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HANDBOUND
AT THE
UNIVERSITY OF
TORONTO PRESS
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in 2010 witii funding from
University of Toronto
http://www.arcliive.org/details/principienderspr02paul
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PlUNOiriEN
DER
SPRACHGESCHICHTE
VON
HERMANN PAUL,
PKOFliSSOR DER UliUTSCllHX Sl'UACllK UND LITERATUR
AN DER UNIVERSITÄT KREJliUKG.
ZWEITE AUFLAGE.
II A L L E.
MAX NIEMEYER
188«)
^^ 1 \
Vorrede.
Schon ehe der druck der ersten aufläge vollendet war, konnte
ich nicht darüher in zweifei sein, dass meine erörterungen der ergänzung
dringend bedürftig seien, indem manche wichtige selten des sprach-
lehens darin nur flüchtig berührt waren. Ich fasste daher sofort
eine solche ergänzung ins äuge und war unablässig darauf bedacht
alles zusammenzutragen, was mir dazu dienlich schien. Doch aber
kam mir die aufforderung meines Verlegers zur herstellung einer zweiten
aufläge zu rasch und unerwartet, als dass ich derselben sofort hätte
folge leisten können. Auch jetzt hätte ich lieber noch gezögert, um
manches besser ausreifen zu lassen. Ich musste aber schliesslich doch
dem durch die reichliche nachfrage nach dem l)uche berechtigten
drängen des Verlegers nachgeben.
Auch diese zweite aufläge wird vor den äugen mancher fachge-
nossen nicht mehr gnade finden als die erste. Die einen werden sie
zu allgemein, die andern zu elementar finden. Manche werden etwas
geistreicheres wünschen. Ich erkläre ein für alle mal, dass ich nur für
diejenigen schreibe, die mit mir der Überzeugung sind, dass die Wissen-
schaft nicht vorwärts gebracht wird durch complicierte hypothesen,
mögen sie auch mit noch so viel geist und Scharfsinn ausgeklügelt sein,
sondern durch einfache grundgedaukeu, die an sich evident sind, die
aber erst fi-uchtbar werden, wenn sie zu klarem l)ewusstsein gebracht
und mit strenger consequenz durchgeführt werden.
Ohne erhebliche Veränderungen sind aus der ersten aufläge
herübergenommen cap. 13 (= 8), 14 (= 7), 21 (= 13), 23 (= 14),
auch 9 (=10) abgesehen von der weglassung des letzten abschnittes.
dessen gegenständ eine ausführlichere behandlung in cap. G gefunden
IV
hat. Etwas belangreichere ^■eränderlmgeIl oder zusätze haben erfahren
die einleitung- (= cap. 1), cap. 2 (= 12), 3 (= 3), noch mehr 19
(= 9 von s. 160 an), 20 {= 11), 10 (= der hauptmasse von 5 und 6).
Zum teil aus der ersten aufläge herübergenommen, zum teil neu sind
(•;i]). 1 (= 2), 5 (= 4) und 11 {= stücken von 5 und (i). Ganz neu
oder nur kurzen andeutung-en der ersten aufläge entsprechend sind
cap. 4, G, 7, 8, 12, 15, IG, 17, 18 und 22.
Es war anfänglich meine absieht noch ein methodologisches
capitel anzufügen über die Scheidung des lautwandels von den durch
rücksicht auf die function bedingten Umgestaltungen der lautform. Ich
moclite indessen nicht gern das widerholen, was ich schon in den
Beiträgen z. gesch. d. deutschen spr. u. lit. VI, I ff. ausgeführt habe.
Freilich sehe ich sowol aus der sprachwissenschaftlichen ])raxis als
aus den theoretischen erörterungeu der letzten Jahre, dass die dort
gegebenen auseinandersetzungen wenig beachtung gefunden haben.
Sie sind namentlich von allen denjenigen ignoriert, welche geläuguet
haben, dass in der methode der morphologischen Untersuchungen
neuerdings ein erheblicher fortschritt gemacht sei.
Frei bürg i. B. Juni 188G.
H. Paul.
1 u h Ji 1 t.
Seite
Einleitiini^ I
Nutwcndigkoit einer allgemeinen theoretischen Wissenschaft (prin-
ciiiienlehre) neben der Sprachgeschichte wie neben jedem zweige der
geschichtswisseuschaft 1 . Nähere bestimmimg ihrer aufgäbe 1. Prin-
cipienlehre zugleich grundlage für die methodeulehre 3. Ueber-
tragung der in der naturwissenschaft üblichen betrachtiiugsweise auf
die culturwisseuschaft '■'>. Die Sprachwissenschaft unter den histo-
rischeu Wissenschaften der vollkommensten methode fähig 5. Zu-
sammenwirken psychischer und physischer factoren in aller cultiir-
entwickelung (5. Culturwisseuschaft immer gesellschaftswissenschaft 7.
Critik der Lazarus -Steinthalschen Völkerpsychologie b. Wechsel-
wirkung der Seelen auf einander nur iudirect durch physische Ver-
mittlung möglich 12. Verwandlung indirecter associatiouen in directc
15. Eigentümlichkeiten der Sprachwissenschaft gegenüber andern
Wissenschaften IG. Wissenschaftliche behandlung der spräche nur
durch historische betrachtung möglich li).
Cap. I. Allgemeines über das weseii der sprachentivickeliiug .... 21
Gegenstand der Sprachwissenschaft 2ü. Organismen von vorstel-
lungsgruppen die grundlage aller spreclitätigkeit 23. Die träger der
geschichtlichen entwickelung 25. Erfordernisse tür die boschreibung
eines sprachzustandes 2(3. Ursache für die Veränderungen des usus
die gewöhnliche Sprechtätigkeit 2it. Entwickelungsstadien 30. Klassi-
ficierung der Veränderungen 32. Grammatik und logik 33.
Cap. II. Die spraehspaltnng 3.5
Analogieen aus der organischen natur 35. Fassung des zu lösen-
den Problems 37. Veränderung und differenzierung 3S. Verkehrsver-
hältnisse 3S. Spontaneität und beeinflussung 39. Unabhängigkeit
der einzelneu ditferenzierungen von einander 40. Das bild einer
Stammtafel unzutretl'end 4(t. Allmählige' abstufung der dialectunter-
schiede 42. Sprachtrennuug 43. l)ie lautverhältnisse das eigentlich
charakteristische 44. Kunstsprache, dichtersprache 45. Unbegrenztes
Wachstum der mundartlichen Verschiedenheiten 45.
Cap. III. Der laiitivandel 46
Die bei der erzeuguug der sprachlaute tätigen factoren, bewe-
gungsgefühl und tonempfindung 46. ]\Iangel eines bewusstseins von
den dementen des wortes 47. Das wort eine continuierlichc reihe vun
unendlich vielen lauten 4S. ControUe des gesprochenen 5(1. Grenzen
Seite
dus untersdu'idiingsverinögcns 5(t. Ablenkungen von der durch das
bewcgungsgetÜhl angezeigten richtung unvermeidlich 51. Verschie-
bung des bew egungsgefühles 52. Ursachen der ablenkung 5.(. Bc-
((ueiuliclikeit nebenursache, bewegungsgefühl liaiiptursache 51. Con-
trolle durch das lautbild 55. Verhältniss des einzelnen zu seinen
verkehrsgenossen 5(». Lautliche Veränderungen, die nicht auf Ver-
schiebung des bewegungsgefiihles beruhen 59. Consequenz der laut-
gcsetze 6(1.
Cap. IV. Wrtudel der Wortbedeutung 66
Bedeutungswandel gleich erweiterung oder Verengung 66. Usuelle
und occasionelle bedeutung G6. Abstracte und concrete bedeutung
t)6. Mehrfache bedeutung 67. ]\Iittel, welche abstracten Wörtern
occasionell concrete bedeutung geben 69. Mittel zur specialisierung
der bedeutung 72. Abweichung der occasionellen bedeutung von der
usuellen auch dadurch mijglicli, dass erstere nicht alle elemente der
letzteren einschliesst 7:3. Uebertragung auf das räumlich, zeitlich oder
causal mit der usuellen bedeutung verknüpfte 74. Veränderung des
usus aus der occasionellen modificatiou entwickelt 75. Arten des be-
deutungswandels : specialisierung 77, beschränkung auf einen teil des
ursprünglichen Inhalts SO, Übertragung auf das räumlich, zeitlich oder
causal mit der älteren bedeutung verknüpfte SO. Combination der
verschiedenen arten S2. Bedeutungswandel in wortgruppen 82. Ab-
hängigkeit des bedeutungsinhalts von der bildungsstufe des einzelnen
83 und des ganzen volkes 84.
Cap. y. Analogie 85
Stoffliche und formale gruppen s."). Proportionengruppen: stotf-
lich-formale 86, etymologisch -lautliche ^7, syntaktische S7. Wirk-
samkeit der proportiouengruppen bei der Sprechtätigkeit (analogie-
bildung) 8s, auf syntaktischem gebiete 89, in Wortbildung und flexion
91. Abweichung des analogisch gebildeten vom usus 92. Analogie-
bildung auf dem gebiete des lautwechsels 95.
('a|>. VI. Die syntaktischen grundverliältnisse 99
Satz zu definieren als sprachlicher ausdruck für die Verbindung
mehrerer Vorstellungen 99. Mittel zur bezeichnung der Verbindung 99.
Subject und prädicat, i)sycliologisches und gramuuatisches loo. Mittel
zur Unterscheidung beider: tonstärke, Wortstellung KU. Concreto
und abstracte sätze lo;5. Scheinbar eingliedrige sätze lo;j. Verba
impersoiialia lu5. Negative sätze 107. Aussage- und aufforderungs-
sätze 107. Fragesätze Hi'.t. Satzerweiterung 111. Doppeltes sub-
ject 112. Object 113. Doppeltes prädicat und entstehuug der be-
stimmung des subjects (objects) 11 3. Unterschiede in der fuuctiou
der bestimuumg 116. Prädicatives attribut 116. Verhältniss mehrerer
bestimmungcn 117. Erweiterungen durch Verwendung eines satzes
als subj. oder präd. 11*^. Vereinigung von Selbständigkeit und ab-
hängigkeit 119. Indirecte rede 120. Satz als appositiou zu einem
nomcn 12<i, uomen zu einem satz 121. Parataxis 121. Stufenweise
anuäherung an hypotaxis 12.i. Uebergang von aufforderuug und
frage in hypotaxis 124.
VII
Sei tu
( iij». Vll. lUMleiitiiiim'snaiuloI iiul" s.vii1ak1is(li<>iii «:('l»iot 125
Vergleiflmiif:: mit cleiu \v;uuk'l der wurtbe-dcutiinj?, iiiitiTscliicd
zwischen allgemeiner syntaktiselier bezieliuug- und der bezieliiing zu
einem bestimmten worte 125. Genitiv und regierendes subst. i2t'..
Objectsaceusativ \i6. Eection der präpnsitioueu 128. Apitositiun
und gen. partitivus 12S. Subject zu verben 129. Substant. und ad-
jectiviscbes präd. oder attribnt 130. Conjunetionen 131.
Cap. A'Ill. Coutainiuation i:)2
Kegrirt' 132. Contaminatiou auf lautlichem gebiet 132, auf .syn-
taktischem 133 ff. Momentane anomalieen 133, usuelle 133 ff.
Pleonasmus 137, auf dem gebiete der negation 13S.
Cap. IX. Urschöpfinig Uii
Bedingungen zur ursehüpfung noch jetzt vorhanden Ud. Sie
hat niemals ganz aufgehört 141. Anwendung der auf andern ge-
bieten der sprachlebeus gewonnenen erfahrungen auf die ursehüpfung
142. Der junge sjjrachstoff hauptsächlich bezeichnuugen tÜr ge-
räusche und bewegungen 143. Interjectionen 145. Ammensprache
140. Die ersten urschöpfungen ohne grammatische kategorie 147,
bezeichnen ganze anschauuugen 147, werden zunächst ohne absieht
der mitteilung hervorgebracht 14S. Unfähigkeit des Urmenschen zu
willkürlicher hervorbriugung von sprachlauten 149. Reproduction
notwendig für den begriff der spräche I5ii. Unterschied der menscli-
liehen und tierischen spräche 150.
Cap. X. Isolierung und reaction dagegen 152
Möglichkeit eines allgemeingültigen Systems der gruppieiuug für
jede entwickelungsperiode 152. Wechsel in diesem systeni 152.
Isolierung 152. Das system lediglich bedingt durch übereinstimnumg
in lautgestalt und bedeutung 153. Ursachen der Isolierung 153.
Zerstörung der etymologisch -lautlichen gruppen 153, der syntakti-
schen 154, der formalen und stofflichen a) durch den bedeutungs-
wandel 157, b) durch den lautwandel 159. Beaction mit hülfe der
ausgleichung 161. Beseitigung der durch die Stellung im satze ent-
standenen doppelformigkeit 162. Ausgleichung zwischen lautlich
differenzierten formen aus gleichem stamme oder Wörtern aus gleicher
Wurzel (stoffliche ausgleichung im gegensatz zu der formalen) 161.
Ungleichmässigkeiten im eintreten derselben in folge fördernder oder
hemmender umstände 165: lautliche momente 166, grössere oder ge-
ringere festigkeit des Zusammenhangs 16S, intensität der gedächt-
nissmässigen einprägung l7o, mitwirken der formalen gruppierung
171. Verwandlung eines zufällig entstandeneu bedeutungslosen Unter-
schiedes in einen bedeutungsvollen 172. Verwandlung von elementen
des wortstammes in flexionsendungen 177. Unabsichtlichkeit aller
lautlichen differenzieruug 1 7"?.
Cap. XI. Bildung neuer gruppen 179
Tilgung von unterschieden durch den lautwandel 179. Gänz-
licher zusammenfall 179. Zusammentreten unverwandter Wörter zu
stoftlichen gruppen: einfachste art der Volksetymologie ISO. Com-
pliciertere art der Volksetymologie durch lautliche Umformung 182^
Zusammenfall auf formalem gebiete und folgen dieses zusammen-
vin
falls a) bei functionclK-r ^Iciclilidt 18:5, b) bei tnnctionelliir ver-
sc-liieiU'nlieit 100.
Seite-
( :i|». \ll. KiiiMiiss der liindioiisvoräiuU'rung: auf die aualui,'-ioliilduu^- J,I3
Eintritt iu eine auderc gruppe veräudert die richtiiug der analogic-
bildung WKi. Folgen der Verwandlung eines appellativiims in einen
eigennamen l'.)3, eines casus in ein adverbium H):i, der verselimelzung
einer syntaktischen Verbindung zu einer worteiubeit I!I4. Erstarrung
1!I4. Einwirkung des bedeutungswandels auf die construction 19G.
Unideutuug einer construction unter dem einflusse einer syno-
nymen 199.
( ap. XIH. Verschiobniiiren in der giuppieriiiig der etymologiscli zu-
sainiiieuliäiigeiideii Wörter 201
Die gruppierung der etymologisch zusammenhängenden Wörter
und formen in den seelen einer späteren geueratiou muss vielliich
anders ausfiülen, als es der ursprünglichen bildungsweisc entsprechen
würde; die folge davon ist analoglebilduug, die aus dem gleise der
ursprünglichen bildungsgesetze heraustritt 21)1. Beispiele 201. Ver-
schmelzung zweier suffixe 203. Verschiebung der beziehuugeu in
der composition 2().).
(ap. XIV. Bedeiitungsdiffereiizierung 208
Ursachen der entstehung eines Überflusses in der spräche 2Ub.
Tendenz zur beseitigimg alles Überflusses 2(iS Blosse negative be-
seitigung und positive nutzbarmachung 2U'.i. Lautditferenzieruug zum
zwecke der bedeutuugsdifterenzierung nur scheinbar 2 Id. Arbeiten
über doppclworter 210. Fälle scheinbarer differenzierung 211. Bei-
spiele wirklicher dltferenzierung 212. Verwandte Vorgänge in folge
partieller gleichheit der bedeutung 210. Syntaktische differen-
zierung 2 IS.
(ap. XV. rsycliologisclie iiud ^rauimatisclie kategorie 219
Die anfängliche harmonie zwischen psychologischer und gram-
matischer kategorie wird im laufe der zeit gestört und sucht sich
dann wider herzustellen; die beobachtung dieser Vorgänge gibt be-
lehrung über die ursprüngliche entstehimg der grammatischen kate-
gorieen 21!'. Die einzelnen kategorieen: geschlecht 219, numerus
221, tempus 227, genus des verbums 232.
( ajt. XVI. Verschiebinig der syutalitischeii gliederiiiig 234
Widerstreit zwischen psychologischer und grammatischer gliede-
rung 23 1. Zweigliedrigkeit und vielgliedrigkeit 234. Psychologisches
prädicat 235, subject und bindeglieder 23fi. Satzglieder, die regel-
mässig psychologisches subj. oder präd. sind 23T. Umschreibungen
zur Vermeidung des Widerstreits 2:is. Au.sgleichung des Wider-
streits 23'«. Psychologisches verhältniss der adverbialen bestim-
mungen 239. .Seltenheit des Widerstreits in sprachen von geringer
formaler ausbildung 24o. Rollcntausch zwischen dem bestimmten
und der bestimmung 24(i. Auseinanderreissnng des grammatisch
eigentlich zusammengehörigen: adjectivum und abhängiger genitiv
242, substantivum und genitiv 243, verbnm und adverbium 244,
Infinitiv und davon abhängiges glied 245. Enstehung der verbin-
IX
(limgswiJrter 245. Verwandlung' von indirecter bczielniug: in direc-tc
2 l(i. Ein glied, was zu zwei verbundenen gliedern geli()rt. wird zum
ersten gezogen und zu der verbinduugspartiUel in relation gesetzt
247. Verschiebungen im zusammengesetztin satz 2 is \Y. Uol)ergang
von abliäugigkeit zur Selbständigkeit 2 Ui. Umkelirung des Verhält-
nisses von haui)t- und uebensatz 250. Durehbreehung der grenzen
zwischen haupt- und nebeusatz 25U.
Cap. XVII. Congrueuz 255
Cougrueuz ausgegangen von solchen tallen, in denen die Über-
einstimmung des einen wertes mit dem andern ohne rücksichtnahmc
auf dasselbe sich ergeben hat, und von da analogisch auf andere
fälle übertragen 255. Fälle, in denen seeundäre entstehung der con-
gruenz historisch verfolgbar ist 255. Schwanken der cougrueuz
zwischen zwei Satzteilen 258. Erste griindlagen der congruenz 2(i(i.
Va\>. XVIII. Sparsamkeit im aiisdniclc 2ti2
Sparsamere oder reichlichere Verwendung der sprachlichen mittel
vom bedürfniss abhängig 2()2. Die ansetzung von ellipsen ist ent-
weder auf ein minimum einzuschränken oder aber anzuerkennen,
dass es zum wesen des sprachlichen ausdrucks gehört elliptisch zu
sein 202. Ergänzung aus dem vorhergehenden oder folgenden 20;j.
Fehlen von mittelgliedern 26S. Ergänzung aus der Situation 271.
Cap. XIX. Entstellung der wortbilduug uud flexiou 274
Eutstehungsweise der etymologischen gruppen 274. Normale
entstehungsweise alles formellen in der spräche ist die composition
274. Entstehung der composition aus den verschiedenartigsten wort-
gruppen 275. Relativität des Unterschiedes zwischen compositum
und wortgruppe 277. Die lu-sache, wodurch eine wortgruppe zum
compositum wird, ist nicht engerer anschluss in der ausspräche oder
accent, sondern eine isolierung der Verbindung gegenüber ihrem
teilen 277. Entstehung von compositis aus copulativen Verbindungen
279, aus der Verbindung eines substantivums mit einer bestimmung
281, eines verbums mit einem adverbium 287, mit einem objects-
accusativ 289, mit einer präpositionellen bestimmung 29(i. Complexe,
die ohne zusammengeschrieben zu werden doch eigenschaften eines
compositums zeigen 29u. Coordination von compositionsglied und
selbständigem wort 29(». Lautveränderungen mit isolierender Wir-
kung 291. Grenzen, innerhalb deren ein compositum noch als solches
erscheint 292. Ursprung der ableitungs- und flexioussuftixe 294.
Kritik der analyse indogermanischer grundformen 297.
Cap. XX. Die Scheidung der redeteile 299
Die Scheidung der redeteile beruht nicht auf streng durchge-
führten logischen principien 299. Berücksichtigt sind dabei bedeu-
tung an sich, function im Satzgefüge, verhalten in bezug auf flexion
und Wortbildung 299. Kritik der üblichen einteiluug 299. Zwischen-
stufen uud Übergang zwischen den einzelnen redeteilen H(i2 ff. Subst.
und adj. 3U2. Nomen und verbum 307. Participium M)~. Nomen
ageutis 809. Nomen actionis .ilo. Infinitiv 310. Adverbium und
adjectivum 312. Präpositionen und conjunctionen 315.
Seite
Cap. XXI. Sprache iiud sclirift 32o
\oT7A\ge und luängel der schrift gegenüber der rede 320. Lei-
stmigstahigkelt der üblichen alphabcte 321. Verdeckung der mund-
artlichen Verschiedenheiten durch die schrift 32G. Unilihigkeit der
Schrift als controlle gegen lautveränderungen zu dienen 327. Ver-
selbständigung der schrift gegen die ausspräche 327, im zusammen-
hange mit der entwickehmg zu grösserer constauz in der Schreibung
329. Mittel zur erreichung dieser constanz 329. Aualogieen zwischen
der entwickelung der schrift und der spräche 330. Beseitigung des
Schwankens zwischen gleichwertigen lautzeicheu 330. Einwirkung
der etymologie 332. Zurückbleiben der schrift hinter der ausspräche.
Cap. XXII. Spraclimiscluiug 337
.Sprachmischung im weitern und engern sinne 337. Mischung
verschiedener sprachen, mundarteu, zeitstufen 337. Ausgang der
inischung von den einzelnen Individuen 337. Zweisprachigkeit 338.
Zwei hauptarten der beeinflussung durch ein fremdes idiom 339.
A) Aufnahme fremden Sprachmaterials 399 ff. Veranlassungen zur
aufnähme fremder Wörter 339. Stufen der eiubürgerung 340. Be-
handlung des fremden lautmaterials 340. Assimilierung der schon
aufgenommenen Wörter 342. Mehrfache entlehnung des nämlichen
Wortes 344. Widerangleichung eines lehnwortes an sein original 344.
Concurrenz mehrerer sprachen bei der entlehnung 345. Pleouastische
Verbindung eines einheimischen suffixes mit einem fremden 345. Ent-
lehnung von ableitungs- und flexionssuffixen 346. B) Beeinflussung
der inneren sprachform 347 ff. Dialectmischung 348. Entlehnung
aus einer älteren sprachstufe 349.
("ap. XXIII. Die genieinsprache 350
Die gemeinsprache nichts reales, sondern nur eine ideale norm
350, bestimmt durch den usus eines engen kreises 351. Schriftsprache
und Umgangssprache 351. Bühnensprache 352. Regelung der Schrift-
sprache 353. Discrepanz zwischen schrift- und Umgangssprache 350.
Natürliche und künstliehe spräche 357. Verschiebungen in dem Ver-
hältnisse der Individuen zur gemeinsprache 357. Zwischenstufen
zwischen gemeinsprache und mundart 302. Entstehung der gemein-
sprache 3(53.
Yerzeichiiiss von Al)liürzuiijj:oii.
Alulr. Volksot. — Andresi^ii über aeiitsclie volksetyniolosit'. Vierte aiit'liige.
Ileilbronn 188H.
Andr. Spr. = Andresen, Spraehgebraiu-li und spriichriclitigkeit im deiitselien.
Dritte aufläge. Heilbroiin iss;;.
Delbriiek ÖF. = Delbriiek, Syntaktische forseliiingen.
Diez = Diez, Graniniatik der ronianiselien spraelien (Vierte aiiriage).
Draeg.oderüraeger = Draeger, Historiselie syntax der lat«Mniselieii spräche (zweite
aufläge).
DWb. = Deutsches Wörterbuch von Jac. und Wilh. (h-inuii.
(Joe. = Goethe.
Le. = Lessing.
Lu. = Luther.
Madvig, Kl. sehr. = Madvig, Kleine Schriften.
Miitzner engl. = Miitzner, Englische gramniatik (zwt;ite aufläge).
Mätzner franz. = Miitzner, Syntax der neufranzösischen spräche.
Michaelis = Caroline Michaelis, Roiuanische Wortschöpfung.
Morph. Tut. =. Morphologische untersuclumgen auf dem gebiete der indo-
germanischen sprachen von Osthoff und Brugmann.
Schi. = Schiller.
Sh. = Shakespear.
Steinthal, Haupttyp. oder Typen ^ Steinthal, CÜiaracteristik der haupttypon des
menschlichen Sprachbaus.
Wegener = Wegener, Untersuchungen über die grimdfragen des sprach-
lebens, Halle 188.i.
Ziemer = Ziemer, Junggramnnrtische streifzüge im gebiete der syntax.
Colberg 1882.
Ziemer, Comp. = Ziemer, Vergleichende syntax der indogermanischen com-
paration, Berlin 1884.
Zschr. f. Völkerps. = Zeitschrift für Völkerpsychologie, herausg. von Lazarus und
Steinthal.
Einleitung.
Die spräche ist wie jedes erzeugniss meuselilieher eultur ein
gegeustaud der gesebiclitlicheu betraehtimg; aber wie jedem zweige
der g-esebichtswissenscbaft so uiuss aueli der Sprachgeschichte eiue
Wissenschaft zur seite stehen, welche sich mit den allgemeinen
lebensbedingungen des geschichtlich sich entwickelnden ob-
jectes beschäftigt, welche die in allem Wechsel sich gleich
bleibenden factoren nach ihrer natur und Wirksamkeit unter-
sucht. Es fehlt für diese Wissenschaft eine allgemein gültige und
passende bezeichnung. Unter Sprachphilosophie versteht man in der
regel doch etwas anderes. Und ausserdem dürfte es vielleicht aus
einem gründe geraten sein diesen ausdruck lieber zu vermeiden. Unser
unphilosophisches Zeitalter wittert darunter leicht metaphysische specu-
lationeu, von denen die historische Sprachforschung keine notiz zu
nehmen brauche. In Wahrheit aber ist das, was wir im sinne haben,
nicht mehr und nicht minder i)hilosophie als etwa die physik oder die
Physiologie. Am allerwenigsten darf man diesem allgemeinen teile der
Sprachwissenschaft den historischen als den empirischen gegenüber-
stellen. Der eine ist gerade so empirisch wie der andere.
Nur selten genügt es zum verständniss der geschichtlichen ent-
wickelung eines gegenständes die gesetze einer einzelnen einfachen
experimentalwisseuschaft zu kenneu; vielmehr liegt es in der natur
aller geschichtlichen bewegung, zumal wo es sich um irgend einen
zweig menschlicher eultur handelt, dass dabei sehr verschiedenartige
kräfte, deren weseu zu ergründen die aufgäbe sehr verschiedener
Wissenschaften ist, gleichzeitig in stätiger Wechselwirkung ihr spiel
treiben. Es ist somit natürlich, dass eiue solche aligemeine Wissen-
schaft, wie sie einer jeden historischen Wissenschaft als genaues pendant
gegenübersteht, nicht ein derartig abgeschlossenes ganzes darstellen
kann, wie die sogenannten exacten uaturwissenschaften, die mathe-
matik oder die psychologie. Vielmehr bildet sie ein conglomerat, das
aus verschiedenen reinen gesetzwissenschafteu oder in der regel aus
Paul, Principien. 11. Auflage. 1
Segmenten solcher Wissenschaften zusammengesetzt ist. Man wird
vielleicht bedenken tragen einer solchen Zusammenstellung, die immer
den Charakter des zufälligen an sich trägt, den namen einer Wissen-
schaft beizulegen. Aber mag man darüber denken, wie man will, das
geschichtliche Studium verlangt nun einmal die vereinigte beschäftigung
mit so disparaten dementen als notwendiges hülfsmittel, wo nicht
selbständige forschung, so doch aneignung der von andern gewonnenen
resultate. Man würde aber auch sehr irren, wenn man meinte, dass
mit der einfachen Zusammensetzung von stücken verschiedener Wissen-
schaften schon diejenige art der Wissenschaft gegeben sei, die wir hier
im äuge haben. Nein, es bleiben ihr noch aufgaben, um welche sich
die gesetzeswissenschaften, die sie als hülfsmittel benutzt, nicht be-
kümmern. Diese vergleichen ja die einzelnen Vorgänge unbekümmert
um ihr zeitliches verhältniss zu einander lediglich aus dem gesichts-
punkte die Übereinstimmungen und abweichungen aufzudecken und mit
hülfe davon das in allem Wechsel der erscheinungen ewig sich gleich
bleibende zu finden. Der begriff der entwickelung ist ihnen völlig
fremd, ja er scheint mit ihren principien unvereinbar, und sie stehen
daher in schroffem gegensatze zu den geschiehtswissenschaften. Diesen
gegensatz zu vermitteln ist eine betrachtungsweise erforderlich, die
mit mehr recht den namen einer geschichtsphilosophie verdienen würde,
als das, was man gewöhnlich damit bezeichnet. Wir wollen aber auch
hier das wort philosophie lieber vermeiden und uns der bezeichnung
principienwissenschaft bedienen. Ihr ist das schwierige problem
gestellt: wie ist unter der Voraussetzung constanter kräfte und Ver-
hältnisse doch eine geschichtliche entwickelung möglich, ein fortgang
von den einfachsten und primitivsten zu den compliciertesten gebilden?
Ihr verfahren unterscheidet sich noch in einer andern hinsieht von
dem der gesetzeswissenschaften, worauf ich schon oben hindeutete.
Während diese naturgemäss immer die Wirkung jeder einzelnen kraft
aus dem allgemeinen getriebe zu isolieren streben, um sie für sich in
ihrer reinen uatur zu erkennen, und dann durch aneinanderreihen des
gleichartigen ein System aufbauen, so hat im gegenteil die geschichtliche
principienlehre gerade das ineinandergreifen der einzelnen kräfte ins
äuge zu fassen, zu untersuchen, wie auch die verschiedenartigsten, um
deren verhältniss zu einander sich die gesetzeswissenschaften so wenig
als möglich kümmern, durch stätige Wechselwirkung einem gemein-
samen ziele zusteuern können. Selbstverständlich muss man, um das
ineinandergreifen des mannigfaltigen zu verstehen, möglichst klar da-
rüber sein, welche einzelnen kräfte dabei tätig sind, und welches die
natur ihrer Wirkungen ist. Dem zusammenfassen muss das isolieren
vorausgegangen sein. Denn so lange man noch mit unaufgelösten
eomplicatiüuen rechnet, ist mau uoeli uieht zu einer wissenschaftlichen
Verarbeitung des Stoffes durchgedrungen. Es ist somit klar dass die
priueipienwissenschaft in unserm sinne zwar auf der ])asis der experi-
mentellen gesetzeswissenschaften (wozu ich natürlich auch die Psycho-
logie rechne) ruht, aber doch auch ein gewichtiges mehr enthält, was
uns eben berechtigt ihr eine selbständige Stellung neben jenen anzuweisen.
Diese grosse Wissenschaft teilt sich in so viele zweige, als es
zweige der specielleu geschichte gibt, geschichte hier im weitesten
sinne genommen und nicht auf die eutwickelung des menschenge-
schlechtes beschränkt. Es ist von vornherein zu vemiuten, dass es
gewisse allgemeine grundbedingungen geben wird, welche für jede art
der geschichtlichen entfaltung die notwendige unterläge bilden; noch
sicherer aber ist, dass durch die besondere natur eines jeden objectes
seine entwickelung in besonderer weise bedingt sein muss. Wer es
unternimmt die prineipien irgend einer einzelnen geschichtlichen dis-
ciplin aufzustellen, der muss auf die übrigen, zumal die nächstver-
wandten zweige der gesehichtswissenschaft beständige rücksicht nehmen,
um so die allgemeinsten leitenden gesichtspunkte zu erfassen und nicht
wider aus den äugen zu verlieren. Aber er muss sich auf der andern
Seite davor hüten sich in blosse allgemeinheiten zu verirren und darüber
die genaue anpassuug an den speciellen fall zu versäumen, oder die
auf andern gebieten gewonnenen resultate in bildlicher anwendung zu
überü-agen, wodurch die eigentlich zu ergründenden reellen Verhält-
nisse nur verdeckt werden.
Erst durch die begründung solcher principienwissenschaften erhält
die specielle geschichtsforsehung ihren rechten wert. Erst dadurch er-
hebt sie sich über die aneinanderreihung scheinbar zufälliger daten
und nähert sich in bezug auf die allgemeingültige bedeutung ihrer
resultate den gesetzeswissenschaften, die ihr gar zu gern die eben-
büi-tigkeit sti-eitig machen möchten. Wenn so die prineipienwissenschaft
als das höchste ziel erscheint, auf welches alle anstrengungen der
Specialwissenschaft gerichtet sind, so ist auf der andern seite wider
die erstere die unentbehrliche leiterin der letzteren, ohne welche sie
mit Sicherheit keinen schritt tun kann, der über das einfach gegebene
hinausgeht, welches doch niemals anders vorliegt als einerseits frag-
mentarisch, anderseits in verwickelten complicationen , die erst gelöst
werden müssen. Die aufhellung der bedingungen des ge-
schichtlichen Werdens liefert neben der allgemeinen logik
zugleich die grundlage für die methodenlehre, welche bei der
feststellung jedes einzelnen factums zu befolgen ist.
Mau hat sich bisher keineswegs auf allen gebieten der historischen
forschung mit gleichem ernst und gleicher gründlichkeit um die prin-
cipieufrageu bemüht. Für die historiselieu zweige der naturwissen-
sebaft ist dies in viel höherem masse geschehen als für die cultur-
g-esehichte. Ursache ist einerseits, dass sich bei der letzteren viel
grössere Schwierigkeiten in den weg stellen. Sie hat es im allgemeinen
mit viel complicierteren faetoren zu tun, deren gewirr, so lange es
nicht aufgelöst ist, eine exacte erkenntniss des causalzusammenhangs
unmöglich macht. Dazu kommt, dass ihre wichtigste unterläge, die
experimentelle psychologie eine Wissenschaft von sehr jungem datum
ist, die man nur eben angefangen hat in beziehung zur geschichte zu
setzen. Anderseits aber ist in dem selben masse, wie die Schwierigkeit
eine grössere, das bedürfniss ein geringeres oder mindestens weniger
fühlbares gewesen. Für die geschichte des menschengeschlechts haben
immer von gleichzeitigen zeugen herstammende, wenn auch vielleicht
erst mannigfach vermittelte berichte über die tatsachen als eigentliche
quelle gegolten und erst in zweiter linie denkmäler, producte der
menschlichen cultur, die annähernd die gestalt bewahrt haben,
welche ihnen dieselbe gegeben hat. Ja man spricht von einer histo-
rischen und einer prähistorischen zeit, und bestimmt die grenze durch
den beginn der historischen Überlieferung. Für die erstere ist daher
das bild einer geschichtlichen entwickelung bereits gegeben, so entstellt
es auch sein mag, und es ist leicht begreiflich, wenn die Wissenschaft
mit einer kritischen reinigung dieses bildes sich genug getan zu haben
glaubt und sogar geflissentlich alle darüber hinaus gehende speculation
von sich abweist. Ganz anders verhält es sich mit der prähistorischen
periode der menschlichen cultur und gar mit der entwickelungsge-
schichte der organischen und anorganischen natur, die in unendlich
viel ferner liegende zeiten zurückgreift. Hier ist auch kaum das ge-
ringste geschichtliche dement als solches gegeben. Alle versuche einer
geschichtlichen erfassung bauen sich, abgesehen von dem wenigen, was
von den beobachtungen früherer zeiten überliefert ist, lediglich aus
rückschlüssen auf. Und es ist überhaupt gar kein resultat zu gewinnen
ohne erledigung der principiellen fragen, ohne feststellung der allge-
meinen bedingungen des geschichtlichen werdens. Diese principiellen
fragen haben daher immer im mittelpunkte der Untersuchung gestanden,
um sie hat sich immer der kämpf der meiuungen gedreht. Gegen-
wärtig ist es das gebiet der organischen natur, auf welchem er am
lebhaftesten geführt wird, und es muss anerkannt werden, dass hier
die für das verständniss aller geschichtlichen entwickelung, auch der
des menschengeschlechtes fruchtl)arsten gedauken zuerst zu einer ge-
wissen klarheit gediehen sind.
Die tendenz der Wissenschaft geht jetzt augenscheinlich dahin
diese speculative betrachtuugsweise auch auf die culturgeschichte aus-
zudehneu, und wir sind überzeugt, dass diese tendenz mehr und mehr
durehdring-en wird trotz allem activen und passiven widerstände, der
dagegen geleistet wird. Dass eine solehe bebandlungsweise für die
eulturwissensebaft niebt gleieb unentbebrliebes bedürfniss ist wie für
die naturwissensebaft, und dass man von ibr für die erstere niebt
gleieb weit gebende erfolge erwarten darf wie für die letztere, ba1)en
wir ja bereitwillig zugegeben. Aber damit sind wir niebt der ver-
pfliebtung entboben genau zu prüfen, wie weit wir gelangen können,
und selbst das eventuelle negative resultat dieser prüfung, die genaue
lixierung der sebranken unserer erkenntuiss ist unter umständen von
grossem werte. Wir baben aber aucb noch gar keine ursacbe daran
zu verzweifeln, dass sieb niebt wenigstens für gewisse gebiete aueb
bedeutende positive resultate gewinnen Hessen. Am wenigsten aber
darf man den methodologiseben gewinn geringscbätzen, der aus
einer klarlegung der prineipienfragen erwäebst. Man befindet sieb in
einer selbsttäusebung , wenn man meint das einfacbste bistoriscbe
factum obne eine zutat von speculation constatieren zu können. Man
speculieii; eben nur unbewusst und es ist einem glücklieben instinete
zu verdanken, wenn das richtige geti'oifen wird. Wir dürfen wol be-
haupten , dass bisher auch die gangbaren metboden der historischen
forschung mehr durch instinct gefunden sind als durch eine auf das
innerste wesen der dinge eingehende allseitige reflexion. Und die
natürliche folge davon ist, dass eine menge willkürlichkeiten mit unter-
laufen, woraus endloser streit der meinungen und schulen entsteht.
Hieraus gibt es nur einen ausweg: man muss mit allem ernst die
zurückführung dieser metboden auf die ersten grundprincipien in an-
griff nehmen und alles daraus beseitigen, was sich nicht aus diesen
ableiten lässt. Diese principien aber ergeben sich, soweit sie nicht
rein logischer natur sind, eben aus der Untersuchung des w^eseus der
historischen entwickelung.
Es gibt keinen zweig der cultur. bei dem sich die bedingungen
der entwickelung mit solcher exactbeit erkennen lassen als bei der
spräche, und daher keine culturwissenschaft, deren methode zu solchem
grade der Vollkommenheit gebracht werden kann wie die der Sprach-
wissenschaft. Keine andere hat bisher so weit über die grenzen der
Überlieferung hinausgreifen können, keine andere ist in dem masse
speculativ und constructiv verfahren. Diese eigentümlicbkcit ist es
hauptsächlich, wodurch sie als nähere verwandte der historischen natur-
wissenschaften erscheint, was zu der Verkehrtheit verleitet bat sie aus
dem kreise der eulturwissenscbaften ausschliessen zu wollen. Trotz
dieser Stellung, welche die Sprachwissenschaft schon seit ihrer be-
grüudung einnimmt, scheint noch viel daran zu fehlen, dass ihre me-
6
tliode schon bis zu demjenigen grade der Vollkommenheit ausgebildet
wäre, dessen sie fähig ist. Eben Jetzt sucht sich eine richtung bahn
zu brechen, die auf eine tiefgreifende Umgestaltung der methode hin-
drängt. Bei dem sti-eite, der sich darüber entsponnen hat, ist deutlich
zu tage getreten, wie gross noch bei vielen Sprachforschern die Unklar-
heit über die demente ihrer w'issenschaft ist. Eben dieser streit ist
auch die nächste veranlassung zur entstehung dieser abhandlung. Sie
will ihr möglichstes dazu beitragen eine klärung der anschauungen
herbeizuführen und eine Verständigung wenigstens unter allen den-
jenigen zu erzielen, welche einen offenen sinn für die Wahrheit mit-
bringen. Es ist zu diesem zwecke erforderlich möglichst allseitig die
bedingungen des sprachlebens darzulegen und somit überhaupt die
grundlinieu für eine theorie der sprachentwickelung zu ziehen.
Wir scheiden die historischen Wissenschaften im weiteren sinne
in die beiden hauptgruppen : historische naturwissenschaften
und eultur Wissenschaften. Als das charakteristische kennzeichen
der eultur müssen wir die betätigung psychischer factoren bezeichnen.
Dies scheint mir die einzig mögliche exacte abgrenzung des gebietes
gegen die objecte der reinen naturwissenschaft zu sein. Demnach
müssen wir allerdings auch eine tierische eultur anerkennen, die ent-
wickelungsgeschichte der kunsttriebe und der gesellschaftlichen Orga-
nisation bei den tieren zu den culturwisseuschaften rechnen. Für die
richtige beurteilung dieser Verhältnisse dürfte das nur förderlieh sein.
Das psychische dement ist der wesentlichste factor in
aller culturbewegung, um den sich alles dreht, und die
Psychologie ist daher die vornehmste basis aller in einem
höheren sinne gefassten culturwissenschaft. Das psychische
ist darum aber nicht der einzige factor; es gibt keine eultur
auf rein psychischer unterläge, und es ist daher mindestens
sehr ungenau die culturwisseuschaften als geisteswissenschaften zu
bezeichnen. In Wahrheit gibt es nur eine reine geisteswisseuschaft,
das ist die psychologie als gesetzwissenschaft. Sowie wir das gebiet
der historischen entwickelung betreten, haben wir es neben den psy-
chischen mit physischen kräften zu tun. Der menschliche geist
muss immer mit dem menschlichen leil)e und der umgebenden natur
zusammenwirken um irgend ein culturproduct hervorzubringen, und
die beschaflfenheit desselben, die art, wie es zu stände kommt, hängt
eben so wol von physischen als von psychischen bedingungen ab; die
einen wie die andern zu kennen ist notwendig für ein vollkommenes
verständniss des geschichtlichen werdens. Es bedarf daher neben der
psyeholog-ie auch eiucr kenntuiss der gesctze, nach denen h\q\\ die
physischen faetoreu der cultnr bewegen. Auch die natiirwissenseliaften
und die mathematik sind eine notwendige basis der eultiirwissen-
sehaften. Wenn uns das im allgemeinen nieht zum bewusstsein kommt,
so liegt das daran, dass wir uns gemeiniglich mit der unwissen-
schaftlichen beobachtung des täglichen lebens begnügen und damit
auch bei dem, was man gewidinlich unter geschichte versteht, leidlich
auskommen. Ist es doch dabei mit dem psychischen auch nicht anders
und namentlich bis auf die neueste zeit nicht anders gewesen. Aber
undenkbar ist es, dass man ohne eine summe von erfahrungen über
die physische möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Vorganges irgend
ein ereigniss der geschichte zu verstehen oder irgend welche art von
historischer kritik zu üben im stände wäre. Es ergibt sich demnach
als eine hauptaufgabe für die principienlehre der cultur-
wisensehaft, die allgemeinen bedingungen darzulegen, unter
denen die psychischen und physischen factoren, ihren
eigenartigen gesetzen folgend, dazu gelangen zu einem
gemeinsamen zwecke zusammenzuwirken.
Etwas anders stellt sich die aufgäbe der principienlehre von
folgendem gesiehtspunkte aus dar. Die culturwissenschaft ist
immer gesellschaftswissenschaft. Erst gesellschaft ermöglicht die
cultur, erst gesellschaft macht den menschen zu einem geschichtlichen
wesen. Gewiss hat auch eine ganz isolierte meuschenseele ihre ent-
wickelungsgeschichte , auch rücksichtlich des Verhältnisses zu ihrem
leibe und ihrer Umgebung, aber selbst die begal)teste vermöchte es
nur zu einer sehr primitiven ausbildung zu bringen, die mit dem tode
abgeschnitten wäre. Erst durch die Übertragung dessen, was ein
Individuum gewonnen hat, auf andere Individuen und durch das zu-
summenwirken mehrerer Individuen zu dem gleichen zwecke wird ein
Wachstum über diese engen schranken hinaus ermöglicht. Auf das
princip der arbeitsteilung und arbeitsvereinigung ist nicht nur die
wirtschaftliche, sondern jede art von cultur basiert. Die eigentüm-
lichste aufgäbe, welche der culturwisseuschaftlichen principienlehre
zufällt und wodurch sie ihre Selbständigkeit gegenüber den grund-
legenden gesetzeswissenschaften behauptet, dürfte demnach daiin be-
stehen, dass sie zu zeigen hat, wie die Wechselwirkung der Individuen
auf einander vor sich geht, wie sich der einzelne zur gesammtheit
verhält, empfangend und gebend, bestimmt und bestimmend, wie die
jüngere generation die erbschaft der älteren antritt.
Nach dieser seite hin kommt übrigens der culturgeschichte schon
die eutwickelungsgeschichte der organischen natur sehr nahe. Jeder
höhere Organismus kommt durch assoeiation einer menge von zellen
zu stände, die naeli dem prineipe der mbeitsteiliinij; zusammenwirken
und diesem i)rineipe gemäss in ihrer eonfiguratiou differenziert sind.
Auch schon innerhalb der einzelzelle, des elementarsten organischen
gebildes, ist dies princip wirksam, und durch dasselbe erhaltung der
form im Wechsel des Stoffes möglich. Jeder Organismus geht früher
oder später zu gründe, kann al)er ablösungeu aus seinem eigenen
vvesen hinterlassen, in denen das formative princip, nach welchem er
selbst gebildet war, lebendig fortwirkt, und dem jeder fortschritt,
welcher ihm in seiner eigenen bildung gelungen ist, zu gute kommt,
falls nicht störende einfliisse von aussen dazwischen treten.
Es dürfte scheinen, als ob unsere principienlehre der gesellschafts-
wissenschaft ungefähr das gleiche sei wie das, was Lazarus und
Steinthal Völkerpsychologie nennen und was sie in ihrer Zeit-
schrift zu vertreten suchen. Indessen fehlt viel, dass beides sich deckte.
Aus unsern bisherigen erörterungen geht schon hervor, dass unsere
Wissenschaft sich sehr viel mit nichtpsychologischem zu befassen hat.
Wir können die ein Wirkungen, welche der einzelne von der gesell-
schaft erfährt und die er seinerseits in Verbindung mit den andern
ausübt, unter vier hauptkategorieen bringen. Erstens: es werden in
ihm psychische gebilde, vorstellungscomplexe erzeugt, zu denen er,
ohne dass ihm von den andern vorgearbeitet wäre, niemals oder nur
sehr viel laugsamer gelangt wäre. Zweitens: er lernt mit den ver-
schiedenen teilen seines leibes gewisse zweckmässige bewegungen aus-
führen, die eventuell zur bewegung von fremden körpern, Werkzeugen
dienen; auch von diesen gilt, dass er sie ohne das vorbild anderer
vielleicht gar nicht, vielleicht langsamer gelernt hätte. Wir befinden
uns also hier auf physiologischem gebiete, aber immer zugleich auf
psychologischem. Die bewegung an sich ist physiologisch, aber die
erlangung des Vermögens zu willkürlicher regelung der bewegung,
worauf es hier eben ankommt , beruht auf der mitwirkung psycliischer
factoren. Drittens: es w^erden mit hülfe des menschlichen leibes
bearbeitete oder auch nur von dem orte ihrer entstehung zu irgend
einem dienste verrückte naturgegeustände, die dadurch zu Werkzeugen
oder capitalien werden, von einem Individuum auf das andere, von
der älteren generation auf die jüngere übertragen, und es findet eine
gemeinsame beteiligung verschiedener individuen bei der bearbeitung
oder verrückung dieser gegenstände statt. Viertens: die individuen
üben auf einander einen physischen zwang aus, der allerdings eben
so wol zum nachteil wie zum vorteil des fortschrittes sein kann, aber
vom wesen der cultur nicht zu trennen ist.
Von diesen vier kategorieen ist es jedenfalls nur die erste, mit
welcher nUth die Völkerpsychologie im sinne von Lazarus -Steinthal
9
hcscliäftiiit. PjS könnte sich also dannt aucli nur unj;vtälir derjenige
teil unserer priueipienlelire decken, der sieli auf diese erste katep>ric
bezieht. Aber abgesehen davon, dass dieselbe nicht bloss isoliert von
den übrigen betrachtet werden darf, so bleibt auch ausserdem das,
was ich im sinne habe, sehr verschieden von dem, was Lazarus und
Steinthal in der einleitung zu ihrer Zeitschrift (Bd. I, s. 1 — 73) als die
aufgäbe der Völkerpsychologie bezeichnen.
So sehr ich das verdienst beider männer um die psychologie
und speciell um die psychologische betrachtungsweise der geschichte
anerkennen muss, so scheinen mir doch die in dieser einleitung auf-
gestellten begriftsbestimmungen nicht haltbar, zum teil verwirrend und
die realen Verhältnisse verdeckend. Der grundgedauke, welcher sich
durcli das ganze hindurchzieht, ist der, dass die Völkerpsychologie
sich gerade so teils zu den einzelnen Völkern, teils zu der mensch-
heit als ganzes verhalte wie das, was man schlechthin psychologie
nennt, zum einzelnen menschen. Eben dieser grundgedanke beruht
meiner Überzeugung nach auf mehrfacher logischer Unterschiebung.
Und die Ursache dieser Unterschiebung glaube ich darin sehen zu
müssen, dass der fundamentale unterschied zwischen gesetzwissenschaft
und geschichtswissenschaft nicht festgehalten •) wird, sondern beides
immer unsicher in einander überschwankt.
') Angedeutet ist dieser unterschied allerdings, s. ■25ff., wo zwischen den
'synthetischen, rationalen' und den 'beschreibenden' disciplinen der naturwissen-
scliaft unterschieden und eine entsprechende einteilung der Völkerpsychologie ver-
sucht wird. Aber völlige Verwirrung herrscht z. b. s. 15 t!. Aus der tatsaehc, dass
es nur zwei formen alles seins und werdeus gibt, natur und geist, folgern die Ver-
fasser, dass es nur zwei klassen von realen wissensehafteu geben könne, eine, deren
gegenständ die natur, und eine, deren gegenständ der geist sei. Dabei wird also
nicht berücksichtigt, dass es auch Wissenschaften geben könne, die das ineinander-
wirken von natur und geist zu betrachten haben. Noch bedenklicher ist es, wenn
sie dann fortfahren: 'Demnach stehen sich gegenüber naturgeschichte und geschichte
der menschheit.' Hier muss zunächst geschichte in einem ganz andern sinne gefasst
sein, als den man gewöhnlich mit dem werte verbindet, als Wissenschaft von dem
geschehen, den Vorgängen. Wie kommt aber mit einem male 'mensch' an die
stelle von 'geist'. Beides ist doch weit entfernt sich zu decken. Weiter wird
zwischen natur und geist der unterschied aufgestellt, dass die natur sich in ewigem
kreislauf ihrer gesetzmässigen processe bewege, wobei die verschiedenen laufe ver-
einzelt, jeder tür sich blieben, wobei immer nur das schon dagewesene widererzeugt
würde und nichts neues entstünde, während der geist in einer reihe zusammen-
hängender Schöpfungen lebe, einen fortschritt zeige. Diese Unterscheidung, in
dieser allgemeinheit hingestellt, ist zweifellos unzutreffend. Auch die natur, die
organische mindestens sicher, bewegt sich in einer reihe zusammenhängender
Schöpfungen, auch in ihr gibt es einen fortschritt. Anderseits bewegt sich auch
der geist (das ist doch auch die ansehauung der vertasser) in einem gesetzmässigen
ablauf, in einer ewigen widerholung der gleichen grundprocesse. Es sind hier zwei
10
Der l)egTiff der völkeri)ayehologie selbst schwankt zwischen zwei
wesentlich verschiedenen aiiffassung-en. Einerseits wird sie als die
lehre von den allgemeinen bedingungen des geistigen lebens in der
gesellschaft gefasst, anderseits als Charakteristik der geistigen eig:en-
tiimlichkeit der verschiedenen Völker und Untersuchung der Ursachen,
aus denen diese eigentUmlichkeit entsprungen ist. S. 25 ff. werden
diese beiden verschiedenen auffassungen der Wissenschaft als zwei
teile der gesammtwissensehaft hingestellt, von denen der erste die
synthetische gruudlage des zweiten bildet. Nach keiner von beiden
auffassungen steht die Völkerpsychologie in dem angenommenen ver-
hältniss zur individualpsychologie.
Halten wir uns zunächst an die zweite, so kann der Charak-
teristik der verschiedenen Völker doch nur die Charakteristik ver-
schiedener Individuen entsprechen, üass nennt man aber nicht Psy-
chologie. Die Psychologie hat es niemals mit der concreten gestaltung
einer einzelnen menschenseele, sondern nur mit dem allgemeinen wesen
der seelischen Vorgänge zu tun. Was berechtigt uns daher den namen
dieser Wissenschaft für die beschreibung einer concreten gestaltung der
geistigen eigentUmlichkeit eines Volkes zu gebrauchen? Was die verf.
im sinne haben, ist nichts anderes als ein teil, und zwar der wich-
tigste, aber eigentlich nicht isolierbare teil dessen, was man sonst
culturgeschichte oder philologie genannt hat, nur auf psychologische
grundlage gestellt, wie sie heutzutage für alle culturgeschichtliche
forsehung verlangt werden muss. Es ist aber keine gesetz Wissenschaft
wie die psychologie und keine principienlehre oder, um den ausdruck
der verf. zu gebrauchen keine synthetische grundlage der cultur-
geschichte.
Die unrichtige parallelisierung hat noch zu weiteren bedenklichen
consequenzen geführt. Es handelt sich nach den Verfassern in der
Völkerpsychologie ' um den geist der gesammtheit, der noch verschieden
ist von allen zu derselben gehörenden einzelnen geistern, und der sie
alle beherrscht' (s. 5). Weiter heisst es (s. 11): Die Verhältnisse, welche
die Völkerpsychologie betrachtet, liegen teils im volksgeiste, als einer
gegensätze coufundiert, die völlig auseinander gehalten werden müssen, der zwischen
natur und geist einerseits und der zwischen gesetzinässigem process und geschicht-
licher entwickelung anderseits. Nur von dieser confusion aus ist es zu begreifen,
dass es die verf. überhaupt habeu in frage ziehen können, ob die psychologie zu
den natur- oder zu den geisteswissenschaften gehöre, und dass sie schliesslicli dazu
kommen ihr eine niittelstellung zwisclien beiden anzuweisen. Diese confusion ist
freilich die hergebrachte, von der man sich aber endlich losreissen sollte nach den
fortschritten, welche die psychologie einerseits, die Wissenschaft von der organischen
natur anderseits gemacht hat.
11
einlieit gedacht, zwischen den dementen desselben (wie z. b. das ver-
hältuiss zwischen religion und kunst, zwischen staat und Sittlichkeit,
spräche und intelligenz u. dgl. ni.), teils zwischen den cinzclgeistern,
die das volk bilden. Es treten also hier die selben grundprocesse
hervor, wie in der individuellen iisycholope, nur coni]tlicierter oder
ausgedehnter'. Das heisst durch hy})Ostasierung- einer reihe von ab-
stractionen das wahre wesen der Vorgänge verdecken. Alle psychischen
processe vollziehen sich in den einzelgeistern und nirgends sonst.
Weder volksgeist noch demente des volksgeistes wie kunst, rdigion etc.
haben eine concrete existenz und folglich kann auch nichts in ihnen
und zwischen ihnen vorgehen. Daher weg mit diesen abstractionen.
Denn 'weg mit allen abstractionen' muss für uns das losuugswort sein,
wenn wir irgendwo die factoreu des wirklichen geschehens zu be-
stimmen versuchen wollen, i) Ich will den Verfassern keinen grossen
Vorwurf macheu wiegen eines fehlers, dem man in der Wissenschaft
noch auf schritt und tritt begegnet, und vor dem sich der umsichtigste
und am tiefsten eindringende nicht immer bewahrt. Mancher forscher,
der sich auf der höhe des neunzehnten Jahrhunderts flihlt, lächelt wol
vornehm über den streit der mittelalterlichen uominalisten und realisten,
und begreift nicht, wie man hat dazu kommen können, die abstractionen
des menschlichen Verstandes für realiter existierende dinge zu erklären.
Aber die unbewussten realisten sind bei uns noch lange nicht aus-
gestorben, nicht einmal unter den naturforschern. Und vollends unter
den eulturforschern treiben sie ihr wesen recht munter fort, und darunter
namentlich diejenige klasse, welche es allen übrigen zuvorzutun wähnt,
wenn sie nur in Darwinistischen gleichnissen redet. Doch ganz ab-
gesehen von diesem unfug, die zeiten der Scholastik, ja sogar die der
mythologie liegen noch lange nicht soweit hinter uns, als man wol
meint, unser sinn ist noch gar zu sehr in den banden dieser beiden
befangen, weil sie unsere spräche beherrschen, die gar nicht von ihnen
loskommen kann. Wer nicht die nötige gedankenanstrengung an-
wendet um sieh von der herrschaft des Wortes zu befreien, wird sich
niemals zu einer unbefangenen anschauung der dinge aufschwingen.
Die Psychologie ward zur Wissenschaft in dem augenblicke, wo sie
^) Misteli, Ztschr. f. Völkerps. XIII, 385 hat mich merkwürdigerweise so miss-
vcrstanden, dass er meint, ich wolle überhaupt keine abstractionen gemacht wissen,
während ich natürlich nur meine, dass sich keine abstractionen störend zwischen
das äuge des beobachters und die wirklichen dinge stellen sollen, die ihn hindern
den causalzusammenhang unter den letzteren zu erfassen. Die belehrung, die er
mir über den wert des abstrahierens erteilt, ist daher eben so überflüssig wie seine
kritische bemerkuug darüber, dass ich ja noch weiter gehender^ abstractionen mache
als andere.
12
die altstraetionen der seelenverniögen nicht melir als etwas reelles
anerkannte. So wird es vielleicht noch auf manchen gebieten gelingen
bedeutendes zu gewinnen lediglich durch beseitigung der zu realitäten
gestempelten abstractioneu , die sich störend zwischen das äuge des
bcobachters und die concreten erscheinungen stellen.
Diese bemerkuugen bitte ich nicht als eine blosse abschweifung
zu betrachten.^) Sie deuten auf das, was wir selbst im folgenden
rücksichtlich der sprachentwäckelung zu beobachten haben, was da-
gegen die darstellung von Lazarus-Steinthal gar nicht als etwas zu
leistendes erkennen lässt. Wir gelangen von hier aus auch zur kritik
der ersten auffassung des begriifs völkeipsychologie.
Da vnr natürlich auch hier nicht mit einem gesammtgeiste und
elementen dieses gesammtgeistes rechnen dürfen, so kann es sich in
der 'Völkerpsychologie' jedenfalls nur um Verhältnisse z^\^sehen den
einzelgeistern handeln. Aber auch für die Wechselwirkung dieser ist
die behauptuug, dass dabei die selben grundprocesse hervortreten wie
in der individuellen psychologie, nur in einem ganz bestimmten ver-
ständniss zulässig, worüber es einer näheren erklärung bedürfte. Jeden-
falls verhält es sich nicht so, dass die Vorstellungen, wie sie innerhalb
einer seele auf einander wirken, so auch über die schranken der
einzelseele hinaus auf die Vorstellungen anderer seelen wirkten. Eben-
sowenig wirken etwa die gesammten vorstellungscomplexe der einzelnen
Seelen in einer analogen weise auf einander wie innerhalb der seele
des individuums die einzelnen Vorstellungen. Vielmehr ist es eine
tatsache von fundamentaler bedeutung, die wir niemals aus
dem äuge verlieren dürfen, dass alle rein psychische Wechsel-
wirkung sich nur innerhalb der einzelseele vollzieht. Aller
') Trotz dieser ausdriickliclieu bitte bemerkt L. Tobler, Lit.-Bl. f. germ. und
rom. phü. 1S81, sp. 122 über meine einleitimg: „Alle diese einleitenden begriffsbe-
stimmungcn fallen mehr in den bereich einer philosophischen Zeitschrift und üben
auf den weitern verlauf der darstellung keinen einfluss''. Und Misteli, a. a. o. s. 400
tritt ihm bei und meint, er hätte nur noch hinzufügen können: glücklicherweise.
Ich muss gestehen, es ist niederschlagend für mich, dass zwei gelehrte, die doch
gerade Interesse für allgemeine fragen bekunden, so wenig erkannt haben, was der
eigentliche angelpunkt meines ganzen werkes ist. Alles dreht sich mir darum die
sprachentwickelung aus der Wechselwirkung abzuleiten, welche die Individuen auf
einander ausüben. Eine kritik der Lazarns-Steinthalschen anschaimngen , deren
fehler eben in der nichtberücksichtigung dieser Wechselwirkung besteht, hängt
daher auf das engste mit der gesammttendenz meines buches zusammen. Misteli
ist überhaupt der ansieht, dass meine allgemeinen theoretischen erörterungen von
dem sjtrach forscher nicht berücksichtigt zu werden brauchten, und dass dieser mit
den herkömmlichen grammatischen katcgoricen auskommen könnte. Damit wird
der alte dualismus zwischen philosophie und Wissenschaft sanctiouiert, den zu über-
winden wir heutzutage mit aller macht streben sollten.
13
verkehr der seeleu unter einander ist nur ein indirecter,
auf physiselieiu wege vermittelter. Fassen wir daher die psy-
ehologie im llerbartsehen sinne als die Wissenschaft von dem verhalten
der Vorstellungen zu einander, so kann es nur eine individuelle psy-
eholog-ie gehen, der man keine völkeri)sychologie oder wie man es
sonst nennen mag gegenüber stellen darf
Man fügt nun aber wol in der darstellung der individuellen psy-
ehologie diesem allgemeinen einen zweiten speeiellen teil hinzu, wel-
cher die entwickluugsgeschichte der complicierteren vorstelluugsmassen
behandelt, die wir erfahrungsmässig- in uns selbst und den von uns zu
beobachtenden Individuen in wesentlich übereinstimmender weise finden.
Dagegen ist nichts einzuwenden, so lange mau sich nur des funda-
mentalen gegeusatzes bewusst bleibt, der zwischen beiden teilen be-
steht. Der zweite ist nicht mehr gesetzwisseuschaft, sondern geschichte.
Es ist leicht zu sehen, dass diese complicierteren gebilde nur dadurch
haben entstehen können, dass das Individuum mit einer reihe von an-
dern Individuen in gesellschaft lebt. Und um tiefer in das geheimniss
ihrer entstehung einzudringen, muss man sich die verschiedenen Stadien,
welche sie nach und nach in den früheren Individuen durchlaufen
haben, zu veranschaulichen suchen. Von hier aus sind offenbar Lazarus
und Steinthal zu dem begriff der Völkerpsychologie gelangt. Aber
ebensowenig wie eine historische darstellung, welche schildert, wie
diese entwicklung wirklich vor sich gegangen ist, mit recht psj^cho-
logie genannt wird, ebensowenig wird es die principienwissenschaft,
welche zeigt, wie im allgemeinen eine derartige entwickelung zu stände
kommen kann. Was au dieser entwickelung psychisch ist, vollzieht
sich innerhalb der einzelseele nach den allgemeinen gesetzeu der indi-
viduellen Psychologie. Alles das aber, wodurch die Wirkung des einen
Individuums auf das andere ermöglicht wird, ist nicht psychisch.
Wenn ich von den verschiedenen Stadien in der entwickelung
der psychischen gebilde gesprochen habe, so habe ich mich der ge-
wöhnlichen bildlichen ausdrucksweise bedient. Nach unsern bisherigen
auseinandersetzungen ist nicht daran zu denken, dass ein gebilde, wie
es sich in der einen seele gestaltet hat, wirklich die reale unterläge
sein kann, aus der ein gebilde der andern entspringt. Vielmehr muss
jede seele ganz von vorn anfangen. Mann kann nichts schon gebil-
detes in sie hineinlegen, sondern alles muss in ihr von den ersten
anfangen an neu geschaffen werden, die primitiven Vorstellungen durch
physiologische erregungen, die vorstellungscomplexe durch Verhältnisse,
in welche die primitiven Vorstellungen innerhalb der seele selbst zu
einander getreten sind. Um die einer in ihr selbst entsprungenen ent-
sprechende Vorstellungsverbindung in einer anderen seele hervorzu-
14
rufen kann die seele nichts anderes tun, als vermittelst der motori-
schen nerven ein physisches product erzeugen, welches seinerseits
wider vermittelst erregung der sensitiven nerven des andern Indivi-
duums in der seele desselben die entsprechenden vorstellung-en her-
vorruft, und zwar entsprechend associiert. Die wichtigsten unter den
diesem zwecke dienenden physischen producten sind eben die sprach-
laute. Andere sind die sonstigen töne, ferner mienen, gebährden.
bilder etc.
Was diese physischen producte befähigt als mittel zur Übertragung
von Vorstellungen auf ein anderes Individuum zu dienen ist entweder
eine innere, directe beziehung zu den betreffenden Vorstellungen
(man denke z. b. an einen schmerzensschrei, eine gebährde der wut)
oder eine durch ideenassociation vermittelte Verbindung, wobei
also die in directer beziehung zu dem physischen Werkzeuge stehende
Vorstellung das bindeglied zwischen diesem und der mitgeteilten Vor-
stellung bildet; das ist der fall bei der spräche.
Durch diese art der mitteilung kann kein vorstellungsinhalt in
der seele neu geschaffen werden. Der inhalt, um den es sich handelt,
muss vielmehr schon vorher darin sein, durch physiologische erreguugen
hervorgerufen. Die Wirkung der mitteilung kann nur die sein, dass
gewisse in der seele ruhende vorstelluugsmassen dadurch erregt, even-
tuell auf die schwelle des bewusstseins gehoben werden, wodurch
unter umständen neue Verbindungen zwischen denselben geschaffen
oder alte befestigt werden.
Der vorstellungsinhalt selbst ist also untibertragbar.
Alles, was wir von dem eines andern Individuums zu wissen
glauben, beruht nur auf Schlüssen aus unserem eigenen.
Wir setzen dabei voraus, dass die fremde seele in dem selben ver-
hältniss zur aussenwelt steht wie die unsrige, dass die nämlichen
physischen eindrücke in ihr die gleichen Vorstellungen erzeugen wie
in der unsrigen, und dass diese Vorstellungen sich in der gleichen
weise verbinden. Ein gewisser grad von Übereinstimmung in der
geistigen und körperlichen Organisation, in der umgebenden natur und
den erlebnissen ist demnach die Vorbedingung für die möglichkeit
einer Verständigung zwischen verschiedenen Individuen. Je grösser
die Übereinstimmung, desto leichter die Verständigung. Umgekehrt
bedingt jede \ erschiedenheit in dieser beziehung nicht nur die möglich-
keit, sondern die notwendigkeit des nichtverstehens, des unvollkommenen
Verständnisses oder des missverständnisses.
Am weitesten reicht die Verständigung durch diejenigen physischen
mittel, welche in directer beziehung zu den mitgeteilten Vorstellungen
stehen; denn diese fliesst häufig schon aus dem allgemein überein-
15
stimmendeu iu der menschliehen natiir. Dagegen, wo die beziehinig
eine iudireete ist. wird vorausgesetzt, dass in den verseliiedenen seelen
die gleiche assoeiation geknüpft ist, was übereinstimmende erfahrimg
voraussetzt. Man muss es demnach als selbstverständlich voraussetzen,
dass alle mitteilung unter den menschen mit der ersteren art begonnen
hat und erst von da zu der letzteren übergegangen ist. Zugleich muss
hervorgehoben werden, dass die mittel der ersten art bestimmt be-
schränkte sind, während sich in bezug auf die der zweiten ein un-
begrenzter Spielraum darbietet, weil bei willkürlicher assoeiation un-
endlich viele combinationen möglich sind.
Fragen wir nun, worauf es denn eigentlich beruht, dass das Indi-
viduum, trotzdem es sich seinen vorstellungskreis selbst schaften muss,
doch durch die gesellschaft eine bestimmte richtung seiner geistigen
entwickelung erhält und eine weit höhere ausbildung, als es im sonder-
leben zu erwerben vermöchte, so müssen wir als den wesentlichen
punkt bezeichnen die Verwandlung indirecter associationen in
directe. Diese Verwandlung vollzieht sich innerhalb der einzelseele,
das gewonnene resultat aber wird auf andere seelen übertragen, natür-
lich durch physische vermitteluug in der geschilderten weise. Der
gewinn besteht also darin, dass in diesen anderen seelen die vor-
stellungsmassen nicht wider den gleichen umweg zu machen brauchen
um an einander zu kommen wie in der ersten seele. Ein ge^vinn ist
also das namentlich dann, wenn die vermittelnden Verbindungen im
vergleich zu der schliesslich resultierenden Verbindung von unter-
geordnetem werte sind. Durch solche ersparniss an arbeit und zeit,
zu welcher ein Individuum dem andern verholfen hat, ist dieses widerum
im Stande, das ersparte zur herstellung einer weiteren Verbindung- zu
verwenden, zu der das erste Individuum die zeit nicht mehr übrig hatte.
Mit der Überlieferung einer aus einer indirecten in eine directe
verwandelten Verbindung ist nicht auch die ideenbewegung überliefert,
welche zuerst zur entstehung dieser Verbindung geführt hat. Wenn
z. b. jemandem der Pythagoräische lehrsatz überliefert wird, so weiss
er dadurch nicht, auf welche weise derselbe zuerst gefunden ist. Er
kann dann einfach bei der ihm gegebenen directen Verbindung stehen
bleiben, er kann auch durch eigene schöpferische combination den
satz mit andern ihm schon bekannten mathematischen Sätzen vermitteln,
wobei er allerdings ein sehr viel leichteres spiel hat als der erste
tiuder. Sind aber, wie es hier der fall ist, verschiedene vermittelungeu
möglich, so braucht er nicht gerade auf die selbe zu verfallen wie
der erste finder.
Es erhellt also, dass bei diesem wichtigen process, indem der
anfangs- und endpunkt einer vorstellungsreihe in direeter Verknüpfung
16
überliefert werden, die mittelglieder, welche ursprünglieli diese ver-
kuiipfimg herstellen halfen, zu einem grossen teile für die folgende
generatiou verloren gehen müssen. Das ist in vielen fällen eine heil-
same eutlastung von unnützem ballast, wodurch der für eine höhere
eutvs^ickelung notwendige räum geschaffen wird. Aber die erkenntnis^
der geuesis wird dadurch natürlich ausserordentlich erschwert.
Nach diesen für alle culturentwickelung geltenden bemerkuugen,
deren specielle auwendung auf die Sprachgeschichte uns weiter unten
zu beschäftigen hat, wollen wir jetzt versuchen, die wichtigsten eigen-
tümlichkeiten hervorzuheben, wodurch sich die Sprachwissenschaft
von andern culturwissenschaften unterscheidet. Indem wir die factoren
ins äuge fassen, mit denen sie zu rechnen hat, wird es uns schon
hier gelingen unsere behauptung zu rechtfertigen, dass die Sprach-
wissenschaft unter allen historischen Wissenschaften die sichersten und
exactesten resultate zu liefern im stände ist.
Jede erfahrungswissenschaft erhebt sich zu um so grösserer
cxactheit, je mehr es ihr gelingt in den erscheinuugen, mit denen
sie zu schaffen hat, die Wirksamkeit der einzelnen factoren
isoliert zu betrachten. Hierin liegt ja eigentlich der specifische
unterschied der wissenschaftlichen betrachtungsweise von der popu-
lären. Die Isolierung gelingt natürlich um so schwerer, je verschlungener
die . complicationen , in denen die erscheinungen an sich gegeben sind.
Nach dieser seite hin sind wir bei der spräche besonders günstig
gestellt. Das gilt allerdings nicht, wenn man den ganzen materiellen
Inhalt ins äuge fasst, der in ihr niedergelegt ist. Da findet man
allerdings, dass alles, was irgendwie die menschliche seele berührt
hat, die leibliche Organisation, die umgebende natur, die gesammte
cultur, alle erfahrungen und erlebnisse Wirkungen in der spräche
hinterlassen haben, dass sie daher von diesem gesichtspunkte aus
betrachtet, von den allermannigfachsten , von allen irgend denkbaren
factoren abhängig ist. Aber diesen materiellen iuhalt zu betrachten
ist nicht die eigentümliche aufgäbe der Sprachwissenschaft. Dazu kann
sie nur in Verbindung mit allen übrigen culturwissenschaften beitragen.
►Sie hat für sich nur die Verhältnisse zu betrachten, in welche dieser
Vorstellungsinhalt zu bestimmten lautgruppen tritt. So kommen von
den oben s. 8 angegebenen vier kategorieen der gesellschaftlichen
einwirkung für die spräche nur die ersten beiden in betracht. Man
braucht auch vornehmlich nur zwei gesetzeswissenschaften als unter-
läge der Sprachwissenschaft, die psychologie und die physiologie, und
zwar von der letzteren nur gewisse teile. Was man gewöhnlich unter
lautjjhysiologie oder phouetik versteht, l)egreift allerdings nicht alle
physiologischen Vorgänge in sich, die zur Sprechtätigkeit gehören,
17
nämlicli uiebt die erreg'uug der motorischeu uerveu, wodurch die
spracborgaue in beweguug- gesetzt werden. Es würde ferner auch die
akustik, sowol als teil der physik wie als teil der physiologie iu
betracbt kommen. Die akustiscbeii Vorgänge aber sind nicht unmittelbar
von den psychischen beeinflusst, sondern nur mittelbar, durch die laut-
])bysiologischen. Durch diese sind sie derartig bestimmt, dass nach
dem einmal gegebenen anstosse ihr verlauf im allgemeinen keine ab-
lenkungen mehr erfahrt, wenigstens keine solche, die für das wesen
der spräche von belang sind. Unter diesen umständen ist ein tieferes
eindringen in diese Vorgänge für das verständniss der sprachentwickelung
jedenfalls nicht in dem masse erforderlich wie die erkenntniss der bewegung
der Sprechorgane. Damit soll nicht behauptet werden, dass nicht vielleicht
auch einmal aus der akustik manche aufschlüsse zu holen sein werden.
Die verhältnissmässige einfachheit der sprachlichen Vorgänge tritt
deutlich hervor, wenn wir etwa die wirtschaftlichen damit vergleichen.
Hier handelt es sich um eine Wechselwirkung sämmtlicher physischen
und psychischen factoren, zu denen der mensch in irgend eine be-
ziehung tritt. Auch den ernstesten bemühuugen wird es niemals
gelingen die rolle, welche jeder einzelne unter diesen factoren dabei
spielt, vollständig klar zu legen.
Ein weiterer punkt von belang ist folgender. Jede sprachliche
Schöpfung ist stets nur das werk eines Individuums. Es künuen
mehrere das gleiche schaffen. Aber der akt des schaftens ist darum
kein anderer und das product kein anderes. Niemals schaffen mehrere
Individuen etwas zusammen, mit vereinigten kräften, mit verteilten
rollen. Ganz anders ist das wider auf wirtschaftlichem oder politischem
gebiete. Wie es innerhalb der wirtschaftliehen und politischen ent-
wickelung selbst immer schwieriger wird die Verhältnisse zu durch-
schauen, je mehr Vereinigung der kräfte, je mehr Verteilung der rollen
sich herausbildet, so sind auch die einfachsten Verhältnisse auf diesen
gebieten schon weniger durchsichtig als die sprachlichen. Allerdings
insofern, als eine sprachliche Schöpfung auf ein anderes Individuum
übertragen und von diesem umgeschaffen wird, als dieser process sich
immer von neuem widerholt, findet allerdings auch hier eine arbeits-
teilung und arbeitsvereinigung statt, ohne die ja, wie wir gesehen
haben, überhaupt keine cultur zu denken ist. Und wo in unserer
Überlieferung eine anzahl von Zwischenstufen fehlen, da ist auch der
Sprachforscher in der läge verwickelte complicationen auflösen zu
müssen, die nicht sowol durch das zusammenwirken als durch das
nacheinanderwirken verschiedener Individuen entstanden sind.
Es ist ferner auch nach dieser seite hin von grosser Wichtigkeit,
dass die sprachlichen gebilde ohne absieht geschaffen werden, min-
Paul, Principien. II. Auflage. 2
i
18
destens ohne die absieht etwas bleibendes festzusetzen, und ohne dass
sieh das individuum seiner schöpferischen tätigkeit bewusst wird. In
dieser hinsieht unterscheidet sich die si)rachbildung namentlich von
aller künstlerischen produetion. Die unabsichtlichkeit, wie wir sie hier
als eharacteristicum hinstellen, ist freilich nicht so allgemein anerkannt
und ist noch im einzelnen zu erweisen. Man muss aber dabei unter-
scheiden zwischen der natürlichen entwickelung der spräche und der
künstlichen, die durch ein bewusstes regelndes eingreifen zu stände
kommt. Solche absichtlichen bemühungen beziehen sich fast aus-
schliesslich auf die herstellung einer gemeinsprache in einem dialectisch
gespaltenen gebiete. Wir müssen im folgenden zunächst gänzlich von
denselben abstrahieren, um das reine walten der natürlichen entwicke-
lung kennen zu lernen, und erst dann ihre Wirksamkeit in einem be-
sondern abschnitte behandeln. Zu diesem verfahren sind wir nicht
nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Wir würden sonst ebenso
handeln wie der zoologe oder der botaniker, der um die entstehung
der heutigen tier- und pflanzenweit zu erklären, überall mit der an-
nähme künstlicher Züchtung und Veredlung operierte. Der vergleich
ist in der tat in hohem grade zutreftend. Wie der Viehzüchter oder
der gärtner niemals etwas rein willkürlich aus nichts erschafi"en können,
sondern mit allen ihren versuchen auf eine nur innerhalb bestimmter
sehranken mögliche Umbildung des natürlich erwachsenen angewiesen
sind, so entsteht auch eine künstliche spräche nur auf grundlage einer
natürlichen. So wenig durch irgend welche Veredlung die Wirksam-
keit derjenigen factoren aufgehoben werden kann, welche die natür-
liche entwickelung bestimmen, so wenig kann das auf sprachlichem
gebiete durch absichtliche regelung geschehen. Sie wirken trotz alles
eingreifens ungestört weiter fort, und alles, was, auf künstlichem wege
gebildet, in die spräche aufgenommen ist, verfällt dem spiel ihrer kräfte.
Es wäre nun zu zeigen, inwiefern die absichtslosigkeit der sprach-
lichen Vorgänge es erleichtert, ihr wesen zu durchschauen. Zunächst
folgt daraus wider, dass dieselben verhältnissmässig einfach sein müssen.
Bei jeder Veränderung kann nur ein kurzer schritt getan werden. Wie
wäre das anders möglich, wenn sie ohne berechnung erfolgt und, wie
es meistens der fall ist, ohne dass der sprechende eine ahnung davon
hat, dass er etwas nicht schon vorher dagewesenes hervorbringt?
Freilich kommt es dann aber auch darauf an die indicien, durch
welche sich diese Vorgänge documentieren, möglichst schritt für schritt
zu verfolgen. Aus der einfachheit der sprachliehen Vorgänge folgt nun
aber auch, dass sich dabei die individuelle eigentümlichkeit nicht
stark geltend machen kann. Die einfachsten psychischen processe
sind Ja bei allen Individuen die gleichen, ihre besonderheiten beruhen
19
uur auf verschiedenartiger combiDation dieser einfachen processe. Die
grosse g-leichniässigkeit aller sprachlichen Vorgänge in den
verschiedensten individuen ist die wesentlichste basis für
eine exaet wissenschaftliche erkeuntniss derselben.
So fällt denn auch die erleruung der simiche in eine frühe ent-
wickehmgsperiüde, in welcher überhaupt bei allen psychischen Pro-
cessen noch wenig absichtlichkeit und bewusstseiu, noch wenig Indi-
vidualität vorhanden ist. Und ebenso verhält es sich mit derjenigen
periode in der eutwickeluug des menschengeschleehts, welche die
spräche zuerst geschaffen hat.
Wäre die spräche nicht so sehr auf grundlage des gemeinsamen
in der menschlichen natur aufgebaut, so wäre sie auch nicht das ge-
eignete Werkzeug für den allgemeinen verkehr. Umgekehrt, dass sie
als solches dient, hat zur notwendigen cousequenz, dass sie alles rein
individuelle, was sich ihr doch etwa aufzudrängen versucht, zurück-
stösst, dass sie nichts aufnimmt und bewahrt, als was durch die Über-
einstimmung einer auzahl mit einander in Verbindung befindlicher indi-
viduen sanetioniert wird.
Unser satz, dass die unabsichtlichkeit der Vorgänge eine exacte
wissenschaftliche erkenntniss begünstige, ist leicht aus der geschichte
der übrigen culturzweige zu bestätigen. Die entwickelung der socialen
Verhältnisse, des rechts, der religion, der poesie und aller übrigen
küuste zeigt um so mehr gleichförmigkeit, macht um so mehr den ein-
druck der naturnotweudigkeit, je primitiver die stufe ist, auf der man
sich befindet. Während sich auf diesen gebieten immer mehr absicht-
lichkeit, immer mehr Individualismus geltend gemacht hat, ist die
spräche nach dieser seite hin viel mehr bei dem ursprünglichen zu-
stande st-^heu geblieben. Sie erweist sich auch dadurch als der urgrund
aller höheren geistigen entwickelung im einzelnen menschen wie im
ganzen geschlecht.
Ich habe es noch kurz zu rechtfertigen, dass ich den titel Prin-
cipien der Sprachgeschichte gewählt habe. Es ist eingewendet, dass
es noch eine andere wissenschaftliche betrachtung der spräche gäbe,
als die geschichtliche.') Ich muss das in abrede stellen. Was mau
für eine nichtgeschtliche und doch wissenschaftliche beti-achtuug der
spräche erklärt, ist im gründe nichts als eine unvollkommen geschicht-
liche, unvollkommen teils durch schuld des betrachters, teils durch
schuld des beobachtungsmaterials. Sobald man über das blosse cou-
1) Vgl. Misteli a. a. o. s. ;i82 flf.
2*
20
statieren von einzelheiten hinausgeht, sohaltl mau versucht den zu-
samnieiihaiii;' zu cifayseii, die erscheimmgeii zu liegreifeu, so betritt
mau auch deu gesehichtliehen bodeu, weuu auch vielleicht ohne sich
klar darüber zu sein. Allerdings ist eine wissenschaftliche behaudlung
der spräche nicht bloss möglich, wo uns verschiedene entwickelungs-
stufeu der gleichen spräche vorliegen, sondern auch bei einem neben-
einanderliegen des zu geböte stehenden materials. Am günstigsten
liegt dann die sache, wenn uns mehrere verwandte sprachen oder niund-
arten bekannt sind, • Dann ist es aufgäbe der Wissenschaft, nicht bloss
zu constatieren , was sich in den verschiedenen sprachen oder mund-
arteu gegenseitig entspricht, sondern aus dem überlieferten die nicht
überlieferten grundformeu und grundbedeutungen nach möglichkeit zu
reconstruieren. Damit aber verwandelt sich augenscheinlich die ver-
gleichende betrachtung in eine geschichtiche. Aber auch, wo uns nur
eine bestimmte eutwickelungsstufe einer einzelnen mundart vorliegt,
ist noch wissenschaftliche betrachtung bis zu einem gewissen grade
möglich. Jedoch wie? Vergleicht man z. b. die verschiedenen be-
deutungen eines wortes unter einander, so sucht man festzusetzen,
welche davon die grundbedeutung ist, oder auf welche untergegangene
grundbedeutung sie hinweisen. Bestimmt man aber eine grundbe-
deutung, aus der andere abgeleitet sind, so constatiert man ein histo-
risches factum. Oder man vergleicht die verwandten formen unter
einander und leitet sie aus einer gemeinsamen grundform ab. Dann
constatiert man widerum ein historisches factum. Ja man darf über-
haupt nicht einmal behaupten, dass verwandte formen aus einer ge-
meinsamen grundlage abgeleitet sind, wenn man nicht historisch wer-
den will. Oder man constatiert zwischen verwandten formen und
Wörtern einen lautwechsel. Will man sich denselben erklären, so wird
man notwendig darauf geführt, dass derselbe die nach Wirkung eines
lautwandels, also eines historischen processes ist. Versucht man die
sogenannte innere sprachform im sinne Humboldts und Steinthals zu
characterisieren, so kann man das nur, indem man auf den Ursprung
der ausdrucksformen und ihre grundbedeutung zurückgeht. Und so
wüsste ich überhaupt nicht, wie man mit erfolg über eine spräche
reflectieren könnte, ohne dass man etwas darüber ermittelt, wie sie
geschichtlich geworden ist. Das einzige, was nun etwa noch von nicht-
geschichtlicher betrachtung übrig bliebe, wären allgemeine reflexionen
über die individuelle anwendung der spräche, über das verhalten des
einzelnen zum allgemeinen sprachusus. Dass aber gerade diese re-
flexionen aufs engste mit der betrachtung der geschichtlichen ent-
wiekelung zu verbinden sind, wird sich im folgenden zeigen.
Cap. I.
Allg:emciues über das weseu der spracheiilwickeluiig.
Es ist von fimdamentaler bedeutung für den geschiehtsforseher,
dass er sieh umfang und natur des gegenständes genau klar maelit,
dessen entwiekelnng er zu untersuelien hat. Man hält das leicht für
eine selbstverständliehe saehe, in bezug auf welche man gar nicht irre
gehen könne. Und doch liegt gerade hier der punkt, in welchem die
Sprachwissenschaft die versäumniss von decennien eben erst anfängt
nachzuholen.
Die historische grammatik ist aus der älteren bloss des er ip-
tiven grammatik hervorgegangen, und sie hat noch sehr vieles von
derselben beibelialteu. Wenigstens in der zusammenfassenden dar-
stellung hat sie durchaus die alte form bewahrt. Sie hat nur eine
reihe von descriptiven grammatiken parallel an einander gefügt. Das
vergleichen, nicht die darlegung der entwickelung ist zunächst als das
eigentliche eharakteristicum der neuen Wissenschaft aufgefasst. ^lan
hat die vergleichende grammatik, die sieh mit dem gegenseitigen
verhältniss verwandter spraehfamilien beschäftigt, deren gemeinsame
quelle für uns verloren gegangen ist, sogar in gegensatz zu der histo-
rischen gesetzt, die von einem durch die Überlieferung gegebenen aus-
gangspunkte die weiterentwickelung verfolgt. Und noch immer liegt
vielen Sprachforschern und philologen der gedanke sehr fern, dass
beides nur einunddieselbe Wissenschaft ist, mit der gleichen aufgäbe,
der gleichen methode, nur dass das verhältniss zwischen dem durch
Überlieferung gegebenen und der combinatorischen tätigkeit sich ver-
schieden gestaltet. Aber auch auf dem gebiete der historischen gram-
matik im engeren sinne hat man die selbe art des vergleiehens an-
gewandt: mau hat descriptive grammatiken verschiedener perioden an
einander gereiht. Zum teil ist es das praktische bedürfniss, welches
für systematische darstellung ein solches verfahren gefordert hat
und bis zu einem gewissen grade immer fordern wird. Es ist aber
nicht zu läugnen, dass auch die ganze anschauung von der sprach-
22
entwickelung- imter dem haiiuc (lieber darBtellungsweise gestanden hat
lind zum teil noch steht.
Die deseriptive gramniatik verzeichnet, was von graniniatischen
türmen und Verhältnissen innerlialb einer sprachgenosseuschaft zu einer
gewissen zeit üblich ist, was von einem jeden gebraucht werden kann,
ohne v<mi andern missverstanden zu werden und oline ihn fremdartig
zu berühren. Ihr inhalt sind nicht tatsacheu, sondern nur eine ab-
straction aus den beobachteten tatsachen. Macht man solche abstrac-
tionen innerhalb der selben Sprachgenossenschaft zu verschiedenen
Zeiten, so werden sie verschieden ausfallen, ^lan erhält durch ver-
gleichung die gewissheit, dass sich Umwälzungen vollzogen haben, man
entdeckt wol auch eine gewisse regelmässigkeit in dem gegenseitigen
verhältniss, a])er über das eigentliche wesen der vollzogenen Umwälzung
wird mau auf diese weise nicht aufgeklärt. Der causalzusammenhang
bleibt verschlossen, so lange mau nur mit diesen abstractionen rechnet,
als wäre die eine wirklich aus der andern entstanden. Denn zwi-
schen abstractionen gibt es überhaupt keinen causalnexus,
sondern nur zwischen realen objecteu und tatsachen. So
lange man sich mit der descriptiven grammatik bei den ersteren be-
ruhigt, ist man noch sehr weit entfernt von einer wissenschaftlichen
crfassung des sprachlebens.
Das wahre object für den Sprachforscher sind vielmehr
sämmtliche äusseruugen der Sprechtätigkeit an sämmtlichen
Individuen in ihrer Wechselwirkung auf einander. Alle laut-
complexe, die irgend ein einzelner je gesprochen, gehört oder vor-
gestellt hat mit den damit associierten Vorstellungen, deren Symbole
sie gewesen sind, alle die mannigfachen beziehungen, welche die sprach-
elemente in den seelen der einzelnen eingegangen sind, fallen in die
Sprachgeschichte, müssteu eigentlich alle bekannt sein, um ein voll-
ständiges verständniss der entwickelung zu ermöglichen. Man halte
mir nicht entgegen, dass es unnütz sei eine aufgäbe hinzustellen, deren
unlösbarkeit auf der band liegt. Es ist schon deshalb von wert sich
das Idealbild einer Wissenschaft in seiner ganzen reinheit zu vergegen-
wärtigen, weil wir uns dadurch des abstandes bewusst werden, in
welchem unser können dazu steht, weil wir daraus lernen, dass und
warum wir uns in so vielen fragen bescheiden müssen, weil da-
durch die superklugkeit gedemütigt wird, die mit einigen geistreichen
gesichtspunktcn die compliciertesteu historischen entwickelungen be-
griffen zu haben meint. Eine unvermeidliche notwendigkeit aber ist
es für uns, uns eine allgemeine Vorstellung von dem spiel der kräfte
in diesem ganzen massenhaften gctriebe zu machen, die wir beständig
vor äugen haben müssen, wenn wir die wenigen dürftigen fragmente,
23
die uns daraus wirklich gegeben sind, richtig einzuordnen versuchen
wollen.
Nur ein teil dieser wirkenden kräfte tritt in die erscheinung.
Nicht bloss das sprechen und hören sind sprachgeschichtliche Vor-
gänge, auch nicht bloss weiterhin die dabei erregten Vorstellungen und
die beim leisen denken durch das bewusstsein ziehenden Sprachgebilde.
Vielleicht der bedeutendste fortschritt, den die neuere psychologic ge-
macht hat, besteht in der erkenntniss, dass eine grosse menge
von psychischen Vorgängen sich unbewusst vollziehen, und
dass alles, was je im bewusstsein gewesen ist, als ein wirk-
sames momeut im unbewussteu bleibt. Diese erkenntniss ist auch
für die Sprachwissenschaft von der grössten tragweite und ist von
Steinthal in ausgedehntem masse für dieselbe verwertet worden. Alle
äusserungeu der Sprechtätigkeit fliessen aus diesem dunkeln räume
des unbewussten in der seele. In ihm liegt alles, was der einzelne
von sprachlichen mittein zur Verfügung hat, und wir dürfen sagen
sogar etwas mehr, als worüber er unter gewöhnlichen umständen ver-
fügen kann, als ein höchst compliciertes psychisches gebilde, welches
aus mannigfach unter einander verschlungenen vorstellungsgruppen be-
steht. Wir haben hier nicht die allgemeinen gesetze zu betrachten,
nach welchen diese gruppen sich bilden. Ich verweise dafür auf
Steinthals Einleitung in die psychologie und Sprachwissenschaft. Es
kommt hier nur darauf an uns ihren Inhalt und ihre Wirksamkeit zu
veranschaulichen.
Sie sind ein product aus alledem, was früher einmal durch hören
anderer, durch eigenes sprechen und durch denken in den formen der
spräche in das bewusstsein getreten ist. Durch sie ist die möglichkeit
gegeben, dass das, was früher einmal im bewusstsein war, unter gün-
stigen bedingungen wider in dasselbe zurücktreten kann, also auch,
dass das, was früher einmal verstanden oder gesprochen ist, wider
verstanden oder gesprochen werden kann. Man muss nach dem schon
erwähnten allgemeinen gesetze daran festhalten, dass schlechthin
keine durch die Sprechtätigkeit in das bewusstseiu eingeführte Vor-
stellung spurlos verloren geht, mag die spur auch häufig so schwach
sein, dass ganz besondere umstände, wie sie vielleicht nie eintreten,
erforderlich sind, um ihr die fähigkeit zu geben wider bewusst zu wer-
den. Die Vorstellungen werden gruppenweise ins bewusstsein einge-
führt und bleiben daher als gruppen im unbewussten. Es associieren
sich die Vorstellungen auf einander folgender klänge, nach einander
ausgeführter bewegungen der Sprechorgane zu einer reihe. Die klang-
reihen und die bewegungsreihen associieren sich unter einander. Mit
beiden associieren sich die Vorstellungen, für die sie als symbole
24
dienen, nicht ))loss die Vorstellungen von wortbedentung-en , sondern
auch die vorstelhingen von syntaktischen Verhältnissen. Und nicht
bloss die einzelnen Wörter, sondern grössere lautreihen, ganze sätze
assoeciieren sich unmittelbar mit dem gedankeninhalt, der in sie ge-
legt worden ist. Diese wenigstens ursprünglich durch die aussenwelt
gegebenen gruppen organisieren sich nun in der seele jedes Indivi-
duums zu weit reicheren und verwiekelteren Verbindungen, die sich
nur zum kleinsten teile bewusst vollziehen und dann auch unbewusst
weiter wirken, zum bei weitem grösseren teile niemals wenigstens zu
klarem bewusstsein gelangen und nichtsdestoweniger wirksam sind. So
associieren sich die verschiedeneu gebrauchsvveisen, in denen man ein
wort, eine redensart kennen gelernt hat, unter einander. So asso-
ciieren sich die verschiedenen casus des gleichen nomens, die ver-
schiedenen tempora, modi, personen des gleichen verbums, die ver-
schiedenen ableitungen aus der gleichen wurzel vermöge der Verwandt-
schaft des klanges und der bedeutung: ferner alle Wörter von gleicher
fnnction, z. b. alle substantiva, alle adjectiva, alle verba; ferner die
mit gleichen suffixen gebildeten ableitungen aus verschiedenen wurzeln;
ferner die ihrer fnnction nach gleichen formen verschiedener Wörter,
also z. b. alle plurale, alle genitive, alle passiva, alle perfecta, alle
eonjunctive. alle ersten personen; ferner die Wörter von gleicher flexions-
weise, z. b. im nhd. alle schwachen verba im gegensatz zu den starken,
alle maseulina, die den plural mit umlaut bilden im gegensatz zu den
nicht umlautenden; auch Wörter von nur partiell gleicher flexionsweise
können sich im gegensatz zu stärker abweichenden zu gruppen zu-
sammenschliessen; ferner associieren sich in form oder function gleiche
satzformen. Und so gibt es noch eine menge arten von zum teil
mehrfach vermittelten assoeiationen, die eine grössere oder geringere
bedeutung für das sprachlebeu haben. Alle diese assoeiationen können
ohne l)ewusstsein zu stände kommen und sich wirksam erweisen, und
sie sind durchaus nicht mit den kategorieen zu verwechseln, die durch
die grammatische reflexion abstrahiert werden, wenn sie sich auch ge-
wöhnlich mit diesen decken.
Es ist ebenso bedeutsam als selbstverständlich, dass dieser Orga-
nismus von vorstellungsgruppeu sich bei jedem Individuum in stetiger
Veränderung befindet. Erstlich verliert jedes einzelne moment, welches
keine kräftigung durch erneuerung des eindruckes oder durch wider-
oinfülirung in das bcAvusstsein empfängt, fort und fort an stärke.
Zweitens wird durch jede tätigkeit des Sprechens, hörens oder denkens
etwas neues hinzugefügt. Selbst bei genauer widerholung einer früheren
tätigkeit erhalten wenigstens bestimmte momente des schon bestehenden
Organismus eine kräftigung. Und selbst, wenn jemand schon eine
25
reiche betätiguag- hinter sich hat, so ist doch iniinei" noch gelegcnlieit
genug" zu etwas neuem geboten, ganz abgesehen davon, dass etwas
i)isher in der spräche nicht übliches eintritt, mindestens zu neuen
Variationen der alten demente. Drittens werden sowol durch die ab-
schwächung als durch die Verstärkung der alten demente als endlich
durch den hinzutritt neuer die associationsverhältnisse innerhalb des
Organismus allemal verschoben. Wenn daher auch der Organismus
bei dem erwachsenen im gegensatz zu dem entwickdungsstadium der
frühesten kindheit eine gewisse Stabilität hat, so bleibt er doch immer
noch mannigfaltigen Schwankungen ausgesetzt.
Ein anderer gleich selbstverständlicher, aber auch gloicli wichtiger
punkt, auf den ich hier hinweisen muss, ist folgender : der Organismus
der auf die spräche bezüglichen vorstdlungsgruppen entwickelt sich
bei jedem individuum auf eigentümliche weise, gewinnt daher auch
bei jedem eine eigentümliche gestalt. Selbst wenn er sich bei ver-
schiedenen ganz aus den gleichen dementen zusammensetzen sollte,
so werden doch diese demente in verschiedener reihenfolge in ver-
schiedener gruppierung, mit verschiedener intensität, dort zu häufigeren,
dort zu selteneren malen in die seele eingeführt sein, und wird sich
danach ihr gegenseitiges machtverhältniss und damit ihre gruppierungs-
weise verschieden gestalten, sel1)st wenn wir die Verschiedenheit in
den allgemeinen und l)esondern fähigkeiten der einzelnen gar nicht
berücksichtigen.
Schon bloss aus der beachtung der unendlichen Veränderlichkeit
und der eigentümlichen gestaltung eines jeden einzelnen Organismus
ergibt sich die notweudigkeit einer unendlichen Veränderlichkeit der
spräche im ganzen und eines ebenso unendlichen Wachstums der dia-
lectischen Verschiedenheiten.
Die geschilderten psychischen Organismen sind die
eigentlichen träger der historischen entwickelung. Das
wirklich gesprochene hat gar keine entwickelung. Es ist eine
irreführende ausdrucksweise, wenn man sagt, dass ein wort aus einem
in einer früheren zeit gesprochenen worte entstanden sei. Als physio-
logisch-physikalisches product geht das wort spurlos unter, nachdem
die dabei in bewegung gesetzten körper wider zur ruhe gekommen
sind. Und ebenso vergeht der physische eindruck auf den hörenden.
Wenn ich die selben bewegungen der spreehorgane, die ich das erste
mal gemacht habe, ein zweites, drittes, viertes mal widerhole, so be-
steht zwischen diesen vier gleichen bewegungen keinerlei physischer
causalnexus, sondern sie sind unter einander nur durch den psychischen
Organismus vermittelt. Nur in diesem bleibt die spur alles geschehenen.
2(5
wodureh weiteres geschehen veniulasst werden kann, nur in diesem
sind die heding-ungen g-esehiehtlicher entwiekelung- gegeben.
Das physische element der spräche hat lediglich die funktion
die einwirkung der einzelnen psychischen Organismen auf einander zu
vermitteln, ist aber für diesen zweck unentbehrlich, weil es, wie schon
in der einlcitung nachdrücklich hervorgehoben ist, keine directe ein-
wirkung einer seele auf die andere gibt. Wiewohl an sich nur rasch
vorüberrauschende erscheinung, verhilft es doch durch sein zusammen-
wirken mit den psychischen Organismen diesen zu der möglichkeit
auch nach ihrem untergange Wirkungen zu hinterlassen. Da ihre
Wirkung mit ^ dem tode des Individuums aufhört, so würde die ent-
wiekelung einer spräche auf die dauer einer generation beschränkt
sein, wenn nicht nach und nach immer neue Individuen dazu träten,
in denen sich unter der einwirkung der schon bestehenden neue sprach-
organismen erzeugten. Dass die träger der historischen entwiekelung
einer spräche stets nach ablauf eines verhältnissmässig kurzen Zeit-
raumes sämmtlich untergegangen und durch neue ersetzt sind, ist wider
eine höchst einfache, aber darum nicht minder beherzigenswerte und
nicht minder häufig übersehene Wahrheit.
Sehen wir nun, wie sich bei dieser natur des objects die auf-
gäbe des geschichtschreibers stellt. Der beschreibung von
zuständen wird er nicht entraten können, da er es mit grossen
complexen von gleichzeitig neben einander liegenden dementen zu
tun hat. Soll aber diese beschreibung eine wirklich brauchbare unter-
läge für die historische betrachtung werden, so muss sie sich an die
realen objecte halten, d. h. an die el)en geschilderten psychischen
Organismen. Sie muss ein möglichst getreues bild derselben liefern,
sie muss nicht bloss die demente, aus denen sie bestehen, vollständig
aufzählen, sondern auch das verhältniss derselben zu einander ver-
anschaulichen, ihre relative stärke, die mannigfachen Verbindungen,
die sie unter einander eingegangen sind, den grad der enge und
festigkeit dieser Verbindungen; sie muss, wollen wir es populärer aus-
drücken, uns zeigen, wie sich das Sprachgefühl verhält. Um den
zustand einer sprach? vollkommen zu beschreiben, wäre es eigentlich
erforderlich , an jedem einzelnen der Sprachgenossenschaft angehörigen
individuum das verhalten der auf die spräche bezüglichen vorstdlungs-
niassen vollständig zu beobachten und die an den einzelnen gewonnenen
resultate unter einander zu vergleiciien. In Wirklichkeit müssen wir
uns mit etwas viel unvollkommenerem begnügen, was mehr oder
weniger, immer aber sehr beträchtlich hinter dem ideal zurückbleibt.
Wir sind häufig auf die beobachtung einiger wenigen Individuen,
ja eines einzelnen beschränkt und vermögen auch den sprach Organismus
27
dieser wenigen oder dieses einzelnen mir partiell zu erkennen. Aus
der verg-leicliung der einzelnen spraehorg-anismen liisst sieh ein gewisser
dureliselinitt gewinnen, wonach das eigentlich normale in der spräche,
der sprachusus bestimmt wird. Dieser durchschnitt kann natürlich
um so sicherer festgestellt werden, je mehr Individuen und je voll-
ständiger jedes einzelne beobachtet werden kann. Je unvollständiger
die beobachtung ist, um so mehr Zweifel bleiben zurück, was indi-
viduelle eigentümlichkeit und was allen oder den meisten gemein ist.
Immer beherrscht der usus, auf dessen darstellung die bestrebungen
des grammatikers fast allein gerichtet zu sein ptlegen, die spräche
der einzelnen nur bis zu einem gewissen grade, daneben steht immer
vieles, was nicht durch den usus bestimmt ist, ja ihm direct wider-
spricht.
Der beobachtung eines Sprachorganismus stellen sich auch im
günstigsten falle die grössten Schwierigkeiten in den weg. Direct ist
er überhaupt nicht zu beobachten. Denn er ist ja etwas unbewusst
in der seele ruhendes. Er ist immer nm* zu erkennen an seinen Wir-
kungen, den einzelnen acten der Sprechtätigkeit. Erst mit hülfe von
vielen Schlüssen kann aus diesem ein bild von den im unbewussten
lagernden vorstellungsmassen gewonnen werden.
Von den physischen erscheinungen der Sprechtätigkeit sind die
akustischen der beobachtung am leichtesten zugänglich. Freilich aber
sind die resultate unserer gehörswahruehmung grösstenteils schwer genau
zu messen und zu definieren, und noch schwerer lässt sich von ihnen
eine Vorstellung geben ausser wider durch directe mitteilung für das
gehör. Weniger unmittelbar der beobachtung zugänglich, aber einer
genaueren bestimmung und beschreibung fähig sind die bewegungen
der Sprechorgane. Dass es keine andere exaete darstellung der laute
einer spräche gibt, als diejenige, die uns lehrt, welche Organbewegungen
erforderlich sind um sie hervorzubringen, das bedarf heutzutage keines
beweises mehr. Das ideal einer solchen darstellungsweise ist nur da
annähernd zu erreichen, wo wir in der läge sind, beobachtungen an
lebendigen Individuen zu machen. Wo wir nicht so glücklich sind,
muss uns dies ideal wenigstens immer vor äugen schweben, müssen
wir uns bestreben, ihm so nahe als möglich zu kommen, aus dem
Surrogate der buchstabenschrift die lebendige erscheinung, so gut es
gehen will, herzustellen. Dies bestreben kann aber nur demjenigen
glücken, der einigermassen lautphysiologisch geschult ist, der bereits
beobachtungen an lebenden sprachen gemacht hat, die er auf die
toten übertragen kann, der sich ausserdem eine richtige Vorstellung
über das verhältniss von spräche und schrift gebildet hat. Es erörtnet
sich also schon hier ein weites feld für die combination, schon hier
28
zeigt sieh Vertrautheit mit den lebensbedingungen des objects al« not-
wendiges erfordcrniss.
Die i)sychische scifce der Sprechtätigkeit ist wie alles psychische
überhaupt unmittelbar nur durch Selbstbeobachtung zu erkennen. Alle
beobachtung an anderen individuen gibt uns zunächst nur physische
tatsachen. Diese auf psychische zurückzuführen gelingt nur mit hülfe
von nnalogieschlüssen auf grundlage dessen, wass wir an der eigenen
Seele beobachtet haben. Immer von neuem angestellte exacte Selbst-
beobachtung, sorgfältige analyse des eigenen Sprachgefühls ist daher
unentbehrlich für die Schulung des Sprachforschers. Die analogie-
sehlüsse sind dann natürlich am leichtesten bei solchen objecten, die
dem eigenen ich am ähnlichsten sind. An der rauttersprache lässt
sich daher das wesen der Sprechtätigkeit leichter erfassen als an irgend
einer anderen. Ferner ist man natürlich wider viel besser daran,
wo man beobachtungen am lebenden Individuum anstellen kann, als
wo man auf die zufälligen reste der Vergangenheit augewiesen ist.
Denn nur am lebenden Individuum kann man resultate gewinnen, die
von jedem verdachte der fälschuug frei sind, nur hier kann man
seine beobachtungen beliebig vervollständigen und methodische ex-
perimente machen.
Eine solche beschreibung eines sprachzustandes zu liefern, die
im stände ist eine durchaus brauchbare unterläge für die geschicht-
liche forschung zu liefern'), ist daher keine leichte, unter umständen
eine höchst schwierige aufgäbe, zu deren lösung bereits klarheit über
das wesen des sprachlebens gehört, und zwar in um so höherem
grade, je unvollständiger und unzuverlässiger das zu geböte stehende
material ist. und je verschiedener die darzustellende spräche von der
muttersprache des darstellers ist. Es ist daher nicht zu verwundern,
wenn die gewöhnlichen grammatiken weit hinter unsern ansprächen
zurückbleiben. Unsere herkömmlichen grammatischen kategorieen sind
ein sehr ungenügendes mittel die gruppierungsweise der Sprachelemente
zu veranschaulichen. Unser grammatisches System ist lange nicht
fein genug gegliedert, um der gliedernng der psychologischen gruppen
adäquat sein zu können. Wir werden noch vielfach veranlassung haben
die unzuglänglichkeit desselben im einzelnen nachzuweisen. Es ver-
führt ausserdem dazu das, was aus einer spräche abstraliiert ist, in
ungehöriger weise auf eine andere zu übertragen. Selbst wenn man
sich im kreise des indogermanischen hält, erzeugt die anwenduug der
') Uehrigcns imiss das, was wir hier von der wissenschaftlichen grammatik
verlangen, auch von der praktischen gefordert werden, nur mit den einsehränknngen,
welche die t'assungskraft der schiiler notwendig macht. Denn das ziel der praktischen
grammatik ist ja doch die cinfiihrung in das fremde Sprachgefühl.
I
20
gleichen grammatiselieu Schablone viele Verkehrtheiten. Sehr leicht
wird das bild eines bestimmten si»ra('li/jistandes getrübt, wenn dem
betrachter eine nahe verwandte spräche oder eine ältere oder jüngere
entwickelungsstufe bekannt ist. Da ist die grösste Sorgfalt erforderlich,
dass sich nichts fremdartiges einmische. Nach dieser seite hin hat
gerade die historische Sprachforschung viel gesündigt, indem sie das,
was sie aus der erforsehung des älteren sprachzustandes abstrahiert
hat, einfach auf den jüngeren übertragen hat. So ist etwa die bedeu-
tung eines wortes nach seiner etymologie bestimmt, während doch
jedes bewusstsein von dieser etymologie bereits geschwunden und eine
selbständige eutwickeluug der bedeutung eingetreten ist. So sind in
der flexiouslehre die rubriken der ältesten periode durch alle folgende
Zeiten beibehalten worden, ein verfahren, wobei zwar die nachwirkungen
der ursprünglichen Verhältnisse zu tage treten, aber nicht die neue
psychische Organisation der gruppen.
Ist die beschreibuug verschiedener epoehen einer spräche nach
unseren forderungen eingerichtet, so ist damit eine bedingung erfüllt, wo-
durch es möglich wird sich aus der vergleichung der verschiedenen
beschreibungen eine Vorstellung von den stattgehabten Vorgängen zu
bilden. Dies wird natürlich um so besser gelingen, je näher sich die
mit einander verglichenen zustände stehen. Doch selbst die leichteste
Veränderung des usus pflegt bereits die folge des Zusammenwirkens
einer reihe von einzelvorgängen zu sein, die sieh zum grossen teile
oder sämmtlich unserer beobachtung entziehen.
Suchen wir zunächst ganz im allgemeinen festzustellen: was ist
die eigentliche Ursache für die Veränderungen des sprachusus? Ver-
änderungen, welche durch die bewusste absieht einzelner Individuen
zu stände kommen sind nicht absolut ausgeschlossen. Grammatiker
haben an der fixierung der Schriftsprachen gearbeitet. Die termiuologie
der Wissenschaften, künste und gewerbe ist durch lehrmeister, forscher
und entdecker geregelt und bereichert. In einem despotischen reiche
mag die laune des monarchen hie und da in einem punkte eingegriffen
haben. Ueberwiegend aber hat es sich dabei nicht um die Schöpfung
von etwas ganz neuem gehandelt, sondern nur um die regelung eines
Punktes, in welchem der gebrauch noch schwankte, und die bedeutung
dieser willkührlichen festsetzungen ist verschwindend gegenüber den
langsamen, ungewollten und unbewussten Veränderungen, denen der
sprachusus fortwährend ausgesetzt ist. Die eigentliche Ursache
für die Veränderung des usus ist nichts anderes als die ge-
wöhnliche Sprechtätigkeit. Bei dieser ist jede absichtliche eiu-
wirkuug auf den usus ausgeschlossen. Es wirkt dabei keine andere
absieht als die auf das augenblickliche bedürfniss gerichtete, die- ab-
30
siebt seine wUnselie und gfedauken anderen verständlich zu machen.
Im übrigen spielt der zweck bei der entwiekelung des sprachusus
keine andere rolle als diejenige, welche ihm Darwin in der entwieke-
lung der organischen natur angewiesen hat: die grössere oder geringere
Zweckmässigkeit der entstandenen gebilde ist bestimmend für erhaltung
oder Untergang derselben.
Wenn durch die Sprechtätigkeit der usus verschoben wird, ohne
dass dies von irgend jemand gewollt ist, so beruht das natürlich
darauf, dass der usus die Sprechtätigkeit nicht vollkommen beherrscht,
sondern immer ein bestimmtes mass individueller freiheit übrig lässt.
Die betätigung dieser individuellen freiheit wirkt zurück auf den
psychischen Organismus des sprechenden, wirkt aber zugleich auch
auf den Organismus der hörenden. Durch die summierung einer reihe
solcher Verschiebungen in den einzelnen Organismen, wenn sie sich in
der gleichen richtung bewegen, ergiebt sich dann als gesammtresultat
eine Verschiebung des usus. Aus dem anfänglich nur individuellen
bildet sich ein neuer usus heraus, der eventuell den alten verdräng-t.
Daneben gibt es eine menge gleichartiger Verschiebungen in den
einzelnen Organismen, die, weil sie sich nicht gegenseitig stützen, keinen
solchen durchschlagenden erfolg haben.
Es ergibt sich demnach, dass sich die ganze principienlehre der
Sprachgeschichte um die frage concentriert : wie verhält sich der
sprachusus zur individuellen Sprechtätigkeit? wie wird diese
durch jenen bestimmt und wie wirkt sie umgekehrt auf ihn zurück'?')
Es handelt sich darum, die verschiedenen Veränderungen des
usus, wie sie bei der sprachentwickelung vorkommen, unter allgemeine
kategorieen zu bringen und jede einzelne kategorie nach ihrem werden
und ihren verschiedenen entwiekelungsstadien zu untersuchen. Um
hierbei zum ziele zu gelangen, müssen wir uns an solche fälle halten,
in denen diese einzelnen entwiekelungsstadien möglichst vollständig
und klar vorliegen. Deshalb liefern uns im allgemeinen die modernen
1) Hieraus erhellt auch, dass philologie uud Sprachwissenschaft ihr gebiet nicht
so gegen einander abgrenzen dürfen, dass die eine immer nur die fertigen resultate
der andern zu benutzen brauchte. Man könnte den unterschied zwischen der
Sprachwissenschaft und der philologischen behandlung der spräche nur so bestimmen,
dass die erstere sich mit den allgemeinen usuell feststehenden Verhältnissen der
spräche beschäftigt, die letztere mit ihrer individuellen anwendung. Nun kann
aber die leistung eines Schriftstellers nicht gehörig gewürdigt werden ohne richtige
Vorstellungen über das verhältniss seiner producte zu der gesammtorganisation
seiner sprachvorstellungeu und über das verhältniss dieser gesammtorganisation
zum allgemeinen usus. Umgekehrt kann die Umgestaltung des usus nicht begriffen
werden ohne ein Studium der individuellen Sprechtätigkeit. Im übrigen verweise
ich auf Brugmauu, Zum heutigen stand der Sprachwissenschaft, s. 1 tf.
31
epocheu das brauchbarste material. Doch aiicli die geriugste Ver-
änderung; des usus ist bereits ein coniplieierter ])ro('ess, den wir nicht
beg,reifen ohne berlicksichtig,ung der individuellen niodiiicationen des
usus. Da, wo die g'ewöhnliche graniniatik zu sondern und j;renzlinien
zu ziehen pflegt, mlissen wir uns bemühen alle möglichen Zwischen-
stufen und vermittelungen aufzufinden.
Auf allen gebieten des sprachlebens ist eine allmählig abgestufte
entwickelung möglich. Diese sanfte abstufung zeigt sich einerseits in
den modificationen, welche die individualsprachen erfahren, anderseits
in dem verhalten der individualsprachen zu einander. Dies im einzelnen
zu zeigen ist die aufgäbe meines ganzen werkes. Hier sei zunächst
nur noch darauf hingewiesen, dass der einzelne zu dem sprachmateriale
seiner genosseuschaft teils ein actives, teils ein nur passives verhältniss
haben kann, d. h. nicht alles, was er hört und versteht, wendet er
auch selbst an. Dazu kommt, dass von dem sprachmateriale, welches
viele individuvjn übereinstimmend anwenden, doch der eine dieses, der
andere jenes bevorzugt. Hierauf beruht ganz besonders die abweichung
auch zwischen den einander am nächsten stehenden individualsprachen
und die möglichkeit einer allmähligen Verschiebung des usus.
Die Sprachveränderungen vollziehen sich an dem Individuum teils
durch seine spontane tätigkeit, durch sprechen und denken in den
formen der spräche, teils durch die beeinflussung, die es von andern
individuen erleidet. Eine Veränderung des usus kann nicht wol zu
Stande kommen, ohne dass beides zusammenwirkt. Der beeinflussung
durch andere bleibt das Individuum immer ausgesetzt, auch wenn es
schon das sprachübliche vollständig in sieh aufgenommen hat. Aber
die hauptperiode der beeinflussung ist doch die zeit der ersten auf-
nähme, der Spracherlernung. Diese ist principiell von der sonstigen
beeinflussung nicht zu sondern, erfolgt auch im allgemeinen auf die
gleiche weise ; es lässt sich auch im leben des einzelnen nicht wol ein
bestimmter punkt angeben, von dem man sagen könnte, dass jetzt die
Spracherlernung abgeschlossen sei. Aber der graduelle unterschied ist
doch ein enormer. Es liegt auf der band, dass die Vorgänge bei der
spracherleruung von der allerhöchsten Wichtigkeit für die erklärung
der Veränderungen des sprachusus sind, dass sie die wichtigste Ursache
für diese Veränderungen abgeben. Wenn wir, zwei durch einen längeren
Zwischenraum von einander getrennte epochen vergleichend, sagen, die
spräche habe sich in den und den punkten verändert, so geben wir
ja damit nicht den wirklichen tatbestand an, sondern es verhält sich
vielmehr so: die spräche hat sich ganz neu erzeugt und diese ueu-
schöpfung ist nicht völlig übereinstimmend mit dem früheren, jetzt
untergegangenen ausgefallen.
32
Bei der klassificierung der Veränderungen des sprach-
usns können wir nach verscliicdenen gesielitspunkten verfahren. Ich
inüehte zunächst einen wichtigen unterschied allgemeinster art her-
vorhehen. Die Vorgänge können entweder positiv oder negativ
sein, d. h. sie bestehen entweder in der Schöpfung von etwas neuem
oder in dem Untergang von etwas altem, oder endlich drittens sie be-
stehen in einer Unterschiebung, d. h. der Untergang des alten und
das auftreten des neuen erfolgt durch den selben act. Das letztere
ist ausschliesslich der fall bei dem lautwandel. Scheinbar zeigt sich
die Unterschiebung auch auf andern gebieten. Dieser schein wird
dadurch hervorgerufen, dass man die Zwischenstufen nicht beachtet,
aus denen sich ergibt, dass in Wahrheit ein nacheinander von positiven
und negativen Vorgängen vorliegt. Die negativen Vorgänge beruhen
immer darauf, dass in der spräche der jüngeren generation etwas
nicht neu erzeugt wird, was in der spräche der altern vorhanden war;
wir haben es also, genau genommen, nicht mit negativen Vorgängen,
sondern mit dem nichteintreten von Vorgängen zu tun. Vorbereitet
aber muss das nichteintreten dadurch sein, dass das später unter-
gehende auch schon bei der älteren , generation selten geworden ist.
Eine generation, die ein bloss passives verhältniss dazu hat, schiebt
sich zwischen eine mit noch activem und eine mit gar keinem ver-
hältnis>s.
Anderseits könnte man die Veränderungen des usus danach ein-
teilen, ob davon die lautliche seite oder die bedeutung betroffen
wird. Wir erhalten danach zunächst Vorgänge, welche die laute treffen,
ohne dass die bedeutung dabei in betracht kommt, und solche, welche
die bedeutung treffen, ohne dass die laute in mitleidenschaft gezogen
werden, d. h. also die beiden kategorieen des lautwandels und des be-
deutungswandels. Jeder bedeutungswandel setzt voraus, dass die auf
die lautgestalt bezügliche vorstellungsgruppe noch als die gleiche
empfunden wird, und ebenso jeder lautwandel, dass die bedeutung
unverändert geblieben ist. Das schliesst natürlich nicht aus, dass sich
mit der zeit sowol der laut als die bedeutung ändern kann. Aber
beide Vorgänge stehen dann in keinem causalzusammenhange mit ein-
ander; es ist nicht etwa der eine durch den andern veranlasst oder
beide durch die gleiche Ursache. Für andere Veränderungen kommen
von vornherein lautgestalt und bedeutung zugleich in frage. Hierher
gehört zunächst die uranfängliche zusammenknüpfuug von laut und
bedeutung, die wir als urschöpfung bezeichnen können. Mit dieser
hat natürlich die sprachentwickelung begonnen, und alle anderen Vor-
gänge sind erst möglich geworden auf grund dessen, was die urschöpfung
hervorgebracht hat. Ferner aber gehören hierher verschiedene vor-
33
günge, die das mit einander gemein haben, dass die schon bestehen-
den hiutlichen demente der spräche neue eombinationen eingehen auf
grund der ihnen zukommenden bedeutung. Der wichtigste factor dabei
ist die analogie, welche allerdings auch auf rein lautlichem gebiete
eine rolle spielt, aber doch ihre hauptwirksarakeit da hat, wo zu gleicher
zeit die bedeutung mitwirkt.
Wenn unsere betrachtungsweise richtig durchgeführt wird, so
müssen die allgemeinen ergebnisse derselben auf alle sprachen und
auf alle entwickelungsstufen derselben anwendbar sein, auch auf die
anfange der spräche überhaupt. Die frage nach dem Ursprünge
der spräche kann nur auf grundlage der principienlehre beantwortet
werden. Andere hülfsmittel zur beantwortung gibt es nicht. Wir
können nicht auf grund der Überlieferung eine historische Schilderung
von den anfangen der spräche entwerfen. Die frage, die sieh beant-
worten lässt, ist überhaupt nur: wie war die entstehung der spräche
möglich. Diese frage ist befriedigend gelöst, wenn es uns gelingt die
entstehung der spräche lediglich aus der Wirksamkeit derjenigen fac-
taren abzuleiten, die wir auch jetzt noch bei der weiterentwickelung
der spräche immerfort wirksam sehen. Uebrigens lässt sich ein gegen-
satz zwischen anfänglicher Schöpfung der spräche und blosser Weiter-
entwicklung gar nicht durchführen. Sobald einmal die ersten ausätze
gemacht sind, ist spräche vorhanden und weiterentwickelung. Es
existieren nur graduelle unterschiede zwischen den ersten anfangen
der spräche und den späteren epochen.
Noch auf einen punkt muss ich hier kurz hinweisen. In der
Opposition gegen eine früher übliche behandlungsweise der spräche,
wonach alle grammatischen Verhältnisse einfach aus den logischen
abgeleitet wurden, ist man soweit gegangen, dass man eine rUcksicht-
nahme auf die logischen Verhältnisse, welche in der grammatischen
form nicht zum ausdruck kommen, von der Sprachbetrachtung ganz
ausgeschlossen wissen will. Das ist nicht zu billigen. So notwendig
es ist einen unterschied zwischen logischen und grammatischen kate-
gorieen zu machen, so notwendig ist es auf der andern seite sich das
verhältniss beider zu einander klar zu machen. Grammatik und logik
treffen zunächst deshalb nicht zusammen, weil die ausbildung und an-
wendung der spräche nicht durch streng logisches denken vor sich
geht, sondern durch die natürliche, ungeschulte bewegung der vor-
stellungsmassen, die je nach begabung und ausbildnug mehr oder
weniger logischen gesetzen folgt oder nicht folgt. Aber auch der
wirklichen bewegung der vorstellungsmassen mit ihrer bald griisseren
bald geringeren logischen eonsequeuz ist die sprachliche form des aus-
drueks nicht immer congruent. Auch psychologische und grammatische
Paul, Piincipien. II. Auflage. 3
34
kateg-orie decken sieh iiielit. Daraus folgt, dass der Sprachforscher
beides auseinander halten muss, aber nicht, dass er bei der analyse
der menschlichen rede auf psychische vorgäng-e, die sich beim sprechen
und hören vollziehen, ohne doch im sprachlichen ausdruck zur er-
scheinung zu gelangen, keine rücksicht zu nehmen brauchte. Gerade
erst durch eine allseitige berücksichtigung dessen, was in den elementeu,
aus denen sich die individuelle rede zusammensetzt, an sich noch nicht
liegt, was aber doch dem redenden vorschwebt, und vom hörenden
verstanden wird, gelangt der Sprachforscher zur erkenntniss des Ur-
sprungs und der Umwandlungen der sprachlichen ausdrucksformeu
Wer die grammatischen formen immer nur isoliert betrachtet ohne ihr
verhältuiss zu der individuellen seelentätigkeit, gelangt nie zu einem
verständniss der spracheutwickelung.
Cap. II.
Die spraclispaltung.
Es ist eine diiveli die vergleichende Sprachforschung' zweifeHos
sicher gestellte tatsache, dass sich vielfach aus einer im wesentlichen
einheitlichen spräche mehrere verschiedene sprachen entwickelt hahen,
die ihrerseits auch nicht einheitlich geblieben sind, sondern sich in
eine reihe von dialecten gespalten haben. Man sollte erwarten, dass
sich bei der betrachtung dieses processes mehr als irgend wo anders
die analogieen aus der entwickelung der organischen natur
aufdrängen müssten. Es ist zu verwundern, dass die Darwinisten unter
den Sprachforschern sich nicht vorzugsweise auf diese seite geworfen
haben. Hier in der tat ist die parallele innerhalb gewisser grenzen
eine berechtigte und lehrreiche. Wollen wir diese parallele ein wenig
verfolgen, so kann es nur in der weise gescheh^^n, dass wir die spräche
des einzelnen, also die gesammtheit der Sprachmittel über die er ver-
fügt, dem tierischen oder pflanzlichen Individuum gleich setzen, die
dialecte, sprachen, spraehfamilien etc. den arten, gattungen, klassen
des tier- und pflauzenreichs.
Es gilt zunächst in einem wichtigen punkte die vollständige
gleichheit des Verhältnisses anzuerkennen. Der grosse Umschwung,
welchen die Zoologie in der neuesten zeit durchgemacht hat, beruht
zum guten teile auf der erkenntniss, dass nichts reale existenz hat als
die einzelnen Individuen, dass die arten, gattungen, klassen nichts sind
als Zusammenfassungen und sonderungen des menschliehen Verstandes,
die je nach willkühr verschieden ausfallen können, dass artunterschiede
und individuelle unterschiede nicht dem wesen, sondern nur dem grade
nach verschieden sind. Auf eine entsprechende grundlage müssen wir
uns auch bei der beurteilung der dialeetunterschiede stellen. Wir
müssen eigentlich so viele sprachen unterscheiden als es Individuen
gibt. Wenn wir die sprachen einer bestimmten anzahl von individuen
zu einer gruppe zusanmienfassen und die anderer individuen dieser
gruppe gegenüber ausschliessen, so abstrahieren wir dabei immer von
3*
36
gewissen verschiedeuheiten, wälirend wir auf andere wert legen. Es
ist also der willkühr ein ziemlicher Spielraum gelassen. Dass sieh
überhaupt die individuellen sprachen unter ein klasseusjstem bringen
lassen müssten, ist von vornherein nicht vorauszusetzen. Man muss
darauf gefasst sein, so viele gruppen man auch unterscheiden mag,
eine anzahl von Individuen zu finden, bei denen man zweifelhaft bleibt,
ob man sie dieser oder jener unter zwei naheverwandten gruppen zu-
zählen soll. Und in das selbe dilemma gerät mau erst recht, wenn
man die kleineren gruppen in grössere zusammenzuordnen und diese
gegen einander abzuschliesseu versucht. Eine scharfe sonderung wird
erst da möglich, wo mehrere generatiouen hindurch die verkehrsge-
meinsehaft abgebrochen gewesen ist.
Wenn man daher von der Spaltung einer früher einheitlichen
spräche in verschiedene dialecte spricht, so ist damit das eigentliche
wesen des Vorganges sehr schlecht ausgedrückt. In Wirklichkeit wer-
den in jedem augenblicke innerhalb einer Volksgemeinschaft so viele
dialecte geredet als redende individuen vorhanden sind, und zwar
dialecte, von denen jeder einzelne eine geschichtliche entwickelung
hat und in stätiger Veränderung begriflen ist. Dialectspaltung be-
deutet nichts anderes als das hinauswachsen der individuel-
len Verschiedenheiten über ein gewisses mass.
Ein anderer punkt, in dem wir uns eine parallele gestatten dürfen,
ist folgender. Die entwickelung eines tierischen individuums hängt
von zwei factoren ab. Auf der einen seite ist sie durch die natur der
eitern bedingt, wodurch ihr ursprünglich auf dem wege der Vererbung
eine bestimmte beweguugsrichtung mitgeteilt wird. Auf der andern
Seite stehen alle die zufälligen einwirkungen des klimas, der nahrung,
der lebensweise etc., denen das individuum in seinem speciellen dasein
ausgesetzt ist. Durch den einen ist die wesentliche gleichheit mit den
eitern bedingt, durch den andern eine abweichung von denselben inner-
halb gewisser grenzen ermöglicht. So gestaltet sich die spräche jedes
individuums einerseits nach den einwirkungen der sprachen seiner
verkehrsgenossen, die wir von unserm gesichtspunkte aus als die er-
zeugerinnen seiner eignen betrachten können , anderseits nach den
davon unabhängigen eigeuheiten und eigentümlichen erregungen seiner
geistigen und leiblichen natur. Auch darin besteht Übereinstimmung,
dass der erstere factor stets der bei weitem mächtigere ist. Erst da-
durch, dass jede modification der natur des individuums, die von der
anfänglich mitgeteilten bewegungsrichtung ablenkt, mitbestimmend für
die bewegungsrichtung einer folgenden generation wird, ergibt sich mit
der zeit eine stärkere Veränderung des typus. So auch in der Sprach-
geschichte. Wir dürfen ferner von der spräche wie von dem tierischen
37
Organismus bcliaiiptcn: je iiicdrig-or die eiit\vifkclnu^,s,stufc , desto
stärker der zweite faetor im vcrliältiiiss /um ersten.
Auf der andern seitc dürfen wir aber die p'ossen versehieden-
lieiten nicht übersehen, die zwischen der sprachlichen und der orga-
nischen zeug'ung bestehen. Bei der letzteren hört die directe einwirkung
der erzeuger bei einem bestimmten punkte auf, und es wirkt nur die
bis dahin mitgeteilte bewegungsrichtung nach. An der erzeugung der
Sprache eines Individuums behalten die umgebenden sprachen ihren
anteil bis zu seinem ende, wenn auch ihre einwirkungen in der frühesten
kindheit der betreftendeu spräche am mächtigsten sind und um so
schwächer werden, je mehr diese wächst und erstarkt. Die erzeugung
eines tierischen Organismus geschieht durch ein individuum oder durch
ein paar. An der erzeugung der spräche eines individuums beteiligen
sich die sprachen einer grossen menge anderer Individuen, aller, mit
denen es überhaupt während seines lebens in sprachlichen verkehr
tritt, wenn auch in sehr verschiedenem grade. Und, was die sache
noch viel eomplicierter macht, die verschiedenen individuellen sprachen
können bei diesem zeugungsprocess im verhältniss zu einander zugleich
activ und passiv, die eitern können kinder ihrer eigenen kinder sein.
Endlich ist zu berücksichtigen, dass, auch wenn wir von der spräche
eines einzelnen individuums reden, wir es nicht mit einem eoncreten
wesen, sondern mit einer abstraction zu tun haben, ausser, wenn wir
darunter die gesammtheit der in der seele an einander geschlossenen
auf die Sprechtätigkeit bezüglichen vorstellungsgruppen mit ihren
mannigfach verschlungenen beziehungen verstehen.
Der verkehr ist es allein, wodurch die spräche des individuums
erzeugt wird. Die abstammung kommt nur insoweit in betracht, als
sie die physische und geistige beschaffenheit des einzelnen beeinflusst,
die, wie bemerkt, allerdings ein faetor in der Sprachgestaltung ist, aber
im verhältniss zu den einflüsseu des Verkehrs ein sehr untergeordneter.
Gehen wir von dem unbestreitbar richtigen satze aus, dass jedes
individuum seine eigene spräche und jede dieser sprachen ihre eigene
geschichte hat, so besteht das problem, das zu lösen uns durch die
tatsache der dialectbildung auferlegt wird, nicht sowol in der frage,
wie es kommt, dass aus einer wesentlich gleichmässigen spräche ver-
schiedene dialecte entspringen; die entstehung der Verschiedenheit
scheint ja danach selbstverständlich. Die frage, die wir zu beantworten
haben, ist vielmehr die: wie kommt es, dass, indem die spräche
eines jedes einzelnen ihre besondere geschichte hat, sich
gerade dieser grössere oder geringere grad von Überein-
stimmung innerhalb dieser so und so zusammengesetzten
gruppe von individuen erhält?
m
Alles anwachsen der (Ualectisehen Verschiedenheit beruht natür-
lich auf der Veränderung des sprachusus. Um so stärker die Ver-
änderung, um so mehr gelegenheit ist zum Wachstum der Verschieden-
heit gegeben. Aber der grad dieses Wachstums ist nicht durch die stärke
der Veränderung allein bedingt, denn keine Veränderung schliesst not-
wendig eine bleibende dift'erenzierung ein, und die umstände, welche
auf die erhaltung der Übereinstimmung oder auf die baldige wider-
herstellung derselben wirken, können in sehr verschiedenem masse
vorhanden sein.
Ohne fortwährende differenzierung kann das leben einer spräche
gar nicht gedacht werden. Wäre es denkbar, dass auf einem spracli-
gebiete einmal alle individualsprachen einander vollständig gleich
wären, so würde doch im nächsten augeublicke der ansatz zur lieraus-
bildung von Verschiedenheiten unter ihnen gemacht werden. Die spon-
tane entwickelung einer jeden einzelnen muss nach den besonderheiten
in der anläge und den erlebnissen ihres trägers eine besondere richtung
einschlagen. Der einfluss, den der einzelne übt oder erleidet, erstreckt
sicli immer nur auf einen bruchteil der gesammtheit, und innerhalb
dieses bruchteils finden bedeutende gradverschiedenheiten statt. Dem-
gemäss findet zwar auch eine immerwährende ausgleichung der ein-
getretenen dififerenzierungeu statt, die darin besteht, dass abweichuugen
von dem bisherigen usus entweder wider zurückgedrängt werden oder
auf Individuen übertragen, die sie spontan nicht entwickelt haben.
Diese ausgleichung wird aber nie eine vollständige. Eine annähernde
wird sie immer nur innerhalb eines kreises, in dem ein anhaltender
regen verkehr stattfindet. Je weniger intensiv der verkehr ist, um so
mehr differenzen können sich bilden und erhalten. Noch weiter geht
die möglichkeit zur differenzierung, wenn gar kein directer verkehr
mehr besteht, sondern nur eine indirecte Verbindung durch mittel-
glieder.
Wäre die Verkehrsintensität auf allen punkten eines Sprachgebietes
eine gleichmässige, so würden wir lauter individualsprachen haben,
von denen diejenigen, die in enger Verbindung unter einander stünden,
immer nur wenig von einander differieren würden, während zwischen
den entgegengesetzten enden doch starke Verschiedenheiten entstanden
sein könnten. Es würde dann nicht möglich sein eine anzahl von in-
dividualsprachen zu einer gruppe zusammenzufassen, die man einer
anderen solchen Zusammenfassung als ein geschlossenes ganzes gegen-
überstellen könnte. Jede individualsprache würde als eine Zwischen-
stufe zwischen mehreren andern aufgefasst werden können. Ein solches
verhältniss aber besteht nirgends und hat niemals bestanden. Es wäre
nur denkl)ar, wenn keine natürlichen grenzen existierten, keine poli-
3Ö
tiselieu und rcli^iöHcii verbünde, wenn etwa das ganze folk in einer
ebene ohne g-rösseren flnss wohnte in lauter einzelgehöften in ung-efilhr
gleieh weitem abstände von einander ohne gemeinsame versammlungs-
örter. Auch dann würde wenigstens die gruppierung zu familien-
spraehen stattfinden. In Wirklichkeit aber finden wir entweder ein
zusammenwohnen in' Städten und dörfern, res])ective bei nomadischen
Völkerschaften in horden, oder, wo das System der einzelhöfe besteht,
doch wenigstens kleinere und grössere politische und religiöse verbände
mit versammlungsörtern. In den gebirgsgegenden sind die einzelnen
täler mehr oder weniger gegen einander abgeschlossen. Das meer
trennt inseln ab. Selbst wo keine solche hemmungen bestehen, liegen
oft uncultivierte landstrecken, wald, haide, moor etc. zwischen den
einzelneu ansiedelungen. Es ist demnach notwendig, dass sich den
natürlichen wie den politischen und religiösen Verkehrsverhältnissen
entsprechend die individualsprachen zu gruppen zusammenschliessen,
die verhältuissmässig einheitlich und nach aussen abgeschlossen sind.
Solche gruppen werden also zunächst von den kleinsten verbänden,
den einzelnen Ortschaften gebildet. Wo ein zusammenwohnen der
ortsangehörigen stattfindet, da wird jeder einzelne dem andern näher
stehen als dem an gehörigen eines anderen ortes. Es kann sich also
hier eine wirkliche grenze herausbilden, die nicht durch Zwischenstufen
verdeckt ist. Hier zuerst können deutlich merkbare und zugleich
bleibende Verschiedenheiten entstehen, wie sie zwischen den ange-
hörigen des gleichen ortes mindestens auf die dauer sich nicht halten
können. So lange aber nachbarorte einen regen verkehr unter ein-
ander unterhalten, kann es auch sein, dass sich zwischen ihnen noch
gar kein deutlich hervorstechender und bleibender unterschied bildet,
jedenfalls werden die unterschiede unerheblich bleiben. Versucht mau
nun aber um jeden ortsdialect diejenigen benachbarten zu gruppieren,
die mit demselben in einem regelmässigen verkehr stehen, so wird
man eine menge sich gegenseitig durchschneidende gruppen bekommen.
Es kann für jeden einzelnen ort die gruppierung ein wenig anders
ausfallen. Es können orte hinzutreten oder wegfallen, und auch zu
denjenigen, welche bleiben, kann das verkehrsverhältniss sich etwas
modificieren.
Jede Veränderung des sprachusus ist ein product aus den spon-
tanen trieben der einzelnen Individuen einerseits und den geschilderten
Verkehrsverhältnissen anderseits. Ist ein spontaner trieb gleichmässig
über ein ganzes Sprachgebiet bei der majorität verbreitet, so wird er
sich auch rasch allgemein durchsetzen. Es kann aber sein, dass er
in den verschiedenen bezirken sehr verschieden stark verteilt ist.
Unter solchen umständen muss in den von einander abgelegenen' be-
40
zirken, die in keinem verkelir mit einander stcliu, die ausgleiehuua:.
soweit sie nötig ist, zu verschiedenem resnltate fuhren. Dazwischen
wird dann der kämpf fortdauern und deshalb nicht leicht zur ent-
seheidung- kommen, weil auf diesen teil die eine, auf jenen die andere
Seite stärker einwirkt. Dieses zwisehengebiet bildet einen grenzwall,
durch welchen die einflUsse von der einen auf die andere seite nicht
durchdringen können, oder nur in solcher abschwäehung, dass sie so
gut wie wirkungslos bleiben. Ein solches zwischengebiet könnte
nirgends fehlen, wenn die continuität des Verkehres durch das ganze
Sprachgebiet hindurch eine gleichmässige wäre, wenn nirgends durch
räumliche abstände, natürliche hindernisse oder politische grenzen
Verkehrshemmungen verursacht würden. Indem die gegenseitige beeiu-
flussung der durch solche hemmungen getrennten gebiete auf ein
geringes mass herabgesetzt wird, können sich auch deutliche grenzen
für dialectische eigentümlichkeiteu herausbilden. Ein völliges abbrechen
des Verkehres ist dazu nicht nötig. Er braucht nur so schwach zu
werden, dass er ohne einen gewissen grad spontanen entgegenkommens
wirkungslos bleibt. So kann auch eine zeitweilig bestehende dialect-
grenze allmählig wider aufgehoben werden, wenn sich das anfangs
fehlende spontane entgegenkommen späterhin einstellt, oder wenn die
gleichen einflüsse von verschiedenen selten her kommen.
Jede sprachliche Veränderung und mithin auch die entstehung
jeder dialectischen eigentümlichkeit hat ihre besondere geschichte.
Die grenze, bis zu welcher sich die eine erstreckt, ist nicht mass-
gebend für die grenze der andern. Wäre allein das intensitätsverhältniss
des Verkehres massgebend, so müssten allerdings wol die grenzen der
verschiedenen dialecteigenheiten durchaus zusammenfallen. Aber die
spontanen tendenzen zur Veränderung können sich in wesentlich anderer
weise verteilen, und danach muss sich das resultat der gegenseitigen
beeinflussung bestimmen. Wenn sich z. b. ein Sprachgebiet nach einem
dialectischen unterschiede in die gi-uppen a und b sondert, so kann
es sein und wird häufig vorkommen, dass die sonderung nach einer
andern eigentümlichkeit damit zusammenfällt, es kann aber auch sein,
dass ein teil von a sich an b auschliesst, oder umgekehrt, es kann
sich sogar ein teil von a und von b einem andern teile von a und
von b gegenüberstellen.
