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/^ E Bieben Hofphot Berl
in &, Hamburg
Verlag
von Georg Reimer, Berlin
C^jyrMt^ J^Cce^C-^k:^Jl
PRINZIPIEN ^ ^
DER
GENERELLEN MORPHOLOGIE
DEK ORGANISMEN.
WÖRTLICHER ABDRUCK EINES TEILES DER
186(5 ERSCHIEXE^EX
GENERELLEN MORPHOLOGIE
(ALLGEMEINE GRUNDZÜGE DER
ORGANISCHEN FORMEN-WISSENSCHAFT
MECHANISCH BEGRÜNDET DURCH DIE VON CHARLES DARWIN
REFORMIERTE DESZENDENZ - THEORIE)
VON
ERNST HAECKEL
I'ROFESSOU AN DER LSIVERSITÄT JENA.
•MIT DEM PORTRÄT DES VERFASSERS.
»
BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1906.
.,Die Natur schafft ewig neue Gestalten: was da ist, war noch nie: was
war. kommt nicht wieder: alles ist neu, und doch immer das Alte.
.,Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr. Sie verwandelt
sich ewig, und ist kein Moment Stillstehen in ihr. P'ür's Bleiben hat sie keinen
Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillstehen gehängt. Sie ist fest: ihr
Tritt ist gemessen, ihre Gesetze unwandelbar. Gedacht hat sie und sinnt be-
ständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Jedem erscheint sie in
ihrer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen, und
ist immer dieselbe.
..Die Natur hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich
vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten; sie wird ihr Werk nicht hassen.
Ich sprach nicht von ihr: nein, was wahr ist und was falsch ist. alles hat sie
ges])rochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst."
Goethe.
/
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VOR wo ET.
Vierzig Jahre sind verflossen, seitdem mein Werk über „Gene-
relle Morphologie der Organismen" in zwei Bänden erschien
(Berlin. Verlag von Georg Reimer. 1866). Dieses Buch war der
erste Versuch, „Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-
Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin
reformierte Deszendenztheorie", festzulegen. Der erste Band: „All-
gemeine Anatomie der Organismen", behandelte (auf 606 Seiten)
die ..Entwickelten Formen", der zweite Band: „Allgemeine Ent-
wickelungsgeschichte", (auf 662 Seiten) die „Entstehenden Formen
der Organismen". Als die wichtigste Aufgabe bei der Ausführung
dieser Arbeit stand mir beständig das Ziel vor Augen, die mo-
nistische „E n t wie kein ngslehre" und insbesondere deren be-
deutendsten, damals als ,.Darwinismus" aufgetretenen Fortschritt
auf das Gesamtgebiet der Biologie,- vor allem aber auf deren
schwierigsten Teil, die Morphologie, fruchtbringend anzuwenden.
Da beide Teile der „Generellen Morphologie" zahlreiche neue
Gedanken enthielten, und da dieses Werk überhaupt der erste Ver-
such war. die Deszendenztheorie in ihrer philosophischen allgemeinen
Bedeutung zusammenhängend darzustellen, hatte ich auf rege
Teilnahme der Biologen und Philosophen an meinem schwierigen
Unternehmen gehofft. Indessen bheb dieser erwartete Erfolg zu-
nächst fast vollständig aus. Die meisten Zoologen und Botaniker,
Morphologen und Physiologen — ebenso auf der anderen Seite die
meisten Philosophen und Psychologen — ignorierten mein Buch voll-
ständig und zeigten für die vielen darin gebotenen Anregungen nicht
die geringste Teilnahme. Die Ursachen dieses vollständigen Miß-
IV ^'orvvol•t.
erfolges lagen zum Teil in meiner schwerfälligen und schwerverständ-
lichen Darstellung, in dem Überwiegen der spekulativen Betrachtungen
über die empirischen Darstellungen, in dem Überfluß an neuen Be-
griffen und ungewohnten Ausdrücken: zum anderen Teil aber auch
wohl daran, daß die neue Auffassung und Behandlung des organischen
Lebens zu den althergebrachten Vorstellungen in schroffen Wider-
spruch trat und den herrschenden Autoritätsglauben scharf bekämpfte.
Einige Freunde, welche bei eingehendem Studium der ..Gene-
rellen Morphologie'' diese Mängel stark empfunden und die dadurch
bedingte Erfolglosigkeit meines Versuches lebhaft bedauert hatten,
veranlaßten mich, einen Auszug aus jenem Werke in mehr zugäng-
licher Form zu veröffentlichen und insbesondere die Grundzüge der
neuen monistischen Entwickelungslehre populär darzulegen. So ent-
stand zwei Jahre später die ..Natürliche Schöpfungsgeschichte,
Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicke-
lungslehre im allgemeinen und diejenige von Darwin. Goethe und
Lamarck im besonderen, über die Anwendung derselben auf den
Ursprung des Menschen und andere, damit zusammenhängende
Grundfragen der Naturwissenschaft". Die erste Auflage dieses Buches
(1868 erschienen) umfaßte nur 568 Seiten Text, 10 Tafeln und wenige
Textfiguren; die zehnte Auflage (1902) enthielt in zwei Bänden 904
Seiten Text, 30 Tafeln, zahlreiche Textfiguren und systematische
Tabellen. Da auch von den zwölf verschiedenen Übersetzungen
der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" zahlreiche Auflagen in allen
Kulturländern verbreitet wurden, so hat dieses populäre Werk zur
Anerkennung der Entwickelungslehre und zur Ausbreitung des
Darwinismus nicht wenig beigetragen.
Als der wertvollste Teil der „Generellen Morphologie" wurde
gleich anfangs von angesehenen, systematisch arbeitenden Biologen
die ..Systematische Einleitung in die allgemeine Ent-
wickeln ngsgeschi cht e" betrachtet, welche den Eingang zum
zweiten Bande bildete und auf 160 Seiten eine „Genealogische
Übersicht des natürlichen Systems der Organismen" gab — der
erste Versuch, dieses letztere wirklich als „Stammbaum" im Sinne
Darwins zu gestalten und die natürhchen Verwandtschaftsverhält-
nisse der Klassen und Ordnungen im Protistenreich. Pflanzenreich
Vorwort. V
und TieiTeicli phylogenetisch zu begründen. Da ich diese systematische
Biologie während eines halben Jahrhunderts mit besonderer Vorliebe
gepflegt habe, und da ich in meinen umfangreichen Monographien der
Radiolarien. Spongien. IMedusen und Siphonophoren Gelegenheit fand,
die Wahrheit der Abstammungslehre am natürlichen System dieser
formenreichen Tierklassen gründlich zu erproben, so entschloß ich
mich später, das ganze System der organischen Stämme in diesem Sinne
zusammenhängend zu bearbeiten. Das Ergebnis dieser phyletischen
Klassifikation war das dreibändige Werk: „Systematische Phylo-
genie: Entwurf eines Natürlichen Systems der Organismen auf Grund
ihrer Stammesgeschichte"; I. Band: Protisten und Pflanzen. 1894
(400 Seiten): IL Band: Wirbellose Tiere, 1896 (720 Seiten); IIL Band:
Wirbeltiere, 1895 (660 Seiten): (Berlin. Verlag von Georg Reimer).
Im siebenten Buche der Generellen Morphologie (Bd. II. Seite
423 — 438) hatte ich kurz ..die Entwickelungsgeschichte der Or-
ganismen in ihrer Bedeutung für die Anthropologie" erläutert, im
27. Kapitel ..die Stellung des Menschen in der Natur" besprochen
und im 28. Kapitel demgemäß „die Anthropologie als Teil der
Zoologie" behandelt. Bei der außerordentlichen Bedeutung dieser
..Frage aller Fragen", bei ihrem Einfluß auf das gesamte Gebiet
der menschlichen Wissenschaft, habe ich derselben später besonders
eingehende Studien zugewendet. Das Ergebnis derselben veröffent-
lichte ich 1874 in der „Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte
des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über
die Grundzüge der menschlichen Keimes- und Stammesgeschichte" (732
Seiten, 12 Tafeln, 210 Textfiguren). Die folgenden Auflagen dieses
Werkes wnirden ( — ebenso wie diejenigen der Natürlichen Schöpfungs-
geschichte — ) wesentlich erweitert und zeitgemäß umgearbeitet. Die
letzte (fünfte) Auflage umfaßte 992 Seiten, 30 Tafeln, 512 Text-
figuren und 60 genetische Tabellen: der erste Band enthält die
Keimesgeschichte (Ontogenie), der zweite die Stammesgeschichte
(Phylogenie): — (Leipzig, 1903, Verlag von Wilhelm Engelmann).
In den vorstehend angeführten Schriften, die sämtlich aus der
„Generellen Morphologie" ihren Ursprung genommen und nur einzelne
Teile derselben weiter ausgeführt haben, hatte ich vielfach die refor-
matorische Bedeutung der Entwickelungslehre für das ganze Gebiet
VI Vorwort.
menschlicher Erkenntnis erörtert und insbesondere auf die monistische
Neugestaltung' unserer Weltanschauung hingewiesen. Alle großen,
darauf bezüglichen allgemeinen Fragen habe ich dann am Schlüsse
des 19. Jahrhunderts zusammenfassend in meinem Buche über ..Die
Welträtsel" behandelt (Bonn. Strauß. 1899). Diese ., Gemein-
verständlichen Studien über monistische Philosophie" (480 Seiten)
zerfallen in 20 Kapitel und 4 Teile: der erste, anthropologische
Teil behandelt .,den Menschen", der zweite, psychologische Teil
.,die Seele", der dritte, kosmologische Teil ..die Welt", der vierte,
theologische Teil ..den Gott". Die lebhafte Teilnahme aller gebildeten
Ki'eise an diesen höchsten Problemen der Vernunft gab sich kund
in dem ungewöhnlichen Erfolge dieses Buches, von dem in wenigen
Monaten zehntausend Exemplare abgesetzt wurden: von der billigen
kleinen Volksausgabe, die später (1903) auf dringenden Wunsch
veranstaltet wurde, sind jetzt zweihunderttausend in Umlauf. Ähn-
liche weite Verbreitung fanden auch die fünfzehn Übersetzungen der
„Welträtsel".
Manche fühlbare Lücken in dem allgemeinen Weltbilde, tlas
die „Welträtsel" in einheitlichem Zusammenhange darstellen sollten,
sowie zahlreiche, dadurch bedingte Anfragen teilnehmender Leser
veranlaßten mich endlich 1904 ( — nach Abschluß meines siebzigsten
Lebensjahres — ) noch ein letztes, darauf bezügliches Werk zu ver-
öffentlichen, die „Lebens wunder" (Stuttgart. Alfred Kröner). Dieser
Ergänzungsband zu dem Buche über die ..Welträtsel" (580 Seiten)
enthält „Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie"
und ist gleich dem letzteren in 20 Kapitel und 4 Abschnitte ein-
geteilt: der erste, methodologische Teil behandelt die „Lebenserkennt-
nis" der zweite, morphologische Teil die „Lebensgestaltung", der
dritte, physiologische Teil die "Lebenstätigkeit", der vierte, genea-
logische Teil die „Lebensgeschichte". Mit der Pubhkation dieses
letzten Werkes ist nunmehr die Reihe der Untersuchungen ab-
geschlossen, die ich vor 50 Jahren begonnen hatte, und deren Auf-
gaben vor 40 Jahren in der „Generellen Morphologie" zuerst bestimmt
formuliert waren.
Inzwischen ist nun schon seit vielen Jahren von zahlreichen
Lesern meiner Schriften der Wunsch ausgesprochen worden, daß ich
Vorwort. VJI
endlich auch von der Generellen Morphologie selbst, die längst ver-
griffen ist, eine neue Auflage herausgeben möchte. Nach vielem
Bedenken und langem Überlegen habe ich endlich geglaubt, diesem
Verlangen entsprechen zu müssen: und so erscheinen denn jetzt,
nach vierzig Jahren, die „Prinzipien der Generellen Morphologie".
Die anfänglich beabsichtigte zeitgemäße Umarbeitung des Werkes
erwies sich später als undurchführbar: denn die Fortschritte der
Entwickelungslehre im Laufe dieser vier Dezennien sind so viel-
seitig und großartig, die darauf gegründete Literatur so ausgedehnt,
daß eine gründliche Neubearbeitung — unter gewissenhafter Be-
rücksichtigung nur der wichtigsten Arbeiten — eine ganze Reihe
von Bänden in Anspruch genommen haben würde. Dagegen er-
schien es mir zw^eckmäßig und besonders für die Geschichte der
Entwickelungslehre förderlich, die wichtigsten Grundsätze der-
selben, w^ie sie damals (1866) zuerst von mir aufgestellt worden sind,
in ihrer ursprünglichen Fassung wörtlich wiederzugeben. Denn
es ist später von mehreren Seiten mit Recht hervorgehoben
w^orden. daß zahlreiche anregende und fruchtbare Gedanken, die
von anderen Autoren erfolgreich in der Biologie zur Geltung ge-
bracht wurden, bereits früher in der Generellen Morphologie be-
stimmt formuliert worden w^aren.
Anderseits ergab eine wiederholte sorgfältige Revision des Textes,
daß manche Irrtümer zu entfernen und viele nebensächliche Aus-
führungen zu streichen waren. — ebenso auch manche überflüssige
Wiederholungen, zu denen mich der Wunsch verführt hatte, recht
klar und eindringlich die leitenden Grundsätze darzulegen. So ist
denn schließlich in diesen vorliegenden ..Prinzipien der Generellen
Morphologie" der Text des ursprünglichen Werkes auf ungefähr den
dritten Teil reduziert worden ( — 464 Seiten statt 1230 Seiten — )
oder eigentlich wohl kaum den vierten Teil des Inhalts, da fast
alle mit kleiner Schrift gedruckten Anmerkungen und Zusätze
fortgelassen wurden. Die dreißig Kapitel des Werkes haben dabei
eine sehr verschiedene Abschätzung erfahren. Ganz oder fast
ganz erhalten blieben acht Kapitel (— 1. 20, 23, 26, 27, 28.
29, 30 — ); teilweise beibehalten wurden vierzehn Kapitel
(— 4, 5, 6, 8, 9, 10, 11. 12, 16, 17, 19, 21. 22, 24 — ): ganz
VIII Vorwort.
oder größtenteils sind weggefallen acht Kapitel: 2, 3, 7, 13, 14,
15, 18, 25.
Bei der Korrektur der Druckbogen wurde ich wesentlich gefördert
durch meinen Privat-Assistenten Dr. Heinrich Schmidt (Jena), den
General-Sekretär des ..Deutschen Monistenbundes''. Derselbe unter-
zog nicht nur den Text einer sorgfältigen wörtlichen Revision und
Verglcichung. sondern fertigte auch das neue alphabetische Register
an. Ich statte ihm für diese Mühe hier meinen freundlichen Dank ab.
Die langen und heißen Kämpfe, welche in den letzten vierzig
Jahren um die Anerkennung der Entwickelungslehre und insbesondere
ihres wichtigsten Fortschrittes, der Deszendenztheorie, geführt worden
sind, haben zu einem vollständigen Siege der letzteren geführt. Die
ganze Biologie ist im Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts von der
Wahrheit der grundlegenden Lehren durchdrungen, die schon hundert
Jahre früher von Goethe klar erkannt und von Lamarck (1809)
formuliert, aber erst 1859 durch Darwin zur Geltung gebracht
wurden. Um den weiteren Ausbau dieser biogenetischen Lehren
und ihrer Folgeschlüsse — besonders aber ihre Verknüpfung mit
der monistischen Philosophie — habe ich mich seitdem redlich be-
müht. Ich kann schließlich, am Ende meiner vielbewegten literari-
schen Laufbahn, nur den Wunsch aussprechen, daß die leitenden
Grundsätze dieser einheitlichen Weltanschauung, die in der Gene-
rellen Morphologie zum ersten Male ihre scharfe Formulierung fanden,
auch in dieser neuen Ausgabe ihrer Prinzipien zur Erkenntnis der
Wahrheit und zur Förderung der Wissenschaft dauernd beitragen
mögen.
Jena, 16. Februar 1906.
Ernst Haeckel.
INHALTSVERZEICHNIS.
Seite
Vorwort HI
Inhaltsverzeichnis IX
ERSTES BUCH.
Kritische und inethodologische Einleitung in die generelle Morphologie
der Organismen 1
Erstes Kaiütel: Begriff und Aufgabe der Morphologie der Orga-
nismen 3
Zweites Kapitel: Verhältnis der Morphologie zu den anderen
X a t u )■ w i s s e n s c h a f t e n 9
I. Morphologie und Biologie 9
II. Morphologie und Physik 9
III. Morphologie und Chemie 9
IV. Morphologie und Physiologie 9
Drittes Kapitel: Einteilung der Morphologie in untergeordnete
Wissenschaften 9
I. Einteilung der Morphologie in Anatomie und Morphogenie 9
II. Einteilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften ... 9
III. Anatomie und Systematik 9
IV. Organologie und Histologie 9
V. Tektologie und Promorphologie 9
VI. Morphogenie oder Entwickeluugsgeschichte 9
VII. Entwickeluugsgeschichte der Individuen 9
VIII. Entwickelungsgeschichte der Stämme 9
IX. Generelle und spezielle Morphologie 9
Yiertes Kapitel: Methodik der Morphologie der Organismen ... 10
Viertes Kapitel: Erste Hälfte. Kritik der naturwissenschaft-
lichen Methoden, welche sich gegenseitig notwendig ergänzen müssen . 10
I. Empirie und Philosophie (Erfahrung und Erkenntnis) 10
X Inhaltsverzeichnis.
Seite
II. Analyse und S\'nthese 21
III. Induktion und Deduktion "iH
Viertes Kapitel: Zweite Hälfte. Kritik der naturwissenschaft-
lichen Metlioden, welche sich gegenseitig notwendig ausschließen
müssen ;5()
IV. Dogmatik und Kritik .'SD
V. Teleologie und Kausalität (Vitalisnuis und Mechanismus) 83
VI. Dualismus und Monismus 4:>
ZWEITES BUCH.
Allgemeine Untersuchungen über die Natur und erste Entstehung
der Organismen, ihr Verhältnis zu den Anorganen und ihre
Einteilung in Tiere und Pflanzen 47
Fünftes Kapitel: Organismen und Anorgane 4!>
I. Organische und anorganische Stoffe 4!)
I, 1. Differentielle Bedeutung der organischen und anorganischen
^Materien 49
I, 2. Atomistische Zusammensetzung der oiganischen und anorganischen
Materien 51
I, 3. Verbindungen der Elemente zu organischen und anorganischen
Materien "iS
I, 4. Aggregatzustände der oiganischen und anoiganischen Materien . 55
II. Organische und anorganische Formen 5cS
II, 1. Individualität der organischen und anorganischen Gestalten . . . 58
II. 2. Grundformen der organischen und anorganischen Gestalten ... (U
III. Organische und anorganische Kräfte ()7
III, 1. Lebenserscheinungen der Organismen und physikalische Kräfte
der Anorgane <)7
III, 2. Wachstum der organischen und anorganischen Individuen .... (IS
III, 3. Selbsterhaltung der organischen und anorganischen Individuen . 71
III. 4. Anpassung der organischen und anorganischen Individuen .... 72
III, 5. Korrelation der Teile in den organischen und anorganischen Indi-
viduen 78
III, (). Zellenbildung und Kristallbildung 7!)
IV. Eiidieit der organischen und anorganischen \atur SO
Sechstes Kapitel: Schöpfung und Selbstzeugung 84
I. Entstehung dei- ersten Organismen S4
II. Schöpfung S()
ill. Urzeugung oder Generatio spontanen !)i>
iV. Selbstzeugung oder Autogonie !*4
Inhaltsverzeichnis. XI
Seite
Siebentes Kapitel: Tiere und Pflanzen BT
Unterscheidung von Tier und Pflanze !>7
DRITTES BUCH.
Erster Teil der allgemeinen Anatomie.
Generelle Tektologie oder allgemeine Strukturlehre der Organismen . 99
Achtes Kapitel: Begriff und Aufgabe der Tektologie K^l
I. Die Tektologie als Lehre von der organischen Individualität 101
II. Begriff des organischen Individuums im allgemeinen 10):!
VI. Morphologische und physiologische Individualität 10.")
Neuntes Kapitel: Moiphologische Individualität der Organismen. 1()9
I. Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden oder Plasmastücke Hi!»
I, 1. Unterscheidimg von Cytoden und Zellen 109
I. 2. Zusammensetzung der Piastiden (Cytoden und Zellen) aus ver-
schiedenen Formbestandteilen = ....111
A. Plasma. (Protoplasma oder Cytoplasma.) Zellstoff 111
B. Nucleus. Cytoblastus oder Karyon.) Zellkern 112
C. Plasniaprodukte 114
a) Äußere Plasmaprodukte 110
b) Innere Plasmaprodukte 117
D. Plasma und Xucleus als aktive Zellsuljstanz IIS
II. Morphologische Individuen zweiter Ordnung: Organe oder Werkstücke 120
Morphologischer Begriff des Organes 12(t
III. Morphologische Individuen dritter Ordnung: Antimeren oder Gegen-
stücke (Homotypische Teile.) 12;!
IV. Morphologische Individuen vierter Ordnung: Metameren oder Folge-
stücke (Homodyname Teile.) 127
V. Morphologische Individuen fünfter Ordnung: Histonalen IcJn
VI. Morphologische Individuen sechster (3rdnung: Stöcke oder Cormen . . l.!2
Zehutes Kapitel: Physiologische Individualität der Organismen. i;)4
Aktuelle, virtuelle und partielle Bionten 134
Elftes Kapitel: Tektologische Thesen \HS
I. Thesen von der Fundamentalstruktur der Organismen loS
II. Thesen von der organischen Individualität 14(t
III. Thesen von den einfachen organischen Individuen 141
IV. Thesen von den zusammengesetzten organischen Individuen 142
V. Thesen von der physiologischen Individualität 142
VI. Thesen von der tektologischeu Differenzierung und Zentralisation . . . 144
VII. Thesen von der Vollkommenheit der verschiedenen Individualitäten . . 14.')
XII Inhaltsverzeichnis.
Seite
VIERTES BU(^H.
Zweiter Teil der allgemeinen Anatomie.
Generelle Promoriiliologie oder allgemeine Grundformenlehre der Or-
ganismen (Stereometrie der Organismen) 147
Zwölftes Kapitel: Begriff und Aufgabe der Promorphologie .... 149
I. Die Promorphologie als Lehre von den organischen Grundformen . . . 149
II. Begriff der organischen Grundform im allgemeinen 151
III. Verschiedene Ansichten über die organischen Grundformen 153
IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie 155
Dreizehntes Kapitel: System der organischen Grundformen .... 159
I. Das promorphologische System als generelles Formensystem 159
II. Übersicht der wichtigsten stereometrischen Grundformen nach ihrem
verschiedenen Verhalten zur Körpermitte 160
III. Tabelle über die promorphologischen Kategorien 161
IV. Übersicht der realen Typen der Grundformen 162
V. Tabelle zur Bestinunung der Grundformen 163
Vierzelintes Kapitel: (irundformen der sechs Individualitäts-
Ordnungen 164
Fünfzelintes Kapitel: Promorphologische Thesen 164
FÜNFTES BUCH.
Erster Teil der allgemeinen Entwickelungsgeschichte.
Generelle Ontogenie oder allgemeine Entwickelungsgeschichte der or-
ganischen Individuen (Embryologie und Metamorphologie) . . . 165
Sechzehntes Kapitel: Begriff und Aufgabe der Ontogenie 167
I. Die Ontogenie als Entwickelungsgeschichte der Bionten 167
II. Die Ontogenie und die Deszendenztheorie 167
III. Typus und Grad der individuellen Entwickelung 168
IV. Evolution und Epigenesis 169
V. Entwickelung und Zeugung 170
VI. Aufbildung, Umbildung, Rückbildung 172
VII. Embryologie und Metamorphologie 173
VIII. Entwickelung und Metamorphose 175
Siebzehntes Kapitel : E n t w i c k e 1 u n g s g e s c hi c h t e d e r p h y s i o 1 o g i s c h e n
Individuen 17iS
I. Verschiedene Arten der Zeugung 178
A. Urzeugung (Archigonia) 179
B. Elternzeugung (Tocogonia) 179
1. Ungeschlechtliche Fortpflanzung (Monogonia) 181
A. Ungeschlechtliche Zeugung durch Spaltung 182
Aa) Die Selbstteilung oder Division 182
Ab) Die Knospung oder Knospenbildung (Gemmatio) . . 183
Inhaltsverzeichnis. XIII
Seite
B. Ungeschlechtliclie Zeugung; durch Spoienl)ildung- 185
2. Geschlechtliche FortpHanzung (Amphigonia) 18(5
I. Geschlechtsverhältnisse der Piastiden (Cytoden und Zellen) 188
la) Hermaphroditismus der Piastiden 188
Ib) Gonochorismus der Piastiden 190
II. Geschlechtsverhältnisse der Organe 190
IIa) Hermaphroditismus der Organe 190
IIb) Gonochorismus der Organe 191
III. Geschlechtsverhältnisse der Antimeren 192
III a) Hermaphroditismus der Antimeren 192
III b) Gonochorismus der Antimeren 192
IV. Geschlechtsverhältnisse der Metameren 193
IV a) Hermaphroditismus der Metameren 193
IVb) Gonochorismus der Metameren 194
V. Geschlechtsverhältnisse der Personen 194
Va) Hermaphroditismus der Personen (Monoclinia) . . . 194
Vb) Gonochorismus der Personen (Diclinia) 195
VI. Geschlechtsverhältnisse der Stöcke 196
Via) Hermaphroditismus der Stöcke (Monoecia) 196
VIb) Gonochorismus der Stöcke (Dioecia) 196
II. System der ungeschlechtlichen Fortpflanzungsarteii 197
III. System der geschlechtlichen Fortpflanzungsarten 198
IV. Verschiedene Funktionen der Entwickelung 199
1. Die Zeugung (Generatio) 199
2. Das Wachstum (Crescentia) 200
3. Die Differenzierung (Divergentia) oder Arbeitsteilung (Polymorphismus) 201
4. Die Entbildung (Degeneratio) 202
V. Verschiedene Stadien der Entwickelung 203
1. Anaplasis oder Aufbildung (Evolutio) 203
2. Metaplasis oder Umbildung (Transvolutio) 20.")
3. Cataplasis oder Rückbildung (Involutio) 207
VI. Verschiedene Arten der Zeugungskreise 209
VII. System der verschiedenen Arten der Zeugungskreise 211
VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise 212
I. Monogenesis 212
I. 1. Schizogenesis 212
1 A. Schizogenesis monoplastidis 213
1 B. Schizogenesis polyplastidis 213
I, 2. Sporogenesis 214
2 A. Sporogenesis monoplastidis 215
2 B. Sporogenesis polyplastidis 215
II. Amphigenesis 216
II, 1. Metagenesis 216
II, 2. Hypogenesis 221
2 A. Hypogenesis metamorpha 222
2 B, Hypogenesis epimorpha 224
IX. Metagenesis und Strophogenesis 226
XI\' Inhaltsverzeichnis.
