt,  —  und  dabei  fällt  mir  weiter  die  Eberjagd 
des  altern  Philostratus  (I,  28)  ein,  wo  eine  Sannnlung  von 
Hundearten,  nämlich  kretische,  indische,  lakonische  und  lok- 
rische   vorhanden    waren  ^).      Bedarf  es    noch    weiterer   Bei- 

1)  Vgl.  die  von  Jacobs  angeführten  Stellen. 

2)  Dabei  erAvähne  ich  den  witzigen  Einfall  eines  Laniiienverfer- 
tigers  (ßartoli  Ic  antiche  liicerne  III,  12),  der  ein  Schiff  dar- 
stellte, dem  Hafen  nahe,  dessen  Mannschaft  beschäftigt  ist, 
die  Segel  einzurelYen.  Aber  ein  kleiner  Windgott  macht  den 
Leuten  noch  zu  schafl'en;  er  sitzt  auf  dem  Hinterdeck  und 
bläst  mit  einem  Mnschelhorn  —  die  Windgötter  auf  den  er- 
haltenen Monumenten,  nicht  der  philoatratische,  pflegen  Blas- 
instrumente zu  haben  —  in  das  Segel,  so  dass  es  den  Ein- 
retfern  noch  Schwierigkeit  machen  wird. 

3)  Vgl.  das  Bild  des  Pan  (Sen.  2,  11),  wo  die  ver.^chiedenen 
Arten  der  N3'niphen  aufgezählt  werden.  Welcher  Künstler 
würde  durch  solche  Anbringnng  mythologischer  Gelehrsani' 
keit  sein  Bild  verderben! 


17G 

spiele  oder  gur  noch  des  Beweises,  dass  liier  der  Rhetor, 
der  absurde  Rhetor  spricht?  Aber  ein  feinerer  Fehler  des 
Bildes  verdient  wol  eine  etwas  nähere  Besprechung,  da  er 
eine  schöne  Sitte  der  erhaltenen  Kunst  angeht.  Der  Cha- 
racter  des  landschaftlichen  Hintergrundes  nämlich  ist  nicht 
im  Einklang  mit  dem  Character  der  dargestellten  Handlung. 
Wie  passt  nämlich  der  unwirthliche  mit  düstern  Tannen  be- 
wachsene Berg  zu  dem  heitern  Spiel  der  Eroten  ?  Eine 
freundliche  lachend  sich  ausbreitende  Landschaft  sollten  sich 
die  Knaben  zu  ihren  Spielen  aussuchen. 

Den  Zusammenklang  der  landschaftlichen  Scenerie  mit 
dem  Character  des  Hauptobjects  hat  man  an  neuern  Bildern 
öfters  hervorgehoben.  Man  ridimt  es  an  Rajihael,  dass  er 
seinen  Madonnen  gern  eine  anmuthige  Landschaft  zum  Hin- 
tergrund gebe,  ganz  mit  ihrem  Character  in  Einklang.  So 
war  es  auch  in  der  alten  Kunst  und*  es  kann  auch  wol  nicht 
anders  sein ,  da  alles  Einzelne  des  Kunstwerks  ja  aus  einer 
einheitlichen  Stimmung  hervorgeht.  Wir  können  es  nicht 
controliren,  wüe  sich  die  vollendete  griechische  Malerei  in 
diesem  Punkt  benahm,  wenn  wir  nicht  das  Berhner  Centau- 
renmosaik hieher  ziehn  dürfen,  wo  allerdings  die  Landschaft 
mit  der  dargestellten  Handlung  auf  das  Schönste  zusammen- 
stimmt. Es  ist  eine  öde  kahle  Felsgegend  mit  spärlichem 
Schmuck  von  Vegetation,  eine  Gegend,  die  wir  uns  gemie- 
den denken  von  Menschen,  in  der  wir  uns  daher  vergeblich 
nach  Hülfe  umsehn  für  den  Centauren,  der  sein  Weib  rä- 
chen ,  aber  auch  sein  Leben  verlieren  wird.  Aber  die 
römischen  Wandgemälde,  auch  die  Vasen  liefern  eine  Fülle 
von  Beispielen ,  so  dass  von  ihnen  ein  Rückschluss  zu  ma- 
chen ist.  In  was  für  einer  Gegend  sehn  wir  die  Hesione 
dem  Meerungeheuer  preisgegeben?  Kahle  Berge,  dazu  ein 
paar  Bäume  ohne  Laub,  eine  so  öde  trauernde  Gegend 
schickt  sich  für  die  traurige  Aussetzung  des  Mädchens.  So 
jst  es  auch  in  den  Darstellungen  der  Andromeda.  Und  die 
von  Theseus  schlafend  verlassene  Ariadne  erwacht  unter  her- 
abhängenden Felsen ,  so  dass  sie  das  Gefühl  der  Verlassen- 
heit um  so  stärker  empfinden  muss.     Auf  der    andern   Seite 


177 

sehe  man  die  Darslellungen  des  Hylas,  des  Narzissus*),  des 
Endyniioii,  es  sind  stille,  gesclilosseue,  .schön  l)ekiubte  Plätze, 
wie  sie  der  aufsucht,  der  sich  freuen  will  an  kühler  Wal- 
deseinsamkeit 2).  Und  was  die  Vasen  betrifl't,  so  erwähne  ich 
das  mit  attischer  Grazie  gesättigte  Bild  ^)  ,  wo  die  Peitho 
dem  Eros  einen  Käfig  flicht.  Da  sitzt  Aphrodite  auf  einem 
Hügel,  an  dem  Blumen  blühn,  rechts  und  links  aber  steht 
ein  fruchtschwerer  Lorbeerbaum ,  dessen  schlanker  Wuchs 
mit  den  graziösen  Gestalten  der  Aphrodite  und  ihrer  Beglei- 
terinnen gleichsam  wetteifert. 


Ein  arldres  Bild  des  Philostratus  bietet  uns  Gelegenheit 
zu  einer  weitem  Besprechung  der  alten  Landschaftsmalerei. 
Es  ist  das  schon  erwähnte,  „die  Inseln"  betitelte.  Zwar  das 
ganze  Bild  mitzutheilen,  dazu  kann  ich  mich  nicht  entschlies- 
sen ,  denn  es  ist  eine  lange  Sammlung  von  Absurditäten,  die 
zum  Theil  im  Kopfe  des  Rhetors  entsprungen,  zum  Theil 
dadurch  hervorgerufen  sind,  dass  dichterische  Beschreibungen 
als  malerische  vorgeführt  werden.  Man  lese  nur  die  Be- 
schreibung der  vulkanischen  Insel.  Nachdem  die  Flammen 
und  Feuerströme  beschrieben,  die  aus  ihren  Spalten  hervor- 
brechen und  ans  Meer  wogen,  keisst  es :  Aber  die  Malerei, 
welche  .gern  den  Dichtern  folgt,  schreibt  der  Insel  auch 
einen  M3'thus  zu ,  dass  ein  Gigant  hier  einst  getrofien ,  da 
er  aber  nicht  sterben  konnte ,  mit  der  Insel  beladen  sei,  nun 
aber  noch  nicht  nachgebe,  sondern  unter  der  Erde  befind- 
lich den  Kampf  erneure  und  dieses  ^euer  mit  Drohungen 
aushauche.  Dabei  nimmt  der  Rhetor  Gelegenheit,  den  Ty- 
phoeus  und  Enkelados  zu  erwähnen  ,    denen  es  eben  so  er- 


1)  Vgl.  Overbeck  in  seinem  Buch  über  Pompeji  p.  422. 

2)  Man  vgl.  auch  die  Darstellung  von  Hypnos  und  Pasithea 
oder  wie  sie  sonst  erklärt  werden  mag,  und  die  Wandge- 
mälde von  den  Lästrj'gonen,  wo  so  schön  durch  starre  Fel- 
sen die  unwirthliche  Küste  bezeichnet  ist. 

3)  In  Stackelberg's  Gräbern  der  Hellenen  t.  29.   .. 

12 


178 

gangen  und  fahrt,  dann  fori  in  der  Beschreibung  des  Rüdes: 
Auf  dem  Gipfel  des  Berges  ist  Zeus -sichtbar  und  schleudert 
Blitze  auf  den  Giganten.  Dieser  ermattet  zwar  schon ,  aber 
vertraut  doch  noch  der  Gaea.  Aber  Gaea  hat  es  schon  auf- 
gegeben, da  Poseidon  sie  nicht  stehn  lässt  u.  s.  -vv.  Was  isl 
nun  diese  ganze  Ausführung  ?  Ein  Bild  ?  Vielmehr  eine 
gedankenlos  nachgeschriebene  Stelle  des  Pindar^j,  denn  wie 
kann  der  Rhelor  von  dem  Giganten  sprechen?  Das  Bild 
sagt  es  ihm  nicht,  denn  wie  der  Rhetor  selbst  angibt,  der 
Gigant  liegt  unter  der  Erde,  er  ist  also  gar  nicht  sichtl)ar, 
und  Zeus  oben  auf  dem  Berg  ist  eine  spasshafte  Figur,  da 
man  nicht  sieht,  gegen  wen  er  seine  BUtze  schleudert.  Ai)er 
diese  Stelle  des  Bildes  ist  nicht  die  einzig  anstössige^  jede 
Einzelheit  und  die  ganze  Zusammenstellung  ist  völlig  unbe- 
greitlich.  Eß  ist  ein  Gemisch  von  wilder  Willkür,  worin 
man  vergebens  Einheit  und  Gedanken  sucht. 

Wir  knüpfen  unsre  Betrachtung  an  eine  der  Inseln,  die 
nach  des  Rhetors  Beschreibung  einsam  war,  leer  an  Göttern 
und  Menschen.  Sie  wird  beschrieben  als  steil  hervorragend, 
mit  feuchtem  Boden  und  die  Bienen  nährend  mit  Bergblumen. 
W^ir  fragen  nun :  hat  je  das  Alterthum  solche  Darstellungen 
hervorgebracht,  ist  etwas  Analoges  zu  finden  in  den  erhal- 
tenen Denkmälern  ?  Mit  andern  W^orten,  in  welcher  Aus- 
dehnung war  den  Alten  die  Landschaftsmalerei  bekannt  ? 

Veriblgen  wir  zunächst  die  Thatsachen  mit  genauer 
Scheidung  der  Gattungen  und  Zeiten.  Wir  wollen  die  Va- 
senmalerei voranstellen ,  die  ja  hoch  hinaufreicht.  Auf  den 
schwarzfigurigen  Vasen  ist  der  Schauplatz  der  Handlung  sel- 
ten characterisirt.  Die  Rebzweige ,  von  denen  so  oft  diese 
Bilder  durchzogen  sind,  haben  nur  formelle  Bedeutung,  sie 
dienen  zur  Raumausfüllung,  nicht  zur  Characterisirung  des 
Schauplatzes  2).  Es  findet  sich  ganz  vereinzelt  ein  Baum, 
dem  man  materielle  Bedeutung  beilegen  muss,  aber  das  sind 
Ausnahmen.     Wo  aber  eine  äussere  Realität  nothwendig   ist 


1)  Pyth.  1,  17  ff. 

2)  Vgl.  Excurs  II. 


179 

zum  Verständuiss  der  Handlung,  wie  z.  B.  das  "Wasser  bei 
schiffenden  Personen,  da  begnügt  man  sich,  wenn  es  real 
dargestellt  wird,  mit  dem  blossen  äusseren  Umriss,  man 
zeichnet  eine  wellenförmige  Linie  in  der  schematischen  Wie- 
derholungsmanier,  die  zu  den  wesenthchsten  P^igeuthümhch- 
keiten  der  alten  Kunst  gehört,  oder  man  verfährt  symbo- 
lisch, man  gibt  der  Phantasie  eine  Andeutung,  indem  man 
ein  paar  Fische  hinmalt i).  Man  sieht  deutlich,  wie  die 
ganze  äussere  Natur  für  diese  Kuuststufe  nur  ein  ganz  Ne- 
bensächhches  ist.  Die  ideale  Welt  des  Mythus  ist  es,  an 
welcher  diese  Zeit  hängt.  Anders  stellt  sich  die  Sache  ,  in 
der  roihtigurigen  Malerei ,  in  der  aber  auch  für  diese  Unter- 
suchung xlie  Unterscheidung  der  Stile  erforderhch  ist.  Der- 
jenige Stil,  welchen  man  den  grossartigen  zu  nennen  pflegt, 
hat  überhaupt  eine  Abneigung  gegen  alles  Beiwerk,  Er 
gibt  wol  hie  und  da  eine  Andeutung,  wenn  sie  nothwendig 
ist  zum  Verständniss,  er  bezeichnet  wol  den  Wald  durch  ein 
Reh,  Haus  oder  Palast  durch  eine  Säule,  aber  sein  eigent- 
licher Character  verschmäht  doch  dergleichen  untergeordnetes 
Beiwerk.  Es  würde  seinem  grossartigen  Vortrag  schaden, 
auch  er  ist  ganz  vertieft  in    die   grossen  Bilder   des  Mythus. 


1)  Die  Fische  hören  natürlich  auf,  symbolisch  zu  sein,  sobald 
Wasser  dazu  gemalt  ist.  —  Die  symbolische  Bezeichnung 
der  Natur  ist  der  römischen  Wandmalerei  fremd,  wenn  man 
nicht  das  Krokodil  zur  Bezeichnung  ägyptischen  Lokals  da- 
hin rechnen  will,  dessen  sich  auch  Nealkes  in  seinem  Sclüacht- 
bilde  (Plin.  35,  142)  bedient  hatte.  In  der  griechischen  Va- 
senmalerei geht  sie  durch  aUe  Stile  hindurch.  Man  kann  sa- 
gen, dass  das  Wort  des  Plinius  über  Timanthes:  plus  in- 
telligitur  quam  pingitur  eigentlich  für  die  ganze  griechische 
Malerei  gilt.  Auch  von  der  symbolischen  Bezeichnung  der 
Natur  abgesehn,  ist  in  griechischen  Bildern  Vieles,  was  nicht 
durch  unmittelbare  Anschauung,  sondern  erst  durch  einen 
Verstandesschluss  verständlich  ist.  Die  Polygnotischen  Bilder 
liefern  dafür  viel  Beispiele,  man  vgl.  0.  Jahn's  Abhandlung 
über  Polyguot.  —  Uebrigens  ist  diese  s5uiibolische  Natur- 
bezeichnung wieder  ein  Punkt,  in  dem  die  griechische  Plastik 
und  Malerei  übereinstimmen. 

12  * 


180 

Dagegen  derjenige  Stil,  der  zur  Annmtli  und  Zierlielikeit 
neigt,  behält  zwar  nocli  in  vielen  Fällen  die  Andeutungs- 
manier bei  —  auch  er  stellt  z.  K.  Gebäude  nicht  in  extenso, 
sondern  symbolisch  durch  eine  Säule  dar  — ,  aber  seinem 
Character  sind  doch  die  zierlichen  Blumen  und  Sträucher 
angemessen,  die  auf  den  Bildern  dieses  Stils  sich  finden. 
Dies  ist  eigentlich  der  erste  Anfang  der  Landschaftsmalerei. 
Wenn  wir  Bilder  betrachten  wie  die  Paris-  und  Kadmus- 
vase*)  in  Berlin,  so  sieht  man  deuthch  das  Bestreben,  einen 
landschaftlichen  Eindruck  hervorzurufen ,  es  soll  nicht  bloss 
der  mythische  Vorgang,  sondern  auch  die  Scene  dieses  Vor- 
gangs bezeichnet  werden,  wenn  auch  nur  durch  geringe 
Mittel.  Denn  ein  Eindruck,  wie  ihn  die  Wirklichkeit  gibt, 
wird  nicht  beabsichtigt;  hie  und  da  ein  Zweig,  das  ist  Alles, 
es  ist  bescheidnes  Beiwerk  ohne  den  Anspruch,  den  Schein 
der  Wirklichkeit  zu  erregai^).     Aber  der  Blick  für  die  äus- 


1)  Von  dem  Reh  auf  der  Kadmusvase  bemerkt  Welcker  A.  D. 
III,  389 :  „Eigen  ist  es,  dass  das  Reh  so  weit  von  der  Ar- 
temis getrennt  erscheint,  und  wie  aus  Neugierde  vorange- 
laufen ist."  Eben  diese  Trennung  beweist  ja  deutlich,  dass 
es  gar  nicht  zur  A^-temis,  sondern  zum  Waldgrund  gehört, 
ebenso  wie  auf  der  Parisvase  und  sonst  unzähhg  oft. 

2)  So  verfuhr  auch  Polygnot ;  v6o)n  tlvut  noTUfiug  ioixt  sägt  Pau- 
sanias ,  was  nach  0.  Jahn :  Ueber  d.  Polygnot.  Gern  p.  57 
A.  5  eine  Ausnahme  sein  soll ,  weil  gewöhnlich  die  Lokalität 
niclit  durch  landschaftliche  Dekoration ,  sondern  durch  die 
Personifikation  des  Orts  dargestellt  werde.  Es  wird  in  Ex- 
curs  VII  ausgeführt,  dass  es  ungerechtfertigt  ist,  die  Lokal- 
gottheiten der  spätem  Kunst  auch  für  die  frühere  vorauszu- 
setzen ;  hier  übrigens  musste  schon  wegen  des  Schiffes  das 
Wasser  real  dargestellt  werden.  Aber  nach  genauer  Wieder- 
gabe der  Realität  strebte  Polygnot  durchaus  niclit,  sondern  er 
verfuhr  mehr  andeutungsweise.  Man  vgl.  z.  B.  das  Meer  in 
dem  Sonnenaufgang    des  Musee  Blacas  ;     manchmal,    wie  in 

'  den  Charondarstellungen  der  polychromen  attischen  Lekythen,^ 
fehlt  ganz  die  Andeutung  des  Wassers.     Aus  diesem  Gruride, 
weil  durchaus    nicht    genaue  Nachahmung    der    Wirkliclikeit 
beabsichtigt,  sondern  nur  eine  Andeutung  gegeben  war,  fügt 
Pausanias   'ioixt  liiuzu.  , 


181 

sere  Tsatur,  das  Gefühl  für  die  Anmnfh  von  Blumen  und 
Stväuchern  ist  da,  von  dem  der  frühere  Stil  kein  Zeichen 
gibt.  Endlich  der  apulische  Stil  zeigt  noch  mehr  Neigung, 
der  äussern  Realität  gerecht  zu  werden;  er  pflegt  die  Ge- 
bäude in  extenso  darzustellen  und  liebt  es,  alle  leeren  Räume 
mit  Blumen.  Sträuchern  und  Bäumen  auszufüllen  ohne  die  Zu- 
rückhaltung des  eben  vorhergehenden  Stils.  Das  schliesst 
aber  nicht  ganz  die  symbolische  Bezeichnungsweise  aus. 
So  ist  es  namentlich  die  ganze  oder  abgekürzte  Figur  eines 
Satyrs,  welche  der  Phantasie  die  Vorstellung  eines  waldigen 
Lokals  geben  soll.  Man  sieht  jedenfalls  in  diesem  Stil  die 
Neigung  für  anmuthige  Naturumgebung  am  sichtbarsten  her- 
vortreten <  wenn  auch  die  einzelnen  Bäume  und  Sträucher 
noch  nicht  gesammelt  sind  zu  einem  geschlossenen  Hinier- 
grund,  wie  es  in  der  römischen  Wandmalerei  geschieht  ^). 
Will  man  ein  Beispiel,  an  dem  sich  deutlich  die  eben  aus- 
geführte Entwicklung  verfolgen  lässt,  so  nehme  man  eine 
Darstellung,  die  alle  Perioden  der  Kunst  beschäftigt  hat, 
z.  B.  das  Parisurtheil.  In  der  ältesten  Zeit  fehlt  alle  und 
jede  landschaftliche  Zuthat,  aber  immer  mehr  und  mehr 
spriessen  Blumen  und  Sträucher  aus  dem  Boden ,  bis  zu- 
letzt in  der  römischen  Wandmalerei  ein  ganzer  Jandschaft- 
licher  Hintergrund  hinzugefügt  ist  2).  Hier  ist  es  überhaupt 
Sitte,  die  mythischen  Begebenheiten  mit  landschaftlicher  Sce- 
nerie  zu  umgeben.  Die  römische  Wandmalerei  steht  dem- 
nach in  einem  bemerkenswerthen  Gegensatz  zu  der  gi'iechi- 
^chen  Kunst,  wie  sie  in  den  Vasen  vorliegt,  und  ebenso  zu 


1)  Daran  hindert  schon  der  Relielstil  der  Vasen,  den  auch  der 
apulische  Stil  noch  hat,  wenn  er  sich  auch  durch  manche 
Eigenthümlichkeiten,  wie  z.  B.  das  häufige  Herausblicken 
aus  dem  Bilde  —  er  setzt  wie  die  römische  Wandmalerei 
einen  Betrachter  voraus  —  von  der  frühern  Art  unterschei;let. 
Der  strenge  Reliefstil  der  frühern  Vasen  ist  besonders  an 
solchen  Einzelheiten  deutlich,  wie  wenn  von  dem  Wagen  des 
Triptolemus  immer  nur  ein  Rad  sichtbar  ist. 

2)  Vgl.  Nessus  und  Dejanira,  Herkules  mit  dem  Löwen  und  mit 
Antäus,  Europa  aui'  dem  Stier  u.  s.  w. 


182 

den  freilich  nur  spärlichen  Thatsachen ,  die  uns  über  das 
Verfahren  der  grossen  Meister  vorliegen,  '  Darf  man  die  Ale- 
xanderschlacht auf  einen  hervorragenden  griechischen  Mei- 
ster zurückführen,  so  bestätigt  sie  meine  Behauptung;  im 
Uebrigen  ist  uns  etwas  von  dem  Verfahren  des  Polygnot  be- 
kannt. Dieser  grosse  Meister  des  älteren  Stils  verfuhr  ganz 
nach  der  idealen,  um  getreue  Wiedergabe  der  Reahtät  un- 
bekümmerten Abkürzungsmanier ,  die  oben  an  den  Vasen 
hervorgehoben  wurde.  Wie  er  eine  ganze  Flotte  durch  ein 
Schiff'),  ein  ganzes  Lager  durch  ein  Zelt,  so  bezeichnete  er 
einen  ganzen  Hain  durch  einen  Baum  und  den  Meeresstrand 
durch  ein  paar  Steine 2).  Ja  er  ging  sogar  so  weit,  dass  er, 
wie  es  oft  sichtbar  ist  auf  rothfigurigen  Vasen,  seine  Figuren 
in  die  Luft  hineinmalte,  ohne  die  den  Hügel  andeutende  Li- 
nie hinzuzufügen,  auf  dem  sie  sitzend  gedacht  werden  sol- 
len 3).  Polygnot  hätte  die  Grösse  seines  Stils  beeinträch- 
tigt, wenn'  er  die  untergeordneten  Reize  von  Busch  und 
Baum  seinen  Bildern  hinzugefügt  hätte.  Freilich  lässt 
sich  auch  in  den  Gemälden  der  grossen  Meister  verfolgen, 
dass    der    äussern  Natur    mehr   Interesse    zugewandt  wurde : 


1)  Böttiger  Archaeol.  d.  Mal.  p.  316  vergleicht  mit  dem  einen 
Schiff  bei  Polygnot  die  zwölf  Schiffe  auf  der  tabula  lliaca. 

2)  Vgl,  Welcker:  Ucber  die  Composition  der  Pol.ygnotischen 
Gemälde  u.  s.  w.  in  den  Abhandl.  d.  Berl.  Akad.  1847  p.lll. 

3)  Ueber  die  Worte  des  Pausanias  X,  30,  6:  iGnv  i(ii^fjg  fAfru 
Tov  ITktqoxIov  oia  Inl  löifou  rivhg  ^OQ<filg  xccfhfCöf^fvos  be- 
merkt Welcker  a.  a.  0.  p.  139:  „Der  Hügel  des  Orpheus 
war  also  wie  auch  in  den  spätem  Vasengemälden  nur  durch 
eine  Linie  angedeutet  oder  nicht  einmal  diess ,  sondern  nur 
nach  der  Figur  und  ihrem  Verhältniss  zu  den  andern  der 
Reihe  vorauszusetzen."  Mir  scheint  durch  oi(c  deutlich  ge- 
nug ausgedrückt  zu  sein,  dass  das  Letztere  der  Fall  war. 
Das  Verfahren  der  Vasenbilder  hat  übrigens  hie  und  da  zu 
spasshaften  Missverständnissen  geführt,  vgl.  Wieseler's  Erklä- 
rung ^u  Müller  A.  D.  I,  46,  212.  Dass  die  schwarzfigurigen 
Vasen  dies  Verfahren  nicht  kennen,  ist  gfewiss  nicht  zufällig; 
sie  sind  treuer  und  halten  sich  mehr  an  die  Wirklichkeit,  die 
spätem  sind  sorgloser. 


183 

es  heisst  von  Zeuxis,  dass  er  seine  CtnUiurin  auf  blühenden 
Rasen  (int  x^-örjg  £v^c(Xovg)  le<»te.  Allein  aus  der  Praxis 
der  Vasenbilder  ist  wol  der  Schluss  erlaubt,  dass  auch  die 
grossen  Maler  der  Griechen  der  äussern  Natur  immer  nur 
eine  untergeordnete  Stelle  einräumten  und  noch  bestimmter 
lässt  sich  behaupten,  dass  sie  die  äussere  Natur  als  einziges 
oder  auch  nur  als  Hauptobject  wol  nie  zur  Darstellung 
brachten;  keiner  der  erhaltenen  Titel  führt  darauf  und  was 
wir  besitzen ,  widerspricht. 

Auch  die  Plastik  zeigt  eine  Zunahme  des  landschaft- 
lichen Gefühls;  man  erinnere  sich  nur  des  f^arnesischen 
Stiers,  dessen  Basis  die  waldige  Giebirgsgegend  des_Kithäron 
darstelle;i  soll.  Schon  die  Reüefs  vom  Monument  des  Lysi- 
krates  characterisiren  das  Lokal  mehr  als  sonst  üblich  ist. 
Aus  späterer  Zeit  sind  namentlich  die  historischen  Monu- 
mente der  Römer  hervorzuheben,  die  ganz  im  Gegensatz  zu 
den  idealer  gehaltenen  griechischen  die  äussere  Natur, 
Städte  oder  Castelle,  Berge  und  Flüsse  nach  der  Wirklich- 
keit darstellen').  Denn  das  aus  Ljcien  stammende  allerdings 
von  griechischen  Händen  iiearbeitete  Relief,  welches  die  Er- 
oberuiig  der  Stadt  Xanthos  durch  Harpagos  darstellt,  kann 
unmöglich  für  die  Weise  der  griechischen  Kunst  überhaupt 
maassgebend  sein  5  es  entspricht  vielmehr  dem  Character  der 
assyrischen  Kunst,  welche  ebenso  wie  die  historische  Skulp- 
tur der  Römer  —  sie  kennt  ja  überhaupt  nur  das  Histori- 
sche —  die  äussere  Natur  nach  der  Wirklichkeit  darstellt. 
Dagegen  die  Sarkophagreliefs  aus  römischer  Zeit  halten  sich 


1)  Mit  diesen  Reliefs  wären  höchstens  die  Bilder  des  Philostra- 
tus  zu  vergleichen,  wo  Städte  dargestellt  waren,  wie  das 
Bild  des  Skaiuander,  des  Menoikeus,  des  Pyrrhos,  der  Anti- 
gene n.  s.  w.  (Das  Bild  des  Aristides:  oppido  capto  ad 
matris  morientis  ex  vulnere  mammam  adrepens  infans  ^^ird 
man  sich  nach  griechischen  Analogien  zu  denken  haben.) 
Ebenso  hätte  der  Figurenreichthum  der  philostratischen  Bil- 
der höchstens  in  römischen  Werken  seine  Analogie,  die  eben, 
dadurch  etwas  viel  Unruhigeres,  Veiwirrteres  haben,  als  die 
griechischen. 