Ziehen wir daher in einem zusammenhängenden Sprachgebiete
die grenzen für alle vorkommenden dialectischen eigeutümlichkeiten, so
orlialten wir ein sehr compliciertes s^^stem mannigfach sich kreuzender
linien. Eine reinliche sonderung in hauptgruppen , die man wider in
so und so viele Untergruppen teilt u. s. f., ist nicht möglich. Das bild
einer Stammtafel unter dem man sich gewöhnlich die Verhältnisse zu
41
verauseliaulielien siu'lit, ist stets ungcuun. Man ln-ingt es mir zu
stände, indem man willkührlicli einig-e unterseliiede als wesentlici»
hcransii;-reift und über andere hinwegsieht. Sind wirivlieh die hcrvor-
steehendsten merkmale gewählt, so kann man vielleicht einer solchen
Stammtafel nieht allen praktischen wert für die veransehauliehnng
absprechen, nur darf man sich nicht einbilden, dass damit eine wirklich
erschöpfende, genaue darstellung der Verhältnisse gegeben sei.
Noch mehr gerät man mit der genealogischen veranschaulichung
ins gedränge, wenn man sich bemüht dabei auch die Chronologie der
entwickelung zu berücksichtigen, wie es doch für eine genealogie
erforderlich ist.
Da durch die entstehung einiger unterschiede der verkehr und
die gegenseitige beeintiussung zwischen benachbarten bezirken noch
nicht aufgehoben ist, so kann bei später eintretenden Veränderungen
die entwickelung immer noch eine gemeinschaftliche sein. So können
Veränderungen noch in einem ganzen Sprachgebiete durchdringen,
nachdem dasselbe schon vorher mannigfach differenzieit ist, oder
zugleich in mehreren schon besonders gestalteten teilen. So ist z. b.
die dehnung der kurzen wurzelvokale (vgl. mhd. /esen, geben, reden ete.)
in den nieder- und mitteldeutschen niundarten wesentlich gleichmässig
vollzogen, während viele ältere Veränderungen eine bei weitem geringere
ausdehuung erlangt haben. Wir müssen uns das auch bei der beur-
teilung der älteren sprachperiodeu gegenwärtig halten, für die wir auf
rückschlüsse angewiesen sind. Man ist zu sehr gewohnt alle Ver-
änderungen des ursprünglichen sprachzustandes, die durch ein ganzes
gebiet hindurch gehen, dann ohne weiteres für älter zu halten als
diejenigen, die auf einzelne teile dieses gebietes beschränkt sind, und
man setzt von diesem gesichtspunkte aus etwa eine gemeineuropäische,
eine slavogermanische, slavolettische , urgerraanische, ost- und west-
germanische grundsprache oder entwickelungsperiode an. Es ist zwar
gar nicht zu läugnen, dass im allgemeinen die grössere ausdehnung
einer sprachlichen eigentümlichkeit einen Wahrscheinlichkeitsgrund für
ihr höheres alter abgibt, aber ein sicherer anhält wird damit keines-
wegs gewährt. Es wird auch ausser den talleu, bei denen man es
positiv nachweisen kann, verschiedene solche geben, in denen die
weiter ausgedehnte Veränderung jünger ist, als die auf einen engeren
räum beschränkte.
Es sind auch nicht immer die am meisten hervortretenden eigen-
tümlichkeiten die ältesten. Die jetzt übliche hauptteilung des deutschen
in ober- mittel- und niederdeutsch beruht auf dem stände der laut-
verschiebung. Diese hat wahrscheinlich nicht vor dem siebenten
Jahrhundert begonnen und erstreckt sich bis ins neunte, ja in einigen
42
punkten sogar noch weiter. Seliou vorher aber gab es erhebliche
unterschiede, die bei der jetzigen einteilung in den hindergrund ge-
drängt sind. Unter niederdeutsch z. b. sind drei von alters her nicht
unwesentlich verschiedene gruppen zusammengefasst, das friesische,
sächsische und ein teil des fränkischen; das fränkische ist unter nieder-
uud mitteldeutsch verteilt.
Man kann es auch gar nicht als einen allgemeingültigen satz
hinstellen, dass die gruppen, die am frühesten angefangen haben sich
gegen einander zu differenzieren, auch am stärksten differenziert sein
niüssten, oder umgekehrt, dass bei den am stärksten difterenzierten
gru])pen die difiterenzierung am frühesten begonnen haben müsste.
Die Intensität des Verkehres kann sich etwas verändern. Die geo-
graphische lagerung der gruppen zu einander kann sich verschieben.
Auch ohne das kann spontanes entgegenkommen die veranlassung
werden, dass neue Veränderungen über ältere grenzen hinwegschreiten,
wäiirend sie selbst vielleicht da eine grenze finden, wo früher keine
grenze war. Oder es kann ein bezirk, der längere zeit mit einem
benachbarten wesentlich gleiche, dagegen von den übrigen abweichende
cntwickluug gehabt hat, von besonderen starken Veränderungen ergriffen
werden, während der bisher mit ihm die gleichen bahnen wandelnde
bezirk mit den übrigen auf der älteren stufe zurückbleibt.
Da es die ausgleichende Wirkung des Verkehrs nicht zulässt, dass
zwischen nahe benachbarten bezirken, die einen regelmässigen verkehr
unterhalten, zu schroffe Verschiedenheiten entstehen, so stellt beinahe
jede kleine gruppe eine Übergangsstufe zwischen den nach den ver-
schiedenen Seiten hin benachbarten gruppen dar. Es ist eine ganz
falsche Vorstellung, die immer noch vielfach verbreitet ist, dass über-
gangsstufen immer erst durch secundäre berührung zweier vorher ab-
geschlossener dialecte entstünden. Natürlich will ich nicht behaupten,
dass sie niemals so entstünden. Ein Übergang kann durch eine gruppe
gebildet werden entweder dadurch, dass sie die wirkliche Zwischen-
stufe zwischen zwei in den benachbarten gruppen vorliegenden ab-
weichenden gestaltungen darbietet oder beide nebeneinander, oder da-
durch, dass sie einige dialectische eigeutümlichkeiten mit dieser, andere
mit jener gruppe gemein hat. Bei dieser geslaltung der dialectverhält-
nisse braucht das verständniss zwischen benachbarten bezirken nirgends
behindert zu sein, weil die abweichuugen zu geringfügig sind und man
sich ausserdem beiderseitig an dieselben gewöhnt, und es können darum
doch zwischen den fernerliegenden difterenzen bestehen, die eine Ver-
ständigung unmöglich machen.
Dies verhältniss lässt sich an den verschiedensten sprachen be-
obachten. Kecht deutlich an der deutschen. Einem Schweizer ist es
unmöglich einen Holsteiner, selbst nur einen Hessen oder einen Baiern
zu verstellen, und doch ist er mit diesen indireet durch unj^ehcnimtc
ströniung-cn des Verkehres verbunden. Die allniähli<;-e ubstufung- der
deutschen dialecte im grossen lässt sicli vortrefflich an dem verhalten
zu der sogenannten hochdeutschen lautverschiebung- ') beobachten. Die
selbe abstufuug im kleinen kann man schon bei einer flüchtigen durch-
musterung von Firmenich, Germaniens Völkerstimmen gewahr werden.
Ein noch viel deutlicheres bild von der ausserordentlichen mannig-
faltigkeit der abstufuug wird der von Gr. Wenker vorbereitete Sprach-
atlas geben. Ebenso verhält es sich nicht bloss innerhalb der einzelnen
romanischen sprachen, sondern sogar innerhalb des ganzen romanischen
Sprachgebietes. Die grenzen der einzelnen nationen sind nur nach
den Schriftsprachen, nicht nach den mundarten mit einiger Sicherheit
zu bestimmen. So teilen z. b. norditalienische dialecte wichtige eigen-
tUmlichkeiten mit dem französischen, und stehen den benachbarten
dialecten Frankreichs näher als der italienischen Schriftsprache oder
der mundart von Toscaua. Das Gascoguesche bildet in mehreren
hinsichten den Übergang vom provenzalischen (südfranzösischen) zum
spanischen, das sardinische den Übergang vom italienischen zum spa-
nischen, etc.
Bei dieser Schilderung- der entwickelung ist sesshaftigkeit der
individuen vorausgesetzt. Jede w^andlung von einzelnen oder gar von
massen bringt moditicationen hervor, die wir als mischuugen in cap. 22
zu behandeln haben. Ebenso modificierend wirkt das Vorhandensein
einer Schriftsprache, worüber in cap. 23 zu handeln sein wird.
Es kann natürlich auch der fall eintreten, dass der verkehr
zwischen mehreren teilen einer spraehgenossenschaft vollständig unter-
brochen wird durch starke natürliche oder ])olitische grenzen, durch
auswanderung des einen teiles, durch dazwischenschiebung eines frem-
den Volkes und dergl. Von diesem augenblicke an entwickelt sich
auch die spräche jedes einzelnen teiles selbständig, und es bilden sich
mit der zeit schroffe gegensätze heraus ohne vermittelnde Übergänge.
So entstehen mehrere selbständige sprachen aus einer, und dieser
process kann sich zu mehrern malen widerholen.
Es ist kaum denkbar, dass je bis zu dem augenblicke, wo eine
solche teilung einer spräche in mehrere stattgefunden hat, durch das
ganze gebiet hindurch keine merklichen Verschiedenheiten bestanden
haben sollten. Ohne mundartliche unterschiede ist eine spräche, die
sich über ein einigermassen umfängliches gebiet erstreckt und eine
längere entwickelung hinter sich hat, gar nicht zu denken. Man wird
daher in der regel die selbständigen sprachen, die sich aus einer
') Vgl. Braune, Beiträge zur gesell, d. deutschen spr. I, 1 ff. und Nürrenberg,
ib. IX, 371 ff.
44
g:emeinsanien Ursprache entwickelt haben, als fortsetz iingen der dia-
lecte der Ursprache zu betrachten haben, und kann annehmen, dass
ein teil der zwischen ihnen bestehenden unterschiede schon aus der
Periode ihres continuierlichen zusammenhang-es herstammt. Von diesem
teile würde dann das selbe gelten, was überhaupt von mundartlichen
unterschieden eines zusammenhängenden Sprachgebietes gilt. Es könnte
also, wenn wir die zu selbständigen sprachen entwickelten dialecte
mit den buchstaben des alphabetes bezeichnen, a einiges mit b gemein
haben im gegensatz zu c und d, anders mit e im gegensatz zu b und
d, noch anderes mit d im gegensatz zu b und c u. s. f., und diese
Übereinstimmungen könnten auf einem wirklichen eausalzusammenhange
beruhen. Von diesem gesichtspunkte aus müssen z. b. die Verhältnisse
der indogermanischen sprachfamilien zu einander beurteilt werden.
Im einzelnen falle aber ist es schwer zu entscheiden, ob zu der Über-
einstimmung in der entwickelung wirklich gegenseitige beeiuflussung
beigetragen hat. Die Unmöglichkeit eines Zusammentreffens auch bei
ganz selbständiger entwickelung lässt sich kaum je dartun.
Die trennung braucht auch nicht immer mit alten dialeetgrenzen
zusammenzufallen, namentlich dann nicht, wenn sie durch Wanderungen
veranlasst wird. Es kann sich ein teil einer in den wesentlichsten
punkten übereinstimmenden gruppe absondern, während der andere
mit den übrigen ihm ferner stehenden gruppen in Verbindung bleibt.
Es können sich auch teile verschiedener gruppen zusammen loslösen.
So ist z. b. das angelsächsische ursprünglich mit dem friesischen aufs
engste verwandt, ja es hat wahrscheinlich auf dem continent niemals
als besonderer dialect existiert, sondern ist erst entstanden, als friesische
schaaren sich von der heimat loslösten und einige bestandteile aus
andern germanischen stammen mit sieh vereinigten. Das angelsäch-
sische hat^ dann aber seine sonderentwickelung gehabt, während das
friesische im zusammenhange mit den übrigen deutschen mundarten
geblieben ist. Zwischen englisch und deutseh gibt es eine scharfe
grenze, zwischen friesisch und niedersächsisch nicht.
Das eigentlich charakteristische moraent in der dialectischen
ghederung eines zusammenhängenden gebietes bleiben immer die laut-
verhältnisse. Ursache ist, dass bei der gestaltung derselben alles auf
den direeten einfluss durch unmittelbaren persönlichen verkehr ankommt.
Im Wortschatz und in der Wortbedeutung, im formellen und im syn-
taktischen macht die mittelbare ü))ertragung keine Schwierigkeiten.
Was hier neues entstanden ist, kann, wenn es sonst anklang findet,
ohne wesentliche alterierung, weithin wandern. Aber der laut wird
wie wir im folgenden capitel sehen werden, niemals genau in der
gestalt weitergegeben, wie er empfangen ist. Wo schon ein klaffender
riss besteht, da hört überhaupt die beeinflussung auf lautlichem gebiete
I
45
auf. So entwiekelu sich deuu hier viel stärkere iliffereiizeu als im
Wortschatz, in der formenbildiing; und syutax, und jeuc ditlerenzen
gehen gleichniässiger durch lange Zeiten hindurch als diese. Dagegen,
wenn eine wirkliche Sprachtrennung eingetreten ist, können sich die
unterschiede zwischen den verschiedenen sprachen auf andern gebieten
eben so charakteristisch geltend machen als auf dem lautlichen.
Am wenigsten ist der Wortschatz und seine Verwendung charak-
teristisch. Hier finden am meisten Übertragungen aus einer mundart
in die andere wie aus einer spräche in die andere statt. Hier gibt es
mehr individuelle Verschiedenheiten als in irgend einer andern hin-
sieht. Hier kann es auch unterschiede geben, die mit den mundart-
lichen gar nichts zu tun haben und diese durchkreuzen. Auf jeder
höheren culturstufe entstehen technische ausdrücke für die verschiedenen
gewerbe, künste und Wissenschaften, die vorwiegend oder ausschliess-
lich von einer bestimmten berufsklasse gebraucht und von den übrigen
zum teil gar nicht verstanden werden. Bei der ausbildung solcher
kunstsprachen kommen übrigens ganz ähnliche Verhältnisse in betracht
wie bei der entstehung der mundarten. Eben dahin gehört auch der
unterschied von poetischer und prosaischer spräche, der sich auch auf
formelles und syntaktisches erstreckt. Eigenartige Verhältnisse haben
im alten Griechenland auch zu absichtlich kunstvoller Verwendung
lautlicher untei*schiede geführt. Es kann aber auch eine poetische
spräche geben (und das ist das gewöhnliche), die in den verschieden-
sten dialectischen lautgestaltungen sich doch immer gleichmässig gegen
die prosaische rede abhebt.
Alle natürliche sprachentwickelung führt zu einem stetigen, un-
begrenzten anwachsen der mundartlichen Verschiedenheiten. Die Ur-
sachen, welche dazu treiben, sind mit den allgemeinen bedingungen
des sprachlebeus gegeben und davon ganz unzertrennlich. Es ist eine
falsche Vorstellung, der man leider noch in sprachwissenschaftlichen
werken begegnet, die ein grosses ansehen geniessen, dass die frühere
centrifugale bewegung, durch welche die mundarten entstanden seien,
auf höherer culturstufe, bei reger entwickeltem verkehre durch eine
rückläufige, centripetale abgelöst werde. Diese Vorstellung beruht auf
ungenauer beobachtung. Die bildung einer gemeinsprache, die man
dabei im äuge hat, vollzieht sich nicht durch eine allmählige an-
gleichuug der mundarten aneinander. Die gemeinsprache entspringt
nicht aus den einzelnen mundarten durch den selben process, durch
welchen eine jüngere form der mundart aus einer älteren entsprungen
ist. Sie ist vielmehr ein fremdes idiom, dem die mundart aufgeopfert
wird. Darüber in capitel 23.
Cap. III.
Der lautwandel.
Um die erselieinung- zu begreifen, die man als lautwandel zu
bezeichnen pfieg-t, muss man sicli die physischen und psychischen
processe klar machen, welche immerfort bei der hervorbriugung der
lautcomplexe stattfinden. Sehen wir, wie wir hier dürfen und müssen,
von der function ab, welcher dieselben dienen, so ist es folgendes,
was in betracht kommt: erstens die bewegungen der sprechorgaue,
wie sie vermittelst erregung der motorischen nerven und der dadurch
hervorgerufenen muskeltätigkeit zu stände kommen; zweitens die reihe
von empfindungen, von welchen diese bewegungen notwendigerweise
begleitet sind, das bewegungsgefühl, wie esLotze') und nach ihm
Steinthal genannt haben; drittens die in den hörern, wozu unter nor-
malen Verhältnissen allemal auch der sprechende selbst gehört, er-
zeugten ton empfindungen. Diese empfindungen sind natürlich nicht
bloss physiologische, sondern auch psychologische processe. Auch
nachdem die physische erregung geschwunden ist, hinterlassen sie eine
bleibende psychische Wirkung, erinnerungsbilder, die von der
höchsten Wichtigkeit für den lautwandel sind. Denn sie allein sind
es, welche die an sich vereinzelten physiologischen Vorgänge unter
einander verbinden, einen causalzusammenhang zwischen der frühern
und spätem production des gleiclien lautcomplexes herstellen. Das
erinnerungsbild , welches die empfindung der früher ausgeführten be-
wegungen hinterlassen hat, ist es, vermittelst dessen die reproduction
der gleichen bewegungen möglich ist. Bewegungsgefühl und ton-
empfindung brauchen in keinem Innern zusammenhange unter einander
zu stehen. Beide gehen aber eine äusserliche association ein, indem
der sprechende zugleich sich selbst reden hört. Durch das blosse an-
1) Vgl. dessen Medicinische psychologie (1852) i; 26, s. 304 ; auch Metaphysik II,
s. 580 ff. Vgl. noch über das bewegungsgotülil G. E. MiiUer, Zur grundlogung der
psychophysik , §110. 111, und A. Strümpell, Arcliiv für klinische Mcdicin XXII,
s. 321 ff. Wundt gebraucht dafür den ausdruck innorvatiou.
AI
hören anderer wird das bewegungsg-efühl nicht gegeben, und somit
auch nicht die Billigkeit den gehörten hiuteoniplex zu re])rodueieren,
weshalb es denn immer erst eines suehens, einer einlibung bedarf, um
im Stande zu sein einen laut, den man bis dahin nicht zu sprechen
gewohnt ist, nachzusprechen.
Es fragt sich, welchen inhalt das bewegungsgeflihl und die ton-
empfindung haben, und bis zu welchem grade die einzelnen momente
dieses Inhalts bewusst werden. Vielleicht hat nichts so sehr die
richtige einsieht in die natur des lautwandels verhindert, als dass
man in dieser hinsieht die weite und die deutlichkeit des bewusstseins
übersehätzt hat. Es ist ein grosser irrtum, wenn mau meint, dass um
den klang eines wortes in seiner eigentümlichkeit zu erfassen, so dass
eine erregung der damit assoeiierten Vorstellungen möglich wird, die
einzelnen laute, aus denen das wort sieh zusammensetzt, zum bewusst-
sein gelangen müssten. Es ist sogar, um einen ganzen satz zu ver-
stehen, nicht immer nötig, dass die einzelnen Wörter ihrem klänge
und ihrer bedeutung nach zum bewusstsein kommen. Die Selbst-
täuschung, in der sich die grammatiker bewegen, rührt daher, dass
sie das wort nicht als einen teil der lebendigen, rasch vorüberrauschen-
den rede betrachten, sondern als etwas selbständiges, über das sie mit
müsse nachdenken, so dass sie zeit haben es zu zergliedern. Dazu
kommt, dass nicht vom gesprochenen, sondern vom geschriebenen
Worte ausgegangen wird. In der schritt scheint allerdings das wort
in seine demente zerlegt, und es scheint erforderlich, dass jeder, der
schreibt, diese Zerlegung vornimmt. In Wahrheit verhält es sich aber
doch etwas anders. Gewiss muss bei der erfindung der buchstaben-
schrift und bei jeder neuen anwendung derselben auf eine bisher nicht
darin aufgezeichnete spräche eine deraiüge Zerlegung vorgenommen
sein. Auch muss fortwährend mit jeder erlernung der schrift eine
Übung im buchstabieren gesprochener Wörter band in band gehen.
Aber nachdem eine gewisse fertigkeit erlangt ist, ist der process beim
schreiben nicht gerade der, dass jedes wort zunächst in die einzelnen
laute zerlegt würde und dann für jeden einzelnen laut der betreftende
buchstabe eingesetzt. Schon die Schnelligkeit, mit der sich der Vor-
gang vollzieht, schliesst die möglichkeit aus, dass seine einzelnen
momente zu klarem bewusstsein gelangen, und zeigt zugleich, dass
das zu einem regelmässigen ablauf nicht nötig ist. Es tritt aber auch
ein wirklich abgekürztes verfahren ein, wodurch die schrift sich bis
zu einem gewissen grade von der spräche emancipiert, ein Vorgang,
den wir später noch näher zu betrachten haben werden. Und sehen
wir nun gar ein wenig genauer zu, wie es mit dieser zergliederungs-
kunst des schriftkundigen steht, so wird uns gerade daraus recht
48
deutlich entgegentreten, wie übel es mit dem bewusstsein von den
elementeu des Wortlautes bestellt ist. Wir können täglich die er-
tahruug machen, dass die vielfachen diserepanzen zwischen schrift und
ausspräche von den angehörigen der betreibenden Sprachgemeinschaft
zum grossen teil unbemerkt bleiben und erst dem fremden auffallen,
ohne dass auch er in der regel sieh rechenschaffc zu geben vermag,
worauf sie beruhen. So ist ein jeder nicht lautphysiologisch geschulte
Deutsehe der Überzeugung, dass er schreibt, wie er spricht. Wenn er
aber auch dem Engländer und Franzosen gegenüber eine gewisse be-
rechtigung zu dieser Überzeugung hat. so fehlt es doch, von feinheiten
abgesehen, nicht an fällen, in denen die ausspräche ziemlieh stark von
der Schreibung abweicht. Dass der schlusscousonant in tag, feld, lieh
ein anderer laut ist als der, welcher in tages, feldes, liebes gesprochen
wird, dass das n in anger einen wesentlich andern laut bezeichent als
in lantl, ist wenigen eingefallen. Dass man im allgemeinen in mujnade
gutturalen, in imhUlich labialen nasal spricht, daran denkt niemand.
Vollends wird man erstaunt angesehen, wenn man ausspricht, dass in
lange kein ^, in der zweiten silbe von legen, reden, ritter, schütteln
kein e gesprochen werde, dass der schlusscousonant von leben nach
der verbreiteten ausspräche kein n, sondern ein m gleichfalls ohne
vorhergehendes e sei. Ja man kann darauf rechnen, dass die meisten
diese tatsaehen bestreiten werden, auch nachdem sie darauf aufmerk-
sam gemacht worden sind. Wenigstens habe ich diese erfahrung viel-
fach gemacht, auch an philologen. Wir sehen daraus, wie sehr die
analyse des wertes etwas bhjss mit der schrift angelerntes ist, und
wie gering das gefühl für die %virklichen demente des gesprochenen
Wortes ist.
Eine wirkliehe Zerlegung des wertes in seine elemente ist nicht
bloss sehr schwierig, sie ist geradezu unmöglich Das wort ist nicht
eine aneinandersetzung einer bestimmten anzahl selbständiger laute,
von denen jeder durch ein zeichen des alphabetes ausgedrückt w^erden
könnte, sondern es ist im gründe immer eine continuierliche reihe
von unendlich vielen lauten, und durch die buchstaben werden
immer nur einzelne charakteristische punkte dieser reihe in unvoll-
kommener weise angedeutet. Das übrige, was unbezeichnet bleibt,
ergibt sich allerdings aus der bestimmung dieser punkte bis zu einem
gewissen grade mit uotwendigkeit, aber auch nur bis zu einem gewissen
grade. Am deutlichsten lässt sich diese continuität an den sogenannten
di])hthongen erkennen, die eine solche reihe von unendlich vielen
elenienten darstellen, vgl. Öievers Phonetik^ § 19, 1 a. Durch Sievers
ist überhaui)t zuerst die bedeutung der übergangslaute nachdrücklich
hervorgehoben. Aus dieser continuität des Wortes aber folgt, dass
49
eioe Vorstellung von den einzelnen teilen nicht etwas von selbst
gegebenes sein kann, sondern erst die fruebt eines, wenn auch noch
so primitiven, wisseuscbaftlicben nachdenkens, wozu zuerst das prak-
tische bedlirfniss der lautschrift gefiihii; hat.
Was von dem lautbilde gilt, das gilt natürlich auch von dem
bewegungsgefiihle. Ja wir müssen hier noch weiter gehen. Es kann
gar keine rede davon sein, dass der einzelne eine Vorstellung von
den verschiedenen bewegungen hätte, die seine organe beim sprechen
machen. Man weiss ja, dass dieselben erst durch die sorgfaltigste
wissenschaftliche beobachtung ermittelt werden können, und dass über
viele punkte auch unter den forsehern controversen bestehen. Selbst
die oberflächlichsten und gröbsten anschauungen A'on diesen bewegungen
kommen erst durch eine mit absieht darauf gelenkte aufmerksamkeit
zu stände. Sie sind auch ganz überflüssig um mit aller exactheit laute
und lautgruppen hervorzubringen, auf die man einmal eingeül)t ist.
Der hergang scheint folgender zu sein. Jede bewegung erregt in
bestimmter weise gewisse sensitive nerven und ruft so eine empfindung
hervor, welche sich mit der leitung der bewegung von ihrem centrum
durch die motorischen nerven associiert. Ist diese assoeiation hin-
länglich fest geworden und das von der empfindung hinterlassene
erinnerungsbild hinlänglich stark, was in der regel erst durch einttbung
erreicht wird (d. h. durch mehrfache widerholung der gleichen bewegung,
vielleicht mit vielen missglückten versuchen untermischt), dann vermag
das erinnerungsbild der empfindung die damit associierte bewegung
als reflex zu reproducieren, und wenn die dabei erregte empfindung
zu dem erinnerungsbilde stimmt, dann hat man auch die Versicherung,
dass man die nämliche bewegung wie früher ausgeführt hat.
Man könnte aber immerhin einräumen, dass der grad der bewusst-
heit, welchen die einzelnen momente des lautbildes und des bewegungs-
gefühles durch erlernung der schritt und sonst durch reflexion erlangen,
ein viel grösserer wäre, als er wirklich ist; man könnte einräumen,
dass zur erlernung der muttersprache sowol wie jeder fremden ein
ganz klares bewusstsein dieser demente erforderlich wäre, wie denn
unzweifelhaft ein höherer grad von klarheit erforderlich ist als bei der
anwendung des eingeübten: daraus würde aber nicht folgen, dass es
nun auch immerfort wider in der täglichen rede zu dem selben grade
der klarheit kommen müsste. Vielmehr liegt es in der natur des
psychischen Organismus, dass alle anfangs nur bewusst wirkenden Vor-
stellungen durch Übung die fähigkeit erlangen auch unbewusst zu
wirken, und dass erst eine solche unbewusste Wirkung einen so raschen
ablauf der Vorstellungen möglich macht, wie er in allen lagen des
täglichen lebens und auch beim sprechen erfordert wird. Selbst der
Paul, Principien. IT. Auflage. 4
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lautiihysiologe von beruf wird sehr vieles sprechen und hören, ohne
dass bei ihm ein einziger laut zu klarem bewusstsein gelangt.
Für die beurteiluug des natürlichen, durch keine art von schul-
meistere! geregelten sprachlebens muss daher durchaus an dem grund-
satze festgehalten werden, dass die laute ohne klares bewusstsein erzeugt
und percipiert werden. Hiermit fallen alle erklärungstheorieen, welche
in den seelen der Individuen eine Vorstellung von dem lautsystem der
spräche voraussetzen, wohin z. b. mehrere hypotheseu über die germa-
nische lautverschiebung gehören.
Anderseits aber schliesst die unbewusstheit der demente nicht
eine genaue controlle aus. Mann kann unzählige male eine gewohnte
lautgruppe sprechen oder hören, ohne jemals daran zu denken, dass
es eben diese, so und so zusammengesetzte gruppe ist; sobald aber
in einem demente eine abweichung von dem gewohnten eintritt, die
nur sehr geringfügig zu sein braucht, wird sie bemerkt, wofern keine
besondern hemmungen entgegenstehen, wie überhaupt jede abweichung
von dem gewohnten unbewussten verlauf der Vorstellungen zum be-
wusstsein zu gelangen pflegt. Natürlich ist mit dem bewusstsein der
abweichung nicht auch schon das bewusstsein der natur und Ursache
der abweichung gegeben.
Die möglichkeit der controlle reicht soweit wie das unterschei-
dungsvermögen. Dieses aber geht nicht bis ins unendliche, während
die möglichkeit der abstufung in den bew^egungen der sprechorgane
und natürlich auch in den dadurch erzeugten lauten allerdings eine
unendliche ist. So liegt zwischen a und i sowol wie zwischen a und
u eine unbegränzte zahl möglicher stufen des vocalklanges. Ebenso
lassen sich die articulationsstdlen sämmtlicher zungen-gaumenlaute
in dem bilde einer continuierten linie darstellen, auf welcher jeder punkt
der bevorzugte sein kann. Zwischen ihnen und den lippenlauten ist
allerdings kein so unmerklicher Übergang möglich; doch stehen die
denti- labialen in naher beziehung zu den denti -lingualen {th — f).
Ebenso ist auch der Übergang von verschlusslaut zu reibdaut und
umgekehrt allmUhlig zu bewerkstelligen; denn vollständiger verschluss
und möglichste Verengung liegen unmittell)ar beisammen. Vollends
alle unterschiede der quantität, der tonhöhe, der energie in der arti-
culation oder in der expiration sind in unendlich vielen abstufungen
denkbar. Und so noch vieles andere. Dieser umstand ist es vor allem,
durch welchen der lautwandel begreiflich wird.
Bedenkt man nun, dass es nicht bloss auf die unterschiede in
denjenigen lauten ankommt, in die man gewöhnlich ungenauer weise
das wort zerlegt, sondern auch auf die unterschiede in den Übergangs-
51
lauten, iin aeeent, im teiupo etc., bedenkt man ferner, dass immer
ungleiche teilchen je mit einer reihe von gleichen teilchen zusammen-
gesetzt sein können, so erhellt, dass eine ausserordentlich grosse
mannigfaltigkeit der lautgruppen möglich ist, auch bei verhältnissmässig
geringer differenz. Deshalb können auch recht merklich verschiedene
gruppen wegen ihrer überwiegenden ähnlichkeit immer noch als wesent-
lich identisch empfunden werden, und dadurch ist das verständniss
zwischen angehörigen verschiedener dialecte möglich, so lange die
Verschiedenheiten nicht über einen gewissen grad hinausgehen. Des-
halb kann es aber auch eine anzahl von Variationen geben, deren
Verschiedenheit man entweder gar nicht oder nur bei besonders darauf
gerichteter aufmerksamkeit wahrzunehmen im stände ist.
Die frühe kindheit ist für jeden einzelnen ein Stadium des ex-
perimentierens, in welchem er durch mannigfache bemühungen allmählig
lernt, das ihm von seiner Umgebung vorgesprochene nachzusprechen.
Ist dies erst in möglichster Vollkommenheit gelungen, so tritt ein ver-
hältnissmässiger stillstand ein. Die früheren bedeutenden Schwankungen
hören auf, und es besteht fortan eine grosse gleiehmässigkeit in der
ausspräche, sofern nicht durch starke einwirkungen fremder dialecte
oder einer Schriftsprache Störungen eintreten. Die gleiehmässigkeit
kann aber niemals eine absolute werden. Geringe Schwankungen
in der ausspräche des gleichen wertes an der gleichen satzstelle sind
unausbleiblich. Denn überhaupt bei jeder bewegung des körpers, mag
sie auch noch so eingeübt, mag das bewegungsgefühl auch noch so
vollkommen entwickelt sein, bleibt doch noch etwas Unsicherheit
übrig, bleibt es doch noch bis zu einem gewissen, wenn auch noch
so geringen grade dem zufall überlassen, ob sie mit absoluter exactheit
ausgeführt wird, oder ob eine kleine ablenkung von dem regelrechten
wege nach- der einen oder andern seite eintritt. Auch der geübteste
schütze verfehlt zuweilen das ziel und würde es in den meisten fällen
verfehlen, wenn dasselbe nur ein wirklicher punkt ohne alle aus-
dehnung wäre, und wenn es an seinem geschosse auch nur einen
einzigen punkt gäbe, der das ziel berühren könnte. Mag jemand auch
eine noch so ausgeprägte handschrift haben, deren durchstehende
eigentümlichkeiten sofort zu erkennen sind, so wird er doch nicht die
gleichen buchstaben und buchstabengruppen jedesmal in völlig gleicher
weise producieren. Nicht anders kann es sich mit den bewegungen
verhalten, durch welche die laute erzeugt werden. Diese Variabilität
der ausspräche, die wegen der engen grenzen, in denen sie sich
bewegt, unbeachtet bleibt, enthält den Schlüssel zum verständniss der
sonst unbegreiflichen tatsache, dass sich allmählig eine Veränderung
des usus in bezug auf die lautliche seite der spräche vollzieht, ohne
4*
52
dass diejeuigen, an weleheu die Veränderung; vor sich geht, die
geringste ahnung davon haben.
Würde das beweguugsgefiihl als erinuerungsbild immer unver-
ändert bleiben, so würden sich die kleinen Schwankungen immer um
den sell)en punkt mit dem selben maximum des abstandes bewegen.
Nun aber ist dies gefühl das product aus sämmtlichen früheren bei
ausführung der betretfenden bewegung empfangenen eindrücken, und
zwar verschmelzen nach allgemeinem gesetze nicht nur die völlig iden-
tischen, sondern auch die unmerklich von einander verschiedenen ein-
drücke mit einander. Ihrer Verschiedenheit entsprechend muss sich
auißh das bewegungsgefühl mit jedem neuen eindruck etwas umgestalten,
wenn auch noch so unbedeutend. Es ist dabei noch von Wichtigkeit,
dass immer die späteren eindrücke stärker nachwirken als die früheren.
Man kann daher das bewegungsgefühl nicht etwa dem durchschnitt
aller während des ganzen lebens empfangenen eindrücke gleichsetzen,
sondern die an zahl geringeren können das gewicht der häufigeren
durch ihre frische tibertragen. Mit jeder Verschiebung des bewegungs-
gefühls ist aber auch, vorausgesetzt, dass die weite der möglichen
divergeuz die gleiche bleibt, eine Verschiebung der grenzpunkte dieser
divergenz gegeben.
Denken wir uns nun eine linie, in der jeder punkt genau fixiert
ist, als den eigentlich normalen weg der bewegung, auf den das be-
wegungsgefühl hinführt, so ist natürlich der abstand von jedem punkte,
der als maximum bei der wirklich ausgeführten bewegung ohne wider-
s])ruch mit dem bewegungsgefühl statthaft ist, im allgemeinen nach
der einen seite gerade so gross als nach der entgegengesetzten. Da-
raus folgt aber nicht, dass die wirklich eintretenden abweichungen
sich nach zahl und grosse auf beide Seiten gleichmässig verteilen
müssen. Diese abweichungen, die durch das bewegungsgefühl nicht
bestimmt sind, haben natürlich auch ihre Ursachen, und zwar Ursachen,
die vom bewegungsge fühle ganz unabhängig sind. Treiben solche Ur-
sachen genau gleichzeitig mit genau gleicher stärke nach entgegen-
gesetzten richtungen hin, so heben sich ihre Wirkungen gegenseitig
auf, und die bewegung wird mit voller exactheit ausgeführt. Dieser
fall wird nur äusserst selten eintreten. Bei weitem in den meisten
fällen wird sich das übergewicht nach der einen oder der andern seite
neigen. Es kann aber das verhältniss der kräfte nach umständen
mannigfach wechseln. Ist dieser Wechsel für die eine seite so günstig
wie für die andere, wechselt im durchschnitt eine Schwankung nach
der einen seite immer mit einer entsprechenden nach der andern, so
werden auch die minimalen Verschiebungen des bewegungsgefühls
immer alsbald wider paralysiert. Ganz anders aber gestalten sich die
53
diuge, wenn die ursaelien, die nach der einen seite drängen, das liber-
gewieht über die entgegengesetzt wirkenden lial)en, sei es in jedem
einzelnen falle, sei es aueli unr in den meisten. Mag die anfängliche
abweichung auch noch so gering sein, indem sieh dabei auch das be-
wegnngsgefiihl nm ein minimum verschiebt, so wird das nächste mal
schon eine etwas grössere abweichung von dem ursprünglichen mög-
lich und damit wider eine Verschiebung des bewegungsgetuhls , und
so entsteht durch eine summierung von Verschiebungen, die man sich
kaum klein genug vorstellen kann, allmählig eine merkliche ditterenz,
sei es, dass die bewegung stetig in einer bestimmten richtung fort-
schreitet, sei es, dass der fortschritt immer wider durch rückschritte
unterbrochen wird, falls nur die letzteren seltener und kleiner sind als
die ersteren.
Die Ursache, warum die neigung zur abweichung nach der einen
Seite hin grösser ist als nach der andern, kann kaum anders worin
gesucht werden, als dass die abweichung nach der ersteren den
Organen des sprechenden in irgend welcher hinsieht bequemer ist.
Das wesen dieser grösseren oder geringeren bequemlichkeit zu unter-
suchen ist eine rein physiologische aufgäbe. Damit soll nicht gesagt
sein, dass sie nicht auch psychologisch beding-t ist. Accent und tempo,
die dabei von so entscheidender ])edeutung sind, auch die energie der
muskeltätigkeit sind wesentlich von psychischen bedingungen abhängig,
aber ihre Wirkung auf die lautverhältnisse ist doch etwas physio-
logisches. Bei der progressiven assimilation kann es nur die Vor-
stellung des noch zu sprechenden lautes sein, was auf den vorher-
gehenden einwirkt; aber das ist ein gleichmässig durchgehendes psy-
chisches verhältniss von sehr einfacher art, während alle specielle
bestimmung des assimilationsprocesses auf einer Untersuchung über
die physische erzeugung der betreffenden laute basiert werden muss.
Für die aufgäbe, die wir uns hier gestellt haben, genügt es auf
einige allgemeine gesichtspuukte hinzuweisen. Es gibt eine grosse
zahl von fällen, in denen sich schlechthin sagen lässt: diese lautgruppe
ist bequemer als Jene. So sind ital. otto, cattivo zweifellos bequemer
zu sprechen als lat. octo, nhd. empfangen, als ein nicht von aus-
gleichung betroffenes ^entfanyen sein würde. Vollständige und par-
tielle assimilation ist eine in allen sprachen widerkehrende erscheinuug.
Wenn es sich dagegen um den einzellaut handelt, so lassen sich kaum
irgend welche allgemeine grundsätze über grössere oder geringere be-
quemlichkeit des einen oder andern aufstellen, und alle aus beschränkten
gebieten abstrahierten theorieen darüber zeigen sich in ihrer nichtig-
keit einer reicheren erfahrung gegenüber. Und auch für die com-
bination mehrerer laute lassen sich keineswegs durchweg allgemeine
54
bestinimiingen geben. Zunäehst hängt die bequcmlichkeit zu einem
guten teile von den (luantitätsverhältnissen und von der aceentuation,
der exspiratoriselieu wie der musikalischen ab. Für die lange silbe
ist etwas anderes bequem als für die kurze, für die betonte etwas
anderes als für die unbetonte, für den eircumflex etwas anderes als
für den gravis oder acut. Weiter aber richtet sich die bequcmlichkeit
nach einer menge von Verhältnissen, die für jedes Individuum ver-
schieden sein, aber auch grösseren gruppen in gleicher oder ähnlicher
Aveise zukommen können, ohne von andern geteilt zu werden. Ins-
besondere wird dabei ein punkt zu betonen sein. Es besteht in allen
sprachen eine gewisse harmonie des lautsysteras. ^lan sieht daraus,
dass die richtung, nach welcher ein laut ablenkt, mitbedingt sein
muss durch die richtung der übrigen laute. Wie Sievers hervorgehoben
hat, kommt dabei sehr viel auf die sogenannte indifferenzlage der
Organe an. Jede Verschiedenheit derselben bedingt natürlich auch eine
Verschiedenheit in bezug auf die bequcmlichkeit der einzelnen laute.
Eine allmählige Verschiebung der indiiferenzlage wird ganz nach
analogie dessen, was wir oben über die des bewegungsgefühls gesagt
haben, zu beurteilen sein.
Es ist von grosser Wichtigkeit sich stets gegenwärtig zu halten,
dass die bequcmlichkeit bei jeder einzelnen lautproduction immer nur
eine sehr untergeordnete nebenursache abgibt, während das bewegungs-
gefühl immer das eigentlich bestimmende bleibt. Einer der gewöhn-
lichsten irrttimer, dem man immer wider begegnet, besteht darin, dass
eine in einem langen Zeiträume durch massenhafte kleine Verschie-
bungen entstandene Veränderung auf einen einzigen akt des bequem-
lichkeitsstrebens zurückgeführt wird. Dieser Irrtum hängt zum teil mit
der art zusammen, wie lautregeln in der praktischen grammatik und
danach auch vielfach in grammatiken, die den anspruch auf wissen-
schaftlichkeit erheben, gefasst werden. Man sagt z. b. : wenn ein tönen-
der consonant in den auslaut tritt, so wird er in dieser spräche zu
dem entsprechenden tonlosen (vgl. mhd. imde — meit, ribe — reip), als
ob man es mit einer jedesmal von neuem eintretenden Veränderung
zu tun hätte, die dadurch veranlasst wäre, dass dem auslaut der ton-
lose laut bequemer liegt. In Wahrheit aber ist es dann das durch
die Überlieferung ausgebildete bewegungsgefühl, welches den tonlosen
laut erzeugt, während die allmählige reducierung des stimmtons bis
zu gänzlicher n ernichtung und die etwa damit verl)undene Verstärkung
des exspirationsdruckes einer vielleicht schon längst vergangenen zeit
angehören. Ganz verkehrt ist es auch, das eintreten eines lautwandels
immer auf eine besondere trägheit, lässigkeit oder Unachtsamkeit zu-
rückzuführen und das unterbleiben desselben anderswo einer besondern
^5
Sorgfalt und aufnierksanikcit zuziiselircibcu. Wol mag ch seiu, dass
das bcvvcgimgsgcfiihl uielit überall zu der gleichen Sicherheit aus-
gebildet ist. Aber irgend welche anstrengung zur Verhütung eines
Lautwandels gibt es nirgends. Denn die betreffenden haben gar keine
ahnung davon, dass es etwas derartiges zu verhüten gibt, sondern
leben immer in den guten glauben, dass sie heute so si)rcchen, wie
sie vor jähren gesprochen haben, und dass sie bis an ihr ende so
weiter sprechen werden. Würde jemand im stände sein die organ-
bewegungeu, die er vor vielen jähren zur hervorbringung eines Wortes
gemacht bat, mit den gegenwärtigen zu vergleichen, so würde ihm
vielleicht ein unterschied auffallen. Dazu gibt es aber keine möglich-
keit. Der einzige massstab, mit dem er messen kann, ist immer das
bewegungsgefühl, und dieses ist entsprechend modificiert, ist so, wie
es zu jener zeit gewesen ist, nicht mehr in der seele.
Eine cun trolle aber gibt es dennoch, wodurch der eben ge-
schilderten entwickelung des einzelnen Individuums eine mächtige
hemmung entgegengesetzt wird: das ist das lautbild. Während sich
das bewegungsgefühl nur nach den eigenen bewegungen bildet, gestaltet
sich das lautbild ausser aus dem selbstgesprochenen auch aus allem
dem, was man von denjenigen hört, mit denen man in verkehrsgemein-
schaft steht. Träte nun eine merkliche Verschiebung des bewegungs-
gefühles ein, der keine entsprechende Verschiebung des lautbildes zur
Seite stünde, so würde sich eine discrepanz ergeben zwischen dem
durch ersteres erzeugten laute und dem aus den früheren empfindungen
gewonnenen lautbilde. Eine solche discrepanz wird vermieden, indem
sich das bewegungsgefühl nach dem lautbilde corrigiert. Dies ge-
schieht in der selben weise, wie sich zuerst in der kindheit das be-
wegungsgefühl nach dem lautbilde regelt. Es gehört eben zum eigen-
sten wesen der spräche als eines Verkehrsmittels, dass der einzelne
sich in steter Übereinstimmung mit -seinen verkehrsgenossen fühlt.
Natürlich besteht kein bewusstes streben danach, sondern die forderung
solcher Übereinstimmung bleibt als etwas selbstverständliches unbewusst.
Dieser forderung kann auch nicht mit absoluter exactheit nachge-
kommen werden. Wenn schon das bewegungsgefühl des einzelnen
seine bewegungen nicht völlig beherrschen kann und selbst kleinen
Schwankungen ausgesetzt ist, so muss der freie spieh-aum für die
bewegung, der innerhalb einer gruppe von individuen besteht, natür-
lich noch grösser sein, indem es dem bewegungsgefühle jedes einzelnen
doch niemals gelingen wird dem lautbilde, das ihm vorschwebt, voll-
ständig genüge zu leisten. Und dazu kommt noch, dass auch dies
lautbild wegen der bestehenden differenzen in den lautempfindungen
sich bei jedem einzelnen etwas anders gestalten muss und gleichfalls
56
beständigen selivvaukungen unterworfen ist. Aber über ziemlich enge
grenzen hinaus können auch diese Schwankungen innerhalb einer
durch intensiven verkehr verknüpften gruppe nicht gehen. Sie werden
auch hier unmerklich oder, wenn auch bei genauerer beobachtung be-
merkbar, so doch kaum definierbar oder gar, selbst mit den mittein
des vollkommensten alphabetes, bezeichenbar sein. Wir können das
nicht nur a priori vermuten, sondern an den lebenden mundarten tat-
sächlich beobachten, natürlich nicht an solchen, die einen abgestuften
einfluss der Schriftsprache zeigen. Finden sich auch hie und da bei
einem einzelnen , z. b. in folge eines organischen fehlers stärkere ab-
weichungen, so macht das für das ganze wenig aus.
So lange also der einzelne mit seiner tendenz zur abweichung
für sich allein den verkehrsgenossen gegenüber steht, kann er dieser
tendenz nur in verschwindend geringem masse nachgeben, da ihre
Wirkungen immer wider durch regulierende gegenwirkungen paralysiert
werden. Eine bedeutendere Verschiebung kann nur eintreten, wenn
sie bei sämmtlichen Individuen einer gruppe durchdringt, die wenigstens
im verhältniss zu der Intensität des Verkehrs im innern, nach aussen
hin einen gewissen grad von abgeschlossenheit hat. Die möglichkeit
eines solchen Vorganges liegt in denjenigen fällen klar auf der band,
wo die abweichung allen oder so gut wie allen Sprechorganen be-
quemer liegi als die genaue innehaltung der richtung des bewegungs-
gefühls. Sehr kommt dabei mit in betracht, dass die schon vorhandene
Übereinstimmung in accent, tempo etc. in die gleichen bahnen ti'eibt.
Das selbe gilt von der Übereinstimmung in der indifferenzlage. Aber
das reicht zur erklärung bei weitem nicht aus. Wir sehen ja, dass
von dem selben ausgangspunkte aus sehr verschiedenartige entwicke-
lungen einti-eten, und zwar ohne immer durch accentveränderungen
oder sonst irgend etwas bedingt zu sein, was seinerseits psychologische
veranlassung hat. lind wir müssen immer wider fragen: wie kommt
es, dass gerade die Individuen dieser gruppe die und die Veränderung-
gemeinsam durchmachen. Man hat zur erklärung die Übereinstimmung
in klima, bodenbeschaffenheit und lebensweise herbeigezogen. Es ist
aber davon zu sagen, dass bisher auch nicht einmal der anfang zu
einer methodischen materialiensammlung gemacht ist, aus der sich die
abhängigkeit der sprachentwickelung von deraiügcn einflüssen wahr-
scheinlich machen Hesse. Was im einzelnen in dieser hinsieht be-
hauptet ist, lässt sich meist sehr leicht ad absurdum führen. Kaum
zu bezweifeln ist es, dass eigentümlichkeiten der sprechorgane sich
vererben, und nähere oder weitere Verwandtschaft ist daher gewiss
mit zu den umständen zu rechnen, die eine grössere oder geringere
Übereinstimmung im bau der organe bedingen. Aber sie ist es nicht
57
jillein, wovon der letztere abluing,t. Und ebensowenig liängt die sprach-
entwiekclnng- allein vom bau der organc ab. Ucberdies aber tritt die
dialeetische Scheidung und zusamniensehliessung sehr vielfach mit der
leiblichen Verwandtschaft in Widerspruch. Man wird sieh demnach
immer vergeblich abmühen, wenn man versucht das zusammentreffen
aller Individuen einer gruppe lediglich als etwas spontanes zu erklären,
und dabei den andern neben der Spontaneität wirkenden factor über-
sieht, den zwang der Verkehrsgemeinschaft.
Gehen wir davon aus, dass Jedes Individuum besonders veranlagt
und in besonderer weise entwickelt ist, so ist damit zwar die möglich-
keit ausserordentlich vieler Variationen gegeben, nimmt man aber jedes
einzelne moment, was dabei in betracht kommt, isoliert, so ist die zahl
der möglichen Variationen doch nur eine geringe. Betrachten wir die
Veränderungen jedes einzelnen lautes für sich, und unterscheiden wir
an diesem wider Verschiebung der articulationsstelle , Übergang von
verschluss zu engeubildung und umgekehrt, Verstärkung oder Schwächung
des exspirationsdruckes u. s. f., so werden wir häufig in der läge sein
nur zwei möglichkeiten der abweichung zu erhalten. So kann z. b.
das a sich zwar nach und nach in alle möglichen vocale wandeln,
aber die richtung in der es sich bewegt, kann zunächst doch nur ent-
weder die auf i oder die auf ii sein. Nun kann es zwar leicht sein,
dass sich die zwei oder drei möglichen richtungen in einem grossen
Sprachgebiete, alles zusammengefasst, ungefähr die wage halten. Es
ist aber sehr unwahrscheinlich, dass das an allen verschiedenen punkten
zu jeder zeit der fall sein sollte. Der fall, dass in einem durch be-
sonders intensiven verkehr zusammengehaltenen gebiete die eine ten-
denz das übergewicht erlangt kann sehr leicht eintreten lediglich durch
das spiel des zufalls, d. h. auch wenn die Übereinstimmung der mehr-
heit nicht durch einen nähern innern Zusammenhang gegenüber den
ausserhalb der gruppe stehenden Individuen beding-t ist, und wenn die
Ursachen, die nach dieser bestimmten richtung treiben, bei den einzelnen
vielleicht ganz verschiedene sind. Das übergewicht einer tendenz in
einem solchen beschränkten kreise genügt um die entgegenstehenden
hemmungen zu überwinden. Es wird die veranlassung, dass sich der
Verschiebung des bewegungsgefühles, wozu die majorität neigt, eine
Verschiebung des lautbildes nach der entsprechenden richtung zur seite
stellt. Der einzelne ist ja in bezug auf gestaltung seiner lautvor-
stellungen nicht von allen mitgliedern der ganzen Sprachgenossenschaft
abhängig, sondern immer nur von denen, mit welchen er in sprach-
lichen verkehr tritt, und widerum von diesen nicht in gleicher weise,
sondern in sehr verschiedenem masse je nach der liäufigkeit des Ver-
kehres und nach dem grade, in welchem sich ein jeder dabei betätigt.
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Eh koiiiiiit nicht claniiif an, von wie vielen meuselien er diese oder
Jene eigentiimlielikcit der ausspraclie hört, sondern lediglich darauf,
wie oft er sie hört. Dabei ist noch zu berücksichtig-en, das dasjenige,
was von der gewöhnlich vernommeneu art abweicht, wider unter sich
verschieden sein kann, und dass dadurch die von ihm ausgeübten
Avirkungeu sich gegenseitig- stören. Ist nun aber durch beseitigung
der vermittelst des Verkehres geübten hemmung eine definitive Ver-
schiebung des bewegungsgeftihles eingetreten, so ist bei fortwirken der
tendenz eine weitere kleine abweichuug nach der gleichen seite er-
möglicht. Mittlerweile wird aber auch die miuorität von der bewegung
mit fortgerissen. Genau dieselben gründe, welche der minderheit nicht
gestatten in fortschrittlicher bewegung sich zu weit vom allgemeinen
usus zu entfernen, gestatten ihr auch nicht hinter dem fortschritt der
mehrheit erheblich zurückzubleiben. Denn die überwiegende häufigkeit
einer ausspräche ist der einzige masstab für ihre correctheit und
mustergültigkeit. Die bewegung geht also in der weise vor sich, dass
immer ein teil etwas vor dem durchschnitt voraus, ein anderer etwas
hinter demselben zurück ist, alles aber in so geringem abstände von
einander dass niemals zwischen Individuen, die in gleich engem ver-
kehr unter einander stehn, ein klaffender gegensatz hervortritt.
Innerhalb der nämlichen generation werden auf diese weise immer
nur sehr geringfügige Verschiebungen zu stände kommen. Merklichere
Verschiebungen erfolgen erst, wenn eine ältere generation durch eine
neu heranwachsende verdrängt ist. Zunächst, wenn eine Verschiebung
schon bei der raajorität durchgedrungen istj während ihr eine minorität
noch widersteht, so wird sich das heranwachsende geschleeht natur-
gemäss nach der majorität richten, zumal wenn die ausspräche der-
selben die bequemere ist. ^lag nun die minorität auch bei der älteren
gewohnheit verharren, sie stirbt allmählig aus. Weiterhin aber kann
es sein, dass sich das bewegungsgefühl der Jüngern generation von
anfang an nach einer bestimmten riehtung hin abweichend von dem
der älteren gestaltet. Die selben gründe, welche bei der älteren
generation zu einer bestimmten art der abweichung von dem schon
ausgebildeten bewegungsgefühl treiben, müssen bei der jüngeren auf
die anfängliche gestaltung desselben wirken. Man wird also wol sagen
können, dass die hauptveranlassung zum lautwandel in der
Übertragung der laute auf neue Individuen liegt. Für diesen
Vorgang ist also der ausdruck wandel, wenn man sich au das wirk-
lich tatsächliche hält, gar nicht zutreffend, es ist vielmehr eine ab-
weichende neuerzeugung.
Bei der erlernung der spräche werden nur die laute überliefert,
nicht die bewegungsgefühle. Die Übereinstimmung der selbsterzeugten
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mit (leu \ou undcicii j;eliörteii lauten gibt dem einzelnen die gewähr
dafür, dass er richtig spricht. Dass dann auch das hewegungsgeflihl
sich in annähernd gleicher weise gebildet hat, kann nur unter der
Voraussetzung angenommen werden, dass annähernd gleiche laute nur
durch annähernd gleiche bewegungcn der sprechorgauc erzeugt werden
können. Ist es möglich, durch verschiedene bewegungen einen an-
nähernd gleichen laut zu erzeugen, so muss es auch möglich sein,
dass sich das beweguugsgefühl desjenigen, der die spräche erlernt,
anders gestaltet als dasjenige der personen, von denen er sie lernt.
Für einige wenige fälle wird wol eine solche abweichende gestaltuug
des bewegungsgefühles als möglich zugegeben werden müssen. 80
sind z. b. die dorsalen /- und A-laute im klänge nicht sehr von den
alveolaren verschieden, trotzdem die articulation wesentlich verschieden
ist. Linguales und uvulares r sind zwar noch ziemlich leicht zu unter-
scheiden, und es pflegt auch, so viel mir bekannt ist, in den ver-
schiedenen mundarten entweder das eine oder das andere durch-
zugehen ; aber der Übergang des einen in das andere ist doch wol kaum
anders zu erklären, als dass abweichende hervorbringungen nicht corri-
giert wurden, weil die abweichungen des klanges nicht genug auffielen.
Es gibt nun noch andere lautliche Veränderungen, die nicht auf
einer Verschiebung oder abweichenden gestaltung des bewegungsgefühls
beruhen, die man also von dem bisher geschilderten lautwaudel im
engeren sinne zu scheiden hat, die aber das mit ihm gemein haben,
dass sie ohne rücksicht auf die function des Wortes vor sich gehen.
Es handelt sieh hierbei nicht um eine Veränderung der demente, aus
denen sich die rede zusammensetzt, durch Unterschiebung, sondern nur
um eine vertauschung dieser demente in bestimmten einzelnen fällen.')
Es gehört hierher zunächst die erscheinung der metathcsis.
Es sind zwei hauptarten zu unterscheiden. Erstens: zwei unmittelbar
auf einander folgende laute werden umgestellt, vgl. angelsächsisch
fix = ahd. fisc, first = frist, inian ^= rinnan. Zweitens: zwei nicht
auf einander folgende laute vertauschen ihre stellen, vgl. ahd. erila
neben elira = nhd. erle — eller, ags. weleras lippen gegen got. wairilos,
ahd. ezzil), welches vor der lautverschiebung *elik gelautet haben
muss, = lat. acetum\ it. dialectisch (jrolioso = (jlorioso, crompare =
comprare; mhd. kokodrille = lat. crocodilus.
Ferner gehören hierher assimilationen zwischen zwei nicht-
benachbarten lauten wie lat. quinque aus *pinque, urgermanisch */mft
(fünf) = *finhnH u. dergl.
Häufiger sind dissimilationen zwischen zwei nicht aneinander
angrenzenden ähnlichen lauten, vgl. alid. lurtiltüba aus lat. luriur,
') Vgl. Brugmann, Zum heutigen stand der Sprachwissenschaft s. 50.~
60
marmul aus lat. marmor, mlid. mtirlel neben marler aus marlyrium,
prlol neben prior, umgekehrt nilid. pheller neben phelld aus lat. pal-
(iolum; ahd. fluobrd (trost) gegen asäehs. frbfra und ags. frbfor, mhd.
kaladrius neben karadrius; mittellat. pelegrinus aus peregr'mus.^)
Als dissimilation kann auch der ausfall eines lautes betrachtet
werden, wenn er dadurch veranlasst ist, dass der gleiche laut in der
nähe steht, vgl. griech. ÖQvqaxTo<: (hölzerner verschlag) aus (pQctCöoi
abgeleitet, sxjrayXog aus jilrjocco. Ebenso der ausfall einer ganzen
silbe neben einer ähnlichen, mit dem gleichen consonanten anlautenden,
vgl. ijfitöifivov neben rjfiifitöiftpov, df/gjOQsvg neben afKpKpoQEvq"^)^
x8Xaiv£q)7Jg statt *x8XaivovE(p7]g; lat. setnestris statt *semmestns.
Für diese Vorgänge weiss ich keine andere erklärung, als dass
sie auf widerholtem versprechen beruhen, worin ein bedeutender teil
der sprachgenossen spontan zusammengetroffen ist. Dass sich beim
spreclien häufig die reihenfolge der Wörter, silben oder einzellaute
verschiebt, indem ein dement sich zu früh ins bewusstsein dräng-t, ist
eine bekannte tatsache; ebenso, dass von zwei ähnlichen elementen
leiclit das eine ausgelassen Avird. Es ist ferner bekannt, dass es be-
sondere Schwierigkeiten macht ähnliche und doch verschiedene laute
rasch hintereinander correct auszusprechen. Hierauf beruht ja der
scherz mit sprechkunststücken wie der kutscher putzt den post-
kutschkasten u. dgl. Dass es für gewisse Versprechungen begün-
stigende bedingungen gibt, dass sie daher bei verschiedenen personen
und widerhölt auftreten, wird auch nicht zu läugnen sein. Zur
normalen form können dann die Versprechungen durch die Überlieferung
auf die jüngere generation werden. Am leichtesten begreifen sich
diese Vorgänge, wenn sie fremdwörter betreffen, die dem eigenen idiom
nicht geläufige lautfolgen enthalten. Bei diesen kommt ungenaue per-
ceptiou und mangelhafte einprägung hinzu. Die erscheinungen sind
daher auch nicht immer leicht von denjenigen zu trennen, die wir in
cap. 22 als lautsubstitution kennen lernen werden. Ebenso bedarf es
in manchen fällen der erwägung, ob nicht Volksetymologie im spiele
ist. Vollständig begreiflich ist mir in diesen dingen noch nicht alles.
Es bleibt uns jetzt noch die wichtig-e frage zu beantworten, um
die neuerdings so viel gestritten ist : wie steht es um die consequenz
der lautge setze? Zunächst müssen wir uns klar machen, was wir
denn überhaupt unter einem lautgesetze verstehen. Das wort 'gesetz'
wird in sehr verschiedenem sinne angewendet, wodurch leicht verwir-
') Reiches material bei Bechtel, Ueber gegenseitige assimilation und dissimi-
lation der beiden zitterlaute, Göttingen 1S76. Doch möchte ich nicht alles von
Bechtel beigebrachte als sicher hierher gehörig betrachten.
^) Vgl. Delbrück. Die neueste Sprachforschung, s. 18
61
rang eutsteht.i) lu dem sinne, wie wir. iu der pbysik oder ehemie
von gesetzen reden, in dem sinne, den ich im äuge gehabt habe, als
ich die gesetzeswissenschaften den iieschichtswissenschaften gegenüber
stellte, ist der begritt' 'lautgesetz' nicht zu verstehen. Das lautgesetz
sagt nicht aus, was unter gewissen allgemeinen bedingungen immer
wider eintreten muss, sondern es constatiert nur die gleichmässigkeit
innerhalb einer gruppe bestimmter historischer erscheinungen.
Bei der aufstellung von lautgesetzen ist mau immer von einer
vergleichung ausgegangeu. Mau hat die Verhältnisse eines dialectes
mit denen eines andern, einer älteren eutwickelungsstufe mit denen
einer jüngeren verglichen. Man hat auch aus der vergleichung der
verschiedenen Verhältnisse innerhalb des selben dialectes und der selben
zeit lautgesetze abstrahiert. Von der letzteren art sind die regeln, die
man auch in die praktische grammatik aufzunehmen pflegt. So ein
satz, den ich wörtlich Krügers griechischer grammatik entlehne: ein t-
laut vor einem andern geht regelmässig in o über ; beispiele : avvo&rjvai
von avvTco, sQsiod-ijvai von tQstöco, jceio^fjrai von jteid^co. Ich habe
schon oben s. 54 hervorgehoben, dass man sich durch derartige regeln
nicht zu der anschauung verführen lassen darf, dass die beti-effenden
lauttlbergänge sich immer von neuem vollziehen, indem man die eine
form aus der andern bildet. Die betreffenden formen, die in einem
derartigen verhältniss zu einander stehen, sind entweder beide gedächt-
nissmässig aufgenommen, oder die eine ist aus der andern nach
analogie gebildet, worüber in cap. 5. Ich bezeichne dies verhältniss
im folgenden auch nicht als lautwandel, sondern als lautwechsel.
Der lautwechsel ist nicht mit dem lautwandel identisch, sondern er
ist nur eine nachwirkung desselben. Demgemäss dürfen wir auch den
ausdruck lautgesetz nie auf den lautwechsel beziehen, sondern nur auf
den lautwandel. Ein lautgesetz kann sich zwar durch die hinter-
lassenen Wirkungen in den neben einander bestehenden Verhältnissen
einer spräche reflectieren, aber als lautgesetz bezieht es sich niemals
auf diese, sondern immer nur auf eine in einer ganz bestimmten periode
vollzogene historische entwickelung.
Wenn wir daher von consequenter Wirkung der lautgesetze reden,
so kann das nur heissen, dass bei dem lautwandel innerhalb des sell)en
dialectes alle einzelnen fälle, in denen die gleichen lautlichen be-
dingungen vorliegen, gleiehmässig behandelt werden. Entweder muss
also, wo friiher einmal der gleiche laut bestand, auch auf den späteren
entwickelungsstufen immer der gleiche laut bleiben, oder, wo eine
Spaltung in verschiedene laute eingetreten ist, da muss eine bestimmte
*) Vgl. darüber besonders L. Tobler, lieber die auwendung dos begrifts von
gesetzen anf die spräche, Vierteljabrscbrift f. wissenscbaftl. pbilosopbie III, s. '.V2 ff.
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Ursache, und zwar eine Ursache rein lautlicher uatur wie einwirkung-
umgebender laute, aecent, silbenstellung u. dgl. anzugeben sein, warum
in dem einen falle dieser, in dem andern jener laut entstanden ist.
Man muss dabei natürlich sämmtliche momente der lauterzeugung in
betracht ziehen. Namentlich muss man auch das wort nicht isoliert,
sitndern nach seiner Stellung innerhalb des Satzgefüges betrachten. Erst
dann ist es möglich die consequenz in den lautveräuderungen zu erkennen.
Es ist nach den vorangegangenen erörterungen nicht schwer, die
notwendigkeit dieser consequenz darzutun, soweit es sich um den
eigentlichen lautwandel handelt, der auf einer allmähligen Verschiebung
des bewegungsgefühles beruht; genauer genommen, mUssten wir aller-
dings sagen die einschränkung der abweichungen von solcher con-
sequenz auf so enge grenzen, dass unser unterseheidungungsvermögen
nicht mehr ausreicht.
Dass zunächst an dem einzelnen Individuum die entwickelung
sich eonsequent vollzieht, muss für jeden selbstverständlich sein, der
überhaupt das walten allgemeiner gesetze in allem geschehen an-
erkennt. Das bewegungsgefühl bildet sich ja nicht für jedes einzelne
wort besonders, sondern überall, wo in der rede die gleichen demente
widerkehren, wird ihre erzeugung auch durch das gleiche bewegungs-
gefühl geregelt. Verschiebt sich daher das bewegungsgefühl durch
das aussprechen eines elementes in irgend einem worte, so ist diese
Verschiebung auch massgebend für das nämliche dement in einem
anderen worte. Die ausspräche dieses dementes in den verschiedenen
• Wörtern schwankt daher grade nur so wie die in dem nämlichen
worte innerhalb der selben engen grenzen. Schwankungen der aus-
spräche, die durch schnelleres oder langsameres, lauteres oder leiseres,
sorgfältigeres oder nachlässigeres sprechen veranlasst sind, werden
immer das selbe dement in gleicher weise treften, in was für einem
worte es auch vorkommen mag, und sie müssen sich immer in ent-
sprechenden abständen vom normalen bewegen.
Soweit es sich um die entwickelung an dem einzelnen Individuum
handelt, ist es hauptsächlich ein einwand, der immer gegen die con-
sequenz der lautgesetze vorgebracht wird. Man behauptet, dass das
etymologische bewusstsein, die rücksicht auf die verwandten formen
die Wirkung eines lautgesetzes verhindere. Wer das behauptet, muss
sich zunächst klar machen, dass damit die Wirksamkeit desjenigen
factors, der zum lautwandel treibt, nicht verneint werden kann, nur
dass ein factor ganz anderer natur gesetzt wird, der diesem entgegen-
wirkt. Es ist durchaus nicht gleichgültig, ob man annimmt, dass ein
factor bald wiikt, bald nicht wirkt, oder ob man annimmt, dass er
unter allen umständen wirksam ist und seine Wirkung nur durch einen
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andern faetor paralysiert wird. Wie lässt sieh nun aber das chrono-
logische verhältuiss in der Wirkung dieser factoren denken? Wirken
sie beide gleichzeitig, so dass es zu gar keiner Veränderung koniiut,
oder wirkt der eine nach dem andern, so dass die Wirkung des
letzteren immer wider aufgehoben wird? Das erstere wäre nur unter
der Voraussetzung denkbar, dass der sprechende etwas von der drohen-
den Veränderung wüsste und sich im voraus davor zu hüten suchte.
Dass davon keine rede sein kann, glaube ich zur genüge auseinander-
gesetzt zu haben. Gesteht man aber zu, dass die Wirkung des laut-
lichen factors zuerst sich geltend macht, dann aber dnrch den andern
faetor wider aufgehoben wird, den wir als analogie im folgenden
noch näher zu charakterisieren haben werden, so ist damit eben die
consequenz der lautgesetze zugegeben. Man kann vernünftigerweise
höchstens noch darüber streiten, ob es die regel ist, dass sich die
analogie schon nach dem einti'itt einer ganz geringen diiferenz zwischen
den etymologisch zusammenhängenden formen geltend macht, oder ob
sie sich erst wirksam zu zeigen pflegt, wenn der riss schon klaffend
geworden ist. Im princip ist das kein unterschied. Dass jedenfalls
das letztere sehr häufig ist, lässt sich aus der erfahrung erweisen, wo-
rüber weiter unten. Es liegt aber auch in der natur der sache, dass
differenzen, die noch nicht als solche empfunden werden, auch das
gefühl für die etymologie nicht beeinträchtigen und von diesem nicht
beeinträchtigt werden.
Ebenso zurückzuweisen ist die annähme, dass rücksichten auf
die klarheit und Verständlichkeit einer form einen lautübergang ver-
hinderten. Man stösst zuweilen auf Verhältnisse, die eine solche rück-
sicht zu beweisen scheinen. So ist z. b. im nhd. das mittlere e der
schwachen praeterita und paiücipia nach t und d erhalten {redete,
redete), während es sonst ausgestossen ist. Geht man aber in das
sechszehnte Jahrhundert zurück, so findet man, dass bei allen verben
doppelformigkeit besteht, einerseits zetgele neben zeigte, anderseits
redte neben redete. Der lautwandel ist also ohne rücksicht auf Zweck-
mässigkeit eingetreten, und nur für die erhaltung der formen ist ihre
grössere Zweckmässigkeit massgebend gewesen.
Somit kann also nur noch die frage sein, ob der verkehr der
verschiedenen Individuen unter einander die veranlassung zu incon
Sequenzen geben kann. Denkbar wäre das nur so, dass der einzelne
gleichzeitig unter dem einflusse von mehreren gruppen von personen
stünde, die sich durch verschiedene lautentwickelung deutlich von ein-
ander gesondert hätten, und dass er nun einige Wörter von dieser,
andere von jener gruppe erlernte. Das setzt aber ein durchaus excep-
tionelles verhältuiss voraus. Normaler weise gibt es innerhalb der-
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jenigeu verkehrsgenosseuschaft., innerhalb deren der einzelne aufwäelist,
mit der er in sehr viel innigerem verbände steht als mit der weiteren
Umgebung, keine derartige differenzen. Wo nicht in folge besonderer
geschichtlicher Veranlassungen grössere gruppen von ihrem ursprüng-
lichen Wohnsitze losgelöst und mit andern zusammengewürfelt werden,
wo die bevölkeruug höchstens durch geringe ab- und zuzüge modi-
iiciert, aber der hauptmasse nach constaut bleibt, da können sich ja
keine dilferenzen entwickeln, die als solche percipiert werden. Spricht
A auch einen etwas anderen laut als B an der entsprechenden stelle,
so verschmilzt doch die perception des einen lautes ebensowol wie
die des anderen mit dem lautbilde, welches der hörende schon in
seiner seele trägt, und es kann denselben daher auch nur das gleiche
bewegungsgefühl correspondieren. Es ist g;ar nicht möglich, dass sich
für zwei so geringe dilferenzen zwei verschiedene bewegungsgefühle
bei dem gleichen individuum herausbilden. Es würde in der regel
selbst dann nicht möglich sein, wenn die äussersten extreme, die inner-
halb eines kleinen Verkehrsgebietes vorkommen, das einzig existierende
wären. Würde aber auch der hörende im stände sein den unterschied
zwischen diesen beiden zu erfassen, so würde doch die reihe von feinen
vermittelungsstufen , die er immer fort daneben hört, es ihm unmög-
lich macheu eine grenzlinie aufrecht zu erhalten. Mag er also auch
immerhin das eine wort häufiger und früher von leuten hören, die
nach diesem exti-eme zuneigen, das andere häufiger und früher von
solchen, die nach jenem extreme zuneigen, so kann das niemals für
ihn die veranlassung werden, dass sich ihm beim nachsprechen
die erzeugung eines lautes in dem einen worte nach einem andern
bewegungsgefühl regelt, als die erzeugung eines lautes in dem andern
worte, wenn das gleiche individuum an beiden stellen einen identischen
laut setzen würde.
Innerhalb des gleichen dialects entwickelt sich also niemals eine
inconsequenz, sondern nur in folge einer dialectmischung oder, wie wir
genauer zu sagen haben werden, in folge der entlehnung eines Wortes
aus einem fremden dialecte. In welcher ausdehnung und unter welchen
bediugungen eine solche eintritt, werden wir später zu untersuchen
haben. Bei der aufstellung der lautgesetze haben wir natürlich mit
dergleichen scheinbaren inconsequenzen nicht zu rechnen.
Kaum der erwähnung wert sind die versuche, die man gemacht
hat, den lautwaudel aus willkürlichen launen oder aus einem verhören
zu erklären. Ein vereinzeltes verhören kann unmöglich bleibende
folgen für die Sprachgeschichte haben. Wenn ich ein wort von jemand,
der den gleichen dialect spricht wie ich, oder einen andern, der mir
vollständig geläufig ist, nicht deutlich percipiere, aber aus dem sonstigen
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zusammenhange errate, was er sagen will, so ergänze ich mir das be-
treffende wort nach dem eriuneriingsbilde, das ich davon in meiner
seele habe. Ist der Zusammenhang nicht ausreichend aufklärend, so
werde ich vielleicht ein falsches ergänzen, oder ich werde nichts er-
gänzen und mich beim nichtverstehen begnügen oder noch einmal
fragen. Aber wie ich dazu kommen sollte zu meinen ein wort von
abweichendem klänge gehört zu haben und mir doch dieses wort an
stelle des wolbekanuten unterschieben zu lassen, ist mir gänzlich un-
erfindlich. Einem kinde allerdings, welches ein wort noch niemals
gehört hat, wird es leichter begegnen, dass es dasselbe mangelhaft
auffasst und dann auch mangelhaft widergibt. Es wird aber auch das
richtiger aufgefasste vielfach mangelhaft widergeben, weil das be-
wegungsgefühl noch nicht gehörig ausgebildet ist. Seine auffassung
wie seine widergabe wird sich rectificieren , wenn es das wert immer
wider von neuem hört, wo nicht, so wird es dasselbe vergessen. Das
verhören hat sonst mit einer gewissen regelmässigkeit nur da statt,
wo sich leute mit einander unterhalten, die verschiedenen dialect-
gebieten oder verschiedenen sprachen angehören, und die gestalt, in
welcher fremdwörter aufgenommen werden, ist allerdings vielfach da-
durch beeinflusst, mehr aber gewiss durch den mangel eines bewegungs-
gefühls für die dem eigenen dialecte fehlenden laute.
Es bleiben nun allerdings einige arten von lautlichen Verände-
rungen übrig, für die sich cousequente durchführung theoretisch nicht
als notwendig erweisen lässt. Diese bilden aber einen verhältniss-
mässig geringen teil der gesammten lautveränderungen, und sie lassen
sich genau abgrenzen. Einerseits also gehören hierher die fälle, in
denen ein laut vermittelst einer abweichenden articulation nachgeahmt
wird, anderseits die s. 59 f. besprochenen metathesen, assimilationen und
dissimulationen. Uebrigens hat tatsächlich auch hier zum teil voll-
ständige consequenz statt, so namentlich bei der metathesis unmittelbar
auf einander folgender laute, ferner z. b. bei der dissimulation der
aspiraten im griechischen (xt^fx«, jcetptvya) und sonst.
Aus dem vorliegenden Sprachmaterial lässt sich die frage, wie-
weit die lautgesetze als ausnahmslos zu betrachten sind, nicht unmittel-
bar entscheiden, weil es Sprachveränderungen gibt, die, wiewol ihrer
natur nach vom lautwandel gänzlich verschieden, doch entsprechende
resultate hervorbringen wie dieser. Daher ist unsere frage aufs engste
verknüpft mit der zweiten frage: wieweit geht die Wirksamkeit dieser
andern Veränderungen und wie sind sie vom lautwandel zu sondern V
Darüber weiter unten.
Paul, Principien. II. Auflage.
Cap. IV.
Wandel der Wortbedeutung.
Während der lautwandel durch eine widerholte Unterschiebung
von etwas unmerklich verschiedenem zu stände kommt, wobei also
das alte untergeht zugleich mit der entstehung des neuen, ist beim
bedeutungswandel die erhaltung des alten durch die entstehung des
ueuen nicht ausgeschlossen. Er besteht immer in einer erweiterung
oder einer Verengung des umfangs der bedeutuug, denen
eine Verarmung oder bereicherung des Inhalts entspricht. Erst
durch die aufeinanderfolge von erweiterung und Verengung kann eine
von der ursprünglichen völlig verschiedene bedeutuug sich bilden.
Darin aber verhält sich der bedeutungswandel genau wie der laut-
wandel, dass er zu stände kommt durch eine abweichung in der in-
dividuellen anwendung von dem usuellen, die allmählig usuell wird.
Die möglichkeit, wir müssen auch sagen die notwendigkeit des be-
deutungswandels hat ihren grund darin, dass die bedeutuug, welche
ein wort bei der jedesmaligen anwendung hat, sich mit derjenigen
nicht zu decken braucht, die ihm an und für sich dem usus nach zu-
kommt. Da es wünschenswert ist für diese discrepanz bestimmte be-
zeichnungen zu haben, so wollen wir uns der ausdrücke usuelle und
occasionelle bedeutuug bedienen. Man könnte dafür vielleicht auch
sagen generelle und individuelle. Wir verstehen also unter usu-
eller bedeutuug den gesammten vorstellungsinhalt, der sich für den
angehörigen einer Sprachgenossenschaft mit einem werte verbindet,
unter occasioneller bedeutuug denjenigen vorstellungsinhalt, welchen
der redende, indem er das wort ausspricht, damit verbindet und von
welchem er erwartet, dass ihn auch der hörende damit verbinde.
Die occasionelle bedeutuug ist sehr gewöhnlich an inhalt reicher,
an umfang enger als die usuelle. Zunächst ist hervorzuheben, dass
das wort occasionell etwas concretes bezeichnen kann, während es
usuell nur etwas abstractes bezeichnet, einen allgemeinen begriff,
unter welchen sich verschiedene concreta unterbringen lassen. Ich
verstehe hier und im folgenden unter einem coucretum immer etwas,
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was als real existierend gesetzt wird, an bestimmte schraukeu des
raumes und der zeit j^ebundeu; unter einem abstractum einen allge-
meinen l)eg:riff, blossen vorstellungsinbalt au sich, losgelöst von räum-
licher und zeitlicher begrcnzung. Diese Unterscheidung hat demnach
gar nichts zu schaffen mit der beliebten einteiluug der substantiva in
concreta und abstracta. Die substauzbezeichnungeu , denen man den
namen concreta beilegt, bezeichnen an sich gerade so einen allgemeinen
begriff wie die sogenannten abstracta, und umgekehrt köunen die
letzteren bei occasionellem gebrauche in dem eben angegebeneu sinne
concret werden, indem sie eine einzelue räumlich und zeitlich be-
stimmte eigenschaft oder tätigkeit ausdrücken.
Bei weitem die meisten Wörter können in occasioneller Verwen-
dung sowol abstracte wie concrete bedeutung haben. Einige gibt es,
die ihrem wesen nach dazu bestimmt sind etwas concretes zu bezeichnen,
denen aber nichtsdestoweniger die beziehung auf etwas bestimmtes
concretes an sich noch nicht anhaftet, sondern erst durch die indivi-
duelle Verwendung gegeben werden muss. Hierher gehören die pro-
nomina personalia, possessiva, demonstrativa und die adverbia demon-
strativa, auch Wörter wie jetzt, heute, gestern. Ein ich, ein dieser, ein
hier dienen zu keinem andern zwecke als zur Orientierung in der con-
creten welt^), aber an sich sind sie ohne bestimmten Inhalt, und es
müssen erst individualisierende momeute hinzukommen ihnen einen
solchen zu geben. Ferner die eigennamen. Diese bezeichnen zwar
ein einzelweseu, indem aber der gleiche uame verschiedenen personen
oder örtlichkeiten anhaften kann, bleibt doch noch eine Verschieden-
heit zwischen occasioneller und usueller bedeutung. Endlich kommt
eine kleine zahl von Wörtern in betracht, bei denen das, was sie aus-
drücken, als nur einmal existierend gedacht wird, wie gott, teufel^
ivell, erde, sonne. Diese sind zugleich gattungs- und eigennamen, aber
nur in gewissem verstände und von bestimmter, nicht allgemeiner an-
schauung aus. Umgekehrt gibt es Wörter, die ihrer natur nach nur
auf das allgemeine, nicht auf das concrete gehen, wie die adverbia
und ])ronomina je, irgend; mhd. ieman, dehein; lat. quisquam, ullus, un-
quam, uspiam; aber auch deren allgemeinheit erleidet in der occasio-
nelleu anwendung gewisse beschränkungen ; vgl. z= b. wenn er es je
getan hat — wenn er es je tun wird.
Ein weiterer wichtiger unterschied zwischen usueller uud occa-
sioneller bedeutung ist der folgende. Usuell kann die bedeutung eines
') Uebrigens können unsere demonstrativpronomina (auch das pron. ei-) auch
auf abstracte begriffe bezogen werden, vgl. der wall fisch gehört unter die _k lasse
der Säugetiere ; er bringt lehendige junge zur well.
5*
68
Wortes mehrfach sein, oecasionell ist sie immer einfach, abgesehen
von den fällen, wo eine Zweideutigkeit beabsichtigt ist, sei es um zu
teuschen, sei es des witzes wegen. Zwar hat Steiuthal, Zschr. f.
völkerpsych. I, 426 die ansieht verfochten, dass es überhaupt keine
Wörter mit mehrfacher bedeutung gäbe, jedoch, wie ich glaube mit
unrecht. Zunächst gehören hierher alle die fälle, in denen die laut-
liche Übereinstimmung bei Verschiedenheit der bedeutung nur auf zufall
beruht, wie bei nhd. acht = diligentia — proscriptio — oclo. Diese fälle
schliesst natürlich Steinthal aus. indem er voraussetzt, dass man hier
nicht das gleiche wort, sondern mehrere Wörter anerkenne. Aber
lautlich besteht doch Identität, und derjenige, welcher einen solchen
lautcomplex ausser Zusammenhang aussprechen hört, hat kein ndttel
zu erkennen, welche von den verschiedenen damit verknüpften be-
deutungen der sprechende im sinne hat. Wir haben also, wenn wir
uns an den wirklichen tatbestand halten und nichts ungehöriger weise
hinzutun, ein wort, dem usuell mehrfache bedeutung zukommt. Wirk-
liche mehrheit der bedeutungen muss man aber auch in selir vielen
fällen anerkennen, wo nicht bloss lautliche, sondern auch etymologische
Identität besteht. Man vergleiche z. b. nhd. fuchs vulpes — pferd von
fuchsiger färbe — rothaariger mensch — schlauer mensch — gold-
stück — Student im ersten semester, hoc hircus — bock der kutsche
— fehler, futter pabulum — Überzug oder unterzug. mal fleck —
zeichen — Zeitpunkt, messe kirchlicher act — Jahrmarkt, ort locus —
schuhmacherwerkzeug, rappe schwarzes ross — münze, stein lapis —
bestimmtes gewicht — krankheit, geschieh fatum — sollertia, geschickt
missus — sollers, steuern ein schiff lenken — abgaben zahlen — ein-
hält tun; mhd. beizen beizen — mit dem falken jagen — erheizen
vom pferde steigen, weide weide — Jagd — fischerei — mal {ander-
tiH'ide zum zweiten mal); lat. examen schwärm — prüfuug. Steiuthal
will immer nur die grundbedeutung als die einzige anerkennen, während
er den geschichtlich daraus abgeleiteten die Selbständigkeit abspricht.
Seine ansieht passt aber nur auf den zustand, der zu der zeit besteht,
wo die abgeleitete bedeutung zuerst aus der grundbedeutung ent-
springt. Dieser zustand dauert nicht fort. In den meisten der ange-
führten fälle ist es ohne geschichtliche Studien überhaupt nicht möglich
den urs])rünglichen Zusammenhang zwischen den einzelnen bedeutungen
zu erkennen, und dieselben verhalten sich dann gar nicht anders zu
einander, als wenn die lautliche Identität nur zufällig wäre. Das ist
namentlich dann der fall, wenn die grundbedeutung untergegangen ist.
Aber auch in vielen solchen fällen, wo die beziehuug der abgeleiteten
zur grundbedeutung noch erkennbar ist, werden wir die Selbständig-
keit der erstereu anerkennen müssen, nämlich überall da, wo sie wirk-
69
lieh usuell geworden ist. Dafür gibt es ein sicheres kritcriuni, nänilii'h
dass ein wort oeeasioncll ge1)rauc'lit in dem bctrotVenden abgeleiteten
sinne verstanden werden kann ohne znhülfeuahnie der grundhedeutung,
d. h. ohne dass dem sprechenden oder hörenden dabei die grundhe-
deutung zum bewusstsein kommt. Es lassen sich ferner zwei negative
kriterien aufstellen, woran man erkennt, dass ein woii; nicht einfache,
sondern mehrfache bedeutung hat, nämlich erstens , dass sich keine
einfache detinition aufstellen lässt, wodurch der ganze umfang der be-
deutung, nicht mehr und nicht weniger, eingeschlossen ist, und zweitens,
dass das wort occasionell nicht in dem ganzen umfange der bedeutung
gebraucht werden kann. Mau mache die probe mit den angeführten
beispielen.
Auch da, wo sich die usuelle bedeutung als eine einfache be-
trachten lässt, kann die individuelle ohne concret zu werden, davon
abweichen, indem sie nur auf eine von den verschiedenen arten geht,
die in dem generellen begriffe enthalten sind. Das einfache wort
nadel z. b. kann im einzelneu falle als Stecknadel, nähnadel, Stopfnadel,
Stricknadel, häkelnadel etc. verstanden werden.
Alles verstäudniss zwischen verschiedenen iudividuen beruht auf
der Übereinstimmung in deren psychischem verhalten.') Zum ver-
stäudniss der usuellen bedeutung ist nicht mehr Übereinstimmung er-
forderlich, als zwischen allen angehörigen der gleichen sprachgenossen-
schaft besteht, sow^eit sie bereits der spräche völlig mächtig sind.
Wenn aber im occasionellen gebrauch die bedeutung specialisiert ist
und doch verstanden werden soll, so ist das nur auf grund einer noch
engeren Übereinstimmung zwischen den sich unterhaltenden möglich.
Es können die gleichen worte entweder vollkommen verständUch sein
oder unverständlich, respeetive missverständnissen ausgesetzt je nach
der disposition der angeredeten personen und der beschaffenheit der
sonstigen umstände. Je nachdem gewisse zum verstäudniss mitwirkende
momente vorhanden sind oder nicht. Diese momente brauchen an sich
gar nicht sprachlicher natur zu sein. Wir müssen uns dieselben im
einzelnen vergegenwärtigen.
Um Wörtern, die au sich eine abstracte bedeutung haben, be-
ziehung auf etwas concretes zu geben, dient die Verknüpfung mit den
oben s. 67 bezeiehenten Wortarten , deren function es ist das concreto
auszudrücken, insbesondere die mit dem artikel, wo ein solcher ent-
wickelt ist. Indessen hat sich gerade der gebrauch des letzteren
') Die folgenden ausoinandersetzungen berühren sich sehr nahe mit den aus-
tührungen Wegeners in seinem buche Aus dem leben der spräche, nach einer be-
stimmten richtung hin auch mit Breal, Les idees latentes du language, Paris 1868.
70
meist so entwickelt, dass er nielit auf die fimetion des individualisierens
Itesi'liriinkt ist, sondern dem nomen aneh da beigesetzt wird, wo es
den gattimgsi)egriif ausdrückt. Sprachen, die keinen artikel entwickelt
haben, verwenden die abstracten Wörter auch ohne besonderes sprach-
liches kennzeichen znr bezeichnung- von etwas concretem.
Mag nun die l)eziehung auf das concrete an sich ausgedrückt
sein oder nicht, zur näheren bestimmung desselben müssen andere
mittel hinzukommen. Ein solches bildet erstens die dem sprechenden
und liörenden gemeinsame anschauung. Der letztere erkennt, dass
der erstere mit dem worte haum oder tut~m einen bestimmten einzelnen
bäum oder türm meint, wenn sie den betreffenden gegenständ eben
beide vor äugen haben. Die anschauung kann unterstützt und näher
bestimmt werden durch deuten mit den äugen oder bänden und
sonstige gebährden. Hierdurch kann auch auf solche gegenstände
hingewiesen werden, die man nicht unmittelbar sinnlich wahrnimmt,
von denen man aber weiss, nach welcher richtung hin sie sich be-
finden.
Ein zweites mittel, wodurch das wort beziehuug auf etwas be-
stimmtes concretes erhält, bildet das im gespräch, respeetive in der
einseitigen auseinandersetzung des redenden vorangegangene. Ist
der sinn eines wortes einmal concret bestimmt, so kann diese be-
stimmung im weiteren verlaufe der Unterhaltung andauern; die er-
innerung an das vorher ausgesprochene vertritt die stelle der unmittel-
baren anschauung. Diese rückbeziehung kann wider unterstützt werden
durch die demonstrativ-pronomina und adverbia. Mit der Übertragung
derselben von der anschauung, wofür sie ursprünglich allein verwendet
worden sind, auf das in der rede vorangegangene, ist daher ein treff-
liches mittel gewonnen, die von dem sprechenden beabsichtigte Indi-
vidualisierung der bedeutung dem hörenden verständlich zu machen.
Drittens kommt in betracht die besondere macht, welche die
Vorstellung von etwas concretem auch ohne die hülfe der anschauung
oder vorangegangener erwähnung übereinstimmend in der seele der sich
unterredenden haben kann. Die Übereinstimmung in dieser hinsieht
wird erzeugt durch gemeinsamkeit des aufenthaltsortes, der lebenszeit,
der Stellung und beschäffcigung, überhaupt mannigfacher erfahrungen.
Hierher gehört, was man gewöhnlich den gebrauch -/mt f:§,oyjjV nennt.
So wird das wort sfadi ohne nähere bestimmung von den landleuten
einer bestimmten gegend auf die ihnen zunächstliegende stadt bezogen,
Wörter wie rafhons, markl von den einwohnern des gleichen ortes auf
rathaus, markt eben dieses ortes, Wörter wie kiiche, Speisezimmer von
den hausgenossen auf ktiche, Speisezimmer des von ihnen bewohnten
hauses etc. So verstehen wir unter sonnidtj den uns zunächst liegen-
7t
den soiintag:, imd es hraueht dann nur noch angedeutet zu sein, ob
von Zukunft oder vcrgangenlieit die rede ist, um zu wissen welcher
Sonntag- gemeint ist. Wörter, welche das verhältniss einer person zu
einer andern bezeichnen, werden ohne weiteres auf persouen bezogen,
welche sowol zum hörenden wie zum sprechenden in dem betreffenden
Verhältnisse stehn, und zwar ist auch der singular vollkommen deut-
lieh, sobald es nur eine person der art gibt. So ist für den verkehr
von geschwistern untereinander die eoncrete beziehung der Wörter
vater und mulier, für den verkehr von angehörigen des gleichen landes
die von kaiser, köniy etc. selbstverständlich. Auch wo das verhältniss
nur einseitig entweder zu dem sprechenden oder zu dem hörenden
besteht, kann doch, durch nebeuumstände unterstützt, die beziehung
zweifellos werden, so dass z. b. der vater ebenso viel besagt wie mein
vater oder dein, euer vater. Ist ein coucreter gegenständ früher ein-
mal gleichzeitig dem sprechenden und dem hörenden irgendwie be-
deutsam geworden, so kann er durch das auf ihn passende wort in
das bewusstsein gerufen werden, besonders wenn die erinnerung daran
noch frisch ist, oder wenn man sich wider in einer ähnlichen Situation
befindet wie diejenige, in welcher er früher die aufmerksamkeit au
sich gezogen hat. Es sind z. b. zwei freunde mehrmals auf einem be-
stimmten Spaziergange einer ihnen sonst unbekannten dame begegnet,
über die sie einige werte gewechselt haben, und sie machen nun
wider den gleichen gang: so wird die frage des einen „wird uns
heute wider die dame begegnen V" von dem andern richtig bezogen
werden.
Viertens kann eine nähere be Stimmung zu hülfe genommen
werden. Eine solche bestimmung bringt aber in der regel an sich
keinen concreten sinn hervor, sondern nur durch zusammenwirken mit
den andern schon besprochenen factoren. Es muss durch diese ent-
weder dem werte, welchem die bestimmung beigefügt wird, schon eine
beziehung auf eine gruppe coucreter dinge gegeben sein, aus denen
durch die bestimmung eine weitere aussonderuug gemacht wird; oder
es muss durch sie dem bestimmenden werte schon eoncrete beziehung
gegeben sein. Beides kann zusammentreffen. So erhält das wort gräf
durch das epitheton aJi an sich keinen concreten sinn. Ist aber durch
die Situation bereits die beziehung auf eine bestimmte gräfliche familie
gegeben, so wird damit die persönlichkeit genau bestimmt. Das wort
schloss erhält durch das epitheton königlich oder den gen. {des) königs
nur dann einen concreten sinn, wenn dem werte köniy schon durch
die Situation eine eoncrete beziehung gegeben ist. Eindeutig aber ist
die bezeichnung das schloss des königs erst dann, wenn entweder vor-
ausgesetzt werden kann, dass überhaupt nur ein schloss des betreffen-
72
den köni^s existiert, oder wenn in der Situation noeh sonst etwas indi-
vidualisierendes liegt, wenn man z. h. schon auf einen bestimmten ort
hingewiesen ist, in dem man sich das in frage stehende schloss liegend
denken muss.
Der concrete sinn überträg-t sich endlich von einem worte auf
andere dazu in beziehung gesetzte. In Sätzen wie Karl zog den rock
aus, ich herilhrte ihn jnit der hand, ich fasste ihn heim köpfe, du klopftest.
mir auf die schulter erhalten die Wörter rock und hand eine concrete
beziehung durch das subject, das wort köpf durch das object, schitUer
durch den dat. mir.
Auf die selbe weise, wie gattungsnaraen eine bestimmte concrete
beziehung erhalten, werden auch ei gennamen die verschiedenen Indi-
viduen zukommen, eindeutig. Der blosse name Karl genügt, wenn
der, den wir meinen, vor uns steht, wenn wir eben von ihm gesprochen
haben, auch ohne das innerhalb einer familie oder eines engeren be-
kanntenkreises, dem dieser Karl und zwar nur dieser angehört. Sonst
bestimmen wir ihn näher, z. b. könig Karl fJ. von Frankreich. Ebenso
genügt ein Ortsname, der in verschiedenen gegenden vorkommt, ohne
weiteres für die nähere Umgebung, auch für weitere kreise, wenn der
gemeinte bei weitem der bedeutendste unter den gleichnamigen orten
ist (vgl. Sirassburg)', sonst hilft man sich mit einer näheren be-
stimmung.
Die selben momente, durch welche ein wort concrete beziehung
erhält, dienen auch zur specialiserung der bedeutung. Ohne
mitwirkung besonderer umstände wird man, wenn man ein wort hört,
zunächst an die gewöhnlichste unter den verschiedenen bedeutungen
desselben oder an die grundbedeutung denken. Beides fällt häufig
zusammen. Wo aber mehrere ungefähr gleich häufige bedeutungen
neben einander stehen, da wird nach einem allgemeinen psycho-
logischen gesetze die grundbedeutung eher in das bewusstsein treten
als eine abgeleitete, ja dies wird selbst oft der fall sein, wo eine ab-
geleitete gewöhnlicher ist. Anders aber stellt sich die sache, sobald
in der seele des hörenden gewisse vorstellungsmassen schon vor dem
aussprechen des Wortes erregt sind oder gleichzeitig mit demselben
erregt werden, die eine nähere Verwandtschaft mit einer abgeleiteten
oder selteneren bedeutung haben. Es macht einen grossen unterschied,
ob ich das wort blatl bei einem Spaziergang im walde höre oder in
einer kunsthandlung, wo ich mir stiche oder Photographien besehe,
oder in einem Cafehause, wo über Zeitungen gesprochen wird; ebenso
ob ich das wort band in einem posamentiergeschäft höre oder in einer
böttcherci oder in einer bibliothek. Unterhalten sich tischler, Jäger,
ärzte oder sonst leute von einerlei beruf unter einander, so sind sie
73
dazu disponiert alle Wörter vun derjenigeu seite her aufzufaHsen , die
ihnen diener beruf nahe legt. Von grosser bedcutung ist die Ver-
bindung, in der ein wort auftritt. Durch sie können die verschiedenen
raöglichkeiten der auffassung eines Wortes auf eine einzige beschränkt
werden. Vgl. ein schwarzes mal — ein zweites mal — ein reichliches
mal, ein wolyemeinter rat — ein neuernannter rat; gerichl der ge-
schwornen — gericht fische, fuss des tisches — des berges etc.; zunge
der wage; stürm auf der nordsee — stürm auf eine festung — stürm
in meinem herzen; ei?i ball, zu dem hundert pcrsonen geladen sind; ein
kränzchen, welches sich wöchentlich versammelt; land und leute — wasser
und land — Stadt und land, feder und dinte, ein fuchs imd ein schimmel;
er reitet einen fuchs, er schraubt den hahn auf er spielt den könig
aus, es kostet zwei krönen, drei adler wurden erbeutet, der zug setzt
sich in bewegung — es kommt ein unangenehmer zug durch das fenster;
eine helle stimme — heller Sonnenschein, reine wasche — reines herz;
Fritz ist ein esel; der nimm geht — die mühle geht — es geht ihm gut
— das geht nicht, Karl steht auf einem beine — es steht in der zeitung
— die uhr steht — es steht dir frei etc.
In den bisher l)esprochenen fällen bestand die abweichung der
occasionellen bedeutung von der usuellen darin, dass die erstere alle
eleraente der letzteren in sich enthielt, aber zugleich noch etwas mehr.
Es gibt aber auch eine abweichung von der art, dass die occasionelle
bedeutung nicht alle demente der usuellen einschliesst, wo-
bei sie aber doch zugleich wider etwas zu der letzteren nicht gehöriges
enthalten kann. Die allgemeine grundbedingung für die möglichkeit
einer solchen bloss partiellen benutzung der usuellen bedeutung eines
Wortes ist dadurch gegeben, dass sich diese bei weitem in den meisten
fällen aus mehreren dementen zusammensetzt, die sich von einander
sondern lassen. Jede Vorstellung von einer Substanz enthält not-
wendigerweise die Vorstellung mehrerer eigensehaften. Aber auch viele
Vorstellungen von eigensehaften und tätigkeiten, die wir mit einem
einzigen worte bezeichnen können, sind zusammengesetzt. Ganz ein-
fache qualitäteu (natürlich vom psychologischen Standpunkte aus) be-
zeichnen z. b. die beuennungen der färben: blau, rot, gelb, weiss,
schwarz. Und selbst bei diesen ist es möglich, dass sie für qualitäten
verwendet werden, die ihrer eigentlichen bedeutung nach nicht voll-
kommen adaequat sind. Da nämlich jede färbe mit jeder anderen in
beliebigem verhältniss gemischt werden kann, so gibt es unendlich
viele Übergangsstufen, die unmöglich jede ihre besondere bezeichnung
haben können. Und so ergibt es sich, dass man bei der bezeichnung
beimischungen in geringerem grade unberücksichtigt lässt, so dass die
grenze, innerhalb deren eine farbenbenennung anwendbar ist, unsicher
74
und vcrscliicbbar wird. Einen viel weiteren sipielranni aber für nicht
adac(inatc Verwendung bieten die Wörter deren bedeutung- ein vor-
stelhingscomplex ist.
Hierher gehijrt alles, was mau als bildlicheu ausdruck be-
zeichnet. Man pflegt zu sagen, zur verglcichung gehöre ausser den
beiden mit einander verglichenen gegenständen ein tertium compara-
tionis. Dieses tertium ist aber nicht etwas neues, was noch dazu
käme, sondern es ist derjenige teil von dem Inhalt der beiden mit
einander verglichenen vorstellungscomplexe, den sie mit einander ge-
mein haben. Sagen wir von einem menschen er ist einem schtvcine
(jleich oder er ist einem scluveiiie zu vergleichen, so ist das keine iden-
tiiicierung wie bei einer mathematischen gleichung, sondern es soll
damit nur gesagt sein, dass eine von den charakteristischen eigen-
schaften. aus denen sieh der begriff schwein zusammensetzt, auch in
der Vorstellung inbegriffen ist, die wir uns von diesem menschen
machen, d. h. in der regel die unvlätigkeit. Wir können daher genauer
sagen, indem auch das tertium zum ausdruck kommt: er ist unvlätbj
wie ein schwein. Anderseits aber kann mau noch einfacher sagen er
ist schweinisch, wobei das adj. widerum nicht den vollen inbegriff
aller cigenschaften eines Schweines bezeichent, sondern nur eine aus-
wahl daraus, und endlich am einfachsten er ist ein schwein.
Noch eine andere möglichkeit gibt es, wodurch ein wort über
die scliranken seiner eigentlichen bedeutung hinausgreifen kann, widerum
natürlich zunächst nur occasionell. Diese besteht darin, dass etwas,
was mit dem usuellen bedeutungsiuhalt nach allgemeiner erfahrung
räumlich oder zeitlich oder causal verknüpft ist, unter dem
Worte mitverstanden oder auch allein darunter verstanden wird. Hier-
her gehört die aus der lateinischen Stilistik als pars pro toto be-
kannte figur. sowie manches andere, was noch im folgenden zu be-
handeln sein wird.
Bei jedem hinausgreifen des Wortes über die schranken seiner
usuellen bedeutung muss noch ein bestimmendes moment hinzukommen,
wenn die beziehung richtig verstanden werden soll. Ein solches ist
hier noch viel notwendiger als da, wo es sich nur darum handelt zu
erkennen, welche von mehreren schon usuellen bedeutungen gemeint
ist, vgl. oben s. 72. Wir fühlen uns überhaupt nie veranlasst ein wort
in einem sinne zu verstehen, welcher nicht alle demente der usuellen
bedeutung in sich schliesst, so lange wir nicht durch irgend etwas
darauf hingewiesen werden, dass das unmöglich ist, und zum wirk-
lichen erfassen des wahren sinnes gehört dann noch, dass dieser hin-
weis unseren gedanken auch eine positive richtuug gibt. In dem
sprUchworte eigentoh stinkt, freundes lob hinkt würden wir die prädi-
75
cate nicht in biUlliciiem sinne verstehen, wenn sie in eigentlieiieni mit
den snbjcetcn vereinbar wären. Wenn »Schiller sagt zu Aclien sdss
könig Rudolfs heilige maeht oder Wolfram von Esehenbaeh dar nach
sin snelheit verre spränc erkennen wir an den prädicaten, dass die
subjeete umsehreibnno-en für die personen sein sollen.
In allen diesen besprochenen abweichnugen der occasioncllen be-
dentung- von der usuellen liegen ausätze zu wirklichem bedeutungs-
wandel. Sobald sie sieh mit einer gewissen regelmässigkeit wider-
holen, wird das individuelle und momentane allniählig generell und
und usuell. Die grenzlinie zwischen dem, was bloss zur occasioncllen,
und dem, was auch zur usuellen l)edeutung eines wertes gehört, ist
eine fliessende. Für das individuum ist der anfang zum Übergang
einer oceasionellen bedeutung in das usuelle gemacht, wenn bei dem
anwenden oder verstehen derselben die erinnerung an ein früheres
anwenden oder verstehen mitwirkend wird; der vollständige abschluss
des Überganges ist erreicht, wenn nur diese erinnerung wirkt, wenn
anwendung und verständuiss ohne jede beziehung auf die sonstige
usuelle bedeutung des Wortes erfolgt. Dazwischen ist eine mannig-
fache abstufung möglich. Innerhall) der engeren oder weiteren ver-
kehrsgenossenschaften können sich dann wider die verschiedenen indi-
viduen auf verschiedenen stufen des übergangsprocesses befinden. Es
ist aber gar nicht möglich, dass der process sich an einem individuum
vollziehen könnte, während dessen verkehrsgenossen vollständig unbe-
rührt davon blieben. Denn zum wesen des processes gehört es ja
eben, dass er durch widerholte gleichmässige anwendung der anfäng-
lich nur occasioncllen l)edeutung zu stände kommt, und dieser muss
ein verstehen wenigsten von seiten eines teiles der verkehrsgenossen
entsprechen, und das verstehen ist für diese widerum mindestens ein
anfang des processes. Es wird aber auch nicht leicht an einem
einzelneu individuum der process vollkommen durchgeführt werden,
wenn die beeinflussung, welche es auf die verkehrsgenossen ausübt,
nicht von diesen zurückgegeben wird. Ein solches zurückgeben wird
natürlich da am leichtesten sich einstellen, wo nicht bloss beein-
flussung von aussen wirkt, sondern ein spontaner innerer trieb zu der
nämlichen occasioncllen Verwendung des wortes, wie er sich natur-
gemäss aus der Übereinstimmung ergibt, die zwischen den individuen
rücksichtlich ihrer Verhältnisse besteht.
Ganz besonders wirksam aber für die Verwandlung der occasio-
ncllen bedeutung in feine usuelle ist die erste Überlieferung an die
nachwachsende generation. Die erlernung der Wortbedeutung
erfolgt im allgemeinen nicht mit hülfe einer delinition, durch welche
die usuelle bedeutung nach iniialt und umfang bestimmt würde. Eine
76
t
solche wird iiberlianpt erst flir eine sehon ziemlich fortgeschrittene
stufe der sprachkcuntniss möglich und bleibt auch auf dieser aus-
nähme. Das kind lernt nur oceasionelle verwendungsweiseu des Wortes
kennen, und zwar zunächst nur beziehungen desselben auf ein durch
die anschauung gegebenes eoneretes. Nichtsdestoweniger verallge-
meinert es diese beziehung sofort, wenn es dieselbe überhaupt erfasst
hat. Ganz natürlich. Die beziehung auf das einzelne concretum kann
überhaupt nicht festgehalten werden. Denn in dem erinnerungsbilde,
welches dasselbe hinterlässt, liegt an sich gar nichts, woran bei einer
neuen anschauung die reale identität oder nichtidentität mit dem
früher angeschauten erkannt werden könnte. Die richtige erkenntuiss
davon beruht immer erst auf einer schlusskette und ist sehr häufig
überhaupt nicht zu gewinnen. Für das naive bewusstsein genügt
Übereinstimmung des vorstellungsinhalts um die Identification vorzu-
nehmen, mag reale identität bestehen oder nicht. Es genügt auch
eine paiüelle, unter umständen eine sehr geringfügige Übereinstimmung,
solange das erinnerungsbild noch sehr unbestimmt und verworren ist.
So bildet sich vom beginn der spracherleruuug an die gewohnheit
nicht bloss einen, sondern mehrere gegenstände, nicht bloss gleiche,
sondern auch nur irgendwie ähnliche gegenstände mit dem gleichen
Worte zu bezeichnen, und diese gewohnheit bleibt, auch wenn anfangs
übersehene unterschiede später bemerkt werden, da sie fortwährend
durch den Vorgang der erwachsenen unterstützt wird. Es ist aber gar
nicht anders möglich, als dass zunächst keine klare Vorstellung über
inhalt und umfang der usuellen Wortbedeutung besteht. Das kind
macht eine menge fehler, indem es mit dem worte bald einen zu
reichen, bald einen zu armen begritf verbindet und ihm 'emgemäss
bald eine zu enge, bald eine zu weite vei'wendung erteilt. Das letztere
dürfte das häufigere sein, um so häufiger, je geringer der zu geböte
stehende wortvorrat ist. So weiss ich z. b., dass ein kleines kind
unter stuhl ein sopha mit einbegriff, unter stock einen regenschirm,
unter hut eine haube und andere kopfbedeckungeu, und zwar nicht
bloss einmal, sondern widerholt. Eine andere Veranlassung zu un-
genauer auffassung der bedeutung ergibt sich dadurch, dass die be-
zeichenten gegenstände vielfach teile eines grösseren ganzen sind oder
mit anderen gegenständen in der anschauung unzertrennlich verbunden.
Hier wird das kind vielfach unsicher sein, wie der ausschnitt aus der
ganzen anschauung, den das wort bezeichnen soll, zu begrenzen ist.
Es wird die grenzen bald weiter, bald enger ziehen, als es der usus
verlangt, mitunter zugleich etwas hineingehöriges herauslassen und
etwas nicht hineingehöriges einbegreifen. Uebrigens ist das erlernen
neuer Wörter und neuer verwendungsweisen der alten keineswegs auf
77
die frühe kindlieit eiugesehräukt. AusdiUeke, die seltener vorkommen,
complieiertere vorstelluugseomplexe bezeiclineu, eine höhere bildung
oder speeifisehe kenntniss voraussetzen hat auch der erwachsene noch
immer zu erlernen, und erlernt er sie nur auf grund der occasionellen
Verwendung, so ist er den selben fehlgriffen ausgesetzt wie das kind.
Alle diese uugenauigkeiten in erfassung der usuellen bedeutung sind
vereinzelt von keinem belang und werden in der regel mit der zeit
corrigiert. Doch kann es nicht ausbleiben, dass in einzelnen fällen
das zusammentreffen einer grösseren anzahl von Individuen in dem
gleichen missverständnisse dauernde spuren hinterlässt. Wir werden
also eine art des bedeutungswandels anzuerkennen haben, die darauf
beruht, dass der für die ältere generation usuellen bedeutung von der
jüngeren eine nur partiell damit übereinstimmende untergeschoben
wird. Das gebiet dieser art des wandeis werden wir aber auf die
selteneren und nicht leicht klar zu fixierenden begriffe einzuschränken
haben, da bei anderen die allmählige correctur nach dem bestehenden
usus nicht ausbleiben kann.
In den meisten fällen geht der anstoss zur bedeutungsverände-
rung von der älteren generation aus, die den usus schon vollkommen
beherrscht; die jüngere hat aber an der weiterentwickelung einen be-
sonderen anteil. Dieser besteht darin, dass sich die verschiedenen
verwendungsweisen eines wortes von anfang an etwas anders grup-
pieren als bei der älteren generation. Jede anwendungsweise kann,
weil sie zunächst am einzelnen falle erfasst wird, für sich ohne rück-
sicht auf die übrigen erlernt werden und daher eine grössere Selb-
ständigkeit erhalten als sie in den seelen der älteren generation hatte.
Für die verselbständigung der abgeleiteten gegenüber der grund-
bedeutung kommt noch besonders in betracht, dass die letztere nicht
selten früher erlernt wird als die erstere. Es wird sich z. b. leicht
treffen, dass ein kind mit fuchs zuerst ein pferd, mit ka7nel zuerst
einen einfältigen menschen bezeichnen hört. Dann wird die gruud-
bedeutuug von anfang au nicht als vermittlerinu herbeigezogen. So
lange ein Individuum den usus noch nicht vollständig beherrscht, ver-
mag es auch vielfach nicht zu unterscheiden, ob eine verwenduugs-
weise, die ihm vorkommt, bereits usuell oder nur rein occasionell ist,
und es kann daher die occasionelle, wenn sie sich ihm nur in folge
begünstigender umstände stark eingeprägt hat, eben so unbefangen
nachahmen wie die usuelle.
Da der wandel der usuellen bedeutung aus den modificationeu
in der occasionellen anwendung entspringt, so finden wir auch hier
wie dort die nämlichen arten. Die erste hauptart ist demnach spe-
eialisierung der bedeutung durch Verengung des umfangs und
78 I
bereicherung: des inhalts. Als ein instruetives heispiel für den unter-
schied zwischen bloss occasioneller und usueller speeialisierung* kann
das wort schirm dieuen. Wir können das wort für jeden schirmenden
gegenständ gebrauchen. Im oeeasionellen gebrauche kann damit ein
Ofenschirm, lampenschirm. augensehirm, regenschirm, Sonnenschirm u. a.
gemeint sein. Aber während wir das woii als Ofenschirm oder lampen-
schirm zu verstehen nur durch eine ganz bestimmte Situation ver-
anlasst werden, liegt es uns auch ohne solche nahe es als regen-
oder Sonnenschirm zu fassen, und wir denken dann kaum mehr so
sehr an die allgemeine function des schirmens wie an einen gegen-
ständ von bestimmter gestalt und coustructiou. Wir müssen daher
anerkennen, dass sich diese bedeutung als eine eigene, selbständige
von der allgemeineren abgezweigt hat, gleichviel ob sie sieh noch
logisch unter diesell)e unterordnen lässt. Denn diese logische Unter-
ordnung ist nur möglich, wenn man von momenten absieht, die für
die bedeutung mindestens eben so wesentlich sind als dasjenige, was man
allein berücksichtigt. Weitere beispiele sind: frvcht im süddeutschen
gebrauche = getreide, fruchte auf Speisekarten = obst; kraul süddeutsch
speciell == kohl; körn, welches einerseits allgemeine bezeichnung für
getreide überhaupt ist, anderseits specielle für die gewöhnlichste, haupt-
sächlich zur brodbereitung verwendete getreideart, in Norddeutschland
für roggen, in einigen landschaften für dinkel oder weizen oder hafer;
dach wurde im mhd. für jede art von bedeckung gebraucht, jetzt denkt
man nur an dach des hauses. Eine besondere hierher gehörige art
ist die venvendung von stoflfbezeichnungen für producte aus dem stoff,
vgl. tjlas, hörn, feder, gold — silher — ■ kupfer — papier (als geld-
sorteu) etc. Der lexicograph muss sieh bemühen bei der aufzählung
der speciellen Verwendungen eines Wortes zu scheiden zwischen
soleheu, die usuell geworden, und solchen, die rein occasionell sind,
eine Scheidung, die ganz gewöhnlich versäumt wird.
Durch Verwandlung der oeeasionellen concreten bedeutung ge-
wisser Wörter in usuelle entspringen die eigenn amen. Alle personen-
und Ortsnamen sind erst aus gattungsbezeichnungen entstanden, und
den ausgaugspunkt dafür bildet der gebrauch xar e^oxt/v. Wir können
den ])roeess deutlich verfolgen bei sehr vielen Ortsnamen. In dieser
beziehung sind besonders so allgemeine überall widerkehrende be-
zeichnungeu lehrreich wie Aue, Berg, Brück, Brühl, Brunn, Burg, Haag,
Hof, Kappeln Gmi'md, Münster, Ried, Stein, Weiler, Zell, Altstadt, Neu-
slttdt {^'illeneuve, yewtotvn), Neuburg {Neuchat el, Newcastle), Hochburg,
Neukirch, Milhlberg etc. Solche bezeichnungen haben ursprünglich nur ^
den nächsten umwohnern der betreffenden örtlichkeit gedient, für
welche sie ausreichten um diese ^on andern in der nähe gelegenen
79
örtlielikeiteu zu iintevseheideu. Zu zweifellosen eigennamen wurden
sie in dem augenblicke, wo sie auch von ferner stehen den mit diesem
concreten sinne übernommen, oder wo sie durch den zutritt weiterer
isolierender momente schärfer von den ursprün^'lich identischen gattungs-
bezeichnungen gesondert wurden. Daneben gibt es freilich eine grosse
klasse ton Ortsnamen, die von anfaug- an der natur wahrer eigennamen
sehr nahe kommen, weil sie aus personenuamen abgeleitet oder durch
Personennamen bestimmt sind.
Es gibt auch eine art von speeialisierung, die gleich ihren anfang
nimmt, sobald das wort Überhaupt gebraucht wird. Diese findet sich
bei Wörtern, die aus anderen üblichen Wörtern nach den bildungs-
gesetzen der s])rache beliebig al)geleitet werden können, aber doch
nur dann wirklich zur Verwendung kommen, wenn ein besonderes be-
dürfniss dazu treibt. Solche Wörter sind vielfach von anfang an nur
mit einer specielleren beziehung zum grundwort nachzuweisen als sie
die ableituug an sich ausdrückt. Die von Substantiven abgeleiteten
bilduugen auf -er, mhd. -fcre bezeichnen an sich eine person, die zu
dem begriff des grundwortes in irgend einer beziehung steht, welcher
art diese beziehung auch sein mag, aber an den einzelnen Wörtern
zeigen sich die verschiedenartigsten specialisierungen, Mhd. cehfaTc
von ähte (acht, Verfolgung) bedeutet sowol Verfolger wie verfolgter;
bei der individuellen anwendung kann jedenfalls niemals beides zu-
gleich darunter verstanden sein. Unter schiUer hätte an sich auch
der Schulmeister begriffen sein können, es liegt aber keine spur davon
vor, dass es jemals anders als im neuhochdeutschen sinne gebraucht
wäre. So ist ferner schreiner nie anders gebraucht als für den ver-
fertiger von Schreinen, schäfer nie anders als für den hüter von schafen,
hürger nie anders als für den bewohner einer bürg oder stadt, falkner
nie anders als für einen, der mit falken jagt; vogeler ist Vogelsteller,
daneben geflügelhändler. Aehnlich verhält es sich mit verben wie
bechern, bullern, haaren, hausen, herzen, kernen, karren, köpfen, mauern,
stunden, tafeln u. a. Bei vielen Wörtern sind wir ausser stände zu ent-
scheiden, ob eine Verwendung in einem allgemeineren sinne voran-
gegangen ist oder nicht. Auch diese uranfängliche speeialisierung ist
natürlich zunächst nur eine occasionelle, indem das wort an sich nur
auf den allgemeinen begriff weist, der sich aus der eombiuation des
grundwortes mit dem ableitungssuffix ergil)t, und erst die dem sprechen-
den und hörenden gemeinsame Situation ein mehr von inhalt hinzu-
bringt. Der usus kann auch hier erst allmählig nach den allgemeinen
grundbedingungen geschaffen werden.
Uebcrall, wo sich das bedürfniss nach bezeichnung eines bisher
unbezeichenten begrifles geltend macht, ist es eins der bequemsten
80
hUlfsniittel ein leielit bildbares wort zu wählen, welches einen wich-
tigen teil von dem inhalte des begriflfes ausdrückt, also ein hervor-
stechendes merkmal. Die etymologie lehrt, dass sehr viele substanz-
bezeichnungen so aus bezeiehnuugen von einfacheren qualitäten her-
vorgegangen sind. Doch ist jedenfalls der schluss nicht berechtigt,
dass alle substanzbezeichnungeu auf diese weise entstanden, etwa alle
aus verben abgeleitet sein müssten.
Die zweite der ersten entgegengesetzte hauptart des bedeutungs-
wandels ist die beschränkung auf einen teil des ursprüng-
lichen Inhaltes, womit sich aber zugleich in der regel bereicheruug
nach einer andern seite hin verbindet. Es ist kaum möglich die grosse
masse der hierher gehörigen erschein ungen unter rubriken zu bringen.
Ich hebe nur einige besonders häufig vorkommende hervor. Sehr ge-
wöhnlieh ist die äussere gestalt das massgebende für die benennung,
vgl. äuge (z. b. äuge einer kartoflfel), nase, köpf (von kohl oder salat),
arm (eines flusses), kelch (einer blume), kessel, würfel etc. Eine statue,
ein bild bezeichnet man direkt durch das, was sie vorstellen: ein
Apollo, Laokoon^ die anheiung dei^ hirten. Man bezeichnet den teil
eines gegenständes nach dem hinsichtlich seiner läge entsprechenden
teile eines andern gegenständes, z. b. hals oder bauch einer flasche,
fuss eines berges, schwänz eines gewandes, eines papierdrachen ; ein
mass nach einem gegenstände, der die betreffende grosse, länge oder
breite hat, vgl. fuss, eile. Die Übereinstimmung der function ist mass-
gebend bei feder == Stahlfeder. Die analogie zwischen räum und zeit
macht die Übertragung der für räumliche anschauungen geschaffenen
ausdrücke auf die zeitlichen möglich, vgl. lang, kurz; vor, nach, hinler
und viele andere adverbien und präpositionen. Die analogie zwischen
den verschiedenen Sinneswahrnehmungen ermöglicht die Übertragung
von dem eindrucke eines sinnes auf den eines andern, vgl, süss, schön,
hell (urs})rünglich nur auf das gehör bezüglich), lat. clarus (ursprüng-
lich nur auf das gesiebt bezüglich). Die bezeiehnuugen für sinnliche
Wahrnehmungen und zustände werden auf geistige übertragen, vgl.
fühlen, sehen, süss, biller, schön, geschmack, rein, schmutzig, gross, klein,
erhaben, niedrig, warm, feuer, brennen, ergreifen etc. Wörter, die eine
einzelne art bezeichnen, werden zu weiteren gattungsbegriffen gemacht,
vgl. kalze, karpfen, krebs, apfel, rose. Indem man sich an eine her-
vorragende eigenschaft hält, können auch eigennamen zu appellativen
werden, vgl. den Übergang in Wendungen wie er ist ein Cicero, ein
Cato und die weiterentwickelung in Kannibal, Vandale; Hans, Peter,
Stößel, Hinz und k'unz, Trine, Metze (= Mechtild). Vgl. dazu auch
adjeetiva wie gotisch, altfränkisch, romantisch.
Wir kommen zu der dritten hauptart des bedeutungswandels,
81
der Übertragung- auf das räumlich, zeitlieh oder causal mit
dem grundbe griff verkuüpfte. Die einfachste unterart ist pars
pro toto. Der teil ist dabei immer ein charakteristisches merkmal und
nur als solches wird er tahig- das ganze anzudeuten. Vgl. hoyen =
arml)rust; klim/e == schwert oder messer; mhd. rant = sehild (aller-
dings auf die epische spräche beschränkt). Besonders gewöhnlieh
sind bezeiehnuugen von persouen oder tieren nach charakterisierten
teilen des körpers und geistes, vgl. bemoostes haupt; lockenkopf, yraii-
kopf, kahlkopf, krauskopf, dummkopf^ dickkopf, Irotzkopf, feltwansl, Jink-
hand, hasenherz, Iwjenmaul, yrossmaul, (jelbschnahel, grauhart, rotkehl-
chen^ rotschnanz, stump/'sch?ranz, hlaufuss; starker (/eist, schöne seele;
franz. hlanc-hec, yrosse-tete, rouge-gorye, rouye-queue, pied-plal, yorye-
hlanche, mille-pieds; esprit fort, bei esprit. Im gründe von pars pro
toto nicht verschieden ist die Verwendung von bezeiehnuugen für an-
haftende gegenstände statt der gegenstände, denen sie anhaften. Den
bezeichuungeu nach körperteilen am nächsten stehen die nach der
bekleidung: schwarzrock, rundhut, hlaustrumpf\ rotkäppchen, grüner
donüno, maske. Andere bezeichnungen, welche von einem gegenstände
auf das durch ihn eingeschlossene, in ihm enthaltene übertragen sind,
sind z. b. stadt^ haus, kammer, cabinet, kirche, hof, frauenzimmer. Um-
gekehrt findet auch eine Übertragung auf die Umgebung statt, vgl.
tavelrunde, liedertafel, däumüny, kragen (ursprünglich hals), mhd. vinyer-
Ihi (fingerring), spiz (spiessbraten). Sehr gewöhnlich geht eine eigen-
schaftsbezeichnung über in die bezeichuung dessen, dem die eigeu-
schaft anhaftet; vgl. alter, juyend; menge, fülle, enge, fläche, ebene,
wüste, säure; mannschaft , knappschaft, gesell schafl, bürgerschaft, Ver-
wandtschaft, gesändlschaft und viele andere auf -schafi, welches ur-
sprünglich beschaffenheit bedeutet; ebenso viele ?i\\i -heit {-keit), welches
ursprünglich eigeuschaft, zustand bedeutet, wie Christenheit, Vielheit,
mehrheit, gottheit, Schönheit, Vergangenheit^ geleyenheit , eiyenheit, kleinig-
keit, süssigkeit, neuigkeit, Sonderbarkeit , gefäUigkeit; hierher gehören
auch titel wie majestät, hoheit, exellenz etc. Wie die beispiele zeigen,
entstehen auf diese weise sowol collectivbeuennungen als benennungen
für einzelne persouen und dinge, nicht immer aber werden die be-
treffenden Wörter zu substauzbezeichnungen. Das selbe wie von den
eigenschaftsbezeichnungeu gilt von den sogenannten nomiua actionis,
den tätigkeits- und zustaudsbezeichnungeu, die aus verben abgeleitet
sind, vgl. rat, fluss, zug, abhang, vorhamj, umhang, vortrab, zukunft, ein-
kommen, regieruny^ Vorsehung, Verzierung. In diesen fällen ist die be-
zeichnung der handlung auf ihr subject übergegangen, sie kann aber
auch auf das object übergehen, object im allerweitesten sinne geuonmien:
so auf das innere object, wodurch eine bezeichnung des resultates- ent-
Paul, Principien. II. Auflage. 6
82
stellt: riss, hnich, sprung, wuchs, zuivachs, crhöhung, vertlefumj, ahhand-
lung, Versammlung, Vereinigung, Ul (hing ; auf dass äussere objeet, welches
ivgeudwie von der tätii^keit berührt wird: saat, ernte, sprach, spräche,
gang, durchgang, Übergang, einfahrt, Zuflucht, ausßucht, nohnung, klei-
dung; so entstehen also auch bezeiclmungeu für den ort, wo etwas
g-esehieht, für das mittel, wodurch etwas bewerkstellig-t wird, u. derg-1.
Hierher gehört es auch, wenn man Schriften durch den namen des
Verfassers l)ezeichent {ein Goethe, Schiller), oder werke der bildenden
kunst durch den namen des künstlers {ein Raphael); ferner wenn man
jemandem eine liebliugswendung, die er zu gebrauchen pflegt, als
Spitznamen beilegt, vgl. Heinrich Jasomirgott; oder wenn der hund in
der ammensprache wauwau genannt wird u. dergl.; entsprechend sind
auch pflauzeunamen wie nolimelamjere, vergissmeinnicht zu beurteilen.
Die verschiedenen arten des bedeutungswandels können natür-
lich auf einander folgen und su sich combinieren. So hat abendmal
einerseits an bedeutungsinhalt gewonnen, indem es auf das bestimmte
abendmal Christi und die in nachahmung desselben stattfindende feier
beschränkt ist, es hat aber anderseits auch etwas von dem, was eigent-
lich in dem werte liegt, eingebüsst, indem es auch von einer nicht
am abend stattfindenden feierlichkeit gebraucht wird. Rosenkranz wird
xax t^oxt'jt-' von einem kränze gebraucht, der einem bestimmten zwecke
dient, aber auch von einem kränze, der gar nicht aus rosen besteht.
I/orn ist ein aus einem hörne verfertigtes blasinstrument, dann aber
auch ein solches von ähnlicher form aus anderem stotfe. Feder be-
deutet eine zum schreiben zugeschnittene feder, dann aber auch ein
Werkzeug von der nämlichen function aus anderem stoffe. Es ist
überhaupt sehr häufig, dass etwas, was eigentlich nicht zur bedeutung
eines Wortes gehört, sondern nur aeeidentiell damit verknüpft sein
kann, allmählig in die bedeutung mit aufgenommen wird und dann
auch sell)stäudig als die wahre bedeutung empfunden wird, ohne dass
au die grundbedeutung noch gedacht wird. So werden namentlich
bezeichnungen für räumliche und zeitliche Verhältnisse zu bezeichnungen
für causalverhältnisse, vgl. folge, zweck, ende (in zu dem ende), grund,
mittel, weg.
Da sich alle sprechtätigkeit in Sätzen bewegt, so ist es ganz
natürlich, dass der bedeutungswandel nicht bloss die einzelnen Wörter
trifft, sondern auch wortgruppen und ganze sätze. Diese können
natürlich auch zunächst occasionell, dann durch widerholung usuell
eine bedeutung annehmen, die sieh nicht mehr mit derjenigen deckt,
welche man erhält, wenn man die bedeutungeu der Wörter, aus denen
die gru])])e besteht, zusammenfügt. Wenige beispiele mögen vorläufig
genügen, da wir auf diese erschcinung in cap. 19 zurückkommen
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mlisseu. Es g-il)t eine lueng-e verbind ung^en mit hand, bei denen wir
an die eigentliche bedeutiing dieses Wortes nicht mehr denken, ausser
wenn unsere anfmerksamkeit ausdrücklich darauf gelenkt wird, wenn
wir etwa über den ursi)rung einer solchen Wendung reflectieren, z. b,
auf der hand (flacher, platter h) liegen, an die hand geben, gehen, an
der hand haben, an der hand des buches etc., bei der hand sein, haben,
zur hand sein, haben, neh?nen, unter der hand, unter händen haben, von
der hand /reisen, vor der hand. Man kann nicht sagen, dass hier
eigentümliche bedeutungen des einzelneu Wortes hand entwickelt sind,
vielmehr ist die Verdunkelung der grundbedeutung erst iunerhall) der
betreffenden Verbindungen eingetreten. Unsere spräche ist voll von
derartigen Wendungen. Bei manchen kann der sinn nur mit hülfe
historischer sprachkenntniss aus der bedeutung der einzelneu Wörter
abgeleitet werden, vgl. z. b. das bad austragen, einem ein bad zurichten,
einem das bad gesegnen, einen baren anbinden, einem einen bart machen,
einen bock schiessen, einen ins hockshorn jagen, er hat bohnen gegessen,
einen fleischergang tun, fveder hand noch fuss haben, auf dem holzwege
sein, einem einen korb geben, maul äffen feil halten, einem etwas auf
die nase binden, einem den pelz naschen, einem ein .r für ein u
machen etc.
Die ganze masse von Vorstellungen, die in der seele des menschen
vorhanden ist, sucht sich nach möglichkeit au den Wortschatz der
spräche anzuheften. Da nun die vorstellungskreise der einzelneu Indi-
viduen in der gleichen Sprachgenossenschaft stark unter einander ab-
weichen und auch der vorstellungskreis des einzelnen immerfoi-t be-
deutenden Veränderungen unterliegt, so müssen sich notwendigerweise
in den an den Wortschatz angehefteten Vorstellungen eine menge von
individuellen besonderheiten finden, die bei der gewöhnlichen bestim-
mung der bedeutuug für die einzelnen Wörter und wortgruppeu gar
keine berücksichtigung finden. Es ist z, b. die bedeutung des wertes
Pferd insofern für alle individuen gleich, als sie es alle auf den näm-
lichen gegenständ beziehen; aber es ist doch nicht zu läuguen, dass
ein reiter, ein kutscher, ein zoologe, jeder in seiner art, einen reicheren
vorstellungsiuhalt damit verbinden als jeder beliebige andere, der
nichts besonderes mit pferden zu schallen hat. Die Vorstellung von
dem verhalten eines vaters zu seinem kinde setzt sieh aus einer reihe
von momenten zusammen, die nicht immer beisammen sind, wo das
wort vater angewendet wird. Man kann eine definition des Wortes
aufstellen, die physisch und juristisch vollkommen ausreicht, aber gerade
das, was nach dieser definition das wesen der Vaterschaft ausmacht,
ist in dem vorstellungscomplexe, den ein kleines kind damit verbindet,
gar nicht enthalten. Am merkbarsten sind die unterschiede auf dem
6*
84
gebiete der enipfmdiing- und des ethischen urteils. Was die einzelnen
unter schiin und hässlich^ unter (jut und schlecht, unter lugend und
laster verstehen, lässt sieh nicht so ohne weiteres auf einen allgemein-
gültigen begriff bringen, über den niemand mit dem andern streiten
könnte.
Indem der vorstellungskreis eines jeden einzelnen sich an die
zu geböte stehenden Wörter anheftet, so muss sich auch die bedeutung
des gesammten Wortschatzes einer spräche nach der gesammtheit der
in dem volke vorhandenen Vorstellungen richten und sich mit diesen
verschieben. Die Wortbedeutung bequemt sich immer der jeweiligen
culturstufe an. Dies geschieht nicht bloss so, dass für neue gegen-
stände und Verhältnisse neue Wörter geschaffen oder dass auf sie alte
Wörter von nur ähnlichen, aber doch, deutlich verschiedenen gegen-
ständen und Verhältnissen übertragen werden, wie z. b. (stahl) feder,
sondern es gibt hier eine menge unmerklicher Verschiebungen, die zu-
nächst gar nich-t als bedeutungswandel beachtet zu werden pflegen
und die eine unmittelbare folge des wandeis in den culturverhältnissen
sind. So kann z. b. eine bezeichnung für schiff entstanden sein zu
einer zeit, wo es nur erst die allerprimitivste art von schiften gab,
und dann geblieben sein, auch nachdem man bis zu den grössten und
compliciertesten fahrzeugen fortgeschritten war. Wir setzen in einem
solchen falle keinen bedeutungswandel an, aber doch ist es keine
frage, dass die an das wort schift" angeknü])ften Vorstellungen andere
geworden sind. Und so verhält es sich mit allen producten der
eultur, mögen es sinnlieh wahrnehmbare gegenstände oder rein seelische
gebilde sein.
Cap. V.
AiLilogic.
Wie sehou iu cap. 1 hervorgehoben worden ist, attrahieren sich
die einzelnen Wörter in der seele, und es entstehen dadurch eine
nieng-e grösserer oder kleinerer grnppen. Die gegenseitige attraction
beruht immer auf einer partiellen Übereinstimmung des lautes oder
der bedeutung oder des lautes und der bedeutung zugleich. Die
einzelnen gruppeu laufen nicht alle gesondert neben einander her,
sondern es gibt grössere gruppen. die mehrere kleinere in sich schliessen,
und es findet eine gegenseitige durchkreuzung der gruppen statt. Wir
unterscheiden zwei hauptarten, die wir als st off liehe und formale
gruppen bezeichnen wollen.
Eine stoffliche gruppe bilden z. b. die verschiedenen casus eines
substantivums. Diese gruppe lässt sich dann noch wider nach zwei
verschiedenen principien in kleinere gruppen zerlegen: entweder casus
des sing. — des plur. ( — des du.), oder nominativformen (des sing., pl.
du.) — geuitivformen etc.; und diese beiden gruppierungeu durch-
kreuzen einander. Ein viel mannigfaltigeres System von einander
über- und untergeordneten und sich durchkreuzenden gruppen geben
die formen eines verbums, zumal eines griechischen. Grössere stoff-
liche gruppen mit loseren zusammenhängen entstehen dann aus der
Verbindung aller Wörter, die einander iu ihrer bedeutung correspon-
dieren. In der regel steht der pai*tiellen Übereinstimmung in der be-
deutung eine partielle Übereinstimmung in der lautgestaltung zur seite,
welche ihrerseits auf etymologischem zusammenhange zu l)eruhen pflegt.
Doch gibt es auch stoffliche gruppen, die lediglich auf die bedeutung
und nicht auf den laut basiert sind, vgl. sein — werden, hier — da,
gut — hesser, hm — ist — n-ar, oqcco — eiöov — oif)Ofiai.
Als formale gruppen bezeichne ich z. b. die summe aller nomina
actionis. aller comparative. aller nominative, aller ersten personen des
verbums etc. Es gibt auch hier grössere gruppen, die kleinere in sich
schliessen; so enthält z. b. die letztgenannte 1 sg. ind. praes., 1 sg.conj.
86
praes. etc. Mithin ist auch eine festere oder lockere Verbindung zu
uuter,«!eheiden. Die Verbindung der functioncllen übereiustinimung mit
einer hiutlichcn int bei den formalen gruppcn bei weitem nicht so
reg-el wie bei den stofflichen. Gewöhnlich zerfallen die formalen
gruppen in mehrere kleinere, von denen jede einzelne auch durch
lautliche Ubereinstinmumg zusammengehalten wird, während sie unter
sich differieren, vgl. die dative lihro, anno — mensae^ rosac — paci^
luc'i etc. Nach dem grösseren oder geringeren grade der lautlichen
Übereinstimmung entsteht dann wider eine Unterordnung kleinerer grup-
pen unter grössere, vgl. gab^ nahm — bo/, lo(j — hriel^ riet etc., unter
einander immer noch übereinstimmend gegen swjte^ lichte etc.
Die stofflichen gruppen werden von den formalen durchgängig
durchkreuzt.
Nicht bloss einzelne Wörter schliessen sich zu gruppen zusammen,
sondern auch analoge proportionen zwischen verschiedenen Wörtern.
Veranlassung zur entstehuug solcher proportionengruppen, die zu
gleicher zeit eine proportionengleichung bilden, gibt zunächt die
eben berührte durchkreuzung zwischen stofflichen und formalen gruppen.
Die basis für die gleichung ist dabei die Übereinstimmung in der be-
deutung des stofflichen Clements nach der einen und des formalen
Clements nach der andern richtung, weshalb wir diese art als stoff-
lich-formale proportionengruppen bezeichnen wollen. Es kann
dazu auch eine lautliche Übereinstimmung nach beiden richtungen
treten, vgl. touj : icu/es : la(/e = arm : armes : arme = fisch : fisches :
fische; führen: führer : führumj = erziehen : er zieher : er Ziehung etc. oder
mit der bei allen proportionen möglichen vertauschung der Zwischen-
glieder tag : arm : fisch = tag es : armes : fisches etc. Die lautliche Über-
einstimmung kann sich aber auch auf das stoffliche dement be-
schränken, vgl. gebe : gab = sage : sagte =^ kann : konnte; lat. mensa :
mensam : mensae = hortus : hortum : horti ^^ nox : noctem : noctis etc.;
rauben : raub = ernten : ernte = säen : sat == gewinnen : getvinst; respec-
tive gebe : sage : kann = gab : sagte : konnte etc. Von viel geringerer
bedeutung sind gleichungen, bei denen die lautliche Übereinstimmung
auf das formale dement eingeschränkt ist, wie gut : besser = schöjt :
schöner, oder bei denen überhaupt gar keine lautliche Übereinstim-
mung stattfindet, wie bin : war = lebe : lebte, oqÜco : tiöov = rvjiroy :
Irvipa.
Auch innerhalb der zu einer stofflichen gruppe gehörigen formen
können sich proportionsgruppen bilden, sobald eine gliederung der-
selben nach verschiedenen gesichtspuukten möglich ist. So können
beim nomen die casus des sg. mit denen des pl. in proportion gesetzt
werden: hortus : horti : horlo = horti : horlorum : hortibiis. Viel mannig-
87
faltigere proportioiicu ergibt ein verbiilHystem. Man kauii z. h. gleieli-
uugeu aufstellen wie aino : ainas = amavi : amavisll --= amabam : ainahas
ete. Es besteht hier also keine versehiedenheit des stofflichen elenientes
in den eorrespondierenden gliedern wie bei den stofflieh-fornialen pru-
portiousgriippen, sondern an deren stelle eine teilweise Verschiedenheit
in der function des formalen elementes neben der teilweisen Über-
einstimmung. Zu der Übereinstimmung in der function kann auch
hier eine lautliche treten, vgl. amabam : amabas = amaveram : amavcras.
Eine andere art von proportiouengleichuugen beruht auf dem
lautwechsel, vgl. kkuujes (phonetisch klahhes) : klaiyj (phon. klank) =
.<in//e : saiif/ = hänye : häiujle etc. oder sprach : spräche = tuch : iücher
= back : biichlem etc. (wechsel zwischen gutturalem und palatalem ch).
Die glieder einer jeden proportiou bestehen hier aus Wörtern, die in
etymologiscliem zusammenhange stehen, die daher in ihrem stofflichen
eleniente Übereinstimmung hinsichtlich der bedeutuug und lautgestaltung
zeigen, daneben aber eine lautliche Verschiedenheit, die sich in allen
übrigen proportionen entsprech-^nd widerholt. Die bedeutung der for-
malen demente bleibt dabei ganz aus dem spiel. So lange wir nur
fälle in betracht ziehen wie klanges : klang = saujes : sang = dranges :
drang, lässt sich nicht entscheiden, ob wir es nicht vielmehr mit einer
stoft'lich-formalen proportioueugleichung zu tun haben. Der lautwechsel
muss, wenn er hierher gezogen werden soll, sich in fallen zeigen, die
hinsichtlieh des functionsverhältnisses nichts mit einander zu tun haben,
und sich dadurch als unabhängig von der bedeutung erweisen. Wir
bezeichnen diese art von proportionengruppen als die stofflich-laut-
lichen oder etymologisch-lautlichen.
Eine weitere art entsteht aus den syntaktischen Verbindungen.
Diese unterscheidet sich von den bisher besprochenen dadurch, dass
die Verbindung der glieder, aus denen sich die einzelnen proportionen
zusammensetzen, schon von aussen her in die seele eingeführt wird.
Die Verbindung der analogen proportionen unter einander muss gleich-
falls erst durch attraction im inneru der seele geschaffen werden. Es
associieren sich z. b. sätzewie spricht Karl, schreibt Fritz etc. (mit
Voranstellung des prädicats) oder Verbindungen wie pater mortuus,
/ilia pulchra, caput magnum (mit congruenz in genus, numerus, casus),
und es werden dabei die gleichungen gebildet spricht : Karl = schreibt :
Fril: und pater : mortuus = filia \ pul ehr a = caput : magnum. Mit der
äusseren form der syntaetischeu zusammentugung associiert sich das
gefühl für eine bestimmte function, und diese function bildet dann in
gemeinschaft mit der äusseren form das band, welches die proportionen
zusammenhält. Alle syntaktischen fuuctionen lassen sich nur aus
solchen proportionen abstrahieren. Daher sind die syntaktischen pro-
88
portionengruppcn zum teil aucli die notwendige Vorbedingung für die
entstell ung der formalen grupjien und der stofflifli-tornialen verhält-
uisHgruppen. hls können sieh z. b. die genitive nicht zusammengrup-
pieren, wenn es nicht Verbindungen Avie das haus des vater, der bruder
Karls etc. tun.