Seite
Achtzehntes Kajutel: Entvvickelungsgeschiclite der morphologi-
schen Individuen 230
I. Ontogenie der Piastiden 230
II. Ontogenie der Organe 230
III. Ontogenie der Antinieren 230
IV. Ontogenie der Metameren 230
V. Ontogenie der l'ersonen 230
AI. Ontogenie der Stöcke 230
Neunzehntes Kapitel: Die Deszendenztheorie und die Selektions-
theorie 231
1. Inhalt und Bedeutung der Deszendenztheorie 231
II. Entwickelungsgeschichte der Deszendenztheorie 231
III. Die Selektionstheorie (Der Darwinismus.) 231
IV. Erblichkeit und Vererbung (Atavismus. Hereditas.) 235
IV, A. Tatsache und Ursache der Vererbung 235
IV, B. Vererbung und Fortpflanzung 236
IV, C. Grad der Vererbung 237
IV, D. Konservative und progressive Vererbung . . . . ■ 238
IV, E. Gesetze der Vererbung 243
E a. Gesetze der konservativen Vererbung 243
1. Gesetz der ununterbrochenen oder kontinuierlichen Ver-
erbung 243
2. Gesetz der unterbrochenen oder verborgenen oder ab-
wechselnden Vererbung 244
3. Gesetz der geschlechtlichen Vererbung 246
4. Gesetz der gemischten oder beiderseitigen Vererbung . 246
5. Gesetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung . 248
E b. Gesetze der progressiven Vererbung 249
6. Gesetz der angepaßten und erworbenen Vererbung . . . 249
7. Gesetz der befestigten Vererbung 250
8. Gesetz der gleichörtlichen Vererbung 251
9. Gesetz der gleichzeitlichen Vererbung 252
V. Veränderlichkeit und Anpassung (Variabilitas. Adaptatio.) 254
V. A. Tatsache und Ursache der Anpassung 254
V, B. An])assung und Ernährung "... 255
V, C. Grad der Anpassung 257
V. D. Indirekte und direkte Anpassung 258
V. E. Gesetze der Anpassung 265
E a. Gesetze der indirekten oder potentiellen Anpassung .... 265
1. Gesetz der individuellen Abänderung 265
2. Gesetz der monströsen oder sprungweisen Abänderung . 266
3. Gesetz der geschlechtlichen Abänderung 269
E b. Gesetze der direkten oder aktuellen Anpassung 270
4. Gesetz der allgemeinen Anpassung 270
5. Gesetz der gehäuften Anpassung 271
I. Gehäufte Anpassungen durch die Wirkungen äußerer
Existenzbedingungen 272
Inhaltsverzeichnis. XV
Seite
II. Gehäufte Anpassungen durch die Wiikungen innerer
Existenzbedingungen 274
G. Gesetz der wechselbezüglichen Anpassung 278
7. Gesetz der abweichenden Anpassung 279
8. Gesetz der unbeschränkten Anpassung 281
VI. Vererbung und Anpassung (Heredität und Variabilität) 285
VII. Züchtung oder Selektion (Zuchtwahl, Auslese.) 288
VII, A. Die künstliche Züchtung (Selectio artificiaUs) 291
VII. B. Die natürliche Züchtung (Selectio nafuraJis) 292
VII. C. Vergleichung der natürlichen und der künstlichen Züchtung . . 3(J3
VIII. Die Selektionstheorie und das Divergenzgesetz 304
IX. Die Selektionstheorie und das Fortschrittsgesetz 311
X. Dysteleologie oder Unzweckniäßigkeitslehre 320
X. A. Die Dysteleologie und die Selektionstheorie 320
X, ß. Entwickelungsgeschichte der rudimentären oder kataplastischen
Individuen 322
XI. Oekologie und Chorologie 333
XII. Die Deszendenztheorie als Fundament der organischen Morphologie. . 337
Zwanzig^stes Kapitel: Ontogenetische Thesen 342
I. Thesen von der mechanischen Natur der organischen Entwickelung . . 342
11. Thesen von den physiologischen Funktionen der organischen Ent-
wickelung 343
III. Thesen von den organischen Bildungstrieben . 344
IV. Thesen von den ontogenetischen Stadien 345
V. Thesen von den drei genealogischen Individualitäten 346
\l. Thesen von dem Kausalnexus der biontischen und der phyletischen
Entwickelung 347
SECHSTES BUCH.
Zweiter Teil der allgemeinen Entwickelungsgeschichte.
Generelle Phylogenie oder allgemeine Entwickehmgsgescliiclite der
organischen Stämme (Genealogie und Paläontologie) 349
Eiuundzwaiizig'stes Kapitel: Begriff und Aufgabe der Phylogenie . 351
I. Die Phylogenie als Entwickelungsgeschichte der Stämme 351
II. Paläontologie und Genealogie 352
III. Kritik des paläontologischen Materials 355
IV. Die Kataklysmentheorie und die Kontinuitätstheoiie 359
V. Die Perioden der Erdgeschichte 362
VI. Epacme. Acme, Paracme * 363
Zweiiuulzwauzig'stes Kapitel: Entwickelungsgeschichte der Arten
oder Spezies 367
1. Allgemeine Kritik des Speziesbegriffes 367
II. Der morphologische Begriff der Spezies 371
III. Gute und schlechte Spezies 377
XVI Inlialtsverzeichnis.
Seite
Dreiuiidzwaiizig'.stes Kaiutol: Eut wickelungsgeschichte der Stämme
oder Phylen 380
I. P'iinktionen der pliyletisclien Entwickeliing ;J80
II. Stadien der ])hvle(isc]ieii Entwickoliiiiii- 381
III. Resultate der pliyletisclien Entwickelung' 385
IV. Die dreifache genealogische Parallele 386
VienuMl/waiizig-.stes Kaititel: Das natürliciie System als Stamm-
l)aum (Prinzi])ien der Klassifikation) 3!)(>
I. Begrifi'sbestimmung der Kategorien des Systems 390
II. Bedeutung der Kategorien für die Klassifikation 394
III. Gute und schlechte (huppen des Systems 396
IV. Die Baumgestalt des natürlichen Systems 398
V. Anzahl der subordinierten Kategorien 400
VI. Stufenleiter der subordinierten Kategorien 401
VII. Charakterdifferenzen der subordinierten Gruppen 402
Fihifiiiul/wanzig-.stes Kapitel: Die Verwandtschaft der Stämme. . . 4ü4
Sech>iiindzivanzig:stes Kapitel: Phylogenetische Thesen 405
I. Thesen von der Kontinuität der Phylogenese 405
II. Thesen von der genealogischen Bedeutung des natürlichen Systems der
Organismen 406
III. Thesen von der organischen Art oder Spezies 407
IV. Thesen von den phylogenetischen Stadien 408
V. Thesen von dem dreifachen Parallelismus der drei genealogischen Indi-
vidnahtäten (Zusatz zum V. und VI. Buche 409) 4t)8
SIEBENTES BUCH.
Die Entwickelungsgeschiclite der Organismen in ilirer Bedeutung für
die Anthropologie 411
Siel»einiiulzwanzig-stes Kapitel: Die Stellung des Menschen in der
Natur 413
Achtinulzwanzig-ste.s Kapitel: Die Anthropologie als Teil der Zoo-
logie (Zusatz: Progonotaxis des Menschen 424) 418
ACHTES BUCH.
Die Entwickelungsgeschiclite der Organismen in ihrer Bedeutung für
die Kosmologie 427
Neiiiiuiidz«anzigstes Kapitel: Die Einheit der Natur und die Ein-
heit der Wissenschaft (System des Monismus) 429
Dreißigrstes Kapitel: G ott in der Natur 434
Register 439
ERSTES BUCH.
KRITISCHE UND METHODOLOGISCHE EINLEITUNG
IN DIE GENERELLE MORPHOLOGIE DER
ORGANISMEN.
H a e c k e I , Prinz, d. Morphol.
„Wenn wir Natiirgegenstände, besonders aber die lebendigen, dergestalt
gewahr werden, daß wir uns eine Einsicht in den Zusammenhang ihres Wesens
und Wirkens zu verschaffen wünschen, so glauben wir zu einer solchen Kenntnis
am besten durch Trennung der Teile gelangen zu können ; wie denn auch wirklich
dieser Weg uns sehr weit zu führen geeignet ist. Was Chemie und Anatomie
zur Ein- und Übersicht der Natur beigetragen haben, dürfen wir nur mit wenig
Worten den Freunden des Wissens ins Gedächtnis zurückrufen.
.,Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen
auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt,
aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben. Dieses
gilt schon von vielen anorganischen, geschweige von organischen Körpern.
.,Es hat sich daher auch in dem wissenschaftlichen Menschen zu allen
Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildimgen als solche zu erkennen,
ihre äußeren sichtbaren greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als
Andeutungen des Inneren aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung
gewissermaßen zu beherrschen. Wie nahe dieses wissenschaftliche Verlangen mit
dem Kunst- und Nachahmungstriebe zusammenhänge, braucht wohl nicht um-
ständlich angeführt zu werden.
„Man findet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissen-
schaft mehrere Versuche eine Lehre zu giünden und auszubilden, welche wir die
Morphologie nennen möchten."
Goethe (Jena, 1807).
Erstes Kapitel.
Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen.
„Weil ich für mich und andere einen freieren Spielraum
in der Naturwissenschaft, als man uns bisher geg'önnt, zu
erringen wiiusche, so darf man mir und den Gleichgesinnten
keineswegs verargen, wenn wir dasjenige, was unseren recht-
mäßigen Forderungen entgegensteht, scharf bezeichnen und
uns nicht mehr gefallen lassen, was man seit so \-ielen Jahren
herlsömmlich gegen uns verübte." Goethe.
Die Morphologie oder Formenlehre der Organismen ist
die gesamte Wissenschaft von den inneren und äußeren
Formenverhältnissen der belebten Naturkörper, der Tiere
und Pflanzen, im weitesten Sinne des Wortes. Die Aufgabe der
organischen Morphologie ist mithin die Erkenntnis und die Erklärung
dieser Formenverhältnisse, d. h. die Zurückführung ihrer Erscheinung
auf bestimmte Naturgesetze.
Wenn die Morphologie ihre eigentliche Aufgabe erkennt und
eine Wissenschaft sein will, so darf sie sich nicht begnügen mit der
Kenntnis der Formen, sondern sie muß ihre Erkenntnis und ihre
Erklärung erstreben, sie muß nach den Gesetzen suchen, nach
denen die Formen gebildet sind. Es muß diese hohe Aufgabe unserer
Wissenschaft deshalb hier gleich beim Eintritt in dieselbe ausdrück-
lich hervorgehoben werden, weil eine entgegengesetzte irrige Ansicht
von derselben weit verbreitet, ja selbst heutzutage noch die bei
weitem vorherrschende ist. Die große Mehrzahl der Naturforscher,
welche sich mit den Formen der Organismen beschäftigen, Zoologen
sowohl, als Botaniker, begnügt sich mit der bloßen Kenntnis der-
selben; sie sucht die unendlich mannigfaltigen Formen, die äußeren
und inneren Gestaltungsverhältnisse der tierischen und pflanzlichen
Körper auf und ergötzt sich an ihrer Schönheit, bewundert ihre
Mannigfaltigkeit und erstaunt über ihre Zweckmäßigkeit; sie beschreibt
und unterscheidet alle einzelnen Formen, belegt jede mit einem
besonderen Namen und findet in deren systematischer Anordnung
ihr höchstes Ziel.
4 Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. I.
Diese Kenntnis der org^anischen Formen gilt noch heute in
den weitesten Kreisen als wissenschaftliche Morphologie der Orga-
nismen. Man verachtet und verspottet zwar die früher fast aus-
schließlich herrschende oberflächliche Systematik, welche sich mit
der bloßen Kenntnis der äußeren Formen Verhältnisse der Tiere und
Pflanzen und mit deren systematischer Klassifikation begnügte. Man
vergißt dabei aber ganz, daß die gegenwärtig die meisten Zoologen
und Botaniker beschäftigende Kenntnis der inneren Formenverhält-
nisse an sich betrachtet nicht um ein Haar höher steht, und ebenso-
wenig an und für sich auf den Rang einer erkennenden Wissenschaft
Anspruch machen kann. Die anatomischen und histologischen Dar-
stellungen einzelner Teile von Tieren und Pflanzen, sowie die ana-
tomisch-histologischen Monographien einzelner Formen, welche sich
in unseren zoologischen und botanischen Zeitschriften von Jahr zu
Jahr immer massenhafter anhäufen und in deren Produktion von
den meisten das eigentliche Ziel der morphologischen Wissenschaft
gesucht wird, sind für diese von ebenso untergeordnetem Werte, als
die im vorigen Jahrhundert vorherrschenden Beschreibungen und
Klassifikationen der äußeren Speziesformen. Die Zootomie und die
Phytotomie sind an sich so wenig wirkliche Wissenschaften, als die
von ihnen so verachtete sogenannte Systematik; sie haben, wie diese,
bloß den Rang einer unterhaltenden „Gemüts- und Augenergötzung".
Alle Kenntnisse, die wir auf diesem Wege erlangen, sind nichts als
Bausteine, aus deren Verbindung das Gebäude unserer Wissenschaft
erst aufgerichtet werden soll.
Indem sich nun die große Mehrzahl der Zoologen und Botaniker
mit dem Aufsuchen, Ausgraben und Herbeischleppen dieser Bausteine
begnügt und in dem Wahne lebt, daß diese Kunst die eigentliche
Wissenschaft sei, indem sie das Kennen mit dem Erkennen ver-
wechselt, kann es uns nicht wunder nehmen, wenn der Bau unseres
wissenschaftlichen Lehrgebäudes selbst noch unendlich hinter den
bescheidensten Anforderungen unserer heutigen Bildung zurück ist.
Der denkenden Baumeister sind nur wenige, und diese wenigen
stehen so vereinzelt, daß sie unter der Masse der Handlanger ver-
schwinden und nicht von den letzteren verstanden werden.
So gleicht denn leider die wissenschaftliche Morphologie der
Organismen heutzutage mehr einem großen wüsten Steinhaufen, als
einem bewohnbaren Gebäude. Und dieser Steinhaufen wird niemals
dadurch ein Gebäude, daß man alle einzelnen Steine inwendig und
I. Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. 5
auswendig untersucht und mikroskopiert, beschreibt und abbildet,
benennt und dann wieder hinwirft. Wir kennen zwar die üblichen
Phrasen von den riesenhaften Fortschritten der organischen Natur-
wissenschaften und der Morphologie insbesondere; die Selbstbewun-
derung, mit der man die quantitative A^ermehrung unserer zoologi-
schen und botanischen Kenntnisse alljährlich anstaunt. Wo aber,
fragen wir, bleibt die denkende und erkennende Verwertung dieser
Kenntnisse? Wo bleibt der qualitative Fortschritt in der Erkenntnis?
Wo bleibt das erklärende Licht in dem dunklen Chaos der Gestalten?
Wo bleiben die morphologischen Naturgesetze? Wir müssen
in diesem rein quantitativen Zuwachs mehr Ballast als Nutzen sehen.
Der Steinhaufen wird nicht dadurch zum Gebäude, daß er alle Jahre
um so und so viel höher wird. Im Gegenteil, es wird nur schwie-
riger, sich in demselben zurechtzufinden, und die Ausführung des
Baues wird dadurch nur in immer weitere Ferne gerückt.
Nicht mit Unrecht erhebt die heutige Physiologie stolz ihr
Haupt über ihre Schwester, die armselige Morphologie. So lange
die letztere nicht nach der Erklärung der Formen, nach der Er-
kenntnis ihrer Bildungsgesetze strebt, ist sie dieser Verachtung wert.
Zwar möchte sie dann wenigstens auf den Rang einer deskriptiven
Wissenschaft Anspruch machen. Indessen eine bloß „beschreibende
Wissenschaft" ist eine ConfradicHo in adjcdo. Nur dadurch, daß
der gesetzmäßige Zusammenhang in der Fülle der einzelnen
Erscheinungen gefunden wird, nur dadurch erhebt sich die Kunst
der Formbeschreibung zur Wissenschaft der Formerkenntnis.
Wenn wir nun nach den Gründen fragen, warum die wissen-
schaftliche Morphologie noch so unendhch zurück ist, warum noch
kaum die ersten Grundlinien dieses großen und herrlichen Gebäudes
gelegt sind, warum der große Steinhaufen noch roh und ungeordnet
außerhalb dieser Grundlinien liegt, so finden wir freihch die recht-
fertigende Antwort teilweise in der außerordentlichen Schwierigkeit
der Aufgabe. Denn die wissenschaftliche Morphologie der Organismen
ist vielleicht von allen Naturwissenschaften die schwierigste und
unzugänglichste. Wohl in keiner anderen Naturwissenschaft steht
die reiche Fülle der Erscheinungen in einem solchen Mißverhältnisse
zu unseren dürftigen Mitteln, sie zu erklären, ihre Gesetzmäßig-
keit zu erkennen und zu begründen. Das Zusammenwirken der
verschiedensten Zweige der Naturwissenschaft, welches z. B. die
Physiologie in dem letzten Dezennium auf eine so ansehnHche Höhe
6 Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. I.
erhoben hat, kommt der Morphologie nur in äußerst geringem Maße
zustatten. Und die untrügliclie mathematische Sicherheit der messen-
den und rechnenden Metliode, welche die Morphologie der anorgani-
schen Naturkörper, die Kristallographie, auf einen so hohen Grad
der Vollendung erhoben hat, ist in der Morphologie der Organismen
fast nirgends anwendbar.
Zum großen Teil aber liegt der höchst unvollkommene Zustand
unserer heutigen Morphologie der Organismen auch an dem unwissen-
schaftlichen Verfahren der Morphologen. Vor allem ist es die tiber-
mäßige Vernachlässigung strenger Denktätigkeit, der fast
allgemeine Mangel an wirklich vergleichender und denkender Natur-
betrachtung, dem wir hier den größten Teil der Schuld beimessen
müssen. Freilich ist es unendhch ^del bequemer, irgendeine der
unzähhgen Tier- und Pflanzenformen herzunehmen, sie mit den aus-
gebildeten anatomischen und mikroskopischen Hilfsmitteln der Neu-
zeit eingehend zu untersuchen und die gefundenen Formenverhält-
nisse ausführlich zu beschreiben und abzubilden; freihch ist es
unendlich viel bequemer und wohlfeiler, solche sogenannte ..Ent-
deckungen" zu machen, als durch methodische Vergleichung. durch
angestrengtes Denken das Verständnis der beobachteten Form zu
gewinnen und die Gesetzmäßigkeit der Formerscheinung nach-
zuweisen. Insbesondere in den letzten acht Jahren, seit dem allzu
frühen und nicht genug zu beklagenden Tode von Johannes Müller
(1858), dessen gewaltige Autorität bei seinen Lebzeiten noch einiger-
maßen strenge Ordnung auf dem weiten Gebiete der organischen
Morphologie aufrecht zu erhalten wußte, ist eine fortschreitende Ver-
wilderung und allgemeine Anarchie auf demselben eingerissen, so
daß jede strenge Vergleichung der quantitativ so bedeutend wachsenden
jährlichen Leistungen einen ebenso jährlich beschleunigten quali-
tativen Rückschritt nachweist. In der Tat nimmt die denkende
Betrachtung der organischen Formen heutzutage in demselben Ver-
hältnisse alljährhch ab, als die gedankenlose Produktion des Roh-
materials zunimmt. Sehr richtig sprach in dieser Beziehung schon
Victor Carus vor nunmehr 13 Jahren die freilich wenig beherzigten
Worte: „Wie es für unsere Zeit charakteristisch ist, daß fast alle
Wissenschaften sich in endlose Spezialitäten verlieren und nur selten
zu dem roten Faden ihrer Entwicklung zurückkommen, so scheut man
sich auch in der Biologie (und ganz vorzüglich in der Morphologie!)
vor Anwendung selbst der ungefährlichsten Denkprozesse."
I. Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. 7
Neben der fast allgemein herrschenden Denkträgheit ist es freilich
auch sehr oft die höchst mangelhafte allgemeine Bildung, der
Mangel an philosophischer Vorbildung und an Überblick der gesamten
Naturwissenschaft, welcher den Morphologen unserer Tage den Ge-
sichtskreis so verengt, daß sie das Ziel ihrer eigenen Wissenschaft
nicht mehr sehen können. Die große Mehrzahl der heutigen Morpho-
logen, und zwar sowohl der sogenannten „Systematiker", welche die
äußeren Formen, als der sogenannten „vergleichenden Anatomen",
welche den inneren Bau der Organismen beschreiben (ohne ihn zu
vergleichen, und ohne über den Gegenstand überhaupt ernstlich
nachzudenken!), hat das hohe und so weit entfernte Ziel unserer
Wissenschaft völlig aus den Augen verloren. Sie begnügen sich
damit, die organischen Formen (gleichgültig ob die äußere Gestalt
oder den inneren Bau), ohne sich bestimmte Fragen vorzulegen,
oberflächlich zu untersuchen und in dicken papierreichen und ge-
dankenleeren Büchern weitläufig zu beschreiben und abzubilden.
Wenn dieser ganz unnütze Ballast in den Jahrbüchern der Morpho-
logie aufgeführt und bewundert wird, haben sie ihr Ziel erreicht.
Wir erlauben uns, diesen traurigen Zustand hier rücksichtslos
und scharf hervorzuheben, weil wir von der Überzeugung durch-
drungen sind, daß nur durch die Erkenntnis desselben und durch
die offene Beleuchtung des dunkeln Chaos, welches die sogenannte
Morphologie gegenwärtig darstellt, eine bessere Behandlung derselben,
eine wirklich fördernde Erkenntnis der Gestalten angebahnt Averden
kann. Erst wenn man allgemein danach streben wird, den gesetz-
mäßigen Zusammenhang in den endlosen Reihen der einzelnen Gestalt-
erscheinungen aufzufinden, wird es möglich werden, an das große
und gewaltige Gebäude der Morphologie selbst konstruierend heran-
zutreten. Erst wenn die Kenntnis der Formen sich zur Erkenntnis,
wenn die Betrachtung der Gestalten sich zur Erklärung erheben
wird, erst wenn aus dem bunten Chaos der Gestalten sich
die Gesetze ihrer Bildung entwickeln werden, erst dann
wird die niedere Kunst der Morphographie sich in die er-
habene Wissenschaft der Morphologie verwandeln können.
Man wird uns von vielen Seiten entgegnen, daß die Zeit dafür
noch nicht gekommen, daß unsere empirische Basis hierzu noch
nicht genug breit, unsere Naturanschauung noch nicht genug reif,
unsere Kenntnis der organischen Gestalten noch viel zu unvoll-
kommen sei. Dieser selbst von hervorragenden Morphologen geteilten
8 Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. I.
Anscliaiumg müssen wir auf das entschiedenste entgegentreten.
Niemals wird ein so hohes und fernes Ziel, wie das der wissen-
schaftlichen Morphologie ist, erreicht werden, wenn man dasselbe
nicht stets im Auge behält. Will man mit der Konstruktion des
Gebäudes, mit der Aufsuchung von allgemeinen Gestaltungsgesetzen
warten, bis wir alle existierenden Formen kennen, so werden wir
niemals damit fertig werden; ja wir werden niemals auch nur zum
Fundament einer wissenschaftlichen Formenlehre gelangen. Des
Ausbaues und der Verbesserung bedürftig wird das Gebäude ewig
bleiben; das hindert aber nicht, daß wir uns wohnlich darin ein-
richten, und daß wir uns der Gesetzmäßigkeit der Gestalten erfreuen,
auch wenn wir wissen, daß unsere Erkenntnis derselben eine be-
schränkte ist.
Zweites Kapitel.
Yerliältnis der Morphologie zu den andern lüaturwissenscliaften.
„Eine höchst wiclitige Betrachtung in der Geschichte
der Wissenschaft ist die, daß sich aus den ersten Anfängen
einer Entdeckung manches in den Gang des Wissens heran-
und durchzieht, welches den Fortschritt hindert, sogar öfters
Uilimt. So hat auch jeder Weg, durch den wir zu einer
neuen Entdeckung gelangen, Einfluß auf Ansicht und Theorie.
Was würden wir von einem Architekten sagen, der durch
eine Seitentüre in einen Palast gekommen wäre, und nun,
bei Beschreibung und Darstellung eines solchen Gebäudes,
alles auf diese erste untergeordnete Seite beziehen wollte?
Und doch geschieht dies in den Wissenschaften jeden Tag.*"
Goethe.
I. Morphologie und Biologie.
IL Morphologie und Physik,
m. Morphologie und Chemie.
IV. Morphologie und Physiologie.
Drittes Kapitel.
Einteilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
„Indem sich jeder einzelne Wirkungskreis absondert, so
vereinzelt, zersplittert sich auch in jedem Kreise die Be-
handlung. Kur ein Hauch von Theorie erregt schon Furcht :
denn seit mehr als einem Jahrhundert hat man sie wie ein
Gespenst geflohen und, bei einer fragmentarischen Erfalirung,
sich doch zuletzt den gemeinsten Vorstellungen in die Arme
geworfen. Niemand will gestehen, daß eine Idee, ein Begriff
der Beobachtung zum Grunde liegen, die Erfahrung befördern,
ja das Finden und Erfinden begünstigen könne."
Goethe (1819).
I. Einteilung der Morphologie in Anatomie und Morphogenie.
IL Einteilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften,
in. Anatomie und Systematik.
IV. Organologie und Histologie.
V. Tektologie und Promorphologie.
VI. Morphogenie oder Entwicklungsgeschichte.
VII. Entwicklungsgeschichte der Individuen.
Vin. Entwicklungsgeschichte der Stämme.
IX. Generelle und spezielle Morphologie.
Viertes Kapitel.
Metliodik der Morpliologie der Organismen.
„Wenn ein Wissen reif ist, Wissenschaft zu werden, so
muß notwendig- eine Krise entstehen: denn es wird die Diffe-
renz offenbar zwischen denen, die das Einzelne trennen und
getrennt darstellen, und solchen, die das Allgemeine im Auge
haben und gern das Besondere an- und einfüg'en möchten.
Wie nun aber die wissenschaftliche, ideelle, umgreifendere
Behandlung sich mehr und mehr Freunde. Gömier und Mit-
arbeiter wirbt, so bleibt auf der hölieren Stufe jene Trennung
zwar nicht so entschieden, aber doch genugsam merklich."
Goethe.
Viertes Kcapitel: Erste Hälfte.
Kritik der naturwissenschaftlichen Methoden, welche sich
gegenseitig notwendig ergänzen müssen.
I. Empirie und Philosophie.
(Erfahrang und Erkenntnis.)
„Die wichtigsten Wahrheiten in den Naturwissenschaften sind
weder allein durch Zergliederung der Begriffe der Philosophie, noch
allein durch bloßes Erfahren gefunden worden, sondern durcli eine
denkende Erfahrung, welche das Wesentliche von dem Zufälligen
in der Erfahrung unterscheidet und dadurch Grundsätze findet,
aus welchen viele Erfahrungen abgeleitet werden. Dies ist mehr
als bloJäes Erfahren, und wenn man will, eine philosophische
Erfahrung." Johannes Müller (Handbuch der Physiologie des
Menschen, Bd. II, p. 522).
„Vergleichen wir die morphologischen Wissenschaften mit den
physikalischen Theorien, so müssen wir uns gestehen, daß erstere
in jeder Hinsicht unendlich weit zurück sind. Die Ursache dieser
Erscheinung liegt nun allerdings zum Teil in dem Gegenstande,
dessen verwickeitere Verhältnisse sicli noch am meisten der mathe-
matischen Behandlung entziehen, aber großenteils ist auch die große
iy_ I. Empirie imd Philosophie. 11
Nichtaclitung niethodologisclier Verständigung daran schuld, indem
man sich einerseits durchaus nicht um scharfe Fassung der leitenden
Prinzipien bekümmert, andererseits selbst die allgemeinsten und
bekanntesten Anforderungen der Philosophie hintangesetzt hat, weil
bei dem weiten Abstände ihrer allgemeinen Aussprüche von den
Einzelheiten, mit denen sich die empirischen Naturwissenschaften
beschäftigen, die Notwendigkeit ihrer Anwendung sich der unmittel-
baren Auffassung entzog. So sind gar viele Arbeiter in dieser
Beziehung durchaus nicht mit ihrer Aufgabe verständigt, und die
Fortschritte in der Wissenschaft hängen oft rein vom Zufall ab."
Schieiden (Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik, „§ 3 Me-
thodik oder über die Mittel zur Lösung der Aufgaben in der Botanik").
Wir erlauben uns, dieses methodologische Kapitel, welches die
Mittel und Wege zur Lösung unserer morphologischen Aufgaben
zeigen soll, mit zwei vortrefflichen Aussprüchen von den beiden
größten Morphologen einzuleiten, welche im fünften Dezennium unseres
Jahrhunderts die organische Naturwissenschaft in Deutschland be-
herrschten. Wie Johannes Müller für die Zoologie, so hat Schieiden
damals für die Botanik mit der klarsten Bestimmtheit den Weg ge-
wiesen, welcher uns allein auf dem Gebiete der Biologie, und ins-
besondere auf dem der Morphologie, zu dem Ziele unserer Wissen-
schaft hinzuführen vermag. Dieser einzig mögliche Weg kann
natürlich kein anderer sein als derjenige, welcher für alle Natur-
wissenschaften — oder, was dasselbe ist, für alle wahren Wissen-
schaften — ausschließliche Gültigkeit hat. Es ist dies der Weg
der denkenden Erfahrung, der Weg der philosophischen
Empirie. Wir könnten ihn ebensogut als den Weg des erfahrungs-
mäßigen Denkens, den Weg der empirischen Philosophie
bezeichnen.
Absichtlich stellen wir die bedeutenden Aussprüche dieser beiden
großen ., empirischen und exakten" Naturforscher an die Spitze dieses
methodologischen Kapitels, weil wir dadurch hoffen, die Aufmerk-
samkeit der heutigen Morphologen und der Biologen überhaupt
intensiver auf einen Punkt zu lenken, der nach unserer innigsten
Überzeugung für den Fortschritt der gesamten Biologie, und der
Morphologie insbesondere, von der allergrößten Bedeutung ist, der
aber gerade im gegenwärtigen Zeitpunkte in demselben Maße von
den allermeisten Naturforschern völlig vernachlässigt wird, als er
vor allen anderen hervorgehoben zu werden verdiente. Es ist dies
12 Methodik der Morphologie der Organismen. ly.
die gegenseitige Ergänzung von Beobachtung und Gedanken,
der innige Zusammenhang von Naturbeschreibung und
Naturphilosophie, die notwendige Wechselwirkung zwi-
schen Empirie und Theorie.
Einer der größten Morphologen, den unser deutsches Vaterland
erzeugt hat, Karl Ernst v. Bär, hat dem klassischen Werke, durch
welches er die tierische Ontogenie, eine sogenannte „rein empirische
und deskriptive Wissenschaft", neu begründete, den Titel vorange-
setzt: ..Über Entwickelungsgeschichte der Tiere. Beobachtung und
Reflexion." Wenn seine Nachfolger diese drei Worte stets bei
ihren Arbeiten im Auge behalten hätten, würde es besser um unsere
Wissenschaft aussehen, als es jetzt leider aussieht. „Beobachtung
und Reflexion" sollte die Überschrift jeder wahrhaft naturwissen-
schaftlichen Arbeit lauten können. Bei wie vielen aber ist dies
möglich? Wenn wir ehrlich sein wollen, können wir ihre Zahl
kaum gering genug anschlagen und finden unter hunderten kaum
eine. Und dennoch können nur durch die innigste Wechselwirkung
von Beobachtung und Reflexion wirkliche Fortschritte in jeder Natur-
wissenschaft, und also auch in der Morphologie, gemacht werden.
Hören wir weiter, was K. E. v. Bär, der „empirische und exakte"
Naturforscher, in dieser Beziehung sagt:
„Zwei Wege sind es, auf denen die Naturwissenschaft gefördert
werden kann, Beobachtung und Reflexion. Die Forscher ergrei-
fen meistens für den einen von beiden Partei. Einige verlangen
nach Tatsachen, andere nach Resultaten und allgemeinen Ge-
setzen, jene nach Kenntnis, diese nach Erkenntnis, jene möch-
ten für besonnen, diese für tiefblickend gelten. Glückhcherweise
ist der Geist des Menschen selten so einseitig ausgebildet, daß es
ihm möghch wird, nur den einen Weg der Forschung zu gehen,
ohne auf den anderen Rücksicht zu nehmen. Unwillkürlich wird
der Verächter der Abstraktion sich von Gedanken bei seiner Beob-
achtung beschleichen lassen; und nur in kurzen Perioden der Fieber-
hitze ist sein Gegner vermögend, sich der Spekulation im Felde der
Naturwissenschaft mit völliger Hintansetzung der Erfahrung hinzu-
geben. Indessen bleibt immer, für die Individuen sowohl als für
ganze Perioden der Wissenschaft, die eine Tendenz die vorherr-
schende, der man mit Bewußtsein des Zwecks sich hingibt, wenn
auch die andere nicht ganz fehlt."
Mit diesen wenigen Worten ist das gegenseitige Wechselverhält-
IV. I. Empirie und Philosophie. 13
nis von Beobachtung und Reflexion, die notwendige Verbindung von
empirischer Tatsachenkenntnis und von philosophischer Gesetzes-
erkenntnis treffend bezeichnet. Aber auch die Tatsache, daß in den
einzelnen Naturforschern sowohl als in den einzelnen Perioden der
Naturwissenschaft selten beide Richtungen in harmonischer Eintracht
und gegenseitiger Durchdringung zusammenwirken, vielmehr eine
von beiden fast imftier bedeutend über die andere überwiegt, ist von
Bär sehr richtig hervorgehoben worden, und gerade dieser Punkt
ist es, auf den wir hier zunächst die besondere Aufmerksamkeit
lenken möchten. Denn wenn wir einerseits überzeugt sind, daß
wir nur durch die gemeinsame Tätigkeit beider Richtungen dem
Ziele unserer Wissenschaft uns nähern können, und wenn wir anderer-
seits zu der Einsicht gelangen, welche von beiden Richtungen im
gegenwärtigen Stadium unserer wissenschaftlichen Entwicklung die
einseitig überwiegende ist, so werden wir auch die Mittel zur Hebung
dieser Einseitigkeit angeben und die Methode bestimmen können,
welche die Morphologie gegenwärtig zunächst und vorzugsweise ein-
zuschlagen hat.
Es bedarf nun keines allzu tiefen Scharfblicks und keines allzu
w^eiten Überblicks, um alsbald zu der Überzeugung zu gelangen, daß
in dem ganzen zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts und
darüber hinaus bis jetzt, und zwar vorzüglich vom Jahre 1840 — 1860,
die rein empirische und „exakte" Richtung ganz überwiegend in der
Biologie und vor allem in der Morphologie geherrscht, und daß sie
diese Alleinherrschaft in fortschreitendem Maße dergestalt ausgedehnt
hat, daß die spekulative oder philosophische Richtung im fünften
Dezennium vorigen Jahrhunderts fast vollständig von ihr verdrängt
war. Auf allen Gebieten der Biologie, sowohl in der Zoologie, als
in der Botanik, galt während dieses Zeitraums allgemein die Natur-
beobachtung und die Naturbeschreibung als „die eigentliche Natur-
wissenschaft", und die „Naturphilosophie" wurde als eine Verirrung
betrachtet, als ein Phantasiespiel, welches nicht nur nichts mit der
Beobachtung und Beschreibung zu tun habe, sondern auch gänzlich
aus dem Gebiete der „eigentlichen Naturwissenschaft" zu verbannen
sei. Freilich war diese einseitige Verkennung der Philosophie nur
zu sehr gefördert und gerechtfertigt durch das verkehrte und willkür-
liche Verfahren der sogenannten „Naturphilosophie", welche im
ersten Drittel unseres Jahrhunderts die Naturwissenschaft zu unter-
werfen suchte, und welche, statt von empirischer Basis auszugehen.
14 Methodik der Morphologie der Organismen. IV.
in der iingemessensten Weise ihrer wilden und erfahrungslosen
Phantasie die Zügel schießen ließ. Die namentlich von Oken,
Seh ellin g usw. ausgehende Naturphantasterei mußte ganz natürhch
als anderes Extrem den krassesten Empirismus hervorrufen. Der
natürliche Rückschlag gegen diese letztere in demselben Grade ein-
seitige Richtung trat erst im Jahre 1859 ein, als Charles Darwin
seine großartige Entdeckung der ,.natürlichen Züchtung" veröffent-
lichte und damit den Anstoß zu einem allgemeinen Umschwung der
gesamten Biologie und namentlich der Morphologie gab. Die
gedankenvolle Naturbetrachtung, der im besten Sinne philosophische,
d. h. naturgemäß denkende Geist, welcher sein epochemachendes
Werk durchzieht, wird der vergessenen und verlassenen Natur-
philosophie wieder zu dem ihr gebührenden Platze verhelfen und
den Beginn einer neuen Periode der Wissenschaft bezeichnen. Frei-
lich ist dieser gewaltige Umschwung bei weitem noch nicht zu all-
gemeinem Durchbruch gelangt: die Mehrzahl der Biologen ist noch
zu sehr und zu allgemein in den Folgen der vorher überall herr-
schenden einseitig empirischen Richtung befangen, als daß wir die
Rückkehr zur denkenden Naturbetrachtung als eine bewußte und
allgemeine bezeichnen könnten. Indes hat dieselbe doch bereits in
einigen Kreisen begonnen, an vielen Stellen feste Wurzel geschlagen,
und wird voraussichtlich nicht allein in den nächsten Jahren schon
das verlorene Terrain wieder erobern, sondern in wenigen Dezennien
sich so allgemeine Geltung verschafft haben, daß man (wohl noch
vor Ablauf unseres Jahrhunderts) verwundert auf die Beschränktheit
und Verblendung zahlreicher Naturforscher zurückblicken wird, die
heute noch die Philosophie von dem Gebiete der Biologie aus-
schließen wollen. Wir unsererseits sind unerschütterlich davon über-
zeugt, daß man in der wahrhaft ,.erkennenden" Wissenschaft die
Empirie und die Philosophie gar nicht voneinander trennen kann.
Jene ist nur die erste und niederste, diese die letzte und höchste
Stufe der Erkenntnis. Alle wahre Naturwissenschaft ist Philosophie
und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft. Alle wahre
Wissenschaft aber ist in diesem Sinne Naturphilosophie.
In der Tat könnte heilte schon die allgemein übliche einseitige Aus-
schließung der Philosophie aus der Naturwissenschaft jedem objektiv dies
Verhältnis betrachtenden Gebildeten als ein befremdendes Rätsel erschei-
nen, wenn nicht der Entwickelungsgang der Biologie selbst ilim die Lösung
dieses Rätsels sehr nahe legte. Wenn Avir die Geschichte unserer Wissen-
schaft in den allgemeinsten Zügen überblicken, so bemerken wir alsbald,
l\^ I. Empirie und Philosophie. 15
daß die beiden scheinbar entgegengesetzten, in der Tat aber innig ver-
bundenen Forschungsrichtungen in der Naturwissenschaft, die beobachtende
oder empirische und die denkende oder philosophische, zwar stets mehr
oder minder eng verbunden nebeneinander herlaufen, daß aber doch, wie
es Bär sehr richtig ausdrückt, immer die eine der beiden Richtungen über
die andere bedeutend überwiegt, und zwar „sowohl für die Individuen,
als für ganze Perioden der Wissenschaft". So finden wir ein beständiges
Oszilheren, einen Wechsel der beiden Richtungen, der uns zeigt, daß nie-
mals in gleichmäßigem Fortschritt, sondern stets in wechselnder Wellen-
bewegung die Biologie ihrem Ziele sich nähert. Die Exzesse, welche jede
der l)eiden Forschungsrichtungen begeht, sobald sie das Übergewicht über
■ die andere gewonnen hat, die Ausschließlichkeit, durch welche jede in der
Regel sich als die allein richtige, als die „eigentliche" Methode der
Naturwissenschaft betrachtet, führen nach längerer oder kürzerer Dauer
wieder zu einem Umschwung, welcher der überlegenen Gegnerin abermals
zur Herrschaft verhilft.
Wie dieser regelmäßige Regierungswechsel von empirischer und philo-
sophischer Naturforschung auf dem gesamten Gebiete der Biologie uns
überall entgegentritt, so sehen wir ganz besonders bei einem allgemeinen
Überblick des Entwickelungsganges, den die Morphologie vom Anfang
des vorigen Jahrhunderts an genommen, daß die beiden feindlichen
Schwestern, die doch im Grunde nicht ohne einander leben kihmen, stets
abwechselnd die Herrschaft behauptet haben. Nachdem Linne die Morpho-
logie der Organismen zum ersten Male in feste wissenschaftliche Form
gebracht und ihr das systematische Gewand angezogen hatte, wurde zu-
nächst der allgemeine Strom der neubelebten Naturforschung auf die rein
empirische Beobachtung und Beschreibung der zahllosen neuen Formen hin-
gelenkt, welche imterschieden, benannt und in das Fachwerk des Systems
eingeordnet werden mußten. Die systematische Beschreibung und Be-
nennung, als Büttel des geordneten Ül^erblicks der zahllosen Einzelformen,
wurde aljer bald Selbstzweck, mid damit verlor sich die Formbeobachtmig
der Tiere und Pflanzen in der gedankenlosesten Empirie. Das massenhaft
sich anhäufende Rohmaterial forderte mehr und mehr zu einer denkenden
Verwertimg desselben auf, und so entstand die Schule der Naturphilo-
sophen, als deren bedeutendsten Forscher, wenn aiich nicht (wegen man-
gelnder Anerkennimg) als deren eigentlichen Begründer wir Lamarck
bezeichnen müssen. ■'^) In Deutschland vorzüglich durch Oken und Goethe,
in Frankreich durch Lamarck und Etienne Geoffrov S. Hilaire ver-
1) Selten ist wohl das Verdienst eines der bedeutendsten Männer so völlig
von seinen Zeitgenossen verkannt und gar nicht gewürdigt worden, wie es mit
Lamarck ein halbes Jahrhundert hindurch der Fall war. Nichts beweist dies
vielleicht so schlagend als der Umstand, daß Cuvier in seinem Bericht über
die Fortschritte der Naturwissenschaften, in welchem auch die unbedeutendsten
Bereicherungen des empirischen Materials aufgeführt werden, des bedeutendsten
aller biologischen Werke jenes Zeitraums, der Philosophie zoologique von La-
marck, mit keinem Worte Erwähnung tut!
16 Methodik der Morphologie der Organismen. JV.
treten, war diese ältere Naturphilosophie eifrigst bemüht, aus dem Chaos
der zahllosen Einzelbeobachtungen, die sich immer mehr zu einem un-
übersehbaren Berge häuften, allgemeine Gesetze abzuleiten und den Zu-
sammenhang der Erscheinungen zu ermitteln. Wie weit- sie schon damals
auf diesem Wege gelangte, zeigt die klassische Philosophie zoologique
von Lamarck (1809) und die bewunderungswürdige Metamorphose der
Pflanzen von Goethe (1790). Doch war die empirische Basis, auf
welcher diese Heroen der Naturforschung ihre genialen Gedankengebäude
errichteten, noch zu schmal und unvollkommen, die ganze damalige Kenntnis
der Organismen noch zu sehr bloß auf die äußeren Formverhältnisse be-
schränkt, als daß ihre denkende Naturbetrachtung die festesten Anhalts-
punkte hätte gewinnen und die darauf gegründeten allgemeinen Gesetze
schon damals eine weitere Geltung hätten erringen können. Entwickelimgs-
geschichte mid Paläontologie existierten noch nicht, und die vergleichende
Anatomie hatte kaum noch Wurzeln geschlagen. Wie weit aber diese
Genien trotzdem ihrer Zeit vorauseilten, bezeugt vor allem die (in der
ersten Hälfte miseres Jahrhunderts fast allgemein ignorierte) Tatsache, daß
beide, sowohl Lamarck als Goethe, die wichtigsten Sätze der Des-
zendenz-Theorie bereits mit voller Klarheit und Bestimmtheit aussprachen.
Erst ein volles halbes Jahrhundert später sollte Darwin dafür die Be-
weise liefern.
Die eigentliche Blütezeit der älteren Naturphilosophie fällt in die
ersten Dezennien unseres Jahrhunderts. Aber schon im zweiten und noch
sclmeller im dritten näherte sie sich ihrem jähen Untergange, teils durch
eigene Verblendung und Ausartung, teils durch Mangel an Verständnis
bei der Mehrzahl der Zeitgenossen, teils durch das rasche imd glänzende
Emporblühen der empirischen Richtung, welche in Cuvier einen neuen
und gewaltigen Reformator fand. Gegenüber der willkürlichen und ver-
kehrten Phantasterei, in welche die Naturphilosophie bald sowohl in Frank-
reich als in Deutschland damals ausartete, war es dem exakten, strengen
und auf der breitesten empirischen Basis stehenden Cuvier ein leichtes,
die verwilderten und undisziplinierten Gegner aus dem Felde zu schlagen.
Bekanntlich war es der 22. Februar 1830, an welchem der Konflikt
zwischen den beiden entgegengesetzten Richtungen in der Pariser Akademie
zum öffentlichen Austrage kam und damit definitiv geendigt zu sein schien,
daß Cuvier seinen Hauptgegner E. Geoffroy S. Hilaire mit Hülfe
seiner tiberwiegenden empirischen Beweismittel in den Augen der großen
Mehrheit vollständig besiegte. Dieser merkwürdige öffentliche Konflikt,
dui'ch welchen die Niederlage der älteren Naturphilosophie besiegelt wurde,
ist in mehrfacher Beziehung vom h()chsten Interesse, vorzüglich auch des-
halb, weil er von Goethe in der meisterhaftesten Form in einem kritischen
Aufsatze dargestellt wurde, welchen derselbe wenige Tage vor seinem
Tode (im März 1832) vollendete. Dieser höchst lesenswerte Aufsatz, das
letzte schriftliche Vermächtnis, welches der deutsche Dichterfürst uns
hinterlassen, enthält nicht allein eine vortreffliche Charakteristik von
Cuvier und Geoffroy S. Hilaire, sondern auch eine ausgezeichnete Dar-
stellung der beiden entgegengesetzten von ihnen vertretenen Richtungen,
IV. I. Empirie und Philosophie. 17
„des immenvälu'enden Konfliktes zwischen den Denkweisen, in die sich
die wissenschaftliche Welt schon lange trennt; zwei Denkweisen, welche
sich in dem menschlichen Geschlechte meistens getrennt nnd dergestalt
verteilt ünden, daß sie, wie überall, so auch im Wissenschaftlichen, schwer
zusammen verbimden angetroffen werden, und vrie sie getrennt sind, sich
nicht Avolü vereinigen mögen. Haben wir die Geschichte der Wissen-
schaften und eine eigene lange Erfahrung vor Augen, so möchte man
l)efürchten, die menschliche Natur werde sich von diesem Zwiespalt kaum
jemals retten können."
Die Niederlage der älteren Naturphilosophie, welche Cuvier als der
Heerführer der neu erstehenden ..exakten Empirie" herbeigeführt und in
jenem Konflikt offenbar gemacht hatte, war so vollständig, daß in den
folgenden drei Dezennien, von 1880 — 1860. unter der mm allgemein
sich ausbreitenden empirischen Schule von Philosophie gar keine Rede
mehr war. ^lit den Träumereien mid Phantasiespielen jener ausgearteten
Naturj^hantasterei wurden auch die wahren und großen Verdienste der
alten Naturphilosophie vergessen, aus der jene hervorgegangen war. imd
man gewöhnte sich sehr allgemein an die Vorstellung, daß Naturwissen-
schaft und Philosophie in einem imversöhnlichen Gegensatze zueinander
ständen. Dieser Irrtimi Avurde dadm'ch insbesondere begünstigt, daß die
verbesserten Instrumente und Beobachtmigsmethoden der Nenzeit, imd vor
allem die sehr verbesserten Mikroskope, der empirischen Naturbeobachtimg
ein unendlich Aveites Feld der Forschmig eröffneten, auf welchem es ein
leichtes war, mit wenig Mühe imd ohne große GedankenanstrengTing
Entdeckungen neuer Formverhältnisse in Hülle imd Fülle zu machen.
Während die Beobachtungen der ersten empirischen Periode, welche sich
aus Linnes Schule entwickelte, vorzugsweise um* auf die äußeren
Formverhältnisse der Organismen gerichtet gewesen waren, wandte sich
nun die zweite empirische Periode, welche aus Cuviers Schule hervor-
ging, vorwiegend der Beol)achtimg des inneren Baues der Tiere und
Pflanzen zu. Und in der Tat gab es hier, nachdem Cuvier dmrh Be-
gründung der vergleichenden Anatomie und der Paläontologie ein weites
neues Feld der Beobachtung geöffnet, nachdem Bär diu'ch Reformation
der Entwickelungsgeschichte und Schwann durch Begründimg der Ge-
webelehre auf dem tierischen, Schlei den auf dem pflanzlichen Gebiete
neue und große Ziele gesteckt, nachdem Johannes Müller die ge-
samte Biologie mit gewaltiger Hand in die neu geöffneten Bahnen der
exakten Beobachtimg hineingewiesen hatte, überall so imendlich viel zu
beobachten und zu beschreiben, es wurde so leicht, mit nur wenig Ge-
duld. Fleiß und Beobachtungsgabe neue Tatsachen zu entdecken, daß wir
uns nicht wundern können, wenn darüber die leitenden Prinzipien der
Naturforschimg gänzlich vernachlässigt imd die erklärende Gedankenarbeit
von den meisten völlig vergessen ■wurde. Da noch im gegenwärtigen
Augenblick diese „rein empirische" Richtung die allgemein überwiegende
ist, da die Bezeichnung der Naturphilosophie noch in den weitesten natur-
wissenschaftlichen Kreisen nur als Schimpfwort gilt und selbst von den
hervorragendsten Biologen nur in diesem Sinne gebraucht wird, so haben
H a e c k e 1 , Prinz, d. Morj)hol. 2
X8 Methodik der Morphologie der Organismen. jy.
wir nicht nötig, die grenzenlose Einseitigkeit dieser Richtimg noch näher
zu erläutern und werden nur noch insofern näher darauf eingehen, als
wir gezwungen sind, unseren Zeitgenossen ihr „exakt-empirisches", d. h.
gedankenloses und beschränktes, Spiegelbild vorzuhalten. Teilweise ist
dies schon im vorigen Kapitel geschehen. Wiederholt wollen wir hier
nur nochmals auf die seltsame Selbsttäuschung hinweisen, in welcher
die neuere Biologie befangen ist, wenn sie die nackte gedankenlose Be-
schreibung innerer und feinerer, insbesondere mikroskopischer Form-
verhältnisse als „wissenschaftliche Zoologie '■ und „wissenschaft-
liche Botanik" preist und mit nicht geringem Stolze der früher aus-
schließlich herrschenden reinen Beschreibung der äußeren und gröberen
Formverhältnisse gegenüberstellt, welche die sogenannten ..Sj^stematiker"
beschäftigt. Sobald bei diesen beiden Richtungen, die sich so scharf
gegenüberziistellen belieben, die Beschreibung an sich das Ziel ist
( — gleichviel ob der inneren oder äußeren, der feineren oder gröberen
Formen — ), so ist die eine genau so viel wert, als die andere. Beide
werden erst zur Wissenschaft, wenn sie die Form zu erklären und auf
Gesetze zurückzuführen streben.
