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Full text of "Principien der Sprachgeschichte"

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UNIVERSITY  OF 
TORONTO  PRESS 


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University  of  Toronto 


http://www.arcliive.org/details/principienderspr02paul 


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PlUNOiriEN 


DER 


SPRACHGESCHICHTE 


VON 


HERMANN   PAUL, 


PKOFliSSOR  DER  UliUTSCllHX  Sl'UACllK  UND  LITERATUR 
AN  DER  UNIVERSITÄT  KREJliUKG. 


ZWEITE    AUFLAGE. 


II A  L  L  E. 
MAX   NIEMEYER 

188«) 


^^  1  \ 


Vorrede. 

Schon  ehe  der  druck  der  ersten  aufläge  vollendet  war,  konnte 
ich  nicht  darüher  in  zweifei  sein,  dass  meine  erörterungen  der  ergänzung 
dringend  bedürftig  seien,  indem  manche  wichtige  selten  des  sprach- 
lehens  darin  nur  flüchtig  berührt  waren.  Ich  fasste  daher  sofort 
eine  solche  ergänzung  ins  äuge  und  war  unablässig  darauf  bedacht 
alles  zusammenzutragen,  was  mir  dazu  dienlich  schien.  Doch  aber 
kam  mir  die  aufforderung  meines  Verlegers  zur  herstellung  einer  zweiten 
aufläge  zu  rasch  und  unerwartet,  als  dass  ich  derselben  sofort  hätte 
folge  leisten  können.  Auch  jetzt  hätte  ich  lieber  noch  gezögert,  um 
manches  besser  ausreifen  zu  lassen.  Ich  musste  aber  schliesslich  doch 
dem  durch  die  reichliche  nachfrage  nach  dem  l)uche  berechtigten 
drängen  des  Verlegers  nachgeben. 

Auch  diese  zweite  aufläge  wird  vor  den  äugen  mancher  fachge- 
nossen nicht  mehr  gnade  finden  als  die  erste.  Die  einen  werden  sie 
zu  allgemein,  die  andern  zu  elementar  finden.  Manche  werden  etwas 
geistreicheres  wünschen.  Ich  erkläre  ein  für  alle  mal,  dass  ich  nur  für 
diejenigen  schreibe,  die  mit  mir  der  Überzeugung  sind,  dass  die  Wissen- 
schaft nicht  vorwärts  gebracht  wird  durch  complicierte  hypothesen, 
mögen  sie  auch  mit  noch  so  viel  geist  und  Scharfsinn  ausgeklügelt  sein, 
sondern  durch  einfache  grundgedaukeu,  die  an  sich  evident  sind,  die 
aber  erst  fi-uchtbar  werden,  wenn  sie  zu  klarem  l)ewusstsein  gebracht 
und  mit  strenger  consequenz  durchgeführt  werden. 

Ohne  erhebliche  Veränderungen  sind  aus  der  ersten  aufläge 
herübergenommen  cap.  13  (=  8),  14  (=  7),  21  (=  13),  23  (=  14), 
auch  9  (=10)  abgesehen  von  der  weglassung  des  letzten  abschnittes. 
dessen  gegenständ  eine  ausführlichere  behandlung  in  cap.  G  gefunden 


IV 

hat.  Etwas  belangreichere  ^■eränderlmgeIl  oder  zusätze  haben  erfahren 
die  einleitung-  (=  cap.  1),  cap.  2  (=  12),  3  (=  3),  noch  mehr  19 
(=  9  von  s.  160  an),  20  {=  11),  10  (=  der  hauptmasse  von  5  und  6). 
Zum  teil  aus  der  ersten  aufläge  herübergenommen,  zum  teil  neu  sind 
(•;i]).  1  (=  2),  5  (=  4)  und  11  {=  stücken  von  5  und  (i).  Ganz  neu 
oder  nur  kurzen  andeutung-en  der  ersten  aufläge  entsprechend  sind 
cap.  4,  G,  7,  8,  12,  15,  IG,  17,  18  und  22. 

Es  war  anfänglich  meine  absieht  noch  ein  methodologisches 
capitel  anzufügen  über  die  Scheidung  des  lautwandels  von  den  durch 
rücksicht  auf  die  function  bedingten  Umgestaltungen  der  lautform.  Ich 
moclite  indessen  nicht  gern  das  widerholen,  was  ich  schon  in  den 
Beiträgen  z.  gesch.  d.  deutschen  spr.  u.  lit.  VI,  I  ff.  ausgeführt  habe. 
Freilich  sehe  ich  sowol  aus  der  sprachwissenschaftlichen  ])raxis  als 
aus  den  theoretischen  erörterungeu  der  letzten  Jahre,  dass  die  dort 
gegebenen  auseinandersetzungen  wenig  beachtung  gefunden  haben. 
Sie  sind  namentlich  von  allen  denjenigen  ignoriert,  welche  geläuguet 
haben,  dass  in  der  methode  der  morphologischen  Untersuchungen 
neuerdings  ein  erheblicher  fortschritt  gemacht  sei. 


Frei  bürg  i.  B.  Juni  188G. 


H.  Paul. 


1  u  h  Ji  1  t. 

Seite 

Einleitiini^ I 

Nutwcndigkoit  einer  allgemeinen  theoretischen  Wissenschaft  (prin- 
ciiiienlehre)  neben  der  Sprachgeschichte  wie  neben  jedem  zweige  der 
geschichtswisseuschaft  1 .  Nähere  bestimmimg  ihrer  aufgäbe  1.  Prin- 
cipienlehre  zugleich  grundlage  für  die  methodeulehre  3.  Ueber- 
tragung  der  in  der  naturwissenschaft  üblichen  betrachtiiugsweise  auf 
die  culturwisseuschaft  '■'>.  Die  Sprachwissenschaft  unter  den  histo- 
rischeu Wissenschaften  der  vollkommensten  methode  fähig  5.  Zu- 
sammenwirken psychischer  und  physischer  factoren  in  aller  cultiir- 
entwickelung  (5.  Culturwisseuschaft  immer  gesellschaftswissenschaft  7. 
Critik  der  Lazarus -Steinthalschen  Völkerpsychologie  b.  Wechsel- 
wirkung der  Seelen  auf  einander  nur  iudirect  durch  physische  Ver- 
mittlung möglich  12.  Verwandlung  indirecter  associatiouen  in  directc 
15.  Eigentümlichkeiten  der  Sprachwissenschaft  gegenüber  andern 
Wissenschaften  IG.  Wissenschaftliche  behandlung  der  spräche  nur 
durch  historische  betrachtung  möglich  li). 

Cap.  I.  Allgemeines  über  das  weseii  der  sprachentivickeliiug  ....  21 
Gegenstand  der  Sprachwissenschaft  2ü.  Organismen  von  vorstel- 
lungsgruppen  die  grundlage  aller  spreclitätigkeit  23.  Die  träger  der 
geschichtlichen  entwickelung  25.  Erfordernisse  tür  die  boschreibung 
eines  sprachzustandes  2(3.  Ursache  für  die  Veränderungen  des  usus 
die  gewöhnliche  Sprechtätigkeit  2it.  Entwickelungsstadien  30.  Klassi- 
ficierung  der  Veränderungen  32.     Grammatik  und  logik  33. 

Cap.  II.    Die  spraehspaltnng 3.5 

Analogieen  aus  der  organischen  natur  35.  Fassung  des  zu  lösen- 
den Problems  37.  Veränderung  und  differenzierung  3S.  Verkehrsver- 
hältnisse 3S.  Spontaneität  und  beeinflussung  39.  Unabhängigkeit 
der  einzelneu  ditferenzierungen  von  einander  40.  Das  bild  einer 
Stammtafel  unzutretl'end  4(t.  Allmählige'  abstufung  der  dialectunter- 
schiede  42.  Sprachtrennuug  43.  l)ie  lautverhältnisse  das  eigentlich 
charakteristische  44.  Kunstsprache,  dichtersprache  45.  Unbegrenztes 
Wachstum  der  mundartlichen  Verschiedenheiten  45. 

Cap.  III.     Der  laiitivandel       46 

Die  bei  der  erzeuguug  der  sprachlaute  tätigen  factoren,  bewe- 
gungsgefühl  und  tonempfindung  46.  ]\Iangel  eines  bewusstseins  von 
den  dementen  des  wortes  47.  Das  wort  eine  continuierlichc  reihe  vun 
unendlich  vielen  lauten  4S.    ControUe  des  gesprochenen  5(1.    Grenzen 


Seite 

dus  untersdu'idiingsverinögcns  5(t.  Ablenkungen  von  der  durch  das 
bewcgungsgetÜhl  angezeigten  richtung  unvermeidlich  51.  Verschie- 
bung des  bew  egungsgefühles  52.  Ursachen  der  ablenkung  5.(.  Bc- 
((ueiuliclikeit  nebenursache,  bewegungsgefühl  liaiiptursache  51.  Con- 
trolle  durch  das  lautbild  55.  Verhältniss  des  einzelnen  zu  seinen 
verkehrsgenossen  5(».  Lautliche  Veränderungen,  die  nicht  auf  Ver- 
schiebung des  bewegungsgefiihles  beruhen  59.  Consequenz  der  laut- 
gcsetze  6(1. 

Cap.  IV.    Wrtudel  der  Wortbedeutung 66 

Bedeutungswandel  gleich  erweiterung  oder  Verengung  66.  Usuelle 
und  occasionelle  bedeutung  G6.  Abstracte  und  concrete  bedeutung 
t)6.  Mehrfache  bedeutung  67.  ]\Iittel,  welche  abstracten  Wörtern 
occasionell  concrete  bedeutung  geben  69.  Mittel  zur  specialisierung 
der  bedeutung  72.  Abweichung  der  occasionellen  bedeutung  von  der 
usuellen  auch  dadurch  mijglicli,  dass  erstere  nicht  alle  elemente  der 
letzteren  einschliesst  7:3.  Uebertragung  auf  das  räumlich,  zeitlich  oder 
causal  mit  der  usuellen  bedeutung  verknüpfte  74.  Veränderung  des 
usus  aus  der  occasionellen  modificatiou  entwickelt  75.  Arten  des  be- 
deutungswandels :  specialisierung  77,  beschränkung  auf  einen  teil  des 
ursprünglichen  Inhalts  SO,  Übertragung  auf  das  räumlich,  zeitlich  oder 
causal  mit  der  älteren  bedeutung  verknüpfte  SO.  Combination  der 
verschiedenen  arten  S2.  Bedeutungswandel  in  wortgruppen  82.  Ab- 
hängigkeit des  bedeutungsinhalts  von  der  bildungsstufe  des  einzelnen 
83  und  des  ganzen  volkes  84. 

Cap.  y.    Analogie 85 

Stoffliche  und  formale  gruppen  s.").  Proportionengruppen:  stotf- 
lich-formale  86,  etymologisch -lautliche  ^7,  syntaktische  S7.  Wirk- 
samkeit der  proportiouengruppen  bei  der  Sprechtätigkeit  (analogie- 
bildung)  8s,  auf  syntaktischem  gebiete  89,  in  Wortbildung  und  flexion 
91.  Abweichung  des  analogisch  gebildeten  vom  usus  92.  Analogie- 
bildung auf  dem  gebiete  des  lautwechsels  95. 

('a|>.  VI.    Die  syntaktischen  grundverliältnisse 99 

Satz  zu  definieren  als  sprachlicher  ausdruck  für  die  Verbindung 
mehrerer  Vorstellungen  99.  Mittel  zur  bezeichnung  der  Verbindung  99. 
Subject  und  prädicat,  i)sycliologisches  und  gramuuatisches  loo.  Mittel 
zur  Unterscheidung  beider:  tonstärke,  Wortstellung  KU.  Concreto 
und  abstracte  sätze  lo;5.  Scheinbar  eingliedrige  sätze  lo;j.  Verba 
impersoiialia  lu5.  Negative  sätze  107.  Aussage- und  aufforderungs- 
sätze  107.  Fragesätze  Hi'.t.  Satzerweiterung  111.  Doppeltes  sub- 
ject  112.  Object  113.  Doppeltes  prädicat  und  entstehuug  der  be- 
stimmung  des  subjects  (objects)  11 3.  Unterschiede  in  der  fuuctiou 
der  bestimuumg  116.  Prädicatives  attribut  116.  Verhältniss  mehrerer 
bestimmungcn  117.  Erweiterungen  durch  Verwendung  eines  satzes 
als  subj.  oder  präd.  11*^.  Vereinigung  von  Selbständigkeit  und  ab- 
hängigkeit  119.  Indirecte  rede  120.  Satz  als  appositiou  zu  einem 
nomcn  12<i,  uomen  zu  einem  satz  121.  Parataxis  121.  Stufenweise 
anuäherung  an  hypotaxis  12.i.  Uebergang  von  aufforderuug  und 
frage  in  hypotaxis  124. 


VII 

Sei  tu 

( iij».  Vll.     lUMleiitiiiim'snaiuloI  iiul"  s.vii1ak1is(li<>iii  «:('l»iot 125 

Vergleiflmiif::  mit  cleiu  \v;uuk'l  der  wurtbe-dcutiinj?,  iiiitiTscliicd 
zwischen  allgemeiner  syntaktiselier  bezieliuug-  und  der  bezieliiing  zu 
einem  bestimmten  worte  125.  Genitiv  und  regierendes  subst.  i2t'.. 
Objectsaceusativ  \i6.  Eection  der  präpnsitioueu  128.  Apitositiun 
und  gen.  partitivus  12S.  Subject  zu  verben  129.  Substant.  und  ad- 
jectiviscbes  präd.  oder  attribnt  130.     Conjunetionen  131. 

Cap.  A'Ill.    Coutainiuation i:)2 

Kegrirt'  132.  Contaminatiou  auf  lautlichem  gebiet  132,  auf  .syn- 
taktischem 133  ff.  Momentane  anomalieen  133,  usuelle  133  ff. 
Pleonasmus  137,  auf  dem  gebiete  der  negation  13S. 

Cap.  IX.     Urschöpfinig Uii 

Bedingungen  zur  ursehüpfung  noch  jetzt  vorhanden  Ud.  Sie 
hat  niemals  ganz  aufgehört  141.  Anwendung  der  auf  andern  ge- 
bieten der  sprachlebeus  gewonnenen  erfahrungen  auf  die  ursehüpfung 
142.  Der  junge  sjjrachstoff  hauptsächlich  bezeichnuugen  tÜr  ge- 
räusche  und  bewegungen  143.  Interjectionen  145.  Ammensprache 
140.  Die  ersten  urschöpfungen  ohne  grammatische  kategorie  147, 
bezeichnen  ganze  anschauuugen  147,  werden  zunächst  ohne  absieht 
der  mitteilung  hervorgebracht  14S.  Unfähigkeit  des  Urmenschen  zu 
willkürlicher  hervorbriugung  von  sprachlauten  149.  Reproduction 
notwendig  für  den  begriff  der  spräche  I5ii.  Unterschied  der  menscli- 
liehen  und  tierischen  spräche  150. 

Cap.  X.    Isolierung  und  reaction  dagegen 152 

Möglichkeit  eines  allgemeingültigen  Systems  der  gruppieiuug  für 
jede  entwickelungsperiode  152.  Wechsel  in  diesem  systeni  152. 
Isolierung  152.  Das  system  lediglich  bedingt  durch  übereinstimnumg 
in  lautgestalt  und  bedeutung  153.  Ursachen  der  Isolierung  153. 
Zerstörung  der  etymologisch -lautlichen  gruppen  153,  der  syntakti- 
schen 154,  der  formalen  und  stofflichen  a)  durch  den  bedeutungs- 
wandel  157,  b)  durch  den  lautwandel  159.  Beaction  mit  hülfe  der 
ausgleichung  161.  Beseitigung  der  durch  die  Stellung  im  satze  ent- 
standenen doppelformigkeit  162.  Ausgleichung  zwischen  lautlich 
differenzierten  formen  aus  gleichem  stamme  oder  Wörtern  aus  gleicher 
Wurzel  (stoffliche  ausgleichung  im  gegensatz  zu  der  formalen)  161. 
Ungleichmässigkeiten  im  eintreten  derselben  in  folge  fördernder  oder 
hemmender  umstände  165:  lautliche  momente  166,  grössere  oder  ge- 
ringere festigkeit  des  Zusammenhangs  16S,  intensität  der  gedächt- 
nissmässigen  einprägung  l7o,  mitwirken  der  formalen  gruppierung 
171.  Verwandlung  eines  zufällig  entstandeneu  bedeutungslosen  Unter- 
schiedes in  einen  bedeutungsvollen  172.  Verwandlung  von  elementen 
des  wortstammes  in  flexionsendungen  177.  Unabsichtlichkeit  aller 
lautlichen  differenzieruug  1  7"?. 

Cap.  XI.    Bildung  neuer  gruppen 179 

Tilgung  von  unterschieden  durch  den  lautwandel  179.  Gänz- 
licher zusammenfall  179.  Zusammentreten  unverwandter  Wörter  zu 
stoftlichen  gruppen:  einfachste  art  der  Volksetymologie  ISO.  Com- 
pliciertere  art  der  Volksetymologie  durch  lautliche  Umformung  182^ 
Zusammenfall  auf  formalem  gebiete   und   folgen  dieses  zusammen- 


vin 


falls   a)   bei   functionclK-r    ^Iciclilidt    18:5,    b)   bei  tnnctionelliir   ver- 
sc-liieiU'nlieit  100. 


Seite- 


(  :i|».  \ll.  KiiiMiiss  der  liindioiisvoräiuU'rung:  auf  die  aualui,'-ioliilduu^-  J,I3 
Eintritt  iu  eine  auderc  gruppe  veräudert  die  richtiiug  der  analogic- 
bildung  WKi.  Folgen  der  Verwandlung  eines  appellativiims  in  einen 
eigennamen  l'.)3,  eines  casus  in  ein  adverbium  H):i,  der  verselimelzung 
einer  syntaktischen  Verbindung  zu  einer  worteiubeit  I!I4.  Erstarrung 
1!I4.  Einwirkung  des  bedeutungswandels  auf  die  construction  19G. 
Unideutuug  einer  construction  unter  dem  einflusse  einer  syno- 
nymen 199. 

(  ap.  XIH.     Verschiobniiiren  in   der  giuppieriiiig  der  etymologiscli  zu- 

sainiiieuliäiigeiideii  Wörter 201 

Die  gruppierung  der  etymologisch  zusammenhängenden  Wörter 
und  formen  in  den  seelen  einer  späteren  geueratiou  muss  vielliich 
anders  ausfiülen,  als  es  der  ursprünglichen  bildungsweisc  entsprechen 
würde;  die  folge  davon  ist  analoglebilduug,  die  aus  dem  gleise  der 
ursprünglichen  bildungsgesetze  heraustritt  21)1.  Beispiele  201.  Ver- 
schmelzung zweier  suffixe  203.  Verschiebung  der  beziehuugeu  in 
der  composition  2().). 

(ap.  XIV.    Bedeiitungsdiffereiizierung 208 

Ursachen  der  entstehung  eines  Überflusses  in  der  spräche  2Ub. 
Tendenz  zur  beseitigimg  alles  Überflusses  2(iS  Blosse  negative  be- 
seitigung  und  positive  nutzbarmachung  2U'.i.  Lautditferenzieruug  zum 
zwecke  der  bedeutuugsdifterenzierung  nur  scheinbar  2 Id.  Arbeiten 
über  doppclworter  210.  Fälle  scheinbarer  differenzierung  211.  Bei- 
spiele wirklicher  dltferenzierung  212.  Verwandte  Vorgänge  in  folge 
partieller  gleichheit  der  bedeutung  210.  Syntaktische  differen- 
zierung 2  IS. 

(ap.  XV.    rsycliologisclie  iiud  ^rauimatisclie  kategorie 219 

Die  anfängliche  harmonie  zwischen  psychologischer  und  gram- 
matischer kategorie  wird  im  laufe  der  zeit  gestört  und  sucht  sich 
dann  wider  herzustellen;  die  beobachtung  dieser  Vorgänge  gibt  be- 
lehrung  über  die  ursprüngliche  entstehimg  der  grammatischen  kate- 
gorieen  21!'.  Die  einzelnen  kategorieen:  geschlecht  219,  numerus 
221,  tempus  227,  genus  des  verbums  232. 

(  ajt.  XVI.     Verschiebinig  der  syutalitischeii  gliederiiiig 234 

Widerstreit  zwischen  psychologischer  und  grammatischer  gliede- 
rung  23 1.  Zweigliedrigkeit  und  vielgliedrigkeit  234.  Psychologisches 
prädicat  235,  subject  und  bindeglieder  23fi.  Satzglieder,  die  regel- 
mässig psychologisches  subj.  oder  präd.  sind  23T.  Umschreibungen 
zur  Vermeidung  des  Widerstreits  2:is.  Au.sgleichung  des  Wider- 
streits 23'«.  Psychologisches  verhältniss  der  adverbialen  bestim- 
mungen  239.  .Seltenheit  des  Widerstreits  in  sprachen  von  geringer 
formaler  ausbildung  24o.  Rollcntausch  zwischen  dem  bestimmten 
und  der  bestimmung  24(i.  Auseinanderreissnng  des  grammatisch 
eigentlich  zusammengehörigen:  adjectivum  und  abhängiger  genitiv 
242,  substantivum  und  genitiv  243,  verbnm  und  adverbium  244, 
Infinitiv   und  davon  abhängiges  glied   245.    Enstehung  der  verbin- 


IX 


(limgswiJrter  245.  Verwandlung'  von  indirecter  bczielniug:  in  direc-tc 
2  l(i.  Ein  glied,  was  zu  zwei  verbundenen  gliedern  geli()rt.  wird  zum 
ersten  gezogen  und  zu  der  verbinduugspartiUel  in  relation  gesetzt 
247.  Verschiebungen  im  zusammengesetztin  satz  2  is  \Y.  Uol)ergang 
von  abliäugigkeit  zur  Selbständigkeit  2  Ui.  Umkelirung  des  Verhält- 
nisses von  haui)t-  und  uebensatz  250.  Durehbreehung  der  grenzen 
zwischen  haupt-  und  nebeusatz  25U. 

Cap.  XVII.    Congrueuz 255 

Cougrueuz  ausgegangen  von  solchen  tallen,  in  denen  die  Über- 
einstimmung des  einen  wertes  mit  dem  andern  ohne  rücksichtnahmc 
auf  dasselbe  sich  ergeben  hat,  und  von  da  analogisch  auf  andere 
fälle  übertragen  255.  Fälle,  in  denen  seeundäre  entstehung  der  con- 
gruenz  historisch  verfolgbar  ist  255.  Schwanken  der  cougrueuz 
zwischen  zwei  Satzteilen  258.    Erste  griindlagen  der  congruenz  2(i(i. 

Va\>.  XVIII.     Sparsamkeit  im  aiisdniclc 2ti2 

Sparsamere  oder  reichlichere  Verwendung  der  sprachlichen  mittel 
vom  bedürfniss  abhängig  2()2.  Die  ansetzung  von  ellipsen  ist  ent- 
weder auf  ein  minimum  einzuschränken  oder  aber  anzuerkennen, 
dass  es  zum  wesen  des  sprachlichen  ausdrucks  gehört  elliptisch  zu 
sein  202.  Ergänzung  aus  dem  vorhergehenden  oder  folgenden  20;j. 
Fehlen  von  mittelgliedern   26S.     Ergänzung  aus  der  Situation  271. 

Cap.  XIX.    Entstellung  der  wortbilduug  uud  flexiou 274 

Eutstehungsweise  der  etymologischen  gruppen  274.  Normale 
entstehungsweise  alles  formellen  in  der  spräche  ist  die  composition 
274.  Entstehung  der  composition  aus  den  verschiedenartigsten  wort- 
gruppen  275.  Relativität  des  Unterschiedes  zwischen  compositum 
und  wortgruppe  277.  Die  lu-sache,  wodurch  eine  wortgruppe  zum 
compositum  wird,  ist  nicht  engerer  anschluss  in  der  ausspräche  oder 
accent,  sondern  eine  isolierung  der  Verbindung  gegenüber  ihrem 
teilen  277.  Entstehung  von  compositis  aus  copulativen  Verbindungen 
279,  aus  der  Verbindung  eines  substantivums  mit  einer  bestimmung 
281,  eines  verbums  mit  einem  adverbium  287,  mit  einem  objects- 
accusativ  289,  mit  einer  präpositionellen  bestimmung  29(i.  Complexe, 
die  ohne  zusammengeschrieben  zu  werden  doch  eigenschaften  eines 
compositums  zeigen  29u.  Coordination  von  compositionsglied  und 
selbständigem  wort  29(».  Lautveränderungen  mit  isolierender  Wir- 
kung 291.  Grenzen,  innerhalb  deren  ein  compositum  noch  als  solches 
erscheint  292.  Ursprung  der  ableitungs-  und  flexioussuftixe  294. 
Kritik  der  analyse  indogermanischer  grundformen  297. 

Cap.  XX.    Die  Scheidung  der  redeteile 299 

Die  Scheidung  der  redeteile  beruht  nicht  auf  streng  durchge- 
führten logischen  principien  299.  Berücksichtigt  sind  dabei  bedeu- 
tung  an  sich,  function  im  Satzgefüge,  verhalten  in  bezug  auf  flexion 
und  Wortbildung  299.  Kritik  der  üblichen  einteiluug  299.  Zwischen- 
stufen uud  Übergang  zwischen  den  einzelnen  redeteilen  H(i2  ff.  Subst. 
und  adj.  3U2.  Nomen  und  verbum  307.  Participium  M)~.  Nomen 
ageutis  809.  Nomen  actionis  .ilo.  Infinitiv  310.  Adverbium  und 
adjectivum  312.    Präpositionen  und  conjunctionen  315. 


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Cap.  XXI.    Sprache  iiud  sclirift 32o 

\oT7A\ge  und  luängel  der  schrift  gegenüber  der  rede  320.  Lei- 
stmigstahigkelt  der  üblichen  alphabcte  321.  Verdeckung  der  mund- 
artlichen Verschiedenheiten  durch  die  schrift  32G.  Unilihigkeit  der 
Schrift  als  controlle  gegen  lautveränderungen  zu  dienen  327.  Ver- 
selbständigung der  schrift  gegen  die  ausspräche  327,  im  zusammen- 
hange mit  der  entwickehmg  zu  grösserer  constauz  in  der  Schreibung 
329.  Mittel  zur  erreichung  dieser  constanz  329.  Aualogieen  zwischen 
der  entwickelung  der  schrift  und  der  spräche  330.  Beseitigung  des 
Schwankens  zwischen  gleichwertigen  lautzeicheu  330.  Einwirkung 
der  etymologie  332.   Zurückbleiben  der  schrift  hinter  der  ausspräche. 

Cap.  XXII.     Spraclimiscluiug 337 

.Sprachmischung  im  weitern  und  engern  sinne  337.  Mischung 
verschiedener  sprachen,  mundarteu,  zeitstufen  337.  Ausgang  der 
inischung  von  den  einzelnen  Individuen  337.  Zweisprachigkeit  338. 
Zwei  hauptarten  der  beeinflussung  durch  ein  fremdes  idiom  339. 
A)  Aufnahme  fremden  Sprachmaterials  399  ff.  Veranlassungen  zur 
aufnähme  fremder  Wörter  339.  Stufen  der  eiubürgerung  340.  Be- 
handlung des  fremden  lautmaterials  340.  Assimilierung  der  schon 
aufgenommenen  Wörter  342.  Mehrfache  entlehnung  des  nämlichen 
Wortes  344.  Widerangleichung  eines  lehnwortes  an  sein  original  344. 
Concurrenz  mehrerer  sprachen  bei  der  entlehnung  345.  Pleouastische 
Verbindung  eines  einheimischen  suffixes  mit  einem  fremden  345.  Ent- 
lehnung von  ableitungs-  und  flexionssuffixen  346.  B)  Beeinflussung 
der  inneren  sprachform  347  ff.  Dialectmischung  348.  Entlehnung 
aus  einer  älteren  sprachstufe  349. 

("ap.  XXIII.    Die  genieinsprache 350 

Die  gemeinsprache  nichts  reales,  sondern  nur  eine  ideale  norm 
350,  bestimmt  durch  den  usus  eines  engen  kreises  351.  Schriftsprache 
und  Umgangssprache  351.  Bühnensprache  352.  Regelung  der  Schrift- 
sprache 353.  Discrepanz  zwischen  schrift-  und  Umgangssprache  350. 
Natürliche  und  künstliehe  spräche  357.  Verschiebungen  in  dem  Ver- 
hältnisse der  Individuen  zur  gemeinsprache  357.  Zwischenstufen 
zwischen  gemeinsprache  und  mundart  302.  Entstehung  der  gemein- 
sprache 3(53. 


Yerzeichiiiss  von  Al)liürzuiijj:oii. 

Alulr.  Volksot.  —  Andresi^ii   über    aeiitsclie    volksetyniolosit'.     Vierte    aiit'liige. 
Ileilbronn  188H. 
Andr.  Spr.  =  Andresen,  Spraehgebraiu-li  und  spriichriclitigkeit  im  deiitselien. 
Dritte  aufläge.     Heilbroiin  iss;;. 
Delbriiek  ÖF.  =  Delbriiek,  Syntaktische  forseliiingen. 

Diez  =  Diez,  Graniniatik  der  ronianiselien  spraelien  (Vierte  aiiriage). 
Draeg.oderüraeger  =  Draeger,  Historiselie  syntax  der  lat«Mniselieii  spräche  (zweite 
aufläge). 
DWb.  =  Deutsches  Wörterbuch  von  Jac.  und  Wilh.  (h-inuii. 
(Joe.  =  Goethe. 
Le.  =  Lessing. 
Lu.  =  Luther. 
Madvig,  Kl.  sehr.  =  Madvig,  Kleine  Schriften. 

Miitzner  engl.  =  Miitzner,  Englische  gramniatik  (zwt;ite  aufläge). 
Mätzner  franz.  =  Miitzner,  Syntax  der  neufranzösischen  spräche. 
Michaelis  =  Caroline  Michaelis,  Roiuanische  Wortschöpfung. 
Morph.  Tut.  =.  Morphologische    untersuclumgen   auf  dem   gebiete  der  indo- 
germanischen sprachen  von  Osthoff  und  Brugmann. 
Schi.  =  Schiller. 
Sh.  =  Shakespear. 
Steinthal,  Haupttyp.  oder  Typen  ^  Steinthal,    CÜiaracteristik    der   haupttypon    des 
menschlichen  Sprachbaus. 
Wegener  =  Wegener,  Untersuchungen  über  die  grimdfragen  des  sprach- 
lebens,  Halle  188.i. 
Ziemer  =  Ziemer,   Junggramnnrtische  streifzüge  im  gebiete  der  syntax. 
Colberg  1882. 
Ziemer,  Comp.  =  Ziemer,    Vergleichende    syntax    der    indogermanischen    com- 
paration,  Berlin  1884. 
Zschr.   f.  Völkerps.  =  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie,   herausg.  von  Lazarus  und 
Steinthal. 


Einleitung. 

Die  spräche  ist  wie  jedes  erzeugniss  meuselilieher  eultur  ein 
gegeustaud  der  gesebiclitlicheu  betraehtimg;  aber  wie  jedem  zweige 
der  g-esebichtswissenscbaft  so  uiuss  aueli  der  Sprachgeschichte  eiue 
Wissenschaft  zur  seite  stehen,  welche  sich  mit  den  allgemeinen 
lebensbedingungen  des  geschichtlich  sich  entwickelnden  ob- 
jectes  beschäftigt,  welche  die  in  allem  Wechsel  sich  gleich 
bleibenden  factoren  nach  ihrer  natur  und  Wirksamkeit  unter- 
sucht. Es  fehlt  für  diese  Wissenschaft  eine  allgemein  gültige  und 
passende  bezeichnung.  Unter  Sprachphilosophie  versteht  man  in  der 
regel  doch  etwas  anderes.  Und  ausserdem  dürfte  es  vielleicht  aus 
einem  gründe  geraten  sein  diesen  ausdruck  lieber  zu  vermeiden.  Unser 
unphilosophisches  Zeitalter  wittert  darunter  leicht  metaphysische  specu- 
lationeu,  von  denen  die  historische  Sprachforschung  keine  notiz  zu 
nehmen  brauche.  In  Wahrheit  aber  ist  das,  was  wir  im  sinne  haben, 
nicht  mehr  und  nicht  minder  i)hilosophie  als  etwa  die  physik  oder  die 
Physiologie.  Am  allerwenigsten  darf  man  diesem  allgemeinen  teile  der 
Sprachwissenschaft  den  historischen  als  den  empirischen  gegenüber- 
stellen.   Der  eine  ist  gerade  so  empirisch  wie  der  andere. 

Nur  selten  genügt  es  zum  verständniss  der  geschichtlichen  ent- 
wickelung  eines  gegenständes  die  gesetze  einer  einzelnen  einfachen 
experimentalwisseuschaft  zu  kenneu;  vielmehr  liegt  es  in  der  natur 
aller  geschichtlichen  bewegung,  zumal  wo  es  sich  um  irgend  einen 
zweig  menschlicher  eultur  handelt,  dass  dabei  sehr  verschiedenartige 
kräfte,  deren  weseu  zu  ergründen  die  aufgäbe  sehr  verschiedener 
Wissenschaften  ist,  gleichzeitig  in  stätiger  Wechselwirkung  ihr  spiel 
treiben.  Es  ist  somit  natürlich,  dass  eiue  solche  aligemeine  Wissen- 
schaft, wie  sie  einer  jeden  historischen  Wissenschaft  als  genaues  pendant 
gegenübersteht,  nicht  ein  derartig  abgeschlossenes  ganzes  darstellen 
kann,  wie  die  sogenannten  exacten  uaturwissenschaften,  die  mathe- 
matik  oder  die  psychologie.  Vielmehr  bildet  sie  ein  conglomerat,  das 
aus   verschiedenen   reinen  gesetzwissenschafteu   oder  in   der  regel  aus 

Paul,  Principien.    11.  Auflage.  1 


Segmenten  solcher  Wissenschaften  zusammengesetzt  ist.  Man  wird 
vielleicht  bedenken  tragen  einer  solchen  Zusammenstellung,  die  immer 
den  Charakter  des  zufälligen  an  sich  trägt,  den  namen  einer  Wissen- 
schaft beizulegen.  Aber  mag  man  darüber  denken,  wie  man  will,  das 
geschichtliche  Studium  verlangt  nun  einmal  die  vereinigte  beschäftigung 
mit  so  disparaten  dementen  als  notwendiges  hülfsmittel,  wo  nicht 
selbständige  forschung,  so  doch  aneignung  der  von  andern  gewonnenen 
resultate.  Man  würde  aber  auch  sehr  irren,  wenn  man  meinte,  dass 
mit  der  einfachen  Zusammensetzung  von  stücken  verschiedener  Wissen- 
schaften schon  diejenige  art  der  Wissenschaft  gegeben  sei,  die  wir  hier 
im  äuge  haben.  Nein,  es  bleiben  ihr  noch  aufgaben,  um  welche  sich 
die  gesetzeswissenschaften,  die  sie  als  hülfsmittel  benutzt,  nicht  be- 
kümmern. Diese  vergleichen  ja  die  einzelnen  Vorgänge  unbekümmert 
um  ihr  zeitliches  verhältniss  zu  einander  lediglich  aus  dem  gesichts- 
punkte  die  Übereinstimmungen  und  abweichungen  aufzudecken  und  mit 
hülfe  davon  das  in  allem  Wechsel  der  erscheinungen  ewig  sich  gleich 
bleibende  zu  finden.  Der  begriff  der  entwickelung  ist  ihnen  völlig 
fremd,  ja  er  scheint  mit  ihren  principien  unvereinbar,  und  sie  stehen 
daher  in  schroffem  gegensatze  zu  den  geschiehtswissenschaften.  Diesen 
gegensatz  zu  vermitteln  ist  eine  betrachtungsweise  erforderlich,  die 
mit  mehr  recht  den  namen  einer  geschichtsphilosophie  verdienen  würde, 
als  das,  was  man  gewöhnlich  damit  bezeichnet.  Wir  wollen  aber  auch 
hier  das  wort  philosophie  lieber  vermeiden  und  uns  der  bezeichnung 
principienwissenschaft  bedienen.  Ihr  ist  das  schwierige  problem 
gestellt:  wie  ist  unter  der  Voraussetzung  constanter  kräfte  und  Ver- 
hältnisse doch  eine  geschichtliche  entwickelung  möglich,  ein  fortgang 
von  den  einfachsten  und  primitivsten  zu  den  compliciertesten  gebilden? 
Ihr  verfahren  unterscheidet  sich  noch  in  einer  andern  hinsieht  von 
dem  der  gesetzeswissenschaften,  worauf  ich  schon  oben  hindeutete. 
Während  diese  naturgemäss  immer  die  Wirkung  jeder  einzelnen  kraft 
aus  dem  allgemeinen  getriebe  zu  isolieren  streben,  um  sie  für  sich  in 
ihrer  reinen  uatur  zu  erkennen,  und  dann  durch  aneinanderreihen  des 
gleichartigen  ein  System  aufbauen,  so  hat  im  gegenteil  die  geschichtliche 
principienlehre  gerade  das  ineinandergreifen  der  einzelnen  kräfte  ins 
äuge  zu  fassen,  zu  untersuchen,  wie  auch  die  verschiedenartigsten,  um 
deren  verhältniss  zu  einander  sich  die  gesetzeswissenschaften  so  wenig 
als  möglich  kümmern,  durch  stätige  Wechselwirkung  einem  gemein- 
samen ziele  zusteuern  können.  Selbstverständlich  muss  man,  um  das 
ineinandergreifen  des  mannigfaltigen  zu  verstehen,  möglichst  klar  da- 
rüber sein,  welche  einzelnen  kräfte  dabei  tätig  sind,  und  welches  die 
natur  ihrer  Wirkungen  ist.  Dem  zusammenfassen  muss  das  isolieren 
vorausgegangen   sein.      Denn    so   lange   man   noch  mit  unaufgelösten 


eomplicatiüuen  rechnet,  ist  mau  uoeli  uieht  zu  einer  wissenschaftlichen 
Verarbeitung  des  Stoffes  durchgedrungen.  Es  ist  somit  klar  dass  die 
priueipienwissenschaft  in  unserm  sinne  zwar  auf  der  ])asis  der  experi- 
mentellen gesetzeswissenschaften  (wozu  ich  natürlich  auch  die  Psycho- 
logie rechne)  ruht,  aber  doch  auch  ein  gewichtiges  mehr  enthält,  was 
uns  eben  berechtigt  ihr  eine  selbständige  Stellung  neben  jenen  anzuweisen. 

Diese  grosse  Wissenschaft  teilt  sich  in  so  viele  zweige,  als  es 
zweige  der  specielleu  geschichte  gibt,  geschichte  hier  im  weitesten 
sinne  genommen  und  nicht  auf  die  eutwickelung  des  menschenge- 
schlechtes  beschränkt.  Es  ist  von  vornherein  zu  vemiuten,  dass  es 
gewisse  allgemeine  grundbedingungen  geben  wird,  welche  für  jede  art 
der  geschichtlichen  entfaltung  die  notwendige  unterläge  bilden;  noch 
sicherer  aber  ist,  dass  durch  die  besondere  natur  eines  jeden  objectes 
seine  entwickelung  in  besonderer  weise  bedingt  sein  muss.  Wer  es 
unternimmt  die  prineipien  irgend  einer  einzelnen  geschichtlichen  dis- 
ciplin  aufzustellen,  der  muss  auf  die  übrigen,  zumal  die  nächstver- 
wandten zweige  der  gesehichtswissenschaft  beständige  rücksicht  nehmen, 
um  so  die  allgemeinsten  leitenden  gesichtspunkte  zu  erfassen  und  nicht 
wider  aus  den  äugen  zu  verlieren.  Aber  er  muss  sich  auf  der  andern 
Seite  davor  hüten  sich  in  blosse  allgemeinheiten  zu  verirren  und  darüber 
die  genaue  anpassuug  an  den  speciellen  fall  zu  versäumen,  oder  die 
auf  andern  gebieten  gewonnenen  resultate  in  bildlicher  anwendung  zu 
überü-agen,  wodurch  die  eigentlich  zu  ergründenden  reellen  Verhält- 
nisse nur  verdeckt  werden. 

Erst  durch  die  begründung  solcher  principienwissenschaften  erhält 
die  specielle  geschichtsforsehung  ihren  rechten  wert.  Erst  dadurch  er- 
hebt sie  sich  über  die  aneinanderreihung  scheinbar  zufälliger  daten 
und  nähert  sich  in  bezug  auf  die  allgemeingültige  bedeutung  ihrer 
resultate  den  gesetzeswissenschaften,  die  ihr  gar  zu  gern  die  eben- 
büi-tigkeit  sti-eitig  machen  möchten.  Wenn  so  die  prineipienwissenschaft 
als  das  höchste  ziel  erscheint,  auf  welches  alle  anstrengungen  der 
Specialwissenschaft  gerichtet  sind,  so  ist  auf  der  andern  seite  wider 
die  erstere  die  unentbehrliche  leiterin  der  letzteren,  ohne  welche  sie 
mit  Sicherheit  keinen  schritt  tun  kann,  der  über  das  einfach  gegebene 
hinausgeht,  welches  doch  niemals  anders  vorliegt  als  einerseits  frag- 
mentarisch, anderseits  in  verwickelten  complicationen ,  die  erst  gelöst 
werden  müssen.  Die  aufhellung  der  bedingungen  des  ge- 
schichtlichen Werdens  liefert  neben  der  allgemeinen  logik 
zugleich  die  grundlage  für  die  methodenlehre,  welche  bei  der 
feststellung  jedes  einzelnen  factums  zu  befolgen  ist. 

Mau  hat  sich  bisher  keineswegs  auf  allen  gebieten  der  historischen 
forschung  mit  gleichem  ernst  und  gleicher  gründlichkeit  um   die  prin- 


cipieufrageu  bemüht.  Für  die  historiselieu  zweige  der  naturwissen- 
sebaft  ist  dies  in  viel  höherem  masse  geschehen  als  für  die  cultur- 
g-esehichte.  Ursache  ist  einerseits,  dass  sich  bei  der  letzteren  viel 
grössere  Schwierigkeiten  in  den  weg  stellen.  Sie  hat  es  im  allgemeinen 
mit  viel  complicierteren  faetoren  zu  tun,  deren  gewirr,  so  lange  es 
nicht  aufgelöst  ist,  eine  exacte  erkenntniss  des  causalzusammenhangs 
unmöglich  macht.  Dazu  kommt,  dass  ihre  wichtigste  unterläge,  die 
experimentelle  psychologie  eine  Wissenschaft  von  sehr  jungem  datum 
ist,  die  man  nur  eben  angefangen  hat  in  beziehung  zur  geschichte  zu 
setzen.  Anderseits  aber  ist  in  dem  selben  masse,  wie  die  Schwierigkeit 
eine  grössere,  das  bedürfniss  ein  geringeres  oder  mindestens  weniger 
fühlbares  gewesen.  Für  die  geschichte  des  menschengeschlechts  haben 
immer  von  gleichzeitigen  zeugen  herstammende,  wenn  auch  vielleicht 
erst  mannigfach  vermittelte  berichte  über  die  tatsachen  als  eigentliche 
quelle  gegolten  und  erst  in  zweiter  linie  denkmäler,  producte  der 
menschlichen  cultur,  die  annähernd  die  gestalt  bewahrt  haben, 
welche  ihnen  dieselbe  gegeben  hat.  Ja  man  spricht  von  einer  histo- 
rischen und  einer  prähistorischen  zeit,  und  bestimmt  die  grenze  durch 
den  beginn  der  historischen  Überlieferung.  Für  die  erstere  ist  daher 
das  bild  einer  geschichtlichen  entwickelung  bereits  gegeben,  so  entstellt 
es  auch  sein  mag,  und  es  ist  leicht  begreiflich,  wenn  die  Wissenschaft 
mit  einer  kritischen  reinigung  dieses  bildes  sich  genug  getan  zu  haben 
glaubt  und  sogar  geflissentlich  alle  darüber  hinaus  gehende  speculation 
von  sich  abweist.  Ganz  anders  verhält  es  sich  mit  der  prähistorischen 
periode  der  menschlichen  cultur  und  gar  mit  der  entwickelungsge- 
schichte  der  organischen  und  anorganischen  natur,  die  in  unendlich 
viel  ferner  liegende  zeiten  zurückgreift.  Hier  ist  auch  kaum  das  ge- 
ringste geschichtliche  dement  als  solches  gegeben.  Alle  versuche  einer 
geschichtlichen  erfassung  bauen  sich,  abgesehen  von  dem  wenigen,  was 
von  den  beobachtungen  früherer  zeiten  überliefert  ist,  lediglich  aus 
rückschlüssen  auf.  Und  es  ist  überhaupt  gar  kein  resultat  zu  gewinnen 
ohne  erledigung  der  principiellen  fragen,  ohne  feststellung  der  allge- 
meinen bedingungen  des  geschichtlichen  werdens.  Diese  principiellen 
fragen  haben  daher  immer  im  mittelpunkte  der  Untersuchung  gestanden, 
um  sie  hat  sich  immer  der  kämpf  der  meiuungen  gedreht.  Gegen- 
wärtig ist  es  das  gebiet  der  organischen  natur,  auf  welchem  er  am 
lebhaftesten  geführt  wird,  und  es  muss  anerkannt  werden,  dass  hier 
die  für  das  verständniss  aller  geschichtlichen  entwickelung,  auch  der 
des  menschengeschlechtes  fruchtl)arsten  gedauken  zuerst  zu  einer  ge- 
wissen klarheit  gediehen  sind. 

Die   tendenz   der   Wissenschaft  geht  jetzt  augenscheinlich  dahin 
diese  speculative  betrachtuugsweise  auch  auf  die  culturgeschichte  aus- 


zudehneu,  und  wir  sind  überzeugt,  dass  diese  tendenz  mehr  und  mehr 
durehdring-en  wird  trotz  allem  activen  und  passiven  widerstände,  der 
dagegen  geleistet  wird.  Dass  eine  solehe  bebandlungsweise  für  die 
eulturwissensebaft  niebt  gleieb  unentbebrliebes  bedürfniss  ist  wie  für 
die  naturwissensebaft,  und  dass  man  von  ibr  für  die  erstere  niebt 
gleieb  weit  gebende  erfolge  erwarten  darf  wie  für  die  letztere,  ba1)en 
wir  ja  bereitwillig  zugegeben.  Aber  damit  sind  wir  niebt  der  ver- 
pfliebtung  entboben  genau  zu  prüfen,  wie  weit  wir  gelangen  können, 
und  selbst  das  eventuelle  negative  resultat  dieser  prüfung,  die  genaue 
lixierung  der  sebranken  unserer  erkenntuiss  ist  unter  umständen  von 
grossem  werte.  Wir  baben  aber  aucb  noch  gar  keine  ursacbe  daran 
zu  verzweifeln,  dass  sieb  niebt  wenigstens  für  gewisse  gebiete  aueb 
bedeutende  positive  resultate  gewinnen  Hessen.  Am  wenigsten  aber 
darf  man  den  methodologiseben  gewinn  geringscbätzen,  der  aus 
einer  klarlegung  der  prineipienfragen  erwäebst.  Man  befindet  sieb  in 
einer  selbsttäusebung ,  wenn  man  meint  das  einfacbste  bistoriscbe 
factum  obne  eine  zutat  von  speculation  constatieren  zu  können.  Man 
speculieii;  eben  nur  unbewusst  und  es  ist  einem  glücklieben  instinete 
zu  verdanken,  wenn  das  richtige  geti'oifen  wird.  Wir  dürfen  wol  be- 
haupten ,  dass  bisher  auch  die  gangbaren  metboden  der  historischen 
forschung  mehr  durch  instinct  gefunden  sind  als  durch  eine  auf  das 
innerste  wesen  der  dinge  eingehende  allseitige  reflexion.  Und  die 
natürliche  folge  davon  ist,  dass  eine  menge  willkürlichkeiten  mit  unter- 
laufen, woraus  endloser  streit  der  meinungen  und  schulen  entsteht. 
Hieraus  gibt  es  nur  einen  ausweg:  man  muss  mit  allem  ernst  die 
zurückführung  dieser  metboden  auf  die  ersten  grundprincipien  in  an- 
griff nehmen  und  alles  daraus  beseitigen,  was  sich  nicht  aus  diesen 
ableiten  lässt.  Diese  principien  aber  ergeben  sich,  soweit  sie  nicht 
rein  logischer  natur  sind,  eben  aus  der  Untersuchung  des  w^eseus  der 
historischen  entwickelung. 

Es  gibt  keinen  zweig  der  cultur.  bei  dem  sich  die  bedingungen 
der  entwickelung  mit  solcher  exactbeit  erkennen  lassen  als  bei  der 
spräche,  und  daher  keine  culturwissenschaft,  deren  methode  zu  solchem 
grade  der  Vollkommenheit  gebracht  werden  kann  wie  die  der  Sprach- 
wissenschaft. Keine  andere  hat  bisher  so  weit  über  die  grenzen  der 
Überlieferung  hinausgreifen  können,  keine  andere  ist  in  dem  masse 
speculativ  und  constructiv  verfahren.  Diese  eigentümlicbkcit  ist  es 
hauptsächlich,  wodurch  sie  als  nähere  verwandte  der  historischen  natur- 
wissenschaften  erscheint,  was  zu  der  Verkehrtheit  verleitet  bat  sie  aus 
dem  kreise  der  eulturwissenscbaften  ausschliessen  zu  wollen.  Trotz 
dieser  Stellung,  welche  die  Sprachwissenschaft  schon  seit  ihrer  be- 
grüudung  einnimmt,  scheint  noch  viel  daran  zu  fehlen,  dass  ihre  me- 


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tliode  schon  bis  zu  demjenigen  grade  der  Vollkommenheit  ausgebildet 
wäre,  dessen  sie  fähig  ist.  Eben  Jetzt  sucht  sich  eine  richtung  bahn 
zu  brechen,  die  auf  eine  tiefgreifende  Umgestaltung  der  methode  hin- 
drängt. Bei  dem  sti-eite,  der  sich  darüber  entsponnen  hat,  ist  deutlich 
zu  tage  getreten,  wie  gross  noch  bei  vielen  Sprachforschern  die  Unklar- 
heit über  die  demente  ihrer  w'issenschaft  ist.  Eben  dieser  streit  ist 
auch  die  nächste  veranlassung  zur  entstehung  dieser  abhandlung.  Sie 
will  ihr  möglichstes  dazu  beitragen  eine  klärung  der  anschauungen 
herbeizuführen  und  eine  Verständigung  wenigstens  unter  allen  den- 
jenigen zu  erzielen,  welche  einen  offenen  sinn  für  die  Wahrheit  mit- 
bringen. Es  ist  zu  diesem  zwecke  erforderlich  möglichst  allseitig  die 
bedingungen  des  sprachlebens  darzulegen  und  somit  überhaupt  die 
grundlinieu  für  eine  theorie  der  sprachentwickelung  zu  ziehen. 


Wir  scheiden  die  historischen  Wissenschaften  im  weiteren  sinne 
in  die  beiden  hauptgruppen :  historische  naturwissenschaften 
und  eultur Wissenschaften.  Als  das  charakteristische  kennzeichen 
der  eultur  müssen  wir  die  betätigung  psychischer  factoren  bezeichnen. 
Dies  scheint  mir  die  einzig  mögliche  exacte  abgrenzung  des  gebietes 
gegen  die  objecte  der  reinen  naturwissenschaft  zu  sein.  Demnach 
müssen  wir  allerdings  auch  eine  tierische  eultur  anerkennen,  die  ent- 
wickelungsgeschichte  der  kunsttriebe  und  der  gesellschaftlichen  Orga- 
nisation bei  den  tieren  zu  den  culturwisseuschaften  rechnen.  Für  die 
richtige  beurteilung  dieser  Verhältnisse   dürfte  das  nur  förderlieh  sein. 

Das  psychische  dement  ist  der  wesentlichste  factor  in 
aller  culturbewegung,  um  den  sich  alles  dreht,  und  die 
Psychologie  ist  daher  die  vornehmste  basis  aller  in  einem 
höheren  sinne  gefassten  culturwissenschaft.  Das  psychische 
ist  darum  aber  nicht  der  einzige  factor;  es  gibt  keine  eultur 
auf  rein  psychischer  unterläge,  und  es  ist  daher  mindestens 
sehr  ungenau  die  culturwisseuschaften  als  geisteswissenschaften  zu 
bezeichnen.  In  Wahrheit  gibt  es  nur  eine  reine  geisteswisseuschaft, 
das  ist  die  psychologie  als  gesetzwissenschaft.  Sowie  wir  das  gebiet 
der  historischen  entwickelung  betreten,  haben  wir  es  neben  den  psy- 
chischen mit  physischen  kräften  zu  tun.  Der  menschliche  geist 
muss  immer  mit  dem  menschlichen  leil)e  und  der  umgebenden  natur 
zusammenwirken  um  irgend  ein  culturproduct  hervorzubringen,  und 
die  beschaflfenheit  desselben,  die  art,  wie  es  zu  stände  kommt,  hängt 
eben  so  wol  von  physischen  als  von  psychischen  bedingungen  ab;  die 
einen  wie  die  andern  zu  kennen  ist  notwendig  für  ein  vollkommenes 
verständniss  des  geschichtlichen  werdens.    Es  bedarf  daher  neben  der 


psyeholog-ie  auch  eiucr  kenntuiss  der  gesctze,  nach  denen  h\q\\  die 
physischen  faetoreu  der  cultnr  bewegen.  Auch  die  natiirwissenseliaften 
und  die  mathematik  sind  eine  notwendige  basis  der  eultiirwissen- 
sehaften.  Wenn  uns  das  im  allgemeinen  nieht  zum  bewusstsein  kommt, 
so  liegt  das  daran,  dass  wir  uns  gemeiniglich  mit  der  unwissen- 
schaftlichen beobachtung  des  täglichen  lebens  begnügen  und  damit 
auch  bei  dem,  was  man  gewidinlich  unter  geschichte  versteht,  leidlich 
auskommen.  Ist  es  doch  dabei  mit  dem  psychischen  auch  nicht  anders 
und  namentlich  bis  auf  die  neueste  zeit  nicht  anders  gewesen.  Aber 
undenkbar  ist  es,  dass  man  ohne  eine  summe  von  erfahrungen  über 
die  physische  möglichkeit  oder  Unmöglichkeit  eines  Vorganges  irgend 
ein  ereigniss  der  geschichte  zu  verstehen  oder  irgend  welche  art  von 
historischer  kritik  zu  üben  im  stände  wäre.  Es  ergibt  sich  demnach 
als  eine  hauptaufgabe  für  die  principienlehre  der  cultur- 
wisensehaft,  die  allgemeinen  bedingungen  darzulegen,  unter 
denen  die  psychischen  und  physischen  factoren,  ihren 
eigenartigen  gesetzen  folgend,  dazu  gelangen  zu  einem 
gemeinsamen  zwecke  zusammenzuwirken. 

Etwas  anders  stellt  sich  die  aufgäbe  der  principienlehre  von 
folgendem  gesiehtspunkte  aus  dar.  Die  culturwissenschaft  ist 
immer  gesellschaftswissenschaft.  Erst  gesellschaft  ermöglicht  die 
cultur,  erst  gesellschaft  macht  den  menschen  zu  einem  geschichtlichen 
wesen.  Gewiss  hat  auch  eine  ganz  isolierte  meuschenseele  ihre  ent- 
wickelungsgeschichte ,  auch  rücksichtlich  des  Verhältnisses  zu  ihrem 
leibe  und  ihrer  Umgebung,  aber  selbst  die  begal)teste  vermöchte  es 
nur  zu  einer  sehr  primitiven  ausbildung  zu  bringen,  die  mit  dem  tode 
abgeschnitten  wäre.  Erst  durch  die  Übertragung  dessen,  was  ein 
Individuum  gewonnen  hat,  auf  andere  Individuen  und  durch  das  zu- 
summenwirken  mehrerer  Individuen  zu  dem  gleichen  zwecke  wird  ein 
Wachstum  über  diese  engen  schranken  hinaus  ermöglicht.  Auf  das 
princip  der  arbeitsteilung  und  arbeitsvereinigung  ist  nicht  nur  die 
wirtschaftliche,  sondern  jede  art  von  cultur  basiert.  Die  eigentüm- 
lichste aufgäbe,  welche  der  culturwisseuschaftlichen  principienlehre 
zufällt  und  wodurch  sie  ihre  Selbständigkeit  gegenüber  den  grund- 
legenden gesetzeswissenschaften  behauptet,  dürfte  demnach  daiin  be- 
stehen, dass  sie  zu  zeigen  hat,  wie  die  Wechselwirkung  der  Individuen 
auf  einander  vor  sich  geht,  wie  sich  der  einzelne  zur  gesammtheit 
verhält,  empfangend  und  gebend,  bestimmt  und  bestimmend,  wie  die 
jüngere  generation  die  erbschaft  der  älteren  antritt. 

Nach  dieser  seite  hin  kommt  übrigens  der  culturgeschichte  schon 
die  eutwickelungsgeschichte  der  organischen  natur  sehr  nahe.  Jeder 
höhere   Organismus   kommt  durch   assoeiation   einer  menge  von  zellen 


zu  stände,  die  naeli  dem  prineipe  der  mbeitsteiliinij;  zusammenwirken 
und  diesem  i)rineipe  gemäss  in  ihrer  eonfiguratiou  differenziert  sind. 
Auch  schon  innerhalb  der  einzelzelle,  des  elementarsten  organischen 
gebildes,  ist  dies  princip  wirksam,  und  durch  dasselbe  erhaltung  der 
form  im  Wechsel  des  Stoffes  möglich.  Jeder  Organismus  geht  früher 
oder  später  zu  gründe,  kann  al)er  ablösungeu  aus  seinem  eigenen 
vvesen  hinterlassen,  in  denen  das  formative  princip,  nach  welchem  er 
selbst  gebildet  war,  lebendig  fortwirkt,  und  dem  jeder  fortschritt, 
welcher  ihm  in  seiner  eigenen  bildung  gelungen  ist,  zu  gute  kommt, 
falls  nicht  störende  einfliisse  von  aussen  dazwischen  treten. 

Es  dürfte  scheinen,  als  ob  unsere  principienlehre  der  gesellschafts- 
wissenschaft  ungefähr   das   gleiche   sei   wie   das,    was  Lazarus   und 
Steinthal  Völkerpsychologie   nennen   und   was   sie   in   ihrer  Zeit- 
schrift zu  vertreten  suchen.    Indessen  fehlt  viel,  dass  beides  sich  deckte. 
Aus   unsern   bisherigen   erörterungen   geht   schon  hervor,   dass   unsere 
Wissenschaft  sich   sehr  viel  mit  nichtpsychologischem  zu  befassen  hat. 
Wir  können   die   ein  Wirkungen,  welche   der   einzelne  von   der   gesell- 
schaft   erfährt  und   die   er   seinerseits  in  Verbindung   mit   den  andern 
ausübt,   unter  vier   hauptkategorieen   bringen.     Erstens:   es  werden  in 
ihm  psychische  gebilde,    vorstellungscomplexe   erzeugt,    zu   denen  er, 
ohne  dass  ihm  von  den  andern  vorgearbeitet  wäre,   niemals   oder  nur 
sehr  viel   laugsamer  gelangt  wäre.     Zweitens:   er   lernt  mit  den  ver- 
schiedenen teilen  seines  leibes  gewisse  zweckmässige  bewegungen  aus- 
führen, die  eventuell  zur  bewegung  von  fremden  körpern,  Werkzeugen 
dienen;  auch   von  diesen   gilt,   dass    er   sie  ohne  das  vorbild  anderer 
vielleicht  gar  nicht,   vielleicht  langsamer   gelernt  hätte.     Wir  befinden 
uns  also  hier  auf  physiologischem  gebiete,   aber   immer  zugleich  auf 
psychologischem.     Die   bewegung   an   sich  ist  physiologisch,   aber   die 
erlangung    des  Vermögens    zu   willkürlicher    regelung  der  bewegung, 
worauf  es  hier  eben  ankommt ,  beruht  auf  der  mitwirkung  psycliischer 
factoren.      Drittens:     es    w^erden    mit    hülfe    des    menschlichen    leibes 
bearbeitete  oder  auch   nur  von   dem  orte   ihrer   entstehung  zu  irgend 
einem  dienste  verrückte  naturgegeustände,  die  dadurch  zu  Werkzeugen 
oder   capitalien  werden,   von  einem   Individuum   auf  das  andere,   von 
der  älteren  generation  auf  die  jüngere  übertragen,   und   es  findet  eine 
gemeinsame  beteiligung  verschiedener  individuen   bei  der  bearbeitung 
oder   verrückung   dieser  gegenstände   statt.     Viertens:    die  individuen 
üben  auf  einander  einen  physischen   zwang   aus,   der   allerdings   eben 
so  wol  zum  nachteil  wie  zum  vorteil  des  fortschrittes  sein  kann,  aber 
vom  wesen  der  cultur  nicht  zu  trennen  ist. 

Von   diesen  vier  kategorieen  ist  es  jedenfalls  nur  die  erste,   mit 
welcher    nUth   die   Völkerpsychologie   im    sinne  von   Lazarus -Steinthal 


9 

hcscliäftiiit.  PjS  könnte  sich  also  dannt  aucli  nur  unj;vtälir  derjenige 
teil  unserer  priueipienlelire  decken,  der  sieli  auf  diese  erste  katep>ric 
bezieht.  Aber  abgesehen  davon,  dass  dieselbe  nicht  bloss  isoliert  von 
den  übrigen  betrachtet  werden  darf,  so  bleibt  auch  ausserdem  das, 
was  ich  im  sinne  habe,  sehr  verschieden  von  dem,  was  Lazarus  und 
Steinthal  in  der  einleitung  zu  ihrer  Zeitschrift  (Bd.  I,  s.  1 — 73)  als  die 
aufgäbe  der  Völkerpsychologie  bezeichnen. 

So  sehr  ich  das  verdienst  beider  männer  um  die  psychologie 
und  speciell  um  die  psychologische  betrachtungsweise  der  geschichte 
anerkennen  muss,  so  scheinen  mir  doch  die  in  dieser  einleitung  auf- 
gestellten begriftsbestimmungen  nicht  haltbar,  zum  teil  verwirrend  und 
die  realen  Verhältnisse  verdeckend.  Der  grundgedauke,  welcher  sich 
durcli  das  ganze  hindurchzieht,  ist  der,  dass  die  Völkerpsychologie 
sich  gerade  so  teils  zu  den  einzelnen  Völkern,  teils  zu  der  mensch- 
heit  als  ganzes  verhalte  wie  das,  was  man  schlechthin  psychologie 
nennt,  zum  einzelnen  menschen.  Eben  dieser  grundgedanke  beruht 
meiner  Überzeugung  nach  auf  mehrfacher  logischer  Unterschiebung. 
Und  die  Ursache  dieser  Unterschiebung  glaube  ich  darin  sehen  zu 
müssen,  dass  der  fundamentale  unterschied  zwischen  gesetzwissenschaft 
und  geschichtswissenschaft  nicht  festgehalten  •)  wird,  sondern  beides 
immer  unsicher  in  einander  überschwankt. 


')  Angedeutet  ist  dieser  unterschied  allerdings,  s.  ■25ff.,  wo  zwischen  den 
'synthetischen,  rationalen'  und  den  'beschreibenden'  disciplinen  der  naturwissen- 
scliaft  unterschieden  und  eine  entsprechende  einteilung  der  Völkerpsychologie  ver- 
sucht wird.  Aber  völlige  Verwirrung  herrscht  z.  b.  s.  15  t!.  Aus  der  tatsaehc,  dass 
es  nur  zwei  formen  alles  seins  und  werdeus  gibt,  natur  und  geist,  folgern  die  Ver- 
fasser, dass  es  nur  zwei  klassen  von  realen  wissensehafteu  geben  könne,  eine,  deren 
gegenständ  die  natur,  und  eine,  deren  gegenständ  der  geist  sei.  Dabei  wird  also 
nicht  berücksichtigt,  dass  es  auch  Wissenschaften  geben  könne,  die  das  ineinander- 
wirken  von  natur  und  geist  zu  betrachten  haben.  Noch  bedenklicher  ist  es,  wenn 
sie  dann  fortfahren:  'Demnach  stehen  sich  gegenüber  naturgeschichte  und  geschichte 
der  menschheit.'  Hier  muss  zunächst  geschichte  in  einem  ganz  andern  sinne  gefasst 
sein,  als  den  man  gewöhnlich  mit  dem  werte  verbindet,  als  Wissenschaft  von  dem 
geschehen,  den  Vorgängen.  Wie  kommt  aber  mit  einem  male  'mensch'  an  die 
stelle  von  'geist'.  Beides  ist  doch  weit  entfernt  sich  zu  decken.  Weiter  wird 
zwischen  natur  und  geist  der  unterschied  aufgestellt,  dass  die  natur  sich  in  ewigem 
kreislauf  ihrer  gesetzmässigen  processe  bewege,  wobei  die  verschiedenen  laufe  ver- 
einzelt, jeder  tür  sich  blieben,  wobei  immer  nur  das  schon  dagewesene  widererzeugt 
würde  und  nichts  neues  entstünde,  während  der  geist  in  einer  reihe  zusammen- 
hängender Schöpfungen  lebe,  einen  fortschritt  zeige.  Diese  Unterscheidung,  in 
dieser  allgemeinheit  hingestellt,  ist  zweifellos  unzutreffend.  Auch  die  natur,  die 
organische  mindestens  sicher,  bewegt  sich  in  einer  reihe  zusammenhängender 
Schöpfungen,  auch  in  ihr  gibt  es  einen  fortschritt.  Anderseits  bewegt  sich  auch 
der  geist  (das  ist  doch  auch  die  ansehauung  der  vertasser)  in  einem  gesetzmässigen 
ablauf,  in  einer  ewigen  widerholung  der  gleichen  grundprocesse.    Es  sind  hier  zwei 


10 

Der  l)egTiff  der  völkeri)ayehologie  selbst  schwankt  zwischen  zwei 
wesentlich  verschiedenen  aiiffassung-en.  Einerseits  wird  sie  als  die 
lehre  von  den  allgemeinen  bedingungen  des  geistigen  lebens  in  der 
gesellschaft  gefasst,  anderseits  als  Charakteristik  der  geistigen  eig:en- 
tiimlichkeit  der  verschiedenen  Völker  und  Untersuchung  der  Ursachen, 
aus  denen  diese  eigentUmlichkeit  entsprungen  ist.  S.  25  ff.  werden 
diese  beiden  verschiedenen  auffassungen  der  Wissenschaft  als  zwei 
teile  der  gesammtwissensehaft  hingestellt,  von  denen  der  erste  die 
synthetische  gruudlage  des  zweiten  bildet.  Nach  keiner  von  beiden 
auffassungen  steht  die  Völkerpsychologie  in  dem  angenommenen  ver- 
hältniss  zur  individualpsychologie. 

Halten  wir  uns  zunächst  an  die  zweite,  so  kann  der  Charak- 
teristik der  verschiedenen  Völker  doch  nur  die  Charakteristik  ver- 
schiedener Individuen  entsprechen,  üass  nennt  man  aber  nicht  Psy- 
chologie. Die  Psychologie  hat  es  niemals  mit  der  concreten  gestaltung 
einer  einzelnen  menschenseele,  sondern  nur  mit  dem  allgemeinen  wesen 
der  seelischen  Vorgänge  zu  tun.  Was  berechtigt  uns  daher  den  namen 
dieser  Wissenschaft  für  die  beschreibung  einer  concreten  gestaltung  der 
geistigen  eigentUmlichkeit  eines  Volkes  zu  gebrauchen?  Was  die  verf. 
im  sinne  haben,  ist  nichts  anderes  als  ein  teil,  und  zwar  der  wich- 
tigste, aber  eigentlich  nicht  isolierbare  teil  dessen,  was  man  sonst 
culturgeschichte  oder  philologie  genannt  hat,  nur  auf  psychologische 
grundlage  gestellt,  wie  sie  heutzutage  für  alle  culturgeschichtliche 
forsehung  verlangt  werden  muss.  Es  ist  aber  keine  gesetz Wissenschaft 
wie  die  psychologie  und  keine  principienlehre  oder,  um  den  ausdruck 
der  verf.  zu  gebrauchen  keine  synthetische  grundlage  der  cultur- 
geschichte. 

Die  unrichtige  parallelisierung  hat  noch  zu  weiteren  bedenklichen 
consequenzen  geführt.  Es  handelt  sich  nach  den  Verfassern  in  der 
Völkerpsychologie  '  um  den  geist  der  gesammtheit,  der  noch  verschieden 
ist  von  allen  zu  derselben  gehörenden  einzelnen  geistern,  und  der  sie 
alle  beherrscht'  (s.  5).  Weiter  heisst  es  (s.  11):  Die  Verhältnisse,  welche 
die  Völkerpsychologie  betrachtet,   liegen  teils  im  volksgeiste,   als  einer 


gegensätze  coufundiert,  die  völlig  auseinander  gehalten  werden  müssen,  der  zwischen 
natur  und  geist  einerseits  und  der  zwischen  gesetzinässigem  process  und  geschicht- 
licher entwickelung  anderseits.  Nur  von  dieser  confusion  aus  ist  es  zu  begreifen, 
dass  es  die  verf.  überhaupt  habeu  in  frage  ziehen  können,  ob  die  psychologie  zu 
den  natur-  oder  zu  den  geisteswissenschaften  gehöre,  und  dass  sie  schliesslicli  dazu 
kommen  ihr  eine  niittelstellung  zwisclien  beiden  anzuweisen.  Diese  confusion  ist 
freilich  die  hergebrachte,  von  der  man  sich  aber  endlich  losreissen  sollte  nach  den 
fortschritten,  welche  die  psychologie  einerseits,  die  Wissenschaft  von  der  organischen 
natur  anderseits  gemacht  hat. 


11 

einlieit  gedacht,  zwischen  den  dementen  desselben  (wie  z.  b.  das  ver- 
hältuiss  zwischen  religion  und  kunst,  zwischen  staat  und  Sittlichkeit, 
spräche  und  intelligenz  u.  dgl.  ni.),  teils  zwischen  den  cinzclgeistern, 
die  das  volk  bilden.  Es  treten  also  hier  die  selben  grundprocesse 
hervor,  wie  in  der  individuellen  iisycholope,  nur  coni]tlicierter  oder 
ausgedehnter'.  Das  heisst  durch  hy})Ostasierung-  einer  reihe  von  ab- 
stractionen  das  wahre  wesen  der  Vorgänge  verdecken.  Alle  psychischen 
processe  vollziehen  sich  in  den  einzelgeistern  und  nirgends  sonst. 
Weder  volksgeist  noch  demente  des  volksgeistes  wie  kunst,  rdigion  etc. 
haben  eine  concrete  existenz  und  folglich  kann  auch  nichts  in  ihnen 
und  zwischen  ihnen  vorgehen.  Daher  weg  mit  diesen  abstractionen. 
Denn  'weg  mit  allen  abstractionen'  muss  für  uns  das  losuugswort  sein, 
wenn  wir  irgendwo  die  factoreu  des  wirklichen  geschehens  zu  be- 
stimmen versuchen  wollen,  i)  Ich  will  den  Verfassern  keinen  grossen 
Vorwurf  macheu  wiegen  eines  fehlers,  dem  man  in  der  Wissenschaft 
noch  auf  schritt  und  tritt  begegnet,  und  vor  dem  sich  der  umsichtigste 
und  am  tiefsten  eindringende  nicht  immer  bewahrt.  Mancher  forscher, 
der  sich  auf  der  höhe  des  neunzehnten  Jahrhunderts  flihlt,  lächelt  wol 
vornehm  über  den  streit  der  mittelalterlichen  uominalisten  und  realisten, 
und  begreift  nicht,  wie  man  hat  dazu  kommen  können,  die  abstractionen 
des  menschlichen  Verstandes  für  realiter  existierende  dinge  zu  erklären. 
Aber  die  unbewussten  realisten  sind  bei  uns  noch  lange  nicht  aus- 
gestorben, nicht  einmal  unter  den  naturforschern.  Und  vollends  unter 
den  eulturforschern  treiben  sie  ihr  wesen  recht  munter  fort,  und  darunter 
namentlich  diejenige  klasse,  welche  es  allen  übrigen  zuvorzutun  wähnt, 
wenn  sie  nur  in  Darwinistischen  gleichnissen  redet.  Doch  ganz  ab- 
gesehen von  diesem  unfug,  die  zeiten  der  Scholastik,  ja  sogar  die  der 
mythologie  liegen  noch  lange  nicht  soweit  hinter  uns,  als  man  wol 
meint,  unser  sinn  ist  noch  gar  zu  sehr  in  den  banden  dieser  beiden 
befangen,  weil  sie  unsere  spräche  beherrschen,  die  gar  nicht  von  ihnen 
loskommen  kann.  Wer  nicht  die  nötige  gedankenanstrengung  an- 
wendet um  sieh  von  der  herrschaft  des  Wortes  zu  befreien,  wird  sich 
niemals  zu  einer  unbefangenen  anschauung  der  dinge  aufschwingen. 
Die  Psychologie   ward   zur  Wissenschaft  in   dem   augenblicke,  wo   sie 

^)  Misteli,  Ztschr.  f.  Völkerps.  XIII,  385  hat  mich  merkwürdigerweise  so  miss- 
vcrstanden,  dass  er  meint,  ich  wolle  überhaupt  keine  abstractionen  gemacht  wissen, 
während  ich  natürlich  nur  meine,  dass  sich  keine  abstractionen  störend  zwischen 
das  äuge  des  beobachters  und  die  wirklichen  dinge  stellen  sollen,  die  ihn  hindern 
den  causalzusammenhang  unter  den  letzteren  zu  erfassen.  Die  belehrung,  die  er 
mir  über  den  wert  des  abstrahierens  erteilt,  ist  daher  eben  so  überflüssig  wie  seine 
kritische  bemerkuug  darüber,  dass  ich  ja  noch  weiter  gehender^  abstractionen  mache 
als  andere. 


12 

die  altstraetionen  der  seelenverniögen  nicht  melir  als  etwas  reelles 
anerkannte.  So  wird  es  vielleicht  noch  auf  manchen  gebieten  gelingen 
bedeutendes  zu  gewinnen  lediglich  durch  beseitigung  der  zu  realitäten 
gestempelten  abstractioneu ,  die  sich  störend  zwischen  das  äuge  des 
bcobachters  und  die  concreten  erscheinungen  stellen. 

Diese  bemerkuugen  bitte  ich  nicht  als  eine  blosse  abschweifung 
zu  betrachten.^)  Sie  deuten  auf  das,  was  wir  selbst  im  folgenden 
rücksichtlich  der  sprachentwäckelung  zu  beobachten  haben,  was  da- 
gegen die  darstellung  von  Lazarus-Steinthal  gar  nicht  als  etwas  zu 
leistendes  erkennen  lässt.  Wir  gelangen  von  hier  aus  auch  zur  kritik 
der  ersten  auffassung  des  begriifs  völkeipsychologie. 

Da  vnr  natürlich  auch  hier  nicht  mit  einem  gesammtgeiste  und 
elementen  dieses  gesammtgeistes  rechnen  dürfen,  so  kann  es  sich  in 
der  'Völkerpsychologie'  jedenfalls  nur  um  Verhältnisse  z^\^sehen  den 
einzelgeistern  handeln.  Aber  auch  für  die  Wechselwirkung  dieser  ist 
die  behauptuug,  dass  dabei  die  selben  grundprocesse  hervortreten  wie 
in  der  individuellen  psychologie,  nur  in  einem  ganz  bestimmten  ver- 
ständniss  zulässig,  worüber  es  einer  näheren  erklärung  bedürfte.  Jeden- 
falls verhält  es  sich  nicht  so,  dass  die  Vorstellungen,  wie  sie  innerhalb 
einer  seele  auf  einander  wirken,  so  auch  über  die  schranken  der 
einzelseele  hinaus  auf  die  Vorstellungen  anderer  seelen  wirkten.  Eben- 
sowenig wirken  etwa  die  gesammten  vorstellungscomplexe  der  einzelnen 
Seelen  in  einer  analogen  weise  auf  einander  wie  innerhalb  der  seele 
des  individuums  die  einzelnen  Vorstellungen.  Vielmehr  ist  es  eine 
tatsache  von  fundamentaler  bedeutung,  die  wir  niemals  aus 
dem  äuge  verlieren  dürfen,  dass  alle  rein  psychische  Wechsel- 
wirkung sich  nur  innerhalb  der  einzelseele  vollzieht.     Aller 


')  Trotz  dieser  ausdriickliclieu  bitte  bemerkt  L.  Tobler,  Lit.-Bl.  f.  germ.  und 
rom.  phü.  1S81,  sp.  122  über  meine  einleitimg:  „Alle  diese  einleitenden  begriffsbe- 
stimmungcn  fallen  mehr  in  den  bereich  einer  philosophischen  Zeitschrift  und  üben 
auf  den  weitern  verlauf  der  darstellung  keinen  einfluss''.  Und  Misteli,  a.  a.  o.  s.  400 
tritt  ihm  bei  und  meint,  er  hätte  nur  noch  hinzufügen  können:  glücklicherweise. 
Ich  muss  gestehen,  es  ist  niederschlagend  für  mich,  dass  zwei  gelehrte,  die  doch 
gerade  Interesse  für  allgemeine  fragen  bekunden,  so  wenig  erkannt  haben,  was  der 
eigentliche  angelpunkt  meines  ganzen  werkes  ist.  Alles  dreht  sich  mir  darum  die 
sprachentwickelung  aus  der  Wechselwirkung  abzuleiten,  welche  die  Individuen  auf 
einander  ausüben.  Eine  kritik  der  Lazarns-Steinthalschen  anschaimngen ,  deren 
fehler  eben  in  der  nichtberücksichtigung  dieser  Wechselwirkung  besteht,  hängt 
daher  auf  das  engste  mit  der  gesammttendenz  meines  buches  zusammen.  Misteli 
ist  überhaupt  der  ansieht,  dass  meine  allgemeinen  theoretischen  erörterungen  von 
dem  sjtrach forscher  nicht  berücksichtigt  zu  werden  brauchten,  und  dass  dieser  mit 
den  herkömmlichen  grammatischen  katcgoricen  auskommen  könnte.  Damit  wird 
der  alte  dualismus  zwischen  philosophie  und  Wissenschaft  sanctiouiert,  den  zu  über- 
winden wir  heutzutage  mit  aller  macht  streben  sollten. 


13 

verkehr  der  seeleu  unter  einander  ist  nur  ein  indirecter, 
auf  physiselieiu  wege  vermittelter.  Fassen  wir  daher  die  psy- 
ehologie  im  llerbartsehen  sinne  als  die  Wissenschaft  von  dem  verhalten 
der  Vorstellungen  zu  einander,  so  kann  es  nur  eine  individuelle  psy- 
eholog-ie  gehen,  der  man  keine  völkeri)sychologie  oder  wie  man  es 
sonst  nennen  mag  gegenüber  stellen  darf 

Man  fügt  nun  aber  wol  in  der  darstellung  der  individuellen  psy- 
ehologie  diesem  allgemeinen  einen  zweiten  speeiellen  teil  hinzu,  wel- 
cher die  entwickluugsgeschichte  der  complicierteren  vorstelluugsmassen 
behandelt,  die  wir  erfahrungsmässig-  in  uns  selbst  und  den  von  uns  zu 
beobachtenden  Individuen  in  wesentlich  übereinstimmender  weise  finden. 
Dagegen  ist  nichts  einzuwenden,  so  lange  mau  sich  nur  des  funda- 
mentalen gegeusatzes  bewusst  bleibt,  der  zwischen  beiden  teilen  be- 
steht. Der  zweite  ist  nicht  mehr  gesetzwisseuschaft,  sondern  geschichte. 
Es  ist  leicht  zu  sehen,  dass  diese  complicierteren  gebilde  nur  dadurch 
haben  entstehen  können,  dass  das  Individuum  mit  einer  reihe  von  an- 
dern Individuen  in  gesellschaft  lebt.  Und  um  tiefer  in  das  geheimniss 
ihrer  entstehung  einzudringen,  muss  man  sich  die  verschiedenen  Stadien, 
welche  sie  nach  und  nach  in  den  früheren  Individuen  durchlaufen 
haben,  zu  veranschaulichen  suchen.  Von  hier  aus  sind  offenbar  Lazarus 
und  Steinthal  zu  dem  begriff  der  Völkerpsychologie  gelangt.  Aber 
ebensowenig  wie  eine  historische  darstellung,  welche  schildert,  wie 
diese  entwicklung  wirklich  vor  sich  gegangen  ist,  mit  recht  psj^cho- 
logie  genannt  wird,  ebensowenig  wird  es  die  principienwissenschaft, 
welche  zeigt,  wie  im  allgemeinen  eine  derartige  entwickelung  zu  stände 
kommen  kann.  Was  au  dieser  entwickelung  psychisch  ist,  vollzieht 
sich  innerhalb  der  einzelseele  nach  den  allgemeinen  gesetzeu  der  indi- 
viduellen Psychologie.  Alles  das  aber,  wodurch  die  Wirkung  des  einen 
Individuums  auf  das  andere  ermöglicht  wird,  ist  nicht  psychisch. 

Wenn  ich  von  den  verschiedenen  Stadien  in  der  entwickelung 
der  psychischen  gebilde  gesprochen  habe,  so  habe  ich  mich  der  ge- 
wöhnlichen bildlichen  ausdrucksweise  bedient.  Nach  unsern  bisherigen 
auseinandersetzungen  ist  nicht  daran  zu  denken,  dass  ein  gebilde,  wie 
es  sich  in  der  einen  seele  gestaltet  hat,  wirklich  die  reale  unterläge 
sein  kann,  aus  der  ein  gebilde  der  andern  entspringt.  Vielmehr  muss 
jede  seele  ganz  von  vorn  anfangen.  Mann  kann  nichts  schon  gebil- 
detes in  sie  hineinlegen,  sondern  alles  muss  in  ihr  von  den  ersten 
anfangen  an  neu  geschaffen  werden,  die  primitiven  Vorstellungen  durch 
physiologische  erregungen,  die  vorstellungscomplexe  durch  Verhältnisse, 
in  welche  die  primitiven  Vorstellungen  innerhalb  der  seele  selbst  zu 
einander  getreten  sind.  Um  die  einer  in  ihr  selbst  entsprungenen  ent- 
sprechende  Vorstellungsverbindung    in    einer  anderen    seele    hervorzu- 


14 

rufen  kann  die  seele  nichts  anderes  tun,  als  vermittelst  der  motori- 
schen nerven  ein  physisches  product  erzeugen,  welches  seinerseits 
wider  vermittelst  erregung  der  sensitiven  nerven  des  andern  Indivi- 
duums in  der  seele  desselben  die  entsprechenden  vorstellung-en  her- 
vorruft, und  zwar  entsprechend  associiert.  Die  wichtigsten  unter  den 
diesem  zwecke  dienenden  physischen  producten  sind  eben  die  sprach- 
laute. Andere  sind  die  sonstigen  töne,  ferner  mienen,  gebährden. 
bilder  etc. 

Was  diese  physischen  producte  befähigt  als  mittel  zur  Übertragung 
von  Vorstellungen  auf  ein  anderes  Individuum  zu  dienen  ist  entweder 
eine  innere,  directe  beziehung  zu  den  betreffenden  Vorstellungen 
(man  denke  z.  b.  an  einen  schmerzensschrei,  eine  gebährde  der  wut) 
oder  eine  durch  ideenassociation  vermittelte  Verbindung,  wobei 
also  die  in  directer  beziehung  zu  dem  physischen  Werkzeuge  stehende 
Vorstellung  das  bindeglied  zwischen  diesem  und  der  mitgeteilten  Vor- 
stellung bildet;  das  ist  der  fall  bei  der  spräche. 

Durch  diese  art  der  mitteilung  kann  kein  vorstellungsinhalt  in 
der  seele  neu  geschaffen  werden.  Der  inhalt,  um  den  es  sich  handelt, 
muss  vielmehr  schon  vorher  darin  sein,  durch  physiologische  erreguugen 
hervorgerufen.  Die  Wirkung  der  mitteilung  kann  nur  die  sein,  dass 
gewisse  in  der  seele  ruhende  vorstelluugsmassen  dadurch  erregt,  even- 
tuell auf  die  schwelle  des  bewusstseins  gehoben  werden,  wodurch 
unter  umständen  neue  Verbindungen  zwischen  denselben  geschaffen 
oder  alte  befestigt  werden. 

Der  vorstellungsinhalt  selbst  ist  also  untibertragbar. 
Alles,  was  wir  von  dem  eines  andern  Individuums  zu  wissen 
glauben,  beruht  nur  auf  Schlüssen  aus  unserem  eigenen. 
Wir  setzen  dabei  voraus,  dass  die  fremde  seele  in  dem  selben  ver- 
hältniss  zur  aussenwelt  steht  wie  die  unsrige,  dass  die  nämlichen 
physischen  eindrücke  in  ihr  die  gleichen  Vorstellungen  erzeugen  wie 
in  der  unsrigen,  und  dass  diese  Vorstellungen  sich  in  der  gleichen 
weise  verbinden.  Ein  gewisser  grad  von  Übereinstimmung  in  der 
geistigen  und  körperlichen  Organisation,  in  der  umgebenden  natur  und 
den  erlebnissen  ist  demnach  die  Vorbedingung  für  die  möglichkeit 
einer  Verständigung  zwischen  verschiedenen  Individuen.  Je  grösser 
die  Übereinstimmung,  desto  leichter  die  Verständigung.  Umgekehrt 
bedingt  jede  \  erschiedenheit  in  dieser  beziehung  nicht  nur  die  möglich- 
keit, sondern  die  notwendigkeit  des  nichtverstehens,  des  unvollkommenen 
Verständnisses  oder  des  missverständnisses. 

Am  weitesten  reicht  die  Verständigung  durch  diejenigen  physischen 
mittel,  welche  in  directer  beziehung  zu  den  mitgeteilten  Vorstellungen 
stehen;   denn   diese  fliesst  häufig   schon   aus   dem   allgemein   überein- 


15 

stimmendeu  iu  der  menschliehen  natiir.  Dagegen,  wo  die  beziehinig 
eine  iudireete  ist.  wird  vorausgesetzt,  dass  in  den  verseliiedenen  seelen 
die  gleiche  assoeiation  geknüpft  ist,  was  übereinstimmende  erfahrimg 
voraussetzt.  Man  muss  es  demnach  als  selbstverständlich  voraussetzen, 
dass  alle  mitteilung  unter  den  menschen  mit  der  ersteren  art  begonnen 
hat  und  erst  von  da  zu  der  letzteren  übergegangen  ist.  Zugleich  muss 
hervorgehoben  werden,  dass  die  mittel  der  ersten  art  bestimmt  be- 
schränkte sind,  während  sich  in  bezug  auf  die  der  zweiten  ein  un- 
begrenzter Spielraum  darbietet,  weil  bei  willkürlicher  assoeiation  un- 
endlich viele  combinationen  möglich  sind. 

Fragen  wir  nun,  worauf  es  denn  eigentlich  beruht,  dass  das  Indi- 
viduum, trotzdem  es  sich  seinen  vorstellungskreis  selbst  schaften  muss, 
doch  durch  die  gesellschaft  eine  bestimmte  richtung  seiner  geistigen 
entwickelung  erhält  und  eine  weit  höhere  ausbildung,  als  es  im  sonder- 
leben zu  erwerben  vermöchte,  so  müssen  wir  als  den  wesentlichen 
punkt  bezeichnen  die  Verwandlung  indirecter  associationen  in 
directe.  Diese  Verwandlung  vollzieht  sich  innerhalb  der  einzelseele, 
das  gewonnene  resultat  aber  wird  auf  andere  seelen  übertragen,  natür- 
lich durch  physische  vermitteluug  in  der  geschilderten  weise.  Der 
gewinn  besteht  also  darin,  dass  in  diesen  anderen  seelen  die  vor- 
stellungsmassen  nicht  wider  den  gleichen  umweg  zu  machen  brauchen 
um  an  einander  zu  kommen  wie  in  der  ersten  seele.  Ein  ge^vinn  ist 
also  das  namentlich  dann,  wenn  die  vermittelnden  Verbindungen  im 
vergleich  zu  der  schliesslich  resultierenden  Verbindung  von  unter- 
geordnetem werte  sind.  Durch  solche  ersparniss  an  arbeit  und  zeit, 
zu  welcher  ein  Individuum  dem  andern  verholfen  hat,  ist  dieses  widerum 
im  Stande,  das  ersparte  zur  herstellung  einer  weiteren  Verbindung-  zu 
verwenden,  zu  der  das  erste  Individuum  die  zeit  nicht  mehr  übrig  hatte. 

Mit  der  Überlieferung  einer  aus  einer  indirecten  in  eine  directe 
verwandelten  Verbindung  ist  nicht  auch  die  ideenbewegung  überliefert, 
welche  zuerst  zur  entstehung  dieser  Verbindung  geführt  hat.  Wenn 
z.  b.  jemandem  der  Pythagoräische  lehrsatz  überliefert  wird,  so  weiss 
er  dadurch  nicht,  auf  welche  weise  derselbe  zuerst  gefunden  ist.  Er 
kann  dann  einfach  bei  der  ihm  gegebenen  directen  Verbindung  stehen 
bleiben,  er  kann  auch  durch  eigene  schöpferische  combination  den 
satz  mit  andern  ihm  schon  bekannten  mathematischen  Sätzen  vermitteln, 
wobei  er  allerdings  ein  sehr  viel  leichteres  spiel  hat  als  der  erste 
tiuder.  Sind  aber,  wie  es  hier  der  fall  ist,  verschiedene  vermittelungeu 
möglich,  so  braucht  er  nicht  gerade  auf  die  selbe  zu  verfallen  wie 
der  erste  finder. 

Es  erhellt  also,  dass  bei  diesem  wichtigen  process,  indem  der 
anfangs-  und  endpunkt  einer  vorstellungsreihe  in  direeter  Verknüpfung 


16 

überliefert  werden,  die  mittelglieder,  welche  ursprünglieli  diese  ver- 
kuiipfimg  herstellen  halfen,  zu  einem  grossen  teile  für  die  folgende 
generatiou  verloren  gehen  müssen.  Das  ist  in  vielen  fällen  eine  heil- 
same eutlastung  von  unnützem  ballast,  wodurch  der  für  eine  höhere 
eutvs^ickelung  notwendige  räum  geschaffen  wird.  Aber  die  erkenntnis^ 
der  geuesis  wird  dadurch  natürlich  ausserordentlich  erschwert. 

Nach  diesen  für  alle  culturentwickelung  geltenden  bemerkuugen, 
deren  specielle  auwendung  auf  die  Sprachgeschichte  uns  weiter  unten 
zu  beschäftigen  hat,  wollen  wir  jetzt  versuchen,  die  wichtigsten  eigen- 
tümlichkeiten  hervorzuheben,  wodurch  sich  die  Sprachwissenschaft 
von  andern  culturwissenschaften  unterscheidet.  Indem  wir  die  factoren 
ins  äuge  fassen,  mit  denen  sie  zu  rechnen  hat,  wird  es  uns  schon 
hier  gelingen  unsere  behauptung  zu  rechtfertigen,  dass  die  Sprach- 
wissenschaft unter  allen  historischen  Wissenschaften  die  sichersten  und 
exactesten  resultate  zu  liefern  im  stände  ist. 

Jede  erfahrungswissenschaft  erhebt  sich  zu  um  so  grösserer 
cxactheit,  je  mehr  es  ihr  gelingt  in  den  erscheinuugen,  mit  denen 
sie  zu  schaffen  hat,  die  Wirksamkeit  der  einzelnen  factoren 
isoliert  zu  betrachten.  Hierin  liegt  ja  eigentlich  der  specifische 
unterschied  der  wissenschaftlichen  betrachtungsweise  von  der  popu- 
lären. Die  Isolierung  gelingt  natürlich  um  so  schwerer,  je  verschlungener 
die .  complicationen ,  in  denen  die  erscheinungen  an  sich  gegeben  sind. 
Nach  dieser  seite  hin  sind  wir  bei  der  spräche  besonders  günstig 
gestellt.  Das  gilt  allerdings  nicht,  wenn  man  den  ganzen  materiellen 
Inhalt  ins  äuge  fasst,  der  in  ihr  niedergelegt  ist.  Da  findet  man 
allerdings,  dass  alles,  was  irgendwie  die  menschliche  seele  berührt 
hat,  die  leibliche  Organisation,  die  umgebende  natur,  die  gesammte 
cultur,  alle  erfahrungen  und  erlebnisse  Wirkungen  in  der  spräche 
hinterlassen  haben,  dass  sie  daher  von  diesem  gesichtspunkte  aus 
betrachtet,  von  den  allermannigfachsten ,  von  allen  irgend  denkbaren 
factoren  abhängig  ist.  Aber  diesen  materiellen  iuhalt  zu  betrachten 
ist  nicht  die  eigentümliche  aufgäbe  der  Sprachwissenschaft.  Dazu  kann 
sie  nur  in  Verbindung  mit  allen  übrigen  culturwissenschaften  beitragen. 
►Sie  hat  für  sich  nur  die  Verhältnisse  zu  betrachten,  in  welche  dieser 
Vorstellungsinhalt  zu  bestimmten  lautgruppen  tritt.  So  kommen  von 
den  oben  s.  8  angegebenen  vier  kategorieen  der  gesellschaftlichen 
einwirkung  für  die  spräche  nur  die  ersten  beiden  in  betracht.  Man 
braucht  auch  vornehmlich  nur  zwei  gesetzeswissenschaften  als  unter- 
läge der  Sprachwissenschaft,  die  psychologie  und  die  physiologie,  und 
zwar  von  der  letzteren  nur  gewisse  teile.  Was  man  gewöhnlich  unter 
lautjjhysiologie  oder  phouetik  versteht,  l)egreift  allerdings  nicht  alle 
physiologischen    Vorgänge    in    sich,    die    zur   Sprechtätigkeit   gehören, 


17 

nämlicli  uiebt  die  erreg'uug  der  motorischeu  uerveu,  wodurch  die 
spracborgaue  in  beweguug-  gesetzt  werden.  Es  würde  ferner  auch  die 
akustik,  sowol  als  teil  der  physik  wie  als  teil  der  physiologie  iu 
betracbt  kommen.  Die  akustiscbeii  Vorgänge  aber  sind  nicht  unmittelbar 
von  den  psychischen  beeinflusst,  sondern  nur  mittelbar,  durch  die  laut- 
])bysiologischen.  Durch  diese  sind  sie  derartig  bestimmt,  dass  nach 
dem  einmal  gegebenen  anstosse  ihr  verlauf  im  allgemeinen  keine  ab- 
lenkungen  mehr  erfahrt,  wenigstens  keine  solche,  die  für  das  wesen 
der  spräche  von  belang  sind.  Unter  diesen  umständen  ist  ein  tieferes 
eindringen  in  diese  Vorgänge  für  das  verständniss  der  sprachentwickelung 
jedenfalls  nicht  in  dem  masse  erforderlich  wie  die  erkenntniss  der  bewegung 
der  Sprechorgane.  Damit  soll  nicht  behauptet  werden,  dass  nicht  vielleicht 
auch  einmal  aus  der  akustik  manche  aufschlüsse  zu  holen  sein  werden. 

Die  verhältnissmässige  einfachheit  der  sprachlichen  Vorgänge  tritt 
deutlich  hervor,  wenn  wir  etwa  die  wirtschaftlichen  damit  vergleichen. 
Hier  handelt  es  sich  um  eine  Wechselwirkung  sämmtlicher  physischen 
und  psychischen  factoren,  zu  denen  der  mensch  in  irgend  eine  be- 
ziehung  tritt.  Auch  den  ernstesten  bemühuugen  wird  es  niemals 
gelingen  die  rolle,  welche  jeder  einzelne  unter  diesen  factoren  dabei 
spielt,  vollständig  klar  zu  legen. 

Ein  weiterer  punkt  von  belang  ist  folgender.  Jede  sprachliche 
Schöpfung  ist  stets  nur  das  werk  eines  Individuums.  Es  künuen 
mehrere  das  gleiche  schaffen.  Aber  der  akt  des  schaftens  ist  darum 
kein  anderer  und  das  product  kein  anderes.  Niemals  schaffen  mehrere 
Individuen  etwas  zusammen,  mit  vereinigten  kräften,  mit  verteilten 
rollen.  Ganz  anders  ist  das  wider  auf  wirtschaftlichem  oder  politischem 
gebiete.  Wie  es  innerhalb  der  wirtschaftliehen  und  politischen  ent- 
wickelung  selbst  immer  schwieriger  wird  die  Verhältnisse  zu  durch- 
schauen, je  mehr  Vereinigung  der  kräfte,  je  mehr  Verteilung  der  rollen 
sich  herausbildet,  so  sind  auch  die  einfachsten  Verhältnisse  auf  diesen 
gebieten  schon  weniger  durchsichtig  als  die  sprachlichen.  Allerdings 
insofern,  als  eine  sprachliche  Schöpfung  auf  ein  anderes  Individuum 
übertragen  und  von  diesem  umgeschaffen  wird,  als  dieser  process  sich 
immer  von  neuem  widerholt,  findet  allerdings  auch  hier  eine  arbeits- 
teilung  und  arbeitsvereinigung  statt,  ohne  die  ja,  wie  wir  gesehen 
haben,  überhaupt  keine  cultur  zu  denken  ist.  Und  wo  in  unserer 
Überlieferung  eine  anzahl  von  Zwischenstufen  fehlen,  da  ist  auch  der 
Sprachforscher  in  der  läge  verwickelte  complicationen  auflösen  zu 
müssen,  die  nicht  sowol  durch  das  zusammenwirken  als  durch  das 
nacheinanderwirken  verschiedener  Individuen  entstanden  sind. 

Es  ist  ferner  auch  nach  dieser  seite  hin  von  grosser  Wichtigkeit, 
dass   die   sprachlichen   gebilde   ohne   absieht  geschaffen  werden,   min- 

Paul,  Principien.     II.  Auflage.  2 


i 


18 

destens  ohne  die  absieht  etwas  bleibendes  festzusetzen,  und  ohne  dass 
sieh  das  individuum  seiner  schöpferischen  tätigkeit  bewusst  wird.  In 
dieser  hinsieht  unterscheidet  sich  die  si)rachbildung  namentlich  von 
aller  künstlerischen  produetion.  Die  unabsichtlichkeit,  wie  wir  sie  hier 
als  eharacteristicum  hinstellen,  ist  freilich  nicht  so  allgemein  anerkannt 
und  ist  noch  im  einzelnen  zu  erweisen.  Man  muss  aber  dabei  unter- 
scheiden zwischen  der  natürlichen  entwickelung  der  spräche  und  der 
künstlichen,  die  durch  ein  bewusstes  regelndes  eingreifen  zu  stände 
kommt.  Solche  absichtlichen  bemühungen  beziehen  sich  fast  aus- 
schliesslich auf  die  herstellung  einer  gemeinsprache  in  einem  dialectisch 
gespaltenen  gebiete.  Wir  müssen  im  folgenden  zunächst  gänzlich  von 
denselben  abstrahieren,  um  das  reine  walten  der  natürlichen  entwicke- 
lung kennen  zu  lernen,  und  erst  dann  ihre  Wirksamkeit  in  einem  be- 
sondern abschnitte  behandeln.  Zu  diesem  verfahren  sind  wir  nicht 
nur  berechtigt,  sondern  auch  verpflichtet.  Wir  würden  sonst  ebenso 
handeln  wie  der  zoologe  oder  der  botaniker,  der  um  die  entstehung 
der  heutigen  tier-  und  pflanzenweit  zu  erklären,  überall  mit  der  an- 
nähme künstlicher  Züchtung  und  Veredlung  operierte.  Der  vergleich 
ist  in  der  tat  in  hohem  grade  zutreftend.  Wie  der  Viehzüchter  oder 
der  gärtner  niemals  etwas  rein  willkürlich  aus  nichts  erschafi"en  können, 
sondern  mit  allen  ihren  versuchen  auf  eine  nur  innerhalb  bestimmter 
sehranken  mögliche  Umbildung  des  natürlich  erwachsenen  angewiesen 
sind,  so  entsteht  auch  eine  künstliche  spräche  nur  auf  grundlage  einer 
natürlichen.  So  wenig  durch  irgend  welche  Veredlung  die  Wirksam- 
keit derjenigen  factoren  aufgehoben  werden  kann,  welche  die  natür- 
liche entwickelung  bestimmen,  so  wenig  kann  das  auf  sprachlichem 
gebiete  durch  absichtliche  regelung  geschehen.  Sie  wirken  trotz  alles 
eingreifens  ungestört  weiter  fort,  und  alles,  was,  auf  künstlichem  wege 
gebildet,  in  die  spräche  aufgenommen  ist,  verfällt  dem  spiel  ihrer  kräfte. 
Es  wäre  nun  zu  zeigen,  inwiefern  die  absichtslosigkeit  der  sprach- 
lichen Vorgänge  es  erleichtert,  ihr  wesen  zu  durchschauen.  Zunächst 
folgt  daraus  wider,  dass  dieselben  verhältnissmässig  einfach  sein  müssen. 
Bei  jeder  Veränderung  kann  nur  ein  kurzer  schritt  getan  werden.  Wie 
wäre  das  anders  möglich,  wenn  sie  ohne  berechnung  erfolgt  und,  wie 
es  meistens  der  fall  ist,  ohne  dass  der  sprechende  eine  ahnung  davon 
hat,  dass  er  etwas  nicht  schon  vorher  dagewesenes  hervorbringt? 
Freilich  kommt  es  dann  aber  auch  darauf  an  die  indicien,  durch 
welche  sich  diese  Vorgänge  documentieren,  möglichst  schritt  für  schritt 
zu  verfolgen.  Aus  der  einfachheit  der  sprachliehen  Vorgänge  folgt  nun 
aber  auch,  dass  sich  dabei  die  individuelle  eigentümlichkeit  nicht 
stark  geltend  machen  kann.  Die  einfachsten  psychischen  processe 
sind  Ja  bei  allen  Individuen  die  gleichen,  ihre  besonderheiten  beruhen 


19 

uur  auf  verschiedenartiger  combiDation  dieser  einfachen  processe.  Die 
grosse  g-leichniässigkeit  aller  sprachlichen  Vorgänge  in  den 
verschiedensten  individuen  ist  die  wesentlichste  basis  für 
eine  exaet  wissenschaftliche  erkeuntniss  derselben. 

So  fällt  denn  auch  die  erleruung  der  simiche  in  eine  frühe  ent- 
wickehmgsperiüde,  in  welcher  überhaupt  bei  allen  psychischen  Pro- 
cessen noch  wenig  absichtlichkeit  und  bewusstseiu,  noch  wenig  Indi- 
vidualität vorhanden  ist.  Und  ebenso  verhält  es  sich  mit  derjenigen 
periode  in  der  eutwickeluug  des  menschengeschleehts,  welche  die 
spräche  zuerst  geschaffen  hat. 

Wäre  die  spräche  nicht  so  sehr  auf  grundlage  des  gemeinsamen 
in  der  menschlichen  natur  aufgebaut,  so  wäre  sie  auch  nicht  das  ge- 
eignete Werkzeug  für  den  allgemeinen  verkehr.  Umgekehrt,  dass  sie 
als  solches  dient,  hat  zur  notwendigen  cousequenz,  dass  sie  alles  rein 
individuelle,  was  sich  ihr  doch  etwa  aufzudrängen  versucht,  zurück- 
stösst,  dass  sie  nichts  aufnimmt  und  bewahrt,  als  was  durch  die  Über- 
einstimmung einer  auzahl  mit  einander  in  Verbindung  befindlicher  indi- 
viduen sanetioniert  wird. 

Unser  satz,  dass  die  unabsichtlichkeit  der  Vorgänge  eine  exacte 
wissenschaftliche  erkenntniss  begünstige,  ist  leicht  aus  der  geschichte 
der  übrigen  culturzweige  zu  bestätigen.  Die  entwickelung  der  socialen 
Verhältnisse,  des  rechts,  der  religion,  der  poesie  und  aller  übrigen 
küuste  zeigt  um  so  mehr  gleichförmigkeit,  macht  um  so  mehr  den  ein- 
druck  der  naturnotweudigkeit,  je  primitiver  die  stufe  ist,  auf  der  man 
sich  befindet.  Während  sich  auf  diesen  gebieten  immer  mehr  absicht- 
lichkeit, immer  mehr  Individualismus  geltend  gemacht  hat,  ist  die 
spräche  nach  dieser  seite  hin  viel  mehr  bei  dem  ursprünglichen  zu- 
stande st-^heu  geblieben.  Sie  erweist  sich  auch  dadurch  als  der  urgrund 
aller  höheren  geistigen  entwickelung  im  einzelnen  menschen  wie  im 
ganzen  geschlecht. 


Ich  habe  es  noch  kurz  zu  rechtfertigen,  dass  ich  den  titel  Prin- 
cipien  der  Sprachgeschichte  gewählt  habe.  Es  ist  eingewendet,  dass 
es  noch  eine  andere  wissenschaftliche  betrachtung  der  spräche  gäbe, 
als  die  geschichtliche.')  Ich  muss  das  in  abrede  stellen.  Was  mau 
für  eine  nichtgeschtliche  und  doch  wissenschaftliche  beti-achtuug  der 
spräche  erklärt,  ist  im  gründe  nichts  als  eine  unvollkommen  geschicht- 
liche, unvollkommen  teils  durch  schuld  des  betrachters,  teils  durch 
schuld  des   beobachtungsmaterials.     Sobald  man  über  das  blosse  cou- 


1)  Vgl.  Misteli  a.  a.  o.  s.  ;i82  flf. 

2* 


20 

statieren  von  einzelheiten  hinausgeht,  sohaltl  mau  versucht  den  zu- 
samnieiihaiii;'  zu  cifayseii,  die  erscheimmgeii  zu  liegreifeu,  so  betritt 
mau  auch  deu  gesehichtliehen  bodeu,  weuu  auch  vielleicht  ohne  sich 
klar  darüber  zu  sein.  Allerdings  ist  eine  wissenschaftliche  behaudlung 
der  spräche  nicht  bloss  möglich,  wo  uns  verschiedene  entwickelungs- 
stufeu  der  gleichen  spräche  vorliegen,  sondern  auch  bei  einem  neben- 
einanderliegen des  zu  geböte  stehenden  materials.  Am  günstigsten 
liegt  dann  die  sache,  wenn  uns  mehrere  verwandte  sprachen  oder  niund- 
arten  bekannt  sind,  •  Dann  ist  es  aufgäbe  der  Wissenschaft,  nicht  bloss 
zu  constatieren ,  was  sich  in  den  verschiedenen  sprachen  oder  mund- 
arteu  gegenseitig  entspricht,  sondern  aus  dem  überlieferten  die  nicht 
überlieferten  grundformeu  und  grundbedeutungen  nach  möglichkeit  zu 
reconstruieren.  Damit  aber  verwandelt  sich  augenscheinlich  die  ver- 
gleichende betrachtung  in  eine  geschichtiche.  Aber  auch,  wo  uns  nur 
eine  bestimmte  eutwickelungsstufe  einer  einzelnen  mundart  vorliegt, 
ist  noch  wissenschaftliche  betrachtung  bis  zu  einem  gewissen  grade 
möglich.  Jedoch  wie?  Vergleicht  man  z.  b.  die  verschiedenen  be- 
deutungen  eines  wortes  unter  einander,  so  sucht  man  festzusetzen, 
welche  davon  die  grundbedeutung  ist,  oder  auf  welche  untergegangene 
grundbedeutung  sie  hinweisen.  Bestimmt  man  aber  eine  grundbe- 
deutung, aus  der  andere  abgeleitet  sind,  so  constatiert  man  ein  histo- 
risches factum.  Oder  man  vergleicht  die  verwandten  formen  unter 
einander  und  leitet  sie  aus  einer  gemeinsamen  grundform  ab.  Dann 
constatiert  man  widerum  ein  historisches  factum.  Ja  man  darf  über- 
haupt nicht  einmal  behaupten,  dass  verwandte  formen  aus  einer  ge- 
meinsamen grundlage  abgeleitet  sind,  wenn  man  nicht  historisch  wer- 
den will.  Oder  man  constatiert  zwischen  verwandten  formen  und 
Wörtern  einen  lautwechsel.  Will  man  sich  denselben  erklären,  so  wird 
man  notwendig  darauf  geführt,  dass  derselbe  die  nach  Wirkung  eines 
lautwandels,  also  eines  historischen  processes  ist.  Versucht  man  die 
sogenannte  innere  sprachform  im  sinne  Humboldts  und  Steinthals  zu 
characterisieren,  so  kann  man  das  nur,  indem  man  auf  den  Ursprung 
der  ausdrucksformen  und  ihre  grundbedeutung  zurückgeht.  Und  so 
wüsste  ich  überhaupt  nicht,  wie  man  mit  erfolg  über  eine  spräche 
reflectieren  könnte,  ohne  dass  man  etwas  darüber  ermittelt,  wie  sie 
geschichtlich  geworden  ist.  Das  einzige,  was  nun  etwa  noch  von  nicht- 
geschichtlicher  betrachtung  übrig  bliebe,  wären  allgemeine  reflexionen 
über  die  individuelle  anwendung  der  spräche,  über  das  verhalten  des 
einzelnen  zum  allgemeinen  sprachusus.  Dass  aber  gerade  diese  re- 
flexionen aufs  engste  mit  der  betrachtung  der  geschichtlichen  ent- 
wiekelung  zu  verbinden  sind,  wird  sich  im  folgenden  zeigen. 


Cap.  I. 
Allg:emciues  über  das  weseu  der  spracheiilwickeluiig. 

Es  ist  von  fimdamentaler  bedeutung  für  den  geschiehtsforseher, 
dass  er  sieh  umfang  und  natur  des  gegenständes  genau  klar  maelit, 
dessen  entwiekelnng  er  zu  untersuelien  hat.  Man  hält  das  leicht  für 
eine  selbstverständliehe  saehe,  in  bezug  auf  welche  man  gar  nicht  irre 
gehen  könne.  Und  doch  liegt  gerade  hier  der  punkt,  in  welchem  die 
Sprachwissenschaft  die  versäumniss  von  decennien  eben  erst  anfängt 
nachzuholen. 

Die  historische  grammatik  ist  aus  der  älteren  bloss  des  er  ip- 
tiven  grammatik  hervorgegangen,  und  sie  hat  noch  sehr  vieles  von 
derselben  beibelialteu.  Wenigstens  in  der  zusammenfassenden  dar- 
stellung  hat  sie  durchaus  die  alte  form  bewahrt.  Sie  hat  nur  eine 
reihe  von  descriptiven  grammatiken  parallel  an  einander  gefügt.  Das 
vergleichen,  nicht  die  darlegung  der  entwickelung  ist  zunächst  als  das 
eigentliche  eharakteristicum  der  neuen  Wissenschaft  aufgefasst.  ^lan 
hat  die  vergleichende  grammatik,  die  sieh  mit  dem  gegenseitigen 
verhältniss  verwandter  spraehfamilien  beschäftigt,  deren  gemeinsame 
quelle  für  uns  verloren  gegangen  ist,  sogar  in  gegensatz  zu  der  histo- 
rischen gesetzt,  die  von  einem  durch  die  Überlieferung  gegebenen  aus- 
gangspunkte  die  weiterentwickelung  verfolgt.  Und  noch  immer  liegt 
vielen  Sprachforschern  und  philologen  der  gedanke  sehr  fern,  dass 
beides  nur  einunddieselbe  Wissenschaft  ist,  mit  der  gleichen  aufgäbe, 
der  gleichen  methode,  nur  dass  das  verhältniss  zwischen  dem  durch 
Überlieferung  gegebenen  und  der  combinatorischen  tätigkeit  sich  ver- 
schieden gestaltet.  Aber  auch  auf  dem  gebiete  der  historischen  gram- 
matik im  engeren  sinne  hat  man  die  selbe  art  des  vergleiehens  an- 
gewandt: mau  hat  descriptive  grammatiken  verschiedener  perioden  an 
einander  gereiht.  Zum  teil  ist  es  das  praktische  bedürfniss,  welches 
für  systematische  darstellung  ein  solches  verfahren  gefordert  hat 
und  bis  zu  einem  gewissen  grade  immer  fordern  wird.  Es  ist  aber 
nicht  zu   läugnen,    dass   auch   die  ganze  anschauung  von  der  sprach- 


22 

entwickelung-  imter  dem  haiiuc  (lieber  darBtellungsweise  gestanden  hat 
lind  zum  teil  noch  steht. 

Die  deseriptive  gramniatik  verzeichnet,  was  von  graniniatischen 
türmen  und  Verhältnissen  innerlialb  einer  sprachgenosseuschaft  zu  einer 
gewissen  zeit  üblich  ist,  was  von  einem  jeden  gebraucht  werden  kann, 
ohne  v<mi  andern  missverstanden  zu  werden  und  oline  ihn  fremdartig 
zu  berühren.  Ihr  inhalt  sind  nicht  tatsacheu,  sondern  nur  eine  ab- 
straction  aus  den  beobachteten  tatsachen.  Macht  man  solche  abstrac- 
tionen  innerhalb  der  selben  Sprachgenossenschaft  zu  verschiedenen 
Zeiten,  so  werden  sie  verschieden  ausfallen,  ^lan  erhält  durch  ver- 
gleichung  die  gewissheit,  dass  sich  Umwälzungen  vollzogen  haben,  man 
entdeckt  wol  auch  eine  gewisse  regelmässigkeit  in  dem  gegenseitigen 
verhältniss,  a])er  über  das  eigentliche  wesen  der  vollzogenen  Umwälzung 
wird  mau  auf  diese  weise  nicht  aufgeklärt.  Der  causalzusammenhang 
bleibt  verschlossen,  so  lange  mau  nur  mit  diesen  abstractionen  rechnet, 
als  wäre  die  eine  wirklich  aus  der  andern  entstanden.  Denn  zwi- 
schen abstractionen  gibt  es  überhaupt  keinen  causalnexus, 
sondern  nur  zwischen  realen  objecteu  und  tatsachen.  So 
lange  man  sich  mit  der  descriptiven  grammatik  bei  den  ersteren  be- 
ruhigt, ist  man  noch  sehr  weit  entfernt  von  einer  wissenschaftlichen 
crfassung  des  sprachlebens. 

Das  wahre  object  für  den  Sprachforscher  sind  vielmehr 
sämmtliche  äusseruugen  der  Sprechtätigkeit  an  sämmtlichen 
Individuen  in  ihrer  Wechselwirkung  auf  einander.  Alle  laut- 
complexe,  die  irgend  ein  einzelner  je  gesprochen,  gehört  oder  vor- 
gestellt hat  mit  den  damit  associierten  Vorstellungen,  deren  Symbole 
sie  gewesen  sind,  alle  die  mannigfachen  beziehungen,  welche  die  sprach- 
elemente  in  den  seelen  der  einzelnen  eingegangen  sind,  fallen  in  die 
Sprachgeschichte,  müssteu  eigentlich  alle  bekannt  sein,  um  ein  voll- 
ständiges verständniss  der  entwickelung  zu  ermöglichen.  Man  halte 
mir  nicht  entgegen,  dass  es  unnütz  sei  eine  aufgäbe  hinzustellen,  deren 
unlösbarkeit  auf  der  band  liegt.  Es  ist  schon  deshalb  von  wert  sich 
das  Idealbild  einer  Wissenschaft  in  seiner  ganzen  reinheit  zu  vergegen- 
wärtigen, weil  wir  uns  dadurch  des  abstandes  bewusst  werden,  in 
welchem  unser  können  dazu  steht,  weil  wir  daraus  lernen,  dass  und 
warum  wir  uns  in  so  vielen  fragen  bescheiden  müssen,  weil  da- 
durch die  superklugkeit  gedemütigt  wird,  die  mit  einigen  geistreichen 
gesichtspunktcn  die  compliciertesteu  historischen  entwickelungen  be- 
griffen zu  haben  meint.  Eine  unvermeidliche  notwendigkeit  aber  ist 
es  für  uns,  uns  eine  allgemeine  Vorstellung  von  dem  spiel  der  kräfte 
in  diesem  ganzen  massenhaften  gctriebe  zu  machen,  die  wir  beständig 
vor   äugen    haben  müssen,  wenn  wir  die  wenigen  dürftigen  fragmente, 


23 

die  uns  daraus  wirklich  gegeben  sind,  richtig  einzuordnen  versuchen 
wollen. 

Nur  ein  teil  dieser  wirkenden  kräfte  tritt  in  die  erscheinung. 
Nicht  bloss  das  sprechen  und  hören  sind  sprachgeschichtliche  Vor- 
gänge, auch  nicht  bloss  weiterhin  die  dabei  erregten  Vorstellungen  und 
die  beim  leisen  denken  durch  das  bewusstsein  ziehenden  Sprachgebilde. 
Vielleicht  der  bedeutendste  fortschritt,  den  die  neuere  psychologic  ge- 
macht hat,  besteht  in  der  erkenntniss,  dass  eine  grosse  menge 
von  psychischen  Vorgängen  sich  unbewusst  vollziehen,  und 
dass  alles,  was  je  im  bewusstsein  gewesen  ist,  als  ein  wirk- 
sames momeut  im  unbewussteu  bleibt.  Diese  erkenntniss  ist  auch 
für  die  Sprachwissenschaft  von  der  grössten  tragweite  und  ist  von 
Steinthal  in  ausgedehntem  masse  für  dieselbe  verwertet  worden.  Alle 
äusserungeu  der  Sprechtätigkeit  fliessen  aus  diesem  dunkeln  räume 
des  unbewussten  in  der  seele.  In  ihm  liegt  alles,  was  der  einzelne 
von  sprachlichen  mittein  zur  Verfügung  hat,  und  wir  dürfen  sagen 
sogar  etwas  mehr,  als  worüber  er  unter  gewöhnlichen  umständen  ver- 
fügen kann,  als  ein  höchst  compliciertes  psychisches  gebilde,  welches 
aus  mannigfach  unter  einander  verschlungenen  vorstellungsgruppen  be- 
steht. Wir  haben  hier  nicht  die  allgemeinen  gesetze  zu  betrachten, 
nach  welchen  diese  gruppen  sich  bilden.  Ich  verweise  dafür  auf 
Steinthals  Einleitung  in  die  psychologie  und  Sprachwissenschaft.  Es 
kommt  hier  nur  darauf  an  uns  ihren  Inhalt  und  ihre  Wirksamkeit  zu 
veranschaulichen. 

Sie  sind  ein  product  aus  alledem,  was  früher  einmal  durch  hören 
anderer,  durch  eigenes  sprechen  und  durch  denken  in  den  formen  der 
spräche  in  das  bewusstsein  getreten  ist.  Durch  sie  ist  die  möglichkeit 
gegeben,  dass  das,  was  früher  einmal  im  bewusstsein  war,  unter  gün- 
stigen bedingungen  wider  in  dasselbe  zurücktreten  kann,  also  auch, 
dass  das,  was  früher  einmal  verstanden  oder  gesprochen  ist,  wider 
verstanden  oder  gesprochen  werden  kann.  Man  muss  nach  dem  schon 
erwähnten  allgemeinen  gesetze  daran  festhalten,  dass  schlechthin 
keine  durch  die  Sprechtätigkeit  in  das  bewusstseiu  eingeführte  Vor- 
stellung spurlos  verloren  geht,  mag  die  spur  auch  häufig  so  schwach 
sein,  dass  ganz  besondere  umstände,  wie  sie  vielleicht  nie  eintreten, 
erforderlich  sind,  um  ihr  die  fähigkeit  zu  geben  wider  bewusst  zu  wer- 
den. Die  Vorstellungen  werden  gruppenweise  ins  bewusstsein  einge- 
führt und  bleiben  daher  als  gruppen  im  unbewussten.  Es  associieren 
sich  die  Vorstellungen  auf  einander  folgender  klänge,  nach  einander 
ausgeführter  bewegungen  der  Sprechorgane  zu  einer  reihe.  Die  klang- 
reihen und  die  bewegungsreihen  associieren  sich  unter  einander.  Mit 
beiden    associieren    sich    die    Vorstellungen,    für   die    sie    als   symbole 


24 

dienen,  nicht  ))loss  die  Vorstellungen  von  wortbedentung-en ,  sondern 
auch  die  vorstelhingen  von  syntaktischen  Verhältnissen.  Und  nicht 
bloss  die  einzelnen  Wörter,  sondern  grössere  lautreihen,  ganze  sätze 
assoeciieren  sich  unmittelbar  mit  dem  gedankeninhalt,  der  in  sie  ge- 
legt worden  ist.  Diese  wenigstens  ursprünglich  durch  die  aussenwelt 
gegebenen  gruppen  organisieren  sich  nun  in  der  seele  jedes  Indivi- 
duums zu  weit  reicheren  und  verwiekelteren  Verbindungen,  die  sich 
nur  zum  kleinsten  teile  bewusst  vollziehen  und  dann  auch  unbewusst 
weiter  wirken,  zum  bei  weitem  grösseren  teile  niemals  wenigstens  zu 
klarem  bewusstsein  gelangen  und  nichtsdestoweniger  wirksam  sind.  So 
associieren  sich  die  verschiedeneu  gebrauchsvveisen,  in  denen  man  ein 
wort,  eine  redensart  kennen  gelernt  hat,  unter  einander.  So  asso- 
ciieren sich  die  verschiedenen  casus  des  gleichen  nomens,  die  ver- 
schiedenen tempora,  modi,  personen  des  gleichen  verbums,  die  ver- 
schiedenen ableitungen  aus  der  gleichen  wurzel  vermöge  der  Verwandt- 
schaft des  klanges  und  der  bedeutung:  ferner  alle  Wörter  von  gleicher 
fnnction,  z.  b.  alle  substantiva,  alle  adjectiva,  alle  verba;  ferner  die 
mit  gleichen  suffixen  gebildeten  ableitungen  aus  verschiedenen  wurzeln; 
ferner  die  ihrer  fnnction  nach  gleichen  formen  verschiedener  Wörter, 
also  z.  b.  alle  plurale,  alle  genitive,  alle  passiva,  alle  perfecta,  alle 
eonjunctive.  alle  ersten  personen;  ferner  die  Wörter  von  gleicher  flexions- 
weise, z.  b.  im  nhd.  alle  schwachen  verba  im  gegensatz  zu  den  starken, 
alle  maseulina,  die  den  plural  mit  umlaut  bilden  im  gegensatz  zu  den 
nicht  umlautenden;  auch  Wörter  von  nur  partiell  gleicher  flexionsweise 
können  sich  im  gegensatz  zu  stärker  abweichenden  zu  gruppen  zu- 
sammenschliessen;  ferner  associieren  sich  in  form  oder  function  gleiche 
satzformen.  Und  so  gibt  es  noch  eine  menge  arten  von  zum  teil 
mehrfach  vermittelten  assoeiationen,  die  eine  grössere  oder  geringere 
bedeutung  für  das  sprachlebeu  haben.  Alle  diese  assoeiationen  können 
ohne  l)ewusstsein  zu  stände  kommen  und  sich  wirksam  erweisen,  und 
sie  sind  durchaus  nicht  mit  den  kategorieen  zu  verwechseln,  die  durch 
die  grammatische  reflexion  abstrahiert  werden,  wenn  sie  sich  auch  ge- 
wöhnlich mit  diesen  decken. 

Es  ist  ebenso  bedeutsam  als  selbstverständlich,  dass  dieser  Orga- 
nismus von  vorstellungsgruppeu  sich  bei  jedem  Individuum  in  stetiger 
Veränderung  befindet.  Erstlich  verliert  jedes  einzelne  moment,  welches 
keine  kräftigung  durch  erneuerung  des  eindruckes  oder  durch  wider- 
oinfülirung  in  das  bcAvusstsein  empfängt,  fort  und  fort  an  stärke. 
Zweitens  wird  durch  jede  tätigkeit  des  Sprechens,  hörens  oder  denkens 
etwas  neues  hinzugefügt.  Selbst  bei  genauer  widerholung  einer  früheren 
tätigkeit  erhalten  wenigstens  bestimmte  momente  des  schon  bestehenden 
Organismus   eine    kräftigung.     Und  selbst,    wenn  jemand  schon  eine 


25 

reiche  betätiguag-  hinter  sich  hat,  so  ist  doch  iniinei"  noch  gelegcnlieit 
genug"  zu  etwas  neuem  geboten,  ganz  abgesehen  davon,  dass  etwas 
i)isher  in  der  spräche  nicht  übliches  eintritt,  mindestens  zu  neuen 
Variationen  der  alten  demente.  Drittens  werden  sowol  durch  die  ab- 
schwächung  als  durch  die  Verstärkung  der  alten  demente  als  endlich 
durch  den  hinzutritt  neuer  die  associationsverhältnisse  innerhalb  des 
Organismus  allemal  verschoben.  Wenn  daher  auch  der  Organismus 
bei  dem  erwachsenen  im  gegensatz  zu  dem  entwickdungsstadium  der 
frühesten  kindheit  eine  gewisse  Stabilität  hat,  so  bleibt  er  doch  immer 
noch  mannigfaltigen  Schwankungen  ausgesetzt. 

Ein  anderer  gleich  selbstverständlicher,  aber  auch  gloicli  wichtiger 
punkt,  auf  den  ich  hier  hinweisen  muss,  ist  folgender :  der  Organismus 
der  auf  die  spräche  bezüglichen  vorstdlungsgruppen  entwickelt  sich 
bei  jedem  individuum  auf  eigentümliche  weise,  gewinnt  daher  auch 
bei  jedem  eine  eigentümliche  gestalt.  Selbst  wenn  er  sich  bei  ver- 
schiedenen ganz  aus  den  gleichen  dementen  zusammensetzen  sollte, 
so  werden  doch  diese  demente  in  verschiedener  reihenfolge  in  ver- 
schiedener gruppierung,  mit  verschiedener  intensität,  dort  zu  häufigeren, 
dort  zu  selteneren  malen  in  die  seele  eingeführt  sein,  und  wird  sich 
danach  ihr  gegenseitiges  machtverhältniss  und  damit  ihre  gruppierungs- 
weise verschieden  gestalten,  sel1)st  wenn  wir  die  Verschiedenheit  in 
den  allgemeinen  und  l)esondern  fähigkeiten  der  einzelnen  gar  nicht 
berücksichtigen. 

Schon  bloss  aus  der  beachtung  der  unendlichen  Veränderlichkeit 
und  der  eigentümlichen  gestaltung  eines  jeden  einzelnen  Organismus 
ergibt  sich  die  notweudigkeit  einer  unendlichen  Veränderlichkeit  der 
spräche  im  ganzen  und  eines  ebenso  unendlichen  Wachstums  der  dia- 
lectischen  Verschiedenheiten. 

Die  geschilderten  psychischen  Organismen  sind  die 
eigentlichen  träger  der  historischen  entwickelung.  Das 
wirklich  gesprochene  hat  gar  keine  entwickelung.  Es  ist  eine 
irreführende  ausdrucksweise,  wenn  man  sagt,  dass  ein  wort  aus  einem 
in  einer  früheren  zeit  gesprochenen  worte  entstanden  sei.  Als  physio- 
logisch-physikalisches product  geht  das  wort  spurlos  unter,  nachdem 
die  dabei  in  bewegung  gesetzten  körper  wider  zur  ruhe  gekommen 
sind.  Und  ebenso  vergeht  der  physische  eindruck  auf  den  hörenden. 
Wenn  ich  die  selben  bewegungen  der  spreehorgane,  die  ich  das  erste 
mal  gemacht  habe,  ein  zweites,  drittes,  viertes  mal  widerhole,  so  be- 
steht zwischen  diesen  vier  gleichen  bewegungen  keinerlei  physischer 
causalnexus,  sondern  sie  sind  unter  einander  nur  durch  den  psychischen 
Organismus  vermittelt.    Nur  in  diesem  bleibt  die  spur  alles  geschehenen. 


2(5 

wodureh  weiteres  geschehen  veniulasst  werden  kann,  nur  in  diesem 
sind  die  heding-ungen  g-esehiehtlicher  entwiekelung-  gegeben. 

Das  physische  element  der  spräche  hat  lediglich  die  funktion 
die  einwirkung  der  einzelnen  psychischen  Organismen  auf  einander  zu 
vermitteln,  ist  aber  für  diesen  zweck  unentbehrlich,  weil  es,  wie  schon 
in  der  einlcitung  nachdrücklich  hervorgehoben  ist,  keine  directe  ein- 
wirkung einer  seele  auf  die  andere  gibt.  Wiewohl  an  sich  nur  rasch 
vorüberrauschende  erscheinung,  verhilft  es  doch  durch  sein  zusammen- 
wirken mit  den  psychischen  Organismen  diesen  zu  der  möglichkeit 
auch  nach  ihrem  untergange  Wirkungen  zu  hinterlassen.  Da  ihre 
Wirkung  mit ^ dem  tode  des  Individuums  aufhört,  so  würde  die  ent- 
wiekelung einer  spräche  auf  die  dauer  einer  generation  beschränkt 
sein,  wenn  nicht  nach  und  nach  immer  neue  Individuen  dazu  träten, 
in  denen  sich  unter  der  einwirkung  der  schon  bestehenden  neue  sprach- 
organismen  erzeugten.  Dass  die  träger  der  historischen  entwiekelung 
einer  spräche  stets  nach  ablauf  eines  verhältnissmässig  kurzen  Zeit- 
raumes sämmtlich  untergegangen  und  durch  neue  ersetzt  sind,  ist  wider 
eine  höchst  einfache,  aber  darum  nicht  minder  beherzigenswerte  und 
nicht  minder  häufig  übersehene  Wahrheit. 

Sehen  wir  nun,  wie  sich  bei  dieser  natur  des  objects  die  auf- 
gäbe des  geschichtschreibers  stellt.  Der  beschreibung  von 
zuständen  wird  er  nicht  entraten  können,  da  er  es  mit  grossen 
complexen  von  gleichzeitig  neben  einander  liegenden  dementen  zu 
tun  hat.  Soll  aber  diese  beschreibung  eine  wirklich  brauchbare  unter- 
läge für  die  historische  betrachtung  werden,  so  muss  sie  sich  an  die 
realen  objecte  halten,  d.  h.  an  die  el)en  geschilderten  psychischen 
Organismen.  Sie  muss  ein  möglichst  getreues  bild  derselben  liefern, 
sie  muss  nicht  bloss  die  demente,  aus  denen  sie  bestehen,  vollständig 
aufzählen,  sondern  auch  das  verhältniss  derselben  zu  einander  ver- 
anschaulichen, ihre  relative  stärke,  die  mannigfachen  Verbindungen, 
die  sie  unter  einander  eingegangen  sind,  den  grad  der  enge  und 
festigkeit  dieser  Verbindungen;  sie  muss,  wollen  wir  es  populärer  aus- 
drücken, uns  zeigen,  wie  sich  das  Sprachgefühl  verhält.  Um  den 
zustand  einer  sprach?  vollkommen  zu  beschreiben,  wäre  es  eigentlich 
erforderlich ,  an  jedem  einzelnen  der  Sprachgenossenschaft  angehörigen 
individuum  das  verhalten  der  auf  die  spräche  bezüglichen  vorstdlungs- 
niassen  vollständig  zu  beobachten  und  die  an  den  einzelnen  gewonnenen 
resultate  unter  einander  zu  vergleiciien.  In  Wirklichkeit  müssen  wir 
uns  mit  etwas  viel  unvollkommenerem  begnügen,  was  mehr  oder 
weniger,   immer   aber   sehr  beträchtlich  hinter  dem  ideal  zurückbleibt. 

Wir  sind  häufig  auf  die  beobachtung  einiger  wenigen  Individuen, 
ja  eines  einzelnen  beschränkt  und  vermögen  auch  den  sprach  Organismus 


27 

dieser  wenigen  oder  dieses  einzelnen  mir  partiell  zu  erkennen.  Aus 
der  verg-leicliung  der  einzelnen  spraehorg-anismen  liisst  sieh  ein  gewisser 
dureliselinitt  gewinnen,  wonach  das  eigentlich  normale  in  der  spräche, 
der  sprachusus  bestimmt  wird.  Dieser  durchschnitt  kann  natürlich 
um  so  sicherer  festgestellt  werden,  je  mehr  Individuen  und  je  voll- 
ständiger jedes  einzelne  beobachtet  werden  kann.  Je  unvollständiger 
die  beobachtung  ist,  um  so  mehr  Zweifel  bleiben  zurück,  was  indi- 
viduelle eigentümlichkeit  und  was  allen  oder  den  meisten  gemein  ist. 
Immer  beherrscht  der  usus,  auf  dessen  darstellung  die  bestrebungen 
des  grammatikers  fast  allein  gerichtet  zu  sein  ptlegen,  die  spräche 
der  einzelnen  nur  bis  zu  einem  gewissen  grade,  daneben  steht  immer 
vieles,  was  nicht  durch  den  usus  bestimmt  ist,  ja  ihm  direct  wider- 
spricht. 

Der  beobachtung  eines  Sprachorganismus  stellen  sich  auch  im 
günstigsten  falle  die  grössten  Schwierigkeiten  in  den  weg.  Direct  ist 
er  überhaupt  nicht  zu  beobachten.  Denn  er  ist  ja  etwas  unbewusst 
in  der  seele  ruhendes.  Er  ist  immer  nm*  zu  erkennen  an  seinen  Wir- 
kungen, den  einzelnen  acten  der  Sprechtätigkeit.  Erst  mit  hülfe  von 
vielen  Schlüssen  kann  aus  diesem  ein  bild  von  den  im  unbewussten 
lagernden  vorstellungsmassen  gewonnen  werden. 

Von  den  physischen  erscheinungen  der  Sprechtätigkeit  sind  die 
akustischen  der  beobachtung  am  leichtesten  zugänglich.  Freilich  aber 
sind  die  resultate  unserer  gehörswahruehmung  grösstenteils  schwer  genau 
zu  messen  und  zu  definieren,  und  noch  schwerer  lässt  sich  von  ihnen 
eine  Vorstellung  geben  ausser  wider  durch  directe  mitteilung  für  das 
gehör.  Weniger  unmittelbar  der  beobachtung  zugänglich,  aber  einer 
genaueren  bestimmung  und  beschreibung  fähig  sind  die  bewegungen 
der  Sprechorgane.  Dass  es  keine  andere  exaete  darstellung  der  laute 
einer  spräche  gibt,  als  diejenige,  die  uns  lehrt,  welche  Organbewegungen 
erforderlich  sind  um  sie  hervorzubringen,  das  bedarf  heutzutage  keines 
beweises  mehr.  Das  ideal  einer  solchen  darstellungsweise  ist  nur  da 
annähernd  zu  erreichen,  wo  wir  in  der  läge  sind,  beobachtungen  an 
lebendigen  Individuen  zu  machen.  Wo  wir  nicht  so  glücklich  sind, 
muss  uns  dies  ideal  wenigstens  immer  vor  äugen  schweben,  müssen 
wir  uns  bestreben,  ihm  so  nahe  als  möglich  zu  kommen,  aus  dem 
Surrogate  der  buchstabenschrift  die  lebendige  erscheinung,  so  gut  es 
gehen  will,  herzustellen.  Dies  bestreben  kann  aber  nur  demjenigen 
glücken,  der  einigermassen  lautphysiologisch  geschult  ist,  der  bereits 
beobachtungen  an  lebenden  sprachen  gemacht  hat,  die  er  auf  die 
toten  übertragen  kann,  der  sich  ausserdem  eine  richtige  Vorstellung 
über  das  verhältniss  von  spräche  und  schrift  gebildet  hat.  Es  erörtnet 
sich  also  schon  hier  ein  weites   feld   für  die  combination,   schon    hier 


28 

zeigt  sieh  Vertrautheit  mit  den  lebensbedingungen  des  objects  al«  not- 
wendiges erfordcrniss. 

Die  i)sychische  scifce  der  Sprechtätigkeit  ist  wie  alles  psychische 
überhaupt  unmittelbar  nur  durch  Selbstbeobachtung  zu  erkennen.  Alle 
beobachtung  an  anderen  individuen  gibt  uns  zunächst  nur  physische 
tatsachen.  Diese  auf  psychische  zurückzuführen  gelingt  nur  mit  hülfe 
von  nnalogieschlüssen  auf  grundlage  dessen,  wass  wir  an  der  eigenen 
Seele  beobachtet  haben.  Immer  von  neuem  angestellte  exacte  Selbst- 
beobachtung, sorgfältige  analyse  des  eigenen  Sprachgefühls  ist  daher 
unentbehrlich  für  die  Schulung  des  Sprachforschers.  Die  analogie- 
sehlüsse  sind  dann  natürlich  am  leichtesten  bei  solchen  objecten,  die 
dem  eigenen  ich  am  ähnlichsten  sind.  An  der  rauttersprache  lässt 
sich  daher  das  wesen  der  Sprechtätigkeit  leichter  erfassen  als  an  irgend 
einer  anderen.  Ferner  ist  man  natürlich  wider  viel  besser  daran, 
wo  man  beobachtungen  am  lebenden  Individuum  anstellen  kann,  als 
wo  man  auf  die  zufälligen  reste  der  Vergangenheit  augewiesen  ist. 
Denn  nur  am  lebenden  Individuum  kann  man  resultate  gewinnen,  die 
von  jedem  verdachte  der  fälschuug  frei  sind,  nur  hier  kann  man 
seine  beobachtungen  beliebig  vervollständigen  und  methodische  ex- 
perimente  machen. 

Eine  solche  beschreibung  eines  sprachzustandes  zu  liefern,  die 
im  stände  ist  eine  durchaus  brauchbare  unterläge  für  die  geschicht- 
liche forschung  zu  liefern'),  ist  daher  keine  leichte,  unter  umständen 
eine  höchst  schwierige  aufgäbe,  zu  deren  lösung  bereits  klarheit  über 
das  wesen  des  sprachlebens  gehört,  und  zwar  in  um  so  höherem 
grade,  je  unvollständiger  und  unzuverlässiger  das  zu  geböte  stehende 
material  ist.  und  je  verschiedener  die  darzustellende  spräche  von  der 
muttersprache  des  darstellers  ist.  Es  ist  daher  nicht  zu  verwundern, 
wenn  die  gewöhnlichen  grammatiken  weit  hinter  unsern  ansprächen 
zurückbleiben.  Unsere  herkömmlichen  grammatischen  kategorieen  sind 
ein  sehr  ungenügendes  mittel  die  gruppierungsweise  der  Sprachelemente 
zu  veranschaulichen.  Unser  grammatisches  System  ist  lange  nicht 
fein  genug  gegliedert,  um  der  gliedernng  der  psychologischen  gruppen 
adäquat  sein  zu  können.  Wir  werden  noch  vielfach  veranlassung  haben 
die  unzuglänglichkeit  desselben  im  einzelnen  nachzuweisen.  Es  ver- 
führt ausserdem  dazu  das,  was  aus  einer  spräche  abstraliiert  ist,  in 
ungehöriger  weise  auf  eine  andere  zu  übertragen.  Selbst  wenn  man 
sich  im  kreise  des  indogermanischen  hält,  erzeugt  die  anwenduug  der 

')  Uehrigcns  imiss  das,  was  wir  hier  von  der  wissenschaftlichen  grammatik 
verlangen,  auch  von  der  praktischen  gefordert  werden,  nur  mit  den  einsehränknngen, 
welche  die  t'assungskraft  der  schiiler  notwendig  macht.  Denn  das  ziel  der  praktischen 
grammatik  ist  ja  doch  die  cinfiihrung  in  das  fremde  Sprachgefühl. 


I 


20 

gleichen  grammatiselieu  Schablone  viele  Verkehrtheiten.  Sehr  leicht 
wird  das  bild  eines  bestimmten  si»ra('li/jistandes  getrübt,  wenn  dem 
betrachter  eine  nahe  verwandte  spräche  oder  eine  ältere  oder  jüngere 
entwickelungsstufe  bekannt  ist.  Da  ist  die  grösste  Sorgfalt  erforderlich, 
dass  sich  nichts  fremdartiges  einmische.  Nach  dieser  seite  hin  hat 
gerade  die  historische  Sprachforschung  viel  gesündigt,  indem  sie  das, 
was  sie  aus  der  erforsehung  des  älteren  sprachzustandes  abstrahiert 
hat,  einfach  auf  den  jüngeren  übertragen  hat.  So  ist  etwa  die  bedeu- 
tung  eines  wortes  nach  seiner  etymologie  bestimmt,  während  doch 
jedes  bewusstsein  von  dieser  etymologie  bereits  geschwunden  und  eine 
selbständige  eutwickeluug  der  bedeutung  eingetreten  ist.  So  sind  in 
der  flexiouslehre  die  rubriken  der  ältesten  periode  durch  alle  folgende 
Zeiten  beibehalten  worden,  ein  verfahren,  wobei  zwar  die  nachwirkungen 
der  ursprünglichen  Verhältnisse  zu  tage  treten,  aber  nicht  die  neue 
psychische  Organisation  der  gruppen. 

Ist  die  beschreibuug  verschiedener  epoehen  einer  spräche  nach 
unseren  forderungen  eingerichtet,  so  ist  damit  eine  bedingung  erfüllt,  wo- 
durch es  möglich  wird  sich  aus  der  vergleichung  der  verschiedenen 
beschreibungen  eine  Vorstellung  von  den  stattgehabten  Vorgängen  zu 
bilden.  Dies  wird  natürlich  um  so  besser  gelingen,  je  näher  sich  die 
mit  einander  verglichenen  zustände  stehen.  Doch  selbst  die  leichteste 
Veränderung  des  usus  pflegt  bereits  die  folge  des  Zusammenwirkens 
einer  reihe  von  einzelvorgängen  zu  sein,  die  sieh  zum  grossen  teile 
oder  sämmtlich  unserer  beobachtung  entziehen. 

Suchen  wir  zunächst  ganz  im  allgemeinen  festzustellen:  was  ist 
die  eigentliche  Ursache  für  die  Veränderungen  des  sprachusus?  Ver- 
änderungen, welche  durch  die  bewusste  absieht  einzelner  Individuen 
zu  stände  kommen  sind  nicht  absolut  ausgeschlossen.  Grammatiker 
haben  an  der  fixierung  der  Schriftsprachen  gearbeitet.  Die  termiuologie 
der  Wissenschaften,  künste  und  gewerbe  ist  durch  lehrmeister,  forscher 
und  entdecker  geregelt  und  bereichert.  In  einem  despotischen  reiche 
mag  die  laune  des  monarchen  hie  und  da  in  einem  punkte  eingegriffen 
haben.  Ueberwiegend  aber  hat  es  sich  dabei  nicht  um  die  Schöpfung 
von  etwas  ganz  neuem  gehandelt,  sondern  nur  um  die  regelung  eines 
Punktes,  in  welchem  der  gebrauch  noch  schwankte,  und  die  bedeutung 
dieser  willkührlichen  festsetzungen  ist  verschwindend  gegenüber  den 
langsamen,  ungewollten  und  unbewussten  Veränderungen,  denen  der 
sprachusus  fortwährend  ausgesetzt  ist.  Die  eigentliche  Ursache 
für  die  Veränderung  des  usus  ist  nichts  anderes  als  die  ge- 
wöhnliche Sprechtätigkeit.  Bei  dieser  ist  jede  absichtliche  eiu- 
wirkuug  auf  den  usus  ausgeschlossen.  Es  wirkt  dabei  keine  andere 
absieht   als   die  auf  das  augenblickliche  bedürfniss  gerichtete,   die- ab- 


30 

siebt  seine  wUnselie  und  gfedauken  anderen  verständlich  zu  machen. 
Im  übrigen  spielt  der  zweck  bei  der  entwiekelung  des  sprachusus 
keine  andere  rolle  als  diejenige,  welche  ihm  Darwin  in  der  entwieke- 
lung der  organischen  natur  angewiesen  hat:  die  grössere  oder  geringere 
Zweckmässigkeit  der  entstandenen  gebilde  ist  bestimmend  für  erhaltung 
oder  Untergang  derselben. 

Wenn  durch  die  Sprechtätigkeit  der  usus  verschoben  wird,  ohne 
dass  dies  von  irgend  jemand  gewollt  ist,  so  beruht  das  natürlich 
darauf,  dass  der  usus  die  Sprechtätigkeit  nicht  vollkommen  beherrscht, 
sondern  immer  ein  bestimmtes  mass  individueller  freiheit  übrig  lässt. 
Die  betätigung  dieser  individuellen  freiheit  wirkt  zurück  auf  den 
psychischen  Organismus  des  sprechenden,  wirkt  aber  zugleich  auch 
auf  den  Organismus  der  hörenden.  Durch  die  summierung  einer  reihe 
solcher  Verschiebungen  in  den  einzelnen  Organismen,  wenn  sie  sich  in 
der  gleichen  richtung  bewegen,  ergiebt  sich  dann  als  gesammtresultat 
eine  Verschiebung  des  usus.  Aus  dem  anfänglich  nur  individuellen 
bildet  sich  ein  neuer  usus  heraus,  der  eventuell  den  alten  verdräng-t. 
Daneben  gibt  es  eine  menge  gleichartiger  Verschiebungen  in  den 
einzelnen  Organismen,  die,  weil  sie  sich  nicht  gegenseitig  stützen,  keinen 
solchen  durchschlagenden  erfolg  haben. 

Es  ergibt  sich  demnach,  dass  sich  die  ganze  principienlehre  der 
Sprachgeschichte  um  die  frage  concentriert :  wie  verhält  sich  der 
sprachusus  zur  individuellen  Sprechtätigkeit?  wie  wird  diese 
durch  jenen  bestimmt  und  wie  wirkt  sie  umgekehrt  auf  ihn  zurück'?') 

Es  handelt  sich  darum,  die  verschiedenen  Veränderungen  des 
usus,  wie  sie  bei  der  sprachentwickelung  vorkommen,  unter  allgemeine 
kategorieen  zu  bringen  und  jede  einzelne  kategorie  nach  ihrem  werden 
und  ihren  verschiedenen  entwiekelungsstadien  zu  untersuchen.  Um 
hierbei  zum  ziele  zu  gelangen,  müssen  wir  uns  an  solche  fälle  halten, 
in  denen  diese  einzelnen  entwiekelungsstadien  möglichst  vollständig 
und  klar  vorliegen.     Deshalb  liefern  uns  im  allgemeinen  die  modernen 


1)  Hieraus  erhellt  auch,  dass  philologie  uud  Sprachwissenschaft  ihr  gebiet  nicht 
so  gegen  einander  abgrenzen  dürfen,  dass  die  eine  immer  nur  die  fertigen  resultate 
der  andern  zu  benutzen  brauchte.  Man  könnte  den  unterschied  zwischen  der 
Sprachwissenschaft  und  der  philologischen  behandlung  der  spräche  nur  so  bestimmen, 
dass  die  erstere  sich  mit  den  allgemeinen  usuell  feststehenden  Verhältnissen  der 
spräche  beschäftigt,  die  letztere  mit  ihrer  individuellen  anwendung.  Nun  kann 
aber  die  leistung  eines  Schriftstellers  nicht  gehörig  gewürdigt  werden  ohne  richtige 
Vorstellungen  über  das  verhältniss  seiner  producte  zu  der  gesammtorganisation 
seiner  sprachvorstellungeu  und  über  das  verhältniss  dieser  gesammtorganisation 
zum  allgemeinen  usus.  Umgekehrt  kann  die  Umgestaltung  des  usus  nicht  begriffen 
werden  ohne  ein  Studium  der  individuellen  Sprechtätigkeit.  Im  übrigen  verweise 
ich  auf  Brugmauu,  Zum  heutigen  stand  der  Sprachwissenschaft,  s.  1  tf. 


31 

epocheu  das  brauchbarste  material.  Doch  aiicli  die  geriugste  Ver- 
änderung; des  usus  ist  bereits  ein  coniplieierter  ])ro('ess,  den  wir  nicht 
beg,reifen  ohne  berlicksichtig,ung  der  individuellen  niodiiicationen  des 
usus.  Da,  wo  die  g'ewöhnliche  graniniatik  zu  sondern  und  j;renzlinien 
zu  ziehen  pflegt,  mlissen  wir  uns  bemühen  alle  möglichen  Zwischen- 
stufen und  vermittelungen  aufzufinden. 

Auf  allen  gebieten  des  sprachlebens  ist  eine  allmählig  abgestufte 
entwickelung  möglich.  Diese  sanfte  abstufung  zeigt  sich  einerseits  in 
den  modificationen,  welche  die  individualsprachen  erfahren,  anderseits 
in  dem  verhalten  der  individualsprachen  zu  einander.  Dies  im  einzelnen 
zu  zeigen  ist  die  aufgäbe  meines  ganzen  werkes.  Hier  sei  zunächst 
nur  noch  darauf  hingewiesen,  dass  der  einzelne  zu  dem  sprachmateriale 
seiner  genosseuschaft  teils  ein  actives,  teils  ein  nur  passives  verhältniss 
haben  kann,  d.  h.  nicht  alles,  was  er  hört  und  versteht,  wendet  er 
auch  selbst  an.  Dazu  kommt,  dass  von  dem  sprachmateriale,  welches 
viele  individuvjn  übereinstimmend  anwenden,  doch  der  eine  dieses,  der 
andere  jenes  bevorzugt.  Hierauf  beruht  ganz  besonders  die  abweichung 
auch  zwischen  den  einander  am  nächsten  stehenden  individualsprachen 
und  die  möglichkeit  einer  allmähligen  Verschiebung  des  usus. 

Die  Sprachveränderungen  vollziehen  sich  an  dem  Individuum  teils 
durch  seine  spontane  tätigkeit,  durch  sprechen  und  denken  in  den 
formen  der  spräche,  teils  durch  die  beeinflussung,  die  es  von  andern 
individuen  erleidet.  Eine  Veränderung  des  usus  kann  nicht  wol  zu 
Stande  kommen,  ohne  dass  beides  zusammenwirkt.  Der  beeinflussung 
durch  andere  bleibt  das  Individuum  immer  ausgesetzt,  auch  wenn  es 
schon  das  sprachübliche  vollständig  in  sieh  aufgenommen  hat.  Aber 
die  hauptperiode  der  beeinflussung  ist  doch  die  zeit  der  ersten  auf- 
nähme, der  Spracherlernung.  Diese  ist  principiell  von  der  sonstigen 
beeinflussung  nicht  zu  sondern,  erfolgt  auch  im  allgemeinen  auf  die 
gleiche  weise ;  es  lässt  sich  auch  im  leben  des  einzelnen  nicht  wol  ein 
bestimmter  punkt  angeben,  von  dem  man  sagen  könnte,  dass  jetzt  die 
Spracherlernung  abgeschlossen  sei.  Aber  der  graduelle  unterschied  ist 
doch  ein  enormer.  Es  liegt  auf  der  band,  dass  die  Vorgänge  bei  der 
spracherleruung  von  der  allerhöchsten  Wichtigkeit  für  die  erklärung 
der  Veränderungen  des  sprachusus  sind,  dass  sie  die  wichtigste  Ursache 
für  diese  Veränderungen  abgeben.  Wenn  wir,  zwei  durch  einen  längeren 
Zwischenraum  von  einander  getrennte  epochen  vergleichend,  sagen,  die 
spräche  habe  sich  in  den  und  den  punkten  verändert,  so  geben  wir 
ja  damit  nicht  den  wirklichen  tatbestand  an,  sondern  es  verhält  sich 
vielmehr  so:  die  spräche  hat  sich  ganz  neu  erzeugt  und  diese  ueu- 
schöpfung  ist  nicht  völlig  übereinstimmend  mit  dem  früheren,  jetzt 
untergegangenen  ausgefallen. 


32 

Bei  der  klassificierung  der  Veränderungen  des  sprach- 
usns  können  wir  nach  verscliicdenen  gesielitspunkten  verfahren.  Ich 
inüehte  zunächst  einen  wichtigen  unterschied  allgemeinster  art  her- 
vorhehen.  Die  Vorgänge  können  entweder  positiv  oder  negativ 
sein,  d.  h.  sie  bestehen  entweder  in  der  Schöpfung  von  etwas  neuem 
oder  in  dem  Untergang  von  etwas  altem,  oder  endlich  drittens  sie  be- 
stehen in  einer  Unterschiebung,  d.  h.  der  Untergang  des  alten  und 
das  auftreten  des  neuen  erfolgt  durch  den  selben  act.  Das  letztere 
ist  ausschliesslich  der  fall  bei  dem  lautwandel.  Scheinbar  zeigt  sich 
die  Unterschiebung  auch  auf  andern  gebieten.  Dieser  schein  wird 
dadurch  hervorgerufen,  dass  man  die  Zwischenstufen  nicht  beachtet, 
aus  denen  sich  ergibt,  dass  in  Wahrheit  ein  nacheinander  von  positiven 
und  negativen  Vorgängen  vorliegt.  Die  negativen  Vorgänge  beruhen 
immer  darauf,  dass  in  der  spräche  der  jüngeren  generation  etwas 
nicht  neu  erzeugt  wird,  was  in  der  spräche  der  altern  vorhanden  war; 
wir  haben  es  also,  genau  genommen,  nicht  mit  negativen  Vorgängen, 
sondern  mit  dem  nichteintreten  von  Vorgängen  zu  tun.  Vorbereitet 
aber  muss  das  nichteintreten  dadurch  sein,  dass  das  später  unter- 
gehende auch  schon  bei  der  älteren  ,  generation  selten  geworden  ist. 
Eine  generation,  die  ein  bloss  passives  verhältniss  dazu  hat,  schiebt 
sich  zwischen  eine  mit  noch  activem  und  eine  mit  gar  keinem  ver- 
hältnis>s. 

Anderseits  könnte  man  die  Veränderungen  des  usus  danach  ein- 
teilen, ob  davon  die  lautliche  seite  oder  die  bedeutung  betroffen 
wird.  Wir  erhalten  danach  zunächst  Vorgänge,  welche  die  laute  treffen, 
ohne  dass  die  bedeutung  dabei  in  betracht  kommt,  und  solche,  welche 
die  bedeutung  treffen,  ohne  dass  die  laute  in  mitleidenschaft  gezogen 
werden,  d.  h.  also  die  beiden  kategorieen  des  lautwandels  und  des  be- 
deutungswandels.  Jeder  bedeutungswandel  setzt  voraus,  dass  die  auf 
die  lautgestalt  bezügliche  vorstellungsgruppe  noch  als  die  gleiche 
empfunden  wird,  und  ebenso  jeder  lautwandel,  dass  die  bedeutung 
unverändert  geblieben  ist.  Das  schliesst  natürlich  nicht  aus,  dass  sich 
mit  der  zeit  sowol  der  laut  als  die  bedeutung  ändern  kann.  Aber 
beide  Vorgänge  stehen  dann  in  keinem  causalzusammenhange  mit  ein- 
ander; es  ist  nicht  etwa  der  eine  durch  den  andern  veranlasst  oder 
beide  durch  die  gleiche  Ursache.  Für  andere  Veränderungen  kommen 
von  vornherein  lautgestalt  und  bedeutung  zugleich  in  frage.  Hierher 
gehört  zunächst  die  uranfängliche  zusammenknüpfuug  von  laut  und 
bedeutung,  die  wir  als  urschöpfung  bezeichnen  können.  Mit  dieser 
hat  natürlich  die  sprachentwickelung  begonnen,  und  alle  anderen  Vor- 
gänge sind  erst  möglich  geworden  auf  grund  dessen,  was  die  urschöpfung 
hervorgebracht  hat.     Ferner   aber  gehören   hierher   verschiedene   vor- 


33 

günge,  die  das  mit  einander  gemein  haben,  dass  die  schon  bestehen- 
den hiutlichen  demente  der  spräche  neue  eombinationen  eingehen  auf 
grund  der  ihnen  zukommenden  bedeutung.  Der  wichtigste  factor  dabei 
ist  die  analogie,  welche  allerdings  auch  auf  rein  lautlichem  gebiete 
eine  rolle  spielt,  aber  doch  ihre  hauptwirksarakeit  da  hat,  wo  zu  gleicher 
zeit  die  bedeutung  mitwirkt. 

Wenn  unsere  betrachtungsweise  richtig  durchgeführt  wird,  so 
müssen  die  allgemeinen  ergebnisse  derselben  auf  alle  sprachen  und 
auf  alle  entwickelungsstufen  derselben  anwendbar  sein,  auch  auf  die 
anfange  der  spräche  überhaupt.  Die  frage  nach  dem  Ursprünge 
der  spräche  kann  nur  auf  grundlage  der  principienlehre  beantwortet 
werden.  Andere  hülfsmittel  zur  beantwortung  gibt  es  nicht.  Wir 
können  nicht  auf  grund  der  Überlieferung  eine  historische  Schilderung 
von  den  anfangen  der  spräche  entwerfen.  Die  frage,  die  sieh  beant- 
worten lässt,  ist  überhaupt  nur:  wie  war  die  entstehung  der  spräche 
möglich.  Diese  frage  ist  befriedigend  gelöst,  wenn  es  uns  gelingt  die 
entstehung  der  spräche  lediglich  aus  der  Wirksamkeit  derjenigen  fac- 
taren  abzuleiten,  die  wir  auch  jetzt  noch  bei  der  weiterentwickelung 
der  spräche  immerfort  wirksam  sehen.  Uebrigens  lässt  sich  ein  gegen- 
satz  zwischen  anfänglicher  Schöpfung  der  spräche  und  blosser  Weiter- 
entwicklung gar  nicht  durchführen.  Sobald  einmal  die  ersten  ausätze 
gemacht  sind,  ist  spräche  vorhanden  und  weiterentwickelung.  Es 
existieren  nur  graduelle  unterschiede  zwischen  den  ersten  anfangen 
der  spräche  und  den  späteren  epochen. 

Noch  auf  einen  punkt  muss  ich  hier  kurz  hinweisen.  In  der 
Opposition  gegen  eine  früher  übliche  behandlungsweise  der  spräche, 
wonach  alle  grammatischen  Verhältnisse  einfach  aus  den  logischen 
abgeleitet  wurden,  ist  man  soweit  gegangen,  dass  man  eine  rUcksicht- 
nahme  auf  die  logischen  Verhältnisse,  welche  in  der  grammatischen 
form  nicht  zum  ausdruck  kommen,  von  der  Sprachbetrachtung  ganz 
ausgeschlossen  wissen  will.  Das  ist  nicht  zu  billigen.  So  notwendig 
es  ist  einen  unterschied  zwischen  logischen  und  grammatischen  kate- 
gorieen  zu  machen,  so  notwendig  ist  es  auf  der  andern  seite  sich  das 
verhältniss  beider  zu  einander  klar  zu  machen.  Grammatik  und  logik 
treffen  zunächst  deshalb  nicht  zusammen,  weil  die  ausbildung  und  an- 
wendung  der  spräche  nicht  durch  streng  logisches  denken  vor  sich 
geht,  sondern  durch  die  natürliche,  ungeschulte  bewegung  der  vor- 
stellungsmassen,  die  je  nach  begabung  und  ausbildnug  mehr  oder 
weniger  logischen  gesetzen  folgt  oder  nicht  folgt.  Aber  auch  der 
wirklichen  bewegung  der  vorstellungsmassen  mit  ihrer  bald  griisseren 
bald  geringeren  logischen  eonsequeuz  ist  die  sprachliche  form  des  aus- 
drueks  nicht  immer  congruent.     Auch  psychologische  und  grammatische 

Paul,  Piincipien.    II.  Auflage.  3 


34 

kateg-orie  decken  sieh  iiielit.  Daraus  folgt,  dass  der  Sprachforscher 
beides  auseinander  halten  muss,  aber  nicht,  dass  er  bei  der  analyse 
der  menschlichen  rede  auf  psychische  vorgäng-e,  die  sich  beim  sprechen 
und  hören  vollziehen,  ohne  doch  im  sprachlichen  ausdruck  zur  er- 
scheinung  zu  gelangen,  keine  rücksicht  zu  nehmen  brauchte.  Gerade 
erst  durch  eine  allseitige  berücksichtigung  dessen,  was  in  den  elementeu, 
aus  denen  sich  die  individuelle  rede  zusammensetzt,  an  sich  noch  nicht 
liegt,  was  aber  doch  dem  redenden  vorschwebt,  und  vom  hörenden 
verstanden  wird,  gelangt  der  Sprachforscher  zur  erkenntniss  des  Ur- 
sprungs und  der  Umwandlungen  der  sprachlichen  ausdrucksformeu 
Wer  die  grammatischen  formen  immer  nur  isoliert  betrachtet  ohne  ihr 
verhältuiss  zu  der  individuellen  seelentätigkeit,  gelangt  nie  zu  einem 
verständniss  der  spracheutwickelung. 


Cap.  II. 
Die  spraclispaltung. 

Es  ist  eine  diiveli  die  vergleichende  Sprachforschung'  zweifeHos 
sicher  gestellte  tatsache,  dass  sich  vielfach  aus  einer  im  wesentlichen 
einheitlichen  spräche  mehrere  verschiedene  sprachen  entwickelt  hahen, 
die  ihrerseits  auch  nicht  einheitlich  geblieben  sind,  sondern  sich  in 
eine  reihe  von  dialecten  gespalten  haben.  Man  sollte  erwarten,  dass 
sich  bei  der  betrachtung  dieses  processes  mehr  als  irgend  wo  anders 
die  analogieen  aus  der  entwickelung  der  organischen  natur 
aufdrängen  müssten.  Es  ist  zu  verwundern,  dass  die  Darwinisten  unter 
den  Sprachforschern  sich  nicht  vorzugsweise  auf  diese  seite  geworfen 
haben.  Hier  in  der  tat  ist  die  parallele  innerhalb  gewisser  grenzen 
eine  berechtigte  und  lehrreiche.  Wollen  wir  diese  parallele  ein  wenig 
verfolgen,  so  kann  es  nur  in  der  weise  gescheh^^n,  dass  wir  die  spräche 
des  einzelnen,  also  die  gesammtheit  der  Sprachmittel  über  die  er  ver- 
fügt, dem  tierischen  oder  pflanzlichen  Individuum  gleich  setzen,  die 
dialecte,  sprachen,  spraehfamilien  etc.  den  arten,  gattungen,  klassen 
des  tier-  und  pflauzenreichs. 

Es  gilt  zunächst  in  einem  wichtigen  punkte  die  vollständige 
gleichheit  des  Verhältnisses  anzuerkennen.  Der  grosse  Umschwung, 
welchen  die  Zoologie  in  der  neuesten  zeit  durchgemacht  hat,  beruht 
zum  guten  teile  auf  der  erkenntniss,  dass  nichts  reale  existenz  hat  als 
die  einzelnen  Individuen,  dass  die  arten,  gattungen,  klassen  nichts  sind 
als  Zusammenfassungen  und  sonderungen  des  menschliehen  Verstandes, 
die  je  nach  willkühr  verschieden  ausfallen  können,  dass  artunterschiede 
und  individuelle  unterschiede  nicht  dem  wesen,  sondern  nur  dem  grade 
nach  verschieden  sind.  Auf  eine  entsprechende  grundlage  müssen  wir 
uns  auch  bei  der  beurteilung  der  dialeetunterschiede  stellen.  Wir 
müssen  eigentlich  so  viele  sprachen  unterscheiden  als  es  Individuen 
gibt.  Wenn  wir  die  sprachen  einer  bestimmten  anzahl  von  individuen 
zu  einer  gruppe  zusanmienfassen  und  die  anderer  individuen  dieser 
gruppe  gegenüber  ausschliessen,   so  abstrahieren  wir  dabei  immer  von 

3* 


36 

gewissen  verschiedeuheiten,  wälirend  wir  auf  andere  wert  legen.  Es 
ist  also  der  willkühr  ein  ziemlicher  Spielraum  gelassen.  Dass  sieh 
überhaupt  die  individuellen  sprachen  unter  ein  klasseusjstem  bringen 
lassen  müssten,  ist  von  vornherein  nicht  vorauszusetzen.  Man  muss 
darauf  gefasst  sein,  so  viele  gruppen  man  auch  unterscheiden  mag, 
eine  anzahl  von  Individuen  zu  finden,  bei  denen  man  zweifelhaft  bleibt, 
ob  man  sie  dieser  oder  jener  unter  zwei  naheverwandten  gruppen  zu- 
zählen soll.  Und  in  das  selbe  dilemma  gerät  mau  erst  recht,  wenn 
man  die  kleineren  gruppen  in  grössere  zusammenzuordnen  und  diese 
gegen  einander  abzuschliesseu  versucht.  Eine  scharfe  sonderung  wird 
erst  da  möglich,  wo  mehrere  generatiouen  hindurch  die  verkehrsge- 
meinsehaft  abgebrochen  gewesen  ist. 

Wenn  man  daher  von  der  Spaltung  einer  früher  einheitlichen 
spräche  in  verschiedene  dialecte  spricht,  so  ist  damit  das  eigentliche 
wesen  des  Vorganges  sehr  schlecht  ausgedrückt.  In  Wirklichkeit  wer- 
den in  jedem  augenblicke  innerhalb  einer  Volksgemeinschaft  so  viele 
dialecte  geredet  als  redende  individuen  vorhanden  sind,  und  zwar 
dialecte,  von  denen  jeder  einzelne  eine  geschichtliche  entwickelung 
hat  und  in  stätiger  Veränderung  begriflen  ist.  Dialectspaltung  be- 
deutet nichts  anderes  als  das  hinauswachsen  der  individuel- 
len Verschiedenheiten  über  ein  gewisses  mass. 

Ein  anderer  punkt,  in  dem  wir  uns  eine  parallele  gestatten  dürfen, 
ist  folgender.  Die  entwickelung  eines  tierischen  individuums  hängt 
von  zwei  factoren  ab.  Auf  der  einen  seite  ist  sie  durch  die  natur  der 
eitern  bedingt,  wodurch  ihr  ursprünglich  auf  dem  wege  der  Vererbung 
eine  bestimmte  beweguugsrichtung  mitgeteilt  wird.  Auf  der  andern 
Seite  stehen  alle  die  zufälligen  einwirkungen  des  klimas,  der  nahrung, 
der  lebensweise  etc.,  denen  das  individuum  in  seinem  speciellen  dasein 
ausgesetzt  ist.  Durch  den  einen  ist  die  wesentliche  gleichheit  mit  den 
eitern  bedingt,  durch  den  andern  eine  abweichung  von  denselben  inner- 
halb gewisser  grenzen  ermöglicht.  So  gestaltet  sich  die  spräche  jedes 
individuums  einerseits  nach  den  einwirkungen  der  sprachen  seiner 
verkehrsgenossen,  die  wir  von  unserm  gesichtspunkte  aus  als  die  er- 
zeugerinnen  seiner  eignen  betrachten  können ,  anderseits  nach  den 
davon  unabhängigen  eigeuheiten  und  eigentümlichen  erregungen  seiner 
geistigen  und  leiblichen  natur.  Auch  darin  besteht  Übereinstimmung, 
dass  der  erstere  factor  stets  der  bei  weitem  mächtigere  ist.  Erst  da- 
durch, dass  jede  modification  der  natur  des  individuums,  die  von  der 
anfänglich  mitgeteilten  bewegungsrichtung  ablenkt,  mitbestimmend  für 
die  bewegungsrichtung  einer  folgenden  generation  wird,  ergibt  sich  mit 
der  zeit  eine  stärkere  Veränderung  des  typus.  So  auch  in  der  Sprach- 
geschichte.    Wir  dürfen  ferner  von  der  spräche  wie  von  dem  tierischen 


37 

Organismus  bcliaiiptcn:  je  iiicdrig-or  die  eiit\vifkclnu^,s,stufc ,  desto 
stärker  der  zweite  faetor  im  vcrliältiiiss  /um  ersten. 

Auf  der  andern  seitc  dürfen  wir  aber  die  p'ossen  versehieden- 
lieiten  nicht  übersehen,  die  zwischen  der  sprachlichen  und  der  orga- 
nischen zeug'ung  bestehen.  Bei  der  letzteren  hört  die  directe  einwirkung 
der  erzeuger  bei  einem  bestimmten  punkte  auf,  und  es  wirkt  nur  die 
bis  dahin  mitgeteilte  bewegungsrichtung  nach.  An  der  erzeugung  der 
Sprache  eines  Individuums  behalten  die  umgebenden  sprachen  ihren 
anteil  bis  zu  seinem  ende,  wenn  auch  ihre  einwirkungen  in  der  frühesten 
kindheit  der  betreftendeu  spräche  am  mächtigsten  sind  und  um  so 
schwächer  werden,  je  mehr  diese  wächst  und  erstarkt.  Die  erzeugung 
eines  tierischen  Organismus  geschieht  durch  ein  individuum  oder  durch 
ein  paar.  An  der  erzeugung  der  spräche  eines  individuums  beteiligen 
sich  die  sprachen  einer  grossen  menge  anderer  Individuen,  aller,  mit 
denen  es  überhaupt  während  seines  lebens  in  sprachlichen  verkehr 
tritt,  wenn  auch  in  sehr  verschiedenem  grade.  Und,  was  die  sache 
noch  viel  eomplicierter  macht,  die  verschiedenen  individuellen  sprachen 
können  bei  diesem  zeugungsprocess  im  verhältniss  zu  einander  zugleich 
activ  und  passiv,  die  eitern  können  kinder  ihrer  eigenen  kinder  sein. 
Endlich  ist  zu  berücksichtigen,  dass,  auch  wenn  wir  von  der  spräche 
eines  einzelnen  individuums  reden,  wir  es  nicht  mit  einem  eoncreten 
wesen,  sondern  mit  einer  abstraction  zu  tun  haben,  ausser,  wenn  wir 
darunter  die  gesammtheit  der  in  der  seele  an  einander  geschlossenen 
auf  die  Sprechtätigkeit  bezüglichen  vorstellungsgruppen  mit  ihren 
mannigfach  verschlungenen  beziehungen  verstehen. 

Der  verkehr  ist  es  allein,  wodurch  die  spräche  des  individuums 
erzeugt  wird.  Die  abstammung  kommt  nur  insoweit  in  betracht,  als 
sie  die  physische  und  geistige  beschaffenheit  des  einzelnen  beeinflusst, 
die,  wie  bemerkt,  allerdings  ein  faetor  in  der  Sprachgestaltung  ist,  aber 
im  verhältniss  zu  den  einflüsseu  des  Verkehrs  ein  sehr  untergeordneter. 

Gehen  wir  von  dem  unbestreitbar  richtigen  satze  aus,  dass  jedes 
individuum  seine  eigene  spräche  und  jede  dieser  sprachen  ihre  eigene 
geschichte  hat,  so  besteht  das  problem,  das  zu  lösen  uns  durch  die 
tatsache  der  dialectbildung  auferlegt  wird,  nicht  sowol  in  der  frage, 
wie  es  kommt,  dass  aus  einer  wesentlich  gleichmässigen  spräche  ver- 
schiedene dialecte  entspringen;  die  entstehung  der  Verschiedenheit 
scheint  ja  danach  selbstverständlich.  Die  frage,  die  wir  zu  beantworten 
haben,  ist  vielmehr  die:  wie  kommt  es,  dass,  indem  die  spräche 
eines  jedes  einzelnen  ihre  besondere  geschichte  hat,  sich 
gerade  dieser  grössere  oder  geringere  grad  von  Überein- 
stimmung innerhalb  dieser  so  und  so  zusammengesetzten 
gruppe  von  individuen  erhält? 


m 

Alles  anwachsen  der  (Ualectisehen  Verschiedenheit  beruht  natür- 
lich auf  der  Veränderung  des  sprachusus.  Um  so  stärker  die  Ver- 
änderung, um  so  mehr  gelegenheit  ist  zum  Wachstum  der  Verschieden- 
heit gegeben.  Aber  der  grad  dieses  Wachstums  ist  nicht  durch  die  stärke 
der  Veränderung  allein  bedingt,  denn  keine  Veränderung  schliesst  not- 
wendig eine  bleibende  dift'erenzierung  ein,  und  die  umstände,  welche 
auf  die  erhaltung  der  Übereinstimmung  oder  auf  die  baldige  wider- 
herstellung  derselben  wirken,  können  in  sehr  verschiedenem  masse 
vorhanden  sein. 

Ohne  fortwährende  differenzierung  kann  das  leben  einer  spräche 
gar  nicht  gedacht  werden.  Wäre  es  denkbar,  dass  auf  einem  spracli- 
gebiete  einmal  alle  individualsprachen  einander  vollständig  gleich 
wären,  so  würde  doch  im  nächsten  augeublicke  der  ansatz  zur  lieraus- 
bildung  von  Verschiedenheiten  unter  ihnen  gemacht  werden.  Die  spon- 
tane entwickelung  einer  jeden  einzelnen  muss  nach  den  besonderheiten 
in  der  anläge  und  den  erlebnissen  ihres  trägers  eine  besondere  richtung 
einschlagen.  Der  einfluss,  den  der  einzelne  übt  oder  erleidet,  erstreckt 
sicli  immer  nur  auf  einen  bruchteil  der  gesammtheit,  und  innerhalb 
dieses  bruchteils  finden  bedeutende  gradverschiedenheiten  statt.  Dem- 
gemäss  findet  zwar  auch  eine  immerwährende  ausgleichung  der  ein- 
getretenen dififerenzierungeu  statt,  die  darin  besteht,  dass  abweichuugen 
von  dem  bisherigen  usus  entweder  wider  zurückgedrängt  werden  oder 
auf  Individuen  übertragen,  die  sie  spontan  nicht  entwickelt  haben. 
Diese  ausgleichung  wird  aber  nie  eine  vollständige.  Eine  annähernde 
wird  sie  immer  nur  innerhalb  eines  kreises,  in  dem  ein  anhaltender 
regen  verkehr  stattfindet.  Je  weniger  intensiv  der  verkehr  ist,  um  so 
mehr  differenzen  können  sich  bilden  und  erhalten.  Noch  weiter  geht 
die  möglichkeit  zur  differenzierung,  wenn  gar  kein  directer  verkehr 
mehr  besteht,  sondern  nur  eine  indirecte  Verbindung  durch  mittel- 
glieder. 

Wäre  die  Verkehrsintensität  auf  allen  punkten  eines  Sprachgebietes 
eine  gleichmässige,  so  würden  wir  lauter  individualsprachen  haben, 
von  denen  diejenigen,  die  in  enger  Verbindung  unter  einander  stünden, 
immer  nur  wenig  von  einander  differieren  würden,  während  zwischen 
den  entgegengesetzten  enden  doch  starke  Verschiedenheiten  entstanden 
sein  könnten.  Es  würde  dann  nicht  möglich  sein  eine  anzahl  von  in- 
dividualsprachen zu  einer  gruppe  zusammenzufassen,  die  man  einer 
anderen  solchen  Zusammenfassung  als  ein  geschlossenes  ganzes  gegen- 
überstellen könnte.  Jede  individualsprache  würde  als  eine  Zwischen- 
stufe zwischen  mehreren  andern  aufgefasst  werden  können.  Ein  solches 
verhältniss  aber  besteht  nirgends  und  hat  niemals  bestanden.  Es  wäre 
nur  denkl)ar,   wenn  keine  natürlichen   grenzen  existierten,  keine  poli- 


3Ö 

tiselieu  und  rcli^iöHcii  verbünde,  wenn  etwa  das  ganze  folk  in  einer 
ebene  ohne  g-rösseren  flnss  wohnte  in  lauter  einzelgehöften  in  ung-efilhr 
gleieh  weitem  abstände  von  einander  ohne  gemeinsame  versammlungs- 
örter.  Auch  dann  würde  wenigstens  die  gruppierung  zu  familien- 
spraehen  stattfinden.  In  Wirklichkeit  aber  finden  wir  entweder  ein 
zusammenwohnen  in'  Städten  und  dörfern,  res])ective  bei  nomadischen 
Völkerschaften  in  horden,  oder,  wo  das  System  der  einzelhöfe  besteht, 
doch  wenigstens  kleinere  und  grössere  politische  und  religiöse  verbände 
mit  versammlungsörtern.  In  den  gebirgsgegenden  sind  die  einzelnen 
täler  mehr  oder  weniger  gegen  einander  abgeschlossen.  Das  meer 
trennt  inseln  ab.  Selbst  wo  keine  solche  hemmungen  bestehen,  liegen 
oft  uncultivierte  landstrecken,  wald,  haide,  moor  etc.  zwischen  den 
einzelneu  ansiedelungen.  Es  ist  demnach  notwendig,  dass  sich  den 
natürlichen  wie  den  politischen  und  religiösen  Verkehrsverhältnissen 
entsprechend  die  individualsprachen  zu  gruppen  zusammenschliessen, 
die  verhältuissmässig  einheitlich  und  nach  aussen  abgeschlossen  sind. 
Solche  gruppen  werden  also  zunächst  von  den  kleinsten  verbänden, 
den  einzelnen  Ortschaften  gebildet.  Wo  ein  zusammenwohnen  der 
ortsangehörigen  stattfindet,  da  wird  jeder  einzelne  dem  andern  näher 
stehen  als  dem  an  gehörigen  eines  anderen  ortes.  Es  kann  sich  also 
hier  eine  wirkliche  grenze  herausbilden,  die  nicht  durch  Zwischenstufen 
verdeckt  ist.  Hier  zuerst  können  deutlich  merkbare  und  zugleich 
bleibende  Verschiedenheiten  entstehen,  wie  sie  zwischen  den  ange- 
hörigen  des  gleichen  ortes  mindestens  auf  die  dauer  sich  nicht  halten 
können.  So  lange  aber  nachbarorte  einen  regen  verkehr  unter  ein- 
ander unterhalten,  kann  es  auch  sein,  dass  sich  zwischen  ihnen  noch 
gar  kein  deutlich  hervorstechender  und  bleibender  unterschied  bildet, 
jedenfalls  werden  die  unterschiede  unerheblich  bleiben.  Versucht  mau 
nun  aber  um  jeden  ortsdialect  diejenigen  benachbarten  zu  gruppieren, 
die  mit  demselben  in  einem  regelmässigen  verkehr  stehen,  so  wird 
man  eine  menge  sich  gegenseitig  durchschneidende  gruppen  bekommen. 
Es  kann  für  jeden  einzelnen  ort  die  gruppierung  ein  wenig  anders 
ausfallen.  Es  können  orte  hinzutreten  oder  wegfallen,  und  auch  zu 
denjenigen,  welche  bleiben,  kann  das  verkehrsverhältniss  sich  etwas 
modificieren. 

Jede  Veränderung  des  sprachusus  ist  ein  product  aus  den  spon- 
tanen trieben  der  einzelnen  Individuen  einerseits  und  den  geschilderten 
Verkehrsverhältnissen  anderseits.  Ist  ein  spontaner  trieb  gleichmässig 
über  ein  ganzes  Sprachgebiet  bei  der  majorität  verbreitet,  so  wird  er 
sich  auch  rasch  allgemein  durchsetzen.  Es  kann  aber  sein,  dass  er 
in  den  verschiedenen  bezirken  sehr  verschieden  stark  verteilt  ist. 
Unter  solchen  umständen   muss  in  den  von  einander   abgelegenen'  be- 


40 

zirken,  die  in  keinem  verkelir  mit  einander  stcliu,  die  ausgleiehuua:. 
soweit  sie  nötig  ist,  zu  verschiedenem  resnltate  fuhren.  Dazwischen 
wird  dann  der  kämpf  fortdauern  und  deshalb  nicht  leicht  zur  ent- 
seheidung-  kommen,  weil  auf  diesen  teil  die  eine,  auf  jenen  die  andere 
Seite  stärker  einwirkt.  Dieses  zwisehengebiet  bildet  einen  grenzwall, 
durch  welchen  die  einflUsse  von  der  einen  auf  die  andere  seite  nicht 
durchdringen  können,  oder  nur  in  solcher  abschwäehung,  dass  sie  so 
gut  wie  wirkungslos  bleiben.  Ein  solches  zwischengebiet  könnte 
nirgends  fehlen,  wenn  die  continuität  des  Verkehres  durch  das  ganze 
Sprachgebiet  hindurch  eine  gleichmässige  wäre,  wenn  nirgends  durch 
räumliche  abstände,  natürliche  hindernisse  oder  politische  grenzen 
Verkehrshemmungen  verursacht  würden.  Indem  die  gegenseitige  beeiu- 
flussung  der  durch  solche  hemmungen  getrennten  gebiete  auf  ein 
geringes  mass  herabgesetzt  wird,  können  sich  auch  deutliche  grenzen 
für  dialectische  eigentümlichkeiteu  herausbilden.  Ein  völliges  abbrechen 
des  Verkehres  ist  dazu  nicht  nötig.  Er  braucht  nur  so  schwach  zu 
werden,  dass  er  ohne  einen  gewissen  grad  spontanen  entgegenkommens 
wirkungslos  bleibt.  So  kann  auch  eine  zeitweilig  bestehende  dialect- 
grenze  allmählig  wider  aufgehoben  werden,  wenn  sich  das  anfangs 
fehlende  spontane  entgegenkommen  späterhin  einstellt,  oder  wenn  die 
gleichen  einflüsse  von  verschiedenen  selten  her  kommen. 

Jede  sprachliche  Veränderung  und  mithin  auch  die  entstehung 
jeder  dialectischen  eigentümlichkeit  hat  ihre  besondere  geschichte. 
Die  grenze,  bis  zu  welcher  sich  die  eine  erstreckt,  ist  nicht  mass- 
gebend für  die  grenze  der  andern.  Wäre  allein  das  intensitätsverhältniss 
des  Verkehres  massgebend,  so  müssten  allerdings  wol  die  grenzen  der 
verschiedenen  dialecteigenheiten  durchaus  zusammenfallen.  Aber  die 
spontanen  tendenzen  zur  Veränderung  können  sich  in  wesentlich  anderer 
weise  verteilen,  und  danach  muss  sich  das  resultat  der  gegenseitigen 
beeinflussung  bestimmen.  Wenn  sich  z.  b.  ein  Sprachgebiet  nach  einem 
dialectischen  unterschiede  in  die  gi-uppen  a  und  b  sondert,  so  kann 
es  sein  und  wird  häufig  vorkommen,  dass  die  sonderung  nach  einer 
andern  eigentümlichkeit  damit  zusammenfällt,  es  kann  aber  auch  sein, 
dass  ein  teil  von  a  sich  an  b  auschliesst,  oder  umgekehrt,  es  kann 
sich  sogar  ein  teil  von  a  und  von  b  einem  andern  teile  von  a  und 
von  b  gegenüberstellen. 

Ziehen  wir  daher  in  einem  zusammenhängenden  Sprachgebiete 
die  grenzen  für  alle  vorkommenden  dialectischen  eigeutümlichkeiten,  so 
orlialten  wir  ein  sehr  compliciertes  s^^stem  mannigfach  sich  kreuzender 
linien.  Eine  reinliche  sonderung  in  hauptgruppen ,  die  man  wider  in 
so  und  so  viele  Untergruppen  teilt  u.  s.  f.,  ist  nicht  möglich.  Das  bild 
einer  Stammtafel     unter  dem  man  sich  gewöhnlich  die  Verhältnisse  zu 


41 

verauseliaulielien  siu'lit,  ist  stets  ungcuun.  Man  ln-ingt  es  mir  zu 
stände,  indem  man  willkührlicli  einig-e  unterseliiede  als  wesentlici» 
hcransii;-reift  und  über  andere  hinwegsieht.  Sind  wirivlieh  die  hcrvor- 
steehendsten  merkmale  gewählt,  so  kann  man  vielleicht  einer  solchen 
Stammtafel  nieht  allen  praktischen  wert  für  die  veransehauliehnng 
absprechen,  nur  darf  man  sich  nicht  einbilden,  dass  damit  eine  wirklich 
erschöpfende,  genaue  darstellung  der  Verhältnisse  gegeben  sei. 

Noch  mehr  gerät  man  mit  der  genealogischen  veranschaulichung 
ins  gedränge,  wenn  man  sich  bemüht  dabei  auch  die  Chronologie  der 
entwickelung  zu  berücksichtigen,  wie  es  doch  für  eine  genealogie 
erforderlich  ist. 