184 

im  Ganzen  mehr  an  die  personifieirende  Darstelliinr^  der 
äussern  Natur,  die  von  den  Griechen  entlehnt  ist  und  der 
Natur  der  Plastik  ebensosehr  entspricht,  als  die  reale  Dar- 
stellung der  Malerei. 

Wir  sehn  also ,  dass  die  menschlichen  Handlungen  im- 
mer mehr  im  Verlauf  der  Kunst  mit  landschaftlichem  Bei- 
werk umgeben  werden.  Was  ist  der  Grund  dieser  That- 
sache?  Die  Literatur  der  Griechen  kann  vielleicht  zur  Be- 
antwortung dieser  Frage  dienlich  sein.  Es  ist  uämlich  oft 
bemerkt,  dass  die  älteste  Literaturgattung,  das  Epos,  weni- 
ger gemüthlichen  Antheil  nimmt  an  der  äussern  Natur,  als 
Lyrik  und  Drama').  Sie  kann  es  nicht,  da  sie  den  Mythus 
objectiv  als  etwas  Ueberliefertes  darstellt.  Nun  aber  pflegen 
wir  grade  der  ältesten  Kunst  einen  epischen  Character  bei- 
zulegen;  namentlich  0.  Jahn  hat  jn  der  Entwicklung  der 
Vasenmalerei  einen  epischen,  lyrischen  und  dramatischen 
Stil  sehr  überzeugend  nachgewiesen  und  so  möchte  denn, 
was  von  dem  Epos  der  Literatur  gilt,  auch  von  dem  epi- 
schen Stil  der  Malerei  zu  behaupten   sein  23.     Das   Interesse 

1)  Vgl.  besonders  den  ausl'ülirlichen  Aufsatz  von  Caesar  in  der 
Zeitschr.  f.  Alterth.  1849  p.  481  ff.,  der  nur  dem  Pindar,  wie 
mir  scheint,  nicht  gerecht  ist.  Denn  abgesehn  von  Bildern 
wie  Isthm.  3,  36,  so  sollte  die  wunderbare  freilich  arg  miss- 
verstandne  Stelle  Nem.  7,  79,  wo  von  den  Lilien  die  Hede 
ist,  die  im  Thau  des  Meeres  stehn,  allein  genügen,  um  ihm 
die  lebhal'teste  Empfindung  für  die  Natur  zu  vindiciren.  Und 
es  gibt  noch  andre  sprechende  Stellen  ;  detaillii'tes  Ausmalen 
freilich  ist  überhaupt  seine  Sache  nicht.  Es  scheint  mir  aber 
überhaupt  die  Characteristik  der  pindarischen  Poesie,  wie  sie 
Caesar  gibt,  nicht  die  richtige  zu  sein. 

2)  A.  Conze  hat  kürzlich  in  der  Archaeol.  Ztg.  1859  Taf  125 
eine  Vase  aus  Argos  publicirt,  die  wol  eins  der  schönsten^ 
Beispiele  für  die  rührende  Einfalt  des  epischen  Vasenstils  ist. 
Man  sehe,  wie  treu  detaillirt  uns  der  Maler  den  ganzen  Vor- 
gang erzidilt ;  Herkules  kam  zu  Wagen ,  und  als  er  an  Ort 
und  Stelle  w  ar,  band  er  die  Pferde  los  und  Hess  sie  frei  lau- 
fen und  während  diese  nun  Laub  fressen,  macht  er  sich  an's 
Werk.  Nur  in  dem  alterthümlichen  Stil  ist  ein  solcher  wahr- 
haft epischer  Vortrag  möglich. 


185 

an  Bergen  und  Flüssen,  an  Bäumen  und  Blumen  erwacht 
erst  später,  es  erwacht  mit  den  Bedürfnissen  des  eignen 
Gemüths,  es  erwacht  in  derjenigen  Poesie,  welche  mitfühlt 
den  Wechsel,  Wonne  und  Weh  des  Naturlebens,  in  der  Ly- 
rik, und  so  sehn  wir  denn  auch  landschaftliche  Zuthat  in  der 
spätem  Kunst  hervortreten ,  aber  immer  nur ,  wie  auch  in 
der  Poesie,  als  Zuthat.  Ein  Landschaftsbild  ist  eben  so 
wenig  vorhanden  als  ein  Gedicht,  dessen  Zweck  die  Be- 
schreibung einer  schönen  Gegend  wäre.  Immer  ist  die  Na- 
tur dem  Menschen  untergeordnet. 

Aber  es  sind  unter  den  römischen  Wandmalereien  spä- 
terer Zeiten  manche,  welche  auf  den  ersten  Blick  land- 
schaftliche , Gemälde  zu  sein  scheinen.  Allerdings  sind  sie 
verschieden  von  der  griechischen  Art ,  indem  sie  die  mensch- 
liche Handlung  nicht  mehr  als  Hauptobject,  sondern  als  Bei- 
werk behandeln;  es  gibt  sogar  Fälle,  wo  sie  ganz  fehlt. 
Aber  sie  sind  darum  noch  nicht  Landschaften  in  unserm 
Sinn.  Betrachten  wir  zunächst  die  Erlhidung  des  Ludius. 
Seine  Malerei  war,  wie  man  richtig  bemerkt  hat  i),  eine  Pro- 
specl maierei:  er  malte  Villen ,  Hallen,  Gartenanlagen,  Haine, 
Wälder,  Hügel,  Wasserbehälter,  Gräben,  Flüsse,  Ufer  und 
Menschen  dazu  in  den  Beschäftigungen  des  Landlebens.  Wie 
deutlich  sieht  man  hierin  die  Neigungen  des  Römers  zur 
Kaiserzeit!  Auf  der  Villa  zu  leben,  wo  möglieh  in  der  küh- 
lenden Nähe  des  Meeres,  das  war,  wie  die  Schriftsteller  be- 
zeugen, die  Liebhaberei  des  Römers  und  so  wird  denn  die 
Malerei  des  Ludius  aus  der  herrsehenden  Zeitrichtung  ganz 
begreiflich.  Es  ist  uns  manches  in  seiner  Art  gemalte  Bild 
erhalten ,  welches  den  Reiz  des  Landlebens  anschaulich  zu , 
machen^  bestimmt  ist,  aber  Landschaften  in  unserm  Sinne 
sind  CS  nicht.  Eher  könnte  man  diejenigen  Bilder  Land- 
schaften nennen .  Avelehe  die  einsame  Natur  darstellen ,  in 
welcher  nur  das  Numen  der  Nymphen  oder  andrer  ländlicher 
Gottheiten  waltet  Es  gibt  mehre  interessante  Darstellungen 
dieser  Art:    Berge,  die  einen  stillen  See  einschliessen  u. s. w., 


1)  Brunn  Gesch.  der  griech.  Künster  II,  315. 


186 

wo  die  Heiligthümer  ländlicher  Gottheiten  sind  i).  Diese 
Gemälde  kommen  iinsein  Landschaften  nahe,  es  liegt  eine 
bestimmte  Stimmung  hier  in  der  Natur  ausgedrückt,  nur  das 
steht  entgegen,  dass  die  Götter  hier  wohnen.  Darin  eben 
liegt  der  Grund,  dass  das  Alterthum  zur  Landsehaltsmalerei 
in  unserm  Sinn  nicht  kam,  es  sind  die  dämonischen  Wesen, 
die  in  Wald  und  Quelle  wohnen  und  ihr  Geist  ist's,  der 
überall  webt.  Wären  in  diesen  letztgenannten  Bildern  die 
HeiUgthümer  weggelassen,  so  wäre  kein  Unterschied  mehr 
von  unsern  Landschaften:  aber  so  wie  sie  da  sind,  ist  diese 
Natur  immer  nur  die  Wohnung  dämonischer  Wesen.  Die 
Natur  muss  entseelt  werden  von  Göttern ,  um  durch  die 
Empfindung  des  Künstlers  neu  beseelt  zu  werden.  Dies  ist 
die  Voraussetzung  der  Landschaftsmalerei,  und  diese  Voraus- 
setzung fehlte  dem  Alterthum. 

Wenden  wir  uns  nun  zurück  zu  dem  Bilde  des  Philo- 
sti-atus,  so  muss  behauptet  werden,  dass  die  menschenleere 
Insel,  die  er  gemalt  gesehn  haben  will,  ohne  alle  Analogie 
dasteht.  Hätte  er  noch  Heiligthümer  ländlicher  Gottheiten 
hinzugesetzt,  so  hätte  man  sich  das  Bild  denken  können 
nach  der  Art  jener  späten  oben  erwähnten  Gemälde. 


1)  Vgl.  Bartoli  pict.  antiq.  tab  10,  besonders  tab.  13.  Merk- 
würdig ist  das  Bild  im  sepulcr.  Nas.  tab.  14,  das  den  Her- 
mes darstellt,  der  eine  Wildniss  betritt ,  deren  Thiere  durch 
seine  Erscheinung  gescheucht  werden.  Etwa  Hermes,  der  die 
Insel  der  Kalypso  betritt? 


IV. 


Vielleicht  wird  man  die  Anzahl  der  schon  besprochenen 
Bilder  hinreichend  finden  zum  Beweise  unsres  Satzes,  und 
in  der  That,  man  sollte  glauben,  dass  wenn  auch  nur  für 
ein  einziges  Bild,  ja  für  eine  Einzelheit  in  einem  Bilde  der 
überzeugende  Beweis  der  NichtwirkHchkeit  geführt  würde, 
dass  damit  die  Autorität  des  ganzen  Schriftstellers  erschüt- 
tert sei.  Indessen  auf  die  Gefahr  hin,  etwas  Ueberflüssiges 
zu  sagen,  aber  in  der  Hoffnung,  aus  den  Scheinbildern  des 
Philostratus  Vortheil  zu  ziehn  für  die  ächten  Werke  griechi- 
scher Kunst,  wollen  wir  noch  ein  paar  Bilder  zergliedern 
und  zwar  wählen  wir  grade  solche,  die  man  in  Bezug  ge- 
setzt hat  zu  Werken  berühmter  Meister.  Unsre  Betrachtungen 
beschränkten  sich  ja,  wie  schon  früher  bemerkt  wurde,  nicht 
■auf  das  knapp  Nothwendige  und  so  lasse  sich  der  Leser 
auch  noch  diese  Erörterungen  gefallen,  wenn  sie  nur  einen 
kleinen  Beitrag  geben  zur  richtigeren  Erkenntniss  der  alten 
Kunst. 

Der  jüngere  Philostratus  beschreibt  unter  Nr.  2  folgen- 
des Bild: 

Der  Phrygier  ist  besiegt;  sein  Blick  ist  verzweifelt,  die 
Flöte  weggeworfen.  An  der  Fichte  steht  er,  von  welcher 
er,  wie  er  Mciss,  herabhängen  soll  und  sieht  auf  den  Bar- 
baren, welcher  das  Messer  für  ihn  wetzt.  Dieser  ist  mit 
seinen  Händen  beim  Messer  beschäftigt,  aber  mit  funkelnden 
Augen  blickt  er  hinauf  zum  Marsyas  und  sein  Haar  steht 
wild  von  einander,  seine  Backen  sind  von  Mordlust  geröthet, 
die  Brauen  zusammengezogen  und  ein  wildes  Grinsen  ist 
auf  seinem  Gesicht.  Apollo  ruht  sich  aus  auf  einem  Fels; 
die  Lyra,  die  in  der  Linken  liegt,  wird  noch  gespielt  von 
der  linken  Hand,  die  rechte  liegt  auf  dem  Schooss  lose  das 
Piektrum  haltend;    sorglos   sieht  der  Gott   aus  und  ein  La- 


188 

cheln  ist  auf  seinem  Gesicht.  Auch  der  Fluesgott  ist  da, 
welcher  den  Namen  des  Mars3'as  annehmen  wird,  und  eine 
Heerde  von  Satyrn,  den  Marsya,s  betrauernd  und  das  Ausge- 
lassne  mit  der  Betrübtheit  vereinigend. 

Dies  Bild  wird  auf  Zeuxis  zurückgeführt  i),  von  welchem 
ein  Marsyas  religatus  bekannt  ist.  Malerisch  möglich,  ist 
allerdings  das  Bild  und  der  Umstand,  dass  der  Marsyas  des 
Philostratus  nicht  gebunden  ist  —  es  wird  wenigstens  nicht 
erwähnt  — ,  so  dass  also  der  Titel  des  G-emäldes  von  Zeu- 
xis  nicht  genau  passen  würde,  mag  übej|sehen  werden. 
Wenn  nur  das  Bild  seiner  würdig  wäre,  das  in  der  That 
mit  keinem  einzigen  der  erhaltenen  den  Vergleich  aushält ! 

Zunächst  eine  antiquarische  Besonderheit.  Von  einer 
Flöte  spricht  Philostratus,  auf  allen  literarisch  oder  mo- 
numental erhaltenen  Darstellungen  hat  Marsyas  die  Doppel- 
flöte. Auch  der  ältere  Philosti-atus  gibt  dem  Olympus  (1,21) 
nur  eine  Flöte,  und  doch  erinnere  ich  mich  nicht,  auf  irgend 
einem  griechischen  Relief  oder  Gemälde  —  und  die  Flöte 
kommt  ja  in  bacchischen  Scenen  und  Opferhandlungen  häufig 
genug  vor  —  eine  andre  Flöte  als  die  Doppelflöte  gesehn 
zu  haben.  Dichter  gebrauchen  dagegen  oft  den  Singular, 
wofür  ich  weder  Stellen  noch  den  Grund  anzugeben  brauche, 
die  Monumente  folgen  begreiflicherweise  der  Sitte  des  Lebens. 

Von  Apollo  heisst  es,  Lächeln  sei  auf  seinem  Gesicht. 
Ist  das  nicht  empörend?  Kann  Apollo  da  lächeln,  wo  er 
Vollstrecker  einer  gerechten  Strafe  ist?  So  wenig  wie  es 
Dionj'sos  kann  als  Bestrafer  der  Seeräuber,  den  der  stumpf- 
sinnige Rhetor  (Sen.  I,  19)  ebenfalls  lächeln  lässt.  Auf  dem 
Monument  des  Lysikrates  sitzt  Dionysos  in  ruhiger  Schön- 
heit da,  ohne  Erregung,  wie  es  dem  Gott  geziemt,  er  tändelt 
mit  seinem  Panther,  aber  dem  niedern  Volk  der  Sat3Tn  über- 
lässt   er   die  Bestrafung   der    Räuber  2).     Das   Aergste    aber 


1)  Von  Brunn  Gesch.  II  p.  83.  welchem  Michaelis  beistimmt  in 
Ann.  delV  instit.  1858  p.  319. 

2)  Vgl.  die  schöne  Ausführung  in  0.  Jahns  Pentheus  p.  15. 
Wie  ganz  anders  als  bei  Philostratus  ist  es  in  seinem  Vor- 
bild, dem  homerischen  Hymnus!  Da  lacht  Dionj'sos  darüber, 


189 

wird  uns  zugeniuthet  in  dem  Bilde  des  Nessus  (Jun.  16)')- 
Da  heisst  es ,  dass  der  Knabe  Hyllos  über  den  von  seines 
Vaters  Pfeil  gelrülYenen  Centauren  vor  Vergnügen  in  die 
Hände  klatsclie  und  dazu  lache.  AVas  könnte  es  Unnatür- 
licheres und  Schändlicheres  geben  zumal  bei  einem  Kinde, 
als  Lachen  über  einen  Sterbenden,  über  einen  unter  Schmer- 
zen Sterbenden? 

Für  die  Satyrn  —  es  ist  wieder  eine  Heerde  da  —  wäre 
es  wol  angemessener,  den  Apollo  um  Gnade  zu  flehn,  als 
vor  der  Zeit  zu  trauern.  Und  Olympus  fehlt,  der  eher  da 
sein  sollte,  als  die  Satyrn,  weil  er  dem  Marsyas  näher  steht, 
der  flehen  sollte  für  seinen  Lehrer  wie  auf  den  erhaltenen 
Monumenten.  Den  Flussgott  dagegen,  der  nur  auf  römi- 
schen Monumenten  vorkommt,  hätte  vielleicht  ein  Zeuxis 
weggelassen,  denn  mit  der  Handlung  steht  er  in  keinem  In- 
nern Zusammenhang,  er  geht  das  spätere  Schicksal  des  Mar- 
s^'as  an,    das  uns  in  diesem  Augenblick  gar  nicht  kümmert. 

Uebrigens  mag  in  einem  Punkt  eine  Reminiscenz  wirk- 
lich gesehner  Denkmäler  zugegeben  werden.  Die  Stellung 
des  Schleifers  wird  ganz  so  beschrieben ,  wie  sie  auf  erhal- 
tenen Monumenten  sich  findet. 

0.  Müller  hatte  eine  höhere  Vorstellung  von  der  Kunst 
des  Zeuxjs,  denn  wenn  wir  auch  die  nachgewiesenen  Fehler 
einmal  hinwegdenken,  so  würde  das  Bild  doch  immer  ein 
dem  Mythus  ohne  eigne  Zuthat  des  Künstlers  nachgemaltes 
bleiben  und  eben  ein  solches  ist  einem  griechischen  Meister 
nicht  zuzutrauen.  0.  Müller  hat  in  seinen  alten  Denkmä- 
lern I,  n.  204  ein  herkulanisches  Bild  abbilden   lassen,   „zur 


dass  die  Seeräuber  ihn,  den  Gott,  fessehi  zu  können  glau- 
ben, aber  als  er  zur  Bestrafung  schreitet ,  da  ist  er  ein  wild 
blickender  Löwe.  Ans  solchen  Zügen  sieht  man ,  was  für 
ein  Mensch  dieser  Philostratus  war. 
1 )  Dies  Bild  ist  übrigens  auch  sonst  sehr  merkwürdig.  Her- 
kules steht  mit  seinem  Wagen  im  Fluss,  warum?  Weil  der 
M3-tluis  so  erzählt.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  liier  ein 
Künstler  abweichen  musste.  Man  vgl.  zum  Ueberfluss  das 
pompejanische  Bild  Mus.  Borbon.  VI,  36. 


190 

Erläuterung  von  Zeuxis:  Marsyas  religatus."  Dies  Bild  ist  aller- 
dings seiner  Erfindung  nach  wahrhalt  könstlerisch.  Marsyas  steht 
mit  gebundenen  Händen  an  dem  Baum  und  lässt  traurig  den 
Kopf  herabhängen.  Vor  ihm  |steht  der  Scythe  mit  dem  Messer. 
Dann  folgt  Olympus,  der  sieh  in  eiliger  Bewegung  dem  Grotte 
genähert  und  nun  in  bittender  Geberde  vor  ihm  kniet.  Ne- 
ben Apollo,  welcher  die  Hand  an  die  Kithar  lehnend  auf 
einem  Sessel  sitzt,  steht  eine  Frau,  die,  mag  sie  sein  wer 
sie  will  —  eine  Muse,  wie  sie  in  den  bisherigen  Erklärungen 
genannt  wird,  ist  sie  schon  wegen  des  Blumengewindes  in 
ihrer  Hand  gewiss  nicht  —  ,  mit  ausdrucks^•oller  Wendung 
des  Kopfes  den  Gott  um  Barmherzigkeit  bittet.  Das  ist  eine 
schöne,  menschliche  Zuthat  zu  dem  Bilde,  es  ist  nun  die 
EntSchliessung  Apollos,  nicht  die  Vollstreckung  der  Sti-afe, 
an  welche  sich  das  Interesse  knüpft ,  es  ist  der  ps3'chologi- 
sche  Conflict  zwischen  Mitleid  und  gerechtem  Zorn,  der 
unsre  Theilnahme  weckt.  Von  einem  denkenden  Künstler 
also  ist  dies  herkulanische  Bild  oder  sein  Vorbild  entworfen, 
ob  dies  aber  Zeuxis  gewesen,  darüber  steht  uns  keine  Ent- 
scheidung zu. 


Der  ältere  Philostratus  beschreibt  H,  3  folgendes  Bild: 
Man  erblickt  den  Pelion  mit  Eschen  bewachsen  und  die 
schönsten  Höhlen  und  Quellen  5  Centaurinnen  halten  sich  dort 
auf  mit  ihren  Jungen.  Einige  Junge  liegen  in  den  Windeln, 
andere  kriechen  daraus  hervor,  diese  seheinen  zu  weinen, 
jene  sind  munter  und  lächeln,  da  die  Brust  gut  fliesst;  hier 
hüpfen  sie  unter  den  Müttern,  dort  umklammern  sie  die  nie- 
dergekauerten ;  eins  aber  wirft  schon  muthwilhg  gegen  die 
Mutter  einen  Stein.  Die  ganz  juiigen  haben  noch  keine  feste 
Gestalt,  die  aber  schon  hüpfen,  haben  auch  schon  etwas 
Derbes.  Ihre  Mähne  ist  noch  im  Werden  und  die  Hufen 
sind  noch  zart.  Die  Centaurinnen  entwachsen  weissen  und 
bräunlichen  Pferden ;  auch  aus  einem  schwarzen  Pferd  wächst 
eine  weisse  Centaurin  hervor. 


191 

Wir  wollen  dieses  Bild  kurz  zusammenstellen  mit  der 
Centaurenlaiuilic  des  Zeuxis,  die  Lucian  besehreibt,  denn  es 
ist  die  Meinung  ausgesproehei;i  worden*),  dass  das  philostra- 
tische  Bild  und  das  berühmte  Berliner  Cenlaurenniosaik  durch- 
aus derselben  Geistesrichtung  entsprungen  erseheine,  die  sieh 
in  Lucian's  Schilderung  finde. 

Doch  zunächst  ein  paar  Einzelheiten.  Die  Vervielfälti- 
gung der  Höhlen,  Quellen,  Centain-en  sind  wir  schon  ge- 
wohnt ,  aber  die  halb  schwarze ,  halb  ^A'eisse  Centaurin  ver- 
dient wol  ein  näheres  Eingehn.  Bei  der  Bildung'  des  Cen- 
tauren kommt  es  offenbar  darauf  an,  die  beiden  Organismen 
so  zu  verschmelzen,  dass  ein  einheitliches  neues  Ganze  ent- 
steht, welches  den  Gedankep  an  eine  Zusannnensetzung  nicht 
aufkommen  lässt.  An  der  Centaurenfamihe  des  Zeuxis  wird 
eben  diese  allmähliche  Mischung  des  Thierischen  und  Mensch- 
lichen gerühmt  und  wenn  man  das  Centaurenmosaik  in  Ber- 
lin vergleicht,  so  findet  man  zwar  namentlich  an  dem  männ- 
lichen Centaur  den  Farbenton  des  Rossleibes  etwas  dunkler, 
wie  natürlich,  aber  von  einem"  grellen  Contrast  ist  keine  Rede. 
Und  wie  wäre  das  möglich?  Dadurch  würde  ja  der  Künst- 
ler sich  selbst  entgegenarbeiten.  Er  will  einen  einheitlichen 
Organismus  schaffen;  wenn  er  aber  die  beiden  Bestandtheile 
dieses  Organismus  mit  diametral  entgegengesetzten  'Farben 
färbt,  so  erweckt  er  ja  gerade  den  Gedanken  der  Zusammen- 
setzung, des  Aggregats,  den  er  vernichten  wollte. 

Einige  Junge,  heisst  es  sodann,  liegen  in  Windeln. 
Der  Rhetor  überträgt,  menschliche  Verhältnisse  auf  die  Cen- 
tauren, welclie  doch  in  diesem  Punkt  der  thierischen  Praxis 
folgen  müssen.  Er  thut  es  nicht  absichtlich,  es  ist  kein  An- 
lass  zu  glauben,  dass  er  einen  komischen  Eindruck  beab- 
sichtigt habe.  Komisch  aber  ist  ein  Thier  in  Windeln  ge- 
wickelt jedenfalls;  es  wäre  da  am  Platze,  wo  man,  wie  in 
einer  Affenkomödie,  men«chliche  Sitten  und  Zustände  durch 
Thiere  darstellen  lässt. 

Die  Hauptsache  aber  ist,  dass  Zeuxis  eine  Familie  von 


1)  Von  Brunn  Künstlergesch.  II    p.  83. 


192 

Centauren  gemalt  hatte,  hier  dagegen  ist  eine  Menge  von 
Müttern  und  Jungen  versammelt;  dieser  Unterschied  ist  so 
wichtig,  dass  er  eine  Vergleichung  der  Bilder  gar  nicht  zu- 
lässt.  Denn  dadurch,  dass  Philostratus  eine  unbestimmte 
Menge  von  Müttern  und  Jungen  auftreten  lässt,  verliert  sein 
Bild  alles  tiefere  Interesse,  es  könnten  auch  Pferde  und  Füllen 
sein  und  es  würde  nichts  verändert  als  nur  die  äusserliche 
Gestalt.  Die  Beschränkung  auf  eine  Familie  gibt  erst  das 
tiefere  Interesse,  insofern  sie  das  Halbthierische  unter  die 
Analogie  des  Menschenlebens  rückt,  insofern  sie  die  Tugen- 
den einer  menschlichen  Familie  in  halbthierischen  Organismen 
zur  Erscheinung  bringt.  Das  Säugen  eines  Jungen  auf  dem 
philostratischen  Bilde  ist  nur  ein  Akt  des  Instinktes,  auf  dem 
Bilde  des  Zeuxis  ist  es  zugleich  eine  That  mütterlicher  Liebe, 
wie  im  Menschenleben.  Goethe  hebt  es  in  seinem  Aufsatz 
über  Myron's  Kuh  an  verschiedenen  Beispielen  hervor,  wie 
gerade  darin  die  grosse  Wirkung  solcher  Gruppen  liege,  dass 
im  Thierischen  Zärtlichkeit,  Mütterlichkeit,  kurz  menschliches 
Gefühl  zur  Erscheinung  komme.  Uad  mehr  noch  als  Thiere 
muss  ja  die  Centaurengestalt  als  eine  zur  Hälfte  menschliche 
auf  diese  Analogien  des  Menschlichen  Anspruch  machen. 