Nach imserer eigenen innigsten Überzeugung ist der Rückschlag,
der gegen diese ganz einseitige und daher beschränkte Empirie notwendig
früher oder später erfolgen mußte, bereits tatsächlich erfolgt, wenn auch
zunächst nur in wenigen engen Kreisen. Die lS5i) von Charles Darwin
veröffentlichte Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe ums
Dasein, eine der größten Entdeckungen des menschlichen Forschungs-
triebes, hat mit einem Male ein so gewaltiges und klärendes Licht in
das dunkle Chaos der haufenweis gesammelten l)iologischen Tatsachen
geworfen, daß es auch den krassesten Empirikern fernerhin, wenn sie
überhaupt mit der Wissenschaft fortschreiten wollen, nicht mehr möglich
sein wird, sich der daraus emporwachsenden neuen Naturphilosophie zu
entziehen. Indem die von Darwin neu begründete Deszendenztheorie
die ganze gewaltige Fülle der seither empirisch angehäuften Tatsachen-
massen durch einen einzigen genialen Gedanken erleuchtet, die schwierig-
sten Probleme der Biologie aus dem einen obersten Gesetze der ,,wirkenden
Ursachen" vollständig erklärt, die unzusammenhängende Masse aller bio-
logischen Erscheinungen auf dieses eine einfache große Naturgesetz zurück-
führt, hat sie bereits tatsächlich die bisher ausschließlich herrschende
Empirie völlig überflügelt und einer neuen und gesunden Philosophie die
weiteste und fruchtbarste Bahn geöffnet. Es ist eine Hauptaufgabe des
vorhegenden Werkes, zu zeigen, wie die wichtigsten Erscheinungsreihen
der Morphologie sich mit Hülfe derselben vollständig erklären und auf
große und allgemeine Naturgesetze zurückführen lassen.
Wenn wir das Resultat dieses flüchtigen Überblickes über den inneren
Entwickelimgsgang der Morphologie in wenigen Worten zusammenfassen,
so können wir füglich von Beginn des achtzelinten Jahrhunderts an bis
jetzt vier abwechselnd empirische luid philosophische Perioden der Morpho-
logie unterscheiden, welche durch die Namen von Linne, Laraarck. Cu-
vier, Darwin bezeichnet sind, nämlich: I. Periode: Linne (geb. 1707).
l\\ I. Empirie und Philosoijhie. 19
Erste empirische Periode (achtzelintes Jahrhundert). Herrschaft der
empirischen äußeren Morphologie (Systematik). II. Periode: Lamarck
(geb. 1744) und Goethe (geb. 1741)j.^) Erste philosophische
Periode (erstes Drittel des ueunzelmten Jahrhmiderts). Herrschaft
der phantastisch-pliilosoi)hischen Morphologie (ältere Naturphilosophie).
UI. Periode: Cuvier (geb. "1769). '^) Zweite empirische Periode
(zweites Drittel des neunzehnten Jahrhunderts). Herrschaft der empirischen
inneren Morphologie (Anatomie). IV. Periode: Darwin (geb. 1809).
Zweite philosophische Periode. Begonnen 1859. Herrschaft der
empirisch-philosophischen Morphologie (neuere Naturphilosopliie).
Indem wir die beiden Richtungen der organischen Morphologie, die
empirische und philosojjhische, so schroff einander gegenüberstellen,
mftssen wir ausdrücklich bemerken, daß nur die große Masse der
beschränkteren und gröber organisierten Naturforscher es war, welche
diesen Gegensatz in seiner ganzen Schärfe ausbildete und entweder die
eine oder die andere Methode als die allein seligmachende pries und
für die .,eigentnche" Naturwissenschaft hielt. Die imifassenderen und
feiner organisierten Natm-forscher, imd vor allen die großen Koryphäen,
deren Namen wir an die Spitze der von ihnen beherrschten Perioden
gestellt haben, Avaren stets mehr oder minder überzeugt, daß nur eine
innige Verbindung von Beobachtung imd Theorie, von Empirie und Philo-
sophie, den Fortschritt der Naturwissenschaft wahrhaft fördern könnte.
Man pflegt gewöhnlich Cuvier als den strengsten und exklusivsten Em-
piriker, als den abgesagtesten Feind jeder Naturphilosophie hinzustellen.
Und sind nicht seine besten Arbeiten, seine wertvollsten Entdeckimgen.
vde z. B. die AufsteUmig der vier tierischen T^-pen (Stämme), die Begrün-
dung des Gesetzes von der Korrelation der Teile, von den ..Causes finales".
Ausflüsse der reinsten Naturphilosophie? Ist nicht die von ihm neu
begründete „vergleichende Anatomie" ihrem ganzen Wesen nach eine
rein philosophische Wissenschaft, welche das empirische Material der
Zootomie bloß als Basis braucht? Ist es nicht lediglich der Gedanke,
die Theorie, welche auf der rein empirischen Zootomie als notwendiger
Grundlage das plülosophische Lehrgebäude der vergleichenden Anatomie
errichten? Und wenn Cuvier aus einem einzigen Zahne oder Knochen
eines fossilen Tieres die ganze Natur und systematische Stellung des-
selben mit Sicherheit erkannte, war dies Beobachtung oder war es
1) Wir nennen hier absichtlicli Lamarck und Goethe als die geistvoUsten
Repräsentanten der älteren Naturphilosophie, wenngleich sie sich entfernt nicht
desselben Einflusses und derselben Anerkennimg zu erfreuen hatten, wie Etienne
Geoffroy S. Hilaire (geb. 1771) und Lorenz Oken (geb. 1779), die gewöhn-
lich als die Koryphäen dieser Richtung vorangestellt werden.
-) Als hervorragende Koryphäen dieser Periode würden wir hier noch Jo-
hannes Müller, Schieiden und einige andere hervorzuheben haben, wenn nicht
gerade diese bedeutendsten Männer, als wahrhaft philosophische Naturforscher,
sich von der großen Einseitigkeit freigeiialten hätten, welche Cuviers Schiüe
und der große Troß der Zeitgenossen zum extremsten Empirismus ausbildete.
9 *
20 Methodik der Morphologie der Organismen. IV.
Reflexion? Betrachten wir andererseits den Stifter der älteren Natur-
philosophie. Lamarck. so lirauchen wir, nm den Vorwurf der Einseitig-
keit zu widerlegen, bloß darauf hinzuweisen, daß dieser eminente Mann
seinen Ruf als großer Naturforscher größtenteils einem vorwiegend deskrip-
tiven Werke, der berühmten ..Histoire naturelle des animaux saus ver-
tebres" verdankte. Seine ..Philosophie zoologique". Avelche die Deszen-
denzlehre zum ersten Male als vollkommen aljgerundete Theorie aufstellte,
eilte mit ihrem prophetischen Gedankenfiuge seiner Zeit so voraiis, daß
sie von seinen Zeitgenossen gar nicht verstanden und ein volles halbes
Jahrhundert hindurch (1809 — 1859} totgeschwiegen wurde. Johannes
Müller, den wir Deutschen mit gerechtem Stolz als den größten Bio-
logen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts unser eigen nennen,
imd der in den Augen der meisten jetzt lebenden Biologen als der
strengste Empiriker und Gegner der Naturphilosophie gilt, verdankt die
Fülle seiner zahlreichen und großen Entdeckimgen viel weniger seinem
ausgezeichneten sinnlichen Beobachtungstalent, als seinem kombinierenden
Gedankenreichtum und der natürlichen Philosophie seiner wahrhaft den-
kenden Beobachtungsmethode. Charles Darwin, der größte aller jetzt
lebenden Naturforscher, überragt uns alle nicht allein durch Ideenreich-
tum und Gedankenfülle seines die ganze organische Natiu- umfassenden
Geistes, sondern ebensosehr durch die intensiv und extensiv gleichl)edeu-
tende und fruchtbare Methode seiner empirischen Naturbeobachtung.
Nach luiserer festesten Überzeugmig können nur diejenigen Natur-
forscher wahrhaft fördernd und schaffend in den Gang der Wissenschaft
eingreifen, welche, bewußt oder imbewußt, ebenso scharfe Denker als
sorgfältige Beobachter sind. Niemals kann die bloße Entdeckimg einer
nackten Tatsache, und wäre sie noch so merkwürdig, einen wahrhaften
Fortschritt in der Naturwissenschaft herbeiführen, sondern stets nur der
Gedanke, die Theorie, welche diese Tatsache erklärt, sie mit den ver-
wandten Tatsachen vergleichend verbindet und daraus ein Gesetz ab-
leitet. Betrachten Avir die größten Naturforscher, welche zu allen Zeiten
auf dem biologischen Gebiete tätig gewesen sind, von Aristoteles an,
Linne und Cuvier, Lamarck und Goethe, Bär und Johannes
Müller und wie die Reihe der glänzenden Sterne erster Größe, bis auf
Charles Darwin herab, weiter heißt — sie alle sind ebenso große
Denker, als Beobachter gewesen, und sie alle verdanken ihren unsterb-
lichen Ruhm nicht der Summe der einzelnen von ihnen entdeckten Tat-
sachen, sondern ihrem denkenden Geiste, der diese Tatsachen in Zu-
sammenhang zu I)ringen und daraus Gesetze abzuleiten verstand. Die
rein empirischen Naturforscher, welche nur durch Entdeckung neuer Tat-
sachen die Wissenschaft zu fördern glauben, können in derselben ebenso-
wenig etwas leisten, als die rein spekulativen Philosophen, welche der
Tatsachen entbehren zu können glauben und die Natur aus ihren Ge-
danken konstruieren wollen. Diese werden zu phantastischen Träumern,
jene im besten Falle zu genauen Kopiermaschinen der Natur. Im Grunde
freilich gestaltet sich das tatsäclüiche Verhältnis überall so, daß die
reinen Empiriker sich mit einer unvollständigen und unklaren, ihnen
lY^ II. Analyse iind Synthese. 21
selbst nicht bewußten Philosophie, die reinen Philosophen dagegen
mit einer ebensolchen, unreinen und mangelhaften Empirie begnügen.
Das Ziel der Naturwissenschaft ist die Herstelhmg eines vollkommen
architektonisch geordneten Lehrgeljäudes. Der reine Empiriker bringt
statt dessen einen imgeordneten Steinhaufen zusammen; der reine Philo-
soph auf der andern Seite baut Luftschlösser, welche der erste empiri-
sche Windstoß über den Haufen wirft. Jener begnügt sich mit dem
Rohmaterial, dieser mit dem Plan des Gebäudes. Aber nur durch
die innigste Wechselwirkung von empirischer Beobachtung
und philosophischer Theorie kann das Lehrgebäude der Natur-
wissenschaft wirklich zustande kommen.
Wir schließen diesen Abschnitt, wie wir ihn begonnen, mit einem
Ausspruch von Johannes Müller: „Die Phantasie ist ein unentbehr-
liches Gut; denn sie ist es, durch welche neue Kombinationen zm* Ver-
anlassung wichtiger Entdeckungen gemacht werden. Die Kraft der
Unterscheidung des isolierenden Verstandes sowohl, als der
erweiternden und zum Allgemeinen strebenden Phantasie sind
dem Naturforscher in einem harmonischen Wechselwirken not-
wendig. Durch Störung dieses Gleichgewichts wird der Naturforscher
von der Phantasie zu Träumereien hingerissen, während diese Gabe den
talentvollen Naturforscher von hinreichender Verstandesstärke zu den
wichtigsten Entdeckungen führt. " ^)
II. Analyse und Synthese.
„Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt, und
sich vor der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten
Wege; denn nur beide zusammen, wie Aus- und Einatmen, machen
das Leben der Wissenschaft. — Die Hauptsache, woran man bei
ausschließlicher Anwendung der Analyse nicht zu denken scheint,
ist, daß jede Analyse eine Synthese voraussetzt. — Sondern und
Verknüpfen sind zwei unzertrennliche Lebensakte. Vielleicht ist es
besser gesagt, daß es unerläßlich ist, man möge wollen oder nicht,
aus dem Ganzen ins Einzelne, aus dem Einzelnen ins Ganze zu
gehen: und je lebendiger diese Funktionen des Geistes, wie Aus-
und Einatmen, sich zusammen verhalten, desto besser wird füi- die
Wissenschaften und ihre Freunde gesorgt sein."
Die vorstehenden Worte von Goethe bezeichnen das notwendige
Wechselverhältnis zwischen der sondernden Analyse und der ver-
knüpfenden Synthese so treffend, daß wir mit keinen besseren Wor-
ten die folgende Betrachtung einleiten konnten. Wenn wir hier
1) Johannes Müller. Archiv für Anatomie usw. I. Jahrgg. 1834. ]). 4.
22 Methodik der Morphologie der Organismen. JV.
diese wichtigen gegenseitigen Beziehungen zwischen der analytischen
und synthetisclien, der auflösenden und zusammensetzenden Natur-
forschung kurz einer gesonderten Betrachtung unterzielien, so geschieht
es hauptsächlich, weil wir die vielfach Aberkannte notwendige Wechsel-
wirkung zwischen diesen wichtigen Methoden für die Morphologie
besonders eindringlich hervorzuheben wünschen, und weil gerade
im gegenwärtigen Zeitpunkte eine klare Beleuchtung dieses Ver-
hältnisses von besonderer Wichtigkeit erscheint. Da die analytische
oder sondernde Methode vorzugsweise von der empirischen Natur-
beobachtung, die synthetische oder verknüpfende Methode vorzugs-
weise von der philosophischen Naturbetrachtung angewendet wird,
so schließen sich die folgenden Bemerkungen darüber unmittelbar
an das im vorigen Abschnitt Gesagte an. Hiervon ausgehend wer-
den wir schon im voraus sagen können, daß ein Grundfehler der
gegenwärtig in der Biologie herrschenden Richtung in der einseitigen
Ausbildung der Analyse und in der übermäßigen Vernachlässigung
der Synthese liegen wird. Und so verhält es sich auch in der Tat,
Auf allen Gebieten der organischen Morphologie, in der Organologie
und in der Histologie, in der Entwicklungsgeschichte der Individuen
und in derjenigen der Stämme, ist man seit langer Zeit fast aus-
schließlich analytisch verfahren und hat die synthetische Betrachtung
eigentlich nur selten und in so geringer Ausdehnung, mit so über-
triebener Scheu angewendet, daß man sich ihrer Fruchtbarkeit, ja
ihrer Unentbehrlichkoit gar nicht bewußt geworden ist. Und doch
ist es die Synthese, durch welche die Analyse erst ihren wahren
Wert erhält, und durch welche wir zu einem wirklichen Verständ-
nis des durch die Analyse uns bekannt gewordenen Organismus
gelangen.
Bei einem Rückblicke auf die beiden empirischen Perioden der
Morphologie, die wir im vorigen Abschnitt charakterisiert haben,
finden wir, daß zwar beide, im Gegensatz zu der dazwischenliegen-
den, vorzugsweise der Synthese zugewandten Periode der Naturphilo-
sophie, vorwiegend die Analyse kultivierten, daß aber die zweite
empirische Periode, seit Cuvier, in dieser Beziehung sich noch viel
einseitiger entwickelte, als die erste empirische Periode, seit Linne.
Denn die von der letzteren fast ausschließlich betriebene Unterschei-
dung und Beschreibung der äußeren Körperformen führte immer
zuletzt zur Systematik hin, welche an sich schon einen gewissen
Grad von synthetischer Tätigkeit erfordert, wogegen die analytische
IV. ni. Induktion und Deduktion. 23
Untersuchung und Darstellung der inneren Körperformeu , die
..Anatomie" im engeren Sinne, welche Cuviers Nachfolger vor-
zugsweise beschäftigte, der Synthese in weit höherem Maße ent-
behren konnte. Zwar hatte Cuvier der letzteren das hohe Ziel
gesteckt, durch Vergleichung (und das ist ja eben auch Synthese)
sich zur vergleichenden Anatomie zu erheben; indes wurde eine
wahrhaft philosophische Vergleichung, wie Cuvier selbst und Jo-
hannes Müller sie so fruchtbar und so vielfach geübt hatten, von
der Mehrzahl ihrer Nachfolger so selten angewandt, daß die meisten
Ai'beiten, welche sich „vergleichend anatomisch" nennen, diesen
Namen nicht verdienen. Diese einseitige Ausbildung der Analyse,
welche sich mit der Kenntnis der einzelnen Teile des Organismus
begnügt, ohne die Erkenntnis des Ganzen im Auge zu behalten, hat
sich in den letzten drei Dezennien jährlich in zunehmender Pro-
gression gesteigert, insbesondere seitdem jedermann mit dem Mikro-
skop anfing „Entdeckungen" zu machen. Eine möglichst vollständige
histologische Analyse des Körpers wurde bald allgemein das höchste
Ziel; und über der Beschreibung und Abbildung der einzelnen Zellen-
formen vergaß man völlig den ganzen Organismus, welchen dieselben
zusammensetzen.
Nun ist zwar nach unserer Ansicht durch Darwin, welcher die
Synthese wieder im großartigsten Maßstabe aufgenommen und mit
dem überwältigendsten Erfolge in der gesamten organischen Mor-
phologie angewandt hat, deren hohe Bedeutung so sehr zutage ge-
treten, daß die bisherige einseitige Analyse sich in ihrer exklusiven
Richtung nicht fürder wird behaupten können. Indes halten wir es
doch nicht für überflüssig, die äußerst wichtige Wechselbezie-
hung zwischen der analytischen Untersuchung des Ein-
zelnen und der synthetischen Betrachtung des Ganzen hier
nochmals ausdrücklich zu betonen. Allerdings muß die erstere der
letzteren vorausgehen, aber nur als die erste Stufe der Erkenntnis,
welche erst mit der letzteren ihren wahren Abschluß erreicht.
III. IiKhiktioii uud Deduktion.
..Die allein richtige Methode in den Naturwissenschaften ist die
induktive. Ihre wesentliche Eigentümlichkeit, worin eben die
Sicherheit der durch sie gewonnenen Resultate begründet ist, besteht
darin, daß man mit Verwerfung jeder Hypothese ohne alle Ausnahme
24 Methodik der Morphologie der Organismen. lY.
(z. B. der Hypothese einer besonderen Lebenskraft) von dem unmittel-
bar Gewissen der Wahrnehmung- ausgeht, durch dieselbe sich
zur Erfahrung erhebt, indem man die einzelne Wahrnehmung mit
dem anderweit schon Festgestellten in Verbindung setzt, aus Ver-
gleichung verwandter Erfahrungen durch Induktion bestimmt, ob
sie unter einem Gesetze und unter welchem sie stehen und so fort,
indem man mit den so gefundenen Gesetzen ebenso verfährt, rück-
wärts fortschreitet, bis man bei sich selbst genügenden, mathemati-
schen Axiomen angekommen ist." Schi ei den (Grundzüge der
wissenschaftlichen Botanik. § 3 Methodik).
„Die Methode der Untersuchung, welche uns wegen der Unan-
wendbarkeit der direkten Methoden der Beobachtung und des Experi-
mentierens als die Hauptquelle unserer Kenntnisse die wir in Be-
ziehung auf die Bedingungen und Gesetze der Wiederkehr der
verwickeiteren Naturerscheinungen besitzen oder erlangen können,
übrig bleibt, wird in dem allgemeinsten Ausdruck die deduktive
Methode genannt. — Dieser deduktiven Methode verdankt der
menschliche Geist seine rühmlichsten Triumphe in der Erforschung
der Natur. Ihr verdanken wir alle Theorien, durch welche ausge-
dehnte und verwickelte Naturerscheinungen in wenigen Gesetzen um-
faßt werden, und die, als Gesetze dieser großen Erscheinungen be-
trachtet, durch direktes Studium nie hätten entdeckt werden können.
,.Die deduktive Methode besteht aus drei Operationen:
die erste ist eine direkte Induktion, die zweite eine Folge-
rung, die dritte eine Bestätigung. Ich nenne den ersten Schritt
in dem Verfahren eine induktive Operation, weil eine direkte Induk-
tion als die Basis des Ganzen vorhanden sein muß, obgleich in vielen
besonderen Untersuchungen die Induktion von einer früheren Deduk-
tion vertreten werden kann ; die Prämissen dieser früheren Deduktion
müssen aber von einer Induktion abgeleitet sein. — Die Gesetze
einer jeden besonderen Ursache, die Anteil an der Erzeugung der
Wirkung nimmt, zu ermitteln, ist daher das erste Erfordernis (das
erste Stadium) der deduktiven Methode: — der zweite Teil (das
zweite Stadium) derselben ist die Bestimmung aus den Gesetzen der
Ursachen, welche Wirkung eine gegebene Kombination dieser Ur-
sachen hervorbringen wird. Dies ist ein Prozeß der Berechnung in
dem weitesten Sinne des Wortes und schließt häufig eine Berechnung
in dem engeren Sinne ein. — Den dritten wesentlichen Bestandteil
(das dritte Stadium) der deduktiven Methode und ohne welchen alle
jy III. Indiilvtioii und Deduktion. 25
Resultate, die sie gewähren kann, keinen anderen Wert haben, als
den einer Vermutung, bildet die Bestätigung (Verifikation) oder Prol)e
der Folgerung. Um das Vertrauen auf die durch Deduktion erhaltenen
allgemeinen Schlüsse zu rechtfertigen, müssen diese Schlüsse bei
einer sorgfältigen Vergieichung mit den Resultaten der direkten Be-
obachtung, wo man sie immer haben kann, übereinstimmend befunden
werden." John Stuart Mill (Die induktive Logik. Braunschweig,
1849; S. 180, 181, 187, 190).
An die Spitze dieses Abschnittes, welcher die höchst wichtige
und notwendige Wechselwirkung der induktiven und der
deduktiven Methode erläutern soll, stellen wir die Aussprüche
zweier ausgezeichneter Männer, von denen der eine als „Natur-
forscher", der andere als „Philosoph" die größten Verdienste hat.
Auf den ersten Bhck scheinen sich vielleicht beide geradezu zu
widersprechen. Schieiden preist die induktive, Mill die deduktive
Methode, welche diametral von der ersteren verschieden zu sein
scheint, als die „allein richtige" und ausschließlich zu befolgende
Methode der Naturwissenschaft. Indessen ergibt eine genauere Be-
trachtung ihrer Erklärungen alsbald, daß dieser Gegensatz nur ein
teilweiser, nur insofern vorhanden ist, als Schieiden für die philo-
sophische Naturwissenschaft eine engere, Mill eine weitere Grenze
der Schlußfolgerung aus der Beobachtung zieht. Allerdings will der
erstere zunächst nur die Induktion gelten lassen und schließt die
Deduktion ganz aus, während der letztere die Induktion ausdrücklich
nur als eine Voraussetzung, als das notwendige „erste Stadium" der
Deduktion gelten läßt. Nach Schieiden würde die Erfahrung nur
vom Einzelnen aus in das Ganze, vom Besonderen aus in das All-
gemeine gehen und nur von der Wirkung aus auf die Ursache, von
der Tatsache aus auf das Gesetz schließen dürfen. Nach Mill da-
gegen darf die Naturwissenschaft nicht auf dieser Stufe stehen bleiben,
sondern sie darf und muß auch den umgekehrten Weg der Schluß-
folgerung gehen; sie darf und muß von dem Ganzen auf das Einzelne,
von dem Allgemeinen auf das Besondere schließen: sie darf und muß
aus der Ursache die Wirkung, aus dem Gesetze die Tatsache folgern
können.
Die hier offen zutage tretende tatsächliche Differenz über die
wichtigste Methode der Naturforschung zwischen zwei scharfsinnigen
Männern, die beide mit tiefem philosophischen BKck die Geistes-
operationen der naturwissenschaftlichen Schlußfolgerungen untersucht
26 Methodik der Morphologie der Organismen. IV.
haben, ist deshalb für uns von hohem Interesse, weil sie uns auf
zwei verschiedene Denkweisen unter den biologischen Naturforschern
hinweist, die gerade jetzt im Begriffe sind, sich mit mehr oder
weniger klarem Bewußtsein voneinander zu trennen und einseitig
sich gegenüberzutreten. Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen,
daß die von Schieiden als die allein richtige Methode gepriesene
Induktion, welche damals allerdings, den phantastischen Träumereien
und den unreifen Deduktionen der früheren Naturphilosophen gegen-
über, vollkommen am Platze Avar, durch ihre ausschließMche Geltung
sehr viel zu der einseitigen „exakt-empirischen" Richtung beigetragen
hat, die in den letzten Dezennien mehr und mehr die herrschende
geworden ist. Indem man hier immer allgemeiner nur die Induk-
tion allein als die ,,eigenthche" Methode der Naturforschung gelten
ließ und die Deduktion völlig ausschloß, beraubte man sich selbst
des fruchtbarsten Denlqorozesses, der gerade in den biologischen
Disziplinen zu den größten Entdeckungen führt. Zum wenigsten
wollte man nichts von demselben wissen, wenngleich man unbewußt
sich desselben häufig und mit dem größten Erfolge bediente. Denn
es ist nicht schwer nachzuweisen, daß die wichtigsten Entdeckungen,
welche in dem letztverflossenen Zeitraum gemacht wurden, und ins-
besondere die allgemeineren biologischen Gesetze, zu denen man
gelangte, zwar durch vorhergehende und höchst wesentliche, aber
nicht durch ausschließliche Hülfe der Induldion gemacht wurden, daß
vielmehr fast immer die der Induktion nachfolgende, meist unbewußte
Deduktion die allgemeine und sichere Geltung der Erfahrung erst
begründete.