Da  durch  die  entstehung  einiger  unterschiede  der  verkehr  und 
die  gegenseitige  beeintiussung  zwischen  benachbarten  bezirken  noch 
nicht  aufgehoben  ist,  so  kann  bei  später  eintretenden  Veränderungen 
die  entwickelung  immer  noch  eine  gemeinschaftliche  sein.  So  können 
Veränderungen  noch  in  einem  ganzen  Sprachgebiete  durchdringen, 
nachdem  dasselbe  schon  vorher  mannigfach  differenzieit  ist,  oder 
zugleich  in  mehreren  schon  besonders  gestalteten  teilen.  So  ist  z.  b. 
die  dehnung  der  kurzen  wurzelvokale  (vgl.  mhd.  /esen,  geben,  reden  ete.) 
in  den  nieder-  und  mitteldeutschen  niundarten  wesentlich  gleichmässig 
vollzogen,  während  viele  ältere  Veränderungen  eine  bei  weitem  geringere 
ausdehuung  erlangt  haben.  Wir  müssen  uns  das  auch  bei  der  beur- 
teilung  der  älteren  sprachperiodeu  gegenwärtig  halten,  für  die  wir  auf 
rückschlüsse  angewiesen  sind.  Man  ist  zu  sehr  gewohnt  alle  Ver- 
änderungen des  ursprünglichen  sprachzustandes,  die  durch  ein  ganzes 
gebiet  hindurch  gehen,  dann  ohne  weiteres  für  älter  zu  halten  als 
diejenigen,  die  auf  einzelne  teile  dieses  gebietes  beschränkt  sind,  und 
man  setzt  von  diesem  gesichtspunkte  aus  etwa  eine  gemeineuropäische, 
eine  slavogermanische,  slavolettische ,  urgerraanische,  ost-  und  west- 
germanische grundsprache  oder  entwickelungsperiode  an.  Es  ist  zwar 
gar  nicht  zu  läugnen,  dass  im  allgemeinen  die  grössere  ausdehnung 
einer  sprachlichen  eigentümlichkeit  einen  Wahrscheinlichkeitsgrund  für 
ihr  höheres  alter  abgibt,  aber  ein  sicherer  anhält  wird  damit  keines- 
wegs gewährt.  Es  wird  auch  ausser  den  talleu,  bei  denen  man  es 
positiv  nachweisen  kann,  verschiedene  solche  geben,  in  denen  die 
weiter  ausgedehnte  Veränderung  jünger  ist,  als  die  auf  einen  engeren 
räum  beschränkte. 

Es  sind  auch  nicht  immer  die  am  meisten  hervortretenden  eigen- 
tümlichkeiten  die  ältesten.  Die  jetzt  übliche  hauptteilung  des  deutschen 
in  ober-  mittel-  und  niederdeutsch  beruht  auf  dem  stände  der  laut- 
verschiebung.  Diese  hat  wahrscheinlich  nicht  vor  dem  siebenten 
Jahrhundert  begonnen  und  erstreckt  sich  bis  ins  neunte,  ja  in  einigen 


42 

punkten  sogar  noch  weiter.  Seliou  vorher  aber  gab  es  erhebliche 
unterschiede,  die  bei  der  jetzigen  einteilung  in  den  hindergrund  ge- 
drängt sind.  Unter  niederdeutsch  z.  b.  sind  drei  von  alters  her  nicht 
unwesentlich  verschiedene  gruppen  zusammengefasst,  das  friesische, 
sächsische  und  ein  teil  des  fränkischen;  das  fränkische  ist  unter  nieder- 
uud  mitteldeutsch  verteilt. 

Man  kann  es  auch  gar  nicht  als  einen  allgemeingültigen  satz 
hinstellen,  dass  die  gruppen,  die  am  frühesten  angefangen  haben  sich 
gegen  einander  zu  differenzieren,  auch  am  stärksten  differenziert  sein 
niüssten,  oder  umgekehrt,  dass  bei  den  am  stärksten  difterenzierten 
gru])pen  die  difiterenzierung  am  frühesten  begonnen  haben  müsste. 
Die  Intensität  des  Verkehres  kann  sich  etwas  verändern.  Die  geo- 
graphische lagerung  der  gruppen  zu  einander  kann  sich  verschieben. 
Auch  ohne  das  kann  spontanes  entgegenkommen  die  veranlassung 
werden,  dass  neue  Veränderungen  über  ältere  grenzen  hinwegschreiten, 
wäiirend  sie  selbst  vielleicht  da  eine  grenze  finden,  wo  früher  keine 
grenze  war.  Oder  es  kann  ein  bezirk,  der  längere  zeit  mit  einem 
benachbarten  wesentlich  gleiche,  dagegen  von  den  übrigen  abweichende 
cntwickluug  gehabt  hat,  von  besonderen  starken  Veränderungen  ergriffen 
werden,  während  der  bisher  mit  ihm  die  gleichen  bahnen  wandelnde 
bezirk  mit  den  übrigen  auf  der  älteren  stufe  zurückbleibt. 

Da  es  die  ausgleichende  Wirkung  des  Verkehrs  nicht  zulässt,  dass 
zwischen  nahe  benachbarten  bezirken,  die  einen  regelmässigen  verkehr 
unterhalten,  zu  schroffe  Verschiedenheiten  entstehen,  so  stellt  beinahe 
jede  kleine  gruppe  eine  Übergangsstufe  zwischen  den  nach  den  ver- 
schiedenen Seiten  hin  benachbarten  gruppen  dar.  Es  ist  eine  ganz 
falsche  Vorstellung,  die  immer  noch  vielfach  verbreitet  ist,  dass  über- 
gangsstufen  immer  erst  durch  secundäre  berührung  zweier  vorher  ab- 
geschlossener dialecte  entstünden.  Natürlich  will  ich  nicht  behaupten, 
dass  sie  niemals  so  entstünden.  Ein  Übergang  kann  durch  eine  gruppe 
gebildet  werden  entweder  dadurch,  dass  sie  die  wirkliche  Zwischen- 
stufe zwischen  zwei  in  den  benachbarten  gruppen  vorliegenden  ab- 
weichenden gestaltungen  darbietet  oder  beide  nebeneinander,  oder  da- 
durch, dass  sie  einige  dialectische  eigeutümlichkeiten  mit  dieser,  andere 
mit  jener  gruppe  gemein  hat.  Bei  dieser  geslaltung  der  dialectverhält- 
nisse  braucht  das  verständniss  zwischen  benachbarten  bezirken  nirgends 
behindert  zu  sein,  weil  die  abweichuugen  zu  geringfügig  sind  und  man 
sich  ausserdem  beiderseitig  an  dieselben  gewöhnt,  und  es  können  darum 
doch  zwischen  den  fernerliegenden  difterenzen  bestehen,  die  eine  Ver- 
ständigung unmöglich  machen. 

Dies  verhältniss  lässt  sich  an  den  verschiedensten  sprachen  be- 
obachten. Kecht  deutlich  an  der  deutschen.  Einem  Schweizer  ist  es 
unmöglich  einen  Holsteiner,  selbst  nur  einen  Hessen  oder  einen  Baiern 


zu  verstellen,  und  doch  ist  er  mit  diesen  indireet  durch  unj^ehcnimtc 
ströniung-cn  des  Verkehres  verbunden.  Die  allniähli<;-e  ubstufung-  der 
deutschen  dialecte  im  grossen  lässt  sicli  vortrefflich  an  dem  verhalten 
zu  der  sogenannten  hochdeutschen  lautverschiebung- ')  beobachten.  Die 
selbe  abstufuug  im  kleinen  kann  man  schon  bei  einer  flüchtigen  durch- 
musterung  von  Firmenich,  Germaniens  Völkerstimmen  gewahr  werden. 
Ein  noch  viel  deutlicheres  bild  von  der  ausserordentlichen  mannig- 
faltigkeit  der  abstufuug  wird  der  von  Gr.  Wenker  vorbereitete  Sprach- 
atlas geben.  Ebenso  verhält  es  sich  nicht  bloss  innerhalb  der  einzelnen 
romanischen  sprachen,  sondern  sogar  innerhalb  des  ganzen  romanischen 
Sprachgebietes.  Die  grenzen  der  einzelnen  nationen  sind  nur  nach 
den  Schriftsprachen,  nicht  nach  den  mundarten  mit  einiger  Sicherheit 
zu  bestimmen.  So  teilen  z.  b.  norditalienische  dialecte  wichtige  eigen- 
tUmlichkeiten  mit  dem  französischen,  und  stehen  den  benachbarten 
dialecten  Frankreichs  näher  als  der  italienischen  Schriftsprache  oder 
der  mundart  von  Toscaua.  Das  Gascoguesche  bildet  in  mehreren 
hinsichten  den  Übergang  vom  provenzalischen  (südfranzösischen)  zum 
spanischen,  das  sardinische  den  Übergang  vom  italienischen  zum  spa- 
nischen, etc. 

Bei  dieser  Schilderung-  der  entwickelung  ist  sesshaftigkeit  der 
individuen  vorausgesetzt.  Jede  w^andlung  von  einzelnen  oder  gar  von 
massen  bringt  moditicationen  hervor,  die  wir  als  mischuugen  in  cap.  22 
zu  behandeln  haben.  Ebenso  modificierend  wirkt  das  Vorhandensein 
einer  Schriftsprache,  worüber  in  cap.  23  zu  handeln  sein  wird. 

Es  kann  natürlich  auch  der  fall  eintreten,  dass  der  verkehr 
zwischen  mehreren  teilen  einer  spraehgenossenschaft  vollständig  unter- 
brochen wird  durch  starke  natürliche  oder  ])olitische  grenzen,  durch 
auswanderung  des  einen  teiles,  durch  dazwischenschiebung  eines  frem- 
den Volkes  und  dergl.  Von  diesem  augenblicke  an  entwickelt  sich 
auch  die  spräche  jedes  einzelnen  teiles  selbständig,  und  es  bilden  sich 
mit  der  zeit  schroffe  gegensätze  heraus  ohne  vermittelnde  Übergänge. 
So  entstehen  mehrere  selbständige  sprachen  aus  einer,  und  dieser 
process  kann  sich  zu  mehrern  malen  widerholen. 

Es  ist  kaum  denkbar,  dass  je  bis  zu  dem  augenblicke,  wo  eine 
solche  teilung  einer  spräche  in  mehrere  stattgefunden  hat,  durch  das 
ganze  gebiet  hindurch  keine  merklichen  Verschiedenheiten  bestanden 
haben  sollten.  Ohne  mundartliche  unterschiede  ist  eine  spräche,  die 
sich  über  ein  einigermassen  umfängliches  gebiet  erstreckt  und  eine 
längere  entwickelung  hinter  sich  hat,  gar  nicht  zu  denken.  Man  wird 
daher  in   der   regel   die   selbständigen   sprachen,   die   sich   aus   einer 


')  Vgl.  Braune,  Beiträge  zur  gesell,  d.  deutschen  spr.  I,  1  ff.  und  Nürrenberg, 
ib.  IX,  371  ff. 


44 

g:emeinsanien  Ursprache  entwickelt  haben,  als  fortsetz iingen  der  dia- 
lecte  der  Ursprache  zu  betrachten  haben,  und  kann  annehmen,  dass 
ein  teil  der  zwischen  ihnen  bestehenden  unterschiede  schon  aus  der 
Periode  ihres  continuierlichen  zusammenhang-es  herstammt.  Von  diesem 
teile  würde  dann  das  selbe  gelten,  was  überhaupt  von  mundartlichen 
unterschieden  eines  zusammenhängenden  Sprachgebietes  gilt.  Es  könnte 
also,  wenn  wir  die  zu  selbständigen  sprachen  entwickelten  dialecte 
mit  den  buchstaben  des  alphabetes  bezeichnen,  a  einiges  mit  b  gemein 
haben  im  gegensatz  zu  c  und  d,  anders  mit  e  im  gegensatz  zu  b  und 
d,  noch  anderes  mit  d  im  gegensatz  zu  b  und  c  u.  s.  f.,  und  diese 
Übereinstimmungen  könnten  auf  einem  wirklichen  eausalzusammenhange 
beruhen.  Von  diesem  gesichtspunkte  aus  müssen  z.  b.  die  Verhältnisse 
der  indogermanischen  sprachfamilien  zu  einander  beurteilt  werden. 
Im  einzelnen  falle  aber  ist  es  schwer  zu  entscheiden,  ob  zu  der  Über- 
einstimmung in  der  entwickelung  wirklich  gegenseitige  beeiuflussung 
beigetragen  hat.  Die  Unmöglichkeit  eines  Zusammentreffens  auch  bei 
ganz  selbständiger  entwickelung  lässt  sich  kaum  je  dartun. 

Die  trennung  braucht  auch  nicht  immer  mit  alten  dialeetgrenzen 
zusammenzufallen,  namentlich  dann  nicht,  wenn  sie  durch  Wanderungen 
veranlasst  wird.  Es  kann  sich  ein  teil  einer  in  den  wesentlichsten 
punkten  übereinstimmenden  gruppe  absondern,  während  der  andere 
mit  den  übrigen  ihm  ferner  stehenden  gruppen  in  Verbindung  bleibt. 
Es  können  sich  auch  teile  verschiedener  gruppen  zusammen  loslösen. 
So  ist  z.  b.  das  angelsächsische  ursprünglich  mit  dem  friesischen  aufs 
engste  verwandt,  ja  es  hat  wahrscheinlich  auf  dem  continent  niemals 
als  besonderer  dialect  existiert,  sondern  ist  erst  entstanden,  als  friesische 
schaaren  sich  von  der  heimat  loslösten  und  einige  bestandteile  aus 
andern  germanischen  stammen  mit  sieh  vereinigten.  Das  angelsäch- 
sische hat^  dann  aber  seine  sonderentwickelung  gehabt,  während  das 
friesische  im  zusammenhange  mit  den  übrigen  deutschen  mundarten 
geblieben  ist.  Zwischen  englisch  und  deutseh  gibt  es  eine  scharfe 
grenze,  zwischen  friesisch  und  niedersächsisch  nicht. 

Das  eigentlich  charakteristische  moraent  in  der  dialectischen 
ghederung  eines  zusammenhängenden  gebietes  bleiben  immer  die  laut- 
verhältnisse.  Ursache  ist,  dass  bei  der  gestaltung  derselben  alles  auf 
den  direeten  einfluss  durch  unmittelbaren  persönlichen  verkehr  ankommt. 
Im  Wortschatz  und  in  der  Wortbedeutung,  im  formellen  und  im  syn- 
taktischen macht  die  mittelbare  ü))ertragung  keine  Schwierigkeiten. 
Was  hier  neues  entstanden  ist,  kann,  wenn  es  sonst  anklang  findet, 
ohne  wesentliche  alterierung,  weithin  wandern.  Aber  der  laut  wird 
wie  wir  im  folgenden  capitel  sehen  werden,  niemals  genau  in  der 
gestalt  weitergegeben,  wie  er  empfangen  ist.  Wo  schon  ein  klaffender 
riss  besteht,  da  hört  überhaupt  die  beeinflussung  auf  lautlichem  gebiete 


I 


45 

auf.  So  entwiekelu  sich  deuu  hier  viel  stärkere  iliffereiizeu  als  im 
Wortschatz,  in  der  formenbildiing;  und  syutax,  und  jeuc  ditlerenzen 
gehen  gleichniässiger  durch  lange  Zeiten  hindurch  als  diese.  Dagegen, 
wenn  eine  wirkliche  Sprachtrennung  eingetreten  ist,  können  sich  die 
unterschiede  zwischen  den  verschiedenen  sprachen  auf  andern  gebieten 
eben  so  charakteristisch  geltend  machen  als  auf  dem  lautlichen. 

Am  wenigsten  ist  der  Wortschatz  und  seine  Verwendung  charak- 
teristisch. Hier  finden  am  meisten  Übertragungen  aus  einer  mundart 
in  die  andere  wie  aus  einer  spräche  in  die  andere  statt.  Hier  gibt  es 
mehr  individuelle  Verschiedenheiten  als  in  irgend  einer  andern  hin- 
sieht. Hier  kann  es  auch  unterschiede  geben,  die  mit  den  mundart- 
lichen gar  nichts  zu  tun  haben  und  diese  durchkreuzen.  Auf  jeder 
höheren  culturstufe  entstehen  technische  ausdrücke  für  die  verschiedenen 
gewerbe,  künste  und  Wissenschaften,  die  vorwiegend  oder  ausschliess- 
lich von  einer  bestimmten  berufsklasse  gebraucht  und  von  den  übrigen 
zum  teil  gar  nicht  verstanden  werden.  Bei  der  ausbildung  solcher 
kunstsprachen  kommen  übrigens  ganz  ähnliche  Verhältnisse  in  betracht 
wie  bei  der  entstehung  der  mundarten.  Eben  dahin  gehört  auch  der 
unterschied  von  poetischer  und  prosaischer  spräche,  der  sich  auch  auf 
formelles  und  syntaktisches  erstreckt.  Eigenartige  Verhältnisse  haben 
im  alten  Griechenland  auch  zu  absichtlich  kunstvoller  Verwendung 
lautlicher  untei*schiede  geführt.  Es  kann  aber  auch  eine  poetische 
spräche  geben  (und  das  ist  das  gewöhnliche),  die  in  den  verschieden- 
sten dialectischen  lautgestaltungen  sich  doch  immer  gleichmässig  gegen 
die  prosaische  rede  abhebt. 

Alle  natürliche  sprachentwickelung  führt  zu  einem  stetigen,  un- 
begrenzten anwachsen  der  mundartlichen  Verschiedenheiten.  Die  Ur- 
sachen, welche  dazu  treiben,  sind  mit  den  allgemeinen  bedingungen 
des  sprachlebeus  gegeben  und  davon  ganz  unzertrennlich.  Es  ist  eine 
falsche  Vorstellung,  der  man  leider  noch  in  sprachwissenschaftlichen 
werken  begegnet,  die  ein  grosses  ansehen  geniessen,  dass  die  frühere 
centrifugale  bewegung,  durch  welche  die  mundarten  entstanden  seien, 
auf  höherer  culturstufe,  bei  reger  entwickeltem  verkehre  durch  eine 
rückläufige,  centripetale  abgelöst  werde.  Diese  Vorstellung  beruht  auf 
ungenauer  beobachtung.  Die  bildung  einer  gemeinsprache,  die  man 
dabei  im  äuge  hat,  vollzieht  sich  nicht  durch  eine  allmählige  an- 
gleichuug  der  mundarten  aneinander.  Die  gemeinsprache  entspringt 
nicht  aus  den  einzelnen  mundarten  durch  den  selben  process,  durch 
welchen  eine  jüngere  form  der  mundart  aus  einer  älteren  entsprungen 
ist.  Sie  ist  vielmehr  ein  fremdes  idiom,  dem  die  mundart  aufgeopfert 
wird.     Darüber  in  capitel  23. 


Cap.  III. 
Der  lautwandel. 

Um  die  erselieinung-  zu  begreifen,  die  man  als  lautwandel  zu 
bezeichnen  pfieg-t,  muss  man  sicli  die  physischen  und  psychischen 
processe  klar  machen,  welche  immerfort  bei  der  hervorbriugung  der 
lautcomplexe  stattfinden.  Sehen  wir,  wie  wir  hier  dürfen  und  müssen, 
von  der  function  ab,  welcher  dieselben  dienen,  so  ist  es  folgendes, 
was  in  betracht  kommt:  erstens  die  bewegungen  der  sprechorgaue, 
wie  sie  vermittelst  erregung  der  motorischen  nerven  und  der  dadurch 
hervorgerufenen  muskeltätigkeit  zu  stände  kommen;  zweitens  die  reihe 
von  empfindungen,  von  welchen  diese  bewegungen  notwendigerweise 
begleitet  sind,  das  bewegungsgefühl,  wie  esLotze')  und  nach  ihm 
Steinthal  genannt  haben;  drittens  die  in  den  hörern,  wozu  unter  nor- 
malen Verhältnissen  allemal  auch  der  sprechende  selbst  gehört,  er- 
zeugten ton  empfindungen.  Diese  empfindungen  sind  natürlich  nicht 
bloss  physiologische,  sondern  auch  psychologische  processe.  Auch 
nachdem  die  physische  erregung  geschwunden  ist,  hinterlassen  sie  eine 
bleibende  psychische  Wirkung,  erinnerungsbilder,  die  von  der 
höchsten  Wichtigkeit  für  den  lautwandel  sind.  Denn  sie  allein  sind 
es,  welche  die  an  sich  vereinzelten  physiologischen  Vorgänge  unter 
einander  verbinden,  einen  causalzusammenhang  zwischen  der  frühern 
und  spätem  production  des  gleiclien  lautcomplexes  herstellen.  Das 
erinnerungsbild ,  welches  die  empfindung  der  früher  ausgeführten  be- 
wegungen hinterlassen  hat,  ist  es,  vermittelst  dessen  die  reproduction 
der  gleichen  bewegungen  möglich  ist.  Bewegungsgefühl  und  ton- 
empfindung  brauchen  in  keinem  Innern  zusammenhange  unter  einander 
zu  stehen.  Beide  gehen  aber  eine  äusserliche  association  ein,  indem 
der  sprechende  zugleich  sich  selbst  reden  hört.    Durch  das  blosse  an- 


1)  Vgl.  dessen  Medicinische  psychologie  (1852)  i;  26,  s.  304 ;  auch  Metaphysik  II, 
s.  580  ff.  Vgl.  noch  über  das  bewegungsgotülil  G.  E.  MiiUer,  Zur  grundlogung  der 
psychophysik ,  §110.  111,  und  A.  Strümpell,  Arcliiv  für  klinische  Mcdicin  XXII, 
s.  321  ff.    Wundt  gebraucht  dafür  den  ausdruck  innorvatiou. 


AI 

hören  anderer  wird  das  bewegungsg-efühl  nicht  gegeben,  und  somit 
auch  nicht  die  Billigkeit  den  gehörten  hiuteoniplex  zu  re])rodueieren, 
weshalb  es  denn  immer  erst  eines  suehens,  einer  einlibung  bedarf,  um 
im  Stande  zu  sein  einen  laut,  den  man  bis  dahin  nicht  zu  sprechen 
gewohnt  ist,  nachzusprechen. 

Es  fragt  sich,  welchen  inhalt  das  bewegungsgeflihl  und  die  ton- 
empfindung  haben,  und  bis  zu  welchem  grade  die  einzelnen  momente 
dieses  Inhalts  bewusst  werden.  Vielleicht  hat  nichts  so  sehr  die 
richtige  einsieht  in  die  natur  des  lautwandels  verhindert,  als  dass 
man  in  dieser  hinsieht  die  weite  und  die  deutlichkeit  des  bewusstseins 
übersehätzt  hat.  Es  ist  ein  grosser  irrtum,  wenn  mau  meint,  dass  um 
den  klang  eines  wortes  in  seiner  eigentümlichkeit  zu  erfassen,  so  dass 
eine  erregung  der  damit  assoeiierten  Vorstellungen  möglich  wird,  die 
einzelnen  laute,  aus  denen  das  wort  sieh  zusammensetzt,  zum  bewusst- 
sein  gelangen  müssten.  Es  ist  sogar,  um  einen  ganzen  satz  zu  ver- 
stehen, nicht  immer  nötig,  dass  die  einzelnen  Wörter  ihrem  klänge 
und  ihrer  bedeutung  nach  zum  bewusstsein  kommen.  Die  Selbst- 
täuschung, in  der  sich  die  grammatiker  bewegen,  rührt  daher,  dass 
sie  das  wort  nicht  als  einen  teil  der  lebendigen,  rasch  vorüberrauschen- 
den rede  betrachten,  sondern  als  etwas  selbständiges,  über  das  sie  mit 
müsse  nachdenken,  so  dass  sie  zeit  haben  es  zu  zergliedern.  Dazu 
kommt,  dass  nicht  vom  gesprochenen,  sondern  vom  geschriebenen 
Worte  ausgegangen  wird.  In  der  schritt  scheint  allerdings  das  wort 
in  seine  demente  zerlegt,  und  es  scheint  erforderlich,  dass  jeder,  der 
schreibt,  diese  Zerlegung  vornimmt.  In  Wahrheit  verhält  es  sich  aber 
doch  etwas  anders.  Gewiss  muss  bei  der  erfindung  der  buchstaben- 
schrift  und  bei  jeder  neuen  anwendung  derselben  auf  eine  bisher  nicht 
darin  aufgezeichnete  spräche  eine  deraiüge  Zerlegung  vorgenommen 
sein.  Auch  muss  fortwährend  mit  jeder  erlernung  der  schrift  eine 
Übung  im  buchstabieren  gesprochener  Wörter  band  in  band  gehen. 
Aber  nachdem  eine  gewisse  fertigkeit  erlangt  ist,  ist  der  process  beim 
schreiben  nicht  gerade  der,  dass  jedes  wort  zunächst  in  die  einzelnen 
laute  zerlegt  würde  und  dann  für  jeden  einzelnen  laut  der  betreftende 
buchstabe  eingesetzt.  Schon  die  Schnelligkeit,  mit  der  sich  der  Vor- 
gang vollzieht,  schliesst  die  möglichkeit  aus,  dass  seine  einzelnen 
momente  zu  klarem  bewusstsein  gelangen,  und  zeigt  zugleich,  dass 
das  zu  einem  regelmässigen  ablauf  nicht  nötig  ist.  Es  tritt  aber  auch 
ein  wirklich  abgekürztes  verfahren  ein,  wodurch  die  schrift  sich  bis 
zu  einem  gewissen  grade  von  der  spräche  emancipiert,  ein  Vorgang, 
den  wir  später  noch  näher  zu  betrachten  haben  werden.  Und  sehen 
wir  nun  gar  ein  wenig  genauer  zu,  wie  es  mit  dieser  zergliederungs- 
kunst   des    schriftkundigen    steht,    so    wird    uns   gerade   daraus   recht 


48 

deutlich  entgegentreten,  wie  übel  es  mit  dem  bewusstsein  von  den 
elementeu  des  Wortlautes  bestellt  ist.  Wir  können  täglich  die  er- 
tahruug  machen,  dass  die  vielfachen  diserepanzen  zwischen  schrift  und 
ausspräche  von  den  angehörigen  der  betreibenden  Sprachgemeinschaft 
zum  grossen  teil  unbemerkt  bleiben  und  erst  dem  fremden  auffallen, 
ohne  dass  auch  er  in  der  regel  sieh  rechenschaffc  zu  geben  vermag, 
worauf  sie  beruhen.  So  ist  ein  jeder  nicht  lautphysiologisch  geschulte 
Deutsehe  der  Überzeugung,  dass  er  schreibt,  wie  er  spricht.  Wenn  er 
aber  auch  dem  Engländer  und  Franzosen  gegenüber  eine  gewisse  be- 
rechtigung  zu  dieser  Überzeugung  hat.  so  fehlt  es  doch,  von  feinheiten 
abgesehen,  nicht  an  fällen,  in  denen  die  ausspräche  ziemlieh  stark  von 
der  Schreibung  abweicht.  Dass  der  schlusscousonant  in  tag,  feld,  lieh 
ein  anderer  laut  ist  als  der,  welcher  in  tages,  feldes,  liebes  gesprochen 
wird,  dass  das  n  in  anger  einen  wesentlich  andern  laut  bezeichent  als 
in  lantl,  ist  wenigen  eingefallen.  Dass  man  im  allgemeinen  in  mujnade 
gutturalen,  in  imhUlich  labialen  nasal  spricht,  daran  denkt  niemand. 
Vollends  wird  man  erstaunt  angesehen,  wenn  man  ausspricht,  dass  in 
lange  kein  ^,  in  der  zweiten  silbe  von  legen,  reden,  ritter,  schütteln 
kein  e  gesprochen  werde,  dass  der  schlusscousonant  von  leben  nach 
der  verbreiteten  ausspräche  kein  n,  sondern  ein  m  gleichfalls  ohne 
vorhergehendes  e  sei.  Ja  man  kann  darauf  rechnen,  dass  die  meisten 
diese  tatsaehen  bestreiten  werden,  auch  nachdem  sie  darauf  aufmerk- 
sam gemacht  worden  sind.  Wenigstens  habe  ich  diese  erfahrung  viel- 
fach gemacht,  auch  an  philologen.  Wir  sehen  daraus,  wie  sehr  die 
analyse  des  wertes  etwas  bhjss  mit  der  schrift  angelerntes  ist,  und 
wie  gering  das  gefühl  für  die  %virklichen  demente  des  gesprochenen 
Wortes  ist. 

Eine  wirkliehe  Zerlegung  des  wertes  in  seine  elemente  ist  nicht 
bloss  sehr  schwierig,  sie  ist  geradezu  unmöglich  Das  wort  ist  nicht 
eine  aneinandersetzung  einer  bestimmten  anzahl  selbständiger  laute, 
von  denen  jeder  durch  ein  zeichen  des  alphabetes  ausgedrückt  w^erden 
könnte,  sondern  es  ist  im  gründe  immer  eine  continuierliche  reihe 
von  unendlich  vielen  lauten,  und  durch  die  buchstaben  werden 
immer  nur  einzelne  charakteristische  punkte  dieser  reihe  in  unvoll- 
kommener weise  angedeutet.  Das  übrige,  was  unbezeichnet  bleibt, 
ergibt  sich  allerdings  aus  der  bestimmung  dieser  punkte  bis  zu  einem 
gewissen  grade  mit  uotwendigkeit,  aber  auch  nur  bis  zu  einem  gewissen 
grade.  Am  deutlichsten  lässt  sich  diese  continuität  an  den  sogenannten 
di])hthongen  erkennen,  die  eine  solche  reihe  von  unendlich  vielen 
elenienten  darstellen,  vgl.  Öievers  Phonetik^  §  19,  1  a.  Durch  Sievers 
ist  überhaui)t  zuerst  die  bedeutung  der  übergangslaute  nachdrücklich 
hervorgehoben.     Aus   dieser   continuität   des   Wortes   aber   folgt,    dass 


49 

eioe  Vorstellung  von  den  einzelnen  teilen  nicht  etwas  von  selbst 
gegebenes  sein  kann,  sondern  erst  die  fruebt  eines,  wenn  auch  noch 
so  primitiven,  wisseuscbaftlicben  nachdenkens,  wozu  zuerst  das  prak- 
tische bedlirfniss  der  lautschrift  gefiihii;  hat. 

Was  von  dem  lautbilde  gilt,  das  gilt  natürlich  auch  von  dem 
bewegungsgefiihle.  Ja  wir  müssen  hier  noch  weiter  gehen.  Es  kann 
gar  keine  rede  davon  sein,  dass  der  einzelne  eine  Vorstellung  von 
den  verschiedenen  bewegungen  hätte,  die  seine  organe  beim  sprechen 
machen.  Man  weiss  ja,  dass  dieselben  erst  durch  die  sorgfaltigste 
wissenschaftliche  beobachtung  ermittelt  werden  können,  und  dass  über 
viele  punkte  auch  unter  den  forsehern  controversen  bestehen.  Selbst 
die  oberflächlichsten  und  gröbsten  anschauungen  A'on  diesen  bewegungen 
kommen  erst  durch  eine  mit  absieht  darauf  gelenkte  aufmerksamkeit 
zu  stände.  Sie  sind  auch  ganz  überflüssig  um  mit  aller  exactheit  laute 
und  lautgruppen  hervorzubringen,  auf  die  man  einmal  eingeül)t  ist. 
Der  hergang  scheint  folgender  zu  sein.  Jede  bewegung  erregt  in 
bestimmter  weise  gewisse  sensitive  nerven  und  ruft  so  eine  empfindung 
hervor,  welche  sich  mit  der  leitung  der  bewegung  von  ihrem  centrum 
durch  die  motorischen  nerven  associiert.  Ist  diese  assoeiation  hin- 
länglich fest  geworden  und  das  von  der  empfindung  hinterlassene 
erinnerungsbild  hinlänglich  stark,  was  in  der  regel  erst  durch  einttbung 
erreicht  wird  (d.  h.  durch  mehrfache  widerholung  der  gleichen  bewegung, 
vielleicht  mit  vielen  missglückten  versuchen  untermischt),  dann  vermag 
das  erinnerungsbild  der  empfindung  die  damit  associierte  bewegung 
als  reflex  zu  reproducieren,  und  wenn  die  dabei  erregte  empfindung 
zu  dem  erinnerungsbilde  stimmt,  dann  hat  man  auch  die  Versicherung, 
dass  man  die  nämliche  bewegung  wie  früher  ausgeführt  hat. 

Man  könnte  aber  immerhin  einräumen,  dass  der  grad  der  bewusst- 
heit,  welchen  die  einzelnen  momente  des  lautbildes  und  des  bewegungs- 
gefühles  durch  erlernung  der  schritt  und  sonst  durch  reflexion  erlangen, 
ein  viel  grösserer  wäre,  als  er  wirklich  ist;  man  könnte  einräumen, 
dass  zur  erlernung  der  muttersprache  sowol  wie  jeder  fremden  ein 
ganz  klares  bewusstsein  dieser  demente  erforderlich  wäre,  wie  denn 
unzweifelhaft  ein  höherer  grad  von  klarheit  erforderlich  ist  als  bei  der 
anwendung  des  eingeübten:  daraus  würde  aber  nicht  folgen,  dass  es 
nun  auch  immerfort  wider  in  der  täglichen  rede  zu  dem  selben  grade 
der  klarheit  kommen  müsste.  Vielmehr  liegt  es  in  der  natur  des 
psychischen  Organismus,  dass  alle  anfangs  nur  bewusst  wirkenden  Vor- 
stellungen durch  Übung  die  fähigkeit  erlangen  auch  unbewusst  zu 
wirken,  und  dass  erst  eine  solche  unbewusste  Wirkung  einen  so  raschen 
ablauf  der  Vorstellungen  möglich  macht,  wie  er  in  allen  lagen  des 
täglichen   lebens   und   auch  beim  sprechen  erfordert  wird.    Selbst  der 

Paul,  Principien.    IT.  Auflage.  4 


50 

lautiihysiologe  von  beruf  wird  sehr  vieles   sprechen   und   hören,   ohne 
dass  bei  ihm  ein  einziger  laut  zu  klarem  bewusstsein  gelangt. 

Für  die  beurteiluug  des  natürlichen,  durch  keine  art  von  schul- 
meistere! geregelten  sprachlebens  muss  daher  durchaus  an  dem  grund- 
satze  festgehalten  werden,  dass  die  laute  ohne  klares  bewusstsein  erzeugt 
und  percipiert  werden.  Hiermit  fallen  alle  erklärungstheorieen,  welche 
in  den  seelen  der  Individuen  eine  Vorstellung  von  dem  lautsystem  der 
spräche  voraussetzen,  wohin  z.  b.  mehrere  hypotheseu  über  die  germa- 
nische lautverschiebung  gehören. 

Anderseits  aber  schliesst  die  unbewusstheit  der  demente  nicht 
eine  genaue  controlle  aus.  Mann  kann  unzählige  male  eine  gewohnte 
lautgruppe  sprechen  oder  hören,  ohne  jemals  daran  zu  denken,  dass 
es  eben  diese,  so  und  so  zusammengesetzte  gruppe  ist;  sobald  aber 
in  einem  demente  eine  abweichung  von  dem  gewohnten  eintritt,  die 
nur  sehr  geringfügig  zu  sein  braucht,  wird  sie  bemerkt,  wofern  keine 
besondern  hemmungen  entgegenstehen,  wie  überhaupt  jede  abweichung 
von  dem  gewohnten  unbewussten  verlauf  der  Vorstellungen  zum  be- 
wusstsein zu  gelangen  pflegt.  Natürlich  ist  mit  dem  bewusstsein  der 
abweichung  nicht  auch  schon  das  bewusstsein  der  natur  und  Ursache 
der  abweichung  gegeben. 

Die  möglichkeit  der  controlle  reicht  soweit  wie  das  unterschei- 
dungsvermögen.  Dieses  aber  geht  nicht  bis  ins  unendliche,  während 
die  möglichkeit  der  abstufung  in  den  bew^egungen  der  sprechorgane 
und  natürlich  auch  in  den  dadurch  erzeugten  lauten  allerdings  eine 
unendliche  ist.  So  liegt  zwischen  a  und  i  sowol  wie  zwischen  a  und 
u  eine  unbegränzte  zahl  möglicher  stufen  des  vocalklanges.  Ebenso 
lassen  sich  die  articulationsstdlen  sämmtlicher  zungen-gaumenlaute 
in  dem  bilde  einer  continuierten  linie  darstellen,  auf  welcher  jeder  punkt 
der  bevorzugte  sein  kann.  Zwischen  ihnen  und  den  lippenlauten  ist 
allerdings  kein  so  unmerklicher  Übergang  möglich;  doch  stehen  die 
denti- labialen  in  naher  beziehung  zu  den  denti -lingualen  {th — f). 
Ebenso  ist  auch  der  Übergang  von  verschlusslaut  zu  reibdaut  und 
umgekehrt  allmUhlig  zu  bewerkstelligen;  denn  vollständiger  verschluss 
und  möglichste  Verengung  liegen  unmittell)ar  beisammen.  Vollends 
alle  unterschiede  der  quantität,  der  tonhöhe,  der  energie  in  der  arti- 
culation  oder  in  der  expiration  sind  in  unendlich  vielen  abstufungen 
denkbar.  Und  so  noch  vieles  andere.  Dieser  umstand  ist  es  vor  allem, 
durch  welchen  der  lautwandel  begreiflich  wird. 

Bedenkt  man  nun,  dass  es  nicht  bloss  auf  die  unterschiede  in 
denjenigen  lauten  ankommt,  in  die  man  gewöhnlich  ungenauer  weise 
das  wort  zerlegt,  sondern  auch  auf  die  unterschiede  in  den  Übergangs- 


51 

lauten,  iin  aeeent,  im  teiupo  etc.,  bedenkt  man  ferner,  dass  immer 
ungleiche  teilchen  je  mit  einer  reihe  von  gleichen  teilchen  zusammen- 
gesetzt sein  können,  so  erhellt,  dass  eine  ausserordentlich  grosse 
mannigfaltigkeit  der  lautgruppen  möglich  ist,  auch  bei  verhältnissmässig 
geringer  differenz.  Deshalb  können  auch  recht  merklich  verschiedene 
gruppen  wegen  ihrer  überwiegenden  ähnlichkeit  immer  noch  als  wesent- 
lich identisch  empfunden  werden,  und  dadurch  ist  das  verständniss 
zwischen  angehörigen  verschiedener  dialecte  möglich,  so  lange  die 
Verschiedenheiten  nicht  über  einen  gewissen  grad  hinausgehen.  Des- 
halb kann  es  aber  auch  eine  anzahl  von  Variationen  geben,  deren 
Verschiedenheit  man  entweder  gar  nicht  oder  nur  bei  besonders  darauf 
gerichteter  aufmerksamkeit  wahrzunehmen  im  stände  ist. 

Die  frühe  kindheit  ist  für  jeden  einzelnen  ein  Stadium  des  ex- 
perimentierens,  in  welchem  er  durch  mannigfache  bemühungen  allmählig 
lernt,  das  ihm  von  seiner  Umgebung  vorgesprochene  nachzusprechen. 
Ist  dies  erst  in  möglichster  Vollkommenheit  gelungen,  so  tritt  ein  ver- 
hältnissmässiger  stillstand  ein.  Die  früheren  bedeutenden  Schwankungen 
hören  auf,  und  es  besteht  fortan  eine  grosse  gleiehmässigkeit  in  der 
ausspräche,  sofern  nicht  durch  starke  einwirkungen  fremder  dialecte 
oder  einer  Schriftsprache  Störungen  eintreten.  Die  gleiehmässigkeit 
kann  aber  niemals  eine  absolute  werden.  Geringe  Schwankungen 
in  der  ausspräche  des  gleichen  wertes  an  der  gleichen  satzstelle  sind 
unausbleiblich.  Denn  überhaupt  bei  jeder  bewegung  des  körpers,  mag 
sie  auch  noch  so  eingeübt,  mag  das  bewegungsgefühl  auch  noch  so 
vollkommen  entwickelt  sein,  bleibt  doch  noch  etwas  Unsicherheit 
übrig,  bleibt  es  doch  noch  bis  zu  einem  gewissen,  wenn  auch  noch 
so  geringen  grade  dem  zufall  überlassen,  ob  sie  mit  absoluter  exactheit 
ausgeführt  wird,  oder  ob  eine  kleine  ablenkung  von  dem  regelrechten 
wege  nach-  der  einen  oder  andern  seite  eintritt.  Auch  der  geübteste 
schütze  verfehlt  zuweilen  das  ziel  und  würde  es  in  den  meisten  fällen 
verfehlen,  wenn  dasselbe  nur  ein  wirklicher  punkt  ohne  alle  aus- 
dehnung  wäre,  und  wenn  es  an  seinem  geschosse  auch  nur  einen 
einzigen  punkt  gäbe,  der  das  ziel  berühren  könnte.  Mag  jemand  auch 
eine  noch  so  ausgeprägte  handschrift  haben,  deren  durchstehende 
eigentümlichkeiten  sofort  zu  erkennen  sind,  so  wird  er  doch  nicht  die 
gleichen  buchstaben  und  buchstabengruppen  jedesmal  in  völlig  gleicher 
weise  producieren.  Nicht  anders  kann  es  sich  mit  den  bewegungen 
verhalten,  durch  welche  die  laute  erzeugt  werden.  Diese  Variabilität 
der  ausspräche,  die  wegen  der  engen  grenzen,  in  denen  sie  sich 
bewegt,  unbeachtet  bleibt,  enthält  den  Schlüssel  zum  verständniss  der 
sonst  unbegreiflichen  tatsache,  dass  sich  allmählig  eine  Veränderung 
des   usus   in   bezug  auf  die  lautliche  seite  der  spräche  vollzieht,   ohne 

4* 


52 

dass  diejeuigen,  an  weleheu  die  Veränderung;  vor  sich  geht,  die 
geringste  ahnung  davon  haben. 

Würde  das  beweguugsgefiihl  als  erinuerungsbild  immer  unver- 
ändert bleiben,  so  würden  sich  die  kleinen  Schwankungen  immer  um 
den  sell)en  punkt  mit  dem  selben  maximum  des  abstandes  bewegen. 
Nun  aber  ist  dies  gefühl  das  product  aus  sämmtlichen  früheren  bei 
ausführung  der  betretfenden  bewegung  empfangenen  eindrücken,  und 
zwar  verschmelzen  nach  allgemeinem  gesetze  nicht  nur  die  völlig  iden- 
tischen, sondern  auch  die  unmerklich  von  einander  verschiedenen  ein- 
drücke mit  einander.  Ihrer  Verschiedenheit  entsprechend  muss  sich 
auißh  das  bewegungsgefühl  mit  jedem  neuen  eindruck  etwas  umgestalten, 
wenn  auch  noch  so  unbedeutend.  Es  ist  dabei  noch  von  Wichtigkeit, 
dass  immer  die  späteren  eindrücke  stärker  nachwirken  als  die  früheren. 
Man  kann  daher  das  bewegungsgefühl  nicht  etwa  dem  durchschnitt 
aller  während  des  ganzen  lebens  empfangenen  eindrücke  gleichsetzen, 
sondern  die  an  zahl  geringeren  können  das  gewicht  der  häufigeren 
durch  ihre  frische  tibertragen.  Mit  jeder  Verschiebung  des  bewegungs- 
gefühls  ist  aber  auch,  vorausgesetzt,  dass  die  weite  der  möglichen 
divergeuz  die  gleiche  bleibt,  eine  Verschiebung  der  grenzpunkte  dieser 
divergenz  gegeben. 

Denken  wir  uns  nun  eine  linie,  in  der  jeder  punkt  genau  fixiert 
ist,  als  den  eigentlich  normalen  weg  der  bewegung,  auf  den  das  be- 
wegungsgefühl hinführt,  so  ist  natürlich  der  abstand  von  jedem  punkte, 
der  als  maximum  bei  der  wirklich  ausgeführten  bewegung  ohne  wider- 
s])ruch  mit  dem  bewegungsgefühl  statthaft  ist,  im  allgemeinen  nach 
der  einen  seite  gerade  so  gross  als  nach  der  entgegengesetzten.  Da- 
raus folgt  aber  nicht,  dass  die  wirklich  eintretenden  abweichungen 
sich  nach  zahl  und  grosse  auf  beide  Seiten  gleichmässig  verteilen 
müssen.  Diese  abweichungen,  die  durch  das  bewegungsgefühl  nicht 
bestimmt  sind,  haben  natürlich  auch  ihre  Ursachen,  und  zwar  Ursachen, 
die  vom  bewegungsge fühle  ganz  unabhängig  sind.  Treiben  solche  Ur- 
sachen genau  gleichzeitig  mit  genau  gleicher  stärke  nach  entgegen- 
gesetzten richtungen  hin,  so  heben  sich  ihre  Wirkungen  gegenseitig 
auf,  und  die  bewegung  wird  mit  voller  exactheit  ausgeführt.  Dieser 
fall  wird  nur  äusserst  selten  eintreten.  Bei  weitem  in  den  meisten 
fällen  wird  sich  das  übergewicht  nach  der  einen  oder  der  andern  seite 
neigen.  Es  kann  aber  das  verhältniss  der  kräfte  nach  umständen 
mannigfach  wechseln.  Ist  dieser  Wechsel  für  die  eine  seite  so  günstig 
wie  für  die  andere,  wechselt  im  durchschnitt  eine  Schwankung  nach 
der  einen  seite  immer  mit  einer  entsprechenden  nach  der  andern,  so 
werden  auch  die  minimalen  Verschiebungen  des  bewegungsgefühls 
immer  alsbald  wider  paralysiert.     Ganz  anders  aber  gestalten  sich  die 


53 

diuge,  wenn  die  ursaelien,  die  nach  der  einen  seite  drängen,  das  liber- 
gewieht  über  die  entgegengesetzt  wirkenden  lial)en,  sei  es  in  jedem 
einzelnen  falle,  sei  es  aueli  unr  in  den  meisten.  Mag  die  anfängliche 
abweichung  auch  noch  so  gering  sein,  indem  sieh  dabei  auch  das  be- 
wegnngsgefiihl  nm  ein  minimum  verschiebt,  so  wird  das  nächste  mal 
schon  eine  etwas  grössere  abweichung  von  dem  ursprünglichen  mög- 
lich und  damit  wider  eine  Verschiebung  des  bewegungsgetuhls ,  und 
so  entsteht  durch  eine  summierung  von  Verschiebungen,  die  man  sich 
kaum  klein  genug  vorstellen  kann,  allmählig  eine  merkliche  ditterenz, 
sei  es,  dass  die  bewegung  stetig  in  einer  bestimmten  richtung  fort- 
schreitet, sei  es,  dass  der  fortschritt  immer  wider  durch  rückschritte 
unterbrochen  wird,  falls  nur  die  letzteren  seltener  und  kleiner  sind  als 
die  ersteren. 

Die  Ursache,  warum  die  neigung  zur  abweichung  nach  der  einen 
Seite  hin  grösser  ist  als  nach  der  andern,  kann  kaum  anders  worin 
gesucht  werden,  als  dass  die  abweichung  nach  der  ersteren  den 
Organen  des  sprechenden  in  irgend  welcher  hinsieht  bequemer  ist. 
Das  wesen  dieser  grösseren  oder  geringeren  bequemlichkeit  zu  unter- 
suchen ist  eine  rein  physiologische  aufgäbe.  Damit  soll  nicht  gesagt 
sein,  dass  sie  nicht  auch  psychologisch  beding-t  ist.  Accent  und  tempo, 
die  dabei  von  so  entscheidender  ])edeutung  sind,  auch  die  energie  der 
muskeltätigkeit  sind  wesentlich  von  psychischen  bedingungen  abhängig, 
aber  ihre  Wirkung  auf  die  lautverhältnisse  ist  doch  etwas  physio- 
logisches. Bei  der  progressiven  assimilation  kann  es  nur  die  Vor- 
stellung des  noch  zu  sprechenden  lautes  sein,  was  auf  den  vorher- 
gehenden einwirkt;  aber  das  ist  ein  gleichmässig  durchgehendes  psy- 
chisches verhältniss  von  sehr  einfacher  art,  während  alle  specielle 
bestimmung  des  assimilationsprocesses  auf  einer  Untersuchung  über 
die  physische  erzeugung   der  betreffenden  laute  basiert  werden  muss. 

Für  die  aufgäbe,  die  wir  uns  hier  gestellt  haben,  genügt  es  auf 
einige  allgemeine  gesichtspuukte  hinzuweisen.  Es  gibt  eine  grosse 
zahl  von  fällen,  in  denen  sich  schlechthin  sagen  lässt:  diese  lautgruppe 
ist  bequemer  als  Jene.  So  sind  ital.  otto,  cattivo  zweifellos  bequemer 
zu  sprechen  als  lat.  octo,  nhd.  empfangen,  als  ein  nicht  von  aus- 
gleichung  betroffenes  ^entfanyen  sein  würde.  Vollständige  und  par- 
tielle assimilation  ist  eine  in  allen  sprachen  widerkehrende  erscheinuug. 
Wenn  es  sich  dagegen  um  den  einzellaut  handelt,  so  lassen  sich  kaum 
irgend  welche  allgemeine  grundsätze  über  grössere  oder  geringere  be- 
quemlichkeit des  einen  oder  andern  aufstellen,  und  alle  aus  beschränkten 
gebieten  abstrahierten  theorieen  darüber  zeigen  sich  in  ihrer  nichtig- 
keit  einer  reicheren  erfahrung  gegenüber.  Und  auch  für  die  com- 
bination   mehrerer  laute  lassen   sich  keineswegs  durchweg  allgemeine 


54 

bestinimiingen  geben.  Zunäehst  hängt  die  bequcmlichkeit  zu  einem 
guten  teile  von  den  (luantitätsverhältnissen  und  von  der  aceentuation, 
der  exspiratoriselieu  wie  der  musikalischen  ab.  Für  die  lange  silbe 
ist  etwas  anderes  bequem  als  für  die  kurze,  für  die  betonte  etwas 
anderes  als  für  die  unbetonte,  für  den  eircumflex  etwas  anderes  als 
für  den  gravis  oder  acut.  Weiter  aber  richtet  sich  die  bequcmlichkeit 
nach  einer  menge  von  Verhältnissen,  die  für  jedes  Individuum  ver- 
schieden sein,  aber  auch  grösseren  gruppen  in  gleicher  oder  ähnlicher 
Aveise  zukommen  können,  ohne  von  andern  geteilt  zu  werden.  Ins- 
besondere wird  dabei  ein  punkt  zu  betonen  sein.  Es  besteht  in  allen 
sprachen  eine  gewisse  harmonie  des  lautsysteras.  ^lan  sieht  daraus, 
dass  die  richtung,  nach  welcher  ein  laut  ablenkt,  mitbedingt  sein 
muss  durch  die  richtung  der  übrigen  laute.  Wie  Sievers  hervorgehoben 
hat,  kommt  dabei  sehr  viel  auf  die  sogenannte  indifferenzlage  der 
Organe  an.  Jede  Verschiedenheit  derselben  bedingt  natürlich  auch  eine 
Verschiedenheit  in  bezug  auf  die  bequcmlichkeit  der  einzelnen  laute. 
Eine  allmählige  Verschiebung  der  indiiferenzlage  wird  ganz  nach 
analogie  dessen,  was  wir  oben  über  die  des  bewegungsgefühls  gesagt 
haben,  zu  beurteilen  sein. 

Es  ist  von  grosser  Wichtigkeit  sich  stets  gegenwärtig  zu  halten, 
dass  die  bequcmlichkeit  bei  jeder  einzelnen  lautproduction  immer  nur 
eine  sehr  untergeordnete  nebenursache  abgibt,  während  das  bewegungs- 
gefühl  immer  das  eigentlich  bestimmende  bleibt.  Einer  der  gewöhn- 
lichsten irrttimer,  dem  man  immer  wider  begegnet,  besteht  darin,  dass 
eine  in  einem  langen  Zeiträume  durch  massenhafte  kleine  Verschie- 
bungen entstandene  Veränderung  auf  einen  einzigen  akt  des  bequem- 
lichkeitsstrebens  zurückgeführt  wird.  Dieser  Irrtum  hängt  zum  teil  mit 
der  art  zusammen,  wie  lautregeln  in  der  praktischen  grammatik  und 
danach  auch  vielfach  in  grammatiken,  die  den  anspruch  auf  wissen- 
schaftlichkeit  erheben,  gefasst  werden.  Man  sagt  z.  b. :  wenn  ein  tönen- 
der consonant  in  den  auslaut  tritt,  so  wird  er  in  dieser  spräche  zu 
dem  entsprechenden  tonlosen  (vgl.  mhd.  imde  —  meit,  ribe  —  reip),  als 
ob  man  es  mit  einer  jedesmal  von  neuem  eintretenden  Veränderung 
zu  tun  hätte,  die  dadurch  veranlasst  wäre,  dass  dem  auslaut  der  ton- 
lose laut  bequemer  liegt.  In  Wahrheit  aber  ist  es  dann  das  durch 
die  Überlieferung  ausgebildete  bewegungsgefühl,  welches  den  tonlosen 
laut  erzeugt,  während  die  allmählige  reducierung  des  stimmtons  bis 
zu  gänzlicher  n  ernichtung  und  die  etwa  damit  verl)undene  Verstärkung 
des  exspirationsdruckes  einer  vielleicht  schon  längst  vergangenen  zeit 
angehören.  Ganz  verkehrt  ist  es  auch,  das  eintreten  eines  lautwandels 
immer  auf  eine  besondere  trägheit,  lässigkeit  oder  Unachtsamkeit  zu- 
rückzuführen und  das  unterbleiben  desselben  anderswo  einer  besondern 


^5 

Sorgfalt  und  aufnierksanikcit  zuziiselircibcu.  Wol  mag  ch  seiu,  dass 
das  bcvvcgimgsgcfiihl  uielit  überall  zu  der  gleichen  Sicherheit  aus- 
gebildet ist.  Aber  irgend  welche  anstrengung  zur  Verhütung  eines 
Lautwandels  gibt  es  nirgends.  Denn  die  betreffenden  haben  gar  keine 
ahnung  davon,  dass  es  etwas  derartiges  zu  verhüten  gibt,  sondern 
leben  immer  in  den  guten  glauben,  dass  sie  heute  so  si)rcchen,  wie 
sie  vor  jähren  gesprochen  haben,  und  dass  sie  bis  an  ihr  ende  so 
weiter  sprechen  werden.  Würde  jemand  im  stände  sein  die  organ- 
bewegungeu,  die  er  vor  vielen  jähren  zur  hervorbringung  eines  Wortes 
gemacht  bat,  mit  den  gegenwärtigen  zu  vergleichen,  so  würde  ihm 
vielleicht  ein  unterschied  auffallen.  Dazu  gibt  es  aber  keine  möglich- 
keit.  Der  einzige  massstab,  mit  dem  er  messen  kann,  ist  immer  das 
bewegungsgefühl,  und  dieses  ist  entsprechend  modificiert,  ist  so,  wie 
es  zu  jener  zeit  gewesen  ist,  nicht  mehr  in  der  seele. 

Eine  cun trolle  aber  gibt  es  dennoch,  wodurch  der  eben  ge- 
schilderten entwickelung  des  einzelnen  Individuums  eine  mächtige 
hemmung  entgegengesetzt  wird:  das  ist  das  lautbild.  Während  sich 
das  bewegungsgefühl  nur  nach  den  eigenen  bewegungen  bildet,  gestaltet 
sich  das  lautbild  ausser  aus  dem  selbstgesprochenen  auch  aus  allem 
dem,  was  man  von  denjenigen  hört,  mit  denen  man  in  verkehrsgemein- 
schaft  steht.  Träte  nun  eine  merkliche  Verschiebung  des  bewegungs- 
gefühles  ein,  der  keine  entsprechende  Verschiebung  des  lautbildes  zur 
Seite  stünde,  so  würde  sich  eine  discrepanz  ergeben  zwischen  dem 
durch  ersteres  erzeugten  laute  und  dem  aus  den  früheren  empfindungen 
gewonnenen  lautbilde.  Eine  solche  discrepanz  wird  vermieden,  indem 
sich  das  bewegungsgefühl  nach  dem  lautbilde  corrigiert.  Dies  ge- 
schieht in  der  selben  weise,  wie  sich  zuerst  in  der  kindheit  das  be- 
wegungsgefühl nach  dem  lautbilde  regelt.  Es  gehört  eben  zum  eigen- 
sten wesen  der  spräche  als  eines  Verkehrsmittels,  dass  der  einzelne 
sich  in  steter  Übereinstimmung  mit  -seinen  verkehrsgenossen  fühlt. 
Natürlich  besteht  kein  bewusstes  streben  danach,  sondern  die  forderung 
solcher  Übereinstimmung  bleibt  als  etwas  selbstverständliches  unbewusst. 
Dieser  forderung  kann  auch  nicht  mit  absoluter  exactheit  nachge- 
kommen werden.  Wenn  schon  das  bewegungsgefühl  des  einzelnen 
seine  bewegungen  nicht  völlig  beherrschen  kann  und  selbst  kleinen 
Schwankungen  ausgesetzt  ist,  so  muss  der  freie  spieh-aum  für  die 
bewegung,  der  innerhalb  einer  gruppe  von  individuen  besteht,  natür- 
lich noch  grösser  sein,  indem  es  dem  bewegungsgefühle  jedes  einzelnen 
doch  niemals  gelingen  wird  dem  lautbilde,  das  ihm  vorschwebt,  voll- 
ständig genüge  zu  leisten.  Und  dazu  kommt  noch,  dass  auch  dies 
lautbild  wegen  der  bestehenden  differenzen  in  den  lautempfindungen 
sich   bei  jedem  einzelnen  etwas  anders  gestalten  muss  und  gleichfalls 


56 

beständigen  selivvaukungen  unterworfen  ist.  Aber  über  ziemlich  enge 
grenzen  hinaus  können  auch  diese  Schwankungen  innerhalb  einer 
durch  intensiven  verkehr  verknüpften  gruppe  nicht  gehen.  Sie  werden 
auch  hier  unmerklich  oder,  wenn  auch  bei  genauerer  beobachtung  be- 
merkbar, so  doch  kaum  definierbar  oder  gar,  selbst  mit  den  mittein 
des  vollkommensten  alphabetes,  bezeichenbar  sein.  Wir  können  das 
nicht  nur  a  priori  vermuten,  sondern  an  den  lebenden  mundarten  tat- 
sächlich beobachten,  natürlich  nicht  an  solchen,  die  einen  abgestuften 
einfluss  der  Schriftsprache  zeigen.  Finden  sich  auch  hie  und  da  bei 
einem  einzelnen ,  z.  b.  in  folge  eines  organischen  fehlers  stärkere  ab- 
weichungen,  so  macht  das  für  das  ganze  wenig  aus. 

So  lange   also   der   einzelne  mit   seiner  tendenz  zur  abweichung 
für   sich  allein  den  verkehrsgenossen  gegenüber  steht,   kann  er  dieser 
tendenz   nur  in  verschwindend   geringem   masse  nachgeben,    da  ihre 
Wirkungen  immer  wider  durch  regulierende  gegenwirkungen  paralysiert 
werden.     Eine   bedeutendere   Verschiebung  kann  nur  eintreten,    wenn 
sie  bei  sämmtlichen  Individuen  einer  gruppe  durchdringt,  die  wenigstens 
im  verhältniss  zu  der  Intensität  des  Verkehrs  im  innern,    nach   aussen 
hin   einen   gewissen  grad  von  abgeschlossenheit  hat.     Die  möglichkeit 
eines   solchen  Vorganges  liegt  in  denjenigen  fällen  klar  auf  der  band, 
wo   die   abweichung   allen   oder   so   gut   wie   allen   Sprechorganen  be- 
quemer liegi  als  die  genaue  innehaltung  der  richtung  des  bewegungs- 
gefühls.     Sehr  kommt  dabei  mit  in  betracht,  dass  die  schon  vorhandene 
Übereinstimmung  in   accent,  tempo  etc.  in  die  gleichen  bahnen  ti'eibt. 
Das   selbe   gilt  von  der  Übereinstimmung  in  der  indifferenzlage.    Aber 
das   reicht  zur  erklärung  bei  weitem  nicht  aus.    Wir  sehen  ja,   dass 
von  dem   selben  ausgangspunkte  aus  sehr  verschiedenartige  entwicke- 
lungen   einti-eten,    und   zwar   ohne   immer   durch  accentveränderungen 
oder  sonst  irgend  etwas  bedingt  zu  sein,  was  seinerseits  psychologische 
veranlassung   hat.     lind  wir  müssen  immer  wider  fragen:    wie  kommt 
es,  dass  gerade  die  Individuen  dieser  gruppe  die  und  die  Veränderung- 
gemeinsam  durchmachen.     Man  hat  zur  erklärung  die  Übereinstimmung 
in  klima,   bodenbeschaffenheit  und  lebensweise  herbeigezogen.     Es  ist 
aber   davon   zu   sagen,   dass   bisher   auch  nicht  einmal  der  anfang  zu 
einer  methodischen  materialiensammlung  gemacht  ist,  aus  der  sich  die 
abhängigkeit  der   sprachentwickelung  von  deraiügcn  einflüssen  wahr- 
scheinlich  machen   Hesse.     Was   im   einzelnen  in   dieser   hinsieht  be- 
hauptet ist,   lässt   sich   meist  sehr  leicht  ad  absurdum  führen.     Kaum 
zu   bezweifeln   ist   es,   dass   eigentümlichkeiten   der  sprechorgane  sich 
vererben,   und   nähere   oder  weitere   Verwandtschaft  ist  daher  gewiss 
mit  zu  den   umständen   zu   rechnen,   die  eine  grössere  oder  geringere 
Übereinstimmung   im   bau  der  organe  bedingen.     Aber  sie  ist  es  nicht 


57 

jillein,  wovon  der  letztere  abluing,t.  Und  ebensowenig  liängt  die  sprach- 
entwiekclnng-  allein  vom  bau  der  organc  ab.  Ucberdies  aber  tritt  die 
dialeetische  Scheidung  und  zusamniensehliessung  sehr  vielfach  mit  der 
leiblichen  Verwandtschaft  in  Widerspruch.  Man  wird  sieh  demnach 
immer  vergeblich  abmühen,  wenn  man  versucht  das  zusammentreffen 
aller  Individuen  einer  gruppe  lediglich  als  etwas  spontanes  zu  erklären, 
und  dabei  den  andern  neben  der  Spontaneität  wirkenden  factor  über- 
sieht, den  zwang  der  Verkehrsgemeinschaft. 

Gehen  wir  davon  aus,  dass  Jedes  Individuum  besonders  veranlagt 
und  in  besonderer  weise  entwickelt  ist,  so  ist  damit  zwar  die  möglich- 
keit  ausserordentlich  vieler  Variationen  gegeben,  nimmt  man  aber  jedes 
einzelne  moment,  was  dabei  in  betracht  kommt,  isoliert,  so  ist  die  zahl 
der  möglichen  Variationen  doch  nur  eine  geringe.  Betrachten  wir  die 
Veränderungen  jedes  einzelnen  lautes  für  sich,  und  unterscheiden  wir 
an  diesem  wider  Verschiebung  der  articulationsstelle ,  Übergang  von 
verschluss  zu  engeubildung  und  umgekehrt,  Verstärkung  oder  Schwächung 
des  exspirationsdruckes  u.  s.  f.,  so  werden  wir  häufig  in  der  läge  sein 
nur  zwei  möglichkeiten  der  abweichung  zu  erhalten.  So  kann  z.  b. 
das  a  sich  zwar  nach  und  nach  in  alle  möglichen  vocale  wandeln, 
aber  die  richtung  in  der  es  sich  bewegt,  kann  zunächst  doch  nur  ent- 
weder die  auf  i  oder  die  auf  ii  sein.  Nun  kann  es  zwar  leicht  sein, 
dass  sich  die  zwei  oder  drei  möglichen  richtungen  in  einem  grossen 
Sprachgebiete,  alles  zusammengefasst,  ungefähr  die  wage  halten.  Es 
ist  aber  sehr  unwahrscheinlich,  dass  das  an  allen  verschiedenen  punkten 
zu  jeder  zeit  der  fall  sein  sollte.  Der  fall,  dass  in  einem  durch  be- 
sonders intensiven  verkehr  zusammengehaltenen  gebiete  die  eine  ten- 
denz  das  übergewicht  erlangt  kann  sehr  leicht  eintreten  lediglich  durch 
das  spiel  des  zufalls,  d.  h.  auch  wenn  die  Übereinstimmung  der  mehr- 
heit  nicht  durch  einen  nähern  innern  Zusammenhang  gegenüber  den 
ausserhalb  der  gruppe  stehenden  Individuen  beding-t  ist,  und  wenn  die 
Ursachen,  die  nach  dieser  bestimmten  richtung  treiben,  bei  den  einzelnen 
vielleicht  ganz  verschiedene  sind.  Das  übergewicht  einer  tendenz  in 
einem  solchen  beschränkten  kreise  genügt  um  die  entgegenstehenden 
hemmungen  zu  überwinden.  Es  wird  die  veranlassung,  dass  sich  der 
Verschiebung  des  bewegungsgefühles,  wozu  die  majorität  neigt,  eine 
Verschiebung  des  lautbildes  nach  der  entsprechenden  richtung  zur  seite 
stellt.  Der  einzelne  ist  ja  in  bezug  auf  gestaltung  seiner  lautvor- 
stellungen  nicht  von  allen  mitgliedern  der  ganzen  Sprachgenossenschaft 
abhängig,  sondern  immer  nur  von  denen,  mit  welchen  er  in  sprach- 
lichen verkehr  tritt,  und  widerum  von  diesen  nicht  in  gleicher  weise, 
sondern  in  sehr  verschiedenem  masse  je  nach  der  liäufigkeit  des  Ver- 
kehres und  nach  dem  grade,  in  welchem  sich  ein  jeder  dabei  betätigt. 


58 

Eh  koiiiiiit  nicht  claniiif  an,  von  wie  vielen  meuselien  er  diese  oder 
Jene  eigentiimlielikcit  der  ausspraclie  hört,  sondern  lediglich  darauf, 
wie  oft  er  sie  hört.  Dabei  ist  noch  zu  berücksichtig-en,  das  dasjenige, 
was  von  der  gewöhnlich  vernommeneu  art  abweicht,  wider  unter  sich 
verschieden  sein  kann,  und  dass  dadurch  die  von  ihm  ausgeübten 
Avirkungeu  sich  gegenseitig-  stören.  Ist  nun  aber  durch  beseitigung 
der  vermittelst  des  Verkehres  geübten  hemmung  eine  definitive  Ver- 
schiebung des  bewegungsgeftihles  eingetreten,  so  ist  bei  fortwirken  der 
tendenz  eine  weitere  kleine  abweichuug  nach  der  gleichen  seite  er- 
möglicht. Mittlerweile  wird  aber  auch  die  miuorität  von  der  bewegung 
mit  fortgerissen.  Genau  dieselben  gründe,  welche  der  minderheit  nicht 
gestatten  in  fortschrittlicher  bewegung  sich  zu  weit  vom  allgemeinen 
usus  zu  entfernen,  gestatten  ihr  auch  nicht  hinter  dem  fortschritt  der 
mehrheit  erheblich  zurückzubleiben.  Denn  die  überwiegende  häufigkeit 
einer  ausspräche  ist  der  einzige  masstab  für  ihre  correctheit  und 
mustergültigkeit.  Die  bewegung  geht  also  in  der  weise  vor  sich,  dass 
immer  ein  teil  etwas  vor  dem  durchschnitt  voraus,  ein  anderer  etwas 
hinter  demselben  zurück  ist,  alles  aber  in  so  geringem  abstände  von 
einander  dass  niemals  zwischen  Individuen,  die  in  gleich  engem  ver- 
kehr unter  einander  stehn,  ein  klaffender  gegensatz  hervortritt. 

Innerhalb  der  nämlichen  generation  werden  auf  diese  weise  immer 
nur  sehr  geringfügige  Verschiebungen  zu  stände  kommen.  Merklichere 
Verschiebungen  erfolgen  erst,  wenn  eine  ältere  generation  durch  eine 
neu  heranwachsende  verdrängt  ist.  Zunächst,  wenn  eine  Verschiebung 
schon  bei  der  raajorität  durchgedrungen  istj  während  ihr  eine  minorität 
noch  widersteht,  so  wird  sich  das  heranwachsende  geschleeht  natur- 
gemäss  nach  der  majorität  richten,  zumal  wenn  die  ausspräche  der- 
selben die  bequemere  ist.  ^lag  nun  die  minorität  auch  bei  der  älteren 
gewohnheit  verharren,  sie  stirbt  allmählig  aus.  Weiterhin  aber  kann 
es  sein,  dass  sich  das  bewegungsgefühl  der  Jüngern  generation  von 
anfang  an  nach  einer  bestimmten  riehtung  hin  abweichend  von  dem 
der  älteren  gestaltet.  Die  selben  gründe,  welche  bei  der  älteren 
generation  zu  einer  bestimmten  art  der  abweichung  von  dem  schon 
ausgebildeten  bewegungsgefühl  treiben,  müssen  bei  der  jüngeren  auf 
die  anfängliche  gestaltung  desselben  wirken.  Man  wird  also  wol  sagen 
können,  dass  die  hauptveranlassung  zum  lautwandel  in  der 
Übertragung  der  laute  auf  neue  Individuen  liegt.  Für  diesen 
Vorgang  ist  also  der  ausdruck  wandel,  wenn  man  sich  au  das  wirk- 
lich tatsächliche  hält,  gar  nicht  zutreffend,  es  ist  vielmehr  eine  ab- 
weichende neuerzeugung. 

Bei  der  erlernung  der  spräche  werden  nur  die  laute  überliefert, 
nicht  die  bewegungsgefühle.    Die  Übereinstimmung  der  selbsterzeugten 


59 

mit  (leu  \ou  undcicii  j;eliörteii  lauten  gibt  dem  einzelnen  die  gewähr 
dafür,  dass  er  richtig  spricht.  Dass  dann  auch  das  hewegungsgeflihl 
sich  in  annähernd  gleicher  weise  gebildet  hat,  kann  nur  unter  der 
Voraussetzung  angenommen  werden,  dass  annähernd  gleiche  laute  nur 
durch  annähernd  gleiche  bewegungcn  der  sprechorgauc  erzeugt  werden 
können.  Ist  es  möglich,  durch  verschiedene  bewegungen  einen  an- 
nähernd gleichen  laut  zu  erzeugen,  so  muss  es  auch  möglich  sein, 
dass  sich  das  beweguugsgefühl  desjenigen,  der  die  spräche  erlernt, 
anders  gestaltet  als  dasjenige  der  personen,  von  denen  er  sie  lernt. 
Für  einige  wenige  fälle  wird  wol  eine  solche  abweichende  gestaltuug 
des  bewegungsgefühles  als  möglich  zugegeben  werden  müssen.  80 
sind  z.  b.  die  dorsalen  /-  und  A-laute  im  klänge  nicht  sehr  von  den 
alveolaren  verschieden,  trotzdem  die  articulation  wesentlich  verschieden 
ist.  Linguales  und  uvulares  r  sind  zwar  noch  ziemlich  leicht  zu  unter- 
scheiden, und  es  pflegt  auch,  so  viel  mir  bekannt  ist,  in  den  ver- 
schiedenen mundarten  entweder  das  eine  oder  das  andere  durch- 
zugehen ;  aber  der  Übergang  des  einen  in  das  andere  ist  doch  wol  kaum 
anders  zu  erklären,  als  dass  abweichende  hervorbringungen  nicht  corri- 
giert  wurden,  weil  die  abweichungen  des  klanges  nicht  genug  auffielen. 

Es  gibt  nun  noch  andere  lautliche  Veränderungen,  die  nicht  auf 
einer  Verschiebung  oder  abweichenden  gestaltung  des  bewegungsgefühls 
beruhen,  die  man  also  von  dem  bisher  geschilderten  lautwaudel  im 
engeren  sinne  zu  scheiden  hat,  die  aber  das  mit  ihm  gemein  haben, 
dass  sie  ohne  rücksicht  auf  die  function  des  Wortes  vor  sich  gehen. 
Es  handelt  sieh  hierbei  nicht  um  eine  Veränderung  der  demente,  aus 
denen  sich  die  rede  zusammensetzt,  durch  Unterschiebung,  sondern  nur 
um  eine  vertauschung  dieser  demente  in  bestimmten  einzelnen  fällen.') 

Es  gehört  hierher  zunächst  die  erscheinung  der  metathcsis. 
Es  sind  zwei  hauptarten  zu  unterscheiden.  Erstens:  zwei  unmittelbar 
auf  einander  folgende  laute  werden  umgestellt,  vgl.  angelsächsisch 
fix  =  ahd.  fisc,  first  =  frist,  inian  ^=  rinnan.  Zweitens:  zwei  nicht 
auf  einander  folgende  laute  vertauschen  ihre  stellen,  vgl.  ahd.  erila 
neben  elira  =  nhd.  erle  —  eller,  ags.  weleras  lippen  gegen  got.  wairilos, 
ahd.  ezzil),  welches  vor  der  lautverschiebung  *elik  gelautet  haben 
muss,  =  lat.  acetum\  it.  dialectisch  (jrolioso  =  (jlorioso,  crompare  = 
comprare;  mhd.  kokodrille  =  lat.  crocodilus. 

Ferner  gehören  hierher  assimilationen  zwischen  zwei  nicht- 
benachbarten lauten  wie  lat.  quinque  aus  *pinque,  urgermanisch  */mft 
(fünf)  =  *finhnH  u.  dergl. 

Häufiger  sind  dissimilationen  zwischen  zwei  nicht  aneinander 
angrenzenden    ähnlichen   lauten,    vgl.   alid.   lurtiltüba  aus   lat.   luriur, 


')  Vgl.  Brugmann,  Zum  heutigen  stand  der  Sprachwissenschaft  s.  50.~ 


60 

marmul  aus  lat.  marmor,  mlid.  mtirlel  neben  marler  aus  marlyrium, 
prlol  neben  prior,  umgekehrt  nilid.  pheller  neben  phelld  aus  lat.  pal- 
(iolum;  ahd.  fluobrd  (trost)  gegen  asäehs.  frbfra  und  ags.  frbfor,  mhd. 
kaladrius  neben  karadrius;  mittellat.  pelegrinus  aus  peregr'mus.^) 

Als  dissimilation  kann  auch  der  ausfall  eines  lautes  betrachtet 
werden,  wenn  er  dadurch  veranlasst  ist,  dass  der  gleiche  laut  in  der 
nähe  steht,  vgl.  griech.  ÖQvqaxTo<:  (hölzerner  verschlag)  aus  (pQctCöoi 
abgeleitet,  sxjrayXog  aus  jilrjocco.  Ebenso  der  ausfall  einer  ganzen 
silbe  neben  einer  ähnlichen,  mit  dem  gleichen  consonanten  anlautenden, 
vgl.  ijfitöifivov  neben  rjfiifitöiftpov,  df/gjOQsvg  neben  afKpKpoQEvq"^)^ 
x8Xaiv£q)7Jg  statt  *x8XaivovE(p7]g;  lat.  setnestris  statt  *semmestns. 

Für  diese  Vorgänge  weiss  ich  keine  andere  erklärung,  als  dass 
sie  auf  widerholtem  versprechen  beruhen,  worin  ein  bedeutender  teil 
der  sprachgenossen  spontan  zusammengetroffen  ist.  Dass  sich  beim 
spreclien  häufig  die  reihenfolge  der  Wörter,  silben  oder  einzellaute 
verschiebt,  indem  ein  dement  sich  zu  früh  ins  bewusstsein  dräng-t,  ist 
eine  bekannte  tatsache;  ebenso,  dass  von  zwei  ähnlichen  elementen 
leiclit  das  eine  ausgelassen  Avird.  Es  ist  ferner  bekannt,  dass  es  be- 
sondere Schwierigkeiten  macht  ähnliche  und  doch  verschiedene  laute 
rasch  hintereinander  correct  auszusprechen.  Hierauf  beruht  ja  der 
scherz  mit  sprechkunststücken  wie  der  kutscher  putzt  den  post- 
kutschkasten  u.  dgl.  Dass  es  für  gewisse  Versprechungen  begün- 
stigende bedingungen  gibt,  dass  sie  daher  bei  verschiedenen  personen 
und  widerhölt  auftreten,  wird  auch  nicht  zu  läugnen  sein.  Zur 
normalen  form  können  dann  die  Versprechungen  durch  die  Überlieferung 
auf  die  jüngere  generation  werden.  Am  leichtesten  begreifen  sich 
diese  Vorgänge,  wenn  sie  fremdwörter  betreffen,  die  dem  eigenen  idiom 
nicht  geläufige  lautfolgen  enthalten.  Bei  diesen  kommt  ungenaue  per- 
ceptiou  und  mangelhafte  einprägung  hinzu.  Die  erscheinungen  sind 
daher  auch  nicht  immer  leicht  von  denjenigen  zu  trennen,  die  wir  in 
cap.  22  als  lautsubstitution  kennen  lernen  werden.  Ebenso  bedarf  es 
in  manchen  fällen  der  erwägung,  ob  nicht  Volksetymologie  im  spiele 
ist.     Vollständig  begreiflich  ist  mir  in  diesen  dingen  noch  nicht  alles. 

Es  bleibt  uns  jetzt  noch  die  wichtig-e  frage  zu  beantworten,  um 
die  neuerdings  so  viel  gestritten  ist :  wie  steht  es  um  die  consequenz 
der  lautge setze?  Zunächst  müssen  wir  uns  klar  machen,  was  wir 
denn  überhaupt  unter  einem  lautgesetze  verstehen.  Das  wort  'gesetz' 
wird  in  sehr  verschiedenem  sinne  angewendet,  wodurch  leicht  verwir- 

')  Reiches  material  bei  Bechtel,  Ueber  gegenseitige  assimilation  und  dissimi- 
lation der  beiden  zitterlaute,  Göttingen  1S76.  Doch  möchte  ich  nicht  alles  von 
Bechtel  beigebrachte  als  sicher  hierher  gehörig  betrachten. 

^)  Vgl.  Delbrück.    Die  neueste  Sprachforschung,  s.  18 


61 

rang  eutsteht.i)  lu  dem  sinne,  wie  wir.  iu  der  pbysik  oder  ehemie 
von  gesetzen  reden,  in  dem  sinne,  den  ich  im  äuge  gehabt  habe,  als 
ich  die  gesetzeswissenschaften  den  iieschichtswissenschaften  gegenüber 
stellte,  ist  der  begritt'  'lautgesetz'  nicht  zu  verstehen.  Das  lautgesetz 
sagt  nicht  aus,  was  unter  gewissen  allgemeinen  bedingungen  immer 
wider  eintreten  muss,  sondern  es  constatiert  nur  die  gleichmässigkeit 
innerhalb  einer  gruppe  bestimmter  historischer  erscheinungen. 

Bei  der  aufstellung  von  lautgesetzen  ist  mau  immer  von  einer 
vergleichung  ausgegangeu.  Mau  hat  die  Verhältnisse  eines  dialectes 
mit  denen  eines  andern,  einer  älteren  eutwickelungsstufe  mit  denen 
einer  jüngeren  verglichen.  Man  hat  auch  aus  der  vergleichung  der 
verschiedenen  Verhältnisse  innerhalb  des  selben  dialectes  und  der  selben 
zeit  lautgesetze  abstrahiert.  Von  der  letzteren  art  sind  die  regeln,  die 
man  auch  in  die  praktische  grammatik  aufzunehmen  pflegt.  So  ein 
satz,  den  ich  wörtlich  Krügers  griechischer  grammatik  entlehne:  ein  t- 
laut  vor  einem  andern  geht  regelmässig  in  o  über ;  beispiele :  avvo&rjvai 
von  avvTco,  sQsiod-ijvai  von  tQstöco,  jceio^fjrai  von  jteid^co.  Ich  habe 
schon  oben  s.  54  hervorgehoben,  dass  man  sich  durch  derartige  regeln 
nicht  zu  der  anschauung  verführen  lassen  darf,  dass  die  beti-effenden 
lauttlbergänge  sich  immer  von  neuem  vollziehen,  indem  man  die  eine 
form  aus  der  andern  bildet.  Die  betreffenden  formen,  die  in  einem 
derartigen  verhältniss  zu  einander  stehen,  sind  entweder  beide  gedächt- 
nissmässig  aufgenommen,  oder  die  eine  ist  aus  der  andern  nach 
analogie  gebildet,  worüber  in  cap.  5.  Ich  bezeichne  dies  verhältniss 
im  folgenden  auch  nicht  als  lautwandel,  sondern  als  lautwechsel. 
Der  lautwechsel  ist  nicht  mit  dem  lautwandel  identisch,  sondern  er 
ist  nur  eine  nachwirkung  desselben.  Demgemäss  dürfen  wir  auch  den 
ausdruck  lautgesetz  nie  auf  den  lautwechsel  beziehen,  sondern  nur  auf 
den  lautwandel.  Ein  lautgesetz  kann  sich  zwar  durch  die  hinter- 
lassenen  Wirkungen  in  den  neben  einander  bestehenden  Verhältnissen 
einer  spräche  reflectieren,  aber  als  lautgesetz  bezieht  es  sich  niemals 
auf  diese,  sondern  immer  nur  auf  eine  in  einer  ganz  bestimmten  periode 
vollzogene  historische  entwickelung. 

Wenn  wir  daher  von  consequenter  Wirkung  der  lautgesetze  reden, 
so  kann  das  nur  heissen,  dass  bei  dem  lautwandel  innerhalb  des  sell)en 
dialectes  alle  einzelnen  fälle,  in  denen  die  gleichen  lautlichen  be- 
dingungen vorliegen,  gleiehmässig  behandelt  werden.  Entweder  muss 
also,  wo  friiher  einmal  der  gleiche  laut  bestand,  auch  auf  den  späteren 
entwickelungsstufen  immer  der  gleiche  laut  bleiben,  oder,  wo  eine 
Spaltung  in  verschiedene  laute  eingetreten  ist,  da  muss  eine  bestimmte 


*)  Vgl.  darüber  besonders  L.  Tobler,   lieber  die  auwendung  dos  begrifts  von 
gesetzen  anf  die  spräche,  Vierteljabrscbrift   f.   wissenscbaftl.  pbilosopbie  III,  s.  '.V2  ff. 


62 

Ursache,  und  zwar  eine  Ursache  rein  lautlicher  uatur  wie  einwirkung- 
umgebender  laute,  aecent,  silbenstellung  u.  dgl.  anzugeben  sein,  warum 
in  dem  einen  falle  dieser,  in  dem  andern  jener  laut  entstanden  ist. 
Man  muss  dabei  natürlich  sämmtliche  momente  der  lauterzeugung  in 
betracht  ziehen.  Namentlich  muss  man  auch  das  wort  nicht  isoliert, 
sitndern  nach  seiner  Stellung  innerhalb  des  Satzgefüges  betrachten.  Erst 
dann  ist  es  möglich  die  consequenz  in  den  lautveräuderungen  zu  erkennen. 

Es  ist  nach  den  vorangegangenen  erörterungen  nicht  schwer,  die 
notwendigkeit  dieser  consequenz  darzutun,  soweit  es  sich  um  den 
eigentlichen  lautwandel  handelt,  der  auf  einer  allmähligen  Verschiebung 
des  bewegungsgefühles  beruht;  genauer  genommen,  mUssten  wir  aller- 
dings sagen  die  einschränkung  der  abweichungen  von  solcher  con- 
sequenz auf  so  enge  grenzen,  dass  unser  unterseheidungungsvermögen 
nicht  mehr  ausreicht. 

Dass  zunächst  an  dem  einzelnen  Individuum  die  entwickelung 
sich  eonsequent  vollzieht,  muss  für  jeden  selbstverständlich  sein,  der 
überhaupt  das  walten  allgemeiner  gesetze  in  allem  geschehen  an- 
erkennt. Das  bewegungsgefühl  bildet  sich  ja  nicht  für  jedes  einzelne 
wort  besonders,  sondern  überall,  wo  in  der  rede  die  gleichen  demente 
widerkehren,  wird  ihre  erzeugung  auch  durch  das  gleiche  bewegungs- 
gefühl geregelt.  Verschiebt  sich  daher  das  bewegungsgefühl  durch 
das  aussprechen  eines  elementes  in  irgend  einem  worte,  so  ist  diese 
Verschiebung  auch  massgebend  für  das  nämliche  dement  in  einem 
anderen  worte.  Die  ausspräche  dieses  dementes  in  den  verschiedenen 
•  Wörtern  schwankt  daher  grade  nur  so  wie  die  in  dem  nämlichen 
worte  innerhalb  der  selben  engen  grenzen.  Schwankungen  der  aus- 
spräche, die  durch  schnelleres  oder  langsameres,  lauteres  oder  leiseres, 
sorgfältigeres  oder  nachlässigeres  sprechen  veranlasst  sind,  werden 
immer  das  selbe  dement  in  gleicher  weise  treften,  in  was  für  einem 
worte  es  auch  vorkommen  mag,  und  sie  müssen  sich  immer  in  ent- 
sprechenden abständen  vom  normalen  bewegen. 

Soweit  es  sich  um  die  entwickelung  an  dem  einzelnen  Individuum 
handelt,  ist  es  hauptsächlich  ein  einwand,  der  immer  gegen  die  con- 
sequenz der  lautgesetze  vorgebracht  wird.  Man  behauptet,  dass  das 
etymologische  bewusstsein,  die  rücksicht  auf  die  verwandten  formen 
die  Wirkung  eines  lautgesetzes  verhindere.  Wer  das  behauptet,  muss 
sich  zunächst  klar  machen,  dass  damit  die  Wirksamkeit  desjenigen 
factors,  der  zum  lautwandel  treibt,  nicht  verneint  werden  kann,  nur 
dass  ein  factor  ganz  anderer  natur  gesetzt  wird,  der  diesem  entgegen- 
wirkt. Es  ist  durchaus  nicht  gleichgültig,  ob  man  annimmt,  dass  ein 
factor  bald  wiikt,  bald  nicht  wirkt,  oder  ob  man  annimmt,  dass  er 
unter  allen  umständen  wirksam  ist  und  seine  Wirkung  nur  durch  einen 


63 

andern  faetor  paralysiert  wird.  Wie  lässt  sieh  nun  aber  das  chrono- 
logische verhältuiss  in  der  Wirkung  dieser  factoren  denken?  Wirken 
sie  beide  gleichzeitig,  so  dass  es  zu  gar  keiner  Veränderung  koniiut, 
oder  wirkt  der  eine  nach  dem  andern,  so  dass  die  Wirkung  des 
letzteren  immer  wider  aufgehoben  wird?  Das  erstere  wäre  nur  unter 
der  Voraussetzung  denkbar,  dass  der  sprechende  etwas  von  der  drohen- 
den Veränderung  wüsste  und  sich  im  voraus  davor  zu  hüten  suchte. 
Dass  davon  keine  rede  sein  kann,  glaube  ich  zur  genüge  auseinander- 
gesetzt zu  haben.  Gesteht  man  aber  zu,  dass  die  Wirkung  des  laut- 
lichen factors  zuerst  sich  geltend  macht,  dann  aber  dnrch  den  andern 
faetor  wider  aufgehoben  wird,  den  wir  als  analogie  im  folgenden 
noch  näher  zu  charakterisieren  haben  werden,  so  ist  damit  eben  die 
consequenz  der  lautgesetze  zugegeben.  Man  kann  vernünftigerweise 
höchstens  noch  darüber  streiten,  ob  es  die  regel  ist,  dass  sich  die 
analogie  schon  nach  dem  einti'itt  einer  ganz  geringen  diiferenz  zwischen 
den  etymologisch  zusammenhängenden  formen  geltend  macht,  oder  ob 
sie  sich  erst  wirksam  zu  zeigen  pflegt,  wenn  der  riss  schon  klaffend 
geworden  ist.  Im  princip  ist  das  kein  unterschied.  Dass  jedenfalls 
das  letztere  sehr  häufig  ist,  lässt  sich  aus  der  erfahrung  erweisen,  wo- 
rüber weiter  unten.  Es  liegt  aber  auch  in  der  natur  der  sache,  dass 
differenzen,  die  noch  nicht  als  solche  empfunden  werden,  auch  das 
gefühl  für  die  etymologie  nicht  beeinträchtigen  und  von  diesem  nicht 
beeinträchtigt  werden. 

Ebenso  zurückzuweisen  ist  die  annähme,  dass  rücksichten  auf 
die  klarheit  und  Verständlichkeit  einer  form  einen  lautübergang  ver- 
hinderten. Man  stösst  zuweilen  auf  Verhältnisse,  die  eine  solche  rück- 
sicht  zu  beweisen  scheinen.  So  ist  z.  b.  im  nhd.  das  mittlere  e  der 
schwachen  praeterita  und  paiücipia  nach  t  und  d  erhalten  {redete, 
redete),  während  es  sonst  ausgestossen  ist.  Geht  man  aber  in  das 
sechszehnte  Jahrhundert  zurück,  so  findet  man,  dass  bei  allen  verben 
doppelformigkeit  besteht,  einerseits  zetgele  neben  zeigte,  anderseits 
redte  neben  redete.  Der  lautwandel  ist  also  ohne  rücksicht  auf  Zweck- 
mässigkeit eingetreten,  und  nur  für  die  erhaltung  der  formen  ist  ihre 
grössere  Zweckmässigkeit  massgebend  gewesen. 

Somit  kann  also  nur  noch  die  frage  sein,  ob  der  verkehr  der 
verschiedenen  Individuen  unter  einander  die  veranlassung  zu  incon 
Sequenzen  geben  kann.  Denkbar  wäre  das  nur  so,  dass  der  einzelne 
gleichzeitig  unter  dem  einflusse  von  mehreren  gruppen  von  personen 
stünde,  die  sich  durch  verschiedene  lautentwickelung  deutlich  von  ein- 
ander gesondert  hätten,  und  dass  er  nun  einige  Wörter  von  dieser, 
andere  von  jener  gruppe  erlernte.  Das  setzt  aber  ein  durchaus  excep- 
tionelles  verhältuiss   voraus.     Normaler   weise   gibt  es   innerhalb  der- 


64 

jenigeu  verkehrsgenosseuschaft.,  innerhalb  deren  der  einzelne  aufwäelist, 
mit  der  er  in  sehr  viel  innigerem  verbände  steht  als  mit  der  weiteren 
Umgebung,  keine  derartige  differenzen.  Wo  nicht  in  folge  besonderer 
geschichtlicher  Veranlassungen  grössere  gruppen  von  ihrem  ursprüng- 
lichen Wohnsitze  losgelöst  und  mit  andern  zusammengewürfelt  werden, 
wo  die  bevölkeruug  höchstens  durch  geringe  ab-  und  zuzüge  modi- 
iiciert,  aber  der  hauptmasse  nach  constaut  bleibt,  da  können  sich  ja 
keine  dilferenzen  entwickeln,  die  als  solche  percipiert  werden.  Spricht 
A  auch  einen  etwas  anderen  laut  als  B  an  der  entsprechenden  stelle, 
so  verschmilzt  doch  die  perception  des  einen  lautes  ebensowol  wie 
die  des  anderen  mit  dem  lautbilde,  welches  der  hörende  schon  in 
seiner  seele  trägt,  und  es  kann  denselben  daher  auch  nur  das  gleiche 
bewegungsgefühl  correspondieren.  Es  ist  g;ar  nicht  möglich,  dass  sich 
für  zwei  so  geringe  dilferenzen  zwei  verschiedene  bewegungsgefühle 
bei  dem  gleichen  individuum  herausbilden.  Es  würde  in  der  regel 
selbst  dann  nicht  möglich  sein,  wenn  die  äussersten  extreme,  die  inner- 
halb eines  kleinen  Verkehrsgebietes  vorkommen,  das  einzig  existierende 
wären.  Würde  aber  auch  der  hörende  im  stände  sein  den  unterschied 
zwischen  diesen  beiden  zu  erfassen,  so  würde  doch  die  reihe  von  feinen 
vermittelungsstufen ,  die  er  immer  fort  daneben  hört,  es  ihm  unmög- 
lich macheu  eine  grenzlinie  aufrecht  zu  erhalten.  Mag  er  also  auch 
immerhin  das  eine  wort  häufiger  und  früher  von  leuten  hören,  die 
nach  diesem  exti-eme  zuneigen,  das  andere  häufiger  und  früher  von 
solchen,  die  nach  jenem  extreme  zuneigen,  so  kann  das  niemals  für 
ihn  die  veranlassung  werden,  dass  sich  ihm  beim  nachsprechen 
die  erzeugung  eines  lautes  in  dem  einen  worte  nach  einem  andern 
bewegungsgefühl  regelt,  als  die  erzeugung  eines  lautes  in  dem  andern 
worte,  wenn  das  gleiche  individuum  an  beiden  stellen  einen  identischen 
laut  setzen  würde. 

Innerhalb  des  gleichen  dialects  entwickelt  sich  also  niemals  eine 
inconsequenz,  sondern  nur  in  folge  einer  dialectmischung  oder,  wie  wir 
genauer  zu  sagen  haben  werden,  in  folge  der  entlehnung  eines  Wortes 
aus  einem  fremden  dialecte.  In  welcher  ausdehnung  und  unter  welchen 
bediugungen  eine  solche  eintritt,  werden  wir  später  zu  untersuchen 
haben.  Bei  der  aufstellung  der  lautgesetze  haben  wir  natürlich  mit 
dergleichen  scheinbaren  inconsequenzen  nicht  zu  rechnen. 

Kaum  der  erwähnung  wert  sind  die  versuche,  die  man  gemacht 
hat,  den  lautwaudel  aus  willkürlichen  launen  oder  aus  einem  verhören 
zu  erklären.  Ein  vereinzeltes  verhören  kann  unmöglich  bleibende 
folgen  für  die  Sprachgeschichte  haben.  Wenn  ich  ein  wort  von  jemand, 
der  den  gleichen  dialect  spricht  wie  ich,  oder  einen  andern,  der  mir 
vollständig  geläufig  ist,  nicht  deutlich  percipiere,  aber  aus  dem  sonstigen 


65 

zusammenhange  errate,  was  er  sagen  will,  so  ergänze  ich  mir  das  be- 
treffende wort  nach  dem  eriuneriingsbilde,  das  ich  davon  in  meiner 
seele  habe.  Ist  der  Zusammenhang  nicht  ausreichend  aufklärend,  so 
werde  ich  vielleicht  ein  falsches  ergänzen,  oder  ich  werde  nichts  er- 
gänzen und  mich  beim  nichtverstehen  begnügen  oder  noch  einmal 
fragen.  Aber  wie  ich  dazu  kommen  sollte  zu  meinen  ein  wort  von 
abweichendem  klänge  gehört  zu  haben  und  mir  doch  dieses  wort  an 
stelle  des  wolbekanuten  unterschieben  zu  lassen,  ist  mir  gänzlich  un- 
erfindlich. Einem  kinde  allerdings,  welches  ein  wort  noch  niemals 
gehört  hat,  wird  es  leichter  begegnen,  dass  es  dasselbe  mangelhaft 
auffasst  und  dann  auch  mangelhaft  widergibt.  Es  wird  aber  auch  das 
richtiger  aufgefasste  vielfach  mangelhaft  widergeben,  weil  das  be- 
wegungsgefühl  noch  nicht  gehörig  ausgebildet  ist.  Seine  auffassung 
wie  seine  widergabe  wird  sich  rectificieren ,  wenn  es  das  wert  immer 
wider  von  neuem  hört,  wo  nicht,  so  wird  es  dasselbe  vergessen.  Das 
verhören  hat  sonst  mit  einer  gewissen  regelmässigkeit  nur  da  statt, 
wo  sich  leute  mit  einander  unterhalten,  die  verschiedenen  dialect- 
gebieten  oder  verschiedenen  sprachen  angehören,  und  die  gestalt,  in 
welcher  fremdwörter  aufgenommen  werden,  ist  allerdings  vielfach  da- 
durch beeinflusst,  mehr  aber  gewiss  durch  den  mangel  eines  bewegungs- 
gefühls  für  die  dem  eigenen  dialecte  fehlenden  laute. 

Es  bleiben  nun  allerdings  einige  arten  von  lautlichen  Verände- 
rungen übrig,  für  die  sich  cousequente  durchführung  theoretisch  nicht 
als  notwendig  erweisen  lässt.  Diese  bilden  aber  einen  verhältniss- 
mässig  geringen  teil  der  gesammten  lautveränderungen,  und  sie  lassen 
sich  genau  abgrenzen.  Einerseits  also  gehören  hierher  die  fälle,  in 
denen  ein  laut  vermittelst  einer  abweichenden  articulation  nachgeahmt 
wird,  anderseits  die  s.  59  f.  besprochenen  metathesen,  assimilationen  und 
dissimulationen.  Uebrigens  hat  tatsächlich  auch  hier  zum  teil  voll- 
ständige consequenz  statt,  so  namentlich  bei  der  metathesis  unmittelbar 
auf  einander  folgender  laute,  ferner  z.  b.  bei  der  dissimulation  der 
aspiraten  im  griechischen  (xt^fx«,  jcetptvya)  und  sonst. 

Aus  dem  vorliegenden  Sprachmaterial  lässt  sich  die  frage,  wie- 
weit die  lautgesetze  als  ausnahmslos  zu  betrachten  sind,  nicht  unmittel- 
bar entscheiden,  weil  es  Sprachveränderungen  gibt,  die,  wiewol  ihrer 
natur  nach  vom  lautwandel  gänzlich  verschieden,  doch  entsprechende 
resultate  hervorbringen  wie  dieser.  Daher  ist  unsere  frage  aufs  engste 
verknüpft  mit  der  zweiten  frage:  wieweit  geht  die  Wirksamkeit  dieser 
andern  Veränderungen  und  wie  sind  sie  vom  lautwandel  zu  sondern V 
Darüber  weiter  unten. 


Paul,  Principien.    II.  Auflage. 


Cap.  IV. 

Wandel  der  Wortbedeutung. 

Während  der  lautwandel  durch  eine  widerholte  Unterschiebung 
von  etwas  unmerklich  verschiedenem  zu  stände  kommt,  wobei  also 
das  alte  untergeht  zugleich  mit  der  entstehung  des  neuen,  ist  beim 
bedeutungswandel  die  erhaltung  des  alten  durch  die  entstehung  des 
ueuen  nicht  ausgeschlossen.  Er  besteht  immer  in  einer  erweiterung 
oder  einer  Verengung  des  umfangs  der  bedeutuug,  denen 
eine  Verarmung  oder  bereicherung  des  Inhalts  entspricht.  Erst 
durch  die  aufeinanderfolge  von  erweiterung  und  Verengung  kann  eine 
von  der  ursprünglichen  völlig  verschiedene  bedeutuug  sich  bilden. 

Darin  aber  verhält  sich  der  bedeutungswandel  genau  wie  der  laut- 
wandel, dass  er  zu  stände  kommt  durch  eine  abweichung  in  der  in- 
dividuellen anwendung  von  dem  usuellen,  die  allmählig  usuell  wird. 
Die  möglichkeit,  wir  müssen  auch  sagen  die  notwendigkeit  des  be- 
deutungswandels  hat  ihren  grund  darin,  dass  die  bedeutuug,  welche 
ein  wort  bei  der  jedesmaligen  anwendung  hat,  sich  mit  derjenigen 
nicht  zu  decken  braucht,  die  ihm  an  und  für  sich  dem  usus  nach  zu- 
kommt. Da  es  wünschenswert  ist  für  diese  discrepanz  bestimmte  be- 
zeichnungen  zu  haben,  so  wollen  wir  uns  der  ausdrücke  usuelle  und 
occasionelle  bedeutuug  bedienen.  Man  könnte  dafür  vielleicht  auch 
sagen  generelle  und  individuelle.  Wir  verstehen  also  unter  usu- 
eller bedeutuug  den  gesammten  vorstellungsinhalt,  der  sich  für  den 
angehörigen  einer  Sprachgenossenschaft  mit  einem  werte  verbindet, 
unter  occasioneller  bedeutuug  denjenigen  vorstellungsinhalt,  welchen 
der  redende,  indem  er  das  wort  ausspricht,  damit  verbindet  und  von 
welchem  er  erwartet,  dass  ihn  auch  der  hörende  damit  verbinde. 

Die  occasionelle  bedeutuug  ist  sehr  gewöhnlich  an  inhalt  reicher, 
an  umfang  enger  als  die  usuelle.  Zunächst  ist  hervorzuheben,  dass 
das  wort  occasionell  etwas  concretes  bezeichnen  kann,  während  es 
usuell  nur  etwas  abstractes  bezeichnet,  einen  allgemeinen  begriff, 
unter  welchen  sich  verschiedene  concreta  unterbringen  lassen.  Ich 
verstehe  hier  und  im  folgenden  unter  einem   coucretum   immer  etwas, 


67 

was  als  real  existierend  gesetzt  wird,  an  bestimmte  schraukeu  des 
raumes  und  der  zeit  j^ebundeu;  unter  einem  abstractum  einen  allge- 
meinen l)eg:riff,  blossen  vorstellungsinbalt  au  sich,  losgelöst  von  räum- 
licher und  zeitlicher  begrcnzung.  Diese  Unterscheidung  hat  demnach 
gar  nichts  zu  schaffen  mit  der  beliebten  einteiluug  der  substantiva  in 
concreta  und  abstracta.  Die  substauzbezeichnungeu ,  denen  man  den 
namen  concreta  beilegt,  bezeichnen  an  sich  gerade  so  einen  allgemeinen 
begriff  wie  die  sogenannten  abstracta,  und  umgekehrt  köunen  die 
letzteren  bei  occasionellem  gebrauche  in  dem  eben  angegebeneu  sinne 
concret  werden,  indem  sie  eine  einzelue  räumlich  und  zeitlich  be- 
stimmte eigenschaft  oder  tätigkeit  ausdrücken. 

Bei  weitem  die  meisten  Wörter  können  in  occasioneller  Verwen- 
dung sowol  abstracte  wie  concrete  bedeutung  haben.  Einige  gibt  es, 
die  ihrem  wesen  nach  dazu  bestimmt  sind  etwas  concretes  zu  bezeichnen, 
denen  aber  nichtsdestoweniger  die  beziehung  auf  etwas  bestimmtes 
concretes  an  sich  noch  nicht  anhaftet,  sondern  erst  durch  die  indivi- 
duelle Verwendung  gegeben  werden  muss.  Hierher  gehören  die  pro- 
nomina  personalia,  possessiva,  demonstrativa  und  die  adverbia  demon- 
strativa,  auch  Wörter  wie  jetzt,  heute,  gestern.  Ein  ich,  ein  dieser,  ein 
hier  dienen  zu  keinem  andern  zwecke  als  zur  Orientierung  in  der  con- 
creten  welt^),  aber  an  sich  sind  sie  ohne  bestimmten  Inhalt,  und  es 
müssen  erst  individualisierende  momeute  hinzukommen  ihnen  einen 
solchen  zu  geben.  Ferner  die  eigennamen.  Diese  bezeichnen  zwar 
ein  einzelweseu,  indem  aber  der  gleiche  uame  verschiedenen  personen 
oder  örtlichkeiten  anhaften  kann,  bleibt  doch  noch  eine  Verschieden- 
heit zwischen  occasioneller  und  usueller  bedeutung.  Endlich  kommt 
eine  kleine  zahl  von  Wörtern  in  betracht,  bei  denen  das,  was  sie  aus- 
drücken, als  nur  einmal  existierend  gedacht  wird,  wie  gott,  teufel^ 
ivell,  erde,  sonne.  Diese  sind  zugleich  gattungs-  und  eigennamen,  aber 
nur  in  gewissem  verstände  und  von  bestimmter,  nicht  allgemeiner  an- 
schauung  aus.  Umgekehrt  gibt  es  Wörter,  die  ihrer  natur  nach  nur 
auf  das  allgemeine,  nicht  auf  das  concrete  gehen,  wie  die  adverbia 
und  ])ronomina  je,  irgend;  mhd.  ieman,  dehein;  lat.  quisquam,  ullus,  un- 
quam,  uspiam;  aber  auch  deren  allgemeinheit  erleidet  in  der  occasio- 
nelleu  anwendung  gewisse  beschränkungen ;  vgl.  z=  b.  wenn  er  es  je 
getan  hat  —  wenn  er  es  je  tun  wird. 

Ein  weiterer  wichtiger  unterschied  zwischen  usueller  uud  occa- 
sioneller bedeutung  ist  der  folgende.    Usuell  kann  die  bedeutung  eines 


')  Uebrigens  können  unsere  demonstrativpronomina  (auch  das  pron.  ei-)  auch 
auf  abstracte  begriffe  bezogen  werden,  vgl.  der  wall  fisch  gehört  unter  die  _k  lasse 
der  Säugetiere ;  er  bringt  lehendige  junge  zur  well. 

5* 


68 

Wortes  mehrfach  sein,  oecasionell  ist  sie  immer  einfach,  abgesehen 
von  den  fällen,  wo  eine  Zweideutigkeit  beabsichtigt  ist,  sei  es  um  zu 
teuschen,  sei  es  des  witzes  wegen.  Zwar  hat  Steiuthal,  Zschr.  f. 
völkerpsych.  I,  426  die  ansieht  verfochten,  dass  es  überhaupt  keine 
Wörter  mit  mehrfacher  bedeutung  gäbe,  jedoch,  wie  ich  glaube  mit 
unrecht.  Zunächst  gehören  hierher  alle  die  fälle,  in  denen  die  laut- 
liche Übereinstimmung  bei  Verschiedenheit  der  bedeutung  nur  auf  zufall 
beruht,  wie  bei  nhd.  acht  =  diligentia  —  proscriptio  —  oclo.  Diese  fälle 
schliesst  natürlich  Steinthal  aus.  indem  er  voraussetzt,  dass  man  hier 
nicht  das  gleiche  wort,  sondern  mehrere  Wörter  anerkenne.  Aber 
lautlich  besteht  doch  Identität,  und  derjenige,  welcher  einen  solchen 
lautcomplex  ausser  Zusammenhang  aussprechen  hört,  hat  kein  ndttel 
zu  erkennen,  welche  von  den  verschiedenen  damit  verknüpften  be- 
deutungen  der  sprechende  im  sinne  hat.  Wir  haben  also,  wenn  wir 
uns  an  den  wirklichen  tatbestand  halten  und  nichts  ungehöriger  weise 
hinzutun,  ein  wort,  dem  usuell  mehrfache  bedeutung  zukommt.  Wirk- 
liche mehrheit  der  bedeutungen  muss  man  aber  auch  in  selir  vielen 
fällen  anerkennen,  wo  nicht  bloss  lautliche,  sondern  auch  etymologische 
Identität  besteht.  Man  vergleiche  z.  b.  nhd.  fuchs  vulpes  —  pferd  von 
fuchsiger  färbe  —  rothaariger  mensch  —  schlauer  mensch  —  gold- 
stück  —  Student  im  ersten  semester,  hoc  hircus  —  bock  der  kutsche 
—  fehler,  futter  pabulum  —  Überzug  oder  unterzug.  mal  fleck  — 
zeichen  —  Zeitpunkt,  messe  kirchlicher  act  —  Jahrmarkt,  ort  locus  — 
schuhmacherwerkzeug,  rappe  schwarzes  ross  —  münze,  stein  lapis  — 
bestimmtes  gewicht  —  krankheit,  geschieh  fatum  —  sollertia,  geschickt 
missus  —  sollers,  steuern  ein  schiff  lenken  —  abgaben  zahlen  —  ein- 
hält tun;  mhd.  beizen  beizen  —  mit  dem  falken  jagen  —  erheizen 
vom  pferde  steigen,  weide  weide  —  Jagd  —  fischerei  —  mal  {ander- 
tiH'ide  zum  zweiten  mal);  lat.  examen  schwärm  —  prüfuug.  Steiuthal 
will  immer  nur  die  grundbedeutung  als  die  einzige  anerkennen,  während 
er  den  geschichtlich  daraus  abgeleiteten  die  Selbständigkeit  abspricht. 
Seine  ansieht  passt  aber  nur  auf  den  zustand,  der  zu  der  zeit  besteht, 
wo  die  abgeleitete  bedeutung  zuerst  aus  der  grundbedeutung  ent- 
springt. Dieser  zustand  dauert  nicht  fort.  In  den  meisten  der  ange- 
führten fälle  ist  es  ohne  geschichtliche  Studien  überhaupt  nicht  möglich 
den  urs])rünglichen  Zusammenhang  zwischen  den  einzelnen  bedeutungen 
zu  erkennen,  und  dieselben  verhalten  sich  dann  gar  nicht  anders  zu 
einander,  als  wenn  die  lautliche  Identität  nur  zufällig  wäre.  Das  ist 
namentlich  dann  der  fall,  wenn  die  grundbedeutung  untergegangen  ist. 
Aber  auch  in  vielen  solchen  fällen,  wo  die  beziehuug  der  abgeleiteten 
zur  grundbedeutung  noch  erkennbar  ist,  werden  wir  die  Selbständig- 
keit der  erstereu  anerkennen  müssen,  nämlich  überall  da,  wo  sie  wirk- 


69 

lieh  usuell  geworden  ist.  Dafür  gibt  es  ein  sicheres  kritcriuni,  nänilii'h 
dass  ein  wort  oeeasioncll  ge1)rauc'lit  in  dem  bctrotVenden  abgeleiteten 
sinne  verstanden  werden  kann  ohne  znhülfeuahnie  der  grundhedeutung, 
d.  h.  ohne  dass  dem  sprechenden  oder  hörenden  dabei  die  grundhe- 
deutung zum  bewusstsein  kommt.  Es  lassen  sich  ferner  zwei  negative 
kriterien  aufstellen,  woran  man  erkennt,  dass  ein  woii;  nicht  einfache, 
sondern  mehrfache  bedeutung  hat,  nämlich  erstens ,  dass  sich  keine 
einfache  detinition  aufstellen  lässt,  wodurch  der  ganze  umfang  der  be- 
deutung, nicht  mehr  und  nicht  weniger,  eingeschlossen  ist,  und  zweitens, 
dass  das  wort  occasionell  nicht  in  dem  ganzen  umfange  der  bedeutung 
gebraucht  werden  kann.  Mau  mache  die  probe  mit  den  angeführten 
beispielen. 

Auch  da,  wo  sich  die  usuelle  bedeutung  als  eine  einfache  be- 
trachten lässt,  kann  die  individuelle  ohne  concret  zu  werden,  davon 
abweichen,  indem  sie  nur  auf  eine  von  den  verschiedenen  arten  geht, 
die  in  dem  generellen  begriffe  enthalten  sind.  Das  einfache  wort 
nadel  z.  b.  kann  im  einzelneu  falle  als  Stecknadel,  nähnadel,  Stopfnadel, 
Stricknadel,  häkelnadel  etc.  verstanden  werden. 

Alles  verstäudniss  zwischen  verschiedenen  iudividuen  beruht  auf 
der  Übereinstimmung  in  deren  psychischem  verhalten.')  Zum  ver- 
stäudniss der  usuellen  bedeutung  ist  nicht  mehr  Übereinstimmung  er- 
forderlich, als  zwischen  allen  angehörigen  der  gleichen  sprachgenossen- 
schaft  besteht,  sow^eit  sie  bereits  der  spräche  völlig  mächtig  sind. 
Wenn  aber  im  occasionellen  gebrauch  die  bedeutung  specialisiert  ist 
und  doch  verstanden  werden  soll,  so  ist  das  nur  auf  grund  einer  noch 
engeren  Übereinstimmung  zwischen  den  sich  unterhaltenden  möglich. 
Es  können  die  gleichen  worte  entweder  vollkommen  verständUch  sein 
oder  unverständlich,  respeetive  missverständnissen  ausgesetzt  je  nach 
der  disposition  der  angeredeten  personen  und  der  beschaffenheit  der 
sonstigen  umstände.  Je  nachdem  gewisse  zum  verstäudniss  mitwirkende 
momente  vorhanden  sind  oder  nicht.  Diese  momente  brauchen  an  sich 
gar  nicht  sprachlicher  natur  zu  sein.  Wir  müssen  uns  dieselben  im 
einzelnen  vergegenwärtigen. 

Um  Wörtern,  die  au  sich  eine  abstracte  bedeutung  haben,  be- 
ziehung  auf  etwas  concretes  zu  geben,  dient  die  Verknüpfung  mit  den 
oben  s.  67  bezeiehenten  Wortarten ,  deren  function  es  ist  das  concreto 
auszudrücken,  insbesondere  die  mit  dem  artikel,  wo  ein  solcher  ent- 
wickelt  ist.     Indessen    hat   sich   gerade   der   gebrauch   des  letzteren 


')  Die  folgenden  ausoinandersetzungen  berühren  sich  sehr  nahe  mit  den  aus- 
tührungen  Wegeners  in  seinem  buche  Aus  dem  leben  der  spräche,  nach  einer  be- 
stimmten richtung  hin  auch  mit  Breal,  Les  idees  latentes  du  language,  Paris  1868. 


70 

meist  so  entwickelt,  dass  er  nielit  auf  die  fimetion  des  individualisierens 
Itesi'liriinkt  ist,  sondern  dem  nomen  aneh  da  beigesetzt  wird,  wo  es 
den  gattimgsi)egriif  ausdrückt.  Sprachen,  die  keinen  artikel  entwickelt 
haben,  verwenden  die  abstracten  Wörter  auch  ohne  besonderes  sprach- 
liches kennzeichen  znr  bezeichnung-  von  etwas  concretem. 

Mag  nun  die  l)eziehung  auf  das  concrete  an  sich  ausgedrückt 
sein  oder  nicht,  zur  näheren  bestimmung  desselben  müssen  andere 
mittel  hinzukommen.  Ein  solches  bildet  erstens  die  dem  sprechenden 
und  liörenden  gemeinsame  anschauung.  Der  letztere  erkennt,  dass 
der  erstere  mit  dem  worte  haum  oder  tut~m  einen  bestimmten  einzelnen 
bäum  oder  türm  meint,  wenn  sie  den  betreffenden  gegenständ  eben 
beide  vor  äugen  haben.  Die  anschauung  kann  unterstützt  und  näher 
bestimmt  werden  durch  deuten  mit  den  äugen  oder  bänden  und 
sonstige  gebährden.  Hierdurch  kann  auch  auf  solche  gegenstände 
hingewiesen  werden,  die  man  nicht  unmittelbar  sinnlich  wahrnimmt, 
von  denen  man  aber  weiss,  nach  welcher  richtung  hin  sie  sich  be- 
finden. 

Ein  zweites  mittel,  wodurch  das  wort  beziehuug  auf  etwas  be- 
stimmtes concretes  erhält,  bildet  das  im  gespräch,  respeetive  in  der 
einseitigen  auseinandersetzung  des  redenden  vorangegangene.  Ist 
der  sinn  eines  wortes  einmal  concret  bestimmt,  so  kann  diese  be- 
stimmung im  weiteren  verlaufe  der  Unterhaltung  andauern;  die  er- 
innerung  an  das  vorher  ausgesprochene  vertritt  die  stelle  der  unmittel- 
baren anschauung.  Diese  rückbeziehung  kann  wider  unterstützt  werden 
durch  die  demonstrativ-pronomina  und  adverbia.  Mit  der  Übertragung 
derselben  von  der  anschauung,  wofür  sie  ursprünglich  allein  verwendet 
worden  sind,  auf  das  in  der  rede  vorangegangene,  ist  daher  ein  treff- 
liches mittel  gewonnen,  die  von  dem  sprechenden  beabsichtigte  Indi- 
vidualisierung der  bedeutung  dem  hörenden  verständlich  zu  machen. 

Drittens  kommt  in  betracht  die  besondere  macht,  welche  die 
Vorstellung  von  etwas  concretem  auch  ohne  die  hülfe  der  anschauung 
oder  vorangegangener  erwähnung  übereinstimmend  in  der  seele  der  sich 
unterredenden  haben  kann.  Die  Übereinstimmung  in  dieser  hinsieht 
wird  erzeugt  durch  gemeinsamkeit  des  aufenthaltsortes,  der  lebenszeit, 
der  Stellung  und  beschäffcigung,  überhaupt  mannigfacher  erfahrungen. 
Hierher  gehört,  was  man  gewöhnlich  den  gebrauch  -/mt  f:§,oyjjV  nennt. 
So  wird  das  wort  sfadi  ohne  nähere  bestimmung  von  den  landleuten 
einer  bestimmten  gegend  auf  die  ihnen  zunächstliegende  stadt  bezogen, 
Wörter  wie  rafhons,  markl  von  den  einwohnern  des  gleichen  ortes  auf 
rathaus,  markt  eben  dieses  ortes,  Wörter  wie  kiiche,  Speisezimmer  von 
den  hausgenossen  auf  ktiche,  Speisezimmer  des  von  ihnen  bewohnten 
hauses  etc.     So  verstehen  wir  unter  sonnidtj  den  uns  zunächst  liegen- 


7t 

den  soiintag:,  imd  es  hraueht  dann  nur  noch  angedeutet  zu  sein,  ob 
von  Zukunft  oder  vcrgangenlieit  die  rede  ist,  um  zu  wissen  welcher 
Sonntag-  gemeint  ist.  Wörter,  welche  das  verhältniss  einer  person  zu 
einer  andern  bezeichnen,  werden  ohne  weiteres  auf  persouen  bezogen, 
welche  sowol  zum  hörenden  wie  zum  sprechenden  in  dem  betreffenden 
Verhältnisse  stehn,  und  zwar  ist  auch  der  singular  vollkommen  deut- 
lieh, sobald  es  nur  eine  person  der  art  gibt.  So  ist  für  den  verkehr 
von  geschwistern  untereinander  die  eoncrete  beziehung  der  Wörter 
vater  und  mulier,  für  den  verkehr  von  angehörigen  des  gleichen  landes 
die  von  kaiser,  köniy  etc.  selbstverständlich.  Auch  wo  das  verhältniss 
nur  einseitig  entweder  zu  dem  sprechenden  oder  zu  dem  hörenden 
besteht,  kann  doch,  durch  nebeuumstände  unterstützt,  die  beziehung 
zweifellos  werden,  so  dass  z.  b.  der  vater  ebenso  viel  besagt  wie  mein 
vater  oder  dein,  euer  vater.  Ist  ein  coucreter  gegenständ  früher  ein- 
mal gleichzeitig  dem  sprechenden  und  dem  hörenden  irgendwie  be- 
deutsam geworden,  so  kann  er  durch  das  auf  ihn  passende  wort  in 
das  bewusstsein  gerufen  werden,  besonders  wenn  die  erinnerung  daran 
noch  frisch  ist,  oder  wenn  man  sich  wider  in  einer  ähnlichen  Situation 
befindet  wie  diejenige,  in  welcher  er  früher  die  aufmerksamkeit  au 
sich  gezogen  hat.  Es  sind  z.  b.  zwei  freunde  mehrmals  auf  einem  be- 
stimmten Spaziergange  einer  ihnen  sonst  unbekannten  dame  begegnet, 
über  die  sie  einige  werte  gewechselt  haben,  und  sie  machen  nun 
wider  den  gleichen  gang:  so  wird  die  frage  des  einen  „wird  uns 
heute  wider  die  dame  begegnen  V"  von  dem  andern  richtig  bezogen 
werden. 

Viertens  kann  eine  nähere  be Stimmung  zu  hülfe  genommen 
werden.  Eine  solche  bestimmung  bringt  aber  in  der  regel  an  sich 
keinen  concreten  sinn  hervor,  sondern  nur  durch  zusammenwirken  mit 
den  andern  schon  besprochenen  factoren.  Es  muss  durch  diese  ent- 
weder dem  werte,  welchem  die  bestimmung  beigefügt  wird,  schon  eine 
beziehung  auf  eine  gruppe  coucreter  dinge  gegeben  sein,  aus  denen 
durch  die  bestimmung  eine  weitere  aussonderuug  gemacht  wird;  oder 
es  muss  durch  sie  dem  bestimmenden  werte  schon  eoncrete  beziehung 
gegeben  sein.  Beides  kann  zusammentreffen.  So  erhält  das  wort  gräf 
durch  das  epitheton  aJi  an  sich  keinen  concreten  sinn.  Ist  aber  durch 
die  Situation  bereits  die  beziehung  auf  eine  bestimmte  gräfliche  familie 
gegeben,  so  wird  damit  die  persönlichkeit  genau  bestimmt.  Das  wort 
schloss  erhält  durch  das  epitheton  königlich  oder  den  gen.  {des)  königs 
nur  dann  einen  concreten  sinn,  wenn  dem  werte  köniy  schon  durch 
die  Situation  eine  eoncrete  beziehung  gegeben  ist.  Eindeutig  aber  ist 
die  bezeichnung  das  schloss  des  königs  erst  dann,  wenn  entweder  vor- 
ausgesetzt werden  kann,  dass  überhaupt  nur  ein  schloss  des  betreffen- 


72 

den  köni^s  existiert,  oder  wenn  in  der  Situation  noeh  sonst  etwas  indi- 
vidualisierendes liegt,  wenn  man  z.  h.  schon  auf  einen  bestimmten  ort 
hingewiesen  ist,  in  dem  man  sich  das  in  frage  stehende  schloss  liegend 
denken  muss. 

Der  concrete  sinn  überträg-t  sich  endlich  von  einem  worte  auf 
andere  dazu  in  beziehung  gesetzte.  In  Sätzen  wie  Karl  zog  den  rock 
aus,  ich  herilhrte  ihn  jnit  der  hand,  ich  fasste  ihn  heim  köpfe,  du  klopftest. 
mir  auf  die  schulter  erhalten  die  Wörter  rock  und  hand  eine  concrete 
beziehung  durch  das  subject,  das  wort  köpf  durch  das  object,  schitUer 
durch  den  dat.  mir. 

Auf  die  selbe  weise,  wie  gattungsnaraen  eine  bestimmte  concrete 
beziehung  erhalten,  werden  auch  ei gennamen  die  verschiedenen  Indi- 
viduen zukommen,  eindeutig.  Der  blosse  name  Karl  genügt,  wenn 
der,  den  wir  meinen,  vor  uns  steht,  wenn  wir  eben  von  ihm  gesprochen 
haben,  auch  ohne  das  innerhalb  einer  familie  oder  eines  engeren  be- 
kanntenkreises,  dem  dieser  Karl  und  zwar  nur  dieser  angehört.  Sonst 
bestimmen  wir  ihn  näher,  z.  b.  könig  Karl  fJ.  von  Frankreich.  Ebenso 
genügt  ein  Ortsname,  der  in  verschiedenen  gegenden  vorkommt,  ohne 
weiteres  für  die  nähere  Umgebung,  auch  für  weitere  kreise,  wenn  der 
gemeinte  bei  weitem  der  bedeutendste  unter  den  gleichnamigen  orten 
ist  (vgl.  Sirassburg)',  sonst  hilft  man  sich  mit  einer  näheren  be- 
stimmung. 

Die  selben  momente,  durch  welche  ein  wort  concrete  beziehung 
erhält,  dienen  auch  zur  specialiserung  der  bedeutung.  Ohne 
mitwirkung  besonderer  umstände  wird  man,  wenn  man  ein  wort  hört, 
zunächst  an  die  gewöhnlichste  unter  den  verschiedenen  bedeutungen 
desselben  oder  an  die  grundbedeutung  denken.  Beides  fällt  häufig 
zusammen.  Wo  aber  mehrere  ungefähr  gleich  häufige  bedeutungen 
neben  einander  stehen,  da  wird  nach  einem  allgemeinen  psycho- 
logischen gesetze  die  grundbedeutung  eher  in  das  bewusstsein  treten 
als  eine  abgeleitete,  ja  dies  wird  selbst  oft  der  fall  sein,  wo  eine  ab- 
geleitete gewöhnlicher  ist.  Anders  aber  stellt  sich  die  sache,  sobald 
in  der  seele  des  hörenden  gewisse  vorstellungsmassen  schon  vor  dem 
aussprechen  des  Wortes  erregt  sind  oder  gleichzeitig  mit  demselben 
erregt  werden,  die  eine  nähere  Verwandtschaft  mit  einer  abgeleiteten 
oder  selteneren  bedeutung  haben.  Es  macht  einen  grossen  unterschied, 
ob  ich  das  wort  blatl  bei  einem  Spaziergang  im  walde  höre  oder  in 
einer  kunsthandlung,  wo  ich  mir  stiche  oder  Photographien  besehe, 
oder  in  einem  Cafehause,  wo  über  Zeitungen  gesprochen  wird;  ebenso 
ob  ich  das  wort  band  in  einem  posamentiergeschäft  höre  oder  in  einer 
böttcherci  oder  in  einer  bibliothek.  Unterhalten  sich  tischler,  Jäger, 
ärzte   oder   sonst   leute   von  einerlei  beruf  unter  einander,   so  sind  sie 


73 

dazu  disponiert  alle  Wörter  vun  derjenigeu  seite  her  aufzufaHsen ,  die 
ihnen  diener  beruf  nahe  legt.  Von  grosser  bedcutung  ist  die  Ver- 
bindung, in  der  ein  wort  auftritt.  Durch  sie  können  die  verschiedenen 
raöglichkeiten  der  auffassung  eines  Wortes  auf  eine  einzige  beschränkt 
werden.  Vgl.  ein  schwarzes  mal  —  ein  zweites  mal  —  ein  reichliches 
mal,  ein  wolyemeinter  rat  —  ein  neuernannter  rat;  gerichl  der  ge- 
schwornen  —  gericht  fische,  fuss  des  tisches  —  des  berges  etc.;  zunge 
der  wage;  stürm  auf  der  nordsee  —  stürm  auf  eine  festung  —  stürm 
in  meinem  herzen;  ei?i  ball,  zu  dem  hundert  pcrsonen  geladen  sind;  ein 
kränzchen,  welches  sich  wöchentlich  versammelt;  land  und  leute  —  wasser 
und  land  —  Stadt  und  land,  feder  und  dinte,  ein  fuchs  imd  ein  schimmel; 
er  reitet  einen  fuchs,  er  schraubt  den  hahn  auf  er  spielt  den  könig 
aus,  es  kostet  zwei  krönen,  drei  adler  wurden  erbeutet,  der  zug  setzt 
sich  in  bewegung  —  es  kommt  ein  unangenehmer  zug  durch  das  fenster; 
eine  helle  stimme  —  heller  Sonnenschein,  reine  wasche  —  reines  herz; 
Fritz  ist  ein  esel;  der  nimm  geht  —  die  mühle  geht  —  es  geht  ihm  gut 

—  das  geht  nicht,  Karl  steht  auf  einem  beine  —  es  steht  in  der  zeitung 

—  die  uhr  steht  —  es  steht  dir  frei  etc. 

In  den  bisher  l)esprochenen  fällen  bestand  die  abweichung  der 
occasionellen  bedeutung  von  der  usuellen  darin,  dass  die  erstere  alle 
eleraente  der  letzteren  in  sich  enthielt,  aber  zugleich  noch  etwas  mehr. 
Es  gibt  aber  auch  eine  abweichung  von  der  art,  dass  die  occasionelle 
bedeutung  nicht  alle  demente  der  usuellen  einschliesst,  wo- 
bei sie  aber  doch  zugleich  wider  etwas  zu  der  letzteren  nicht  gehöriges 
enthalten  kann.  Die  allgemeine  grundbedingung  für  die  möglichkeit 
einer  solchen  bloss  partiellen  benutzung  der  usuellen  bedeutung  eines 
Wortes  ist  dadurch  gegeben,  dass  sich  diese  bei  weitem  in  den  meisten 
fällen  aus  mehreren  dementen  zusammensetzt,  die  sich  von  einander 
sondern  lassen.  Jede  Vorstellung  von  einer  Substanz  enthält  not- 
wendigerweise die  Vorstellung  mehrerer  eigensehaften.  Aber  auch  viele 
Vorstellungen  von  eigensehaften  und  tätigkeiten,  die  wir  mit  einem 
einzigen  worte  bezeichnen  können,  sind  zusammengesetzt.  Ganz  ein- 
fache qualitäteu  (natürlich  vom  psychologischen  Standpunkte  aus)  be- 
zeichnen z.  b.  die  beuennungen  der  färben:  blau,  rot,  gelb,  weiss, 
schwarz.  Und  selbst  bei  diesen  ist  es  möglich,  dass  sie  für  qualitäten 
verwendet  werden,  die  ihrer  eigentlichen  bedeutung  nach  nicht  voll- 
kommen adaequat  sind.  Da  nämlich  jede  färbe  mit  jeder  anderen  in 
beliebigem  verhältniss  gemischt  werden  kann,  so  gibt  es  unendlich 
viele  Übergangsstufen,  die  unmöglich  jede  ihre  besondere  bezeichnung 
haben  können.  Und  so  ergibt  es  sich,  dass  man  bei  der  bezeichnung 
beimischungen  in  geringerem  grade  unberücksichtigt  lässt,  so  dass  die 
grenze,  innerhalb  deren  eine  farbenbenennung  anwendbar  ist,  unsicher 


74 

und  vcrscliicbbar  wird.  Einen  viel  weiteren  sipielranni  aber  für  nicht 
adac(inatc  Verwendung  bieten  die  Wörter  deren  bedeutung-  ein  vor- 
stelhingscomplex  ist. 

Hierher  gehijrt  alles,  was  mau  als  bildlicheu  ausdruck  be- 
zeichnet. Man  pflegt  zu  sagen,  zur  verglcichung  gehöre  ausser  den 
beiden  mit  einander  verglichenen  gegenständen  ein  tertium  compara- 
tionis.  Dieses  tertium  ist  aber  nicht  etwas  neues,  was  noch  dazu 
käme,  sondern  es  ist  derjenige  teil  von  dem  Inhalt  der  beiden  mit 
einander  verglichenen  vorstellungscomplexe,  den  sie  mit  einander  ge- 
mein haben.  Sagen  wir  von  einem  menschen  er  ist  einem  schtvcine 
(jleich  oder  er  ist  einem  scluveiiie  zu  vergleichen,  so  ist  das  keine  iden- 
tiiicierung  wie  bei  einer  mathematischen  gleichung,  sondern  es  soll 
damit  nur  gesagt  sein,  dass  eine  von  den  charakteristischen  eigen- 
schaften.  aus  denen  sieh  der  begriff  schwein  zusammensetzt,  auch  in 
der  Vorstellung  inbegriffen  ist,  die  wir  uns  von  diesem  menschen 
machen,  d.  h.  in  der  regel  die  unvlätigkeit.  Wir  können  daher  genauer 
sagen,  indem  auch  das  tertium  zum  ausdruck  kommt:  er  ist  unvlätbj 
wie  ein  schwein.  Anderseits  aber  kann  mau  noch  einfacher  sagen  er 
ist  schweinisch,  wobei  das  adj.  widerum  nicht  den  vollen  inbegriff 
aller  cigenschaften  eines  Schweines  bezeichent,  sondern  nur  eine  aus- 
wahl  daraus,  und  endlich  am  einfachsten  er  ist  ein  schwein. 

Noch  eine  andere  möglichkeit  gibt  es,  wodurch  ein  wort  über 
die  scliranken  seiner  eigentlichen  bedeutung  hinausgreifen  kann,  widerum 
natürlich  zunächst  nur  occasionell.  Diese  besteht  darin,  dass  etwas, 
was  mit  dem  usuellen  bedeutungsiuhalt  nach  allgemeiner  erfahrung 
räumlich  oder  zeitlich  oder  causal  verknüpft  ist,  unter  dem 
Worte  mitverstanden  oder  auch  allein  darunter  verstanden  wird.  Hier- 
her gehört  die  aus  der  lateinischen  Stilistik  als  pars  pro  toto  be- 
kannte figur.  sowie  manches  andere,  was  noch  im  folgenden  zu  be- 
handeln sein  wird. 

Bei  jedem  hinausgreifen  des  Wortes  über  die  schranken  seiner 
usuellen  bedeutung  muss  noch  ein  bestimmendes  moment  hinzukommen, 
wenn  die  beziehung  richtig  verstanden  werden  soll.  Ein  solches  ist 
hier  noch  viel  notwendiger  als  da,  wo  es  sich  nur  darum  handelt  zu 
erkennen,  welche  von  mehreren  schon  usuellen  bedeutungen  gemeint 
ist,  vgl.  oben  s.  72.  Wir  fühlen  uns  überhaupt  nie  veranlasst  ein  wort 
in  einem  sinne  zu  verstehen,  welcher  nicht  alle  demente  der  usuellen 
bedeutung  in  sich  schliesst,  so  lange  wir  nicht  durch  irgend  etwas 
darauf  hingewiesen  werden,  dass  das  unmöglich  ist,  und  zum  wirk- 
lichen erfassen  des  wahren  sinnes  gehört  dann  noch,  dass  dieser  hin- 
weis  unseren  gedanken  auch  eine  positive  richtuug  gibt.  In  dem 
sprUchworte   eigentoh  stinkt,  freundes  lob   hinkt   würden  wir  die  prädi- 


75 

cate  nicht  in  biUlliciiem  sinne  verstehen,  wenn  sie  in  eigentlieiieni  mit 
den  snbjcetcn  vereinbar  wären.  Wenn  »Schiller  sagt  zu  Aclien  sdss 
könig  Rudolfs  heilige  maeht  oder  Wolfram  von  Esehenbaeh  dar  nach 
sin  snelheit  verre  spränc  erkennen  wir  an  den  prädicaten,  dass  die 
subjeete  umsehreibnno-en  für  die  personen  sein  sollen. 

In  allen  diesen  besprochenen  abweichnugen  der  occasioncllen  be- 
dentung-  von  der  usuellen  liegen  ausätze  zu  wirklichem  bedeutungs- 
wandel.  Sobald  sie  sieh  mit  einer  gewissen  regelmässigkeit  wider- 
holen, wird  das  individuelle  und  momentane  allniählig  generell  und 
und  usuell.  Die  grenzlinie  zwischen  dem,  was  bloss  zur  occasioncllen, 
und  dem,  was  auch  zur  usuellen  l)edeutung  eines  wertes  gehört,  ist 
eine  fliessende.  Für  das  individuum  ist  der  anfang  zum  Übergang 
einer  oceasionellen  bedeutung  in  das  usuelle  gemacht,  wenn  bei  dem 
anwenden  oder  verstehen  derselben  die  erinnerung  an  ein  früheres 
anwenden  oder  verstehen  mitwirkend  wird;  der  vollständige  abschluss 
des  Überganges  ist  erreicht,  wenn  nur  diese  erinnerung  wirkt,  wenn 
anwendung  und  verständuiss  ohne  jede  beziehung  auf  die  sonstige 
usuelle  bedeutung  des  Wortes  erfolgt.  Dazwischen  ist  eine  mannig- 
fache abstufung  möglich.  Innerhall)  der  engeren  oder  weiteren  ver- 
kehrsgenossenschaften  können  sich  dann  wider  die  verschiedenen  indi- 
viduen  auf  verschiedenen  stufen  des  übergangsprocesses  befinden.  Es 
ist  aber  gar  nicht  möglich,  dass  der  process  sich  an  einem  individuum 
vollziehen  könnte,  während  dessen  verkehrsgenossen  vollständig  unbe- 
rührt davon  blieben.  Denn  zum  wesen  des  processes  gehört  es  ja 
eben,  dass  er  durch  widerholte  gleichmässige  anwendung  der  anfäng- 
lich nur  occasioncllen  l)edeutung  zu  stände  kommt,  und  dieser  muss 
ein  verstehen  wenigsten  von  seiten  eines  teiles  der  verkehrsgenossen 
entsprechen,  und  das  verstehen  ist  für  diese  widerum  mindestens  ein 
anfang  des  processes.  Es  wird  aber  auch  nicht  leicht  an  einem 
einzelneu  individuum  der  process  vollkommen  durchgeführt  werden, 
wenn  die  beeinflussung,  welche  es  auf  die  verkehrsgenossen  ausübt, 
nicht  von  diesen  zurückgegeben  wird.  Ein  solches  zurückgeben  wird 
natürlich  da  am  leichtesten  sich  einstellen,  wo  nicht  bloss  beein- 
flussung von  aussen  wirkt,  sondern  ein  spontaner  innerer  trieb  zu  der 
nämlichen  occasioncllen  Verwendung  des  wortes,  wie  er  sich  natur- 
gemäss  aus  der  Übereinstimmung  ergibt,  die  zwischen  den  individuen 
rücksichtlich  ihrer  Verhältnisse  besteht. 

Ganz  besonders  wirksam  aber  für  die  Verwandlung  der  occasio- 
ncllen bedeutung  in  feine  usuelle  ist  die  erste  Überlieferung  an  die 
nachwachsende  generation.  Die  erlernung  der  Wortbedeutung 
erfolgt  im  allgemeinen  nicht  mit  hülfe  einer  delinition,  durch  welche 
die  usuelle  bedeutung  nach  iniialt  und  umfang  bestimmt  würde.     Eine 


76 


t 


solche  wird  iiberlianpt  erst  flir  eine  sehon  ziemlich  fortgeschrittene 
stufe  der  sprachkcuntniss  möglich  und  bleibt  auch  auf  dieser  aus- 
nähme. Das  kind  lernt  nur  oceasionelle  verwendungsweiseu  des  Wortes 
kennen,  und  zwar  zunächst  nur  beziehungen  desselben  auf  ein  durch 
die  anschauung  gegebenes  eoneretes.  Nichtsdestoweniger  verallge- 
meinert es  diese  beziehung  sofort,  wenn  es  dieselbe  überhaupt  erfasst 
hat.  Ganz  natürlich.  Die  beziehung  auf  das  einzelne  concretum  kann 
überhaupt  nicht  festgehalten  werden.  Denn  in  dem  erinnerungsbilde, 
welches  dasselbe  hinterlässt,  liegt  an  sich  gar  nichts,  woran  bei  einer 
neuen  anschauung  die  reale  identität  oder  nichtidentität  mit  dem 
früher  angeschauten  erkannt  werden  könnte.  Die  richtige  erkenntuiss 
davon  beruht  immer  erst  auf  einer  schlusskette  und  ist  sehr  häufig 
überhaupt  nicht  zu  gewinnen.  Für  das  naive  bewusstsein  genügt 
Übereinstimmung  des  vorstellungsinhalts  um  die  Identification  vorzu- 
nehmen, mag  reale  identität  bestehen  oder  nicht.  Es  genügt  auch 
eine  paiüelle,  unter  umständen  eine  sehr  geringfügige  Übereinstimmung, 
solange  das  erinnerungsbild  noch  sehr  unbestimmt  und  verworren  ist. 
So  bildet  sich  vom  beginn  der  spracherleruuug  an  die  gewohnheit 
nicht  bloss  einen,  sondern  mehrere  gegenstände,  nicht  bloss  gleiche, 
sondern  auch  nur  irgendwie  ähnliche  gegenstände  mit  dem  gleichen 
Worte  zu  bezeichnen,  und  diese  gewohnheit  bleibt,  auch  wenn  anfangs 
übersehene  unterschiede  später  bemerkt  werden,  da  sie  fortwährend 
durch  den  Vorgang  der  erwachsenen  unterstützt  wird.  Es  ist  aber  gar 
nicht  anders  möglich,  als  dass  zunächst  keine  klare  Vorstellung  über 
inhalt  und  umfang  der  usuellen  Wortbedeutung  besteht.  Das  kind 
macht  eine  menge  fehler,  indem  es  mit  dem  worte  bald  einen  zu 
reichen,  bald  einen  zu  armen  begritf  verbindet  und  ihm  'emgemäss 
bald  eine  zu  enge,  bald  eine  zu  weite  vei'wendung  erteilt.  Das  letztere 
dürfte  das  häufigere  sein,  um  so  häufiger,  je  geringer  der  zu  geböte 
stehende  wortvorrat  ist.  So  weiss  ich  z.  b.,  dass  ein  kleines  kind 
unter  stuhl  ein  sopha  mit  einbegriff,  unter  stock  einen  regenschirm, 
unter  hut  eine  haube  und  andere  kopfbedeckungeu,  und  zwar  nicht 
bloss  einmal,  sondern  widerholt.  Eine  andere  Veranlassung  zu  un- 
genauer auffassung  der  bedeutung  ergibt  sich  dadurch,  dass  die  be- 
zeichenten  gegenstände  vielfach  teile  eines  grösseren  ganzen  sind  oder 
mit  anderen  gegenständen  in  der  anschauung  unzertrennlich  verbunden. 
Hier  wird  das  kind  vielfach  unsicher  sein,  wie  der  ausschnitt  aus  der 
ganzen  anschauung,  den  das  wort  bezeichnen  soll,  zu  begrenzen  ist. 
Es  wird  die  grenzen  bald  weiter,  bald  enger  ziehen,  als  es  der  usus 
verlangt,  mitunter  zugleich  etwas  hineingehöriges  herauslassen  und 
etwas  nicht  hineingehöriges  einbegreifen.  Uebrigens  ist  das  erlernen 
neuer   Wörter  und  neuer  verwendungsweisen  der  alten  keineswegs  auf 


77 

die  frühe  kindlieit  eiugesehräukt.  AusdiUeke,  die  seltener  vorkommen, 
complieiertere  vorstelluugseomplexe  bezeiclineu,  eine  höhere  bildung 
oder  speeifisehe  kenntniss  voraussetzen  hat  auch  der  erwachsene  noch 
immer  zu  erlernen,  und  erlernt  er  sie  nur  auf  grund  der  occasionellen 
Verwendung,  so  ist  er  den  selben  fehlgriffen  ausgesetzt  wie  das  kind. 
Alle  diese  uugenauigkeiten  in  erfassung  der  usuellen  bedeutung  sind 
vereinzelt  von  keinem  belang  und  werden  in  der  regel  mit  der  zeit 
corrigiert.  Doch  kann  es  nicht  ausbleiben,  dass  in  einzelnen  fällen 
das  zusammentreffen  einer  grösseren  anzahl  von  Individuen  in  dem 
gleichen  missverständnisse  dauernde  spuren  hinterlässt.  Wir  werden 
also  eine  art  des  bedeutungswandels  anzuerkennen  haben,  die  darauf 
beruht,  dass  der  für  die  ältere  generation  usuellen  bedeutung  von  der 
jüngeren  eine  nur  partiell  damit  übereinstimmende  untergeschoben 
wird.  Das  gebiet  dieser  art  des  wandeis  werden  wir  aber  auf  die 
selteneren  und  nicht  leicht  klar  zu  fixierenden  begriffe  einzuschränken 
haben,  da  bei  anderen  die  allmählige  correctur  nach  dem  bestehenden 
usus  nicht  ausbleiben  kann. 

In  den  meisten  fällen  geht  der  anstoss  zur  bedeutungsverände- 
rung  von  der  älteren  generation  aus,  die  den  usus  schon  vollkommen 
beherrscht;  die  jüngere  hat  aber  an  der  weiterentwickelung  einen  be- 
sonderen anteil.  Dieser  besteht  darin,  dass  sich  die  verschiedenen 
verwendungsweisen  eines  wortes  von  anfang  an  etwas  anders  grup- 
pieren als  bei  der  älteren  generation.  Jede  anwendungsweise  kann, 
weil  sie  zunächst  am  einzelnen  falle  erfasst  wird,  für  sich  ohne  rück- 
sicht  auf  die  übrigen  erlernt  werden  und  daher  eine  grössere  Selb- 
ständigkeit erhalten  als  sie  in  den  seelen  der  älteren  generation  hatte. 
Für  die  verselbständigung  der  abgeleiteten  gegenüber  der  grund- 
bedeutung  kommt  noch  besonders  in  betracht,  dass  die  letztere  nicht 
selten  früher  erlernt  wird  als  die  erstere.  Es  wird  sich  z.  b.  leicht 
treffen,  dass  ein  kind  mit  fuchs  zuerst  ein  pferd,  mit  ka7nel  zuerst 
einen  einfältigen  menschen  bezeichnen  hört.  Dann  wird  die  gruud- 
bedeutuug  von  anfang  au  nicht  als  vermittlerinu  herbeigezogen.  So 
lange  ein  Individuum  den  usus  noch  nicht  vollständig  beherrscht,  ver- 
mag es  auch  vielfach  nicht  zu  unterscheiden,  ob  eine  verwenduugs- 
weise,  die  ihm  vorkommt,  bereits  usuell  oder  nur  rein  occasionell  ist, 
und  es  kann  daher  die  occasionelle,  wenn  sie  sich  ihm  nur  in  folge 
begünstigender  umstände  stark  eingeprägt  hat,  eben  so  unbefangen 
nachahmen  wie  die  usuelle. 

Da  der  wandel  der  usuellen  bedeutung  aus  den  modificationeu 
in  der  occasionellen  anwendung  entspringt,  so  finden  wir  auch  hier 
wie  dort  die  nämlichen  arten.  Die  erste  hauptart  ist  demnach  spe- 
eialisierung    der    bedeutung   durch   Verengung  des   umfangs   und 


78  I 

bereicherung:  des  inhalts.  Als  ein  instruetives  heispiel  für  den  unter- 
schied zwischen  bloss  occasioneller  und  usueller  speeialisierung*  kann 
das  wort  schirm  dieuen.  Wir  können  das  wort  für  jeden  schirmenden 
gegenständ  gebrauchen.  Im  oeeasionellen  gebrauche  kann  damit  ein 
Ofenschirm,  lampenschirm.  augensehirm,  regenschirm,  Sonnenschirm  u.  a. 
gemeint  sein.  Aber  während  wir  das  woii  als  Ofenschirm  oder  lampen- 
schirm zu  verstehen  nur  durch  eine  ganz  bestimmte  Situation  ver- 
anlasst werden,  liegt  es  uns  auch  ohne  solche  nahe  es  als  regen- 
oder  Sonnenschirm  zu  fassen,  und  wir  denken  dann  kaum  mehr  so 
sehr  an  die  allgemeine  function  des  schirmens  wie  an  einen  gegen- 
ständ von  bestimmter  gestalt  und  coustructiou.  Wir  müssen  daher 
anerkennen,  dass  sich  diese  bedeutung  als  eine  eigene,  selbständige 
von  der  allgemeineren  abgezweigt  hat,  gleichviel  ob  sie  sieh  noch 
logisch  unter  diesell)e  unterordnen  lässt.  Denn  diese  logische  Unter- 
ordnung ist  nur  möglich,  wenn  man  von  momenten  absieht,  die  für 
die  bedeutung  mindestens  eben  so  wesentlich  sind  als  dasjenige,  was  man 
allein  berücksichtigt.  Weitere  beispiele  sind:  frvcht  im  süddeutschen 
gebrauche  =  getreide,  fruchte  auf  Speisekarten  =  obst;  kraul  süddeutsch 
speciell  ==  kohl;  körn,  welches  einerseits  allgemeine  bezeichnung  für 
getreide  überhaupt  ist,  anderseits  specielle  für  die  gewöhnlichste,  haupt- 
sächlich zur  brodbereitung  verwendete  getreideart,  in  Norddeutschland 
für  roggen,  in  einigen  landschaften  für  dinkel  oder  weizen  oder  hafer; 
dach  wurde  im  mhd.  für  jede  art  von  bedeckung  gebraucht,  jetzt  denkt 
man  nur  an  dach  des  hauses.  Eine  besondere  hierher  gehörige  art 
ist  die  venvendung  von  stoflfbezeichnungen  für  producte  aus  dem  stoff, 
vgl.  tjlas,  hörn,  feder,  gold  —  silher  — ■  kupfer  —  papier  (als  geld- 
sorteu)  etc.  Der  lexicograph  muss  sieh  bemühen  bei  der  aufzählung 
der  speciellen  Verwendungen  eines  Wortes  zu  scheiden  zwischen 
soleheu,  die  usuell  geworden,  und  solchen,  die  rein  occasionell  sind, 
eine  Scheidung,  die  ganz  gewöhnlich  versäumt  wird. 

Durch  Verwandlung  der  oeeasionellen  concreten  bedeutung  ge- 
wisser Wörter  in  usuelle  entspringen  die  eigenn amen.  Alle  personen- 
und  Ortsnamen  sind  erst  aus  gattungsbezeichnungen  entstanden,  und 
den  ausgaugspunkt  dafür  bildet  der  gebrauch  xar  e^oxt/v.  Wir  können 
den  ])roeess  deutlich  verfolgen  bei  sehr  vielen  Ortsnamen.  In  dieser 
beziehung  sind  besonders  so  allgemeine  überall  widerkehrende  be- 
zeichnungeu  lehrreich  wie  Aue,  Berg,  Brück,  Brühl,  Brunn,  Burg,  Haag, 
Hof,  Kappeln  Gmi'md,  Münster,  Ried,  Stein,  Weiler,  Zell,  Altstadt,  Neu- 
slttdt  {^'illeneuve,  yewtotvn),  Neuburg  {Neuchat el,  Newcastle),  Hochburg, 
Neukirch,  Milhlberg  etc.  Solche  bezeichnungen  haben  ursprünglich  nur  ^ 
den  nächsten  umwohnern  der  betreffenden  örtlichkeit  gedient,  für 
welche   sie   ausreichten    um   diese   ^on   andern   in  der  nähe  gelegenen 


79 

örtlielikeiteu  zu  iintevseheideu.  Zu  zweifellosen  eigennamen  wurden 
sie  in  dem  augenblicke,  wo  sie  auch  von  ferner  stehen  den  mit  diesem 
concreten  sinne  übernommen,  oder  wo  sie  durch  den  zutritt  weiterer 
isolierender  momente  schärfer  von  den  ursprün^'lich  identischen  gattungs- 
bezeichnungen  gesondert  wurden.  Daneben  gibt  es  freilich  eine  grosse 
klasse  ton  Ortsnamen,  die  von  anfaug-  an  der  natur  wahrer  eigennamen 
sehr  nahe  kommen,  weil  sie  aus  personenuamen  abgeleitet  oder  durch 
Personennamen  bestimmt  sind. 

Es  gibt  auch  eine  art  von  speeialisierung,  die  gleich  ihren  anfang 
nimmt,  sobald  das  wort  Überhaupt  gebraucht  wird.  Diese  findet  sich 
bei  Wörtern,  die  aus  anderen  üblichen  Wörtern  nach  den  bildungs- 
gesetzen  der  s])rache  beliebig  al)geleitet  werden  können,  aber  doch 
nur  dann  wirklich  zur  Verwendung  kommen,  wenn  ein  besonderes  be- 
dürfniss  dazu  treibt.  Solche  Wörter  sind  vielfach  von  anfang  an  nur 
mit  einer  specielleren  beziehung  zum  grundwort  nachzuweisen  als  sie 
die  ableituug  an  sich  ausdrückt.  Die  von  Substantiven  abgeleiteten 
bilduugen  auf  -er,  mhd.  -fcre  bezeichnen  an  sich  eine  person,  die  zu 
dem  begriff  des  grundwortes  in  irgend  einer  beziehung  steht,  welcher 
art  diese  beziehung  auch  sein  mag,  aber  an  den  einzelnen  Wörtern 
zeigen  sich  die  verschiedenartigsten  specialisierungen,  Mhd.  cehfaTc 
von  ähte  (acht,  Verfolgung)  bedeutet  sowol  Verfolger  wie  verfolgter; 
bei  der  individuellen  anwendung  kann  jedenfalls  niemals  beides  zu- 
gleich darunter  verstanden  sein.  Unter  schiUer  hätte  an  sich  auch 
der  Schulmeister  begriffen  sein  können,  es  liegt  aber  keine  spur  davon 
vor,  dass  es  jemals  anders  als  im  neuhochdeutschen  sinne  gebraucht 
wäre.  So  ist  ferner  schreiner  nie  anders  gebraucht  als  für  den  ver- 
fertiger von  Schreinen,  schäfer  nie  anders  als  für  den  hüter  von  schafen, 
hürger  nie  anders  als  für  den  bewohner  einer  bürg  oder  stadt,  falkner 
nie  anders  als  für  einen,  der  mit  falken  jagt;  vogeler  ist  Vogelsteller, 
daneben  geflügelhändler.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  verben  wie 
bechern,  bullern,  haaren,  hausen,  herzen,  kernen,  karren,  köpfen,  mauern, 
stunden,  tafeln  u.  a.  Bei  vielen  Wörtern  sind  wir  ausser  stände  zu  ent- 
scheiden, ob  eine  Verwendung  in  einem  allgemeineren  sinne  voran- 
gegangen ist  oder  nicht.  Auch  diese  uranfängliche  speeialisierung  ist 
natürlich  zunächst  nur  eine  occasionelle,  indem  das  wort  an  sich  nur 
auf  den  allgemeinen  begriff  weist,  der  sich  aus  der  eombiuation  des 
grundwortes  mit  dem  ableitungssuffix  ergil)t,  und  erst  die  dem  sprechen- 
den und  hörenden  gemeinsame  Situation  ein  mehr  von  inhalt  hinzu- 
bringt. Der  usus  kann  auch  hier  erst  allmählig  nach  den  allgemeinen 
grundbedingungen  geschaffen  werden. 

Uebcrall,  wo  sich  das  bedürfniss  nach  bezeichnung  eines  bisher 
unbezeichenten   begrifles   geltend   macht,   ist  es   eins   der  bequemsten 


80 

hUlfsniittel  ein  leielit  bildbares  wort  zu  wählen,  welches  einen  wich- 
tigen teil  von  dem  inhalte  des  begriflfes  ausdrückt,  also  ein  hervor- 
stechendes merkmal.  Die  etymologie  lehrt,  dass  sehr  viele  substanz- 
bezeichnungen  so  aus  bezeiehnuugen  von  einfacheren  qualitäten  her- 
vorgegangen sind.  Doch  ist  jedenfalls  der  schluss  nicht  berechtigt, 
dass  alle  substanzbezeichnungeu  auf  diese  weise  entstanden,  etwa  alle 
aus  verben  abgeleitet  sein  müssten. 

Die  zweite  der  ersten  entgegengesetzte  hauptart  des  bedeutungs- 
wandels  ist  die  beschränkung  auf  einen  teil  des  ursprüng- 
lichen Inhaltes,  womit  sich  aber  zugleich  in  der  regel  bereicheruug 
nach  einer  andern  seite  hin  verbindet.  Es  ist  kaum  möglich  die  grosse 
masse  der  hierher  gehörigen  erschein ungen  unter  rubriken  zu  bringen. 
Ich  hebe  nur  einige  besonders  häufig  vorkommende  hervor.  Sehr  ge- 
wöhnlieh ist  die  äussere  gestalt  das  massgebende  für  die  benennung, 
vgl.  äuge  (z.  b.  äuge  einer  kartoflfel),  nase,  köpf  (von  kohl  oder  salat), 
arm  (eines  flusses),  kelch  (einer  blume),  kessel,  würfel  etc.  Eine  statue, 
ein  bild  bezeichnet  man  direkt  durch  das,  was  sie  vorstellen:  ein 
Apollo,  Laokoon^  die  anheiung  dei^  hirten.  Man  bezeichnet  den  teil 
eines  gegenständes  nach  dem  hinsichtlich  seiner  läge  entsprechenden 
teile  eines  andern  gegenständes,  z.  b.  hals  oder  bauch  einer  flasche, 
fuss  eines  berges,  schwänz  eines  gewandes,  eines  papierdrachen ;  ein 
mass  nach  einem  gegenstände,  der  die  betreffende  grosse,  länge  oder 
breite  hat,  vgl.  fuss,  eile.  Die  Übereinstimmung  der  function  ist  mass- 
gebend bei  feder  ==  Stahlfeder.  Die  analogie  zwischen  räum  und  zeit 
macht  die  Übertragung  der  für  räumliche  anschauungen  geschaffenen 
ausdrücke  auf  die  zeitlichen  möglich,  vgl.  lang,  kurz;  vor,  nach,  hinler 
und  viele  andere  adverbien  und  präpositionen.  Die  analogie  zwischen 
den  verschiedenen  Sinneswahrnehmungen  ermöglicht  die  Übertragung 
von  dem  eindrucke  eines  sinnes  auf  den  eines  andern,  vgl,  süss,  schön, 
hell  (urs})rünglich  nur  auf  das  gehör  bezüglich),  lat.  clarus  (ursprüng- 
lich nur  auf  das  gesiebt  bezüglich).  Die  bezeiehnuugen  für  sinnliche 
Wahrnehmungen  und  zustände  werden  auf  geistige  übertragen,  vgl. 
fühlen,  sehen,  süss,  biller,  schön,  geschmack,  rein,  schmutzig,  gross,  klein, 
erhaben,  niedrig,  warm,  feuer,  brennen,  ergreifen  etc.  Wörter,  die  eine 
einzelne  art  bezeichnen,  werden  zu  weiteren  gattungsbegriffen  gemacht, 
vgl.  kalze,  karpfen,  krebs,  apfel,  rose.  Indem  man  sich  an  eine  her- 
vorragende eigenschaft  hält,  können  auch  eigennamen  zu  appellativen 
werden,  vgl.  den  Übergang  in  Wendungen  wie  er  ist  ein  Cicero,  ein 
Cato  und  die  weiterentwickelung  in  Kannibal,  Vandale;  Hans,  Peter, 
Stößel,  Hinz  und  k'unz,  Trine,  Metze  (=  Mechtild).  Vgl.  dazu  auch 
adjeetiva  wie  gotisch,  altfränkisch,  romantisch. 

Wir    kommen    zu    der  dritten   hauptart  des   bedeutungswandels, 


81 

der  Übertragung-  auf  das  räumlich,  zeitlieh  oder  causal  mit 
dem  grundbe griff  verkuüpfte.  Die  einfachste  unterart  ist  pars 
pro  toto.  Der  teil  ist  dabei  immer  ein  charakteristisches  merkmal  und 
nur  als  solches  wird  er  tahig-  das  ganze  anzudeuten.  Vgl.  hoyen  = 
arml)rust;  klim/e  ==  schwert  oder  messer;  mhd.  rant  =  sehild  (aller- 
dings auf  die  epische  spräche  beschränkt).  Besonders  gewöhnlieh 
sind  bezeiehnuugen  von  persouen  oder  tieren  nach  charakterisierten 
teilen  des  körpers  und  geistes,  vgl.  bemoostes  haupt;  lockenkopf,  yraii- 
kopf,  kahlkopf,  krauskopf,  dummkopf^  dickkopf,  Irotzkopf,  feltwansl,  Jink- 
hand,  hasenherz,  Iwjenmaul,  yrossmaul,  (jelbschnahel,  grauhart,  rotkehl- 
chen^  rotschnanz,  stump/'sch?ranz,  hlaufuss;  starker  (/eist,  schöne  seele; 
franz.  hlanc-hec,  yrosse-tete,  rouge-gorye,  rouye-queue,  pied-plal,  yorye- 
hlanche,  mille-pieds;  esprit  fort,  bei  esprit.  Im  gründe  von  pars  pro 
toto  nicht  verschieden  ist  die  Verwendung  von  bezeiehnuugen  für  an- 
haftende gegenstände  statt  der  gegenstände,  denen  sie  anhaften.  Den 
bezeichuungeu  nach  körperteilen  am  nächsten  stehen  die  nach  der 
bekleidung:  schwarzrock,  rundhut,  hlaustrumpf\  rotkäppchen,  grüner 
donüno,  maske.  Andere  bezeichnungen,  welche  von  einem  gegenstände 
auf  das  durch  ihn  eingeschlossene,  in  ihm  enthaltene  übertragen  sind, 
sind  z.  b.  stadt^  haus,  kammer,  cabinet,  kirche,  hof,  frauenzimmer.  Um- 
gekehrt findet  auch  eine  Übertragung  auf  die  Umgebung  statt,  vgl. 
tavelrunde,  liedertafel,  däumüny,  kragen  (ursprünglich  hals),  mhd.  vinyer- 
Ihi  (fingerring),  spiz  (spiessbraten).  Sehr  gewöhnlich  geht  eine  eigen- 
schaftsbezeichnung  über  in  die  bezeichuung  dessen,  dem  die  eigeu- 
schaft  anhaftet;  vgl.  alter,  juyend;  menge,  fülle,  enge,  fläche,  ebene, 
wüste,  säure;  mannschaft ,  knappschaft,  gesell schafl,  bürgerschaft,  Ver- 
wandtschaft, gesändlschaft  und  viele  andere  auf  -schafi,  welches  ur- 
sprünglich beschaffenheit  bedeutet;  ebenso  viele  ?i\\i  -heit  {-keit),  welches 
ursprünglich  eigeuschaft,  zustand  bedeutet,  wie  Christenheit,  Vielheit, 
mehrheit,  gottheit,  Schönheit,  Vergangenheit^  geleyenheit ,  eiyenheit,  kleinig- 
keit,  süssigkeit,  neuigkeit,  Sonderbarkeit ,  gefäUigkeit;  hierher  gehören 
auch  titel  wie  majestät,  hoheit,  exellenz  etc.  Wie  die  beispiele  zeigen, 
entstehen  auf  diese  weise  sowol  collectivbeuennungen  als  benennungen 
für  einzelne  persouen  und  dinge,  nicht  immer  aber  werden  die  be- 
treffenden Wörter  zu  substauzbezeichnungen.  Das  selbe  wie  von  den 
eigenschaftsbezeichnungeu  gilt  von  den  sogenannten  nomiua  actionis, 
den  tätigkeits-  und  zustaudsbezeichnungeu,  die  aus  verben  abgeleitet 
sind,  vgl.  rat,  fluss,  zug,  abhang,  vorhamj,  umhang,  vortrab,  zukunft,  ein- 
kommen,  regieruny^  Vorsehung,  Verzierung.  In  diesen  fällen  ist  die  be- 
zeichnung  der  handlung  auf  ihr  subject  übergegangen,  sie  kann  aber 
auch  auf  das  object  übergehen,  object  im  allerweitesten  sinne  geuonmien: 
so  auf  das  innere  object,  wodurch  eine  bezeichnung  des  resultates-  ent- 

Paul,  Principien.     II.  Auflage.  6 


82 

stellt:  riss,  hnich,  sprung,  wuchs,  zuivachs,  crhöhung,  vertlefumj,  ahhand- 
lung,  Versammlung,  Vereinigung,  Ul (hing ;  auf  dass  äussere  objeet,  welches 
ivgeudwie  von  der  tätii^keit  berührt  wird:  saat,  ernte,  sprach,  spräche, 
gang,  durchgang,  Übergang,  einfahrt,  Zuflucht,  ausßucht,  nohnung,  klei- 
dung;  so  entstehen  also  auch  bezeiclmungeu  für  den  ort,  wo  etwas 
g-esehieht,  für  das  mittel,  wodurch  etwas  bewerkstellig-t  wird,  u.  derg-1. 
Hierher  gehört  es  auch,  wenn  man  Schriften  durch  den  namen  des 
Verfassers  l)ezeichent  {ein  Goethe,  Schiller),  oder  werke  der  bildenden 
kunst  durch  den  namen  des  künstlers  {ein  Raphael);  ferner  wenn  man 
jemandem  eine  liebliugswendung,  die  er  zu  gebrauchen  pflegt,  als 
Spitznamen  beilegt,  vgl.  Heinrich  Jasomirgott;  oder  wenn  der  hund  in 
der  ammensprache  wauwau  genannt  wird  u.  dergl.;  entsprechend  sind 
auch  pflauzeunamen  wie  nolimelamjere,  vergissmeinnicht  zu  beurteilen. 

Die  verschiedenen  arten  des  bedeutungswandels  können  natür- 
lich auf  einander  folgen  und  su  sich  combinieren.  So  hat  abendmal 
einerseits  an  bedeutungsinhalt  gewonnen,  indem  es  auf  das  bestimmte 
abendmal  Christi  und  die  in  nachahmung  desselben  stattfindende  feier 
beschränkt  ist,  es  hat  aber  anderseits  auch  etwas  von  dem,  was  eigent- 
lich in  dem  werte  liegt,  eingebüsst,  indem  es  auch  von  einer  nicht 
am  abend  stattfindenden  feierlichkeit  gebraucht  wird.  Rosenkranz  wird 
xax  t^oxt'jt-'  von  einem  kränze  gebraucht,  der  einem  bestimmten  zwecke 
dient,  aber  auch  von  einem  kränze,  der  gar  nicht  aus  rosen  besteht. 
I/orn  ist  ein  aus  einem  hörne  verfertigtes  blasinstrument,  dann  aber 
auch  ein  solches  von  ähnlicher  form  aus  anderem  stotfe.  Feder  be- 
deutet eine  zum  schreiben  zugeschnittene  feder,  dann  aber  auch  ein 
Werkzeug  von  der  nämlichen  function  aus  anderem  stoffe.  Es  ist 
überhaupt  sehr  häufig,  dass  etwas,  was  eigentlich  nicht  zur  bedeutung 
eines  Wortes  gehört,  sondern  nur  aeeidentiell  damit  verknüpft  sein 
kann,  allmählig  in  die  bedeutung  mit  aufgenommen  wird  und  dann 
auch  sell)stäudig  als  die  wahre  bedeutung  empfunden  wird,  ohne  dass 
au  die  grundbedeutung  noch  gedacht  wird.  So  werden  namentlich 
bezeichnungen  für  räumliche  und  zeitliche  Verhältnisse  zu  bezeichnungen 
für  causalverhältnisse,  vgl.  folge,  zweck,  ende  (in  zu  dem  ende),  grund, 
mittel,  weg. 

Da  sich  alle  sprechtätigkeit  in  Sätzen  bewegt,  so  ist  es  ganz 
natürlich,  dass  der  bedeutungswandel  nicht  bloss  die  einzelnen  Wörter 
trifft,  sondern  auch  wortgruppen  und  ganze  sätze.  Diese  können 
natürlich  auch  zunächst  occasionell,  dann  durch  widerholung  usuell 
eine  bedeutung  annehmen,  die  sieh  nicht  mehr  mit  derjenigen  deckt, 
welche  man  erhält,  wenn  man  die  bedeutungeu  der  Wörter,  aus  denen 
die  gru])])e  besteht,  zusammenfügt.  Wenige  beispiele  mögen  vorläufig 
genügen,    da    wir    auf   diese    erschcinung    in    cap.  19  zurückkommen 


83 

mlisseu.  Es  g-il)t  eine  lueng-e  verbind ung^en  mit  hand,  bei  denen  wir 
an  die  eigentliche  bedeutiing  dieses  Wortes  nicht  mehr  denken,  ausser 
wenn  unsere  anfmerksamkeit  ausdrücklich  darauf  gelenkt  wird,  wenn 
wir  etwa  über  den  ursi)rung  einer  solchen  Wendung  reflectieren,  z.  b, 
auf  der  hand  (flacher,  platter  h)  liegen,  an  die  hand  geben,  gehen,  an 
der  hand  haben,  an  der  hand  des  buches  etc.,  bei  der  hand  sein,  haben, 
zur  hand  sein,  haben,  neh?nen,  unter  der  hand,  unter  händen  haben,  von 
der  hand  /reisen,  vor  der  hand.  Man  kann  nicht  sagen,  dass  hier 
eigentümliche  bedeutungen  des  einzelneu  Wortes  hand  entwickelt  sind, 
vielmehr  ist  die  Verdunkelung  der  grundbedeutung  erst  iunerhall)  der 
betreffenden  Verbindungen  eingetreten.  Unsere  spräche  ist  voll  von 
derartigen  Wendungen.  Bei  manchen  kann  der  sinn  nur  mit  hülfe 
historischer  sprachkenntniss  aus  der  bedeutung  der  einzelneu  Wörter 
abgeleitet  werden,  vgl.  z.  b.  das  bad  austragen,  einem  ein  bad  zurichten, 
einem  das  bad  gesegnen,  einen  baren  anbinden,  einem  einen  bart  machen, 
einen  bock  schiessen,  einen  ins  hockshorn  jagen,  er  hat  bohnen  gegessen, 
einen  fleischergang  tun,  fveder  hand  noch  fuss  haben,  auf  dem  holzwege 
sein,  einem  einen  korb  geben,  maul  äffen  feil  halten,  einem  etwas  auf 
die  nase  binden,  einem  den  pelz  naschen,  einem  ein  .r  für  ein  u 
machen  etc. 

Die  ganze  masse  von  Vorstellungen,  die  in  der  seele  des  menschen 
vorhanden  ist,  sucht  sich  nach  möglichkeit  au  den  Wortschatz  der 
spräche  anzuheften.  Da  nun  die  vorstellungskreise  der  einzelneu  Indi- 
viduen in  der  gleichen  Sprachgenossenschaft  stark  unter  einander  ab- 
weichen und  auch  der  vorstellungskreis  des  einzelnen  immerfoi-t  be- 
deutenden Veränderungen  unterliegt,  so  müssen  sich  notwendigerweise 
in  den  an  den  Wortschatz  angehefteten  Vorstellungen  eine  menge  von 
individuellen  besonderheiten  finden,  die  bei  der  gewöhnlichen  bestim- 
mung  der  bedeutuug  für  die  einzelnen  Wörter  und  wortgruppeu  gar 
keine  berücksichtigung  finden.  Es  ist  z,  b.  die  bedeutung  des  wertes 
Pferd  insofern  für  alle  individuen  gleich,  als  sie  es  alle  auf  den  näm- 
lichen gegenständ  beziehen;  aber  es  ist  doch  nicht  zu  läuguen,  dass 
ein  reiter,  ein  kutscher,  ein  zoologe,  jeder  in  seiner  art,  einen  reicheren 
vorstellungsiuhalt  damit  verbinden  als  jeder  beliebige  andere,  der 
nichts  besonderes  mit  pferden  zu  schallen  hat.  Die  Vorstellung  von 
dem  verhalten  eines  vaters  zu  seinem  kinde  setzt  sieh  aus  einer  reihe 
von  momenten  zusammen,  die  nicht  immer  beisammen  sind,  wo  das 
wort  vater  angewendet  wird.  Man  kann  eine  definition  des  Wortes 
aufstellen,  die  physisch  und  juristisch  vollkommen  ausreicht,  aber  gerade 
das,  was  nach  dieser  definition  das  wesen  der  Vaterschaft  ausmacht, 
ist  in  dem  vorstellungscomplexe,  den  ein  kleines  kind  damit  verbindet, 
gar   nicht   enthalten.     Am  merkbarsten  sind  die  unterschiede  auf  dem 

6* 


84 

gebiete  der  enipfmdiing-  und  des  ethischen  urteils.  Was  die  einzelnen 
unter  schiin  und  hässlich^  unter  (jut  und  schlecht,  unter  lugend  und 
laster  verstehen,  lässt  sieh  nicht  so  ohne  weiteres  auf  einen  allgemein- 
gültigen begriff  bringen,  über  den  niemand  mit  dem  andern  streiten 
könnte. 

Indem  der  vorstellungskreis  eines  jeden  einzelnen  sich  an  die 
zu  geböte  stehenden  Wörter  anheftet,  so  muss  sich  auch  die  bedeutung 
des  gesammten  Wortschatzes  einer  spräche  nach  der  gesammtheit  der 
in  dem  volke  vorhandenen  Vorstellungen  richten  und  sich  mit  diesen 
verschieben.  Die  Wortbedeutung  bequemt  sich  immer  der  jeweiligen 
culturstufe  an.  Dies  geschieht  nicht  bloss  so,  dass  für  neue  gegen- 
stände und  Verhältnisse  neue  Wörter  geschaffen  oder  dass  auf  sie  alte 
Wörter  von  nur  ähnlichen,  aber  doch,  deutlich  verschiedenen  gegen- 
ständen und  Verhältnissen  übertragen  werden,  wie  z.  b.  (stahl) feder, 
sondern  es  gibt  hier  eine  menge  unmerklicher  Verschiebungen,  die  zu- 
nächst gar  nich-t  als  bedeutungswandel  beachtet  zu  werden  pflegen 
und  die  eine  unmittelbare  folge  des  wandeis  in  den  culturverhältnissen 
sind.  So  kann  z.  b.  eine  bezeichnung  für  schiff  entstanden  sein  zu 
einer  zeit,  wo  es  nur  erst  die  allerprimitivste  art  von  schiften  gab, 
und  dann  geblieben  sein,  auch  nachdem  man  bis  zu  den  grössten  und 
compliciertesten  fahrzeugen  fortgeschritten  war.  Wir  setzen  in  einem 
solchen  falle  keinen  bedeutungswandel  an,  aber  doch  ist  es  keine 
frage,  dass  die  an  das  wort  schift"  angeknü])ften  Vorstellungen  andere 
geworden  sind.  Und  so  verhält  es  sich  mit  allen  producten  der 
eultur,  mögen  es  sinnlieh  wahrnehmbare  gegenstände  oder  rein  seelische 
gebilde  sein. 


Cap.  V. 
AiLilogic. 

Wie  sehou  iu  cap.  1  hervorgehoben  worden  ist,  attrahieren  sich 
die  einzelnen  Wörter  in  der  seele,  und  es  entstehen  dadurch  eine 
nieng-e  grösserer  oder  kleinerer  grnppen.  Die  gegenseitige  attraction 
beruht  immer  auf  einer  partiellen  Übereinstimmung  des  lautes  oder 
der  bedeutung  oder  des  lautes  und  der  bedeutung  zugleich.  Die 
einzelnen  gruppeu  laufen  nicht  alle  gesondert  neben  einander  her, 
sondern  es  gibt  grössere  gruppen.  die  mehrere  kleinere  in  sich  schliessen, 
und  es  findet  eine  gegenseitige  durchkreuzung  der  gruppen  statt.  Wir 
unterscheiden  zwei  hauptarten,  die  wir  als  st  off  liehe  und  formale 
gruppen  bezeichnen  wollen. 

Eine  stoffliche  gruppe  bilden  z.  b.  die  verschiedenen  casus  eines 
substantivums.  Diese  gruppe  lässt  sich  dann  noch  wider  nach  zwei 
verschiedenen  principien  in  kleinere  gruppen  zerlegen:  entweder  casus 
des  sing.  —  des  plur.  ( —  des  du.),  oder  nominativformen  (des  sing.,  pl. 
du.)  —  geuitivformen  etc.;  und  diese  beiden  gruppierungeu  durch- 
kreuzen einander.  Ein  viel  mannigfaltigeres  System  von  einander 
über-  und  untergeordneten  und  sich  durchkreuzenden  gruppen  geben 
die  formen  eines  verbums,  zumal  eines  griechischen.  Grössere  stoff- 
liche gruppen  mit  loseren  zusammenhängen  entstehen  dann  aus  der 
Verbindung  aller  Wörter,  die  einander  iu  ihrer  bedeutung  correspon- 
dieren.  In  der  regel  steht  der  pai*tiellen  Übereinstimmung  in  der  be- 
deutung eine  partielle  Übereinstimmung  in  der  lautgestaltung  zur  seite, 
welche  ihrerseits  auf  etymologischem  zusammenhange  zu  l)eruhen  pflegt. 
Doch  gibt  es  auch  stoffliche  gruppen,  die  lediglich  auf  die  bedeutung 
und  nicht  auf  den  laut  basiert  sind,  vgl.  sein  —  werden,  hier  —  da, 
gut  —  hesser,  hm  —  ist  —  n-ar,  oqcco  —  eiöov  —  oif)Ofiai. 

Als  formale  gruppen  bezeichne  ich  z.  b.  die  summe  aller  nomina 
actionis.  aller  comparative.  aller  nominative,  aller  ersten  personen  des 
verbums  etc.  Es  gibt  auch  hier  grössere  gruppen,  die  kleinere  in  sich 
schliessen;  so  enthält  z.  b.  die  letztgenannte  1  sg.  ind.  praes.,  1  sg.conj. 


86 

praes.  etc.  Mithin  ist  auch  eine  festere  oder  lockere  Verbindung  zu 
uuter,«!eheiden.  Die  Verbindung  der  functioncllen  übereiustinimung  mit 
einer  hiutlichcn  int  bei  den  formalen  gruppcn  bei  weitem  nicht  so 
reg-el  wie  bei  den  stofflichen.  Gewöhnlich  zerfallen  die  formalen 
gruppen  in  mehrere  kleinere,  von  denen  jede  einzelne  auch  durch 
lautliche  Ubereinstinmumg  zusammengehalten  wird,  während  sie  unter 
sich  differieren,  vgl.  die  dative  lihro,  anno  —  mensae^  rosac  —  paci^ 
luc'i  etc.  Nach  dem  grösseren  oder  geringeren  grade  der  lautlichen 
Übereinstimmung  entsteht  dann  wider  eine  Unterordnung  kleinerer  grup- 
pen unter  grössere,  vgl.  gab^  nahm  —  bo/,  lo(j  —  hriel^  riet  etc.,  unter 
einander  immer  noch  übereinstimmend  gegen  swjte^  lichte  etc. 

Die  stofflichen  gruppen  werden  von  den  formalen  durchgängig 
durchkreuzt. 

Nicht  bloss  einzelne  Wörter  schliessen  sich  zu  gruppen  zusammen, 
sondern  auch  analoge  proportionen  zwischen  verschiedenen  Wörtern. 
Veranlassung  zur  entstehuug  solcher  proportionengruppen,  die  zu 
gleicher  zeit  eine  proportionengleichung  bilden,  gibt  zunächt  die 
eben  berührte  durchkreuzung  zwischen  stofflichen  und  formalen  gruppen. 
Die  basis  für  die  gleichung  ist  dabei  die  Übereinstimmung  in  der  be- 
deutung  des  stofflichen  Clements  nach  der  einen  und  des  formalen 
Clements  nach  der  andern  richtung,  weshalb  wir  diese  art  als  stoff- 
lich-formale proportionengruppen  bezeichnen  wollen.  Es  kann 
dazu  auch  eine  lautliche  Übereinstimmung  nach  beiden  richtungen 
treten,  vgl.  touj  :  icu/es  :  la(/e  =  arm  :  armes  :  arme  =  fisch  :  fisches  : 
fische;  führen:  führer  :  führumj  =  erziehen  :  er  zieher  :  er  Ziehung  etc.  oder 
mit  der  bei  allen  proportionen  möglichen  vertauschung  der  Zwischen- 
glieder tag  :  arm  :  fisch  =  tag  es  :  armes  :  fisches  etc.  Die  lautliche  Über- 
einstimmung kann  sich  aber  auch  auf  das  stoffliche  dement  be- 
schränken, vgl.  gebe  :  gab  =  sage  :  sagte  =^  kann  :  konnte;  lat.  mensa  : 
mensam  :  mensae  =  hortus  :  hortum  :  horti  ^^  nox  :  noctem  :  noctis  etc.; 
rauben  :  raub  =  ernten  :  ernte  =  säen  :  sat  ==  gewinnen  :  getvinst;  respec- 
tive  gebe  :  sage  :  kann  =  gab  :  sagte  :  konnte  etc.  Von  viel  geringerer 
bedeutung  sind  gleichungen,  bei  denen  die  lautliche  Übereinstimmung 
auf  das  formale  dement  eingeschränkt  ist,  wie  gut  :  besser  =  schöjt  : 
schöner,  oder  bei  denen  überhaupt  gar  keine  lautliche  Übereinstim- 
mung stattfindet,  wie  bin  :  war  =  lebe  :  lebte,  oqÜco  :  tiöov  =  rvjiroy  : 
Irvipa. 

Auch  innerhalb  der  zu  einer  stofflichen  gruppe  gehörigen  formen 
können  sich  proportionsgruppen  bilden,  sobald  eine  gliederung  der- 
selben nach  verschiedenen  gesichtspuukten  möglich  ist.  So  können 
beim  nomen  die  casus  des  sg.  mit  denen  des  pl.  in  proportion  gesetzt 
werden:  hortus  :  horti  :  horlo  =  horti  :  horlorum  :  hortibiis.    Viel  mannig- 


87 

faltigere  proportioiicu  ergibt  ein  verbiilHystem.  Man  kauii  z.  h.  gleieli- 
uugeu  aufstellen  wie  aino  :  ainas  =  amavi  :  amavisll  --=  amabam :  ainahas 
ete.  Es  besteht  hier  also  keine  versehiedenheit  des  stofflichen  elenientes 
in  den  eorrespondierenden  gliedern  wie  bei  den  stofflieh-fornialen  pru- 
portiousgriippen,  sondern  an  deren  stelle  eine  teilweise  Verschiedenheit 
in  der  function  des  formalen  elementes  neben  der  teilweisen  Über- 
einstimmung. Zu  der  Übereinstimmung  in  der  function  kann  auch 
hier  eine  lautliche  treten,  vgl.  amabam  :  amabas  =  amaveram  :  amavcras. 

Eine  andere  art  von  proportiouengleichuugen  beruht  auf  dem 
lautwechsel,  vgl.  kkuujes  (phonetisch  klahhes)  :  klaiyj  (phon.  klank)  = 
.<in//e  :  saiif/  =  hänye  :  häiujle  etc.  oder  sprach  :  spräche  =  tuch  :  iücher 
=  back  :  biichlem  etc.  (wechsel  zwischen  gutturalem  und  palatalem  ch). 
Die  glieder  einer  jeden  proportiou  bestehen  hier  aus  Wörtern,  die  in 
etymologiscliem  zusammenhange  stehen,  die  daher  in  ihrem  stofflichen 
eleniente  Übereinstimmung  hinsichtlich  der  bedeutuug  und  lautgestaltung 
zeigen,  daneben  aber  eine  lautliche  Verschiedenheit,  die  sich  in  allen 
übrigen  proportionen  entsprech-^nd  widerholt.  Die  bedeutung  der  for- 
malen demente  bleibt  dabei  ganz  aus  dem  spiel.  So  lange  wir  nur 
fälle  in  betracht  ziehen  wie  klanges  :  klang  =  saujes  :  sang  =  dranges  : 
drang,  lässt  sich  nicht  entscheiden,  ob  wir  es  nicht  vielmehr  mit  einer 
stoft'lich-formalen  proportioueugleichung  zu  tun  haben.  Der  lautwechsel 
muss,  wenn  er  hierher  gezogen  werden  soll,  sich  in  fallen  zeigen,  die 
hinsichtlieh  des  functionsverhältnisses  nichts  mit  einander  zu  tun  haben, 
und  sich  dadurch  als  unabhängig  von  der  bedeutung  erweisen.  Wir 
bezeichnen  diese  art  von  proportionengruppen  als  die  stofflich-laut- 
lichen oder  etymologisch-lautlichen. 

Eine  weitere  art  entsteht  aus  den  syntaktischen  Verbindungen. 
Diese  unterscheidet  sich  von  den  bisher  besprochenen  dadurch,  dass 
die  Verbindung  der  glieder,  aus  denen  sich  die  einzelnen  proportionen 
zusammensetzen,  schon  von  aussen  her  in  die  seele  eingeführt  wird. 
Die  Verbindung  der  analogen  proportionen  unter  einander  muss  gleich- 
falls erst  durch  attraction  im  inneru  der  seele  geschaffen  werden.  Es 
associieren  sich  z.  b.  sätzewie  spricht  Karl,  schreibt  Fritz  etc.  (mit 
Voranstellung  des  prädicats)  oder  Verbindungen  wie  pater  mortuus, 
/ilia  pulchra,  caput  magnum  (mit  congruenz  in  genus,  numerus,  casus), 
und  es  werden  dabei  die  gleichungen  gebildet  spricht :  Karl  =  schreibt : 
Fril:  und  pater  :  mortuus  =  filia  \  pul  ehr  a  =  caput  :  magnum.  Mit  der 
äusseren  form  der  syntaetischeu  zusammentugung  associiert  sich  das 
gefühl  für  eine  bestimmte  function,  und  diese  function  bildet  dann  in 
gemeinschaft  mit  der  äusseren  form  das  band,  welches  die  proportionen 
zusammenhält.  Alle  syntaktischen  fuuctionen  lassen  sich  nur  aus 
solchen  proportionen  abstrahieren.     Daher  sind  die  syntaktischen  pro- 


88 

portionengruppcn  zum  teil  aucli  die  notwendige  Vorbedingung  für  die 
entstell ung  der  formalen  grupjien  und  der  stofflifli-tornialen  verhält- 
uisHgruppen.  hls  können  sieh  z.  b.  die  genitive  nicht  zusammengrup- 
pieren,  wenn  es  nicht  Verbindungen  Avie  das  haus  des  vater,  der  bruder 
Karls  etc.  tun. 

Es  gibt  kaum  ein  wort  in  irgend  einer  spräche,  welches  völlig 
ausserhalb  der  geschilderten  gruppen  stände.  Es  finden  sich  immer 
andere  in  irgend  einer  hinsieht  gleichaiüge,  an  die  es  sich  anlehnen 
kann.  Aber  in  bezug  auf  die  grössere  oder  geringere  mannigfaltigkeit 
der  Verbindungen, -die  ein  woii;  eingeht,  nnd  in  bezug  auf  die  innig- 
keit  des  Verbandes  bestehen  bedeutende  unterschiede.  Die  gruppierung 
vollzieht  sich  um  so  leichter  und  wird  um  so  fester  einerseits,  je 
grösser  die  Übereinstimmung  in  bedeutung  und  lautgestalt  ist,  ander- 
seits, je  intensiver  die  demente  eingeprägt  sind,  die  zur  gruppen- 
bildung  befiihig-t  sind.  In  letzterer  hinsieht  kommt  für  die  proportionen- 
gruppeu  einerseits  die  häutigkeit  der  einzelnen  Wörter,  anderseits  die 
anzahl  der  möglichen  analogen  proportionen  in  betracht.  Wo  die 
einzelnen  elemente  zu  wenig  intensiv  sind  oder  ihre  Übereinstimmung 
unter  einander  zu  schwach,  da  verbinden  sie  sich  entweder  gar  nicht 
oder  der  verband  bleibt  ein  lockerer.  Es  sind  dabei  wider  mannig- 
fache abstufungen  möglich. 