Das  Berliner  Centaurenmosaik  beschränkt  sich  wie  das 
Bild  des  Zeuxis  auf  eine  Familie,  aber  dies  ist  auch  der 
einzige  Vergleichungspunkt.  Im  Uebrigen  stehn  sie  sich 
diametral  entgegen.  Dieses  ist  ein  Idyll,  jenes  eine  ergrei- 
fende Tragödie.  Der  männliche  Centaur,  von  bräunlicher 
Carnation,  während  sein  Weib  lichter  gehalten  ist,  nach  jenem 
schönen  Verfahren ,  von  dem  auch  in  Pompeji  so  wirkungs- 
reiche Beispiele  vorliegen,  hat  einen  Felsblock  geholt,  um  den 
Tiger  zu  zerschmettern,  der  sein  getödtetes  Weib  zerfleischt. 
Ihm  wäre  der  Untergang  gewiss,  wie  auch  schon  neben  ihm 
ein  getödteter  Löwe  von  der  Gegenwehr  der  Centauren  zeugt. 
Aber  indem  der  Centaur  den  Felsblock  hebt,  um  ihn  auf  den 
Kopf  des  Tigers  zu  schleudern,  erblickt  er  an  seiner  Seite 
zum  Sprunge  bereit  eine  zweite  Bestie.  Dieser  Augenblick 
ist  gewählt:  auf  den  bei  seinem  todteu  Weibe  beschäftigten 
Tiger   ist   die  Bewegung  des  Centauren    gerichtet,    aber   die 


193 

Augen  richten  sich  auf  den  neuen  Feind  mit  trüber  Weh- 
muth ,  die  unter  dem  wilden  Haar  des  Halbmensclien  um  so 
ergreifender  wirkt.  Mit  einem  Feind  wird  er  wol  fertig, 
aber  nicht  mit  dem  zweiten;. er  sieht  es  selbst  voraus,  um 
der  Rache  an  seinem  Weib  willen  soll  er  den  Tod  leiden. 
Es  ist  ein  wunderbar  grosses  Bild ,  dem  wenige  vergleich- 
bar sind;  aber  gerade  darin  hat  die  ungeheure  Wirkung 
desselben  ihren  Grund,  dass  es  ein  menschliches  Gefühl,  dass 
es  die  Liebe  zum  Weibe  ist,  die  hier  um  den  Preis  des  Le- 
bens in  einem  Thiermenschen  sich  bethätigt.  Der  Centaur 
erscheint  uns  trotz  seiner  Wildheit  von  Herzen  mitleidens- 
werth,  weil  er  beseelt  ist  von  einer  grossen  Empfindung, 
die  auch,  den  Menschen  in  Wildheit  zu  versetzen  vermag. 
Ob  dieses  Bild  in  irgend  einer  Beziehung  zu  Zeuxis  stehe, 
Avage  ich  nicht  zu  entscheiden;  es  finden  sich  allerdings 
unter  den  Werken  dieses  Meisters  einzelne,  denen  ein  tragi- 
scher Eindruck  eigen  gewesen  zu  sein  scheint,  aber  soviel 
scheint  mir  gewiss,  dass  man  das  Berliner  Bild  nicht  als  der- 
selben Geistesrichtung  mit  jener  idyUischen  Familiensceue 
des  Zeuxis  entsprungen  bezeichnen  darf. 


Unter  dem  Titel  Ariadne  beschreibt  der  ältere  Philostra- 
tus  (I,  15)  folgendes  Bild: 

Dionysos  angethan  mit  dem  Purpurkleid  und  mit  Rosen 
bekränzt  geht  zur  Ariadne;  er  ist  berauscht  von  Liebe.  Die 
Bacchen  gebrauchen  jetzt  nicht  ihre  Cymbeln,  noch  die  Satyrn 
ihre  Flöten,  selbst  Pan  hält  inne  mit  seinen  Sprüngen,  um 
nicht  den  Schlaf  des  Mädchens  zu  stören.  Theseus  aber  hat 
Ariadne  vergessen,  seine  Sehnsucht  geht  nur  auf  Athen,  sein 
BHck  geht  nur  dem  Schiffe  voraus.  Ariadne  aber  liegt  auf 
Felsen,  nackt  bis  zum  Nabel,  den  Hals  hintenübergelegt  und 
die  ganze  rechte  Achselgrube  ist  sichtbar.  Die  hnke  Hand 
aber  liegt  auf  dem  Gewände ,  damit  nicht  der  Wind  ihre 
Scham  aufdecke. 

13 


194 

Das  Bild  scheint,  wenn  man  nicht  genauer  zusieht,  mit 
wirkhch  vorhandenen  übereinzustimmen  Und  allerdings  eine 
Reminiscenz  von  wirklich  Gesehenem  muss  zugegeben  wer- 
den. Die  Figur  der  Ariadne  nämlich  wird  genau  so  beschrie- 
ben, wie  sie  auf  späteren  Monutnenten  —  römischen  Wand- 
gemälden und  Sarkophagen  —  erscheint.  Nur  pflegt  man 
in  Pompeji  der  Schlafenden  fein  Mciche  Kissen  unterzu- 
legen —  M'ie  die  an  den  Meeresstrand  kommen,  das  küm- 
mert nicht  — ,  denn  wie  kann  ein  so  zartes  Mädchen  auf 
rauhem  Fels  liegen !  i)  Aber  diese  Uebereinstimmung  ist 
auch  Alles;  aus  dem  Uebrigen  sieht  man  deutlich  genug, 
dass  der  Rhetor  nicht  ein  Bild,  sondern  nur  den  Mj'thus  vor 
Augen  hatte.  Theseus,  erzählt  er,  hat  die  Ariadne  vergessen 
und  sieht  nur  dahin,  wohin  sein  Kiel  gerichtet  ist:  das  ist 
ein  Zug,  den  kein  Künstler,  wenigstens  kein  denkender,  kein 
gi-ieehischer  Künstler  sich  erlaubt  hätte.  Wie  kann  Theseus 
ohne  Innern  Kampf  eine  Ariadne  verlassen !  Dass  es  ihm 
schwer  geworden,  zu  gehen,  dass  er  schwankt  zwischen  der 
Liebe  zur  Heimat  und  zur  Ariadne,  das  hätte  der  Künstler 
darstellen  ,  er  hätte  ihn  wenigstens  zurückblicken  lassen  sol- 
len nach  dem  Mädchen.  Eben  dadurch  hätte  er  den  Reiz 
des  Mädchens  gehoben  und  das  Staunen  des  Dionysos  und 
seiner  Gefährten  begreiflich  gemacht.  So  wie  es  hier  xer- 
langt  wird,  verfahren  die  erhaltenen  Denkmäler,  Avelche  den 


1)  Die  pompejanisclien  Bilder  sind  reich  an  solchen  Zeichen 
weichlicher  Sitte.  Die  Galatea  z.  B.  bei  Zahn  2,  30  hat  den 
Fächer  und  über  ihr  fliegt  ein  Eros  mit  Sonnenschirm :  es 
ist  als  ob  sich  eine  zarte  Dame  aus  Pompeji  als  Galatea  habe 
darstellen  lassen.  Die  Putzsucht  tritt  überall  hervor  in  dem 
zierlichen  Lockengekräusel,  in  den  Ringen  um  Arme  und 
Füsse,  die  man  selbst  bei  nackten  Figuren  findet!  Der  Er- 
scheinung nach  ist  dies  dasselbe,  wie  in  der  alterthümlichen 
Kunst,  die  auch  eine  grosse  Neigung  zu  Schmuck  und  Zier- 
lichkeit hat,  aber  aus  was  für  einer  grundverschiedneu  Seelen- 
stimmung geht  das  hervor!  Hier  ist  es  die  naive  Fi-eude  am 
Zierlichen,  das  liebenswürdige  Bestreben,  Alles  recht  fein  zu 
machen,  dort  eine  weiche,  raffinirte  Eleganz. 


195 

Abschied  des  Theseus  darstellen  i) ;  eins  ist  da,  welches  wie 
das  philostratisehe  Bild  den  gehenden  Theseus  und  den  kom- 
menden Dionysos  vereinigt,  und  auch  hier  geht  Theseus  mit 
rückwärts  gewandtem  Haui)t.  Der  Mythus  freilich  lässt  kurz 
den  Einen  gehen  und  den  Andern  kommen;  eben  diesem 
schrieb  der  Khetor  nach. 

Dionysos  ist  berauscht  von  Liebe,  aber  sein  Gefolge  — 
Eros  ist  nicht  da,  denn  der  Mythus  meldete  nichts  von 
ihm  —  hält  inne  mit  Cymbeln  und  Flöten,  selbst  Pan  ist 
ruhig,  um  nicht  den  Schlaf  des  Mädchens  zu  stören.  O  über 
den  stumpfsinnigen  Rhetor,  der  so  schreiben  mochte!  Man 
sehe  die  erhaltenen  Monumente  2).  Das  wäre  ein  rechter 
Pan,  dem'  nicht  lichterloh  die  Begierde  ausschlüge  beim  An- 
blick eines  schlafenden  noch  dazu  halb  nackten  Mädchens') ! 
So  ist  es,  Pan  und  Satyrn  können  sich  nicht  halten  vor  Be- 
gierde, so  wie  es  ihrer  Natur  angemessen  ist,  Dionysos  aber 
pflegt  zaudernd  dargestellt  zu  werden ,  er  muss  getrieben 
werden  von  seinen  Begleitern,  in  denen  das  eine  Gefühl  des 
sinnlichen  Triebes  lebt.  In  diesem  Gegensatz  der  edlen  Zu- 
rückhaltung des  Gottes,  der  versunken  dasteht  in  die  schlafende 
Schönheit,  und  der  drängenden  Begier  seines  Gefolges  liegt 


1)  Vgl.  Jahn  Arcliäol.  Beitr.  p.  280  ff.  Hinzu  kommt  das  von 
Minervini  im  Bullet.  Napolet.  IV  p.  91  beschriebene  pompe- 
janisclie  Biid,  wo  ganz  dieselbe  Auffassung  ist;  dann  der 
Sarkophag  in  Constantinopel  in  Archaeol.  Ztg.  XV,  Taf.  100, 
■wo  sich  auch  Theseus  im  Weggehn  nach  der  Ariadne  um- 
sieht. 

2)  Es  genügt  auf  0.  Müllers  A.  D.  II  ,  Taf.  35  und  36  zu 
verweisen. 

3)  Zu  diesem  Bilde  des  Philostratus  vergleiche  man  die  senti- 
mental verliebten  Satyrn ,  die  den  Olympus  umgeben  1 ,  20. 
Auf  der  andern  Seite  hat  der  geistesarme  Rhetor  die  schöne 
Fabel  von  Silen  und  Midas  auf  das  Gründlichste  zerstört. 
Er  zeigt  uns  (1,  22)  einen  thiciüschen  Silen,  betrunken  schla- 
fend, und  das  wäre  denn  ein  Bild,  eines  griechischen  Künst- 
lers würdig!  Die  erhaltenen  Monumente  benehmen  sich  ganz 
anders,  vgl.  die  Vase  in  Monum.  dell"  instit.  4,  10. 

13* 


196 

die  eigenüiche  Schönheit  dieser  Darstelhingen  begründet; 
wäre  er  nicht,  gleich  würde  die  Darstellung  gemein  und  also 
uninteressant  werden.  Aber  dies  Zaudern  des  Gottes  lässt 
ihn  selbst  als  Gott  erkennen  und  Ariadne  wird  nur  noch 
schöner  dadurch.  Der  Rhetor  aber,  was  weiss  er  davon, 
was  einem  Gott  geziemt;  er  kehrt  die  Sache  gerade  um;  bei 
ihm  ist  Dionysos  trunken  vor  Liebe,  sein  Gefolge  aber,  ob- 
wohl Wesen  gemeinerer  Natur,  steht  still,  um  nicht  den 
Schlaf  des  Mädchens  zu  stören. 


Schliesslicri  betrachten  wir  das  Bild  des  lokrischen  Ajax 
(Sen.  II,   13)  : 

Aus  dem  Meer  ragen  Felsen,  um  welche  das  Meer  zischt. 
Auf  ihnen  steht  wild  und  übermüthig  ein  Held,  der  lokrische 
Ajax.  Sein  Schiff  ist  getroffen  und  steht  nun  in  Flammen, 
er  selbst  rettete  sich  auf  die  gyräischen  Felsen.  Poseidon 
aber  kommt  heran  voll  Zorn  und  schwingt  den  Dreizack, 
um  den  Fels  zu  stürzen,  auf  dem  Ajax  steht. 

xMan  ist  geneigt,  dies  Bild  auf  den  Maler  ApoUodorus 
zurückzuführen,  von  dem  ein  Ajax  fulmine  incensus  erwähnt 
wird  1 ) . 

Es  gab  zwei  Erzählungen  über  den  Tod  des  Ajax  2). 
Nach  der  homerischen  wurden  seine  Schiffe  zerstört,  er  selbst 
aber  auf  die  gyräischen  Felsen  geworfen.  Hier  spricht  er  das 
übermüthige  Wort ,  er  wolle  auch  gegen  den  Willen  der 
Götter   dem    Meer    entrinnen.      Darüber    ergrimmt    Poseidon 


1)  Auch  Brunn  (II  p.  73)  ist  nicht  abgeneigt,  „nur  kann  aller- 
dings die  Bezeichnung  Ajax  fulmine  incensus  etwas  zu  knapp 
und  gesucht  erscheinen  für  einen  Ajax,  dessen  Schiff  vom 
Blitze  getroffen  ist,  und  der  nun  schiffbrüchig  gegen  Felsen 
geschleudert  den  Göttern  nucli  trotzen  will ,  während  Posei- 
don, sie  zu  rächen,  heraneilt.''" 

2)  Vgl.  die  Stellen  in  Jacobi's  luythul-   Wörterbuch. 


197 

und  spaltet  den  Fels  mit  seinem  Dreizack  und  xwar  so,  dass 
das  Stück,  auf  welchem  Ajax  stand,  ins  Meer  fällt.  Das 
Meer  also,  dem  er  entrinnen' zu  können  glaubte,  verschlingt 
ihn  doch,  das  ist  der  acht  epische  Gedanke  dieser  Sage; 
darum  inuss  auch  Poseidon  den  Felsen,  auf  dem  er  steht, 
nicht  ihn  selbst  mit  dem  Dreizack  berühren.  Dieser  Erzäh- 
lung folgt  Philostratus,  wie  man  sieht;  es  ist  characteristisch, 
dass  er  uns  niclit  mittheilt,  wie  sein  Poseidon  herankommt, 
was  der  Dichter  auch  nicht  sagt,  aber  auch  nicht  zu  sagen 
braucht  oder  richtiger,  nach  dem  Zusammenhang  der  Stelle 
nicht  sagen  darf. 

Die  andere  Erzählung  ist  weniger  volksthümlich ,  aber 
mehr  für.  die  Tragödie  gemacht.  Es  ist  die  beleidigte  Göttin, 
die  Pallas,  an  deren  Tempel  und  Priesterin  er  gefrevelt  hatte, 
die  ihn  mit  dem  Blitzstrahl  lödtet^).  Dieser  Erzählung  folgte 
der  Maler  Apollodor,  wenigstens  stimmt  der  Titel  seines  Bil- 
des nur  mit  dieser,  nicht  mit  der  ersten  überein.  Sein  Bild 
hat  also  mit  dem  Philostratus  nichts  zu  schaffen. 

Und  warum  gab  wol  Apollodor  der  spätem  Sago  den 
Vorzug?  Weil  die  erstere  gar  nicht  künstlerisch  darstellbar 
ist.  Poseidon  richtet  den  Dreizack  nicht  gegen  den  Frevler 
selbst,  sondern  gegen  den  Felsen.  Man  denke  sich  das  ge- 
malt und  wir  werden  verwundert  fragen,  warum  die  Hand 
des  Gottes   nicht    den  Frevler  selbst  treffe.     "Was  in  der  ho- 


1)  Es  ist  mir  unbegreiflich,  wie  Welcker  den  Unierschied  der 
beiden  Sagen,  die  so  ganz  verschiednen  geistigen  Stimmungen 
entstammen,  verwischen  konnte  (Griech.  Tragüd.  I.  p.  161). 
Und  der  Text  des  Schriftstellers  wird  wieder  nicht  berück- 
sichtigt. Welcker  sagt,  der  Zorn  der  Athene  sei  die  innere 
Triebfeder,  wie  auch  die  Odyssee  in  der  Schilderung  von 
Poseidons  Treiben  selbst  zu  erkennen  gebe.  Grade  das  Ge- 
gentheil  sagt  die  Odyssee: 

y.ai  vv   y.tv  fxtfvyt   xrjon  X(u   i/fhö^ttvög  ntQ  '4>'^iivri, 
fi  jit^   vniQifitikov  enog  fxßaXf  y.cu  ftiy    ctän'irj. 
Also  das  übermüthige  Wort,  nichts  Andres,  ist  der  Grund 
seines  Todes. 


198 

merischen  Erzählung  schön  und  bedcut.sam  isl,  das  ist  gemalt 
lächerlich.  Hier  kann  sich  der  Zorn  des  Gottes  nur  unmit- 
telbar gegen  den  Frevler  selbst  wenden,  denn  so  äusserl  sich 
eben  der  Zorn.  Dann  ist  auch  der  Untergang  des  Ajax  gewiss, 
während  er  im  andern  Fall  noch  die  Möglichkeit  hat,  zu  ent- 
kommen. Und  alle  sinnliche  Deutlichkeit  würde  das  Bild  ver- 
heren,  es  bedürfte  eines  Schlusses,  um  seinen  Sinn  zu  be- 
greifen. 


Schhissbe  trachtung-. 


Es  wäre  das  Leichteste  gewesen,  alle  Bilder  der  Philo- 
strate der  Reihe  nach  zu  zerghedeni ,  aber  auch  das  Lang- 
weiligste und  UnA\  i.ssenschal'ilichste.  Ich  habe  das  zu  ver- 
meiden gesucht  und  glaube  nun  genug  Beispiele  angeführt 
zu  haben  zur  Beurtheilung  der  ])hilostratischen  „Bilder." 
Auch  bei  den  besprochenen  Bildern  kam  es.  mir  nicht  darauf 
an,  sämmtliche  Fehler  hervorzuheben;  wenn  das  Princip 
einmal  festgestellt  ist,  so  kann  leicht  Jeder  für  sich  die  An- 
wendung im  Einzelnen  machen.  Zudem  befinden  sich  unter 
denjenigen,  welche  ich  nicht  berührt  habe,  gerade  die  absur- 
desten; es  widersteht  mir,  Bilder  wie  die  „Gewebe'-'  des 
altern,  die  „Jäger"'  des  Jüngern  Philostratus  zu  zergliedern. 
Zwar  genügt  kein  einziges  unter  den  philostratischen  Bildern 
der  ersten  Anforderung  an  ein  Kunstwerk ,  dass  es  Causali- 
tätsnexus  in  sich  enthalte.  Denn  das  Kunstwerk  ist  etwas 
aus  dem  Geist  Gehörnes,  es  hat,  wie  Hegel  sich  einmal  aus- 
drückt, die  Taufe  des  Geistigen  erhalten ,  es  können  also  in 
ihm  die  Dinge  nicht  zufällig  neben  einander  stehen,  wie  in 
der  Wirklichkeit.  Misst  man  mit  diesem  JMaassstabe,  den 
uns  ja  eben  die  erhaltenen  Kunstwerke  bieten,  die  philostra- 
tischen Bilder,  so  fallen  sie  sämmtlich  in  Stücke  auseinander, 
aber  es  gibt  graduelle  Unterschiede,  je  nachdem  der  Rhetor 
selbständig  operirt,  oder  nur  entstellende  Zusätze  zum  dich- 
terischen Vorbild  hinzufügt. 

Die  Absicht  des  Philostratus  war,  Bilder  zu  fingiren. 
Es  sind  alle  Gattungen  in  seiner  angeblichen  Gemäldegallerie 
vertreten :  neben  den  mythischen  Darstellungen ,  die  sich  — 
recht  characteristisch  —  vornehmlich  im  Sentimentalen,  Ver- 
liebten und  im  Grässlichen  bewegen   und  zum  grossen  Theil 


200 

aus  dorn  Eiiripidcs  enllehnt  sind,  dessen  pathetische  Tragödie 
einem  Phrasenmaclier  besonders  willkommen  sein  musste, 
finden  wir  historische  Stücke,  Allegorie,  Genre,  Naturdar- 
stellungen  und  auch  Thier-  und  Fruchtstücke.  Auch  darin 
zeigt  sich  diese  Absicht,  dass  er  an  ein  paar  Stellen  die 
Menge  von  gewissen  im  Bilde  befindlichen  Dingen  nicht,  wie 
gewöhnlich,  als  unbestimmte  Vielheit,  sondern  in  bestimmten 
Zahlen  angibt.  Sonst  aber  pflegt  er  keine  Angaben  zu 
machen,  die  als  von  der  Anschauung  genommen  angesehen 
werden  könnten :  er  pflegt  nicht  den  Platz  zu  bestimmen, 
den  die  Figuren  im  Bilde  einnehmen ,  von  links  und  rechts, 
vor  und  hinter,  unter  und  über  spricht  Philostratus  sehr  sel- 
ten". Auch  versucht  er  nicht,  seinen  Figuren  individuelle 
Verschiedenheiten  anzudichten,  man  lese,  wie  er  schöne  Frauen 
und  Jünglinge  beschreibt^)!  Immer  kehren  dieselben  Phra- 
sen wieder,  die  Figuren  sehen  sich  so  ähnlich  wie  ein  Ei 
dem  andern,  und  keine  dieser  Beschreibungen  gibt  ein  Bild, 
weil  sie  sich  nur  in  den  abstrakten  Elementen  der  Schönheit, 
wie  Symmetrie  u.  dgl.  bewegen.  Solche  Beschreibungen  sind 
freihch  begreiflieh,  wo  die  Anschauung  fehlte.  In  den  Kunst- 
werken seiner  Zeit  aber  sich  umzusehen  und  mit  ihrer  Hülfe 
seinen  Fiktionen  den  Schein  der  Wirklichkeit  zu  geben,  ver- 
schmähte der  Rhetor,  aus  Eitelkeit,  wie  ich  glaube.  "Wir 
mussten  allerdings  einige  Reminiscenzen  aus  wirklich  ge- 
sehenen Kunstwerken  zugeben,  die  —  was  characteristisch 
ist  —  mit  Darstellungen  römischer  Monumente  übereinstimm- 


1)  An  Schmuck  und  Putz  lässt  er  es  nicht  fehlen;  natürlich  das 
hält  so  ein  Mensch  für  schön.  Man  erinnei-e  sich  des  Wortes 
von  Apelles  (Clem.  Alex.  Protrept.  II,  12):  ^Trtlkijg  6  foj>'(»«- 
(f'og  xh((cG('(f.t€v6s  Tiva  töiv  /nnH^rjTdiv  'Ekevtjv  ovöfAtcn  no'/.vxQV- 
aov  '/gnipfcrui ,  u>  /uiiQnxiov^  tlntv^  /.itj  Swäfifrog  y()t't\pai 
xalijV  nkovaiav  ntnoit]xag.  Das  Wort  beweist,  dass  in  der 
griechischen  Malerei  Einfachheit  und  Anspruchslosigkeit  der 
äussern  Erscheinung  angestrebt  wurde ,  wie  man  auch  aus 
den  Vasen  (mit  Ausschluss  der  unteritalischen  Art,  die  in 
dieser  Hinsicht  sich  mehr  den  römischen  Wandmalereien 
nähert)  abnehmen  kann. 


201 

ten,  aber  immer  wnr  es  nur  eine  Einzelheit,  nie  ein  ganzes 
Bild^).  Wie  geringes  Verständniss  der  Kunstwerke  aber 
Philostratus  besass ,  das  ,  glaube  ich ,  ist  durch  die  oben  an- 
gestellte Vergicichung  mit  den  erhaltenen  Werken  klar  ge- 
worden. Er  gab  sich  nicht  die  Mühe,  eines  Andern,  eines 
Künstlers  Gedanken  zu  begreifen,  es  soll  etwas  Eignes  sein' 
er  will  seine  Lektüre,  seine  Gelehrsamkeit  und  seine 
Albernheit  zum  Besten  geben  ^j.  Sowohl  in  der  Sache  als 
in  der  Form.*  Denn  auch  seine  Wörter  und  Wendungen  sind 
aus  Dichtern  genommen ,  ohne  Verständniss  der  Poesie  und 
Sprache.  Er  ist  ein  sprechendes  Beispiel,  wie  die  Form 
werthlos  ist  ohne  den  Geist,  der  sie  geschaffen.  Ja  sogar 
widerwärtig  sind  die  poetischen  Floskeln  des  Rhetors,  weil 
sie  so  prätentiös  auftreten.  Es  ist  an  vielen  Stellen  sichtlich, 
dass  es  dem  Rhetor  nur  darauf  ankam,  seine  poetischen 
Redewendungen  zur  Schau  zu  stellen ,  die  seiner  Eitelkeit 
natürlich  geistreich  und  gewählt  erschienen,  in  Wahrheit  aber 
ein  widerwärtiger  Schein  sind.  Bei  dem  Dichter  sind  sie 
der  nothwendige  Ausdruck  seiner  bewegten  Seele,  bei  dem 
Rhetor  ein  erborgter  Flitter,  der  die  Geistes-  und  Gemüths- 
armuth  des  Menschen  nicht  verhüllt,  sondern  nur  deutlicher 
offenbart. 

Aus  der  Reihe  der  Kunstsehriftsteller  also  ist  Philostra- 
tus  zu  streichen,  aber  wichtig  bleibt  er,  ja  er  wird,  wenn 
die  Resultate  dieser  Untersuchung  richtig  sind,   noch  wichti- 


1)  Die  Hymnensängerinneii  (Sen.  2.  1)  indess,  von  denen  Welcker 
sagt:  hanc  tabulam  perpendant  ii ,  quibus,  dum  altius  non 
inquisiverint,  de  ejus  (Philostrati)  fide  nondum  plane  persua- 
sum  est,  kann  ich  nicht  als  eine  solche  Reminiscenz  ansehn. 
Die  Bemerkungen  Welcker  s  sind  schon  von  Stephani,  Nimbus 
und  Strahlenkranz  p.  113  richtig  beurtheilt.  —  Uebrigens 
kommt  es  mir  auf  ein  paar  Reminiscenzen  mehr  oder  weni- 
ger nicht  an. 

2)  Eben  desswegen  hat  er.  wenn  ich  nicht  irre,  den  Knaben 
eingeführt,  dem  er  die  Bilder  erklärt.  Man  sieht  es  an  meh- 
reren Stellen  sehr  deutlich,  dass  dieser  nur  dazu  da  ist,  um 
die  Abschweifungen  des  Rhetors  gleichsam  zu  entschuldigen. 


202 

ger  als  bisher  für  die  Literaturgeschichte  des  dritten  Jahr- 
hunderts^). 