Wenn die Induktion ausschließlich in dem strengsten Sinne, wie
Schieiden will, die Methode der naturwissenschafthchen Unter-
suchung und Schlußfolgerung sein und bleiben sollte, so würde der
Fortschritt unserer Erkenntnisse und ganz besonders der Fortschritt
in der Feststellung allgemeiner Gesetze nur ein äußerst langsamer
und allmählicher sein: ja, wir würden sogar zur Aufstellung der all-
gemeinsten und wichtigsten Naturgesetze niemals gelangen, und den
allgemeinen Zusammenhang der größten und umfassendsten Erschei-
nungsreihen niemals erkennen. Zu diesen können wir immer nur
durch deduktive Verstandesoperationen gelangen, und zwar nur durch
reichliche und häufige, allerdings aber auch nur durch richtige und
sehr vorsichtige Anwendung der Deduktion.
Induktion und Deduktion stehen nach unserer Ansicht in
IV. III. Induktion und Deduktion. 27
der innigsten und notwendigsten Wechselwirkung, in ähnlicher Weise,
wie es Goethe von der Analyse und Synthese ausspricht: „Nur
beide zusammen, wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der
Wissenschaft." Mi 11 ist sicher im vollkommensten Rechte, wenn er
der Deduktion die größte Zukunft prophezeit und die Induktion vor-
züglich nur als die erste Stufe, als das erste Stadium der Deduktion
gelten läßt. Diese Vorbedingung ist für eine richtige Deduktion aber
auch unerläßhch. Entweder muß eine direkte Induktion die Basis
der ganzen deduktiven Operation bilden, oder es muß statt jener
direkten Induktion eine andere Deduktion zugrunde liegen, die selbst
wieder direkt oder indirekt durch eine Induktion sicher begründet ist.
Es muß also in allen Fällen — und dies hervorzuheben ist sehr
wichtig — eine Induktion die Basis, den ersten Schritt des ganzen
Schlußverfahreus bilden, und erst auf dieser Basis kann sich dann
die Deduktion sicher aufbauen.
Es wird also dadurch, daß man die deduktive ]Methode als die
wichtigste, fruchtbarste und bedeutendste der naturwissenschaftlichen
Forschung hinstellt, die Bedeutung der induktiven Methode keineswegs
geschmälert, sondern \aelmehr nur insofern modifiziert, als sie die
notwendige Basis, die unentbehrliche Einleitung der ersteren sein
muß. Wir können mithin allgemein aussprechen, daß die Induktion
die erste, unentbehrlichste und allgemeinste Methode der Natur-
forschung sein muß, daß aber die letztere, wenn sie zu allgemeinen
Gesetzen gelangen, diese mit Sicherheit beweisen und den fundamen-
talen und allgemeinen Zusammenhang der Erscheinungen erkennen
will, nicht bei der Induktion stehen bleiben darf, sondern sich zur
Deduktion wenden muß. Die Induktion gelangt durch vergleichende
Zusammenstellung vieler einzelner verwandter spezieller Erfahrungen
zur Aufstellung eines allgemeinen Gesetzes. Die Deduktion folgert
aus diesem generellen Gesetze eine einzelne spezielle Tatsache. Wird
diese letztere nun nachher durch die Erfahrung als wirklich erwiesen,
so war die deduktive Folgerung richtig, und durch die Probe oder
Verifikation, welche diese nachträgliche Erfahrung liefert, ist das Ge-
setz bestätigt, ist die allgemeine Gültigkeit des Gesetzes mit weit
größerer Sicherheit festgestellt, als es durch die Induktion jemals
hätte geschehen können.
Eine klare und vollständige Erkenntnis von dem Wesen dieser
beiden wichtigsten Verstandes-Operationen, eine vollkommene Über-
zeugung von der Notwendigkeit ihrer präzisen Anwendung und eine
28 Methodik der Morphologie der Organismen. IV.
richtige Auffassung des innigen gegenseitigen Wechselverliältnisses. in
welchem Induktion und Deduktion zueinander stellen, halten wir für
äußerst wichtig, und für einen jeden Natm-forscher, der die Mittel
zur Lösung seiner Aufgabe klar erkennen und sein Ziel mit Bewußt-
sein verfolgen will, ganz unerläßhch. Wenn die meisten Naturforscher
gegenwärtig von diesen Methoden sowie überhaupt von einer streng
philosophischen Behandlung ihrer Aufgabe nichts wissen und leider
auch meist nichts wissen wollen, so ist es ihr eigener schlimmer
Nachteil. Denn tatsächlich können sie diese beiden wichtigsten
Geistesoperationen des Naturforschers nirgends entbehren, und tat-
sächlich bedienen sie sich derselben fortwährend, wenn auch ganz
unbewußt, und daher meist unvollständig. Induktive und deduktive
Methode sind keineswegs, wie viele meinen, besondere Erfindungen
der Philosophen, sondern es sind natürliche Operationen des mensch-
lichen Geistes, welche wir überall und allgemein, wenn auch meist
unklar, unvollständig und unbewußt anwenden. Wenn aber die
wissenschaftliche Anwendung der Induktion und Deduktion mit Be-
wußtsein erfolgt, wenn sich der Naturforscher der Bedeutung und
des Nutzens, der Tragweite und der Gefahren dieser Methoden be-
wußt ist, so kann er sich derselben mit weit größerem Erfolge und
mit weit vollkommenerer Sicherheit bedienen, als wenn er sie unklar,
unbewußt und daher unvollständig und unvorsichtig anwendet. Jeder
Wanderer, der auf verwickelten Wegen, durch Wald und Feld, über
Berg und Tal, sein Wanderziel verfolgt, erreicht dasselbe rascher und
sicherer, mit weniger Gefahr des Irrtums und mit geringerem Zeit-
aufwand, wenn er die Wege kennt, als wenn sie ihm unbekannt
sind. Methoden, und zwar ganz vorzüglich die philosophischen
Methoden der Naturwissenschaft, sind aber nichts anderes als Wege
der Forschung, und wer diese Wege genau kennt und mit sicherem
Bewußtsein verfolgt, wird sein wissenschaftliches Ziel ohne Zweifel
immer besser und schneller erreichen, als derjenige, dem diese
Kenntnis der richtigen Wege fehlt.
Obwohl Induktion und Deduktion zweifelsohne die wichtigsten psy-
chischen Funktionen des erkennenden Menschen, und vor allem des am
tiefsten und gründlichsten erkennenden Menschen, d. h. des Natur-
forschers, sind, so mangelt es dennoch gänzlich an einer gründlichen
psychologischen Erläuterung derselben. Freilich geht es hier diesen
beiden Methoden nicht viel schlechter, als vielen anderen wichtigen
Denkprozessen. Auf eine wahrhaft natürliche, d. h. genetische Erklä-
runs; derselben werden wir erst dann hoffen kihmen. wenn ein natur-
JY_ III. Induktion und Deduktion. 29
wissenschaftlich imd namentlich biologisch gebildeter Philosoph, d. h. ein
an klares strenges Denken gewöhnter Naturforscher (eine seltene Er-
scheinung!), endlich einmal eine vergleichende Psychologie schaffen wird,
d. h. eine Seelenlehre, welche die gesamten psychischen Funktionen
durch die ganze Tierreihe und namentlich durch die Stufenleiter des
Wirbeltierstammes hindurch verfolgt und die allmähliche Differenziervmg
derselben bis zu ihrer höchsten Blüte im Menschen nachweist. Da die-
jenigen Funktionen des Zentralnervensystems, welche man unter dem
Namen des „Seelenlebens" zusammenfaßt, durchaus nach denselben Ge-
setzen entstehen und sich entwickeln, durchaus in gleicher Weise an
die sich differenzierenden Organe gebunden sind, wie die übrigen soma-
tischen Funktionen, so können wir zu einer richtigen Erkenntnis der-
selben (die einen Teil der Physiologie bildet) auch nur auf dem gleichen
Wege wie bei den letzteren gelangen, d. h. auf dem vergleichenden
und dem genetischen Wege. Nur allein die Vergleichung der ver-
schiedenen Entwickelungsstufen des Seelenlebens bei unseren Verwandten,
den übrigen Wirbeltieren, das Studium der allmählichen Entwickelung
desselben von frühester Jugend an bei allen Vertebraten, imd die Her-
stellimg der vollständigen Stufenleiter von allmählichen Übergangsformen,
welche das Seelenleben von den niederen zu den höheren Wirbeltieren,
mid insbesondere von den niedersten Säugetieren an bis zu den höch-
sten, von den Beuteltieren durch die Keihe der Halbaffen und Affen
hindurch bis zum Menschen darstellt — nur allein diese auf dem ver-
gleichenden und genetischen Wege erlangten psychologischen Erkennt-
nisse werden ims das volle Verständnis miseres eigenen Seelenlebens
eröffnen und uns die bewimdernswürdig weitgehende Differenzierung der
psychischen Funktionen erkennen lassen, welche mis vor allen andern
Wirbeltieren auszeichnet.
Daß die induktive mid deduktive Geistesoperation bei den uns
nächstverwandten Wirbeltieren überall nach denselben Gesetzen und in
derselben Weise, wie bei ims selbst, zustande kommt imd angewendet
wird, und daß hier nur quantitative, keine c^ualitativen Differenzen sich
finden, lehrt jede nur einigermaßen imbefangene und sorgfältige Beob-
achtung, z. B. schon bei den uns am meisten umgebenden Haustieren.
Auch hier gehören induktive und deduktive Erkenntnisse zu den all-
gemeinsten und wichtigsten psychischen Prozessen. Wenn z. B. Jagd-
himde, wie bekannt, in die tödlichste Angst geraten, sobald der Jäger
das Schießgewehr auf sie anlegt, so ist diese Erregimg die Folge eines
vollständigen induktiven und deduktiven Denkprozesses. Dm'ch zahl-
reiche einzelne Erfahrungen haben sie die tödliche Wirkung des Schieß-
geAvehrs kennen gelernt. Sie schließen daraus, daß diese Wirkung stets
eintritt, sobald das Gewehr auf ein lebendes Wesen gerichtet wird. Aus
diesem als allgemein erkannten Gesetze folgern sie, daß in diesem spe-
ziellen Falle dieselbe Wirkung eintreten werde, und wenn der Jäger mm
Avirklich auf sie schösse, so hätten sie den vollständigen Beweis von der
Richtigkeit ihres deduktiven Sclilusses erhalten. Auf dieselben psychi-
schen Operationen gründet sich auch die gesamte Erziehung der Haus-
30 Methodik der Morpliologie der Orgunisiiien. IV.
tiere. wie der Menschenkinder, mittels der gebräuchlichsten und allge-
meinsten Erziehungsmittel, der Schläge. Ein Pferd z. B. macht in
zahlreichen einzelnen Fällen die Erfahrung, daß mit einem bestimmten
Zurufe des Kutschers Schläge verbunden sind, die aufhören, sobald es
sich in Trab setzt. Es folgert daraus durch Induktion das Gesetz (die
Erzielumgsmaxime), daß diese Schläge konstant und allgemein mit dem
Zurufe A'erbunden sind, und setzt sich, um jene zu vermeiden, späterhin
sofort von selbst in Trab, sobald der Zuruf ertönt. Das Pferd schließt
hier in jedem einzelnen Falle durch Deduktion zurück, daß auf den Zu-
ruf die Schläge erfolgen werden, und wenn sie wirldich erfolgen, so war
die Verifikation seiner Deduktion geliefert.
Viertes Kapitel: Zweite Hälfte.
Kritik der naturwissenschaftlichen Methoden, welche sich
gegenseitig" notwendig ausschließen müssen.
IT. Dog:iuatik und Kritik.
„In aller Bearbeitung der Wissenschaften treten sich stets zwei
Methoden als unmittelbare Gegensätze gegenüber. Einerseits ist es
die dogmatische Behandlung, die schon alles weiß, der mit ihrem
augenblicklichen Standpunkt die Geschichte ein Ende erreiclit hat.
die ihre Weisheit wohlverteilt und wohlgeordnet vorträgt und von
ihren Schülern keinen andern Bestimmungsgrnnd zur Annahme des
Gehörten fordert, als das auxo; I97.. Dieser in ihrem ganzen Wesen
falschen Weise tritt nun die andere entgegen, die wir für die reine
Philosophie die kritische, für die angewandte Philosophie und für
die Naturwissenschaften die induktorische Methode nennen; die sich
bescheidet, noch wenig zu wissen; die ihren Standpunkt von vorn-
herein nur als eine Stufe in der Geschichte der Menschheit ansieht,
über welche hinaus es noch viele folgende und höhere gibt, die
aber freilicli nur als ihr folgende angesehen werden können, und
die ihre Schüler auffordert, sie zu begleiten und unter ihrer An-
leitung im eigenen Geist und in der Natur zu suchen und zu finden."
Schieiden (Grundzüge der wissensch. Botanik, III. Aufl. p. 4).
Obgleich es wohl nach dem vorstehenden Ausspruche Schlei-
dens, der den Gegensatz zwischen kritischer und dogmatischer
Methode scharf charakterisiert, scheinen könnte, als ob die kritische
Methode mit dei- im vorigen Abschnitte erläuterten induktiven Me-
IY_ IV. Dogmatik und Kritik. 31
thode identisch sei, so glauben wir doch, daß man richtiger die
letztere nur als einen Inhaltsteil der ersteren, als eine ihr subordi-
nierte Methode auffaßt. Der Umfang des Begriffs der „Kritik" ist
weiter als derjenige der „Induktion", und nach unserer Überzeugung
muß auch die Deduktion, welche doch von der Induktion wesentlich
verschieden und ihr gewissermaßen entgegengesetzt ist (indem sie
umgekehrt verfährt), stets nicht minder „kritisch" zu Werke gehen,
als die Induktion selbst. Wir halten es daher nicht für überflüssig,
die Bedeutung der kritischen Forschungsmethode hier noch beson-
ders zu erörtern: um so mehr, als einerseits wir im vorigen Ab-
schnitt die Induktion nur im Gegensatz zur Deduktion (und nicht
zur Dogmatik) besprochen haben, andererseits aber die nur allzu
häufige Vernachlässigung der kritischen Methode den biologischen
Naturwissenschaften und ganz besonders den verschiedenen Zweigen
der organischen Morphologie offenbar geschadet hat.
Denn wenn man die vielen grundverschiedenen Ansichten über-
blickt und vergleicht, welche von den verschiedenen Morphologen
zur Erklärung sowohl zahlloser Einzelerscheinungen als auch größerer
Erscheinungsreihen auf dem botanischen und zoologischen Gebiete
aufgestellt worden sind, so erkennt man bald, daß nicht bloß die
Schwierigkeit des höchst verwickelten Gegenstandes selbst, sondern
mehr noch Mangel an allgemeinem Überblick und vor allem Mangel
an Kritik diese grellen und seltsamen Widersprüche bedingt. Statt
umsichtiger und auf breite induktive Basis wohlbegründeter Theo-
rien treffen wir vielmehr fast allenthalben höchst vage Hypothesen
von durchaus dogmatischem Charakter an; ja bei aufrichtiger Prü-
fung des gegenwärtigen Zustandes unserer Wissenschaft müssen wir
zu uuserm Leidwesen gestehen, daß überall in derselben die dogma-
tische Richtung noch weit die ki'itische überwiegt.
Leider ist dieser höchst schädliche Mangel an Kritik so all-
gemein und hat insbesondere in den letzten Dezennien, gleichzeitig
und in gleichem Schritt mit dem extensiven Wachstum und der da-
mit verbundenen Verflachung der organischen Morphologie, so sehr
zugenommen, daß wir kein einzelnes Beispiel anzuführen und den
unparteiischen Leser bloß zu ersuchen brauchen, einen Blick in eine
beliebige Zeitschrift für „wissenschaftliche" Zoologie oder Botanik
zu werfen, um sich von dem dogmatischen und kritiklosen Charakter
der meisten Arbeiten zu überzeugen. Nirgends aber tritt dieser
Charakter so nackt und abschreckend zutage, als in der Mehrzahl
32 3Iethodik der Morphologie der Organismen. IV_
derjenigen Schritten, welche die Speziesfrage behandehi. und ins-
besondere in denjenigen, welche die Deszendenztheorie zu bekämpfen
suchen. Daß gerade in dieser hochwichtigen allgemeinen Frage die
gänzlich dogmatische und kritiklose Richtung der organischen Mor-
phologie in ihrer ganzen Blöße und Schwäche auftritt, kann freilich
niemanden überraschen, der durch eigene systematische Studien sich
einen Begriff von dem außerordentlichen Gewicht dieser allgemeinen
Frage gebildet und dabei die Überzeugung gewonnen hat. daß hier
ein einziges kolossales Dogma die gesamte Wissenschaft nach Art
des drückendsten Absolutismus beherrscht. Denn nur als ein
kolossales Dogma, welches ebenso durch hohes Alter ge-
heiligt, und durch blinden Autoritätenglauben mächtig,
wie in seinen Prämissen haltlos und in seinen Konsequen-
zen sinnlos ist, müssen wir hier offen die gegenwärtig
immer noch herrschende Ansicht bezeichnen, daß die Spe-
zies oder Art konstant und eine für sich selbständig er-
schaffene Form der Organisation ist.
„Immerfort wiederholte Phrasen verknöchern sich zuletzt zur
Überzeugung und verstumpfen völlig die Organe des Anschauens."
Dieses goldene Wort Goethes findet nirgends in höherem Grade
Geltung, als in dieser Frage. In der Tat, wenn man mit kritischer
Vorurteilslosigkeit unbefangen alle Voraussetzungen erwägt, auf
welche die Anhänger des Speziesdogma sich stützen, und die Folge-
rungen zieht, welche notwendig aus demselben gezogen werden
müssen, so begreift man nur durch Annahme „einer völligen Ver-
stumpf ung der Organe des Anschauens", wie dieses in sich hohle
und widerspruchsvolle Dogma 130 Jahre hindurch fast unangefochten
bestehen, und wie dasselbe nicht allein die Masse der gedanken-
losen Naturbeobachter, sondern auch die besten und denkendsten
Köpfe der Wissenschaft beherrschen konnte. Seltsames Schauspiel!
Einem Götzen gleich steht allmächtig und allbeherrschend dieses
paradoxe Dogma da, welches nichts erklärt und nichts nützt, und
welches zu der Gesamtheit aller allgemeinen biologischen Erscheinungs-
reihen sich im entschiedensten Widerspruche befindet. Während
alle einzelnen größeren und kleineren Tatsachenreihen, welche auf
dem Gebiete der Biologie und namentlich der Morphologie seit
mehr als hundert Jahren sich so massenhaft angehäuft haben, über-
einstimmend und gleichsam spontan zu dem großen Resultate hinleiten,
daß die unendliche Mannigfaltigkeit der Tier- und Pflanzenfonnen
1V_ Y. Teleologie und Kausalität. 33
die reich differenzierte Nachkommenschaft einiger weniger einfacher
gemeinsamer Stammformen sei, während alle anatomischen nnd
embryologischen, alle paläontologischen und geologischen Data ebenso
einfach als notwendig anf dieses gewaltige Resultat hinarbeiten,
bleibt die entgegengesetzte, rein dogmatische und durch keine Tat-
sachen gestützte Ansicht über ein Jahrhundert lang allgemein herr-
schend! Credunt. quia absurdum est!
In Wahrheit ist diese Betrachtung für die Geschichte der
Wissenschaft von hohem Interesse, und keine andere kann uns in
so hohem Grade vor den Gefahren und Nachteilen einer dogma-
tischen und lediglich durch die Autorität gestützten Anschauungs-
weise warnen, und so nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer
strengen kritischen Untersuchungsmethode hinweisen. Wären die
Morphologen nur mit etwas mehr Kritik verfahren und hätten sie die
Autorität des Speziesdogma nur etwas weniger gefürchtet, so hätte
dasselbe schon längst in sich zusammenstürzen müssen. Und wie-
viel weiter wären wir dadurch gekommen! So aber bewährt sich
auch hier wieder der alte Spruch von Goethe: „Die Autorität ver-
ewigt im einzelnen, was einzeln vorübergehen sollte, lehnt ab und
läßt vorübergehen, was festgehalten werden sollte, und ist haupt-
sächlich Ursache, daß die Menschheit nicht vom Flecke kommt."
T. Teleologie und Kausalität.
(Vitalismus und Mechanismus.)
..Ein mechanisches Kunstwerk ist hervorgebracht nach einer
dem Künstler vorschwebenden Idee, dem Zwecke seiner Wirkung.
Eine Idee liegt auch jedem Organismus zugrunde, und nach dieser
Idee werden aUe Organe zweckmäßig organisiert; aber diese Idee
ist außer der Maschine, dagegen in dem Organismus, und hier
schafft sie mit Notwendigkeit und ohne Absicht. Denn die
zweckmäßig wirkende wirksame Ursache der organischen Körper
hat keinerlei Wahl, und die Verwirklichung eines einzigen Plans ist
ihre Notwendigkeit: vielmehr ist zweckmäßig wirken und
notwendig wirken in dieser wirksamen Ursache ein und
dasselbe. Man darf daher die organisierende Kraft nicht mit
etwas dem Geistesbewußtsein Analogen, man darf ihre blinde not-
wendige Tätigkeit mit keinem Begriffbilden vergleichen. Organismus
ist die faktische Einheit von organischer Schöpfungskraft und organi-
H a e c k e 1 , Prinz, d. Morphol. ' 3
34 Methodik der Morphologie der Organismen. IV.
scher Materie." Johannes Müller (Handbuch der Physiologie des
Menschen, I, S. 23; 11, S. 505).
Indem wir in die Untersuchung des äußerst wichtigen Gegen-
satzes zwischen der teleologischen oder vitalistischen und der mecha-
nischen oder kausalistischen Naturbetrachtung eintreten, schicken
wir einen Ausspruch Johannes Müllers voraus, der für das
Wesen dieses Gegensatzes sehr charakteristisch ist. Johannes
Müller, den wir als den größten Physiologen und Morphologen der
ersten Hälfte unseres Jahrhunderts verehren, war bekanntlich seiner
innersten Überzeugung nach Vitalist, trotzdem er mehr als irgend-
ein anderer Physiolog vor ihm für den Durchbruch der mechani-
schen Richtung in der Physiologie getan und in einer Reihe der
glänzendsten und vorzüghchsten Arbeiten auf allen einzelnen physi-
ologischen Gebietsteilen die alleinige Anwendbarkeit der mechani-
schen Methode bewiesen hatte. Es begegnete ihm nur bisweilen,
wie auch anderen in diesem dualistischen Zwiespalt befangenen
Naturforschern, daß er auch in seinen allgemeinen Aussprüchen,
die doch eigentlich von vitalistischen Grundlagen ausgingen, sich
von der allein richtigen mechanischen Beurteilungsweise auch der
organischen Naturköiper fortreißen ließ. Und als ein solcher Aus-
spruch ist die obige Stelle, durch welche er seine Betrachtungen
über das Seelenleben einleitet, von besonderem Interesse.
Denn was ist eine in jedem Organismus liegende „Idee, welche
mit Notwendigkeit und ohne Absicht wirkt", anders, als die
mit dem materiellen Substrate des Organismus unzertrennlich ver-
bundene Kraft, welche „mit Notwendigkeit und ohne Absicht" sämt-
liche biologische Erscheinungen bedingt? Wenn, wie Müller sagt,
zweckmäßig wirken und notwendig wirken in dieser wirksamen Ur-
sache im Organismus eins und dasselbe ist, so fällt die zweck-
tätige Causa finalis mit der mechanischen Causa efficiens zu-
sammen, so gibt die erstere sich selbst auf, um sich der letzteren
unterzuordnen, so ist die mechanische Auffassung der Organismen
als die allein richtige anerkannt.
Wir haben absichtlich das Beispiel Johannes Müllers ge-
wählt, um diesen inneren Widerspruch der teleologischen Naturbe-
trachtung zu zeigen, einerseits weil dieser unser großer Meister, der
so erhaben über der großen Mehrzahl der heutigen Physiologen und
Morphologen dasteht, von vielen schwächeren Geistern als Autorität
zugunsten der Teleologie angerufen wird, andererseits weil an ihm
IV. V. Teleologie und Kausalität. 35
sich dieser innere Widersprucli recht auffallend offenbart. Wer sein
klassisches ..Handbuch der Physiologie des Menschen" studiert hat,
wer seine bahnbrechenden mechanischen Untersuchungen über die
Physiologie der Stimme und Sprache, des Gesichtssinns und des
Nervensystems usw. kennen gelernt hat, der wird von der allein
möglichen Anwendung der kausal - mechanischen Untersuchungs-
methode des Organismus aufs tiefste durchdrungen sein; und er
wird sich in dieser Überzeugung durch die vitalistisch-teleologischen
Irrtümer, welche mit Müllers allgemein biologischen Bemerkungen
verwebt sind, und welche bei schärferer Betrachtung zu unlösbaren
Widersprüchen führen, nicht irre machen lassen. Wie du Bois-
Reymond treffend bemerkt, „tritt bei Johannes Müller dieser
Irrtum aus dem Nebel vitalistischer Träumereien klar und scharf
hervor, mit Hand und Fuß, Fleisch und Bein zum Angriff bietend.