Diejenigen  proportionengruppen,  welche  einen  gewissen  grad  von 
festigkeit  gewonnen  haben,  sind  für  alle  Sprechtätigkeit  und  für  alle 
entwickelung  der  spräche  von  eminenter  bedeutung.  Man  wird  diesem 
factor  des  sprachlebens  nicht  gerecht,  wenn  man  ihn  erst  da  zu  be- 
achten anfängt,  wo  er  eine  Veränderung  im  sprachusus  hervorruft. 
Es  war  ein  grundirrtuni  der  älteren  Sprachwissenschaft,  dass  sie  alles 
gesprochene,  so  lange  es  von  dem  bestehenden  usus  nicht  abweicht, 
als  etwas  bloss  gedächtnissmässig  reproduciertes  behandelt  hat,  und 
die  folge  davon  ist  gewesen,  dass  man  sich  auch  von  dem  anteil  der 
proportionengruppen  an  der  Umgestaltung  der  spracht  keine  rechte 
Vorstellung  hat  machen  können.  Zwar  hat  schon  W.  v.  Humboldt 
nachdrücklich  betont,  dass  das  sprechen  eiii  immerwährendes  schaffen 
ist.  Aber  noch  heute  stösst  man  auf  lebhaften  und  oft  recht  unver- 
ständigen Widerspruch,  wenn  man  die  consequenzen  dieser  anschauungs- 
weise  zu  ziehen  sucht. 

Die  Wörter  und  wortgruppen,  die  wir  in  der  rede  verwenden, 
erzeugen  sich  nur  zum  teil  durch  blosse  gedächtnissmässige  reproduc- 
tion  des  früher  aufgenommenen.  Ungefähr  eben  so  viel  anteil  daran 
hat  eine  combinatorische  tätigkeit,  welche  auf  der  existenz  der 
proportionengruppen  basiert  ist.  Die  combination  besteht  dabei 
gewisserraassen ,  in  der  auflösung  einer  proportionengleichung, 


89 

indem  uach  dem  niii8ter  von  schon  gelüuli^-  gewordenen  analogen  Pro- 
portionen zu  einem  g-leiclitalls  geläufigen  worte  ein  zweites  propovtions- 
glied  frei  geseliaffen  wird.  Diesen  Vorgang  nennen  wir  analogie- 
bildung.  Es  ist  eine  nicht  zu  bezweifelnde  tatsache.  dass  eine  menge 
wortformen  und  syntaktische  Verbindungen,  die  niemals  von  aussen 
in  die  seele  eingeführt  sind,  mit  hülfe  der  propoii;ionengrupi)en  nicht 
bloss  erzeugt  werden  können,  sondern  auch  immerfort  zuversichtlich 
erzeugt  werden,  ohne  dass  der  sprechende  ein  gefühl  dafür  hat,  dass 
er  den  festen  boden  des  erlernten  verlässt.  Es  ist  für  die  uatur  dieses 
Vorganges  ganz  gleichgültig,  ob  dabei  etwas  herauskommt,  was  schon 
früher  in  der  spräche  üblich  gewesen  ist,  oder  etwas  vorher  nicht  da- 
gewesenes. Es  macht  auch  an  und  für  sich  nichts  aus,  ob  das  neue 
mit  dem  bisher  üblichen  in  Widerspruch  steht;  es  genügt,  dass  das 
betreffende  individuum  keinen  Widerspruch  mit  dem  bisher  erlernten 
empfindet.  In  andern  lallen  hat  zwar  eine  aufnähme  von  aussen 
stattgefunden,  die  nachw^irkung  derselben  würde  aber  zu  schwach  sein, 
als  dass  das  aufgenommene  wider  in  das  bewusstsein  gerufen  werden 
könnte,  wenn  ihm  nicht  die  proportionengruppe ,  in  die  es  eingereiht 
ist,  zu  hülfe  käme. 

Ohne  weiteres  wird  zugegeben  werden,  dass  die  wenigsten  sätze, 
die  wir  aussprechen,  als  solche  auswendig  gelernt  sind,  dass  vielmehr 
die  meisten  erst  im  augenblicke  zusammengesetzt  werden.  Wenn  wir 
eine  fremde  spräche  methodisch  erlernen,  so  werden  uns  regeln  ge- 
geben, nach  denen  wir  die  einzelnen  Wörter  zu  Sätzen  zusammenfügen. 
Kein  lehrer  aber,  der  nicht  ganz  unpädagogisch  verfährt,  wird  es  ver- 
säumen zugleich  beispiele  für  die  regel,  d.  h.  mit  rücksicht  auf  die 
selbständig  zu  bildenden  sätze  muster  zu  geben.  Regel  und  muster 
ergänzen  sich  gegenseitig  in  ihrer  Wirksamkeit,  und  man  sieht  aus 
diesem  pädagogischen  verfahren,  dass  dem  concreten  muster  gewisse 
Vorzüge  zukommen  müssen,  die  der  abstracten  regel  abgehen.  Bei 
dem  natürlichen  erlernen  der  muttersprache  wird  die  regel  als  solche 
nicht  gegeben,  sondern  nur  eine  anzahl  von  mustern.  Wir  hören  nach 
und  nach  eine  anzahl  von  Sätzen,  die  auf  die  selbe  art  zusammen- 
gefügt sind  und  sich  deshalb  zu  einer  gruppe  zusammenschliessen. 
Die  erinneruug  an  den  speciellen  inhalt  der  einzelnen  sätze  mag  dabei 
immer  mehr  verblassen,  das  gemeinsame  dement  wird  durch  die 
widerholung  immer  von  neuem  verstärkt,  und  so  wird  die  regel  unbe- 
wusst  aus  den  mustern  abstrahiert.  Eben,  weil  keine  regel  von  aussen 
gegeben  wird,  genügt  nicht  ein  einzelnes  muster,  sondern  nur  eine 
gruppe  von  mustern,  deren  specieller  inhalt  gleichgültig  erscheint. 
Denn  nur  dadurch  entwickelt  sich  die  Vorstellung  einer  allgemein- 
gültigkeit der  muster,   welche  dem  einzelnen  das  geflihl  der  berechti- 


90 

g-iing  zu  eigenen  zusammenfiigungen  gibt.  Wenn  iniin  eine  auswendig 
gelernte  regcl  liäufig  genug  angewendet  hat,  ,so  erreielit  man  es,  das« 
dieselbe  auch  unbewusst  wirken  l^ann.  Mau  braucht  sich  weder 
die  regel  noeh  ein  bestimmtes  muster  ins  bewusstsein  zu  rufen, 
und  man  wird  doch  ganz  correete  Sätze  bilden.  Mau  ist  somit, 
wenigstens  was  das  gewöhnliche  verfahren  l)ei  der  praktischen  aus- 
übnng  betrifft,  auf  einem  abweichenden  wege  eben  dahin  gelangt, 
wo  derjenige  sich  befindet,  der  keinen  grammatischen  Unterricht  ge- 
nossen hat. 

Ein  hauptnachteil  desjenigen,  dem  bloss  muster  überliefert  sind, 
gegenüber  demjenigen,  der  regel  und  muster  zugleich  ül)erliefert  be- 
konmien  hat,  besteht  darin,  dass  er  nicht  wie  dieser  von  vornherein 
über  den  umfang  der  gültigkeit  seiner  muster  unterrichtet  ist.  Wer 
z.  b.  die  Präposition  in  zunächst  widerholt  mit  dem  acc.  verbunden 
hört,  wird  dies  leicht  als  die  allgemeine  verbindungsweise  von  in  auf- 
fassen, und  wer  es  auch  bald  mit  dem  acc,  bald  mit  dem  dat.  ver- 
bunden hört,  wird  mindestens  einige  zeit  brauchen,  bis  er  den  unter- 
schied richtig  herausgefunden  hat,  und  mittlerweile  vielleicht  beides 
permiscue  gebrauchen.  Hier  kommt  man  mit  hülfe  der  regel  viel 
schneller  zum  ziele.  Eine  solche  zusammenwerfung  zweier  gruppen, 
die  nach  dem  usus  auseinandergehalten  werden  sollen,  ist  um  so  eher 
möglich,  je  feiner  die  logische  Unterscheidung  ist,  die  dazu  erfordert 
wird,  und  je  grösserer  Spielraum  dabei  der  subjectiven  auffassung  ge- 
lassen ist.  Vor  allem  aber  ist  eine  gruppe  dann  leicht  im  stände  ihr 
muster  über  das  gebiet  einer  verwanten  gruppe  auszudehnen,  wenn  sie 
diese  in  bezug  auf  die  häufigkeit  der  vorkommenden  fälle  bedeutend 
überragt.  Und  nun  gibt  es  vollends  vieles  im  Sprachgebrauch,  was 
überhaupt  vereinzelt  da  steht,  was  sich  weder  unter  eine  mit  bewusst- 
sein abstrahierte  regel  noch  unter  eine  unbewusst  entstandene  gruppe 
einfügt.  Alles  dasjenige  aber,  was  die  stütze  durch  eine  gruppe  ent- 
behrt oder  nur  in  geringem  masse  geniesst,  ist,  wenn  es  nicht  durch 
häufige  widerholung  besonders  intensiv  dem  gedächtnisse  eingeprägt 
wird,  nicht  widerstandsfähig  genug  gegen  die  macht  der  grösseren 
gruppen.  So,  um  ein  beispiel  anzuführen,  ist  es  im  deutsehen  wie  in 
andern  indogermanischen  sprachen  die  regel,  dass,  wo  zwei  objecte 
von  einem  verbum  abhangen,  das  eine  im  acc,  das  andere  im  dat. 
steht.  Es  gibt  aber  daneben  einige  fälle,  und  gab  früher  noch  mehr, 
in  denen  ein  doppelter  acc  steht.  Diese  fälle  müssen  und  mussten 
})e8onders  erlernt  worden.  In  folge  des  Widerspruchs  mit  der  all- 
gemeinen regel  wird  das  Sprachgefühl  unsicher,  und  das  kann  schliess- 
lich zum  Untergang  der  vereinzelten  construction  führen.  Man  hört 
heutzutage  fast  eben  so  häufig  er  lehrt  mir  die  kimsl  als  er  lehrt  mich 


91 

die  kunsl,  imd  uiemiiüd  sagt  uielir  ich  vcrhclilc  dick  die  suche  nach 
niittelhoeluleutselicr  weise,  sonderii  nur  ich  verhehle  dir. 

Sclir  hcdcutcnd  ist  die  scliüpfcrisehc  tätig-keit  des  individuunis 
tiher  auch  auf  dem  gebiete  der  wurtbildung-  und  nocii  mehr  auf 
dorn  der  flexi on.  Bei  den  wenigsten  nominal-  und  verbalformen,  die 
wir  aussprechen,  findet  eine  rein  gedächtuissmässig-e  reproduction  statt, 
manche  haben  wir  nie  \orher  gesprochen  oder  gehört,  andere  so  selten, 
dass  wir  sie  ohne  hülfe  der  gruppen,  an  die  sie  sich  angeschlossen 
haben,  niemals  wieder  in  das  bewusstsein  würden  zurückrufen  können. 
Das  gewöhnliche  ist  jedenfalls,  dass  productiou  und  reproduction  zu- 
sammenwirken, und  zwar  in  sehr  verschiedenem  verhältniss  zu  einander. 

Besonders  klar  sehen  wir  die  Wirkungen  der  aualogie  bei  der 
grammatischen  aneignung  der  flexionsformen  einer  fremden  spraclie. 
Man  lernt  eine  anzahl  von  paradigmen  auswendig  und  präg-t  sich  dann 
von  den  einzelnen  Wörtern  nur  so  viel  formen  ein,  als  erforderlich  sind, 
um  die  Zugehörigkeit  zu  diesem  oder  jenem  paradigma  zu  erkennen. 
jVIitunter  genügt  dazu  eine  einzige.  Die  übrigen  formen  bildet  man  in 
dem  augeublicke,  wo  man  ihrer  bedarf,  nach  dem  })aradigma,  d.  h.  nacii 
analogie.  Im  aufaug  wird  mau  dabei  immer  das  erlernte  paradigma 
vor/  äugen  haben.  Nachdem  man  aber  erst  eine  grössere  anzahl  von 
formen  danach  gebildet  hat  und  auch  diese  spuren  in  der  seele  hinter- 
lassen hal)eu,  erfolgt  die  bildung,  auch  ohne  dass  das  wort,  welches 
als  paradigma  gedient  hat,  in  das  bewusstsein  tritt.  Die  aus  andern 
Wörtern  früher  gebildeten  formen  wirken  jetzt  mit,  und  die  folge  davon 
ist,  dass  nur  das  allen  gemeinsame  formelle  dement  zum  bewusstsein 
kommt,  während  die  verschiedenen  stofflichen  sich  gegenseitig  hemmen. 
Nunmehr  ist  das  verhältniss  des  sprechenden  zu  den  flexionsformen 
im  augenblicke  der  anwendung  ungefähr  das  nämliche  wie  dasjenige, 
welches  bei  der  natürlichen  erlernung  der  muttersprache  gewonnen 
wird.  Diese  natürliche  erlernung  führt  auf  einem  weniger  directen, 
schliesslich  aber  eben  so  sicheren  wege  zu  dem  gleichen  ziele.  Hier- 
bei findet  von  anfang  an  kein  vorzugsweises  haften  der  formalen  de- 
mente an  ein  bestimmtes  einzelnes  stoffliche  statt,  und  die  gesammt- 
heit  der  möglichen  formen  ordnet  sich  niemals  in  bestimmter  folge  zu 
einer  reihe  zusammen.  Es  wird  nicht  gelehrt,  dass  sich  dieses  wort 
nach  jenem  zu  richten  habe.  Der  umstand,  dass  eine  anzahl  von 
formen  verschiedener  Wörter  sich  gleichmässig  verhalten,  genügt  das 
geftihl  zu  erzeugen,  dass  man  berechtigt  ist  diese  gleichmässigkeit 
weiter  durchzuführen.  Nachdem  einmal  von  einer  anzahl  Wörtern  die 
sämmtlichen  formen  eingeprägt  sind  und  sich  zu  gruppen  zusammen- 
geschlossen haben,  wird  es  vom  Sprachgefühl  als  selbstverständlich  be- 
trachtet,  dass   auch   die  formen  anderer   Wörter  solchen  gruppen  an- 


92 

geböreu,  dass  also  z.  b.  zu  dem  nom.  oder  gen.  eines  substantivums 
die  nbriiicn  casus  als  notwendiges  eomplement  geb(»ven.  Dabei-  kommt 
es  Ja  aueb,  dass  wir  nicbt  jeden  casus  und  jede  verbalform  als  ein 
besonderes  wort  auffassen,  sondern  unter  die  tiblicbe  nennform  eines 
substantivums  oder  verbums  (nom.,  inf.)  gleicb  den  ganzen  formen- 
complex  eiubegreifeu. 

Auf  dem  gebiete  der  Wortbildung  sind  die  Verhältnisse  nur  zum 
teil  äbnlicb  wie  auf  dem  der  flexion.  Manche  bildungsweisen  aller- 
dings erzeugen  sich  analogisch  eben  so  leicht  und  unbefangen  wie 
die  flexionsformen,  vergleiche  namentlich  comparativ  und  Superlativ  aus 
]>ositiv.  Bei  andern  rufen  die  überlieferten  Wörter  nur  in  beschränktem 
masse  anahigiebilduugen  hervor,  wider  l)ei  andern  gar  keine.  Dieses 
verschiedene  verhalten  ist  einfach  bedingt  durch  die  verschiedene  fähig- 
keit  des  überlieferten  stotfes  zur  gruppenbildung. 

Da  die  meisten  der  in  der  spräche  üblichen  formen  sich  in  ver- 
hältuissgruppen  unterbringen  lassen,  so  ist  es  ganz  natürlich,  dass  mit 
hülfe  der  proportionen  häufig  formen  geschaffen  werden  müssen,  die 
schon  vorher  in  der  spräche  üblich  waren.  Wenn  das  aber  immer  der 
fall  sein  sollte,  so  müssten  einerseits  alle  nach  proportion  bildbaren 
formen  schon  einmal  gebildet  sein,  anderseits  müsste  eine  so  voll- 
kommene harmonie  des  formensystems  bestehen,  wie  sie  nirgends  an- 
zutreffen ist,  oder  es  dürften  wenigstens,  wo  verschiedene  bildungs- 
weisen neben  einander  bestehen,  verschiedene  declinations-  oder  conju- 
gationsklassen,  verschiedene  arten  ein  nomen  agentis  aus  einem  verbura 
zu  bilden  etc.,  niemals  die  entsprechenden  formen  aus  verschiedenen 
klassen  eine  analoge  gestalt  haben ;  es  müsste  aus  jeder  einzelnen  form 
zweifellos  hervorgehen,  in  welche  der  vorhandenen  klassen  das  be- 
treffende wort  gehört.  Sobald  eine  form  ihrer  gestalt  nach  mehreren 
klassen  angehören  kann,  so  ist  es  auch  möglich  von  ihr  aus  die  andern 
zugehörigen  formen  nach  verschiedenen  proportionen  zu  bilden.  Welche 
v<»n  den  verschiedenen  anwendbaren  proportionen  dann  sich  geltend 
maciit,  hängt  durchaus  nur  von  dem  machtverhältniss  ab,  in  welchem 
sie  zu  einander  stehen. 

Eine  proportionsbildung  findet  gar  keine  hemmung  in  der  seele, 
wenn  für  die  function,  für  welche  sie  geschaffen  wird,  bisher  ttber- 
baupt  noch  kein  ausdvuck  vorhanden  gewesen  ist.  Aber  auch  dann 
nicbt,  wenn  zwar  ein  abweichender  ausdruck  ])ereits  üblich,  aber  dem 
betreffenden  Individuum  niemals  überliefert  worden  ist,  was  bei  etwas 
selteneren  Wörtern  liäufig  genug  der  fall  ist.  Ist  aber  die  übliche  form 
einmal  gedüchtnissmässig  aufgen(»mmeu,  so  ist  es  eine  machtfrage,  ob 
in  dem  augenblicke,  wo  eine  bestimmte  function  ausgeübt  werden  soll, 
zu  diesem  zwecke  eine  form  durch  einfache  reproduction  ins  bewusst- 


93 

sein  gehubcu  wird  oder  mit  hülfe  eiuer  proportion.  Es  kauu  dabei 
der  fall  eintreten,  dass  die  pru])oi-ti()n  sich  zunächst  ^-elteud  macht, 
dass  aber  die  früher  ü'eknüpfte  verbindnufi,-  mit  dem  erinuerung'sbilde 
der  üblichen  form  noch  stark  genug  ist,  um  hinterher  den  Widerspruch 
der  neubildung  mit  diesem  erinnerungsbilde  bemerklich  zu  machen. 
Mau  besinnt  sich  dann,  dass  man  etwas  falsches  hat  sagen  wollen 
oder  schon  gesagt  hat.  Es  ist  das  also  eine  von  den  verschiedenen 
arten,  wie  man  sich  versprechen  kann.  Wir  werden  auch  da  noch 
ein  versprechen  anerkennen  müssen,  wo  der  si)rechende  auch  hinterher 
den  Widerspruch  mit  dem  erinnerungsbilde  nicht  von  selbst  gewahr 
wird,  aber  denselben  sofort  erkennt,  wenn  er  durch  eine  leise  hindeu- 
tung darauf  aufmerksam  gemacht  wird.  Die  macht  des  erinnerungs- 
bildes  kann  aber  auch  so  gering  sein,  dass  es  gar  nicht  gegen  die 
proportionsbildung  aufzukommen  vermag  und  diese  ungestört  zur  gel- 
tung  gelangt. 

Durch  die  Wirksamkeit  der  gruppen  ist  also  jedem  ein- 
zelnen die  möglichkeit  und  die  veranlassung  über  das  be- 
reits in  der  spräche  übliche  hinauszugehen  in  reichlichem 
masse  gegeben.  Man  muss  nun  beachten,  dass  alles,  was  auf  diese 
weise  geschaften  wird,  eine  bleibende  Wirkung  hinterlässt.  Wenn  diese 
auch  nicht  von  anfang  au  stark  und  nachhaltig  genug  ist,  um  eine 
unmittelbare  reproduction  zu  ermöglichen,  so  erleichtert  sie  doch  eine 
künftige  widerholung  des  nämlichen  schöpfungsprocesses,  und  trägt 
dazu  bei  die  etwa  entgegenstehenden  hemmungeu  noch  mehr  zurück- 
zudrängen. Durch  solche  widerholungen  kann  dann  hinzugefügt  werden, 
was  dem  neugeschaffenen  etwa  noch  an  macht  fehlte  um  unmittelbar 
reproduciert  zu  werden. 

Aber  jede  solche  üljerschreituug  des  usus  erscheint,  auf  ein  Indi- 
viduum beschränkt,  wo  sie  zu  dem  üblichen  ein  mehr  hinzufügt,  ohne 
sieh  mit  demselben  in  Widerspruch  zu  setzen,  als  eine  gewisse  kühn- 
heit,  wo  sie  aber  das  letztere  tut.  geradezu  als  fehler.  Ein  solcher 
fehler  kann  vereinzelt  bleiben,  ohne  zur  gewohnheit  zu  werden,  kauu 
auch,  wenn  er  zur  gewohnheit  geworden  ist,  wider  abgelegt  werden, 
indem  man  sieh  durch  den  verkehr  das  übliche  aneignet,  sei  es  zum 
ersten  male,  oder  sei  es  von  neuem.  Wenn  er  aber  auch  nicht  wider 
abgelegt  wird,  so  geht  er  in  der  regel  mit  dem  Individuum  zu  gTuude, 
wird  nicht  leicht  auf  ein  anderes  tibertragen.  Viel  leichter  überträgt 
sich  eine  Schöpfung,  die  mit  keiner  früher  bestehenden  in  conllict 
kommt,  hier  kann  viel  eher  ein  einzelner  den  anstoss  geben.  Da- 
gegen mit  der  ersetzung  des  bisher  üblichen  durch  etwas  neues  ver- 
hält es  sieh  gerade  wie  mit  dem  laut-  und  bedeutungswandel.  Nur  wenn 
sich  innerhalb  eines  engeren  verkehrskreises  au  einer  grösseren  anzabl 


94 

von  Individuen  spontan  die  gleiche  neiischöpfung-  vollzieht,  kann  sich 
eine  Veränderung  des  usus  herausbilden.  Die  inögliehkeit  eines  solchen 
spontanen  Zusammentreffens  vieler  Individuen  beruht  auf  der  über- 
wiegenden Übereinstimmung  in  der  Organisation  der  auf  die  spräche 
bezüglichen  vorstellungsgruppen.  Je  grösser  die  zahl  derjenigen,  bei 
denen  die  ueubildung  auftritt,  um  so  leichter  wird  die  übeiiragung 
auf  andere,  je  mehr  gewinnt  das,  was  anfangs  als  fehler  erschien,  an 
autorität. 

Wie  hinsichtlich  der  lautverhältnisse  und  hinsichtlich  der  bedeu- 
tung,  die  den  Wörtern  beigelegt  wird,  so  zeigen  sich  auch  hinsichtlich 
der  aualogischen  neubildung  die  stärksten  abweichungen  vom  usus  in 
der  kindersprache.  Je  unvollständiger  und  je  schwächer  noch  die  ein- 
prägung  der  einzelnen  Wörter  und  formen  ist,  um  so  weniger  hemmung 
lindet  die  neubildung,  um  so  freieren  Spielraum  hat  sie.  So  haben  alle 
kinder  die  neiguug  anstatt  der  unregelmässigen  und  seltenen  bildungs- 
weisen, die  noch  nicht  in  ihrem  gedächtniss  haften,  die  regelmässigen 
und  gewöhnliehen  zu  gebrauchen,  im  nhd.  z.  b.  alle  verha  schwach  zu 
bilden.  Wenn  bei  zunehmender  entwickelung  des  Individuums  die  neu- 
bildung mehr  und  mehr  abnimmt,  so  ist  das  natürlich  nicht  die  folge 
davon,  dass  ein  anfangs  vorhandenes  vermögen  sehwindet,  sondern 
davon,  dass  das  bedürfniss  abnimmt,  indem  sich  für  den  zweck,  für 
den  früher  die  neubildungeu  geschaffen  wurden,  immer  mehr  gedächt- 
nissmässig  aufgenommene  formen  zur  Verfügung  stellen.  Im  allgemeinen 
lassen  auch  auf  diesem  gebiete  die  abweichungen  der  kindersprache 
keine  consequenzen  für  die  allgemeine  Weiterentwicklung  der  spräche 
zurück;  aber  hie  und  da  bleiben  doch  spuren  zurück.  Insbesondere 
wird  in  solchen  fällen,  wo  schon  die  erwachsenen  zu  neubilduugen 
neigen,  die  entsprechende  neigung  bei  den  kindern  noch  stärker  her- 
vortreten, und  sie  werden  sich  dieser  neigung  frei  überlassen,  sobald 
die  nötige  hemmung  durch  die  spräche  der  erwachsenen  fehlt. 

Durch  eine  analogische  neubildung  wird  eine  früher  bestehende 
gleichbedeutende  form  nicht  mit  einem  schlage  verdrängt.  Es  ist  nicht 
wol  denkbar,  dass  das  bild  der  letzteren  gleichzeitig  bei  allen  Indi- 
viduen so  verblassen  sollte,  dass  die  analogiebilduug  ohne  hemmung 
vor  sich  gehen  könnte.  Vielmehr  bewahren  immer  einige  Individuen 
die  alte  form,  während  andere  sich  schon  der  neul)ildung  bedienen. 
So  lange  al)er  zwischen  diesen  und  jenen  ein  ununterbrochener  ver- 
kehr unterhalten  wird,  muss  auch  eine  ausgleichung  stattfinden.  Es 
müssen  daher  einer  kleineren  (»der  grösseren  anzahl  von  Individuen 
beide  formen  geläufig  werden.  Erst  nach  einem  längeren  kämpfe 
zwischen  beiden  formen  kann  die  neubildung  zur  alleinherrschaft  ge- 
langen. 


95 

Da  die  analogisclie  nenschöpfung  die  auflösuDg-  einer  proportions- 
gleieliung  ist,  so  mlisseu  uatiirlieli  schou  mindestens  drei  glieder 
vorhanden  sein,  die  sich  zum  ansatz  einer  solchen  gleichnng  eignen. 
Es  muss  Jedes  mit  dem  andern  irgendwie  vergleichbar  sein,  d.h.  in 
diesem  falle,  es  muss  mit  dem  einen  im  stoft'lichen,  mit  dem  andern 
im  formalen  demente  eine  Übereinstimmung  zeigen.  So  lässt  sich  z.  b. 
im  lat.  eine  gleiehuug  ansetzen  animus  :  aniini  =  senatus  :  x,  aber  nicht 
animus  :  animi  =  mensa  :  x.  Es  kann  daher  ein  wort  in  einer  flexion 
von  anderen  nur  dann  analogische  beeinflussung  erfahren,  wenn  es 
mit  diesen  in  der  bilduug-  einer  oder  mehrerer  formen  übereinstimmt. 
Es  kommt  allerdings  zuweilen  eine  beeinflussung  ohne  solche  überein- 
stimnmng  vor,  die  man  dann  aber  nicht  mit  recht  als  analogiebilduug 
bezeichnet.  Es  kann  eine  flexionsendung  wegen  ihrer  besonderen 
häutigkeit  als  die  eigentliche  normalendung  für  eine  flexionsform 
empfunden  werden.  Dann  überträgt  sie  sich  wol  auf  andere  Wörter 
auch  ohne  die  Unterstützung  gleichgebildeter  Wörter.  Von  dieser  art 
ist  z.  b.  im  attischen  die  Übertragung  der  genitivendung  ov  aus  der 
zweiten  declination  auf  die  masculina  der  ersten:  jioXirov  statt  jioXl- 
Tfco,  wie  es  Homerischem  -ao,  dorischem  -ä  entsprechen  müsste;  die 
Übereinstimmung  beider  klassen  im  gesehlecht  hat  hier  genügt  die  be- 
einflussung zu  bewirken.  Der  gen.  du.  der  griechischen  dritten  decli- 
nation hat  seine  endung  von  der  zweiten  entlehnt:  jtoöoIv  nach  'i'yijtoir. 
Im  deutsehen  ist  die  genitivendung  s  auf  die  weiblichen  eigennameu 
mit  der  endung  a  übertragen:  Herthas,  Claras. 

Neuschöpfungen  finden  natürlich  auch  auf  grundlage  der  oben 
s.  86  besprochenen  proportionsgruppen  statt,  die  sich  aus  formen  der 
gleichen  stofflichen  gruppe  zusammensetzen.  Im  mhd.  lauten  die 
dritten  personen  pl. :  ind.  präs.  gehent ,  conj.  geben,  ind.  ])rät.  gäben, 
conj.  gü'ben.  Im  nhd.  ist  nach  analogie  der  drei  anderen  formen  auch 
im  ind.  praes. //eft«?«  eingetreten;  im  spätmhd.  ist  auch  umgekehrt  ent 
in  die  übrigen  formen  eingedrungen.  Die  2.  sg.  ind.  prät.  des  starken 
verbums,  die  im  mhd.  eigentümlich  gebildet  war  {du  gcßbe,  wäre),  ist 
nach  der  analogie  der  andern  zweiten  personen  umgestaltet. 

Dass  eine  schöpferische  Wirkung  der  analogie  auch  auf  dem 
gebiete  des  lautweehsels  statt  hat,  ist,  soviel  ich  sehe,  bis  jetzt 
noch  wenig  beachtet.  Der  lantwechsel  ist  zunächst,  wie  wir  gesehen 
haben,  eine  Wirkung  des  lautwandels,  die  dann  eintritt,  wenn  der 
gleiche  laut  oder  die  gleiche  lautgruppe  sich  in  folge  verschiedener 
lautlicher  bedingungen  in  mehrere  gespalten  hat.  S<»  lange  diese  be- 
dingungen  fortdauern  und  ausserdem  keine  Störung  der  Wirkungen  des 
lautwandels  durch  andere  einflüssc  eintritt,  ist  es  möglich,  dass  die 
durch  den  lautwandel  entstandenen  formen  sich  zu  proportionsgruppen 


96 

ordueu,  vgl.  die  lieispiele  oben  s.  87.  Wir  können  dann  den  laut- 
wechsel  als  einen  lebendigen  bezeichnen.  Fallen  dagegen  die  be- 
dingungen  fort,  welche  die  Ursache  der  verschiedeneu  behandlung  des 
lautes  gebildet  haben,  so  lassen  sich  keine  etymologisch -lautlichen 
j)ro])ortiunen  mehr  bilden,  der  lautvvechsel  ist  erstarrt.  So  ist  z.  b, 
der  Wechsel  zwischen  h  uud  g  iu  ziehen  —  zug,  gedeihen  —  gediegen 
nicht  mehr  durch  Verhältnisse  iu  der  gegenwärtigen  spräche  bedingt; 
die  Ursache,  durch  welche  dieser  lautweehsel  ursprünglich  hervorge- 
rufen ist,  der  wechselnde  indogermanische  accent,  ist  längst  beseitigt. 
Der  Wechsel  zwischen  hoher  —  hoch,  sehen  —  gesicht,  geschehen  — 
geschichte  trifft  zwar  zusammen  mit  einem  Wechsel  der  Stellung  inner- 
halb der  silbe;  da  aber  in  den  meisten  fällen  bei  ganz  analogem 
Stellungswechsel  kein  lautweehsel  mehr  statt  hat  (vgl.  rauher  —  rauh, 
selten  — •  sah  und  sieht,  geschehen  —  geschah  und  geschieht),  so  ist 
auch  dieser  Wechsel  ein  toter.  Anders  im  mhd.,  wo  es  eine  durch- 
greifende regel  ist,  dass  einem  h  im  silbenanlaut  in  der  Stellung  nach 
dem  sonanten  der  silbe  der  laut  unseres  ch  ents])richt,  also  rüher  — 
rüch,  sehen  —  sach,  geschehen  —  geschach,  vor  s  und  t  im  älteren 
mhd.  allerdings  auch  h  geschrieben  {sihst,  siht),  im  späteren  aber  gleich- 
falls durch  ch  bezeichnet  {siehst,  sieht). 

Die  stofflich-lautlichen  proportionsgruppen  sind  nun  in  entspre- 
chender weise  productiv  wie  die  stofflich-formalen.  Es  ist  z.  b.  nicht 
wol  denkbar,  dass  die  beiden  verschiedeneu  aussprachen  unseres  ch 
von  jedermann  für  jeden  einzelnen  fall  besonders  erlernt  sind,  viel- 
mehr wirken  auch  hier  gedächtnissmässige  einprägung  und  analogie- 
schöpfung  zusammen,  und  ohne  mitwirkung  der  letzteren  könnte  nicht 
die  Sicherheit  in  dem  Wechsel  zwischen  beiden  gewonnen  werden,  wie 
sie  wirklich  vorhanden  ist.  Besonders  zweifellos  ist  die  mitwirkung 
der  aualogie  bei  den  sandhi-erscheinungen.  Wie  sollte  man  es  sich 
z.  b.  sonst  erklären,  dass  im  franz.  die  anlautenden  consonanten  s,  ?, 
t,  n  consequent  verschieden  behandelt  werden,  je  nachdem  das  sich 
anschliessende  wort  mit  consonant  oder  mit  vokal  beginnt?  Es  ist 
zwar  möglich,  dass  sich  eine  anzahl  solcher  Verbindungen  wie  nous 
vendons  —  nous  aimons,  un  /ils  —  iin  ami  seit  der  zeit,  wo  sie  durch 
den  lautwandel  entstanden  sind,  von  generation  zu  generation  gedächt- 
nissmässig  fortgepflanzt  haben,  aber  sicher  sind  es  bei  weitem  nicht 
alle,  die  jetzt  zur  auwendung  kommen  und  früher  gekommen  sind. 
Nichtsdestoweniger  wird  der  Wechsel  genau  beobachtet,  auch  von  dem 
grammatisch  ungeschulten  und  bei  jeder  beliebigen  neuen  combination. 

Durch  die  Wirksamkeit  der  etymologisch -lautlichen  verhältniss- 
gnippen  werden  im  allgemeinen  solche  formen  erzeugt,  wie  sie  auch 
durch  den  zu  gründe  lieii,'enden  lautwandel  hervorgebracht  sein  würden. 


97 

Doch  geschieht  es  auch  zuweilen,  dass  neue  formen  erzeugt  werden, 
die  hiutgesetzlich  nicht  möglich  wären.  Ursache  ist  entweder  eine 
eigentlich  nicht  berechtigte  umkehrung  der  proportionen  oder  eine  Ver- 
schiebung der  Verhältnisse  durch  Jüngern  lautwandel. 

Für  viele  ober-  und  mitteldeutsche  mundarten  gilt  das  lautgesetz, 
dass  71  im  silbenauslaut  geschwunden  ist,  sich  aber  auch  im  wortende 
gehalten  hat,  wenn  es  bei  vokalischem  anlaut  des  folgenden  Wortes 
zu  diesem  hinübergezogen  ist,  also  z.  b.  im  schwäbischen  e  ros  (ein 
ross)  — ■  e-n  obet  (ein  abend),  i  due  =  mhd.  ich  tuon)  —  due-n-i. 
Man  ist  also  daran  gewöhnt,  dass  in  vielen  fällen  zwischen  vokalischem 
auslaut  und  vokalischem  anlaut  sich  ein  n  scheinbar  einschiebt,  und 
in  folge  davon  überträgt  sich  das  n  auf  fälle,  wo  in  der  älteren  zeit 
kein  n  bestanden  hat.  So  finden  sich  in  der  Schweiz ')  Verbindungen 
wie  wo-n-i  wo  ich,  sf-n-iss  so  ist  es,  rvi^-n-^  wie  ein,  so-n-^  so  ein, 
hi-n-^'m  bei  ihm,  tsü^-n-fm  zu  ihm.  Die  selbe  erscheinung  findet  sich 
in  Schwaben,  z.  b.  in  der  mundart  der  gegend  von  Horb 2):  bei-n-pn 
bei  ihnen,  zu^-n-enf  zu  ihnen,  di  mä-n-i  dich  mag  ich,  lo-n-^ms 
lass  es  ihm,  gei-n-^ms  gib  es  ihm ;  entsprechend  im  bairischen  Schwaben 
und  in  einem  angrenzenden  teile  des  eigentlich  bairischen  gebietest): 
si-n-ist  sie  ist,  rvle-n-i  wie  ich  etc.  Auch  im  kärntischen  heisst  es 
hä-n-enk  bei  euch.*)  Im  altprovenzalischen  ist  die  nebenform  fon 
zu  fo  {fuit)  nach  analogie  von  hon  —  ho  etc.  gebildet.  5)  Hierher 
gehört  auch  das  v  tg^tXxvonxov,  soweit  es  nicht  etymologisch  be- 
rechtigt ist. 

Das  nämliche  gesetz,  das  im  alemannischen  und  schwäbischen 
für  n  gilt,  gilt  im  bairischen  für  r.  Es  heisst  daher  der  arm,  aber  de 
Jung,  p'  is,  aber  ^  hat,  mei  hru^d^r  odfr  i,  aber  i  odf  met  bru^df/') 
In  folge  davon  entstehen  auch  Verbindungen  wie  ivie-r-i  wie  ich, 
ge-r-^  gehe  er,  da  si^-r-i  da  sehe  ich,  käf-r-i  kann  ich,  a^-r-i 
abhin  =  hinab.')  Entsprechend  wird  mhd.  y«ra,  nürä  aus/«,  i\u-^ä 
zu  erklären  sein  nach  analogie  des  Verhältnisses  da  (aus  älterem  ddr) 
zu  dnrane,  n-ä  zu  tvärane,  hie  zu  hierane,  sä  zu  särie. 

Die  satzphonetische  doppelformigkeit  ist  wol  dasjenige  gebiet, 
auf  dem  diese  art  von  analogiebilduug  am  häufigsten  erscheint.     Doch 


*)  Vgl.  Winteler,  Kerenzer  inundart  s.  73.  140. 
*)  Nach  mitteiluug  meines  zuliürers  Friedrich  Kauftmann. 
3)  Vgl.  Schmeller,  Mimtlarten  Bayerns  s.  134. 
*)  Vgl.  Lexer,  Kärntisches  Wörterbuch  s.  XIII. 
^)  Vgl.  Neiiiuann,  Zschr.  f.  roiu.  pliil.  VIII,  257. 
*)  Vgl.  Schmeller,  s.  141. 
■')  Vgl.  ib.  s.  142  und  Lexer  a.  a.  o.  s.  XII. 
Paul,   Principien.    II.  Auflage. 


98 

ist  sie  nicht  darauf  beschränkt.  Wenn  im  spätmittelhochdeutschen 
nach  abwerfung;  des  ausblutenden  e  aus  zoelie,  geschoihe,  hoehe  etc. 
za'ch,  (jeschcech,  hcech  entsteht,  so  liegt  wol  schwerlich  ein  lautlicher 
Übergang  des  h  in  ch  vor;  die  formen  haben  sich  vielmehr  der  ana- 
logie  des  bereits  vorher  bestehenden  Wechsels  hoch  —  hohes,  geschehen 
—  (jeschach  etc.  gefügt.  Ebenso  wird  es  sich  verhalten  bei  sieht,  ge- 
schieh! (in  älterer  zeit  noch  sihi,  geschiht  geschrieben)  aus  sihel,  ge- 
schihet. 


Cap.  VI. 
Die  syntaktischeil  grundverhältuisse. 

Alle  sprechtätig-keit  bestellt  in  der  bildung  vou  sätzeu.  Der 
satz  ist  der  sprachliche  ausdruck,  das  symbol  dafür,  dass 
sich  die  Verbindung-  mehrerer  Vorstellungen  oder  vorstel- 
hiugsgruppeu  in  der  seele  des  sprechenden  vollzogen  hat, 
und  das  mittel  dazu,  die  nämliche  Verbindung  der  nämlichen 
Vorstellungen  in  der  seele  des  hörenden  zu  erzeugen.  Jede 
engere  deiinition  des  begriffes  satz  muss  als  unzulänglich  zurückgewiesen 
werden.  Zu  den  verbreiteten  irrtümern  über  das  weseu  des  satzes 
gehört  es  z.  b.,  dass  derselbe  ein  verb.  fin.  enthalten  müsse.  Ver- 
bindungen wie  Omnia  praeclara  rara ,  Summum  jus  swnrna  mj'uria, 
Träume  schäu7ne,  Ich  ein  lüijnerl  Ich  dir  danken'!  sind  gerade  so  gut 
Sätze  wie  Der  mann  lebt,  Er  ist  tot. 

Zum  sprachlichen  ausdruck  der  Verbindung  von  Vorstellungen 
gibt  es  folgende  mittel:  1)  die  nebeneinanderstellung  der  den  Vor- 
stellungen entsprechenden  Wörter  an  sich;  2)  die  reihenfolge  dieser 
Wörter;  3)  die  abstufung  zwischen  denselben  in  bezug  auf  die  energie 
der  hervorbringung,  die  stärkere  oder  schwächere  betonung  (vgl.  Karl 
ko7nmt  nicht  —  Karl  kommt  nicht);  4)  die  modulation  der  tonhöhe 
(vgl.  Karl  kommt  als  behauptuugssatz  und  Karl  kommt?  als  fragesatz); 
5)  das  tempo,  welches  mit  der  energie  und  der  tonhöhe  in  engem 
zusammenhange  zu  stehen  pflegt;  6)  Verbindungswörter  wie  präpo- 
sitionen,  conjunctionen,  hülfszeitwörter ;  7)  die  flexivische  abwandlung 
der  Wörter,  und  zwar  a)  indem  durch  die  flexionsformen  an  sich  die 
art  der  Verbindung  genauer  bestimmt  wird  {patri  librum  dat),  b)  indem 
durch  die  formelle  Übereinstimmung  (congruenz)  die  Zusammengehörig- 
keit angedeutet  wird  {anima  Candida).  Es  ist  selbstverständlich,  dass 
die  beiden  letztgenannten  mittel  sich  erst  allmählig  durch  längere 
geschichtliche  entwickelung  haben  bilden  können,  während  die  fünf 
erstgenannten  von  anfang  an  dem  sprechenden  zur  Verfügung  stehen. 
Aber  auch  2—5  bestimmen   sieh   nicht  immer  bloss   unmittelbar  nach 


100 

dem  natüilieheu  ablauf  der  Vorstellungen  und  empfindungen,  sondern 
sind  einer  traditionellen  ausbildung-  fähig. 

Je  nach  der  menge  und  bestimmtheit  der  augewendeten  mittel 
ist  die  art  und  weise,  wie  die  Vorstellungen  mit  einander  zu  verbinden 
sind,  genauer  oder  ungenauer  bezeichnet.  Es  verhält  sieh  in  bezug 
auf  die  verbindungsweise  gerade  so  wie  in  bezug  auf  die  einzelne 
Vorstellung.  Der  sprachliche  ausdruck  dafür  braucht  durchaus  nicht 
dem  ])sychischen  Verhältnisse,  wie  es  in  der  seele  des  sprechenden 
besteht  und  in  der  seele  des  hörenden  erzeugt  werden  soll,  adäquat 
zu  sein.    Er  kann  viel  unbestimmter  sein. 

Jeder  satz  besteht  demnach  aus  mindestens  zwei  dementen. 
Diese  demente  verhalten  sich  zu  einander  nicht  gleich,  sondern  sind 
ihrer  function  nach  differenziert.  Mau  bezeichnet  sie  als  subjeet 
und  prädicat.  Diese  grammatischen  kategorieen  beruhen  auf  einem 
psychologischen,  einem  logischen  verhältniss.  Zwar  müssen  wir  unter- 
scheiden zwischen  psychologischem  und  grammatischem  sub- 
jeet, respective  prädicat,  da  beides  nicht  immer  zusammenfällt, 
wie  wir  noch  im  einzelnen  sehen  werden.  Aber  darum  ist  doch  das 
grammatische  verhältniss  nur  auf  grundlage  des  psychologischen  auf- 
erbaut. 

Das  psychologische  subjeet  ist  die  zuerst  in  dem  bewusstsein  des 
sprechenden,  denkenden  vorhandene  vorstellungsmasse,  an  die  sich 
eine  zweite,  das  psychologische  prädicat  anschliesst.  Das  subjeet  ist, 
mit  Steiuthal  zu  reden,  das  ap]3ercipierende,  das  prädicat  das  apper- 
eipierte.  Richtig  bezeichent  v.  d.  Gabelentz  (Zschr.  f.  Völkerpsychologie 
6,  378)  die  beiden  demente  vom  Standpunkte  des  hörenden  aus.  Das 
l)sychologische  subjeet  ist  nach  ihm  das,  worüber  der  sprechende  den 
hörenden  denken  lassen,  worauf  er  seine  aufmerksamkeit  hinleiten 
will,  das  psychologische  prädicat  dasjenige,  was  er  darüber  denken 
soll.  Doch  kann  diese  art  der  bestimmung  des  prädieats  leicht  zu 
einer  zu  beschränkten  auffassung  verführen,  wie  sie  in  unseren  gram- 
matiken  gang  und  gäbe  ist.  Wir  müssen  daran  festhalten,  dass  es 
nur  darauf  ankommt,  dass  eine  Vorstellung  im  bewusstsein  au  die 
andere  angeknüpft  wird. 

Wir  sind  jetzt  gewohnt  dem  verhältniss  des  subjeets  zum  prä- 
dicat einen  engern  sinn  unterzulegen.  Ist  das  prädicat  ein  nomen, 
so  verlangen  wir  für  die  normale  satzbildung,  dass  dasselbe  ent- 
weder mit  dem  subjeet  identificiert  werde,  oder  dass  es  den  weiteren 
begriff  bezeichne,  welchem  der  engere  des  subjeets  untergeordnet  wird, 
oder  dass  es  eine  eigenschaft  angebe,  welche  dem  begriffe  des  sub- 
jeets inhäriert.  Aber  in  sprüch Wörtern  werden  auch  beziehungen  ganz 
anderer   art  durch   die   grammatische   form   der  nebeneinanderstellung 


101 

von  suhjeet  und  prädicat  ausgedrückt,  vgl.  ein  mann  ein  nort,  (//eiche 
brüder  f/leiche  kappen,  viel  feind'  viel  ehr',  viele  köpfe  viele  sinne,  viel 
gcschrei  wenig  wolle,  alter  fuchs  alle  list,  klein  yeld  kleine  arbeil,  neuer 
arzt  neuer  kirchhof  heisse  bitte  kaller  datik,  kurz  gebet  tiefe  andachl, 
roter  bart  untreue  art,  gevatter  übern  zäun  gevatter  wider  herüber,  gliick 
im  spiel  unglück  in  der  liebe,  mit  gevangen  mit  gehangen,  früh  gesattelt 
spät  geritten,  allein  getan  allein  gebüssl:  entsprechend  in  anderen  indo- 
g-ermanischen  sprachen,  vgl.  franz.  bo7i  capitaine  bon  soldat,  banne  terre 
mauvais  chemin,  longue  langue  courte  main,  brune  matinee  belle  juurnee^ 
froides  mains  chaudes  amours,  fhves  fleuries  temps  de  folies,  soleil  a  la 
vue  bataille  perdue,  point  d'argent  point  de  Suisse.  Zwar  pflegt  man 
solche  Sätze  als  verkürzte  hypothetische  perioden  aufzufassen  und  dem- 
gemäss  ein  komma  zwischen  die  beiden  bestandteile  zu  setzen,  aber 
dass  man  sie  durch  eine  hypothetische  periode  umschreiben  kann  {wo 
viel  geschrei  ist,  da  ist  wenig  wolle  etc.),  geht  uns  hier  gar  nichts  an, 
ihre  grammatische  form  ist  keine  andere  als  die  von  Sätzen  wie  ehe- 
st and  wehestand,  die  gelehrten  die  verkehrten,  bittkauf  teurer  kauf  etc. 
Bei  den  ersten  Sätzen,  welche  kinder  bilden,  dient  die  blosse  anein- 
anderreihung  von  Wörtern  zum  ausdruck  aller  möglichen  beziehungen. 
Aus  der  erfahruug  gesammelte  beispiele  werden  von  Steinthal,  Einl. 
S.  534 — 6  beigebracht,  vgl.  papa  hut  (=  der  papa  hat  einen  hut  aut), 
mama  baba  (=  ich  will  bei  der  mama  schlafen).  Wo  man  sich  einer 
fremden  spräche  zu  bedienen  genötigt  ist,  deren  mau  nicht  mächtig 
ist,  greift  mau  in  der  not  zu  dem  selben  primitiven  auskunftsmittel 
und  wird  von  der  Situation  unterstützt  verstanden.  Man  bedeutet  z.  b. 
jemandem  durch  die  worte  wein  tisch,  dass  er  den  wein  auf  den  tisch 
stellen  soll  u.  dergl.  Die  bedingungeu,  welche  dazu  veranlassen  der- 
gleichen Sätze  zu  erzeugen  und  es  dem  hörenden  ermöglichen  die  nicht 
ausgedrückte  beziehung  der  begriffe  zu  erraten,  sind  natürlich  nicht 
bloss  in  den  anfangen  der  Sprechtätigkeit  der  einzelnen  oder  der 
menschheit  vorhanden,  sondern  zu  allen  zeiten.  Wenn  sie  auf  den 
höher  entwickelten  stufen  nur  in  beschränktem  masse  zur  anwendung 
kommen,  so  liegt  dies  nur  daran,  dass  vollkommenere  ausdrucksmittel 
zu  geböte  stehen. 

Zur  Unterscheidung  von  subject  und  prädicat  gab  es  ursprüng- 
lich nur  ein  mittel,  die  ton  stärke.  Im  isolierten  satze  ist  das  psycho- 
logische prädicat  als  das  bedeutsamere,  das  neu  hinzutretende  stets 
das  stärker  betonte  dement.  Dies  dürfen  wir  wol  als  ein  durch  alle 
Völker  und  zeiten  durchgehendes  gesetz  betrachten.  Ein  zweites  unter- 
scheidungsmittel  könnte  die  Wortstellung  abgegeben  haben.  V.  d. 
Gabelentz  in  dem  oben  erwähnten  aufsatze  meint  (s.  376),  dass  die 
anordnung    subject  -  prädicat    (beides    als    psychologische    kategorieen 


102 

betrachtet)  ausnahmslos  g-elt  .')  Diese  ansieht  seheint  mir  nicht  g:anz 
richtig.  Wir  müssen  ))ei  bcurteilung-  dieser  frage  die  spraclien  und  die 
talle  ganz  bei  seite  lassen,  in  denen  für  die  Stellung  des  grammatischen 
subjects  und  prädieats  durch  die  tradition  eine  feste  regel  heraus- 
gebildet ist.  Wir  dürfen  nur  solche  fälle  heranziehen,  in  denen  beide 
den  platz  vertauschen  können,  in  denen  also  die  Stellung  nicht  durch 
grammatische,  sondern  lediglich  durch  psychologische  normen  beding-t 
ist.  Die  ansieht,  welche  v.  d.  Gabelentz  hegt,  dass  ein  vorangestelltes 
grammatisches  präd.  immer  psychologisches  subj.  sei,  triift  allerdings 
in  vielen  föllen  zu,  z.  b.  in  dem  Goetheschen  Weg  ist  alles,  was  du 
liebtest,  Weg,  warum  du  dich  betrübtest,  Weg  dein  glück  und  deine  ruh'', 
sagen  wir  aber  z.  b,  ein  windsioss  ergriff  das  blatt  und  weg  war  es,  so 
kann  weg  unmöglich  als  psychologisches  subj.  gefasst  werden.  Ebenso 
besteht  Übereinstimmung  zwischen  psychologischem  und  grammatischem 
subject,  wenn  auf  die  beraerkung  Müller  scheint  ein  verständiger  mann 
zu  sein  ein  anderer  entgegnet  ein  esel  ist  er;  und  so  in  vielen  fällen. 
Der  subjectsbegriff  ist  zwar  immer  früher  im  bewusstsein  des  sprechen- 
den, aber  indem  er  anfängt  zu  sprechen,  kann  sich  der  bedeutsamere 
prädicatsbegriff  schon  so  in  den  Vordergrund  drängen,  dass  er  zuerst 
ausgesprochen  und  das  subject  erst  nachträglich  angefügt  wird.  Dies 
kommt  häufig  vor,  wenn  der  subjectsbegriff  schon  vorher  im  gespräche 
da  gewesen  ist,  vgl.  die  angeführten  beispiele.  Dann  hat  auch  der 
angeredete  in  der  regel,  während  er  das  prädicat  hört,  schon  das 
dazu  gehörige  subj.  im  sinne,  welches  daher  auch  manchmal  eben  so 
gut  weg  bleiben  kann,  vgl.  „was  ist  Meier  f-  „kauf mann  {ist  erj".  Aber 
auch  wenn  der  angeredete  auf  das  subj.  nicht  vorbereitet  ist,  kann 
lebhafter  affect  die  veranlassung  werden,  dass  sich  das  präd.  an  die 
spitze  drängt.  Der  sprechende  verabsäumt  dann  zunächst  über  dem 
Interesse  an  der  hauptvorstellung  die  für  den  angeredeten  notwendige 
Orientierung,  und  es  fällt  ihm  erst  hinterher  ein,  dass  eine  solche  er- 
forderlich ist.  Es  ist  ein  analoger  psychologischer  Vorgang,  wenn  das 
subj.  zuerst  durch  ein  pron.,  dessen  beziehung  für  den  angeredeten 
nicht  selbstverständlich  ist,  und  erst  hinterher  bestimmter  ausgedrückt 
wird,  vgl.  ist  sie,  blind,  meine  liebe  (Lessing);  sie  hindert  nicht  allein 
nicht,  diese  binde  (ib.);  was  für  ein  hild  hinterlässt  er,  dieser  schwall 
von  Worten  (ib.);  mhd.  wie  jämerlrche  ez  siät,  daz  here  laut  (Walth.  v. 
d.  Vogelw.),  si  ist  iemcr  ungeschriben,  diu  fröude  die  si  hatcn  (Hartm. 
v.  Aue);    franz.  eile  approche,  cette  mort   inexorable.-)     Aus   den   ge- 


')  Umgekehrt   betrachtet  Wegener,    s.  .31tT.   die   voranstelhmg   des  prädieats 
als  das  eigentlich  normale,  eine  anschaming,  der  ich  auch  nicht  beitreten  möchte. 
*)  Vgl.  andere  beispiele  bei  Wegener,  s.  41. 


103 

gebenen  iiiisfUhruiigeu  erhellt,  dass  die  Sätze  mit  vorangestelltem  \)»y- 
chologisclien  prädicat  eine  Verwandtschaft  haben  mit  den  bald  weiter 
uuteu  zu  besprechenden  Sätzen,  in  denen  überhaupt  nur  das  präd. 
ausgedrückt  wird,  Sie  sind  eine  auomalie  gegenüber  der  bei  ruhiger 
erzählung  oder  erörteruug  vorwaltenden  voranstellung  des  subjects, 
aber  doch  eine  nicht  wegzuläugneude  und  niclit  gar  seltene  anomalic. 
Die  Wortstellung  kann  daher  nicht  als  ein  mit  den  anfangen  der  satz- 
bildung  gegebenes  unterscheidungsmittel  von  subj.  und  präd.  betrachtet 
werden. 

Wie  die  einzelnen  Wörter  concrete  und  abstracte  bedeutung 
haben  können,  so  auch  die  sätze.  Concret  ist  ein  satz,  sobald  eines 
von  den  beiden  liauptgliedern,  das  psychologische  subject  oder  das 
psychologische  prädicat  concret  ist.  Normaler  weise  ist  es  das  sub- 
ject, welches  dem  satze  concrete  natur  gibt.  Concrete  und  abstracte 
Sätze  brauchen  der  ausdrucksform  nach  nicht  verschieden  zu  sein. 
Wir  können  in  bezug  auf  die  menschliche  natur  überhaupt  sagen  der 
mensch  ist  sterblich,  wie  wir  in  bezug  auf  einen  einzelnen  sagen  der 
mensch  ist  unausstehlich,  und  nur  aus  dem  zusammenhange  und  der 
Situation  lässt  sich  die  verschiedene  natur  der  sätze  erkennen.  In  dem 
ersteren  satze  könnte  man  auch  pluralische  ausdrucksweise  einsetzen: 
die  menschen  oder  alle  menschen  sind  sterblich.  Er  bleibt  dann  aber 
nicht  eigentlich  abstract;  denn  alle  menschen  fasst  man  wol  richtiger 
als  einen  concreten  ausdruck  =  alle  menschen,  die  existieren.  Ist  das 
subject  concret,  so  kann  der  satz  nicht  abstract  sein.  Es  bleibt  aller- 
dings immer  noch  die  verschiedene  möglichkeit,  dass  das  prädicat 
als  etwas  dem  subject  schlechthin  zukommendes,  als  etwas  bleibendes 
oder  sich  widerholendes  gedacht  werden  kann  oder  als  etwas  demselben 
nur  zu  bestimmter  zeit  anhaftendes.  Im  ersteren  falle  besteht  gewisser- 
massen  eine  mittelstufe  zwischen  einem  abstracten  und  einem  concreten 
satze,  und  es  sei  daher  erlaubt  für  diese  art  von  Sätzen  in  ermangelung 
einer  besseren  bezeichnung  den  ausdruck  abstract-concret  zu  ge- 
brauchen. Auch  dieser  Verschiedenheit  braucht  keine  Verschiedenheit 
der  ausdrucksform  zu  entsprechen.  Er  spricht  schnell  kann  bedeuten 
„er  spricht  in  diesem  augenblicke  schnell*  und  ,er  pflegt  schnell  zu 
sprechen";  er  ist  saumselig  kann  ein  benehmen  in  einem  einzelnen  falle 
oder  eine  bleibende  Charaktereigenschaft  bezeichnen. 

Unserer  behauptung,  dass  zum  satze  mindestens  zwei  glicder  ge- 
hören, scheint  es  zu  widersprechen,  dass  wir  sätze  finden,  die  nur  aus 
einem  worte  oder  einer  eine  einheit  bildenden  gruppe  bestehen.  Der 
Widerspruch  löst  sich  so,  dass  in  diesem  falle  das  eine  glied,  in  der 
regel  das  logische  subject,  als  selbstverständlich  keinen  sprachlichen 
ausdruck   gefunden   hat.     Es  kann  aus   dem  vorher  besprochenen  er- 


104 

gänzt  werden.  Insbesondere  ist  zu  beachten,  dass  es  in  der  wechsel- 
rede sehr  häufii;-  den  Worten  des  anderen  zu  entnehmen  ist.  Die  aut- 
wort  i)fieg-t  nur  aus  einem  prädicate  zu  bestehen,  das  subjeet  ist  ent- 
weder in  der  frage  enthalten,  oder  die  ganze  frage  ist  das  logische 
subjeet:  1)  „w^r  hat  dich  geschlagen?''^  ^^Max''^  —  2)  ^Mst  du  das  ge- 
wesen?'''  „Ja"  {nein,  gewiss,  freilich,  doch).  Ebenso  dienen  als  prädicat 
zu  einem  von  dem  andern  ausgesprocheneu  satze  bemerkungen  wie  zu- 
geslanden,  einerlei,  ganz  gleich,  wol  möglich,  nicht  möglich,  {wie)  seltsam, 
getroffen,  genug,  kein  wunder,  geschwätz,  possen,  lügen,  unsinn.  In 
andern  fällen  ist  die  anschauung,  die  vor  dem  sprechenden  und  hören- 
den steht,  die  Situation  das  logische  subjeet,  auf  welches  die  aufmerk- 
samkeit  noch  durch  gebärden  hingelenkt  werden  kann.  Diese  an- 
schauung kann  die  redende  oder  die  angeredete  person  sein,  vgl.  Ihr 
diener,  gehorsamer  diener,  zu  he  fehl  —  willkommen,  so  traurig?  warum 
so  traurig?  Ferner  gehören  hierher  namentlich  viele  ausrufungen  des 
erstaunens  und  entsetzens  und  hülfsschreie  wie  feuer,  diehe,  mörder, 
hülfe,  sowie  viele  aufforderungen,  auch  fragen  wie  gerade  oder  ungerade?^ 
rechts  oder  links?  Wenn  der  prinz  in  Lessings  Emilia  beginnt  Klagen-, 
nichts  als  klagen!  Bittschriften,  nichts  als  bittschriften!,  so  sind  das 
nur  prädicate,  das  subjeet  wird  durch  die  briefe  gebildet,  die  er  in 
die  band  nimmt.  Bei  solchen  dem  sprachlichen  ausdruck  nach  ein- 
gliedrigen Sätzen  ist  es  möglich,  dass  dasjenige,  was  für  den  sprechen- 
den psychologisches  prädieat  ist,  für  den  hörenden  vielmehr  subjeet 
wird.  Für  denjenigen,  der  beim  anblick  eines  brandes  ausruft  feuer, 
ist  die  Situation  subjeet  und  der  allgemeine  begriff  feuer  prädieat; 
dagegen  für  denjenigen,  der  feuer  rufen  hört,  ehe  er  selbst  einen 
brand  gewahr  wird,  ist  der  begriff  feuer  subjeet  und  die  Situation 
prädieat.  Es  kann  auch  sätze  geben,  in  denen  für  beide  teile  das 
ausgesprochene  subjeet,  die  Situation  prädieat  ist.  Es  sieht  z.  b. 
jemand,  dass  ein  kind  in  gefahr  kommt,  so  ruft  er  wol  der  person, 
welcher  die  bewaehung  desselben  anvertraut  ist,  nur  zu  das  kind. 
Hiermit  ist  nur  der  gegenständ  angezeigt,  auf  den  die  aufmerksam- 
keif hingelenkt  werden'  soll,  also  das  logische  subj.,  das  präd.  ergibt 
sich  für  die  angeredete  person  aus  dem,  was  sie  sieht,  wenn  sie  dieser 
lenkung  der  aufmerksamkeit  folge  leistet.  Oder,  wenn  von  zwei  reise- 
gefährten  der  eine  bemerkt,  dass  der  andere  seinen  schirm  hat  stehen 
lassen,  so  genügt  der  blosse  ausruf  dein  schirm,  um  diesen  das  prä- 
dieat dazu  ergänzen  zu  lassen.  Der  vocativ,  für  sich  ausgesprochen, 
um  jemand  herbeizurufen,  ihn  zu  warnen,  zu  bitten,  ihm  zu  drohen, 
ihm  l)emerklich  zu  machen,  dass  er  unter  mehreren  jetzt  an  der  reihe 
ist  etwas  zu  tun,  ist  ein  solcher  sprachlich,  aber  nicht  psychologisch 
prädicatloser   satz.      Dagegen    neben    einem    verbum    in   der  zweiten 


105 

person  ohne  subjectsproii.  kann  der  voe.  als  snbj.  zu  diesem  gefasst  werden. 
Man  interi)nngiert  g:ewölnilich  Kari  komm  und  komm,  Karl,  dagegen  du 
komm  und  knmm  du,  ohne  dass  ein  unterseliied  des  Verhältnisses  besteht. 

Hier  ist  auch  festzustellen,  wie  es  sieh  mit  den  sogenannten 
verba  impersonalia  verhält.  Es  ist  eine  vielfach  erörterte  Streit- 
frage, ob  dieselben  als  subjectlos  zu  betrachten  sind  oder  nicht.  Eine 
kritische  erörterung  der  darüber  geäusserten  ansichten  iindet  sich  in 
der  Schrift  von  Miklosich  „Subjectlose  sätze"  (Zweite  aufläge.  Wien 
1883).  Im  wesentlichen  auf  das  von  Miklosich  beigebrachte  material 
stützt  sich  ein  aufsatz  von  Marty  in  der  Vierteljahrsschr.  f.  wissen- 
schaftliche philos.  VIII,  56  ft'.  Um  die  frage  richtig  zu  beantworten 
muss  man  streng  scheiden  zwischen  der  grammatischen  form  und  dem 
dadurch  bezeichenten  logischen  verhältniss.  Sehen  wir  nur  auf  die 
erstere,  so  kann  es  natürlich  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  sätze  wie  es 
rauscht,  franz.  //  gcle,  niederserbisch  vono  se  bhjska  (es  blitzt)  ein  sub- 
ject  haben.  Aber  alle  bemühungen  dies  es,  U,  vono  auch  als  logisches 
subj.  zu  fassen  und  ihm  eine  bestimmte  ausdeutung  zu  geben  haben 
sich  als  vergeblich  erwiesen.  Auch  von  Sätzen  wie  lat.  pluit,  griech. 
i'Ei,  sanskr.  varsati  (es  regnet),  lit.  sn'inga  (es  schneit)  kann  man  an- 
nehmen, dass  ihnen  das  formelle  subj.  nicht  fehlt;  denn  es  kann  in 
der  Verbalendung  enthalten  sein,  unter  der  sich  ja  auch  ein  persön- 
liches 67-  oder  sie  verstehen  lässt.  Man  könnte  sich  für  die  entgegen- 
gesetze  ansieht  allerdings  darauf  stützen,  dass  in  den  beti'etfeuden 
sprachen  die  dritte  person  auch  neben  einem  ausgesprochenen  sub- 
jecte  stehen  kann.  Aber  es  lässt  sich  durch  kein  mittel  beweisen, 
dass  das  impersouale  erst  aus  dieser  verwendungsw^eise  abgeleitet  sei. 
Es  ist  am  natürlichsten  auch  hier  ein  formelles  subj.  anzuerkennen. 
Es  verhält  sich  mit  der  persoualendung  nicht  anders  als  mit  dem 
selbständigen  prou.  Indem  der  satz  auf  die  normale  form  gebracht 
ist,  hat  er  ein  formelles  subj.  erhalten,  welches  mit  dem  psj'cholo- 
gischen  nichts  zu  schatfeu  hat.  Wir  müssen  eine  ältere  stufe  voraus- 
setzen, auf  welcher  der  einfache  verbalstamm  gesetzt  wurde,  eine  stufe, 
die  im  magyarischen  wirklich  noch  vorliegt,  wo  die  6  sg.  kein  suffix 
hat  (vgl,  Miklosich,  s.  15).  Und  von  dieser  stufe  können  wir  uns  eine 
lebendige  Vorstellung  bilden  nach  analogie  der  eben  besprochenen  aus 
einem  nicht  verbalen  worte  bestehenden  sätze.  Diese  sind  wirklich, 
was  den  sprachlichen  ausdruck  betrifft,  subjectslos. 

Das  psychologische  subj.  ist  also  in  dem  satze  es  brennt  ebenso 
wenig  ausgedrückt  als  in  dem  satze  feuer.  Aber  man  darf  sich  da- 
durch nicht  zu  der  ansieht  verleiten  lassen,  dass  überhaupt  keins  vor- 
handen ist.  Auch  hier  findet  eine  Verknüpfung  zweier  Vorstellungen 
statt     Auf  der  einen  seite  steht  die  Wahrnehmung  einer  concreten  er- 


106 

scheiiiung;,  auf  der  andern  die  schon  in  der  seele  ruhende  vorstelhing 
von  brcinien  oder  teuer,  unter  welche  sieh  die  I>etretitende  wahrneh- 
niuni;'  unterordnen  lässt.  Nur  als  unvollständiger  ausdruck  für  die 
Verbindung  dieser  beiden  demente  kann  das  wort  feuer  ein  satz  sein. 
]\ran  könnte  sich  denken,  dass  beim  verb.  in  entsprechender  Verwen- 
dung statt  des  Impersonale  der  inf.  üblich  geworden  wäre.  Und  wirk- 
lieh wird  dieser  gebraucht,  wo  es  sich  um  eine  aufforderung  handelt. 
Als  commandowort  steht  z.  b.  aufsitzen  auf  gleicher  linie  mit  marsch^ 
und  es  kann  psychologisch  als  imperativ  zu  dem  unpersönlichen  es 
wird  aufgesessen  betrachtet  werden. 

Miklolisch  und  Marty  verkennen  die  existenz  eines  psychologischen 
subjects  für  die  unpersönlichen  sätze.  Sie  halten  dieselben  wirklich 
für  eingliedrig  mit  berufung  auf  Brentanos  psychologie  und  sehen  in 
ihnen  einen  beweis  für  die  theorie,  dass  das  logische  urteil  nicht  not- 
wendig zweigliedrig  zu  sein  braucht.  Mitbestimmend  für  diese  ansieht 
scheint  bei  Marty  die  beobachtung  gewesen  zu  sein,  dass  zum  aus- 
sprechen einer  Wahrnehmung  in  einem  concreten,  auch  sprachlich  zwei- 
gliedrigen satze  noch  etwas  anderes  erforderlich  ist  als  die  zusammen- 
fügung der  beiden  glieder.  Sagen  wir  z.  b.  diese  birne  ist  hart^  so 
müssen  wir  erst  den  gegenständ,  von  dem  wir  etwas  aussagen  wollen, 
unter  die  allgemeine  kategorie  birne,  die  eigenschaft,  die  wir  an  ihm 
bemerkt  haben,  unter  die  allgemeine  kategorie  hart  gebracht  haben. 
Wir  müssen  also,  um  unser  urteil  auszusprechen  noch  zwei  hülfsurteile 
gebildet  haben.  Vergleichen  wir  damit  den  Vorgang  beim  aussprechen 
eines  unpersöuliclien  oder  dem  sprachlichen  ausdrucke  nach  einglie- 
drigen Satzes  wie  es  brennt  oder  feuer,  so  entspricht  hier  das  urteil 
nur  dem,  was  in  dem  satze  diese  birne  ist  hart  nebenurteil  war.  Man 
könnte  also  von  diesem  gesichtspuukte  aus  meinen,  dass  der  unper- 
sönliche satz  Avirklieh  nicht  mehr  enthält  als  das  prädicat  eines  nor- 
malen Satzes,  und  da  der  letztere  als  zweigliedrig  bezeichnet  wird, 
scheint  es  dann  nur  consequent,  den  ersteren  als  eingliedrig  zu  be- 
zeichnen. Dabei  übersieht  man  aber,  dass  dasjenige,  was  in  dem 
einen  falle  nur  hülfsurteil  war,  in  dem  andern  Selbstzweck  geworden 
ist.  Man  könnte  mit  den;  gleichen  rechte  den  unterschied  vernach- 
lässigen, der  zwischen  dem  satzgliede  der  sterbliche  mensch  und  dem 
satze  der  mensch  ist  sterblich  besteht.  Unter  allen  umständen  aber  ist 
ein  satz  wie  feiier,  es  Ijrennt  zweigliedrig;  denn  auch  die  entsprechen- 
den hülfsurteile  sind  zweigliedrig.  Von  eingliedrigen  urteilen  kann 
ich  mir  überhau])t  gar  keine  Vorstellung  machen,  und  die  logiker  soll- 
ten die  spräche  nicht  zum  beweise  für  die  existenz  derselben  heran- 
ziehen; sonst  zeigen  sie,  dass  auch  ihr  denken  noch  sehr  von  dem 
sprachlichen  ausdruck  abhängig  ist,  von  dem  sich  zu  emanzipieren 
doch  ihre  aufgäbe  sein  sollte. 


107 

Nach  unseren  hisheriicen  erörterung-en  ist  es  kUir,  dass  iuii)cisöii- 
liche  und  dem  sprachlielien  ausdruck  nacli  cinjulicdrigc  sätzc  immer 
eoneret.  nie  abstraet  sind.  Denn  ilire  aut"i;al)c  Itesteiit  immer  darin  eine 
conerete  anschaunnu;  mit  einem  allii-enieineu  beaTitte  zu  vermitteln. 


Wenn  wir  den  satz  als  ausdruck  für  die  Verbindung-  zweier  v«n*- 
stelhingen  definiert  haben,  so  scheinen  dem  die  negativen  sätzc  zu 
widersprechen,  die  vielmehr  eine  trennung  bezeichnen.  Indessen  kommt 
eine  solche  trennung  nicht  zum  ausdruck,  wenn  nicht  die  betrettenden 
Vorstellungen  im  bewusstsein  des  sprechenden  aneinander  geraten  sind. 
Wir  können  den  negativen  behauptungssatz  als  ausdruck  dafür  l)e- 
zeichnen,  dass  der  versuch  eine  beziehung  zwischen  z^vei  Vorstellungen 
herzustellen  missglückt  ist.  Der  negative  satz  ist  jedenfalls  jünger 
als  der  positive.  So  viel  mir  bekannt  ist,  findet  die  negation  überall 
einen  besonderen  sprachlichen  ausdruck.  Es  Hesse  sich  aber  sehr  wol 
denken,  dass  auf  einer  primitiven  stufe  der  sprachentwickelung  nega- 
tive Sätze  gebildet  wären,  in  denen  der  negative  sinn  au  nichts  anderem 
zu  erkennen  gewesen  wäre  als  au  dem  tonfall  und  den  begleitenden 
gebährden. 

Was  in  bezug  auf  den  unterschied  zwischen  positiven  und  nega- 
tiven Sätzen  nur  als  möglich  hingestellt  werden  kann,  das  gilt  jeden- 
falls von.  dem  unterschiede  zwischen  aussage-  und  aufforderungs- 
sätzen.  Ich  wähle  die  bezeichmmg  aufforderungssätze  als  die  in- 
differenteste. In  der  aufforderung  ist  natürlich  bitte,  gebot  und  ver- 
bot, rat  und  warnung,  aufmunterung,  auch  concession  und  ablehnung 
oder  verbitten  enthalten.  Es  bedarf  keiner  beispiele  dafür,  dass  für 
alles  dies  der  gleiche  sprachliche  ausdruck  angewendet  werden  kann, 
und  dass  die  verschiedenen  uuaucen  dann  nur  an  dem  verschiedenen 
gefühlstone  erkannt  werden.  Wir  müssen  daran  aber  auch  noch  die 
Wunschsätze  anknüpfen.  j\Ian  kann  einen  wuinsch  aussprechen  in  der 
crwartung  dass  das  aussprechen  einen  einfluss  auf  seine  realisierung 
hat,  dann  ist  er  eben  eine  aufforderung;  man  kann  ihn  aber  auch 
ohne  eine  solche  erwartung  aussprechen.  Das  ist  ein  unterschied,  der 
von  dem  naiven  bewusstsein  des  kindes  und  des  naturmenscheu  noch 
nicht  oder  wenigstens  nicht  immer  beachtet  wird.  Der  dichtersprache 
und  selbst  der  naturwüchsigen  Umgangssprache  ist  es  noch  heute  ge- 
läufig blosse  wünsche  zu  aufforderungen  zu  steigern  und  durch  den 
imperativ  auszudrücken.  Noch  mehr  berühren  sich  wünsch  und  auf- 
forderung in  conjunctivischen   oder  optativischen  ausdrucksformen. 

Wir  sind  jetzt  gewohnt  den  aussagesatz  als  den  eigentlich  nor- 
malen satz  zu  fassen.    Der  aufforderungssatz  ist  aber  ebenso  urspräng- 


108 

lieh,  wo  nicht  gar  älter.  Die  frühesten  sätze,  die  von  kindern  ge- 
sprüclieu  werden  (die  allerfrüliesten  l)estelien  natürlich  aus  einem  ein- 
zigen Worte),  haben  eine  beziehuiig  zu  ihren  begierden,  sind  entweder 
forderungen  oder  aussagen,  die  gemacht  werden,  um  ein  bedürfniss 
anzudeuten,  das  befriedigung  verlangt.  Es  darf  angenommen  werden, 
dass  es  sich  auf  der  frühesten  stufe  der  spracheutwickelung  eben  so 
verhalten  hat.  Es  bedurfte  daher  ursprünglich  auch  zur  Charakterisie- 
rung des  aufforderungssatzes  keines  besonderen  sprachlichen  mittels, 
die  einfache  nebeueinanderstellung  von  subject  und  prädicat  genügte 
hier  eben  so  gut  wie  für  den  aussagesatz,  nur  der  empfindungstou 
Hess  den  unterschied  erkennen.  Noch  heute  bedienen  wir  uns  ja  sol- 
cher aufforderuugssätze  in  masse,  in  denen  die  aufforderung  nicht  als 
solche  charakterisiert  ist.  Es  sind  dies  die  sätze  ohne  verb.,  vgl. 
äugen  rechts,  getvehr  auf,  Jiut  ab,  hierher,  alle  mann  an  hord,  scherz 
bei  Seite,  aller  anfang  mit  gott ,  äuge  um  äuge,  die  alten  zum  rat,  die 
jungen  zur  tat,  preis  dir,  friede  seiner  asche,  dem  Verdienste  seine  krönen, 
Untergang  der  lügenbrut,  jedem  das  seine,  fort  mit  ihm,  her  damit  etc.; 
ferner  dem  sprachlichen  ausdrucke  nach  eingliedrige  sätze  wie  still, 
hurtig,  laut,  sachte,  wein,  freiheit  und  gleichheit,  schritt,  marsch,  platz, 
vorsieht,  her,  n-eg,  hinaus,  vorwärts,  auf,  zu,  an  die  arbeit,  zum  henker  etc. 
In  dieser  primitiven  form  erscheinen  gerade  aufforderungsätze ,  wäh- 
rend sie  für  aussagesätze  in  der  regel  nicht  anwendbar  ist.  Aus  diesem 
negativen  umstände  entspringt  nun  allerdings  die  folge,  dass  diese 
negativen  sätze  für  uns  sofort  als  aufforderungen  zu  erkennen  sind. 
Doch  gibt  es  immer  noch  fälle,  die  zweideutig  sind,  \g\.  feuer  als 
alarmruf  und  feuer  als  commando. 

Auch  statt  einer  bestimmten  charakteristischen  form  des  verbums 
kann  eine  au  sich  unbestimmte  zur  aufforderung  verwendet  werden. 
So  das  part.  perf.,  vgl.  rosen  auf  den  weg  gestreut,  alles  harms  vergessen 
(Hölty);  in  die  weit,  in  die  freiheit  gezogen  (Schi.).  Häufiger  der  inf., 
vgl.  absitzen,  schritt  fahren  u.  dergl.;  im  it.  ist  der  inf.  üblich  nach 
negationen:  non  ti  cruciare;  desgleichen  im  rum.,  prov.  und  afranz.  (vgl. 
Diez  III,  212).  Jolly,  Geschichte  des  inf.  s.  158.  209  will  diese  infini- 
tive  aus  der  ursprünglichen  dativischen  function  des  Infinitivs  erklären. 
Eine  solche  erklärung  muss  allerdings  für  den  imperativischen  inf.  im 
griech.  als  zulässig  anerkannt  werden.  Aber  der  gebrauch  im  deut- 
schen und  romanischen  ist  jungen  Ursprungs  und  darf  nicht  an  indo- 
germanische Verhältnisse  angeknüpft  werden,  für  die  das  bewusstsein 
dem  Sprachgefühle  längst  abhanden  gekommen  war.  Für  die  epoche, 
in  welcher  dieser  gebrauch  sich  gebildet  hat,  ist  der  inf  nichts  anderes 
als  die  bezeichnung  des  verbalbegritfes  an  sich,  und  diese  infiuitiv- 
sätze  sind  daher  mit  Sätzen  wie  marsch  auf  eine  linie  zu  stellen.    Be- 


109 

merkenswert  ist,  dass  auoli  die  2.  »^.  des  indogermanischeu  imperativs 
den  reinen  tempns.stanini  zeigt  (grieeli.  Xtyt). 

Den  beliaiiptuugs-  und  auffordeiungsätzen  stellt  man  als  eine 
dritte  klasse  die  fragesätze')  zur  scite.  Es  lässt  sieh  aber  für  eine 
solche  dreiteilung  der  sätze  kein  einheitliches  princip  finden,  und  diese 
drei  klassen  können  nicht  einander  coordiniert  werden.  Vielmehr 
müssen  wir  eine  zwiefache  art  von  Zweiteilung  annehmen.  Nicht  bloss 
die  behauptungs-,  sondern  auch  die  aufforderuugssätze  haben  ihr  pen- 
dant  in  fragesätzen,  vgl.  lat.  f/uid  faciam  gegen  quid  facio.  Man  ge- 
braucht dafür  den  ausdruck  deliberative  fragen.  Wir  könnten  sie 
geradezu  als  frageaufforderungssätze  bezeichnen. 

Von  den  beiden  hauptarten  der  frage  ist  diejenige,  in  welcher 
nur  ein  Satzglied  in  frage  gestellt  wird,  jedenfalls  jüngeren  Ursprungs 
als  diejenige,  in  welcher  der  ganze  satz  in  frage  gestellt  wird.'-)  Denn 
zu  der  ersteren  bedarf  es  eines  besonderen  fragepronomens,  respective 
adverbiums,  welches  die  letztere  nicht  nötig  hat.  Das  interrogativum 
ist  in  den  indogermanischen  sprachen  zugleich  indefinitivum.  Es  gibt 
meines  Wissens  kein  kriterium,  woran  sich  erkennen  liesse,  welche  von 
diesen  beiden  funetionen  die  ursprüngliche  ist.  Sich  die  letztere  aus 
der  ersteren  entstanden  zu  denken  macht  keine  Schwierigkeit.  Aber 
auch  das  umgekehrte  wäre  denkbar,  und  dann  hätten  wir  einen  weg 
aus  der  älteren  art  des  fragesatzes  in  die  jüngere.  Auf  die  frage  ist 
jemand  da?  kann  man  antworten  {ja,)  der  vater  oder  {nein,)  niemand. 
Denken  wir  uns  nun  die  besondere  fragestellung  hinweg,  an  die  wir 
jetzt  gebunden  sind,  also  jemand  ist  da?^  so  liegt  die  berührung  mit 
wer  ist  da?  auf  der  band.  Noch  näher  stehen  fragen  mit  interroga- 
tivum solchen  mit  indetinitum  da,  wo  eine  negative  antwort  als  selbst- 
verständlich erwartet  wird,  vgl.  wer  wird  das  tun?  —  wird  das  jemand 
tun?,  was  kann  ich  antworten?  —  kann  ich  etwas  antworten?,  wo  ist 
ein  solcher  mensch  zu  finden?  —  ist  irgendwo  ein  solcher  mensch  zu 
finden  ? 

Die  frage,  auf  welche  man  als  antwort  einfach  ja  oder  nein  er- 
wartet, wird  in  manchen  sprachen  durch  eine  besondere  partikel,  in 
den   germanischeu   und   romanischen   sprachen   durch  die  Wortstellung 


')  Vgl.  zum  folgenden  Imme,  Die  fragesätze  nach  psychologischen  gesichts- 
punkten  eingeteilt  und  erläutert,  programme  des  gyuin.  zu  Cleve  1879.  Sl. 

-)  Es  ist  bisher  noch  nicht  gelungen  eine  ganz  passende  terminologie  für 
diese  beiden  arten  zu  finden.  Delbrück,  SFI,  75  nennt  die  erste  verdeutlichungs- 
fragen,  die  zweite  bestUtigungsfragen.  Imme  a.  a.  o.  I,  15  eignet  sich  den  zweiten 
terminus  an,  während  er  den  ersten  durch  bestimmungsfragen  ersetzt.  Mir  scheint 
aber  gerade  der  ausdruck  bestätigungsfragen  nicht  recht  geeignet,  weil  er  eigentlich 
die  erwartuug  einer  bejahenden  antwort  einschliesst. 


110 

charakterisieii;.  Die  fragende  Wortstellung;  ist  aber  nicht  von  anfang 
an  auf  den  fragesatz  beschränkt  gewesen.  Wir  finden  sie  z.  b.  im 
ahd.,  alts.  und  ags.  häufig  im  behauptungssatz ,  vgl.  verit  denne  slua- 
tago  in  laut,  holoda  man  truhiin  etc.  Die  frage  war  demnach  au  der 
Stellung  allein  nicht  zu  erkennen,  und  erst  der  fragende  ton  war  das 
entscheidende  merkmal,  wodurch  sie  sich  von  der  behauptung  schied. 
Wir  haben  noch  jetzt  fragen,  bei  denen  dieser  ton  das  einzige  charae- 
teristicum  ist,  nämlich  diejenigen,  welche  kein  verbum  enthalten,  vgl. 
niemand  da?  fertig?  ein  glas  hier?  (als  frage  des  keilners);  franz.  votre 
desir?,  engl,  your  rvill?  Wir  können  uns  daher  leicht  eine  Vorstellung 
davon  macheu,  dass  es  schon  lange  fragesätze  gegeben  haben  kann, 
ehe  irgend  ein  anderes  charakterisierendes  mittel  dafür  gefunden  war 
als  der  fragende  ton.  Die  frage  ist  daher  schon  auf  ganz  primitiver 
stufe  möglieh,  wenn  auch  natürlich  jünger  als  behauptung  und  auf- 
forderung. 

Die  reine  frage  liegt  gewissermassen  in  der  mitte  zwischen  posi- 
tiver und  negativer  behauptung.  Sie  verhält  sich  neutral.  Es  kann 
an  und  für  sich  keinen  unterschied  machen,  ob  man  sie  in  eine  povsi- 
tive  oder  negative  form  kleidet,  nur  dass  eben  deswegen  die  positive 
form  als  das  einfachere  vorgezogen  wird  und  die  negative  die  function 
erhält  eine  modificatiou  der  reinen  frage  auszudrücken. 

Es  gibt  nämlich  verschiedene  derartige  modificationen,  wodurch 
die  frage  mehr  oder  weniger  dem  Charakter  des  behauptungssatzes 
angenähert  werden  kann.  So  wird  sie  zur  zweifelnden  behauptung, 
bei  der  man  also  schon  zu  einer  bestimmten  annähme  geneigt  ist  und 
nur  noch  eine  letzte  bestätigung  durch  einen  anderen  erwartet.  In 
diesem  falle  tritt  die  negative  frageform  ein  bei  erwartuug  einer  posi- 
tiven antwort:  warst  du  nicht  auch  dabei?  ich  glaubte  dich  zu  sehen. 
Es  macht  für  den  sinn  keinen  wesentlichen  unterschied,  wenn  man 
statt  dessen  die  form  des  positiven  behauptungssatzes  mit  frageton  an- 
wendet: du  warst  auch  dabei?  du  bist  {doch)  zufrieden?  Mau  kann 
also  von  beiden  selten  her  zu  dieser  Zwischenstufe  gelangen. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  dem  ausdruck  der  Verwunderung. 
Die  Verwunderung  ist  die  subjective  Unfähigkeit  eine  vorstellungsmasse 
durch  eine  andere  zu  appercipieren  trotz  einer  von  aussen,  sei  es  durch 
eigene  Wahrnehmung,  sei  es  durch  angäbe  eines  andern,  gegebenen  au- 
forderung.  Hierfür  können  wir  wider  entweder  die  frageform  anwenden 
öder  die  behaui)tungsform  mit  frageton:  ist  Franz  tot?  —  Franz  ist  tot?,  bist 
du  schon  wider  da?  —  du  bist  schon  ?rider  da?  Neutral  in  dieser  hinsieht 
sind  die  sätze  ohne  verbum:  du  mein  bruder?  mir  das?  schon  da?  so 
früh?  ebenso  die  infinitivischen:  so  ein  schelm  zu  sein?  Es  kommen 
auch   ausdrücke  der  Verwunderung  vor,   bei  denen  das  psychologische 


111 

siibjeet  lind  ])rädieat  duroh  nnd  verbunden  sind:  so  Jumj  und  schon  so 
verderht'^  a  maid  and  he  so  martlal?  (Shaksp.).  Abg-escliwächt  wird 
der  aiisdriick  der  Verwunderung-  zu  einer  blossen  einleitungsforinel  für 
ein  gespräeh,  vgl.  (tusyeschlafen?  so  verynngl't  noch  immer  bei  der  arheil? 
u.  dergl. 

Ein  speeieller  fall  ist  die  verwunderte  oder  entrlistete  abweisung 
einer  behauptuug.  Hierfür  ist  die  primitive  ausdrucksfonn  oline  verl). 
finitum  besonders  beliebt:  ich  ein  liujner?  er  und  bezahlen?  lat.  ego 
lanista?  (Cic),  franz.  moi  vous  abandonner?  it.  io  dir  bugie?  engl,  she 
ask  my  pardon?  how?  not  kno/r  the  friend  that  served  you?  Auch  die 
entrüstete  abweisung  einer  Zumutung  kommt  vor,  vgl.  ich  dich  ehren? 
(Goe.).  Ein  solcher  satz  müsste  wol  den  frageaufforderungen  zu- 
gerechnet werden. 

Die  veranlassung  zur  frage  ist  natürlich  ursprünglich  ein  bedürf- 
niss  des  fragenden.  Es  gibt  aber  auch  fragen  (jedenfalls  jüngeren 
Ursprungs),  bei  denen  der  fragsteller  über  die  antwort,  welche  darauf 
gehört,  nicht  in  zweifei  ist  und  nur  den  angeredeten  veranlassen  will 
diese  antwort  selbständig  zu  finden.  Hierher  gehören  die  pädago- 
gischen fragen.  Tritt  eine  andeutung  darüber  hinzu,  welche  beant- 
wortung  der  fragende  erwartet,  so  haben  wir  die  art,  welche  man  ge- 
wöhnlich mit  dem  unbestimmten  namen  rhetorische  fragen  bezeichent. 
Man  nötigt  dadurch  den  angeredeten  eine  Wahrheit  aus  eigener  Über- 
legung heraus  anzuerkennen,  wodurch  sie  ihm  energischer  zu  gemüte 
geführt  wird,  als  wenn  sie  ihm  bloss  von  aussen  mitgeteilt  würde. 


Das  verhältniss  von  subject  und  prädieat  in  dem  oben  be- 
zeiehenten  weiten  sinne  ist  das  verhältniss,  aus  dem  die  ül)ngen  syn- 
taktischen Verhältnisse  entspringen  mit  einer  einzigen  ausnähme,  näm- 
lich der  eopulativen  Verbindung  mehrerer  elemente  zu  einem  satz- 
gliede.  Diese  Verbindung  kann  in  den  entwickelten  sprachen  durch 
eine  partikel  bezeichnet  werden,  es  genügt  aber  vielfach  noch  die 
blosse  aneinanderreihung,  weshalb  es  uns  nicht  wunder  nehmen  kann, 
dass  man  im  anfang  jeden  besondern  sprachlichen  ansdruck  für  die 
copulation  entbehren  konnte. 

Jede  andere  art  der  satzerweiterung  geschieht  dadurch,  dass  das 
verhältniss  von  subject  und  prädieat  mehrmals  auftritt.  Wir  unter- 
scheiden zwei  hauptfälle.  Entweder  es  verbinden  sich  gleichzeitig  zwei 
glieder  mit  einem  dritten,  d.  h.  es  treten  zwei  subjecte  zu  einem  prä- 
dicate  oder  zwei  prädicate  zu  einem  subjecte,  was  sich  etwa  durch 
die  formel  (a  +  (b)  +  c)  ausdrücken  liesse.  Oder  es  tritt  eine  Ver- 
bindung  von    subject  und  prädieat  als  subject  oder  prädieat   in   ver- 


112 

hiiltniss  zu  einem  weiteren  gliede,  was  sich  durch  die  foimel  (a  -f  b) 
+  c  ausdrücken  Hesse.  Auch  dieses  weitere  glied  kann  natürlich 
wider  zusamiueugesetzit  sein. 

Ist  in  dem  ersteren  falle  das  logische  verhältniss  der  beiden  sub- 
jecte  zu  dem  gemeinsamen  prädicate  oder  das  der  beiden  prädicate 
zu  dem  gemeinsamen  subjecte  völlig  gleich,  so  lässt  sich  ein  solcher 
dreigliedriger  satz  ohne  wesentliche  Veränderung  des  sinnes  mit  einem 
zweigliedrigen  vertauschen,  dessen  eines  glied  eine  copulative  Ver- 
bindung ist.  Daraus  ergeben  sich  berührungspuukte  und  Vermischungen 
zwischen  diesen  beiden  Satzarten.  Am  reinsten  erscheint  die  doppel- 
heit  eines  Satzgliedes  von  der  copulativen  Verbindung  zu  einem  gliede 
gesondert,  wenn  das  satzgliederpaar  ein  ihm  gemeinsam  zugehöriges 
glied  in  die  mitte  nimmt  ohne  anwendung  einer  copulativen  paiükel, 
also  bei  der  sogenannten  construction  ajio  xoivov,  wie  sie  im  mhd. 
ziemlich  häufig  ist,  vgl.  do  spnotc  von  dem  gesidele  her  Hagene  also 
sprach.  Sagen  wir  dagegen  da  spranc  vom  sitze  Hagen  und  sprach  so 
so  haben  wir  schon  eine  Übergangsstufe  von  doppeltem  prädicate  zu 
einem  zusammengesetzten.  Dass  aber  noch  keine  wirkliche  Zusammen- 
fassung der  beiden  prädicate  stattfindet,  beweist  der  bei  doppeltem 
subj.  ausnahmslose  sing,  des  prädicats  {der  mann  ist  tot  und  die  fraii). 
In  der  älteren  spräche  macht  sich  die  Zusammenfassung  geltend,  wenn 
hinterher  noch  ein  weiteres  prädicat  angefüg-t  wird;  vgl.  Petrus  aber 
anln-ortete  und  die  apostel  und  sprachen  (Lu.),  wo  wir  jetzt  auch  ein 
neues  subj.  setzen  müssen.  Viel  schwankender  ist  das  Sprachgefühl, 
wenn  keine  trennung  durch  einen  einschub  stattfindet.  Dann  ist  es 
ebensowol  möglich  mehrere  glieder  anzunehmen,  die  eins  nach  dem 
anderen  mit  den  übrigen  elementeu  des  satzes  verknüpft  werden,  wie 
ein  zusammengesetztes,  welches  auf  einmal  angeknüpft  wird.  Die 
erstere  auffassung  liegt  weniger  nahe,  wenn  das  satzgliederpaar  an 
die  spitze,  als  wenn  es  an  das  ende  gestellt  wird.  Das  schwanken 
des  Sprachgefühls  bekundet  sich  darin,  dass  bei  einer  mehrheit  von 
subjecten,  von  denen  wenigstens  das  zuuächststehende  ein  sing,  ist 
das  i)räd.  sowol  im  plur.  als  im  sing,  stehen  kann.  Bei  nachstellung 
des  prädicats  müssen  wir  allerdings  jetzt  den  plur.  setzen,  aber  im 
lat.  ist  auch  der  sing,  üblich,  vgl.  Speusippus  et  Äenocrates  et  Polemo 
et  Crantor  nihil  ab  Aristolele  dissentit  (Cic);  cojisules,  praetores^  tribuni 
plebis,  senatus,  Ilalia  cuncta  semper  a  vobis  deprecala  est  (Cic);  filia 
atque  unus  e  fUiis  captus  est  (Caes.);  selbst  et  ego  et  Cicero  mens 
flagitabit  (Atticus).  Ebenso  it. :  le  ricchezze,  g/i  honori  e  la  virlu  e  stimata 
grande;  franz.:  le  /'er,  le  bandeau,  la  flamme  est  loute  prele  (Racine); 
so  auch  im  älteren  nhd.:  wölken  und  dunkel  ist  um  Hin  her  (Lu.);  dass 
ihre  steine  und  kalk  zu/jerichtet  würde  (ib.). 


113 

Das  logiselie  verliültniss  zweier  subjecte  zu  dem  uäiuliclien  prä- 
dicate  kanu  aber  auch  ein  verschiedeuartiges  seiu.  Daim  haheu  wir 
die  grimdlage  zu  der  im  laufe  der  spracheutwiekeluug  möglich  werdeu- 
den  differeuzieruug  der  doppelsubjet'te  zu  subjeet  uud  objeet.  Wir 
können  uns  diesen  process  am  besten  verdeutlichen  an  einem  satze 
wie  ich  rieche  den  braten.  Ohne  persönliches  subjeet  können  wir  auch 
noch  sagen  der  braten  riecht.  Wir  können  uns  danach  leicht  in  eine 
zeit  zurückversetzen,  in  welcher  bei  völligem  mangel  jeglichen  casus- 
suffixes  und  jeglicher  fixierung  der  Wortstellung  in  einem  satze  wie 
ich  riechen  braten  oder  braten  riechen  ich  die  Wörter  ich  und  braten  unter 
die  selbe  allgemeine  kategorie  des  psychologischen  subjects  fielen. 
Die  Verwandtschaft  zwischen  subjeet  uud  objeet  erhellt  ja  auch  daraus, 
dass  das  letztere  durch  Umsetzung  des  verbums  in  das  passivum  zum 
ersteren  gemacht  werden  kann. 

Das  objeet,  wenn  wir  dies  woii;  im  weitesten  sinne  nehmen,  kann 
wider  sehr  verschiedene  logische  Verhältnisse  in  sieh  schliessen.  Nun 
können  wider  mehrere  objecte  zu  dem  gleichen  prädicat  gestellt  wer- 
den sowol  in  gleichem  wie  in  verschiedenem  logischen  verhältniss. 
Somit  ist  die  veranlassung  zu  einer  den  logischen  Verhältnissen  ent- 
sprechenden grammatischen  differenzierung  des  objects  gegeben  (accu- 
sativisches,  dativisches,  genitivisches  obj.  etc.). 

Das  obj.  kann  neben  dem  subj.  als  ein  diesem  gleichwertiges 
drittes  Satzglied  aufgefasst  werden,  es  kann  aber  auch  zu  dem  prä- 
dicat in  ein  näheres  verhältniss  treten  als  das  subj.,  so  dass  aus  dem 
dreigliedrigen  satz  ein  zweigliedriger  wird,  indem  das  obj.  mit  dem 
präd.  zusammen  ein  giied  bildet,  und  zwar  so,  dass  ersteres  dem 
letzteren  untergeordnet  wird,  ihm  als  bestimmung  dient.  Eine  scharfe 
grenzlinie  zwischen  diesen  beiden  Verhältnissen  gibt  es  nicht. 

Wie  das  prädicat  eine  ihm  untergeordnete  bestimmung  erhalten 
kann,  so  auch  das  subj.  und  das  daraus  entwickelte  obj.  Als  solche 
bestimmnngen  dienen  uns  jetzt  vornehmlich  substantivische  und  adjec- 
tivische  attribute  und  geuitive  von  Substantiven,  aber  auch  durch  prä- 
positionen  angeknüpfte  substantiva  und  adverbia.  Mit  hülfe  dieser 
verschiedeneu  bezeichnungsweisen  ist  es  möglich  die  Verschiedenheit 
des  logischen  Verhältnisses  zwischen  dem  bestimmenden  und  dem  be- 
stimmten bis  zu  einem  gewissen  grade  auch  sprachlich  auszudrücken. 
Eine  spräche,  die  noch  keine  flexion  und  keine  Verbindungswörter 
ausgebildet  hat,  ist  dazu  nicht  im  stände.  Sie  hat  wider  kein  anderes 
mittel  als  die  blosse  nebeneinanderstellung  des  bestimmten  und  des 
bestimmenden  Wortes.  Dass  die  dem  subj.  beigegebene  bestimmung 
nicht  prädicat  ist,  kann  sich  dann,  falls  nicht  etwa  schon  eine  feste 
Wortstellung  ausgebildet  ist,  nur  daraus  ergeben,  dass  noch  ein  drittes 

Paul,  Principien.    II.  Auflage.  8 


114 

wort  \orhaiiden  ist,  welches  durch  eine  stärkere  betonuDg-  und  etwa 
durch  eine  kleine  pause  von  den  l)eiden  Wörtern,  die  zusammen  das 
subject  bilden,  abg-ehol)en  wird.  Das  verhältniss  des  bestimmenden 
elementes  zu  dem  bestimmten  ist  dem  des  prädicats  zum  subject  in 
der  weite,  wie  wir  es  oben  gefasst  haben,  analog.  Und  wirklich 
ist  die  bestimmung  nichts  anderes  als  ein  degradiertes  prä- 
dicat,  welches  nicht  um  seiner  selbst  willen  ausgesprochen  wird,  son- 
dern nur.  damit  dem  subj.  (obj.)  nun  ein  weiteres  präd.  beigelegt 
w^erden  kann.  Wie  die  bestimmung  des  prädicats  ihren  Ursprung  in 
Sätzen  mit  doppelsubjeet  hat.  so  die  bestimmung  des  subjects  und  da- 
nach die  adnominale  bestimmung  überhaupt  in  Sätzen  mit  doppel- 
prädicat. 

Die  herabdrückung  des  prädicats  zu  einer  blossen  be- 
stimmung können  wir  uns  am  besten  an  denjenigen  fällen  klar 
machen,  in  denen  ein  verbum  finitum  davon  betroffen  ist.  Wir  haben 
es  dabei  mit  einem  processe  zu  tun,  der  sich  spontan  in  verschiedenen 
sprachen  und  epochen  vollzogen  hat  und  zum  teil  noch  geschichtlich 
verfolgbar  ist.  Den  ausgang  bildet  die  oben  s.  112  besprochene  con- 
struction  dxo  xoivov.  Dabei  kann  es  geschehen,  dass  das  eine  der 
beiden  prädicate  sich  logisch  dem  andern  unterordnet,  so  dass  es 
durch  einen  relativsatz  ersetzbar  wird.i)  So  zuweilen  im  ahd.  und 
mhd.,  vgl.  mit  zühten  si  ze  hüse  bat  ein  froutve  saz  darinne  (=  eine 
dame,  die  darin  ihren  Wohnsitze  hatte),  jrer  tvas  ein  man  lac  vorme  GräH 
(=  der  vor  dem  Grale  lag),  die  tvorhte  ein  smit  hiez  Volcän  (mit  namen 
Vulcan);  nist  man,  fhoh  er  uuolle,  thaz  gumisgi  al  irzelle  (es  gibt  keinen 
menschen,  der,  wenn  er  auch  wollte,  die  menschenmenge  ganz  zählen 
könnte).  Es  kann  auch  ein  vom  hauptverbum  abhängiger  casus  zu- 
gleich als  subject  des  nebenverbums  dienen:  von  einem  slangen  ivas  ge- 
bunden (Überschrift  einer   fabel  von  Boner);   ich  hab  ein  sunt  ist  wider 


^)  Ueber  diese  erscheimmg  gibt  es  eine  beträchtliche  literatur,  vgl.  besonders 
J.  Grimm,  Ueber  einige  talle  der  attraction  (Kl.  sehr.  3,  312 ft.);  Steinthal,  Assimi- 
lation und  Attraction  (Zschr  f.  vülkerps.  I,  93  fr.  =  Kl.  sehr.  107  ff.),  vgl.  besonders 
s.  lT3fF. ;  Tobler,  Ueber  auslassung  und  Vertretung  des  pronomen  relativum  (Germ. 
XVII,  2.57  ff.);  JoUy,  Ueber  die  einfachste  form  der  hypotaxis  im  idg.  (Curtius  Stu- 
dien VI,  217);  Külbing,  Untersuchungen  über  den  ausfall  des  relativpronomens  in 
in  den  germanischen  sprachen,  Strassburg  1S72;  Erdmann.  Syntax  Otfrids  II,  s.  124  ff.; 
Behaghel,  Asyndetische  parataxe  (Germ.  XXIV,  167  ff".);  Lohmaun,  Ueber  die  aus- 
lassung des  englischen  relativpronomens  (Anglia  III,  11.5ft'.).  In  diesen  Schriften 
findet  sich  zum  teü  eine  von  der  oben  gegebenen  stark  abweichende  auftassung. 
Dagegen  zu  polemisieren  habe  ich  für  überflüssig  gehalten,  da  es  mir  scheint,  dass 
die  richtigkeit  desjenigen  Standpunktes,  dem  ich  mich  angeschlossen  habe,  des 
Standpunktes  von  Jolly  und  Behaghel,  einem  jeden  einleuchten  muss,  der  nicht  in 
den  banden  des  eigenen  Sprachgefühles  und  der  traditionellen  grammatik  befangen  ist. 


115 

euch  (H.  Sachs);  dar  inne  such  er  glilzen  von  kolen  rot  ein  {/Int  ivart 
auf  sein  /"allen  (die  auf  sein  falleu  wartete,  ib.).  Die  eoustruetion  wird 
gegen  den  ausgang  des  niittelalters  häufiger  als  früher.  Eine  viel 
grJisserc  ausdehnuug  hat  der  entsprechende  gebrauch  im  englischen, 
schwedischen  und  dänischen  gewonnen.  Beispiele  aus  Shakesi)eare : 
t/iere  is  n  devil  haunfs  Ihee,  it  is  thy  sovereign  speaks  to  thee,  here  are 
some  will  thank  you,  I  have  a  mind  presages  nie,  it  is  not  you  I  call  for. 
In  den  bisher  angeführten  beispielen  stand  das  gemeinsame  glied 
in  der  mitte.  Es  kommen  im  ahd.  auch  fälle  vor,  in  denen  es  an  der 
spitze  steht  oder  zwischen  das  erste  prädicat  und  seine  bestimmungen 
eingeschoben  ist.  Es  kann  dabei  als  subjeet  oder  object  oder  als 
sonstige  adverbiale  bestimmuug  dienen;  es  braucht  auch  nicht  zu  beiden 
prädicaten  das  gleiche  verhältniss  zu  haben.  Hierher  gehören  aus 
Otfrid  mit  Unterordnung  des  zweiten  prädicats  fälle  wie  thaz  selba 
sie  imo  sngetun  sie  Mar  hifora  zelitun  (das  selbe  sagten  sie  ihm,  was 
sie  vorher  erzählt  hatten);  uuer  ist  thes  hiar  thenke  (wer  ist,  der  das 
hier  denken  solltet;  nist  man  nihein  in  imorolti  thaz  saman  al  irsageti 
(es  gibt  keinen  menschen  in  der  weit,  der  das  alles  zusammen  sagen 
könnte).  Das  erste  prädicat  ist  untergeordnet  in  folgendem  falle:  in 
seihen  uuorton  er  then  man  thö  then  eriston  giuuan  so  nuard  er  hiar 
fon  thesemo  firdamnot  (mit  denselben  Worten,  mit  denen  er  den  ersten 
mann  überwand,  ward  er  hier  von  diesem  verdammt).  Dabei  nimmt 
so  das  in  selben  uuorton  noch  einmal  auf,  wie  es  jeden  beliebigen  Satz- 
teil aufnehmen  kann.  In  einem  anderen  falle  ist  der  gemeinsame  Satz- 
teil durch  ein  pron.  aufgenommen:  allo  uuihi  in  uuorolti  thir  gotes  hoto 
sageti,  sie  quement  so  gimeinit  ubar  thin  houbit. 

Am  häufigsten  ist  das  ajio  xoivov  im  ahd.  im  allgemeinen, 
namentlich  negierten  satze  mit  conjunctivischem  nebenverbum.  Diese 
art  kenneu  auch  die  romanischen  s])rachen '),  vgl.  ait.  non  vi  rimasse  nn 
sol  non  lacrimassi;  prov.  U7ia  non  sai  vas  vos  non  si'  aclina,  anc  non  vi 
dona  tan  mi  plagues;  afranz.  or  n'a  baron  ne  li  envoit  son  fil. 

Ueberblickt  man  unbefangen  die  Überlieferung,  so  wird  mau  die 
ansieht  nicht  aufrecht  erhalten  können,  dass  diese  consti-uction  überall, 
wo  sie  vorkommt,  auf  tradition  von  der  indogermanischen  grundsprache 
her  beruht,  es  ist  vielmehr  wahrscheinlich,  dass  sie  sich  auch  in  spä- 
te-en  epochen  spontan  erzeug-t  hat,  wiewol  schon  andere  vollkommenere 
ausdrucksformen  ausgebildet  waren.  Ausserhalb  des  idg.  findet  sie 
sich  z.  b.  im  arabischen,  wo  man  sich  so  ausdrückt:  ich  ging  vo7'üher 
bei  einem  manne  schlief,  vgl.  Steinthal,  Haupttyp,  267. 

Wenn   so  das  verb.  finitum  zur  geltung  einer  attributiven  bestim- 


>)  Vgl.  DiezIII,  3S1. 

8* 


116 

imiu^-  herabgedvückt  werden  konnte,  wie  viel  mehr  ein  prädieat.  wel- 
ches noi'li  keinerlei  keuuzeielien  verbalen  Charakters  an  sich  hatte. 
Der  Ursprung  des  attributiven  Verhältnisses  liegt  somit  klar  zu  tage. 

In  bezug  auf  die  function  der  bestimmun g  müssen  gewisse 
unterschiede  hervorgehoben  werden,  die  gewiUinlich  keinen  sprachlichen 
ausdruck  tinden.  die  aber  nichtsdestoweniger  logisch  sehr  bedeutsam  sind. 
Die  bestiniraung  braucht  den  bedeutuugsumfang,  welchen  das  als  subj. 
fungierende  wort  an  sich  oder  nach  einer  anderweitig  bereits  gegebenen 
begrenzung  hat,  nicht  zu  alterieren,  indem  sie  diesem  ganzen  umfange  zu- 
kommt: Vgl.  der  sterbliche  mensch,  der  allmächtige  gott,  das  starre  eis;  sie 
kann  aber  auch,  indem  sie  nur  einem  teile  von  dem  zukommt,  was  in 
der  usuellen  oder  bereits  durch  andere  mittel  specialisierten  bedeutung 
des  betreffenden  Wortes  enthalten  ist,  dieselbe  individuell  verengern :  vgl. 
alte  häuser,  ein  altes  haus,  ein  (der)  söhn  des  königs,  die  fahrt  nach  Paris, 
karl  der  grosse;  ebenso  das  alte  haus,  insofern  es  im  gegensatz  zu  einem 
neuen  gestellt  wird,  wogegen  diese  Verbindung  nicht  hierher  gehört,  wenn 
schon  ohne  das  beiwort  feststeht,  welches  haus  gemeint  ist.  In  den  fällen, 
welche  unter  die  zweite  kategorie  gehören,  ist  die  bestimmung  unent- 
behrlich, weil  ohne  sie  das  prädieat  nicht  gültig  ist.  In  der  ersten  kate- 
gorie sind  noch  folgende  Unterscheidungen  von  belang.  Erstens:  die 
bestimmung  kann  als  eine  dem  begriffe,  welchem  sie  beigefügt  wird, 
zukommende  schon  bekannt  sein,  wie  dies  bei  der  widerholung  der 
stehenden  beiwörter  in  der  epischen  spräche  der  fall  ist,  oder  es  kann 
durch  die  bestimmung  etwas  neues  mitgeteilt  werden.  Im  letzteren 
falle  hat  die  bestimmung  eine  grössere  Selbständigkeit,  nähert  sich 
dem  werte  eines  wahren  prädicates.  Wir  ziehen  in  diesem  falle  häufig 
Umschreibung  durch  einen  relativsatz  vor:  Karl,  welcher  arm  war;  Lud- 
wig, der  ein  geschickler  mal  er  mar.  Zweitens:  die  l)estinimung  braucht 
gar  keine  beziehung  zum  prädieat  zu  haben,  sie  kann  aber  auch  in 
causalbeziehung  zu  demselben  stehen,  z.  b.  der  grausame  mann  achtet 
nichl  auf  das  flehen  des  unglücklichen. 

Wir  haben  die  bestimmung  als  ein  abgeschwächtes  präd.  auf- 
gefasst.  Es  gibt  nun  eine  Zwischenstufe,  auf  welcher  die  bestimmung 
noch  eine  grössere  Selbständigkeit  hat,  noch  nicht  so  eng  mit  dem 
subj.  verbunden  ist,  weshalb  es  angemessener  ist  sie  als  ein  beson- 
deres Satzglied  anzuerkennen.  Hierher  gehört,  was  man  gewöhnlieh 
prädieat ives  attribut  nennt,  z.  b.  er  kam  gesund  an.  Aber  auch 
präpositionelle  bestimmungen  können  in  dem  nämlichen  logischen  Ver- 
hältnisse stehen,  z.  b.  er  hat  mich  auf  den  knieen,  wofür  man  ein  kniend 
einsetzen  könnte.  Loser  ist  das  verhältniss  des  prädicativen  attribu- 
tes  zum  subj.  deshalb,  weil  es  nicht  eine  demselben  notwendig  und 
dauernd  anhaftende  eigenschaft,' sondern  einen  zufälligen  und  vorüber- 


117 

gehendeu  zustand  bezeicliuct.  IIa  kanu  daher  als  ein  selbständiges 
glied  neben  subj.  und  i)iiid.  betrachtet  werden.  Die  Selbständigkeit 
bekundet  sich  in  den  meisten  s])raehen  durch  die  freiere  Wortstellung 
gegenüber  der  gebundenen  des  reinen  attributs.  Im  ulid.  hat  die 
nähere  Verwandtschaft  mit  dem  prädicate  noch  darin  ihren  ausdruck 
gefunden,  dass  wie  für  dieses  die  unflectierte  form  des  adj.  ge* 
braucht  wird. 

Nachdem  einmal  die  adverbialen  und  adnomiualen  bestimmungeu 
sich  als  besondere  kategorieen  aus  ursprünglichen  subjecten  oder  prä- 
dicaten  herausgebildet  haben,  ist  eine  weitere  complicierung  des  satzes 
möglich,  indem  eine  schon  aus  einem  bestimmten  und  einem  bestim- 
menden demente  bestehende  Verbindung  wüder  durch  ein  neues  de- 
ment bestimmt  werden  oder  ihrerseits  als  bestimmung  dienen  kann, 
und  indem  ferner  mehrere  bestimmende  demente  zu  einem  l)estimmten 
oder  mehrere  bestimmte  zu  einem  bestimmenden  treten  können,  gerade 
so  wie  mehrere  subjecte  zu  einem  prädicate  oder  mehrere  prädicate 
zu  einem  subjecte.  Beispiele:  1)  alle  guten  geister,  Müllers  älteste  toch- 
ter,  er  gerät  leicht  in  zorn  (zu  construieren  gerät  in  zorn  +  leicht);  — 
2)  sehr  gute  kinder,  alles  opfernde  liehe,  er  spricht  sehr  gut\  —  3)  trübes, 
regnerisches  {trübes  und  regnerisches)  weiter,  er  tanit  leicht  und  zier- 
lich; —  4)  Karls  hut  und  stock,  er  schlägt  weih  und  kind. 

Die  zuerst  aufgeführte  verbindungsweise  pflegt  mau  als  das  ver- 
hältniss  der  ein  Schliessung  zu  bezeichnen.  8ie  ist  nicht  immer  von 
der  dritten  scharf  zu  sondern.  Sage  ich  z.  b.  grosse  runde  hüte,  so 
macht  es  keinen  wesentlichen  unterschied,  ol)  wir  diese  Verbindung 
als  1  oder  3  construieren.  Im  nhd.  bietet  da,  wo  zwei  adjectiva  zu- 
sammentreffen, der  gebrauch  der  starken  oder  schwachen  form  ein 
mittel  das  verhältniss  der  beiordnung  und  das  der  einschliessung  von 
einander  zu  scheiden,  ein  mittel,  welches  freilich  da  im  stiche  lässt, 
wo  beide  formen  lautlich  zusammengefallen  sind.  Aber  die  Schwierig- 
keit einer  correcten  aufrechterhaltung  der  Unterscheidung  zeigt  sich  in 
vielen  Verstössen  der  schriftsteiler  gegen  die  regel  der  grammatik,  vgl. 
die  beispiele  bei  Andr.  Sprachg.  s.  38  ff. 

Construction  3  und  4  lassen  im  gründe  eine  doppelte  auffassung 
zu.  Sie  können  entweder,  wie  oben  zunächst  angegeben  ist,  als  «.to 
xoivov  gefasst  werden  oder  als  zusammenfügung  eines  dementes  mit 
zwei  zu  einer  einheit  copulativ  verbundenen  dementen.  Daher  zeigt 
sich  bei  4  in  den  sprachen,  welche  grammatische  congruenz  entwickelt 
haben  das  nämliche  schwanken  in  der  form  des  attributs,  wie  wir  es 
oben  s.  112  in  der  form  des  prädicats  gefunden  haben.  Vgl.  einerseits 
franz.  le  honheur  et  le  courage  constants,  la  langue  et  la  litterature  fran- 
caises;    lat.   Gai  et  Apini  Claudiorum;    anderseits    franz.  la  fille  et   la 


118 

m'ere  offensee  (Raciue);  lat.  Tibcrius  el  Cujus  Gracchus,  cl  /ribunis  et plebe 
incilata  in  palres  (Livius).  Aber  nicht  alle  fälle  von  der  selben  gram- 
matischen form  sind  in  dieser  weise  zweideutig.  In  den  angeführten 
iallcn  bezeichent  jedes  von  den  beiden  Substantiven  eine  selbständige 
Substanz.  Es  kann  aber  auch  sein,  dass  durch  die  Verknüpfung  nur 
zwei  verschiedene  selten  des  selben  gegenständes  bezeichnet  werden, 
z.  b.  mein  oheim  toid  Pflegevater.  Hier  dürfen  wir,  wo  die  Verbindung 
selbständig  als  subj.  oder  obj.  erscheint,  nur  construieren  mein  +  oheim 
und  Pflegevater.  Wo  jedes  wort  einen  besonderen  gegenständ  bezeichent, 
zieht  man  es  jetzt  im  deutschen,  wenigstens  bei  singularen  vor  auch 
jedem  sein  besonderes  attril)ut  zu  geben.  Mein  oheim  und  mein  Pflege- 
vater bedeutet  somit  etwas  anderes  als  mein  oheim  und  Pflegevater.  Nur 
dann  können  wir  die  erstere  Verbindung  auf  eine  person  beziehen, 
wenn  sie  ausdrücklich  in  beziehung  auf  eine  solche  gesetzt  ist  als 
prädicat  oder  als  attribut  oder  endlich  als  anrede.  Es  erscheint  je- 
doch auch  umgekehrt,  wiewol  von  den  grammatikern  verpönt,  häufig 
die  einfache  Setzung  des  atti'ibuts  neben  mehreren  Substantiven,  die 
jedes  einen  besonderen  gegenständ  bezeichnen,  vgl.  die  massenhaften 
beispiele  bei  Andr.  Sprachg.  s.  125  ff.  So  hat  Lessing  geschrieben  über 
die  grenzen  der  maierei  und  poesie. 

Die  bisher  besprochenen  erweiterungen  des  satzes  waren  aus  der 
formel  (a+(b)+c)  hervorgegangen  (vgl.  s.  111)  in  Verbindung  mit  der 
copulativen  Verknüpfung.  Wir  wenden  uns  zu  den  erweiterungen  nach 
der  formel  (a  -f-  b)  +  c.  Diese  finden  wir  z.  b.  vertreten  durch  die  Ver- 
bindung eines  verbums  mit  dem  acc.  c.  inf.  oder  mit  zwei  accusativen, 
von  denen  der  eine  prädicativ  ist:  memini  —  me  audire,  reddo  —  te  bea- 
tum.  Um  den  Ursprung  dieser  construetionen  zu  verstehen  wird  man 
aber  doch  wol  einen  anderen  ausgangspunkt  nehmen  müssen.  Wir 
tun  besser  uns  zunächst  an  diejenigen  fälle  zu  halten,  in  denen  das 
zusammengesetzte  Satzglied  (a  +  b)  noch  deutlich  die  form  des  selb- 
ständigen Satzes  zeigt,  also  ein  verb.  finitum  enthält.  Wir  überschrei- 
ten hiermit  wider  die  grenzen  des  sogenannten  einfachen  satzes  und 
greifen  in  das  gebiet  des  zusammengesetzten  über.  Es  zeigt  sich  eben 
bei  wirklich  historischer  und  psychologischer  betrachtung,  dass  diese 
Scheidung  gar  nicht  aufrecht  erhalten  werden  kann.  Sie  beruht  auf 
der  Voraussetzung,  dass  das  Vorhandensein  eines  verb.  fin.  das  eigent- 
liche characteristicum  des  satzes  sei,  einer  ansieht,  die  auf  viele  spra- 
chen und  epochen  gar  nicht  anwendbar  ist,  für  keine  ganz  zutrifft. 
Wo  die  deutliche  ausprägung  eines  verb.  fin.  fehlt,  fällt  auch  die  Schei- 
dung zwischen  einfachem  und  zusammengesetztem  satze  in  dem  ge- 
wöhnli(;hen  sinne  fort.  Der  sogenannte  zusammengesetzte  und  der  so- 
genannte   ei'weiterte    satz    sind    daher    ihrem    grundwesen   nach   voll- 


119 

koranieu  das  iiiüulielic.  Es  ist  dcslialb  auch  eine  irrige  ansieht,  dass 
die  herabdrüekung  eines  satzes  zum  satzgliede,  die  sog-euannte  hypo- 
taxe  sieh  erst  auf  einer  späten  sprachstufe  entwickelt  liabe.  Das  be- 
stehen des  erweiterten  satzes,  der  auch  den  primitivsten  sprachen  nicht 
fehlt,  setzt  ja  diese  herabdrüekung  als  vollzogen  voraus.  Iri-tUmlich  ist 
ferner  die  gewöhnliche  ansieht,  dass  die  hypotaxe  durchgängig  aus  der 
parataxe  entstanden  sei.  Man  könnte  mit  dem  selben  rechte  behaup- 
ten, dass  die  gliederung  eines  satzes  in  subj.  und  präd.  aus  der  copu- 
lativen  Verbindung  zweier  Wörter  entstanden  sei.  Diese  ansieht  hat 
sicli  deshalb  bilden  können,  weil  die  älteste  art  der  hypotaxe  aller- 
dings einer  besonderen  grammatischen  bezeichnung  entbehrt  und  bloss 
eine  logisch-psychologische  ist.  Eine  solche  logische  Unterordnung  aber 
als  beiordnuug  zu  bezeichnen  ist  durchaus  incorreet. 

Sehr  häufig  werden  noch  jetzt  im  deutschen  und  ebenso  in  andern 
sprachen,  die  schon  einen  reich  entwickelten  satzbau  haben,  Verbin- 
dungen, welche  sich  in  der  form  nicht  vom  hauptsatze  unterscheiden, 
als  objeete  gebraucht.  Hierher  gehört  die  oratio  directa.  Hierher  ge- 
hören ferner  Sätze  wie  ich  hehaupte,  er  ist  ein  lügner\  ich  glaube,  du 
rasest \  ich  sehe,  du  zitterst;  bedenke,  es  ist  geßhiiich.  Auch  aufforde- 
rungen  und  fragen  werden  in  das  nämliche  abhängigkeitsverhältniss 
gestellt:  ich  bitte  dich  (bitte),  gib  es  mir]  vgl.  lat.  quaeso,  cogita  ac  de- 
libera;  sage,  hast  du  ihn  gesehen;  sprich,  was  bekümmert  dich;  vgl.  lat. 
videte,  quantae  res  his  testimoniis  sunt  confectae  (Cic);  quaero  de  te,  qui 
possunt  esse  bcati  (Cic);  responde,  quis  me  vendit  (Plaut.).  Seltener 
ausser  neben  dem  passivum  begegnen  derartige  subjecte:  besser  ist,  du 
lässt  es  bleiben;  das  macht,  sie  ist  sehr  mannigfaltig  (Less.). 

In  allen  diesen  fällen  haben  allerdings  die  subjects-  oder  objects- 
sätze  zugleich  eine  gewisse  Selbständigkeit,  und  ohne  dass  ihnen 
eine  selbständige  geltuug  beigelegt  w^ird,  können  sie  abgesehen  von 
der  oratio  directa  nicht  gebraucht  werden.  Wir  können  z.  b.  nicht 
sagen  ich  glaubte,  du  bist  krank  und  eben  so  wenig  ich  glaidfte,  du 
narst  krank.  Es  folgt  aber  aus  dieser  beschränkten  Selbständigkeit 
nicht,  dass  das  verhältniss  zum  hauptverbum  ursprünglich  parataktisch 
ist,  sondern  in  bezug  auf  das  hauptverbum  besteht  entschiedene  hypo- 
'axe  und  Selbständigkeit  nur,  insofern  von  dem  Vorhandensein  desselben 
abgesehen  wird.  Die  Selbständigkeit  ist  eine  grössere,  wenn  der  regie- 
rende satz  nachgestellt  oder  eingeschoben  wird,  da  dann  die  abhängig- 
keit  erst  nachträglich  bemerkt  wird;  vgl.  er  ist  ein  lügner,  glaube  ich 
oder  er  ist,  glaube  ich,  ein  lügner;  lat.  quid  Uli  locuti  inier  sei  die  mihi 
(Plaut);  sig7ii,  die,  quid  est?  (Plaut.).  Im  falle  der  einschiebung  sind 
unsere  grammatiker  sogar  geneigt  vielmehr  den  eingeschobeneu  satz 
für   den   untergeordneten   zu  halten,   und  sie  könnten  sich  darauf  be- 


120 

rufen,  dass  ein  i/hiuhe  ich  unii-efsihr  so  viel  ist  wie  ein  wie  ich  glaube 
oder  meiner  meinung  nach  oder  meines  bcdünkens.  Im  älteren  nhd.  ist 
es  ganz  üblieli  einen  satz  zunächst  selbständig"  hinzustellen  und  ihn 
dann  doch  zugleich  zum  subj.  oder  obj.  eines  nachfolgenden  satzes  zu 
machen.  Vgl.  folgende  beispiele  aus  Hans  Sachs:  ein  evolk  drcissig 
jor  friUich  lebet,  verdross  den  lex  fei  <jar\  der  frauen  warl  sein  hab 
vnd  gut,  geschah  nach  Christi  geburt  ztvare  vierhundert  vnd  auch  fünfzig 
jare\  des  ivirt  ein  böse  letz  der  Ion,  deul  der  schwänz  von  dem  scorpion; 
das  betrübt  n-eib  sich  selbst  erstach  vnd  nam  ein  kleglich  end,  beschreibt 
ßoccatius\  darum  jm  jederman  /rol  sprach,  tut  Plufarchus  be/reisen.  Hier 
die  ellipse  eines  das  anzunehmen,  wäre  durchaus  ungerechtfertigt. 

Aus  der  Vereinigung  von  Selbständigkeit  und  abhängigkeit  er- 
klärt sich  auch  der  personengebrauch  in  derartigen  Sätzen,  z.  b.  er 
denkt,  er  hat  was  rechtes  getan  statt  ich  habe,  also  nach  dem  Stand- 
punkte des  sprechenden,  nicht  nach  dem  Standpunkte  dessen,  dem 
man  den  gedanken  zuschreibt;  ebenso  glaube  mir,  du  bist  im  irrtume', 
er  meint,  er  kann  dich  betrügen. 

Es  kommt  auch  vor,  dass  man  trotz  der  logischen  abhängigkeit 
die  ausgeprägte  form  der  parataxe  wählt.  So  allgemein  in  der  Ver- 
bindung sei  so  gut  und  tue  das.  Vgl.  bei  H.  Sachs  ir  seidt  gewonet 
alle  z/ven  vnd  tragt  mit  euch  was  nit  wil  gehn.  Andere  beispiele  bei 
Andr.  Spraehg.  s.  140. 

Die  indirecte  rede  im  deutschen  muss  jetzt  als  etwas  gramma- 
tisch abhängiges  betrachtet  werden,  und  das  kennzeichen  der  abhängig- 
keit dabei  ist  der  conjunctiv.  Sehen  wir  aber  auf  den  Ursprung  der 
construction,  so  ist  es  klar,  dass  hier  gleichfalls  ein  zwitterding  zwischen 
logischer  abhängigkeit  und  logischer  Selbständigkeit  zu  gründe  liegt. 
Eine  construction  wie  er  meint,  er  könne  dich  bel7nigen  verhielt  sich 
ursprünglich  nicht  anders  als  das  oben  angeführte  er  tneint,  er  kann 
dich  betrügen,  nur  dass  die  behauptung  mit  geringerer  Sicherheit  hin- 
gestellt und  deshalb  der  conj.  (opt.)  in  potentialem  sinne  gesetzt  ist. 
Dass  sonst  der  gebrauch  des  potentialis  in  hauptsätzen  untergegangen 
ist,  hat  die  auffassung  des  Verhältnisses  als  wirklicher  grammatischer 
abhängigkeit  gefördert. 

Eine  Verbindung  nach  der  forrael  (a  4-  b)  -f  c  kann  nun  eben 
so  wie  die  einfachere  a  +  b  von  der  geltung  eines  satzes  zu  der 
eines  Satzgliedes  hera])gedrückt  werden.  Auf  diese  weise  kann  ein 
satz  zur  bestinimung  eines  nomens,  zur  apposition  werden.  Vgl.  er 
sprach  die  n-orte:  das  tue  ich  niemals\  eins  ireiss  ich:  es  geschieht 
nicht  /rieder;  folgendes  ist  mir  begegnet:  ich  traf  einen  mann;  ein  son- 
derbarer Zufall  hat  sich  gestern  zugetragen:  es  begegneten  sich  zwei 
freunde  etc.;    er   hat   die  gewohnheif :   er   erwidert   nie  einen   brief\    ich 


121 

habe  die  uherzeugnny:  du  irirsl  dich  noch  bekc/iroi.  Hesouilers  liäiilig 
ist  so  ein  piou.,  dem  der  satz  als  appositioii  dient,  vgl.  das  isf  sicher, 
er  wird  es  nicht  wagen;  es  ist  besser,  du  gehst;  lat.  hoc  rel icuomst :  si 
in/itias  ibit,  testis  mecum  est  anulus  (Ter.);  hoc  cajiio  commodi:  ncque 
(igri,  neque  urbis  odium  tue  unquam  percipit  (Ter.).  Ebenso  stehen  Sätze 
appositionell  zu  einem  demonstrativen  adverbium:  er  ist  so  lieb,  man 
kann  ihm  nicht  böse  sein. 

Ist  es  nur  ein  pron.,  was  durch  den  satz  bestimmt  wird,  so  kann 
man  sieh  dasselbe  auch  ohne  wesentliche  Veränderungen  des  sinnes 
wegdenken.  Dann  hat  man  wider  die  oben  besprochene  form,  in  der 
der  satz  direct  zum  subj.  oder  obj.  gemacht  wird.  Vgl.  es  ist  (jcrriss, 
du  Ideibst  mit  ge/riss  ist,  du  bleibst.  Beide  ausdrucksformen  berühren 
sich  also  sehr  nahe  mit  einander. 

Umgekehrt  kann  ein  uomen  apposition  zu  einem  satze  werden; 
vgl.  du  verdrehst  immer  die  äugen,  eine  schlechte  ge/rohnheit.  Besonders 
üblich  ist  diese  construetion,  wenn  an  das  nomeu  noch  ein  relativsatz 
angeknüpft  wird:  er  /rill  aufbrechen,  ein  entschlms,  der  ihm  sehr  schwer 
geworden  ist.  Hier  erkennt  man  wider  deutlich  die  apposition  als  eine 
degradierung  des  prädicates.  Eben  durch  diese  degradierung  ist  der 
vorausstehende  satz  vor  der  degradierung  zu  einem  blossen  subjecte 
bewahrt  worden. 

Wir  haben  so  die  entwickelung  des  satzes  von  seiner  einfachsten 
form  zu  compliciertester  gestaltuug  verfolgt.  Wir  wenden  uns  jetzt  zu 
der  parataktischen  aneinanderfügung  mehrerer  sätze.  Dieselbe 
steht  in  parallelismus  zu  der  copulativen  aneinanderreihung  coordi- 
nierter  Satzglieder,  weshalb  sich  auch  die  ausgebildeten  sprachen  der 
gleichen  hülfsmittel  zur  bezeichnuug  beider  arten  von  Verknüpfung  be- 
dienen. Im  anfang  musste  auch  hier  die  blosse  nebeneinanderstelluug 
genügen.  Wenn  wir  nun  gesehen  haben,  dass  bei  der  hypotaxe  eine 
gewisse  Selbständigkeit  des  einen  gliedes  bestehen  kann,  so  zeigt  sich 
auf  der  anderen  seite,  dass  eine  parataxe  mit  voller  Selbständigkeit 
der  unter  einander  verbundenen  sätze  gar  nicht  vorkommt,  dass  es 
gar  nicht  möglich  ist  sätze  unter  einander  zu  verknüpfen  ohne  eine 
gewisse  art  von  hypotaxe.  Als  selbständig,  als  einen  hauptsatz  im 
strengsten  sinne  können  wir  einen  satz  nur  dann  bezeichnen,  wenn  er 
nur  seiner  selbst  willen  ausgesprochen  wird,  nicht  um  einem  andern 
satze  eine  bestimmung  zu  geben.  Demgegenüber  müssteu  wir  den 
nebensatz  definieren  als  einen  satz,  der  nur  ausgesprochen  wird  um 
einen  andern  zu  bestimmen.  Es  liegt  nun  auf  der  band,  dass  ein  satz 
zu  gleicher  zeit  seiner  selbst  willen  ausgesprochen  werden  und  doch 
auch   einem   andern   als   bestimmung   dienen   kann,   dass  es  demnach 


122 

zwischen  den  beiden  extremen  eine  reilie  von  Zwischenstufen  geben 
muss.  Es  liegt  ferner  auf  der  hand,  dass  gar  kein  vernünftiger  grund 
vorhanden  sein  könnte  sätze  parataktisch  an  einander  zu  reihen,  wenn 
nicht  zwischen  ihnen  ein  innerer  Zusammenhang  bestünde,  d.  h,  wenn 
nicht  einer  den  andern  irgendwie  bestimmte.  Ein  rein  parataktisches 
verhältniss  zwischen  zwei  Sätzen  in  dem  sinne,  dass  keiner  den  andern 
bcstinmit,  gibt  es  also  nicht;  es  ist  kein  anderer  begriff  von  parataxe 
möglich  als  der,  dass  nicht  einseitig  ein  satz  den  andern,  sondern 
beide  sich  gegenseitig  bestimmen. 

Reine  parataxe  in  diesem  sinne  besteht  zwischen  parallelsätzen, 
sei  es,  dass  analoges  oder  dass  eutgegengesetzes  verknüpft  wird:  er 
ist  krumm,  sie  ist  schief;  er  lacht,  sie  weint.  Anders  aber  steht  es 
schon  mit  der  erzählung.  Wenn  jemand  berichtet  wn  zwölf  uhr  kam 
ich  in  N.  an;  ich  ging  in  das  yiächste  hbtel;  man  sagte  mir,  es  sei  alles 
besetzt;  ich  ging  n- eiler,  so  gibt  immer  der  vorhergehende  satz  dem 
folgenden  eine  zeitliche  und  auch  causale  bestimmung.  Dies  ist  aber 
eine  function,  an  welche  in  dem  augenblicke,  wo  er  ausgesprochen 
wird,  noch  nicht  gedacht  wird.  Wir  haben  demnach  wider  eine  Ver- 
einigung von  Selbständigkeit  und  abhängigkeit.  Wir  könnten  uns  eine 
umständlichere  ausdrucksweise  denken,  in  welcher  der  satz  immer  zwei- 
mal, einmal  als  selbständig,  einmal  als  abhängig  gesetzt  würde.  Statt 
einer  solchen  widerholung,  die  wenigstens  nur  ausnahmsweise  wirklich 
vorkommt,  bedient  sich  die  spräche  der  Substitution  durch  ein 
pron.  oder  adv.  demonstrativ  um.  Es  war  für  die  ent  Wickelung 
der  Syntax  ein  höchst  bedeutsamer  schritt,  dass  dem  demonstrativum, 
dem  ursprünglich  nur  die  beziehung  auf  etwas  in  der  anschauung  vor- 
liegendes zukam,  die  beziehung  auf  etwas  eben  ausgesprochenes  ge- 
geben wurde.  Dadurch  wurde  es  auch  möglich  dem  psychologischen 
verhältniss,  dass  ein  satz  selbständig  hingestellt  wird  und  zugleich  als 
bestimmung  für  einen  folgenden  dient,  einen  grammatischen  ausdruck 
zu  geben.  Das  demonstrativum  kann  sich  auf  einen  ganzen  satz  oder 
auf  ein  Satzglied  ))eziehen.  Auch  in  dem  letzteren  falle  ist  vielfach 
der  ganze  satz,  welcher  dieses  glied  enthält,  bestimmend  für  den 
folgenden.  Sage  ich  z.  b.  ich  begegnete  einem  knahen;  der  fragte  mich, 
so  bezieht  sich  der  auf  einem  knaben;  der  bedeutungsinhalt  von  der 
ist  aber  durch  den  allgemeinen  begriff  knabe  nicht  erschöpft,  sondern 
erst  unter  hinzuziehung  der  übrigen  teile  des  satzes ;  es  ist  der  knabe, 
welchem  ich  begegnete.  So  wird  also  gewissermassen  durch  das 
demonstrativum  der  vorangehende  selbständige  satz  in  ein  zusammen- 
gesetztes Satzglied  verwandelt,  indem  sich  die  übrigen  teile  des  satzes 
dem  Worte,  auf  welches  das  demonstrativum  hinweist,  als  attributive 
bestimmung  unterordnen. 


123 

Gehört  es  nun  zum  wesen  aller  satzvcrknüpt'uny,  dans  aueli  die 
selbständig  hinj;estellten  sätze  eine  beiniiseliung  von  Unterordnung-  er- 
halten, so  ist  es  ganz  natürlich,  dass  von  hier  aus  eine  stufenweise 
annäherung  an  gänzliehe  Unterordnung  möglich  ist,  indem  der 
selbständige  wert  eines  satzes  mehr  und  mehr  gegen  die  functiou 
einem  andern  als  bestimmung  zu  dienen  zurücktritt.  Bei  der  erzählung 
dücumentiert  sich  die  logische  Unterordnung  in  den  indogermanischen 
sprachen  durch  Verwendung  der  relativen  tempora  (imperf.  und  plusqu.). 
Vgl.  Cincta  premebanlur  trucihus  CapitoUa  Gallis ;  Fecerat  obsidio  jam 
diuturna  famem:  Juppiter  ad  sollum  superis  r egale  vocatis  'Jncipe!'  ait 
Marti  Ov.  Fast.  VI,  351.  Aehnlich  sehr  häufig  bei  Ovid  zur  einführuug 
in  die  Situation,  von  der  die  erzählung  ausgeht.  Besonders  häufig  in 
den  verschiedensten  sprachen  ist  die  form  des  hauptsatzes  mit  ent- 
schiedener logischer  Unterordnung,  wenn  ein  eben^  gerade,  kaum,  schon, 
noch  u.  dergl.  beigefügt  ist  oder  bei  Wendungen  wie  es  dauerte  nicht 
lange  u.  dgl.;  vgl.  kaum  seh'  ich  mich  auf  ebnem  plan,  /Jugs  schlagen 
meine  doggcn  an  (Schiller);  lat.  vix  bene  desierat,  currus  rogat  ille 
palernos  (Ov.);  im  lat.  auch  mit  Verbindung  durch  eine  eopulative  Par- 
tikel: vi^v  ea  fatus  erat  senior,  subiloque  fragore  Intonuit  laeoum  (Virg.); 
nee  longum  tempus  et  ingens  exiit  ad  caelum  (ib.);  am  häufigsten  und 
auch  in  unserer  jetzigen  spräche  allgemein  üblich,  erscheint  diese  con- 
struction  mit  einem  demonstrativum  im  nachsatz:  ich  war  noch  nicht 
eingeschlafen,  da  hörte  ich  einen  lärm;  es  dauerte  nicht  lange,  so  kam 
er  wider  etc. 

Im  mhd.  ist  es  nicht  selten,  dass  von  zwei  asyndetisch  neben 
einander  gestellten  Sätzen,  der  erste  nur  zur  bestimmung  eines  Satz- 
gliedes im  zweiten  dient'),  vgl.  ein  marcgräve  der  heiz  Herman:  mit 
deme  er  iz  reden  began  (Rother);  Josephus  hiez  ein  wiser  man:  alse 
schiere  er  den  rät  vermam,  mit  michelen  listen  muose  er  sich  vristen 
(Kaiserchronik);  ein  tvazzer  heizet  In:  da  vähten  die  ßeiere  mit  in  (ib.). 

Bei  Sätzen,  die  durch  ein  entweder  —  oder  eingeleitet  sind,  kann 
der  erstere  derartig  logisch  untergeordnet  sein,  dass  er  einem  satze 
gleich  kommt,  der  durch  ein  wofern  nicht  eingeleitet  ist,  vgl.  mhd.  die 
ir  Christ enliche^i  anthäiz  mit  andern  gehäizzen  habent  gemeret,  .  .  .  6'/«/- 
weder  diu  schrift  ist  gelogen  oder  si  chomenl  in  ein  vil  michel  not  (Hein- 
rich V.  Melk);  franz.  ou  mon  amour  me  Irompe,  ou  Zaire  aujourd'hui 
pour  l'elever  ä  soi  descendrait  Jusqu'  a  lui  (Voltaire). 

Bei  umgekehrter  satzfolge  lässt  sich  logische  Selbständigkeit  und 
abhängigkeit  nicht  in  der  gleichen  weise  vereinigen.  Dient  ein  satz 
einem  vorhergehenden  als  bestimmung,   so  ist  es  von  vornherein  klar, 


')  Vgl.  Behaghel  in  der  eiuleitung  zu  Veklekes  Eneide  s;  XXVIII. 


124 

dass  er  nur  iiiu  dessentwillen  ausgesprüchen  wird,  vgl.  ich  kam  mich 
hause,  es  schhoj  ycrade  12  nhr.  Ich  mussle  ihm  alles  sat/en;  er  n-ar  so 
neugierig.  Am  deutlichsten  tritt  die  al)hängigkeit  hervor,  wenn  der 
bcstinimeude  satz  in  den  bestimmten  eingeschoben  wird.  Solehe  ein- 
geschobenen Sätze  (parenthesen)  sind  ja  in  allen,  auch  noch  so  ent- 
wickelten sprachen  reichlich  in  gebrauch,  und  zwar  unterschiedslos 
bei  den  verschiedensten  logischen  beziehungen  zum  regierenden  satze. 
Indem  auch  sätze,  die  eine  aufforde rung  oder  frage  aus- 
drücken, in  logische  abhängigkeit  treten,  werden  sie  zu  bezeichnungen 
der  bedingung  oder  des  Zugeständnisses.  Vgl.  geh  hin:  du  wirst  sehen 
oder  so  {dann)  wirst  du  sehen;  lat.  cras  petito:  dabitur  (Plaut);  sinl 
Maecenates,  non  deerunt^  Flacce,  Marones  (Mart.);  auch  bei  Verbindung 
durch  copulativpartikel:  sage  mir,  mit  wem  du  umgehst,  und  ich  will  dir 
sagen,  wer  du  bist;  lat.  divide  et  impera;  impinge  lapidem  et  digniim 
accipies  praemium  (Phaedrus).  Aus  solcher  anwenduug  der  aufforde- 
rungssätze  sind  in  verschiedenen  sprachen  satzformen  entsprungen,  die 
als  abhängig  empfunden  w^erden,  indem  das,  was  anfangs  nur  occa- 
sionell  mögliche  auffassung  war,  usuellen  wert  erhalten  hat.  Vgl. 
z.  b.  ich  bin  dir  nah,  du  seist  auch  noch  so  ferne;  oder  die  englischen 
imperative  suppose,  sag  (sag  you  can  swim,  'tis  but  a  white  Shak.),  die 
gewissermassen  zu  conjunctionen  geworden  sind.  Hierher  gehören 
auch  die  lateinischen  bedingungsätze  mit  modo  (vgl.  ego  isla  studia 
non  improbo,  moderala  modo  sint) ,  welches  nicht  als  regierende  con- 
junction  gefasst  werden  darf  und  ja  auch  noch  neben  dum  stehen  kann. 
Ebenso  ist  bekanntlich  aus  der  frage  eine  im  deutschen  und  englischen 
sehr  übliche  und  auch  den  romanischen  sprachen  nicht  fremde  form 
der  bedingungssätze  entstanden  {willst  du  es  tun,  so  beeile  dich). 


Cap.  VII. 
Bedeutungswandel  auf  syntaktischem  gebiet. 

Von  dem,  was  in  cap.  4  über  die  Wortbedeutung-  und  ihre  Wande- 
lungen gesagt  ist,  lässt  sieh  das  allgemeinste  aueh  auf  die  bedeutung 
der  syntaktischen  Verhältnisse  anwenden.  Auch  bei  diesen  muss  mau 
unterscheiden  zwischen  usueller  und  occasioneller  bedeutung;  die 
usuelle  bedeutung  kann  eine  mehrfache  sein,  ihre  Wandelungen  ent- 
springen aus  den  abweichungen  der  occasionelleu  bedeutung  und  sie 
bestehen  entweder  in  bereicherung  oder  in  Verarmung  des  Inhalts  mit 
entsprechender  Verengung  oder  ausdehnung  des  umfangs.  Eigentüm- 
liche Verhältnisse  aber  entstehen  dadurch,  dass  wir  es  hier  mit  be- 
ziehungen  mehrerer  demente  auf  einander  zu  tun  haben  (z.  b.  amo 
palreiiK  amor  paf?-is),  und  dass  diese  beziehungen  zu  engeren  und 
weiteren  gruppen  zusammentreten  (z.  b.  verbum  —  objectsaccusativ, 
substantivum  —  genitiv  eines  anderen  substantivums).  Demzufolge 
müssen  wir  ausser  dem  unterschiede  zwischen  usueller  und  occa- 
sioneller bedeutung  noch  eine  andere  gleichfalls  sehr  wichtige  Unter- 
scheidung machen,  nämlich  zwischen  der  bedeutung  einer  allgemeinen 
beziehuug  schlechthin  und  derjenigen  der  beziehung  zu  einem 
bestimmten  worte.  Von  der  allgemeinen  bedeutung  die  der  acc. 
an  sich  in  seiner  beziehung  zu  jedem  beliebigen  werte  hat,  und  auch 
von  derjenigen,  die  er  in  seiner  beziehung  zu  jedem  beliebigen  tran- 
sitiven verbum  hat,  ist  diejenige  zu  unterscheiden,  die  er  in  der  be- 
ziehung auf  ein  bestimmtes  einzelnes  verbum  hat.  Die  letztere  kann 
specieller  sein  und  der  allgemeinen  bedeutung  gegenüber  mehr  oder 
weniger  isoliert.  Man  hat  in  neuerer  zeit  vielfach  die  anschauung  der 
älteren  grammatiker  bekämpft,  dass  ein  casus  von  einem  verbum  oder 
einer  präposition,  ein  modus  von  einer  conjunction  u.  s.  f.  regiert 
werde,  und  statt  dessen  die  Setzung  des  casus  oder  des  modus  aus 
seiner  allgemeinen  bedeutung  herzuleiten  gesucht.  Es  muss  aber  doch 
in  gewissem  sinne  und  in  gewisser  begrenzuug  an  der  alten  lehre  fest- 
gehalten werden.  Diese  allgemeinen  sätze  sollen  im  folgenden  durch 
beispiele  belegt  werden. 


126 

Für  den  genitiv  lässt  sich  keine  einfache  becleutung  aufstellen, 
aus  welcher  sich  die  functiouen,  die  derselbe  bereits  im  uriudo- 
gernumischeu  hat,  von  selbst  ergäben.  Man  muss  z.  b.  den  von  verben 
und  den  von  Substantiven  abhängigen  gen.  von  anfang  an  als  ge- 
sonderte kategorieen  auseben.  Betrachten  wir  die  letztere,  so  können 
wir  wol  für  das  indogermanische  behaupteu,  dass  der  gen.,  wie  es  im 
allgemeinen  noch  im  ^Itgriechischcu  der  fall  ist,  zum  ausdruck  jeder 
beliebigen  beziehung  zwischen  zwei  Substantiven  verwendet  werden 
konnte;  wir  können  daher  für  diese  kategorie  eine  einfache  bedeutung 
von  sehr  armem  Inhalt  und  sehr  weitem  umfang  aufstellen,  die  nur 
occasionell  specialisiert  wird.  Im  uhd.  dagegen  ist  die  function  des 
gen.  neben  Substantiven  erheblich  eingeschränkt.  Manche  gebrauchs- 
weisen,  die  noch  im  mhd.  möglich  waren,  z.  b.  goldes  zein  (stab  aus 
gold),  langes  lehens  wän  (hoffnung  auf  langes  leben)  sind  jetzt  unmög- 
lich geworden.  Man  muss  jetzt  nach  specielleren  bestimmungen  sucheu, 
wenn  man  die  gebrauchs weise  des  genitivs  angeben  will,  und  dabei 
wird  mau  genötigt  mehrere  kategorieen  zu  scheiden,  mehrere  selb- 
ständige bedeutungen  neben  einander  zu  stellen.  Diese  würden  wol 
am  einfachsten  so  augegeben  werden:  gen.  possessivus  —  gen.  parti- 
tivus  —  gen.,  der  anzeigt,  dass  das  regierende  subst.  das,  was  es  ist, 
in  beziehung  auf  das  abhängige  ist  (z.  b.  der  hruder  des  mannes,  der 
gott  des  tveines,  der  dichter  des  werkes,  die  tat  des  helden);  die  letzte 
kategorie  kann  sich  neben  uomina  actiouis  in  zwei  Unterabteilungen 
scheiden,  gen.  subjectivus  und  objectivus:  die  regierung  des  fürsten  — 
des  landes.  Die  aufstellung  derartiger  kategorieen  hat  man  neuerdings 
wol  als  eine  rein  logische  souderuug  betrachtet,  die  von  der  gram- 
matik  fern  zu  halten  sei.  Das  ist  aber  doch  nicht  ganz  richtig,  voraus- 
gesetzt dass  die  aufstellung  in  der  gehörigen  weise  vorgenommen  ist. 
Die  betretfeuden  kategorieen  haben  der  ursprünglichen  allgemeinen 
bedeutung  gegenüber  Selbständigkeit  gewonnen  und  erst  dadurch  ist 
es  möglich  geworden,  dass  sie  allein  sich  erhalten  haben,  während 
die  andern  verwendungsweisen,  die  sich  gleichfall  der  ursprünglichen 
bedeutung  unterordnen  würden,  untergegangen  sind. 

Analog  dem  Verhältnisse  des  gen.  zu  dem  regierenden  substan- 
tivum  ist  das  des  accusativus  zu  dem  regierenden  verbum.  Wollen 
wir  eine  allgemeine  bedeutung  des  acc.  aufstellen,  unter  welche  sieh 
alle  einzelnen  verwendungsweisen  desselben  unterordnen  lassen,  so 
müssen  wir  sagen:  er  bezeichent  überhaupt  jede  art  von  beziehung 
eines  substantivums  zu  einem  verbum,  die  sich  ausser  der  des  subjects 
zu  seinem  prädieate  denken  lässt.  Dennoch  aber  können  wir  ihn 
nicht  in  jedem  einzelnen  falle,  in  dem  eine  solche  allgemeine  be- 
ziehung   stattfindet,    anwenden,    und   schon    in    der   indogermanischen 


I 


127 

gTuudspraehe  war  das  unstatthaft,  weuu  auch  die  Verwendung-  n(»eli 
eine  viel  freiere  und  ausgedehntere  war,  wie  sieh  z.  h.  am  griechischen 
erkennen  Uisst.  Die  angahe  einer  einzigen,  alles  umfassenden  be- 
deutung  genügt  daher  nicht;  wir  müssen  verschiedene  allmählig  selb- 
ständig gewordene  verwendungsweisen  neben  einander  stellen  Hier 
kommt  nun  aber  hinzu,  dass  auch  in  der  beziehung  auf  einzelne  verba 
ein  fester  usus  in  bezug  auf  gebrauch  oder  niehtgebrauch  des  acc. 
und  eine  speeialisierung  der  bedeutuug  eingetreten  ist.  Wir  müssen 
daher  unterscheiden  zwischen  dem  freien  acc,  der  von  der  natur 
des  verbums,  dem  er  beigegeben  wird,  una])hängig  ist,  und  dem  ge- 
bundenen, der  nur  zu  einer  beschränkten  anzahl  von  verben  und  zu 
jedem  einzelnen  in  beschränkter  bedeutuug  gesetzt  wird. 

Zu  den  von  alters  her  üblichen  freien  Verwendungen  des  accu- 
sativs  gehört  die  zur  bezeichnung  der  erstreckung  über  räum  und  zeit 
(nicht  bloss  neben  verben  gebraucht);  ferner  der  acc.  des  Inhalts  von 
Substantiven,  die  mit  dem  verbum  etymologisch  verwandt  sind  (einen 
schweren  kämpf  kämpfen);  im  lat.  der  acc.  von  städtenamen  auf  die 
frage  wohin?  Eine  erst  in  neuerer  zeit  ausgebildete  Verwendung  ist 
die  neben  sonst  intransitiven  ver])en  in  Verbindung  mit  einem  prädi- 
cativen  adjectivum,  vgl.  die  äugen  rot  weinen,  das  helt  nass  schwitzen, 
die  fasse  wund  laufen;  sich  satt  essen,  voll  saufen^  krank  arbeiten,  heiser 
schreien  etc.  Hier  hätten  wir  also  eine  bedeutungserweiterung.  Jedoch 
ist  zu  berücksichtigen,  dass  zur  entstehung  dieser  construction  noch 
besondere  factoren  mitgewirkt  haben;  einerseits  wol  das  noch  nicht 
völlig  erloschene  gefühl  für  die  ganz  allgemeine  bedeutuug  des  accu- 
sativs,  anderseits  die  analogie  von  föllen  wie  einen  tot  schiessen,  los 
kaufen,  krumm  und  lahm  schlagen.  Aehnlich  verhält  es  sieh  mit  con- 
structionen  wie  er  schwatzt  das  blaue  vom  himmel  herunter,  er  hat  sich 
in  mein  vertrauen  gestohlen,  denke  dich  in  meine  läge  hinein,  sich  ein- 
schmeicheln, sich  herausreden,  sich  durchfressen  u.  dgl. 

Eine  gewisse  mittelstellung  zwischen  dem  ganz  freien  und  dem 
gebundenen  nimmt  der  acc.  neben  eompositis  ein,  zu  denen  die  sim- 
plieia  entweder  intransitiv  sind  oder  eine  ganz  andere  art  von  acc. 
regieren ;  eine  mittelstellung  insofern,  als  doch  wenigstens  eine  grössere 
anzahl  solcher  verba  sich  zu  einer  gruppe  zusammenschliessen  und 
sich  in  der  bildung  und  transitiven  Verwendung  derselben  dem  usus 
gegenüber  eine  gewisse  freiheit  der  bewegung  geltend  macht.  Ins- 
besondere haben  die  composita  mit  be-  die  ganz  allgemeine  function 
ein  intransitives  verbum  transitiv  zu  machen  oder  ein  transitives  verbum 
zu  befähigen  eine  andere  art  von  objeet  zu  sich  zu  nehmen,  vgl.  he- 
fall e^i,  beschreiben,  bestreiten;  besetzen,  bewerfen,  bezahlen. 

Der  an   ein   bestimmtes  einzelnes  verbum  gebundene  acc.  hat  in 


128 

der  regel  uur  eiue,  durch  den  usus  begrenzte  bedeutung.  Doch  ist 
auch  melirtaltigkeit  der  bedeutung  nicht  ganz  selten,  und  diese  ist 
dann  teils  alt,  vielleicht  unmittelbar  aus  der  ursprünglichen  allgemeinen 
bedeutung  des  accusativs  abzuleiten,  teils  lässt  sich  zeigen,  dass  ur- 
sprünglich nur  eine  bedeutung  üblich  gewesen  ist,  während  die  andere 
sich  erst  ällmählig  durch  occasionelle  Überschreitung  des  usus  heraus- 
gebildet hat;  vgl.  wunden  schlagen  —  den  feind  schl.  —  das  schwer l 
schl.,  einen  mit  steinen  werfen  —  steine  auf  einen  w.,  einen  mit  dem 
messer  stechen  —  ihm  das  messer  durch  das  herz  st.,  worte  sprechen  — 
einen  menschen  sprechen;  lat.  def ender e  aliquem  ah  ardore  solis  —  ar- 
dorem  solis  ab  aliquo^  prohibere  calamitatem  a  provincia  —  provinciam 
calamitate.  Sicher  jüngere  entwickelung,  zum  teil  nur  occasionelle, 
namentlich  dichterische  freiheit  liegt  in  folgenden  constructionen  vor: 
ei7i  kind  schenken  (=  säugen),  ivasser  in  einen  eimer  füllen,  lat.  vi7ia 
cadis  onerare  (Virg.  statt  cados  vinis)^  Uberare  obsidionem  (Liv.  statt 
urbem  obsidione)^  griech.  düxQva  xtQytiv  („tränen  netzen"  statt  ,niit 
tränen  benetzen"  oder  „tränen  fliessen  lassen",  Find.),  al^a  öavsiv 
(„blut  benetzen"  statt  „mit  blut  b.",  Soph.).  Weitere  beispiele  bei 
Madvig,  Kl.  sehr.  337  ^  Weil  die  beziehung,  die  der  acc.  ausdrückt,  an 
und  für  sich  eine  mehrfache  sein  kann,  ist  auch  die  Verbindung  eines 
verbums  mit  mehreren  accusativen  etwas,  was  sich  ganz  natürlich  ergibt. 

Von  den  indogermanischen  präpositionen  würde  es  nicht  richtig 
sein,  wenn  man  sagen  wollte,  dass  sie  den  und  den  casus  regiert 
hätten.  Vielmehr  war  der  betreö'ende  casus  direct  auf  das  verbum  zu 
beziehen,  seine  allgemeine  bedeutung  wurde  noch  empfunden  und 
erhielt  durch  die  präposition  nur  eine  specialisierung,  weshalb  denn 
auch  verschiedene  casus  neben  der  selben  präposition  stehen  konnten, 
jeder  in  seiner  eigentümlichen  bedeutung.  Diesem  ursprünglichen  zu- 
stande steht  das  griechische  noch  einigermassen  nahe.  Mehr  und 
mehr  aber  hat  der  casus  seine  Selbständigkeit  gegenüber  der  prä- 
position eingebüsst,  die  Verbindung  der  präposition  mit  dem  casus  ist 
gewohnheitsmässig  geworden,  wobei  das  getühl  für  die  bedeutung  des 
letzteren  verblasst  ist.  Bei  unseren  neuhochdeutschen  präpositionen,  die 
nur  einen  casus  regieren  wie  zu,  um  oder  mehrere  ohne  Verschiedenheit 
des  Sinnes  wie  trotz  kann  von  keiner  bedeutung  des  casus  mehr  die  rede 
sein;  die  anwendung  eines  bestimmten  casus  ist  nur  noch  eine  tradi- 
tionelle gewohnheit,  der  kein  wahrer  wert  zukommt.  Zwischen  dieser 
erstarrung  und  gebundenheit  und  der  ursprünglichen  lebendigkeit  und, 
freiheit  der  casus  mitten  iune  steht  die  Verwendung  des  dat.  und  acc, 
in  verschiedenem  sinne  nach  in,  auf,  über,  unter. 

Apposition  eile  construction  tritt  vielfach  ein,  wo  bei  genauerem 
ausdruek   ein   gen.  part.  anzuwenden   wäre.     Nicht  bloss  so,   dass  die 


\ 


129 

appositiou  aus  mehreren  gliedern  besteht,  die  zusammen  dem  sub- 
stantivum,  wozu  sie  gesetzt  sind,  gleichkommen:  sie  gingen,  der  eine  hier- 
hin, der  andere  dorthin;  lat.  classes  populi  Rommii,  allenwi  naufragio,  alle- 
ram  a  Pwnis  depressam  interire  (Cie.),  capti  ab  Jugurtha  pars  in  crucem  acli 
pars  besliis  ohjecti  sunt  (Sali.).  Sondern  auch  wo  die  ganze  apposition  nur 
einen  teil  des  zugehörigen  subst.  repräsentiert.  Lat.:  Volsci  maxima 
pars  caesi  (Liv.);  cetera  ?nultifudo  decimus  quisque  ad  supplicium  lecti 
(Liv.);  nostri  ceciderunt  (res  (Caes.);  entsprechend  da,  wo  das  subj.  nur 
durch  die  persoualendung  des  verb.  ausgedrückt  ist:  plerique  meminiinus 
(die  meisten  von  uns,  Liv.);  Simoni  adesse  me  quis  nuntiat e  (einer  von 
euch,  Plaut.).  Mlid.:  si  tveinten  sumeliche  (manche  von  ihnen);  ja  sint 
in  doch  genuogen  diu  nucre  tvol  bekant  (vielen  von  euch).  Bei  stoff- 
bezeichnungen,  die  normaler  weise  durch  den  gen.  pari  ausgedrückt 
werden,  tritt  daneben  das  ungenauere  appositionelle  verhältniss  ein. 
Vgl.  lat.:  aliquid  id  genus  (statt  ejus  gener is  Cic),  coronamenta  omne 
genus  (Cato),  arma  magnus  numerus  (Liv.).  Eine  besondere  ausdehnung 
hat  diese  einfachere  constructionsweise  im  nhd.  gegenüber  dem  mhd. 
gewonnen,  vgl.  ein  stück  brot  (mhd.  stücke  brötes),  ein  pfund  mehl^  ein 
schcffel  iveizen,  ein  glas  wasser,  eine  menge  obst,  eine  art  tisch  etc.  Die 
collectiven  Stoffbezeichnungen  sind  in  diesem  falle  durchaus  indecli- 
nabel.  Wir  dürfen,  wenn  wir  das  Sprachgefühl  richtig  analysieren, 
hier  keinen  uom.  oder  acc.  mehr  anerkennen,  sondern  nur  den  stamm 
schlechthin  ohne  Casusbezeichnung.  Die  spräche  ist  zu  der  primitiven 
constructionsweise  zurückgekehrt,  wie  sie  vor  der  entstehung  der  casus 
allein  möglich  war  und  wie  sie  uns  in  den  alten  compositis  vorliegt. 

Wie  das  object  so  kann  sich  sogar  das  subject  eines  verbums 
zur  bezeichuung  einer  von  dem  bisherigen  usus  abweichenden  beziehung 
herausbilden.  Vgl.  neuhochdeutsche  Wendungen  wie  die  bank  sitzt  voller 
menschen,  ihm  hängt  der  himmel  voller  geigen,  der  eimer  läuft  voll  wasser 
—  läuft  leer\  viel  freier  ist  die  anwendung  solcher  Verbindungen  mit 
vol  im  mhd ,  z.  b.  daz  hüs  saz  edeler  vromven  vol,  ouch  gienc  der  walt 
wildes  vol,  daz  gevilde  n-as  vollez  pavelüne  geslagen  (vgl.  Haupt  zum 
Erec  2038),  noch  bei  Hans  Sachs  den  (wald)  sach  er  springen  vol  der 
wilden  tiere,  all  specereg  voll  würme  loffen\  ebenso  im  dänischen.  Vgl. 
ferner  der  narren  herz  ist  wie  ein  topf,  der  da  rinnt  (Lu.,  auch  jetzt 
noch  wird  rinnen,  laufen  so  gebraucht);  dass  unsere  äugen  mit  tränen 
rinnen,  und  unsere  augenlieder  mit  wasser  fliessen  (Lu.);  das  gefäss  fliesst 
über;  it.  le  vie  correvano  sangue  (Malespini);  span.  corrieron  sangue  los 
rios  (Calderon,  vgl.  Diez  HI,  114);  lat.  culter  sanguine  tnanaf,  ?)iembra 
sudore  /luunt ;  engl,  the  hall  thick  swarming  now  with  cojupiclated  monsters 
(Milton):  nhd.  der  wald  erklingt  von  gesang;  das  fenster  schliesst  schlecht, 
ebenso   franz.  la  fenetre  ne  clöt  pas  bien.     Neben  einander  stehen  die 

Paul,  Principien.    11.  Auflage.  9 


180 

hlume  riecht  —  ich  rieche  die  blume,  der  wein  schmeckt  —  ich  schmecke 
den  nein ;  eutspreeheud  inhd.  stinken,  lat.  sapere,  frauz.  sentir.  Damit 
auf  eine  liiiie  zu  stellen  ist  wol  auch  sehen  =  aussehen.  Stellt  mau 
sieb  auf  deu  Standpunkt,  dass  das  verliältniss  zwischen  subjeet  und 
prädicat  ein  für  alle  mal  fixiert  sein  soll,  so  kommt  mau  dazu  für  die 
augeführten  fälle  eine  doppelte  bedeutung  des  verbums  anzusetzen. 

Die  entsprechende  Überschreitung  des  usus  findet  bei  der  zu- 
sammeufügung  eines  substantivums  mit  einem  adjectivischen  prädicate 
statt  lind  in  noch  ausgedehnterem  masse  bei  attributiver  Verbindung. 
Während  das  adjectivum  eigentlich  nur  für  eine  dem  zugehörigen  sub- 
stautivum  inhärierende  eigenschaft  gebraucht  werden  sollte,  finden  wir 
es  auch  angewendet,  wo  nur  eine  indirecte  beziehung  stattfindet.  Vgl. 
auf  schuldigen  wegen  (Schi.)  =  wegen,  auf  denen  man  schuldig  wird, 
einige  gelassene  augenhlicke  (Goe.)  =  augenblicke,  in  denen  man  ge- 
lassen ist;  der  ho Ifnungsv ollen  gäbe  (Goe.);  hei  ihrem  unbekannten  besuche 
(Le.)  ==  wobei  sie  unbekannt  bleibt;  des  trones,  U7igetviss,  ob  ihn  mehr 
vorsieht  schützt,  als  liebe  stützt  (Le.)  =  bei  dem  es  ungewiss  ist.  Viele 
solche  freiheiten  sind  ganz  usuell  geworden.  Wir  sagen  allgemein  ein 
trauriges  oder  fröhliches  ereigniss,  eine  freudige  Überraschung,  lustige 
oder  vergnügte  stunden,  eine  gelehrte  abhandlung,  in  trunkenem  zustande 
törichter  weise  u.  dergl.,  er  macht  einen  kränklichen  eindruck,  eine  karge, 
gäbe.  Sicher  geht  einerseits  auf  eine  person,  die  nicht  nötig  hat,  be- 
sorgt zu  sein,  anderseits  auf  eine  sache  oder  person,  um  die  mau  nicht 
nötig  hat  besorgt  zu  sein;  ekel  einerseits  auf  eine  person,  die  leicht 
ekel  empfindet,  anderseits  auf  einen  gegenständ,  vor  dem  man  sich 
ekelt.  Werden  solche  freieren  Verknüpfungen  nach  analogie  des  nor- 
malen Verhältnisses  zwischen  subst.  und  congruierendem  adj.  aufgefasst, 
so   gelang-t   mau  dazu   einen  wandel  der  Wortbedeutung  zu  statuieren. 

Besonders  häufig  gestattet  man  sich  solche  freiheit  bei  participien. 
Vgl.  einer  reuenden  träne  (Le.),  lächelnde  antwort  (Goe.),  in  der  schau- 
dernden stille  der  nacht  (Le.),  zum  schaudernden  concert  (Schi.),  der 
könig  betrachtet  ihn  mit  nachdenkender  stille  (ib.),  in  seiner  windenden 
todesnot  (Goe.),  nach  dem  kostenden  preise  (Nicolai).  Weitere  beispiele 
bei  Audr.  Sprachg.  s.  82  ff.  Allgemein  üblich  sind  sitzende,  liegende 
Stellung,  fallende  sucht,  schwindelnde  höhe,  im  wachenden  träume  u.  a., 
jetzt  verpönt  bei  nachtschlafender  zeit.  Sehr  gewöhnlich  sind  im  engl. 
Verbindungen  wie  dying  day  Sterbetag,  parting  glass  scheidetrunk,  writ- 
ing  materiaJs,  dining  room,  sleeping  apartment,  falling  sickness;  vgl.  auch 
frauz.  Ihe  dansant,  cafe  chantant.  Tacitus  gebraucht  haec  plebi  volentia 
fuere  statt  volenti  u,  a.  dergl.  (Draeg.  §  193,  3).  Beispiele  für  das  part. 
perf.  sind  ein  längst  entwöhnter  schauer  (Goe.),  in  diesen  letzten  zer- 
streuten  tagen  (ib.),   der   beschuldigten   heuchelung  (Schi.)  =   deren  ich 


131 

beschuldigt   werde;    eng'l.  the  rarish'd  hours  (Paniell)  =   die   stimden 
voller  entzücken.    Allgemein  üblich  ein  eÄngehUdeter  mensch,  ein  hedienler. 

Auf  gleiche  liuie  zu  stellen  ist  wol  die  freie  aukuüpfung  eines 
prädieativen  attributes,  die  zwar  als  nachlässigkeit  verpönt  ist,  aber 
doch  ziemlich  häutig-  vorkommt,  in  fällen  wie  seltene  taten  werden  d^irch 
Jahrhunderte  nachahmend  zum  gesetze  yeheiligt  (Goe.);  lustig  davonfah- 
rend 7vurden  die  eindrücke  des  abends  noch  einmal  ausgetauscht  (Riehl); 
znrUchjekehrt  rvurde  des  ermordeten  kleidung  imtersucht  (Brachvogel). 
Weitere  beispiele,  meist  aus  zeituugen  bei  Andr.  Sprachg.  113.  Hier 
fühlt  man  sieh  veranlasst  zu  dem  prädieativen  attribut  ein  subj.  zu 
ergänzen;  aber  ebenso  könnte  man  das  oben  angeführte  beis])iel  mit 
nachdenkender  stille  ergänzen  zu  'mit  stille,  während  welcher  er  nach- 
denkt', ohne  dass  doch  in  dem  ausdruek  etwas  davon  liegt. 

Bei  participialconstructioneu  ist  nur  das  zeitliche  verhältniss 
ausgedrückt,  in  dem  der  zustand  oder  das  geschehen,  welches  durch 
das  part.  bezeichnet  ist,  zu  dem  verb.  fin.  steht.  Es  können  aber  dabei 
noch  mannigfache  beziehungeu  bestehen,  so  dass  man  bei  aufliisung 
der  paiücipialconstruction  durch  einen  ganzen  satz,  bald  diese,  bald 
jene  conjunction  anwenden  muss.  Man  kann  aber  darum  doch  nicht 
sagen,  dass  die  partieipialconstruction  an  sich  verschiedene  bedeutungeu 
haben  könne,  bald  die  Ursache,  bald  die  bedingung,  bald  einen  gegen- 
satz  etc.  bezeichne.  Diese  Verhältnisse  bleiben  immer  nur  occasionell 
und  aceidentiell.  Anders  dagegen  verhält  es  sich  mit  nebensätzen, 
die  durch  eine  temporale  conjunction  eingeleitet  sind.  Hier  kann 
das  accidentielle  verhältniss  zum  regierenden  satze  sieh  an  die  con- 
junction anheften  und  zu  einem  bestandteile  von  deren  usueller  be- 
deutung  werden.  So  muss  z.  b.  die  Verwendung  von  unserem  während 
zur  bezeichnung  eines  gegensatzes  als  eine  besondere  usuelle  function 
neben  der  grundbedeutung  anerkannt  werden.  Es  ergibt  sich  das  ab- 
gesehen von  unserem  Sprachgefühl  daraus,  dass  diese  function  auch 
statt  hat,  wo  gar  keine  gleichzeitigkeit  des  geschehens  zwischen  ab- 
hängigem und  regierendem  satze  besteht,  vgl.  z.  b.  du  belügst  inich, 
während  ich  dir  immer  die  n-ahrheit  gesagt  habe.  Ebenso  müssen  wir 
dem  mittelhochdeutschen  sit  neben  seiner  temporalen  bedeutung  die 
unseres  jetzigen  eausalen  da  als  etwas  selbständiges  zuerkennen;  denn 
es  kann  im  Widerspruch  mit  der  grundbedeutung  bei  gleichzeitigkeit 
zwischen  abhängigem  und  regierendem  satze  gebraucht  werden,  vgl. 
Sit  ich  äne  einen  vrumen  man  min  laut  niht  hevriden  kan,  so  gewinne  ich 
gerne  einen.  Die  entwickelung  kann  dann  noch  weiter  gehen,  indem 
die  ursprüngliche  temporale  bedeutung  ganz  verloren  geht  wie  bei  nhd. 
weil.  Auf  ganz  entsprechende  weise  gehen  präpositionen  von  loealer 
oder  temporaler  bedeutung  zu  causaler  über. 

9* 


Cap.  VIII. 

Contaiuination. 

Unter  coutaminatiou  verstehe  ich  eleu  Vorgang,  dass  zwei 
synonyme  ausdrucksforraen  sich  gleichzeitig  ins  bewusstsein 
drängen,  so  dass  keine  von  beiden  rein  zur  geltung  kommt,  sondern 
eine  neue  form  entsteht,  in  der  sieh  demente  der  einen  mit  elementen 
der  andern  mischen.  Auch  dieser  Vorgang  ist  natürlich  zunächst  indi- 
viduell und  momentan.  Aber  durch  widerholuug  und  durch  das  zu- 
sammeutreifen  verschiedener  Individuen  kann  auch  hier  wie  auf  allen 
Übrigen  gebieten  das  individuelle  allmählig  usuell  werden. 

Die  contamination  zeigt  sich  teils  in  der  lautgestaltung  ein- 
zelner Wörter,  teils  in  der  syntaktischen  Verknüpfung. 

Ziemlich  selten  ist  wol  mischung  aus  zwei  etymologisch  nicht 
zusammenhängenden  Wörtern.  Auf  ein  charakteristisches  beispiel 
hat  Schuchardt  hingewiesen.  Im  ämilischeu  dialect  gibt  es  ein  wort 
cminzipia  anfangen,  contamination  aus  den  Wörtern  cominciare  und  p7in- 
cipiare  der  italienischen  Schriftsprache.  Erleichtert  ist  die  mischung 
bei  formen,  die  sich  gegenseitig  zu  einem  paradigma  ergänzen.  Aelteres 
7vis  (sei)  aus  ahd.  ivesan  wird  im  mhd.  allmählig  durch  bis  verdrängt 
unter  einfluss  von  bist.  Ahd.  bim  (bin)  ist  wahrscheinlich  eine  conta- 
mination aus  im  (got.)  und  Hium  (ags.  beöm)\  desgleichen  nach  umge- 
kehrter richtuug  ags.  eom. 

Häufiger  mischen  sich  Wörter,  die  der  gleichen  etymologischen 
gruppe  angehören,  Yg\.  ge/rohnt  aus  dem  adj.  mhd.  gervon  (noch  in 
(/e/rohnheit,  gewöhnlich)  und  dem  part.  mhd.  getvent  von  tvenen  (ge- 
wöhnen); doppelt  aus  dem  adj.  doppel  (=  franz.  double)  und  dem  noch 
im  vorigen  Jahrhundert  ganz  üblichen  part.  gedoppelt  \  zu  guter  letzt  aus 
zu  guter  letz  (mhd.  letze  abschied)  und  zu  letzt. 

Nicht  bloss  zwei  einzelne  formen  contaminieren  sich  unter  ein- 
ander, sondern  auch  eine  form  mit  einer  ganzen  formalen  gruppe. 
Auf  diese  weise  entsteht  namentlich  ein  ziemlich  häufig  vorkommender 
Pleonasmus    der   bildungselemente,    indem   eine  in   ungewöhnlicher 


I 


133 

weise  gebildete  form  uoeli  durch  das  suflix  der  uornialcu  bilduugs- 
weise  bereicliert  wird.  Hierher ')  gehören  fornicii  wie  uhd.  ihrer,  ihnen, 
derer,  denen]  ahd.  inan  (aus  in  unter  eiufluss  von  hlintan  etc.);  nhd. 
Fritzens,  Mariens  aus  älterem  Fritzen,  Marien,  an  die  noch  die  ver- 
breitetste  genitiveudung  getreten  ist.  Ferner  lat.  jactitare,  cantitare, 
vcntitare  statt  jactare  etc.  unter  einfluss  von  volitare  etc.;  spanische 
adjeetiva  wie  celcstial,  divinal,  liumanal  (vgl.  Michaelis  s.  38).  Beson- 
ders gewöhnlich  ist  eine  häufung  der  suffixe  des  comparativs  und 
Superlativs,  vgl.  nhd.  öftrer  (häufig  bei  Le.);  letzteste  (Ctoc.);  ahd.  mcrlro 
gegen  got.  maiza;  got.  aftuinists,  auhumists,  frumists  neben  aftuma,  au- 
huma,  fruma,  dazu  hindumists,  spcdumists]  ^iiMhii.  pliiriores ,  minimissi- 
mus,  pessimissimus,  exfremissimus,  postremissimus;  griech.  aQStoreQog,  yjt- 
QiioTtQoc,  jiQcöxiöTog  u.  a.  Ebcuso  zu  erklären  ist  das  doppelte  präfix 
in  gegessen  =  mhd.  gezzen. 

Eine  sehr  bedeutende  rolle  spielt  die  contamination  auf  syn- 
taktischem gebiete.  Ich  führe  zunächst  einige  beispiele  von  bloss 
momentanen  anomalien  auf,  die  auf  den  usus  keinen  einfluss  haben. 
Lessing:  um  deines  lehens  wegen\  mischung  aus  um  .  .  willen  und  wegen] 
entsprechend  in  der  Kölnischen  zeitung  um  .  .  halber  (nach  Andr. 
Sprachg.  194).  Goethe:  freitags  als  dem  ruhigsten  tage,  als  ob  am  frei- 
tage  gesagt  wäre.  Lessing:  ich  habe  nur  leugnen  wollen,  dass  ihr  als- 
dann der  name  maierei  weniger  zukomme]  mischung  ans  leugnen  .  . 
dass  .  .  zukomme  und  behaupten  .  .  dass  .  .  weniger  zukomme.  Hans 
Sachs:  Ein  Jedes  thut,  als  es  dann  wolt  als  jhm  von  jhem  geschehen 
soll]  dabei  mischen  sich  die  beiden  gedanken  „wde  es  wollte  dass  ihm 
von  jenem  geschehen  sollte"  und  „wie  ihm  geschehen  sollte".  Hart- 
mann von  Aue:  er  bereite  sich  dar  zuo  als  er  ze  velde  wolde  komen 
(aus  dar  zuo  daz  er  ze  velde  kceme  und  als  er  ze  velde  rvolde  komen). 
H).:  des  weinens  (et  in  michel  not  aus  daz  weitien  (et  in  und  des  rveinens 
was  in.  Goethe:  Im  betragen  unterschied  sich  auch  hier  der  gesandte 
von  Plotho  wider  vor  allen  andern]  mischung  mit  „zeichnete  sieh  aus 
vor"  oder  dergl.  Goe.:  die  Schicksale  meiner  Wanderschaft  werden  dich 
mehr  davon  überzeugen,  als  die  wärmsten  versicherunge?i  kaum  tun  können] 
hier  deutet  das  kaum  eigentlich  auf  eine  ganz  andere  ausdrucksweise. 

Wir  wenden  uns  zu  solchen  fällen,  in  denen  die  contamination 
usuell  geworden  ist  oder  wenigstens  als  eine  häufig  vorkommende 
licenz  auftritt. 

Sehr  gew^öhnlich  ist  die  consti'uction  das  gehört  mein  (vgl.  DWb 
4a,  2508)  aus  gehört  mir  und  ist  mein.  Im  engl,  sagt  man  allgemein 
/  am  friends   with   1dm   aus  1  am  friend  with  him   und  we  are  friends] 


1)  Vgl.  Brugman,  Morph.  Unt.  III,  ÜT  ff.,  Ziemer,  Streifz.  146. 


134 

eutspreeheud  iu  der  düniseheu  Volkssprache  hun  er  (jode  lennei^  med 
hem  (er  ist  gute  freunde  mit  ihr).  Gleichfalls  der  dänischen  Volks- 
sprache angehörig'  ist  die  Wendung  jeg  ff)lges  med  ham  (ich  folge  mit 
ihm)  aus  jeg  ffilger  med  ham  und  ve  folges  ad  (vy^ir  folgen  uns,  d.  h. 
gehen  zusammen).')  Im  griech.  kommt  vor  o  rjfiiövg  zov  xQovov,  rrjv 
jTXtiOTijv  T7]c  oTQariäg  aus  o  rjf/icvg  iqovoc.  und  to  TJfuav  rov  XQOvov  etc.; 
entsprechend  im  span.  muchas  de  virgines  statt  muchas  virgines  oder 
mucho  de  virgines,  a  pocos  de  dias,  una  poca  de  miel,  tantas  de  yerhas, 
la  mas  de  la  genle  (bei  Cervantes);  it.  in  poca  d'ora,  la  piii  della  gentc 
(Boccaccio);  ähnliche  mischungen  auch  im  portug.,  prov.  und  afranz. 
(vgl.  Diez  III,  152).  Aehulich  ist  eine  contaminatiou  bei  dem  latei- 
nischen gerundium:  poenarum  solvendi  tempus  (Lucrez)  aus  poenarum 
solvendaruin  und  poenas  solvendi,  exemplorum  eligendi  potestas  (Cic), 
vgl.  Draeg.  597da.  Cicero  sagt  eorum  partim  in  pompa,  partim  in  acie 
illustres  esse  voluerunt  (vgl.  Draeg.  100),  v^obei  sich  eorum  pars  und  ii 
partem  mischen ;  der  entsprechende  Vorgang  ist  im  älteren  nhd.  gewöhn- 
lich, vgl.  theils  leute  nemien  ihn  zum  spott  den  Unverstand  (Cronegk). 

Nicht  selten  ist  bei  rückbeziehung  die  ungenauigkeit,  dass  sich 
statt  des  wirklich  gesetzten  Wortes  die  Vorstellung  eines  etymologisch 
verwandten  unterschiebt,  dessen  sich  der  redende  gleichfalls  hätte  be- 
dienen können.  So  schiebt  sich  z.  b.  die  Vorstellung  der  einwohner 
an  die  stelle  der  stadt  oder  des  landes,  vgl.  griech.  OtfiiaroxXijg  (ptvyti 
fcc  KtQxvQü)',  oh'  avTcöp  tvsQysrrjq  (Thuc);  lat.  Domitius  navibus  Mas- 
siliam  pervenit  alque  ab  iis  recepius  urbi  praeficitur  (Caes.);  Sutrium, 
socios  populi  Romanl  (Liv.) ;  nhd.  so  waren  wir  denn  an  der  grenze  von 
Frankreich  alles  französischen  wesens  auf  einmal  bar  und  ledig.  Ihre 
lebensweise  fanden  wir  zu  bestimmt  und  zu  vornehm,  ihre  dichtung  kalt 
etc.  (Goe.).  Andere  beispiele  sind:  innere  stärke  kann  man  der  Bod- 
merischcn  und  lireilingerischen  kritik  nicht  absprechen^  und  man  muss 
den  ersten  als  einen  patriarchen  ansehn  (Herder);  het  ich  ?nich  nicht 
jung  thun  verweiben,  die  er  mir  Jetzt  dreij  jar  anhcwjen  thet  {die  be- 
zogen auf  ein  zu  entnehmendes  weib,  H.  Sachs)"^);  mhd.  in  dem  palas, 
der  wol  gekerzet  was,  die  (welche  kerzen)  harte  liehte  brunnen  (Wolfram); 
enlwdpent  wart  der  tote  man  und  an  den  lebenden  gelegt  (als  subject 
zu  ergänzen  diu  wäpeii,  ib.);  lat.  scrvili  tumultu,  quos  (als  ob  servorum 
da  stünde,  Caes.).  Am  häufigsten  ist  der  fall,  dass  das  relativum  auf 
ein  possessivpron.  bezogen  wird,  als  wenn  das  personalprou.  da  stünde, 
vgl.  lat.  laudare  fortunas  meas ,  qui  gnaluiii  habcrem  lali  ingenio  prae- 
ditum  (Terenz);  griech.  riiq  t/iijg  tjteiöodov,  ov  (nqx  öxvüre  (Soph.); 
mhd.  allgemein. 

')  Vgl.  Madvig,  Kl.  sehr.  193«. 

'^)  Weitere  beispiele  bei  Andr.  Spr.  202  if. 


I 


135 

Aus  der  vernienguug  coraparativisclier  imd  superlativiaolier  aiis- 
driiekswcise  entstehen  im  Uit.  Verbindungen  wie  hi  ceterorwn  liriltan- 
iiontm  fiKjacissuni  (Tue.);  oinnhun  ante  sc  gniito7-u7n  diUgentissimus  (Pli- 
nius),  vgl.  Ziem.  Comp,  55  ff.  Umgekehrt  kommt  auch  der  superl.  naci»  der 
weise  des  comparativs  construiert  vor,  vgl.  oinni  vero  verissimum  cer- 
loque  cert'tssimum  (Arnol)ius).  Damit  vgl.  mau  anord.  h(cstr  borlnn 
Iwerjun  jofrl  (Gripisspä  „der  höchste"  statt  „höher  als  jeglicher  fUrst". 

Im  lat.  steht  öfters  neben  dem  imp.  ein  jam  diidum,  z.  b.  jam  dudum 
aumite  poenas,  eine  mischuug  der  gedanken  „nehmt  doch"  und  „ihr 
hättet  schon  längst  nehmen  sollen". 