Es gibt kaum ein wort in irgend einer spräche, welches völlig
ausserhalb der geschilderten gruppen stände. Es finden sich immer
andere in irgend einer hinsieht gleichaiüge, an die es sich anlehnen
kann. Aber in bezug auf die grössere oder geringere mannigfaltigkeit
der Verbindungen, -die ein woii; eingeht, nnd in bezug auf die innig-
keit des Verbandes bestehen bedeutende unterschiede. Die gruppierung
vollzieht sich um so leichter und wird um so fester einerseits, je
grösser die Übereinstimmung in bedeutung und lautgestalt ist, ander-
seits, je intensiver die demente eingeprägt sind, die zur gruppen-
bildung befiihig-t sind. In letzterer hinsieht kommt für die proportionen-
gruppeu einerseits die häutigkeit der einzelnen Wörter, anderseits die
anzahl der möglichen analogen proportionen in betracht. Wo die
einzelnen elemente zu wenig intensiv sind oder ihre Übereinstimmung
unter einander zu schwach, da verbinden sie sich entweder gar nicht
oder der verband bleibt ein lockerer. Es sind dabei wider mannig-
fache abstufungen möglich.
Diejenigen proportionengruppen, welche einen gewissen grad von
festigkeit gewonnen haben, sind für alle Sprechtätigkeit und für alle
entwickelung der spräche von eminenter bedeutung. Man wird diesem
factor des sprachlebens nicht gerecht, wenn man ihn erst da zu be-
achten anfängt, wo er eine Veränderung im sprachusus hervorruft.
Es war ein grundirrtuni der älteren Sprachwissenschaft, dass sie alles
gesprochene, so lange es von dem bestehenden usus nicht abweicht,
als etwas bloss gedächtnissmässig reproduciertes behandelt hat, und
die folge davon ist gewesen, dass man sich auch von dem anteil der
proportionengruppen an der Umgestaltung der spracht keine rechte
Vorstellung hat machen können. Zwar hat schon W. v. Humboldt
nachdrücklich betont, dass das sprechen eiii immerwährendes schaffen
ist. Aber noch heute stösst man auf lebhaften und oft recht unver-
ständigen Widerspruch, wenn man die consequenzen dieser anschauungs-
weise zu ziehen sucht.
Die Wörter und wortgruppen, die wir in der rede verwenden,
erzeugen sich nur zum teil durch blosse gedächtnissmässige reproduc-
tion des früher aufgenommenen. Ungefähr eben so viel anteil daran
hat eine combinatorische tätigkeit, welche auf der existenz der
proportionengruppen basiert ist. Die combination besteht dabei
gewisserraassen , in der auflösung einer proportionengleichung,
89
indem uach dem niii8ter von schon gelüuli^- gewordenen analogen Pro-
portionen zu einem g-leiclitalls geläufigen worte ein zweites propovtions-
glied frei geseliaffen wird. Diesen Vorgang nennen wir analogie-
bildung. Es ist eine nicht zu bezweifelnde tatsache. dass eine menge
wortformen und syntaktische Verbindungen, die niemals von aussen
in die seele eingeführt sind, mit hülfe der propoii;ionengrupi)en nicht
bloss erzeugt werden können, sondern auch immerfort zuversichtlich
erzeugt werden, ohne dass der sprechende ein gefühl dafür hat, dass
er den festen boden des erlernten verlässt. Es ist für die uatur dieses
Vorganges ganz gleichgültig, ob dabei etwas herauskommt, was schon
früher in der spräche üblich gewesen ist, oder etwas vorher nicht da-
gewesenes. Es macht auch an und für sich nichts aus, ob das neue
mit dem bisher üblichen in Widerspruch steht; es genügt, dass das
betreffende individuum keinen Widerspruch mit dem bisher erlernten
empfindet. In andern lallen hat zwar eine aufnähme von aussen
stattgefunden, die nachw^irkung derselben würde aber zu schwach sein,
als dass das aufgenommene wider in das bewusstsein gerufen werden
könnte, wenn ihm nicht die proportionengruppe , in die es eingereiht
ist, zu hülfe käme.
Ohne weiteres wird zugegeben werden, dass die wenigsten sätze,
die wir aussprechen, als solche auswendig gelernt sind, dass vielmehr
die meisten erst im augenblicke zusammengesetzt werden. Wenn wir
eine fremde spräche methodisch erlernen, so werden uns regeln ge-
geben, nach denen wir die einzelnen Wörter zu Sätzen zusammenfügen.
Kein lehrer aber, der nicht ganz unpädagogisch verfährt, wird es ver-
säumen zugleich beispiele für die regel, d. h. mit rücksicht auf die
selbständig zu bildenden sätze muster zu geben. Regel und muster
ergänzen sich gegenseitig in ihrer Wirksamkeit, und man sieht aus
diesem pädagogischen verfahren, dass dem concreten muster gewisse
Vorzüge zukommen müssen, die der abstracten regel abgehen. Bei
dem natürlichen erlernen der muttersprache wird die regel als solche
nicht gegeben, sondern nur eine anzahl von mustern. Wir hören nach
und nach eine anzahl von Sätzen, die auf die selbe art zusammen-
gefügt sind und sich deshalb zu einer gruppe zusammenschliessen.
Die erinneruug an den speciellen inhalt der einzelnen sätze mag dabei
immer mehr verblassen, das gemeinsame dement wird durch die
widerholung immer von neuem verstärkt, und so wird die regel unbe-
wusst aus den mustern abstrahiert. Eben, weil keine regel von aussen
gegeben wird, genügt nicht ein einzelnes muster, sondern nur eine
gruppe von mustern, deren specieller inhalt gleichgültig erscheint.
Denn nur dadurch entwickelt sich die Vorstellung einer allgemein-
gültigkeit der muster, welche dem einzelnen das geflihl der berechti-
90
g-iing zu eigenen zusammenfiigungen gibt. Wenn iniin eine auswendig
gelernte regcl liäufig genug angewendet hat, ,so erreielit man es, das«
dieselbe auch unbewusst wirken l^ann. Mau braucht sich weder
die regel noeh ein bestimmtes muster ins bewusstsein zu rufen,
und man wird doch ganz correete Sätze bilden. Mau ist somit,
wenigstens was das gewöhnliche verfahren l)ei der praktischen aus-
übnng betrifft, auf einem abweichenden wege eben dahin gelangt,
wo derjenige sich befindet, der keinen grammatischen Unterricht ge-
nossen hat.
Ein hauptnachteil desjenigen, dem bloss muster überliefert sind,
gegenüber demjenigen, der regel und muster zugleich ül)erliefert be-
konmien hat, besteht darin, dass er nicht wie dieser von vornherein
über den umfang der gültigkeit seiner muster unterrichtet ist. Wer
z. b. die Präposition in zunächst widerholt mit dem acc. verbunden
hört, wird dies leicht als die allgemeine verbindungsweise von in auf-
fassen, und wer es auch bald mit dem acc, bald mit dem dat. ver-
bunden hört, wird mindestens einige zeit brauchen, bis er den unter-
schied richtig herausgefunden hat, und mittlerweile vielleicht beides
permiscue gebrauchen. Hier kommt man mit hülfe der regel viel
schneller zum ziele. Eine solche zusammenwerfung zweier gruppen,
die nach dem usus auseinandergehalten werden sollen, ist um so eher
möglich, je feiner die logische Unterscheidung ist, die dazu erfordert
wird, und je grösserer Spielraum dabei der subjectiven auffassung ge-
lassen ist. Vor allem aber ist eine gruppe dann leicht im stände ihr
muster über das gebiet einer verwanten gruppe auszudehnen, wenn sie
diese in bezug auf die häufigkeit der vorkommenden fälle bedeutend
überragt. Und nun gibt es vollends vieles im Sprachgebrauch, was
überhaupt vereinzelt da steht, was sich weder unter eine mit bewusst-
sein abstrahierte regel noch unter eine unbewusst entstandene gruppe
einfügt. Alles dasjenige aber, was die stütze durch eine gruppe ent-
behrt oder nur in geringem masse geniesst, ist, wenn es nicht durch
häufige widerholung besonders intensiv dem gedächtnisse eingeprägt
wird, nicht widerstandsfähig genug gegen die macht der grösseren
gruppen. So, um ein beispiel anzuführen, ist es im deutsehen wie in
andern indogermanischen sprachen die regel, dass, wo zwei objecte
von einem verbum abhangen, das eine im acc, das andere im dat.
steht. Es gibt aber daneben einige fälle, und gab früher noch mehr,
in denen ein doppelter acc steht. Diese fälle müssen und mussten
})e8onders erlernt worden. In folge des Widerspruchs mit der all-
gemeinen regel wird das Sprachgefühl unsicher, und das kann schliess-
lich zum Untergang der vereinzelten construction führen. Man hört
heutzutage fast eben so häufig er lehrt mir die kimsl als er lehrt mich
91
die kunsl, imd uiemiiüd sagt uielir ich vcrhclilc dick die suche nach
niittelhoeluleutselicr weise, sonderii nur ich verhehle dir.
Sclir hcdcutcnd ist die scliüpfcrisehc tätig-keit des individuunis
tiher auch auf dem gebiete der wurtbildung- und nocii mehr auf
dorn der flexi on. Bei den wenigsten nominal- und verbalformen, die
wir aussprechen, findet eine rein gedächtuissmässig-e reproduction statt,
manche haben wir nie \orher gesprochen oder gehört, andere so selten,
dass wir sie ohne hülfe der gruppen, an die sie sich angeschlossen
haben, niemals wieder in das bewusstsein würden zurückrufen können.
Das gewöhnliche ist jedenfalls, dass productiou und reproduction zu-
sammenwirken, und zwar in sehr verschiedenem verhältniss zu einander.
Besonders klar sehen wir die Wirkungen der aualogie bei der
grammatischen aneignung der flexionsformen einer fremden spraclie.
Man lernt eine anzahl von paradigmen auswendig und präg-t sich dann
von den einzelnen Wörtern nur so viel formen ein, als erforderlich sind,
um die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem paradigma zu erkennen.
jVIitunter genügt dazu eine einzige. Die übrigen formen bildet man in
dem augeublicke, wo man ihrer bedarf, nach dem })aradigma, d. h. nacii
analogie. Im aufaug wird mau dabei immer das erlernte paradigma
vor/ äugen haben. Nachdem man aber erst eine grössere anzahl von
formen danach gebildet hat und auch diese spuren in der seele hinter-
lassen hal)eu, erfolgt die bildung, auch ohne dass das wort, welches
als paradigma gedient hat, in das bewusstsein tritt. Die aus andern
Wörtern früher gebildeten formen wirken jetzt mit, und die folge davon
ist, dass nur das allen gemeinsame formelle dement zum bewusstsein
kommt, während die verschiedenen stofflichen sich gegenseitig hemmen.
Nunmehr ist das verhältniss des sprechenden zu den flexionsformen
im augenblicke der anwendung ungefähr das nämliche wie dasjenige,
welches bei der natürlichen erlernung der muttersprache gewonnen
wird. Diese natürliche erlernung führt auf einem weniger directen,
schliesslich aber eben so sicheren wege zu dem gleichen ziele. Hier-
bei findet von anfang an kein vorzugsweises haften der formalen de-
mente an ein bestimmtes einzelnes stoffliche statt, und die gesammt-
heit der möglichen formen ordnet sich niemals in bestimmter folge zu
einer reihe zusammen. Es wird nicht gelehrt, dass sich dieses wort
nach jenem zu richten habe. Der umstand, dass eine anzahl von
formen verschiedener Wörter sich gleichmässig verhalten, genügt das
geftihl zu erzeugen, dass man berechtigt ist diese gleichmässigkeit
weiter durchzuführen. Nachdem einmal von einer anzahl Wörtern die
sämmtlichen formen eingeprägt sind und sich zu gruppen zusammen-
geschlossen haben, wird es vom Sprachgefühl als selbstverständlich be-
trachtet, dass auch die formen anderer Wörter solchen gruppen an-
92
geböreu, dass also z. b. zu dem nom. oder gen. eines substantivums
die nbriiicn casus als notwendiges eomplement geb(»ven. Dabei- kommt
es Ja aueb, dass wir nicbt jeden casus und jede verbalform als ein
besonderes wort auffassen, sondern unter die tiblicbe nennform eines
substantivums oder verbums (nom., inf.) gleicb den ganzen formen-
complex eiubegreifeu.
Auf dem gebiete der Wortbildung sind die Verhältnisse nur zum
teil äbnlicb wie auf dem der flexion. Manche bildungsweisen aller-
dings erzeugen sich analogisch eben so leicht und unbefangen wie
die flexionsformen, vergleiche namentlich comparativ und Superlativ aus
]>ositiv. Bei andern rufen die überlieferten Wörter nur in beschränktem
masse anahigiebilduugen hervor, wider l)ei andern gar keine. Dieses
verschiedene verhalten ist einfach bedingt durch die verschiedene fähig-
keit des überlieferten stotfes zur gruppenbildung.
Da die meisten der in der spräche üblichen formen sich in ver-
hältuissgruppen unterbringen lassen, so ist es ganz natürlich, dass mit
hülfe der proportionen häufig formen geschaffen werden müssen, die
schon vorher in der spräche üblich waren. Wenn das aber immer der
fall sein sollte, so müssten einerseits alle nach proportion bildbaren
formen schon einmal gebildet sein, anderseits müsste eine so voll-
kommene harmonie des formensystems bestehen, wie sie nirgends an-
zutreffen ist, oder es dürften wenigstens, wo verschiedene bildungs-
weisen neben einander bestehen, verschiedene declinations- oder conju-
gationsklassen, verschiedene arten ein nomen agentis aus einem verbura
zu bilden etc., niemals die entsprechenden formen aus verschiedenen
klassen eine analoge gestalt haben ; es müsste aus jeder einzelnen form
zweifellos hervorgehen, in welche der vorhandenen klassen das be-
treffende wort gehört. Sobald eine form ihrer gestalt nach mehreren
klassen angehören kann, so ist es auch möglich von ihr aus die andern
zugehörigen formen nach verschiedenen proportionen zu bilden. Welche
v<»n den verschiedenen anwendbaren proportionen dann sich geltend
maciit, hängt durchaus nur von dem machtverhältniss ab, in welchem
sie zu einander stehen.
Eine proportionsbildung findet gar keine hemmung in der seele,
wenn für die function, für welche sie geschaffen wird, bisher ttber-
baupt noch kein ausdvuck vorhanden gewesen ist. Aber auch dann
nicbt, wenn zwar ein abweichender ausdruck ])ereits üblich, aber dem
betreffenden Individuum niemals überliefert worden ist, was bei etwas
selteneren Wörtern liäufig genug der fall ist. Ist aber die übliche form
einmal gedüchtnissmässig aufgen(»mmeu, so ist es eine machtfrage, ob
in dem augenblicke, wo eine bestimmte function ausgeübt werden soll,
zu diesem zwecke eine form durch einfache reproduction ins bewusst-
93
sein gehubcu wird oder mit hülfe eiuer proportion. Es kauu dabei
der fall eintreten, dass die pru])oi-ti()n sich zunächst ^-elteud macht,
dass aber die früher ü'eknüpfte verbindnufi,- mit dem erinuerung'sbilde
der üblichen form noch stark genug ist, um hinterher den Widerspruch
der neubildung mit diesem erinnerungsbilde bemerklich zu machen.
Mau besinnt sich dann, dass man etwas falsches hat sagen wollen
oder schon gesagt hat. Es ist das also eine von den verschiedenen
arten, wie man sich versprechen kann. Wir werden auch da noch
ein versprechen anerkennen müssen, wo der si)rechende auch hinterher
den Widerspruch mit dem erinnerungsbilde nicht von selbst gewahr
wird, aber denselben sofort erkennt, wenn er durch eine leise hindeu-
tung darauf aufmerksam gemacht wird. Die macht des erinnerungs-
bildes kann aber auch so gering sein, dass es gar nicht gegen die
proportionsbildung aufzukommen vermag und diese ungestört zur gel-
tung gelangt.
Durch die Wirksamkeit der gruppen ist also jedem ein-
zelnen die möglichkeit und die veranlassung über das be-
reits in der spräche übliche hinauszugehen in reichlichem
masse gegeben. Man muss nun beachten, dass alles, was auf diese
weise geschaften wird, eine bleibende Wirkung hinterlässt. Wenn diese
auch nicht von anfang au stark und nachhaltig genug ist, um eine
unmittelbare reproduction zu ermöglichen, so erleichtert sie doch eine
künftige widerholung des nämlichen schöpfungsprocesses, und trägt
dazu bei die etwa entgegenstehenden hemmungeu noch mehr zurück-
zudrängen. Durch solche widerholungen kann dann hinzugefügt werden,
was dem neugeschaffenen etwa noch an macht fehlte um unmittelbar
reproduciert zu werden.
Aber jede solche üljerschreituug des usus erscheint, auf ein Indi-
viduum beschränkt, wo sie zu dem üblichen ein mehr hinzufügt, ohne
sieh mit demselben in Widerspruch zu setzen, als eine gewisse kühn-
heit, wo sie aber das letztere tut. geradezu als fehler. Ein solcher
fehler kann vereinzelt bleiben, ohne zur gewohnheit zu werden, kauu
auch, wenn er zur gewohnheit geworden ist, wider abgelegt werden,
indem man sieh durch den verkehr das übliche aneignet, sei es zum
ersten male, oder sei es von neuem. Wenn er aber auch nicht wider
abgelegt wird, so geht er in der regel mit dem Individuum zu gTuude,
wird nicht leicht auf ein anderes tibertragen. Viel leichter überträgt
sich eine Schöpfung, die mit keiner früher bestehenden in conllict
kommt, hier kann viel eher ein einzelner den anstoss geben. Da-
gegen mit der ersetzung des bisher üblichen durch etwas neues ver-
hält es sieh gerade wie mit dem laut- und bedeutungswandel. Nur wenn
sich innerhalb eines engeren verkehrskreises au einer grösseren anzabl
94
von Individuen spontan die gleiche neiischöpfung- vollzieht, kann sich
eine Veränderung des usus herausbilden. Die inögliehkeit eines solchen
spontanen Zusammentreffens vieler Individuen beruht auf der über-
wiegenden Übereinstimmung in der Organisation der auf die spräche
bezüglichen vorstellungsgruppen. Je grösser die zahl derjenigen, bei
denen die ueubildung auftritt, um so leichter wird die übeiiragung
auf andere, je mehr gewinnt das, was anfangs als fehler erschien, an
autorität.
Wie hinsichtlich der lautverhältnisse und hinsichtlich der bedeu-
tung, die den Wörtern beigelegt wird, so zeigen sich auch hinsichtlich
der aualogischen neubildung die stärksten abweichungen vom usus in
der kindersprache. Je unvollständiger und je schwächer noch die ein-
prägung der einzelnen Wörter und formen ist, um so weniger hemmung
lindet die neubildung, um so freieren Spielraum hat sie. So haben alle
kinder die neiguug anstatt der unregelmässigen und seltenen bildungs-
weisen, die noch nicht in ihrem gedächtniss haften, die regelmässigen
und gewöhnliehen zu gebrauchen, im nhd. z. b. alle verha schwach zu
bilden. Wenn bei zunehmender entwickelung des Individuums die neu-
bildung mehr und mehr abnimmt, so ist das natürlich nicht die folge
davon, dass ein anfangs vorhandenes vermögen sehwindet, sondern
davon, dass das bedürfniss abnimmt, indem sich für den zweck, für
den früher die neubildungeu geschaffen wurden, immer mehr gedächt-
nissmässig aufgenommene formen zur Verfügung stellen. Im allgemeinen
lassen auch auf diesem gebiete die abweichungen der kindersprache
keine consequenzen für die allgemeine Weiterentwicklung der spräche
zurück; aber hie und da bleiben doch spuren zurück. Insbesondere
wird in solchen fällen, wo schon die erwachsenen zu neubilduugen
neigen, die entsprechende neigung bei den kindern noch stärker her-
vortreten, und sie werden sich dieser neigung frei überlassen, sobald
die nötige hemmung durch die spräche der erwachsenen fehlt.
Durch eine analogische neubildung wird eine früher bestehende
gleichbedeutende form nicht mit einem schlage verdrängt. Es ist nicht
wol denkbar, dass das bild der letzteren gleichzeitig bei allen Indi-
viduen so verblassen sollte, dass die analogiebilduug ohne hemmung
vor sich gehen könnte. Vielmehr bewahren immer einige Individuen
die alte form, während andere sich schon der neul)ildung bedienen.
So lange al)er zwischen diesen und jenen ein ununterbrochener ver-
kehr unterhalten wird, muss auch eine ausgleichung stattfinden. Es
müssen daher einer kleineren (»der grösseren anzahl von Individuen
beide formen geläufig werden. Erst nach einem längeren kämpfe
zwischen beiden formen kann die neubildung zur alleinherrschaft ge-
langen.
95
Da die analogisclie nenschöpfung die auflösuDg- einer proportions-
gleieliung ist, so mlisseu uatiirlieli schou mindestens drei glieder
vorhanden sein, die sich zum ansatz einer solchen gleichnng eignen.
Es muss Jedes mit dem andern irgendwie vergleichbar sein, d.h. in
diesem falle, es muss mit dem einen im stoft'lichen, mit dem andern
im formalen demente eine Übereinstimmung zeigen. So lässt sich z. b.
im lat. eine gleiehuug ansetzen animus : aniini = senatus : x, aber nicht
animus : animi = mensa : x. Es kann daher ein wort in einer flexion
von anderen nur dann analogische beeinflussung erfahren, wenn es
mit diesen in der bilduug- einer oder mehrerer formen übereinstimmt.
Es kommt allerdings zuweilen eine beeinflussung ohne solche überein-
stimnmng vor, die man dann aber nicht mit recht als analogiebilduug
bezeichnet. Es kann eine flexionsendung wegen ihrer besonderen
häutigkeit als die eigentliche normalendung für eine flexionsform
empfunden werden. Dann überträgt sie sich wol auf andere Wörter
auch ohne die Unterstützung gleichgebildeter Wörter. Von dieser art
ist z. b. im attischen die Übertragung der genitivendung ov aus der
zweiten declination auf die masculina der ersten: jioXirov statt jioXl-
Tfco, wie es Homerischem -ao, dorischem -ä entsprechen müsste; die
Übereinstimmung beider klassen im gesehlecht hat hier genügt die be-
einflussung zu bewirken. Der gen. du. der griechischen dritten decli-
nation hat seine endung von der zweiten entlehnt: jtoöoIv nach 'i'yijtoir.
Im deutsehen ist die genitivendung s auf die weiblichen eigennameu
mit der endung a übertragen: Herthas, Claras.
Neuschöpfungen finden natürlich auch auf grundlage der oben
s. 86 besprochenen proportionsgruppen statt, die sich aus formen der
gleichen stofflichen gruppe zusammensetzen. Im mhd. lauten die
dritten personen pl. : ind. präs. gehent , conj. geben, ind. ])rät. gäben,
conj. gü'ben. Im nhd. ist nach analogie der drei anderen formen auch
im ind. praes. //eft«?« eingetreten; im spätmhd. ist auch umgekehrt ent
in die übrigen formen eingedrungen. Die 2. sg. ind. prät. des starken
verbums, die im mhd. eigentümlich gebildet war {du gcßbe, wäre), ist
nach der analogie der andern zweiten personen umgestaltet.
Dass eine schöpferische Wirkung der analogie auch auf dem
gebiete des lautweehsels statt hat, ist, soviel ich sehe, bis jetzt
noch wenig beachtet. Der lantwechsel ist zunächst, wie wir gesehen
haben, eine Wirkung des lautwandels, die dann eintritt, wenn der
gleiche laut oder die gleiche lautgruppe sich in folge verschiedener
lautlicher bedingungen in mehrere gespalten hat. S<» lange diese be-
dingungen fortdauern und ausserdem keine Störung der Wirkungen des
lautwandels durch andere einflüssc eintritt, ist es möglich, dass die
durch den lautwandel entstandenen formen sich zu proportionsgruppen
96
ordueu, vgl. die lieispiele oben s. 87. Wir können dann den laut-
wechsel als einen lebendigen bezeichnen. Fallen dagegen die be-
dingungen fort, welche die Ursache der verschiedeneu behandlung des
lautes gebildet haben, so lassen sich keine etymologisch -lautlichen
j)ro])ortiunen mehr bilden, der lautvvechsel ist erstarrt. So ist z. b,
der Wechsel zwischen h uud g iu ziehen — zug, gedeihen — gediegen
nicht mehr durch Verhältnisse iu der gegenwärtigen spräche bedingt;
die Ursache, durch welche dieser lautweehsel ursprünglich hervorge-
rufen ist, der wechselnde indogermanische accent, ist längst beseitigt.
Der Wechsel zwischen hoher — hoch, sehen — gesicht, geschehen —
geschichte trifft zwar zusammen mit einem Wechsel der Stellung inner-
halb der silbe; da aber in den meisten fällen bei ganz analogem
Stellungswechsel kein lautweehsel mehr statt hat (vgl. rauher — rauh,
selten — • sah und sieht, geschehen — geschah und geschieht), so ist
auch dieser Wechsel ein toter. Anders im mhd., wo es eine durch-
greifende regel ist, dass einem h im silbenanlaut in der Stellung nach
dem sonanten der silbe der laut unseres ch ents])richt, also rüher —
rüch, sehen — sach, geschehen — geschach, vor s und t im älteren
mhd. allerdings auch h geschrieben {sihst, siht), im späteren aber gleich-
falls durch ch bezeichnet {siehst, sieht).
Die stofflich-lautlichen proportionsgruppen sind nun in entspre-
chender weise productiv wie die stofflich-formalen. Es ist z. b. nicht
wol denkbar, dass die beiden verschiedeneu aussprachen unseres ch
von jedermann für jeden einzelnen fall besonders erlernt sind, viel-
mehr wirken auch hier gedächtnissmässige einprägung und analogie-
schöpfung zusammen, und ohne mitwirkung der letzteren könnte nicht
die Sicherheit in dem Wechsel zwischen beiden gewonnen werden, wie
sie wirklich vorhanden ist. Besonders zweifellos ist die mitwirkung
der aualogie bei den sandhi-erscheinungen. Wie sollte man es sich
z. b. sonst erklären, dass im franz. die anlautenden consonanten s, ?,
t, n consequent verschieden behandelt werden, je nachdem das sich
anschliessende wort mit consonant oder mit vokal beginnt? Es ist
zwar möglich, dass sich eine anzahl solcher Verbindungen wie nous
vendons — nous aimons, un /ils — iin ami seit der zeit, wo sie durch
den lautwandel entstanden sind, von generation zu generation gedächt-
nissmässig fortgepflanzt haben, aber sicher sind es bei weitem nicht
alle, die jetzt zur auwendung kommen und früher gekommen sind.
Nichtsdestoweniger wird der Wechsel genau beobachtet, auch von dem
grammatisch ungeschulten und bei jeder beliebigen neuen combination.
Durch die Wirksamkeit der etymologisch -lautlichen verhältniss-
gnippen werden im allgemeinen solche formen erzeugt, wie sie auch
durch den zu gründe lieii,'enden lautwandel hervorgebracht sein würden.
97
Doch geschieht es auch zuweilen, dass neue formen erzeugt werden,
die hiutgesetzlich nicht möglich wären. Ursache ist entweder eine
eigentlich nicht berechtigte umkehrung der proportionen oder eine Ver-
schiebung der Verhältnisse durch Jüngern lautwandel.
Für viele ober- und mitteldeutsche mundarten gilt das lautgesetz,
dass 71 im silbenauslaut geschwunden ist, sich aber auch im wortende
gehalten hat, wenn es bei vokalischem anlaut des folgenden Wortes
zu diesem hinübergezogen ist, also z. b. im schwäbischen e ros (ein
ross) — ■ e-n obet (ein abend), i due = mhd. ich tuon) — due-n-i.
Man ist also daran gewöhnt, dass in vielen fällen zwischen vokalischem
auslaut und vokalischem anlaut sich ein n scheinbar einschiebt, und
in folge davon überträgt sich das n auf fälle, wo in der älteren zeit
kein n bestanden hat. So finden sich in der Schweiz ') Verbindungen
wie wo-n-i wo ich, sf-n-iss so ist es, rvi^-n-^ wie ein, so-n-^ so ein,
hi-n-^'m bei ihm, tsü^-n-fm zu ihm. Die selbe erscheinung findet sich
in Schwaben, z. b. in der mundart der gegend von Horb 2): bei-n-pn
bei ihnen, zu^-n-enf zu ihnen, di mä-n-i dich mag ich, lo-n-^ms
lass es ihm, gei-n-^ms gib es ihm ; entsprechend im bairischen Schwaben
und in einem angrenzenden teile des eigentlich bairischen gebietest):
si-n-ist sie ist, rvle-n-i wie ich etc. Auch im kärntischen heisst es
hä-n-enk bei euch.*) Im altprovenzalischen ist die nebenform fon
zu fo {fuit) nach analogie von hon — ho etc. gebildet. 5) Hierher
gehört auch das v tg^tXxvonxov, soweit es nicht etymologisch be-
rechtigt ist.
Das nämliche gesetz, das im alemannischen und schwäbischen
für n gilt, gilt im bairischen für r. Es heisst daher der arm, aber de
Jung, p' is, aber ^ hat, mei hru^d^r odfr i, aber i odf met bru^df/')
In folge davon entstehen auch Verbindungen wie ivie-r-i wie ich,
ge-r-^ gehe er, da si^-r-i da sehe ich, käf-r-i kann ich, a^-r-i
abhin = hinab.') Entsprechend wird mhd. y«ra, nürä aus/«, i\u-^ä
zu erklären sein nach analogie des Verhältnisses da (aus älterem ddr)
zu dnrane, n-ä zu tvärane, hie zu hierane, sä zu särie.
Die satzphonetische doppelformigkeit ist wol dasjenige gebiet,
auf dem diese art von analogiebilduug am häufigsten erscheint. Doch
*) Vgl. Winteler, Kerenzer inundart s. 73. 140.
*) Nach mitteiluug meines zuliürers Friedrich Kauftmann.
3) Vgl. Schmeller, Mimtlarten Bayerns s. 134.
*) Vgl. Lexer, Kärntisches Wörterbuch s. XIII.
^) Vgl. Neiiiuann, Zschr. f. roiu. pliil. VIII, 257.
*) Vgl. Schmeller, s. 141.
■') Vgl. ib. s. 142 und Lexer a. a. o. s. XII.
Paul, Principien. II. Auflage.
98
ist sie nicht darauf beschränkt. Wenn im spätmittelhochdeutschen
nach abwerfung; des ausblutenden e aus zoelie, geschoihe, hoehe etc.
za'ch, (jeschcech, hcech entsteht, so liegt wol schwerlich ein lautlicher
Übergang des h in ch vor; die formen haben sich vielmehr der ana-
logie des bereits vorher bestehenden Wechsels hoch — hohes, geschehen
— (jeschach etc. gefügt. Ebenso wird es sich verhalten bei sieht, ge-
schieh! (in älterer zeit noch sihi, geschiht geschrieben) aus sihel, ge-
schihet.
Cap. VI.
Die syntaktischeil grundverhältuisse.
Alle sprechtätig-keit bestellt in der bildung vou sätzeu. Der
satz ist der sprachliche ausdruck, das symbol dafür, dass
sich die Verbindung- mehrerer Vorstellungen oder vorstel-
hiugsgruppeu in der seele des sprechenden vollzogen hat,
und das mittel dazu, die nämliche Verbindung der nämlichen
Vorstellungen in der seele des hörenden zu erzeugen. Jede
engere deiinition des begriffes satz muss als unzulänglich zurückgewiesen
werden. Zu den verbreiteten irrtümern über das weseu des satzes
gehört es z. b., dass derselbe ein verb. fin. enthalten müsse. Ver-
bindungen wie Omnia praeclara rara , Summum jus swnrna mj'uria,
Träume schäu7ne, Ich ein lüijnerl Ich dir danken'! sind gerade so gut
Sätze wie Der mann lebt, Er ist tot.
Zum sprachlichen ausdruck der Verbindung von Vorstellungen
gibt es folgende mittel: 1) die nebeneinanderstellung der den Vor-
stellungen entsprechenden Wörter an sich; 2) die reihenfolge dieser
Wörter; 3) die abstufung zwischen denselben in bezug auf die energie
der hervorbringung, die stärkere oder schwächere betonung (vgl. Karl
ko7nmt nicht — Karl kommt nicht); 4) die modulation der tonhöhe
(vgl. Karl kommt als behauptuugssatz und Karl kommt? als fragesatz);
5) das tempo, welches mit der energie und der tonhöhe in engem
zusammenhange zu stehen pflegt; 6) Verbindungswörter wie präpo-
sitionen, conjunctionen, hülfszeitwörter ; 7) die flexivische abwandlung
der Wörter, und zwar a) indem durch die flexionsformen an sich die
art der Verbindung genauer bestimmt wird {patri librum dat), b) indem
durch die formelle Übereinstimmung (congruenz) die Zusammengehörig-
keit angedeutet wird {anima Candida). Es ist selbstverständlich, dass
die beiden letztgenannten mittel sich erst allmählig durch längere
geschichtliche entwickelung haben bilden können, während die fünf
erstgenannten von anfang an dem sprechenden zur Verfügung stehen.
Aber auch 2—5 bestimmen sieh nicht immer bloss unmittelbar nach
100
dem natüilieheu ablauf der Vorstellungen und empfindungen, sondern
sind einer traditionellen ausbildung- fähig.
Je nach der menge und bestimmtheit der augewendeten mittel
ist die art und weise, wie die Vorstellungen mit einander zu verbinden
sind, genauer oder ungenauer bezeichnet. Es verhält sieh in bezug
auf die verbindungsweise gerade so wie in bezug auf die einzelne
Vorstellung. Der sprachliche ausdruck dafür braucht durchaus nicht
dem ])sychischen Verhältnisse, wie es in der seele des sprechenden
besteht und in der seele des hörenden erzeugt werden soll, adäquat
zu sein. Er kann viel unbestimmter sein.
Jeder satz besteht demnach aus mindestens zwei dementen.
Diese demente verhalten sich zu einander nicht gleich, sondern sind
ihrer function nach differenziert. Mau bezeichnet sie als subjeet
und prädicat. Diese grammatischen kategorieen beruhen auf einem
psychologischen, einem logischen verhältniss. Zwar müssen wir unter-
scheiden zwischen psychologischem und grammatischem sub-
jeet, respective prädicat, da beides nicht immer zusammenfällt,
wie wir noch im einzelnen sehen werden. Aber darum ist doch das
grammatische verhältniss nur auf grundlage des psychologischen auf-
erbaut.
Das psychologische subjeet ist die zuerst in dem bewusstsein des
sprechenden, denkenden vorhandene vorstellungsmasse, an die sich
eine zweite, das psychologische prädicat anschliesst. Das subjeet ist,
mit Steiuthal zu reden, das ap]3ercipierende, das prädicat das apper-
eipierte. Richtig bezeichent v. d. Gabelentz (Zschr. f. Völkerpsychologie
6, 378) die beiden demente vom Standpunkte des hörenden aus. Das
l)sychologische subjeet ist nach ihm das, worüber der sprechende den
hörenden denken lassen, worauf er seine aufmerksamkeit hinleiten
will, das psychologische prädicat dasjenige, was er darüber denken
soll. Doch kann diese art der bestimmung des prädieats leicht zu
einer zu beschränkten auffassung verführen, wie sie in unseren gram-
matiken gang und gäbe ist. Wir müssen daran festhalten, dass es
nur darauf ankommt, dass eine Vorstellung im bewusstsein au die
andere angeknüpft wird.
Wir sind jetzt gewohnt dem verhältniss des subjeets zum prä-
dicat einen engern sinn unterzulegen. Ist das prädicat ein nomen,
so verlangen wir für die normale satzbildung, dass dasselbe ent-
weder mit dem subjeet identificiert werde, oder dass es den weiteren
begriff bezeichne, welchem der engere des subjeets untergeordnet wird,
oder dass es eine eigenschaft angebe, welche dem begriffe des sub-
jeets inhäriert. Aber in sprüch Wörtern werden auch beziehungen ganz
anderer art durch die grammatische form der nebeneinanderstellung
101
von suhjeet und prädicat ausgedrückt, vgl. ein mann ein nort, (//eiche
brüder f/leiche kappen, viel feind' viel ehr', viele köpfe viele sinne, viel
gcschrei wenig wolle, alter fuchs alle list, klein yeld kleine arbeil, neuer
arzt neuer kirchhof heisse bitte kaller datik, kurz gebet tiefe andachl,
roter bart untreue art, gevatter übern zäun gevatter wider herüber, gliick
im spiel unglück in der liebe, mit gevangen mit gehangen, früh gesattelt
spät geritten, allein getan allein gebüssl: entsprechend in anderen indo-
g-ermanischen sprachen, vgl. franz. bo7i capitaine bon soldat, banne terre
mauvais chemin, longue langue courte main, brune matinee belle juurnee^
froides mains chaudes amours, fhves fleuries temps de folies, soleil a la
vue bataille perdue, point d'argent point de Suisse. Zwar pflegt man
solche Sätze als verkürzte hypothetische perioden aufzufassen und dem-
gemäss ein komma zwischen die beiden bestandteile zu setzen, aber
dass man sie durch eine hypothetische periode umschreiben kann {wo
viel geschrei ist, da ist wenig wolle etc.), geht uns hier gar nichts an,
ihre grammatische form ist keine andere als die von Sätzen wie ehe-
st and wehestand, die gelehrten die verkehrten, bittkauf teurer kauf etc.
Bei den ersten Sätzen, welche kinder bilden, dient die blosse anein-
anderreihung von Wörtern zum ausdruck aller möglichen beziehungen.
Aus der erfahruug gesammelte beispiele werden von Steinthal, Einl.
S. 534 — 6 beigebracht, vgl. papa hut (= der papa hat einen hut aut),
mama baba (= ich will bei der mama schlafen). Wo man sich einer
fremden spräche zu bedienen genötigt ist, deren mau nicht mächtig
ist, greift mau in der not zu dem selben primitiven auskunftsmittel
und wird von der Situation unterstützt verstanden. Man bedeutet z. b.
jemandem durch die worte wein tisch, dass er den wein auf den tisch
stellen soll u. dergl. Die bedingungeu, welche dazu veranlassen der-
gleichen Sätze zu erzeugen und es dem hörenden ermöglichen die nicht
ausgedrückte beziehung der begriffe zu erraten, sind natürlich nicht
bloss in den anfangen der Sprechtätigkeit der einzelnen oder der
menschheit vorhanden, sondern zu allen zeiten. Wenn sie auf den
höher entwickelten stufen nur in beschränktem masse zur anwendung
kommen, so liegt dies nur daran, dass vollkommenere ausdrucksmittel
zu geböte stehen.
Zur Unterscheidung von subject und prädicat gab es ursprüng-
lich nur ein mittel, die ton stärke. Im isolierten satze ist das psycho-
logische prädicat als das bedeutsamere, das neu hinzutretende stets
das stärker betonte dement. Dies dürfen wir wol als ein durch alle
Völker und zeiten durchgehendes gesetz betrachten. Ein zweites unter-
scheidungsmittel könnte die Wortstellung abgegeben haben. V. d.
Gabelentz in dem oben erwähnten aufsatze meint (s. 376), dass die
anordnung subject - prädicat (beides als psychologische kategorieen
102
betrachtet) ausnahmslos g-elt .') Diese ansieht seheint mir nicht g:anz
richtig. Wir müssen ))ei bcurteilung- dieser frage die spraclien und die
talle ganz bei seite lassen, in denen für die Stellung des grammatischen
subjects und prädieats durch die tradition eine feste regel heraus-
gebildet ist. Wir dürfen nur solche fälle heranziehen, in denen beide
den platz vertauschen können, in denen also die Stellung nicht durch
grammatische, sondern lediglich durch psychologische normen beding-t
ist. Die ansieht, welche v. d. Gabelentz hegt, dass ein vorangestelltes
grammatisches präd. immer psychologisches subj. sei, triift allerdings
in vielen föllen zu, z. b. in dem Goetheschen Weg ist alles, was du
liebtest, Weg, warum du dich betrübtest, Weg dein glück und deine ruh'',
sagen wir aber z. b, ein windsioss ergriff das blatt und weg war es, so
kann weg unmöglich als psychologisches subj. gefasst werden. Ebenso
besteht Übereinstimmung zwischen psychologischem und grammatischem
subject, wenn auf die beraerkung Müller scheint ein verständiger mann
zu sein ein anderer entgegnet ein esel ist er; und so in vielen fällen.
Der subjectsbegriff ist zwar immer früher im bewusstsein des sprechen-
den, aber indem er anfängt zu sprechen, kann sich der bedeutsamere
prädicatsbegriff schon so in den Vordergrund drängen, dass er zuerst
ausgesprochen und das subject erst nachträglich angefügt wird. Dies
kommt häufig vor, wenn der subjectsbegriff schon vorher im gespräche
da gewesen ist, vgl. die angeführten beispiele. Dann hat auch der
angeredete in der regel, während er das prädicat hört, schon das
dazu gehörige subj. im sinne, welches daher auch manchmal eben so
gut weg bleiben kann, vgl. „was ist Meier f- „kauf mann {ist erj". Aber
auch wenn der angeredete auf das subj. nicht vorbereitet ist, kann
lebhafter affect die veranlassung werden, dass sich das präd. an die
spitze drängt. Der sprechende verabsäumt dann zunächst über dem
Interesse an der hauptvorstellung die für den angeredeten notwendige
Orientierung, und es fällt ihm erst hinterher ein, dass eine solche er-
forderlich ist. Es ist ein analoger psychologischer Vorgang, wenn das
subj. zuerst durch ein pron., dessen beziehung für den angeredeten
nicht selbstverständlich ist, und erst hinterher bestimmter ausgedrückt
wird, vgl. ist sie, blind, meine liebe (Lessing); sie hindert nicht allein
nicht, diese binde (ib.); was für ein hild hinterlässt er, dieser schwall
von Worten (ib.); mhd. wie jämerlrche ez siät, daz here laut (Walth. v.
d. Vogelw.), si ist iemcr ungeschriben, diu fröude die si hatcn (Hartm.
v. Aue); franz. eile approche, cette mort inexorable.-) Aus den ge-
') Umgekehrt betrachtet Wegener, s. .31tT. die voranstelhmg des prädieats
als das eigentlich normale, eine anschaming, der ich auch nicht beitreten möchte.
*) Vgl. andere beispiele bei Wegener, s. 41.
103
gebenen iiiisfUhruiigeu erhellt, dass die Sätze mit vorangestelltem \)»y-
chologisclien prädicat eine Verwandtschaft haben mit den bald weiter
uuteu zu besprechenden Sätzen, in denen überhaupt nur das präd.
ausgedrückt wird, Sie sind eine auomalie gegenüber der bei ruhiger
erzählung oder erörteruug vorwaltenden voranstellung des subjects,
aber doch eine nicht wegzuläugneude und niclit gar seltene anomalic.
Die Wortstellung kann daher nicht als ein mit den anfangen der satz-
bildung gegebenes unterscheidungsmittel von subj. und präd. betrachtet
werden.
Wie die einzelnen Wörter concrete und abstracte bedeutung
haben können, so auch die sätze. Concret ist ein satz, sobald eines
von den beiden liauptgliedern, das psychologische subject oder das
psychologische prädicat concret ist. Normaler weise ist es das sub-
ject, welches dem satze concrete natur gibt. Concrete und abstracte
Sätze brauchen der ausdrucksform nach nicht verschieden zu sein.
Wir können in bezug auf die menschliche natur überhaupt sagen der
mensch ist sterblich, wie wir in bezug auf einen einzelnen sagen der
mensch ist unausstehlich, und nur aus dem zusammenhange und der
Situation lässt sich die verschiedene natur der sätze erkennen. In dem
ersteren satze könnte man auch pluralische ausdrucksweise einsetzen:
die menschen oder alle menschen sind sterblich. Er bleibt dann aber
nicht eigentlich abstract; denn alle menschen fasst man wol richtiger
als einen concreten ausdruck = alle menschen, die existieren. Ist das
subject concret, so kann der satz nicht abstract sein. Es bleibt aller-
dings immer noch die verschiedene möglichkeit, dass das prädicat
als etwas dem subject schlechthin zukommendes, als etwas bleibendes
oder sich widerholendes gedacht werden kann oder als etwas demselben
nur zu bestimmter zeit anhaftendes. Im ersteren falle besteht gewisser-
massen eine mittelstufe zwischen einem abstracten und einem concreten
satze, und es sei daher erlaubt für diese art von Sätzen in ermangelung
einer besseren bezeichnung den ausdruck abstract-concret zu ge-
brauchen. Auch dieser Verschiedenheit braucht keine Verschiedenheit
der ausdrucksform zu entsprechen. Er spricht schnell kann bedeuten
„er spricht in diesem augenblicke schnell* und ,er pflegt schnell zu
sprechen"; er ist saumselig kann ein benehmen in einem einzelnen falle
oder eine bleibende Charaktereigenschaft bezeichnen.
Unserer behauptung, dass zum satze mindestens zwei glicder ge-
hören, scheint es zu widersprechen, dass wir sätze finden, die nur aus
einem worte oder einer eine einheit bildenden gruppe bestehen. Der
Widerspruch löst sich so, dass in diesem falle das eine glied, in der
regel das logische subject, als selbstverständlich keinen sprachlichen
ausdruck gefunden hat. Es kann aus dem vorher besprochenen er-
104
gänzt werden. Insbesondere ist zu beachten, dass es in der wechsel-
rede sehr häufii;- den Worten des anderen zu entnehmen ist. Die aut-
wort i)fieg-t nur aus einem prädicate zu bestehen, das subjeet ist ent-
weder in der frage enthalten, oder die ganze frage ist das logische
subjeet: 1) „w^r hat dich geschlagen?''^ ^^Max''^ — 2) ^Mst du das ge-
wesen?''' „Ja" {nein, gewiss, freilich, doch). Ebenso dienen als prädicat
zu einem von dem andern ausgesprocheneu satze bemerkungen wie zu-
geslanden, einerlei, ganz gleich, wol möglich, nicht möglich, {wie) seltsam,
getroffen, genug, kein wunder, geschwätz, possen, lügen, unsinn. In
andern fällen ist die anschauung, die vor dem sprechenden und hören-
den steht, die Situation das logische subjeet, auf welches die aufmerk-
samkeit noch durch gebärden hingelenkt werden kann. Diese an-
schauung kann die redende oder die angeredete person sein, vgl. Ihr
diener, gehorsamer diener, zu he fehl — willkommen, so traurig? warum
so traurig? Ferner gehören hierher namentlich viele ausrufungen des
erstaunens und entsetzens und hülfsschreie wie feuer, diehe, mörder,
hülfe, sowie viele aufforderungen, auch fragen wie gerade oder ungerade?^
rechts oder links? Wenn der prinz in Lessings Emilia beginnt Klagen-,
nichts als klagen! Bittschriften, nichts als bittschriften!, so sind das
nur prädicate, das subjeet wird durch die briefe gebildet, die er in
die band nimmt. Bei solchen dem sprachlichen ausdruck nach ein-
gliedrigen Sätzen ist es möglich, dass dasjenige, was für den sprechen-
den psychologisches prädieat ist, für den hörenden vielmehr subjeet
wird. Für denjenigen, der beim anblick eines brandes ausruft feuer,
ist die Situation subjeet und der allgemeine begriff feuer prädieat;
dagegen für denjenigen, der feuer rufen hört, ehe er selbst einen
brand gewahr wird, ist der begriff feuer subjeet und die Situation
prädieat. Es kann auch sätze geben, in denen für beide teile das
ausgesprochene subjeet, die Situation prädieat ist. Es sieht z. b.
jemand, dass ein kind in gefahr kommt, so ruft er wol der person,
welcher die bewaehung desselben anvertraut ist, nur zu das kind.
Hiermit ist nur der gegenständ angezeigt, auf den die aufmerksam-
keif hingelenkt werden' soll, also das logische subj., das präd. ergibt
sich für die angeredete person aus dem, was sie sieht, wenn sie dieser
lenkung der aufmerksamkeit folge leistet. Oder, wenn von zwei reise-
gefährten der eine bemerkt, dass der andere seinen schirm hat stehen
lassen, so genügt der blosse ausruf dein schirm, um diesen das prä-
dieat dazu ergänzen zu lassen. Der vocativ, für sich ausgesprochen,
um jemand herbeizurufen, ihn zu warnen, zu bitten, ihm zu drohen,
ihm l)emerklich zu machen, dass er unter mehreren jetzt an der reihe
ist etwas zu tun, ist ein solcher sprachlich, aber nicht psychologisch
prädicatloser satz. Dagegen neben einem verbum in der zweiten
105
person ohne subjectsproii. kann der voe. als snbj. zu diesem gefasst werden.
Man interi)nngiert g:ewölnilich Kari komm und komm, Karl, dagegen du
komm und knmm du, ohne dass ein unterseliied des Verhältnisses besteht.
Hier ist auch festzustellen, wie es sieh mit den sogenannten
verba impersonalia verhält. Es ist eine vielfach erörterte Streit-
frage, ob dieselben als subjectlos zu betrachten sind oder nicht. Eine
kritische erörterung der darüber geäusserten ansichten iindet sich in
der Schrift von Miklosich „Subjectlose sätze" (Zweite aufläge. Wien
1883). Im wesentlichen auf das von Miklosich beigebrachte material
stützt sich ein aufsatz von Marty in der Vierteljahrsschr. f. wissen-
schaftliche philos. VIII, 56 ft'. Um die frage richtig zu beantworten
muss man streng scheiden zwischen der grammatischen form und dem
dadurch bezeichenten logischen verhältniss. Sehen wir nur auf die
erstere, so kann es natürlich nicht zweifelhaft sein, dass sätze wie es
rauscht, franz. // gcle, niederserbisch vono se bhjska (es blitzt) ein sub-
ject haben. Aber alle bemühungen dies es, U, vono auch als logisches
subj. zu fassen und ihm eine bestimmte ausdeutung zu geben haben
sich als vergeblich erwiesen. Auch von Sätzen wie lat. pluit, griech.
i'Ei, sanskr. varsati (es regnet), lit. sn'inga (es schneit) kann man an-
nehmen, dass ihnen das formelle subj. nicht fehlt; denn es kann in
der Verbalendung enthalten sein, unter der sich ja auch ein persön-
liches 67- oder sie verstehen lässt. Man könnte sich für die entgegen-
gesetze ansieht allerdings darauf stützen, dass in den beti'etfeuden
sprachen die dritte person auch neben einem ausgesprochenen sub-
jecte stehen kann. Aber es lässt sich durch kein mittel beweisen,
dass das impersouale erst aus dieser verwendungsw^eise abgeleitet sei.
Es ist am natürlichsten auch hier ein formelles subj. anzuerkennen.
Es verhält sich mit der persoualendung nicht anders als mit dem
selbständigen prou. Indem der satz auf die normale form gebracht
ist, hat er ein formelles subj. erhalten, welches mit dem psj'cholo-
gischen nichts zu schatfeu hat. Wir müssen eine ältere stufe voraus-
setzen, auf welcher der einfache verbalstamm gesetzt wurde, eine stufe,
die im magyarischen wirklich noch vorliegt, wo die 6 sg. kein suffix
hat (vgl, Miklosich, s. 15). Und von dieser stufe können wir uns eine
lebendige Vorstellung bilden nach analogie der eben besprochenen aus
einem nicht verbalen worte bestehenden sätze. Diese sind wirklich,
was den sprachlichen ausdruck betrifft, subjectslos.
Das psychologische subj. ist also in dem satze es brennt ebenso
wenig ausgedrückt als in dem satze feuer. Aber man darf sich da-
durch nicht zu der ansieht verleiten lassen, dass überhaupt keins vor-
handen ist. Auch hier findet eine Verknüpfung zweier Vorstellungen
statt Auf der einen seite steht die Wahrnehmung einer concreten er-
106
scheiiiung;, auf der andern die schon in der seele ruhende vorstelhing
von brcinien oder teuer, unter welche sieh die I>etretitende wahrneh-
niuni;' unterordnen lässt. Nur als unvollständiger ausdruck für die
Verbindung dieser beiden demente kann das wort feuer ein satz sein.
]\ran könnte sich denken, dass beim verb. in entsprechender Verwen-
dung statt des Impersonale der inf. üblich geworden wäre. Und wirk-
lieh wird dieser gebraucht, wo es sich um eine aufforderung handelt.
Als commandowort steht z. b. aufsitzen auf gleicher linie mit marsch^
und es kann psychologisch als imperativ zu dem unpersönlichen es
wird aufgesessen betrachtet werden.
Miklolisch und Marty verkennen die existenz eines psychologischen
subjects für die unpersönlichen sätze. Sie halten dieselben wirklich
für eingliedrig mit berufung auf Brentanos psychologie und sehen in
ihnen einen beweis für die theorie, dass das logische urteil nicht not-
wendig zweigliedrig zu sein braucht. Mitbestimmend für diese ansieht
scheint bei Marty die beobachtung gewesen zu sein, dass zum aus-
sprechen einer Wahrnehmung in einem concreten, auch sprachlich zwei-
gliedrigen satze noch etwas anderes erforderlich ist als die zusammen-
fügung der beiden glieder. Sagen wir z. b. diese birne ist hart^ so
müssen wir erst den gegenständ, von dem wir etwas aussagen wollen,
unter die allgemeine kategorie birne, die eigenschaft, die wir an ihm
bemerkt haben, unter die allgemeine kategorie hart gebracht haben.
Wir müssen also, um unser urteil auszusprechen noch zwei hülfsurteile
gebildet haben. Vergleichen wir damit den Vorgang beim aussprechen
eines unpersöuliclien oder dem sprachlichen ausdrucke nach einglie-
drigen Satzes wie es brennt oder feuer, so entspricht hier das urteil
nur dem, was in dem satze diese birne ist hart nebenurteil war. Man
könnte also von diesem gesichtspuukte aus meinen, dass der unper-
sönliche satz Avirklieh nicht mehr enthält als das prädicat eines nor-
malen Satzes, und da der letztere als zweigliedrig bezeichnet wird,
scheint es dann nur consequent, den ersteren als eingliedrig zu be-
zeichnen. Dabei übersieht man aber, dass dasjenige, was in dem
einen falle nur hülfsurteil war, in dem andern Selbstzweck geworden
ist. Man könnte mit den; gleichen rechte den unterschied vernach-
lässigen, der zwischen dem satzgliede der sterbliche mensch und dem
satze der mensch ist sterblich besteht. Unter allen umständen aber ist
ein satz wie feiier, es Ijrennt zweigliedrig; denn auch die entsprechen-
den hülfsurteile sind zweigliedrig. Von eingliedrigen urteilen kann
ich mir überhau])t gar keine Vorstellung machen, und die logiker soll-
ten die spräche nicht zum beweise für die existenz derselben heran-
ziehen; sonst zeigen sie, dass auch ihr denken noch sehr von dem
sprachlichen ausdruck abhängig ist, von dem sich zu emanzipieren
doch ihre aufgäbe sein sollte.
107
Nach unseren hisheriicen erörterung-en ist es kUir, dass iuii)cisöii-
liche und dem sprachlielien ausdruck nacli cinjulicdrigc sätzc immer
eoneret. nie abstraet sind. Denn ilire aut"i;al)c Itesteiit immer darin eine
conerete anschaunnu; mit einem allii-enieineu beaTitte zu vermitteln.
Wenn wir den satz als ausdruck für die Verbindung- zweier v«n*-
stelhingen definiert haben, so scheinen dem die negativen sätzc zu
widersprechen, die vielmehr eine trennung bezeichnen. Indessen kommt
eine solche trennung nicht zum ausdruck, wenn nicht die betrettenden
Vorstellungen im bewusstsein des sprechenden aneinander geraten sind.
Wir können den negativen behauptungssatz als ausdruck dafür l)e-
zeichnen, dass der versuch eine beziehung zwischen z^vei Vorstellungen
herzustellen missglückt ist. Der negative satz ist jedenfalls jünger
als der positive. So viel mir bekannt ist, findet die negation überall
einen besonderen sprachlichen ausdruck. Es Hesse sich aber sehr wol
denken, dass auf einer primitiven stufe der sprachentwickelung nega-
tive Sätze gebildet wären, in denen der negative sinn au nichts anderem
zu erkennen gewesen wäre als au dem tonfall und den begleitenden
gebährden.
Was in bezug auf den unterschied zwischen positiven und nega-
tiven Sätzen nur als möglich hingestellt werden kann, das gilt jeden-
falls von. dem unterschiede zwischen aussage- und aufforderungs-
sätzen. Ich wähle die bezeichmmg aufforderungssätze als die in-
differenteste. In der aufforderung ist natürlich bitte, gebot und ver-
bot, rat und warnung, aufmunterung, auch concession und ablehnung
oder verbitten enthalten. Es bedarf keiner beispiele dafür, dass für
alles dies der gleiche sprachliche ausdruck angewendet werden kann,
und dass die verschiedenen uuaucen dann nur an dem verschiedenen
gefühlstone erkannt werden. Wir müssen daran aber auch noch die
Wunschsätze anknüpfen. j\Ian kann einen wuinsch aussprechen in der
crwartung dass das aussprechen einen einfluss auf seine realisierung
hat, dann ist er eben eine aufforderung; man kann ihn aber auch
ohne eine solche erwartung aussprechen. Das ist ein unterschied, der
von dem naiven bewusstsein des kindes und des naturmenscheu noch
nicht oder wenigstens nicht immer beachtet wird. Der dichtersprache
und selbst der naturwüchsigen Umgangssprache ist es noch heute ge-
läufig blosse wünsche zu aufforderungen zu steigern und durch den
imperativ auszudrücken. Noch mehr berühren sich wünsch und auf-
forderung in conjunctivischen oder optativischen ausdrucksformen.
Wir sind jetzt gewohnt den aussagesatz als den eigentlich nor-
malen satz zu fassen. Der aufforderungssatz ist aber ebenso urspräng-
108
lieh, wo nicht gar älter. Die frühesten sätze, die von kindern ge-
sprüclieu werden (die allerfrüliesten l)estelien natürlich aus einem ein-
zigen Worte), haben eine beziehuiig zu ihren begierden, sind entweder
forderungen oder aussagen, die gemacht werden, um ein bedürfniss
anzudeuten, das befriedigung verlangt. Es darf angenommen werden,
dass es sich auf der frühesten stufe der spracheutwickelung eben so
verhalten hat. Es bedurfte daher ursprünglich auch zur Charakterisie-
rung des aufforderungssatzes keines besonderen sprachlichen mittels,
die einfache nebeueinanderstellung von subject und prädicat genügte
hier eben so gut wie für den aussagesatz, nur der empfindungstou
Hess den unterschied erkennen. Noch heute bedienen wir uns ja sol-
cher aufforderuugssätze in masse, in denen die aufforderung nicht als
solche charakterisiert ist. Es sind dies die sätze ohne verb., vgl.
äugen rechts, getvehr auf, Jiut ab, hierher, alle mann an hord, scherz
bei Seite, aller anfang mit gott , äuge um äuge, die alten zum rat, die
jungen zur tat, preis dir, friede seiner asche, dem Verdienste seine krönen,
Untergang der lügenbrut, jedem das seine, fort mit ihm, her damit etc.;
ferner dem sprachlichen ausdrucke nach eingliedrige sätze wie still,
hurtig, laut, sachte, wein, freiheit und gleichheit, schritt, marsch, platz,
vorsieht, her, n-eg, hinaus, vorwärts, auf, zu, an die arbeit, zum henker etc.
In dieser primitiven form erscheinen gerade aufforderungsätze , wäh-
rend sie für aussagesätze in der regel nicht anwendbar ist. Aus diesem
negativen umstände entspringt nun allerdings die folge, dass diese
negativen sätze für uns sofort als aufforderungen zu erkennen sind.
Doch gibt es immer noch fälle, die zweideutig sind, \g\. feuer als
alarmruf und feuer als commando.
Auch statt einer bestimmten charakteristischen form des verbums
kann eine au sich unbestimmte zur aufforderung verwendet werden.
So das part. perf., vgl. rosen auf den weg gestreut, alles harms vergessen
(Hölty); in die weit, in die freiheit gezogen (Schi.). Häufiger der inf.,
vgl. absitzen, schritt fahren u. dergl.; im it. ist der inf. üblich nach
negationen: non ti cruciare; desgleichen im rum., prov. und afranz. (vgl.
Diez III, 212). Jolly, Geschichte des inf. s. 158. 209 will diese infini-
tive aus der ursprünglichen dativischen function des Infinitivs erklären.
Eine solche erklärung muss allerdings für den imperativischen inf. im
griech. als zulässig anerkannt werden. Aber der gebrauch im deut-
schen und romanischen ist jungen Ursprungs und darf nicht an indo-
germanische Verhältnisse angeknüpft werden, für die das bewusstsein
dem Sprachgefühle längst abhanden gekommen war. Für die epoche,
in welcher dieser gebrauch sich gebildet hat, ist der inf nichts anderes
als die bezeichnung des verbalbegritfes an sich, und diese infiuitiv-
sätze sind daher mit Sätzen wie marsch auf eine linie zu stellen. Be-
109
merkenswert ist, dass auoli die 2. »^. des indogermanischeu imperativs
den reinen tempns.stanini zeigt (grieeli. Xtyt).
Den beliaiiptuugs- und auffordeiungsätzen stellt man als eine
dritte klasse die fragesätze') zur scite. Es lässt sieh aber für eine
solche dreiteilung der sätze kein einheitliches princip finden, und diese
drei klassen können nicht einander coordiniert werden. Vielmehr
müssen wir eine zwiefache art von Zweiteilung annehmen. Nicht bloss
die behauptungs-, sondern auch die aufforderuugssätze haben ihr pen-
dant in fragesätzen, vgl. lat. f/uid faciam gegen quid facio. Man ge-
braucht dafür den ausdruck deliberative fragen. Wir könnten sie
geradezu als frageaufforderungssätze bezeichnen.
Von den beiden hauptarten der frage ist diejenige, in welcher
nur ein Satzglied in frage gestellt wird, jedenfalls jüngeren Ursprungs
als diejenige, in welcher der ganze satz in frage gestellt wird.'-) Denn
zu der ersteren bedarf es eines besonderen fragepronomens, respective
adverbiums, welches die letztere nicht nötig hat. Das interrogativum
ist in den indogermanischen sprachen zugleich indefinitivum. Es gibt
meines Wissens kein kriterium, woran sich erkennen liesse, welche von
diesen beiden funetionen die ursprüngliche ist. Sich die letztere aus
der ersteren entstanden zu denken macht keine Schwierigkeit. Aber
auch das umgekehrte wäre denkbar, und dann hätten wir einen weg
aus der älteren art des fragesatzes in die jüngere. Auf die frage ist
jemand da? kann man antworten {ja,) der vater oder {nein,) niemand.
Denken wir uns nun die besondere fragestellung hinweg, an die wir
jetzt gebunden sind, also jemand ist da?^ so liegt die berührung mit
wer ist da? auf der band. Noch näher stehen fragen mit interroga-
tivum solchen mit indetinitum da, wo eine negative antwort als selbst-
verständlich erwartet wird, vgl. wer wird das tun? — wird das jemand
tun?, was kann ich antworten? — kann ich etwas antworten?, wo ist
ein solcher mensch zu finden? — ist irgendwo ein solcher mensch zu
finden ?
Die frage, auf welche man als antwort einfach ja oder nein er-
wartet, wird in manchen sprachen durch eine besondere partikel, in
den germanischeu und romanischen sprachen durch die Wortstellung
') Vgl. zum folgenden Imme, Die fragesätze nach psychologischen gesichts-
punkten eingeteilt und erläutert, programme des gyuin. zu Cleve 1879. Sl.
-) Es ist bisher noch nicht gelungen eine ganz passende terminologie für
diese beiden arten zu finden. Delbrück, SFI, 75 nennt die erste verdeutlichungs-
fragen, die zweite bestUtigungsfragen. Imme a. a. o. I, 15 eignet sich den zweiten
terminus an, während er den ersten durch bestimmungsfragen ersetzt. Mir scheint
aber gerade der ausdruck bestätigungsfragen nicht recht geeignet, weil er eigentlich
die erwartuug einer bejahenden antwort einschliesst.
110
charakterisieii;. Die fragende Wortstellung; ist aber nicht von anfang
an auf den fragesatz beschränkt gewesen. Wir finden sie z. b. im
ahd., alts. und ags. häufig im behauptungssatz , vgl. verit denne slua-
tago in laut, holoda man truhiin etc. Die frage war demnach au der
Stellung allein nicht zu erkennen, und erst der fragende ton war das
entscheidende merkmal, wodurch sie sich von der behauptung schied.
Wir haben noch jetzt fragen, bei denen dieser ton das einzige charae-
teristicum ist, nämlich diejenigen, welche kein verbum enthalten, vgl.
niemand da? fertig? ein glas hier? (als frage des keilners); franz. votre
desir?, engl, your rvill? Wir können uns daher leicht eine Vorstellung
davon macheu, dass es schon lange fragesätze gegeben haben kann,
ehe irgend ein anderes charakterisierendes mittel dafür gefunden war
als der fragende ton. Die frage ist daher schon auf ganz primitiver
stufe möglieh, wenn auch natürlich jünger als behauptung und auf-
forderung.
Die reine frage liegt gewissermassen in der mitte zwischen posi-
tiver und negativer behauptung. Sie verhält sich neutral. Es kann
an und für sich keinen unterschied machen, ob man sie in eine povsi-
tive oder negative form kleidet, nur dass eben deswegen die positive
form als das einfachere vorgezogen wird und die negative die function
erhält eine modificatiou der reinen frage auszudrücken.
Es gibt nämlich verschiedene derartige modificationen, wodurch
die frage mehr oder weniger dem Charakter des behauptungssatzes
angenähert werden kann. So wird sie zur zweifelnden behauptung,
bei der man also schon zu einer bestimmten annähme geneigt ist und
nur noch eine letzte bestätigung durch einen anderen erwartet. In
diesem falle tritt die negative frageform ein bei erwartuug einer posi-
tiven antwort: warst du nicht auch dabei? ich glaubte dich zu sehen.
Es macht für den sinn keinen wesentlichen unterschied, wenn man
statt dessen die form des positiven behauptungssatzes mit frageton an-
wendet: du warst auch dabei? du bist {doch) zufrieden? Mau kann
also von beiden selten her zu dieser Zwischenstufe gelangen.
Aehnlich verhält es sich mit dem ausdruck der Verwunderung.
Die Verwunderung ist die subjective Unfähigkeit eine vorstellungsmasse
durch eine andere zu appercipieren trotz einer von aussen, sei es durch
eigene Wahrnehmung, sei es durch angäbe eines andern, gegebenen au-
forderung. Hierfür können wir wider entweder die frageform anwenden
öder die behaui)tungsform mit frageton: ist Franz tot? — Franz ist tot?, bist
du schon wider da? — du bist schon ?rider da? Neutral in dieser hinsieht
sind die sätze ohne verbum: du mein bruder? mir das? schon da? so
früh? ebenso die infinitivischen: so ein schelm zu sein? Es kommen
auch ausdrücke der Verwunderung vor, bei denen das psychologische
111
siibjeet lind ])rädieat duroh nnd verbunden sind: so Jumj und schon so
verderht'^ a maid and he so martlal? (Shaksp.). Abg-escliwächt wird
der aiisdriick der Verwunderung- zu einer blossen einleitungsforinel für
ein gespräeh, vgl. (tusyeschlafen? so verynngl't noch immer bei der arheil?
u. dergl.
Ein speeieller fall ist die verwunderte oder entrlistete abweisung
einer behauptuug. Hierfür ist die primitive ausdrucksfonn oline verl).
finitum besonders beliebt: ich ein liujner? er und bezahlen? lat. ego
lanista? (Cic), franz. moi vous abandonner? it. io dir bugie? engl, she
ask my pardon? how? not kno/r the friend that served you? Auch die
entrüstete abweisung einer Zumutung kommt vor, vgl. ich dich ehren?
(Goe.). Ein solcher satz müsste wol den frageaufforderungen zu-
gerechnet werden.
Die veranlassung zur frage ist natürlich ursprünglich ein bedürf-
niss des fragenden. Es gibt aber auch fragen (jedenfalls jüngeren
Ursprungs), bei denen der fragsteller über die antwort, welche darauf
gehört, nicht in zweifei ist und nur den angeredeten veranlassen will
diese antwort selbständig zu finden. Hierher gehören die pädago-
gischen fragen. Tritt eine andeutung darüber hinzu, welche beant-
wortung der fragende erwartet, so haben wir die art, welche man ge-
wöhnlich mit dem unbestimmten namen rhetorische fragen bezeichent.
Man nötigt dadurch den angeredeten eine Wahrheit aus eigener Über-
legung heraus anzuerkennen, wodurch sie ihm energischer zu gemüte
geführt wird, als wenn sie ihm bloss von aussen mitgeteilt würde.
Das verhältniss von subject und prädieat in dem oben be-
zeiehenten weiten sinne ist das verhältniss, aus dem die ül)ngen syn-
taktischen Verhältnisse entspringen mit einer einzigen ausnähme, näm-
lich der eopulativen Verbindung mehrerer elemente zu einem satz-
gliede. Diese Verbindung kann in den entwickelten sprachen durch
eine partikel bezeichnet werden, es genügt aber vielfach noch die
blosse aneinanderreihung, weshalb es uns nicht wunder nehmen kann,
dass man im anfang jeden besondern sprachlichen ansdruck für die
copulation entbehren konnte.
Jede andere art der satzerweiterung geschieht dadurch, dass das
verhältniss von subject und prädieat mehrmals auftritt. Wir unter-
scheiden zwei hauptfälle. Entweder es verbinden sich gleichzeitig zwei
glieder mit einem dritten, d. h. es treten zwei subjecte zu einem prä-
dicate oder zwei prädicate zu einem subjecte, was sich etwa durch
die formel (a + (b) + c) ausdrücken liesse. Oder es tritt eine Ver-
bindung von subject und prädieat als subject oder prädieat in ver-
112
hiiltniss zu einem weiteren gliede, was sich durch die foimel (a -f b)
+ c ausdrücken Hesse. Auch dieses weitere glied kann natürlich
wider zusamiueugesetzit sein.
Ist in dem ersteren falle das logische verhältniss der beiden sub-
jecte zu dem gemeinsamen prädicate oder das der beiden prädicate
zu dem gemeinsamen subjecte völlig gleich, so lässt sich ein solcher
dreigliedriger satz ohne wesentliche Veränderung des sinnes mit einem
zweigliedrigen vertauschen, dessen eines glied eine copulative Ver-
bindung ist. Daraus ergeben sich berührungspuukte und Vermischungen
zwischen diesen beiden Satzarten. Am reinsten erscheint die doppel-
heit eines Satzgliedes von der copulativen Verbindung zu einem gliede
gesondert, wenn das satzgliederpaar ein ihm gemeinsam zugehöriges
glied in die mitte nimmt ohne anwendung einer copulativen paiükel,
also bei der sogenannten construction ajio xoivov, wie sie im mhd.
ziemlich häufig ist, vgl. do spnotc von dem gesidele her Hagene also
sprach. Sagen wir dagegen da spranc vom sitze Hagen und sprach so
so haben wir schon eine Übergangsstufe von doppeltem prädicate zu
einem zusammengesetzten. Dass aber noch keine wirkliche Zusammen-
fassung der beiden prädicate stattfindet, beweist der bei doppeltem
subj. ausnahmslose sing, des prädicats {der mann ist tot und die fraii).
In der älteren spräche macht sich die Zusammenfassung geltend, wenn
hinterher noch ein weiteres prädicat angefüg-t wird; vgl. Petrus aber
anln-ortete und die apostel und sprachen (Lu.), wo wir jetzt auch ein
neues subj. setzen müssen. Viel schwankender ist das Sprachgefühl,
wenn keine trennung durch einen einschub stattfindet. Dann ist es
ebensowol möglich mehrere glieder anzunehmen, die eins nach dem
anderen mit den übrigen elementeu des satzes verknüpft werden, wie
ein zusammengesetztes, welches auf einmal angeknüpft wird. Die
erstere auffassung liegt weniger nahe, wenn das satzgliederpaar an
die spitze, als wenn es an das ende gestellt wird. Das schwanken
des Sprachgefühls bekundet sich darin, dass bei einer mehrheit von
subjecten, von denen wenigstens das zuuächststehende ein sing, ist
das i)räd. sowol im plur. als im sing, stehen kann. Bei nachstellung
des prädicats müssen wir allerdings jetzt den plur. setzen, aber im
lat. ist auch der sing, üblich, vgl. Speusippus et Äenocrates et Polemo
et Crantor nihil ab Aristolele dissentit (Cic); cojisules, praetores^ tribuni
plebis, senatus, Ilalia cuncta semper a vobis deprecala est (Cic); filia
atque unus e fUiis captus est (Caes.); selbst et ego et Cicero mens
flagitabit (Atticus). Ebenso it. : le ricchezze, g/i honori e la virlu e stimata
grande; franz.: le /'er, le bandeau, la flamme est loute prele (Racine);
so auch im älteren nhd.: wölken und dunkel ist um Hin her (Lu.); dass
ihre steine und kalk zu/jerichtet würde (ib.).
113
Das logiselie verliültniss zweier subjecte zu dem uäiuliclien prä-
dicate kanu aber auch ein verschiedeuartiges seiu. Daim haheu wir
die grimdlage zu der im laufe der spracheutwiekeluug möglich werdeu-
den differeuzieruug der doppelsubjet'te zu subjeet uud objeet. Wir
können uns diesen process am besten verdeutlichen an einem satze
wie ich rieche den braten. Ohne persönliches subjeet können wir auch
noch sagen der braten riecht. Wir können uns danach leicht in eine
zeit zurückversetzen, in welcher bei völligem mangel jeglichen casus-
suffixes und jeglicher fixierung der Wortstellung in einem satze wie
ich riechen braten oder braten riechen ich die Wörter ich und braten unter
die selbe allgemeine kategorie des psychologischen subjects fielen.
Die Verwandtschaft zwischen subjeet uud objeet erhellt ja auch daraus,
dass das letztere durch Umsetzung des verbums in das passivum zum
ersteren gemacht werden kann.
Das objeet, wenn wir dies woii; im weitesten sinne nehmen, kann
wider sehr verschiedene logische Verhältnisse in sieh schliessen. Nun
können wider mehrere objecte zu dem gleichen prädicat gestellt wer-
den sowol in gleichem wie in verschiedenem logischen verhältniss.
Somit ist die veranlassung zu einer den logischen Verhältnissen ent-
sprechenden grammatischen differenzierung des objects gegeben (accu-
sativisches, dativisches, genitivisches obj. etc.).
Das obj. kann neben dem subj. als ein diesem gleichwertiges
drittes Satzglied aufgefasst werden, es kann aber auch zu dem prä-
dicat in ein näheres verhältniss treten als das subj., so dass aus dem
dreigliedrigen satz ein zweigliedriger wird, indem das obj. mit dem
präd. zusammen ein giied bildet, und zwar so, dass ersteres dem
letzteren untergeordnet wird, ihm als bestimmung dient. Eine scharfe
grenzlinie zwischen diesen beiden Verhältnissen gibt es nicht.
Wie das prädicat eine ihm untergeordnete bestimmung erhalten
kann, so auch das subj. und das daraus entwickelte obj. Als solche
bestimmnngen dienen uns jetzt vornehmlich substantivische und adjec-
tivische attribute und geuitive von Substantiven, aber auch durch prä-
positionen angeknüpfte substantiva und adverbia. Mit hülfe dieser
verschiedeneu bezeichnungsweisen ist es möglich die Verschiedenheit
des logischen Verhältnisses zwischen dem bestimmenden und dem be-
stimmten bis zu einem gewissen grade auch sprachlich auszudrücken.
Eine spräche, die noch keine flexion und keine Verbindungswörter
ausgebildet hat, ist dazu nicht im stände. Sie hat wider kein anderes
mittel als die blosse nebeneinanderstellung des bestimmten und des
bestimmenden Wortes. Dass die dem subj. beigegebene bestimmung
nicht prädicat ist, kann sich dann, falls nicht etwa schon eine feste
Wortstellung ausgebildet ist, nur daraus ergeben, dass noch ein drittes
Paul, Principien. II. Auflage. 8
114
wort \orhaiiden ist, welches durch eine stärkere betonuDg- und etwa
durch eine kleine pause von den l)eiden Wörtern, die zusammen das
subject bilden, abg-ehol)en wird. Das verhältniss des bestimmenden
elementes zu dem bestimmten ist dem des prädicats zum subject in
der weite, wie wir es oben gefasst haben, analog. Und wirklich
ist die bestimmung nichts anderes als ein degradiertes prä-
dicat, welches nicht um seiner selbst willen ausgesprochen wird, son-
dern nur. damit dem subj. (obj.) nun ein weiteres präd. beigelegt
w^erden kann. Wie die bestimmung des prädicats ihren Ursprung in
Sätzen mit doppelsubjeet hat. so die bestimmung des subjects und da-
nach die adnominale bestimmung überhaupt in Sätzen mit doppel-
prädicat.
Die herabdrückung des prädicats zu einer blossen be-
stimmung können wir uns am besten an denjenigen fällen klar
machen, in denen ein verbum finitum davon betroffen ist. Wir haben
es dabei mit einem processe zu tun, der sich spontan in verschiedenen
sprachen und epochen vollzogen hat und zum teil noch geschichtlich
verfolgbar ist. Den ausgang bildet die oben s. 112 besprochene con-
struction dxo xoivov. Dabei kann es geschehen, dass das eine der
beiden prädicate sich logisch dem andern unterordnet, so dass es
durch einen relativsatz ersetzbar wird.i) So zuweilen im ahd. und
mhd., vgl. mit zühten si ze hüse bat ein froutve saz darinne (= eine
dame, die darin ihren Wohnsitze hatte), jrer tvas ein man lac vorme GräH
(= der vor dem Grale lag), die tvorhte ein smit hiez Volcän (mit namen
Vulcan); nist man, fhoh er uuolle, thaz gumisgi al irzelle (es gibt keinen
menschen, der, wenn er auch wollte, die menschenmenge ganz zählen
könnte). Es kann auch ein vom hauptverbum abhängiger casus zu-
gleich als subject des nebenverbums dienen: von einem slangen ivas ge-
bunden (Überschrift einer fabel von Boner); ich hab ein sunt ist wider
^) Ueber diese erscheimmg gibt es eine beträchtliche literatur, vgl. besonders
J. Grimm, Ueber einige talle der attraction (Kl. sehr. 3, 312 ft.); Steinthal, Assimi-
lation und Attraction (Zschr f. vülkerps. I, 93 fr. = Kl. sehr. 107 ff.), vgl. besonders
s. lT3fF. ; Tobler, Ueber auslassung und Vertretung des pronomen relativum (Germ.
XVII, 2.57 ff.); JoUy, Ueber die einfachste form der hypotaxis im idg. (Curtius Stu-
dien VI, 217); Külbing, Untersuchungen über den ausfall des relativpronomens in
in den germanischen sprachen, Strassburg 1S72; Erdmann. Syntax Otfrids II, s. 124 ff.;
Behaghel, Asyndetische parataxe (Germ. XXIV, 167 ff".); Lohmaun, Ueber die aus-
lassung des englischen relativpronomens (Anglia III, 11.5ft'.). In diesen Schriften
findet sich zum teü eine von der oben gegebenen stark abweichende auftassung.
Dagegen zu polemisieren habe ich für überflüssig gehalten, da es mir scheint, dass
die richtigkeit desjenigen Standpunktes, dem ich mich angeschlossen habe, des
Standpunktes von Jolly und Behaghel, einem jeden einleuchten muss, der nicht in
den banden des eigenen Sprachgefühles und der traditionellen grammatik befangen ist.
115
euch (H. Sachs); dar inne such er glilzen von kolen rot ein {/Int ivart
auf sein /"allen (die auf sein falleu wartete, ib.). Die eoustruetion wird
gegen den ausgang des niittelalters häufiger als früher. Eine viel
grJisserc ausdehnuug hat der entsprechende gebrauch im englischen,
schwedischen und dänischen gewonnen. Beispiele aus Shakesi)eare :
t/iere is n devil haunfs Ihee, it is thy sovereign speaks to thee, here are
some will thank you, I have a mind presages nie, it is not you I call for.
In den bisher angeführten beispielen stand das gemeinsame glied
in der mitte. Es kommen im ahd. auch fälle vor, in denen es an der
spitze steht oder zwischen das erste prädicat und seine bestimmungen
eingeschoben ist. Es kann dabei als subjeet oder object oder als
sonstige adverbiale bestimmuug dienen; es braucht auch nicht zu beiden
prädicaten das gleiche verhältniss zu haben. Hierher gehören aus
Otfrid mit Unterordnung des zweiten prädicats fälle wie thaz selba
sie imo sngetun sie Mar hifora zelitun (das selbe sagten sie ihm, was
sie vorher erzählt hatten); uuer ist thes hiar thenke (wer ist, der das
hier denken solltet; nist man nihein in imorolti thaz saman al irsageti
(es gibt keinen menschen in der weit, der das alles zusammen sagen
könnte). Das erste prädicat ist untergeordnet in folgendem falle: in
seihen uuorton er then man thö then eriston giuuan so nuard er hiar
fon thesemo firdamnot (mit denselben Worten, mit denen er den ersten
mann überwand, ward er hier von diesem verdammt). Dabei nimmt
so das in selben uuorton noch einmal auf, wie es jeden beliebigen Satz-
teil aufnehmen kann. In einem anderen falle ist der gemeinsame Satz-
teil durch ein pron. aufgenommen: allo uuihi in uuorolti thir gotes hoto
sageti, sie quement so gimeinit ubar thin houbit.
Am häufigsten ist das ajio xoivov im ahd. im allgemeinen,
namentlich negierten satze mit conjunctivischem nebenverbum. Diese
art kenneu auch die romanischen s])rachen '), vgl. ait. non vi rimasse nn
sol non lacrimassi; prov. U7ia non sai vas vos non si' aclina, anc non vi
dona tan mi plagues; afranz. or n'a baron ne li envoit son fil.
Ueberblickt man unbefangen die Überlieferung, so wird mau die
ansieht nicht aufrecht erhalten können, dass diese consti-uction überall,
wo sie vorkommt, auf tradition von der indogermanischen grundsprache
her beruht, es ist vielmehr wahrscheinlich, dass sie sich auch in spä-
te-en epochen spontan erzeug-t hat, wiewol schon andere vollkommenere
ausdrucksformen ausgebildet waren. Ausserhalb des idg. findet sie
sich z. b. im arabischen, wo man sich so ausdrückt: ich ging vo7'üher
bei einem manne schlief, vgl. Steinthal, Haupttyp, 267.
Wenn so das verb. finitum zur geltung einer attributiven bestim-
>) Vgl. DiezIII, 3S1.
8*
116
imiu^- herabgedvückt werden konnte, wie viel mehr ein prädieat. wel-
ches noi'li keinerlei keuuzeielien verbalen Charakters an sich hatte.
Der Ursprung des attributiven Verhältnisses liegt somit klar zu tage.
In bezug auf die function der bestimmun g müssen gewisse
unterschiede hervorgehoben werden, die gewiUinlich keinen sprachlichen
ausdruck tinden. die aber nichtsdestoweniger logisch sehr bedeutsam sind.
Die bestiniraung braucht den bedeutuugsumfang, welchen das als subj.
fungierende wort an sich oder nach einer anderweitig bereits gegebenen
begrenzung hat, nicht zu alterieren, indem sie diesem ganzen umfange zu-
kommt: Vgl. der sterbliche mensch, der allmächtige gott, das starre eis; sie
kann aber auch, indem sie nur einem teile von dem zukommt, was in
der usuellen oder bereits durch andere mittel specialisierten bedeutung
des betreffenden Wortes enthalten ist, dieselbe individuell verengern : vgl.
alte häuser, ein altes haus, ein (der) söhn des königs, die fahrt nach Paris,
karl der grosse; ebenso das alte haus, insofern es im gegensatz zu einem
neuen gestellt wird, wogegen diese Verbindung nicht hierher gehört, wenn
schon ohne das beiwort feststeht, welches haus gemeint ist. In den fällen,
welche unter die zweite kategorie gehören, ist die bestimmung unent-
behrlich, weil ohne sie das prädieat nicht gültig ist. In der ersten kate-
gorie sind noch folgende Unterscheidungen von belang. Erstens: die
bestimmung kann als eine dem begriffe, welchem sie beigefügt wird,
zukommende schon bekannt sein, wie dies bei der widerholung der
stehenden beiwörter in der epischen spräche der fall ist, oder es kann
durch die bestimmung etwas neues mitgeteilt werden. Im letzteren
falle hat die bestimmung eine grössere Selbständigkeit, nähert sich
dem werte eines wahren prädicates. Wir ziehen in diesem falle häufig
Umschreibung durch einen relativsatz vor: Karl, welcher arm war; Lud-
wig, der ein geschickler mal er mar. Zweitens: die l)estinimung braucht
gar keine beziehung zum prädieat zu haben, sie kann aber auch in
causalbeziehung zu demselben stehen, z. b. der grausame mann achtet
nichl auf das flehen des unglücklichen.
Wir haben die bestimmung als ein abgeschwächtes präd. auf-
gefasst. Es gibt nun eine Zwischenstufe, auf welcher die bestimmung
noch eine grössere Selbständigkeit hat, noch nicht so eng mit dem
subj. verbunden ist, weshalb es angemessener ist sie als ein beson-
deres Satzglied anzuerkennen. Hierher gehört, was man gewöhnlieh
prädieat ives attribut nennt, z. b. er kam gesund an. Aber auch
präpositionelle bestimmungen können in dem nämlichen logischen Ver-
hältnisse stehen, z. b. er hat mich auf den knieen, wofür man ein kniend
einsetzen könnte. Loser ist das verhältniss des prädicativen attribu-
tes zum subj. deshalb, weil es nicht eine demselben notwendig und
dauernd anhaftende eigenschaft,' sondern einen zufälligen und vorüber-
117
gehendeu zustand bezeicliuct. IIa kanu daher als ein selbständiges
glied neben subj. und i)iiid. betrachtet werden. Die Selbständigkeit
bekundet sich in den meisten s])raehen durch die freiere Wortstellung
gegenüber der gebundenen des reinen attributs. Im ulid. hat die
nähere Verwandtschaft mit dem prädicate noch darin ihren ausdruck
gefunden, dass wie für dieses die unflectierte form des adj. ge*
braucht wird.
Nachdem einmal die adverbialen und adnomiualen bestimmungeu
sich als besondere kategorieen aus ursprünglichen subjecten oder prä-
dicaten herausgebildet haben, ist eine weitere complicierung des satzes
möglich, indem eine schon aus einem bestimmten und einem bestim-
menden demente bestehende Verbindung wüder durch ein neues de-
ment bestimmt werden oder ihrerseits als bestimmung dienen kann,
und indem ferner mehrere bestimmende demente zu einem l)estimmten
oder mehrere bestimmte zu einem bestimmenden treten können, gerade
so wie mehrere subjecte zu einem prädicate oder mehrere prädicate
zu einem subjecte. Beispiele: 1) alle guten geister, Müllers älteste toch-
ter, er gerät leicht in zorn (zu construieren gerät in zorn + leicht); —
2) sehr gute kinder, alles opfernde liehe, er spricht sehr gut\ — 3) trübes,
regnerisches {trübes und regnerisches) weiter, er tanit leicht und zier-
lich; — 4) Karls hut und stock, er schlägt weih und kind.
Die zuerst aufgeführte verbindungsweise pflegt mau als das ver-
hältniss der ein Schliessung zu bezeichnen. 8ie ist nicht immer von
der dritten scharf zu sondern. Sage ich z. b. grosse runde hüte, so
macht es keinen wesentlichen unterschied, ol) wir diese Verbindung
als 1 oder 3 construieren. Im nhd. bietet da, wo zwei adjectiva zu-
sammentreffen, der gebrauch der starken oder schwachen form ein
mittel das verhältniss der beiordnung und das der einschliessung von
einander zu scheiden, ein mittel, welches freilich da im stiche lässt,
wo beide formen lautlich zusammengefallen sind. Aber die Schwierig-
keit einer correcten aufrechterhaltung der Unterscheidung zeigt sich in
vielen Verstössen der schriftsteiler gegen die regel der grammatik, vgl.
die beispiele bei Andr. Sprachg. s. 38 ff.
Construction 3 und 4 lassen im gründe eine doppelte auffassung
zu. Sie können entweder, wie oben zunächst angegeben ist, als «.to
xoivov gefasst werden oder als zusammenfügung eines dementes mit
zwei zu einer einheit copulativ verbundenen dementen. Daher zeigt
sich bei 4 in den sprachen, welche grammatische congruenz entwickelt
haben das nämliche schwanken in der form des attributs, wie wir es
oben s. 112 in der form des prädicats gefunden haben. Vgl. einerseits
franz. le honheur et le courage constants, la langue et la litterature fran-
caises; lat. Gai et Apini Claudiorum; anderseits franz. la fille et la
118
m'ere offensee (Raciue); lat. Tibcrius el Cujus Gracchus, cl /ribunis et plebe
incilata in palres (Livius). Aber nicht alle fälle von der selben gram-
matischen form sind in dieser weise zweideutig. In den angeführten
iallcn bezeichent jedes von den beiden Substantiven eine selbständige
Substanz. Es kann aber auch sein, dass durch die Verknüpfung nur
zwei verschiedene selten des selben gegenständes bezeichnet werden,
z. b. mein oheim toid Pflegevater. Hier dürfen wir, wo die Verbindung
selbständig als subj. oder obj. erscheint, nur construieren mein + oheim
und Pflegevater. Wo jedes wort einen besonderen gegenständ bezeichent,
zieht man es jetzt im deutschen, wenigstens bei singularen vor auch
jedem sein besonderes attril)ut zu geben. Mein oheim und mein Pflege-
vater bedeutet somit etwas anderes als mein oheim und Pflegevater. Nur
dann können wir die erstere Verbindung auf eine person beziehen,
wenn sie ausdrücklich in beziehung auf eine solche gesetzt ist als
prädicat oder als attribut oder endlich als anrede. Es erscheint je-
doch auch umgekehrt, wiewol von den grammatikern verpönt, häufig
die einfache Setzung des atti'ibuts neben mehreren Substantiven, die
jedes einen besonderen gegenständ bezeichnen, vgl. die massenhaften
beispiele bei Andr. Sprachg. s. 125 ff. So hat Lessing geschrieben über
die grenzen der maierei und poesie.
Die bisher besprochenen erweiterungen des satzes waren aus der
formel (a+(b)+c) hervorgegangen (vgl. s. 111) in Verbindung mit der
copulativen Verknüpfung. Wir wenden uns zu den erweiterungen nach
der formel (a -f- b) + c. Diese finden wir z. b. vertreten durch die Ver-
bindung eines verbums mit dem acc. c. inf. oder mit zwei accusativen,
von denen der eine prädicativ ist: memini — me audire, reddo — te bea-
tum. Um den Ursprung dieser construetionen zu verstehen wird man
aber doch wol einen anderen ausgangspunkt nehmen müssen. Wir
tun besser uns zunächst an diejenigen fälle zu halten, in denen das
zusammengesetzte Satzglied (a + b) noch deutlich die form des selb-
ständigen Satzes zeigt, also ein verb. finitum enthält. Wir überschrei-
ten hiermit wider die grenzen des sogenannten einfachen satzes und
greifen in das gebiet des zusammengesetzten über. Es zeigt sich eben
bei wirklich historischer und psychologischer betrachtung, dass diese
Scheidung gar nicht aufrecht erhalten werden kann. Sie beruht auf
der Voraussetzung, dass das Vorhandensein eines verb. fin. das eigent-
liche characteristicum des satzes sei, einer ansieht, die auf viele spra-
chen und epochen gar nicht anwendbar ist, für keine ganz zutrifft.
Wo die deutliche ausprägung eines verb. fin. fehlt, fällt auch die Schei-
dung zwischen einfachem und zusammengesetztem satze in dem ge-
wöhnli(;hen sinne fort. Der sogenannte zusammengesetzte und der so-
genannte ei'weiterte satz sind daher ihrem grundwesen nach voll-
119
koranieu das iiiüulielic. Es ist dcslialb auch eine irrige ansieht, dass
die herabdrüekung eines satzes zum satzgliede, die sog-euannte hypo-
taxe sieh erst auf einer späten sprachstufe entwickelt liabe. Das be-
stehen des erweiterten satzes, der auch den primitivsten sprachen nicht
fehlt, setzt ja diese herabdrüekung als vollzogen voraus. Iri-tUmlich ist
ferner die gewöhnliche ansieht, dass die hypotaxe durchgängig aus der
parataxe entstanden sei. Man könnte mit dem selben rechte behaup-
ten, dass die gliederung eines satzes in subj. und präd. aus der copu-
lativen Verbindung zweier Wörter entstanden sei. Diese ansieht hat
sicli deshalb bilden können, weil die älteste art der hypotaxe aller-
dings einer besonderen grammatischen bezeichnung entbehrt und bloss
eine logisch-psychologische ist. Eine solche logische Unterordnung aber
als beiordnuug zu bezeichnen ist durchaus incorreet.
Sehr häufig werden noch jetzt im deutschen und ebenso in andern
sprachen, die schon einen reich entwickelten satzbau haben, Verbin-
dungen, welche sich in der form nicht vom hauptsatze unterscheiden,
als objeete gebraucht. Hierher gehört die oratio directa. Hierher ge-
hören ferner Sätze wie ich hehaupte, er ist ein lügner\ ich glaube, du
rasest \ ich sehe, du zitterst; bedenke, es ist geßhiiich. Auch aufforde-
rungen und fragen werden in das nämliche abhängigkeitsverhältniss
gestellt: ich bitte dich (bitte), gib es mir] vgl. lat. quaeso, cogita ac de-
libera; sage, hast du ihn gesehen; sprich, was bekümmert dich; vgl. lat.
videte, quantae res his testimoniis sunt confectae (Cic); quaero de te, qui
possunt esse bcati (Cic); responde, quis me vendit (Plaut.). Seltener
ausser neben dem passivum begegnen derartige subjecte: besser ist, du
lässt es bleiben; das macht, sie ist sehr mannigfaltig (Less.).
In allen diesen fällen haben allerdings die subjects- oder objects-
sätze zugleich eine gewisse Selbständigkeit, und ohne dass ihnen
eine selbständige geltuug beigelegt w^ird, können sie abgesehen von
der oratio directa nicht gebraucht werden. Wir können z. b. nicht
sagen ich glaubte, du bist krank und eben so wenig ich glaidfte, du
narst krank. Es folgt aber aus dieser beschränkten Selbständigkeit
nicht, dass das verhältniss zum hauptverbum ursprünglich parataktisch
ist, sondern in bezug auf das hauptverbum besteht entschiedene hypo-
'axe und Selbständigkeit nur, insofern von dem Vorhandensein desselben
abgesehen wird. Die Selbständigkeit ist eine grössere, wenn der regie-
rende satz nachgestellt oder eingeschoben wird, da dann die abhängig-
keit erst nachträglich bemerkt wird; vgl. er ist ein lügner, glaube ich
oder er ist, glaube ich, ein lügner; lat. quid Uli locuti inier sei die mihi
(Plaut); sig7ii, die, quid est? (Plaut.). Im falle der einschiebung sind
unsere grammatiker sogar geneigt vielmehr den eingeschobeneu satz
für den untergeordneten zu halten, und sie könnten sich darauf be-
120
rufen, dass ein i/hiuhe ich unii-efsihr so viel ist wie ein wie ich glaube
oder meiner meinung nach oder meines bcdünkens. Im älteren nhd. ist
es ganz üblieli einen satz zunächst selbständig" hinzustellen und ihn
dann doch zugleich zum subj. oder obj. eines nachfolgenden satzes zu
machen. Vgl. folgende beispiele aus Hans Sachs: ein evolk drcissig
jor friUich lebet, verdross den lex fei <jar\ der frauen warl sein hab
vnd gut, geschah nach Christi geburt ztvare vierhundert vnd auch fünfzig
jare\ des ivirt ein böse letz der Ion, deul der schwänz von dem scorpion;
das betrübt n-eib sich selbst erstach vnd nam ein kleglich end, beschreibt
ßoccatius\ darum jm jederman /rol sprach, tut Plufarchus be/reisen. Hier
die ellipse eines das anzunehmen, wäre durchaus ungerechtfertigt.
Aus der Vereinigung von Selbständigkeit und abhängigkeit er-
klärt sich auch der personengebrauch in derartigen Sätzen, z. b. er
denkt, er hat was rechtes getan statt ich habe, also nach dem Stand-
punkte des sprechenden, nicht nach dem Standpunkte dessen, dem
man den gedanken zuschreibt; ebenso glaube mir, du bist im irrtume',
er meint, er kann dich betrügen.
Es kommt auch vor, dass man trotz der logischen abhängigkeit
die ausgeprägte form der parataxe wählt. So allgemein in der Ver-
bindung sei so gut und tue das. Vgl. bei H. Sachs ir seidt gewonet
alle z/ven vnd tragt mit euch was nit wil gehn. Andere beispiele bei
Andr. Spraehg. s. 140.
Die indirecte rede im deutschen muss jetzt als etwas gramma-
tisch abhängiges betrachtet werden, und das kennzeichen der abhängig-
keit dabei ist der conjunctiv. Sehen wir aber auf den Ursprung der
construction, so ist es klar, dass hier gleichfalls ein zwitterding zwischen
logischer abhängigkeit und logischer Selbständigkeit zu gründe liegt.
Eine construction wie er meint, er könne dich bel7nigen verhielt sich
ursprünglich nicht anders als das oben angeführte er tneint, er kann
dich betrügen, nur dass die behauptung mit geringerer Sicherheit hin-
gestellt und deshalb der conj. (opt.) in potentialem sinne gesetzt ist.
Dass sonst der gebrauch des potentialis in hauptsätzen untergegangen
ist, hat die auffassung des Verhältnisses als wirklicher grammatischer
abhängigkeit gefördert.
Eine Verbindung nach der forrael (a 4- b) -f c kann nun eben
so wie die einfachere a + b von der geltung eines satzes zu der
eines Satzgliedes hera])gedrückt werden. Auf diese weise kann ein
satz zur bestinimung eines nomens, zur apposition werden. Vgl. er
sprach die n-orte: das tue ich niemals\ eins ireiss ich: es geschieht
nicht /rieder; folgendes ist mir begegnet: ich traf einen mann; ein son-
derbarer Zufall hat sich gestern zugetragen: es begegneten sich zwei
freunde etc.; er hat die gewohnheif : er erwidert nie einen brief\ ich
121
habe die uherzeugnny: du irirsl dich noch bekc/iroi. Hesouilers liäiilig
ist so ein piou., dem der satz als appositioii dient, vgl. das isf sicher,
er wird es nicht wagen; es ist besser, du gehst; lat. hoc rel icuomst : si
in/itias ibit, testis mecum est anulus (Ter.); hoc cajiio commodi: ncque
(igri, neque urbis odium tue unquam percipit (Ter.). Ebenso stehen Sätze
appositionell zu einem demonstrativen adverbium: er ist so lieb, man
kann ihm nicht böse sein.
Ist es nur ein pron., was durch den satz bestimmt wird, so kann
man sieh dasselbe auch ohne wesentliche Veränderungen des sinnes
wegdenken. Dann hat man wider die oben besprochene form, in der
der satz direct zum subj. oder obj. gemacht wird. Vgl. es ist (jcrriss,
du Ideibst mit ge/riss ist, du bleibst. Beide ausdrucksformen berühren
sich also sehr nahe mit einander.
Umgekehrt kann ein uomen apposition zu einem satze werden;
vgl. du verdrehst immer die äugen, eine schlechte ge/rohnheit. Besonders
üblich ist diese construetion, wenn an das nomeu noch ein relativsatz
angeknüpft wird: er /rill aufbrechen, ein entschlms, der ihm sehr schwer
geworden ist. Hier erkennt man wider deutlich die apposition als eine
degradierung des prädicates. Eben durch diese degradierung ist der
vorausstehende satz vor der degradierung zu einem blossen subjecte
bewahrt worden.
Wir haben so die entwickelung des satzes von seiner einfachsten
form zu compliciertester gestaltuug verfolgt. Wir wenden uns jetzt zu
der parataktischen aneinanderfügung mehrerer sätze. Dieselbe
steht in parallelismus zu der copulativen aneinanderreihung coordi-
nierter Satzglieder, weshalb sich auch die ausgebildeten sprachen der
gleichen hülfsmittel zur bezeichnuug beider arten von Verknüpfung be-
dienen. Im anfang musste auch hier die blosse nebeneinanderstelluug
genügen. Wenn wir nun gesehen haben, dass bei der hypotaxe eine
gewisse Selbständigkeit des einen gliedes bestehen kann, so zeigt sich
auf der anderen seite, dass eine parataxe mit voller Selbständigkeit
der unter einander verbundenen sätze gar nicht vorkommt, dass es
gar nicht möglich ist sätze unter einander zu verknüpfen ohne eine
gewisse art von hypotaxe. Als selbständig, als einen hauptsatz im
strengsten sinne können wir einen satz nur dann bezeichnen, wenn er
nur seiner selbst willen ausgesprochen wird, nicht um einem andern
satze eine bestimmung zu geben. Demgegenüber müssteu wir den
nebensatz definieren als einen satz, der nur ausgesprochen wird um
einen andern zu bestimmen. Es liegt nun auf der band, dass ein satz
zu gleicher zeit seiner selbst willen ausgesprochen werden und doch
auch einem andern als bestimmung dienen kann, dass es demnach
122
zwischen den beiden extremen eine reilie von Zwischenstufen geben
muss. Es liegt ferner auf der hand, dass gar kein vernünftiger grund
vorhanden sein könnte sätze parataktisch an einander zu reihen, wenn
nicht zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang bestünde, d. h, wenn
nicht einer den andern irgendwie bestimmte. Ein rein parataktisches
verhältniss zwischen zwei Sätzen in dem sinne, dass keiner den andern
bcstinmit, gibt es also nicht; es ist kein anderer begriff von parataxe
möglich als der, dass nicht einseitig ein satz den andern, sondern
beide sich gegenseitig bestimmen.
Reine parataxe in diesem sinne besteht zwischen parallelsätzen,
sei es, dass analoges oder dass eutgegengesetzes verknüpft wird: er
ist krumm, sie ist schief; er lacht, sie weint. Anders aber steht es
schon mit der erzählung. Wenn jemand berichtet wn zwölf uhr kam
ich in N. an; ich ging in das yiächste hbtel; man sagte mir, es sei alles
besetzt; ich ging n- eiler, so gibt immer der vorhergehende satz dem
folgenden eine zeitliche und auch causale bestimmung. Dies ist aber
eine function, an welche in dem augenblicke, wo er ausgesprochen
wird, noch nicht gedacht wird. Wir haben demnach wider eine Ver-
einigung von Selbständigkeit und abhängigkeit. Wir könnten uns eine
umständlichere ausdrucksweise denken, in welcher der satz immer zwei-
mal, einmal als selbständig, einmal als abhängig gesetzt würde. Statt
einer solchen widerholung, die wenigstens nur ausnahmsweise wirklich
vorkommt, bedient sich die spräche der Substitution durch ein
pron. oder adv. demonstrativ um. Es war für die ent Wickelung
der Syntax ein höchst bedeutsamer schritt, dass dem demonstrativum,
dem ursprünglich nur die beziehung auf etwas in der anschauung vor-
liegendes zukam, die beziehung auf etwas eben ausgesprochenes ge-
geben wurde. Dadurch wurde es auch möglich dem psychologischen
verhältniss, dass ein satz selbständig hingestellt wird und zugleich als
bestimmung für einen folgenden dient, einen grammatischen ausdruck
zu geben. Das demonstrativum kann sich auf einen ganzen satz oder
auf ein Satzglied ))eziehen. Auch in dem letzteren falle ist vielfach
der ganze satz, welcher dieses glied enthält, bestimmend für den
folgenden. Sage ich z. b. ich begegnete einem knahen; der fragte mich,
so bezieht sich der auf einem knaben; der bedeutungsinhalt von der
ist aber durch den allgemeinen begriff knabe nicht erschöpft, sondern
erst unter hinzuziehung der übrigen teile des satzes ; es ist der knabe,
welchem ich begegnete. So wird also gewissermassen durch das
demonstrativum der vorangehende selbständige satz in ein zusammen-
gesetztes Satzglied verwandelt, indem sich die übrigen teile des satzes
dem Worte, auf welches das demonstrativum hinweist, als attributive
bestimmung unterordnen.
123
Gehört es nun zum wesen aller satzvcrknüpt'uny, dans aueli die
selbständig hinj;estellten sätze eine beiniiseliung von Unterordnung- er-
halten, so ist es ganz natürlich, dass von hier aus eine stufenweise
annäherung an gänzliehe Unterordnung möglich ist, indem der
selbständige wert eines satzes mehr und mehr gegen die functiou
einem andern als bestimmung zu dienen zurücktritt. Bei der erzählung
dücumentiert sich die logische Unterordnung in den indogermanischen
sprachen durch Verwendung der relativen tempora (imperf. und plusqu.).
Vgl. Cincta premebanlur trucihus CapitoUa Gallis ; Fecerat obsidio jam
diuturna famem: Juppiter ad sollum superis r egale vocatis 'Jncipe!' ait
Marti Ov. Fast. VI, 351. Aehnlich sehr häufig bei Ovid zur einführuug
in die Situation, von der die erzählung ausgeht. Besonders häufig in
den verschiedensten sprachen ist die form des hauptsatzes mit ent-
schiedener logischer Unterordnung, wenn ein eben^ gerade, kaum, schon,
noch u. dergl. beigefügt ist oder bei Wendungen wie es dauerte nicht
lange u. dgl.; vgl. kaum seh' ich mich auf ebnem plan, /Jugs schlagen
meine doggcn an (Schiller); lat. vix bene desierat, currus rogat ille
palernos (Ov.); im lat. auch mit Verbindung durch eine eopulative Par-
tikel: vi^v ea fatus erat senior, subiloque fragore Intonuit laeoum (Virg.);
nee longum tempus et ingens exiit ad caelum (ib.); am häufigsten und
auch in unserer jetzigen spräche allgemein üblich, erscheint diese con-
struction mit einem demonstrativum im nachsatz: ich war noch nicht
eingeschlafen, da hörte ich einen lärm; es dauerte nicht lange, so kam
er wider etc.
Im mhd. ist es nicht selten, dass von zwei asyndetisch neben
einander gestellten Sätzen, der erste nur zur bestimmung eines Satz-
gliedes im zweiten dient'), vgl. ein marcgräve der heiz Herman: mit
deme er iz reden began (Rother); Josephus hiez ein wiser man: alse
schiere er den rät vermam, mit michelen listen muose er sich vristen
(Kaiserchronik); ein tvazzer heizet In: da vähten die ßeiere mit in (ib.).
Bei Sätzen, die durch ein entweder — oder eingeleitet sind, kann
der erstere derartig logisch untergeordnet sein, dass er einem satze
gleich kommt, der durch ein wofern nicht eingeleitet ist, vgl. mhd. die
ir Christ enliche^i anthäiz mit andern gehäizzen habent gemeret, . . . 6'/«/-
weder diu schrift ist gelogen oder si chomenl in ein vil michel not (Hein-
rich V. Melk); franz. ou mon amour me Irompe, ou Zaire aujourd'hui
pour l'elever ä soi descendrait Jusqu' a lui (Voltaire).
Bei umgekehrter satzfolge lässt sich logische Selbständigkeit und
abhängigkeit nicht in der gleichen weise vereinigen. Dient ein satz
einem vorhergehenden als bestimmung, so ist es von vornherein klar,
') Vgl. Behaghel in der eiuleitung zu Veklekes Eneide s; XXVIII.
124
dass er nur iiiu dessentwillen ausgesprüchen wird, vgl. ich kam mich
hause, es schhoj ycrade 12 nhr. Ich mussle ihm alles sat/en; er n-ar so
neugierig. Am deutlichsten tritt die al)hängigkeit hervor, wenn der
bcstinimeude satz in den bestimmten eingeschoben wird. Solehe ein-
geschobenen Sätze (parenthesen) sind ja in allen, auch noch so ent-
wickelten sprachen reichlich in gebrauch, und zwar unterschiedslos
bei den verschiedensten logischen beziehungen zum regierenden satze.
Indem auch sätze, die eine aufforde rung oder frage aus-
drücken, in logische abhängigkeit treten, werden sie zu bezeichnungen
der bedingung oder des Zugeständnisses. Vgl. geh hin: du wirst sehen
oder so {dann) wirst du sehen; lat. cras petito: dabitur (Plaut); sinl
Maecenates, non deerunt^ Flacce, Marones (Mart.); auch bei Verbindung
durch copulativpartikel: sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir
sagen, wer du bist; lat. divide et impera; impinge lapidem et digniim
accipies praemium (Phaedrus). Aus solcher anwenduug der aufforde-
rungssätze sind in verschiedenen sprachen satzformen entsprungen, die
als abhängig empfunden w^erden, indem das, was anfangs nur occa-
sionell mögliche auffassung war, usuellen wert erhalten hat. Vgl.
z. b. ich bin dir nah, du seist auch noch so ferne; oder die englischen
imperative suppose, sag (sag you can swim, 'tis but a white Shak.), die
gewissermassen zu conjunctionen geworden sind. Hierher gehören
auch die lateinischen bedingungsätze mit modo (vgl. ego isla studia
non improbo, moderala modo sint) , welches nicht als regierende con-
junction gefasst werden darf und ja auch noch neben dum stehen kann.
Ebenso ist bekanntlich aus der frage eine im deutschen und englischen
sehr übliche und auch den romanischen sprachen nicht fremde form
der bedingungssätze entstanden {willst du es tun, so beeile dich).
Cap. VII.
Bedeutungswandel auf syntaktischem gebiet.
Von dem, was in cap. 4 über die Wortbedeutung- und ihre Wande-
lungen gesagt ist, lässt sieh das allgemeinste aueh auf die bedeutung
der syntaktischen Verhältnisse anwenden. Auch bei diesen muss mau
unterscheiden zwischen usueller und occasioneller bedeutung; die
usuelle bedeutung kann eine mehrfache sein, ihre Wandelungen ent-
springen aus den abweichungen der occasionelleu bedeutung und sie
bestehen entweder in bereicherung oder in Verarmung des Inhalts mit
entsprechender Verengung oder ausdehnung des umfangs. Eigentüm-
liche Verhältnisse aber entstehen dadurch, dass wir es hier mit be-
ziehungen mehrerer demente auf einander zu tun haben (z. b. amo
palreiiK amor paf?-is), und dass diese beziehungen zu engeren und
weiteren gruppen zusammentreten (z. b. verbum — objectsaccusativ,
substantivum — genitiv eines anderen substantivums). Demzufolge
müssen wir ausser dem unterschiede zwischen usueller und occa-
sioneller bedeutung noch eine andere gleichfalls sehr wichtige Unter-
scheidung machen, nämlich zwischen der bedeutung einer allgemeinen
beziehuug schlechthin und derjenigen der beziehung zu einem
bestimmten worte. Von der allgemeinen bedeutung die der acc.
an sich in seiner beziehung zu jedem beliebigen werte hat, und auch
von derjenigen, die er in seiner beziehung zu jedem beliebigen tran-
sitiven verbum hat, ist diejenige zu unterscheiden, die er in der be-
ziehung auf ein bestimmtes einzelnes verbum hat. Die letztere kann
specieller sein und der allgemeinen bedeutung gegenüber mehr oder
weniger isoliert. Man hat in neuerer zeit vielfach die anschauung der
älteren grammatiker bekämpft, dass ein casus von einem verbum oder
einer präposition, ein modus von einer conjunction u. s. f. regiert
werde, und statt dessen die Setzung des casus oder des modus aus
seiner allgemeinen bedeutung herzuleiten gesucht. Es muss aber doch
in gewissem sinne und in gewisser begrenzuug an der alten lehre fest-
gehalten werden. Diese allgemeinen sätze sollen im folgenden durch
beispiele belegt werden.
126
Für den genitiv lässt sich keine einfache becleutung aufstellen,
aus welcher sich die functiouen, die derselbe bereits im uriudo-
gernumischeu hat, von selbst ergäben. Man muss z. b. den von verben
und den von Substantiven abhängigen gen. von anfang an als ge-
sonderte kategorieen auseben. Betrachten wir die letztere, so können
wir wol für das indogermanische behaupteu, dass der gen., wie es im
allgemeinen noch im ^Itgriechischcu der fall ist, zum ausdruck jeder
beliebigen beziehung zwischen zwei Substantiven verwendet werden
konnte; wir können daher für diese kategorie eine einfache bedeutung
von sehr armem Inhalt und sehr weitem umfang aufstellen, die nur
occasionell specialisiert wird. Im uhd. dagegen ist die function des
gen. neben Substantiven erheblich eingeschränkt. Manche gebrauchs-
weisen, die noch im mhd. möglich waren, z. b. goldes zein (stab aus
gold), langes lehens wän (hoffnung auf langes leben) sind jetzt unmög-
lich geworden. Man muss jetzt nach specielleren bestimmungen sucheu,
wenn man die gebrauchs weise des genitivs angeben will, und dabei
wird mau genötigt mehrere kategorieen zu scheiden, mehrere selb-
ständige bedeutungen neben einander zu stellen. Diese würden wol
am einfachsten so augegeben werden: gen. possessivus — gen. parti-
tivus — gen., der anzeigt, dass das regierende subst. das, was es ist,
in beziehung auf das abhängige ist (z. b. der hruder des mannes, der
gott des tveines, der dichter des werkes, die tat des helden); die letzte
kategorie kann sich neben uomina actiouis in zwei Unterabteilungen
scheiden, gen. subjectivus und objectivus: die regierung des fürsten —
des landes. Die aufstellung derartiger kategorieen hat man neuerdings
wol als eine rein logische souderuug betrachtet, die von der gram-
matik fern zu halten sei. Das ist aber doch nicht ganz richtig, voraus-
gesetzt dass die aufstellung in der gehörigen weise vorgenommen ist.
Die betretfeuden kategorieen haben der ursprünglichen allgemeinen
bedeutung gegenüber Selbständigkeit gewonnen und erst dadurch ist
es möglich geworden, dass sie allein sich erhalten haben, während
die andern verwendungsweisen, die sich gleichfall der ursprünglichen
bedeutung unterordnen würden, untergegangen sind.
Analog dem Verhältnisse des gen. zu dem regierenden substan-
tivum ist das des accusativus zu dem regierenden verbum. Wollen
wir eine allgemeine bedeutung des acc. aufstellen, unter welche sieh
alle einzelnen verwendungsweisen desselben unterordnen lassen, so
müssen wir sagen: er bezeichent überhaupt jede art von beziehung
eines substantivums zu einem verbum, die sich ausser der des subjects
zu seinem prädieate denken lässt. Dennoch aber können wir ihn
nicht in jedem einzelnen falle, in dem eine solche allgemeine be-
ziehung stattfindet, anwenden, und schon in der indogermanischen
I
127
gTuudspraehe war das unstatthaft, weuu auch die Verwendung- n(»eli
eine viel freiere und ausgedehntere war, wie sieh z. h. am griechischen
erkennen Uisst. Die angahe einer einzigen, alles umfassenden be-
deutung genügt daher nicht; wir müssen verschiedene allmählig selb-
ständig gewordene verwendungsweisen neben einander stellen Hier
kommt nun aber hinzu, dass auch in der beziehung auf einzelne verba
ein fester usus in bezug auf gebrauch oder niehtgebrauch des acc.
und eine speeialisierung der bedeutuug eingetreten ist. Wir müssen
daher unterscheiden zwischen dem freien acc, der von der natur
des verbums, dem er beigegeben wird, una])hängig ist, und dem ge-
bundenen, der nur zu einer beschränkten anzahl von verben und zu
jedem einzelnen in beschränkter bedeutuug gesetzt wird.
Zu den von alters her üblichen freien Verwendungen des accu-
sativs gehört die zur bezeichnung der erstreckung über räum und zeit
(nicht bloss neben verben gebraucht); ferner der acc. des Inhalts von
Substantiven, die mit dem verbum etymologisch verwandt sind (einen
schweren kämpf kämpfen); im lat. der acc. von städtenamen auf die
frage wohin? Eine erst in neuerer zeit ausgebildete Verwendung ist
die neben sonst intransitiven ver])en in Verbindung mit einem prädi-
cativen adjectivum, vgl. die äugen rot weinen, das helt nass schwitzen,
die fasse wund laufen; sich satt essen, voll saufen^ krank arbeiten, heiser
schreien etc. Hier hätten wir also eine bedeutungserweiterung. Jedoch
ist zu berücksichtigen, dass zur entstehung dieser construction noch
besondere factoren mitgewirkt haben; einerseits wol das noch nicht
völlig erloschene gefühl für die ganz allgemeine bedeutuug des accu-
sativs, anderseits die analogie von föllen wie einen tot schiessen, los
kaufen, krumm und lahm schlagen. Aehnlich verhält es sieh mit con-
structionen wie er schwatzt das blaue vom himmel herunter, er hat sich
in mein vertrauen gestohlen, denke dich in meine läge hinein, sich ein-
schmeicheln, sich herausreden, sich durchfressen u. dgl.
Eine gewisse mittelstellung zwischen dem ganz freien und dem
gebundenen nimmt der acc. neben eompositis ein, zu denen die sim-
plieia entweder intransitiv sind oder eine ganz andere art von acc.
regieren ; eine mittelstellung insofern, als doch wenigstens eine grössere
anzahl solcher verba sich zu einer gruppe zusammenschliessen und
sich in der bildung und transitiven Verwendung derselben dem usus
gegenüber eine gewisse freiheit der bewegung geltend macht. Ins-
besondere haben die composita mit be- die ganz allgemeine function
ein intransitives verbum transitiv zu machen oder ein transitives verbum
zu befähigen eine andere art von objeet zu sich zu nehmen, vgl. he-
fall e^i, beschreiben, bestreiten; besetzen, bewerfen, bezahlen.
Der an ein bestimmtes einzelnes verbum gebundene acc. hat in
128
der regel uur eiue, durch den usus begrenzte bedeutung. Doch ist
auch melirtaltigkeit der bedeutung nicht ganz selten, und diese ist
dann teils alt, vielleicht unmittelbar aus der ursprünglichen allgemeinen
bedeutung des accusativs abzuleiten, teils lässt sich zeigen, dass ur-
sprünglich nur eine bedeutung üblich gewesen ist, während die andere
sich erst ällmählig durch occasionelle Überschreitung des usus heraus-
gebildet hat; vgl. wunden schlagen — den feind schl. — das schwer l
schl., einen mit steinen werfen — steine auf einen w., einen mit dem
messer stechen — ihm das messer durch das herz st., worte sprechen —
einen menschen sprechen; lat. def ender e aliquem ah ardore solis — ar-
dorem solis ab aliquo^ prohibere calamitatem a provincia — provinciam
calamitate. Sicher jüngere entwickelung, zum teil nur occasionelle,
namentlich dichterische freiheit liegt in folgenden constructionen vor:
ei7i kind schenken (= säugen), ivasser in einen eimer füllen, lat. vi7ia
cadis onerare (Virg. statt cados vinis)^ Uberare obsidionem (Liv. statt
urbem obsidione)^ griech. düxQva xtQytiv („tränen netzen" statt ,niit
tränen benetzen" oder „tränen fliessen lassen", Find.), al^a öavsiv
(„blut benetzen" statt „mit blut b.", Soph.). Weitere beispiele bei
Madvig, Kl. sehr. 337 ^ Weil die beziehung, die der acc. ausdrückt, an
und für sich eine mehrfache sein kann, ist auch die Verbindung eines
verbums mit mehreren accusativen etwas, was sich ganz natürlich ergibt.
Von den indogermanischen präpositionen würde es nicht richtig
sein, wenn man sagen wollte, dass sie den und den casus regiert
hätten. Vielmehr war der betreö'ende casus direct auf das verbum zu
beziehen, seine allgemeine bedeutung wurde noch empfunden und
erhielt durch die präposition nur eine specialisierung, weshalb denn
auch verschiedene casus neben der selben präposition stehen konnten,
jeder in seiner eigentümlichen bedeutung. Diesem ursprünglichen zu-
stande steht das griechische noch einigermassen nahe. Mehr und
mehr aber hat der casus seine Selbständigkeit gegenüber der prä-
position eingebüsst, die Verbindung der präposition mit dem casus ist
gewohnheitsmässig geworden, wobei das getühl für die bedeutung des
letzteren verblasst ist. Bei unseren neuhochdeutschen präpositionen, die
nur einen casus regieren wie zu, um oder mehrere ohne Verschiedenheit
des Sinnes wie trotz kann von keiner bedeutung des casus mehr die rede
sein; die anwendung eines bestimmten casus ist nur noch eine tradi-
tionelle gewohnheit, der kein wahrer wert zukommt. Zwischen dieser
erstarrung und gebundenheit und der ursprünglichen lebendigkeit und,
freiheit der casus mitten iune steht die Verwendung des dat. und acc,
in verschiedenem sinne nach in, auf, über, unter.
Apposition eile construction tritt vielfach ein, wo bei genauerem
ausdruek ein gen. part. anzuwenden wäre. Nicht bloss so, dass die
\
129
appositiou aus mehreren gliedern besteht, die zusammen dem sub-
stantivum, wozu sie gesetzt sind, gleichkommen: sie gingen, der eine hier-
hin, der andere dorthin; lat. classes populi Rommii, allenwi naufragio, alle-
ram a Pwnis depressam interire (Cie.), capti ab Jugurtha pars in crucem acli
pars besliis ohjecti sunt (Sali.). Sondern auch wo die ganze apposition nur
einen teil des zugehörigen subst. repräsentiert. Lat.: Volsci maxima
pars caesi (Liv.); cetera ?nultifudo decimus quisque ad supplicium lecti
(Liv.); nostri ceciderunt (res (Caes.); entsprechend da, wo das subj. nur
durch die persoualendung des verb. ausgedrückt ist: plerique meminiinus
(die meisten von uns, Liv.); Simoni adesse me quis nuntiat e (einer von
euch, Plaut.). Mlid.: si tveinten sumeliche (manche von ihnen); ja sint
in doch genuogen diu nucre tvol bekant (vielen von euch). Bei stoff-
bezeichnungen, die normaler weise durch den gen. pari ausgedrückt
werden, tritt daneben das ungenauere appositionelle verhältniss ein.
Vgl. lat.: aliquid id genus (statt ejus gener is Cic), coronamenta omne
genus (Cato), arma magnus numerus (Liv.). Eine besondere ausdehnung
hat diese einfachere constructionsweise im nhd. gegenüber dem mhd.
gewonnen, vgl. ein stück brot (mhd. stücke brötes), ein pfund mehl^ ein
schcffel iveizen, ein glas wasser, eine menge obst, eine art tisch etc. Die
collectiven Stoffbezeichnungen sind in diesem falle durchaus indecli-
nabel. Wir dürfen, wenn wir das Sprachgefühl richtig analysieren,
hier keinen uom. oder acc. mehr anerkennen, sondern nur den stamm
schlechthin ohne Casusbezeichnung. Die spräche ist zu der primitiven
constructionsweise zurückgekehrt, wie sie vor der entstehung der casus
allein möglich war und wie sie uns in den alten compositis vorliegt.
Wie das object so kann sich sogar das subject eines verbums
zur bezeichuung einer von dem bisherigen usus abweichenden beziehung
herausbilden. Vgl. neuhochdeutsche Wendungen wie die bank sitzt voller
menschen, ihm hängt der himmel voller geigen, der eimer läuft voll wasser
— läuft leer\ viel freier ist die anwendung solcher Verbindungen mit
vol im mhd , z. b. daz hüs saz edeler vromven vol, ouch gienc der walt
wildes vol, daz gevilde n-as vollez pavelüne geslagen (vgl. Haupt zum
Erec 2038), noch bei Hans Sachs den (wald) sach er springen vol der
wilden tiere, all specereg voll würme loffen\ ebenso im dänischen. Vgl.
ferner der narren herz ist wie ein topf, der da rinnt (Lu., auch jetzt
noch wird rinnen, laufen so gebraucht); dass unsere äugen mit tränen
rinnen, und unsere augenlieder mit wasser fliessen (Lu.); das gefäss fliesst
über; it. le vie correvano sangue (Malespini); span. corrieron sangue los
rios (Calderon, vgl. Diez HI, 114); lat. culter sanguine tnanaf, ?)iembra
sudore /luunt ; engl, the hall thick swarming now with cojupiclated monsters
(Milton): nhd. der wald erklingt von gesang; das fenster schliesst schlecht,
ebenso franz. la fenetre ne clöt pas bien. Neben einander stehen die
Paul, Principien. 11. Auflage. 9
180
hlume riecht — ich rieche die blume, der wein schmeckt — ich schmecke
den nein ; eutspreeheud inhd. stinken, lat. sapere, frauz. sentir. Damit
auf eine liiiie zu stellen ist wol auch sehen = aussehen. Stellt mau
sieb auf deu Standpunkt, dass das verliältniss zwischen subjeet und
prädicat ein für alle mal fixiert sein soll, so kommt mau dazu für die
augeführten fälle eine doppelte bedeutung des verbums anzusetzen.
Die entsprechende Überschreitung des usus findet bei der zu-
sammeufügung eines substantivums mit einem adjectivischen prädicate
statt lind in noch ausgedehnterem masse bei attributiver Verbindung.
Während das adjectivum eigentlich nur für eine dem zugehörigen sub-
stautivum inhärierende eigenschaft gebraucht werden sollte, finden wir
es auch angewendet, wo nur eine indirecte beziehung stattfindet. Vgl.
auf schuldigen wegen (Schi.) = wegen, auf denen man schuldig wird,
einige gelassene augenhlicke (Goe.) = augenblicke, in denen man ge-
lassen ist; der ho Ifnungsv ollen gäbe (Goe.); hei ihrem unbekannten besuche
(Le.) == wobei sie unbekannt bleibt; des trones, U7igetviss, ob ihn mehr
vorsieht schützt, als liebe stützt (Le.) = bei dem es ungewiss ist. Viele
solche freiheiten sind ganz usuell geworden. Wir sagen allgemein ein
trauriges oder fröhliches ereigniss, eine freudige Überraschung, lustige
oder vergnügte stunden, eine gelehrte abhandlung, in trunkenem zustande
törichter weise u. dergl., er macht einen kränklichen eindruck, eine karge,
gäbe. Sicher geht einerseits auf eine person, die nicht nötig hat, be-
sorgt zu sein, anderseits auf eine sache oder person, um die mau nicht
nötig hat besorgt zu sein; ekel einerseits auf eine person, die leicht
ekel empfindet, anderseits auf einen gegenständ, vor dem man sich
ekelt. Werden solche freieren Verknüpfungen nach analogie des nor-
malen Verhältnisses zwischen subst. und congruierendem adj. aufgefasst,
so gelang-t mau dazu einen wandel der Wortbedeutung zu statuieren.
Besonders häufig gestattet man sich solche freiheit bei participien.
Vgl. einer reuenden träne (Le.), lächelnde antwort (Goe.), in der schau-
dernden stille der nacht (Le.), zum schaudernden concert (Schi.), der
könig betrachtet ihn mit nachdenkender stille (ib.), in seiner windenden
todesnot (Goe.), nach dem kostenden preise (Nicolai). Weitere beispiele
bei Audr. Sprachg. s. 82 ff. Allgemein üblich sind sitzende, liegende
Stellung, fallende sucht, schwindelnde höhe, im wachenden träume u. a.,
jetzt verpönt bei nachtschlafender zeit. Sehr gewöhnlich sind im engl.
Verbindungen wie dying day Sterbetag, parting glass scheidetrunk, writ-
ing materiaJs, dining room, sleeping apartment, falling sickness; vgl. auch
frauz. Ihe dansant, cafe chantant. Tacitus gebraucht haec plebi volentia
fuere statt volenti u, a. dergl. (Draeg. § 193, 3). Beispiele für das part.
perf. sind ein längst entwöhnter schauer (Goe.), in diesen letzten zer-
streuten tagen (ib.), der beschuldigten heuchelung (Schi.) = deren ich
131
beschuldigt werde; eng'l. the rarish'd hours (Paniell) = die stimden
voller entzücken. Allgemein üblich ein eÄngehUdeter mensch, ein hedienler.
Auf gleiche liuie zu stellen ist wol die freie aukuüpfung eines
prädieativen attributes, die zwar als nachlässigkeit verpönt ist, aber
doch ziemlich häutig- vorkommt, in fällen wie seltene taten werden d^irch
Jahrhunderte nachahmend zum gesetze yeheiligt (Goe.); lustig davonfah-
rend 7vurden die eindrücke des abends noch einmal ausgetauscht (Riehl);
znrUchjekehrt rvurde des ermordeten kleidung imtersucht (Brachvogel).
Weitere beispiele, meist aus zeituugen bei Andr. Sprachg. 113. Hier
fühlt man sieh veranlasst zu dem prädieativen attribut ein subj. zu
ergänzen; aber ebenso könnte man das oben angeführte beis])iel mit
nachdenkender stille ergänzen zu 'mit stille, während welcher er nach-
denkt', ohne dass doch in dem ausdruek etwas davon liegt.
Bei participialconstructioneu ist nur das zeitliche verhältniss
ausgedrückt, in dem der zustand oder das geschehen, welches durch
das part. bezeichnet ist, zu dem verb. fin. steht. Es können aber dabei
noch mannigfache beziehungeu bestehen, so dass man bei aufliisung
der paiücipialconstruction durch einen ganzen satz, bald diese, bald
jene conjunction anwenden muss. Man kann aber darum doch nicht
sagen, dass die partieipialconstruction an sich verschiedene bedeutungeu
haben könne, bald die Ursache, bald die bedingung, bald einen gegen-
satz etc. bezeichne. Diese Verhältnisse bleiben immer nur occasionell
und aceidentiell. Anders dagegen verhält es sich mit nebensätzen,
die durch eine temporale conjunction eingeleitet sind. Hier kann
das accidentielle verhältniss zum regierenden satze sieh an die con-
junction anheften und zu einem bestandteile von deren usueller be-
deutung werden. So muss z. b. die Verwendung von unserem während
zur bezeichnung eines gegensatzes als eine besondere usuelle function
neben der grundbedeutung anerkannt werden. Es ergibt sich das ab-
gesehen von unserem Sprachgefühl daraus, dass diese function auch
statt hat, wo gar keine gleichzeitigkeit des geschehens zwischen ab-
hängigem und regierendem satze besteht, vgl. z. b. du belügst inich,
während ich dir immer die n-ahrheit gesagt habe. Ebenso müssen wir
dem mittelhochdeutschen sit neben seiner temporalen bedeutung die
unseres jetzigen eausalen da als etwas selbständiges zuerkennen; denn
es kann im Widerspruch mit der grundbedeutung bei gleichzeitigkeit
zwischen abhängigem und regierendem satze gebraucht werden, vgl.
Sit ich äne einen vrumen man min laut niht hevriden kan, so gewinne ich
gerne einen. Die entwickelung kann dann noch weiter gehen, indem
die ursprüngliche temporale bedeutung ganz verloren geht wie bei nhd.
weil. Auf ganz entsprechende weise gehen präpositionen von loealer
oder temporaler bedeutung zu causaler über.
9*
Cap. VIII.
Contaiuination.
Unter coutaminatiou verstehe ich eleu Vorgang, dass zwei
synonyme ausdrucksforraen sich gleichzeitig ins bewusstsein
drängen, so dass keine von beiden rein zur geltung kommt, sondern
eine neue form entsteht, in der sieh demente der einen mit elementen
der andern mischen. Auch dieser Vorgang ist natürlich zunächst indi-
viduell und momentan. Aber durch widerholuug und durch das zu-
sammeutreifen verschiedener Individuen kann auch hier wie auf allen
Übrigen gebieten das individuelle allmählig usuell werden.
Die contamination zeigt sich teils in der lautgestaltung ein-
zelner Wörter, teils in der syntaktischen Verknüpfung.
Ziemlich selten ist wol mischung aus zwei etymologisch nicht
zusammenhängenden Wörtern. Auf ein charakteristisches beispiel
hat Schuchardt hingewiesen. Im ämilischeu dialect gibt es ein wort
cminzipia anfangen, contamination aus den Wörtern cominciare und p7in-
cipiare der italienischen Schriftsprache. Erleichtert ist die mischung
bei formen, die sich gegenseitig zu einem paradigma ergänzen. Aelteres
7vis (sei) aus ahd. ivesan wird im mhd. allmählig durch bis verdrängt
unter einfluss von bist. Ahd. bim (bin) ist wahrscheinlich eine conta-
mination aus im (got.) und Hium (ags. beöm)\ desgleichen nach umge-
kehrter richtuug ags. eom.
Häufiger mischen sich Wörter, die der gleichen etymologischen
gruppe angehören, Yg\. ge/rohnt aus dem adj. mhd. gervon (noch in
(/e/rohnheit, gewöhnlich) und dem part. mhd. getvent von tvenen (ge-
wöhnen); doppelt aus dem adj. doppel (= franz. double) und dem noch
im vorigen Jahrhundert ganz üblichen part. gedoppelt \ zu guter letzt aus
zu guter letz (mhd. letze abschied) und zu letzt.
Nicht bloss zwei einzelne formen contaminieren sich unter ein-
ander, sondern auch eine form mit einer ganzen formalen gruppe.
Auf diese weise entsteht namentlich ein ziemlich häufig vorkommender
Pleonasmus der bildungselemente, indem eine in ungewöhnlicher
I
133
weise gebildete form uoeli durch das suflix der uornialcu bilduugs-
weise bereicliert wird. Hierher ') gehören fornicii wie uhd. ihrer, ihnen,
derer, denen] ahd. inan (aus in unter eiufluss von hlintan etc.); nhd.
Fritzens, Mariens aus älterem Fritzen, Marien, an die noch die ver-
breitetste genitiveudung getreten ist. Ferner lat. jactitare, cantitare,
vcntitare statt jactare etc. unter einfluss von volitare etc.; spanische
adjeetiva wie celcstial, divinal, liumanal (vgl. Michaelis s. 38). Beson-
ders gewöhnlich ist eine häufung der suffixe des comparativs und
Superlativs, vgl. nhd. öftrer (häufig bei Le.); letzteste (Ctoc.); ahd. mcrlro
gegen got. maiza; got. aftuinists, auhumists, frumists neben aftuma, au-
huma, fruma, dazu hindumists, spcdumists] ^iiMhii. pliiriores , minimissi-
mus, pessimissimus, exfremissimus, postremissimus; griech. aQStoreQog, yjt-
QiioTtQoc, jiQcöxiöTog u. a. Ebcuso zu erklären ist das doppelte präfix
in gegessen = mhd. gezzen.
Eine sehr bedeutende rolle spielt die contamination auf syn-
taktischem gebiete. Ich führe zunächst einige beispiele von bloss
momentanen anomalien auf, die auf den usus keinen einfluss haben.
Lessing: um deines lehens wegen\ mischung aus um . . willen und wegen]
entsprechend in der Kölnischen zeitung um . . halber (nach Andr.
Sprachg. 194). Goethe: freitags als dem ruhigsten tage, als ob am frei-
tage gesagt wäre. Lessing: ich habe nur leugnen wollen, dass ihr als-
dann der name maierei weniger zukomme] mischung ans leugnen . .
dass . . zukomme und behaupten . . dass . . weniger zukomme. Hans
Sachs: Ein Jedes thut, als es dann wolt als jhm von jhem geschehen
soll] dabei mischen sich die beiden gedanken „wde es wollte dass ihm
von jenem geschehen sollte" und „wie ihm geschehen sollte". Hart-
mann von Aue: er bereite sich dar zuo als er ze velde wolde komen
(aus dar zuo daz er ze velde kceme und als er ze velde rvolde komen).
H).: des weinens (et in michel not aus daz weitien (et in und des rveinens
was in. Goethe: Im betragen unterschied sich auch hier der gesandte
von Plotho wider vor allen andern] mischung mit „zeichnete sieh aus
vor" oder dergl. Goe.: die Schicksale meiner Wanderschaft werden dich
mehr davon überzeugen, als die wärmsten versicherunge?i kaum tun können]
hier deutet das kaum eigentlich auf eine ganz andere ausdrucksweise.
Wir wenden uns zu solchen fällen, in denen die contamination
usuell geworden ist oder wenigstens als eine häufig vorkommende
licenz auftritt.
Sehr gew^öhnlich ist die consti'uction das gehört mein (vgl. DWb
4a, 2508) aus gehört mir und ist mein. Im engl, sagt man allgemein
/ am friends with 1dm aus 1 am friend with him und we are friends]
1) Vgl. Brugman, Morph. Unt. III, ÜT ff., Ziemer, Streifz. 146.
134
eutspreeheud iu der düniseheu Volkssprache hun er (jode lennei^ med
hem (er ist gute freunde mit ihr). Gleichfalls der dänischen Volks-
sprache angehörig' ist die Wendung jeg ff)lges med ham (ich folge mit
ihm) aus jeg ffilger med ham und ve folges ad (vy^ir folgen uns, d. h.
gehen zusammen).') Im griech. kommt vor o rjfiiövg zov xQovov, rrjv
jTXtiOTijv T7]c oTQariäg aus o rjf/icvg iqovoc. und to TJfuav rov XQOvov etc.;
entsprechend im span. muchas de virgines statt muchas virgines oder
mucho de virgines, a pocos de dias, una poca de miel, tantas de yerhas,
la mas de la genle (bei Cervantes); it. in poca d'ora, la piii della gentc
(Boccaccio); ähnliche mischungen auch im portug., prov. und afranz.
(vgl. Diez III, 152). Aehulich ist eine contaminatiou bei dem latei-
nischen gerundium: poenarum solvendi tempus (Lucrez) aus poenarum
solvendaruin und poenas solvendi, exemplorum eligendi potestas (Cic),
vgl. Draeg. 597da. Cicero sagt eorum partim in pompa, partim in acie
illustres esse voluerunt (vgl. Draeg. 100), v^obei sich eorum pars und ii
partem mischen ; der entsprechende Vorgang ist im älteren nhd. gewöhn-
lich, vgl. theils leute nemien ihn zum spott den Unverstand (Cronegk).
Nicht selten ist bei rückbeziehung die ungenauigkeit, dass sich
statt des wirklich gesetzten Wortes die Vorstellung eines etymologisch
verwandten unterschiebt, dessen sich der redende gleichfalls hätte be-
dienen können. So schiebt sich z. b. die Vorstellung der einwohner
an die stelle der stadt oder des landes, vgl. griech. OtfiiaroxXijg (ptvyti
fcc KtQxvQü)', oh' avTcöp tvsQysrrjq (Thuc); lat. Domitius navibus Mas-
siliam pervenit alque ab iis recepius urbi praeficitur (Caes.); Sutrium,
socios populi Romanl (Liv.) ; nhd. so waren wir denn an der grenze von
Frankreich alles französischen wesens auf einmal bar und ledig. Ihre
lebensweise fanden wir zu bestimmt und zu vornehm, ihre dichtung kalt
etc. (Goe.). Andere beispiele sind: innere stärke kann man der Bod-
merischcn und lireilingerischen kritik nicht absprechen^ und man muss
den ersten als einen patriarchen ansehn (Herder); het ich ?nich nicht
jung thun verweiben, die er mir Jetzt dreij jar anhcwjen thet {die be-
zogen auf ein zu entnehmendes weib, H. Sachs)"^); mhd. in dem palas,
der wol gekerzet was, die (welche kerzen) harte liehte brunnen (Wolfram);
enlwdpent wart der tote man und an den lebenden gelegt (als subject
zu ergänzen diu wäpeii, ib.); lat. scrvili tumultu, quos (als ob servorum
da stünde, Caes.). Am häufigsten ist der fall, dass das relativum auf
ein possessivpron. bezogen wird, als wenn das personalprou. da stünde,
vgl. lat. laudare fortunas meas , qui gnaluiii habcrem lali ingenio prae-
ditum (Terenz); griech. riiq t/iijg tjteiöodov, ov (nqx öxvüre (Soph.);
mhd. allgemein.
') Vgl. Madvig, Kl. sehr. 193«.
'^) Weitere beispiele bei Andr. Spr. 202 if.