Muß, wie aus Müllers Betrachtungen folgt, die Lebenskraft gedacht
werden als ohne bestimmten Sitz, als teilbar in unendlich viele dem
Ganzen gleichwertige Bruchteile, als im Tode oder Scheintode ohne
Wirkung verschwindend, als mit Bewußtsein und im Besitze physi-
kalischer und chemischer Kenntnisse nach einem Plane handelnd,
so ist es so gut, als ob man sagte: es gibt keine Lebenskraft;
der apogogische Beweis für die andere Behauptung ist geführt."
Es könnte wohl manchem überflüssig erscheinen, hier die ab-
solute Verwerflichkeit der vitalistisch-teleologischen Naturbetrachtung
und die alleinige Anwendbarkeit der mechanisch-kausalistischen über-
haupt noch hervorzuheben. Denn in den allermeisten naturwissen-
schaftlichen Disziplinen, vor allem in der gesamten Physik und
Chemie, ferner auch in der Morphologie der Anorgane (Kristallo-
graphie usw.). wie überhaupt in der gesamten Abiologie ist infolge
der enormen Erkenntnisfortschritte unseres Jahrhunderts jede teleo-
logische und \italistische Betrachtungsweise so vollständig verdrängt
worden, daß sie sich mit Ehren nicht mehr sehen lassen kann.
Dasselbe gilt von der Physiologie, in welcher jetzt die mechanisch-
kausale Methode die Alleinherrschaft gewonnen hat; nur derjenige
gänzlich unkultivierte Teil der Physiologie des Zentralnervensystems,
welcher das Seelenleben behandelt und künftig einmal als empiri-
sche Psychologie die Grundlage der gesamten ., reinen Philosophie"
werden wird, liegt noch gänzlich außerhalb dieses Fortschrittes und
ist noch gegenwärtig ein Tummelplatz der willkürlichsten vitalisti-
schen und teleologischen Träumereien. Leider müssen wir nun das-
'd*
36 jMethoclik der ]\Ioipliologie der Organismen. Y\\
selbe, was von der Physiologie der Psyche gilt, auch von der ge-
samten Morphologie der Organismen und vor allen der Tiere sagen.
Immer spukt hier noch am hellen Tage das Gespenst der „Lebens-
kraft" oder der „zweckmäßig wirkenden Idee im Organismus", und
wenn auch die wenigsten Morphologen mit klarem Bewußtsein dem-
selben folgen und daran glauben, so beherrscht dasselbe desto mehr
unbewußt die meisten Versuche, welche zu einer Erklärung der
organischen Gestaltungsprozesse gemacht werden. Die noch all-
gemein in der vergleichenden Anatomie üblichen Ausdrücke des
„Plans, Bauplans, der allgemeinen Idee", welche diese oder jene
Formverhältnisse bedingen, die vielgebrauchte Wendung der ..Ab-
sicht", des ..Zwecks", welchen die „schöpferische" Natur durch diese
oder jene ..Einrichtung" erreichen will, endlich die neuerdings viel-
fach beliebte Phrase von dem .,Gedanken", welchen der ,,Schöpfer"
in diesem oder jenem Organismus ..verkörpert" hat. bezeugen hin-
länglich, wie tief hier die alte Irrlehre Wurzel geschlagen hat, und
zwingen uns zu einer kurzen Widerlegung derselben.
Zunächst ist hier hervorzuheben, daß man die ..vitalistische"
und ..teleologische" Beurteilungsweise der Organismen, wie wir be-
reits getan haben, als identisch annehmen und der „mechanischen"
Methode, welche ihrerseits mit der „kausalistischen" zusammenfällt,
gegenübersetzen kann. Denn es ist in der Tat vollkommen für die
Sache gleichgültig, unter welchem Namen sich die erstere verbirgt,
und ob sich das von der Materie verschiedene organisierende Prinzip,
welches das „Leben" und den „Organismus" erzeugt und erhält,
..Lebenskraft" nennt, oder „Vitalprinzip", ..organische Kraft" oder
„Schöpferkraft", „systematischer Grundcharakter" (Reichert) „zweck-
mäßiger Bauplan des Organismus", „Schöpfungsgedanke" (Agassiz),
oder „ideale Ursache", „Endzweck" oder „zwecktätige Ursache (End-
ursache. Causa finalis)". Alle diese scheinbar so verschiedenen Aus-
drücke sind im Grunde doch nur äußerlich verschiedene Bezeich-
nungen für eine und dieselbe irrige Vorstellung. Das Wesentliche
in dieser Vorstellung bleibt immer, daß diese ., Kraft" eine ganz be-
sondere, von den chemischen und physikalischen Kräften verschie-
dene und nicht an die Materie gebunden ist. welche sie organisiert.
Dadurch steht dieses Dogma von der Lebenskraft oder den End-
ursachen in einem scharfen und unversöhnlichen (üegensatze zu der
„mechanischen" oder ..kausalen" Auffassung, nach welcher das
Leben eine Bewegungsei'scheinung ist, die sich nur durch ihre
IV, V. Teleologie und Kausalität. 37
kompliziertere Ziisaniniensetzung von den einfacheren physikaliscli-
eliemischen ..Kräften'" der Anorgane (Mineralien. Wasser, Atmo-
sphäre) nnterscheidet, und welche ebenso unzertrennlich mit den
zusammengesetzteren Materien des Organismus verbunden ist. wie
die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Anorgane mit
ihrem materiellen Substrate. Diese Verbindung ist eine absolut not-
wendige. Die gesamten komplizierten ..Lebenserscheinungen der
Organismen" sind ebenso durch eine absolute Notwendigkeit
bedingt, wie die einfacheren ..Funktionen" oder „Kräfte" der anor-
ganischen Naturkörper. Hier wie dort sind es allein mechanische
Ursachen (Causae efficientes), welche der Materie inhärieren
und welche unter gleichen Bedingungen stets mit Notwendigkeit die
gleiche Wirkung äußern.
Hier tritt uns nun das einfache Kausalgesetz, das Gesetz
des notwendigen Zusammenhanges von Ursache und Wirkung, als
das erste und oberste aller Naturgesetze entgegen, welches die ge-
samte Natur, lebendige wie leblose, mit absoluter Notwendigkeit
beherrscht. Dieses wichtigste Naturgesetz, in welchem unsere ge-
samte Naturerkenntnis gipfelt, sagt zunächst aus, daß jede Wirkung
ihre bestimmte wirkende Ursache (causa efficiens), sowie jede
Ursache ihre notwendige Wirkung (effectus) hat. Aus diesem
notwendigen und unlösbaren Zusammenhange von Ursache und
Wirkung, welcher die Grundlage unserer ganzen Erkenntnis, unserer
gesamten Verstandestätigkeit ist. folgt dann weiter, daß verschie-
dene Wirkungen auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden
müssen, sowie umgekehrt aus verschiedenen Ursachen stets ver-
schiedene Wirkungen abzuleiten sind; und ebenso folgt daraus, daß
gleiche Wirkungen den gleichen Ursachen zuzuschreiben sind, sowie
auch umgekehrt gleiche Ursachen stets notwendig gleiche Wirkungen
haben müssen.
Nach diesem ersten und höchsten aller Naturgesetze ist Alles,
was in der Natur existiert, entstellt und vergeht, das notwendige
Resultat aus einer Anzahl vorhergehender Faktoren, und dieses Re-
sultat ist selbst wieder ein Faktor, der zur Hervorbringung anderer
Resultate mit absoluter Notwendigkeit mitwirkt. Diese absolute Not-
wendigkeit des unmittelbaren Zusammenhanges von Ursache und
Wirkung beherrscht die gesamte Natur ohne Ausnahme, da ja die
gesamte Natur, lebendige und leblose, nichts anderes ist als ein
Wechselspiel von Kräften, welche der gegebenen Summe von Materie
38 Methüdik der ^lorphologie der Organismen. IV.
inhärieren. Wenn man dem entgegen in der organischen Natur, in
den belebten Naturkörpern eine Wirkung ohne Ursache, eine Kraft
ohne Stoff angenommen liat. welche mithin dem Kausalgesetz nicht
unterworfen wäre, so ist dieser Irrtum lediglich durch die weit
größere Komplikation der hier auftretenden Bewegungserscheinungen
hervorgerufen worden, durch die weit größere Anzahl der verschie-
denen Faktoren, welche auf dem Lebensgebiete zur Hervorbringung
jedes Resultats zusammenwirken, und durch die weit zusammenge-
setztere Natur dieser Faktoren selbst. Da wir im zweiten und
sechsten Buche auf dieses Verhältnis noch näher zurückkommen
müssen, so möge diese Bemerkung genügen und die ausdrückliche
Hinweisung auf die Tatsache, daß in der ganzen Natur dieselben
Kräfte wirksam sind, daß die organische Natur sich aus der anor-
ganischen erst historisch entwickelt hat. und daß nur eine gänz-
liche Verkennung dieses Urastandes und die Übertreibung des Unter-
schiedes der leblosen und belebten Naturkörper zu den gänzlich un-
begründeten teleologischen und vitalistischen Dogmen hat verführen
können. Alles was uns in der lebendigen Natur als das vorbedachte
Resultat einer freien zwecktätigen Ursache, einer causa finalis er-
scheint, welche die physikalisch-chemischen Ursachen beherrscht und
von ihnen unabhängig ist, alles das ist in der Tat weiter nichts, als
die notwendige Folge der Wechselwirkung zwischen den existierenden
mechanischen Ursachen (den „existing causes" oder den physi-
kalisch-chemischen Ursachen), ist nichts, als die notwendige Wirkung
mehrerer Causae efficientes.
Daß in der Tat freie zwecktätige Ursachen oder Causae finales
in der gesamten Natur nicht existieren, daß vielmehr überall nur
notwendige mechanische Ursachen tätig sind, wird durch die Ge-
samtheit aller Erscheinungen in der organischen und anorganischen
Natur auf das unwiderlegiichste bewiesen. Unter allen biologischen
Erscheinungsreihen ist aber .in dieser Beziehung keine von so außer-
ordentlicher Wichtigkeit und dabei bisher so gänzHch fast von allen
Philosophen und Naturforschern vernachlässigt, als die Wissen-
schaft von den rudimentären Organen, welche wir geradezu die
Unzweckmäßigkeitslehre, Dysteleologie nennen könnten. Jeder
höhere und entwickeltere Organismus, und wahrscheinlich die große
Mehrzahl der Organismen überhaupt, ist im Besitz von Organen, welche
keine Funktionen haben, welche zu keiner Zeit des Lebens jemals tätig
sind und welche im besten Falle dem Organismus gleichgültig, häufig
\\\ V. Teleologie und Kausalität. 39
ihm aber geradezu nachteilig sind. Diese rudimentären Organe,
welche zu aller Zeit das größte Kreuz der Teleologie waren, sind in
der Tat für dieselbe das unübersteiglichste Hindernis, und diese so-
wohl als die zahlreichen anderen unzweckmäßigen und unvoll-
kommenen, oft sogar für den Organismus selbst höchst
nachteiligen und schädlichen Einrichtungen, welche bei
zahlreichen Organismen vorkommen, lassen sich lediglich aus den
mechanischen wirkenden Ursachen und durchaus nicht aus zweck-
tätigen Endursachen erklären. Diese Erklärung ist nun zuerst von
Darwin gegeben worden. Seine große Entdeckung der natürlichen
Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein erklärt alle diese Verhält-
nisse ganz vollkommen, wie im fünften und sechsten Buche ge-
zeigt werden wird.
Da wir dort diese Verhältnisse noch ausführlich zu erörtern haben,
so genügt hier der Hinweis auf das ganz besondere Verdienst, welches
Darwin um die definitive Lösung dieser äußerst wichtigen Funda-
mentalfragen hat. Wir erblicken in Darwins Entdeckung der
natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein den schla-
gendsten Beweis für die ausschließliche Gültigkeit der
mechanisch wirkenden Ursachen auf dem gesamten Gebiete
der Biologie, wir erblicken darin den definitiven Tod
aller teleologischen und vitalistischen Beurteilung der
Organismen.
Die unschätzbaren Entdeckungen Darwins haben das Gesamtgebiet
der organischen Natur pliUzlich durch einen so hellen Lichtstrahl er-
leuchtet, daß wir fürderhin keine Tatsache auf demselben mehr als un-
erklärbar werden anzusehen hal)en. Wir sagen: „unerldärbar", nicht:
„unerklärt". Denn erklärt ist auf diesem ganzen vasten Gebiet immer
noch im ganzen außerordentlich wenig. Freilich hatte die strenge phy-
sikalisch-chemische Richtung in der Physiologie die Lebensfnnktionen der
bestehenden Organismen schon seit mehreren Dezennien in so hohem
Maße aufgeklärt und so viele, wenn auch zmiächst nur beschränkte Ge-
setze gefunden, daß an einer vollständigen Erklärung aller Erscheinmigen
auf diesen Gel)ieten mittels rein mechanisch wirkender Ursachen schon
vor dem Erscheinen von Darwins epochemachendem Werk (1859) nicht
gezweifelt Averden konnte. Ganz anders aber sah es bis dahin auf
dem Gebiete der Anatomie und der Entwickelungsgeschichte aus. Die
Entsteluuig der organischen Formen, die Entwickelungsgeschichte der
Organismen galten fast allgemein für Erscheinungsreihen, welche jeder
mechanischen Ivausalerklärnng vollständig unzugänglich seien, und auf
welche nur durch teleologisch-vitalistische Betrachtungen ein erklärendes
40 Methodik der Morphologie der Organismen. IV.
Licht geworfen werden könne. \) Diesen Irrtum hat Darwin vollständig-
imd mit einem Schlage vernichtet. Darwin hat evident bewiesen, wie
es die einfachsten mechanischen Kausalverhältnisse sind, welche diese
anscheinend so komplizierten und für so ganz unerldärlich gehaltenen
Lebenserscheinungen, die Formbildiuig und die Entwickelung regeln und
beherrschen. Da wir dies im fünften und sechsten Buche auseinander-
zusetzen haben, so können wir hier darauf verweisen.
Nur ein Umstand möge hier noch besonders liervorgehol)en Averden.
nämlich, daß durch die von Darwin tatsächlich erklärte Entstehung der
kompliziertesten organischen Formen bereits faktisch die Hauptstütze der
Teleologie vernichtet und zertrümmert ist. Alle einer teleologischen Be-
trachtung der organischen Naturerscheinungen geneigten Philosophen und
vor allen Kant, dessen Einfluß auf die Entwickelung der Naturwissen-
schaft in unserem Jahrhundert (wegen seiner breiteren empirischen Grund-
lage) größer geworden ist als derjenige irgendeines anderen spekulativen
Philosophen, hatte ausdrücklich für die Notwendigkeit einer teleologischen
Beurteilung der organischen Natur hervorgehoben, daß deren Prozesse
vollkommen unerklärlich, dem Erkenntnisvermögen des Menschen nicht
zugänglich, und daß insbesondere die Entstehung der komplizierteren
Organismen durch bloß mechanische Ursachen vollkommen imbegreiflich
sei. Die Befugnis der mechanischen Ursachen zur Erklärung dieser
Erscheiiiungen wurde von Kant ausdrücklich zugestanden, aber das Ver-
mögen der Erklärung ihnen abgesprochen. Daher wollte er auch die
„natürliche Zweckmäßigkeit" der Teleologie nur als Maxime der Be-
urteilung, nicht als Erkenntnisi)rinzip zulassen. Ausdrücklich sagte er
deshalb, daß die lel)endige Natur nicht Gegenstand der Erkenntnis,
1) Daß in der Tat der besclnänkte teleologisch-vitahstische Standpunkt,
nur iu den verschiedensten Nuancen der Konsequenz abgestuft, und
mit den verschiedensten Graden des Bewußtseins verfolgt, in der
gesamten Morphologie der Organismen vor Darwin der allgemein herrschende
gewesen sei (einzelne ehrenvolle Ausnahmen natürlich abgerechnet), könnte viel-
leicht diesem oder jenem, und besonders dem längst der Teleologie entwöhnten
Pliysiologen und Abiologen, eine übertriebene Behauptung erscheinen. Indes
liefert fast die gesamte morphologische Literatur hierfür die schlagendsten Be-
weise. Selten freilich ist dieser kurzsichtige Standpunkt mit solchem Bewußtsein
und solcher Konsequenz festgehalten worden, wie dies z. B. von Keichert
geschehen ist. Wer die ganze Beschränktheit, die wahrhaft komischen Wider-
sprüche, und den gänzlichen Mangel an Überblick der Gesamtnatur und an
EinbHck in ihr kausales Wesen kennen lernen will, die gewöhnlich mit der
extremen Konsequenz des Vitalismus verbunden sind, dem empfehlen wii- zur
ebenso belehrenden als erheiternden F^ektüre die höchst seltsamen und an philo-
sophischer Verworrenheit das Maximum leistenden Aufsätze von Reichert in
Müllers Archiv f. An. u. Ph. etc. 1855 p. 1 (über atomistische und systematische
Naturauffassung) und 185G [). 1 (die Morphologie auf dem Standpunkt der syste-
matischen Naturauffassung).
IW V. Teleologie und Kausalität. 41
sondern bloß der Betrachtung sein könne, weil eben die beAvegenden
Kräfte der ilaterie nicht zur Erklärung der Organisation ausreichten. So
geriet denn auch Kant in die unauflösliche Antinomie zwischen Mecha-
nismus und Teleologie. Während er in seinen „metaphysischen An-
fangsgründen der Naturwissenschaft" bewiesen hatte, daß alles in der
materiellen Natur mechanisch entstehe und aus bewegenden Kräften als
mechanischen Ursachen erklärt Averden müsse, war er mm in der ..Analytik
der teleologischen Urteilskraft" gezwungen zu erklären, daß einiges in der
materiellen Natur, nämlich das Organische, das Leben, nicht mechanisch
entstehen imd nicht aus bewegenden Kräften als rein mechanischen Ursachen
erklärt werden könne. Hier ist die Achillesferse der Kantischen Philo-
sophie. Während Kant in allen seinen Erklärungen der anorganischen
Natur, vor allem in seiner Naturgeschichte des Himmels, ein bewunde-
rungswürdiges Muster der exaktesten denkenden naturwissenschaftlichen
Forschung, der besten Naturphilosophie geliefert hatte, verließ er auf
dem Gebiete der Biologie die allein mögliche Bahn der empirischen Philo-
sophie gänzlich und warf sich der verführerischen Teleologie in die Arme,
die ihn mm von Irrtum zu Irrtum weiter führte.
Wenn dieser große Irrtum einen so hervorragenden und kritischen
Denker, wie Kant war. vollkommen gefangen halten imd zu so starken
dogmatischen Fehlern weiter verleiten konnte, so dürfen wir uns nicht
wundern, daß zahlreiche unljedeutendere Philosophen demselben blindlings
folgten, und daß das ganze Heer der Biologen, welche froh waren, nun
nicht weiter denken zu brauchen, dem aufgepflanzten Banner mit großer
Genugtmmg folgte. In der Tat war es so außerordentlich bequem und
leicht, mit irgendeiner teleologischen Betrachtung jeden Versuch einer
mechanischen Erklärimg der organischen Natur abzuschneiden, daß die
Teleologie bald zum allgemeinen Feldgeschrei der Biologie wurde. Niemand
war froher darüber, als die große Mehrzahl der ^lorphologen, welche nun
migestört der Beobachtmig. Beschreibung und Abbildung aller möglichen
organischen Formen sich hingeben konnten, ohne durch irgendeinen
unbequemen kritischen Gedanken über die mögliche Bedeutung dieser
Formen, über ihre mechanischen Ursachen und über den kausalen Zu-
sammenhang der Formlnldungsreihen beunruhigt zu werden. Da die meisten
Morphologen. sowohl die ..Systematiker" als die ..Anatomen" in diesem
behaglichen imd idyllischen Formgenusse vollkommene Befriedigung fanden,
und da sie in diesem wissenschaftlichen Halbschlafe oder doch wenigstens
in diesem gedankenarmen Traumleben von der eigentlichen Aufgabe ihrer
Wissenschaft, von der Erklärung der organischen Formverhältnisse, keine
Ahnung hatten, so erscheint uns schon hieraus die tiefe Entrüstung voll-
kommen erklärlich, als plötzlich Darwins lauter Weckruf ertönte, imd
diesem behaglichen teleologischen Stilleben mit einem Male ein jähes
und grausames Ende bereitete. Aus behaglichem Mittagsschlummer
durch einen kritischen Stoß aufgeschreckt zu werden ist immer höchst
unangenehm, imd besonders wenn dieser sanfte Schlummerzustand ha-
l)ituell, fast zur anderen Natur geworden ist, wie bei unserer heutigen
Morphologie.
42 Methodik der Morphologie der Organismen. |V.
Was Kant betrifft, so zweifeln wir nicht, daß, wenn er heut erstände,
sein ganzes kritisches Lehrgebäude eine vollkommen andere Form erhalten
würde, und daß er die von Darwin entdeckte mechanische Erklärung
der Entstehung der Organismen und die von der neueren Physiologie
festgestellte mechanische Erklärung ihrer Lebenserscheinungen, nach denen
er so lange und so vergeblich gestrebt, akzeptieren würde. Der biologi-
sche Teil der Kantischen Philosophie würde dann, mit Ausschluß aller
Teleologie, die Erklärung der organischen Natur eben so vollkommen auf
rein mechanische „wirkende Ursachen'' begründen, wie es der abiologische
Teil schon damals in so vollendetem Maße getan hat.
Dadurch, daß wir die Teleologie Kants für einen überwundenen
Standpunkt erklären, wollen wir demselben natürlich in keiner "Weise einen
Vorwurf machen, und es vermindert unsere Verehrung dieses großen Phi-
losophen und unsere Hochachtung vor seinen außerordentlichen Verdiensten
auf dem Gebiete der Abiologie nicht im geringsten, wemi wir demselben
die gleichen Verdienste auf dem biologischen Gebiete absprechen imd seine
Kritik der teleologischen Urteilskraft für ein von der Basis an irrtümliches
Lehrgebäude halten. Wenn man bedenkt, auf welcher außerordentlich
niedrigen Stufe zu Kants Zeit die gesamte empirische Biologie stand, wie
die Physiologie, die Entwickehmgsgeschichte, die Morphologie der Or-
ganismen als selbständige Wissenschaften damals noch gar nicht an-
erkannt waren, so finden wir hierin, und in den vitalistischen Vorurteilen,
die das ganze Zeitalter gefangen hielten, Grund genug dafür, daß Kant
an der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Biologie geradezu verzweifeln
und die Erklärung der lebendigen Natur für etwas Unmögliches halten
konnte. Mit anderen Worten heißt das nichts anderes, als daß die ge-
samten Biologen gleiche Toren sind, wie die ^^elen Träumer, welche den
Stein der Weisen suchten. Wenn die gesamte organische Natur, wie
Kant behauptet, in ihrem innersten Wesen unbegreiflich und unerkennbar
ist, wenn deren Erscheinungen nicht aus mechanisch wirkenden Ursachen
erklärt werden können, so sind alle Naturforscher, welche nach einer
solchen Erklärung streben und suchen, kindische Toren. In dieser not-
wendigen Konsequenz zeigt sich die ganze Unhaltbarkeit der Teleologie
und des davon nicht trennbaren Vitalismus. Die Teleologie als wissen-
schaftliche Methode ist in der Tat unmöglich ; sie verneint sich selbst.
Wenn wir bedenken, daß eine Anzahl von Erscheinungen der organi-
schen Natur schon wirklich erklärt, daß die Gesetze für eine wenn auch
relativ noch kleine Zahl von biologischen Tatsachen bereits wirklich ge-
funden sind, und daß diesen Gesetzen dieselbe absolute Geltung zuge-
standen werden muß, wie jedem physikalisch-chemischen Gesetze, wenn
wir bedenken, daß eine wissenschaftliche Physiologie überhaupt mu' durch
die strengste Ausschließmig jeder Teleologie möglich ist, so werden wir
die letztere auch aus dem Gebiete der organischen Morphologie vollständig
verbannen dürfen. Und am wenigsten werden wir, wenn wir diese Lehre
als wirkliche Wissenschaft ansehen, mit der heuchlerischen Miene, die
viele Morphologen lieben, erklären dürfen, daß wir uns demütig mit der
bloßen erbaulichen Betrachtung der Organismen begnügen und ja keinen
JY_ VI. Dualismus und Monismus. 43
indiskreten Blick in das uns verschlossene Geheimnis ihrer „inneren Natur",
ihres kausalen Wesens tun wollen.
Einen Punkt müssen wir hierbei scliließlich noch ulTen berühren.
Die meisten ^lorphologen der Neuzeit lieben es, die imversöhnliche Gegner-
schaft zwischen teleologischer und mechanischer Biologie durch ein ver-
söhnliches Mäntelchen zu verdecken und einen Kompromiß zwischen den
beiden entgegengesetzten Extremen zu erstreben. Bis zu einer gewissen
Grenze soll die organische Natur erkennbar sein, und von da an soll
die Erkennbarkeit aufhih-en. Eine Reihe von biologischen Erscheinungen
soll sich auf dem mechanischen Wege aus wirkenden Ursachen erklären
lassen, der übrige Rest aber nicht. Dies ist allerdings insofern richtig,
als unser menschliches Erkenntnisvermögen beschränkt ist, und
als wir die letzten Gründe nicht von einer einzigen Erscheinimg wahr-
haft erkennen können. Dies gilt aber in ganz gleichem Maße von
der organischen und anorganischen Natur. Die Entstehung jedes
Kristalls bleibt für uns in ihren letzten Gründen ebenso rätselhaft, wie
die Entstehung jedes Organismus. Die letzten Gründe sind ims hier
nirgends zugänglich. Jenseits der Grenze des Erkenntnisvermögens können
wir uns beliebige, ohne induktive Grundlage gebildete Vorstellungen zu
unserer persönlichen Gemütsbefriedigung schaffen, niemals aber dürfen wir
versuchen, diese rein dogmatischen Vorstellungen des Glaubens in die
Wissenschaft einzuführen. Und ein solches Glaubensdogma ist jeder teleo-
logische und vitalistische Erklärungsversuch.