Nicht  selten  ist  im  mhd.  nach  rvizzen  die  verl)indung  eines  frage- 
wortes  mit  dem  inf.,  z.  b.  do  enwesie  er  wie  gebär en\  man  erwartet  ein 
verb.  finitum,  und  die  construction  lässt  sieh  wol  nur  so  erklären,  dass 
mau  eine  einwirkuug  der  fälle  annimmt,  in  denen  der  inf.  ohne  frage- 
wort  direct  vom  verb.  abhing.  Das  selbe  gilt  natürlich  von  den  ent- 
sprechenden romanischen  constructionen,  vgl.  franz.  je  ne  sais  quel  parti 
prendre,  it.  )ion  so  che  fare  etc.  (Diez  III,  230).  Aehnlieh  verhalten 
sich  it.  non  ho  che  dire,  span.  non  tengo  con  quien  hahlar,  franz.  Ü 
Irouva  a  qui  parier,  la  terre  fournit  de  qiioi  nourrir  ses  hahifants,  schon 
spätlat.  non  hahenl  quid  respondere  (vgl.  Diez  a.  a.  o.),  engl,  how  haue  I 
ihen  with  whom  lo  hold  converse  (Milton),  then  soiighl  tvhere  to  lic  hid 
(ib.)  u.  dergl. 

Als  eine  contamination  wird  es  auch  zu  betrachten  sein,  wenn 
von  einem  verbum  ein  fragesatz  abhängig  gemacht  wird  und  zugleich 
noch  das  subject  dieses  fragesatzes  als  nominales  object,  vgl.  lat.  nosli 
Marcellum  quam  lardus  sit  (Cic),  viden  scelestum  ut  aucupatur  (Plaut), 
observatote  eum  quam  blande  pal patur  mulieri  (Terenz);  die  modo  hominem 
qui  sit  (Plaut.),  patriam  te  rogo  quae  sit  (Plaut);  it.  tu  7  saprai  bene 
Chi  e  (Boccaccio),  ähnliches  häutig  in  den  älteren  romanischen  sprachen 
(vgl.  Diez  III,  391).  Ebenso  steht  nominales  object  neben  einem  objects- 
satz  mit  dass,  vgl.  mhd.  swenne  er  sin  sele  sa'he  daz  si  in  tötsündoi  n-cere, 
die  liset  man  si  nilen  tvceren  des  ivunderlichen  Alexandres  man,  do  hiez  in 
got  daz  er  dar  in  gienge,  die  wil  ich  daz  siz  merken;  nhd.  da  ihn  sahen  alle, 
die  ihn  vorhin  gekannt  hatten,  dass  er  mit  den  propheten  meissagete  (Lu.), 
welchen  ihr  sprecht,  er  sei  euer  gott  (Lu.).  Das  object  des  regierenden 
Satzes  kann  auch  im  abhängigen  object  sein,  vgl.  vierhundert  taler,  die  sie 
nicht  wüsste,  wie  sie  sie  bezahlen  sollte  (Le.).  So  kann  auch  neben 
einem  subjectssatz  mit  dass  als  subject  noch  das  subject  oder  object 
desselben  als  subject  des  hauptsatzes  treten,  vgl.  mich  will  Antonio  von 
hinnen  treiben  und  will  nicht  scheinen,  dass  er  mich  vertreibt  (Goe.); 
nichts,  was  ihn  gereuen  könnte,  dass  ers  gab  (ib.). 

Statt  der  selbe  der  oder  der  gleiche  wie  sagt  man  auch  der  selbe 


186 

rvic  und  der  gleiche  dcr\  ebeuso  im  lat.  Idem  ul,  z.  b.  in  eadem  sunt 
injuslitia,  ut  si  in  suam  rem  aliena  converlanf  (Cic).  Häufig  begegnet 
man  Wendungen  folgender  art:  dass  sie  nichls  spricht  kommt  daher, 
weil  sie  nichts  denkt  (Le.);  der  (jedankc  wurde  dadurch  notwendig, 
weil  7nan  voraussah  (Wieland);  wortstreit,  der  daraus  entsteht,  weil  ich 
die  Sachen  unter  andern  comhinalioncn  sentiere  (Goe.);  in  dem  axujen- 
hlicke,  nenn  wir  ihn  auch  seines  bogens  beraubt  sehen  (Le.);  die  gross  te 
feinheit  eines  dramatischen  richters  zeiget  sich  darin,  wenn  er  in  jedem 
falle  zu  unterscheiden  weiss  (Le.).  Allgemein  üblich,  zum  teil  sogar 
notwendig  sind  Verbindungen  wie  jedesmal  wenn  oder  wo  (statt  dass), 
in  dem  augenblicke  wo  (Goe.  sagt  noch  in  dem  augenblick,  dass  er  amen 
sagte);  entsprechend  im  franz.  au  temps  ou,  früher  au  temps  que;  zu 
dem  zwecke,  in  der  absieht  damit;  deshalb,  deswegen,  aus  dem  gründe 
weil;  desto  besser  weil  (mhd.  daz),   engl,  fhe  rather  because  neben  Ihat. 

Wenn  Cicero  sagt  cum  accusatus  esset,  quod  contra  rempublica/n 
sensisse  eum  dicerent,  so  ist  das  eine  mischung  aus  quod  .  .  sensisse 
eum  dicebant  und  quod  .  .  sensisset.  Weitere  beispiele  bei  Draeg.  §  537. 
Plato  gebraucht  sogar  constructioneu  wie  rodf,  oiq  oifiai,  arayxaiÖTarov 
Eirai  (vgl.  Ziem.  105). 

Eine  im  mhd.  gewöhnliche  construction  wäre  in  gesehe  vil  schiere 
jnin  liep  (es  sei  denn,  dass  ich  bald  meine  geliebte  sehe),  ich  bin  oder 
so  bin  ich  tot.  Ungefähr  den  selben  sinn  würde  die  parataktische  Ver- 
bindung geben  ich  gisihe  vil  schiere  min  liep  oder  ich  bin  tot.  Statt 
dessen  sagt  der  minnesinger  Steinmar  in  gesehe  vil  schiere  min  lieb 
aider  (=  oder)  ich  bin  tot.  Noch  auffallender  ist  eine  andere  art  der 
mischung,  bei  der  oder  vor  den  satz  mit  ne  ti'itt:  ich  gelige  tot  under 
minen  van,  oder  ich  nebeherte  mm  ere  (Kaiserchronik).  Noch  weitere 
beispiele  bei  Dittmar  in  Zeitsch.  f  d.  Philol.,  ergänzungsb.  s.  211. 

Ein  prädicatives  attribut  kann  die  selbe  function  haben  wie  ein 
durch  eine  conjunetion  eingeleiteter  nebensatz.  In  folge  davon  können 
manche  conjunctionen  auch  dem  blossen  adj.  vorgesetzt  werden,  wo- 
durch eine  genauere  bezeichnung  des  Verhältnisses  erreicht  wird.  So 
besonders  im  englischen,  vgl.  talents  angel-bright,  if  wanting  worth,  are 
shining  insfruments  (Young);  7ior  ever  did  I  love  thee  less,  though  mour- 
ning  o'er  thy  frickedxess  (Shelley);  Mac  Jan,  tvhile  putting  on  his  clothes, 
was  shot  throwjh  the  head  (Maeaulay).i)  Auch  im  deutschen  können 
wir  sagen:  ich  tat  es,  obschon  gezwungen  u.  dergl.  Entsprechend  wer- 
den im  lat.  manche  conjunctionen  dem  abl.  absol.  vorgesetzt,  vgl. 
quamvis  iniqua  pace  honest e  tarnen  viverent  (Cic);  etsi  aliquo  accepto 
delrimento  (Caes.);  etsi  magno  aestu  (Cic.).^)     Die  conjunctionen  quasi  und 

')  Vgl.  Mätzner  III,  s.  72. 
=*)  Vgl.  Draeger  Jj  .592. 


137 

sivc,  die  ursprünglich  nur  satzeinleiteiul  gewesen  sein  können,  werden 
ganz  allgemein  blossen  Satzgliedern  beigefügt. 

Umgekelirt  führt  die  Übereinstimmung  in  der  function  zwischen 
nebensätzen  und  präpositioncllcn  bestimmungeu  dazu,  präpositionen 
zur  einleitung  von  nebensätzen  anzuwenden.  So  besonders  im  eng- 
lichen, vgl.  for  I  cannot  flaiter  thee  in  pride  (Sh.),  afler  he  had  begollen 
Seih  (Genesis),  ivithout  theij  wei^e  ordered  (Marryat);  besonders  all- 
gemein sind  so  tu,  und/  üblich.  Es  muss  jedoch  berücksichtigt  werden, 
dass  hier  die  constructioncu  mit  for  (hat,  after  that  etc.  danel)en  stehen. 
Auch  vor  indirecten  fragen  steht  eine  präp.:  al  the  idca  of  how  sorry 
shc  would  he  (Marryat),  the  daily  quarreis  ahout  who  shall  squander 
most  (Gay)');  vgl.  span.  este  capitulo  hahla  de  como  el  rey  non  deha 
consent ir;  entsprechend  im  portug.  und  altit.-). 

Sehr  häufig  entsteht  auch  auf  syntaktischem  gebiet  durch  cou- 
tamination  ein  pleonasmus.  So  z.  b.  im  lat.  eine  häufung  von  ver- 
gleichungspartikeln  (vgl.  Draeg.  §  516,  14),  wie  pariter  hoc  fit  atque  ut 
alia  facta  sunt  (Plaut);  damit  vgl.  mau  unser  volkstümliches  als  wie. 
Aehuliche  häufuugen  sind  lat.  quasi  si  (Draeg.  §  518,  1  b),  nisi  si  (ib. 
§  557  f.  C;).  Im  engl,  ist  es  bekanntlich  in  vielen  fällen  möglich  eine 
Präposition  entweder  zum  subst.  oder  zum  regierenden  verl)um  zu 
stellen;  es  kommt  aber  auch  beides  combiniert  vor,  vgl.  z.  b.  that  fair 
for  ii'Mch  love  groan'd  for  (Shakesp.).  Besonders  kühn  sind  fügungen 
wie  engl,  of  our  generals  (Shakesp.)  statt  of  our  yeneral  oder  our  gene- 
rale. Nicht  selten  wird  zu  ortsadverbien ,  die  an  sich  schon  die  ricli- 
tung  woher  bezeichnen,  noch  eine  die  nämliche  richtung  bezeichnende 
präp.  gesetzt,  die  eigentlich  mit  einem  die  ruhe  an  einem  orte  be- 
zeichnenden adv.  verbunden  werden  sollte,  ^gl.  lat.  deinde,  cxinde, 
dehinc,  ahhinc\  nlid.  von  hinnen,  von  dannen,  von  wannen.  Im  lat.  findet 
sich  beim  pass.  öfters  eine  pleonastische  bezeichnung  des  plusqu.: 
censa  fuerunt  civium  capita  (Liv.);  sicuti  praecepium  fuerat  (Sali.);  vgl. 
Draeg.  §  134.  Häufig  begegnet  man  Wendungen  wie  erlauben  Sie,  dass 
ich   mich  dabei  beteiligen  darf   vgl.  die  beispiele  bei  Andr.  Spr.  136.  7. 

Viele  beispiele  bieten  auch  hier  die  Steigerungsformen  des  adj. 
und  adv.  Im  mhd.  wird  dem  comparativ  öfters  noch  ein  baz  hinzu- 
gefügt, also  grcezer  baz  etc.;  ebenso  im  lat,  hauptsächlich  bei  den 
komikern  magis  oder  potius,  im  griech.  (läXXov  (vgl.  Ziem.  Comp.  154.  5); 
so  auch  got  mais  vulf^rizans.  Aehnliches  kommt  auch  beim  superl. 
vor,  vgl.  näXiöxa  fityiöTOv  (Xen.),  die  zunächslstehendsten  (Frankf  zeit 
nach  Andr.).  Damit  zu  vergleichen  sind  Verbindungen  wie  magis  {polius) 
tnalle,  prius  praecipere,  xXtov  jtQOTifiäv  (Xen.),  jtQÖttQov  jiQoXafißäveiv 

')  Vgl.  Mätzner  III,  s.  445. 
2)  Vgl.  Diez  III,  s.  3S8. 


138 

(Dem.).  Lcssiug"  sagt  im  Laok.  nicinand  halle  mehr  reehl^  wegen  eines 
solchen  yesehnieres  bekannl er  zu  sein.  Der  eomparativ  wird  mit 
eiuer  den  vorziig-  bezeieliueuden  präp.  verbunden,  die  eigentlich  nm* 
neben  dem  positiv  stehen  sollte:  oiooiv  ij  zvQavviq  jiqo  e?.8vd-£Qb/g  ^v 
dojtaotörtQor  (Herodot),  cuQercÖTSQOv  tivat  xov  xaXw  d-ävaxov  avrl 
xoZ  aioxQov  ßiov  (Xen.),  j)rae  illo  plenius  (Gellius),  anle  alios  immanior 
omnis  (Virg.),  vgl.  Ziem.  Comp.  95  K  Wolfram  v.  Eschenbach  stellt  die 
beiden  möglichen  Wendungen  vollständig  neben  einander:  diu  prüevel 
nuuiegen  für  in  baz  dan  des  mares  herren  Parziväl  {in  bezieht  sich  auf 
Parzival). 

Die  weiteste  Verbreitung  hat  der  auf  contamination  beruhende 
pleonasmus  auf  dem  gebiete  der  negation.  Aus  unserer  jetzigen 
Schriftsprache  ist  er  ziemlich  ausgemerzt,  aber  im  vorigen  Jahrhundert 
ist  er  noch  sehr  gewöhnlich.  So  steht  nach  ausdrücken,  die  einen 
negativen  sinn  haben,  im  abhängigen  durch  dass  eingeleiteten  satze 
eine  uns  jetzt  unlogisch  erscheinende  negation,  vgl.  es  kann  nichl  fehlen, 
dass  die  meislen  summen  Uzt  nicht  gegen  mich  sein  sollten  (Le.);  wird 
das  hindern  kÖJinen,  dass  ?nan  sie  nicht  schlachtet  ?  (Schi.);  der  Verfasser 
vcrhittet  sich,  dass  tnan  seine  schrift  nicht  zu  den  elenden  spöl/ereien 
rechne  (Claudius);  dir  abzuraten,  dass  du  sie  nicht  brächtest  (Schi.);  nun 
will  ich  zwar  nicht  läugnen,  dass  an  diesen  büchern  nicht  manches  zu 
verbessern  sein  sollte  (Le.);  ich  zweifle  nicht,  dass  sie  sich  nicht  beide 
über  diese  kränkung  hinwegsetzen  werden  (Le.);  der  lord  Sliaftesbury  er- 
klärt sich  dawider,  dass  man  nicht  zu  viel  tvahrheil  sagen  solle  (Über- 
setzung des  Tom  Jones  1771).  Entsprechend  heisst  es  schon  im  mlid. 
dar  umbe  Uez  er  daz ,  daz  er  niht  wolle  minnen  (Kudrun);  ich  wil  des 
haben  rät,  daz  der  küene  Hartmuot  U  mir  niht  enstät  (ib.);  weitere  bei- 
spiele  bringt  Dittmar,  Zeitschr.  f.  d.  Philol.,  ergänzungsband  299  if. 
Notwendig  ist  die  negation  schon  im  mhd.  nicht.  Ist  der  regierende 
satz  negiert,  so  pflegt  im  mhd.  der  abhängige  satz  nicht  durch  eine 
conjunction  eingeleitet  zu  werden;  man  braucht  statt  dessen  bloss  die 
negation  en  mit  dem  conjunctiv,  vgl.  mm  vrouwe  sol  luch  niht  erlän  im 
saget  iuwer  mwre.  Die  entstehung  dieser  constructionen  werden  wir 
uns  80  zu  denken  haben,  dass  der  gedanke  des  abhängigen  satzes 
sich  einerseits  als  abhängig  von  dem  regierenden  satze,  anderseits  als 
etwas  selbständiges  in  das  bewusstsein  drängte.  Wenn  es  z.  b.  in  der 
Kudrun  heisst  daz  wil  ich  widerraten,  daz  ir  ?nich  mit  besemen  gesträfet 
nimmer  mer,  so  ist  das  eigentlich  eine  mischung  aus  den  beiden  ge- 
danken  „davon  will  ich  abraten,  dass  ihr  mich  jemals  wider  straft* 
und  „straft  mich  niemals  wider".  Diese  erklärung  ist  allerdings  nur 
auf  diejenigen  fälle  anwendl)ar,  in  denen  der  regierende  satz  positiv 
ist.    Erst   nachdem   die  Verwendung  der  negation  usuell  geworden  ist, 


139 

kaim  sie  auf  die  tälle  mit  negativem  regierenden  satze  übertragen  sein. 
Es  ist  möglich,  ja  walirseheinlieh,  dass  die  Setzung  der  uegatiou  tra- 
dition  aus  einer  zeit  her  ist.  in  welcher  eine  eigentliche  grammatische 
Subordination  des  einen  satzes  unter  den  andern  überhaupt  noch  nicht 
stattfand.  Immerhin  haben  wir  es  auch  dann  mit  einer  contamination 
zu  tun.  Verwandte  erscheinungen  liegen  im  lat..  in  den  romanischen 
sprachen  und  anderwärts  vor. 

In  entsprechender  weise  erscheint  die  negation  auch  neben  dem 
inf.,  wo  die  herleitung  aus  ursprünglicher  Selbständigkeit  nicht  möglich 
ist;  vgl.  freilich  hüten  wir  uns  sie  nicht  an  den  gnädigen  herrn  zu  er- 
innern (Goe.);  ich  habe  verschworen  nicht  mehr  an  sie  zu  denken  (Goe.); 
ich  habe  es  verredet,  in  meiner  gegenwärtigen  läge  niemals  wieder  eine 
nacht  in  Braunschweig  zu  bleiben  (Le.);  der  habe  ihm  verboten,  den  ring 
weder  der  kön/gin  zu  geben,  noch  dem  grafen  zurück  zu  senden  (Le.). 
Auch  nach  einem  an  sich  nicht  negativen,  aber  negierten  ausdrucke 
lässt  sich  negation  nachweisen,  vgl.  vnd  gentzlich  kein  hoffnung  mehr 
handt  zu  samb  zu  kummen  nimmer  meh  (H.  Sachs). 

In  verschiedenen  sprachen  findet  sich  eine  pleonastische  negation 
nach  ohne  (vgl.  Mätzner,  franz.  §  268),  z.  b.  franz.  sans  niil  cgard  pour  nos 
scrupules  (Beranger);  span.  sin  fuerza  ninguna  (Calderon);  it.  senza  dir 
niente,  span.  sin  liablar  palabra  ninguna ;  franz.  sans  que  son  visage  w't'.r- 
primdt  la  peine  (Saint-Pierre);  span.  sin  que  nadie  le  viese  (Cervantes); 
nhd.  ohne  dass  wir  bei  seiner  beurteilung  weder  auf  irgend  ein  gesetz 
noch  auf  irgend  einen  zweck  rücksicht  nehmen  (Schi.);  ohne  dass  ich 
weder  von  dem  vorhergehenden  noch  von  dem  nachfolgenden  irgend  unter- 
richtet gewesen  wäre  (Goe.);  ein  anderes  beispiel  bei  Audr.  s.  145. 
Ebenso  nach  ausser:  ihr  findet  Widersprüche  überall,  ausser  da  nicht, 
wo  sie  wirklich  sind  (Le.,  vgl.  Andr.  a.  a.  o.).  Nach  als,  welches  auf 
ein  vorhergehendes  nichts  bezogen  ist,  vgl.  es  mangelt  ihm  nichts,  als 
dass  es  nicht  gekläret  ist  (Schoch);  es  fehlt  nichts  als  dass  du  nicht  da 
bist  (Goe.). 

"Wörtern,  die  an  sich  keine  absolut  negative  bedeutung  haben, 
sondern  nur  durch  litotes  wird  noch  ein  eigentlich  negatives  wort 
hinzugefügt.  So  kann  im  mhd.  neben  selten  ein  nie  stehen,  z.  b.  ein 
wip,  der  ich  selten  nie  vergaz  (^linnesinger);  daz  man  nie  deheinen  also 
riehen  so  senftes  willen  selten  vant  (Biterolf):  ebenso  ist  selten  nieman 
=  selten,  d.  h.  niemals  jemand.  Im  nhd.  findet  sich  ein  negatives  w^ort 
zuweilen  nach  kaum:  nichts  mag  kaum  sein  so  ungelegen  =^  kaum  kann 
etwas  so  schwierig  sein  (Fischart,  vgl.  DWb  .5,  355);  nach  schwerlich  : 
schwerlich  niemals  (Le.,  vgl.  Sanders  2b,  1048b). 


Cap.  IX. 
Ur  Schöpfung. 

Wir  haben  es  uns  bisher  zum  gesetz  gcmacbt  uns  unsere  an- 
sehauuugen  über  die  sprachlichen  Vorgänge  aus  solchen  beobachtungen 
zu  bilden,  die  wir  an  der  historisch  deutlich  zu  verfolgenden  entwieke- 
lung  machen  konnten,  und  erst  von  diesen  aus  rückschlüsse  auf  die 
Urgeschichte  der  spräche  zu  machen.  Wir  müssen  versuchen  diesem 
l)rincipe  auch  bei  der  beurteilung  der  urschöpfung  möglichst  treu  zu 
bleiben,  wenn  sich  hier  auch  grössere  Schwierigkeiten  in  den  weg 
stellen.  Sie  unmittelbar  zu  beobachten  bietet  sich  uns  nicht  leicht  die 
gclegenheit.  Denn  solche  singulären  fälle,  von  denen  uns  wol  einmal 
berichtet  wird,  wie  etwa  die  willkürliche  erfindung  des  wertes  gas 
können  nicht  gerade  viel  aufschluss  über  die  natürliche  sprachent- 
wickelung  geben.  So  schwebt  denn  über  dem  Vorgänge  ein  gewisses 
mystisches  dunkel,  und  es  tauchen  immer  wider  ansichten  auf,  die  ihn 
auf  ein  eigentümliches  vermögen  der  ursprünglichen  menschheit  zurück- 
führen, welches  jetzt  verloren  gegangen  sein  soll.  Solche  anschauungen 
müssen  entschieden  zurückgewiesen  werden.  '  Auch  in  der  gegenwärtig 
bestehenden  leiblichen  und  geistigen  natur  des  menschen  müssen  alle 
bedinguugen  liegen,  die  zu  primitiver  sprachschöpfung  erforderlieh  sind. 
Ja,  wenn  die  geistigen  anlagen  sich  zu  höherer  Vollkommenheit  ent- 
wickelt haben,  so  werden  wir  daraus  sogar  die  consequenz  ziehen 
müssen,  dass  auch  diese  bedingungen  jetzt  in  noch  vollkommenerer 
weise  vorlianden  sind  als  zur  zeit  der  ersten  anfange  menschlicher 
spräche.  Wenn  wir  im  allgemeinen  keinen  neuen  sprachstofif  mehr 
schaffen,  so  liegt  das  einfach  daran,  dass  das  bedürfniss  dazu  nicht 
mehr  vorhanden  ist.  Es  kann  kaum  eine  Vorstellung  oder  empfindung 
in  uns  auftauchen,  von  welcher  nicht  eine  associationsleitung  zu  dem 
überlieferten  sprachstofif  hinüberführte.  Dies  massenhafte  material,  auf 
das  wir  einmal  eingeübt  sind,  lässt  nichts  neues  neben  sich  aufkommen, 
zumal  da  es  sich  durch  mannigfache  zusammenfügung  und  durch  be- 
deutungsü))ertragung   bequem    erweitern   lässt.     Würde   man   aber  das 


141 

experiment  maelieu  eine  auzahl  von  kinderu  oliue  bekaiintsehaft  mit 
irg-eud  einer  spräche  aiifwaeliseii  zu  lassen,  sie  sorgfältig  abzuseliliessen 
und  nur  auf  den  Aerkehr  unter  sieh  einzuschränken ,  so  brauchen  wir 
kaum  zweifelhaft  zu  sein,  was  der  erfolg  sein  würde:  sie  würden  sich, 
indem  sie  heranwüchsen,  eine  eigene  spräche  aus  selbstgeschaffeuen 
Wörtern  bilden. 

Etwas  einem  solchen  experimente  wenigstens  annähernd  gleich- 
kommendes soll  wirklich  vorliegen.  Bekannt  ist  durch  Max  Müllers 
Vorlesungen  der  bericht  des  Robert  Moffat  über  die  sprachlichen  zu- 
stände in  -vereinzelten  wüstendörfern  Südafrikas.  Danach  sollen  sich 
dort  die  kinder  während  häufiger  langer  abwesenheit  ihrer  eitern  selbst 
eine  spräche  erfinden.  Doch  möchte  ich  ohne  die  mitteilung  genauerer 
beobachtungen  nicht  zu  viel  wert  auf  solche  angaben  legen. 

Aber  wir  brauchen  gar  nicht  so  weit  zu  gehen.  Wir  sind,  glaube 
ich,  zu  der  behauptuug  berechtigt,  dass  selbst  in  den  sprachen 
der  europäischen  culturvölker  die  Schöpfung  neuen  Stoffes 
niemals  ganz  aufgehört  hat.  Nach  allen  fortschritten,  welche  die 
indogermanische  etymologie  in  den  letzten  decennien  gemacht  hat, 
bleibt  immer  noch  ein  sehr  beträchtlicher  rest  von  Wörtern,  die  weder 
auf  wurzeln  der  grundsprache  zurückgeführt,  noch  als  entlehnung  aus 
fremden  sprachen  nachgewiesen  werden  können.  Ja,  wenn  wir  den 
Wortvorrat  der  lebenden  deutschen  mundarten  durchmustern,  so  finden 
wir  darin  sehr  vieles,  was  wir  ausser  stände  sind  zu  dem  mittelhoch- 
deutschen wortvorrate  in  beziehung  zu  setzen.  Gewiss  müssen  wir  die 
Ursache  dieses  umstandes  zu  einem  grossen  teile  darin  sehen,  dass 
unsere  Überlieferung  vielfach  lückenhaft,  unsere  wissenschaftlichen  coni- 
binatiouen  noch  unvollkommen  sind.  Immerhin  aber  bleibt  eine  be- 
trächtliche anzahl  von  fällen,  in  denen  schwer  abzusehen  ist,  wie  ver- 
mittelst der  lautentwickelung  und  analogiebildung  eine  anknüpfung  an 
älteren  sprachstoif  je  möglich  werden  soll.  Wir  werden  daher  den 
jüngeren  und  jüngsten  Sprachperioden  nicht  bloss  die  fiihigkeit  zur 
urschöpfung  zuzuschreiben  haben,  sondern  auch  die  wirkliche  aus- 
übuug  dieser  fähigkeit,  Wir  dürfen  auch  hier  die  ansieht  nicht  gelten 
lassen,  als  seien  in  der  entwickelung  der  spräche  zwei  perioden  zu 
unterscheiden,  die  eine,  in  welcher  der  ursprüngliche  sprachstoff,  die 
sogenannten  wurzeln,  geschaffen  würde,  und  eine  zweite,  in  welcher 
man  sich  begnügt  hätte  aus  dem  vorhandenen  stoffe  eombinationen  zu 
gestalten.  In  der  entwickelung  der  Volkssprache  gibt  es  keinen  Zeit- 
punkt, in  welchem  die  urschöpfung  abgeschlossen  wäre.  Anderseits 
haben  sich  gewiss  kurz  nach  den  ersten  urschöpfungen  die  selben 
arten  der  weiterentwickelung  des  ursprünglich  geschaffenen  geltend 
gemacht,  wie  wir  sie  in  den  späteren  perioden  beobachtet  haben.    Es 


142 

bestellt  in  dieser  hinsieht  zwischen  den  verschiedenen  ent^viekelungs- 
phasen  kein  unterschied  der  art,  sondern  nur  des  grades.  Es  ändert 
sich  nur  das  verhältniss  der  urschöpfung-  zu  der  traditionellen  fort- 
pflanzung  des  geschaffenen  und  zu  den  anderweitigen  mittelu  der 
s]trachbereicherung,  der  bedeutungserweiterung  durch  apperceptiou,  der 
conibination  einfacher  demente,  der  aualogiebilduug  etc. 

Das  weseu  der  urschöpfung  besteht,  wie  wir  schon  gesehen  haben, 
darin,  dass  eine  lautgruppe  in  beziehung  zu  einer  vorstellungsgruppe 
gesetzt  wird,  welche  dann  ihre  bedeutung  ausmacht,  und  zwar  ohne 
vermittelung  einer  verwandten  vorstellungsgruppe,  die  sclion  mit  der 
lautgruppe  verknüpft  ist.  Eine  solche  urschöpfung  ist  zunächst  ein 
werk  des  momeuts,  welches  untergehen  kann,  ohne  bleibende  spuren 
zu  hinterlassen.  Damit  dadurch  eine  wirkliche  spräche  entstehe,  müssen 
derartige  hervorbringungen  auch  eine  bleibende  psychische  nachwirkung 
hinterlassen,  in  folge  derer  späterhin  der  laut  vermittelst  der  bedeu- 
tung, die  bedeutung  vermittelst  des  lautes  gedächtuissmässig  reprodu- 
ciert  werden  kann.  Das  wort  muss  ferner  auch  von  andern  Individuen 
verstanden  und  dann  gleichfalls  reproduciert  werden. 

Die  erfahrungen,  die  wir  über  die  entstehung  neuer  Wörter  durch 
analogiebildung  und  die  erfassung  neuer  auschauungen  mit  hülfe  des 
vorhandenen  wortvorrats  gemacht  haben,  dürfen  wir  auch  für  die  be- 
urteiluug  der  urschöpfung  verwerten.  Wir  haben  bisher  immer  ge- 
sehen, dass  die  benennung  des  neuen  durch  eine  apperceptiou  mit 
dem  schon  benannten  erfolgt,  sei  es,  dass  mau  einfach  die  schon  vor- 
handene benennung  auf  das  neue  überträg-t,  oder  dass  man  aus  der- 
selben ein  compositum  oder  eine  ableitung  bildet;  d,  h.  also:  es  be- 
steht ein  causalzusammenhaug  zwischen  dem  neubenannteu  objeete 
uud  seiner  benennung,  vermittelt  durch  ein  früher  benanntes  object. 
Dieser  eausalzusammenhang  ist  zunächst  notwendig,  damit  die  be- 
nennung bei  dem,  der  sie  zuerst  anwendet,  hervorgerufen  wird  und 
damit  sie  von  andern  verstanden  werden  kann.  Erst  durch  mehrfache 
widerholung  wird  eine  solche  causalbeziehung  überflüssig,  indem  die 
bloss  äusserliche  association  allmählig  fest  genug  geknüpft  wird.  Die 
folgerung,  dass  auch  die  urschöpfung,  um  überhaupt  geschaffen  und 
verstanden  zu  werden,  eines  solchen  causalzusammenhanges  bedarf,  ist 
gewiss  nicht  abzuweisen.  Da  es  nun  ein  vermittelndes  glied  nicht 
gibt,  so  muss  man  einen  directen  Zusammenhang  zwischen  object  und 
benennung  erwarten.  Ausserdem  aber  wird  das  verständuiss  ursprüng- 
lich ermöglicht  gerade  so  wie  bei  der  anknüpfung  neuen  vorstellungs- 
inhaltes  an  ein  schon  bestehendes  wort  mit  hülfe  der  durch  die  Situa- 
tion gegebenen  anschauung  und  der  gebärdensprache. 

Wir   haben    gesehen,    dass   in    der   regel   nichts   in  der   spräche 


143 

usuell  werden  kann,  das  nicht  S])ontan  von  verschiedenen  individuen 
g-eschaffen  wird.  Auch  gehört  dazu,  dass  es  von  dem  gleichen  indi- 
viduuni  zu  verschiedenen  zeiten  spontan,  ohne  niitwirkuug  des  gedächt- 
nisses  geschalten  werden  kann.  Wenn  aber  der  gleiche  lautcomplex 
sich  zu  \  erschiedenen  malen  und  l)ei  verschiedenen  individuen  an  die 
gleiche  bedeutung  anschliesst,  so  muss  dieser  anschluss  überall  durch 
eine  gleichmässig-e  Ursache  veranlasst  sein,  die  ihren  sitz  in  der  natur 
des  lautes  und  der  bedeutung  hat,  nicht  in  einem  zufällig  begleitenden 
umstände.  Es  kann  zugegeben  werden,  dass  gelegentlich  auch  eine 
von  einem  einzelnen  einmal  geschaftene  Verbindung  allgemeine  Ver- 
breitung findet.  Aber  die  mög-lichkeit  dieses  Vorganges  ist  in  bestimmte 
grenzen  eingeschlossen.  Ist  etwa  derjenige,  welcher  zuerst  eine  be- 
zeichnung  für  ein  objeet  findet,  der  entdecker,  erfinder  des  betreffenden 
objects,  so  dass  alle  übrigen  von  ihm  darüber  unterrichtet  werden,  so 
ist  damit  auch  der  von  ihm  gefundenen  bezeichnung  eine  autorität  ver- 
liehen. Bei  den  wenigsten  objecten  ist  ein  solches  verhältniss  denkbar. 
In  der  regel  kann  es  nur  die  angemessenheit  der  bezeichnung  sein, 
was  ihr  allgemeinen  eiugang  verschafft,  d.  h.  also  wider  die  innere  be- 
ziehung  zwischen  laut  und  bedeutung,  die,  wo  eine  vermittelung  fehlt, 
auf  nichts  anderem  beruhen  kann  als  auf  dem  sinnlichen  eindruck  des 
lautes  auf  den  hörenden  und  auf  der  befriedigung,  welche  die  zur  er- 
zeuguug  des  lautes  erforderliche  tätigkeit  der  motorischen  nerven  dem 
sprechenden  gewährt. 

Fassen  wir  nun  die  Wörter,  bei  denen  ein  begründeter  verdacht 
vorliegt,  dass  sie  verhältnissmässig  junge  neuschöpfungen  sind,  näher 
ins  äuge,  so  zeigt  sich,  dass  es  vorzugsweise  solche  sind,  welche  ver- 
schiedene arten  von  geräuschen  und  bewegungen  bezeichnen.  Mau 
vgl.  z.  b.  nhd.  hamheln,  hammein,  bummeln,  himmeln,  balzen  (nd.  schal- 
lend auffallen),  bauzen  (=  batzen  —  bellen),  helfen^  belfern,  blaffen, 
hlaiTen,  blerren,  Matzen,  platzen,  pletzen,  bletschen,  fletschen,  platschern, 
planschen,  panschen,  plätschern,  blödem,  plaudern,  blubbern,  plapppern, 
blauzen,  böller,  hollern,  bullern,  hallern,  boldern,  poltern,  bompern,  hum- 
pern, buff,  huffen,  pu/f,  puffen,  burren,  buhbeln,  puppein,  puppern,  dudeln, 
fimmeln,  fummeln,  flattern,  flinder,  flindern,  flinderling,  flandern,  flink, 
flinken,  flinkem,  flirren,  flarren,  flarzen,  flartschen,  flismen,  flispem,  flitter, 
flodern,  flunkern,  flüstern,  gackeln,  gackern,  gautsche,  gauischen,  glucken, 
glucksen,  grackeln,  hampeln,  humpen,  humpeln,  hätscheln,  holpern,  hurren, 
hussen,  kabbeln,  kichern,  kirren,  kischen  (zischen),  klabastetm,  klachel 
oder  klächel  (bairisch  =  glockenschwengel  oder  anderes  baumelndes 
ding),  klatschen,  kletzen,  kleschcn  (=  klatschen),  klimpern,  klirren, 
klunker,  knabheln,  knabbern,  knacken,  knacks,  knarpeln,  knarren,  knarzen, 
knarschen,   knirren,   knirschen,   knurren,   knascheln,   knaspeln,   knastern. 


1 


144 

knisten,  knistern,  knaster{-hart),  knatschen,  knetschen^  knilschen,  knutschen, 
knatleyii,  knittern,  kmiß'en,  knüffeln,  knüllen,  knuppern,  knuspern^  kollern, 
kullern,  krabbeln,  kribbeln,  krakeln,  krakeln,  kreischen,  kuckern,  {cucurire)^ 
lodern,  lullen,  mucken,  mucksen,  munkeln,  nutschen,  pfuschen,  pimpeln, 
pim/ielig,  pinken,  pladdern,  jilumpen,  plumpsen,  prasseln,  prusten,  quabbeln, 
quabbelig,  quackeln,  quaken,  quäken,  quiken^  quitschen,  rappeln,  rapsen, 
rascheln,  rasseln,  räuspern,  rempeln,  rummel,  rumpeln,  rüppeln,  schlabbern, 
schlampen,  schlampampen,  sclilockern,  schlotfern,  schlürfen,  schmettern, 
schnack,  schnacken,  schrill,  schummeln,  schwabein,  schwappen,  stöhnen, 
stolpern,  strullen,  sumfnen,  surreyi,  tatschen,  tatschen,  tätscheln,  ticken, 
torkeln,  turzeln,  (hessisch  =  torkeln),  tuten,  7vabbeln,  jvibbeln,  ivatscheln, 
wimmeln,  wimmern,  wudeln,  ziepen,  zirpen,  zischen,  zischeln,  zullen 
und  zulpen  {saugen),  züsseln  (schütteln),  zwitschern.  Einige  Wörter 
bezeichnen  zugleich  schall  und  zerplatzen  wie  klack,  klaff;  andere 
schall  und  Schmutzfleck  wie  klacks,  klecks,  klatsch.  Ich  habe  mich 
absichtlich  auf  solche  Wörter  eingeschränkt,  die  frühestens  im  spät- 
mittelhochdeutschen nachweisbar  sind.  Man  könnte  ebenso  eine  reich- 
liche liste  deraiüger  Wörter  aus  den  älteren  germanischen  dialecten 
zusammentragen,  die  nichts  vergleichbares  in  den  übrigen  indoger- 
manischen sprachen  haben,  desgleichen  aus  dem  griechischen  und 
lateinischen.  Man  wird  sich  dem  Schlüsse  nicht  entziehen  können,  dass, 
wenigstens  so  weit  unsere  beobachtungen  zurückreichen,  hier  das  eigent- 
liche gebiet  der  sprachlichen  urschöpfung  liegt. 

Dass  wir  bei  dieser  art  von  Wörtern  eine  innere  beziehung  von 
klang  und  bedeutuug  empfinden,  ist  allerdings  im  einzelnen  falle  kein 
beweis  dafür,  dass  sie  wirklich  einer  solchen  beziehung  ihren  Ursprung 
verdanken.  Denn  es  gibt  nachweisslich  eine  anzahl  von  Wörtern,  die 
erst  durch  secundäre  entwickelung  eine  solche  lautgestaltung  oder  eine 
solche  bedeutung  erlangt  haben,  dass  sie  den  eindruck  onomato- 
poetischer bildungen  machen.  Aber  ein  überblick  der  Wörter  in  ihrer 
gesammtheit  schliesst  doch  die  annähme  durchgehenden  zufalls  aus. 
Es  fällt  dabei  noch  ein  umstand  schwer  ins  gewicht,  nämlich  die 
häufigkeit  ähnlicher,  namentlich  nur  durch  den  vokal  verschiedener 
Wörter  von  gleicher  oder  sehr  ähnlicher  bedeutung  die  doch  nicht 
lautgesetzlich  aus  einer  grundform  abgeleitet  werden  können.  So 
finden  sich  auch  vielfach  in  verschiedenen  sprachen  ähnlich  klingende 
Wörter  dieser  art,  die  doch  nach  den  lautgesetzen  nicht  verwandt  sein 
können. 

Nur  aus  dem  onomatopoetischen  triebe  erklären  sich  auch  gewisse 
Umgestaltungen  schon  fertiger  Wörter.  Eines  der  charakteris- 
tischsten Ijeispiele  ist  mhd.  gonch  =  nhd.  kukuk  mit  den  zwischen- 
formen guckauch,  kuckuch    und   ähnlichen.     Auch  diese  bildungen  be- 


145 

zeiclmcn  zum  teil  g-eräusche,  zum  teil  unruhige  beweguugen.  Der- 
gleichen Umwandlungen  sind  von  dem  lautwandel  gänzlich  zu  trennen 
und  als  partielle  neuschöpfungen  zu  betrachten.  Auch  die  weiter 
oben  angeführten  Wörter  können  nicht  als  totale  neusehöpfungen  be- 
trachtet werden,  wie  noch  später  zu  erörtern  sein  wird.  Absolute  neu- 
sehöpfungen sind  eigentlich  nur  die  iuterjectionen. 

Es  wird  hier  der  ort  sein  etwas  näher  auf  das  wesen  dieser 
Wortart  einzugehen.  Uns  muss  vor  allem  die  frage  interessieren,  ob 
man  in  ihnen  mit  recht  die  primitivsten  äusserungen  der  sprechtätig- 
keit  zu  sehen  hat,  wie  von  verschiedenen  selten  angenommen,  von 
andern  bestritten  ist.  Wir  verstehen  unter  interjectionen  unwillkürliche 
refiexlaute,  die  durch  den  aflfect  hervorgetrieben  werden,  auch  ohne 
jede  absieht  der  mitteilung.  Man  darf  aber  darum  nicht  die  Vor- 
stellung damit  verknüpfen,  als  wären  sie  wirkliche  naturlaute,  die  mit 
ursprünglicher  uotwendigkeit  aus  dem  affecte  entsprängen  wie  lachen 
und  weinen.  Vielmehr  sind  die  interjectionen,  deren  wir  uns  gewöhn- 
lieh bedienen,  gerade  so  gut  durch  die  tradition  erlernt  wie  die  übrigen 
elemente  der  spräche.  Nur  vermöge  der  association  werden  sie  zu 
reflexbewegungen,  weshalb  denn  auch  die  ausdrücke  für  die  gleiche 
empfiudung  in  verschiedenen  sprachen  und  mundarten  und  auch  bei  den 
verschiedenen  Individuen  der  gleichen  mundart  je  nach  der  gewöhnung 
sehr  verschieden  sein  können.  Es  ist  ja  auch  eine  in  den  verschie- 
densten sprachen  zu  machende  beobachtung,  dass  interjectionen  aus 
andern  Wörtern  und  wortgruppeu  entstehen,  vgl.  z.  b.  ach  gott^  alle 
weiter,  gotl  sei  dank,  leider.  Durch  lautveränderungen  kann  der  Ur- 
sprung so  sehr  verdunkelt  werden,  dass  er  selbst  bei  angestellter 
reflexion  nicht  mehr  zu  erkennen  ist,  vgl.  herrje  (Jierr  Jesus),  jemine 
{Jesu  domine).  Wir  sind  daher  auch  bei  den  in  keiner  weise  analy- 
sierbaren und  scheinbar  ganz  einfachen  interjectionen  nicht  von  vorn- 
herein sicher,  ob  sie  nicht  auf  ähnliche  weise  entstanden  sind.  Aber 
anderseits  tritt  uns  gerade  unter  den  erst  spät  auftauchenden  inter- 
jectionen, bei  denen  eine  derartige  Verdunkelung  der  etymologie  nicht 
wol  anzunehmen  ist,  eine  beträchtliche  auzahl  entgegen,  die  entweder 
zu  gar  keinen  andern  Wörtern  in  beziehung  gesetzt  werden  können 
oder  nur  zu  der  eben  besprochenen  kategorie,  von  denen  es  daher 
mindestens  in  hohem  grade  wahrscheinlich  ist,  dass  sie  unmittelbar 
durch  reflexbewegung  entsprungen  sind.  Die  meisten  unter  diesen 
und  die  individuellsten  in  bezug  auf  die  lautform  und  den  empfindungs- 
ton  sind  reactionen  gegen  plötzliche  erregungen  des  gehörs-  oder  ge- 
sichtssinnes.  So  müssen  wir  wol  wenigstens  ihr  ursprüngliches  wesen 
auffassen.  Sie  werden  dann  auch  bei  der  erinnerung  und  erzählung 
der    solche    plötzliche   erregung  wirkenden   Vorgänge   gebraucht.     Ich 

Paul,  Principien.     II.  Auflage.  10 


146 

meine  Wörter  wie  nhd.  paff^  patsch,  hardautz,  perdauz,  bauz,  hlauz,  blaff, 
bu/f,  puff,  bums,  futsch,  hurre,  husch,  hissa,  klacks,  klaps,  kladderadatsch, 
knacks,  plump,  plumps,  ratsch,  rutsch,  schrumm,  schwapp,  rvupp  etc. 

Älauche  dieser  Wörter  sind  auch  substantiva  oder  haben  verba 
zur  Seite,  und  es  ist  dann  zum  teil  schwer  zu  sagen,  was  eigentlich 
das  ursprüngliche  ist.  Es  ist  das  aber  auch  nicht  von  belang,  sobald 
die  Wörter  als  reactioneu  gegen  die  siuneserregung  anerkannt  sind. 
Der  onomatopoetische  Charakter  solcher  Wörter  tritt  noch  stärker  her- 
vor bei  der  häufig  angewendeten  Verdoppelung  und  Verdreifachung, 
ganz  besonders  wenn  dabei  die  mehrfach  gesetzten  demente  durch 
ablaut  differenziert  werden,  vgl.  fickfack,  gickgack,  kliffklaff,  klippklapp, 
klitschklatsch,  klimperklamper ,  kribbeskrabbes ,  krimskrams,  mickmack, 
pinkepanke,  ripsraps,  ritschratsch,  Schnickschnack,  schnipp  schnapp  {schnür), 
stripsfrap  (strull),  schfvippschrvapp,  ticktack,  lirumlarum,  bimbambum,  piff- 
paffpuff;  engl,  criddle-craddle,  rviddle-waddle;  franz.  clic-clac,  cric-crac, 
dreün-drehm.  Diese  Wörter  werden  zum  teil  auch  als  substantiva  ge- 
braucht, und  es  werden  direct  substantiva  so  gebildet,  vgl.  kringel- 
krangel,  tbujellangel',  auch  werden  weitere  ableitungen  aus  solchen  bil- 
duugen  gemacht  wie  fickfacken,  fickf'acker,  /vlbbelrvabbelig.  Uebrigens 
wird  dabei  mehrfach  alter  sprachstoff  benutzt,  der  sonst  gar  keinen 
interjectionellen  Charakter  hat,  vgl.  klingklang,  Singsang,  hickhack,  misch- 
masch,  Wirrwarr,  Zickzack.  Vgl.  auch  onomatopoetische  ausgestaltungen 
wie  klingt ingling  (vielleicht  aus  klinklingkling  entstanden),  hoppsasa. 
Aus  dem  selben  triebe  entsprungen,  aber  in  den  grenzen  der  normalen 
spräche  sich  haltend  sind  Verbindungen  mehrerer  nur  durch  den  voka- 
lismus  verschiedener  schallwörter,  wie  ffimmen  und  flammen,  ffimmern 
und  flammern,  kickezen  und  kackezen,  klippen  und  klappen,  klippern  und 
klappern,  klislern  und  klasiern,  klitschern  und  klatschern,  knistern  und 
knastern,  knittern  und  knattern,  krimmen  und  krammen,  kritzen  und 
kratzen,  gekritz  und  gekratz,  rischeln  und  rascheln  (alle  durch  beispiele 
aus  Schriftstellern  belegt). 

Onomatopoetisch  sind  ferner  die  meisten  Wörter  der  ammen- 
sprache,  und  auch  in  ihnen  spielt  die  reduplication  eine  grosse  rolle, 
vgl,  wauwau,  putput,  papa,  mama  etc.  Diese  spräche  ist  nicht  eine  er- 
findung  der  kinder.  Sie  wird  ihnen  so  gut  wie  jede  andere  spräche 
überliefert.  Ihr  wert  besteht  darinn,  dass  sie  einem  leicht  erkenn- 
baren i)ädagogischen  zwecke  dient.  Die  innere  beziehung  des  lautes 
zur  bedeutuug,  welche  in  ihr  noch  besteht  und  jedenfalls  immer  neu 
geschaffen  wird,  erleichtert  die  Verknüpfung  beider  sehr  erheblich. 
Das  geht  sogar  so  weit,  dass  auch  die  Wörter  der  ausgebildeten  spräche 
teilweise  zuerst  in  einer  composition  mit  Wörtern  der  ammensprache 
erlernt  werden,  vgl.  wautvauhund,  bäschaf,  puthuhn  und  dergl. 


147 

Zwischen  den  urschöpfuugen ,  clurcli  welche  eine  schon  aus- 
gebildete spräche  bereichert  wird,  und  denjenigen,  mit  welchen  die 
spnichschöptung  überhanpt  begonnen  hat,  ist  noch  ein  bedeutender 
unterschied.  Jene  tilgen  sich,  soweit  sie  nicht  reine  interjectionen  sind, 
in  das  schon  bestehende  formensystem  ein.  Sie  erscheinen  mit  den 
zu  der  zeit,  wo  sie  geschaffen  werden,  üblichen  ableitungs-  und  flexions- 
silben.  In  poltern  z.  b.,  wenn  es  hierher  gehört,  ist  nur  polt-  durch 
urschöpfung,  -ern  nach  analogie  gebildet.  Wir  können  daher  in  einem 
solchen  werte  eigentlich  nur  eine  paiüelle  urschöpfung  anerkennen. 
Wir  sehen  übrigens  aus  diesem  beispiele,  dass  das,  was  man  gewöhn- 
lich als  Wurzel  aus  einem  werte  abstrahiert,  durchaus  nicht  immer 
einmal  als  selbständiges  dement  existiert  zu  haben  braucht,  auch 
nicht  in  einer  älteren  lautgestalt,  sondern  sogleich  J)ei  seinem  entstehen 
mit  einem  oder  mehreren  suffixen  versehen  sein  kann  und  versehen 
sein  muss,  sobald  es  der  dermalige  sprachzustand  erfordert. 

Nicht  bloss  die  suffixe  werden  nach  analogie  des  vorhandenen 
Sprachmaterials  geschaffen,  sondern  auch  die  function  als  subst.,  verb. 
etc.,  und  es  wird  also  auch  damit  etwas  in  die  neuen  Wörter  hinein- 
getragen, was  nicht  auf  urschöpfung  beruht. 

Bei  den  ersten  Schöpfungen,  mit  denen  die  spräche  be- 
gonnen hat,  kann  natürlich  von  einem  solchen  mitwirken  der  ana- 
logie keine  rede  sein.  An  ihnen  kann  noch  keine  spur  einer  gram- 
matischen kategorie  haften.  Sie  entsprechen  ganzen  anschauungen 
Sie  sind  primitive  Sätze,  von  denen  wir  uns  noch  eine  Vorstellung 
machen  können  auf  grundlage  der  s.  104  besprochenen  aus  einem  werte 
bestehenden  sätze  wie  diebe^  (euer.  Sie  sind  also  auch  wie  diese  eigent- 
lich prädicate,  zu  denen  ein  sinnlicher  eindruck  das  subj.  bildet.  Da- 
mit der  mensch  zum  aussprechen  eines  solchen  satzes  gelangt,  muss 
aus  der  fülle  dessen,  was  gleichzeitig  in  seine  Wahrnehmung  fällt, 
etwas  bestimmtes  ausgesondert  werden.  Da  nun  diese  aussonderung- 
noch  nicht  durch  eine  logische  Operation  bewerkstellig-t  werden  kann, 
so  muss  sie  durch  die  aussenwelt  veranlasst  werden.  Es  muss  etwas 
vorgehen,  wodurch  die  aufmerksamkeit  nach  einer  bestimmten  richtung 
hin  fixiert  wird.  Nicht  die  ruhende  und  schweigende  weit,  sondern 
die  bewegte  und  tönende  ist  es,  deren  sieh  der  mensch  zuerst  bewusst 
wird,  und  für  die  er  die  ersten  spraehlaute  schafft.  An  stelle  einer 
bewegung  der  Umgebung  kann  auch  eine  bewegung  des  eigenen  leibes 
dienen,  wodurch  die  äugen  plötzlich  auf  einen  unerwarteten  anblick 
gelenkt  werden.  Der  eindruck  wird  natürlich  um  so  intensiver  sein, 
wenn  dadurch  freude  oder  schmerz,  begierde  oder  furcht  erregt  werden. 
Es  ist  also  das  die  aufmerksamkeit  erregende  object  zugleich  mit  .dem, 
was   an   dem   objecte   vorgeht,    was   durch   den   sprachlaut  bezeichnet 

lü* 


148 

wird.  Wir  nähern  uns  dieser  primitiven  Sprechweise  noch  jetzt  in  aus- 
rnfnngen  der  Überraschung  und  im  affect.  Wir  können  also  von  den 
ältesten  Wörtern  sagen,  dass  sie  den  unvollkommenen  ausdruck  einer 
anschauung-,  wie  sie  später  durch  einen  satz  widergegeben  wird,  mit 
iuterjeetiouellem  Charakter  verbinden. 

Noch  in  anderer  hinsieht  muss  es  sich  mit  den  ersten  urschöpf- 
ungen  anders  verhalten  als  mit  den  später  nachfolgenden.  Bei  den 
letzteren  kann  von  aufang  au  die  absieht  der  mitt eilung  mitwirken 
bei  den  ersteren  nicht.  Zu  absichtlicher  ausübung  einer  tätigkeit  be- 
hufs eines  bestimmten  Zweckes  gelangen  wir  erst,  nachdem  wir  die 
erfahruug  gemacht  haben,  dass  dieser  zweck  dadurch  erreichbar  ist, 
und  diese  erfahrung  macheu  wir,  indem  wir  sehen,  dass  die  unabsicht- 
lich oder  in  anderer  absieht  angestellte  tätigkeit  den  betreffenden  erfolg 
gehabt  hat.  Vor  Schöpfung  der  spräche  weiss  der  mensch  nichts  da- 
von, dass  er  einem  andern  mit  hülfe  der  sprachlaute  etwas  mitteilen 
kann.  Dieser  grund  allein  würde  genügen  um  jede  annähme  einer 
absichtlichen  erfindung  zurückzuweisen.  Wir  müssen  in  bezug  auf  die 
ersten  sprachlaute  durchaus  bei  Steinthals  >)  ansieht  stehen  bleiben, 
dass  sie  nichts  anderes  sind  als  reflexbewegungen.  Sie  befriedigen 
als  solche  lediglich  ein  bedürfniss  des  einzelnen  Individuums  ohne 
rücksicht  auf  sein  zusammenleben  mit  andern.  Sobald  aber  ein  sol- 
cher reflexlaut  von  andern  Individuen  percipiert  wird  zugleich  mit  der 
sinnlichen  Wahrnehmung,  die  ihn  hervorgerufen  hat,  so  kann  beides  in 
beziehung  zu  einander  gesetzt  werden.  Dass  ein  anderes  Individuum 
diese  beziehung  empfindet,  kann  auf  dem  wirklichen  causalzusammen- 
hange  beruhen,  der  zwischen  der  Wahrnehmung  und  dem  laute  durch 
vermitteluug  der  nervenerregung  besteht.  Sind  die  verschiedenen  Indi- 
viduen im  wesentlichen  gleich  organisiert,  so  wird  der  gleiche  sinn- 
liche eindruck  in  ihnen  ungefähr  den  gleichen  reflexlaut  erzeugen,  und 
sie  müssen  sich,  wenn  sie  den  selben  von  andern  hören,  sympathe- 
tisch berührt  fühlen.  Gewiss  aber  ist  die  zahl  der  so  erzeugten  reflex- 
laute eine  verhältnissmässig  geringe  gewesen.  Erheblich  von  einander 
abweichende  anschauungen  werden  den  gleichen  reflexlaut  hervorge- 
rufen haben.  Es  ist  daher  auch  zunächst  noch  durchaus  nicht  daran 
zu  denken,  dass  ein  solcher  laut,  auch  wenn  er  widerholt  von  ver- 
schiedenen Individuen  in  der  gleichen  weise  hervorgebracht  wäre,  das 
erinnerungsbild  einer  bestimmten  anschauung  wach  rufen  könnte.  Alles, 
was  er  vermag,  besteht  nur  darin,  dass  er  die  aufmerksamkeit  erregt. 


')  Vgl.  seinen  'Ursprung  der  spräche'  und  seine  'Einleitung  in  die  psyclio- 
logie  und  spraeliwisseuschaft'.  Ich  gehe  über  alles,  was  er  meiner  meinung  nach 
überzeugend  dargetan  hat,  kurz  hinweg. 


149 

Öpecielleren  Inhalt  gibt  erst  die  auschauimg  selbst.  Dass  die  aufnierk- 
samkeit  der  übrigen  individiicu  sieh  auf  denselben  gegenständ  lenkt, 
welcher  in  dem  einen  oder  in  mehreren  den  reflexlaut  hervorgerufen 
hat,  kann  zum  teil  durch  die  begleitenden  gebärden  veranlasst  sein. 
Wir  werden  uns  Überhaupt  zu  denken  haben,  dass  die  lautsprache 
sich  in  ihren  anfangen  an  der  band  der  gebärdensprachc 
entwickelt  hat,  dass  ihr  die  Unterstützung  durch  dieselbe  erst  nach 
und  nach  entbehrlieh  geworden  ist,  je  weiter  sie  sich  vervoUkomment 
hat.  Die  gebärdensprachc  muss  natürlich  gleichfalls  von  unwillkür- 
lichen reflexbewegungen  ihren  ausgang  genommen  haben.  Bei  ihr  ist 
dieser  Ursprung  noch  viel  leichter  erkennbar,  weil  wir  sie  auf  einer 
primitiveren  stufe  der  entwickeluug  beobachten  können.  Ist  es  einem 
Individuum  widerholt  gelungen  durch  eine  reflexbewegung  die  auf- 
merksamkeit  zu  en-egen,  mag  sie  nun  in  den  äugen,  den  gesichts- 
zügen,  den  bänden  oder  in  den  sprechorgaueu  ihr  endziel  finden,  so 
wird  es  allmählig  dazu  geführt,  dass  es  mit  hülfe  der  betreftenden  be- 
wegung  auch  absichtlich  die  aufmerksamkeit  zu  erregen  sucht,  sobald 
es  durch  das  bedürfniss  dazu  gedrängt  wird. 

Ist  einmal  die  mögliehkeit  der  absichtlichen  mitteiluug  erkannt, 
so  hindert  nichts  mehr,  dass  zu  den  durch  unwillkürliche  reflex- 
bewegung erzeugten  lauten  auch  solche  hinzutreten,  zu  deren  erzeugung 
von  aufang  an  die  absieht  der  mitteilung  mitgewirkt  hat.  Wir  müssen 
aber  betonen  die  absieht  der  mitteiluug,  nicht  etwa  die  absieht  ein 
bleibendes  Werkzeug  der  mitteiluug  zu  schaffen.  Eine  solche  absieht 
bleil)t  wie  überall  in  der  natürlichen  sprachentwickelung,  so  auch  bei 
der  ursehöpfung  ausgeschlossen.  Es  ist  das  bedürfniss  des  augen- 
blicks,  welches  eine  neue  lautgruppe  hervorbringt.  Ob  aber  eine  solche 
lautgruppe  mit  der  ersten  hervorbringuug  zu  gründe  geht,  oder  ob  sie 
eine  bleibende  Wirkung  hinterlässt,  das  hängt  von  ihrer  beschaffenheit 
und  von  vielen  zufälligen  umständen  ab. 

Noch  von  einer  Schwierigkeit  müssen  wir  sprechen,  die  erst  über- 
wunden werden  muss,  bevor  auch  nur  die  ersten  anfange  einer  spräche 
sich  herausbilden  können,  einer  Schwierigkeit,  die,  soviel  ich  sehe,  bis 
jetzt  noch  nirgends  gewürdigt  ist.  Der  urmensch,  der  noch  nicht  ge- 
sprochen hat,  kann  so  wenig  wie  ein  neugeborenes  kind  irgend  einen 
sprachlaut  willkürlich  erzeugen.  Auch  er  muss  das  erst  lernen,  auch 
bei  ihm  kann  sich  erst  allmählig  durch  mannigfache  tätigkeit  der 
Sprechorgane  ein  mit  einem  lautbilde  associiertes  bewegungsgefühl 
herausbilden,  welches  dann  einen  regulator  für  sein  sprechen  abgeben 
kann.  Man  darf  sich  dalier  nicht  einbilden,  dass  eine  lautgruppe,  wie 
sie  einmal  von  einem  Individuum  hervorgebracht  wurde,  nun  sofort 
von  den  andern   hätte  nachgeahmt  werden  können.    Nicht  einmal  das 


150 

selbe  individuiini  konnte  sie  absichtlich  widerholcn.  Die  sache  liegt 
ftir  den  Urmenschen  noch  viel  schwieriger  als  für  ein  kind  unserer 
zeit.  Das  letztere  ist  in  der  regel  von  einer  anzahl  von  menschen  um- 
geben, bei  denen  sich  schon  wesentlicli  übereinstimmende  beweguugs- 
gefUhle  ausgebildet  haben.  Es  hört  daher  aus  der  menge  der  mög- 
liehen laute  eine  l)estimmt  abgegrenzte  anzahl  immer  wider  von  neuem. 
Damit  ist  von  vornherein  eine  bestimmte  richtuug  gegeben,  nach  wel- 
cher sich  seine  eigenen  bewegungsgefühle  entwickeln,  der  sich  seine 
sprechversuche  immer  mehr  annähern.  Für  den  menschen  vor  der 
Sprachschöpfung  gibt  es  keine  norm,  keine  autorität.  Es  scheint  dem- 
nach, dass  das  sprechen  mit  einem  durcheinander  der  verschieden- 
aiügsten  articulationen .  wie  sie  jetzt  nirgends  in  einer  spräche  bei- 
sammen zu  finden  sind,  begonnen  haben  müsse.  Wie  konnte  aber  aus 
einem  solclien  gewirr  sieh  eine  gleichmässigkeit  des  bewegungsgeftihles 
herausbilden  ? 

Wir  werden  auch  von  dieser  seite  her  wider  zu  der  annähme 
gedrängt,  dass  gewisse  lautgruppen  besonders  häufig  nicht  nur  von 
dem  gleichen,  sondern  auch  von  verschiedenen  Individuen  spontan,  d.  h. 
ohne  mitwirkung  irgend  welcher  nachahmuug  im  wesentlichen  gleich- 
massig  erzeugt  sein  müssen.  Nur  für  solche  den  natürlichen  bedingungen 
nach  l)evorzugte  lautgruppen  kann  sich  in  ermaugelung  einer  schon  be- 
stehenden norm  ein  bewegungsgefuhl  herausbilden.  In  einer  solchen 
bevorzugten  läge  befinden  sich  am  ehesten  die  reinen  reflexlaute,  und 
an  ihnen  werden  sich  die  ersten  bewegungsgefühle  entwickelt  haben. 
Wir  können  es  uns  auch  nicht  wol  anders  vorstellen,  als  dass  die 
bewegungsgefühle  für  die  einzelnen  laute  sich  sehr  langsam  eins  nach 
dem  andern  entwickelt  haben,  und  dass  die  traditionelle  spräche  in 
ihren  anfangen  sich  mit  einem  minimum  von  lautzeichen  begnügt  haben 
wird,  wenn  auch  daneben  von  den  verschiedenen  Individuen  bald  dieser, 
bald  jener  laut  gelegentlich  hervorgebracht  wurde. 

Aus  unseren  erörterungen  geht  hervor,  dass  eine  längere  aus- 
übung  der  Sprechtätigkeit  vorangegangen  sein  rauss,  bis  etwas  ent- 
steht, was  wir  allenfalls  eine  spräche  nennen  können  in  dem  sinne, 
wie  wir  von  deutscher  und  französischer  spräche  reden,  sollte  es  auch 
nur  eine  aus  ein  paar  Wörtern  bestehende  spräche  sein.  Das,  was 
wir  urschöpfung  genannt  haben,  ist  an  sich  nicht  ausreichend  eine 
spräche  zu  schaffen.  Es  muss  gedächtnissmässige  bewahrung  des  ge- 
schaffenen durch  die  zu  einer  genossenschaft  gehörigen  individueu  hin- 
zutreten. Erst,  wo  sprechen  und  verstehen  auf  reproduction 
beruht,  ist  spräche  da. 

Betrachten  wir  dies  als  ausreichend  für  die  anerkennung  des 
Vorhandenseins  einer  spräche,  so  müssen  wir  auch  vielen  tieren  spräche 


151 

zuschreiben.  Mau  wird  seliwerlich  bestreiten  können,  dass  die  ioek- 
iind  Warnrufe  derselben  sehon  etwas  traditionelles,  nielit  mehr  etwas 
bloss  sjiontanes  sind.  Sie  repräsentieren  ein  eutvviekelnnf;sstadiuni, 
welches  auch  die  menschliche  spräche  durchlaufen  haben  muss,  eben 
dasjeniii-e,  welches  wir  zu  schildern  versucht  haben.  Damit  aber  die- 
jenige art  von  spräche  entstehe,  die  wir  jetzt  bei  dem  ganzen  menschen- 
geschlechte  linden,  gehört  noch  ein  weiterer  schritt  dazu.  Es  ist  ge- 
wiss von  grosser  bedeutung,  dass  die  zahl  der  traditionellen  Wörter 
und  damit  die  zahl  der  unterschiedenen  anschauungen  bei  dem  men- 
schen weit  über  das  mass  irgend  einer  tiergattung  hinausgewachsen 
ist,  aber  der  eigentliche  charakteristische  unterschied  der  menschen- 
sprache  von  der  tiersprache  oder  der  jetzt  bestehenden  spräche  von 
der  früheren  entwickelungsstufe  liegt  in  ganz  etwas  anderem.  In  der 
zusammenfüguug  mehrerer  Wörter  zu  einem  satze  besteht  der  ent- 
scheidende schritt  vorwärts.  Erst  dadurch  wird  dem  menschen  auch 
die  möglichkeit  gegeben  sich  von  der  unmittelbaren  anschauung  los- 
zulösen und  über  etwas  nicht  gegenwärtiges  zu  berichten. 


Cap.  X. 
Isolierung  und  reaction  dagegen. 

Der  ziisammenscliluss  der  sprachelemente  zu  gruppen  miiss,  wie 
wir  geseheu  haben,  von  jedem  individuum  einer  spraehgenosseuschaft 
besonders  vollzogen  werden.  Die  gruppen  sind  also  durchaus  subjek- 
tiver natur.  Da  aber  die  elemente,  aus  denen  sie  sich  zusammen- 
setzen, innerhalb  einer  bestimmten  Verkehrsgemeinschaft  im  grossen 
und  ganzen  die  nämlichen  sind,  so  muss  auch  die  gruppenbildung  bei 
allen  der  Verkehrsgemeinschaft  angehörenden  Individuen  vermöge  der 
wesentlichen  Übereinstimmung  ihrer  psychischen  Organisation  eine  ana- 
loge sein.  Wie  wir  daher  überhaupt  nach  einem  gewissen  durchschnitt 
das  in  einer  bestimmten  periode  allgemein  ttbliclie  darstellen,  so  sind  wir 
auch  im  stände  für  jede  entwickelungsperiode  einer  spräche  ein  im 
wesentlichen  allgemeingültiges  System  der  gruppierung  aufzustellen. 
Gerade  nur  dieses  allgemeine  im  wesen  der  elemente,  aus  denen  sich 
die  gruppen  zusammensetzen,  begründete  ist  es,  woran  sich  die  wissen- 
schaftliche betrachtung  halten  kann,  während  die  individuellen  be- 
sonderheiten  von  einzelnen,  in  der  grossen  masse  verschwindenden  aus- 
nahmen abgesehen,  sich  der  beobachtung  entziehen. 

Vergleichen  wir  nun  unsere  abstractionen  über  die  gruppierungen 
aus  verschiedenen  zeiten  mit  einander,  so  gewahren  wir  beträchtliche 
Verschiedenheiten,  und  zwar  nicht  bloss  insofern,  als  eine  anzahl  de- 
mente verloren  gegangen,  andere  neu  entstanden  sind;  sondern  auch 
da,  wo  sich  die  alten  elemente  erhalten  haben'),  gruppieren  sie  sieh 
doch  anders  in  folge  einer  Veränderung,  welche  die  lautforra  oder  die 
bedeutung  oder  beides  durchgemacht  hat.  Was  sich  früher  fest  an- 
einander schloss,  hängt  jetzt  nur  noch  lose  oder  gar  nicht  mehr  zu- 
sammen. Was  frülier  keinen  Zusammenhang  hatte,  hat .  sich  jetzt 
zusammengefunden.  Den  ersteren  Vorgang  können  wir  passend  als 
Isolierung  bezeichnen,  da  auch  die  lockerung  des  Verbandes  wenig- 
stens  eine  paiüelle  Isolierung  ist.    Natürlich  ist  auch  dieser  ausdruck 

')  Siehe  folgende  Seite! 


153 

auf  dem  uuvermeidlicheii  operieren  mit  abstraetionen  basiert.  Streng 
genommen  dürfte  man  nicht  sagen,  dass  das  früher  zusammenge- 
schlossene sich  isoliert  habe,  sondern  nur,  dass  das  in  den  seelcn 
einer  früheren  generation  zusammengeschlossene  sich  nicht  auch  in 
den  Seelen  einer  späteren  generation  zusammengeschlossen  hat. 

Die  gruppenlnldung  beruht  auf  gleich heit  oder  ähnlichkeit 
der  laut  form  und  der  bedeutung.  Diese  gleichheit  oder  ähnlich- 
keit beruht  bei  weitem  in  den  meisten  fällen  im  letzten  gründe  auf 
etymologischem  zusammenhange.  Aber  nicht  der  etymologische 
Zusammenhang  an  sich  ist  massgebend  für  den  zusammenschluss,  son- 
dern auf  jeder  sprachstufe  immer  nur,  soweit  er  sich  zur  zeit  in  totaler 
oder  partieller  gleichheit  von  laut  und  bedeutung  zu  erkennen  gibt; 
und  umgekehrt  hat  jede  zufällig  entstandene  gleichheit  ganz  den  selben 
erfolg.  Aus  der  verkennung  dieser  unläugbaren  tatsache  fliessen  so 
viele  fehler  der  älteren  Sprachwissenschaft. 

Wir  betrachten  in  diesem  capitel  zunächst  die  lockerung  und 
auseinanderreissung  der  gruppen.  Veranlasst  wird  dieselbe  durch 
laut-  und  bedeutungswandel,  zuweilen  auch  durch  die  analog! e - 
bildung.  Zwar  wirkt  die  letztere,  wie  wir  noch  sehen  werden,  vor- 
zugsweise zur  herstellung  des  gestörten  Zusammenhanges;  indem  aber 
verschiedene  analogieprincipe  sich  gegenseitig  stören,  kann  sie  auch 
die  entgegengesetzte  Wirkung  haben. 

Dass  die  verschiedenen  bedeutungen  eines  wertes  sich  mehr  und 
mehr  gegen  einander  isolieren  können,  haben  wir  schon  in  cap.  4  ge- 
sehen. Wir  haben  ferner  ib.  s.  82  gesehen,  dass  ein  wort  als  dement 
einer  festen  syntaktischen  Verbindung  sich  isolieren  kann  gegenüber 
seiner  sonstigen  verwendungsweise.  Ebenso  können  die  in  cap.  5  be- 
sprochenen gruppen  von  werten  und  wortformen  auseinandergerissen 
werden. 

Die  etymologisch -lautlichen  gruppen  werden  zerstört,  wenn 
aus  irgend  welcher  Ursache  die  bedingungen  wegfallen,  die  den  laut- 
wechsel  veranlasst  haben  und  auf  grund  deren  er  sich  dann  weiter 
analogisch  geregelt  hat.  Durch  das  Vernersche  gesetz  ist  im  urger- 
manischen ein  durchgreifender  Wechsel  zwischen  hartem  und  weichem 
reibelaut  entstanden  {h—^,  p — (5,  f — ^,  s — z\  bedingt  durch  die  Stel- 
lung des  accentes  nach  der  ursprünglichen  (indogermanischen)  be- 
tonungsweise. Nachdem  diese  betouungsweise  durch  die  jüngere,  spe- 
citisch  germanische  ersetzt  war,  gab  es  keinen  ersichtlichen  lautlichen 
grund  mehr  für  den  Wechsel,  derselbe  musste  daher  als  ganz  willkür- 


')  Ich  meine  erhalten  natürlich  in  dem  uneigentlichen  sinne,  wie  man  ge- 
wijhnlich  von  erhaltiing  in  der  Sprachgeschichte  spricht.  Wie  der  Vorgang  seinem 
eigentlichen  wesen  nach  aufzufassen  ist,  habe  ich  genugsam  dargelegt. 


154 

lieh  erscheinen.  Es  konnte  sich  zwar  ein  allgemeines  ^^efühl  dafür 
bilden,  dass  die  hetretfcnden  laute  mit  einander  zu  wechseln  pflegten, 
aber  man  konnte  sich  den  Sprachgebrauch  nicht  mehr  anders  aneignen, 
als  indem  man  jede  einzelne  form  besonders  erlernte.  Der  lautwechsel 
hatte  aufgehört  ein  lebendiger  zu  sein,  er  war  erstarrt,  tot.  Zweitens 
kann  ein  jüngerer  lautwandel  zerstörend  auf  diese  art  von  gruppen 
einwirken.  Als  beispiel  kann  hier  wider  der  Wechsel  nach  dem  Ver- 
nerschen  gesetz  dienen.  Statt  des  urgermanischen  wechseis  zwichen 
hartem  und  weichen  reibelaut  haben  wir  im  hochdeutschen  den  Wechsel 
h — (/  (daneben  ck),  d — /,  /— i'  (daneben  pp\  s — ;•.  Der  einartige  Wechsel 
hat  sich  also  in  mehrere  ganz  verschiedenartige  gespalten,  und  eine 
solche  Spaltung  ist  immer  eine  Schwächung.  Aber  der  eigentliche 
hauptfeind  der  etymologisch-lautlichen  gruppen  ist  die  ausgleichende 
Wirkung  der  stofflich-formalen  proportionengruppen ,  die  weiter  unten 
zu  besprechen  ist. 

Die  Isolierungen,  welche  auf  syntaktischem  gebiete  eintreten 
können,  sind  zum  teil  schon  in  cap.  7  besprochen.  Wir  haben  hier 
zunächst  die  Isolierungen  der  verschiedenen  bedeutungeu  eines  syntak- 
tischen Verhältnisses  gegen  einander.  Hierdurch  werden  die  syntak- 
tischen proportionengruppen  nicht  gestört,  so  lange  jede  einzelne  func- 
tion  des  Verhältnisses  vollkommen  lebendig  bleibt.  Aber  jede  erstar- 
rung  durch  gewolmheitsmässige  Verbindung  mit  einem  bestimmten 
Worte  ist  eine  loslösung-  aus  dem  allgemeinen  proportionenverbande. 
So  kann  man  z.  b.  kaum  sagen,  dass  die  Verbindung  zu  dir  noch  in 
einem  analogen  verhältniss  zu  der  Verbindung  irgend  einer  andern 
Präposition  mit  dem  dativ  stände,  geschweige  denn,  dass  eine  all- 
gemeinere function  des  dativs  damit  vom  Sprachgefühl  in  eine  analo- 
gisclie  beziehung  gesetzt  würde.  Innerhalb  einer  engeren  proportionen- 
gruppe  bleibt  aber  auch  diese  Verbindung  noch  stehen,  und  zwar  einer 
solchen,  in  welcher  durch  alle  einzelnen  propoiüonen  das  selbe  glied 
hindurchgeht:  zu  :  dir  =  zu  :  dem  vafer  =  zu  :  allen  etc. 

Hier  kann  dasjenige  wort  beliebig  wechseln,  an  welchem  das 
syntaktische  verhältniss  eine  besondere  formelle  ausprägung  hat.  Es 
gibt  noch  eine  andere  art  der  Isolierung,  bei  der  gerade  dieses  wort 
fixiert  ist,  während  das  andere,  an  welchem  das  verhältniss  keinen 
ausdruck  findet  beliebig  wechseln  kann.  Diese  Isolierung  entsteht  da- 
durch, dass  constructionsweisen  im  allgemeinen  untergehen,  sich  aber 
in  einzelnen  resten  erhalten,  die  wegen  ihres  häufigen  gebrauches  sich 
besonders  stark  eingeprägt  hal)en,  so  dass  sie  der  Unterstützung  durch 
die  analogen  proportionen  nicht  bedürfen  und  deshalb  auch  nach  dem 
untergange  der  letzteren  dauern  können. 

So   gibt  es   im  nhd.  mehrere  functionen  des  genitivs,   die  früher 


155 

vüllkommen  lebendig  waren,  jetzt  aber  auf  die  g-enitive  einiger  weniger 
Wörter  beschränkt  sind,  die  nun  ganz  für  sieh  stehen  oder  sich  zu 
ganz  kleinen  gruppen  zusamnienschliesscn,  welche  nur  einer  seiir  ge- 
ringen oder  gar  keinen  analogischen  ausbreitung  fähig  sind.  Zur  Zeit- 
bestimmung kann  abgesehen  von  den  isolierten  formein  derzeit,  jeder- 
zeit, dieser  taye,  nächster  ta(jc  nur  der  gen.  sing,  männlicher  und  neu- 
traler substantiva  verwendet  werden.  Wir  können  sagen  des  monjens, 
eines  morgens,  abends,  tages^  Jahres  aber  nicht  der  stunde,  einer  stunde 
etc.,  übrigens  auch  nicht  des  monats.  Die  betreffenden  genitive  können 
auch  kein  beliebiges  adj.  zu  sich  nehmen,  sondern  es  gibt  nur  stehende 
formein  wie  eines  schönen  tages,  morgens.  Die  function  der  Zeitbestim- 
mung haftet  hier  nicht  mehr  an  dem  gen.  als  solchem,  sondern  an 
dem  Suffix  {e)s,  dessen  ursprüngliche  Identität  mit  dem  genitivsuffix 
kaum  noch  empfunden  wird.  Man  bemerkt  dies  noch  deutlicher  an 
den  formen  ohne  artikel  abends,  morgens,  tags.,  namentlich  aber  an  der 
altertümlichen  form  {des)  nachts,  die  von  der  form,  die  jetzt  als  eigent- 
licher gen.  functioniert,  auch  lautlich  getrennt  ist.  Noch  mehr  isoliert 
als  diese  Zeitbestimmungen  sind  einige  genitive,  die  ein  räumliches 
vcrhältniss  bezeichnen:  des  weg  es.,  gerades  weges,  rechter  hand.,  linker 
hand,  allerorten,  allerwegen.  Ferner  einige  causale  genitive:  hungers 
sterben,  todes  verblichen;  auch  der  hoffnung^  des  glaubens  lebe)i,  wenn 
diese  formein  nicht  anders  aufzufassen  sind.  Zahlreicher,  aber  eben 
so  isoliert  sind  die,  welche  ein  modales  verhältniss  ausdrücken.  Es 
sind  dabei  verschiedene  Verwendungen  zu  unterscheiden.  Eine  gruppe 
verwandter  genitive  wird  prädicativ  gebraucht.  ]Man  sagt:  ich  bin  der 
ansieht,  meinung,  hoffnung,  Zuversicht,  des  sinnes,  des  glaubens,  nur  ohne 
artikel  willens,  auch  anderer  ansieht,  guter  hoffnung,  auch  etwa  er  ging 
fort,  der  meinung,  dass  etc.  Etwas  anderer  art  sind  guten  mutes,  guter 
dinge.  Schon  altertümlich  erscheinen  reinen  sinnes,  göttlicher  nalur  u. 
dergl.  Unmittelbar  wie  ein  adj.  zum  subst.  gesetzt  und  gar  nicht  mehr 
als  genitive  empfunden  erscheinen,  allerhand,  mancherhand,  eijierhand, 
keinerhand,  allerlei^  aller  art  etc.  Ausserdem  sagt  man  es  ist  einerlei. 
Wider  andere  formein  werden  adverbial  zum  verbum  gesetzt,  wie 
meines  bedünkens,  meines  erachtens,  alles  ernstes,  stehenden  fusses,  eilen- 
den Schrittes,  kurzer  hand,  leichten  kaufes,  unv  er  rieht  et  er  sache,  vorsich- 
tiger fveise,  törichter  w.,  vernünftiger  w.,  etc.,  vorkommenden  falls,  besten 
f.,  keines  f.,  etc.,  keineswegs,  einigermassen,  gewisserm.  etc.,  dergestalt, 
solchergestalt.  Einige  von  diesen  formein  werden,  wie  schon  die  jetzt 
übliche  Schreibung  zeigt,  geradezu  als  adverbia  angesehen.  Das  selbe 
gilt  von  flugs,  spornstreichs,  augenblicks,  teils,  grössten  teils  etc.  und  den 
aus  adjectiven  abgeleiteten  anders,  rechts,  links,  stets,  stracks,  bereits, 
besonders,  blindlings  etc. 


156 

Die  formel  es  sei  denn  dass  ist  ein  rest  einer  im  älteren  nhd. 
noch  le))cn(lig'eu  eonstructionsweise,  vgl.  1  Mos.  32,  26  ich  lasse  dich 
nicht,  du  segnest  mich  denn;  noch  allgemeiner  war  dieselbe  im  mhd. 
mit  der  uegation  en  und  auch  ohne  de^ine.  Von  dieser  älteren  weise 
haben  wir  einen  gar  nicht  mehr  erkennbaren  rest  in  dem  adverbium 
nur  =  eniv(ere. 

Die  Isolierung  kann  nun  endlich  noch  weiter  gehen,  indem  keines 
der  mit  einander  verbundenen  glieder  mehr  frei  wechseln  kann,  so  dass 
dann  also  jede  einzelne  formel  nur  noch  gedäclitnissmässig  fortgepflanzt 
wird  ohne  irgend  eine  neue  Verbindung  zu  erzeugen. 

Es  ist  im  nhd.  nicht  mehr  möglich  präpositionen  mit  einem  be- 
liebigen subst.  im  sing,  zu  verbinden  ohne  beifilgung  des  artikels. 
]Man  kann  z.  b.  nicht  sagen  an  hause,  vor  tür,  zu  see  etc.,  sondern  nur 
am  hause,  vor  der  tür,  zur  see.  In  gewissen  beschränkteren  umkreisen 
aber  ist  es  noch  möglich  Verbindungen  ohne  artikel  frei  zu  schaffen, 
z.  b.  vor  liebe,  hesorgniss,  kummer  etc.  (zur  bezeichnung  des  hinder- 
nisses);  auf  ehre,  gewinn,  Weisheit,  geld  gerichtet  (so  kann  auf  mit 
jedem  abstractum  oder  collectivum  verbunden  werden,  um  das  ziel  des 
strebens  zu  bezeichnen) ;  zu  gelde,  weine.,  wasser  werden,  machen,  und  so 
bei  jedem  collectivum,  aber  die  arbeit  wird  ihm  zur  erholung,  zum  ge- 
nuss,  der  knabe  wird  zum  mann,  das  mädchen  zur  frau.  Andere  Ver- 
bindungen dagegen  gehören  gar  keiner  schöpferischen  gruppe  mehr 
au,  und  es  lässt  sich  nichts  ihnen  noch  so  vollkommen  analoges  mehr 
neu  schaffen.  Am  zahlreichsten  sind  wol  die  formein  mit  zu :  zu  hause ') 
(aber  nicht  zu  dorfe,  zu  stadt),  zu  wasser,  zu  lande  (das  letztere  im 
gegensatz  zum  ersteren,  aber  nicht  mehr  wie  mhd.  ze  lande,  analog 
dem  zu  hause),  zu  schiffe.,  wagen,  fusse,  pferde,  zu  anfang.,  ende.,  zu 
tische,  bette,  markte,  zu  leide,  liebe,  gute,  zurück,  zurecht,  zunichte; 
anderes  ist  jetzt  auf  die  Verbindung  mit  bestimmten  verben  beschränkt, 
während  im  älteren  nhd.  vielfach  noch  eine  freiere  gebrauchsweise 
herrscht:  zu  gründe  gehen,  zu  rande  sein  mit  etwas,  zu  berge  stehen, 
zu  köpfe  steigen,  mir  ist  zu  mute,  zu  sinne,  einem  zu  gemüte  führen, 
zu  schaden  kommen  (aber  zum  schaden  gereicheri),  zu  tode  kommen, 
quälen,  zu  statten  kommen,  zu  wege  bringen,  zu  gesichte  kommen,  einem 
etwas  zu  danke  machen,  einem  zu  willen  sein,  zu  rate  gehen,  halten,  zu 
abend,  zu  nacht,  zu  mittag  speisen,  zu  tage  bringen,  fördern,  aber  nicht 
zu  tage  =  am  tage  oder  an  diesem  tage,  wol  aber  heutzutage.  Be- 
merkenswert sind  aucli  die  parallelverbindungen  zu  nutz  und  frommen. 


')  Man  beachte,  dass  in  mclireren  dieser  formcln  cm  noch  zur  bezeichnung 
der  ruhe  an  einem  orte  gebraucht  wird,  was  nur  in  ganz  bestimmten  Verbindungen 
möglich  ist. 


157 

aber  zum  frommen,  zum  nutzen,  abgesehen  von  der  Wendung  sich  ehras 
zu  nutze  machen;  zu  spiel  und  tanz,  aber  zum  spiel,  zum  tanz;  in  freud 
und  leid,  aber  in  der  freude,  im  leide;  in  krieg  und  frieden,  aber  im 
kriege,  im  frieden  {in  frieden  hat  abweichende  bedeutung);  in  (durch) 
feld  und  wald,  aber  im  felde,  im  tvalde,  durch  das  feld,  durch  den  tvald; 
in  dort  und  Stadt,  aber  im  dorfe,  in  der  Stadt  etc. 

Ein  anderes  hierher  gehöriges  beispiel  ist  folgendes.  -  Im  mhd. 
kann  das  adj.  in  attributiver  Stellung  namentlich  nach  dem  unbestimm- 
ten artikel  im  nom.  sg.  aller  geschlechter  und  im  acc.  sg.  neutr.  noch 
in  der  sogenannten  unflectierten  form  gebraucht  werden,  also  ein  guot 
{schcene)  man,  frouwe,  kint.  Dagegen  im  uhd.  kann  nur  die  fleetierte 
form  gebraucht  werden:  ein  guter  mann,  eine  gute  frau,  ein  gutes  kind. 
Zahlreiche  spuren  aber  hat  die  ältere  constructionsweise  hinterlassen 
in  den  uneigentliehen  compositis,  die  durch  zusammenwachsen  eines 
adj.  mit  einem  subst.  entstanden  sind  wie  altmeister,  bösetvicht,  hirz- 
weiU  Neumann,  Scliönbrunn  etc.  Und  ferner  erscheint  die  uufleetierte 
form  noch  in  einigen  stehenden  Verbindungen:  gut  weiter,  schlecht  n\, 
ander  n-.,  ein  gut  stück,  ein  gut  teil,  ein  ander  mal,  manch  mal,  ein 
ander  bild  (noch  im  achtzehnten  jahrh.  ist  ander  auch  sonst  häufig), 
gut  ding  will  weile  haben.  Altertümlich  sind  ßmg  Roland,  schön  Suschen, 
lieb  mütterchen. 

Ganz  vereinzelte  reste  sind:  zweifelsohne  (im  mhd.  kann  nach- 
gestelltes äne  mit  jedem  beliebigen  genitiv  verbunden  werden),  mutter- 
seelenallein (im  mhd.  ist  aleine  mit  dem  gen.  im  sinne  von  , getrennt 
von"  in  allgemeinem  gebrauch),  vergissmeinnicht  {vergessen  früher  all- 
gemein mit  dem  gen.  eonstruiert),  dass  es  got  erbarme  (mhd.  mich  er- 
barmet ein  dinc  mir  tut  etwas  leid). 

Die  syntaktischen  Isolierungen  sind  zum  teil  auch  Isolierungen 
auf  dem  gebiete  der  formalen  gruppierung,  da  ja  diese  zum  guten 
teile  auf  der  syntaktischen  function  beruht;  vgl.  namentlich  die  oben 
angeführten  genitive.  Die  formale  Isolierung  aber  steht  wider  in  engem 
zusammenhange  mit  der  Isolierung  des  sto  ff  liehen  dementes,  so- 
weit dieselbe  eine  folge  des  bedeutungswandels  ist.  Eine  trennung 
der  etymologisch  zusammenhangenden  formen  wird  so  lange  vermieden, 
als  die  bedeutungsentwickelung  der  einzelnen  sich  in  parallelen  linien 
bewegt.  Dies  wird  um  so  mehr  der  fall  sein,  je  mehr  sie  immer  von 
neuem  auf  einander  bezogen  werden.  Am  lebendigsten  aber  ist  die 
beziehuug,  wenn  sie  nicht  bloss  jede  für  sieh  gedäehtnissmässig  über- 
liefert, sondern  auch  fortwährend  die  eine  zur  andern  nach  sonstigen 
analogieen  hinzugeschaffen  werden.  Da,  wie  wir  gesehen  haben,  bei 
jeder  neuschöpfung  einer  form  eine  stoffliche  und  eine  formale  gruppe 
zusammenwirken,    so    bedingen    sich    beide   gegenseitig   in  bezug  auf 


158 

ihre  seböpferiselie  kraft.  Eine  formale  isolierimg  ist  fast  immer  zu- 
gleich eine  stortliehe.  Wenn  rechts  nicht  mehr  als  gen.  empfunden 
wird,  so  steht  es  auch  nicht  mehr  in  so  innigem  zusammenhange  mit 
dem  Dom.  recht.  Kunst  steht  in  keinem  so  engen  zusammenhange  mit 
könjien  als  führimg  mit  führen\  denn  -wig  ist  ein  noch  lebendiges  Suf- 
fix, mit  hülfe  dessen  wir  jederzeit  im  stände  sind  neue  substantiva  aus 
Verben  zu  bilden,  nicht  so  -sl.  Ja  wir  dürfen  weiter  behaupten,  dass 
reglerung  im  sinne  von  'regierendes  eollegium',  mischung  =  gemischtes, 
kleklimg  =  mittel  zum  kleiden  u.  dgl.  nicht  in  so  engem  zusammen- 
hange mit  den  betreffenden  verben  stehen  als  regierung  =  das  regiereu 
etc.  Denn  nur  die  bezeichnung  einer  tätigkeit  ist  die  vollständig  leben- 
dige function  des  Suffixes  -ung,  in  welcher  sich  jedem  transitiven  ver- 
bum  ein  subst.  zur  seite  stellen  lässt. 

Die  auf  die  flexion  bezüglichen  gruppen  haben  natürlich  einen 
festeren  Zusammenhang  als  die  auf  die  Wortbildung  bezüglichen.  Einer- 
seits ist  das  mass  des  gemeinsamen  dementes  ein  grösseres,  ander- 
seits ist  das  gefühl  für  die  bildungsweise  am  lebendigsten.  Charak- 
teristisch ist  in  dieser  hinsieht  das  verhalten  der  nominalformen  des 
verbums.  Sobald  sie  als  wirkliche  nomiua  gebraucht  werden,  der  inf. 
mit  dem  artikel  versehen,  das  pari  zur  bezeichnung  einer  bleibenden 
eigenschaft  verwendet  wird,  ist  der  Zusammenhang  mit  den  übrigen 
verbalformen  gelockert,  und  damit  die  möglichkeit  zu  einer  al)weicheu- 
den  weiterentwickelung  der  bedeutung  geschaffen. 

Eine  bedeutungserweiterung  des  grundwortes  oder  des  dem 
Sprachgefühl  als  solches  erscheinenden  Wortes  teilt  sich  leichter  der 
ableitung  mit,  als  umgekehrt  eine  bedeutungserweiterung  der  ableitung 
dem  grundwort.  Weil  man  sich  nämlich  bei  der  ableitung  leichter  au 
das  grundwort  erinnert  als  umgekehrt,  so  knüpft  man  auch  die  ab- 
leitung leichter  an  alle  bedeutungen  des  grundwortes  an,  als  das  grund- 
wort an  alle  bedeutungen  der  ableitung.  Deshalb  geht  der  anstoss 
zur  Isolierung  gewöhnlich  von  einer  bedeutuugsveränderung  der  ab- 
leitung aus.  Wie  das  grundwort  zur  ableitung  verhält  sich  das  simplex 
zum  compositum. 

Die  Ursache  zu  ungleichmässiger  bedeutungsentwickelung  et3ano- 
logisch  verwandter  Wörter  liegi,  soweit  sie  nicht  erst  die  folge  ander- 
weitiger isolierung  ist,  in  der  von  anfang  an  bestehenden  Verschieden- 
heit der  function.  Ein  nomen  kann  sich  nach  richtungen  hin  ent- 
wickeln, nach  denen  ihm  das  verbum  nicht  nachfolgen  kann.  In  wirk- 
licher correspondenz  mit  dem  verbum  stehen  nur  die  eigentlichen 
nomina  agentis  und  nomina  aetionis.  Sobald  das  nomen  agentis  zur 
bezeichnung  einer  )>leil>enden  eigenschaft  oder  des  trägers  einer  blei- 
benden eigenschaft,  das  nomen  aetionis  zur  bezeichnung  eines  bleiben- 


159 

deu  zustandes  oder  eines  produets,  eines  Werkzeugs  geworden  ist,  so 
kann  sich  dann  ein  weiterer  bedeutungsiulialt  anheften,  wie  er  sieh 
zu  einem  verbum  nicht  fügt.  So  ist  nhd.  rUter  nomen  agentis  zu 
reiten,  wird  dann  zur  bezeichnung  eines  manues,  der  das  reiten  ge- 
wohnheitsmässig,  berufsmässig  treibt.  Dabei  bleibt  es  zunächst  noch 
mit  dem  verbum  innig  verbunden.  Indem  dann  aber  das  wort  vor- 
zugsweise von  beritteneu  kriegern  gebraucht  wird  und  aus  diesen  be- 
rittenen kriegern  sich  ein  privilegierter  stand  entwickelt,  ein  orden,  in 
den  mau  feierlich  aufgenommen  wird,  ist  es  bei  einer  bedeutung  au- 
gelangt, der  überhaupt  keine  verbale  bedeutung  entsprechen  kann. 
Und  so  hat  es  denn  noch  weiter  einen  sinn  bekommen,  der  mit  dem 
ursi)rüuglichen  gar  nichts  mehr  zu  schaffen  hat.  Auch  für  das  adv. 
sind  manche  bedeutungsentwickelungeu  möglich,  die  dem  adj.  unmög- 
lich sind.  Man  denke  z.  b.  an  die  allgemein  verstärkenden  oder  be- 
schränkenden adverbien,  wie  nhd.  sehr  =  mhd.  sere  von  einem  adj. 
ser  verwundet,  ahd.  harto  und  dräto  valde  von  den  adjectiveu  herli 
hart  und  dräti  schnell,  nhd.  in  der  Umgangssprache  schrecklich,  furcht- 
bar, entsetzlich,  fast  zu  fest,  auch  an  solche  wie  schon  zu  schön. 

Die  etymologischen  gruppen  und  die  formen  mit  lautlicher  Über- 
einstimmung und  somit  auch  die  aus  beiden  sich  zusammensetzenden 
proportiouengruppen  erfahren  auch  durch  den  lautwandel  eiuwir- 
kungen,  die  den  zusammenhält  stark  beeinträchtigen  oder  gänzlich 
zerstören.  Es  werden  durch  denselben  eine  menge  zwecklose  unter- 
schiede erzeugt.  Denn  es  ist  in  den  allgemeinen  Ursachen  des  laut- 
wandels  begründet,  dass  in  den  seltensten  fällen  sich  ein  laut  überall 
da,  wo  er  in  der  spräche  erscheint,  auf  die  gleiche  art  verändert. 
Selbst  ein  so  spontaner  lautwandel,  wie  die  urgermanische  lautver- 
schiebung  hat  doch  gewisse  hemmende  schranken  gefunden,  die  sich 
einer  gleichmässigen  durchführung  widersetzt  haben,  indem  z.  b.  in 
den  Verbindungen  sk,  st,  sp  die  Verschiebung  unterblieben  ist.  Noch 
viel  mehr  veranlassung  zu  differenzierung  ursprünglich  gleicher  laute 
liegt  da  vor,  wo  die  Veränderung  durch  die  umgebenden  laute  oder 
durch  die  accentuation  bedingt  ist.  So  entstehen  fast  bei  jedem  laut- 
wandel zwecklose  unterschiede  zwischen  den  verschiedenen  ableitungen 
aus  der  selben  wurzel,  zwischen  den  verschiedenen  flexionsformeu  des 
selben  wertes  (vgl.  z.  b.  gr.  öt/Cco  —  ör/gco  —  orixtög  —  origfia,  nhd. 
sitze  —  SÜSS,  heiss  —  heitze  —  hitze;  schneide  —  schnitt ;  friere  —  frost 
etc.);  die  gleichen  ableitungs-  und  flexionssuftixe  spalten  sich  in  ver- 
schiedene formen  (vgl.  z.  b.  die  verschiedenen  gestaltungeu  des  indo- 
germanischen Suffixes  -ti-  in  lat.  hostis,  messis,  pars,  in  got.  ansts  — 
gabaurps  —  </iss,  die  verschiedene  behandlung  der  nominativendung 
-r    in    altu.  so7ir  —  steinn    [aus    *sieinr]  —  heill  —  iss  —  fiu/l    [aus 


160 

'*/'ui/lr]  etc.);  Ja  das  gleiche  wort  nimmt  je  naeh  der  Stellung  im  satze 
verschiedene  form  an  (vgl.  die  mehrfachen  formen  griechischer  präpo- 
sitionen  wie  tv  —  £//  —  ly,  övv  —  öv^i  —  ör/).  Daraus  entspringt  für 
die  folgenden  generationen  eine  unnütze  belastung  des  gedächtnisses. 
Zugleich  aber  ist  auch  die  unvermeidliche  folge  die,  dass  die  einzelnen 
formen  wegen  des  veriiugerten  masses  der  lautlichen  Übereinstimmung 
sich  jetzt  weniger  leicht  und  weniger  fest  zu  gruppen  zusammen- 
schliessen.  Die  folge  davon  ist,  dass  sich  ",in  bedeutungswandel  weniger 
leicht  von  einem  verwandten  worte  auf  das  andere  überträgt.  Die 
Zerstörung  der  Übereinstimmung  in  der  lautgestaltung  begünstigt  daher 
die  Zerstörung  der  Übereinstimmung  in  der  bedeutung. 

Das  absterben  der  lebendigen  bildungsweisen  nimmt  meist  seinen 
ausgang  von  einer  lautlichen  Isolierung,  die  häufig  sowol  stofflich  als 
formal  ist,  die  bedeutungsisolierung  kommt  erst  hinterher.  Wir  können 
z.  b.  im  germanischen  eine  periode  voraussetzen,  in  welcher  vielleicht 
aus  jedem  intransitiven  starken  verbum  ein  schwaches  causativum  ge- 
bildet werden  konnte.  Das  selbe  unterschied  sich  schon  von  der  indo- 
germanischen zeit  her  im  wurzelvocal  vom  präs.  des  grundwortes,  in- 
dem es  aber  mit  dem  sg.  ind.  prät.  übereinstimmte  {brhina  —  hrann  — 
hrannjan  etc.),  war  doch  eine  nahe  lautliche  beziehung  gewahrt.  Aber 
ein  riss  trat  schon  im  urgerm.  ein  durch  die  Wirkung  des  Vernerschen 
gesetzes,  in  folge  dessen  in  vielen  fällen  eine  eonsonantische  ab- 
weichung  des  causativums  nicht  bloss  vom  präs.,  sondern  auch  vom 
sg.  prät.  des  grundwortes  entstand.  Diese  abweichung  hat  weiterhin 
im  ahd.  mitunter  vocalische  abweichuugeu  im  gefolge.  Das  causa- 
tivum nimmt  dann  abweichend  vom  sg.  prät,  wo  es  möglich  ist,  den 
umlaut  an.  So  entstehen  im  mhd.  Verhältnisse  wie:  springen  —  spranc 
—  sprengen^  varen  —  vuor  —  vüeren,  slhen  —  sich  —  sehjen,  ziehen  — 
zoch  —  zöugen,  genesen  —  genas  —  neren.  Unter  solchen  umständen 
war  es  natürlich,  dass  grundwort  und  causativum  nun  ihre  eigenen 
wege  in  der  l)edeutungsentwickelung  gingen,  so  dass  z.  b.  in  nhd. 
genesen  —  nähren  niemand  mehr  einen  Zusammenhang  fühlt.  Durch 
die  erwähnten  lautveränderungen  wird  aber  auch  die  gleichmässigkeit 
der  bildungs weise  angegriffen,  und  darunter  leidet  der  Zusammenhang 
der  eausativa  unter  einander  auch  nach  der  seite  der  bedeutung  und 
wird  schliesslich  ganz  zerstört. 

Das  absterben  der  indogermanischen  ableitungssuffixe  im  ger- 
manischeu hat  seinen  ersten  anlass  meist  in  einer  lautveränderung. 
So  erscheint  z.  b.  das  t  der  suffixe  -tei,  -teu,  -to  etc.  nach  der  laut- 
verschiebung  in  fünffacher  gestalt:  t  (got  paurfls  bedürfniss  zu  Jjüur- 
ban,  gaskafts  Schöpfung  zu  skapjan,  mahts  macht  zu  magan,  fravaurhts 
vergehen  zu  vaurkjan\  jj  {gaqumps  zuzammenkunft  zu  qiman,  gdbaurps 


l 


l 


161 

geburt  zu  bairan),  d  {-deds  tat  zu  alts.  dön,  </amtmds  g-edäclituiss  zu 
mwKui),  si  {-ansis  gnade  zu  unnan,  alahnmsts  l)rand()pfer  zu  hrhman), 
s  {-qis-s  rede  zu  qipan,  -stass  tritt  zu  standun,  gaviss  Verbindung  zu 
f/avidan).  Ein  bewusstsein  für  die  ursprüngliche  identität  dieser  ver- 
schiedenen lautgestaltungen  kann  es  natürlich  nicht  geben.  Die  grosse 
gruppe  zerteilt  sich  in  fünf  kleinere.  Keinem  von  den  fünf  suftixen 
kommt  allgemeiugültigkeit  zu.  Dazu  ist  der  Zusammenhang  mit  dem 
grundwort  vielfach  gelockert  durch  Veränderungen  des  wurzelauslauts, 
wofür  die  beispiele  schon  gegeben  sind.  Daher  ist  die  unausbleibliche 
folge  gewesen,  dass  die  alten  suffixe  die  fähigkeit  verlieren  mussten 
noch  zur  bildung  neuer  Wörter  zu  dienen,  dass  fortan  nur  noch  die 
alten  bildungen  gedächtnissmässig  weiter  überliefert  wurden,  und  zwar 
nur  so  weit,  als  sie  wegen  häufigen  gebrauches  einer  stütze  durch  das 
grundwort  nicht  bedurften.  So  ist  ferner  suffix  -no-  abgestorben,  weil 
es  in  vielen  fällen  in  folge  der  assimilation  des  n  an  den  vorher- 
gehenden consonanten  unkenntlich  geworden  war,  vgl.  fulls  =  indog. 
plnos  etc. 

Der  Symmetrie  des  formensystems  ist  also  im  lautwandel  ein 
unaufhaltsam  arbeitender  feind  und  Zerstörer  gegenüber  gestellt.  Man 
kann  sich  schwer  eine  Vorstellung  davon  machen,  bis  zu  welchem 
grade  der  zusaramenhangslosigkeit,  Verworrenheit  und  unverständlich- 
keit  die  spräche  allmählig  gelangen  würde,  wenn  sie  alle  Verheerungen 
des  lautwaudels  geduldig  ertragen  müsste,  wenn  keine  reaction  da- 
gegen möglich  wäre.  Ein  mittel  zu  solcher  reaction  ist  nun  aber  in 
der  analogiebildung  gegeben.  Mit  hülfe  derselben  arbeitet  sich  die 
spräche  allmählig  immer  wider  zu  angemesseneren  Verhältnissen  durch, 
zu  festerem  zusammenhält  und  zweckmässigerer  gru})pieruug  in  flexion 
und  Wortbildung.  So  sehen  wir  denn  in  der  Sprachgeschichte  ein 
ewiges  hin-  und  herwogen  zweier  entgegengesetzter  Strömungen.  Auf 
jede  desorganisation  folgi;  eine  reorganisation.  Je  stärker  die 
gruppen  durch  den  lautwandel  angegriffen  werden,  um  so  lebendiger 
ist  die  tätigkeit  der  neuschöpfung. 

Wo  durch  den  lautwandel  eine  unnötige  und  unzweckmässige 
differenz  entstanden  ist,  da  kann  dieselbe  mit  hülfe  der  analogie  be- 
seitigt werden,  indem  nämlich  eine  so  differenzierte  form  allmählig 
durch  eine  ueubildung  verdrängt  wird,  welche  die  betreffende  differenz 
nicht  enthält.  Wir  können  diesen  proeess  als  ausgleichung  be- 
zeichnen, nur  müssen  wir  uns  klar  darüber  sein,  dass  mit  diesem  aus- 
druck  nicht  das  eigentliche  wesen  des  Vorgangs  bezeichnet  ist,  dass 
derselbe  sich  vielmehr  aus  einer  complicierten  reihe  von  einzelvorgängen 
zusammensetzt,  wie  sie  in  cap.  5  analysiert  sind. 

Gehemmt   wird   die    ausgleichung   durch    die    stofflich-lautlichen 

Paul,  Principien.    II.  Auflage.  11 


162 

Proportionen.  Ein  noch  lebendiger,  durch  solche  proportionen  ge- 
stützter lautwandel  entzieht  sich  öfters  der  ausgleiehung  lange  zeit, 
jedoch  ohne  dass  er  derselben  ein  unüberwindliches  hinderuiss  in  den 
weg  stellte.  Sind  einmal  die  stofflich-lautlichen  proportionen  durch- 
brochen, so  verliert  der  lautwechsel  sehr  an  Widerstandskraft. 

Wir  gehen  jetzt  dazu  über  die  verschiedenen  arten  der  aus- 
gleiehung näher  zu  betrachten.  Wo  ein  und  dieselbe  form  unter  dem 
einflusse  verschiedener  Stellung  innerhalb  des  Satzgefüges 
sich  in  mehrere  verschiedene  formen  gespalten  hat,  geht  der  anfäng- 
liche unterschied  in  der  Verwendung  dieser  formen  verloren,  indem  die 
eine  form  auch  an  solcher  satzstelle  gebraucht  wird,  an  welcher  die 
lautliche  entwickelung  zur  erzeuguug  der  andern  geführt  hat. 

G.  Curtius  in  seinen  Studien  10,  205  ff.  hat  gezeigt,  dass  sich  der 
auslaut  der  griechischen  präpositionen  sowie  der  des  acc.  sing,  des 
artikels  in  der  älteren  zeit  nach  dem  anlaut  des  folgenden  wertes 
richtet,  z.  b.  xad  de  —  xax  xt(paXi]v  —  xay  yovv  —  xajt  jitöiov  — 
xav  vofiov  —  xäfi  (isv  —  xüq  qoov  —  xdX  XajtaQ7]V,  t6//  ßeXriOrov  — 
Toy  xQäTiöTov  —  zov  ^QaCvtarop  —  to2  Xmarov  etc.,  während  in 
späterer  zeit  eine  von  diesen  mannigfaltigen  formen  oder  die  davon 
noch  verschiedene  adverbialform  *)  zur  allgemeinen  normalform  wurde.^) 

In  den  germanischen  sprachen  widerholt  sich  mehrmals  in  ver- 
schiedenen Perioden  der  process,  dass  die  gleichzeitig  als  adverbien 
und  als  präpositionen  gebrauchten  Wörter,  je  nachdem  sie  im  satze 
vollbetont  sind  oder  enclitisch,  und  je  nachdem  sie  als  enclitica  noch 
einen  nebenton  tragen  oder  ganz  unbetont  sind,  sich  in  zwei  oder 
mehr  verschiedene  formen  spalten,  deren  anfänglicher  functionsunter- 
schied  aber  nicht  festgehalten  wird,  indem  sich  die  eine  form  an 
stelle  der  andern  eindrängt,  vgl.  darüber  Beitr.  z.  gesch.  d.  deutschen 
spr.  VI,  144.  191  ff  199  ff  207  ff  248  ff  1372.  u^^  „„i-  ein  beispiel 
anzuführen,  urgerm.  iö  (zu)  ist,  wo  es  vollbetont  war,  also  in  adver- 
bialem gebrauche  ungeschwächt  geblieben,  als  procliticum  dagegen  zu 
*to  verkürzt.  Aus  dem  letzteren  entstehen  unter  verschiedeneu  accent- 
bedingungen  im  ahd.  za  —  ze  —  zi.  Diese  werden  in  einigen  der 
ältesten  denkmäler  unterschiedslos  neben  einander  gebraucht,  in  jüngerer 
zeit  setzt  sich  in  jedem  dialect  eins  davon  fest.  Alle  drei  werden  im 
mhd.  zu  ze.  Neben  diesem  tritt  dann  aber  die  aus  td  regelrecht  ent- 
wickelte form  zuo  auch  als  präp.  auf  und  gelangt  im  nhd.  zur  allein-      1 

')  Dafür  imiss  man  wol  z.  b.  dvä,  xaxü,  naQÜ  ansehen  im  gegensatze  zu 
UV,  xuT,  nui)  mit  ihren  verschiedenen  nebenformen;  ebenso  h'i,  ntQi,  noxi,  n^oti 
gegen  h,  neQ,  nox  oder  noq,  tiqox  oder  iiQoq. 

*)  Wieweit  in  der  wirklichen  ausspräche,  wieweit  blos  in  der  schrift,  bleibt 
in  einigen  fällen  noch  zweifelhaft. 


163 

heiTSchaft.     Aelmlieh   verhält   es   sieh   mit  den  formen  der  pronomina 
lind  des  artikels,  vo-l.  Beitr.  YL  1372.  144  ff. 

In  der  Übergangszeit  vom  ahd.  zum  mhd.  fällt  auslautendes  r 
nach  langem  voeal  ab  in  da  aus  dar,  hie  aus  lüer  etc.,  bleibt  aber 
erhalten  in  enger  Verbindung  mit  einem  folgenden  vrorte,  weil  es  dann 
zur  folgenden  silbe  hinübergezogen  wird,  also  dar  an,  hier  an  etc.  Im 
ulid.  tritt  hier  auch  sonst  an  stelle  von  hie  und  verdrängt  letzteres  in 
der  Schriftsprache  allmählig  ganz,  abgesehen  von  der  Verbindung 
hie  und  da.  Umgekehrt  finden  sich  im  mhd.  auch  die  Verbindungen 
hie  in?ie,  hie  uze  und  zusammengezogen  hinne,  hüze,  noch  jetzt  ober- 
deutsch. 

Der  process  der  differenzierung  und  ausgleichung  kann  sich 
mehrmals  hinter  einander  widerholeu.  Im  ahd.  hat  sich  ana  in  ana 
(adv.)  und  an  (präp.)  gespalten;  die  erstere  form  hat  dann  die  letztere 
verdrängt.  Im  mhd.  spaltet  sieh  ana  wider  in  ane  und  an  und  die 
erstere  form  wird  durch  die  letztere  verdrängt.  Eine  ähnliche  ent- 
wickeluug  hat  aba  (ab)  durchgemacht. 

Die  einwirkuug  des  Satzgefüges  auf  die  lautentwickelung  begreift 
sich,  wie  wir  gesehen  haben,  dadurch,  dass  eine  wortgruppe  ebenso 
wie  das  einzelne  wort  als  eine  einheit  erfasst  wird,  welche  von  dem 
hörenden  nicht  erst  in  ihre  demente  zerlegt,  von  dem  sprechenden 
nicht  erst  aus  ihren  dementen  zusammengesetzt  wird.  Das  verhältniss 
ist  also  das  selbe  wie  bei  einem  compositum,  wie  es  denn  überhaupt, 
was  noch  weiterhin  zu  erörtern  sein  wird,  gar  keine  scharfe  grenze 
zwischen  compositum  und  wortgruppe  gibt.  Namentlich  ist  ursprüng- 
lich zwischen  der  Verbindung  der  präposition  mit  einem  nomen  und 
der  mit  einem  verbum  kaum  ein  unterschied  zu  machen.  In  unserem 
falle  tritt  demnach  an  die  stelle  der  traditionellen  gestalt  der  gruppe 
eine  neugeschaffene  Zusammensetzung. 

Es  sind  dabei  zwei  verschiedene  wege  der  entwickdung  möglich. 
Entweder  es  greift  nur  die  eine  form  in  die  function  der  andern  über, 
oder  der  übergriff'  ist  ein  wechselseitiger.  Letzteres  Avird  natürlich  dann 
eintreten;  wenn  die  verschiedenen  formen  in  bezug  auf  häufigkeit  des 
Vorkommens  einander  ungefähr  die  wage  halten,  ersteres,  wenn  die 
häufigkeit  der  einen  die  der  andern  bedeutend  überwiegt.  In  beiden 
fällen  ist  der  erfolg  der,  dass  zunächst  eine  Zeitlang  doppelformen 
(respective  tripelformen  etc.)  neben  einander  herlaufen,  aber  in  dem 
einen  falle  nur  auf  einem  beschränkten  gebiete,  während  sonst  ein- 
formigkeit  bleil)t.  in  dem  andern  falle  mit  unbeschränkter  geltung. 
Eine  allgemeine  einformigkeit  ergibt  sich  dann  erst  wider  im  laufe 
der  weitereu  entwickdung  durch  den  Untergang  der  einen  form.  .  Da, 
wo   der   mehrformigkeit   auf  dem   einen   noch   einformigkeit  auf   dem 

11* 


164 

auderu  gebiete  gegenüber  steht,  kann  es  natürlich  nicht  zweifelhaft 
sein,  welche  form  den  sieg  davon  tragen  muss.  Wo  aber  die  mehr- 
iormigkeit  einmal  allgemein  geworden  ist,  da  ist  auch  das  kräftever- 
hältuiss  kein  so  ungleiches,  der  kämpf  nicht  so  leicht  zu  entscheiden, 
der  ausgang  von  zufälligen  umständen  abhängig,  die  für  uns  nicht 
immer  zu  erkennen  sind.  Je  ungleicher  das  verhältniss  ist,  um  so 
kürzer  ist  auch  der  kämpf,  um  so  früher  beginnt  auch  der  angriff. 

Die  Spaltung  einer  form  in  mehrere  verschiedene  kann  so  vor 
sich  gehen,  dass  unter  allen  umständen  eine  Veränderung  eintritt,  aber 
auch  so,  dass  dabei  die  grundform  neben  einer  oder  mehreren  ver- 
änderten formen  bewahrt  1)leibt.  Im  letzteren  falle  hat  bei  der  wei- 
teren entwickelung  die  grundform  an  sich  keinen  vorzug  vor  der  ab- 
geleiteten; denn  sie  wird  nicht  als  solche  erkannt.  Wol  aber  hat 
diejenige  form  einen  vorzug  vor  den  übrigen,  in  welcher  das  woii;  er- 
scheint, wenn  es  von  einer  beeiuflussung  durch  das  Satzgefüge  unab- 
hängig ist,  mag  sie  die  grundform  sein  oder  nicht.  Der  Franzose,  der 
sich  nicht  wissenschaftlich  mit  seiner  muttersprache  beschäftigt  hat, 
weiss  nichts  davon,  dass  in  a-t-il  eine  ursprünglichere  form  steckt  als 
in  //  a,  dass  in  un  ami  das  n  eine  ursprünglichere  anspräche  hat  als 
in  un  fils.  Er  wird,  wenn  er  überhaupt  darüber  reflectiert,  viel  eher 
geneigt  sein  das  /  für  einen  einschub,  die  ausspräche  des  n  in  un  ami 
für  eine  abänderung  der  normalen  zu  halten. 

Diese  bemerkungen  lassen  sich  mutatis  mutandis  auf  jede  andere 
art  der  ausgleichung  dui^h  analogiebilduug  anwenden. 

Wesentlich  der  selbe  Vorgang  ist  die  ausgleichung  zwischen  laut- 
lich differenzierten  formen ,  die  aus  dem  gleichen  stamme,  oder  Wör- 
tern, die  aus  der  gleichen  wurzel  gebildet  sind.  Wir  können  diese 
ausgleichung  die  stoffliche  nennen  im  gegensatz  zu  der  formalen, 
die  sich  zwischen  den  entsprechenden  formen  verschiedener  Wörter, 
den  entsprechenden  bildungen  aus  verschiedenen  wurzeln,  zwischen 
verschiedenen  flexions-  oder  Wortbildungssystemen  vollzieht.  Häufig 
ist  übrigens  die  stoffliche  ausgleichung  zugleich  eine  formale. 

Beispiele  Hessen  sich  zu  grossen  massen  anhäufen.  Besonders 
lehrreich  sind  gewisse  durchgreifende  differenzierungen ,  die  in  einer 
sehr  frühen  periode  eingetreten  sind.  Mit  der  reaction  gegen  dieselben 
haben  die  nachfolgenden  geschlechter  oft  viele  Jahrhunderte  zu  tun, 
während  deren  immer  ein  fall  nach  dem  andern  der  ausgleichung  zum 
opfer  fällt,  und  schliesslich  doch  nicht  selten  noch  einige  residua  der 
differenzierung  übrig  bleiben.  Um  so  mannigfaltiger  und  zugleich  um 
so  lelirreicher  wird  die  entwickelung,  wenn  nach  dem  eintritt  der  laut- 
lichen differenzierung  die  spräche  sich  mannigfach  dialectisch  gespal- 
ten hat.    Das  grossartigste  beispiel  der  art,  das  mir  bekannt  ist,  liefert 


165 

die  vokalabstufiing"  der  indogermanischen  Ursprache,  deren  reste  zu  be- 
seitigen sich  noch  die  jetzt  lebendigen  dialecte  bemühen.  Auf  germa- 
nischem gebiete  stehen  oben  an  die  Wirkungen  des  Vernerschen  ge- 
setzes.  wonach  im  urgerm.  die  harten  reibelaute  /?,  p,  f,  s  sich  nach 
ursprünglich  betonter  silbe  erhalten  haben,  nach  ursprünglich  unbe- 
tonter zu  den  entsprechenden  weichen  (got.  g,  d,  b,  z)  geworden  sind.  Die 
bewegung,  welche  dadurch  hervorgerufen  ist,  empfiehlt  sich  ganz  be- 
sonders zum  methodologischen  Studium,  zumal  da  man  sich  dabei  auf 
einem  sicheren,  allgemein  anerkannten  boden  befindet.  Der  Sprach- 
forscher, der  sich  einmal  die  mühe  gegeben  hat  die  reactionen  gegen 
ein  solches  lautgesetz  bis  in  alle  einzelheiten  zu  verfolgen,  der  kann 
unmöglich  solche  verkehrten  behauptungeu  und  einwendungen  betreffs 
der  analogiebildung  vorbringen,  wie  sie  sich  leider  so  vielfach  breit 
machen.  Und  wie  mit  einem  lautgesetze,  so  ist  es  mit  allen  übrigen. 
Es  gibt  überhaupt  kein  lautgesetz,  das  nicht,  sobald  es  einmal  in  einer 
anzahl  von  fällen  das  etymologisch  eng  zusammenhängende  lautlich 
diÖerenziert  hat.  auch  eine  reaction  gegen  diese  differenzierung  hervor- 
riefe, es  sei  denn,  dass  der  hinterlassene  lautwechsel  bleibend  durch 
die  analogie  gestützt  wird  (vgl.  s.  95).  Das  muss  als  ein  fundaraental- 
satz  der  historischen  Sprachforschung  anerkannt  werden.  Man  durch- 
suche alle  sprachen,  deren  entwickelung-  sich  continuierlich  verfolgen 
lässt,  nach  einem  derartigen  lautgesetze.  das  einige  Jahrhunderte,  nach- 
dem es  gewirkt,  noch  keinerlei  reaction  im  gefolge  gehabt  hat.  Ich 
bin  überzeugt,  es  darf  getrost  für  den  ehrlichen  finder  eine  königliche 
belohnung  ausgesetzt  werden,  niemand  wird  sie  verdienen. 

Wer  eine  solche  entwickelung  im  zusammenhange  verfolgt  hat, 
der  wird  auch  nicht,  wie  dies  neuerdings  mehrfach  geschehen  ist,  an 
eine  formenerklärung.  die  auf  die  annähme  von  ausgleiehungen  basiert 
ist,  den  ansprach  stellen,  dass  die  ausgleichung  in  allen  von  dem  laut- 
gesetze betroffenen  formen  gleichmässig  und  nach  der  selben  richtung- 
hin  eingetreten  sein  müsse.  Das  heisst  eine  entwickelung  fordern,  wie 
sie  der  er  fahrung,  die  wir  aus  den  wirklich  zu  beobachtenden  tat- 
sachen  abstrahieren  können,  schnurstracks  widerspricht.  Solche  forde- 
rung  beruht  auch  auf  einer  oftenbaren  begriffsverwechselung.  Für  den 
lautwandel  allerdings  muss  mau  verlangen,  dass  er  überall,  wo  die 
gleichen  lautlichen  bedinguugen  vorhanden  sind,  gleichmässig  eintritt. 
•Aber  für  die  ausgleichung  kommt  gleich mässigkeit  oder  nichtgleich- 
mässigkeit  der  lautlichen  Verhältnisse  gar  nicht  in  betracht.  Entweder 
entwickelt  sich  dabei  jede  durch  stoffliche  Verwandtschaft  verbundene 
gruppe  für  sich,  oder,  wenn  mehrere  solche  gruppen  auf  einander  ein- 
wirken, so  geschieht  dies  dadurch,  dass  gleichzeitig  formale  'aus- 
gleichung im  spiele  ist;  aber  das  betroffensein  von  dem  gleichen  laut- 


I 


166 

^csetze  gibt  an  sich  gar  keinen  grund  ab  zu  einer  gegenseitigen  be- 
eiutiussnng  bei  der  ausgleiehung.  Dagegen  wirken  gar  manche  för- 
dernde und  hemmende  umstände  darauf  hin,  dass  der  process  in 
den  verschiedenen  fällen  sehr  ungleichmässig  verläuft. 

Zu  diesen  gehört  auch  ein  lautliches  moment.  Solche  formen 
welche  durch  die  Wirkung  mehrerer  lautgesetze  ditferenziert  sind,  sind 
der  ausgleiehung  weniger  günstig  als  solche,  in  denen  nur  eins  davon 
ditferenzierend  gewirkt  hat. 

Die  bekannte  neuhochdeutsche  vokaldehnung  tritt  abgesehen  von 
ganz  bestimmten  Verbindungen  niemals  vor  doppelconsonauten  ein,  wo- 
vor im  gegenteil  sogar  ursprüngliche  länge  gekürzt  wird  (vgl.  bi^acliie 
=  mhd.  brähte,  acht  =  mhd.  ähte  etc.).  Demnach  kommt  auch  der 
2.  3.  sg.  und  der  2.  plur.  ind.  präs.,  falls  der  endungsvocal  syncopiert 
ist,  kürze  zu,  auch  da,  wo  die  übrigen  formen  des  präs.  dehnung  haben 
eintreten  lassen.  Bei  weitem  in  den  meisten  fällen  aber  ist  ausgleiehung 
eingetreten,  so  stets  im  schwachen  verbum  (z.  b,  lebe  —  lebst,  lebt),  wo 
die  Vokalqualität  durch  alle  formen  hindurch  von  jeher  die  gleiche 
war;  ferner  in  den  starken  verben  mit  wurzelhaftem«:  trage — träf/sf, 
trägt  (niederdeutsch  mit  kürze  dröchst,  dröcht).  Dagegen  hat  sich  die 
kürze  der  2.  3.  sing,  erhalten  bei  den  verben,  in  denen  der  wurzelvokal 
von  alters  her  zwischen  e  und  i  wechselt,  allgemein  in  nehme  —  nimmst, 
nimmt,  trete  —  trittst,  tritt,  wenigstens  nach  der  in  Niederdeutschland 
üblichen  ausspräche  auch  in  lese  —  lisl,  gebe  —  gibst,  gibt.  Die  Ur- 
sache, warum  diese  verba  der  die  quantität  betreffenden  ausgleiehung 
besser  widerstand  geleistet  haben  als  die  andern,  haben  wir  gewiss  in 
der  gleichzeitigen  Verschiedenheit  der  qualität  zu  suchen.  Das  be- 
stätigt sich  noch  dadurch,  dass  sie  sich  in  der  2.  pl.  der  ausgleiehung 
nicht  entzogen  haben.  Die  difterenz  zwischen  a  und  ä  ist  nicht  so 
empfunden,  weil  der  umlaut  etwas  dem  Sprachgefühl  sehr  geläufiges  ist. 

Im  ahd.  hätten  die  partieipia  der  verba  lesan,  ginesan,  uuesan  nach 
dem  Vernerschen  gesetze  gileruji,  gineran,  giuueran  zu  lauten,  aber  ab- 
gesehen von  wenigen  resten  in  den  ältesten  denkmälern  ist  mit  au- 
lehnung  an  das  präs.  gilesan,  ginesan,  giuuesan  eingetreten.  Dagegen 
noch  im  mhd.  lauten  die  partieipia  von  kiesen,  friesen,  Verliesen  mit 
beibehaltung  des  wechseis  gekoren,  gefroren,  verloren.  Die  gleichheit 
des  vokalismus  im  ersteren,  die  Verschiedenheit  im  letzteren  ist  für  den 
consonantismus  massgebend  gewesen. 

Die  starken  verba,  die  im  sg.  und  pl.  des  prät.  gleichen  vokal 
iiaben,  haben  auch  den  durch  das  Vernersche  gesetz  entstandenen 
consonantischen  unterschied  schon  frühzeitig  aufgehoben,  vgl.  ahd.  ^/mo^ 
—  sluogun,  hieng  —  hiengun,  hiiob  —  huobun,  hluod  —  hluodun  gegen 
zöh  —  ziigun,   meid  —  mitwi.    Man   sieht,  wie  auf  diese  weise  selbst 


167 

formen,  die  nicht  bloss  ^on  dem  gleichen  lautgesetze  betroffen,  son- 
dern auch  nach  function  und  sonstiger  l)ildungswei8e  verwandt  sind, 
in  verschiedene  disposition  gesetzt  werden. 

Diese  erscheinung  verlaugt  eine  psychologische  erklärung.  Man 
sollte  zunächst  meinen,  da  das,  was  wir  ausgleichung  nennen,  von 
einer  neuschöpfuug  nach  analogie  ausgeht,  dass  die  lautliche  gestalt  der 
durch  die  neuschöpfuug  zurückgedrängten  form  dabei  gar  nicht  in  be- 
traeht  käme.  Tritt  das  bild  der  traditionellen  lautlich  differenzierten 
form  ins  bewusstsein,  so  ist  keine  neuschöpfuug  möglich,  tritt  es  nicht 
in  das  bewusstsein,  so  ist  die  neuschöpfuug  freigegeben.  Nun  ist  aber 
kein  grund  abzusehen,  warum  eine  form  deshalb  leichter  ins  bewusst- 
sein treten  sollte,  weil  sie  sich  lautlich  stärker  von  einer  verwandten 
unterscheidet  als  eine  andere.  Die  Schwierigkeit  ist  nur  zu  lösen,  wenn 
wir  das  zusammenwirken  rein  gedächtnissmässiger  reproduction  und 
schöpferischer  combiuation,  wie  wir  es  für  die  tägliche  hervorbringung 
der  schon  in  der  spräche  üblichen  formen  anerkennen  mussten,  auch 
bei  der  Schöpfung  von  neuen  formen  annehmen.  Es  gibt  einen  zu- 
stand, in  welchem  das  bild  der  traditionellen  form  nicht  mächtig  genug 
ist,  um  unter  allen  umständen  leichter  ins  bewusstsein  zu  treten  als 
eine  durch  analogie  veranlasste  neubildung,  aber  doch  nicht  so  schwach 
um  vor  einer  solchen  widerstandslos  zurückzuweichen.  Es  liegen  also 
zwei  Vorstellungen  im  kämpfe  mit  einander  darüber,  welche  von  ihnen 
zuerst  in  das  bewusstsein  treten  und  damit  die  andere  zurückdrängen 
soll.  Nur  wo  ein  solches  verhältniss  besteht,  kommt  die  grosse  des 
abstandes  zwischen  der  traditionellen  form  und  der  eventuellen  neu- 
schöpfuug in  betracht.  Ist  nämlich  die  letztere  in  begriff  sich  zuerst 
vorzudrängen,  so  kann  ihr  doch  die  erstere,  auch  ohne  deutlich  be- 
wusst  zu  werden,  eine  controUe  entgegen  stellen,  welche  das  Sprach- 
gefühl in  bezug  auf  jene  nicht  zu  der  nötigen  unbefangenen  Sicherheit 
gelangen  lässt  und  so  zum  besinnen  auf  diese  treibt.  Die  Vorstellung 
der  traditionellen  form  wirkt  aber  um  so  stärker  hemmend,  je  weiter 
sie  ihrem  Inhalte  nach  von  der  neuen  combiuation  verschieden  ist. 
Aehnlich  wie  dem  sprechenden  ergeht  es  dem  hörenden.  Eine  neu- 
bildung wirkt  um  so  befremdender  auf  ihn,  wird  um  so  schwerer  gut 
geheisseu  und  nachgeahmt,  je  mehrseitiger  sie  der  überlieferten  form 
widerspricht,  sofern  überhaupt  die  erinnerung  au  dieselbe  in  seiner 
seele  noch  einigermassen  wirkungskräftig  ist. 

Eine  viel  wichtigere  rolle  als  der  lautliche  abstand  spielen  zwei 
andere  momente  bei  der  förderung  und  hemmung  der  ausgleichung, 
die  grössere  oder  geringere  festigkeit  des  Zusammenhangs  der 
etymologischen  gruppen  und  die  grössere  oder  geringere  i^teu- 
sität,  mit  der  die  einzelnen  formen  dem  gedäehtnisse  ein- 
geprägt sind. 


168 

Die  eistere  bän^^t  ab  von  dem  £:rade  der  Übereinstimmung-  in  der 
bedeutung-  und  von  dem  grade  lebendiger  bildsamkeit  der  einzelnen 
formen.  Beides  steht,  wie  wir  schon  gesehen  haben,  in  wecliselbe- 
bcziehung  zu  einander.  Die  grössere  oder  geringere  Innigkeit  des  Zu- 
sammenhangs kann  schon  mit  der  function  der  formen  an  sich  ge- 
geben sein,  wie  z.  b.  die  formen  des  präs.  unter  einander  enger  zu- 
sammenhängen als  mit  denen  des  prät.,  die  formen  des  selben  wertes 
enger  unter  einander  als  mit  den  formen  der  aus  der  gleichen  wurzel 
abgeleiteten  Wörter.  Es  kann  aber  auch  durch  seeundäre  entwickelung 
der  verband  gelockert  werden.  Jede  art  von  isolierung,  welche  die 
function  trifft  erschwert  auch  die  reaction  gegen  die  isolierung,  von 
der  die  lautgestalt  betroffen  ist,  und  macht  sie,  sobald  sie  selbst  einen 
bestimmten  grad  erreicht  hat,  unmöglich. 

Einige  beispiele  mögen  diese  sätze  erläutern.  Die  durch  Wirkung 
des  Vernerschen  gesetzes  entstandenen  zahlreichen  diflferenzierungen 
des  consonantismus  sind  innerhalb  der  flexion  der  nomina  schon  in 
den  ältesten  auf  uns  gekommenen  denkmälern  ganz  getilgt.  Wir  sehen 
ihre  spuren  aber  noch  in  manchen  unterschiedslos  neben  einander  be- 
stehenden doppelformen.  Im  verbum  dagegen  hat  sich  die  differenzie- 
rung  besser  bewahrt,  offenbar  unterstützt  durch  die  damit  zusammen- 
treffende vokaldififerenzierung  (den  ablaut),  vgl.  mhd.  zhihe  —  zöch  — 
zugen  —  gezogen.  Wir  können  nun  mehrfach  deutlich  beobachten,  wie 
der  später  eintretende  ausgleichungsprocess  damit  beginnt,  dass  der 
unterschied  zwischen  sing,  und  plur.  des  prät.  aufgehoben  wird,  und 
zwar  so,  dass  der  sing,  dadurch  erst  vom  präs.  verschieden  gemacht 
wird.  Dies  ist  in  den  westgermanischen  dialecten  fast  in  allen  den- 
jenigen fällen  geschehen,  in  denen  keine  Verschiedenheit  des  vokalis- 
mus  hemmend  im  wege  stand,  also  ahd.  slahu  —  sluog  —  sluogun  statt 
'*sluoh  —  sluogun,  fähu  —  fiang  —  fiangun  statt  */iah  —  fiangun  etc. 
Ein  beispiel,  in  dem  auch  durch  die  Verschiedenheit  des  vokalismus 
diese  entwickelung  nicht  verhindert  ist,  sehen  wir  in  alts.  fiihan.  Dieses 
sollte  bei  rein  lautlicher  entwickelung  das  prät. /o/Ä  —  fundun  bilden. 
Es  heisst  aber  nur  fand  —  fundun,  während  im  präs.  zwar  auch  schon 
ßndan,  aber  doch  erst  neben  fithan  auftritt.  Die  wenigen  nhd.  reste 
dieses  alten  wechseis  zeigen  sämmtlich  die  abweichung  von  den  älteren, 
noch  im  mhd.  bestehenden  Verhältnissen,  dass  der  sing,  des  prät.  an 
den  plur.  angeglichen  ist:  ziehe  —  zog  (ahd.  zöh)  —  zogen,  leide  — 
litt  (ahd.  leid)  —  litten,  schneide  —  schnitt  (ahd.  sneid)  —  schnitten, 
siede  —  sott  (ahd.  söd)  —  sotten,  erkiese  —  erkor  (ahd.  irkos)  —  er- 
koren. Ebenso  hat  sich  der  ablaut  zwar  im  allgemeinen  im  nhd.  er- 
halten, aber  zwischen  sg.  und  pl.  des  prät.  ist  Übereinstimmung  her- 
gestellt. 


169 

Vielfach  können  wir  beobachten,  dass  lantliehe  differenzierungen, 
die  innerhalb  der  verschiedenen  flexionsformen  eines  Wortes  entweder 
durchaus  oder  bis  auf  g-eringe  reste  beseitiget  werden,  zwischen  etymo- 
logisch verwandten  Wörtern  bestehen  bleiben  oder  nur  da  getilgt  wer- 
den, wo  ihre  beziehung  zu  einander  eine  sehr  enge  ist.  In  den  ger- 
manischen sprachen  besteht  von  alters  her  ein  Wechsel  zwischen  dem 
laute  unseres  h  und  unseres  ch  in  der  art,  dass  ersteres  im  silbeu- 
anlaute,  letzteres  im  silbenauslaute  und  vor  consouant  steht,  vgl.  mhd. 
rüch  (rauh)  —  gen.  riihes,  ich  s/he  —  er  sihf  (gesprochen  wie  unser 
sieht)  —  er  sach  —  ?vir  sähen.  In  der  jetzigen  Schriftsprache  ist  dieser 
Wechsel  in  der  flexion  beseitigt  ausser  in  hoch,  ausserdem  ist  auch  der 
comparativ  und  Superlativ  dem  positiv  angeglichen,  abgesehen  von 
höher  —  höchste  und  )iäher  —  yiächste.  Sonst  aber  ist  er  beibehalten, 
vgl.  sehen  —  gesicht ,   geschehen  —  geschichte,  fliehen  —  flucht,    ziehen 

—  zucht,  Schmach  —  schmähen.  Ein  tiber  viele  fälle  sieh  erstreckender 
Wechsel  auf  vokalischem  gebiete  war  in  den  altgermauischeu  dialecteu 
unter  dem  einflusse  des  vokals  der  folgenden  silbe  entstanden,  nämlich 
zwischen  e  und  /  und  zwischen  ii  und  o.  Dieser  Wechsel  ist  innerhalb 
der  uomiualflexiou  grösstenteils  schon  vor  dem  beginne  unserer  Über- 
lieferung beseitigt.  Innerhalb  der  etymologisch  zusammenhängenden 
wortgruppen  ist  er  im  mhd.  noch  durchaus  bewahrt,  abgesehen  von  den 
femininbildungen  aus  nomina  agentis  (vgl.  got  —  gotinne  [ahd.  gutinna]. 
doch  auch  noch  birin  neben  berinne  und  n-olf  —  wülpinne)  und  den 
deminutiven  (vgl.  vogel  —  vögetm  [ahd.  fugili\).  Im  nhd.  tritt  dann 
die  ausgleichung  nur  bei  ganz  besonders  enger  beziehung  ein.  So 
regelmässig  zwischen  subst.  und  adj.  bei  stotfbezeichnungen,  z.  b.  leder 

—  ledern  (mhd.  liderin)^  goM  —  golden  (mhd.  giddin)^  holz  —  hölzern 
{hidzin),  ausserdem  z.  b.  in  nwrt  —  antn-ort,  antworten  (mhd.  äntrvürte, 
antwürten);  gold  —  vergolden  (altertümlich  noch  vergülden).  Dagegen 
heisst  es  noch  recht  —  richten,  richtig,  gericht;  berg  —  gebirge:  feld  — 
gefilde\  herde  —  hirt\  hold  —  hnld\  foll  —  fi'ülen;  koch  —  küche  etc. 

Selbstverständlich  tritt  da  keine  ausgleichung  ein,  wo  durch  diver- 
gierende bedeutuugsentwiekelung  das  gefühl  für  den  etymologischen 
Zusammenhang  ganz  geschwunden  ist,  auch  da  nicht,  wo  es  so  wenig 
rege  mehr  ist,  dass  es  nicht  ohne  ein  gewisses  nachdenken  zum  be- 
wusstsein  kommt.  Das  ist  z.  b.  die  Ursache,  wanim  die  eben  be- 
sprochenen lautdiiferenzen  in  folgenden  fällen  bewahrt  sind:  rauh  — 
rauch/rerk,  rauchwaare,  rauchhandeV.  nach  iysskx^^.  nach)  —  nahe:  erde  — 
irden,  irdisch;  gold  —  gülden  (substantiviertes  adjectivum).  Im  mhd. 
existieren  von  tragen  die  zusammengezogenen  formen  du  freist,  er  freit ; 
diese  sind  im  nhd.  wider  durch  trägst,  trägt  ersetzt,  aber  in  der'  ab- 
leitung  getreide  ist  die  contraction  bewahrt.     Mhd.  gar  hat  in  den  flee- 


170 

tierten  formen  eiu  w  {ganve  etc.),  welches  sich  im  nhd.  lautgesetzlich 
zu  b  eutwickeln  musste;  aber  eine  flexion  gar  —  (/«W^^;- konnte  auf  die 
(lauer  nicht  beibehalten  Averden,  und  die  flectierten  formen  richteten 
sich  nach  dem  muster  der  uuflectierten;  dagegen  in  dem  YQvh.  gerben 
l)lieb  das  h  wegen  der  abweichenden  bedeutungsentwickelung.  Jede 
.sin-ache  auf  jeder  beliebigen  entwickelungsstufe  bietet  reichliche  belege 
für  diese  erscheinung. 

Die  intensität  der  gedächtnissmässigen  einprägung  ist  zunächst 
massgebend  für  das  kraftverhältniss  der  einander  gegenüber  stehen- 
den factoren,  in  welcher  beziehung  die  oben  s.  1G3  gemachten  bemer- 
kungen  auch  hier  zutreffen.  Wenn  z.  b.  im  altnordischen  die  1,  sg.  conj. 
im  präs.  wie  im  prät.  auf  a  ausgeht  {gefa,  gcefa),  während  in  allen 
übrigen  formen  ein  i  erscheint  {gefir,  gefi,  gefim,  gefi^,  gefi  und  goefir, 
g(efi  etc.),  so  sind  natürlich  die  Chancen  für  die  erstere  sehr  ungünstig, 
und  so  erscheint  denn  auch  in  den  jüngeren  quellen  gefi,  gwfi.  Natür- 
lich kann  aber  unter  umständen  eine  vereinzelte  gegen  mehrere  zu- 
sammenstimmende formen  den  sieg  behaupten,  wenn  sie  für  sich  häufiger 
gebraucht  wird  als  die  übrigen  zusammen.  Wenn  z.  b.  im  nhd.  ziemen 
das  /  durch  das  ganze  präs.  verallgemeinert  ist,  wovon  dann  auch 
statt  des  alten  starken  ein  neues  schwaches  prät.  gebildet  ist,  wäh- 
rend doch  im  mhd.  die  meisten  formen  e  haben,  so  liegt  dies  daran, 
dass  die  3.  sg.  es  ziemt  wie  noch  jetzt  so  schon  früher  an  häufigkeit 
alle  andern  überwog. 

Die  meisten  ungleichmässigkeiten  aber  in  der  behandlung  von 
etymologischen  gruppen,  die  sonst  in  vollständigem  parallelismus  zu 
einander  stehen,  gehen  daraus  hervor,  dass  die  einzelnen  gruppen  sich 
in  bezug  auf  die  häufigkeit  des  Vorkommens  und  damit  in  bezug 
auf  die  leichtigkeit,  mit  der  die  einzelnen  formen  mit  ihren  traditio- 
nellen unterschieden  gedächtuissmässig  reproduciert  werden  können, 
sehr  weit  von  einander  unterscheiden.  Die  seltensten  Wörter  unter- 
liegen bei  sonst  gleichen  Verhältnissen  der  ausgleichung  am  frühesten, 
die  häufigsten  am  spätesten  oder  gar  nicht.  Dieser  satz  lässt  sicli 
nicht  bloss  deductiv,  sondern  auch  inductiv  beweisen. 

Ausserdem  aber  wird  der  gang  der  bewegung  durch  eine  menge 
zufälliger  Vorgänge  in  der  Seelentätigkeit  der  einzelneu  individuen 
und  ihrer  einwirkung  auf  einander  beeinflusst,  Vorgänge,  die  sich 
unserer  berechnung  wie  unserer  l)eobachtung  entziehen.  Namentlich 
s])ielen  solche  unserer  erkenntniss  verschlossenen  factoren  eine  grosse 
rolle  in  dem  kämpfe,  den  die  durch  ausgleichung  entstandenen  doppel- 
formen mit  einander  zu  bestehen  haben.  Wir  müssten  eben  allwissend 
sein,  sollten  wir  im  stände  sein  überall  die  Ursache  anzugeben,  warum 
in  diesem  falle  so,  in  jenem  anders  entschieden  ist.     Und  die  tatsache 


171 

Uisst  sicli  nicht  wegläugneD ,  dass  sehr  häufig  ganz  analoge  fälle  in 
(lern  selben  dialecte,  ein  und  derselbe  fall  in  verschiedenen  dialecten 
abweichenden  ausgang-  haben.  So,  um  nur  ein  ganz  sicheres  bcispiel 
anzuführen,  während  das  gotische  den  sogenannten  grammatischen 
Wechsel  sonst  dadurch  ausgeglichen  hat,  dass  der  consonant  des  präs. 
und  des  sg.  prät.  verallgemeinert  ist,  sind  die  verba  hvdirhan,  svairhan, 
skaidan  den  umgekehrten  weg  gegangen  und  haben  den  consonanten 
des  pl.  prät.  und  des  part.  verallgemeinert,  und  gerade  in  dem  letzten 
verbum  ist  im  hochdeuten,  welches  sonst  viel  öfter  als  das  gotische 
den  consonanten  des  pl.  prät.  durchführt,  der  consonant  des  präs.  zum 
siege  gelaugt. 

Natürlich  aber  ist  die  entwickelung  in  den  einzelnen  stoft- 
licheu  gruppen  nicht  ganz  unabhängig  von  der  formalen  gruppie- 
ruug.  Namentlich  sobald  eine  lautliche  diflferenzierung  sämmtliche  zu 
einer  formalen  gruppe  gehörigen  etymologischen  parallelgruppen  trifft, 
so  ist  dadurch  ein  zusammenwirken  der  stofflichen  und  der  formalen 
gruppierung  bedingt.  Dies  zusammenwirken  ist  häufig  entscheidend 
für  die  richtung  der  ausgleichung.  Im  urgermanischen  bestand 
in  den  zahlreichen  nominalbildungen  mit  suffix  -no  ein  Wechsel  des 
dem  n  vorangehenden  vokales  zwischen  u  (später  weiter  zu  o-a  ent- 
wickelt) und  e  (/),  so  dass  sich  beide  nach  einer  bestimmten  regel  auf 
die  verschiedenen  casus  verteilten.')  Späterhin  wird  dann  bald  u  («), 
bald  e  (<)  durch  alle  casus  eines  wertes  gleichmässig  durchgeführt.  So 
stehen  im  got.  formen  wie  Piudans  (könig)  solchen  wie  maurgins  (morgen) 
gegenüber,  im  altn.  formen  wie  Jormunn  solchen  wie  OÖmn,  und  neben 
einander  /norffunn  und  moj-ginn.  Aber  die  hierhergehörigen  participia 
haben  der  regellosen  willkür  in  den  sonstigen  formen  gegenüber 
im  got.  stets  -an,  im  altn.  stets  -in.  Wie  entscheidend  dabei  die 
formale  gruppierung  gewesen  ist,  zeigt  sich  besonders  daran,  dass 
solche  participia,  die  zu  reinen  adjectiven  oder  zu  Substantiven  ge- 
worden sind,  teilweise  einen  andern  weg  eingeschlagen  haben,  vgl. 
got. /w/^m^  (verborgen)  gegen  fulhans,  echtes  part.  zu  filhan  verbergen; 
aigin  (eigentum)  substantiviertes  part.  zu  aigan  (haben);  ferner  altn. 
jnttmn  (riese),  altes  part.  zu  eta  (essen)  mit  activer  bedeutung. 

Aber  nicht  bloss  für  die  richtung  der  ausgleichung,  sondern  auch 
für  das  eintreten  oder  nichteint reten  kann  die  formale  gruppie- 
rung entscheidend  sein.  Je  weniger  die  lautliche  differenzierung  den 
formellen  parallelismus  der  einzelnen  gruppen  unter  einander  stört, 
desto  widerstandsfähiger  sind  sie  gegen  die  teudenzen  zur  ausgleichung. 
So   wäre   z.  b.  die  lange  erhaltung  der  ablautsreihen  im  germanischen 


')  Vgl.  Beitr.  VI,  238ff. 


172 

nicht  möfclicli  gewesen,  wenn  etwa  jedes  verbiim  seine  eigene  art  ab- 
laut  gehabt,  wenn  es  nicht  grössere  gruppen  von  verben  mit  dem 
gleichen  Schema  gegeben  hätte.  So  lässt  sich  denn  auch  der  nach- 
weis  führen,  dass  die  uns  erhaltenen  Schemata  nur  eine  auslese  aus 
den  vor  beginn  unserer  Überlieferung  vorhandenen  darstellen,  indem 
alle  diejenigen,  die  nur  in  wenigen  exemplaren  oder  nur  in  einem 
einzelnen  vertreten  waren,  bis  auf  geringe  reste  untergegangen  sind. 
An  andern  lässt  sich  der  Untergang  noch  historisch  verfolgen,  z.  b.  got. 
truda  —  trnd  —  tredum  —  hnidans.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  dem 
Umlaut  in  der  2.  3.  sg.  ind.  präs.  der  starken  verba:  ahd.  faru  —  ferist 
—  fer^it,  und  so  noch  nhd.  falu^e  —  fährst  —  fährt. 

Ein  anderer  umstand,  der  zur  conservierung  einer  lautlichen  diffe- 
renz  beiträgt,  ist  das  zufällige  zusammentretten  derselben  mit  einem 
functionsunterschiede.  "Wenn  z.  b.  sämmtliche  casus  des  sg.  sich 
übereinstimmend  sämmtliehen  casus  des  pl.  gegenüber  stellen,  so  prägt 
sich  dieses  verhältniss  leichter  und  fester  dem  gedächtnisse  ein,  als 
wenn  einige  formen  des  sg.  mit  einigen  formen  des  pl.  sich  zusammen 
andern  formen  des  sg.  und  pl.  gegenüber  stellen.  Und  so  ist  es  auch 
natürlich,  dass,  wo  in  der  mehrzahl  der  fälle  die  lautliche  differenzie- 
rung  mit  dem  functionsunterschiede  zusammenfällt,  die  ausgleichung 
sieh  zunächst  auf  die  näher  yAisammengehörigen  gruppen  beschränkt 
und  damit  die  Übereinstimmung  zwischen  laut-  und  functionsunter- 
schied  vollständig  macht.  Im  altdäuischen  lautet  der  pl.  von  harn 
(kind)  einem  gemeinskandinavischen  lautgesetze  zu  folge  hern,  harna, 
hfirnnm,  heim,  während  im  sg.  a  durchgeht.  Das  neudänische  hat  auch 
für  barna,  henia  eintreten  lassen.  Bei  einem  andern  worte  lagh  (ge- 
setz)  ist  <>  schon  im  altdänischen  durch  den  ganzen  pl.  durchgeführt. 
Die  ausgleichung  innerhalb  der  engern  gruppen  ist  häufig  nur  die  Vor- 
stufe zu  der  weiteren  ausgleichung.  So  dringt  auch  bei  lagh  schon  im 
altdänischeu  das  o  bisweilen  in  den  sg.,  und  neudänisch  ist  lov  durch- 
gefiihrt.  Das  zusammenfallen  mit  einem  functionsunterschiede  kann 
aber  auch  die  Ursache  zu  dauernder  bewahruug  eines  lautlichen  Unter- 
schiedes sein,  und  dies  vor  allem  dann,  wenn  er  zugleich  in  der  eben 
besprochenen  weise  durch  die  formale  analogie  widerstandsfähig  ge- 
macht wird. 

Bei  dem  zusammentreft'en  dieser  beiden  umstände  kann  sich  die 
Vorstellung  von  dem  lautlichen  unterschiede  so  fest  mit  der  von  dem 
functionsunterschiede  verbinden,  dass  dem  Sprachgefühl  l)eides  unzer- 
trennbar erscheint.  Auf  diese  weise  wird  allmählig  der  zufällig  ent- 
standene bedeutungslose  unterschied  zu  einem  bedeutungs- 
vollen. Er  wird  es  um  so  mehr.  Je  weniger  die  bedeutungsverschie- 
denheit    durch    sonstige   unterschiede    in    der    lautgestaltung    deutlich 


173 

o:ekeuuzeiclieiit  ist.  So  vermag  sich  die  spräche  einen  ersatz  zu 
schaffen  für  den  in  folge  des  lautlichen  Verfalls  eintretenden  Verlust 
der  charakteristischen  nierkmale  des  functionsuuterschiedes. 

Der  ablaut  im  germanischen  verbuni  beruht  auf  einer  vocal- 
differenzierung,  die  schon  in  der  indogermanischen  Ursprache  ein- 
getreten ist.  Diese  ist  eine  mechanische  folge  des  wecliselnden  accentes 
und  hat  mit  dem  functionsunterschiede  der  einzelnen  formen  ursprüng- 
lich nichts  zu  schaffen.  Sie  war  auch  für  die  Ursprache  etwas  durch- 
auch  überflüssiges,  abgesehen  von  der  Scheidung  z^vischen  präs.-impf. 
und  aorist  (vgl.  griecli.  ÄtijTco,  eXbijtov,  ÄeL-roiui  —  tXiJiov,  /.L^oifu). 
Namentlich  war  der  perfectstamm  durch  die  reduplication  schon  deut- 
lich von  dem  präsensstamm  geschieden.  Daher  sehen  wir  denn  auch 
im  griech.  den  vocalwechsel  zwischen  präs.  und  perf.  in  entschiedenem 
verfall  begriffen;  es  heisst  zwar  noch  XeiJtco  —  /.sÄoiJca,  aber  jtXsxo) 
—  jiejcXtxcc,  nicht  "^jtisiXoya.  Und  von  dem  ursprünglichen  Wechsel 
zwischen  sg.  und  pl.  des  perf.  sind  nur  noch  wenige  Überreste  vor- 
handen {oida  —  U/j£v).  Dieser  verfall  des  ablauts  ist  die  folge  seiner 
Überflüssigkeit,  und  überflüssig  war  er,  weil  das  alte  charakteristische 
keunzeichen  des  perfectstammes,  die  reduplication,  fort  und  fort  getreu 
bewahrt  blieb,  ausserdem  auch  der  präsensstamm  vielfach  noch  be- 
sonders charakterisiert  war.  Im  germ.  sind  umgekehrt  der  verfall  der 
reduplication  und  die  befestigung  des  ablautes  band  in  band  gegangen. 
Man  kann  zwar  nicht  sagen,  dass  das  eine  die  Ursache  des  andern 
gewesen  ist.  Vielmehr  ist  der  erste  anstoss  zum  verfall  der  redu- 
plication durch  die  lautliche  entwickeluug  gegeben,  in  folge  deren  ge- 
wisse formen  nicht  mehr  als  reduplicierte  zu  erkennen  waren  (vgl. 
den  typus  berum),  und  die  conservierung  des  ablauts  ist  in  erster 
linie  durch  den  reiheuparallelismus  bedingt.  Aber  im  weitereu  ver- 
laufe der  entwickeluug  hat  sich  ein  wechselseitiges  causalverhältniss 
herausgestellt.  So  ist  es  z.  b.  charakteristisch,  dass  im  got.  haupt- 
sächlich noch  diejenigen  verba  die  reduplication  bewahrt  haben,  bei 
denen  die  indogermanische  vocaldiö'erenz  zwischen  präs.  und  perf.  (^prät.) 
auf  lautlichem  wege  geschwunden  ist,  und  zwar  diese  sämmtlich,  vgl. 
halda  —  haihald,  skaida  —  skalskuid,  slaiita  —  sfaitaut.  Immerhin  ist 
auch  für  das  ahd.  ein  zwingendes  bedürfniss  zur  Unterscheidung  der 
Wurzelsilbe  des  präs.  und  prät.  deshalb  noch  nicht  vorhanden,  weil 
bei  jeder  einzelnen  person  des  ind.  wie  des  conj.  auch  in  der  endung 
der  unterschied  ausgedrückt  war.  Anders  im  mhd.,  wo  in  der  1.  2.  pl. 
des  ind.  und  im  ganzen  conj.  der  unterschied  zwischen  präs.  und  prät. 
lediglich  auf  der  gestalt  der  Wurzelsilbe  beruht,  vgl.  gehen  =  gaben, 
gehet  =  gäbet,  gebe  =  gcehe  etc.  Im  nhd.  ist  dazu  auch  die  -2.  sg. 
und  3.  pl.  ind.  gekommen.     Der  ablaut  ist  also  ein  immer  notwendigeres 


174 

characteristieum  geworden.  Aber  uur  die  unterseheidnng  zwischen 
präs.  iiud  prät,  nicht  die  Unterscheidung-  zwischen  dem  sg.  ind.  prät. 
oder  nur  der  1.  und  3.  sg.  ind.  prät.  einerseits  und  den  übrigen  formen 
des  Präteritums  anderseits  hat  einen  wert.  Diese  letztere,  wie  sie 
gleichfalls  aus  der  Ursprache  tiberkommen  war,  war  lediglich  durch 
die  häutigkeit  gewisser  verba  und  den  reihenparallelismus  gestützt. 
So  ist  sie  denn  auch  in  einigen  Massen  schon  frühzeitig  beseitigt  (got. 
fbr  —  forum,  faifäh  —  falfähum,  ahd.  fiang  —  liangwn).  In  andern 
hat  sie  sich  bis  ins  nhd.  fortgeschleppt,  ist  endlich  aber  doch  bis  auf 
wenige  reste  beseitigt.  Sicher  ist  es  ein  fortschritt  in  bezug  auf  Zweck- 
mässigkeit der  lautgestaltung,  wenn  wir  jetzt  nicht  mehr  wie  im  mhd. 
spranc  —  Sprüngen,  floug  —  fingen  sagen,  sondern  sprang  —  sprangen, 
flog  —  flogen.  Erst  im  nhd.  hat  daher  der  ablaut  wahrhaft  functionelle 
geltung  erlangt.  Dabei  verdient  noch  eine  erscheinung  beachtung. 
Der  unterschied  zwischen  sg.  und  pl.  ist  (von  den  präterito-präsentia 
abgesehen)  in  der  jetzigen  Schriftsprache  nur  in  dem  häufigen  verbum 
/rerden  erhalten,  und  auch  hier  überwiegen  bereits  uebenformen  mit 
beseitigung  des  Unterschiedes.  Dagegen  gibt  es  noch  eine  anzahl  von 
Verben,  in  denen  zwar  der  vocal  des  sg.  in  den  pl.  gedrungen  ist,  der 
conj.  aber  seinen  eigentümlichen  vocalismus  bewahrt  hat:  starb  — 
stürbe,  schwainin  —  schtvömme  (daneben  aber  schwämme)  etc.  Da  ist 
schon  innerhalb  engerer  grenzen  ein  lautlicher  gegeusatz  festgehalten, 
aber  wider  vermöge  des  Zusammenfalls  mit  einem  functionellen.  Da 
aber  zum  ausdruck  des  letzteren  der  umlaut  allein  genügen  würde 
[schwammen  —  schwämmen),  so  wäre  das  festhalten  des  alten  voeals 
dennoch  etwas  überflüssiges.  Aber  gerade  bei  denjenigen  verben,  in 
denen  derselbe  am  festesten  haftet  {verdürbe,  stürbe,  würbe,  würfe, 
hülfe)^  kommt  etwas  anderes  hinzu,  die  unterscheidl)arkeit  vom  conj. 
präs.:  helfe  und  hälfe,  welche  form  allerdings  neben  hülfe  vorkommt, 
sind  zwar  graphisch,  aber  nicht  lautlich  von  einander  geschieden. 
Anderseits  bildet  kein  verbum  mit  durchgehendem  i  im  präs.  noch 
einen  conj.  prät.  mit  ü  (vgl.  singe  —  sünge),  weil  hier  gerade  die  alte 
form  nach  der  in  den  meisten  mundarten  üblichen  ausspräche  mit  dem 
conj.  präs.  zusammenfallen  würde.  Und  so  erklärt  es  sich,  warum 
gerade  die  verba  mit  mm  und  7in  noch  doppclformeu  aufweisen 
{schwämme  —  schwömme,  sänne  —  sonne,  vgl.  geschwommen,  gesonnen 
gegen  gesungen). 

Eine  ähnliche  rolle  wie  der  ablaut  bat  der  durch  ein  i  oder  j 
der  folgenden  silbe  hervorgerufene  umlaut  gespielt.  In  der  männlichen 
/-declination  hatte  sich  im  ahd.  zufällig  das  verhältniss  herausgebildet, 
dass  der  ganze  sg.  unumgelautet  bleibt,  der  ganze  plural  umgelautet 
wird  {gast  —  gesti  etc.),  und  aus  diesem  gründe  beharrt  die  ditterenz. 


175 

Das  verhältniss  wird  am  besten  erläutert,  wenn  wir  damit  die  ge- 
schichte  des  gleichfalls  durch  den  folgenden  vocal  bedingten  Wechsels 
zwischen  e  und  /,  71  und  0  vergleichen.  Die  w-declination  musste  im 
urgerm.  etwa  folgendermassen  aussehen.') 

sg.  pl.  sg.  pl. 

n.     mediiz  fnidiviz  sunuz  suniviz 

g.     medauz  medevö  '   sonauz  sonevö 

d.     midiu  medumiz  suniu  sunum 

a.    jnedu  meduns  sunu  sununs 

Ein  so  unzweckmässiger  Wechsel  konnte  sich  nicht  lange  behaupten. 
Wir  finden  daher  nur  noch  im  altnordischen  reste  davon.  Das  alt- 
hochdeutsche hat  schon  in  der  ältesten  zeit  in  sunii  das  u  durchgeführt, 
in  melu,  ehu,  eru  das  e,  in  situ,  quirn  das  i.-)  Notwendig  zur  Unter- 
scheidung ist  der  umlaut  in  der  /-declination  im  ahd.  noch  nicht,  da 
die  casus  des  pl.  auch  sonst  von  denen  des  sg.  noch  deutlich  ge- 
schieden sind;  auch  im  mhd.  noch  nicht,  so  lange  das  e  der  flexions- 
endungen  gewart  wird,  denn  der  nom.  acc.  gen.  pl.  gesle  würden  wol, 
auch  wenn  sie  des  umlauts  entbehrten,  mit  dem  dat.  sg.  gaste  nicht 
leicht  verwechselt  werden.  Sobald  a1)er  das  e  schwindet,  wie  dies 
namentlich  in  den  oberdeutschen  dialecten  geschehen  ist,  bleibt  der 
umlaut  im  nom.  und  acc.  das  einzige  Unterscheidungszeichen  zwischen 
sg.  und  pl.  Auf  diesem  Standpunkte  der  entwickelung  hat  die  /-decli- 
nation  einen  erheblichen  vorzug  vor  der  «-declination ,  und  die  rein 
dynamische  geltung  des  umlauts  ist  vollendet.  Das  zeigt  sich  nament- 
lich daran,  dass  er  weit  über  sein  ursprüngliches  gebiet  hinausgreift. 
Dies  hinausgreifeu  steht  mit  dem  fehlen  oder  Vorhandensein  eines 
unterscheidenden  e  im  engsten  zusammenhange.  So  hat  gerade  im 
oberdeutschen  der  umlaut  fast  alle  umlautsfähigcn  substantiva  der 
alten  a-declination  ergriffen,  vgl.  Schmeller,  Mundarten  Baierns  §  796, 
Winteler,  Kerenzer  mundart  s.  170  ft".  Man  sagt  also  tag  —  tag,  arm  — 
är7n  etc.  Die  mittel-  und  niederdeutschen  mundarten  und  die  Schrift- 
sprache haben  diese  tendenz  in  viel  geringerem  grade,  und  vorwiegend 
nur  bei  den  mehrsilbigen  Wörtern  wie  sattel,  wagen,  in  denen  auch  sie 
das  e  des  pl.  abwerfen.  Schon  frühzeitig  durchgedrungen  ist  der  um- 
laut bei  den  ursprünglich  consonantisch  fleetierenden  und  daher  einer 
endung  im  nom.  acc.  pl.  entbehrenden  verwandtschaftswörtern :  rahd, 
vater  —  veter,  muoter  —  mneter  etc. 


')  Es  kommt  natürlich  für  unsern  zweck  niclit  in  betraclit,  ob  die  endnngen 
genau  zutreffend  bestimmt  sind. 

2)  Vgl.  Beitr.  z.  gescb.  der  deutschen  spr.  VI,  ^n.  Eine  ausgleichung  nach 
verschiedeneu  richtungen  bleibt  auch  möglich,  falls  für  das  ahd.  ein  lautlicher  Über- 
gang des  e  in  /  vor  u  anzunehmen  ist. 


176 

Auch  die  formale  ausg-leichuDg,  die  wir  schon  mehrfach  mit  in 
die  betraehtiuig-  hineinziehen  mussteu,  ist  häufit:,'  reactiou  gegen  eine 
zwecklose  hiutditferenzierung.  Der  hergang  ist  dann  folgender.  Es 
sind  innerhalb  einer  bis  dahin  gleichförmigen  bildungsklasse  lautliche 
diserepanzen  in  einer  oder  mehreren  formen  entstanden,  so  hat  sieh 
z.  b.  der  gen.  bei  einigen  Wörtern  so,  bei  andern  anders  gestaltet, 
während  in  den  übrigen  casus  die  gleichmässigkeit  nicht  gestört  ist. 
Dann  macht  sich  die  tendenz  geltend  auch  in  der  einen  oder  den 
wenigen  differenzierten  formen  die  nämliche  gleichmässigkeit  wider 
herzustellen,  die  partielle  Übereinstimmung  der  bildungsweise  wider  in 
eine  totale  zu  verwandeln.  Diese  art  von  ausgleichung  findet  sich  be- 
sonders in  Verbindung  mit  der  stofflichen,  wie  die  angeführten  bei- 
spiele  zeigen.  Sie  ist  aber  auch  ausserdem  häufig  genug,  So  gehört 
z.  b.  hierher  die  ausgleichung  zwischen  hartem  und  weichem  reibelaut 
in  den  casus-  und  personalendungeu  der  altgermanischen  dialekte.') 
Nach  dem  Vernerschen  gesetze  war  Jj  =  idg.  t  in  p  und  Ö  (rf),  s  in 
s  (hart)  und  z  (weich)  gespalten.  Es  hiess  demnach  im  urgerm.  '*trdesi 
(du  trittst),  */rdiipi  (er  tritt),  *(rdepe  (ihr  tretet),  *irdönpi  (sie  treten) 
gegen  '*berezi  (du  trägst),  ^beretü,  '^beretie,  ^berondi,  während  in  der 
1.  sg.  und  pl.  keine  differenzieruug  eingetreten  war;  ferner  in  der 
o-declination  nom.  sg.  *sUgös  (steg),  aber  '^e/uvoz  (pferd),  nom.  pl.  *stigös, 
aber  '*ehwöz,  acc.  pl.  *stigöns,  aber  *ehwo]iz,  während  die  übrigen  casus- 
endungen  gleich  geblieben  waren;  und  ähnlich  in  andern  flexions- 
klassen.  Die  darauf  eingetretene  ausgleichung  hat  fast  überall  zu 
gunsten  des  weichen  lautes  entschieden,  wobei  zu  bemerken  ist,  dass 
z  im  altn.  und  in  den  westgerm.  dialecten  als  r  erscheint,  im  ursprüng- 
lichen auslaut  in  den  letzteren  abfällt.  Doch  hat  in  einigen  fällen 
auch  das  harte  s  gesiegt.  So  steht  im  nom.  pl.  der  a-declination  ags. 
und  altfries.  dcu/as  neben  altn.  dagar\  im  alts.  zeigt  der  Heliand  -os, 
nur  vereinzelt  o  oder  a  {yrurio,  sluiila)^  während  in  der  Freckenhorster 
rolle  a  häufiger  ist  als  os  und  as.  Das  ahd.  kennt  in  appellativen  nur 
a,  dagegen  in  stammbezeichuungen,  die  zu  städtenamen  geworden  sind, 
auch  -as,  falls  dieselben  nicht  anders  aufzufassen  sind.^) 

Ein  beispiel  aus  jüngerer  zeit  ist  die  widerherstellung  des  flexions-e 
im  nhd.  in  fällen,  wo  es  schon  im  mhd,  geschwunden  war.  Besonders 
lehrreich  sind  die  ableitungen  mit  -en,  -er,  -el.  Bei  den  Substantiven 
Jjleibt  die  mittelhochdeutsche  ausstossung  des  e  bestehen,  vgl.  des  morgens, 
dem  wagen,  die  wagen,  der  wagen,  den  wagen  gegen  tages,  läge,  tagen, 
ebenso  schüssel,  schusseln  gegen  schule,  schuloi.     Dagegen  in  den  ad- 


')  Vgl.  Beiträge  VI,  54b  tf. 

^)  Vgl.  Kögel,  Zsfhr.  f.  deutsches  altertum  28,  s.  Hüft'. 


177 

jeetiven,  die  wegen  der  sonstigen  durchgängigen  gleiehforinigkeit  fester 
zusammengehalten  wurden,  ist  das  e  nach  analogie  der  einsilbigen 
wider  hergestellt:  gefangenes  wie  langes,  gefangene,  gefangenen  (mhd 
gevangen),  andere,  anderes,  andere  (=  mhd.  ander,  anders,  ander). 
Die  neuhochdeutschen  formen  kommen  übrigens  schon  im  mhd.  neben 
den  syncopierteu  vor.  Wir  können  dabei  wider  beobachtungen  über 
isolierung  machen.  Es  heisst  äusnahmlos  die,  den  eifern  gegenüber 
die,  den  alleren;  der  jünger,  den  Jüngern  (subst.)  gegen  der  jüngere 
den  jüngeren  (adj.);  einzeln,  dat.  pl.  des  mhd.  adj.  einzel;  anderseits, 
unserseits  gegen  andere  seife,  unsere  seife;  Vorderseite,  hinterseite, 
Oberarm,  unterarm,  edelmann,  innerhalb,  ausserhalb,  oberhalb,  unterhalb 
(unechte  composita,  durch  zusammenwachsen  von  adj.  und  subst.  ent- 
standen) gegen  die  vordere  seife  etc.;  anders  gegen  anderes. 

Ein  anderer  fall,  in  dem  der  umlaut  aus  analogen  Ursachen 
dynamisch  geworden  ist,  ist  der  conj.  der  starken  und  der  ohne 
zwischenvocal  gebildeten  schwachen  präterita,  mhd.  fuor  —  füere,  sang, 
pl.  sungen  —  süngen,  mohte  —  möhte,  brähte  —  brecht e  etc.  Hier  ist 
der  umlaut  entweder  durchgängig  oder  wenigstens  für  den  pl.  einziges 
Unterscheidungsmittel.  Die  dynamische  auffassung  im  Sprachgefühl 
bekundet  sich  darin,  dass  im  nhd.  bei  der  sonstigen  ausgleichung  des 
vokalismus  doch  der  umlaut  bleibt  {sang,  sangen  —  sänge,  für  sungen, 
sänge);  ferner  noch  entschiedener  im  mitteldeutschen  in  der  Über- 
tragung des  Umlauts  von  den  ursprünglich  vokallosen  auf  die  syn- 
copierten  präterita  {brante  —  bre7ite  statt  brante  nach  analogie  von 
brähte  —  brcehte).^) 

Ein  dritter  fall  ist  der  umlaut  im  präs.  gegenüber  dem  unter- 
bleiben des  Umlauts  im  prät.  und  pari:  ahd.  brennu  —  branta  — 
gibranier.  Im  part.  hat  sich  auf  lautlichem  wege  ein  Wechsel  ent- 
wickelt: gibrennit  —  gibra?it-.  Das  nächste  resultat  der  ausgleichung 
ist  aber  unter  diesen  umständen,  dass  die  unflectierte  form  gibrennU 
gegen  gibrant  zurückgedrängt  wird.  Dann  aber  erhält  sich  der  gegen- 
satz  in  der  Wurzelsilbe  zwischen  präs.  und  prät.-part.  Jahrhunderte 
hindurch  constant,  wiewol  er  zur  Charakterisierung  der  formen  nicht 
notwendig  ist. 

Auf  diese  weise  können  auch  demente  des  wortstammes  in 
flexionsendungen  verwandelt  werden.  Dies  ist  der  fall  in  unserer 
schwachen  declination.  In  dieser  gehört  das  n  (vgl.  namen,  frauen, 
herzen)  zu  dem  ursprünglichen  stamme.  Indem  aber  jede  spur  der 
ursprünglichen  flexionsendung  durch  den  lautlichen  verfall  getilgt  ist, 
und  indem   anderseits   das  n  im   nom.  (beim   neuti-um   auch   aec).  sg! 

')  Vgl.  Bech,  Germania  15,  s.  12Uflf. 
Paul,  Principien.    II.  Auflage.  j2 


178 

geseliwimden  ist  {namc,  frau,  /icrz),  so  ist  es  zum  chavacteristicum  der 
obliquen  casus  im  gegeusatz  zum  nom.  sg.  geworden.  Ein  anderes 
auf  solche  weise  entsprungenes  casussuffix  ist  das  pluralbildende  -er 
{rad  —  räder,  mann  —  mämier).  Die  bildungsweise  ist  von  einigen 
neutralen  s-stämmen  ausgegangen  (vgl.  lat.  genus  —  generis),  in  denen 
das  s  lautgesetzlich  zu  /•  geworden  war.  Im  nom.  sg.  musste  dasselbe 
nebst  dem  vorhergehenden  vocal  lautgesetzlieh  schwinden.  Unter  der 
einwirkung  der  vocalischen  declination  entstand  dann  zunächst  im  ahd. 
folgendes  schema. 


sg. 

pl. 

n. 

kalp 

kalbir 

g- 

kalbir-es 

kalbir-o 

d. 

kalbir-e 

kalbir-um 

a. 

kalp 

kalbir. 

Im  gen.  und  dat.  sg.  war  das  -ir-  jedenfalls  unnötig  und  störend. 
Daher  sind  die  betreffenden  formen  schon  in  der  zeit,  aus  der  unsere 
ältesten  quellen  stammen,  bis  auf  vereinzelte  reste  verschwunden  und 
durch  halbes,  kalhe  ersetzt,  die  nach  dem  muster  der  normalflexiou 
aus  dem  nom.-acc.  gebildet  sind.  Nun  musste  das  -ir  als  characte- 
risticum  des  pl.  erscheinen,  um  so  mehr,  weil  es  im  nom.-acc.  gar  kein 
anderes  unterscheidendes  merkmal  gab.  Der  functionelle  Charakter 
des  -ir  =  mhd.,  nhd.  -er  documentiert  sich  dann  dadurch,  dass  es  all- 
mählig  auf  eine  menge  von  Wörtern  übertragen  wird,  denen  es  ur- 
sprünglich nicht  zukommt. 

Diese  beispiele  werden  genügen  um  anschaulich  zu  machen,  wie 
eine  ohne  rücksicht  auf  einen  zweck  entstandene  lautliche  differen- 
zierung,  durch  zufälliges  zusammentreffen  verschiedener  umstände  be- 
günstigt, ungewollt  und  unvermerkt  in  den  dienst  eines  Zweckes  ge- 
zogen wird,  wodurch  dann  der  schein  entsteht,  als  sei  die  diflfereuz 
absichtlich  zu  diesem  zwecke  gemacht.  Dieser  schein  wird  um  so 
stärker,  je  mehr  die  gleichzeitig  entstandenen  zweckwidrigen  diflfe- 
renzen  getilgt  werden.  AVir  dürfen  unsere  aus  der  verfolgbaren  histo- 
rischen entwiekelung  zu  schöpfende  erfahrung  zu  dem  satze  verall- 
gemeinern, dass  es  in  der  spräche  überhaupt  keine  absichtliche  zur 
bezeichnung  eines  fuuctionsunterschiedes  gemachte  lautdifferenzieruug 
gibt,  dass  der  erstere  immer  erst  durch  secundäre  entwiekelung  zur 
letzteren  hinzutritt,  und  zwar  durch  eine  unbeabsichtige,  den  sprechen- 
den Individuen  unbewusste  entwiekelung  vermittelst  natürlich  sich  er- 
gebender ideenassociation. 


Cap.  XI. 
Bildung  neuer  gruppen. 

Weim  im  allgemeinen  der  lautwaudel  die  Wirkung  hat  unterschiede 
zu  erzeugen,  wo  früher  keine  vorhanden  waren,  so  dient  er  doch  auch 
nicht  ganz  selten  dazu  vorhandene  unterschiede  zu  tilgen.  Das 
ist  unter  umständen  ganz  heilsam,  meistens  aber  schädlich,  indem  auch 
unterschiede,  welche  für  die  kennzeichnuug  der  functiou  wesentlich 
sind,  verloren  gehen  und  ausserdem  die  reinliche  sonderung  der  ein- 
zelnen gruppen  von  einander  unmöglich  gemacht  wird.  Daher  pflegt 
auch  diese  Wirkung  des  lautwaudels  weitere  folgen  zu  haben  und 
namentlich  viele  aualogische  neubilduugen  hervorzurufen. 

Der  einfachste  hierher  gehörige  Vorgang  ist,  dass  Wörter,  die 
etymologisch  gar  nicht  zusammenhängen  und  auch  in  ihrer  bedeutuug 
nichts  mit  einander  zu  schaffen  haben,  durch  seeundäre  entwickelung 
lautlich  zusammenfallen,  z.  b.  enkel  (talus)  =  mhd.  enkel  —  cnkel 
(nepos)  =  mhd.  enenkel,  garhe  (manipulus)  =  mhd.  garhe  —  garhe 
(Schafgarbe)  =  mhd.  ganve,  kiel  (carina)  =  mhd.  kiel  —  kiel  (caulis 
pennae)  =  mhd.  kil,  mähre  (narratio)  =  mhd.  mccre  —  mälwe  (equa) 
=  mhd.  merhe,  tor  (porta)  =  mhd.  tor  —  tor  (stultus)  =  mhd.  töre, 
los  (solutus)  =  mhd.  lös  —  los  (sors)  =  mhd.  löz,  ohm  (amphora) 
=  mhd.  äme  —  ohm  (avuneulus)  =  oheim,  schnür  (linea)  =  mhd.  snnor 
schnür  (nurus)  —  mhd.  smir.  Massenhafte  beispiele  Hessen  sich 
namentlich  aus  dem  englischen  anführen. 

Mitunter  verschmelzen  zwei  solche  Wörter  trotz  der  Verschieden- 
heit ihrer  bedeutung  füs  das  Sprachgefühl  in  eins.  Niemand  wird 
ohne  sj)raehgeschichtliche  kenutnisse  vermuten,  dass  in  unserm  miler 
zwei  ganz  verschiedene  Wörter  zusammengefallen  sind,  das  eine  =  lat. 
inier,  das  andere  verwandt  mit  lat.  infra  (sanskr.  andhari).  Noch 
weniger  wird  mau  darauf  verfallen,  dass  ein  schiff  lichten  anderen 
Ursprung  hat  (mhd.  lihten  leicht  machen)  als  die  anker  lichten  (nieder- 
deutsche form  für  lüften).  Schlingen  (devorare)  ist  mitteldeutsche  form 
für   älteres   slinden   (vgl.  Schlund)    und   hat   sich   vielleicht  deshalb   in 

12* 


180 

der  Schriftsprache  festgesetzt,  weil  es  mit  schlingen  =  mhd.  slingen 
verschmolzen  ist.  Bei  der  wendiing  in  die  schanze  schlut/eyi  denkt  man 
kaum  daran,  dass  man  es  mit  einem  andern  worte  als  dem  gewöhn- 
lichen schanze  zu  tun  hat;  es  ist  =  franz.  chance.  Noch  beweisender 
sind  einige  fälle,  in  denen  formale  beeinflussung  stattgefunden  hat. 
Zwar  dass  der  übertritt  von  mahlen  (mhd.  mala)  aus  der  starken  in 
die  schwache  conjugation  sich  unter  dem  einfluss  von  malen  (mhd. 
malen)  vollzogen  hat,  kann  man  nur  vermuten.  Schon  weniger  frag- 
lich ist  es,  dass  der  übertritt  von  ladeyi  einladen  (=  ahd.  ladön)  in 
die  starke  conjugation  durch  laden  aufladen  (=  ahd.  hladan)  veranlasst 
ist;  umgekehrt  kommen  von  letzterem  auch  schwache  formen  vor, 
z.  b.  über  ladete  bei  Less.,  ladest,  ladet  auch  jetzt.  Sicher  ist,  dass  ein 
starkes  er  hefährt  bei  Jean  Paul  zu  dem  sonst  schwachen  befahren 
=  mhd.  vären  durch  Verwechselung  mit  dem  starken  befahren  (mhd, 
varn)  veranlasst  ist.  In  Oestreich  verwechselt  man  kennen  und  können, 
man  sagt  z.  b.:  der  Schauspieler  hat  seine  rolle  nicht  gekannt.  In  den 
beiden  letzten  fällen  sind  zwar  etymologisch  verwandte,  aber  doch 
wesentlich  verschiedene  Wörter  confundiert.  Im  mhd.  existieren  zwei 
etymologisch  verschiedene  partikeln  wan,  die  eine  adversativ,  die  andere 
begründend  —  nhd.  denn.  Die  letztere  hat  eine  vollere  nebenform 
wände  zur  seite.  Diese  wird  nun  zuweilen  auch  in  adversativem  sinne 
angewendet,  wo  sie  von  hause  aus  nicht  berechtigt  ist  (vgl.  Mhd. 
wb.  III,  479'').  Im  ahd.  sind  die  präpositionen  int-  und  in  in  der 
composition  mit  einem  verbum  vielfach  in  die  form  in-  zusammen- 
geflossen indem  das  t  durch  assimilation  in  den  folgenden  consonanten 
aufgegangen  ist.  Die  doppelheit  Int-  —  in-  ist  denn  auch  auf  solche 
fälle  tibergegangen,  in  denen  in  zu  gründe  liegt,  vgl.  nhd.  entbrennen, 
entziinden  etc.  Unser  zer-  hatte  früher  eine  nebenform  ze-  izer-  vor 
vokal,  ze-  vor  consonant  entwickelt).  Diese  war  lautlich  identisch 
mit  der  ihrem  Ursprünge  nach  ganz  verschiedenen  präposition  ze 
zu.  Neben  diese  trat  im  mhd.  die  adverbialform  zuo  mhd.  zu,  welche 
allmählig  die  form  ze  ganz  verdrängt  hat.  Dies  zii  finden  wir  nun 
auch  für  ze-  ==  zer-,  z.  b.  bei  Luther.  Entsprechend  ist  ags.  to-  in 
der  bedeutung  von  zer-  zu  erklären. 

Durch  zufälliges  paiüelles  gleichwerden  der  lautgestaltung  ti'eten 
unverwandte  Wörter  zu  stofflichen  gruppen  zusammen.  Es  ist 
dies  die  einfachste  art  der  sogenannten  Volksetymologie,  die  sich 
lediglich  auf  eine  umdeutung  durch  das  Sprachgefühl  beschränkt,  ohne 
dass  dadurch  die  lautform  eine  Veränderung  erleidet.  Vorbedingung 
daflir  ist,  dass  die  wahre  etymologie  des  einen  Wortes  verdunkelt  ist, 
so  dass  es  keine  andere,  berechtigtere  anknüpfung  hat. 

Solchen  umdeutungen  unterliegen  am  häufigsten  die  glieder  eines 


181 

compositums.  So  wird  cr/rähnen  als  eine  Zusammensetzung  mit  wähnen 
=  mhd.  iv^nen  gefasst,  während  es  vielmehr  das  mittelhochdeutsche 
{ye)>vehenen  enthält;  bei  freilag  denkt  man  au  das  adj.  frei.  Am 
meisten  sind  eigeunamen  der  umdeutung-  ausgesetzt,  vgl.  Reintvald, 
Bärrvald,  Braunwald,  in  denen  der  zweite  bestandteil  ursprünglich 
nicht  =  silva  ist,  sondern  nomen  agentis  zu  n-ülten;  Glaub- recht, 
Lieh  recht,  die  ursprünglich  vielmehr  composita  mit  brecht  =  ahd. 
beruht  sind;  Sauer! ant ,  verhochdeutseh  aus  Süerland  =  Süderlant. 
Weitere  beispiele  bei  Andr.  Volkset,  Hier  ist  die  umdeutung  erfolgt, 
ohne  dass  sie  von  Anfang  an  durch  eine  Verwandtschaft  der  bedeutung 
unterstützt  worden  wäre.  Es  wirkt  bloss  die  natürliche  erwartung,  in 
einem  werte,  welches  seiner  lautgestalt  nach  den  eindruck  eines  com- 
positums macht,  auch  bekannte  demente  zu  finden. 

Eigennamen  widerstreben  einer  solchen  lediglich  an  den  laut  sich 
haltenden  secundären  beziehung  am  wenigsten,  weil  bei  ihnen  zwar  keine 
Übereinstimmung,  aber  auch  kein  Widerspruch  der  bedeutuugen  mög- 
lich ist.  Es  giebt  aber  auch  fälle,  in  denen  es  möglich  wird  zwischen 
den  bedeutungen  der  betretfenden  Wörter  eine  beziehung  herzustellen; 
vgl.  mhd.  endekrist,  lautlich  entwickelt  aus  antikrist\  nhd.  lanzknecht 
aus  landes  kriecht;  wahnwitz,  Wahnsinn,  wahnschaffen  an  wahn  (==  mhd. 
wäll)  angelehnt,  während  mhd.  wan  leer,  nichtig  zu  gründe  liegt; 
friedhof  aus  mhd. /H^Ao/";  vormund  zu  mund  schütz;  verweisen,  nicht  zu 
weisen  (=  mhd.  wisen)  gehörig,  sondern  aus  mhd.  verwizen.  Umringen 
ist,  wie  noch  die  schwache  flexion  zeigt,  seinem  Ursprünge  nach  kein 
compositum  von  ringen,  sondern  eine  ableitung  aus  dem  untergegan- 
genen mhd.  ümberinc.  Aber  die  betonuug  umringen  beweist,  dass  es 
zu  einem  compositum  aus  um  und  ringen  umgedeutet  ist.  Eine  weitere 
consequenz  der  umdeutung  ist  dann  gewesen,  dass  man  ein  pari 
umrungen  und  selbst  ein  prät.  umraiuj  gebildet  hat,  vgl.  die  belege 
bei  Sanders  II,  764.  Auch  Wörter,  die  keine  composita  sind,  aber 
wegen  ihrer  volleren  lautgestalt  den  eindruck  von  solchen  machen, 
werden  auf  diese  weise  zu  wirklichen  compositis  gestempelt;  vgl. 
leumund  als  leutemund  gefasst,  aber  ableitung  aus  got.  hliuma  (ohr); 
weissagen,  schon  mhd.  wissagen  =  ahd.  wizagön,  ableitung  aus  wizago 
der  wissende,  prophet;  trübsälig ,  armsölig  etc.,  ableitungen  aus  triib- 
saJ,  etc.,  -sal  ableituugssuffix. 