I
135
Aus der vernienguug coraparativisclier imd superlativiaolier aiis-
driiekswcise entstehen im Uit. Verbindungen wie hi ceterorwn liriltan-
iiontm fiKjacissuni (Tue.); oinnhun ante sc gniito7-u7n diUgentissimus (Pli-
nius), vgl. Ziem. Comp, 55 ff. Umgekehrt kommt auch der superl. naci» der
weise des comparativs construiert vor, vgl. oinni vero verissimum cer-
loque cert'tssimum (Arnol)ius). Damit vgl. mau anord. h(cstr borlnn
Iwerjun jofrl (Gripisspä „der höchste" statt „höher als jeglicher fUrst".
Im lat. steht öfters neben dem imp. ein jam diidum, z. b. jam dudum
aumite poenas, eine mischuug der gedanken „nehmt doch" und „ihr
hättet schon längst nehmen sollen".
Nicht selten ist im mhd. nach rvizzen die verl)indung eines frage-
wortes mit dem inf., z. b. do enwesie er wie gebär en\ man erwartet ein
verb. finitum, und die construction lässt sieh wol nur so erklären, dass
mau eine einwirkuug der fälle annimmt, in denen der inf. ohne frage-
wort direct vom verb. abhing. Das selbe gilt natürlich von den ent-
sprechenden romanischen constructionen, vgl. franz. je ne sais quel parti
prendre, it. )ion so che fare etc. (Diez III, 230). Aehnlieh verhalten
sich it. non ho che dire, span. non tengo con quien hahlar, franz. Ü
Irouva a qui parier, la terre fournit de qiioi nourrir ses hahifants, schon
spätlat. non hahenl quid respondere (vgl. Diez a. a. o.), engl, how haue I
ihen with whom lo hold converse (Milton), then soiighl tvhere to lic hid
(ib.) u. dergl.
Als eine contamination wird es auch zu betrachten sein, wenn
von einem verbum ein fragesatz abhängig gemacht wird und zugleich
noch das subject dieses fragesatzes als nominales object, vgl. lat. nosli
Marcellum quam lardus sit (Cic), viden scelestum ut aucupatur (Plaut),
observatote eum quam blande pal patur mulieri (Terenz); die modo hominem
qui sit (Plaut.), patriam te rogo quae sit (Plaut); it. tu 7 saprai bene
Chi e (Boccaccio), ähnliches häutig in den älteren romanischen sprachen
(vgl. Diez III, 391). Ebenso steht nominales object neben einem objects-
satz mit dass, vgl. mhd. swenne er sin sele sa'he daz si in tötsündoi n-cere,
die liset man si nilen tvceren des ivunderlichen Alexandres man, do hiez in
got daz er dar in gienge, die wil ich daz siz merken; nhd. da ihn sahen alle,
die ihn vorhin gekannt hatten, dass er mit den propheten meissagete (Lu.),
welchen ihr sprecht, er sei euer gott (Lu.). Das object des regierenden
Satzes kann auch im abhängigen object sein, vgl. vierhundert taler, die sie
nicht wüsste, wie sie sie bezahlen sollte (Le.). So kann auch neben
einem subjectssatz mit dass als subject noch das subject oder object
desselben als subject des hauptsatzes treten, vgl. mich will Antonio von
hinnen treiben und will nicht scheinen, dass er mich vertreibt (Goe.);
nichts, was ihn gereuen könnte, dass ers gab (ib.).
Statt der selbe der oder der gleiche wie sagt man auch der selbe
186
rvic und der gleiche dcr\ ebeuso im lat. Idem ul, z. b. in eadem sunt
injuslitia, ut si in suam rem aliena converlanf (Cic). Häufig begegnet
man Wendungen folgender art: dass sie nichls spricht kommt daher,
weil sie nichts denkt (Le.); der (jedankc wurde dadurch notwendig,
weil 7nan voraussah (Wieland); wortstreit, der daraus entsteht, weil ich
die Sachen unter andern comhinalioncn sentiere (Goe.); in dem axujen-
hlicke, nenn wir ihn auch seines bogens beraubt sehen (Le.); die gross te
feinheit eines dramatischen richters zeiget sich darin, wenn er in jedem
falle zu unterscheiden weiss (Le.). Allgemein üblich, zum teil sogar
notwendig sind Verbindungen wie jedesmal wenn oder wo (statt dass),
in dem augenblicke wo (Goe. sagt noch in dem augenblick, dass er amen
sagte); entsprechend im franz. au temps ou, früher au temps que; zu
dem zwecke, in der absieht damit; deshalb, deswegen, aus dem gründe
weil; desto besser weil (mhd. daz), engl, fhe rather because neben Ihat.
Wenn Cicero sagt cum accusatus esset, quod contra rempublica/n
sensisse eum dicerent, so ist das eine mischung aus quod . . sensisse
eum dicebant und quod . . sensisset. Weitere beispiele bei Draeg. § 537.
Plato gebraucht sogar constructioneu wie rodf, oiq oifiai, arayxaiÖTarov
Eirai (vgl. Ziem. 105).
Eine im mhd. gewöhnliche construction wäre in gesehe vil schiere
jnin liep (es sei denn, dass ich bald meine geliebte sehe), ich bin oder
so bin ich tot. Ungefähr den selben sinn würde die parataktische Ver-
bindung geben ich gisihe vil schiere min liep oder ich bin tot. Statt
dessen sagt der minnesinger Steinmar in gesehe vil schiere min lieb
aider (= oder) ich bin tot. Noch auffallender ist eine andere art der
mischung, bei der oder vor den satz mit ne ti'itt: ich gelige tot under
minen van, oder ich nebeherte mm ere (Kaiserchronik). Noch weitere
beispiele bei Dittmar in Zeitsch. f d. Philol., ergänzungsb. s. 211.
Ein prädicatives attribut kann die selbe function haben wie ein
durch eine conjunetion eingeleiteter nebensatz. In folge davon können
manche conjunctionen auch dem blossen adj. vorgesetzt werden, wo-
durch eine genauere bezeichnung des Verhältnisses erreicht wird. So
besonders im englischen, vgl. talents angel-bright, if wanting worth, are
shining insfruments (Young); 7ior ever did I love thee less, though mour-
ning o'er thy frickedxess (Shelley); Mac Jan, tvhile putting on his clothes,
was shot throwjh the head (Maeaulay).i) Auch im deutschen können
wir sagen: ich tat es, obschon gezwungen u. dergl. Entsprechend wer-
den im lat. manche conjunctionen dem abl. absol. vorgesetzt, vgl.
quamvis iniqua pace honest e tarnen viverent (Cic); etsi aliquo accepto
delrimento (Caes.); etsi magno aestu (Cic.).^) Die conjunctionen quasi und
') Vgl. Mätzner III, s. 72.
=*) Vgl. Draeger Jj .592.
137
sivc, die ursprünglich nur satzeinleiteiul gewesen sein können, werden
ganz allgemein blossen Satzgliedern beigefügt.
Umgekelirt führt die Übereinstimmung in der function zwischen
nebensätzen und präpositioncllcn bestimmungeu dazu, präpositionen
zur einleitung von nebensätzen anzuwenden. So besonders im eng-
lichen, vgl. for I cannot flaiter thee in pride (Sh.), afler he had begollen
Seih (Genesis), ivithout theij wei^e ordered (Marryat); besonders all-
gemein sind so tu, und/ üblich. Es muss jedoch berücksichtigt werden,
dass hier die constructioncu mit for (hat, after that etc. danel)en stehen.
Auch vor indirecten fragen steht eine präp.: al the idca of how sorry
shc would he (Marryat), the daily quarreis ahout who shall squander
most (Gay)'); vgl. span. este capitulo hahla de como el rey non deha
consent ir; entsprechend im portug. und altit.-).
Sehr häufig entsteht auch auf syntaktischem gebiet durch cou-
tamination ein pleonasmus. So z. b. im lat. eine häufung von ver-
gleichungspartikeln (vgl. Draeg. § 516, 14), wie pariter hoc fit atque ut
alia facta sunt (Plaut); damit vgl. mau unser volkstümliches als wie.
Aehuliche häufuugen sind lat. quasi si (Draeg. § 518, 1 b), nisi si (ib.
§ 557 f. C;). Im engl, ist es bekanntlich in vielen fällen möglich eine
Präposition entweder zum subst. oder zum regierenden verl)um zu
stellen; es kommt aber auch beides combiniert vor, vgl. z. b. that fair
for ii'Mch love groan'd for (Shakesp.). Besonders kühn sind fügungen
wie engl, of our generals (Shakesp.) statt of our yeneral oder our gene-
rale. Nicht selten wird zu ortsadverbien , die an sich schon die ricli-
tung woher bezeichnen, noch eine die nämliche richtung bezeichnende
präp. gesetzt, die eigentlich mit einem die ruhe an einem orte be-
zeichnenden adv. verbunden werden sollte, ^gl. lat. deinde, cxinde,
dehinc, ahhinc\ nlid. von hinnen, von dannen, von wannen. Im lat. findet
sich beim pass. öfters eine pleonastische bezeichnung des plusqu.:
censa fuerunt civium capita (Liv.); sicuti praecepium fuerat (Sali.); vgl.
Draeg. § 134. Häufig begegnet man Wendungen wie erlauben Sie, dass
ich mich dabei beteiligen darf vgl. die beispiele bei Andr. Spr. 136. 7.
Viele beispiele bieten auch hier die Steigerungsformen des adj.
und adv. Im mhd. wird dem comparativ öfters noch ein baz hinzu-
gefügt, also grcezer baz etc.; ebenso im lat, hauptsächlich bei den
komikern magis oder potius, im griech. (läXXov (vgl. Ziem. Comp. 154. 5);
so auch got mais vulf^rizans. Aehnliches kommt auch beim superl.
vor, vgl. näXiöxa fityiöTOv (Xen.), die zunächslstehendsten (Frankf zeit
nach Andr.). Damit zu vergleichen sind Verbindungen wie magis {polius)
tnalle, prius praecipere, xXtov jtQOTifiäv (Xen.), jtQÖttQov jiQoXafißäveiv
') Vgl. Mätzner III, s. 445.
2) Vgl. Diez III, s. 3S8.
138
(Dem.). Lcssiug" sagt im Laok. nicinand halle mehr reehl^ wegen eines
solchen yesehnieres bekannl er zu sein. Der eomparativ wird mit
eiuer den vorziig- bezeieliueuden präp. verbunden, die eigentlich nm*
neben dem positiv stehen sollte: oiooiv ij zvQavviq jiqo e?.8vd-£Qb/g ^v
dojtaotörtQor (Herodot), cuQercÖTSQOv tivat xov xaXw d-ävaxov avrl
xoZ aioxQov ßiov (Xen.), j)rae illo plenius (Gellius), anle alios immanior
omnis (Virg.), vgl. Ziem. Comp. 95 K Wolfram v. Eschenbach stellt die
beiden möglichen Wendungen vollständig neben einander: diu prüevel
nuuiegen für in baz dan des mares herren Parziväl {in bezieht sich auf
Parzival).
Die weiteste Verbreitung hat der auf contamination beruhende
pleonasmus auf dem gebiete der negation. Aus unserer jetzigen
Schriftsprache ist er ziemlich ausgemerzt, aber im vorigen Jahrhundert
ist er noch sehr gewöhnlich. So steht nach ausdrücken, die einen
negativen sinn haben, im abhängigen durch dass eingeleiteten satze
eine uns jetzt unlogisch erscheinende negation, vgl. es kann nichl fehlen,
dass die meislen summen Uzt nicht gegen mich sein sollten (Le.); wird
das hindern kÖJinen, dass ?nan sie nicht schlachtet ? (Schi.); der Verfasser
vcrhittet sich, dass tnan seine schrift nicht zu den elenden spöl/ereien
rechne (Claudius); dir abzuraten, dass du sie nicht brächtest (Schi.); nun
will ich zwar nicht läugnen, dass an diesen büchern nicht manches zu
verbessern sein sollte (Le.); ich zweifle nicht, dass sie sich nicht beide
über diese kränkung hinwegsetzen werden (Le.); der lord Sliaftesbury er-
klärt sich dawider, dass man nicht zu viel tvahrheil sagen solle (Über-
setzung des Tom Jones 1771). Entsprechend heisst es schon im mlid.
dar umbe Uez er daz , daz er niht wolle minnen (Kudrun); ich wil des
haben rät, daz der küene Hartmuot U mir niht enstät (ib.); weitere bei-
spiele bringt Dittmar, Zeitschr. f. d. Philol., ergänzungsband 299 if.
Notwendig ist die negation schon im mhd. nicht. Ist der regierende
satz negiert, so pflegt im mhd. der abhängige satz nicht durch eine
conjunction eingeleitet zu werden; man braucht statt dessen bloss die
negation en mit dem conjunctiv, vgl. mm vrouwe sol luch niht erlän im
saget iuwer mwre. Die entstehung dieser constructionen werden wir
uns 80 zu denken haben, dass der gedanke des abhängigen satzes
sich einerseits als abhängig von dem regierenden satze, anderseits als
etwas selbständiges in das bewusstsein drängte. Wenn es z. b. in der
Kudrun heisst daz wil ich widerraten, daz ir ?nich mit besemen gesträfet
nimmer mer, so ist das eigentlich eine mischung aus den beiden ge-
danken „davon will ich abraten, dass ihr mich jemals wider straft*
und „straft mich niemals wider". Diese erklärung ist allerdings nur
auf diejenigen fälle anwendl)ar, in denen der regierende satz positiv
ist. Erst nachdem die Verwendung der negation usuell geworden ist,
139
kaim sie auf die tälle mit negativem regierenden satze übertragen sein.
Es ist möglich, ja walirseheinlieh, dass die Setzung der uegatiou tra-
dition aus einer zeit her ist. in welcher eine eigentliche grammatische
Subordination des einen satzes unter den andern überhaupt noch nicht
stattfand. Immerhin haben wir es auch dann mit einer contamination
zu tun. Verwandte erscheinungen liegen im lat.. in den romanischen
sprachen und anderwärts vor.
In entsprechender weise erscheint die negation auch neben dem
inf., wo die herleitung aus ursprünglicher Selbständigkeit nicht möglich
ist; vgl. freilich hüten wir uns sie nicht an den gnädigen herrn zu er-
innern (Goe.); ich habe verschworen nicht mehr an sie zu denken (Goe.);
ich habe es verredet, in meiner gegenwärtigen läge niemals wieder eine
nacht in Braunschweig zu bleiben (Le.); der habe ihm verboten, den ring
weder der kön/gin zu geben, noch dem grafen zurück zu senden (Le.).
Auch nach einem an sich nicht negativen, aber negierten ausdrucke
lässt sich negation nachweisen, vgl. vnd gentzlich kein hoffnung mehr
handt zu samb zu kummen nimmer meh (H. Sachs).
In verschiedenen sprachen findet sich eine pleonastische negation
nach ohne (vgl. Mätzner, franz. § 268), z. b. franz. sans niil cgard pour nos
scrupules (Beranger); span. sin fuerza ninguna (Calderon); it. senza dir
niente, span. sin liablar palabra ninguna ; franz. sans que son visage w't'.r-
primdt la peine (Saint-Pierre); span. sin que nadie le viese (Cervantes);
nhd. ohne dass wir bei seiner beurteilung weder auf irgend ein gesetz
noch auf irgend einen zweck rücksicht nehmen (Schi.); ohne dass ich
weder von dem vorhergehenden noch von dem nachfolgenden irgend unter-
richtet gewesen wäre (Goe.); ein anderes beispiel bei Audr. s. 145.
Ebenso nach ausser: ihr findet Widersprüche überall, ausser da nicht,
wo sie wirklich sind (Le., vgl. Andr. a. a. o.). Nach als, welches auf
ein vorhergehendes nichts bezogen ist, vgl. es mangelt ihm nichts, als
dass es nicht gekläret ist (Schoch); es fehlt nichts als dass du nicht da
bist (Goe.).
"Wörtern, die an sich keine absolut negative bedeutung haben,
sondern nur durch litotes wird noch ein eigentlich negatives wort
hinzugefügt. So kann im mhd. neben selten ein nie stehen, z. b. ein
wip, der ich selten nie vergaz (^linnesinger); daz man nie deheinen also
riehen so senftes willen selten vant (Biterolf): ebenso ist selten nieman
= selten, d. h. niemals jemand. Im nhd. findet sich ein negatives w^ort
zuweilen nach kaum: nichts mag kaum sein so ungelegen =^ kaum kann
etwas so schwierig sein (Fischart, vgl. DWb .5, 355); nach schwerlich :
schwerlich niemals (Le., vgl. Sanders 2b, 1048b).
Cap. IX.
Ur Schöpfung.
Wir haben es uns bisher zum gesetz gcmacbt uns unsere an-
sehauuugen über die sprachlichen Vorgänge aus solchen beobachtungen
zu bilden, die wir an der historisch deutlich zu verfolgenden entwieke-
lung machen konnten, und erst von diesen aus rückschlüsse auf die
Urgeschichte der spräche zu machen. Wir müssen versuchen diesem
l)rincipe auch bei der beurteilung der urschöpfung möglichst treu zu
bleiben, wenn sich hier auch grössere Schwierigkeiten in den weg
stellen. Sie unmittelbar zu beobachten bietet sich uns nicht leicht die
gclegenheit. Denn solche singulären fälle, von denen uns wol einmal
berichtet wird, wie etwa die willkürliche erfindung des wertes gas
können nicht gerade viel aufschluss über die natürliche sprachent-
wickelung geben. So schwebt denn über dem Vorgänge ein gewisses
mystisches dunkel, und es tauchen immer wider ansichten auf, die ihn
auf ein eigentümliches vermögen der ursprünglichen menschheit zurück-
führen, welches jetzt verloren gegangen sein soll. Solche anschauungen
müssen entschieden zurückgewiesen werden. ' Auch in der gegenwärtig
bestehenden leiblichen und geistigen natur des menschen müssen alle
bedinguugen liegen, die zu primitiver sprachschöpfung erforderlieh sind.
Ja, wenn die geistigen anlagen sich zu höherer Vollkommenheit ent-
wickelt haben, so werden wir daraus sogar die consequenz ziehen
müssen, dass auch diese bedingungen jetzt in noch vollkommenerer
weise vorlianden sind als zur zeit der ersten anfange menschlicher
spräche. Wenn wir im allgemeinen keinen neuen sprachstofif mehr
schaffen, so liegt das einfach daran, dass das bedürfniss dazu nicht
mehr vorhanden ist. Es kann kaum eine Vorstellung oder empfindung
in uns auftauchen, von welcher nicht eine associationsleitung zu dem
überlieferten sprachstofif hinüberführte. Dies massenhafte material, auf
das wir einmal eingeübt sind, lässt nichts neues neben sich aufkommen,
zumal da es sich durch mannigfache zusammenfügung und durch be-
deutungsü))ertragung bequem erweitern lässt. Würde man aber das
141
experiment maelieu eine auzahl von kinderu oliue bekaiintsehaft mit
irg-eud einer spräche aiifwaeliseii zu lassen, sie sorgfältig abzuseliliessen
und nur auf den Aerkehr unter sieh einzuschränken , so brauchen wir
kaum zweifelhaft zu sein, was der erfolg sein würde: sie würden sich,
indem sie heranwüchsen, eine eigene spräche aus selbstgeschaffeuen
Wörtern bilden.
Etwas einem solchen experimente wenigstens annähernd gleich-
kommendes soll wirklich vorliegen. Bekannt ist durch Max Müllers
Vorlesungen der bericht des Robert Moffat über die sprachlichen zu-
stände in -vereinzelten wüstendörfern Südafrikas. Danach sollen sich
dort die kinder während häufiger langer abwesenheit ihrer eitern selbst
eine spräche erfinden. Doch möchte ich ohne die mitteilung genauerer
beobachtungen nicht zu viel wert auf solche angaben legen.
Aber wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Wir sind, glaube
ich, zu der behauptuug berechtigt, dass selbst in den sprachen
der europäischen culturvölker die Schöpfung neuen Stoffes
niemals ganz aufgehört hat. Nach allen fortschritten, welche die
indogermanische etymologie in den letzten decennien gemacht hat,
bleibt immer noch ein sehr beträchtlicher rest von Wörtern, die weder
auf wurzeln der grundsprache zurückgeführt, noch als entlehnung aus
fremden sprachen nachgewiesen werden können. Ja, wenn wir den
Wortvorrat der lebenden deutschen mundarten durchmustern, so finden
wir darin sehr vieles, was wir ausser stände sind zu dem mittelhoch-
deutschen wortvorrate in beziehung zu setzen. Gewiss müssen wir die
Ursache dieses umstandes zu einem grossen teile darin sehen, dass
unsere Überlieferung vielfach lückenhaft, unsere wissenschaftlichen coni-
binatiouen noch unvollkommen sind. Immerhin aber bleibt eine be-
trächtliche anzahl von fällen, in denen schwer abzusehen ist, wie ver-
mittelst der lautentwickelung und analogiebildung eine anknüpfung an
älteren sprachstoif je möglich werden soll. Wir werden daher den
jüngeren und jüngsten Sprachperioden nicht bloss die fiihigkeit zur
urschöpfung zuzuschreiben haben, sondern auch die wirkliche aus-
übuug dieser fähigkeit, Wir dürfen auch hier die ansieht nicht gelten
lassen, als seien in der entwickelung der spräche zwei perioden zu
unterscheiden, die eine, in welcher der ursprüngliche sprachstoff, die
sogenannten wurzeln, geschaffen würde, und eine zweite, in welcher
man sich begnügt hätte aus dem vorhandenen stoffe eombinationen zu
gestalten. In der entwickelung der Volkssprache gibt es keinen Zeit-
punkt, in welchem die urschöpfung abgeschlossen wäre. Anderseits
haben sich gewiss kurz nach den ersten urschöpfungen die selben
arten der weiterentwickelung des ursprünglich geschaffenen geltend
gemacht, wie wir sie in den späteren perioden beobachtet haben. Es
142
bestellt in dieser hinsieht zwischen den verschiedenen ent^viekelungs-
phasen kein unterschied der art, sondern nur des grades. Es ändert
sich nur das verhältniss der urschöpfung- zu der traditionellen fort-
pflanzung des geschaffenen und zu den anderweitigen mittelu der
s]trachbereicherung, der bedeutungserweiterung durch apperceptiou, der
conibination einfacher demente, der aualogiebilduug etc.
Das weseu der urschöpfung besteht, wie wir schon gesehen haben,
darin, dass eine lautgruppe in beziehung zu einer vorstellungsgruppe
gesetzt wird, welche dann ihre bedeutung ausmacht, und zwar ohne
vermittelung einer verwandten vorstellungsgruppe, die sclion mit der
lautgruppe verknüpft ist. Eine solche urschöpfung ist zunächst ein
werk des momeuts, welches untergehen kann, ohne bleibende spuren
zu hinterlassen. Damit dadurch eine wirkliche spräche entstehe, müssen
derartige hervorbringungen auch eine bleibende psychische nachwirkung
hinterlassen, in folge derer späterhin der laut vermittelst der bedeu-
tung, die bedeutung vermittelst des lautes gedächtuissmässig reprodu-
ciert werden kann. Das wort muss ferner auch von andern Individuen
verstanden und dann gleichfalls reproduciert werden.
Die erfahrungen, die wir über die entstehung neuer Wörter durch
analogiebildung und die erfassung neuer auschauungen mit hülfe des
vorhandenen wortvorrats gemacht haben, dürfen wir auch für die be-
urteiluug der urschöpfung verwerten. Wir haben bisher immer ge-
sehen, dass die benennung des neuen durch eine apperceptiou mit
dem schon benannten erfolgt, sei es, dass mau einfach die schon vor-
handene benennung auf das neue überträg-t, oder dass man aus der-
selben ein compositum oder eine ableitung bildet; d, h. also: es be-
steht ein causalzusammenhaug zwischen dem neubenannteu objeete
uud seiner benennung, vermittelt durch ein früher benanntes object.
Dieser eausalzusammenhang ist zunächst notwendig, damit die be-
nennung bei dem, der sie zuerst anwendet, hervorgerufen wird und
damit sie von andern verstanden werden kann. Erst durch mehrfache
widerholung wird eine solche causalbeziehung überflüssig, indem die
bloss äusserliche association allmählig fest genug geknüpft wird. Die
folgerung, dass auch die urschöpfung, um überhaupt geschaffen und
verstanden zu werden, eines solchen causalzusammenhanges bedarf, ist
gewiss nicht abzuweisen. Da es nun ein vermittelndes glied nicht
gibt, so muss man einen directen Zusammenhang zwischen object und
benennung erwarten. Ausserdem aber wird das verständuiss ursprüng-
lich ermöglicht gerade so wie bei der anknüpfung neuen vorstellungs-
inhaltes an ein schon bestehendes wort mit hülfe der durch die Situa-
tion gegebenen anschauung und der gebärdensprache.
Wir haben gesehen, dass in der regel nichts in der spräche
143
usuell werden kann, das nicht S])ontan von verschiedenen individuen
g-eschaffen wird. Auch gehört dazu, dass es von dem gleichen indi-
viduuni zu verschiedenen zeiten spontan, ohne niitwirkuug des gedächt-
nisses geschalten werden kann. Wenn aber der gleiche lautcomplex
sich zu \ erschiedenen malen und l)ei verschiedenen individuen an die
gleiche bedeutung anschliesst, so muss dieser anschluss überall durch
eine gleichmässig-e Ursache veranlasst sein, die ihren sitz in der natur
des lautes und der bedeutung hat, nicht in einem zufällig begleitenden
umstände. Es kann zugegeben werden, dass gelegentlich auch eine
von einem einzelnen einmal geschaftene Verbindung allgemeine Ver-
breitung findet. Aber die mög-lichkeit dieses Vorganges ist in bestimmte
grenzen eingeschlossen. Ist etwa derjenige, welcher zuerst eine be-
zeichnung für ein objeet findet, der entdecker, erfinder des betreffenden
objects, so dass alle übrigen von ihm darüber unterrichtet werden, so
ist damit auch der von ihm gefundenen bezeichnung eine autorität ver-
liehen. Bei den wenigsten objecten ist ein solches verhältniss denkbar.
In der regel kann es nur die angemessenheit der bezeichnung sein,
was ihr allgemeinen eiugang verschafft, d. h. also wider die innere be-
ziehung zwischen laut und bedeutung, die, wo eine vermittelung fehlt,
auf nichts anderem beruhen kann als auf dem sinnlichen eindruck des
lautes auf den hörenden und auf der befriedigung, welche die zur er-
zeuguug des lautes erforderliche tätigkeit der motorischen nerven dem
sprechenden gewährt.
Fassen wir nun die Wörter, bei denen ein begründeter verdacht
vorliegt, dass sie verhältnissmässig junge neuschöpfungen sind, näher
ins äuge, so zeigt sich, dass es vorzugsweise solche sind, welche ver-
schiedene arten von geräuschen und bewegungen bezeichnen. Mau
vgl. z. b. nhd. hamheln, hammein, bummeln, himmeln, balzen (nd. schal-
lend auffallen), bauzen (= batzen — bellen), helfen^ belfern, blaffen,
hlaiTen, blerren, Matzen, platzen, pletzen, bletschen, fletschen, platschern,
planschen, panschen, plätschern, blödem, plaudern, blubbern, plapppern,
blauzen, böller, hollern, bullern, hallern, boldern, poltern, bompern, hum-
pern, buff, huffen, pu/f, puffen, burren, buhbeln, puppein, puppern, dudeln,
fimmeln, fummeln, flattern, flinder, flindern, flinderling, flandern, flink,
flinken, flinkem, flirren, flarren, flarzen, flartschen, flismen, flispem, flitter,
flodern, flunkern, flüstern, gackeln, gackern, gautsche, gauischen, glucken,
glucksen, grackeln, hampeln, humpen, humpeln, hätscheln, holpern, hurren,
hussen, kabbeln, kichern, kirren, kischen (zischen), klabastetm, klachel
oder klächel (bairisch = glockenschwengel oder anderes baumelndes
ding), klatschen, kletzen, kleschcn (= klatschen), klimpern, klirren,
klunker, knabheln, knabbern, knacken, knacks, knarpeln, knarren, knarzen,
knarschen, knirren, knirschen, knurren, knascheln, knaspeln, knastern.
1
144
knisten, knistern, knaster{-hart), knatschen, knetschen^ knilschen, knutschen,
knatleyii, knittern, kmiß'en, knüffeln, knüllen, knuppern, knuspern^ kollern,
kullern, krabbeln, kribbeln, krakeln, krakeln, kreischen, kuckern, {cucurire)^
lodern, lullen, mucken, mucksen, munkeln, nutschen, pfuschen, pimpeln,
pim/ielig, pinken, pladdern, jilumpen, plumpsen, prasseln, prusten, quabbeln,
quabbelig, quackeln, quaken, quäken, quiken^ quitschen, rappeln, rapsen,
rascheln, rasseln, räuspern, rempeln, rummel, rumpeln, rüppeln, schlabbern,
schlampen, schlampampen, sclilockern, schlotfern, schlürfen, schmettern,
schnack, schnacken, schrill, schummeln, schwabein, schwappen, stöhnen,
stolpern, strullen, sumfnen, surreyi, tatschen, tatschen, tätscheln, ticken,
torkeln, turzeln, (hessisch = torkeln), tuten, 7vabbeln, jvibbeln, ivatscheln,
wimmeln, wimmern, wudeln, ziepen, zirpen, zischen, zischeln, zullen
und zulpen {saugen), züsseln (schütteln), zwitschern. Einige Wörter
bezeichnen zugleich schall und zerplatzen wie klack, klaff; andere
schall und Schmutzfleck wie klacks, klecks, klatsch. Ich habe mich
absichtlich auf solche Wörter eingeschränkt, die frühestens im spät-
mittelhochdeutschen nachweisbar sind. Man könnte ebenso eine reich-
liche liste deraiüger Wörter aus den älteren germanischen dialecten
zusammentragen, die nichts vergleichbares in den übrigen indoger-
manischen sprachen haben, desgleichen aus dem griechischen und
lateinischen. Man wird sich dem Schlüsse nicht entziehen können, dass,
wenigstens so weit unsere beobachtungen zurückreichen, hier das eigent-
liche gebiet der sprachlichen urschöpfung liegt.
Dass wir bei dieser art von Wörtern eine innere beziehung von
klang und bedeutuug empfinden, ist allerdings im einzelnen falle kein
beweis dafür, dass sie wirklich einer solchen beziehung ihren Ursprung
verdanken. Denn es gibt nachweisslich eine anzahl von Wörtern, die
erst durch secundäre entwickelung eine solche lautgestaltung oder eine
solche bedeutung erlangt haben, dass sie den eindruck onomato-
poetischer bildungen machen. Aber ein überblick der Wörter in ihrer
gesammtheit schliesst doch die annähme durchgehenden zufalls aus.
Es fällt dabei noch ein umstand schwer ins gewicht, nämlich die
häufigkeit ähnlicher, namentlich nur durch den vokal verschiedener
Wörter von gleicher oder sehr ähnlicher bedeutung die doch nicht
lautgesetzlich aus einer grundform abgeleitet werden können. So
finden sich auch vielfach in verschiedenen sprachen ähnlich klingende
Wörter dieser art, die doch nach den lautgesetzen nicht verwandt sein
können.
Nur aus dem onomatopoetischen triebe erklären sich auch gewisse
Umgestaltungen schon fertiger Wörter. Eines der charakteris-
tischsten Ijeispiele ist mhd. gonch = nhd. kukuk mit den zwischen-
formen guckauch, kuckuch und ähnlichen. Auch diese bildungen be-
145
zeiclmcn zum teil g-eräusche, zum teil unruhige beweguugen. Der-
gleichen Umwandlungen sind von dem lautwandel gänzlich zu trennen
und als partielle neuschöpfungen zu betrachten. Auch die weiter
oben angeführten Wörter können nicht als totale neusehöpfungen be-
trachtet werden, wie noch später zu erörtern sein wird. Absolute neu-
sehöpfungen sind eigentlich nur die iuterjectionen.
Es wird hier der ort sein etwas näher auf das wesen dieser
Wortart einzugehen. Uns muss vor allem die frage interessieren, ob
man in ihnen mit recht die primitivsten äusserungen der sprechtätig-
keit zu sehen hat, wie von verschiedenen selten angenommen, von
andern bestritten ist. Wir verstehen unter interjectionen unwillkürliche
refiexlaute, die durch den aflfect hervorgetrieben werden, auch ohne
jede absieht der mitteilung. Man darf aber darum nicht die Vor-
stellung damit verknüpfen, als wären sie wirkliche naturlaute, die mit
ursprünglicher uotwendigkeit aus dem affecte entsprängen wie lachen
und weinen. Vielmehr sind die interjectionen, deren wir uns gewöhn-
lieh bedienen, gerade so gut durch die tradition erlernt wie die übrigen
elemente der spräche. Nur vermöge der association werden sie zu
reflexbewegungen, weshalb denn auch die ausdrücke für die gleiche
empfiudung in verschiedenen sprachen und mundarten und auch bei den
verschiedenen Individuen der gleichen mundart je nach der gewöhnung
sehr verschieden sein können. Es ist ja auch eine in den verschie-
densten sprachen zu machende beobachtung, dass interjectionen aus
andern Wörtern und wortgruppeu entstehen, vgl. z. b. ach gott^ alle
weiter, gotl sei dank, leider. Durch lautveränderungen kann der Ur-
sprung so sehr verdunkelt werden, dass er selbst bei angestellter
reflexion nicht mehr zu erkennen ist, vgl. herrje (Jierr Jesus), jemine
{Jesu domine). Wir sind daher auch bei den in keiner weise analy-
sierbaren und scheinbar ganz einfachen interjectionen nicht von vorn-
herein sicher, ob sie nicht auf ähnliche weise entstanden sind. Aber
anderseits tritt uns gerade unter den erst spät auftauchenden inter-
jectionen, bei denen eine derartige Verdunkelung der etymologie nicht
wol anzunehmen ist, eine beträchtliche auzahl entgegen, die entweder
zu gar keinen andern Wörtern in beziehung gesetzt werden können
oder nur zu der eben besprochenen kategorie, von denen es daher
mindestens in hohem grade wahrscheinlich ist, dass sie unmittelbar
durch reflexbewegung entsprungen sind. Die meisten unter diesen
und die individuellsten in bezug auf die lautform und den empfindungs-
ton sind reactionen gegen plötzliche erregungen des gehörs- oder ge-
sichtssinnes. So müssen wir wol wenigstens ihr ursprüngliches wesen
auffassen. Sie werden dann auch bei der erinnerung und erzählung
der solche plötzliche erregung wirkenden Vorgänge gebraucht. Ich
Paul, Principien. II. Auflage. 10
146
meine Wörter wie nhd. paff^ patsch, hardautz, perdauz, bauz, hlauz, blaff,
bu/f, puff, bums, futsch, hurre, husch, hissa, klacks, klaps, kladderadatsch,
knacks, plump, plumps, ratsch, rutsch, schrumm, schwapp, rvupp etc.
Älauche dieser Wörter sind auch substantiva oder haben verba
zur Seite, und es ist dann zum teil schwer zu sagen, was eigentlich
das ursprüngliche ist. Es ist das aber auch nicht von belang, sobald
die Wörter als reactioneu gegen die siuneserregung anerkannt sind.
Der onomatopoetische Charakter solcher Wörter tritt noch stärker her-
vor bei der häufig angewendeten Verdoppelung und Verdreifachung,
ganz besonders wenn dabei die mehrfach gesetzten demente durch
ablaut differenziert werden, vgl. fickfack, gickgack, kliffklaff, klippklapp,
klitschklatsch, klimperklamper , kribbeskrabbes , krimskrams, mickmack,
pinkepanke, ripsraps, ritschratsch, Schnickschnack, schnipp schnapp {schnür),
stripsfrap (strull), schfvippschrvapp, ticktack, lirumlarum, bimbambum, piff-
paffpuff; engl, criddle-craddle, rviddle-waddle; franz. clic-clac, cric-crac,
dreün-drehm. Diese Wörter werden zum teil auch als substantiva ge-
braucht, und es werden direct substantiva so gebildet, vgl. kringel-
krangel, tbujellangel', auch werden weitere ableitungen aus solchen bil-
duugen gemacht wie fickfacken, fickf'acker, /vlbbelrvabbelig. Uebrigens
wird dabei mehrfach alter sprachstoff benutzt, der sonst gar keinen
interjectionellen Charakter hat, vgl. klingklang, Singsang, hickhack, misch-
masch, Wirrwarr, Zickzack. Vgl. auch onomatopoetische ausgestaltungen
wie klingt ingling (vielleicht aus klinklingkling entstanden), hoppsasa.
Aus dem selben triebe entsprungen, aber in den grenzen der normalen
spräche sich haltend sind Verbindungen mehrerer nur durch den voka-
lismus verschiedener schallwörter, wie ffimmen und flammen, ffimmern
und flammern, kickezen und kackezen, klippen und klappen, klippern und
klappern, klislern und klasiern, klitschern und klatschern, knistern und
knastern, knittern und knattern, krimmen und krammen, kritzen und
kratzen, gekritz und gekratz, rischeln und rascheln (alle durch beispiele
aus Schriftstellern belegt).
Onomatopoetisch sind ferner die meisten Wörter der ammen-
sprache, und auch in ihnen spielt die reduplication eine grosse rolle,
vgl, wauwau, putput, papa, mama etc. Diese spräche ist nicht eine er-
findung der kinder. Sie wird ihnen so gut wie jede andere spräche
überliefert. Ihr wert besteht darinn, dass sie einem leicht erkenn-
baren i)ädagogischen zwecke dient. Die innere beziehung des lautes
zur bedeutuug, welche in ihr noch besteht und jedenfalls immer neu
geschaffen wird, erleichtert die Verknüpfung beider sehr erheblich.
Das geht sogar so weit, dass auch die Wörter der ausgebildeten spräche
teilweise zuerst in einer composition mit Wörtern der ammensprache
erlernt werden, vgl. wautvauhund, bäschaf, puthuhn und dergl.
147
Zwischen den urschöpfuugen , clurcli welche eine schon aus-
gebildete spräche bereichert wird, und denjenigen, mit welchen die
spnichschöptung überhanpt begonnen hat, ist noch ein bedeutender
unterschied. Jene tilgen sich, soweit sie nicht reine interjectionen sind,
in das schon bestehende formensystem ein. Sie erscheinen mit den
zu der zeit, wo sie geschaffen werden, üblichen ableitungs- und flexions-
silben. In poltern z. b., wenn es hierher gehört, ist nur polt- durch
urschöpfung, -ern nach analogie gebildet. Wir können daher in einem
solchen werte eigentlich nur eine paiüelle urschöpfung anerkennen.
Wir sehen übrigens aus diesem beispiele, dass das, was man gewöhn-
lich als Wurzel aus einem werte abstrahiert, durchaus nicht immer
einmal als selbständiges dement existiert zu haben braucht, auch
nicht in einer älteren lautgestalt, sondern sogleich J)ei seinem entstehen
mit einem oder mehreren suffixen versehen sein kann und versehen
sein muss, sobald es der dermalige sprachzustand erfordert.
Nicht bloss die suffixe werden nach analogie des vorhandenen
Sprachmaterials geschaffen, sondern auch die function als subst., verb.
etc., und es wird also auch damit etwas in die neuen Wörter hinein-
getragen, was nicht auf urschöpfung beruht.
Bei den ersten Schöpfungen, mit denen die spräche be-
gonnen hat, kann natürlich von einem solchen mitwirken der ana-
logie keine rede sein. An ihnen kann noch keine spur einer gram-
matischen kategorie haften. Sie entsprechen ganzen anschauungen
Sie sind primitive Sätze, von denen wir uns noch eine Vorstellung
machen können auf grundlage der s. 104 besprochenen aus einem werte
bestehenden sätze wie diebe^ (euer. Sie sind also auch wie diese eigent-
lich prädicate, zu denen ein sinnlicher eindruck das subj. bildet. Da-
mit der mensch zum aussprechen eines solchen satzes gelangt, muss
aus der fülle dessen, was gleichzeitig in seine Wahrnehmung fällt,
etwas bestimmtes ausgesondert werden. Da nun diese aussonderung-
noch nicht durch eine logische Operation bewerkstellig-t werden kann,
so muss sie durch die aussenwelt veranlasst werden. Es muss etwas
vorgehen, wodurch die aufmerksamkeit nach einer bestimmten richtung
hin fixiert wird. Nicht die ruhende und schweigende weit, sondern
die bewegte und tönende ist es, deren sieh der mensch zuerst bewusst
wird, und für die er die ersten spraehlaute schafft. An stelle einer
bewegung der Umgebung kann auch eine bewegung des eigenen leibes
dienen, wodurch die äugen plötzlich auf einen unerwarteten anblick
gelenkt werden. Der eindruck wird natürlich um so intensiver sein,
wenn dadurch freude oder schmerz, begierde oder furcht erregt werden.
Es ist also das die aufmerksamkeit erregende object zugleich mit .dem,
was an dem objecte vorgeht, was durch den sprachlaut bezeichnet
lü*
148
wird. Wir nähern uns dieser primitiven Sprechweise noch jetzt in aus-
rnfnngen der Überraschung und im affect. Wir können also von den
ältesten Wörtern sagen, dass sie den unvollkommenen ausdruck einer
anschauung-, wie sie später durch einen satz widergegeben wird, mit
iuterjeetiouellem Charakter verbinden.
Noch in anderer hinsieht muss es sich mit den ersten urschöpf-
ungen anders verhalten als mit den später nachfolgenden. Bei den
letzteren kann von aufang au die absieht der mitt eilung mitwirken
bei den ersteren nicht. Zu absichtlicher ausübung einer tätigkeit be-
hufs eines bestimmten Zweckes gelangen wir erst, nachdem wir die
erfahruug gemacht haben, dass dieser zweck dadurch erreichbar ist,
und diese erfahrung macheu wir, indem wir sehen, dass die unabsicht-
lich oder in anderer absieht angestellte tätigkeit den betreffenden erfolg
gehabt hat. Vor Schöpfung der spräche weiss der mensch nichts da-
von, dass er einem andern mit hülfe der sprachlaute etwas mitteilen
kann. Dieser grund allein würde genügen um jede annähme einer
absichtlichen erfindung zurückzuweisen. Wir müssen in bezug auf die
ersten sprachlaute durchaus bei Steinthals >) ansieht stehen bleiben,
dass sie nichts anderes sind als reflexbewegungen. Sie befriedigen
als solche lediglich ein bedürfniss des einzelnen Individuums ohne
rücksicht auf sein zusammenleben mit andern. Sobald aber ein sol-
cher reflexlaut von andern Individuen percipiert wird zugleich mit der
sinnlichen Wahrnehmung, die ihn hervorgerufen hat, so kann beides in
beziehung zu einander gesetzt werden. Dass ein anderes Individuum
diese beziehung empfindet, kann auf dem wirklichen causalzusammen-
hange beruhen, der zwischen der Wahrnehmung und dem laute durch
vermitteluug der nervenerregung besteht. Sind die verschiedenen Indi-
viduen im wesentlichen gleich organisiert, so wird der gleiche sinn-
liche eindruck in ihnen ungefähr den gleichen reflexlaut erzeugen, und
sie müssen sich, wenn sie den selben von andern hören, sympathe-
tisch berührt fühlen. Gewiss aber ist die zahl der so erzeugten reflex-
laute eine verhältnissmässig geringe gewesen. Erheblich von einander
abweichende anschauungen werden den gleichen reflexlaut hervorge-
rufen haben. Es ist daher auch zunächst noch durchaus nicht daran
zu denken, dass ein solcher laut, auch wenn er widerholt von ver-
schiedenen Individuen in der gleichen weise hervorgebracht wäre, das
erinnerungsbild einer bestimmten anschauung wach rufen könnte. Alles,
was er vermag, besteht nur darin, dass er die aufmerksamkeit erregt.
') Vgl. seinen 'Ursprung der spräche' und seine 'Einleitung in die psyclio-
logie und spraeliwisseuschaft'. Ich gehe über alles, was er meiner meinung nach
überzeugend dargetan hat, kurz hinweg.
149
Öpecielleren Inhalt gibt erst die auschauimg selbst. Dass die aufnierk-
samkeit der übrigen individiicu sieh auf denselben gegenständ lenkt,
welcher in dem einen oder in mehreren den reflexlaut hervorgerufen
hat, kann zum teil durch die begleitenden gebärden veranlasst sein.
Wir werden uns Überhaupt zu denken haben, dass die lautsprache
sich in ihren anfangen an der band der gebärdensprachc
entwickelt hat, dass ihr die Unterstützung durch dieselbe erst nach
und nach entbehrlieh geworden ist, je weiter sie sich vervoUkomment
hat. Die gebärdensprachc muss natürlich gleichfalls von unwillkür-
lichen reflexbewegungen ihren ausgang genommen haben. Bei ihr ist
dieser Ursprung noch viel leichter erkennbar, weil wir sie auf einer
primitiveren stufe der entwickeluug beobachten können. Ist es einem
Individuum widerholt gelungen durch eine reflexbewegung die auf-
merksamkeit zu en-egen, mag sie nun in den äugen, den gesichts-
zügen, den bänden oder in den sprechorgaueu ihr endziel finden, so
wird es allmählig dazu geführt, dass es mit hülfe der betreftenden be-
wegung auch absichtlich die aufmerksamkeit zu erregen sucht, sobald
es durch das bedürfniss dazu gedrängt wird.
Ist einmal die mögliehkeit der absichtlichen mitteiluug erkannt,
so hindert nichts mehr, dass zu den durch unwillkürliche reflex-
bewegung erzeugten lauten auch solche hinzutreten, zu deren erzeugung
von aufang an die absieht der mitteilung mitgewirkt hat. Wir müssen
aber betonen die absieht der mitteiluug, nicht etwa die absieht ein
bleibendes Werkzeug der mitteiluug zu schaffen. Eine solche absieht
bleil)t wie überall in der natürlichen sprachentwickelung, so auch bei
der ursehöpfung ausgeschlossen. Es ist das bedürfniss des augen-
blicks, welches eine neue lautgruppe hervorbringt. Ob aber eine solche
lautgruppe mit der ersten hervorbringuug zu gründe geht, oder ob sie
eine bleibende Wirkung hinterlässt, das hängt von ihrer beschaffenheit
und von vielen zufälligen umständen ab.
Noch von einer Schwierigkeit müssen wir sprechen, die erst über-
wunden werden muss, bevor auch nur die ersten anfange einer spräche
sich herausbilden können, einer Schwierigkeit, die, soviel ich sehe, bis
jetzt noch nirgends gewürdigt ist. Der urmensch, der noch nicht ge-
sprochen hat, kann so wenig wie ein neugeborenes kind irgend einen
sprachlaut willkürlich erzeugen. Auch er muss das erst lernen, auch
bei ihm kann sich erst allmählig durch mannigfache tätigkeit der
Sprechorgane ein mit einem lautbilde associiertes bewegungsgefühl
herausbilden, welches dann einen regulator für sein sprechen abgeben
kann. Man darf sich dalier nicht einbilden, dass eine lautgruppe, wie
sie einmal von einem Individuum hervorgebracht wurde, nun sofort
von den andern hätte nachgeahmt werden können. Nicht einmal das
150
selbe individuiini konnte sie absichtlich widerholcn. Die sache liegt
ftir den Urmenschen noch viel schwieriger als für ein kind unserer
zeit. Das letztere ist in der regel von einer anzahl von menschen um-
geben, bei denen sich schon wesentlicli übereinstimmende beweguugs-
gefUhle ausgebildet haben. Es hört daher aus der menge der mög-
liehen laute eine l)estimmt abgegrenzte anzahl immer wider von neuem.
Damit ist von vornherein eine bestimmte richtuug gegeben, nach wel-
cher sich seine eigenen bewegungsgefühle entwickeln, der sich seine
sprechversuche immer mehr annähern. Für den menschen vor der
Sprachschöpfung gibt es keine norm, keine autorität. Es scheint dem-
nach, dass das sprechen mit einem durcheinander der verschieden-
aiügsten articulationen . wie sie jetzt nirgends in einer spräche bei-
sammen zu finden sind, begonnen haben müsse. Wie konnte aber aus
einem solclien gewirr sieh eine gleichmässigkeit des bewegungsgeftihles
herausbilden ?
Wir werden auch von dieser seite her wider zu der annähme
gedrängt, dass gewisse lautgruppen besonders häufig nicht nur von
dem gleichen, sondern auch von verschiedenen Individuen spontan, d. h.
ohne mitwirkung irgend welcher nachahmuug im wesentlichen gleich-
massig erzeugt sein müssen. Nur für solche den natürlichen bedingungen
nach l)evorzugte lautgruppen kann sich in ermaugelung einer schon be-
stehenden norm ein bewegungsgefuhl herausbilden. In einer solchen
bevorzugten läge befinden sich am ehesten die reinen reflexlaute, und
an ihnen werden sich die ersten bewegungsgefühle entwickelt haben.
Wir können es uns auch nicht wol anders vorstellen, als dass die
bewegungsgefühle für die einzelnen laute sich sehr langsam eins nach
dem andern entwickelt haben, und dass die traditionelle spräche in
ihren anfangen sich mit einem minimum von lautzeichen begnügt haben
wird, wenn auch daneben von den verschiedenen Individuen bald dieser,
bald jener laut gelegentlich hervorgebracht wurde.
Aus unseren erörterungen geht hervor, dass eine längere aus-
übung der Sprechtätigkeit vorangegangen sein rauss, bis etwas ent-
steht, was wir allenfalls eine spräche nennen können in dem sinne,
wie wir von deutscher und französischer spräche reden, sollte es auch
nur eine aus ein paar Wörtern bestehende spräche sein. Das, was
wir urschöpfung genannt haben, ist an sich nicht ausreichend eine
spräche zu schaffen. Es muss gedächtnissmässige bewahrung des ge-
schaffenen durch die zu einer genossenschaft gehörigen individueu hin-
zutreten. Erst, wo sprechen und verstehen auf reproduction
beruht, ist spräche da.
Betrachten wir dies als ausreichend für die anerkennung des
Vorhandenseins einer spräche, so müssen wir auch vielen tieren spräche
151
zuschreiben. Mau wird seliwerlich bestreiten können, dass die ioek-
iind Warnrufe derselben sehon etwas traditionelles, nielit mehr etwas
bloss sjiontanes sind. Sie repräsentieren ein eutvviekelnnf;sstadiuni,
welches auch die menschliche spräche durchlaufen haben muss, eben
dasjeniii-e, welches wir zu schildern versucht haben. Damit aber die-
jenige art von spräche entstehe, die wir jetzt bei dem ganzen menschen-
geschlechte linden, gehört noch ein weiterer schritt dazu. Es ist ge-
wiss von grosser bedeutung, dass die zahl der traditionellen Wörter
und damit die zahl der unterschiedenen anschauungen bei dem men-
schen weit über das mass irgend einer tiergattung hinausgewachsen
ist, aber der eigentliche charakteristische unterschied der menschen-
sprache von der tiersprache oder der jetzt bestehenden spräche von
der früheren entwickelungsstufe liegt in ganz etwas anderem. In der
zusammenfüguug mehrerer Wörter zu einem satze besteht der ent-
scheidende schritt vorwärts. Erst dadurch wird dem menschen auch
die möglichkeit gegeben sich von der unmittelbaren anschauung los-
zulösen und über etwas nicht gegenwärtiges zu berichten.
Cap. X.
Isolierung und reaction dagegen.
Der ziisammenscliluss der sprachelemente zu gruppen miiss, wie
wir geseheu haben, von jedem individuum einer spraehgenosseuschaft
besonders vollzogen werden. Die gruppen sind also durchaus subjek-
tiver natur. Da aber die elemente, aus denen sie sich zusammen-
setzen, innerhalb einer bestimmten Verkehrsgemeinschaft im grossen
und ganzen die nämlichen sind, so muss auch die gruppenbildung bei
allen der Verkehrsgemeinschaft angehörenden Individuen vermöge der
wesentlichen Übereinstimmung ihrer psychischen Organisation eine ana-
loge sein. Wie wir daher überhaupt nach einem gewissen durchschnitt
das in einer bestimmten periode allgemein ttbliclie darstellen, so sind wir
auch im stände für jede entwickelungsperiode einer spräche ein im
wesentlichen allgemeingültiges System der gruppierung aufzustellen.
Gerade nur dieses allgemeine im wesen der elemente, aus denen sich
die gruppen zusammensetzen, begründete ist es, woran sich die wissen-
schaftliche betrachtung halten kann, während die individuellen be-
sonderheiten von einzelnen, in der grossen masse verschwindenden aus-
nahmen abgesehen, sich der beobachtung entziehen.
Vergleichen wir nun unsere abstractionen über die gruppierungen
aus verschiedenen zeiten mit einander, so gewahren wir beträchtliche
Verschiedenheiten, und zwar nicht bloss insofern, als eine anzahl de-
mente verloren gegangen, andere neu entstanden sind; sondern auch
da, wo sich die alten elemente erhalten haben'), gruppieren sie sieh
doch anders in folge einer Veränderung, welche die lautforra oder die
bedeutung oder beides durchgemacht hat. Was sich früher fest an-
einander schloss, hängt jetzt nur noch lose oder gar nicht mehr zu-
sammen. Was frülier keinen Zusammenhang hatte, hat . sich jetzt
zusammengefunden. Den ersteren Vorgang können wir passend als
Isolierung bezeichnen, da auch die lockerung des Verbandes wenig-
stens eine paiüelle Isolierung ist. Natürlich ist auch dieser ausdruck
') Siehe folgende Seite!
153
auf dem uuvermeidlicheii operieren mit abstraetionen basiert. Streng
genommen dürfte man nicht sagen, dass das früher zusammenge-
schlossene sich isoliert habe, sondern nur, dass das in den seelcn
einer früheren generation zusammengeschlossene sich nicht auch in
den Seelen einer späteren generation zusammengeschlossen hat.
Die gruppenlnldung beruht auf gleich heit oder ähnlichkeit
der laut form und der bedeutung. Diese gleichheit oder ähnlich-
keit beruht bei weitem in den meisten fällen im letzten gründe auf
etymologischem zusammenhange. Aber nicht der etymologische
Zusammenhang an sich ist massgebend für den zusammenschluss, son-
dern auf jeder sprachstufe immer nur, soweit er sich zur zeit in totaler
oder partieller gleichheit von laut und bedeutung zu erkennen gibt;
und umgekehrt hat jede zufällig entstandene gleichheit ganz den selben
erfolg. Aus der verkennung dieser unläugbaren tatsache fliessen so
viele fehler der älteren Sprachwissenschaft.
Wir betrachten in diesem capitel zunächst die lockerung und
auseinanderreissung der gruppen. Veranlasst wird dieselbe durch
laut- und bedeutungswandel, zuweilen auch durch die analog! e -
bildung. Zwar wirkt die letztere, wie wir noch sehen werden, vor-
zugsweise zur herstellung des gestörten Zusammenhanges; indem aber
verschiedene analogieprincipe sich gegenseitig stören, kann sie auch
die entgegengesetzte Wirkung haben.
Dass die verschiedenen bedeutungen eines wertes sich mehr und
mehr gegen einander isolieren können, haben wir schon in cap. 4 ge-
sehen. Wir haben ferner ib. s. 82 gesehen, dass ein wort als dement
einer festen syntaktischen Verbindung sich isolieren kann gegenüber
seiner sonstigen verwendungsweise. Ebenso können die in cap. 5 be-
sprochenen gruppen von werten und wortformen auseinandergerissen
werden.
Die etymologisch -lautlichen gruppen werden zerstört, wenn
aus irgend welcher Ursache die bedingungen wegfallen, die den laut-
wechsel veranlasst haben und auf grund deren er sich dann weiter
analogisch geregelt hat. Durch das Vernersche gesetz ist im urger-
manischen ein durchgreifender Wechsel zwischen hartem und weichem
reibelaut entstanden {h—^, p — (5, f — ^, s — z\ bedingt durch die Stel-
lung des accentes nach der ursprünglichen (indogermanischen) be-
tonungsweise. Nachdem diese betouungsweise durch die jüngere, spe-
citisch germanische ersetzt war, gab es keinen ersichtlichen lautlichen
grund mehr für den Wechsel, derselbe musste daher als ganz willkür-
') Ich meine erhalten natürlich in dem uneigentlichen sinne, wie man ge-
wijhnlich von erhaltiing in der Sprachgeschichte spricht. Wie der Vorgang seinem
eigentlichen wesen nach aufzufassen ist, habe ich genugsam dargelegt.
154
lieh erscheinen. Es konnte sich zwar ein allgemeines ^^efühl dafür
bilden, dass die hetretfcnden laute mit einander zu wechseln pflegten,
aber man konnte sich den Sprachgebrauch nicht mehr anders aneignen,
als indem man jede einzelne form besonders erlernte. Der lautwechsel
hatte aufgehört ein lebendiger zu sein, er war erstarrt, tot. Zweitens
kann ein jüngerer lautwandel zerstörend auf diese art von gruppen
einwirken. Als beispiel kann hier wider der Wechsel nach dem Ver-
nerschen gesetz dienen. Statt des urgermanischen wechseis zwichen
hartem und weichen reibelaut haben wir im hochdeutschen den Wechsel
h — (/ (daneben ck), d — /, /— i' (daneben pp\ s — ;•. Der einartige Wechsel
hat sich also in mehrere ganz verschiedenartige gespalten, und eine
solche Spaltung ist immer eine Schwächung. Aber der eigentliche
hauptfeind der etymologisch-lautlichen gruppen ist die ausgleichende
Wirkung der stofflich-formalen proportionengruppen , die weiter unten
zu besprechen ist.
Die Isolierungen, welche auf syntaktischem gebiete eintreten
können, sind zum teil schon in cap. 7 besprochen. Wir haben hier
zunächst die Isolierungen der verschiedenen bedeutungeu eines syntak-
tischen Verhältnisses gegen einander. Hierdurch werden die syntak-
tischen proportionengruppen nicht gestört, so lange jede einzelne func-
tion des Verhältnisses vollkommen lebendig bleibt. Aber jede erstar-
rung durch gewolmheitsmässige Verbindung mit einem bestimmten
Worte ist eine loslösung- aus dem allgemeinen proportionenverbande.
So kann man z. b. kaum sagen, dass die Verbindung zu dir noch in
einem analogen verhältniss zu der Verbindung irgend einer andern
Präposition mit dem dativ stände, geschweige denn, dass eine all-
gemeinere function des dativs damit vom Sprachgefühl in eine analo-
gisclie beziehung gesetzt würde. Innerhalb einer engeren proportionen-
gruppe bleibt aber auch diese Verbindung noch stehen, und zwar einer
solchen, in welcher durch alle einzelnen propoiüonen das selbe glied
hindurchgeht: zu : dir = zu : dem vafer = zu : allen etc.
Hier kann dasjenige wort beliebig wechseln, an welchem das
syntaktische verhältniss eine besondere formelle ausprägung hat. Es
gibt noch eine andere art der Isolierung, bei der gerade dieses wort
fixiert ist, während das andere, an welchem das verhältniss keinen
ausdruck findet beliebig wechseln kann. Diese Isolierung entsteht da-
durch, dass constructionsweisen im allgemeinen untergehen, sich aber
in einzelnen resten erhalten, die wegen ihres häufigen gebrauches sich
besonders stark eingeprägt hal)en, so dass sie der Unterstützung durch
die analogen proportionen nicht bedürfen und deshalb auch nach dem
untergange der letzteren dauern können.
So gibt es im nhd. mehrere functionen des genitivs, die früher
155
vüllkommen lebendig waren, jetzt aber auf die g-enitive einiger weniger
Wörter beschränkt sind, die nun ganz für sieh stehen oder sich zu
ganz kleinen gruppen zusamnienschliesscn, welche nur einer seiir ge-
ringen oder gar keinen analogischen ausbreitung fähig sind. Zur Zeit-
bestimmung kann abgesehen von den isolierten formein derzeit, jeder-
zeit, dieser taye, nächster ta(jc nur der gen. sing, männlicher und neu-
traler substantiva verwendet werden. Wir können sagen des monjens,
eines morgens, abends, tages^ Jahres aber nicht der stunde, einer stunde
etc., übrigens auch nicht des monats. Die betreffenden genitive können
auch kein beliebiges adj. zu sich nehmen, sondern es gibt nur stehende
formein wie eines schönen tages, morgens. Die function der Zeitbestim-
mung haftet hier nicht mehr an dem gen. als solchem, sondern an
dem Suffix {e)s, dessen ursprüngliche Identität mit dem genitivsuffix
kaum noch empfunden wird. Man bemerkt dies noch deutlicher an
den formen ohne artikel abends, morgens, tags., namentlich aber an der
altertümlichen form {des) nachts, die von der form, die jetzt als eigent-
licher gen. functioniert, auch lautlich getrennt ist. Noch mehr isoliert
als diese Zeitbestimmungen sind einige genitive, die ein räumliches
vcrhältniss bezeichnen: des weg es., gerades weges, rechter hand., linker
hand, allerorten, allerwegen. Ferner einige causale genitive: hungers
sterben, todes verblichen; auch der hoffnung^ des glaubens lebe)i, wenn
diese formein nicht anders aufzufassen sind. Zahlreicher, aber eben
so isoliert sind die, welche ein modales verhältniss ausdrücken. Es
sind dabei verschiedene Verwendungen zu unterscheiden. Eine gruppe
verwandter genitive wird prädicativ gebraucht. ]Man sagt: ich bin der
ansieht, meinung, hoffnung, Zuversicht, des sinnes, des glaubens, nur ohne
artikel willens, auch anderer ansieht, guter hoffnung, auch etwa er ging
fort, der meinung, dass etc. Etwas anderer art sind guten mutes, guter
dinge. Schon altertümlich erscheinen reinen sinnes, göttlicher nalur u.
dergl. Unmittelbar wie ein adj. zum subst. gesetzt und gar nicht mehr
als genitive empfunden erscheinen, allerhand, mancherhand, eijierhand,
keinerhand, allerlei^ aller art etc. Ausserdem sagt man es ist einerlei.
Wider andere formein werden adverbial zum verbum gesetzt, wie
meines bedünkens, meines erachtens, alles ernstes, stehenden fusses, eilen-
den Schrittes, kurzer hand, leichten kaufes, unv er rieht et er sache, vorsich-
tiger fveise, törichter w., vernünftiger w., etc., vorkommenden falls, besten
f., keines f., etc., keineswegs, einigermassen, gewisserm. etc., dergestalt,
solchergestalt. Einige von diesen formein werden, wie schon die jetzt
übliche Schreibung zeigt, geradezu als adverbia angesehen. Das selbe
gilt von flugs, spornstreichs, augenblicks, teils, grössten teils etc. und den
aus adjectiven abgeleiteten anders, rechts, links, stets, stracks, bereits,
besonders, blindlings etc.
156
Die formel es sei denn dass ist ein rest einer im älteren nhd.
noch le))cn(lig'eu eonstructionsweise, vgl. 1 Mos. 32, 26 ich lasse dich
nicht, du segnest mich denn; noch allgemeiner war dieselbe im mhd.
mit der uegation en und auch ohne de^ine. Von dieser älteren weise
haben wir einen gar nicht mehr erkennbaren rest in dem adverbium
nur = eniv(ere.
Die Isolierung kann nun endlich noch weiter gehen, indem keines
der mit einander verbundenen glieder mehr frei wechseln kann, so dass
dann also jede einzelne formel nur noch gedäclitnissmässig fortgepflanzt
wird ohne irgend eine neue Verbindung zu erzeugen.
Es ist im nhd. nicht mehr möglich präpositionen mit einem be-
liebigen subst. im sing, zu verbinden ohne beifilgung des artikels.
]Man kann z. b. nicht sagen an hause, vor tür, zu see etc., sondern nur
am hause, vor der tür, zur see. In gewissen beschränkteren umkreisen
aber ist es noch möglich Verbindungen ohne artikel frei zu schaffen,
z. b. vor liebe, hesorgniss, kummer etc. (zur bezeichnung des hinder-
nisses); auf ehre, gewinn, Weisheit, geld gerichtet (so kann auf mit
jedem abstractum oder collectivum verbunden werden, um das ziel des
strebens zu bezeichnen) ; zu gelde, weine., wasser werden, machen, und so
bei jedem collectivum, aber die arbeit wird ihm zur erholung, zum ge-
nuss, der knabe wird zum mann, das mädchen zur frau. Andere Ver-
bindungen dagegen gehören gar keiner schöpferischen gruppe mehr
au, und es lässt sich nichts ihnen noch so vollkommen analoges mehr
neu schaffen. Am zahlreichsten sind wol die formein mit zu : zu hause ')
(aber nicht zu dorfe, zu stadt), zu wasser, zu lande (das letztere im
gegensatz zum ersteren, aber nicht mehr wie mhd. ze lande, analog
dem zu hause), zu schiffe., wagen, fusse, pferde, zu anfang., ende., zu
tische, bette, markte, zu leide, liebe, gute, zurück, zurecht, zunichte;
anderes ist jetzt auf die Verbindung mit bestimmten verben beschränkt,
während im älteren nhd. vielfach noch eine freiere gebrauchsweise
herrscht: zu gründe gehen, zu rande sein mit etwas, zu berge stehen,
zu köpfe steigen, mir ist zu mute, zu sinne, einem zu gemüte führen,
zu schaden kommen (aber zum schaden gereicheri), zu tode kommen,
quälen, zu statten kommen, zu wege bringen, zu gesichte kommen, einem
etwas zu danke machen, einem zu willen sein, zu rate gehen, halten, zu
abend, zu nacht, zu mittag speisen, zu tage bringen, fördern, aber nicht
zu tage = am tage oder an diesem tage, wol aber heutzutage. Be-
merkenswert sind aucli die parallelverbindungen zu nutz und frommen.
') Man beachte, dass in mclireren dieser formcln cm noch zur bezeichnung
der ruhe an einem orte gebraucht wird, was nur in ganz bestimmten Verbindungen
möglich ist.
157
aber zum frommen, zum nutzen, abgesehen von der Wendung sich ehras
zu nutze machen; zu spiel und tanz, aber zum spiel, zum tanz; in freud
und leid, aber in der freude, im leide; in krieg und frieden, aber im
kriege, im frieden {in frieden hat abweichende bedeutung); in (durch)
feld und wald, aber im felde, im tvalde, durch das feld, durch den tvald;
in dort und Stadt, aber im dorfe, in der Stadt etc.
Ein anderes hierher gehöriges beispiel ist folgendes. - Im mhd.
kann das adj. in attributiver Stellung namentlich nach dem unbestimm-
ten artikel im nom. sg. aller geschlechter und im acc. sg. neutr. noch
in der sogenannten unflectierten form gebraucht werden, also ein guot
{schcene) man, frouwe, kint. Dagegen im uhd. kann nur die fleetierte
form gebraucht werden: ein guter mann, eine gute frau, ein gutes kind.
Zahlreiche spuren aber hat die ältere constructionsweise hinterlassen
in den uneigentliehen compositis, die durch zusammenwachsen eines
adj. mit einem subst. entstanden sind wie altmeister, bösetvicht, hirz-
weiU Neumann, Scliönbrunn etc. Und ferner erscheint die uufleetierte
form noch in einigen stehenden Verbindungen: gut weiter, schlecht n\,
ander n-., ein gut stück, ein gut teil, ein ander mal, manch mal, ein
ander bild (noch im achtzehnten jahrh. ist ander auch sonst häufig),
gut ding will weile haben. Altertümlich sind ßmg Roland, schön Suschen,
lieb mütterchen.
Ganz vereinzelte reste sind: zweifelsohne (im mhd. kann nach-
gestelltes äne mit jedem beliebigen genitiv verbunden werden), mutter-
seelenallein (im mhd. ist aleine mit dem gen. im sinne von , getrennt
von" in allgemeinem gebrauch), vergissmeinnicht {vergessen früher all-
gemein mit dem gen. eonstruiert), dass es got erbarme (mhd. mich er-
barmet ein dinc mir tut etwas leid).
Die syntaktischen Isolierungen sind zum teil auch Isolierungen
auf dem gebiete der formalen gruppierung, da ja diese zum guten
teile auf der syntaktischen function beruht; vgl. namentlich die oben
angeführten genitive. Die formale Isolierung aber steht wider in engem
zusammenhange mit der Isolierung des sto ff liehen dementes, so-
weit dieselbe eine folge des bedeutungswandels ist. Eine trennung
der etymologisch zusammenhangenden formen wird so lange vermieden,
als die bedeutungsentwickelung der einzelnen sich in parallelen linien
bewegt. Dies wird um so mehr der fall sein, je mehr sie immer von
neuem auf einander bezogen werden. Am lebendigsten aber ist die
beziehuug, wenn sie nicht bloss jede für sieh gedäehtnissmässig über-
liefert, sondern auch fortwährend die eine zur andern nach sonstigen
analogieen hinzugeschaffen werden. Da, wie wir gesehen haben, bei
jeder neuschöpfung einer form eine stoffliche und eine formale gruppe
zusammenwirken, so bedingen sich beide gegenseitig in bezug auf
158
ihre seböpferiselie kraft. Eine formale isolierimg ist fast immer zu-
gleich eine stortliehe. Wenn rechts nicht mehr als gen. empfunden
wird, so steht es auch nicht mehr in so innigem zusammenhange mit
dem Dom. recht. Kunst steht in keinem so engen zusammenhange mit
könjien als führimg mit führen\ denn -wig ist ein noch lebendiges Suf-
fix, mit hülfe dessen wir jederzeit im stände sind neue substantiva aus
Verben zu bilden, nicht so -sl. Ja wir dürfen weiter behaupten, dass
reglerung im sinne von 'regierendes eollegium', mischung = gemischtes,
kleklimg = mittel zum kleiden u. dgl. nicht in so engem zusammen-
hange mit den betreffenden verben stehen als regierung = das regiereu
etc. Denn nur die bezeichnung einer tätigkeit ist die vollständig leben-
dige function des Suffixes -ung, in welcher sich jedem transitiven ver-
bum ein subst. zur seite stellen lässt.
Die auf die flexion bezüglichen gruppen haben natürlich einen
festeren Zusammenhang als die auf die Wortbildung bezüglichen. Einer-
seits ist das mass des gemeinsamen dementes ein grösseres, ander-
seits ist das gefühl für die bildungsweise am lebendigsten. Charak-
teristisch ist in dieser hinsieht das verhalten der nominalformen des
verbums. Sobald sie als wirkliche nomiua gebraucht werden, der inf.
mit dem artikel versehen, das pari zur bezeichnung einer bleibenden
eigenschaft verwendet wird, ist der Zusammenhang mit den übrigen
verbalformen gelockert, und damit die möglichkeit zu einer al)weicheu-
den weiterentwickelung der bedeutung geschaffen.
Eine bedeutungserweiterung des grundwortes oder des dem
Sprachgefühl als solches erscheinenden Wortes teilt sich leichter der
ableitung mit, als umgekehrt eine bedeutungserweiterung der ableitung
dem grundwort. Weil man sich nämlich bei der ableitung leichter au
das grundwort erinnert als umgekehrt, so knüpft man auch die ab-
leitung leichter an alle bedeutungen des grundwortes an, als das grund-
wort an alle bedeutungen der ableitung. Deshalb geht der anstoss
zur Isolierung gewöhnlich von einer bedeutuugsveränderung der ab-
leitung aus. Wie das grundwort zur ableitung verhält sich das simplex
zum compositum.
Die Ursache zu ungleichmässiger bedeutungsentwickelung et3ano-
logisch verwandter Wörter liegi, soweit sie nicht erst die folge ander-
weitiger isolierung ist, in der von anfang an bestehenden Verschieden-
heit der function. Ein nomen kann sich nach richtungen hin ent-
wickeln, nach denen ihm das verbum nicht nachfolgen kann. In wirk-
licher correspondenz mit dem verbum stehen nur die eigentlichen
nomina agentis und nomina aetionis. Sobald das nomen agentis zur
bezeichnung einer )>leil>enden eigenschaft oder des trägers einer blei-
benden eigenschaft, das nomen aetionis zur bezeichnung eines bleiben-
159
deu zustandes oder eines produets, eines Werkzeugs geworden ist, so
kann sich dann ein weiterer bedeutungsiulialt anheften, wie er sieh
zu einem verbum nicht fügt. So ist nhd. rUter nomen agentis zu
reiten, wird dann zur bezeichnung eines manues, der das reiten ge-
wohnheitsmässig, berufsmässig treibt. Dabei bleibt es zunächst noch
mit dem verbum innig verbunden. Indem dann aber das wort vor-
zugsweise von beritteneu kriegern gebraucht wird und aus diesen be-
rittenen kriegern sich ein privilegierter stand entwickelt, ein orden, in
den mau feierlich aufgenommen wird, ist es bei einer bedeutung au-
gelangt, der überhaupt keine verbale bedeutung entsprechen kann.
Und so hat es denn noch weiter einen sinn bekommen, der mit dem
ursi)rüuglichen gar nichts mehr zu schaffen hat. Auch für das adv.
sind manche bedeutungsentwickelungeu möglich, die dem adj. unmög-
lich sind. Man denke z. b. an die allgemein verstärkenden oder be-
schränkenden adverbien, wie nhd. sehr = mhd. sere von einem adj.
ser verwundet, ahd. harto und dräto valde von den adjectiveu herli
hart und dräti schnell, nhd. in der Umgangssprache schrecklich, furcht-
bar, entsetzlich, fast zu fest, auch an solche wie schon zu schön.
Die etymologischen gruppen und die formen mit lautlicher Über-
einstimmung und somit auch die aus beiden sich zusammensetzenden
proportiouengruppen erfahren auch durch den lautwandel eiuwir-
kungen, die den zusammenhält stark beeinträchtigen oder gänzlich
zerstören. Es werden durch denselben eine menge zwecklose unter-
schiede erzeugt. Denn es ist in den allgemeinen Ursachen des laut-
wandels begründet, dass in den seltensten fällen sich ein laut überall
da, wo er in der spräche erscheint, auf die gleiche art verändert.
Selbst ein so spontaner lautwandel, wie die urgermanische lautver-
schiebung hat doch gewisse hemmende schranken gefunden, die sich
einer gleichmässigen durchführung widersetzt haben, indem z. b. in
den Verbindungen sk, st, sp die Verschiebung unterblieben ist. Noch
viel mehr veranlassung zu differenzierung ursprünglich gleicher laute
liegt da vor, wo die Veränderung durch die umgebenden laute oder
durch die accentuation bedingt ist. So entstehen fast bei jedem laut-
wandel zwecklose unterschiede zwischen den verschiedenen ableitungen
aus der selben wurzel, zwischen den verschiedenen flexionsformeu des
selben wertes (vgl. z. b. gr. öt/Cco — ör/gco — orixtög — origfia, nhd.
sitze — SÜSS, heiss — heitze — hitze; schneide — schnitt ; friere — frost
etc.); die gleichen ableitungs- und flexionssuftixe spalten sich in ver-
schiedene formen (vgl. z. b. die verschiedenen gestaltungeu des indo-
germanischen Suffixes -ti- in lat. hostis, messis, pars, in got. ansts —
gabaurps — </iss, die verschiedene behandlung der nominativendung
-r in altu. so7ir — steinn [aus *sieinr] — heill — iss — fiu/l [aus
160
'*/'ui/lr] etc.); Ja das gleiche wort nimmt je naeh der Stellung im satze
verschiedene form an (vgl. die mehrfachen formen griechischer präpo-
sitionen wie tv — £// — ly, övv — öv^i — ör/). Daraus entspringt für
die folgenden generationen eine unnütze belastung des gedächtnisses.
Zugleich aber ist auch die unvermeidliche folge die, dass die einzelnen
formen wegen des veriiugerten masses der lautlichen Übereinstimmung
sich jetzt weniger leicht und weniger fest zu gruppen zusammen-
schliessen. Die folge davon ist, dass sich ",in bedeutungswandel weniger
leicht von einem verwandten worte auf das andere überträgt. Die
Zerstörung der Übereinstimmung in der lautgestaltung begünstigt daher
die Zerstörung der Übereinstimmung in der bedeutung.
Das absterben der lebendigen bildungsweisen nimmt meist seinen
ausgang von einer lautlichen Isolierung, die häufig sowol stofflich als
formal ist, die bedeutungsisolierung kommt erst hinterher. Wir können
z. b. im germanischen eine periode voraussetzen, in welcher vielleicht
aus jedem intransitiven starken verbum ein schwaches causativum ge-
bildet werden konnte. Das selbe unterschied sich schon von der indo-
germanischen zeit her im wurzelvocal vom präs. des grundwortes, in-
dem es aber mit dem sg. ind. prät. übereinstimmte {brhina — hrann —
hrannjan etc.), war doch eine nahe lautliche beziehung gewahrt. Aber
ein riss trat schon im urgerm. ein durch die Wirkung des Vernerschen
gesetzes, in folge dessen in vielen fällen eine eonsonantische ab-
weichung des causativums nicht bloss vom präs., sondern auch vom
sg. prät. des grundwortes entstand. Diese abweichung hat weiterhin
im ahd. mitunter vocalische abweichuugeu im gefolge. Das causa-
tivum nimmt dann abweichend vom sg. prät, wo es möglich ist, den
umlaut an. So entstehen im mhd. Verhältnisse wie: springen — spranc
— sprengen^ varen — vuor — vüeren, slhen — sich — sehjen, ziehen —
zoch — zöugen, genesen — genas — neren. Unter solchen umständen
war es natürlich, dass grundwort und causativum nun ihre eigenen
wege in der l)edeutungsentwickelung gingen, so dass z. b. in nhd.
genesen — nähren niemand mehr einen Zusammenhang fühlt. Durch
die erwähnten lautveränderungen wird aber auch die gleichmässigkeit
der bildungs weise angegriffen, und darunter leidet der Zusammenhang
der eausativa unter einander auch nach der seite der bedeutung und
wird schliesslich ganz zerstört.
Das absterben der indogermanischen ableitungssuffixe im ger-
manischeu hat seinen ersten anlass meist in einer lautveränderung.
So erscheint z. b. das t der suffixe -tei, -teu, -to etc. nach der laut-
verschiebung in fünffacher gestalt: t (got paurfls bedürfniss zu Jjüur-
ban, gaskafts Schöpfung zu skapjan, mahts macht zu magan, fravaurhts
vergehen zu vaurkjan\ jj {gaqumps zuzammenkunft zu qiman, gdbaurps
l
l
161
geburt zu bairan), d {-deds tat zu alts. dön, </amtmds g-edäclituiss zu
mwKui), si {-ansis gnade zu unnan, alahnmsts l)rand()pfer zu hrhman),
s {-qis-s rede zu qipan, -stass tritt zu standun, gaviss Verbindung zu
f/avidan). Ein bewusstsein für die ursprüngliche identität dieser ver-
schiedenen lautgestaltungen kann es natürlich nicht geben. Die grosse
gruppe zerteilt sich in fünf kleinere. Keinem von den fünf suftixen
kommt allgemeiugültigkeit zu. Dazu ist der Zusammenhang mit dem
grundwort vielfach gelockert durch Veränderungen des wurzelauslauts,
wofür die beispiele schon gegeben sind. Daher ist die unausbleibliche
folge gewesen, dass die alten suffixe die fähigkeit verlieren mussten
noch zur bildung neuer Wörter zu dienen, dass fortan nur noch die
alten bildungen gedächtnissmässig weiter überliefert wurden, und zwar
nur so weit, als sie wegen häufigen gebrauches einer stütze durch das
grundwort nicht bedurften. So ist ferner suffix -no- abgestorben, weil
es in vielen fällen in folge der assimilation des n an den vorher-
gehenden consonanten unkenntlich geworden war, vgl. fulls = indog.
plnos etc.
Der Symmetrie des formensystems ist also im lautwandel ein
unaufhaltsam arbeitender feind und Zerstörer gegenüber gestellt. Man
kann sich schwer eine Vorstellung davon machen, bis zu welchem
grade der zusaramenhangslosigkeit, Verworrenheit und unverständlich-
keit die spräche allmählig gelangen würde, wenn sie alle Verheerungen
des lautwaudels geduldig ertragen müsste, wenn keine reaction da-
gegen möglich wäre. Ein mittel zu solcher reaction ist nun aber in
der analogiebildung gegeben. Mit hülfe derselben arbeitet sich die
spräche allmählig immer wider zu angemesseneren Verhältnissen durch,
zu festerem zusammenhält und zweckmässigerer gru})pieruug in flexion
und Wortbildung. So sehen wir denn in der Sprachgeschichte ein
ewiges hin- und herwogen zweier entgegengesetzter Strömungen. Auf
jede desorganisation folgi; eine reorganisation. Je stärker die
gruppen durch den lautwandel angegriffen werden, um so lebendiger
ist die tätigkeit der neuschöpfung.
Wo durch den lautwandel eine unnötige und unzweckmässige
differenz entstanden ist, da kann dieselbe mit hülfe der analogie be-
seitigt werden, indem nämlich eine so differenzierte form allmählig
durch eine ueubildung verdrängt wird, welche die betreffende differenz
nicht enthält. Wir können diesen proeess als ausgleichung be-
zeichnen, nur müssen wir uns klar darüber sein, dass mit diesem aus-
druck nicht das eigentliche wesen des Vorgangs bezeichnet ist, dass
derselbe sich vielmehr aus einer complicierten reihe von einzelvorgängen
zusammensetzt, wie sie in cap. 5 analysiert sind.
Gehemmt wird die ausgleichung durch die stofflich-lautlichen
Paul, Principien. II. Auflage. 11
162
Proportionen. Ein noch lebendiger, durch solche proportionen ge-
stützter lautwandel entzieht sich öfters der ausgleiehung lange zeit,
jedoch ohne dass er derselben ein unüberwindliches hinderuiss in den
weg stellte. Sind einmal die stofflich-lautlichen proportionen durch-
brochen, so verliert der lautwechsel sehr an Widerstandskraft.
Wir gehen jetzt dazu über die verschiedenen arten der aus-
gleiehung näher zu betrachten. Wo ein und dieselbe form unter dem
einflusse verschiedener Stellung innerhalb des Satzgefüges
sich in mehrere verschiedene formen gespalten hat, geht der anfäng-
liche unterschied in der Verwendung dieser formen verloren, indem die
eine form auch an solcher satzstelle gebraucht wird, an welcher die
lautliche entwickelung zur erzeuguug der andern geführt hat.
G. Curtius in seinen Studien 10, 205 ff. hat gezeigt, dass sich der
auslaut der griechischen präpositionen sowie der des acc. sing, des
artikels in der älteren zeit nach dem anlaut des folgenden wertes
richtet, z. b. xad de — xax xt(paXi]v — xay yovv — xajt jitöiov —
xav vofiov — xäfi (isv — xüq qoov — xdX XajtaQ7]V, t6// ßeXriOrov —
Toy xQäTiöTov — zov ^QaCvtarop — to2 Xmarov etc., während in
späterer zeit eine von diesen mannigfaltigen formen oder die davon
noch verschiedene adverbialform *) zur allgemeinen normalform wurde.^)
In den germanischen sprachen widerholt sich mehrmals in ver-
schiedenen Perioden der process, dass die gleichzeitig als adverbien
und als präpositionen gebrauchten Wörter, je nachdem sie im satze
vollbetont sind oder enclitisch, und je nachdem sie als enclitica noch
einen nebenton tragen oder ganz unbetont sind, sich in zwei oder
mehr verschiedene formen spalten, deren anfänglicher functionsunter-
schied aber nicht festgehalten wird, indem sich die eine form an
stelle der andern eindrängt, vgl. darüber Beitr. z. gesch. d. deutschen
spr. VI, 144. 191 ff 199 ff 207 ff 248 ff 1372. u^^ „„i- ein beispiel
anzuführen, urgerm. iö (zu) ist, wo es vollbetont war, also in adver-
bialem gebrauche ungeschwächt geblieben, als procliticum dagegen zu
*to verkürzt. Aus dem letzteren entstehen unter verschiedeneu accent-
bedingungen im ahd. za — ze — zi. Diese werden in einigen der
ältesten denkmäler unterschiedslos neben einander gebraucht, in jüngerer
zeit setzt sich in jedem dialect eins davon fest. Alle drei werden im
mhd. zu ze. Neben diesem tritt dann aber die aus td regelrecht ent-
wickelte form zuo auch als präp. auf und gelangt im nhd. zur allein- 1
') Dafür imiss man wol z. b. dvä, xaxü, naQÜ ansehen im gegensatze zu
UV, xuT, nui) mit ihren verschiedenen nebenformen; ebenso h'i, ntQi, noxi, n^oti
gegen h, neQ, nox oder noq, tiqox oder iiQoq.
*) Wieweit in der wirklichen ausspräche, wieweit blos in der schrift, bleibt
in einigen fällen noch zweifelhaft.
163
heiTSchaft. Aelmlieh verhält es sieh mit den formen der pronomina
lind des artikels, vo-l. Beitr. YL 1372. 144 ff.
In der Übergangszeit vom ahd. zum mhd. fällt auslautendes r
nach langem voeal ab in da aus dar, hie aus lüer etc., bleibt aber
erhalten in enger Verbindung mit einem folgenden vrorte, weil es dann
zur folgenden silbe hinübergezogen wird, also dar an, hier an etc. Im
ulid. tritt hier auch sonst an stelle von hie und verdrängt letzteres in
der Schriftsprache allmählig ganz, abgesehen von der Verbindung
hie und da. Umgekehrt finden sich im mhd. auch die Verbindungen
hie in?ie, hie uze und zusammengezogen hinne, hüze, noch jetzt ober-
deutsch.
Der process der differenzierung und ausgleichung kann sich
mehrmals hinter einander widerholeu. Im ahd. hat sich ana in ana
(adv.) und an (präp.) gespalten; die erstere form hat dann die letztere
verdrängt. Im mhd. spaltet sieh ana wider in ane und an und die
erstere form wird durch die letztere verdrängt. Eine ähnliche ent-
wickeluug hat aba (ab) durchgemacht.
Die einwirkuug des Satzgefüges auf die lautentwickelung begreift
sich, wie wir gesehen haben, dadurch, dass eine wortgruppe ebenso
wie das einzelne wort als eine einheit erfasst wird, welche von dem
hörenden nicht erst in ihre demente zerlegt, von dem sprechenden
nicht erst aus ihren dementen zusammengesetzt wird. Das verhältniss
ist also das selbe wie bei einem compositum, wie es denn überhaupt,
was noch weiterhin zu erörtern sein wird, gar keine scharfe grenze
zwischen compositum und wortgruppe gibt. Namentlich ist ursprüng-
lich zwischen der Verbindung der präposition mit einem nomen und
der mit einem verbum kaum ein unterschied zu machen. In unserem
falle tritt demnach an die stelle der traditionellen gestalt der gruppe
eine neugeschaffene Zusammensetzung.
Es sind dabei zwei verschiedene wege der entwickdung möglich.
Entweder es greift nur die eine form in die function der andern über,
oder der übergriff' ist ein wechselseitiger. Letzteres Avird natürlich dann
eintreten; wenn die verschiedenen formen in bezug auf häufigkeit des
Vorkommens einander ungefähr die wage halten, ersteres, wenn die
häufigkeit der einen die der andern bedeutend überwiegt. In beiden
fällen ist der erfolg der, dass zunächst eine Zeitlang doppelformen
(respective tripelformen etc.) neben einander herlaufen, aber in dem
einen falle nur auf einem beschränkten gebiete, während sonst ein-
formigkeit bleil)t. in dem andern falle mit unbeschränkter geltung.
Eine allgemeine einformigkeit ergibt sich dann erst wider im laufe
der weitereu entwickdung durch den Untergang der einen form. . Da,
wo der mehrformigkeit auf dem einen noch einformigkeit auf dem
11*
164
auderu gebiete gegenüber steht, kann es natürlich nicht zweifelhaft
sein, welche form den sieg davon tragen muss. Wo aber die mehr-
iormigkeit einmal allgemein geworden ist, da ist auch das kräftever-
hältuiss kein so ungleiches, der kämpf nicht so leicht zu entscheiden,
der ausgang von zufälligen umständen abhängig, die für uns nicht
immer zu erkennen sind. Je ungleicher das verhältniss ist, um so
kürzer ist auch der kämpf, um so früher beginnt auch der angriff.
Die Spaltung einer form in mehrere verschiedene kann so vor
sich gehen, dass unter allen umständen eine Veränderung eintritt, aber
auch so, dass dabei die grundform neben einer oder mehreren ver-
änderten formen bewahrt 1)leibt. Im letzteren falle hat bei der wei-
teren entwickelung die grundform an sich keinen vorzug vor der ab-
geleiteten; denn sie wird nicht als solche erkannt. Wol aber hat
diejenige form einen vorzug vor den übrigen, in welcher das woii; er-
scheint, wenn es von einer beeiuflussung durch das Satzgefüge unab-
hängig ist, mag sie die grundform sein oder nicht. Der Franzose, der
sich nicht wissenschaftlich mit seiner muttersprache beschäftigt hat,
weiss nichts davon, dass in a-t-il eine ursprünglichere form steckt als
in // a, dass in un ami das n eine ursprünglichere anspräche hat als
in un fils. Er wird, wenn er überhaupt darüber reflectiert, viel eher
geneigt sein das / für einen einschub, die ausspräche des n in un ami
für eine abänderung der normalen zu halten.
Diese bemerkungen lassen sich mutatis mutandis auf jede andere
art der ausgleichung dui^h analogiebilduug anwenden.
Wesentlich der selbe Vorgang ist die ausgleichung zwischen laut-
lich differenzierten formen , die aus dem gleichen stamme, oder Wör-
tern, die aus der gleichen wurzel gebildet sind. Wir können diese
ausgleichung die stoffliche nennen im gegensatz zu der formalen,
die sich zwischen den entsprechenden formen verschiedener Wörter,
den entsprechenden bildungen aus verschiedenen wurzeln, zwischen
verschiedenen flexions- oder Wortbildungssystemen vollzieht. Häufig
ist übrigens die stoffliche ausgleichung zugleich eine formale.
Beispiele Hessen sich zu grossen massen anhäufen. Besonders
lehrreich sind gewisse durchgreifende differenzierungen , die in einer
sehr frühen periode eingetreten sind. Mit der reaction gegen dieselben
haben die nachfolgenden geschlechter oft viele Jahrhunderte zu tun,
während deren immer ein fall nach dem andern der ausgleichung zum
opfer fällt, und schliesslich doch nicht selten noch einige residua der
differenzierung übrig bleiben. Um so mannigfaltiger und zugleich um
so lelirreicher wird die entwickelung, wenn nach dem eintritt der laut-
lichen differenzierung die spräche sich mannigfach dialectisch gespal-
ten hat. Das grossartigste beispiel der art, das mir bekannt ist, liefert
165
die vokalabstufiing" der indogermanischen Ursprache, deren reste zu be-
seitigen sich noch die jetzt lebendigen dialecte bemühen. Auf germa-
nischem gebiete stehen oben an die Wirkungen des Vernerschen ge-
setzes. wonach im urgerm. die harten reibelaute /?, p, f, s sich nach
ursprünglich betonter silbe erhalten haben, nach ursprünglich unbe-
tonter zu den entsprechenden weichen (got. g, d, b, z) geworden sind. Die
bewegung, welche dadurch hervorgerufen ist, empfiehlt sich ganz be-
sonders zum methodologischen Studium, zumal da man sich dabei auf
einem sicheren, allgemein anerkannten boden befindet. Der Sprach-
forscher, der sich einmal die mühe gegeben hat die reactionen gegen
ein solches lautgesetz bis in alle einzelheiten zu verfolgen, der kann
unmöglich solche verkehrten behauptungeu und einwendungen betreffs
der analogiebildung vorbringen, wie sie sich leider so vielfach breit
machen. Und wie mit einem lautgesetze, so ist es mit allen übrigen.
Es gibt überhaupt kein lautgesetz, das nicht, sobald es einmal in einer
anzahl von fällen das etymologisch eng zusammenhängende lautlich
diÖerenziert hat. auch eine reaction gegen diese differenzierung hervor-
riefe, es sei denn, dass der hinterlassene lautwechsel bleibend durch
die analogie gestützt wird (vgl. s. 95). Das muss als ein fundaraental-
satz der historischen Sprachforschung anerkannt werden. Man durch-
suche alle sprachen, deren entwickelung- sich continuierlich verfolgen
lässt, nach einem derartigen lautgesetze. das einige Jahrhunderte, nach-
dem es gewirkt, noch keinerlei reaction im gefolge gehabt hat. Ich
bin überzeugt, es darf getrost für den ehrlichen finder eine königliche
belohnung ausgesetzt werden, niemand wird sie verdienen.
Wer eine solche entwickelung im zusammenhange verfolgt hat,
der wird auch nicht, wie dies neuerdings mehrfach geschehen ist, an
eine formenerklärung. die auf die annähme von ausgleiehungen basiert
ist, den ansprach stellen, dass die ausgleichung in allen von dem laut-
gesetze betroffenen formen gleichmässig und nach der selben richtung-
hin eingetreten sein müsse. Das heisst eine entwickelung fordern, wie
sie der er fahrung, die wir aus den wirklich zu beobachtenden tat-
sachen abstrahieren können, schnurstracks widerspricht. Solche forde-
rung beruht auch auf einer oftenbaren begriffsverwechselung. Für den
lautwandel allerdings muss mau verlangen, dass er überall, wo die
gleichen lautlichen bedinguugen vorhanden sind, gleichmässig eintritt.
•Aber für die ausgleichung kommt gleich mässigkeit oder nichtgleich-
mässigkeit der lautlichen Verhältnisse gar nicht in betracht. Entweder
entwickelt sich dabei jede durch stoffliche Verwandtschaft verbundene
gruppe für sich, oder, wenn mehrere solche gruppen auf einander ein-
wirken, so geschieht dies dadurch, dass gleichzeitig formale 'aus-
gleichung im spiele ist; aber das betroffensein von dem gleichen laut-
I
166
^csetze gibt an sich gar keinen grund ab zu einer gegenseitigen be-
eiutiussnng bei der ausgleiehung. Dagegen wirken gar manche för-
dernde und hemmende umstände darauf hin, dass der process in
den verschiedenen fällen sehr ungleichmässig verläuft.
Zu diesen gehört auch ein lautliches moment. Solche formen
welche durch die Wirkung mehrerer lautgesetze ditferenziert sind, sind
der ausgleiehung weniger günstig als solche, in denen nur eins davon
ditferenzierend gewirkt hat.
Die bekannte neuhochdeutsche vokaldehnung tritt abgesehen von
ganz bestimmten Verbindungen niemals vor doppelconsonauten ein, wo-
vor im gegenteil sogar ursprüngliche länge gekürzt wird (vgl. bi^acliie
= mhd. brähte, acht = mhd. ähte etc.). Demnach kommt auch der
2. 3. sg. und der 2. plur. ind. präs., falls der endungsvocal syncopiert
ist, kürze zu, auch da, wo die übrigen formen des präs. dehnung haben
eintreten lassen. Bei weitem in den meisten fällen aber ist ausgleiehung
eingetreten, so stets im schwachen verbum (z. b, lebe — lebst, lebt), wo
die Vokalqualität durch alle formen hindurch von jeher die gleiche
war; ferner in den starken verben mit wurzelhaftem«: trage — träf/sf,
trägt (niederdeutsch mit kürze dröchst, dröcht). Dagegen hat sich die
kürze der 2. 3. sing, erhalten bei den verben, in denen der wurzelvokal
von alters her zwischen e und i wechselt, allgemein in nehme — nimmst,
nimmt, trete — trittst, tritt, wenigstens nach der in Niederdeutschland
üblichen ausspräche auch in lese — lisl, gebe — gibst, gibt. Die Ur-
sache, warum diese verba der die quantität betreffenden ausgleiehung
besser widerstand geleistet haben als die andern, haben wir gewiss in
der gleichzeitigen Verschiedenheit der qualität zu suchen. Das be-
stätigt sich noch dadurch, dass sie sich in der 2. pl. der ausgleiehung
nicht entzogen haben. Die difterenz zwischen a und ä ist nicht so
empfunden, weil der umlaut etwas dem Sprachgefühl sehr geläufiges ist.
Im ahd. hätten die partieipia der verba lesan, ginesan, uuesan nach
dem Vernerschen gesetze gileruji, gineran, giuueran zu lauten, aber ab-
gesehen von wenigen resten in den ältesten denkmälern ist mit au-
lehnung an das präs. gilesan, ginesan, giuuesan eingetreten. Dagegen
noch im mhd. lauten die partieipia von kiesen, friesen, Verliesen mit
beibehaltung des wechseis gekoren, gefroren, verloren. Die gleichheit
des vokalismus im ersteren, die Verschiedenheit im letzteren ist für den
consonantismus massgebend gewesen.
Die starken verba, die im sg. und pl. des prät. gleichen vokal
iiaben, haben auch den durch das Vernersche gesetz entstandenen
consonantischen unterschied schon frühzeitig aufgehoben, vgl. ahd. ^/mo^
— sluogun, hieng — hiengun, hiiob — huobun, hluod — hluodun gegen
zöh — ziigun, meid — mitwi. Man sieht, wie auf diese weise selbst
167
formen, die nicht bloss ^on dem gleichen lautgesetze betroffen, son-
dern auch nach function und sonstiger l)ildungswei8e verwandt sind,
in verschiedene disposition gesetzt werden.
Diese erscheinung verlaugt eine psychologische erklärung. Man
sollte zunächst meinen, da das, was wir ausgleichung nennen, von
einer neuschöpfuug nach analogie ausgeht, dass die lautliche gestalt der
durch die neuschöpfuug zurückgedrängten form dabei gar nicht in be-
traeht käme. Tritt das bild der traditionellen lautlich differenzierten
form ins bewusstsein, so ist keine neuschöpfuug möglich, tritt es nicht
in das bewusstsein, so ist die neuschöpfuug freigegeben. Nun ist aber
kein grund abzusehen, warum eine form deshalb leichter ins bewusst-
sein treten sollte, weil sie sich lautlich stärker von einer verwandten
unterscheidet als eine andere. Die Schwierigkeit ist nur zu lösen, wenn
wir das zusammenwirken rein gedächtnissmässiger reproduction und
schöpferischer combiuation, wie wir es für die tägliche hervorbringung
der schon in der spräche üblichen formen anerkennen mussten, auch
bei der Schöpfung von neuen formen annehmen. Es gibt einen zu-
stand, in welchem das bild der traditionellen form nicht mächtig genug
ist, um unter allen umständen leichter ins bewusstsein zu treten als
eine durch analogie veranlasste neubildung, aber doch nicht so schwach
um vor einer solchen widerstandslos zurückzuweichen. Es liegen also
zwei Vorstellungen im kämpfe mit einander darüber, welche von ihnen
zuerst in das bewusstsein treten und damit die andere zurückdrängen
soll. Nur wo ein solches verhältniss besteht, kommt die grosse des
abstandes zwischen der traditionellen form und der eventuellen neu-
schöpfuug in betracht. Ist nämlich die letztere in begriff sich zuerst
vorzudrängen, so kann ihr doch die erstere, auch ohne deutlich be-
wusst zu werden, eine controUe entgegen stellen, welche das Sprach-
gefühl in bezug auf jene nicht zu der nötigen unbefangenen Sicherheit
gelangen lässt und so zum besinnen auf diese treibt. Die Vorstellung
der traditionellen form wirkt aber um so stärker hemmend, je weiter
sie ihrem Inhalte nach von der neuen combiuation verschieden ist.
Aehnlich wie dem sprechenden ergeht es dem hörenden. Eine neu-
bildung wirkt um so befremdender auf ihn, wird um so schwerer gut
geheisseu und nachgeahmt, je mehrseitiger sie der überlieferten form
widerspricht, sofern überhaupt die erinnerung au dieselbe in seiner
seele noch einigermassen wirkungskräftig ist.
Eine viel wichtigere rolle als der lautliche abstand spielen zwei
andere momente bei der förderung und hemmung der ausgleichung,
die grössere oder geringere festigkeit des Zusammenhangs der
etymologischen gruppen und die grössere oder geringere i^teu-
sität, mit der die einzelnen formen dem gedäehtnisse ein-
geprägt sind.
168
Die eistere bän^^t ab von dem £:rade der Übereinstimmung- in der
bedeutung- und von dem grade lebendiger bildsamkeit der einzelnen
formen. Beides steht, wie wir schon gesehen haben, in wecliselbe-
bcziehung zu einander. Die grössere oder geringere Innigkeit des Zu-
sammenhangs kann schon mit der function der formen an sich ge-
geben sein, wie z. b. die formen des präs. unter einander enger zu-
sammenhängen als mit denen des prät., die formen des selben wertes
enger unter einander als mit den formen der aus der gleichen wurzel
abgeleiteten Wörter. Es kann aber auch durch seeundäre entwickelung
der verband gelockert werden. Jede art von isolierung, welche die
function trifft erschwert auch die reaction gegen die isolierung, von
der die lautgestalt betroffen ist, und macht sie, sobald sie selbst einen
bestimmten grad erreicht hat, unmöglich.
Einige beispiele mögen diese sätze erläutern. Die durch Wirkung
des Vernerschen gesetzes entstandenen zahlreichen diflferenzierungen
des consonantismus sind innerhalb der flexion der nomina schon in
den ältesten auf uns gekommenen denkmälern ganz getilgt. Wir sehen
ihre spuren aber noch in manchen unterschiedslos neben einander be-
stehenden doppelformen. Im verbum dagegen hat sich die differenzie-
rung besser bewahrt, offenbar unterstützt durch die damit zusammen-
treffende vokaldififerenzierung (den ablaut), vgl. mhd. zhihe — zöch —
zugen — gezogen. Wir können nun mehrfach deutlich beobachten, wie
der später eintretende ausgleichungsprocess damit beginnt, dass der
unterschied zwischen sing, und plur. des prät. aufgehoben wird, und
zwar so, dass der sing, dadurch erst vom präs. verschieden gemacht
wird. Dies ist in den westgermanischen dialecten fast in allen den-
jenigen fällen geschehen, in denen keine Verschiedenheit des vokalis-
mus hemmend im wege stand, also ahd. slahu — sluog — sluogun statt
'*sluoh — sluogun, fähu — fiang — fiangun statt */iah — fiangun etc.
Ein beispiel, in dem auch durch die Verschiedenheit des vokalismus
diese entwickelung nicht verhindert ist, sehen wir in alts. fiihan. Dieses
sollte bei rein lautlicher entwickelung das prät. /o/Ä — fundun bilden.
Es heisst aber nur fand — fundun, während im präs. zwar auch schon
ßndan, aber doch erst neben fithan auftritt. Die wenigen nhd. reste
dieses alten wechseis zeigen sämmtlich die abweichung von den älteren,
noch im mhd. bestehenden Verhältnissen, dass der sing, des prät. an
den plur. angeglichen ist: ziehe — zog (ahd. zöh) — zogen, leide —
litt (ahd. leid) — litten, schneide — schnitt (ahd. sneid) — schnitten,
siede — sott (ahd. söd) — sotten, erkiese — erkor (ahd. irkos) — er-
koren. Ebenso hat sich der ablaut zwar im allgemeinen im nhd. er-
halten, aber zwischen sg. und pl. des prät. ist Übereinstimmung her-
gestellt.
169
Vielfach können wir beobachten, dass lantliehe differenzierungen,
die innerhalb der verschiedenen flexionsformen eines Wortes entweder
durchaus oder bis auf g-eringe reste beseitiget werden, zwischen etymo-
logisch verwandten Wörtern bestehen bleiben oder nur da getilgt wer-
den, wo ihre beziehung zu einander eine sehr enge ist. In den ger-
manischen sprachen besteht von alters her ein Wechsel zwischen dem
laute unseres h und unseres ch in der art, dass ersteres im silbeu-
anlaute, letzteres im silbenauslaute und vor consouant steht, vgl. mhd.
rüch (rauh) — gen. riihes, ich s/he — er sihf (gesprochen wie unser
sieht) — er sach — ?vir sähen. In der jetzigen Schriftsprache ist dieser
Wechsel in der flexion beseitigt ausser in hoch, ausserdem ist auch der
comparativ und Superlativ dem positiv angeglichen, abgesehen von
höher — höchste und )iäher — yiächste. Sonst aber ist er beibehalten,
vgl. sehen — gesicht , geschehen — geschichte, fliehen — flucht, ziehen
— zucht, Schmach — schmähen. Ein tiber viele fälle sieh erstreckender
Wechsel auf vokalischem gebiete war in den altgermauischeu dialecteu
unter dem einflusse des vokals der folgenden silbe entstanden, nämlich
zwischen e und / und zwischen ii und o. Dieser Wechsel ist innerhalb
der uomiualflexiou grösstenteils schon vor dem beginne unserer Über-
lieferung beseitigt. Innerhalb der etymologisch zusammenhängenden
wortgruppen ist er im mhd. noch durchaus bewahrt, abgesehen von den
femininbildungen aus nomina agentis (vgl. got — gotinne [ahd. gutinna].
doch auch noch birin neben berinne und n-olf — wülpinne) und den
deminutiven (vgl. vogel — vögetm [ahd. fugili\). Im nhd. tritt dann
die ausgleichung nur bei ganz besonders enger beziehung ein. So
regelmässig zwischen subst. und adj. bei stotfbezeichnungen, z. b. leder
— ledern (mhd. liderin)^ goM — golden (mhd. giddin)^ holz — hölzern
{hidzin), ausserdem z. b. in nwrt — antn-ort, antworten (mhd. äntrvürte,
antwürten); gold — vergolden (altertümlich noch vergülden). Dagegen
heisst es noch recht — richten, richtig, gericht; berg — gebirge: feld —
gefilde\ herde — hirt\ hold — hnld\ foll — fi'ülen; koch — küche etc.
Selbstverständlich tritt da keine ausgleichung ein, wo durch diver-
gierende bedeutuugsentwiekelung das gefühl für den etymologischen
Zusammenhang ganz geschwunden ist, auch da nicht, wo es so wenig
rege mehr ist, dass es nicht ohne ein gewisses nachdenken zum be-
wusstsein kommt. Das ist z. b. die Ursache, wanim die eben be-
sprochenen lautdiiferenzen in folgenden fällen bewahrt sind: rauh —
rauch/rerk, rauchwaare, rauchhandeV. nach iysskx^^. nach) — nahe: erde —
irden, irdisch; gold — gülden (substantiviertes adjectivum). Im mhd.
existieren von tragen die zusammengezogenen formen du freist, er freit ;
diese sind im nhd. wider durch trägst, trägt ersetzt, aber in der' ab-
leitung getreide ist die contraction bewahrt. Mhd. gar hat in den flee-
170
tierten formen eiu w {ganve etc.), welches sich im nhd. lautgesetzlich
zu b eutwickeln musste; aber eine flexion gar — (/«W^^;- konnte auf die
(lauer nicht beibehalten Averden, und die flectierten formen richteten
sich nach dem muster der uuflectierten; dagegen in dem YQvh. gerben
l)lieb das h wegen der abweichenden bedeutungsentwickelung. Jede
.sin-ache auf jeder beliebigen entwickelungsstufe bietet reichliche belege
für diese erscheinung.
Die intensität der gedächtnissmässigen einprägung ist zunächst
massgebend für das kraftverhältniss der einander gegenüber stehen-
den factoren, in welcher beziehung die oben s. 1G3 gemachten bemer-
kungen auch hier zutreffen. Wenn z. b. im altnordischen die 1, sg. conj.
im präs. wie im prät. auf a ausgeht {gefa, gcefa), während in allen
übrigen formen ein i erscheint {gefir, gefi, gefim, gefi^, gefi und goefir,
g(efi etc.), so sind natürlich die Chancen für die erstere sehr ungünstig,
und so erscheint denn auch in den jüngeren quellen gefi, gwfi. Natür-
lich kann aber unter umständen eine vereinzelte gegen mehrere zu-
sammenstimmende formen den sieg behaupten, wenn sie für sich häufiger
gebraucht wird als die übrigen zusammen. Wenn z. b. im nhd. ziemen
das / durch das ganze präs. verallgemeinert ist, wovon dann auch
statt des alten starken ein neues schwaches prät. gebildet ist, wäh-
rend doch im mhd. die meisten formen e haben, so liegt dies daran,
dass die 3. sg. es ziemt wie noch jetzt so schon früher an häufigkeit
alle andern überwog.
Die meisten ungleichmässigkeiten aber in der behandlung von
etymologischen gruppen, die sonst in vollständigem parallelismus zu
einander stehen, gehen daraus hervor, dass die einzelnen gruppen sich
in bezug auf die häufigkeit des Vorkommens und damit in bezug
auf die leichtigkeit, mit der die einzelnen formen mit ihren traditio-
nellen unterschieden gedächtuissmässig reproduciert werden können,
sehr weit von einander unterscheiden. Die seltensten Wörter unter-
liegen bei sonst gleichen Verhältnissen der ausgleichung am frühesten,
die häufigsten am spätesten oder gar nicht. Dieser satz lässt sicli
nicht bloss deductiv, sondern auch inductiv beweisen.
Ausserdem aber wird der gang der bewegung durch eine menge
zufälliger Vorgänge in der Seelentätigkeit der einzelneu individuen
und ihrer einwirkung auf einander beeinflusst, Vorgänge, die sich
unserer berechnung wie unserer l)eobachtung entziehen. Namentlich
s])ielen solche unserer erkenntniss verschlossenen factoren eine grosse
rolle in dem kämpfe, den die durch ausgleichung entstandenen doppel-
formen mit einander zu bestehen haben. Wir müssten eben allwissend
sein, sollten wir im stände sein überall die Ursache anzugeben, warum
in diesem falle so, in jenem anders entschieden ist. Und die tatsache
171
Uisst sicli nicht wegläugneD , dass sehr häufig ganz analoge fälle in
(lern selben dialecte, ein und derselbe fall in verschiedenen dialecten
abweichenden ausgang- haben. So, um nur ein ganz sicheres bcispiel
anzuführen, während das gotische den sogenannten grammatischen
Wechsel sonst dadurch ausgeglichen hat, dass der consonant des präs.
und des sg. prät. verallgemeinert ist, sind die verba hvdirhan, svairhan,
skaidan den umgekehrten weg gegangen und haben den consonanten
des pl. prät. und des part. verallgemeinert, und gerade in dem letzten
verbum ist im hochdeuten, welches sonst viel öfter als das gotische
den consonanten des pl. prät. durchführt, der consonant des präs. zum
siege gelaugt.
Natürlich aber ist die entwickelung in den einzelnen stoft-
licheu gruppen nicht ganz unabhängig von der formalen gruppie-
ruug. Namentlich sobald eine lautliche diflferenzierung sämmtliche zu
einer formalen gruppe gehörigen etymologischen parallelgruppen trifft,
so ist dadurch ein zusammenwirken der stofflichen und der formalen
gruppierung bedingt. Dies zusammenwirken ist häufig entscheidend
für die richtung der ausgleichung. Im urgermanischen bestand
in den zahlreichen nominalbildungen mit suffix -no ein Wechsel des
dem n vorangehenden vokales zwischen u (später weiter zu o-a ent-
wickelt) und e (/), so dass sich beide nach einer bestimmten regel auf
die verschiedenen casus verteilten.') Späterhin wird dann bald u («),
bald e (<) durch alle casus eines wertes gleichmässig durchgeführt. So
stehen im got. formen wie Piudans (könig) solchen wie maurgins (morgen)
gegenüber, im altn. formen wie Jormunn solchen wie OÖmn, und neben
einander /norffunn und moj-ginn. Aber die hierhergehörigen participia
haben der regellosen willkür in den sonstigen formen gegenüber
im got. stets -an, im altn. stets -in. Wie entscheidend dabei die
formale gruppierung gewesen ist, zeigt sich besonders daran, dass
solche participia, die zu reinen adjectiven oder zu Substantiven ge-
worden sind, teilweise einen andern weg eingeschlagen haben, vgl.
got. /w/^m^ (verborgen) gegen fulhans, echtes part. zu filhan verbergen;
aigin (eigentum) substantiviertes part. zu aigan (haben); ferner altn.
jnttmn (riese), altes part. zu eta (essen) mit activer bedeutung.
Aber nicht bloss für die richtung der ausgleichung, sondern auch
für das eintreten oder nichteint reten kann die formale gruppie-
rung entscheidend sein. Je weniger die lautliche differenzierung den
formellen parallelismus der einzelnen gruppen unter einander stört,
desto widerstandsfähiger sind sie gegen die teudenzen zur ausgleichung.
So wäre z. b. die lange erhaltung der ablautsreihen im germanischen
') Vgl. Beitr. VI, 238ff.
172
nicht möfclicli gewesen, wenn etwa jedes verbiim seine eigene art ab-
laut gehabt, wenn es nicht grössere gruppen von verben mit dem
gleichen Schema gegeben hätte. So lässt sich denn auch der nach-
weis führen, dass die uns erhaltenen Schemata nur eine auslese aus
den vor beginn unserer Überlieferung vorhandenen darstellen, indem
alle diejenigen, die nur in wenigen exemplaren oder nur in einem
einzelnen vertreten waren, bis auf geringe reste untergegangen sind.
An andern lässt sich der Untergang noch historisch verfolgen, z. b. got.
truda — trnd — tredum — hnidans. Aehnlich verhält es sich mit dem
Umlaut in der 2. 3. sg. ind. präs. der starken verba: ahd. faru — ferist
— fer^it, und so noch nhd. falu^e — fährst — fährt.
Ein anderer umstand, der zur conservierung einer lautlichen diffe-
renz beiträgt, ist das zufällige zusammentretten derselben mit einem
functionsunterschiede. "Wenn z. b. sämmtliche casus des sg. sich
übereinstimmend sämmtliehen casus des pl. gegenüber stellen, so prägt
sich dieses verhältniss leichter und fester dem gedächtnisse ein, als
wenn einige formen des sg. mit einigen formen des pl. sich zusammen
andern formen des sg. und pl. gegenüber stellen. Und so ist es auch
natürlich, dass, wo in der mehrzahl der fälle die lautliche differenzie-
rung mit dem functionsunterschiede zusammenfällt, die ausgleichung
sieh zunächst auf die näher yAisammengehörigen gruppen beschränkt
und damit die Übereinstimmung zwischen laut- und functionsunter-
schied vollständig macht. Im altdäuischen lautet der pl. von harn
(kind) einem gemeinskandinavischen lautgesetze zu folge hern, harna,
hfirnnm, heim, während im sg. a durchgeht. Das neudänische hat auch
für barna, henia eintreten lassen. Bei einem andern worte lagh (ge-
setz) ist <> schon im altdänischen durch den ganzen pl. durchgeführt.
Die ausgleichung innerhalb der engern gruppen ist häufig nur die Vor-
stufe zu der weiteren ausgleichung. So dringt auch bei lagh schon im
altdänischeu das o bisweilen in den sg., und neudänisch ist lov durch-
gefiihrt. Das zusammenfallen mit einem functionsunterschiede kann
aber auch die Ursache zu dauernder bewahruug eines lautlichen Unter-
schiedes sein, und dies vor allem dann, wenn er zugleich in der eben
besprochenen weise durch die formale analogie widerstandsfähig ge-
macht wird.
Bei dem zusammentreft'en dieser beiden umstände kann sich die
Vorstellung von dem lautlichen unterschiede so fest mit der von dem
functionsunterschiede verbinden, dass dem Sprachgefühl l)eides unzer-
trennbar erscheint. Auf diese weise wird allmählig der zufällig ent-
standene bedeutungslose unterschied zu einem bedeutungs-
vollen. Er wird es um so mehr. Je weniger die bedeutungsverschie-
denheit durch sonstige unterschiede in der lautgestaltung deutlich
173
o:ekeuuzeiclieiit ist. So vermag sich die spräche einen ersatz zu
schaffen für den in folge des lautlichen Verfalls eintretenden Verlust
der charakteristischen nierkmale des functionsuuterschiedes.
Der ablaut im germanischen verbuni beruht auf einer vocal-
differenzierung, die schon in der indogermanischen Ursprache ein-
getreten ist. Diese ist eine mechanische folge des wecliselnden accentes
und hat mit dem functionsunterschiede der einzelnen formen ursprüng-
lich nichts zu schaffen. Sie war auch für die Ursprache etwas durch-
auch überflüssiges, abgesehen von der Scheidung z^vischen präs.-impf.
und aorist (vgl. griecli. ÄtijTco, eXbijtov, ÄeL-roiui — tXiJiov, /.L^oifu).
Namentlich war der perfectstamm durch die reduplication schon deut-
lich von dem präsensstamm geschieden. Daher sehen wir denn auch
im griech. den vocalwechsel zwischen präs. und perf. in entschiedenem
verfall begriffen; es heisst zwar noch XeiJtco — /.sÄoiJca, aber jtXsxo)
— jiejcXtxcc, nicht "^jtisiXoya. Und von dem ursprünglichen Wechsel
zwischen sg. und pl. des perf. sind nur noch wenige Überreste vor-
handen {oida — U/j£v). Dieser verfall des ablauts ist die folge seiner
Überflüssigkeit, und überflüssig war er, weil das alte charakteristische
keunzeichen des perfectstammes, die reduplication, fort und fort getreu
bewahrt blieb, ausserdem auch der präsensstamm vielfach noch be-
sonders charakterisiert war. Im germ. sind umgekehrt der verfall der
reduplication und die befestigung des ablautes band in band gegangen.
Man kann zwar nicht sagen, dass das eine die Ursache des andern
gewesen ist. Vielmehr ist der erste anstoss zum verfall der redu-
plication durch die lautliche entwickeluug gegeben, in folge deren ge-
wisse formen nicht mehr als reduplicierte zu erkennen waren (vgl.
den typus berum), und die conservierung des ablauts ist in erster
linie durch den reiheuparallelismus bedingt. Aber im weitereu ver-
laufe der entwickeluug hat sich ein wechselseitiges causalverhältniss
herausgestellt. So ist es z. b. charakteristisch, dass im got. haupt-
sächlich noch diejenigen verba die reduplication bewahrt haben, bei
denen die indogermanische vocaldiö'erenz zwischen präs. und perf. (^prät.)
auf lautlichem wege geschwunden ist, und zwar diese sämmtlich, vgl.
halda — haihald, skaida — skalskuid, slaiita — sfaitaut. Immerhin ist
auch für das ahd. ein zwingendes bedürfniss zur Unterscheidung der
Wurzelsilbe des präs. und prät. deshalb noch nicht vorhanden, weil
bei jeder einzelnen person des ind. wie des conj. auch in der endung
der unterschied ausgedrückt war. Anders im mhd., wo in der 1. 2. pl.
des ind. und im ganzen conj. der unterschied zwischen präs. und prät.
lediglich auf der gestalt der Wurzelsilbe beruht, vgl. gehen = gaben,
gehet = gäbet, gebe = gcehe etc. Im nhd. ist dazu auch die -2. sg.
und 3. pl. ind. gekommen. Der ablaut ist also ein immer notwendigeres
174
characteristieum geworden. Aber uur die unterseheidnng zwischen
präs. iiud prät, nicht die Unterscheidung- zwischen dem sg. ind. prät.
oder nur der 1. und 3. sg. ind. prät. einerseits und den übrigen formen
des Präteritums anderseits hat einen wert. Diese letztere, wie sie
gleichfalls aus der Ursprache tiberkommen war, war lediglich durch
die häutigkeit gewisser verba und den reihenparallelismus gestützt.
So ist sie denn auch in einigen Massen schon frühzeitig beseitigt (got.
fbr — forum, faifäh — falfähum, ahd. fiang — liangwn). In andern
hat sie sich bis ins nhd. fortgeschleppt, ist endlich aber doch bis auf
wenige reste beseitigt. Sicher ist es ein fortschritt in bezug auf Zweck-
mässigkeit der lautgestaltung, wenn wir jetzt nicht mehr wie im mhd.
spranc — Sprüngen, floug — fingen sagen, sondern sprang — sprangen,
flog — flogen. Erst im nhd. hat daher der ablaut wahrhaft functionelle
geltung erlangt. Dabei verdient noch eine erscheinung beachtung.
Der unterschied zwischen sg. und pl. ist (von den präterito-präsentia
abgesehen) in der jetzigen Schriftsprache nur in dem häufigen verbum
/rerden erhalten, und auch hier überwiegen bereits uebenformen mit
beseitigung des Unterschiedes. Dagegen gibt es noch eine anzahl von
Verben, in denen zwar der vocal des sg. in den pl. gedrungen ist, der
conj. aber seinen eigentümlichen vocalismus bewahrt hat: starb —
stürbe, schwainin — schtvömme (daneben aber schwämme) etc. Da ist
schon innerhalb engerer grenzen ein lautlicher gegeusatz festgehalten,
aber wider vermöge des Zusammenfalls mit einem functionellen. Da
aber zum ausdruck des letzteren der umlaut allein genügen würde
[schwammen — schwämmen), so wäre das festhalten des alten voeals
dennoch etwas überflüssiges. Aber gerade bei denjenigen verben, in
denen derselbe am festesten haftet {verdürbe, stürbe, würbe, würfe,
hülfe)^ kommt etwas anderes hinzu, die unterscheidl)arkeit vom conj.
präs.: helfe und hälfe, welche form allerdings neben hülfe vorkommt,
sind zwar graphisch, aber nicht lautlich von einander geschieden.
Anderseits bildet kein verbum mit durchgehendem i im präs. noch
einen conj. prät. mit ü (vgl. singe — sünge), weil hier gerade die alte
form nach der in den meisten mundarten üblichen ausspräche mit dem
conj. präs. zusammenfallen würde. Und so erklärt es sich, warum
gerade die verba mit mm und 7in noch doppclformeu aufweisen
{schwämme — schwömme, sänne — sonne, vgl. geschwommen, gesonnen
gegen gesungen).
Eine ähnliche rolle wie der ablaut bat der durch ein i oder j
der folgenden silbe hervorgerufene umlaut gespielt. In der männlichen
/-declination hatte sich im ahd. zufällig das verhältniss herausgebildet,
dass der ganze sg. unumgelautet bleibt, der ganze plural umgelautet
wird {gast — gesti etc.), und aus diesem gründe beharrt die ditterenz.
175
Das verhältniss wird am besten erläutert, wenn wir damit die ge-
schichte des gleichfalls durch den folgenden vocal bedingten Wechsels
zwischen e und /, 71 und 0 vergleichen. Die w-declination musste im
urgerm. etwa folgendermassen aussehen.')
sg. pl. sg. pl.
n. mediiz fnidiviz sunuz suniviz
g. medauz medevö ' sonauz sonevö
d. midiu medumiz suniu sunum
a. jnedu meduns sunu sununs
Ein so unzweckmässiger Wechsel konnte sich nicht lange behaupten.
Wir finden daher nur noch im altnordischen reste davon. Das alt-
hochdeutsche hat schon in der ältesten zeit in sunii das u durchgeführt,
in melu, ehu, eru das e, in situ, quirn das i.-) Notwendig zur Unter-
scheidung ist der umlaut in der /-declination im ahd. noch nicht, da
die casus des pl. auch sonst von denen des sg. noch deutlich ge-
schieden sind; auch im mhd. noch nicht, so lange das e der flexions-
endungen gewart wird, denn der nom. acc. gen. pl. gesle würden wol,
auch wenn sie des umlauts entbehrten, mit dem dat. sg. gaste nicht
leicht verwechselt werden. Sobald a1)er das e schwindet, wie dies
namentlich in den oberdeutschen dialecten geschehen ist, bleibt der
umlaut im nom. und acc. das einzige Unterscheidungszeichen zwischen
sg. und pl. Auf diesem Standpunkte der entwickelung hat die /-decli-
nation einen erheblichen vorzug vor der «-declination , und die rein
dynamische geltung des umlauts ist vollendet. Das zeigt sich nament-
lich daran, dass er weit über sein ursprüngliches gebiet hinausgreift.
Dies hinausgreifeu steht mit dem fehlen oder Vorhandensein eines
unterscheidenden e im engsten zusammenhange. So hat gerade im
oberdeutschen der umlaut fast alle umlautsfähigcn substantiva der
alten a-declination ergriffen, vgl. Schmeller, Mundarten Baierns § 796,
Winteler, Kerenzer mundart s. 170 ft". Man sagt also tag — tag, arm —
är7n etc. Die mittel- und niederdeutschen mundarten und die Schrift-
sprache haben diese tendenz in viel geringerem grade, und vorwiegend
nur bei den mehrsilbigen Wörtern wie sattel, wagen, in denen auch sie
das e des pl. abwerfen. Schon frühzeitig durchgedrungen ist der um-
laut bei den ursprünglich consonantisch fleetierenden und daher einer
endung im nom. acc. pl. entbehrenden verwandtschaftswörtern : rahd,
vater — veter, muoter — mneter etc.
') Es kommt natürlich für unsern zweck niclit in betraclit, ob die endnngen
genau zutreffend bestimmt sind.
2) Vgl. Beitr. z. gescb. der deutschen spr. VI, ^n. Eine ausgleichung nach
verschiedeneu richtungen bleibt auch möglich, falls für das ahd. ein lautlicher Über-
gang des e in / vor u anzunehmen ist.
176
Auch die formale ausg-leichuDg, die wir schon mehrfach mit in
die betraehtiuig- hineinziehen mussteu, ist häufit:,' reactiou gegen eine
zwecklose hiutditferenzierung. Der hergang ist dann folgender. Es
sind innerhalb einer bis dahin gleichförmigen bildungsklasse lautliche
diserepanzen in einer oder mehreren formen entstanden, so hat sieh
z. b. der gen. bei einigen Wörtern so, bei andern anders gestaltet,
während in den übrigen casus die gleichmässigkeit nicht gestört ist.
Dann macht sich die tendenz geltend auch in der einen oder den
wenigen differenzierten formen die nämliche gleichmässigkeit wider
herzustellen, die partielle Übereinstimmung der bildungsweise wider in
eine totale zu verwandeln. Diese art von ausgleichung findet sich be-
sonders in Verbindung mit der stofflichen, wie die angeführten bei-
spiele zeigen. Sie ist aber auch ausserdem häufig genug, So gehört
z. b. hierher die ausgleichung zwischen hartem und weichem reibelaut
in den casus- und personalendungeu der altgermanischen dialekte.')
Nach dem Vernerschen gesetze war Jj = idg. t in p und Ö (rf), s in
s (hart) und z (weich) gespalten. Es hiess demnach im urgerm. '*trdesi
(du trittst), */rdiipi (er tritt), *(rdepe (ihr tretet), *irdönpi (sie treten)
gegen '*berezi (du trägst), ^beretü, '^beretie, ^berondi, während in der
1. sg. und pl. keine differenzieruug eingetreten war; ferner in der
o-declination nom. sg. *sUgös (steg), aber '^e/uvoz (pferd), nom. pl. *stigös,
aber '*ehwöz, acc. pl. *stigöns, aber *ehwo]iz, während die übrigen casus-
endungen gleich geblieben waren; und ähnlich in andern flexions-
klassen. Die darauf eingetretene ausgleichung hat fast überall zu
gunsten des weichen lautes entschieden, wobei zu bemerken ist, dass
z im altn. und in den westgerm. dialecten als r erscheint, im ursprüng-
lichen auslaut in den letzteren abfällt. Doch hat in einigen fällen
auch das harte s gesiegt. So steht im nom. pl. der a-declination ags.
und altfries. dcu/as neben altn. dagar\ im alts. zeigt der Heliand -os,
nur vereinzelt o oder a {yrurio, sluiila)^ während in der Freckenhorster
rolle a häufiger ist als os und as. Das ahd. kennt in appellativen nur
a, dagegen in stammbezeichuungen, die zu städtenamen geworden sind,
auch -as, falls dieselben nicht anders aufzufassen sind.^)
Ein beispiel aus jüngerer zeit ist die widerherstellung des flexions-e
im nhd. in fällen, wo es schon im mhd, geschwunden war. Besonders
lehrreich sind die ableitungen mit -en, -er, -el. Bei den Substantiven
Jjleibt die mittelhochdeutsche ausstossung des e bestehen, vgl. des morgens,
dem wagen, die wagen, der wagen, den wagen gegen tages, läge, tagen,
ebenso schüssel, schusseln gegen schule, schuloi. Dagegen in den ad-
') Vgl. Beiträge VI, 54b tf.
^) Vgl. Kögel, Zsfhr. f. deutsches altertum 28, s. Hüft'.
177
jeetiven, die wegen der sonstigen durchgängigen gleiehforinigkeit fester
zusammengehalten wurden, ist das e nach analogie der einsilbigen
wider hergestellt: gefangenes wie langes, gefangene, gefangenen (mhd
gevangen), andere, anderes, andere (= mhd. ander, anders, ander).
Die neuhochdeutschen formen kommen übrigens schon im mhd. neben
den syncopierteu vor. Wir können dabei wider beobachtungen über
isolierung machen. Es heisst äusnahmlos die, den eifern gegenüber
die, den alleren; der jünger, den Jüngern (subst.) gegen der jüngere
den jüngeren (adj.); einzeln, dat. pl. des mhd. adj. einzel; anderseits,
unserseits gegen andere seife, unsere seife; Vorderseite, hinterseite,
Oberarm, unterarm, edelmann, innerhalb, ausserhalb, oberhalb, unterhalb
(unechte composita, durch zusammenwachsen von adj. und subst. ent-
standen) gegen die vordere seife etc.; anders gegen anderes.
Ein anderer fall, in dem der umlaut aus analogen Ursachen
dynamisch geworden ist, ist der conj. der starken und der ohne
zwischenvocal gebildeten schwachen präterita, mhd. fuor — füere, sang,
pl. sungen — süngen, mohte — möhte, brähte — brecht e etc. Hier ist
der umlaut entweder durchgängig oder wenigstens für den pl. einziges
Unterscheidungsmittel. Die dynamische auffassung im Sprachgefühl
bekundet sich darin, dass im nhd. bei der sonstigen ausgleichung des
vokalismus doch der umlaut bleibt {sang, sangen — sänge, für sungen,
sänge); ferner noch entschiedener im mitteldeutschen in der Über-
tragung des Umlauts von den ursprünglich vokallosen auf die syn-
copierten präterita {brante — bre7ite statt brante nach analogie von
brähte — brcehte).^)
Ein dritter fall ist der umlaut im präs. gegenüber dem unter-
bleiben des Umlauts im prät. und pari: ahd. brennu — branta —
gibranier. Im part. hat sich auf lautlichem wege ein Wechsel ent-
wickelt: gibrennit — gibra?it-. Das nächste resultat der ausgleichung
ist aber unter diesen umständen, dass die unflectierte form gibrennU
gegen gibrant zurückgedrängt wird. Dann aber erhält sich der gegen-
satz in der Wurzelsilbe zwischen präs. und prät.-part. Jahrhunderte
hindurch constant, wiewol er zur Charakterisierung der formen nicht
notwendig ist.
Auf diese weise können auch demente des wortstammes in
flexionsendungen verwandelt werden. Dies ist der fall in unserer
schwachen declination. In dieser gehört das n (vgl. namen, frauen,
herzen) zu dem ursprünglichen stamme. Indem aber jede spur der
ursprünglichen flexionsendung durch den lautlichen verfall getilgt ist,
und indem anderseits das n im nom. (beim neuti-um auch aec). sg!
') Vgl. Bech, Germania 15, s. 12Uflf.
Paul, Principien. II. Auflage. j2
178
geseliwimden ist {namc, frau, /icrz), so ist es zum chavacteristicum der
obliquen casus im gegeusatz zum nom. sg. geworden. Ein anderes
auf solche weise entsprungenes casussuffix ist das pluralbildende -er
{rad — räder, mann — mämier). Die bildungsweise ist von einigen
neutralen s-stämmen ausgegangen (vgl. lat. genus — generis), in denen
das s lautgesetzlich zu /• geworden war. Im nom. sg. musste dasselbe
nebst dem vorhergehenden vocal lautgesetzlieh schwinden. Unter der
einwirkung der vocalischen declination entstand dann zunächst im ahd.
folgendes schema.
sg.
pl.
n.
kalp
kalbir
g-
kalbir-es
kalbir-o
d.
kalbir-e
kalbir-um
a.
kalp
kalbir.
Im gen. und dat. sg. war das -ir- jedenfalls unnötig und störend.
Daher sind die betreffenden formen schon in der zeit, aus der unsere
ältesten quellen stammen, bis auf vereinzelte reste verschwunden und
durch halbes, kalhe ersetzt, die nach dem muster der normalflexiou
aus dem nom.-acc. gebildet sind. Nun musste das -ir als characte-
risticum des pl. erscheinen, um so mehr, weil es im nom.-acc. gar kein
anderes unterscheidendes merkmal gab. Der functionelle Charakter
des -ir = mhd., nhd. -er documentiert sich dann dadurch, dass es all-
mählig auf eine menge von Wörtern übertragen wird, denen es ur-
sprünglich nicht zukommt.
Diese beispiele werden genügen um anschaulich zu machen, wie
eine ohne rücksicht auf einen zweck entstandene lautliche differen-
zierung, durch zufälliges zusammentreffen verschiedener umstände be-
günstigt, ungewollt und unvermerkt in den dienst eines Zweckes ge-
zogen wird, wodurch dann der schein entsteht, als sei die diflfereuz
absichtlich zu diesem zwecke gemacht. Dieser schein wird um so
stärker, je mehr die gleichzeitig entstandenen zweckwidrigen diflfe-
renzen getilgt werden. AVir dürfen unsere aus der verfolgbaren histo-
rischen entwiekelung zu schöpfende erfahrung zu dem satze verall-
gemeinern, dass es in der spräche überhaupt keine absichtliche zur
bezeichnung eines fuuctionsunterschiedes gemachte lautdifferenzieruug
gibt, dass der erstere immer erst durch secundäre entwiekelung zur
letzteren hinzutritt, und zwar durch eine unbeabsichtige, den sprechen-
den Individuen unbewusste entwiekelung vermittelst natürlich sich er-
gebender ideenassociation.
Cap. XI.
Bildung neuer gruppen.
Weim im allgemeinen der lautwaudel die Wirkung hat unterschiede
zu erzeugen, wo früher keine vorhanden waren, so dient er doch auch
nicht ganz selten dazu vorhandene unterschiede zu tilgen. Das
ist unter umständen ganz heilsam, meistens aber schädlich, indem auch
unterschiede, welche für die kennzeichnuug der functiou wesentlich
sind, verloren gehen und ausserdem die reinliche sonderung der ein-
zelnen gruppen von einander unmöglich gemacht wird. Daher pflegt
auch diese Wirkung des lautwaudels weitere folgen zu haben und
namentlich viele aualogische neubilduugen hervorzurufen.
Der einfachste hierher gehörige Vorgang ist, dass Wörter, die
etymologisch gar nicht zusammenhängen und auch in ihrer bedeutuug
nichts mit einander zu schaffen haben, durch seeundäre entwickelung
lautlich zusammenfallen, z. b. enkel (talus) = mhd. enkel — cnkel
(nepos) = mhd. enenkel, garhe (manipulus) = mhd. garhe — garhe
(Schafgarbe) = mhd. ganve, kiel (carina) = mhd. kiel — kiel (caulis
pennae) = mhd. kil, mähre (narratio) = mhd. mccre — mälwe (equa)
= mhd. merhe, tor (porta) = mhd. tor — tor (stultus) = mhd. töre,
los (solutus) = mhd. lös — los (sors) = mhd. löz, ohm (amphora)
= mhd. äme — ohm (avuneulus) = oheim, schnür (linea) = mhd. snnor
schnür (nurus) — mhd. smir. Massenhafte beispiele Hessen sich
namentlich aus dem englischen anführen.
Mitunter verschmelzen zwei solche Wörter trotz der Verschieden-
heit ihrer bedeutung füs das Sprachgefühl in eins. Niemand wird
ohne sj)raehgeschichtliche kenutnisse vermuten, dass in unserm miler
zwei ganz verschiedene Wörter zusammengefallen sind, das eine = lat.
inier, das andere verwandt mit lat. infra (sanskr. andhari). Noch
weniger wird mau darauf verfallen, dass ein schiff lichten anderen
Ursprung hat (mhd. lihten leicht machen) als die anker lichten (nieder-
deutsche form für lüften). Schlingen (devorare) ist mitteldeutsche form
für älteres slinden (vgl. Schlund) und hat sich vielleicht deshalb in
12*
180
der Schriftsprache festgesetzt, weil es mit schlingen = mhd. slingen
verschmolzen ist. Bei der wendiing in die schanze schlut/eyi denkt man
kaum daran, dass man es mit einem andern worte als dem gewöhn-
lichen schanze zu tun hat; es ist = franz. chance. Noch beweisender
sind einige fälle, in denen formale beeinflussung stattgefunden hat.
Zwar dass der übertritt von mahlen (mhd. mala) aus der starken in
die schwache conjugation sich unter dem einfluss von malen (mhd.
malen) vollzogen hat, kann man nur vermuten. Schon weniger frag-
lich ist es, dass der übertritt von ladeyi einladen (= ahd. ladön) in
die starke conjugation durch laden aufladen (= ahd. hladan) veranlasst
ist; umgekehrt kommen von letzterem auch schwache formen vor,
z. b. über ladete bei Less., ladest, ladet auch jetzt. Sicher ist, dass ein
starkes er hefährt bei Jean Paul zu dem sonst schwachen befahren
= mhd. vären durch Verwechselung mit dem starken befahren (mhd,
varn) veranlasst ist. In Oestreich verwechselt man kennen und können,
man sagt z. b.: der Schauspieler hat seine rolle nicht gekannt. In den
beiden letzten fällen sind zwar etymologisch verwandte, aber doch
wesentlich verschiedene Wörter confundiert. Im mhd. existieren zwei
etymologisch verschiedene partikeln wan, die eine adversativ, die andere
begründend — nhd. denn. Die letztere hat eine vollere nebenform
wände zur seite. Diese wird nun zuweilen auch in adversativem sinne
angewendet, wo sie von hause aus nicht berechtigt ist (vgl. Mhd.
wb. III, 479''). Im ahd. sind die präpositionen int- und in in der
composition mit einem verbum vielfach in die form in- zusammen-
geflossen indem das t durch assimilation in den folgenden consonanten
aufgegangen ist. Die doppelheit Int- — in- ist denn auch auf solche
fälle tibergegangen, in denen in zu gründe liegt, vgl. nhd. entbrennen,
entziinden etc. Unser zer- hatte früher eine nebenform ze- izer- vor
vokal, ze- vor consonant entwickelt). Diese war lautlich identisch
mit der ihrem Ursprünge nach ganz verschiedenen präposition ze
zu. Neben diese trat im mhd. die adverbialform zuo mhd. zu, welche
allmählig die form ze ganz verdrängt hat. Dies zii finden wir nun
auch für ze- == zer-, z. b. bei Luther. Entsprechend ist ags. to- in
der bedeutung von zer- zu erklären.
Durch zufälliges paiüelles gleichwerden der lautgestaltung ti'eten
unverwandte Wörter zu stofflichen gruppen zusammen. Es ist
dies die einfachste art der sogenannten Volksetymologie, die sich
lediglich auf eine umdeutung durch das Sprachgefühl beschränkt, ohne
dass dadurch die lautform eine Veränderung erleidet. Vorbedingung
daflir ist, dass die wahre etymologie des einen Wortes verdunkelt ist,
so dass es keine andere, berechtigtere anknüpfung hat.
Solchen umdeutungen unterliegen am häufigsten die glieder eines
181
compositums. So wird cr/rähnen als eine Zusammensetzung mit wähnen
= mhd. iv^nen gefasst, während es vielmehr das mittelhochdeutsche
{ye)>vehenen enthält; bei freilag denkt man au das adj. frei. Am
meisten sind eigeunamen der umdeutung- ausgesetzt, vgl. Reintvald,
Bärrvald, Braunwald, in denen der zweite bestandteil ursprünglich
nicht = silva ist, sondern nomen agentis zu n-ülten; Glaub- recht,
Lieh recht, die ursprünglich vielmehr composita mit brecht = ahd.
beruht sind; Sauer! ant , verhochdeutseh aus Süerland = Süderlant.
Weitere beispiele bei Andr. Volkset, Hier ist die umdeutung erfolgt,
ohne dass sie von Anfang an durch eine Verwandtschaft der bedeutung
unterstützt worden wäre. Es wirkt bloss die natürliche erwartung, in
einem werte, welches seiner lautgestalt nach den eindruck eines com-
positums macht, auch bekannte demente zu finden.