Von allen denkenden Menschen fordern wir in erster Linie, daß sie
konse(iuent sind, imd von allen Naturforschern, welche die Teleologie und
den Vitalismus iu der Biologie für unentbehrlich halten, fordern wir, daß
sie diese Methode in strengster Konsequenz für die Betrachtung aller
Erscheinungen der organischen Natur ohne Ausnahme, für die gesamte
Physiologie, Entwickelungsgeschichte und Morphologie, durchführen. Unse-
res Wissens liegt nur ein einziger derartiger Versuch im größten Stile
aus der neueren Zeit vor. Das ist der äußerst merkwürdige „Essay on
Classification" von Louis A gas siz, der fast gleichzeitig mit seinem ver-
nichtenden Todfeinde, mit Darwins Theorie, das Licht der Welt erblickte.
Jedem Biologen, welcher sich nicht entschließen kann zur absoluten Ver-
werfung der teleologischen und zur unbedingten Annahme der mechanischen
Methode, empfehlen wir dieses höchst interessante Buch, welches trotz des
größten Aufwandes von Geist in jedem Kapitel sich selbst vernichtet und
negiert, zur aufmerksamen Lektüre. Und wenn er dann noch an dem
Vitalismus oder der Teleologie festhalten kann, empfehlen wir ihm dieselbe
dualistische Konsequenz wie Louis Agassiz.
Tl. Dualismus und Zionismus.
- ..Die Richtung des Denkens der Neuzeit läuft unverkennbar auf
Monismus hinaus. Der Dualismus, fasse man ihn nun als Gegensatz
von Geist und Natur, Inhalt uiul Form. Wesen und Erscheinung,
44 Methodik der Morphologie der Organismen. jy.
oder wie man ilin sonst bezeichnen mag\ ist für die natnrwissen-
schaftliche Anschauung- unserer Tage ein vollkommen überwundener
Standpunkt. Für diese gibt es keine Materie ohne Geist (ohne die
sie bestimmende Notwendigkeit), aber ebensowenig auch Geist ohne
Materie. Oder vielmehr es gibt weder Geist noch Materie im ge-
wöhnlichen Sinne, sondern nur eins, das beides zugleich ist. Diese
auf Beobachtung beruhende Ansicht des Materialismus zu beschul-
digen, ist ebenso verkehrt, als wollte man sie des Spiritualismus
zeihen." August Schleicher.
Diese Worte des berühmten komparativen Linguisten, der die
naturwissenschaftliche Untersuchungsmethode in der vergleichenden
Sprachforschung durchgeführt und als der erste von allen Sprach-
forschern die Theorie Darwins mit ebensoviel Geist als Erfolg auf
diesen Teil der vergleichenden Physiologie angewandt hat, bezeichnen
mit treffender Wahrheit den unversöhnlichen Gegensatz zwischen
Dualismus und Monismus, der unsere gesamte Naturwissenschaft wie
die ganze Denktätigkeit unserer Zeit in zwei feindliche Heerlager
trennt. Wir können nicht umhin, hier am Schlüsse unserer kritisch-
methodologischen Einleitung noch kurz bei einer Betrachtung dieses
Gegensatzes zu verweilen, obschon die vorhergehenden Abschnitte
zur Genüge gezeigt haben werden, daß wir den Monismus in aller
Schärfe und in seinem vollen Umfange für die einzig richtige Welt-
anschauung und folglich auch für die einzig richtige Methode in der
gesamten Naturwissenschaft halten, und daß wir jede dualistische
Erkenntnismethode unbedingt verwerfen.
Die tatsächliche A^ereinigung und vollkommene Versöhnung,
welche in dem Monismus solche scheinbare Gegensätze finden, wie
es Kraft und Stoff, Geist und Körper, Freiheit und Natur, Wesen
und Erscheinung sind, ist auf keinem Gebiete des Erkennens mehr
hervorzuheben als auf demjenigen der Biologie und vor allem auf
dem der organischen Morphologie. Denn wie schon im vorher-
gehenden vielfach gezeigt worden ist, hat nichts so sehr einer ge-
sunden und natürlichen Entwickelung unserer Wissenschaft geschadet,
als der künstlich erzeugte Dualismus, durch welchen man bei jeder
Beurteilung eines Organismus seiner materiellen körperlichen Er-
scheinung eine davon unabhängige Idee oder einen „Lebenszweck"
entgegensetzte, ein Dualismus, welcher sich in der naturwissenschaft-
lichen Untersuchungsmethode als Gegensatz von Philosophie und
Naturwissenschaft, von Denken und Erfahren überall zum größten
IV, VI. Dualismus uud Monismus. 45
Schaden einer natürliclien Erkenntnis entwickelt hat. Wie unendlich
viel weiter würde unsere Wissenschaft jetzt sein, wenn man sich
dieses künstlich erzeugten Zwiespalts bewußt geworden wäre, und
wenn man mit klarem Bewußtsein die monistische Beurteilungsweise
als die einzig mögliche Methode einer wirklichen Naturerkenntnis
befolgt hätte.
Indem der Monismus als piiilosophisclies System nichts anderes
als das reinste und allgemeinste Resultat unserer allgemeinen wissen-
schaftlichen Weltanschauung, unserer gesamten Naturerkenntniß
ist. bildet seine unterste und festeste Grundlage das allgemeine
Kausalgesetz: „Jede Ursache, jede Kraft, hat ihre notwendige
Wirkung, und jede Wirkung, jede Erscheinung, hat ihre notwendige
Ursache.'' Schon hieraus ergibt sich, daß derselbe jede Teleologie
und jeden Yitalismus, welche Form dieser auch annehmen mag,
absolut verneint, und insofern ist die monistische Methode in der
Biologie zugleich die mechanische, die kausale, deren alleinige
Berechtigung der vorige Abschnitt dargetan hat. Da nun die viel-
bestrittene Geltung des mechanischen Kausalgesetzes in der
organischen Natur durch nichts so sehr gefördert und so bestimmt
begründet worden ist. als durch Darwins Theorie, so können wir
auch diese Lehre als eine rein monistische bezeichnen. Und in der
Tat beruht dieses ganze wundervolle Lehrgebäude, wie alle einzelnen
Teile desselben, vollkommen auf reinen monistischen Anschauungen.
Wenn wir dereinst mit Hülfe der Deszendenztheorie die gesamte
Morphologie der Organismen auf die allein sichere Grundlage
der mechanischen Naturgesetze begründet, die Erscheinungen der
organischen Morphologie mechanisch-kausal, aus ihren wirkenden
Ursachen werden erklärt haben, so wird das darauf gegründete
System der Morphologie der Organismen ein absolut
monistisches Lehrgebäude sein, wie es freihch jede wahre
Wissenschaft, insofern sie Naturwissenschaft sein will und muß, mit
Notwendigkeit erstreben muß.
Da der Ausdruck Monismus in unzweideutiger Weise diejenige
kritische Auffassung der gesamten (organischen und anorganischen)
Natur, und diejenige kritische Methode ihrer Erkenntnis, welche wir
auf den vorhergehenden Seiten als die allein mögliche und durch-
führbare dargetan haben, bezeichnet, so werden wir uns dieses kurzen
und bec|uemen Ausdrucks stets bedienen, wo es darauf ankommt, an
die von uns ausschließlich befolgte Methode zu erinnern: andererseits
46 Methodik der Morphologie der Organismen. IV.
werden wir als Dualismus stets kurz diejenigen verschiedenen,
der unserigen entgegengesetzten Auffassungsweisen der Natur und
Methoden ihrer Erkenntnis bezeichnen, welche als „teleologische"
und ..vitalistische," als „systematische" und „spekulative" Dogmen
für die Beurteilung und Erkenntnis der organischen Natur andere
Methoden fordern, als für die Beurteilung und Erkenntnis der an-
organischen Natur allgemein anerkannt sind.
A'on allen Gegensätzen, welche der Dualismus künstlich erzeugt und
aufstellt, und welche der Monismus versöhnt und aulhebt, ist keiner für
die gesamte Wissenschaft wichtiger, als der auch jetzt noch meist so
allgemein festgehaltene Gegensatz von Kraft und Stoff, von Geist und
Materie und der auf diese künstliche Antinomie gegründete Gegensatz
von Erfahrung und Denken, von empirischer Naturwissenschaft und spe-
kulativer Philosophie. Wir haben oben im Eingange unserer methodo-
logischen Erörterungen die absolute Notwendigkeit einer Vereinigung
dieser Richtungen nachzuweisen versucht, und wir müssen hier am Ende
nochmals kurz darauf zurückkommen, da nach unserer festesten Über-
zeugung die versöhnende Aufhebung dieses Gegensatzes den Anfang und
das Ende, das A und das 0 aller wirklichen „Wissenschaft" bildet.
Leider wird ja immer noch von so vielen Seiten der durchaus künst-
liche Gegensatz, durch welchen nian Empirie und Philosophie zu trennen
sucht und welcher vorzüglich einer höchst einseitigen Verfolgung jeder
der beiden Richtungen entsprungen ist, so starr festgehalten, daß nicht
genug auf die Notwendigkeit ihrer Versöhnung durch den Monismus hin-
gewiesen werden kann.
Die vollendete Philosophie der Zukunft, w^elche wir oben als das
reife Resultat der notwendigen und vollkommenen gegenseitigen Durch-
dringung von Empirie und Philosophie bezeichnet Imben, wird in der
Tat nichts weiter sein als ein vollendetes System des Monismus. Frei-
lich wird zur Erreichung dieses hohen Zieles vor allem die erste Vor-
bedingung zu erfüllen sein, daß die Naturforscher Philosophen werden
und daß sich die Philosophen in Naturforscher nmwandeln, oder daß
sich, mit anderen Worten, dieser durchaus künstliche und höchst schäd-
liche Zwiespalt aufhebt. In der Tat ist, wenn wir an beide die An-
forderung einer vollständig reifen Ausbildung auf ihrem Gebiete stellen,
nicht ein Unterschied — wir sagen: nicht ein Unterschied — zwischen
Naturforschern und Philosophen, zwischen Natur- Wissenschaft und Natur-
Philosophie ausfindig zu machen. Beide sind vielmehr stets und über-
all ein und dasselbe. Die höher entwickelte Zukunft wird diesen
künstlich erzeugten Dualismus nicht mehr kennen. Ihre monistische
Weltanschauung wird Naturwissenschaft und Philosophie zu
dem großen Ganzen einer einzigen allumfassenden Wissenschaft ver-
schmelzen.
Z^YEITES BUCH.
ALLGEMEINE UNTERSUCHUNGEN
ÜBER DIE NATUR UND ERSTE ENTSTEHUNG DER
ORGANISMEN, IHR VERHÄLTNIS ZU DEN ANORGANEN
UND IHRE EINTEILUNG IN TIERE UND PFLANZEN.
(PRINZIPIEN DER GENERELLEN BIOLOGIE.)
..Ins Innre der Natur" —
0 du Philister! —
..Dringt kein erschaffner Geist."
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern;
Wir denken : Ort für Ort
Sind wir im Innern.
..Glückselig! wem sie nur
..Die äußre Schale weist!"
Das hör" ich sechzig Jahre wiederholen,
Ich fluche drauf, aber verstohlen ;
Sage mir tausend, tausendmale:
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern noch Schale,
Alles ist sie mit einem Male;
Dich prüfe du nur allermeist.
Ob du Kern oder Schale seist.
Goethe.
Fünftes Kapitel.
Organismen und Anorgane.
,Der Geist übt sich an dem wiirdig-sten Gegenstände,
indem er das Lebendige nach seinem innersten Wert zu
kennen und zu zergliedern sucht."
Goethe.
I. Organische iiud anorganische Stoffe.
I) 1. Differentielle Bedeutung der organischen und anorganischen
Materien.
Bevor wir an unsere eigentliche Aufgabe gehen, und nach den
im ersten Buche festgestellten Methoden und Prinzipien die Grund-
züge der generellen Morphologie der Organismen zu entwerfen ver-
suchen, scheint es uns unerläßlich, den Begriff des Organismus
selbst, sowie sein Verhältnis zur anorganischen Natur, und die üb-
liche Einteilung der Organismen in Tiere und Pflanzen, einer all-
gemeinen ki'itischen Untersuchung zu unterwerfen. Indem wir diese
wichtigen Grundbegriffe feststellen, gewinnen wir den festen Boden,
auf welchem wir nachher sicher weiter bauen können, während die
gewöhnliche Vernaclüässigung der unentbehrlichen Fundamente zu
der chaotischen Begriffsverwirrung führt, von welcher gegenwärtig
unsere Wissenschaft ein so trauriges Bild liefert.
Um zu einer klaren Einsicht in „den inneren Wert des Leben-
digen", in den wesentlichen Charakter der Organismen, der Tiere
und Pflanzen, zu gelangen, erscheint es uns am zweckmäßigsten, den-
selben die leblosen Naturkörper, die Anorgane, gegenüberzustellen,
und beide Hauptgruppen von Naturkörpern, lebendige und leblose,
hinsichtlich aller allgemeinen Eigenschaften (in chemischer, morpho-
logischer und physikalischer Beziehung) zu vergleichen. Indem wir
hierbei sowohl synthetisch die Übereinstimmungen, als analytisch
die Unterschiede beider Körpergruppen hervorheben, werden wir zu
einer tieferen Einsicht in die innerste Natur und die gegenseitigen
Haeckel, Prinz, d. Morphol. 4
50 Organismen imd Anorgane. V.
Bezieliungen derselben gelangen, als es durch eine bloße Definition
der Begriffe möglich ist.
Der Begriff des Organismus ruht ursprünglich auf morpho-
logischer Basis und bezeichnet einen Naturkörper, welcher aus
„Organen" zusammengesetzt ist, d. h. aus Werkzeugen oder ungleich-
artigen Teilen, welche zum Zwecke des Ganzen vereinigt zusammen-
wirken. Gegenwärtig haben wir nun zahlreiche „Organismen ohne
Organe" kennen gelernt, vor allen die vollkommen homogenen und
strukturlosen Plasmakörper oder Moneren; ferner viele einzellige
Organismen, deren einziges diskretes Organ der im Plasma einge-
schlossene Zellenkern und bisweilen noch eine äußere UmhüUungs-
haut ist (viele Protisten: einzellige Pflanzen und Tiere). Da vielen
dieser einfachsten Organismen bestimmte morphologische Charaktere
ganz fehlen und dieselben zum Teil gar keine, zum Teil nur solche
different geformte Teile besitzen, die kaum den Namen von „Organen"
verdienen, so können wir den Begriff' des Organismus nur auf
physiologischer Basis begründen, und nennen demgemäß Organis-
men alle jene Naturkörper, welche die eigentümlichen Be-
wegungserscheinungen des „Lebens", und namentlich ganz
allgemein diejenigen der Ernährung zeigen. Anorgane da-
gegen nennen wir alle diejenigen Naturkörper, welche niemals die
Funktion der Ernährung und auch keine der anderen spezifischen
„Lebenstätigkeiten" (Fortpflanzung, willkürliche Bewegung, Empfin-
dung) ausüben.
Da nun die Ernährungstätigkeit der Organismen, gleich allen
anderen Lebensfunktionen, ebenso eine unmittelbare Wirkung ihrer
materiellen Zusammensetzung ist, wie jede physikalische Eigenschaft
eines Anorganes unmittelbar in dessen Materie begründet ist, da
überhaupt jede Eigenschaft, Kraft oder Funktion eines Körpers die
unmittelbare Folge seiner materiellen Zusammensetzung und seiner
Wechselwirkung mit der umgebenden Materie ist, so werden wir
die nachfolgende Vergleichung der Organismen und Anorgane zu-
nächst mit der vergleichenden Betrachtung ihres materiellen Sub-
strates beginnen müssen. Denn lediglich aus den Verschiedenheiten,
welche sich in der feineren und gröberen Zusammensetzung der
Materie zwischen Organismen und Anorganen zeigen, können wir
uns die davon unmittelbar abhängigen Verschiedenheiten in den
Formen und Kräften (Funktionen) beider Gruppen von Naturkörpern
erklären.
V_ I. Organische und anorganische Stoffe. 51
I) 2. Atomistische Zusammensetzung der organischen und
anorganischen Materien.
Alle Organismen nnd alle Anorgane, welche unserer wissen-
schaftlichen Erkenntnis zugänglich sind, zeigen ganz übereinstimmend
eine gewisse Summe von ursprünglichen allgemeinen Eigenschaften,
welche aller Materie notwendig inhärieren. Diese generellen Quali-
täten der Naturkörper, welche in ganz gleicher Weise sämtlichen
belebten wie sämtlichen leblosen Körpern zukommen, sind: Aus-
dehnung, Undurchdringlichkeit, Teilbarkeit, Ausdehnbarkeit, Zusam-
mendrückbarkeit, Elastizität, Porosität, Trägheit, Schwere etc. Da
wir diese allgemeinen Grundeigenschaften sämtlicher Naturkörper als
aus der Physik bekannte und allgemein anerkannte Tatsachen vor-
ausetzen müssen, so haben wir nicht nötig, hier näher darauf ein-
zugehen, und wollen nur, was so oft vergessen wird, ausdrücklich
konstatieren, daß in allen diesen Beziehungen, in allen allge-
meinen Grundeigenschaften der Materie nicht der ge-
ringste Unterschied zwischen den Organismen und den An-
organen existiert.
Aus diesen allgemeinsten Resultaten der Physik haben sich die
Naturforscher übereinstimmend eine allgemeine Grundanschauung
über die primitive Konstitution der Materie (organischer und an-
organischer) gebildet, welche unter dem Namen der atomis tischen
Theorie von allen Physikern und Chemikern angenommen ist. Da-
nach besteht die gesamte Materie aus Atomen, d. h. aus kleinsten,
diskreten, nicht weiter teilbaren Massenteilchen, welche der allge-
meinen Massenanziehung, der Schwere unterworfen, sich gegenseitig
durch diese Attraktionskraft oder Kohäsion' anziehen. Die all-
gemeinen Erscheinungen der Wärme, des Aggregatzustandes usw.
zwingen ferner zu der Annahme, daß diese letzten unzerlegbaren
Massenteilchen durch eine allgemein verbreitete indifferente Materie
von nicht wahrnehmbarem Gewichte, den Äther, getrennt sind.
Auf den Schwingungen dieses Äthers beruhen die Erscheinungen
der Wärme und des Lichtes. Dieser die Atome rings umgebende
und voneinander trennende Äther besteht selbst wieder, gleich der
Materie, aus diskreten Teilchen, welche von den Atomen angezogen
werden, sich selbst aber untereinander durch ihre eigene Ab-
stoßungskraft oder Repulsivkraft (Expansion) abstoßen. Diese
atomistische Theorie erklärt in ganz gleicher Weise die all-
gemeinen Grundeigenschaften der Organismen und der An-
4*
52 Organismen und Anorgane. V.
orgaue. Die fundamentale Konstitution der Materie, ihre Zu-
sammensetzung aus Atomen, ist also in sämtlichen Naturkörpern,
leblosen und belebten, dieselbe.
Die mannigfaltigen Unterschiede in der Erscheinung und im
Wesen der verschiedenen Naturkörper beruhen teils auf der un-
unterbrochenen Tätigkeit der allgemeinen Molekularkräfte (der Ko-
häsion der diskreten Atome und der Expansion der diski'eten, die
Atome umhüllenden und trennenden Ätherteilchen), teils auf der
qualitativen Verschiedenheit der Atome. Diese letztere anzunehmen
werden wir durch die allgemeinsten Resultate der Chemie gezwungen.
Indem nämlich die Chemie in ihrem Bestreben, die Materie in ihre
einfachsten Bestandteile zu zerlegen, schließlich überall eine geringe
Zahl von unzerlegbaren, quahtativ verschiedenen Urstoffen oder
chemischen Elementen als allgemeine Grundlage der gesamten
Materie nachweist, führt sie in Verbindung mit jenen allgemeinsten
Resultaten der Physik zu der Annahme, daß die qualitativen Ver-
schiedenheiten der chemisch nicht weiter zerlegbaren Materien be-
dingt sind durch eine qualitative Verschiedenheit der Atome, welche
diese Materien konstituieren. Es würden also ebenso viele ver-
schiedene Atomarten, als chemische Elemente existieren. Da sich
die chemischen Elemente in bestimmten Gewichtsverhältnissen mit-
einander verbinden, so muß das Gewicht der verschiedenen Atom-
arten ein verschiedenes sein. Da nun diese qualitative Differenz
der Atomarten und der aus ihnen zusammengesetzten chemischen
Elemente die ganze Mannigfaltigkeit in den Naturkörpern bedingt,
so drängt sich hier zunächst die Frage auf, ob in den Organismen
andere Atomarten, d. h. andere chemische Elemente, vorkommen,
als in den Anorganen. Als negative Antwort hierauf haben wir hier
zunächst das hochwichtige Gesetz hervorzuheben, daß alle che-
mischen Elemente, welche den Körper der Organismen zu-
sammensetzen, auch in der anorganischen Natur vorkom-
men. Es gibt keinen unzerlegbaren Grundstoff in irgendeinem
Organismus, welcher nicht auch außerhalb desselben als lebloser
Naturkörper, als Anorgan oder als Bestandteil eines solchen auftritt.
Diese Tatsache ist zwar allbekannt, wird aber in ihrer ganzen
Tragweite insofern meist nicht gehörig gewürdigt, als man daraus ge-
wöhnlich nicht den sich unmittelbar ergebenden Schluß zieht, daß
bei der qualitativen Identität der Elementarstoffe, welche die Anorgane
und die Organismen zusammensetzen, auch die fundamentalen Kräfte
V. I- Organische und anorganische Stoffe. 53
oder Funktionen in beiden Klassen von Naturkörpern nicht qualitativ
verschieden sein werden. Aus der Nichtexistenz eines beson-
deren Lebensstoffes wird daher der Monismus schon die
Nichtexistenz einer besonderen Lebenskraft folgern müssen.
Wie man nun infolge unserer vorgeschrittenen chemischen Kennt-
nisse die frühere Annahme, daß besondere den Organismen eigen-
tümliche und außerhalb derselben nicht vorkommende chemische
Elemente, besondere ..Lebensstoffe", die organischen Körper zu-
sammensetzen und deren Lebenserscheinungen zugrunde hegen,
jetzt allgemein verlassen hat, so wird man ebenso notwendig die
auf gleich unvollständige Erkenntnis gegründete Hypothese fallen
lassen müssen, daß es besondere ..Lebenskräfte" sind, welche die
Formen wie die Funktionen der Organismen bedingen.
Von den unzerlegbaren chemischen Elementen, welche bis jetzt
auf unserer Erde gefunden worden sind und deren Zahl sich bereits
auf mehr als sechzig beläuft, ist nur ungefähr der chitte Teil im
Körper der Organismen aufgefunden. Und von diesen ungefähr
zwanzig chemischen Elementarstoffen ist es wiederum nur etwa die
Hälfte, welche allgemein verbreitet und in größerer Menge in den
organischen Körpern vorkommt. Bekanntlich sind es vor allen die
vier Elemente : Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff, die
vorzugsweise die sogenannten organischen Verbindungen im engeren
Sinne zusammensetzen und die man deshalb auch als „Organogene"
besonders hervorgehoben hat. An der Spitze derselben steht der
Kohlenstoff, dessen merkwürdige physikalische und chemische
Eigentümlichkeiten wir als die letzte Ursache aller der eigentümlichen
Funktionen und Formen zu betrachten haben, welche die Organismen
vor den Anorganen auszeichnen. An diese vier organogenen
Elemente schließen sich dann zunächst Schwefel und Phosphor an.
Von den übrigen Elementen sind Chlor, Kalium, Natrium, Calcium
und demnächst Eisen und Kiesel am weitesten verbreitet. Viel
seltener und meist nur in kleinen Quantitäten kommen Jod. Brom,
Fluor, Magnesium. Aluminium, Manganium, Strontium, Lithium und
einige andere seltene Urstoffe in den Organismen vor.
I) 3. Verbindungen der Elemente zu organischen und
anorganischen Materien.
Nachdem die Chemie nachgewiesen hatte, daß alle chemischen
Grundstoffe oder Elemente, welche den Körper der Organismen zu-
sammensetzen, sich auch außerhalb desselben in der anorganischen
54 Organismen und Anorgane. V.
Natur vorfinden, daß mithin kein besonderes „organisches Element"
existiert, glaubte man in der Art und Weise des Zusammentritts der
Elemente zu zusammengesetzten Verbindungen einen absoluten Unter-
schied zwischen Organismen und Anorganen aufstellen zu können.
Besondere Gesetze des „Lebens" sollten die Vereinigung der Elemente
innerhalb des Organismus regeln, und die mystische „Lebenskraft"
sollte die Elemente zum Eingehen von Verbindungen zwingen, welche
außerhalb des lebendigen Körpers nie sollten zustande kommen
können. Diese irrtümliche Vorstellung, welche vorzüglich durch die
Autoritäten von Berzelius und Johannes Müller in der Biologie
zu sehr allgemeinem Ansehen gelangte, hat solchen Einfluß auf die
allgemeine Beurteilung der Organismen gewonnen, und behauptet
denselben teilweis noch heute, daß wir dieselbe hier ausdrücklich
als einen Irrtum bezeichnen müssen, der durch die neuere Chemie
definitiv widerlegt ist.
Vollkommen richtig ist es, daß diejenigen eigentümlichen Formen
und Funktionen, welche die Organismen von den Anorganen unter-
scheiden, einzig und allein die notwendige Wirkung sind von den
eigentümlichen Verbindungen, welche die Elemente im Körper der
Organismen eingehen und welche man allgemein als „organische"
Materien zusammenfaßt. Vollkommen falsch aber ist es, wenn man
diese eigentümlichen „organischen Verbindungen" von etwas anderem
ableitet, als von der chemischen Wahlverwandtschaft der Elemente,
welche in allen Fällen, selbständig, vermöge der ihren Atomen un-
zertrennlich innewohnenden Kräfte, diese Verbindungen aktiv schaffen.