Und  wie  kam  es,  dass  so  viele  kunstsinnige  Männer, 
dass  namentlicii  Goethe  sich  für  den  Philostratus  begeisterte? 
Es  waren  die  ausgeschriebenen  Dichter,  die  zu  schön  sind, 
als  davss  sie  nicht  auch  in  der  Behandlung  eines  Philostratus 
Entzücken  wecken  müssten,  es  waren  die  herrüchen  Stoffe, 
die  Philostratus  eben  in  diesen  Dichtererzählungen  dem  Künst- 
ler bot.  Das  läugnen  auch  Avir  begreiflicherweise  nicht,  dass 
Homer  und  Pindar,  Aeschylus  und  Euripides  reich  sind  an 
den  edelsten,  grüssten  Vorwürfen  für  den  bildenden  Künstler, 
aber  wie  bei  den  Stoffen,  die  Natur  und  Menschenleben  bie- 
ten, so  bedarf  es  ebenso  bei  den  Bildern  der  Dichter  einer 
Umbildung,  wenn  sie  künstlerische  Bilder  werden  sollen. 
Diese  Umbildung  macht  die  innere  Thätigkeit  des  Künstlers 
aus,  deren  Folge  dit  Arl^eil  in  der  Materie  ist.  Sie  fehlt 
den  philostratischen  ,, Bildern",  und  ebendarum  sind  es  keine 
Bilder. 

Ich  kann  diese  Untersuchung  nicht  schliessen,  ohne  dank- 
bar des  Mannes  zu  gedenken,  von  dem  ich  insbesondere  für 
die  vorliegende  Schrift  die  tiei'ste  Anregung  erfahren  halye. 
Ich  meine  Lessing.  Er  war  der  Erste,  der  Kunst  und  Poesie 
methodisch  verglich  und  damit  der  Arehaeologie  ihre  eigent- 
liche Avissenschaftliche  Grundlage  gab.  Grundverschieden 
von  Winckelmann  hat  er  doch  keine  geringere  Bedeutung  für 
die  "Wissenschaft ,  als  dieser.  Seine  Lebensschicksale  boten 
ihm  wenig  Anschauung  der  alten  Kunst,  aber  seine  Natur 
war  auch  nicht  dafür  organisirt.  Winckelmann  war  auf  die 
Anschauung  gerichtet,  Lessing  auf  die  Erkenntniss,  jener  be- 
geistert sich  für  die  Form,  dieser  sucht,  was  hinter  den  For- 
men liegt,  den  Gedanken:  der  Eine  hebt  sich  empor  zum 
Ideal,  der  Andre  dringt  hindurch  zur  Idee.  Möchte  diese 
Schrift  ein  Geringes  beitragen  zum  erneuerten  Studium  Les- 
sing's ! 

1)  Die  Literaturgattung  des  Pliilostratus  hat  als  ihren  Urlieber 
wol  Lucian  de  domo ,  nur  dass  dieser  wirkliche  Kunst\N  erke 
beschreibt. 


E  X  c  II  r  s  e. 


Excurs  I. 

leber  die  Entwicklung'  der  Gesichtsformeii   iu  der 
griecliisclieu  Kirnst. 

Wer  Unterschied  der  Physiognomie  iu  aUerthümlicher 
und  vollendeter  Kunst  ist  besonders  in  drei  Eigenthümlich- 
keiten  sehr  deutlich.  Erstens  ist  die  ProfiUinie  im  alter- 
thümlichen  Stil  schrägliegend,  im  vollendeten  nähert  sie  sich 
einer  senkrechten  Linie.  Auf  den  Vasen  ist  es  ein  ganz  durch- 
gehender Unterschied  und  auch  die  ältesten  Sculpturen,  wie 
der  Apoll  von  Thera,  der  Fries  von  Assos ,  das  samothraci- 
sche  Relief  und  manche  andre,  unterscheiden  sich  dadurch 
sehr  deutlich  von  dem  Harpyienmonument,  von  dem  Relief 
der  wagenbesteigenden  Göttin  aus  Athen  u.  s.  w.,  auf  denen 
die  Profillinie  bereits  schon  so  ist,  wie  in  der  vollendeten 
Kunst.  Jene  erinnern  an  die  Peruginer  Bronzen  in  der 
Glyptothek  zu  München,  deren  Figuren  ein  fast  vogelähn- 
liches Profil  haben.  Die  fortgeschrittene  Kunst  schiebt  die 
Stirn  -vor ,  die  im  ältesten  Stil  zurücktritt,  und  gibt  dadurch 
ihren  Gestalten  ein  menschhcheres ,  ein  geistiges  Ansehn. 
Denselben  Sinn  hat  die  zweite  wichtige  Veränderung ,  die 
sich  auf  die  Lage    der  Augen   bezieht^).     Das  Auge    dringt 


1)  Dabei  bemerke  ich,  dass  die  plastische  Darstellung  des  Aug- 
apfels auf  Marmorwerken  —  denn  malerisch  geschah  das 
schon  früh,  wie  überhaupt  Manches  früher  malerisch  aufge- 
tragen ist,  was  später  plastisch  dargestellt  wurde  — ,  die 
an  spätem  römischen  Büsten  so  gewöhnlich  ist,  als  an  dem 


200 

im  ältesten  Stil  aus  dem  Kopf  iieraus,  es  ist  ein  rein  sinn- 
liclies  Organ:  aber  im  Fortgang  der  Kunst  wird  es  immer  tiefer 
in  den  Schädel  hineingeschoben  und  in  demselben  Maasse 
fähig  zum  Ausdruck  der  Seele.  Man  könnte  hier  wol  eine 
P-rscheinung  in  der  Literatur  vergleichen.  Wenn  man  nämlich 
(htrnuf  achtet,  wie  die  Dichter  vom  Auge  sprechen,  so  findet 
sich  bei  Homer  noch  keine  Stelle,  worauf  auf  ein  sentimen- 
tales Interesse  an  diesem  seelenkündenden  Organ  zu  schlies- 
sen  wäre.  Von  den  leuchtenden  Augen  der  Götter,  von 
zornfunkelnden  Augen  ist  die  Rede^),  aber  wie  ganz  anders 
klingt  das,  was  wir  in  Lyrik  und  besonders  in  der  Tragödie 
finden!  Ich  will  nur  des  Aeschylus  Iphigenie  erwähnen, 
die  aus  den  Augen  das  Geschoss  des  Mitleids  entsendet,  und 
den  E]ros  des  Euripides,  dem  süsse  Sehnsucht  vom  Auge 
träufelt,  Schilderungen  wie  sie  im  Homer  nicht  vorkom- 
men könnten. 

Die  dritte  Eigenthümüchkeit  bezieht  sich  mehr  auf  die 
Miene ,  als  auf  die  Form.  Ich  meine  das  Lächeln  der  alter- 
thümlichen  Kunstwerke.  Was  darüber  Yerschiednes  gesagt 
ist,  darf  ich  übergehn ,  weil  es  ohne  zureichende  Kenntniss 
des  Materials  vermuthet  ist;  Bemerkungen  wie  diese,  es  sei 
..huldvolles  Lächeln'^  beabsichtigt  ^)  ,  würden  immer  nur  auf 
einzelne  Stücke  anwendbar  sein,  so  dass  man  eine  und  die- 
selbe Erscheinung  bald  so ,  bald  so  erklären  müsste.  Das 
Lächeln  ist    eine   allgemeine  Erscheinuna:    der   alterthüm- 


frühsten  datirbaren  Beipiel  am  farnesischen  Herkules  sicli 
findet.  Schon  aus  diesem  Grunde  hätte  der  in  der  Pariser 
Bibliothek  zum  Vorschein  gekommene  Nointel'sche  Marmor- 
kopf eines  Jünglings  nicht  zum  Parthenon  gereclinet  wer- 
den sollen. 

1)  Das  Venusauge  ist  bei  Homer  noch  nicht  i';'(joj',  es  wäre  zu 
sentimental  für  ihn.  er  gibt  ihr  oufXKTa  tuccoKccinorr«. 

2)  Welcker  über  den  Apoll  von  Thera  in  A.  D.  I,  401.  Bei 
Overbeck  (Gesch.  d.  Plast.  I,  p.  121)  findet  man  etwas  Ge- 
dankenlosigkeit, insofern  nur  das  Lächeln  erklärt  werden 
soll,  aber  die  Ausdruckslosigkeit  des  ganzen  Kopfes  erklärt 
\%  i  r  d. 


207 

liehen  Kunst,  auf  Münzen  niclil  Mcuii>er  deutlieh  als  in  Re- 
liefs und  SlakuMi  wwd  aucli  auf  den  Vasen  sehr  häufig.  Es 
findet  sieh  selbst  noch  In  phidiassischen  Werken,  wenn  näm- 
lich der  Webersehe  Kopf,  an  den»  es,  freilieh  ohne  alles 
Grinsende,  noch  unzweifelhaft  wahrnehmbar  ist,  zum  Parthe- 
non gehört.  Merkwürdig,  dass  man  das  „ehrbare  und  ver- 
stohlene Lächeln",  das  der  Sosandra  des  Kaiamis  beigelegt 
wird,  nicht  damit  in  A^erbindung  gesetzt  hat,  da  es  ja  offen- 
bar dasselbe  ist 3).  Denn  wie  könnte  z.  B.  der  Ausdruck 
der  Göttinnen  am  Harpyienmonumenl  treffender  bezeichnet 
werden  ? 

Und  warum  lach  ein' denn  nun  die  alten  Kunstwerke? 
Der  Grund  liegt  in  der  Innigkeit  der  alterthümlichen  Kunst. 
Wer  die  Stimmung  nachempfunden  hat,  aus  der  diese  For- 
men hervorgingen,  wen  die  Keuschheit  und  Zartheit  einer 
Kunst  gerührt  hat,  die  eine  ehrbare,  bürgerliche,  enge,  treue 
Zeit  zum  Hintergrund  hat,  wer  das  Streben  nach  Zierlichkeit 
und  Grazie  begreift,  dem  treuster  Fleiss,  das  gerade  Gegen- 
theil  der  leichtfertigen  GeniaUtät,  eines  Kindes  späterer  Zeit, 
die  Hand  leiht,  der  wird  es  begreiflich  finden,  wenn  man 
in  die  Miene  des  Antlitzes  den  Ausdruck  einer  freundlich 
innigen  Seele  zu  legen  suchte.  Es  gelingt  bald  besser,  bald 
schlechter,  je  nach  der  Stufe  der  Kunst,    wunderbar  ergreifend 


)  Wenn  die  Mouuniente  und  scliriftstellerischen  Notizen  erst  in 
lebensvoller  Verbindung  behandelt  werden ,  so  %Aird  man 
auch  die  quadrata  corpora  des  Polyclet  mit  den  Stileigen- 
thümlichkeiten  der  selinuntischen  Metopen  in  eine  und  die- 
selb.e  Entwicklungsreilie  setzen.  Denn  das  Auszeichnende 
dieser  Sculpturen  und  zwar  durch  alle  drei  Perioden  hin- 
durch, die  nur  graduell  darin  unterschieden  sind,  besteht 
eben  in  dem  kurzproportioairten,  vierschrötigen  Körperbau. 
Sehr  schön  und  wahr  hat  0.  Jahn  (Bar.  d.  sächs.  Gesellsch. 
d.  Wiss.  1852  p.  56  vgl  Taf.  4)  denselben  Stil  in  einigen  si- 
cilischen  Terrakotten  nachgewiesen,  denen  sich  mehrere  in 
dem  Kgl.  Antiquarium  zu  Berlin  anreihen.  Derselbe  ver- 
gleicht auch  vollkommen  treffend  die  Reliefs  von  Olympia: 
dieser  selinuntische  Stil  war  also  nicht  bloss  lokal. 


208 

am  Harpyieninonument,  das  überhaupt  wol  das  seelenvollste 
Produkt  der  alterthümlichen  Kunst  genannt  werden  kann. 
Eines  eigentlichen  Beweises  ist  der  Gegenstand  nach  seiner 
Natur  nicht  fähig ,  hier  gilt  es ,  wenn  irgendwo,  nachzuem- 
pfinden die  Stimmung,  die  hinter  den  Formen  liegt. 

Dies  Lächeln  ist  der  erste  Funke  der  Elmi)findung ,  der 
aus  der  starren  Ruhe  des  Steins ,  hervorbricht :  es  ist  die 
erste  Regung  der  Seele,  die  nun  frei  ihre  Schwingen  hebt, 
um  zu  dem  Höchsten  zu  gelangen.  Die  vorgriechischen 
Völker  sind  nicht  bis  zu  dem  Punkt  gekommen,  wo  die  Of- 
fenbarung der  Seele   beginnt. 


Excurs  IL 
lieber  die  RauiiifüUüiig  «auf  den  Vasen. 

Die  Ausfüllung  des  Raumes  ist  so  sehr  ein  Gesetz  der 
alten  Kunst,  dass  der  Mangel  derselben  zum  Zweifel  an  der 
Aechtheit  des  betreffenden  Werks  berechtigt.  Um  dieses  Ge- 
setzes willen  erlaubt  sieh  die  alte  Kunst  Verstösse,  die  man 
tadeln  niüsste,  wenn  sie  nicht  nothwendig  wären,  um  den 
wohlthuenden  Eindruck  eines  angemessen  angefüllten  Rau- 
mes hervorzubringen.  Man  hat  oft  darauf  aufmerksam  ge- 
macht ,  dass  am  Fries  des  Parthenon  die  sitzenden ,  stehen- 
den und  reitenden  Figuren  gleich  hoch  seien,  gegen  die  Na- 
tur ,  aber  der  Raum  verlangte  es  so.  Dieser  Isokephalismus 
ist  indess  nichts  dem  Parthenon  ausschliesslich  Eignes,  man 
vergleiche  das  Harpyienmouument,  die  Metope  des  Vierge- 
spanns aus  Selinus,  wo  die  Figur  auf  dem  Wagen  nicht 
höher  ist  als  die  daneben  stehenden,  und  ein  andres  Relief 
aus  Selinus  1).  Das  merkwürdigste  Beispiel  liefert  aber  wol 
der  Fries  von  Assos.  Hier  sind  die  liegenden  Figuren  in 
unverhältnissmässiger  Grösse  und  Breite  gegen  die  stehenden 
dargestellt;  dies  musste  geschehn,  wenn  Liegende  und  Ste- 
hende, wie  es  der  Fall  ist,  mit  den  Köpfen  gleich  hoch  hin- 
aufreichen sollten.  Auch  am  Parthenon  sind  die  sitzenden 
Figuren  nicht  bloss  durch  die  Länge  von  den  stehenden  ver- 
schieden; soll  nun  eine  liegende  Figur  gleiche  JHöhe  haben 
mit  einer  stehenden,  so  muss  sie  natürlich  noch  um  so  mehr 
an  Länge  und  Breite  vergrossert  werden.  Auch  ein  merk- 
würdiges Beispiel  liefert  ein  Friesrelief  von  Aphrodisias,  auf 
dem  Zeus  als  Gi2;antentödter  durch  merkwürdige  Kleinheit 
sich  von  den  mitkämpfenden  Göttern  unterscheidet,  was,  wie 


i)  Serradifalco  Antichita  della  Sicilia  II,  27.  Noch  in  der  spä- 
testen Zeit  römischer  Skulptur  ist  dies  Gesetz  befolgt;  vgl. 
das  obere  Bild  des  Berliner  Musensarkophags  in  Archaeol. 
Ztg.  I,  Taf   6. 

14 


210 

auch  Wieseler')  bemerkt,  sich  nur  durch  die  räumlichen 
Verhähnisse  erklärt.  Ueberhau])t  iu  jeder  Gattung  von  Mo- 
numenten gibt  es  Beispiele],  dass  um  des  Raumes  willen  Fi- 
guren verkleinert  vrerden  2). 

Es  ist  indess  nicht  meine  Absicht ,  alle  Gattungen  der 
Monumente  in  diese  Erörterung  hereinzuziehn;  ich  beschränke 
mich  auf  die  Vasen  und  will  historisch  verfolgen  ,  wie  man 
der  Kaumfüllung  zu  entsprechen  suchte.  Historisch  zu  ver- 
fahren ,  genau  die  verschiedenen  Perioden  zu  scheiden ,  ist 
durchaus  nothwendig,  denn  es  ist  von  vornherein  zu  erAvar- 
ten,  dass  die  werdende  Kunst  sich  mit  den  Forderungen  des 
Raums  nicht  so  gut  abzufinden  weiss,  wie  die  vollendete  ^j, 
dass  sie  sich  äusserlicherer  Mittel  bedient,  um  den  gegebenen 
Raum  zu  füllen.  Zugleich  ist  diese  Untersuchung  nicht  un- 
wichtig für  die  Exegese  der  Vasen,  insofern  sie  eine  genaue 
Scheidung  nothv\^endig  macht  zwischen  denjenigen  Ele- 
menten der  Darstellung,  die  wirkhch  materielle  Bedeutung 
haben  und  den  bloss  formellen,  durch  Forderungen  des  Rau- 


1)  Zu  IT,  66.  845  a  seiner  Denkmäler. 

2)  Oft  auf  Gemmen  z.  B.  Tölken  III.  n.  58:  Ares  einen  Gi- 
ganten tödtend.  Vgl.  den  Herkulessarkopliag  bei  Visconti 
Pio-Clem.  IV,  4,  7. 

3)  Dies  lässt  sich  auch  in  sein*  interessanter  Weise  bei  den 
iJ Unzen  verfolgen.  Mau  gehe  historisch  z.  B.  die  Münzen 
von  Metapont  durch.  Die  numi  incusi  haben  nur  die  Aehre 
und  auf  der  einen  Seite  derselben  die  Anfangsbuchstaben 
der  Stadt,  so  dass  also  der  ganze  Raum  auf  der  andern 
Seite  der  Aehre  leer  ist.  Später  wird  auf  der  leeren  Seite 
etuas  hinzugefügt,  das  Blatt  der  Aehre,  eine  Maus,  ein  Vo- 
gel, ein  Stern  u.  s.  w.,  wodurch  der  auf  der  andern  Seite  be- 
iindlichen  Schrift  das  Gleichgewicht  gehalten  wird.  Natür- 
lich haben  diese  Zuthaten  ihre  besondre  Bedeutung,  sie  sind 
nicht  bloss  raumfüllend,  aber  zugleich  raumfüllend.  Eben 
dasselbe  findet  man  auf  Krotonischen  Münzen.  Anfangs  ist 
die  eine  Seite  neben  dem  Dreifuss  leer ,  später  wird  ein 
Storch  u.  s.  vv.  beigefügt  als  Gegengewicht  der  Schrift  auf 
der  andern  Seite.  Ist  hier  aus  diesen  Beispielen  nicht  deut- 
lich sichtbar,  wie  das  Gefühl  für  Raumausfülluns  fortschreitet? 


211 

mes  bedingten.  Freilich  ist  diese  Scheidung  nicht  im  Sinne 
derjenigen  exegetischen  Richtung,  welche  kein  anderes  Er- 
klärungsmittel als  die  Mythologie  kennt  und  vielleicht  unbe- 
wusst  die  Vasen  nicht  als  Produkte  eines  künstlerischen 
Triebes,  sondern  als  Produkte  mythologischer  Reflexion  an- 
sieht. Diese  Richtung  kennt  gar  nicht  die  Frage,  ob  dies 
oder  jenes  Beiwerk  symbolisch  oder  nicht  symbolisch 
sei;  sie  geht  von  der  stillschweigenden  Voraussetzung  aus, 
dass  Alles  symbolisch  sei  und  nur  über  das  Wie  findet 
Meinungsverschiedenheit  statt. 

Der  älteste  Vasenstil,  den  man  den  korinthischen  zu 
nennen  pflegt,  bedient  sich  als  raumfüllender  Mittel  der  Ro- 
setten un^  phantastischen  Blumenranken.  Damit  übersäet 
er  die  Zwischenräume  der  Figuren  in  kindlicher  Freude  an 
allerlei  buntem  Zierrat  so  sehr,  dass  der  Raum  mehr  über- 
füllt als  ausgefüllt  erscheint.  Man  sieht,  dass  diese  Mittel 
rein  äusserlich  sind ,  Avenn  sie  auch  dem  Character  dieses 
Stils  entsprechen.  Denn  gerade  zu  den  märchenhaften  Thier- 
figuren,  die  uns  mit  grosser  Lebendigkeit  entgegentreten, 
stimmt  sehr  gut  das  Ornament  seltsam  phantastisch  gezoge- 
ner Blumenranken.  Indessen  bleiben  doch  diese  Mittel,  na- 
mentlich die  Rosetten,  etwas  rein  ^eusserliches,  was  mit  der 
Darstellung  selbst  nichts  zu  schaffen  hat;  das  aber  verlangen 
wir  grade,  dass  dasjenige,  was  den  Raum  füllt,  zugleich  für 
die  Darstellung  bedeutsam  sei;  erst  dann  kann  man  sagen, 
Raum  und  Bild  sind  völlig  eins  geworden.  Im  schwarzfigu- 
rigen  Vasenstil  verschwinden  die  Rosettea  und  Blumenranken 
bis  auf  ganz  vereinzelte  Fälle.  Da  nämlich,  wo  Thierreihen 
dargestellt  sind  nach  Art  des  ältesten  Stils,  wird  auch  die 
Rosette  beibehalten;  sonst  aber  hat  man  andre  Mittel,  den 
Raum  zu  füllen,  und  zwar  der  verschiedensten  Art  ohne  die 
stereotype  Art  des  vorhergehenden  Stils;  es  regt  sich  auch 
hierin  die  individuelle  Freiheit.  Zunächst  dienen  Inscliriften 
und  zwar  sinnvolle  und  sinnlose  zur  Füllung  des  Raumes. 
Die  sinnvollen  Inschriften  dieses  und  des  fi'ühern  Stils  sind 
nämhch  ganz  anders  angeordnet  als  später;  sie  sind  nicht 
regelmässig  in    einer  Richtung   fortlaufend    über   den  Köpfen 

14  ♦ 


212 

der  Figuren  angebracht,  wie  das  später  der  Fall  ist,  son- 
dern sie  finden  sieh  in  den  Zwischenräumen  der  Figuren, 
zwischen  den  Beinen  von  Menschen  und  Thieren ,  kurjf  sie 
sind  so  angebracht,  dass  irgend  ein  leerer  Fleck  dadurch 
ausgefüllt  wird.  Diese  Anordnung  beweist,  dass  die  sinn- 
vollen Inschriften  ausser  ihrer  Beziehung  zur  Darstellung  zu- 
gleich der  Raumausfüllung  dienen  sollten  i).  Die  sinnlosen 
Inschriften  aber,  die  später  verschwinden,  hatten  nur  den 
Zweck  der  Raumfüllung,  da  sie  ja  als  sinnlos  nicht  zur  Dar- 
stellung gehören  können,  und  mir  scheint,  die  wunderhche 
Art,  wie  sie  über  das  ganze  Bild  verstreut  alle  leeren  Flecke 
ausfüllen,  ist  sprechend  genug.  Man  hat  indessen  nach  an- 
dern Erklärungsgründen  für  diese  sinnlosen  Inschriften  ge- 
sucht, aus  denen  ich  mich  begnüge,  die  Ansicht  O.  Jahn's 
hervorzuheben.  Dieser  meint  23,  man  habe  in  Ermangelung 
wahrer  Inschriften  auch  sinnlose  nur  scheinbare  als  einen 
Schmuck  dieser  Gefässe  angesehn,  den  man  nicht  missen 
wollte.  Dabei  scheint  aber  übersehn,  dass  sich  sehr  häufig 
auf  einem  und  demselben  Gefäss  sinnvolle  und  sinnlose 
Inschriften  vereinigt  finden.  Eben  diese  Vasen  sind,  wie  ich 
glaube,  für  meine  Ansicht  selir  beweisend.  Man  betrachte 
nur  das  Bild  in  Gerhard's  Auserles.  taf.  236,  das  die  Töd- 
tung  des  Minotaurus  darstellt.  Links  und  rechts  von  der 
Hauptgruppe  stehn  Männer  und  Frauen  in  ihre  Mäntel  ge- 
hüllt in  reicher  Anzahl.  Der  Zwischenraum  zwischen  je 
zwei  Figuren  ist   durch   eine  vertikal   laufende  Inschrift    aus- 


1)  So  war  es  auch  auf  dem  Kasten  des  K3'pselos,  wie  eine  bis- 
her nicht  richtig  verstandene  Stelle  des  Pausanias  beweist. 
Die  Inschriften,  sagt  er,  laufen  zum  Theil  gerade  fort,  zum 
Theil  sind  sie  ßovaTQoif^Söv  zu  lesen,  aber  auch  sonst  sind 
sie  in  schwer  zu  verstehenden  Windungen  geschrieben  (V, 
17,  6:  yiyQCtTTTCit  J*  in)  r;)  XaQVay.i  xul  ilXkujg  t«  iniyQ('(/u- 
fiaia  ii.iyf4oTs  avyßal^ad^ai  x^ü.tnoig').  Mit  diesen  letzten 
Worten  bezeichnet  er  genau  die  wunderlich  gewundene  Art, 
in  welcher  die  Inschriften  auf  den  Vasen  angebracht  zu  wer- 
den pflegen. 

2)  Einleitung  p.  114. 


213 

gefüllt,  welche  den  deutlich  lesbaren  Namen  der  zunächst 
stehenden  Person  angibt.  Diese  sinnvollen  Inschriften  aber 
waren  nicht  lang  genug,  um  den  ganzen  Zwischenraum  zwi- 
schen je  zwei  Personen  zu  füllen,  darum  fügte  man  über 
den  sinnvollen  Inschriften  sinnloses  Geschreibsel  in  derselben 
vertikalen  Richtung  laufend  hinzu  ^).  Dies  naive  Mittel  der 
Raumfüllung  verschwindet,  wie  schon  bemerkt,  in  der  spä- 
tem Kunst. 

Das  zweite  eben  so  häufige  Mittel  der  Raumfüllung  auf 
den  schwarzfigurigen  Vasen  sind  die  Rebzweige.  Man  hat 
sie  sehr  häufig  symbolisch  erklärt,  man  hat  darin  Anspie- 
lungen auf  Dionysos  erblicken  wollen.  Wenn  man  aber, 
was  doch -der  einzig  mögliche  Weg  ist,  um  über  eine  Ein- 
zelheit in's  Klare  zu  kommen ,  die  Gesammtheit  der  Fälle 
oder  wenigstens  möglichst  viele  Fälle  vergleicht,  so  kann 
diese  Ansicht  nicht  bestehn.  Ich  läugne  nicht,  dass  diese 
Rebzweige,  wenn  sie  in  der  Hand  des  Dionysos  erscheinen, 
ein  characteristisches  Attribut  für  den  Gott  sind,  aber  auch 
in  diesem  Fall  dienen  sie  zugleich  der  Raumfüllung;  sonst 
finden  wir  sie  in  allen  möghchen  mythischen  Darstellungen, 
in  Scenen  des  fcägHchen  Lebens,  wo  Epheben  sich  üben, 
Mädchen  Wasser  holen,  ja  selbst  in  einer  simplen  Darstel- 
lung von  ein  paar  Rindern.  Soll  nun  in  allen  diesen  Fällen 
eine  Beziehung  auf  Dionysos  herausgefunden  werden  oder 
wird  man  nicht  vielmehr  sagen  müssen,  die  Rebzweige  sind 
in  den  meisten  Fällen  nur  raumfüllend,  in  Darstellungen  des 
Dionysos  zugleich  raumfüllend?  Im  ersteren  Fall  entspre- 
chen sie  den  sinnlosen,  im  letztern  den  sinnvollen  Inschriften, 
Diese  Ansicht  empfiehlt  sich  besonders  durch  die  Art,  wie 
sie  gezogen  sind;  sie  pflegen  nämlich,  wunderlich  genug, 
wenn  sie  symbolisch  zu  erklären  wären,  in  alle  leeren  Flecke 


1)  Auf  dem  Bild  im  Mus.  Gi-cgor.  II,  67,  1  a  wechseln  einfache 
Kreise  als  raumfüllendes  Mittel  mit  Buchstaben  ähnlichen 
Zeichen  ohne  Sinn,  wodurch  auch  der  Zweck  der  letzteren 
sein*  deutlich  ist. 