Seltener  ist  es,  dass  ein  wort  als  ableitung  von  einem  andern 
gefasst  wird,  mit  dem  es  ursprünglich  nichts  zu  schaffen  hat.  Nhd. 
sucht  wird  vom  Sprachgefühl  als  zu  suchen  gehörig  empfunden,  ist  aber 
hervorgegangen  aus  mhd.  suht  {=  got.  sauhfs)^  das  mit  mhd.  suochen 
(got.  sökjan)  nichts  zu  schaffen  hat.  Die  neuhochdeutsche  anlehnung 
an  suchen  ist  ausgegangen  von  compositis  wie  Wassersucht,   tnondsuchl, 


182 

(jeWsuchl,  schtrindsuchl,  cifermcht,  Sehnsucht,  ehrsuchl  etc.,  die  man  als 
begierde  nach  wasser,  nach  dem  monde,  gelb  zu  werden,  zu  eifern  etc. 
auffasste.  H.  Sachs  fasst  -suht  noch  als  krankheit,  wenn  er  sagt  wayin 
er  hat  mich  die  e'ifersucht.  Vgl.  dagegen  den  bekannten  spruch  elfer- 
sHcht  ist  eine  leidenschaft ,  die  mit  eifer  sucht,  was  leiden  schafft.  Laute 
wird  als  zu  laut  gehörig  empfunden,  ist  aber  ein  aus  dem  arabischen 
stammendes  lehnwort.  Bei  hantieren  aus  franz.  hanter  denkt  man  an 
hand,  bei  fallieren  aus  franz.  faillir  an  fallen,  bei  h eschwichtigen., 
niederdeutsche  form  zu  mhd.  swiften,  an  schweigen,  bei  schmälen 
(eigentlich  schmal,  klein  machen)  an  schmähen.  Herrschaft,  herrlich, 
herrschen  sind  aus  hehr  abgeleitet  (daher  mhd.  herschaft  etc.),  werden 
aber  jetzt  auf  herr  bezogen,  womit  sie  ursprünglich  nur  indireet  ver- 
wandt sind. 

Von  den  besprochenen  erscheinungen  zu  sondern  ist  die  com- 
pliciertere  art  der  Volksetymologie.  Diese  besteht  in  einer  lautlichen 
Umformung,  wodurch  ein  wort,  welches  durch  zufällige  klangähnlich- 
keit  an  ein  anderes  erinnert,  diesem  weiter  angeglichen  wird.  Eine 
solche  Umformung  kann  absichtlich  gemacht  werden  mit  dem  vollen 
bewusstsein,  dass  man  sich  eine  Veränderung  der  richtigen  form  ge- 
stattet. Derartiger  Verdrehungen  bedienen  sich  manche  humoristische 
Schriftsteller,  in  ausgedehntestem  masse  Fischart.  Manche  pflanzen 
sich  als  traditionelle  witze  fort,  besonders  in  der  Studentensprache. 
Diese  absichtlich  witzige  Umformung  bietet  dem  Sprachforscher  kein 
problem.  Sie  geht  ihn  nur  insofern  an,  als  sie  von  dem  naiven  sinne 
der  kinder  und  der  ungebildeten  nicht  als  Verdrehung  erkannt,  sondern 
als  die  eigentliche  form  aufgenommen  und  weiterverbreitet  wird.  Es 
gibt  aber  zweifellos  auch  eine  absichtslose  und  unbewusste  Umformung, 
die  sich  als  solche  durch  die  abwesenheit  jedes  witzes  zu  erkennen 
gibt. ')  Derselben  unterliegen  fremdwörter,  eigennamen  und  andere 
Wörter,  deren  etymologie  verdunkelt  ist,  und  zwar  fast  nur  composita 
oder  solche  Wörter,  die  vermöge  ihrer  volleren  lautgestalt  den  eindruck 
von  compositis  machen.  Hierbei  unterliegt  entweder  nur  das  erste 
Clement  einer  Veränderung,  vgl.  juheljahr  (ebräisch  jöbet).,  dienstag., 
Huldreich  aus  mhd.  Uolrich,  maulwurf  aus  mhd.  moltwurf,  lat.  auri- 
chalcum  aus  griech.  oQeixaXxog]  oder  nur  das  zweite,  vgl.  hagesfolz, 
Reijihold,  Gotthold,  Weinhold  etc.  aus  -olt  =  walt"^),  abspannen  aus  mhd. 


*)  Noch  ist  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  dieselbe  nicht  mit  der  in 
cap.  22  zu  besprechenden  lautsubstitution  verwechselt  werden  darf.  Die  Wirkungen 
beider  Vorgänge  sind  nicht  immer  scharf  auseinanderzuhalten. 

*)  Das  h  ist  allerdings  wol  kaum  je  gesprochen  worden,  und  dann  liegt  nur 
umdeutung  vor,  die  in  der  Orthographie  ihren  ausdruck  gefunden  hat. 


183 

spanen  (locken),  ahslrcifen  auB  mbd.  siroufen '),  einode  aus  mhd.  eincete 
{celc  suftix);  oder  beide,  vgl.  armhrnst  aus  lat.  arcuhalista,  liebstöckel 
aus  lat.  liyusticum,  feileisen  aus  franz.  valise^  ehrenhold  aus  herolt,  griech. 
övviÖQioi'  aus  ebräiscli  sanhedrin.  Der  eine  bestandteil  ist  umgeformt, 
der  andere  nur  umgedeutet  in  abseile,  früber  apside  aus  griecb.  ix^nc,; 
h'üssnacht  aus  Cussiniacum;  wabrsebeinlicb  aucb  in  Mailand  aus 
ndid.  Milan.  Wie  sebon  aus  diesen  wenigen  beispielen  ersicbtlicb  ist, 
kann  die  angleicbung  dadurcb  unterstützt  sein,  dass  sieb  die  bedeutung 
des  umgeformten  wertes  zu  der  seines  musters  in  beziebung  bringen 
Hess,  aber  sie  bedarf  solcber  Unterstützung  nicbt  notwendig.  Für  die 
erklärung  des  Vorganges  werden  wir  zunäcbst  zu  berücksicbtigen 
baben,  dass  man  ganz  gewöbnlicb  die  worte  und  sätze  die  man  bort, 
ibren  lautbestandteilen  nach  nicbt  vollkommen  exact  percipiert,  sondern 
teilweise  errät,  gewöbnlicb  durcb  den  nacb  dem  zusammenbange 
erwarteten  sinn  unterstützt.  Dabei  rät  man  natürlicb  auf  lautcomplexe, 
die  einem  sebon  geläufig  sind,  und  so  kann  sieb  gleicb  beim  ersten 
boren  statt  eines  für  sieb  sinnlosen  teiles  eines  grösseren  wertes  ein 
äbnlicb  klingendes  üblicbes  wort  unterscbieben.  Ferner  aber  baftet 
ein  wortteil,  der  sonst  gar  keinen  anbalt  in  der  spracbe  bat,  aucb 
wenn  er  ricbtig  percipiert  ist,  scblecbt  im  gedächtniss,  und  es  kann 
sieb  daber  docb  bei  dem  versucbe  der  reproduction  ein  als  selbständiges 
wort  geläufiges  dement  unterscbieben.  Und  wenn  erst  einmal,  sei  es 
beim  boren  oder  beim  sprechen,  eine  solche  Unterschiebung  stattge- 
funden bat ,  so  hat  das  untergeschobene  vor  dem  echten  den  vorteil, 
dass  es  sich  besser  dem  gedächtniss  einprägt.  Es  ist  ganz  natürlich, 
dass  sich  dieser  Vorgang  im  allgemeinen  auf  längere  worte  beschränkt. 
Denn  kürzere  sind  leichter  zu  pereipieren  und  leichter  zu  behalten. 
Ausserdem  aber  ist  man  es  gewohnt,  dass  eine  anzahl  einfacher  Wörter 
isoliert  da  stehen,  wenigstens  nur  mit  den  allgemein  geläufigen  und 
beliebig  bildbaren  ableitungen  gruppiert,  während  man  von  einem 
worte,  welches  den  eindruck  eines  compositums  macht,  aucb  erwartet, 
dass  die  einzelnen  elemente  an  einfache  Wörter  anknüpfbar  sind. 

Viel  durchgreifender  als  auf  dem  stofflichen  wirkt  der  lautliehe 
zusammenfall  auf  dem  formalen  gebiete.  Wir  scheiden  die  hierher 
gehörigen  Vorgänge  zunächst  in  zwei  hauptgruppen ,  nämlich  je  nach- 
dem formen  zusammenfallen,  die  funetionell  gleich,  oder  solche, 
die  funetionell  verschieden  sind. 

Die  auf  hebung  lautlicher  Verschiedenheiten  bei  functioneller  gleicb- 
heit  kann  sehr  woltätig  wirken,  weil  sie  die  bildung  der  formalen 
gruppen  vereinfacht.    Mitunter  wird  dadurch  nur  die  im  vorigen  capitel 


Dabei  kommt  aber  auch  der  mundartliche  Übergang  von  eu  in  ei  in  betracht. 


184 

besprochene  lauHiolie  diflferenzierung-  wider  aufgehoben.  So  fallen  z.  b, 
die  auf  gleicher  grundlage  beruhenden  althochdeutschen  ))ildung88ilben 
-lü,  -al,  -il  im  uihd.  in  -el  zusammen,  ebenso  -U7i,  -an,  -in  in  -en  etc. 
Zwecklos  sind  aber  auch  solche  unterschiede  wie  die  doppelte  bildung 

des  comparativs  und  Superlativs  im  ahd.  -h'o,  -ist oro,  -öst  oder  die 

beiden  synonymen  weisen  der  adjectivbildung  auf  -ag  und  -ig^)^  und 
es  ist  daher  nur  ein  vorteil,  wenn  wir  jetzt  nur  -er,  -[e\st  und  -ig 
haben.  Auch  der  zusammenfall  zweier  ganzer  flexionsklassen  wie  der 
althochdeutschen  verba  auf  -Ön  und  -en  in  mhd.  -en  ist  nur  eine  zweck- 
mässige Vereinfachung. 

Aber  nicht  immer  geht  lautlicher  zusammenfall  so  gleichmässig 
durch  ganze  Systeme  von  stofflich -formalen  proportionen  hindurch. 
Meistens  trifft  er  nur  einen  teil  der  unter  einander  zusammenhängenden 
formen.  Dann  trägt  er  nicht  zur  Vereinfachung,  häufig  aber  zur  Ver- 
wirrung der  Verhältnisse  bei. 

a)  Der  lautliche  zusammenfall  geht  zwar  durch  sämmtliche  formen 
eines  flexionssystemes  hindurch,  er  trifft  aber  in  der  einen  flexions- 
klasse  oder  in  mehreren  nur  einen  teil  der  Wörter,  die  ursprünglich 
dazu  gehören.  Während,  wie  wir  eben  gesehen  haben,  von  den  drei 
althochdeutschen  Massen  der  schwachen  verba  im  mhd.  zwei  ganz 
zusammengefallen  sind,  haben  sich  ihnen  von  der  dritten  Masse  (got. 
auf  -Jan)  nur  die  kurzsilbigen  vollständig  angeschlossen,  die  langsilbigen 
bleiben  noch  unterschieden  durch  die  alte  syncope  des  mittelvokals  im 
prät.  und  pari  perf.  und  eventuell  durch  den  rückumlaut,  vgl.  manete, 
lebete,  rvenete  aus  manota,  leheta,  rvenita  zu  manen,  leben^  rvenen  neben 
neide,  hrante  zu  neigen,  brennen.  Die  althochdeutsche  «-declination  ist 
mit  der  o-declination  in  bezug  auf  die  endungen  vollständig  zusammen- 
gefallen, in  bezug  auf  die  gestalt  des  Stammes  im  plur.  aber  nur,  wenn 
der  wurzelvokal  nicht  umlautsfähig  ist.  Es  ist  also  hier  mit  dem  zu- 
sammenfall immer  eine  Spaltung  verbunden,  respective  eine  Spaltung 
dem  zusammenfall  vorangegangen. 

b)  Der  zusammenfall  geht  zwar  durch  alle  Wörter  mehrerer  flexions- 
klassen  hindurch,  aber  nicht  durcli  alle  formen  des  flexionssystems. 
Dieser  fall  ist  sehr  häufig.  So  ist  die  zweite  lateinische  declination 
mit  der  vierten  nur  im  nom.  und  acc.  sing,  zusammengefallen;  ebenso 
die  0-  und  «-declination  im  gotischen  {fisks,  fisk  —  gasts,  gast). 

c)  Der  zusammenfall  triffst  nur  einen  teil  der  Wörter  mehrerer 
flexionsklassen  und  nur  einen  teil  der  formen  des  flexionssystems.  So 
ist  im  ahd.  der  nom.  und  acc.  der  langsilbigen  und  mehrsilbigen  i-,  u- 


')  Abzusehen  ist  von  dem  vereinzelten  falle  einag  —  einig,  wo  eine  Ver- 
schiedenheit der  bedeutung  vorliegt. 


185 

und  o-stämme  zusammengefallen,  während  diese  casus  bei  den  kurz- 
silbigen  verschieden  geblieben  sind,  vgl.  <jasl^  wald,  arm  aus  '*(j<isli{z), 
*n'a/du{z),  *armo{z)  gegen  tvini,  sunu  und  wenigstens  vorauszusetzen- 
des *<7o/o. 

Wo  der  fall  a  eingetreten  ist,  da  ist  der  zusammenfall  wie  die 
trennung  der  fiexionsklassen  eine  definitive,  wogegen  keine  reaction 
möglich  ist.  Die  bleibende  folge  ist  eine  Verschiebung  in  den  macht- 
verhältnissen  der  betretfenden  gruppen,  indem  ja  die  eine  einen  Zu- 
wachs auf  kosten  der  andern  erhält.  Fall  b  und  c  dagegen  erzeugen 
eine  Verwirrung  in  den  gruppierungsverhältuisseu.  Wo  einmal  ver- 
schiedene lautliche  moditicationen  für  die  nämliche  function  angewendet 
werden,  da  ist  es  am  zweckmässigsten,  wenn  die  lautliche  Verschieden- 
heit durch  alle  formen  eines  Systems  hindurchgeht,  so  dass  sich  die 
einzelnen  fiexionsklassen  reinlich  von  einander  sondern  lassen,  dass 
man  es  jeder  einzelnen  form  ansieht,  welcher  klasse  sie  angehört. 
Sind  nun  in  zwei  klassen  einige  formen  übereinstimmend,  einige  ab- 
weichend, so  wird  ein  wort  auf  grund  der  übereinstimmenden  formen 
leicht  falsch  eingeordnet  und  es  treten  an  stelle  der  traditionellen  for- 
men der  einen  klasse  analogiebildungen,  die  der  andern  angehören. 
Aus  dem  schwanken  und  der  Verwirrung,  die  dadurch  entsteht,  kann 
sich  dann  die  spräche  allmählig  wider  zu  einfacheren  und  festeren 
Verhältnissen  durcharbeiten. 

Beispiele  stehen  massenhaft  zur  Verfügung.  Ich  verweise  insbe- 
sondere auf  die  gegenseitige  beeinflussung  der  verschiedenen  declina- 
tionsklassen  des  indogermanischen  in  den  einzelsprachen,  die  fast 
immer  die  folge  des  lautlichen  Zusammenfalls  in  mehreren  casus, 
namentlich  im  nom.  und  acc.  sg.  gewesen  ist.  Meistens  haben  die  so 
zusammenfallenden  klassen  schon  früher  einmal  eine  völlig  oder  über- 
wiegend identische  bildungsweise  gehabt,  und  diese  ursprüngliche  iden- 
tität  ist  erst  durch  secundäre  lautentwickeluug  verdunkelt  worden, 
gegen  die  eine  sofortige  reaction  deshalb  nicht  möglich  gewesen  ist, 
weil  die  differenzierung  eine  zu  sehr  durchgehende  war.  So  ist  z.  b. 
die  einheit  der  indogermanischen  declination  hauptsächlich  vernichtet 
durch  die  unter  dem  einflusse  des  accentes  eingetretene  vokalspaltung 
und  die  contraction  des  stammauslauts  mit  der  eigentlichen  flexions- 
endung.  Dies  waren  so  durchgreifende  Wandlungen,  dass  es  erst  vieler 
weiterer  Veränderungen  und  namentlich  abschwäehungen  bedurfte  um  das 
getrennte  auf  einer  ganz  andern  grundlage  teilweise  wider  zu  vereinigen. 

Das  resultat  bei  dieser  art  ausgleichung  ist  in  der  regel,  dass 
Wörter  der  einen  bildungsklasse  in  die  andere  übertreten,  und  zwar 
entweder  alle  oder  nur  einige,  entweder  in  allen  formen  oder  nur  in 
einigen.    Für  das  letztere  mag  folgendes  als  beispiel  dienen.    Im  goti- 


l 


186 

sehen  sind  die  mascnlina  der  /-deelination  im  sg.  in  die  «-declination 
iil)er2:etreten  wegen  des  lautlichen  znsamment'alls  im  nom.  nnd  aec., 
ähnlich  im  ahd.  Der  pl.  bleibt  aber  in  beiden  dialecteu  noch  ver- 
schieden flectiert.  Dass  die  ausg'leichuuü'  zunächst  bei  diesem  punkte 
stehen  bleibt,  ist  eine  folge  des  nie  fehlenden  mitwirkens  der  et^'mo- 
logischen  gruppieruug,  und  es  bestätigt  sich  insofern  dadurch  wider 
der  satz:  je  enger  der  verband,  je  leichter  die  beeinfiussung. 

Es  ist  entweder  nur  die  eine  gruppe  activ,  während  die  andere 
sich  mit  einer  passiven  rolle  begnügt,  oder  es  sind  beide  gruppen  zu- 
gleich activ  und  passiv.  Im  uhd.  sind  eine  menge  schwacher  mascu- 
lina  in  die  flexion  der  starken  auf  -en  übergetreten,  von  denen  sie  sich 
schon  im  mhd.  nur  durch  den  nom.  und  gen.  sg.  unterschieden,  vgl. 
bogen  (==  mhd.  hoge)^  garten,  kragen,  schaden  etc.  Es  gibt  aber  auch 
einige  fälle,  in  denen  umgekehrt  ein  starkes  masculiuum  auf  n  in  die 
schwache  flexion  übergetreten  ist:  heide  (^  m\\A.heiden\  krist(e){=  mhd. 
krisfen),  rabe  (=  mhd.  fahen). 

Tritt  eine  solche  gegenseitige  beeinfiussung  zweier  gruppen  an 
den  nämlichen  Wörtern  hervor,  so  kann  es  geschehen,  dass  nach 
längeren  Schwankungen  sich  eine  ganz  neue  flexionsweise  heraus- 
bildet. So  ist  durch  contamination  der  beiden  eben  besprochenen 
klassen  eine  mischklasse  erwachsen:  der  glaube  —  des  glaubens,  der 
gedanke  —  des  gedankens  etc.  Die  eutstehung  dieser  mischklasse  er- 
klärt sich  einfach,  wenn  wir  bemerken,  dass  einmal  im  nom.  wie  im 
gen.  doppelformen  bestanden  haben:  der  glaube  —  der  glauben,  des 
glauben  —  des  glaubens.  Es  hat  sich  dann  in  der  Schriftsprache  der 
nom.  der  einen,  der  gen.  der  andern  klasse  festgesetzt.  So  ist  ferner 
aus  der  gegenseitigen  beeinflussung  der  schwachen  masculina  mit  ab- 
geworfenem endvokal  und  der  starken  eine  mischklasse  entstanden, 
die  den  sing,  stark  und  den  plur.  schwach  flectiert:  schmerz,  -es,  -e  — 
schmerzen.  Entsprechend  bei  den  neutris:  bell,  -es,  -e  —  betten.  Das 
am  weitesten  greifende  beispiel  der  art  im  nhd.  ist  die  regelmässige 
flexion  der  feminina  auf  -e,  die  zusammengeschmolzen  ist  aus  der 
alten  «-declination  und  der  w-declination  (der  schwachen).  Im  mhd. 
flectiert  man  noch: 


sg.  n. 

vröude 

zunge 

S- 

vröude 

Zungen 

d. 

vröude 

Zungen 

a. 

vröude 

Zungen 

pl.  n. 

vröude 

Zungen 

g-- 

vröuden 

Zungen 

d. 

vröuden 

Zungen 

a. 

vröude 

Zungen 

187 

Im  iihd.  lieisst  es  durch  den  ganzen  sg.  liindureli  freude,  zungc,  diucli 
den  ganzen  pl.  hindurch  freuden,  zungen.  Wider  ein  charakteristisches 
beispiel  einer  zweckmässigen  Umgestaltung,  die  ohne  bevvusstsein  eines 
Zweckes  erfolgt  ist.  Die  grössere  Zweckmässigkeit  der  neuhochdeut- 
schen Verhältnisse  beruht  nicht  bloss  darauf,  dass  das  gedächtniss  ganz 
erheblich  entlastet  ist;  es  sind  auch  die  beiden  allein  vorhandenen 
enduugen  in  der  angemessensten  weise  verteilt.  Die  Unterscheidung 
der  numeri  ist  desshalb  viel  wichtiger  als  die  Unterscheidung  der  casus, 
weil  die  letzteren  noch  durch  den  in  den  meisten  fällen  beigefügten 
artikel  charakterisiert  werden.  Im  mhd.  kann  die  vröude  und  die  zun- 
gen ace.  sg.  und  nom.  acc.  pl.  sein,  der  zungen  gen.  sg.  und  pl.  Diese 
Unsicherheiten  sind  jetzt  nicht  mehr  möglich,  dagegen  nur  die  Unter- 
scheidung zwischen  nom.  und  acc.  sg.  bei  zunge  aufgehoben.  Sehen 
wir  aber,  wie  sich  die  Verhältnisse  entwickelt  haben,  so  finden  wir  als 
Vorstufe  ein  allgemeines  übergreifen  Jeder  von  beiden  klassen  in  das 
gebiet  der  andern,  welches  sich  ganz  natürlich  ergeben  musste,  nach- 
dem einmal  in  drei  formen  (nom.  sg.,  gen.  und  dat.  pl.)  lautlicher  zu- 
sammenfall eingetreten  war.  So  hatte  sich  ein  zustand  ergeben,  dass 
jede  form  sowol  auf  -e  als  auf  -en  auslauten  konnte  mit  ausnähme 
des  nom.  sg.  Es  ist  dabei  keine  einzige  form  mit  rücksicht  auf  einen 
zweck  gebildet,  sondern  nur  für  erhaltung  oder  Untergang  der  ein- 
zelnen formen  ist  ihre  Zweckmässigkeit  entscheidend  gewesen. 

Gegenseitige  beeinflussuug  zweier  gruppen  setzt  immer  voraus, 
dass  das  kräfteverhältniss  kein  zu  ungleiches  ist.  Denn  andernfalls 
wird  die  beeinflussuug  einseitig  werden,  auch  durchgreifender  und 
rascher  zum  ziele  führend.  Es  sind  natürlich  immer  diejenigen  klasseu 
besonders  gefährdet,  die  nicht  durch  zahlreiche  exemplare  verti-eten 
sind,  falls  diese  uicht  durch  besondere  häufigkeit  geschützt  sind.  Der 
geringe  umfang  gewisser  klassen  andern  gegenüber  kann  von  anfaug 
an  vorhanden  gewesen  sein,  indem  überhaupt  nicht  mehr  Wörter  in 
der  betreffenden  weise  gebildet  sind,  meistens  aber  ist  er  erst  eine 
folge  der  secundären  entwickelung.  Entweder  sterben  viele  ursprünglich 
in  die  klasse  gehörige  Wörter  aus,  wobei  namentlich  der  fall  in  betracht 
kommt,  dass  eine  ursprünglich  lebendige  bildungsweise  abstirbt  und 
nur  in  einigen  häufig  gebrauchten  exemplareu  sich  usuell  weiter  ver- 
erbt. Oder  die  klasse  spaltet  sich  durch  lautdifterenzierung  in  mehrere 
Unterabteilungen,  die,  indem  nicht  sogleich  dagegen  reagiert  wird,  den 
zusammenhält  verlieren.  Möglichste  Zerstückelung  der  einen  ist  daher 
mitunter  das  beste  mittel  um  zwei  verschiedene  bildungsweisen  schliess- 
lich mit  einander  zu  vereinigen.  Beobachtungen  nach  dieser  seite  hin 
lassen  sich  z.  b.  an  der  geschichte  des  allmähligen  Untergangs  der  con- 
sonantischen  und  der  w-declination  im  deutschen  machen. 


188 

Hat  einmal  eine  klas.se  eine  eutsehieclene  Überlegenheit  über  eine 
oder  mehrere  andere  gewonnen .  mit  welchen  sie  einige  berührungs- 
punkte  hat,  so  sind  die  letzteren  unfehlbar  dem  untergange  geweiht. 
Nur  besondere  häutigkeit  kann  einigen  Wörtern  kraft  genug  verleihen 
sieh  dem  sonst  übergewaltigen  einflusse  auf  lange  zeit  zu  entziehen. 
Diese  existieren  dann  in  ihrer  Vereinzelung  als  an o mala  weiter. 

Jede  spräche  ist  unaufhörlich  damit  beschäftigt  alle 
unnützen  ungleichmässigkeiten  zu  beseitigen,  für  das  func- 
tionell  gleiche  auch  den  gleichen  lautlichen  ausdruck  zu 
schaffen.  Nicht  allen  gelingt  es  damit  gleich  gut.  Wir  finden  die 
einzelnen  sprachen  und  die  einzelnen  entwickelungsstufen  dieser  spra- 
chen in  sehr  verschiedenem  abstände  von  diesem  ziele.  Aber  auch 
diejenige  darunter,  die  sich  ihm  am  meisten  nähert,  bleibt  noch  weit 
genug  davon.  Trotz  allen  Umgestaltungen,  die  auf  dieses  ziel 
losarbeiten,  bleibt  es  ewig  unerreichbar. 

Die  Ursachen  dieser  Unerreichbarkeit  ergeben  sich  leicht  aus  den 
vorangegangenen  erörterungen.  Erstens  bleiben  die  auf  irgend  welche 
weise  isolierten  formen  und  Wörter  von  der  normalisierung  unberührt. 
Es  bleibt  z,  b.  ein  nach  älterer  weise  gebildeter  casus  als  adverbium 
oder  als  glied  eines  compositums,  oder  ein  nach  älterer  weise  gebil- 
detes participium  als  reine  nominalform.  Das  tut  allerdings  der  gleich- 
mässigkeit  der  wirklich  lebendigen  bildungsweisen  keinen  abbruch. 
Zweitens  aber  ist  es  ganz  vom  zufall  abhängig,  ob  eine  teilweise 
tilgung  der  klassenunterschiede  auf  lautlichem  wege,  die  so  vielfach 
die  Vorbedingung  für  die  gänzliche  ausgleichung  ist,  eintritt  oder  nicht. 
Drittens  ist  die  Widerstandsfähigkeit  der  einzelnen  gleicher  bildungs- 
weise folgenden  Wörter  eine  sehr  verschiedene  nach  dem  grade  der 
stärke,  mit  dem  sie  dem  gedächtnisse  eingeprägt  sind,  weshalb  denn 
in  der  regel  gerade  die  notwendigsten  elemente  der  täglichen  rede  als 
anomalieen  übrig  bleiben.  Viertens  ist  auch  die  unentbehrliche  Über- 
gewalt einer  einzelnen  klasse  immer  erst  resultat  zufällig  zusammen- 
treffender umstände.  So  lange  sie  nicht  besteht,  können  die  einzelnen 
Wörter  bald  nach  dieser,  bald  nach  jener  seite  gerissen  werden,  und 
so  kann  gerade  durch  das  wirken  der  aualogie  erst  recht  eine  chao- 
tische Verwirrung  hervorgerufen  werden,  bis  eben  das  übermass  der- 
selben zur  heilung  der  Ubelstände  führt.  Bei  so  viel  erschwerenden 
umständen  ist  es  natürlich,  dass  der  process  auch  im  günstigsten 
falle  so  langsam  geht,  dass,  bevor  er  nur  annähernd  zum  abschluss 
gekommen  ist,  schon  wider  neu  entstandene  lautdifferenzen  der  aus- 
gleichung harren.  Die  selbe  ewige  wandelbarkeit  der  laute,  welche 
als  anstoss  zum  ausgleichungswerke  unentbehrlich  ist,  wiyd  auch  die 
zerstörerin  des  von  ihr  angeregten  werkes,  bevor  es  vollendet  ist. 


189 

Wir  könneu  uns  das  an  den  declinationsverhältnissen  der  neu- 
lioehdeutsehen  Schriftsprache  veranschaulichen.  Im  fem,  sind  die  drei 
hauptklassen  des  mhd.,  die  alte  /-,  a-  und  72-declination  auf  zwei 
redueiert,  vg-1.  oben  s.  186.  Da  nun  auch  die  reste  der  consonantischen 
und  der  w-decliuation  (vgl.  z.  b.  mhd.  hanl,  pl.  hende,  hande,  handen, 
hende)  sieh  allmählig-  in  die  /-klasse  eingefügt  haben,  so  hätten  wir 
zwei  einfache  und  leicht  von  einander  zu  sondernde  Schemata:  1)  sg. 
ohne  -e,  pl.  mit  -e  und  eventuell  mit  umlaut  {bank  —  hmike,  hinderniss 
—  hindernisse);  2)  sg.  mit  -e,  pl.  mit  -en  {zunge  —  zungen).  In  diese 
Schemata  aber  fügen  sich  zunächst  nicht  ganz  die  mehrsilbigen  stamme 
auf  -er  und  -el  {mutter  —  mütter,  achsel  —  achseln),  die  nach  allge- 
meiner schon  mittelhochdeutscher  regel  durchgängig  das  e  eiugebüsst 
haben  (wo  es  überhaupt  vorhanden  war).  Diese  würden  noch  wenig 
störend  sein.  Aber  es  haben  auch  sonst  viele  feminina  das  auslau- 
tende -e  im  sg.  eiugebüsst,  sämmtliche  mehrsilbige  stamme  auf  -hin 
und  -U7ig  und  viele  einsilbige,  wie  /rau,  huld,  kost  etc.  =  m\\A.früwve, 
hulde,  koste  etc.  Der  gang  der  entwickelung  bei  den  letzteren  ist  wahr- 
scheinlich der  gewesen,  dass  ursprünglich  bei  allen  zw^eisilbigen  femi- 
ninis  auf  -e  doppelformen  entstanden  sind  je  nach  der  verschiedenen 
Stellung  im  Satzgefüge,  und  dass  dann  die  darauf  eingetretene  aus- 
gleichung  verschiedenes  resultat  gehabt  hat.  Ausserdem  kommt  dabei 
Cer  kämpf  des  oberdeutschen  und  des  mitteldeutschen  um  die  herr- 
f  chaft  in  der  Schriftsprache  in  betracht.  Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls 
ist  eine  neue  Spaltung  da:  zunge —  zungen,  aber  /rau — frauen.  Und 
;, 'leichzeitig  ist  es  wider  vorbei  mit  der  klaren  Unterscheidbarkeit  der 
oeiden  hauptklassen:  frau  stimmt  im  sg.  zu  bank,  im  pl.  zu  zunge. 
Diese  neue  verwiiTung  war  nun  allerdings  förderlich  für  die  weitere 
ausgleichung.  Die  berührung  zwischen  der  formation  frau  mit  der 
formation  bank  hat  zur  folge  gehabt,  dass  eine  grosse  menge  von  Wör- 
tern, ja  die  mehrzahl  aus  der  ersteren  in  die  letztere  hinübergezogen 
sind,  vgl,  bürg  (pl.  bürgen  =  mhd.  bürge),  ftut,  weit,  tugend  etc.,  sämmt- 
liche Wörter  auf  -he'tt,  -keit,  -schaft.  Auf  diesem  wege  hätte  sich  eine 
einheitliche  pluralbildung  erlangen  lassen,  auf  -en  (w),  und  nur  im  sg. 
wäre  noch  die  Verschiedenheit  von  Wörtern  mit  und  ohne  e  geblieben. 
Aber  die  bewegung  ist  eben  nicht  zu  ende  gediehen  und  erhebliche 
reste  der  alten  /-declination  stehen  störend  im  wege. 

Ganz  ähnliche  beobachtungen  lassen  sich  am  masculiuum  und 
neutrum  macheu,  nur  dass  bei  diesen  noch  mehr  verwirrende  umstände 
zusammentreffen.  Auch  hier  wären  die  Verhältnisse  darauf  angelegt 
gewesen  eine  reinliche  Scheidung  in  der  flexion  zwischen  den  Substan- 
tiven ohne  -e  und  denen  mit  -e  im  non».  sg,  herauszubilden  {arm  — 
arme,  wort  —  warte,  aber  /"(otke  —  /"unken,  äuge  —  augen\  wenn  nicht 


190 

widor  die  ubwerfimg'  des  -e  in  cineui  teile  der  Wörter  dazwischen  ge- 
kommen wäre  {mensch  —  menschen,  herz  —  herzen). 

Der  lautliehe  zusammenfall  functionell  verschiedener  for- 
men vollzieht  sich  innerhalb  der  etymolo^iischen  gruppen.  So  wird 
im  ahd.  der  Übergang  von  auslautendem  unbetonten  m  zu  n  die  Ver- 
anlassung zum  zusammenfall  der  secuudären  endung  für  die  1,  und 
3.  pl.:  in  den  älteren  (luellen  gähum  —  gnbun,  gäbim  —  gabln,  in  den 
jüngeren  für  beide  personen  gäbun,  gäbiu.  In  ausgedehntestem  masse 
ist  solcher  zusammenfall  veranlasst  durch  die  abschwächung  der  vollen 
endvokale  des  ahd.  zu  gleichförmigem  c.  So  steht  mhd.  tage  =  ahd. 
tage  (dat.  sg.)  —  taga  (nom.  pl.)  —  iago  (gen.  pl.);  mhd.  hanen  =^  ahd. 
hanin  (gen.  dat.  sg.)  —  hanun  (acc.  sg.  nom.  und  acc.  pl.)  —  hanono 
(gen.pl.)  —  hanöm  (dat.pl.),  und  in  den  althochdeutschen  formen  liegt 
zum  teil  bereits  ein  zusammenfall  früher  verschiedener  formen  vor. 
Der  zusammenfall  geht  nicht  immer  durch  eine  ganze  flexionsklasse 
hindurch,  er  braucht  nur  einen  teil  der  ursprünglich  hineingehörigen 
Wörter  zu  treffen;  vgl.  z.  b.  lag  —  tage  —  lagen  mit  sessel  —  sessel  — 
Sesseln,  mint  er  —  winler  —  wintern  und  wagen  —  wagen  —  wagen. 
Seltener  als  bei  fiexionsformen  ist  der  zusammenfall  bei  ableitungen 
aus  der  gleichen  grundlage.  Da  solche  ableitungen  schon  für  sich  ein 
ganzes  System  von  formen  bilden  können,  so  kann  der  zusammenfall 
nach  zwiefacher  richtung  hin  ein  partieller  sein.  Es  kann  einerseits 
aus  mehreren  ursprünglich  lautlich  verschiedenen  Wortklassen  nur  ein 
teil  der  Wörter  zusammenfallen.  So  können  im  ahd.  aus  jedem  adj. 
zwei  schwache  verba  abgeleitet  werden,  ein  intransitives  auf  -on  und 
ein  transitives  auf  -en  (=  got.  -jaii).  Im  mhd.  fallen  beide  klasseu 
in  den  endungen  alle  zusammen,  in  der  gestalt  der  Wurzelsilbe  aber 
nur  zum  teil,  weil  die  meisten  durch  das  Vorhandensein  oder  fehlen 
des  Umlautes  geschieden  bleiben,  vgl.  einerseits  leiden  aus  leidön  = 
unangenehm  werden  und  leiden  aus  leiden  =  unangenehm  machen, 
riehen  reich  werden  und  reich  machen,  niuwen  neu  werden  und  neu 
machen;  anderseits  armen  arm  werden  —  ermen  arm  machen,  swären 
schwer  werden  —  swwren  schwer  macheu.  Es  braucht  anderseits  der 
lautliche  zusammenfall  sich  nicht  auf  sämmtliche  formen  zweier  ver- 
wandter Wörter  zu  erstrecken.  In  nhd.  schmelze)!,  sind  zwei  im  mhd. 
durchaus  verschiedene  Wörter  zusammengefallen,  sm'elzen  (mit  offenem  e\ 
stark  und  intransitiv  und  smelzen  (mit  geschlossenem  e),  schwach  und 
transitiv.  Der  zusammenfall  erstreckt  sich  aber  nur  auf  die  formen 
des  präs.,  und  auch  von  diesen  sind  die  2.  3.  sing.  ind.  und  2.  sg.  imp. 
ausgeschlossen:  schmilzt,  schmilz  —  schmelzt,  schmelze. 

Der  lautliche  zusanunenfall  functionell  verschiedener  formen  hat 
nun  öfters  weitere  consequenzen.     Eine  solche  consequenz  ist  die,  dass 


191 

man  sich  au  die  lautliche  ü:leiehheit  so  sehr  j^ewöhnt,  dass  man  sie 
auch  auf  fälle  überträgt,  iu  denen  sie  duix^h  die  lautentwickelung-  noch 
nicht  herbeigeführt  ist.  Tni  alul.  verbum  ist  durch  Übergang-  des  aus- 
lautenden m  in  n  die  1.  i)lur.  der  3.  plur.  gleich  geworden  {gähun  aus 
t/dhum  —  gähun)  mit  ausnähme  des  ind.  präs.,  wo  die  Verschiedenheit 
noch  in  die  mittelhochdeutsche  zeit  hinübergenommen  wird:  gehen  — 
yehenl.  Diese  Verschiedenheit  wird  zuerst  im  md.,  dann  auch  oberd., 
wie  schon  oben  s.  95  bemerkt  ist,  durch  angleichung  der  3.  pl.  an  die 
3.  pl,  des  prät.  und  des  conj.  beseitigt.  Es  kann  sein,  dass  dabei  auch 
die  gewöhnung  an  die  Übereinstimmung  der  1.  und  3.  pl.  mitgewirkt 
hat.  Sicher  Wirkung  dieser  gewöhnung-  ist  es,  wenn  im  alemannischen 
seit  dem  14.  Jahrhundert  formen  auf  -enl  auch  für  die  1.  pl.  gebraucht 
werden.  Die  ausgleichung  zwischen  1.  und  3.  pl.  liegt  auch  in  der 
jetzigen  Schriftsprache  vor  in  sind  =  mhd.  sin  —  sint;  im  obersäch- 
sischen lautet  umgekehrt  auch  die  3.  pl.  sein.  Ein  anderes  beispiel 
liefert  uns  die  ausgleichung  zwischen  nom.  und  acc,  im  deutscheu. 
Im  urgermauischen  waren  beide  casus  beim  mase.  und  fem.  meistens 
noch  verschieden.  Gleichheit  bestand  wahrscheinlich  nur  im  plur.  der 
weiblichen  a-stämme  (got.  gibos,  anord.  giafar).  Im  ahd.  ist  wie  in  den 
äbrigen  westgermanischen  dialecten  der  nom.  sg.  der  o-,  i-  und  «-stamme 
Jind  der  consonantischeu  mit  ausnähme  der  sogenannten  schwachen 
t'leclination  durch  abfall  des  auslautenden  s  dem  acc.  gleich  geworden 
'  /isc,  ba/g,  sunu,  man  =  got.  ßsks  —  fisk,  balgs  —  balg,  sunus  —  sunu 
land  anord.  ßskr  —  fisk,  helgr  —  belg,  sonr  —  son,  max5r  —  mann);  ferner 
ist  lautlicher  zusammenfall  eingetreten  im  nom.  acc.  plur.  der  schwachen 
decliuation  {hanun,  zungün,  urgerm.  wahrscheinlich  *hanoniz  —  *lia.nonz). 
f  Dadurch  ist  die  veranlassung  zu  einer  weiteren  ausgleichung  gegeben. 
/  Die  form  des  nom.  pl.  der  o-,  i-  und  ?<-8tämme  und  der  consonantischeu 
I  ist  in  den  acc.  gedrungen  und  so  die  selbe  Übereinstimmung  wie  im 
sg.  hergestellt:  taga,  bälgt  {belgi),  suni  =  got.  dagos  —  dagans,  balgeis 

—  balgins,  simjus  —  siinuns  und  anord.  dagar  —  daga,  belgir  —  belgi, 
synir  —  sunu  (sonu).  Die  nach  den  lautgesetzeu  im  ahd.  zu  erwar- 
tenden formen  des  acc.  wären  *tagun,  '*balgin,  ^simun.  Bei  den  conso- 
nantischeu stammen  ist  auch  im  got.  und  anord.  ausgleiclnmg  einge- 
treten; urgerm.  wäre  anzusetzen  *manniz  —  ^mannunz  =  ahd.  man  — 
^mayinun,  welche  letztere  form  durch  die  erstere  verdrängt  ist.  Auch 
bei  dem  adj.  und  dem  geschlechtlichen  pron.  ist  die  uomiuativform  in 
den  acc.  gedrungen:  blinle  {-a),  die  [dia)  =  got.  blindai  —  blindans,  pai 

—  pans.  Bei  den  weiblichen  «-stammen  hat  umgekehrt  die  lautliche 
gleichheit  beider  casus  im  pl.  eine  ausgleichung  im  sg.  herbeigezogen. 
Es  wurden  zunächst  beide  formen,  die  des  nom.  und  die  des  acc, 
])romiscue   gebraucht,   dann   setzte   sich   im  allgemeinen  die  aecusativ- 


192 

tonn  fest,  während  die  nominativform  auf  bestimmte  fälle  beschränkt 
wurde  und  mehr  und  mehr  ganz  versehwand.  Während  das  angel- 
sächsische unterscheidet  ^lefu  —  zi^fe,  är  —  äre,  haben  wir  im  ahd. 
nur  die  accusativformen  geba  und  era  und  nebeneinander  als  nom.  und 
ace.  hcüha  und  halp,  wisn  und  wis  etc.  In  nhd.  ist  weiter  im  fem.  des 
schwachen  adjectivums  die  accusativform  durch  die  nominativform  ver- 
dräng-t:  lange  =  mhA..l(mge  —  langen\  ferner  die  weibliche  nomiuativ- 
form  des  artikels  durch  die  accusativform:  die  =  mhd.  diu  —  die\ 
schon  im  mhd.  nom.  siu  durch  acc.  sie.  Im  rhein fränkischen  und  alema- 
nisehen  findet  man  endlich  auch  die  nominativform  des  artikels  der 
accusativisch  verwendet. 

Tritt  in  einer  spräche  zusammenfall  der  ursprünglich  lautlich  ver- 
schiedenen casusformen  in  sehr  ausgedehntem  masse  ein,  so  kann 
das  Veranlassung  dazu  werden,  dass  die  vom  zusammenfall  verschon- 
ten reste  ganz  oder  grösstenteils  getilg-t  werden,  wie  dies  im  englischen 
und  in  den  romanischen  sprachen  geschehen  ist.  Es  entstehen  so  wider 
reine  Stammformen,  wie  sie  vor  der  Casusbildung  bestanden,  die  man 
mit  unrecht  als  nominativ  oder  accusativ  bezeichent. 

Durch  partiellen  zusammenfall  der  formen  verwandter  Wörter  wird 
das  gefUhl  fiir  die  Verschiedenheit  dieser  Wörter  abgestumpft,  und  es 
mischen  sich  daher  leicht  auch  die  uicht  zusammengefallenen  formen 
unter  einander.  Der  oben  berührte  partielle  zusammenfall  von  mhd. 
smelzen  und  smelzen  hat  die  folge  gehabt,  dass  die  starken  formen 
schmilzt,  schmolz,  geschmolzen  auch  transitiv  verwendet  sind;  die 
schwachen  sind  jetzt  fast  ganz  ausser  gebrauch  gekommen.  Ebenso 
sind  die  schwachen  formen  von  verderben,  denen  ursprünglich  allein 
transitive  bedeutung  zukam  durch  die  ursprünglich  nur  intransitiven 
starken  zurückgedrängt  und  können  jetzt  nur  noch  im  moralischen 
sinne  gebraucht  werden.  Bei  quellen,  schwellen,  löschen  ist  in  der 
gegenwäi-tig  als  correct  geltenden  spräche  der  unterschied  gewahrt; 
aber  von  löschen  kommen  zuweilen  schwache  formen  in  intransitiver 
form  vor,  z.  b.  es  löscht  das  licht  der  sterne  (Schi.);  bei  quellen  und 
schwellen  findet  sich  Vermischung  nach  beiden  richtungen,  z.  b.  dem  das 
frischeste  leben  entquellt  (Goe.)  —  gleichwie  ein  born  sein  wasser  quillt 
(Lu.);  schwelle,  brüst  (C4oe.),  die  haare  schwellten  (Tieck)  —  die  ehrsuchl 
schtviltt  die  brüst  (Günther),  Seifenblasen,  die  mein  hauch  geschwollen 
(Chamisso). 


Cap.  XII. 
Einflus»  der  functioiiSYeriiiideruiig  auf  die  aiialogiebildung. 

Die  einordnimg-  der  einzelnen  Wörter  und  formen  und  der  syn- 
taktischen Verbindungen  unter  die  sprachlichen  gruppen  ist  immer 
durch  ihre  function  bedingt.  Eine  Veränderung  der  function  kann 
daher  veranlassung  zum  eintritt  in  eine  andere  gruppe  werden.  Die 
Zugehörigkeit  zu  dieser  gruppe  bedingt  dann  aber  auch  eine  teilnähme 
an  deren  schöpferischer  kraft.  So  entstehen  analoge  neuschöpfungen, 
die  sich  in  einer  anderen  richtung  bewegen,  als  der  Ursprung  der  be- 
tnftenden  wortform  oder  eoustructiousweise  erwarten  lässt.  Die  folgen- 
den beispiele  mögen  dies  im  einzelnen  veranschaulichen. 

Verwandlung  eines  appellativums  in  einen  eigennameu  veranlasst 
eine  entsprechende  Veränderung  der  declination,  vgl.  die  accusative 
uad  dative  Müllern,  Schneidern,  Beckern  etc.  Eine  folge  des  christ- 
lehen  monotheismus  war  es,  dass  von  got  im  ahd.  nach  analogie  der 
«ngennamen  ein  acc.  gotan  gebildet  wurde.  Damit  zu  vergleichen  sind 
die  dat.-accusative  vaiern,  muttern,  wie  sie  in  Berlin  üblich  sind. 

Die  griechischen  adverbia  auf  -09^  sind  ursprünglich  casus  der 
o-declination.  Nachdem  sie  sich  aber  einmal  aus  dem  flexionssysteme 
herausgelöst  haben  und  -coi  als  ein  wortbildungssuftix  empfunden  ist^ 
hat  es  sich  auch  auf  andere  stamme  übertragen  können,  die  in  ihrer 
flexion  keinen  einfluss  von  den  o-stämmen  her  erfahren  haben,  vgl. 
7jöicoc,  ocog)QÖvojg  etc.  Entsprechend  verhält  es  sich  mit  dem  adverbial- 
suffix  -0  im  ahd.,  welches  gleichfalls  von  den  o-stämmen  auf  die  alten 
i-  und  z<-stämme  übertragen  ist:  kleino,  harto  nach  Uol)o  etc. 

Es  gibt  im  nhd.  eine  beträchtliche  zahl  von  adverbien,  die  ihrem 
Ursprünge  nach  genitive  sg.  aus  nominibus  sind,  wie  falls,  rings,  rechts, 
stracks,  blindlings.  In  dem  s  empfindet  man  aber  schon  lange  nicht 
mehr  das  genitivszeichen,  es  muss  jetzt  als  ein  adverbialsuffix  erscheinen. 
In  folge  davon  wird  es  seit  dem  siebzehnten  Jahrhundert  auf  andere 
adverbia  übertragen,  die  ihrem  Ursprünge  nach  gleichfalls  casus  von 
nominibus  oder  Verbindungen  einer  präposition  mit  einem  casus  sind, 
aber  ebensowenig  als  solche  empfunden  werden,  sondern  unter  die  all- 

Paul,  Principien.     II.  Auflage.  13 


194 

gemeine  kategorie  der  adverbien  getreten  sind,  vgl.  allerdings,  (aus 
aller  dinge  gen.  pl.)  schlechterdings^  jenseits,  disseits  (mhd.  jensU  ace.  sg.), 
abseits  (aus  ab  seile),  hinterrücks,  im  siebenzelmten  Jahrhundert  auch 
h  int  errück  ens  (aus  älterem  hinlerrück,  hinter  rücken),  unterwegs,  unter- 
iregens  (aus  unter  wege,  unter  wegeii),  vollends  (älter  vollen,  vollend); 
erstens,  zweitens  etc.  Die  Verwandlung  des  s  aus  einem  casussuffix 
in  ein  wortbilduugselement  hat  es  auch  ermöglicht,  dass  dasselbe  in 
ableitungen  hinübergenommen  ist:  desfallsig,  allenfallsig . 

Hans  Sachs  bildet  einen  comparativ  flüchser  zu  ftugs.  Es  ist  das 
eine  folge  davon,  dass  der  substantivcasus  auf  eine  linie  mit  den  ad- 
jectivischen  adverbien  getreten  ist,  denen  ursprünglich  allein  compa- 
ration  zukommt. 

Wenn  eine  syntaktische  Verbindung  zu  einer  worteinheit  ver- 
schmolzen ist,  so  wird  diese  neue  einheit  nach  analogie  des  einfachen 
Wortes  behandelt  und  dasjenige  auf  sie  tibertragen,  was  in  bezug  auf 
dieses  möglich  ist.  Es  kommt  in  verschiedenen  sprachen  vor,  dass  eine 
untrennbare  paiükel  sich  an  ein  pron.  anlehnt.  Die  folge  davon  kann 
sein,  dass  die  flexion  nach  dem  muster  der  einfachen  Wörter  von  der 
mitte  au  das  ende  verlegt  wird.  Plaiitus  gebraucht  von  i-pse  noch  den 
aec.  eumpse,  eampse,  den  abl.  eopse,  eapse,  die  später  durch  ipsum  etc. 
ersetzt  sind.  Eine  ähnliche  entwiekelung,  wie  sich  besonders  an  den 
altnordischen  runenformen  nachweisen  lässt,  hat  unser  pron.  diser  durch- 
gemacht, ein  compositum  aus  dem  artikel  und  der  partikel  se.  Eine 
grosse  bereicheruDg  erwächst  der  spräche  dadurch,  dass  aus  solchen 
durch  secundäre  Verschmelzung  entstandenen  compositis  die  nämlichen 
ableitungen  gebildet  werden  wie  aus  den  einfachen  Wörtern,  und  dass 
sie  ebenso  wie  diese  wider  als  glied  eines  compositums  dienen  können ; 
vgl.  überwinder ,  über-windung,  ergiebig,  befahrbar,  gedeihlich,  betri'ibniss, 
gevangenschaft,  befangenheit ;  edelmännisch,  hochmütig,  jungfräulich,  lan- 
desherrlich, landsmannschaft ,  gi'ossherzogtum,  bärenhäuter,  kindergärt- 
nerinn;  sofortig,  bissherig,  jenseitig;  rotweinflasche ,  gänseleberpastetc; 
überhandnähme,  vorwegnähme,  zurücknähme. 

Nicht  selten  erstarrt  eine  flexionsform,  indem  sie  auf  fälle 
übertragen  wird,  denen  sie  eigentlich  nicht  zukommt. i)  Unser 
selber  ist  der  nom.  sg.  m.  und  zugleich  der  gen.  und  dat.  sg.  fem. 
und  gen.  pl.  eines  älteren  adj.  seih,  welches  als  adj,  jetzt  nur  noch  iu 
der  selbe  erhalten  ist.  Das  gleichbedeutende  selbst  =  älterem  selbes 
ist  der  nom.  und  acc.  sg.  n.  und  zugleich  gen.  sg.  m.  und  n.  des 
selben  wortes.      Im   mhd.  wird  das   adj.   teils    stark,    teils    schwach 


')  Vgl.   zum   folgcüclen  IJrugmann,  Ein   probleni  der  lioiueriscben  textkritik, 
s.  Iiyft. 


195 

fleetiert  iiud  richtet  sich  im  geniis,  numerus  und  casus  nach  dem 
nomeu,  auf  welches  es  sich  bezieht,  also  im  selbem,  ir  selber,  sin 
selbes  etc.  Wenn  nun  die  im  mhd.  erhaltenen  formen  sich  an  stellen 
eing-edrängt  haben,  wo  andere  am  platze  gewesen  wären,  so  kann  das 
erst  eine  folge  davon  gewesen  sein,  dass  das  wort  nicht  mehr  als  ein 
adj.  empfunden  wurde.  Indem  man  in  selber  nur  noch  die  function 
einer  energischen  identiticierung  empfand,  wendete  mau  die  form 
überall  an,  wo  eine  solche  identiticierung  auszusprechen  war.  Ent- 
sprechend verhält  es  sich  mit  dem  mundartlichen  halber:  die  nacht  ist 
halber  hin,  es  ist  halber  eins;  mit  eitiander,  statt  dessen  man  im  ahd. 
regelrechte  flexion  hat:  ei7i  anderan,  ei)i  andertno  etc.  Im  mhd.  kann 
man  noch  sagen  beider  des  vafer  und  des  sunes,  wobei  des  vater  und 
des  sunes  eigentlich  in  appositionellem  verhältniss  zu  beider  steht. 
Gewöhnlicher  aber  ist  beide  des  vater  und  des  sunes.  Es  ist  also  die 
nominativform  beide  erstarrt,  indem  der  Ursprung  der  construction  nicht 
mehr  zum  bewusstsein  kommt  und  die  function  von  beide  —  und  sich 
unserm  sowohl  —  als  auch  annähert.  Im  lat.  hat  der  nom.  quisque 
neben  dem  reflexivpron.  und  dem  dazu  gehörigen  possessivum  sein 
gebi3t  überschritten,  z.  b.  multis  sibi  quisque  Imperium  petentibus.  Bei 
Plaitus  findet  sieh  praesente  testibus  statt  praesentibus,  bei  Afranius 
absente  nobis;  daraus  erkennt  man,  dass  die  betreffenden  participial- 
fori}»en  sich  dem  character  von  präpositionen  genähert  hatten.  Ver- 
bin hingen  wie  agedum  conferte,  agedum  creemus  sind  die  folge 
da'on,  dass  man  age  nicht  mehr  als  2.  sg.  imp.  empfunden  hat, 
soidern  nur  als  einen  allgemeinen  ermunternden  zuruf  Ent- 
S}»rechend  steht  im  griech.  «/e  vor  einem  plural,  ebenso  ÜTii,  ^£qs, 
ISov;^)  ferner  im  lat.  cave  dirumpafis  (Plaut.)  u.  dergl.;  in  unserer 
Umgangssprache  zuweilen  tvarte  mal,  auch  wo  die  anrede  an  mehrere 
personen  gerichtet  ist  oder  an  eine,  die  man  sonst  mit  Sie  anredet. 
Im  älteren  nhd.  wird  siehe  auch  bei  der  anrede  au  eine  mehrheit 
gebraucht;  vollständig  erstarrt  sind  franz.  voici,  voilä.  Im  spätgrie- 
chischeu  werden  SgieXov  und  mq>eXh.  ohne  rücksicht  auf  person  oder 
numerus  wie  conjunctionen  gebraucht.  Unser  nur  ist  aus  enwcere  (es 
wäre  denn)  entstanden.  Dieses  emvmre  hat  sich  also  auch  an  stelle 
von  emvcerest,  enwwren,  ensl,  cnsin  etc.  eingedrängt. 

Ein  ähnlicher  Vorgang  ist  es,  wenn  im  spätmhd.  sich,  abhängig 
von  einer  präp.,  auch  in  Sätze  dringt,  in  denen  das  subj.  die  erste 
oder  zweite  person  ist.'^)  Es  ist  das  die  folge  davon,  dass  ein  i\ber 
sich  oder  un^er  sich  nicht  mehr  analysiert,  sondern  =  in  die  höhe, 
in   die  tiefe  aufgefasst  wird:   vgl.  unser  jetziges  vor  sich  gehn  und  an 

')  Vgl.  Brugmaim  a.  a.  o.  s.  124. 
^)  Vgl.  Bruguiann  a.  a.  o. 

13* 


I 


196 

lind  für  sich.  Daher  gebraucht  mau  diese  verhindungen  auch,  wo  sie 
gar  nicht  auf  das  subjeet,  sondern  nur  auf  einen  obliquen  casus 
bezogen  werden  können;  z.  b.  heb  hinten  über  sich  das  glas  (hebe  das 
glas  in  die  höhe,  Uhl.  Volkslieder).  Die  selbe  erstan-ung  findet  sich 
bei  seiner  zeit,  vgl.  z.  b.  die  Jugend  ist  unternehmend,  wir  sind  es  seiner 
zeit  auch  gewesen  (Hackländer).  Entsprechend  bei  lat.  suo  loco,  sua 
sponte,  suo  nomine.  Bei  römischen  Juristen  finden  sich  Verbindungen 
wie  si  sui  juris  sumus.  Im  anord.  hat  sich  mit  hülfe  des  reflexivums 
ein  medium  und  passivum  herausgebildet.  Dabei  ist  das  auf  sik  zu- 
rückgehende -sk,  jünger  -z,  welches  ursprünglich  nur  der  dritten  person 
zukommen  konnte,  zuerst  auf  die  zweite,  dann  auch  auf  die  erste  per- 
son übertragen,  z.  b.  lükomz  statt  älterem  lukomk  (=  ^luko-?nik)]  das  z 
wurde  nicht  mehr  in  seiner  ursprünglichen  bedeutung,  sondern  als 
zeichen  des  mediums  oder  passivums  gefasst.  In  sehr  vielen  ober- 
und  mitteldeutschen  mundarten  wird  sich  auch  als  reflexivum  für  die 
1.  plur.  gebraucht,  hie  und  da  auch  für  die  2.  person.  Die  gewöhn- 
liche beschränkung  auf  die  1.  plur.  ist  wol  daraus  zu  erklären,  dass 
bei  dieser  die  Übertragung  durch  die  formelle  Übereinstimmung  der 
verbalform  mit  der  3.  plur.  erleichtert  wurde.')  In  bairischen  mund- 
arten wird  das  possessivpron.  sein  auch  auf  das  fem.  und  auf  den  plur. 
bezogen,  A^gl.  Schmeller  s.  198. 

Plautus  verbindet  die  Wörter  perire,  deperire,  uemori  im  sinne  von 
, sterblich  verliebt  sein"  mit  dem  acc;  desgleichen  Virg.,  Hör.  und  andere 
ardere  =  „in  liebe  zu  jemand  entbrannt  sein".  Offenbar  ist  die  con- 
structiou  dieser  Wörter  durch  die  von  amare  beeinflusst,  weil  sie  in 
ihrer  metaphorischen  Verwendung  dem  eigentlichen  sinne  desselben 
nahe  kommt.  Es  lässt  sich  daraus  wol  der  schluss  ziehen,  dass  sie 
in  dieser  Verwendung  wenigstens  in  der  dichtersprache  schon  etwas 
verbraucht  waren.  Denn  wäre  ihre  eigentliche  bedeutung  noch  voll 
lebendig  empfunden,  so  würde  eine  solche  vertauschung  der  construc- 
tion  wol  nicht  eingetreten  sein.  Indessen  muss  hier  doch  in  betracht 
gezogen  werden,  wie  viel  etwa  auf  rechnung  einer  absichtlichen  poe- 
tischen kUhnheit  zu  setzen  ist.  Anders  verhält  es  sich  in  bezug  auf 
die  gewöhnliclie  prosaische  rede.  Auch  in  dieser  kommt  es  häufig  vor 
dass  ein  wort  die  ihm  seiner  grundbedeutung  nach  zukommende  con- 
structionsweise  mit  einer  anderen  vertauscht,  die  dazu  nicht  passt, 
indem   es   entweder  durch   ein  bestimmtes   einzelnes  wort  oder  durch 


^)  Die  von  Brugraann  a,  a.  o.  s.  123  ausgesprochene  ansieht,  dass  dieses  sich 
aus  unsich  entstanden  sei,  kann  ich  nicht  teilen,  weil  die  form  unsich  bereits  unter- 
gegangen ist,  bevor  diese  Verwendung  von  sich  auftaucht.  Mit  Weinhold,  Bair. 
gram,  i;  :}.59  und  Schuchardt,  Slawodeutsches  s.  107  slawischen  einfluss  anzunehmen 
verbietet  das  Verbreitungsgebiet  der  erscheinung. 


197 

eine  gruppe  von  Wörtern  beeinflusst  wird,  denen  es  sich  mit  der  zeit 
in  seiner  bedeutung  angenäbert  bat.  Hier  ist  der  einistruetions- 
wecbsel  ein  untriigliebes  kritcrium  fUr  das  verblassen  der 
grnudbedeutung.  Namentlicb  bekundet  sieb  darin  bäufig  die  los- 
lösuug  von  der  ursprünglicb  zu  gründe  liegenden  sinnliclien  an- 
sebauung. 

Für  diese  loslösung  sind  besonders  instruetiv  mancbe  eomposita 
mit  ortsadverbien.  Zu  einwirken  und  einwirkung  gebort  ursprünglicb 
die  präp.  in  und  diese  ist  im  vorigen  jabrbundert  üblieb ,  vgl.  sobald 
kunst  und  n-issenschafl  in  das  leben  einwirkt  (Goe.);  durch  die  einwir- 
kung in  gewisse  Werkzeuge  (Garve).  Wir  setzen  jetzt  wie  beim  simplex 
wirken  ein  auf,  und  dies  beweist,  dass  uns  das  gefübl  für  die  sinn- 
liebe ansebauung,  auf  die  das  ein  biuweist  verloren  gegangen  ist.  Die 
uämliebe  vertauscbung  bat  stattgefunden  bei  einfluss,  vgl.  gesundheit 
ist  ein  gut,  welches  in  altes  einfluss  hat  (Garve),  und  so  allgemein  im 
vorigen  jabrb.  (aueb  bei  ein/Hessen  =  „einfluss  baben"  stebt  früber  in 
und  auf);  einschränken,  vgl.  es  hat  längst  aufgehört  in  die  engen  grenzen 
eingeschränkt  zu  sein  (Le.)  etc.;  eindruck,  vgl.  die  nähe  des  schönen  kindes 
mus&'.e  wot  in  die  seele  des  jungen  mannes  einen  so  lebhaften  eindruck 
maciien  (Goe.);  nocb  sinnlieber:  um  durch  das  grosse  dieses  iodes  einen 
unauslöschlichen  eindruck  seiner  selbst  in  das  herz  seiner  Spartaner  zu 
gra)en  (Scbi.);  doeb  erscbeint  es  mit  auf  scbon  bei  Lessing.  Abneigung 
gecen  oder,  wie  ältere  scbriftsteller  aueb  sagen,  vor  kann  nicbt  ur- 
späinglicb  sein,  sondern  nur  von,  was  icb  allerdings  bei  Sanders  nur 
eist  aus  Heine  belegt  finde.  Für  nachdenken  über  finde  icb  im  Dwb. 
äen  ältesten  beleg  aus  Sebillers  Don  Karlos;  sonst  ist  aueb  nocb  im 
vorigen  jabrbundert  der  blosse  dat.  (eigentlicb  von  nach  abbängig) 
üblieb,  z.  b.  U7n  ihren  briefen  nachzudenken  (Nicolai). 

Wenn  man  jetzt  sagt  sei  mir  willkommen  in  meinem  hause,  so  ist 
klar,  dass  der  zweite  bestandteil  des  Wortes  nicbt  mebr  als  part.  von 
kommen  gefasst  wird.  So  lange  das  geschab,  verstand  sieb  auch  die 
angäbe  einer  ricbtung,  z.  b.  willekomen  her  in  Günther  es  lant  (Nibe- 
lungenlied). 

Ein  quin  conscendimus  equos  ist  eigentlich  „warum  besteigen  wir 
nicht  die  pferde",  dem  sinne  nach  aber  =  „lasst  uns  die  pferde  be- 
steigen"; daher  kann  man  nun  auch  nach  quin  einen  imp.  oder  adhor- 
tativen  conj.  setzen,  z.  b.  quin  age  istud,  quin  experiamur.  Entsprechend 
ist  mhd.  wan  fürchtent  si  den  stap  eigentlich  „warum  fürchten  sie  nicht 
den  Stab",  nähert  sich  aber  dem  sinne  „mögen  sie  den  stab  fürchten"; 
in  folge  davon  wird  nach  wan  auch  der  in  Wunschsätzen  ohne  einlei- 
tende conjunction  übliche  conj.  prät.  gesetzt,  z.  b.  wan  licet e  ich  luwer 
kunst.    Auf  die  nämliche  weise  erklärt  sich  wahrscheinlich  im  afranz. 


198 

die  Verbindung  von  car  (=  quare)  mit  dem  conditionel  und  dem  imp. 
(vgl.  Diez  III,  214). 

Griecli.  ovxovv  ist  ursprünglich  =  „also  nicht"  und  dient  zur 
eiuleituug  einer  frage,  auf  die  mau  eine  bejahende  antwort  erwartet. 
Die  mit  ovxovv  eingeleiteten  sätze  sind  aber  allmählig  als  directe 
positive  behauptuniicn  aufgefasst.  Daher  ist  der  partikel  nur  die  func- 
tion  des  folgcrns  verblieben  und  sie  wird  in  Sätzen  verwendet,  die  gar 
nicht  mehr  als  fragesätze  aufgefasst  werden  können,  z.  b.  neben  dem 
imperativ,  vgl.  ovxovv  ajiäyayt  [it  av&ic  h  rov  ßlov  (Luciau).')  Ganz 
die  gleiche  entwickelung  zeigt  im  sanskrit  na-mi^)  Es  dient  zunächst 
wie  nonne  zur  einleitung  von  fragesätzen,  dann  aber,  indem  solche 
fragesätze  zu  behauptungssätzen  umgedeutet  sind,  lässt  es  sich  durch 
„doch  wol"  übersetzen,  und  kommt  dann  auch  in  aufforderungssätzen 
vor,  vgl.  nanu  ucyatäm  =  es  soll  doch  gesagt  werden. 

Der  acc.  c.  inf.  konnte  ursprünglich  jedenfalls  nur  neben  einem 
transitiven  verbum  stehen,  so  lange  der  subjectsacc.  noch  als  direct 
von  dem  verb.  fin.  abhängig  empfunden  wurde,  vgl.  darüber  cap.  16. 
Nachdem  aber  die  auffassung  sich  so  verschoben  hatte,  dass  der  acc. 
c.  inf.  als  ein  abhängiger  satz  und  der  acc.  als  subj.  desselben  gefasst 
wurde,  war  es  möglich  die  construction  weit  über  ihre  ursprünglichen 
grenzen  auszudehnen.  So  werden  im  lat.  auch  verba  mit  dem  acc.  c. 
inf.  construiert,  die  keinen  objectsacc.  bei  sich  haben  können,  wie  gau- 
dere,  dolere,  ferner  Verbindungen  wie  magna  in  spe  sum,  spem  habeo  etc. 
In  sehr  vielen  fällen  wird  dann  der  aec.  c.  inf  als  subject  verwendet, 
so  nach  licet,  accidit,  constat  etc.,  nach  fas,  jus  est  etc.,  bei  passiven 
neben  dem  nom.  c.  inf,  vgl.  non  mihi  videtur  ad  heate  vivendum  salis 
passe  virtutem  (Cic);  Volscos  et  Aequos  extra  fines  exisse  affertur  (Liv.). 
Weiterhin  dringt  dann  der  acc.  c.  inf  auch  in  sätze  ein,  die  von  einem 
andern  acc.  c.  inf  abhängen.  So  zunächst  in  lose  angeknüpfte  relativ- 
sätze,  z.  b.  mundum  censent  regi  numine  deorum,  ex  quo  illud  natura 
consequi  (Cic),  vgl.  Draeger  §  447,  1.  Ferner  in  vergleichungssätze, 
z.  b.  ut  feras  quasdam  nulla  mitescere  arte,  sie  immitem  ejus  viri  ajiimum 
esse  (Liv.);  addit  etiam  se  prius  occisum  tri  ab  eo  quam  me  violatum  tri 
(Cic),  vgl.  ib.  448,  1.  453,  2.  In  die  indirecte  frage,  z.  b.  quid  sese  inter 
pacatos  facere,  cur  in  Italiam  non  revelii  (Liv.),  vgl.  ib.  450.  Sogar  in 
temporal-  und  causalsätze,  z,  b.  crimina  vitanda  esse,  quia  vitari  metus 
non  posse  (Seneca),  vgl.  ib.  448,  2,  3.  Die  entsprechende  ausdehnung 
findet  sich  im  griechischen.  Die  gewohnheit  das  subj.  zum  inf  in  der 
form  des  acc.  zu  haben,  führt  hier  auch  zur  Verwendung  dieses  casus 


•)  Vgl.  Kühner,  Griech.  gram.  II,  1,  s.  717. 

*)  Auf  diesen  parallelismns  hat  mich  Brugmann  aufmerksam  gemacht. 


199 

neben  dem  durch  den  art.  substantivierten  inf.,  in  welchem  casus  der- 
selbe auch  stehen  ma^,  vgl.  «Ft/Ol,-  tov  inxtjii^fjvca  rovc.  AaxEÖainoviovq, 
öia  xo  T7p'  .tÖXii'  ijQ/joO^ai,  vjthQ  tov  ravra  fit)  yiyi'iod-tu. 

Wenn  zwei  constructiousweisen  sich  in  ihrer  function  teilweise 
decken,  so  kann  bei  manchen  überlieferten  syntaktischen  Verbindungen 
eine  Unsicherheit  darüber  entstehen,  welche  von  den  beiden  zu  gründe 
liegt.  So  entsteht  eine  umdeutuug  der  Verbindung,  und  diese  umdcu- 
tung  lenkt  die  Wirksamkeit  der  analogie  in  eine  neue  bahn. 

Der  von  einem  subst.  abhängige  gen.  hat  eine  ähnliche  function 
wie  das  attributive  adj.  In  Verbindungen  nun  wie  Hamburger  rauch- 
fleisch,  Kieler  sprotten  liegt  als  erstes  glied  der  gen.  der  einwohner- 
bezeichnung  zu  gründe,  dem  Sprachgefühl  aber  liegt  es  näher  dasselbe 
als  ein  aus  dem  Ortsnamen  abgeleitetes  adj.  zu  fassen;  jedenfalls  be- 
ziehen wir  es  direct  auf  den  ort,  und  nicht  auf  die  einwohner.  Zwar 
lehrt  noch  die  flexionslosigkeit,  dass  kein  wirkliches  adj.  vorliegt. 
And'^.rseits  aber  zeigt  die  art,  wie  der  artikel  bei  der  Verbindung  ^er- 
wendet  wird  {das  Hamburger  rauchfleisch)^  dass  der  gen.  nicht  mehr 
als  solcher  em])funden  wird;  denn  die  Stellung  des  gen.  zwischen  art. 
und  subst.  ist  jetzt  unmöglich  geworden.  Dem  ahd.  ging  ein  possesiv- 
proj.  zu  dem  fem.  und  dem  plur.  sie  ab.  Man  verwendete  statt  dessen 
dc'i  gen.  dieses  pron.  ira,  iro.  Auch  im  mhd.  bleibt  der  gen.  ir,  aber 
sporadisch  fängt  man  an  denselben  als  adj.  zu  fassen  und  adjectivisch 
zu  declinieren.  Dieser  gebrauch  ist  im  nhd.  allgemein  geworden,  und 
10  ist  unser  possesivpron.  ihr  entstanden.  Die  berührung  des  genitivs 
mit  dem  attributiven  adj.  ist  wahrscheinlich  auch  die  veranlassung  ge- 
wesen ihn  nach  dem  muster  des  adj.  prädicativ  zu  verwenden,  vgl.  er 
ist  des  (ödes,  reines  herzens,  so  sind  wir  des  Herrn  (Lu.)  etc.  Diese 
Verwendung  gehört  allerdings  wol  schon  der  indogermanischen  grund- 
sprache  au. 


Cap.  XIII. 

Verschiebungen  in  der  gruppierung  der  etymologisch 
zusaninienliängenden  wörter. 

Wenn  man  sämmtliche  die  gleiche  wuvzel  enthaltenden  Wörter 
und  formen  nach  den  ursprünglichen  bildungsgesetzen,  wie  sie  durch 
die  zergliedernde  methode  der  älteren  vergleichenden  grammatik  ge- 
funden sind,  zusammenordnet,  so  erhält  man  ein  mannigfach  geglie- 
dertes System  oder  ein  grösseres  System  von  kleineren  Systemen,  die 
ihrerseits  wider  aus  Systemen  bestehen  können.  Schon  ein  einziges 
indogermanisches  verbum  für  sich  stellt  ein  sehr  compliciertes  System 
dar.  Aus  dem  verbalstamme  haben  sich  verschiedene  tempusstämme, 
aus  jedem  tempusstamme  verschiedene  modi,  erst  daraus  die  verschie- 
denen personen  in  den  beiden  genera  entwickelt.  Die  analytische 
grammatik  ist  bemüht  immer  das  dem  Ursprünge  nach  nächst  ver- 
wandte von  dem  erst  in  einem  entfernteren  grade  verwandten  zu  son- 
dern, immer  zwischen  gruudwort  und  ableitung  zu  scheiden,  alle  Sprünge 
zu  vermeiden  und  nicht  etwas  als  directe  ableitung  zu  fassen,  was 
erst  ableitung  aus  einer  ableitung  ist.  Was  aber  von  ihrem  gesichts- 
puncte  aus  ein  fehler  in  der  beurteilung  der  wort-  und  formenbildung 
ist,  das  ist  etwas,  dem  das  sprachbewusstsein  unendlich  oft  ausgesetzt 
ist.  Es  ist  ganz  unvermeidlich,  dass  die  art,  wie  sich  die  etymologisch 
zusammengehörigen  formen  in  der  seele  der  Sprachangehörigen  unter 
einander  gruppieren,  in  einer  späteren  periode  vielfach  etwas  anders 
ausfallen  muss  als  in  der  zeit,  wo  die  formen  zuerst  gebildet  wurden. 
Und  die  folge  davon  ist,  dass  auch  die  auf  solcher  abweichenden 
gruppierung  beruhende  analogiebilduug  aus  dem  gleise  der  ursprüng- 
lichen l)ildungsgesetze  heraustritt.  Secuudärer  zusammenfall  von  laut 
und  bedeutung  ist  dabei  vielfach  im  spiel.  Welche  wichtige  rolle  dieser 
Vorgang  in  der  Sprachgeschichte  spielt,  mag  eine  reihe  von  beispielen 
lehren. 

Wir  haben  im  nhd.  eine  anzahl  von  alters  her  überlieferter  nomina 
actionis  männlichen  geschlechts  neben  entsprechenden  starken  verben, 
vgl.  fall  —  fallen^  fang  —  fangen,  schlag  —  schlagen,  streu  —  streiten, 


201 

lauf  —  laufen,  befehl  (ahd.  hifelh)  —  befehlen.  Wenn  wir  auf  das  ur- 
sprüngliche bildungsprineip  zurückgehen,  so  werden  wir  sagen  müssen, 
dass  weder  das  nomen  aus  dem  verbum,  noch  das  verbum  aus  dem 
nomeu  abgeleitet  ist,  sondern  beide  direct  aus  der  wurzel.  Wir  haben 
ferner  einige  falle,  in  denen  neben  einem  nomen  agentis  ein  daraus 
abgeleitetes  schwaches  verbum  steht,  vgl.  hnss  —  hassen,  krach  — 
krachen,  schall  —  schallen,  rauch  ■ —  rauchen,  z'il  —  zilen,  mord  — 
morden,  hunger  —  hungern.  Im  nhd.  sind  diese  beiden  klassen  nicht 
auseinander  zu  halten,  namentlich  deshalb,  weil  die  Verschiedenheit 
der  Verbalendungen  im  präs.  ganz  verschwunden  ist.  Es  erseheinen 
jetzt  schlag  —  schlagen  und  hass  —  hassen  einander  vollkommen  pro- 
portional, und  man  bildet  nun  weiter  auch  zu  anderen  verben,  gleich- 
viel welcher  conjugationsklasse  sie  angehören,  nomina  einfach  durch 
weglassung  der  enduug.  vgl.  betrag,  ertrag,  Vortrag,  betreff,  verbleib, 
begeht ,  erfolg,  verfolg,  belang,  betracht,  brauch,  gebrauch,  verbrauch^  be- 
such, versuch,  verkehr,  vergleich,  bereich,  schick^  bericht,  ärger  etc.  Im 
mhd.  steht  neben  dem  subst.  git  ein  daraus  abgeleitetes  verbum  gitesen. 
Letzleres  entwickelt  sich  im  spätmhd.  regelrecht  zu  geitzen,  geizen, 
und  daraus  bildet  sich  das  subst.  geiz,  welches  das  ältere  geil  ver- 
drängt. 

i  Wo  ein  nomen  und  ein  verbum  von  entsprechender  bedeutung 
neben  einander  stehen,  da  ist  es  unausbleiblich,  dass  die  aus  dem 
einen  gebildete  ableitung  sich  auch  zu  dem  andern  in  beziehung  setzt, 
.<o  dass  sie  dem  Sprachgefühl  eben  sowol  aus  dem  letzteren  wie  aus 
dem  ersteren  gebildet  scheinen  kann,  und  diese  von  dem  ursprüng- 
lichen verhältniss  abgehende  beziehung  kann  dann  die  veranlassung 
zu  ueubildungen  werden.  Unser  suffix  -ig  (ahd.  -ag  und  -lg)  dient  ur- 
sprünglich nur  zu  ableitungen  aus  nominibus.  Aber  es  stehen  ihrer 
form  und  bedeutung  nach  Wörter  wie  gläubig,  streitig,  geläufig  in  eben 
so  naher  beziehung  zu  glauben,  streiten,  laufen  wie  zu  glaube,  streit, 
lauf,  andere  wie  irrig  sogar  in  näherer  beziehung  zu  dem  beti'cffenden 
verbum.  weil  das  subst.  irre  in  seiner  bedeutuugseutwickelung  dem 
adj.  nicht  parallel  gegangen  ist;  bei  andern  wie  gehörig,  abwendig  ist 
das  zu  gründe  liegende  subst.  (mhd.  höre)  verloren  gegangen  oder 
wenigstens  nicht  mehr  allgemein  gebräuchlich.  So  werden  denn  eine 
anzahl  von  adjectiveu  geradezu  aus  verben  gebildet,  vgl.  erbietig  (gegen- 
über dem  nominalen  erbötig),  ehrerbietig,  freigebig,  ergiebig,  ausfindig, 
(doch  wohl  mit  anlehnung  an  mhd.  fündec).  zulässig,  rührig,  wackelig, 
dämmerig,  stotterig;  auch  abhängig  kann  seiner  bedeutung  nach  nicht 
zu  hang,  abhang ,  sondern  nur  zu  abhangen  gestellt  werden.  Eben  so 
verhält  es  sich  mit  den  adjectiven  auf  -isch,  von  denen  wenigstens 
neckisch,   mürrisch,   wetterwendisch  als  ableitungen   aus  verben   aufge- 


202 

fasst  werden  müssen,  nach  dem  rauster  solcher  wie  neidisch,  spöttisch, 
argwöhnisch  etc.  gebildet.  Unser  siiffix  -er  (ahd.  -äri,  -eri,  mhd.  -cere, 
-c/-),  welches  jetzt  als  allgemeines  mittel  zur  bildung  von  nomina  agentis 
aus  Verben  dient,  wurde  ursprünglich  nur  zu  solchen  bildungen  ver- 
wendet, wie  wir  sie  noch  in  hürger,  midier,  schüler  und  vielen  andern 
Wörtern  haben.  Im  got.  sind  sicher  nominalen  Ursprungs  bokareis 
(schriftgelehrter)  von  boka  (im  pl.  buch),  daimonareis  (besessener)  von 
daificov,  mofareis  (zöllner)  von  mota  (zoll),  vullareis  (tuchwalker)  von 
vulla  (wolle),  liupareis  (sänger)  von  einem  vorauszusetzenden  *liiij>  == 
ahd.  leod,  nhd.  Ued.  Demgemäss  werden  wir  wol  auch  laisareis  (lehrer) 
und  sokareis  (forscher)  nicht  von  den  verben  laisjan  (lehren)  und  sok- 
jan  (suchen)  abzuleiten  haben,  sondern  von  vorauszusetzenden  Substan- 
tiven '^käsa  =  ahd.  !era,  nhd.  lehre  und  "^soka  ==  mhd.  suoche.  Diese 
beiden  letzten  verben  zeigen  aber  bereits  die  möglichkeit  die  bildung 
in  beziehung  zu  einem  verbum  zu  setzen.  Auch  neben  liupareis  steht 
liupon  (singen).  An  solche  muster  angeschlossen  beginnen  dann  schon 
im  ahd.  die  ableitungen  aus  verben.  Dass  die  nominale  ableitung  das 
urspriingliche  ist,  sieht  man  namentlich  noch  an  solchen  fällen  wie 
zuhtäri  (erzieher),  aus  zuht,  nicht  aus  ziuhan  abgeleitet,  notnumfiäri 
(räuber).  In  den  fällen,  wo  der  wurzel vokal  der  nominalen  ableitung 
nicht  zum  präs.  des  verbums  stimmt,  tritt  mehrfach  eine  verbale  neu- 
bildung  daneben,  und  mitunter  haben  sieh  beide  bildungen  bis  ins  neu- 
hochdeutsche gehalten,  vgl.  ritter  —  reiter,  schnitler  —  Schneider,  näh- 
ter —  näher,  mähder  —  mäher,  sänger  —  singer  (ahd.  nur  sangäri), 
Schilter  (als  eigenname)  =  mhd.  schiltiere  (mahler)  —  schilderer.  Die 
abstracta  auf  ahd.  -ida  (got.  -ipa)  scheinen  ursprünglich  nur  aus  adjec- 
tiven  gebildet  zu  sein  und  erst  in  folge  secundärer  beziehung  aus 
verben:  kisuohhida  zu  kisuohhen,  pihaltida  zu  pihallan  nach  chundida  — 
chunden  —  chund  etc. 

Wie  in  der  ableitung  verhält  es  sich  auch  in  der  composition. 
Die  allmählige  umdeutung  eines  nominalen  ersten  compositionsgliedes 
in  ein  verbales  und  die  dadurch  hervorgerufenen  neubildungen  hat 
Osthoff')  ausführlich  behandelt.  So  treten  z.  b.  ahd.  waltpoto  (procu- 
rator),  sceltwort,  hetohus,  spiloman,  fastatag,  wartman,  spurihunt,  erhe- 
reht,  welche  doch  die  nomina  walt  (giwalt),  scelta,  beta,  spil,  fasta, 
n-arta,  spuri,  erbi  enthalten,  in  directe  beziehung  zu  den  verben  ivaltan, 
sceltan,  beton,  spilön,  fasten,  n-arten,  spurien,  erben,  und  von  diesen  und 
ähnlichen  bildungen  aus  entspringt  die  im  nhd.  so  zahlreich  gewordene 
klasse  von   compositis  mit   verbalem   ersten  gliede  wie  esslust,  trink- 


')  Das  verbnm  in  der  nominalcomposition  im  deutschen,  griechischen,  slavx- 
schen  und  romanischen,    Jena  1878. 


203 

sucht y  Schreibfeder,  schreibfaul  etc.  Hierher  gehören  namentlich  viele 
coraposita  mit  -bar,  -lieh,  -sam,  -hafi '),  die  aber  vom  Standpunkte  des 
Sprachgefühls  ans  vielmehr  als  ableituugen  zu  betrachten  und  mit  den 
oben  angeführten  bildungcn  auf  -ig  und  -isch  gleichzustellen  sind,  vgl. 
Wörter  wie  wählbar,  unvertilgbar,  unbeschreiblich,  empfindlich,  empfind- 
sam, naschhaft.  Der  Übergang  zeigt  sich  besonders  deutlich  bei  sol- 
ciien  Wörtern  wie  streitbar,  wandelbar,  vereinbar.  Streitbar  kann  noch 
ebenso  gut  auf  streit  wie  auf  streiten  bezogen  werden,  aber  unbestreit- 
bar nur  auf  bestreiten.  Im  mhd.  wird  tvandelba^re  durchaus  auf  wandet 
bezogen,  und  da  dieses  gewöhnlich  „makel"  bedeutet,  so  bedeutet  es 
auch  gewöhnlich  „mit  einem  makel  behaftet";  im  nhd.  dagegen  ist 
wandelbar,  unwandelbar  ganz  an  die  bedeutung  des  verb.  wandeln  an- 
gelehnt. Im  mhd.  gibt  es  ein  adj.  einbcere,  einträchtig,  ganz  ohne  be- 
ziehung  auf  das  verb.  denkbar. 

Sihr  häufig  ist  der  fall,  dass  eine  ableitung  aus  einer  ableitung 
in  dirf  cte  beziehung  zum  grundworte  gesetzt  wird,  wodurch  dann  auch 
wirkliche  directe  ableitungen  veranlasst  werden  mit  Verschmelzung  von 
zwei  Suffixen  zu  einem.  So  erklärt  sich  z.  b.  die  entstehung  unserer 
neultochdeutschen  suffixe  -niss,  -ner,  -ling.  Im  got.  liegt  noch  ganz 
kla;  ein  suffix  -assus  vor  {ufar-assus  tiberfluss).  Dasselbe  wird  aber 
an  häufigsten  verwendet  zu  bildungen  aus  verbis  auf  -inon,  z.  b.  gud- 
j.nassus  (priesteramt)  von  gudjinon  (priesterdienst  verrichten).  Sobald 
man  dieses  direct  auf  gudja  (priester)  bezog,  musste  man  -nassus  als 
suffix  empfinden.  Ein  n  fand  sich  ferner  in  solchen  bildungen  wie 
ibnassus  aus  ibns  (eben)  und  in  ableitungen  aus  participien  wie  ahd. 
farloran-issa.  So  ist  es  gekommen,  dass  in  den  westgermanischen  dia- 
lecten,  von  wenigen  altertümlichen  resten  abgesehen,  ein  n  mit  dem 
suffix  verwachsen  ist.  Die  bildungen  auf  -7ier  gehen  aus  von  nominal- 
stämmeu,  die  ein  n  enthalten,  vgl.  gärtner  (mhd.  gartencere),  lügner 
(mhd.  lügencere  von  liXgene  neben  lüge).,  hafner  (mhd.  havencere).,  wagner, 
oder  von  verben  auf  ahd.  -indn,  vgl.  redner  (ahd.  redinäri  aus  redinon), 
gleissner  (mhd.  gelichsenare  von  gelichsenen).  Indem  nun  z.  b.  lügner 
zu  lüge,  redner  zu  rede,  reden  in  beziehung  gesetzt  wird,  entsteht 
suffix  -ner,  das  vnr  z.  b.  finden  in  bildner  (schon  im  14.  jahrh.  bilde- 
ncere,  früher  aber  bildcere),  harfner  (mhd.  harpfcere).,  söldner  (spätmhd. 
soldencere,  früher  soldier).  In  künstler  (mhd.  kunster)  erscheint  auch 
-ler  als  suffix,  denn  wir  beziehen  es  direct  auf  kunst,  weil  das  verbum 
künsteln,  von  dem  es  eigentlich  abstammt,  auf  speciellere  bedeutung 
beschränkt  ist.  Suffix  -ling  (in  pftegling,  zögling  etc.)  geht  aus  von 
solchen   bildungen  wie   ahd.  ediling  (der  edele)  von   ediii  oder  .adaJ, 


')  Vgl.  Osthoflf  a.  a.  o.  s.  UOff. 


204 

chumiling  (nhd.  in  ahkömmling,  ankönunling)  zu  (uo-)chumilo.  So  stand 
zwischen  Juiif/  und  junijilinc  wohl  auch  einmal  eine  deminutivbildung 
*jungilo. 

Die  neuhochdeutschen  verba  auf  -igen  sind  ausgegangen  von  ab- 
leitungen  aus  adjectiven  auf  -ig.  Mhd.  einegen,  huldegen.,  leidegen,  not- 
cgen,  manecvaltegen,  schedegen,  schuldegen  stammen  unzweifelhaft  aus 
einec,  huldcc,  leidec,  notec,  schadec,  schuldec\  aber  ulid.  vereitiigen,  be- 
leidigen, beschuldigen  wird  man  eher  direct  auf  ein,  leid,  schuld  be- 
ziehen, und  bei  huldigen  und  schädigen  ist  gar  keine  andere  beziehung 
als  auf  huld  und  schade  möglich,  weil  die  vermittelnden  adjectiva  ver- 
loren gegangen  sind,  ebenso  nötigen^  weil  nötig  nicht  mehr  in  der  be- 
deutung  eorrespondiert.  So  entstehen  denn  andere  direct  aus  dem  Sub- 
stantiv um  wie  vereidigen,  befehligen,  befriedigen,  einhändigen,  beherzigen, 
sündigen,  beschäftigen ,  oder  aus  einfachen  adjectiven  wie  beschönigen, 
senftigen,  genehmigen.  Die  verba  auf  -ern  und  -ein  sind  hervorge- 
gangen aus  einem  kerne  von  ableitungen  aus  uominibus  auf  ahd.  -ar 
und  -al  {-ul,  -il),  indem  z.  b.  ahd.  spurilon  (investigare)  nicht  direct  auf 
das  verb.  spurten,  sondern  auf  ein  vorauszusetzendes  adj.  *spuril  (=  altn. 
spurall)  zurückgeht;  jetzt  aber  werden  sie  direct  aus  einfacheren  verben 
abgeleitet,  vgl.  folgern,  räuchern  (spätmhd.  rouchern,  früher  rouchen),  er- 
schüttern (mhd.,  noch  im  l^o.  jaXwh.  er  schütten),  zögern  {sms  mhd.  zogen), 
schütteln,  lächeln,  schmeicheln  (aus  mhd.  smeichen)  etc.  Auf  entspre- 
chende weise  haben  sich  auch  die  ableitungen  aus  nominibus  wie 
äugeln,  frösteln,  näseln,  frömmeln,  klügeln,  kränkeln  herausgebildet. 

Im  mhd.  bilden  viele  adjectiva  ein  adv.  auf  -liehe,  vgl.  fröliche, 
grözliche,  lüterliche,  eigenliche,  vermezzenliche,  sinnecltche,  einvaltecliche. 
Dieserart  formen  sind  natürlich  zunächst  von  adjectivischen  compositis 
auf  -lieh  abgeleitet.  Indem  aber  das  adv.  des  simplex  ausser  gebrauch 
kommt,  stellt  sich  eine  directe  beziehung  zwischen  dem  adv.  des  com- 
positums  und  dem  einfachen  adj.  her.  Die  entwickelung  geht  sogar 
noch  weiter,  indem  nach  analogie  von  grimmecliche,  stcetecliche  u.  dgl., 
die  direct  auf  griin  oder  grimme,  stiele  bezogen  werden,  auch  armec- 
liche,  miltecliche,  snellecliche  etc.  gebildet  werden,  wiewol  kein  armec  etc. 
existiert.     Die  englischen  adverbia  auf  -ly  sind  des  nämlichen  Ursprungs. 

Aehnliche  Vorgänge  sind  offenbar  in  menge  schon  in  einer  periode 
eingetreten,  in  der  wir  die  allmählige  entwickelung  nicht  verfolgen 
können.  Wir  finden  in  den  verschiedenen  indogermanischen  sprachen 
schon  auf  der  ältesten  uns  vorliegenden  entwickelungsstufe  eine  reich- 
liche anzahl  von  suffixen,  deren  lautgestalt  darauf  hinweist,  dass  sie 
complicationen  mehrerer  einfacher  suffixe  sind,  und  die  wahrscheinlich 
alle  so  entstanden  sind,  dass  auf  die  geschilderte  weise  eine  ableitung 
zweiten  grades  zu  einer  ersten  grades  geworden  ist. 


Ö05 

Zu  vielen  verseliiebiiiigen  der  beziehuDgen  gibt  ferner  das  ver- 
halten von  eompositis  zu  einander  anlass.  Grehen  zwei  verwandte 
Wörter  eine  composition  mit  dem  gleichen  demente  ein,  so  ist  es  kaum 
zu  vermeiden,  dass  eine  directe  beziehung  zwischen  den  beiden  eom- 
positis entsteht,  und  es  ergibt  sich  die  consequenz,  dass  das  eine  nicht 
mehr  als  compositum,  sondern  als  ableitung  aus  einem  compositum 
aufgefasst  wird.  Umgekehrt  kann  eine  ableitung  aus  einem  composi- 
tum in  directe  beziehung  zu  der  entsprechenden  ableitung  aus  dem 
einfachen  worte  gesetzt  werden,  und  die  folge  davon  ist,  dass  sie  als 
ein  compositum  aufgefasst  wird. 

Ein  reichliches  material  zum  beleg  für  diese  Vorgänge  liefert  die 
geschichte  der  composition  im  deutsehen.  Ursprünglich  besteht  ein 
scharfer  unterschied  zwischen  verbaler  und  nominaler  composition.  In 
der  ve/balen  werden  nur  präpositionen  als  erste  compositionsglieder 
verwendet,  in  der  nominalen  nominalstämme  und  adverbien,  anfangs 
nur  die  mit  den  präpositionen  identischen,  später  auch  andere.  In  der 
verb'ilen  ruht  der  ton  auf  dem  zweiten,  in  der  nominalen  auf  dem 
erstin  bestandteile.  Bei  der  Zusammensetzung  mit  partikeln  ist  dem- 
nach der  accent  das  unterscheidende  merkmah  Sehr  häufig  ist  nun 
dor  fall,  dass  ein  verbum  und  ein  dazu  gehöriges  nomen  actionis  mit 
äer  selben  partikel  componiert  werden.  In  einer  anzahl  solcher  fälle 
ist  das  alte  verhältniss  bis  jetzt  gewahrt  trotz  des  bedeutungsparalle- 
lismus  zwischen  den  beiden  eompositis '),  vgl.  durchbrechen  —  dürch- 
hruch,  durchschneiden  —  durchschnitt,  durchstechen  —  durchstich,  über- 
blicken —  ü'berblick,  Überfällen  —  Überfall,  übergeben  —  übergäbe,  — 
übernehmen  —  übernähme,  überschauen  —  überschau,  Überschlägen  — 
Überschlag,  übersehen  —  übersieht,  überziehen  —  ü'berzug,  u?ngehen  — 
Umgang  (eines  dinges  Umgang  haben),  unterhalten  —  unterhalt,  unter- 
scheiden —   Ü7if erschied,    unterschreiben  —  Unterschrift,    widersprechen 

—  Widerspruch.  In  anderen  fällen  hat  die  verschiedene  accentuierung 
eine  verschiedene  lautgestaltung  der  partikel  erzeugt,  wodurch  sich 
verbales  und  nominales  compositum  noch  schärfer  von  einander  ab- 
heben. Hier  ist  im  nhd,  das  alte  verhältniss  nur  in  einigen  wenigen 
fällen  erhalten,  wo  die  bedeutungsentwickelung  nicht  parallel  gewesen 
ist,  wie  erlauben  —  Urlaub,  erteilen  —  urteil.  Im  mhd.  haben  wir  noch 
empfangen  —  ampfanc,  entheizen  —  äntheiz,  entlazen  —  äntläz,  ent- 
sagen —  anisage,  begraben  —  bigraft,  besprechen  —  bispräche,  bevähen 

—  bivanc,    erheben  —  ürhap,    erstän  —  ür  st  ende,    verbieten  —  vurbot 


')  Im  allgemeinen  aber  neigen  die  nominalen  composita  dazu  sich  an  die  iin- 
eigentlicben  verbalen  anzulehnen,  gerade  aucli  wegen  der  gleichen  betonung,  während 
aus  den  eigentlichen  subtantiva  auf  -ung  abgeleitet  werden,  vgl.  durchfahren  = 
durchfahrt  —  durchfahren  =  durchfährung  etc. 


206 

(gericlitlic'lie  Vorladung),  versetzen  —  vü'rsaz  (Versetzung,  pfand),  ver- 
ziehen —  vü'rzoc  u.  a.  In  allen  diesen  fällen  ist  die  diserepanz,  wo 
die  Wörter  sieh  ülterbaupt  erhalten  haben,  jetzt  beseitigt,  indem  das 
nominale  compositum  au  das  verbum  angelehnt  ist:  empfang^  verzug  etc. 
In  andern  fällen  ist  die  ausgleichung  schon  im  älteren  mhd.  eingeti*e- 
ten,  und  die  i)artikel  ga-  (nhd.  ge-)  ist  mindestens  schon  im  ahd.,  wo 
nicht  schon  im  urgermanischen  stets  unbetont.  Mitwirkend  ist  bei 
diesem  processe  offenbar  das  verhältniss  der  verbalen  composita  zu 
den  daraus  gebildeten  nominalen  ableituugen  (mhd.  erkesen  —  erlce- 
scere,  erlcesunge  etc.),  die  ihrerseits  erst  analogiebildungen  nach  den 
ableitungen  aus  einfachen  verben  sind.  Auch  inf.  und  pari,  die  viel- 
fach zu  reinen  nominibus  sich  entwickeln  (vgl.  nhd.  behagen,  beliehen, 
erbarmen,  verderben,  vergnügen;  bescheiden,  erfahren,  verschieden  etc.), 
und  die  aus  dem  letzteren  gebildeten  substantiva  (vgl,  gewissen,  be- 
scheidenheit,  bekannlschaft,  Verwandtschaft^  erkenntniss  etc.)  wirken  mit. 

Auf  der  andern  seite  ist  auch  das  princip,  dass  ein  verbales  com- 
positum kein  nomen  enthalten  kann,  für  das  Sprachgefühl  etwas  durch- 
löchert, indem  ableitungen  wie  handhaben,  lustwandeln,  mutmassen,  not- 
taufen, radebrechen  (durch  die  schwache  flexion  als  ableitung  erwiesen, 
vgl.  mhd.  -breche),  ratschlagen,  wetteifern,  arg  wohnen,  Jiotzüchtigen,  recht- 
fertigen, verwahrlosen  aus  handhabe,  notzucht,  rechtfertig  etc.  sowie  das 
durch  Volksetymologie  umgedeutete  weissagen  (ahd.  wizagon  aus  dem 
adj.  tdzag,  substantiviert  wizago,  der  prophet)  auch  als  composita  ge- 
fasst  werden  können.  Dadurch  ist  vielleicht  das  zusammenwachsen 
syntaktischer  grui)pen  zu  compositis  {lobsingen,  wahrsageii)  begünstigt. 

Eine  andere  merkwürdige  Verschiebung  der  l)eziehungen  in  der 
composition  findet  sich  durch  zahlreiche  beispiele  im  spät-  und  mittel- 
lateinischen und  in  den  romanischen  sprachen  vertreten.  Wir  haben 
hier  eine  grosse  menge  von  verben,  die  aus  der  Verbindung  einer  prä- 
Ijosition  uiit  ihrem  casus  entweder  wirklich  abgeleitet  sind  oder  we- 
nigstens ihrer  bedeutung  nach  daraus  abgeleitet  scheinen,  vgl.  accorpo- 
rare  {ad  corpus),  incorporare,  accordare,  exconmmnicare  {ex  communione), 
extemporare  {exlemporalis  schon  im  1.  jahrh.  p.  Chr.);  emballer,  deballer, 
embarrjuer,  debarquer,  enruger,  affronter,  achever  {ad  capnl),  s'endiniancher 
(sich  in  den  Sonntagsstaat  werfen),  s'enorgueillir^).  Hiermit  sind  auch 
die  bildungen  aus  adjectiven  verwandt,  welche  bedeuten  'sich  in  den 
betreffenden  zustand  hineinversetzen'  wie  affiner,  enivrer,  adoucir,  af- 
faiblir,  ennoblir  etc.     Die  ursprüngliche  grundlage  für  diese  bildungen 


')  Mehr  beispiele  bei  Arsene  Darmesteter,  Traitc  de  la  formation  des  inots 
coiuposcs  dans  la  langue  fran(;aise  (Bibliothöquo  de  l'ecole  des  hautes  6tiides. 
Sciences  pliilologiciues  et  historiques  19)  Paris  1875,  s.  SOft*. 


207 

ist  zweierlei  gewesen.  Einerseits  ableitiingeu  aus  componierten  nomi- 
nibus,  vgl.  assimilis  —  asslmilare,  cojicors  —  Concor  dar  e,  deformis  — 
deformare  (in  der  bedeutuug 'verunstalten'),  degener  —  degenerare,  de- 
piiis  —  depUare,  CA-an/fnis  —  exanlmare,  exheres  —  exheredare,  exossis 
—  exossare,  exsucus  —  exsucare,  demens  —  dementire,  insignis  —  in- 
shjnlre,  die  sieh  verhalten  wie  sanus  —  sanare;  ferner  dedecus  —  de- 
decorare.  Anderseits  composita  von  deuominativen  verben  wie  accele- 
rare  {celerare  dichterisch),  adaequare,  addensare,  aggravare,  aggregare, 
appropinquare,  assiccare,  altenuare,  adumbrare,  dearmare,  decalvare,  de- 
honorare,  depopulari,  despoliare,  detruncare,  exhonorare,  exonerure,  hmo- 
dare,  inumbrare,  investire.  Beide  klassen  mussteu  allmählig  mit  ein- 
ander zusammengeworfen  werden  und  zumal  da,  wo  in  der  ersten  das 
zu  grün  le  liegende  nomen,  in  der  zweiten  das  simplex  ausser  gebrauch 
kam,  ir  dem  bezeichneten  sinne  umgedeutet  werden. 


Cap.  XIV. 
Bedeutungsdiiferenzierung. 

Es  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  im  wesen  der  sprach entwieke- 
Inng  begründet,  dass  sich  in  einem  fort  eine  mehrheit  von  gleich- 
bedeutenden Wörtern,  formen,  constructionen  herausbildet. 
Als  die  eine  Ursache  dieser  erscheinung  haben  wir  die  analogiebildung 
kennen  gelernt,  als  eine  zweite  convergierende  bedeutungsentwicke- 
lung  von  verschiedenen  Seiten  her,  wir  können  als  dritte  hinzufügen 
die  aufnähme  eines  fremdwortes  für  einen  begriff,  der  schon  durch  ein 
heimisches  wort  vertreten  ist  (vgl.  velter  —  coushi,  base  —  cousme), 
unter  welche  kategorie  natürlich  auch  die  entlehnung  aus  einem  ver- 
wandten dialecte  zu  stellen  ist. 

80  unvermeidlich  aber  die  entstehung  eines  solchen  Überflusses 
ist,  so  wenig  ist  er  im  stände  sich  auf  die  dauer  zu  erhalten.  Die 
spräche  ist  allem  luxus  abhold.  Man  darf"  mir  nicht  entgegen 
halten,  dass  sie  dann  auch  die  entstehung  des  luxus  vermeiden  würde. 
Es  gibt  in  der  spräche  überhaupt  keine  präcaution  gegen  etwa  einti'e- 
tende  übelstände,  sondern  nur  reaction  gegen  schon  vorhandene.  Die 
Individuen,  welche  das  neue  zu  dem  alten  gleichbedeutenden  hinzu- 
schaffen, nehmen  in  dem  augenblicke,  wo  sie  dieses  tun,  auf  das  letz- 
tere keine  rücksicht,  indem  es  ihnen  entweder  unbekannt  ist,  oder 
wenigstens  in  dem  betreffenden  augenblicke  nicht  ins  bewusstsein  tritt. 
In  der  regel  sind  es  dann  erst  andere,  die,  indem  sie  das  neue  von 
diesem,  das  alte  von  jenem  sprachgenossen  hören,  beides  untermischt 
gebrauchen. 

Unsere  behauptung  trifft  wenigstens  durchaus  für  die  umgang- 
sprache  zu.  Etwas  anders  verhält  es  sich  mit  der  literatursprache, 
und  zwar  mit  der  poetischen  noch  mehr  als  mit  der  prosaischen.  Aber 
die  abweichung  bestätigt  nur  unsere  grundanschauung,  dass  bedürfniss 
und  mittel  zur  befriedigung  sich  immer  in  das  gehörige  verhältniss  zu 
einander  zu  setzen  suchen,  wozu  eben  sowol  gehört,  dass  das  unnütze 
ausgestossen  wird,  wie  dass  die  lücken  nach  möglichkeit  ausgefüllt 
werden.    Man  darf  den  begriff  des  bedürfnisses  nur  nicht  so  eng  fassen. 


i 


209 

als  ob  es  sieh  dal)ei  nur  um  Verständigung'  über  die  zum  gemeinsamen 
leben  unumgänglich  notwendigen  dinge  handle.  Vielmehr  ist  dabei 
auch  die  ganze  summe  des  geistigen  Interesses,  aller  poetischen  und 
rhetorischen  triebe  zu  berücksichtigen.  Ein  durchgebildeter  stil,  zu 
dessen  gesetzen  es  gehört  nicht  den  gleichen  ausdruck  zu  häufig  zu 
widerholen,  verlangt  natürlich,  dass  womöglich  mehrere  ausdrucks- 
weisen für  den  gleichen  gedanken  zu  geböte  stehen.  In  noch  viel 
höherem  grade  verlangen  versmass,  reim,  alliteration  oder  ähnliche 
kunstmittel  die  möglichkeit  einer  auswahl  aus  mehreren  gleichbedeu- 
tenden lau  fcgestaltungeu ,  wenn  anders  ihr  zwang  nicht  sehr  unange- 
nehm em)  fanden  werden  soll.  Die  folge  davon  ist,  dass  die  poetische 
spräche  nch  die  gleiehweiügen  mehrheiten,  welche  sich  zufällig  ge- 
bildet h  iben,  zu  nutze  macht,  sie  beliebig  wechselnd  gebraucht,  wo  die 
umganf,ssprache  den  gebrauch  einer  jeden  an  bestimmte  bedingungen 
knüpft,  sie  beibehält,  wo  die  Umgangsprache  sich  allmählig  wider  auf 
einfachheit  einschränkt.  Dies  ist  ja  eben  eins  der  wesentlichsten 
mon.ente  in  der  differenzierung  des  poetischen  von  dem  prosaischen 
auf.drucke.  Es  lässt  sieh  leicht  an  der  poetischen  spräche  eines  jeden 
V'tlkes  und  Zeitalters  im  einzelnen  der  naehweis  führen,  wie  ihr  luxus 
im  engsten  zusammenhange  mit  der  geltenden  poetischen  teehnik  steht, 
am  leichtesten  vielleicht  an  der  spräche  der  altgermanischen  alliterie- 
renden dichtungen,  die  sich  durch  einen  besonderen  reichtum  an  syno- 
nymen auszeichnet. 

Für  die  allgemeine  Volkssprache  aber  ist  die  annähme  eines  viele 
Jahrhunderte  langen  nebeneiuanderbestehens  von  gleichbedeutenden 
doppelformen  oder  doppelwörtern  aller  erfahrung  zuwiderlaufend  und 
muss  mit  entsehiedenheit  als  ein  methodologischer  fehler  bezeichnet 
werden,  ein  fehler  der  allerdings  bei  der  construction  der  indogerma- 
nischen grundformen  sehr  häufig  begangen  ist. 

Bei  der  beseitigung  des  luxus  müssen  wir  uns  natürlich  wider 
jede  bewusste  absieht  ausgeschlossen  denken.  In  der  unnützen  über- 
bürdung des  gedächtnisses  liegt  auch  schon  das  heilmittel  dafür. 

Die  einfachste  art  der  beseitigung  ist  der  Untergang  der  mehr- 
fachen formen  und  ausdrucksweisen  bis  auf  eine.  Man  kann  leicht 
die  beobachtung  machen,  dass  der  luxus  der  spräche  nur  in  beschränk- 
tem masse  auch  ein  luxus  des  einzelnen  ist.  Auf  einem  gewissen 
gleiehmasse  in  der  auswahl  aus  den  möglichen  ausdrueksformeu  be- 
ruht am  meisten  die  charakteristische  eigentümliehkeit  der  individuellen 
spräche.  Denn  ist  einmal  das  eine  aus  irgend  welchem  gründe  ge- 
läufiger geworden  als  das  andere,  d.  h.  ist  seine  befähigung  sieh  unter 
gegebenen  umständen  in  das  bewusstsein  zu  drängen  eine  grössere,  so 
ist   auch   die  tendenz  vorhanden,   dass,  wo   nicht  besondere  einflüsse 

Paul,  Principien.    IT,  Auflage.  14 


210 

uaeli  der  entgegengesetzten  seite  treiben,  dies  Übergewicht  bei  einer 
jeden  neuen  gelegenheit  eine  Verstärkung  erhält.  Sobald  nun  die  über- 
wiegende majorität  einer  engeren  Verkehrsgemeinschaft  in  der  auswahl 
aus  irgend  einer  mehrheit  zusammentrifft,  so  ist  wider  die  natürliche 
folge,  dass  sich  die  Übereinstimmung  mehr  und  mehr  befestigt  und 
nach  dem  absterben  einiger  generationen  eine  vollständige  wird.  So 
bilden  denn  die  verschiedenen  möglichkeiten  der  auswahl  auch  eine 
hauptquelle  für  die  entstehung  dialectischer  unterschiede.  Natürlich 
kommt  es  auch  vor,  dass  die  auswahl  auf  dem  ganzen  Sprachgebiete 
zu  dem  gleichen  resultate  führt,  namentlich  da,  wo  besonders  be- 
günstigende bedingungen  für  die  eine  form  vorhanden  sind. 

Neben  dieser  bloss  negativen  entlastung  der  spräche  gibt  es  aber 
auch  eine  positive  nutzbarm achung  des  luxus  vermittelst  einer 
bedeutungsdifferenzierung  des  gleichwertigen.  Auch  diesen  Vor- 
gang dürfen  wir  uns  durchaus  nicht  als  einen  absichtlichen  denken. 
Wir  haben  gesehen,  dass  die  verschiedenen  bedeutungen  eines  Wortes, 
einer  flexionsform,  einer  satzfügung  etc.  jede  für  sich  und  eine  nach  - 
der  andern  erlernt  werden.  Wo  nun  eine  mehrheit  von  gleichwei-tigen 
ausdrücken  im  gebrauclie  ist,  deren  jeder  mehrere  bedeutungen  und 
Verwendungsarten  in  sich  schliesst,  da  ergibt  es  sich  ganz  von  selbst, 
dass  nicht  jedem  einzelnen  im  verkehre  die  verschiedenen  bedeutungen 
gleichmässig  auf  die  verschiedenen  ausdrücke  verteilt  erscheinen.  Viel- 
mehr wird  es  sich  häufig  treffen,  dass  er  diesen  ausdruck  früher  oder 
öfter  mit  dieser,  jenen  früher  oder  öfter  mit  jener  bedeutung  verbunden 
hört.  Sind  ihm  aber  die  verschiedenen  ausdrücke  jeder  mit  einer  be- 
sonderen bedeutung  geläufig  geworden,  so  wird  er  auch  dabei  be- 
harren, falls  er  nicht  durch  besonders  starke  einflüsse  nach  der  ent- 
gegengesetzten Seite  getrieben  wird. 

Wo  die  einzelnen  momente  der  entwickelung  nicht  historisch  zu 
verfolgen  sind,  sondern  nur  das  gesammtresultat  vorliegt,  da  entsteht 
häufig  der  schein,  als  sei  eine  lautdifferenzierung  zum  zwecke  der  be- 
deutimgsunterscheidung  eingetreten.  Und  noch  immer  scheuen  sich  die 
meisten  Sprachforscher  nicht,  etwas  derartiges  anzunehmen.  Schon  um 
solche  aufstellungen  definitiv  zu  beseitigen,  ist  es  von  Wichtigkeit  die 
hierher  gehörigen  fälle  aus  den  modernen  sprachen  in  möglichster 
reichlichkeit  zu  sammeln. 

Am  meisten  in  dieser  beziehung  ist  bisher  auf  dem  gebiete  der 
romanischen  sprachen  geschehen.  Schon  im  jähre  1683  veröffentlichte 
Nicolas  Catherinot  eine  schrift  unter  dem  titel  Les  Doublets  de  la 
Langue  Franyoyse,  die  hierher  gehöriges  raaterial  zusammenstellte. 
Seit  der  begründung  der  wissenschaftlichen  grammatik  der  romani- 
schen  sprachen   ist   man   immer  aufmerksam    auf  den  gegenständ  ge- 


211 

wesen.  Keichlielies  material  aus  dem  französiseheu  ist  zusammenge- 
stellt von  A.  Brächet,  Dictionuaire  des  doublets  de  la  langue  frangaise, 
Paris  1868,  Supplement,  Paris  1871;  aus  dem  portugiesischen  von  Coelho 
in  der  Romania  II,  281  ff.;  aus  dem  spanischen,  daneben  auch  aus 
andern  romanischen  sprachen  von  Caroline  Michaelis,  Romanische  Wort- 
schöpfung, Leipzig  1876.  Eine  Zusammenstellung  von  lateinischen 
doppelwörtern  hat  M.  Breal  gegeben  in  den  Memoires  de  la  societe  de 
linguistique  de  Paris,  I,  162  ff.  (1868).  Rücksichtlich  des  germanischen 
ist  anzuführen  0.  Behagel,  Die  neuhochdeutschen  zwillingswörter,  Ger- 
mania 23,  257  ff.  Eine  kleine  Sammlung  aus  dem  englischen  steht  bei 
Mätzner,  Englische  grammatik^  I,  221  ff.  Eingehende  betrachtungen 
über  die  difterenzierung  hat  besonders  C.  Michaelis  angestellt  (vgl.  na- 
mentlich s.  41  ff".).  Sie  neigt  sich  entschieden  der  auch  von  uns  ver- 
tretenen ansieht  zu,  dass  die  lautliche  und  die  begriffliche  difterenz 
ursprünglich  in  keinem  causalzusammenhange  mit  einander  stehen. 
Noch  bestimmter  spricht  sich  Behagel  (s.  292)  aus:  ,In  der  lebendigen 
spräche  findet  keine  absichtliche,  bewusste  differenzierung  der  form  zum 
zwecke  der  bedeutungsdifferenzierung  statt".  Seine  eigene  arbeit  be- 
schäftigt sieh  aber  wesentlich  nur  mit  der  lautlichen  seite. 

Das  in  den  genannten  arbeiten  zusammengestellte  material  ge- 
hört nun  übrigens  bei  weitem  nicht  alles  unter  die  kategorie,  mit  der 
wir  es  hier  zu  tun  haben.  Selbstverständlich  müssen  alle  fälle  aus- 
geschlossen werden,  in  denen  ein  lehnwort  von  anfang  an  in  einer 
andern  bedeutung  aufgenommen  ist  als  ein  altheimisches  oder  ein  in 
früherer  zeit  oder  aus  anderer  quelle  entlehntes  wort,  gleichviel  ob  die 
Wörter,  wenn  man  weit  genug  zurückgeht,  auf  den  gleichen  Ursprung 
führen.  Französisch  chose  und  cause  stammen  beide  aus  lat.  causa, 
aber  ihre  bedeutungsverschiedeuheit  ist  nicht  aus  einer  differenzierung 
auf  französischem  boden  entstanden,  sondern  cause  ist  als  gerichtlicher 
terminus  entlehnt  zu  einer  zeit,  als  cliose  sich  schon  zu  der  allge- 
meinen bedeutung  'sache'  entwickelt  hatte.  So  verhält  es  sieh  bei 
weitem  mit  den  meisten  doppelwörtern  der  romanischen  sprachen,  die 
uns  deshalb  hier  gar  nichts  angehen  i),  so  verhält  es  sich  auch  mit 
neuhochdeutschen  Wörtern  wie  legal  —  loyal,  pfalz  —  palasi,  pulver  — 
puder,  spital  —  hötel  etc.  Weiter  müssen  wir  aber  auch  alle  die- 
ienigen  fälle  ausschliessen ,  in  welchen  die  bedeutungsdifferenzierung 
die  folge  einer  grammatischen  Isolierung  ist.  Wenn  z.  b.  das  alte  par- 
ticipium  bescheiden  noch  als  adj.  in  der  bedeutung  modestus  gebraucht 
wird,   dagegen   als   eigentliches  part.  beschieden,    so   sind  zwar  in  der 

*)  C.  Michaelis  ist  gewiss  im  allgemeinen  im  irrtume,  wenn  sie  (s.  42  flf.)  auch 
die  dem  lateinischen  näher  stehende  bedeutung  der  dem  lateinischen  näher  stehenden 
form  als  ergebniss  einer  difterenzierung  auftasst. 

14* 


212 

letzteren  verwenduug  eine  zeit  lang-  bescheiden  und  beschieden  neben 
einander  hergegangen,  aber  niemals  ist  beschieden  =  modestus  ge- 
braucht. 

Auf  der  andern  seite  ist  in  den  angeführten  arbeiten  unsere  zweite 
klasse,  in  der  die  bedeutuugsgleichheit  erst  auf  seeundärer  entwicke- 
lung  beruht,  gar  nicht  berücksichtigt.  An  einer  gesichteten  Zusammen- 
stellung von  fällen,  die  als  unzweifelhafte  dififereuzierung  gleichbedeu- 
tender ausdrücke  zu  betrachten  sind,  fehlt  es  also  dennoch.  Es  wird 
sich  daher  empfehlen  mit  beispielen  zur  erläuterung  des  Vorganges 
nicht  sparsam  zu  sein.  Ich  wähle  dieselben  grösstenteils  aus  dem 
neuhochdeutschen. 

Die  formen  knabe  und  knappe  sind  im  mhd.  vollständig  gleich- 
bedeutend und  vereinigen  beide  die  verschiedenen  neuhochdeutschen 
bedeutungen  in  sich.  Ebenso  werden  raben  (=  nhd.  rabe)  und  rappe 
beide  zur  bezeichnung  des  vogels  verwendet,  während  jetzt  in  der  Schrift- 
sprache rai)pe  auf  die  metaphorische  Verwendung  für  ein  schwarzes 
pferd  beschränkt  ist.i)  Eine  dritte  form,  rappen  mit  einem  aus  den 
obliquen  casus  in  den  nom.  gedrungenen  n  hat  sich  für  die  münze 
(ursprünglich  mit  einem  schwarzen  vogelkopf)  festgesetzt,  die  ursprüng- 
lich auch  rappe,  rapp  heisst  und  ausserdem  als  rabenheller^  raben- 
pfennig,  rabenbalzen,  rabenvierer  bezeichnet  wird  (vgl.  Adelung).  Wie 
k7iabe  —  knappe  verhalten  sich  mhd.  bache  (hinterbacken,  schinken)  — 
backe  (urgerm.  bako  —  bakko)  zu  einander,  und  es  ist  daher  sehr  wahr- 
scheinlich, dass  wir  es  hier  mit  einer  ebenfalls  secundären,  nur  be- 
deutend älteren  bedeutungsdiflferenzierung  zu  tun  haben.  Erst  neu- 
hochdeutsch ist  die  Unterscheidung  zwischen  reiter  (=  mhd.  riter)  und 
ritt  er,  scheuhen  und  scheuchen,  die  verschiedene  nuancierung  in  der 
anwendung  von  Jungfrau  und  Jungfer.  Hain  ist  eine  contraction  aus 
hagen  und  im  mhd.  sind  beide  gleichbedeutend  (noch  jetzt  in  compo- 
sitis  wie  hagebuche  —  haitibuche,  hagebulte  —  hainbutte  etc.);  hagen  in 
der  abgeleiteten  bedeutuug,  die  jetzt  auf  hain  beschränkt  ist,  erscheint 
bei  B.  Waldis. 

Häufig  sind  die  doppelformen,  die  durch  die  mischung  verschie- 
dener declinationsweisen  entstanden  sind,  differenziert,  so  Franke  — 
franken,  tropf  —  tropfen  (vgl.  für  die  gleichwertige  Verwendung  die 
beispiele  bei  Sanders,  z.  b.  Haller :  Du  bist  der  Weisheit  fneer,  wir  sind  da- 
von nur  tropfe  und  umgekehrt  Wieland:  dem  armen  tropfen),  fleck  — 
flecken,  fahrt  —  führte,  Stadt  —  statte  (mhd.  nom.  vart,  slal  —  gen. 
verie,  stete);  zugleich  mit  Verschiedenheit  des  geschlechtes  der  lump  — 
die  lumpe,  der  trupp  —  die  truppe,  der  karren  —  die  karre,  der  possen 

')  Allerdings  vermag  ich  ral/e  in  der  übertragenen  bedeutiing  nicht  nachzu- 
weisen. 


213 

—  die  posse.  Versebiedeuheit  des  gesclilechtes  bei  gleicher  noniinativ- 
forni  wird  verwertet  in  der  —  das  band  (beispiele  flir  der  band  = 
fascia,  vineulum  im  Deutschen  wb.),  der  —  die  fJur  (ersteres  nur  in 
der  bcdeutung-  hausflur,  in  welcher  bedeutung-  aber  auch  die  flur  vor- 
kommt), der  —  die  haft  (schon  im  mhd.  mit  ziemlich  entschiedener 
trennung-  der  bedeutungen),  der  —  das  mensch  (letzteres  noch  im  sieben- 
zehnten Jahrhundert  ohne  verächtlichen  uebensinn),  der  —  das  schitd 
(die  Scheidung  noch  jetzt  nicht  ganz  durchgeführt,   vgl.  Sanders),   der 

—  das  verdienst,  der  —  die  see,  der  —  die  schnmlst  (beispiele  für  beide 
geschlechter  in  eigentlicher  wie  uneigentlicher  bedeutung  bei  Sanders), 
die  —  das  erkennlniss  (letzteres  noch  bei  Kant  sehr  häufig  =  eogni- 
tio).  Dazu  kommen  die  fälle,  in  denen  verschiedene  pluralbildungen 
sich  differenziert  haben:  bände  —  bänder,  dinge  —  ding  er  (der  jetzigen 
Verwendung  entgegen  z,  b.  bei  Luther  Luc.  21,  26  für  warten  der  ding  er 
die  kommen  sollen  auf  erden),  gesichte  —  gesichter  (beispiele  von  nicht- 
beobachtung  des  Unterschieds  bei  Sauders),  lichte  —  lichter  (die  Unter- 
scheidung nicht  allgemein  durchgeführt),  orte  —  Örter  (desgleichen), 
tuche  —  tücher,  n-orle  —  wörler  (beispiele  in  denen  ersteres  noch  wie 
letzteres  verwendet  wird  bei  Sanders  3,  1662^),  säue  —  sauen  (vgl.  für 
die  ältere  zeit  stellen  wie  von  den  zahmen  sauen  entsprossen  oder  wilde 
säue  und  baren  etc.  bei  Sanders),  effecte  —  effeclen.  Im  älteren  nhd. 
kommt  von  druck  sowol  der  pl.  drucke  als  drücke  vor;  jetzt  existiert 
nur  noch  der  pl.  drucke  im  sinne  von  „gedruckte  werke",  wofür  Goethe 
noch  drücke  gebraucht,  dagegen  heisst  es  abdrücke,  eindrücke,  aus- 
drücke. In  ältere  zeit  zurück  geht  die  diflferenzierung  von  tor  —  tür 
(vgl.  Sievers,  Beitr.  z.  gesch.  d.  deutschen  spr.  u.  lit.  5,  111  •)  und  buch  — 
buche  (ahd.  buoh,  noch  häufig  fem.,  ist  die  alte  nomiuativform,  buocha 
die  accusativform);  die  alten  uominativformen  buoz,  wls,  halp  sind  auf 
die  Verwendung  in  bestimmten  formein  beschränkt  {mir  wirdit  buoz, 
managa  wis,  eitihalp  etc.,  noch  jetzt  ayiderthalb,  drittehalb),  während 
sonst  die  accusativformen  buoza,  wisa,  halba  üblich  geworden  sind. 

Diese  benutzung  verschiedener  flexionsformen  begegnet  uns  bei- 
nahe in  allen  flectierenden  sprachen.  Aus  dem  englischen  lassen  sich 
eine  anzahl  doppelter  pluralbildungen  anführen:  cloths  kleiderstoffe  — 
clothes  fertige  kleider,  während  in  der  älteren  spräche  so  gut  wie  von 
den  meisten  übrigen  Wörtern  beide  bildungsweisen  untermischt  gebraucht 
werden;  /;mn/o' pfennige  als  geldstücke  — pence  als  Wertbestimmung; 
brethren  gewöhnlich  im  übertragenen  sinne  —  brothers  im  eigentlichen. 
Im  holländischen  werden  die  plurale  auf  -en  und  -s  von  einigen  Wör- 
tern noch  beliebig  neben  einander  gebraucht  {vogelen  —  vogels),  von 
andern  ist  nur  die  eine  üblich  {engelen,  aber  pachlers),  wider  von 
andern   aber  werden   beide   neben  einander  mit  differenzierter  bedeu- 


214 

tiing  gebraucht,  vgl.  hemelen  (liimmel  im  eigentlichen  sinne)  —  hemels 
(betthiramel),  lellcren  (brief  oder  literatur)  —  letlers  (buchstaben),  tnid- 
delen  (mittel)  —  middels  (taillen),  tafelen  (gesetztafeln  u.  dgl.)  —  tafeis 
(tische),  vaderen  (voreitern)  —  vaders  (väter),  rvatcren  (wasser)  —  waters 
(ströme).  Aehnlich  stehen  sich  bei  einigen  Wörtern  die  formen  auf  -en 
und  -eren  gegenüber:  kleeden  (tischdeeken,  teppiche)  —  kleederen  (klei- 
der),  heenen  (gebeine)  —  beenderen  (knochen),  Maden  (blätter  im  buch) 

—  bladeren  (im  eigentlichen  sinne).  Aus  dem  dänischen  gehört  hier- 
her skaltc  (schätze)  —  skalier  (abgaben),  vaaben  (waffen)  —  vaabener 
(wappeu).  Wo  im  altn.  a  mit  g  (dem  2<-umlaut)  in  der  Wurzelsilbe  der 
uomina  wechselte  Je  nach  der  beschatfenheit  der  flexionsendung  (z.  b. 
sok{ii)  —  sakar  etc.),  da  sind  im  späteren  norwegisch  zunächst  doppel- 
formen entstanden,  eine  mit  a,  eine  mit  o,  von  denen  dann  meistens 
entweder  die  erstere  oder  die  letztere  untergegangen  ist.  In  einigen 
fällen  aber  haben  sich  beide  mit  bedeutungsdifferenzierung  erhalten: 
ffata  (gasse)  —  gota  (fahrweg),  f/rav  (grab)  —  grov  (grübe),  mark  (feld) 

—  mork  (wald),  tratn  (anhöhe)  —  trom  (rand). 

In  der  flexion  des  pron.  der  ist  der  gegenwärtig  bestehende  unter- 
schied im  gebrauche  der  kürzeren  und  der  erweiterten  formen  erst  all- 
mählig  herausgebildet.  Die  formen  der  im  gen.  sg.  fem.  und  im  gen.  pl. 
aller  geschlechter  und  de7i  im  dat.  pl,  die  jetzt  auf  den  adjectivischen 
gebrauch  beschränkt  sind,  kommen  im  siebenzehuten  Jahrhundert  noch 
häufig,  vereinzelt  auch  noch  im  achtzehnten  im  substantivischen  vor, 
z.  b.  bei  Goethe  die  kröne,  der  tnein  fürst  mich  würdig  achtet.  Dagegen 
werden  umgekehrt  derer,  denen  adjectivisch,  selbst  als  blosser  artikel 
gebraucht,  vgl.  z.  b.  derer  dinge,  derer  leute  (Logau),  derer  gesetze  (Klop- 
stock);  zu  denen  dingen,  zu  denen  stunden  (Heinrich  von  Wittenweiler, 
15.  jahrh.);  noch  im  achtzehnten  jahrh.  ist  deiien  in  dieser  Verwendung 
häufig  in  der  Schriftsprache,  und  noch  jetzt  ist  dene  mit  der  üblichen 
apocope  des  n  die  allgemein  herrschende  form  in  alemannischen  und 
südfränkischen  mundarten.  Ferner  ist  der  gegenwärtig  bestehende  ge- 
l)rauch,  dass  deren  auf  den  gen.  beschränkt  ist,  dagegen  im  dat.  aus- 
schliesslich der  verwendet  wird,  gleichfalls  erst  secundär  herausge- 
bildet, vgl.  von  deren  ich  reden,  in  deren  die  Schmeichler  seind  (Gailer 
von  Kaisersberg),  o  fiirstin,  deren  sich  ein  solcher  fürst  verbunden  (Weck- 
herliu).  Endlich  ist  auch  der  merkwürdige  unterschied,  den  mau  jetzt 
in  der  anwendung  der  formen  derer  und  deren  macht,  erst  allmählig 
herausgebildet;  vgl.  wie  viel  seind  deren  die  da  haben  (Pauli)  und  um- 
gekehrt mit  mancher  kunst,  derer  sichs  gar  nit  Schemen  thar  (P,  Melissus). 

Schaffen  als  st.  vcrlj.  und  schöjifen  sind  aus  dem  selben  paradigma 
entsprungen:  got.  skapja»,  prät.  skoj).  Zum  prät.  scuof  hat  sich  im  uhd. 
neben  der  alten  form  scepfen  ein  neues  regelmässiges  präs.  scaffan  ge- 


215 

bildet;  im  mhd.  ist  dann  weiter  zu  schep/en  ein  \niit.  schepfele  und  ein 
part,  geschejifet  gebildet.  Im  uibd.  sind  schuof,  gcscli<i/)'en  und  schepfele, 
(leschepfete  gleichbedeutend,  vereinigen  die  bedeutung  der  beiden  neu- 
hochdeutschen Wörter  in  sich.  Die  selbe  Vereinigung  findet  sich  im 
präs.  schepfen.  Das  präs.  schaffen  erscheint  allerdings  von  vornherein 
auf  die  bedeutung  schatten  beschränkt. 

Zücken  und  zucken  sind  ursprünglich  gleichbedeutende  doppel- 
tormen,  vgl.  der  schon  das  schwert  zucket  (Le.)  —  den  ajiblick  eines 
zückenden  (Herder).     Ebenso  drücken  und  drucken. 

Die  conjunction  als  ist  durch  alse  hindurch  aus  also  entstanden. 
Im  mhd.  sind  beide  vollkommen  gleichbedeutend,  beide  nach  belieben 
demonstrativ  oder  relativ.  Ebenso  wenig  besteht  ein  unterschied  der 
bedeutung  zwischen  danne  und  denne,  wanne  und  n-enne.  Die  jetzige 
Verschiedenheit  des  gebrauches  ist  durch  einen  ganz  langsamen  pro- 
cess  entwickelt,  und  die  Zufälligkeit  der  entstehung  zeigt  sich  noch  an 
einem  mangel  eines  logischen  principes  der  ditferenzierung.  Secundär 
ist  auch  der  jetzige  unterschied  von  warum  und  worum. 

Das  participium  des  inti*ansitivums,  verdorben  und  das  des  ent- 
sprechenden transitivums,  verderbt  haben  sich  so  geschieden,  dass  das 
letztere  nur  noch  in  moralischem  sinne  gebraucht  wird.  Secundär  ist 
auch  der  bedeutungsuuterschied  von  bewegt  und  bewogen,  vgl.  z.  b.  das 
meer  .  .  vom  winde  bewogen  (Prätorius),  der  hat  im  tanze  flicht  die  beine 
recht  bewogen  (Kachel),  dagegen  dass  er  dardurch  bewegt  ?vard,  solches 
in  eigener  person  zu  erfahren  (Buch  der  liebe). 

Die  Wörter  auf  -heit,  -schaff,  -tum  sind  früher  wesentlich  gleich- 
bedeutend. Sie  können  sämmtlich  eine  eigeuschaft  bezeichnen,  manche 
haben  daneben  eine  collectivbedeutung  entwickelt.  Auch  Wörter  auf 
-niss  und  einfachere  bildungen  wie  höhe,  tiefe  berührten  sich  vielfach 
mit  ihnen.  So  ist  es  auch  bis  jetzt  im  ganzen  geblieben,  aber  im  ein- 
zelnen haben  sich  da,  wo  mehrere  dieser  bildungen  neben  einander 
standen,  diese  meistens  irgendwie  differenziert.  Fälle,  in  denen  die 
verschiedenen  gebrauchsweisen,  die  sich  jetzt  auf  mehrere  solcher  bil- 
dungen verteilen,  einmal  vollständig  in  jeder  derselben  vereinigt  waren, 
sind  allerdings  nicht  so  häufig,  doch  vgl.  gemein{d)e  gemeinschaft,  von 
denen  auch  gemeinheit  ursprünglich  in  der  bedeutung  nicht  geschieden 
war.  Bemerkenswert  sind  auch  kleinheit  —  kleitiigkeit,  neuheit  —  neuig- 
keit.  Beispiele  für  die  frühere  unterschiedslose  Verwendung  des  ersten 
paares  sind  im  Deutschen  wb.  beigebracht,  vgl.  so  verhält  es  sich  auch 
mit  gewissen  kleinheiten,  die  es  im  haushält  nicht  sind  (Goethe-Z eiter- 
scher briefwechsel)  —  die  ausnehmende  kleinigkeit  der  masse  (Kant), 
lieber  das  zweite  paar  lehrt  Adelung,  neuheit  werde  gebraucht  , als 
ein   concretum,   eine   neue   bisher  nicht  erfahrne  oder  erkannte  sache, 


216  ^ 

woflir  doch  ncu'Kjkeit  üblicher  ist",  dagegen  „(//c  neuigkeit  einer  nach- 
rich/,  einer  cmpßndung,  eines  gedankens  u.  s.  f.  wofür  jetzt  in  der  an- 
ständigen spreehart  neuheit  üblicher  ist". 

Entsprechend  verhält  es  sieh  mit  den  adjectiven  auf  -ig,  -isch, 
-lieh,  -sam,  -haß,  -har,  bei  denen  die  jetzt  bestehenden  bedeutungsver- 
sehiedenheiten,  nicht  auf  bedeutungs Verschiedenheit  der  suffixe  an  sich 
beruhen.  Ein  treffendes  beispiel  ist  ernstlich  —  ernsthaft,  vgl.  für  den 
älteren  gebrauch  die  stets  gar  ernstlich  und  sauer  sieht  (Ayrer)  —  der 
ernsthaft  fleisz  (Fischart), 

Im  mhd.  sind  so  und  als  {also,  alse)  ganz  gleichbedeutend,  beide 
sowol  demonstrativ  als  relativ.  Im  nhd.  sind  sie  differenziert,  zunächst 
in  der  weise,  dass  so  im  allgemeinen  als  dem.,  als  als  rel.  gebraucht 
wird,  vgl.  z.  b.  so  wol  als  auch  (mhd.  so  wol  so  oder  als  wol  als),  so 
bald  als.  Doch  ist  ein  rest  des  demonstrativen  als  übrig  geblieben  in 
alsbald.  Im  mhd.  hat  lihte  wie  vil  lihte  die  bedeutung  von  nhd.  leicht 
und  vielleicht.  Die  beschränkung  der  form  ehe  auf  die  conjunction  ist 
secundär.  Noch  Gleim  schreibt  ehe  als  Klopfstock,  Goe.  er  soll  eh  ge- 
rvonnen  als  verloren  haben. 

Im  mhd.  kann  sichern  so  viel  bedeuten  wie  nhd.  versichern  und 
umgekehrt  versichern  so  viel  wie  nhd.  sichern  (z.  b.  die  stat  mit  müren 
und  mit  graben  v).  Die  Unterscheidung  von  sammeln,  Sammlung  und 
versamtneln,  Versammlung  ist  dem  älteren  nhd.  noch  fremd;  vgl.  Moses 
und  Aaron  .  .  sameleten  auch  die  ganze  gemeinde,  Gott  ist  fast  mächtig 
in  der  samlunge  der  heiligen  (Lu.).  —  Des  festlichen  tages,  an  dem  die 
gegend  mit  jubel  trauben  lieset  und  tritt  und  den  most  in  die  fässer  ver- 
sammelt (Goe.);  Die  linse?i  sind  gleichsam  eine  Versammlung  unendlicher 
prismen  (Goe.);  Dass  sie  (die  Juden  in  ihrer  Zerstreuung)  keiner  versatnm- 
lung  mehr  hoffen  dürfen  (Lu.).  Das  einfache  Öffnen  wird  früher  wie 
jetzt  eröffnen  in  dem  übertragenen  sinne  =  offenbaren  gebraucht,  vgl. 
du  versprichst  mir  deine  gedanken  zu  öffnen.  Ein  ähnliches  verhältniss 
besteht  öfter  zwischen  simplex  und  compositum  oder  zwischen  ver- 
schiedenen compositis,  die  ein  gemeinsames  simplex  haben. 

Es  müssen  hier  auch  einige  Vorgänge  besprochen  werden,  die 
zwar  nicht  eigentlich  differenzierangen  sind,  die  aber  aus  den  näm- 
lichen gnindprocessen  entspringen  wie  diese  und  daher  für  deren  be- 
urteilung  wichtig  sind.  Den  ausgangspunkt  bildet  dabei  nicht  totale 
sondern  partielle  glcichheit  der  bedeutung. 

Der  i)ai-tiellen  gleichheit  kann  eine  totale  vorangegangen  sein, 
die  zunächst  dadurch  aufgehoben  ist,  dass  das  eine  wort  eine  bedeu- 
tungserweiterung  erfahren  hat,  die  das  andere  nicht  mitgemacht  hat. 
Dann  ist  sehr  häufig  die  weitere  folge,  dass  das  erste  aus  seiner  ur- 
sprünglichen  bedeutung  von   dem   letzteren  ganz  herausgedrängt  und 


217 

auf  die  neue  bedeutung  beschränkt  wird.  Krislentuom  und  Kristenheil 
werden  zwar  schon  von  Walther  v.  d.  Vogelwcidc  im  heutigen  sinne 
einander  gegenüber  gestellt,  aber  das  letztere  wird  doch  mhd.  auch 
noch  in  der  grundbedeutuug  =  Christentum  gebraucht,  vgl.  z.  b.  Tristan 
1968  (von  einem  zu  taufenden  kinde)  durch  duz  ez  sine  kristenheit  in 
gotes  namen  empficnge.  Mhd.  ivisluom  bedeutet  das  selbe  wie  msheit, 
daneben  tritt  aber  die  abgeleite  bedeutung  „rechtsbelehrung"  auf,  und 
auf  diese  wird  dann  nhd.  jveistum  beschränkt.  Mhd.  gelichnissc  kann 
noch  in  dem  selben  sinne  wie  gelichheit  gebraucht  werden,  nhd.  glcich- 
niss  hat  diese  ursprüngliche  bedeutung  aufgegeben.  Indessen  {indes) 
hat  ursprünglich  rein  temporale  bedeutung,  vgl.  ich  bin  indess  krank 
gewesen  (Le.);  aus  dieser  ist  es  durch  unterdessen  verdrängt. 

Häufiger  ist  es,  dass  ein  wort,  welches  früher  in  seiner  bedeu- 
tung von  einem  anderen  ganz  verschieden  war,  irgend  einen  teil  von 
dem  gebiete  des  letzteren  occupiert  und  dann  allmählig  für  sich  allein 
in  beschlag  nimmt.  So  ist  hoese  auf  das  moralische  gebiet  einge- 
schränkt (mhd.  auch  bcesiu  kleit  u.  dergl.)  durch  das  tibergreifen  von 
schlecht  (ursprünglich  glatt,  grade).  Aehnliche  einschränkungen  haben 
erfahren:  siech  (ursprünglich  die  allgemeine  bezeichnung  für  krank), 
Seuche,  sucht  durch  kränk,  krankheit  (ursprünglich  schwach,  schwäche); 
arg  (mhd.  auch  in  der  bedeutung  geizig)  durch  karg  (ursprünglich 
klug);  als  durch  wie  (ursprünglich  fragewort,  dann  zunächst  nur  ver- 
allgemeinerndes relativum,  oh  durch  wenn. 

Sehr  häufig  endlich  ist  es,  dass  ein  neugebildetes  oder  aus  einer 
fremden  spräche  entlehntes  wort  ein  älteres  aus  einem  teile  seines  ge- 
bietes  hinausdrängt.  So  hat  mhd.  ritterschaft  auch  die  bedeutung  von 
rittertum\  nachdem  das  letztere  wort  gebildet  ist,  büsst,  es  diese  ein. 
So  ist  freundlich  durch  freundschaftlich  angegriffen,  wesentlich  durch 
wesenhaft,  empfindlich  durch  empfindsam,  einig  durch  einzig,  gefnein  durch 
gemeinsam  und  allgemein,  lehen  durch  darlehen,  Stegreif  durch  Steigbügel, 
künstlich  durch  kunstvoll  und  kunstreich,  bein  durch  knochen  (ursprüng- 
lich mitteldeutsch). 

Diese  verschiedenen  Vorgänge  können  in  mannigfachen  Verknüpf- 
ungen unter  einander  und  mit  der  eigentlichen  bedeutungsdifferenzie- 
rung  erscheinen.  Soll  einmal  die  geschichte  der  bedeutungsentwicke- 
lung  zu  einer  Wissenschaft  ausgebildet  werden,  so  wird  es  ein  haupt- 
erforderniss  sein  auf  diese  Verhältnisse  die  sorgfältigste  rücksicht  zu 
nehmen.  Auch  nach  dieser  seite  hin  bestätigt  sich  unser  gruudsatz, 
dass  das  einzelne  nur  mit  stätem  hinblick  auf  das  ganze  des  sprach- 
materials  beurteilt  werden  darf,  dass  nur  so  erkenntniss  des  causal- 
zusammenhangs  möglich  ist.  Wie  schon  die  hier  gegebenen  audeu- 
tungen   erkennen  lassen,  ist   dabei  gerade  der  mangel  durchgehender 


218 

logischer  prineipien  cbarakteristiseli.  Der  zufall,  die  absichtslosigkeit 
liegen  zu  tage. 

Wir  haben  oben  schon  mehrfach  an  das  syntaktische  gebiet  ge- 
streift. Auch  an  rein  syntaktischen  Verhältnissen  zeigen  sich  die 
besprochenen  Vorgänge. 

Im  ahd.  waren  in  der  starken  declination  des  adj.  doppelformen 
für  den  nom.  sg.  sowie  für  den  acc.  sg.  n.  entstanden:  guot  —  guoter, 
fjuoliu,  (juotaz.  Im  gebrauch  dieser  formen  besteht  zunächst  kein  unter- 
schied. Einerseits  wird  die  sogenannte  unflectierte  attributiv  vor  dem 
subst.  gebraucht,  noch  im  mhd.  allgemein,  während  sich  jetzt  bis  auf 
wenige  isolierte  reste  die  flectierte  festgesetzt  hat,  anderseits  wird  die 
flectierte  auch  da  gebraucht,  wo  sich  später  die  unflectierte  festgesetzt 
hat;  so  attributiv  nach  dem  subst,  z.  b.  Krist  gualer,  thaz  himilrichi 
höhaz  Otfrid,  noch  im  mhd.  der  knappe  guoter  Parzival,  ein  wölken  so 
trüehez  Heinr.  v.  Morungen  neben  dem  üblicherem  der  knappe  guot  etc.; 
ferner  als  prädicat:  ist  iuuar  mieta  mihhilu  Tatian,  uuird  thu  stummer 
Otfrid,  vereinzelt  noch  im  mhd.,  z.  b.  daz  daz  tvite  velt  vollez  frouwen 
iviere  Parzival  671, 19;  so  auch  ih  habetiz  io  giuuissaz  (hielt  es  immer 
für  gewiss)  Otfrid,  also  nazzer  muose  ich  scheiden  Walther  v.  d.  Vogelw. 
Bei  ein  und  beim  possessivpron.  hat  sich  auch  vor  dem  subst.  die  un- 
flectierte form  festgesetzt,  früher  standen  beide  nebeneinander,  vgl.  smer 
sämo,  sinaz  körn,  einaz  fisgizzi  Otfrid. 

Die  doi)pelformen  tvard  und  wurde  haben  sich  so  geschieden, 
dass  ersteres  auf  die  bedeutung  des  aorists  beschränkt  ist,  während 
im  sinne  des  imperfectums  nur  das  letztere  gebraucht  werden  kann. 
Doch  ist  die  Scheidung  nicht  durchgeführt,  weil  wurde  in  jedem  falle 
angewendet  werden  kann.  Dass  auch  im  idg.  zwischen  dem  ind.  des 
impf,  und  dem  des  aor.,  sowie  zwischen  den  übrigen  modi  des  präs. 
und  denen  des  aor.  ursprünglich  keine  bedeutungsverschiedenheit  be- 
standen hat,  dürfen  wir  mit  ziemlicher  Sicherheit  annehmen.  Denn  die 
doppelheit  ist  wahrscheinlich  aus  einem  einzigen  paradigma  entstanden 
dadurch,  dass  eine  durch  den  wechselnden  accent  enstandene  discre- 
panz  zwischen  den  formen  nach  zwei  verschiedenen  selten  hin  ausge- 
glichen wurde.  Noch  auf  dem  uns  überlieferten  zustande  des  sanskrit 
sind  die  formen  nicht  in  allen  klassen  des  verb.  geschieden.  Ob  man 
got.  viljau  (ich  will)  einen  opt.  präs.  oder  aor.  nennen  will,  ist  ganz 
gleichgültig.  Ueberhaupt  wird  das  tempus-  und  modussystem  des  idg. 
durch  eine  anzahl  von  bedeutungsdifferenzierungen  zu  stände  gekommen 
sein,  womit  der  entgegengesetzte  Vorgang,  zusammenfall  der  bedeutung 
verschiedenartiger  bildungen  band  in  band  ging. 


Cap.  XV. 

Psychologische  imd  grammatische  kategorie. 

Jede  gTammatisehe  kategorie  erzeugt  sich  auf  grundlage  einer 
psychologischen.  Die  erstere  ist  ursprünglich  nichts  als  das  eintreten 
der  letzteren  in  die  äussere  erscheinung.  Sobald  die  Wirksamkeit  der 
psychologischen  kategorie  in  den  sprachlichen  ausdrucksmitteln  er- 
kennbar wird,  wird  sie  zur  grammatischen.  Die  Schöpfung  der  gram- 
matischen kategorie  hebt  aber  die  Wirksamkeit  der  psychologischen 
nicht  auf.  Diese  ist  von  der  spräche  unabhängig.  Wie  sie  vor  jener 
da  ist,  wirkt  sie  auch  nach  deren  entstehen  fort.  Dadurch  kann  die 
anfänglich  zwischen  beiden  bestehende  harmonie  im  laufe  der  zeit  ge- 
stört werden.  Die  grammatische  kategorie  ist  gewissermassen  eine 
erstarrung  der  psychologischen.  Sie  bindet  sich  an  eine  feste  tradi- 
tion.  Die  psychologische  dagegen  bleibt  immer  etwas  freies,  lebendig 
wirkendes,  was  sich  nach  individueller  auffassung  mannigfach  und 
wechselnd  gestalten  kann.  Dazu  kommt,  dass  der  bedeutungswandel 
vielfach  darauf  wirkt,  dass  die  grammatische  kategorie  der  psycho- 
logischen nicht  adäquat  bleibt.  Indem  dann  wider  eine  tendenz  zur 
ausgleichung  sich  geltend  macht,  vollzieht  sich  eine  Verschiebung  der 
grammatischen  kategorie,  wobei  auch  eigentümliche  zwitterverhältnisse 
entstehen  können,  die  keine  einfache  einordnuug  in  die  bis  dahin  vor- 
handenen kategorieen  zulassen.  Die  betrachtung  dieser  Vorgänge,  die 
wir  genauer  beobachten  können,  gibt  uns  zugleich  belehrung  über  die 
ursprüngliche  entstehung  der  grammatischen  kategorieen,  die  sich 
unserer  beobachtuug  entzieht.  Wir  wenden  uns  demnach  dazu  einige 
der  wichtigsten  grammatischen  kategorieen  von  den  angedeuteten  ge- 
sichtspunkteu  aus  zu  betrachten. 

Geschlecht.!) 
Die    basis    für    die    entstehung   des   grammatischen   geschlechtes 
bildet   der   natürliche   geschlechtsunterschied  der  menschlichen 

')  Vgl.  zu  diesem  absclmitt  besonders  Grimm  Gr.  III,  311—563;  Kl.  sehr.  III, 
349 flf.;  Diez  III,  92— S;   Miklosieli  IV,  17—37;  Scliroeder  s.  8'J;  Brugmann,  Z.  f.  Spr. 


220 

und  tierischen  wesen.  Wenn  ausserdem  noch  anderen  wesen,  auch 
ciiienschafts-  und  tätigkeitsbezeichuungen,  ein  männliches  oder  weib- 
liches geschlecht  beigelegt  wird,  so  ist  das  eine  Wirkung  der  phan- 
tasie,  welche  diese  wesen  nach  analogie  der  menschlichen  persönlich- 
keit auffasst.  Aber  weder  das  natürliche  geschlecht  noch  das  der 
phantasie  ist  an  und  für  sich  etwas  grammatisches.  Der  sprechende 
konnte  sich  etwas  als  männliche  oder  weibliche  persönlichkeit  denken, 
ohne  dass  im  sprachlichen  ausdruck  das  geringste  davon  zu  spüren 
war.  Das  sprachliche  mittel,  woran  wir  jetzt  das  grammatische  ge- 
schlecht eines  substantivums  erkennen,  ist  die  congruenz,  in  welcher 
mit  demselben  einerseits  attribut  und  prädicat,  anderseits  ein  stell- 
vertretendes pronomen  steht.  Die  entstehung  des  grammatischen  ge- 
schlechtes steht  daher  im  engsten  zusammenhange  mit  der  entstehung 
eines  wandelbaren  adjectivums  und  pronomens.  Die  geschlechtliche 
wandelbarkeit  des  adjectivums  setzt  voraus,  dass  sich  der  geschlechts- 
unterschied  an  einen  bestimmten  stammausgang  geknüpft  hat.  Diese 
erscheinung  Hesse  sich  daraus  erklären,  dass  der  betreffende  stamm- 
ausgang ursprünglich  ein  selbständiges  wor.t  gewesen  wäre,  ein  pron., 
welchem  schon  während  seiner  Selbständigkeit  die  beziehung  auf  ein 
männliches  oder  weibliches  wesen  zukam.  Durchaus  notwendig  aber 
ist  diese  annähme  nicht.  Es  Hesse  sich  auch  denken,  dass  rein  zu- 
fäHig  sich  ])ei  diesem  Stammausgange  eine  überwiegende  majorität  für 
das  männliche,  bei  jenem  eine  solche  für  das  weibliche  herausgestellt 
hätte.  Der  geschleehtsunterschied  beim  pron.  kann  sich  ebenso  wie 
beim  adj.  am  Stammausgange  zeigen,  er  kann  aber  auch  durch  beson- 
dere wurzeln  ausgedrückt  werden.  Am  stellvertretenden  pron.  hat  sich 
wahrscheinlich  das  grammatische  geschlecht  am  frühesten  entwickelt, 
gerade  so  wie  es  sich  an  demselben  da,  wo  es  teilweise  untergegangen 
ist,  also  z.  b.  im  engl.,  am  längsten  erhält. 

Bei  der  ersten  entstehung  des  grammatischen  geschlechtes  wird 
dasselbe  durchgängig  mit  dem  natürlichen  in  Übereinstimmung  gewesen 
sein.  Allmählig  konnten  abweichungen  davon  entstehen,  namentlich 
durch  den  wandel  der  Wortbedeutung,  auch  durch  bloss  oecasionelle 
modification  der  bedeutung.  In  folge  davon  macht  sich  das  natürliche 
geschlecht  wider  vollständig  geltend,  zunächst  dadurch,  dass  es  eine 
durchbreehung  der  grammatischen  congruenz  veranlasst;  vgl.  fälle  wie 
eines  frauenzimmers ,  die  sich  am  artigsten  gegen  mich  erwiesen  hatte 
(Goe.);  die  hässlichste  meiner  karnrnermädchen  (Wieland);  lat.  duo  impor- 


21,  ^;4tf.;  Delbrück  ly,  4— 13;  W.Meyer,  Die  Schicksale  des  lateinischen  neutrums 
im  romanischen,  Halle  1S83;  Lange,  De  snbstantivis  Graecis  feminini  generis  secimdae 
declinationis  capita  tria,  Lipsiae  1885  (Diss.). 


221 

tuna  prodigia,  quos  egesias  addixeral  (Cic);  capita  conjurationis  virgis 
caesi  ac  securi  percussi  (Liv.);  septem  milia  hominum  in  naves  impositos 
(Liv.);  gTieeli.  m  (plXxar ,  lo  jrsQiijoä  rifitj&^tlg  rtxvov  (Eur.);  (fiXxar 
Alyio&^ov  ßia  (Aescli.).  Von  hiev  aus  gelangt  man  dann  zu  einem 
vollständigen  geschlecbtswecbsel.  So  werden  im  g-riecli.  männliche 
personen-  und  tierbezeichnungen  ohne  weiteres  auch  zu  femininen  ge- 
macht, indem  sie  auf  weibliche  wesen  übertragen  werden.  Es  stehen 
z.  b.  neben  einander  o  —  tj  ayysXog,  öiddöxaXog,  iavQog,  rvQavvog, 
tXacfog,  Yjijiog  i)  u.  a.  Umgekehrt  hat  man  in  christlicher  zeit  ein  o 
jiagd-evog'^)  gemacht.  Die  ursprünglich  neutralen  deminutiva  erhalten 
leicht  männliches  oder  weibliches  geschlecht,  wenn  die  deminutivbe- 
deutung  verdunkelt  wird.  So  ist  die  fräulein  häufig  mundartlich,  auch 
bei  älteren  Schriftstellern.  Wenn  collectiva  oder  eigenschaftsbezeich- 
nungen  zu  personenbezeichnungen  werden,  kann  ein  geschlechtsweehsel 
die  folge  sein.  Dem  it.  la  guida  entspricht  franz.  le  guide  (ursprüng- 
lich führuug);  franz.  le  garde  der  Wächter  ist  ursprünglich  identisch  mit 
la  garde  die  wache;  vgl.  ferner  span.  el  cura  der  pfarrer,  el  juslicia 
der  richter;  altbulgarisch  junola  Jugend,  als  masc.  Jüngling,  starosta 
alter,  als  masc.  dorfältester;  russ.  golova  fem.  haupt,  masc.  anführer. 
Besonders  häufig  werden  weibliche  beinamen  zu  männlichen  personen- 
namen  vgl,  lat.  Alauda,  Capella,  Stella-^  it.  Colonna,  Rosa,  Barharossa, 
Malaspina  etc. 

Massgebend  für  das  geschlecht  ist  öfters  die  Zugehörigkeit  zu 
einer  bestimmten  wortkategorie.  Dies  liegt  mitunter  daran,  dass  das 
geschlecht  der  allgemeinen  gattungsbezeichnung  das  der  specielleren 
beneunung  bestimmt.  So  erfolgt  denn  auch  ein  geschlechtswaudel 
leicht  im  anschluss  an  begriflfsverwandte  Wörter. 

Hier  greift  also  die  analogie  ein.  So  ist  mitlwoch,  älter  mitte 
rvoche  (media  hebdomas),  noch  jetzt  mundartlich  als  fem.  gebraucht, 
zum  masc.  geworden  nach  den  übrigen  bezeichnungen  der  Wochentage ; 
entsprechend  franz.  dimanche.  Die  fremden  Tiber  und  Rhone  haben  sich 
der  majorität  der  deutschen  flussuamen  angeschlossen.  Im  griech.  sind 
viele  bezeichnungen  von  bäumen  und  pflanzen  weiblich  geworden,  nach- 
dem einmal  für  diese  klasse  in  anlehnung  an  die  gattungsbezeich- 
nungen  ÖQvg  und  ßorävrj  das  weibliche  geschlecht  das  normale  ge- 
worden war."')  Am  klarsten  zeigt  sich  dieser  process  bei  solchen  Wör- 
tern, die  in  ihrer  eigentlichen  bedeutung  noch  ein  anderes  geschlecht 
aufweisen   und   nur  in   der   Übertragung   auf  pflanzen  feminina  sind^). 


^)  Vgl.  Lange  a.  a.  o.  s.  27  flf. 
2)  Vgl.  Lange  s.  28. 
^)  Vgl.  Lange  a.  a.  o.  s.  35  ff. 
*)  Vgl.  ibid.  s.  11. 


222 

v^l.  o  xim'oc  stahl  —  ^  xvavoQ  die  wegen  der  favbenälmlichkeit  da- 
nach benannte  kornbhirae.  Ebenso  neigen  die  städtenamen  zum  fem., 
vgl.  /  KtQccf/og  aus  o  xtga^ioq  ton,  rj  Kiooög  aus  6  xiooog  epheu,  ^ 
NaQaü^og  aus  o  fic(Qa&og  fenehel,  ?]  "ijivog  aus  6  ijtvög  ofen,  ?5  laXvoög 
Stadt  —  o  Jakvoog  personenname.i) 

In  anderen  fällen  sind  formelle  gründe  die  veranlassung  zum 
gesehlechtswandel  geworden.  So  war  man  im  lat.  gewohnt,  dass  die 
Wörter  auf  -a,  soweit  sie  nicht  bezeiehnungen  für  männliche  personen 
waren,  weibliches  geschlecht  hatten.  In  folge  davon  erscheinen  auch 
die  griechischen  neutra  auf  -(la  bei  vorklassischen  und  nachklassischen 
Schriftstellern,  jedenfalls  in  ansehluss  an  die  Volkssprache  als  feminina, 
z.  b.  Schema,  dogma,  diadema,  und  sie  sind  daher  auch  in  den  roma- 
nischen sprachen  häufig  feminina.^)  Das  dem  lat.  acus  entsprechende 
it.  n(/o  ist  masc.  Die  altgriechischen  feminina  auf  -og  sind  im  neu- 
griechischen grösstenteils  beseitigt,  zum  teil  durch  übertritt  ins  masc, 
z.  b.  o  ji?MT(a'oc,  o  xvjrc'iQtöoog.^)  Selbst  das  natürliche  geschlecht  hat 
zuweilen  den  genuswandel  nicht  verhindert,  vgl.  mov.  papa,  profela  als 
feminina.^) 

Der  Widerspruch  zwischen  dem  überlieferten  geschlechte  des  ein- 
zelnen Wortes  und  demjenigen,  welches  man  nach  seiner  endung  er- 
wartet, kann  noch  in  einer  anderen  weise  ausgeglichen  werden,  indem 
nämlich  nicht  das  geschlecht,  sondern  die  endung  vertauscht  wird, 
natürlich  mit  einer  solchen,  der  das  betreffende  geschlecht  regelmässig 
anhaftet.  So  erscheint  im  lat.  peristromum  neben  peristroma.  Lat.  socrus 
ergab  span.  prov.  suegra,  port.  sogra\  lat.  nums  it.  nuora,  span.  nuera, 
port.  prov.  nora,  afranz.  nore.  Auch  dieses  mittels  hat  sieh  das  neu- 
griechische bedient  um  die  feminina  auf  -og  zu  beseitigen,  daher  ri 
ji(CQ&ti'a,  Tj  TiXarävrj  u.  a.  Schon  im  altgriechischen  steht  i]  filvd^?] 
neben  7)  fiivd^og,  7)  tßsv?/  neben  7)  'Ißtvog  u.  a.'')  In  einem  teile  der 
fälle  war  das  überlieferte  geschlecht  zugleich  das  natürliche,  ein  grund 
mehr,  dass  es  nicht  der  endung  nachgab,  sondern  diese  sich  unter- 
warf. Hierher  gehört  es  auch,  dass  im  griech.  die  männlich  gewor- 
denen ^-stamme  das  nominativs-*  angenommen  haben  (z.  b.  vsavlag).^) 

Bis  liierher  bewegen  wir  uns  auf  einem  ziemlich  sicheren  boden. 
Misslich  aber  ist  es  zu  entscheiden,  wieweit  das  natürliche  geschlecht 


')  Vgl.  Lange  a.  a.  o.  s.  42  ff. 

^)  Vgl.  das  nähere  bei  W.  Meyer  s.  93  ff.     In  dieser  sclirift  findet  man  viele 
andere  beispiele  für  gesehlechtswandel  aus  formalen  gründen. 

^)  Vgl.  Hatzidakis,  Zschr.  f.  vgl.  spr.  27,  82;  Lange  a.  a.  o.  s.  9. 

")  Vgl.  W.  Meyer  s.  9. 

*)  Vgl.  Hatzidakis  und  Lange  a.  a.  o. 

")  Vgl.  J.  (Iriiuni,  kl.  sehr.  s.  :{57. 


223 

der  phautasie  auf  deu  waudel  des  gramu) atiseben  gesehleehtes  ein- 
gewirkt hat.  Die  subjective  anschauung-  der  einzelnen  menschen  kann 
sieh  dem  nämlichen  objecte  gegenüber  sehr  verschieden  verlialten.  Im 
heutigen  englisch  kann  sich  diese  subjectivitüt  bis  zu  einem  gewissen 
grade  ungehemmt  geltend  machen,  und  wir  können  uns  danach  eine 
Vorstellung  davon  bilden,  wie  anfänglich  die  Übertragung  des  männ- 
lichen und  weibliehen  geschlechtes  auf  gegenstände,  die  kein  natür- 
liches g'eschlecht  haben,  vor  sich  ging.  In  andern  sprachen  ist  die 
freie  tätigkeit  der  phantasie  durch  das  tiberlieferte  geschlecht  einge- 
schränkt; so  lange  dieses  fest  im  gedächtniss  haftet,  kann  sie  nicht 
zur  geltung  kommen.  Eine  gewisse  Unsicherheit  in  bezug  auf  die  tra- 
dition  wird  daher  immer  erst  den  anstoss  geben  müssen,  damit  die 
phantasie  nach  dieser  riehtung  hin  in  tätigkeit  gerät.  Ist  aber  einmal 
das  traditionelle  geschlecht  dem  sprechenden  gar  nicht  oder  nicht  ge- 
nügend eingeprägt,  so  bedarf  es  keiner  besonders  starken  erregung 
der  phantasie  um  ihn  dazu  zu  bringen,  dem  betreffenden  worte  ein 
beliebiges  geschlecht  beizulegen.  Denn  der  geschlechtsunterschied  hat 
die  spräche  derartig  durchdrungen,  dass  es  in  vielen  fällen  unmöglich 
ist,  das  geschlecht  unbestimmt  zu  lassen,  und  man  sich  also  für  irgend 
eins  entscheiden  muss.  Unter  diesen  umständen  gibt  oft  bloss  der  Zu- 
fall den  ausschlag,  d.  h.  irgend  ein  geringfügiger  umstand,  der  mit  den 
momenten,  die  ursprünglich  die  entstehung  des  grammatischen  ge- 
schlechtes veranlasst  haben,  gar  nichts  zu  schaffen  zu  haben  braucht. 
Man  denke  an  die  Verstösse,  die  man  in  einer  fremden  spräche  macht. 
Was  nun  auch  die  positiven  veranlassungen  für  einen  wandel  des 
geschlechtes  sein  mögen,  jedenfalls  darf  auch  die  negative  veran- 
lassung nicht  übersehen  werden,  die  oft  von  entscheidenderer  bedeu- 
tung  ist  als  die  positive.  Welche  rolle  sie  spielt,  lässt  sieh  historisch 
daraus  erweisen,  dass  diejenigen  Wörter  dem  geschleehtswandel  beson- 
ders ausgesetzt  gewesen  sind,  bei  denen  im  zusammenhange  der  rede 
das  geschlecht  am  häufigsten  eines  charakteristicums  entbehrt  und  sich 
deshalb  am  wenigsten  fest  einprägt.  Wir  haben  im  plur.  gar  keinen 
geschlechtsunterschied  mehr,  auch  nicht  am  artikel.  Es  ist  daher  natür- 
lich, dass  gerade  Wörter,  die  am  häufigsten  im  plur.  gebraucht  werden, 
ihr  geschlecht  verändert  haben,  zum  teil  in  Verbindung  mit  einer  Ver- 
änderung ihrer  lautgestalt,  die  gleichfalls  dadurch  ermöglicht  ist,  dass 
der  sing,  weniger  fest  haftete  als  der  plur.,  vgl.  wange  (mhd.  n.),  tvoge 
(mhd.  der  n-äc)^  locke  (mhd.  der  loc),  trähne  (mhd.  der  trahen),  zähre 
(mhd.  der  zäher),  wölke  (mhd.  daz  rvolken),  tvaffe  (mhd.  daz  träfen),  ähre 
(mhd.  daz  eher),  hinse  (mhd.  der  bhiez).  Wenn  ferner  viele  schwache 
masculina  weiblich  geworden  sind  (vgl.  meine  mhd.  gr.  §  130  anm.  4), 
so  wird  das  damit  zusammenhängen,  dass  die  decliuation  der  schwachen 


224 

masculiua  und  feminina  im  mhd.  vollkommen  identisch  war.  Ueber- 
haupt  wird  kein  wort  ein  grammatiselies  genus  annehmen,  welches 
man  mit  den  ihm  anhaftenden  flexionsendungen  nicht  zu  verbinden  ge- 
wohnt ist,  abgesehen  von  den  fällen,  wo  das  natürliche  geschlecht 
einwirkt.  Diese  passive  bedeutung  des  formalen  dementes  für  den 
geschleehtswandel  ist  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  oben  besprochenen 
activen  einflusse  desselben,  wiewol  sich  nicht  in  jedem  einzelnen  falle 
die  grenzlinie  scharf  ziehen  lässt. 

Das  neutrum  ist  ursprünglich  nichts  weiter  als  das  geschlechts- 
lose, wie  der  name  richtig  besagt.  Während  das  masc.  und  das  fem. 
als  psychologische  kategorieeu  existiert  haben,  bevor  sie  zu  gramma- 
tischen wurden,  hat  sich  das  neutrum  lediglich  in  folge  der  formellen 
abhebung  der  Ijeiden  natürlichen  geschlechter  und  in  folge  der  durch- 
führung  der  eongruenz  zu  einem  dritten  grammatischen  genus  con- 
stituiert. 

Numerus. 

Auch  der  numerus  wird  zu  einer  grammatischen  kategorie  nur 
durch  ausbildung  der  eongruenz.  Auch  in  den  flectierenden  sprachen 
ist  der  plur.  nicht  durchweg  erforderlich,  wo  es  sich  um  bezeichnung 
einer  mehrheit  handelt.  Jede  Vielheit  kann  von  dem  sprechenden 
wider  als  eine  einheit  zusammengefasst  werden.  Und  so  gibt  es  gerade 
bezeichnungen  für  eine  bestimmte  anzahl,  die  singularisch  sind,  wie 
schock,  dutzend,  mandel,  wie  ursprünglich  durchaus  tausend,  hundert 
und  wahrscheinlich  auch  andere  Zahlwörter.  So  sind  ferner  überhaupt 
die  sogenannten  collectiva  zusammenfassende  singularische  bezeich- 
nungen für  mehrheiten.  Da  nun  die  auffassung  einer  masse  als  ein- 
heit oder  Vielheit  so  sehr  vom  subjectiven  belieben  des  sprechenden 
abhängt,  so  kann  seine  auffassung  auch  in  widersprach  geraten  mit 
derjenigen,  welche  durch  die  grammatische  form  des  gewählten  aus- 
druckes  angezeigt  ist,  und  diese  abweichung  der  subjectiven  auffassung 
documentiert  sieh  dadurch,  dass  sie  statt  des  grammatischen  numerus 
die  eongruenz  bestimmt,  was  dann  zum  teil  auch  ab  weichungen  im 
genus  zu  folge  hat. 

Der  häufigste  fall  ist,  dass  auf  ein  singularisches  collectivum  ein 
])lur.  folgt.  In  unserer  gegenwärtigen  Schriftsprache,  die  ja  überhaupt 
sehr  stark  von  grammatisch-logischer  Schulung  beeinflusst  ist,  ist  diese 
crscheinung  sehr  eingeschränkt.  Aber  noch  im  vorigen  Jahrhundert  ist 
sie  häufig  wie  im  griech.  und  lat.  und  noch  jetzt  im  engl.  Vgl.  ich  habe 
mich  offenbaret  deines  vaters  hause,  da  sie  noch  in  Egypten  waren  (Lu.); 
im  vollen  kreise  des  volks  entsprungen,  unter  ihyien  lebend  (Herder);  civi- 
tati  persuadet  ut  exirent  (Caes.);   ex  eo  numero,   qui  per  eos  amios  con- 


225 

sules  fuerunt  (Cic);  ängstlich  im  schlafe  liegt  das  betäubte  volk  und 
träumt  von  rettum/,  träumt  ihres  ohnmächtigen  Wunsches  erfüllung  (Goe.); 
das  junge  paar  hatte  sich  nach  ihrer  Verbindung  nach  engagement  um- 
gesehen (Goe.);  the  trhole  nation  seems  to  be  running  out  of  their  wits 
(Smollet);  Israel  aber  zog  aus  in  den  streit  und  lagerten  sich  (Lu.);  alle 
moige  deines  hauses  sollen  sterben,  wenn  sie  männer  uorden  sind  (Lu.); 
dass  der  resl  von  ihnen  sich  durch  Libyen  nach  Cyrene  retteten  imd  von 
da  in  ihr  Vaterland  zurückkamen  (Le.);  the  army  of  the  queen  mean  to 
besiege  us  (Sh.);  pars  saxa  jactant  (Plaut.);  concursus  populi,  mirantium 
quid  rei  esset  (Liv.);  o  oxXoa  ^&Qoia^tj,  i^av^äC^orreq  xal  löelv  ßovXo- 
fisvoi  (Xen.). 

Bei  manchen  Wörtern  wird  die  Verknüpfung  mit  dem  plur.  so 
häufig,  dass  man  sie  selbst  als  pluraliseh  aufftissen  kann,  ftills  kein 
formelles  element  auf  den  sing,  deutet.  Das  ist  z.  b.  der  fall  bei  engl. 
people  leute.  Die  entwickelung  kann  noch  weiter  gehen,  indem  der 
Widerspruch  zwischen  grammatischem  und  psychologischem  numerus 
dadurch  ausgeglichen  wird,  dass  ersterer  sich  dem  letzteren  accommo- 
diert.  80  ist  im  ahd.  Hute  leute  an  stelle  des  Singulars  Hut  volk  ge- 
treten; ganz  analog  sind  franz.  ^^w.?  (afranz.  noah  ja  fure?it  venu  la  gent), 
it.  ^mf«  (daneben  noch  gente),  spätlat.joo/>?<//  (Appulejus,  Augustinus),' 
engl,  folks.  Im  ags.  bedeutet  -tvam  civitas,  der  plur.  -wäre  cives.  Unser 
die  geschwister  ist  hervorgegangen  aus  dem  collectivum  das  geschwisler, 
welches  noch  im  vorigen  Jahrhundert  üblich  ist.  Im  got.  gibt  es  ein  col- 
lectives  neutrum  fadrein  im  sinne  von  eitern.  Dieses  verbindet  man 
nicht  nur  mit  dem  plur.  des  prädicats,  sondern  setzt  auch  den  artikel 
dazu  in  den  plur.:  pai  fadrein,  fjans  fadrein.  Daneben  erscheint  es 
dann  auch  in  pluralischer  form:  ni  skulun  barna  fadreinain  huzdjan,  ak 
fadreina  barnam. 

Es  geschieht  auch  umgekehrt,  dass  ein  pluralischer  ausdruck  die 
function  eines  Singulars  erhält,  indem  die  dadurch  bezeichneten  teile 
zu  einem  einheitlichen  ganzen  zusammeugefasst  werden.  So  sagt 
man  ein  zehn  mark\  engl,  a  two  Shillings;  sogar  there's  not  another  t/ro 
such  women  (Warreu).  Ferner  mhd.  ze  einen  pßngestm\  lat.  una,  bina 
castra  etc.;  engl,  if  a  gallo ws  were  on  hmd\  there's  some  good  nen-s  (Sh.); 
that  cristal  scaJes  (Sh.).  Schliesslich  erhalten  solche  pluralia  auch 
singularisehe  form.  Wir  gebrauchen  jetzt  die  festbezeichnuugen  ostern, 
Pfingsten,  n-eihnachten  als  singulare  (eigentlich  dative  plur.).  Unser  buch 
ist  im  got.  pluralisch:  bokos,  eigentlich  buchstaben;  noch  im  ahd.  wird 
der  pl.  für  ein  buch  gebraucht.  Lat.  castra  wird  zuweilen  als  singu- 
larisches fem.  gefasst.  und  bildet  einen  gen.  castrae;  entsprechend  ist 
festa  in  den  romanischen  sprachen  zu  einem  sing.  fem.  geworden.  Lat. 
litierae  im   sinne   von  ,brief'  wird  zu  it.  lettera,    franz.  lettre;   minaciae 

Paul,  Principien.    II.  Auflage.  I5 


226 

zu  '\i.  minaccia,  ix2L\iz.  menace ;  nuptiae  zu  franz.  woce  neben  noces\  tene- 
hrae  zu  span.  Hniehla  neben  üniehlas. 

Abstraet  gebraucht  ist  das  wort  eigentlich  keines  Unterschiedes 
der  numeri  fähig.  Da  aber  der  äusseren  form  nach  ein  numerus  ge- 
wählt werden  muss,  so  ist  es  gleichgültig  welcher.  Die  sätze  der 
mensch  ist  sterblich  und  die  menschen  sind  sterblich  sagen  in  abstracter 
geltung  das  nämliche  aus.  Daher  ist  denn  auch  ein  Wechsel  der 
numeri  in  den  verschiedenen  sprachen  gewöhnlich.  Otfrid  macht  die 
Verbindung  engilon  joh  manne.  Ein  pron.,  welches  sich  auf  einen  ab- 
stracten  ausdruck  bezieht,  steht  zuweilen  im  plur.:  nicht  als  ob  in  ihm 
kein  einziges  punkt  wäre,  die  hat  er  (Herder);  ein  echter  deutscher  jnann 
mag  keinen  Franzen  leiden,  doch  ihre  weine  trinkt  er  gern  (Goe.);  nobody 
knows  what  is  to  lose  a  friend,  til  they  have  lost  him  (Fielding);  mhd. 
stver  gesiht  die  mlnneclichen,  dem  muoz  si  wol  behagen,  daz  si  ir  tugent 
prisent ;  jedes  triftige  beiwort,  an  denen  er  glücklich  ist  (Herder).  Das 
])räd.  kann  im  plur.  stehen:  mhd.  daz  ieslicher  recke  in  den  satel  saz 
und  ir  schar  schihfen;  lat.  ubi  quisque  vident,  eunt  obviatn  (Plaut.);  uter- 
que  sumus  defessi  (ib.);  uter  meruistis  c%dpam  (ib.);  neuter  ad  me  iretis 
(ib.);  it.  come  ogni  uomo  desinato  ebbero;  engl,  neither  of  them  are  re- 
markable  (Blair).  Die  meisten  indogermanischen  sprachen  haben  zur 
bezeichnung  der  allgemeinheit  ein  singularisches  und  ein  pluralisches 
pronomen  neben  einander  {jeder  —  alle).  Diese  können  leicht  eins  in 
das  andere  übergehen.  So  findet  sich  schon  im  lat.  neben  omnes  der 
sg.,  z.  b.  milital  omnis  amans  (Ov.);  im  it.  ist  der  sg.  ogni  alleinherrschend 
geworden.  Im  griech.  stehen  «//^porepocund  uiKforfQoi  neben  einander. 
Aus  beide  haben  sich  singularische  formen  herausgebildet.  Häufig  ist 
das  neutr.  beides,  vereinzelt  schon  mhd.  Ebenfalls  schon  mhd.  ist  ze 
beider  sit,  vgl.  beiderseits.  Im  älteren  nhd.  kommen  andere  singula- 
rische Verwendungen  des  Wortes  vor:  beider  bautn  (Mathesius),  mit  bei- 
dem  arm  (Lohenstein),  auf  beyde  weise  (Le.).  Umgekehrt  ist  der  plur. 
jede  namentlich  im  vorigen  Jahrhundert  häufig  (vgl.  DWb.  4^,  2290). 

Unanwendbar  ist  die  kategoiie  des  numerus  auch  bei  den  reinen 
Stoffbezeichnungen.  Denn  erst  durch  die  berücksichtigung  der 
form  entstehen  Individualitäten,  entsteht  der  gegensatz  von  einzel- 
dingen und  mehrheiten.  Die  stotf  bezeichnungen  werden  daher  meistens 
nur  im  sing,  gebraucht,  welcher  die  nicht  vorhandene  numeruslose  form 
ersetzen  muss.  Es  stellt  sich  aber  sehr  leicht  ein  Übergang  her  von 
einer  stoff bezeichnung  zur  bezeichnung  für  ein  einzelding  und  umge- 
kehrt, indem  die  individualisierende  form  leicht  hinzu  oder  weg  ge- 
dacht werden  kann,  vgl.  haar,  gras,  blute,  frucht,  kraut,  körn,  rinde, 
tuch,  gewatit,  stein,  wald,  feld,  ?viese,  sumpf,  heide,  erde,  land,  brod, 
kucheti  etc.     Hierher  gehört    auch    huhn,   schwein    statt    hühner/leisch, 


227 

Schweinefleisch,  lat.  lepoi-em  et  ffalUnam  et  ansei'em  (Caes.);  lat.  fagum 
atque  abietem  (Caes.)  =  buchen-  und  tannenholz.  So  erklärt  sieli  auch 
der  siug.  in  fällen  wie  der  feind  zieht  heran;  der  Russe, {=  das  rus- 
sische heer)  kommt.  Entsprechend  gebraucht  Livius  die  singulare  Ro- 
manus,  Poenus,  eques,  pedes  etc.  und  wagt  sogar  die  Verbindung  Hispani 
milites  et  funditor  Balearis.  Bei  Seneca  findet  sich  sogar  multo  hoste. 
Damit  vgl.  man  mit  wi/lkürlicher  heliehuny  des  ganzen  kaufmanns  (Micrä- 
lius)  u.  a.  (vgl.  DWb.  5,  337). 

Der  sing.,  wideruni  in  der  function  einer  absoluten  form,  an  der 
die  kategorie  des  numerus  noch  nicht  ausgeprägt  ist,  steht  im  nhd. 
von  vielen  Wörtern  nach  zahlen.  Ihren  ausgang  hat  diese  construetions- 
weise  allerdings  von  solchen  fällen  genommen,  in  denen  eine  wirk- 
liehe pluralform  zu  gründe  liegt,  die  nur  lautlich  mit  der  singular- 
form zusammengefallen  ist,  so  bei  mann  —  pfund,  buch.  Wenn  aber 
die  altertümlichen  formen  sich  gerade  nach  zahlen  erhalten  haben,  und 
ihrer  analogie  andere  Wörter  wie  fuss,  zoll,  mark  gefolgt  sind,  so  muss 
das  besondere  Ursachen  haben.  Das  Sprachgefühl  empfindet  in  den 
altertümlichen  Verbindungen  so  wenig  wie  in  den  analogisch  naehge- 
schaffenen  eine  pluralform.  Es  ist  eben  gerade  nach  einer  zahl  kein 
bedürfniss  zu  einem  besonderen  ausdruck  für  die  mehrheit,  da  die- 
selbe schon  hinlänglich  durch  die  zahl  gekennzeichent  ist.  So  ist  man 
zu  einer  gegen  den  numerus  gleichgültigen,  zu  einer  absoluten  form 
gelangt,  also  wider  zu  einem  Standpunkte,  wie  er  vor  der  entstehung 
des  grammatischen  numerus  bestand. 

Tempus.i) 

Es  sind  verschiedene  versuche  gemacht  die  tempora  der  indo- 
germanischen sprachen  in  ein  logisches  System  zu  bringen,  wobei 
es  nicht  ohne  willkürliehkeit  und  spitzfindelei  abgegangen  ist.  Man 
muss  sich  auch  hier  davor  hüten  sich  bei  den  logischen  bestimmungen 
von  den  vorliegenden  grammatischen  Verhältnissen  und  bei  der  be- 
urteiluug  der  letzteren  von  rein  logischen  sonderungen  abhängig  zu 
machen.  Es  findet  keine  volle  congruenz  der  logischen  und  gramma- 
tischen kategorieen  statt. 

Die  kategorie  des  terapus  beruht  auf  dem  zeitlichen  verhältniss, 
in  dem  ein  Vorgang  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkt  steht.  Als  solcher 
kann  zunächst  der  augenblick  genommen  werden,  in  dem  sich  der 
sprechende  befindet  und  so  entsteht  der  unterschied  zwischen  Ver- 
gangenheit, gegenwart  und  zukunft,  welchem  die  grammatischen  kate- 
gorieen  perfectum,   präsens,   futurum  entsprechen.    Ich   seze  das  per- 

')  Vgl.  zu  diesem  abschnitt  Bnigiuaun,  Ber.  der  phil.-liist.  dass.  der  sächs. 
gesellsch.  d.  Wissenschaften  li>63,  s.  lt»9ff. 

15* 


228 

feetum  als  den  eigentlichen  ausdruek  für  dieses  verhältniss,  nicht  den 
aorist,  der  allerdings  auch  in  dieser  fnnction  vorkommt.  Die  gewöhn- 
liche definiti^n,  dass  das  perf.  die  vollendete,  der  aor.  die  vergangene 
handlung  bezeichne,  ist  eine  blosse  worterklärung,  mit  der  sich  kein 
klarer  begritt"  verbinden  lässt.  Das  charakteristische  des  perf.  im 
gegensatz  zu  aor.  und  imperf.  liegt  darin,  dass  es  das  verhältniss  eines 
Vorganges  zur  gegenwart  ausdrückt. 

Statt  der  gegenwart  kann  nun  aber  ein  in  der  Vergangenheit 
oder  in  der  zukunft  liegender  punkt  genommen  werden,  und  zu  diesem 
ist  dann  wider  in  entsprechender  weise  ein  dreifaches  verhältniss  mög- 
lich. Es  kann  etwas  gleichzeitig,  vorangegangen  oder  bevorstehend 
sein.  Die  gleichzeitigkeit  mit  einem  punkte  der  Vergangenheit  hat 
ihren  ausdruek  im  imperfectum  gefunden,  das  ihm  vorausgegangene 
wird  durch  das  plusquamperf.  bezeichnet,  für  das  in  der  Vergangen- 
heit bevorstehende  ist  kein  besonderes  tempus  geschaifen,  man  muss 
sich  mit  Umschreibungen  behelfen.  Das  einem  punkte  der  zukunft 
vorangegangene  wird  durch  das  fut.  ex.  bezeichent,  das  von  diesem 
aus  bevorstehende  kann  nur  durch  Umschreibung  ausgedrückt  werden, 
das  gleichzeitige  wird  durch  das  einfache  fut.  gegeben.  Bei  diesem 
Schema  hat  der  aor.  und  das,  was  als  ersatz  für  ihn  in  den  einzelnen 
sprachen  eingetreten  ist,  noch  keine  stelle  gefunden.  Er  ist  das  tempus 
der  erzählung,  d.  h.  er  bezeichnet  einen  in  die  Vergangenheit  fallenden 
Vorgang,  aber  nicht  in  seinem  verhältniss  zur  gegenwart,  sondern  im 
verhältniss  zu  einem  andern,  aber  früheren  punkte  der  Vergangenheit. 
Hierbei  aber  wird  der  betreifende  Vorgang  nicht  als  noch  bevorstehend, 
sondern  als  schon  erfolgt  bezeichnet.  Der  Zeitpunkt,  auf  den  man  sich 
stellt,  wird  immerfort  gewechselt  und  nach  vorwärts  gerückt. 

Was  ich  von  dem  verhältniss  der  wirklich  vorliegenden  tempora 
zu  den  ideal  zu  construierenden  gesagt  habe,  gilt  uneingeschränkt  nur 
für  den  indicativ.  Für  Infinitiv  und  participium  wird  der  Zeitpunkt, 
nach  dem  man  sich  richtet,  durch  das  verbum  fiuitura,  an  welches  sie 
angeknüpft  sind,  bestimmt.  Es  reicht  daher  dreifaches  tempus  aus. 
Dieselben  tempora,  die  dazu  dienen  das  verhältniss  zu  einem  gegen- 
wärtigen augeublicke  auszudrücken,  werden  auch  gebraucht,  um  das 
verhältniss  zu  einem  punkte  der  Vergangenheit  oder  der  zukunft  zu 
bezeichnen.')  Dies  ist  auch  die  Ursache,  warum  die  participia  in  Ver- 
bindung mit  einem  verb.  fin.  so  gut  geeignet  sind  die  einer  S])rache 
mangelnden  tempora  zu  ersetzen.  Der  imperativ  ist  seiner  natur  nach 
immer  futurisch,  desgleichen  der  eonj.  und  opt,  soweit  sie  bezeichnen 
dass  etwas  geschehen  soll  oder  gewünscht  wird. 