Eigennamen widerstreben einer solchen lediglich an den laut sich
haltenden secundären beziehung am wenigsten, weil bei ihnen zwar keine
Übereinstimmung, aber auch kein Widerspruch der bedeutuugen mög-
lich ist. Es giebt aber auch fälle, in denen es möglich wird zwischen
den bedeutungen der betretfenden Wörter eine beziehung herzustellen;
vgl. mhd. endekrist, lautlich entwickelt aus antikrist\ nhd. lanzknecht
aus landes kriecht; wahnwitz, Wahnsinn, wahnschaffen an wahn (== mhd.
wäll) angelehnt, während mhd. wan leer, nichtig zu gründe liegt;
friedhof aus mhd. /H^Ao/"; vormund zu mund schütz; verweisen, nicht zu
weisen (= mhd. wisen) gehörig, sondern aus mhd. verwizen. Umringen
ist, wie noch die schwache flexion zeigt, seinem Ursprünge nach kein
compositum von ringen, sondern eine ableitung aus dem untergegan-
genen mhd. ümberinc. Aber die betonuug umringen beweist, dass es
zu einem compositum aus um und ringen umgedeutet ist. Eine weitere
consequenz der umdeutung ist dann gewesen, dass man ein pari
umrungen und selbst ein prät. umraiuj gebildet hat, vgl. die belege
bei Sanders II, 764. Auch Wörter, die keine composita sind, aber
wegen ihrer volleren lautgestalt den eindruck von solchen machen,
werden auf diese weise zu wirklichen compositis gestempelt; vgl.
leumund als leutemund gefasst, aber ableitung aus got. hliuma (ohr);
weissagen, schon mhd. wissagen = ahd. wizagön, ableitung aus wizago
der wissende, prophet; trübsälig , armsölig etc., ableitungen aus triib-
saJ, etc., -sal ableituugssuffix.
Seltener ist es, dass ein wort als ableitung von einem andern
gefasst wird, mit dem es ursprünglich nichts zu schaffen hat. Nhd.
sucht wird vom Sprachgefühl als zu suchen gehörig empfunden, ist aber
hervorgegangen aus mhd. suht {= got. sauhfs)^ das mit mhd. suochen
(got. sökjan) nichts zu schaffen hat. Die neuhochdeutsche anlehnung
an suchen ist ausgegangen von compositis wie Wassersucht, tnondsuchl,
182
(jeWsuchl, schtrindsuchl, cifermcht, Sehnsucht, ehrsuchl etc., die man als
begierde nach wasser, nach dem monde, gelb zu werden, zu eifern etc.
auffasste. H. Sachs fasst -suht noch als krankheit, wenn er sagt wayin
er hat mich die e'ifersucht. Vgl. dagegen den bekannten spruch elfer-
sHcht ist eine leidenschaft , die mit eifer sucht, was leiden schafft. Laute
wird als zu laut gehörig empfunden, ist aber ein aus dem arabischen
stammendes lehnwort. Bei hantieren aus franz. hanter denkt man an
hand, bei fallieren aus franz. faillir an fallen, bei h eschwichtigen.,
niederdeutsche form zu mhd. swiften, an schweigen, bei schmälen
(eigentlich schmal, klein machen) an schmähen. Herrschaft, herrlich,
herrschen sind aus hehr abgeleitet (daher mhd. herschaft etc.), werden
aber jetzt auf herr bezogen, womit sie ursprünglich nur indireet ver-
wandt sind.
Von den besprochenen erscheinungen zu sondern ist die com-
pliciertere art der Volksetymologie. Diese besteht in einer lautlichen
Umformung, wodurch ein wort, welches durch zufällige klangähnlich-
keit an ein anderes erinnert, diesem weiter angeglichen wird. Eine
solche Umformung kann absichtlich gemacht werden mit dem vollen
bewusstsein, dass man sich eine Veränderung der richtigen form ge-
stattet. Derartiger Verdrehungen bedienen sich manche humoristische
Schriftsteller, in ausgedehntestem masse Fischart. Manche pflanzen
sich als traditionelle witze fort, besonders in der Studentensprache.
Diese absichtlich witzige Umformung bietet dem Sprachforscher kein
problem. Sie geht ihn nur insofern an, als sie von dem naiven sinne
der kinder und der ungebildeten nicht als Verdrehung erkannt, sondern
als die eigentliche form aufgenommen und weiterverbreitet wird. Es
gibt aber zweifellos auch eine absichtslose und unbewusste Umformung,
die sich als solche durch die abwesenheit jedes witzes zu erkennen
gibt. ') Derselben unterliegen fremdwörter, eigennamen und andere
Wörter, deren etymologie verdunkelt ist, und zwar fast nur composita
oder solche Wörter, die vermöge ihrer volleren lautgestalt den eindruck
von compositis machen. Hierbei unterliegt entweder nur das erste
Clement einer Veränderung, vgl. juheljahr (ebräisch jöbet)., dienstag.,
Huldreich aus mhd. Uolrich, maulwurf aus mhd. moltwurf, lat. auri-
chalcum aus griech. oQeixaXxog] oder nur das zweite, vgl. hagesfolz,
Reijihold, Gotthold, Weinhold etc. aus -olt = walt"^), abspannen aus mhd.
*) Noch ist darauf aufmerksam zu machen, dass dieselbe nicht mit der in
cap. 22 zu besprechenden lautsubstitution verwechselt werden darf. Die Wirkungen
beider Vorgänge sind nicht immer scharf auseinanderzuhalten.
*) Das h ist allerdings wol kaum je gesprochen worden, und dann liegt nur
umdeutung vor, die in der Orthographie ihren ausdruck gefunden hat.
183
spanen (locken), ahslrcifen auB mbd. siroufen '), einode aus mhd. eincete
{celc suftix); oder beide, vgl. armhrnst aus lat. arcuhalista, liebstöckel
aus lat. liyusticum, feileisen aus franz. valise^ ehrenhold aus herolt, griech.
övviÖQioi' aus ebräiscli sanhedrin. Der eine bestandteil ist umgeformt,
der andere nur umgedeutet in abseile, früber apside aus griecb. ix^nc,;
h'üssnacht aus Cussiniacum; wabrsebeinlicb aucb in Mailand aus
ndid. Milan. Wie sebon aus diesen wenigen beispielen ersicbtlicb ist,
kann die angleicbung dadurcb unterstützt sein, dass sieb die bedeutung
des umgeformten wertes zu der seines musters in beziebung bringen
Hess, aber sie bedarf solcber Unterstützung nicbt notwendig. Für die
erklärung des Vorganges werden wir zunäcbst zu berücksicbtigen
baben, dass man ganz gewöbnlicb die worte und sätze die man bort,
ibren lautbestandteilen nach nicbt vollkommen exact percipiert, sondern
teilweise errät, gewöbnlicb durcb den nacb dem zusammenbange
erwarteten sinn unterstützt. Dabei rät man natürlicb auf lautcomplexe,
die einem sebon geläufig sind, und so kann sieb gleicb beim ersten
boren statt eines für sieb sinnlosen teiles eines grösseren wertes ein
äbnlicb klingendes üblicbes wort unterscbieben. Ferner aber baftet
ein wortteil, der sonst gar keinen anbalt in der spracbe bat, aucb
wenn er ricbtig percipiert ist, scblecbt im gedächtniss, und es kann
sieb daber docb bei dem versucbe der reproduction ein als selbständiges
wort geläufiges dement unterscbieben. Und wenn erst einmal, sei es
beim boren oder beim sprechen, eine solche Unterschiebung stattge-
funden bat , so hat das untergeschobene vor dem echten den vorteil,
dass es sich besser dem gedächtniss einprägt. Es ist ganz natürlich,
dass sich dieser Vorgang im allgemeinen auf längere worte beschränkt.
Denn kürzere sind leichter zu pereipieren und leichter zu behalten.
Ausserdem aber ist man es gewohnt, dass eine anzahl einfacher Wörter
isoliert da stehen, wenigstens nur mit den allgemein geläufigen und
beliebig bildbaren ableitungen gruppiert, während man von einem
worte, welches den eindruck eines compositums macht, aucb erwartet,
dass die einzelnen elemente an einfache Wörter anknüpfbar sind.
Viel durchgreifender als auf dem stofflichen wirkt der lautliehe
zusammenfall auf dem formalen gebiete. Wir scheiden die hierher
gehörigen Vorgänge zunächst in zwei hauptgruppen , nämlich je nach-
dem formen zusammenfallen, die funetionell gleich, oder solche,
die funetionell verschieden sind.
Die auf hebung lautlicher Verschiedenheiten bei functioneller gleicb-
heit kann sehr woltätig wirken, weil sie die bildung der formalen
gruppen vereinfacht. Mitunter wird dadurch nur die im vorigen capitel
Dabei kommt aber auch der mundartliche Übergang von eu in ei in betracht.
184
besprochene lauHiolie diflferenzierung- wider aufgehoben. So fallen z. b,
die auf gleicher grundlage beruhenden althochdeutschen ))ildung88ilben
-lü, -al, -il im uihd. in -el zusammen, ebenso -U7i, -an, -in in -en etc.
Zwecklos sind aber auch solche unterschiede wie die doppelte bildung
des comparativs und Superlativs im ahd. -h'o, -ist oro, -öst oder die
beiden synonymen weisen der adjectivbildung auf -ag und -ig^)^ und
es ist daher nur ein vorteil, wenn wir jetzt nur -er, -[e\st und -ig
haben. Auch der zusammenfall zweier ganzer flexionsklassen wie der
althochdeutschen verba auf -Ön und -en in mhd. -en ist nur eine zweck-
mässige Vereinfachung.
Aber nicht immer geht lautlicher zusammenfall so gleichmässig
durch ganze Systeme von stofflich -formalen proportionen hindurch.
Meistens trifft er nur einen teil der unter einander zusammenhängenden
formen. Dann trägt er nicht zur Vereinfachung, häufig aber zur Ver-
wirrung der Verhältnisse bei.
a) Der lautliche zusammenfall geht zwar durch sämmtliche formen
eines flexionssystemes hindurch, er trifft aber in der einen flexions-
klasse oder in mehreren nur einen teil der Wörter, die ursprünglich
dazu gehören. Während, wie wir eben gesehen haben, von den drei
althochdeutschen Massen der schwachen verba im mhd. zwei ganz
zusammengefallen sind, haben sich ihnen von der dritten Masse (got.
auf -Jan) nur die kurzsilbigen vollständig angeschlossen, die langsilbigen
bleiben noch unterschieden durch die alte syncope des mittelvokals im
prät. und pari perf. und eventuell durch den rückumlaut, vgl. manete,
lebete, rvenete aus manota, leheta, rvenita zu manen, leben^ rvenen neben
neide, hrante zu neigen, brennen. Die althochdeutsche «-declination ist
mit der o-declination in bezug auf die endungen vollständig zusammen-
gefallen, in bezug auf die gestalt des Stammes im plur. aber nur, wenn
der wurzelvokal nicht umlautsfähig ist. Es ist also hier mit dem zu-
sammenfall immer eine Spaltung verbunden, respective eine Spaltung
dem zusammenfall vorangegangen.
b) Der zusammenfall geht zwar durch alle Wörter mehrerer flexions-
klassen hindurch, aber nicht durcli alle formen des flexionssystems.
Dieser fall ist sehr häufig. So ist die zweite lateinische declination
mit der vierten nur im nom. und acc. sing, zusammengefallen; ebenso
die 0- und «-declination im gotischen {fisks, fisk — gasts, gast).
c) Der zusammenfall triffst nur einen teil der Wörter mehrerer
flexionsklassen und nur einen teil der formen des flexionssystems. So
ist im ahd. der nom. und acc. der langsilbigen und mehrsilbigen i-, u-
') Abzusehen ist von dem vereinzelten falle einag — einig, wo eine Ver-
schiedenheit der bedeutung vorliegt.
185
und o-stämme zusammengefallen, während diese casus bei den kurz-
silbigen verschieden geblieben sind, vgl. <jasl^ wald, arm aus '*(j<isli{z),
*n'a/du{z), *armo{z) gegen tvini, sunu und wenigstens vorauszusetzen-
des *<7o/o.
Wo der fall a eingetreten ist, da ist der zusammenfall wie die
trennung der fiexionsklassen eine definitive, wogegen keine reaction
möglich ist. Die bleibende folge ist eine Verschiebung in den macht-
verhältnissen der betretfenden gruppen, indem ja die eine einen Zu-
wachs auf kosten der andern erhält. Fall b und c dagegen erzeugen
eine Verwirrung in den gruppierungsverhältuisseu. Wo einmal ver-
schiedene lautliche moditicationen für die nämliche function angewendet
werden, da ist es am zweckmässigsten, wenn die lautliche Verschieden-
heit durch alle formen eines Systems hindurchgeht, so dass sich die
einzelnen fiexionsklassen reinlich von einander sondern lassen, dass
man es jeder einzelnen form ansieht, welcher klasse sie angehört.
Sind nun in zwei klassen einige formen übereinstimmend, einige ab-
weichend, so wird ein wort auf grund der übereinstimmenden formen
leicht falsch eingeordnet und es treten an stelle der traditionellen for-
men der einen klasse analogiebildungen, die der andern angehören.
Aus dem schwanken und der Verwirrung, die dadurch entsteht, kann
sich dann die spräche allmählig wider zu einfacheren und festeren
Verhältnissen durcharbeiten.
Beispiele stehen massenhaft zur Verfügung. Ich verweise insbe-
sondere auf die gegenseitige beeinflussung der verschiedenen declina-
tionsklassen des indogermanischen in den einzelsprachen, die fast
immer die folge des lautlichen Zusammenfalls in mehreren casus,
namentlich im nom. und acc. sg. gewesen ist. Meistens haben die so
zusammenfallenden klassen schon früher einmal eine völlig oder über-
wiegend identische bildungsweise gehabt, und diese ursprüngliche iden-
tität ist erst durch secundäre lautentwickeluug verdunkelt worden,
gegen die eine sofortige reaction deshalb nicht möglich gewesen ist,
weil die differenzierung eine zu sehr durchgehende war. So ist z. b.
die einheit der indogermanischen declination hauptsächlich vernichtet
durch die unter dem einflusse des accentes eingetretene vokalspaltung
und die contraction des stammauslauts mit der eigentlichen flexions-
endung. Dies waren so durchgreifende Wandlungen, dass es erst vieler
weiterer Veränderungen und namentlich abschwäehungen bedurfte um das
getrennte auf einer ganz andern grundlage teilweise wider zu vereinigen.
Das resultat bei dieser art ausgleichung ist in der regel, dass
Wörter der einen bildungsklasse in die andere übertreten, und zwar
entweder alle oder nur einige, entweder in allen formen oder nur in
einigen. Für das letztere mag folgendes als beispiel dienen. Im goti-
l
186
sehen sind die mascnlina der /-deelination im sg. in die «-declination
iil)er2:etreten wegen des lautlichen znsamment'alls im nom. nnd aec.,
ähnlich im ahd. Der pl. bleibt aber in beiden dialecteu noch ver-
schieden flectiert. Dass die ausg'leichuuü' zunächst bei diesem punkte
stehen bleibt, ist eine folge des nie fehlenden mitwirkens der et^'mo-
logischen gruppieruug, und es bestätigt sich insofern dadurch wider
der satz: je enger der verband, je leichter die beeinfiussung.
Es ist entweder nur die eine gruppe activ, während die andere
sich mit einer passiven rolle begnügt, oder es sind beide gruppen zu-
gleich activ und passiv. Im uhd. sind eine menge schwacher mascu-
lina in die flexion der starken auf -en übergetreten, von denen sie sich
schon im mhd. nur durch den nom. und gen. sg. unterschieden, vgl.
bogen (== mhd. hoge)^ garten, kragen, schaden etc. Es gibt aber auch
einige fälle, in denen umgekehrt ein starkes masculiuum auf n in die
schwache flexion übergetreten ist: heide (^ m\\A.heiden\ krist(e){= mhd.
krisfen), rabe (= mhd. fahen).
Tritt eine solche gegenseitige beeinfiussung zweier gruppen an
den nämlichen Wörtern hervor, so kann es geschehen, dass nach
längeren Schwankungen sich eine ganz neue flexionsweise heraus-
bildet. So ist durch contamination der beiden eben besprochenen
klassen eine mischklasse erwachsen: der glaube — des glaubens, der
gedanke — des gedankens etc. Die eutstehung dieser mischklasse er-
klärt sich einfach, wenn wir bemerken, dass einmal im nom. wie im
gen. doppelformen bestanden haben: der glaube — der glauben, des
glauben — des glaubens. Es hat sich dann in der Schriftsprache der
nom. der einen, der gen. der andern klasse festgesetzt. So ist ferner
aus der gegenseitigen beeinflussung der schwachen masculina mit ab-
geworfenem endvokal und der starken eine mischklasse entstanden,
die den sing, stark und den plur. schwach flectiert: schmerz, -es, -e —
schmerzen. Entsprechend bei den neutris: bell, -es, -e — betten. Das
am weitesten greifende beispiel der art im nhd. ist die regelmässige
flexion der feminina auf -e, die zusammengeschmolzen ist aus der
alten «-declination und der w-declination (der schwachen). Im mhd.
flectiert man noch:
sg. n.
vröude
zunge
S-
vröude
Zungen
d.
vröude
Zungen
a.
vröude
Zungen
pl. n.
vröude
Zungen
g--
vröuden
Zungen
d.
vröuden
Zungen
a.
vröude
Zungen
187
Im iihd. lieisst es durch den ganzen sg. liindureli freude, zungc, diucli
den ganzen pl. hindurch freuden, zungen. Wider ein charakteristisches
beispiel einer zweckmässigen Umgestaltung, die ohne bevvusstsein eines
Zweckes erfolgt ist. Die grössere Zweckmässigkeit der neuhochdeut-
schen Verhältnisse beruht nicht bloss darauf, dass das gedächtniss ganz
erheblich entlastet ist; es sind auch die beiden allein vorhandenen
enduugen in der angemessensten weise verteilt. Die Unterscheidung
der numeri ist desshalb viel wichtiger als die Unterscheidung der casus,
weil die letzteren noch durch den in den meisten fällen beigefügten
artikel charakterisiert werden. Im mhd. kann die vröude und die zun-
gen ace. sg. und nom. acc. pl. sein, der zungen gen. sg. und pl. Diese
Unsicherheiten sind jetzt nicht mehr möglich, dagegen nur die Unter-
scheidung zwischen nom. und acc. sg. bei zunge aufgehoben. Sehen
wir aber, wie sich die Verhältnisse entwickelt haben, so finden wir als
Vorstufe ein allgemeines übergreifen Jeder von beiden klassen in das
gebiet der andern, welches sich ganz natürlich ergeben musste, nach-
dem einmal in drei formen (nom. sg., gen. und dat. pl.) lautlicher zu-
sammenfall eingetreten war. So hatte sich ein zustand ergeben, dass
jede form sowol auf -e als auf -en auslauten konnte mit ausnähme
des nom. sg. Es ist dabei keine einzige form mit rücksicht auf einen
zweck gebildet, sondern nur für erhaltung oder Untergang der ein-
zelnen formen ist ihre Zweckmässigkeit entscheidend gewesen.
Gegenseitige beeinflussuug zweier gruppen setzt immer voraus,
dass das kräfteverhältniss kein zu ungleiches ist. Denn andernfalls
wird die beeinflussuug einseitig werden, auch durchgreifender und
rascher zum ziele führend. Es sind natürlich immer diejenigen klasseu
besonders gefährdet, die nicht durch zahlreiche exemplare verti-eten
sind, falls diese uicht durch besondere häufigkeit geschützt sind. Der
geringe umfang gewisser klassen andern gegenüber kann von anfaug
an vorhanden gewesen sein, indem überhaupt nicht mehr Wörter in
der betreffenden weise gebildet sind, meistens aber ist er erst eine
folge der secundären entwickelung. Entweder sterben viele ursprünglich
in die klasse gehörige Wörter aus, wobei namentlich der fall in betracht
kommt, dass eine ursprünglich lebendige bildungsweise abstirbt und
nur in einigen häufig gebrauchten exemplareu sich usuell weiter ver-
erbt. Oder die klasse spaltet sich durch lautdifterenzierung in mehrere
Unterabteilungen, die, indem nicht sogleich dagegen reagiert wird, den
zusammenhält verlieren. Möglichste Zerstückelung der einen ist daher
mitunter das beste mittel um zwei verschiedene bildungsweisen schliess-
lich mit einander zu vereinigen. Beobachtungen nach dieser seite hin
lassen sich z. b. an der geschichte des allmähligen Untergangs der con-
sonantischen und der w-declination im deutschen machen.
188
Hat einmal eine klas.se eine eutsehieclene Überlegenheit über eine
oder mehrere andere gewonnen . mit welchen sie einige berührungs-
punkte hat, so sind die letzteren unfehlbar dem untergange geweiht.
Nur besondere häutigkeit kann einigen Wörtern kraft genug verleihen
sieh dem sonst übergewaltigen einflusse auf lange zeit zu entziehen.
Diese existieren dann in ihrer Vereinzelung als an o mala weiter.
Jede spräche ist unaufhörlich damit beschäftigt alle
unnützen ungleichmässigkeiten zu beseitigen, für das func-
tionell gleiche auch den gleichen lautlichen ausdruck zu
schaffen. Nicht allen gelingt es damit gleich gut. Wir finden die
einzelnen sprachen und die einzelnen entwickelungsstufen dieser spra-
chen in sehr verschiedenem abstände von diesem ziele. Aber auch
diejenige darunter, die sich ihm am meisten nähert, bleibt noch weit
genug davon. Trotz allen Umgestaltungen, die auf dieses ziel
losarbeiten, bleibt es ewig unerreichbar.
Die Ursachen dieser Unerreichbarkeit ergeben sich leicht aus den
vorangegangenen erörterungen. Erstens bleiben die auf irgend welche
weise isolierten formen und Wörter von der normalisierung unberührt.
Es bleibt z, b. ein nach älterer weise gebildeter casus als adverbium
oder als glied eines compositums, oder ein nach älterer weise gebil-
detes participium als reine nominalform. Das tut allerdings der gleich-
mässigkeit der wirklich lebendigen bildungsweisen keinen abbruch.
Zweitens aber ist es ganz vom zufall abhängig, ob eine teilweise
tilgung der klassenunterschiede auf lautlichem wege, die so vielfach
die Vorbedingung für die gänzliche ausgleichung ist, eintritt oder nicht.
Drittens ist die Widerstandsfähigkeit der einzelnen gleicher bildungs-
weise folgenden Wörter eine sehr verschiedene nach dem grade der
stärke, mit dem sie dem gedächtnisse eingeprägt sind, weshalb denn
in der regel gerade die notwendigsten elemente der täglichen rede als
anomalieen übrig bleiben. Viertens ist auch die unentbehrliche Über-
gewalt einer einzelnen klasse immer erst resultat zufällig zusammen-
treffender umstände. So lange sie nicht besteht, können die einzelnen
Wörter bald nach dieser, bald nach jener seite gerissen werden, und
so kann gerade durch das wirken der aualogie erst recht eine chao-
tische Verwirrung hervorgerufen werden, bis eben das übermass der-
selben zur heilung der Ubelstände führt. Bei so viel erschwerenden
umständen ist es natürlich, dass der process auch im günstigsten
falle so langsam geht, dass, bevor er nur annähernd zum abschluss
gekommen ist, schon wider neu entstandene lautdifferenzen der aus-
gleichung harren. Die selbe ewige wandelbarkeit der laute, welche
als anstoss zum ausgleichungswerke unentbehrlich ist, wiyd auch die
zerstörerin des von ihr angeregten werkes, bevor es vollendet ist.
189
Wir könneu uns das an den declinationsverhältnissen der neu-
lioehdeutsehen Schriftsprache veranschaulichen. Im fem, sind die drei
hauptklassen des mhd., die alte /-, a- und 72-declination auf zwei
redueiert, vg-1. oben s. 186. Da nun auch die reste der consonantischen
und der w-decliuation (vgl. z. b. mhd. hanl, pl. hende, hande, handen,
hende) sieh allmählig- in die /-klasse eingefügt haben, so hätten wir
zwei einfache und leicht von einander zu sondernde Schemata: 1) sg.
ohne -e, pl. mit -e und eventuell mit umlaut {bank — hmike, hinderniss
— hindernisse); 2) sg. mit -e, pl. mit -en {zunge — zungen). In diese
Schemata aber fügen sich zunächst nicht ganz die mehrsilbigen stamme
auf -er und -el {mutter — mütter, achsel — achseln), die nach allge-
meiner schon mittelhochdeutscher regel durchgängig das e eiugebüsst
haben (wo es überhaupt vorhanden war). Diese würden noch wenig
störend sein. Aber es haben auch sonst viele feminina das auslau-
tende -e im sg. eiugebüsst, sämmtliche mehrsilbige stamme auf -hin
und -U7ig und viele einsilbige, wie /rau, huld, kost etc. = m\\A.früwve,
hulde, koste etc. Der gang der entwickelung bei den letzteren ist wahr-
scheinlich der gewesen, dass ursprünglich bei allen zw^eisilbigen femi-
ninis auf -e doppelformen entstanden sind je nach der verschiedenen
Stellung im Satzgefüge, und dass dann die darauf eingetretene aus-
gleichung verschiedenes resultat gehabt hat. Ausserdem kommt dabei
Cer kämpf des oberdeutschen und des mitteldeutschen um die herr-
f chaft in der Schriftsprache in betracht. Wie dem auch sei, jedenfalls
ist eine neue Spaltung da: zunge — zungen, aber /rau — frauen. Und
;, 'leichzeitig ist es wider vorbei mit der klaren Unterscheidbarkeit der
oeiden hauptklassen: frau stimmt im sg. zu bank, im pl. zu zunge.
Diese neue verwiiTung war nun allerdings förderlich für die weitere
ausgleichung. Die berührung zwischen der formation frau mit der
formation bank hat zur folge gehabt, dass eine grosse menge von Wör-
tern, ja die mehrzahl aus der ersteren in die letztere hinübergezogen
sind, vgl, bürg (pl. bürgen = mhd. bürge), ftut, weit, tugend etc., sämmt-
liche Wörter auf -he'tt, -keit, -schaft. Auf diesem wege hätte sich eine
einheitliche pluralbildung erlangen lassen, auf -en (w), und nur im sg.
wäre noch die Verschiedenheit von Wörtern mit und ohne e geblieben.
Aber die bewegung ist eben nicht zu ende gediehen und erhebliche
reste der alten /-declination stehen störend im wege.
Ganz ähnliche beobachtungen lassen sich am masculiuum und
neutrum macheu, nur dass bei diesen noch mehr verwirrende umstände
zusammentreffen. Auch hier wären die Verhältnisse darauf angelegt
gewesen eine reinliche Scheidung in der flexion zwischen den Substan-
tiven ohne -e und denen mit -e im non». sg, herauszubilden {arm —
arme, wort — warte, aber /"(otke — /"unken, äuge — augen\ wenn nicht
190
widor die ubwerfimg' des -e in cineui teile der Wörter dazwischen ge-
kommen wäre {mensch — menschen, herz — herzen).
Der lautliehe zusammenfall functionell verschiedener for-
men vollzieht sich innerhalb der etymolo^iischen gruppen. So wird
im ahd. der Übergang von auslautendem unbetonten m zu n die Ver-
anlassung zum zusammenfall der secuudären endung für die 1, und
3. pl.: in den älteren (luellen gähum — gnbun, gäbim — gabln, in den
jüngeren für beide personen gäbun, gäbiu. In ausgedehntestem masse
ist solcher zusammenfall veranlasst durch die abschwächung der vollen
endvokale des ahd. zu gleichförmigem c. So steht mhd. tage = ahd.
tage (dat. sg.) — taga (nom. pl.) — iago (gen. pl.); mhd. hanen =^ ahd.
hanin (gen. dat. sg.) — hanun (acc. sg. nom. und acc. pl.) — hanono
(gen.pl.) — hanöm (dat.pl.), und in den althochdeutschen formen liegt
zum teil bereits ein zusammenfall früher verschiedener formen vor.
Der zusammenfall geht nicht immer durch eine ganze flexionsklasse
hindurch, er braucht nur einen teil der ursprünglich hineingehörigen
Wörter zu treffen; vgl. z. b. lag — tage — lagen mit sessel — sessel —
Sesseln, mint er — winler — wintern und wagen — wagen — wagen.
Seltener als bei fiexionsformen ist der zusammenfall bei ableitungen
aus der gleichen grundlage. Da solche ableitungen schon für sich ein
ganzes System von formen bilden können, so kann der zusammenfall
nach zwiefacher richtung hin ein partieller sein. Es kann einerseits
aus mehreren ursprünglich lautlich verschiedenen Wortklassen nur ein
teil der Wörter zusammenfallen. So können im ahd. aus jedem adj.
zwei schwache verba abgeleitet werden, ein intransitives auf -on und
ein transitives auf -en (= got. -jaii). Im mhd. fallen beide klasseu
in den endungen alle zusammen, in der gestalt der Wurzelsilbe aber
nur zum teil, weil die meisten durch das Vorhandensein oder fehlen
des Umlautes geschieden bleiben, vgl. einerseits leiden aus leidön =
unangenehm werden und leiden aus leiden = unangenehm machen,
riehen reich werden und reich machen, niuwen neu werden und neu
machen; anderseits armen arm werden — ermen arm machen, swären
schwer werden — swwren schwer macheu. Es braucht anderseits der
lautliche zusammenfall sich nicht auf sämmtliche formen zweier ver-
wandter Wörter zu erstrecken. In nhd. schmelze)!, sind zwei im mhd.
durchaus verschiedene Wörter zusammengefallen, sm'elzen (mit offenem e\
stark und intransitiv und smelzen (mit geschlossenem e), schwach und
transitiv. Der zusammenfall erstreckt sich aber nur auf die formen
des präs., und auch von diesen sind die 2. 3. sing. ind. und 2. sg. imp.
ausgeschlossen: schmilzt, schmilz — schmelzt, schmelze.
Der lautliche zusanunenfall functionell verschiedener formen hat
nun öfters weitere consequenzen. Eine solche consequenz ist die, dass
191
man sich au die lautliche ü:leiehheit so sehr j^ewöhnt, dass man sie
auch auf fälle überträgt, iu denen sie duix^h die lautentwickelung- noch
nicht herbeigeführt ist. Tni alul. verbum ist durch Übergang- des aus-
lautenden m in n die 1. i)lur. der 3. plur. gleich geworden {gähun aus
t/dhum — gähun) mit ausnähme des ind. präs., wo die Verschiedenheit
noch in die mittelhochdeutsche zeit hinübergenommen wird: gehen —
yehenl. Diese Verschiedenheit wird zuerst im md., dann auch oberd.,
wie schon oben s. 95 bemerkt ist, durch angleichung der 3. pl. an die
3. pl, des prät. und des conj. beseitigt. Es kann sein, dass dabei auch
die gewöhnung an die Übereinstimmung der 1. und 3. pl. mitgewirkt
hat. Sicher Wirkung dieser gewöhnung- ist es, wenn im alemannischen
seit dem 14. Jahrhundert formen auf -enl auch für die 1. pl. gebraucht
werden. Die ausgleichung zwischen 1. und 3. pl. liegt auch in der
jetzigen Schriftsprache vor in sind = mhd. sin — sint; im obersäch-
sischen lautet umgekehrt auch die 3. pl. sein. Ein anderes beispiel
liefert uns die ausgleichung zwischen nom. und acc, im deutscheu.
Im urgermauischen waren beide casus beim mase. und fem. meistens
noch verschieden. Gleichheit bestand wahrscheinlich nur im plur. der
weiblichen a-stämme (got. gibos, anord. giafar). Im ahd. ist wie in den
äbrigen westgermanischen dialecten der nom. sg. der o-, i- und «-stamme
Jind der consonantischeu mit ausnähme der sogenannten schwachen
t'leclination durch abfall des auslautenden s dem acc. gleich geworden
' /isc, ba/g, sunu, man = got. ßsks — fisk, balgs — balg, sunus — sunu
land anord. ßskr — fisk, helgr — belg, sonr — son, max5r — mann); ferner
ist lautlicher zusammenfall eingetreten im nom. acc. plur. der schwachen
decliuation {hanun, zungün, urgerm. wahrscheinlich *hanoniz — *lia.nonz).
f Dadurch ist die veranlassung zu einer weiteren ausgleichung gegeben.
/ Die form des nom. pl. der o-, i- und ?<-8tämme und der consonantischeu
I ist in den acc. gedrungen und so die selbe Übereinstimmung wie im
sg. hergestellt: taga, bälgt {belgi), suni = got. dagos — dagans, balgeis
— balgins, simjus — siinuns und anord. dagar — daga, belgir — belgi,
synir — sunu (sonu). Die nach den lautgesetzeu im ahd. zu erwar-
tenden formen des acc. wären *tagun, '*balgin, ^simun. Bei den conso-
nantischeu stammen ist auch im got. und anord. ausgleiclnmg einge-
treten; urgerm. wäre anzusetzen *manniz — ^mannunz = ahd. man —
^mayinun, welche letztere form durch die erstere verdrängt ist. Auch
bei dem adj. und dem geschlechtlichen pron. ist die uomiuativform in
den acc. gedrungen: blinle {-a), die [dia) = got. blindai — blindans, pai
— pans. Bei den weiblichen «-stammen hat umgekehrt die lautliche
gleichheit beider casus im pl. eine ausgleichung im sg. herbeigezogen.
Es wurden zunächst beide formen, die des nom. und die des acc,
])romiscue gebraucht, dann setzte sich im allgemeinen die aecusativ-
192
tonn fest, während die nominativform auf bestimmte fälle beschränkt
wurde und mehr und mehr ganz versehwand. Während das angel-
sächsische unterscheidet ^lefu — zi^fe, är — äre, haben wir im ahd.
nur die accusativformen geba und era und nebeneinander als nom. und
ace. hcüha und halp, wisn und wis etc. In nhd. ist weiter im fem. des
schwachen adjectivums die accusativform durch die nominativform ver-
dräng-t: lange = mhA..l(mge — langen\ ferner die weibliche nomiuativ-
form des artikels durch die accusativform: die = mhd. diu — die\
schon im mhd. nom. siu durch acc. sie. Im rhein fränkischen und alema-
nisehen findet man endlich auch die nominativform des artikels der
accusativisch verwendet.
Tritt in einer spräche zusammenfall der ursprünglich lautlich ver-
schiedenen casusformen in sehr ausgedehntem masse ein, so kann
das Veranlassung dazu werden, dass die vom zusammenfall verschon-
ten reste ganz oder grösstenteils getilg-t werden, wie dies im englischen
und in den romanischen sprachen geschehen ist. Es entstehen so wider
reine Stammformen, wie sie vor der Casusbildung bestanden, die man
mit unrecht als nominativ oder accusativ bezeichent.
Durch partiellen zusammenfall der formen verwandter Wörter wird
das gefUhl fiir die Verschiedenheit dieser Wörter abgestumpft, und es
mischen sich daher leicht auch die uicht zusammengefallenen formen
unter einander. Der oben berührte partielle zusammenfall von mhd.
smelzen und smelzen hat die folge gehabt, dass die starken formen
schmilzt, schmolz, geschmolzen auch transitiv verwendet sind; die
schwachen sind jetzt fast ganz ausser gebrauch gekommen. Ebenso
sind die schwachen formen von verderben, denen ursprünglich allein
transitive bedeutung zukam durch die ursprünglich nur intransitiven
starken zurückgedrängt und können jetzt nur noch im moralischen
sinne gebraucht werden. Bei quellen, schwellen, löschen ist in der
gegenwäi-tig als correct geltenden spräche der unterschied gewahrt;
aber von löschen kommen zuweilen schwache formen in intransitiver
form vor, z. b. es löscht das licht der sterne (Schi.); bei quellen und
schwellen findet sich Vermischung nach beiden richtungen, z. b. dem das
frischeste leben entquellt (Goe.) — gleichwie ein born sein wasser quillt
(Lu.); schwelle, brüst (C4oe.), die haare schwellten (Tieck) — die ehrsuchl
schtviltt die brüst (Günther), Seifenblasen, die mein hauch geschwollen
(Chamisso).
Cap. XII.
Einflus» der functioiiSYeriiiideruiig auf die aiialogiebildung.
Die einordnimg- der einzelnen Wörter und formen und der syn-
taktischen Verbindungen unter die sprachlichen gruppen ist immer
durch ihre function bedingt. Eine Veränderung der function kann
daher veranlassung zum eintritt in eine andere gruppe werden. Die
Zugehörigkeit zu dieser gruppe bedingt dann aber auch eine teilnähme
an deren schöpferischer kraft. So entstehen analoge neuschöpfungen,
die sich in einer anderen richtung bewegen, als der Ursprung der be-
tnftenden wortform oder eoustructiousweise erwarten lässt. Die folgen-
den beispiele mögen dies im einzelnen veranschaulichen.
Verwandlung eines appellativums in einen eigennameu veranlasst
eine entsprechende Veränderung der declination, vgl. die accusative
uad dative Müllern, Schneidern, Beckern etc. Eine folge des christ-
lehen monotheismus war es, dass von got im ahd. nach analogie der
«ngennamen ein acc. gotan gebildet wurde. Damit zu vergleichen sind
die dat.-accusative vaiern, muttern, wie sie in Berlin üblich sind.
Die griechischen adverbia auf -09^ sind ursprünglich casus der
o-declination. Nachdem sie sich aber einmal aus dem flexionssysteme
herausgelöst haben und -coi als ein wortbildungssuftix empfunden ist^
hat es sich auch auf andere stamme übertragen können, die in ihrer
flexion keinen einfluss von den o-stämmen her erfahren haben, vgl.
7jöicoc, ocog)QÖvojg etc. Entsprechend verhält es sich mit dem adverbial-
suffix -0 im ahd., welches gleichfalls von den o-stämmen auf die alten
i- und z<-stämme übertragen ist: kleino, harto nach Uol)o etc.
Es gibt im nhd. eine beträchtliche zahl von adverbien, die ihrem
Ursprünge nach genitive sg. aus nominibus sind, wie falls, rings, rechts,
stracks, blindlings. In dem s empfindet man aber schon lange nicht
mehr das genitivszeichen, es muss jetzt als ein adverbialsuffix erscheinen.
In folge davon wird es seit dem siebzehnten Jahrhundert auf andere
adverbia übertragen, die ihrem Ursprünge nach gleichfalls casus von
nominibus oder Verbindungen einer präposition mit einem casus sind,
aber ebensowenig als solche empfunden werden, sondern unter die all-
Paul, Principien. II. Auflage. 13
194
gemeine kategorie der adverbien getreten sind, vgl. allerdings, (aus
aller dinge gen. pl.) schlechterdings^ jenseits, disseits (mhd. jensU ace. sg.),
abseits (aus ab seile), hinterrücks, im siebenzelmten Jahrhundert auch
h int errück ens (aus älterem hinlerrück, hinter rücken), unterwegs, unter-
iregens (aus unter wege, unter wegeii), vollends (älter vollen, vollend);
erstens, zweitens etc. Die Verwandlung des s aus einem casussuffix
in ein wortbilduugselement hat es auch ermöglicht, dass dasselbe in
ableitungen hinübergenommen ist: desfallsig, allenfallsig .
Hans Sachs bildet einen comparativ flüchser zu ftugs. Es ist das
eine folge davon, dass der substantivcasus auf eine linie mit den ad-
jectivischen adverbien getreten ist, denen ursprünglich allein compa-
ration zukommt.
Wenn eine syntaktische Verbindung zu einer worteinheit ver-
schmolzen ist, so wird diese neue einheit nach analogie des einfachen
Wortes behandelt und dasjenige auf sie tibertragen, was in bezug auf
dieses möglich ist. Es kommt in verschiedenen sprachen vor, dass eine
untrennbare paiükel sich an ein pron. anlehnt. Die folge davon kann
sein, dass die flexion nach dem muster der einfachen Wörter von der
mitte au das ende verlegt wird. Plaiitus gebraucht von i-pse noch den
aec. eumpse, eampse, den abl. eopse, eapse, die später durch ipsum etc.
ersetzt sind. Eine ähnliche entwiekelung, wie sich besonders an den
altnordischen runenformen nachweisen lässt, hat unser pron. diser durch-
gemacht, ein compositum aus dem artikel und der partikel se. Eine
grosse bereicheruDg erwächst der spräche dadurch, dass aus solchen
durch secundäre Verschmelzung entstandenen compositis die nämlichen
ableitungen gebildet werden wie aus den einfachen Wörtern, und dass
sie ebenso wie diese wider als glied eines compositums dienen können ;
vgl. überwinder , über-windung, ergiebig, befahrbar, gedeihlich, betri'ibniss,
gevangenschaft, befangenheit ; edelmännisch, hochmütig, jungfräulich, lan-
desherrlich, landsmannschaft , gi'ossherzogtum, bärenhäuter, kindergärt-
nerinn; sofortig, bissherig, jenseitig; rotweinflasche , gänseleberpastetc;
überhandnähme, vorwegnähme, zurücknähme.
Nicht selten erstarrt eine flexionsform, indem sie auf fälle
übertragen wird, denen sie eigentlich nicht zukommt. i) Unser
selber ist der nom. sg. m. und zugleich der gen. und dat. sg. fem.
und gen. pl. eines älteren adj. seih, welches als adj, jetzt nur noch iu
der selbe erhalten ist. Das gleichbedeutende selbst = älterem selbes
ist der nom. und acc. sg. n. und zugleich gen. sg. m. und n. des
selben wortes. Im mhd. wird das adj. teils stark, teils schwach
') Vgl. zum folgcüclen IJrugmann, Ein probleni der lioiueriscben textkritik,
s. Iiyft.
195
fleetiert iiud richtet sich im geniis, numerus und casus nach dem
nomeu, auf welches es sich bezieht, also im selbem, ir selber, sin
selbes etc. Wenn nun die im mhd. erhaltenen formen sich an stellen
eing-edrängt haben, wo andere am platze gewesen wären, so kann das
erst eine folge davon gewesen sein, dass das wort nicht mehr als ein
adj. empfunden wurde. Indem man in selber nur noch die function
einer energischen identiticierung empfand, wendete mau die form
überall an, wo eine solche identiticierung auszusprechen war. Ent-
sprechend verhält es sich mit dem mundartlichen halber: die nacht ist
halber hin, es ist halber eins; mit eitiander, statt dessen man im ahd.
regelrechte flexion hat: ei7i anderan, ei)i andertno etc. Im mhd. kann
man noch sagen beider des vafer und des sunes, wobei des vater und
des sunes eigentlich in appositionellem verhältniss zu beider steht.
Gewöhnlicher aber ist beide des vater und des sunes. Es ist also die
nominativform beide erstarrt, indem der Ursprung der construction nicht
mehr zum bewusstsein kommt und die function von beide — und sich
unserm sowohl — als auch annähert. Im lat. hat der nom. quisque
neben dem reflexivpron. und dem dazu gehörigen possessivum sein
gebi3t überschritten, z. b. multis sibi quisque Imperium petentibus. Bei
Plaitus findet sieh praesente testibus statt praesentibus, bei Afranius
absente nobis; daraus erkennt man, dass die betreffenden participial-
fori}»en sich dem character von präpositionen genähert hatten. Ver-
bin hingen wie agedum conferte, agedum creemus sind die folge
da'on, dass man age nicht mehr als 2. sg. imp. empfunden hat,
soidern nur als einen allgemeinen ermunternden zuruf Ent-
S}»rechend steht im griech. «/e vor einem plural, ebenso ÜTii, ^£qs,
ISov;^) ferner im lat. cave dirumpafis (Plaut.) u. dergl.; in unserer
Umgangssprache zuweilen tvarte mal, auch wo die anrede an mehrere
personen gerichtet ist oder an eine, die man sonst mit Sie anredet.
Im älteren nhd. wird siehe auch bei der anrede au eine mehrheit
gebraucht; vollständig erstarrt sind franz. voici, voilä. Im spätgrie-
chischeu werden SgieXov und mq>eXh. ohne rücksicht auf person oder
numerus wie conjunctionen gebraucht. Unser nur ist aus enwcere (es
wäre denn) entstanden. Dieses emvmre hat sich also auch an stelle
von emvcerest, enwwren, ensl, cnsin etc. eingedrängt.
Ein ähnlicher Vorgang ist es, wenn im spätmhd. sich, abhängig
von einer präp., auch in Sätze dringt, in denen das subj. die erste
oder zweite person ist.'^) Es ist das die folge davon, dass ein i\ber
sich oder un^er sich nicht mehr analysiert, sondern = in die höhe,
in die tiefe aufgefasst wird: vgl. unser jetziges vor sich gehn und an
') Vgl. Brugmaim a. a. o. s. 124.
^) Vgl. Bruguiann a. a. o.
13*
I
196
lind für sich. Daher gebraucht mau diese verhindungen auch, wo sie
gar nicht auf das subjeet, sondern nur auf einen obliquen casus
bezogen werden können; z. b. heb hinten über sich das glas (hebe das
glas in die höhe, Uhl. Volkslieder). Die selbe erstan-ung findet sich
bei seiner zeit, vgl. z. b. die Jugend ist unternehmend, wir sind es seiner
zeit auch gewesen (Hackländer). Entsprechend bei lat. suo loco, sua
sponte, suo nomine. Bei römischen Juristen finden sich Verbindungen
wie si sui juris sumus. Im anord. hat sich mit hülfe des reflexivums
ein medium und passivum herausgebildet. Dabei ist das auf sik zu-
rückgehende -sk, jünger -z, welches ursprünglich nur der dritten person
zukommen konnte, zuerst auf die zweite, dann auch auf die erste per-
son übertragen, z. b. lükomz statt älterem lukomk (= ^luko-?nik)] das z
wurde nicht mehr in seiner ursprünglichen bedeutung, sondern als
zeichen des mediums oder passivums gefasst. In sehr vielen ober-
und mitteldeutschen mundarten wird sich auch als reflexivum für die
1. plur. gebraucht, hie und da auch für die 2. person. Die gewöhn-
liche beschränkung auf die 1. plur. ist wol daraus zu erklären, dass
bei dieser die Übertragung durch die formelle Übereinstimmung der
verbalform mit der 3. plur. erleichtert wurde.') In bairischen mund-
arten wird das possessivpron. sein auch auf das fem. und auf den plur.
bezogen, A^gl. Schmeller s. 198.
Plautus verbindet die Wörter perire, deperire, uemori im sinne von
, sterblich verliebt sein" mit dem acc; desgleichen Virg., Hör. und andere
ardere = „in liebe zu jemand entbrannt sein". Offenbar ist die con-
structiou dieser Wörter durch die von amare beeinflusst, weil sie in
ihrer metaphorischen Verwendung dem eigentlichen sinne desselben
nahe kommt. Es lässt sich daraus wol der schluss ziehen, dass sie
in dieser Verwendung wenigstens in der dichtersprache schon etwas
verbraucht waren. Denn wäre ihre eigentliche bedeutung noch voll
lebendig empfunden, so würde eine solche vertauschung der construc-
tion wol nicht eingetreten sein. Indessen muss hier doch in betracht
gezogen werden, wie viel etwa auf rechnung einer absichtlichen poe-
tischen kUhnheit zu setzen ist. Anders verhält es sich in bezug auf
die gewöhnliclie prosaische rede. Auch in dieser kommt es häufig vor
dass ein wort die ihm seiner grundbedeutung nach zukommende con-
structionsweise mit einer anderen vertauscht, die dazu nicht passt,
indem es entweder durch ein bestimmtes einzelnes wort oder durch
^) Die von Brugraann a, a. o. s. 123 ausgesprochene ansieht, dass dieses sich
aus unsich entstanden sei, kann ich nicht teilen, weil die form unsich bereits unter-
gegangen ist, bevor diese Verwendung von sich auftaucht. Mit Weinhold, Bair.
gram, i; :}.59 und Schuchardt, Slawodeutsches s. 107 slawischen einfluss anzunehmen
verbietet das Verbreitungsgebiet der erscheinung.
197
eine gruppe von Wörtern beeinflusst wird, denen es sich mit der zeit
in seiner bedeutung angenäbert bat. Hier ist der einistruetions-
wecbsel ein untriigliebes kritcrium fUr das verblassen der
grnudbedeutung. Namentlicb bekundet sieb darin bäufig die los-
lösuug von der ursprünglicb zu gründe liegenden sinnliclien an-
sebauung.
Für diese loslösung sind besonders instruetiv mancbe eomposita
mit ortsadverbien. Zu einwirken und einwirkung gebort ursprünglicb
die präp. in und diese ist im vorigen jabrbundert üblieb , vgl. sobald
kunst und n-issenschafl in das leben einwirkt (Goe.); durch die einwir-
kung in gewisse Werkzeuge (Garve). Wir setzen jetzt wie beim simplex
wirken ein auf, und dies beweist, dass uns das gefübl für die sinn-
liebe ansebauung, auf die das ein biuweist verloren gegangen ist. Die
uämliebe vertauscbung bat stattgefunden bei einfluss, vgl. gesundheit
ist ein gut, welches in altes einfluss hat (Garve), und so allgemein im
vorigen jabrb. (aueb bei ein/Hessen = „einfluss baben" stebt früber in
und auf); einschränken, vgl. es hat längst aufgehört in die engen grenzen
eingeschränkt zu sein (Le.) etc.; eindruck, vgl. die nähe des schönen kindes
mus&'.e wot in die seele des jungen mannes einen so lebhaften eindruck
maciien (Goe.); nocb sinnlieber: um durch das grosse dieses iodes einen
unauslöschlichen eindruck seiner selbst in das herz seiner Spartaner zu
gra)en (Scbi.); doeb erscbeint es mit auf scbon bei Lessing. Abneigung
gecen oder, wie ältere scbriftsteller aueb sagen, vor kann nicbt ur-
späinglicb sein, sondern nur von, was icb allerdings bei Sanders nur
eist aus Heine belegt finde. Für nachdenken über finde icb im Dwb.
äen ältesten beleg aus Sebillers Don Karlos; sonst ist aueb nocb im
vorigen jabrbundert der blosse dat. (eigentlicb von nach abbängig)
üblieb, z. b. U7n ihren briefen nachzudenken (Nicolai).
Wenn man jetzt sagt sei mir willkommen in meinem hause, so ist
klar, dass der zweite bestandteil des Wortes nicbt mebr als part. von
kommen gefasst wird. So lange das geschab, verstand sieb auch die
angäbe einer ricbtung, z. b. willekomen her in Günther es lant (Nibe-
lungenlied).
Ein quin conscendimus equos ist eigentlich „warum besteigen wir
nicht die pferde", dem sinne nach aber = „lasst uns die pferde be-
steigen"; daher kann man nun auch nach quin einen imp. oder adhor-
tativen conj. setzen, z. b. quin age istud, quin experiamur. Entsprechend
ist mhd. wan fürchtent si den stap eigentlich „warum fürchten sie nicht
den Stab", nähert sich aber dem sinne „mögen sie den stab fürchten";
in folge davon wird nach wan auch der in Wunschsätzen ohne einlei-
tende conjunction übliche conj. prät. gesetzt, z. b. wan licet e ich luwer
kunst. Auf die nämliche weise erklärt sich wahrscheinlich im afranz.
198
die Verbindung von car (= quare) mit dem conditionel und dem imp.
(vgl. Diez III, 214).
Griecli. ovxovv ist ursprünglich = „also nicht" und dient zur
eiuleituug einer frage, auf die mau eine bejahende antwort erwartet.
Die mit ovxovv eingeleiteten sätze sind aber allmählig als directe
positive behauptuniicn aufgefasst. Daher ist der partikel nur die func-
tion des folgcrns verblieben und sie wird in Sätzen verwendet, die gar
nicht mehr als fragesätze aufgefasst werden können, z. b. neben dem
imperativ, vgl. ovxovv ajiäyayt [it av&ic h rov ßlov (Luciau).') Ganz
die gleiche entwickelung zeigt im sanskrit na-mi^) Es dient zunächst
wie nonne zur einleitung von fragesätzen, dann aber, indem solche
fragesätze zu behauptungssätzen umgedeutet sind, lässt es sich durch
„doch wol" übersetzen, und kommt dann auch in aufforderungssätzen
vor, vgl. nanu ucyatäm = es soll doch gesagt werden.
Der acc. c. inf. konnte ursprünglich jedenfalls nur neben einem
transitiven verbum stehen, so lange der subjectsacc. noch als direct
von dem verb. fin. abhängig empfunden wurde, vgl. darüber cap. 16.
Nachdem aber die auffassung sich so verschoben hatte, dass der acc.
c. inf. als ein abhängiger satz und der acc. als subj. desselben gefasst
wurde, war es möglich die construction weit über ihre ursprünglichen
grenzen auszudehnen. So werden im lat. auch verba mit dem acc. c.
inf. construiert, die keinen objectsacc. bei sich haben können, wie gau-
dere, dolere, ferner Verbindungen wie magna in spe sum, spem habeo etc.
In sehr vielen fällen wird dann der aec. c. inf als subject verwendet,
so nach licet, accidit, constat etc., nach fas, jus est etc., bei passiven
neben dem nom. c. inf, vgl. non mihi videtur ad heate vivendum salis
passe virtutem (Cic); Volscos et Aequos extra fines exisse affertur (Liv.).
Weiterhin dringt dann der acc. c. inf auch in sätze ein, die von einem
andern acc. c. inf abhängen. So zunächst in lose angeknüpfte relativ-
sätze, z. b. mundum censent regi numine deorum, ex quo illud natura
consequi (Cic), vgl. Draeger § 447, 1. Ferner in vergleichungssätze,
z. b. ut feras quasdam nulla mitescere arte, sie immitem ejus viri ajiimum
esse (Liv.); addit etiam se prius occisum tri ab eo quam me violatum tri
(Cic), vgl. ib. 448, 1. 453, 2. In die indirecte frage, z. b. quid sese inter
pacatos facere, cur in Italiam non revelii (Liv.), vgl. ib. 450. Sogar in
temporal- und causalsätze, z, b. crimina vitanda esse, quia vitari metus
non posse (Seneca), vgl. ib. 448, 2, 3. Die entsprechende ausdehnung
findet sich im griechischen. Die gewohnheit das subj. zum inf in der
form des acc. zu haben, führt hier auch zur Verwendung dieses casus
•) Vgl. Kühner, Griech. gram. II, 1, s. 717.
*) Auf diesen parallelismns hat mich Brugmann aufmerksam gemacht.
199
neben dem durch den art. substantivierten inf., in welchem casus der-
selbe auch stehen ma^, vgl. «Ft/Ol,- tov inxtjii^fjvca rovc. AaxEÖainoviovq,
öia xo T7p' .tÖXii' ijQ/joO^ai, vjthQ tov ravra fit) yiyi'iod-tu.
Wenn zwei constructiousweisen sich in ihrer function teilweise
decken, so kann bei manchen überlieferten syntaktischen Verbindungen
eine Unsicherheit darüber entstehen, welche von den beiden zu gründe
liegt. So entsteht eine umdeutuug der Verbindung, und diese umdcu-
tung lenkt die Wirksamkeit der analogie in eine neue bahn.
Der von einem subst. abhängige gen. hat eine ähnliche function
wie das attributive adj. In Verbindungen nun wie Hamburger rauch-
fleisch, Kieler sprotten liegt als erstes glied der gen. der einwohner-
bezeichnung zu gründe, dem Sprachgefühl aber liegt es näher dasselbe
als ein aus dem Ortsnamen abgeleitetes adj. zu fassen; jedenfalls be-
ziehen wir es direct auf den ort, und nicht auf die einwohner. Zwar
lehrt noch die flexionslosigkeit, dass kein wirkliches adj. vorliegt.
And'^.rseits aber zeigt die art, wie der artikel bei der Verbindung ^er-
wendet wird {das Hamburger rauchfleisch)^ dass der gen. nicht mehr
als solcher em])funden wird; denn die Stellung des gen. zwischen art.
und subst. ist jetzt unmöglich geworden. Dem ahd. ging ein possesiv-
proj. zu dem fem. und dem plur. sie ab. Man verwendete statt dessen
dc'i gen. dieses pron. ira, iro. Auch im mhd. bleibt der gen. ir, aber
sporadisch fängt man an denselben als adj. zu fassen und adjectivisch
zu declinieren. Dieser gebrauch ist im nhd. allgemein geworden, und
10 ist unser possesivpron. ihr entstanden. Die berührung des genitivs
mit dem attributiven adj. ist wahrscheinlich auch die veranlassung ge-
wesen ihn nach dem muster des adj. prädicativ zu verwenden, vgl. er
ist des (ödes, reines herzens, so sind wir des Herrn (Lu.) etc. Diese
Verwendung gehört allerdings wol schon der indogermanischen grund-
sprache au.
Cap. XIII.
Verschiebungen in der gruppierung der etymologisch
zusaninienliängenden wörter.
Wenn man sämmtliche die gleiche wuvzel enthaltenden Wörter
und formen nach den ursprünglichen bildungsgesetzen, wie sie durch
die zergliedernde methode der älteren vergleichenden grammatik ge-
funden sind, zusammenordnet, so erhält man ein mannigfach geglie-
dertes System oder ein grösseres System von kleineren Systemen, die
ihrerseits wider aus Systemen bestehen können. Schon ein einziges
indogermanisches verbum für sich stellt ein sehr compliciertes System
dar. Aus dem verbalstamme haben sich verschiedene tempusstämme,
aus jedem tempusstamme verschiedene modi, erst daraus die verschie-
denen personen in den beiden genera entwickelt. Die analytische
grammatik ist bemüht immer das dem Ursprünge nach nächst ver-
wandte von dem erst in einem entfernteren grade verwandten zu son-
dern, immer zwischen gruudwort und ableitung zu scheiden, alle Sprünge
zu vermeiden und nicht etwas als directe ableitung zu fassen, was
erst ableitung aus einer ableitung ist. Was aber von ihrem gesichts-
puncte aus ein fehler in der beurteilung der wort- und formenbildung
ist, das ist etwas, dem das sprachbewusstsein unendlich oft ausgesetzt
ist. Es ist ganz unvermeidlich, dass die art, wie sich die etymologisch
zusammengehörigen formen in der seele der Sprachangehörigen unter
einander gruppieren, in einer späteren periode vielfach etwas anders
ausfallen muss als in der zeit, wo die formen zuerst gebildet wurden.
Und die folge davon ist, dass auch die auf solcher abweichenden
gruppierung beruhende analogiebilduug aus dem gleise der ursprüng-
lichen l)ildungsgesetze heraustritt. Secuudärer zusammenfall von laut
und bedeutung ist dabei vielfach im spiel. Welche wichtige rolle dieser
Vorgang in der Sprachgeschichte spielt, mag eine reihe von beispielen
lehren.
Wir haben im nhd. eine anzahl von alters her überlieferter nomina
actionis männlichen geschlechts neben entsprechenden starken verben,
vgl. fall — fallen^ fang — fangen, schlag — schlagen, streu — streiten,
201
lauf — laufen, befehl (ahd. hifelh) — befehlen. Wenn wir auf das ur-
sprüngliche bildungsprineip zurückgehen, so werden wir sagen müssen,
dass weder das nomen aus dem verbum, noch das verbum aus dem
nomeu abgeleitet ist, sondern beide direct aus der wurzel. Wir haben
ferner einige falle, in denen neben einem nomen agentis ein daraus
abgeleitetes schwaches verbum steht, vgl. hnss — hassen, krach —
krachen, schall — schallen, rauch ■ — rauchen, z'il — zilen, mord —
morden, hunger — hungern. Im nhd. sind diese beiden klassen nicht
auseinander zu halten, namentlich deshalb, weil die Verschiedenheit
der Verbalendungen im präs. ganz verschwunden ist. Es erseheinen
jetzt schlag — schlagen und hass — hassen einander vollkommen pro-
portional, und man bildet nun weiter auch zu anderen verben, gleich-
viel welcher conjugationsklasse sie angehören, nomina einfach durch
weglassung der enduug. vgl. betrag, ertrag, Vortrag, betreff, verbleib,
begeht , erfolg, verfolg, belang, betracht, brauch, gebrauch, verbrauch^ be-
such, versuch, verkehr, vergleich, bereich, schick^ bericht, ärger etc. Im
mhd. steht neben dem subst. git ein daraus abgeleitetes verbum gitesen.
Letzleres entwickelt sich im spätmhd. regelrecht zu geitzen, geizen,
und daraus bildet sich das subst. geiz, welches das ältere geil ver-
drängt.
i Wo ein nomen und ein verbum von entsprechender bedeutung
neben einander stehen, da ist es unausbleiblich, dass die aus dem
einen gebildete ableitung sich auch zu dem andern in beziehung setzt,
.<o dass sie dem Sprachgefühl eben sowol aus dem letzteren wie aus
dem ersteren gebildet scheinen kann, und diese von dem ursprüng-
lichen verhältniss abgehende beziehung kann dann die veranlassung
zu ueubildungen werden. Unser suffix -ig (ahd. -ag und -lg) dient ur-
sprünglich nur zu ableitungen aus nominibus. Aber es stehen ihrer
form und bedeutung nach Wörter wie gläubig, streitig, geläufig in eben
so naher beziehung zu glauben, streiten, laufen wie zu glaube, streit,
lauf, andere wie irrig sogar in näherer beziehung zu dem beti'cffenden
verbum. weil das subst. irre in seiner bedeutuugseutwickelung dem
adj. nicht parallel gegangen ist; bei andern wie gehörig, abwendig ist
das zu gründe liegende subst. (mhd. höre) verloren gegangen oder
wenigstens nicht mehr allgemein gebräuchlich. So werden denn eine
anzahl von adjectiveu geradezu aus verben gebildet, vgl. erbietig (gegen-
über dem nominalen erbötig), ehrerbietig, freigebig, ergiebig, ausfindig,
(doch wohl mit anlehnung an mhd. fündec). zulässig, rührig, wackelig,
dämmerig, stotterig; auch abhängig kann seiner bedeutung nach nicht
zu hang, abhang , sondern nur zu abhangen gestellt werden. Eben so
verhält es sich mit den adjectiven auf -isch, von denen wenigstens
neckisch, mürrisch, wetterwendisch als ableitungen aus verben aufge-
202
fasst werden müssen, nach dem rauster solcher wie neidisch, spöttisch,
argwöhnisch etc. gebildet. Unser siiffix -er (ahd. -äri, -eri, mhd. -cere,
-c/-), welches jetzt als allgemeines mittel zur bildung von nomina agentis
aus Verben dient, wurde ursprünglich nur zu solchen bildungen ver-
wendet, wie wir sie noch in hürger, midier, schüler und vielen andern
Wörtern haben. Im got. sind sicher nominalen Ursprungs bokareis
(schriftgelehrter) von boka (im pl. buch), daimonareis (besessener) von
daificov, mofareis (zöllner) von mota (zoll), vullareis (tuchwalker) von
vulla (wolle), liupareis (sänger) von einem vorauszusetzenden *liiij> ==
ahd. leod, nhd. Ued. Demgemäss werden wir wol auch laisareis (lehrer)
und sokareis (forscher) nicht von den verben laisjan (lehren) und sok-
jan (suchen) abzuleiten haben, sondern von vorauszusetzenden Substan-
tiven '^käsa = ahd. !era, nhd. lehre und "^soka == mhd. suoche. Diese
beiden letzten verben zeigen aber bereits die möglichkeit die bildung
in beziehung zu einem verbum zu setzen. Auch neben liupareis steht
liupon (singen). An solche muster angeschlossen beginnen dann schon
im ahd. die ableitungen aus verben. Dass die nominale ableitung das
urspriingliche ist, sieht man namentlich noch an solchen fällen wie
zuhtäri (erzieher), aus zuht, nicht aus ziuhan abgeleitet, notnumfiäri
(räuber). In den fällen, wo der wurzel vokal der nominalen ableitung
nicht zum präs. des verbums stimmt, tritt mehrfach eine verbale neu-
bildung daneben, und mitunter haben sieh beide bildungen bis ins neu-
hochdeutsche gehalten, vgl. ritter — reiter, schnitler — Schneider, näh-
ter — näher, mähder — mäher, sänger — singer (ahd. nur sangäri),
Schilter (als eigenname) = mhd. schiltiere (mahler) — schilderer. Die
abstracta auf ahd. -ida (got. -ipa) scheinen ursprünglich nur aus adjec-
tiven gebildet zu sein und erst in folge secundärer beziehung aus
verben: kisuohhida zu kisuohhen, pihaltida zu pihallan nach chundida —
chunden — chund etc.
Wie in der ableitung verhält es sich auch in der composition.
Die allmählige umdeutung eines nominalen ersten compositionsgliedes
in ein verbales und die dadurch hervorgerufenen neubildungen hat
Osthoff') ausführlich behandelt. So treten z. b. ahd. waltpoto (procu-
rator), sceltwort, hetohus, spiloman, fastatag, wartman, spurihunt, erhe-
reht, welche doch die nomina walt (giwalt), scelta, beta, spil, fasta,
n-arta, spuri, erbi enthalten, in directe beziehung zu den verben ivaltan,
sceltan, beton, spilön, fasten, n-arten, spurien, erben, und von diesen und
ähnlichen bildungen aus entspringt die im nhd. so zahlreich gewordene
klasse von compositis mit verbalem ersten gliede wie esslust, trink-
') Das verbnm in der nominalcomposition im deutschen, griechischen, slavx-
schen und romanischen, Jena 1878.
203
sucht y Schreibfeder, schreibfaul etc. Hierher gehören namentlich viele
coraposita mit -bar, -lieh, -sam, -hafi '), die aber vom Standpunkte des
Sprachgefühls ans vielmehr als ableituugen zu betrachten und mit den
oben angeführten bildungcn auf -ig und -isch gleichzustellen sind, vgl.
Wörter wie wählbar, unvertilgbar, unbeschreiblich, empfindlich, empfind-
sam, naschhaft. Der Übergang zeigt sich besonders deutlich bei sol-
ciien Wörtern wie streitbar, wandelbar, vereinbar. Streitbar kann noch
ebenso gut auf streit wie auf streiten bezogen werden, aber unbestreit-
bar nur auf bestreiten. Im mhd. wird tvandelba^re durchaus auf wandet
bezogen, und da dieses gewöhnlich „makel" bedeutet, so bedeutet es
auch gewöhnlich „mit einem makel behaftet"; im nhd. dagegen ist
wandelbar, unwandelbar ganz an die bedeutung des verb. wandeln an-
gelehnt. Im mhd. gibt es ein adj. einbcere, einträchtig, ganz ohne be-
ziehung auf das verb. denkbar.
Sihr häufig ist der fall, dass eine ableitung aus einer ableitung
in dirf cte beziehung zum grundworte gesetzt wird, wodurch dann auch
wirkliche directe ableitungen veranlasst werden mit Verschmelzung von
zwei Suffixen zu einem. So erklärt sich z. b. die entstehung unserer
neultochdeutschen suffixe -niss, -ner, -ling. Im got. liegt noch ganz
kla; ein suffix -assus vor {ufar-assus tiberfluss). Dasselbe wird aber
an häufigsten verwendet zu bildungen aus verbis auf -inon, z. b. gud-
j.nassus (priesteramt) von gudjinon (priesterdienst verrichten). Sobald
man dieses direct auf gudja (priester) bezog, musste man -nassus als
suffix empfinden. Ein n fand sich ferner in solchen bildungen wie
ibnassus aus ibns (eben) und in ableitungen aus participien wie ahd.
farloran-issa. So ist es gekommen, dass in den westgermanischen dia-
lecten, von wenigen altertümlichen resten abgesehen, ein n mit dem
suffix verwachsen ist. Die bildungen auf -7ier gehen aus von nominal-
stämmeu, die ein n enthalten, vgl. gärtner (mhd. gartencere), lügner
(mhd. lügencere von liXgene neben lüge)., hafner (mhd. havencere)., wagner,
oder von verben auf ahd. -indn, vgl. redner (ahd. redinäri aus redinon),
gleissner (mhd. gelichsenare von gelichsenen). Indem nun z. b. lügner
zu lüge, redner zu rede, reden in beziehung gesetzt wird, entsteht
suffix -ner, das vnr z. b. finden in bildner (schon im 14. jahrh. bilde-
ncere, früher aber bildcere), harfner (mhd. harpfcere)., söldner (spätmhd.
soldencere, früher soldier). In künstler (mhd. kunster) erscheint auch
-ler als suffix, denn wir beziehen es direct auf kunst, weil das verbum
künsteln, von dem es eigentlich abstammt, auf speciellere bedeutung
beschränkt ist. Suffix -ling (in pftegling, zögling etc.) geht aus von
solchen bildungen wie ahd. ediling (der edele) von ediii oder .adaJ,
') Vgl. Osthoflf a. a. o. s. UOff.
204
chumiling (nhd. in ahkömmling, ankönunling) zu (uo-)chumilo. So stand
zwischen Juiif/ und junijilinc wohl auch einmal eine deminutivbildung
*jungilo.
Die neuhochdeutschen verba auf -igen sind ausgegangen von ab-
leitungen aus adjectiven auf -ig. Mhd. einegen, huldegen., leidegen, not-
cgen, manecvaltegen, schedegen, schuldegen stammen unzweifelhaft aus
einec, huldcc, leidec, notec, schadec, schuldec\ aber ulid. vereitiigen, be-
leidigen, beschuldigen wird man eher direct auf ein, leid, schuld be-
ziehen, und bei huldigen und schädigen ist gar keine andere beziehung
als auf huld und schade möglich, weil die vermittelnden adjectiva ver-
loren gegangen sind, ebenso nötigen^ weil nötig nicht mehr in der be-
deutung eorrespondiert. So entstehen denn andere direct aus dem Sub-
stantiv um wie vereidigen, befehligen, befriedigen, einhändigen, beherzigen,
sündigen, beschäftigen , oder aus einfachen adjectiven wie beschönigen,
senftigen, genehmigen. Die verba auf -ern und -ein sind hervorge-
gangen aus einem kerne von ableitungen aus uominibus auf ahd. -ar
und -al {-ul, -il), indem z. b. ahd. spurilon (investigare) nicht direct auf
das verb. spurten, sondern auf ein vorauszusetzendes adj. *spuril (= altn.
spurall) zurückgeht; jetzt aber werden sie direct aus einfacheren verben
abgeleitet, vgl. folgern, räuchern (spätmhd. rouchern, früher rouchen), er-
schüttern (mhd., noch im l^o. jaXwh. er schütten), zögern {sms mhd. zogen),
schütteln, lächeln, schmeicheln (aus mhd. smeichen) etc. Auf entspre-
chende weise haben sich auch die ableitungen aus nominibus wie
äugeln, frösteln, näseln, frömmeln, klügeln, kränkeln herausgebildet.
Im mhd. bilden viele adjectiva ein adv. auf -liehe, vgl. fröliche,
grözliche, lüterliche, eigenliche, vermezzenliche, sinnecltche, einvaltecliche.
Dieserart formen sind natürlich zunächst von adjectivischen compositis
auf -lieh abgeleitet. Indem aber das adv. des simplex ausser gebrauch
kommt, stellt sich eine directe beziehung zwischen dem adv. des com-
positums und dem einfachen adj. her. Die entwickelung geht sogar
noch weiter, indem nach analogie von grimmecliche, stcetecliche u. dgl.,
die direct auf griin oder grimme, stiele bezogen werden, auch armec-
liche, miltecliche, snellecliche etc. gebildet werden, wiewol kein armec etc.
existiert. Die englischen adverbia auf -ly sind des nämlichen Ursprungs.
Aehnliche Vorgänge sind offenbar in menge schon in einer periode
eingetreten, in der wir die allmählige entwickelung nicht verfolgen
können. Wir finden in den verschiedenen indogermanischen sprachen
schon auf der ältesten uns vorliegenden entwickelungsstufe eine reich-
liche anzahl von suffixen, deren lautgestalt darauf hinweist, dass sie
complicationen mehrerer einfacher suffixe sind, und die wahrscheinlich
alle so entstanden sind, dass auf die geschilderte weise eine ableitung
zweiten grades zu einer ersten grades geworden ist.
Ö05
Zu vielen verseliiebiiiigen der beziehuDgen gibt ferner das ver-
halten von eompositis zu einander anlass. Grehen zwei verwandte
Wörter eine composition mit dem gleichen demente ein, so ist es kaum
zu vermeiden, dass eine directe beziehung zwischen den beiden eom-
positis entsteht, und es ergibt sich die consequenz, dass das eine nicht
mehr als compositum, sondern als ableitung aus einem compositum
aufgefasst wird. Umgekehrt kann eine ableitung aus einem composi-
tum in directe beziehung zu der entsprechenden ableitung aus dem
einfachen worte gesetzt werden, und die folge davon ist, dass sie als
ein compositum aufgefasst wird.
Ein reichliches material zum beleg für diese Vorgänge liefert die
geschichte der composition im deutsehen. Ursprünglich besteht ein
scharfer unterschied zwischen verbaler und nominaler composition. In
der ve/balen werden nur präpositionen als erste compositionsglieder
verwendet, in der nominalen nominalstämme und adverbien, anfangs
nur die mit den präpositionen identischen, später auch andere. In der
verb'ilen ruht der ton auf dem zweiten, in der nominalen auf dem
erstin bestandteile. Bei der Zusammensetzung mit partikeln ist dem-
nach der accent das unterscheidende merkmah Sehr häufig ist nun
dor fall, dass ein verbum und ein dazu gehöriges nomen actionis mit
äer selben partikel componiert werden. In einer anzahl solcher fälle
ist das alte verhältniss bis jetzt gewahrt trotz des bedeutungsparalle-
lismus zwischen den beiden eompositis '), vgl. durchbrechen — dürch-
hruch, durchschneiden — durchschnitt, durchstechen — durchstich, über-
blicken — ü'berblick, Überfällen — Überfall, übergeben — übergäbe, —
übernehmen — übernähme, überschauen — überschau, Überschlägen —
Überschlag, übersehen — übersieht, überziehen — ü'berzug, u?ngehen —
Umgang (eines dinges Umgang haben), unterhalten — unterhalt, unter-
scheiden — Ü7if erschied, unterschreiben — Unterschrift, widersprechen
— Widerspruch. In anderen fällen hat die verschiedene accentuierung
eine verschiedene lautgestaltung der partikel erzeugt, wodurch sich
verbales und nominales compositum noch schärfer von einander ab-
heben. Hier ist im nhd, das alte verhältniss nur in einigen wenigen
fällen erhalten, wo die bedeutungsentwickelung nicht parallel gewesen
ist, wie erlauben — Urlaub, erteilen — urteil. Im mhd. haben wir noch
empfangen — ampfanc, entheizen — äntheiz, entlazen — äntläz, ent-
sagen — anisage, begraben — bigraft, besprechen — bispräche, bevähen
— bivanc, erheben — ürhap, erstän — ür st ende, verbieten — vurbot
') Im allgemeinen aber neigen die nominalen composita dazu sich an die iin-
eigentlicben verbalen anzulehnen, gerade aucli wegen der gleichen betonung, während
aus den eigentlichen subtantiva auf -ung abgeleitet werden, vgl. durchfahren =
durchfahrt — durchfahren = durchfährung etc.
206
(gericlitlic'lie Vorladung), versetzen — vü'rsaz (Versetzung, pfand), ver-
ziehen — vü'rzoc u. a. In allen diesen fällen ist die diserepanz, wo
die Wörter sieh ülterbaupt erhalten haben, jetzt beseitigt, indem das
nominale compositum au das verbum angelehnt ist: empfang^ verzug etc.
In andern fällen ist die ausgleichung schon im älteren mhd. eingeti*e-
ten, und die i)artikel ga- (nhd. ge-) ist mindestens schon im ahd., wo
nicht schon im urgermanischen stets unbetont. Mitwirkend ist bei
diesem processe offenbar das verhältniss der verbalen composita zu
den daraus gebildeten nominalen ableituugen (mhd. erkesen — erlce-
scere, erlcesunge etc.), die ihrerseits erst analogiebildungen nach den
ableitungen aus einfachen verben sind. Auch inf. und pari, die viel-
fach zu reinen nominibus sich entwickeln (vgl. nhd. behagen, beliehen,
erbarmen, verderben, vergnügen; bescheiden, erfahren, verschieden etc.),
und die aus dem letzteren gebildeten substantiva (vgl, gewissen, be-
scheidenheit, bekannlschaft, Verwandtschaft^ erkenntniss etc.) wirken mit.
Auf der andern seite ist auch das princip, dass ein verbales com-
positum kein nomen enthalten kann, für das Sprachgefühl etwas durch-
löchert, indem ableitungen wie handhaben, lustwandeln, mutmassen, not-
taufen, radebrechen (durch die schwache flexion als ableitung erwiesen,
vgl. mhd. -breche), ratschlagen, wetteifern, arg wohnen, Jiotzüchtigen, recht-
fertigen, verwahrlosen aus handhabe, notzucht, rechtfertig etc. sowie das
durch Volksetymologie umgedeutete weissagen (ahd. wizagon aus dem
adj. tdzag, substantiviert wizago, der prophet) auch als composita ge-
fasst werden können. Dadurch ist vielleicht das zusammenwachsen
syntaktischer grui)pen zu compositis {lobsingen, wahrsageii) begünstigt.
Eine andere merkwürdige Verschiebung der l)eziehungen in der
composition findet sich durch zahlreiche beispiele im spät- und mittel-
lateinischen und in den romanischen sprachen vertreten. Wir haben
hier eine grosse menge von verben, die aus der Verbindung einer prä-
Ijosition uiit ihrem casus entweder wirklich abgeleitet sind oder we-
nigstens ihrer bedeutung nach daraus abgeleitet scheinen, vgl. accorpo-
rare {ad corpus), incorporare, accordare, exconmmnicare {ex communione),
extemporare {exlemporalis schon im 1. jahrh. p. Chr.); emballer, deballer,
embarrjuer, debarquer, enruger, affronter, achever {ad capnl), s'endiniancher
(sich in den Sonntagsstaat werfen), s'enorgueillir^). Hiermit sind auch
die bildungen aus adjectiven verwandt, welche bedeuten 'sich in den
betreffenden zustand hineinversetzen' wie affiner, enivrer, adoucir, af-
faiblir, ennoblir etc. Die ursprüngliche grundlage für diese bildungen
') Mehr beispiele bei Arsene Darmesteter, Traitc de la formation des inots
coiuposcs dans la langue fran(;aise (Bibliothöquo de l'ecole des hautes 6tiides.
Sciences pliilologiciues et historiques 19) Paris 1875, s. SOft*.
207
ist zweierlei gewesen. Einerseits ableitiingeu aus componierten nomi-
nibus, vgl. assimilis — asslmilare, cojicors — Concor dar e, deformis —
deformare (in der bedeutuug 'verunstalten'), degener — degenerare, de-
piiis — depUare, CA-an/fnis — exanlmare, exheres — exheredare, exossis
— exossare, exsucus — exsucare, demens — dementire, insignis — in-
shjnlre, die sieh verhalten wie sanus — sanare; ferner dedecus — de-
decorare. Anderseits composita von deuominativen verben wie accele-
rare {celerare dichterisch), adaequare, addensare, aggravare, aggregare,
appropinquare, assiccare, altenuare, adumbrare, dearmare, decalvare, de-
honorare, depopulari, despoliare, detruncare, exhonorare, exonerure, hmo-
dare, inumbrare, investire. Beide klassen mussteu allmählig mit ein-
ander zusammengeworfen werden und zumal da, wo in der ersten das
zu grün le liegende nomen, in der zweiten das simplex ausser gebrauch
kam, ir dem bezeichneten sinne umgedeutet werden.
Cap. XIV.
Bedeutungsdiiferenzierung.
Es ist, wie wir gesehen haben, im wesen der sprach entwieke-
Inng begründet, dass sich in einem fort eine mehrheit von gleich-
bedeutenden Wörtern, formen, constructionen herausbildet.
Als die eine Ursache dieser erscheinung haben wir die analogiebildung
kennen gelernt, als eine zweite convergierende bedeutungsentwicke-
lung von verschiedenen Seiten her, wir können als dritte hinzufügen
die aufnähme eines fremdwortes für einen begriff, der schon durch ein
heimisches wort vertreten ist (vgl. velter — coushi, base — cousme),
unter welche kategorie natürlich auch die entlehnung aus einem ver-
wandten dialecte zu stellen ist.
80 unvermeidlich aber die entstehung eines solchen Überflusses
ist, so wenig ist er im stände sich auf die dauer zu erhalten. Die
spräche ist allem luxus abhold. Man darf" mir nicht entgegen
halten, dass sie dann auch die entstehung des luxus vermeiden würde.
Es gibt in der spräche überhaupt keine präcaution gegen etwa einti'e-
tende übelstände, sondern nur reaction gegen schon vorhandene. Die
Individuen, welche das neue zu dem alten gleichbedeutenden hinzu-
schaffen, nehmen in dem augenblicke, wo sie dieses tun, auf das letz-
tere keine rücksicht, indem es ihnen entweder unbekannt ist, oder
wenigstens in dem betreffenden augenblicke nicht ins bewusstsein tritt.
In der regel sind es dann erst andere, die, indem sie das neue von
diesem, das alte von jenem sprachgenossen hören, beides untermischt
gebrauchen.
Unsere behauptung trifft wenigstens durchaus für die umgang-
sprache zu. Etwas anders verhält es sich mit der literatursprache,
und zwar mit der poetischen noch mehr als mit der prosaischen. Aber
die abweichung bestätigt nur unsere grundanschauung, dass bedürfniss
und mittel zur befriedigung sich immer in das gehörige verhältniss zu
einander zu setzen suchen, wozu eben sowol gehört, dass das unnütze
ausgestossen wird, wie dass die lücken nach möglichkeit ausgefüllt
werden. Man darf den begriff des bedürfnisses nur nicht so eng fassen.
i
209
als ob es sieh dal)ei nur um Verständigung' über die zum gemeinsamen
leben unumgänglich notwendigen dinge handle. Vielmehr ist dabei
auch die ganze summe des geistigen Interesses, aller poetischen und
rhetorischen triebe zu berücksichtigen. Ein durchgebildeter stil, zu
dessen gesetzen es gehört nicht den gleichen ausdruck zu häufig zu
widerholen, verlangt natürlich, dass womöglich mehrere ausdrucks-
weisen für den gleichen gedanken zu geböte stehen. In noch viel
höherem grade verlangen versmass, reim, alliteration oder ähnliche
kunstmittel die möglichkeit einer auswahl aus mehreren gleichbedeu-
tenden lau fcgestaltungeu , wenn anders ihr zwang nicht sehr unange-
nehm em) fanden werden soll. Die folge davon ist, dass die poetische
spräche nch die gleiehweiügen mehrheiten, welche sich zufällig ge-
bildet h iben, zu nutze macht, sie beliebig wechselnd gebraucht, wo die
umganf,ssprache den gebrauch einer jeden an bestimmte bedingungen
knüpft, sie beibehält, wo die Umgangsprache sich allmählig wider auf
einfachheit einschränkt. Dies ist ja eben eins der wesentlichsten
mon.ente in der differenzierung des poetischen von dem prosaischen
auf.drucke. Es lässt sieh leicht an der poetischen spräche eines jeden
V'tlkes und Zeitalters im einzelnen der naehweis führen, wie ihr luxus
im engsten zusammenhange mit der geltenden poetischen teehnik steht,
am leichtesten vielleicht an der spräche der altgermanischen alliterie-
renden dichtungen, die sich durch einen besonderen reichtum an syno-
nymen auszeichnet.
Für die allgemeine Volkssprache aber ist die annähme eines viele
Jahrhunderte langen nebeneiuanderbestehens von gleichbedeutenden
doppelformen oder doppelwörtern aller erfahrung zuwiderlaufend und
muss mit entsehiedenheit als ein methodologischer fehler bezeichnet
werden, ein fehler der allerdings bei der construction der indogerma-
nischen grundformen sehr häufig begangen ist.
Bei der beseitigung des luxus müssen wir uns natürlich wider
jede bewusste absieht ausgeschlossen denken. In der unnützen über-
bürdung des gedächtnisses liegt auch schon das heilmittel dafür.
Die einfachste art der beseitigung ist der Untergang der mehr-
fachen formen und ausdrucksweisen bis auf eine. Man kann leicht
die beobachtung machen, dass der luxus der spräche nur in beschränk-
tem masse auch ein luxus des einzelnen ist. Auf einem gewissen
gleiehmasse in der auswahl aus den möglichen ausdrueksformeu be-
ruht am meisten die charakteristische eigentümliehkeit der individuellen
spräche. Denn ist einmal das eine aus irgend welchem gründe ge-
läufiger geworden als das andere, d. h. ist seine befähigung sieh unter
gegebenen umständen in das bewusstsein zu drängen eine grössere, so
ist auch die tendenz vorhanden, dass, wo nicht besondere einflüsse
Paul, Principien. IT, Auflage. 14
210
uaeli der entgegengesetzten seite treiben, dies Übergewicht bei einer
jeden neuen gelegenheit eine Verstärkung erhält. Sobald nun die über-
wiegende majorität einer engeren Verkehrsgemeinschaft in der auswahl
aus irgend einer mehrheit zusammentrifft, so ist wider die natürliche
folge, dass sich die Übereinstimmung mehr und mehr befestigt und
nach dem absterben einiger generationen eine vollständige wird. So
bilden denn die verschiedenen möglichkeiten der auswahl auch eine
hauptquelle für die entstehung dialectischer unterschiede. Natürlich
kommt es auch vor, dass die auswahl auf dem ganzen Sprachgebiete
zu dem gleichen resultate führt, namentlich da, wo besonders be-
günstigende bedingungen für die eine form vorhanden sind.
Neben dieser bloss negativen entlastung der spräche gibt es aber
auch eine positive nutzbarm achung des luxus vermittelst einer
bedeutungsdifferenzierung des gleichwertigen. Auch diesen Vor-
gang dürfen wir uns durchaus nicht als einen absichtlichen denken.
Wir haben gesehen, dass die verschiedenen bedeutungen eines Wortes,
einer flexionsform, einer satzfügung etc. jede für sich und eine nach -
der andern erlernt werden. Wo nun eine mehrheit von gleichwei-tigen
ausdrücken im gebrauclie ist, deren jeder mehrere bedeutungen und
Verwendungsarten in sich schliesst, da ergibt es sich ganz von selbst,
dass nicht jedem einzelnen im verkehre die verschiedenen bedeutungen
gleichmässig auf die verschiedenen ausdrücke verteilt erscheinen. Viel-
mehr wird es sich häufig treffen, dass er diesen ausdruck früher oder
öfter mit dieser, jenen früher oder öfter mit jener bedeutung verbunden
hört. Sind ihm aber die verschiedenen ausdrücke jeder mit einer be-
sonderen bedeutung geläufig geworden, so wird er auch dabei be-
harren, falls er nicht durch besonders starke einflüsse nach der ent-
gegengesetzten Seite getrieben wird.
Wo die einzelnen momente der entwickelung nicht historisch zu
verfolgen sind, sondern nur das gesammtresultat vorliegt, da entsteht
häufig der schein, als sei eine lautdifferenzierung zum zwecke der be-
deutimgsunterscheidung eingetreten. Und noch immer scheuen sich die
meisten Sprachforscher nicht, etwas derartiges anzunehmen. Schon um
solche aufstellungen definitiv zu beseitigen, ist es von Wichtigkeit die
hierher gehörigen fälle aus den modernen sprachen in möglichster
reichlichkeit zu sammeln.
Am meisten in dieser beziehung ist bisher auf dem gebiete der
romanischen sprachen geschehen. Schon im jähre 1683 veröffentlichte
Nicolas Catherinot eine schrift unter dem titel Les Doublets de la
Langue Franyoyse, die hierher gehöriges raaterial zusammenstellte.
Seit der begründung der wissenschaftlichen grammatik der romani-
schen sprachen ist man immer aufmerksam auf den gegenständ ge-
211
wesen. Keichlielies material aus dem französiseheu ist zusammenge-
stellt von A. Brächet, Dictionuaire des doublets de la langue frangaise,
Paris 1868, Supplement, Paris 1871; aus dem portugiesischen von Coelho
in der Romania II, 281 ff.; aus dem spanischen, daneben auch aus
andern romanischen sprachen von Caroline Michaelis, Romanische Wort-
schöpfung, Leipzig 1876. Eine Zusammenstellung von lateinischen
doppelwörtern hat M. Breal gegeben in den Memoires de la societe de
linguistique de Paris, I, 162 ff. (1868). Rücksichtlich des germanischen
ist anzuführen 0. Behagel, Die neuhochdeutschen zwillingswörter, Ger-
mania 23, 257 ff. Eine kleine Sammlung aus dem englischen steht bei
Mätzner, Englische grammatik^ I, 221 ff. Eingehende betrachtungen
über die difterenzierung hat besonders C. Michaelis angestellt (vgl. na-
mentlich s. 41 ff".). Sie neigt sich entschieden der auch von uns ver-
tretenen ansieht zu, dass die lautliche und die begriffliche difterenz
ursprünglich in keinem causalzusammenhange mit einander stehen.
Noch bestimmter spricht sich Behagel (s. 292) aus: ,In der lebendigen
spräche findet keine absichtliche, bewusste differenzierung der form zum
zwecke der bedeutungsdifferenzierung statt". Seine eigene arbeit be-
schäftigt sieh aber wesentlich nur mit der lautlichen seite.
Das in den genannten arbeiten zusammengestellte material ge-
hört nun übrigens bei weitem nicht alles unter die kategorie, mit der
wir es hier zu tun haben. Selbstverständlich müssen alle fälle aus-
geschlossen werden, in denen ein lehnwort von anfang an in einer
andern bedeutung aufgenommen ist als ein altheimisches oder ein in
früherer zeit oder aus anderer quelle entlehntes wort, gleichviel ob die
Wörter, wenn man weit genug zurückgeht, auf den gleichen Ursprung
führen. Französisch chose und cause stammen beide aus lat. causa,
aber ihre bedeutungsverschiedeuheit ist nicht aus einer differenzierung
auf französischem boden entstanden, sondern cause ist als gerichtlicher
terminus entlehnt zu einer zeit, als cliose sich schon zu der allge-
meinen bedeutung 'sache' entwickelt hatte. So verhält es sieh bei
weitem mit den meisten doppelwörtern der romanischen sprachen, die
uns deshalb hier gar nichts angehen i), so verhält es sich auch mit
neuhochdeutschen Wörtern wie legal — loyal, pfalz — palasi, pulver —
puder, spital — hötel etc. Weiter müssen wir aber auch alle die-
ienigen fälle ausschliessen , in welchen die bedeutungsdifferenzierung
die folge einer grammatischen Isolierung ist. Wenn z. b. das alte par-
ticipium bescheiden noch als adj. in der bedeutung modestus gebraucht
wird, dagegen als eigentliches part. beschieden, so sind zwar in der
*) C. Michaelis ist gewiss im allgemeinen im irrtume, wenn sie (s. 42 flf.) auch
die dem lateinischen näher stehende bedeutung der dem lateinischen näher stehenden
form als ergebniss einer difterenzierung auftasst.
14*
212
letzteren verwenduug eine zeit lang- bescheiden und beschieden neben
einander hergegangen, aber niemals ist beschieden = modestus ge-
braucht.
Auf der andern seite ist in den angeführten arbeiten unsere zweite
klasse, in der die bedeutuugsgleichheit erst auf seeundärer entwicke-
lung beruht, gar nicht berücksichtigt. An einer gesichteten Zusammen-
stellung von fällen, die als unzweifelhafte dififereuzierung gleichbedeu-
tender ausdrücke zu betrachten sind, fehlt es also dennoch. Es wird
sich daher empfehlen mit beispielen zur erläuterung des Vorganges
nicht sparsam zu sein. Ich wähle dieselben grösstenteils aus dem
neuhochdeutschen.
Die formen knabe und knappe sind im mhd. vollständig gleich-
bedeutend und vereinigen beide die verschiedenen neuhochdeutschen
bedeutungen in sich. Ebenso werden raben (= nhd. rabe) und rappe
beide zur bezeichnung des vogels verwendet, während jetzt in der Schrift-
sprache rai)pe auf die metaphorische Verwendung für ein schwarzes
pferd beschränkt ist.i) Eine dritte form, rappen mit einem aus den
obliquen casus in den nom. gedrungenen n hat sich für die münze
(ursprünglich mit einem schwarzen vogelkopf) festgesetzt, die ursprüng-
lich auch rappe, rapp heisst und ausserdem als rabenheller^ raben-
pfennig, rabenbalzen, rabenvierer bezeichnet wird (vgl. Adelung). Wie
k7iabe — knappe verhalten sich mhd. bache (hinterbacken, schinken) —
backe (urgerm. bako — bakko) zu einander, und es ist daher sehr wahr-
scheinlich, dass wir es hier mit einer ebenfalls secundären, nur be-
deutend älteren bedeutungsdiflferenzierung zu tun haben. Erst neu-
hochdeutsch ist die Unterscheidung zwischen reiter (= mhd. riter) und
ritt er, scheuhen und scheuchen, die verschiedene nuancierung in der
anwendung von Jungfrau und Jungfer. Hain ist eine contraction aus
hagen und im mhd. sind beide gleichbedeutend (noch jetzt in compo-
sitis wie hagebuche — haitibuche, hagebulte — hainbutte etc.); hagen in
der abgeleiteten bedeutuug, die jetzt auf hain beschränkt ist, erscheint
bei B. Waldis.
Häufig sind die doppelformen, die durch die mischung verschie-
dener declinationsweisen entstanden sind, differenziert, so Franke —
franken, tropf — tropfen (vgl. für die gleichwertige Verwendung die
beispiele bei Sanders, z. b. Haller : Du bist der Weisheit fneer, wir sind da-
von nur tropfe und umgekehrt Wieland: dem armen tropfen), fleck —
flecken, fahrt — führte, Stadt — statte (mhd. nom. vart, slal — gen.
verie, stete); zugleich mit Verschiedenheit des geschlechtes der lump —
die lumpe, der trupp — die truppe, der karren — die karre, der possen
') Allerdings vermag ich ral/e in der übertragenen bedeutiing nicht nachzu-
weisen.
213
— die posse. Versebiedeuheit des gesclilechtes bei gleicher noniinativ-
forni wird verwertet in der — das band (beispiele flir der band =
fascia, vineulum im Deutschen wb.), der — die fJur (ersteres nur in
der bcdeutung- hausflur, in welcher bedeutung- aber auch die flur vor-
kommt), der — die haft (schon im mhd. mit ziemlich entschiedener
trennung- der bedeutungen), der — das mensch (letzteres noch im sieben-
zehnten Jahrhundert ohne verächtlichen uebensinn), der — das schitd
(die Scheidung noch jetzt nicht ganz durchgeführt, vgl. Sanders), der
— das verdienst, der — die see, der — die schnmlst (beispiele für beide
geschlechter in eigentlicher wie uneigentlicher bedeutung bei Sanders),
die — das erkennlniss (letzteres noch bei Kant sehr häufig = eogni-
tio). Dazu kommen die fälle, in denen verschiedene pluralbildungen
sich differenziert haben: bände — bänder, dinge — ding er (der jetzigen
Verwendung entgegen z, b. bei Luther Luc. 21, 26 für warten der ding er
die kommen sollen auf erden), gesichte — gesichter (beispiele von nicht-
beobachtung des Unterschieds bei Sauders), lichte — lichter (die Unter-
scheidung nicht allgemein durchgeführt), orte — Örter (desgleichen),
tuche — tücher, n-orle — wörler (beispiele in denen ersteres noch wie
letzteres verwendet wird bei Sanders 3, 1662^), säue — sauen (vgl. für
die ältere zeit stellen wie von den zahmen sauen entsprossen oder wilde
säue und baren etc. bei Sanders), effecte — effeclen. Im älteren nhd.
kommt von druck sowol der pl. drucke als drücke vor; jetzt existiert
nur noch der pl. drucke im sinne von „gedruckte werke", wofür Goethe
noch drücke gebraucht, dagegen heisst es abdrücke, eindrücke, aus-
drücke. In ältere zeit zurück geht die diflferenzierung von tor — tür
(vgl. Sievers, Beitr. z. gesch. d. deutschen spr. u. lit. 5, 111 •) und buch —
buche (ahd. buoh, noch häufig fem., ist die alte nomiuativform, buocha
die accusativform); die alten uominativformen buoz, wls, halp sind auf
die Verwendung in bestimmten formein beschränkt {mir wirdit buoz,
managa wis, eitihalp etc., noch jetzt ayiderthalb, drittehalb), während
sonst die accusativformen buoza, wisa, halba üblich geworden sind.
Diese benutzung verschiedener flexionsformen begegnet uns bei-
nahe in allen flectierenden sprachen. Aus dem englischen lassen sich
eine anzahl doppelter pluralbildungen anführen: cloths kleiderstoffe —
clothes fertige kleider, während in der älteren spräche so gut wie von
den meisten übrigen Wörtern beide bildungsweisen untermischt gebraucht
werden; /;mn/o' pfennige als geldstücke — pence als Wertbestimmung;
brethren gewöhnlich im übertragenen sinne — brothers im eigentlichen.
Im holländischen werden die plurale auf -en und -s von einigen Wör-
tern noch beliebig neben einander gebraucht {vogelen — vogels), von
andern ist nur die eine üblich {engelen, aber pachlers), wider von
andern aber werden beide neben einander mit differenzierter bedeu-
214
tiing gebraucht, vgl. hemelen (liimmel im eigentlichen sinne) — hemels
(betthiramel), lellcren (brief oder literatur) — letlers (buchstaben), tnid-
delen (mittel) — middels (taillen), tafelen (gesetztafeln u. dgl.) — tafeis
(tische), vaderen (voreitern) — vaders (väter), rvatcren (wasser) — waters
(ströme). Aehnlich stehen sich bei einigen Wörtern die formen auf -en
und -eren gegenüber: kleeden (tischdeeken, teppiche) — kleederen (klei-
der), heenen (gebeine) — beenderen (knochen), Maden (blätter im buch)
— bladeren (im eigentlichen sinne). Aus dem dänischen gehört hier-
her skaltc (schätze) — skalier (abgaben), vaaben (waffen) — vaabener
(wappeu). Wo im altn. a mit g (dem 2<-umlaut) in der Wurzelsilbe der
uomina wechselte Je nach der beschatfenheit der flexionsendung (z. b.
sok{ii) — sakar etc.), da sind im späteren norwegisch zunächst doppel-
formen entstanden, eine mit a, eine mit o, von denen dann meistens
entweder die erstere oder die letztere untergegangen ist. In einigen
fällen aber haben sich beide mit bedeutungsdifferenzierung erhalten:
ffata (gasse) — gota (fahrweg), f/rav (grab) — grov (grübe), mark (feld)
— mork (wald), tratn (anhöhe) — trom (rand).
In der flexion des pron. der ist der gegenwärtig bestehende unter-
schied im gebrauche der kürzeren und der erweiterten formen erst all-
mählig herausgebildet. Die formen der im gen. sg. fem. und im gen. pl.
aller geschlechter und de7i im dat. pl, die jetzt auf den adjectivischen
gebrauch beschränkt sind, kommen im siebenzehuten Jahrhundert noch
häufig, vereinzelt auch noch im achtzehnten im substantivischen vor,
z. b. bei Goethe die kröne, der tnein fürst mich würdig achtet. Dagegen
werden umgekehrt derer, denen adjectivisch, selbst als blosser artikel
gebraucht, vgl. z. b. derer dinge, derer leute (Logau), derer gesetze (Klop-
stock); zu denen dingen, zu denen stunden (Heinrich von Wittenweiler,
15. jahrh.); noch im achtzehnten jahrh. ist deiien in dieser Verwendung
häufig in der Schriftsprache, und noch jetzt ist dene mit der üblichen
apocope des n die allgemein herrschende form in alemannischen und
südfränkischen mundarten. Ferner ist der gegenwärtig bestehende ge-
l)rauch, dass deren auf den gen. beschränkt ist, dagegen im dat. aus-
schliesslich der verwendet wird, gleichfalls erst secundär herausge-
bildet, vgl. von deren ich reden, in deren die Schmeichler seind (Gailer
von Kaisersberg), o fiirstin, deren sich ein solcher fürst verbunden (Weck-
herliu). Endlich ist auch der merkwürdige unterschied, den mau jetzt
in der anwendung der formen derer und deren macht, erst allmählig
herausgebildet; vgl. wie viel seind deren die da haben (Pauli) und um-
gekehrt mit mancher kunst, derer sichs gar nit Schemen thar (P, Melissus).
Schaffen als st. vcrlj. und schöjifen sind aus dem selben paradigma
entsprungen: got. skapja», prät. skoj). Zum prät. scuof hat sich im uhd.
neben der alten form scepfen ein neues regelmässiges präs. scaffan ge-
215
bildet; im mhd. ist dann weiter zu schep/en ein \niit. schepfele und ein
part, geschejifet gebildet. Im uibd. sind schuof, gcscli<i/)'en und schepfele,
(leschepfete gleichbedeutend, vereinigen die bedeutung der beiden neu-
hochdeutschen Wörter in sich. Die selbe Vereinigung findet sich im
präs. schepfen. Das präs. schaffen erscheint allerdings von vornherein
auf die bedeutung schatten beschränkt.
Zücken und zucken sind ursprünglich gleichbedeutende doppel-
tormen, vgl. der schon das schwert zucket (Le.) — den ajiblick eines
zückenden (Herder). Ebenso drücken und drucken.
Die conjunction als ist durch alse hindurch aus also entstanden.
Im mhd. sind beide vollkommen gleichbedeutend, beide nach belieben
demonstrativ oder relativ. Ebenso wenig besteht ein unterschied der
bedeutung zwischen danne und denne, wanne und n-enne. Die jetzige
Verschiedenheit des gebrauches ist durch einen ganz langsamen pro-
cess entwickelt, und die Zufälligkeit der entstehung zeigt sich noch an
einem mangel eines logischen principes der ditferenzierung. Secundär
ist auch der jetzige unterschied von warum und worum.
Das participium des inti*ansitivums, verdorben und das des ent-
sprechenden transitivums, verderbt haben sich so geschieden, dass das
letztere nur noch in moralischem sinne gebraucht wird. Secundär ist
auch der bedeutungsuuterschied von bewegt und bewogen, vgl. z. b. das
meer . . vom winde bewogen (Prätorius), der hat im tanze flicht die beine
recht bewogen (Kachel), dagegen dass er dardurch bewegt ?vard, solches
in eigener person zu erfahren (Buch der liebe).
Die Wörter auf -heit, -schaff, -tum sind früher wesentlich gleich-
bedeutend. Sie können sämmtlich eine eigeuschaft bezeichnen, manche
haben daneben eine collectivbedeutung entwickelt. Auch Wörter auf
-niss und einfachere bildungen wie höhe, tiefe berührten sich vielfach
mit ihnen. So ist es auch bis jetzt im ganzen geblieben, aber im ein-
zelnen haben sich da, wo mehrere dieser bildungen neben einander
standen, diese meistens irgendwie differenziert. Fälle, in denen die
verschiedenen gebrauchsweisen, die sich jetzt auf mehrere solcher bil-
dungen verteilen, einmal vollständig in jeder derselben vereinigt waren,
sind allerdings nicht so häufig, doch vgl. gemein{d)e gemeinschaft, von
denen auch gemeinheit ursprünglich in der bedeutung nicht geschieden
war. Bemerkenswert sind auch kleinheit — kleitiigkeit, neuheit — neuig-
keit. Beispiele für die frühere unterschiedslose Verwendung des ersten
paares sind im Deutschen wb. beigebracht, vgl. so verhält es sich auch
mit gewissen kleinheiten, die es im haushält nicht sind (Goethe-Z eiter-
scher briefwechsel) — die ausnehmende kleinigkeit der masse (Kant),
lieber das zweite paar lehrt Adelung, neuheit werde gebraucht , als
ein concretum, eine neue bisher nicht erfahrne oder erkannte sache,
216 ^
woflir doch ncu'Kjkeit üblicher ist", dagegen „(//c neuigkeit einer nach-
rich/, einer cmpßndung, eines gedankens u. s. f. wofür jetzt in der an-
ständigen spreehart neuheit üblicher ist".
Entsprechend verhält es sieh mit den adjectiven auf -ig, -isch,
-lieh, -sam, -haß, -har, bei denen die jetzt bestehenden bedeutungsver-
sehiedenheiten, nicht auf bedeutungs Verschiedenheit der suffixe an sich
beruhen. Ein treffendes beispiel ist ernstlich — ernsthaft, vgl. für den
älteren gebrauch die stets gar ernstlich und sauer sieht (Ayrer) — der
ernsthaft fleisz (Fischart),
Im mhd. sind so und als {also, alse) ganz gleichbedeutend, beide
sowol demonstrativ als relativ. Im nhd. sind sie differenziert, zunächst
in der weise, dass so im allgemeinen als dem., als als rel. gebraucht
wird, vgl. z. b. so wol als auch (mhd. so wol so oder als wol als), so
bald als. Doch ist ein rest des demonstrativen als übrig geblieben in
alsbald. Im mhd. hat lihte wie vil lihte die bedeutung von nhd. leicht
und vielleicht. Die beschränkung der form ehe auf die conjunction ist
secundär. Noch Gleim schreibt ehe als Klopfstock, Goe. er soll eh ge-
rvonnen als verloren haben.
Im mhd. kann sichern so viel bedeuten wie nhd. versichern und
umgekehrt versichern so viel wie nhd. sichern (z. b. die stat mit müren
und mit graben v). Die Unterscheidung von sammeln, Sammlung und
versamtneln, Versammlung ist dem älteren nhd. noch fremd; vgl. Moses
und Aaron . . sameleten auch die ganze gemeinde, Gott ist fast mächtig
in der samlunge der heiligen (Lu.). — Des festlichen tages, an dem die
gegend mit jubel trauben lieset und tritt und den most in die fässer ver-
sammelt (Goe.); Die linse?i sind gleichsam eine Versammlung unendlicher
prismen (Goe.); Dass sie (die Juden in ihrer Zerstreuung) keiner versatnm-
lung mehr hoffen dürfen (Lu.). Das einfache Öffnen wird früher wie
jetzt eröffnen in dem übertragenen sinne = offenbaren gebraucht, vgl.
du versprichst mir deine gedanken zu öffnen. Ein ähnliches verhältniss
besteht öfter zwischen simplex und compositum oder zwischen ver-
schiedenen compositis, die ein gemeinsames simplex haben.
Es müssen hier auch einige Vorgänge besprochen werden, die
zwar nicht eigentlich differenzierangen sind, die aber aus den näm-
lichen gnindprocessen entspringen wie diese und daher für deren be-
urteilung wichtig sind. Den ausgangspunkt bildet dabei nicht totale
sondern partielle glcichheit der bedeutung.
Der i)ai-tiellen gleichheit kann eine totale vorangegangen sein,
die zunächst dadurch aufgehoben ist, dass das eine wort eine bedeu-
tungserweiterung erfahren hat, die das andere nicht mitgemacht hat.
Dann ist sehr häufig die weitere folge, dass das erste aus seiner ur-
sprünglichen bedeutung von dem letzteren ganz herausgedrängt und
217
auf die neue bedeutung beschränkt wird. Krislentuom und Kristenheil
werden zwar schon von Walther v. d. Vogelwcidc im heutigen sinne
einander gegenüber gestellt, aber das letztere wird doch mhd. auch
noch in der grundbedeutuug = Christentum gebraucht, vgl. z. b. Tristan
1968 (von einem zu taufenden kinde) durch duz ez sine kristenheit in
gotes namen empficnge. Mhd. ivisluom bedeutet das selbe wie msheit,
daneben tritt aber die abgeleite bedeutung „rechtsbelehrung" auf, und
auf diese wird dann nhd. jveistum beschränkt. Mhd. gelichnissc kann
noch in dem selben sinne wie gelichheit gebraucht werden, nhd. glcich-
niss hat diese ursprüngliche bedeutung aufgegeben. Indessen {indes)
hat ursprünglich rein temporale bedeutung, vgl. ich bin indess krank
gewesen (Le.); aus dieser ist es durch unterdessen verdrängt.
Häufiger ist es, dass ein wort, welches früher in seiner bedeu-
tung von einem anderen ganz verschieden war, irgend einen teil von
dem gebiete des letzteren occupiert und dann allmählig für sich allein
in beschlag nimmt. So ist hoese auf das moralische gebiet einge-
schränkt (mhd. auch bcesiu kleit u. dergl.) durch das tibergreifen von
schlecht (ursprünglich glatt, grade). Aehnliche einschränkungen haben
erfahren: siech (ursprünglich die allgemeine bezeichnung für krank),
Seuche, sucht durch kränk, krankheit (ursprünglich schwach, schwäche);
arg (mhd. auch in der bedeutung geizig) durch karg (ursprünglich
klug); als durch wie (ursprünglich fragewort, dann zunächst nur ver-
allgemeinerndes relativum, oh durch wenn.
Sehr häufig endlich ist es, dass ein neugebildetes oder aus einer
fremden spräche entlehntes wort ein älteres aus einem teile seines ge-
bietes hinausdrängt. So hat mhd. ritterschaft auch die bedeutung von
rittertum\ nachdem das letztere wort gebildet ist, büsst, es diese ein.
So ist freundlich durch freundschaftlich angegriffen, wesentlich durch
wesenhaft, empfindlich durch empfindsam, einig durch einzig, gefnein durch
gemeinsam und allgemein, lehen durch darlehen, Stegreif durch Steigbügel,
künstlich durch kunstvoll und kunstreich, bein durch knochen (ursprüng-
lich mitteldeutsch).
Diese verschiedenen Vorgänge können in mannigfachen Verknüpf-
ungen unter einander und mit der eigentlichen bedeutungsdifferenzie-
rung erscheinen. Soll einmal die geschichte der bedeutungsentwicke-
lung zu einer Wissenschaft ausgebildet werden, so wird es ein haupt-
erforderniss sein auf diese Verhältnisse die sorgfältigste rücksicht zu
nehmen. Auch nach dieser seite hin bestätigt sich unser gruudsatz,
dass das einzelne nur mit stätem hinblick auf das ganze des sprach-
materials beurteilt werden darf, dass nur so erkenntniss des causal-
zusammenhangs möglich ist. Wie schon die hier gegebenen audeu-
tungen erkennen lassen, ist dabei gerade der mangel durchgehender
218
logischer prineipien cbarakteristiseli. Der zufall, die absichtslosigkeit
liegen zu tage.
Wir haben oben schon mehrfach an das syntaktische gebiet ge-
streift. Auch an rein syntaktischen Verhältnissen zeigen sich die
besprochenen Vorgänge.
Im ahd. waren in der starken declination des adj. doppelformen
für den nom. sg. sowie für den acc. sg. n. entstanden: guot — guoter,
fjuoliu, (juotaz. Im gebrauch dieser formen besteht zunächst kein unter-
schied. Einerseits wird die sogenannte unflectierte attributiv vor dem
subst. gebraucht, noch im mhd. allgemein, während sich jetzt bis auf
wenige isolierte reste die flectierte festgesetzt hat, anderseits wird die
flectierte auch da gebraucht, wo sich später die unflectierte festgesetzt
hat; so attributiv nach dem subst, z. b. Krist gualer, thaz himilrichi
höhaz Otfrid, noch im mhd. der knappe guoter Parzival, ein wölken so
trüehez Heinr. v. Morungen neben dem üblicherem der knappe guot etc.;
ferner als prädicat: ist iuuar mieta mihhilu Tatian, uuird thu stummer
Otfrid, vereinzelt noch im mhd., z. b. daz daz tvite velt vollez frouwen
iviere Parzival 671, 19; so auch ih habetiz io giuuissaz (hielt es immer
für gewiss) Otfrid, also nazzer muose ich scheiden Walther v. d. Vogelw.
Bei ein und beim possessivpron. hat sich auch vor dem subst. die un-
flectierte form festgesetzt, früher standen beide nebeneinander, vgl. smer
sämo, sinaz körn, einaz fisgizzi Otfrid.
Die doi)pelformen tvard und wurde haben sich so geschieden,
dass ersteres auf die bedeutung des aorists beschränkt ist, während
im sinne des imperfectums nur das letztere gebraucht werden kann.
Doch ist die Scheidung nicht durchgeführt, weil wurde in jedem falle
angewendet werden kann. Dass auch im idg. zwischen dem ind. des
impf, und dem des aor., sowie zwischen den übrigen modi des präs.
und denen des aor. ursprünglich keine bedeutungsverschiedenheit be-
standen hat, dürfen wir mit ziemlicher Sicherheit annehmen. Denn die
doppelheit ist wahrscheinlich aus einem einzigen paradigma entstanden
dadurch, dass eine durch den wechselnden accent enstandene discre-
panz zwischen den formen nach zwei verschiedenen selten hin ausge-
glichen wurde. Noch auf dem uns überlieferten zustande des sanskrit
sind die formen nicht in allen klassen des verb. geschieden. Ob man
got. viljau (ich will) einen opt. präs. oder aor. nennen will, ist ganz
gleichgültig. Ueberhaupt wird das tempus- und modussystem des idg.
durch eine anzahl von bedeutungsdifferenzierungen zu stände gekommen
sein, womit der entgegengesetzte Vorgang, zusammenfall der bedeutung
verschiedenartiger bildungen band in band ging.
Cap. XV.
Psychologische imd grammatische kategorie.
Jede gTammatisehe kategorie erzeugt sich auf grundlage einer
psychologischen. Die erstere ist ursprünglich nichts als das eintreten
der letzteren in die äussere erscheinung. Sobald die Wirksamkeit der
psychologischen kategorie in den sprachlichen ausdrucksmitteln er-
kennbar wird, wird sie zur grammatischen. Die Schöpfung der gram-
matischen kategorie hebt aber die Wirksamkeit der psychologischen
nicht auf. Diese ist von der spräche unabhängig. Wie sie vor jener
da ist, wirkt sie auch nach deren entstehen fort. Dadurch kann die
anfänglich zwischen beiden bestehende harmonie im laufe der zeit ge-
stört werden. Die grammatische kategorie ist gewissermassen eine
erstarrung der psychologischen. Sie bindet sich an eine feste tradi-
tion. Die psychologische dagegen bleibt immer etwas freies, lebendig
wirkendes, was sich nach individueller auffassung mannigfach und
wechselnd gestalten kann. Dazu kommt, dass der bedeutungswandel
vielfach darauf wirkt, dass die grammatische kategorie der psycho-
logischen nicht adäquat bleibt. Indem dann wider eine tendenz zur
ausgleichung sich geltend macht, vollzieht sich eine Verschiebung der
grammatischen kategorie, wobei auch eigentümliche zwitterverhältnisse
entstehen können, die keine einfache einordnuug in die bis dahin vor-
handenen kategorieen zulassen. Die betrachtung dieser Vorgänge, die
wir genauer beobachten können, gibt uns zugleich belehrung über die
ursprüngliche entstehung der grammatischen kategorieen, die sich
unserer beobachtuug entzieht. Wir wenden uns demnach dazu einige
der wichtigsten grammatischen kategorieen von den angedeuteten ge-
sichtspunkteu aus zu betrachten.
Geschlecht.!)
Die basis für die entstehung des grammatischen geschlechtes
bildet der natürliche geschlechtsunterschied der menschlichen
') Vgl. zu diesem absclmitt besonders Grimm Gr. III, 311—563; Kl. sehr. III,
349 flf.; Diez III, 92— S; Miklosieli IV, 17—37; Scliroeder s. 8'J; Brugmann, Z. f. Spr.
220
und tierischen wesen. Wenn ausserdem noch anderen wesen, auch
ciiienschafts- und tätigkeitsbezeichuungen, ein männliches oder weib-
liches geschlecht beigelegt wird, so ist das eine Wirkung der phan-
tasie, welche diese wesen nach analogie der menschlichen persönlich-
keit auffasst. Aber weder das natürliche geschlecht noch das der
phantasie ist an und für sich etwas grammatisches. Der sprechende
konnte sich etwas als männliche oder weibliche persönlichkeit denken,
ohne dass im sprachlichen ausdruck das geringste davon zu spüren
war. Das sprachliche mittel, woran wir jetzt das grammatische ge-
schlecht eines substantivums erkennen, ist die congruenz, in welcher
mit demselben einerseits attribut und prädicat, anderseits ein stell-
vertretendes pronomen steht. Die entstehung des grammatischen ge-
schlechtes steht daher im engsten zusammenhange mit der entstehung
eines wandelbaren adjectivums und pronomens. Die geschlechtliche
wandelbarkeit des adjectivums setzt voraus, dass sich der geschlechts-
unterschied an einen bestimmten stammausgang geknüpft hat. Diese
erscheinung Hesse sich daraus erklären, dass der betreffende stamm-
ausgang ursprünglich ein selbständiges wor.t gewesen wäre, ein pron.,
welchem schon während seiner Selbständigkeit die beziehung auf ein
männliches oder weibliches wesen zukam. Durchaus notwendig aber
ist diese annähme nicht. Es Hesse sich auch denken, dass rein zu-
fäHig sich ])ei diesem Stammausgange eine überwiegende majorität für
das männliche, bei jenem eine solche für das weibliche herausgestellt
hätte. Der geschleehtsunterschied beim pron. kann sich ebenso wie
beim adj. am Stammausgange zeigen, er kann aber auch durch beson-
dere wurzeln ausgedrückt werden. Am stellvertretenden pron. hat sich
wahrscheinlich das grammatische geschlecht am frühesten entwickelt,
gerade so wie es sich an demselben da, wo es teilweise untergegangen
ist, also z. b. im engl., am längsten erhält.
Bei der ersten entstehung des grammatischen geschlechtes wird
dasselbe durchgängig mit dem natürlichen in Übereinstimmung gewesen
sein. Allmählig konnten abweichungen davon entstehen, namentlich
durch den wandel der Wortbedeutung, auch durch bloss oecasionelle
modification der bedeutung. In folge davon macht sich das natürliche
geschlecht wider vollständig geltend, zunächst dadurch, dass es eine
durchbreehung der grammatischen congruenz veranlasst; vgl. fälle wie
eines frauenzimmers , die sich am artigsten gegen mich erwiesen hatte
(Goe.); die hässlichste meiner karnrnermädchen (Wieland); lat. duo impor-
21, ^;4tf.; Delbrück ly, 4— 13; W.Meyer, Die Schicksale des lateinischen neutrums
im romanischen, Halle 1S83; Lange, De snbstantivis Graecis feminini generis secimdae
declinationis capita tria, Lipsiae 1885 (Diss.).
221
tuna prodigia, quos egesias addixeral (Cic); capita conjurationis virgis
caesi ac securi percussi (Liv.); septem milia hominum in naves impositos
(Liv.); gTieeli. m (plXxar , lo jrsQiijoä rifitj&^tlg rtxvov (Eur.); (fiXxar
Alyio&^ov ßia (Aescli.). Von hiev aus gelangt man dann zu einem
vollständigen geschlecbtswecbsel. So werden im g-riecli. männliche
personen- und tierbezeichnungen ohne weiteres auch zu femininen ge-
macht, indem sie auf weibliche wesen übertragen werden. Es stehen
z. b. neben einander o — tj ayysXog, öiddöxaXog, iavQog, rvQavvog,
tXacfog, Yjijiog i) u. a. Umgekehrt hat man in christlicher zeit ein o
jiagd-evog'^) gemacht. Die ursprünglich neutralen deminutiva erhalten
leicht männliches oder weibliches geschlecht, wenn die deminutivbe-
deutung verdunkelt wird. So ist die fräulein häufig mundartlich, auch
bei älteren Schriftstellern. Wenn collectiva oder eigenschaftsbezeich-
nungen zu personenbezeichnungen werden, kann ein geschlechtsweehsel
die folge sein. Dem it. la guida entspricht franz. le guide (ursprüng-
lich führuug); franz. le garde der Wächter ist ursprünglich identisch mit
la garde die wache; vgl. ferner span. el cura der pfarrer, el juslicia
der richter; altbulgarisch junola Jugend, als masc. Jüngling, starosta
alter, als masc. dorfältester; russ. golova fem. haupt, masc. anführer.
Besonders häufig werden weibliche beinamen zu männlichen personen-
namen vgl, lat. Alauda, Capella, Stella-^ it. Colonna, Rosa, Barharossa,
Malaspina etc.
Massgebend für das geschlecht ist öfters die Zugehörigkeit zu
einer bestimmten wortkategorie. Dies liegt mitunter daran, dass das
geschlecht der allgemeinen gattungsbezeichnung das der specielleren
beneunung bestimmt. So erfolgt denn auch ein geschlechtswaudel
leicht im anschluss an begriflfsverwandte Wörter.
Hier greift also die analogie ein. So ist mitlwoch, älter mitte
rvoche (media hebdomas), noch jetzt mundartlich als fem. gebraucht,
zum masc. geworden nach den übrigen bezeichnungen der Wochentage ;
entsprechend franz. dimanche. Die fremden Tiber und Rhone haben sich
der majorität der deutschen flussuamen angeschlossen. Im griech. sind
viele bezeichnungen von bäumen und pflanzen weiblich geworden, nach-
dem einmal für diese klasse in anlehnung an die gattungsbezeich-
nungen ÖQvg und ßorävrj das weibliche geschlecht das normale ge-
worden war."') Am klarsten zeigt sich dieser process bei solchen Wör-
tern, die in ihrer eigentlichen bedeutung noch ein anderes geschlecht
aufweisen und nur in der Übertragung auf pflanzen feminina sind^).
^) Vgl. Lange a. a. o. s. 27 flf.
2) Vgl. Lange s. 28.
^) Vgl. Lange a. a. o. s. 35 ff.
*) Vgl. ibid. s. 11.
222
v^l. o xim'oc stahl — ^ xvavoQ die wegen der favbenälmlichkeit da-
nach benannte kornbhirae. Ebenso neigen die städtenamen zum fem.,
vgl. / KtQccf/og aus o xtga^ioq ton, rj Kiooög aus 6 xiooog epheu, ^
NaQaü^og aus o fic(Qa&og fenehel, ?] "ijivog aus 6 ijtvög ofen, ?5 laXvoög
Stadt — o Jakvoog personenname.i)
In anderen fällen sind formelle gründe die veranlassung zum
gesehlechtswandel geworden. So war man im lat. gewohnt, dass die
Wörter auf -a, soweit sie nicht bezeiehnungen für männliche personen
waren, weibliches geschlecht hatten. In folge davon erscheinen auch
die griechischen neutra auf -(la bei vorklassischen und nachklassischen
Schriftstellern, jedenfalls in ansehluss an die Volkssprache als feminina,
z. b. Schema, dogma, diadema, und sie sind daher auch in den roma-
nischen sprachen häufig feminina.^) Das dem lat. acus entsprechende
it. n(/o ist masc. Die altgriechischen feminina auf -og sind im neu-
griechischen grösstenteils beseitigt, zum teil durch übertritt ins masc,
z. b. o ji?MT(a'oc, o xvjrc'iQtöoog.^) Selbst das natürliche geschlecht hat
zuweilen den genuswandel nicht verhindert, vgl. mov. papa, profela als
feminina.^)
Der Widerspruch zwischen dem überlieferten geschlechte des ein-
zelnen Wortes und demjenigen, welches man nach seiner endung er-
wartet, kann noch in einer anderen weise ausgeglichen werden, indem
nämlich nicht das geschlecht, sondern die endung vertauscht wird,
natürlich mit einer solchen, der das betreffende geschlecht regelmässig
anhaftet. So erscheint im lat. peristromum neben peristroma. Lat. socrus
ergab span. prov. suegra, port. sogra\ lat. nums it. nuora, span. nuera,
port. prov. nora, afranz. nore. Auch dieses mittels hat sieh das neu-
griechische bedient um die feminina auf -og zu beseitigen, daher ri
ji(CQ&ti'a, Tj TiXarävrj u. a. Schon im altgriechischen steht i] filvd^?]
neben 7) fiivd^og, 7) tßsv?/ neben 7) 'Ißtvog u. a.'') In einem teile der
fälle war das überlieferte geschlecht zugleich das natürliche, ein grund
mehr, dass es nicht der endung nachgab, sondern diese sich unter-
warf. Hierher gehört es auch, dass im griech. die männlich gewor-
denen ^-stamme das nominativs-* angenommen haben (z. b. vsavlag).^)
Bis liierher bewegen wir uns auf einem ziemlich sicheren boden.
Misslich aber ist es zu entscheiden, wieweit das natürliche geschlecht
') Vgl. Lange a. a. o. s. 42 ff.
^) Vgl. das nähere bei W. Meyer s. 93 ff. In dieser sclirift findet man viele
andere beispiele für gesehlechtswandel aus formalen gründen.
^) Vgl. Hatzidakis, Zschr. f. vgl. spr. 27, 82; Lange a. a. o. s. 9.
") Vgl. W. Meyer s. 9.
*) Vgl. Hatzidakis und Lange a. a. o.
") Vgl. J. (Iriiuni, kl. sehr. s. :{57.
223
der phautasie auf deu waudel des gramu) atiseben gesehleehtes ein-
gewirkt hat. Die subjective anschauung- der einzelnen menschen kann
sieh dem nämlichen objecte gegenüber sehr verschieden verlialten. Im
heutigen englisch kann sich diese subjectivitüt bis zu einem gewissen
grade ungehemmt geltend machen, und wir können uns danach eine
Vorstellung davon bilden, wie anfänglich die Übertragung des männ-
lichen und weibliehen geschlechtes auf gegenstände, die kein natür-
liches g'eschlecht haben, vor sich ging. In andern sprachen ist die
freie tätigkeit der phantasie durch das tiberlieferte geschlecht einge-
schränkt; so lange dieses fest im gedächtniss haftet, kann sie nicht
zur geltung kommen. Eine gewisse Unsicherheit in bezug auf die tra-
dition wird daher immer erst den anstoss geben müssen, damit die
phantasie nach dieser riehtung hin in tätigkeit gerät. Ist aber einmal
das traditionelle geschlecht dem sprechenden gar nicht oder nicht ge-
nügend eingeprägt, so bedarf es keiner besonders starken erregung
der phantasie um ihn dazu zu bringen, dem betreffenden worte ein
beliebiges geschlecht beizulegen. Denn der geschlechtsunterschied hat
die spräche derartig durchdrungen, dass es in vielen fällen unmöglich
ist, das geschlecht unbestimmt zu lassen, und man sich also für irgend
eins entscheiden muss. Unter diesen umständen gibt oft bloss der Zu-
fall den ausschlag, d. h. irgend ein geringfügiger umstand, der mit den
momenten, die ursprünglich die entstehung des grammatischen ge-
schlechtes veranlasst haben, gar nichts zu schaffen zu haben braucht.
Man denke an die Verstösse, die man in einer fremden spräche macht.
Was nun auch die positiven veranlassungen für einen wandel des
geschlechtes sein mögen, jedenfalls darf auch die negative veran-
lassung nicht übersehen werden, die oft von entscheidenderer bedeu-
tung ist als die positive. Welche rolle sie spielt, lässt sieh historisch
daraus erweisen, dass diejenigen Wörter dem geschleehtswandel beson-
ders ausgesetzt gewesen sind, bei denen im zusammenhange der rede
das geschlecht am häufigsten eines charakteristicums entbehrt und sich
deshalb am wenigsten fest einprägt. Wir haben im plur. gar keinen
geschlechtsunterschied mehr, auch nicht am artikel. Es ist daher natür-
lich, dass gerade Wörter, die am häufigsten im plur. gebraucht werden,
ihr geschlecht verändert haben, zum teil in Verbindung mit einer Ver-
änderung ihrer lautgestalt, die gleichfalls dadurch ermöglicht ist, dass
der sing, weniger fest haftete als der plur., vgl. wange (mhd. n.), tvoge
(mhd. der n-äc)^ locke (mhd. der loc), trähne (mhd. der trahen), zähre
(mhd. der zäher), wölke (mhd. daz rvolken), tvaffe (mhd. daz träfen), ähre
(mhd. daz eher), hinse (mhd. der bhiez). Wenn ferner viele schwache
masculina weiblich geworden sind (vgl. meine mhd. gr. § 130 anm. 4),
so wird das damit zusammenhängen, dass die decliuation der schwachen
224
masculiua und feminina im mhd. vollkommen identisch war. Ueber-
haupt wird kein wort ein grammatiselies genus annehmen, welches
man mit den ihm anhaftenden flexionsendungen nicht zu verbinden ge-
wohnt ist, abgesehen von den fällen, wo das natürliche geschlecht
einwirkt. Diese passive bedeutung des formalen dementes für den
geschleehtswandel ist nicht zu verwechseln mit dem oben besprochenen
activen einflusse desselben, wiewol sich nicht in jedem einzelnen falle
die grenzlinie scharf ziehen lässt.
Das neutrum ist ursprünglich nichts weiter als das geschlechts-
lose, wie der name richtig besagt. Während das masc. und das fem.
als psychologische kategorieeu existiert haben, bevor sie zu gramma-
tischen wurden, hat sich das neutrum lediglich in folge der formellen
abhebung der Ijeiden natürlichen geschlechter und in folge der durch-
führung der eongruenz zu einem dritten grammatischen genus con-
stituiert.
Numerus.
Auch der numerus wird zu einer grammatischen kategorie nur
durch ausbildung der eongruenz. Auch in den flectierenden sprachen
ist der plur. nicht durchweg erforderlich, wo es sich um bezeichnung
einer mehrheit handelt. Jede Vielheit kann von dem sprechenden
wider als eine einheit zusammengefasst werden. Und so gibt es gerade
bezeichnungen für eine bestimmte anzahl, die singularisch sind, wie
schock, dutzend, mandel, wie ursprünglich durchaus tausend, hundert
und wahrscheinlich auch andere Zahlwörter. So sind ferner überhaupt
die sogenannten collectiva zusammenfassende singularische bezeich-
nungen für mehrheiten. Da nun die auffassung einer masse als ein-
heit oder Vielheit so sehr vom subjectiven belieben des sprechenden
abhängt, so kann seine auffassung auch in widersprach geraten mit
derjenigen, welche durch die grammatische form des gewählten aus-
druckes angezeigt ist, und diese abweichung der subjectiven auffassung
documentiert sieh dadurch, dass sie statt des grammatischen numerus
die eongruenz bestimmt, was dann zum teil auch ab weichungen im
genus zu folge hat.
Der häufigste fall ist, dass auf ein singularisches collectivum ein
])lur. folgt. In unserer gegenwärtigen Schriftsprache, die ja überhaupt
sehr stark von grammatisch-logischer Schulung beeinflusst ist, ist diese
crscheinung sehr eingeschränkt. Aber noch im vorigen Jahrhundert ist
sie häufig wie im griech. und lat. und noch jetzt im engl. Vgl. ich habe
mich offenbaret deines vaters hause, da sie noch in Egypten waren (Lu.);
im vollen kreise des volks entsprungen, unter ihyien lebend (Herder); civi-
tati persuadet ut exirent (Caes.); ex eo numero, qui per eos amios con-
225
sules fuerunt (Cic); ängstlich im schlafe liegt das betäubte volk und
träumt von rettum/, träumt ihres ohnmächtigen Wunsches erfüllung (Goe.);
das junge paar hatte sich nach ihrer Verbindung nach engagement um-
gesehen (Goe.); the trhole nation seems to be running out of their wits
(Smollet); Israel aber zog aus in den streit und lagerten sich (Lu.); alle
moige deines hauses sollen sterben, wenn sie männer uorden sind (Lu.);
dass der resl von ihnen sich durch Libyen nach Cyrene retteten imd von
da in ihr Vaterland zurückkamen (Le.); the army of the queen mean to
besiege us (Sh.); pars saxa jactant (Plaut.); concursus populi, mirantium
quid rei esset (Liv.); o oxXoa ^&Qoia^tj, i^av^äC^orreq xal löelv ßovXo-
fisvoi (Xen.).
Bei manchen Wörtern wird die Verknüpfung mit dem plur. so
häufig, dass man sie selbst als pluraliseh aufftissen kann, ftills kein
formelles element auf den sing, deutet. Das ist z. b. der fall bei engl.
people leute. Die entwickelung kann noch weiter gehen, indem der
Widerspruch zwischen grammatischem und psychologischem numerus
dadurch ausgeglichen wird, dass ersterer sich dem letzteren accommo-
diert. 80 ist im ahd. Hute leute an stelle des Singulars Hut volk ge-
treten; ganz analog sind franz. ^^w.? (afranz. noah ja fure?it venu la gent),
it. ^mf« (daneben noch gente), spätlat.joo/>?<// (Appulejus, Augustinus),'
engl, folks. Im ags. bedeutet -tvam civitas, der plur. -wäre cives. Unser
die geschwister ist hervorgegangen aus dem collectivum das geschwisler,
welches noch im vorigen Jahrhundert üblich ist. Im got. gibt es ein col-
lectives neutrum fadrein im sinne von eitern. Dieses verbindet man
nicht nur mit dem plur. des prädicats, sondern setzt auch den artikel
dazu in den plur.: pai fadrein, fjans fadrein. Daneben erscheint es
dann auch in pluralischer form: ni skulun barna fadreinain huzdjan, ak
fadreina barnam.
Es geschieht auch umgekehrt, dass ein pluralischer ausdruck die
function eines Singulars erhält, indem die dadurch bezeichneten teile
zu einem einheitlichen ganzen zusammeugefasst werden. So sagt
man ein zehn mark\ engl, a two Shillings; sogar there's not another t/ro
such women (Warreu). Ferner mhd. ze einen pßngestm\ lat. una, bina
castra etc.; engl, if a gallo ws were on hmd\ there's some good nen-s (Sh.);
that cristal scaJes (Sh.). Schliesslich erhalten solche pluralia auch
singularisehe form. Wir gebrauchen jetzt die festbezeichnuugen ostern,
Pfingsten, n-eihnachten als singulare (eigentlich dative plur.). Unser buch
ist im got. pluralisch: bokos, eigentlich buchstaben; noch im ahd. wird
der pl. für ein buch gebraucht. Lat. castra wird zuweilen als singu-
larisches fem. gefasst. und bildet einen gen. castrae; entsprechend ist
festa in den romanischen sprachen zu einem sing. fem. geworden. Lat.
litierae im sinne von ,brief' wird zu it. lettera, franz. lettre; minaciae
Paul, Principien. II. Auflage. I5
226
zu '\i. minaccia, ix2L\iz. menace ; nuptiae zu franz. woce neben noces\ tene-
hrae zu span. Hniehla neben üniehlas.
Abstraet gebraucht ist das wort eigentlich keines Unterschiedes
der numeri fähig. Da aber der äusseren form nach ein numerus ge-
wählt werden muss, so ist es gleichgültig welcher. Die sätze der
mensch ist sterblich und die menschen sind sterblich sagen in abstracter
geltung das nämliche aus. Daher ist denn auch ein Wechsel der
numeri in den verschiedenen sprachen gewöhnlich. Otfrid macht die
Verbindung engilon joh manne. Ein pron., welches sich auf einen ab-
stracten ausdruck bezieht, steht zuweilen im plur.: nicht als ob in ihm
kein einziges punkt wäre, die hat er (Herder); ein echter deutscher jnann
mag keinen Franzen leiden, doch ihre weine trinkt er gern (Goe.); nobody
knows what is to lose a friend, til they have lost him (Fielding); mhd.
stver gesiht die mlnneclichen, dem muoz si wol behagen, daz si ir tugent
prisent ; jedes triftige beiwort, an denen er glücklich ist (Herder). Das
])räd. kann im plur. stehen: mhd. daz ieslicher recke in den satel saz
und ir schar schihfen; lat. ubi quisque vident, eunt obviatn (Plaut.); uter-
que sumus defessi (ib.); uter meruistis c%dpam (ib.); neuter ad me iretis
(ib.); it. come ogni uomo desinato ebbero; engl, neither of them are re-
markable (Blair). Die meisten indogermanischen sprachen haben zur
bezeichnung der allgemeinheit ein singularisches und ein pluralisches
pronomen neben einander {jeder — alle). Diese können leicht eins in
das andere übergehen. So findet sich schon im lat. neben omnes der
sg., z. b. milital omnis amans (Ov.); im it. ist der sg. ogni alleinherrschend
geworden. Im griech. stehen «//^porepocund uiKforfQoi neben einander.
Aus beide haben sich singularische formen herausgebildet. Häufig ist
das neutr. beides, vereinzelt schon mhd. Ebenfalls schon mhd. ist ze
beider sit, vgl. beiderseits. Im älteren nhd. kommen andere singula-
rische Verwendungen des Wortes vor: beider bautn (Mathesius), mit bei-
dem arm (Lohenstein), auf beyde weise (Le.). Umgekehrt ist der plur.
jede namentlich im vorigen Jahrhundert häufig (vgl. DWb. 4^, 2290).
Unanwendbar ist die kategoiie des numerus auch bei den reinen
Stoffbezeichnungen. Denn erst durch die berücksichtigung der
form entstehen Individualitäten, entsteht der gegensatz von einzel-
dingen und mehrheiten. Die stotf bezeichnungen werden daher meistens
nur im sing, gebraucht, welcher die nicht vorhandene numeruslose form
ersetzen muss. Es stellt sich aber sehr leicht ein Übergang her von
einer stoff bezeichnung zur bezeichnung für ein einzelding und umge-
kehrt, indem die individualisierende form leicht hinzu oder weg ge-
dacht werden kann, vgl. haar, gras, blute, frucht, kraut, körn, rinde,
tuch, gewatit, stein, wald, feld, ?viese, sumpf, heide, erde, land, brod,
kucheti etc. Hierher gehört auch huhn, schwein statt hühner/leisch,
227
Schweinefleisch, lat. lepoi-em et ffalUnam et ansei'em (Caes.); lat. fagum
atque abietem (Caes.) = buchen- und tannenholz. So erklärt sieli auch
der siug. in fällen wie der feind zieht heran; der Russe, {= das rus-
sische heer) kommt. Entsprechend gebraucht Livius die singulare Ro-
manus, Poenus, eques, pedes etc. und wagt sogar die Verbindung Hispani
milites et funditor Balearis. Bei Seneca findet sich sogar multo hoste.
Damit vgl. man mit wi/lkürlicher heliehuny des ganzen kaufmanns (Micrä-
lius) u. a. (vgl. DWb. 5, 337).
Der sing., wideruni in der function einer absoluten form, an der
die kategorie des numerus noch nicht ausgeprägt ist, steht im nhd.
von vielen Wörtern nach zahlen. Ihren ausgang hat diese construetions-
weise allerdings von solchen fällen genommen, in denen eine wirk-
liehe pluralform zu gründe liegt, die nur lautlich mit der singular-
form zusammengefallen ist, so bei mann — pfund, buch. Wenn aber
die altertümlichen formen sich gerade nach zahlen erhalten haben, und
ihrer analogie andere Wörter wie fuss, zoll, mark gefolgt sind, so muss
das besondere Ursachen haben. Das Sprachgefühl empfindet in den
altertümlichen Verbindungen so wenig wie in den analogisch naehge-
schaffenen eine pluralform. Es ist eben gerade nach einer zahl kein
bedürfniss zu einem besonderen ausdruck für die mehrheit, da die-
selbe schon hinlänglich durch die zahl gekennzeichent ist. So ist man
zu einer gegen den numerus gleichgültigen, zu einer absoluten form
gelangt, also wider zu einem Standpunkte, wie er vor der entstehung
des grammatischen numerus bestand.
Tempus.i)
Es sind verschiedene versuche gemacht die tempora der indo-
germanischen sprachen in ein logisches System zu bringen, wobei
es nicht ohne willkürliehkeit und spitzfindelei abgegangen ist. Man
muss sich auch hier davor hüten sich bei den logischen bestimmungen
von den vorliegenden grammatischen Verhältnissen und bei der be-
urteiluug der letzteren von rein logischen sonderungen abhängig zu
machen. Es findet keine volle congruenz der logischen und gramma-
tischen kategorieen statt.
Die kategorie des terapus beruht auf dem zeitlichen verhältniss,
in dem ein Vorgang zu einem bestimmten Zeitpunkt steht. Als solcher
kann zunächst der augenblick genommen werden, in dem sich der
sprechende befindet und so entsteht der unterschied zwischen Ver-
gangenheit, gegenwart und zukunft, welchem die grammatischen kate-
gorieen perfectum, präsens, futurum entsprechen. Ich seze das per-
') Vgl. zu diesem abschnitt Bnigiuaun, Ber. der phil.-liist. dass. der sächs.
gesellsch. d. Wissenschaften li>63, s. lt»9ff.
15*
228
feetum als den eigentlichen ausdruek für dieses verhältniss, nicht den
aorist, der allerdings auch in dieser fnnction vorkommt. Die gewöhn-
liche definiti^n, dass das perf. die vollendete, der aor. die vergangene
handlung bezeichne, ist eine blosse worterklärung, mit der sich kein
klarer begritt" verbinden lässt. Das charakteristische des perf. im
gegensatz zu aor. und imperf. liegt darin, dass es das verhältniss eines
Vorganges zur gegenwart ausdrückt.
Statt der gegenwart kann nun aber ein in der Vergangenheit
oder in der zukunft liegender punkt genommen werden, und zu diesem
ist dann wider in entsprechender weise ein dreifaches verhältniss mög-
lich. Es kann etwas gleichzeitig, vorangegangen oder bevorstehend
sein. Die gleichzeitigkeit mit einem punkte der Vergangenheit hat
ihren ausdruek im imperfectum gefunden, das ihm vorausgegangene
wird durch das plusquamperf. bezeichnet, für das in der Vergangen-
heit bevorstehende ist kein besonderes tempus geschaifen, man muss
sich mit Umschreibungen behelfen. Das einem punkte der zukunft
vorangegangene wird durch das fut. ex. bezeichent, das von diesem
aus bevorstehende kann nur durch Umschreibung ausgedrückt werden,
das gleichzeitige wird durch das einfache fut. gegeben. Bei diesem
Schema hat der aor. und das, was als ersatz für ihn in den einzelnen
sprachen eingetreten ist, noch keine stelle gefunden. Er ist das tempus
der erzählung, d. h. er bezeichnet einen in die Vergangenheit fallenden
Vorgang, aber nicht in seinem verhältniss zur gegenwart, sondern im
verhältniss zu einem andern, aber früheren punkte der Vergangenheit.