214 

des  Bildes  hineinzureichen  ^).  Man  darf  auch  nicht  daran 
denken,  dass  diese  Rebzweige  etwa  den  Schauplatz  der 
Handlung  bezeichnen  sollten.  Dieser  Meinung  steht  nämUch 
der  Umstand  entgegen ,  dass  sie  in  sehr  vielen  Fällen  gar 
nicht  auf  dem  Boden  stehende  Biiume  sind,  sondern  nur 
Ranken,  die  von  den  Körpern  der  Figuren  auszugehen  sehei- 
nen 2).  Aber  auch  da,  wo  das  Erstere  der  Fall  ist,  nmss  ich 
läugnen,  dass  sie  zur  Characterisirung  des  Lokals  dienen, 
eben  wegen  der  Art,  wie  die  Zweige  gezogen  sind  und  we- 
gen ihrer  stetigen  Wiederkehr. 

Ferner  werden  allerhand  Thiere  zur  Raurnfüllung  ver- 
wandt; hier  kann  man  allerdings  in  einzelnen  Fällen  schwan- 
ken, ob  nicht  neben  dem  Formellen  zugleich  Bedeutsamkeit 
für  die  Darstellung  beabsichtigt  sei,  mid  dieses  SchM-anken 
ist  grade  bei  einer  Kunststufe,  die  eben  bemüht  ist,  das  For- 
melle in  ein  zugleich  Materielles  zu  verwandeln,  sehr  erklär- 
lich ;  M  enn  man  aber  immer  möglichst  viele  Fälle  vergleicht 
und,  was  nicht  genug  hervorgehoben  werden  kann,  den  Platz 
berücksichtigt,  den  das  Beiwerk  im  Bilde  einnimmt,  so  dürf- 
ten sich  die  zweifelhaften  Fälle  auf  ein  Minimum  reduciren. 
Den  Platz] zwischen  den  je  acht  Pferdebeinen  eines  Viergespan- 
nes ,  die  immer  alle  sichtbar  sind ,  lässt  die  schwarzfigurige 
Malerei  sehr  selten  unausgefüllt.  Wenn  nicht  Inschriften  oder 
Rebzweige  hineinreichen,  so  stellt  man  —  und  das  ist  das 
Gewöhnliche  • —  eine  Figur  so  hinter  die  Pferde,  dass  die 
Beine  derselben  den  leeren  Raum  ausfüllen:  auf  mehreren 
Vasen  hat  sich  der  Maler  in  höchst  naiver  Weise  geholfen  3). 
Es  sind  Bilder  am  Hals  von  dreihenkligen  H}  drien .  deren 
Bauch  gleichfalls  bemalt  ist,  und  da  hat  nun  der  Maler  die 
Pallas  des  untern  Bildes  mit  ihrem  Helm  so  in  die  obere  Dar- 
stellung hineinragen  lassen,  dass  grade  der  betreffende  Raum 


1)  Ebenso  und  aus  demselben  Grunde  werden  die  Kränze,  mit 
denen  Figuren  geschmückt  sind,  oft  weit  über  den  Kopf  hin- 
aus verlängert,  z.  B.  Gerhard  Auserles.  4,  316. 

2)  Sehr  instruktiv  ist  auch  das  Bild  in  El.  ceram.  11,40.  wo  von 
einem  Palmbanm  Rebzweige  ausgehn. 

3)  Z.  B.  Mus.  Gregor.  II,  7,  1.  2. 


215 

ausgefüllt  wild.  An  eben  derselben  Stelle  finden  wir  auch 
Thiere  der  versehiedensteu  Art.  Auf  einer  Vase ,  welche 
den  Auszug  eines  Kriegers  darstellt'),  kriecht  unter  den 
Pferdebeinen  eine  Eidechse  in  die  Höhe,  unverhältnissmässig 
gross  gemalt,  um  eben  den  Raum  auszufüllen.  Man  hat  dies 
Beiwerk  symbolisch  gedeutet,  man  hat  an  die  Bedeutung 
der  Eidechse  als  eines  weissagerischen  Thiers  erinnert  und 
eben  darum  den  ausziehenden  Krieger  für  den  Seher  Am- 
phiaraus  erklärt.  Allein  wie  unverständlich  hätte  der  Maler 
seine  Absicht  ausgedrückt  durch  die  Stelle,  die  er  dem  Thier 
gab!  "VS'arum  brachte  er  es  nicht  in  die  Nähe  der  Person, 
zu  der  es  bezogen  werden  soll?  Und  es  ist  ein  ganz  ähn- 
liches Bild 2)  mit  demselben  Thier  an  derselben  Stelle  vor- 
handen, das  unmöghch  auf  den  Auszug  des  Amphiaraus  be- 
zogen M^erden  kann:  denn  da  keine  Frau  da  ist,  so* würde 
die  dieser  Darstellung  wesentliche  Figur  der  Eriphyle  fehlen. 
Die  Eidechse  scheint  mir  demnach  zum  Zweck  der  Raum- 
ausfüllung hineingemalt,  so  Avie  die  Sirene,  die  Gans''),  die 
sonstigen  Vögel,  ja  sogar  die  kleinen  Männer,  die  mehrfach 
eben   unter  den  Pferdebeinen  vorkommen*).     Aber  auch  die 


1)  Gerhard  Auserl.  263. 

2)  In  München  n.  730  des  Jahn'sclien  Katalogs.  Ob  dagegen  die 
Eidechse  bei  Gerhard  Auserl.  220  ebenso  zu  beurtheilen,  da 
sie  einen  ganz  andern  Platz  im  Bilde  hat.  ist  mir  zweifelhaft. 

3)  Gerhard  Auserles.  107.  385.  322. 

4)  Gerhard  Auserl.  310  und  sonst.  Auch  unter  Thronsesseln 
finden  wir  dieselben  kleinen  Männer,  z  B.  Gerhard  Auserles.  7. 
Hier  sind  sie  offenbar  als  stützende  Figuren  gedacht,  zu  ver- 
gleiclien  dem  von  Figuren  getragenen  Thronsessel  des  amy- 
kläischen  Apollo.  Bemerkenswerth  ist  übrigens ,  dass  auf 
Reliefs  aus  Ninive  und  Persepolis  ganz  älmlich  unter  Thron- 
sesseln solche  stützende  Figuren  sich  linden .  so  dass  hier 
eine  Entlehnung  stattgefunden  zu  haben  scheint.  Vgl.  Botta 
et  Flandin:  Monum.  de  Ninive  1,  18  und  Flandin  et  Coste 
pl.  155.  Was  über  diese  Figuren  in  den  Vasenerklärungen 
bemerkt  ist,  glaube  ich  übergehn  zu  dürfen.  Wirkhch  un- 
glaubliclieii  Unsinn  findet  man  in  El.  ccram.  zu  I,  59.  —  Dass 


216 

Vögel  im  obern  Raum  der  Bilder,  die  so  häufig  sind,  "nament- 
lich in  Rciler-  und  Kampfscencn,  also  in  Scenen,  die  im 
Freien  vor  sich  gehen,  haben  meiner  Ansicht  nach  keine 
tiefere  Bedeutung.  Sie  können  nicht  auf  ein  augurium  be- 
zogen werden,  da  sie  beide  Parteien  einer  Schlacht  in  glei- 
cher Weise  begleiten;  es  sind  vielmehr  die  Vögel,  die  im 
Freien  fliegen  und  mit  ihren  ausgebreiteten  Flügeln  sehr  gut 
den  Raum  hinter  dem  Rücken  eines  Reiters  ausfüllen,  wo 
sie  durchgehends  sich  finden  i).  Dies  sind  die  hauptsächhch- 
sten  Mittel  des  schwarzfigurigen  Stils;  Blumen  und  Sträucher 
finden  sich  ganz  ungewöhnlich  selten  2),  sie  gehören  einer 
spätem  Periode  an.  Es  leuchtet  ein,  dass  diese  Mittel  auch 
noch,  wenn  auch  in  geringerm  Grade  als  im  ältesten  Stil, 
ungenügend  sind,  sie  erscheinen  auch  noch  wie  etwas  äusser- 
lich  Aufgesetztes,  aber  es  zeigt  sich  doch  das  Bestreben,  das 
formell  Nothwendige  zu  einem  Sinnvollen  zu  machen.  Wäre 
dies  nicht ,  so  könnte  nirgends  ein  Zweifel  stattfinden  und 
selbst  die  sinnlosen  Inschriften  erregen  doch  wenigstens  den 
Schein,  zur  Darstellung  zu  gehören. 

Es  geht  aber  noch  aus  andern  Dingen  hervor,  wie  man 
in  jener  Zeit  den  Raum  noch  als  Beschränkung  empfand. 
Um  des  Raumes  willen  wird  nicht  selten  eine  Figur  in 
merkwürdiger  Weise  verkleinert.  So  ist  es  durchgehends  in 
den  Darstellungen  der  vom  Ajax  verfolgten  Kassandra,  die 
wie  ein  kleines  Mädchen,    nicht  wie  eine  Jungfrau  aussieht. 


aber  die  kleinen  Männer  unter  den  Pferdebeinen  nur  in  der 
Absicht  hinzugefügt  sind ,  um  den  Raum  zu  füllen ,  bc\A  eist 
schlagend  Micali  stör.  86,  4,  wo  unter  den  Pferdebeinen  ein 
kleiner  bärtiger,  ithypliallischer  Silen  erscheint.  Dass  es  ein 
Silen  ist,  liegt  allerdings  in  der  Darstellung  begründet,  aber 
dass  er  hier  seinen  Platz  hat  und  grade  nicht  grösser  ist, 
als  der  Platz  erlaubt,  das  geschieht  um  der  Raumfiillung 
willen. 

1)  Vielleicht  sind  sie  von  den  assyrischen  Reliefs  entlehnt,    wo 
in  Schlachtscenen  adlerartige  Vögel  häufig  vorkoinmen? 

2)  Und  hauptsächlich    wol    in   absichtlich    alterthümlichen   Dar- 
stellungen, wie  Gerhard  Auserl.  105.  194. 


217 

Man  hat  hiefür  alleihand  andre  Gründe  angeführt ;  mir  scheint, 
in  dem  grossen  Schild  der  Pallas,  an  Avelche  sie  heranflieht, 
liegt  der  Grund').  Man  sehe  nur  die  Bilder  an;  wenn  die, 
Kassandra  in  natürlicher  Grösse  dargestellt  Avorden  wäre, 
so  wäre  sie  zum  grossen  Theil  eben  durch  den  Schild  ver- 
deckt; nur  aus  diesem  Grunde,  um  also  ganz  sichtbar  zu 
sein,  ist  sie  so  klein  dargestellt.  Endlich  ist  noch  zu  er- 
wähnen, dass  um  des  Raumes  willen  selbst  eine  nothwen- 
dige  Figur  ausgelassen  wird ,  so  z.  B.  eine  Göttin  im  Paris- 
urtheiP),  und  dass  andrerseits  bedeutungslose  Figuren  in  be- 
liebiger Anzahl  zu  einer  Handlung  hinzugefügt  w^erden'). 
Es  lässt  sich  das  namentlich  sehr  deutlich  an  den  Kämpfen 
der  Heroen  nachweisen.  Wie  verschieden  ist  der  Zahl  nach 
das  Personal,  das  dem  kämpfenden  Herkules  oder  Theseus 
zusieht!  Eben  diese  Verschiedenheit  der  Zahl  ist  ein  deut- 
licher Fingerzeig  dafür,  dass  nicht  mythologische,  sondern 
künstlerische  Gründe  Hinzufügung  oder  Weglassung  dieser 
zuschauenden  Figuren  bedingen,  sie  sind  eben  abhängig  von 
der  Grösse  des  auszufüllenden  Raumes.  Daher  dürfen  für 
solche  raumfüllende  Zuschauer  durchaus  nicht  individuelle 
Namen  gesucht  werden,  da  ja  der  Maler  selbst  nicht  be- 
stimmte Personen,  sondern  nur  zuschauende  Leute  über- 
haupt malen  wollte. 

In  den  rothfigurigen  Stil  reichen  die  raumfüllenden  Mittel 
des  schwarzfigurigen  hinein,  die  Rebzweige  und  sinnlosen 
Inschriften ,  und  die  sinnvollen  Inschriften  werden  so  ange- 
ordnet, dass  sie  zugleich  den  Raum  ausfüllen.  Derjenige 
Stil  aber,  den  man  als  den  grossarligen  zu  bezeichnen  pflegt, 
ich  meine  den  Stil,  den  Vasen  wie  die  Boreasvasen  in  Berhn 
und  München  i-epräsentiren ,  pflegt  überhaupt  alles  raumfül- 
lende BeiAverk  zu  verschmähen.  Es  ist  das  wirklich  wesent- 
lich, wie  schon  oben  bemerkt  wurde,  mit  seinem  Charakter 


1)  So    meint    auch    Gerhard    in    der   Archaeol    Ztg.  VI,    p.  211 
Anm.  11. 

2)  Gerhard  Auserl.  172.     Vgl.  Overbeck  Gall.  p.  255. 

3)  Wie  auch  Jahn  Einleitung  p.  166  bemerkt. 


218 

zusammenhangend.  Man  denke  sich  auf  solchen  Vasen  auf- 
spriessende  Ptlanzeu  oder  auigehängte  Kleidungsstücke,  Ge- 
räthe  oder  dergleichen,  so  würde  gleich  der  ganze  Charakter 
zerstört;  es  kämen  kleine  untergeordnete  Dinge  hinein,  wel- 
che den  reinen  Eindruck  des  Grossartigen  beeinträchtigen 
würden.  Anders  aber  ist  die  Sache  in  dem  der  Anmuth  und 
ZierHchkeit  zuneigenden  Stil  der  rothfigurigen  Vasen.  Da 
treten  wieder  raumfüllende  Ornamente  hervor,  aulgehängte 
Binden  namentlich  in  Frauendarstellungen,  palästrische  Ge- 
räthe  zwischen  Epheben.  und  BlunKu  und  Sträucher  in  den 
verschiedensten  Darstellungen.  Immer  aber  ist  das  Beiwerk 
der  Darstellung  angemessen,  es  ist  nicht  etwas  blos  Formel- 
les, sondern  zugleich  Materielles,  es  verdeutlicht  und  ver- 
schönert die  dargestellte  Handlung.  In  diesem  Stil  also  ist 
erreicht,  was  der  schwarzfigurige  anstrebte. 

In  dem  spätesten  Vasenstil,  den  die  unteritalische  Malerei 
darstellt,  löst  sich  wieder  der  Einklang  des  Formellen  und 
Materiellen.  Das  Streben  nach  Putz  und  Pracht,  das  aller 
entartenden  Kunst  eigen  ist,  gleichsam  als  wolle  sie  durch 
bunten  Flitter  die  Aufmerksamkeit  von  ihrer  Innern  Schwäche 
ablenken,  verleitet  zu  einer  UeberfüUung  des  Raums.  Das 
Beiwerk  wird  gehäuft  und  man  kümmert  sich  nicht  mehr 
darum,  ob  es  zugleich  Werth  und  Bedeutung  hat  für  die 
Darstellung,  oder  nicht').  Ganz  äusserliche  Mittel  treten 
wieder  hervor,  insbesondre  die  Rosette  in  der  verschieden- 
artigsten Form,  dasselbe  Mittel  also,  dessen  sich  freiUch  aus 
andern  Ursachen  der  älteste  Vasenstil  bediente.  Vornehm- 
lich aber  ist  es  die  landschaftliche  Scenerie,  die  Blumen  und 
Sträucher,  womit  dieser  Stil  die  grossen  Prachtgefässe ,  die 
ihm  eigen  sind,  zu  füllen  pflegt.  Manchmal  ist  es  zweifel- 
haft, ebenso  wie  im  schwarzfigurigen  Stil ,  ob  ein  Ornament 
blos  formell  oder  auch  zugleich  materiell  gemeint  ist ,  und 
dieser  Zweifel  scheint  hier,  wo  der  Einklang  des  Formellen 


1)  So  tindet  man  aufgehängte  Binden  in  Scenen.  die  im  Freien 
vor  sich  gehn,  Weinblätter  auch  in  nicht  bacchischen  Scenen, 
■wie  El.  ceram.  II,  23  u.  s.  w. 


219 

und  Materiellen  nicht  mehr  ganz  gewahrt  ist,  eben  so  natür- 
Hch,  wie  dort,  wo  er  noch  nicht  ganz  erreicht  war.  So  ist 
es  bei  den  Sternen,  die  man  so  häufig  in  der  unteritahschen 
Malerei,  immer  aber,  wenn  ich  nicht  irre,  in  dem  obern  Raum 
der  Bilder  findet.  Dass  sie  in  einigen  Fällen  Bedeutung  ha- 
ben, lässt  sich  beweisen  0,  aber  sie  sind  so  häufig  und  zwar 
in  ganz  verschiedenen  Darstellungen,  dass  ich  behaupten 
möchte,  sie  seien  vornehmlich  um  des  Raumes  willen  hinein- 
gemalt, wie  die  Rosetten,  mit  denen  sie  wechseln. 

Es  hat  sich  somit  eine  fortlaufende  Entw^icklung  heraus- 
gestellt, deren  Princip  ich  kurz  so  ausspreche:  Raum  und 
Bild  sind  Anfangs  zweierlei,  sie  decken  sich  nicht,  es  sind 
formelle  Zuthateu  nöthig,  um  dem  Raum  Genüge  zu  thun. 
Nun  beginnt  das  Streben,  das  Formelle  in  ein  Sinnvolles  zu 
verwandeln,  und  im  vollendeten  Vasenstil  ist  Raum  uftd  Bild 
völhg  eins,  ohne  Zwang  des  einen,  ohne  Ueberschuss  des  an- 
dern. In  der  Periode  der  Entartung  aber  fallen  Bild  und 
Raum  wieder  auseinander.  — 


1)  Z.  B.  auf  dem  Palladienraub  bei  Overbeck  Gall.  34,  20,   wo 
noch  die  Mondscheibe  sichtbar  ist. 


Excurs  III. 
Zur  Geschichte  der  Composition. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  das  ganze  inhaltreiche  Ca- 
pitel  von  der  Comjjositiou  zu  erschöpfen;  ich  beschränke 
mich  darauf,  an  einem  deutUchen  Beispiel  nachzuweisen,  wie 
die  strenge  Gesetzmässigkeit  der  alterthümlichen  Kunst,  die 
zwar  am  sichtbarsten  ist  in  Haaranordnung  und  Ge^^•andung•, 
aber  auch  die  ganze  Composition  durchdringt,  allmählich 
der  Freiheit  und  Mannigfaltigkeit  weicht.  Ich  will  die  Com- 
position der  aeginetischen  Bildwerke  vergleichen  mit  der 
Composition,  die  in  den  Gruppen  vom  Parthenon  sich  findet. 

In  dem  erhaltenen  Giebelfeld  des  äginetischen  Minerven- 
tempels  stehen  die  korrespondirenden  Figuren  gleich  weit 
vom  Mittelpunkt  entfernt.  Denken  wir  sie  je  zwei  durch 
eine  Linie  verbunden,  so  laufen  diese  Linien  parallel,  es  ent- 
steht das  Schema  der  Periploke^).  Nennen  wir  also  die 
Göttin  a,  Ajax  b,  Teukros  c  und  so  weiter,  so  erhalten  Avir 
folgende  Figur: 

e    d    c   i  ec    h   e  d    e 


Dies  strenge  Responsionsgesetz  ist  nicht  mehr  vorhanden 
am  Parthenon,  Hier  herrscht  wie  in  vielen  andern  Monu- 
menten sowohl  plastischen  als  malerischen,  das  Schema  der 


1)  Ich  entlehne  diese  Ausdrücke  von  Bergk  Arch.  Ztg,  3, 150  ff-, 
olinc  dessen  Ansicht  über  die  Composition  des  Kj^pselos- 
kastens  zu  theilen.  Was  Overbeck  N.  Rh.  Mus.  VII,  p.  435  ff. 
über  Composition  geschrieben,  glaube  ich  mit  Stillschweigen 
übergehn  zu  dürfen. 


221 

Emploke,  d.  h.  die  Linien,  durch  welche  wir  uns  die  korres- 
pondirenden  Figuren  verbunden  denken,  hudVn  nicht  parallel, 
sondern  kreuzen  sich.  Betrachten  wir  zunächst  die  Gruppen 
an  der  Ostseite  des  Frieses.  Die  Mittelgruppe  —  hier  ist 
eben  die  im  Text  erwähnte  mir  unerklärliche  Unsjmmetrie, 
dass  einem  Knaben  zwei  Mädchen  entsprechen,  um  so  auf- 
fallender, als  durch  die  divergirende  Körperriehtung  des  Alten 
und  der  Alten  die  fünf  Figuren  in  zwei  Theile  zerlegt  wer- 
den —  ist  eingefasst  von  je  3  Gruppen  sitzender  Figuren, 
und  hier  sind  nun  die  korrespondirenden  Gruppen  nicht 
gleichweit  vom  Mittelpunkt  entfernt.  Denn  der  ersten  Gruppe 
zur  Linken  (des  Beschauers)  entspricht  die  dritte  Gruppe 
zur  Recl]ten,  beide  haben  drei  Figuren,  zwei  sitzende  und 
eine  stehende,  während  alle  übrigen  Gruppen  nur  aus  zwei 
Figuren  bestehn.  Unter  diesen  übrigen  vier  Gruppen  aber 
entspricht  die  aus  zwei  Männern  bestehende  dritte  Gruppe 
zur  Linken ,  der  ebenfalls  aus  zwei  Männern  bestehenden 
zweiten  Gruppe  zur  Rechten,  und  es  bleiben  übrig  die  zweite 
Gruppe  zur  Linken  und  die  erste  zur  Rechten,  jede  aus  je 
einem  Mann  und  einer  Frau  bestehend^).  Bezeichnen  wir 
also  das  Centrum  mit  a,  die  erste  Gruppe  zur  Linken  mit  b 
und  so  weiter,  so  erhalten  wir  folgendes  Schema: 

ß  3 

Dasselbe  Verfahren  der  Emploke,  der  sich  kreuzenden 
Symmetrielinien,  ist  in  den  vom  östlichen  Giebelfeld  erhalte- 
nen Resten  nachweisbar.  Dem  Sonnengott  entspricht  die 
Mondgöttin ;  auf  jede  dieser  beiden  Figuren  folgt  eine  Gruppe 
und  eine  Einzelfigur,  aber  in  verschiedener  Folge:  auf  der 
Seite  des  Helios  geht  die  Einzelfigur  der  Grui)pe,  auf  der 
Seite  der  Selene  die  Gruppe  der  Einzelfigur  voran,    so  dass 


1 )  Denn  dass  man  die  Frau  mit  der  Fackel  oder  was  sonst  für 
ein  Gcräth  gemeint  sein  mag,  für  männlich  gehalten  hat,  ist 
gewiss  uux-  besondern  Theorien  zu  lieb  geschelin. 


222 

also,    wenn  die  Gruppe  a,    die  Einzelfigur  b  genannt  wird, 
folaendes  Schema  entsteht: 


Jfelc^j'      b      a  $       <t     Setene- 


Dass  in  solcher  Compositionsweise ' )  im  Vergleich  zu 
den  aeginetisehen  Gruppen  ein  Fortschritt  zum  Freieren  liegt, 
wird  unmittelbar  durch  Vergleichung  der  Schemata  deutlich 
sein.  — 


1 )  Was  sich  so  auf  die  einfachste  Weise  aus  der  Composition 
ergibt,  man  sehe,  wie  Overbeck  (Gesch.  d.  griech.  Plastik 
I  p.  250)  das  erklart! 


Exciirs  TV. 

IVber    den    Achillesschild    bei    Homer    und    dein 
Jüngern   Pliilostratas. 

Im  Text  wurde  uameutlich  aus  der  Beschreibung  der 
belagerteh  Stadt  bewiesen,  dass  Homer  kein  wirkliches  Kunst- 
werk beschreibe.  Ich  füge  zunächst  noch  ein  paar  philolo- 
gische Bemerkungen  hin/u,  denn  die  Vermuthungen,  die  man 
sich  über  den  Scliild  machte,  haben,  wie  es  so  oft  geht,  den 
Worten  des  Schriftstellers  Gewalt  angethau.  Es  handelt  sich 
um  die  Auslegung  der  Verse: 

rrjp  ö^ertqriv  noliv  a^(fi  dvoy  Grqatot  siato  Xaöop 
Tsv/^sdi  kaiiTTÖ^jisvoi.  öiyia  tJfe  (JifiGiv  rivöavt  ßov}.^^ 
rjs  öianquS^ieip  ri  updi/f^  nuvTa  dÜGaad^ai, 
xrrjcrit^  6(Trjp>  mokied-^ov  inriqatov  ivtbc  iiqyoi. 
o<  öoii/Kö  neCd^ovTO,  /.öxoi  ö'ined^Mqriffaovvo. 