')  Vgl.  Brugmann  a.  a.  o.  s.  174. 


229 

Bevor  gTammatisclie  tenipura  aiiBj^ebildet  waren,  musste  an  ihrer 
stelle  ein  und  dieselbe  form  funetionieren  und  das  tempusverhältniss 
musste  entweder  durch  besondere  Wörter  angedeutet  oder  aus  der 
Situation  errfiten  werden.  Eine  besondere  gegen  den  tempusunter- 
schied gleichgültige  form  liegt  nicht  mehr  vor.  Aber  die  function 
einer  solchen  versieht  zum  teil  das  präseus  als  das  am  wenigsten 
charakteristische  tempus  neben  der  eigentlich  präsentischen.  Wir 
können  uns  danach  eine  Vorstellung  von  den  Verhältnissen  machen, 
wie  sie  vor  der  ausbildung  der  grammatischen  tempora  bestanden. 

Als  absolutes  tempus  fungiert  das  präs.  zunächst  in  allen  ab- 
stracten  Sätzen  (vgl.  s.  103).  Ein  satz  wie  der  äffe  ist  ein  Säugetier 
erstreckt  sieh  auf  Vergangenheit  und  zukunft  ebenso  wie  auf  die  gegen- 
wart.  Ist  dem  abstracten  satze  ein  anderer  untergeordnet,  so  kann  die 
handlung  desselben  der  des  hauptsatzes  zeitlich  vorangehend  gedacht 
und  daher  das  perf.  gesetzt  werden:  wenn  das  pferd  gestohlen  ist, 
bessert  der  hauer  den  stall.  Dem  abstracten  satze  ist  also  zwar  der 
tempusunterschied  überhaupt  nicht  fremd,  wol  aber  die  fixierung  eines 
ausgangspunktes. 

Der  concret-abstracte  satz  (vgl.  s.  103)  hat  das  mit  dem  rein- 
abstracten  gemein,  dass  kein  bestimmter  einzelner  Zeitpunkt  mass- 
gebend ist,  dass  er  vielmehr  für  eine  anzahl  verschiedener  Zeitpunkte 
gilt,  weshalb  in  ihm  das  präsens  gleichfalls  Vergangenheit  und  zukunft 
in  sich  schliesst.  Seine  zeit  ist  aber  doch  keine  absolute,  Sie  ist 
vor-  und  rückwärts  in  bestimmte  grenzen  eingeschlossen,  und  es  können 
innerhalb  dieser  grenzen  Unterbrechungen  stattfinden.  Es  können  auch 
sämmtliche  Zeitpunkte  in  die  Vergangenheit  oder  zukunft  fallen,  daher 
kann   auch   das  imperfectum  oder  perfectum  und  das  futurum  stehen. 

Im  eoncreten  satze  fungiert  das  präs,  in  sehr  vielen  sprachen 
statt  des  futurums.  So  namentlich,  wenn  durch  irgend  ein  anderes 
wort  genügend  bezeichent  ist,  dass  es  sich  um  ein  zukünftiges  ge- 
schehen handelt,  vgl.  ich  reise  morgen  ah,  das  nächstens  erscheinende 
buch;  aber  auch  sonst,  wo  die  Situation  kein  missverständniss  zulässt. 
Es  überträgt  sich  ferner  der  futurische  Charakter  des  hauptsatzes  auf 
den  nebensatz,  so  das^s  präs.  und  perf.  futurischeu  sinn  erhalten,  vgl. 
wenn  er  koimnt,  werde  ich  dich  rufen;  wenn  ich  die  arbeit  beendigt  habe, 
werde  ich  es  dir  sagen.  Umgekehrt  findet  sich  im  griech.  präs.  des 
hauptsatzes  nach  fut.  des  nebensatzes,  vgl.  d  avrt]  /]  jröXiq  h](p&rioe- 
rcu,  eytrai  xa\  7)  jiäoa  2iixtX\a  (Eur.).')  Im  ahd,  wird  das  präs,  auch 
ohne  jede  sonstige  Unterstützung  futurisch  verwendet. 

Eine  Verwendung  des  präs.  statt  des  prät.  ist  uns  nicht  geläufig, 


^)  Vgl.Bmgmaun  a.  a,  0.  s.  170. 


230 

abgesehen  vom  präs.  bist.,  bei  dem  doch  wol  eine  wirkliehe  verriickung 
des  Standpunktes  in  der  phantasie  anzunehmen  ist.  Im  sanskr.  aber 
findet  sich  ])ura  ,  im  griech.  jrapoc  mit  dem  präs.  im  sinne  des  prät,  vgl. 
jictQoq  yt  filv  ov  ri  &^aftiL,it^  =  , früher  kamst  du  nicht  häufig"  (Hom.)') 

Es  gibt  ferner  fälle,  in  denen  das  präs.  sich  zugleich  auf  Ver- 
gangenheit und  gegen  wart  bezieht;  vgl.  ich  weiss  (ins  schon  latu/e  =  ich 
weiss  es  jetzt  und  habe  es  schon  lange  gewusst;  er  ist  seit  20  jähren 
verheiratet'^  so  lange  ich  ihn  kenne,  habe  ich  das  noch  nie  an  ihm  be- 
merkt\  seitdem  er  in  Rom  ist,  hat  er  mir  sticht  geschrieben. 

Das  relative  zeitverhältniss  zweier  in  die  Vergangenheit  oder  in 
die  Zukunft  fallenden  Vorgänge  bleibt  vielfach  unbezeielinet.  Wir  sagen 
als  ich  ihn  erreichte  neben  erreicht  hatte,  wenn  ich  ihn  finde  neben  ge- 
funden habe.  Im  griech.  steht  bekanntlich  in  nebensätzen  der  aor.  statt 
des  lat.  plusquamp.,  im  lat.  selbst  nach  postquatn  das  perf;  im  mhd. 
steht  ganz  gewöhnlich  das  einfache  prät,  wo  wir  jetzt  die  Umschrei- 
bung auNvenden,  welche  das  plusq.  ersetzen  muss.  Diese  ungenauere 
Verwendung  der  tempora  ist  die  altertümlichere.  Das  plusquamp.  ist 
erst  eine  secundäre  Itildung.  Noch  gewöhnlicher  wird  das  relative 
zeitverhältniss  beim  pari  vernachlässigt,  wobei  zum  teil  der  mangel 
der  eigentlich  erforderliehen  formen  mitwirkt.  Vgl.  in  Zug  a7is  land 
steigend,  kehrten  wir  im  ochsen  ein  (Goe.,  weitere  beispiele  bei  Andr. 
Sprachg.  112);  haec  Maurus  secum  ipse  diu  volvens  landem  promittit 
(Sali.,  vgl.  weitere  beispiele  bei  Draeg.  §  572).  Umgekehrt  erscheint 
im  lat.  das  part.  perf  mit  präsentischer  bedeutung:  moritur  uxore  gra- 
vida  relicta  (Liv.,  vgl.  Draeg.  §  582).  Das  part.  auf  -ndus  wird  nicht 
nur  futurisch,  sondern  in  selteneren  fällen  auch  präsentisch  verwendet: 
volvenda  dies,  volvendis  mensibus  (Virg.);  alicnos  fundos  signis  inferendis 
pelebat  (Cic);  nee  vero  superstifione  tollenda  religio  tollitur  (Cic,  vgl.  Draeg. 
§  599).  Das  deutsche  part.  präs.  vereinigt  präsentische  und  perfectische 
bedeutung,  vgl.  z.  b.  der  noch  immer  betrauerte.,  früh  verstorbene  vater. 

Für  die  bedeutung  der  grammatischen  tempora  können  noch 
manche  momente  secundärer  natur  in  betracht  kommen.  Da  z.  b.  ein 
stattgehabter  Vorgang  ein  resultat  zu  hinterlassen  pfiegi,  so  kann  bei 
der  angäbe,  dass  ein  Vorgang  stattgehabt  hat,  das  nachgebliebene 
resultat  mitverstanden  werden,  und  dieses  eigentlich  nur  accidentielle 
in  der  bedeutung  kann  zur  hauptsache  werden.  Indem  aber  das 
resultat  als  die  eigentliche  bedeutung  angesehen  wird,  muss  die  be- 
deutung des  perf  als  präsentisch  erscheinen.  Untergang  des  eigent- 
lichen präs.  führt  dann  zu  dem,  was  man  in  der  deutschen  grammatik 
präteritopräsens  nennt. 

>)  Vgl.  ib.  s.  170  ff. 


231 

In  dem  nämlichen  logischen  verhältniss,  wie  das  präs.  zu  dem 
das  resultat  bezeichnenden  perf.  steht,  können  auch  verschiedene  verba 
zu  einander  stehen,   vgl.  treten  —  stehen,  fallen  —  liegen,   verstummen 

—  schweigen,   erwachen  —  wachen,   entbrennen  —  brennen,   sich  setzen 

—  sitzen  etc.  Während  hier  das  geraten  in  einen  zustand  und  das 
sichbetindeu  in  demselben  durch  zwei  verschiedene  sprachliche  aus- 
drücke widergegeben  wird,  gibt  es  auch  fälle,  in  denen  das  gleiche 
verb.  beides  bezeichnen  kann.  Im  mhd.  können  sitzen,  stän,  ligen^ 
swigen  den  sinn  von  sich  setzen,  treten,  sich  legen  oder  fallen,  ver- 
stummen haben;  vgl.  nhd.  aufsitzen,  aufstehn,  absteht  etc.  und  den 
Jetzigen  oberdeutschen  gebrauch  von  sitzen.  In  folge  davon  können 
mhd.  ich  hin  gesezzen  und  ich  sitze  gleichbedeutend  sein.  Entsprechend 
ist  es,  wenn  im  griech.  g)evy(o  bedeuten  kann  ,ich  bin  verbannt",  ddixcö 
„ich  bin  im  unrecht".  Hierher  gehört  es  auch,  wenn  Vorgänge,  die  der 
Vergangenheit  angehören,  deshalb  durch  ein  präsens  bezeichnet  werden, 
weil  ihre  Wirkung  fortdauert,  vgl.  er  lässt  dich  grüssen\  der  herr  schickt 
mich;  ich  höre,  dass  er  zurückgekehrt  ist;  er  schreibt  mir,  dass  alles  r/ut 
steht  etc.  So  gebraucht  man  im  griech.  ctxovco,  jivv{^ävoficu,  alöd^ävo- 
(lai,  (lavO^dvo)  u.  dergl.,   und  entsprechend  verfahren  andere  sprachen. 

Wir  haben  schon  oben  s.  228  gesehen,  dass  die  modalen  und 
temporalen  Verhältnisse  nicht  unabhängig  von  einander  sind.  Da  es 
für  den  imperativ  charakteristisch  ist,  dass  er  einen  in  die  zukunft 
fallenden  Vorgang  bezeichent,  so  begreift  es  sich,  dass  das  fut.  mit 
hülfe  der  Situation  und  des  tonfalles  Imperativisch  verstanden  werden 
kann,  vgl.  du  wirst  das  sofort  tun.  Ebenso  kann  das  fut.  optativisch 
werden,  vgl.  sie  me  di  amabunt,  ut  me  tuarum  miseritumst  fortunarum 
(Ter.).  In  den  frageaufforderungssätzen  (vgl.  s.  109)  fungieren  conj. 
und  fut.  in  der  gleichen  weise,  vgl.  lat.  quid  faciatnus  mit  griech.  xl 
jtoirjOo/iev.  Sogar  als  potentialis  kann  das  fut.  gebraucht  werden,  vgl. 
das  wird  sich  so  verhalten;  entsprechend  in  der  lat.  Volkssprache,  z.  b. 
haec  erit  bono  gener e  natu  (Plaut),  vgl.  Draeg.  §  136;  über  den  näm- 
lichen gebrauch  in  den  romanischen  sprachen  vgl.  Diez  III,  282 ;  Mätzn. 
franz.  s.  72,  3.  4.  75,  2.  Man  kann  an  zwei  verschiedene  erklärungen 
tür  diese  erscheinuug  denken.  Erstens :  da  alles  in  die  zukunft  fallende 
etwas  unsicheres  ist,  so  könnte  die  bedeutung  des  fut.  sich  so  ent- 
wickelt haben,  dass  nur  das  moment  der  Unsicherheit  übrig  geblieben 
wäre.  Zweitens  aber  könnten  wir  einen  satz  wie  er  wird  zu  hause 
sein  auffassen  als  ,es  wird  sich  heraustellen,  dass  er  zu  hause  ist". 
Ein  prät.  zu  diesem  potentialen  fut.  ist  der  französische  conditionel. 
Derselbe  bezeichent  ursprünglich  den  von  einem  Zeitpunkte  der  Ver- 
gangenheit aus  zukünftigen  Vorgang,  wie  z.  b.  noch  in  dem  satze  nous 
convinmes  que  nous  partirions  le  lendemain.    Als  eigentlicher  conditionel 


232 

kaun  er  fiiturischen  sinn  haben,  mnss  es  aber  nicht.  Auch  im  deut- 
schen gebrauchen  wir  entsprechend  futurische  Umschreibung,  die  nicht 
notwendig  futurischen  sinn  hat,  aber  im  conj.:  ich  würde  zufrieden  sein. 
Wie  das  fut.  in  eine  modale  bedeutung  übergeführt  worden  ist,  so  ist 
umgekehrt  im  lat.  der  conj.  zum  fut.  geworden. 

Genus  des  verbums. 

Während  die  tempora  und  die  modi  an  und  für  sich  nichts  syn- 
taktisches sind  und  nur  durch  die  beziehung  auf  einander,  also  erst 
im  zusammengesetzten  satz  zum  ausdruck  syntaktischer  Verhältnisse 
werden,  ist  der  unterschied  zwischen  activum  und  passiv  um  von 
hause  aus  syntaktischer  natur,  indem  dadurch  nichts  anderes  als  ein 
verschiedenes  verhältniss  des  prädicatsverbums  zum  subj.  ausgedrückt 
wird.  Was  neben  dem  act.  object  ist,  wird  neben  dem  pass.  subject. 
Die  anwendung  des  passivums  ermöglicht  es  daher  ein  psychologisches 
subject,  welches  sonst  die  grammatische  form  des  objectes  annehmen 
mtisste,  auch  zum  grammatischen  subj.  zu  machen,  und  dies  ist  ein 
hauptgrund  für  den  gebrauch  der  passivischen  construction.  Im  un- 
persönlichen satze  ist  es  an  und  für  sich  einerlei,  ob  man  das  act. 
oder  das  pass.  setzt.  Der  Sprachgebrauch  hat  sich  so  geregelt  dass 
diejenigen  verba,  die  normaler  weise  persönlich  construiert  werden, 
wenn  sie  ausnahmsweise  unpersönlich  gebraucht  werden,  in  das  passi- 
vum  gesetzt  werden  {es  wird  gesungen,  getanzt  etc.),  während  bei  den 
normaler  weise  unpersönlichen  verben  das  einfachere  activum  gesetzt 
wird  {es  regnet,  es  taut  etc.).  Es  kommen  aber  bertthrungen  zwischen 
activer  und  passiver  construction  vor,  vgl.  der  wald  rauscht  —  es  rauscht, 
das  haus  brennt  —  es  brennt.  In  den  altnordischen  sagas  findet  sich 
sehr  häufig  in  den  einleituugen  zu  einem  abschnitte  die  formel  her 
segir  hier  sagt  es  =  hier  wird  gehandelt.  Im  mittellateinischen  ist 
dicit  gleich  einem  dicilur  der  klassischen  zeit.  In  einer  Überschrift 
des  althochdeutschen  Isidor  heisst  es  hear  quidit  umbi  dhea  bauhnunga 
=  hier  wird  gehandelt  von  der  vorbildlichen  darstellung;  ähnliches 
auch  sonst.  Entsprechend  ist  im  altnordischen  der  gebrauch  von  skal 
in  dem  sinne  ^man  soll  (wird)"  und  anderes. 

Der  gegensatz  zwischen  act.  und  pass.  konnte  sich  erst  heraus- 
bilden, nachdem  die  Scheidung  zwischen  subject  und  object  sich  voll- 
zogen hatte.  Vorher  musste  jedenfalls  die  einfache  uebeneinander- 
stellung  von  subj.  und  präd.  sowol  das  passive  wie  das  active  ver- 
hältniss l)ezeichneu.  Den  Wechsel  zwischen  activer  und  passiver  be- 
deutung können  wir  noch  an  den  nominalformen  des  verbums  beob- 
achten, die  in  ihrer  bildungsweise  nichts  an  sich  haben,  was  auf  die 
eine  oder  die  andere  hinweist. 


233 

Das  part.  präs.  erscheint  im  früheren  niul.  öfters  in  passivem  sinne, 
vgl.  seine  dabei  hegende  verräterische  absieht  (Thiimniel),  dem  in  petto 
habenden  gedieht  (Schi.).')  Besonders  häufig'  ist  vorhabende  reise  u.dgl. 
Im  engl,  sagt  man  the  horses  are  putting  io  die  pferde  werden  ange- 
spannt, the  casinos  are  ßliing  etc.'-)  Diese  passivische  Verwendung 
ist  genau  so  aufzufassen  wie  die  oben  s.  130  besprochene  freie  an- 
knüpfung  des  participiums. 

Bei  unserem  sogenannten  part.  perf.  zeigt  es  sich  sehr  deutlich, 
dass  der  unterschied  zwischen  aetivum  und  passivum  nicht  etwas  schon 
der  bildung  an  sich  anhaftendes  sein  kann,  da  Ja  die  participia  der 
transitiven  verba  passivisch,  die  der  intransitiven  zum  teil  activisch 
gebraucht  werden.  Auch  diese  schranke  bleibt  nicht  vollkommen  ge- 
wahrt. Es  entstehen  Wendungen  wie  das  den  grafen  befallene  unglück 
(Goe.),  des  den  erwartungen  nicht  entsprochenen  aufenthalts  (Gutzkow); 
stattgefunden,  stattgehabt  sind  ziemlich  allgemein.'^)  Namentlich  aber 
sind  eine  anzahl  participia  transitiver  verba  in  activer  bedeutung  zu 
reinen  adjectiven  geworden,  vgl.  erfahren,  verdient,  geschworen,  gereist, 
gelernt,  studiert  u.  a. 

Im  lat.  haftet  den  participien  auf  -endus,  -undus  der  passivische 
sinn  ursprünglich  nicht  notwendig  an,  vgl.  oriundns,  dem  sich  bei 
älteren  Schriftstellern  noch  andere  wie  pereundus  untergehend,  placen- 
dus  gefallend  etc.  an  die  seite  stellen.  Aehnliche  beobachtungeu  lassen 
sich  noch  weiter  im  lat.  wie  in  anderen  sprachen  machen. 

Dem  inf  ist  ursprünglich  so  gut  wie  dem  nom.  actionis  der  ver- 
bale genusunterschied  fremd.  Etwas  von  genuscharakter  erhält  er 
zunächst  einerseits  dadurch,  dass  ein  objectscasus  von  ihm  abhängig 
gemacht  wird,  anderseits  dadurch,  dass  er  auf  das  subj.  des  regierenden 
verbums  mitbezogen  wird  {er  kann  lesen);  ferner  auf  ein  anderes  in 
dem  satze  enthaltenes  wort,  zu  welchem  er  in  keinem  directen  gram- 
matischen verhältniss  steht  [tjefehlen  steht  ihm  übel  an,  durch  fliehen 
kann  er  sich  retten  etc.).  Eine  solche  beziehung  ist  an  sich  nicht  durch- 
aus nötig.  Sie  findet  z.  b.  nicht  statt  in  einem  satze  wie  er  tjefiehll  zu 
sehn- eigen  oder  not  lehrt  beten.  Hier  ist  der  inf  im  gründe  weder 
activ  noch  passiv,  sondern  genuslos.  Im  gotischen  steht  nicht  selten 
der  einfache  inf.  an  stelle  des  griechischen  inf  pass.  in  fällen,  wo  auch 
wir  jetzt  den  umschriebenen  passivischen  inf.  anwenden,  z.  b.  warf)  f>an 
gaswiltan  pamma  unledin  jah  briggan  fram  aggilum  =  tyivtro  de  ajio- 
d^avBiv  TOP  jcTco/ov  xal   dvtvtx^^jJ^c^t  vjto   rcov  ayyiXcov.*)     Es  wird 


')  Vgl.  Grimm  gr.  IV,  66.    Andr.  Sprg.  82. 

2)  Vgl.  Mätzner  II,  s.  56. 

3)  Vgl.  Andr.  spr.  s.  83  tf. 
*)  Vgl.  Gram.  IV,  57flf. 


234 

(lies  unter  berlicksiehtigiing  der  urspriinglieh  neutralen  natur  des  Infinitivs 
üanz  begreiflich.  Andererseits  aber  begreift  es  sich  auch,  wie  das  be- 
dUrfniss  in  den  einzelnen  indogermanischen  sprachen  allmählig  zur 
Schöpfung  eines  passiven  Infinitivs  führen  musste.  Am  meisten  bedlirfniss 
zur  Verwendung  eines  solchen  war  natürlich  in  denjenigen  sprachen,  in 
denen  sich  der  acc.  zum  subjectscasus  des  infinitivs  herausgebildet  hat. 

Ein  grammatisches  passivum  besteht  nur  da,  wo  dasselbe  aus 
dem  gleichen  stamme  wie  das  activum  gebildet  und  von  demselben 
durch  eine  besondere  formationsweise  geschieden  ist.  Annähernd  ana- 
log dem  verhältniss  von  pass.  zu  aet.  ist  das  verhältniss  eines  intran- 
sitivums  zu  dem  entsprechenden  causativum,  vgl.  fallen  —  fällen^  hangen 
—  hängen  und  die  nicht  aus  der  nämlichen  wurzel  entsprungenen 
paare  n^erden  —  machen,  sterben  —  tödlen,  {hin) fallen  —  {hin)werfen. 
Doch  besteht  der  unterschied,  dass  bei  dem  intransitivum  nicht  so  nor- 
maler weise  wie  beim  pass,  an  eine  wirkende  Ursache  gedacht  wird. 
Dieser  unterschied  ist  aber  leicht  verwischbar.  Man  sagt  im  griech. 
djto9^v7jOxeiv  vji6  rivoq.  Im  lat.  wird  fio  im  präs.  vollständig  als  pass. 
zu  facio  verwendet.  So  begreifen  sich  auch  nur  die  Umschreibungen 
für  das  pass.  durch  werden  und  sein.  Anderseits  zeigen  uns  die  so- 
genanten  depouentia  den  Übergang  vom  passivum  ins  activum.  Die- 
selben als  eine  besondere  kategorie  gegenüber  dem  eigentlichen  pas- 
sivum, respective  medium  aufzustellen  kann  noch  nicht  der  umstand 
berechtigen,  dass  sie  in  einer  fremden  spräche* durch  das  act.  über- 
setzt werden.  Dagegen  fällt  ins  gewicht  der  gänzliche  verlust  des 
ursprünglich  dazu  gehörigen  activums  und  noch  entscheidender  eine 
sonst  nur  dem  activum  zukommende  constructionsweise,  so  namentlich 
die  Verbindung  mit  einem  objectsaccusativ. 

Eine  der  gewöhnlichsten  entstehungsweisen  des  passivums  ist  die 
aus  dem  medium,  welches  seinerseits  aus  der  composition  des  acti- 
vums mit  dem  reflexivpron.  entstanden  sein  kann.  Der  eigentliche 
hergang  ist  dabei  der,  dass  aus  dem  bedeutungsinhalt  des  mediums 
ein  moment  schwindet.  Im  medium  liegt  zugleich  das  ausgehen  von 
dem  subjecte  und  das  übergehen  auf  dasselbe,  im  passivum  nur  das 
letztere.  Bei  vielen  retiexiveu  Verbindungen  im  nhd.  ist  gleichfalls  das 
bevvusstsein  von  einer  tätigkeit  des  subj.  geschwunden,  sie  nähern  sich 
aber  mehr  dem  einfachen  intransitivum  vermöge  der  zwischen  diesem 
und  dem  pass.  bestehenden  Verwandtschaft;  vgl.  sich  regen,  ausdehnen^ 
drehen,  /eilen;  sich  freuen,  schämen,  verwundern,  irren  etc.  Noch  mehr 
ist  jede  active  Wirkung  des  subjeets  ausgeschlossen  bei  sich  finden,  be- 
finden, in  Wendungen  wie  das  lässt  sich  hören,  es  lässt  sich  da  gut  leben, 
das  hört  sich  gut  an.,  hier  tanzt  es  sich  sehr  leicht. 


Cap.  XVI. 
Verschiebung  der  syntaktischen  gliederung. 

Wir  haben  schon  in  cap.  6  gesehen,  dass  die  gliederung  eines 
Satzes,  die  art  und  weise,  wie  man  seine  bestandteile  zu  engeren  und 
weiteren  gruppen  zusammenfasst,  etwas  leicht  verschiebbares  ist.  Es 
ist  dort  auch  bereits  angedeutet,  dass  geradezu  ein  gegeusatz  zwischen 
dem  psj^chologi sehen  (logischen)  verhältniss  der  Satzbestandteile 
unter  einander  und  ihrem  rein  grammatischen  verhältniss  entstehen 
kann.  Die  syntaktischen  formen  wie  die  casus  etc.  sind  zunächst  für 
bestimmte  Satzteile  wie  subj.,  obj..  bestimmung  eines  substantivums  etc. 
geschaffen.  Sie  bezeichnen  aber  zugleich  ein  bestimmteres  verhältniss, 
als  es  die  blosse  aneinanderreihung  der  Wörter  vermag.  Indem  nun 
die  mittel  zu  einer  solchen  bestimmteren  bezeichnung  verwertet  werden, 
zugleich  aber  die  alte,  nie  ganz  zu  vernichtende  freiheit  in  der  Ver- 
knüpfung der  begritfe  waltet,  entsteht  ein  Widerspruch,  aus  welchem 
sich  dann,  wenn  er  usuell  wird,  neue  constructionsweisen  entwickeln. 
Die  abweichung  von  der  äusseren  grammatischen  form  besteht  dabei 
teils  in  einer  anderen  Zusammenfassung  und  trennung  der  einzelnen 
demente,  teils  in  einer  anderen  psychologischen  anordnung  derselben, 
wodurch  subj.,  präd.,  obj.  etc.  ihre  rollen  tauschen. 

Zweigliedrigkeit  ist.  wie  wir  gesehen  haben,  die  urform  des 
Satzes.  Auch  die  inhaltsreichsten  sätze  können  zweigliedrig  bleiben, 
indem  alle  bereicherung  in  einer  erweiterung  der  beiden  glieder  be- 
steht. Die  bestimmungen  des  prädicats,  näheres  und  ferneres  object, 
orts-,  zeit-  und  modalbestimmungen  können  aber  auch  den  wert  von 
selbständigen  gliedern  erlangen,  so  dass  eine  vielgliedrigkeit  ent- 
steht. Umgekehrt  kann  nun  aber  aus  dieser  vielgliedrigkeit  wider 
eine  einfache  gliederung  entstehen,  indem  mehrere  glieder  zu  einem 
zusammengefasst  werden  ohne  rücksicht  auf  diejenige  gliederung, 
welche  die  historische  entwickelung  der  betreffenden  satzform  ver- 
langen würde.  Bezeichnen  wir  das  subj.  mit  a,  das  präd.  mit  b,-  die 
bestimmungen  des  letzteren  mit  giiechischen  buchstaben,  die  einzelnen 
gruppen   durch   klammern,   so  hätten  wir  als  grundschema  (a)(ba^/d) 


236 

niid  (laueben  {si){h){a)iß){y){6).  Daraus  können  sich  dann  Schemata 
entwickeln  wie  {a.ha.-}y)(ö)  oder  (ab«/:?f3)(7)  etc.  oder  auch  (a)(ba/9/)((^), 
(a)(b«,W)(7)  etc.  und  noch  andere.  Das  durchbrechen  der  ursprünglichen 
gliederung  kann  dann  sogar  noch  weiter  gehen,  indem  auch  bestimm- 
ungen  des  subj.  von  demselben  losgelöst  und  mit  anderen  dementen 
verbunden  werden,  ebenso  des  objects  etc. 

Vielgliedrigkeit  des  satzes  in  folge  von  annähernder  gleichwertig- 
keit  der  einzelnen  demente  findet  sich  besonders  bei  ruhiger,  zusammen- 
hängender darstdlung.  Die  gewöhnliche  Unterhaltung  neigt  immer  zu 
zwei-  oder  dreigliedrigkeit. 

Am  schärfsten  von  den  übrigen  gliedern  des  satzes  sondert  sich 
zunächst  das  psychologische  präd.  ab  als  das  wichtigste,  dessen  mit- 
teiluug  der  endzweck  des  satzes  ist,  auf  welches  daher  der  stärkste 
ton  fällt.  Der  satz  A'arl  fäh7't  morgen  nach  Berlin  kann  als  viergliedrig 
aufgefasst  werden,  wenn  er  ohne  irgend  welche  Vorbereitung  des 
hörers  ausgesprochen  wird,  so  dass  diesem  die  verschiedenen  bestand- 
teile  desselben  gleich  neu  sind.  Wir  können  dann  auch  sagen:  es 
werden  drei  verschiedene  prädicate  zu  dem  subj.  Karl  gesetzt;  oder 
richtiger  vielleicht  noch:  zum  subj.  Aar/  tritt  das  ^xiad.  fährt,  zu  dem 
subj.  harl  fährt  das  präd.  morgen,  zu  dem  subj.  Karl  fährt  morgen  das 
präd.  nach  Berlin.  Hierbei  wird  zwar  naturgemäss  die  letzte  bestimmung 
etwas  stärker  hervorgehoben  als  die  übrigen,  aber  doch  nur  um  ein 
geringes.  Dagegen  bei  bestimmter,  dem  sprechenden  bekannter  dispo- 
sition  des  angeredeten  kann  jedes  der  vier  glieder  scharf  abgehobenes 
präd.  werden.  Ist  schon  von  einer  reise  die  rede  gewesen,  die  Karl 
morgen  macht,  und  nur  noch  das  ziel  unbekannt,  so  ist  nach  Berlin 
präd.  Wir  könnten  uns  dann  auch  ausdrücken:  das  ziel  der  reise,  die 
Karl  morgen  macht,  ist  Berlin.  Ist  schon  von  einer  bevorstehenden 
reise  Karls  nach  Berlin  die  rede  gewesen  und  nur  noch  die  zeit  unbe- 
stimmt, so  ist  morgen  präd.,  und  wir  könnten  dann  auch  sagen:  die 
fahrt  Karls  nach  Berlin  findet  morgen  statt.  Ist  l>ekannt,  das  Karl 
morgen  nach  Berlin  reist  und  nur  noch  nicht,  ob  er  dahin  geht  oder 
fährt,  so  liegt  das  präd.  in  fährt;  wir  können  aber  doch  nicht  eigent- 
lich sagen,  dass  fährt  psychologisches  präd.  sei  in  Übereinstimmung  mit 
der  grammatischen  form,  vielmehr  ist  es  gewissermassen  in  zwei  be- 
standteile  zu  zerlegen,  ein  allgemeines  verb.  der  bewegung  und  eine 
bestimmung  dazu,  welche  die  art  der  bewegung  bezeichnet,  und  nur 
die  letztere  ist  präd.  Ist  endlich  bekannt,  dass  morgen  jemand  nach 
Berlin  fährt  und  besteht  nur  noch  ein  zweifd  in  bezug  auf  die  person, 
so  ist  das  grammatische  subj.  Karl  psychologisches  präd.,  und  wir 
könnten  dann  auch  sagen:  derjenige,  der  morgen  nach  Berlin  fährt, 
ist  Karl. 


237 

Dem  psychologischen  prädicate  gegenüber  können  die  übrigen 
bestandteile  des  satzes  zusammen  als  subj.  gefasst  werden,  wie  sich 
schon  aus  dem  angeführten  beispiele  ergibt.  Es  kann  sich  aber  auch 
ein  einzelner  bestandteil  besonders  als  subj.  herausheben,  welcher  dann 
dem  prädicate  an  Wichtigkeit  und  demgemäss  auch  an  tonstärke  am 
nächsten  steht.  Die  übrigen  bestandteile  erscheinen  dann  als  biude- 
glieder,  welche  die  Verknüpfung  von  snbject  und  präd.  vermitteln  und 
die  verknüpfungsweise  näher  bestimmen.  So  ist  nach  psychologischer 
analyse  in  dem  satze  Marie  hat  Zahnschmerzen  nicht  hat,  sondern  Zahn- 
schmerzen präd.,  hat  nur  bindeglied:  in  dem  satze  Fritz  pflegt  sehr 
schnell  zu  gehen  ist  sehr  schnell  präd.,  pflegt  zu  gehen  bindeglied;  in 
dem  satze  er  gehährdete  sich  wie  ein  besessener  ist  /rie  eiii  besessener 
präd.,  gebährdete  sich  bindeglied. 

Jedes  Satzglied,  in  welcher  grammatischen  form  es  auch  er- 
scheinen mag,  kann,  psychologisch  betrachtet,  subject  oder  prädicat 
oder  bindeglied  sein,  respective  ein  teil  davon.  Subject  und  prädicat 
können  dabei  ausser  durch  die  betonung  durch  die  Stellung  markiert 
werden.  Tritt  im  deutscheu  statt  der  normalen  Voranstellung  des 
grammatischen  subjectes  voraustelluug  eines  anderen  Satzteiles  ein,  so 
ist  dieser  entweder  logisches  subject  oder  logisches  prädicat,  ersteres 
häufiger  als  letzteres.  Im  letzteren  falle  ist  dieser  teil  des  satzes  zu- 
gleich der  stärkstbetonte,  im  ersteren  nicht.  Die  ansieht,  der  mau 
öfter  begegnet,  dass  die  voranstellung  immer  dazu  diene  den  be- 
treuenden teil  des  satzes  über  alle  andern  hervorzuheben,  ist  daher 
verkehrt. 

Regelmässig  psychologisches  subj.  oder  teil  desselben  ist  ein  au 
den  anfang  gestelltes  rückweisendes  demonstrativum.  Denn  eben 
weil  es  zurückweist,  verti-itt  es  diejenige  Vorstellung,  von  der  in  der 
seele  des  sprechenden  und  des  angeredeten  ausgegangen  wird,  woran 
das  weitere  als  etwas  neues  angeknüpft  wird.  Vgl.  ich  traf  einen 
knaben ,  den  fragte  ich ;  —  dem  sagte  ich ;  —  bei  dem  erkundigte  ich 
mich ;  —  darüber  war  ich  erfreut.  Oder  ich  ging  nach  hause,  da  fand  ich 
einen  brief\  ich  sah  ihn  am  sonntag  zum  letzten  male,  damals  sagte  er 
mir.  Oder  Fritz  war  gestern  bei  mir\  diesen  menschen  möchte  ich  immer 
zum  hause  hinaus  werfen\  aber  ich  tnuss  rilcksicht  auf  seine  familie 
nehtnen;  aus  diesem  gründe  kann  ich  es  nicht.  Ebenso  ist  das  rela- 
tiv um  regelmässig  psychologisches  subject.  Das  fragepronomen 
dagegen  ist  regelmässig  prädicat  oder  teil  desselben.  Für  die  unbe- 
stimmte fassung  desselben  substituiert  dann  die  antwort  eine  bestimmte. 
Wenn  daher  Cic.  sagt  quam  utiUtatem  aut  quem  fructum  petentes  scire 
cupimus  illa'!  oder  tu  vero  quibus  rebus  gestis,  quo  hoste  super ato  con- 
tionem   convocare  ausus  es?   so   liegt   hier   das   psychologische  prädicat 


238 

uicbt  im  verb.  finitum,  sondern  vielmehr  im  participium  und  dem,  was 
dazu  gehört.  Stets  psychologisches  präd.  ist  ferner  derjenige  satzteil, 
dessen  Verknüpfung  mit  den  übrigen  durch  eine  negationspartikel 
zurückgewiesen  wird.  Vgl.  nicht  ihn  habe  ich  gerufen  =  der,  den  ich 
gerufen  babe,  ist  nicht  er;  nicht  ihm  habe  ich  das  geld  gegeben  -=  der, 
dem  ich  das  geld  gegeben  habe,  ist  nicht  er;  nicht  für  ih7i  war  ich  besorgt 
=  der,  für  den  ich  besorgt  war,  ist  nicht  er.  Die  negatiou  gehört 
daher  zwar  nicht  immer  zum  grammatischen,  aber  stets  zum  psycho- 
logischen })räd.,  oder  richtiger  sie  bezieht  sich  immer  auf  die  Ver- 
knüpfung des  psychologischen  subjects  mit  dem  psychologischen  prädi- 
cate.  Prädicat  ist  dann  natürlich  auch  der  mit  dem  negierten  satzteil 
in  parallele  gestellte  gegensatz,  vgl.  nicht  am  morgen,  sondern  am  mittag 
will  ich  verreisen.  Ferner  jeder  durch  ein  nur,  allein,  ausschliesslich 
u.  dergl.  hervorgehobene  satzteil;  denn  dafür  kann  mau  auch  ein  nicht 
ein  anderer  {ein  anderes),  sondern  einsetzen.  Auch  besonders,  vor  allem, 
am  meisten  u.  dergl.  kennzeichnen  das  präd. 

Der  Widerspruch  zwischen  grammatischem  und  psychologischem 
präd.  lässt  sich  durch  eine  umständlichere  ausdrucksweise  ver- 
meiden, von  der  in  manchen  sprachen  reichlicher  gebrauch  gemacht 
wird.  Vgl.  Christen  sind  es,  die  das  getan  haben  oder  voji  denen  man 
das  verlangt \  engl,  't  is  thou  that  robbst  me  of  my  lord\  franz.  c'est  moi 
qui  etc.  —  franz.  c'est  a  vous  que  je  m'adresse\  engl,  it  is  to  you,  young 
people ,  that  I  speak.  —  ivas  ihn  am  meisten  ärgerte,  war  ihre  gleich- 
gültigkeif,  engl.  ?vhat  I  most  prize  in  woman,  is  her  affections,  not  her 
intellect. 

Ein  mittel,  welches  im  deutschen  angewendet  wird  um  das,  was 
sonst  grammatisches  präd.  werden  müsste.  zum  subj.  zu  machen,  ist 
die  Umschreibung  mit  tun,  vgl,  verbieten  tut  es  niemand. 

In  vielen  sprachen  findet  sich  eine  interessante  ausgleichung 
des  widersi)ruches  zwischen  grammatischem  und  psychologischem  sub- 
ject,  nämlich  in  der  weise,  dass  das  psychologische  subj.  im  nom.,  also 
in  der  form  des  grammatischen  subjects  vorantritt  und  dann  noch  ein- 
mal durch  ein  pron.  wider  aufgenommen  wird,  dessen  form  sich  nach 
dem  rein  grammatischem  verhältniss  bestimmt.  Vgl.  ein  eichkranz, 
ewig  jung  belaubt,  den  setzt  die  nachweit  ihm  aufs  haupt  (Goe.);  franz. 
celte  confiance,  il  l'avait  exprime;  it.  gli  amici  vostri  non  gli  conosco; 
mhd.  rüema-re  unde  lügencere,  stvä  die  sm,  den  verblute  ich  minen  sanc\ 
Span,  claro  e  virtuoso  principe,  tanto  esta  sciencia  le  plugo\  griech.  txtl- 
vog  dh  ov  dcocco  avzm  ovöev,  mhd.  die  Hiunen  durch  ir  haz  der  garte 
sich  zwei  tüsenf,  franz.  tous  ces  crimes  d'etat  qu'on  fait  pour  la  cou- 
ronne,  le  ciel  nous  en  absout;  it.  quelli  che  hanno  costiluita  una  repub- 
lica,  tra  le  cose  ordinale  da  loro  e  stato  (Machiavelli);  griech.  to  (itjÖev 


239 

ctxorra.  riva  e$.a:!iaTi]6ai  ^eya  fiegoc  eis  tovto  ?)  xcov  ;(()?;i«aTcor  xrrjoiq 
§vf4ß(xXXfTai  (Plato),  ach,  der  heiligste  von  iinsern  trieben,  wanmi  quillt 
aus  ihm  die  grimme  prin?  (Schi.).  Das  possesivpron.  vertritt  dabei  die 
stelle  eines  genitivs:  mhd.  Parziväl  der  valschheitstvant  sin  iriu/re  in 
lerle\  engl,  't  is  certain,  that  every  man  that  dies  Hl,  the  Hl  is  upon  is 
own  head  (John  4,  1);  span.  la  vi  IIa  si7i  regidores,  su  triunfo  sera  breve; 
franz.  les  soudans,  qu'a  genoux  cet  univers  contemple,  leurs  usages,  leurs 
droits  ne  sonl  point  mon  exemple  (Voltaire).  Eine  ähnliche  erscheinung 
ist  es,  wenn  ein  attribut  zum  psychologischen  subj.  im  nom,  erscheint, 
vgl.  griech.  diaoxojimr  xa)  diaXtyöfiivoj:  cwtcö  sdo^ä  fioi  ovroc  6  av7jQ 
(Plato);  eöo^ev  avrolc  ajioxxtlvai  rovg  MvreXrjvaiovq  EOtLxaXovvxtq  ri)v 
ajroöTaOir  (Thuc);  jra^hovoa  ovrco  dsiva  JtQoq  xcöv  (piXtarwi'  ovöelg 
vji£Q  fiov  Öcufiövojv  fit/vitrai  (Aesch.);  franz.  depuis  deux  jours,  Fatime, 
absent  de  ce  palais,  enfin  son  tendre  amour  le  rend  a  mes  souhaits 
(Voltaire). 

Eine  noch  v^eiter  gehende  ausgleichung  des  v^iderspruchs  besteht 
darin,  dass  das  psychologische  subj.  geradezu  die  form  des  gramma- 
tischen erhält,  also  in  den  nom.  tritt.  Am  Rhein  sagt  man  nach  Audr. 
Spr.  80  es  gehen  dies  jähr  nicht  viele  äpfel.  Ebenso  wird  der  nom.  ge- 
braucht nach  Hildebrand,  DWb.  4,  la,  1404  in  Strassburg,  im  Oster- 
lande,  in  Thüringen  und  Hessen.  Aus  der  literatur  führt  Andr.  an: 
es  gibt  nichts  lächerlicheres  als  ein  verliebter  mann  (Börne).  Schon 
Goethe  (j.  G.  II,  465)  sagt:  müssen  es  hier  menschen  geben  und  Herder: 
giebts  aber  keine  andere  empfindbarkeit  zu  tränen  als  körperlicher  schmerz? 
Im  letzten  falle  ist  also  wenigstens  die  vergleichung  so  behandelt,  als 
gehöre  sie  zu  einem  grammatischen  subjecte. 

Adverbiale  bestimmungeu,  die  gewöhnlich,  wie  schon  der 
name  zeigt,  einfach  zum  prädicatsverbum  gezogen  werden,  spielen  in 
Wirklichkeit  sehr  verschiedene  rollen  im  Satzgefüge.  Einerseits  sind 
sie  wirklich  bestimmungeu  des  verbums,  vgl.  Karl  ist  langsam,  das  kind 
zappelt  mit  händen  und  füssen.  Liegt  dann  in  der  adverbialen  be- 
stimmung  das  eigentlich  wertvolle  der  mitteiluug,  so  kann  es  als  prä- 
dicat,  das  verbum  als  bindeglied  zwischen  ihm  und  dem  subj.  gefasst 
werden.  Die  gliederung  kann  aber  auch  die  sein,  dass  das  adv.  eine 
bestimmung  für  die  Verbindung  der  übrigen  glieder  des  satzes  ist. 
Eine  scharfe  grenze  zwischen  dieser  und  der  erstbezeichueten  gliede- 
rung gibt  es  nicht.  Hierher  kann  man  alle  temporalen,  localeu  und 
causalen  bestimmungeu  ziehen.  Dieselben  sind  dann  den  übrigen  be- 
standteilen  des  satzes  gegenüber  gewöhnlich  psychologisches  subject, 
zuweilen  auch  prädicat,  vgl.  morgen  abend  will  ich  dich  besuchen,  auf 
dem  tische  liegen  zwei  bücher\  die  bücher  liegen  nicht  auf  dem  tische, 
sondern  in  dem  kästen.     Doch   wird   hier   überall   das  verbum  deraiüg 


240 

untergeordnet,  dass  man  es  auch  als  bindeglied  fassen  kann.  Dagegen 
gibt  es  gewisse  falle,  in  denen  das  adv.  nur  als  präd.  gefasst  werden 
kann,  welches  einem  sonst  schon  in  sich  geschlossenen  satze  beigelegt 
wird.  Hierher  gehören  alle  bezeichnungen  für  die  modalität  der  aus- 
sage, wie  gewiss,  sicherlich,  wahrlich,  jedenfalls,  wahrscheinlich,  wohl, 
vielleicht ,  schwerlich,  kaum.  Er  wird  gewiss  kommen  ist  =  es  ist  ge- 
wiss, dass  er  kommen  trird.  Hierher  gehören  ferner  leider,  vorkommen- 
den falls,  andernfalls ,  sonst,  U7iter  diesen  umständen,  unter  dieser  be- 
dingmig,  bei  so  bewandter  sache  u.  dergl.;  törichterweise  und  alle  übrigen 
bilduugen  mit  -treise,  die  sich  eben  dadurch  von  den  einfachen  ad- 
verbien  töricht  etc.  unterscheiden;  diese  gehen  auf  das  prädicat,  jene 
auf  die  beziehung  zwischen  subj.  und  präd.  Indem  das  logische  ver- 
hältniss  auch  grammatisch  deutlich  ausgeprägt  ist,  sind  ausdrucks- 
formen  entstanden  wie  kaum,  dass  er  mich  ansieht;  vielleicht,  dass  eine 
träne  dann  von  seinem  äuge  fällt  (so  häufig  im  vorigen  Jahrhundert); 
glücklicherweise ,  dass  die  yemälde  so  hoch  stehen  (Goe.).  Stehen  Ver- 
sicherungen isoliert  voran,  z.h.  gewiss,  er  wird  es  tun,  so  sind  sie 
deutlich  prädicate  zu  den  nachfolgenden  selbständig  hingestellten 
Sätzen. 

In  sprachen  von  geringer  formeller  ausbildung  ist  der  wider- 
sjn'uch  zwischen  psychologischem  und  grammatischem  subject  oder 
prädicat  viel  seltener;  denn  die  veranlassung  dazu  ist  ja  eben  die  aus- 
bildung mannigfaltiger  besonderer  ausdrucksformen  für  die  verschie- 
denen logischen  Verhältnisse  der  begrifte  zu  einander.  Die  eigentüm- 
lichen, uns  sehr  fremdartig  berührenden  ausdrucksformen  des  Daja- 
kischen,  die  Steinthal,  Typen  s.  172,  3  anführt,  scheinen  mir  wesent- 
lich darauf  zu  beruhen,  dass  das  psychologische  subject  oder  prädicat 
auch  zum  grammatischen  gemacht  wird,  wobei  entweder  das  erstere 
oder  das  letztere  an  die  spitze  tritt,  und  dass  dann  auch  diese  beiden 
hani)tglieder,  wenn  sie  selbst  schon  zusammengesetzt  sind,  wider  nach 
dem  nämlichen  principe  gegliedert  werden.  \^gl.  namentlich  nach  Steiu- 
thals  Übersetzung  fjoot  dieses  boot  seiner  wähl  =  dieses  boot  hat  er 
ausgewählt;  zeuge  zwei  diese  welches  deine  begierde  =  welches  von 
diesen  beiden  zeugen  begehrst  duV  du  platz  meines  gebens  =  dir  habe 
ich  es  gegeben;  zu  sehr  ihr  geschoben  sein  bank  durch  dich  =  du  hast 
die  bank  zu  sehr  geschoben  {zu  sehr  psychologisches  prädicat).  Vgl. 
damit  die  arabische  construction  Omar  gestorben  sein  vater  =  Omars 
vater  ist  gestorben  (Steinthal,  Typen  271),  die  auch  mit  den  oben 
8.  238  angeführten  indogermanischen  fügungeu  correspondiert. 

Wie  das  verhältniss  des  subjects  zum  prädicat  im  psychologischen 
sinne  die  umkehrung  des  grammatischen  Verhältnisses  sein  kann,  so 
kann   die   selbe   umkebrung    auch    eintreten   bei   dem   verhältniss  des 


241 

bestimmten  zur  bestimmung.  Am  leichtesten  kann  eine  Unsicher- 
heit darüber  entstehen,  welches  eigentlich  das  bestimmte,  welches  das 
bestimmende  glied  ist,  wenn  zwei  substantiva  in  appositiouellem  ver- 
hältniss  neben  einander  stehen.  Ich  kann  z.  b.  sagen  Totila,  ein  könig 
der  Ostyoten  oder  ein  könig  der  Ostgoten,  Totila.  Ein  solcher  rollen- 
tausch der  beiden  glieder  ist  aber  nur  möglich,  wenn  ihr  verhältniss 
zu  einander  ein  loseres  ist,  wozu  bediugung  ist,  dass  es  als  etwas 
neues  mitgeteilt  wird.  Dann  nähert  sich  das  ganze  der  natur  eines 
Satzes  und  dann  verhält  sich  immer  das  voranstehende  glied  zu  dem 
nachfolgenden  wie  das  subject  zum  prädicat.  Wird  dagegen  das  ver- 
hältniss als  schon  bekannt  vorausgesetzt,  so  ist  kein  beliebiger  rollen- 
tausch möglich,  und  die  Stellung  entscheidet  nichts.  Ist  z.  b.  von  einem 
Mendelssohn  die  rede  und  es  fragt  jemand  „welcher  Mendelssohn  ist 
gemeint?",  so  ist  in  der  antwort  „der  componist  M."  zweifellos  Men- 
delssohn das  bestimmte,  trotzdem  es  nachsteht.  Ebenso  sind  in  herzog 
Bernhard,  herr  Midier,  blander  Karl,  vater  Gleim  die  eigennamen  das 
bestimmte,  die  titel  und  sonstigen  charakterisierenden  epitheta  das  be- 
stimmende. Es  kommt  aber  auch,  ohne  dass  das  verhältniss  als  be- 
kannt vorausgesetzt  werden  kann,  eine  straffere  Zusammenfassung  der 
beiden  glieder  vor  mit  beifügung  des  bestimmten  artikels,  z.  b.  der 
Schneidermeister  Schulze.  Hierbei  gehört  der  artikel  nicht  zu  dem 
ersten  gliede,  sondern  zum  ganzen  und  fasst  dasselbe  eben  dadurch 
zu  einer  einheit  zusammen.  Denn  man  kann  dafür  nicht  sagen  Schlitze 
der  Schneidermeister,  sondern  höchstens  Schulze  ein  Schneidermeister 
oder  Schulze  Schneidermeister,  wenn  dazu  noch  eine  weitere  bestimmung, 
z.  b.  in  Berlin  tritt.  Durch  diese  Veränderung  aber  würde  der  zu- 
sammenhält gelockert  sein,  also  die  ausdrucksweise  einen  anderen  ein- 
druck  machen.  Bei  dieser  fügung  nun  ist  eigentlich  keines  von  beiden 
gliedern  entschieden  bestimmtes  oder  bestimmendes.  Unter  die  appo- 
sitiouellen  Verhältnisse  mit  engerem  verbände  gehört  auch  die  Verbin- 
dung von  vor-  und  zunameu.  Es  ist  nun  zweifellos,  dass  jetzt  in  A'arl 
Mü/ler,  Max  Oes (reicher,  Paul  Mendelssohn  etc.  der  vorname  das  be- 
stimmende, der  familienname  das  bestimmte  ist;  aber  ebenso  zweifel- 
los, dass  das  verhältniss  anfangs  umgekehrt  war.  Es  hat  also  eine 
gliederungsverschiebung  stattgefunden. 

Ein  adjectivisches  attribut  kann  nicht  so  einfach  die  rolle  mit 
seinem  substantivum  tauschen.  Es  muss  hier  aber  einer  häufig  vor- 
kommenden fügung  gedacht  werden,  wobei  allerdings  der  hauptbegriff 
in  das  adj.  gelegt  wird.  Wenn  Grimm  sagt  jenes  heranzuziehen  unter- 
sagt die  mangelnde  lautverschiehung,  so  raüsste  man  um  die  gramma- 
tische form  in  Übereinstimmung  mit  der  logik  zu  bringen  die  gliede- 
rnng  umkehren,    aber   zugleich   mit  einer  weiteren   Veränderung   der 

Paul,  Principien.    11.  Auflage.  16 


242 

coDStructiou:  de7-  maiujel  der  lautverschiehung.  Vgl.  die  bei  spielsam  m- 
lung  bei  Andr.  Spr.  s.  122.  3. 

Eine  Verschiebung  ganz  anderer  art  haben  wir  in  Wendungen  wie 
ein  sein  wollendes  original  (Herder),  so  viele  sein  wollende  kenner  (Ebert 
au  Lessing),  sein  sollende  griechische  simplicitäl  (Ift'land);  ein  gewesener 
Soldat,  ein  sogenanter  vetter  u.  dergl.;  franz.  iin  nomme  Richard.  Hiei' 
sind  die  substantiva,  die  eigentlich  prüdicate  zu  nicht  genannten  sub- 
jecteu  sind,  an  die  stelle  dieser  subjecte  getreten  und  haben  damit 
auch  die  form  des  participiums  bestimmt.  Auch  in  fällen  wie  sein 
früherer  {ehemaliger')  herr,  seine  spätere  {zukiinftige)  fr  au,  der  angeb- 
liche baron  sind  die  substantiva  eigentlich  prädicate. 

Indem  die  auseinanderreissung  des  grammatisch  eigentlich 
eng  zusammengehörenden  usuell  wird,  bilden  sich  neue  coustructions- 
weisen  heraus,  von  denen  man,  wiewol  sie  ihren  Ursprung  dem  Wider- 
spruche zwischen  grammatischer  und  logischer  gliederung  verdanken, 
doch  nicht  mehr  sagen  darf,  dass  der  Widerspruch  noch  bestehe.  Das 
ursprünglich  nur  psychologische  verhältniss  hat  sich  dann  zu  einem 
grammatischen  entwickelt. 

Häufig  löst  sich  so  der  geuitiv  aus  der  unmittelbaren  Verbin- 
dung mit  dem  worte,  von  dem  er  zunächst  abhängig  war.  Wo  er  von 
einem  prädicativen  adj.  abhängt,  ist  die  Verbindung  immer  keine  ganz 
enge,  und  es  macht  nichts  aus,  ob  man  ihn  als  abhängig  von  dem 
adj.  allein  oder  von  dem  adj.  in  Verbindung  mit  der  dazu  gehörigen 
copula  auffasst.  Er  hat  daher  eine  ähnliche  Selbständigkeit  wie  ein 
von  einem  verbum  abhängiges  object  und  geniesst  die  selbe  freiheit 
der  Stellung.  Vgl.  des  erfolges  bin  ich  sicher.  Nun  ist  der  häufig  von 
einer  solchen  Verbindung  abhängige  gen.  es  lautlich  mit  dem  acc. 
(mhd.  ez)  zusammengefallen  und  in  folge  davon  auch  vom  Sprach- 
gefühl als  acc.  gefasst  worden,  vgl.  ich  bin  es  zufrieden.  Ausserdem 
hat  sich  traditionell  in  einigen  fällen  der  gen.  nichts  zu  mhd.  niht 
erhalten,  der  nun  auch  als  acc.  gefasst  werden  musste,  vgl.  ich  bin 
mir  nichts  böses  bewusst.  Durch  diese  umstände  ist  es  begünstigt, 
aber  wol  nicht  allein  veranlasst,  dass  weiterhin  in  mehreren  fällen  der 
als  objectscasus  gefasste  gen.  mit  dem  objectscasus  xat'  bS,oxi]v,  dem 
acc.  vertauscht  ist,  gerade  so  wie  das  bei  vielen  verben  {erwähnen, 
vergessen  etc.)  geschelien  ist.  Vgl.  was  ich  mir  kaum  noch  bewusst  war 
(Wieland);  sind  sie  das  zufrieden?  (Goe.  und  ähnlich  öfters);  wir  sind 
die  probe  zufrieden  (Rückert);  das  bin  ich  vollkommen  überzeugt  (Le.); 
so  viel  bin  ich  versichert  (Le.);  ingedenk  zu  sein  die  bescheen  fragen 
(Weistümer).  Häufig  ist  der  acc.  bei  habhaft  werden,  ganz  allgemein 
bei  gewahr  werden,  gewohnt,  los,  überdrüssig,  schuldig  sein  oder  werden. 
Wie   das   adj.  verhält  sich   natürlich  das  prädicative  adv.,   daher  inne 


243 

neräen  jetzt  mit  aee.  Begliustigt  ist  der  eintritt  des  aee.  jedenfolls 
dadurch,  dass  von  solchen  Verbindungen  auch  sätze  mit  dass  abhängen 
konnten  {ich  hin  \es\  zufrieden,  dass  du  ihn  besuchst),  welche  als  object 
gefasst  werden  konnten.  Bei  manchen  dieser  Verbindungen  lässt  sich 
nur  der  acc.  eines  pron.  nachweisen.  Daraus  ersieht  man  die  eiuwir- 
kung  des  es.  Dass  aber  der  Vorgang  auch  ohne  eine  solche  Unter- 
stützung möglich  ist,  ergibt  sich  aus  analogen  fallen  im  griech.,  vgl, 
6jriOT7']fiort^  ijüar  tu  jtQOcfjxoi'ra  (Xen.),  e^agvög  &ifH  ru  igorcof/eva 
(Plato). 

Die  an  sich  festere  Verbindung  des  genitivs  mit  einem  subst. 
erscheint  gleichfalls  vielfach  gelockert,  indem  derselbe  logisch  nicht 
mehr  von  dem  subst.  allein,  sondern  von  der  Verbindung  des  subst. 
mit  einem  verb  abhängig  und  dadurch  zu  einem  selbständigen  satz- 
gliede  gemacht  ist  Sehr  häufig  ist  das  im  mhd.,  z.  b.  des  tvirdet  mir 
buoz  (davon  wird  mir  abhülfe);  des  hän  ich  guoien  7ville)i\  des  slt  äne 
sorge \  si  n-urden  des  ze  räte\  ich  kume  eines  dinge s  an  ein  ende  (ich 
erfahre  etwas  ganz  genau).  Vgl.  nhd.  des  lärmens  ist  kein  ende;  aller 
guten  dinge  sind  drei;  lass,  vater,  genug  sein  des  grausamen  spiel s  (Schi.); 
nun  will  ich  des  briefs  ein  ende  mache?i  (Schi,);  des  ich  ein  diener  norden 
hin  (Lu.);  dieses  gerechten,  welches  ihr  mm  Verräter  und  mörder  gewor- 
den seid  (Lu.);  ein  schiff',  dessen  man,  so  es  wrüljer  ist,  keine  spur  finden 
kann  (Lu.);  den  leichten  erwähmmgen,  die  seiner  einige  alte  grammatiker 
tun  (Le.).  ^Meistens  muss  man  jetzt  an  stelle  des  mhd.  genitivs  eine 
Präposition  anwenden.  Aber  auch  hier  wurde  das  genitivische  es  um- 
gedeutet und  als  nom.  oder  aee.  aufgefasst  und  so  das  logische  subj, 
oder  obj.  vollständig  zum  grammatischen  gemacht,  vgl.  es  ist  genug 
(mhd,  genuoc  als  subst.  mit  dem  gen.  verbunden),  es  ist  not,  es  ist 
zeit  etc;  er  will  es  nicht  wort  haben;  er  weiss  es  ihm  dank.  Die  gliede- 
rungsverschiebung  hat  aber  auch  weiterhin  die  folge  gehabt,  dass  der 
gen,  mit  dem  nom.  oder  acc,  vertauscht  ist,  wobei  jedenfalls  wider 
die  abhängigen  sätze  mit  dass,  die  als  subj.  oder  obj.  gefasst  werden 
konnten,  mitwirkten.  Wir  sagen  jetzt  das  nimmt  mich  wunder  wie  das 
fvunderl  mich;  mhd.  heisst  es  des  nimet  mich  wunder  =  mich  ergreift 
Verwunderung  darüber.  Beispiele  für  den  acc,  sind  wer  wird  ihm  diese 
kleine  Üppigkeit  nicht  vielmehr  dank  wissen?  (Le.);  was  er  mir  schuld 
gibt  (Le.,  ähnlich  auch  sonst);  in  ansehung  der  stärke  wird  niemand  diese 
assertion  in  abrede  sein  (Le..  vgl.  Blümners  aum.  in  seiner  ausgäbe  des 
Lack.,  2.  aufl.,  s.  588).  Allgemein  mit  dem  acc.  verbunden  wird  das 
jetzt  als  ein  einheitlicher  begriff  gefasste  rvahrnehmen  (mhd.  war  ==  be- 
obachtung).  Vgl.  lateinische  constructionen  wie  quid  tibi  nos  tactiost 
(Plaut,),  quid  tibi  hanc  curatiost  rem  (ib.),  in  denen  der  acc.  nicht  als 
von   dem   subst.  allein   abhängig   gefasst   werden   kann;    ferner  infitias 

lü* 


244 

ire,  auc/urem  esse  aliquid.  Dazu  griech.  er  ^Iv  jcqcöxö.  ooi  fio(ig:>^i>  lyr^ca 
(Eur.)  11.  ähnliches. 

In  den  spraelien,  welche  als  negation  oder  als  Verstärkung  der- 
selben ein  ursprünglich  substantivisches  wort  verwenden,  findet  sich 
daneben  ein  genitiv,  der  ursprünglich  von  diesem  substantivum  ab- 
hängig war,  alhnählig  aber  zu  einem  selbständigen  satzgliede  ge- 
worden ist  und  nun  als  subj.  oder  obj.  fungiert,  während  das  wort, 
von  dem  er  ursprünglich  abhing,  seine  substantivische  natur  eingebüsst 
hat.  Vgl.  franz.  //  n'a  pas  [point]  d'aryent,  eigentlich:  er  hat  keinen 
sehritt  (punkt)  von  geld.  Dass  das  Sprachgefühl  nicht  mehr  an  eine 
abhängigkeit  von  pas  oder  poini  denkt  ergibt  sich  unter  andern  daraus, 
dass  de  analogisch  auch  in  andere  negative  sätze  übertragen  wird,  die 
kein  ursprüngliches  subst.  enthalten  (vgl.  il  n'y  a  jumais  de  lots  ohser- 
vees)^  auch  in  solche ,  die  nur  dem  sinne  nach  negativ  sind  (vgl.  sa7is 
laisser  d^esperance;  doit-il  avoir  d'autre  volenie).  Aehnlich  sind  die  Ver- 
hältnisse im  mhd.,  vgl.  des  enmac  niht  yesin\  mm  vrouwe  bizet  imver 
niht;  danach  auch  also  grözer  krefle  nie  mer  recke  getvam.  Vgl.  noch 
nhd.  hier  ist  meines  hleibens  nicht. 

Die  deutschen  adverbia,  welche  zugleich  präpositionen  sind, 
gehen  eine  engere  Verbindung  mit  einem  verbum  ein,  in  folge  wovon 
der  eigentlich  nur  von  ihnen  abhängige  casus  als  abhängig  von  der 
Verbindung  des  verbums  mit  dem  adverbium  erscheint;  vgl.  ei7iem  ab- 
gewinnen, anliegen,  aufdrängen,  überwerfen,  unierlegen,  vorstellen,  zu- 
sprechen; einen  anreden,  anklagen.  Dass  wirklich  der  casus  ursprüng- 
lich von  dem  adverb  abhängig  ist,  geht  daraus  hervor,  dass  für  die 
ältere  zeit  die  regel  gilt,  dass  immer  der  casus  steht,  welchen  das  adv. 
als  präp.  gebraucht  regiert,  und  besonders  daraus,  dass  die  an  sich 
transitiven  verba  in  Verbindung  mit  einem  adv.  einen  doppelten  acc. 
regieren  können;  so  im  mhd.  noch  häufig  die  verba  mit  ane  {er  nam 
ze  kinde  sich  den  weisen  an).,  zuweilen  die  mit  üf,  im  alts.  auch  die 
mit  umbi,  vgl.  stod  ine  uuerod  umbi.  Im  englischen  können  wir  es 
deutlich  verfolgen,  wie  der  von  einer  präp.  abhängige  casus  sich  von 
der  directen  Verbindung  mit  derselben  löslöst  und  sich  näher  zum 
verbum  stellt.  Diese  loslösung  ist  weitaus  in  den  meisten  fällen 
durch  das  bestreben  bedingt  das  psychologische  subject  an  die  spitze 
des  Satzes  zu  stellen.  Vgl.  and  this  rieh  fair  (otvn  tve  make  him  lord 
of  (Sh.);  washes  of  all  kind  I  had  an  anlipalhy  to  (Goldsmith);  weitere 
beispiele  bei  Mätzn.  II,  518.  Die  beiden  hauptkategorieen,  die  hierher 
gehören,  sind  die  relativsätze  (vgl.  a  place  which  ne  have  long  heard 
and  read  of,  vgl.  ib.  519)  und  passivsätze  (Jhe  tailor  was  seldom  talked 
of,  vgl.  ib.  65  ff.),  wobei  die  passivische  construction  wie  in  anderen 
fällen   den   zweck   hat   das  psychologische  subject  auch  zum  gramma- 


245 

tischen  zu  machen.  Diese  art  passivischer  constvuction  wird  sogar  hei 
transitiven  Wörtern,  die  ein  ohject  hei  sich  hahen,  angewendet  {iheij 
were  never  taken  notice  of  Sheridan,  vgl.  ih.  07).  Ausserdem  ist  die  los- 
lösung  in  fragesätzeu  ühlich,  wo  es  sich  also  um  voranstellung  des 
prädicates  handelt  iivhat  humour  is  Ihe  prbwe  of,  vgl.  ib.  519). 

Ein  Satzglied,  welches  grammatisch  von  einem  inf.  abhängt,  kann 
psychologisch   von   der  Verbindung  dieses  iniinitivs  mit  seinem  regens 
abhängig  werden;    vgl.  dies  buch  fverde  ich  dich  nie  lesen  lassen;    das 
diiuj  seihst  hin  ich  freit  entfernt  zu  sehen  (Le.);  mit  welchen  sie  sich  er- 
innern, gegen  mich  glücklich  genesen  zu  sein  (Le.).    In  folge  davon  kann 
das  Sprachgefühl  darüber   unsicher  werden,   ob   das  betreffende  glied 
eigentlich   zu  dem  inf.  oder  zu  seinem  regens  in  direkte  beziehung  zu 
setzen  ist.     Dazu  kommt,  dass  diesen  lallen  andere  sehr  ähnlich  sehen, 
in  welchen  wirklich  die  abhängigkeit  von  dem  verb.  fin.  das  ursprüng- 
liche ist,   vgl.  7vas  ich  zu  besorgen  habe.     So   geschieht   es,   dass  eine 
wirkliche  Übertragung  der  rection  vom  inf.  auf  das  verb.  fin.  stattfindet, 
die  sich  deutlich  durch  Umsetzung  in  das  pass.  documentiert;  vgl.  hier 
ist  sie  (Minna  v.  Barnhelm)  auf  ansuchen  des  herrn  von  Hecht  zu  spielen 
verboten  (Le.);   die  anklage  ist  fallen  gelassen  worden  (Allg.  zeitg.);   die 
Stellung  des  fürsten  Hohenlohe  wird  zu  untergraben  versucht  (ib.).    Damit 
vergleiche   man   die   griechischen  beispiele:  iiXlo^v  6Qax(uöv  o^okoj//- 
d-Eiocdv  ajioXaßav  („da  die  Übereinkunft  getrofi'en  war,   dass  ich  1000 
drachmen   erhalten   sollte"    Dem.);    xa   rmlv   IS,   agpq  JiaQajya&Evra 
öitgeX^Etv  (Plato);  xcöv  jTQoeiQtjf/BVcov  7j^u8qcöv  xa  tjrixrjöeia  litiv  („der 
tage,   für  welche   es   befohlen   war  Vorrat  zu  haben"  Xen.).     Auf  der 
nämlichen   Verschiebung  beruht  auch  die  Umsetzung  von  lat.  coepi,  de- 
si?io,  jubeo,  prohibeo  in  das  pass.  {llber  legi  coeptus  est,  jubeor  interfici) 
nur' dass   hier   auch   der  inf.  in  das  pass.  tritt,   indem  eine  doppelbe- 
ziehuug  des  zum  subj.  gemachten  gliedes  stattfindet.    Auch  heipossum 
und   queo  kommt   im   älteren   lat.  eine   derartige   Umsetzung  vor,   z.  b. 
quod   tarnen  expleri  nulla  ratione  potestur  (Lucrez).   vgl.  Draeger   §  93. 
Ferner  gehört  hierher  die  umdeutung  eines  von  einem  inf.  abhängigen 
objects  zum  subj.  des  regierenden,  von  hause  aus  unpersönlichen  ver- 
bums,  vgl.  ;>  yäq  xi  iv  avxoig  jtqootjxov  löelv  („was  es  sich  ziemte 
zu  sehen"  Plato),  löyov  xiva  jtQoqrjxoi'xa  gti^t/vca  (ib.).') 

Wir  haben  gesehen,  dass  die  verschiedenartigsten  Satzteile,  indem 
sich  zwei  andere  neben  ihnen  als  die  eigentlich  wesentlichen  heraus- 
heben, psychologisch  als  blosse  bindeglieder  gefasst  werden  können. 
Indem  gewisse  Wörter  regelmässig  so  verwendet  werden,  wird  die 
psychologische   kategorie    zu    einer   grammatischen,    die   betreffenden 

')  Die  oben  gegebene  darstellung  beruht  fast  ganz  auf  Madvig  kl,  sehr.  s.  362. 


246 

Wörter  werden  zu  Verbindungswörtern.  Verbindungswort  nenne 
icii  ein  wort,  wek'lies  die  fuuction  liat  das  verhältniss  zwischen  zwei 
begrillen  anzugeben,  welches  daher  auch  nur  neben  zwei  solchen  be- 
griffen funetiouieren  kann,  so  dass  es  weder  für  sich  noch  auch  bloss 
mit  einem  begriff'  verbunden  etwas  selbständiges  darstellen  kann.  Ver- 
bindungswort zwischen  subj.  und  präd.  ist  die  copula.  Neuerdings  ist 
die  bereehtigung  zur  aufstellung  einer  solchen  kategorie  bestritten, 
und  behauptet,  dass  man  die  copula  wie  jedes  andere  verb.  fin.  als 
prädicat,  das  prädicative  subst.  oder  adj.  dagegen  als  bestimmung  des 
prädicats  zu  fassen  habe.  Diese  ansehaunng  scheint  mir  ein  beispiel 
jenes  missverständnisses  der  forderuug  einer  Scheidung  zwischen  gram- 
matik  und  logik,  worauf  ich  ob  8.33  hingedeutet  habe,  ein  beispiel 
von  einseitiger  rücksichtnahme  auf  die  äussere  grammatische  form 
unter  Vernachlässigung  des  fuuctionsweiies.  Wir  dürfen  doch  nicht 
ausser  acht  lassen,  dass  Sätze  wie  träume  sind  schäume,  ylücklich  ist 
der  mami  gleichwertig  sind  mit  Sätzen  ohne  copula  träume  schäume, 
f/lück/ich  der  mann,  und  dass  sätze  von  der  einfacheren  form  offenbar 
ursprünglich  reichlich  gebildet  worden  und  erst  allmählig  durch  sätze 
mit  copula  mehr  und  mehr  zurückgedrängt.  Wollte  man  dem  ist  eine 
Selbständigkeit  gegenüber  dem  substantivischen  oder  adj ecti vischen 
prädicate  zugestehen,  so  würden  alle  hierher  gehörigen  sätze  existen- 
zialsätze  sein,  was  sie  doch  offenbar  dem  Sprachgefühl  nach  nicht 
sind.  Welcher  unsinn  würde  herauskommen,  wenn  wir  den  satz  das 
ist  unmöglich  auffassten  als  -das  existiert  als  etwas  unmögliches". 

Die  scheu  davor  die  copula  als  ein  Verbindungswort  anzuer- 
kennen entspringt  daraus,  dass  sie  vermöge  ihrer  flexion  den  verbalen 
Charakter  bewahrt.  Bei  erstarrten  formen,  die  keinem  flexi visehen 
Wandel  unterliegen,  scheut  man  sich  weniger  den  Übergang  vom  selb- 
ständigen wort  zum  Verbindungswort  anzuerkennen.  Dieser  Übergang 
kommt  immer  mit  hülfe  einer  gliederungsverschiebung  zu  stände,  wie 
noch  weiterhin  an  einer  reihe  von  beispielen  gezeigt  werden  wird. 

Eine  besondere  art  von  Verschiebung  der  gliederung  besteht  darin, 
dass  zwei  Satzglieder,  die  eigentlich  nur  eine  indirecte  beziehung 
zu  einander  haben,  indem  sie  von  dem  selben  dritten  abhängen,  in 
directe  beziehung  zu  einander  gesetzt  werden.  So  ist  wol  die  ent- 
stehung  des  prädicativen  accusativs  aufzufassen.  Wir  können  jetzt 
ebenso  gut  sagen  ich  mache  ihn  zum  narren  wie  ich  mache  einen  narren 
aus  ihm.  Es  ist  also  eine  doppelte  art  des  accusativs  bei  machen  mög- 
lich, einer,  welcher  den  gegenständ  bezeichent,  den  die  tätigkeit  triff't, 
und  einer,  der  das  resultat  derselben  angibt.  Setzt  man  beide  zugleich 
zum  verbum,  wie  das  im  mhd,  noch  in  einigen  Wendungen  möglich 
ist,  z.  b.  ich  mache  in  ritter,  so   muss   dabei   auch   die  Vorstellung  „er 


247 

wird  ritter"  oder  dergleichen  mit  ins  bewusstsein  treten,  und  so  werden 
die  beiden  aceusative  in  ein  verbältniss  zu  einander  gesetzt  nach  der 
analogie  von  subj.  und  präd.  Diese  crklärung  ist  auf  alle  fälle  an- 
wendbar, wo  in  den  verschiedenen  sprachen  ein  subst.  als  prädica- 
tiver  acc.  gebraucht  wird.  Die  Verwendung  des  adjectivums  als  eines 
prädicativen  objects  Hesse  sich  dann  als  eine  analogie  nach  der  Ver- 
wendung des  substantivums  fassen.  Doch  ist  ausserdem  in  betracht 
zu  ziehen,  dass  wir  neben  ich  mache  einen  menschen  glücklich  auch 
sagen  können  ich  mache  einen  fjlücklichen  menschen.  Entsprechend  ist 
die  entstehung  des  acc.  c.  inf.  zu  erklären.  Der  inf.  ist  ursprünglich 
ein  zweites  object  zum  regierenden  verbum.  So  verhält  es  sich  noch 
bei  unserem  ich  hcisse  ihn  aufstehen,  ich  lasse  ihn  arbeilen  etc.  Der 
inf.  kann  ja  auch  ohne  einen  anderen  acc.  als  object  stehen  {ich  lasse 
arbeilen).  Er  lehrt  mich  französich  sprechen  ist  in  der  construction 
nicht  wesentlich  verschieden  von  er  lehrt  mich  die  französische  spräche. 
So  kann  man  auch  lat.  neben  juhet  te  facere  sagen  quod  te  juhct. 
Ebenso  hat  der  nom.  c.  inf.  seine  anologie  in  der  passivischen  con- 
struction solcher  verba,  die  einen  doppelten  acc.  bei  sich  haben  können. 
Bibulus  nondum  audiebatur  esse  in  Syria  ist  construiert  wie  Cicero  per 
legatos  cuncla  edoctus\  quod  jussi  sunt.  Die  auffassung  des  substan- 
tivischen accusativs  als  eines  subjects  zu  dem  inf.  ergibt  sich  dann 
sehr  leicht  aus  der  realen  natur  des  Verhältnisses. 

Eine  andere  nicht  ganz  seltene  art  der  Verschiebung  besteht 
darin,  dass  ein  glied,  welches  eigentlich  zu  zwei  copulativ  oder  ad- 
versativ verbundenen  gliedern  gehört,  bloss  als  zum  ersten  gehörig 
aufgefasst  und  in  relation  zu  einer  die  beiden  verbindenden  partikel 
gesetzt  wird.  Unser  entweder  —  oder  fassen  wir  jetzt  als  zwei  cor- 
relative  partikeln.  Aber  entweder  ist  entstanden  aus  eindeweder  und 
bedeutet  eigentlich  „eins  von  beiden";  daher  ist  entweder  das  äuge  oder 
das  herz  eigentlich  „eins  von  beiden,  das  äuge  oder  das  herz".  Folge 
der  gliederungsverschiebung  ist  die  erstarrung  der  form,  so  dass  ent- 
weder zu  jedem  beliebigen  casus  und  jeder  beliebigen  wortart  gesetzt 
werden  kann.  Wo  entweder  —  oder  zur  Verbindung  von  Sätzen  dient, 
zeigt  sich  die  hineinziehung  des  ersteren  in  den  ersten  satz  auch  an 
der  inversion  {entweder  ist  er  tot  neben  er  ist  tot).  Genau  ebenso 
verhält  es  sich  mit  7veder  —  noch,  mit  mhd.  weder  —  oder  =  lat. 
utrum  —  an,  mhd.  beide  —  mid  =  engl,  both  —  a7ul  u.  a.  Wir  über- 
setzen lat.  aeque  ac  durch  „ebenso  wie".  Aber  ein  hie  mihi  aeqice pla- 
cet  atque  ille  ist  eigentlich  „dieser  und  jener  gefallen  mir  in  gleicher 
weise".  Dass  jedoch  eine  wirkliche  Verschiebung  der  gliederung  statt- 
gefunden hat  und  dass  das  vergleichende  ac  von  dem  copulativen  bis 
zu  einem  gewisssen  grade  isoliert  ist,  zeigt  der  regelmässige  sing,  des 


248 

piäd.  iu  den  fällen,  wo  das  ac  an  ein  singularisches  subj.  angeknüpft 
wird,  ferner  die  Wortstellung  nnd  endlich  solche  fälle,  in  denen  eine 
widergabe  des  ac  durch  und  in  keiner  weise  mehr  möglich  ist,  vgl. 
aeque  at  le  pelo  ac  si  mea  negofia,  essent.  Lehrreich  sind  verwandte 
constructionen,  die  noch  nicht  normal  geworden  sind,  bei  denen  die 
Verschiebung  entweder  noch  gar  nicht  eingetreten  ist  oder  wenigstens 
noch  nicht  usuell  geworden.  Zuweilen  steht  aeque  et  =  aeque  ac: 
aeque  promptnm  est  mihi  et  adversario  meo  (Cic),  vgl.  Draeg.  §  311,  18. 
Es  findet  sich  ferner  nc  oder  et  auch  nach  pur,  sifnil/s,  idem,  aiius  etc. 
(vgl.  ib.):  parlier  patribus  ac  plehi  carus\  pariter  corpore  et  animo  (Ter.); 
simul  consul  ex  multis  de  hostiiim  adventus  cognovit  et  ipsi  hostes  ade- 
rant  (Sali.);  solet  alia  senlire  et  loqui  (Caelius);  viae  pariter  et  pugnae 
(Tac);  omnia  fuisse  in  Tliemistocle  paria  et  Coriolano  (Cic);  haec  eodem 
tempore  Caesari  mandata  referebantur  et  in  Licori  vadum  reperiebatur 
(Caes.).  Die  selbe  Verschiebung  wie  bei  lat.  ac  ist  bei  anord.  ok  ein- 
getreten. 

Die  nämlichen  Verschiebungen  wie  innerhalb  des  einfachen  satzes 
finden  natürlich  auch  im  zusammengesetzten  satze  statt,  da  ja 
zwischen  einfachem  und  zusammengesetztem  satze  kein  eigentlich 
wesentlicher  und  consequent  durchführbarer  unterschied  besteht.  Der 
nebensatz  hat  die  nämliche  fuuction  wie  ein  Satzglied,  und  es  gilt  da- 
her auch  von  ihm  das  selbe  wie  von  jedem  anderen  gliede  in  bezug 
auf  die  gliederung  der  ganzen  periode.  Es  ist  daher  falsch,  wenn 
man,  wie  gewöhnlich  geschieht,  eine  jede  periode  zunächst  in  haupt- 
satz  und  nebensatz  (resp.  mehrere  nebensätze)  abteilt.  Erstens  ist  zu 
berücksichtigen,  dass  der  nebensatz  ein  unentbehrliches  Satzglied  wie 
das  subj.  vertreten  kann  (z.  b.  dass  er  nicht  kommt,  ärgert  mich)  und 
dann  ist  das,  was  man  den  hauptsatz  zu  nennen  pflegt,  in  Wahrheit 
gar  kein  satz,  sondern  nur  ein  Satzglied  oder  ein  complex  von  Satz- 
gliedern. Enthält  der  nebensatz  einen  entbehrlichen  bestandteil  der 
periode,  z.  b.  eine  Zeitbestimmung,  so  ist  es  ja  allerdings  möglich  ihr 
den  hauptsatz  als  etwas  für  sich  bestehendes  gegenüber  zu  stellen, 
aber  damit  gibt  man  keine  richtige  grammatische  und  nicht  immer 
eine  richtige  psychologische  gliederung.  Die  periode  ich  fragte  ihn 
nach  seinem  befinden,  als  ich  ihm  begegnete  zunächst  in  haupt-  und 
nebensatz  zu  sondern  hat  nicht  mehr  berechtigung  als  in  dem  satze 
ich  fragte  ihn  gestern  nach  seinem  befinden  zu  gliedern:  ich  fragte  ihn 
nach  seinem  befinden  +  gestern.  Wir  können  ja  auch  dem  nebensätze 
gerade  so  gut  wie  dem  adv.  gestern  seine  Stellung  zwischen  den  übrigen 
gliedern  geben.  Endlich  enthält  der  nebensatz  gar  nicht  immer  ein 
selbständiges  Satzglied,  sondern  häufig  nur  einen  teil  eines  gliedes, 
eine  bestimmung  zu  einem  gliede,  so  alle  relativsätze,  die  sieh  auf  ein 


249 

wort  des  hauptsatzes  beziehen.  Der  nebensatz  kann  nun  aber  so  gut 
wie  Jeder  andere  satztcil  nach  psychologischen  gesichtspunkten  eine 
andere  eingliederuug- verhingen  wie  nach  rein  grammatischen,  und  er 
kann  ebenso  gut  wie  jeder  andere  Satzteil  an  der  gliederungsver- 
schiebung  teilnehmen.  80  ist  dann  die  möglichkeit  einer  Zweiteilung 
in  haupt-  und  nebensatz  häufig  erst  die  folge  einer  gliederungsver- 
schiebuug.  Dabei  ist  immer  der  nebensatz  psychologisches  subj.,  der 
hauptsatz  präd.,  natürlich  in  dem  weiten  sinne,  wie  wir  ihn  cap.  (3  be- 
stimmt haben. 

Wenden  wir  den  s.  103  zwischen  abstracten,  coucreteu  und  cou- 
cret-abstracten  Sätzen  gemachten  unterschied  auf  den  zusammengesetz- 
ten satz  an,  so  ergibt  sich,  dass  die  hypothetischen  perioden  (im 
weitesten  sinne)  die  abstracten  und  abstract-concreten  umfassen.  Ab- 
stract  sind  z.  b.  irenn  es  reynct^  irird  es  nass\  wer  pech  angreift,  be- 
sudelt sich;  abstract-concret  wenn  du  es  noch  nicht  weiss f,  wi/l  ich  es  dir 
sagen;  so  oft  er  mir  begegnet,  fragt  er  mich;  wer  unter  euch  nicht  zu- 
frieden ist,  mag  es  sagen.  Der  sinn  eines  jeden  al)stracten  oder  ab- 
stract-concreten Satzes  lässt  sich  daher  durch  eine  hypothetische  periode 
ausdrücken. 

Wie  es  für  den  grammatisch  nicht  als  abhängig  bezeichenten  satz 
einen  stufenweisen  Übergang  von  Selbständigkeit  zu  abhängigkeit  gibt, 
so  kann  sich  der  grammatisch  als  abhängig  bezeichente  mehr  und 
mehr  der  Selbständigkeit  nähern.  Bei  der  oben  s.  123  charakterisier- 
ten Zwischenstufe  zwischen  logischer  abhängigkeit  und  Selbständigkeit, 
kann  die  grammatische  form  bald  die  der  Selbständigkeit,  bald  die  der 
abhängigkeit  sein.  Nach  der  bevorzugung  der  einen  oder  der  andern 
unterscheiden  sich  verschiedene  sprachen  und  verschiedene  Stilgattungen. 
So  ist  es  bekanntlich  charakteristisch  für  die  historische  periode  im 
lateinischen,  dass  die  mitteilung  von  tatsachen,  welche  an  sich  neu 
sind  und  einen  selbständigen  wert  haben,  die  aber  zugleich  zur  zeit- 
lichen und  causalen  bestimmung  einer  anderen  tatsache  dienen,  in  der 
form  eines  abhängigen  satzes  oder  einer  participialconstruetion  erfolgt, 
während  im  deutschen  die  form  des  selbständigen  satzes  vorgezogen 
wird.  Nicht  selten  ist  in  verschiedenen  sprachen  die  anknüpfung  eines 
relativsatzes,  welcher  das  vorhergehende  gar  nicht  bestimmt  oder  modi- 
ficiert,  sondern  eine  selbständige  mitteilung  enthält,  also  gleichen  wert 
mit  einem  copulativ  angeknüpften  hauptsatze  hat.  Vgl.  er  begab  sich 
nach  Paris,  von  wo  er  später  nach  Lyon  ging  (=  und  von  da  ging  er); 
ich  traf  gestern  deinen  vater,  mit  dem  ich  mich  lange  unterhielt  (gegen 
ich  traf  heule  den  herrn  wider,  mit  dem  ich  mich  gestern  unterhalten  hatte). 
Besonders  häufig  ist  diese  anknüpfung  bekanntlich  im  lat.,  und  man 
ist  es   hier  gewohnt  längere  perioden,   die  durch  ein  relativum  einge- 


250 

leitet  sind,  als  selbständige  sätze  zu  betrachten.  Ein  solches  lose  an- 
geknüpftes relativum  erscheint  auch  in  conjunctionssätzen,  wie  z.  b, 
quod  Tibcrhis  quum  fieri  animadvcrtit,  sinu  pugionem  eduxil  (Bell.  Hisp.); 
quac  si  dubia  aut  procul  essenl,  tarnen  omnes  bonos  reipublicae  subvenirc 
decebat  (Sali.)')  Ein  kriterium  fiir  die  verselbständigung-  des  relativ- 
satzes  ist  der  gebrauch  des  Imperativs  in  demselben.  Diesen  finde 
ich  im  griech.  neuen  testament:  2  Tim.  4,  15  ov  xcä  ov  (pvXäoöov  und 
Ebr.  13,  7  ojv  avaO^iojQovvziq  Tf)i>  txßaOiv  r/yg  ccvaöTQorfFjq  fUjitiuO^e 
tt)v  jtiöTiv;  an  beiden  stellen  auch  in  Luthers  Übersetzung:  vor  wel- 
chem hüte  du  dich  auch  und  welcher  ende  schauet  an  und  folget  ihrem 
glauben  nach.  Entsprechend  ist  die  Verwendung  von  quamquam  und 
etsi  =  jedoch.  Das  aufgeben  des  abhängigkeitsverhältnisses  tritt  uns 
besonders  entgegen  in  einem  falle  wie  do  poenas  temeritatis  meae\  etsi 
quae  fuit  Uta  temer itas?  (Cic).  So  kommt  auch  unser  wiewoJ,  obgleich 
vor,  wobei  sich  das  aufgeben  des  abhängigkeitsverhältnisses  in  der 
Wortfolge  documentiert,  vgl.  H'ie  darfst  du  dich  doch  meine7i  äugen 
weisen?  wie?vol  du  kommst  mir  recht  (Hagedorn);  obgleich  das  weissbrod 
schmeckt  auch  in  dem  schloss  nicht  übel  (Hebel). 

So  tritt  denn  auch  der  fall  ein,  dass  das  logische  abhängigkeits- 
verhältniss  geradezu  die  umkehrung  des  grammatischen  ist.  Die 
bekannteste  hierher  gehörige  kategorie,  die  sich  in  vielen  sprachen 
findet,  bilden  Zeitbestimmungen,  meist  mit  eben,  gerade,  noch,  kaum 
u.  dergl.,  auf  welche  der  logische  hauptsatz  nicht  bloss,  wie  wir  s.  123 
gesehen  haben,  in  der  form  des  hauptsatzes,  sondern  auch  in  der  des 
nebensatzes  folgen  kann ;  vgl.  kaum  war  ich  angekommen,  als  ich  befehl 
erhielt]  franz.  je  n'eus  pas  mis  pied  a  ierre,  que  l'hdte  vint  me  saluer. 
Einige  andere  beispiele  sind:  franz.  le  dernier  des  Bourbons  scrait  tue, 
que  la  France  nüen  aurait  pas  moins  un  roi  (Mignet)  =  wenn  auch  der 
letzte  der  Bourbonen  getötet  wäre,  würde  Frankreich  nichtsdestoweniger 
einen  könig  haben.  Mhd.  Jane  get  er  nie  so  balde,  erne  benahte  in  dem 
walde  =  mag  er  auch  noch  so  schnell  gehn,  die  nacht  wird  ihn  im 
walde  überraschen. 

Die  psychologische  gliederung  durchbricht  auch  die  grenzen 
zwischen  haupt-  und  nebensatz.  Ein  häufiger  fall  ist,  dass  eine 
Partikel,  die  eigentlich  dem  hauptsatze  angehört  mit  einer  dazu  in  be- 
ziehung  stehenden  den  nebensatz  einleitenden  partikel  zu  einer  einheit 
verschmilzt   und   nun   vom   Sprachgefühl  das  ganze  als  einleitung  des 

')  An  und  für  sich  beweist  allerdings  der  gebrauch  des  relativums  in  einem 
conjunctionssatz  nicht  lockerung  des  abhängigkeitsverhältnisses.  Vgl.  Lu.  Ap.  15,  29 
dass  ihr  euch  enhallet  von  gölzenopfer  etc.,  von  welchen  so  ihr  euch  enthaltet,  tut 
ihr  recht  (f|  iby  öiarf^ovvTtq  eavioin;  ei  n^ä^ert).  Hier  ist  das  rel.  gebraucht 
wie  sonst  als  teil  eines  Satzgliedes. 


251 

uebensatzes  aufgefasst  wird.  Vgl.  sowie  (got.  sivaswe,  alid.  soso),  so  dass, 
sobald  als,  auch  ivcnn\  lat.  sicul,  shuulac,  poslquam,  antequain,  priusquam, 
clsi,  eliamsi,  tam{en)- eist.  Noch  viel  wichtiger  ist  es,  dass  gewisse 
Wörter,  namentlich  pronomina  oder  partikeln,  die  ursprünglich  dem 
hauptsatzc  angehören,  zu  Verbindungsgliedern  zwischen  diesem  und 
einem  spychologisch  untergeordneten  satze  werden,  der  bis  dahin  noch 
von  keiner  partikel  eingeleitet  war,  ja  überhaupt  noch  gar  kein  gram- 
matisches zeichen  der  abhängigkeit  hatte.  Diese  Wörter  pflegen  dann 
als  ein  teil  des  nebensatzes  angesehen  zu  werden.  Auf  diese  weise 
sind  eine  menge  den  nebensatz  einleitende  conjunctionen  entstanden, 
und  dieser  einfache  Vorgang  der  gliederungsverschiebung  ist  eines  der 
wesentlichsten  mittel  gewesen,  eine  grammatische  bezeichnung  für  die 
abhängigkeit  von  Sätzen  zu  schaffen.  Meistens  waren  die  betreifen- 
den Wörter  ursprünglich  hinweisend  auf  den  folgenden  logisch  ab- 
hängigen satz  (vgl.  s.  120).  Hierher  gehört  die  wichtigste  deutsche 
partikel  daz  =  engl  fhat,  ursprünglich  nom.  acc.  des  demonstrativpro- 
nomens.  Ich  sehe,  dass  er  zufrieden  ist  ist  hevorgegangen  aus  einem 
ich  sehe  das:  er  ist  zufrieden.  Nachdem  die  hineinziehung  in  den 
nebensatz  und  die  dadurch  bedingte  Verwandlung  in  eine  conjunction 
sich  vollzogen  hatte,  konnte  diese  construction  ebenso  wie  der  acc.  c. 
inf.  (vgl.  s.  198)  auch  auf  fälle  übertragen  werden,  für  die  ein  nom. 
oder  acc.  des  pron.  nicht  passte,  vgl.  ich  bin  überzeugt  {davon).,  dass 
du  schuld  hast',  er  war  {so)  betroffen,  dass  er  kein  wort  er/viderti  konnte. 
Vielfach  ist  daz  auch  mit  einer  regierenden  präposition  in  den  neben- 
satz übergeti'eten.  Vgl.  mhd.  durch  daz  er  videlen  kmide,  weil  er  zu 
geigen  verstand,  eigentlich  deswegen:  er  konnte  geigen.  Ebenso  umhe 
daz,  äne  daz,  für  daz,  üf  daz  (selten),  bedaz  (während  dem).  Erhalten 
sind  davon  ohne  dass  und  auf  dass;  ausser  dass,  während  dass  und  an- 
statt dass  müssen  wol  als  analogieen  nach  jenen  betrachtet  werden, 
da  die  betreffenden  präpositionen  nicht  den  acc.  regieren.  Dagegen 
sind  einige  präpositionen  mit  dem  dat.  des  demonstrativpronomens 
erst  im  nhd.  durch  Verschiebung  zu  conjunctionen  geworden:  nachdem, 
seitdem.,  indem,  währenddem.  Vereinzelt  erscheint  so  darum:  darum  ich 
es  auch  nicht  länger  vertragen,  habe  ich  ausgesandt  (Lu.  1  Thess.  3,  5). 
Entsprechend  verhält  es  sich  mit  engl,  for  that  etc.,  ags.  for  päm,  dir 
päm.  Ferner  gehört  hierher  so  im  ahd.  und  älteren  mhd.  =  so  dass. 
So  in  beteuerungen  und  beschwörungen:  so  wahr  mir  golt  helfe,  so 
wahr  ich  hier  stehe,  wofür  man  auch  sagen  kann  so  wahr  wie  ich  hier 
stehe.  So  =  wie  sehr  auch,  wiewol:  so  guttnütig  er  [auch)  ist,  das 
tvird  er  nicht  tun\  vgl.  mhd.  so  vil  ze  Salerne  von  arzemen  fneister  ist, 
aber  auch  mit  einem  zweiten  relativen  so:  so  manec  wert  leben  so  liebe 
frumt\   vgl.  dazu   engl.  Natur e,   as  green  as  he  looks,   rests  evergwhere 


252 

0)1  dread  foundatmis  (Carlisle),  eine  construction ,  die  in  der  älteren 
spräche  hänfi?,'  ist,  während  die  neuere  meist  nur  das  zweite  relative 
as  setzt;  vgl.  ferner  afranz.  si  —  com,  nfranz.  si  que.  In  den  zu- 
letzt besprochenen  fällen  ist  ausser  dem  so  immer  noch  ein  weiteres 
ihm  eigentlich  nicht  angehöriges  dement  in  den  nebensatz  gerückt. 
Ebenso  verhält  es  sich  mit  nhd.  sobald  {als,  wie\  so  lange  {als,  wie)^ 
(in)  sofern,  {in)  soweit,  sowie.  Mit  unrecht  wird  dies  so  vielfach  als 
ein  ursprüngliches  relativum  aufgefasst.  Auch  substantiva,  teils  mit, 
teils  ohne  artikel,  zum  teil  in  abhängigkeit  von  einer  präposition  sind 
in  einen  logisch  untergeordneten  satz,  der  ihnen  zur  erläuterung  diente, 
(vgl.  s,  120)  eingetreten.  Vgl.  mhd.  die  ivile  ich  weit  dri  hove,  nhd.  die- 
weil,  alldieweil,  derweil ,  weil  =  engl,  {ihe)  wile\  nhd.  falls,  im  falle, 
sititemal  =  sint  dem  mdle\  seit  der  zeit  er  auferstanden  ist  (Lu.);  engl. 
on  (upon)  condition,  in  case  (beide  auch  mit  nachfolgendem  that),  be- 
cause. 

Auf  einem  ähnlichen  vorgange  beruht  im  deutschen  mindestens 
zum  teil  der  Übergang  des  demongtrativums  in  das  relativum.  Ein 
solcher  Übergang  erfolgt  auf  grund  der  oben  s.  114  besprochenen  art 
des  cmo  xoiroi.  Das  gemeinsame  glied  kann  durch  das  demonstrativ- 
pronomen  der  oder  durch  ein  demonstratives  adv.  gebildet  werden, 
vgl.  liefun  thie  nan  ftwmotun  (Otfrid);  thär  ther  sin  friunt  uuas  iu  er  lag 
fiardon  dag  bigrabaner  (wo  der,  welcher  früher  sein  freund  gewesen 
war,  den  vierten  tag  begraben  lag,  ib.);  ni  mag  diufal  ingegin  sin  thär 
ir  ginennet  namon  min  (nicht  kann  der  teufel  widerstehen  da,  wo  ihr 
meinen  namen  nennt,  ib.);  Ihn  giangi  thara  thu  uuoltos  (du  gingst  dahin 
wohin  du  wolltest,  ib.);  der  mich  liebt  und  kennt  ist  in  der  weite  (Goe,). 
Wir  würden  hier  von  unserem  Sprachgefühle  aus  das  pron.  oder  adv. 
als  relativ  und  zum  nebensatze  gehörig  auffassen,  und  diese  auffassung 
hat  sich  auch  dadurch  bekundet,  dass  sich  an  stelle  des  alten  demon- 
strativums  das  andere,  mit  dem  fragewort  übereinstimmende  relativum 
eingedrängt  hat,  welches  jetzt  in  allgemeinen  Sätzen  allein  noch  üblich 
ist:  wer  wagt,  gewinnt\  wo  nichts  ist,  da  hat  der  kaiser  sein  recht  ver- 
loren. Dass  aber  das  pron.  (und  demnach  auch  das  adv.)  ursprüng- 
lich gleichmässig  zum  haupt-  und  nebensatze  gehörte,  ergibt  sich  aus 
folgenden  gründen.  Erstens:  das  pron.  kann  mit  einem  subst.  ver- 
bunden auftreten,  welches  notwendig  auch  dem  hauptsatz  angehören 
muss:  in  droume  sie  in  zelitun  then  uueg  sie  faran  scoltun  (im  träume 
gaben  sie  ihm  den  weg  an,  denn  sie  fahren  sollten,  Otfrid),  der  möhte 
mich  ergetzen  niht  des  mceres  mir  iuwer  munt  vergiht  (der  möchte  mir 
keinen  trost  verschaffen  für  die  nachricht,  die  mir  euer  mund  ver- 
kündet, Wolfram);  er  sär  in  thö  gisageta  thia  sälida  in  thö  gaganta 
(Otfrid);  diu  sich  geliehen  künde  der  grözen  sül  da  zwischen  stuont  (Wol- 


253 

fram).  Zweitens:  der  casus  des  pronomens  richtet  sich  im  ahd.  und 
mhd.,  auch  noch  im  älteren  uhd.  gewöhnlich  nach  dem  hauptsatz,  wenn 
dieser  einen  gen.  oder  dat.,  dagegen  der  nebensatz  einen  nom.  oder 
acc.  verlangt:  uue  demo  in  vhistrt  scal  shio  virinä  sttten  (wehe  dem,  der 
in  finsterniss  seine  verbrechen  blisseu  soll,  Muspilli);  ouwe  des  da  nach 
geschiht  (Wolfram);  mit  all  dem  ich  kan  vnd  vermag  (Hans  Sachs). 
Drittens:  das  pron.  kann  von  einer  präp.  abhängen  und  diese  muss 
gleichfalls  mit  zum  haupt-  und  nebensatz  gezogen  werden:  n-az  ich 
bosser  handelunge  erliien  hän  von  den  ichs  wol  erläzen  möhte  sin  (von 
denjenigen  von  welchen  ich  wol  damit  hätte  verschont  bleiben  können, 
Minnesinger).  Viertens:  ein  fall,  der  hiervon  zu  unterscheiden  ist,  aber 
gleichwol  beweisend  dafür,  dass  das  pron.  ursprünglich  auch  dem 
hauptsatze  angehört,  ist  der,  dass  dasselbe  von  einer  präp.  abhängig 
ist,  die  nur  dem  hauptsatze  angehört,  vgl.  n-az  sul  trüren  für  daz  nie- 
man  kan  erwe?iden  (Minnesinger);  daz  ich  singe  orve  von  der  ich  iemer 
dienen  sol  (Heinr.  v.  Morungen);  auch  so,  dass  der  casus  nur  den  forde- 
rungen  des  hauptsatzes  entspricht:  der  suerit  bi  demo  temple,  suerit  in 
demo  dar  i^me  artöt  (schwört  bei  dem,  der  darin  wohnt,  Fragmenta 
theotisca);  den  valer  erit  da  zi  himili  der  sun  mid  den  er  hat  ?ii  in  erdi 
(jinimnun  (Summa  theologiae).  Wird  der  nebensatz  vorangestellt,  dann 
kann  das  gemeinsame  glied  noch  einmal  durch  ein  pron.  oder  adv. 
aufgenommen  werden,  vgl.  ther  man  thaz  giof/aleizit  thaz  sih  kuning 
heizii,  der  uuidarot  in  alauuär  themo  keisore  sdr  (der  mann,  welcher  es 
unternimmt  sich  köuig  zu  nennen,  der  widersetzt  sich  fürwahr  dem 
kaiser,  Otfrid);  daz  erbe  üch  lin-ere  vorderen  an  brächten  unt  mit  her- 
scilte  ervächten,  weit  ir  da  von  entrinnen  (Rolandslied):  den  schaden 
he  uns  to  donde  plecht,  dar  vor  kricht  he  nun  sin  recht  (Reineke  vos). 

Für  solche  fälle  wie  die  angeführten  ist  es  aus  den  oben  an- 
gegebenen gründen  klar,  dass  das  voranstehende  glied  wirklich  als 
ursprünglich  gemeinschaftlich  aufgefasst  werden  muss,  und  dass  die 
widerauf nähme  desselben  ursprünglich  auf  gleicher  linie  steht  mit  sol- 
chen fällen,  wie  den  schätz  den  hiez  er  füeren\  beide  schoiuren  unde 
grüezen  swaz  ich  mich  daran  versumet  hän  (Walther).  Es  steht  daher 
auch  nichts  im  wege  anzunehmen,  dass  sätze  wie  ther  brüt  habet,  ther 
scal  (her  brütigomu  shi  (Otfrid)  auf  die  nämliche  art  entstanden  sind. 
Doch  soll  damit  nicht  gesagt  sein,  dass  nicht  auch  relativsätze  auf 
grund  einer  anfänglichen  doppelsetzung  des  demonstrativums  ent- 
standen sind. 

Haupt-  und  nebensatz  können  sich  auch  derartig  in  einander 
schlingen,  dass  eine  sonderung  der  demente  des  einen  von  denen'  des 
anderen  nicht  mehr  möglich  ist,  was  sich  dann  auch  in  der  Wort- 
stellung  zeigt.     Nicht  selten   wird  in   vielen   sprachen   der   hauptsatz 


254 

logisch  so  iinterg:eor(lnet,  dass  man  ihn  als  biudeglied  fassen  kann, 
und  schiebt  sich  dann  in  den  uebensatz  ein.  Der  voranstehende  teil 
desselben  bildet  dann  das  psychologische  subject  oder  prädicat.  Der 
fall  ist  daher  besonders  häufig  in  frage-  und  in  relativsätzen.  Vgl.  it. 
inio  paare  e  mio  fratello  dimmi  ove  sono\  lat.  tu  nos  fac  ames  (Cic);  ver- 
bum  cave  faxis  (Plaut);  matrem  j'ubeo  requiras  (Ov.);  ducas  volo  hodie 
iLvorem  (Ter.):  quid  vis  eurem?  (Plaut);  quid  tibi  vis  dicam?  (ib);  engl. 
something,  that  1  believe  will  make  you  smile  (Goldsmith);  tvhereof  I  gave 
thee  Charge  thou  shouldst  not  eat  (Milton);  whose  fellorvsMp  therefore 
unmeet  for  thee  good  reason  /ras  thou  freely  shoiddst  dislike  (Milton). 
Mhd.  zuo  Amelolt  und  Neren  nu  hoeret  wie  er  sprach  (Alphaii);  die  en- 
weiz  ich  war  ich  tuo;  nhd.  eine  Sammlung^  an  deren  existenz  ich  nicht 
sehe  warum  JSik.  Antonio  zweifeln  wollen  (Le.).  Engl,  hut  with  me  I  see 
not  Tvho  partakes:  which  we  would  know  whence  learned  (Milton).  Nhd. 
mtf  diese  veralteten  Wörter  haben  nur  geglaubt,  dass  wir  unser  äugen- 
merk  vornehmlich  richten  miisslen\  mhd.  tiefe  mantel  wit  sach  man  daz 
si  truogen;  zuo  sinem  brüt lauft e  bat  er  daz  si  queemen;  \i.  questi  mercati 
giudico  io  che  fossero  la  cagione  (Mach.);  span.  los  forzados  del  rey  quiere 
que  le  dexemos  (Cervantes);  prov.  cosselh  m'es  ops  qu'ieu  en  prenda  (es 
ist  nötig,  dass  ich  einen  entschluss  in  bezug  darauf  fasse);  lat  hanc 
domum  jam  multos  annos  est  quom  possideo  (Plaut);  mhd.  swie  si  ivil^  so 
wil  ich  daz  mm  fröude  ste\  it.  solo  Toner edi  avvien  che  lei  connosca 
(Tasso);  er  hat  alles,  ?vas  ?nan  will  das  ein  mann  haben  soll;  mhd.  daz 
ich  ie  wände  daz  iht  w(ere\  franz.  voiVa  des  raisons  qu'il  a  cru  que  fap- 
prouverais\  it.  le  opere  che  pajono  che  abbino  in  se  qualche  virtii  (Mach.); 
nhd.  7ras  wollen  sie  denn  dass  aus  mir  werde?  (Le.);  wie  trollt  ihr,  dass 
das  geschehe?  woher  befehlt  ihr  denn  dass  er  das  geld  nehmen  soll? 
womit  wollt  ihr  dass  ich  mich  beschäftige?  die  mischung,  mit  welcher  ich 
glaube,  dass  die  moral  in  heftigen  situationoi  gesprochen  sein  will  (Le.). 
Dabei  entsteht  in  manchen  fällen  eine  Unsicherheit  darüber,  ob  der 
Yoranstehende  satzteil  noch  von  dem  verbum  des  grammatischen  neben- 
satzes  oder  vielmehr  von  dem  des  grammatischen  hauptsatzes  abhängig 
zu  macheu  ist  Wir  helfen  uns  jetzt  vielfach  durch  eine  doppelsetzung 
desselben  mit  verschiedener  construction,  wodurch  das  ineinandergreifen 
von  haupt-  und  nebensatz  vermieden  wird:  wovon  er  wusste,  dass  er 
es  nie  erlangen  würde. 


Cap.  XVII. 
Congruenz. 

lu  eleu  flectierenden  sprachen  besteht  die  tendenz  Wörter,  die  iu 
einer  beziehung-  zu  einander  stehen,  für  die  es  kein  besouderes  aus- 
drueksmittel  gibt,  möglichst  in  formelle  Übereinstimmung  mit  einander 
zu  setzen.  Hierher  gehört  die  congruenz  iu  genus,  numerus,  casus, 
person,  wie  sie  zwischen  einem  subst.  und  einem  dazu  gehörigen  präd. 
oder  attribut  oder  einem  dasselbe  vertretenden  pron.  oder  adj.  besteht; 
als  verwandte  erscheinungeu  können  wir  auch  die  Übereinstimmung  iu 
tempus  und  modus  innerhalb  einer  periode  anreihen.  Diese  congruenz 
ist  keineswegs  durchgängig  als  etwas  anzusehen,  was  sich  selbstver- 
ständlich aus  der  natur  des  logischen  Verhältnisses  ergibt.  Es  ist  z.  b. 
gar  kein  logischer  grund  vorhanden,  warum  das  adj.  an  dem  ge- 
schlechte, numerus  und  casus  des  substantivums  participieren  müsste. 
Wir  haben  uns  vielmehr  die  sache  so  zu  denken.  Den  ausgangspunkt 
für  die  entstehung  der  congruenz  haben  solche  fälle  gebildet,  in  denen 
die  formelle  Übereinstimmung  eines  Wortes  mit  einem  anderen  nicht 
durch  rücksichtnahme  auf  dasselbe  herbeigeführt,  sondern  nur  durch 
die  gleichheit  der  beziehung  bedingt  ist.  Nachdem  aber  die  congruenz 
als  solche  empfunden  ist,  hat  sie  ihr  gebiet  durch  analogische  Über- 
tragung auf  andere  fälle  weiter  ausgebreitet.  Dass  dies  der  entwicke- 
lungsgang  gewesen  ist,  werden  wir  am  besten  erkennen,  wenn  wir  zu- 
nächst solche  fälle  betrachten,  an  denen  sich  die  ausbreitung  der  con- 
gruenz noch  geschichtlich  verfolgen  lässt. 

Die  Übereinstimmung  im  geschlecht  und  numerus  erscheint  un- 
logisch über  das  ihr  eigentlich  zukommende  gebiet  ausgedehnt  in 
fällen,  wo  durch  das  subjeet  auf  ein  noch  unbekanntes  hingewiesen 
wird,  welches  erst  durch  das  präd.  einen  bestimmten  Inhalt  erhält. 
Das  pron.,  welches  das  subj.  bildet,  sollte  dann  immer  im  sg.  ueutr. 
stehen  und  tut  es  wirklich  stets  im  nhd.:  das  ist  der  mann\  das  sind 
die  richtigen;  ebenso  im  franz.  ce  sonl  mes  frhes.  Dagegen  erscheint 
es  mit  dem  präd.  in  Übereinstimmung  gebracht  im  engl,  these  are  thy 
mayyiific   deeds  (Milton);    it.  e   qiiesta  la   vostra  figlia?    span.  esla  es  la 


256 

espada;  griech.  avrtj  toi  dlxr/  tor)  Q^emv  (Hom.);  lat.  ea  demum  firma 
itmicitia  est  (Cic);  haec  tnorum  vitia  sunt  (Cic);  Atheyiae  istae  sunto 
(Plaut.);  quae  ajmd  alios  iracundio  dicitur,  ea  in  imperio  superhia  atque 
crudelitas  uppellatur  (Sali);  doch  aueli  id  tranquiUltas  erit  (Seneca) 
so  gewöhnlieh  im  negativen  und  bedingenden  satze.  Wir  werden 
diese  erseheinung  wol  am  besten  so  auffassen,  dass  sich  hier  das  subj. 
nach  dem  präd.  gerichtet  hat  wie  sonst  das  präd.  nach  dem  subj. 

In  copulativer  Verbindung  mit  pluralia  tantum  oder  Wörtern,  die 
im  plur.  eine  eigene,  bedeutung  haben  setzen  lateinische  Schriftsteller 
öfters  auch  andere  Wörter  im  plur.,  die  sonst  nur  im  sing,  gebraucht 
zu  werden  pflegen :  summis  opibus  atque  industrüs  (Plaut.);  neque  vigiliis 
neque  quietlhus  (Sali.);  paupertates  —  divitiae  (Varro);  vgl.  Draeg.  §  7,  4. 

In  einem  satze  wie  man  7iemif  (heissl)  ihn  Friedrich  kommt  dem 
namen  eigentlich  kein  casus  zu,  es  sollte  der  blosse  stamm  stehen; 
auch  kann  man  Friedrich  und  andere  eigeunamen,  die  kein  casus- 
zeichen enthalten,  als  stamm,  als  absoluten  casus  auffassen.  Man 
könnte  ferner,  insofern  eine  beziehung  auf  das  nennen  in  der  anrede 
stattfindet,  den  voc.  erwarten,  und  dieser  findet  sich  wirklich  im  griech. 
t/  pt  xaXelre  xvQit'}  (Luc.  6,  46),  in  der  Vulgata  übersetzt  quid  vocatis 
nie  domine? ^)  In  ermangelung  eines  reinen  Stammes  muss  dann  der 
nom.  eintreten,  der  übrigens  meistens  von  dem  voc.  nicht  zu  scheiden 
ist.  Im  got.  ist  die  eben  erwähnte  stelle  übersetzt  hwa  mik  haitid  frauja  ? 
Entsprechend  übersetzt  noch  Luther  was  heisst  ihr  mich  aber  herr,  herrl 
und  so  wird  der  nom.  (voc.)  auch  sonst  im  mhd.  und  nhd.  gebraucht: 
daz  man  in  hiez  der  bäruc  (Wolfram),  ich  hiess  ihn  mein  Montan  (Geliert); 
den  ich  herr  Stolle  nennen  hörte  (Insel  Felseuburg).  Das  gewöhnliche 
aber  ist  jetzt  der  aec,  und  schon  im  got.  heisst  es  panzei  jah  apaustu- 
luns  namnida.  Dieser  acc.  ist  nur  durch  die  gewohnheit  der  congrueuz 
veranlasst,  die  man  in  fällen  hatte  wie  got.  izei  piudan  sik  silban  taujip 
(der  sich  selbst  zum  könig  macht). 

Ebenso  sollte  in  Wendungen  wie  er  hat  den  namen  Max  der  reine 
stamm,  respective  in  ermangelung  eines  solchen  der  nom.  stehen,  und 
so  verhält  es  sich  im  deutschen.  Im  lat.  aber  ist  eine  construetiou 
wie  lactea  nomen  habet  (Ov.)  nur  poetisch  und  naehklassisch.  Im 
klassischen  lat.  erscheint  der  nom.  neben  nomen  nur,  wenn  dieses  selbst 
nom.  ist,  also  congruenz  stattfindet,  z.  b.  cui  nomen  Arethusa  est  (Cic). 
Daneben  wird  der  uame  in  congruenz  mit  der  person,  der  er  beigelegt 
wird,  gebracht,  z.  b.  nomen  ßlercuriost  mihi  (Plaut.).  Das  entsprechende 
schwanken  in  bezug  auf  die  congruenz  findet  sich  da,  wo  nomen 
acc.  ist:  filiis  duobus  Philippum  et  Alexandrum  et  ßliae  Apamam  nonmia 

')  Vgl.  Ziemer  .s.  71. 


257 

mposueraf  (Liv.)  —  cid  Snperbo  cognomen  facta  md'iderurtl  (Liv.). 
Dieses  schwanken  zeigt  am  besten,  tlass  die  cougruenz  hier  nicht  aus 
der  natur  der  sache  entsprungen  ist,  sondern  viehnehr  aus  einer  ge- 
wissen Verlegenheit  der  sprechenden,  die  in  ermaugelung  einer  abso- 
hiten  form  einen  casus  wählen  mussten  und  dabei  irgendwo  einen  an- 
schluss  suchten,  gemäss  dem  schon  die  spräche  durchdringenden  prin- 
cipe der  cougruenz. 

Eine  ähnliehe  Verlegenheit  besteht  bei  dem  prädicativen  oder 
prädicativ-attributiven  nomen  neben  einem  iuf.  Das  neuhochdeutsche 
ist  insofern  gut  daran,  dass  es  eine  absolute  form  des  adj.  hat:  es 
glückte  ihm  unbekannt  zu  bleiben.  Das  subst.  erseheint,  wo  es  nicht 
zu  vermeiden  ist,  dass  ein  bestimmter  casus  sich  zu  erkennen  gibt, 
immer  im  nom.:  nicht  nur  er  strebt  da^iach  berühmt  zu  werden,  sondern 
auch  es  steht  dir  frei  als  verständiger  mann  zu  handeln.  Im  lat.  steht 
der  nom.,  wenn  ein  anschluss  an  das  subj.  des  regierenden  verbums 
möglich  ist:  pater  esse  disce,  omitto  iratus  esse;  poetisch  ait  fuisse  navium 
celerrimus  (Catull);  rettulit  Ajax  esse  Jovis  pronepos  (Ov.);  ebenso  im 
griechischen,  auch  beim  substantivierten  inf.,  in  welchem  casus  dieser 
auch  stehen  mag:  OQtyovrai  rov  jcgcörog  txaöroc.  yiyveöß-ai  (Thuc); 
e6o§,£  jcäööocpog  elvat  öiä  t6  avroc.  fi?)  olöc  t  sirai  (Plato).  Im  griech. 
findet  eine  solche  anknüpfung  auch  an  einen  vom  regierenden  satze 
abhängigen  gen.  oder  dat.  statt:  ajraöiv  aväyTcr]  rcp  xvQävim  JioXe/iiqj 
sivai  (Plato);  ol  Aaxtöaifiöviot  Kvqov  sötovro  coc  jcgof^v^orärov  jTQog 
TOP  jtoXefiov  yevead-ai  (Xen.).  An  den  dat.  in  beschränktem  masse 
auch  im  lat:  a7ii?no  otioso  esse  ifnpero  (Terenz);  da  mihi  fallere,  da  justo 
sanctoque  videri  (Hör.);  nee  fortibus  illic  profuit  armentis  nee  equis  ve- 
locibus  esse  (Ov.) ;  allgemein  bei  licet.  Daneben  kommt  nach  licet  mihi 
zuweilen  der  acc.  vor  (z.  b.  si  civi  Romano  licet  esse  Gaditanum,  Cie.), 
daraus  zu  erklären,  dass  der  acc.  der  gewöhnliche  subjectscasus  beim 
inf.  ist.i) 

Ich  führe  noch  einige  fälle  an,  in  denen  keine  congruenz  durch- 
geführt ist  und  zum  teil  nicht  hat  durchgeführt  werden  können,  bei 
denen  man  sich  deshalb  in  ermangelung  des  eigentlich  einzig  berech- 
tigten reinen  Stammes  mit  dem  nom.  beholfen  hat.  Wir  sagen  z.  b, 
dem  als  eine  schreiende  Ungerechtigkeit  bezeichenten  befehle,  mein  beruf 
als  lehr  er,  sogar  die  Stellung  des  königs  als  erster  bürg  er  des  Staates', 
in  einer  läge  wie  die  seinige  neben  der  seinigen.  Im  lat.  finden  sich 
constructionen  wie  Sempronius  causa  ipse  pro  se  dicta  damnatur\  flumen 
Albim  transcendit,  longius  penetrata  Germania  quam  quisquam  priorum 
(Tae.).    Hierbei  finden  ipse  und  quisquam  zwar  eine  anlehnung  bei  dem 


')  Vgl.  Ziemer  s.  96. 
Paul,  Principien.    11.  Auflage.  17 


258 

subjeete  des  verl».  fin.,  geliinen  aber  eigentlich  nur  zu  dem  ablativus 
abs.,  in  welchem  sieh  ihnen  keine  ankniipfung-  bietet.') 

Namentlich  entsteht  eine  Verlegenheit  des  spreelienden  da,  wo 
eine  grammatische  congrueuz  zwischen  zwei  Satzteilen  dem  sinne  nach 
nicht  möglieh  ist  und  dazu  ein  dritter  Satzteil  tritt,  von  dem  man 
gewohnt  ist,  dass  er  mit  beiden  congruiert.  Man  muss  sich  für  einen 
von  den  beiden  entscheiden,  und  in  dieser  beziehung  kann  sich  der 
usus  in  verschiedenen  sprachen  verschieden  fixieren,  auch  in  einund- 
derselben  schwanken. 

Subject  —  prädicat  —  eopula.  Das  ursprünglich  normale  ist  jeden- 
falls, dass  die  eopula  sich  im  numerus  wie  jedes  andere  verb.  nach 
dem  subj.  richtet,  und  dem  entsprechend  heisst  es  z.  b.  engl.  ?7  was  my 
Orders,  what  is  six  winters;  franz.  c'esi  eiix,  c'elait  /es  petiles  iles\  lat. 
neqiia  pax  est  induciae  (Gellius).  Im  deutschen  aber  setzen  wir  bei 
pluralischem  präd.  die  eopula  im  plur.:  das  s'md  zwei  verschiedene  dinge. 
Das  gleiche  kann  in  anderen  sprachen  geschehen:  griech.  to  xfoQior 
rohxo,  ojTtQ  jTQortQor  Evrta  nÖol  txaXovi'To  (Thuc);  franz.  ce  sont  la 
des  vertus  de  roi.  Es  scheint  dies  dadurch  begründet,  dass  der  plur. 
sich  charakteristischer  geltend  macht  als  der  sing.  Doch  ist  in  meh- 
reren sprachen  auch  das  umgekehrte  möglich,  dass  zu  pluralischem 
subj.  und  singularischem  präd.  die  eopula  im  sing,  gesetzt  wird:  griech. 
«i'  xoQf/ylcii  ly.arov  evcSaiftovelac  orjf/ttöv  tön  (Ant);  lat.  toca,  quae  Nu- 
midia  appellatur  (Sali.);  engl.  t7vo  paces  in  the  vilest  earth  is  room  enough 
(Sh.);  Span,  los  encamisados  ern  gente  medrosa  (Cervantes);  nhd.  falsche 
wege  ist  dem  herrn  ein  greuel  (Lu.).  Entsprechend  verhält  es  sich 
mit  der  person  des  verbums.  Engl,  it  ivas  you,  is  ihal  you ;  franz.  cest 
moi,  cest  nous,  c'est  vouf,  in  der  älteren  spräche  auch  c'est  eux.  Dagegen 
nhd.  das  waren  Sie,  sind  Sie  das;  altfranz.  ce  ne  suis  je  pas,  c'estez  vons. 

Antieipierendes  unbestimmtes  subj.  —  logisches  subj.  —  prädicat. 
Franz.  rarement  it  arrive  des  revolutions,  il  est  des  gens  de  hien.  Da- 
gegen deutsch:  es  geschehen  unurälznngen. 

Ein  participium  als  i)räd.  oder  eopula  kann  sich  im  genus  und 
numerus  nach  einem  daneben  stehenden  prädicativen  subst.  richten 
anstatt  nach  dem  subj.  Vgl.  griech.  xävza  öir/yv^'^  ovaa  rvyxM'fi 
(Plat(i);  lat.  pauj/ertas  )nihi  onus  visnm  (Terenz);  nisi  honos  ignominia 
pntanda  est  (Cic.)  (dagegen  Semiramis  puer  esse  credita  est,  Justin). 
Das  gleiche  findet  statt  beim  ])rädicativen  acc:  griech.  xrjV  rjdorrjv 
(Siiöxf^Tf  o)Q  ayaUov  oi>  (Plato);  bei  attributiver  Verwendung:  griech, 
rac  &vyaTtQac,  Trcaöia  orra  (Dem.);  lat.  tiidi  fuere,  Megalesia  appel- 
lata  (Liv.). 


')  Vgl.  liit-rzii  Madvig  Kl.  sehr.  367 ft'. 


259 

Das  prUd.  kann  sieh  anstatt  uaoli  dem  subj.  nach  einer  zu  diesem 
gehörigen  apposition  richten:  g-riech.  (-Jijßai,  jcoXiq  dörvyiixmv,  tx  hiöjjq 
Ttjg  ^EXXäöoQ  avr}{)jiaöTai  (Aeseh.);  lat.  Corinthiim  totius  Graeciae  lumen 
exlinctum  esse  voluerunt  (Cie.);  J'olsinii  op/jidu/n  Tuscorimi  concre7natum 
est;  nhd.  die  Aegypter  aber,  dies  harte  und  gesetzmässige  volk,  schlug 
gleich  die  form  der  regel  2md  der  gorohnheif  auf  ihre  versuche  (Herder). 
Auch  bei  Umsetzung"  in  den  abl.  abs.:  onmi  ornatii  oraiiojiis  tamquam 
veste  detracta  (Cic).  Neben  distributiver  apposition  steht  der  sing, 
trotz  pluraliscben  subjectes:  ai  rt^pai  t6  avvijc:  txäoTtj  pQyor  egyä^tzai 
(Plato);  die  sich  nach  des  meisters  iode  sogleich  entzweiten  und  offenbar 
jeder  mir  eine  beschränkte  Sinnesart  für  das  rechte  erkannte  (Goe.);  da 
die  h'ahedme  und  die  sarjande  von  Semblidac  ieslicher  shier  künste  pflac 
(Wolfram). 

Auffallender  ist  die  anpassuug  des  präd.  an  ein  mit  dem  subj. 
verglichenes  nomen ;  im  genus :  magis  pedes  quam  arma  tuta  sunt  (Sali.); 
im  numerus:  me  non  tantum  literae  quantum  longinquitas  temporis  miti- 
gavit  (Cic);  ei  cariora  semper  omnia  quam  decus  fuit  (Ball.);  im  genus 
und  numerus:  quand  an  est  jeunes,  riches  et  joUes ,  comme  vous,  mes- 
dames,  on  n'e?i  est  pas  reduites  a  l'arlifice  (Diderot);  in  der  person:  oool 
ojöJi&Q  ijfiHg  EJiißovX&vofud^a  (Thuc);  in  person  und  numerus:  /}  rvxt/  cid 
ßeXTiov  r)  rjfislg  7j(iojv  avtcov  t-jiiftsXov/jsiha  (Demosth.).  Auffallend  ist 
auch  die  congruenz  des  präd.  mit  einem  zweiten  durch  ,uud  nicht"  ange- 
knüpften subjecte:  heaven  and  not  we  haue  snfely  fouyht  to-day  (Shakesp.). 

Im  griech.  kann  sich  eine  apposition,  wenn  sie  von  dem  nomen, 
zu  dem  sie  gehört,  durch  einen  relativsatz  getrennt  ist,  im  casus  nach 
dem  relativpron.  richten:  xvxXmjiog  xtjölmxai,  öv  ocfd^aX/iov  dXäojOsv, 
dvrid^eov  IloXvcfrjfiov  (Odyssee);  ol  jiaXaioi  sxtlvoL,  (6v  ovofiara  fisyaXa 
XtytTca,  llirxaxov  re  xal  Biavxog  (Plato). 

Ein  dem.  oder  rel.  kann  sich  anstatt  nach  dem  subst.,  auf  wel- 
ches es  sich  bezieht,  nach  einem  von  ihm  prädicierteu  nomen  richten: 
lat.  Leucade  sunt  haec  decrela\  id  caput  Arcadiae  erat  (Liv.);  quod  si 
non  hominis  swnmum  bonum  quaereremus,  sed  cnjusdam  animantis,  is  au- 
iem  esset  nihil  aliud  nisi  animus  (Cic);  animal  hoc  quem  vocamus  homi- 
nem  (Cic);  ü  sunt,  quam  tu  nationem  appellasti  (Cic);  in  pratis  Fla- 
miniis, que?n  nunc  circum  Flaminium  appellant  (Liv.);  griech.  ipoßoQ, 
i]v  aiöco  tljtofitr  (Plato).  Nach  dem  relativpron.  kann  sich  dann 
auch  noch  das  präd.  des  hauptsatzes  richten:  Carmonenses,  qiiae  est 
longe  firmissima  totius  provinciae  civitas,  per  se  cohortes  ejecit. 

Ein  relativpron.,  welches  sich  logisch  auf  ein  unbestimmtes  subj. 
bezieht,  pflegt  sich  nach  dem  dazu  gehörigen  bestimmten  ])rädicat  zu 
richten,  natürlich  dann  auch  das  präd.  des  pron.  So  müssen  wir  im 
deutschen  sagen:  es  war  ein  mami,  der  es  mir  gesagt  hat;    es  sind  die 

17* 


260 

besten  menschen,  die  dir  das  rufen.  Ebenso  im  franz.:  c'est  eux  qui 
ont  hau.  Im  franz.  richtet  sich  dabei  auch  die  person  des  verbums 
im  relativsatz  nach  dem  bestimmten  präd.:  c^est  moi  seid  qui  suis 
coupable.     Dagegen  uhd.:  du  bis/  es,  der  mich  gereitet  hat. 

In  einem  relativsatze  tritt  das  verb.  in  die  erste  oder  zweite  per- 
son im  anschluss  an  das  subj.  des  regierenden  satzes,  wiewol  das 
relativi)ron.  sich  auf  das  präd.  bezieht  und  danach  die  dritte  person 
erfordert  würde:  lat.  non  sum  ego  is  consul,  qui  nefas  arbitrer  Gracchos 
laudare  (Cic);  neque  tu  is  es,  qui  nescias  (ib.);  engl,  if  thou  heesi  he, 
ivho  in  the  happij  realms  of  light  didst  outshifie  myriads  (Milton);  /  am 
the  person,  that  have  had  (Goldsmith).  Diese  constructionsweise  könnte 
allerdings  auch  als  eoutamination  aufgefasst  werden;  in  dem  letzten 
beispiel  hätten  sich  also  die  gedanken  „ich  bin  die  person,  die  gehabt 
hat"  und  „ich  habe  gehabt"  mit  einander  vermischt.  Das  selbe  gilt 
von  einer  fUgung  wie  eine  der  penibelsten  aufgaben,  die  tneiner  täfig- 
keit  auferlegt  werden  ko7inie  (statt  konnten,  Goe.).  Damit  vgl.  man 
allaro  hämo  hetsta  thero  the  io  giboran  uurdi  (Heliand)  und  secga  cenegum 
pära  pe  tirleäses  trade  sceawode  (einem  der  männer,  welche  des  ruhm- 
losen spur  schauten,  Beowulf);  und  so  allgemein  im  altsächsischen  und 
angelsächsischen. 

Das  präd.  oder  attribut  kann  anstatt  mit  dem  subj.  oder  dem 
Worte  das  es  bestimmt,  mit  einem  davon  abhängigen  genitive  con- 
gruieren,  vgl.  rjX&s  d'  ejrl  "ipv/rj  Srißaiov  TeiQsöian  -^qvoeov  öx^jttqov 
tx(ov  (Hom.);  noch  auffallender  engl,  there  are  eleven  days'  journey  from 
Uoreb  unto  Kadishharnea  (Deut.  1,  2).  Im  franz.  sagt  man  la  plupart 
de  ses  amis  t abandonnerent ,  aber  la  plupart  du  peuple  voulait.  Wenn 
sonst  häufig  nach  einem  collectivum  mit  pluralischem  partitiven  gen. 
der  ])lur.  steht  (z.  b.  eine  anzahl  Soldaten  sind  angekommen).,  so  braucht  der 
gen.  allerdings  nicht  als  die  einzige  Ursache  für  den  plur.  betrachtet  zu 
werden,  da  derselbe  nach  dem  collectivum  an  sich  möglich  ist,  vgl.  s.  224. 

Vereinzelt  steht  im  lat.  ein  auf  eine  angeredete  person  bezügliches 
attribut  im  voc:  quibus,  Hector,  ab  oris  exspeclate  venis?  (Virg.). 

An  den  gegebenen  beispielen  lässt  sich  also  erkennen,  in  welcher 
weise  die  congruenz  sich  über  das  ihr  ursprünglich  zukommende  gebiet 
ausgebreitet  hat.  Wir  können  uns  danach  eine  Vorstellung  davon  machen, 
wie  dieser  process  sich  schon  in  einer  ])eriode  vollzogen  hat,  die  weit  über 
alle  unsere  Überlieferung  zurückreicht.  Freilich  muss  man  berücksich- 
tigen, dass  für  die  älteste  epoche  die  ausbreitung  der  congruenz  nicht 
etwas  80  unvermeidliches  war,  weil  noch  absolute  formen  ohne  flexions- 
suffixe  existierten. 

Betrachten  wir  nun  die  ersten  grundlagen,  von  denen  die  con- 
gruenz  ausgegangen   ist.     Eine  besondere  bewandtniss  hat  es  mit  der 


261 

congTiienz  des  v  er  bums  in  ]ier8üii  iiud  nunienis.  Die  verbalfurmen 
sind  ja  zumeist  durch  anlehuuug-  eiues  Personalpronomens  an  den 
tempusstamm  entstanden.  Wir  milssen  jedenfalls  eine  epoelie  voraus- 
setzen, in  welcher  sich  substautiva  in  der  gleichen  weise  mit  dem 
stamm  verbanden  und  pronomina  auch  vor  den  stamm  treten  konnten. 
Man  konnte  daher,  um  es  durch  formein  zu  veranschaulichen,  ebenso 
wie  gehen  ich,  gehen  du,  gehen  er  etc.  auch  sagen  gehen  valer,  vater 
gehen  und  ich  gehen  etc.  Es  gibt  verschiedene  nichtindogermanische 
sprachen  (z.  b.  das  ungarische),  in  denen  die  3.  person  sg.  in  gegensatz 
zu  den  übrigen  personen  eines  Suffixes  entbehrt.  In  ihnen  besteht  also 
noch  die  ursi)rüngliclie  art  der  Verknüpfung  nach  der  formel  gehen 
valer  oder  vater  gehen.  Die  weiterentwickelung  geht  dann  aus  von 
einer  doppelsetzuug  des  subjects,  wozu  es  auch  auf  modernen  sprach- 
stufen analogieen  gibt.  Vgl.  der  kirchhof  er  liegt  wie  am  tage,  die 
glocke  sie  donnert  ein  mächtiges  eins]  freilich  ist  er  zu  preise?!,  der 
mann  (vgl.  oben  s.  102);  Je  le  sais^  moi,  il  ne  voulut  }>as,  lui\  toi,  tu  vivras 
vil  et  malheureux.  Hierher  müssen  wir  auch  die  vorwegnähme  des 
subjects  durch  ein  unbestimmtes  es  ziehen  [es  genügt  ein  wort).  Die 
doppelte  ausdrückung  des  pronomens  tritt  ursprünglich  nur  ein,  wo 
dasselbe  besonders  hervorgehoben  werden  soll.  Wie  dieselbe  sich  aber 
allmählig  ausbreiten  kann,  besonders  durch  die  lautliche  reduetion  der 
pronominalformen  begünstigt,  zeigen  bairische  mundarten,  in  denen  wir 
z.  b.  folgende  häufungen  finden :  mir  hammer  (=  wir  haben  wir)  oder 
hammer  mir,  ess  lebts  (ihr  lebt  ihr)  oder  lebts  ess.  Es  hat  sich  also 
an  den  fertigen  verbalformen  noch  einmal  der  Vorgang  widerholt,  der 
sich  früher  an  den  tempusstämmen  vollzogen  hat.  Die  enclitisch  an- 
gelehnten pronomina  sind  mit  dem  verbum  verschmolzen  und  haben 
ihre  ursprüngliche  subjectsnatur  mehr  und  mehr  eingebüsst.  In  der 
indogermanischen  grundsprache  muss  die  entwickelung  bereits  so 
weit  gediehen  sein,  dass  die  formel  vater  gehen  schon  ganz  durch 
die  formel  vater  gehen  er  verdrängt  war.  Das  suffigierte  pronomen 
behauptet  aber  zunächst  noch  eine  zweifache  function.  In  einigen 
fällen  dient  es  noch  als  subject  (lat.  lego,  legit\  in  andern  zeigt  es  nur 
durch  die  congruenz  die  beziehung  auf  das  subj.  {pater  legit,  ego  scribo). 
In  den  meisten  modernen  indogermanischen  sprachen  ist  nur  die  zweite 
function  übrig  geblieben.  Die  hauptursache,  welche  dazu  geführt  hat 
die  Setzung  eines  zweiten  subjectspronomens  allgemein  zu  machen, 
ist  die,  dass  die  suffixe  zur  Charakterisierung  der  formen  nicht  mehr 
ausreichten.  Die  congruenz  des  verbalen  prädicates  mit  dem  subjecte 
hat  übrigens  an  sich  gar  keinen  wert.  Unsere  personalendungen  würden 
daher  ein  ganz  überflüssiger  bailast  sein,  wenn  sie  nicht  einerseits  dazu 
dienten  das   verbum  als  solches  erkennen  zu  lassen  und  anderseits  in 


262 

einigen  fällen  den  unterschied  des  modus  auszudrucken,  was  aber  beides 
sehr  uDvollkommen  und  in  unnötig  eomplicierter  weise  geleistet  wird. 

Was  die  nominale  eongruenz  betrifft,  so  ist  die  des  genus  und 
numerus  Jedenfalls  zuerst  an  dem  rückbezüglichen  pron.  ausgebildet, 
von  welchem  ja  das  grammatische  geschleeht  seinen  Ursprung  ge- 
nommen hat  (vgl.  s.  220).  Die  eongruenz  im  casus  hat  sich  zuerst  bei 
der  api)osition  eingestellt.  Es  besteht  zwar  auch  hier  au  sich  keine 
absolute  nötigung  das  casuszeichen  doppelt  zu  setzen. i)  Indessen  liegt 
es  nahe  die  appositiou  zu  einem  Satzteile  als  eine  nochmalige  Setzung 
dieses  Satzteiles  zu  fassen.  Eine  eongruenz  im  gen.  und  numerus  tritt 
bei  der  apposition  auch  jetzt  nur  ein,  wo  sie  durch  die  natur  der 
Sache  gefordert  wird.  Die  eongruenz  des  attributiven  und  ]irädica- 
tiven  adjectivums  kann  nur  aus  der  eongruenz  des  appositionellen  und 
prädicativen  substantivums  erwachsen  sein,  d.  h.  ihre  anfange  reichen 
zurück  in  eine  epoche,  in  welcher  sich  das  adj.  noch  nicht  als  eine 
besondere  kategorie  von  der  kategorie  des  substantivums  losgelöst 
hatte.  Den  ausgangspunkt  haben  die  substantiva  gebildet,  die  man  in 
der  lateinischen  grammatik  mobilia  nennt,  wie  coquus  —  coqua,  rex  — 
regina  etc.  Indem  solche  substantiva  in  adjectiva  übergingen  (vgl. 
unten  eap.  20),  behielten  sie  die  eongruenz  bei,  und  dieselbe  ward  so 
etwas  zum  wesen  des  adjectivums  gehöriges. 

Die  eongruenz  im  tempus,  die  sogenannte  consecutio  temporum 
hat  sich  im  allgemeinen  nicht  über  das  gebiet  hinaus  ausgedehnt, 
welches  ihr  von  anfang  an  zukommt.  Die  ausnahmen  von  den  darüber 
aufgestellten  regeln  zeigen,  dass  für  das  tempus  im  abhängigen  satze 
nicht  eigentlich  das  des  regierenden  massgebend  ist,  sondern  dass  es 
sich  selbständig  aus  inneren  gründen  bestimmt.  Etwas  weiter  ausge- 
dehnt ist  schon  die  eongruenz  des  modus,  die  dann  zuweilen  auch 
die  des  tempus  nach  sicli  zieht.  Vgl.  lat.  lanium  voluil  error,  ut,  Cor- 
pora cremata  cum  scirent,  tarnen  ea  fieri  apud  inferos  fingerent,  quae 
sine  corporibus  nee  fieri  possent  nee  intelligi  (statt  possimt,  Cic.);  m- 
vilus  feci,  ul  forlisstmi  viri  T.  Flaminii  fralrem  e  senatu  ejicerem  sepleni 
annis  postquam  consul  fiiisset  [fueral,  Cic.);  cum  timidius  agerel,  quam 
superioribus  diehus  consuesset  (Caes.)2)  Ziemlich  durchgehend  ist  die 
angleichung  des  modus  im  mhd. 


')  Wir  sehen  das  namentlich  daran,  dass  in  einer  jüngeren  epoche  bei  be- 
sonders enger  Verbindung  das  princip  der  eongruenz  wider  aufgegeben  und  die 
flexion  des  ersten  bestandteils  fortgelassen  ist;  vgl.  mhd.  des  künic  Gunthcres  Rp, 
an  küncc  Artüses  hove;  nhd.  Friedrich  Schillers,  des  herrn  Müller  (bei  Goe.  noch 
des  herrn  Carlyle's)  etc.    H.  Sachs  sagt  sogar  herr  Achilli,  dem  rilter. 

'•*)  Vgl.  Iiraeger  l.')I,  5. 


Cap.  XVIII. 
Spiirsaiukeit  im  ausdriick. 

Die  sparsamere  oder  reichlichere  Verwendung  sprachlicher  mittel 
für  den  ausdruck  eines  gedankens  hängt  vom  bedürfniss  ab.  Es 
kann  zwar  nicht  geläugnet  werden^  dass  mit  diesen  mittein  auch  viel- 
fach luxus  getrieben  wird.  Aber  im  grossen  und  ganzen  geht  doch 
ein  gewisser  haushälterischer  zug  durch  die  Sprechtätigkeit.  Es  müssen 
sich  überall  ausdrucksweisen  herausbilden,  die  nur  gerade  so  viel  ent- 
halten, als  die  Verständlichkeit  für  den  hörenden  erfordert.  Das  mass 
der  angewendeten  mittel  richtet  sich  nach  der  Situation,  nach  der  vor- 
ausgehenden Unterhaltung,  der  grösseren  oder  geringeren  Übereinstim- 
mung in  der  geistigen  dispositiou  der  sich  unterhaltenden.  Es  kann 
unter  bestimmten  Voraussetzungen  etwas  durch  ein  wort  dem  angeredeten 
gerade  so  deutlich  mitgeteilt  werden,  als  es  unter  anderen  umständen 
erst  durch  einen  langen  satz  möglich  ist.  Nimmt  man  diejenige  aus- 
drucksform  zum  massstabe,  die  alles  das  enthält,  was  erforderlich  ist, 
damit  ein  gedanke  unter  allen  umständen  für  jeden  verständlich  werde, 
so  erscheinen  die  daneben  angewendeten  formen  als  unvollständig. 

Es  begreift  sich  daher,  dass  die  sogenannte  ellipse  bei  den 
grammatikern  eine  grosse  rolle  gespielt  hat,  Misst  mann  allemal  den 
knapperen  ausdruck  an  dem  daneben  möglichen  umständlicheren,  so 
kann  man  mit  der  annähme  von  ellipseu  fast  ins  unbegränztc  gehen. 
Bekannt  ist  der  missbrauch,  der  damit  im  16.  und  17.  Jahrhundert  ge- 
trieben ist.  Indessen  war  dieser  missbrauch  doch  nur  die  weiter 
gehende  durchführung  von  anschauungen,  die  auch  jetzt  noch  in 
unseren  grammatiken  vertreten  sind.  Es  gilt  diesen  massstab  auf- 
zugeben und  jede  ausdrucksform  nach  ihrer  entstehung  ohne  hinein- 
tragung von  etwas  fremdem  zu  begreifen.  Man  wird  dann  die  an- 
setzung  von  ellipsen  auf  ein  minimum  einschränken.  Oder  aber  man 
müsste  den  begriff  der  ellipse  in  viel  ausgedehnterem  masse  anwenden, 
als  es  jetzt  üblich  ist:  man  müsste  zugeben,  dass  es  zum  wesen  des 
sprachlichen  ausdrucks  gehört  elliptisch  zu  sein,  niemals  dem  vollen 
Inhalt  des   vorgestellten   adäquat,   so   dass   also   in   Ijczug  auf  ellipse 


264 

Ulli-   eiu   gradunterschied  zwischen  den  verschiedenen  ausdriicksweisen 
besteht. 

Wir  betrachten  zunächst  die  ergäuzung  eines  wertes  oder  einer 
wortgruppe  aus  dem  vorhergehenden  oder  folgenden.  Hier  kann 
zunächst  die  frage  aufgeworfen  werden,  ob  und  wieweit  man  über- 
haupt berechtigt  ist  von  einer  ergänzung  zu  reden.  Wir  haben  oben 
s.  111  gesehen,  dass  ein  Satzteil  mehrfach  gesetzt  werden  kann.  Die 
übrigen  demente  des  satzes  haben  dann  gleichmässig  beziehung  zu 
dem  einen  wie  zu  dem  andern.  Man  wird  schwerlich  für  alle  fälle 
behaupten,  dass  diese  eigentlich  doppelt  gesetzt  werden  müssten,  dass 
sie  einmal  wirklich  gesetzt,  ein;  zweites  (drittes,  viertes)  mal  zu  er- 
gänzen seien.  Am  wenigsten  anwendbar  ist  der  begritf  der  ergänzung 
bei  der  construction  dxo  xolvov.  Aber  auch  in  einem  satze  wie  er 
sah  mich  und  erschrak  wird  man  nicht  nötig  finden  er  bei  erschrak 
noch  einmal  zu  ergänzen;  und  ebenso  wenig  wird  man  in  der  Ver- 
bindung 7nit  furcht  und  hoffnung  die  präp.  vor  hoffmmg  ergänzt  sein 
lassen,  weil  man  auch  sagen  kann  mit  furcht  und  mit  hoffnung.  Es 
fragt  sieh  aber,  ob  man  nicht  den  begriff  der  ergänzung  ganz  fallen 
lassen  und  dafür  die  einmalige  Setzung  mit  mehrfacher  beziehung  sub- 
stituieren kann.  Man  muss  dazu  nur  aufhören  das,  was  man  gewöhn- 
lich einen  satz  nennt,  als  eine  in  sich  geschlossene  einheit  zu  be- 
trachten, und  ihn  vielmehr  als  glied  einer  fortlaufenden  reihe  ansehen. 

Gebräuchlich  ist  es  eine  ergänzung  anzunehmen  in  fällen  wie  die 
deutsche  und  die  französische  spräche  und  noch  entschiedener  für  die 
form  die  deutsche  spräche  und  die  französische.  Dass  wir  aber  auch 
hier  nichts  anderes  haben,  als  zwei  glieder,  die  in  dem  nämlichen  ver- 
hältniss  zu  einem  dritten  stehen,  zeigt  der  umstand,  dass  wir  zwar 
nicht  im  deutschen,  wol  aber  in  anderen  sprachen  dergleichen  sprech- 
formen mit  anderen  vertauschen  können,  wobei  die  beiden  glieder  zu 
einer  einheit  zusammeugefasst  zu  dem  dritten  (oder  richtiger  jetzt  zwei- 
ten) gliede  gestellt  werden.  Dies  bekundet  sich  durch  die  anwendung 
des  plurals.  Man  sagt  z.  b.  quarta  et  Martia  legiones  (neben  legio 
Martia  quariaque,  beides  bei  Cic),  Falernum  et  Capanmi  agros  (var. 
agrum  Liv.),  it.  le  lingue  greca  e  latina  (neben  la  lingua  greca  e  latina), 
franz.  les  langues  francaise  et  altemande,  les  onzieme  et  douzieme  siecles, 
engl,  the  german  and  french  languages. 

Ein  ähnliches  verhältniss  haben  wir  da.  wo  zu  einem  gemein- 
samen gliede  eine  mehrheit  von  einander  correspondierenden  gliedern 
hinzutritt  {Karl  schreibt  gut,  Fritz  schlecht).  Dass  auch  hier  die  üb- 
liche annähme  einer  ergänzung  überflüssig,  ja  unzulässig  ist,  zeigt 
wider  die  in  manchen  sprachen  vorkommende  setzung  des  prädicats 
in  den  plur.,  vgl.  lat.  PaJatium  Romulus,  Remus  Aventinum  ad  inauguran- 


265 

dum  teinpla  capiunl  (Liv.);  denieutspreehend  auch  beim  altl.  abs.:  i/le 
Anliocho,  hie  Mithridale  pidsis  (Tac).  Selbst  bei  disjimetiün  der  sub- 
jeete  ist  der  pliir.  des  prädieates  in  verschiedeuen  sprachen  neben  dem 
sing,  in  gebrauch:  vgl.  lat.  si  quid  Socrates  aut  Aristippus  confra  inorein 
cotisuetudinemque  civiletu  fecerint  locutive  sinl  (Cic);  haec  si  neque  eyo 
neque  tu  fecimus  (Cic);  Roma  an  Carlhago  jura  genlibus  darent  (Liv.); 
franz.  ou  la  honte  ou  l'occasion  le  dctromperont;  ni  la  douceur,  ni  Id 
force  n'y  peuvent  rien\  engl,  nor  rvood,  nor  tree,  nor  hiish  are  thcre 
(Scott)  Dieser  plur.  ist  Jedenfalls  von  solchen  fällen  ausgegangen,  in 
denen  ohne  wesentliche  Veränderung  des  sinnes  vertauschung  mit  copu- 
lativer  Verbindung  möglich  war,  und  hat  sieh  dann  aualogisch  auch 
auf  solche  ausgedehnt,  die  keine  vertauschuug  zulassen.  Er  ist  ein 
beweis  datur,  dass  das  Sprachgefühl  sich  das  einmal  gesetzte  prädicat 
nicht  doppelt  gesetzt  gedacht  hat. 

Ein  gemeinsam  zu  haupt-  und  nebensatz  gehöriger  (respeetive 
in  dem  einen  zu  ergänzender)  satzteil  findet  sich  })ei  der  s.  114  be- 
sprochenen art  des  ajxo  xoivov  und  auch  bei  relativsätzen,  die  auf 
andere  weise  entstanden  sind,  z.  b.  den  lateinischen  {qui  tacei  consentit). 
Ferner  im  nihd.,  wenn  ein  eonjunctionsloser  nebensatz  im  verhältniss 
des  objects  zu  dem  regierenden  steht:  da  ivände  ich  st cete  fände  (Minne- 
singer), her  sprach  were  intrunnin  (Rother),  Seltener  sind  andere  fälle: 
nune  /reiz  ich  nie  es  beginne  (Tristan);  7ves  er  im  gedähte  daz  elliu  diu 
rvolde  hedn'i7igen  (j.  Judith);  mitthiu  ther  heilant  gisah  thio  menigi  steig 
ufan  berg  (Fragm.  theot);  kern  einer  her  mit  defn  opfer,  brecht  auch 
vil  golts  darvon  (H.  Sachs);  da  ihn  die  schöne  fraw  erblicket,  winckt 
ihm  (ib.);  was  ich  da  träumend  jauchzt  und  litt,  muss  /rächend  nun  er- 
fahren (Goe.);  dass,  indem  er  ihn  gesegnete,  ihm  gebot  und  sprach  (Lu.). 

Sehr  gewöhnlich  werden  in  der  Wechsel  rede  worte  des  einen 
vom  anderen  nicht  widerholt.  Doch  darf  man  das  nicht  als  argument 
datiir  geltend  machen,  dass  eine  ergänzung  anzunehmen  notwendig  sei. 
Denn  auch  die  wechselrede  muss  als  etwas  continuierlich  zusammen- 
hangendes betrachtet  werden. 

Als  eine  starke  anomahe  erscheint  es  uns  jetzt,  wenn  ein  Satz- 
glied nicht  zwei  sich  an  einander  anschliessenden  Sätzen  gemein  ist, 
sondern  zwei  durch  einen  dritten  getrennten,  vgl.  s/raz  er  den  künic  e 
geschalt,  des  wart  ir  zehenstunt  mer ,  und  (er)  Jach,  si  wcere  gar  ze 
her  (Wolfram);  wer  mit  wölfen  wil  geulen,  der  muss  auch  mit  in  heulen, 
sunst  tun  sie  sich  bald  meiden  und  (er)  ist  bei  in  unwert  (H.  Sachs). 
Ebenso,  wenn  die  sätze,  denen  das  glied  gemeinsam  ist,  sich  zwar  an 
einander  anschliessen,  aber  keine  directe  beziehung  zu  einander  haben, 
vgl.  so  ist  geschehen  des  ir  da  gert  und  wwnent  (ihr  meint),  mir  si  wol 
geschehen  (Hartmann  v.  Aue). 


266 

Das  gemeinsame  j^lied  kann  zwischen  den  nicht  gemeinsamen 
stehen,  so  dass  es  sich  zu  einem  jeden  gleich  bequem  fügt  {cmo 
x(nv(n'\  oder  es  steht  am  anfang  oder  schluss  des  ganzen:  dann  ist 
CS  zwar  dem  einen  näher,  aber  immer  noch  leicht  zu  dem  andern  zu 
ziehen;  oder  endlich  es  ist  in  eine  von  den  wortgruppen,  auf  die  es 
gleichmässig  zu  beziehen  ist,  eingefügt:  dann  erscheint  es  zunächst  nur 
zu  dieser  gehörig.  Uns  sind  solche  einfiigungen  nur  in  der  ersten 
gruppe  geläufig.  Hierbei  hat  die  annähme  einer  ergänzung  in  der 
zweiten  (dritten  etc.")  gruppe  am  meisten  für  sich.  Im  mhd.  ist  ein- 
fügung  in  die  zweite  nicht  ganz  selten:  fnäffe  und  mine  man  (meine 
verwandten  und  meine  lehensleute);  gelücke  und  Sifrides  heil;  daz  ich 
muoz  und  sterben  soh  Beispiele  aus  dem  nhd.:  nicht  sonne,  mond  und 
slcrnenschein,  mir  glänzte  nur  mein  kind  (Bürger);  es  bell'  und  mute,  wie 
der  hund  auch  immer  jvill  (Heinr.  Alberts  arien).  Vgl.  it :  il  mar  tran- 
quillo  e  l'aura  era  soave  (Petrarca);  non  pur  per  Varia  gemiti  e  sospiri, 
ma  volan  braccia  e  spalte  (Ariost);  afranz.:  Breton  l'ensaigne  lor  signor 
(das  feldgeschrei  ihres  lierrn)  e  II  Romain  crient  la  lor\  griech.  ovtt 
ßcofioc  ovT  'AjiöXXon'OQ  öofiog  oo'joh  08  (Eur.).  Bei  dieser  fttgung 
kann  wider  von  einer  ergänzung  eigentlich  nicht  die  rede  sein.  Viel- 
mehr bleibt  die  erste  gruppe  unvollständig,  bis  das  gemeinsame  glied 
ausgesprochen  ist,  welches  dann  in  diesem  augenblicke  zugleich  zur 
Vervollständigung  der  ersten  und  der  zweiten  gruppe  dient. 

Die  function,  welche  ein  gemeinsames  glied  hat,  ist  oft  nicht 
nach  den  verschiedenen  selten  hin  die  gleiche.  Hierdurch  entsteht 
ein  missverhältniss,  indem  sich  das  glied  in  seiner  grammatischen  form 
nur  nach  einer  seite  richten  kann.  Die  scheu  vor  diesem  missverhält- 
niss, welches  sich  durch  widerholung  vermeiden  lässt,  ist  in  den  ver- 
schiedenen sprachen  und  perioden  eine  sehr  verschiedene. 

Am  unanstössigsten  ist  überall  uichtübereinstimmung  in  der  ge- 
forderten person  (auch  numerus)  des  verbums.  Vgl.  er  hat  fiiich  eben 
so  lieb  n'ie  du;  du  glaubst  es,  ich  nicht \  sie  reisen  morgen  ab  —  ich 
auch.  Als  abnormität  aber  erscheint  es  uns,  wenn  das  gemeinsame 
glied  sich  nach  dem  zweiten  teile  richtet,  vgl.  avTOc.  (ihv  vöcoq,  iyco 
61  oivov  Jiira)  (Dem.);  dass  ich  im  vater  und  der  vater  in  mir  ist  (Lu.); 
HÖH  socii  in  fide,  non  exercitus  in  officio  mansit  (Liv.).  Die  differenz 
des  tempus  ist  unberücksichtigt  in  folgenden  beispielen:  rjnüc  ofioloi 
xiä  TOTfc  xal  i'vv  i:(jfif-v  (Thuc);  aX?.a  /je)'  JCQotf^QOV,  aXXa  (Vt  vvv  xtiQn 
?Jyiir  (Xeu.);  die  ditterenz  von  tempus  und  modus  zugleich  in  folgen- 
dem: tjittdr)  ov  TOTf,  dXXä  vvi>  öti^ov  (Dem.).  Eine  ziemlich  gewöhn- 
liche erscheinung  ist  es  wider,  dass  der  inf.  aus  einem  verb.  fin.  zu 
entnehmen  ist:  er  hat  gehandelt,  wie  er  musste;  noch  freier  im  mhd. 
nach  der  min  herze  ie  ranc  wid  iemer  fnuoz;  griech.  Jtävv  xciXsjtcbg  sx^f 


267 

olfiiu  dt  xal  v}i(y)V  rot'*;  jroAAoiv-  (Plato).  Seltener  ist  so  ein  part.  zu 
entnehmen,  vgl.  mhd.  daz  diu  /ninn  dich  vciicilet ,  als  si  manegeu  hat. 
Einunddieselbe  form  fungiert  im  deutschen  zuweilen  als  inf  und  als 
part.:  ich  habe  es  nicht  und  werde  es  nicht  ver(/essen  (Klopstock);  vgl. 
weitere  beisjnele  bei  Andr.  Sprachg.  s.  133.  H,  Sachs  sagt  zu  ehren  sein 
/vir  zu  euch  kuwen,  ein  histori  vm  für  genumcn,  wiewol  von  dem  zwei- 
ten verbum  das  perf.  hätte  durch  Jiahen  umschrieben  werden  müssen. 
Bei  den  nomina  sind  dergleichen  incongruenzen  in  der  jetzigen 
spräche  fast  durchweg  verpönt,  erscheinen  aber  in  der  älteren  spräche 
häutig,  zumal  im  sechszehnteu  Jahrhundert,  zum  teil  auch  nocii  bis  in 
unser  Jahrhundert,  und  finden  sich  auch  in  anderen  sprachen  reichlich. 
So  congruiert  das  adj.  nur  mit  dem  nächststehenden  von  zwei  copu- 
lativ  verbundenen  Substantiven:  aus  meinem  grossen  kummer  und  traurig- 
keit  (Lu.),  von  eurer  saat  und  Weinbergen  (Lu.),  sein  sonstiger  ernst  und 
trockenheit  (Goe.),  seiner  gewöhnlichen  trockenheit  und  ernst  (ib.);  viele 
beispiele  bei  Andr.  Sprachg.  127  ff.;  franz.  un  homme  ou  wie  femme  noijce\ 
it.  in  publica  utilita  ed  onore,  le  cila  cd  i  villagi  magnifichi;  span.  loda 
sa  parentela  y  criados,  la  multitud  y  dolor,  los  pensiamentos  y  fneniorias, 
un  pabellon  o  tienda\  lat.  urbem  ac  portuni  validwn  (Liv.).  Zu  mehreren 
Präpositionen,  die  verschiedene  casus  regiereu,  wird  ein  wort  nur  ein- 
mal gesetzt  ohne  anstand,  wenn  die  verschiedenen  casus  lautlich  über- 
einstimmen, z.  b.  mit  und  ohne  kost;  aber  auch  bei  nichtübereinstimmung, 
z.  b.  um  und  neben  dem  hochaltare  (Goe.),  durch  und  mittelst  der  spräche 
(Herder);  weitere  beispiele  bei  Andr.  Sprachg.  s.  128.  Ebenso  kann 
auch  neben  mehreren  verben  die  nämliche  form  mehrere  casus  reprä- 
sentieren, vgl.  lat.  quod  t actum  est  et  illc  aujunxit  (Cic);  quae  neque  ego 
teneo  neque  sunt  ejus  generis  (ib.);  nhd.  was  geschieht  und  ich  nicht  hin- 
dern kann  (Le.);  eine  dose,  die  er  mit  80  gülden  bezahlt  hätte  und  nur 
40  wert  wäre  (Goe.)');  womit  uns  für  die  zukunft  der  Himmel  schmeicheln 
und  bedrohen  kann  (Goe.);  bei  dessen  gebrauch  wir  einander  mehr 
schmeicheln  als  verletzen  (Goe.)-);  leidlicher  wer  mir  vnd  het  auch  lieber 
das  drey  oder  vierteglich  fieber  (H.  Sachs);  bei  Zwischenstellung  vnd 
wissen  nit  jr  widervart  mag  offt  lang  haben  nit  mehr  fug  (H.  Sachs). 
Selbst  ein  von  einer  präp.  abhängiges  wort  wird  zugleich  zum  subj. 
des  folgenden  verbums  gemacht:  dan  leszt  er  uns  für  fragen  schon  das 
heilig  euangelion  durch  sein  heilige  junger,  deuten  all  christlich  pre- 
diger  (H.  Sachs);  von  ritter  Cainis  ich  lasz  het  lieb  fraw  Gardeleye  (ib.). 
Die  freiheit  wird  auch  auf  solche  fälle  ausgedehnt,  wo  eigentlich  formen 
von  verschiedener  lautgestaltung  verlangt  würden.   Namentlich  fungiert 


1)  Vgl.  Andrs.  Sprachg.  s.  129.  130. 
»)  Vgl.  ib.  s.  133. 


268 

ein  obliquer  casus  zugleich  als  suhj.  zu  einem  folgenden  verb.  So  bei 
asyndctisclicr  ncbcncinauderstelluug:  Hess  der  bischo/f'  die  seinen  über 
das  her  laufen,  erslaehen  der  ellich  (Wiltwolt  von  Schau raburg,  1507); 
mit  zvvischenstelluug  ich  war  selb  bei  dieser  handlung,  gschach  e  du 
/rarst  geborn  (H.  Sachs).  Ebenso  bei  Verbindung  durch  und:  sehr  häufig 
im  nihd.,  vgl.  ez  möhte  uns  wol  gelingen  und  hrmhten  dir  die  frourven\ 
aber  auch  noch  nlid.,  vgl.  er  setzte  sich  auf  einen  jeglichen  unter 
ihnen  und  fvurden  alle  voll  des  heiligen  geistes  (Lu.);  den  es  krenke 
meinethalben  und  meinen  ohren  offenbare  (Lu,);  auch  dem,  der  sie  ver- 
folgt, und  (lehl  und  schenkt  und  schwöret,  wird  kaum  ein  blick  gegönnt, 
und  wird  nur  halb  gehöret  (Le.).  Bei  Verbindung  durch  wan  (=  denn): 
thut  euch  bedenken,  wan  wisset  selber  je  gar  wol  (IL  Sachs).  Auch  zu 
der  oben  s.  205  bezeicheuten  anomalie  kann  noch  incongruenz  hinzu- 
treten, vgl.  belibe  ich  äne  man  bi  iu  zwei  jär  oder  driu,  so  ist  min  herre 
lihte  tot  und  kument  (kommt  ihr)  in  so  grbze  not  (Hartmann  v.  Aue). 
Beispiele  bei  axo  xotvov  mit  logischer  Unterordnung  sind  schon  oben 
s.  114  und  s.  115  gegeben.  Im  lat.  kann  auch  ein  nom.  einen  acc. 
mit  vertreten:  qui  fatetur  .  ,  et  .  .  non  timeo  (Cic);  ein  dat.  einen  acc: 
cui  fidem  habenl  et  bene  rebus  suis  consulere  arbitrantur  (ib.).  Es  kann 
auch  ein  possessivpron.  das  betreffende  personalpron.  mitvertreten:  ja 
was  ez  ie  din  site  unde  hast  tnir  da  mite  gemachet  manege  swcere  (Hart- 
mann V.Aue);  alsobald  stunden  seine  sckenkel  und  knöchel  feste,  sprang 
auf  (Lu.).  Oder  ein  da,  welches  mit  einem  adv.  verbunden  ist,  das 
demonstrativpron.:  da  mite  so  müezeget  der  muot  und  (das)  ist  dem  Übe 
ein  michel  guot  (Gottfrid  v.  Strassburg).  Endlich  können  zwei  ver- 
schiedenartige Satzteile  zusammengefasst  das  subject  zu  einem  folgen- 
den verb.  bilden,  vgl.  da  vuorte  si  in  bi  der  haut  und  säzen  zuo  ein- 
ander nider  (Hartmann  v.  Aue);  dö  nam  daz  Constantinis  wlb  ir 
locht  er,  die  was  herlich,  unde  bätin  Dietheriche  (Rother);  wie  herzog 
Jason  wardt  verbrandt  von  Medea  also  gejiandl;  hellen  doch  vor  viel 
zeit  vertrieben  (H.  Sachs);  so  hertzlieb  von  hertzlieb  musz  scheiden  vnd 
gentzlich  kein  ho/fnung  mehr  handt  (ib.). 

Wir  haben  in  cap.  IG  gesehen,  dass  zwei  hauptbegriflfe  durch  ein 
oder  mehrere  mittelglieder  verknüpft  sein  können,  welche  die  art 
der  verknUi)fung  genauer  bestimmen,  sei  es  dass  dieses  verhältniss  zu- 
gleich psychologisch  und  grammatisch  ist,  oder  dass  es  rein  psycho- 
logisch ist  und  sich  mit  der  grammatischen  verknüpfungsweise  nicht 
deckt.  Da  nun  häufig  daneben  ausdrucksweisen  vorkommen,  welche 
solcher  mittelglieder  entraten,  so  ist  man  leicht  geneigt  diese  für  ellip- 
tisch zu  erklären.  Diese  auschauung  ist  für  viele  fälle  durchaus  zu- 
rückzuweisen. Wenn  man  z.  b.  statt  Hectoris  Andromache  und  Caecilia 
Metern  genauer   sagen   könnte  Andromache  uxor  Hectoris  und  Caecilia 


269 

ßia  Met  ein  so  tbli;t  daraus  doch  nicht,  dass  bei  den  kürzeren  aus- 
drueksweiseu  die  formen  uxor  oder  /ilia  zu  ergänzen  sind,  sondern  sie 
erklären  sieh  ohne  solchen  behelf  ans  der  allgemeinen  function  des 
genitivs,  und  wer  hier  eine  ellipse  annimmt,  mnss  consequenterweise 
mit  den  graramatikern  des  sechzehnten  Jahrhunderts  bei  jedem  genitiv 
eine  ellipse  annehmen.  Daneben  finden  sieh  aber  solche  ausdrucks- 
formen,  für  welche  der  bezeiehnung  elliptisch  eine  gewisse  berech- 
tigung  nicht  abzusprechen  ist,  insofern  sie  auf  grund  vollständigerer 
ausdrucksweisen  entstanden  sind,  bei  denen  aber  darum  doch  nicht 
die  auslassung  eines  bestimmten  Wortes  anzunehmen  ist. 

Richtungsbezeichnungen  sind  gewiss  ursprünglich  nur  neben  verben 
der  bewegung  entwickelt.  Man  findet  nun  öfters  eine  richtung  ange- 
geben neben  verben,  die  bereiten  oder  dergl.  bedeuten,  vgl.  mhd.  .<:ich 
bereite  von  dem  layide  vil  inanic  ritt  er  starc  (Nibelungenlied),  wir  suln 
ouch  uns  bereiten  heim  in  mhiiu  lant  (ib.);  dö  soumte  fnan  (lud  man  auf) 
den  degenen  von  dannen  träfen  und  gewanl  (ib.  C);  di  sich  gegartvet  häten 
ze  strite  üf  daz  velt  (Alphart);  dö  vazte  sich  der  herzöge  in  des  kuniges 
kof  (da  rüstete  sich  der  herzog,  um  an  den  hof  des  königs  zu  ziehen; 
Kaiserehronik,  und  so  öfter  in  diesem  denkmal);  vgl.  griech.  (pavigog 
7]v  o'ixmh  jcaQaox8va^6i^i£vog  (Xen.);  ähnlich  txsXsvOav  sjcl  rä  ojiXa 
(ib.).')  Ebenso  bei  mhd.  rümen:  heiz  inz  rümen  von  dan  (Hartmann 
V.  Aue),  ich  rüme  dir  daz  liche  von  hinnen  vlühticliche  (Rudolf  v.  Ems). 
Vgl.  ferner  griech.  IxXÜJiiiiv  rr/V  jrnXiv  stg  y^ojQiov.  Es  ist  nicht  an- 
zunehmen, dass  bei  solchen  Wendungen  dem  sprechenden  etwa  der 
nicht  ausgesprochene  inf  eines  bestimmten  verbums  wie  gehen,  reiten 
oder  dergl.  vorgeschwebt  hat.  Vielmehr  ist  der  psychologische  pro- 
cess,  dem  z.  b.  die  weudung  jiaQaöxsvd^eo&^ai  olxaöe  ihre  entstehung 
verdankt,  folgender.  Es  seh  weben  zunächst  die  beiden  begriffe  des 
sich  bereitens  und  des  räumliehen  zieles,  um  dessen  willen  mau  sich 
bereitet,  vor  und  verbinden  sich  direct  mit  einander  als  psychologisches 
subj.  und  präd.  Indem  man  aber  von  Sätzen  her  wie  jtoQtvomat  olxaös 
oder  jraQaöxeväCotnai  olxadt  jtOQSvto&ai  die  gewohnheit  hat  das 
räumliehe  ziel  in  einer  bestimmten  form  auszudrücken,  wendet  man 
diese  form  auch  hier  an.  Es  wirkt  also  zweierlei  zusammen:  einer- 
seits die  schon  vor  der  entstehung  aller  formellen  demente  der  spräche 
vorhandene  und  immerdar  bleibende  fähigkeit,  die  beziehung,  in  welche 


*)  Indem  solche  Verbindungen  gewohnheitsmässig  werden,  kann  sich  die  aiif- 
fassung  von  der  bedcutung  des  verbums  verschieben,  indem  die  bewegung  in  einer 
bestimmten  richtung  als  mit  dazu  gehörig  augesehen  und  schliesslich  zur  haupt- 
saclie  wird.  So  ist  nhd.  schicken  ursprünglich  „zurecht  machen",  reise  ursprünglich 
„aufbruch",  anfbrecheu  ursprünglich  das  gegenteil  von  mifschhigcn  (nämlich  das 
lager). 


270 

zwei  l)eg:rift'e  im  bewiisstsein  zu  einander  getreten  sind,  mag  dieselbe 
nun  eine  unmittelbar  gegebene  oder  eine  durch  andere  begrifte  ver- 
mittelte sein,  dureb  nebeneinanderstellung  der  bezeiebungen  für  diese 
begriffe  auszudrucken;  anderseits  die  analogie  der  entwickelten  aus- 
drucksi'ormen. 

Das  nämliche  verhältniss  findet  noch  in  sehr  vielen  anderen 
fällen  statt.  Es  gehören  hierher  viele  der  in  cap.  6  besprochenen 
ausdrucksformen,  wie  scherz  hei  seile,  wer  da?  etc.  Nachdem  einmal 
die  meisten  Wörter  formelle  demente  in  sich  aufgenommen  hatten, 
konnte  die  eben  bezeichente  und  in  cap.  6  näher  erörterte  fähigkeit 
sich  gar  nicht  anders  äussern,  als  indem  zugleich  die  bedeutung  dieser 
formalen  demente  zur  geltung  kam.  Wir  betrachten  jetzt  noch  einige 
weitere  hierher  gehörige  eonstructionsweisen.  die  gewöhnlich  für  ellip- 
tisch augesehen  werden. 

Den  schon  besprochenen  zunächst  stehen  richtungsbezeichuungen 
nach  den  verben  können,  mögen,  sollen,  wollen^  dürfen,  müssen,  lassen, 
z.  b,  ich  mag  nicht  nach  hause,  ich  lasse  dich  nicht  fort.  Diese  sind 
so  usuell  geworden,  dass  sie  vom  Standpunkte  des  gegenwärtigen 
Sprachgefühles  aus  in  keinem  sinne  als  elliptisch  bezeicheut  werden 
können.  Ferner  Wendungen  wie  er  ist  weg^  er  ist  nach  Rom,  die  nicht 
anders  aufzufassen  sind  wie  er  ist  in  Rom,  d.  h.  weg  und  nacli 
Rom  sind  als  prädicate  zu  nehmen,  ist  als  copula.  Zu  vergleichen 
sind  lateinische  constructionen  wie  quando  cogitas  Romam  7  (Cic),  ipsest 
quem  volui  obviam  (von  dem  ich  wollte,  dass  er  mir  entgegen  gehen 
sollte,  Ter.),  pulo  ntrimique  ad  aquas  (Cic). 

Wenn  wir  sagen  ich  möchte  dich  nicht  anders,  als  du  bist,  so  wird 
man  das  schwerlich  aus  einer  ellipse  von  haben  erklären  wollen. 
Näher  würde  anders  sein  liegen;  aber  durch  einfügung  von  seiti  be- 
käme man  eine  undeutsche  construction.  So  wenig  aber  hier  ein  sein 
ergänzt  werden  darf,  so  wenig  muss  ein  sein  hinzugedacht  werden  bei 
lat.  Strato  physicum  se  voluit  (Cic). 

Im  lat.  findet  sich  zuweilen  zu  einem  subjectsnominativ  ein  acc. 
gesetzt  ohne  verbum:  sus  Minerva/n.  fortes  fortuna,  manus  tnanum,  dii 
meHora\  quae  cum  dixisset,  Cotta  finem  (Cic);  ego  si  litteras  tuas  (ib.); 
quid  tu  mihi  testis?  Diese  constructionen  werden  dadurch  nicht  er- 
klärt, dass  man  ein  verb.  angibt,  welches  als  ergänzung  hinzugefügt 
werden  müsse.  Vielmehr  muss  man  sagen:  es  sind  hier  zwei  begriffe 
darum  in  der  form  des  nom.  und  acc.  mit  einander  verknüpft,  weil 
sie  in  dem  selben  verhältniss  zu  einander  stehen,  wie  in  einem  voll- 
ständigeren satze  subject  und  object.  Entsprechend  aufzufassen  ist  die 
unmittelbare  Verbindung  eines  subjectsnominativs  mit  einer  präpositio- 
ndien  bestimmung   oder  einem  adv.,   vgl.  itaque  ad  temjms  ad  Pisones 


271 

omnes  (Cic),  hcpc  hdclcnus  (wo  ha'c  freilicl!  auch  als  aoo.  g:efasst  wer- 
den köuute),  an  In  id  ?)ie/ius?  (Cio.),  7ie  quid  tcmere,  ne  quid  crude/i/er 
(Cie.);  ravra  ^itr  oiv  d?)  oirfc»^  (Plato).  Dafür  gibt  es  auch  im  deut- 
scheu  aualogieeii:  in  lebhafter  erzählung  sagt  man  ich  rasch  hinaus, 
ich  hinterher  w.  dori;!.;  vgl.  der  (jraf  nun  so  eilig  zum  lore  hinaus  (Goe.); 
der  Sultan  gleich  dem  tone  mtch  (Wielaud). 

In  entsprechender  weise  verbindet  sich  ein  nebensatz  mit  einem 
regierenden  satze  direct.  der  bei  vollständigerem  ausdruck  des  ge- 
daukens  durch  vermittelung  eines  andern  uebensatzes  oder  eines  Satz- 
gliedes angeknüpft  werden  niüsste.  Diese  verknUpfungsweise  kann 
dann  auch  wider  usuell  werden,  so  dass  man  nichts  mehr  vermisst. 
Vgl.  7rie  Lavaler  sich  hiebei  benommen^  sei  nur  ein  beispiel  gegeben 
(Goe.),  wo  wir  von  unserem  Sprachgefühle  aus  ein  dafür  vermissen; 
und  fragst  du  mich  nach  diesen  beiden  schätzen:  der  lorbeer  ist  es  und 
die  gunst  der  frauen  (Goe.);  dass  ichs  dir  gestehe,  da  ergriff  ihn  mein 
gemiit  (Goe.);  besuche  deine  brüder,  obs  ihnen  ?iwhl  gehe  (Lu.).  Hierher 
gehören  auch  Wendungen  wie  ?vas  dos  anbetrifft,  tvas  ich  davon  weiss 
u.  dergl.,  die  in  den  verschiedensten  s])rachen  analogieen  haben.  Ent- 
sprechend verhalten  sich  infinitivische  Wendungen  wie  die  wahrheil  zu 
sagen,  es  kurz  zu  sagen,  um  nur  eins  anzuführen,  um  von  allem  übrigen 
zu  schweigen;  ferner  kurz  (ich  weiss  es  nicht),  mit  einem  worte,  gerade 
heraus,  beiläufig,  a  propos. 

Eine  ergäuzung  aus  der  Situation  findet  statt,  wenn  statt 
eines  substantivums  mit  einer  dazu  gehörigen  bestimmung  bloss  die 
letztere  gesetzt  wird.  Hierher  gehört  nicht  etwa  der  gute  als  bezeich- 
nung  für  jede  beliebige  gute  person  oder  das  gute  als  bezeichnung  für 
jedes  beliebige  gute  ding.  Dabei  findet  keinerlei  art  von  ellipse  statt. 
Der  begriff  der  person,  eventuell  der  männlichen  person  und  der  der 
saehe  sind  durch  das  geschlecht  des  aiükels  bezeichnet.  Wir  haben 
es  hier  nur  mit  den  fällen  zu  tun,  in  denen  eine  beziehung  auf  einen 
speeiellereu  begriff  stattfindet;  vgl.  rechte,  linke  (band);  cälida,  frigida 
(aqua);  alter,  neuer,  süsser,  Burgunder,  Champagner  etc.,  axQarog  (wein); 
agnina,  caprina  (caro);  Appia  (via);  aestivu,  hiberna  (castra);  natalis 
(dies);  quarta,  nona  (hora);  ri/  vOrtgcda,  t;"/  tqItjj  (wtQfc);  octingen- 
tesimo  post  Romam  condifam  (anno);  decima  (pars);  löviog  (xoXjroc); 
Movöixfj  etc.  (rt/r//);  ahd.  frenkisga  {zunga).  Wenn  man  hier  eine 
ellipse  annehmen  will,  so  ist  nicht  viel  dagegen  einzuwenden.  Nur 
muss  man  sich  klar  machen,  dass  eine  entsprechende  ergäuzung  aus 
der  Situation,  wie  wir  in  cap.  4  gesehen  haben,  auch  in  sehr  vielen 
anderen  fällen  stattfindet,  wo  es  uns  nicht  einfällt  eine  ellipse  zu  sta- 
tuieren. Wenn  wir  unter  der  alte  alten  wein  verstehen,  so  beruht  das 
auf  der  selben  unterläge,  als  wenn  wir  darunter  nicht  jeden  beliebigen 


272 

alten  mauu  verstehen,  sondern  einen,  den  wir  gerade  vor  uns  haben 
oder  von  dem  eben  g-esprochen  ist.  In  den  aufgeführten  fällen  ist  die 
besondere  Verwendung  des  adj.  schon  mehr  oder  weniger  usuell  ge- 
worden. Je  fester  der  usus  geworden  ist,  um  so  weniger  ist  zum  ver- 
stiindniss  die  Unterstützung  durch  die  Situation  erforderlich.  So  werden 
die  bezeichuuugeu  aller,  neuer  wol  nur  im  weinhause,  beim  weinhandel 
oder,  wo  sonst  schon  irgendwie  die  aufmerksamkeit  auf  wein  gelenkt 
ist,  von  diesem  verstanden  und  sind  überhaupt  nur  in  weinbauenden 
gegenden  üblich;  dagegen  Champa{/ner  wird  ohne  alle  besondere  dis- 
position  viel  eher  auf  die  bestimmte  weinsorte  als  auf  einen  einwohner 
der  (Uiampagne  bezogen.  Sobald  nun  die  Unterstützung  durch  die 
Situation  für  das  verständniss  entbehrlich  ist,  so  ist  auch  das  wort  nicht 
mehr  als  ein  adj.  zu  betrachten,  sondern  als  ein  wirkliches  substantivum, 
und  es  kann  dann  von  einer  ellipse  in  keinem  sinne  mehr  die  rede  sein. 

Eine  ganz  entsprechende  entwickelung  begegnet  uns  auch  bei 
genitivischen  l)estimmungen.  Vgl.  lat.  ad  Martis,  ad  Dianae  (templum); 
ex  Apollodori  (libro) ;  de  Gracchi  apud  censores  (oratione) ;  franz.  la  saint 
Pierre  (fete).  Im  deutschen  sind  die  festbezeiclmungeu  Michaelis, 
Johannis,  Martini  etc.  und  die  ortsbezeichnungen  St.  Gallen,  St.  Georgen, 
St.  Märgen  vollkommen  selbständig  geworden  und  werden  nicht  mehr  als 
ergänzungsbedürftig  und  daher  auch  nicht  mehr  als  genitive  empfunden. 

In  den  besprocheneu  fällen  erhält  ein  Satzglied  Vervollständigung 
seines  sinnes  aus  der  Situation.  Es  kann  aber  auch  ein  Satzglied,  es 
kann  das  psychologische  subject  oder  prädicat  ganz  und  gar  der 
Situation  entnommen  werden.  Hierher  gehören  die  oben  s.  104  be- 
sprochenen scheinbar  eingliedrigen  Sätze,  wie  feuer,  diehe  etc.  Auch 
auf  die  form  dieser  kann  die  analogie  der  vollständigeren  sätze  in  der 
beschriebenen  weise  einwirken.  Sagt  man  z.  b.  in  drohendem  tone  ab- 
wehrend keinen  schritt  weiter,  so  ist  nur  das  psychologische  präd. 
ausgesprochen,  als  subj.  wird  die  person  verstanden,  an  welche  die 
Warnung  gerichtet  ist.  Dass  aber  das  erstere  in  den  acc.  tritt,  hat  die 
gleiche  Ursache  wie  bei  den  Sätzen  von  der  form  Cotta  finem.  Das 
gleiche  gilt  von  Sätzen  wie  guten  tag,  schönen  dank,  herzlichen  glück- 
nmnsch  u.  dergl.  In  fällen  wie  glückliche  reise,  keine  umstände,  viel 
glück  und  vielen  andern  gibt  die  form  keine  Sicherheit  darüber,  ob 
der  acc.  gemeint  ist.  In  einem  satze  wie  manum  de  tabula  lässt  sich 
manum  als  psychologisches  subj.  de  tabula  als  präd.  auffassen,  aber 
der  acc  manum  zeigt,  dass  auch  hierzu  wider  ein  subject  aus  der  Situ- 
ation zu  entnehmen  und  dass  das  verhältniss  zu  demselben  nach  der 
analogie  des  objects  zum  subject  gedacht  ist.  Ebenso  verhält  es  sich 
mit  nitro  istum  a  me  (Plaut.),  ex  ungue  leonem  =  fg  ovvyicov  liovra, 
malam  Uli  pesirtn  (Cic.)  etc.     Aus  dem  deutsehen  gehören  hierher  sätze 


278 

wie  den  köpf  in  die  höhe  und  daujich  auch  vvol  .solche  wie  yeirehr  auf, 
scherz  hei  seile,  davon  ein  ander  fual  mehr,  wenn  auch  die  lautform 
den  acc.  nicht  erkennen  lässt.  Auch  andere  casus,  präpositiouelle  be- 
stimmungen  und  adverbia  können  so  gebraucht  werden,  wie  schon  die 
angeführten  beispiele  zeigen;  vgl.  noch  scd  de  hoc  alio  loco  pluribus 
(Cic.),  de  conjectura  hactenus,  nimis  iracunde. 

Zuweilen  ist  auch  das  psychologische  prädicat  aus  der  Situation 
zu  entnehmen,  wobei  der  tonfall,  mienen  und  gebährden  die  Verständ- 
lichkeit unterstutzen  können.  So  z.  b,  bei  unterdrückten  drohuugen: 
ich  will  {dich),  vgl.  das  bekannte  Virgilische  quos  ego.  Hierher  ge- 
hören ausdrücke  der  Verwunderung  oder  eutrüstung  oder  des  bedauerns, 
die  nur  den  gegenständ  augeben,  über  den  man  sich  verwundert  oder 
entrüstet  oder  den  mau  bedauert.  Das  prädicat  wird  dabei  haupt- 
sächlich durch  den  gefühlston  angedeutet.  Vgl.  subjectsnominative 
wie  dieser  kerl,  diese  fülle,  der  wujlückliche,  ich  armer  etc.  Ferner 
intinitive  wie  so  lange  zu  schlafen,  so  ein  schuft  zu  sein;  lat.  tantamne 
rem  tarn  negligenter  ayere  (Terenz),  nmi  puduisse  verberare  hominem 
senem  (ib.);  acc.  c.  inf.:  te  nunc  sie  vexari,  sie  jacere,  idque  fieri  mea 
culpa  (Cic);  vgl.  Draeg.  §  154,  3. 