Hierbei aber wird der betreifende Vorgang nicht als noch bevorstehend,
sondern als schon erfolgt bezeichnet. Der Zeitpunkt, auf den man sich
stellt, wird immerfort gewechselt und nach vorwärts gerückt.
Was ich von dem verhältniss der wirklich vorliegenden tempora
zu den ideal zu construierenden gesagt habe, gilt uneingeschränkt nur
für den indicativ. Für Infinitiv und participium wird der Zeitpunkt,
nach dem man sich richtet, durch das verbum fiuitura, an welches sie
angeknüpft sind, bestimmt. Es reicht daher dreifaches tempus aus.
Dieselben tempora, die dazu dienen das verhältniss zu einem gegen-
wärtigen augeublicke auszudrücken, werden auch gebraucht, um das
verhältniss zu einem punkte der Vergangenheit oder der zukunft zu
bezeichnen.') Dies ist auch die Ursache, warum die participia in Ver-
bindung mit einem verb. fin. so gut geeignet sind die einer S])rache
mangelnden tempora zu ersetzen. Der imperativ ist seiner natur nach
immer futurisch, desgleichen der eonj. und opt, soweit sie bezeichnen
dass etwas geschehen soll oder gewünscht wird.
') Vgl. Brugmann a. a. o. s. 174.
229
Bevor gTammatisclie tenipura aiiBj^ebildet waren, musste an ihrer
stelle ein und dieselbe form funetionieren und das tempusverhältniss
musste entweder durch besondere Wörter angedeutet oder aus der
Situation errfiten werden. Eine besondere gegen den tempusunter-
schied gleichgültige form liegt nicht mehr vor. Aber die function
einer solchen versieht zum teil das präseus als das am wenigsten
charakteristische tempus neben der eigentlich präsentischen. Wir
können uns danach eine Vorstellung von den Verhältnissen machen,
wie sie vor der ausbildung der grammatischen tempora bestanden.
Als absolutes tempus fungiert das präs. zunächst in allen ab-
stracten Sätzen (vgl. s. 103). Ein satz wie der äffe ist ein Säugetier
erstreckt sieh auf Vergangenheit und zukunft ebenso wie auf die gegen-
wart. Ist dem abstracten satze ein anderer untergeordnet, so kann die
handlung desselben der des hauptsatzes zeitlich vorangehend gedacht
und daher das perf. gesetzt werden: wenn das pferd gestohlen ist,
bessert der hauer den stall. Dem abstracten satze ist also zwar der
tempusunterschied überhaupt nicht fremd, wol aber die fixierung eines
ausgangspunktes.
Der concret-abstracte satz (vgl. s. 103) hat das mit dem rein-
abstracten gemein, dass kein bestimmter einzelner Zeitpunkt mass-
gebend ist, dass er vielmehr für eine anzahl verschiedener Zeitpunkte
gilt, weshalb in ihm das präsens gleichfalls Vergangenheit und zukunft
in sich schliesst. Seine zeit ist aber doch keine absolute, Sie ist
vor- und rückwärts in bestimmte grenzen eingeschlossen, und es können
innerhalb dieser grenzen Unterbrechungen stattfinden. Es können auch
sämmtliche Zeitpunkte in die Vergangenheit oder zukunft fallen, daher
kann auch das imperfectum oder perfectum und das futurum stehen.
Im eoncreten satze fungiert das präs, in sehr vielen sprachen
statt des futurums. So namentlich, wenn durch irgend ein anderes
wort genügend bezeichent ist, dass es sich um ein zukünftiges ge-
schehen handelt, vgl. ich reise morgen ah, das nächstens erscheinende
buch; aber auch sonst, wo die Situation kein missverständniss zulässt.
Es überträgt sich ferner der futurische Charakter des hauptsatzes auf
den nebensatz, so das^s präs. und perf. futurischeu sinn erhalten, vgl.
wenn er koimnt, werde ich dich rufen; wenn ich die arbeit beendigt habe,
werde ich es dir sagen. Umgekehrt findet sich im griech. präs. des
hauptsatzes nach fut. des nebensatzes, vgl. d avrt] /] jröXiq h](p&rioe-
rcu, eytrai xa\ 7) jiäoa 2iixtX\a (Eur.).') Im ahd, wird das präs, auch
ohne jede sonstige Unterstützung futurisch verwendet.
Eine Verwendung des präs. statt des prät. ist uns nicht geläufig,
^) Vgl.Bmgmaun a. a, 0. s. 170.
230
abgesehen vom präs. bist., bei dem doch wol eine wirkliehe verriickung
des Standpunktes in der phantasie anzunehmen ist. Im sanskr. aber
findet sich ])ura , im griech. jrapoc mit dem präs. im sinne des prät, vgl.
jictQoq yt filv ov ri &^aftiL,it^ = , früher kamst du nicht häufig" (Hom.)')
Es gibt ferner fälle, in denen das präs. sich zugleich auf Ver-
gangenheit und gegen wart bezieht; vgl. ich weiss (ins schon latu/e = ich
weiss es jetzt und habe es schon lange gewusst; er ist seit 20 jähren
verheiratet'^ so lange ich ihn kenne, habe ich das noch nie an ihm be-
merkt\ seitdem er in Rom ist, hat er mir sticht geschrieben.
Das relative zeitverhältniss zweier in die Vergangenheit oder in
die Zukunft fallenden Vorgänge bleibt vielfach unbezeielinet. Wir sagen
als ich ihn erreichte neben erreicht hatte, wenn ich ihn finde neben ge-
funden habe. Im griech. steht bekanntlich in nebensätzen der aor. statt
des lat. plusquamp., im lat. selbst nach postquatn das perf; im mhd.
steht ganz gewöhnlich das einfache prät, wo wir jetzt die Umschrei-
bung auNvenden, welche das plusq. ersetzen muss. Diese ungenauere
Verwendung der tempora ist die altertümlichere. Das plusquamp. ist
erst eine secundäre Itildung. Noch gewöhnlicher wird das relative
zeitverhältniss beim pari vernachlässigt, wobei zum teil der mangel
der eigentlich erforderliehen formen mitwirkt. Vgl. in Zug a7is land
steigend, kehrten wir im ochsen ein (Goe., weitere beispiele bei Andr.
Sprachg. 112); haec Maurus secum ipse diu volvens landem promittit
(Sali., vgl. weitere beispiele bei Draeg. § 572). Umgekehrt erscheint
im lat. das part. perf mit präsentischer bedeutung: moritur uxore gra-
vida relicta (Liv., vgl. Draeg. § 582). Das part. auf -ndus wird nicht
nur futurisch, sondern in selteneren fällen auch präsentisch verwendet:
volvenda dies, volvendis mensibus (Virg.); alicnos fundos signis inferendis
pelebat (Cic); nee vero superstifione tollenda religio tollitur (Cic, vgl. Draeg.
§ 599). Das deutsche part. präs. vereinigt präsentische und perfectische
bedeutung, vgl. z. b. der noch immer betrauerte., früh verstorbene vater.
Für die bedeutung der grammatischen tempora können noch
manche momente secundärer natur in betracht kommen. Da z. b. ein
stattgehabter Vorgang ein resultat zu hinterlassen pfiegi, so kann bei
der angäbe, dass ein Vorgang stattgehabt hat, das nachgebliebene
resultat mitverstanden werden, und dieses eigentlich nur accidentielle
in der bedeutung kann zur hauptsache werden. Indem aber das
resultat als die eigentliche bedeutung angesehen wird, muss die be-
deutung des perf als präsentisch erscheinen. Untergang des eigent-
lichen präs. führt dann zu dem, was man in der deutschen grammatik
präteritopräsens nennt.
>) Vgl. ib. s. 170 ff.
231
In dem nämlichen logischen verhältniss, wie das präs. zu dem
das resultat bezeichnenden perf. steht, können auch verschiedene verba
zu einander stehen, vgl. treten — stehen, fallen — liegen, verstummen
— schweigen, erwachen — wachen, entbrennen — brennen, sich setzen
— sitzen etc. Während hier das geraten in einen zustand und das
sichbetindeu in demselben durch zwei verschiedene sprachliche aus-
drücke widergegeben wird, gibt es auch fälle, in denen das gleiche
verb. beides bezeichnen kann. Im mhd. können sitzen, stän, ligen^
swigen den sinn von sich setzen, treten, sich legen oder fallen, ver-
stummen haben; vgl. nhd. aufsitzen, aufstehn, absteht etc. und den
Jetzigen oberdeutschen gebrauch von sitzen. In folge davon können
mhd. ich hin gesezzen und ich sitze gleichbedeutend sein. Entsprechend
ist es, wenn im griech. g)evy(o bedeuten kann ,ich bin verbannt", ddixcö
„ich bin im unrecht". Hierher gehört es auch, wenn Vorgänge, die der
Vergangenheit angehören, deshalb durch ein präsens bezeichnet werden,
weil ihre Wirkung fortdauert, vgl. er lässt dich grüssen\ der herr schickt
mich; ich höre, dass er zurückgekehrt ist; er schreibt mir, dass alles r/ut
steht etc. So gebraucht man im griech. ctxovco, jivv{^ävoficu, alöd^ävo-
(lai, (lavO^dvo) u. dergl., und entsprechend verfahren andere sprachen.
Wir haben schon oben s. 228 gesehen, dass die modalen und
temporalen Verhältnisse nicht unabhängig von einander sind. Da es
für den imperativ charakteristisch ist, dass er einen in die zukunft
fallenden Vorgang bezeichent, so begreift es sich, dass das fut. mit
hülfe der Situation und des tonfalles Imperativisch verstanden werden
kann, vgl. du wirst das sofort tun. Ebenso kann das fut. optativisch
werden, vgl. sie me di amabunt, ut me tuarum miseritumst fortunarum
(Ter.). In den frageaufforderungssätzen (vgl. s. 109) fungieren conj.
und fut. in der gleichen weise, vgl. lat. quid faciatnus mit griech. xl
jtoirjOo/iev. Sogar als potentialis kann das fut. gebraucht werden, vgl.
das wird sich so verhalten; entsprechend in der lat. Volkssprache, z. b.
haec erit bono gener e natu (Plaut), vgl. Draeg. § 136; über den näm-
lichen gebrauch in den romanischen sprachen vgl. Diez III, 282 ; Mätzn.
franz. s. 72, 3. 4. 75, 2. Man kann an zwei verschiedene erklärungen
tür diese erscheinuug denken. Erstens : da alles in die zukunft fallende
etwas unsicheres ist, so könnte die bedeutung des fut. sich so ent-
wickelt haben, dass nur das moment der Unsicherheit übrig geblieben
wäre. Zweitens aber könnten wir einen satz wie er wird zu hause
sein auffassen als ,es wird sich heraustellen, dass er zu hause ist".
Ein prät. zu diesem potentialen fut. ist der französische conditionel.
Derselbe bezeichent ursprünglich den von einem Zeitpunkte der Ver-
gangenheit aus zukünftigen Vorgang, wie z. b. noch in dem satze nous
convinmes que nous partirions le lendemain. Als eigentlicher conditionel
232
kaun er fiiturischen sinn haben, mnss es aber nicht. Auch im deut-
schen gebrauchen wir entsprechend futurische Umschreibung, die nicht
notwendig futurischen sinn hat, aber im conj.: ich würde zufrieden sein.
Wie das fut. in eine modale bedeutung übergeführt worden ist, so ist
umgekehrt im lat. der conj. zum fut. geworden.
Genus des verbums.
Während die tempora und die modi an und für sich nichts syn-
taktisches sind und nur durch die beziehung auf einander, also erst
im zusammengesetzten satz zum ausdruck syntaktischer Verhältnisse
werden, ist der unterschied zwischen activum und passiv um von
hause aus syntaktischer natur, indem dadurch nichts anderes als ein
verschiedenes verhältniss des prädicatsverbums zum subj. ausgedrückt
wird. Was neben dem act. object ist, wird neben dem pass. subject.
Die anwendung des passivums ermöglicht es daher ein psychologisches
subject, welches sonst die grammatische form des objectes annehmen
mtisste, auch zum grammatischen subj. zu machen, und dies ist ein
hauptgrund für den gebrauch der passivischen construction. Im un-
persönlichen satze ist es an und für sich einerlei, ob man das act.
oder das pass. setzt. Der Sprachgebrauch hat sich so geregelt dass
diejenigen verba, die normaler weise persönlich construiert werden,
wenn sie ausnahmsweise unpersönlich gebraucht werden, in das passi-
vum gesetzt werden {es wird gesungen, getanzt etc.), während bei den
normaler weise unpersönlichen verben das einfachere activum gesetzt
wird {es regnet, es taut etc.). Es kommen aber bertthrungen zwischen
activer und passiver construction vor, vgl. der wald rauscht — es rauscht,
das haus brennt — es brennt. In den altnordischen sagas findet sich
sehr häufig in den einleituugen zu einem abschnitte die formel her
segir hier sagt es = hier wird gehandelt. Im mittellateinischen ist
dicit gleich einem dicilur der klassischen zeit. In einer Überschrift
des althochdeutschen Isidor heisst es hear quidit umbi dhea bauhnunga
= hier wird gehandelt von der vorbildlichen darstellung; ähnliches
auch sonst. Entsprechend ist im altnordischen der gebrauch von skal
in dem sinne ^man soll (wird)" und anderes.
Der gegensatz zwischen act. und pass. konnte sich erst heraus-
bilden, nachdem die Scheidung zwischen subject und object sich voll-
zogen hatte. Vorher musste jedenfalls die einfache uebeneinander-
stellung von subj. und präd. sowol das passive wie das active ver-
hältniss l)ezeichneu. Den Wechsel zwischen activer und passiver be-
deutung können wir noch an den nominalformen des verbums beob-
achten, die in ihrer bildungsweise nichts an sich haben, was auf die
eine oder die andere hinweist.
233
Das part. präs. erscheint im früheren niul. öfters in passivem sinne,
vgl. seine dabei hegende verräterische absieht (Thiimniel), dem in petto
habenden gedieht (Schi.).') Besonders häufig' ist vorhabende reise u.dgl.
Im engl, sagt man the horses are putting io die pferde werden ange-
spannt, the casinos are ßliing etc.'-) Diese passivische Verwendung
ist genau so aufzufassen wie die oben s. 130 besprochene freie an-
knüpfung des participiums.
Bei unserem sogenannten part. perf. zeigt es sich sehr deutlich,
dass der unterschied zwischen aetivum und passivum nicht etwas schon
der bildung an sich anhaftendes sein kann, da Ja die participia der
transitiven verba passivisch, die der intransitiven zum teil activisch
gebraucht werden. Auch diese schranke bleibt nicht vollkommen ge-
wahrt. Es entstehen Wendungen wie das den grafen befallene unglück
(Goe.), des den erwartungen nicht entsprochenen aufenthalts (Gutzkow);
stattgefunden, stattgehabt sind ziemlich allgemein.'^) Namentlich aber
sind eine anzahl participia transitiver verba in activer bedeutung zu
reinen adjectiven geworden, vgl. erfahren, verdient, geschworen, gereist,
gelernt, studiert u. a.
Im lat. haftet den participien auf -endus, -undus der passivische
sinn ursprünglich nicht notwendig an, vgl. oriundns, dem sich bei
älteren Schriftstellern noch andere wie pereundus untergehend, placen-
dus gefallend etc. an die seite stellen. Aehnliche beobachtungeu lassen
sich noch weiter im lat. wie in anderen sprachen machen.
Dem inf ist ursprünglich so gut wie dem nom. actionis der ver-
bale genusunterschied fremd. Etwas von genuscharakter erhält er
zunächst einerseits dadurch, dass ein objectscasus von ihm abhängig
gemacht wird, anderseits dadurch, dass er auf das subj. des regierenden
verbums mitbezogen wird {er kann lesen); ferner auf ein anderes in
dem satze enthaltenes wort, zu welchem er in keinem directen gram-
matischen verhältniss steht [tjefehlen steht ihm übel an, durch fliehen
kann er sich retten etc.). Eine solche beziehung ist an sich nicht durch-
aus nötig. Sie findet z. b. nicht statt in einem satze wie er tjefiehll zu
sehn- eigen oder not lehrt beten. Hier ist der inf im gründe weder
activ noch passiv, sondern genuslos. Im gotischen steht nicht selten
der einfache inf. an stelle des griechischen inf pass. in fällen, wo auch
wir jetzt den umschriebenen passivischen inf. anwenden, z. b. warf) f>an
gaswiltan pamma unledin jah briggan fram aggilum = tyivtro de ajio-
d^avBiv TOP jcTco/ov xal dvtvtx^^jJ^c^t vjto rcov ayyiXcov.*) Es wird
') Vgl. Grimm gr. IV, 66. Andr. Sprg. 82.
2) Vgl. Mätzner II, s. 56.
3) Vgl. Andr. spr. s. 83 tf.
*) Vgl. Gram. IV, 57flf.
234
(lies unter berlicksiehtigiing der urspriinglieh neutralen natur des Infinitivs
üanz begreiflich. Andererseits aber begreift es sich auch, wie das be-
dUrfniss in den einzelnen indogermanischen sprachen allmählig zur
Schöpfung eines passiven Infinitivs führen musste. Am meisten bedlirfniss
zur Verwendung eines solchen war natürlich in denjenigen sprachen, in
denen sich der acc. zum subjectscasus des infinitivs herausgebildet hat.
Ein grammatisches passivum besteht nur da, wo dasselbe aus
dem gleichen stamme wie das activum gebildet und von demselben
durch eine besondere formationsweise geschieden ist. Annähernd ana-
log dem verhältniss von pass. zu aet. ist das verhältniss eines intran-
sitivums zu dem entsprechenden causativum, vgl. fallen — fällen^ hangen
— hängen und die nicht aus der nämlichen wurzel entsprungenen
paare n^erden — machen, sterben — tödlen, {hin) fallen — {hin)werfen.
Doch besteht der unterschied, dass bei dem intransitivum nicht so nor-
maler weise wie beim pass, an eine wirkende Ursache gedacht wird.
Dieser unterschied ist aber leicht verwischbar. Man sagt im griech.
djto9^v7jOxeiv vji6 rivoq. Im lat. wird fio im präs. vollständig als pass.
zu facio verwendet. So begreifen sich auch nur die Umschreibungen
für das pass. durch werden und sein. Anderseits zeigen uns die so-
genanten depouentia den Übergang vom passivum ins activum. Die-
selben als eine besondere kategorie gegenüber dem eigentlichen pas-
sivum, respective medium aufzustellen kann noch nicht der umstand
berechtigen, dass sie in einer fremden spräche* durch das act. über-
setzt werden. Dagegen fällt ins gewicht der gänzliche verlust des
ursprünglich dazu gehörigen activums und noch entscheidender eine
sonst nur dem activum zukommende constructionsweise, so namentlich
die Verbindung mit einem objectsaccusativ.
Eine der gewöhnlichsten entstehungsweisen des passivums ist die
aus dem medium, welches seinerseits aus der composition des acti-
vums mit dem reflexivpron. entstanden sein kann. Der eigentliche
hergang ist dabei der, dass aus dem bedeutungsinhalt des mediums
ein moment schwindet. Im medium liegt zugleich das ausgehen von
dem subjecte und das übergehen auf dasselbe, im passivum nur das
letztere. Bei vielen retiexiveu Verbindungen im nhd. ist gleichfalls das
bevvusstsein von einer tätigkeit des subj. geschwunden, sie nähern sich
aber mehr dem einfachen intransitivum vermöge der zwischen diesem
und dem pass. bestehenden Verwandtschaft; vgl. sich regen, ausdehnen^
drehen, /eilen; sich freuen, schämen, verwundern, irren etc. Noch mehr
ist jede active Wirkung des subjeets ausgeschlossen bei sich finden, be-
finden, in Wendungen wie das lässt sich hören, es lässt sich da gut leben,
das hört sich gut an., hier tanzt es sich sehr leicht.
Cap. XVI.
Verschiebung der syntaktischen gliederung.
Wir haben schon in cap. 6 gesehen, dass die gliederung eines
Satzes, die art und weise, wie man seine bestandteile zu engeren und
weiteren gruppen zusammenfasst, etwas leicht verschiebbares ist. Es
ist dort auch bereits angedeutet, dass geradezu ein gegeusatz zwischen
dem psj^chologi sehen (logischen) verhältniss der Satzbestandteile
unter einander und ihrem rein grammatischen verhältniss entstehen
kann. Die syntaktischen formen wie die casus etc. sind zunächst für
bestimmte Satzteile wie subj., obj.. bestimmung eines substantivums etc.
geschaffen. Sie bezeichnen aber zugleich ein bestimmteres verhältniss,
als es die blosse aneinanderreihung der Wörter vermag. Indem nun
die mittel zu einer solchen bestimmteren bezeichnung verwertet werden,
zugleich aber die alte, nie ganz zu vernichtende freiheit in der Ver-
knüpfung der begritfe waltet, entsteht ein Widerspruch, aus welchem
sich dann, wenn er usuell wird, neue constructionsweisen entwickeln.
Die abweichung von der äusseren grammatischen form besteht dabei
teils in einer anderen Zusammenfassung und trennung der einzelnen
demente, teils in einer anderen psychologischen anordnung derselben,
wodurch subj., präd., obj. etc. ihre rollen tauschen.
Zweigliedrigkeit ist. wie wir gesehen haben, die urform des
Satzes. Auch die inhaltsreichsten sätze können zweigliedrig bleiben,
indem alle bereicherung in einer erweiterung der beiden glieder be-
steht. Die bestimmungen des prädicats, näheres und ferneres object,
orts-, zeit- und modalbestimmungen können aber auch den wert von
selbständigen gliedern erlangen, so dass eine vielgliedrigkeit ent-
steht. Umgekehrt kann nun aber aus dieser vielgliedrigkeit wider
eine einfache gliederung entstehen, indem mehrere glieder zu einem
zusammengefasst werden ohne rücksicht auf diejenige gliederung,
welche die historische entwickelung der betreffenden satzform ver-
langen würde. Bezeichnen wir das subj. mit a, das präd. mit b,- die
bestimmungen des letzteren mit giiechischen buchstaben, die einzelnen
gruppen durch klammern, so hätten wir als grundschema (a)(ba^/d)
236
niid (laueben {si){h){a)iß){y){6). Daraus können sich dann Schemata
entwickeln wie {a.ha.-}y)(ö) oder (ab«/:?f3)(7) etc. oder auch (a)(ba/9/)((^),
(a)(b«,W)(7) etc. und noch andere. Das durchbrechen der ursprünglichen
gliederung kann dann sogar noch weiter gehen, indem auch bestimm-
ungen des subj. von demselben losgelöst und mit anderen dementen
verbunden werden, ebenso des objects etc.
Vielgliedrigkeit des satzes in folge von annähernder gleichwertig-
keit der einzelnen demente findet sich besonders bei ruhiger, zusammen-
hängender darstdlung. Die gewöhnliche Unterhaltung neigt immer zu
zwei- oder dreigliedrigkeit.
Am schärfsten von den übrigen gliedern des satzes sondert sich
zunächst das psychologische präd. ab als das wichtigste, dessen mit-
teiluug der endzweck des satzes ist, auf welches daher der stärkste
ton fällt. Der satz A'arl fäh7't morgen nach Berlin kann als viergliedrig
aufgefasst werden, wenn er ohne irgend welche Vorbereitung des
hörers ausgesprochen wird, so dass diesem die verschiedenen bestand-
teile desselben gleich neu sind. Wir können dann auch sagen: es
werden drei verschiedene prädicate zu dem subj. Karl gesetzt; oder
richtiger vielleicht noch: zum subj. Aar/ tritt das ^xiad. fährt, zu dem
subj. harl fährt das präd. morgen, zu dem subj. Karl fährt morgen das
präd. nach Berlin. Hierbei wird zwar naturgemäss die letzte bestimmung
etwas stärker hervorgehoben als die übrigen, aber doch nur um ein
geringes. Dagegen bei bestimmter, dem sprechenden bekannter dispo-
sition des angeredeten kann jedes der vier glieder scharf abgehobenes
präd. werden. Ist schon von einer reise die rede gewesen, die Karl
morgen macht, und nur noch das ziel unbekannt, so ist nach Berlin
präd. Wir könnten uns dann auch ausdrücken: das ziel der reise, die
Karl morgen macht, ist Berlin. Ist schon von einer bevorstehenden
reise Karls nach Berlin die rede gewesen und nur noch die zeit unbe-
stimmt, so ist morgen präd., und wir könnten dann auch sagen: die
fahrt Karls nach Berlin findet morgen statt. Ist l>ekannt, das Karl
morgen nach Berlin reist und nur noch nicht, ob er dahin geht oder
fährt, so liegt das präd. in fährt; wir können aber doch nicht eigent-
lich sagen, dass fährt psychologisches präd. sei in Übereinstimmung mit
der grammatischen form, vielmehr ist es gewissermassen in zwei be-
standteile zu zerlegen, ein allgemeines verb. der bewegung und eine
bestimmung dazu, welche die art der bewegung bezeichnet, und nur
die letztere ist präd. Ist endlich bekannt, dass morgen jemand nach
Berlin fährt und besteht nur noch ein zweifd in bezug auf die person,
so ist das grammatische subj. Karl psychologisches präd., und wir
könnten dann auch sagen: derjenige, der morgen nach Berlin fährt,
ist Karl.
237
Dem psychologischen prädicate gegenüber können die übrigen
bestandteile des satzes zusammen als subj. gefasst werden, wie sich
schon aus dem angeführten beispiele ergibt. Es kann sich aber auch
ein einzelner bestandteil besonders als subj. herausheben, welcher dann
dem prädicate an Wichtigkeit und demgemäss auch an tonstärke am
nächsten steht. Die übrigen bestandteile erscheinen dann als biude-
glieder, welche die Verknüpfung von snbject und präd. vermitteln und
die verknüpfungsweise näher bestimmen. So ist nach psychologischer
analyse in dem satze Marie hat Zahnschmerzen nicht hat, sondern Zahn-
schmerzen präd., hat nur bindeglied: in dem satze Fritz pflegt sehr
schnell zu gehen ist sehr schnell präd., pflegt zu gehen bindeglied; in
dem satze er gehährdete sich wie ein besessener ist /rie eiii besessener
präd., gebährdete sich bindeglied.
Jedes Satzglied, in welcher grammatischen form es auch er-
scheinen mag, kann, psychologisch betrachtet, subject oder prädicat
oder bindeglied sein, respective ein teil davon. Subject und prädicat
können dabei ausser durch die betonung durch die Stellung markiert
werden. Tritt im deutscheu statt der normalen Voranstellung des
grammatischen subjectes voraustelluug eines anderen Satzteiles ein, so
ist dieser entweder logisches subject oder logisches prädicat, ersteres
häufiger als letzteres. Im letzteren falle ist dieser teil des satzes zu-
gleich der stärkstbetonte, im ersteren nicht. Die ansieht, der mau
öfter begegnet, dass die voranstellung immer dazu diene den be-
treuenden teil des satzes über alle andern hervorzuheben, ist daher
verkehrt.
Regelmässig psychologisches subj. oder teil desselben ist ein au
den anfang gestelltes rückweisendes demonstrativum. Denn eben
weil es zurückweist, verti-itt es diejenige Vorstellung, von der in der
seele des sprechenden und des angeredeten ausgegangen wird, woran
das weitere als etwas neues angeknüpft wird. Vgl. ich traf einen
knaben , den fragte ich ; — dem sagte ich ; — bei dem erkundigte ich
mich ; — darüber war ich erfreut. Oder ich ging nach hause, da fand ich
einen brief\ ich sah ihn am sonntag zum letzten male, damals sagte er
mir. Oder Fritz war gestern bei mir\ diesen menschen möchte ich immer
zum hause hinaus werfen\ aber ich tnuss rilcksicht auf seine familie
nehtnen; aus diesem gründe kann ich es nicht. Ebenso ist das rela-
tiv um regelmässig psychologisches subject. Das fragepronomen
dagegen ist regelmässig prädicat oder teil desselben. Für die unbe-
stimmte fassung desselben substituiert dann die antwort eine bestimmte.
Wenn daher Cic. sagt quam utiUtatem aut quem fructum petentes scire
cupimus illa'! oder tu vero quibus rebus gestis, quo hoste super ato con-
tionem convocare ausus es? so liegt hier das psychologische prädicat
238
uicbt im verb. finitum, sondern vielmehr im participium und dem, was
dazu gehört. Stets psychologisches präd. ist ferner derjenige satzteil,
dessen Verknüpfung mit den übrigen durch eine negationspartikel
zurückgewiesen wird. Vgl. nicht ihn habe ich gerufen = der, den ich
gerufen babe, ist nicht er; nicht ihm habe ich das geld gegeben -= der,
dem ich das geld gegeben habe, ist nicht er; nicht für ih7i war ich besorgt
= der, für den ich besorgt war, ist nicht er. Die negatiou gehört
daher zwar nicht immer zum grammatischen, aber stets zum psycho-
logischen })räd., oder richtiger sie bezieht sich immer auf die Ver-
knüpfung des psychologischen subjects mit dem psychologischen prädi-
cate. Prädicat ist dann natürlich auch der mit dem negierten satzteil
in parallele gestellte gegensatz, vgl. nicht am morgen, sondern am mittag
will ich verreisen. Ferner jeder durch ein nur, allein, ausschliesslich
u. dergl. hervorgehobene satzteil; denn dafür kann mau auch ein nicht
ein anderer {ein anderes), sondern einsetzen. Auch besonders, vor allem,
am meisten u. dergl. kennzeichnen das präd.
Der Widerspruch zwischen grammatischem und psychologischem
präd. lässt sich durch eine umständlichere ausdrucksweise ver-
meiden, von der in manchen sprachen reichlicher gebrauch gemacht
wird. Vgl. Christen sind es, die das getan haben oder voji denen man
das verlangt \ engl, 't is thou that robbst me of my lord\ franz. c'est moi
qui etc. — franz. c'est a vous que je m'adresse\ engl, it is to you, young
people , that I speak. — ivas ihn am meisten ärgerte, war ihre gleich-
gültigkeif, engl. ?vhat I most prize in woman, is her affections, not her
intellect.
Ein mittel, welches im deutschen angewendet wird um das, was
sonst grammatisches präd. werden müsste. zum subj. zu machen, ist
die Umschreibung mit tun, vgl, verbieten tut es niemand.
In vielen sprachen findet sich eine interessante ausgleichung
des widersi)ruches zwischen grammatischem und psychologischem sub-
ject, nämlich in der weise, dass das psychologische subj. im nom., also
in der form des grammatischen subjects vorantritt und dann noch ein-
mal durch ein pron. wider aufgenommen wird, dessen form sich nach
dem rein grammatischem verhältniss bestimmt. Vgl. ein eichkranz,
ewig jung belaubt, den setzt die nachweit ihm aufs haupt (Goe.); franz.
celte confiance, il l'avait exprime; it. gli amici vostri non gli conosco;
mhd. rüema-re unde lügencere, stvä die sm, den verblute ich minen sanc\
Span, claro e virtuoso principe, tanto esta sciencia le plugo\ griech. txtl-
vog dh ov dcocco avzm ovöev, mhd. die Hiunen durch ir haz der garte
sich zwei tüsenf, franz. tous ces crimes d'etat qu'on fait pour la cou-
ronne, le ciel nous en absout; it. quelli che hanno costiluita una repub-
lica, tra le cose ordinale da loro e stato (Machiavelli); griech. to (itjÖev
239
ctxorra. riva e$.a:!iaTi]6ai ^eya fiegoc eis tovto ?) xcov ;(()?;i«aTcor xrrjoiq
§vf4ß(xXXfTai (Plato), ach, der heiligste von iinsern trieben, wanmi quillt
aus ihm die grimme prin? (Schi.). Das possesivpron. vertritt dabei die
stelle eines genitivs: mhd. Parziväl der valschheitstvant sin iriu/re in
lerle\ engl, 't is certain, that every man that dies Hl, the Hl is upon is
own head (John 4, 1); span. la vi IIa si7i regidores, su triunfo sera breve;
franz. les soudans, qu'a genoux cet univers contemple, leurs usages, leurs
droits ne sonl point mon exemple (Voltaire). Eine ähnliche erscheinung
ist es, wenn ein attribut zum psychologischen subj. im nom, erscheint,
vgl. griech. diaoxojimr xa) diaXtyöfiivoj: cwtcö sdo^ä fioi ovroc 6 av7jQ
(Plato); eöo^ev avrolc ajioxxtlvai rovg MvreXrjvaiovq EOtLxaXovvxtq ri)v
ajroöTaOir (Thuc); jra^hovoa ovrco dsiva JtQoq xcöv (piXtarwi' ovöelg
vji£Q fiov Öcufiövojv fit/vitrai (Aesch.); franz. depuis deux jours, Fatime,
absent de ce palais, enfin son tendre amour le rend a mes souhaits
(Voltaire).
Eine noch v^eiter gehende ausgleichung des v^iderspruchs besteht
darin, dass das psychologische subj. geradezu die form des gramma-
tischen erhält, also in den nom. tritt. Am Rhein sagt man nach Audr.
Spr. 80 es gehen dies jähr nicht viele äpfel. Ebenso wird der nom. ge-
braucht nach Hildebrand, DWb. 4, la, 1404 in Strassburg, im Oster-
lande, in Thüringen und Hessen. Aus der literatur führt Andr. an:
es gibt nichts lächerlicheres als ein verliebter mann (Börne). Schon
Goethe (j. G. II, 465) sagt: müssen es hier menschen geben und Herder:
giebts aber keine andere empfindbarkeit zu tränen als körperlicher schmerz?
Im letzten falle ist also wenigstens die vergleichung so behandelt, als
gehöre sie zu einem grammatischen subjecte.
Adverbiale bestimmungeu, die gewöhnlich, wie schon der
name zeigt, einfach zum prädicatsverbum gezogen werden, spielen in
Wirklichkeit sehr verschiedene rollen im Satzgefüge. Einerseits sind
sie wirklich bestimmungeu des verbums, vgl. Karl ist langsam, das kind
zappelt mit händen und füssen. Liegt dann in der adverbialen be-
stimmung das eigentlich wertvolle der mitteiluug, so kann es als prä-
dicat, das verbum als bindeglied zwischen ihm und dem subj. gefasst
werden. Die gliederung kann aber auch die sein, dass das adv. eine
bestimmung für die Verbindung der übrigen glieder des satzes ist.
Eine scharfe grenze zwischen dieser und der erstbezeichueten gliede-
rung gibt es nicht. Hierher kann man alle temporalen, localeu und
causalen bestimmungeu ziehen. Dieselben sind dann den übrigen be-
standteilen des satzes gegenüber gewöhnlich psychologisches subject,
zuweilen auch prädicat, vgl. morgen abend will ich dich besuchen, auf
dem tische liegen zwei bücher\ die bücher liegen nicht auf dem tische,
sondern in dem kästen. Doch wird hier überall das verbum deraiüg
240
untergeordnet, dass man es auch als bindeglied fassen kann. Dagegen
gibt es gewisse falle, in denen das adv. nur als präd. gefasst werden
kann, welches einem sonst schon in sich geschlossenen satze beigelegt
wird. Hierher gehören alle bezeichnungen für die modalität der aus-
sage, wie gewiss, sicherlich, wahrlich, jedenfalls, wahrscheinlich, wohl,
vielleicht , schwerlich, kaum. Er wird gewiss kommen ist = es ist ge-
wiss, dass er kommen trird. Hierher gehören ferner leider, vorkommen-
den falls, andernfalls , sonst, U7iter diesen umständen, unter dieser be-
dingmig, bei so bewandter sache u. dergl.; törichterweise und alle übrigen
bilduugen mit -treise, die sich eben dadurch von den einfachen ad-
verbien töricht etc. unterscheiden; diese gehen auf das prädicat, jene
auf die beziehung zwischen subj. und präd. Indem das logische ver-
hältniss auch grammatisch deutlich ausgeprägt ist, sind ausdrucks-
formen entstanden wie kaum, dass er mich ansieht; vielleicht, dass eine
träne dann von seinem äuge fällt (so häufig im vorigen Jahrhundert);
glücklicherweise , dass die yemälde so hoch stehen (Goe.). Stehen Ver-
sicherungen isoliert voran, z.h. gewiss, er wird es tun, so sind sie
deutlich prädicate zu den nachfolgenden selbständig hingestellten
Sätzen.
In sprachen von geringer formeller ausbildung ist der wider-
sjn'uch zwischen psychologischem und grammatischem subject oder
prädicat viel seltener; denn die veranlassung dazu ist ja eben die aus-
bildung mannigfaltiger besonderer ausdrucksformen für die verschie-
denen logischen Verhältnisse der begrifte zu einander. Die eigentüm-
lichen, uns sehr fremdartig berührenden ausdrucksformen des Daja-
kischen, die Steinthal, Typen s. 172, 3 anführt, scheinen mir wesent-
lich darauf zu beruhen, dass das psychologische subject oder prädicat
auch zum grammatischen gemacht wird, wobei entweder das erstere
oder das letztere an die spitze tritt, und dass dann auch diese beiden
hani)tglieder, wenn sie selbst schon zusammengesetzt sind, wider nach
dem nämlichen principe gegliedert werden. \^gl. namentlich nach Steiu-
thals Übersetzung fjoot dieses boot seiner wähl = dieses boot hat er
ausgewählt; zeuge zwei diese welches deine begierde = welches von
diesen beiden zeugen begehrst duV du platz meines gebens = dir habe
ich es gegeben; zu sehr ihr geschoben sein bank durch dich = du hast
die bank zu sehr geschoben {zu sehr psychologisches prädicat). Vgl.
damit die arabische construction Omar gestorben sein vater = Omars
vater ist gestorben (Steinthal, Typen 271), die auch mit den oben
8. 238 angeführten indogermanischen fügungeu correspondiert.
Wie das verhältniss des subjects zum prädicat im psychologischen
sinne die umkehrung des grammatischen Verhältnisses sein kann, so
kann die selbe umkebrung auch eintreten bei dem verhältniss des
241
bestimmten zur bestimmung. Am leichtesten kann eine Unsicher-
heit darüber entstehen, welches eigentlich das bestimmte, welches das
bestimmende glied ist, wenn zwei substantiva in appositiouellem ver-
hältniss neben einander stehen. Ich kann z. b. sagen Totila, ein könig
der Ostyoten oder ein könig der Ostgoten, Totila. Ein solcher rollen-
tausch der beiden glieder ist aber nur möglich, wenn ihr verhältniss
zu einander ein loseres ist, wozu bediugung ist, dass es als etwas
neues mitgeteilt wird. Dann nähert sich das ganze der natur eines
Satzes und dann verhält sich immer das voranstehende glied zu dem
nachfolgenden wie das subject zum prädicat. Wird dagegen das ver-
hältniss als schon bekannt vorausgesetzt, so ist kein beliebiger rollen-
tausch möglich, und die Stellung entscheidet nichts. Ist z. b. von einem
Mendelssohn die rede und es fragt jemand „welcher Mendelssohn ist
gemeint?", so ist in der antwort „der componist M." zweifellos Men-
delssohn das bestimmte, trotzdem es nachsteht. Ebenso sind in herzog
Bernhard, herr Midier, blander Karl, vater Gleim die eigennamen das
bestimmte, die titel und sonstigen charakterisierenden epitheta das be-
stimmende. Es kommt aber auch, ohne dass das verhältniss als be-
kannt vorausgesetzt werden kann, eine straffere Zusammenfassung der
beiden glieder vor mit beifügung des bestimmten artikels, z. b. der
Schneidermeister Schulze. Hierbei gehört der artikel nicht zu dem
ersten gliede, sondern zum ganzen und fasst dasselbe eben dadurch
zu einer einheit zusammen. Denn man kann dafür nicht sagen Schlitze
der Schneidermeister, sondern höchstens Schulze ein Schneidermeister
oder Schulze Schneidermeister, wenn dazu noch eine weitere bestimmung,
z. b. in Berlin tritt. Durch diese Veränderung aber würde der zu-
sammenhält gelockert sein, also die ausdrucksweise einen anderen ein-
druck machen. Bei dieser fügung nun ist eigentlich keines von beiden
gliedern entschieden bestimmtes oder bestimmendes. Unter die appo-
sitiouellen Verhältnisse mit engerem verbände gehört auch die Verbin-
dung von vor- und zunameu. Es ist nun zweifellos, dass jetzt in A'arl
Mü/ler, Max Oes (reicher, Paul Mendelssohn etc. der vorname das be-
stimmende, der familienname das bestimmte ist; aber ebenso zweifel-
los, dass das verhältniss anfangs umgekehrt war. Es hat also eine
gliederungsverschiebung stattgefunden.
Ein adjectivisches attribut kann nicht so einfach die rolle mit
seinem substantivum tauschen. Es muss hier aber einer häufig vor-
kommenden fügung gedacht werden, wobei allerdings der hauptbegriff
in das adj. gelegt wird. Wenn Grimm sagt jenes heranzuziehen unter-
sagt die mangelnde lautverschiehung, so raüsste man um die gramma-
tische form in Übereinstimmung mit der logik zu bringen die gliede-
rnng umkehren, aber zugleich mit einer weiteren Veränderung der
Paul, Principien. 11. Auflage. 16
242
coDStructiou: de7- maiujel der lautverschiehung. Vgl. die bei spielsam m-
lung bei Andr. Spr. s. 122. 3.
Eine Verschiebung ganz anderer art haben wir in Wendungen wie
ein sein wollendes original (Herder), so viele sein wollende kenner (Ebert
au Lessing), sein sollende griechische simplicitäl (Ift'land); ein gewesener
Soldat, ein sogenanter vetter u. dergl.; franz. iin nomme Richard. Hiei'
sind die substantiva, die eigentlich prüdicate zu nicht genannten sub-
jecteu sind, an die stelle dieser subjecte getreten und haben damit
auch die form des participiums bestimmt. Auch in fällen wie sein
früherer {ehemaliger') herr, seine spätere {zukiinftige) fr au, der angeb-
liche baron sind die substantiva eigentlich prädicate.
Indem die auseinanderreissung des grammatisch eigentlich
eng zusammengehörenden usuell wird, bilden sich neue coustructions-
weisen heraus, von denen man, wiewol sie ihren Ursprung dem Wider-
spruche zwischen grammatischer und logischer gliederung verdanken,
doch nicht mehr sagen darf, dass der Widerspruch noch bestehe. Das
ursprünglich nur psychologische verhältniss hat sich dann zu einem
grammatischen entwickelt.
Häufig löst sich so der geuitiv aus der unmittelbaren Verbin-
dung mit dem worte, von dem er zunächst abhängig war. Wo er von
einem prädicativen adj. abhängt, ist die Verbindung immer keine ganz
enge, und es macht nichts aus, ob man ihn als abhängig von dem
adj. allein oder von dem adj. in Verbindung mit der dazu gehörigen
copula auffasst. Er hat daher eine ähnliche Selbständigkeit wie ein
von einem verbum abhängiges object und geniesst die selbe freiheit
der Stellung. Vgl. des erfolges bin ich sicher. Nun ist der häufig von
einer solchen Verbindung abhängige gen. es lautlich mit dem acc.
(mhd. ez) zusammengefallen und in folge davon auch vom Sprach-
gefühl als acc. gefasst worden, vgl. ich bin es zufrieden. Ausserdem
hat sich traditionell in einigen fällen der gen. nichts zu mhd. niht
erhalten, der nun auch als acc. gefasst werden musste, vgl. ich bin
mir nichts böses bewusst. Durch diese umstände ist es begünstigt,
aber wol nicht allein veranlasst, dass weiterhin in mehreren fällen der
als objectscasus gefasste gen. mit dem objectscasus xat' bS,oxi]v, dem
acc. vertauscht ist, gerade so wie das bei vielen verben {erwähnen,
vergessen etc.) geschelien ist. Vgl. was ich mir kaum noch bewusst war
(Wieland); sind sie das zufrieden? (Goe. und ähnlich öfters); wir sind
die probe zufrieden (Rückert); das bin ich vollkommen überzeugt (Le.);
so viel bin ich versichert (Le.); ingedenk zu sein die bescheen fragen
(Weistümer). Häufig ist der acc. bei habhaft werden, ganz allgemein
bei gewahr werden, gewohnt, los, überdrüssig, schuldig sein oder werden.
Wie das adj. verhält sich natürlich das prädicative adv., daher inne
243
neräen jetzt mit aee. Begliustigt ist der eintritt des aee. jedenfolls
dadurch, dass von solchen Verbindungen auch sätze mit dass abhängen
konnten {ich hin \es\ zufrieden, dass du ihn besuchst), welche als object
gefasst werden konnten. Bei manchen dieser Verbindungen lässt sich
nur der acc. eines pron. nachweisen. Daraus ersieht man die eiuwir-
kung des es. Dass aber der Vorgang auch ohne eine solche Unter-
stützung möglich ist, ergibt sich aus analogen fallen im griech., vgl,
6jriOT7']fiort^ ijüar tu jtQOcfjxoi'ra (Xen.), e^agvög &ifH ru igorcof/eva
(Plato).
Die an sich festere Verbindung des genitivs mit einem subst.
erscheint gleichfalls vielfach gelockert, indem derselbe logisch nicht
mehr von dem subst. allein, sondern von der Verbindung des subst.
mit einem verb abhängig und dadurch zu einem selbständigen satz-
gliede gemacht ist Sehr häufig ist das im mhd., z. b. des tvirdet mir
buoz (davon wird mir abhülfe); des hän ich guoien 7ville)i\ des slt äne
sorge \ si n-urden des ze räte\ ich kume eines dinge s an ein ende (ich
erfahre etwas ganz genau). Vgl. nhd. des lärmens ist kein ende; aller
guten dinge sind drei; lass, vater, genug sein des grausamen spiel s (Schi.);
nun will ich des briefs ein ende mache?i (Schi,); des ich ein diener norden
hin (Lu.); dieses gerechten, welches ihr mm Verräter und mörder gewor-
den seid (Lu.); ein schiff', dessen man, so es wrüljer ist, keine spur finden
kann (Lu.); den leichten erwähmmgen, die seiner einige alte grammatiker
tun (Le.). ^Meistens muss man jetzt an stelle des mhd. genitivs eine
Präposition anwenden. Aber auch hier wurde das genitivische es um-
gedeutet und als nom. oder aee. aufgefasst und so das logische subj,
oder obj. vollständig zum grammatischen gemacht, vgl. es ist genug
(mhd, genuoc als subst. mit dem gen. verbunden), es ist not, es ist
zeit etc; er will es nicht wort haben; er weiss es ihm dank. Die gliede-
rungsverschiebung hat aber auch weiterhin die folge gehabt, dass der
gen, mit dem nom. oder acc, vertauscht ist, wobei jedenfalls wider
die abhängigen sätze mit dass, die als subj. oder obj. gefasst werden
konnten, mitwirkten. Wir sagen jetzt das nimmt mich wunder wie das
fvunderl mich; mhd. heisst es des nimet mich wunder = mich ergreift
Verwunderung darüber. Beispiele für den acc, sind wer wird ihm diese
kleine Üppigkeit nicht vielmehr dank wissen? (Le.); was er mir schuld
gibt (Le., ähnlich auch sonst); in ansehung der stärke wird niemand diese
assertion in abrede sein (Le.. vgl. Blümners aum. in seiner ausgäbe des
Lack., 2. aufl., s. 588). Allgemein mit dem acc. verbunden wird das
jetzt als ein einheitlicher begriff gefasste rvahrnehmen (mhd. war == be-
obachtung). Vgl. lateinische constructionen wie quid tibi nos tactiost
(Plaut,), quid tibi hanc curatiost rem (ib.), in denen der acc. nicht als
von dem subst. allein abhängig gefasst werden kann; ferner infitias
lü*
244
ire, auc/urem esse aliquid. Dazu griech. er ^Iv jcqcöxö. ooi fio(ig:>^i> lyr^ca
(Eur.) 11. ähnliches.
In den spraelien, welche als negation oder als Verstärkung der-
selben ein ursprünglich substantivisches wort verwenden, findet sich
daneben ein genitiv, der ursprünglich von diesem substantivum ab-
hängig war, alhnählig aber zu einem selbständigen satzgliede ge-
worden ist und nun als subj. oder obj. fungiert, während das wort,
von dem er ursprünglich abhing, seine substantivische natur eingebüsst
hat. Vgl. franz. // n'a pas [point] d'aryent, eigentlich: er hat keinen
sehritt (punkt) von geld. Dass das Sprachgefühl nicht mehr an eine
abhängigkeit von pas oder poini denkt ergibt sich unter andern daraus,
dass de analogisch auch in andere negative sätze übertragen wird, die
kein ursprüngliches subst. enthalten (vgl. il n'y a jumais de lots ohser-
vees)^ auch in solche , die nur dem sinne nach negativ sind (vgl. sa7is
laisser d^esperance; doit-il avoir d'autre volenie). Aehnlich sind die Ver-
hältnisse im mhd., vgl. des enmac niht yesin\ mm vrouwe bizet imver
niht; danach auch also grözer krefle nie mer recke getvam. Vgl. noch
nhd. hier ist meines hleibens nicht.
Die deutschen adverbia, welche zugleich präpositionen sind,
gehen eine engere Verbindung mit einem verbum ein, in folge wovon
der eigentlich nur von ihnen abhängige casus als abhängig von der
Verbindung des verbums mit dem adverbium erscheint; vgl. ei7iem ab-
gewinnen, anliegen, aufdrängen, überwerfen, unierlegen, vorstellen, zu-
sprechen; einen anreden, anklagen. Dass wirklich der casus ursprüng-
lich von dem adverb abhängig ist, geht daraus hervor, dass für die
ältere zeit die regel gilt, dass immer der casus steht, welchen das adv.
als präp. gebraucht regiert, und besonders daraus, dass die an sich
transitiven verba in Verbindung mit einem adv. einen doppelten acc.
regieren können; so im mhd. noch häufig die verba mit ane {er nam
ze kinde sich den weisen an)., zuweilen die mit üf, im alts. auch die
mit umbi, vgl. stod ine uuerod umbi. Im englischen können wir es
deutlich verfolgen, wie der von einer präp. abhängige casus sich von
der directen Verbindung mit derselben löslöst und sich näher zum
verbum stellt. Diese loslösung ist weitaus in den meisten fällen
durch das bestreben bedingt das psychologische subject an die spitze
des Satzes zu stellen. Vgl. and this rieh fair (otvn tve make him lord
of (Sh.); washes of all kind I had an anlipalhy to (Goldsmith); weitere
beispiele bei Mätzn. II, 518. Die beiden hauptkategorieen, die hierher
gehören, sind die relativsätze (vgl. a place which ne have long heard
and read of, vgl. ib. 519) und passivsätze (Jhe tailor was seldom talked
of, vgl. ib. 65 ff.), wobei die passivische construction wie in anderen
fällen den zweck hat das psychologische subject auch zum gramma-
245
tischen zu machen. Diese art passivischer constvuction wird sogar hei
transitiven Wörtern, die ein ohject hei sich hahen, angewendet {iheij
were never taken notice of Sheridan, vgl. ih. 07). Ausserdem ist die los-
lösung in fragesätzeu ühlich, wo es sich also um voranstellung des
prädicates handelt iivhat humour is Ihe prbwe of, vgl. ib. 519).
Ein Satzglied, welches grammatisch von einem inf. abhängt, kann
psychologisch von der Verbindung dieses iniinitivs mit seinem regens
abhängig werden; vgl. dies buch fverde ich dich nie lesen lassen; das
diiuj seihst hin ich freit entfernt zu sehen (Le.); mit welchen sie sich er-
innern, gegen mich glücklich genesen zu sein (Le.). In folge davon kann
das Sprachgefühl darüber unsicher werden, ob das betreffende glied
eigentlich zu dem inf. oder zu seinem regens in direkte beziehung zu
setzen ist. Dazu kommt, dass diesen lallen andere sehr ähnlich sehen,
in welchen wirklich die abhängigkeit von dem verb. fin. das ursprüng-
liche ist, vgl. 7vas ich zu besorgen habe. So geschieht es, dass eine
wirkliche Übertragung der rection vom inf. auf das verb. fin. stattfindet,
die sich deutlich durch Umsetzung in das pass. documentiert; vgl. hier
ist sie (Minna v. Barnhelm) auf ansuchen des herrn von Hecht zu spielen
verboten (Le.); die anklage ist fallen gelassen worden (Allg. zeitg.); die
Stellung des fürsten Hohenlohe wird zu untergraben versucht (ib.). Damit
vergleiche man die griechischen beispiele: iiXlo^v 6Qax(uöv o^okoj//-
d-Eiocdv ajioXaßav („da die Übereinkunft getrofi'en war, dass ich 1000
drachmen erhalten sollte" Dem.); xa rmlv IS, agpq JiaQajya&Evra
öitgeX^Etv (Plato); xcöv jTQoeiQtjf/BVcov 7j^u8qcöv xa tjrixrjöeia litiv („der
tage, für welche es befohlen war Vorrat zu haben" Xen.). Auf der
nämlichen Verschiebung beruht auch die Umsetzung von lat. coepi, de-
si?io, jubeo, prohibeo in das pass. {llber legi coeptus est, jubeor interfici)
nur' dass hier auch der inf. in das pass. tritt, indem eine doppelbe-
ziehuug des zum subj. gemachten gliedes stattfindet. Auch heipossum
und queo kommt im älteren lat. eine derartige Umsetzung vor, z. b.
quod tarnen expleri nulla ratione potestur (Lucrez). vgl. Draeger § 93.
Ferner gehört hierher die umdeutung eines von einem inf. abhängigen
objects zum subj. des regierenden, von hause aus unpersönlichen ver-
bums, vgl. ;> yäq xi iv avxoig jtqootjxov löelv („was es sich ziemte
zu sehen" Plato), löyov xiva jtQoqrjxoi'xa gti^t/vca (ib.).')
Wir haben gesehen, dass die verschiedenartigsten Satzteile, indem
sich zwei andere neben ihnen als die eigentlich wesentlichen heraus-
heben, psychologisch als blosse bindeglieder gefasst werden können.
Indem gewisse Wörter regelmässig so verwendet werden, wird die
psychologische kategorie zu einer grammatischen, die betreffenden
') Die oben gegebene darstellung beruht fast ganz auf Madvig kl, sehr. s. 362.
246
Wörter werden zu Verbindungswörtern. Verbindungswort nenne
icii ein wort, wek'lies die fuuction liat das verhältniss zwischen zwei
begrillen anzugeben, welches daher auch nur neben zwei solchen be-
griffen funetiouieren kann, so dass es weder für sich noch auch bloss
mit einem begriff' verbunden etwas selbständiges darstellen kann. Ver-
bindungswort zwischen subj. und präd. ist die copula. Neuerdings ist
die bereehtigung zur aufstellung einer solchen kategorie bestritten,
und behauptet, dass man die copula wie jedes andere verb. fin. als
prädicat, das prädicative subst. oder adj. dagegen als bestimmung des
prädicats zu fassen habe. Diese ansehaunng scheint mir ein beispiel
jenes missverständnisses der forderuug einer Scheidung zwischen gram-
matik und logik, worauf ich ob 8.33 hingedeutet habe, ein beispiel
von einseitiger rücksichtnahme auf die äussere grammatische form
unter Vernachlässigung des fuuctionsweiies. Wir dürfen doch nicht
ausser acht lassen, dass Sätze wie träume sind schäume, ylücklich ist
der mami gleichwertig sind mit Sätzen ohne copula träume schäume,
f/lück/ich der mann, und dass sätze von der einfacheren form offenbar
ursprünglich reichlich gebildet worden und erst allmählig durch sätze
mit copula mehr und mehr zurückgedrängt. Wollte man dem ist eine
Selbständigkeit gegenüber dem substantivischen oder adj ecti vischen
prädicate zugestehen, so würden alle hierher gehörigen sätze existen-
zialsätze sein, was sie doch offenbar dem Sprachgefühl nach nicht
sind. Welcher unsinn würde herauskommen, wenn wir den satz das
ist unmöglich auffassten als -das existiert als etwas unmögliches".
Die scheu davor die copula als ein Verbindungswort anzuer-
kennen entspringt daraus, dass sie vermöge ihrer flexion den verbalen
Charakter bewahrt. Bei erstarrten formen, die keinem flexi visehen
Wandel unterliegen, scheut man sich weniger den Übergang vom selb-
ständigen wort zum Verbindungswort anzuerkennen. Dieser Übergang
kommt immer mit hülfe einer gliederungsverschiebung zu stände, wie
noch weiterhin an einer reihe von beispielen gezeigt werden wird.
Eine besondere art von Verschiebung der gliederung besteht darin,
dass zwei Satzglieder, die eigentlich nur eine indirecte beziehung
zu einander haben, indem sie von dem selben dritten abhängen, in
directe beziehung zu einander gesetzt werden. So ist wol die ent-
stehung des prädicativen accusativs aufzufassen. Wir können jetzt
ebenso gut sagen ich mache ihn zum narren wie ich mache einen narren
aus ihm. Es ist also eine doppelte art des accusativs bei machen mög-
lich, einer, welcher den gegenständ bezeichent, den die tätigkeit triff't,
und einer, der das resultat derselben angibt. Setzt man beide zugleich
zum verbum, wie das im mhd, noch in einigen Wendungen möglich
ist, z. b. ich mache in ritter, so muss dabei auch die Vorstellung „er
247
wird ritter" oder dergleichen mit ins bewusstsein treten, und so werden
die beiden aceusative in ein verbältniss zu einander gesetzt nach der
analogie von subj. und präd. Diese crklärung ist auf alle fälle an-
wendbar, wo in den verschiedenen sprachen ein subst. als prädica-
tiver acc. gebraucht wird. Die Verwendung des adjectivums als eines
prädicativen objects Hesse sich dann als eine analogie nach der Ver-
wendung des substantivums fassen. Doch ist ausserdem in betracht
zu ziehen, dass wir neben ich mache einen menschen glücklich auch
sagen können ich mache einen fjlücklichen menschen. Entsprechend ist
die entstehung des acc. c. inf. zu erklären. Der inf. ist ursprünglich
ein zweites object zum regierenden verbum. So verhält es sich noch
bei unserem ich hcisse ihn aufstehen, ich lasse ihn arbeilen etc. Der
inf. kann ja auch ohne einen anderen acc. als object stehen {ich lasse
arbeilen). Er lehrt mich französich sprechen ist in der construction
nicht wesentlich verschieden von er lehrt mich die französische spräche.
So kann man auch lat. neben juhet te facere sagen quod te juhct.
Ebenso hat der nom. c. inf. seine anologie in der passivischen con-
struction solcher verba, die einen doppelten acc. bei sich haben können.
Bibulus nondum audiebatur esse in Syria ist construiert wie Cicero per
legatos cuncla edoctus\ quod jussi sunt. Die auffassung des substan-
tivischen accusativs als eines subjects zu dem inf. ergibt sich dann
sehr leicht aus der realen natur des Verhältnisses.
Eine andere nicht ganz seltene art der Verschiebung besteht
darin, dass ein glied, welches eigentlich zu zwei copulativ oder ad-
versativ verbundenen gliedern gehört, bloss als zum ersten gehörig
aufgefasst und in relation zu einer die beiden verbindenden partikel
gesetzt wird. Unser entweder — oder fassen wir jetzt als zwei cor-
relative partikeln. Aber entweder ist entstanden aus eindeweder und
bedeutet eigentlich „eins von beiden"; daher ist entweder das äuge oder
das herz eigentlich „eins von beiden, das äuge oder das herz". Folge
der gliederungsverschiebung ist die erstarrung der form, so dass ent-
weder zu jedem beliebigen casus und jeder beliebigen wortart gesetzt
werden kann. Wo entweder — oder zur Verbindung von Sätzen dient,
zeigt sich die hineinziehung des ersteren in den ersten satz auch an
der inversion {entweder ist er tot neben er ist tot). Genau ebenso
verhält es sich mit 7veder — noch, mit mhd. weder — oder = lat.
utrum — an, mhd. beide — mid = engl, both — a7ul u. a. Wir über-
setzen lat. aeque ac durch „ebenso wie". Aber ein hie mihi aeqice pla-
cet atque ille ist eigentlich „dieser und jener gefallen mir in gleicher
weise". Dass jedoch eine wirkliche Verschiebung der gliederung statt-
gefunden hat und dass das vergleichende ac von dem copulativen bis
zu einem gewisssen grade isoliert ist, zeigt der regelmässige sing, des
248
piäd. iu den fällen, wo das ac an ein singularisches subj. angeknüpft
wird, ferner die Wortstellung nnd endlich solche fälle, in denen eine
widergabe des ac durch und in keiner weise mehr möglich ist, vgl.
aeque at le pelo ac si mea negofia, essent. Lehrreich sind verwandte
constructionen, die noch nicht normal geworden sind, bei denen die
Verschiebung entweder noch gar nicht eingetreten ist oder wenigstens
noch nicht usuell geworden. Zuweilen steht aeque et = aeque ac:
aeque promptnm est mihi et adversario meo (Cic), vgl. Draeg. § 311, 18.
Es findet sich ferner nc oder et auch nach pur, sifnil/s, idem, aiius etc.
(vgl. ib.): parlier patribus ac plehi carus\ pariter corpore et animo (Ter.);
simul consul ex multis de hostiiim adventus cognovit et ipsi hostes ade-
rant (Sali.); solet alia senlire et loqui (Caelius); viae pariter et pugnae
(Tac); omnia fuisse in Tliemistocle paria et Coriolano (Cic); haec eodem
tempore Caesari mandata referebantur et in Licori vadum reperiebatur
(Caes.). Die selbe Verschiebung wie bei lat. ac ist bei anord. ok ein-
getreten.
Die nämlichen Verschiebungen wie innerhalb des einfachen satzes
finden natürlich auch im zusammengesetzten satze statt, da ja
zwischen einfachem und zusammengesetztem satze kein eigentlich
wesentlicher und consequent durchführbarer unterschied besteht. Der
nebensatz hat die nämliche fuuction wie ein Satzglied, und es gilt da-
her auch von ihm das selbe wie von jedem anderen gliede in bezug
auf die gliederung der ganzen periode. Es ist daher falsch, wenn
man, wie gewöhnlich geschieht, eine jede periode zunächst in haupt-
satz und nebensatz (resp. mehrere nebensätze) abteilt. Erstens ist zu
berücksichtigen, dass der nebensatz ein unentbehrliches Satzglied wie
das subj. vertreten kann (z. b. dass er nicht kommt, ärgert mich) und
dann ist das, was man den hauptsatz zu nennen pflegt, in Wahrheit
gar kein satz, sondern nur ein Satzglied oder ein complex von Satz-
gliedern. Enthält der nebensatz einen entbehrlichen bestandteil der
periode, z. b. eine Zeitbestimmung, so ist es ja allerdings möglich ihr
den hauptsatz als etwas für sich bestehendes gegenüber zu stellen,
aber damit gibt man keine richtige grammatische und nicht immer
eine richtige psychologische gliederung. Die periode ich fragte ihn
nach seinem befinden, als ich ihm begegnete zunächst in haupt- und
nebensatz zu sondern hat nicht mehr berechtigung als in dem satze
ich fragte ihn gestern nach seinem befinden zu gliedern: ich fragte ihn
nach seinem befinden + gestern. Wir können ja auch dem nebensätze
gerade so gut wie dem adv. gestern seine Stellung zwischen den übrigen
gliedern geben. Endlich enthält der nebensatz gar nicht immer ein
selbständiges Satzglied, sondern häufig nur einen teil eines gliedes,
eine bestimmung zu einem gliede, so alle relativsätze, die sieh auf ein
249
wort des hauptsatzes beziehen. Der nebensatz kann nun aber so gut
wie Jeder andere satztcil nach psychologischen gesichtspunkten eine
andere eingliederuug- verhingen wie nach rein grammatischen, und er
kann ebenso gut wie jeder andere Satzteil an der gliederungsver-
schiebung teilnehmen. 80 ist dann die möglichkeit einer Zweiteilung
in haupt- und nebensatz häufig erst die folge einer gliederungsver-
schiebuug. Dabei ist immer der nebensatz psychologisches subj., der
hauptsatz präd., natürlich in dem weiten sinne, wie wir ihn cap. (3 be-
stimmt haben.
Wenden wir den s. 103 zwischen abstracten, coucreteu und cou-
cret-abstracten Sätzen gemachten unterschied auf den zusammengesetz-
ten satz an, so ergibt sich, dass die hypothetischen perioden (im
weitesten sinne) die abstracten und abstract-concreten umfassen. Ab-
stract sind z. b. irenn es reynct^ irird es nass\ wer pech angreift, be-
sudelt sich; abstract-concret wenn du es noch nicht weiss f, wi/l ich es dir
sagen; so oft er mir begegnet, fragt er mich; wer unter euch nicht zu-
frieden ist, mag es sagen. Der sinn eines jeden al)stracten oder ab-
stract-concreten Satzes lässt sich daher durch eine hypothetische periode
ausdrücken.
Wie es für den grammatisch nicht als abhängig bezeichenten satz
einen stufenweisen Übergang von Selbständigkeit zu abhängigkeit gibt,
so kann sich der grammatisch als abhängig bezeichente mehr und
mehr der Selbständigkeit nähern. Bei der oben s. 123 charakterisier-
ten Zwischenstufe zwischen logischer abhängigkeit und Selbständigkeit,
kann die grammatische form bald die der Selbständigkeit, bald die der
abhängigkeit sein. Nach der bevorzugung der einen oder der andern
unterscheiden sich verschiedene sprachen und verschiedene Stilgattungen.
So ist es bekanntlich charakteristisch für die historische periode im
lateinischen, dass die mitteilung von tatsachen, welche an sich neu
sind und einen selbständigen wert haben, die aber zugleich zur zeit-
lichen und causalen bestimmung einer anderen tatsache dienen, in der
form eines abhängigen satzes oder einer participialconstruetion erfolgt,
während im deutschen die form des selbständigen satzes vorgezogen
wird. Nicht selten ist in verschiedenen sprachen die anknüpfung eines
relativsatzes, welcher das vorhergehende gar nicht bestimmt oder modi-
ficiert, sondern eine selbständige mitteilung enthält, also gleichen wert
mit einem copulativ angeknüpften hauptsatze hat. Vgl. er begab sich
nach Paris, von wo er später nach Lyon ging (= und von da ging er);
ich traf gestern deinen vater, mit dem ich mich lange unterhielt (gegen
ich traf heule den herrn wider, mit dem ich mich gestern unterhalten hatte).
Besonders häufig ist diese anknüpfung bekanntlich im lat., und man
ist es hier gewohnt längere perioden, die durch ein relativum einge-
250
leitet sind, als selbständige sätze zu betrachten. Ein solches lose an-
geknüpftes relativum erscheint auch in conjunctionssätzen, wie z. b,
quod Tibcrhis quum fieri animadvcrtit, sinu pugionem eduxil (Bell. Hisp.);
quac si dubia aut procul essenl, tarnen omnes bonos reipublicae subvenirc
decebat (Sali.)') Ein kriterium fiir die verselbständigung- des relativ-
satzes ist der gebrauch des Imperativs in demselben. Diesen finde
ich im griech. neuen testament: 2 Tim. 4, 15 ov xcä ov (pvXäoöov und
Ebr. 13, 7 ojv avaO^iojQovvziq Tf)i> txßaOiv r/yg ccvaöTQorfFjq fUjitiuO^e
tt)v jtiöTiv; an beiden stellen auch in Luthers Übersetzung: vor wel-
chem hüte du dich auch und welcher ende schauet an und folget ihrem
glauben nach. Entsprechend ist die Verwendung von quamquam und
etsi = jedoch. Das aufgeben des abhängigkeitsverhältnisses tritt uns
besonders entgegen in einem falle wie do poenas temeritatis meae\ etsi
quae fuit Uta temer itas? (Cic). So kommt auch unser wiewoJ, obgleich
vor, wobei sich das aufgeben des abhängigkeitsverhältnisses in der
Wortfolge documentiert, vgl. H'ie darfst du dich doch meine7i äugen
weisen? wie?vol du kommst mir recht (Hagedorn); obgleich das weissbrod
schmeckt auch in dem schloss nicht übel (Hebel).
So tritt denn auch der fall ein, dass das logische abhängigkeits-
verhältniss geradezu die umkehrung des grammatischen ist. Die
bekannteste hierher gehörige kategorie, die sich in vielen sprachen
findet, bilden Zeitbestimmungen, meist mit eben, gerade, noch, kaum
u. dergl., auf welche der logische hauptsatz nicht bloss, wie wir s. 123
gesehen haben, in der form des hauptsatzes, sondern auch in der des
nebensatzes folgen kann ; vgl. kaum war ich angekommen, als ich befehl
erhielt] franz. je n'eus pas mis pied a ierre, que l'hdte vint me saluer.
Einige andere beispiele sind: franz. le dernier des Bourbons scrait tue,
que la France nüen aurait pas moins un roi (Mignet) = wenn auch der
letzte der Bourbonen getötet wäre, würde Frankreich nichtsdestoweniger
einen könig haben. Mhd. Jane get er nie so balde, erne benahte in dem
walde = mag er auch noch so schnell gehn, die nacht wird ihn im
walde überraschen.
Die psychologische gliederung durchbricht auch die grenzen
zwischen haupt- und nebensatz. Ein häufiger fall ist, dass eine
Partikel, die eigentlich dem hauptsatze angehört mit einer dazu in be-
ziehung stehenden den nebensatz einleitenden partikel zu einer einheit
verschmilzt und nun vom Sprachgefühl das ganze als einleitung des
') An und für sich beweist allerdings der gebrauch des relativums in einem
conjunctionssatz nicht lockerung des abhängigkeitsverhältnisses. Vgl. Lu. Ap. 15, 29
dass ihr euch enhallet von gölzenopfer etc., von welchen so ihr euch enthaltet, tut
ihr recht (f| iby öiarf^ovvTtq eavioin; ei n^ä^ert). Hier ist das rel. gebraucht
wie sonst als teil eines Satzgliedes.
251
uebensatzes aufgefasst wird. Vgl. sowie (got. sivaswe, alid. soso), so dass,
sobald als, auch ivcnn\ lat. sicul, shuulac, poslquam, antequain, priusquam,
clsi, eliamsi, tam{en)- eist. Noch viel wichtiger ist es, dass gewisse
Wörter, namentlich pronomina oder partikeln, die ursprünglich dem
hauptsatzc angehören, zu Verbindungsgliedern zwischen diesem und
einem spychologisch untergeordneten satze werden, der bis dahin noch
von keiner partikel eingeleitet war, ja überhaupt noch gar kein gram-
matisches zeichen der abhängigkeit hatte. Diese Wörter pflegen dann
als ein teil des nebensatzes angesehen zu werden. Auf diese weise
sind eine menge den nebensatz einleitende conjunctionen entstanden,
und dieser einfache Vorgang der gliederungsverschiebung ist eines der
wesentlichsten mittel gewesen, eine grammatische bezeichnung für die
abhängigkeit von Sätzen zu schaffen. Meistens waren die betreifen-
den Wörter ursprünglich hinweisend auf den folgenden logisch ab-
hängigen satz (vgl. s. 120). Hierher gehört die wichtigste deutsche
partikel daz = engl fhat, ursprünglich nom. acc. des demonstrativpro-
nomens. Ich sehe, dass er zufrieden ist ist hevorgegangen aus einem
ich sehe das: er ist zufrieden. Nachdem die hineinziehung in den
nebensatz und die dadurch bedingte Verwandlung in eine conjunction
sich vollzogen hatte, konnte diese construction ebenso wie der acc. c.
inf. (vgl. s. 198) auch auf fälle übertragen werden, für die ein nom.
oder acc. des pron. nicht passte, vgl. ich bin überzeugt {davon)., dass
du schuld hast', er war {so) betroffen, dass er kein wort er/viderti konnte.
Vielfach ist daz auch mit einer regierenden präposition in den neben-
satz übergeti'eten. Vgl. mhd. durch daz er videlen kmide, weil er zu
geigen verstand, eigentlich deswegen: er konnte geigen. Ebenso umhe
daz, äne daz, für daz, üf daz (selten), bedaz (während dem). Erhalten
sind davon ohne dass und auf dass; ausser dass, während dass und an-
statt dass müssen wol als analogieen nach jenen betrachtet werden,
da die betreffenden präpositionen nicht den acc. regieren. Dagegen
sind einige präpositionen mit dem dat. des demonstrativpronomens
erst im nhd. durch Verschiebung zu conjunctionen geworden: nachdem,
seitdem., indem, währenddem. Vereinzelt erscheint so darum: darum ich
es auch nicht länger vertragen, habe ich ausgesandt (Lu. 1 Thess. 3, 5).
Entsprechend verhält es sich mit engl, for that etc., ags. for päm, dir
päm. Ferner gehört hierher so im ahd. und älteren mhd. = so dass.
So in beteuerungen und beschwörungen: so wahr mir golt helfe, so
wahr ich hier stehe, wofür man auch sagen kann so wahr wie ich hier
stehe. So = wie sehr auch, wiewol: so guttnütig er [auch) ist, das
tvird er nicht tun\ vgl. mhd. so vil ze Salerne von arzemen fneister ist,
aber auch mit einem zweiten relativen so: so manec wert leben so liebe
frumt\ vgl. dazu engl. Natur e, as green as he looks, rests evergwhere
252
0)1 dread foundatmis (Carlisle), eine construction , die in der älteren
spräche hänfi?,' ist, während die neuere meist nur das zweite relative
as setzt; vgl. ferner afranz. si — com, nfranz. si que. In den zu-
letzt besprochenen fällen ist ausser dem so immer noch ein weiteres
ihm eigentlich nicht angehöriges dement in den nebensatz gerückt.
Ebenso verhält es sich mit nhd. sobald {als, wie\ so lange {als, wie)^
(in) sofern, {in) soweit, sowie. Mit unrecht wird dies so vielfach als
ein ursprüngliches relativum aufgefasst. Auch substantiva, teils mit,
teils ohne artikel, zum teil in abhängigkeit von einer präposition sind
in einen logisch untergeordneten satz, der ihnen zur erläuterung diente,
(vgl. s, 120) eingetreten. Vgl. mhd. die ivile ich weit dri hove, nhd. die-
weil, alldieweil, derweil , weil = engl, {ihe) wile\ nhd. falls, im falle,
sititemal = sint dem mdle\ seit der zeit er auferstanden ist (Lu.); engl.
on (upon) condition, in case (beide auch mit nachfolgendem that), be-
cause.
Auf einem ähnlichen vorgange beruht im deutschen mindestens
zum teil der Übergang des demongtrativums in das relativum. Ein
solcher Übergang erfolgt auf grund der oben s. 114 besprochenen art
des cmo xoiroi. Das gemeinsame glied kann durch das demonstrativ-
pronomen der oder durch ein demonstratives adv. gebildet werden,
vgl. liefun thie nan ftwmotun (Otfrid); thär ther sin friunt uuas iu er lag
fiardon dag bigrabaner (wo der, welcher früher sein freund gewesen
war, den vierten tag begraben lag, ib.); ni mag diufal ingegin sin thär
ir ginennet namon min (nicht kann der teufel widerstehen da, wo ihr
meinen namen nennt, ib.); Ihn giangi thara thu uuoltos (du gingst dahin
wohin du wolltest, ib.); der mich liebt und kennt ist in der weite (Goe,).
Wir würden hier von unserem Sprachgefühle aus das pron. oder adv.
als relativ und zum nebensatze gehörig auffassen, und diese auffassung
hat sich auch dadurch bekundet, dass sich an stelle des alten demon-
strativums das andere, mit dem fragewort übereinstimmende relativum
eingedrängt hat, welches jetzt in allgemeinen Sätzen allein noch üblich
ist: wer wagt, gewinnt\ wo nichts ist, da hat der kaiser sein recht ver-
loren. Dass aber das pron. (und demnach auch das adv.) ursprüng-
lich gleichmässig zum haupt- und nebensatze gehörte, ergibt sich aus
folgenden gründen. Erstens: das pron. kann mit einem subst. ver-
bunden auftreten, welches notwendig auch dem hauptsatz angehören
muss: in droume sie in zelitun then uueg sie faran scoltun (im träume
gaben sie ihm den weg an, denn sie fahren sollten, Otfrid), der möhte
mich ergetzen niht des mceres mir iuwer munt vergiht (der möchte mir
keinen trost verschaffen für die nachricht, die mir euer mund ver-
kündet, Wolfram); er sär in thö gisageta thia sälida in thö gaganta
(Otfrid); diu sich geliehen künde der grözen sül da zwischen stuont (Wol-
253
fram). Zweitens: der casus des pronomens richtet sich im ahd. und
mhd., auch noch im älteren uhd. gewöhnlich nach dem hauptsatz, wenn
dieser einen gen. oder dat., dagegen der nebensatz einen nom. oder
acc. verlangt: uue demo in vhistrt scal shio virinä sttten (wehe dem, der
in finsterniss seine verbrechen blisseu soll, Muspilli); ouwe des da nach
geschiht (Wolfram); mit all dem ich kan vnd vermag (Hans Sachs).
Drittens: das pron. kann von einer präp. abhängen und diese muss
gleichfalls mit zum haupt- und nebensatz gezogen werden: n-az ich
bosser handelunge erliien hän von den ichs wol erläzen möhte sin (von
denjenigen von welchen ich wol damit hätte verschont bleiben können,
Minnesinger). Viertens: ein fall, der hiervon zu unterscheiden ist, aber
gleichwol beweisend dafür, dass das pron. ursprünglich auch dem
hauptsatze angehört, ist der, dass dasselbe von einer präp. abhängig
ist, die nur dem hauptsatze angehört, vgl. n-az sul trüren für daz nie-
man kan erwe?iden (Minnesinger); daz ich singe orve von der ich iemer
dienen sol (Heinr. v. Morungen); auch so, dass der casus nur den forde-
rungen des hauptsatzes entspricht: der suerit bi demo temple, suerit in
demo dar i^me artöt (schwört bei dem, der darin wohnt, Fragmenta
theotisca); den valer erit da zi himili der sun mid den er hat ?ii in erdi
(jinimnun (Summa theologiae). Wird der nebensatz vorangestellt, dann
kann das gemeinsame glied noch einmal durch ein pron. oder adv.
aufgenommen werden, vgl. ther man thaz giof/aleizit thaz sih kuning
heizii, der uuidarot in alauuär themo keisore sdr (der mann, welcher es
unternimmt sich köuig zu nennen, der widersetzt sich fürwahr dem
kaiser, Otfrid); daz erbe üch lin-ere vorderen an brächten unt mit her-
scilte ervächten, weit ir da von entrinnen (Rolandslied): den schaden
he uns to donde plecht, dar vor kricht he nun sin recht (Reineke vos).
Für solche fälle wie die angeführten ist es aus den oben an-
gegebenen gründen klar, dass das voranstehende glied wirklich als
ursprünglich gemeinschaftlich aufgefasst werden muss, und dass die
widerauf nähme desselben ursprünglich auf gleicher linie steht mit sol-
chen fällen, wie den schätz den hiez er füeren\ beide schoiuren unde
grüezen swaz ich mich daran versumet hän (Walther). Es steht daher
auch nichts im wege anzunehmen, dass sätze wie ther brüt habet, ther
scal (her brütigomu shi (Otfrid) auf die nämliche art entstanden sind.
Doch soll damit nicht gesagt sein, dass nicht auch relativsätze auf
grund einer anfänglichen doppelsetzung des demonstrativums ent-
standen sind.
Haupt- und nebensatz können sich auch derartig in einander
schlingen, dass eine sonderung der demente des einen von denen' des
anderen nicht mehr möglich ist, was sich dann auch in der Wort-
stellung zeigt. Nicht selten wird in vielen sprachen der hauptsatz
254
logisch so iinterg:eor(lnet, dass man ihn als biudeglied fassen kann,
und schiebt sich dann in den uebensatz ein. Der voranstehende teil
desselben bildet dann das psychologische subject oder prädicat. Der
fall ist daher besonders häufig in frage- und in relativsätzen. Vgl. it.
inio paare e mio fratello dimmi ove sono\ lat. tu nos fac ames (Cic); ver-
bum cave faxis (Plaut); matrem j'ubeo requiras (Ov.); ducas volo hodie
iLvorem (Ter.): quid vis eurem? (Plaut); quid tibi vis dicam? (ib); engl.
something, that 1 believe will make you smile (Goldsmith); tvhereof I gave
thee Charge thou shouldst not eat (Milton); whose fellorvsMp therefore
unmeet for thee good reason /ras thou freely shoiddst dislike (Milton).
Mhd. zuo Amelolt und Neren nu hoeret wie er sprach (Alphaii); die en-
weiz ich war ich tuo; nhd. eine Sammlung^ an deren existenz ich nicht
sehe warum JSik. Antonio zweifeln wollen (Le.). Engl, hut with me I see
not Tvho partakes: which we would know whence learned (Milton). Nhd.
mtf diese veralteten Wörter haben nur geglaubt, dass wir unser äugen-
merk vornehmlich richten miisslen\ mhd. tiefe mantel wit sach man daz
si truogen; zuo sinem brüt lauft e bat er daz si queemen; \i. questi mercati
giudico io che fossero la cagione (Mach.); span. los forzados del rey quiere
que le dexemos (Cervantes); prov. cosselh m'es ops qu'ieu en prenda (es
ist nötig, dass ich einen entschluss in bezug darauf fasse); lat hanc
domum jam multos annos est quom possideo (Plaut); mhd. swie si ivil^ so
wil ich daz mm fröude ste\ it. solo Toner edi avvien che lei connosca
(Tasso); er hat alles, ?vas ?nan will das ein mann haben soll; mhd. daz
ich ie wände daz iht w(ere\ franz. voiVa des raisons qu'il a cru que fap-
prouverais\ it. le opere che pajono che abbino in se qualche virtii (Mach.);
nhd. 7ras wollen sie denn dass aus mir werde? (Le.); wie trollt ihr, dass
das geschehe? woher befehlt ihr denn dass er das geld nehmen soll?
womit wollt ihr dass ich mich beschäftige? die mischung, mit welcher ich
glaube, dass die moral in heftigen situationoi gesprochen sein will (Le.).
Dabei entsteht in manchen fällen eine Unsicherheit darüber, ob der
Yoranstehende satzteil noch von dem verbum des grammatischen neben-
satzes oder vielmehr von dem des grammatischen hauptsatzes abhängig
zu macheu ist Wir helfen uns jetzt vielfach durch eine doppelsetzung
desselben mit verschiedener construction, wodurch das ineinandergreifen
von haupt- und nebensatz vermieden wird: wovon er wusste, dass er
es nie erlangen würde.
Cap. XVII.
Congruenz.
lu eleu flectierenden sprachen besteht die tendenz Wörter, die iu
einer beziehung- zu einander stehen, für die es kein besouderes aus-
drueksmittel gibt, möglichst in formelle Übereinstimmung mit einander
zu setzen. Hierher gehört die congruenz iu genus, numerus, casus,
person, wie sie zwischen einem subst. und einem dazu gehörigen präd.
oder attribut oder einem dasselbe vertretenden pron. oder adj. besteht;
als verwandte erscheinungeu können wir auch die Übereinstimmung iu
tempus und modus innerhalb einer periode anreihen. Diese congruenz
ist keineswegs durchgängig als etwas anzusehen, was sich selbstver-
ständlich aus der natur des logischen Verhältnisses ergibt. Es ist z. b.
gar kein logischer grund vorhanden, warum das adj. an dem ge-
schlechte, numerus und casus des substantivums participieren müsste.
Wir haben uns vielmehr die sache so zu denken. Den ausgangspunkt
für die entstehung der congruenz haben solche fälle gebildet, in denen
die formelle Übereinstimmung eines Wortes mit einem anderen nicht
durch rücksichtnahme auf dasselbe herbeigeführt, sondern nur durch
die gleichheit der beziehung bedingt ist. Nachdem aber die congruenz
als solche empfunden ist, hat sie ihr gebiet durch analogische Über-
tragung auf andere fälle weiter ausgebreitet. Dass dies der entwicke-
lungsgang gewesen ist, werden wir am besten erkennen, wenn wir zu-
nächst solche fälle betrachten, an denen sich die ausbreitung der con-
gruenz noch geschichtlich verfolgen lässt.
Die Übereinstimmung im geschlecht und numerus erscheint un-
logisch über das ihr eigentlich zukommende gebiet ausgedehnt in
fällen, wo durch das subjeet auf ein noch unbekanntes hingewiesen
wird, welches erst durch das präd. einen bestimmten Inhalt erhält.
Das pron., welches das subj. bildet, sollte dann immer im sg. ueutr.
stehen und tut es wirklich stets im nhd.: das ist der mann\ das sind
die richtigen; ebenso im franz. ce sonl mes frhes. Dagegen erscheint
es mit dem präd. in Übereinstimmung gebracht im engl, these are thy
mayyiific deeds (Milton); it. e qiiesta la vostra figlia? span. esla es la
256
espada; griech. avrtj toi dlxr/ tor) Q^emv (Hom.); lat. ea demum firma
itmicitia est (Cic); haec tnorum vitia sunt (Cic); Atheyiae istae sunto
(Plaut.); quae ajmd alios iracundio dicitur, ea in imperio superhia atque
crudelitas uppellatur (Sali); doch aueli id tranquiUltas erit (Seneca)
so gewöhnlieh im negativen und bedingenden satze. Wir werden
diese erseheinung wol am besten so auffassen, dass sich hier das subj.
nach dem präd. gerichtet hat wie sonst das präd. nach dem subj.
In copulativer Verbindung mit pluralia tantum oder Wörtern, die
im plur. eine eigene, bedeutung haben setzen lateinische Schriftsteller
öfters auch andere Wörter im plur., die sonst nur im sing, gebraucht
zu werden pflegen : summis opibus atque industrüs (Plaut.); neque vigiliis
neque quietlhus (Sali.); paupertates — divitiae (Varro); vgl. Draeg. § 7, 4.
In einem satze wie man 7iemif (heissl) ihn Friedrich kommt dem
namen eigentlich kein casus zu, es sollte der blosse stamm stehen;
auch kann man Friedrich und andere eigeunamen, die kein casus-
zeichen enthalten, als stamm, als absoluten casus auffassen. Man
könnte ferner, insofern eine beziehung auf das nennen in der anrede
stattfindet, den voc. erwarten, und dieser findet sich wirklich im griech.
t/ pt xaXelre xvQit'} (Luc. 6, 46), in der Vulgata übersetzt quid vocatis
nie domine? ^) In ermangelung eines reinen Stammes muss dann der
nom. eintreten, der übrigens meistens von dem voc. nicht zu scheiden
ist. Im got. ist die eben erwähnte stelle übersetzt hwa mik haitid frauja ?
Entsprechend übersetzt noch Luther was heisst ihr mich aber herr, herrl
und so wird der nom. (voc.) auch sonst im mhd. und nhd. gebraucht:
daz man in hiez der bäruc (Wolfram), ich hiess ihn mein Montan (Geliert);
den ich herr Stolle nennen hörte (Insel Felseuburg). Das gewöhnliche
aber ist jetzt der aec, und schon im got. heisst es panzei jah apaustu-
luns namnida. Dieser acc. ist nur durch die gewohnheit der congrueuz
veranlasst, die man in fällen hatte wie got. izei piudan sik silban taujip
(der sich selbst zum könig macht).
Ebenso sollte in Wendungen wie er hat den namen Max der reine
stamm, respective in ermangelung eines solchen der nom. stehen, und
so verhält es sich im deutschen. Im lat. aber ist eine construetiou
wie lactea nomen habet (Ov.) nur poetisch und naehklassisch. Im
klassischen lat. erscheint der nom. neben nomen nur, wenn dieses selbst
nom. ist, also congruenz stattfindet, z. b. cui nomen Arethusa est (Cic).
Daneben wird der uame in congruenz mit der person, der er beigelegt
wird, gebracht, z. b. nomen ßlercuriost mihi (Plaut.). Das entsprechende
schwanken in bezug auf die congruenz findet sich da, wo nomen
acc. ist: filiis duobus Philippum et Alexandrum et ßliae Apamam nonmia
') Vgl. Ziemer .s. 71.
257
mposueraf (Liv.) — cid Snperbo cognomen facta md'iderurtl (Liv.).
Dieses schwanken zeigt am besten, tlass die cougruenz hier nicht aus
der natur der sache entsprungen ist, sondern viehnehr aus einer ge-
wissen Verlegenheit der sprechenden, die in ermaugelung einer abso-
hiten form einen casus wählen mussten und dabei irgendwo einen an-
schluss suchten, gemäss dem schon die spräche durchdringenden prin-
cipe der cougruenz.
Eine ähnliehe Verlegenheit besteht bei dem prädicativen oder
prädicativ-attributiven nomen neben einem iuf. Das neuhochdeutsche
ist insofern gut daran, dass es eine absolute form des adj. hat: es
glückte ihm unbekannt zu bleiben. Das subst. erseheint, wo es nicht
zu vermeiden ist, dass ein bestimmter casus sich zu erkennen gibt,
immer im nom.: nicht nur er strebt da^iach berühmt zu werden, sondern
auch es steht dir frei als verständiger mann zu handeln. Im lat. steht
der nom., wenn ein anschluss an das subj. des regierenden verbums
möglich ist: pater esse disce, omitto iratus esse; poetisch ait fuisse navium
celerrimus (Catull); rettulit Ajax esse Jovis pronepos (Ov.); ebenso im
griechischen, auch beim substantivierten inf., in welchem casus dieser
auch stehen mag: OQtyovrai rov jcgcörog txaöroc. yiyveöß-ai (Thuc);
e6o§,£ jcäööocpog elvat öiä t6 avroc. fi?) olöc t sirai (Plato). Im griech.
findet eine solche anknüpfung auch an einen vom regierenden satze
abhängigen gen. oder dat. statt: ajraöiv aväyTcr] rcp xvQävim JioXe/iiqj
sivai (Plato); ol Aaxtöaifiöviot Kvqov sötovro coc jcgof^v^orärov jTQog
TOP jtoXefiov yevead-ai (Xen.). An den dat. in beschränktem masse
auch im lat: a7ii?no otioso esse ifnpero (Terenz); da mihi fallere, da justo
sanctoque videri (Hör.); nee fortibus illic profuit armentis nee equis ve-
locibus esse (Ov.) ; allgemein bei licet. Daneben kommt nach licet mihi
zuweilen der acc. vor (z. b. si civi Romano licet esse Gaditanum, Cie.),
daraus zu erklären, dass der acc. der gewöhnliche subjectscasus beim
inf. ist.i)
Ich führe noch einige fälle an, in denen keine congruenz durch-
geführt ist und zum teil nicht hat durchgeführt werden können, bei
denen man sich deshalb in ermangelung des eigentlich einzig berech-
tigten reinen Stammes mit dem nom. beholfen hat. Wir sagen z. b,
dem als eine schreiende Ungerechtigkeit bezeichenten befehle, mein beruf
als lehr er, sogar die Stellung des königs als erster bürg er des Staates',
in einer läge wie die seinige neben der seinigen. Im lat. finden sich
constructionen wie Sempronius causa ipse pro se dicta damnatur\ flumen
Albim transcendit, longius penetrata Germania quam quisquam priorum
(Tae.). Hierbei finden ipse und quisquam zwar eine anlehnung bei dem
') Vgl. Ziemer s. 96.
Paul, Principien. 11. Auflage. 17
258
subjeete des verl». fin., geliinen aber eigentlich nur zu dem ablativus
abs., in welchem sieh ihnen keine ankniipfung- bietet.')
Namentlich entsteht eine Verlegenheit des spreelienden da, wo
eine grammatische congrueuz zwischen zwei Satzteilen dem sinne nach
nicht möglieh ist und dazu ein dritter Satzteil tritt, von dem man
gewohnt ist, dass er mit beiden congruiert. Man muss sich für einen
von den beiden entscheiden, und in dieser beziehung kann sich der
usus in verschiedenen sprachen verschieden fixieren, auch in einund-
derselben schwanken.
Subject — prädicat — eopula. Das ursprünglich normale ist jeden-
falls, dass die eopula sich im numerus wie jedes andere verb. nach
dem subj. richtet, und dem entsprechend heisst es z. b. engl. ?7 was my
Orders, what is six winters; franz. c'esi eiix, c'elait /es petiles iles\ lat.
neqiia pax est induciae (Gellius). Im deutschen aber setzen wir bei
pluralischem präd. die eopula im plur.: das s'md zwei verschiedene dinge.
Das gleiche kann in anderen sprachen geschehen: griech. to xfoQior
rohxo, ojTtQ jTQortQor Evrta nÖol txaXovi'To (Thuc); franz. ce sont la
des vertus de roi. Es scheint dies dadurch begründet, dass der plur.
sich charakteristischer geltend macht als der sing. Doch ist in meh-
reren sprachen auch das umgekehrte möglich, dass zu pluralischem
subj. und singularischem präd. die eopula im sing, gesetzt wird: griech.
«i' xoQf/ylcii ly.arov evcSaiftovelac orjf/ttöv tön (Ant); lat. toca, quae Nu-
midia appellatur (Sali.); engl. t7vo paces in the vilest earth is room enough
(Sh.); Span, los encamisados ern gente medrosa (Cervantes); nhd. falsche
wege ist dem herrn ein greuel (Lu.). Entsprechend verhält es sich
mit der person des verbums. Engl, it ivas you, is ihal you ; franz. cest
moi, cest nous, c'est vouf, in der älteren spräche auch c'est eux. Dagegen
nhd. das waren Sie, sind Sie das; altfranz. ce ne suis je pas, c'estez vons.
Antieipierendes unbestimmtes subj. — logisches subj. — prädicat.
Franz. rarement it arrive des revolutions, il est des gens de hien. Da-
gegen deutsch: es geschehen unurälznngen.
Ein participium als i)räd. oder eopula kann sich im genus und
numerus nach einem daneben stehenden prädicativen subst. richten
anstatt nach dem subj. Vgl. griech. xävza öir/yv^'^ ovaa rvyxM'fi
(Plat(i); lat. pauj/ertas )nihi onus visnm (Terenz); nisi honos ignominia
pntanda est (Cic.) (dagegen Semiramis puer esse credita est, Justin).
Das gleiche findet statt beim ])rädicativen acc: griech. xrjV rjdorrjv
(Siiöxf^Tf o)Q ayaUov oi> (Plato); bei attributiver Verwendung: griech,
rac &vyaTtQac, Trcaöia orra (Dem.); lat. tiidi fuere, Megalesia appel-
lata (Liv.).
') Vgl. liit-rzii Madvig Kl. sehr. 367 ft'.
259
Das prUd. kann sieh anstatt uaoli dem subj. nach einer zu diesem
gehörigen apposition richten: g-riech. (-Jijßai, jcoXiq dörvyiixmv, tx hiöjjq
Ttjg ^EXXäöoQ avr}{)jiaöTai (Aeseh.); lat. Corinthiim totius Graeciae lumen
exlinctum esse voluerunt (Cie.); J'olsinii op/jidu/n Tuscorimi concre7natum
est; nhd. die Aegypter aber, dies harte und gesetzmässige volk, schlug
gleich die form der regel 2md der gorohnheif auf ihre versuche (Herder).
Auch bei Umsetzung" in den abl. abs.: onmi ornatii oraiiojiis tamquam
veste detracta (Cic). Neben distributiver apposition steht der sing,
trotz pluraliscben subjectes: ai rt^pai t6 avvijc: txäoTtj pQyor egyä^tzai
(Plato); die sich nach des meisters iode sogleich entzweiten und offenbar
jeder mir eine beschränkte Sinnesart für das rechte erkannte (Goe.); da
die h'ahedme und die sarjande von Semblidac ieslicher shier künste pflac
(Wolfram).
Auffallender ist die anpassuug des präd. an ein mit dem subj.
verglichenes nomen ; im genus : magis pedes quam arma tuta sunt (Sali.);
im numerus: me non tantum literae quantum longinquitas temporis miti-
gavit (Cic); ei cariora semper omnia quam decus fuit (Ball.); im genus
und numerus: quand an est jeunes, riches et joUes , comme vous, mes-
dames, on n'e?i est pas reduites a l'arlifice (Diderot); in der person: oool
ojöJi&Q ijfiHg EJiißovX&vofud^a (Thuc); in person und numerus: /} rvxt/ cid
ßeXTiov r) rjfislg 7j(iojv avtcov t-jiiftsXov/jsiha (Demosth.). Auffallend ist
auch die congruenz des präd. mit einem zweiten durch ,uud nicht" ange-
knüpften subjecte: heaven and not we haue snfely fouyht to-day (Shakesp.).
Im griech. kann sich eine apposition, wenn sie von dem nomen,
zu dem sie gehört, durch einen relativsatz getrennt ist, im casus nach
dem relativpron. richten: xvxXmjiog xtjölmxai, öv ocfd^aX/iov dXäojOsv,
dvrid^eov IloXvcfrjfiov (Odyssee); ol jiaXaioi sxtlvoL, (6v ovofiara fisyaXa
XtytTca, llirxaxov re xal Biavxog (Plato).
Ein dem. oder rel. kann sich anstatt nach dem subst., auf wel-
ches es sich bezieht, nach einem von ihm prädicierteu nomen richten:
lat. Leucade sunt haec decrela\ id caput Arcadiae erat (Liv.); quod si
non hominis swnmum bonum quaereremus, sed cnjusdam animantis, is au-
iem esset nihil aliud nisi animus (Cic); animal hoc quem vocamus homi-
nem (Cic); ü sunt, quam tu nationem appellasti (Cic); in pratis Fla-
miniis, que?n nunc circum Flaminium appellant (Liv.); griech. ipoßoQ,
i]v aiöco tljtofitr (Plato). Nach dem relativpron. kann sich dann
auch noch das präd. des hauptsatzes richten: Carmonenses, qiiae est
longe firmissima totius provinciae civitas, per se cohortes ejecit.
Ein relativpron., welches sich logisch auf ein unbestimmtes subj.
bezieht, pflegt sich nach dem dazu gehörigen bestimmten ])rädicat zu
richten, natürlich dann auch das präd. des pron. So müssen wir im
deutschen sagen: es war ein mami, der es mir gesagt hat; es sind die
17*
260
besten menschen, die dir das rufen. Ebenso im franz.: c'est eux qui
ont hau. Im franz. richtet sich dabei auch die person des verbums
im relativsatz nach dem bestimmten präd.: c^est moi seid qui suis
coupable. Dagegen uhd.: du bis/ es, der mich gereitet hat.
In einem relativsatze tritt das verb. in die erste oder zweite per-
son im anschluss an das subj. des regierenden satzes, wiewol das
relativi)ron. sich auf das präd. bezieht und danach die dritte person
erfordert würde: lat. non sum ego is consul, qui nefas arbitrer Gracchos
laudare (Cic); neque tu is es, qui nescias (ib.); engl, if thou heesi he,
ivho in the happij realms of light didst outshifie myriads (Milton); / am
the person, that have had (Goldsmith). Diese constructionsweise könnte
allerdings auch als eoutamination aufgefasst werden; in dem letzten
beispiel hätten sich also die gedanken „ich bin die person, die gehabt
hat" und „ich habe gehabt" mit einander vermischt. Das selbe gilt
von einer fUgung wie eine der penibelsten aufgaben, die tneiner täfig-
keit auferlegt werden ko7inie (statt konnten, Goe.). Damit vgl. man
allaro hämo hetsta thero the io giboran uurdi (Heliand) und secga cenegum
pära pe tirleäses trade sceawode (einem der männer, welche des ruhm-
losen spur schauten, Beowulf); und so allgemein im altsächsischen und
angelsächsischen.
Das präd. oder attribut kann anstatt mit dem subj. oder dem
Worte das es bestimmt, mit einem davon abhängigen genitive con-
gruieren, vgl. rjX&s d' ejrl "ipv/rj Srißaiov TeiQsöian -^qvoeov öx^jttqov
tx(ov (Hom.); noch auffallender engl, there are eleven days' journey from
Uoreb unto Kadishharnea (Deut. 1, 2). Im franz. sagt man la plupart
de ses amis t abandonnerent , aber la plupart du peuple voulait. Wenn
sonst häufig nach einem collectivum mit pluralischem partitiven gen.
der ])lur. steht (z. b. eine anzahl Soldaten sind angekommen)., so braucht der
gen. allerdings nicht als die einzige Ursache für den plur. betrachtet zu
werden, da derselbe nach dem collectivum an sich möglich ist, vgl. s. 224.
Vereinzelt steht im lat. ein auf eine angeredete person bezügliches
attribut im voc: quibus, Hector, ab oris exspeclate venis? (Virg.).
An den gegebenen beispielen lässt sich also erkennen, in welcher
weise die congruenz sich über das ihr ursprünglich zukommende gebiet
ausgebreitet hat. Wir können uns danach eine Vorstellung davon machen,
wie dieser process sich schon in einer ])eriode vollzogen hat, die weit über
alle unsere Überlieferung zurückreicht. Freilich muss man berücksich-
tigen, dass für die älteste epoche die ausbreitung der congruenz nicht
etwas 80 unvermeidliches war, weil noch absolute formen ohne flexions-
suffixe existierten.
Betrachten wir nun die ersten grundlagen, von denen die con-
gruenz ausgegangen ist. Eine besondere bewandtniss hat es mit der
261
congTiienz des v er bums in ]ier8üii iiud nunienis. Die verbalfurmen
sind ja zumeist durch anlehuuug- eiues Personalpronomens an den
tempusstamm entstanden. Wir milssen jedenfalls eine epoelie voraus-
setzen, in welcher sich substautiva in der gleichen weise mit dem
stamm verbanden und pronomina auch vor den stamm treten konnten.
Man konnte daher, um es durch formein zu veranschaulichen, ebenso
wie gehen ich, gehen du, gehen er etc. auch sagen gehen valer, vater
gehen und ich gehen etc. Es gibt verschiedene nichtindogermanische
sprachen (z. b. das ungarische), in denen die 3. person sg. in gegensatz
zu den übrigen personen eines Suffixes entbehrt. In ihnen besteht also
noch die ursi)rüngliclie art der Verknüpfung nach der formel gehen
valer oder vater gehen. Die weiterentwickelung geht dann aus von
einer doppelsetzuug des subjects, wozu es auch auf modernen sprach-
stufen analogieen gibt. Vgl. der kirchhof er liegt wie am tage, die
glocke sie donnert ein mächtiges eins] freilich ist er zu preise?!, der
mann (vgl. oben s. 102); Je le sais^ moi, il ne voulut }>as, lui\ toi, tu vivras
vil et malheureux. Hierher müssen wir auch die vorwegnähme des
subjects durch ein unbestimmtes es ziehen [es genügt ein wort). Die
doppelte ausdrückung des pronomens tritt ursprünglich nur ein, wo
dasselbe besonders hervorgehoben werden soll. Wie dieselbe sich aber
allmählig ausbreiten kann, besonders durch die lautliche reduetion der
pronominalformen begünstigt, zeigen bairische mundarten, in denen wir
z. b. folgende häufungen finden : mir hammer (= wir haben wir) oder
hammer mir, ess lebts (ihr lebt ihr) oder lebts ess. Es hat sich also
an den fertigen verbalformen noch einmal der Vorgang widerholt, der
sich früher an den tempusstämmen vollzogen hat. Die enclitisch an-
gelehnten pronomina sind mit dem verbum verschmolzen und haben
ihre ursprüngliche subjectsnatur mehr und mehr eingebüsst. In der
indogermanischen grundsprache muss die entwickelung bereits so
weit gediehen sein, dass die formel vater gehen schon ganz durch
die formel vater gehen er verdrängt war. Das suffigierte pronomen
behauptet aber zunächst noch eine zweifache function. In einigen
fällen dient es noch als subject (lat. lego, legit\ in andern zeigt es nur
durch die congruenz die beziehung auf das subj. {pater legit, ego scribo).
In den meisten modernen indogermanischen sprachen ist nur die zweite
function übrig geblieben. Die hauptursache, welche dazu geführt hat
die Setzung eines zweiten subjectspronomens allgemein zu machen,
ist die, dass die suffixe zur Charakterisierung der formen nicht mehr
ausreichten. Die congruenz des verbalen prädicates mit dem subjecte
hat übrigens an sich gar keinen wert. Unsere personalendungen würden
daher ein ganz überflüssiger bailast sein, wenn sie nicht einerseits dazu
dienten das verbum als solches erkennen zu lassen und anderseits in
262
einigen fällen den unterschied des modus auszudrucken, was aber beides
sehr uDvollkommen und in unnötig eomplicierter weise geleistet wird.
Was die nominale eongruenz betrifft, so ist die des genus und
numerus Jedenfalls zuerst an dem rückbezüglichen pron. ausgebildet,
von welchem ja das grammatische geschleeht seinen Ursprung ge-
nommen hat (vgl. s. 220). Die eongruenz im casus hat sich zuerst bei
der api)osition eingestellt. Es besteht zwar auch hier au sich keine
absolute nötigung das casuszeichen doppelt zu setzen. i) Indessen liegt
es nahe die appositiou zu einem Satzteile als eine nochmalige Setzung
dieses Satzteiles zu fassen. Eine eongruenz im gen. und numerus tritt
bei der apposition auch jetzt nur ein, wo sie durch die natur der
Sache gefordert wird. Die eongruenz des attributiven und ]irädica-
tiven adjectivums kann nur aus der eongruenz des appositionellen und
prädicativen substantivums erwachsen sein, d. h. ihre anfange reichen
zurück in eine epoche, in welcher sich das adj. noch nicht als eine
besondere kategorie von der kategorie des substantivums losgelöst
hatte. Den ausgangspunkt haben die substantiva gebildet, die man in
der lateinischen grammatik mobilia nennt, wie coquus — coqua, rex —
regina etc. Indem solche substantiva in adjectiva übergingen (vgl.
unten eap. 20), behielten sie die eongruenz bei, und dieselbe ward so
etwas zum wesen des adjectivums gehöriges.
Die eongruenz im tempus, die sogenannte consecutio temporum
hat sich im allgemeinen nicht über das gebiet hinaus ausgedehnt,
welches ihr von anfang an zukommt. Die ausnahmen von den darüber
aufgestellten regeln zeigen, dass für das tempus im abhängigen satze
nicht eigentlich das des regierenden massgebend ist, sondern dass es
sich selbständig aus inneren gründen bestimmt. Etwas weiter ausge-
dehnt ist schon die eongruenz des modus, die dann zuweilen auch
die des tempus nach sicli zieht. Vgl. lat. lanium voluil error, ut, Cor-
pora cremata cum scirent, tarnen ea fieri apud inferos fingerent, quae
sine corporibus nee fieri possent nee intelligi (statt possimt, Cic.); m-
vilus feci, ul forlisstmi viri T. Flaminii fralrem e senatu ejicerem sepleni
annis postquam consul fiiisset [fueral, Cic.); cum timidius agerel, quam
superioribus diehus consuesset (Caes.)2) Ziemlich durchgehend ist die
angleichung des modus im mhd.
') Wir sehen das namentlich daran, dass in einer jüngeren epoche bei be-
sonders enger Verbindung das princip der eongruenz wider aufgegeben und die
flexion des ersten bestandteils fortgelassen ist; vgl. mhd. des künic Gunthcres Rp,
an küncc Artüses hove; nhd. Friedrich Schillers, des herrn Müller (bei Goe. noch
des herrn Carlyle's) etc. H. Sachs sagt sogar herr Achilli, dem rilter.
'•*) Vgl. Iiraeger l.')I, 5.
Cap. XVIII.
Spiirsaiukeit im ausdriick.
Die sparsamere oder reichlichere Verwendung sprachlicher mittel
für den ausdruck eines gedankens hängt vom bedürfniss ab. Es
kann zwar nicht geläugnet werden^ dass mit diesen mittein auch viel-
fach luxus getrieben wird. Aber im grossen und ganzen geht doch
ein gewisser haushälterischer zug durch die Sprechtätigkeit. Es müssen
sich überall ausdrucksweisen herausbilden, die nur gerade so viel ent-
halten, als die Verständlichkeit für den hörenden erfordert. Das mass
der angewendeten mittel richtet sich nach der Situation, nach der vor-
ausgehenden Unterhaltung, der grösseren oder geringeren Übereinstim-
mung in der geistigen dispositiou der sich unterhaltenden. Es kann
unter bestimmten Voraussetzungen etwas durch ein wort dem angeredeten
gerade so deutlich mitgeteilt werden, als es unter anderen umständen
erst durch einen langen satz möglich ist. Nimmt man diejenige aus-
drucksform zum massstabe, die alles das enthält, was erforderlich ist,
damit ein gedanke unter allen umständen für jeden verständlich werde,
so erscheinen die daneben angewendeten formen als unvollständig.
Es begreift sich daher, dass die sogenannte ellipse bei den
grammatikern eine grosse rolle gespielt hat, Misst mann allemal den
knapperen ausdruck an dem daneben möglichen umständlicheren, so
kann man mit der annähme von ellipseu fast ins unbegränztc gehen.
Bekannt ist der missbrauch, der damit im 16. und 17. Jahrhundert ge-
trieben ist. Indessen war dieser missbrauch doch nur die weiter
gehende durchführung von anschauungen, die auch jetzt noch in
unseren grammatiken vertreten sind. Es gilt diesen massstab auf-
zugeben und jede ausdrucksform nach ihrer entstehung ohne hinein-
tragung von etwas fremdem zu begreifen. Man wird dann die an-
setzung von ellipsen auf ein minimum einschränken. Oder aber man
müsste den begriff der ellipse in viel ausgedehnterem masse anwenden,
als es jetzt üblich ist: man müsste zugeben, dass es zum wesen des
sprachlichen ausdrucks gehört elliptisch zu sein, niemals dem vollen
Inhalt des vorgestellten adäquat, so dass also in Ijczug auf ellipse
264
Ulli- eiu gradunterschied zwischen den verschiedenen ausdriicksweisen
besteht.
Wir betrachten zunächst die ergäuzung eines wertes oder einer
wortgruppe aus dem vorhergehenden oder folgenden. Hier kann
zunächst die frage aufgeworfen werden, ob und wieweit man über-
haupt berechtigt ist von einer ergänzung zu reden. Wir haben oben
s. 111 gesehen, dass ein Satzteil mehrfach gesetzt werden kann. Die
übrigen demente des satzes haben dann gleichmässig beziehung zu
dem einen wie zu dem andern. Man wird schwerlich für alle fälle
behaupten, dass diese eigentlich doppelt gesetzt werden müssten, dass
sie einmal wirklich gesetzt, ein; zweites (drittes, viertes) mal zu er-
gänzen seien. Am wenigsten anwendbar ist der begritf der ergänzung
bei der construction dxo xolvov. Aber auch in einem satze wie er
sah mich und erschrak wird man nicht nötig finden er bei erschrak
noch einmal zu ergänzen; und ebenso wenig wird man in der Ver-
bindung 7nit furcht und hoffnung die präp. vor hoffmmg ergänzt sein
lassen, weil man auch sagen kann mit furcht und mit hoffnung. Es
fragt sieh aber, ob man nicht den begriff der ergänzung ganz fallen
lassen und dafür die einmalige Setzung mit mehrfacher beziehung sub-
stituieren kann. Man muss dazu nur aufhören das, was man gewöhn-
lich einen satz nennt, als eine in sich geschlossene einheit zu be-
trachten, und ihn vielmehr als glied einer fortlaufenden reihe ansehen.
Gebräuchlich ist es eine ergänzung anzunehmen in fällen wie die
deutsche und die französische spräche und noch entschiedener für die
form die deutsche spräche und die französische. Dass wir aber auch
hier nichts anderes haben, als zwei glieder, die in dem nämlichen ver-
hältniss zu einem dritten stehen, zeigt der umstand, dass wir zwar
nicht im deutschen, wol aber in anderen sprachen dergleichen sprech-
formen mit anderen vertauschen können, wobei die beiden glieder zu
einer einheit zusammeugefasst zu dem dritten (oder richtiger jetzt zwei-
ten) gliede gestellt werden. Dies bekundet sich durch die anwendung
des plurals. Man sagt z. b. quarta et Martia legiones (neben legio
Martia quariaque, beides bei Cic), Falernum et Capanmi agros (var.
agrum Liv.), it. le lingue greca e latina (neben la lingua greca e latina),
franz. les langues francaise et altemande, les onzieme et douzieme siecles,
engl, the german and french languages.
Ein ähnliches verhältniss haben wir da. wo zu einem gemein-
samen gliede eine mehrheit von einander correspondierenden gliedern
hinzutritt {Karl schreibt gut, Fritz schlecht). Dass auch hier die üb-
liche annähme einer ergänzung überflüssig, ja unzulässig ist, zeigt
wider die in manchen sprachen vorkommende setzung des prädicats
in den plur., vgl. lat. PaJatium Romulus, Remus Aventinum ad inauguran-
265
dum teinpla capiunl (Liv.); denieutspreehend auch beim altl. abs.: i/le
Anliocho, hie Mithridale pidsis (Tac). Selbst bei disjimetiün der sub-
jeete ist der pliir. des prädieates in verschiedeuen sprachen neben dem
sing, in gebrauch: vgl. lat. si quid Socrates aut Aristippus confra inorein
cotisuetudinemque civiletu fecerint locutive sinl (Cic); haec si neque eyo
neque tu fecimus (Cic); Roma an Carlhago jura genlibus darent (Liv.);
franz. ou la honte ou l'occasion le dctromperont; ni la douceur, ni Id
force n'y peuvent rien\ engl, nor rvood, nor tree, nor hiish are thcre
(Scott) Dieser plur. ist Jedenfalls von solchen fällen ausgegangen, in
denen ohne wesentliche Veränderung des sinnes vertauschung mit copu-
lativer Verbindung möglich war, und hat sieh dann aualogisch auch
auf solche ausgedehnt, die keine vertauschuug zulassen. Er ist ein
beweis datur, dass das Sprachgefühl sich das einmal gesetzte prädicat
nicht doppelt gesetzt gedacht hat.
Ein gemeinsam zu haupt- und nebensatz gehöriger (respeetive
in dem einen zu ergänzender) satzteil findet sich })ei der s. 114 be-
sprochenen art des ajxo xoivov und auch bei relativsätzen, die auf
andere weise entstanden sind, z. b. den lateinischen {qui tacei consentit).
Ferner im nihd., wenn ein eonjunctionsloser nebensatz im verhältniss
des objects zu dem regierenden steht: da ivände ich st cete fände (Minne-
singer), her sprach were intrunnin (Rother), Seltener sind andere fälle:
nune /reiz ich nie es beginne (Tristan); 7ves er im gedähte daz elliu diu
rvolde hedn'i7igen (j. Judith); mitthiu ther heilant gisah thio menigi steig
ufan berg (Fragm. theot); kern einer her mit defn opfer, brecht auch
vil golts darvon (H. Sachs); da ihn die schöne fraw erblicket, winckt
ihm (ib.); was ich da träumend jauchzt und litt, muss /rächend nun er-
fahren (Goe.); dass, indem er ihn gesegnete, ihm gebot und sprach (Lu.).
Sehr gewöhnlich werden in der Wechsel rede worte des einen
vom anderen nicht widerholt. Doch darf man das nicht als argument
datiir geltend machen, dass eine ergänzung anzunehmen notwendig sei.
Denn auch die wechselrede muss als etwas continuierlich zusammen-
hangendes betrachtet werden.
Als eine starke anomahe erscheint es uns jetzt, wenn ein Satz-
glied nicht zwei sich an einander anschliessenden Sätzen gemein ist,
sondern zwei durch einen dritten getrennten, vgl. s/raz er den künic e
geschalt, des wart ir zehenstunt mer , und (er) Jach, si wcere gar ze
her (Wolfram); wer mit wölfen wil geulen, der muss auch mit in heulen,
sunst tun sie sich bald meiden und (er) ist bei in unwert (H. Sachs).
Ebenso, wenn die sätze, denen das glied gemeinsam ist, sich zwar an
einander anschliessen, aber keine directe beziehung zu einander haben,
vgl. so ist geschehen des ir da gert und wwnent (ihr meint), mir si wol
geschehen (Hartmann v. Aue).
266
Das gemeinsame j^lied kann zwischen den nicht gemeinsamen
stehen, so dass es sich zu einem jeden gleich bequem fügt {cmo
x(nv(n'\ oder es steht am anfang oder schluss des ganzen: dann ist
CS zwar dem einen näher, aber immer noch leicht zu dem andern zu
ziehen; oder endlich es ist in eine von den wortgruppen, auf die es
gleichmässig zu beziehen ist, eingefügt: dann erscheint es zunächst nur
zu dieser gehörig. Uns sind solche einfiigungen nur in der ersten
gruppe geläufig. Hierbei hat die annähme einer ergänzung in der
zweiten (dritten etc.") gruppe am meisten für sich. Im mhd. ist ein-
fügung in die zweite nicht ganz selten: fnäffe und mine man (meine
verwandten und meine lehensleute); gelücke und Sifrides heil; daz ich
muoz und sterben soh Beispiele aus dem nhd.: nicht sonne, mond und
slcrnenschein, mir glänzte nur mein kind (Bürger); es bell' und mute, wie
der hund auch immer jvill (Heinr. Alberts arien). Vgl. it : il mar tran-
quillo e l'aura era soave (Petrarca); non pur per Varia gemiti e sospiri,
ma volan braccia e spalte (Ariost); afranz.: Breton l'ensaigne lor signor
(das feldgeschrei ihres lierrn) e II Romain crient la lor\ griech. ovtt
ßcofioc ovT 'AjiöXXon'OQ öofiog oo'joh 08 (Eur.). Bei dieser fttgung
kann wider von einer ergänzung eigentlich nicht die rede sein. Viel-
mehr bleibt die erste gruppe unvollständig, bis das gemeinsame glied
ausgesprochen ist, welches dann in diesem augenblicke zugleich zur
Vervollständigung der ersten und der zweiten gruppe dient.
Die function, welche ein gemeinsames glied hat, ist oft nicht
nach den verschiedenen selten hin die gleiche. Hierdurch entsteht
ein missverhältniss, indem sich das glied in seiner grammatischen form
nur nach einer seite richten kann. Die scheu vor diesem missverhält-
niss, welches sich durch widerholung vermeiden lässt, ist in den ver-
schiedenen sprachen und perioden eine sehr verschiedene.
Am unanstössigsten ist überall uichtübereinstimmung in der ge-
forderten person (auch numerus) des verbums. Vgl. er hat fiiich eben
so lieb n'ie du; du glaubst es, ich nicht \ sie reisen morgen ab — ich
auch. Als abnormität aber erscheint es uns, wenn das gemeinsame
glied sich nach dem zweiten teile richtet, vgl. avTOc. (ihv vöcoq, iyco
61 oivov Jiira) (Dem.); dass ich im vater und der vater in mir ist (Lu.);
HÖH socii in fide, non exercitus in officio mansit (Liv.). Die differenz
des tempus ist unberücksichtigt in folgenden beispielen: rjnüc ofioloi
xiä TOTfc xal i'vv i:(jfif-v (Thuc); aX?.a /je)' JCQotf^QOV, aXXa (Vt vvv xtiQn
?Jyiir (Xeu.); die ditterenz von tempus und modus zugleich in folgen-
dem: tjittdr) ov TOTf, dXXä vvi> öti^ov (Dem.). Eine ziemlich gewöhn-
liche erscheinung ist es wider, dass der inf. aus einem verb. fin. zu
entnehmen ist: er hat gehandelt, wie er musste; noch freier im mhd.
nach der min herze ie ranc wid iemer fnuoz; griech. Jtävv xciXsjtcbg sx^f
267
olfiiu dt xal v}i(y)V rot'*; jroAAoiv- (Plato). Seltener ist so ein part. zu
entnehmen, vgl. mhd. daz diu /ninn dich vciicilet , als si manegeu hat.
Einunddieselbe form fungiert im deutschen zuweilen als inf und als
part.: ich habe es nicht und werde es nicht ver(/essen (Klopstock); vgl.
weitere beisjnele bei Andr. Sprachg. s. 133. H, Sachs sagt zu ehren sein
/vir zu euch kuwen, ein histori vm für genumcn, wiewol von dem zwei-
ten verbum das perf. hätte durch Jiahen umschrieben werden müssen.
Bei den nomina sind dergleichen incongruenzen in der jetzigen
spräche fast durchweg verpönt, erscheinen aber in der älteren spräche
häutig, zumal im sechszehnteu Jahrhundert, zum teil auch nocii bis in
unser Jahrhundert, und finden sich auch in anderen sprachen reichlich.
So congruiert das adj. nur mit dem nächststehenden von zwei copu-
lativ verbundenen Substantiven: aus meinem grossen kummer und traurig-
keit (Lu.), von eurer saat und Weinbergen (Lu.), sein sonstiger ernst und
trockenheit (Goe.), seiner gewöhnlichen trockenheit und ernst (ib.); viele
beispiele bei Andr. Sprachg. 127 ff.; franz. un homme ou wie femme noijce\
it. in publica utilita ed onore, le cila cd i villagi magnifichi; span. loda
sa parentela y criados, la multitud y dolor, los pensiamentos y fneniorias,
un pabellon o tienda\ lat. urbem ac portuni validwn (Liv.). Zu mehreren
Präpositionen, die verschiedene casus regiereu, wird ein wort nur ein-
mal gesetzt ohne anstand, wenn die verschiedenen casus lautlich über-
einstimmen, z. b. mit und ohne kost; aber auch bei nichtübereinstimmung,
z. b. um und neben dem hochaltare (Goe.), durch und mittelst der spräche
(Herder); weitere beispiele bei Andr. Sprachg. s. 128. Ebenso kann
auch neben mehreren verben die nämliche form mehrere casus reprä-
sentieren, vgl. lat. quod t actum est et illc aujunxit (Cic); quae neque ego
teneo neque sunt ejus generis (ib.); nhd. was geschieht und ich nicht hin-
dern kann (Le.); eine dose, die er mit 80 gülden bezahlt hätte und nur
40 wert wäre (Goe.)'); womit uns für die zukunft der Himmel schmeicheln
und bedrohen kann (Goe.); bei dessen gebrauch wir einander mehr
schmeicheln als verletzen (Goe.)-); leidlicher wer mir vnd het auch lieber
das drey oder vierteglich fieber (H. Sachs); bei Zwischenstellung vnd
wissen nit jr widervart mag offt lang haben nit mehr fug (H. Sachs).
Selbst ein von einer präp. abhängiges wort wird zugleich zum subj.
des folgenden verbums gemacht: dan leszt er uns für fragen schon das
heilig euangelion durch sein heilige junger, deuten all christlich pre-
diger (H. Sachs); von ritter Cainis ich lasz het lieb fraw Gardeleye (ib.).
Die freiheit wird auch auf solche fälle ausgedehnt, wo eigentlich formen
von verschiedener lautgestaltung verlangt würden. Namentlich fungiert
1) Vgl. Andrs. Sprachg. s. 129. 130.
») Vgl. ib. s. 133.
268
ein obliquer casus zugleich als suhj. zu einem folgenden verb. So bei
asyndctisclicr ncbcncinauderstelluug: Hess der bischo/f' die seinen über
das her laufen, erslaehen der ellich (Wiltwolt von Schau raburg, 1507);
mit zvvischenstelluug ich war selb bei dieser handlung, gschach e du
/rarst geborn (H. Sachs). Ebenso bei Verbindung durch und: sehr häufig
im nihd., vgl. ez möhte uns wol gelingen und hrmhten dir die frourven\
aber auch noch nlid., vgl. er setzte sich auf einen jeglichen unter
ihnen und fvurden alle voll des heiligen geistes (Lu.); den es krenke
meinethalben und meinen ohren offenbare (Lu,); auch dem, der sie ver-
folgt, und (lehl und schenkt und schwöret, wird kaum ein blick gegönnt,
und wird nur halb gehöret (Le.). Bei Verbindung durch wan (= denn):
thut euch bedenken, wan wisset selber je gar wol (IL Sachs). Auch zu
der oben s. 205 bezeicheuten anomalie kann noch incongruenz hinzu-
treten, vgl. belibe ich äne man bi iu zwei jär oder driu, so ist min herre
lihte tot und kument (kommt ihr) in so grbze not (Hartmann v. Aue).
Beispiele bei axo xotvov mit logischer Unterordnung sind schon oben
s. 114 und s. 115 gegeben. Im lat. kann auch ein nom. einen acc.
mit vertreten: qui fatetur . , et . . non timeo (Cic); ein dat. einen acc:
cui fidem habenl et bene rebus suis consulere arbitrantur (ib.). Es kann
auch ein possessivpron. das betreffende personalpron. mitvertreten: ja
was ez ie din site unde hast tnir da mite gemachet manege swcere (Hart-
mann V.Aue); alsobald stunden seine sckenkel und knöchel feste, sprang
auf (Lu.). Oder ein da, welches mit einem adv. verbunden ist, das
demonstrativpron.: da mite so müezeget der muot und (das) ist dem Übe
ein michel guot (Gottfrid v. Strassburg). Endlich können zwei ver-
schiedenartige Satzteile zusammengefasst das subject zu einem folgen-
den verb. bilden, vgl. da vuorte si in bi der haut und säzen zuo ein-
ander nider (Hartmann v. Aue); dö nam daz Constantinis wlb ir
locht er, die was herlich, unde bätin Dietheriche (Rother); wie herzog
Jason wardt verbrandt von Medea also gejiandl; hellen doch vor viel
zeit vertrieben (H. Sachs); so hertzlieb von hertzlieb musz scheiden vnd
gentzlich kein ho/fnung mehr handt (ib.).
Wir haben in cap. IG gesehen, dass zwei hauptbegriflfe durch ein
oder mehrere mittelglieder verknüpft sein können, welche die art
der verknUi)fung genauer bestimmen, sei es dass dieses verhältniss zu-
gleich psychologisch und grammatisch ist, oder dass es rein psycho-
logisch ist und sich mit der grammatischen verknüpfungsweise nicht
deckt. Da nun häufig daneben ausdrucksweisen vorkommen, welche
solcher mittelglieder entraten, so ist man leicht geneigt diese für ellip-
tisch zu erklären. Diese auschauung ist für viele fälle durchaus zu-
rückzuweisen. Wenn man z. b. statt Hectoris Andromache und Caecilia
Metern genauer sagen könnte Andromache uxor Hectoris und Caecilia
269
ßia Met ein so tbli;t daraus doch nicht, dass bei den kürzeren aus-
drueksweiseu die formen uxor oder /ilia zu ergänzen sind, sondern sie
erklären sieh ohne solchen behelf ans der allgemeinen function des
genitivs, und wer hier eine ellipse annimmt, mnss consequenterweise
mit den graramatikern des sechzehnten Jahrhunderts bei jedem genitiv
eine ellipse annehmen. Daneben finden sieh aber solche ausdrucks-
formen, für welche der bezeiehnung elliptisch eine gewisse berech-
tigung nicht abzusprechen ist, insofern sie auf grund vollständigerer
ausdrucksweisen entstanden sind, bei denen aber darum doch nicht
die auslassung eines bestimmten Wortes anzunehmen ist.
Richtungsbezeichnungen sind gewiss ursprünglich nur neben verben
der bewegung entwickelt. Man findet nun öfters eine richtung ange-
geben neben verben, die bereiten oder dergl. bedeuten, vgl. mhd. .<:ich
bereite von dem layide vil inanic ritt er starc (Nibelungenlied), wir suln
ouch uns bereiten heim in mhiiu lant (ib.); dö soumte fnan (lud man auf)
den degenen von dannen träfen und gewanl (ib. C); di sich gegartvet häten
ze strite üf daz velt (Alphart); dö vazte sich der herzöge in des kuniges
kof (da rüstete sich der herzog, um an den hof des königs zu ziehen;
Kaiserehronik, und so öfter in diesem denkmal); vgl. griech. (pavigog
7]v o'ixmh jcaQaox8va^6i^i£vog (Xen.); ähnlich txsXsvOav sjcl rä ojiXa
(ib.).') Ebenso bei mhd. rümen: heiz inz rümen von dan (Hartmann
V. Aue), ich rüme dir daz liche von hinnen vlühticliche (Rudolf v. Ems).
Vgl. ferner griech. IxXÜJiiiiv rr/V jrnXiv stg y^ojQiov. Es ist nicht an-
zunehmen, dass bei solchen Wendungen dem sprechenden etwa der
nicht ausgesprochene inf eines bestimmten verbums wie gehen, reiten
oder dergl. vorgeschwebt hat. Vielmehr ist der psychologische pro-
cess, dem z. b. die weudung jiaQaöxsvd^eo&^ai olxaöe ihre entstehung
verdankt, folgender. Es seh weben zunächst die beiden begriffe des
sich bereitens und des räumliehen zieles, um dessen willen mau sich
bereitet, vor und verbinden sich direct mit einander als psychologisches
subj. und präd. Indem man aber von Sätzen her wie jtoQtvomat olxaös
oder jraQaöxeväCotnai olxadt jtOQSvto&ai die gewohnheit hat das
räumliehe ziel in einer bestimmten form auszudrücken, wendet man
diese form auch hier an. Es wirkt also zweierlei zusammen: einer-
seits die schon vor der entstehung aller formellen demente der spräche
vorhandene und immerdar bleibende fähigkeit, die beziehung, in welche
*) Indem solche Verbindungen gewohnheitsmässig werden, kann sich die aiif-
fassung von der bedcutung des verbums verschieben, indem die bewegung in einer
bestimmten richtung als mit dazu gehörig augesehen und schliesslich zur haupt-
saclie wird. So ist nhd. schicken ursprünglich „zurecht machen", reise ursprünglich
„aufbruch", anfbrecheu ursprünglich das gegenteil von mifschhigcn (nämlich das
lager).
270
zwei l)eg:rift'e im bewiisstsein zu einander getreten sind, mag dieselbe
nun eine unmittelbar gegebene oder eine durch andere begrifte ver-
mittelte sein, dureb nebeneinanderstellung der bezeiebungen für diese
begriffe auszudrucken; anderseits die analogie der entwickelten aus-
drucksi'ormen.
Das nämliche verhältniss findet noch in sehr vielen anderen
fällen statt. Es gehören hierher viele der in cap. 6 besprochenen
ausdrucksformen, wie scherz hei seile, wer da? etc. Nachdem einmal
die meisten Wörter formelle demente in sich aufgenommen hatten,
konnte die eben bezeichente und in cap. 6 näher erörterte fähigkeit
sich gar nicht anders äussern, als indem zugleich die bedeutung dieser
formalen demente zur geltung kam. Wir betrachten jetzt noch einige
weitere hierher gehörige eonstructionsweisen. die gewöhnlich für ellip-
tisch augesehen werden.
Den schon besprochenen zunächst stehen richtungsbezeichuungen
nach den verben können, mögen, sollen, wollen^ dürfen, müssen, lassen,
z. b, ich mag nicht nach hause, ich lasse dich nicht fort. Diese sind
so usuell geworden, dass sie vom Standpunkte des gegenwärtigen
Sprachgefühles aus in keinem sinne als elliptisch bezeicheut werden
können. Ferner Wendungen wie er ist weg^ er ist nach Rom, die nicht
anders aufzufassen sind wie er ist in Rom, d. h. weg und nacli
Rom sind als prädicate zu nehmen, ist als copula. Zu vergleichen
sind lateinische constructionen wie quando cogitas Romam 7 (Cic), ipsest
quem volui obviam (von dem ich wollte, dass er mir entgegen gehen
sollte, Ter.), pulo ntrimique ad aquas (Cic).
Wenn wir sagen ich möchte dich nicht anders, als du bist, so wird
man das schwerlich aus einer ellipse von haben erklären wollen.
Näher würde anders sein liegen; aber durch einfügung von seiti be-
käme man eine undeutsche construction. So wenig aber hier ein sein
ergänzt werden darf, so wenig muss ein sein hinzugedacht werden bei
lat. Strato physicum se voluit (Cic).
Im lat. findet sich zuweilen zu einem subjectsnominativ ein acc.
gesetzt ohne verbum: sus Minerva/n. fortes fortuna, manus tnanum, dii
meHora\ quae cum dixisset, Cotta finem (Cic); ego si litteras tuas (ib.);
quid tu mihi testis? Diese constructionen werden dadurch nicht er-
klärt, dass man ein verb. angibt, welches als ergänzung hinzugefügt
werden müsse. Vielmehr muss man sagen: es sind hier zwei begriffe
darum in der form des nom. und acc. mit einander verknüpft, weil
sie in dem selben verhältniss zu einander stehen, wie in einem voll-
ständigeren satze subject und object. Entsprechend aufzufassen ist die
unmittelbare Verbindung eines subjectsnominativs mit einer präpositio-
ndien bestimmung oder einem adv., vgl. itaque ad temjms ad Pisones
271
omnes (Cic), hcpc hdclcnus (wo ha'c freilicl! auch als aoo. g:efasst wer-
den köuute), an In id ?)ie/ius? (Cio.), 7ie quid tcmere, ne quid crude/i/er
(Cie.); ravra ^itr oiv d?) oirfc»^ (Plato). Dafür gibt es auch im deut-
scheu aualogieeii: in lebhafter erzählung sagt man ich rasch hinaus,
ich hinterher w. dori;!.; vgl. der (jraf nun so eilig zum lore hinaus (Goe.);
der Sultan gleich dem tone mtch (Wielaud).
In entsprechender weise verbindet sich ein nebensatz mit einem
regierenden satze direct. der bei vollständigerem ausdruck des ge-
daukens durch vermittelung eines andern uebensatzes oder eines Satz-
gliedes angeknüpft werden niüsste. Diese verknUpfungsweise kann
dann auch wider usuell werden, so dass man nichts mehr vermisst.
Vgl. 7rie Lavaler sich hiebei benommen^ sei nur ein beispiel gegeben
(Goe.), wo wir von unserem Sprachgefühle aus ein dafür vermissen;
und fragst du mich nach diesen beiden schätzen: der lorbeer ist es und
die gunst der frauen (Goe.); dass ichs dir gestehe, da ergriff ihn mein
gemiit (Goe.); besuche deine brüder, obs ihnen ?iwhl gehe (Lu.). Hierher
gehören auch Wendungen wie ?vas dos anbetrifft, tvas ich davon weiss
u. dergl., die in den verschiedensten s])rachen analogieen haben. Ent-
sprechend verhalten sich infinitivische Wendungen wie die wahrheil zu
sagen, es kurz zu sagen, um nur eins anzuführen, um von allem übrigen
zu schweigen; ferner kurz (ich weiss es nicht), mit einem worte, gerade
heraus, beiläufig, a propos.
Eine ergäuzung aus der Situation findet statt, wenn statt
eines substantivums mit einer dazu gehörigen bestimmung bloss die
letztere gesetzt wird. Hierher gehört nicht etwa der gute als bezeich-
nung für jede beliebige gute person oder das gute als bezeichnung für
jedes beliebige gute ding. Dabei findet keinerlei art von ellipse statt.
Der begriff der person, eventuell der männlichen person und der der
saehe sind durch das geschlecht des aiükels bezeichnet. Wir haben
es hier nur mit den fällen zu tun, in denen eine beziehung auf einen
speeiellereu begriff stattfindet; vgl. rechte, linke (band); cälida, frigida
(aqua); alter, neuer, süsser, Burgunder, Champagner etc., axQarog (wein);
agnina, caprina (caro); Appia (via); aestivu, hiberna (castra); natalis
(dies); quarta, nona (hora); ri/ vOrtgcda, t;"/ tqItjj (wtQfc); octingen-
tesimo post Romam condifam (anno); decima (pars); löviog (xoXjroc);
Movöixfj etc. (rt/r//); ahd. frenkisga {zunga). Wenn man hier eine
ellipse annehmen will, so ist nicht viel dagegen einzuwenden. Nur
muss man sich klar machen, dass eine entsprechende ergäuzung aus
der Situation, wie wir in cap. 4 gesehen haben, auch in sehr vielen
anderen fällen stattfindet, wo es uns nicht einfällt eine ellipse zu sta-
tuieren. Wenn wir unter der alte alten wein verstehen, so beruht das
auf der selben unterläge, als wenn wir darunter nicht jeden beliebigen
272
alten mauu verstehen, sondern einen, den wir gerade vor uns haben
oder von dem eben g-esprochen ist. In den aufgeführten fällen ist die
besondere Verwendung des adj. schon mehr oder weniger usuell ge-
worden. Je fester der usus geworden ist, um so weniger ist zum ver-
stiindniss die Unterstützung durch die Situation erforderlich. So werden
die bezeichuuugeu aller, neuer wol nur im weinhause, beim weinhandel
oder, wo sonst schon irgendwie die aufmerksamkeit auf wein gelenkt
ist, von diesem verstanden und sind überhaupt nur in weinbauenden
gegenden üblich; dagegen Champa{/ner wird ohne alle besondere dis-
position viel eher auf die bestimmte weinsorte als auf einen einwohner
der (Uiampagne bezogen. Sobald nun die Unterstützung durch die
Situation für das verständniss entbehrlich ist, so ist auch das wort nicht
mehr als ein adj. zu betrachten, sondern als ein wirkliches substantivum,
und es kann dann von einer ellipse in keinem sinne mehr die rede sein.
Eine ganz entsprechende entwickelung begegnet uns auch bei
genitivischen l)estimmungen. Vgl. lat. ad Martis, ad Dianae (templum);
ex Apollodori (libro) ; de Gracchi apud censores (oratione) ; franz. la saint
Pierre (fete). Im deutschen sind die festbezeiclmungeu Michaelis,
Johannis, Martini etc. und die ortsbezeichnungen St. Gallen, St. Georgen,
St. Märgen vollkommen selbständig geworden und werden nicht mehr als
ergänzungsbedürftig und daher auch nicht mehr als genitive empfunden.
In den besprocheneu fällen erhält ein Satzglied Vervollständigung
seines sinnes aus der Situation. Es kann aber auch ein Satzglied, es
kann das psychologische subject oder prädicat ganz und gar der
Situation entnommen werden. Hierher gehören die oben s. 104 be-
sprochenen scheinbar eingliedrigen Sätze, wie feuer, diehe etc. Auch
auf die form dieser kann die analogie der vollständigeren sätze in der
beschriebenen weise einwirken. Sagt man z. b. in drohendem tone ab-
wehrend keinen schritt weiter, so ist nur das psychologische präd.
ausgesprochen, als subj. wird die person verstanden, an welche die
Warnung gerichtet ist. Dass aber das erstere in den acc. tritt, hat die
gleiche Ursache wie bei den Sätzen von der form Cotta finem. Das
gleiche gilt von Sätzen wie guten tag, schönen dank, herzlichen glück-
nmnsch u. dergl. In fällen wie glückliche reise, keine umstände, viel
glück und vielen andern gibt die form keine Sicherheit darüber, ob
der acc. gemeint ist. In einem satze wie manum de tabula lässt sich
manum als psychologisches subj. de tabula als präd. auffassen, aber
der acc manum zeigt, dass auch hierzu wider ein subject aus der Situ-
ation zu entnehmen und dass das verhältniss zu demselben nach der
analogie des objects zum subject gedacht ist. Ebenso verhält es sich
mit nitro istum a me (Plaut.), ex ungue leonem = fg ovvyicov liovra,
malam Uli pesirtn (Cic.) etc. Aus dem deutsehen gehören hierher sätze
278
wie den köpf in die höhe und daujich auch vvol .solche wie yeirehr auf,
scherz hei seile, davon ein ander fual mehr, wenn auch die lautform
den acc. nicht erkennen lässt. Auch andere casus, präpositiouelle be-
stimmungen und adverbia können so gebraucht werden, wie schon die
angeführten beispiele zeigen; vgl. noch scd de hoc alio loco pluribus
(Cic.), de conjectura hactenus, nimis iracunde.
Zuweilen ist auch das psychologische prädicat aus der Situation
zu entnehmen, wobei der tonfall, mienen und gebährden die Verständ-
lichkeit unterstutzen können. So z. b, bei unterdrückten drohuugen:
ich will {dich), vgl. das bekannte Virgilische quos ego. Hierher ge-
hören ausdrücke der Verwunderung oder eutrüstung oder des bedauerns,
die nur den gegenständ augeben, über den man sich verwundert oder
entrüstet oder den mau bedauert. Das prädicat wird dabei haupt-
sächlich durch den gefühlston angedeutet. Vgl. subjectsnominative
wie dieser kerl, diese fülle, der wujlückliche, ich armer etc. Ferner
intinitive wie so lange zu schlafen, so ein schuft zu sein; lat. tantamne
rem tarn negligenter ayere (Terenz), nmi puduisse verberare hominem
senem (ib.); acc. c. inf.: te nunc sie vexari, sie jacere, idque fieri mea
culpa (Cic); vgl. Draeg. § 154, 3.