"Welcker  (Zeitschr.  p.  563)  versteht  unter  den  beiden 
Heeren  das  der  Belagerer  und  das  der  Städter.  Mit  den 
Worten  des  Dichters  setzt  er  sich  gar  nicht  auseinander, 
gegen  die  andre  Ansicht,  welche  zwei  feindliche  Heere  sta- 
tuirt,  bemerkt  er:  „Diese  Doppelheit  der  feindlichen  Macht 
würde  ein  Nebenzug  sein,  der  an  siclv  bier  nicht  zweckmäs- 
sig angebracht  wäre.  Er  ist  aber  nach  den  Worten  keines- 
wegs nothwendig  anzunehmen,  und  hat  noch  die  üble  Folge, 
dass  die,  welche  nicht  einig  werden  können,  die  Belagerer 
unter  einander  alsdann  sein  müssten,  was  wiederum  leer  ist, 
und  einen  leeren  Gegenstand  hat,  ob  sie  nämlich  die  Stadt 
zerstören  oder  alles  unter  sich  beide  vertheilen  wollen.  Da- 
rüber konnte   die  Meinung   nicht   getheilt  sein,    da    es   nach 


224 

dem  Kriegsgebrauch  in  eins  fiel."  Freilich,  wenn  uvöiy^a  auf 
die  Theilung  zwischen  den  beiden  Heeren  bezogen  werden 
müsste,  dann  handelte  es  sich  tini  einen  leeren  Gegenstand, 
aber  warum  kann  es  nicht  auf  die  Theilung  zwischen  den 
Städtern  und  ihren  Feinden  bezogen  werden,  so  wie 
X,  120?  —  Clemens  p.  20  hat  dieselbe  Ansicht.  Lucas  be- 
merkt in  seinem  übrigens  sehr  schätzbaren  Progrannn  p.  2 
Anni.:  „Wenn  Homer  das  Bild  mit  den  Worten  beginnt, 
um  die  andre  Stadt  lagen  zwei  Heere,  so  ist  dieses 
dunkel  gesprochen,  kann  aber  nur  von  den  Feinden  und 
ausgerückten  Bürgern  verstanden  werden,  aber  so,  dass  die 
letztern  anticipirt  sind."  So  meint  auch  Faesi  und  dieser 
macht  über  ücfiaiv  die  ganz  consequente,  aber  recht  naive 
Bemerkung,  es  sei  „nach  der  Natur  der  Sache  auf  die  Be- 
lagerer (die  auch  im  vorigen  Verse  vorzügUch  gemeint  sind) 
zu  beziehen."  Statt  „nach  der  Natur  der  Sache"  wäre  bes- 
ser gesagt  worden  „nach  meiner  H3pothese".  Die  richtige 
Ansicht  sprechen  Marx  (Programm  von  Coesfeld  18*^/43 
}).  10)  und  Lloyd  in  seiner  im  Uebrigen  recht  abenteuer- 
lichen Abhandlung  (The  homeric  design  of  the  shield  of 
Achilles  London  1854  p.  17)  aus^  ich  will  versuchen,  sie 
zu  begründen.  Zunächst  möchte  ich  die  Vertreter  der  ent- 
gegenstehenden Ansicht  bitten,  das  d^rfi  zu  erklären.  Welcker 
und  die  Andern  nehmen  eine  Rehefdarstellung  an  und  glau- 
ben, dass  eins  der^beiden  Heere  das  städtische  sei.  Diese 
Voraussetzungen  zum  Text  hinzugebracht,  so  sitzt  das  eine 
Heer  vor,  das  andre  hinter  der  Stadt,  denn  ä^ifi  nö'/dv 
eiaxo  kann  nichts  andres  heissen,  als  dass  die  Stadt  in  ihrer 
Mitte  war,  dass  die  Stadt  also  die  beiden  Heere  trennte. 
Welcker  sagt:  ,,vor  der  Stadt  sah  man  zwiefaches  Kriegs- 
volk, die  Belagerer  und  die  ausgerückten  Städter",  also  er 
kümmert  sich  um  die  Worte  nicht.  Die  Präposition  a^xxfi  weist 
deutlich  auf  zwei  eins  chliess  ende,  also  feindliche 
Heere,  und  diese  beiden  Heere  waren,  wie  der  folgende  Satz 
sagt,  uneins,  was  mit  der  Stadt,  die  sich  nicht  ergeben  will, 
anzufangen  sei.  Die  ganze  Erzählung  ist  eben  so  einfach  und 
klar,    als    schön,   sie   ist  mit  Einflechtuug   der  dichterischen 


225 

Motive  diese:  Zwei  feindliche  Heere  uinsohliessen  eine  Stadt, 
68  ist  also  höchste  Noth  drinnen,  so  erzähll  der  Dichter,  um 
die  That  der  Städter  um  so  herrlicher  zu  machen.  Aber  die 
Heere  sind  uneins ,  man  schwankt  zwischen  harten  und  mil- 
deren Vorschlägeji ,  zwischen  Zerstörung  und  Gütertheilung. 
Den  Moment,  da  die  Feinde  berathen,  also  die  Stadt  in  Ruhe 
lassen,  benutzen  die  Städter;  eben  um  die  That  der  Be- 
lagerten möglich  zu  machen,  erfand  der  Dichter  die  Berathung 
der  Feinde.  Die  Städter  rücken  nun  aus,  um  Vieh  für  die 
eingeschlossene  Stadt  zu  holen,  aber  die  Gewaltthätigkeit 
an  Hirten  und  Heerden  dringt  zu  den  Ohren  des  Feindes, 
den  wir  v.  531  (eiQÜcoy  nQonäqoidt  xa^rjfiei'Oi)  in  der  Be- 
rathung, also  eben  da  wiederfinden,  wo  wir  ihn  im  Anfang 
der  Erzählung  verlassen  hatten ,  um  zu  den  Städtern  über- 
zugehen.    Dann  folgt  die  Schlacht. 

Betrachten  wir  nun  den  homerischen  Schild  archaeo- 
logisch  und  zwar  zuerst  einmal  die  Welcker'sche  Hypothese, 
die  so  viel  Beifall  gefunden  hat.  Die  fünf  Lagen  des  Schildes, 
meint  ^^'eIeker,  hätten  sich  nicht  ganz  gedeckt,  sondern  eine 
die  andere  überragt,  so  dass  die  oberste  an  Umfang  die  kleinste, 
die  unterste  die  grosseste  gewesen  sei.  Was  für  ein  unprak- 
tischer Schild,  der  am  Rande  einfach,  im  Buckel  fünffach  ist, 
also  den  Mann  auf  höchst  ungleichmässige  Weise  deckt! 
Und  einen  solchen  Schild  sollen  wir  annehmen ,  ohne  dass 
uns  nachgewiesen  würde,  dass  die  Alten  solche  Schilde  hat- 
ten ?  Wo  findet  sieh  denn  unter  den  erhaltenen  Schilden, 
unter  den  Hunderten  dargestellter  Schilde  ein  so  abnormes 
Exemplar?  Und  endlich  sollen  wir  einen  solchen  Schild  an- 
nehmen ,  ohne  dass  uns  Homer  etwas  von  der  besonderen 
Art  dieses  Schildes  mittheilt?  Es  ist  recht  merkwürdig,  dass 
solche  Annahmen  die  Runde  durch  alle.  Bücher  machen'). 


1)  Noch  merkwürdiger  aber  ibt  das  Argument,  das  zuerst  Cle- 
mens p.  7  ausgeführt  hat.  Die  dritte  Sehii-ht,  d.  h.  die  vor- 
stossende  Goldlage  soll  bedeckt  gewe.>eu  seiu  mit  den  Bildern 
des  Pflügeuö,  des  Mähens  und  der  Weinlese.  In  den  ei'aten 
dieser  drei  Scenen  war.  wie  der  Dii'liler  bemerkt,  das  Pflug- 

15 


226 

Aber  abgesehen  von  dieser  Vermuthung,  so  ist  bereits 
von  0.  Müller  bemerkt,  dass  die  Gegenstände  des  homeri- 
schen Schildes  den  Darstellungen  der  ältesten  Kunst  eben  so 
lern  stehn,  als  diejenigen  des  hesiodischen  Schildes  ihr  ver- 
wandt sind.  Allerdings  haben  einzelne  der  homerischen 
Scenen  ihre  Analogie  in  alter  Kunst  (0.  Jahn  P^inleitg.  p.lßS), 
aber  wo  gäbe  es  für  das  erste  Bild,  welche«  Himmel,  Meer 
und  Erde  unpersönlich  darstellte,  eine  Analogie  nicht  nur  in 
der  alten,  sondern  in  der  griechischen  Kunst  überhaupt  ?  Und 
wie  könnte  es  dafür  eine  Analogie  geben?  Gesetzt  aber, 
es  wäre  für  alle  Bilder  Analoges  in  der  erhaltenen  Kunst 
nachweisbar,  so  würde,  wer  die  Kunstgeschichte  kennt,  im- 
mer nur  sagen  können,  die  Elemente,  die  Bestandtheile  sind 
aus  der  Wirklichlceit  entlehnt,  aber  die  Zusammensetzung 
derselben  zu  einem  Ganzen  gehört  dem  Dichter  an.  Denn 
es  soll  die  ganze  Welt,  die  Wunder  der  Natur  und  das  Men- 
schenleben  in  seinen  verschiedenen  Verhältnissen    auf  einem 


land,  in  der  letzten  der  \Yeiiiberg  von  Gold.  Für  die  zu 
mähende  Saat  ^^ird  dann  das  Gold  als  natürliche  Farbe  vo- 
rausgesetzt und  dann  heisst  es:  In  aliis  quoque  clipei  ima- 
ginibus  singulae  partes  aureae  sunt,  ut  in  prima,  quae  nunc 
sequitur,  quartae  laminae  imagine  boves  ex  hoc  mctallo  con- 
iecti  dicuntur,  nusquam  autem  totam  aliqnam  imaginem  prae- 
ter eas  ,  quae  sunt  tertiae  laminae ,  anream  esse  invenimua. 
Ganz  sollen  die  Bilder  der  dritten  Schicht  von  Gold  sein? 
Vielmehr  sagt  der  Dichter  ja  nur,  dass  das,  Pflugland,  nicht 
die  Pflüge r,  und  der  Weinberg,  nicht  die  Traubensammler  von 
Gold  waren.  Kann  man  nicht  also  ebensogut  das  Bild  der 
Stierheerden,  wo  die  Stiere  und  ihre  Hirten  von  Gold  waren, 
auf  die  goldne  .Schicht  setzen,  womit  dann  die  ganze  Con- 
struction  zusananentallen  Avürde?  Der  Dichter  sagt  nicht 
von  allen  Bildern,  aus  welchem  Stoff  sie  bestanden,  nur  aus 
dem  poetischen  Grund,  weil  er  sich  dann  in  langweiliger 
Weise  wiederholen  müsste.  Und  die  Beschreibung  wird  viel 
schöner,  denn  jetzt  ist  Licht  und  Schatten  im  Bilde,  dies  tritt 
glänzend  hcwor,  jenes  in  den  Hintergrimd ;  im  andern  Fall 
wj$re  es  ein  blendendes  Metall  flimmern,  in  welchem  die  Ein- 
aejheiton  zusammenÖüsseQ. 


227 

Raum  zur  Darstellung  gebracht  werden ;  ein  Bildwerk  aber, 
das  auf  diesem  Gedanken  beruht,  will  man  in  eine  Zeit,  oder 
sogar  der  Zeit  voransetzen,  aus  der  die  naiven  Vaaenbilder 
stammen!  Mit  einem  solchen  Bildwerk  beginnt  man  die 
Kunstgeschichte,  so  dass  ein  Höchstes  am  Anfang  steht  und 
kindliche  Versuche  hinterdrein  kommen^)!  Wer  genauer  zu- 
sieht, wird  linden,  dass  die  künstlerische  Erfindung  und  die 
künstlerische  Darstellung  in  der  Kunstgeschichte  immer  glei- 
chen Schritt  halten ,  was  hier  indessen  nicht  weiter  ausge- 
führt werden  kann.  Der  hesiodische  Schild,  dessen  einzelne 
Bestandtheile,  auch  die  nachgeahmten,  Beschreibungen  eines 
Moments,  nicht  Erzählungen  sind,  wie  das  Bild  der  belager- 
ten Stadt  bei  Homer,  beruht  auch  nur  seinen  Elementen  nach 
auf  Wirklichkeit,  nicht  als  Ganzes;  die  Zusammenstellung 
ist  das  W*erk  des  Dichters ,  wie  schon  daraus  erhellt ,  dass 
der  Dichter  Nachahmer  ist. 

Der  homerische  Schild  kommt  nun  auch  bei  dem  jüngeren 
Philostratus  (Nr,  10)  vor.     Das  Bild  ist  dieses: 


1)  Brunn  (KiinsQergesch.  I,  p.  25)  bemerkt:  ..Die  Betrachtung 
homcriricher  Kunstwerke,  uameutlich  des  Schildes  (also  auch 
andrer?)  und  seiner  streng  künstlerischen  Composiliou,  kann 
auf  den  Verdacht  führen .  dass  die  Kunst  in  jener  Zeil  auf 
einer  Siufe  gestanden,  von  der  sie  in  der  nächstfolgenden 
Epoche  wieder  herabgegangen  ,  wie  ja  auch  in  der  Poesie 
die  Cykliker  den  Homer  nicht  erreichten. ••  Dieses  ,,wie  ja 
auch^'  ist  sehr  merkwürdig;  die  Cj'kliker  erreichen  den  Ho- 
mer nicht,  weil  sie  Nachahmer  sind,  aber  ist  denn  die  nach- 
homerische Kunst  Nachahmerin  der  homerischen?  Wo  bleibt 
der  Vcrgleichungspunkt?  —  Auf  die  „Composition''  des  ho- 
merischen Schildes  brauche  ich  nicht  weiter  einzugehen ,  \^'eil 
der  Schild  keine  Wirklichkeit  hat  und  am  a]ler\Aenigsten 
die  von  Welcker  vorausgesetzte  Wirklichkeit  ,  von  \\  elcher 
der  Nachweis  ,, streng  künstlerischer  Komposiiicnr-  ausgeht. 
Wenn  Unbefangenheit  da  wäre,  so  würde  man  l'icht  aus 
poetischen  Motiven  herleiten,  was  jet/.L  durch  die  willkühr 
liehe  Annahme  eines  zu  Grunde  liegenden  Kunstwerks  er- 
klnrt  wird. 

15  * 


228 

Es  ist  die  hochragende  Ilios  gemalt,  von  einer  Mauer 
umgeben,  auf  der  andern  Seite  der  Schiffshafen  und  die  Meer- 
enge des  Hellespontus.  Das  Gefilde  in  der  Mitte  trennt  der 
Xanthus,  der  ruhig  dahinfliesst  in  einem  Bett  von  Lotus, 
Binsen  und  zartem  Rohr.  Der  Gott  liegt  mehr,  als  dass  er 
steht  und  hält  den  Fuss  an  die  Quellen,  mit  ihrem  Wasser 
ihn  benetzend.  An  beiden  Ufern  ist  ein  Heer,  hier  die  My- 
ser  mit  den  Troern ,  dort  die  Hellenen.  Die  Troer  sind  er- 
mattet, sie  sitzen  unter  ihren  Waffen  und  freuen  sich  der 
Unterbrechung,  die  Myser  dagegen  voll  Muth,  so  wie  die 
Myrmidonen,  die  allein  von  den  Hellenen  noch  ft-isch  sind. 
Die  beiden  Jünglinge,  Eurypylus  und  Pyrrhus,  überragen  die 
Andern  an  Grösse;  unter  dem  Helm  sieht  jedem  der  beiden 
ein  funkelndes  Auge  hervor.  Sie  tragen  ihre  väterlichen 
Waffen.  Eurypylus  hat  kein  Zeichen  auf  dem  Schild.  Pyrrhus 
aber  hat  den  von  Hephäst  gefertigten  Schild  des  Achill,  der 
nun  in  Folgendem  nach  Homer  beschrieben  wird.  Dann 
heisst  es:  Siehe,  Eurypylus  ist  überwunden,  Pyrrhus  hat  ihn 
tödthch  getroffen  in  der  Achselhöhle,  das  Blut  fliesst  in  Strö- 
men. Ohne  Seufzen  Hegt  er  lang  auf  der  Erde  ausgestreckt; 
Pyrrhus  ist  noch  in  der  Siellung  des  Schlages:  seine  Hand 
trieft  von  vielen^  Blut,  das  vom  Schwert  herahläuft.  Die  My- 
ser gehen  auf  den  Jüngling  zu,  er  aber  lächelt  und  stellt  sich 
dem  Haufen  entgegen. 

Mit  einem  Wort  hebe  ich  die  ausgeführte  Seenerie  hervor 
und  dass  die  Personen  hier  wieder  in  wechselnden  Stellungen 
erscheinen.  Ferner  was  ist  das  für  ein  Gedanke,  den  Eury- 
pylus lang  auf  die  Erde  zu  legen!  Man  sehe  sich  einmal 
die  Vasen  an,  z.  B.  die  Kämpfe  des  Achill  mit  Hektor  oder 
Memnon.  Liegt  je  der  Gegner  wol  platt  auf  dem  Boden? 
Alle  Schönheit  der  Gruppirung  würde  verloren  gehn  und  auch 
das  psychologische  Interesse  würde  beeinträchtigt.  Wankend, 
etwa  in's  Knie  gesunken  ,  stelle  der  Maler  ihn  dar,  er  zeige 
den  Helden  nicht  todt,  sondern  sterbend  und  noch  in  diesem 
Augenblick  die  Ictzie  Kraft  zusammenraffend.  Dann  entsteht 
ein  Bild  formell  schön  und  von  tiefem  Interesse. 

Was  aber  den  Schild  betrifft,    muss    es    nicht    geradezu 


229 

eine  Geistesabwesenheit  genannt  werden ,  wenn  einem  Krie- 
ger der  mit  dem  ganzen  Figureureichthum  der  homerischen 
Besehreibung  angeliilUe  Schild  des  Achill  in  die  Hand  gege- 
ben wird  in  einem  Augenblick,  da  uns  ganz  was 
Andres  int  eres  sirt?  Hier  handelt  es  sich  ja  um  den 
Zweikampf  des  P_yTrhus  und  Eurypylus  .  wer  hat  aber  un- 
ter diesen  Umständen  ein  Auge  lür  die  Details  des  Schild- 
sclimuckes?  Wozu,  ft-agt  man,  dieser  mühselige  Fleiss,  auf 
ein  untergeordnetes  Geräth  verschwendet ,  dieser  Fleiss ,  den 
Niemand  würdigt!  Oder  ist  etwa  das  Bild  um  des  Schildes 
willen  da  ?  Ein  solcher  Schild  kann  nur  für  sich  gemalt  werden, 
denn  er  ist  ein  Kunstwerk  für  sich.  In  dem  Zusammenhang 
des  philoslratischen  Bildes  aber  ist  er  völlig  Nebensache  und 
fordert  doch,  weil  er  so  sehr  mit  Schmuck  angefüllt  ist,  eine 
Bedeutung  für  sich.  Das  ist  ein  Widerspruch,  den  sich  ein 
Künstler  nicht  hätte  zu  Schulden  kommen  lassen. 


Excurs  V. 

l'cber  Nacktheit  uBd  Bekleidung:  in  der  g^riechischen 
Kunst*). 

Das  "NVorl  des  Plinius:  Graeca  res  nil  velare,  at  contra 
Romana  ac  militaris  thoraees  addere  eharaeterisirt  die  Grie- 
chen und  Römer  im  Allgemeinen  sehr  gut:  den  orientali- 
schen Völkern  w-dv  die  Nacktheit  in  Leben  und  Kunst  fremd. 
Indessen  niuss  man  doch  vor  allen  Dingen  Zeiten  scheiden, 
wenn  man  die  Praxis  der  Kunst  begreifen  will:  sogar  in 
der  Geschichte  der  griechischen  Sitte  stellt  sich  heraus,  dass 
hinsichtlich  der  ISacktheit  und  Bekleidung  des  Körpers  in 
älterer  und  neuerer  Zeit  keineswegs  völlige  Uebereinstim- 
mung  herrschte.  Es  war  in  den  i'rüheren  Jahrhunderten 
Griechenlands  etwas  von  asiatischer  Geiühlswcise  herrschend, 
das  in  der  grossen  Zeit  nu.h  den  Perserkriegen  abgestreift 
wurde  ^). 

Wir  betrachten  zuerst  die  Entwicklung  der  Plastik 
nach  dieser  Richtung  hin,  denn  es  leuchtet  von  selbst  ein, 
dass  Plastik  und  Malerei  hinsichthch  der  Bekleidung  oder 
Nacktheit  nicht  immer  denselben  Weg  einschlagen.  Die 
Plastik  beginnt  weit  früher  mit  der  Nacktheit;  unter  den 
ältesten  Statuen  findet  sich  bereits  Apollo  völlig  nackt  dar- 
gestellt,  ja  unter  den  Werken  des  Dädalus  wird  schon  ein 
nackter   Herkules    aufgeführt.      Ueberliaupt    für    Götter    und 


•)  Visconti  Op.  var.  3.  p.  47 — 62  hat  sehr  schön  über  das  Co- 
stüm  der  historischen  Figuren  in  der  Plastik  geschrieben, 
doch  sind  einige  nicht  unwichtige  Gesichtspunkte  übersehn 
und  Visconti  hatte  nicht  die  StoiTfülle.  die  jetzt  vorliegt.  Vgl. 
auch  0.  Müller  im  Handbuch  §.  336. 

1)  Vgl.  Grote  Gesch.  Griechenl.  V,  p.  '212  der  üebers. 


231 

Heroen  war  schon  in  alierthümlicher  Zeit  die  Nacktheit  die 
durchgehende  Form  der  Darstellung,  doch  fehlt  es  nicht  an 
bemerkenswcrilien  Abweichungen.  Der  Hernie«  des  Onatae 
trug  Chiion  und  Chlamys,  der  Peröeus  unfeiner  alten  seli- 
nuntischen  Metope  und  auf  dem  Terrakottarelief  von  Melos 
ist  nicht  nackt  dargestellt,  so  wie  es  der  sj)ätern  Kunst  an- 
gemessen wäre,  und  namentlich  sciieint  auf  solchen  Monu- 
menten, die  zum  Cultus  gehörten,  die  Götterwelt  in  einer 
mehr  feierlichen  als  zwanglosen  Auffassung  gern  reich  und 
zierlich  bekleidet  dargestellt  zu  sein^).  Aber  nicht  bloss  in 
den  idealen  Gestalten  des  Mythus,  auch  in  den  Figuren  der 
Geschichte  und  des  Lebens  wurde,  wie  es  scheint,  schon 
früh  nicht  die  Tracht  der  Wirkhchkeit  als  maassgebend  an- 
erkannt ,  vielmehr  nach  künstlerischen  Gründen  verfahren. 
Am  Parthenonfries  sind  bereits  hinsichtlich  der  Gewandung 
die  künstlerischen  Principien  ganz  und  gar  zur  Anwendung 
gekommen  ^  die  Gewandung  der  Jünglinge  ist  verschieden. 
um  alle  Einförmigkeit  zu  vermeiden,  auch  nackte  Jünglinge 
bemerkt  man  in  dem  Festzug,  was  im  griechischen  Le- 
ben natürlich  nicht  vorkam.  Aber  schon  vorher  haben  wir 
an  der  Gruppe  des  Kritios,  welche  die  Tyrannenmörder 
darstellte,  einen  Beweis,  dass  nicht  das  Kostüm  der  Wirk- 
lichkeit, sondern  der  Charakter  der- darzustellenden  Figur  den 
Bildhauer  bestimmte.  Denn  dies  ist  mit  einem  Wort  das 
Princip,  das  die  vollendete  Kunst  befolgt,  der  Character,  die 
Idee  der  darzustellenden  Figur  entscheidet  sowohl  in  idealen, 
mythischen,  als  in  historischen,  realen  Figuren.  Betrachten 
wir  in  ersterer  Hinsicht  nur  die  Götter,  wie  die  Zeit  der 
vollendeten  Plastik  sie  dargestellt  hat.  Die  jungen  Götter 
erscheinen  nackt,  höchstens  dass  man  ihnen  noch  die  nichts 
verdeckende  Chlamys  gibt,  dies  wundervolle,  kurze,  leichte 
Kleidungsstück ,  das  dem  leichten  bewegUchen  WVsen  der 
Jugend  so  ganz  angemessen  scheint.     Aber    für  Zeus    eignet 


1)  Poseidon  erscheint  bekleidet  auf  der  albanischen  Ära  (Zoega 
101)  ebenso,  sowie  auch  Hephästus,  auf  dem  Zwölfgötter- 
altar u.  s.  w. 


232 

sich  eJiK^  feierlichere  Darstellung')  und  .su  umgab  man  ihn 
mit  einem  reichen  Mantel,  der  aber  den  Oberleib  frei  Hess. 
Poseidon  kann  seinem  Wesen  nach  nicht  so  feierlich  erschei- 
nen, er  wird  nackt  dargestellt  als  Meergott,  der  Beherrscher 
der  Unterwelt  dagegen,  dessen  Darstellungen  fi-eihch  sehr 
seifen  sind,  wol  desswegen,  weil  sein  Wesen  nicht  so  plastisch 
ausgebildet  war,  konnte  nicht  in  freier,  heitrer  Nacktheit  er- 
scheinen. Und  Avie  munnigfaltig  ist  die  Gewandung  der 
Göttinnen !  Das  Mädchen  Artemis  erscheint  wie  die  Parthe- 
nos  des  Phidias  in  einfachem  Chiton  2),  die  Hera  dagegen 
trägt  in  ihren  edelsten  Darstellungen  über  dem  Chiton  einen 
Mantel,  wodurch  die  ganze  Gestalt  ein  würdevolleres  An- 
sehn erhält.  Ja  der  Faltenv\'urf  steht  in  enger  Beziehung 
zu  der  Idee  der  Gestalt.  Ein  sehr  feiner  Kunsterklärer, 
E.  Braun,  bemerkte  von  der  farnesischen  Hera,  man  könne 
an  dieser  Statue  lernen,  was  junonischer  Faltenwurf  sei. 
Es  ist  der  Typus  gemeint,  der  oft  wiederkehrt  und  wol  am 
edelsten  vertreten  wird  durch  den  aus  Ephesus  stammenden, 
jetzt  in  Wien  befindlichen  Torso,  und  in  der  That  die  Falten 
sind  ungemein  straff  gezogen,  es  fehlt  das  Zufällige.  Lässige, 
wie  man  es  wol  an  Statuen  der  Aphrodite  bemerkt.  Aber 
auch  in  den  historischen  Darstellungen  wird  die  Gewandung 
künstlerisch  behandelt.     Die  Griechen,  die  am  Fries  des  Ni- 


1)  Zugleich  ist  zu  bemerken,  dass  bei  Sitzbiklern  —  und  so 
erschien  ja  Zeus  in  den  edelsten  Darstellungen  —  das  Ge- 
wand nothweiidig  ist  zur  passenden  Ausfüllung  des  Raums. 
Eine  ganz  nackte  Figur  auf  einem  Sessel  sitzend  hat  immer 
etwas  Kahles,  gleichsam  Durchsichtiges. 

2)  und  zwar  ist  es,  wie  bei  Nike,  in  der  entwickelten  Kunst 
gewöhnlich  der  dorische  Chiton,  der  nach  meinem  Gefühl 
für  die  einfache  Anrauth  einer  Jungfrau  den  Vorzug  verdient 
vor  dem  jonischen.  Am  Parthenongiebel  ist  der  Wechsel 
zwischen  dorischem  und  jonischem  Chiton  vielleicht  nicht  zu- 
fällig;  es  ist  an  sich  zu  vermuthen,  dass  die  vollendete  Kunst 
in  solchen  Dingen  mit  Ketlexion  veri'uhr.  In  der  alterthüm- 
lichen  Kunst,  besonders  auf  den  Vasen,  prävalirt  der  jonische 
Chiton. 