Auf  die  nämliche  weise  erklären  sich  auch  isolierte  sätze,  die 
die  form  des  abhängigen  satzes  haben.  Sie  sind  ursprünglich 
entweder  psychologische  subjecte  oder  prädicate,  wozu  der  correspon- 
dierende  Satzteil  aus  der  Situation  verstanden  wird,  können  aber  durch 
usuelle  Verwendung  allmählig  den  Charakter  von  selbständigen  haupt- 
sätzen  erlangen.  Ursprüngliche  subjecte  sind  wie  die  oben  angeführten 
ausdrücke  der  Verwunderung  und  des  bedauerns  auch  solche,  die  mit 
der  coujunetion  dass  eingeführt  werden:  dass  du  gar  nicht  müde  wirst l 
dass  mir  das  begegnen  muss!  dass  dir  auch  so  wenig  zu  helfen  ist! 
Ferner  bedingungssätze  als  drohungen:  trenn  er  mir  in  den  warf 
kommt  — ■,  ertappe  ich  ihn  nur  — ;  lat.  verbum  si  adderis  (Terenz).  Be- 
dingungssätze als  Wunschsätze:  wäre  ich  erst  da!  wenn  er  doch  käme! 
Bedingungssätze,  für  die  man  keinen  nachsatz  zu  finden  weiss:  trenn  du 
noch  nicht  überzeugt  bist,  wenn  er  aber  nicht  kotntnf,  lat.  si  quidem  istuc 
impune  habueris  (Terenz).  Bedingungssätze  als  abwcisuugeu  einer  be- 
hauptuug  oder  Zumutung,  die  aus  unkenntniss  der  wahren  Verhält- 
nisse gemacht  wird:  wenn  du  in  mein  herz  sehen  könnlest;  wenn  du 
wüsslest,  trie  leid  es  mir  tut.  Ursprüngliche  prädicate  oder  nach  der 
grammatischen  form  objecte  sind  wünsch-  und  aufforderungssätze,  mit 
dass  eingeleitet:  dass  ich  doch  dabei  sein  könnte;  nhd.  daz  si  schiere 
got  geh(ene\  franz.  que  J'aille  a  son  secours  ou  que  je  meure\  it.  che  tu 
sia  maledel to  und  so  in  allen  romanischen  sprachen. 


Paul,  Principien.     II.  Auflage.  18 


Cap.  XIX. 
Entstehung  der  Wortbildung;  und  flexion. 

Wir  haben  «us  vielfach  mit  der  analogischeu  neuschöpfung  auf 
dem  gebiete  der  Wortbildung  und  flexion  beschäftigt.  Wir  müssen 
jetzt  die  ursprüngliche,  nichtaualogische  Schöpfung  auf  diesem  gebiete 
ins  äuge  fassen.  Dieselbe  ist  nicht  etwas  primäres  wie  die  einfachsten 
syntaktischen  Verbindungen,  sondern  erst  etwas  secundäres,  langsam 
entwickeltes.  Es  gibt,  soviel  ich  sehe,  nur  drei  mittel,  durch  die  aus 
blossen  einzelnen  in  keiner  inneren  beziehung  zu  einander  stehenden 
Wörtern  sich  etymologische  wortgruppen  herausbilden.  Das  eine  ist 
lautdifterenzierung,  auf  die  eine  bedeutungsdifferenzierung  folgt.  Ein 
passendes  beispiel  dafür  wäre  die  Spaltung  zwischen  impf,  und  aor.  im 
idg.  (vgl.  oben  s.  218).  i)  Aehnliche  Spaltungen  sind  sehr  wol  auch 
schon  bei  den  primitiven  dementen  der  spräche  denkbar.  Doch  bilden 
sich  in  den  meisten  fällen,  die  wir  beobachten  können,  durch  solche 
differenzierung  keine  gruppen,  indem  dabei  das  gefühl  der  Zusammen- 
gehörigkeit verloren  geht,  und  noch  weniger  parallelgruppen ,  wie  in 
dem  angeführten  falle.  Ein  zweites  mittel  ist  das  zusammentreifen 
eonvergierender  bedeutungsentwiekelung  mit  convergierender  lautent- 
wickelung  (vgl.  suchen  —  sucht),  worüber  s.  181  gehandelt  ist.  Dass 
ein  derartiger  Vorgang  nur  vereinzelt  eintreten  kann,  liegt  auf  der 
band.  Die  eigentlich  normale  entstehungsweise  alles  formellen  in  der 
spräche  bleibt  daher  immer  die  dritte  art,  die  composition. 

Die  entstehung  der  composition  zu  beobachten  haben  wir  reich- 
liche gelegenheit.  In  den  indogermanischen  sprachen  sind  zwei  schich- 
ten von  compositis  zu  unterscheiden,  eine  ältere,  die  entweder  direct 
aus  der  Ursprache  überkommen,  oder  nach  ursprachlichen  mustern  ge- 
bildet ist,  und  eine  jüngere,  die  unabhängig  davon  auf  dem  boden  der 

')  Ein  ganz  anderer  Vorgang  ist  es  natürlich,  wiewol  das  gleiche  resultat 
lieraiiskouimt,  wenn  ein  secundärer  lautnnterschied  nach  verlust  der  übrigen  unter- 
scheidenden uierkuiale  zum  einzigen  zeichen  des  functiousunterschiedes  wird,  wie 
in  engl,  foot  —  feet,  loolh  —  leelh,  man  —  men.  Wo  sich  dergleichen  formen 
in  unseren  ältesten  Überlieferungen  finden,  wird  sich  häufig  nicht  entscheiden  lassen, 
ob  sie  diesem  oder  dem  im  text  I)esprochenen  vorgange  ihre  entstehung  verdanken. 


275 

einzelspraehen  entwickelt  ist  imd  in  den  müilernen  S])raehen  einen 
grossen  urafanii'  gewonnen  hat.  Letztere  selien  wir  g-rossenteils  vor 
unsern  äugen  entstehen,  und  zwar  durchgängig  aus  der  syntaktischen 
aneinanderreihung  ursprünglich  selbständiger  elemente.  Es  sind  dazu 
Verbindungen  jeglicher  art  tauglich.  So  entstehen  coniposita  aus  der 
Verbindung  des  genitivs  mit  dem  regierenden  Substantiv;  vgl.  nhd. 
hungersnot,  hasenfuss,  freudenfest,  kindergarten,  franz.  lundi  {hmce  dies), 
Thionville  {Theodonis  villa),  connetahle  (comes  stahuli),  Montfaucon  {mons 
falconis),  Boiirg-la-Reine,  lat.  palerfamilias,  legis] ator,  plebiscitum,  capri- 
foUum\  aus  der  Verbindung  des  attributiven  adjectivums  mit  dem  sub- 
stantivüm,  vgl.  nhd.  ede/mann  (mhd.  noch  edel  man,  gen  edeles  mannes), 
altmeister,  hochmut,  Schönhnmn,  oherhand,  Liebermeister,  Lieheskind, 
fnorgetirot,  franz.  demi-cercle,  double- feuille,  faux-marche,  haute- justice, 
grand-mere,  petite-fille,  belles-letlres,  cent-gardes,  bonjom\  prudhomme, 
prin-temps,  Belforl,  Longueville,  amour-propre,  garde-nationale,  ferblanc, 
vinaigre,  Villeneuve,  Roche  fort,  Aigues-Mortes,  lat  respublica,  jusjura.n- 
dum;  ferner  nhd.  einmal,  jenseits  (mhd.  jensit),  einigermassen,  ?nitfler- 
rveile,  franz.  encore  {hanc  horam),  fierement  {fera  mente)^  autrefois,  autrc- 
part,  toüjours,  longtemps,  lat.  hodie,  magnopere,  reipsa]  aus  der  appo- 
sitionellen  Verbindung  zweier  substantiva,  vgl.  nhd.  Christkind,  gott- 
mensch ^  fürslbischof  prinz-regent,  herrgott,  Basel-land^  franz.  maitre- 
iailleur,  maUre-garcon,  cardinal-ministre,  Bampierre  [dominus  Petrus), 
Dammarie  (domina  Maria\  afranz.  damedeus  [dorninus  deus);  aus  der 
coordiuation  zweier  Substantive,  nhd.  nur  zur  bezeichnung  der  Ver- 
einigung zweier  länder,  wie  Schleswig-Holstein,  Oestreich-Ungarn;  aus 
appositioneller  oder  copulativer  Verbindung  zweier  adjectiva  oder  der 
eines  adverbiums  mit  einem  adjectivum,  was  sich  nicht  immer  deut- 
lieh unterscheiden  lässt,  vgl.  nhd.  rofgelb,  bitt  ersüss,  alt  englisch,  nieder- 
deutsch, hellgrün,  hochfein,  gutgesinnt,  wolgesitmt,  franz.  bis-blanc,  aigre- 
doux,  sourd-muel,  bienheureux,  malcontent\  aus  der  addierung  zweier 
Zahlwörter,  vgl.  nhd.  fünfzehn,  lat.  quindecim\  aus  der  Verbindung  des 
adjectivums  mit  einem  abhängigen  casus,  vgl.  nhd.  ausdrucksvoll,  sorgen- 
frei, rechtskräftig,  lat.  jurisconsultus,  -peritus,  verisimilis\  aus  der  Ver- 
bindung zweier  pronomina,  respective  des  artikels  mit  einem  pronomen, 
Vgl.  nhd.  derselbe,  der  jene  (jetzt  nur  noch  in  der  ableitung  derjenige), 
franz.  quelque  {quäle  quid),  autant  {alterum  tanturn),  lequel;  aus  der  Ver- 
bindung eines  adverbiums  oder  einer  conjunction  mit  einem  pronomen, 
vgl.  nhd.  jeder  (aus  ie-weder),  kein  (aus  nih-ein),  franz.  celle  {ecce  illam), 
ceci  {ecce  istum  hie),  lat.  quisque,  quicunque,  hie,  nullus',  aus  der  Ver- 
bindung mehrerer  partikeln,  vgl.  nhd.  daher,  darum,  hintan,  fortan,  vor- 
aus, widerum,  entgegen,  immer,  franz.  jamais,  ainsi  {aeque  sie),  avant  {ab 
ante),  derriere  (de  retro),   dont  (de  unde),  ensemble  (in  siniul),  encontre, 

IS* 


276 

lat.  desuper,  perinde,  sicut,  unquam,  eliam\  aus  der  Verbindung  einer 
Präposition  mit  einem  abhängigen  casus,  vgl.  nhd.  anstatt,  zunichte, 
zufrieden,  vorhanden,  inzwischen,  entzwei,  franz.  contremont,  partout, 
mdroit,  alors  (ad  illam  horam),  surle-champ,  environ,  adieu,  affaire^ 
sans-culotte,  lat.  invicem,  obviam,  illico  (=  in  loco),  denuo  ( —  de  novo), 
idcirco,  quamobrem;  aus  der  Verbindung  eines  adverbiums  mit  einem 
verbum,  vgl.  nhd.  auffahren,  hinbringen,  herstellen,  heimsuchen,  misslingen, 
vollführen,  franz.  malmener,  maltraiter,  meconnaitre,  bistourner,  lat.  bene- 
dicere,  jnaledicere;  aus  der  Verbindung  eines  abhängigen  casus  mit 
seinem  verbum,  vgl.  nhd.  achtgeben,  rvahrnehmen  (ahd.  /r/ira,  st.  fem.), 
wahrsagen,  lobsingen,  handlangen,  hochachten,  jtreisgeben,  franz.  maintenir, 
colporter,  bouleverser,  lat.  animadvertere,  venum  dare  —  venundare  — 
vendere,  crucifigere,  usuvenire,  fnanwnittere,  referre.  Auch  mehr  als 
zvrei  glieder  können  so  zu  einem  compositum  zusammenschiessen '), 
vgl.  nhd.  einundzwanzig,  einundderselbe,  lat.  decedoclo  (=  decein  et  octo, 
vgl.  Corssen,  Aussprache  des  lat.  ^H,  s.  886);  franz.  loiir-a-tour,  tele- 
ä-iele,  vis-a-vis;  franz.  aide-de-camp,  trait-d'union,  garde-du-corps,  Lan- 
guedoc,  belle-ä-voir,  pot-au-feu,  Fierabras,  arc-en-ciel,  Chdlons-sur- Marne, 
lat.  duodeviginti,  nhd.  braut inhaaren  (blume);  lat.  plusquamperfectum; 
nhd.  nichtsdestoweniger,  ital.  nondimeno.  Auch  aus  abhängigen  Sätzen 
entspringen  composita,  vgl.  mhd.  newwre  zusammengezogen  aus 
niur  etc.  =  nhd,  nur,  ital.  avvegna  (adveniat),  avvegnache,  chicchessia, 
lat.  quilibet,  quamvis,  quantumvis,  quamlibet,  ubivis.  Ebenso  aus  Sätzen, 
die  der  forin  nach  unabhängig  sind,  aber  doch  in  logischer  Unter- 
ordnung, z.  b.  als  einschaltungen  gebraucht  werden,  vgl.  nhd.  weiss- 
gott ,  mhd.  neizwaz  =  ags.  nät  hwwt  =  lat.  nescio  quid,  franz.  Je 
ne  sais  quoi,  mhd.  deiswär  (=  daz  ist  trär),  franz.  peut-elre,  picea, 
nagnere,  lat.  licet,  ilicet,  videlicet,  scilicet,  forsitan,  spau.  quiza  (viel- 
leicht, eigentlich  'wer  weiss').  Ferner  können  mit  hülfe  von  metaphern 
Sätze  zu  C()m])ositis  gewandelt  werden,  insbesondere  imperativsätze, 
vgl.  nhd.  Fürchicgott,  lawjenichts,  Störenfried,  geratewol,  vergissmeinnicht, 
gottseibeiuns,  franz.  baisemain,  passe-partout ,  rendez-vous,  neulat,  fac- 
simile,  notabene,  vadetnecum,  nolimetangere;  uhd.  Jelängerjelieber.  Schwerer 
wird  ein  wirklicher  satz,  der  seine  Selbständigkeit  bewahrt,  zu  einem 
oom])ositum.  Denn  das  wesen  des  satzes  besteht  ja  darin,  dass  er 
den  nt't  der  zusammenfüguug  mehrerer  glieder  bezeichent,  während  es 
im  wesen  des  compositums  zu  liegen  scheint  die  zusammenfügung  als 
ein  abgeschlossenes  resultat  zu  bezeichnen.  Demungeachtet  liegen  satz- 
composita  in  den  verschiedensten  sprachen  vor,  so  namentlich  in  den 
indogermanischen  und  semitischen  verbalformeu. 

')  Ii-li  iiTitersclieide  davon  natürlich  die  fälle,  wo  ein  compositum  mit  einem 
andern  worte  eine  neue  Verbindung  eingeht. 


277 

Der  Übergang  von  syntaktiscliem  geflige  zum  eünipoHitiim  ist  ein 
80  allniähliger,  dass  es  gar  keine  scharfe  grenzlinie  zwisclien  beiden 
gibt.  Das  zeigt  schon  die  grosse  Unsicherheit,  die  in  der  Orthographie 
der  modernen  sprachen  in  bezug  auf  zusammenschreibung  oder  trennung 
vieler  Verbindungen  besteht,  eine  Unsicherheit,  die  dann  auch  zu  einer 
vermittelnden  Schreibweise  durch  anwendung  des  bindestriches  geführt 
hat.  Das  englische  unterlässt  vielfach  die  zusamraenschreibung  in 
fällen,  wo  sie  anderen  Schriftsprachen  unentbehrlich  scheinen  wurde.  Im 
mhd.  sind  auch  die  nach  indogermanischer  weise  gebildeten  composita 
vielfach  getrennt  geschrieben. 

Die  relativität  des  Unterschiedes  zwischen  compositum  und  wort- 
gruppe  kann  nur  darauf  beruhen,  dass  die  Ursache,  welche  den  unter- 
schied hervorruft,  ihre  Wirksamkeit  in  mannigfach  abgestufter  stärke 
zeigt.  Man  darf  diese  Ursache  nicht  etwa,  durch  die  schriffc  verführt, 
darin  sehen  wollen,  dass  sich  die  glieder  eines  compositums  in  der 
ausspräche  enger  aneinander  anschlössen,  als  die  glieder  einer  wort- 
gruppe.  Verbindungen  wie  artikel  und  substantivum,  präposition  und 
substantivum,  substantivum  und  attributives  adjectivum  oder  abhängiger 
genitiv  haben  genau  die  gleiche  continuität  wie  ein  einzelnes  wort. 
Man  hat  dann  wol  als  Ursache  den  accent  betrachtet.  Dass  die  ein- 
heit  eines  Wortes  auf  der  abgestuften  Unterordnung  seiner  übrigen  de- 
mente unter  das  eine  vom  accent  bevorzugte  besteht,  ist  allerdings 
keine  frage.  Aber  ebenso  verhält  es  sich  mit  der  einheit  des  satzes 
und  jedes  aus  mehreren  Wörtern  bestehenden  Satzteiles,  jeder  enger 
zusammengehörigen  wortgruppe.  Der  accent  eines  selbständigen  wertes 
kann  dabei  vielfach  ebenso  tief  herabgedrückt  sein  als  der  eines  unter- 
geordneten compositionsgliedes.  In  der  Verbindung  durch  liehe  hat 
durch  keinen  stärkereu  ton  als  in  durchtrieben ,  zu  in  zu  hett  keinen 
stärkeren  als  in  zufrieden,  herr  in  herr  Schulze  keinen  stärkeren  als 
in  hnusherr.  Man  kann  nicht  einmal  den  unterschied  überall  durch- 
führen, dass  die  Stellung  des  accents  im  compositum  eine  feste  ist, 
während  sie  in  der  wortgruppe  wechseln  kann.  So  gut  wie  ich  herr 
Schiäze  im  gegensatz  zu  frau  Schulze  sage,  sage  ich  auch  der  haus- 
herr  im  gegensatz  zu  die  hausfräu.  Es  ist  auch  keine  bestimmte 
Stellung  des  hauptaccents  zur  entstehung  eines  compositums  erforder- 
lich, sondern  sie  ist  bei  jeder  beliebigen  Stellung  möglich.  Nur  aller- 
dings, damit  die  jüngere  compositionsweise  in  parallelismus  zur  älteren 
treten  kann,  ist  es  erforderlich,  dass  die  accentuation  eine  gleiche  ist. 
Damit  z.  b.  eine  bildung  wie  rindsbraten  oder  rinderbraten  als  wesent- 
lich identisch  mit  einer  bildung  wie  rindfleisch  empfunden  werden 
konnte,  war  es  allerdings  nötig,  dass  der  hauptaccent  auf  den  voran- 
stehenden abhängigen   genitiv  tiel.     Wo  aber  die  analogie  der  älteren 


278 

eonipositiüDsvveisc  uiclit  iu  bctracht  kommt,  da  ist  auch  im  deutschen 
die  stärkere  betommg  des  zweiten  elements  kein  liinderimgsgrimd  flir 
die  eutstehuiig;  eines  nominalen  compositums. 

Es  ist  überhaupt  nichts  physiologisches,  worin  wir  den  unter- 
schied eines  compositums  von  einer  unter  einem  hauptaccente  ver- 
einigten wortgi'uppe  suchen  dürfen,  sondern  es  sind  lediglich  die 
psychologischen  gruppierungsverhältnisse.  Alles  kommt  da- 
rauf an,  dass  das  ganze  den  dementen  gegenüber,  aus  denen  es  zu- 
sammengesetzt ist,  in  irgend  welcher  weise  isoliert  wird.  Welcher 
grad  von  isolierung  dazu  gehört,  damit  die  Verschmelzung  zum  com- 
positum vollendet  erscheine,  das  lässt  sich  nicht  in  eine  allgemein- 
gültige definition  fassen. 

Es  kommen  dabei  alle  die  verschiedenen  arten  von  isolierung  in 
betracht,  die  wir  früher  kennen  gelernt  haben.  Entweder  kann  das 
ganze  eine  entwickelung  durchmachen,  welche  die  einzelnen  teile  in 
ihrer  selbständigen  Verwendung  nicht  mitmachen,  oder  umgekehrt  die 
einzelnen  teile  eine  entwickelung,  welche  das  ganze  nicht  mitmacht, 
und  zwar  sowol  nach  selten  der  bedeutung  als  nach  selten  der  laut- 
form, oder  es  können  die  einzelnen  teile  in  selbständiger  Verwendung 
untergehen,  während  sie  sich  iu  der  Verbindung  erhalten,  oder  end- 
lich es  kann  die  verbindungsweise  aus  dem  lebendigen  gebrauche  ver- 
schwinden und  nur  in  der  bestimmten  formel  bewahrt  bleiben. 

Der  eintritt  irgend  eines  dieser  Vorgänge  kann  genügen  um  ein 
syntaktisches  gefüge  zu  einem  compositum  zu  wandeln.  Man  pflegt 
aber  keineswegs  jedes  zusammengesetzte  Satzglied  als  ein  compositum 
zu  betrachten,  bei  dem  bereits  eine  solche  isolierung  eingetreten  ist. 
Gerade  diesen  Verbindungen  müssen  wir  unsere  besondere  aufmerk- 
samkeit  schenken,  wenn  wir  die  ersten  ausätze  zur  Verschmelzung  be- 
obachten wollen. 

Der  anfang  zur  isolierung  wird  gewöhnlich  damit  gemacht,  dass 
das  syntaktische  gefüge  einen  l)edeutungsinhalt  erhält,  der  sich  nicht 
mehr  genau  mit  demjenigen  deckt,  der  durch  die  zusammenfügung 
der  einzelnen  demente  gewonnen  wird.  Wir  haben  diesen  Vorgang 
schon  s.  82  kennen  gelernt.  Die  folge  ist,  dass  die  einzelnen  de- 
mente des  gefüges  nicht  mehr  klar  zum  bewusstsein  kommen.  Damit 
wird  aber  auch  die  art  ihrer  zusammenfügung  verdunkelt,  und  damit 
ist  der  erste  ansatz  zu  einer  syntaktischen  isolierung  gemacht,  womit 
sich  auch  eine  formelle  verbindet.  Sobald  aber  erst  einmal  ein  an- 
fang gemacht  ist,  so  ist  auch  die  möglichkeit  zu  einem  weiteren  fort- 
schreiten der  isolierung  gegeben. 

In  bezug  auf  die  syntaktische  isolierung  müssen  wir  zwei  fälle 
unterscheiden.    Sie  braucht  nur  das  verhältniss  der  compositionsglieder 


279 

zu  einander  zu  betreffen  wie  z.  b.  in  Imwjersnot,  edclmann,  es  kann 
aber  auch  die  verbinduuii-  als  ganzes  gegenüber  den  übrigen  bestand- 
teilen  des  satzes  isoliert  werden.  Das  resultat  ist  dann  immer  ein 
unfleetierbares  wort,  vgl.  keineswegs,  getvissermassen,  jederzeit,  alldieweil, 
zurecht,  abhanden,  überhanpt,  vorweg,  allzumal]  lat.  magnopere,  quare, 
quomodo,  hodie,  ad/nodum,  interea,  idcirco,  quapropter,  quamohrem\  franz. 
toujours,  toutefois,  encore  (=  hanc  hora?n),  malgre  (=  malum  gratwn)^ 
amont ,  environ,  parmi,  pourtant,  cependant,  fout-a-coup.  Erst  durch 
secundäre  entwickelung  können  solche  Verbindungen  wider  flectierbar 
werden,  wie  z.  b.  zufrieden,  debonnaire  (=  de  borme  air).  Wo  die  flec- 
tierbarkeit  durch  die  isolierung  nicht  gestört  wird,  da  kann  der  fall 
eintreten,  dass  die  Verschmelzung  der  glieder  durch  flexion  im  Innern 
des  gefüges  gehemmt  wird,  z.  b.  in  einer  Verbindung  wie  das  rote  meer, 
mare  rubrum,  wobei  man  durch  die  flexion  des  roten  meer  es,  maris 
rubri  etc.  immer  an  die  Selbständigkeit  der  einzelnen  glieder  erinnert 
wird.  Es  muss  erst  ein  weiterer  process  hinzukommen,  um  die  volle 
Verschmelzung  möglich  zu  macheu,  nämlich  die  erstarrung  einer  flexions- 
form  (in  der  regel  die  des  nominativs  sg.)  in  folge  der  Verdunkelung 
ihrer  ursprünglichen  function,  ein  Vorgang,  den  wir  s.  194  besprochen 
haben. 

Wie  wir  s.  194  gesehen  haben,  erhält  das  compositum  die  selbe 
fähigkeit  ableitungen  aus  sich  zu  erzeugen,  wie  das  einfache  wort  der 
nämlichen  kategorie.  Wir  finden  nun,  dass  aus  einer  syntaktischen 
Verbindung,  die  noch  nicht  als  compositum  betrachtet  zu  werden  pflegt, 
eine  ableitung  nach  dem  muster  eines  einfachen  wertes  gemacht  wird, 
oder  dass  diese  Verbindung  wie  ein  einfaches  wort  zu  einem  compo- 
sitionsgliede  nach  schon  vorliegenden  mustern  gemacht  wird.  Wir 
müssen  daraus  den  schluss  ziehen,  dass  das  Sprachgefühl  dieselben 
als  eine  einheit  gefasst  hat,  dass  also  jedenfalls  ihre  entwickelung  zu 
einem   compositum   bereits   bis  zu  einem  gewissen  grade  vollzogen  ist. 

Bei  copulativen  Verbindungen  tritt  der  verschmelzungsprocess 
ein,  wenn  es  möglich  ist  das  ganze  unter  einen  einheitlichen  begriff 
zu  bringen.  Dies  ist  erstens  der  fall,  wenn  die  verbundenen  demente 
Synonyma  sind,  die  dieselbe  sache  von  verschiedenem  gesichtspunkte 
aus  darstellen,  vgl.  art  und  weise,  grund  und  hoden,  wind  und  weiter, 
weg  u?id  sieg,  sack  und  pack,  handel  und  wandet,  hangen  und  bangen, 
l'in  und  treiben,  leben  und  weben,  wie  er  leibt  und  lebt,  frank  und  frei, 
weit  und  breit,  hoch  und  teuer,  angst  u?id  bange,  ganz  und  gar,  drauf 
und  dran,  nie  und  nimmer.  Zweitens,  wenn  die  verbundenen  elemente 
gegensätze  sind,  die  sich  gegenseitig  ergänzen,  vgl.  stadt  und  land, 
himmel  und  holte,  wol  und  wehe,  alt  und  jung,  gross  und  klein,  arm  und 
reich,    dick  und  dünn,    lieb  und  leid,    tun  und  lassen,    dieser  imd  jener, 


280 

einer  und  der  andere,  dies  und  das,  ab  und  an,  ab  und  zu,  auf  und  ab, 
ein  und  aus,  für  und  wider,  hin  und  her,  hin  und  ivider,  drüber  und 
drunler,  hüben  und  drübeyi,  hie  und  da,  dann  und  wann.  Dazu  kommen 
noch  mancherlei  andere  fälle  wie  haus  und  hof,  weih  und  kind,  kind 
und  kegel,  mann  und  maus.  Die  beiden  glieder  können  auch  durch 
das  nämliche  wort  gebildet  werden,  vgl.  durch  und  durch,  für  und  für, 
nach  und  nach,  über  und  über,  wider  und  wider,  fort  und  fort,  der  und 
der.  In  dem  letzten  falle  stehen  die  beiden  glieder  trotzdem  in 
gegensatz  zu  einander.  Bei  einigen  dieser  Verbindungen  ist  schon  eine 
weiter  gehende  isolierung  eingetreten.  Ein  kriterium  dafür,  dass  eine 
copulative  Verbindung  als  eine  eiuheit  gefasst  wird,  kann  man  bei 
Substantiven  darin  sehen,  dass  ein  beigefügtes  adj.  mit  dem  zweiten 
gliede  eongruiert,  vgl.  durch  meinen  trewen  hilff  vnd  rat  (H.  Sachs);  mit 
allem  mobilen  hab'  und  gut  (Goe.).  Ein  anderes  häufiger  vorkommendes 
ist  die  flexionslosigkeit  des  ersten  gliedes.  Bei  den  oben  angeführten 
Verbindungen  aus  an  und  für  sich  flexivischen  Wörtern  wird  meistens 
die  flexion  gemieden,  welche  an  die  Selbständigkeit  der  glieder  er- 
innern würde;  mau  kann  z.  b.  nicht  sagen  mit  sacke  nnd  packe  oder 
grundes  tmd  bodens.  Es  findet  sich  aber  auch  flexion  bloss  am  zwei- 
ten gliede,  z.  b.  des  zu  Äbdera  gehörigen  grund  und  bodens  (Wieland). 
Vgl.  ferner  von  tausend  durchgeweinten  tag-  und  nachten  (Goe.);  dein 
wenigen  glaube,  liebe  und  hoffnung  (Goe.);  bei  H.  Sachs  sogar  dem  tiimmer 
golt  noch  geldls  gebrach.  Häufig  ist  die  Unterlassung  der  flexion  im 
Innern  bei  der  Verbindung  zweier  adjectiva,  vgl.  die  blank-  und  blossen 
Widersprüche  (Le.),  gegoi  inn-  und  äussern  feind  (Goe.),  auf  ein  oder  die 
andere  weise  (Le.),  mit  mein  und  deinem  wesen  (Le.).') 

Notwendig  ist  das  unterbleiben  der  flexion  im  Innern  auch  nach 
dem  heutigen  Sprachgebrauch  in  einem  falle  wie  ei)ier  schwarz-  imd 
weissen  fahne,  schwarz-  und  weisse  fahnen,  verschieden  im  sinne  von 
schwarze  und  weisse  fahnen.  Dem  schwarz-  und  weiss  analog  sind 
die  auch  zusammengeschriebenen  Verbindungen  einundzwanzig ,  einund- 
dreissig  etc.,  früher  flectiert  eities  und  zwanzig.  Feste  Verbindungen, 
die  keine  flexion  im  Innern  mehr  zulassen,  sind  ferner  all  und  Jeder, 
ein  und  alles.  Zusammengeschrieben  wird  einundderselbe ,  teils  mit, 
teils  ohne  flexion  des  ein-.  Griech.  xaXoxayaß^og  ist  wol  unter  ana- 
logischer  einwirkung   der    alten   indogermanischen   compositionsweise 


•)  Jedocli  ist  das  unterbleibeu  der  flexion  des  ersten  gliedes  kein  zweifel- 
loses kriterium  dafür,  dass  eine  Zusammenfassung  der  beiden  glieder  zu  begriff  Hoher 
einheit  stattgefunden  hat.  Es  ist  bei  der  Verbindung  zweier  adjectiva  im  älteren 
nhd.  und  noch  bei  Cloethe  häufig,  H.  Sachs  sagt  sogar  iveder  mit  böss  noch  guten 
dingen.  Seltener  ist  es  bei  der  Verbindung  zweier  substautiva ,  vgl.  von  thier  vnd 
menschen  (H.  Sachs),  von  merck  vnd  steten  (ib.). 


281 

entstanden;  sonst  würde  die  staniniforni  xaXo-  schwerlich  erklärbar 
sein.  Gänzliche  vcrsehnielznng;  würde  wahrscheinlich  häufiger  sein, 
wenn  nicht  die  copnlativpartikel  hemmend  wirkte.  Diese  hemmung- 
wird aufgehoben,  wo  dieselbe  in  folge  der  lautlichen  abschwächung 
nicht  mehr  als  solche  erkannt  wird,  wie  in  dem  niederdeutschen  riten- 
split,  zusammengesetzt  aus  den  imperativen  von  riten  und  splUen  (reissen 
und  spleissen).  Eine  copulative  Verbindung  ohne  partikel  verschmilzt 
leichter.  So  werden  schwarzrotgolden  und  Oestreich- Ungarn,  die  sich 
logisch  verhalten  wie  schwarz  und  weiss  und  Neapel  und  Sicillen  als 
wirkliche  composita  empfunden.  In  derjenigen  epoche  des  indogerma- 
nischen, wo  es  noch  keine  flexion  und  keine  copnlativpartikel  gab 
oder  beides  wenigstens  nicht  notwendig  erforderlich  war,  musste 
natürlich  die  Verschmelzung  zu  einem  copulativcompositum  (dvandva) 
sehr  leicht  sein. 

Die  Verbindung  eines  substantivums  mit  einer  attribu- 
tiven, genitivischen  oder  sonstigen  bestimmung  kann  alle  in 
cap.  4  besprochenen  arten  des  bedeutungswandels  durchmachen,  ohne 
dass  das  substantivum  für  sich  davon  betroffen  wird.  Sehr  häufig  ist 
es  zunächst,  dass  das  ganze  einen  reicheren,  bestimmteren  Inhalt  er- 
hält, als  denjenigen,  der  sich  aus  der  Zusammensetzung  der  teile  er- 
gibt. Die  bestimmung  hebt  namentlich  häufig  nur  ein  unterschei- 
dendes merkmal  heraus,  während  andere  daneben  bestehende  ver- 
schwiegen werden.  Dazu  können  dann  weitere  modificationen  treten, 
in  folge  deren  das  epitheton  in  seiner  eigentlichen  bedeutung  gar  nicht 
mehr  zutreffend  ist.  So  ist  in  der  botanischen  spräche  viola  odorala 
nicht  ein  wohlriechendes  veilchen,  sondern  eine  bestimmte  veilchen- 
art,  die  noch  durch  andere  eigenschaften  als  durch  den  wohlgeruch 
charakterisiert  wird,  und  es  wird  mit  diesem  namen  auch  ein  getrock- 
netes Veilchen  bezeichnet,  welches  keine  spur  von  wohlgeruch  mehr 
von  sich  gibt,  und  ebenso  die  nichtblühende  pflanze.  Unter  franz. 
moyen  äge  versteht  man  ein  bestimmt  begrenztes  Zeitalter,  ohne  dass 
sich  aus  dem  werte  moyen  an  sich  eine  solche  begrenzung  ergibt.  Ge- 
heimer rat  und  wirklicher  geheimer  rat  sind  titel,  die  als  ganzes  eine 
bestimmte  traditionelle  geltung  haben,  wie  sie  aus  den  Wörtern  geheim 
und  wirklich  an  sich  nicht  zu  erschliessen  ist.  Vgl.  ferner  der  heilige 
geist,  die  heilige  schrift,  die  schönen  künste,  gehrannte  mandeln,  kaltes 
blut,  der  blaue  montag,  der  grüne  donnerstag ,  der  heilige  abend,  die 
hohe  schule;  der  stein  der  weisen;  die  weisen  aus  dem  morgenlande. 
Für  die  substantivischen  bestimmungen  ist  noch  zu  bemerken,  dass 
sie  nur  dann  mit  dem  bestimmten  worte  zu  einem  einheitlichen  be- 
griffe verschmelzen  können,  wenn  ihre  bedeutung  nicht  occasionell  in- 
dividualisiert ist;   d.  h.   sie  müssen,  abgesehen  von  den  eigennamen 


282 

und  den  bezeiehniingen  für  solche  gegenstände,  die  als  nur  einmal 
existierend  gedacht  werden,  in  abstractem  sinne  gebraucht  werden. 
Den  angcrtihrten  beispielen  von  syntaktischen  Verbindungen  sind  nun 
viele  composita  analog,  teils  solche,  deren  zusammenwachsen  historisch 
vcrfülgbar  ist,  wie  schjvarzrvild,  rveisshrot,  dünnhier,  rotdorn,  Sauerkraut, 
cdclstein;  haubenlerche,  Seidenraupe,  blumenkohl,  bundesrat\  arc-en- ciel ; 
teils  solche,  deren  bildungsweise  schon  in  eine  vorgeschichtliche  zeit 
zurückreicht,  wie  eishär,  holzrvurm,  hirschkäfer,  Steineiche.  Nicht  selten 
wird  der  nämliche  begriff  in  einer  spräche  durch  ein  compositum,  in 
einer  andern  durch  eine  syntaktische  Verbindung  bezeichnet,  vgl.  z.  b. 
millelalter  mit  7noyen  äye. 

Eine  Unterabteilung  dieser  grossen  klasse  bilden  gattungsnamen 
von  örtlichkeiteu,  die  mit  hülfe  einer  bestimmung,  die  an  sich  gleich- 
falls allgemeiner  natur  sein  kann,  zu  eigennamen  geworden  sind,  vgl. 
die  goldene  aue^  das  rote  meer,  der  schwarze  see,  der  breite  weg  (strassen- 
name  in  Magdeburg  und  anderswo),  die  hohe  pforle  (torname  in  Magde- 
burg); die  inseln  der  seeligen,  das  cap  der  guten  ho/f'nung.  Damit  vgl. 
man  die  composita  Hochburg,  Schönbrunn,  Kaltbad,  Lindenau,  Königs- 
feld \  Hirschberg ^  Strassburg,  Steinbach.  Hierher  gehört  es  auch,  wenn 
ein  epitheton,  das  einem  eigennamen  als  unterscheidendes  kenn- 
zcichen  beigefügt  ist,  zu  einem  integrierenden  bestandteile  des  eigen- 
namcns  wird,  indem  es  als  an  einem  bestimmten  Individuum  haftend 
erlernt  >vird,  vgl.  Karl  der  grosse  —  der  kahle  —  der  kühne  —  der 
dicke,  Ludwig  der  fromme  —  der  heilige  —  das  kind,  Wilhelm  der  er- 
ober er  \  Davos  platz  —  Üovos  dörß\  Basel  land  —  Basel  stadt\  Zell  am 
sce.  Damit  vgl.  man  die  composita  Althans,  Kleinpaul]  Gross-Basel  — 
Klein- Basel,  Oberfranken  —  Cnt  erfranken,  Eichen- Bar  leben;  Kirchzarten. 

Bildliche  anwendung  eines  Wortes  wird,  wie  überhaupt  durch  den 
Zusammenhang  (vgl.  s.  74),  so  insbesondere  durch  eine  beigefügte  be- 
stimmung als  solche  erkennbar  und  verständlich,  vgl.  der  löwe  des 
lages,  das  haupt  der  verschworenen,  die  nacht  des  lodes,  der  abend  des 
lebens,  die  seele  des  unternehtnens.  Das  selbe  wird  durch  ein  be- 
stimmendes compositionsglied  geleistet.  Man  wagt  deshalb  mit  hülfe 
desselben  metaphern,  die  man  sich  in  bezug  auf  das  einfache  wort 
nicht  gestattet,  weil  das  compositionsglied  gleich  eine  correctur  der 
metapher  enthält.  Vgl.  neusilber,  katzengold,  ziegenlamm,  bienen- 
königin,  bieiienwolf,  ameisetilöwe,  äp feiwein,  namensvetter\  hirschkuh,  heu- 
pferd,  seelöwe,  buchweizen,  erdapfel,  gallapfel,  augapfel,  Zaunkönig,  Stiefel- 
knecht, milchbruder. 

Davon  zu  unterscheiden  sind  solche  fälle,  in  denen  das  compo- 
situm auch  eine  eigentliche  bedeutung  hat  und  erst  als  compositum 
bildlich  verwendet  wird,  wie  himmelsschlüssel ,  hahnenfuss,  löwenmaul, 
Schwalbenschwanz,  Stiefmütterchen,  brummbär. 


283 

Fast  durchweg  syntaktische  Verbindungen  oder  composita  sind 
die  üben  s.  81  besprochenen  bezeich nungeu  nach  teilen  des  körpers 
und  des  geistes  oder  kleidungsstücken ,  und  zwar  deshall),  weil  die 
einfachen  Wörter  als  an  sich  nicht  charakteristisch  zu  einer  solchen 
Verwendung  unbrauchbar  sein  würden. 

Verfolgen  wir  nun  weiter,  wie  die  Verschmelzung  der  bestimmung 
mit  dem  bestimmten  durch  die  syntaktische  und  formale  Isolierung  ge- 
fördert wird. 

Bei  dem  zusammenwachsen  des  genitivs  mit  dem  regierenden 
substautivum  im  deutschen  ist  zunächst  zu  beachten,  dass  es  nur  bei 
Voranstellung  des  genitivs  eintritt  Die  umgekehrte  Stellung  taugt  zu- 
nächst deshalb  nicht  zur  compositiou,  weil  dabei  eine  flexion  im  Innern 
der  Verbindung  stattfindet,  wodurch  man  immer  wider  an  die  Selbstän- 
digkeit der  demente  erinnert  wird,  weshalb  auch  z.  b.  im  lat.  die  zu- 
sammenfügung in  pater-familias  weniger  fest  ist  als  in  plebiscUum. 
Ferner  besteht  bei  voranstellung  des  genitivs  analogie  in  der  betonuug 
zu  den  echten  compositis  (ahd.  täges  stcrro  =  täyosterro,  dagegen  sterro 
des  täges).  Das  entscheidende  moment  für  das  zusammenwachsen  liegt 
aber  in  Veränderungen  der  syntaktischen  Verwendung  des  artikels. 
Wie  derselbe  vielfach  zum  blossen  casuszeichen  herabgesunken  ist,  so 
ist  er  insbesondere  bei  dem  geuitiv  eines  jeden  appellativums,  wel- 
ches nicht  mit  einem  attributiven  adjectivum  verknüpft  ist,  allmählig 
unentbehrlich  geworden.  Nur  der  deutlich  charakterisierte  gen.  sing 
der  starken  masculina  und  neutra  kommt  zuweilen  noch  ohne  artikel 
\o\\  namentlich  in  Sprüchwörtern  {hiedermayins  erbe)  und  Überschriften 
{schäfers  klagelied,  geistes  gruss,  tvandrers  nachlUed  etc.).  Im  ahd. 
fehlt  der  artikel  noch  ganz  gewöhnlich.  Indem  sich  nun  bei  dem  all- 
mähligen  absterben  der  construction  gewisse  Verbindungen  ohne  artikel 
traditionell  fortpflanzten,  war  die  Verschmelzung  vollzogen.  Begünstigt 
wurde  sie  noch  ganz  besonders  durch  die  ursprünglich  allgemein  üb- 
liche und  dann  gleichfalls  absterbende  weise,  den  gen.  wie  im  griech. 
zwischen  artikel  und  dem  zugehörigen  substantivum  zu  setzen.  Diese 
construction  hat  sich  besonders  in  der  spräche  des  volksepos  lange 
lebendig  erhalten,  allerdings  nur  bei  eigenuamen  und  verwandten  Wör- 
tern, vgl.  im  Nibelungenlied  daz  Guntheres  laut,  das  Mbelunges  stvcrt, 
diu  Sivrides  haut,  daz  Etzelen  wip  etc.;  Verbindungen  wie  der  gotes  haz, 
segen,  diu  gotes  haut,  etc.  sind  im  dreizehnten  Jahrhundert  noch  allge- 
mein üblich.  In  der  älteren  zeit  konnte  der  genitiv  eines  jeden  sub- 
stantivums  so  eingeschoben  werden,  ohne  selbst  mit  dem  artikel  ver- 
bunden zu  sein,  vgl.  ther  mannes  sun  (des  menschen  söhn)  häufig  bei 
Tatian,  then  hiuuiskes  fater  (patremfamilias)  ib.  44,  16  (dagegen  thes  h. 
fater  72,  4.  147,  8;  fatere  hiuuiskes  77,  5),   ein  ediles  mann  (ein   mann 


284 

von  edler  abstammnDg)  Otfrid  IV,  35, 1;  ähnliche  einschiebimg  zwischen 
Zahlwort  und  substantivuni  in  zträ  dübnno  (jimachun  (zwei  paar  tauben) 
Otfrid  I,  14,  24.  Indem  allmählig  unmittelbare  nebeneinanderstellung 
von  artikel  und  substantivum  notwendig-  wurde,  musste  die  Verbindung 
vom  Sprachgefühl  als  eine  einheit  aufgefasst  werden.  Mit  der  zeit  sind 
vielfach  noch  formale  isolierungen  hinzugekommen,  indem  sich  die 
älteren  formen  des  genitivs  in  der  composition  bewahrt  haben  {ünden- 
hlalt,  frnuenkirche,  hahnenfuss,  Schwanenhals,  gänseleber,  Mägdesprung, 
nachtigall  etc.).  Ferner  dadurch,  dass  bei  den  einsilbigen  raasculinis 
und  neutris  im  compositum  gewöhnlich  die  syncopierten  formen  ver- 
allgemeinert sind,  im  simplex  die  nichtsyncopierten,  vgl.  hundslag, 
Inndsmann,  Schafskopf,  rvindsbraut  gegen  himdes  etc.  (doch  auch  goltes- 
haus,  liebeskummer).  Dazu  kommt  endlich  noch,  dass  die  genitivform 
im  compositium  häufig  mit  der  des  nom.  pl.  übereinstimmt  und  da- 
her vom  Sprachgefühl,  wo  die  bedeutung  dazu  stimmt,  an  diesen  an- 
gelehnt wird,  yg\.  bienensch/rarm,  rosenfarbe,  bildersaal,  äpfelwein,  bür- 
gcrmeister.  Im  letzten  falle  stimmt  die  form  auch  zum  nom.  sing.;  in 
Baierland,  I'ommerland  (ahd.  Beiero  laut)  nur  zu  diesem,  während  der 
pl.  des  simplex  seine  flexion  verändert  hat. 

Die  älteste  schiebt  genitivischer  composita  im  französischen  ist 
hervorgegangen  aus  den  alten  lateinischen  genitivformen  ohne  hinzu- 
fiigung  der  präp.  de.  Im  altfranz.  ist  solche  constructionsweise  we- 
nigstens bei  persönlichen  begriffen  noch  allgemein  lebendig,  z.  b.  la 
volonte  le  rei  (der  wille  des  königs);  sie  musste  allmählig  untergehen, 
weil  die  form  mit  der  des  dat.  und  acc.  zusammengefallen  und  des- 
halb die  bezieh ung  unklar  geworden  war.  Einige  traditionelle  reste 
der  alten  weise  haben  sich  bis  heute  erhalten,  ohne  dass  in  der  schrift 
composition  bezeichnet  würde,  vgl.  nie  St.  Jacques  etc.,  eglise  Saint  Pierre, 
musce  Napoleon.  In  andern  fällen  ist  die  zusammenfügung  fester  ge- 
worden, teilweise  durch  anderweitige  Isolierung  begünstigt,  vgl.  Hotel- 
Dieu,  Connetable  {comes  stabuli),  Chäleau-Renard,  Bourg-la- Reine,  Mont- 
faucon,  Fonlainebleau  {f.  BUaldi).  Durch  das  schwinden  jedes  casus- 
zeichens  ist  im  franz.  im  gegensatz  zum  deutschen  die  Verschmelzung 
auch  bei  nachstellung  des  gen.  möglich  gemacht.  Bei  der  umgekehr- 
ten Stellung  musste  sie  erst  recht  erfolgen,  da  dieselbe  schon  frühzeitig 
ausser  gebrauch  kam;  daher  Abbeville  {abbatis  v.),  Thiomille  {Theo- 
donis  Villa). 

Das  zusammenwachsen  des  adjectivs  mit  dem  zugehörigen  subst. 
geht  im  deutschen  namentlich  von  der  sogenannten  unflectierten  form 
aus,  die  im  attributiven  gebrauch  allmählig  ausstirbt,  vgl.  oben  s.  157. 
Im  mhd.  sind  {ein)  June  geselle,  (ein)  edel  mann,  (ein)  niuwe  jär  noch 
ganz  übliche  constructionen,  im  nhd.  können  Junggeselle,  edelmann,  neu- 


285 

jähr  nur  als  eoini)08ita  gefasst  werden.  Einen  weiteren  ausgangspunkt 
bilden  die  sehwachen  nomiuative  von  mehrsilbigen  adjectiven  auf  r,  l,  w, 
die  im  mhd.  ihr  e  abwerfen,  während  es  im  nhd.  nach  analogie  der 
einsilbigen  wider  hergestellt  wird.  Im  mhd.  sind  der  ober  roc,  diu 
ober  haut,  daz  ober  teil  noch  reguläre  syntaktische  geftige  (daher  auch 
noch  acc.  die  obern  haut  neben  die  oberhant),  im  nhd.  können  der  ober- 
7'ock,  die  oberhund,  das  oberteil  nur  als  composita  gefasst  werden,  weil 
es  sonst  der  obere  rock  etc.  heisseu  müsste.  Indessen  reicht  das  ein- 
fache beharren  bei  dem  älteren  zustande  nicht  aus  um  wirkliche  com- 
positiou  zu  schaffen,  und  viele  derartige  composita  sind  schon  vor 
dem  eintritt  dieser  syntaktischen  Isolierung  entstanden.  Schon  ahd. 
bestehen  altfaler,  fiihals,  guottät,  hohstuol  und  viele  andere.  Vielmehr 
ist  der  Vorgang  der,  dass  die  Verbindung  so  formelhaft,  der  begriff 
so  einheitlich  wird,  dass  sich  damit  für  das  Sprachgefühl  eine  flexion 
im  iuuern  des  complexes  nicht  mehr  verträgt,  und  es  ist  dann  natür- 
lich, dass  der  eigentliche  normalcasus.  der  nom.  sg.,  der  zugleich,  weil 
die  flexionsendung  geschwunden  ist,  als  stamm  des  Wortes  erscheint, 
massgebend  wird.  Seitdem  die  flexionslose  form  aufgehört  hatte,  attri- 
butiv verwendet  zu  werden,  war  Verschmelzung  des  adj,  mit  dem  subst, 
viel  weniger  leicht.  Denn  die  flectierten  formen  des  nom,  sg,  {yuler^ 
gute,  gutes)  hatten  von  anfang  an  kein  so  grosses  gebiet  und  waren 
eben  wegen  der  flexionseudungen  nicht  so  geeignet  als  Vertreter  des 
Wortes  an  sich  zu  gelten.  Es  war  nun  aber  auch  weniger  bedürfniss 
zu  solchen  Verschmelzungen,  da  bereits  eine  menge  composita  mit  der 
flexionslosen  form  vorhanden  waren,  die  auch  im  stände  waren  ana- 
logische neubildungen  zu  erzeugen.  Doch  zeigen  sich  auch  in  dieser 
periode  einige  Verschmelzungen  und  ausätze  dazu,  teils  so,  dass  eine 
Verbindung  in  die  analogie  der  älteren  verschmolzenen  Verbindungen 
hinübergeführt  wird,  vgl,  (jeheimral  neben  geheime{r)  rat,  teils  so,  dass 
die  flectierte  nominativform  verallgemeinert  wird,  wie  in  Icrausemünze, 
jungemagd,  in  (iutersohn,  Liebeskind  und  anderen  eigennamen.  Bei 
einigen  Wörtern  hat  sich  das  gefühl  für  die  einheitlichkeit  des  begriff's 
darin  kund  getan,  dass  trotz  der  flexion  im  Innern  zusammenschreibung 
eingetreten  ist,  vgl.  langeweile^  hohepriester,  hohelied.  Lessing  schreibt 
sogar  ei7i  Jüngstesgericht  en  mignature.  Vgl,  auch  derselbe,  derjenige. 
Auch  wo  noch  keine  volle  Verschmelzung  des  attributiven  adjec- 
tivums  mit  dem  dazu  gehörigen  subst,  stattgefunden  hat,  werden  doch 
ableitungen  aus  der  Verbindung  gemacht,  vgl.  hohepriesterlich,  lang- 
weilig, kurzatmig,  hochgradig,  vielzüngig,  vielsprachig,  rotbäckig,  ein- 
händig, blauäugig,  blondhaarig,  kleinstädtisch,  kieinstädter,  Schwarzkünstler, 
tausendkünstler,  einsilbler,  die  sich  gerade  so  verhalten  wie  grossmütig, 
edelmünnisch   etc.      Sie    als    nominale   composita   aufzufassen,    hindert 


286 

schon  der  uinstaud,  dass  viele  der  dann  vorauszusetzenden  simplicia 
wie  -weilig,  -atmig,  -gradig  gar  nicht  existieren  und  auch  früher  nicht 
existiert  haben. 

Ebenso  werden  solche  Verbindungen  zu  compositionen  verwendet, 
die  sich  trotz  aller  anfeindungen  von  selten  der  gramraatiker  nicht 
ausrotten  lassen  wollen.  Der  gewöhnliche  einwand,  den  man  gegen 
coniplexe  wie  reitende  ärtillerie-caserne  macht,  dass  ja  die  caserne 
nicht  reite,  ist  im  gründe  nicht  stichhaltig.  Denn  das  meint  niemand, 
der  sich  dieser  Verbindung  bedient,  und  die  gliederung  ist  nicht  reite7ide 
+  artillerie-caserne,  sondern  reitende  artillerie-  +  caserne.  Aber  man 
kommt  dabei  ins  gedränge  wegen  der  flexivischen  und  nach  cougruenz 
strebenden  natur  des  adjectivums.  Dasselbe  richtet  sich  daher  in  der 
regel  nach  dem  zweiten  elemente,  nicht  bloss  wo  es  allenfalls  auch 
auf  dieses  bezogen  werden  könnte  wie  in  französischer  Sprachlehrer, 
freie  handzeichnung,  sondern  auch  in  anderen  fällen  wie  in  der  sauern 
gurkenzeit.  Bei  manchen  dieser  Verbindungen  ist  zusammenschreibung 
üblich  geworden,  vgl.  alteweibersommer^  armesünderglöckchen  etc.  Nichts- 
destoweniger kommt  bei  diesen  congruenz  des  adjectivums  mit  dem 
letzten  bestandteil  vor.  Goethe  schreibt  auf  dem  armensünderslühlchen, 
dagegen  Heine  auf  einem  armesilnderhänkchen ,  die  Kölnische  zeitung 
nebst  armsünder treppe.  Klopstock  gebraucht  sogar  hohpriestergetvand, 
Luise  Mühlbach  den  gutennachtsgruss})  Im  englischen,  wo  die  flexiou 
nicht  stört,  machen  solche  zusammenfttgungen  gar  keine  Schwierigkeit. 

Im  franz.  geht  das  zusammenwachsen  leichter  vor  sich,  weil  die 
Casusunterscheidung  verloren  gegangen  ist.  Wenn  bloss  noch  sg.  und 
pl.  unterschieden  werden,  so  hat  man  jedenfalls  schon  erheblich  weniger 
veranlassung  an  die  fuge  erinnert  zu  werden.  Ausserdem  kommen 
manche  Verbindungen  ihrer  natur  nach  nur  im  sg.  (z.  b.  sainte-ecriture, 
terre-sainte)  oder  nur  im  pl.  (z.  b.  beaux-arts^  helles  lettres)  vor.  Es 
pflegt  sich  daher  sehr  leicht  das  gefühl  für  die  einheitlichkeit  eines 
solchen  complexes  durch  Setzung  des  bindestrichs  geltend  zu  macheu. 
Ein  anderes  bedeutsameres  kriterium  für  das  verhalten  des  Sprach- 
gefühls, gibt  die  Verwendung  des  article  ])artitif  Man  sagt  z.  b.  il  a 
des  belles  lettres,  wie  man  sagt  //  a  des  lettres,  während  man  sagt  il 
a  de  belles  maisons.  Formale  und  syntaktische  Isolierungen  können 
auch  hier  hinzutreten  um  das  gefüge  fester  zu  machen.  Im  afrauz. 
haben  die  adjectiva,  die  im  lat.  nach  der  dritten  decliuation  flectieren, 
im  lern,  noch  kein  e  angenommen,  welches  erst  später  nach  analogie 
der  adjectiva  dreier  endungeu  antritt,  z.  b.  grand  =  grandis,  später 
gründe  nach  bonne  etc.     In    com])ositis   bewahren   sich  formen  ohne  e'. 


')  ^'gl.  Audr.  Sprachg.  s.  152  imd  64. 


287 

gratKf  mere,  yrand'  tnesse,  Granville,  Reulmont^  Ville-real,  EocJiefort. 
Id  Vaucluse  {vallis  clausa),  hat  das  compositum,  von  der  sonstigen 
lautgestalt  abgesehen,  den  im  neufrauz.  eingetretenen  geschlechts- 
wechsel  des  simplex  {/e  vai)  nicht  mitgemacht.  Es  erfolgen  dann  auch 
ausgleichungen  ähnlich  wie  im  deutsehen.  Bei  adjectiven,  die  häufiger 
in  der  composition  gebraucht  werden,  wird  die  form  des  masc.  und 
des  sing,  verallgemeinert,  so  in  mi-,  demi-,  mal-  {mal/acon,  maihenre, 
malidte),  nu-  {nu-tete,  nu-pieds).  Dadurch  ist  die  composition  deutlieh 
marquiert. 

Wo  im  nhd.  der  genitiv  mit  einem  regierenden  adj.  zusammen- 
gewachsen ist,  da  zeigt  sich  auch  vielfach,  dass  die  constniction  entweder 
gar  nicht  oder  nicht  mehr  allgemein  üblich  und  durch  eine  andere  er- 
setzt ist,  vgl.  ehrenreich  —  reich  an  ehren,  geistesarm  —  arm  an  (/eist, 
freudenleer  —  leer  von  freudoi. 

Im  nhd,  ist  es  üblich  adverbia,  wo  sie  nach  den  allge- 
meinen syntaktischen  regeln  dem  verbum  vorangehen,  mit  diesem 
zusammenzuschreiben,  vgl,  aufhellen,  vordringen,  zurückweichen,  weg- 
werfen etc,  Dass  noch  keine  eigentliche  composition  eingetreten  ist, 
beweist  die  Umstellung  er  treibt  an,  er  steht  auf  etc.  Aber  anderseits 
beweist  die  zusammenschreibung,  dass  man  anfängt  das  ganze  als 
eine  einheit  zu  empfinden. 

Bei  den  meisten  dieser  Verbindungen  liegt  eine  Isolierung  gegen- 
über den  dementen  klar  vor.  Die  alten  präpositioualen  adverbia 
lassen  sich  überhaupt  nicht  mehr  ganz  frei  und  selbständig  verwenden, 
sondern  sind  auf  einen  bestimmten  kreis  von  Verbindungen  beschränkt. 
Zu  freier  syntaktischer  zusammenfüguug  werden  statt  ihrer  hauptsäch- 
lich Verbindungen  mit  her  und  hin  vei^wendet,  vgl.  hinaus  gehen,  heran 
kommen,  wesentlich  verschieden  von  ausgehen,  ankommen.  Es  kommt 
dazu  dann  meistens  eine  selbständige  bedeutungsentwickelung  der  Ver- 
bindung als  solcher,  vgl.  anstehn,  ausstehn,  vorstehn,  zustehn,  auslegen, 
aufbringen,  umbringen,  zubringen,  aufkommen,  umkonnnen,  vortverfeu,  vor- 
geben etc.  Unterstützt  aber  ist  die  auftassung  dieser  Verbindungen  als 
eomposita  durch  die  parallelen  nominalcomposita  wie  ankunft,  abtiahme, 
zunähme,  vorwarf  aussprach,  zusage,  anzeige  etc.  Diese  wirken  natür- 
lich am  leichtesten  auf  die  nominalformen  des  verbums,  bei  denen  die 
Verbindung  schon  so  wie  so  am  stabilsten  ist  und  um  so  fester  wird, 
je  mehr  sie  sich  dem  Charakter  eines  reinen  nomens  nähern  (vgl.  das 
folgende  capitel),  am  festesten  natürlich  dann,  wenn  nur  sie,  nicht  das 
verb.  finitum  in  einer  bestimmten  bedeutung  üblich  werden  oder  bleiben, 
vgl.  aufsehen,  nachsehen,  abkommen;  ausnehmend.  Beim  pari  kann  sich 
die  Verschmelzung  in  der  bilduug  von  comparativen  oder  Superlativen 
zeigen,  die  nur  einen  sinn  haben,  wenn  das  ganze  als  eine  einheit  ge- 


288 

fasst  wird,  vgl.  die  zwei  erägegengesetzesten  eigenschafien  (Goe.),  der  ein- 
geborenste begriff'  (Goe.),  unter  nachsehendem  gesetzen  (Le.) ;  weitere  bei- 
spiele  bei  Andr.  Spraelig-.  s.  119.  Aus  der  Verbindung  des  verbums  mit 
dem  adv.  entspringen  dann  nominale  ableitungen,  die  zweifellose  wort- 
einheiten  sind,  wie  austreibimg,  Vorsehung,  auf  er  siehung,  abschr  eiber, 
anstellig,  ausgiebig,  zulässig,  angeblich.,  absetzbar.^)  Für  die  adverbialen 
bestimmungeu  gilt  übrigens  das  selbe  wie  für  die  substantivischen  ad- 
üominalen  (vgl.  s.  281),  dass  oecasionelle  individualisierung  die  Ver- 
schmelzung verhindert.  Daher  bewahren  z.  1).  die  demonstrativen  orts- 
adverbien  ihre  Selbständigkeit:  wer  da  ist,  her  kommt,  nicht  daist,  her- 
kommt. Bei  den  nominalformen  kommen  allerdings  zusammenschrei- 
bungeu  vor  wie  sein  hier  sein,  aber  man  empfindet  das  ganze  doch 
nicht  so  sehr  als  eine  einheit  wie  etwa  einkommen,  zutrauen.  Ganz 
anders  steht  es  mit  dasein  im  sinne  von  ^existenz";  hier  ist  eben  da 
nicht  individualisiert.  Entsprechend  verhält  es  sich  mit  herkommen  und 
mit  darreichen,  darbringen  etc.,  indem  dar  seine  ursprüngliche  funetion 
als  demonstrativadv.  =  dahin  verloren  hat.  Es  zeigen  sich  ausätze  dazu 
auch  das  verb.  fin.  in  ein  wirkliches  compositum  zu  wandeln.  Im  Jour- 
nalistendeutsch, dem  sich  hierin  auch  germanisten  anschliessen,  ist  es 
üblich  geworden  zu  sagen  er  anerkennt.  Wir  sehen  demnach  deutlich 
den  weg,  auf  dem  auch  die  alten  verbalen  composita  im  germanischen 
(wie  durchbrechen,  betreiben)  und  in  den  anderen  indogermanischen 
sprachen  aus  syntaktischen  Verbindungen  entstanden  sind. 

Ein  aus  einem  adj.  abgeleitetes  adv.  verschmilzt  zuweilen  mit 
den  nominalformen  des  verbums.  Die  erste  veranlassung  dazu  wird 
zum  teil  dadurch  gegeben,  dass  der  eine  von  den  beiden  bestandteilen 
metai)horisch  verwendet  wird,  vgl.  tief  fühlend,  weitgreifend,  weittragend, 
ftoch/liegend.  Noch  enger  wird  die  Verbindung,  wenn  der  erste  bestand- 
teil  eine  funetion  bewahrt,  die  er  im  allgemeinen  verloren  hat.  Hier- 
her gehören  namentlich  die  Verbindungen  mit  fvol  wie  wolleben,  ivol- 
schmeckend,  wolriechend,  woltuend  etc.,  die  aus  der  zeit  her  überliefert 
sind,  wo  wol  noch  allgemeines  adv.  zu  gut  war.  Vgl.  ferner  erst- 
geboren aus  der  zeit,  wo  erst  den  sinn  unseres  zu  erst  hatte.  Es  wirkt 
auch  hier  die  analogie  nominaler  composita,  vgl.  zartfühlend  —  Zart- 
gefühl, scharfblickend  —  Scharfblick.  Auch  hier  kann  die  comparation 
ein  kriterium  für  den  Vollzug  der  Verschmelzung  sein,  vgl.  bis  zur  schwer- 
fälligsten, kleinkauendsten  Weitschweifigkeit  (Schopenhauer);  der  tief- 
fühlendste   geist  (Goe.),    die  reingewölbteste  st  im  (ib.),    die  freigelegenste 


')  Man  könnte  versucht  sein,  diese  Wörter  vielmehr  als  nominale  composita 
zu  fassen,  aber  man  wlinlt;  sicli  dadureh  mit  dem  Sprachgefühle  in  Widerspruch 
setzen,  und  man  würde  teilweise  auf  simplieia  kommen,  die  gar  nicht  existieren 
wie  slellig  und  geblich. 


289 

H'ohnung  (ib.).  Verbreitet  sind  Superlative  wie  tveUgreifendsle,  hoch- 
geehrtester^ hochverehrtester.  Noch  merkwürdiger  ist,  dass  von  einer 
Verbindung-  in  der  das  adv.  schon  superlativisch  ist,  noch  ein  Super- 
lativ gebildet  wird,  vgl.  die  zunächsistehendsten  (Frankf.  zeit.).') 

Auf  einer  ähnlichen  zwitterstufe  zwischen  compositum  und  syn- 
taktischem gefüge  stehen  manche  Verbindungen  eines  verbums  mit 
einem  objectsaccusative,  vgl.  acht  gehen  oder  achtgeben,  haushalte^ 
standhalten,  stattfinden.,  teilnehmen'.,  ferner  Verbindungen  eines  verbums 
mit  einem  prädicativen  adj.  wie  loskaufen.,  freigehen.,  freisprechen,  feil- 
bieten., feilhalten.,  hochachten.,  wertschätzen.,  gutmachen.  Die  gründe, 
welche  hier  die  annäherung  an  die  compositiou  veranlassen,  sind  ganz 
die  gleichen  wie  bei  den  Verbindungen,  die  ein  adv.  enthalten.  Es 
kommen  dabei  aber  auch  zum  teil  gliederuugsverschiebungen  in  be- 
tracht,  namentlich  durchgängig  bei  der  Verschmelzung  des  prädicativen 
adj.,  vgl.  s.  247.  Der  Übergang  zum  compositum  ist  natürlich  auch 
hier  bei  den  nomiualformen  am  leichtesten.  Mit  einem  objectsaccusativ 
verwachsene  participia  gibt  es  in  grosser  anzahl,  vgl.  feuerspeiend., 
grundlegend.,  notleidend.,  leidtragend.,  wutschnaubend.,  segenbringend,  nichts- 
sagend. Auch  hier  kann  die  comparation  als  kriterium  für  eingeti'etene 
Verschmelzung  dienen,  vgl.  die  nichtsbedeulendsten  kleinigkeiten  (Seh.),  das 
grundlegendste  der  maigesetze  (Kölner  zeit),  am  gefährlichsten  und  feuer- 
fangendsten  (Deutscher  reichstag)."^)  Es  lässt  sich  aber  keine  scharfe 
grenze  ziehen  zwischen  spontaner  Verschmelzung  und  analogiebildung 
nach  dem  muster  der  nominalen  composita,  wie  sie  zweifellos  vorliegt 
in  Wörtern  wie  saftstrotzend,  kraftbegabt,  mondbeglänzt ,  die  aber  fast 
durchweg  auf  den  höheren  poetischen  stil  beschränkt  sind.  Ueber- 
führung  in  wirkliche  composition  haben  wir  bei  lobsingen,  wahrsagen 
{wahr  substantivisch  =  Wahrheit),  wobei  beeinflussung  durch  ableitungen 
aus  compositis  wie  ratschlagen,  weissagen  (vgl.  s.  2U6)  mitgewirkt  haben 
mag.  Ableitungen  werden  auch  aus  solchen  Verbindungen  gebildet, 
bei  denen  die  Verschmelzung  noch  nicht  vollständig  ist,  vgl.  haus- 
hälter, teilnehmer,  freigebig;  selbst  grundlegung,  Preisverteilung,  Waffen- 
träger, holzhauer  etc.;  ferner  bekanntmachung,  kundgebung,  lostrennung .'■^) 


')  Die  beispiele  nach  Andr.  Sprachg.  s.  120  und  42.  3,  wo  noch  mehr  aufge- 
führt werden. 

2)  Nach  Andr.  a.  a.  o. 

^)  Auch  hier  könnte  ein  zweifei  entstehen,  ob  die  betreffenden  Wörter  nicht 
als  nominale  composita  aufzufassen  sind,  aber  das  Sprachgefühl  entscheidet  wider 
für  die  oben  ausgesprochene  auliassung.  Die  analogie  der  nominalen  composition 
mag  allerdings  etwas  mitgewirkt  haben,  aber  bildungen  wie /rmp-<;c/(M«(y,  bekaiinl- 
machung  würden  sich  dieser  analogie  wegen  ihrer  bedeutung  nicht  tilgen;  sie 
müssten  ja  sonst  =  freie  sprechung,  bekannte  machung  sein. 

Paul,  Piincipien.    II.  Auflage.  19 


290 

Wie  die  adverbia,  so  verschmelzen  auch  von  einer  präposition 
abhängige  substautiva  bis  zu  einem  gewissen  grade  mit  dem  verb. 
Man  ])flegt  zwar  Verbindungen  wie  zu  gründe  legen  oder  in  stand  setzen 
nicht  zusammenzuschreiben  ausser  beim  substantivierten  inf.,  aber  man 
biUlet  die  ableitungen  Zugrundelegung^  inslandsetzung,  ansserachtlassimg, 
zuhülfenahme.  Dazu  die  8ui)erlativbildung  an  dem  sichtbarsten,  in  die 
äugen  fallendsten  orte  (Le.). 

Ich  möchte  die  aufmerksamkeit  noch  auf  die  vielen  Verbindungen 
lenken,  die  wie  die  oben  angeführten  copulativen,  nicht  als  eomposita 
gefasst  zu  werden  pflegen,  die  aber  doch  einen  einheitlichen  begriff  re- 
präsentieren, z.  b.  .s'ö  wie  so,  vor  wie  nach,  mann  für  mann,  schritt  für 
schritt  (vgl.  franz.  vis-a-vis,  dos-a-dos,  tete-a-tete),  von  neuem,  von  hause 
aus,  sobald  als  möglich,  so  gut  wie,  was  für  ein  etc.  Bei  manchen 
dieser  Verbindungen  ist  das  zusammenwachsen  zu  einer  einheit  zu- 
gleich eine  gliederuugsverschiebuug  im  satze,  die  sich  in  der  construc- 
tiousweise  bekundet.  Wenn  z.  b.  Lessing  sagt  ein  mehr  als  natürliches 
gift,  so  ist  die  attributive  Verwendung  von  mehr  als  natürlich  und  die 
flexion  am  ende  nur  dadurch  möglich  geworden,  dass  diese  Verbindung 
als  eine  einheit  gefasst  ist  wie  übernatürlich,  und  dass  damit  das  gefühl 
für  die  weise  der  zusammenfügung  geschwunden  ist.  Entsprechend  ver- 
halten sich  die  folgenden  constructionen:  mit  einernichts  weniger  als  schönen 
bewegung  (Le.),  in  so  wenig  als  mögliche  worle  (Le.),  ausser  der  so  lang 
als  möglichen  dauer  (Le.).  Noch  auffallender  und  dadurch  abweichend, 
dass  auch  eine  flexion  im  inuern  des  gefüges  vorhanden  ist,  ist  die 
mehrfach  bei  Lessing  vorkommende  construction  in  der  letzten  ohn  eine 
zeile.  Für  so  gut  wie  vgl.  man  Wendungen  wie  er  hat  mirs  so  gut  wie 
versprochen.  Das  zu  7vas  für  {=  qualis)  gehörige  subst.  war  ursprüng- 
lich von  für  abhängig.  So  ist  z.  b.  was  habt  ihr  für  pferde  eigentlich 
=  „was  habt  ihr  an  stelle  der  pferde".  Wenn  man  aber  jetzt  sagt 
mit  was  für  pferden,  so  ergibt  sich  daraus,  dass  was  fiXr  vom  Sprach- 
gefühl als  ein  indeclinables  attribut  zu  dem  subst.,  welches  eigentlich 
von  für  abhängen  sollte,  gefasst  wird. 

Die  Unmöglichkeit  zwischen  compositum  und  syntaktischem  ge- 
fUge  eine  feste  grenze  zu  ziehen,  zeigt  sich  auch  darin,  dass  öfters 
glieder  eines  sonst  zweifellosen  comi)ositums  mit  selbständigen  Wör- 
tern auf  gleiche  linic  gestellt  werden.  Man  scheut  sich  nicht  zu  sagen 
öffentliche  und  /irivatmittel,  das  ordinäre  und  das  feierkleid.  Hans 
Sachs  verbindet  sogar  gesotten,  pachen  vnd  pratfisch.  Es  werden  ferner 
zu  den»  ersten  l)estimmendeu  gliede  eines  compositnms  wie  zu  einem 
selbständigen  worte  bestimmungen  hinzugefügt,  nicht  bloss  solche,  die 
allenfalls  auch  auf  das  ganze  bezogen  werden  könnten,  wie  dankes- 
worte  für  die  gnade,    sondern  auch  andere  wie  ein  herausforderungsUed 


291 

zum  Zweikampf  (Le.),  ein  böses  erimwningszeiclien  für  ihn  an  die  (reu- 
losen Griechen  (Herder),  glaubensfreiheit  an  wunder  und  zeichen  (Goe.), 
der  Vertragsentwurf  mit  Deutschland  (K()luer  zeit),  hoffnungsvoll  auf  die 
Zukunft  (Goe.),  erwartungsvoll  des  ausgangs  (Wielancl),  hopeless  to  cir- 
cumvent  us  j'oin'd  (Milton),  fearless  to  he  overmatch'd  (ib.).  Es  werden 
endlieli  proiiomiua  auf  ein  eonipositionsglied  bezogen:  menschengebote, 
die  sich  vo7i  der  Wahrheit  abwenden  (Lu.),  er  hatte  einen  ameisenhaufen 
zertreten,  die  seine  her r schüft  nicht  anerkennen  wollten  (Goe.),  es  gibt 
im  menschenleben  augenblicke ,  wo  er  dem  weltgeist  näher  ist  als  sonst 
(Sehi.). 

Zu  lautver ändern ng-en,  die  eine  isolierende  Wirkung-  haben,  ist 
in  den  traditionellen  g-ruppeu  mannigfache  veranlassung  gegeben.  Wir 
dürfen  wol  behaupten,  wenn  wir  die  entwiekelung  auch  nicht  histo- 
risch verfolgen  können,  dass  solche  Veränderungen  meistens  zuerst  all- 
gemein bei  engerer  syntaktischer  Verbindung  eintreten,  dann  aber  durch 
ausgleiehung  wider  beseitigt  werden,  und  nur  da  wo  in  folge  der  be- 
deutungsentwickelung  die  demente  schon  zu  eng  mit  einander  ver- 
wachsen sind,  bewahrt  bleiben.  Die  leichteste  Veränderung  ist  hin- 
überziehung eines  auslautenden  consonanten  zur  folgenden  silbe,  vgl. 
nhd,  hinein,  hieran,  allein,  einander,  lat.  etenim,  etiam.  Eine  solche  hin- 
Uberziehung  wirkt  da  nicht  isolierend,  wo  sie  wie  im  französischen 
allgemein  bei  engerer  syntaktischer  Verbindung  eintritt.  Sie  kann  z.  b. 
in  fällen  wie  peut-etre  nicht  dazu  beitragen  einen  engeren  Zusammen- 
hang zu  begründen,  weil  sie  auch  in  il  peul  avoir  eintritt.  Wo  sie 
aber  durch  einwirkung  des  etymologischen  princips  auf  die  traditio- 
nellen formen  beschränkt  wird,  da  werden  diese  eben  dadurch  fester 
zusammengefügt.  Ferner  kommt  in  betracht  contraction  eines  auslau- 
tenden vokals  mit  dem  anlautenden  des  folgenden  wortes,  respective 
elision  eines  von  beiden,  vgl.  lat.  reapse,  magnopere,  aliorsum,  rursus 
(aus  *re-ursus),  franz.  aubepine  {alba  espina)^  Bonnetable  (ort  im  departe- 
ment  Sarthe),  7nalaise,  got.  sah  (dieser,  aus  sa-uh),  pammuh  (diesem,  aus 
fjamma-uh),  mhd.  hinjie  (=  hie  inne),  hüzen  =  nhd.  haussen,  nhd.  binnen. 
Die  ausstossung  im  französischen  artikel  (l'etat)  oder  in  der  präpo- 
sition  de  begründet  wider  keine  composition,  weil  sie  nach  einer  all- 
gemeinen regel  erfolgt  und  nicht  auf  einzelne  formein  beschränkt  ist. 
Ein  dritter  häufig  vorkommender  fall  ist  die  assimilation  eines  aus- 
lautenden consonanten  an  den  anlaut  des  folgenden  wortes,  vgl.  nhd. 
hoß'arl,  Homburg  (=  Hohenburg),  Bamberg  (==  Babenberg),  empor  (=  ent- 
bor),  sintemal  (=  siyit  dem  mal),  lat.  illico,  affatim,  possum.  Die  durch- 
greifendste Isolierung  aber  wird  durch  Wirkungen  des  accents  geschaffen, 
vgl.  nhd.  nachbar  (=  mhd.  nächgebür),  Junker  (=  juncherre),  Jungfer 
(=  Jnncfrouwe),  grummet  (=  gruonmät),  immer  {ie  mir),  tnannsen,  iveibsen 

19* 


292 

{=  mannes,  tvibes  name),  hieben  (aus  in  eban,  eueben\  lat.  denuo  (==  de 
novo),  illico,  franz.  celle  {ecce  Hla)\  vgl.  die  entsprechenden  erschei- 
nungen  bei  den  nach  indogermanischer  weise  gebildeten  compositis: 
nhd.  adler  (mhd.  adel-ar),  wimper  (wint-brä),  tvildpret  {wiltbrät  oder  wilt- 
brcele),  schuhe  —  schultess  {schult heize),  schuster  {schuochsütcere,  schuh- 
näher),  glied  {gelit),  bleiben  {beliben),  franz.  conter  {computare),  coucher 
(collocare),  coudre  {consuere),  lat.i)  subigere  (gegen  agere),  reddere  (gegen 
dare),  surgere  (aus  sub-regere),  proebere  (aus  prce-hibere),  contio  (aus 
conventio),  cuncti  (aus  cojunctt). 

Seltener  ist  es,  dass  lautliche  Veränderungen  der  einfachen  Wörter 
die  veranlassung  zur  isolierung  geben.  Es  geschieht  das  z.  b.  in  der 
weise,  dass  ein  auslautender  consonant  durch  hinüberziehen  zum  fol- 
genden Worte  sich  erhält,  während  er  sonst  abfällt;  vgl.  nhd.  da  (ahd. 
dar)  wo  (ahd.  rvar)  gegen  daran,  woran  etc.,  mhd.  hieran  etc.  gegen  hie, 
särie  gegen  sä.  Eine  andere  modification  ist  durch  die  hinüberziehung 
vermieden  in  vinaigre  gegen  vin.  Wie  die  geringere  tonstärke  eines 
compositionsgliedes  Veränderungen  hervorrufen  kann,  denen  das  Sim- 
plex nicht  unterliegt,  so  kann  sie  umgekehrt  auch  schützend  wirken, 
wo  das  sim])lex  unter  dem  einflusse  des  haupttons  verändert  wird,  vgl. 
nhd.  heran,  herein  gegen  her,  franz.  cor  dien,  corbleu  gegen  coeur.  Im 
nhd.  wird  der  vokal  eines  ersten  compositionsgliedes  durch  die  folgende 
doppelconsonanz  vor  der  dehnung  geschützt,  der  das  simplex  unter- 
liegt, vgl.  herzog,  Hermann,  herberge,  wollust. 

Die  selben  lautveränderungen,  welche  das  compositum  vom  Sim- 
plex trennen,  trennen  auch  die  einzelnen  eomposita,  welche  das  gleiche 
glied  enthalten,  von  einander,  und  auch  dadurch  verliert  das  gefühl 
für  die  Selbständigkeit  der  glieder  an  kraft. 

Besonders  entscheidend  für  das  zusammenwachsen  der  demente 
ist  es  natürlich  auch,  wenn  das  eine  als  simplex  verloren  geht;  vgl. 
nhd.  bräutigam  (ahd.  -gumo  mann),  nachügal  {-gala  Sängerin),  weichbild 
{wich-  heilig),  augenlid  {-lid  deckel),  einerlei  {-leie  art),  wahrnehmen, 
franz.  aubepine  {alb-),  prin/emps  {primutn-),  tiers-etat  {iertius-),  minuit 
{media-),  bonheur  {-augurium),  o?'mier  (-merum). 

Wir  haben  bisher  immer  nur  den  gegensatz  von  wortgruppe  und 
Worteinheit  im  äuge  gehabt  und  uns  bemüht  alle  momente  zusammen- 
zufassen, welche  dazu  dienen  die  erstere  immer  entschiedener  zur  letz- 
teren umzugestalten.  Es  kommt  aber  dabei  noch  ein  anderer  gegen- 
satz  in    betracht.     Die   geschilderte   entwickelung   muss   bis  zu  einem 


')  Man  miiss,  um   die  entstehimg  der  angeführten  formen  zu  verstehen,  auf 
die  vorhistorische  betonungaweise  zurückgehen. 


293 

gewissen  punkte  gediehen  sein,  damit  der  eomplex  den  eindrnek  eines 
eompositunis  macht,  sie  darf  aber  auch  nicht  über  einen  gewissen 
punkt  hinausgehen,  wenn  er  noch  diesen  eindruck  machen  soll  und 
nicht  vielmehr  den  eines  simplex.  Was  man  vom  Standpunkte  des 
sprachgeflihls  ein  compositum  nennen  darf,  liegt  in  der  mitte  zwischen 
diesen  punkten. 

Syntaktische  und  formale  Isolierung  führen  nicht  leicht  zur  Über- 
schreitung dieses  zweiten  punktes;  in  der  regel  ist  es  Untergang  des 
einen  elementes  in  selbständigem  gebrauche,  was  die  veranlassung  gibt, 
oder  lautliche  Isolierung,  namentlich  das  zusammenschmelzen  des  laut- 
körpers  unter  accenteinflüssen. 

Die  lebendigkeit  des  gefühls  für  die  composition  zeigt  sich  be- 
sonders in  der  tahigkeit  eines  compositums  als  muster  für  analogie- 
bildungen  zu  dienen.  Wenn  wir  die  composition  aus  der  syntax  ab- 
geleitet haben,  so  soll  damit  keineswegs  gesagt  sein,  dass  jedes  ein- 
zelne compositum  aus  einem  syntaktischen  eomplex  entstanden  ist. 
Vielmehr  sind  vielleicht  die  meisten  sogenannten  composita  in  den 
verschiedenen  sprachen  nichts  anderes  als  analogiebildungen  nach  sol- 
chen, die  im  eigentlichen  sinne  composita  zu  nennen  wären.  So  ist 
z.  b.  jedes  in  der  flexivischen  periode  der  indogermanischen  grund- 
sprache  und  vollends  jedes  innerhalb  der  einzelsprachliehen  entwicke- 
lung  neugeschaffene  eigentliche  nominalcompositum  als  eine  analogiebil- 
dung  aufzufassen  und  nicht  als  Zusammensetzung  eines  gar  nicht  mehr 
existierenden  reinen  Stammes  mit  einem  flectierten  worte.  Ebenso  sind 
unsere  neuhochdeutschen  genitivischen  und  adjectivischen  composita 
zum  grossen  teile  von  aufang  an  nicht  syntaktisch  gewesen.  Das  sieht 
man  am  besten  an  solchen  fällen,  wo  das  aus  der  genitivendung  ent- 
standene s  des  ersten  gliedes  auf  Wörter  übertragen  wird,  denen  es  im 
gen.  gar  nicht  zukommt  {regierungsrat  etc.)  und  auf  solche,  wo  der 
genitiv  gar  nicht  hingehört,  vgl.  wahrheitsliebend  nach  Wahrheitsliebe 
u.  dergl. 

Wird  die  grenze  überschritten,  bis  zu  welcher  das  compositum 
dem  Sprachgefühl  noch  als  solches  erscheint  so  macht  das  gebilde, 
von  den  eventuellen  flexionsendungen  abgesehen,  entweder  den  ein- 
druck vollkommener  einfachheit  oder  den  einer  mit  einem  suffix  oder 
präfix  gebildeten  ableitung.  So  nehmen  sich  Wörter  wie  nhd.  amt  (got. 
and-bahti),  öhmd  (mhd.  uo-mät)^  schütze  (mhd.  schuldheize\  echt  (aus 
mnd.  ehaht  =  mhd.  e-ha/(),  heute  (aus  *Äm  tagii),  heim  (mhd.  hi-naht), 
Seibt  (ahd.  Sigi-boto),  bange  (aus  *bi-ango),  gönnen  (aus  *gi-unnan\ 
fressen  (got.  fraitan)^  nicht  (aus  iii  io  wiht),  lat.  demere  (aus  *de-emere)^ 
promere  (aus  ^'pro-emere),   surgere  (aus  *sub-regere),  prorsus  (aus  *pro- 


294 

versus)  nicht  anders  aus  wie  etwa  stand,  hose,  bald,  binden,  pangere, 
versus;  und  Wörter  wie  adler  (ahd.  adal-ar\  schuster  (mhd.  schuochsiu- 
tcere),  wimper  (ahd.  winl-brdfra),  drittel  (=  dritte  teil),  Meinert  {==  Mein- 
hard)  nicht  anders  als  solche  wie  Schneider,  leiter,  mittel,  hundert. 
Auch  in  Wörtern  wie  nachbär,  bräutigam,  nachtigal  wird  die  letzte  silbe 
nicht  anders  aufgefasst  werden  wie  die  vollen  ableitungssilben  in  trüb- 
sal,  rechnung  u.  dergl. 

Hier  sind  wir  bei  dem  Ursprünge  der  ableitungssuffixe  und 
präfixe  angelangt.  Dieselben  entstehen  anfänglich  stets  so,  dass  ein  com- 
positionsglied  die  fiihlung  mit  dem  ursprünglich  identischen  einfachen 
werte  verliert.  Es  muss  aber  noch  mehreres  andere  hinzukommen,  damit 
ein  wortbildendes  dement  entsteht.  Erstlich  muss  das  andere  glied  etymo- 
logisch klar  sein,  mit  einem  verwandten  worte  oder  einer  verwandten 
Wortgruppe  associiert  sein,  was  z.  b.  bei  adler,  wimper  nicht  der  fall 
ist.  Zweitens  muss  das  dement  nicht  bloss  in  vereinzelten  Wörtern 
auftreten  (wie  in  nachbar,  bräutigatn),  sondern  in  einer  gruppe  von 
Wörtern  und  in  allen  mit  gleicher  bedeutung.  Sind  diese  beiden  be- 
dingungen  erfüllt,  so  kann  die  gruppe  schöpferisch  werden  und  sich 
durch  neuschöpfungen  nach  den  auf  dem  wege  der  composition  ent- 
standenen mustern  vermehren.  Es  muss  dann  aber  drittens  noch  die 
bedeutung  des  betreffenden  compositionsgliedes  entweder  schon  im 
Simplex  eine  gewisse  abstracte  allgemeinheit  haben  (wie  weseu,  eigen- 
schaft,  tun)  oder  sich  innerhalb  der  composition  aus  der  individuelleren, 
sinnlicheren  des  simplex  entwickeln.  Dieser  letztere  umstand  kann 
sogar  unter  umständen  entscheidend  sein,  wenn  auch  das  gefühl  des 
Zusammenhangs  mit  dem  simplex  noch  nicht  ganz  verloren  ist. 

Wir  haben  innerhalb  der  verfolgbaren  historischen  entwickdung 
gdegenheit  genug  zu  beobachten,  wie  auf  die  bezeichnete  weise  ein 
Suffix  entsteht.  Am  bekanntesten  sind  aus  dem  deutschen  -heit,  -schaft, 
-tum,  -bar,  -lieh,  -sam,  -ha/t.  Der  typus  eines  Wortes  wie  weiblich  z.  b 
geht  zurück  auf  ein  altes  bahuvrihi-compositum,  urgermanisch  *wibo- 
likis^)  eigentlich  'weibesgestalt',  dann  durch  metapher  'weibesgestalt 
habend'.  Zwischen  einem  deraiügen  compositum  und  dem  simplex, 
mhd.  lieh,  nlid.  leiche  ist  eine  derartige  discrepanz  anfänglich  der  be- 
deutuugen,  s])äter  auch  der  lautformen  herausgebildet,  dass  jeder  Zu- 
sammenhang aufgehoben  ist.  Vor  allem  aber  hat  sich  aus  der  sinn- 
lichen bedeutung  des  simplex  'gestalt,  äusseres  ansehen'  die  abstrac- 
tere  'beschaffenheit'  entwickelt.     Bei    einem  worte   wie   Schönheit   hat 


')  Mir  kommt  es  hier  und  im  folgenden  nur  darauf  an  die  bildungsweise  zu 
veranschaulichen,  und  ich  wül  nicht  behaupten,  dass  gerade  das  als  beispiel  ge- 
wählte wurt  zu  den  ursprünglichen  bildungen  gehurt  habe. 


295 

sieh  erst  innerhalb  des  vvestgernianischen  aus  der  syntaktischen  ji:rnppe 
ein  compositum,  aus  dem  compositum  eine  ableitung  entwickelt.  Ur- 
SGYm.*skmmis  haidus  'schöne  eigenschaft',  daraus  regelrecht  lautlich 
entwickelt  ahd.  sconheit.  Durch  Übertragung  der  flexionslosen  form  in 
die  obliquen  casus  ist  die  composition  vollzogen  gerade  wie  in  hochzU 
u.  dergl.,  vgl.  s.  284.  Vermöge  seiner  abstracten  bedeutung  wird  dann 
das  zweite  glied  zum  suffix,  zumal  nachdem  es  in  selbständiger  Ver- 
wendung verloren  gegangen  ist. 

Auch  noch  in  einer  späteren  zeit  nähern  sich  manche  zweite 
compositionsglieder  dem  Charakter  eines  sufflxes.  So  sind  schmerzvoll, 
schmerzensreich  in  ihrer  bedeutung  nicht  verschieden  von  lat.  dolorosus, 
franz.  douloureux,  der  unterschied  zwischen  anmulsvoll  und  anmuüg,  reiz- 
voll und  reizend  ist  ein  geringer.  Das  -iel  {==  teil)  in  drittel,  viertel  etc. 
ist  dem  Sprachgefühl  ein  suffix.  Auch  in  allerhand,  allerlei,  gewisser- 
masscn,  seit  samenreise  etc.  ist  der  ansatz  zur  suffixbildung  gemacht. 
Von  -weise  könnte  man  sich  recht  gut  vorstellen,  dass  es  sich  bei 
weiter  gehender  Verallgemeinerung  zum  durchgehenden  adverbialsuffix 
hätte  entwickeln  können  gerade  wie  -menfe  in  der  romanischen  Volks- 
sprache. 

Die  Scheidelinie  zwischen  compositionsglied  und  suffix  kann  nur 
nach  dem  Sprachgefühl  bestimmt  werden.  Objectivc  kriterien  zur  be- 
urteilung  desselben  haben  wir  in  der  band,  sobald  durch  die  analogie 
bildungsweisen  geschaffen  werden,  die  als  composita  undenkbar  sind. 
So  könnte  man  zwar  franz.  fterement  noch  als  fera  mcnte  auffassen, 
aber  z.  b.  ein  recemment  wäre  auf  recente  mente  zurückgeführt  wider- 
sinnig. Die  grundbedeutung  unseres  -bar  (=  mhd.  -h(ere)  ist  'tragend, 
bringend'.  Wörter  wie  ehrbar,  furchtbar,  wunderbar  würden  dazu  noch 
einigermassen  passen;  aber  schon  mhd.  w<a^e^6«'re  (jungfräulich),  meien- 
bcere  (zum  mai  gehörig),  scheffenbmre  (zum  schöffenamt  befähigt)  nicht 
mehr.  Vollends  entschieden  ist  der  suffixcharakter,  wenn  die  analogie 
zum  hinübergreifen  in  ganz  andere  Sphären  führt  wie  in  vereinbar,  be- 
greiflich, duldsam  etc.,  die  nur  als  ableitungen  aus  vereinen,  begreifen, 
dulden  gefasst  werden  können  (vgl.  darüber  oben  s.  203);  oder  wenn 
Suffixverschmelzungen  stattfinden  (vgl.  darüber  oben  s.  203)  wie  in  mhd. 
miltecheit,  miltekeit  aus  miltec-heit,  woraus  dann  analogiebildungen  ent- 
springen wie  einerseits  frömmigkelt,  gerechtigkeit ,  anderseits  eitelkeit, 
heiterkeit,  dankbarkeit,  abscheulichkeil,  folgsamkeit. 

Aus  diesen  beobachtungen ,  ["zu  denen  wir  leicht  aus  andern 
sprachen  eine  menge  ähnlicher  hinzufügen  könnten,  müssen  wir 
schliessen,  dass  die  suffixbildung  nicht  das  werk  einer  bestimmten 
vorhistorischen  periode  ist,   das  mit  einem  bestimmten  Zeitpunkte  ab- 


296 

geschlossen  wäre,  sondern  vielmehr  ein,  so  lange  die  spräche  sich 
lebendig  fortentwickelt,  ewig  sich  widerholender  process.  Wir  können 
speciell  vermuten,  dass  auch  die  gemeinindogermanischen  suffixe  nicht 
schon  alle  vor  der  entstehung  der  flexion  vorhanden  waren,  wie  die 
zergliedernde  grammatik  gewöhnlich  annimmt,  sondern  dass  auch  die 
vorgeschichtliche  flexivische  periode  nicht  ganz  unfruchtbar  in  dieser 
beziehung  gewesen  sein  wrd.  Wir  müssen  die  vorgeschichtliche  ent- 
stehung von  Suffixen  durchaus  nach  dem  massstabe  beurteilen,  den 
uns  die  'geschichtliche  erfahrung  an  die  band  gibt,  und  mit  allen 
theorieen  brechen,  die  nicht  auf  diese  erfahrung  basiert  sind,  die  uns 
zugleich  den  einzigen  weg  zeigt,  auf  welchem  der  Vorgang  psycho- 
logisch begreifbar  wird. 

Noch  ein  wichtiger  punkt  muss  hervorgehoben  werden.  Die  ent- 
stehung neuer  suffixe  steht  in  stätiger  Wechselwirkung  mit  dem  unter- 
gang  alter.  Wir  dürfen  sagen,  dass  ein  suffix  als  solches  unterge- 
gangen ist,  sobald  es  nicht  mehr  fähig  ist  zu  neubildungen  verwendet 
zu  werden.  In  welcher  weise  namentlich  der  lautwandel  darauf  hin- 
wirkt diese  fähigkeit  zu  vernichten,  ist  oben  s.  160  auseinandergesetzt. 
So  stellt  sich  immer  von  zeit  zu  zeit  das  bedürfniss  heraus  ein  zu  sehr 
abgeschwächtes,  in  viele  lautgestaltungen  zerspaltenes  suffix  durch  ein 
volleres,  gleichmässiges  zu  ersetzen.  Dazu  bieten  sich  häufig  die  ver- 
schmolzenen suffixcomplexe  dar.  Mau  sehe  z.  b.,  wie  im  ahd.  von  den 
nomina  agentis  auf  -äri,  den  nomina  actionis  auf  -unga,  den  abstractis 
auf  -nissa  die  älteren  einfacheren  bildungsweisen  zurückgedrängt  wer- 
den. In  andern  fällen  aber  sind  es  die  composita  von  der  beschrie- 
benen art,  die  den  willkommenen  ersatz  bieten,  in  der  regel  zunächst 
neben  die  älteren  bildungen  treten,  dann  aber  rasch  wegen  ihrer 
grösseren  deutlichkeit,  ihrer  innigeren  beziehungen  zum  grundworte 
ein  entschiedenes  übergewicht  über  diese  erlangen  und  sie  bis  auf 
eine  grössere  oder  kleinere  zahl  traditioneller  reste  überwältigen.  So 
verdrängt  Schönheit  das  jetzt  veraltete  schöne,  finsterkeit  das  noch  im 
mhd.  lebendige  diu  vinster  etc. 

Auf  die  gleiche  weise  wie  die  ableitungssuffixe  enstehen  flexions- 
suffixe.  Zwischen  beiden  gibt  es  ja  überhaupt  keine  scharfe  grenze. 
Wir  haben  auch  hier  für  die  vorgeschichtlichen  Vorgänge  einen  mass- 
stab  an  den  geschichtlich  zu  beobachtenden.  Das  anwachsen  des  pro- 
nomens  an  den  tempusstaram  lässt  sich  z.  b.  durch  Vorgänge  aus  heu- 
tigen bairischen  mundarten  erläutern,  die  schon  s.  2(31  besprochen  sind. 
Die  bildung  eines  tempusstammes  zeijii;  sich  am  handgreiflichsten  am 
romanischen  fut.:  j'aimerai  =  amare  haheo.  Doch  es  scheint  mir  über- 
flüssig aus  der  masse  des  allgemein  bekannten  und  jedem  zur  band 
liegenden  materials  noch  weitere  beispiele  zusammenzutragen. 


297 

Zieht  man  ans  unserer  betrachtiing  die  methodologischen 
consequenzen,  so  wird  mau  zugestehen  müssen,  dass  das  verfahren, 
welches  bisher  bei  der  construction  der  urverhältnisse  des  indogerma- 
nischen eingeschlagen  zu  werden  pflegte,  sehr  verwerflich  ist.  Ich 
hebe  einige  nach  dem  obigen  selbstverständliche  sätze  hervor,  nach 
denen  die  bestehenden  theorieen  zu  corrigieren  oder  gänzlich  umzu- 
stossen  sind. 

Wenn  man  die  indogermanische  grundform  eines  wortes.  auch 
vorausgesetzt,  dass  sie  richtig  construiert  ist,  nach  der  üblichen  weise 
in  stamm  und  flexionssuftix  und  den  stamm  wider  in  wurzel  und  ab- 
leitungssuffix  oder  suffixe  zerlegt,  so  darf  man  sich  nicht  einbilden, 
damit  die  demente  zu  haben,  aus  denen  das  wort  wirklich  zusammen- 
gesetzt ist.  Man  darf  z.  b.  nicht  glauben ,  dass  die  2  sg.  opt.  präs. 
Hherois  (früher  als  Hharais  angesetzt)  aus  hher  +  o  -^  i  +  s  ent- 
standen sei.  Erstens  muss  man  in  betracht  ziehen,  dass  zwar  die 
ersten  grundlagen  der  Wortbildung  und  flexion  durch  das  zusammen- 
wachsen ursprünglich  selbständiger  elemente  geschaffen  sind,  dass 
aber  diese  grundlagen  sobald  sie  einmal  vorhanden  waren,  auch  sofort 
als  muster  für  analogiebildungen  dienen  mussten.  Wir  können  von 
keiner  einzelnen  indogermanischen  form  wissen,  ob  sie  aus  einem  syn- 
taktischen wortcomplex  entstanden  oder  ob  sie  eine  analogiebildung 
nach  einer  fertigen  form  ist.  Wir  dürfen  aber  auch  gar  nicht  einmal 
ohne  weiteres  voraussetzen,  dass  der  typus  einer  form  auf  die  erstere 
weise  entstanden  sein  müsste.  Vielmehr  müssen  wir  auch  schon  für 
die  älteste  periode  den  factor  in  anschlag  bringen,  der  in  den  jüngeren 
eine  so  grosse  rolle  spielt,  die  Verschiebung  des  bildungsprincipes  durch 
analogiebildung.  So  wenig,  wie  wir  die  typen  besuch,  unhesti-eUbcir, 
unveränderlich,  verrvaUungsrat  auf  einen  syntaktischen  complex  zurück- 
führen können,  ebenso  wenig  wird  das  bei  vielen  indogermanischen 
bildungen  statthaft  sein.  Zweitens  muss  berücksichtigt  werden,  dass 
auch  in  denjenigen  formen,  die  wirklich  syntaktischen  Ursprungs  sind, 
die  elemente  nicht  mehr  in  der  lautgestaltung  vorzuliegen  brauchen, 
die  sie  vor  ihrem  aneinanderwachsen  hatten.  So  wenig  wie  schusters 
aus  schu-^ster-\-s  entstanden  ist.  so  wenig  braucht  ein  indogerma- 
nischer gen.  akmenos  aus  ak  +  men  -f  os  entstanden  zu  sein.  Eine 
reihe  von  Veränderungen,  welche  die  elemente  erst  innerhalb  des  ge- 
füges  erlitten  haben  können,  hat  man  längst  erkannt,  andere  sind 
neuerdings  nachgewiesen.  Es  ist  aber  durchaus  möglich  und  sogar 
wahrscheinlich,  dass  die  summe  dieser  Veränderungen  mit  dem  er- 
kannten noch  lange  nicht  erschöpft  ist. 

Noch  weniger  darf  man  glauben,   dass   die   durch   analyse   ge- 
fundenen elemente  die  urelemente  der  spräche  überhaupt  sind.    Unser 


298 

Unvermögen  ein  elenient  zu  analysieren  beweist  gar  nichts  für  dessen 
primitive  einlieit. 

Gänzlich  fallen  lassen  muss  man  die  für  die  geschiehte  der  indo- 
germanischen fiexion  beliebte  Scheidung  in  eine  periode  des  aufbaus 
und  eine  periode  des  Verfalls.  Das,  was  man  auf  bau  nennt,  kommt 
ja,  wie  wir  gesehen  haben,  nur  durch  einen  verfall  zu  stände,  und  das, 
was  man  verfall  nennt,  ist  nur  die  weitere  furtsetzung  dieses  processes. 
Aufgebaut  wird  nur  mit  hülfe  der  syntax.  Ein  solcher  aufbau  kann 
in  jeder  periode  stattlinden,  und  neuaufgebautes  tritt  immer  als  ersatz 
ein  da,  wo  der  verfall  ein  gewisses  mass  überschritten  hat. 


Cap.  XX. 
Die  Scheidung  der  redeteile. 

Die  übliche  Scheidung  der  redeteile  iu  den  indogermanischen 
sprachen,  wie  sie  von  den  antiken  grammatikern  überkommen  ist, 
beruht  nicht  auf  consequent  durchgeführten  logischen  principien,  sie  ist 
vielmehr  zu  stände  gekommen  unter  berücksichtigung  sehr  verschiedener 
Verhältnisse.  Sie  ti'äg-t  daher  den  eharacter  der  willkührlichkeit  an  sich. 
Ihre  mängel  lassen  sich  leicht  zeigen.  Es  würde  aber  nicht  möglich 
sein  etwas  wesentlich  besseres  an  die  stelle  zu  setzen,  so  lange  man 
darauf  ausgeht  jedes  wort  in  eine  bestimmte  klasse  unterzubringen. 
Der  versuch  ein  streng  logisch  gegliedertes  system  aufzustellen  ist 
überhaupt  undurchführbar. 

Es  sind  drei  punkte,  die  bei  der  ül)lichen  einteilung  massgebend 
gewesen  sind:  die  bedeutung  des  wortes  an  sich,  seine  fuuction  im 
Satzgefüge,  sein  verhalten  in  bezug  auf  flexion  und  Wort- 
bildung. 

Was  den  ersten  ])unkt  betrifft,  so  correspondieren  zunächst  die 
grammatischen  kategorieen  substantivum,  adjectivum,  verbum  mit  den 
logischen  Substanz,  eigenschaft.  tätigkeit  oder  richtiger  geschehen.  Aber 
wenn  es  auch  die  eigentliche  function  des  substantivums  ist  eine  Substanz 
zu  bezeichnen,  wozu  ein  adj.  oder  verb.  nicht  fähig  ist,  so  gibt  es  doch 
auch  substantivische  bezeichnungen  der  eigenschaft  und  des  gescheheus. 
Es  gibt  ferner  verba,  die  dauernde  zustände,  eigenschaften  bezeichnen. 
Die  rücksicht  auf  die  bedeutung  der  Wörter  an  sich  hat  ferner  dazu 
mitgewirkt,  dass  man  die  pronomina  und  die  Zahlwörter  als  besondere 
klassen  aufgestellt  hat.  Wenn  man  diese  nun  den  klassen  der  sub- 
stantiva  und  der  adjectiva  coordiniert,  so  liegt  darin  ein  starker  logi- 
scher fehler.  Der  gegensatz  von  subst.  und  adj.  geht  auch  durch  die 
pronomina  und  Zahlwörter  hindurch.  Anderseits  müsste  man,  wenn  man 
auf  dem  gebiete  der  nomina  die  pronomina  und  Zahlwörter  als  besondere 
klassen  ausscheidet,  die  selbe  ausscheidung  auch  auf  dem  gebiete  der 
adverbia  vornehmen ;  denn  heiie  —  huc  —  bis  verhalten  sich  zu  einander 
wie  bomis  —  hie  —  duo. 


300 

Sieht  man  auf  die  fimction  im  Satzgefüge,  so  könnte  man  die 
Wörter  vielleicht  zunächst  scheiden  in  solche,  die  für  sich  einen  satz 
bilden,  solche,  die  fähig  sind  als  Satzglieder  zu  dienen,  und  solche,  die 
nur  zur  Verbindung  von  Satzgliedern  dienen,  Verbindungswörter. 

Unter  die  erste  klasse  könnten  wir  die  interjectionen  stellen,  die 
isoliert  als  unvollkommene  sätze  zu  betrachten  sind.  Aber  dieselben 
kommen  doch  auch  als  Satzglieder  vor,  die  mit  einem  subst.  teils  un- 
mittelbar, teils  durch  vermittelung  einer  präpositiou  zu  einem  satze 
verbunden  werden,  vgl.  ivehe  dem  lande,  o  über  die  toren,  mhd.  ach 
niines  lihes. 

Ein  vollkommenerer  satz  mit  andeutung  von  subj.  und  präd.  ist 
ursprünglich  das  verb.  finitum.  Wir  finden  dasselbe  aber  daneben 
schon  auf  der  ältesten  überlieferten  stufe  als  blosses  präd.  neben  einem 
besonders  ausgedrückten  subjecte  und  in  unserer  jetzigen  spräche  nur 
so,  abgesehen  vom  imperativ.  Es  ist  daher  doch  nicht  möglich  die 
satznatur  als  kennzeicheu  des  verbums  hinzustellen.  Und  weiter  sind 
die  sogenannten  hülfszeitwörter  zu  verbinduugswörtern  degTadiert. 

Die  verbiudungswörter  sind,  wie  wir  s.  245  gesehen  haben,  durch 
eine  gliederungsverschiebuug  aus  selbständigen  Wörtern  entstanden. 
Dieser  process  widerholt  sich  immer  von  neuem.  Sie  sind  daher  schon 
deshalb  nicht  scharf  abzugrenzen.  Dazu  kommt,  dass  ein  wort  inner- 
halb des  einzelsatzes,  dem  es  angehört,  Selbständigkeit  haben,  aber 
doch  zugleich  zur  Verknüpfung  dieses  satzes  mit  einem  anderen  dienen 
kann.  Sage  ich  z.  b.  ein  mensch,  der  das  glaubt,  ist  ei7i  narr,  so  ist 
der  innerhalb  des  relativsatzes  selbständiges  glied,  aber  zugleich  ver- 
bindungswort  zwischen  haupt-  und  nebensatz.  Das  nämliche  gilt  über- 
haupt von  dem  relativen  pron.  und  adv.  Es  gilt  auch  von  dem  de- 
monstrativum,  soweit  es  auf  den  vorhergehenden  oder  folgenden 
satz  weist,  dagegen  wider  nicht,  soweit  es  auf  die  vorliegende  an- 
schauung  geht. 

Versuchen  wir  dann  eine  weitergehende  teilung,  so  verwickehi 
wir  uns  wider  in  Schwierigkeiten.  Das  subst.  hat  im  gegensatz  zum 
adjectivum  und  verbum  vor  allem  die  function  als  subj.  zu  dienen  und 
danach  als  object  im  weitesten  sinne.  Wenn  neben  den  substanz- 
bezeichnungen  auch  solche  substantiva  geschaffen  sind,  die  eine  eigen- 
schaft  oder  ein  geschehen  bezeichnen,  so  beruht  dies  wol  anfänglich 
auf  einer  phantasievollen  anschauung,  durch  welche  eigenschaften  und 
Vorgänge  zu  dingen  oder  personen  gestempelt  werden.  Weiterhin  aber 
ist  es  eben  die  fähigkeit  der  substantivischen  bezeiehuungen  beliebig 
als  subj.  oder  obj.  zu  dienen,  was  die  veranlassung  giebt  sie  zu  schaffen. 
Bei  alledem  aber  kann  doch  wider  auch  das  subst.  attributiv  und  prä- 
dicativ  verwendet   werden  wie  ein  adj.,   und  können  anderseits  auch 


301 

andere  Wörter  als  siibj.  fiiugiercn;  ich  niciiie  nicht  etwa  bloss  als  psy- 
ebologiselies  subj.  im  weitesten  sinne,  sondern  auch  als  grammatisches 
subj.  in  dem  üblichen  beschränkten  sinne.  Vgl.  Sätze  wie  frisch  gefragt 
ist  halb  gewonnen,  aufgeschoben  ist  nicht  aufgehoben,  hin  ist  hin,  verloren 
ist  verloren,  grün  ist  die  färbe  der  ho/fnung;  ehrlich  yvährt  am  längsten^ 
doppell  genäht  hält  gut,  jung  gefreit  hat  niemand  gereut,  allzu  scharf 
macht  schartig,  gleich  wider  ist  die  beste  bezahlung,  geradezu  gibt  gute 
renner.  Auch  als  obj.  kann  zuweilen  ein  adj.  erscheinen,  vgl.  er  hält 
gut  für  böse;  ferner  abhängig  von  präpositionen,  vgl.  schwarz  auf  weiss, 
aus  arg  ärger  machen. 

Wenden  wir  uns  zu  den  Verbindungswörtern,  so  erregt  die  klasse 
der  conjunctionen,  wie  sie  gewöhnlich  aufgestellt  wird,  allerhand  be- 
denken. Zunächst  ist  die  Scheidung  von  den  demonstrativen  und  re- 
lativen adverbien,  deren  Stellung  oben  (s.  300)  characterisiert  ist,  eine 
ziemlich  willkürliche,  indem  man  z.  b.  wo  als  adv.,  als,  während  als 
conjunctionen  bezeichnet.  Im  einzelsatze  unterscheidet  man  dann  prä- 
positionen und  conjunctionen,  je  nachdem  easusrection  stattfindet  oder 
nicht,  d.  h.  also  im  allgemeinen  je  nachdem  hypotaxe  oder  parataxe 
stattfindet.  Vollständig  decken  sich  allerdings  diese  beiden  Unter- 
scheidungen nicht.  Dagegen  bezeichnet  man  alle  Verbindungswörter, 
die  Sätze  unter  einander  verknüpfen,  als  conjunctionen,  während  man 
doch  hier  auch  den  unterschied  zwischen  hypotaxe  und  parataxe 
machen  sollte.  Man  bezeichnet  z.  b.  ehe,  seit,  während,  wo  sie  im  ein- 
fachen satze  auftreten,  als  präpositionen,  wo  sie  zur  Verknüpfung  von 
Sätzen  dienen,  als  conjunctionen,  während  doch  die  function  in  beiden 
fällen  analog  ist.i) 

Am  consequentesten  lässt  sich  noch  die  Scheidung  nach  der 
flexionsweise  durchführen.  Und  in  der  tat  wird  danach  die  Scheidung 
in  drei  hauptklassen  gemacht,  nomina,  verba  und  flexionslose  Wörter 
(iudeclinabilia,  partikeln).  Aber  auch  hierbei  zeigen  sich  die  nominal- 
formeu  des  verbums  und  die  substantivierten  indeclinabilia  wider- 
strebend. Und  zu  einer  weiteren  sonderung  reicht  die  rücksicht  auf 
die  flexion  nicht  aus.  Die  indecliuabeln  partikelu  lassen  sich  danach 
überhaupt  nicht  w  eiter  einteilen.  Die  pronomina  weichen  in  der  flexion 
zum  teil  von  den  übrigen  nomina  ab,  aber  nur  zum  teil  und  dann 
wider  untereinander.  Der  unterschied  zwischen  substantivischer  und 
adjectivischer  flexion  ist  kein  durchgängiger.  Auch  die  bildbarkeit 
der  Steigerungsformen   kann  nicht  als  entscheidendes  kennzeichen  des 


')  Ueber  die  Verwendung  von  präpositionen  zur  einleitung  von  nebensätzen 
im  engl.  vgl.  s.  137. 


302 

ndjeetivums  gelten,  da  sehoii  die  bedeutung  mancher  adjeetiva  keine 
steigeriiugsformen  zulässt. 

Wenn  demnach  bei  der  üblichen  Scheidung  der  redeteile  so  ver- 
schiedenartige rücksiehten  in  frage  kommen,  die  mit  einander  in  con- 
ilict  geraten  können,  so  ist  es  ganz  natürlich,  dass  diese  Scheidung 
überhaupt  nicht  wirklich  durchführbar  ist.  Die  dabei  in  betracht 
kommenden  Verhältnisse  sind  zu  mannigfaltig  und  erscheinen  in  zu 
verschiedenartigen  combinationen,  als  dass  eine  einordnung  in  acht 
oder  neun  rubriken  genügen  könnte.  Es  gibt  eine  menge  Übergangs- 
stufen,  vermöge  deren  ein  allmähliger  Übergang  aus  der  einen  klasse 
in  die  andere  möglich  ist.  Ein  solcher  Übergang  erfolgt  nach  den 
allgemeinen  regeln  des  bedeutungsvvandels  und  der  analogiebildung, 
wie  wir  sie  in  den  voraufgehendeu  capiteln  kennen  gelernt  haben. 
Verfolgt  man  diese  Übergänge,  so  erhält  man  damit  zugleich  aufklärung 
über  die  Ursachen,  die  ursprünglich  eine  diflferenzierung  der  redeteile 
hervorgebracht  haben. 

Betrachten  wir  zunächst  den  unterschied  zwischen  subst.  und  adj. 
Die  formelle  Scheidung  beider  beruht  in  den  indogermanischen  sprachen 
auf  der  wandelbarkeit  des  letzteren  nach  dem  geschlecht  und  auf  der 
bildung  der  Steigerungsformen.  In  einzelnen  sprachen  haben  sich  dazu 
noch  weitere  unterscheidungsmittel  herausgebildet.  So  hat  namentlich 
das  germanische  adj.  die  möglichkeit  einer  doppelten,  wir  können  sogar 
sagen  dreifachen  flexionsweise  erlangt  (vgl.  gut  —  guter  —  der  gule), 
wobei  sich  formen  finden,  die  in  der  flexion  der  substantiva  gar  keine 
analogie  haben. 

Man  ist  auf  grundlage  solcher  kriterien  z.  b.  nicht  zweifelhaft, 
dass  man  hund  für  ein  subst.  Jung  für  ein  adj.  erklären  muss.  Aber  trotz 
aller  formellen  difterenzierung  kann  das  adj.  ohne  weiteres  die  function 
eines  substantivums  erhalten,  zunächst  occasionell,  dann  auch  usuell.  Es 
findet  dal)ei  eine  bereicherung  des  bedeutungsiuhaltes  statt,  indem  ent- 
weder die  ganz  allgemeinen  Vorstellungen  eines  dinges  oder  einer  person 
mit  aufgenommen  werden  oder  speciellere,  aus  der  Situation  sich  erge- 
l)cnde  (vgl.  s.  271).  Diese  Operation  können  wir  occasionell  mit  jedem  be- 
liebigen adj.  machen,  welches  denn  auch  unser  jetziger  schreibgebrauch 
durch  Verwendung  der  majuskel  als  subst.  anerkennt.  Durch  traditio- 
nelle Verwendung  kann  sich  dann  aus  dem  substantivierten  adj.  ein 
reines  subst.  entwickeln,  zumal  wenn  es  gegen  die  sonstigen  formen 
des  adj.  irgendwie  isoliert  wird.  Der  fortschritt  in  der  Substantivierung 
bekundet  sich  hinsichtlich  der  construction  namentlich  durch  die  Ver- 
knüpfung mit  einem  attributiven  adjectivum,  welches  an  stelle  des  ad- 
verbiums  tritt,  oder  mit  einem  gen.,  der  eventuell  an  stelle  eines  vom 
adj.   regierten    dativs    tritt.     Vgl.  lat.  bonum  publicum,   mulum  publicum, 


303 

amicus  fideiis\  auch  iilme  dass  die  subBtantivieriing  sebon  so  traditionell 
geworden  ist,  sagt  mau  nommUi  nostri  iniqui,  noymnUis  invidis  meis  (vgl. 
Draeg.  §  16);  vgl.  ferner  engl.  ?hij  like,  equul,  better,  younger  etc.  (Mätzn. 
III,  s.  232),  his  worlhier  (Miltou);  nihd.  min  yeliche  (vd'olier  nhd.  meines 
gleichen).  Dabei  findet  sieb  misebnng  substantiviscber  und  adjectiviseber 
eonstruetion,  vgl.  lat.  mnltorwn  bene  faclorum  (Cic.)  In  anderer  weise 
veriuisebt  sieb  die  auffassung,  indem  trotz  der  Substantivierung  ein 
Superlativ  gebildet  wird:  mei  familiär issimiy  pessimo  pnblico  (vgl.  Draeg. 
§  16).  Im  lat.  gebt  die  völlige  Substantivierung  obne  sebwierigkeiten 
vor  sieb,  weil  keine  abweiebung  in  der  tlexion  bestebt.  Im  deutseben 
dagegen  erinnert  aueb  bei  sebon  sebr  fortgescbrittener  Substantivierung 
docb  die  adjeetiviscbe  flexion  an  die  ursprUnglicbe  natur  des  wertes. 
Der  bekannte,  verrvandte,  gesandle,  vertraute,  geliebte,  verlobte,  beamle, 
bediente,  liebste  werden  jetzt  als  substantiva  empfunden  und  demgemäss 
construiert  {der  bekannte  des  mannes,  wein  bekannter).,  aber  als  adjectiva 
verraten  sie  sieb  noeb  durcb  den  regelmässigen  weebsel  starker  und 
sebwacber  flexion  {der  bekannte  —  ein  {mein)  bekannter).,  die  entspreeben- 
den  feminina  dazu  dureb  die  sebwaebe  flexion  im  sing.,  die  beim  eigeut- 
lieben  subst.  ausgestorben  ist  {die  bekannte  gegen  die  zunge).  In  voll- 
ständige substantiva  aber  umgewandelt  sind  der  junge  {ein  junge),  der 
greis  (mbd.  grise  vom  adj.  gris)^  der  jünger  (die  beide  aus  der  sebwaebeu 
declination  in  die  starke  übergetreten  sind),  oberst.  Aeltereu  Ursprungs 
sind  feind,  freund,  heiland,  mbd.  wigant  (kämpfer)  välant  (teufel),  alles 
alte  partieipia  präs.,  ferner  fürst  (alter  superl.),  Herr  (alter  eompar.  von 
hehr).,  mensch  (adj.  mennisch  von  man)  und  die  neutra  gut,  übel,  recht, 
leid,  nnld.  Diese  Verwandlung  des  adjectivums  in  ein  subst.  ist  all- 
bekannt und  lässt  sieb  in  allen  spraeben  nacbweisen. 

Nicbt  so  bekannt  und  viel  interessanter  ist  der  umgekebrte  Vor- 
gang, die  Verwandlung  eines  substautivums  in  ein  adj.  Diese  kommt 
zu  Stande  dadureb,  dass  etwas  aus  dem  bedeutungsinbalt  ausgescbieden 
wird,  indem  mindestens  von  der  Vorstellung  einer  Substanz  abgesebeu 
wird,  so  dass  nur  die  der  Substanz  anbaftenden  qualitäten  übrig  bleiben. 
Oeeasionell  findet  diese  Verwandlung  eigentlicb  sebon  statt,  sobald  ein 
subst.  als  präd.  oder  attribut  verwendet  wird.  Denn  es  werden  dadnrcb 
der  Substanz  des  subjects  oder  des  bestimmten  Wortes  nur  qualitäten 
beigelegt,  es  wird  niebt  ausser  dieser  noeb  eine  neue  Substanz  gesetzt. 
Die  apposition  näbert  sieb  namentlieb  da  der  natur  des  adjeetivums, 
wo  sie  zur  speeialisierung  einer  gattung  gebraucbt  wird,  zumal  wenn 
die  Verbindung  noeb  eine  vom  normalen  abweiebende  kUbnbeit  entbält. 
Vgl.  grieeb.  avt^Q  jro}.iT?jg,  (h'itojq,  ojiXIrtjg  ete.,  yvvt)  öiöjtoira,  sogar 
jiuQO-tvoQ  x^h'  l^^t-  ^A-ercitus  victor  (Liv.)  lirones  milites  (Oie.),  beÜator 
equus  (Virg.  Ov.),  bos  arator  (Sueton);  franz.  un  dieic  sauveur  (Voltaire); 


304 

flatteur  und  andere  Wörter  auf  -eur  müssen  geradezu  auch  als  adjectiva 
angesehen  werden.  Die  adjeetivische  natur  kann  sich  durch  beiftig-ung 
eines  eigentlich  nur  dem  adj.  zukommenden  abverbiums  bekunden;  vgl. 
weg  du  träum,  so  gold  du  bist  (Goe.);  diesen  Widerspruch,  so  Widerspruch 
als  er  ist  (Le.);  so  krieg erinn  als  sie  war  (ib.  und  so  öfter);  so  ist  er 
fnchs  genug  (Le.);  lat.  nemo  tarn  puer  est  (Seneca). 

Einige  substantiva  werden  im  nhd.  in  prädicativer  Verwendung 
schon  geradezu  als  adjectiva  empfunden,  unterscheiden  sich  aber  doch 
dadurch  von  wirklichen  adjectiven,  dass  sie  nicht  attributiv  und  mit 
adjectivischer  flexion  gebraucht  werden.  Hierher  ziehen  lässt  sich  wol 
schon  herr  oder  meister  sein  {werden).  Goethe  sagt:  als  wenn  sie 
(Narciss  und  Landrinette)  herr  und  meister  der  ganzen  truppe  wären. 
Hier  zeigen  die  beiden  Wörter  noch  substantivische  natur,  insofern  ein 
gen.  davon  abhängt,  aber  zugleich  sind  sie  wie  praedicative  adjectiva 
behandelt,  da  sie  sonst  nicht  unflectiert  neben  einem  })luralischen  sub- 
jecte  stehen  könnten  und  ausserdem  zu  der  einen  weiblichen  person 
nicht  passen  würden.  Noch  entschiedener  hierher  zu  ziehen  ist  einem 
feind  sein  wegen  des  dativs.  Ferner  schuld  sein,  wobei  sich  die  Iso- 
lierung gegenüber  dem  subst.  schuld  in  der  Orthographie  zeigt;  weniger 
entschieden  es  ist  not,  zeit,  worin  es  von  hause  aus  gen.  ist.  Noch 
weiter  geht  die  isolierung  in  es  ist  schade,  indem  das  subst.  jetzt  ge- 
wöhnlich schaden  lautet.  Im  mhd,  war  die  entwickelung  schon  noch 
weiter  gegangen.  Hier  wird  schade  auch  als  prädicat  zu  persönlichen 
sul)jeeten  gebraucht  und  es  kommt  auch  ein  comparativ  und  Superlativ 
davon  vor,  z.  b.  im  Trojanerkrieg  Konrads  v.  Würzb.  der  was  den 
Kriechen  scheder  dan  lernen  anders  hi  der  zit\^)  ferner  wird  dazu  ein 
adv.  gebildet  wie  zu  einem  adj.:  swie  schade  er  lebe  (Mhd.  wb.  11''  GS**). 
Ebenso  wie  schade  wird  im  ahd.  frwna  (vorteil)  gebraucht,  z.  b.  Otfried 
III,  10,  83  ,nist'  quad  er  thö  ,fruma  thaz''  (es  ist  das  kein  vorteil). 
►Schon  im  mhd.  ist  daraus  ein  wirkliches  adj.  frum,  nhd.  fromm  ge- 
worden.    Man  sagt  ein  frumer  man  etc.     Wie  sehr  dabei  die  grenzlinie 


')  Auch  von  andern  Substantiven  kommen  im  mhd.  Steigerungsformen  vor, 
selbst  wo  das  Satzgefüge  die  auffassung  als  adj.  nicht  zuliisst.  So  von  zorn,  vgl. 
do  enkunde  Giselhere  nimmer  zorner  gesin;  von  7iöt,  vgl.  dhier  helfe  mir  nie 
nceler  wart;  von  dürft,  vgl.  wand  im  nie  orses  dürfler  wart.  Von  angst  gibt  es 
im  älteren  nhd.  einen  comp.,  vgl.  also  viel  engster  sol  dir  werden  Luth.  (Wb.  I, 
359").  In  diesen  fällen  hat  nicht  so  wol  die  analogie  des  adj.  als  die  des  adv.  ge- 
wirkt. Das  zeigt  schon  die  häufige  verl)induug  angst  und  bange  [bange  ist  ur- 
sprünglich nur  adv.).  In  Gottfrieds  Tristan  1 784.")  heisst  es  in  was  do  zuo  einander 
Vit  anger  und  vil  ander ;  ange  ist  adv.  zu  enge,  atide  subst.  (schmerz).  Wir  ver- 
wenden das  adv.  noch  so  in  mir  ist  wol,  weh.  Lateinische  Superlative  aus  Sub- 
stantiven kommen  bei  Plautus  vor:  oculissime  Itomo,  patrtie  mi  pati-uissime,  jedoch 
wol  mit  beabsichtigter  komischer  Wirkung. 


305 

verwischt  wird,  zeigt  eine  stelle  im  Flore  1289  daz  wirf  in  niilze  unde 
frume  {:kume),  wo  wir  mit  rlieksicht  auf  die  Verbindung:  mit  nütze  das 
adj.,  mit  rlieksieht  auf  das  auslautende  e  noch  das  suhst.  annehmen 
mlissten.  Auch  das  adj.  ernst,  welches  hei  Luther  zuerst  auftritt,  ist 
auf  die  nämliche  weise  wie  fromm  aus  dem  suhst.  entstanden.  Das 
subst.  geck  ist  in  nieder-  und  mitteldeutschen  dialecten  zum  adj.  ge- 
worden. Entwicht  aus  mhd.  ein  tviht,  enwiht  (eigentlich  „ein  unbe- 
deutendes wesen"  ^  „gar  nichts,  nichtig")  ist  im  sechszehnten  jahrh. 
vollständiges  adj..  vgl.  entivicht  vnd  ark  (H.  Sachs),  du  bist  vil  enln-ichter 
(ib.),  die  bös  entrichten  (Ayrer). 

Der  nämliche  process  hat  sich  schon  in  einer  viel  früheren  sprach- 
periode  vollzogen.  Sämmtliche  sogenannte  bahuvrihi-composita  sind 
ursprünglich  substantiva.  Denn  ein  QoöoddxrvXo^,  ßaQi'&vfiog,  ßa9^v&Qi^, 
fi'f/JTfu',  magnanimus,  ignipes,  misericors  sind  ja  eigentlich  'rosenfinger, 
schwemmt,  tief  haar,  gute  hoifnung,  grosssinn,  feuerfuss,  mitleidiges 
herz.'  Der  substantivische  Ursprung  documentiert  sich  zum  teil  noch 
in  einem  mangelhaften  ausdruck  der  adjectivischen  function.  Die  mas- 
culinform  (mdodäxrvXoc  muss  auch  für  das  femininum  dienen. 

Etwas  anders  verlaufen  ist  die  entwickelung  bei  harfuss  aus  har 
vuoz  (blosser  fuss).  Dasselbe  wurde  zunächst  als  nom.  oder  acc.  ab- 
solntus  gebraucht  in  der  Verbindung  barvuoz  gän.  Jetzt  wird  es  als 
adj.  empfunden.  Wirkliche  adjectivische  flexion  findet  sich  z.  b.  bei 
Haus  Sachs:  mit  har  fassen  füssenS) 

Wenn  wir  davon  absehen,  ob  das  nomen  unter  der  kategorie 
ding  aufgefasst  wird  oder  nicht,  so  gibt  es  allerdings  noch  in  einer 
andern  richtung  einen  gegensatz  zwischen  subst.  und  adj.  Das  adj. 
bezeichnet  eine  einfache  oder  als  einfach  vorgestellte  eigenschaft,  das 
subst.  schliesst  einen  complex  von  eigenschaften  in  sich.  Betrachten 
wir  diesen  unterschied  als  die  hauptsache,  so  können  wir  allerdings 
orator  in  einer  Verbindung  wie  Cicero  orator  oder  Cicero  est  orator 
noch  als  ein  reines  subst.  fassen.  Aber  dieser  unterschied  ist  wider 
nicht  festzuhalten.  Er  kreuzt  sich  mit  den  andern  unterschieden,  vgl. 
einerseits  adjectiva  wie  königlich,  kriegerisch  etc.,  anderseits  substanti- 
vierte adjectiva  wie  der  gute.  Auch  zwischen  diesen  gegensätzen  gibt 
es  eine  vermittelung,  die  unvermerkt  von  dem  einen  zum  andern  hinüber- 
führt. Der  Übergang  aus  der  bezeichnung  einer  einfachen  eigenschaft 
in  die  eines  complexes  von  eigenschaften  geht  so  vor  sich,  dass  ein 
substantiviertes  adj.  x«t'  fc^o^^'r  gebraucht  und  in  dieser  gebrauchs- 
weise  traditionell  wird.  Wer  das  wort  zuerst  so  gebraucht,  der  ergänzt 
die   Vorstellungen,   die   in   der   bisher  üblichen   bedeutung  des  w.ortes 


>)  Noch  eine  andere  art  des  Übergangs  ist  s.  199  besprochen. 
Paul,  Principien.    II.  Auflage.  20 


306 

noch  nicht  ausgedrückt  sind.  Einem  späteren  aber,  dem  dieser  ge- 
brauch übermittelt  wird,  können  sieh  von  anfang  an  die  ergänzten 
vorstelhingen  ebenso  direet  au  den  lautcomplex  anfügen  wie  die  grund- 
vorstelluug,  und  diese  braucht  sich  ihm  nicht  mehr  vor  den  andern  ins 
bewusstseiu  zu  drängen.  Wenn  dies  nicht  mehr  geschieht,  so  ist  von- 
Seiten  der  bedcutung  der  Übergang  zum  subst.  vollkommen,  und  durch 
weitere  isolieruugen  kann  dann  die  gänzliche  loslösung  vom  adj.  ein- 
treten, vgl.  die  oben  angeführten  beispiele. 

Der  umgekehrte  Vorgang,  dass  in  einer  complication  von  eigen- 
schaften  alle  übrigen  gegen  eine  einzelne  zurücktreten,  lässt  sich  an 
adjectivischen  ableitungen  aus  Substantiven  beobachten,  die  sich  zu 
bezeichnungen  ganz  einfacher  qualitäten  entwickeln.  Besonders  lehr- 
reich sind  in  dieser  hinsieht  die  farbenbezeichnungen,  vgl.  griech.  jioq- 
(f>VQtOQ  von  jTOQcpvQa  (purpurschnecke),  qoivixtioa  von  rpoitH^,  dtQivoc 
(luftfarben)  fiijXirog  (quittengelb),  lat,  coccinus  von  coccum  (Scharlach- 
beere) croceus,  crocinus  von  crocus,  Intens  von  lutum  (wau),  mbiiaceus 
von  miniiwi  (zinnober),  niveus,  roseus,  violaceiis.  In  allen  diesen  Wörtern 
lieg-t  an  und  für  sich  keine  beschränkung  der  beziehung  auf  die  färbe 
des  mit  dem  grundworte  bezeichenten  dinges  und  sie  werden  zum  teil 
auch  ohne  diese  beschränkung  verwendet,  vgl.  unguenium  crocinmn, 
vinculum  roseum  (rosenkranz)  etc.  Auch  substantiva  kiinnen  direet  zu 
farbenbezeichnungen  werden,  vgl.  jcoQfpvga,  coccum,  crocus,  lutum  und 
die  modernen  lila  (=  lilac  spanischer  ßeder)^  rosa,  die  auch  adjecti- 
visch  verwendet  werden  (ein  rosa  band). 

Nach  massgabe  dieses  Vorgangs  ist  die  erste  entstehung  von  be- 
zeichnungen für  einfache  qualitäten  zu  beurteilen.  Dass  diese  jünger 
sind  als  die  bezeichnungen  für  complicationen  ist  selbstverständlich, 
wenn  wir  davon  ausgehen,  dass  ganze  anschauungen  die  allererste 
grundlage  sind.  Auch  hier  kann  es  anfänglich  nur  die  momentane 
auffassung  des  sprechenden  gewesen  sein,  wodurch  die  übrigen  in  dem 
complexe  enthaltenen  qualitäten  von  der  einen  in  den  hintergrund  ge- 
drängt sind.  Es  ist  das  im  gründe  der  selbe  process  wie  bei  der  bild- 
lichen Verwendung  eines  Wortes.  Wenn  wir  z.  b.  sagen  der  mensch 
ist  ein  esel,  ein  ochse,  ein  schaf,  ein  fuchs,  so  haben  wir  dabei  immer 
nur  eine  bestimmte  eigentümlichkeit  des  betreffenden  tieres  im  äuge 
und  abstrahieren  von  den  sonstigen  eigenschaften.  Dies  ist  nur  mög- 
lich, wo  ein  wort  prädicativ  oder  attributiv  gesetzt  wird.  Denn  sowie 
man  die  Vorstellung  eines  selbständigen  dinges  damit  verbindet,  ver- 
bindet man  auch  die  Vorstellung  des  ganzen  complexes  von  eigen- 
schaften damit.  Indem  bei  einer  anzahl  von  Wörtern,  die  sich  dazu 
besonders  eigneten,  die  verwendungsweise  traditionell  wurde,  war  der 
erste  ansatz  zur  bildung  einer  besonderen  Wortklasse  gemacht. 


307 

Auch  der  imterscliied  zwischen  uomen  imd  v  erb  um  ist  trotz 
der  stärkeren  formellen  diftereuzieruug-  kein  absolut  fester.  Es  sind 
sehr  verschiedene  punkte,  durch  welche  das  xevh.  gegenüber  dem  nom, 
eharacterisiert  ist:  personalendung,  Unterscheidung  von  aetivum  und 
medium  oder  passivum,  modus-  und  tempusbezeichnung.  Es  ergibt 
sich  danach  die  möglichkeit  der  existenz  von  formen,  die  nur  einen 
teil  dieser  characteristica  an  sich  tragen,  und  der  Spielraum  der  mannig- 
faltigkeit  erweitert  sich  noch  dadurch,  dass  solche  formen  die  positiven 
characteristica  des  nomens,  Casusbezeichnung  und  geschlechtsunterschied 
an  sich  tragen  können  oder  nicht.  Und  endlich  ist  bei  einer  difteren- 
zierung  der  constructionsweise  des  verbums  und  nomens  die  gelegenheit 
zu  mannigfachen  Übergängen  und  Vermischungen  gegeben. 

Gewöhnlich  werden  die  personalendungen  als  das  eigentlich  for- 
melle characteristicum  des  verb.  angesehen.  Danach  würden  pari  und 
inf.  von  den  verbalformen  ausgeschlossen,  genau  genommen  auch  viele 
formen  der  2  sg.  imp.;  denn  ein  ßdkXa  oder  ßcde  ist  nichts  anderes 
als  der  blosse  stamm  des  präs.  oder  aor.  Die  personalendungen  sind 
demnach,  wenn  wir  von  der  2  sg.  imp.  absehen,  ursprünglich  ein  not- 
wendiges erforderniss  für  die  function  des  verbums  als  normaler  satz 
und  weiterhin  für  seine  function  als  präd.  oder  copula  im  normalen 
Satze.  Sie  sind  aber  doch  kein  absolutes  erforderniss  zur  satzbildung, 
und  andere  eigenttimlichkeiten  des  verbums  sind  von  ihnen  ganz  un- 
abhängig. 

Der  bedeutungsgegensatz,  in  den  man  gewöhnlich  das  verb.  zum 
adj.,  respective  dem  prädicativ  oder  attributiv  gebrauchten  subst.  setzt, 
hat  mit  den  verbalendungen  an  sich  nichts  zu  schaffen.  Er  kann  ohne 
dieselben  bestehen  und  kann  trotz  ihnen  fehlen.  Ein  griechisches 
lyxortlq,  ßaötXtvau  kann  gerade  so  viel  bedeuten  wie  eyxorog  et,  ßaoi- 
Xevg  d.  Der  gegensatz  ist  nur  so  lange  scharf,  als  das  adj.  (subst.) 
eine  bleibende  eigenschaft,  das  verb.  einen  zeitlich  begrenzten  Vorgang 
ausdrückt.  Nun  kann  aber  das  adj.  nicht  bloss  zur  bezeichnuug  einer 
zum  wiesen  eines  dinges  gehörigen  eigenschaft,  sondern  auch  zur  be- 
zeichnuug einer  vorübergehenden  eigenschaft  gebraucht  werden,  und 
damit  nähert  es  sich  dem  verbalen  Charakter.  Umgekehrt  kann  das 
verb.  auch  zur  bezeichnuug  von  zuständen,  auch  von  bleibenden  zu- 
ständen gebraucht  werden.  Wie  nahe  sich  die  beiden  bedeutungen 
des  sich  befindens  und  des  geratens  in  einen  zustand  mit  einander 
berühren,  haben  wir  oben  s.  231  gesehen. 

Indem  sich  mit  adjectivischer  form  und  function  die  bedeutung 
eines  zeitlich  begrenzten  Vorganges  verbindet,  entsteht  das  participium, 
welches  vor  allem  den  wert  hat,  dass  es  den  ausdruck  für  ein  geschehen 
in  bequemer  weise   attributiv   zu   verwenden  ermöglicht.     Wir  können 

20* 


308 

den  Übergang-  aus  dem  eigentlichen  adj.  in  das  part.  in  mehreren  fällen 
historisch  nachweisen.  Unter  andern  gilt  dies  von  dem  deutschen  so- 
genannten part.  perf.  oder  prät.  {gegeben,  gelegt),  welches  so  ent- 
standen ist,  dass  die  aus  dem  idg.  überkommenen  adjectiva  auf  -no- 
und  -to-  sich  in  der  bedeutung  an  die  aus  der  gleichen  wurzel  gebil- 
deten verba  und  speciell  an  das  perf.  (prät.)  derselben  angelehnt  haben, 
was  dann  weiterhin  auch  manche  formale  anlehnungen  zu  folge  gehabt 
hat.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  lateinischen  und  slavischen  part. 
perf  Wir  müssen  eine  entsprechende  entstehung  auch  für  die  älteren, 
schon  im  idg.  vorhandenen  participia  annehmen.  Wir  dürfen  ganz 
gewiss  nicht,  wie  es  von  manchen  selten  her  versucht  ist,  die  kategorie 
des  adj.  aus  der  des  part.  entstehen  lassen,  sondern  umgekehrt  die 
erstere  muss  vollkommen  entwickelt  gewesen  sein,  bevor  die  letztere 
entstehen  konnte.  Sie  wird  ausgegangen  sein  von  formen,  die  eben 
so  wol  als  ableitungen  aus  dem  präsens-  oder  aoriststamm  aufgefasst 
werden  konnten  wie  als  ableitungen  aus  der  wurzel,  nach  deren  muster 
dann  adjectivformen  zu  andern  verbalstämmen  gebildet  wurden. 

Die  teilnähme  au  dem  tempusunterschiede  ist  der  characteristische 
unterschied  des  part.  von  dem  sogenannten  verbaladjective.  Eine  weitere 
consequenz  der  anlehnung  au  die  formen  des  verb.  ist  die  Übernahme 
der  constructionsweise  desselben.  Als  nomen  wird  das  part.  nur  in 
rücksicht  auf  das  subst.  construiert,  zu  dem  es  als  attribut  gestellt 
wird.  Es  kann  sich  aber  noch  weiter  von  dem  nominalen  character 
entfernen,  indem  es  seinen  besonderen  weg  in  der  Weiterbildung  der 
constructionsweise  geht.  Dadurch,  dass  in  unserem  er  ist  gegangen,  er 
jvird  gefangen,  er  ist  gefangen  worden  casus  und  geschlecht  nicht  mehr 
erkenntlich  gemacht  werden,  ist  auch  das  gefühl  für  den  nominalen 
character  geschwächt,  wenn  auch  die  construction  in  den  beiden  ersten 
Verbindungen  die  des  gewöhnlichen  adjectivums  ist,  in  der  letzten  sich 
davon  nur  durch  das  worden  gegen  sonstiges  geworden  abhebt.  Eine 
völlige  loslösung  von  der  constructionsweise  eines  adj.  müssen  wir  in 
er  hat  ihn  gefangen,  er  hat  geruht  etc.  anerkennen.  Zwar  lässt  sich 
historisch  nachweisen,  dass  ersteres  ursprünglich  so  viel  ist  wie  'er 
hat  ihn  als  einen  gefangenen',  aber  das  ist  für  das  jetzige  Sprachge- 
fühl gleichgültig.  Früher  sagte  man  habet  inan  gefanganan,  und  da- 
mals war  natürlich  der  nominale  character  unverkennbar.  Eigentümlich 
sind  die  Verhältnisse  bei  den  entsprechenden  Verbindungen  in  den 
jetzigen  romanischen  sprachen.  Es  lässt  sich  daran  deutlich  der  Über- 
gang aus  der  allgemein  adjectivischen  in  die  speciell  paiücipiale  con- 
struction beobachten.  Im  franz.  sagt  man  zwar  fai  vu  les  dames,  aber 
je  les-  ai  ims,  les  dames  que  fai  vues.  Im  italienischen  kann  man  auch 
noch    sagen   ho   veduta   lu   donna,   ho  vedute  Je  donne  neben  ho  veduto. 


309 

Im  spanischeu  ist  die  fiexiou  bei  der  umschreihung  mit  haber  schon 
überall  getilgt;  man  sagt  la  carla  que  he  escrito  gerade  wie  he  escrito 
Ulm  Carla.  Aber  bei  der  erst  später  üblieli  gewordenen  umselireibiing 
mit  lener  ist  sie  umgekehrt  überall  gewahrt:  tengo  escrila  una  carta 
wie  las  cartas  que  tenijo  escritas. 

Umgekehrt  aber  kann  das  part.  stufenweise  wider  zu  rein  nomi- 
naler natur  zurückgeführt  werden.  Diese  rückführung  ist  eigentlich 
schon  vollzogen,  wenn  das  part.  präs.  für  die  dauernde  oder  sich  wider- 
holende tätigkeit,  das  part.  perf  für  das  resultat  der  tätigkeit  ver- 
wendet wird,  wie  ja  jede  form  des  präs.  oder  perf.  verwendet  werden 
kann.  Eine  gebrauchsweise  xar  lB,oxriV  oder  im  metaphorischen  sinne 
oder  sonst  irgend  eine  art  von  Isolierung  kann  die  Verwandlung  voll- 
ständig machen,  vgl.  beispiele  wie  schlagend^  treffend,  reizend,  z/ringend, 
bedeutend,  getrieben,  gelungen,  berufen,  verstorben,  verzogen,  verschieden, 
bekannt,  unumnmnden,  verlegen,  gewogen,  verwegen,  erhaben,  bescheiden, 
trunken,  uallkommen  etc.  Selbst  die  Verbindung  mit  einem  andern  worte 
nach  den  gesetzten  verbaler  constructiou  hindert  diesen  process  nicht, 
nur  dass  dann  das  ganze  im  stände  sein  muss  sich  an  die  analogie 
nominaler  composition  anzulehnen  vgl.  ansprechend,  auffallend,  aus- 
nehmend, anwesend,  abwesend,  zuvorkommend,  hochfliegend,  hellsehend, 
wolwollend,  fleischfressend,  teilnehtnend;  abgezogen,  ausgenomjneii,  hoch- 
gespannt, neugeboren,  wolgezogen  etc. 

Als  ein  characteristicum  für  die  Verwandlung  in  ein  reines  adj, 
kann  die  bildung  eines  comparativs  und  Superlativs  angesehen  werden. 
Bisweilen  erscheint  dieselbe  jedoch  neben  verbaler  constructiou,  vgl. 
dazu  erschien  mir  nichts  wünschenswerteres ,  den  character  der  nation 
ehrenderes  (Goe.);  die  Oestreich  kräftig  engsten  demente  (Kölner  zeit.).*) 
Ein  anderes  kriterium  ist  die  coustructionsweise,  z.  b,  die  Verbindung 
mit  einem  gen.  im  lat;  amans  tuorum  ac  tui  (Cic),  religionum  colentes 
(ib.),  solitudinis  fugiens  —  societatis  appetens  (ib.).^) 

Zum  subst.  wird  das  part.  wie  jedes  adj.,  und  das  substantivierte 
part.  kann  wie  das  adjectivische  eine  momentane  tätigkeit  oder  einen 
zustand  bezeichnen.  Es  kann  auch  ebenso  wie  dieses  die  verbale 
natur  abstreifen,  vgl.  der  liebende,  Vorsitzende,  geliebte,  gesandle,  ab- 
geordnete, bcamle  (=  beamtete),  mhd.  der  varnde,  gernde,  (beide  =  spiel- 
mann), aus  älterer  zeit  heiland,  freund,  feind  etc. ,  zahn  =  lat.  dens  = 
gr.  oöovq  (part.  zu  essen,  edere). 

Auch  das  nomen  agentis  kann  ebenso  wie  das  part.  entweder 
eine  momentane  oder  eine  dauernde,  resp.  sich  widcrholende  tätigkeit 


')  Andr.  1 19  ff. 
2)  Draeg.  §  2u7. 


310 

bezeichnen.  In  der  ersteren  Verwendung'  l)leil)t  es  immer  eng  an  das 
vcrl).  angcselilossen,  und  es  wäre  recht  wol  denkbar,  dass  es  ebenso 
wie  das  ])art.  einn  al  verbale  constructionsweise  annähme,  dass  man 
etwa  sagte  dei^  er  zieher  den  knaben,  wie  man  ja  wenigstens  im  com- 
positum knaben  er  zieher  den  ersten  bestandteil  als  acc.  empfindet  und 
in  analogie  zu  knaben  erziehen  setzt.  Schon  in  Verbindungen  wie  der 
Sieger  in  der  schlacht,  der  befreier  aus  der  not^)  ist  verbaler  character 
ersichtlich,  noch  mehr  in  solchen  wie  griech.  vmiQhrjg  toTq  v6(zoiq 
oder  gar  lat.  dator  divitias,  justa  oralor.  Umgekehrt  kann  das  nom. 
agentis  als  bezeichnung  dauernder  oder  widerholter  tätigkeit  sich  mehr 
und  mehr  dem  verb.  gegenüber  isolieren  und  damit  schliesslich  über- 
haupt den  character  eines  nom.  agentis  einbüssen,  vgl.  Schneider,  bei- 
sitzer,  ritter,  herzog  (heerführer),  vater  etc. 

Noch  ein  anderer  weg  führt  vom  verb.  zum  nom.  Neben  den 
nomina  agentis  stehen  die  nomina  actionis.  Diese  können  wie  die 
substantivischen  eigenschaftsbezeichnungen  ihren  Ursprung  nur  einer 
metapher  verdanken,  indem  die  tätigkeit  unter  der  kategorie  des  dinges 
aufgefasst  wird.  Auch  sie  können-  eine  momentane  oder  eine  dauernde 
widerholte  tätigkeit  bezeichnen.  Auch  sie  können  sich  der  verbalen 
coustructiou  nähern,  vgl.  die  befreinng  aus  der  nol,  ?)  rotg  rö^ioig 
vjctjQtöia,  knabener Ziehung.  Und  es  ist  wider  die  bezeichnung  der 
dauernden,  widerholten  tätigkeit,  die  zum  verlust  des  characters  eines 
nonien  actionis  führt.  Es  entwickelt  sich  daraus  die  bezeichnung  eines 
bleibenden  zustandes,  vgl.  besinnung,  bervegung,  aufregung^  Verfassung, 
Stellung,  Stimmung. 

Von  hier  aus  ist  dann  auch  eine  weiterentwickelung  zu  ding- 
bezeichnungen  möglich,  wie  schon  oben  s,  81  gezeigt  ist.  Dabei  kann 
das  correspondieren  der  bedeutung  mit  der  des  verbums  abgebrochen 
werden,  vgl.  hallung,  regung,  gleichung,  rcchnung,  feslung  etc.  Und 
durch  weitere  Isolierung  kann  dann  jede  spur  des  verbalen  Ursprungs 
vernichtet  werden. 

Soweit  verhält  sich  das  nom.  actionis  dem  nom.  agentis  analog. 
Es  wird  aber  auch  dem  verbalen  Charakter  noch  weit  mehr  angenähert 
als  dieses,  weiter  sogar  als  das  adj.  (part.),  nämlich  dadurch,  dass 
aus  ihm  der  Infinitiv  (das  supinum)  entspringt.  Der  inf  verhält 
sich  in  sehr  vielen  beziehungen  dem  part.  analog.  Aber  während 
dieses  im  allgemeinen  die  adjecti\ische  form  und  die  adjectivische 
constructionsweise  neben  der  verbalen  bewahrt  und  nur  hie  und  da 
mit  aufgebung  der  formellen  characteristica  des  adj.  für  sich  eine 
eigenartige  constructionsweise  entwickelt,  so  ist  für  den  inf  Isolierung 

')  Vgl.  noch  auftalleudcre  Verbindungen  mit  präpositioueu  bei  Andr.  s.  209. 


311 

gegenüber  der  form  und  eonstruetionsweise  des  nomens  bediugung 
seiner  entstehung.  Der  inf.  ist,  wie  die  formelle  analyse  beweist,  ein 
easns  eines  noni.  aetionis  und  niuss  ursprünglieii  nach  aualogie  der 
sonst  tur  die  Verbindung  des  nomens  mit  dem  verb.  geltenden  con- 
structionsweisen  gesetzt  sein.  Aber  er  darf  als  casus  nicht  mehr 
empfunden  werden,  die  eonstructionsweise  darf  nicht  mehr  in  aualogie 
zu  den  ursprünglichen  mustern  gesetzt  werden,  oder,  es  ist  noch  kein 
inf.  Die  isolierte  form  und  die  isolierte  eonstructionsweise  werden 
dann  die  basis  für  die  weiterentwiekelung.  Die  form  und  eonstructions- 
weise des  inf.  ist  nach  der  einen  seite  hin  verbal  wie  die  des  pari, 
nach  der  andern  seite  hin  aber  nicht  nominal,  sondern  specifisch 
infinitivisch. 

Auch  für  den  inf.  gibt  es  eine  stufenweise  rückkehr  zu  nominaler 
natur,  aber  er  findet  dabei  mehr  hindernisse  als  das  part.  wegen  des 
mangels  der  flexion.  Die  annäherung  an  den  nominalen  Charakter 
zeigt  sich  daher,  solange  nicht  besondere  uuterscheiduugsmittel  ange- 
wendet werden,  zunächst  in  solchen  fällen,  wo  die  Charakterisierung 
durch  eine  flexionsendung  am  wenigsten  erforderlich  ist,  d.  h.  in  der 
\  erweudung  als  subject  oder  object.  In  satzformen  wie  wagen  geivinnl, 
lat.  habere  eripilur,  habuisse  nunquam  (Sen.),  vollends  in  solchen  vsde 
hie  vereri  (=  verecundiam)  perdidii  (Plaut.)  dürfen  wir  wol  mit  Sicher- 
heit annehmen,  dass  der  inf.  nach  analogie  eines  nomens  construiert 
ist.  Weniger  sicher  ist  das  in  solchen  wie  ich  lasse  schreiben,  ich  lerne 
reilcn.  Jedenfalls,  wenn  hier  einmal  der  inf.  nach  analogie  eines  ob- 
jectsaccusativs  gesetzt  ist,  so  ist  diese  analogie  für  das  jetzige  Sprach- 
gefühl nicht  mehr  vorhanden.  Schon  weniger  leicht  tritt  die  Verbindung 
mit  Präpositionen  ein.  Im  mhd.  ist  besonders  durch  mit  dem  inf. 
üblich;  in  der  römischen  Volkssprache  tritt  die  Verbindung  von  prä- 
positionen  mit  dem  inf.  an  die  stelle  des  gerundiums  {ad  legere  für  ad 
legendum  etc.);  ebenso  zuweilen  bei  dichtem  und  späten  prosaikern: 
praeter  plorare  (Hör.),  multum  int  er  est  int  er  dare  et  accipcre  (Sen.). 
Eine  weitere  annäherung  des  inf.  an  das  nom.  bedarf  besonderer 
begünstigender  umstände.  Es  gelangen  dazu  im  allgemeinen  nur  solche 
sprachen,  die  in  dem  artikel  ein  mittel  der  Substantivierung  und  casus- 
bezeichuung  haben.  Daher  ist  das  griechische  in  dieser  beziehung 
weiter  gegangen  als  das  lateinische,  in  welchem  letzteren  allerdings 
doch  auch  demonstrativpronomina  eine  ähnliche  Wirkung  haben  können, 
vgl.  totum  hoc  philosophari  (Cic),  inhibere  illud  tuum  (ib.).  Das  nhd. 
aber  und  die  romanischen  sprachen  sind  wider  weiter  gegangen  als 
das  griechische,  indem  in  ihnen  der  inf.  auch  rücksichtlich  der  flexion 
dem  reinen  nomen  gleichgesetzt  wird.  Diese  gleichsetzung  ist  in  den 
romanischen   sprachen   durch   die   allgemeine   tilgung   des    casusunter- 


312 

schiede»  ermö^^lielit.  Das  altfranzösisehc  udcI  provenzalische  gehen 
aber  auch  so  weit  dem  inf.  das  nominativs  -s  zu  geben:  //  piorers  yie 
C  i  vaul  rien;  Meilers  chanza  es  donars  qiie  penres.  Für  das  nhd. 
kommt  einerseits  der  umstand  in  betracht,  dass  die  casusunterschiede 
bei  den  Substantiven  auf  -en  bis  auf  den  gen.  getilgt  sind,  anderseits 
die  anlehnung  des  gerundiums  (mhd.  yehennes,  ze  gehenne)  an  den  inf., 
mit  dem  es  ursprünglich  gar  nichts  zu  tun  hat. 

Bei  dieser  entwickelung  sind  auch  verschiedene  stufen  in  bezug 
auf  die  beibehaltung  der  verbalen  construction  möglich.  Ohne  bei- 
fügung  eines  artikels  oder  pronomens  findet  sie  in  der  regel  statt, 
vgl.  z.  b.  mhd.  durch  behalten  den  lip,  durch  äventlure  suochen.  Im 
griech.  hindert  auch  der  artikel  nicht;  man  sagt  ro  oxojiitv  r« 
jigäyfiata,  ro  tavrovq  t%tTaC,tiv,  tJil  reo  ßsXrico  xaraOT?]Ocu  rrjv 
avTcöp  öiaroiav.  Im  nhd.  ist,  der  annähme  der  nominalen  flexion 
entsprechend,  die  verbale  construction  auf  das  selbe  mass  beschränkt 
wie  beim  nom.  aetionis.  Im  mhd.  dagegen  kommt  zuweilen  noch  echt 
verbale  construction  vor ;  ja  sogar  ein  auf  den  inf.  bezogenes  relativum 
kann  verbale  construction  haben,  vgl.  Hartman  Greg.  2667  des  scheltens 
des  in  der  man  tele.  Tristan  1067  diz  sehen  daz  ich  in  hän  getan. 
Auch  in  den  romanischen  sprachen  findet  sich  verbale  construction 
des  mit  artikel  oder  pron.  versehenen  infinitivs  neben  nominaler,  vgl. 
it.  al  passar  questa  valle  (aber  auch  //  trapassar  del  rio)\  span.  el  huir 
la  occasion  (aber  auch  al  entrar  de  la  ciudad)\  afranz.  au  prendre  le 
congie,  noch  bei  Montagne  il  se  penoient  du  tenir  le  chasteau;  ferner 
it.  //  conoscer  chiaramente,  span.  el  bien  morir,  afranz.  son  sagement 
parier. 

Sobald  der  durch  die  flexion  bewirkte  abstand  zwischen  inf.  und 
nomen  getilgt  ist,  steht  der  Verwandlung  des  erstereu  in  ein  reines 
nomeu  nichts  mehr  im  wege  und  diese  ist  daher  im  nhd.  sehr  häufig, 
auch  in  den  romanischen  sprachen  nicht  selten ,  vgl.  nhd.  leben,  ahleben, 
leiden,  scheiden,  schreiben,  tun  und  (reiben,  wesen,  vermijyen,  betragen, 
belieben,  einkommen,  abkommen,  auskommen,  ansehen,  aufsehen,  andenken, 
vorhaben,  nol  wollen,  woler  gehen,  gut  dünken  etc.;  franz.  etre,  plaisir, 
pouvoir,  savoir,  savoir-faire,  savoir-vivre  etc.  Dabei  können  die  selben 
bedeutungsveränderungen  eintreten  wie  sonst  bei  den  nomina  aetionis 
und  die  selbe  Isolierung  dem  verbum  gegenüber. 

Die  adverbia  sind,  soweit  wir  ihren  Ursprung  erkennen  können, 
fast  durchweg  aus  erstarrten  casus  von  nominibus  hervorgegangen, 
teilweise  aus  der  Verbindung  einer  präposition  mit  einem  casus.  Es 
ist  danach  zu  vermuten,  dass  auch  die  älteste  schiebt  der  adverbia 
auf  ähnliche  weise  aus  nominibus  hervorgegangen  ist,  nur  mit  dem 
unterschiede,    dass    dieser    process   vor   die   entwickelung   der   flexion 


313 

fällt,  iiud  dass  daher  uoeli  uieht  ein  casus,  sondern  die  reine  Stamm- 
form zur  Verwendung  gekommen  ist.  Das  adv.  hat  die  nächste  Ver- 
wandtschaft mit  dem  adj.  Es  verhält  sich  zunächst  zum  verbum, 
dann  auch  zum  adj.  analog-  wie  ein  attributives  adj.  zu  einem  subst. 
Diese  Proportionalität  zeigt  sich  denn  auch  darin,  dass  im  allgemeinen 
aus  jedem  beliebigen  adj.  ein  adv.  gebildet  werden  kann. 

Die  formelle  Scheidung  des  adjectivums  von  dem  adv.  beruht  auf 
der  flexionstahigkeit  des  ersteren  und  der  dadurch  ermöglichten  con- 
gruenz  mit  dem  subst.  Wo  dies  formelle  kriterium  fortfällt,  da  kann 
auch  die  Scheidung  von  dem  Sprachgefühl  nicht  mehr  strict  aufrecht 
erhalten  werden.  Im  nhd.  ist  sie  wirklich  zum  teil  durchbrochen, 
nachdem  das  adj.  in  prädicativem  gebrauche  unveränderlich  geworden 
ist  und  nachdem  der  im  mhd.  meist  noch  bestehende  unterschied 
zwischen  der  flexionslosen  form  des  adj.  und  dem  adv,  {starc- starke, 
scliocne-schöne,  ijuot-wol,  bezzer-baz)  aufgehoben  ist.  Wir  haben  eigent- 
lich kein  recht  mehr  yut  in  Sätzen  wie  er  ist  <jul  (jekleidet,  er  spricht 
ijul  und  gut  in  Sätzen  wie  er  ist  gut,  inan  hält  ihi  für  gut  einander  als 
adv.  und  adj.  gegenüber.aistellen.  Das  Sprachgefühl  weiss  von  diesem 
unterschiede  nichts.  Das  ersieht  man  am  besten  daraus,  dass  die 
adverbialform  des  Superlativs  in  die  stelle  eingerückt  ist,  die  sonst 
der  flexionslosen  form  des  adj.  zukommt.  Man  sagt  es  ist  am  beslcn 
und  selbst  du  bist  am  schönsten,  woin  etc. 

Anderseits  nehmen  in  verschiedenen  sprachen  manche  adverbia 
neben  einem  adjectivum  adjectivische  flexion  an.  So  sagt  man  im 
franz.  tonte  pure,  tont  es  pures  \  entsprechend  it.  tutta  livida,  span.  todos 
desnudos  etc.;  ebenso  it.  mezza  morte,  span.  medios  desnudos.  Auch  in 
vielen  deutschen  mundarten  sagt  man  ein  ganzer  guter  mann,  eine 
ganze  gute  frau\  solche  schlechte  wäre:  eine  rechte  gute  frau  (Le.). 

Die  function  des  adjectivums  stimmt  besonders  überein  mit  der 
des  adverbiums  neben  nomina  actionis  und  agentis,  vgl.  eine  gute 
crzählung,  ein  guter  erzähler.  Hier  bezeichnet  das  adj.  genau  so  die 
art  und  weise  eines  Vorganges  wie  sonst  das  adv.  Die  letztere  Ver- 
bindung ist  aber  zweideutig,  indem  man  gut  auch  auf  die  person  des 
erzählers  überhaupt  beziehen  kann.  Diese  Zweideutigkeit  würde  ver- 
mieden werden,  wenn  mau  etwa  für  den  einen  fall  nach  analogie  der 
verbalen  construction  das  adv.  anwendete;  und  so  sagt  man  im  engl. 
an  early  riser.  Im  deutschen  helfen  wir  uns  durch  Vereinigung  der 
begriffe  in  ein  wort,  vgl.  frühaufsteher,  langeschläfer,  schönschreibcr, 
feinschmecker  etc.,  ableitungeu  aus  früh  aufstehen  etc.  Die  berührte 
Zweideutigkeit  ist  übrigens  nicht  auf  die  nomina  agentis  beschränkt, 
vgl.  ein  guter  kutschcr,  ein  arger  narr,  ein  grosser  esel,  ein  junger  ehe- 
mann.    Das   adj.   kann   entweder  auf  die  person   schlechthin  bezogen 


314 

werden  oder  auf  die  eigeoschaft,  welche  ihr  durch  das  subst.  beigelegt 
wird.  Im  letzteren  falle  verhält  es  sich  zu  dem  subst.  wie  ein  adv. 
zu  dem  adj.,  das  es  bestimmt.  Entsprechend  verhält  sich  das  adj. 
zu  substantivischen  qualitätsbezciehuungen,  vgl.  die  hohe  vorlrefflich- 
keil,  grosse  gute. 

Da  adj.  und  adv.  derartig  mit  einander  correspondieren,  so  ist 
auch  das  l)edUrfniss  vorhanden  für  jeden  einzelnen  fall  beides  neben 
einander  zu  haben.  Nun  gibt  es  aber  eine  grosse  menge  von  adverbien, 
die  nicht  aus  einem  adjectivum  abgeleitet  sind,  und  die  daher  auch 
kein  solches  zur  seite  haben.  Hier  treibt  das  bedürfniss  dazu  auf  das 
adv.  auch  die  function  des  adjectivums  zu  übertragen.  Am  leichtesten 
wird  das  adv.  prädicativ  verwendet,  indem  neben  ihm  das  verb.  ebenso 
wie  neben  dem  adj.  zum  Verbindungswort  herabgesunken  ist.  In  Sätzen 
wie  er  ist  da,  er  ist  auf,  die  iür  ist  zu,  alles  ist  vorbei,  er  tvird  fuir 
zun-idcr  wird  die  construction  vom  Sprachgefühl  nicht  anders  aufgefasst 
als  in  solchen  wie  die  tiir  ist  offen,  er  wird  unangenehm.  Das  adv. 
tritt  aber  auch,  indem  es  einem  subst.  als  bestimmung  beigefügt  wird, 
auf  gleiche  linie  mit  dem  adjectivischem  attribut.  Wenn  wir  im  nhd. 
sagen  der  herg  dort,  die  fahrt  hierher,  der  bäum  drüben,  so  liegt  die 
gleichstellung  mit  dem  adj.  noch  fern  wegen  der  abweichenden  Stellung. 
Anders  steht  es  schon  mit  lateinischen  (nicht  häufigen)  coustructionen 
wie  nunc  hominum  mores  vides?  (Plaut),  ignori  sumus  ante  malorum 
(Virg.),  discessu  tum  meo  (Cic).  i)  Am  meisten  aber  nähert  sich  das 
adv.  der  adjectivischen  function,  wo  es  zwischen  art.  und  subst.  ein- 
geschoben wird,  wie  im  griech. :  rriv  exti  jiaiÖEVOiv,  rijv  jtX/jöLov  tv- 
Xfjv,  Tfö  vvv  ytrti,  //  nav  rgvcft);  im  engl.:  on  the  hither  side,  the 
above  discourse-)]  im  span.;  la  sempre  senora  mia.  Im  nhd.  ist  eine 
derartige  Verwendung  des  adv.  nicht  möglich.  Man  hat  um  dem  be- 
dürfniss zu  genügen  flectierbare  Wörter  geschaffen.  Einerseits  durch 
secundäre  ableitungen,  die  nur  attributiv,  nicht  prädicativ  verwendet 
werden,  vgl.  alleinig,  hiesig,  dortig,  obig.  Jetzig,  vorig,  nachherig,  sofortig, 
alsbaldig,  vormalig,  diesseitig;  seltener  solche  die  auch  prädicativ  ver- 
wendet werden  wie  niedrig,  übrig  (auch  alleinig  in  oberdeutschen 
mundarten).  Anderseits  haben  manche  adverbia  ohne  weiteres  flexions- 
endiingen  angenommen,  was  dadurch  l)egünstigt  ist,  dass  in  prädicativer 
Verwendung  das  adj.  sich  formell  nicht  vom  adv.  abhob,  weil  die 
flexionslose  form  angewendet  wurde.  Vgl.  )iahe^  fern,  selten,  zufrieden, 
vorhnndcn,  behende  (aus  ahd.  bi  henli),  täglich  (aus  ahd.  tagolich),  un- 
gefä/ir,  teilweise,  anderweit.     Dialektisch  sagt  man  ein  ziies  fenstcr,  ein 


»)  Vgl.  Draegcr  §  79.  * 

2)  Vgl.  Mätzner  III,  s.  HS.  '?. 


315 

ivelu'r  l^nijcv,  bairiseli  ein  zuwiderer  meuscli.  Das  aus  dem  adv. 
(ciiiciitlich  dat.  pl.)  ueugebildetc  adj.  einzeln  hat  das  diesem  zu  g-runde 
liei;eudc  adj.  einzel  verdrängt.  Zu  oft  werden  adjeetivisehe  steigern ngs- 
formen  gebildet;  vgl.  lat.  propior,  proxinms  zu  prope  und  griceb. 
lyyvxsQo^,  syyvraToq  zu  iyyvc. 

In  nahe  berülirung  mit  dem  adv.  tritt  das  adj.  als  prädieatives 
attribut.  Dieser  satzteil  stellt  in  nächster  bezichuug  zum  sul)j.,  an 
welches  er  durch  die  congrueuz  angeschlossen  ist,  ist  aber  doch  dem- 
selben gegenüber  verselbständigt  und  kann  eben  deshalb  auch  in  eine 
directe  beziehuug  zum  präd.  treten.  Das  adv.  dagegen  ist  an  das 
präd.  angeschlossen,  kann  aber  diesem  gegenüber  in  ähnlicher  weise 
verselbständigt  werden  und  dadurch  dem  subj.  näher  treten.  Es  gibt 
nun  auch  talle,  in  denen  eine  bestimmung  ebensowol  zum  subj.  wie 
zum  präd.  passt.  So  begreift  es  sich,  dass  in  manchen  sprachen  für 
den  gleichen  fall  sowol  das  adj.  als  das  adv.  gesetzt  werden  kann, 
oder  dass  in  einer  spräche  dieses,  in  der  andern  jenes  üblich  ist. 
Im  nhd.  steht  häufig  das  adv.  einem  adj.  anderer  sprachen  gegenüber, 
vgl.  al/ei7i  gegen  lat.  solus,  franz.  seul  etc.;  zuerst  und  zuletzt  gegen 
lat.  primus  und  postrcmus  etc.;  gern  gegen  griech.  £xo)V,  aOfitvoc;,  lat. 
liöens  neben  libenter;  ungern  gegen  lat.  inviius  neben  seltenerem  inuile. 
Auffallender  für  uns  und  auch  in  den  fremden  sprachen  nicht  all- 
gemein üblich  sind  constructiouen  wie  griech.  tvdov  jtarvvxfoi  (Hom.), 
xQi'jV/j  äg){}ovoi^  (ttovvoa  (Xen.),  Aocojidg  Jioraiiöc,  e(>Qvtj  fiiyag  (Thuc), 
lat.  beatissimi  viveremus,  propior  hostem  collocatus,  proximi  Rhenuni  in- 
colunt,  noclurnusque  vocat  clamore  Cithaeron  (Virg,),  Aeneas  se  inatuiinus 
agebat  (Virg.),  frequens  te  audivi  (Cic),  in  agmine  alque  ad  virgilias  mullus 
{zzz^  frequenter)  adesse  (Sali.),  est  enim  multus  in  laudanda  magni/icentia 
(Cic),  is  nullus  (=  non)  venit  (Plaut),  tametsi  malus  moneas  (Ter.);  it. 
che  piu  lontana  se  ne  vada  (Ariost.). 

Die  Präpositionen  und  conjunctionen  sind  als  Verbindungs- 
wörter immer  erst  in  folge  einer  gliederungsverschiebuug  aus  selbstän- 
digen Wörtern  entstanden.  Diese  Verschiebung  muss  eine  definitive 
sein.  Occasionell  können  ja  die  verschiedenartigsten  Satzteile  zu  Ver- 
bindungsgliedern herabgedrückt  werden.  Erst  wenn  ein  wort  mit  einer 
gewissen  regelmässigkeit  als  Verbindungswort  verwendet  wird,  kann 
es  eventuell  als  ])räp.  oder  conj.  betrachtet  werden.  Es  gehört  dazu 
aber  auch  noch  eine  Isolierung  seiner  constructionsweise  gegenüber 
derjenigen,  die  es  als  selbständiges  wort  hatte.  Aber  auch  dann  kann 
es  daneben  als  selbständiges  wort  functiouieren,  so  dass  es  also  nicht 
möglich  ist  es  einfach  unter  eine  bestimmte  Wortklasse  unterzubringen. 
Dies  ist  erst  möglich,  wenn  das  woii;  in  seiner  selbständigen  Ver- 
wendung    untergegangen    ist    oder    wenn    sich    mit    den    beiden    ver- 


316 

vvendungswcisen  eine  lautliche  differenziernng;  verbunden  hat,  oder  wenn 
sonst  irf,'end  eine  isolierung-  eingetreten  ist. 

So  können  wir  für  die  präposition  folgende  definition  auf- 
stellen: die  präp.  ist  ein  Verbindungswort,  mit  welchem  ein  casus  eines 
l)clicbigen  substantivums  verknüpft  werden  kann,  ohne  dass  die  ver- 
biudungsweise  noch  in  analogie  zu  einer  nominalen  oder  verbalen  con- 
structionsweise  steht.  Nach  dieser  definition  werden  wir  entsprechend 
in  einem  satze  wie  er  hat  ihn  seinen  Verdiensten  entsprechend  belohnt 
nicht  für  eine  präp.  erklären,  denn  seine  construction  ist  die  des  ver- 
bums entsprechen.  Anders  verhält  es  sich  schon  mit  anstatt.  In  anstatt 
des  mannes  ist  der  gen.  ursprünglich  das  reguläre  zeichen '  der  nomi- 
nalen abhäugigkeit.  Ob  er  aber  noch  als  solches  empfunden  wird, 
hängt  davon  ab,  ob  man  anstatt  noch  als  Verbindung  der  präp.  an  mit 
dem  subst.  statt  empfindet.  Wo  nicht,  tritt  auch  die  construction  mit 
dem  gen.  aus  der  gruppe,  in  die  sie  bisher  eingereiht  war,  heraus,  und 
die  präp.  ist  geschaffen.  Es  kann  in  diesem  falle  das  Sprachgefühl 
recht  wol  nocli  schwankend,  bei  verschiedenen  Individuen  verschieden 
sein.  Denn  allerdings  ist  statt  kein  allgemein  übliches  subst.  mehr, 
sondern  auf  gewisse  isolierte  Verbindungen  beschränkt.  Sagt  man  aber 
an  meiner  statt,  so  wird  man  noch  stärker  an  die  substantivische  natur 
von  statt  erinnert.  In  anderen  fällen  ist  die  Isolierung  eine  absolute 
geworden.  Unser  nach  ist  ursprünglich  adv.  =  nahe.  Aber  zwischen 
seinem  ende  nahe  und  nach  seinem  ende  ist  jede  beziehung  abgebro- 
chen, wiewol  beide  auf  die  nämliche  constructionsweise  zurückgehen. 
Hier  ist  es  die  Verdunkelung  der  etymologischen  beziehung  durch  di- 
vergierende bedeutungsentwickelung,  was  die  Isolierung  der  con- 
structionsweise veranlasst  hat.  In  anderen  fällen  ist  es  das  ver- 
schwinden dieser  constructionsweise  aus  dem  lebendigen  gebrauche. 
Im  idg.  wurde  nach  dem  comp,  wie  im  lat.  der  abl.  gebraucht.  Diese 
construction  war  im  altgermanischen  noch  bewahrt,  nur  dass  der  abl. 
wie  allgemein  sich  mit  dem  instr.  und  dat.  mischte.  Indem  sie  im 
allgemeinen  unterging,  erhielt  sie  sich  unter  andern  bei  zwei  adver- 
bialen com})arativen,  die  durch  diese  Isolierung  zu  präpositionen  wurden, 
mild,  c  (nhd.  noch  in  ehedem)  und  sit  (nhd.  seit)  =  got,  scif^s  in  pana- 
seifjs,  lautlich  regelmässiger  comp,  zu  scijHis.  Bei  den  ältesten  prä- 
l)ositionen  des  idg.  war  der  casus  wol  zunächst  auf  das  verb.  bezogen. 
Denn  er  bezeichnete  an  sich  die  riehtung  wohin  oder  woher  oder  das 
siehbefinden  an  einem  orte.  Die  partikel  trat  nur  zur  näheren  be- 
stimmung  des  raumverhältnisses  hinzu,  war  also  noch  adv.  Indem  die 
casus  ausserhalb  der  Verbindung  mit  der  ])räp.  ihre  alte  bedeutung 
verloren,  wurde  eben  aus  dieser  Verbindung  eine  eigenartige  construc- 
tionsweise geschaffen. 


317 

Die  eiitstebung-  der  eonjunetionen  lüsst  sich  zum  teil  wie  die 
der  Präpositionen  historisch  verfolg:en.  Die  satzverbindenden  entwickeln 
sich  zum  grossen  teil  aus  den  conjunctiouellen  adverbieu  oder  isolierten 
formen  der  conjuuctionellen  pronomiua,  die  eventuell  mit  anderen  Wör- 
tern verknüpft  sind  (vgl.  daher,  darum,  deshalb,  deswegen,  u-eshalb,  in- 
dem). Diese  Wörter  sind  also  schon  satzverkniipfend,  bevor  sie  reine 
eonjunetionen  geworden  sind.  Ob  man  sie  als  solche  gelten  lassen 
will,  hängt  sehr  von  der  subjectiven  emptiudung  ab,  eine  bestimmte 
grenze  lässt  sich  nicht  ziehen.  Es  kommt  namentlich  darauf  an,  bis 
zu  welchem  grade  der  Ursprung  des  wortes  verdunkelt  ist.  Eine  solche 
Verdunkelung  ist  notwendig,  wenn  man  das  wort  als  bloss  satzver- 
bindend empfinden  soll. 

Eine  besondere  entstehungsweise  von  eonjunetionen  ist  oben  s.  251 
besprochen.  Auch  hier  liegt  meist  ein  conjunctionelles,  und  zwar  de- 
monstratives pron.  oder  adv.  zu  gründe,  entweder  für  sich  oder  in  Ver- 
bindung mit  einem  anderen  worte.  Doch  gibt  es  auch  fälle  ohne 
demonstrativum  wie  nhd.  weil,  falls,  engl,  hecause,  in  case.  Aber  auch 
hier  hat  schon  den  zu  gründe  liegenden  Substantiven  der  hinweis  auf 
das  folgende  angehaftet. 

Eine  anzahl  von  conjunktionen  entsteht  aus  Wörtern,  die  einen 
vergleich  ausdrücken;  vgl.  ingleichen,  ebenfalls,  gleichfalls,  gleichwol., 
andernfalls,  übrigens;  griech.  oficog,  äXXä;  lat.  celcrum;  ferner  die  com- 
parative  ferner,  weiter,  viehnehr ;  lat.  potius,  nihil ominus;  franz.  mais, 
phitöt,  neanmoins.  Durch  diese  Wörter  ist  auch  von  anfang  an  eine  be- 
ziehung  ausgedrückt,  es  fehlt  dagegen  an  einem  ausdruck  dafür,  worauf 
die  beziehung  geht;  dies  muss  aus  dem  Zusammenhang  erraten  werden. 

Anders  verhält  es  sich  dagegen,  w^o  Versicherungen  zu  satzver- 
bindenden eonjunetionen  geworden  sind,  vgl.  allerdings,  freilich,  näin- 
lieh,  7vol,  zwar  (mhd.  ze  wäre  fürwahr);  got.  raihtis  (aber  oder  denn); 
lat.  certej  verum,  vero,  scilicet,  videlicet  etc.  Diese  Wörter  drücken  an 
sich  gar  kein  verhältniss  zu  einem  andern  satze  aus.  Das  logische 
verhältniss,  in  welchem  der  satz,  in  dem  sie  enthalten  sind,  zu  einem 
anderen  steht,  wird  ursprünglich,  ohne  sprachlichen  ausdruck  zu  finden, 
hinzugedacht.  Indem  es  nun  aber  gerade  dieses  verhältniss  ist,  wes- 
wegen der  sprechende  eine  ausdrückliche  Versicherung  hinzuzufügen 
für  nötig  erachtet,  so  kommt  es,  dass  allmälig  dies  verhältniss  als 
durch  die  Versicherung  ausgedrückt  erscheint.  Ebensowenig  bezeichnet 
lat.  licet  ursprünglich  eine  beziehung  zu  dem  regierenden  satze;  auch 
hier  hat  sich  eine  ursprünglich  nur  gedachte  beziehung  secundär  an 
diese  verbalform  angeheftet,  die  eben  dadurch  zur  conjunction  •  ge- 
worden ist. 

Ein  mittel  zur  bezeichnuug  der  beziehung  zweier  sätze  oder  satz- 


318 

teile  auf  ein.ander  liefert  die  auaphorische  Setzung  zweier  an  sich  nicht 
conjunctioueller  adverbia,  vgl.  bald  —  bald,  jetzt  —  jetzt,  einmal  — 
einmal;  modo  —  modo,  nunc  —  wnic,  tum  —  tum  u.  dergl.  Hiervon  zu 
scheiden  ist  natürlich  die  entsprechende  Verwendung  von  solchen  Wör- 
tern, die  an  sich  schon  conjunctionen  sind. 

Der  ])arallelismus  in  dem  verhältniss  von  Satzgliedern  und  dem 
von  ganzen  Sätzen  zu  einander  zeigt  sich  darin,  dass  die  für  das  eine 
verhältniss  geschaffenen  verbiudungswörter  analogisch  auf  das  andere 
Übertragen  werden.  So  werden  von  alters  her  für  beide  Verhältnisse 
die  gleichen  copulativen  und  disjunctiven  partikeln  verwendet.  Die 
Übertragung  von  Satzglied  auf  satz  kann  man  deutlich  verfolgen  bei 
den  Wörtern  wie  weder,  entweder,  mhd.  beide,  vgl.  s.  247.  Ebenso  be- 
steht Übereinstimmung  in  der  Verwendung  der  demonstrativen  und 
relativen  vergleichungspartikeln.  Hier  werden  wir  die  umgekehrte  Über- 
tragung von  satz  auf  Satzglied  anzunehmen  haben.  Ueber  die  sonstige 
Verwendung  ursprünglich  satzeinleitender  conjunctionen  vor  Satzgliedern 
vgl.  s.  136,  über  die  von  präpositionen  vor  Sätzen  s.  137. 

Der  unterschied  von  präp.  und  conj.  im  einfachen  satze  ist  durch 
die  casurection  der  ersteren  scharf  bestimmt.  Doch  finden  sich  nichts- 
destoweniger Vermischungen  des  Unterschiedes.  Ob  man  sagt  ich  mit 
(sammt)  allen  übrigen  oder  ich  und  alle  übrigen  kommt  dem  sinne  nach 
ungefähr  auf  das  gleiche  hinaus,  und  so  geschieht  es,  dass  man  zu 
einer  durch  mit  hergestellten  Verbindung  das  präd.  oder  die  apposition 
in  den  pl.  setzt,  wo  die  berticksichtigung  des  eigentlichen  grammatischen 
Verhältnisses  den  sg.  verlangen  würde;  vgl.  scherz  mit  huld  in  anmuts- 
volle?n  bunde  entquollen  dem  beseelten  munde  (Schi.);  ^v\qq\\.  Arj(io6ü^ti^i]Q 
insrä  Tcöv  ovOTQatTjycöi'  öTctvöovxai  (Thuk.);  lat.  ipse  dux  cum  aliquot 
principibus  capiuntur  (Liv.);  filiam  cum  filio  accitos  (ib.);  engl,  old  sir 
John  tvith  half  a  dozen  more  are  at  the  door  (Sh.) ;  franz.  Vertumne 
avec  Pomone  ont  embelli  ces  lieux  (St.  Lambert);  weitere  beispiele  aus 
romanischen  sprachen  bei  Diez  III,  301,  aus  slavischen  bei  Miklosich 
IV,  77.78.  Hier  müssen  wir  das  Verbindungswort,  wenn  wir  auf  den 
dabei  stehenden  casus  sehen,  als  präp.,  wenn  wir  auf  die  gestalt  des 
prädicates  sehen,  als  conj.  anerkennen.  Beispiele  für  den  wirklichen 
übertritt  von  der  präp.  zur  conj.  bieten  nhd.  ausser  und  ohne,  vgl.  z,  b. 
niemand  kommt  mir  entgegen  ausser  ein  unverschämter  (Le.),  dass  ich 
nicht  nachdenken  kann  ohne  mit  der  feder  in  der  hand  (Le.),  kein  gott 
ist  ohne  ich  (Lu.).  Umgekehrt  wird  die  conj.  wan  in  mhd.  zu  einer 
präp.  c.  gen.,  vgl.  daz  treip  er  mit  der  reinen  wan  cht  des  alters  einen 
(Konr.  V.  Würzb.).  Man  begreift  demnach,  dass  da,  wo  noch  keine 
casus  ausgebildet  sind,  eine  grenzlinie  zwischen  präp.  und  conj,  kaum 
bestehen  kann. 


319 

Die  überfüliruug'  aus  der  imterorduiiug  in  die  beioiduiing  ist 
noch  leichter,  wenn  von  anfang-  an  keine  casusrection  besteht,  das  ver- 
binduugswort  also  schon  eoujunetion  (eonjunctionelles  adv.)  ist.  Dies 
zeigt  sich  namentlich  bei  der  correlation  sowol  —  als  auch  u,  dergl.,  vgl. 
die  Zurückweisung,  welche  sowol  Fichte  als  auch  Hegel . .  erfahren  haben 
(Varnhageu  v.  Ense);  engl,  your  sister  as  well  as  myself  are  greatly 
ob/iged  to  you  (Fielding);  lat.  ui  proprium  jus  tarn  res  publica  quam 
privala  haberent  (Frontinus) ;  franz.  la  sante  com?ne  la  foriune  retirenl 
leurs  faveurs  a  ceux  qui  en  abusent  (Saint-Evremont) ;  Bacchus  ainsi 
qxC  Hercule  etaienl  reconnus  pour  demi-dieux  (Voltaire). 


Cap.  XXI. 
Sprache  und  schrift. 

lieber  die  abweieluingen  der  sprachliehen  zustände  in  der  Ver- 
gangenheit von  denen  in  der  gegenwart  haben  wir  keinerlei  künde, 
die  uns  nicht  durch  das  medium  der  schrift  zugekommen  wäre.  Es 
ist  wichtig  für  jeden  sprachforselier  niemals  aus  den  äugen  zu  verlieren, 
dass  das  geschriebene  nicht  die  spräche  selbst  ist,  dass  die  in  schrift 
umgesetzte  spräche  immer  erst  einer  rückumsetzung  bedarf,  ehe  man 
mit  ihr  rechnen  kann.  Diese  rückumsetzung  ist  nur  in  unvollkommener 
weise  möglich  (auch  dessen  muss  man  sich  stets  bewust  bleiben), 
soweit  sie  aber  überhaupt  möglich  ist,  ist  sie  eine  kunst,  die  gelernt 
sein  will,  wobei  die  unbefangene  beobachtung  des  Verhältnisses  von 
schrift  und  ausspräche,  wie  es  gegenwärtig  bei  den  verschiedenen 
Völkern  besteht,  grosse  dienste  leistet. 

Die  schrift  ist  aber  nicht  bloss  wegen  dieser  Vermittlerrolle  object 
für  den  Sprachforscher,  sie  ist  es  auch  als  ein  wichtiger  factor  in  der 
sprachentwickelung  selbst,  den  wir  bisher  absichtlich  nicht  berück- 
sichtigt haben.  Umfang  und  grenzen  ihrer  Wirksamkeit  zu  bestimmen 
ist  eine  aufgäbe,  die  uns  noch  übrig  bleibt. 

Die  vorteile,  welche  die  geschriebene  vor  der  gesprochenen  rede 
in  bezug  auf  Wirkungsfähigkeit  voraus  hat,  liegen  auf  der  band. 
Durch  sie  kann  der  enge  kreis,  auf  den  sonst  der  einfluss  des  indivi- 
duums  beschränkt  ist.  bis  zur  weite  der  ganzen  sprachgeuossensehaft 
anwachsen,  durch  sie  kann  er  sich  über  die  lebende  generation  hinaus, 
und  zwar  unmittelbar  auf  alle  nachfolgenden  verbreiten.  Es  ist  kein 
wunder,  dass  diese  in  die  äugen  stechenden  Vorzüge  gewöhnlich  bei 
weitem  ül)erschätzt  werden,  auch  in  der  Sprachwissenschaft  überschätzt 
sind,  weil  es  etwas  mehr  nachdenken  erfordert  sich  auch  diejenigen 
])uukte  klar  zu  machen,  in  denen  die  schrift  hinter  der  lebendigen 
rede  zurückbleibt. 