Auf die nämliche weise erklären sich auch isolierte sätze, die
die form des abhängigen satzes haben. Sie sind ursprünglich
entweder psychologische subjecte oder prädicate, wozu der correspon-
dierende Satzteil aus der Situation verstanden wird, können aber durch
usuelle Verwendung allmählig den Charakter von selbständigen haupt-
sätzen erlangen. Ursprüngliche subjecte sind wie die oben angeführten
ausdrücke der Verwunderung und des bedauerns auch solche, die mit
der coujunetion dass eingeführt werden: dass du gar nicht müde wirst l
dass mir das begegnen muss! dass dir auch so wenig zu helfen ist!
Ferner bedingungssätze als drohungen: trenn er mir in den warf
kommt — ■, ertappe ich ihn nur — ; lat. verbum si adderis (Terenz). Be-
dingungssätze als Wunschsätze: wäre ich erst da! wenn er doch käme!
Bedingungssätze, für die man keinen nachsatz zu finden weiss: trenn du
noch nicht überzeugt bist, wenn er aber nicht kotntnf, lat. si quidem istuc
impune habueris (Terenz). Bedingungssätze als abwcisuugeu einer be-
hauptuug oder Zumutung, die aus unkenntniss der wahren Verhält-
nisse gemacht wird: wenn du in mein herz sehen könnlest; wenn du
wüsslest, trie leid es mir tut. Ursprüngliche prädicate oder nach der
grammatischen form objecte sind wünsch- und aufforderungssätze, mit
dass eingeleitet: dass ich doch dabei sein könnte; nhd. daz si schiere
got geh(ene\ franz. que J'aille a son secours ou que je meure\ it. che tu
sia maledel to und so in allen romanischen sprachen.
Paul, Principien. II. Auflage. 18
Cap. XIX.
Entstehung der Wortbildung; und flexion.
Wir haben «us vielfach mit der analogischeu neuschöpfung auf
dem gebiete der Wortbildung und flexion beschäftigt. Wir müssen
jetzt die ursprüngliche, nichtaualogische Schöpfung auf diesem gebiete
ins äuge fassen. Dieselbe ist nicht etwas primäres wie die einfachsten
syntaktischen Verbindungen, sondern erst etwas secundäres, langsam
entwickeltes. Es gibt, soviel ich sehe, nur drei mittel, durch die aus
blossen einzelnen in keiner inneren beziehung zu einander stehenden
Wörtern sich etymologische wortgruppen herausbilden. Das eine ist
lautdifterenzierung, auf die eine bedeutungsdifferenzierung folgt. Ein
passendes beispiel dafür wäre die Spaltung zwischen impf, und aor. im
idg. (vgl. oben s. 218). i) Aehnliche Spaltungen sind sehr wol auch
schon bei den primitiven dementen der spräche denkbar. Doch bilden
sich in den meisten fällen, die wir beobachten können, durch solche
differenzierung keine gruppen, indem dabei das gefühl der Zusammen-
gehörigkeit verloren geht, und noch weniger parallelgruppen , wie in
dem angeführten falle. Ein zweites mittel ist das zusammentreifen
eonvergierender bedeutungsentwiekelung mit convergierender lautent-
wickelung (vgl. suchen — sucht), worüber s. 181 gehandelt ist. Dass
ein derartiger Vorgang nur vereinzelt eintreten kann, liegt auf der
band. Die eigentlich normale entstehungsweise alles formellen in der
spräche bleibt daher immer die dritte art, die composition.
Die entstehung der composition zu beobachten haben wir reich-
liche gelegenheit. In den indogermanischen sprachen sind zwei schich-
ten von compositis zu unterscheiden, eine ältere, die entweder direct
aus der Ursprache überkommen, oder nach ursprachlichen mustern ge-
bildet ist, und eine jüngere, die unabhängig davon auf dem boden der
') Ein ganz anderer Vorgang ist es natürlich, wiewol das gleiche resultat
lieraiiskouimt, wenn ein secundärer lautnnterschied nach verlust der übrigen unter-
scheidenden uierkuiale zum einzigen zeichen des functiousunterschiedes wird, wie
in engl, foot — feet, loolh — leelh, man — men. Wo sich dergleichen formen
in unseren ältesten Überlieferungen finden, wird sich häufig nicht entscheiden lassen,
ob sie diesem oder dem im text I)esprochenen vorgange ihre entstehung verdanken.
275
einzelspraehen entwickelt ist imd in den müilernen S])raehen einen
grossen urafanii' gewonnen hat. Letztere selien wir g-rossenteils vor
unsern äugen entstehen, und zwar durchgängig aus der syntaktischen
aneinanderreihung ursprünglich selbständiger elemente. Es sind dazu
Verbindungen jeglicher art tauglich. So entstehen coniposita aus der
Verbindung des genitivs mit dem regierenden Substantiv; vgl. nhd.
hungersnot, hasenfuss, freudenfest, kindergarten, franz. lundi {hmce dies),
Thionville {Theodonis villa), connetahle (comes stahuli), Montfaucon {mons
falconis), Boiirg-la-Reine, lat. palerfamilias, legis] ator, plebiscitum, capri-
foUum\ aus der Verbindung des attributiven adjectivums mit dem sub-
stantivüm, vgl. nhd. ede/mann (mhd. noch edel man, gen edeles mannes),
altmeister, hochmut, Schönhnmn, oherhand, Liebermeister, Lieheskind,
fnorgetirot, franz. demi-cercle, double- feuille, faux-marche, haute- justice,
grand-mere, petite-fille, belles-letlres, cent-gardes, bonjom\ prudhomme,
prin-temps, Belforl, Longueville, amour-propre, garde-nationale, ferblanc,
vinaigre, Villeneuve, Roche fort, Aigues-Mortes, lat respublica, jusjura.n-
dum; ferner nhd. einmal, jenseits (mhd. jensit), einigermassen, ?nitfler-
rveile, franz. encore {hanc horam), fierement {fera mente)^ autrefois, autrc-
part, toüjours, longtemps, lat. hodie, magnopere, reipsa] aus der appo-
sitionellen Verbindung zweier substantiva, vgl. nhd. Christkind, gott-
mensch ^ fürslbischof prinz-regent, herrgott, Basel-land^ franz. maitre-
iailleur, maUre-garcon, cardinal-ministre, Bampierre [dominus Petrus),
Dammarie (domina Maria\ afranz. damedeus [dorninus deus); aus der
coordiuation zweier Substantive, nhd. nur zur bezeichnung der Ver-
einigung zweier länder, wie Schleswig-Holstein, Oestreich-Ungarn; aus
appositioneller oder copulativer Verbindung zweier adjectiva oder der
eines adverbiums mit einem adjectivum, was sich nicht immer deut-
lieh unterscheiden lässt, vgl. nhd. rofgelb, bitt ersüss, alt englisch, nieder-
deutsch, hellgrün, hochfein, gutgesinnt, wolgesitmt, franz. bis-blanc, aigre-
doux, sourd-muel, bienheureux, malcontent\ aus der addierung zweier
Zahlwörter, vgl. nhd. fünfzehn, lat. quindecim\ aus der Verbindung des
adjectivums mit einem abhängigen casus, vgl. nhd. ausdrucksvoll, sorgen-
frei, rechtskräftig, lat. jurisconsultus, -peritus, verisimilis\ aus der Ver-
bindung zweier pronomina, respective des artikels mit einem pronomen,
Vgl. nhd. derselbe, der jene (jetzt nur noch in der ableitung derjenige),
franz. quelque {quäle quid), autant {alterum tanturn), lequel; aus der Ver-
bindung eines adverbiums oder einer conjunction mit einem pronomen,
vgl. nhd. jeder (aus ie-weder), kein (aus nih-ein), franz. celle {ecce illam),
ceci {ecce istum hie), lat. quisque, quicunque, hie, nullus', aus der Ver-
bindung mehrerer partikeln, vgl. nhd. daher, darum, hintan, fortan, vor-
aus, widerum, entgegen, immer, franz. jamais, ainsi {aeque sie), avant {ab
ante), derriere (de retro), dont (de unde), ensemble (in siniul), encontre,
IS*
276
lat. desuper, perinde, sicut, unquam, eliam\ aus der Verbindung einer
Präposition mit einem abhängigen casus, vgl. nhd. anstatt, zunichte,
zufrieden, vorhanden, inzwischen, entzwei, franz. contremont, partout,
mdroit, alors (ad illam horam), surle-champ, environ, adieu, affaire^
sans-culotte, lat. invicem, obviam, illico (= in loco), denuo ( — de novo),
idcirco, quamobrem; aus der Verbindung eines adverbiums mit einem
verbum, vgl. nhd. auffahren, hinbringen, herstellen, heimsuchen, misslingen,
vollführen, franz. malmener, maltraiter, meconnaitre, bistourner, lat. bene-
dicere, jnaledicere; aus der Verbindung eines abhängigen casus mit
seinem verbum, vgl. nhd. achtgeben, rvahrnehmen (ahd. /r/ira, st. fem.),
wahrsagen, lobsingen, handlangen, hochachten, jtreisgeben, franz. maintenir,
colporter, bouleverser, lat. animadvertere, venum dare — venundare —
vendere, crucifigere, usuvenire, fnanwnittere, referre. Auch mehr als
zvrei glieder können so zu einem compositum zusammenschiessen '),
vgl. nhd. einundzwanzig, einundderselbe, lat. decedoclo (= decein et octo,
vgl. Corssen, Aussprache des lat. ^H, s. 886); franz. loiir-a-tour, tele-
ä-iele, vis-a-vis; franz. aide-de-camp, trait-d'union, garde-du-corps, Lan-
guedoc, belle-ä-voir, pot-au-feu, Fierabras, arc-en-ciel, Chdlons-sur- Marne,
lat. duodeviginti, nhd. braut inhaaren (blume); lat. plusquamperfectum;
nhd. nichtsdestoweniger, ital. nondimeno. Auch aus abhängigen Sätzen
entspringen composita, vgl. mhd. newwre zusammengezogen aus
niur etc. = nhd, nur, ital. avvegna (adveniat), avvegnache, chicchessia,
lat. quilibet, quamvis, quantumvis, quamlibet, ubivis. Ebenso aus Sätzen,
die der forin nach unabhängig sind, aber doch in logischer Unter-
ordnung, z. b. als einschaltungen gebraucht werden, vgl. nhd. weiss-
gott , mhd. neizwaz = ags. nät hwwt = lat. nescio quid, franz. Je
ne sais quoi, mhd. deiswär (= daz ist trär), franz. peut-elre, picea,
nagnere, lat. licet, ilicet, videlicet, scilicet, forsitan, spau. quiza (viel-
leicht, eigentlich 'wer weiss'). Ferner können mit hülfe von metaphern
Sätze zu C()m])ositis gewandelt werden, insbesondere imperativsätze,
vgl. nhd. Fürchicgott, lawjenichts, Störenfried, geratewol, vergissmeinnicht,
gottseibeiuns, franz. baisemain, passe-partout , rendez-vous, neulat, fac-
simile, notabene, vadetnecum, nolimetangere; uhd. Jelängerjelieber. Schwerer
wird ein wirklicher satz, der seine Selbständigkeit bewahrt, zu einem
oom])ositum. Denn das wesen des satzes besteht ja darin, dass er
den nt't der zusammenfüguug mehrerer glieder bezeichent, während es
im wesen des compositums zu liegen scheint die zusammenfügung als
ein abgeschlossenes resultat zu bezeichnen. Demungeachtet liegen satz-
composita in den verschiedensten sprachen vor, so namentlich in den
indogermanischen und semitischen verbalformeu.
') Ii-li iiTitersclieide davon natürlich die fälle, wo ein compositum mit einem
andern worte eine neue Verbindung eingeht.
277
Der Übergang von syntaktiscliem geflige zum eünipoHitiim ist ein
80 allniähliger, dass es gar keine scharfe grenzlinie zwisclien beiden
gibt. Das zeigt schon die grosse Unsicherheit, die in der Orthographie
der modernen sprachen in bezug auf zusammenschreibung oder trennung
vieler Verbindungen besteht, eine Unsicherheit, die dann auch zu einer
vermittelnden Schreibweise durch anwendung des bindestriches geführt
hat. Das englische unterlässt vielfach die zusamraenschreibung in
fällen, wo sie anderen Schriftsprachen unentbehrlich scheinen wurde. Im
mhd. sind auch die nach indogermanischer weise gebildeten composita
vielfach getrennt geschrieben.
Die relativität des Unterschiedes zwischen compositum und wort-
gruppe kann nur darauf beruhen, dass die Ursache, welche den unter-
schied hervorruft, ihre Wirksamkeit in mannigfach abgestufter stärke
zeigt. Man darf diese Ursache nicht etwa, durch die schriffc verführt,
darin sehen wollen, dass sich die glieder eines compositums in der
ausspräche enger aneinander anschlössen, als die glieder einer wort-
gruppe. Verbindungen wie artikel und substantivum, präposition und
substantivum, substantivum und attributives adjectivum oder abhängiger
genitiv haben genau die gleiche continuität wie ein einzelnes wort.
Man hat dann wol als Ursache den accent betrachtet. Dass die ein-
heit eines Wortes auf der abgestuften Unterordnung seiner übrigen de-
mente unter das eine vom accent bevorzugte besteht, ist allerdings
keine frage. Aber ebenso verhält es sich mit der einheit des satzes
und jedes aus mehreren Wörtern bestehenden Satzteiles, jeder enger
zusammengehörigen wortgruppe. Der accent eines selbständigen wertes
kann dabei vielfach ebenso tief herabgedrückt sein als der eines unter-
geordneten compositionsgliedes. In der Verbindung durch liehe hat
durch keinen stärkereu ton als in durchtrieben , zu in zu hett keinen
stärkeren als in zufrieden, herr in herr Schulze keinen stärkeren als
in hnusherr. Man kann nicht einmal den unterschied überall durch-
führen, dass die Stellung des accents im compositum eine feste ist,
während sie in der wortgruppe wechseln kann. So gut wie ich herr
Schiäze im gegensatz zu frau Schulze sage, sage ich auch der haus-
herr im gegensatz zu die hausfräu. Es ist auch keine bestimmte
Stellung des hauptaccents zur entstehung eines compositums erforder-
lich, sondern sie ist bei jeder beliebigen Stellung möglich. Nur aller-
dings, damit die jüngere compositionsweise in parallelismus zur älteren
treten kann, ist es erforderlich, dass die accentuation eine gleiche ist.
Damit z. b. eine bildung wie rindsbraten oder rinderbraten als wesent-
lich identisch mit einer bildung wie rindfleisch empfunden werden
konnte, war es allerdings nötig, dass der hauptaccent auf den voran-
stehenden abhängigen genitiv tiel. Wo aber die analogie der älteren
278
eonipositiüDsvveisc uiclit iu bctracht kommt, da ist auch im deutschen
die stärkere betommg des zweiten elements kein liinderimgsgrimd flir
die eutstehuiig; eines nominalen compositums.
Es ist überhaupt nichts physiologisches, worin wir den unter-
schied eines compositums von einer unter einem hauptaccente ver-
einigten wortgi'uppe suchen dürfen, sondern es sind lediglich die
psychologischen gruppierungsverhältnisse. Alles kommt da-
rauf an, dass das ganze den dementen gegenüber, aus denen es zu-
sammengesetzt ist, in irgend welcher weise isoliert wird. Welcher
grad von isolierung dazu gehört, damit die Verschmelzung zum com-
positum vollendet erscheine, das lässt sich nicht in eine allgemein-
gültige definition fassen.
Es kommen dabei alle die verschiedenen arten von isolierung in
betracht, die wir früher kennen gelernt haben. Entweder kann das
ganze eine entwickelung durchmachen, welche die einzelnen teile in
ihrer selbständigen Verwendung nicht mitmachen, oder umgekehrt die
einzelnen teile eine entwickelung, welche das ganze nicht mitmacht,
und zwar sowol nach selten der bedeutung als nach selten der laut-
form, oder es können die einzelnen teile in selbständiger Verwendung
untergehen, während sie sich iu der Verbindung erhalten, oder end-
lich es kann die verbindungsweise aus dem lebendigen gebrauche ver-
schwinden und nur in der bestimmten formel bewahrt bleiben.
Der eintritt irgend eines dieser Vorgänge kann genügen um ein
syntaktisches gefüge zu einem compositum zu wandeln. Man pflegt
aber keineswegs jedes zusammengesetzte Satzglied als ein compositum
zu betrachten, bei dem bereits eine solche isolierung eingetreten ist.
Gerade diesen Verbindungen müssen wir unsere besondere aufmerk-
samkeit schenken, wenn wir die ersten ausätze zur Verschmelzung be-
obachten wollen.
Der anfang zur isolierung wird gewöhnlich damit gemacht, dass
das syntaktische gefüge einen l)edeutungsinhalt erhält, der sich nicht
mehr genau mit demjenigen deckt, der durch die zusammenfügung
der einzelnen demente gewonnen wird. Wir haben diesen Vorgang
schon s. 82 kennen gelernt. Die folge ist, dass die einzelnen de-
mente des gefüges nicht mehr klar zum bewusstsein kommen. Damit
wird aber auch die art ihrer zusammenfügung verdunkelt, und damit
ist der erste ansatz zu einer syntaktischen isolierung gemacht, womit
sich auch eine formelle verbindet. Sobald aber erst einmal ein an-
fang gemacht ist, so ist auch die möglichkeit zu einem weiteren fort-
schreiten der isolierung gegeben.
In bezug auf die syntaktische isolierung müssen wir zwei fälle
unterscheiden. Sie braucht nur das verhältniss der compositionsglieder
279
zu einander zu betreffen wie z. b. in Imwjersnot, edclmann, es kann
aber auch die verbinduuii- als ganzes gegenüber den übrigen bestand-
teilen des satzes isoliert werden. Das resultat ist dann immer ein
unfleetierbares wort, vgl. keineswegs, getvissermassen, jederzeit, alldieweil,
zurecht, abhanden, überhanpt, vorweg, allzumal] lat. magnopere, quare,
quomodo, hodie, ad/nodum, interea, idcirco, quapropter, quamohrem\ franz.
toujours, toutefois, encore (= hanc hora?n), malgre (= malum gratwn)^
amont , environ, parmi, pourtant, cependant, fout-a-coup. Erst durch
secundäre entwickelung können solche Verbindungen wider flectierbar
werden, wie z. b. zufrieden, debonnaire (= de borme air). Wo die flec-
tierbarkeit durch die isolierung nicht gestört wird, da kann der fall
eintreten, dass die Verschmelzung der glieder durch flexion im Innern
des gefüges gehemmt wird, z. b. in einer Verbindung wie das rote meer,
mare rubrum, wobei man durch die flexion des roten meer es, maris
rubri etc. immer an die Selbständigkeit der einzelnen glieder erinnert
wird. Es muss erst ein weiterer process hinzukommen, um die volle
Verschmelzung möglich zu macheu, nämlich die erstarrung einer flexions-
form (in der regel die des nominativs sg.) in folge der Verdunkelung
ihrer ursprünglichen function, ein Vorgang, den wir s. 194 besprochen
haben.
Wie wir s. 194 gesehen haben, erhält das compositum die selbe
fähigkeit ableitungen aus sich zu erzeugen, wie das einfache wort der
nämlichen kategorie. Wir finden nun, dass aus einer syntaktischen
Verbindung, die noch nicht als compositum betrachtet zu werden pflegt,
eine ableitung nach dem muster eines einfachen wertes gemacht wird,
oder dass diese Verbindung wie ein einfaches wort zu einem compo-
sitionsgliede nach schon vorliegenden mustern gemacht wird. Wir
müssen daraus den schluss ziehen, dass das Sprachgefühl dieselben
als eine einheit gefasst hat, dass also jedenfalls ihre entwickelung zu
einem compositum bereits bis zu einem gewissen grade vollzogen ist.
Bei copulativen Verbindungen tritt der verschmelzungsprocess
ein, wenn es möglich ist das ganze unter einen einheitlichen begriff
zu bringen. Dies ist erstens der fall, wenn die verbundenen demente
Synonyma sind, die dieselbe sache von verschiedenem gesichtspunkte
aus darstellen, vgl. art und weise, grund und hoden, wind und weiter,
weg u?id sieg, sack und pack, handel und wandet, hangen und bangen,
l'in und treiben, leben und weben, wie er leibt und lebt, frank und frei,
weit und breit, hoch und teuer, angst u?id bange, ganz und gar, drauf
und dran, nie und nimmer. Zweitens, wenn die verbundenen elemente
gegensätze sind, die sich gegenseitig ergänzen, vgl. stadt und land,
himmel und holte, wol und wehe, alt und jung, gross und klein, arm und
reich, dick und dünn, lieb und leid, tun und lassen, dieser imd jener,
280
einer und der andere, dies und das, ab und an, ab und zu, auf und ab,
ein und aus, für und wider, hin und her, hin und ivider, drüber und
drunler, hüben und drübeyi, hie und da, dann und wann. Dazu kommen
noch mancherlei andere fälle wie haus und hof, weih und kind, kind
und kegel, mann und maus. Die beiden glieder können auch durch
das nämliche wort gebildet werden, vgl. durch und durch, für und für,
nach und nach, über und über, wider und wider, fort und fort, der und
der. In dem letzten falle stehen die beiden glieder trotzdem in
gegensatz zu einander. Bei einigen dieser Verbindungen ist schon eine
weiter gehende isolierung eingetreten. Ein kriterium dafür, dass eine
copulative Verbindung als eine eiuheit gefasst wird, kann man bei
Substantiven darin sehen, dass ein beigefügtes adj. mit dem zweiten
gliede eongruiert, vgl. durch meinen trewen hilff vnd rat (H. Sachs); mit
allem mobilen hab' und gut (Goe.). Ein anderes häufiger vorkommendes
ist die flexionslosigkeit des ersten gliedes. Bei den oben angeführten
Verbindungen aus an und für sich flexivischen Wörtern wird meistens
die flexion gemieden, welche an die Selbständigkeit der glieder er-
innern würde; mau kann z. b. nicht sagen mit sacke nnd packe oder
grundes tmd bodens. Es findet sich aber auch flexion bloss am zwei-
ten gliede, z. b. des zu Äbdera gehörigen grund und bodens (Wieland).
Vgl. ferner von tausend durchgeweinten tag- und nachten (Goe.); dein
wenigen glaube, liebe und hoffnung (Goe.); bei H. Sachs sogar dem tiimmer
golt noch geldls gebrach. Häufig ist die Unterlassung der flexion im
Innern bei der Verbindung zweier adjectiva, vgl. die blank- und blossen
Widersprüche (Le.), gegoi inn- und äussern feind (Goe.), auf ein oder die
andere weise (Le.), mit mein und deinem wesen (Le.).')
Notwendig ist das unterbleiben der flexion im Innern auch nach
dem heutigen Sprachgebrauch in einem falle wie ei)ier schwarz- imd
weissen fahne, schwarz- und weisse fahnen, verschieden im sinne von
schwarze und weisse fahnen. Dem schwarz- und weiss analog sind
die auch zusammengeschriebenen Verbindungen einundzwanzig , einund-
dreissig etc., früher flectiert eities und zwanzig. Feste Verbindungen,
die keine flexion im Innern mehr zulassen, sind ferner all und Jeder,
ein und alles. Zusammengeschrieben wird einundderselbe , teils mit,
teils ohne flexion des ein-. Griech. xaXoxayaß^og ist wol unter ana-
logischer einwirkung der alten indogermanischen compositionsweise
•) Jedocli ist das unterbleibeu der flexion des ersten gliedes kein zweifel-
loses kriterium dafür, dass eine Zusammenfassung der beiden glieder zu begriff Hoher
einheit stattgefunden hat. Es ist bei der Verbindung zweier adjectiva im älteren
nhd. und noch bei Cloethe häufig, H. Sachs sagt sogar iveder mit böss noch guten
dingen. Seltener ist es bei der Verbindung zweier substautiva , vgl. von thier vnd
menschen (H. Sachs), von merck vnd steten (ib.).
281
entstanden; sonst würde die staniniforni xaXo- schwerlich erklärbar
sein. Gänzliche vcrsehnielznng; würde wahrscheinlich häufiger sein,
wenn nicht die copnlativpartikel hemmend wirkte. Diese hemmung-
wird aufgehoben, wo dieselbe in folge der lautlichen abschwächung
nicht mehr als solche erkannt wird, wie in dem niederdeutschen riten-
split, zusammengesetzt aus den imperativen von riten und splUen (reissen
und spleissen). Eine copulative Verbindung ohne partikel verschmilzt
leichter. So werden schwarzrotgolden und Oestreich- Ungarn, die sich
logisch verhalten wie schwarz und weiss und Neapel und Sicillen als
wirkliche composita empfunden. In derjenigen epoche des indogerma-
nischen, wo es noch keine flexion und keine copnlativpartikel gab
oder beides wenigstens nicht notwendig erforderlich war, musste
natürlich die Verschmelzung zu einem copulativcompositum (dvandva)
sehr leicht sein.
Die Verbindung eines substantivums mit einer attribu-
tiven, genitivischen oder sonstigen bestimmung kann alle in
cap. 4 besprochenen arten des bedeutungswandels durchmachen, ohne
dass das substantivum für sich davon betroffen wird. Sehr häufig ist
es zunächst, dass das ganze einen reicheren, bestimmteren Inhalt er-
hält, als denjenigen, der sich aus der Zusammensetzung der teile er-
gibt. Die bestimmung hebt namentlich häufig nur ein unterschei-
dendes merkmal heraus, während andere daneben bestehende ver-
schwiegen werden. Dazu können dann weitere modificationen treten,
in folge deren das epitheton in seiner eigentlichen bedeutung gar nicht
mehr zutreffend ist. So ist in der botanischen spräche viola odorala
nicht ein wohlriechendes veilchen, sondern eine bestimmte veilchen-
art, die noch durch andere eigenschaften als durch den wohlgeruch
charakterisiert wird, und es wird mit diesem namen auch ein getrock-
netes Veilchen bezeichnet, welches keine spur von wohlgeruch mehr
von sich gibt, und ebenso die nichtblühende pflanze. Unter franz.
moyen äge versteht man ein bestimmt begrenztes Zeitalter, ohne dass
sich aus dem werte moyen an sich eine solche begrenzung ergibt. Ge-
heimer rat und wirklicher geheimer rat sind titel, die als ganzes eine
bestimmte traditionelle geltung haben, wie sie aus den Wörtern geheim
und wirklich an sich nicht zu erschliessen ist. Vgl. ferner der heilige
geist, die heilige schrift, die schönen künste, gehrannte mandeln, kaltes
blut, der blaue montag, der grüne donnerstag , der heilige abend, die
hohe schule; der stein der weisen; die weisen aus dem morgenlande.
Für die substantivischen bestimmungen ist noch zu bemerken, dass
sie nur dann mit dem bestimmten worte zu einem einheitlichen be-
griffe verschmelzen können, wenn ihre bedeutung nicht occasionell in-
dividualisiert ist; d. h. sie müssen, abgesehen von den eigennamen
282
und den bezeiehniingen für solche gegenstände, die als nur einmal
existierend gedacht werden, in abstractem sinne gebraucht werden.
Den angcrtihrten beispielen von syntaktischen Verbindungen sind nun
viele composita analog, teils solche, deren zusammenwachsen historisch
vcrfülgbar ist, wie schjvarzrvild, rveisshrot, dünnhier, rotdorn, Sauerkraut,
cdclstein; haubenlerche, Seidenraupe, blumenkohl, bundesrat\ arc-en- ciel ;
teils solche, deren bildungsweise schon in eine vorgeschichtliche zeit
zurückreicht, wie eishär, holzrvurm, hirschkäfer, Steineiche. Nicht selten
wird der nämliche begriff in einer spräche durch ein compositum, in
einer andern durch eine syntaktische Verbindung bezeichnet, vgl. z. b.
millelalter mit 7noyen äye.
Eine Unterabteilung dieser grossen klasse bilden gattungsnamen
von örtlichkeiteu, die mit hülfe einer bestimmung, die an sich gleich-
falls allgemeiner natur sein kann, zu eigennamen geworden sind, vgl.
die goldene aue^ das rote meer, der schwarze see, der breite weg (strassen-
name in Magdeburg und anderswo), die hohe pforle (torname in Magde-
burg); die inseln der seeligen, das cap der guten ho/f'nung. Damit vgl.
man die composita Hochburg, Schönbrunn, Kaltbad, Lindenau, Königs-
feld \ Hirschberg ^ Strassburg, Steinbach. Hierher gehört es auch, wenn
ein epitheton, das einem eigennamen als unterscheidendes kenn-
zcichen beigefügt ist, zu einem integrierenden bestandteile des eigen-
namcns wird, indem es als an einem bestimmten Individuum haftend
erlernt >vird, vgl. Karl der grosse — der kahle — der kühne — der
dicke, Ludwig der fromme — der heilige — das kind, Wilhelm der er-
ober er \ Davos platz — Üovos dörß\ Basel land — Basel stadt\ Zell am
sce. Damit vgl. man die composita Althans, Kleinpaul] Gross-Basel —
Klein- Basel, Oberfranken — Cnt erfranken, Eichen- Bar leben; Kirchzarten.
Bildliche anwendung eines Wortes wird, wie überhaupt durch den
Zusammenhang (vgl. s. 74), so insbesondere durch eine beigefügte be-
stimmung als solche erkennbar und verständlich, vgl. der löwe des
lages, das haupt der verschworenen, die nacht des lodes, der abend des
lebens, die seele des unternehtnens. Das selbe wird durch ein be-
stimmendes compositionsglied geleistet. Man wagt deshalb mit hülfe
desselben metaphern, die man sich in bezug auf das einfache wort
nicht gestattet, weil das compositionsglied gleich eine correctur der
metapher enthält. Vgl. neusilber, katzengold, ziegenlamm, bienen-
königin, bieiienwolf, ameisetilöwe, äp feiwein, namensvetter\ hirschkuh, heu-
pferd, seelöwe, buchweizen, erdapfel, gallapfel, augapfel, Zaunkönig, Stiefel-
knecht, milchbruder.
Davon zu unterscheiden sind solche fälle, in denen das compo-
situm auch eine eigentliche bedeutung hat und erst als compositum
bildlich verwendet wird, wie himmelsschlüssel , hahnenfuss, löwenmaul,
Schwalbenschwanz, Stiefmütterchen, brummbär.
283
Fast durchweg syntaktische Verbindungen oder composita sind
die üben s. 81 besprochenen bezeich nungeu nach teilen des körpers
und des geistes oder kleidungsstücken , und zwar deshall), weil die
einfachen Wörter als an sich nicht charakteristisch zu einer solchen
Verwendung unbrauchbar sein würden.
Verfolgen wir nun weiter, wie die Verschmelzung der bestimmung
mit dem bestimmten durch die syntaktische und formale Isolierung ge-
fördert wird.
Bei dem zusammenwachsen des genitivs mit dem regierenden
substautivum im deutschen ist zunächst zu beachten, dass es nur bei
Voranstellung des genitivs eintritt Die umgekehrte Stellung taugt zu-
nächst deshalb nicht zur compositiou, weil dabei eine flexion im Innern
der Verbindung stattfindet, wodurch man immer wider an die Selbstän-
digkeit der demente erinnert wird, weshalb auch z. b. im lat. die zu-
sammenfügung in pater-familias weniger fest ist als in plebiscUum.
Ferner besteht bei voranstellung des genitivs analogie in der betonuug
zu den echten compositis (ahd. täges stcrro = täyosterro, dagegen sterro
des täges). Das entscheidende moment für das zusammenwachsen liegt
aber in Veränderungen der syntaktischen Verwendung des artikels.
Wie derselbe vielfach zum blossen casuszeichen herabgesunken ist, so
ist er insbesondere bei dem geuitiv eines jeden appellativums, wel-
ches nicht mit einem attributiven adjectivum verknüpft ist, allmählig
unentbehrlich geworden. Nur der deutlich charakterisierte gen. sing
der starken masculina und neutra kommt zuweilen noch ohne artikel
\o\\ namentlich in Sprüchwörtern {hiedermayins erbe) und Überschriften
{schäfers klagelied, geistes gruss, tvandrers nachlUed etc.). Im ahd.
fehlt der artikel noch ganz gewöhnlich. Indem sich nun bei dem all-
mähligen absterben der construction gewisse Verbindungen ohne artikel
traditionell fortpflanzten, war die Verschmelzung vollzogen. Begünstigt
wurde sie noch ganz besonders durch die ursprünglich allgemein üb-
liche und dann gleichfalls absterbende weise, den gen. wie im griech.
zwischen artikel und dem zugehörigen substantivum zu setzen. Diese
construction hat sich besonders in der spräche des volksepos lange
lebendig erhalten, allerdings nur bei eigenuamen und verwandten Wör-
tern, vgl. im Nibelungenlied daz Guntheres laut, das Mbelunges stvcrt,
diu Sivrides haut, daz Etzelen wip etc.; Verbindungen wie der gotes haz,
segen, diu gotes haut, etc. sind im dreizehnten Jahrhundert noch allge-
mein üblich. In der älteren zeit konnte der genitiv eines jeden sub-
stantivums so eingeschoben werden, ohne selbst mit dem artikel ver-
bunden zu sein, vgl. ther mannes sun (des menschen söhn) häufig bei
Tatian, then hiuuiskes fater (patremfamilias) ib. 44, 16 (dagegen thes h.
fater 72, 4. 147, 8; fatere hiuuiskes 77, 5), ein ediles mann (ein mann
284
von edler abstammnDg) Otfrid IV, 35, 1; ähnliche einschiebimg zwischen
Zahlwort und substantivuni in zträ dübnno (jimachun (zwei paar tauben)
Otfrid I, 14, 24. Indem allmählig unmittelbare nebeneinanderstellung
von artikel und substantivum notwendig- wurde, musste die Verbindung
vom Sprachgefühl als eine einheit aufgefasst werden. Mit der zeit sind
vielfach noch formale isolierungen hinzugekommen, indem sich die
älteren formen des genitivs in der composition bewahrt haben {ünden-
hlalt, frnuenkirche, hahnenfuss, Schwanenhals, gänseleber, Mägdesprung,
nachtigall etc.). Ferner dadurch, dass bei den einsilbigen raasculinis
und neutris im compositum gewöhnlich die syncopierten formen ver-
allgemeinert sind, im simplex die nichtsyncopierten, vgl. hundslag,
Inndsmann, Schafskopf, rvindsbraut gegen himdes etc. (doch auch goltes-
haus, liebeskummer). Dazu kommt endlich noch, dass die genitivform
im compositium häufig mit der des nom. pl. übereinstimmt und da-
her vom Sprachgefühl, wo die bedeutung dazu stimmt, an diesen an-
gelehnt wird, yg\. bienensch/rarm, rosenfarbe, bildersaal, äpfelwein, bür-
gcrmeister. Im letzten falle stimmt die form auch zum nom. sing.; in
Baierland, I'ommerland (ahd. Beiero laut) nur zu diesem, während der
pl. des simplex seine flexion verändert hat.
Die älteste schiebt genitivischer composita im französischen ist
hervorgegangen aus den alten lateinischen genitivformen ohne hinzu-
fiigung der präp. de. Im altfranz. ist solche constructionsweise we-
nigstens bei persönlichen begriffen noch allgemein lebendig, z. b. la
volonte le rei (der wille des königs); sie musste allmählig untergehen,
weil die form mit der des dat. und acc. zusammengefallen und des-
halb die bezieh ung unklar geworden war. Einige traditionelle reste
der alten weise haben sich bis heute erhalten, ohne dass in der schrift
composition bezeichnet würde, vgl. nie St. Jacques etc., eglise Saint Pierre,
musce Napoleon. In andern fällen ist die zusammenfügung fester ge-
worden, teilweise durch anderweitige Isolierung begünstigt, vgl. Hotel-
Dieu, Connetable {comes stabuli), Chäleau-Renard, Bourg-la- Reine, Mont-
faucon, Fonlainebleau {f. BUaldi). Durch das schwinden jedes casus-
zeichens ist im franz. im gegensatz zum deutschen die Verschmelzung
auch bei nachstellung des gen. möglich gemacht. Bei der umgekehr-
ten Stellung musste sie erst recht erfolgen, da dieselbe schon frühzeitig
ausser gebrauch kam; daher Abbeville {abbatis v.), Thiomille {Theo-
donis Villa).
Das zusammenwachsen des adjectivs mit dem zugehörigen subst.
geht im deutschen namentlich von der sogenannten unflectierten form
aus, die im attributiven gebrauch allmählig ausstirbt, vgl. oben s. 157.
Im mhd. sind {ein) June geselle, (ein) edel mann, (ein) niuwe jär noch
ganz übliche constructionen, im nhd. können Junggeselle, edelmann, neu-
285
jähr nur als eoini)08ita gefasst werden. Einen weiteren ausgangspunkt
bilden die sehwachen nomiuative von mehrsilbigen adjectiven auf r, l, w,
die im mhd. ihr e abwerfen, während es im nhd. nach analogie der
einsilbigen wider hergestellt wird. Im mhd. sind der ober roc, diu
ober haut, daz ober teil noch reguläre syntaktische geftige (daher auch
noch acc. die obern haut neben die oberhant), im nhd. können der ober-
7'ock, die oberhund, das oberteil nur als composita gefasst werden, weil
es sonst der obere rock etc. heisseu müsste. Indessen reicht das ein-
fache beharren bei dem älteren zustande nicht aus um wirkliche com-
positiou zu schaffen, und viele derartige composita sind schon vor
dem eintritt dieser syntaktischen Isolierung entstanden. Schon ahd.
bestehen altfaler, fiihals, guottät, hohstuol und viele andere. Vielmehr
ist der Vorgang der, dass die Verbindung so formelhaft, der begriff
so einheitlich wird, dass sich damit für das Sprachgefühl eine flexion
im iuuern des complexes nicht mehr verträgt, und es ist dann natür-
lich, dass der eigentliche normalcasus. der nom. sg., der zugleich, weil
die flexionsendung geschwunden ist, als stamm des Wortes erscheint,
massgebend wird. Seitdem die flexionslose form aufgehört hatte, attri-
butiv verwendet zu werden, war Verschmelzung des adj, mit dem subst,
viel weniger leicht. Denn die flectierten formen des nom, sg, {yuler^
gute, gutes) hatten von anfang an kein so grosses gebiet und waren
eben wegen der flexionseudungen nicht so geeignet als Vertreter des
Wortes an sich zu gelten. Es war nun aber auch weniger bedürfniss
zu solchen Verschmelzungen, da bereits eine menge composita mit der
flexionslosen form vorhanden waren, die auch im stände waren ana-
logische neubildungen zu erzeugen. Doch zeigen sich auch in dieser
periode einige Verschmelzungen und ausätze dazu, teils so, dass eine
Verbindung in die analogie der älteren verschmolzenen Verbindungen
hinübergeführt wird, vgl, (jeheimral neben geheime{r) rat, teils so, dass
die flectierte nominativform verallgemeinert wird, wie in Icrausemünze,
jungemagd, in (iutersohn, Liebeskind und anderen eigennamen. Bei
einigen Wörtern hat sich das gefühl für die einheitlichkeit des begriff's
darin kund getan, dass trotz der flexion im Innern zusammenschreibung
eingetreten ist, vgl. langeweile^ hohepriester, hohelied. Lessing schreibt
sogar ei7i Jüngstesgericht en mignature. Vgl, auch derselbe, derjenige.
Auch wo noch keine volle Verschmelzung des attributiven adjec-
tivums mit dem dazu gehörigen subst, stattgefunden hat, werden doch
ableitungen aus der Verbindung gemacht, vgl. hohepriesterlich, lang-
weilig, kurzatmig, hochgradig, vielzüngig, vielsprachig, rotbäckig, ein-
händig, blauäugig, blondhaarig, kleinstädtisch, kieinstädter, Schwarzkünstler,
tausendkünstler, einsilbler, die sich gerade so verhalten wie grossmütig,
edelmünnisch etc. Sie als nominale composita aufzufassen, hindert
286
schon der uinstaud, dass viele der dann vorauszusetzenden simplicia
wie -weilig, -atmig, -gradig gar nicht existieren und auch früher nicht
existiert haben.
Ebenso werden solche Verbindungen zu compositionen verwendet,
die sich trotz aller anfeindungen von selten der gramraatiker nicht
ausrotten lassen wollen. Der gewöhnliche einwand, den man gegen
coniplexe wie reitende ärtillerie-caserne macht, dass ja die caserne
nicht reite, ist im gründe nicht stichhaltig. Denn das meint niemand,
der sich dieser Verbindung bedient, und die gliederung ist nicht reite7ide
+ artillerie-caserne, sondern reitende artillerie- + caserne. Aber man
kommt dabei ins gedränge wegen der flexivischen und nach cougruenz
strebenden natur des adjectivums. Dasselbe richtet sich daher in der
regel nach dem zweiten elemente, nicht bloss wo es allenfalls auch
auf dieses bezogen werden könnte wie in französischer Sprachlehrer,
freie handzeichnung, sondern auch in anderen fällen wie in der sauern
gurkenzeit. Bei manchen dieser Verbindungen ist zusammenschreibung
üblich geworden, vgl. alteweibersommer^ armesünderglöckchen etc. Nichts-
destoweniger kommt bei diesen congruenz des adjectivums mit dem
letzten bestandteil vor. Goethe schreibt auf dem armensünderslühlchen,
dagegen Heine auf einem armesilnderhänkchen , die Kölnische zeitung
nebst armsünder treppe. Klopstock gebraucht sogar hohpriestergetvand,
Luise Mühlbach den gutennachtsgruss}) Im englischen, wo die flexiou
nicht stört, machen solche zusammenfttgungen gar keine Schwierigkeit.
Im franz. geht das zusammenwachsen leichter vor sich, weil die
Casusunterscheidung verloren gegangen ist. Wenn bloss noch sg. und
pl. unterschieden werden, so hat man jedenfalls schon erheblich weniger
veranlassung an die fuge erinnert zu werden. Ausserdem kommen
manche Verbindungen ihrer natur nach nur im sg. (z. b. sainte-ecriture,
terre-sainte) oder nur im pl. (z. b. beaux-arts^ helles lettres) vor. Es
pflegt sich daher sehr leicht das gefühl für die einheitlichkeit eines
solchen complexes durch Setzung des bindestrichs geltend zu macheu.
Ein anderes bedeutsameres kriterium für das verhalten des Sprach-
gefühls, gibt die Verwendung des article ])artitif Man sagt z. b. il a
des belles lettres, wie man sagt // a des lettres, während man sagt il
a de belles maisons. Formale und syntaktische Isolierungen können
auch hier hinzutreten um das gefüge fester zu machen. Im afrauz.
haben die adjectiva, die im lat. nach der dritten decliuation flectieren,
im lern, noch kein e angenommen, welches erst später nach analogie
der adjectiva dreier endungeu antritt, z. b. grand = grandis, später
gründe nach bonne etc. In com])ositis bewahren sich formen ohne e'.
') ^'gl. Audr. Sprachg. s. 152 imd 64.
287
gratKf mere, yrand' tnesse, Granville, Reulmont^ Ville-real, EocJiefort.
Id Vaucluse {vallis clausa), hat das compositum, von der sonstigen
lautgestalt abgesehen, den im neufrauz. eingetretenen geschlechts-
wechsel des simplex {/e vai) nicht mitgemacht. Es erfolgen dann auch
ausgleichungen ähnlich wie im deutsehen. Bei adjectiven, die häufiger
in der composition gebraucht werden, wird die form des masc. und
des sing, verallgemeinert, so in mi-, demi-, mal- {mal/acon, maihenre,
malidte), nu- {nu-tete, nu-pieds). Dadurch ist die composition deutlieh
marquiert.
Wo im nhd. der genitiv mit einem regierenden adj. zusammen-
gewachsen ist, da zeigt sich auch vielfach, dass die constniction entweder
gar nicht oder nicht mehr allgemein üblich und durch eine andere er-
setzt ist, vgl. ehrenreich — reich an ehren, geistesarm — arm an (/eist,
freudenleer — leer von freudoi.
Im nhd, ist es üblich adverbia, wo sie nach den allge-
meinen syntaktischen regeln dem verbum vorangehen, mit diesem
zusammenzuschreiben, vgl, aufhellen, vordringen, zurückweichen, weg-
werfen etc, Dass noch keine eigentliche composition eingetreten ist,
beweist die Umstellung er treibt an, er steht auf etc. Aber anderseits
beweist die zusammenschreibung, dass man anfängt das ganze als
eine einheit zu empfinden.
Bei den meisten dieser Verbindungen liegt eine Isolierung gegen-
über den dementen klar vor. Die alten präpositioualen adverbia
lassen sich überhaupt nicht mehr ganz frei und selbständig verwenden,
sondern sind auf einen bestimmten kreis von Verbindungen beschränkt.
Zu freier syntaktischer zusammenfüguug werden statt ihrer hauptsäch-
lich Verbindungen mit her und hin vei^wendet, vgl. hinaus gehen, heran
kommen, wesentlich verschieden von ausgehen, ankommen. Es kommt
dazu dann meistens eine selbständige bedeutungsentwickelung der Ver-
bindung als solcher, vgl. anstehn, ausstehn, vorstehn, zustehn, auslegen,
aufbringen, umbringen, zubringen, aufkommen, umkonnnen, vortverfeu, vor-
geben etc. Unterstützt aber ist die auftassung dieser Verbindungen als
eomposita durch die parallelen nominalcomposita wie ankunft, abtiahme,
zunähme, vorwarf aussprach, zusage, anzeige etc. Diese wirken natür-
lich am leichtesten auf die nominalformen des verbums, bei denen die
Verbindung schon so wie so am stabilsten ist und um so fester wird,
je mehr sie sich dem Charakter eines reinen nomens nähern (vgl. das
folgende capitel), am festesten natürlich dann, wenn nur sie, nicht das
verb. finitum in einer bestimmten bedeutung üblich werden oder bleiben,
vgl. aufsehen, nachsehen, abkommen; ausnehmend. Beim pari kann sich
die Verschmelzung in der bilduug von comparativen oder Superlativen
zeigen, die nur einen sinn haben, wenn das ganze als eine einheit ge-
288
fasst wird, vgl. die zwei erägegengesetzesten eigenschafien (Goe.), der ein-
geborenste begriff' (Goe.), unter nachsehendem gesetzen (Le.) ; weitere bei-
spiele bei Andr. Spraelig-. s. 119. Aus der Verbindung des verbums mit
dem adv. entspringen dann nominale ableitungen, die zweifellose wort-
einheiten sind, wie austreibimg, Vorsehung, auf er siehung, abschr eiber,
anstellig, ausgiebig, zulässig, angeblich., absetzbar.^) Für die adverbialen
bestimmungeu gilt übrigens das selbe wie für die substantivischen ad-
üominalen (vgl. s. 281), dass oecasionelle individualisierung die Ver-
schmelzung verhindert. Daher bewahren z. 1). die demonstrativen orts-
adverbien ihre Selbständigkeit: wer da ist, her kommt, nicht daist, her-
kommt. Bei den nominalformen kommen allerdings zusammenschrei-
bungeu vor wie sein hier sein, aber man empfindet das ganze doch
nicht so sehr als eine einheit wie etwa einkommen, zutrauen. Ganz
anders steht es mit dasein im sinne von ^existenz"; hier ist eben da
nicht individualisiert. Entsprechend verhält es sich mit herkommen und
mit darreichen, darbringen etc., indem dar seine ursprüngliche funetion
als demonstrativadv. = dahin verloren hat. Es zeigen sich ausätze dazu
auch das verb. fin. in ein wirkliches compositum zu wandeln. Im Jour-
nalistendeutsch, dem sich hierin auch germanisten anschliessen, ist es
üblich geworden zu sagen er anerkennt. Wir sehen demnach deutlich
den weg, auf dem auch die alten verbalen composita im germanischen
(wie durchbrechen, betreiben) und in den anderen indogermanischen
sprachen aus syntaktischen Verbindungen entstanden sind.
Ein aus einem adj. abgeleitetes adv. verschmilzt zuweilen mit
den nominalformen des verbums. Die erste veranlassung dazu wird
zum teil dadurch gegeben, dass der eine von den beiden bestandteilen
metai)horisch verwendet wird, vgl. tief fühlend, weitgreifend, weittragend,
ftoch/liegend. Noch enger wird die Verbindung, wenn der erste bestand-
teil eine funetion bewahrt, die er im allgemeinen verloren hat. Hier-
her gehören namentlich die Verbindungen mit fvol wie wolleben, ivol-
schmeckend, wolriechend, woltuend etc., die aus der zeit her überliefert
sind, wo wol noch allgemeines adv. zu gut war. Vgl. ferner erst-
geboren aus der zeit, wo erst den sinn unseres zu erst hatte. Es wirkt
auch hier die analogie nominaler composita, vgl. zartfühlend — Zart-
gefühl, scharfblickend — Scharfblick. Auch hier kann die comparation
ein kriterium für den Vollzug der Verschmelzung sein, vgl. bis zur schwer-
fälligsten, kleinkauendsten Weitschweifigkeit (Schopenhauer); der tief-
fühlendste geist (Goe.), die reingewölbteste st im (ib.), die freigelegenste
') Man könnte versucht sein, diese Wörter vielmehr als nominale composita
zu fassen, aber man wlinlt; sicli dadureh mit dem Sprachgefühle in Widerspruch
setzen, und man würde teilweise auf simplieia kommen, die gar nicht existieren
wie slellig und geblich.
289
H'ohnung (ib.). Verbreitet sind Superlative wie tveUgreifendsle, hoch-
geehrtester^ hochverehrtester. Noch merkwürdiger ist, dass von einer
Verbindung- in der das adv. schon superlativisch ist, noch ein Super-
lativ gebildet wird, vgl. die zunächsistehendsten (Frankf. zeit.).')
Auf einer ähnlichen zwitterstufe zwischen compositum und syn-
taktischem gefüge stehen manche Verbindungen eines verbums mit
einem objectsaccusative, vgl. acht gehen oder achtgeben, haushalte^
standhalten, stattfinden., teilnehmen'., ferner Verbindungen eines verbums
mit einem prädicativen adj. wie loskaufen., freigehen., freisprechen, feil-
bieten., feilhalten., hochachten., wertschätzen., gutmachen. Die gründe,
welche hier die annäherung an die compositiou veranlassen, sind ganz
die gleichen wie bei den Verbindungen, die ein adv. enthalten. Es
kommen dabei aber auch zum teil gliederuugsverschiebungen in be-
tracht, namentlich durchgängig bei der Verschmelzung des prädicativen
adj., vgl. s. 247. Der Übergang zum compositum ist natürlich auch
hier bei den nomiualformen am leichtesten. Mit einem objectsaccusativ
verwachsene participia gibt es in grosser anzahl, vgl. feuerspeiend.,
grundlegend., notleidend., leidtragend., wutschnaubend., segenbringend, nichts-
sagend. Auch hier kann die comparation als kriterium für eingeti'etene
Verschmelzung dienen, vgl. die nichtsbedeulendsten kleinigkeiten (Seh.), das
grundlegendste der maigesetze (Kölner zeit), am gefährlichsten und feuer-
fangendsten (Deutscher reichstag)."^) Es lässt sich aber keine scharfe
grenze ziehen zwischen spontaner Verschmelzung und analogiebildung
nach dem muster der nominalen composita, wie sie zweifellos vorliegt
in Wörtern wie saftstrotzend, kraftbegabt, mondbeglänzt , die aber fast
durchweg auf den höheren poetischen stil beschränkt sind. Ueber-
führung in wirkliche composition haben wir bei lobsingen, wahrsagen
{wahr substantivisch = Wahrheit), wobei beeinflussung durch ableitungen
aus compositis wie ratschlagen, weissagen (vgl. s. 2U6) mitgewirkt haben
mag. Ableitungen werden auch aus solchen Verbindungen gebildet,
bei denen die Verschmelzung noch nicht vollständig ist, vgl. haus-
hälter, teilnehmer, freigebig; selbst grundlegung, Preisverteilung, Waffen-
träger, holzhauer etc.; ferner bekanntmachung, kundgebung, lostrennung .'■^)
') Die beispiele nach Andr. Sprachg. s. 120 und 42. 3, wo noch mehr aufge-
führt werden.
2) Nach Andr. a. a. o.
^) Auch hier könnte ein zweifei entstehen, ob die betreffenden Wörter nicht
als nominale composita aufzufassen sind, aber das Sprachgefühl entscheidet wider
für die oben ausgesprochene auliassung. Die analogie der nominalen composition
mag allerdings etwas mitgewirkt haben, aber bildungen wie /rmp-<;c/(M«(y, bekaiinl-
machung würden sich dieser analogie wegen ihrer bedeutung nicht tilgen; sie
müssten ja sonst = freie sprechung, bekannte machung sein.
Paul, Piincipien. II. Auflage. 19
290
Wie die adverbia, so verschmelzen auch von einer präposition
abhängige substautiva bis zu einem gewissen grade mit dem verb.
Man ])flegt zwar Verbindungen wie zu gründe legen oder in stand setzen
nicht zusammenzuschreiben ausser beim substantivierten inf., aber man
biUlet die ableitungen Zugrundelegung^ inslandsetzung, ansserachtlassimg,
zuhülfenahme. Dazu die 8ui)erlativbildung an dem sichtbarsten, in die
äugen fallendsten orte (Le.).
Ich möchte die aufmerksamkeit noch auf die vielen Verbindungen
lenken, die wie die oben angeführten copulativen, nicht als eomposita
gefasst zu werden pflegen, die aber doch einen einheitlichen begriff re-
präsentieren, z. b. .s'ö wie so, vor wie nach, mann für mann, schritt für
schritt (vgl. franz. vis-a-vis, dos-a-dos, tete-a-tete), von neuem, von hause
aus, sobald als möglich, so gut wie, was für ein etc. Bei manchen
dieser Verbindungen ist das zusammenwachsen zu einer einheit zu-
gleich eine gliederuugsverschiebuug im satze, die sich in der construc-
tiousweise bekundet. Wenn z. b. Lessing sagt ein mehr als natürliches
gift, so ist die attributive Verwendung von mehr als natürlich und die
flexion am ende nur dadurch möglich geworden, dass diese Verbindung
als eine einheit gefasst ist wie übernatürlich, und dass damit das gefühl
für die weise der zusammenfügung geschwunden ist. Entsprechend ver-
halten sich die folgenden constructionen: mit einernichts weniger als schönen
bewegung (Le.), in so wenig als mögliche worle (Le.), ausser der so lang
als möglichen dauer (Le.). Noch auffallender und dadurch abweichend,
dass auch eine flexion im inuern des gefüges vorhanden ist, ist die
mehrfach bei Lessing vorkommende construction in der letzten ohn eine
zeile. Für so gut wie vgl. man Wendungen wie er hat mirs so gut wie
versprochen. Das zu 7vas für {= qualis) gehörige subst. war ursprüng-
lich von für abhängig. So ist z. b. was habt ihr für pferde eigentlich
= „was habt ihr an stelle der pferde". Wenn man aber jetzt sagt
mit was für pferden, so ergibt sich daraus, dass was fiXr vom Sprach-
gefühl als ein indeclinables attribut zu dem subst., welches eigentlich
von für abhängen sollte, gefasst wird.
Die Unmöglichkeit zwischen compositum und syntaktischem ge-
fUge eine feste grenze zu ziehen, zeigt sich auch darin, dass öfters
glieder eines sonst zweifellosen comi)ositums mit selbständigen Wör-
tern auf gleiche linic gestellt werden. Man scheut sich nicht zu sagen
öffentliche und /irivatmittel, das ordinäre und das feierkleid. Hans
Sachs verbindet sogar gesotten, pachen vnd pratfisch. Es werden ferner
zu den» ersten l)estimmendeu gliede eines compositnms wie zu einem
selbständigen worte bestimmungen hinzugefügt, nicht bloss solche, die
allenfalls auch auf das ganze bezogen werden könnten, wie dankes-
worte für die gnade, sondern auch andere wie ein herausforderungsUed
291
zum Zweikampf (Le.), ein böses erimwningszeiclien für ihn an die (reu-
losen Griechen (Herder), glaubensfreiheit an wunder und zeichen (Goe.),
der Vertragsentwurf mit Deutschland (K()luer zeit), hoffnungsvoll auf die
Zukunft (Goe.), erwartungsvoll des ausgangs (Wielancl), hopeless to cir-
cumvent us j'oin'd (Milton), fearless to he overmatch'd (ib.). Es werden
endlieli proiiomiua auf ein eonipositionsglied bezogen: menschengebote,
die sich vo7i der Wahrheit abwenden (Lu.), er hatte einen ameisenhaufen
zertreten, die seine her r schüft nicht anerkennen wollten (Goe.), es gibt
im menschenleben augenblicke , wo er dem weltgeist näher ist als sonst
(Sehi.).
Zu lautver ändern ng-en, die eine isolierende Wirkung- haben, ist
in den traditionellen g-ruppeu mannigfache veranlassung gegeben. Wir
dürfen wol behaupten, wenn wir die entwiekelung auch nicht histo-
risch verfolgen können, dass solche Veränderungen meistens zuerst all-
gemein bei engerer syntaktischer Verbindung eintreten, dann aber durch
ausgleiehung wider beseitigt werden, und nur da wo in folge der be-
deutungsentwickelung die demente schon zu eng mit einander ver-
wachsen sind, bewahrt bleiben. Die leichteste Veränderung ist hin-
überziehung eines auslautenden consonanten zur folgenden silbe, vgl.
nhd, hinein, hieran, allein, einander, lat. etenim, etiam. Eine solche hin-
Uberziehung wirkt da nicht isolierend, wo sie wie im französischen
allgemein bei engerer syntaktischer Verbindung eintritt. Sie kann z. b.
in fällen wie peut-etre nicht dazu beitragen einen engeren Zusammen-
hang zu begründen, weil sie auch in il peul avoir eintritt. Wo sie
aber durch einwirkung des etymologischen princips auf die traditio-
nellen formen beschränkt wird, da werden diese eben dadurch fester
zusammengefügt. Ferner kommt in betracht contraction eines auslau-
tenden vokals mit dem anlautenden des folgenden wortes, respective
elision eines von beiden, vgl. lat. reapse, magnopere, aliorsum, rursus
(aus *re-ursus), franz. aubepine {alba espina)^ Bonnetable (ort im departe-
ment Sarthe), 7nalaise, got. sah (dieser, aus sa-uh), pammuh (diesem, aus
fjamma-uh), mhd. hinjie (= hie inne), hüzen = nhd. haussen, nhd. binnen.
Die ausstossung im französischen artikel (l'etat) oder in der präpo-
sition de begründet wider keine composition, weil sie nach einer all-
gemeinen regel erfolgt und nicht auf einzelne formein beschränkt ist.
Ein dritter häufig vorkommender fall ist die assimilation eines aus-
lautenden consonanten an den anlaut des folgenden wortes, vgl. nhd.
hoß'arl, Homburg (= Hohenburg), Bamberg (== Babenberg), empor (= ent-
bor), sintemal (= siyit dem mal), lat. illico, affatim, possum. Die durch-
greifendste Isolierung aber wird durch Wirkungen des accents geschaffen,
vgl. nhd. nachbar (= mhd. nächgebür), Junker (= juncherre), Jungfer
(= Jnncfrouwe), grummet (= gruonmät), immer {ie mir), tnannsen, iveibsen
19*
292
{= mannes, tvibes name), hieben (aus in eban, eueben\ lat. denuo (== de
novo), illico, franz. celle {ecce Hla)\ vgl. die entsprechenden erschei-
nungen bei den nach indogermanischer weise gebildeten compositis:
nhd. adler (mhd. adel-ar), wimper (wint-brä), tvildpret {wiltbrät oder wilt-
brcele), schuhe — schultess {schult heize), schuster {schuochsütcere, schuh-
näher), glied {gelit), bleiben {beliben), franz. conter {computare), coucher
(collocare), coudre {consuere), lat.i) subigere (gegen agere), reddere (gegen
dare), surgere (aus sub-regere), proebere (aus prce-hibere), contio (aus
conventio), cuncti (aus cojunctt).
Seltener ist es, dass lautliche Veränderungen der einfachen Wörter
die veranlassung zur isolierung geben. Es geschieht das z. b. in der
weise, dass ein auslautender consonant durch hinüberziehen zum fol-
genden Worte sich erhält, während er sonst abfällt; vgl. nhd. da (ahd.
dar) wo (ahd. rvar) gegen daran, woran etc., mhd. hieran etc. gegen hie,
särie gegen sä. Eine andere modification ist durch die hinüberziehung
vermieden in vinaigre gegen vin. Wie die geringere tonstärke eines
compositionsgliedes Veränderungen hervorrufen kann, denen das Sim-
plex nicht unterliegt, so kann sie umgekehrt auch schützend wirken,
wo das sim])lex unter dem einflusse des haupttons verändert wird, vgl.
nhd. heran, herein gegen her, franz. cor dien, corbleu gegen coeur. Im
nhd. wird der vokal eines ersten compositionsgliedes durch die folgende
doppelconsonanz vor der dehnung geschützt, der das simplex unter-
liegt, vgl. herzog, Hermann, herberge, wollust.
Die selben lautveränderungen, welche das compositum vom Sim-
plex trennen, trennen auch die einzelnen eomposita, welche das gleiche
glied enthalten, von einander, und auch dadurch verliert das gefühl
für die Selbständigkeit der glieder an kraft.
Besonders entscheidend für das zusammenwachsen der demente
ist es natürlich auch, wenn das eine als simplex verloren geht; vgl.
nhd. bräutigam (ahd. -gumo mann), nachügal {-gala Sängerin), weichbild
{wich- heilig), augenlid {-lid deckel), einerlei {-leie art), wahrnehmen,
franz. aubepine {alb-), prin/emps {primutn-), tiers-etat {iertius-), minuit
{media-), bonheur {-augurium), o?'mier (-merum).
Wir haben bisher immer nur den gegensatz von wortgruppe und
Worteinheit im äuge gehabt und uns bemüht alle momente zusammen-
zufassen, welche dazu dienen die erstere immer entschiedener zur letz-
teren umzugestalten. Es kommt aber dabei noch ein anderer gegen-
satz in betracht. Die geschilderte entwickelung muss bis zu einem
') Man miiss, um die entstehimg der angeführten formen zu verstehen, auf
die vorhistorische betonungaweise zurückgehen.
293
gewissen punkte gediehen sein, damit der eomplex den eindrnek eines
eompositunis macht, sie darf aber auch nicht über einen gewissen
punkt hinausgehen, wenn er noch diesen eindruck machen soll und
nicht vielmehr den eines simplex. Was man vom Standpunkte des
sprachgeflihls ein compositum nennen darf, liegt in der mitte zwischen
diesen punkten.
Syntaktische und formale Isolierung führen nicht leicht zur Über-
schreitung dieses zweiten punktes; in der regel ist es Untergang des
einen elementes in selbständigem gebrauche, was die veranlassung gibt,
oder lautliche Isolierung, namentlich das zusammenschmelzen des laut-
körpers unter accenteinflüssen.
Die lebendigkeit des gefühls für die composition zeigt sich be-
sonders in der tahigkeit eines compositums als muster für analogie-
bildungen zu dienen. Wenn wir die composition aus der syntax ab-
geleitet haben, so soll damit keineswegs gesagt sein, dass jedes ein-
zelne compositum aus einem syntaktischen eomplex entstanden ist.
Vielmehr sind vielleicht die meisten sogenannten composita in den
verschiedenen sprachen nichts anderes als analogiebildungen nach sol-
chen, die im eigentlichen sinne composita zu nennen wären. So ist
z. b. jedes in der flexivischen periode der indogermanischen grund-
sprache und vollends jedes innerhalb der einzelsprachliehen entwicke-
lung neugeschaffene eigentliche nominalcompositum als eine analogiebil-
dung aufzufassen und nicht als Zusammensetzung eines gar nicht mehr
existierenden reinen Stammes mit einem flectierten worte. Ebenso sind
unsere neuhochdeutschen genitivischen und adjectivischen composita
zum grossen teile von aufang an nicht syntaktisch gewesen. Das sieht
man am besten an solchen fällen, wo das aus der genitivendung ent-
standene s des ersten gliedes auf Wörter übertragen wird, denen es im
gen. gar nicht zukommt {regierungsrat etc.) und auf solche, wo der
genitiv gar nicht hingehört, vgl. wahrheitsliebend nach Wahrheitsliebe
u. dergl.
Wird die grenze überschritten, bis zu welcher das compositum
dem Sprachgefühl noch als solches erscheint so macht das gebilde,
von den eventuellen flexionsendungen abgesehen, entweder den ein-
druck vollkommener einfachheit oder den einer mit einem suffix oder
präfix gebildeten ableitung. So nehmen sich Wörter wie nhd. amt (got.
and-bahti), öhmd (mhd. uo-mät)^ schütze (mhd. schuldheize\ echt (aus
mnd. ehaht = mhd. e-ha/(), heute (aus *Äm tagii), heim (mhd. hi-naht),
Seibt (ahd. Sigi-boto), bange (aus *bi-ango), gönnen (aus *gi-unnan\
fressen (got. fraitan)^ nicht (aus iii io wiht), lat. demere (aus *de-emere)^
promere (aus ^'pro-emere), surgere (aus *sub-regere), prorsus (aus *pro-
294
versus) nicht anders aus wie etwa stand, hose, bald, binden, pangere,
versus; und Wörter wie adler (ahd. adal-ar\ schuster (mhd. schuochsiu-
tcere), wimper (ahd. winl-brdfra), drittel (= dritte teil), Meinert {== Mein-
hard) nicht anders als solche wie Schneider, leiter, mittel, hundert.
Auch in Wörtern wie nachbär, bräutigam, nachtigal wird die letzte silbe
nicht anders aufgefasst werden wie die vollen ableitungssilben in trüb-
sal, rechnung u. dergl.
Hier sind wir bei dem Ursprünge der ableitungssuffixe und
präfixe angelangt. Dieselben entstehen anfänglich stets so, dass ein com-
positionsglied die fiihlung mit dem ursprünglich identischen einfachen
werte verliert. Es muss aber noch mehreres andere hinzukommen, damit
ein wortbildendes dement entsteht. Erstlich muss das andere glied etymo-
logisch klar sein, mit einem verwandten worte oder einer verwandten
Wortgruppe associiert sein, was z. b. bei adler, wimper nicht der fall
ist. Zweitens muss das dement nicht bloss in vereinzelten Wörtern
auftreten (wie in nachbar, bräutigatn), sondern in einer gruppe von
Wörtern und in allen mit gleicher bedeutung. Sind diese beiden be-
dingungen erfüllt, so kann die gruppe schöpferisch werden und sich
durch neuschöpfungen nach den auf dem wege der composition ent-
standenen mustern vermehren. Es muss dann aber drittens noch die
bedeutung des betreffenden compositionsgliedes entweder schon im
Simplex eine gewisse abstracte allgemeinheit haben (wie weseu, eigen-
schaft, tun) oder sich innerhalb der composition aus der individuelleren,
sinnlicheren des simplex entwickeln. Dieser letztere umstand kann
sogar unter umständen entscheidend sein, wenn auch das gefühl des
Zusammenhangs mit dem simplex noch nicht ganz verloren ist.
Wir haben innerhalb der verfolgbaren historischen entwickdung
gdegenheit genug zu beobachten, wie auf die bezeichnete weise ein
Suffix entsteht. Am bekanntesten sind aus dem deutschen -heit, -schaft,
-tum, -bar, -lieh, -sam, -ha/t. Der typus eines Wortes wie weiblich z. b
geht zurück auf ein altes bahuvrihi-compositum, urgermanisch *wibo-
likis^) eigentlich 'weibesgestalt', dann durch metapher 'weibesgestalt
habend'. Zwischen einem deraiügen compositum und dem simplex,
mhd. lieh, nlid. leiche ist eine derartige discrepanz anfänglich der be-
deutuugen, s])äter auch der lautformen herausgebildet, dass jeder Zu-
sammenhang aufgehoben ist. Vor allem aber hat sich aus der sinn-
lichen bedeutung des simplex 'gestalt, äusseres ansehen' die abstrac-
tere 'beschaffenheit' entwickelt. Bei einem worte wie Schönheit hat
') Mir kommt es hier und im folgenden nur darauf an die bildungsweise zu
veranschaulichen, und ich wül nicht behaupten, dass gerade das als beispiel ge-
wählte wurt zu den ursprünglichen bildungen gehurt habe.
295
sieh erst innerhalb des vvestgernianischen aus der syntaktischen ji:rnppe
ein compositum, aus dem compositum eine ableitung entwickelt. Ur-
SGYm.*skmmis haidus 'schöne eigenschaft', daraus regelrecht lautlich
entwickelt ahd. sconheit. Durch Übertragung der flexionslosen form in
die obliquen casus ist die composition vollzogen gerade wie in hochzU
u. dergl., vgl. s. 284. Vermöge seiner abstracten bedeutung wird dann
das zweite glied zum suffix, zumal nachdem es in selbständiger Ver-
wendung verloren gegangen ist.
Auch noch in einer späteren zeit nähern sich manche zweite
compositionsglieder dem Charakter eines sufflxes. So sind schmerzvoll,
schmerzensreich in ihrer bedeutung nicht verschieden von lat. dolorosus,
franz. douloureux, der unterschied zwischen anmulsvoll und anmuüg, reiz-
voll und reizend ist ein geringer. Das -iel {== teil) in drittel, viertel etc.
ist dem Sprachgefühl ein suffix. Auch in allerhand, allerlei, gewisser-
masscn, seit samenreise etc. ist der ansatz zur suffixbildung gemacht.
Von -weise könnte man sich recht gut vorstellen, dass es sich bei
weiter gehender Verallgemeinerung zum durchgehenden adverbialsuffix
hätte entwickeln können gerade wie -menfe in der romanischen Volks-
sprache.
Die Scheidelinie zwischen compositionsglied und suffix kann nur
nach dem Sprachgefühl bestimmt werden. Objectivc kriterien zur be-
urteilung desselben haben wir in der band, sobald durch die analogie
bildungsweisen geschaffen werden, die als composita undenkbar sind.
So könnte man zwar franz. fterement noch als fera mcnte auffassen,
aber z. b. ein recemment wäre auf recente mente zurückgeführt wider-
sinnig. Die grundbedeutung unseres -bar (= mhd. -h(ere) ist 'tragend,
bringend'. Wörter wie ehrbar, furchtbar, wunderbar würden dazu noch
einigermassen passen; aber schon mhd. w<a^e^6«'re (jungfräulich), meien-
bcere (zum mai gehörig), scheffenbmre (zum schöffenamt befähigt) nicht
mehr. Vollends entschieden ist der suffixcharakter, wenn die analogie
zum hinübergreifen in ganz andere Sphären führt wie in vereinbar, be-
greiflich, duldsam etc., die nur als ableitungen aus vereinen, begreifen,
dulden gefasst werden können (vgl. darüber oben s. 203); oder wenn
Suffixverschmelzungen stattfinden (vgl. darüber oben s. 203) wie in mhd.
miltecheit, miltekeit aus miltec-heit, woraus dann analogiebildungen ent-
springen wie einerseits frömmigkelt, gerechtigkeit , anderseits eitelkeit,
heiterkeit, dankbarkeit, abscheulichkeil, folgsamkeit.
Aus diesen beobachtungen , ["zu denen wir leicht aus andern
sprachen eine menge ähnlicher hinzufügen könnten, müssen wir
schliessen, dass die suffixbildung nicht das werk einer bestimmten
vorhistorischen periode ist, das mit einem bestimmten Zeitpunkte ab-
296
geschlossen wäre, sondern vielmehr ein, so lange die spräche sich
lebendig fortentwickelt, ewig sich widerholender process. Wir können
speciell vermuten, dass auch die gemeinindogermanischen suffixe nicht
schon alle vor der entstehung der flexion vorhanden waren, wie die
zergliedernde grammatik gewöhnlich annimmt, sondern dass auch die
vorgeschichtliche flexivische periode nicht ganz unfruchtbar in dieser
beziehung gewesen sein wrd. Wir müssen die vorgeschichtliche ent-
stehung von Suffixen durchaus nach dem massstabe beurteilen, den
uns die 'geschichtliche erfahrung an die band gibt, und mit allen
theorieen brechen, die nicht auf diese erfahrung basiert sind, die uns
zugleich den einzigen weg zeigt, auf welchem der Vorgang psycho-
logisch begreifbar wird.
Noch ein wichtiger punkt muss hervorgehoben werden. Die ent-
stehung neuer suffixe steht in stätiger Wechselwirkung mit dem unter-
gang alter. Wir dürfen sagen, dass ein suffix als solches unterge-
gangen ist, sobald es nicht mehr fähig ist zu neubildungen verwendet
zu werden. In welcher weise namentlich der lautwandel darauf hin-
wirkt diese fähigkeit zu vernichten, ist oben s. 160 auseinandergesetzt.
So stellt sich immer von zeit zu zeit das bedürfniss heraus ein zu sehr
abgeschwächtes, in viele lautgestaltungen zerspaltenes suffix durch ein
volleres, gleichmässiges zu ersetzen. Dazu bieten sich häufig die ver-
schmolzenen suffixcomplexe dar. Mau sehe z. b., wie im ahd. von den
nomina agentis auf -äri, den nomina actionis auf -unga, den abstractis
auf -nissa die älteren einfacheren bildungsweisen zurückgedrängt wer-
den. In andern fällen aber sind es die composita von der beschrie-
benen art, die den willkommenen ersatz bieten, in der regel zunächst
neben die älteren bildungen treten, dann aber rasch wegen ihrer
grösseren deutlichkeit, ihrer innigeren beziehungen zum grundworte
ein entschiedenes übergewicht über diese erlangen und sie bis auf
eine grössere oder kleinere zahl traditioneller reste überwältigen. So
verdrängt Schönheit das jetzt veraltete schöne, finsterkeit das noch im
mhd. lebendige diu vinster etc.
Auf die gleiche weise wie die ableitungssuffixe enstehen flexions-
suffixe. Zwischen beiden gibt es ja überhaupt keine scharfe grenze.
Wir haben auch hier für die vorgeschichtlichen Vorgänge einen mass-
stab an den geschichtlich zu beobachtenden. Das anwachsen des pro-
nomens an den tempusstaram lässt sich z. b. durch Vorgänge aus heu-
tigen bairischen mundarten erläutern, die schon s. 2(31 besprochen sind.
Die bildung eines tempusstammes zeijii; sich am handgreiflichsten am
romanischen fut.: j'aimerai = amare haheo. Doch es scheint mir über-
flüssig aus der masse des allgemein bekannten und jedem zur band
liegenden materials noch weitere beispiele zusammenzutragen.
297
Zieht man ans unserer betrachtiing die methodologischen
consequenzen, so wird mau zugestehen müssen, dass das verfahren,
welches bisher bei der construction der urverhältnisse des indogerma-
nischen eingeschlagen zu werden pflegte, sehr verwerflich ist. Ich
hebe einige nach dem obigen selbstverständliche sätze hervor, nach
denen die bestehenden theorieen zu corrigieren oder gänzlich umzu-
stossen sind.
Wenn man die indogermanische grundform eines wortes. auch
vorausgesetzt, dass sie richtig construiert ist, nach der üblichen weise
in stamm und flexionssuftix und den stamm wider in wurzel und ab-
leitungssuffix oder suffixe zerlegt, so darf man sich nicht einbilden,
damit die demente zu haben, aus denen das wort wirklich zusammen-
gesetzt ist. Man darf z. b. nicht glauben , dass die 2 sg. opt. präs.
Hherois (früher als Hharais angesetzt) aus hher + o -^ i + s ent-
standen sei. Erstens muss man in betracht ziehen, dass zwar die
ersten grundlagen der Wortbildung und flexion durch das zusammen-
wachsen ursprünglich selbständiger elemente geschaffen sind, dass
aber diese grundlagen sobald sie einmal vorhanden waren, auch sofort
als muster für analogiebildungen dienen mussten. Wir können von
keiner einzelnen indogermanischen form wissen, ob sie aus einem syn-
taktischen wortcomplex entstanden oder ob sie eine analogiebildung
nach einer fertigen form ist. Wir dürfen aber auch gar nicht einmal
ohne weiteres voraussetzen, dass der typus einer form auf die erstere
weise entstanden sein müsste. Vielmehr müssen wir auch schon für
die älteste periode den factor in anschlag bringen, der in den jüngeren
eine so grosse rolle spielt, die Verschiebung des bildungsprincipes durch
analogiebildung. So wenig, wie wir die typen besuch, unhesti-eUbcir,
unveränderlich, verrvaUungsrat auf einen syntaktischen complex zurück-
führen können, ebenso wenig wird das bei vielen indogermanischen
bildungen statthaft sein. Zweitens muss berücksichtigt werden, dass
auch in denjenigen formen, die wirklich syntaktischen Ursprungs sind,
die elemente nicht mehr in der lautgestaltung vorzuliegen brauchen,
die sie vor ihrem aneinanderwachsen hatten. So wenig wie schusters
aus schu-^ster-\-s entstanden ist. so wenig braucht ein indogerma-
nischer gen. akmenos aus ak + men -f os entstanden zu sein. Eine
reihe von Veränderungen, welche die elemente erst innerhalb des ge-
füges erlitten haben können, hat man längst erkannt, andere sind
neuerdings nachgewiesen. Es ist aber durchaus möglich und sogar
wahrscheinlich, dass die summe dieser Veränderungen mit dem er-
kannten noch lange nicht erschöpft ist.
Noch weniger darf man glauben, dass die durch analyse ge-
fundenen elemente die urelemente der spräche überhaupt sind. Unser
298
Unvermögen ein elenient zu analysieren beweist gar nichts für dessen
primitive einlieit.
Gänzlich fallen lassen muss man die für die geschiehte der indo-
germanischen fiexion beliebte Scheidung in eine periode des aufbaus
und eine periode des Verfalls. Das, was man auf bau nennt, kommt
ja, wie wir gesehen haben, nur durch einen verfall zu stände, und das,
was man verfall nennt, ist nur die weitere furtsetzung dieses processes.
Aufgebaut wird nur mit hülfe der syntax. Ein solcher aufbau kann
in jeder periode stattlinden, und neuaufgebautes tritt immer als ersatz
ein da, wo der verfall ein gewisses mass überschritten hat.
Cap. XX.
Die Scheidung der redeteile.
Die übliche Scheidung der redeteile iu den indogermanischen
sprachen, wie sie von den antiken grammatikern überkommen ist,
beruht nicht auf consequent durchgeführten logischen principien, sie ist
vielmehr zu stände gekommen unter berücksichtigung sehr verschiedener
Verhältnisse. Sie ti'äg-t daher den eharacter der willkührlichkeit an sich.
Ihre mängel lassen sich leicht zeigen. Es würde aber nicht möglich
sein etwas wesentlich besseres an die stelle zu setzen, so lange man
darauf ausgeht jedes wort in eine bestimmte klasse unterzubringen.
Der versuch ein streng logisch gegliedertes system aufzustellen ist
überhaupt undurchführbar.
Es sind drei punkte, die bei der ül)lichen einteilung massgebend
gewesen sind: die bedeutung des wortes an sich, seine fuuction im
Satzgefüge, sein verhalten in bezug auf flexion und Wort-
bildung.
Was den ersten ])unkt betrifft, so correspondieren zunächst die
grammatischen kategorieen substantivum, adjectivum, verbum mit den
logischen Substanz, eigenschaft. tätigkeit oder richtiger geschehen. Aber
wenn es auch die eigentliche function des substantivums ist eine Substanz
zu bezeichnen, wozu ein adj. oder verb. nicht fähig ist, so gibt es doch
auch substantivische bezeichnungen der eigenschaft und des gescheheus.
Es gibt ferner verba, die dauernde zustände, eigenschaften bezeichnen.
Die rücksicht auf die bedeutung der Wörter an sich hat ferner dazu
mitgewirkt, dass man die pronomina und die Zahlwörter als besondere
klassen aufgestellt hat. Wenn man diese nun den klassen der sub-
stantiva und der adjectiva coordiniert, so liegt darin ein starker logi-
scher fehler. Der gegensatz von subst. und adj. geht auch durch die
pronomina und Zahlwörter hindurch. Anderseits müsste man, wenn man
auf dem gebiete der nomina die pronomina und Zahlwörter als besondere
klassen ausscheidet, die selbe ausscheidung auch auf dem gebiete der
adverbia vornehmen ; denn heiie — huc — bis verhalten sich zu einander
wie bomis — hie — duo.
300
Sieht man auf die fimction im Satzgefüge, so könnte man die
Wörter vielleicht zunächst scheiden in solche, die für sich einen satz
bilden, solche, die fähig sind als Satzglieder zu dienen, und solche, die
nur zur Verbindung von Satzgliedern dienen, Verbindungswörter.
Unter die erste klasse könnten wir die interjectionen stellen, die
isoliert als unvollkommene sätze zu betrachten sind. Aber dieselben
kommen doch auch als Satzglieder vor, die mit einem subst. teils un-
mittelbar, teils durch vermittelung einer präpositiou zu einem satze
verbunden werden, vgl. ivehe dem lande, o über die toren, mhd. ach
niines lihes.
Ein vollkommenerer satz mit andeutung von subj. und präd. ist
ursprünglich das verb. finitum. Wir finden dasselbe aber daneben
schon auf der ältesten überlieferten stufe als blosses präd. neben einem
besonders ausgedrückten subjecte und in unserer jetzigen spräche nur
so, abgesehen vom imperativ. Es ist daher doch nicht möglich die
satznatur als kennzeicheu des verbums hinzustellen. Und weiter sind
die sogenannten hülfszeitwörter zu verbinduugswörtern degTadiert.
Die verbiudungswörter sind, wie wir s. 245 gesehen haben, durch
eine gliederungsverschiebuug aus selbständigen Wörtern entstanden.
Dieser process widerholt sich immer von neuem. Sie sind daher schon
deshalb nicht scharf abzugrenzen. Dazu kommt, dass ein wort inner-
halb des einzelsatzes, dem es angehört, Selbständigkeit haben, aber
doch zugleich zur Verknüpfung dieses satzes mit einem anderen dienen
kann. Sage ich z. b. ein mensch, der das glaubt, ist ei7i narr, so ist
der innerhalb des relativsatzes selbständiges glied, aber zugleich ver-
bindungswort zwischen haupt- und nebensatz. Das nämliche gilt über-
haupt von dem relativen pron. und adv. Es gilt auch von dem de-
monstrativum, soweit es auf den vorhergehenden oder folgenden
satz weist, dagegen wider nicht, soweit es auf die vorliegende an-
schauung geht.
Versuchen wir dann eine weitergehende teilung, so verwickehi
wir uns wider in Schwierigkeiten. Das subst. hat im gegensatz zum
adjectivum und verbum vor allem die function als subj. zu dienen und
danach als object im weitesten sinne. Wenn neben den substanz-
bezeichnungen auch solche substantiva geschaffen sind, die eine eigen-
schaft oder ein geschehen bezeichnen, so beruht dies wol anfänglich
auf einer phantasievollen anschauung, durch welche eigenschaften und
Vorgänge zu dingen oder personen gestempelt werden. Weiterhin aber
ist es eben die fähigkeit der substantivischen bezeiehuungen beliebig
als subj. oder obj. zu dienen, was die veranlassung giebt sie zu schaffen.
Bei alledem aber kann doch wider auch das subst. attributiv und prä-
dicativ verwendet werden wie ein adj., und können anderseits auch
301
andere Wörter als siibj. fiiugiercn; ich niciiie nicht etwa bloss als psy-
ebologiselies subj. im weitesten sinne, sondern auch als grammatisches
subj. in dem üblichen beschränkten sinne. Vgl. Sätze wie frisch gefragt
ist halb gewonnen, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, hin ist hin, verloren
ist verloren, grün ist die färbe der ho/fnung; ehrlich yvährt am längsten^
doppell genäht hält gut, jung gefreit hat niemand gereut, allzu scharf
macht schartig, gleich wider ist die beste bezahlung, geradezu gibt gute
renner. Auch als obj. kann zuweilen ein adj. erscheinen, vgl. er hält
gut für böse; ferner abhängig von präpositionen, vgl. schwarz auf weiss,
aus arg ärger machen.
Wenden wir uns zu den Verbindungswörtern, so erregt die klasse
der conjunctionen, wie sie gewöhnlich aufgestellt wird, allerhand be-
denken. Zunächst ist die Scheidung von den demonstrativen und re-
lativen adverbien, deren Stellung oben (s. 300) characterisiert ist, eine
ziemlich willkürliche, indem man z. b. wo als adv., als, während als
conjunctionen bezeichnet. Im einzelsatze unterscheidet man dann prä-
positionen und conjunctionen, je nachdem easusrection stattfindet oder
nicht, d. h. also im allgemeinen je nachdem hypotaxe oder parataxe
stattfindet. Vollständig decken sich allerdings diese beiden Unter-
scheidungen nicht. Dagegen bezeichnet man alle Verbindungswörter,
die Sätze unter einander verknüpfen, als conjunctionen, während man
doch hier auch den unterschied zwischen hypotaxe und parataxe
machen sollte. Man bezeichnet z. b. ehe, seit, während, wo sie im ein-
fachen satze auftreten, als präpositionen, wo sie zur Verknüpfung von
Sätzen dienen, als conjunctionen, während doch die function in beiden
fällen analog ist.i)
Am consequentesten lässt sich noch die Scheidung nach der
flexionsweise durchführen. Und in der tat wird danach die Scheidung
in drei hauptklassen gemacht, nomina, verba und flexionslose Wörter
(iudeclinabilia, partikeln). Aber auch hierbei zeigen sich die nominal-
formeu des verbums und die substantivierten indeclinabilia wider-
strebend. Und zu einer weiteren sonderung reicht die rücksicht auf
die flexion nicht aus. Die indecliuabeln partikelu lassen sich danach
überhaupt nicht w eiter einteilen. Die pronomina weichen in der flexion
zum teil von den übrigen nomina ab, aber nur zum teil und dann
wider untereinander. Der unterschied zwischen substantivischer und
adjectivischer flexion ist kein durchgängiger. Auch die bildbarkeit
der Steigerungsformen kann nicht als entscheidendes kennzeichen des
') Ueber die Verwendung von präpositionen zur einleitung von nebensätzen
im engl. vgl. s. 137.
302
ndjeetivums gelten, da sehoii die bedeutung mancher adjeetiva keine
steigeriiugsformen zulässt.
Wenn demnach bei der üblichen Scheidung der redeteile so ver-
schiedenartige rücksiehten in frage kommen, die mit einander in con-
ilict geraten können, so ist es ganz natürlich, dass diese Scheidung
überhaupt nicht wirklich durchführbar ist. Die dabei in betracht
kommenden Verhältnisse sind zu mannigfaltig und erscheinen in zu
verschiedenartigen combinationen, als dass eine einordnung in acht
oder neun rubriken genügen könnte. Es gibt eine menge Übergangs-
stufen, vermöge deren ein allmähliger Übergang aus der einen klasse
in die andere möglich ist. Ein solcher Übergang erfolgt nach den
allgemeinen regeln des bedeutungsvvandels und der analogiebildung,
wie wir sie in den voraufgehendeu capiteln kennen gelernt haben.
Verfolgt man diese Übergänge, so erhält man damit zugleich aufklärung
über die Ursachen, die ursprünglich eine diflferenzierung der redeteile
hervorgebracht haben.
Betrachten wir zunächst den unterschied zwischen subst. und adj.
Die formelle Scheidung beider beruht in den indogermanischen sprachen
auf der wandelbarkeit des letzteren nach dem geschlecht und auf der
bildung der Steigerungsformen. In einzelnen sprachen haben sich dazu
noch weitere unterscheidungsmittel herausgebildet. So hat namentlich
das germanische adj. die möglichkeit einer doppelten, wir können sogar
sagen dreifachen flexionsweise erlangt (vgl. gut — guter — der gule),
wobei sich formen finden, die in der flexion der substantiva gar keine
analogie haben.
Man ist auf grundlage solcher kriterien z. b. nicht zweifelhaft,
dass man hund für ein subst. Jung für ein adj. erklären muss. Aber trotz
aller formellen difterenzierung kann das adj. ohne weiteres die function
eines substantivums erhalten, zunächst occasionell, dann auch usuell. Es
findet dal)ei eine bereicherung des bedeutungsiuhaltes statt, indem ent-
weder die ganz allgemeinen Vorstellungen eines dinges oder einer person
mit aufgenommen werden oder speciellere, aus der Situation sich erge-
l)cnde (vgl. s. 271). Diese Operation können wir occasionell mit jedem be-
liebigen adj. machen, welches denn auch unser jetziger schreibgebrauch
durch Verwendung der majuskel als subst. anerkennt. Durch traditio-
nelle Verwendung kann sich dann aus dem substantivierten adj. ein
reines subst. entwickeln, zumal wenn es gegen die sonstigen formen
des adj. irgendwie isoliert wird. Der fortschritt in der Substantivierung
bekundet sich hinsichtlich der construction namentlich durch die Ver-
knüpfung mit einem attributiven adjectivum, welches an stelle des ad-
verbiums tritt, oder mit einem gen., der eventuell an stelle eines vom
adj. regierten dativs tritt. Vgl. lat. bonum publicum, mulum publicum,
303
amicus fideiis\ auch iilme dass die subBtantivieriing sebon so traditionell
geworden ist, sagt mau nommUi nostri iniqui, noymnUis invidis meis (vgl.
Draeg. § 16); vgl. ferner engl. ?hij like, equul, better, younger etc. (Mätzn.
III, s. 232), his worlhier (Miltou); nihd. min yeliche (vd'olier nhd. meines
gleichen). Dabei findet sieb misebnng substantiviscber und adjectiviseber
eonstruetion, vgl. lat. mnltorwn bene faclorum (Cic.) In anderer weise
veriuisebt sieb die auffassung, indem trotz der Substantivierung ein
Superlativ gebildet wird: mei familiär issimiy pessimo pnblico (vgl. Draeg.
§ 16). Im lat. gebt die völlige Substantivierung obne sebwierigkeiten
vor sieb, weil keine abweiebung in der tlexion bestebt. Im deutseben
dagegen erinnert aueb bei sebon sebr fortgescbrittener Substantivierung
docb die adjeetiviscbe flexion an die ursprUnglicbe natur des wertes.
Der bekannte, verrvandte, gesandle, vertraute, geliebte, verlobte, beamle,
bediente, liebste werden jetzt als substantiva empfunden und demgemäss
construiert {der bekannte des mannes, wein bekannter)., aber als adjectiva
verraten sie sieb noeb durcb den regelmässigen weebsel starker und
sebwacber flexion {der bekannte — ein {mein) bekannter)., die entspreeben-
den feminina dazu dureb die sebwaebe flexion im sing., die beim eigeut-
lieben subst. ausgestorben ist {die bekannte gegen die zunge). In voll-
ständige substantiva aber umgewandelt sind der junge {ein junge), der
greis (mbd. grise vom adj. gris)^ der jünger (die beide aus der sebwaebeu
declination in die starke übergetreten sind), oberst. Aeltereu Ursprungs
sind feind, freund, heiland, mbd. wigant (kämpfer) välant (teufel), alles
alte partieipia präs., ferner fürst (alter superl.), Herr (alter eompar. von
hehr)., mensch (adj. mennisch von man) und die neutra gut, übel, recht,
leid, nnld. Diese Verwandlung des adjectivums in ein subst. ist all-
bekannt und lässt sieb in allen spraeben nacbweisen.
Nicbt so bekannt und viel interessanter ist der umgekebrte Vor-
gang, die Verwandlung eines substautivums in ein adj. Diese kommt
zu Stande dadureb, dass etwas aus dem bedeutungsinbalt ausgescbieden
wird, indem mindestens von der Vorstellung einer Substanz abgesebeu
wird, so dass nur die der Substanz anbaftenden qualitäten übrig bleiben.
Oeeasionell findet diese Verwandlung eigentlicb sebon statt, sobald ein
subst. als präd. oder attribut verwendet wird. Denn es werden dadnrcb
der Substanz des subjects oder des bestimmten Wortes nur qualitäten
beigelegt, es wird niebt ausser dieser noeb eine neue Substanz gesetzt.
Die apposition näbert sieb namentlieb da der natur des adjeetivums,
wo sie zur speeialisierung einer gattung gebraucbt wird, zumal wenn
die Verbindung noeb eine vom normalen abweiebende kUbnbeit entbält.
Vgl. grieeb. avt^Q jro}.iT?jg, (h'itojq, ojiXIrtjg ete., yvvt) öiöjtoira, sogar
jiuQO-tvoQ x^h' l^^t- ^A-ercitus victor (Liv.) lirones milites (Oie.), beÜator
equus (Virg. Ov.), bos arator (Sueton); franz. un dieic sauveur (Voltaire);
304
flatteur und andere Wörter auf -eur müssen geradezu auch als adjectiva
angesehen werden. Die adjeetivische natur kann sich durch beiftig-ung
eines eigentlich nur dem adj. zukommenden abverbiums bekunden; vgl.
weg du träum, so gold du bist (Goe.); diesen Widerspruch, so Widerspruch
als er ist (Le.); so krieg erinn als sie war (ib. und so öfter); so ist er
fnchs genug (Le.); lat. nemo tarn puer est (Seneca).
Einige substantiva werden im nhd. in prädicativer Verwendung
schon geradezu als adjectiva empfunden, unterscheiden sich aber doch
dadurch von wirklichen adjectiven, dass sie nicht attributiv und mit
adjectivischer flexion gebraucht werden. Hierher ziehen lässt sich wol
schon herr oder meister sein {werden). Goethe sagt: als wenn sie
(Narciss und Landrinette) herr und meister der ganzen truppe wären.
Hier zeigen die beiden Wörter noch substantivische natur, insofern ein
gen. davon abhängt, aber zugleich sind sie wie praedicative adjectiva
behandelt, da sie sonst nicht unflectiert neben einem })luralischen sub-
jecte stehen könnten und ausserdem zu der einen weiblichen person
nicht passen würden. Noch entschiedener hierher zu ziehen ist einem
feind sein wegen des dativs. Ferner schuld sein, wobei sich die Iso-
lierung gegenüber dem subst. schuld in der Orthographie zeigt; weniger
entschieden es ist not, zeit, worin es von hause aus gen. ist. Noch
weiter geht die isolierung in es ist schade, indem das subst. jetzt ge-
wöhnlich schaden lautet. Im mhd, war die entwickelung schon noch
weiter gegangen. Hier wird schade auch als prädicat zu persönlichen
sul)jeeten gebraucht und es kommt auch ein comparativ und Superlativ
davon vor, z. b. im Trojanerkrieg Konrads v. Würzb. der was den
Kriechen scheder dan lernen anders hi der zit\^) ferner wird dazu ein
adv. gebildet wie zu einem adj.: swie schade er lebe (Mhd. wb. 11'' GS**).
Ebenso wie schade wird im ahd. frwna (vorteil) gebraucht, z. b. Otfried
III, 10, 83 ,nist' quad er thö ,fruma thaz'' (es ist das kein vorteil).
►Schon im mhd. ist daraus ein wirkliches adj. frum, nhd. fromm ge-
worden. Man sagt ein frumer man etc. Wie sehr dabei die grenzlinie
') Auch von andern Substantiven kommen im mhd. Steigerungsformen vor,
selbst wo das Satzgefüge die auffassung als adj. nicht zuliisst. So von zorn, vgl.
do enkunde Giselhere nimmer zorner gesin; von 7iöt, vgl. dhier helfe mir nie
nceler wart; von dürft, vgl. wand im nie orses dürfler wart. Von angst gibt es
im älteren nhd. einen comp., vgl. also viel engster sol dir werden Luth. (Wb. I,
359"). In diesen fällen hat nicht so wol die analogie des adj. als die des adv. ge-
wirkt. Das zeigt schon die häufige verl)induug angst und bange [bange ist ur-
sprünglich nur adv.). In Gottfrieds Tristan 1 784.") heisst es in was do zuo einander
Vit anger und vil ander ; ange ist adv. zu enge, atide subst. (schmerz). Wir ver-
wenden das adv. noch so in mir ist wol, weh. Lateinische Superlative aus Sub-
stantiven kommen bei Plautus vor: oculissime Itomo, patrtie mi pati-uissime, jedoch
wol mit beabsichtigter komischer Wirkung.
305
verwischt wird, zeigt eine stelle im Flore 1289 daz wirf in niilze unde
frume {:kume), wo wir mit rlieksicht auf die Verbindung: mit nütze das
adj., mit rlieksieht auf das auslautende e noch das suhst. annehmen
mlissten. Auch das adj. ernst, welches hei Luther zuerst auftritt, ist
auf die nämliche weise wie fromm aus dem suhst. entstanden. Das
subst. geck ist in nieder- und mitteldeutschen dialecten zum adj. ge-
worden. Entwicht aus mhd. ein tviht, enwiht (eigentlich „ein unbe-
deutendes wesen" ^ „gar nichts, nichtig") ist im sechszehnten jahrh.
vollständiges adj.. vgl. entivicht vnd ark (H. Sachs), du bist vil enln-ichter
(ib.), die bös entrichten (Ayrer).
Der nämliche process hat sich schon in einer viel früheren sprach-
periode vollzogen. Sämmtliche sogenannte bahuvrihi-composita sind
ursprünglich substantiva. Denn ein QoöoddxrvXo^, ßaQi'&vfiog, ßa9^v&Qi^,
fi'f/JTfu', magnanimus, ignipes, misericors sind ja eigentlich 'rosenfinger,
schwemmt, tief haar, gute hoifnung, grosssinn, feuerfuss, mitleidiges
herz.' Der substantivische Ursprung documentiert sich zum teil noch
in einem mangelhaften ausdruck der adjectivischen function. Die mas-
culinform (mdodäxrvXoc muss auch für das femininum dienen.
Etwas anders verlaufen ist die entwickelung bei harfuss aus har
vuoz (blosser fuss). Dasselbe wurde zunächst als nom. oder acc. ab-
solntus gebraucht in der Verbindung barvuoz gän. Jetzt wird es als
adj. empfunden. Wirkliche adjectivische flexion findet sich z. b. bei
Haus Sachs: mit har fassen füssenS)
Wenn wir davon absehen, ob das nomen unter der kategorie
ding aufgefasst wird oder nicht, so gibt es allerdings noch in einer
andern richtung einen gegensatz zwischen subst. und adj. Das adj.
bezeichnet eine einfache oder als einfach vorgestellte eigenschaft, das
subst. schliesst einen complex von eigenschaften in sich. Betrachten
wir diesen unterschied als die hauptsache, so können wir allerdings
orator in einer Verbindung wie Cicero orator oder Cicero est orator
noch als ein reines subst. fassen. Aber dieser unterschied ist wider
nicht festzuhalten. Er kreuzt sich mit den andern unterschieden, vgl.
einerseits adjectiva wie königlich, kriegerisch etc., anderseits substanti-
vierte adjectiva wie der gute. Auch zwischen diesen gegensätzen gibt
es eine vermittelung, die unvermerkt von dem einen zum andern hinüber-
führt. Der Übergang aus der bezeichnung einer einfachen eigenschaft
in die eines complexes von eigenschaften geht so vor sich, dass ein
substantiviertes adj. x«t' fc^o^^'r gebraucht und in dieser gebrauchs-
weise traditionell wird. Wer das wort zuerst so gebraucht, der ergänzt
die Vorstellungen, die in der bisher üblichen bedeutung des w.ortes
>) Noch eine andere art des Übergangs ist s. 199 besprochen.
Paul, Principien. II. Auflage. 20
306
noch nicht ausgedrückt sind. Einem späteren aber, dem dieser ge-
brauch übermittelt wird, können sieh von anfang an die ergänzten
vorstelhingen ebenso direet au den lautcomplex anfügen wie die grund-
vorstelluug, und diese braucht sich ihm nicht mehr vor den andern ins
bewusstseiu zu drängen. Wenn dies nicht mehr geschieht, so ist von-
Seiten der bedcutung der Übergang zum subst. vollkommen, und durch
weitere isolieruugen kann dann die gänzliche loslösung vom adj. ein-
treten, vgl. die oben angeführten beispiele.
Der umgekehrte Vorgang, dass in einer complication von eigen-
schaften alle übrigen gegen eine einzelne zurücktreten, lässt sich an
adjectivischen ableitungen aus Substantiven beobachten, die sich zu
bezeichnungen ganz einfacher qualitäten entwickeln. Besonders lehr-
reich sind in dieser hinsieht die farbenbezeichnungen, vgl. griech. jioq-
(f>VQtOQ von jTOQcpvQa (purpurschnecke), qoivixtioa von rpoitH^, dtQivoc
(luftfarben) fiijXirog (quittengelb), lat, coccinus von coccum (Scharlach-
beere) croceus, crocinus von crocus, Intens von lutum (wau), mbiiaceus
von miniiwi (zinnober), niveus, roseus, violaceiis. In allen diesen Wörtern
lieg-t an und für sich keine beschränkung der beziehung auf die färbe
des mit dem grundworte bezeichenten dinges und sie werden zum teil
auch ohne diese beschränkung verwendet, vgl. unguenium crocinmn,
vinculum roseum (rosenkranz) etc. Auch substantiva kiinnen direet zu
farbenbezeichnungen werden, vgl. jcoQfpvga, coccum, crocus, lutum und
die modernen lila (= lilac spanischer ßeder)^ rosa, die auch adjecti-
visch verwendet werden (ein rosa band).
Nach massgabe dieses Vorgangs ist die erste entstehung von be-
zeichnungen für einfache qualitäten zu beurteilen. Dass diese jünger
sind als die bezeichnungen für complicationen ist selbstverständlich,
wenn wir davon ausgehen, dass ganze anschauungen die allererste
grundlage sind. Auch hier kann es anfänglich nur die momentane
auffassung des sprechenden gewesen sein, wodurch die übrigen in dem
complexe enthaltenen qualitäten von der einen in den hintergrund ge-
drängt sind. Es ist das im gründe der selbe process wie bei der bild-
lichen Verwendung eines Wortes. Wenn wir z. b. sagen der mensch
ist ein esel, ein ochse, ein schaf, ein fuchs, so haben wir dabei immer
nur eine bestimmte eigentümlichkeit des betreffenden tieres im äuge
und abstrahieren von den sonstigen eigenschaften. Dies ist nur mög-
lich, wo ein wort prädicativ oder attributiv gesetzt wird. Denn sowie
man die Vorstellung eines selbständigen dinges damit verbindet, ver-
bindet man auch die Vorstellung des ganzen complexes von eigen-
schaften damit. Indem bei einer anzahl von Wörtern, die sich dazu
besonders eigneten, die verwendungsweise traditionell wurde, war der
erste ansatz zur bildung einer besonderen Wortklasse gemacht.
307
Auch der imterscliied zwischen uomen imd v erb um ist trotz
der stärkeren formellen diftereuzieruug- kein absolut fester. Es sind
sehr verschiedene punkte, durch welche das xevh. gegenüber dem nom,
eharacterisiert ist: personalendung, Unterscheidung von aetivum und
medium oder passivum, modus- und tempusbezeichnung. Es ergibt
sich danach die möglichkeit der existenz von formen, die nur einen
teil dieser characteristica an sich tragen, und der Spielraum der mannig-
faltigkeit erweitert sich noch dadurch, dass solche formen die positiven
characteristica des nomens, Casusbezeichnung und geschlechtsunterschied
an sich tragen können oder nicht. Und endlich ist bei einer difteren-
zierung der constructionsweise des verbums und nomens die gelegenheit
zu mannigfachen Übergängen und Vermischungen gegeben.
Gewöhnlich werden die personalendungen als das eigentlich for-
melle characteristicum des verb. angesehen. Danach würden pari und
inf. von den verbalformen ausgeschlossen, genau genommen auch viele
formen der 2 sg. imp.; denn ein ßdkXa oder ßcde ist nichts anderes
als der blosse stamm des präs. oder aor. Die personalendungen sind
demnach, wenn wir von der 2 sg. imp. absehen, ursprünglich ein not-
wendiges erforderniss für die function des verbums als normaler satz
und weiterhin für seine function als präd. oder copula im normalen
Satze. Sie sind aber doch kein absolutes erforderniss zur satzbildung,
und andere eigenttimlichkeiten des verbums sind von ihnen ganz un-
abhängig.
Der bedeutungsgegensatz, in den man gewöhnlich das verb. zum
adj., respective dem prädicativ oder attributiv gebrauchten subst. setzt,
hat mit den verbalendungen an sich nichts zu schaffen. Er kann ohne
dieselben bestehen und kann trotz ihnen fehlen. Ein griechisches
lyxortlq, ßaötXtvau kann gerade so viel bedeuten wie eyxorog et, ßaoi-
Xevg d. Der gegensatz ist nur so lange scharf, als das adj. (subst.)
eine bleibende eigenschaft, das verb. einen zeitlich begrenzten Vorgang
ausdrückt. Nun kann aber das adj. nicht bloss zur bezeichnuug einer
zum wiesen eines dinges gehörigen eigenschaft, sondern auch zur be-
zeichnuug einer vorübergehenden eigenschaft gebraucht werden, und
damit nähert es sich dem verbalen Charakter. Umgekehrt kann das
verb. auch zur bezeichnuug von zuständen, auch von bleibenden zu-
ständen gebraucht werden. Wie nahe sich die beiden bedeutungen
des sich befindens und des geratens in einen zustand mit einander
berühren, haben wir oben s. 231 gesehen.
Indem sich mit adjectivischer form und function die bedeutung
eines zeitlich begrenzten Vorganges verbindet, entsteht das participium,
welches vor allem den wert hat, dass es den ausdruck für ein geschehen
in bequemer weise attributiv zu verwenden ermöglicht. Wir können
20*
308
den Übergang- aus dem eigentlichen adj. in das part. in mehreren fällen
historisch nachweisen. Unter andern gilt dies von dem deutschen so-
genannten part. perf. oder prät. {gegeben, gelegt), welches so ent-
standen ist, dass die aus dem idg. überkommenen adjectiva auf -no-
und -to- sich in der bedeutung an die aus der gleichen wurzel gebil-
deten verba und speciell an das perf. (prät.) derselben angelehnt haben,
was dann weiterhin auch manche formale anlehnungen zu folge gehabt
hat. Ebenso verhält es sich mit dem lateinischen und slavischen part.
perf Wir müssen eine entsprechende entstehung auch für die älteren,
schon im idg. vorhandenen participia annehmen. Wir dürfen ganz
gewiss nicht, wie es von manchen selten her versucht ist, die kategorie
des adj. aus der des part. entstehen lassen, sondern umgekehrt die
erstere muss vollkommen entwickelt gewesen sein, bevor die letztere
entstehen konnte. Sie wird ausgegangen sein von formen, die eben
so wol als ableitungen aus dem präsens- oder aoriststamm aufgefasst
werden konnten wie als ableitungen aus der wurzel, nach deren muster
dann adjectivformen zu andern verbalstämmen gebildet wurden.
Die teilnähme au dem tempusunterschiede ist der characteristische
unterschied des part. von dem sogenannten verbaladjective. Eine weitere
consequenz der anlehnung au die formen des verb. ist die Übernahme
der constructionsweise desselben. Als nomen wird das part. nur in
rücksicht auf das subst. construiert, zu dem es als attribut gestellt
wird. Es kann sich aber noch weiter von dem nominalen character
entfernen, indem es seinen besonderen weg in der Weiterbildung der
constructionsweise geht. Dadurch, dass in unserem er ist gegangen, er
jvird gefangen, er ist gefangen worden casus und geschlecht nicht mehr
erkenntlich gemacht werden, ist auch das gefühl für den nominalen
character geschwächt, wenn auch die construction in den beiden ersten
Verbindungen die des gewöhnlichen adjectivums ist, in der letzten sich
davon nur durch das worden gegen sonstiges geworden abhebt. Eine
völlige loslösung von der constructionsweise eines adj. müssen wir in
er hat ihn gefangen, er hat geruht etc. anerkennen. Zwar lässt sich
historisch nachweisen, dass ersteres ursprünglich so viel ist wie 'er
hat ihn als einen gefangenen', aber das ist für das jetzige Sprachge-
fühl gleichgültig. Früher sagte man habet inan gefanganan, und da-
mals war natürlich der nominale character unverkennbar. Eigentümlich
sind die Verhältnisse bei den entsprechenden Verbindungen in den
jetzigen romanischen sprachen. Es lässt sich daran deutlich der Über-
gang aus der allgemein adjectivischen in die speciell paiücipiale con-
struction beobachten. Im franz. sagt man zwar fai vu les dames, aber
je les- ai ims, les dames que fai vues. Im italienischen kann man auch
noch sagen ho veduta lu donna, ho vedute Je donne neben ho veduto.
309
Im spanischeu ist die fiexiou bei der umschreihung mit haber schon
überall getilgt; man sagt la carla que he escrito gerade wie he escrito
Ulm Carla. Aber bei der erst später üblieli gewordenen umselireibiing
mit lener ist sie umgekehrt überall gewahrt: tengo escrila una carta
wie las cartas que tenijo escritas.
Umgekehrt aber kann das part. stufenweise wider zu rein nomi-
naler natur zurückgeführt werden. Diese rückführung ist eigentlich
schon vollzogen, wenn das part. präs. für die dauernde oder sich wider-
holende tätigkeit, das part. perf für das resultat der tätigkeit ver-
wendet wird, wie ja jede form des präs. oder perf. verwendet werden
kann. Eine gebrauchsweise xar lB,oxriV oder im metaphorischen sinne
oder sonst irgend eine art von Isolierung kann die Verwandlung voll-
ständig machen, vgl. beispiele wie schlagend^ treffend, reizend, z/ringend,
bedeutend, getrieben, gelungen, berufen, verstorben, verzogen, verschieden,
bekannt, unumnmnden, verlegen, gewogen, verwegen, erhaben, bescheiden,
trunken, uallkommen etc. Selbst die Verbindung mit einem andern worte
nach den gesetzten verbaler constructiou hindert diesen process nicht,
nur dass dann das ganze im stände sein muss sich an die analogie
nominaler composition anzulehnen vgl. ansprechend, auffallend, aus-
nehmend, anwesend, abwesend, zuvorkommend, hochfliegend, hellsehend,
wolwollend, fleischfressend, teilnehtnend; abgezogen, ausgenomjneii, hoch-
gespannt, neugeboren, wolgezogen etc.
Als ein characteristicum für die Verwandlung in ein reines adj,
kann die bildung eines comparativs und Superlativs angesehen werden.
Bisweilen erscheint dieselbe jedoch neben verbaler constructiou, vgl.
dazu erschien mir nichts wünschenswerteres , den character der nation
ehrenderes (Goe.); die Oestreich kräftig engsten demente (Kölner zeit.).*)
Ein anderes kriterium ist die coustructionsweise, z. b, die Verbindung
mit einem gen. im lat; amans tuorum ac tui (Cic), religionum colentes
(ib.), solitudinis fugiens — societatis appetens (ib.).^)
Zum subst. wird das part. wie jedes adj., und das substantivierte
part. kann wie das adjectivische eine momentane tätigkeit oder einen
zustand bezeichnen. Es kann auch ebenso wie dieses die verbale
natur abstreifen, vgl. der liebende, Vorsitzende, geliebte, gesandle, ab-
geordnete, bcamle (= beamtete), mhd. der varnde, gernde, (beide = spiel-
mann), aus älterer zeit heiland, freund, feind etc. , zahn = lat. dens =
gr. oöovq (part. zu essen, edere).
Auch das nomen agentis kann ebenso wie das part. entweder
eine momentane oder eine dauernde, resp. sich widcrholende tätigkeit
') Andr. 1 19 ff.
2) Draeg. § 2u7.
310
bezeichnen. In der ersteren Verwendung' l)leil)t es immer eng an das
vcrl). angcselilossen, und es wäre recht wol denkbar, dass es ebenso
wie das ])art. einn al verbale constructionsweise annähme, dass man
etwa sagte dei^ er zieher den knaben, wie man ja wenigstens im com-
positum knaben er zieher den ersten bestandteil als acc. empfindet und
in analogie zu knaben erziehen setzt. Schon in Verbindungen wie der
Sieger in der schlacht, der befreier aus der not^) ist verbaler character
ersichtlich, noch mehr in solchen wie griech. vmiQhrjg toTq v6(zoiq
oder gar lat. dator divitias, justa oralor. Umgekehrt kann das nom.
agentis als bezeichnung dauernder oder widerholter tätigkeit sich mehr
und mehr dem verb. gegenüber isolieren und damit schliesslich über-
haupt den character eines nom. agentis einbüssen, vgl. Schneider, bei-
sitzer, ritter, herzog (heerführer), vater etc.
Noch ein anderer weg führt vom verb. zum nom. Neben den
nomina agentis stehen die nomina actionis. Diese können wie die
substantivischen eigenschaftsbezeichnungen ihren Ursprung nur einer
metapher verdanken, indem die tätigkeit unter der kategorie des dinges
aufgefasst wird. Auch sie können- eine momentane oder eine dauernde
widerholte tätigkeit bezeichnen. Auch sie können sich der verbalen
coustructiou nähern, vgl. die befreinng aus der nol, ?) rotg rö^ioig
vjctjQtöia, knabener Ziehung. Und es ist wider die bezeichnung der
dauernden, widerholten tätigkeit, die zum verlust des characters eines
nonien actionis führt. Es entwickelt sich daraus die bezeichnung eines
bleibenden zustandes, vgl. besinnung, bervegung, aufregung^ Verfassung,
Stellung, Stimmung.
Von hier aus ist dann auch eine weiterentwickelung zu ding-
bezeichnungen möglich, wie schon oben s, 81 gezeigt ist. Dabei kann
das correspondieren der bedeutung mit der des verbums abgebrochen
werden, vgl. hallung, regung, gleichung, rcchnung, feslung etc. Und
durch weitere Isolierung kann dann jede spur des verbalen Ursprungs
vernichtet werden.
Soweit verhält sich das nom. actionis dem nom. agentis analog.
Es wird aber auch dem verbalen Charakter noch weit mehr angenähert
als dieses, weiter sogar als das adj. (part.), nämlich dadurch, dass
aus ihm der Infinitiv (das supinum) entspringt. Der inf verhält
sich in sehr vielen beziehungen dem part. analog. Aber während
dieses im allgemeinen die adjecti\ische form und die adjectivische
constructionsweise neben der verbalen bewahrt und nur hie und da
mit aufgebung der formellen characteristica des adj. für sich eine
eigenartige constructionsweise entwickelt, so ist für den inf Isolierung
') Vgl. noch auftalleudcre Verbindungen mit präpositioueu bei Andr. s. 209.
311
gegenüber der form und eonstruetionsweise des nomens bediugung
seiner entstehung. Der inf. ist, wie die formelle analyse beweist, ein
easns eines noni. aetionis und niuss ursprünglieii nach aualogie der
sonst tur die Verbindung des nomens mit dem verb. geltenden con-
structionsweisen gesetzt sein. Aber er darf als casus nicht mehr
empfunden werden, die eonstructionsweise darf nicht mehr in aualogie
zu den ursprünglichen mustern gesetzt werden, oder, es ist noch kein
inf. Die isolierte form und die isolierte eonstructionsweise werden
dann die basis für die weiterentwiekelung. Die form und eonstructions-
weise des inf. ist nach der einen seite hin verbal wie die des pari,
nach der andern seite hin aber nicht nominal, sondern specifisch
infinitivisch.
Auch für den inf. gibt es eine stufenweise rückkehr zu nominaler
natur, aber er findet dabei mehr hindernisse als das part. wegen des
mangels der flexion. Die annäherung an den nominalen Charakter
zeigt sich daher, solange nicht besondere uuterscheiduugsmittel ange-
wendet werden, zunächst in solchen fällen, wo die Charakterisierung
durch eine flexionsendung am wenigsten erforderlich ist, d. h. in der
\ erweudung als subject oder object. In satzformen wie wagen geivinnl,
lat. habere eripilur, habuisse nunquam (Sen.), vollends in solchen vsde
hie vereri (= verecundiam) perdidii (Plaut.) dürfen wir wol mit Sicher-
heit annehmen, dass der inf. nach analogie eines nomens construiert
ist. Weniger sicher ist das in solchen wie ich lasse schreiben, ich lerne
reilcn. Jedenfalls, wenn hier einmal der inf. nach analogie eines ob-
jectsaccusativs gesetzt ist, so ist diese analogie für das jetzige Sprach-
gefühl nicht mehr vorhanden. Schon weniger leicht tritt die Verbindung
mit Präpositionen ein. Im mhd. ist besonders durch mit dem inf.
üblich; in der römischen Volkssprache tritt die Verbindung von prä-
positionen mit dem inf. an die stelle des gerundiums {ad legere für ad
legendum etc.); ebenso zuweilen bei dichtem und späten prosaikern:
praeter plorare (Hör.), multum int er est int er dare et accipcre (Sen.).
Eine weitere annäherung des inf. an das nom. bedarf besonderer
begünstigender umstände. Es gelangen dazu im allgemeinen nur solche
sprachen, die in dem artikel ein mittel der Substantivierung und casus-
bezeichuung haben. Daher ist das griechische in dieser beziehung
weiter gegangen als das lateinische, in welchem letzteren allerdings
doch auch demonstrativpronomina eine ähnliche Wirkung haben können,
vgl. totum hoc philosophari (Cic), inhibere illud tuum (ib.). Das nhd.
aber und die romanischen sprachen sind wider weiter gegangen als
das griechische, indem in ihnen der inf. auch rücksichtlich der flexion
dem reinen nomen gleichgesetzt wird. Diese gleichsetzung ist in den
romanischen sprachen durch die allgemeine tilgung des casusunter-
312
schiede» ermö^^lielit. Das altfranzösisehc udcI provenzalische gehen
aber auch so weit dem inf. das nominativs -s zu geben: // piorers yie
C i vaul rien; Meilers chanza es donars qiie penres. Für das nhd.
kommt einerseits der umstand in betracht, dass die casusunterschiede
bei den Substantiven auf -en bis auf den gen. getilgt sind, anderseits
die anlehnung des gerundiums (mhd. yehennes, ze gehenne) an den inf.,
mit dem es ursprünglich gar nichts zu tun hat.
Bei dieser entwickelung sind auch verschiedene stufen in bezug
auf die beibehaltung der verbalen construction möglich. Ohne bei-
fügung eines artikels oder pronomens findet sie in der regel statt,
vgl. z. b. mhd. durch behalten den lip, durch äventlure suochen. Im
griech. hindert auch der artikel nicht; man sagt ro oxojiitv r«
jigäyfiata, ro tavrovq t%tTaC,tiv, tJil reo ßsXrico xaraOT?]Ocu rrjv
avTcöp öiaroiav. Im nhd. ist, der annähme der nominalen flexion
entsprechend, die verbale construction auf das selbe mass beschränkt
wie beim nom. aetionis. Im mhd. dagegen kommt zuweilen noch echt
verbale construction vor ; ja sogar ein auf den inf. bezogenes relativum
kann verbale construction haben, vgl. Hartman Greg. 2667 des scheltens
des in der man tele. Tristan 1067 diz sehen daz ich in hän getan.
Auch in den romanischen sprachen findet sich verbale construction
des mit artikel oder pron. versehenen infinitivs neben nominaler, vgl.
it. al passar questa valle (aber auch // trapassar del rio)\ span. el huir
la occasion (aber auch al entrar de la ciudad)\ afranz. au prendre le
congie, noch bei Montagne il se penoient du tenir le chasteau; ferner
it. // conoscer chiaramente, span. el bien morir, afranz. son sagement
parier.
Sobald der durch die flexion bewirkte abstand zwischen inf. und
nomen getilgt ist, steht der Verwandlung des erstereu in ein reines
nomeu nichts mehr im wege und diese ist daher im nhd. sehr häufig,
auch in den romanischen sprachen nicht selten , vgl. nhd. leben, ahleben,
leiden, scheiden, schreiben, tun und (reiben, wesen, vermijyen, betragen,
belieben, einkommen, abkommen, auskommen, ansehen, aufsehen, andenken,
vorhaben, nol wollen, woler gehen, gut dünken etc.; franz. etre, plaisir,
pouvoir, savoir, savoir-faire, savoir-vivre etc. Dabei können die selben
bedeutungsveränderungen eintreten wie sonst bei den nomina aetionis
und die selbe Isolierung dem verbum gegenüber.
Die adverbia sind, soweit wir ihren Ursprung erkennen können,
fast durchweg aus erstarrten casus von nominibus hervorgegangen,
teilweise aus der Verbindung einer präposition mit einem casus. Es
ist danach zu vermuten, dass auch die älteste schiebt der adverbia
auf ähnliche weise aus nominibus hervorgegangen ist, nur mit dem
unterschiede, dass dieser process vor die entwickelung der flexion
313
fällt, iiud dass daher uoeli uieht ein casus, sondern die reine Stamm-
form zur Verwendung gekommen ist. Das adv. hat die nächste Ver-
wandtschaft mit dem adj. Es verhält sich zunächst zum verbum,
dann auch zum adj. analog- wie ein attributives adj. zu einem subst.
Diese Proportionalität zeigt sich denn auch darin, dass im allgemeinen
aus jedem beliebigen adj. ein adv. gebildet werden kann.
Die formelle Scheidung des adjectivums von dem adv. beruht auf
der flexionstahigkeit des ersteren und der dadurch ermöglichten con-
gruenz mit dem subst. Wo dies formelle kriterium fortfällt, da kann
auch die Scheidung von dem Sprachgefühl nicht mehr strict aufrecht
erhalten werden. Im nhd. ist sie wirklich zum teil durchbrochen,
nachdem das adj. in prädicativem gebrauche unveränderlich geworden
ist und nachdem der im mhd. meist noch bestehende unterschied
zwischen der flexionslosen form des adj. und dem adv, {starc- starke,
scliocne-schöne, ijuot-wol, bezzer-baz) aufgehoben ist. Wir haben eigent-
lich kein recht mehr yut in Sätzen wie er ist <jul (jekleidet, er spricht
ijul und gut in Sätzen wie er ist gut, inan hält ihi für gut einander als
adv. und adj. gegenüber.aistellen. Das Sprachgefühl weiss von diesem
unterschiede nichts. Das ersieht man am besten daraus, dass die
adverbialform des Superlativs in die stelle eingerückt ist, die sonst
der flexionslosen form des adj. zukommt. Man sagt es ist am beslcn
und selbst du bist am schönsten, woin etc.
Anderseits nehmen in verschiedenen sprachen manche adverbia
neben einem adjectivum adjectivische flexion an. So sagt man im
franz. tonte pure, tont es pures \ entsprechend it. tutta livida, span. todos
desnudos etc.; ebenso it. mezza morte, span. medios desnudos. Auch in
vielen deutschen mundarten sagt man ein ganzer guter mann, eine
ganze gute frau\ solche schlechte wäre: eine rechte gute frau (Le.).
Die function des adjectivums stimmt besonders überein mit der
des adverbiums neben nomina actionis und agentis, vgl. eine gute
crzählung, ein guter erzähler. Hier bezeichnet das adj. genau so die
art und weise eines Vorganges wie sonst das adv. Die letztere Ver-
bindung ist aber zweideutig, indem man gut auch auf die person des
erzählers überhaupt beziehen kann. Diese Zweideutigkeit würde ver-
mieden werden, wenn mau etwa für den einen fall nach analogie der
verbalen construction das adv. anwendete; und so sagt man im engl.
an early riser. Im deutschen helfen wir uns durch Vereinigung der
begriffe in ein wort, vgl. frühaufsteher, langeschläfer, schönschreibcr,
feinschmecker etc., ableitungeu aus früh aufstehen etc. Die berührte
Zweideutigkeit ist übrigens nicht auf die nomina agentis beschränkt,
vgl. ein guter kutschcr, ein arger narr, ein grosser esel, ein junger ehe-
mann. Das adj. kann entweder auf die person schlechthin bezogen
314
werden oder auf die eigeoschaft, welche ihr durch das subst. beigelegt
wird. Im letzteren falle verhält es sich zu dem subst. wie ein adv.
zu dem adj., das es bestimmt. Entsprechend verhält sich das adj.
zu substantivischen qualitätsbezciehuungen, vgl. die hohe vorlrefflich-
keil, grosse gute.
Da adj. und adv. derartig mit einander correspondieren, so ist
auch das l)edUrfniss vorhanden für jeden einzelnen fall beides neben
einander zu haben. Nun gibt es aber eine grosse menge von adverbien,
die nicht aus einem adjectivum abgeleitet sind, und die daher auch
kein solches zur seite haben. Hier treibt das bedürfniss dazu auf das
adv. auch die function des adjectivums zu übertragen. Am leichtesten
wird das adv. prädicativ verwendet, indem neben ihm das verb. ebenso
wie neben dem adj. zum Verbindungswort herabgesunken ist. In Sätzen
wie er ist da, er ist auf, die iür ist zu, alles ist vorbei, er tvird fuir
zun-idcr wird die construction vom Sprachgefühl nicht anders aufgefasst
als in solchen wie die tiir ist offen, er wird unangenehm. Das adv.
tritt aber auch, indem es einem subst. als bestimmung beigefügt wird,
auf gleiche linie mit dem adjectivischem attribut. Wenn wir im nhd.
sagen der herg dort, die fahrt hierher, der bäum drüben, so liegt die
gleichstellung mit dem adj. noch fern wegen der abweichenden Stellung.
Anders steht es schon mit lateinischen (nicht häufigen) coustructionen
wie nunc hominum mores vides? (Plaut), ignori sumus ante malorum
(Virg.), discessu tum meo (Cic). i) Am meisten aber nähert sich das
adv. der adjectivischen function, wo es zwischen art. und subst. ein-
geschoben wird, wie im griech. : rriv exti jiaiÖEVOiv, rijv jtX/jöLov tv-
Xfjv, Tfö vvv ytrti, // nav rgvcft); im engl.: on the hither side, the
above discourse-)] im span.; la sempre senora mia. Im nhd. ist eine
derartige Verwendung des adv. nicht möglich. Man hat um dem be-
dürfniss zu genügen flectierbare Wörter geschaffen. Einerseits durch
secundäre ableitungen, die nur attributiv, nicht prädicativ verwendet
werden, vgl. alleinig, hiesig, dortig, obig. Jetzig, vorig, nachherig, sofortig,
alsbaldig, vormalig, diesseitig; seltener solche die auch prädicativ ver-
wendet werden wie niedrig, übrig (auch alleinig in oberdeutschen
mundarten). Anderseits haben manche adverbia ohne weiteres flexions-
endiingen angenommen, was dadurch l)egünstigt ist, dass in prädicativer
Verwendung das adj. sich formell nicht vom adv. abhob, weil die
flexionslose form angewendet wurde. Vgl. )iahe^ fern, selten, zufrieden,
vorhnndcn, behende (aus ahd. bi henli), täglich (aus ahd. tagolich), un-
gefä/ir, teilweise, anderweit. Dialektisch sagt man ein ziies fenstcr, ein
») Vgl. Draegcr § 79. *
2) Vgl. Mätzner III, s. HS. '?.
315
ivelu'r l^nijcv, bairiseli ein zuwiderer meuscli. Das aus dem adv.
(ciiiciitlich dat. pl.) ueugebildetc adj. einzeln hat das diesem zu g-runde
liei;eudc adj. einzel verdrängt. Zu oft werden adjeetivisehe steigern ngs-
formen gebildet; vgl. lat. propior, proxinms zu prope und griceb.
lyyvxsQo^, syyvraToq zu iyyvc.
In nahe berülirung mit dem adv. tritt das adj. als prädieatives
attribut. Dieser satzteil stellt in nächster bezichuug zum sul)j., an
welches er durch die congrueuz angeschlossen ist, ist aber doch dem-
selben gegenüber verselbständigt und kann eben deshalb auch in eine
directe beziehuug zum präd. treten. Das adv. dagegen ist an das
präd. angeschlossen, kann aber diesem gegenüber in ähnlicher weise
verselbständigt werden und dadurch dem subj. näher treten. Es gibt
nun auch talle, in denen eine bestimmung ebensowol zum subj. wie
zum präd. passt. So begreift es sich, dass in manchen sprachen für
den gleichen fall sowol das adj. als das adv. gesetzt werden kann,
oder dass in einer spräche dieses, in der andern jenes üblich ist.
Im nhd. steht häufig das adv. einem adj. anderer sprachen gegenüber,
vgl. al/ei7i gegen lat. solus, franz. seul etc.; zuerst und zuletzt gegen
lat. primus und postrcmus etc.; gern gegen griech. £xo)V, aOfitvoc;, lat.
liöens neben libenter; ungern gegen lat. inviius neben seltenerem inuile.
Auffallender für uns und auch in den fremden sprachen nicht all-
gemein üblich sind constructiouen wie griech. tvdov jtarvvxfoi (Hom.),
xQi'jV/j äg){}ovoi^ (ttovvoa (Xen.), Aocojidg Jioraiiöc, e(>Qvtj fiiyag (Thuc),
lat. beatissimi viveremus, propior hostem collocatus, proximi Rhenuni in-
colunt, noclurnusque vocat clamore Cithaeron (Virg,), Aeneas se inatuiinus
agebat (Virg.), frequens te audivi (Cic), in agmine alque ad virgilias mullus
{zzz^ frequenter) adesse (Sali.), est enim multus in laudanda magni/icentia
(Cic), is nullus (= non) venit (Plaut), tametsi malus moneas (Ter.); it.
che piu lontana se ne vada (Ariost.).
Die Präpositionen und conjunctionen sind als Verbindungs-
wörter immer erst in folge einer gliederungsverschiebuug aus selbstän-
digen Wörtern entstanden. Diese Verschiebung muss eine definitive
sein. Occasionell können ja die verschiedenartigsten Satzteile zu Ver-
bindungsgliedern herabgedrückt werden. Erst wenn ein wort mit einer
gewissen regelmässigkeit als Verbindungswort verwendet wird, kann
es eventuell als ])räp. oder conj. betrachtet werden. Es gehört dazu
aber auch noch eine Isolierung seiner constructionsweise gegenüber
derjenigen, die es als selbständiges wort hatte. Aber auch dann kann
es daneben als selbständiges wort functiouieren, so dass es also nicht
möglich ist es einfach unter eine bestimmte Wortklasse unterzubringen.
Dies ist erst möglich, wenn das woii; in seiner selbständigen Ver-
wendung untergegangen ist oder wenn sich mit den beiden ver-
316
vvendungswcisen eine lautliche differenziernng; verbunden hat, oder wenn
sonst irf,'end eine isolierung- eingetreten ist.
So können wir für die präposition folgende definition auf-
stellen: die präp. ist ein Verbindungswort, mit welchem ein casus eines
l)clicbigen substantivums verknüpft werden kann, ohne dass die ver-
biudungsweise noch in analogie zu einer nominalen oder verbalen con-
structionsweise steht. Nach dieser definition werden wir entsprechend
in einem satze wie er hat ihn seinen Verdiensten entsprechend belohnt
nicht für eine präp. erklären, denn seine construction ist die des ver-
bums entsprechen. Anders verhält es sich schon mit anstatt. In anstatt
des mannes ist der gen. ursprünglich das reguläre zeichen ' der nomi-
nalen abhäugigkeit. Ob er aber noch als solches empfunden wird,
hängt davon ab, ob man anstatt noch als Verbindung der präp. an mit
dem subst. statt empfindet. Wo nicht, tritt auch die construction mit
dem gen. aus der gruppe, in die sie bisher eingereiht war, heraus, und
die präp. ist geschaffen. Es kann in diesem falle das Sprachgefühl
recht wol nocli schwankend, bei verschiedenen Individuen verschieden
sein. Denn allerdings ist statt kein allgemein übliches subst. mehr,
sondern auf gewisse isolierte Verbindungen beschränkt. Sagt man aber
an meiner statt, so wird man noch stärker an die substantivische natur
von statt erinnert. In anderen fällen ist die Isolierung eine absolute
geworden. Unser nach ist ursprünglich adv. = nahe. Aber zwischen
seinem ende nahe und nach seinem ende ist jede beziehung abgebro-
chen, wiewol beide auf die nämliche constructionsweise zurückgehen.
Hier ist es die Verdunkelung der etymologischen beziehung durch di-
vergierende bedeutungsentwickelung, was die Isolierung der con-
structionsweise veranlasst hat. In anderen fällen ist es das ver-
schwinden dieser constructionsweise aus dem lebendigen gebrauche.
Im idg. wurde nach dem comp, wie im lat. der abl. gebraucht. Diese
construction war im altgermanischen noch bewahrt, nur dass der abl.
wie allgemein sich mit dem instr. und dat. mischte. Indem sie im
allgemeinen unterging, erhielt sie sich unter andern bei zwei adver-
bialen com})arativen, die durch diese Isolierung zu präpositionen wurden,
mild, c (nhd. noch in ehedem) und sit (nhd. seit) = got, scif^s in pana-
seifjs, lautlich regelmässiger comp, zu scijHis. Bei den ältesten prä-
l)ositionen des idg. war der casus wol zunächst auf das verb. bezogen.
Denn er bezeichnete an sich die riehtung wohin oder woher oder das
siehbefinden an einem orte. Die partikel trat nur zur näheren be-
stimmung des raumverhältnisses hinzu, war also noch adv. Indem die
casus ausserhalb der Verbindung mit der ])räp. ihre alte bedeutung
verloren, wurde eben aus dieser Verbindung eine eigenartige construc-
tionsweise geschaffen.
317
Die eiitstebung- der eonjunetionen lüsst sich zum teil wie die
der Präpositionen historisch verfolg:en. Die satzverbindenden entwickeln
sich zum grossen teil aus den conjunctiouellen adverbieu oder isolierten
formen der conjuuctionellen pronomiua, die eventuell mit anderen Wör-
tern verknüpft sind (vgl. daher, darum, deshalb, deswegen, u-eshalb, in-
dem). Diese Wörter sind also schon satzverkniipfend, bevor sie reine
eonjunetionen geworden sind. Ob man sie als solche gelten lassen
will, hängt sehr von der subjectiven emptiudung ab, eine bestimmte
grenze lässt sich nicht ziehen. Es kommt namentlich darauf an, bis
zu welchem grade der Ursprung des wortes verdunkelt ist. Eine solche
Verdunkelung ist notwendig, wenn man das wort als bloss satzver-
bindend empfinden soll.
Eine besondere entstehungsweise von eonjunetionen ist oben s. 251
besprochen. Auch hier liegt meist ein conjunctionelles, und zwar de-
monstratives pron. oder adv. zu gründe, entweder für sich oder in Ver-
bindung mit einem anderen worte. Doch gibt es auch fälle ohne
demonstrativum wie nhd. weil, falls, engl, hecause, in case. Aber auch
hier hat schon den zu gründe liegenden Substantiven der hinweis auf
das folgende angehaftet.
Eine anzahl von conjunktionen entsteht aus Wörtern, die einen
vergleich ausdrücken; vgl. ingleichen, ebenfalls, gleichfalls, gleichwol.,
andernfalls, übrigens; griech. oficog, äXXä; lat. celcrum; ferner die com-
parative ferner, weiter, viehnehr ; lat. potius, nihil ominus; franz. mais,
phitöt, neanmoins. Durch diese Wörter ist auch von anfang an eine be-
ziehung ausgedrückt, es fehlt dagegen an einem ausdruck dafür, worauf
die beziehung geht; dies muss aus dem Zusammenhang erraten werden.
Anders verhält es sich dagegen, w^o Versicherungen zu satzver-
bindenden eonjunetionen geworden sind, vgl. allerdings, freilich, näin-
lieh, 7vol, zwar (mhd. ze wäre fürwahr); got. raihtis (aber oder denn);
lat. certej verum, vero, scilicet, videlicet etc. Diese Wörter drücken an
sich gar kein verhältniss zu einem andern satze aus. Das logische
verhältniss, in welchem der satz, in dem sie enthalten sind, zu einem
anderen steht, wird ursprünglich, ohne sprachlichen ausdruck zu finden,
hinzugedacht. Indem es nun aber gerade dieses verhältniss ist, wes-
wegen der sprechende eine ausdrückliche Versicherung hinzuzufügen
für nötig erachtet, so kommt es, dass allmälig dies verhältniss als
durch die Versicherung ausgedrückt erscheint. Ebensowenig bezeichnet
lat. licet ursprünglich eine beziehung zu dem regierenden satze; auch
hier hat sich eine ursprünglich nur gedachte beziehung secundär an
diese verbalform angeheftet, die eben dadurch zur conjunction • ge-
worden ist.
Ein mittel zur bezeichnuug der beziehung zweier sätze oder satz-
318
teile auf ein.ander liefert die auaphorische Setzung zweier an sich nicht
conjunctioueller adverbia, vgl. bald — bald, jetzt — jetzt, einmal —
einmal; modo — modo, nunc — wnic, tum — tum u. dergl. Hiervon zu
scheiden ist natürlich die entsprechende Verwendung von solchen Wör-
tern, die an sich schon conjunctionen sind.
Der ])arallelismus in dem verhältniss von Satzgliedern und dem
von ganzen Sätzen zu einander zeigt sich darin, dass die für das eine
verhältniss geschaffenen verbiudungswörter analogisch auf das andere
Übertragen werden. So werden von alters her für beide Verhältnisse
die gleichen copulativen und disjunctiven partikeln verwendet. Die
Übertragung von Satzglied auf satz kann man deutlich verfolgen bei
den Wörtern wie weder, entweder, mhd. beide, vgl. s. 247. Ebenso be-
steht Übereinstimmung in der Verwendung der demonstrativen und
relativen vergleichungspartikeln. Hier werden wir die umgekehrte Über-
tragung von satz auf Satzglied anzunehmen haben. Ueber die sonstige
Verwendung ursprünglich satzeinleitender conjunctionen vor Satzgliedern
vgl. s. 136, über die von präpositionen vor Sätzen s. 137.
Der unterschied von präp. und conj. im einfachen satze ist durch
die casurection der ersteren scharf bestimmt. Doch finden sich nichts-
destoweniger Vermischungen des Unterschiedes. Ob man sagt ich mit
(sammt) allen übrigen oder ich und alle übrigen kommt dem sinne nach
ungefähr auf das gleiche hinaus, und so geschieht es, dass man zu
einer durch mit hergestellten Verbindung das präd. oder die apposition
in den pl. setzt, wo die berticksichtigung des eigentlichen grammatischen
Verhältnisses den sg. verlangen würde; vgl. scherz mit huld in anmuts-
volle?n bunde entquollen dem beseelten munde (Schi.); ^v\qq\\. Arj(io6ü^ti^i]Q
insrä Tcöv ovOTQatTjycöi' öTctvöovxai (Thuk.); lat. ipse dux cum aliquot
principibus capiuntur (Liv.); filiam cum filio accitos (ib.); engl, old sir
John tvith half a dozen more are at the door (Sh.) ; franz. Vertumne
avec Pomone ont embelli ces lieux (St. Lambert); weitere beispiele aus
romanischen sprachen bei Diez III, 301, aus slavischen bei Miklosich
IV, 77.78. Hier müssen wir das Verbindungswort, wenn wir auf den
dabei stehenden casus sehen, als präp., wenn wir auf die gestalt des
prädicates sehen, als conj. anerkennen. Beispiele für den wirklichen
übertritt von der präp. zur conj. bieten nhd. ausser und ohne, vgl. z, b.
niemand kommt mir entgegen ausser ein unverschämter (Le.), dass ich
nicht nachdenken kann ohne mit der feder in der hand (Le.), kein gott
ist ohne ich (Lu.). Umgekehrt wird die conj. wan in mhd. zu einer
präp. c. gen., vgl. daz treip er mit der reinen wan cht des alters einen
(Konr. V. Würzb.). Man begreift demnach, dass da, wo noch keine
casus ausgebildet sind, eine grenzlinie zwischen präp. und conj, kaum
bestehen kann.
319
Die überfüliruug' aus der imterorduiiug in die beioiduiing ist
noch leichter, wenn von anfang- an keine casusrection besteht, das ver-
binduugswort also schon eoujunetion (eonjunctionelles adv.) ist. Dies
zeigt sich namentlich bei der correlation sowol — als auch u, dergl., vgl.
die Zurückweisung, welche sowol Fichte als auch Hegel . . erfahren haben
(Varnhageu v. Ense); engl, your sister as well as myself are greatly
ob/iged to you (Fielding); lat. ui proprium jus tarn res publica quam
privala haberent (Frontinus) ; franz. la sante com?ne la foriune retirenl
leurs faveurs a ceux qui en abusent (Saint-Evremont) ; Bacchus ainsi
qxC Hercule etaienl reconnus pour demi-dieux (Voltaire).
Cap. XXI.
Sprache und schrift.
lieber die abweieluingen der sprachliehen zustände in der Ver-
gangenheit von denen in der gegenwart haben wir keinerlei künde,
die uns nicht durch das medium der schrift zugekommen wäre. Es
ist wichtig für jeden sprachforselier niemals aus den äugen zu verlieren,
dass das geschriebene nicht die spräche selbst ist, dass die in schrift
umgesetzte spräche immer erst einer rückumsetzung bedarf, ehe man
mit ihr rechnen kann. Diese rückumsetzung ist nur in unvollkommener
weise möglich (auch dessen muss man sich stets bewust bleiben),
soweit sie aber überhaupt möglich ist, ist sie eine kunst, die gelernt
sein will, wobei die unbefangene beobachtung des Verhältnisses von
schrift und ausspräche, wie es gegenwärtig bei den verschiedenen
Völkern besteht, grosse dienste leistet.