233 

ketempels  mit  einander  iiänipten,  haben  nidit  die  Tracht  der 
Wirkhehkeit.  sie  erscheinen  fast  alle  naekl,  wie  Heroen;  ebenso 
die  Griechen  anf  dem  Schild ,  der  die  Schlacht  von  Arbela 
darstellt  '),  wo  auch  die  Perser  durchaus  nicht  in  ihrer  Na- 
tionaltracht dargestellt  sind  2).  So  war  es  auch  in  den  Werken 
der  pergamenischen  Schule;  nur  die  aus  Lycien  stammen- 
den historischen  Reliefs  machen  eine  l)enierkensvverthe  Aus- 
nahme. Aber  diese  Reliefs  —  namentlich  der  kleinere  der 
beiden  Friese  —  entfernen  sich  auch  sonst  sehr  merklich  von 
griechischer  Art.  Die  Darstellung  einer  Stadt  in  extenso, 
über  deren  Mauern  die  Köpfe  der  Belagerten  hinwegsehn, 
erinnert,  wie  schon  oben  bemerkt  wurde,  ganz  an  assyrische 
Reliefs  und  völlig  ungriechisch  ist  der  Kampf  in  Massen. 
Es  ist  so  äch(  künstlerisch  und  insbesondre  dem  Reliefstil 
so  sehr  entsprechend .  wenn  der  Massenkampf  der  Wirklich- 
keit in  Einzelkampf  aufgelöst  wii-d.  So  ist  es  die  Sitte  der 
griechischen  Kunst;  dadurch  wird  Mannigfaltigkeit  der  Grup- 
pen erreicht  und  einförmig  sich  wiederholende,  commandirte 
Stellungen  werden  vermieden,  dadurch  wird  zugleich  der 
ächte  Reliefstil  gewahrt,  der  verletzt  wird,  wo,  wie  in  den 
römischen  Monumenten,  Massen  gegen  Massen  kämpfen. 
Denn  abgesehn  davon,  dass  Klarheit  und  Einfochheit  der 
Verwirrung  und  Unruhe  weichen,  so  müssen  sich  durch  sol- 
che Anordnung  die  Figuren  fast  ganz  ablösen  vom  Hinter- 
grund ,  während  jene  fest  daran  hängen.  Wir  dürfen  dem- 
nach sagen,  die  historische  Plastik  der  Griechen  ist  weit 
entfernt  von  historischer  Treue  hinsichtlich  der  Kleidung,  aber 
die  römische  haftet  an  der  Realität.  Da  begegnen  uns  immer 
behoste  Barbaren  und  die  Römer  mit  der  ganzen  militäri- 
schen Ausstattung  der  Wirklichkeit.  Nichts  characterisirt 
mehr  das  römische  Volk,  als  die  Art,  wie  es  sich  selbst  und 
seine  Siege  auf  Triuraphmonumenten  dargestellt  hat.  Fügen 
wir  nun  noch    einzelne  historische  Figuren   hinzu ,    z.  B.  die 

1)  Miliin  G.  M.  90,  364. 

2)  Dagegen  haben  die  Perser  am  Fi-ies  des  Niketempels  zum 
Theil  Hosen,  nicht  alle,  äer  Abwechslung  wegen,  und  zur 
Characteristik  des  Kampfes  genügten  schon  einige. 


234 

Darstellung  des  Alexander  ain  eines  nackten  Heros,  so  stellt 
sich  auch  hier  dasselbe  Princip  heraus.  Natürlich  einen 
Dichter  oder  Philosophen  nuckt  darzustellen  ,  wäre  ein  Un- 
sinn, denn  für  die  Idee  solcher  Darstellungen  ist  die  Nackt- 
heit nicht  allein  nicht  wesenthch,  sondern  sogar  sehr  stö- 
rend: dass  man  aber  auch  diese  nicht  in  der  Tracht  des  Le- 
bens darstellte,  lehrt  auch  die  oberflächlichste  Musterung. 
Sie  werden  mit  dem  blossen  Mantel  bekleidet,  und  gesetzt, 
dass  sie  manchmal  im  Leben  im  blossen  Mantel  ohne  Chiton, 
ohne  Unterkleid  erschienen,  so  ist  doch  nicht  dieser  zufälhge 
Umstand  der  Wirklichkeit  für  den  Künstler  entscheidend  ge- 
wesen, vielmehr  hat  er  den  Chiton  aus  künstlerischen  Grün- 
den ,  als  störenden  Uebertluss  weggelassen.  Die  griechische 
Kunst  der  besten  Zeit  also  behandelt  die  Gewandung  der 
historischen  Figuren  ebenso  wie  die  der  mythischen  rein 
künstlerisch  —  auch  die  der  weiblichen  Wesen.  Die  Nackt- 
heit des  weiblichen  Körpers  geht  in  der  guten  Zeit  grade  so 
weit,  als  es  der  Character  der  darzustellenden  Figur  nothwen- 
dig  macht.  Aphrodite  —  die  Göttin,  an  welcher  schon  Ho- 
mer die  Schönheit  solcher  Körpertheile  preist,  die  unter  dem 
Gewand  liegen,  wird  mit  gutem  Grunde  nackt  dargestellt. 
Das  Gewand,  dessen  Mangel  bei  den  andern  Göttinnen  den! 
Character  Eintrag  thun  würde .  muss  bei  der  Aphrodite  feh- 
len .  wenn  ihr  ganzes  volles  Wesen  zur  Flrscbeinung  kom- 
men soll.  Der  blühenden  Kunst  kann  man  nicht  den  Vor- 
wurf machen ,  dass  sie  auf  Sinnenreiz  wirke ,  sie  verfährt 
ganz  nach  innerer  Nothwendigkeit ,  sie  bildet  die  Gestalt 
nach  dem  ihr  inwohnenden  Gedanken,  aber  die  entartete 
Kunst,  die  im  Extrem  durch  die  Sarkophage  und  Gemmen 
repräsentirt  wird,  diese  allerdings  behandelt  das  Gewand 
nicht  mehr  als  ein  von  dem  Character  der  darzustellenden 
Figur  Abhängiges.  Denn  wenn  wir,  um  der  vielen  Heroinen, 
wie  Penthesilea,  zu  geschweigen,  sogar  Artemis  und  die  Mu- 
sen bis  zur  Hüfte  entblösst  dargestellt  finden ,  so  ist  freilich 
der  Zusammenhang  zwischen  Character  und  Hülle  der  Figur 
aufgehoben,  das  Gewand  ist  nicht  mehr  charactervoU,  Sinnen- 
reiz, also  ein  unkünstlerischer  Zweck  ist  es,  der  dem  Kunst- 


235 

1er  vorschwebk'.  In  deniselbeu  Maass  aber,  als  die  Lust  an 
der  weiblichen  Nacktheit  zunimmt,  erwacht  das  für  entartete 
Zeiten  nicht  weniger  characteristische  Bestreben,  prätentiösen 
Zierrat  im  die  Gewänder  zu  hängen.  AYo  man  Franzen  an 
den  Kleidern  iindet,  da  darf  man  sicher  sein,  römische  Arbeit 
vor  sich  zu  haben  ^ ), 

Soweit  die  Plastik.  jNüch  interessanter  ist  die  Verglei- 
chuug  der  Malerei,  weil  uns  diese  Kunst,  wenigstens  eine, 
wenn  auch  untergeordnete  Gattung  derselben,  in  ununter- 
brochener Folge  vorliegt.  Die  Plastik  hat  ja  leider  überall 
Lücken ,  aber  darauf  beruht  gerade  der  unschätzbare  Werth 
der  Vasenmalerei,  dass  sie  —  und  das  gilt  von  ihr  ganz 
allein  —  .von  den  frühsten  Versuchen  bis  zur  spätesten  Ent- 
artung in  einer  Reihe  ohne  Lücke  erhalten  ist.  Und  wie 
verfährt  nun  diese?  Im  älteren  Stil  ist  die  Nacktlieit  keines- 
wegs die  gewöhnliche  Erscheinung  der  Götter  und  Heroen. 
Die  kalydonischen  Jäger  allerdings  sind  schon  nackt  in  dem 
ältesten,    sogenannten   korinthischen   Stil,    aber    gewöhnUch 


1)  Dies  gilt  natürlich  nur  von  der  Ausführung.  Denn  ich  bin 
keineswegs  gemeint.  Statuen  A'\ie  die  vatikanische  Ariadne 
oder  die  capitolinische  Venus  ihrer  Erfindung  nach  in  römi- 
sche Zeiten  zu  setzen.  Grade  in  der  Gewandung  aber  und 
im  Haar  pflegen  die  Copisten  entstellende  Zuthalen  aus  dem 
Geschmack  ihrer  Zeit  zum  Original  hinzuzufügen.  Nichts  ist 
instruktiver  in  dieser  Beziehung  als  die  Vergleichuug  der 
Niobide  im  Mus.  Chiaramonti  mit  der  entsprechenden  Figur 
der  Florentiner  Gruppe,  die  einen  x'^*^^'  yjiQi^MTÖg  hat. 
Ausserdem  ist  das  Gewand  über  dem  linken  Fuss  in  die 
Höhe  gehoben,  wie  vom  Wind  zurückgeschlagen,  was  aber 
nur  bei  kurzem  Chiton  wie  an  der  Artemis  von  Versailles 
möghch  ist.  Der  Copisi  tluit  es  um  einer  elenden  Koketterie 
willen,  um  den  zarten  Knöchel  des  Mädchens  zu  zeigen.  Für 
die  Abänderungen  im  Haar  ist  sehr  instruktiv  die  Vergleichung 
des  Berliner  Nymphentorsos  (von  Jahn  Arch.  Aufs.  p.  27 
Amymone  benannt)  mit  der  Neapler  Wiederholung  bei  Mül- 
ler D,  25.  274.  Letztere  hat  herabhängende  Locken,  wovon 
941  dem  Berliner  Torso  keine  Spur  sich  findet:  an  ihm  war 
ohne  Zweifel  das  Haar  recht  mädchenhaft  angeordnet. 


23(3 

sind  die  Heroen  —  und  da«  reicht  hinein  in  den  rothtiguri- 
gen  Stil  —  auch  in  ihren  Kämpfen  bekleidet.  Herkules  z.  B. 
pflegt  nur  nackt  zu  sein,  wenn  er  ringt  mit  Antaeus  und  mit 
dem  Löwen,  der  ihm  vvsl  die  Löwenhaut  liefern  mussle:  ge- 
wöhnlich erscheint  er  mit  dem  Chiton  und  darüber  mit  der 
Löwenhaut  bekleidet').  Die  Gewandung  wird  noch  nicht 
künstlerisch  behandelt,  sondern  die  Sitte  des  Lebens  ist  das 
Maassgebende.  E.s  ist  klar,  dass  die  Kunst  den  grossen 
Schritt,  sich  zu  trennen  von  der  Sitte  der  Zeit  und  rein  nach 
künstlerischem  Gesetz  zu  verfahren,  nicht  sofort  macht.  Auch 
das  Haar  wird  noch  nicht  nach  der  Nothwendigkeit  der  Gestalt 
behandelt;  liebenswürdige  gemüthliche  Zöpfe  sieht  man  darge- 
stellt, die  uns  lebendig  hineinversetzen  in  eine  bürgei-lich  be- 
schränkte, alte,  treue  Zeit  und  um  eine  characterislische  Einzel- 
heit hervorzuheben:  man  beachte  einmal  das  Pferdegeschirr, 
wie  es  auf  älteren  und  spätem  Vasen  dargestellt  wird;  dort 
treue  detaiUirte  Nachahmung  der  Wirkhchkeit^),  hier  fehlen 
die  Stangen  auf  dem  Rücken  der  Pferde,  das  Geschirr  ist  an- 
deutungsweise behandelt,  denn  uatürhch  dieser  Stil  hat  auf 
ganz  etwas  Anderes  Acht.  Der  alte  Stil  hat  die  treue  de- 
taiUirte Darstellung  des  Epos,  darin  liegt  die  wahrhaft  rüh- 
rende Einfalt  dieses  Stils.  Es  soll  immer  deutlich  sein,  wie 
sich  Alles  verhält  und  im  Einzelnen  vor  sich  geht.  In  unserm 
Fall  also  ist  noch  nicht  mit  der  Sitte  des  Lebens  gebrochen, 
sie  wird  noch  nicht  als  lästiger  Zwang  empfunden  und  ab- 
geworfen ,  vielmehr  ist  sie  das  Lebenselement  des  Künstlers, 
in  dem  er  sich  fromm  und  einfältig  bewegt.  Ein  characteri- 
stisches  Beispiel  mag  dies  bew^eisen.     Unter  den  Darstellun- 


1)  Vgl.  noch  die  Gewandung  des  Triptolenius  auf  älteren  und 
jüngeren  Vasen.  Ursprünglich  ist  er  bis  an  den  Hals  beklei- 
det, später  bis  zur  Hüfte. 

2)  Die  Gemälde  und  ebenso  die  Sculpturen  des  älteren  Stils 
können  daher  im  Ganzen  als  historische  Dokumente  für  Sit- 
ten und  Einrichtungen  des  Lebens  benutzt  werden,  grosse 
Vorsicht  ist  aber  nöthig  für  den  Stil  der  vollkommen  freien 
Kunst. 


237 

gen  des  tägliclien  Lebens  auf  späteren  Vasen  begegnen  wir 
nicht  selten  nackten  Jünglingen  Mädchen  gegenüberstehend 
im  Gespräch  und  mit  verschämter  Neigung  ein  Blümlein 
oder  dergleichen  anbietend;  solche  Darstellungen  kennt  der 
alte  Stil  nicht  —  Obscoenitäten  können  natürlich  nicht  ver- 
glichen werden.  Und  warum  kennt  er  sie  nicht?  Weil  das 
Leben  solche  Scenen  nicht  kennt.  Die  Sitte  des  Lebens 
wird  im  vollendeten  Stil  vielfach  der  künstlerischen  Reflexion 
aufgeopfert  und  mit  Recht,  denn  im  vollendeten  Kunstwerk 
ist  die  Wirklichkeit  aufgehoben  in  ein  ideales  Gebiet.  Wenn 
man  nun  w^eiter  die  Erscheinung  der  Götter  verfolgt,  so  zeigt 
sich  in  dem  sogenannten  grossartigen  Stil  Vorliebe  für  lange, 
reiche  Bekleidung,  sogar  ein  Poseidon  ü-itt  in  langem  Ge- 
wand auf.  Gewiss  ist  das  ganz  in  dem  feierlichen,  ernsten 
Character  dieses  Stils  begründet.  Aber  der  eigentlich  schöne 
Stil  hat  eine  grössere  Neigung  zur  Nacktheit;  in  ihm  stellt 
sich  das  Zwanglose,  Unbefangene  des  griechischen  Wesens 
auch  von  dieser  Seite  am  deutlichsten  heraus.  Hier  erschei- 
nen Götter  und  Heroen  meist  nackt.  Freihch,  muss  zuge- 
standen werden,  so  konsequent  durchgeführt  wie  in  der  Pla- 
stik ist  das  nicht  und  namentlich  solclie  Vasen  wie  die  Ber- 
liner Kadmusvase,  die  mit  besonders  detaillirter  Zierlichkeit 
gearbeitet  sind,  weichen  wol  eben  wegen  dieser  ihrer  Nei- 
gung von  dem  Gewöhnlichen  ab.  Auch  im  unteritahschen 
Stil  herrscht  im  Allgemeinen  ein  künstlerisches  Princip,  An- 
ordnung des  Gewandes  nach  der  der  Gestalt  zu  Grunde  lie- 
genden Idee,  denn  auch  in  den  vielen  nach  der  Tragödie 
gearbeiteten  Scenen,  die  auch  das  feierhche  Bühnenkostüm 
herübergenommen  haben ,  fehlt  es  doch  nicht  an  solchen 
Figuren ,  die  wie  Jason  auf  der  canosischen  Medeavase  in 
heroischer  Nacktheit  gegen  den  Gebrauch  der  Bühne  darge- 
.-stellt  sind.  Hinsichtlich  der  weiblichen  Nacktheit  —  die 
obscönen  Darstellungen,  die  allen  Stilen  eigen  sind,  kommen 
hihr  natürlich  nicht  in  Betracht  —  wird  man  auch  fast  durch 
die  ganze  Entwicklung  der  Vasenmalerei  den  öfter  erwähnten 
Grundsatz  befolgt  finden.  Eine  nackte  Aphrodite,  die  über 
das  Meer  fähil.  komnil   vor,  ferner  halbnackte  tanzende  Bac- 


238 

chaMlimieii  luul  Aelinliohes,  aber  sollen  ifil  der  Fall,  wo  sich 
in  dieser  Beziehung  eine  Kiehlung  auf  Sinnenreiz  oftenbarle. 
Die  drei  Göttinnen  des  Parisurtheile.s  sind ,  wenn  ich  mich 
nicht  irre,  immer  ganz  bekleidet.  Nur  im  apulischen  Stil  — 
ich  erinnere  nur  an  die  halbnackte  Jo  und  Amymone  — 
findet  es  sich  einzeln ,  dass  die  Nacktheit  nicht  in  Character 
oder  Situation  der  dargestellten  P'igur  begi'ündet  liegt.  Frei- 
lich darf  nicht  verkannt  werden  im  Hinblick  z.  B.  auf  die 
Helena  des  Zeuxis,  dass  die  gi-ossen  Meister  nicht  ganz  zu 
beurtheilen  sind  nach  den  Vasenbildern  ^ ) ,  aber  doch  die 
Art  der  griechischen  Malerei  im  Allgemeinen  spiegelt  sich 
gewiss  in  diesen  Produkten  des  Handwerks  wieder.  Wie 
ganz  anders  ist  aber  die  Sitte  in  den  römischen  Wandgemäl- 
den, zu  geschweigen  von  den  etruscischen  Monumenten,  ins- 
besondere den  Spiegeln,  die  eine  moralisch  aufs  Aeusserste 
gesunkene  Zeit  characterisiren.  Ist  es  nicht  fast  Regel  in 
Pompeji,  dass  jede  Frau  bis  zum  Schooss  nackt  erscheint? 
Man  vergleiche  die  Darstellungen  der  Iphigenie  —  selbst 
solche  tief  tragische  Scenen  erleiden  den  Zusatz  des  Sinnen- 
reizes — ,  der  Andromeda  und  wie  sie  alle  heissen,  man  wird 
finden,  hier  ist  die  Gewandung  nicht  mehr  rein  künstlerisch 
behandelt,  sondern  nach  der  Lust  sinnlich  ralTinirter  Seelen. 
So  wie  in  Pompeji  verfährt  man  jetzt  vielfach,  nur  dass  man 
die  Grazie  nicht  kennt,  die  selbst  dort  noch  herrscht.  Ich 
sah  in  München  eine  Gruppe,  Oedipus  und  Antigone  darstel- 
lend von  einem  Künstler,  von  dem  man  viel  erwartete:  die 
Antigone  war  —  halbnackt. 

Noch  ist  die  Darstellung  der  Ausländer  zu  erörtern.  Wenn 


1)  DemPolygnot  hätte  übrigens  Brunn  II,  p.  23  nicht  eine  halb- 
nackte Polyxena  zutrauen  sollen,  indem  er  das  auf  Pol)'klet 
lautende  Epigramm  des  Pollianus,  in  welchem  ein  Gemälde 
mit  der  Opferung  der  Polyxena  beschrieben  wird,  auf  die 
Polyxena  des  Polygnot  bezog.  Er  hätte  sich  auch  wol  an 
Eurip.  llec.  555  ff.  erinnern  können,  mit  welchen  Versen  das 
Epigramm  und  somit  das  beschriebene  Bild  übereinstimmen. 
Also  kann  auch  der  Zeit  nach  das  in  dem  Epigramm  be- 
schriebene Bild  nicht  das  polygnotische  sein. 


239 

man  die  marathonische  Schlaclit  des  Polygnol,  die  Alexander- 
schlacht, die  Dariusvase  und  die  sonstigen  Darstellungen  der 
Barbaren  vergleicht,  so  sieht  man,  die  Gewandung  der  Perser 
entspricht  der  historischen  Wirklichkeit.  AuchOr])lieus,  Medea, 
Paris,  zwar  mythische  Figuren  aber  doch  Ausländer,  werden, 
wie  schon  oben  angedeutet  wurde,  früher,  auf  den  Vasen 
lind  bei  Polygnot,  allerdings  hellenisirt,  aber  später  im  Na- 
tionalkostüm dargestellt.  Es  scheint,  dass  das  Erwachen 
der  historischen  Bestrebungen  in  Griechenland,  das  ja  An- 
fangs ganz  im  Mythus,  im  Idealen  lebt«,  zum  gi-össten  Glück 
namentlich  für  seine  Kunst,  später  auf  die  Malerei  Einfluss 
gewann.  Die  Plastik  schHesst  sich  nicht  ganz  so  treu  an 
die  Wirklichkeit  an ,  es  sind  namentHch  die  Hosen ,  die  sie 
öfter  als  die  Malerei  weglässt  *).  Es  geschieht  gewiss 
de.ss^vegen,  weil  das  enganliegende  Gewandstück  der 
Natur  der  Plastik  widerstrebt,  denn  es  wirft  nicht  nur 
solche  Falten,  die  durch  das  Motiv  der  Stellung  veranlasst 
sind,  sondern  auch  solche,  die  dem  Kleidungsstück  als  zusani- 
mengeniiht  und  so  zusammengenäht  eigen  sind.  Und  das 
ist  eben  das  Unplastische  daran;  das  Gewand  der  Plastik 
soll  nur  ,,das  Echo  der  Gestalt"  sein,  es  soll  nur  durch  das 
Thun  der  tragenden  Gestalt   Leben   und  Charactev    erhalten, 

1)  Die  Perser  am  Jüketempei ,  Paris  am  Aegineteugiebel 
(auch  in  spätrömiscben  Statuen  und  Reliefs,  wie  Atys, 
für  den  sie  aber  und  vielleicht  auch  für  Paris  ein  Cha- 
racteristikum  des  weichen  Asiaten  sein  sollen)  ,  die  von  He- 
kules  bekämpfte  Amazone  in  einer  selinuntischen  Metope, 
aucli  der  grössere  Theil  der  Amazonen  am  Wiener  Amazo- 
nensarkophag haben  Anaxyriden.  Was  sonst  die  Amazonen- 
tracht betrifft  in  Plastik  und  Malerei,  so  hat  schon  Jahn  Ein- 
leitung p.  209  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  sie  in  der 
.Malerei  eng  anliegende  Beinkleider  tragen,  in  der  Tlastik 
dagegen  die  Beine  nackt  za  haben  pflegen,  vgl.  die  Ama- 
zonendarstelluugen  von  Phigalia,  Magnesia,  vom  Mausoleum 
liiid  die  Einzelstatuen.  Aber  auch  in  der  iiltern  Malerei 
hat  Penthesilea  noch  nicht  die  Anaxyriden.  Bei  l'clops 
schwankt  es  auf  Vasen  und  Sarkophagen:  bald  hat  er  Ana- 
xyriden, Icdil  nicht. 


Excurs  VI. 
üeber   die  Gestalt  des  Eros   in  Poesie  und  Kunst. 

Von  einer  Gestalt  des  Eros  ist  zuerst  in  der  griechi- 
schen Lyrik  die  Rede.  Homer  kennt  den  Gott  gar  nicht, 
das  Wort  a'qwg  ist  nur  appellati^dseh  bei  ihm.  Und  natür- 
lich, denn  wie  würde  es  mit  dem  objektiven  Ton  des  Epos, 
wie  würde  es  mit  der  reflexionslosen  Unschuld  der  epischen 
Mensehen  vereinbar  sein,  über  die  Liebe,  die  als  einfacher 
Naturtrieb  empfunden  und  gestillt  wird ,  zu.  retlektiren  ,  was 
ja  die  Voraussetzung  für  die  Existenz  des  Gottes  ist,  zumal 
da  Aphrodite  dies  Amt  versieht !  Aber  diejenige  Poesie ,  in 
welcher  die  subjektive  Seelenstimmung  in  Wonne  und  Weh 
zum  Ausdruck  kommt,  die  schafft  einen  Gott  Eros;  sie  ver- 
körpert oder  vielmehr  sie  stellt  die  Empfindung,  deren  Aus- 
druck sie  ist,  als  Wirkung  eines  Gottes  dar  und  beschäftigt 
sich  damit,  dies  Wesen  des  Gottes  auszumalen.  Bei  Alk- 
man  und  Ibykus,  bei  Sappho  und  Anakreon  ist  von  einer 
Gestalt  des  Eros  die  Rede.     Und   wie   denkt  man  sich  ihn  V 

Nach  der  Individualität  der  Dichter  ist  er  verschieden. 
Alkman,  der  traulichste  Dichter  der  Griechen,  lässt  ihn  auf 
Blüthen  spielen ,  wie  ein  Kind :  Ibykus,  ein  Dichter  von  far- 
benreicher Gluth  der  Phantasie,  schildert  ihn  grossartiger 
ohne  Tändelei:  Eros,  sagt  er,  sendet  verzehrende  Blicke 
aus  dunkler  Wimper  des  Auges  auf  mich.  Anakreon  ver- 
gleicht ihn  zwar  an  einer  Stelle  mit  einem  Schmied ,  der 
ihn  mit  grossem  Beil  gehauen  und  dieser  Eros  ist,  wie 
0.  Müller  sich  einmal  ausdrückt,  allerdings  von  ganz  anderm 
Kaliber,  als  der  in  der  anakreontischen  Sammlung  operirende, 
aber  an  einer  andern  Stelle  erscheint  er  goldgelockt  mit 
einem  Ball  nach  dem  Dichter  werfend,  um  ihn  aufzufordern, 
mit    einem    Mädchen    Liebesspiele   zu    treiben.     Da   ist  seine 


241 

Erscheinung  so  ganz  der  zarten  tändelnden  Grazie  des  teischen 
Sängers  angemessen.  Die  Sappho  erwähnt  ihn  ein  paar 
Mal,  sie  lässt  ihn  mit  purpurner  Chlamys  vom  Himmel  kom- 
men und  ein  ander  Mal  vergleicht  sie  ihn  mit  einer  süssen 
und  zugleich  bittern  Schlange,  der  man  nicht  eutgehn  könne, 
es  scheint  indess,  dass  Eros  noch  hinter  Aphrodite  zurück- 
trat, der  ja,  wenn  man  genau  historisch  fortgeht,  immer  mehr 
an  Terrain  gewinnt.  Von  den  übrigen  Lyrikern  bietet  nur 
noch  Pindar  Stoff  zur  Erwähnung,  der  aber  nur  an  einer 
einzigen  Stelle  den  personifizirten  Eros  kennt;  er  spricht 
von  den  Eroten  in  der  Mehrzahl  als  Hirten  der  Gaben  der 
Aphrodite;  auch  an  dieser  Stelle,  sieht  man,  ist  Aphrodite 
diejenige,  von  der  die  Liebe  ausgeht.  Es  ergibt  sich  hier- 
aus, dass  in  der  Lyrik  Eros  bereits  als  Gestalt  erscheint, 
nicht  mehr  als  ungefornite  Macht,  aber  eine  feste  Vorstel- 
lung begegnet  uns  nicht.  In  der  Tragödie  dagegen  finden 
wir  zunächst  die  durchgehende  Anschauung  von  Geschossen 
der  Liebe;  Avie  ein  Pfeil,  der  das  Herz  verwundet,  wird  die 
Liebe  gedacht  und  was  die  Gestalt  des  Eros  betrifft,  so  be- 
gegnen wir  hier  zuerst  der  Anschauung  des  Eros  als  eines 
Bogenschützen  1).  Es  liegt  im  Wesen  der  Tragödie,  welche 
ja  die  Liebe  als  Grund  tragischer  Kollisionen  behandelt,  dass 
sie  ohne  Tändelei,  sondern  mit  tiefem  Ernst,  von  der  Macht 
des  Eros  spricht.  Dagegen  ist  die  Poesie  des  Bion  und 
Moschus  der  eigentliche  Sitz  erotischer  Tändeleien.  Hier 
wird  Eros  als  Kind  vorgestellt,  wie  man  ihn  nach  tragischer 
Anschauung  sich  unmöglich  denken  kann;  sodann  wird  er 
verdoppelt,  was  ebenfalls  nach  tragischer  Anschauung  un- 
möglich ist  und  neben  dem  Attribut  von  Pfeil  und  Bogen 
erscheint  die  Fackel.  W^as  ist  der  Sinn  dieses  Attributs? 
Offenbar  liegt  der  Vergleich  der  Liebe  mit  einem  verzehren- 
den Brand  zu  Grunde,  es  scheint,  dass  dieses  neue  Attribut 
eine  Schöpfung  der  Dichter  ist. 