Man  unterscheidet  gewöhnlich  zwischen  sprachen,  deren  ausspräche 
von  der  schrift  abweicht  und  solchen,  in  denen  man  schreibt  wie  man 
spricht.     Wer  das    letztere   anders   als   in  einem   sehr  relativen   sinne 


321 

nimmt,  der  befindet  sieh  in  einem  folgenschweren  irrtiim.  Die  sehrift 
ist  nicht  nur  nicht  die  spraclie  selbst,  sondern  sie  ist  derselben  auch  in 
keiner  weise  adäciuat.  Es  handelt  sich  für  die  richtige  auftassung  des 
Verhältnisses  nicht  um  diese  oder  jene  einzelne  diserepanz,  sondern 
um  eine  grundverschiedenheit.  Wir  haben  oben  s.  48  ff.  gesehen,  wie 
wichtig  für  die  beurteilung  der  lautlichen  seite  der  spräche  die  con- 
tinuität  in  der  reihe  der  hinter  einander  gesprochenen  wie  in  der  reihe 
der  bildbaren  laute  ist.  Ein  aiphabet  dagegen,  mag  es  auch  noch  so 
vollkommen  sein,  ist  nach  beiden  selten  hin  discontinuierlich.  Sprache 
und  Schrift  verhalten  sich  zu  einander  wie  linie  und  zahl.  So  viele 
zeichen  man  auch  anwenden  mag  und  so  genau  man  die  entsprechen- 
den articulationen  der  sprechorgane  definieren  mag,  immer  bleibt  ein 
jedes  nicht  zeichen  für  eine  einzige,  sondern  für  eine  reihe  unendlich 
vieler  articulationsweisen.  Und  wenn  auch  der  weg  für  den  Übergang 
von  einer  bezeichenten  articulation  zur  andern  bis  zu  einem  gewissen 
grade  ein  notwendiger  ist,  so  bleibt  doch  die  freiheit  zu  mancherlei 
Variationen.     Und  dann  erst  quantität  und  accent. 

Die  wirklich  üblichen  alphabete  bleiben  nun  auch  hinter  dem 
erreichbaren  weit  zurück.  Zweck  eines  nicht  der  wissenschaftlichen 
phonologie,  sondern  nur  dem  gewöhnlichen  praktischen  bedürfnisse 
dienenden  alphabetes  kann  niemals  sein  die  laute  einer  spräche  von 
denen  einer  andern,  ja  auch  nur  die  eines  dialectes  von  denen  eines 
andern  unterscheidbar  zu  machen,  sondern  nur  die  innerhalb  eines 
ganz  bestimmten  dialectes  vorkommenden  differenzen  zu  unterscheiden, 
und  dieses  braucht  auch  nur  soweit  zu  geschehen,  als  die  betreffenden 
differenzen  von  functionellem  wert  sind.  Weiter  gehen  daher  auch  die 
meisten  alphabete  nicht.  Es  ist  nicht  nötig,  die  durch  die  Stellung  in 
der  silbe,  im  worte,  im  satze,  durch  quantität  und  accent  bedingten 
unterschiede  zu  bezeichnen,  sobald  nur  die  bedingenden  momente  in 
dem  betreffenden  dialecte  immer  die  gleiche  folge  haben.  Wenn  z.  b. 
im  nhd.  der  harte  .?-laut  in  lust^  brüst  etc.  durch  das  gleiche  zeichen 
widergegeben  wird  wie  sonst  der  weiche  Ä-laut,  dagegen  in  reiszen, 
flieszen  durch  sz  {ss),  so  beruht  das  allerdings  auf  einer  historischen 
tradition  (mhd.  hist  —  rizen),  es  ist  aber  doch  sehr  fraglich,  ob  die 
Schreibung  sz  sich  bewahrt  haben  würde,  wenn  nicht  im  silbenanlaut 
das  bedürfniss  vorhanden  gewesen  wäre  zwischen  dem  harten  und 
dem  weichen  laute  zu  scheiden  (vgl.  reiszen  —  reisen,  flieszen  —  fliesen), 
während  in  der  Verbindung  st  das  st  stets  hart  ist,  auch  in  formen 
aus  Wörtern,  die  sonst  weiches  s  haben  {er  reist  in  der  ausspräche 
nicht  geschieden  von  er  reiszt).  Dass  die  entstehung  aus  mhd.  z  nicht 
das  allein  massgebende  gewesen  ist,  wird  durch  die  Schreibung  im 
auslaut  bestätigt.    Auch  hier  ist  kein  unterschied  der  ausspräche  zwischen 

Paul,  Principien.    11.  Auflage.  21 


322 

dem  aus  iiihd.  v  und  dem  aus  mlul.  z  entstandenen  s;  das  s  in  hasz, 
heisz  wird  gesj)roehen  wie  das  in  glas,  eis.  Man  schreibt  nun  sz  im 
auslaut  (für  mlid.  z)  nur  da,  wo  etymologisch  eng-  verwandte  formen 
mit  inlautendem  harten  s  daneben  stehen,  also  heisz  —  heiszer  etc., 
dagegen  das^),  es,  alles ^  ans^  auch  blos  als  adv.  und  hischen  =  ein 
wenig.  Man  schreibt  auch  nicht  etwa  kreisz  —  kreises  =  mhd.  kreiz 
—  kreizes  u.  dergl.  Aus  alledem  ist  klar,  dass  die  Scheidung  der 
Schreibweise  nur  von  solchen  fällen  ausgegangen  ist,  in  denen  eine 
mehrfache  ausspräche  in  dem  gleichen  dialect  möglich  war.  So  ist 
auch  bei  der  schriftlichen  fixierung  der  meisten  sprachen  nicht  das 
bedürfniss  empfunden  ein  besonderes  zeichen  für  den  gutturalen  und 
palatalen  nasal  zu  verwenden,  sondern  man  hat  dafür  das  selbe  zeichen 
wie  für  den  dentalen  angewendet,  während  der  labiale  sein  besonderes 
hat.  Ursache  war,  dass  der  gutturale  und  palatale  nasal  immer  nur 
vor  andern  gutturalen  und  palatalen  vorkam,  also  in  den  Verbindungen 
nk,  ng  etc.,  und  in  dieser  Stellung  ausnahmslos  galt,  während  der 
labiale  und  der  dentale  auch  im  auslaut  und  im  an-  und  inlaut  vor 
vokalen  üblich  waren,  daher  von  einander  unterschieden  werden  mussten. 
Im  französischen,  wo  der  guttural  auch  im  wortauslaut  und  im  silben- 
auslaut  vor  labialen  und  dentalen  erscheint,  ist  auch  wider  kein  dringendes 
bedürfniss  zu  einer  besondern  bezeichnung  vorhanden  und  würde  eine 
solche  kaum  eingeführt  sein,  auch  wenn  sonst  ein  strengerer  anschluss 
an  die  ausspräche  durchgedrungen  wäre;  denn  gutturaler  nasal  ist 
für  den  silbenauslaut  ganz  allgemeine  regel.  Es  ist  ferner  nicht  nötig 
im  uhd.  zwischen  dem  gutturalen  und  palatalen  ch  zu  unterscheiden. 
Denn  die  ausspräche  ist  durch  den  vorhergehenden  vokal  zweifellos 
bestimmt  und  wechselt  danach  innerhalb  des  selben  Stammes:  fach  — 
fächer,  loch  —  löcher,  buch  —  bücher,  sprach,  gesprochen  —  sprechen, 
spricht.  Gäbe  es  dagegen  ein  palatales  ch  auch  nach  a,  o,  u,  ein 
gutturales  auch  nach  e,  i,  ä,  Ö,  ü,  so  würde  allerdings  das  bedürfniss 
nach  Unterscheidung  vorhanden  und  vielleicht  auch  befriedigt  sein. 
Noch  weniger  ist  es  notwendig  solche  unterschiede  zu  bezeichenen, 
wie  sie  mit  notwendigkeit  durch  die  Stellung  im  silbenauslaut  oder 
anlaut  bedingt  sind,  z.  b.  bei  den  verschlusslauten,  ob  die  bildung  oder 
die  lösung  des  verschlusses  hörbar  ist.  Ueberall  schreibt. mau  kk,  it, 
pp,  während  man  doch  nicht  zweimal  die  gleiche  beweguug  ausführt, 
sondern  die  zweite  die  umkehr  der  ersten  ist.  Nirgends  haben  auch 
die  vielfachen  ersparungen  in  der  bewegung  bei  dem  übergange  von 
einem  laute  zum  andern  einen  lautlichen  ausdruck  gefunden,  vgl.  darüber 
Sievers,  Grundzüge  der  lautphysiologie  s.  84  ff. 

')  Die  aiLsualiiuo  in  der  conjugation  dasz  erklärt  sich  aus  dem  differenzierungs- 
bedürfniss  der  granimatiker. 


323 

Allerdings  gibt  es  auch  ciDige  ali)habete,  z.  1».  das  des  sanskrit, 
die  über  das  mass  dessen,  was  das  unmittelbare  praktiselie  l)ediirfniss 
erheischt,  hinausgehen  und  strengeren  ansprüchen  der  lautphysiologie 
genüge  leisten,  indem  sie  auch  in  solchen  fällen  ähnliche,  aber  doch 
nicht  gleiche  laute  auseinander  halten,  wo  die  Unterscheidung  für  den 
der  spräche  mächtigen,  auch  ohne  rücksicht  auf  sinn  und  Zusammen- 
hang sich  von  selbst  versteht.  Viel  häutiger  aber  sind  solche  alphabete, 
die  auch  hinter  der  bezeichenten  billigen  anforderung  noch  zurück 
bleiben.  Die  hauptursache  solcher  mangelhaftigkeit  ist  die,  dass  fast 
sämmtliche  Völker  nicht  sich  selbständig  ihr  aiphabet  den  bedürfnissen 
ihrer  spräche  gemäss  erschaffen,  sondern  das  aiphabet  einer  fremden 
spräche  der  ihrigen,  so  gut  es  gehen  wollte,  angepasst  haben.  Dazu 
kommt  dann,  dass  in  der  weiteren  entwickelung  der  spräche  neue 
differenzen  entstehen  können,  die  bei  der  einführung  des  alphabetes 
nicht  vorgesehen  werden  konnten.  Die  selben  gründe  können  übrigens 
auch  einen  unnützen  überfluss  erzeugen.  Beides,  überfluss  und  mangel 
sind  häufig  nebeneinander.  Als  exempel  kann  das  neuhochdeutsche 
dienen.  Mehrfache  zeichen  für  den  gleichen  laut  sind  c  —  k  —  ch 
—  q,  c  —  z,  f  —  V,  V  —  w,  s  —  sz,  ä  —  e,  ai  —  ei,  äu  —  eu, 
i  —  tj.  Ein  zeichen,  welches  verschiedene  laute  bezeichenen  kann, 
ohne  dass  dieselben  durch  die  Stellung  ohne  weiteres  feststehen,  ist 
e,  welches  sowohl  =  französisch  e  als  =  französisch  e  sein  kann. 
In  dem  verhältniss  von  ä  und  e  zeigen  sich  also  luxus  und  mangel 
vereinigt.  Aehnlich  ist  es  mit  v  (allerdings  nur  in  fremdwörtern)  in 
seinem  verhältniss  zu  /"  und  /r.  Auch  ch  kann  in  fremdwörtern  ver- 
schiedene geltung  haben  fchar  —  charmant).  Zur  bezeichnung  der 
vokallänge  sind  mehrere  mittel  in  auwendung,  doppelschreibung,  h  und  e 
(nach  /),  und  doch  bleibt  sie  in  so  vielen  fällen  unbezeicheut.  Diese  übel- 
stände sind  zum  teil  so  alt  wie  die  aufzeichnung  deutscher  Sprachdenk- 
male, und  machten  sich  früher  in  noch  störenderer  weise  geltend. 
Andere  die  früher  vorhanden  waren,  sind  allmählig  geschwunden.  So 
war  es  gleichfalls  eine  Vereinigung  von  luxus  und  mangel,  wenn  n 
und  V,  i  und  j  jedes  sowol  zur  bezeichnung  des  vokales  als  des  reibe- 
lautes  verwendet  wurden  und  nach  rein  graphischen  traditionen  mit 
einander  wechselten.  In  den  mittelhochdeutschen  handschriften  sind 
0  —  ö,  u  {ü)  —  ü  (iu)  —  1(0  —  üe  nicht  von  einander  geschieden.  Und 
so  könnte  man  noch  weiter  in  der  aufzählung  von  unvollkommenheiten 
fortfahren,  an  denen  die  deutsche  Orthographie  in  den  verschiedenen 
Perioden  ihrer  entwickelung  gelitten  hat. 

Nimmt  man  nun  hinzu,  dass  die  acceutuation  entweder  gar  nicht 
oder  nur  sehr  unvollkommen  bezeicheut  zu  werden  pflegt,  so  ist  es 
wol  klar,   dass  auch  diejenigen  unter  den  üblichen  schriftlichen  tixier- 

21* 


324 

iiugeu,  in  denen  das  phonetische  prineip  nicht  durch  die  rlicksicht  auf 
die  etymolog^ie  und  den  lautstand  einer  älteren   periode   beeinträchtigt 
ist,    ein  höchst  unvollkommenes   bild  von  der  lebendigen   rede  geben. 
Die  Schrift  verhält  sich  zur   spräche  etwa   wie  eine  grobe   skizze   zu 
einem  mit  der  grössten  Sorgfalt  in  färben  ausgeführtem  gemälde.     Die 
skizze  genügt  um  demjenigen,    welchem    sich  das  gemälde   fest  in  die 
erinnerung  eingeprägt  hat,   keinen  zweifei  darüber  zu  lassen,   dass  sie 
dieses  vorstellen  soll,  auch  um  ihn  in  den  stand  zu  setzen  die  einzelnen 
figureu  in  beiden    zu  identificieren.     Dagegen  wird  derjenige,    der  nur 
eine  verworrene  erinnerung  von  dem  gemälde  hat,  diese  an  der  skizze    j 
höchstens   in  bezug   auf  einige  hauptpunkte  berichtigen   und  ergänzen    ■ 
können.     Und  wer   das   gemälde   niemals  gesehen  hat,    der  ist  selbst-    j 
verständlich  nicht  im  stände,  detailzeichnung,  farbengebung  und  sehat-    i 
tierung  richtig   hinzuzudenken.     Würden   mehrere  maier  zugleich  ver-    | 
suchen    nach    der    skizze    ein   ausgeführtes    gemälde    herzustellen,    so     j 
würden   ihre  erzeugnisse   stark   von  einander  abweichen.    Man  denke    l 
sich  nun,    dass   auf  dem   Originalgemälde  tiere,    pflanzen,    gerate   etc.    I 
vorkämen,    welche   sie  niemals   in   ihrem  leben   in  der  natur   oder  in    l 
getreuen  abbildungen    gesehen  haben,    die  aber   eine  gewisse  ähnlich- 
keit    mit   andern    ihnen   bekannten    gegenständen   haben,    würden   sie    i 
nicht   nach   der   skizze   auf  ihrem  eigenen   gemälde   diese  ihnen   be-    i 
kannten   gegenstände    unterschieben?    So  ergeht  es   notwendigerweise 
demjenigen,   der  eine  fremde  spräche   oder  einen  fremden  dialect  nur    j 
in  schriftlicher  aufzeichnung  kennen  lernt  und  danach  zu  reproducieren    j 
versucht.    Was  kann  er  anders  tun  als  für  jeden  buchstaben  und  jede    j 
buchstabenverbindung  den  laut  und  die  lautverbindung  einsetzen,   die 
er  in   seinem   eigenen   dialect   damit  zu  verbinden   gewohnt  ist,    und 
nach   den  principien   desselben   auch   quantität  und  accent   zu  regeln,    j 
soweit  nicht  abweicliungen  ausdrücklich  durch  ihm  verständliche  zeichen     i 
hervorgehoben  sind?     Darüber  ist  man  ja  auch  allgemein  einverstanden,     j 
dass   bei    der   erlernung    fremder    sprachen,    auch  wenn   sie   sich   der     ! 
gleichen  buchstaben  bedienen,  mindestens  eine  detaillierte  beschreibung     | 
des  lautwertes  erforderlieh  ist,   und  dasz  auch  diese,    zumal  wenn  sie 
nicht  auf  lautphysiologischer  basis  gegeben  wird,  nicht  das  vorsprechen 
ersetzen  kann.    Selbstverständlich  aber  ist  das  gleiche  bedürfniss  vor- 
banden,  wenn  uns  eine  richtige  Vorstellung  von  den  lauten  eines  dia- 
lectes   beigebracht   werden  soll,    der   mit  dem  unsrigen   zu  der  selben     j 
grösseren   gruppe   gehört.    Es   kommt  darauf  an   die  daraus  sich  er-     I 
gebenden  consequenzen  nicht  zu  übersehen. 

Auf  einem  jeden  in  viele  dialecte  gespaltenen  Sprachgebiete  | 
existieren,  in  der  regel  eine  grosse  anzahl  verschiedener  lautnuancen,  ■ 
jedenfalls,    auch  wenn   man  nur   das  deutlich  unterscheidbare  berück- 


825 

sichtigt  und  alle  schwer  merklichen  feinheiten  bei  seite  lässt,  sehr 
viel  mehr,  als  das  gemeinsame  aiphabet,  dessen  man  sich  bedient, 
buchstaben  enthält.  In  jedem  einzelnen  dialecte  aber  existiert  immer 
nur  ein  bestimmter  bruchteil  dieser  nuaucen,  indem  die  näehstverwandten 
sich  vielfach  ausschliessen,  so  dass  sich  ihre  zahl,  wenn  man  diejenigen 
nur  für  eine  rechent,  die  zu  scheiden  das  praktische  bedürfniss  nicht 
erfordert,  ungefähr  mit  der  zahl  der  zur  Verfügung  stehenden  buch- 
staben decken  mag.  Wenn  unter  so  bewandten  umständen  an  ver- 
schiedenen punkten  aufzeichnungen  in  der  heimischen  mundart  ge- 
macht werden,  so  ist  gar  kein  anderes  verfahren  denkbar,  als  dass 
jeder  buchstabe  gerade  für  diejenige  species  einer  grösseren  gattung 
von  lauten  verwendet  wird,  die  gerade  in  der  betreffenden  mundart 
vorkommt,  also  hier  für  diese,  dort  für  jene.  Dabei  kommt  es  auch 
vor,  dass  wenn  zwei  nahe  verwandte  species  in  einem  dialecte  neben 
einander  vorkommen,  ein  zeichen  für  beide  ausreichen  muss,  während 
umgekehrt  von  zwei  für  die  übrigen  dialecte  unentbehrlichen  zeichen 
für  den  einen  oder  andern  das  eine  entbehrlich  sein  kann.  Wir 
brauchen  uns  nur  einige  der  wichtigsten  derartigen  fälle  anzusehen, 
wie  sie  auf  dem  deutschen  Sprachgebiete  vorkommen,  wobei  es  sieh 
nicht  blos  um  die  eigentliche  mundart,  sondern  auch  um  die  spräche 
des  grössten  teiles  der  gebildeten  handelt.  Der  unterschied  zwischen 
harten  und  weichen  geräuschlauten  besteht  in  Oberdeutschland  so  gut 
wie  in  Niederdeutschland.  Aber  während  er  dort  auf  der  grösseren 
oder  geringeren  energie  der  exspiration  beruht,  kommt  hier ')  noch 
ein  weiteres  charakteristicum  hinzu,  das  fehlen  oder  Vorhandensein 
des  Stimmtons.  Das  obersächsische  und  thüringische  aber  kennen 
weder  eine  Unterscheidung  durch  den  stimmton,  noch  durch  die  energie 
der  exspiration.  Demnach  bezeichent  also  z.  b.  b  für  den  Oberdeutschen 
einen  andern  laut  (tonlose  lenis)  als  für  den  Niederdeutschen  (tönende 
lenis)  und  wider  einen  andern  für  den  Obersachsen  (tonlose  fortis). 
Auch  k,  i,  p  bezeichnen  in  gewissen  Stellungen  für  den  Obersachsen 
und  Thüringer  einen  andern  laut  (hauchlose  fortis)  als  für  die  masse 
der  übrigen  Deutschen  (aspirata)  2).  Das  rv  spricht  der  Niederdeutsche 
als  labio-dentalen,  der  Mitteldeutsche  als  labio-labialen  geräuschlaut, 
der  Alemanne  als  consonantischen  vokal.  Das  s  im  wortanlaut  vor  / 
und  p  wird  in  einem  grossen  teile  Niederdeutschlands  als  hartes  s, 
im  übrigen  Deutschland  wie  sonst  seh  gesprochen.     Das  ;•  ist  in  einem 


^)  Auf  genauere  grenzbestimmungen,  die  zu  geben  mir  unmöglich  ist,  kommt 
es  natürlich  hier  und  im  folgenden  nicht  an.  Die  tatsache  ist  zuerst  festgestellt 
von  Winteler,  Grammatik  der  Kerenzer  mundart,  s.  20  ff. 

*)  Vgl.  Kräuter,  Ztsehr.  f.  vgl.  Sprachforschung  21,  30  ff. 


326 

teile  lingualer,  in  dem  andern  uvularer  laut,  und  noch  mannigfache 
sonstige  Variationen  kommen  vor.  Das  g  wird  in  einem  tbeile  Nieder- 
und  Mitteldeutschlands,  auch  in  einigen  oberdeutschen  gegenden  als 
gutturaler  oder  palataler  reihelaut  gesprochen,  entweder  durchweg  oder 
nur  im  inlaut.  Von  jeher  ist  g  in  den  germanischen  dialecten  sowol 
zeichen  für  den  verschlusslaut  als  für  den  reibelaut  gewesen.  Den 
unterschied  in  der  ausspräche  des  ch  nach  der  natur  des  vorhergehen- 
den vokales  kennt  das  alemannische  nicht.  Dagegen  macht  es  einen 
unterschied  zwischen  /  =  nd.  p  und  f  =  nd.  /",  den  andere  gegenden 
nicht  kennen. 

Wo  die  gleichheit  des  Zeichens  bei  abweichung  der  ausspräche 
zusammentrifft  mit  etymologischer  gleichheit,  da  ist  in  der  schritt  ein 
dialectischer  unterschied  verdeckt.  Da  dies  sehr  häufig  der  fall  ist, 
zumal  wenn  man  auch  die  vielen  im  einzelnen  weniger  auffallenden, 
aber  doch  im  ganzen  sich  bemerkbar  machenden  abweichungen  mit  in 
betracht  zieht,  da  ferner  meist  die  quantität,  da  vor  allem  die  modu- 
lationen  der  tonhöhe  und  der  exspirationsenergie  unbezeichent  bleiben, 
so  muss  man  zugestehen,  dass  es  ein  erheblicher  teil  der  dialectischen 
differenzen  ist,  der  in  der  schrift  nicht  zur  geltung  kommt.  Gerade 
das  macht  die  schrift  als  Verständigungsmittel  für  den  grossen  verkehr 
noch  besonders  brauchbar.  Aber  es  macht  sie  gleichzeitig  ungeeignet 
zur  beeinflussung  der  ausspräche,  und  es  ist  eine  ganz  irrige  meinung, 
dass  man  mit  dem  geschriebenen  worte  in  der  selben  weise  in  die 
ferne  wirken  könne  wie  mit  dem  gesprochenen  in  die  nähe. 

Wie  kann  einer  z.  b.  wissen,  wenn  er  das  zeichen  g  geschrieben 
sieht,  welche  unter  den  mindestens  sieben  in  Deutschland  vorkom- 
menden deutlieh  unterseheidbaren  und  zum  teil  stark  von  einander 
differierenden  aussprachen  die  des  aufzeichners  gewesen  ist?  Wie  kann 
er  überhaupt  aus  der  blossen  Schreibung  wissen,  dass  so  vielerlei  aus- 
sprachen existieren '?  Was  kann  er  anders  tun  als  die  in  seiner  heimat 
übliche  ausspräche  dafür  einsetzen? 

Nur  die  gröbsten  abweichungen  von  der  eigenen  mundart  kann 
man  aus  der  schrift  ersehen,  aber  auch  ohne  dass  man  über  die  spe- 
eielle  beschaffenheit  der  abweichenden  laute  etwas  sicheres  erfährt. 
Soweit  man  die  abweichungen  erkennt,  ist  man  natürlich  auch  im 
Stande  sie  nachzuahmen.  Das  kann  dann  aber  nur  geschehen  mit 
vollem  bewusstsein  und  mit  voller  absichtlichkeit,  indem  sich  das  nach- 
ahmen des  fremden  dialects  als  etwas  gesondertes  neben  die  ausübung 
des  eigenen  stellt.  Es  ist  ein  Vorgang,  der  sich  von  der  aneignung 
einer  fremden  spräche  nur  dem  grade,  nicht  der  art  nach  unterscheidet, 
der  dagegen  ganz  verschieden  ist  von  jenem  unbewussten  sichbeein- 
flussenlassen  durch  die  spräche  seiner  verkehrsgenossen,  wie  es  s.  51  ff 


327 

geschildert  ist.  Grundbedingung-  für  dasselbe  war  eben  der  kleine 
rauni,  innerhalb  dessen  sich  die  dittcrenzeu  der  einzelnen  von  ein- 
ander bewegen,  und  die  unendliche  abstuf ungsfaiiigkcit  der  gesproche- 
nen laute.  Innerhalb  der  Sphäre,  in  welcher  diese  art  der  beeinflussung 
ihre  stelle  hat,  zeigt  die  schrift  noch  gar  keine  ditferenzen  und  ist 
deshalb  unfähig  zu  wirken. 

Und  wie  mit  der  Wirkung  in  die  ferne,  so  ist  es  mit  der  Wirkung 
in  die   zukunft.    Es    ist   blosse   einbilduug,    wenn   man    meint   in   der 
schrift  eine  controlle  für  lautveränderungen  zu  haben.     So  gut  wie  an 
verschiedenen  orten  ziemlich  stark  von  einander  verschiedene  laute  mit 
den  gleichen  buchstaben  bezeichnet  werden   können,   eben  so  gut  und 
noch  leichter   kann   das   an   dem  selben   orte   zu  verschiedenen  zeiteu 
geschehen.     Kein   buchstabe  steht  ja   mit   einem   bestimmten   laute  in 
einem  realen  zusammenhange,  der  sich  für  sich  zu  erhalten  im  stände 
wäre,  sondern  der  Zusammenhang  beruht  lediglich  auf  der  association 
der  Vorstellungen.     Man  verbindet  mit  jedem  buchstaben  die  Vorstellung 
eines  solchen  lautes,  wie  er  gerade  zur   zeit  üblich  ist.    Der  Vorgang 
beim  natürlichen  lautwandel  ist  nun  der,  wie  wir  s.  52  ff.  gesehen  haben, 
dass  sich  an  stelle  dieser  Vorstellung  unmerklich  eine  etwas  abweichende 
unterschiebt,  die  nun  der  folgenden  geueration  von  vornherein  als  mit 
dem  buchstaben  verbunden  überliefert  wird.    Das  mit  dem  buchstaben 
verbundene   lautbild  kann   daher  keinen  hemmenden  einfluss  auf  den 
lautwandel  ausüben,  weil  es  selbst  durch  diesen  verschoben  wird.     Und 
natürlich   überträgt   man  jederzeit   den  eben   geltenden  lautwert  eines 
buchstaben   auch   auf  die   aufzeichnungen   der  Vergangenheit.     Irgend 
ein  mittel  den  früheren  lautwert  mit  dem  jetzigen  zu  vergleichen  gibt 
es  überhaupt  nicht.     Dass  mit  hülfe  wissenschaftlicher  Untersuchungen 
etwaige  conjecturen  über  die  abweichungen  gemacht  werden  können, 
kommt  natürlich  hier  nicht  in  betracht.     In   der  regel  kann  sich  auch 
die  veränderte   ausspräche   mit  unveränderter   Schreibweise  lange  ver- 
tragen  ohne   dass  daraus  irgend  welche  unzuträglichkeiten  entstehen. 
Jedenfalls  stellen  sich  solche  erst  heraus,   wenn  die  Veränderung  eine 
sehr  starke  geworden  ist.     Dann  aber  ist  eine  Veränderung  der  spräche 
nach  der  schrift,  wenn  überhaupt,   nur  mit  bewusster  absieht  möglich, 
und  eine   derartige   Veränderung   würde   wider   etwas   der   natürlichen 
entwickelung  durchaus  widersprechendes  sein.    So  lange  diese  ungestört 
ihren  weg  geht  bleibt  nichts  anderes  übrig  als  die  unbequemlichkeiten- 
weiter zu   tragen   oder   die  Orthographie  nach  der  spräche  zu  ändern. 
Es  ist  nun  auch  mit  allen  den  besprochenen  mangeln  der  schrift 
noch  lange  nicht  der  grad  gekennzeichent,  bis  zu  welchem  das  miss- 
verhältuiss  zwischen  schrift  und  ausspräche  gelangen  kann.    Wir  haben 
bisher  eigentlich  immer  nur  den  zustand  im  äuge  gehabt,   der  in  der 


328 

periode  besteht,  wo  die  spräche  erst  autangt  schriftlich  fixiert  zu  werden, 
wo  jeder  schreibende  noch  selbständig  mit  an  der  Schöpfung  der  Ortho- 
graphie arbeitet,  indem  zwar  ungefähr  feststeht,  welches  zeichen  Tür 
jeden  einzelnen  laut  zu  wählen  ist,  aber  nicht,  wie  das  wort  als  ganzes 
zu  schreiben  ist,  so  dass  es  der  Schreiber  immer  erst,  so  gut  es  an- 
gehen will,  in  seine  demente  zerlegen  und  die  diesen  dementen  ent- 
sprechenden 1)uchstaben  zusammensetzen  muss.  Es  ist  aber  keine  frage, 
das  bei  reichlicher  Übung  im  schreiben  und  lesen  das  verfahren  immer 
mehr  ein  abgekürztes  wird.  Ursprünglich  ist  die  Verbindung  zwischen 
den  lautzeichen  und  der  bedeutung  immer  durch  die  Vorstellung  von 
den  lauten  und  durch  das  bewegungsgefühl  vermittelt.  Sind  aber  beide 
erst  häufig  durch  diese  vermittdung  an  einander  gebracht,  so  gehen 
sie  eine  directe  Verbindung  ein  und  die  vermittdung  wird  entbehrlich. 
Auf  dieser  directen  Verbindung  beruht  ja  die  möglichkeit  des  geläufigen 
lesens  und  Schreibens.  Man  kann  das  leicht  durch  eine  gegenprobe 
constatieren ,  indem  man  jemandem  aufzeichnuugen  in  einem  dialecte 
vorlegt,  der  ihm  vollständig  geläufig  ist,  den  er  aber  bisher  immer  nur 
gehört  hat;  er  wird  immer  erst  einige  mühe  haben  sich  zurechtzufinden, 
zumal  wenn  die  aufzeichnungen  sich  nicht  genau  an  das  System  der 
Schriftsprache  mit  allen  übelständen  desselben  anschliessen.  Und  noch 
viel  mehr  kann  mau  ihn  in  Verlegenheit  setzen,  wenn  man  ihm  aufgibt 
einen  solchen  dialect,  sei  es  auch  derjenige,  den  er  von  kind  auf  ge- 
sprochen hat,  selbst  in  der  schrift  zu  verwenden.  Er  wird  eine  wirk- 
liche lösung  der  aufgäbe  immer  dadurch  umgehen,  dass  er  sich  in 
ungehöriger  weise  von  der  ihm  geläufigen  Orthographie  der  Schrift- 
sprache beeinflussen  lässt.  Das  zeigen  alle  modernen  dialectdichter- 
Diesen  hiutergrund  der  jetzt  immer  als  analogon  dienenden  schrift- 
sprachlichen Orthographie  müssen  wir  uns  noch  wegdenken,  wenn  wir 
uns  den  unterschied  klar  machen  wollen  zwischen  der  Stellung,  die  wir 
jetzt  der  niederschrift  unserer  gemeinsprache  gegenüber  einnehmen,  und 
derjenigen,  welche  etwa  die  althochdeutschen  Schreiber  bei  aufzeich- 
nung  ihres  dialectes  einnahmen.  Man  wird  dann  auch  nicht  leicht 
vornehm  auf  das  Ungeschick  unserer  vorfahren  herabsehen.  Man  wird 
vielmehr  finden,  zumal  wenn  man  nicht  alles  durcheinander  wirft, 
sondern  den  schreibgebrauch  eines  jeden  einzelnen  für  sich  untersucht, 
dass  sie  die  laute  richtiger  beobachteten,  als  es  heutzutage  zu  ge- 
schehen pflegt  und  das  aus  einem  gründe,  der  von  anderer  seite  her 
betrachtet  als  ein  mangel  den  heutigen  Verhältnissen  gegenüber  er- 
scheint: ihnen  stand  noch  keine  festgeregelte  Orthographie  objectiv 
gegenüber,  ihnen  wurde  daher  auch  nicht  der  unbefangene  sinn  für 
den  laut  durch  den  stäten  hinblick  auf  eine  solche  Orthographie  ver- 
wirrt.    Das  will  aber   ungefähr   eben   so  viel  sagen   als:   sie   konnten 


329 

der  Vermittlung  des  laiitbildes  zwischen  Schriftbild  und  bedeutung  noch 
nicht  entbehren. 

Beides  steht  in  der  engsten  Wechselbeziehung  zu  einander.  Wenn 
jetzt  die  directe  Verbindung  zwischen  Schriftbild  und  bedeutung  bei 
allen  einigermassen  gebildeten  eine  sehr  starke  ist,  so  ist  das  zu  einem 
guten  teile  der  constanz  unserer  Orthographie  zu  danken.  Man  sieht 
das  namentlich  an  solchen  Wörtern,  die  in  der  ausspräche  gleich,  in 
der  Schrift  verschieden  sind.  Jede  abweichung  in  der  Orthographie, 
mag  sie  auch  vom  phonetischen  Standpunkte  aus  eine  entschiedene 
Verbesserung  sein,  erschwert  das  verständiss.  Wenn  das  ein  schlagen- 
der beweis  für  die  directe  Verbindung  von  schrift  und  ausspräche  ist, 
so  muss  anderseits  der  negative  schluss  daraus  gezogen  werden:  je 
weniger  constant  die  schrift,  je  weniger  ist  directe  Verbindung  zwischen 
ihr  und  der  bedeutung  möglich.  Der  mangel  an  constanz  kann  auf 
unpassender  beschaflfenheit  des  zu  geböte  stehenden  raaterials  oder  Un- 
geschick der  Schreiber  beruhen,  indem  etwa  mehrere  zeichen  in  der 
gleichen  Verwendung  mit  einander  wechseln  oder  umgekehrt  ein  zeichen 
bald  in  dieser,  bald  in  jener  Verwendung  auftritt,  oder  auf  dem  fehlen 
regelnder  autoritäten,  die  eine  Zusammenfassung  und  einigung  der  ver- 
schiedenen orthographischen  bestrebungen  ermöglichen  könnten.  Er 
kann  aber  auch  gerade  aus  lautphysiologischer  Vollkommenheit  und 
consequenz  entspringen.  Wenn  z.  b.  die  Schreibung  des  Stammes  in 
den  verschiedenen  formen  mit  dem  laute  Wechsel  (mhd.  (ac  —  lages, 
neigen  —  neicte  etc.),  oder  wenn  gar  wie  im  sanskrit  die  Schreibung 
einer  und  derselben  form  mit  der  Stellung  im  satze  wechselt,  so  stehen 
der  gleichen  bedeutung  eine  anzahl  Variationen  der  Schreibung  gegen- 
über, und  in  folge  davon  ist  es  nicht  möglich,  dass  sich  ein  ganz  be- 
stimmtes Schriftbild  mit  der  ersteren  verbindet.  So  lange  die  constanz 
der  Schreibung  fehlt,  ist  mit  aller  Übung  im  lesen  und  schreiben  die 
directe  Verbindung  nicht  vollkommen  zu  machen.  Zugleich  aber  wirkt 
eben  die  Übung  darauf  hin  allmählig  eine  grössere  constanz  herbeizu- 
führen. Jeder  fortschritt  der  ersteren  kommt  auch  der  letzteren  zu 
gute  und  jeder  fortschritt  in  der  letzteren  erleichtert  die  erstere. 

So  ist  denn  auch  der  natürliche  entwickelungsgang  der  Schreib- 
weise einer  spräche  fortgang  zu  immer  grösserer  constanz,  auch  auf 
kosten  der  lautphysiologischen  genauigkeit.  Freilich  geht  es  nicht 
immer  in  dieser  richtung  ganz  gleichmässig  vorwärts.  Namentlich 
starke  lautveränderungeu  rufen  oft  ablenkungen  und  rückläufige  be- 
wegungen  hervor.  Es  sind  drei  mittel,  mit  hülfe  deren  sich  die 
Schreibung  zur  constanz  durcharbeitet:  beseitiguug  des  Schwankens 
zwischen  mehreren  verschiedenen  Schreibweisen,  berücksichtigung  der 
etymologie,  festhalten  an  der  Überlieferung  den  lautveränderungeu  zum 


R30 

trotz.  Das  erste  mittel  ist  auch  vom  phonetischen  gesichtspunkte  be- 
trachtet häufig  ein  fortschritt  oder  wenigstens  kein  rückschritt,  nicht 
selten  wird  aber  damit  über  das  phonetische  princip  hiuausgegriffen, 
die  beiden  andern  sind  directe  durchbrechungen  dieses  principes. 
Natürlich  aber  bleibt  daneben  doch  immer  die  tendenz  wirksam  spräche 
und  Schrift  in  grössere  ül)ereiustimmung  mit  einander  zu  setzen,  welche 
tendenz  teils  in  der  beseitigung  anlanglicher  mängel,  teils  in  der  reaction 
gegen  die  in  einem  fort  durch  den  lautwaudel  sich  erzeugenden  neuen 
übelstände  sieh  betätigt.  Indem  sie  in  dem  meisten  fällen  mit  dem 
streben  nach  constanz  in  conflict  gerät,  so  zeigt  die  geschichte  der 
Orthographie  das  Schauspiel  eines  ewigen  kampfes  zwischen  diesen 
beiden  tendenzen,  wobei  der  jeweilige  zustand  einen  massstab  für  das 
derzeitige  kraftverhältniss  der  parteien  gibt. 

Verfolgen  wir  die  bewegung  ins  einzelne,  so  zeigen  sich  merk- 
würdige analogieen  zur  entwickelung  der  spräche  neben  beachtens- 
werten Verschiedenheiten.  Die  letzteren  beruhen  hauptsächlich  auf 
folgenden  punkten.  Erstens  geschehen  die  Veränderungen  in  der  Ortho- 
graphie mit  viel  mehr  bewustsein  und  absichtlichkeit  als  die  der  spräche; 
doch  muss  man  sich  hüten  diese  absichtlichkeit  zu  überschätzen.  Zwei- 
tens ist  bei  dem  kämpfe  um  die  Orthographie  nicht  wie  bei  dem  um 
die  spräche  die  ganze  Sprachgenossenschaft  beteiligt,  sondern  jedenfalls 
nur  der  schreibende  (resp.  druckende  oder  drucken  lassende)  teil  der- 
selben und  dabei  die  einzelnen  in  sehr  verschiedenem  grade  und  mit 
sehr  verschiedenen  kräften;  es  macht  sich  in  viel  stärkerem  grade  als 
in  der  spräche  das  Übergewicht  bestimmter  Individuen  geltend.  Drittens, 
weil  die  Wirkungsfähigkeit  nicht  an  die  räumliche  nähe  gebunden  ist, 
so  können  sich  auf  orthographischem  gebiete  ganz  andere  Verzweigungen 
der  gegenseitigen  beeinflussungen  herausstellen  als  auf  sprachlichem. 
Viertens  stehen  die  orthographischen  Veränderungen  dadurch  in  ent- 
schiedenem gegensatz  zum  lautwandel,  dass  sie  nicht  in  feinen  ab- 
stufungen,  sondern  immer  nur  sprungweise  vor  sich  gehen  können. 

Betrachten  wir  zunächst  die  beseitigung  des  Schwankens  zwischen 
gleichwertigen  lautzeichen.  Ein  solches  schwanken  kann  auf  mehrfache 
weise  entstehen.  Entweder  sind  die  zeichen  schon  in  der  spräche,  der 
mau  das  aiphabet  entlehnt,  gleichwertig  verwendet  worden.  So  verhält 
es  sich  im  ahd.  mit  den  doppelheiten  /  —  j,  u  —  v,  k  —  c,  c  —  z. 
Oder  zwei  zeichen  haben  zwar  in  dieser  spräche  verschiedenen  wert, 
es  fehlt  aber  der  spräche,  die  sie  entlehnt  an  einem  einigermassen  ent- 
sprechenden unterschiede,  so  dass  nun  beide  auf  einen  laut  fallen. 
Namentlich  kommen  sie  dann  leicht  beide  in  gebrauch,  wenn  der  eine  laut 
der  eigenen  spräche  z^vischen  den  zweien  der  fremden  mitten  inne  liegt. 
So  gab   es   im  oberdeutschen  zur  zeit  der  einführung  des  lateinischen 


331 

alphabetes  in  der  ,c:uttuial-  und  labialreihe  keinen  dem  lateinischen 
zwischen  tönender  media  und  teuuis  voUkunmien  entsprechenden  unter- 
schied, im  silbenanlaut  auch  nicht  einmal  einen  annähernd  entsprechen- 
den, sondern  nur  einen  laut,  der  sich  von  der  lateinischen  media  durch 
mangel  des  stimmtons,  von  der  tenuis  durch  schwächeren  exs})irations- 
druck  unterschied.  Daher  ist  ein  schwanken  zwischen  g  und  /r,  b  und  p 
entstanden.  Auch  das  schwanken  zwischen  f  und  v  (u)  und  im  mittel- 
deutschen das  schwanken  zwischen  v  und  b  ist  auf  ähnliche  weise 
entstanden.  Ferner  ergeben  sich  doppelzeichen  erst  im  laufe  der 
weiteren  eutwickelung  dadurch,  dass  zwei  ursprunglich  verschiedene 
laute  zusammenfallen  und  ihre  beiderseitigen  bezeichnungen  dann  mit 
einander  ausgetauscht  werden.  So  fallen  z.  b.  im  späteren  mittelhoch- 
deutsch hartes  s  und  z  zusammen,  und  man  schreibt  dann  auch  sas 
für  saz  und  umgekehrt  huz  für  hus  etc.,  letzteres  allerdings  von  anfang 
an  seltener.  Endlich  aber  kann  Spaltung  durch  verschiedene  eutwicke- 
lung des  selben  schriftzeichens  eintreten,  man  vergleiche  lat.  /  —  j\ 
u  —  V,  in  unserer  fracturschrift  \  und  §>.  Besonders  gross  kann  die 
mannigfaltigkeit  werden,  wenn  in  einer  spätem  periode  auf  eine  ältere 
entwickelungsstufe  zurückgegriffen  wird,  wie  wir  es  z.  b.  an  dem  ge- 
brauche der  majuskeln  neben  den  minuskeln  sehen. 

Der  auf  diese  weise  entstehende  luxus  wird  auf  analoge  weise 
beseitigt  wie  der  luxus  von  Wörtern  und  formen.  Die  einfachste  art 
ist  die,  dass  das  eine  zeichen  sich  allmählig  ganz  aus  dem  gebrauche 
verliert.  Die  andere  art  besteht  in  der  dififerenzierung  der  anfänglich 
untermischt  gebrauchten  zeichen.  Dieselbe  kann  sich  innerhalb  des 
phonetischen  princips  halten,  indem  mit  dem  luxus  ein  dicht  daneben 
stehender  mangel  ausgeglichen  wird,  z.  b.  wenn  im  nhd.  /,  u  und  j,  v 
allmählig  als  vokal  und  consonant  geschieden  werden.  Nicht  selten 
wird  für  die  Unterscheidung  die  Stellung  des  lautes  innerhalb  des 
Wortes  massgebend,  ohne  dass  ein  phonetischer  unterschied  vorhanden 
ist,  oder  wenigstens  ohne  dass  ein  solcher  von  den  schreibenden  be- 
merkt ist,  so  wenn  j  und  v  lange  zeit  hindurch  hauptsächlich  im  wort- 
anlaut  (auch  für  den  vokal)  gebraucht  werden;  wenn  c  im  mhd.  (von 
den  Verbindungen  ch  und  seh  abgesehen)  ganz  überwiegend  auf  den 
silbenauslaut  beschränkt  wird  {sac,  tac,  neide,  sackes)  und  dann  im 
nhd.,  weil  es  in  den  übrigen  fällen  durch  etymologische  Schreibweise 
verdrängt  wird,  nur  noch  in  der  gemination  (ck)  verwendet  wird; 
wenn  im  mhd.  /"  vor  r,  l  und  vor  u  und  verwandten  vokalen  ^  iel 
häufiger  gebraucht  wird  als  vor  a,  e,  o.  Eine  dritte  weise  endlich 
besteht  darin,  dass  ohne  phonetische  oder  graphische  motivierung  sich 
nach  Zufall  und  willkühr  in  dem  einen  worte  diese,  in  dem  andern 
jene  Schreibweise   festsetzt.    Auf  diese  weise   regelt  sich  im  nhd.   das 


332 

verhältoiss  von  f  —  v  {fall  —  vater  etc.),  t  —  th  {iuch  —  fhun,  gut 
—  muth  etc.),  r  —  ;•/?,  ai  —  ei,  ferner  das  verhältniss  zwischen  be- 
zeichnung  der  länge  und  niehtbezeichnung  und  zwischen  den  ver- 
schiedenen weisen  der  bezeichnung  {nehmen  —  geben,  aal  —  wähl, 
viel  —  ihr  etc.).  Ein  wesentliches  moment  dabei  und  ein  haupt- 
liinderungsgrund,  der  es  nicht  zur  durchführung  einer  einheitlichen 
Schreibung  hat  kommen  lassen,  der  sich  ja  auch  neuerdings  immer 
wieder  einer  consequenteu  reform  der  Orthographie  in  den  weg  stellt, 
ist  das  bestreben  gleichlautende  Wörter  von  verschiedener  bedeutung 
zu  unterscheiden.  Man  vgl.  unter  andern  ferse  —  verse,  fiel  —  viel, 
tau  —  thau,  ton  —  thon,  rein  —  Rhein,  rede  —  rhede,  laib  —  leih, 
Main  —  mein,  rain  —  rein,  los  —  loos,  mal  —  7nahl,  malen  —  mahlen, 
war  —  wahr^  sole  —  sohle,  slil  —  stiel,  aale  —  ahle,  heer  —  hehr, 
meer  —  mehr,  moor  —  mohr.  Sogar  verschiedene  bedeutungen  ur- 
sprünglich gleicher  Wörter  werden  so  unterschieden,  vgl.  das  —  dasz, 
wider  —  wieder  etc.  Hierher  gehört  auch  die  festsetzung  der  früher  be- 
liebig zur  hervorhebung  verwendeten  majuskeln  als  anfangsbuchstaben 
für  die  substantiva.  Auch  hierin  zeigt  sich  die  tendenz  die  schritt  zu 
Unterscheidungen  zu  benutzen,  welche  die  ausspräche  nicht  kennt. 
Diese  weise  der  differenzierung  ist  eines  der  am  meisten  charakte- 
ristischen zeichen  für  die  verselbständigung  der  geschriebenen  gegen- 
über der  gesprochenen  spräche.  Sie  kommt  auch  erst  da  vor,  wo 
eine  wirkliche  Schriftsprache  sich  von  den  dialecten  losgelöst  hat,  und 
ist  das  product  grammatischer  reflexion.  Bemerkenswert  aber  ist,  dass 
auch  diese  reflexion  nicht  erst  Verschiedenheiten  der  Schreibweise  für 
ilire  Unterscheidungen  schafft,  sondern  nur  die  zufällig  entstandenen 
Variationen  für  ihre  zwecke  benutzt.  Wo  keine  solche  Variationen 
vorhanden  sind,  kann  auch  der  dififerenzierungstriel)  nicht  zur  geltung 
kommen,  vgl.  z.  b.  die  oben  s.  179  angeführten  homonyma.  Uebrigens 
zeigt  er  sich  auch  nicht  in  allen  denjenigen  fällen  wirksam,  wo  man 
es  erwarten  könnte. 

Wie  die  unphonetische  differenzierung,  so  macht  sich  auch  die 
einwirkung  der  etymologie  am  kräftigsten  und  consequentesten  in  der 
Schriftsprache  geltend,  ist  aber  doch  öfter  auch  schon  in  mundartlichen 
aufzeichnungcn  nicht  zu  verkennen.  Wir  können  die  Verdrängung 
einer  älteren  phonetischen  Schreibweise  durch  eine  etymologische  mit 
der  analogiebildung  vergleichen,  durch  welche  bedeutungslose  laut- 
unterschiede ausgeglichen  werden,  ja  wir  dürfen  sie  geradezu  als  eine 
auf  die  geschriebene  spräche  beschränkte  analogiebildung  bezeichnen, 
für  die  denn  auch  eben  die  gesetze  gelten,  die  wir  schon  kennen 
gelernt  haben.  Auch  hier  natürlich  ist  nicht  das  etymologische  ver- 
hältniss an  sich  massgebend,  sondern  die  gruppierungsverhältnisse  auf 


333 

dem  derraaligen  staude  der  spräche.  Isolierung  schlitzt  vor  der  aus- 
gleichimg-,  iiud  umgekehrt  bewirkt  secuudäre  annäherung  von  laut  und 
bedeutung  hiuUberziehung  in  die  analogie. 

Betrachten  wir  von  diesem  gesiehtspunkte  aus  die  wichtigsten 
fälle,  in  denen  das  nhd.  die  phonetische  Schreibweise  des  mhd,  ver- 
lassen und  ausgleichuug  hat  eintreten  lassen.  Im  mhd.  wird  die  media 
im  auslaut  und  vor  harten  consonanten  in  der  schrift ')  wie  in  der 
ausspräche  tenuis,  im  nhd.  nur  in  der  ausspräche,  nicht  in  der  schrift: 
mhd.  tac,  lelt,  gap,  neide  ^=  nhd.  tag,  leid,  gab,  neigte.  Bewahrung 
der  mittelhochdeutschen  regel  haben  wir  in  haupt  (=  houhet,  houpt), 
behaupten,  weil  keine  verwandten  formen  mit  nicht  syncopiertem  vokal 
mehr  daneben  stehen;  in  dem  eigennamen  Schmitt,  Sdmiidt ;  in  schult- 
heiss,  wo  die  Zusammensetzung  mit  schuld  nicht  mehr  empfunden  wird. 
Im  mhd.  wird  consonantengemination  im  auslaut  und  vor  einem  andern 
consonanten  nicht  geschrieben:  mmin  —  mannes,  brante  —  brennen. 
Das  nhd.  schreibt  die  gemination,  wo  etymologisch  eng  verbundene 
formen  das  muster  dazu  geben:  mann,  brannte,  männlich,  mämichen, 
(doch  schon  nicht  mehr  in  brand,  brimst  und  dergl.);  jedoch  im  pron. 
7nan,  ferner  branlen-ein,  brantivein  (nicht  mehr  als  gebrannte  wein  ver- 
standen); dagegen  mit  jüngerer  anlehnung  an  herr:  herrlich^  herrschaft, 
herrschen  mhd.  herlich,  herschaft,  hersen  aus  her  =  nhd.  hehr.  Im 
mhd.  wird  zwar  der  umlaut  des  langen  a  meist  als  ce  vom  e  geschieden, 
aber  der  des  kurzen  mit  e  bezeichnet.  Im  nhd.  wird  ä  auch  für  den 
umlaut  des  ursprünglich  kurzen,  jetzt  vielfach  gedehnten  lautes  ge- 
braucht, wenn  man  sich  der  beziehung  zu  einer  nichtumgelauteten 
form  aus  der  gleichen  wurzel  noch  deutlich  bewust  ist,  also  vater  — 
Väter,  Väterchen,  väterlich,  kraft  —  kräfte,  kräftig,  glas  —  gUiser, 
gläsern,  kalt  —  kälter,  kälte,  land  —  gelände,  arg  —  ärger,  ärgern, 
fahre  —  fährst,  ebenso  im  diphthongen  bäum  —  bäume,  haut  —  häute, 
häuten,  bärenhäuter  (mhd.  hiit  —  hiute)\  dagegen  erbe,  ente  (mhd.  aiit, 
gen.  ente),  enge,  enget,  besser,  regen  (verb.),  wiewol  auch  mit  oÖenem  e 
gesprochen,  leute  etc.,  weil  hier  unumgelautete  verwandte  formen  fehlen. 
Beachtenswert  ist  die  Verschiedenheit  von  ligen  —  legen,  winden  — 
wenden  und  hangen  —  hängen,  fallen  —  fällen;  bei  den  ersteren  findet 
sich  zwar  auch  a  im  prät.  {lag,  ivand),  aber  es  wird  nur  präs.  zu  präs. 
in  beziehung  gesetzt.  Wo  der  gruppenverband  gelöst  oder  wenigstens 
stark  gelockert  ist,  bleibt  e,  vgl.  vetter  zu  vater,  gerben  zu  gar,  scherge 
zu  schar,  hegen,  gehege,  hecke  zu  hag,  heu  zu  hauen,  fertig  zu  fart 
(dagegen  hoff  artig),    eitern  gegen  älteren,   behende  gegen  hände,    aus- 


')  Allerdings  in  den  handschriften  nicht  so  regelmässig  als  in  den  kritischen 
ausgaben. 


334 

merzen  zu  mürz  {ä  mit  rücksielit  auf  das  lateiniselie  a),  sirecke  zu 
siracks.  Die  ausg'leiehung-  tritt  ferner  nielit  ein.  wo  die  umgelautete 
form  als  das  primäre  erscheint,  vgl.  brennen  —  brannte,  nennen  — 
nannte  etc.  Es  lässt  sich  auch  die  beobachtung  machen,  dass  der 
hinzutritt  einer  weiteren  lautlichen  Verschiedenheit  hemmend  wirkt, 
daher  hahn  —  henne,  nass  —  netzen,  henken,  henker  gegen  hängen. 
Anderseits  wird  das  e  in  einigen  fällen  auch  da,  wo  es  gar  nicht 
durch  Umlaut  entstanden,  sondern  =  urgerm.  e  {e)  ist,  doch  als  solcher 
aufgefasst,  wenn  gerade  ein  wort  mit  a  daneben  steht,  wovon  das 
mit  e  abgeleitet  scheinen  kann;  vgl.  rächen  (mhd.  rechen)  auf  räche 
(mhd.  räche),  schämen  (mhd.  Schemen)  auf  schäm,  wägen,  erwägen, 
(durch  Vermischung  von  mhd.  wegen  mit  wegen  entstanden)  auf  7vage 
bezogen  (dagegen  bewegen) '). 

Auch  bei  der  oben  s.  331  besprocheneu  regelung  von  Schwankungen 
spielt  das  etymologische  verhältniss  eine  wesentliche  rolle.  Man  schreibt 
natürlich  fahren  —  fahrt  —  geführte  —  fürt  etc.  mit  durchgängigem  /. 
Wo  h  als  dehnungszeichen  gebraucht  wird,  wird  es  in  der  regel  in 
allen  verwandten  formen  bei  wechselndem  vokalismus  durchgeführt, 
vgl.  nehmen  —  nahm  —  genehm  —  übernahtne ,  befehle  —  befiehlt  — 
befahl  —  befohlen  —  befehl  etc.  Als  beispiele  für  isolierung  mögen 
dienen  zwar  (=  mhd.  zewäre)  gegen  wahr,  drittel,  viertel  etc.  gegen 
theil,  vertheidigen  (aus  tagedingen)  gegen  tag. 

Diese  ausgleichung  ist  aber  in  der  regel  in  bestimmte  grenzen 
eingeschlossen,  indem  sie  nur  da  eintritt,  wo  die  ausspräche  dadurch 
nicht  zweifelhaft  werden  kann.  Man  kann  im  nhd.  ohne  schaden 
lebte  mit  b  schreiben,  weil  die  spräche  im  silbenauslaut  überhaupt 
keine  Unterscheidung  zwischen  b  und  p  kennt.  Aber  man  darf  z.  b. 
ein  längezeichen  nur  soweit  durch  die  verwandten  formen  durchführen, 
als  der  vokal  wirklich  lang  ist  (also  genommen  zu  nehmen,  fürt  zu 
fahren),  und  die  gemination  nur  so  lauge,  als  der  vorhergehende  vokal 
kurz  ist  (also  kam  zu  kottimen,  fiel  zu  fallen). 

Uebrigens  wirkt  die  analogie  (und  darin  besteht  ein  unterschied 
von  den  Verhältnissen  der  gesprochenen  spräche)  auch  schützend 
gegen  Veränderungen  der  älteren  Schreibweise.  Das  lässt  sich  be- 
sonders an  der  französischen  Orthographie  beobachten.  Wenn  die  im 
auslaut  verstummten  consonanten  in  der  Schreibung  bewahrt  werden, 
so  ist  die  Ursache  die,  dass  meistens  verwandte  formen  daneben  stehen, 


')  Die  richtigkeit  der  obigen  austühningen  leidet  dadurch  keinen  abbrucL, 
dass  das  ä  statt  e  und  e  sich  auch  noch  in  einigen  andern  fällen  findet,  wo  es 
nicht  durch  bezichung  auf  ein  a  motiviert  ist.  Teilweise  kommt  dabei  auch  das 
streben  nach  difterenzierung  in  betracht,  vgl.  z.  b.  ?vähre7i,  gewähren,  gewähr  — 
wehren,  gewehr. 


335 

in  denen  man  .sie  noeli  spricht,  und  Anm  sie  aucli  in  der  selben  form 
gesprochen  werden,  wenn  ein  mit  vokal  anlautendes  wort  sieh  eng 
ansehliesst.  Würde  mau  z.  b.  />//,  /ai,  gri,  il  avai,  tu  a  sehreiben,  so 
würde  ein  klaffender  gegensatz  zu  faite^  laUe,  grise,  avait-il,  in  as  ete 
eintreten,  wie  er  allerdings  in  //  a  —  a-t-il  nicht  vermieden  ist.  So 
würde  auch  die  gleichmässigkeit  der  Schreibung  gestört  werden,  wenn 
man  für  den  gutturalen  nasal  ein  besonderes  zeichen  einführen  wollte; 
es  dürfte  un  in  un  phre  und  iin  ami  nicht  mehr  übereinstimmend  ge- 
sehrieben werden.  Wollte  man  ferner  den  nasalierten  vokal  von  dem 
nichtnasalierteu  unterscheiden,  so  müsste  man  in  cousin  und  cous'me, 
un  und  une,  ingrat  und  inegal  verschiedene  zeichen  anwenden.  Dass 
die  analogie  der  verwandten  formen  massgebend  gewesen  ist,  sehen 
wir  aus  einer  anzahl  von  isolierten  formen  wie  plutöl,  toujours,  Jiormis, 
faußler,  plafond  (dagegen  plat-bord),  verglas  (zu  vert),  morbleu,  morftl, 
Granville,  Gerarcourt,  Aubervilliers,  faineant,  vaurien,  Omonl  (zu  haut). 
Man  vgl.  auch  solche  isolierungen  wie  Clermont  —  clair. 

Wenn  die  schrift  nicht  mit  der  lautlichen  entwickelung  der  spräche 
gleichen  schritt  halten  kann,  so  ist  leicht  zu  sehen,  dass  die  Ursache 
in  nichts  anderem  besteht,  als  in  dem  mangel  an  continuität.  In  den 
lautverhältnissen  ist  es  ja,  wie  wir  gesehen  haben,  continuität  allein, 
welche  die  Vereinigung  von  stäter  bewegung  mit  einem  festen  usus 
ermöglicht.  Ein  gleicli  fester  usus  in  der  schrift  ist  gleichbedeutend 
mit  unveränderlichkeit  derselben,  und  diese  mit  einem  stätigen  Wachs- 
tum der  discrepanz  zwischen  schrift  und  ausspräche.  Je  schwankender 
dagegen  die  Orthographie  ist,  je  entwickelungsfähiger  ist  sie,  oder  um- 
gekehrt, je  mehr  sie  noch  der  entwickelung  der  spräche  nachzufolgen 
sucht,  um  so  schwankender  ist  sie. 

Wir  müssen  aber  ausserdem  einige  gesichtspunkte  hervorheben, 
unter  denen  das  festhalten  an  der  alten  Schreibung  bei  veränderter 
ausspräche  noch  begreiflicher  wird.  Bei  der  beurteilung  des  Ver- 
hältnisses von  schrift  und  laut  in  einer  spräche  mischt  sich  oft  ganz 
ungehöriger  weise  der  Standpunkt  einer  andern  spräche  ein,  während 
die  Orthographie  einer  jeden  spräche  aus  ihren  eigenen  Verhältnissen 
heraus  beurteilt  sein  will.  So  lange  immer  einem  bestimmten  schrift- 
zeichen ein  bestimmter  laut  entspricht,  kann  von  einer  discrepanz 
zwischen  schrift  und  ausspräche  keine  rede  sein.  Ob  das  in  der  einen 
spräche  dieser,  in  der  andern  jener  laut  ist,  tut  nichts  zur  saclie. 
Wenn  daher  ein  laut  sich  gleichmässig  in  allen  Stellungen  verändert 
und  dabei  nicht  mit  einem  andern  schon  sonst  vorhandenen  laute 
zusammenfällt,  so  braucht  keine  Veränderung  der  Orthographie  einzu- 
treten und  die  Übereinstimmung  zwischen  schrift  und  ausspräche  bleibt 
doch  gewahrt.    Aber  selbst  wenn  die  Veränderung  keine  gleichmässige 


336 

ist,  sondern  Spaltung  eintritt,  wenn  dann  nur  wider  keiner  unter  den 
verschiedenen  lauten  mit  einem  schon  vorhandenen  zusammenfällt,  so 
bleibt  in  der  regel  nichts  übrig  als  die  alte  Orthographie  beizubehalten; 
denn  man  würde  um  die  laute  zu  unterscheiden  mindestens  eines 
Zeichens  mehr  bedürfen,  als  zu  geböte  stehen,  und  das  lässt  sich  nicht 
willkürlich  erschaifen.  Nur  da  ist  zu  helfen,  wo  früher  ein  luxus  vor- 
handen war,  der  sich  jetzt  zweckmässig  ausnützen  lässt.  Um  einiger- 
massen  das  phonetische  princip  aufrechtzuerhalten  bedürfte  es  von  zeit 
zu  zeit  gewaltsamer  neuerungen,  die  sich  mit  der  erhaltung  der  einheit 
in  der  Orthographie  schlecht  vertragen. 

Dazu  kommt  nun,  dass  die  eben  besprochene  Wirkung  der  ana- 
logie  für  die  conservierung  der  formen  schwer  ins  gewicht  fällt.  Und 
endlich  ist  noch  in  betracht  zu  ziehen,  dass  durch  die  einführung 
phonetischer  Schreibung  manche  Unterscheidungen  gänzlich  vernichtet 
werden  würden,  die  jetzt  noch  in  der  geschriebenen  spräche  vorhanden 
sind.  So  würde  im  französischen  in  den  meisten  fällen  der  pl.  nicht 
mehr  vom  sg.  verschieden  sein,  in  manchen  auch  das  fem.  nicht  mehr 
vom  masc.  {clair  —  ctah^e  etc.).  In  denjenigen  fällen  aber,  wo  noch 
Verschiedenheiten  blieben,  würde  die  jetzt  noch  in  der  Schreibung 
überwiegend  bestehende  gleiehmässigkeit  der  bildungsweise  vernichtet 
sein. 


Cap.  XXII. 
Sprachmischung. ') 

Gehen  wir  davon  aus,  dass  es  nur  individualsprachen  gibt,  so 
können  wir  sagen,  dass  in  einem  fort  Sprachmischung  stattfindet,  sobald 
sich  überhaupt  zwei  individuen  mit  einander  unterhalten.  Denn  dabei 
beeinflusst  der  sprechende  die  auf  die  spräche  bezüglichen  vorstellungs- 
massen  des  hörenden.  Nehmen  wir  Sprachmischung  in  diesem  weiten 
sinne,  so  müssen  wir  Schuchardt  darin  recht  geben,  dass  unter  allen 
fragen,  mit  denen  die  lieutige  Sprachwissenschaft  zu  tun  hat,  keine 
von  grösserer  Wichtigkeit  ist  als  die  Sprachmischung.  In  diesem  sinne 
haben  wir  die  Sprachmischung  durch  alle  capitel  hindurch  berück- 
sichtigen müssen,  da  sie  etwas  von  dem  leben  der  spräche  unzertrenn- 
liches ist.  Hier  dagegen  nehmen  wir  das  wort  in  einem  engeren  sinne. 
Hier  verstehen  wir  etwas  darunter,  was  nicht  notwendig  zum  leben 
der  spräche  gehört,  wenn  es  auch  kaum  auf  irgend  einem  Sprachge- 
biete ganz  fehlt. 

Sprachmischung  in  diesem  eugern  sinne  ist  zunächst  die  beein- 
fiussung  einer  spräche  durch  eine  andere,  die  entweder  ganz  unver- 
wandt ist  oder  zwar  urverwandt,  aber  so  stark  differenziert,  dass  sie 
besonders  erlernt  werden  muss;  weiterhin  aber  auch  die  beeinflussung 
einer  mundart  durch  eine  andere,  die  dem  gleichen  continuierlich  zu- 
sammenhangenden Sprachgebiete  angehört,  auch  wenn  sie  noch  nicht 
so  stark  abweicht,  dass  nicht  ein  gegenseitiges  verständniss  zwischen 
den  angehörigen  der  einen  und  denen  der  andern  möglich  wäre.  Noch 
eine  art  von  Sprachmischung  gibt  es,  die  darin  besteht,  dass  aus  einer 
älteren  epoche  der  gleichen  spräche  schon  untergegangenes  neu  auf- 
genommen wird. 

Wir  betrachten  zuerst  die  mischung  verschiedener  deutlich  von 
einander  abstehender  sprachen.  Um  den  hergang  bei  der  mischung 
zu  verstehen,    müssen  wir  natürlich  das  verhalten   der  einzelnen  iudi- 


')  Vgl.  zu  diesem  capitel  Whitney,  On  mixture  in  language  (Transactions  of 
American  Philological  Association,  1881)  und  besonders  Schuchardt,  Slavodeutsches 
und  slavoitalienisches,  Graz  1885. 

Paul,  Principien.     II.  Auflage.  22 


338 

viduen  beachten.  Die  meiste  veraülassiing  zur  misehung  ist  gegeben, 
wo  es  individiien  gibt,  die  doppelspraehig  sind,  mehrere  sprachen  neben 
einander  sprechen  oder  mindestens  eine  andere  neben  ihrer  mutter- 
sprache  verstehen.  Ein  gewisses  minimum  von  verständniss  einer 
fremden  spräche  ist  unter  allen  umständen  erforderlich.  Denn 
mindestens  muss  doch  das,  was  aus  der  fi*emden  spräche  aufgenommen 
wird,  verstanden  sein,  wenn  auch  vielleicht  nicht  ganz  exact  verstanden. 

Veranlassung  zur  Zweisprachigkeit  oder  zu  einem  mehr  oder 
weniger  vollkommenen  verständniss  einer  fremden  spräche  ist  natürlich 
zunächst  an  den  grenzen  zweier  Sprachgebiete  gegeben,  in  verschiedenem 
grade  je  nach  der  Intensität  des  internationalen  Verkehrs.  Ferner 
durch  reisen  der  einzelneu  auf  fremdem  gebiete  und  vorübergehenden 
aufeuthalt  auf  demselben ;  in  stärkerem  grade  durch  dauernden  umzug 
einzelner  und  vollends  durch  räumliche  Verpflanzungen  grosser  massen, 
durch  eroberungen  und  kolonisationen.  Endlich  kann  ohne  irgend 
welche  directe  berührung  mit  einem  fremden  volke  die  kenntniss  seiner 
spräche  durch  die  schrift  vermittelt  werden.  Im  letzteren  falle  pflegt 
die  kenntniss  auf  gewisse  durch  bildung  hervorragende  schichten  der 
bevölkerung  beschränkt  zu  bleiben.  Durch  die  schriftliche  vermittelung 
ist  dann  nicht  bloss  entlehuung  aus  einer  lebenden  fremden  spräche 
möglich,  sondern  auch  aus  einer  zeitlich  zurückliegenden  entwicklungs- 
stufe  derselben. 

Wo  durcheinanderwürfelung  zweier  nationen  in  ausgedehntem 
masse  stattgefunden  hat,  da  wird  auch  die  doppelsprachigkeit  sehr 
allgemein,  und  mit  ihr  die  wechselseitige  beeinflussung.  Hat  dabei  die 
eine  nation  ein  entschiedenes  übergewicht  über  die  andere,  sei  es  durch 
ihre  masse  oder  durch  politische  und  wirtschaftliche  macht  oder  durch 
geistige  Überlegenheit,  so  wird  sich  auch  die  anwendung  ihrer  spräche 
immer  mehr  auf  kosten  der  andern  ausdehnen;  man  wird  von  der 
Zweisprachigkeit  wider  zur  einsprachigkeit  gelangen.  Je  nach  der 
Widerstandsfähigkeit  der  unterliegenden  spräche  wird  dieser  process 
schneller  oder  langsamer  vor  sich  gehen,  wird  diese  schwächere  oder 
stärkere  spuren  in  der  siegenden  hinterlassen. 

Die  mischung  wird  auch  bei  dem  einzelnen  nicht  leicht  in  der 
weise  auftreten,  dass  seine  rede  bestandteile  aus  der  einen  spräche 
ungefjlhr  in  gleicher  menge  enthielte  wie  bestandteile  aus  der  andern. 
Er  wird  vielleicht,  wenn  er  beide  gleich  gut  beherrscht,  sehr  leicht 
aus  der  einen  in  die  andere  übergehen,  aber  innerhalb  eines  Satzge- 
füges wird  doch  immer  die  eine  die  eigentliche  grundlage  bilden,  die 
andere  wird,  wenn  sie  auch  mehr  oder  weniger  modificierend  einwirkt, 
nur  eine  secundäre  rolle  spielen.  In  noch  höherem  masse  gilt  das 
uatürlidi  für  denjenigen,  der  sich  keine  Sprechfähigkeit  in  der  fremden 


339 

spräche  erworben  hat,  sondern  nur  ein  besseres  oder  schlechteres  ver- 
ständniss.  Bei  demjenigen,  der  zwei  sprachen  neben  einander  spricht, 
kann  uatUrlicli  jede  durch  die  andere  beeinflusst  werden,  die  mutter- 
sprache  durch  die  fremde  und  die  fremde  durch  die  muttersprache. 
Der  einfluss  der  letzteren  wird  sich  in  der  regel  stärker  geltend  machen. 
Er  ist  unvermeidlich,  so  lange  man  die  fremde  spräche  nicht  ganz 
vollständig  und  sicher  beherrscht.  Doch  kann  auch  der  eintluss  des 
fremden  idioms  auf  das  eigene  ein  sehr  starker  werden,  wo  man  sieh 
demselben  absichtlich  hingibt,  was  meist  die  folge  davon  ist,  dass 
man   die  fremde  spräche   und  cultur  höher  schätzt   als  die  heimische. 

Wenn  nun  aber  auch  der  anstoss  zur  beeinflussung  einer  spräche 
durch  eine  andere  von  Individuen  ausgehen  muss,  die  der  einen  wie 
der  andern,  wenn  auch  in  noch  so  geringem  grade  mächtig  sind,  so 
kann  sich  diese  beeinflussung  doch  durch  die  gewöhnliche  ausgleichende 
Wirkung  des  Verkehrs  innerhalb  der  gleichen  Sprachgenossenschaft 
weiter  verbreiten  und  sich  so  auf  Individuen  erstrecken,  die  mit  dem 
fremden  idiom  nicht  die  geringste  directe  berührung  haben.  Die 
letzteren  werden  dabei  nicht  bloss  von  den  angehörigen  ihres  Volkes 
beeinflusst,  sondern  unter  umständen  auch  von  angehörigen  eines 
fremden  Volkes,  die  sich  ihre  spräche  augeeignet  haben.  Natürlich 
werden  sie  die  fremden  demente  immer  nur  laugsam  und  in  geringen 
quantitäten  aufnehmen. 

Wir  müssen  zwei  hauptarten  der  beeinflussung  durch  ein  fremdes 
idiom  unterscheiden.  Erstens  kann  fremdes  material  aufgenommen 
werden.  Zweitens  kann,  ohne  dass  anderes  als  einheimisches  material 
verwendet  wird,  doch  die  zusammenfügung  desselben  und  seine  an- 
passung  an  den  vorstellungsinhalt  nach  fremdem  muster  gemacht 
werden;  die  beeinflussung  erstreckt  sich  dann  nur  auf  das,  was  Hum- 
boldt und  Steinthal  innere  sprachform  genannt  haben. 

Zur  aufnähme  fremder  Wörter  in  die  muttersprache  veranlasst 
natürlich  zunächst  das  bedürfniss.  Es  werden  demgemäss  Wörter  für 
begrifte  aufgenommen,  für  welche  es  dieser  noch  an  einer  bezeichnung 
fehlt.  Es  wird  in  der  regel  begriif  und  bezeichnung  zugleich  aufge- 
genommen  aus  der  nämlichen  quelle.  Unter  den  am  meisten  in  be- 
tracht  kommenden  kategorieen  sind  hervorzuheben  orts-  und  personen- 
namen;  ferner  aus  der  fremde  eingeführte  producte.  Sind  dieselben 
im  wesentlichen  naturerzeugnisse,  so  können  die  bezeichnungeu  dafür 
mit  der  sache  von  den  uncultiviertesten  Völkern  auf  die  cultiviertesten 
tibergehen,  wohingegen  die  einführung  von  kunstproducten  mit  ihren 
benennungeu  eine  gewisse  Überlegenheit  der  fremden  cultur  voraus- 
setzt, welche  allerdings  nur  sehr  einseitig  zu  sein  braucht.  Noch 
entschiedener  ist  eine  solche  Überlegenheit  Voraussetzung  bei  der  über- 

22* 


340 

fiilining-  von  technischen,  wissenschaftlichen,  religiösen,  politischen 
begriffen.  Eine  starke  culturbeeinfinssung  bringt  fast  immer  einen 
starken  import  von  fremdwörtern  mit  sich.  Ein  bedürfniss  mag  noch 
erwähnt  werden,  welches  auch  die  aufnähme  von  Wörtern  aus  einer 
niedrigeren  cultursphäre  veranlassen  kann,  das  der  darstellung  fremder 
Verhältnisse,  sei  es,  dass  diese  darstellung  den  zweck  der  belehrung 
hat  und  eine  wahrheitsgetreue  Schilderung  und  erzählung  zu  geben 
sucht,  sei  es,  dass  sie  für  poetische  zwecke  verwendet  wird.  Ueber 
das  eigentliche  bedürfniss  hinaus  geht  die  entlehnuug,  wenn  die  fremde 
spräche  und  cultur  höher  geschätzt  wird  als  die  eigene,  wenn  daher 
die  einmi sehung  von  w'örtern  und  Wendungen  aus  dieser  spräche  für 
besonders  vornehm  oder  zierlich  gilt. 

Fast  gar  keinen  schranken  unterworfen  ist  die  hinübernahme  von 
Wörtern  aus  der  eigenen  spräche  in  die  fremde,  die  man  zu  sprechen 
genötigt  i?t,  ohne  sie  vollständig  zu  beherrschen.  Durch  individuen, 
welche  eine  spräche  als  eine  fremde  reden,  können  daher  in  dieselbe 
Wörter  der  verschiedensten  art  eingeführt  werden. 

Mit  entlehnten  Wörtern  verhält  es  sich  ähnlich  wie  mit  neuge- 
schaffenen. Derjenige,  welcher  sie  zuerst  anwendet,  hat  in  der  regel 
nicht  die  absieht,  sie  usuell  zu  machen.  Er  befriedigt  damit  nur  das 
momentane  bedürfniss  der  Verständigung.  Bleibende  Wirkungen  hinter- 
lässt  eine  solche  anwendung  erst,  wenn  sie  sich  widerholt,  in  der 
regel  nur,  wenn  sie  spontan  von  verschiedenen  individuen  ausgeht. 
Das  lehnwort  wird  erst  ganz  allmählig  üblich.  Es  gibt  verschiedene 
grade  der  üblichkeit.  Es  ist  zunächst  ein  beschränkter,  durch  räum- 
liche nähe  oder  Übereinstimmung  in  der  cultur  gebildeter  kreis  inner- 
halb einer  Volksgemeinschaft,  in  welchem  ein  wort  ül)lich  wird,  respec- 
tive  mehrere  solche  kreise.  In  dieser  beschränkten  geltung  bleiben 
viele  Wörter,  während  andere  sich  auf  alle  schichten  der  bevölkerung 
verbreiten.  Sind  sie  ganz  allgemein  üblich  geworden  und  haben  sie 
nicht  etwa  in  ihrer  lautgestalt  etwas  abnormes,  so  verhält  sich  das 
Sprachgefühl  zu  ihnen  nicht  anders  als  zu  dem  einheimischen  sprach- 
gut. Vom  Standpunkt  des  Sprachgefühls  aus  sind  sie  keine  fremd- 
wörter  mehr. 

Eine  besondere  aufmerksamkeit  bei  der  entlehnung  fremder  Wörter 
verdient  das  verhalten  gegenüber  dem  fremden  lautmaterial.  Wie  wir 
gesehen  haben,  deckt  sich  der  lautvorrat  einer  spräche  niemals  völlig 
mit  dem  einer  andern.  Um  eine  fremde  spräche  exact  sprechen  zu 
lernen  ist  eine  einübung  ganz  neuer  bewegungsgefühle  erforderlieh. 
So  lange  diese  nicht  vorgenommen  ist,  wird  der  sprechende  immer  mit 
den  sell)en  bewcgungsgefühlen  oi)erieren,  mit  denen  er  seine  mutter- 
sprache  hervorbringt.     Er  wird  daher   in  der  regel   statt   der    fremden 


341 

laute  die  näeh.stvciwaiulteii  seiner  niuttcrspraehe  einsetzen  und,  wo  er 
den  versuch  macht  laute,  die  in  derselben  nicht  vorkommen,  zu  er- 
zeugen, wird  er  zunächst  fehlgreifen.  Durch  vieles  h(»ren  und  lange 
Übung  kann  er  sich  natürlich  allmählig  eine  correctere  ausspräche  er- 
werben, doch  ist  es  bekanntlich  selten,  dass  sich  jemand  eine  fremde 
spräche  so  vollkommen  aneignet,  dass  er  nicht  mehr  als  ausländer  zu 
erkennen  ist.  Wo  daher  eine  spräche  ihr  gebiet  über  ein  ursprünglich 
anders  redendes  volk  ausbreitet,  da  ist  es  kaum  anders  möglich,  als 
dass  die  früliere  spräche  des  Volkes  irgend  welche  spuren  in  der  laut- 
erzeuguug  hinterlässt,  und  dass  sich  auch  sonst  stärkere  abweichungen 
einstellen,  weil  das  bewegungsgefühl  nicht  ganz  übereinstimmend  aus- 
gebildet ist.  Wo  die  erlernung  der  fremden  spräche  nur  durch  ver- 
mittelung  der  schrift  erfolgt,  da  kann  natürlich  von  einer  nachahmung 
der  fremden  laute  gar  keine  rede  sein,  es  ist  ganz  selbstver- 
ständlich ,  dass  die  laute  der  eigenen  spräche  untergeschoben 
werden. 

Wo  ein  volk  mit  einem  andern  ausser  an  den  grenzen  nur  durch 
reisen  und  ansiedlungen  einzelner  und  durch  literarischen  verkehr  in 
berührung  tritt,  da  wird  nur  der  kleinere  teil  die  spräche  des  fremden 
Volkes  verstehen,  ein  noch  kleinerer  teil  sie  sprechen  und  ein  ver- 
sehwindend kleiner  teil  sie  exact  sprechen.  Bei  der  entlehnung  eines 
Wortes  aus  einer  fremden  spräche  werden  daher  oft  schon  diejenigen, 
die  es  zuerst  einführen,  laute  der  eigenen  spräche  den  fremden  unter- 
schieben. Aber  wenn  es  auch  vielleicht  mit  ganz  exacter  ausspräche 
aufgenommen  mrd,  so  wird  sich  dieselbe  nicht  halten  können,  wenn 
es  weiter  auf  diejenigen  verbreitet  wird,  die  der  fremden  spräche  nur 
mangelhaft  oder  gar  nicht  mächtig  sind.  Der  mangel  eines  ent- 
sprechenden bewegungsgefühls  macht  hier  die  Unterschiebung,  die 
lautsubstitution,  wie  wir  es  mit  Gröber  nennen  w^olleu,  zur  notwendig- 
keit.  Ist  ein  fremdes  wort  erst  einmal  eingebürgert,  so  setzt  es  sich 
auch  fast  immer  aus  den  materialien  der  eigenen  spräche  zusammen. 
Selbst  diejenigen,  welche  wegen  ihrer  genauen  kenntniss  der  fremden 
spräche  den  abstand  gewahr  werden,  müssen  sich  doch  der  majorität 
fügen.  Sie  würden  sonst  pedantisch  oder  geziert  erscheinen.  Nur 
ausnahmsweise  bürgert  sich  unter  solchen  umständen  ein  fremder  laut 
in  einer  spräche  ein,  natürlich  am  leichtesten  ein  solcher,  der  einer- 
seits häufig  vorkommt,  andererseits  sich  scharf  von  allen  der  spräche 
ursprünglich  eigenen  abhebt.  So  ist  z.  b.  in  die  neuhochdeutsche 
Schriftsprache  trotz  der  massenhaften  lehnwörter  nur  ein  neuer  laut 
eingeführt,  das  französische  j  {g)  in  Jalousie,  genie,  genieren  etc.  Und 
auch  hierfür  setzen  nicht  bloss  die  volksmundarten,  sondern  auch  die 
städtische  Umgangssprache  den  laut  unseres  seh  ein. 


342 

Nicht  selten  werden  mehrere  verschiedene  fremde  laute  durch 
den  gleichen  einheimischen  ersetzt.  So  werden  im  ahd.  lat.  /,  und  v 
beide  durch  /"  wiedergegeben  (geschrieben  zuweilen  auch  v  oder  m), 
vgl.  fenstar^  fiebar^  fira  etc.  —  fers,  fogat  (vocatus),  evangelio  etc. ') 
Ursache,  warum  auch  v  durch  f  widergegeben  wird,  ist  das  fehlen  eines 
dem  lateinischen  genau  entsprechenden  lautes,  indem  an  stelle  unseres 
jetzigen  w  noch  consonantisches  u  gesprochen  wurde.  Ferner  wird  im 
ahd.  die  lateinische  foiüs  p  ebenso  wie  die  tönenende  lenis  h  durch 
die  dazwischen  liegende  tonlose  lenis  widergegeben,  geschrieben  bald 
h,  bald  p,  vgl.  heh  (peh)  =  pix,  hira  =  pirum^  hredigbn  =  praedicare 
etc.  —  becchi  (pecchi)  =  baccinum,  buliz  =  boletum  etc.  Ursache  ist, 
dass  es  im  oberdeutschen  nach  der  lautverschiebung  kein  tönendes  b 
gab,  weil  das  früher  vorhandene  seinen  stimmton  verloren  hatte,  und 
keine  fortis  p^  weil  das  früher  vorhandene  zu  ph  verschoben  war. 
Umgekehrt  kann  man  den  fremden  laut  bald  durch  diesen,  bald  durch 
jenen  naheliegenden  einheimischen  widergeben.  Doch  wird  man  wol 
in  der  regel  finden,  wo  in  den  lehnwörtern  einer  spräche  der  gleiche 
fremde  laut  bald  durch  diesen,  bald  durch  jenen  laut  widergegeben 
ist,  dass  die  aufnähme  der  Wörter  in  verschiedenen  perioden  stattge- 
funden hat.  So  wird  lat.  v  in  den  ältesten  deutschen  lehnwörtern 
durch  w  widergegeben  (vgl.  mn,  wiccha,  pfätvo  etc.),  wahrscheinlich 
weil  es  noch  wie  das  deutsche  v  =  consonantischem  u  oder  wenigstens 
noch  ])ilabial  war.  2)  In  den  jüngeren  althochdeutschen  lehnwörtern 
erscheint  es  als/"  (vgl.  oben);  in  denen  der  modernen  zeit  wider  als  w. 

Wo  die  herübernahme  eines  Wortes  nur  nach  dem  gehör  und  auf 
grund  unvollkommener  kenntniss  des  fremden  idioms  erfolgt,  da  treten 
sehr  leicht  noch  weitergehende  entstellungen  ein,  die  auf  einer  mangel- 
haften auffassung  durch  das  gehör  und  auf  einem  mangelhaften  fest- 
halten durch  das  gedächtniss  beruhen.  In  folge  davon  werden  namentlich 
lautverbindungen,  an  die  man  nicht  gewöhnt  ist,  durch  geläufigere  ersetzt 
und  kürzungen  vorgenommen.     Sehr  leicht  tritt  Volksetymologie  dazu. 

Von  den  Veränderungen,  welche  die  fremden  Wörter  bei  der  auf- 
nähme erleiden,  sind  diejenigen  zu  scheiden,  die  sie  erst  nach  ihrer 
einbürgerung  durchmachen.  Da  uns  aber  viele  Wörter  erst  längere 
zeit  nach  ihrer  aufnähme  überliefert  sind,  so  ist  diese  Scheidung  nicht 
immer  so  leicht  zu  machen.  Die  eingebürgerten  fremdwörter  nehmen 
natürlich  so  gut  wie  die  einheimischen  an  dem  lautwandel  teil.  Die 
teilnähme  oder  nichtteilnahme  an  einem  lautwandel  kann  uns  da,  wo 
uns  die  Überlieferung  in  stich  lässt,  aufschluss  geben  über  die  relative 

*)  Vgl.  Franz  die  lateinisch-romanischen  elemente  im  althochdeutschen,  Strass- 
burg  1884,  s.  20.  22. 

^)  Vgl.  Franz  a.  a.  o. 


343 

zeit  der  entlehnung.  Wenn  im  ahd.  das  lateinisch  t  in  einigen  Wörtern 
als  t,  in  andern  als  z  erscheint  (vgl.  tempal,  tiirri,  abbat,  altari  —  ziagil, 
sträza  scuzzila),  lat.  /;  in  einigen  als  p  (b),  in  andern  als  pfi  oder  /' 
(vgl.  pi7ia,  pries tar  —  phil^  phlanza,  phifa,  pfeffar),  so  unterliegt  es 
keinem  zweifei,  dass  die  Wörter  mit  z  und  ph  oder  f  eine  ältere  schicht 
von  entlehuungen  darstellen  als  die  mit  t  und  ]).  Denn  die  betretten- 
den Veränderungen  hätten  nicht  eintreten  können,  wenn  die  Wörter 
nicht  schon  vor  der  lautverschiebung  aufgenommen  gewesen  wären, 
so  dass  sie  das  Schicksal  der  echt  germanischen  teilen  konnten. 

Ausserdem  sind  die  fremdwörter  bei  der  weiterverbreituug  den 
selben  assimilierenden  tendenzen  unterworfen  wie  bei  der  ersten  auf- 
nähme. Ein  wort  kann  zunächst  von  Individuen,  die  der  fremden 
spräche  vollständig  mächtig  sind,  ganz  oder  annähernd  genau  in  der 
fremden  lautgestalt  aufgenommen  werden,  dann  aber,  indem  es  auf 
solche  iudividuen  übertragen  wird,  die  der  fremden  spräche  unkundig 
sind,  doch  durch  Unterschiebung  eines  andern  bewegungsgefiihls,  durch 
verhören  und  durch  Volksetymologie  entstellt  werden.  Kommt  eine 
solche  entstellung  bei  der  grossen  masse  in  allgemeinen  gebrauch,  so 
kann  sie  auch  auf  diejenigen  zurückwirken,  welchen  die  originale  laut- 
gestalt sehr  wol  bekannt  ist.  Sie  müssen  sich  trotz  ihres  besseren 
Wissens  der  herrschend  gewordenen  ausspräche  fügen,  wenn  sie  nicht 
unverständlich  werden  oder  attectiert  erscheinen  wollen.  In  anderen 
fällen  dagegen  erhält  sich  im  munde  der  gebildeten  eine  der  originalen 
nahe  stehende  lautgestalt,  während  sich  daneben  eine  oder  mehrere 
abweichende  volkstümliche  entwickeln,  vgl.  z.  b.  corporal  —  kaporal, 
Sergeant  —  scharsant,  gensd' armes  —  schandarre  (so  in  Niederdeutsch- 
land), kastanie  —  kristanje,  chirurgus  —  gregorius,  renovieren  —  renne- 
ftren  etc. 

Eine  besondere  art  der  assimilation  besteht  in  der  Übertragung 
der  einheimischen  accentuationsweise  auf  die  fremden  Wörter.  Diese 
erfolgt  wol  in  der  regel  nicht  von  anfaug  an  bei  der  ersten  Über- 
tragung, sondern  erst  nach  längerer  einbürgeruug.  Im  engl,  lässt  es 
sich  deutlich  verfolgen,  wie  die  französischen  Wörter,  ursprünglich  mit 
französischem  accent  aufgenommen,  erst  nach  und  nach  zu  der  ger- 
manischen betonungsweise  übergegangen  sind.  Im  deutschen  lässt  sich 
das  gleiche  an  den  fremden  eigennamen  beobachten.  Im  ahd.  und 
teilweise  noch  im  mhd.  betont  man  noch  Adam,  Abel,  David  etc.  Appel- 
lativa  dagegen  erscheinen  schon  in  den  ältesten  althochdeutschen  deuk- 
mälern  mit  zurückgezogenem  accent  und  Wirkungen  dieser  Zurück- 
ziehung, vgl.  z.  b.  fogat  (vocatus),  mettina  (matutina),  fenstar.  Wahr- 
scheinlich aber  ist  aucli  bei  diesen  die  Zurückziehung  des  accentes  nicht 
gleich  bei  der  aufnähme  eingetreten. 


.'M4 

Diireli  die  besproelieüen  lautlichen  niodifieationen  wird  ein  wort 
immer  mehr  seinem  Ursprünge  entfremdet,  so  dass  derselbe  seihst  für 
denjenigen,  der  mit  der  s])rache,  aus  der  es  stammt,  vertraut  ist,  un- 
kenntlich werden  kann.  Zu  solcher  entfremdung  können  aber  auch 
Veränderungen  in  der  spräche,  aus  der  das  wort  entlehnt  ist,  beitragen. 
So  beruht  unsere  ausspräche  der  aus  dem  französischen  entlehnten 
Wörter  zum  teil  auf  einer  jetzt  in  Frankreich  nicht  mehr  bestehenden 
ausspräche,  vgl.  Paris,  concert,  officier  etc.  Noch  weiter  haben  sich 
deutsche  Wörter  von  der  lautgestalt  entfernt,  in  der  sie  in  die  roma- 
nischen sprachen  übergegangen  sind,  vgl.  z.  b.  franz.  tape,  tapon  = 
zapfen,  it.  toppo  =  zopf,  franz.  touaille  =  oberd.  zwehle,  mitteld.  quehle, 
it.  drudo  =  traut.  Ebenso  kann  die  bedeutung,  mit  der  das  wort  ent- 
lehnt ist,  sich  in  der  grundsprache  ebenso  wol  verändern  wie  in  der 
Sprache,  in  die  es  übergegangen  ist,  und  endlich  kann  es  in  der  grund- 
Hprache  ganz  untergehen. 

Es  kann  einunddasselbe  wort  mehrmals  zu  verschiedenen  zeiten 
entlehnt  werden.  Es  erscheint  dann  in  verschiedenen  lautgestalten, 
wovon  die  jüngere  sich  nahe  an  die  grundsprache  anschliesst,  während 
die  ältere  schon  mehr  oder  minder  starke  Veränderungen  durchgemacht 
hat.  Mitunter  ist  die  bedeutung,  mit  der  ein  wort  bei  der  zweiten 
entlehnung  aufgenommen  wird  verschieden  von  der  bei  der  ersten,  und 
es  wird  daher  gar  kein  Zusammenhang  zwischen  den  beiden  formen 
empfunden,  vgl.  ordnen  —  ordinieren,  diäten  —  dictieren,  predigen  — 
prädicieren,  ahd.  zaba/  (spielbrett)  —  tavala  (beide  aus  fabiila);  auch 
prüfen  und  probieren  decken  sich  nicht  in  ihrer  bedeutung.  Wo  die 
bedeutung  vollständig  übereinstimmt,  da  geht  die  ältere  form  leicht 
unter,  vgl.  altar,  mhd.  schon  alter;  oder  es  wird  die  ältere  form  auf 
die  volkstümliche,  mundartliche  rede  beschränkt,  vgl.  ade  —  adieu, 
melodei  (aus  mhd.  melodie  regelrecht  entwickelt)  —  melodie  (neu  aus  dem 
franz.),  phantasei  —  phantasie,  känel  {kännel,  kändel,  kener)  —  kanal,  kämi 
—  kamin,  kappel  —  kapeile,  keste  —  kastanie.  Besonders  häutig  sind 
mehrfache  formen  in  folge  mehrfacher  entlehnung  bei  personennamen. 
Dabei  wird  auch  vielfach  der  Ursprung  aus  der  gleichen  grundlage 
nicht  mehr  erkannt,  indem  die  älteren  formen  nur  noch  als  familieu- 
namen  erscheinen.  Vgl.  Andres  —  Andreas,  Bartel  —  Bartholomäus, 
Michel  —  Michael,  Veiten  —  Valentin,  Metz  —  Mattis  —  Matthias, 
Marx  —  Markus,  Zacher  —  Zacharias,  Merten  —  Martin  etc. 

Zuweilen  wird  nicht  eine  völlig  neue  entlehnung  vorgenommen, 
sondern  das  schon  seit  längerer  zeit  eingebürgerte  und  lautlich  modi- 
Hcierte  lehnwort  erfährt  nur  eine  partielle  angleichung  an  das  zu  gründe 
liegende  wort  der  fremden  spräche,  vgl.  mhd.  trache  =  nhd.  drache 
(draco),    mhd.    tihten  =  nhd.    dichten  (dictare),  mhd.  /{rieche  =  nhd. 


345 

krieche  {Graccus).     Auch  Jude   beruht  wol   auf  einer   wideranlelimiug 
an  Judaeus  und  Jude  ist  die  einzige  lautgesetzlicli  entwickelte  form. 

Wo  gleichzeitig-  zwei  naheverwandte  sprachen  auf  eine  dritte 
wirken,  da  geschieht  es  leicht,  dass  aus  beiden  die  einander  corre- 
spondierenden  Wörter  aufgenommen  werden,  die  dann  in  der  bedeutung 
übereinstimmen  und  in  der  lautform  wenig  von  einander  abweichen. 
Dies  verhältuiss  finden  wir  namentlich  in  den  lehnwörtern  aus  dem  lat. 
und  dem  franz.  So  haben  wir  neben  einander  ideal  und  ideell,  real 
und  reell,  jetzt  in  ihrer  bedeutung  differenziert,  früher  gleichwertig; 
Schiller  gebraucht  material  =  materiell.  Goethe  hat  relirjios  =  religiös. 
Einem  norddeutschen  referendar  entspricht  ein  süddeutsches  referendär. 
Statt  Irinilät,  majestät  etc.  bestehen  im  mhd.  triniidt,  mujesläl\  im  16. 
und  17.  jahrh.  sind  beide  formen  nachweisbar;»)  das  ä  kann  nur  dem 
franz.  entstammen. 

In  diesen  fällen  kann  es   nicht  ausbleiben,   dass   auch   die   dem 
französischen   entstammende   form  von  dem  des  lateinischen  kundigen 
direct  auf  dieses  bezogen  wird.     In   anderen   fällen  sind  Wörter  über- 
haupt nicht  direct  aus   der   grundsprache   aufgenommen,   sondern   nur 
aus  einer  anderen,   in   der   sie   lehnwörter   sind.     So   sind  griechische 
Wörter   zunächst   aus    dem   lateinischen   zu  uns  gekommen,^  daher  mit 
lateinischer   betonung   und  mit  der  endung  -us  statt  -os.    Ebenso  sind 
lateinische  Wörter,  die  iiirerseits  wider  dem  griechischen  entlehnt  sein 
können,  durch  Vermittlung  des  französischen   auf  uns  gekommen,   vgl. 
musik,   Protestant,    religion    etc.,    ebenso   die    eigennamen   Horaz ,    Ovid 
etc.     Auch    hier   stellt   sich  ein  für  den  der  Originalsprache  kundigen 
directes    verhältniss   her,    und    die    folge    davon   ist,    dass    er,    auch 
wenn    er    Wörter    direct    aus    der    Originalsprache    entnimmt,     diesen 
eine   den  durch   Vermittlung   überkommenen    analoge   lautgestalt  gibt, 
dass   er   z.  b.   den    griechischen   in    den   lateinischen   accent    umsetzt, 
dass  er  die    lateinischen    endungen    -us,    -im    und    andere    fortlässt, 
dass  er    den    ausgang    der   lateinischen    Wörter    auf   -io    in    -ion   ver- 
wandelt.   Hierher  gehört  es  auch,  dass  verba,  die  direct  dem  lateini- 
schen entnommen  sind,   die  aus  dem  französischen  stammende  endung 
-ieren  erhalten  haben,  vgl.  negieren,  spazieren,  pocuUeren,  praedicieren, 
annectieren,  regulieren,   prästieren,  präparieren  etc.     Aus   älterem  per- 
sonifieren  (z.  b.  bei  Le.)  ist   mit  anschluss  an  das   lateinische  personi- 
ficieren  geworden. 

Wir  haben  oben  s.  133  gesehen,  dass  einer  ableitung,  die  mit 
einem  weniger  gewöhnlichen  suffixe  gebildet  ist,  leicht  noch  das  für 
die  betreffende  function  normale  suffix  beigefügt  wird.  Eine  besondere 
art  dieses  Vorganges   ist  die,    dass    einem   fremden   sufiixe   noch'  das 

1)  Vgl.  J.  Grimm,  Kl.  sehr.  1,  :VM,  wo  ;iber  die  auftassimg  eiue  andere  ist. 


346 

synoyme  einheimische  beigefügt  wird,  vgl,  Sicilianer,  Mantuaner, 
Kantianer;  IloHener\  Athenienser,  If'a/denser;  Genuese/',  Bologneser^ 
sicUianisch,  ilaHenisch ,  genuesisch;  idealisch,  kolossalisch  (beides  im 
vorigen  juhrh.  häufig),  kollegialisch,  musikalisch,  physikalisch  etc.;  prin- 
cessin,  äbtissin  (mhd.  ehhetisse).  Die  verha  auf  -ieren  sind  entstanden, 
indem  au  die  fertige  altfranzösische  infinitivform  auf  -ier  noch  die 
deutschen  verbalendungen  angetreten  sind. 

Es  werden  immer  nur  ganze  Wörter  entlehnt,  niemals  ableitungs- 
uud  flexioussuffixe.  Wird  aber  eine  grössere  anzahl  von  Wörtern  ent- 
lehnt, die  das  gleiche  suffix  enthalten,  so  schliessen  sieh  dieselben 
ebenso  gut  zu  einer  gruppe  zusammen  wie  einheimische  Wörter  mit 
dem  gleichen  suffix  und  eine  solche  gruppe  kann  dann  auch  productiv 
werden.  Es  kann  sich  das  so  aufgenommene  suffix  durch  analogische 
neubildung  mit  einheimischem  sprachgut  verknüpfen.  Der  fall  ist  bei 
ableitungssilbeu  nicht  gerade  selten.  Wir  haben  im  deutschen  nach 
dem  muster  von  ahtei  etc.  ein  bäckerei,  gerberei,  druckerei  etc.;  nach 
bagage  etc.  bildungen  der  Volkssprache  wie  lakelage,  klcdage,  bommelage 
etc.  (vgl.  Andr.  Volkset.  98);  nach  corrigieren  etc.  hofieren^  buchstabieren, 
sich  erlustieren,  mhd.  nandelieren,  bei  H.  Sachs  gclidmasieret.  Vgl.  ferner 
romanische  bildungen  wie  it.  falsardo  mit  germanischem  suffix,  englische 
wie  oddiUj,  morderous,  eatable  mit  französischem  suffix.  i)  Es  gibt  bei 
uns  mehrere  suffixe  fremden  Ursprungs,  die  nur  in  der  gelehrtensprache 
üblich  sind  und  sich  dann  nicht  nur  mit  dementen  aus  der  gleichen 
spräche  verbinden,  sondern  auch  mit  solchen  aus  einer  andern  fremden 
spräche,  zuweilen  auch  mit  einheimischem  sprachgut,  vgl.  -ist  in  Jurist^ 
pur  ist,  romanist ,  lourisl,  tnanierisl ,  hornisl,  hoboisl,  Carlisl  etc.;  -ismus 
in  atavismus,  pur  ismus,  fanatismus,  sonatnbul  ismus  etc.;  -ianerm  Hegelianer, 
Kantianer  etc.  Diese  bildungen  finden  sich  zum  teil  auch  im  franzö- 
sischen und  sind  zum  teil  wol  aus  dieser  spräche  entlehnt.  Wenn 
man  bikluugen  wie  purist  und  purismus  wegen  der  mischuug  aus  einem 
lateinischen  und  einem  griechischen  demente  beanstandet,  so  ist  das 
insofern  nicht  zutreffend,  als  sie  weder  lateinische  noch  griechische, 
sondern  deutsche,  respective  französische  bildungen  sind. 

Seltener  werden  flexionsendungen  auf  diese  weise  aufgenommen.^) 
Es  gehört  dazu  schon  eine  besonders  innige  berührung  zweier  sprachen. 
Die  französische  pluralbildung  mit  s  ist  in  Niederdeutschland  ziemlich 
verbreitet:  kerls,  mädchens,  fräuleins,  ladens,  pleonastisch  in  jungem. 
Auch  in  die  Schriftsprache  ist  sie  gedrungen  bei  ursprünglich  indecli- 


')  Vgl.  Whitney  a.  a.  o.  s.  17.    Beispiele  von  slawischen  Suffixen  in  deutschen 
luundarten  bei  Schuchardt  s.  86. 

■^)  Vgl.  hierzu  Schuchardt  s.  8. 


347 

nablen  Wörtern:  a's,  o's,  neins,  abers,  verfiissmehmichts,  Stelldicheins]  bei 
fremdwörtern .  die  auf  einen  vollen  voeal  ausgehen  und  sich  deshalb 
in  keine  sonstige  deeliuation  einftig-en:  papas,  sophas,  mottos^  kolibris; 
weniger  allgemein  üblich  und  als  correct  anerkannt  bei  solchen  auf 
-iwi:  alhums.  Weiter  verbreitet  ist  die  französische  pluralbildung  im 
niederländischen,  vgl.  maus,  zons,  vaders,  broeders,  tvalers,  euvels,  lakens^ 
vroukens,  vogelljes  und  so  überhaupt  die  ueutra  auf  -er,  -el,  -en  und 
die  deniinutiva;  pleonastisch  angefügt  wird  das  *•  m  jongens,  gehentes 
(zu  gebente),  bladers  (neben  Maden  und  bl äderen),  benders  (neben  benderen 
zu  ben)  u.  a.  In  das  indoportugiesische  ist  die  englische  genitivendung 
eingedrungen;  man  sagt  z.  b.  hotnbre's  casa.  Die  ausgedehnteste  herüber- 
nahme  von  flexionsendungen  hat  in  der  Zigeunersprache  stattgefunden 
So  gibt  es  ein  spanisches  und  ein  englisches  zigeunerisch. 

Beeinflussung  in  bezug  auf  die  innere  sprachform  erfährt  eine 
spräche  namentlich  durch  diejenigen,  von  denen  sie  als  eine  fremde 
gesprochen  wird.  Doch  keineswegs  ausschliesslich.  Für  die  literatur- 
sprache  kommt  in  dieser  hinsieht  besonders  der  einfluss  von  Über- 
setzungen in  betracht. 

Wo  ein  wort  aus  einer  fremden  spräche  sich  in  seiner  bedeutung 
nur  teilweise  mit  einem  worte  der  eigenen  spräche  deckt,  da  wird 
man  leicht  dazu  verführt,  Jenem  den  vollen  umfang  der  bedeutung  bei- 
zulegen, die  diesem  zukommt.  Es  ist  das  ja  bei  Übersetzungsübungen 
einer  der  häufigsten  fehler.  Solche  fehler  können  in  zweisprachigen 
gebieten  leicht  usuell  werden. ')  Ein  südslawischer  Schriftsteller  schreibt 
habt  ihr  keine  scheu  und  schände,  weil  sramota  „schände"  und  , schäm" 
bedeuten  kann.  Von  den  Deutschruthern  wird  schnür  im  sinne  von 
„braut"  gebraucht,  weil  im  slowenischen  nevesla  Schwiegertochter 
und  braut  bedeutet.  Häufig  wird  im  slawodeutschen  damals  von  der 
Zukunft  gebraucht ;  ebenso  wo  =  wohin,  weil  im  slawischen  für  beides 
das  nämliche  wort  gebraucht  wird. 

Ein  wesentlich  davon  verschiedener  Vorgang  ist  es,  wenn  für 
einen  begrifi',  für  den  es  bisher  an  einer  bezeichnung  gefehlt  hat,  ein 
wort  nach  dem  muster  einer  fremden  spräche  geschaffen  oder  mit 
einem  schon  bestehenden  worte  eine  bedeutungsUbertragung  nach  diesem 
muster  vorgenommen  wird.  Dieser  Vorgang  ist  besonders  in  der  wissen- 
schaftlichen und  technischen  spräche  neben  der  directen  herübernahme 
fremden  materials  üblich.  Man  vergleiche  z.  b.  die  versuche  die  latei- 
nischen grammatischen  termini  durch  deutsche  widerzugeben.  Jene 
sind  ihrerseits  nachbildungen  der  griechischen. 


>)  Vgl.  Schuchardt  s.  95  ff. 


348 

Es  weiden  ferner  wortgruppen,  die  als  solche  eine  eigentümliche 
bedeiitung  entwickelt  haben,  nach  den  einzelnen  Worten  übertragen. 
So  sagt  man  z.  b.  in  Oestreich  es  steht  7ücht  dafür  =  „es  ist  den  auf- 
wand oder  die  mühe  nicht  wert"  nach  dem  muster  des  cechischen 
liest  oje  za  to.  *)  In  Südwestdeutschland  hört  man  nicht  selten  nach 
französischem  muster  es  macht  gut  wetler. 

Dazu  kommt  endlich  die  beeinflussung  der  syntax.  2)  Da  die 
Slawen  für  alle  geschlechter  und  numeri  des  relativums  eine  form 
verwenden  können,  so  wird  im  slawodeutschen  häufig  was  entsprechend 
verwendet,  vgl.  ein  mann,  ivas  hat  yeheissen  Jacob;  der  knecht,  was  ich 
mit  ihm  gefahren  hin;  auch  ich  bin  nicht  in  der  stadt  gewesen,  was 
(=  solange)  er  weg  ist.  Im  vorigen  jahrh.  schrieb  man  fast  allgemein 
nach  französischem  muster  ich  lasse  ihm  das  nicht  fühlen  u.  dergl. 
Im  litauischen  ist  die  deutsche  construction  was  für  ein  mann  wörtlich 
nachgebildet. 

Dialectmischung  innerhalb  eines  zusammenhangenden 
Sprachgebietes  hebt  sich  dann  von  der  normalen  ausgleichenden 
Wirkung  des  Verkehrs  deutlich  ab,  wenn  sie  zwischen  dialecten  vor 
sich  geht,  deren  gebiete  nicht  räumlich  nebeneinander  liegen.  Dagegen 
ist  keine  eigentliche  grenze  zu  ziehen,  wenn  die  gebiete  räumlieh  be- 
nachbart und  in  beständigem  verkehr  unter  einander  sind.  Man  kann 
dann  nur  danach  einen  unterschied  machen,  ob  zwischen  den  betreff- 
enden dialecten  ein  scharfer  contrast  besteht,  oder  ob  die  Verschieden- 
heiten gering  sind  und  schon  durch  Übergangsstufen  vermittelt. 

Im  allgemeinen  gilt  hier  das  gleiche  wie  von  der  mischung  ver- 
schiedener sprachen.  Worteutlehnung  ist  auch  hier  der  am  leichtesten 
und  häufigsten  eintretende  Vorgang.  Dagegen  wird  das  lautmaterial 
niclit  leicht  verändert.  Es  findet  au«h  hier  Substitution  der  fremden 
laute  durch  die  nächstverwandten  einheimischen  statt.  Daher  erscheint 
ein  aus  einem  verwandten  dialecte  aufgenommenes  wort  ganz  gewöhn- 
lich in  der  nämlichen  lautgestalt,  die  es  erlangt  haben  würde,  wenn 
es  aus  der  zeit  der  ehemaligen  Spracheinheit  her  sich  erhalten  hätte. 
So  wird  es  sich  in  der  regel  bei  geringeren  difterenzen  in  der  laut- 
entwicklung  verhalten.  Anders  natürlich,  wenn  zwei  dialecte  in  ihrer 
entwicklung  weiter  auseinander  gegangen  sind,  so  dass,  was  siqh  ety- 
mologisch entspricht,  sich  nicht  mehr  phonetisch  am  nächsten  liegt. 
So  ist  z.  b.  das  ch  in  sacht,  nichte  etc.  bei  der  aufnähme  in  das  hoch- 
deutsche nicht  in  das  etymologisch  entsprechende  ft  umgesetzt. 

Auf  literarischem  gebiete  entsteht  vor  der  festsetzung  einer  ge- 
meinsprache  sehr  gewöhnlich   eine  mischung  dadurch,    dass  ein  denk- 

')  Weitere  beispielc  aus  dem  slawodeutschen  bei  Schuchardt  s.  96  tf. 
*j  Vgl.  Schuchardt  s.  'JU  ff. 


349 

mal  aus  der  mimdart,  in  der  es  ursprliiiglich  verfasst  ist  in  eine  andere 
umgesetzt  wird.  Das  ist  bei  schriftlicher  wie  bei  mündlicher  Über- 
lieferung- mög-licli.  Die  Umsetzung  bleibt  gewöhnlicl»  eine  unvollkommene, 
zumal  wenn  sich  das  versmass  dagegen  sträubt.  Diese  art  von  mischung 
ist  ganz  und  gar  zu  scheiden  von  derjenigen,  welche  sich  in  dem 
Organismus  der  Sprachvorstellungen  bei  den  einzelnen  Individuen 
vollzieht. 

Entlehnung  aus  einer  älteren  sprach  stufe  kann  natürlich  nur 
durch  Vermittlung  der  schrift  erfolgen.  Das  lautmaterial  kann  demnach 
nie  dadurch  beeinflusst  werden.  Diese  art  der  entlehnung  wird  in  der 
regel  nur  mit  bewusster  absieht  bei  literarischer  production  vorgenommen. 
Dabei  ist  ein  unterschied  zu  beachten.  Entweder  sollen  dabei  gewisse 
wirkliche  oder  vermeintliche  Vorzüge  der  älteren  spräche  schlechthin 
wider  zu  neuem  leben  erweckt  werden,  oder  die  altertümlichkeiten  der 
spräche  sollen  zur  Charakterisierung  der  zeit  dienen,  in  die  man  durch 
die  darstellung  versetzt  wird.  Im  letzteren  falle  wird  man  leicht  viel 
weiter  e-ehen  als  im  ersteren. 


Cap.  XXIII. 

Die  gemeinsprache. 

In  allen  modernen  eultuvländern  finden  wir  neben  vielfacher 
mundartlicher  Verzweigung  eine  durch  ein  grosses  gebiet  verbreitete 
und  allgemein  anerkannte  gemeinsprache.  Wesen  und  bildung  derselben 
zu  betrachten  ist  eine  aufgäbe,  die  wir  notwendigerweise  bis  zuletzt 
verschieben  mussten.  Wir  betrachten  wider  zunächst  die  gegebenen 
Verhältnisse,  die  sich  unserer  unmittelbaren  beobachtung  darbieten. 

Wir  sind  bisher  immer  darauf  aus  gewesen  die  realen  Vorgänge 
des  Sprachlebens  zu  erfassen.  Von  anfang  an  haben  wir  uns  klar 
gemacht,  dass  wir  dabei  mit  dem,  was  die  descriptive  grammatik  eine 
spräche  nennt,  mit  der  Zusammenfassung  des  usuellen,  überhaupt  gar 
nicht  rechnen  dürfen  als  einer  abstraction,  die  keine  reale  existenz 
hat.  Die  gemeinsprache  ist  natürlich  erst  recht  eine  abstraction,  Sie 
ist  nicht  ein  complex  von  realen  tatsachen,  realen  kräften,  sondern 
nichts  als  eine  ideale  norm,  die  angibt  wie  gesprochen  werden  soll. 
Sie  verhält  sich  zu  der  wirklichen  Sprechtätigkeit  etwa  wie  ein  gesetz- 
buch  zu  der  gesammtheit  des  rechtslebens  in  dem  gebiete,  für  welches 
das  rechtsbuch  gilt,  oder  wie  ein  glauben sbekenntniss,  ein  dogma- 
tisches lehrbuch  zu  der  gesammtheit  der  religiösen  anschauungen  und 
empfindungen. 

Als  eine  solche  norm  ist  die  gemeinsprache  wie  ein  gesetzbuch 
oder  ein  dogma  an  sich  unveränderlich.  Veränderlichkeit  würde  ihrem 
wesen  schnurstracks  zuwider  laufen.  Wo  eine  Veränderung  vorge- 
nommen wird,  kann  sie  nur  durch  eine  ausserhalb  der  norm  stehende 
gewalt  aufgedrängt  werden,  durch  welche  ein  teil  von  ihr  aufgehoben 
und  durch  etwas  anderes  ersetzt  wird.  Die  veranlassungen  zu  solchen 
Veränderungen  sind  auf  den  verschiedenen  culturgebieten  analog.  Ein 
noch  so  sorgfältig  ausgearbeiteter  codex  wird  doch  immer  eine  gewisse 
freiheit  der  bewegung  übrig  lassen,  und  immer  werden  sich  in  der 
praxis  eine  reihe  von  unvorhergesehenen  fällen  herausstellen.  Der 
codex  kann  aber  auch  Schwierigkeiten  enthalten,  hie  und  da  mehrfache 
deutung   zulassen.      Dazu    kommt    nun    missverständniss,    mangelhafte 


351 

kenütniss  von  Seiten  derer,  die  naeli  ilini  verfahren  sollten.  Er  kann 
endlieh  vieles  unangemessene  enthalten  teils  von  anfang  an,  teils  in 
folge  einer  erst  nach  seiner  festsetziing  eingetretenen  Veränderung  der 
sittlichen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse.  Diese  unaugemessenheit 
kann  die  veranlassung  werden,  dass  sieh  das  rechtsgeflihl  der  gesammt- 
heit  oder  der  massgebenden  kreise  gegen  die  durchführung  des  gesetz- 
buehstabens  sträubt.  Das  zusammenwirken  solcher  umstände  führt 
dann  zu  einer  änderung  des  gesetzbuches  durch  die  Staatsgewalt, 
Gerade  so  verhält  es  sich  mit  der  gemeinsprache.  Sie  ist  nichts  als 
eine  starre  regel  welche  die  Sprachbewegung  zum  stillstand  bringen 
würde,  wenn  sie  überall  stricte  befolgt  würde,  und  nur  soweit  Ver- 
änderungen zulässt,  als  man  sich  nicht  an  sie  kehrt. 

Bei  alledem  ist  aber  doch  der  unterschied,  dass  die  gemeinsprache 
nicht  eigentlich  codiliciert  wird.  Es  bleibt  im  allgemeinen  der  usus, 
der  die  norm  bestimmt.  Es  kann  das  aber  nicht  der  usus  der  gesammt- 
heit  sein.  Denn  dieser  ist  weit  entfernt  davon  ein  einheitlicher  zu 
sein.  Auch  in  denjenigen  gebieten,  in  welchen  die  gemeinsprache  sich 
am  meisten  befestigt  hat,  finden  wir,  dass  die  einzelnen  sehr  beträcht- 
lich von  einander  abweichen,  auch  wenn  wir  sie  nur  in  soweit  berück- 
sichtigen, als  sie  ausdrücklich  bestrebt  sind  die  Schriftsprache  zu  reden. 
Und  selbst,  wenn  diese  abweichungen  einmal  beseitigt  wären,  so 
müssten  nach  den  allgemeinen  bedingungen  der  sprachentwickelung 
immer  wieder  neue  entstehen.  Sowol  um  eine  einheit  herbeizuführen 
als  um  eine  schon  vorhandene  aufrecht  zu  erhalten,  ist  etwas  erforder- 
lich, was  von  der  Sprechtätigkeit  der  gesammtheit  unabhängig  ist,  dieser 
objectiv  gegenüber  steht.  Als  solches  dient  überall  der  usus  eines 
bestimmten  engen  kreises. 

Wir  finden  nun  aber,  soweit  unsere  beobachtung  reicht,  dass  die 
noiin  auf  zweierlei  art  bestimmt  wird,  nämlich  einerseits  durch  die 
gesprochene  spräche,  anderseits  durch  niedergeschriebene  quellen.  Soll 
sich  aus  der  ersteren  eine  einigermassen  bestimmte  norm  ergeben,  so 
müssen  die  personen,  welche  als  autorität  gelten,  sich  in  einem  be- 
ständigen oder  nach  kurzen  Unterbrechungen  immer  widerholten  münd- 
lichen verkehre  unter  einander  befinden,  wobei  möglichst  viele  und 
möglichst  vielseitige  berühruugeu  zwischen  den  einzelnen  statthaben. 
In  der  regel  finden  wir  die  spräche  einer  einzelnen  landschaft  einer 
einzelnen  Stadt  als  mustergültig  angesehen.  Da  aber  überall,  wo  schon 
eine  wirkliche  gemeinsprache  ausgebildet  ist,  auch  innerhalb  eines  so 
engen  gebietes,  nicht  unbeträchtliche  Verschiedenheiten  zwischen  den 
verschiedenen  bevölkerungsklassen  bestehen,  so  muss  die  mustergültig- 
keit  schon  auf  die  spräche  der  gebildeten  des  betreffenden  gebietes 
eingeschränkt  werden.    Aber  auch   von   dieser   kann   sich  das  muster 


352 

emaneipieren,  und  das  ist  z.  b.  in  Deutschland  der  fall.  Es  ist  reines 
Vorurteil,  wenn  bei  uns  eine  bestimmte  gegeud  angegeben  wird,  in  der 
das  ^reinste  deutsch'  gesprochen  werden  soll.  Die  mustergültige  spräche 
für  uns  ist  vielmehr  die  auf  dem  theater  im  ernsten  drama  übliche, 
mit  der  die  herrschende  ausspräche  der  gebildeten  an  keinem  orte 
vollständig  übereinkommt.  Die  Vertreter  der  bühnensprache  bilden 
einen  verhältnissmässig  kleinen  kreis,  der  aber  räumlich  weit  zerstreut 
ist.  Die  räumliche  trenuung  widerspricht  aber  nur  scheinbar  unserer 
behauptung,  dass  directer  mündlicher  verkehr  notwendiges  erforderniss 
für  die  mustersprache  sei.  Denn  der  grad  von  Übereinstimmung,  wie 
er  in  der  bühnensprache  besteht,  wäre  nicht  erreicht  und  könnte  nicht 
erhalten  werden,  wenn  nicht  ein  fortwährender  austausch  des  personals 
zwischen  den  verschiedenen  bühnen,  auch  den  am  weitesten  von  ein- 
ander entlegenen  stattfände,  und  wenn  es  nicht  gewisse  centralpunkte 
gäbe  und  gegeben  hätte,  die  wider  den  andern  als  muster  dienen. 
Dazu  kommt,  dass  hier  auch  eine  kürzere  directe  berührung  die  gleiche 
Wirkung  tun  kann  wie  in  anderen  fällen  eine  längere  deshalb,  weil 
eine  wirkliche  Schulung  stattfindet,  eine  Schulung,  die  bereits  durch 
lautphysiologische  beobachtung  unterstützt  wird.  Die  Ursachen,  warum 
sich  gerade  die  bühnensprache  besonders  einheitlich  und  abweichend 
von  allen  localsprachen  gestalten  musste,  liegen  auf  der  band.  Nirgends 
sonst  vereinigte  sich  ein  so  eng  geschlossener  kreis  von  personen  aus  den 
verschiedensten  gegenden,  die  genötigt  waren  in  der  rede  zusammen- 
zuwirken. Nirgends  war  einem  verkehrskreise  so  viel  veranlassung 
zur  achtsamkeit  auf  die  eigene  und  die  fremde  ausspräche,  zu  bewusster 
bemühung  darum  gegeben.  Es  musste  einerseits  der  notwendigkeit 
sich  vor  einem  grossen  zuschauerkreise  allgemein  verständlich  zu 
machen,  anderseits  ästhetischen  rücksichten  rechnung  getragen  werden. 
Aus  beiden  gründen  konnten  dialectische  abweichungen  auch  nicht 
mehr  in  der  einschränkung  geduldet  werden,  in  der  sie  sich  etwa 
zwischen  den  verschiedenen  localen  kreisen  der  gebildeten  noch  er- 
halten hatten.  Es  ist  selbstverständlich,  dass  eine  gleichmässig  durch- 
gehende ausspräche,  an  die  sich  das  publikum  allmählig  gewöhnt,  das 
verständniss  bedeutend  erleichtert.  Jede  ungleichmässigkeit  in  dieser 
beziehung  ist  aber  auch  für  das  ästhetische  gefühl  beleidigend,  wenn 
sie  nicht  zur  Charakterisierung  dienen  soll.  Gerade  aber  weil  der 
dialect  etwas  charakterisierendes  hat,  muss  er  vermieden  werden,  wo 
die  Charakterisierung  nicht  hingehört.  Indem  nun  verschiedene  dia- 
lectische nuancierungen  mit  einander  um  die  herrschaft  kämpften, 
bevor  es  zu  einer  einigung  kam,  konnte  es  geschehen,  dass,  wenn  auch 
vielleicht  im  ganzen  die  eine  überwog,  doch  in  diesem  oder  jenem 
punkte   einer   andern   nachgegeben   wurde.     Massgebend   für   die   ent- 


I 


353 

Scheidung  miisste  dabei  auch  das  streben  nach  möglichster  deutlichkeit 
sein.  Dies  streben  niusste  aber  auch  zu  einer  entfernuug  von  der  Um- 
gangssprache überhaupt  führen.  Diejenigen  lautgestaltungen ,  welche 
in  dieser  nur  dann  angewendet  werden,  wenn  man  sich  besonderer 
deutlichkeit  befleissigt,  wurden  in  der  bühnensprache  zu  den  regel- 
mässigen erhoben.  Es  wurden  insbesondere  die  unter  dem  eiuflusse 
des  Satzgefüges  oder  auch  der  Wortzusammensetzung  entstandenen,  von 
assimilatiou  oder  von  abschwächung  in  folge  der  geringen  tonstärke 
betroffenen  formen,  nach  möglichkeit  wider  ausgestossen  und  durch 
die  in  insolierter  Stellung  übliche  lautgestalt  ersetzt.  Es  wurde  mehr- 
fach auf  die  Schreibung  zurückgegriffen,  wo  die  ausspräche  schon  ab- 
weichend geworden  war.  Gerade  in  diesen  eigenheiten ,  welche  durch 
das  bedürfniss  nach  klarer  Verständlichkeit  für  einen  grossen  zuhörer- 
kreis veranlasst  sind,  kann  übrigens  die  bühnensprache  nie  absolutes 
muster  für  die  Umgangssprache  werden.  In  dieser  würde  das  gleiche 
angespannte  streben  nach  deutlichkeit  als  afifectation  erscheinen. 

Durch  die  bühne  wird  also  für  die  lautverhältnisse  eine  festere 
norm  geschaffen  als  durch  die  Umgangssprache  eines  bestimmten  be- 
zirkes.  Aber  auf  die  lautliche  seite  beschränkt  sieh  auch  ihr  regelnder 
einfluss.  Im  übrigen  wird  ihr  die  spräche  von  den  dichtem  octroyiert, 
und  sie  kann  nach  den  anderen  Seiten  hin  nicht  ebenso  tätig  eingreifen 
wie  die  Umgangssprache. 

Die  Übereinstimmung,  welche  in  der  spräche  desjenigen  kreises 
besteht,  der  als  autorität  gilt,  kann  natürlich  niemals  eine  absolute 
sein.  Sie  geht  in  einer  Umgangssprache  nicht  leicht  über  dasjenige 
mass  hinaus,  welches  in  der  auf  natürlichem  wege  erwachsenen  mund- 
art  eines  engen  bezirkes  besteht.  In  einer  künstlichen  bühnensprache 
kann  man  allerdings  noch  etwas  weiter  kommen.  Und  wie  die  normal- 
sprache  nicht  frei  von  Schwankungen  ist,  so  unterliegt  sie  auch  all- 
mähliger  Wandlung  wie  sonst  eine  mundart.  Denn  sie  hat  keine 
anderen  lebensbedingungen  wie  diese.  Wenn  auch  die  norm  einem 
weiteren  kreise  sich  als  etwas  von  ihm  unabhängiges  gegenüber  stellen 
kann,  so  kann  sie  dies  nicht  ebenso  dem  engeren  massgebenden  kreise, 
muss  vielmehr  naturgemäss  durch  die  Sprechtätigkeit  desselben  all- 
mählig  verschoben  werden.  Dies  würde  selbst  geschehen,  wenn  dieser 
engere  kreis  sich  ganz  unabhängig  von  den  eiuflUssen  des  weiteren 
halten  könnte.  Es  ist  aber  gar  nicht  denkbar,  dass  er  bei  dem  un- 
unterbrochenen wechselverkehre  stets  nur  gebend,  niemals  empfangend 
sein  sollte.  Und  auf  diese  weise  wird  doch  auch  die  gemeinsprache 
durch  die  gesammtheit  der  sprachgenossen  bestimmt,  nur  dass  der 
anteil,  den  die  einzelnen  dabei  haben  ein  sehr  verschiedener  ist. 

Die  andere  norm  der  gemeinsprache,  welche  mit  hülfe  der  nieder- 

Paul,  Piincipien.    IL  Auflage.  23 


854 

selirift  geschaffen  ist,  bietet  manche  erhebliche  vorteile.  Erst  durch 
schriftliche  fixierung-  wird  die  norm  unabhängig  von  den  sprechenden 
individuen,  kann  sie  unverändert  auch  den  folgenden  generationen 
überliefert  werden.  Sie  kann  ferner  auch  ohne  directen  verkehr  ver- 
breitet werden.  Sie  hat  endlich,  soweit  sie  nur  wider  die  niederge- 
schriebene spräche  beeinflussen  soll,  ein  sehr  viel  leichteres  spiel,  weil 
um  sich  nach  ihr  zu  richten  es  nicht  nötig  ist  sein  bewegungsgefühl 
neu  einzuüben,  wie  man  es  tun  muss  um  sieh  eine  fremde  ausspräche 
anzueignen.  Dagegen  hat  sie  anderseits  den  nachteil,  dass  sie  für 
abweichungen  in  der  ausspräche  noch  einen  sehr  weiten  Spielraum 
lässt,  wie  aus  unseren  ausführungen  im  vorigen  cap.  erhellt,  daher  als 
muster  für  diese  nur  schlecht  zu  gebrauchen  ist. 

Für  die  regelung  der  Schriftsprache  im  eigentlichen  sinne  ist  es 
jedenfalls  möglich  den  gebrauch  bestimmter  Schriftsteller,  bestimmte 
grammatiken  und  Wörterbücher  als  allein  massgebende  muster  hinzu- 
stellen und  sich  für  immer  daran  zu  halten.  Das  geschieht  z.  b.,  wenn 
die  Neulateiner  die  Ciceronianische  Schreibweise  widerzugeben  trachten. 
Aber  schon  an  diesem  beispiele  kann  man  wahrnehmen,  dass  es  auch 
da,  wo  ein  ganz  bestimmtes  muster  klar  vor  äugen  steht,  schwer  mög- 
lich ist  etwas  demselben  ganz  adäquates  hervorzubringen.  Es  gehört 
dazu,  dass  man  sich  mit  dem  muster  ununterbrochen  vollkommen  ver- 
traut erhält,  und  dass  man  sich  ängstlich  bemüht  alle  anderen  ein- 
flüsse  von  sich  fern  zu  halten.  Wem  es  noch  am  besten  gelingt,  der 
erreicht  es  nur  durch  eine  selbstbeschränkung  in  der  mitteilung  seiner 
gedanken,  durch  aufopferung  aller  Individualität  und  zugleich  auf  kosten 
der  genauigkeit  und  klarheit  des  ausdrucks.  Wie  reich  auch  der  ge- 
dankenkreis  eines  Schriftstellers  sein  mag,  so  wird  doch  selbst  der- 
jenige, der  mit  ihm  der  gleichen  bildungsepoche  angehört,  in  ihm  nicht 
für  alles  das,  was  er  selbst  zu  sagen  hat,  die  entsprechenden  dar- 
stellungsmittel  finden;  viel  weniger  noch  wird  es  ein  späterer,  wenn 
die  culturverhältnisse  sich  verändert  haben. 

Eine  Schriftsprache,  die  dem  praktischen  bedürfnisse  dienen  soll, 
muss  sich  gerade  wie  die  lebendige  mundart  mit  der  zeit  verändern. 
Wenn  sie  auch  zunächst  auf  dem  usus  eines  Schriftstellers  oder  eines 
bestimmten  kreises  von  Schriftstellern  beruht,  so  darf  sie  doch  nicht 
für  alle  zeiten  an  diesem  muster  unbedingt  festhalten,  darf  sich  zumal 
nicht  exclusiv  gegen  ergänzungen  verhalten,  wo  das  muster  nicht  aus- 
reicht. Der  einzelne  darf  nicht  mehr  bei  allem,  was  er  schreibt,  das 
muster  vor  äugen  haben,  sondern  er  muss  wie  in  der  mundart  die 
Sprachmittel  unbewusst  handhaben  mit  einem  sicheren  vertrauen  auf 
sein  eigenes  gcfühl,  er  muss  eben  dadurch  einen  gewissen  schöjjferischen 
anteil  au  der  spräche  haben  und  durch  das,   was   er  schafft,   auf  die 


355 

Ubrigeu  wirken.  Der  spraeligebraiieli  der  gegenwart  muss  uebeu  eleu 
alteu  imistern,  wo  uielit  aussehliesslich  zur  uorm  werden.  So  verhält 
es  sieh  mit  dem  lateiu  des  mittelalters.  ludern  die  humauisteu  die 
lebendige  eutwiekelung  der  lateiuiseheu  spräche  absehuitteu  und  die 
antiken  muster  wider  zu  ausschliesslicher  geltung  brachten,  versetzten 
sie  eben  damit  ganz  wider  ihre  absieht  der  lateinischen  Weltliteratur 
den  todesstoss,  machten  sie  unfähig  fortan  noch  den  allgemeinen  be- 
dürfnissen  des  wissenschaftlichen  und  geschäftlichen  Verkehres  zu 
dienen. 

Indem  sich  eine  Schriftsprache  von  den  ursprünglichen  mustern 
emancipiert,  ist  es  allerdings  unvermeidlich,  dass  sie  an  gleichmässigkeit 
einbüsst,  dass  zwischen  den  einzelnen  mannigfache  abweichungen  ent- 
stehen. Aber  ein  zerfallen  in  verschiedene  räumlich  getrennte  dialecte, 
wie  es  in  solchem  falle  bei  der  gesprochenen  spräche  unvermeidlich 
ist,  braucht  darum  doch  nicht  einzutreten.  Eine,  und  zwar  die  wich- 
tigste (juelle  der  dialectischen  differenzierung  fällt  in  der  Schriftsprache 
ganz  weg,  nämlich  der  lautwandel.  Flexion,  Wortbildung,  Wortbedeu- 
tung, Syntax  bleiben  allerdings  der  Veränderung  und  damit  der  diffe- 
renzierung ausgesetzt,  aber  auch  diese  in  einem  geringeren  grade  als 
in  der  gesprochenen  mundart.  Eine  hauptveranlassung  zu  Verände- 
rungen auf  diesem  gebiete  ist  ja,  wie  wir  gesehen  haben,  der  mangel 
an  congruenz  zwischen  den  gruppierungsverhältnissen,  die  auf  der  laut- 
gestaltung  und  denen,  die  auf  der  bedeutung  beruhen.  Vou  diesem 
mangel  ist  ja  natürlich  auch  die  Schriftsprache  in  ihrer  ursprünglichen 
fixierung  nicht  frei,  aber  es  werden  in  ihr  nicht  wie  in  der  gesprocheneu 
mundart  durch  den  lautwandel  fortwährend  neue  incongrueuzen  hervor- 
uerufen,  und  es  werden  nicht  die  verschiedenen  gebiete  durch  eine 
abweichende  lauteutwickelung  in  verschiedene  disposition  zur  analogie- 
bildung  gesetzt.  Es  ist  daher  zu  Veränderungen  in  den  bildungsgesetzen 
für  tlexion  und  Wortbildung  sehr  viel  weniger  veranlassung  gegeben. 
Es  treten  aber  nicht  bloss  weniger  Veränderungen  ein,  sondern  die, 
welche  eintreten,  können  sich,  so  lange  der  literarische  Zusammenhang 
nicht  unterbrochen  wird,  leicht  über  das  ganze  gebiet  verbreiten.  Wo 
sie  nicht  die  nötige  macht  dazu  besitzen,  werden  sie  in  der  regel  auch 
in  dem  beschränkten  gebiete,  in  dem  sie  sich  etwa  festgesetzt  haben, 
übermächtigen  eiuflüssen  weichen  müssen.  Am  wenigsten  wird  die 
einheit  der  spräche  gefährdet  sein,  wenn  die  alten  muster  neben  den 
neuen  immer  eine  gewisse  autorität  behaupten,  wenn  sie  viel  gelesen 
werden,  wenn  aus  ihnen  regeln  abstrahiert  werden,  die  allgemein  an- 
erkannt werden.  Erhaltung  der  Übereinstimmung  und  anbequemung 
an  die  veränderten  ciilturverhältnisse  sind  am  besten  zu  vereinigen, 
wenn   man    sich   in   der  syntax   und  noch  mehr  in  der  formenbildung 

23* 


350 

möglichst  an  die  alten  miistev  hält,  dagegen  in  der  Schöpfung  neuer 
Wörter  und  in  der  ankuüpfung  neuer  bedeutungen  an  die  alten  Wörter 
eine  gewisse  freiheit  bewahrt.  So  verhält  es  sich  auch  im  allgemeinen 
bei  den  gebildeteren  mittellateinischen  Schriftstellern. 

An  dem  mittel-  und  neulateinischen  können  wir  am  besten  das 
wesen  einer  gemeinsprache  studieren,  die  nur  Schriftsprache  ist'). 
Die  nationalen  gemeinsprachen  dagegen  sind  zugleich  schrift-  und  Um- 
gangssprachen. In  ihnen  stehen  daher  auch  eine  schriftsprachliche 
und  eine  umgangssprachliche  norm  neben  einander.  Es  scheint  selbst- 
verständlich, dass  beide  in  Übereinstimmung  mit  einander  gesetzt  und 
fortwährend  darin  erhalten  werden  müssen.  Aber,  wie  wir  im  vorigen 
cap.  gesehen  haben,  ist  solche  Übereinstimmung  in  bezag  auf  die  laut- 
liche Seite  im  eigentlichen  sinne  gar  nicht  möglich,  und  die  verselb- 
ständigung der  schrift  gegenüber  der  gesprochenen  rede  kann  so  weit 
gehen,  dass  die  gegenseitige  beeinflussung  fast  ganz  aufhört.  Und 
gerade  die  einführung  einer  festen  norm  begünstigt  diese  verselb- 
ständigung. Es  erhellt  daraus,  wie  notwendig  eine  besondere  norm 
für  die  gesprochene  spräche  ist,  da  sich  auf  grundlage  der  blossen 
schriftnorm  kaum  eine  annähernde  Übereinstimmung  in  den  lautver- 
hältnissen  erzielen  lassen  würde,  eher  freilich  noch  mit  einer  Ortho- 
graphie wie  die  deutsche  als  mit  einer  solchen  wie  die  englische. 

Ferner  ist  zu  berücksichtigen,  dass  zwischen  Schriftsprache  und 
Umgangssprache  immer  ein  stilistischer  gegensatz  besteht,  dessen  be- 
seitigung  gar  nicht  angestrebt  wird.  In  folge  davon  erhalten  sich  in 
der  ersteren  constructionsweisen,  Wörter  und  Wortverbindungen,  die  in 
der  letzteren  ausser  gebrauch  gekommen  sind,  anderseits  dringt  in  die 
letztere  manches  neue  ein,  was  die  erstere  verschmäht. 

Eine  absolute  Übereinstimmung  beider  gebiete  in  dem,  was  in 
ihnen  als  normal  anerkannt  wird,  gibt  es  also  nicht.  Sie  sind  aber 
auch  noch  abgesehen  von  den  beiden  hervorgehobenen  punkten  immer 
von  der  gefahr  bedroht  nach  verschiedenen  richtungeu  hin  auseinander 
zu  gehen.  Die  massgebenden  persönlichkeiten  sind  in  beiden  nur  zum 
teil  die  gleichen,  nnd  der  grad  des  einflusses,  welchen  der  einzelne 
ausübt,  ist  in  dem  einen  nicht  der  selbe  wie  in  dem  anderen.  Dazu 
kommt  in  der  Schriftsprache  das  immer  wider  erneuerte  eingreifen  der 


')  Eine  ganz  ausschliesslich  nur  in  der  niederschrift  lebende  und  sich  ent- 
wickelnde spräche  ist  allerdings  auch  das  niittellateinische  nicht.  Es  wurde  ja  auch 
im  mündlichen  verkehre  verwendet.  Auf  die  entwickelung  wird  das  aber  von  ge- 
ringem einllusse  gewesen  sein,  da  die  erlemung  doch  immer  an  der  band  schrift- 
licher aufzeichnungen  erfolgte.  Dagegen  ist  ein  anderer  ausserhalb  der  schriftlichen 
tradition  liegender  factor  jedenfalls  von  grosser  bedeutung  gewesen,  namentlich 
für  die  gestaltung  der  syntax,  nämlich  die  muttersprache  der  lateinschreibenden. 


\ 


857 

älteren  schriftsteiler,  während  in  der  Umgangssprache  direct  nur  die 
lebende  generation  wirkt.  Um  einen  klaffenden  riss  zu  vermeiden, 
muss  daher  immer  von  neuem  eine  art  compromiss  zwischen  beiden 
geschlossen  werden,  wobei  jede  der  andern  etwas  nachgibt. 

Wir  haben  oben  s.  44  gesehen,  dass  wir  das  eigentlich  charakte- 
ristische einer  mundart  im  gegensatz  zu  den  übrigen  in  den  lautver- 
hältnissen  suchen  müssen.  Das  selbe  gilt  von  der  gemeinsprache  im 
gegensatz  zu  den  einzelnen  mundarten.  Man  darf  daher  eine  tech- 
nische spräche  oder  einen  poetischen  kunststil  ebensowenig  mit  einer 
gemeinsprache  wie  mit  einer  mundart  auf  gleiche  linie  setzen. 

In  jedem  gebiete,  für  welches  eine  gemeinsprachliche  norm  be- 
steht, zeigen  sich  die  sprachen  der  einzelnen  Individuen  als  sehr 
mannigfache  abstufungen.  Zwischen  denen,  welche  der  norm  so  nahe 
als  möglich  kommen,  und  denen,  welche  die  verschiedenen  mundarten  am 
wenigsten  von  der  norm  inficiert  darstellen,  gibt  es  viele  Vermittlungen. 
Dabei  verwenden  die  meisten  Individuen  zwei,  mitunter  sogar  noch 
mehr  sprachen,  von  denen  die  eine  der  norm,  die  andere  der  mundart 
näher  steht.  Diese  ist  die  zuerst  in  der  Jugend  erlernte,  von  hause  aus 
dem  indi\dduum  natürliche,  jene  ist  durch  künstliche  bemühungen  im 
späteren  lebensalter  gewonnen.  Hie  und  da  kommt  es  allerdings  auch 
vor,  dass  man  von  anfang  an  zwei  nebeneinander  erlernt,  und  durch 
besondere  umstände  kann  mancher  auch  im  späteren  alter  veranlasst 
werden  eine  von  der  norm  weiter  abweichende  spräche  zu  erlernen 
und  sich  ihrer  zu  bedienen.  Der  abstand  zwischen  den  beiden  sprachen 
kann  ein  sehr  verschiedener  sein.  Er  kann  so  gering  sein,  dass  man 
sie  im  gemeinen  leben  nur  als  etwas  sorgfältigere  und  etwas  nach- 
lässigere ausspräche  unterscheidet;  in  diesem  falle  stellen  sich  leicht 
auch  noch  wider  abstufungen  dazwischen.  Es  kann  aber  auch  ein 
klaffender  gegensatz  bestehen.  Die  grosse  des  abstandes  hängt 
natürlich  sowol  davon  ab,  wieweit  die  natürliche  spräche  von  der  norm 
absteht,  als  davon,  wie  nahe  ihr  die  künstliche  kommt.  In  beiden 
beziehungen  bestehen  grosse  Verschiedenheiten.  Wenn  man  die  künst- 
liche spräche  im  gemeinen  leben  schlechthin  als  Schriftsprache  be- 
zeichent,  so  zieht  man  dabei  eine  menge  ziemlich  erheblicher  localer 
und  individueller  difterenzen  nicht  in  rechnung;  wenn  man  die  natür- 
liche spräche  schlechthin  als  mundart  bezeichent,  so  übersieht  man 
bedeutende  abstände  innerhalb  des  gleichen  engen  gebietes.  Es  kommen 
natürlich  auch  Individuen  vor,  die  sich  nur  einer  spräche  bedienen, 
einerseits  solche,  die  in  ihrer  natürlichen  spräche  der  norm  schon  so 
nahe  kommen  oder  zu  kommen  glauben,  dass  sie  es  nicht  mehr  für 
nötig  halten  sich  derselben  durch  künstliche  bemühungen  noch  weiter 
zu  nähern,  anderseits  solche,  die  von  den  bedürfnissen  noch  unberührt 


358 

sind,    die   zur  Schöpfung   und   anwendung   der   gemeinsprache   geführt 
haben. 

Je  weiter  sieh  die  uatürliehe  spräche  eines  individuums  von  der 
norm  entfernt,  um  so  mehr  wird  die  daneben  stehende  künstliche 
spräche  als  etwas  fremdes  empfunden;  wir  können  aber  auch  im  all- 
gemeinen behaupten,  um  so  mehr  Sorgfalt  wird  auf  die  erlernung  der 
künstlichen  spräche  verwendet,  um  so  näher  kommt  man  darin  der 
norm,  namentlich  in  allen  denjenigen  punkten,  die  sich  schriftlich 
fixieren  lassen.  In  Niederdeutschland  spricht  man  ein  correcteres  Schrift- 
deutsch als  in  Mittel-  und  Oberdeutschland.  Ebenso  ist  das  sogenannte 
'gut  deutsch'  der  Schweiz  ein  sehr  viel  correcteres  als  etwa  das  des 
benachbarten  badischen  oder  würtembergischen  gebietes,  weil  hier  die 
Stadtmundarten  schon  der  norm  bei  weitem  mehr  genähert  sind  als 
dort. 

Wenn  auf  dem  selben  gebiete  viele  abstufungen  neben  einander 
bestehen,  so  müssen  sich  diese  selbstverständlich  fortwährend  unter 
einander  beeinflussen.  Insbesondere  muss  das  der  fall  sein  bei  den 
beiden  stufen,  die  in  dem  selben  individuum  neben  einander  liegen. 
Alle  stufen  des  gleichen  gebietes  müssen  gewisse  eigentümlichkeiten 
mit  einander  gemein  haben.  Die  der  norm  am  nächsten  stehenden 
stufen  aus  den  verschiedenen  gebieten  müssen  sich  immer  noch  einiger- 
massen  analog  zu  einander  verhalten  wie  die  der  norm  am  fernsten 
stehenden. 

Ueberall  ist  die  schriftsprachliche  norm  bestimmter,  freier  von 
Schwankungen  als  die  umgangssprachliche.  Und  noch  mehr  übertrifft 
in  der  wirklichen  ausübung  die  Schriftsprache  nach  dieser  seite  hin 
auch  die  der  norm  am  nächsten  kommenden  gestaltungen  der  Umgangs- 
sprache. Das  ist  ein  satz,  dessen  allgemeingültigkeit  man  durch  die 
erfahrung  bestätigt  finden  wird,  wohin  man  auch  blicken  mag,  und 
der  sich  ausserdem  aus  der  natur  der  sache  mit  notwendigkeit  ergibt. 
Denn  erstens  müssen,  wie  wir  gesehen  haben,  alle  feineren  unterschiede 
der  aussi)rache,  in  der  schrift  von  selbst  wegfallen,  und  zweitens  ge- 
lingt es  dem  einzelnen  leichter  sich  eine  bestimmte  Schreibweise  als 
eine  von  seiner  bisherigen  gewohnheit  abweichende  ausspräche  anzu- 
eignen. Es  gehört  daher  nur  wenig  unbefangene  Überlegung  dazu, 
um  die  Verkehrtheit  gewisser  hypothesen  einzusehen,  die  für  eine 
frühere  periode  grössere  einheit  in  der  gesprochenen  als  in  der  ge- 
schriebenen spräche  voraussetzen. 

In  dem  verhältniss  der  einzelnen  individuellen  sprachen  zur  norm 
finden  in  einem  fort  Verschiebungen  statt.  Während  dieselben  einer- 
seits von  den  allgemeinen  grundbedingungen  der  natürlichen  sprach- 
entwickelung   sich    nicht  emancipieren   können   und  daher   zu  immer 


359 

weiter  gehender  cliflferenziernng  und  damit  zu  immer  weiterer  entfernung 
von  der  norm  getriel)en  werden,  bringen  anderseits  die  künstlichen 
bemüh ungen  eine  immer  grössere  annäherung  an  die  norm  liervor. 
Es  ist  von  Wichtigkeit  festzuhalten,  dass  beide  tendeuzen  neben  ein- 
ander wirksam  sind,  dass  nicht  etwa,  wenn  die  letztere  zu  wirken 
anfängt,  damit  die  Wirksamkeit  der  erstereu  aufgehol)en  ist.  Die 
stufenweise  annäherung  an  die  norm  können  wir  zum  teil  direct  be- 
obachten. Ausserdem  aber  finden  wir  alle  die  entwickelungsstufen, 
welche  die  einzelnen  individuen  nach  und  nach  durchmachen,  an  ver- 
schiedenen Individuen  gleichzeitig  neben  einander.  Suchen  wir  uns 
nun  die  einzelnen  Vorgänge  klar  zu  machen,  mittelst  deren  sich  die 
annäherung  vollzieht. 

Erstens:   es  lernt   ein  individuum   zu  der  l)is  dahin  allein  ange- 
wendeten natürlichen  spräche  eine  der  norm  näher  stehende  künstliche. 
Das  geschieht  in  den  modernen   culturländern  meist  zuerst  durch  den 
Schulunterricht,    und  man  lernt  dann  gleichzeitig  die  Schriftsprache  im 
eigentlichen  sinne    und  eine  der  Schriftsprache  angenäherte  Umgangs- 
sprache.   Man  kann   aber  eine   künstliche   spräche  auch   dadurch  er- 
lernen,  dass  mau  in  einen  andern  verkehrskreis,   der  sich  schon  einer 
der  norm  näher  stehenden  spräche  bedient  als  derjenige,  in  dem  man 
bisher   gelebt  hat,   neu  eintritt,    oder  dass   man  wenigstens   zu  einem 
solchen  kreise  in  nähere  berührung  tritt  als  zu  der  zeit,    wo  man  zu- 
erst sprechen  gelernt  hat.     In  diesem  falle  braucht  man  eventuell  gar 
nicht  lesen  und  schreiben  zu  lernen.    Das  verhältniss  des  individuums 
zu   der    neuen    spräche   ist    natürlich    immer   erst    eine    zeit   lang   ein 
passives,  bevor  es  ein  actives  wird,  d.  h.  es  lernt  zunächst  die  spräche 
verstehen   und  gewöhnt  sich   au  dieselbe,    bevor  es  sie  selbst  spricht. 
Ein  derartiges  mehr  oder  minder  intimes  passives  verhältniss   hat  der 
einzelne  oft   zu  sehr  vielen   dialecten   und   abstufungen   der   Umgangs- 
sprache,   ohne  dass   er  jemals   von   da   zu   einem   activen   verhältniss 
übergeht.     Dazu  bedarf  es  eben  noch  eines  besonderen  antriebes,  einer 
besonders    energischen    einwirkung.      Die    aneignung    der    künstlichen 
spräche  ist  zunächst  immer  eine  unvollkommene,  es  kann  allmählig  zu 
immer  grösserer  Vollkommenheit  fortgeschritten  werden,  viele  aber  ge- 
langen   niemals    dazu    sie   sicher    und   fehlerfrei   anzuwenden.      Unter 
allen  umständen  bleibt  die  früher  angeeignete  natürliche  spräche  eines 
individuums   bestimmend  für  den   specifischen  Charakter   seiner  künst- 
lichen spräche.    Auch  da,   wo  die  letztere  sich  am  weitesten  von  der 
ersteren  entfernt,   wird  sie  doch  nicht  als  eine  absolut  fremde  spräche 
erlernt,   sondern  immer  noch  mit  beziehung  auf  diese,    die  bei  der  an- 
wendung  unterstützend  mitwirkt.     Man  richtet  sich  zunächst,  wie  über- 
haupt bei  der  anwendung  einer  jeden  fremden  spräche  oder  mundart, 


360 

so  viel  als  möglich  nach  eleu  bewegungsgefühlen ,  auf  die  man  einmal 
ciugeübt  ist.  Die  feiuereu  lautlichen  abweichungen  der  mustersprache, 
welche  mau  nachzubilden  sti*ebt,  bleiben  unberücksichtigt.  So  kann 
es  geschehen,  dass,  selbst  weun  die  betreffende  mustersprache  der 
gemeinsprachliclieu  uorm  so  nahe  als  möglich  steht,  bei  der  nach- 
bildung  doch  eine  dem  ursprünglichen  dialecte  gemässe  nuancierung 
herauskommt.  Nun  aber  ist  weiter  in  betracht  zu  ziehen,  dass  der 
einzelne  in  der  regel  seine  künstliche  spräche  von  heimatsgenossen 
lernt,  deren  spräche  bereits  auf  der  unterläge  des  nämlichen  dialectes 
aufgebaut  ist.  Soweit  ferner  die  künstliche  spräche  durch  lectüre  er- 
lernt wird,  ist  ja  die  Unterschiebung  verwandter  laute  aus  der  eigenen 
mundart  ganz  selbstverständlich.  Aber  auch  Wortschatz  und  Wortbe- 
deutung, flexion  und  syntax  der  künstlichen  spräche  bilden  sich  nicht 
l)loss  nach  den  mustern,  sondern  auch  nach  dem  bestände  der  eigenen 
natürlichen  spräche.  Man  ergänzt  namentlich  den  wortvorrat,  den  man 
aus  der  mustersprache  übernommen  hat,  wo  er  nicht  ausreicht  oder 
nicht  geläufig  genug  geworden  ist,  aus  der  natürlichen  spräche,  gebraucht 
Wörter,  die  man  in  Jener  niemals  gehört  hat  oder,  wenn  man  sie  auch  ge- 
hört hat,  nicht  zu  reproducieren  im  stände  sein  würde,  wenn  sie  nicht 
auch  in  dieser  vorkämen.  Man  verfährt  dabei  mit  einer  gewissen  unbe- 
fangenen Sicherheit,  weil  in  der  tat  ein  grosser  oder  der  grössere  teil  der 
in  der  natürlichen  spräche  üblichen  Wörter  auch  in  der  mustersprache 
vorkommt,  weil  man  vielfach  die  lücken  seiner  kenntniss  der  letzteren  auf 
diese  weise  ganz  richtig  ergänzt.  Es  kann  dabei  aber  natürlich  auch  nicht 
fehlen,  dass  Wörter  in  die  künstliche  spräche  hinübergenommen  werden, 
welche  die  mustersprache  gar  nicht  oder  nur  in  abweichender  bedeu- 
tung  kennt.  Wo  das  selbe  wort  in  der  mustersprache  und  in  der 
natürlichen  spräche  vorkommt,  bestehen  häufig  Verschiedenheiten  der 
lautform.  Finden  sich  diese  Verschiedenheiten  gleichmässig  in  einer 
grösseren  anzahl  von  Wörtern,  so  müssen  sich  in  der  seele  des  Indi- 
viduums, welches  beide  sprachen  neben  einander  beherrscht,  parallel- 
reihen herstellen  (z.  b.  nd.  water  —  hd.  rvasser  =  eten  —  essen  =  laten 
lassen  etc.).  Es  entsteht  in  ihm  ein,  wenn  gleich  dunkles  gefühl  von 
dem  gesetzmässigen  verhalten  der  laute  der  einen  spräche  zu  denen 
der  andern.  In  folge  davon  vermag  es  Wörter,  die  es  nur  aus  seiner 
natürlichen  spräche  kennt,  richtig  in  den  lautstand  der  künstlichen 
spräche  zu  übertragen.  Psychologisch  ist  der  Vorgang  nicht  verschieden 
von  dem,  was  wir  als  analogiebildung  bezeichent  haben.  Dabei  können 
durch  unrichtige  Verallgemeinerung  der  gültigkeit  einer  proportion  fehler 
entstehen,  wie  ich  z.  b.  von  einem  in  niederdeutscher  mundart  aufge- 
wachsenen kinde  gehört  habe,  dass  es  hochdeutsch  redend  zeller  für 
l eller  sagte.    Dergleichen   bleibt  aber   meist  individuell  und  vorüber- 


361 

gehend,  da  es  immer  wider  eine  controlle  dagegen  gibt.  Anderseits 
aber  zeigen  sich  die  parallelreihen  nicht  immer  wirksam,  und  es  gehen 
auch  Wörter  in  ihrer  mundartliehen  von  dem  lautstaude  der  muster- 
sprache  abweichenden  gestalt  in  die  künstliche  spräche  über.  Uebrijiens 
verhält  es  sich  wie  mit  dem  lautlichen,  so  in  allen  übrigen  beziehungen: 
in  der  regel  ist  die  dem  einzelnen  zunächst  als  muster  dienende  Um- 
gangssprache schon  durch  ein  zusammenwirken  der  eigentlichen  normal- 
sprache  mit  dem  heimischen  dialecte  gestaltet. 

Zweitens  wirkt  die  künstliche  spräche  auf  die  natürliche,  indem 
aus  ihr  Wörter,  hie  und  da  auch  flexionsformen  und  coustructiousweisen 
entlehnt  werden.  Die  Wörter  sind  natürlich  solche,  welche  sich  auf 
vorstellungskreise  beziehen,  für  die  man  sich  vorzugsweise  der  künst- 
lichen spräche  bedient.  Sie  werden  wie  bei  der  umgekehrten  eut- 
lehnung  entweder  in  den  lautstand  der  natürlichen  spräche  umgesetzt 
oder  in  der  lautform  der  künstlichen  beibehalten.  Es  gibt  keine  ein- 
zige deutsche  mundart,  die  sich  von  einer  solchen  infection  gänzlich 
frei  gehalten  hätte,  wenn  auch  der  grad  ein  sehr  verschiedener  ist. 

Drittens  wird  bei  den  Individuen,  die  eine  künstliche  und  eine 
natürliche  spräche  nebeneinander  sprechen,  der  gebrauch  der  erstereu 
auf  kosten  der  letzteren  ausgedehnt.  Anfangs  wird  die  künstliche 
spräche  nur  da  angewendet,  wo  ein  wirkliches  bedürfuiss  dazu  vor- 
handen ist,  d.  h.  im  verkehr  mit  fremden,  die  einem  wesentlich  ab- 
weichenden dialectgebiete  augehören.  Dieser  erfolgt  mehr  durch 
schriftliche  als  durch  mündliche  mittel,  es  bedarf  dafür  mehr  einer 
künstlichen  Schriftsprache  als  einer  künstlichen  Umgangssprache.  Im 
verkehr  zwischen  heimatsgenossen  kommt  die  künstliche  spräche  zuerst 
da  zur  anwendung,  wo  gleichzeitig  auf  fremde  rücksicht  genommen 
werden  muss.  Nachdem  sie  sich  für  die  literatur  und  für  officielle 
actenstücke  festgesetzt  hat,  dehnt  sie  sich  überhaupt  auf  alle  schrift- 
lichen aufzeichnungen  aus,  auch  die  privater  natur,  die  nicht  für  fremdes 
dialectgebiet  bestimmt  sind.  Es  ist  das  die  natürliche  cousequenz 
davon,  dass  man  an  den  literarischen  deukmälern  das  lesen  und 
schreiben  erlernt,  infolge  wovon  es  bequemer  wird  sich  an  die  darin 
herrschende  Orthographie  anzuschliessen  als  auch  noch  für  die  eigene 
mundart  eine  Schreibung  zu  erlernen  oder  selbst  zu  finden.  Weiter 
wird  die  künstliche  spräche  üblich  für  den  an  schriftliche  aufzeich- 
nungen angelehnten  öftentlicheu  Vortrag,  für  predigt,  Unterricht  etc. 
Erst  nachdem  sie  in  allen  den  erwähnten  verkehrsformen  eine  ausge- 
dehntere anwendung  gefunden  hat,  wird  sie  einem  teile  des  Volkes, 
natürlich  demjenigen,  der  sich  am  meisten  in  denselben  bewegt,  der 
am  meisten  durch  literatur,  schule  etc.  beeinflusst  wird,  so  geläufig, 
dass  sie  derselbe  auch  für  den  privatverkehr  in   der  heimat  zu  ge- 


362 

brauchen  anfängt,  dass  sie  zur  allgemeinen  Umgangssprache  der  ge- 
bildeten wird.  Erst  auf  dieser  entwieklungsstufe  natürlich  kann  der 
gebrauch  der  mundart  im  umgange  für  ein  zeichen  von  Unbildung 
gelten,  erst  jetzt  tritt  die  mundart  in  der  Wertschätzung  hinter  der 
künstlichen  spräche  zurück.  In  der  Schweiz  ist  man  durchgängig  noch 
nicht  soweit  gelangt.  In  den  höchstgebildeten  kreisen  von  Basel,  Bern 
oder  Zürich  unterhält  man  sich,  so  lange  man  keine  rücksicht  auf 
fremde  zu  nehmen  hat,  in  der  einem  jeden  von  Jugend  auf  natürlichen 
spräche,  und  nimmt  auch  in  den  politischen  körperschaften  an  reden 
in  Schweizerdeutsch  keinen  anstoss.  Wenigstens  annähernd  ähnliche 
Verhältnisse  waren  in  Holstein,  Hamburg,  Mecklenburg  und  andern 
niederdeutschen  gebenden  noch  vor  wenigen  decennien  zu  finden.  In 
ganz  Süd-  und  Mitteldeutschland  erträgt  man  wenigstens  in  der  Um- 
gangssprache noch  einen  bedeutenden  abstand  von  der  eigentlichen 
normalsprache.  Schon  die  betrachtung  der  noch  bestehenden  Verhält- 
nisse kann  lehren,  wie  verkehrt  die  anschauung  ist,  dass  mit  der  exi- 
stenz  einer  künstlichen  und  einer  natürlichen  spräche  von  vornherein 
eine  herabwürdigung  der  letzteren  gegenüber  der  ersteren  verbunden 
sein  müsste,  wie  verkehrt  es  ferner  ist  nicht  das  bedürfniss,  sondern 
das  streben  durch  feinere  bildung  von  der  grossen  masse  des  Volkes 
abzustechen  zum  ersten  niotiv  für  die  erlernung  und  für  die  Schöpfung 
einer  künstlichen  spräche  zu  machen.  Wer  dergleichen  annimmt,  steckt 
eben  noch  in  den  verurteilen  einer  unwissenschaftlichen  schulmeisterei, 
die  von  historischer  entwickelung  nichts  weiss.  Die  anweudung  der 
künstlichen  spräche  im  täglichen  verkehr  kann  in  sehr  verschieden 
abgestufter  ausdehnung  statt  haben.  Zunächst  braucht  man  sie  ab- 
wechselnd mit  der  natürlichen.  Dal)ei  macht  mau  dann  einen  unter- 
schied je  nach  dem  grade,  in  dem  derjenige,  mit  dem  man  redet,  mit 
der  künstlichen  spräche  vertraut  ist  und  sie  selbst  anwendet.  Schliess- 
lich gelang-t  man  vielleicht  dazu  die  natürliche  spräche  gar  nicht  mehr 
anzuwenden.  Es  kommen  heutzutage  fälle  genug  vor,  in  denen  man 
diese  ganze  entwickelung  schritt  für  schritt  an  einem  individuum  ver- 
folgen kann.  Man  gelangt  nirgends  zu  ausschliesslicher  anwendung 
der  künstlichen  spräche,  ohne  dass  eine  längere  oder  kürzere  periode 
der  doppelsprachigkeit  vorangegangen  wäre. 

Sind  erst  eine  auzahl  von  individuen  dazu  gelang-t  sich  der  künst- 
lichen spräche  ausschliesslich  oder  ül}erwiegeud  zu  bedienen,  so  erlernt 
derjenige  teil  des  jüngeren  geschlechtes,  welcher  vorzugsweise  unter 
ihrem  einflusse  steht,  das,  was  ihnen  noch  künstliche  spräche  war,  von 
vornherein  als  seine  natürliche  spräche.  Dass  die  ältere  generation 
auf  künstlichem  wege  zu  dieser  spräche  gelangt  ist,  ist  dann  für  ihr 
wesen  und  ihr  fortleben  in  der  jüngeren  generation  ganz  gleichgültig. 


363 

Diese  verhält  sieh  zu  ihr  uicht  anders  als  die  ältere  generation  oder 
andere  schiebten  des  Volkes  zu  ihrer  von  der  gemeinsprachlichen  norm 
nicht  beeiuflussten  numdart.  Mau  muss  sich  hüten  den  gegensatz 
zwischen  künstlicher  und  natürlicher  spräche  mit  dem  zwischen  ge- 
meinsprache  und  muudart  einfach  zu  confundieren.  Man  muss  sich 
immer  klar  darüber  sein,  ob  man  die  verschiedenen  individuellen 
sprachen  nach  ihrer  objectiven  gestaltung  mit  rücksicht  auf  ihre  grössere 
oder  geringere  eutferuung  von  der  gemeinsprachlichen  norm  beurteilen 
will  oder  nach  dem  subjectiven  verhalten  des  sprechenden  zu  ihnen. 
Von  zwei  sprachen,  die  man  von  zwei  verschiedenen  Individuen  hört, 
kann  A  der  norm  näher  stehen  als  B,  und  kann  darum  doch  A  natür- 
liche, B  künstliche  spräche  sein. 

Wenn  auf  einem  gebiete  ein  teil  an  der  ursprünglichen  mundart 
festhält,  ein  anderer  sich  einer  künstlichen  eingeführten  spräche  auch 
für  den  täglichen  verkehr  bedient,  so  gibt  es  natürlich  eine  anzahl  von 
Individuen,  die  von  frühester  kindheit  einigermassen  gleichmässig  von 
beiden  gruppen  beeinflusst  werden,  und  so  kann  es  nicht  ausbleiben, 
dass  verschiedene  mischungen  entstehen.  Jede  mischung  aber  be- 
günstigt das  entstehen  neuer  mischungen.  Und  so  kann  es  nicht  aus- 
bleiben, dass  ein  grosser  reichtum  mannigfacher  abstufungen  auch  in 
der  natürlichen  spräche  entsteht.  In  Ober-  und  Mitteldeutschland  kann 
man  fast  überall  von  der  der  norm  am  nächsten  stehenden  gestaltung 
bis  zu  der  davon  am  weitesten  abstehenden  ganz  allraählig  gelangen, 
ohne  dass  irgendwo  ein  schroffer  riss  vorhanden  wäre.  In  der  Schweiz 
dagegen,  wo  die  künstliche  spräche  noch  nicht  in  den  täglichen  ver- 
kehr eingedrungen  ist,  sich  nicht  in  natürliche  spräche  verwandelt  hat, 
gibt  es  zwar  eine  abstufung  zwischen  den  mundarten,  je  nachdem  sie 
stärker  oder  schwächer  von  der  Schriftsprache  beeinflusst  sind,  aber 
zwischen  der  Schriftsprache  und  der  am  stärksten  von  ihr  beeinflussten 
mundart   besteht    ein   durch   keine   abstufungen  vermittelter  gegensatz. 

Wenn  jemand  von  hause  aus  eine  der  norm  näher  stehende 
spräche  erlernt  hat,  so  hat  er  natürlich  kein  so  grosses  bedürfniss 
noch  eine  künstliche  dazu  zu  erlernen,  als  wenn  er  die  reine  mundart 
seiner  heimat  erlernt  hätte.  Er  begnügt  sich  daher  häufig  für  den 
mündlichen  verkehr  mit  der  einsprachigkeit.  Die  Verhältnisse  können 
ihn  aber  dazu  drängen  eine  noch  grössere  annäherung  an  die  norm 
anzustreben,  und  dann  wird  er  widerum  zweisprachig,  und  widerum 
kann  seine  künstliche  spräche  einer  folgenden  generation  zur  natür- 
lichen werden,  und  dieser  process  kann  sich  mehrmals  widcrholen. 

Wir  haben  uns  bisher  zu  veranschaulichen  versucht,  wie  sich  die 
Verhältnisse  gestalten  unter  der  Voraussetzung,  dass  schon  eine  all- 
gemein anerkannte  norm  für  die  gemeinsprache  besteht.    Es  bleibt  uns 


364 

jetzt  noch  übrig  zu  betrachten,  wie  überhaupt  eine  solche  norm  ent- 
stehen kann.  Dass  eine  solche  in  den  gebieten,  wo  sie  jetzt  existiert, 
nicht  von  anfang  an  vorhanden  gewesen  sein  kann,  dass  es  vorher 
eine  periode  gegeben  haben  muss,  in  der  nur  reine  mundarten  gleich- 
berechtigt neben  einander  bestanden  haben,  dürfte  jetzt  wol  allgemein 
anerkannt  sein.  Aber  es  scheint  doch  vielen  leuten  schwer  zu  fallen, 
sich  eine  literarisch  verwendete  spräche  ohne  norm  vorzustellen,  und 
die  neigung  ist  sehr  verbreitet  ihre  enstehuug  so  weit  als  möglich 
zurückzuschieben.  Ich  kann  darin  nur  eine  nachwirkung  alter  Vor- 
urteile sehen,  wonach  die  Schriftsprache  als  das  eigentlich  allein  existenz- 
berechtigte, die  mundart  nur  als  eine  verderbniss  daraus  aufgefasst  wird. 
Dass  überhaupt  zweifei  möglich  ist,  liegt  daran,  dass  uns  aus  den 
früheren  zeiten  nur  aufzeichnungen  vorliegen,  nicht  die  gesprochene 
rede.  In  folge  davon  ist  Vermutungen  über  die  beschaffenheit  der 
letzteren  ein  weiter  Spielraum  gegeben.  Einen  massstab  ftir  die  rich- 
tigkeit  oder  nichtigkeit  dieser  Vermutungen  können  uns  bloss  unsere 
bisher  gesammelten  erfahrungen  über  die  bedingungen  des  Sprachlebens 
geben.  Was  diesen  massstab  nicht  aushält,  muss  endlich  einmal  auf- 
hören sich  breit  zu  machen. 

Unter  den  momenten,  welche  auf  die  Schöpfung  einer  gemein- 
sprache  hinwirken,  muss  natürlich,  wie  schon  aus  unseren  bisherigen 
erörterungen  hervorgeht,  in  erster  linie  das  bedürfniss  in  betracht 
kommen.  Ein  solches  ist  erst  vorhanden,  wenn  die  mundartliche  diffe- 
renzierung  so  weit  gegangen  ist,  dass  sich  nicht  mehr  alle  glieder  der 
Sprachgenossenschaft  bequem  unter  einander  verständigen  können,  und 
zwar  dann  auch  nur  ftir  den  gegenseitigen  verkehr  derjenigen,  deren 
heimatsorte  weit  auseinander  liegen,  da  sich  zwischen  den  nächsten 
nachbarn  keine  zu  schroffen  gegensätze  entwickeln.  Es  kann  nicht 
leicht  etwas  bedenklicheres  geben,  als  anzunehmen,  dass  sich  eine  ge- 
meinsprache  zunächst  innerhalb  eines  engeren  gebietes,  das  in  sich 
noch  geringe  mundartliche  ditferenzen  aufzuweisen  hat,  ausgebildet 
und  erst  von  da  auf  die  ferner  stehenden  gebiete  verbreitet  habe. 
Naturgemäss  ist  es  vielmehr,  und  das  bestätig-t  auch  die  erfahrung, 
dass  eine  spräche  dadurch  zur  gemeiusprache  wird,  dass  mau  sie  in 
gebieten  zum  muster  nimmt,  deren  mundart  sich  ziemlich  weit  davon 
entfernt,  während  kleinere  diflferenzen  zunächst  unbeachtet  bleiben. 
Ja  der  gemeinsprachliche  Charakter  kann  dadurch  eine  besondere 
kräftigung  erhalten,  dass  eine  Übertragung  auf  entschieden  fremd- 
sprachliches gebiet  stattfindet,  wie  wir  es  an  der  griechischen  xoivij 
und  der  lateinischen  spräche  beobachten  können. 

Soll  demnach  ein  dringendes  bedürfniss  vorhanden  sein,  so  muss 
der  verkehr  zwischen  den  einander  ferner  liegenden  gebieten  schon 


865 

zu  einer  ziemlichen  intensitüt  entwickelt  sein,  müssen  bereits  rege 
eommereielle,  politische  oder  literarische  beziehiuigen  bestehen.  Von 
den  intensitätsverhiiltnissen  des  weiteren  Verkehres  hängt  es  auch  zum 
teil  ab,  wie  gross  das  gebiet  wird,  über  welches  die  gemeinspraehe 
ihre  herrschaft  ausdehnt.  Die  grenzen  des  gebietes  fallen  keineswegs 
immer  mit  denjenigen  zusammen,  die  man  am  zweekmässigsten  ziehen 
würde,  wenn  man  bloss  das  verhültuiss  der  mundarten  zu  einander 
berücksichtigen  wollte.  Wenn  auf  zwei  verschiedenen  Sprachgebieten 
die  mundartlichen  diflferenzen  ungefähr  gleich  gross  sind,  so  kann  es 
doch  geschehen,  dass  sich  auf  dem  einen  nur  eine  gemeinspraehe, 
auf  dem  andern  zwei,  drei  und  mehr  entwickeln.  Es  ist  z.  b.  keine 
frage,  dass  zwischen  ober-  und  niederdeutschen  mundarten  grössere 
wnterschiede  bestehen,  als  zwischen  polnischen  und  czechischen  oder 
serbischen  und  bulgarischen,  ja  selbst  zwischen  polnischen  und  serbi- 
schen. Es  können  zwei  gebiete  mit  sehr  nahe  verwandten  mundarten 
rüeksichtlich  der  gemeinsprachen,  die  sich  in  ihnen  festsetzen,  nach 
verschiedenen  Seiten  hin  auseinandergerissen  werden,  während  zwei 
andere  mit  einander  sehr  fern  stehenden  mundarten  die  gleiche  ge- 
meinspraehe annehmen. 

Wieviel  auf  das  bedürfniss  ankommt,  zeigt  auch  folgende  beo- 
bachtung.  Es  ist  sehr  schwer,  wo  nicht  unmöglich,  wenn  sich  für  ein 
grösseres  gebiet  eine  gemeinspraehe  einigermassen  festgesetzt  hat,  für 
einen  teil  desselben  eine  besondere  gemeinspraehe  zu  schaffen.  Man 
kann  jetzt  nicht  mehr  daran  denken  eine  niederdeutsche  oder  eine 
provenzalische  gemeinspraehe  schaffen  zu  wollen.  Auch  die  be- 
mühungen  eine  besondere  norwegische  gemeinspraehe  zu  schaffen 
scheitern  an  der  bereits  bestehenden  herrschaft  des  dänischen.  Um- 
gekehrt ist  es  auch  nicht  leicht  eine  gemeinspraehe  über  ein  grösseres 
gebiet  zur  herrschaft  zu  bringen,  wenn  die  einzelnen  teile  desselben 
bereits  ihre  besondere  gemeinspraehe  haben,  durch  die  für  das  nächste 
bedüifniss  schon  gesorgt  ist.  Man  sieht  das  au  der  erfolglosigkeit  der 
panslawistischen  bestrebungen.  Ebenso  wirkt  auch  eine  ganz  fremde 
spräche,  wenn  sie  sich  einmal  für  den  literarischen  und  ofiiciellen  ver- 
kehr eingebürgert  hat,  der  bildung  einer  nationalen  gemeinspraehe 
hemmend  entgegen.  So  sind  die  bestrebungen  eine  vlämische  literatur- 
sprache  zu  gründen  nur  von  geringem  erfolge  gekrönt,  nachdem  ein- 
mal das  französische  zu  feste  wurzeln  geschlagen  hat.  In  sehr  aus- 
gedehntem masse  hat  das  lateinische  als  Weltsprache  diesen  hemmenden 
einfluss  geübt. 

Es  ist  nur  der  direete  verkehr,  für  welchen  das  bedürfniss  im 
vollen  masse  vorhanden  ist.  Für  den  indireeten  besteht  es '  häufig 
nicht,  auch  wenn  die  individuen,   zwischen  denen  die  mitteilung  statt- 


366 

findet,  sich  mundartlich  sehr  fern  stehen.  Geht  die  mitteilung  durch 
andere  individuen  hindurch,  deren  niundarten  dazwischen  liegen,  so 
kann  sie  durcli  mehrfache  Übertragungen  eine  gestalt  erhalten,  dass 
sie  auch  solchen  leicht  verständlich  wird,  denen  sie  in  der  ursprüng- 
lichen mundart  nicht  verständlich  gewesen  wäre.  Eine  solche  Über- 
tragung findet  selbst\  erständlich  statt,  wenn  poetische  producte  münd- 
lich von  einem  orte  zum  andern  wandern.  Aber  ihr  unterliegen  auch 
aufgezeichente  denkmäler,  die  durch  abschrift  weiter  verbreitet  werden. 
Allerdings  bleibt  die  Übertragung  gewöhnlich  mehr  oder  minder  un- 
vollkommen, so  dass  mischdialecte  entstehen.  Massenhafte  beispiele 
für  diesen  Vorgang  liefern  die  verschiedenen  nationalliteraturen  des 
mittelalters.  Es  ist  auf  diese  weise  ein  literarischer  connex  zwischen 
gebieten  möglich,  die  mundartlich  schon  ziemlich  weit  von  einander 
abstehen,  ohne  die  vermittelung  einer  gemeinsprache.  Ja  dieses  so 
nahe  liegende  verfahren  verhindert  geradezu,  dass  eine  mundart,  in 
der  etwa  hervorragende  literarische  denkmäler  verfasst  sind,  auf  grund 
davon  einen  massgebenden  einfluss  gewinnt,  weil  sie  gar  nicht  mit 
den  betreffenden  denkmälern  verbreitet  wird,  wenigstens  nicht  in  reiner 
gestalt.  Ganz  anders  verhält  sich  die  sache,  sobald  die  Verbreitung 
durch  den  druck  geschieht.  Durch  diesen  wird  es  möglich  ein  werk 
in  der  ihm  vom  Verfasser  oder  vom  drucker  gegebenen  gestalt  unver- 
fälscht überallhin  zu  verbreiten.  Und  sollen  überhaupt  die  vorteile  des 
druckes  zur  geltung  kommen,  so  muss  ein  druck  womöglich  für  das 
ganze  Sprachgebiet  genügen,  und  dazu  gehört  natürlich,  dass  die  darin 
niedergelegte  spräche  überall  verstanden  wird.  Mit  der  einführung 
des  druckes  wächst  also  einerseits  das  bedürfniss  nach  einer  gemein- 
sprache, werden  anderseits  geeignetere  mittel  zur  befriedigung  dieses 
bedürfnisses  geboten,  Uebrigens  ist  es  auch  erst  der  druck,  wodurch 
eine  Verbreitung  der  kenntniss  des  lesens  und  Schreibens  in  weiteren 
kreisen  möglich  wird.  Vor  der  Verwendung  des  druckes  kann  für  die 
Wirksamkeit  einer  schriftsprachlichen  norm  immer  nur  ein  enger  kreis 
emjjfänglich  gewesen  sein. 

Das  bedürfniss  an  sich  reicht  natürlich  nicht  aus  eine  gemein- 
sprachliche norm  zu  schatten.  Es  kann  auch  nicht  dazu  veranlassen 
eine  solche  willkürlich  zu  ersinnen.  So  weit  geht  die  absichtlichkeit 
auch  auf  diesem  gebiete  nicht,  wie  viel  grösser  sie  auch  sein  mag  als 
bei  der  natürlichen  Sprachentwicklung.  Ueberall  dient  als  norm  zu- 
nächst nicht  etwas  neu  geschaffenes,  sondern  eine  von  den  bestehenden 
mundarten.  Es  wird  auch  nicht  einmal  eine  unter  diesen  nach  Verab- 
redung ausgewählt.  Vielmehr  muss  diejenige,  welche  zur  norm  werden 
soll,  schon  ein  natürliches  Übergewicht  besitzen,  sei  es  auf  commer- 
cieilem,    politischem,    reiigiös^'m^oder    literarischem   gebiete    oder    auf 


367 

mehreren  von  diesen  zugleich.  Die  al)sicht  eine  gemeinsprache  zu 
schaffen  kommt  erst  hinten  nach,  wenn  die  ersten  schritte  dazu  getan 
sind.  Wenigstens  ist  es  wol  erst  in  ganz  moderner  zeit  vorgekommen, 
dass  man  ohne  eine  bereits  vorhandene  grundlage  den  plan  gefasst 
hat  eine  gemeinsprache  zu  scliaffen,  und  dann  meist  nicht  mit  günstigem 
erfolge.  Alan  hat  sieh  dabei  die  Verhältnisse  anderer  Sprachgebiete, 
die  bereits  eine  gemeinsprache  besitzen,  zum  muster  genommen.  Als 
die  gemeinsprachen  der  grossen  europäischen  culturländer  begründet 
wurden,  schwebten  noch  keine  solche  muster  vor.  Man  musste  erst 
erfahren,  dass  es  überhaupt  dergleichen  geben  könne,  ehe  mau  danach 
strebte. 

Bevor  irgend  ein  ansatz  zu  einer  gemeinsprache  vorhanden  ist, 
muss  es  natürlich  eine  anzahl  von  Individuen  geben,  welche  durch  die 
Verhältnisse  veranlasst  werden  sich  mit  einer  oder  mit  mehreren  fremden 
mundarten  vertraut  zu  machen,  so  dass  sie  dieselben  leicht  verstehen 
und  teilweise  selbst  anwenden  lernen.  Es  kann  das  die  folge  davon 
sein,  dass  sie  in  ein  anderes  gebiet  übergesiedelt  sind  oder  sich  vorüber- 
gehend länger  darin  aufgehalten  haben,  oder  dass  sie  mit  leuten,  die 
aus  fremdem  gebiete  herübergekommen  sind,  viel  verkehrt  haben,  oder 
dass  sie  sich  viel  mit  schriftlichen  aufzeichnungen,  die  von  dort  aus- 
gegangen sind,  beschäftigt  haben.  Die  auf  diese  weise  angeknüpften 
beziehungen  können  sehr  mannigfach  sein.  Ein  angehöriger  der  mund- 
art  A  kann  die  mundart  B,  ein  anderer  C  ein  dritter  D  erlernen  und 
dabei  wider  umgekehrt  ein  angehöriger  der  mundart  B  oder  C  oder 
D  die  mundart  A  etc.  So  lange  sich  die  wechselseitigen  einflüsse  der 
verschiedenen  mundarten  einigermassen  das  gleichgewicht  halten,  ist 
kein  fortschritt  möglich.  Ist  aber  bei  einer  mundart  erheblich  mehr 
veranlassung  gegeben  sie  zu  erlernen  als  bei  allen  übrigen,  und  zwar 
für  die  angehörigen  aller  mundarten,  so  ist  sie  damit  zur  gemeinsprache 
prädestiniert.  Ihr  übergewicht  zeigt  sich  zunächst  im  verkehre  zwischen 
den  ihr  angehörigen  individueu  und  den  angehörigen  der  andern  mund- 
arten, indem  sie  dabei  leichter  und  öfter  von  den  letzteren  erlernt  wird, 
als  deren  mundart  von  den  ersteren,  während  die  übrigen  mundarten 
unter  einander  mehr  in  einem  paritätischen  verhältniss  bleiben.  Der 
eigentlich  entscheidende  schritt  aber  ist  erst  gemacht,  wenn  die  domi- 
nierende mundart  auch  für  den  verkehr  zwischen  angehörigen  ver- 
schiedener anderer  mundarten  gebraucht  wird.  Es  ergibt  sich  das  als 
eine  natürliche  folge  davon,  dass  eine  grössere  menge  von  Individuen 
mit  ihr  vertraut  ist.  Denn  dann  ist  es  bequemer  sieh  ihrer  zu  bedienen, 
sobald  einmal  die  heimische  mundart  nicht  mehr  genügt,  als  noch  eine 
dritte  oder  vierte  dazu  zu  erlernen.  Am  natürlichsten  bietet  sie  sich 
dar,    wenn  man  sieh  eben  so  wol   au  diejenigen  wendet,    die  ihr  von 


368 

iiatiir  augehören,  als  an  die  übrige  nation,  wie  es  ja  bei  dem  litera- 
rischen verkehre  und  unter  der  Voraussetzung  staatlicher  einheit  auch 
bei  dem  politischen  der  fall  ist.  In  dem  augenblicke,  wo  man  sich 
der  Zweckmässigkeit  des  gebrauches  einer  solchen  mundart  für  den 
weiteren  verkehr  bewusst  wird,  beginnt  auch  die  absichtliche  weiter- 
leitung der  entwickelung. 

Die  mustergültigkeit  eines  bestimmten  dialeetes  ist  aber  in  der 
regel  nur  eine  Übergangsstufe  in  der  entwickelung  der  gemeinsprach- 
lichen norm.  Die  nachbildungen  des  musters  bleiben,  wie  wir  gesehen 
haben,  mehr  oder  minder  unvollkommen.  Es  entstehen  mischungen 
zwischen  dem  muster  und  den  verschiedenen  heimatlichen  dialecten 
der  einzelnen  individuen.  Es  kann  kaum  ausbleiben,  dass  auch  diese 
mischdialecte  teilweise  eine  gewisse  autorität  erlangen,  zumal  wenn 
sich  hervorragende  schriftsteiler  ihrer  bedienen.  Auf  der  andern  seite 
unterliegt  der  ursprüngliche  musterdialect  als  dialect  stätiger  Ver- 
änderung, während  die  normalsprache  conservativer  sein  muss,  sich 
nur  durch  festhalten  an  den  mustern  vergangener  zeiten  behaupten 
kann.  So  muss  allmählig  der  dialect  seine  absolute  mustergültigkeit 
verlieren,  muss  mit  verschiedenen  abweichenden  nuancen  um  die  herr- 
sch aft  kämpfen. 

Die  künstliche  spräche  eines  grossen  gebietes  pflegt  demnach  in 
einem  gewissen  entwickeluugsstadium  ungefähr  in  dem  selben  grade 
dialectisch  diiferenziert  zu  sein,  wie  die  natürliche  innerhalb  einer 
landschaft.  Zu  grösserer  centralisation  gelangt  man  in  der  regel  nur 
durch  aufstellung  wirklicher  regeln  in  mündlicher  Unterweisung,  gram- 
matiken,  Wörterbüchern,  akademieen  etc.  Mit  welcher  bewusstheit  und 
absichtlichkeit  aber  auch  eine  schriftsprachliche  norm  geschaffen  werden 
mag,  niemals  kann  dadurch  die  unbeabsichtigte  entwickelung,  die  wir 
in  den  vorhergehenden  capiteln  besprochen  haben,  zum  stillstand  ge- 
bracht werden;    denn   sie  ist  unzertrennlich  von  aller  Sprechtätigkeit. 


HaUe    Druck  von  Ehrhardt  Karraa. 


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