Die schrift ist aber nicht bloss wegen dieser Vermittlerrolle object
für den Sprachforscher, sie ist es auch als ein wichtiger factor in der
sprachentwickelung selbst, den wir bisher absichtlich nicht berück-
sichtigt haben. Umfang und grenzen ihrer Wirksamkeit zu bestimmen
ist eine aufgäbe, die uns noch übrig bleibt.
Die vorteile, welche die geschriebene vor der gesprochenen rede
in bezug auf Wirkungsfähigkeit voraus hat, liegen auf der band.
Durch sie kann der enge kreis, auf den sonst der einfluss des indivi-
duums beschränkt ist. bis zur weite der ganzen sprachgeuossensehaft
anwachsen, durch sie kann er sich über die lebende generation hinaus,
und zwar unmittelbar auf alle nachfolgenden verbreiten. Es ist kein
wunder, dass diese in die äugen stechenden Vorzüge gewöhnlich bei
weitem ül)erschätzt werden, auch in der Sprachwissenschaft überschätzt
sind, weil es etwas mehr nachdenken erfordert sich auch diejenigen
])uukte klar zu machen, in denen die schrift hinter der lebendigen
rede zurückbleibt.
Man unterscheidet gewöhnlich zwischen sprachen, deren ausspräche
von der schrift abweicht und solchen, in denen man schreibt wie man
spricht. Wer das letztere anders als in einem sehr relativen sinne
321
nimmt, der befindet sieh in einem folgenschweren irrtiim. Die sehrift
ist nicht nur nicht die spraclie selbst, sondern sie ist derselben auch in
keiner weise adäciuat. Es handelt sich für die richtige auftassung des
Verhältnisses nicht um diese oder jene einzelne diserepanz, sondern
um eine grundverschiedenheit. Wir haben oben s. 48 ff. gesehen, wie
wichtig für die beurteilung der lautlichen seite der spräche die con-
tinuität in der reihe der hinter einander gesprochenen wie in der reihe
der bildbaren laute ist. Ein aiphabet dagegen, mag es auch noch so
vollkommen sein, ist nach beiden selten hin discontinuierlich. Sprache
und Schrift verhalten sich zu einander wie linie und zahl. So viele
zeichen man auch anwenden mag und so genau man die entsprechen-
den articulationen der sprechorgane definieren mag, immer bleibt ein
jedes nicht zeichen für eine einzige, sondern für eine reihe unendlich
vieler articulationsweisen. Und wenn auch der weg für den Übergang
von einer bezeichenten articulation zur andern bis zu einem gewissen
grade ein notwendiger ist, so bleibt doch die freiheit zu mancherlei
Variationen. Und dann erst quantität und accent.
Die wirklich üblichen alphabete bleiben nun auch hinter dem
erreichbaren weit zurück. Zweck eines nicht der wissenschaftlichen
phonologie, sondern nur dem gewöhnlichen praktischen bedürfnisse
dienenden alphabetes kann niemals sein die laute einer spräche von
denen einer andern, ja auch nur die eines dialectes von denen eines
andern unterscheidbar zu machen, sondern nur die innerhalb eines
ganz bestimmten dialectes vorkommenden differenzen zu unterscheiden,
und dieses braucht auch nur soweit zu geschehen, als die betreffenden
differenzen von functionellem wert sind. Weiter gehen daher auch die
meisten alphabete nicht. Es ist nicht nötig, die durch die Stellung in
der silbe, im worte, im satze, durch quantität und accent bedingten
unterschiede zu bezeichnen, sobald nur die bedingenden momente in
dem betreffenden dialecte immer die gleiche folge haben. Wenn z. b.
im nhd. der harte .?-laut in lust^ brüst etc. durch das gleiche zeichen
widergegeben wird wie sonst der weiche Ä-laut, dagegen in reiszen,
flieszen durch sz {ss), so beruht das allerdings auf einer historischen
tradition (mhd. hist — rizen), es ist aber doch sehr fraglich, ob die
Schreibung sz sich bewahrt haben würde, wenn nicht im silbenanlaut
das bedürfniss vorhanden gewesen wäre zwischen dem harten und
dem weichen laute zu scheiden (vgl. reiszen — reisen, flieszen — fliesen),
während in der Verbindung st das st stets hart ist, auch in formen
aus Wörtern, die sonst weiches s haben {er reist in der ausspräche
nicht geschieden von er reiszt). Dass die entstehung aus mhd. z nicht
das allein massgebende gewesen ist, wird durch die Schreibung im
auslaut bestätigt. Auch hier ist kein unterschied der ausspräche zwischen
Paul, Principien. 11. Auflage. 21
322
dem aus iiihd. v und dem aus mlul. z entstandenen s; das s in hasz,
heisz wird gesj)roehen wie das in glas, eis. Man schreibt nun sz im
auslaut (für mlid. z) nur da, wo etymologisch eng- verwandte formen
mit inlautendem harten s daneben stehen, also heisz — heiszer etc.,
dagegen das^), es, alles ^ ans^ auch blos als adv. und hischen = ein
wenig. Man schreibt auch nicht etwa kreisz — kreises = mhd. kreiz
— kreizes u. dergl. Aus alledem ist klar, dass die Scheidung der
Schreibweise nur von solchen fällen ausgegangen ist, in denen eine
mehrfache ausspräche in dem gleichen dialect möglich war. So ist
auch bei der schriftlichen fixierung der meisten sprachen nicht das
bedürfniss empfunden ein besonderes zeichen für den gutturalen und
palatalen nasal zu verwenden, sondern man hat dafür das selbe zeichen
wie für den dentalen angewendet, während der labiale sein besonderes
hat. Ursache war, dass der gutturale und palatale nasal immer nur
vor andern gutturalen und palatalen vorkam, also in den Verbindungen
nk, ng etc., und in dieser Stellung ausnahmslos galt, während der
labiale und der dentale auch im auslaut und im an- und inlaut vor
vokalen üblich waren, daher von einander unterschieden werden mussten.
Im französischen, wo der guttural auch im wortauslaut und im silben-
auslaut vor labialen und dentalen erscheint, ist auch wider kein dringendes
bedürfniss zu einer besondern bezeichnung vorhanden und würde eine
solche kaum eingeführt sein, auch wenn sonst ein strengerer anschluss
an die ausspräche durchgedrungen wäre; denn gutturaler nasal ist
für den silbenauslaut ganz allgemeine regel. Es ist ferner nicht nötig
im uhd. zwischen dem gutturalen und palatalen ch zu unterscheiden.
Denn die ausspräche ist durch den vorhergehenden vokal zweifellos
bestimmt und wechselt danach innerhalb des selben Stammes: fach —
fächer, loch — löcher, buch — bücher, sprach, gesprochen — sprechen,
spricht. Gäbe es dagegen ein palatales ch auch nach a, o, u, ein
gutturales auch nach e, i, ä, Ö, ü, so würde allerdings das bedürfniss
nach Unterscheidung vorhanden und vielleicht auch befriedigt sein.
Noch weniger ist es notwendig solche unterschiede zu bezeichenen,
wie sie mit notwendigkeit durch die Stellung im silbenauslaut oder
anlaut bedingt sind, z. b. bei den verschlusslauten, ob die bildung oder
die lösung des verschlusses hörbar ist. Ueberall schreibt. mau kk, it,
pp, während man doch nicht zweimal die gleiche beweguug ausführt,
sondern die zweite die umkehr der ersten ist. Nirgends haben auch
die vielfachen ersparungen in der bewegung bei dem übergange von
einem laute zum andern einen lautlichen ausdruck gefunden, vgl. darüber
Sievers, Grundzüge der lautphysiologie s. 84 ff.
') Die aiLsualiiuo in der conjugation dasz erklärt sich aus dem differenzierungs-
bedürfniss der granimatiker.
323
Allerdings gibt es auch ciDige ali)habete, z. 1». das des sanskrit,
die über das mass dessen, was das unmittelbare praktiselie l)ediirfniss
erheischt, hinausgehen und strengeren ansprüchen der lautphysiologie
genüge leisten, indem sie auch in solchen fällen ähnliche, aber doch
nicht gleiche laute auseinander halten, wo die Unterscheidung für den
der spräche mächtigen, auch ohne rücksicht auf sinn und Zusammen-
hang sich von selbst versteht. Viel häutiger aber sind solche alphabete,
die auch hinter der bezeichenten billigen anforderung noch zurück
bleiben. Die hauptursache solcher mangelhaftigkeit ist die, dass fast
sämmtliche Völker nicht sich selbständig ihr aiphabet den bedürfnissen
ihrer spräche gemäss erschaffen, sondern das aiphabet einer fremden
spräche der ihrigen, so gut es gehen wollte, angepasst haben. Dazu
kommt dann, dass in der weiteren entwickelung der spräche neue
differenzen entstehen können, die bei der einführung des alphabetes
nicht vorgesehen werden konnten. Die selben gründe können übrigens
auch einen unnützen überfluss erzeugen. Beides, überfluss und mangel
sind häufig nebeneinander. Als exempel kann das neuhochdeutsche
dienen. Mehrfache zeichen für den gleichen laut sind c — k — ch
— q, c — z, f — V, V — w, s — sz, ä — e, ai — ei, äu — eu,
i — tj. Ein zeichen, welches verschiedene laute bezeichenen kann,
ohne dass dieselben durch die Stellung ohne weiteres feststehen, ist
e, welches sowohl = französisch e als = französisch e sein kann.
In dem verhältniss von ä und e zeigen sich also luxus und mangel
vereinigt. Aehnlich ist es mit v (allerdings nur in fremdwörtern) in
seinem verhältniss zu /" und /r. Auch ch kann in fremdwörtern ver-
schiedene geltung haben fchar — charmant). Zur bezeichnung der
vokallänge sind mehrere mittel in auwendung, doppelschreibung, h und e
(nach /), und doch bleibt sie in so vielen fällen unbezeicheut. Diese übel-
stände sind zum teil so alt wie die aufzeichnung deutscher Sprachdenk-
male, und machten sich früher in noch störenderer weise geltend.
Andere die früher vorhanden waren, sind allmählig geschwunden. So
war es gleichfalls eine Vereinigung von luxus und mangel, wenn n
und V, i und j jedes sowol zur bezeichnung des vokales als des reibe-
lautes verwendet wurden und nach rein graphischen traditionen mit
einander wechselten. In den mittelhochdeutschen handschriften sind
0 — ö, u {ü) — ü (iu) — 1(0 — üe nicht von einander geschieden. Und
so könnte man noch weiter in der aufzählung von unvollkommenheiten
fortfahren, an denen die deutsche Orthographie in den verschiedenen
Perioden ihrer entwickelung gelitten hat.
Nimmt man nun hinzu, dass die acceutuation entweder gar nicht
oder nur sehr unvollkommen bezeicheut zu werden pflegt, so ist es
wol klar, dass auch diejenigen unter den üblichen schriftlichen tixier-
21*
324
iiugeu, in denen das phonetische prineip nicht durch die rlicksicht auf
die etymolog^ie und den lautstand einer älteren periode beeinträchtigt
ist, ein höchst unvollkommenes bild von der lebendigen rede geben.
Die Schrift verhält sich zur spräche etwa wie eine grobe skizze zu
einem mit der grössten Sorgfalt in färben ausgeführtem gemälde. Die
skizze genügt um demjenigen, welchem sich das gemälde fest in die
erinnerung eingeprägt hat, keinen zweifei darüber zu lassen, dass sie
dieses vorstellen soll, auch um ihn in den stand zu setzen die einzelnen
figureu in beiden zu identificieren. Dagegen wird derjenige, der nur
eine verworrene erinnerung von dem gemälde hat, diese an der skizze j
höchstens in bezug auf einige hauptpunkte berichtigen und ergänzen ■
können. Und wer das gemälde niemals gesehen hat, der ist selbst- j
verständlich nicht im stände, detailzeichnung, farbengebung und sehat- i
tierung richtig hinzuzudenken. Würden mehrere maier zugleich ver- |
suchen nach der skizze ein ausgeführtes gemälde herzustellen, so j
würden ihre erzeugnisse stark von einander abweichen. Man denke l
sich nun, dass auf dem Originalgemälde tiere, pflanzen, gerate etc. I
vorkämen, welche sie niemals in ihrem leben in der natur oder in l
getreuen abbildungen gesehen haben, die aber eine gewisse ähnlich-
keit mit andern ihnen bekannten gegenständen haben, würden sie i
nicht nach der skizze auf ihrem eigenen gemälde diese ihnen be- i
kannten gegenstände unterschieben? So ergeht es notwendigerweise
demjenigen, der eine fremde spräche oder einen fremden dialect nur j
in schriftlicher aufzeichnung kennen lernt und danach zu reproducieren j
versucht. Was kann er anders tun als für jeden buchstaben und jede j
buchstabenverbindung den laut und die lautverbindung einsetzen, die
er in seinem eigenen dialect damit zu verbinden gewohnt ist, und
nach den principien desselben auch quantität und accent zu regeln, j
soweit nicht abweicliungen ausdrücklich durch ihm verständliche zeichen i
hervorgehoben sind? Darüber ist man ja auch allgemein einverstanden, j
dass bei der erlernung fremder sprachen, auch wenn sie sich der !
gleichen buchstaben bedienen, mindestens eine detaillierte beschreibung |
des lautwertes erforderlieh ist, und dasz auch diese, zumal wenn sie
nicht auf lautphysiologischer basis gegeben wird, nicht das vorsprechen
ersetzen kann. Selbstverständlich aber ist das gleiche bedürfniss vor-
banden, wenn uns eine richtige Vorstellung von den lauten eines dia-
lectes beigebracht werden soll, der mit dem unsrigen zu der selben j
grösseren gruppe gehört. Es kommt darauf an die daraus sich er- I
gebenden consequenzen nicht zu übersehen.
Auf einem jeden in viele dialecte gespaltenen Sprachgebiete |
existieren, in der regel eine grosse anzahl verschiedener lautnuancen, ■
jedenfalls, auch wenn man nur das deutlich unterscheidbare berück-
825
sichtigt und alle schwer merklichen feinheiten bei seite lässt, sehr
viel mehr, als das gemeinsame aiphabet, dessen man sich bedient,
buchstaben enthält. In jedem einzelnen dialecte aber existiert immer
nur ein bestimmter bruchteil dieser nuaucen, indem die näehstverwandten
sich vielfach ausschliessen, so dass sich ihre zahl, wenn man diejenigen
nur für eine rechent, die zu scheiden das praktische bedürfniss nicht
erfordert, ungefähr mit der zahl der zur Verfügung stehenden buch-
staben decken mag. Wenn unter so bewandten umständen an ver-
schiedenen punkten aufzeichnungen in der heimischen mundart ge-
macht werden, so ist gar kein anderes verfahren denkbar, als dass
jeder buchstabe gerade für diejenige species einer grösseren gattung
von lauten verwendet wird, die gerade in der betreffenden mundart
vorkommt, also hier für diese, dort für jene. Dabei kommt es auch
vor, dass wenn zwei nahe verwandte species in einem dialecte neben
einander vorkommen, ein zeichen für beide ausreichen muss, während
umgekehrt von zwei für die übrigen dialecte unentbehrlichen zeichen
für den einen oder andern das eine entbehrlich sein kann. Wir
brauchen uns nur einige der wichtigsten derartigen fälle anzusehen,
wie sie auf dem deutschen Sprachgebiete vorkommen, wobei es sieh
nicht blos um die eigentliche mundart, sondern auch um die spräche
des grössten teiles der gebildeten handelt. Der unterschied zwischen
harten und weichen geräuschlauten besteht in Oberdeutschland so gut
wie in Niederdeutschland. Aber während er dort auf der grösseren
oder geringeren energie der exspiration beruht, kommt hier ') noch
ein weiteres charakteristicum hinzu, das fehlen oder Vorhandensein
des Stimmtons. Das obersächsische und thüringische aber kennen
weder eine Unterscheidung durch den stimmton, noch durch die energie
der exspiration. Demnach bezeichent also z. b. b für den Oberdeutschen
einen andern laut (tonlose lenis) als für den Niederdeutschen (tönende
lenis) und wider einen andern für den Obersachsen (tonlose fortis).
Auch k, i, p bezeichnen in gewissen Stellungen für den Obersachsen
und Thüringer einen andern laut (hauchlose fortis) als für die masse
der übrigen Deutschen (aspirata) 2). Das rv spricht der Niederdeutsche
als labio-dentalen, der Mitteldeutsche als labio-labialen geräuschlaut,
der Alemanne als consonantischen vokal. Das s im wortanlaut vor /
und p wird in einem grossen teile Niederdeutschlands als hartes s,
im übrigen Deutschland wie sonst seh gesprochen. Das ;• ist in einem
^) Auf genauere grenzbestimmungen, die zu geben mir unmöglich ist, kommt
es natürlich hier und im folgenden nicht an. Die tatsache ist zuerst festgestellt
von Winteler, Grammatik der Kerenzer mundart, s. 20 ff.
*) Vgl. Kräuter, Ztsehr. f. vgl. Sprachforschung 21, 30 ff.
326
teile lingualer, in dem andern uvularer laut, und noch mannigfache
sonstige Variationen kommen vor. Das g wird in einem tbeile Nieder-
und Mitteldeutschlands, auch in einigen oberdeutschen gegenden als
gutturaler oder palataler reihelaut gesprochen, entweder durchweg oder
nur im inlaut. Von jeher ist g in den germanischen dialecten sowol
zeichen für den verschlusslaut als für den reibelaut gewesen. Den
unterschied in der ausspräche des ch nach der natur des vorhergehen-
den vokales kennt das alemannische nicht. Dagegen macht es einen
unterschied zwischen / = nd. p und f = nd. /", den andere gegenden
nicht kennen.
Wo die gleichheit des Zeichens bei abweichung der ausspräche
zusammentrifft mit etymologischer gleichheit, da ist in der schritt ein
dialectischer unterschied verdeckt. Da dies sehr häufig der fall ist,
zumal wenn man auch die vielen im einzelnen weniger auffallenden,
aber doch im ganzen sich bemerkbar machenden abweichungen mit in
betracht zieht, da ferner meist die quantität, da vor allem die modu-
lationen der tonhöhe und der exspirationsenergie unbezeichent bleiben,
so muss man zugestehen, dass es ein erheblicher teil der dialectischen
differenzen ist, der in der schrift nicht zur geltung kommt. Gerade
das macht die schrift als Verständigungsmittel für den grossen verkehr
noch besonders brauchbar. Aber es macht sie gleichzeitig ungeeignet
zur beeinflussung der ausspräche, und es ist eine ganz irrige meinung,
dass man mit dem geschriebenen worte in der selben weise in die
ferne wirken könne wie mit dem gesprochenen in die nähe.
Wie kann einer z. b. wissen, wenn er das zeichen g geschrieben
sieht, welche unter den mindestens sieben in Deutschland vorkom-
menden deutlieh unterseheidbaren und zum teil stark von einander
differierenden aussprachen die des aufzeichners gewesen ist? Wie kann
er überhaupt aus der blossen Schreibung wissen, dass so vielerlei aus-
sprachen existieren '? Was kann er anders tun als die in seiner heimat
übliche ausspräche dafür einsetzen?
Nur die gröbsten abweichungen von der eigenen mundart kann
man aus der schrift ersehen, aber auch ohne dass man über die spe-
eielle beschaffenheit der abweichenden laute etwas sicheres erfährt.
Soweit man die abweichungen erkennt, ist man natürlich auch im
Stande sie nachzuahmen. Das kann dann aber nur geschehen mit
vollem bewusstsein und mit voller absichtlichkeit, indem sich das nach-
ahmen des fremden dialects als etwas gesondertes neben die ausübung
des eigenen stellt. Es ist ein Vorgang, der sich von der aneignung
einer fremden spräche nur dem grade, nicht der art nach unterscheidet,
der dagegen ganz verschieden ist von jenem unbewussten sichbeein-
flussenlassen durch die spräche seiner verkehrsgenossen, wie es s. 51 ff
327
geschildert ist. Grundbedingung- für dasselbe war eben der kleine
rauni, innerhalb dessen sich die dittcrenzeu der einzelnen von ein-
ander bewegen, und die unendliche abstuf ungsfaiiigkcit der gesproche-
nen laute. Innerhalb der Sphäre, in welcher diese art der beeinflussung
ihre stelle hat, zeigt die schrift noch gar keine ditferenzen und ist
deshalb unfähig zu wirken.
Und wie mit der Wirkung in die ferne, so ist es mit der Wirkung
in die zukunft. Es ist blosse einbilduug, wenn man meint in der
schrift eine controlle für lautveränderungen zu haben. So gut wie an
verschiedenen orten ziemlich stark von einander verschiedene laute mit
den gleichen buchstaben bezeichnet werden können, eben so gut und
noch leichter kann das an dem selben orte zu verschiedenen zeiteu
geschehen. Kein buchstabe steht ja mit einem bestimmten laute in
einem realen zusammenhange, der sich für sich zu erhalten im stände
wäre, sondern der Zusammenhang beruht lediglich auf der association
der Vorstellungen. Man verbindet mit jedem buchstaben die Vorstellung
eines solchen lautes, wie er gerade zur zeit üblich ist. Der Vorgang
beim natürlichen lautwandel ist nun der, wie wir s. 52 ff. gesehen haben,
dass sich an stelle dieser Vorstellung unmerklich eine etwas abweichende
unterschiebt, die nun der folgenden geueration von vornherein als mit
dem buchstaben verbunden überliefert wird. Das mit dem buchstaben
verbundene lautbild kann daher keinen hemmenden einfluss auf den
lautwandel ausüben, weil es selbst durch diesen verschoben wird. Und
natürlich überträgt man jederzeit den eben geltenden lautwert eines
buchstaben auch auf die aufzeichnungen der Vergangenheit. Irgend
ein mittel den früheren lautwert mit dem jetzigen zu vergleichen gibt
es überhaupt nicht. Dass mit hülfe wissenschaftlicher Untersuchungen
etwaige conjecturen über die abweichungen gemacht werden können,
kommt natürlich hier nicht in betracht. In der regel kann sich auch
die veränderte ausspräche mit unveränderter Schreibweise lange ver-
tragen ohne dass daraus irgend welche unzuträglichkeiten entstehen.
Jedenfalls stellen sich solche erst heraus, wenn die Veränderung eine
sehr starke geworden ist. Dann aber ist eine Veränderung der spräche
nach der schrift, wenn überhaupt, nur mit bewusster absieht möglich,
und eine derartige Veränderung würde wider etwas der natürlichen
entwickelung durchaus widersprechendes sein. So lange diese ungestört
ihren weg geht bleibt nichts anderes übrig als die unbequemlichkeiten-
weiter zu tragen oder die Orthographie nach der spräche zu ändern.
Es ist nun auch mit allen den besprochenen mangeln der schrift
noch lange nicht der grad gekennzeichent, bis zu welchem das miss-
verhältuiss zwischen schrift und ausspräche gelangen kann. Wir haben
bisher eigentlich immer nur den zustand im äuge gehabt, der in der
328
periode besteht, wo die spräche erst autangt schriftlich fixiert zu werden,
wo jeder schreibende noch selbständig mit an der Schöpfung der Ortho-
graphie arbeitet, indem zwar ungefähr feststeht, welches zeichen Tür
jeden einzelnen laut zu wählen ist, aber nicht, wie das wort als ganzes
zu schreiben ist, so dass es der Schreiber immer erst, so gut es an-
gehen will, in seine demente zerlegen und die diesen dementen ent-
sprechenden 1)uchstaben zusammensetzen muss. Es ist aber keine frage,
das bei reichlicher Übung im schreiben und lesen das verfahren immer
mehr ein abgekürztes wird. Ursprünglich ist die Verbindung zwischen
den lautzeichen und der bedeutung immer durch die Vorstellung von
den lauten und durch das bewegungsgefühl vermittelt. Sind aber beide
erst häufig durch diese vermittdung an einander gebracht, so gehen
sie eine directe Verbindung ein und die vermittdung wird entbehrlich.
Auf dieser directen Verbindung beruht ja die möglichkeit des geläufigen
lesens und Schreibens. Man kann das leicht durch eine gegenprobe
constatieren , indem man jemandem aufzeichnuugen in einem dialecte
vorlegt, der ihm vollständig geläufig ist, den er aber bisher immer nur
gehört hat; er wird immer erst einige mühe haben sich zurechtzufinden,
zumal wenn die aufzeichnungen sich nicht genau an das System der
Schriftsprache mit allen übelständen desselben anschliessen. Und noch
viel mehr kann mau ihn in Verlegenheit setzen, wenn man ihm aufgibt
einen solchen dialect, sei es auch derjenige, den er von kind auf ge-
sprochen hat, selbst in der schrift zu verwenden. Er wird eine wirk-
liche lösung der aufgäbe immer dadurch umgehen, dass er sich in
ungehöriger weise von der ihm geläufigen Orthographie der Schrift-
sprache beeinflussen lässt. Das zeigen alle modernen dialectdichter-
Diesen hiutergrund der jetzt immer als analogon dienenden schrift-
sprachlichen Orthographie müssen wir uns noch wegdenken, wenn wir
uns den unterschied klar machen wollen zwischen der Stellung, die wir
jetzt der niederschrift unserer gemeinsprache gegenüber einnehmen, und
derjenigen, welche etwa die althochdeutschen Schreiber bei aufzeich-
nung ihres dialectes einnahmen. Man wird dann auch nicht leicht
vornehm auf das Ungeschick unserer vorfahren herabsehen. Man wird
vielmehr finden, zumal wenn man nicht alles durcheinander wirft,
sondern den schreibgebrauch eines jeden einzelnen für sich untersucht,
dass sie die laute richtiger beobachteten, als es heutzutage zu ge-
schehen pflegt und das aus einem gründe, der von anderer seite her
betrachtet als ein mangel den heutigen Verhältnissen gegenüber er-
scheint: ihnen stand noch keine festgeregelte Orthographie objectiv
gegenüber, ihnen wurde daher auch nicht der unbefangene sinn für
den laut durch den stäten hinblick auf eine solche Orthographie ver-
wirrt. Das will aber ungefähr eben so viel sagen als: sie konnten
329
der Vermittlung des laiitbildes zwischen Schriftbild und bedeutung noch
nicht entbehren.
Beides steht in der engsten Wechselbeziehung zu einander. Wenn
jetzt die directe Verbindung zwischen Schriftbild und bedeutung bei
allen einigermassen gebildeten eine sehr starke ist, so ist das zu einem
guten teile der constanz unserer Orthographie zu danken. Man sieht
das namentlich an solchen Wörtern, die in der ausspräche gleich, in
der Schrift verschieden sind. Jede abweichung in der Orthographie,
mag sie auch vom phonetischen Standpunkte aus eine entschiedene
Verbesserung sein, erschwert das verständiss. Wenn das ein schlagen-
der beweis für die directe Verbindung von schrift und ausspräche ist,
so muss anderseits der negative schluss daraus gezogen werden: je
weniger constant die schrift, je weniger ist directe Verbindung zwischen
ihr und der bedeutung möglich. Der mangel an constanz kann auf
unpassender beschaflfenheit des zu geböte stehenden raaterials oder Un-
geschick der Schreiber beruhen, indem etwa mehrere zeichen in der
gleichen Verwendung mit einander wechseln oder umgekehrt ein zeichen
bald in dieser, bald in jener Verwendung auftritt, oder auf dem fehlen
regelnder autoritäten, die eine Zusammenfassung und einigung der ver-
schiedenen orthographischen bestrebungen ermöglichen könnten. Er
kann aber auch gerade aus lautphysiologischer Vollkommenheit und
consequenz entspringen. Wenn z. b. die Schreibung des Stammes in
den verschiedenen formen mit dem laute Wechsel (mhd. (ac — lages,
neigen — neicte etc.), oder wenn gar wie im sanskrit die Schreibung
einer und derselben form mit der Stellung im satze wechselt, so stehen
der gleichen bedeutung eine anzahl Variationen der Schreibung gegen-
über, und in folge davon ist es nicht möglich, dass sich ein ganz be-
stimmtes Schriftbild mit der ersteren verbindet. So lange die constanz
der Schreibung fehlt, ist mit aller Übung im lesen und schreiben die
directe Verbindung nicht vollkommen zu machen. Zugleich aber wirkt
eben die Übung darauf hin allmählig eine grössere constanz herbeizu-
führen. Jeder fortschritt der ersteren kommt auch der letzteren zu
gute und jeder fortschritt in der letzteren erleichtert die erstere.
So ist denn auch der natürliche entwickelungsgang der Schreib-
weise einer spräche fortgang zu immer grösserer constanz, auch auf
kosten der lautphysiologischen genauigkeit. Freilich geht es nicht
immer in dieser richtung ganz gleichmässig vorwärts. Namentlich
starke lautveränderungeu rufen oft ablenkungen und rückläufige be-
wegungen hervor. Es sind drei mittel, mit hülfe deren sich die
Schreibung zur constanz durcharbeitet: beseitiguug des Schwankens
zwischen mehreren verschiedenen Schreibweisen, berücksichtigung der
etymologie, festhalten an der Überlieferung den lautveränderungeu zum
R30
trotz. Das erste mittel ist auch vom phonetischen gesichtspunkte be-
trachtet häufig ein fortschritt oder wenigstens kein rückschritt, nicht
selten wird aber damit über das phonetische princip hiuausgegriffen,
die beiden andern sind directe durchbrechungen dieses principes.
Natürlich aber bleibt daneben doch immer die tendenz wirksam spräche
und Schrift in grössere ül)ereiustimmung mit einander zu setzen, welche
tendenz teils in der beseitigung anlanglicher mängel, teils in der reaction
gegen die in einem fort durch den lautwaudel sich erzeugenden neuen
übelstände sieh betätigt. Indem sie in dem meisten fällen mit dem
streben nach constanz in conflict gerät, so zeigt die geschichte der
Orthographie das Schauspiel eines ewigen kampfes zwischen diesen
beiden tendenzen, wobei der jeweilige zustand einen massstab für das
derzeitige kraftverhältniss der parteien gibt.
Verfolgen wir die bewegung ins einzelne, so zeigen sich merk-
würdige analogieen zur entwickelung der spräche neben beachtens-
werten Verschiedenheiten. Die letzteren beruhen hauptsächlich auf
folgenden punkten. Erstens geschehen die Veränderungen in der Ortho-
graphie mit viel mehr bewustsein und absichtlichkeit als die der spräche;
doch muss man sich hüten diese absichtlichkeit zu überschätzen. Zwei-
tens ist bei dem kämpfe um die Orthographie nicht wie bei dem um
die spräche die ganze Sprachgenossenschaft beteiligt, sondern jedenfalls
nur der schreibende (resp. druckende oder drucken lassende) teil der-
selben und dabei die einzelnen in sehr verschiedenem grade und mit
sehr verschiedenen kräften; es macht sich in viel stärkerem grade als
in der spräche das Übergewicht bestimmter Individuen geltend. Drittens,
weil die Wirkungsfähigkeit nicht an die räumliche nähe gebunden ist,
so können sich auf orthographischem gebiete ganz andere Verzweigungen
der gegenseitigen beeinflussungen herausstellen als auf sprachlichem.
Viertens stehen die orthographischen Veränderungen dadurch in ent-
schiedenem gegensatz zum lautwandel, dass sie nicht in feinen ab-
stufungen, sondern immer nur sprungweise vor sich gehen können.
Betrachten wir zunächst die beseitigung des Schwankens zwischen
gleichwertigen lautzeichen. Ein solches schwanken kann auf mehrfache
weise entstehen. Entweder sind die zeichen schon in der spräche, der
mau das aiphabet entlehnt, gleichwertig verwendet worden. So verhält
es sich im ahd. mit den doppelheiten / — j, u — v, k — c, c — z.
Oder zwei zeichen haben zwar in dieser spräche verschiedenen wert,
es fehlt aber der spräche, die sie entlehnt an einem einigermassen ent-
sprechenden unterschiede, so dass nun beide auf einen laut fallen.
Namentlich kommen sie dann leicht beide in gebrauch, wenn der eine laut
der eigenen spräche z^vischen den zweien der fremden mitten inne liegt.
So gab es im oberdeutschen zur zeit der einführung des lateinischen
331
alphabetes in der ,c:uttuial- und labialreihe keinen dem lateinischen
zwischen tönender media und teuuis voUkunmien entsprechenden unter-
schied, im silbenanlaut auch nicht einmal einen annähernd entsprechen-
den, sondern nur einen laut, der sich von der lateinischen media durch
mangel des stimmtons, von der tenuis durch schwächeren exs})irations-
druck unterschied. Daher ist ein schwanken zwischen g und /r, b und p
entstanden. Auch das schwanken zwischen f und v (u) und im mittel-
deutschen das schwanken zwischen v und b ist auf ähnliche weise
entstanden. Ferner ergeben sich doppelzeichen erst im laufe der
weiteren eutwickelung dadurch, dass zwei ursprunglich verschiedene
laute zusammenfallen und ihre beiderseitigen bezeichnungen dann mit
einander ausgetauscht werden. So fallen z. b. im späteren mittelhoch-
deutsch hartes s und z zusammen, und man schreibt dann auch sas
für saz und umgekehrt huz für hus etc., letzteres allerdings von anfang
an seltener. Endlich aber kann Spaltung durch verschiedene eutwicke-
lung des selben schriftzeichens eintreten, man vergleiche lat. / — j\
u — V, in unserer fracturschrift \ und §>. Besonders gross kann die
mannigfaltigkeit werden, wenn in einer spätem periode auf eine ältere
entwickelungsstufe zurückgegriffen wird, wie wir es z. b. an dem ge-
brauche der majuskeln neben den minuskeln sehen.
Der auf diese weise entstehende luxus wird auf analoge weise
beseitigt wie der luxus von Wörtern und formen. Die einfachste art
ist die, dass das eine zeichen sich allmählig ganz aus dem gebrauche
verliert. Die andere art besteht in der dififerenzierung der anfänglich
untermischt gebrauchten zeichen. Dieselbe kann sich innerhalb des
phonetischen princips halten, indem mit dem luxus ein dicht daneben
stehender mangel ausgeglichen wird, z. b. wenn im nhd. /, u und j, v
allmählig als vokal und consonant geschieden werden. Nicht selten
wird für die Unterscheidung die Stellung des lautes innerhalb des
Wortes massgebend, ohne dass ein phonetischer unterschied vorhanden
ist, oder wenigstens ohne dass ein solcher von den schreibenden be-
merkt ist, so wenn j und v lange zeit hindurch hauptsächlich im wort-
anlaut (auch für den vokal) gebraucht werden; wenn c im mhd. (von
den Verbindungen ch und seh abgesehen) ganz überwiegend auf den
silbenauslaut beschränkt wird {sac, tac, neide, sackes) und dann im
nhd., weil es in den übrigen fällen durch etymologische Schreibweise
verdrängt wird, nur noch in der gemination (ck) verwendet wird;
wenn im mhd. /" vor r, l und vor u und verwandten vokalen ^ iel
häufiger gebraucht wird als vor a, e, o. Eine dritte weise endlich
besteht darin, dass ohne phonetische oder graphische motivierung sich
nach Zufall und willkühr in dem einen worte diese, in dem andern
jene Schreibweise festsetzt. Auf diese weise regelt sich im nhd. das
332
verhältoiss von f — v {fall — vater etc.), t — th {iuch — fhun, gut
— muth etc.), r — ;•/?, ai — ei, ferner das verhältniss zwischen be-
zeichnung der länge und niehtbezeichnung und zwischen den ver-
schiedenen weisen der bezeichnung {nehmen — geben, aal — wähl,
viel — ihr etc.). Ein wesentliches moment dabei und ein haupt-
liinderungsgrund, der es nicht zur durchführung einer einheitlichen
Schreibung hat kommen lassen, der sich ja auch neuerdings immer
wieder einer consequenteu reform der Orthographie in den weg stellt,
ist das bestreben gleichlautende Wörter von verschiedener bedeutung
zu unterscheiden. Man vgl. unter andern ferse — verse, fiel — viel,
tau — thau, ton — thon, rein — Rhein, rede — rhede, laib — leih,
Main — mein, rain — rein, los — loos, mal — 7nahl, malen — mahlen,
war — wahr^ sole — sohle, slil — stiel, aale — ahle, heer — hehr,
meer — mehr, moor — mohr. Sogar verschiedene bedeutungen ur-
sprünglich gleicher Wörter werden so unterschieden, vgl. das — dasz,
wider — wieder etc. Hierher gehört auch die festsetzung der früher be-
liebig zur hervorhebung verwendeten majuskeln als anfangsbuchstaben
für die substantiva. Auch hierin zeigt sich die tendenz die schritt zu
Unterscheidungen zu benutzen, welche die ausspräche nicht kennt.
Diese weise der differenzierung ist eines der am meisten charakte-
ristischen zeichen für die verselbständigung der geschriebenen gegen-
über der gesprochenen spräche. Sie kommt auch erst da vor, wo
eine wirkliche Schriftsprache sich von den dialecten losgelöst hat, und
ist das product grammatischer reflexion. Bemerkenswert aber ist, dass
auch diese reflexion nicht erst Verschiedenheiten der Schreibweise für
ilire Unterscheidungen schafft, sondern nur die zufällig entstandenen
Variationen für ihre zwecke benutzt. Wo keine solche Variationen
vorhanden sind, kann auch der dififerenzierungstriel) nicht zur geltung
kommen, vgl. z. b. die oben s. 179 angeführten homonyma. Uebrigens
zeigt er sich auch nicht in allen denjenigen fällen wirksam, wo man
es erwarten könnte.
Wie die unphonetische differenzierung, so macht sich auch die
einwirkung der etymologie am kräftigsten und consequentesten in der
Schriftsprache geltend, ist aber doch öfter auch schon in mundartlichen
aufzeichnungcn nicht zu verkennen. Wir können die Verdrängung
einer älteren phonetischen Schreibweise durch eine etymologische mit
der analogiebildung vergleichen, durch welche bedeutungslose laut-
unterschiede ausgeglichen werden, ja wir dürfen sie geradezu als eine
auf die geschriebene spräche beschränkte analogiebildung bezeichnen,
für die denn auch eben die gesetze gelten, die wir schon kennen
gelernt haben. Auch hier natürlich ist nicht das etymologische ver-
hältniss an sich massgebend, sondern die gruppierungsverhältnisse auf
333
dem derraaligen staude der spräche. Isolierung schlitzt vor der aus-
gleichimg-, iiud umgekehrt bewirkt secuudäre annäherung von laut und
bedeutung hiuUberziehung in die analogie.
Betrachten wir von diesem gesiehtspunkte aus die wichtigsten
fälle, in denen das nhd. die phonetische Schreibweise des mhd, ver-
lassen und ausgleichuug hat eintreten lassen. Im mhd. wird die media
im auslaut und vor harten consonanten in der schrift ') wie in der
ausspräche tenuis, im nhd. nur in der ausspräche, nicht in der schrift:
mhd. tac, lelt, gap, neide ^= nhd. tag, leid, gab, neigte. Bewahrung
der mittelhochdeutschen regel haben wir in haupt (= houhet, houpt),
behaupten, weil keine verwandten formen mit nicht syncopiertem vokal
mehr daneben stehen; in dem eigennamen Schmitt, Sdmiidt ; in schult-
heiss, wo die Zusammensetzung mit schuld nicht mehr empfunden wird.
Im mhd. wird consonantengemination im auslaut und vor einem andern
consonanten nicht geschrieben: mmin — mannes, brante — brennen.
Das nhd. schreibt die gemination, wo etymologisch eng verbundene
formen das muster dazu geben: mann, brannte, männlich, mämichen,
(doch schon nicht mehr in brand, brimst und dergl.); jedoch im pron.
7nan, ferner branlen-ein, brantivein (nicht mehr als gebrannte wein ver-
standen); dagegen mit jüngerer anlehnung an herr: herrlich^ herrschaft,
herrschen mhd. herlich, herschaft, hersen aus her = nhd. hehr. Im
mhd. wird zwar der umlaut des langen a meist als ce vom e geschieden,
aber der des kurzen mit e bezeichnet. Im nhd. wird ä auch für den
umlaut des ursprünglich kurzen, jetzt vielfach gedehnten lautes ge-
braucht, wenn man sich der beziehung zu einer nichtumgelauteten
form aus der gleichen wurzel noch deutlich bewust ist, also vater —
Väter, Väterchen, väterlich, kraft — kräfte, kräftig, glas — gUiser,
gläsern, kalt — kälter, kälte, land — gelände, arg — ärger, ärgern,
fahre — fährst, ebenso im diphthongen bäum — bäume, haut — häute,
häuten, bärenhäuter (mhd. hiit — hiute)\ dagegen erbe, ente (mhd. aiit,
gen. ente), enge, enget, besser, regen (verb.), wiewol auch mit oÖenem e
gesprochen, leute etc., weil hier unumgelautete verwandte formen fehlen.
Beachtenswert ist die Verschiedenheit von ligen — legen, winden —
wenden und hangen — hängen, fallen — fällen; bei den ersteren findet
sich zwar auch a im prät. {lag, ivand), aber es wird nur präs. zu präs.
in beziehung gesetzt. Wo der gruppenverband gelöst oder wenigstens
stark gelockert ist, bleibt e, vgl. vetter zu vater, gerben zu gar, scherge
zu schar, hegen, gehege, hecke zu hag, heu zu hauen, fertig zu fart
(dagegen hoff artig), eitern gegen älteren, behende gegen hände, aus-
') Allerdings in den handschriften nicht so regelmässig als in den kritischen
ausgaben.
334
merzen zu mürz {ä mit rücksielit auf das lateiniselie a), sirecke zu
siracks. Die ausg'leiehung- tritt ferner nielit ein. wo die umgelautete
form als das primäre erscheint, vgl. brennen — brannte, nennen —
nannte etc. Es lässt sich auch die beobachtung machen, dass der
hinzutritt einer weiteren lautlichen Verschiedenheit hemmend wirkt,
daher hahn — henne, nass — netzen, henken, henker gegen hängen.
Anderseits wird das e in einigen fällen auch da, wo es gar nicht
durch Umlaut entstanden, sondern = urgerm. e {e) ist, doch als solcher
aufgefasst, wenn gerade ein wort mit a daneben steht, wovon das
mit e abgeleitet scheinen kann; vgl. rächen (mhd. rechen) auf räche
(mhd. räche), schämen (mhd. Schemen) auf schäm, wägen, erwägen,
(durch Vermischung von mhd. wegen mit wegen entstanden) auf 7vage
bezogen (dagegen bewegen) ').
Auch bei der oben s. 331 besprocheneu regelung von Schwankungen
spielt das etymologische verhältniss eine wesentliche rolle. Man schreibt
natürlich fahren — fahrt — geführte — fürt etc. mit durchgängigem /.
Wo h als dehnungszeichen gebraucht wird, wird es in der regel in
allen verwandten formen bei wechselndem vokalismus durchgeführt,
vgl. nehmen — nahm — genehm — übernahtne , befehle — befiehlt —
befahl — befohlen — befehl etc. Als beispiele für isolierung mögen
dienen zwar (= mhd. zewäre) gegen wahr, drittel, viertel etc. gegen
theil, vertheidigen (aus tagedingen) gegen tag.
Diese ausgleichung ist aber in der regel in bestimmte grenzen
eingeschlossen, indem sie nur da eintritt, wo die ausspräche dadurch
nicht zweifelhaft werden kann. Man kann im nhd. ohne schaden
lebte mit b schreiben, weil die spräche im silbenauslaut überhaupt
keine Unterscheidung zwischen b und p kennt. Aber man darf z. b.
ein längezeichen nur soweit durch die verwandten formen durchführen,
als der vokal wirklich lang ist (also genommen zu nehmen, fürt zu
fahren), und die gemination nur so lauge, als der vorhergehende vokal
kurz ist (also kam zu kottimen, fiel zu fallen).
Uebrigens wirkt die analogie (und darin besteht ein unterschied
von den Verhältnissen der gesprochenen spräche) auch schützend
gegen Veränderungen der älteren Schreibweise. Das lässt sich be-
sonders an der französischen Orthographie beobachten. Wenn die im
auslaut verstummten consonanten in der Schreibung bewahrt werden,
so ist die Ursache die, dass meistens verwandte formen daneben stehen,
') Die richtigkeit der obigen austühningen leidet dadurch keinen abbrucL,
dass das ä statt e und e sich auch noch in einigen andern fällen findet, wo es
nicht durch bezichung auf ein a motiviert ist. Teilweise kommt dabei auch das
streben nach difterenzierung in betracht, vgl. z. b. ?vähre7i, gewähren, gewähr —
wehren, gewehr.
335
in denen man .sie noeli spricht, und Anm sie aucli in der selben form
gesprochen werden, wenn ein mit vokal anlautendes wort sieh eng
ansehliesst. Würde mau z. b. />//, /ai, gri, il avai, tu a sehreiben, so
würde ein klaffender gegensatz zu faite^ laUe, grise, avait-il, in as ete
eintreten, wie er allerdings in // a — a-t-il nicht vermieden ist. So
würde auch die gleichmässigkeit der Schreibung gestört werden, wenn
man für den gutturalen nasal ein besonderes zeichen einführen wollte;
es dürfte un in un phre und iin ami nicht mehr übereinstimmend ge-
sehrieben werden. Wollte man ferner den nasalierten vokal von dem
nichtnasalierteu unterscheiden, so müsste man in cousin und cous'me,
un und une, ingrat und inegal verschiedene zeichen anwenden. Dass
die analogie der verwandten formen massgebend gewesen ist, sehen
wir aus einer anzahl von isolierten formen wie plutöl, toujours, Jiormis,
faußler, plafond (dagegen plat-bord), verglas (zu vert), morbleu, morftl,
Granville, Gerarcourt, Aubervilliers, faineant, vaurien, Omonl (zu haut).
Man vgl. auch solche isolierungen wie Clermont — clair.
Wenn die schrift nicht mit der lautlichen entwickelung der spräche
gleichen schritt halten kann, so ist leicht zu sehen, dass die Ursache
in nichts anderem besteht, als in dem mangel an continuität. In den
lautverhältnissen ist es ja, wie wir gesehen haben, continuität allein,
welche die Vereinigung von stäter bewegung mit einem festen usus
ermöglicht. Ein gleicli fester usus in der schrift ist gleichbedeutend
mit unveränderlichkeit derselben, und diese mit einem stätigen Wachs-
tum der discrepanz zwischen schrift und ausspräche. Je schwankender
dagegen die Orthographie ist, je entwickelungsfähiger ist sie, oder um-
gekehrt, je mehr sie noch der entwickelung der spräche nachzufolgen
sucht, um so schwankender ist sie.
Wir müssen aber ausserdem einige gesichtspunkte hervorheben,
unter denen das festhalten an der alten Schreibung bei veränderter
ausspräche noch begreiflicher wird. Bei der beurteilung des Ver-
hältnisses von schrift und laut in einer spräche mischt sich oft ganz
ungehöriger weise der Standpunkt einer andern spräche ein, während
die Orthographie einer jeden spräche aus ihren eigenen Verhältnissen
heraus beurteilt sein will. So lange immer einem bestimmten schrift-
zeichen ein bestimmter laut entspricht, kann von einer discrepanz
zwischen schrift und ausspräche keine rede sein. Ob das in der einen
spräche dieser, in der andern jener laut ist, tut nichts zur saclie.
Wenn daher ein laut sich gleichmässig in allen Stellungen verändert
und dabei nicht mit einem andern schon sonst vorhandenen laute
zusammenfällt, so braucht keine Veränderung der Orthographie einzu-
treten und die Übereinstimmung zwischen schrift und ausspräche bleibt
doch gewahrt. Aber selbst wenn die Veränderung keine gleichmässige
336
ist, sondern Spaltung eintritt, wenn dann nur wider keiner unter den
verschiedenen lauten mit einem schon vorhandenen zusammenfällt, so
bleibt in der regel nichts übrig als die alte Orthographie beizubehalten;
denn man würde um die laute zu unterscheiden mindestens eines
Zeichens mehr bedürfen, als zu geböte stehen, und das lässt sich nicht
willkürlich erschaifen. Nur da ist zu helfen, wo früher ein luxus vor-
handen war, der sich jetzt zweckmässig ausnützen lässt. Um einiger-
massen das phonetische princip aufrechtzuerhalten bedürfte es von zeit
zu zeit gewaltsamer neuerungen, die sich mit der erhaltung der einheit
in der Orthographie schlecht vertragen.
Dazu kommt nun, dass die eben besprochene Wirkung der ana-
logie für die conservierung der formen schwer ins gewicht fällt. Und
endlich ist noch in betracht zu ziehen, dass durch die einführung
phonetischer Schreibung manche Unterscheidungen gänzlich vernichtet
werden würden, die jetzt noch in der geschriebenen spräche vorhanden
sind. So würde im französischen in den meisten fällen der pl. nicht
mehr vom sg. verschieden sein, in manchen auch das fem. nicht mehr
vom masc. {clair — ctah^e etc.). In denjenigen fällen aber, wo noch
Verschiedenheiten blieben, würde die jetzt noch in der Schreibung
überwiegend bestehende gleiehmässigkeit der bildungsweise vernichtet
sein.
Cap. XXII.
Sprachmischung. ')
Gehen wir davon aus, dass es nur individualsprachen gibt, so
können wir sagen, dass in einem fort Sprachmischung stattfindet, sobald
sich überhaupt zwei individuen mit einander unterhalten. Denn dabei
beeinflusst der sprechende die auf die spräche bezüglichen vorstellungs-
massen des hörenden. Nehmen wir Sprachmischung in diesem weiten
sinne, so müssen wir Schuchardt darin recht geben, dass unter allen
fragen, mit denen die lieutige Sprachwissenschaft zu tun hat, keine
von grösserer Wichtigkeit ist als die Sprachmischung. In diesem sinne
haben wir die Sprachmischung durch alle capitel hindurch berück-
sichtigen müssen, da sie etwas von dem leben der spräche unzertrenn-
liches ist. Hier dagegen nehmen wir das wort in einem engeren sinne.
Hier verstehen wir etwas darunter, was nicht notwendig zum leben
der spräche gehört, wenn es auch kaum auf irgend einem Sprachge-
biete ganz fehlt.
Sprachmischung in diesem eugern sinne ist zunächst die beein-
fiussung einer spräche durch eine andere, die entweder ganz unver-
wandt ist oder zwar urverwandt, aber so stark differenziert, dass sie
besonders erlernt werden muss; weiterhin aber auch die beeinflussung
einer mundart durch eine andere, die dem gleichen continuierlich zu-
sammenhangenden Sprachgebiete angehört, auch wenn sie noch nicht
so stark abweicht, dass nicht ein gegenseitiges verständniss zwischen
den angehörigen der einen und denen der andern möglich wäre. Noch
eine art von Sprachmischung gibt es, die darin besteht, dass aus einer
älteren epoche der gleichen spräche schon untergegangenes neu auf-
genommen wird.
Wir betrachten zuerst die mischung verschiedener deutlich von
einander abstehender sprachen. Um den hergang bei der mischung
zu verstehen, müssen wir natürlich das verhalten der einzelnen iudi-
') Vgl. zu diesem capitel Whitney, On mixture in language (Transactions of
American Philological Association, 1881) und besonders Schuchardt, Slavodeutsches
und slavoitalienisches, Graz 1885.
Paul, Principien. II. Auflage. 22
338
viduen beachten. Die meiste veraülassiing zur misehung ist gegeben,
wo es individiien gibt, die doppelspraehig sind, mehrere sprachen neben
einander sprechen oder mindestens eine andere neben ihrer mutter-
sprache verstehen. Ein gewisses minimum von verständniss einer
fremden spräche ist unter allen umständen erforderlich. Denn
mindestens muss doch das, was aus der fi*emden spräche aufgenommen
wird, verstanden sein, wenn auch vielleicht nicht ganz exact verstanden.
Veranlassung zur Zweisprachigkeit oder zu einem mehr oder
weniger vollkommenen verständniss einer fremden spräche ist natürlich
zunächst an den grenzen zweier Sprachgebiete gegeben, in verschiedenem
grade je nach der Intensität des internationalen Verkehrs. Ferner
durch reisen der einzelneu auf fremdem gebiete und vorübergehenden
aufeuthalt auf demselben ; in stärkerem grade durch dauernden umzug
einzelner und vollends durch räumliche Verpflanzungen grosser massen,
durch eroberungen und kolonisationen. Endlich kann ohne irgend
welche directe berührung mit einem fremden volke die kenntniss seiner
spräche durch die schrift vermittelt werden. Im letzteren falle pflegt
die kenntniss auf gewisse durch bildung hervorragende schichten der
bevölkerung beschränkt zu bleiben. Durch die schriftliche vermittelung
ist dann nicht bloss entlehuung aus einer lebenden fremden spräche
möglich, sondern auch aus einer zeitlich zurückliegenden entwicklungs-
stufe derselben.
Wo durcheinanderwürfelung zweier nationen in ausgedehntem
masse stattgefunden hat, da wird auch die doppelsprachigkeit sehr
allgemein, und mit ihr die wechselseitige beeinflussung. Hat dabei die
eine nation ein entschiedenes übergewicht über die andere, sei es durch
ihre masse oder durch politische und wirtschaftliche macht oder durch
geistige Überlegenheit, so wird sich auch die anwendung ihrer spräche
immer mehr auf kosten der andern ausdehnen; man wird von der
Zweisprachigkeit wider zur einsprachigkeit gelangen. Je nach der
Widerstandsfähigkeit der unterliegenden spräche wird dieser process
schneller oder langsamer vor sich gehen, wird diese schwächere oder
stärkere spuren in der siegenden hinterlassen.
Die mischung wird auch bei dem einzelnen nicht leicht in der
weise auftreten, dass seine rede bestandteile aus der einen spräche
ungefjlhr in gleicher menge enthielte wie bestandteile aus der andern.
Er wird vielleicht, wenn er beide gleich gut beherrscht, sehr leicht
aus der einen in die andere übergehen, aber innerhalb eines Satzge-
füges wird doch immer die eine die eigentliche grundlage bilden, die
andere wird, wenn sie auch mehr oder weniger modificierend einwirkt,
nur eine secundäre rolle spielen. In noch höherem masse gilt das
uatürlidi für denjenigen, der sich keine Sprechfähigkeit in der fremden
339
spräche erworben hat, sondern nur ein besseres oder schlechteres ver-
ständniss. Bei demjenigen, der zwei sprachen neben einander spricht,
kann uatUrlicli jede durch die andere beeinflusst werden, die mutter-
sprache durch die fremde und die fremde durch die muttersprache.
Der einfluss der letzteren wird sich in der regel stärker geltend machen.
Er ist unvermeidlich, so lange man die fremde spräche nicht ganz
vollständig und sicher beherrscht. Doch kann auch der eintluss des
fremden idioms auf das eigene ein sehr starker werden, wo man sieh
demselben absichtlich hingibt, was meist die folge davon ist, dass
man die fremde spräche und cultur höher schätzt als die heimische.
Wenn nun aber auch der anstoss zur beeinflussung einer spräche
durch eine andere von Individuen ausgehen muss, die der einen wie
der andern, wenn auch in noch so geringem grade mächtig sind, so
kann sich diese beeinflussung doch durch die gewöhnliche ausgleichende
Wirkung des Verkehrs innerhalb der gleichen Sprachgenossenschaft
weiter verbreiten und sich so auf Individuen erstrecken, die mit dem
fremden idiom nicht die geringste directe berührung haben. Die
letzteren werden dabei nicht bloss von den angehörigen ihres Volkes
beeinflusst, sondern unter umständen auch von angehörigen eines
fremden Volkes, die sich ihre spräche augeeignet haben. Natürlich
werden sie die fremden demente immer nur laugsam und in geringen
quantitäten aufnehmen.
Wir müssen zwei hauptarten der beeinflussung durch ein fremdes
idiom unterscheiden. Erstens kann fremdes material aufgenommen
werden. Zweitens kann, ohne dass anderes als einheimisches material
verwendet wird, doch die zusammenfügung desselben und seine an-
passung an den vorstellungsinhalt nach fremdem muster gemacht
werden; die beeinflussung erstreckt sich dann nur auf das, was Hum-
boldt und Steinthal innere sprachform genannt haben.
Zur aufnähme fremder Wörter in die muttersprache veranlasst
natürlich zunächst das bedürfniss. Es werden demgemäss Wörter für
begrifte aufgenommen, für welche es dieser noch an einer bezeichnung
fehlt. Es wird in der regel begriif und bezeichnung zugleich aufge-
genommen aus der nämlichen quelle. Unter den am meisten in be-
tracht kommenden kategorieen sind hervorzuheben orts- und personen-
namen; ferner aus der fremde eingeführte producte. Sind dieselben
im wesentlichen naturerzeugnisse, so können die bezeichnungeu dafür
mit der sache von den uncultiviertesten Völkern auf die cultiviertesten
tibergehen, wohingegen die einführung von kunstproducten mit ihren
benennungeu eine gewisse Überlegenheit der fremden cultur voraus-
setzt, welche allerdings nur sehr einseitig zu sein braucht. Noch
entschiedener ist eine solche Überlegenheit Voraussetzung bei der über-
22*
340
fiilining- von technischen, wissenschaftlichen, religiösen, politischen
begriffen. Eine starke culturbeeinfinssung bringt fast immer einen
starken import von fremdwörtern mit sich. Ein bedürfniss mag noch
erwähnt werden, welches auch die aufnähme von Wörtern aus einer
niedrigeren cultursphäre veranlassen kann, das der darstellung fremder
Verhältnisse, sei es, dass diese darstellung den zweck der belehrung
hat und eine wahrheitsgetreue Schilderung und erzählung zu geben
sucht, sei es, dass sie für poetische zwecke verwendet wird. Ueber
das eigentliche bedürfniss hinaus geht die entlehnuug, wenn die fremde
spräche und cultur höher geschätzt wird als die eigene, wenn daher
die einmi sehung von w'örtern und Wendungen aus dieser spräche für
besonders vornehm oder zierlich gilt.
Fast gar keinen schranken unterworfen ist die hinübernahme von
Wörtern aus der eigenen spräche in die fremde, die man zu sprechen
genötigt i?t, ohne sie vollständig zu beherrschen. Durch individuen,
welche eine spräche als eine fremde reden, können daher in dieselbe
Wörter der verschiedensten art eingeführt werden.
Mit entlehnten Wörtern verhält es sich ähnlich wie mit neuge-
schaffenen. Derjenige, welcher sie zuerst anwendet, hat in der regel
nicht die absieht, sie usuell zu machen. Er befriedigt damit nur das
momentane bedürfniss der Verständigung. Bleibende Wirkungen hinter-
lässt eine solche anwendung erst, wenn sie sich widerholt, in der
regel nur, wenn sie spontan von verschiedenen individuen ausgeht.
Das lehnwort wird erst ganz allmählig üblich. Es gibt verschiedene
grade der üblichkeit. Es ist zunächst ein beschränkter, durch räum-
liche nähe oder Übereinstimmung in der cultur gebildeter kreis inner-
halb einer Volksgemeinschaft, in welchem ein wort ül)lich wird, respec-
tive mehrere solche kreise. In dieser beschränkten geltung bleiben
viele Wörter, während andere sich auf alle schichten der bevölkerung
verbreiten. Sind sie ganz allgemein üblich geworden und haben sie
nicht etwa in ihrer lautgestalt etwas abnormes, so verhält sich das
Sprachgefühl zu ihnen nicht anders als zu dem einheimischen sprach-
gut. Vom Standpunkt des Sprachgefühls aus sind sie keine fremd-
wörter mehr.
Eine besondere aufmerksamkeit bei der entlehnung fremder Wörter
verdient das verhalten gegenüber dem fremden lautmaterial. Wie wir
gesehen haben, deckt sich der lautvorrat einer spräche niemals völlig
mit dem einer andern. Um eine fremde spräche exact sprechen zu
lernen ist eine einübung ganz neuer bewegungsgefühle erforderlieh.
So lange diese nicht vorgenommen ist, wird der sprechende immer mit
den sell)en bewcgungsgefühlen oi)erieren, mit denen er seine mutter-
sprache hervorbringt. Er wird daher in der regel statt der fremden
341
laute die näeh.stvciwaiulteii seiner niuttcrspraehe einsetzen und, wo er
den versuch macht laute, die in derselben nicht vorkommen, zu er-
zeugen, wird er zunächst fehlgreifen. Durch vieles h(»ren und lange
Übung kann er sich natürlich allmählig eine correctere ausspräche er-
werben, doch ist es bekanntlich selten, dass sich jemand eine fremde
spräche so vollkommen aneignet, dass er nicht mehr als ausländer zu
erkennen ist. Wo daher eine spräche ihr gebiet über ein ursprünglich
anders redendes volk ausbreitet, da ist es kaum anders möglich, als
dass die früliere spräche des Volkes irgend welche spuren in der laut-
erzeuguug hinterlässt, und dass sich auch sonst stärkere abweichungen
einstellen, weil das bewegungsgefühl nicht ganz übereinstimmend aus-
gebildet ist. Wo die erlernung der fremden spräche nur durch ver-
mittelung der schrift erfolgt, da kann natürlich von einer nachahmung
der fremden laute gar keine rede sein, es ist ganz selbstver-
ständlich , dass die laute der eigenen spräche untergeschoben
werden.
Wo ein volk mit einem andern ausser an den grenzen nur durch
reisen und ansiedlungen einzelner und durch literarischen verkehr in
berührung tritt, da wird nur der kleinere teil die spräche des fremden
Volkes verstehen, ein noch kleinerer teil sie sprechen und ein ver-
sehwindend kleiner teil sie exact sprechen. Bei der entlehnung eines
Wortes aus einer fremden spräche werden daher oft schon diejenigen,
die es zuerst einführen, laute der eigenen spräche den fremden unter-
schieben. Aber wenn es auch vielleicht mit ganz exacter ausspräche
aufgenommen mrd, so wird sich dieselbe nicht halten können, wenn
es weiter auf diejenigen verbreitet wird, die der fremden spräche nur
mangelhaft oder gar nicht mächtig sind. Der mangel eines ent-
sprechenden bewegungsgefühls macht hier die Unterschiebung, die
lautsubstitution, wie wir es mit Gröber nennen w^olleu, zur notwendig-
keit. Ist ein fremdes wort erst einmal eingebürgert, so setzt es sich
auch fast immer aus den materialien der eigenen spräche zusammen.
Selbst diejenigen, welche wegen ihrer genauen kenntniss der fremden
spräche den abstand gewahr werden, müssen sich doch der majorität
fügen. Sie würden sonst pedantisch oder geziert erscheinen. Nur
ausnahmsweise bürgert sich unter solchen umständen ein fremder laut
in einer spräche ein, natürlich am leichtesten ein solcher, der einer-
seits häufig vorkommt, andererseits sich scharf von allen der spräche
ursprünglich eigenen abhebt. So ist z. b. in die neuhochdeutsche
Schriftsprache trotz der massenhaften lehnwörter nur ein neuer laut
eingeführt, das französische j {g) in Jalousie, genie, genieren etc. Und
auch hierfür setzen nicht bloss die volksmundarten, sondern auch die
städtische Umgangssprache den laut unseres seh ein.
342
Nicht selten werden mehrere verschiedene fremde laute durch
den gleichen einheimischen ersetzt. So werden im ahd. lat. /, und v
beide durch /" wiedergegeben (geschrieben zuweilen auch v oder m),
vgl. fenstar^ fiebar^ fira etc. — fers, fogat (vocatus), evangelio etc. ')
Ursache, warum auch v durch f widergegeben wird, ist das fehlen eines
dem lateinischen genau entsprechenden lautes, indem an stelle unseres
jetzigen w noch consonantisches u gesprochen wurde. Ferner wird im
ahd. die lateinische foiüs p ebenso wie die tönenende lenis h durch
die dazwischen liegende tonlose lenis widergegeben, geschrieben bald
h, bald p, vgl. heh (peh) = pix, hira = pirum^ hredigbn = praedicare
etc. — becchi (pecchi) = baccinum, buliz = boletum etc. Ursache ist,
dass es im oberdeutschen nach der lautverschiebung kein tönendes b
gab, weil das früher vorhandene seinen stimmton verloren hatte, und
keine fortis p^ weil das früher vorhandene zu ph verschoben war.
Umgekehrt kann man den fremden laut bald durch diesen, bald durch
jenen naheliegenden einheimischen widergeben. Doch wird man wol
in der regel finden, wo in den lehnwörtern einer spräche der gleiche
fremde laut bald durch diesen, bald durch jenen laut widergegeben
ist, dass die aufnähme der Wörter in verschiedenen perioden stattge-
funden hat. So wird lat. v in den ältesten deutschen lehnwörtern
durch w widergegeben (vgl. mn, wiccha, pfätvo etc.), wahrscheinlich
weil es noch wie das deutsche v = consonantischem u oder wenigstens
noch ])ilabial war. 2) In den jüngeren althochdeutschen lehnwörtern
erscheint es als/" (vgl. oben); in denen der modernen zeit wider als w.
Wo die herübernahme eines Wortes nur nach dem gehör und auf
grund unvollkommener kenntniss des fremden idioms erfolgt, da treten
sehr leicht noch weitergehende entstellungen ein, die auf einer mangel-
haften auffassung durch das gehör und auf einem mangelhaften fest-
halten durch das gedächtniss beruhen. In folge davon werden namentlich
lautverbindungen, an die man nicht gewöhnt ist, durch geläufigere ersetzt
und kürzungen vorgenommen. Sehr leicht tritt Volksetymologie dazu.
Von den Veränderungen, welche die fremden Wörter bei der auf-
nähme erleiden, sind diejenigen zu scheiden, die sie erst nach ihrer
einbürgerung durchmachen. Da uns aber viele Wörter erst längere
zeit nach ihrer aufnähme überliefert sind, so ist diese Scheidung nicht
immer so leicht zu machen. Die eingebürgerten fremdwörter nehmen
natürlich so gut wie die einheimischen an dem lautwandel teil. Die
teilnähme oder nichtteilnahme an einem lautwandel kann uns da, wo
uns die Überlieferung in stich lässt, aufschluss geben über die relative
*) Vgl. Franz die lateinisch-romanischen elemente im althochdeutschen, Strass-
burg 1884, s. 20. 22.
^) Vgl. Franz a. a. o.
343
zeit der entlehnung. Wenn im ahd. das lateinisch t in einigen Wörtern
als t, in andern als z erscheint (vgl. tempal, tiirri, abbat, altari — ziagil,
sträza scuzzila), lat. /; in einigen als p (b), in andern als pfi oder /'
(vgl. pi7ia, pries tar — phil^ phlanza, phifa, pfeffar), so unterliegt es
keinem zweifei, dass die Wörter mit z und ph oder f eine ältere schicht
von entlehuungen darstellen als die mit t und ]). Denn die betretten-
den Veränderungen hätten nicht eintreten können, wenn die Wörter
nicht schon vor der lautverschiebung aufgenommen gewesen wären,
so dass sie das Schicksal der echt germanischen teilen konnten.
Ausserdem sind die fremdwörter bei der weiterverbreituug den
selben assimilierenden tendenzen unterworfen wie bei der ersten auf-
nähme. Ein wort kann zunächst von Individuen, die der fremden
spräche vollständig mächtig sind, ganz oder annähernd genau in der
fremden lautgestalt aufgenommen werden, dann aber, indem es auf
solche iudividuen übertragen wird, die der fremden spräche unkundig
sind, doch durch Unterschiebung eines andern bewegungsgefiihls, durch
verhören und durch Volksetymologie entstellt werden. Kommt eine
solche entstellung bei der grossen masse in allgemeinen gebrauch, so
kann sie auch auf diejenigen zurückwirken, welchen die originale laut-
gestalt sehr wol bekannt ist. Sie müssen sich trotz ihres besseren
Wissens der herrschend gewordenen ausspräche fügen, wenn sie nicht
unverständlich werden oder attectiert erscheinen wollen. In anderen
fällen dagegen erhält sich im munde der gebildeten eine der originalen
nahe stehende lautgestalt, während sich daneben eine oder mehrere
abweichende volkstümliche entwickeln, vgl. z. b. corporal — kaporal,
Sergeant — scharsant, gensd' armes — schandarre (so in Niederdeutsch-
land), kastanie — kristanje, chirurgus — gregorius, renovieren — renne-
ftren etc.
Eine besondere art der assimilation besteht in der Übertragung
der einheimischen accentuationsweise auf die fremden Wörter. Diese
erfolgt wol in der regel nicht von anfaug an bei der ersten Über-
tragung, sondern erst nach längerer einbürgeruug. Im engl, lässt es
sich deutlich verfolgen, wie die französischen Wörter, ursprünglich mit
französischem accent aufgenommen, erst nach und nach zu der ger-
manischen betonungsweise übergegangen sind. Im deutschen lässt sich
das gleiche an den fremden eigennamen beobachten. Im ahd. und
teilweise noch im mhd. betont man noch Adam, Abel, David etc. Appel-
lativa dagegen erscheinen schon in den ältesten althochdeutschen deuk-
mälern mit zurückgezogenem accent und Wirkungen dieser Zurück-
ziehung, vgl. z. b. fogat (vocatus), mettina (matutina), fenstar. Wahr-
scheinlich aber ist aucli bei diesen die Zurückziehung des accentes nicht
gleich bei der aufnähme eingetreten.
.'M4
Diireli die besproelieüen lautlichen niodifieationen wird ein wort
immer mehr seinem Ursprünge entfremdet, so dass derselbe seihst für
denjenigen, der mit der s])rache, aus der es stammt, vertraut ist, un-
kenntlich werden kann. Zu solcher entfremdung können aber auch
Veränderungen in der spräche, aus der das wort entlehnt ist, beitragen.
So beruht unsere ausspräche der aus dem französischen entlehnten
Wörter zum teil auf einer jetzt in Frankreich nicht mehr bestehenden
ausspräche, vgl. Paris, concert, officier etc. Noch weiter haben sich
deutsche Wörter von der lautgestalt entfernt, in der sie in die roma-
nischen sprachen übergegangen sind, vgl. z. b. franz. tape, tapon =
zapfen, it. toppo = zopf, franz. touaille = oberd. zwehle, mitteld. quehle,
it. drudo = traut. Ebenso kann die bedeutung, mit der das wort ent-
lehnt ist, sich in der grundsprache ebenso wol verändern wie in der
Sprache, in die es übergegangen ist, und endlich kann es in der grund-
Hprache ganz untergehen.
Es kann einunddasselbe wort mehrmals zu verschiedenen zeiten
entlehnt werden. Es erscheint dann in verschiedenen lautgestalten,
wovon die jüngere sich nahe an die grundsprache anschliesst, während
die ältere schon mehr oder minder starke Veränderungen durchgemacht
hat. Mitunter ist die bedeutung, mit der ein wort bei der zweiten
entlehnung aufgenommen wird verschieden von der bei der ersten, und
es wird daher gar kein Zusammenhang zwischen den beiden formen
empfunden, vgl. ordnen — ordinieren, diäten — dictieren, predigen —
prädicieren, ahd. zaba/ (spielbrett) — tavala (beide aus fabiila); auch
prüfen und probieren decken sich nicht in ihrer bedeutung. Wo die
bedeutung vollständig übereinstimmt, da geht die ältere form leicht
unter, vgl. altar, mhd. schon alter; oder es wird die ältere form auf
die volkstümliche, mundartliche rede beschränkt, vgl. ade — adieu,
melodei (aus mhd. melodie regelrecht entwickelt) — melodie (neu aus dem
franz.), phantasei — phantasie, känel {kännel, kändel, kener) — kanal, kämi
— kamin, kappel — kapeile, keste — kastanie. Besonders häutig sind
mehrfache formen in folge mehrfacher entlehnung bei personennamen.
Dabei wird auch vielfach der Ursprung aus der gleichen grundlage
nicht mehr erkannt, indem die älteren formen nur noch als familieu-
namen erscheinen. Vgl. Andres — Andreas, Bartel — Bartholomäus,
Michel — Michael, Veiten — Valentin, Metz — Mattis — Matthias,
Marx — Markus, Zacher — Zacharias, Merten — Martin etc.
Zuweilen wird nicht eine völlig neue entlehnung vorgenommen,
sondern das schon seit längerer zeit eingebürgerte und lautlich modi-
Hcierte lehnwort erfährt nur eine partielle angleichung an das zu gründe
liegende wort der fremden spräche, vgl. mhd. trache = nhd. drache
(draco), mhd. tihten = nhd. dichten (dictare), mhd. /{rieche = nhd.
345
krieche {Graccus). Auch Jude beruht wol auf einer wideranlelimiug
an Judaeus und Jude ist die einzige lautgesetzlicli entwickelte form.
Wo gleichzeitig- zwei naheverwandte sprachen auf eine dritte
wirken, da geschieht es leicht, dass aus beiden die einander corre-
spondierenden Wörter aufgenommen werden, die dann in der bedeutung
übereinstimmen und in der lautform wenig von einander abweichen.
Dies verhältuiss finden wir namentlich in den lehnwörtern aus dem lat.
und dem franz. So haben wir neben einander ideal und ideell, real
und reell, jetzt in ihrer bedeutung differenziert, früher gleichwertig;
Schiller gebraucht material = materiell. Goethe hat relirjios = religiös.
Einem norddeutschen referendar entspricht ein süddeutsches referendär.
Statt Irinilät, majestät etc. bestehen im mhd. triniidt, mujesläl\ im 16.
und 17. jahrh. sind beide formen nachweisbar;») das ä kann nur dem
franz. entstammen.
In diesen fällen kann es nicht ausbleiben, dass auch die dem
französischen entstammende form von dem des lateinischen kundigen
direct auf dieses bezogen wird. In anderen fällen sind Wörter über-
haupt nicht direct aus der grundsprache aufgenommen, sondern nur
aus einer anderen, in der sie lehnwörter sind. So sind griechische
Wörter zunächst aus dem lateinischen zu uns gekommen,^ daher mit
lateinischer betonung und mit der endung -us statt -os. Ebenso sind
lateinische Wörter, die iiirerseits wider dem griechischen entlehnt sein
können, durch Vermittlung des französischen auf uns gekommen, vgl.
musik, Protestant, religion etc., ebenso die eigennamen Horaz , Ovid
etc. Auch hier stellt sich ein für den der Originalsprache kundigen
directes verhältniss her, und die folge davon ist, dass er, auch
wenn er Wörter direct aus der Originalsprache entnimmt, diesen
eine den durch Vermittlung überkommenen analoge lautgestalt gibt,
dass er z. b. den griechischen in den lateinischen accent umsetzt,
dass er die lateinischen endungen -us, -im und andere fortlässt,
dass er den ausgang der lateinischen Wörter auf -io in -ion ver-
wandelt. Hierher gehört es auch, dass verba, die direct dem lateini-
schen entnommen sind, die aus dem französischen stammende endung
-ieren erhalten haben, vgl. negieren, spazieren, pocuUeren, praedicieren,
annectieren, regulieren, prästieren, präparieren etc. Aus älterem per-
sonifieren (z. b. bei Le.) ist mit anschluss an das lateinische personi-
ficieren geworden.
Wir haben oben s. 133 gesehen, dass einer ableitung, die mit
einem weniger gewöhnlichen suffixe gebildet ist, leicht noch das für
die betreffende function normale suffix beigefügt wird. Eine besondere
art dieses Vorganges ist die, dass einem fremden sufiixe noch' das
1) Vgl. J. Grimm, Kl. sehr. 1, :VM, wo ;iber die auftassimg eiue andere ist.
346
synoyme einheimische beigefügt wird, vgl, Sicilianer, Mantuaner,
Kantianer; IloHener\ Athenienser, If'a/denser; Genuese/', Bologneser^
sicUianisch, ilaHenisch , genuesisch; idealisch, kolossalisch (beides im
vorigen juhrh. häufig), kollegialisch, musikalisch, physikalisch etc.; prin-
cessin, äbtissin (mhd. ehhetisse). Die verha auf -ieren sind entstanden,
indem au die fertige altfranzösische infinitivform auf -ier noch die
deutschen verbalendungen angetreten sind.
Es werden immer nur ganze Wörter entlehnt, niemals ableitungs-
uud flexioussuffixe. Wird aber eine grössere anzahl von Wörtern ent-
lehnt, die das gleiche suffix enthalten, so schliessen sieh dieselben
ebenso gut zu einer gruppe zusammen wie einheimische Wörter mit
dem gleichen suffix und eine solche gruppe kann dann auch productiv
werden. Es kann sich das so aufgenommene suffix durch analogische
neubildung mit einheimischem sprachgut verknüpfen. Der fall ist bei
ableitungssilbeu nicht gerade selten. Wir haben im deutschen nach
dem muster von ahtei etc. ein bäckerei, gerberei, druckerei etc.; nach
bagage etc. bildungen der Volkssprache wie lakelage, klcdage, bommelage
etc. (vgl. Andr. Volkset. 98); nach corrigieren etc. hofieren^ buchstabieren,
sich erlustieren, mhd. nandelieren, bei H. Sachs gclidmasieret. Vgl. ferner
romanische bildungen wie it. falsardo mit germanischem suffix, englische
wie oddiUj, morderous, eatable mit französischem suffix. i) Es gibt bei
uns mehrere suffixe fremden Ursprungs, die nur in der gelehrtensprache
üblich sind und sich dann nicht nur mit dementen aus der gleichen
spräche verbinden, sondern auch mit solchen aus einer andern fremden
spräche, zuweilen auch mit einheimischem sprachgut, vgl. -ist in Jurist^
pur ist, romanist , lourisl, tnanierisl , hornisl, hoboisl, Carlisl etc.; -ismus
in atavismus, pur ismus, fanatismus, sonatnbul ismus etc.; -ianerm Hegelianer,
Kantianer etc. Diese bildungen finden sich zum teil auch im franzö-
sischen und sind zum teil wol aus dieser spräche entlehnt. Wenn
man bikluugen wie purist und purismus wegen der mischuug aus einem
lateinischen und einem griechischen demente beanstandet, so ist das
insofern nicht zutreffend, als sie weder lateinische noch griechische,
sondern deutsche, respective französische bildungen sind.
Seltener werden flexionsendungen auf diese weise aufgenommen.^)
Es gehört dazu schon eine besonders innige berührung zweier sprachen.
Die französische pluralbildung mit s ist in Niederdeutschland ziemlich
verbreitet: kerls, mädchens, fräuleins, ladens, pleonastisch in jungem.
Auch in die Schriftsprache ist sie gedrungen bei ursprünglich indecli-
') Vgl. Whitney a. a. o. s. 17. Beispiele von slawischen Suffixen in deutschen
luundarten bei Schuchardt s. 86.
■^) Vgl. hierzu Schuchardt s. 8.
347
nablen Wörtern: a's, o's, neins, abers, verfiissmehmichts, Stelldicheins] bei
fremdwörtern . die auf einen vollen voeal ausgehen und sich deshalb
in keine sonstige deeliuation einftig-en: papas, sophas, mottos^ kolibris;
weniger allgemein üblich und als correct anerkannt bei solchen auf
-iwi: alhums. Weiter verbreitet ist die französische pluralbildung im
niederländischen, vgl. maus, zons, vaders, broeders, tvalers, euvels, lakens^
vroukens, vogelljes und so überhaupt die ueutra auf -er, -el, -en und
die deniinutiva; pleonastisch angefügt wird das *• m jongens, gehentes
(zu gebente), bladers (neben Maden und bl äderen), benders (neben benderen
zu ben) u. a. In das indoportugiesische ist die englische genitivendung
eingedrungen; man sagt z. b. hotnbre's casa. Die ausgedehnteste herüber-
nahme von flexionsendungen hat in der Zigeunersprache stattgefunden
So gibt es ein spanisches und ein englisches zigeunerisch.
Beeinflussung in bezug auf die innere sprachform erfährt eine
spräche namentlich durch diejenigen, von denen sie als eine fremde
gesprochen wird. Doch keineswegs ausschliesslich. Für die literatur-
sprache kommt in dieser hinsieht besonders der einfluss von Über-
setzungen in betracht.
Wo ein wort aus einer fremden spräche sich in seiner bedeutung
nur teilweise mit einem worte der eigenen spräche deckt, da wird
man leicht dazu verführt, Jenem den vollen umfang der bedeutung bei-
zulegen, die diesem zukommt. Es ist das ja bei Übersetzungsübungen
einer der häufigsten fehler. Solche fehler können in zweisprachigen
gebieten leicht usuell werden. ') Ein südslawischer Schriftsteller schreibt
habt ihr keine scheu und schände, weil sramota „schände" und , schäm"
bedeuten kann. Von den Deutschruthern wird schnür im sinne von
„braut" gebraucht, weil im slowenischen nevesla Schwiegertochter
und braut bedeutet. Häufig wird im slawodeutschen damals von der
Zukunft gebraucht ; ebenso wo = wohin, weil im slawischen für beides
das nämliche wort gebraucht wird.
Ein wesentlich davon verschiedener Vorgang ist es, wenn für
einen begrifi', für den es bisher an einer bezeichnung gefehlt hat, ein
wort nach dem muster einer fremden spräche geschaffen oder mit
einem schon bestehenden worte eine bedeutungsUbertragung nach diesem
muster vorgenommen wird. Dieser Vorgang ist besonders in der wissen-
schaftlichen und technischen spräche neben der directen herübernahme
fremden materials üblich. Man vergleiche z. b. die versuche die latei-
nischen grammatischen termini durch deutsche widerzugeben. Jene
sind ihrerseits nachbildungen der griechischen.
>) Vgl. Schuchardt s. 95 ff.
348
Es weiden ferner wortgruppen, die als solche eine eigentümliche
bedeiitung entwickelt haben, nach den einzelnen Worten übertragen.
So sagt man z. b. in Oestreich es steht 7ücht dafür = „es ist den auf-
wand oder die mühe nicht wert" nach dem muster des cechischen
liest oje za to. *) In Südwestdeutschland hört man nicht selten nach
französischem muster es macht gut wetler.
Dazu kommt endlich die beeinflussung der syntax. 2) Da die
Slawen für alle geschlechter und numeri des relativums eine form
verwenden können, so wird im slawodeutschen häufig was entsprechend
verwendet, vgl. ein mann, ivas hat yeheissen Jacob; der knecht, was ich
mit ihm gefahren hin; auch ich bin nicht in der stadt gewesen, was
(= solange) er weg ist. Im vorigen jahrh. schrieb man fast allgemein
nach französischem muster ich lasse ihm das nicht fühlen u. dergl.
Im litauischen ist die deutsche construction was für ein mann wörtlich
nachgebildet.
Dialectmischung innerhalb eines zusammenhangenden
Sprachgebietes hebt sich dann von der normalen ausgleichenden
Wirkung des Verkehrs deutlich ab, wenn sie zwischen dialecten vor
sich geht, deren gebiete nicht räumlich nebeneinander liegen. Dagegen
ist keine eigentliche grenze zu ziehen, wenn die gebiete räumlieh be-
nachbart und in beständigem verkehr unter einander sind. Man kann
dann nur danach einen unterschied machen, ob zwischen den betreff-
enden dialecten ein scharfer contrast besteht, oder ob die Verschieden-
heiten gering sind und schon durch Übergangsstufen vermittelt.
Im allgemeinen gilt hier das gleiche wie von der mischung ver-
schiedener sprachen. Worteutlehnung ist auch hier der am leichtesten
und häufigsten eintretende Vorgang. Dagegen wird das lautmaterial
niclit leicht verändert. Es findet au«h hier Substitution der fremden
laute durch die nächstverwandten einheimischen statt. Daher erscheint
ein aus einem verwandten dialecte aufgenommenes wort ganz gewöhn-
lich in der nämlichen lautgestalt, die es erlangt haben würde, wenn
es aus der zeit der ehemaligen Spracheinheit her sich erhalten hätte.
So wird es sich in der regel bei geringeren difterenzen in der laut-
entwicklung verhalten. Anders natürlich, wenn zwei dialecte in ihrer
entwicklung weiter auseinander gegangen sind, so dass, was siqh ety-
mologisch entspricht, sich nicht mehr phonetisch am nächsten liegt.
So ist z. b. das ch in sacht, nichte etc. bei der aufnähme in das hoch-
deutsche nicht in das etymologisch entsprechende ft umgesetzt.
Auf literarischem gebiete entsteht vor der festsetzung einer ge-
meinsprache sehr gewöhnlich eine mischung dadurch, dass ein denk-
') Weitere beispielc aus dem slawodeutschen bei Schuchardt s. 96 tf.
*j Vgl. Schuchardt s. 'JU ff.
349
mal aus der mimdart, in der es ursprliiiglich verfasst ist in eine andere
umgesetzt wird. Das ist bei schriftlicher wie bei mündlicher Über-
lieferung- mög-licli. Die Umsetzung bleibt gewöhnlicl» eine unvollkommene,
zumal wenn sich das versmass dagegen sträubt. Diese art von mischung
ist ganz und gar zu scheiden von derjenigen, welche sich in dem
Organismus der Sprachvorstellungen bei den einzelnen Individuen
vollzieht.
Entlehnung aus einer älteren sprach stufe kann natürlich nur
durch Vermittlung der schrift erfolgen. Das lautmaterial kann demnach
nie dadurch beeinflusst werden. Diese art der entlehnung wird in der
regel nur mit bewusster absieht bei literarischer production vorgenommen.
Dabei ist ein unterschied zu beachten. Entweder sollen dabei gewisse
wirkliche oder vermeintliche Vorzüge der älteren spräche schlechthin
wider zu neuem leben erweckt werden, oder die altertümlichkeiten der
spräche sollen zur Charakterisierung der zeit dienen, in die man durch
die darstellung versetzt wird. Im letzteren falle wird man leicht viel
weiter e-ehen als im ersteren.
Cap. XXIII.
Die gemeinsprache.
In allen modernen eultuvländern finden wir neben vielfacher
mundartlicher Verzweigung eine durch ein grosses gebiet verbreitete
und allgemein anerkannte gemeinsprache. Wesen und bildung derselben
zu betrachten ist eine aufgäbe, die wir notwendigerweise bis zuletzt
verschieben mussten. Wir betrachten wider zunächst die gegebenen
Verhältnisse, die sich unserer unmittelbaren beobachtung darbieten.
Wir sind bisher immer darauf aus gewesen die realen Vorgänge
des Sprachlebens zu erfassen. Von anfang an haben wir uns klar
gemacht, dass wir dabei mit dem, was die descriptive grammatik eine
spräche nennt, mit der Zusammenfassung des usuellen, überhaupt gar
nicht rechnen dürfen als einer abstraction, die keine reale existenz
hat. Die gemeinsprache ist natürlich erst recht eine abstraction, Sie
ist nicht ein complex von realen tatsachen, realen kräften, sondern
nichts als eine ideale norm, die angibt wie gesprochen werden soll.
Sie verhält sich zu der wirklichen Sprechtätigkeit etwa wie ein gesetz-
buch zu der gesammtheit des rechtslebens in dem gebiete, für welches
das rechtsbuch gilt, oder wie ein glauben sbekenntniss, ein dogma-
tisches lehrbuch zu der gesammtheit der religiösen anschauungen und
empfindungen.
Als eine solche norm ist die gemeinsprache wie ein gesetzbuch
oder ein dogma an sich unveränderlich. Veränderlichkeit würde ihrem
wesen schnurstracks zuwider laufen. Wo eine Veränderung vorge-
nommen wird, kann sie nur durch eine ausserhalb der norm stehende
gewalt aufgedrängt werden, durch welche ein teil von ihr aufgehoben
und durch etwas anderes ersetzt wird. Die veranlassungen zu solchen
Veränderungen sind auf den verschiedenen culturgebieten analog. Ein
noch so sorgfältig ausgearbeiteter codex wird doch immer eine gewisse
freiheit der bewegung übrig lassen, und immer werden sich in der
praxis eine reihe von unvorhergesehenen fällen herausstellen. Der
codex kann aber auch Schwierigkeiten enthalten, hie und da mehrfache
deutung zulassen. Dazu kommt nun missverständniss, mangelhafte
351
kenütniss von Seiten derer, die naeli ilini verfahren sollten. Er kann
endlieh vieles unangemessene enthalten teils von anfang an, teils in
folge einer erst nach seiner festsetziing eingetretenen Veränderung der
sittlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Diese unaugemessenheit
kann die veranlassung werden, dass sieh das rechtsgeflihl der gesammt-
heit oder der massgebenden kreise gegen die durchführung des gesetz-
buehstabens sträubt. Das zusammenwirken solcher umstände führt
dann zu einer änderung des gesetzbuches durch die Staatsgewalt,
Gerade so verhält es sich mit der gemeinsprache. Sie ist nichts als
eine starre regel welche die Sprachbewegung zum stillstand bringen
würde, wenn sie überall stricte befolgt würde, und nur soweit Ver-
änderungen zulässt, als man sich nicht an sie kehrt.
Bei alledem ist aber doch der unterschied, dass die gemeinsprache
nicht eigentlich codiliciert wird. Es bleibt im allgemeinen der usus,
der die norm bestimmt. Es kann das aber nicht der usus der gesammt-
heit sein. Denn dieser ist weit entfernt davon ein einheitlicher zu
sein. Auch in denjenigen gebieten, in welchen die gemeinsprache sich
am meisten befestigt hat, finden wir, dass die einzelnen sehr beträcht-
lich von einander abweichen, auch wenn wir sie nur in soweit berück-
sichtigen, als sie ausdrücklich bestrebt sind die Schriftsprache zu reden.
Und selbst, wenn diese abweichungen einmal beseitigt wären, so
müssten nach den allgemeinen bedingungen der sprachentwickelung
immer wieder neue entstehen. Sowol um eine einheit herbeizuführen
als um eine schon vorhandene aufrecht zu erhalten, ist etwas erforder-
lich, was von der Sprechtätigkeit der gesammtheit unabhängig ist, dieser
objectiv gegenüber steht. Als solches dient überall der usus eines
bestimmten engen kreises.
Wir finden nun aber, soweit unsere beobachtung reicht, dass die
noiin auf zweierlei art bestimmt wird, nämlich einerseits durch die
gesprochene spräche, anderseits durch niedergeschriebene quellen. Soll
sich aus der ersteren eine einigermassen bestimmte norm ergeben, so
müssen die personen, welche als autorität gelten, sich in einem be-
ständigen oder nach kurzen Unterbrechungen immer widerholten münd-
lichen verkehre unter einander befinden, wobei möglichst viele und
möglichst vielseitige berühruugeu zwischen den einzelnen statthaben.
In der regel finden wir die spräche einer einzelnen landschaft einer
einzelnen Stadt als mustergültig angesehen. Da aber überall, wo schon
eine wirkliche gemeinsprache ausgebildet ist, auch innerhalb eines so
engen gebietes, nicht unbeträchtliche Verschiedenheiten zwischen den
verschiedenen bevölkerungsklassen bestehen, so muss die mustergültig-
keit schon auf die spräche der gebildeten des betreffenden gebietes
eingeschränkt werden. Aber auch von dieser kann sich das muster
352
emaneipieren, und das ist z. b. in Deutschland der fall. Es ist reines
Vorurteil, wenn bei uns eine bestimmte gegeud angegeben wird, in der
das ^reinste deutsch' gesprochen werden soll. Die mustergültige spräche
für uns ist vielmehr die auf dem theater im ernsten drama übliche,
mit der die herrschende ausspräche der gebildeten an keinem orte
vollständig übereinkommt. Die Vertreter der bühnensprache bilden
einen verhältnissmässig kleinen kreis, der aber räumlich weit zerstreut
ist. Die räumliche trenuung widerspricht aber nur scheinbar unserer
behauptung, dass directer mündlicher verkehr notwendiges erforderniss
für die mustersprache sei. Denn der grad von Übereinstimmung, wie
er in der bühnensprache besteht, wäre nicht erreicht und könnte nicht
erhalten werden, wenn nicht ein fortwährender austausch des personals
zwischen den verschiedenen bühnen, auch den am weitesten von ein-
ander entlegenen stattfände, und wenn es nicht gewisse centralpunkte
gäbe und gegeben hätte, die wider den andern als muster dienen.
Dazu kommt, dass hier auch eine kürzere directe berührung die gleiche
Wirkung tun kann wie in anderen fällen eine längere deshalb, weil
eine wirkliche Schulung stattfindet, eine Schulung, die bereits durch
lautphysiologische beobachtung unterstützt wird. Die Ursachen, warum
sich gerade die bühnensprache besonders einheitlich und abweichend
von allen localsprachen gestalten musste, liegen auf der band. Nirgends
sonst vereinigte sich ein so eng geschlossener kreis von personen aus den
verschiedensten gegenden, die genötigt waren in der rede zusammen-
zuwirken. Nirgends war einem verkehrskreise so viel veranlassung
zur achtsamkeit auf die eigene und die fremde ausspräche, zu bewusster
bemühung darum gegeben. Es musste einerseits der notwendigkeit
sich vor einem grossen zuschauerkreise allgemein verständlich zu
machen, anderseits ästhetischen rücksichten rechnung getragen werden.
Aus beiden gründen konnten dialectische abweichungen auch nicht
mehr in der einschränkung geduldet werden, in der sie sich etwa
zwischen den verschiedenen localen kreisen der gebildeten noch er-
halten hatten. Es ist selbstverständlich, dass eine gleichmässig durch-
gehende ausspräche, an die sich das publikum allmählig gewöhnt, das
verständniss bedeutend erleichtert. Jede ungleichmässigkeit in dieser
beziehung ist aber auch für das ästhetische gefühl beleidigend, wenn
sie nicht zur Charakterisierung dienen soll. Gerade aber weil der
dialect etwas charakterisierendes hat, muss er vermieden werden, wo
die Charakterisierung nicht hingehört. Indem nun verschiedene dia-
lectische nuancierungen mit einander um die herrschaft kämpften,
bevor es zu einer einigung kam, konnte es geschehen, dass, wenn auch
vielleicht im ganzen die eine überwog, doch in diesem oder jenem
punkte einer andern nachgegeben wurde. Massgebend für die ent-
I
353
Scheidung miisste dabei auch das streben nach möglichster deutlichkeit
sein. Dies streben niusste aber auch zu einer entfernuug von der Um-
gangssprache überhaupt führen. Diejenigen lautgestaltungen , welche
in dieser nur dann angewendet werden, wenn man sich besonderer
deutlichkeit befleissigt, wurden in der bühnensprache zu den regel-
mässigen erhoben. Es wurden insbesondere die unter dem eiuflusse
des Satzgefüges oder auch der Wortzusammensetzung entstandenen, von
assimilatiou oder von abschwächung in folge der geringen tonstärke
betroffenen formen, nach möglichkeit wider ausgestossen und durch
die in insolierter Stellung übliche lautgestalt ersetzt. Es wurde mehr-
fach auf die Schreibung zurückgegriffen, wo die ausspräche schon ab-
weichend geworden war. Gerade in diesen eigenheiten , welche durch
das bedürfniss nach klarer Verständlichkeit für einen grossen zuhörer-
kreis veranlasst sind, kann übrigens die bühnensprache nie absolutes
muster für die Umgangssprache werden. In dieser würde das gleiche
angespannte streben nach deutlichkeit als afifectation erscheinen.
Durch die bühne wird also für die lautverhältnisse eine festere
norm geschaffen als durch die Umgangssprache eines bestimmten be-
zirkes. Aber auf die lautliche seite beschränkt sieh auch ihr regelnder
einfluss. Im übrigen wird ihr die spräche von den dichtem octroyiert,
und sie kann nach den anderen Seiten hin nicht ebenso tätig eingreifen
wie die Umgangssprache.
Die Übereinstimmung, welche in der spräche desjenigen kreises
besteht, der als autorität gilt, kann natürlich niemals eine absolute
sein. Sie geht in einer Umgangssprache nicht leicht über dasjenige
mass hinaus, welches in der auf natürlichem wege erwachsenen mund-
art eines engen bezirkes besteht. In einer künstlichen bühnensprache
kann man allerdings noch etwas weiter kommen. Und wie die normal-
sprache nicht frei von Schwankungen ist, so unterliegt sie auch all-
mähliger Wandlung wie sonst eine mundart. Denn sie hat keine
anderen lebensbedingungen wie diese. Wenn auch die norm einem
weiteren kreise sich als etwas von ihm unabhängiges gegenüber stellen
kann, so kann sie dies nicht ebenso dem engeren massgebenden kreise,
muss vielmehr naturgemäss durch die Sprechtätigkeit desselben all-
mählig verschoben werden. Dies würde selbst geschehen, wenn dieser
engere kreis sich ganz unabhängig von den eiuflUssen des weiteren
halten könnte. Es ist aber gar nicht denkbar, dass er bei dem un-
unterbrochenen wechselverkehre stets nur gebend, niemals empfangend
sein sollte. Und auf diese weise wird doch auch die gemeinsprache
durch die gesammtheit der sprachgenossen bestimmt, nur dass der
anteil, den die einzelnen dabei haben ein sehr verschiedener ist.
Die andere norm der gemeinsprache, welche mit hülfe der nieder-
Paul, Piincipien. IL Auflage. 23
854
selirift geschaffen ist, bietet manche erhebliche vorteile. Erst durch
schriftliche fixierung- wird die norm unabhängig von den sprechenden
individuen, kann sie unverändert auch den folgenden generationen
überliefert werden. Sie kann ferner auch ohne directen verkehr ver-
breitet werden. Sie hat endlich, soweit sie nur wider die niederge-
schriebene spräche beeinflussen soll, ein sehr viel leichteres spiel, weil
um sich nach ihr zu richten es nicht nötig ist sein bewegungsgefühl
neu einzuüben, wie man es tun muss um sieh eine fremde ausspräche
anzueignen. Dagegen hat sie anderseits den nachteil, dass sie für
abweichungen in der ausspräche noch einen sehr weiten Spielraum
lässt, wie aus unseren ausführungen im vorigen cap. erhellt, daher als
muster für diese nur schlecht zu gebrauchen ist.
Für die regelung der Schriftsprache im eigentlichen sinne ist es
jedenfalls möglich den gebrauch bestimmter Schriftsteller, bestimmte
grammatiken und Wörterbücher als allein massgebende muster hinzu-
stellen und sich für immer daran zu halten. Das geschieht z. b., wenn
die Neulateiner die Ciceronianische Schreibweise widerzugeben trachten.
Aber schon an diesem beispiele kann man wahrnehmen, dass es auch
da, wo ein ganz bestimmtes muster klar vor äugen steht, schwer mög-
lich ist etwas demselben ganz adäquates hervorzubringen. Es gehört
dazu, dass man sich mit dem muster ununterbrochen vollkommen ver-
traut erhält, und dass man sich ängstlich bemüht alle anderen ein-
flüsse von sich fern zu halten. Wem es noch am besten gelingt, der
erreicht es nur durch eine selbstbeschränkung in der mitteilung seiner
gedanken, durch aufopferung aller Individualität und zugleich auf kosten
der genauigkeit und klarheit des ausdrucks. Wie reich auch der ge-
dankenkreis eines Schriftstellers sein mag, so wird doch selbst der-
jenige, der mit ihm der gleichen bildungsepoche angehört, in ihm nicht
für alles das, was er selbst zu sagen hat, die entsprechenden dar-
stellungsmittel finden; viel weniger noch wird es ein späterer, wenn
die culturverhältnisse sich verändert haben.
Eine Schriftsprache, die dem praktischen bedürfnisse dienen soll,
muss sich gerade wie die lebendige mundart mit der zeit verändern.
Wenn sie auch zunächst auf dem usus eines Schriftstellers oder eines
bestimmten kreises von Schriftstellern beruht, so darf sie doch nicht
für alle zeiten an diesem muster unbedingt festhalten, darf sich zumal
nicht exclusiv gegen ergänzungen verhalten, wo das muster nicht aus-
reicht. Der einzelne darf nicht mehr bei allem, was er schreibt, das
muster vor äugen haben, sondern er muss wie in der mundart die
Sprachmittel unbewusst handhaben mit einem sicheren vertrauen auf
sein eigenes gcfühl, er muss eben dadurch einen gewissen schöjjferischen
anteil au der spräche haben und durch das, was er schafft, auf die
355
Ubrigeu wirken. Der spraeligebraiieli der gegenwart muss uebeu eleu
alteu imistern, wo uielit aussehliesslich zur uorm werden. So verhält
es sieh mit dem lateiu des mittelalters. ludern die humauisteu die
lebendige eutwiekelung der lateiuiseheu spräche absehuitteu und die
antiken muster wider zu ausschliesslicher geltung brachten, versetzten
sie eben damit ganz wider ihre absieht der lateinischen Weltliteratur
den todesstoss, machten sie unfähig fortan noch den allgemeinen be-
dürfnissen des wissenschaftlichen und geschäftlichen Verkehres zu
dienen.
Indem sich eine Schriftsprache von den ursprünglichen mustern
emancipiert, ist es allerdings unvermeidlich, dass sie an gleichmässigkeit
einbüsst, dass zwischen den einzelnen mannigfache abweichungen ent-
stehen. Aber ein zerfallen in verschiedene räumlich getrennte dialecte,
wie es in solchem falle bei der gesprochenen spräche unvermeidlich
ist, braucht darum doch nicht einzutreten. Eine, und zwar die wich-
tigste (juelle der dialectischen differenzierung fällt in der Schriftsprache
ganz weg, nämlich der lautwandel. Flexion, Wortbildung, Wortbedeu-
tung, Syntax bleiben allerdings der Veränderung und damit der diffe-
renzierung ausgesetzt, aber auch diese in einem geringeren grade als
in der gesprochenen mundart. Eine hauptveranlassung zu Verände-
rungen auf diesem gebiete ist ja, wie wir gesehen haben, der mangel
an congruenz zwischen den gruppierungsverhältnissen, die auf der laut-
gestaltung und denen, die auf der bedeutung beruhen. Vou diesem
mangel ist ja natürlich auch die Schriftsprache in ihrer ursprünglichen
fixierung nicht frei, aber es werden in ihr nicht wie in der gesprocheneu
mundart durch den lautwandel fortwährend neue incongrueuzen hervor-
uerufen, und es werden nicht die verschiedenen gebiete durch eine
abweichende lauteutwickelung in verschiedene disposition zur analogie-
bildung gesetzt. Es ist daher zu Veränderungen in den bildungsgesetzen
für tlexion und Wortbildung sehr viel weniger veranlassung gegeben.
Es treten aber nicht bloss weniger Veränderungen ein, sondern die,
welche eintreten, können sich, so lange der literarische Zusammenhang
nicht unterbrochen wird, leicht über das ganze gebiet verbreiten. Wo
sie nicht die nötige macht dazu besitzen, werden sie in der regel auch
in dem beschränkten gebiete, in dem sie sich etwa festgesetzt haben,
übermächtigen eiuflüssen weichen müssen. Am wenigsten wird die
einheit der spräche gefährdet sein, wenn die alten muster neben den
neuen immer eine gewisse autorität behaupten, wenn sie viel gelesen
werden, wenn aus ihnen regeln abstrahiert werden, die allgemein an-
erkannt werden. Erhaltung der Übereinstimmung und anbequemung
an die veränderten ciilturverhältnisse sind am besten zu vereinigen,
wenn man sich in der syntax und noch mehr in der formenbildung
23*
350
möglichst an die alten miistev hält, dagegen in der Schöpfung neuer
Wörter und in der ankuüpfung neuer bedeutungen an die alten Wörter
eine gewisse freiheit bewahrt. So verhält es sich auch im allgemeinen
bei den gebildeteren mittellateinischen Schriftstellern.
An dem mittel- und neulateinischen können wir am besten das
wesen einer gemeinsprache studieren, die nur Schriftsprache ist').
Die nationalen gemeinsprachen dagegen sind zugleich schrift- und Um-
gangssprachen. In ihnen stehen daher auch eine schriftsprachliche
und eine umgangssprachliche norm neben einander. Es scheint selbst-
verständlich, dass beide in Übereinstimmung mit einander gesetzt und
fortwährend darin erhalten werden müssen. Aber, wie wir im vorigen
cap. gesehen haben, ist solche Übereinstimmung in bezag auf die laut-
liche Seite im eigentlichen sinne gar nicht möglich, und die verselb-
ständigung der schrift gegenüber der gesprochenen rede kann so weit
gehen, dass die gegenseitige beeinflussung fast ganz aufhört. Und
gerade die einführung einer festen norm begünstigt diese verselb-
ständigung. Es erhellt daraus, wie notwendig eine besondere norm
für die gesprochene spräche ist, da sich auf grundlage der blossen
schriftnorm kaum eine annähernde Übereinstimmung in den lautver-
hältnissen erzielen lassen würde, eher freilich noch mit einer Ortho-
graphie wie die deutsche als mit einer solchen wie die englische.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass zwischen Schriftsprache und
Umgangssprache immer ein stilistischer gegensatz besteht, dessen be-
seitigung gar nicht angestrebt wird. In folge davon erhalten sich in
der ersteren constructionsweisen, Wörter und Wortverbindungen, die in
der letzteren ausser gebrauch gekommen sind, anderseits dringt in die
letztere manches neue ein, was die erstere verschmäht.
Eine absolute Übereinstimmung beider gebiete in dem, was in
ihnen als normal anerkannt wird, gibt es also nicht. Sie sind aber
auch noch abgesehen von den beiden hervorgehobenen punkten immer
von der gefahr bedroht nach verschiedenen richtungeu hin auseinander
zu gehen. Die massgebenden persönlichkeiten sind in beiden nur zum
teil die gleichen, nnd der grad des einflusses, welchen der einzelne
ausübt, ist in dem einen nicht der selbe wie in dem anderen. Dazu
kommt in der Schriftsprache das immer wider erneuerte eingreifen der
') Eine ganz ausschliesslich nur in der niederschrift lebende und sich ent-
wickelnde spräche ist allerdings auch das niittellateinische nicht. Es wurde ja auch
im mündlichen verkehre verwendet. Auf die entwickelung wird das aber von ge-
ringem einllusse gewesen sein, da die erlemung doch immer an der band schrift-
licher aufzeichnungen erfolgte. Dagegen ist ein anderer ausserhalb der schriftlichen
tradition liegender factor jedenfalls von grosser bedeutung gewesen, namentlich
für die gestaltung der syntax, nämlich die muttersprache der lateinschreibenden.
\
857
älteren schriftsteiler, während in der Umgangssprache direct nur die
lebende generation wirkt. Um einen klaffenden riss zu vermeiden,
muss daher immer von neuem eine art compromiss zwischen beiden
geschlossen werden, wobei jede der andern etwas nachgibt.
Wir haben oben s. 44 gesehen, dass wir das eigentlich charakte-
ristische einer mundart im gegensatz zu den übrigen in den lautver-
hältnissen suchen müssen. Das selbe gilt von der gemeinsprache im
gegensatz zu den einzelnen mundarten. Man darf daher eine tech-
nische spräche oder einen poetischen kunststil ebensowenig mit einer
gemeinsprache wie mit einer mundart auf gleiche linie setzen.
In jedem gebiete, für welches eine gemeinsprachliche norm be-
steht, zeigen sich die sprachen der einzelnen Individuen als sehr
mannigfache abstufungen. Zwischen denen, welche der norm so nahe
als möglich kommen, und denen, welche die verschiedenen mundarten am
wenigsten von der norm inficiert darstellen, gibt es viele Vermittlungen.
Dabei verwenden die meisten Individuen zwei, mitunter sogar noch
mehr sprachen, von denen die eine der norm, die andere der mundart
näher steht. Diese ist die zuerst in der Jugend erlernte, von hause aus
dem indi\dduum natürliche, jene ist durch künstliche bemühungen im
späteren lebensalter gewonnen. Hie und da kommt es allerdings auch
vor, dass man von anfang an zwei nebeneinander erlernt, und durch
besondere umstände kann mancher auch im späteren alter veranlasst
werden eine von der norm weiter abweichende spräche zu erlernen
und sich ihrer zu bedienen. Der abstand zwischen den beiden sprachen
kann ein sehr verschiedener sein. Er kann so gering sein, dass man
sie im gemeinen leben nur als etwas sorgfältigere und etwas nach-
lässigere ausspräche unterscheidet; in diesem falle stellen sich leicht
auch noch wider abstufungen dazwischen. Es kann aber auch ein
klaffender gegensatz bestehen. Die grosse des abstandes hängt
natürlich sowol davon ab, wieweit die natürliche spräche von der norm
absteht, als davon, wie nahe ihr die künstliche kommt. In beiden
beziehungen bestehen grosse Verschiedenheiten. Wenn man die künst-
liche spräche im gemeinen leben schlechthin als Schriftsprache be-
zeichent, so zieht man dabei eine menge ziemlich erheblicher localer
und individueller difterenzen nicht in rechnung; wenn man die natür-
liche spräche schlechthin als mundart bezeichent, so übersieht man
bedeutende abstände innerhalb des gleichen engen gebietes. Es kommen
natürlich auch Individuen vor, die sich nur einer spräche bedienen,
einerseits solche, die in ihrer natürlichen spräche der norm schon so
nahe kommen oder zu kommen glauben, dass sie es nicht mehr für
nötig halten sich derselben durch künstliche bemühungen noch weiter
zu nähern, anderseits solche, die von den bedürfnissen noch unberührt
358
sind, die zur Schöpfung und anwendung der gemeinsprache geführt
haben.
Je weiter sieh die uatürliehe spräche eines individuums von der
norm entfernt, um so mehr wird die daneben stehende künstliche
spräche als etwas fremdes empfunden; wir können aber auch im all-
gemeinen behaupten, um so mehr Sorgfalt wird auf die erlernung der
künstlichen spräche verwendet, um so näher kommt man darin der
norm, namentlich in allen denjenigen punkten, die sich schriftlich
fixieren lassen. In Niederdeutschland spricht man ein correcteres Schrift-
deutsch als in Mittel- und Oberdeutschland. Ebenso ist das sogenannte
'gut deutsch' der Schweiz ein sehr viel correcteres als etwa das des
benachbarten badischen oder würtembergischen gebietes, weil hier die
Stadtmundarten schon der norm bei weitem mehr genähert sind als
dort.
Wenn auf dem selben gebiete viele abstufungen neben einander
bestehen, so müssen sich diese selbstverständlich fortwährend unter
einander beeinflussen. Insbesondere muss das der fall sein bei den
beiden stufen, die in dem selben individuum neben einander liegen.
Alle stufen des gleichen gebietes müssen gewisse eigentümlichkeiten
mit einander gemein haben. Die der norm am nächsten stehenden
stufen aus den verschiedenen gebieten müssen sich immer noch einiger-
massen analog zu einander verhalten wie die der norm am fernsten
stehenden.
Ueberall ist die schriftsprachliche norm bestimmter, freier von
Schwankungen als die umgangssprachliche. Und noch mehr übertrifft
in der wirklichen ausübung die Schriftsprache nach dieser seite hin
auch die der norm am nächsten kommenden gestaltungen der Umgangs-
sprache. Das ist ein satz, dessen allgemeingültigkeit man durch die
erfahrung bestätigt finden wird, wohin man auch blicken mag, und
der sich ausserdem aus der natur der sache mit notwendigkeit ergibt.
Denn erstens müssen, wie wir gesehen haben, alle feineren unterschiede
der aussi)rache, in der schrift von selbst wegfallen, und zweitens ge-
lingt es dem einzelnen leichter sich eine bestimmte Schreibweise als
eine von seiner bisherigen gewohnheit abweichende ausspräche anzu-
eignen. Es gehört daher nur wenig unbefangene Überlegung dazu,
um die Verkehrtheit gewisser hypothesen einzusehen, die für eine
frühere periode grössere einheit in der gesprochenen als in der ge-
schriebenen spräche voraussetzen.
In dem verhältniss der einzelnen individuellen sprachen zur norm
finden in einem fort Verschiebungen statt. Während dieselben einer-
seits von den allgemeinen grundbedingungen der natürlichen sprach-
entwickelung sich nicht emancipieren können und daher zu immer
359
weiter gehender cliflferenziernng und damit zu immer weiterer entfernung
von der norm getriel)en werden, bringen anderseits die künstlichen
bemüh ungen eine immer grössere annäherung an die norm liervor.
Es ist von Wichtigkeit festzuhalten, dass beide tendeuzen neben ein-
ander wirksam sind, dass nicht etwa, wenn die letztere zu wirken
anfängt, damit die Wirksamkeit der erstereu aufgehol)en ist. Die
stufenweise annäherung an die norm können wir zum teil direct be-
obachten. Ausserdem aber finden wir alle die entwickelungsstufen,
welche die einzelnen individuen nach und nach durchmachen, an ver-
schiedenen Individuen gleichzeitig neben einander. Suchen wir uns
nun die einzelnen Vorgänge klar zu machen, mittelst deren sich die
annäherung vollzieht.
Erstens: es lernt ein individuum zu der l)is dahin allein ange-
wendeten natürlichen spräche eine der norm näher stehende künstliche.
Das geschieht in den modernen culturländern meist zuerst durch den
Schulunterricht, und man lernt dann gleichzeitig die Schriftsprache im
eigentlichen sinne und eine der Schriftsprache angenäherte Umgangs-
sprache. Man kann aber eine künstliche spräche auch dadurch er-
lernen, dass mau in einen andern verkehrskreis, der sich schon einer
der norm näher stehenden spräche bedient als derjenige, in dem man
bisher gelebt hat, neu eintritt, oder dass man wenigstens zu einem
solchen kreise in nähere berührung tritt als zu der zeit, wo man zu-
erst sprechen gelernt hat. In diesem falle braucht man eventuell gar
nicht lesen und schreiben zu lernen. Das verhältniss des individuums
zu der neuen spräche ist natürlich immer erst eine zeit lang ein
passives, bevor es ein actives wird, d. h. es lernt zunächst die spräche
verstehen und gewöhnt sich au dieselbe, bevor es sie selbst spricht.
Ein derartiges mehr oder minder intimes passives verhältniss hat der
einzelne oft zu sehr vielen dialecten und abstufungen der Umgangs-
sprache, ohne dass er jemals von da zu einem activen verhältniss
übergeht. Dazu bedarf es eben noch eines besonderen antriebes, einer
besonders energischen einwirkung. Die aneignung der künstlichen
spräche ist zunächst immer eine unvollkommene, es kann allmählig zu
immer grösserer Vollkommenheit fortgeschritten werden, viele aber ge-
langen niemals dazu sie sicher und fehlerfrei anzuwenden. Unter
allen umständen bleibt die früher angeeignete natürliche spräche eines
individuums bestimmend für den specifischen Charakter seiner künst-
lichen spräche. Auch da, wo die letztere sich am weitesten von der
ersteren entfernt, wird sie doch nicht als eine absolut fremde spräche
erlernt, sondern immer noch mit beziehung auf diese, die bei der an-
wendung unterstützend mitwirkt. Man richtet sich zunächst, wie über-
haupt bei der anwendung einer jeden fremden spräche oder mundart,
360
so viel als möglich nach eleu bewegungsgefühlen , auf die man einmal
ciugeübt ist. Die feiuereu lautlichen abweichungen der mustersprache,
welche mau nachzubilden sti*ebt, bleiben unberücksichtigt. So kann
es geschehen, dass, selbst weun die betreffende mustersprache der
gemeinsprachliclieu uorm so nahe als möglich steht, bei der nach-
bildung doch eine dem ursprünglichen dialecte gemässe nuancierung
herauskommt. Nun aber ist weiter in betracht zu ziehen, dass der
einzelne in der regel seine künstliche spräche von heimatsgenossen
lernt, deren spräche bereits auf der unterläge des nämlichen dialectes
aufgebaut ist. Soweit ferner die künstliche spräche durch lectüre er-
lernt wird, ist ja die Unterschiebung verwandter laute aus der eigenen
mundart ganz selbstverständlich. Aber auch Wortschatz und Wortbe-
deutung, flexion und syntax der künstlichen spräche bilden sich nicht
l)loss nach den mustern, sondern auch nach dem bestände der eigenen
natürlichen spräche. Man ergänzt namentlich den wortvorrat, den man
aus der mustersprache übernommen hat, wo er nicht ausreicht oder
nicht geläufig genug geworden ist, aus der natürlichen spräche, gebraucht
Wörter, die man in Jener niemals gehört hat oder, wenn man sie auch ge-
hört hat, nicht zu reproducieren im stände sein würde, wenn sie nicht
auch in dieser vorkämen. Man verfährt dabei mit einer gewissen unbe-
fangenen Sicherheit, weil in der tat ein grosser oder der grössere teil der
in der natürlichen spräche üblichen Wörter auch in der mustersprache
vorkommt, weil man vielfach die lücken seiner kenntniss der letzteren auf
diese weise ganz richtig ergänzt. Es kann dabei aber natürlich auch nicht
fehlen, dass Wörter in die künstliche spräche hinübergenommen werden,
welche die mustersprache gar nicht oder nur in abweichender bedeu-
tung kennt. Wo das selbe wort in der mustersprache und in der
natürlichen spräche vorkommt, bestehen häufig Verschiedenheiten der
lautform. Finden sich diese Verschiedenheiten gleichmässig in einer
grösseren anzahl von Wörtern, so müssen sich in der seele des Indi-
viduums, welches beide sprachen neben einander beherrscht, parallel-
reihen herstellen (z. b. nd. water — hd. rvasser = eten — essen = laten
lassen etc.). Es entsteht in ihm ein, wenn gleich dunkles gefühl von
dem gesetzmässigen verhalten der laute der einen spräche zu denen
der andern. In folge davon vermag es Wörter, die es nur aus seiner
natürlichen spräche kennt, richtig in den lautstand der künstlichen
spräche zu übertragen. Psychologisch ist der Vorgang nicht verschieden
von dem, was wir als analogiebildung bezeichent haben. Dabei können
durch unrichtige Verallgemeinerung der gültigkeit einer proportion fehler
entstehen, wie ich z. b. von einem in niederdeutscher mundart aufge-
wachsenen kinde gehört habe, dass es hochdeutsch redend zeller für
l eller sagte. Dergleichen bleibt aber meist individuell und vorüber-
361
gehend, da es immer wider eine controlle dagegen gibt. Anderseits
aber zeigen sich die parallelreihen nicht immer wirksam, und es gehen
auch Wörter in ihrer mundartliehen von dem lautstaude der muster-
sprache abweichenden gestalt in die künstliche spräche über. Uebrijiens
verhält es sich wie mit dem lautlichen, so in allen übrigen beziehungen:
in der regel ist die dem einzelnen zunächst als muster dienende Um-
gangssprache schon durch ein zusammenwirken der eigentlichen normal-
sprache mit dem heimischen dialecte gestaltet.
Zweitens wirkt die künstliche spräche auf die natürliche, indem
aus ihr Wörter, hie und da auch flexionsformen und coustructiousweisen
entlehnt werden. Die Wörter sind natürlich solche, welche sich auf
vorstellungskreise beziehen, für die man sich vorzugsweise der künst-
lichen spräche bedient. Sie werden wie bei der umgekehrten eut-
lehnung entweder in den lautstand der natürlichen spräche umgesetzt
oder in der lautform der künstlichen beibehalten. Es gibt keine ein-
zige deutsche mundart, die sich von einer solchen infection gänzlich
frei gehalten hätte, wenn auch der grad ein sehr verschiedener ist.
Drittens wird bei den Individuen, die eine künstliche und eine
natürliche spräche nebeneinander sprechen, der gebrauch der erstereu
auf kosten der letzteren ausgedehnt. Anfangs wird die künstliche
spräche nur da angewendet, wo ein wirkliches bedürfuiss dazu vor-
handen ist, d. h. im verkehr mit fremden, die einem wesentlich ab-
weichenden dialectgebiete augehören. Dieser erfolgt mehr durch
schriftliche als durch mündliche mittel, es bedarf dafür mehr einer
künstlichen Schriftsprache als einer künstlichen Umgangssprache. Im
verkehr zwischen heimatsgenossen kommt die künstliche spräche zuerst
da zur anwendung, wo gleichzeitig auf fremde rücksicht genommen
werden muss. Nachdem sie sich für die literatur und für officielle
actenstücke festgesetzt hat, dehnt sie sich überhaupt auf alle schrift-
lichen aufzeichnungen aus, auch die privater natur, die nicht für fremdes
dialectgebiet bestimmt sind. Es ist das die natürliche cousequenz
davon, dass man an den literarischen deukmälern das lesen und
schreiben erlernt, infolge wovon es bequemer wird sich an die darin
herrschende Orthographie anzuschliessen als auch noch für die eigene
mundart eine Schreibung zu erlernen oder selbst zu finden. Weiter
wird die künstliche spräche üblich für den an schriftliche aufzeich-
nungen angelehnten öftentlicheu Vortrag, für predigt, Unterricht etc.
Erst nachdem sie in allen den erwähnten verkehrsformen eine ausge-
dehntere anwendung gefunden hat, wird sie einem teile des Volkes,
natürlich demjenigen, der sich am meisten in denselben bewegt, der
am meisten durch literatur, schule etc. beeinflusst wird, so geläufig,
dass sie derselbe auch für den privatverkehr in der heimat zu ge-
362
brauchen anfängt, dass sie zur allgemeinen Umgangssprache der ge-
bildeten wird. Erst auf dieser entwieklungsstufe natürlich kann der
gebrauch der mundart im umgange für ein zeichen von Unbildung
gelten, erst jetzt tritt die mundart in der Wertschätzung hinter der
künstlichen spräche zurück. In der Schweiz ist man durchgängig noch
nicht soweit gelangt. In den höchstgebildeten kreisen von Basel, Bern
oder Zürich unterhält man sich, so lange man keine rücksicht auf
fremde zu nehmen hat, in der einem jeden von Jugend auf natürlichen
spräche, und nimmt auch in den politischen körperschaften an reden
in Schweizerdeutsch keinen anstoss. Wenigstens annähernd ähnliche
Verhältnisse waren in Holstein, Hamburg, Mecklenburg und andern
niederdeutschen gebenden noch vor wenigen decennien zu finden. In
ganz Süd- und Mitteldeutschland erträgt man wenigstens in der Um-
gangssprache noch einen bedeutenden abstand von der eigentlichen
normalsprache. Schon die betrachtung der noch bestehenden Verhält-
nisse kann lehren, wie verkehrt die anschauung ist, dass mit der exi-
stenz einer künstlichen und einer natürlichen spräche von vornherein
eine herabwürdigung der letzteren gegenüber der ersteren verbunden
sein müsste, wie verkehrt es ferner ist nicht das bedürfniss, sondern
das streben durch feinere bildung von der grossen masse des Volkes
abzustechen zum ersten niotiv für die erlernung und für die Schöpfung
einer künstlichen spräche zu machen. Wer dergleichen annimmt, steckt
eben noch in den verurteilen einer unwissenschaftlichen schulmeisterei,
die von historischer entwickelung nichts weiss. Die anweudung der
künstlichen spräche im täglichen verkehr kann in sehr verschieden
abgestufter ausdehnung statt haben. Zunächst braucht man sie ab-
wechselnd mit der natürlichen. Dal)ei macht mau dann einen unter-
schied je nach dem grade, in dem derjenige, mit dem man redet, mit
der künstlichen spräche vertraut ist und sie selbst anwendet. Schliess-
lich gelang-t man vielleicht dazu die natürliche spräche gar nicht mehr
anzuwenden. Es kommen heutzutage fälle genug vor, in denen man
diese ganze entwickelung schritt für schritt an einem individuum ver-
folgen kann. Man gelangt nirgends zu ausschliesslicher anwendung
der künstlichen spräche, ohne dass eine längere oder kürzere periode
der doppelsprachigkeit vorangegangen wäre.
Sind erst eine auzahl von individuen dazu gelang-t sich der künst-
lichen spräche ausschliesslich oder ül}erwiegeud zu bedienen, so erlernt
derjenige teil des jüngeren geschlechtes, welcher vorzugsweise unter
ihrem einflusse steht, das, was ihnen noch künstliche spräche war, von
vornherein als seine natürliche spräche. Dass die ältere generation
auf künstlichem wege zu dieser spräche gelangt ist, ist dann für ihr
wesen und ihr fortleben in der jüngeren generation ganz gleichgültig.
363
Diese verhält sieh zu ihr uicht anders als die ältere generation oder
andere schiebten des Volkes zu ihrer von der gemeinsprachlichen norm
nicht beeiuflussten numdart. Mau muss sich hüten den gegensatz
zwischen künstlicher und natürlicher spräche mit dem zwischen ge-
meinsprache und muudart einfach zu confundieren. Man muss sich
immer klar darüber sein, ob man die verschiedenen individuellen
sprachen nach ihrer objectiven gestaltung mit rücksicht auf ihre grössere
oder geringere eutferuung von der gemeinsprachlichen norm beurteilen
will oder nach dem subjectiven verhalten des sprechenden zu ihnen.
Von zwei sprachen, die man von zwei verschiedenen Individuen hört,
kann A der norm näher stehen als B, und kann darum doch A natür-
liche, B künstliche spräche sein.
Wenn auf einem gebiete ein teil an der ursprünglichen mundart
festhält, ein anderer sich einer künstlichen eingeführten spräche auch
für den täglichen verkehr bedient, so gibt es natürlich eine anzahl von
Individuen, die von frühester kindheit einigermassen gleichmässig von
beiden gruppen beeinflusst werden, und so kann es nicht ausbleiben,
dass verschiedene mischungen entstehen. Jede mischung aber be-
günstigt das entstehen neuer mischungen. Und so kann es nicht aus-
bleiben, dass ein grosser reichtum mannigfacher abstufungen auch in
der natürlichen spräche entsteht. In Ober- und Mitteldeutschland kann
man fast überall von der der norm am nächsten stehenden gestaltung
bis zu der davon am weitesten abstehenden ganz allraählig gelangen,
ohne dass irgendwo ein schroffer riss vorhanden wäre. In der Schweiz
dagegen, wo die künstliche spräche noch nicht in den täglichen ver-
kehr eingedrungen ist, sich nicht in natürliche spräche verwandelt hat,
gibt es zwar eine abstufung zwischen den mundarten, je nachdem sie
stärker oder schwächer von der Schriftsprache beeinflusst sind, aber
zwischen der Schriftsprache und der am stärksten von ihr beeinflussten
mundart besteht ein durch keine abstufungen vermittelter gegensatz.
Wenn jemand von hause aus eine der norm näher stehende
spräche erlernt hat, so hat er natürlich kein so grosses bedürfniss
noch eine künstliche dazu zu erlernen, als wenn er die reine mundart
seiner heimat erlernt hätte. Er begnügt sich daher häufig für den
mündlichen verkehr mit der einsprachigkeit. Die Verhältnisse können
ihn aber dazu drängen eine noch grössere annäherung an die norm
anzustreben, und dann wird er widerum zweisprachig, und widerum
kann seine künstliche spräche einer folgenden generation zur natür-
lichen werden, und dieser process kann sich mehrmals widcrholen.
Wir haben uns bisher zu veranschaulichen versucht, wie sich die
Verhältnisse gestalten unter der Voraussetzung, dass schon eine all-
gemein anerkannte norm für die gemeinsprache besteht. Es bleibt uns
364
jetzt noch übrig zu betrachten, wie überhaupt eine solche norm ent-
stehen kann. Dass eine solche in den gebieten, wo sie jetzt existiert,
nicht von anfang an vorhanden gewesen sein kann, dass es vorher
eine periode gegeben haben muss, in der nur reine mundarten gleich-
berechtigt neben einander bestanden haben, dürfte jetzt wol allgemein
anerkannt sein. Aber es scheint doch vielen leuten schwer zu fallen,
sich eine literarisch verwendete spräche ohne norm vorzustellen, und
die neigung ist sehr verbreitet ihre enstehuug so weit als möglich
zurückzuschieben. Ich kann darin nur eine nachwirkung alter Vor-
urteile sehen, wonach die Schriftsprache als das eigentlich allein existenz-
berechtigte, die mundart nur als eine verderbniss daraus aufgefasst wird.
Dass überhaupt zweifei möglich ist, liegt daran, dass uns aus den
früheren zeiten nur aufzeichnungen vorliegen, nicht die gesprochene
rede. In folge davon ist Vermutungen über die beschaffenheit der
letzteren ein weiter Spielraum gegeben. Einen massstab ftir die rich-
tigkeit oder nichtigkeit dieser Vermutungen können uns bloss unsere
bisher gesammelten erfahrungen über die bedingungen des Sprachlebens
geben. Was diesen massstab nicht aushält, muss endlich einmal auf-
hören sich breit zu machen.
Unter den momenten, welche auf die Schöpfung einer gemein-
sprache hinwirken, muss natürlich, wie schon aus unseren bisherigen
erörterungen hervorgeht, in erster linie das bedürfniss in betracht
kommen. Ein solches ist erst vorhanden, wenn die mundartliche diffe-
renzierung so weit gegangen ist, dass sich nicht mehr alle glieder der
Sprachgenossenschaft bequem unter einander verständigen können, und
zwar dann auch nur ftir den gegenseitigen verkehr derjenigen, deren
heimatsorte weit auseinander liegen, da sich zwischen den nächsten
nachbarn keine zu schroffen gegensätze entwickeln. Es kann nicht
leicht etwas bedenklicheres geben, als anzunehmen, dass sich eine ge-
meinsprache zunächst innerhalb eines engeren gebietes, das in sich
noch geringe mundartliche ditferenzen aufzuweisen hat, ausgebildet
und erst von da auf die ferner stehenden gebiete verbreitet habe.
Naturgemäss ist es vielmehr, und das bestätig-t auch die erfahrung,
dass eine spräche dadurch zur gemeiusprache wird, dass mau sie in
gebieten zum muster nimmt, deren mundart sich ziemlich weit davon
entfernt, während kleinere diflferenzen zunächst unbeachtet bleiben.
Ja der gemeinsprachliche Charakter kann dadurch eine besondere
kräftigung erhalten, dass eine Übertragung auf entschieden fremd-
sprachliches gebiet stattfindet, wie wir es an der griechischen xoivij
und der lateinischen spräche beobachten können.
Soll demnach ein dringendes bedürfniss vorhanden sein, so muss
der verkehr zwischen den einander ferner liegenden gebieten schon
865
zu einer ziemlichen intensitüt entwickelt sein, müssen bereits rege
eommereielle, politische oder literarische beziehiuigen bestehen. Von
den intensitätsverhiiltnissen des weiteren Verkehres hängt es auch zum
teil ab, wie gross das gebiet wird, über welches die gemeinspraehe
ihre herrschaft ausdehnt. Die grenzen des gebietes fallen keineswegs
immer mit denjenigen zusammen, die man am zweekmässigsten ziehen
würde, wenn man bloss das verhültuiss der mundarten zu einander
berücksichtigen wollte. Wenn auf zwei verschiedenen Sprachgebieten
die mundartlichen diflferenzen ungefähr gleich gross sind, so kann es
doch geschehen, dass sich auf dem einen nur eine gemeinspraehe,
auf dem andern zwei, drei und mehr entwickeln. Es ist z. b. keine
frage, dass zwischen ober- und niederdeutschen mundarten grössere
wnterschiede bestehen, als zwischen polnischen und czechischen oder
serbischen und bulgarischen, ja selbst zwischen polnischen und serbi-
schen. Es können zwei gebiete mit sehr nahe verwandten mundarten
rüeksichtlich der gemeinsprachen, die sich in ihnen festsetzen, nach
verschiedenen Seiten hin auseinandergerissen werden, während zwei
andere mit einander sehr fern stehenden mundarten die gleiche ge-
meinspraehe annehmen.
Wieviel auf das bedürfniss ankommt, zeigt auch folgende beo-
bachtung. Es ist sehr schwer, wo nicht unmöglich, wenn sich für ein
grösseres gebiet eine gemeinspraehe einigermassen festgesetzt hat, für
einen teil desselben eine besondere gemeinspraehe zu schaffen. Man
kann jetzt nicht mehr daran denken eine niederdeutsche oder eine
provenzalische gemeinspraehe schaffen zu wollen. Auch die be-
mühungen eine besondere norwegische gemeinspraehe zu schaffen
scheitern an der bereits bestehenden herrschaft des dänischen. Um-
gekehrt ist es auch nicht leicht eine gemeinspraehe über ein grösseres
gebiet zur herrschaft zu bringen, wenn die einzelnen teile desselben
bereits ihre besondere gemeinspraehe haben, durch die für das nächste
bedüifniss schon gesorgt ist. Man sieht das au der erfolglosigkeit der
panslawistischen bestrebungen. Ebenso wirkt auch eine ganz fremde
spräche, wenn sie sich einmal für den literarischen und ofiiciellen ver-
kehr eingebürgert hat, der bildung einer nationalen gemeinspraehe
hemmend entgegen. So sind die bestrebungen eine vlämische literatur-
sprache zu gründen nur von geringem erfolge gekrönt, nachdem ein-
mal das französische zu feste wurzeln geschlagen hat. In sehr aus-
gedehntem masse hat das lateinische als Weltsprache diesen hemmenden
einfluss geübt.
Es ist nur der direete verkehr, für welchen das bedürfniss im
vollen masse vorhanden ist. Für den indireeten besteht es ' häufig
nicht, auch wenn die individuen, zwischen denen die mitteilung statt-
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findet, sich mundartlich sehr fern stehen. Geht die mitteilung durch
andere individuen hindurch, deren niundarten dazwischen liegen, so
kann sie durcli mehrfache Übertragungen eine gestalt erhalten, dass
sie auch solchen leicht verständlich wird, denen sie in der ursprüng-
lichen mundart nicht verständlich gewesen wäre. Eine solche Über-
tragung findet selbst\ erständlich statt, wenn poetische producte münd-
lich von einem orte zum andern wandern. Aber ihr unterliegen auch
aufgezeichente denkmäler, die durch abschrift weiter verbreitet werden.
Allerdings bleibt die Übertragung gewöhnlich mehr oder minder un-
vollkommen, so dass mischdialecte entstehen. Massenhafte beispiele
für diesen Vorgang liefern die verschiedenen nationalliteraturen des
mittelalters. Es ist auf diese weise ein literarischer connex zwischen
gebieten möglich, die mundartlich schon ziemlich weit von einander
abstehen, ohne die vermittelung einer gemeinsprache. Ja dieses so
nahe liegende verfahren verhindert geradezu, dass eine mundart, in
der etwa hervorragende literarische denkmäler verfasst sind, auf grund
davon einen massgebenden einfluss gewinnt, weil sie gar nicht mit
den betreffenden denkmälern verbreitet wird, wenigstens nicht in reiner
gestalt. Ganz anders verhält sich die sache, sobald die Verbreitung
durch den druck geschieht. Durch diesen wird es möglich ein werk
in der ihm vom Verfasser oder vom drucker gegebenen gestalt unver-
fälscht überallhin zu verbreiten. Und sollen überhaupt die vorteile des
druckes zur geltung kommen, so muss ein druck womöglich für das
ganze Sprachgebiet genügen, und dazu gehört natürlich, dass die darin
niedergelegte spräche überall verstanden wird. Mit der einführung
des druckes wächst also einerseits das bedürfniss nach einer gemein-
sprache, werden anderseits geeignetere mittel zur befriedigung dieses
bedürfnisses geboten, Uebrigens ist es auch erst der druck, wodurch
eine Verbreitung der kenntniss des lesens und Schreibens in weiteren
kreisen möglich wird. Vor der Verwendung des druckes kann für die
Wirksamkeit einer schriftsprachlichen norm immer nur ein enger kreis
emjjfänglich gewesen sein.
Das bedürfniss an sich reicht natürlich nicht aus eine gemein-
sprachliche norm zu schatten. Es kann auch nicht dazu veranlassen
eine solche willkürlich zu ersinnen. So weit geht die absichtlichkeit
auch auf diesem gebiete nicht, wie viel grösser sie auch sein mag als
bei der natürlichen Sprachentwicklung. Ueberall dient als norm zu-
nächst nicht etwas neu geschaffenes, sondern eine von den bestehenden
mundarten. Es wird auch nicht einmal eine unter diesen nach Verab-
redung ausgewählt. Vielmehr muss diejenige, welche zur norm werden
soll, schon ein natürliches Übergewicht besitzen, sei es auf commer-
cieilem, politischem, reiigiös^'m^oder literarischem gebiete oder auf
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mehreren von diesen zugleich. Die al)sicht eine gemeinsprache zu
schaffen kommt erst hinten nach, wenn die ersten schritte dazu getan
sind. Wenigstens ist es wol erst in ganz moderner zeit vorgekommen,
dass man ohne eine bereits vorhandene grundlage den plan gefasst
hat eine gemeinsprache zu scliaffen, und dann meist nicht mit günstigem
erfolge. Alan hat sieh dabei die Verhältnisse anderer Sprachgebiete,
die bereits eine gemeinsprache besitzen, zum muster genommen. Als
die gemeinsprachen der grossen europäischen culturländer begründet
wurden, schwebten noch keine solche muster vor. Man musste erst
erfahren, dass es überhaupt dergleichen geben könne, ehe mau danach
strebte.
Bevor irgend ein ansatz zu einer gemeinsprache vorhanden ist,
muss es natürlich eine anzahl von Individuen geben, welche durch die
Verhältnisse veranlasst werden sich mit einer oder mit mehreren fremden
mundarten vertraut zu machen, so dass sie dieselben leicht verstehen
und teilweise selbst anwenden lernen. Es kann das die folge davon
sein, dass sie in ein anderes gebiet übergesiedelt sind oder sich vorüber-
gehend länger darin aufgehalten haben, oder dass sie mit leuten, die
aus fremdem gebiete herübergekommen sind, viel verkehrt haben, oder
dass sie sich viel mit schriftlichen aufzeichnungen, die von dort aus-
gegangen sind, beschäftigt haben. Die auf diese weise angeknüpften
beziehungen können sehr mannigfach sein. Ein angehöriger der mund-
art A kann die mundart B, ein anderer C ein dritter D erlernen und
dabei wider umgekehrt ein angehöriger der mundart B oder C oder
D die mundart A etc. So lange sich die wechselseitigen einflüsse der
verschiedenen mundarten einigermassen das gleichgewicht halten, ist
kein fortschritt möglich. Ist aber bei einer mundart erheblich mehr
veranlassung gegeben sie zu erlernen als bei allen übrigen, und zwar
für die angehörigen aller mundarten, so ist sie damit zur gemeinsprache
prädestiniert. Ihr übergewicht zeigt sich zunächst im verkehre zwischen
den ihr angehörigen individueu und den angehörigen der andern mund-
arten, indem sie dabei leichter und öfter von den letzteren erlernt wird,
als deren mundart von den ersteren, während die übrigen mundarten
unter einander mehr in einem paritätischen verhältniss bleiben. Der
eigentlich entscheidende schritt aber ist erst gemacht, wenn die domi-
nierende mundart auch für den verkehr zwischen angehörigen ver-
schiedener anderer mundarten gebraucht wird. Es ergibt sich das als
eine natürliche folge davon, dass eine grössere menge von Individuen
mit ihr vertraut ist. Denn dann ist es bequemer sieh ihrer zu bedienen,
sobald einmal die heimische mundart nicht mehr genügt, als noch eine
dritte oder vierte dazu zu erlernen. Am natürlichsten bietet sie sich
dar, wenn man sieh eben so wol au diejenigen wendet, die ihr von
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iiatiir augehören, als an die übrige nation, wie es ja bei dem litera-
rischen verkehre und unter der Voraussetzung staatlicher einheit auch
bei dem politischen der fall ist. In dem augenblicke, wo man sich
der Zweckmässigkeit des gebrauches einer solchen mundart für den
weiteren verkehr bewusst wird, beginnt auch die absichtliche weiter-
leitung der entwickelung.
Die mustergültigkeit eines bestimmten dialeetes ist aber in der
regel nur eine Übergangsstufe in der entwickelung der gemeinsprach-
lichen norm. Die nachbildungen des musters bleiben, wie wir gesehen
haben, mehr oder minder unvollkommen. Es entstehen mischungen
zwischen dem muster und den verschiedenen heimatlichen dialecten
der einzelnen individuen. Es kann kaum ausbleiben, dass auch diese
mischdialecte teilweise eine gewisse autorität erlangen, zumal wenn
sich hervorragende schriftsteiler ihrer bedienen. Auf der andern seite
unterliegt der ursprüngliche musterdialect als dialect stätiger Ver-
änderung, während die normalsprache conservativer sein muss, sich
nur durch festhalten an den mustern vergangener zeiten behaupten
kann. So muss allmählig der dialect seine absolute mustergültigkeit
verlieren, muss mit verschiedenen abweichenden nuancen um die herr-
sch aft kämpfen.
Die künstliche spräche eines grossen gebietes pflegt demnach in
einem gewissen entwickeluugsstadium ungefähr in dem selben grade
dialectisch diiferenziert zu sein, wie die natürliche innerhalb einer
landschaft. Zu grösserer centralisation gelangt man in der regel nur
durch aufstellung wirklicher regeln in mündlicher Unterweisung, gram-
matiken, Wörterbüchern, akademieen etc. Mit welcher bewusstheit und
absichtlichkeit aber auch eine schriftsprachliche norm geschaffen werden
mag, niemals kann dadurch die unbeabsichtigte entwickelung, die wir
in den vorhergehenden capiteln besprochen haben, zum stillstand ge-
bracht werden; denn sie ist unzertrennlich von aller Sprechtätigkeit.
HaUe Druck von Ehrhardt Karraa.
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