Soweit  die  Thatsachen  der  Poesie,  die  ich  zugleich  nach 
ihrem    Innern   Sinn    zu    begreifen   versuchte.     Es   wird   sich 


1)  z.  B.  Eiirip.  Iphig.  Aul.  621.  Med.  519. 

16 


242 

herausstellen,  dass  die  Kunstvorstellungen,  zu  denen  ich  nun 
übergehe,  sich  fasst  überall  an  die  Dichter  anschliessen.  Wir 
betrachten  zuerst  die  Skulptur.  Die  altern  Kunstwerke  ,  der 
Kasten  des  Kypselos  hat  in  den  Scenen,  in  denen  nach  spä- 
terer Sitte  Eros  erscheinen  würde,  nur  die  Aphrodite.  Neben- 
Jason  und  Medea,  die  ihre  Vermählung  feiern ,  steht  Aphro- 
dite ohne  Eros;  man  sieht,  dieser  Stil  schliesst  sich  dem 
Epos  an.  Die  älteste  der  erhaltenen  Erosdarstellungen  möchte 
die  eines  aus  Aegina  stammenden  Reliefs  in  alterthümlichen 
und  zwar  aeginetischem  StiH)  sein,  wo  er  als  geflügelter 
Jüngling  ohne  Attribute,  bekleidet,  wie  es  der  alterthümlichem 
Kunst  eigen  ist,  erseheint.  Hier  sieht  man  also  aus  dem 
Alter  der  Figur  eine  ernste  Auffassung  dargestellt  und  so 
verfuhr  Phidias,  indem  er  am  Fussgestell  des  olympischen 
Zeus  die  Aphrodite  von  Eros  empfangen  Hess ,  denn  es  ist 
undenkbar ,  dass  er  als  Knabe  dies  Amt  verrichtet  habe. 
Die  Bildungen  der  sogenannten  Jüngern  attischen  Schule 
schliessen  sich,  wie  sonst  so  vielfach  ,  an  die  Tragödie  an  ; 
hier  trägt  er  das  Attribut,  das  ihm  die  Tragiker  gaben.  Bogen 
und  Pfeil  und  seine  Bildung  als  eines  schwermüthigen  Jüng- 
lings stimmt  ganz  zur  Auffassung  der  Tragödie.  Die  Darstel- 
lungen des  Eros  dagegen  als  Knabe  schliessen  sich  der  tän- 
delnden Poesie  der  Bukoliker  an  und  es  ist  wol  nicht  zu 
gewagt,  wenn  man  nach  dem  durchgreifenden  Abhängigkeits- 
verhältniss  der  bildenden  Kunst  von  der  Poesie  in  dem  Da- 
tum jener  Bukoliker  einen  terminus  post  quem  für  diese 
Kunstvorstellungen  annimmt.  Als  Knabe  hat  er  nun  auch 
das  Attribut  der  Fackel  und  wie  es  scheint,  besonders  da, 
wo  er  mit  der  Psyche  zu  thun  hat.  Es  ist  wol  nicht  zu 
läugnen,  dass  dieses  Attribut  namentlich  da,  wo  die  Psyche 
als  Schmetterling  dargestellt  ist,  sich  besser  eignet  als  der 
Bogen 5  es  lässt  sich  die  Qual  der  Seele,  die  von  Eros  ver- 


1)  Bei  Welcker  A.  D.  II  taf.  3,  6  abgebildet.  —  Mit  der  Notiz 
des  schol.  z.Aristoph.  Av.  573:  ncDTtQixov  to  t^v  Ni'xtjv  xul 
rov  "Eqioth  iTTTicjwad^cd  können  wir  nach  unsern  Darstellun- 
gen nichts  anfangen. 


243 

brannt  wird,  anschaulicher  darstellen  vermittelst  der  Fackel. 
In  der  spätesten  Zeit  der  Sculptur,  auf  Sarkophagen ,  wird 
Eros ,  wie  in  den  römischen  Wandgemälden ,  ganz  seines 
mythologischen  Gehalts  entleert.  Sein  Thun  ist  nicht  mehr 
ein  bedeutsames,  sondern  alle  menschliche  Arbeit  und  Spiel 
wird  von  Eroten  ausgeführt;  er  ist  nur  das  Bild  eines  an- 
muthigen  geflügelten  Knaben  ohne  mythologischen  Gehalt, 
es  könnte  ja  an  seiner  Stelle  ein  einfacher  Knabe  ohne  Flü- 
gel erscheinen  und  so  ist  es  auch;  man  sieht  in  spätem 
Kunstwerken  sehr  oft  Knaben  ohne  Flügel  in  derselben 
Aktion  wie  Eroten  i).  Schon  die  Vervielfachung  [ist  eigent- 
lich eine  Verwischung  seiner  mythologischen  Substanz  und 
sieht  man  ihn  nun  rein  dekorativ  an  Sarkophagen  und  fries- 
ähnlichen Reliefs  unter  Blumengewinden  stehn,  so  kann  wol 
darüber  kein  Zweifel  sein,  dass  der  mythologische  Inhalt 
gänzlich  aufgezehrt,  dass  er  nur  als  eine  traditionell  über- 
kommene Figur,  die  gefiel  wegen  ihrer  anmuthigen  Erschei- 
nung ,  dargestellt  wurde,  ohne  Bewusstsein  oder  wenigstens 
ohne  Rücksicht  auf  sein  eigentliches  ursprüngliches  Wesen.  — 
Etwas  verwickelter  ist  die  historische  Entwicklung  der 
Erosvorstellung  in  der  Malerei.  Der  epische  Stil  der  Vasen 
maierei  kennt  ihn  fast  gar  nicht;  wenn  er,  was  freilich  sehr 
selten,  ein  kleines  Liebesabenteuer  darstellt,  wie  das  am  Brun- 
nen, das  uns  so  lebendig  in  einfache  patriarchalische  Zeiten  ver- 
setzt, in  denen  nur  der  Gang  zum  Brunnen  das  Mädchen  aus 
dem  Hause  führte,  so  ist  Eros  nicht  zugegen,  wie  es  nach 
späterer  Sitte  der  Fall  sein  würde.  Für  den  rothfigurigen  Stil 
aber  kann  man  nicht  so  ohne  Weiteres  mit  O.Jahn-)  sagen, 
dass  die  Darstellung  als  Jüngling  die  ältere  sei;  man  muss 
vielmehr  trennen  den  Eros  als  Begleiter  der  Aphrodite  und 
als  selbständig  ohne  Aphrodite  erscheinendes  Wesen.  Für 
letzteren  ist  0.  Jahn's  Bemerkung  vollkommen  wahr,  aber 
mindestens  gleichzeitig,    wenigstens    auf  rothfigurigen  Gefäs- 


1)  Vgl.  die  Bemerkung  von  Jahn  in  Ber.  d.  sächs.  Gesellsch.  d. 
Wissensch.  1848  p.  46. 

2)  Einleit.  p.  202. 

16* 


244 

sen  der  ersten  Periode  sehn  wir  Aphrodite  von  kleinen 
Eroten  —  schon  in  der  Mehrzahl  —  umgeben  i).  Ueber- 
haupt  wo  Eros  neben  Aphrodite  erscheint  auf  den  Vasen, 
da  ist  er  immer  ein  Kind 2)-  wo  er  ohne  sie  erscheint,  da 
ist  er  zuerst  ein  Jüngling ,  später  auch  ein  Kind.  Dieser 
Unterschied  hat  wol  seinen  guten  Grund,  sowie  Nike  neben 
der  Pallas  ein  Ideines  Mädchen,  allein  stehend  dagegen  eine 
Jungfrau  ist.  Weil  Eros,  wenn  er  mit  Aphrodite  vereinigt 
ist,  nur  Ausfluss  ihres  Wesens,  nur  Verkörperung  ihres  Rei- 
zes, nur  der  Bote  und  Vollstrecker  ihrer  Wirkungen  ist, 
darum  eignet  sich  allein  die  Kindergestalt  für  solche  Dar- 
stellungen 3).  Als  Kind  kann  er  auch  vervielfacht  werden, 
als  Jüngling  aber  repräsentirt  er  einen  Begriff,  während  in 
kinderhaften  Eroten  die  Fülle  der  Reize  zur  Anschauung 
kommt.  Der  jünghngshafte  Eros  aber  erscheint  in  doppel- 
tem Sinn  auf  den  Vasen,  einmal  als  der  Dämon  geschlecht- 
licher Liebe  und  sodann  als  der  Gott,  der  im  Gymnasium 
seinen  Altar  hatte  ,  unter  Palästriten.  In  der  unteritalischen 
Malerei  pflegt  Eros  wie  in  der  spätem  Plastik  kinderhaft  zu 
sein,  so  ganz  dem  wenig  ernsten  Charakter  dieser  Vasen 
entsprechend^  diese  Vasen  sind  der  treue  Spiegel  einer  leicht 


1)  Auf  dem  Parisurtheil  des  Hieron  in  Gerhard's  Trinkschaalen 
und  Gef.  Taf.  11 — 12,  ebenso  auf  dem  schwarzfigurigen 
Parisurtheil  in  Creuzer's  Dtsch.  Sehr.  Abthlg.  II,  Bd.  I  zu 
p.  238. 

2)  Die  Ausnahme  auf  dem  Berliner  Gefäss  n.  1851  hat  ihre  be- 
sondern Gründe ,  worüber  man  Overbeck  Gall.  p.  218 
Anm.  60  vergleiche. 

3)  Also  die  Unselbständigkeit,  die  Abhängigkeit  von  der  Aphro- 
dite ist  hier  der  Grund  für  die  Bildung  des  Eros  als  Kind, 
während  wenn  Eros  allein  als  Kind  dargestellt  wird,  eine 
tändelnde  Anschauung  der  Liebe  dies  bewirkt.  —  Jenem 
ersten  Fall  ist  verwandt  die  Darstellung  der  ei6io?.K  als  klei- 
ner geflügelter  Wesen,  wie  in  Darstellungen  der  Schleifung 
Hektor's,  der  Psychostasie  und  auf  den  pol3'chromen  attischen 
Lekythen.  Was  soll  hier  die  Kleinheit  ausdrücken  ?  Gewiss 
das  Unwesenhafte  dieser  Figuren. 


245 

gestimmten  Zeit  und  grade  die  Anschauung  vom  Eros,  wie 
sie  in  Kunst  und  Poesie  zu  Tage  tritt ,  ist  culturhistorisch 
von  der  äussersten  Wichtigkeit.  Dass  dagegen  Eros  seines 
Begriffes  ganz  entleert  sei,  das  ist  durch  die  Vasen  noch 
nicht  zu  belegen,  erst  in  Pompeji  ist  es  der  Fall,  wie  schon 
oben  bemerkt  wurde  ^), 


1)  Sehr  merkwürdig  aber  ist,  dass  Eros  auf  den  Vasen  nie  mit 
Bogen  und  Pfeil  noch  mit  Fackel  erscheint.  (.Auf  der  Amy- 
monevase  in  Neapel  (Bullet.  Napol.  II  tav.  3)  hat  er  nur 
einen  Pfeil).  Kranz,  Tänie,  Früchte  und  Schmuckgegenstände 
hat  er,  als  Eros  der  Paliistra  auch  die  Leier.  Woher  kommt  das? 


Excurs  VII. 
lieber  die  Personifikation  der  Natnr. 

Die  sogenannten  Lokalgötter,  die  Dämonen  des  Orts,  auf 
dem  eine  Handlung  vor  sich  geht,  haben  eigentlich  nur  in 
der  römischen  Kunst  ihre  Stelle.  Was  zunächst  die  schv/arz- 
figurige  Malerei  betrifft,  so  hat  sie  kein  einziges  Beispiel 
eines  Ortsgenius  aufzuweisen  und  ich  glaube,  sie  kann  keins 
haben.  Zwar  hat  man  in  Frauen ,  die  den  Kämpfen  des 
Herkules  zusehn,  Ortsnymphen  zu  erkennen  geglaubt,  aber 
es  ist  geschehn  in  eiliger  Uebertragung  späteren  Kunstge- 
brauchs ganz  verschiedener  Denkmälergattungen  —  wie  wenn 
man  in  der  Philologie  den  Sprachgebrauch  Lucian's  in  den 
Homer  übertragen  wollte  —  und  aus  dem  leidigen  Bestreben, 
überall  individuelle  Namen  zu  geben ,  wobei  man  nur  die 
erste  Frage  zu  beantworten  vergass,  ob  denn  der  Künstler, 
auf  dessen  Absicht  es  doch  allein  ankommt,  eine  individuelle 
Figur  hat  darstellen  wollen.  Nirgends  ist  eine  Charakteristik 
sichtbar,  die  auf  solche  Annahmen  führen  könnte;  die  den 
Heldenkämpfen  zuschauenden,  meist  in  ihre  Mäntel  gewickel- 
ten Männer  und  Frauen  sind,  wie  schon  ihre  wechselnde 
Anzahl  beweist,  ganz  generelle  Figuren,  es  sind  Leute  die 
zuschauen ,  und  je  nach  dem  Bedürfniss  des  Raums  und 
der  Symmetrie  sind  sie  in  grosser  oder  in  geringer  Anzahl 
oder  auch  gar  nicht  vorhanden.  Diese  generellen  Figuren  gehn 
durch  die  ganze  Vasenmalerei  hindurch,  nur  dass  sie  später 
nicht  mehr  so  steife  Zuschauer  sind,  wie  in  den  ersten  An- 
fängen. Auf  einer  graziösen  Vase  fährt  Aphrodite  mit  ge- 
schwelltem Segel  und  mit  flatterndem  Haar  über  das  Meer, 
auf  einem  Felsen  hinter  ihr  sitzt  mit  aufgestützter  Hand  ver- 
tieft in  die  Betrachtung  des  wunderbaren  Ereignisses  ein 
Jüngling,  ein  Jemand,  an  dem  uns  der  Künstler  die  Wirkung 


247 

des  Vorgangs  sichtbar  niaclil  und  damit  auch  unser  Interesse 
an  dem  Wunder  steigert').  ^Yenn  die  Thaha  entführt  wird 
von  dem  Adler,  und  der  Künstler,  der  so  malt,  einen  Jemand 
hinzufügt  in  staunender  Geberde  über  das  Wunder,  gewinnt 
nicht  das  Bild  an  Lebendigkeit  und  werden  auch  wir  nicht 
gleich  dem  Beschauer  im  Bilde,  zum  Staunen  über  den  merk- 
würdigen Vorgang  veranlasst-)?  Und  so  ist  es  in  vielen 
Fällen;  zu  einem  mythischen  Vorgang  Averden  generelle  Fi- 
guren hinzugefügt,  damit  sich  in  ihnen  die  Stimmung  dar- 
stelle ,  die  der  Künstler  dem  Betrachtenden  mitzutheilen 
wünscht ,  es  ist  mit  einem  Wort  die  Schilderung  durch  die 
Wirkung.  So  verfuhr  schon  Polj'gnot,  indem  er  die  Schön- 
heit der  Helena  von  umstehenden  Frauen  bewundernd^ja  liess. 
und  bildenden  Kunst;  man  wird  sich  bei  dem  Verfahren 
des  Poljgnot  sogleich  an  die  wunderbar  wirksame  homerische 
Stelle  erinnern ,  wo  die  troischen  Greise  die  Helena  bewun- 
dern. Noch  an  andern  Stellen  Homer's  ist  es  so,  auch  Pin- 
dar  hat  dies  schone  Mittel  oft  benutzt  3).  Thaten  aber  die 
Künstler  nicht  recht  daran,  dass  sie  so  verfuhren?  Wird 
nicht  ein   an    sich  wunderbares  Ereigniss  noch  wunderbarer, 


1)  Weloker  fasst  A.  D.  3,  254  wie  Stackclberg,  welclier  Taf.  28 
das  Bild  publicirt  hat,  die  Jünglingsfigur,  die  aller  und  jeder 
Charakteristik  entbehrt,  für  einen  Geliebten,  von  dem  Aphro- 
dite komme  und  der  ihr  nachschaue.  Vgl.  indess  das  Bild 
in  Gerhard's  Ant.  Bildw.  taf.  44,  v,'0  die  Aphrodite  auf  einem 
Schwan  über  das  Meer  fliegt. 

2)  Ich  meine  das  bekannte  Vasenbild  bei  Müller  U ,  3,  47.  Es 
wird  mir  aber  nicht  einfallen,  mich  auf  eine  ausführliche 
Widerlegung  derjenigen  einzulassen,  die  in  dieser  und  ähn- 
lichen Figuren  individuelle  Wesen  zu  erkennen  glaubten. 
Es  genügt  darauf  hinzuweisen,  dass  solchen  Versuchen  eine 
Menge  der  willkürlichsten  Annahmen  zur  Voraussetzung  dient; 
die  Absicht  des  Künstlers  zu  finden,  aus  dem  Aeussern, 
Dargestellten  das  Innere  ,  den  Sinn,  darauf  kommt's  ihnen 
nicht  an. 

3)  Vgl.  meine  Erklärungen  zu  Pindar  II  im  Philologus  XIII 
p.  449  f. 


248 

wenn    wir   es  reflectirt   sehn  in  den  lebhaften  Geberden  un- 
betheiligter  Figuren? 

Auch  in  der  rothfigurigen  Malerei  gibt  es  keine  Lokal- 
pei'sonifikationen  in  dem  spätem  Sinn^).  Die  inschriftlich 
beglaubigte  Nemea  auf  der  Archemorusvase  ist  in  die  Hand- 
lung des  Bildes  verwickelt,  die  Thebe  auf  der  Berliner  Kad- 
niusvase  ist  eine  Gottheit  wie  die  übrigen  dort  anwesenden, 
und  Ismenos  und  Krenaie  auf  einer  andern  Kadmusvase  ha- 
ben auch  noch  mehr  mythologische  Substanz  als  die  Lokal- 
personifikationen der  römischen  Kunst.  Denn  darin  liegt 
eben  der  Unterschied ,  dass  die  genannten  Figuren  der  Va- 
sen nicht  Personifikationen  sind,  sondern  mythologische  We- 
sen, sie  sind  vorgefunden,  nicht  geschaffen,  sie  sind  lebens- 
voller als  die  abstrakten  Figuren  der  spätem  Zeit.  Diese 
sind  reine  Personifikationen  und  geben  schon  durch  ihre 
Stellung  zu  erkennen,  dass  sie  verwachsen  sind  mit  dem 
Lokal,  das  sie  repräsentiren,  sie  sind  passiv  nach  ihrer  Natur 
und  wenn  sie  auch  Theilnahme  zeigen  durch  Geberden,  so 
bleiben  sie  doch  immer  kalt  und  uninteressant  und  scheinen 
entbehrlich.  Urnen  entsprechen  in  griechischer  Kunst  die 
Satyrn  und  Pan.  Denn  durch  diese  mythologischen  Figu- 
ren deutet  der  spätere  —  nicht  der  schw  arzfigurige  —  Va- 
senstil eine  waldige  Landschaft  an.  Und  was  kann  es  Schö- 
neres geben  als  dies  Verfahren!  Diese  Wesen  sind  freie 
Wesen,  sie  brauchen  nicht  langweilig  lang  auf  dem  Boden 
zu  liegen,  sie  können  hüpfen  und  springen  und  wii-ksam  bei- 
tragen ,  um  die  Lebendigkeit  einer  Darstellung  zu  erhöhen. 
Es  sind  die  mythologischen  Wald-  und  Bergbewohner,  nicht 
der  personificirte  Berggott,  es  ist  also  Leben  und  nicht  kalte, 
abstrakte  Personifikation  2) . 


1)  Die  zahlreiclien  Annahmen  dieser  Art  kann,  wer  aufmerksam 
zusieht,  leicht  widerlegen.  0.  Jahn  ■will  auf  einem  Vasen- 
bild,  das  den  Marsyas  darstellt,  eine  Ortsnymphe  erkennen 
(Arch.  Beitr.  p.  281  Anm.  71)',  es  ist  vielmehr  Arterais  mit 
ihrem  Reh. 

2)  Es  ist  hiernach  deutlich,  dass  ich  auch  den  Pan  auf  der  be- 
rühmten   Sonnenaufgangsvase    anders    auffasse    als   Welcker 


249 

Aber  auch  die  griechische  Plastik  steht  hier  im  Gegen- 
satz zur  römischen.  In  der  altern  Plastik  wüsste  ich  mich 
auch  nicht  einer  Lokalpersonifikafion  zu  erinnern.  Denn  die' 
sogenannte  Nymphe  von  Olympia  ist  nach  ihrem  obern  Ge- 
wandstück, das  in  Schnitt  und  Wurf  genau  einer  Aegis 
gleicht,  für  Pallas  zu  halten.  Das  erste  Beispiel  möchte  der 
Berggott  am  farnesischen  Stier  sein,  der  deutlich  charakteri- 
sirt  ist  als  ein  Lokaldämon. 

Es  hat  sich  somit  an  einem  neuen  Beispiel  herausgestellt, 
wie  wenig  Neigung  die  Griechen  zu  lebloser  abstrakter  Per- 
sonifikation haben  im  Gegensatz  zu  den  Römern,  in  deren 
verständigem  Wesen  die  Allegorie  so  \äele  Anknüpfungspunkte 
hat.  Einen  Todesgenius  ,  ich  meine  den  Somnus  aeternus, 
kennen  nur  die  Römer,  eine  Sirene  oder  das  freundlich  weh- 
müthige  Bild  des  Verstorbenen  im  Kreise  der  Seinen,  in  den 
Beschäftigungen  des  Lebens  ,  stellen  die  griechischen  i&rab- 
steine  dar.  Namentlich  aber  hat  die  ältere  griechische  Kunst, 
die  der  durch  Sokrates  begi'ündeten  philosophischen  Geistes- 
richtung, aus  welcher  doch  die  allegorischen  Wesen  als  aus 
ihrem  letzten  Grunde  hervorgegangen  sind^),  vorangeht, 
eine  Abneigung  gegen  die  Allegorie.  Nach  einer  sehr  schö- 
nen Bemerkung  Welcker's^)    malte  Polygnot    die  Sünder  in 


A.  D.  ni,  p.  54,  der  eine  mythologische  Beziehung  des  Pan 
zur  Selene  hineinträgt ,  da  er  doch  in  eiuem  allegorischen 
Naturgemälde,  wie  es  Welcker  selbst  nennt,  nur  „der  Gott 
des  waldigen  Gebirges  sein  kann,  über  dem  die  Sonne  auf- 
geht" (0.  Jahn  Beitr.  p.  67  Anm,  50).  So  wie  in  einem  an- 
dern Sonnenaufgang  verwunderte  Satyrn  das  waldige  Gebirg 
andeuten ,  so  hier  Pan,  und  sein  lebhafter  Gestus  über  den 
ganzen  Vorgang  erhöht  auch  unsre  Theilnahme ,  er  zwingt 
auch  uns  zur  Bewunderung.  An  zahlreichen  Analogien  so- 
wohl für  Pan  als  für  Satyrn  in  dieser  Bedeutung  ist  bekannt- 
lich kein  Mangel. 

1)  Auch  auf  der  Bühne  nahmen  die  Allegorien  immer  mehr 
überhand,  bei  Aristophanes  und  in  den  Prologen  der  neuern 
Komödie. 

2)  Ueber  Polygnot  p.  147. 


250 

Person,  während  später  die  Maler  in  den  Nekyien  den  per- 
sonificirten  Fluch,  Keid,  Streit,  Verläumdung,  Empörung u.  s.w. 
malten,  wie  eine  Stelle  des  Demosthenes  bezeugt.  Es  ist  zu 
vergleichen,  wenn  am  Fussgestell  des  olympischen  Zeus  die 
einzelnen  Kampfarten  der  frühern  Zeit  dargestellt  waren 
nicht  als  Personifikationen ,  sondern  vermittelst  historischer 
oder  genereller  Figuren ,  denn  das  beweist  die  Figur  des 
Pantarkes,  die  sich  unter  ihnen  befand. 


Nachzutragen  und  zu  verbessern  ist  folgendes  :  Zu  p.  45  Anm.  2 
möchte  ich  bestimmter  ausgesprochen  haben,  dass  diejenige  Klasse 
von  Grabmonumenten  ,  welclie  man  gewöhnlich  als  Todtenmahle 
zu  bezeichnen  pflegt,  —  dass  sie  nicht  das  häusliche  Mahl  bezeich- 
nen, scheint  mir  schon  daraus  sehr  deutlich  liervorzugehn,  dass  die 
kleinei'n  Figuren  oft  adorirend  dargestellt  sind  —  sich  hinsicht- 
lich der  Kleinheit  der  Figuren  ganz  an  die  den  Göttern  gewidmeten 
Votivreliefs  anschliesst.  Auf  der  andern  Klasse  der  Grabreliefs  da- 
gegen, welche  den  heroisirten  Verstorbenen  allein  oder  im  Ki'eise 
der  Seinen  darstellen,  beschränkt  sich  die  Kleinheit  auf  die  dienen- 
den Figuren  und  ist  hier  aus  der  untergeordneten  Bedeutung  der- 
selben zu  erklären,  wozu  dann  noch  in  mehreren  Fällen  die  beson- 
dern Raumverhältnisse  hinzukommen.  —  Zu  p.  68  sind  nachzu- 
tragen die  auf  den  Orestesmythus  bezüglichen  römischen  Sarko- 
phagreliefs, wo  das  Heiligthum  der  taurischen  Artemis  durch  aufge- 
hängte menschliche  Köpfe  characterisirt  ist.  —  Von  Druckfehlern 
sind  hervorzuheben  p.  20  Z.  6  v.  u.  „Zoega"  statt  „Zoequ",  p.  32 
Z.  5  v.  o.  „feststeht"  statt  „fesssteht"-,  p.  38  Z.  2  v.  u.  „und  sonst" 
für  „noch  sonst",  p.  42,  Z.  2  v.  u.  „Avellino"  für  „Avellnos",  p.4ß 
Z.  13  V.  o.  „')"  für  „3)",  p.  141  Z.  3  v.  u.  „Gesehenes"  für  „Ge- 
schehenes", p.  160,  Z.  7  v.  0.  „Widerpart"  für  „Wiederpart".  Leich- 
tere Versehn  wird  der  freundliche  Leser  selbst  verbessern. 


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