Es existiert also auch in dieser Beziehung durchaus kein Unterschied
zwischen den leblosen und den belebten Naturkörpern. Wie wir in
der leblosen Natur die gewöhnlich einfacheren, sogenannten „anorgani-
schen Verbindungen" lediglich durch die ureigenen Kräfte der Ele-
mente, nach den unabänderlichen und ewigen Gesetzen der chemischen
Wahlverwandtschaft, entstehen sehen, so erkennen wir ebenso be-
stimmt, daß innerhalb der lebendigen Körper die gewöhnlich ver-
wickeiteren, sogenannten „organischen Verbindungen" lediglich nach
denselben Gesetzen der chemischen Affinität, mit absoluter Notwendig-
keit, entstellen und vergehen.
Der einzige Unterschied, welcher in der chemischen Zusammen-
setzung der Organismen und Anorgane gefunden werden kann, be-
steht darin, daß in allen Organismen neben den einfacheren Ver-
bindungen der Elemente, die allenthalben auch in der leblosen Natur
Y_ I. Organische und anorganische Stoffe. 55
vorkommen (Wasser, Kohlensäure etc.), eine Anzahl von verwickei-
teren Verbindungen des Kohlenstoffs (und namentlich allgemein ge-
wisse Eiweißkörper) sich finden, welche gewöhnlich in der an-
organischen Natur sich nicht zu bilden scheinen. Diese Verbindungen
verdanken aber ihre Existenz nicht einer besonderen Lebenskraft,
sondern den eigentümlichen und äußerst verwickelten Verwandtschafts-
beziehungen des Kohlenstoffs zu den meisten übrigen Elementen.
Vielleicht mit allen anderen Elementen, vorzüglich aber mit den
drei Elementen: Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff, vermag der
Kohlenstoff eine endlose Reihe von äußerst verwickelten Verbindungen
einzugehen, welche zum größten Teil durchaus ohne Analogen unter
den kohlenstofflosen Verbindungen dastehen. Wir müssen also die
chemische und physikalische Natur des Kohlenstoffs und vor allem
seine in ihrer Art einzige Fähigkeit, mit anderen Elementen höchst
komplizierte Verbindungen einzugehen, als die erste und letzte, als die
einzige Ursache aller derjenigen Eigentümlichkeiten ansehen, welche
die sogenannten organischen Verbindungen von den anorganischen
unterscheiden.
Es würde deshalb richtiger sein, die „organischen Verbindungen,,
konkreter als „Kohlenstoff Verbindungen" zu bezeichnen, wie
man die „organische Chemie" neuerdings richtiger die „Chemie der
Kohlenstoffverbindungen" genannt hat. Nur darf dabei nicht ver-
gessen werden, daß, wie der reine Kohlenstoff selbst (als Diamant,
Graphit), so auch einfachere Kolilenstoffverbindungen in der an-
organischen Natur, außerhalb der Organismen, weit verbreitet vor-
kommen, wie vor allem die Kohlensäure, das Kohlenoxyd, einzelne
Kohlenwasserstoffe usw. Andererseits darf ebensowenig vergessen
werden, daß in allen Organismen ohne Ausnahme neben jenen
„organischen", d. h. verwickeiteren Kohlenstoffverbindungen, auch
noch einfachere Kohlenstoffverbindungen und nicht kohlenstoffhaltige
Verbindungen der Elemente, also sogenannte „anorganische" Ver-
bindungen vorkommen (Wasser, Kohlensäure, Kochsalz etc.).
I) 4. Aggregatzustände der organischen und anorganischen
Materien.
Unter Aggregatzustand der Naturkörper verstehen wir den
Grad der Entfernung und der dadurch bedingten relativen
Beweglichkeit ihrer Massenatome. Die Differenzen der Aggre-
gatzustände beruhen lediglich auf der Verschiedenheit der Entfer-
56 Organismen und Anorgane. V.
niingen der Atome von einander, welche durch die Wechselwirkung
zwischen der Kohäsionskraft der Atome und der Expansiouskraft
der Ätherteilchen modifiziert werden. Bei den anorganischen Natur-
körpern ist bekanntlich eine dreifache Differenz in dieser Beziehung
möglich, und man unterscheidet demgemäß bei diesen drei Aggregat-
zustände, den festen, tropfbaren und gasförmigen.
Vergleichen wir mit diesen drei bestimmten und stets leicht
erkennbaren Aggregatzuständen der Anorgane diejenigen der Organis-
men, so haben wir zunächst zu konstatieren, daß alle drei Aggregat-
zustände in Teilen des Körpers vieler Organismen ebenso rein wie
in den Anorganen vorkommen, und daß einer davon, nämlich der
flüssige, in allen lebenden Organismen ohne Ausnahme allgemein
verbreitet ist. Die eigentümlichen Bewegungserscheinungen, welche
wir unter dem Kollektivnamen des Lebens zusammenfassen, können
nur durch Mitwirkung dieses Aggregatzustandes zustande kommen,
und wir können daher den tropfbar flüssigen Zustand mindestens eines
Teils der Materie als ein für alle Organismen notwendiges Erfordernis
bezeichnen. Die Hohlräume, welche diese für den Transport der
Teilchen beim Stoffwechsel unentbehrlichen Flüssigkeiten einschließen,
sind teils (bei den höheren Tieren) besondere Gefäße (Blutgefäße,
Wassergefäße, Leibeshöhle etc., teils wandungslose Hohlräume zwischen
den Elementarteilen und im Inneren derselben (Vakuolen in den
Piastiden etc.). Außer dem rein tropfbaren kommt nun ferner auch
der feste und der gasförmige Aggregatzustand vollkommen rein im
Körper vieler (nicht aller!) Organismen vor. Zu den absolut festen
Teilen der Organismen können wir z. B. die Otolithen im Gehör-
organ, ferner die reinen Kieselskelette und die Skelette aus kohlen-
saurem Kalke rechnen, welche bei vielen wirbellosen Tieren, sowie
die Kristalle, welche sich in \delen Pflanzen vorfinden. Ebenso
kommen Gase in elastisch-flüssiger Form (nicht aufgelöst) im Körper
vieler Organismen vor, entweder mit der Außenwelt unmittelbar kom-
munizierend (z. B. in den Lungen, Luftröhren, in den pneumatischen
Knochenhöhlen der Vögel etc.) oder in besonderen Räumen abge-
schlossen (z. B. in der Luftblase der Siphonophoren, der Schwimm-
blase vieler Fische, den Gefäßen der Pflanzen etc.).
Außer diesen drei Aggregatzuständen, welche also in belebten
wie in leblosen Naturkörpern gleicherweise vorkommen, zeichnen sich
nun aber die Organismen noch durch einen vierten Aggregatzustand
aus, welcher einem Teile der Kohlenstoffverbindungen ausschließlich
V. I. Organische und anorganische Stoffe. 57
eigentttmlicli ist und in den Anorganen nicht vorkommt, und welchen •
wir als festflüssigen oder gequollenen Aggregatzustand be-
zeichnen können. Es bildet dieser Zustand, wie schon der Name
sagt, eine eigentümliche Mittelbildung zwischen dem festen und
flüssigen Zustand und ist in der Tat aus einer Verbindung beider
hervorgegangen. Er kommt dadurch zustande, daß Flüssigkeit in
bestimmter (innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossener) Quantität
zwischen die Moleküle eines festen Körpers (einer Kohlenstoff Verbindung)
eindringt und dessen Intermolekularräume erfüllt. Diese Zwischen-
räume sind in denjenigen organischen Materien, w^elche einer solchen
Flüssigkeitsaufnahme (Quelluug oder Imbibition) fähig sind, offenbar
von anderer Beschaffenheit, als bei denjenigen einfacheren organischen
Verbindungen, welche, gleich allen anorganischen Verbindungen,
nicht Flüssigkeit zwischen ihre Moleküle aufnehmen können, ohne
selbst flüssig zu werden. Wahrscheinlich steht diese Fähigkeit im
engsten Kausalzusammenhang mit der komplizierten Gruppierung der
Atome in den betreffenden Kohlenstoffverbindungen. Denn gerade
diejenigen organischen Materien, welche in diesen Beziehungen sich
am weitesten von den Anorganen entfernen, sind es, welche den fest-
flüssigen Aggregatzustand in der größten Ausdehnung annehmen können.
Gerade diese höchst kompliziert und locker zusammengesetzten, leicht
zersetzbaren Kohlenstoffverbindungen, vor allen die Eiweißstoffe und
deren Derivate, sind es aber auch, welche die kompliziertesten Lebens-
erscheinungen vermitteln, und da diese Kohlenstoffverbindungen, als
die eigentlichen aktiven, organogenen Stoffe in keinem Organismus
fehlen, so finden wir auch den für sie charakteristischen gequollenen
Aggregatzustand in allen Organismen ohne Ausnahme vor.
Die allgemeinen physikalischen Eigenschaften, welche
die organische Materie durch die Quellung oder Imbibition
erhält, sind für die Erklärung der Lebenserscheinungen
von äußerster Wichtigkeit. Indem nämlich die festflüssigen oder
gequollenen Materien gewisse Eigentümlichkeiten des festen und des
flüssigen Aggregatzustandes in sich vereinigen, indem sie Festigkeit
mit einem bedeutenderen Grade von Formveränderlichkeit, Härte
mit einem eigentümlichen Grade von Weichheit verbinden, wird
schon hieraus klar, warum die Funktionen der organischen Ma-
terien weit differenzierter und komplizierter sein können, als dies
bei dem einfachen Aggregatzustand der Anorgane jemals der Fall
sein kann.
58 Organismen und Anorgane. V.
Die Aviclitigsten aller sogenannten Lebenserscheimingen und,
gerade diejenigen Funktionen der organischen Körper, welche man
gewöhnlich als die charakteristischen Leistungen des Lebens zu be-
zeichnen pflegt, sind nur möglich dadurch, daß die Materie, von
welcher sie ausgehen, sich wenigstens teilweis im vierten, im fest-
flüssigen Aggregatzustand befindet. Die sogenannten „animalen"'
Kräfte der Empfindung und Bewegung, welche von der Nerven- und
Muskelsubstanz ausgehen, wie die sogenannten „vegetativen" Kräfte
der Ernährung und Fortpflanzung, welche den verschiedensten Sub-
stanzen der Organismen inhärieren, sind ohne den festflüssigen
Aggregatzustand ihres materiellen Substrates gar nicht denkbar.
Gerade die eigentümliche Verbindung von Festigkeit und Flüssigkeit,
von Härte und Weiche, von Starrheit und Beweglichkeit, welche
durch die Lnbibition gegeben wird, bedingt und ermöglicht die kom-
plizierteren Molekularbewegungen, welche den angeführten organischen
Prozessen zugrunde liegen. Aus diesen Gründen können wir den
Quellungszustand der lebenden Materien gar nicht hoch genug an-
schlagen und werden befugt sein, in diesem festflüssigen Aggregat-
zustande der meisten Kohlenstoffverbindungen, gleichwie in ihrer
komplizierteren Zusammensetzung aus verwickelten Atomgruppen
(welche wahrscheinlich eng mit der Quellungsfähigkeit zusammen-
hängt) eine der wichtigsten Grundursachen des Lebens zu finden.
Es wird daher zur Begründung unserer monistischen Lebensbeurteiiung
hier gestattet sein, bei dem Fundamentalphänomen der Imbibition
noch etwas zu verweilen, zumal auch für die Form der Organismen
dieser vierte Aggregatzustand von der größten Bedeutung ist.
II. Orgaiiisclie und anorganische Formen.
II) 1. Individualität der organischen und anorganischen Gestalten.
So wenig zwischen den Organismen und Anorganen ein abso-
luter, allgemein durchgreifender Unterschied in der fundamentalen
atomistischen Zusammensetzung der Materie, so^vie in den fundamen-
talen Kräften, welche derselben inhärieren, zu finden ist, so wenig
existiert ein solcher absoluter Unterschied zwischen beiden Gruppen
von Naturkörpern auch in der Form, in der inneren Zusammen-
setzung und in der äußeren Gestalt. Die sehr auffallenden Diffe-
renzen, welche in allen diesen Beziehungen zwischen leblosen und
belebten Körpern existieren, sind immer nur relativer Natur, indem
Y_ II. Organische und anorganische Formen. 59
sie sich allmählich abstufen und indem die kompliziertere Zusammen-
setzungsweise und die Imbibitionsfähigkeit der organischen Kohlen-
stoffverbindungen notwendig eine kompliziertere Funktion und eine
kompliziertere Form mit sich bringt. Allein auf der untersten Stufe
der so reich differenzierten Organismenwelt finden wir einfachste
Formen, welche in bezug auf Einfachheit der Zusammensetzung und
Form nicht hinter den Anorganen zurückbleiben.
Wir haben bereits oben eine allgemeine Vergleichung der Or-
ganismen und Anorgane bezüglich der Zusammensetzung und Ent-
stehung ihrer Formen angestellt, um die verschiedenen Seiten der
Formbetrachtung, mit welcher wir uns beschäftigen werden, klar
und scharf hervortreten zu lassen. Wir haben dort absichtlich ..die
wesentlichen Formuuterschiede zwischen Organismen und Anorganen
so scharf und durchgreifend gegenübergestellt, wie dies fast von
allen Naturforschern geschieht''. Nun haben wir aber gerechter-
weise auch die gewöhnhch ganz vernachlässigte Kehrseite jener Be-
trachtung hervorzuheben und zu untersuchen, ob die dort hervor-
gehobenen Differenzen wirklich absolut durchgreifende sind.
An der Spitze unserer vergleichenden Betrachtung der organi-
schen und anorganischen Form haben wir oben hervorgehoben, daß
beiderlei Formen uns gewöhnhch als bestimmt abgeschlossene räum-
liche Einheiten, als Individuen entgegentreten. Hier ist nun zu-
nächst hervorzuheben, daß dies bei den Anorganen keineswegs
konstant der Fall ist. Vielmehr tritt uns die leblose Materie sehr
häufig nicht in individueller Form entgegen. Dies gilt zunächst
von allen Gasen oder elastischen Flüssigkeiten. Dasselbe könnte
ferner auch von allen tropfbaren Flüssigkeiten behauptet werden,
falls man hier nicht die einzelnen Tropfen, welche, innerhalb einer
nicht mit ihrem Stoff mischbaren Flüssigkeit, vermöge der Kohäsion
ihrer Moleküle eine bestimmte Form (in einer Flüssigkeit vom gleichen
spezifischen Gewichte eine Kugelform) annehmen, als Individuen
gelten lassen will. Auch die festen Anorgane treten sehr oft in
einer nicht indi^iduaKsierten Form auf, als „amorphe" unregel-
mäßige Stücke etc.
Als eigenthche ausgebildete anorganische Individuen können
wir nur die Kristalle gelten lassen, welche auch schon von anderen
Naturforschern (vorzügHch von Schwann) in dieser Beziehmig unter-
sucht und mit den organischen Individuen vergKchen worden sind.
Doch müssen wir auch hier die Übergangsbildungen hervorheben.
60 Organismen und Anorgane. V.
welche zwischen vollkommen amorphen mid rein kristallinischen
Körpern vorkommen, nnd welche man allgemein mit dem Namen
der kristalloidischen Bildungen belegen kann. Während bei den
vollkommen amorphen Anorganen die Atome oder Moleküle einfach
aggregiert, ohne jedes bestimmte Gesetz aneinander gelagert sind,
finden wir bei den Kristalloiden eine bestimmte gesetzmäßige An-
lagerung und Verbindungsweise der Moleküle (z. B. in einer gewissen
„stralüigen'" oder „blätterigen" inneren Struktur) ausgesprochen, ohne
daß dieselbe aber, wie es bei den echten Kristallen der Fall sein muß.
zur Bildung einer symmetrischen oder regulären prismoiden Form führt,
zu einer Form, welche von ebenen Flächen, geraden Linien und be-
stimmten unveränderlichen Winkeln und Ecken begrenzt ist.
Indem wir vorher die Kristalle als die höchst entwickelten
anorganischen Individuen den organischen Individuen vergleichend
gegenübergestellt hatten, bemerkten wir zunächst, daß die ersteren
durch und durch homogen, in sich gleichartig, aus Molekülen einer
und derselben Art zusammengesetzt seien, während die letzteren im
Inneren heterogen, in sich ungleichartig, und aus Molekülen nicht
nur, sondern auch aus gröberen Teilen von ganz verschiedener Art
zusammengesetzt seien. Auf diese Zusammensetzung des Organismus
aus differenten Teilen, aus Organen, oder aus Individuen verschie-
dener Ordnung gründen wir im dritten Buche die Strukturlehre oder
Tektologie.
So wesentlich nun dieser Unterschied im großen und ganzen
ist, so haben wir hier doch zweierlei gegen seine allgemeine Gültig-
keit einzuwenden. Erstens nämlich sind die Kristalle in ihrem
Inneren durchaus nicht, wie man oft hervorhebt, vollkonmien homogen.
Wenn auch die chemische Natur ihrer Moleküle, die Zusammen-
setzung derselben aus Atomen, gleichartig ist, so gilt dies keineswegs
von deren Lagerung und Verbindungsweise. Diese ist vielmehr,
entsprechend den verschiedenen Achsen des Kristalls, nach verschie-
denen Richtungen hin verschieden, und gerade diese innere Un-
gleichartigkeit, die ungleiche Kohäsion der Moleküle in verschiedenen
Richtungen, ist für die äußere Form des Kristalls ganz bedingend.
Zugleich bedingt dieselbe die blätterige Struktur im Innern des Kri-
stalls, seine Zusammensetzung aus tibereinander liegenden Schichten
von verschiedenen Kohäsionsgraden. die Blätterdurchgänge, welche
nach verschiedenen Richtungen hin sich kreuzen und durchschneiden.
Hierdurch ist dann wieder der verschiedene Widerstand bedingt, den
Y_ II. Organische und anorganische Formen. 61
der Kristall nach verschiedenen Richtungen hin dem Durchgänge
des Lichts, der Wärme, der Elektrizität etc. entgegensetzt. Kurz, wir
sehen, daß der Kristall durchaus kein homogener, in sich gleich-
artiger Körper ist, wie ein amorphes Anorgan, sondern vielmehr
eine innere Struktur besitzt, wie der Organismus; und den Teil
der Kristallographie, welcher von dieser inneren Struktur handelt,
könnte man die Anatomie der Kristalle, oder besser noch die
Tektologie der Kristalle nennen.
Wie wir nun so einerseits sehen, daß die ..innere Struktur", die
Zusammensetzung aus bestimmt angeordneten Teilen, durchaus keine
ausschließliche Eigenschaft des Organismus ist, so müssen wir zwei-
tens andererseits hervorheben, daß es auch vollkommen homogene
Organismen gibt, solche nämlich, welche (für unsere Hilfsmittel
wenigstens) als durchaus homogene und strukturlose Körper erscheinen.
Dahin gehören mehrere, schon seit längerer Zeit bekannte, sogenannte
„Amöben", nämlich diejenigen einfachsten Amöbenformen, welche,
ohne Kern und ohne kontraktile Blase, bloß einen strukturlosen kon-
traktilen Eiweißklumpen darstellen. Insofern diese durchaus homogenen
Amöben, die sich durch Diosmose ernähren und durch Teilung fort-
pflanzen, selbständige „Spezies" darstellen, wollen wir dieselben als
„Protamoeba", von den eigentlichen, mit Kern und kontraktiler
Blase versehenen Amöben unterscheiden. Ferner gehören dahin
die merkwürdigen „Protogenes", welche ebenfalls vollkommen
homogene lebende Eiweißklumpen (Cytoden) darstellen, sich aber
durch sehr bedeutende Größe auszeichnen und durch Anastomose
der dünnflüssigeren (weicheren, weniger konsistenten) formwechselnden
Körperfortsätze von den dickflüssigeren (festeren) Protamöben (ohne
Anastomose der Pseudopodien) unterscheiden. In allen diesen äußerst
merkwürdigen und wichtigen Organismen der niedrigsten Stufe, welche
sich übrigens unmittelbar einerseits an die mit einer Schale versehenen
Rhizopoden, andererseits an die Jugendzustände der Myxomyceten an-
schließen, besteht der gesamte Organismus aus einem volUvommen
homogenen lebenden Eiweißklumpen (Plasmaklumpen, Cytoden), wel-
cher offenbar lediglich vermöge seiner atomistischen Konstitution als
ein leicht zersetzbarer und imbibitionsfähiger Eiweißstoff sämtliche
„Lebens"funktionen zu vollziehen imstande ist. Die Bewegung
äußern diese primitiven Urwesen mittels der formlosen und beständig
wechselnden Fortsätze, welche sie von der Oberfläche ausstrecken und
welche das Resultat der gegenseitigen Lageveränderung der Moleküle
62 Organismen und Anorgane. Y.
in der festflüssigen Eiweißsiibstanz sind. Die Reizbarkeit oder Erreg-
barkeit äußern sie als Reflexbewegung durch bestimmte Reaktionen,
durch Modifikationen der Bewegungen, z. B. Zurückziehen der Pseudo-
podien, bei Berührung mit einem reizausübenden fremden Körper,
einer in Essigsäure getauchten Nadel etc. Die Ernährung voll-
ziehen sie entweder dadurch, daß sie die in dem umgebenden Wasser
gelösten einfacheren Verbindungen: Kohlensäure, Ammoniak etc.
unmittelbar zu verwickelten Kohlenstoffverbindungen, zur Eiweiß-
substanz des Protoplasma, kombinieren; oder sie ernähren sich durch
mechanische Aufnahme fester Stoffe mittels der Pseudopodien, aus
denen sie dann die brauchbaren Substanzen durch Zersetzung aus-
ziehen und assimiheren. Die Fortpflanzung endlich geschieht durch
einfache Selbstteilung. Und doch haben diese Organismen keine
,.Organe"! Sie sind so vollkommen homogen als die Kristalle, mor-
phologisch aber insofern noch unvollkommener, als ihre konstituierenden
Moleküle nach allen Richtungen frei verschiebbar sind, und das ganze
Individuum keine feste bleibende Form besitzt.
Um diese einfachsten und unvollkommensten aller Organismen,
bei denen wir weder mit dem Mikroskop noch mit den chemischen
Reagentien irgend eine Differenzierung des homogenen Plasmakörpers
nachzuweisen vermögen, von allen übrigen, aus ungleichartigen Teilen
zusammengesetzten Organismen bestimmt zu unterscheiden, wollen
wir sie ein für allemal mit dem Namen der Einfachen oder
Moneren belegen. Gewiß dürfen wir auf diese höchst interessanten,
bisher aber fast ganz vernachlässigten Organismen besonders die
Aufmerksamkeit hinlenken, und auf ihre äußerst einfache Form-
beschaffenheit bei völliger Ausübung aller wesentlichen Lebens-
funktionen das größte Gewicht legen, wenn es gilt, das Leben zu
erklären, es aus der fälschlich sogenannten „toten" Materie ab-
zuleiten und die übertriebene Kluft zwischen Organismen und
Anorganen auszugleichen. Lulem bei diesen homogenen belebten
Naturkörpern von diff'erenten Formbestandteilen, von „Organen" noch
keine Spur zu entdecken ist, vielmehr alle Moleküle der struktur-
losen Kohlenstoffverbindung, des lebendigen Plasma, in gleichem
Maße fähig erscheinen, sämtliche Lebensfunktionen zu vollziehen,
liefern sie klar den Beweis, daß der Begriff" des Organismus nur
dynamisch oder physiologisch aus den Lebensbewegungen, nicht aber
statisch oder morphologisch aus der Zusammensetzung des Körpers
aus „Organen" abgeleitet werden kann.
Y_ IL Organische und anorganische Formen. 63
"Wenn wir die Zusammensetzung des Körpers aus verschieden-
artigen Teilen als Hauptcliarakter der Organismen hervorheben
wollten, so würde die Kluft zwischen jenen einfachen, lebenden
Plasmaklumpen und den höheren, aus Individuen verschiedener Ord-
nung zusammengesetzten Organismen viel größer erscheinen, als die
Kluft zwischen den ersteren einerseits und den Kristallen anderer-
seits. Die Moneren stehen in dieser Beziehung wirldich auf der
Grenze zwischen leblosen und lebenden Naturkörpern. Sie leben,
aber ohne Organe des Lebens; alle Lebenserscheinungen, Ernährung
und Fortpflanzung, Bewegung und Reizbarkeit, erscheinen hier ledig-
lich als unmittelbare Ausflüsse der formlosen organischen Materie,
einer Eiweißverbindung.
Wir können demnach weder die Zusammensetzung des Körpers
aus ungleichartigen Teilen (Organen etc.), noch auch nur die Zu-
sammensetzung des Individuums aus mehreren gleichartigen Individuen
niederer Ordnung, wie bisher geschehen, als allgemeinen Charakter
der Organismen festhalten. Wir werden dies in Zukunft um so
weniger können, als höchst wahrscheinlich eine vielseitigere Unter-
suchung der Anorgane nachweisen wird, daß auch hier bisweilen
eine Zusammensetzung des Individuums aus mehreren Individuen
niederer Ordnung vorkommt. Wir meinen hier die zusammen-
gesetzten, teils rein kristallinischen, teils kristalloiden Bildungen,
welche insbesondere das kristallisierende Wasser so leicht hervor-
bringt. Offenbar sind diese sehr mannigfaltigen und oft äußerst
zusammengesetzten Gestalten, welche wir als Eisblumen. Eisbäume
etc. im Winter an unseren Fensterscheiben bewundern, und durch
deren Namen schon das Volk gleichsam instinktiv ihre morphologische
Ähnlichkeit mit Organismen andeutet, derartige „höhere, vollkommene"
Anorgane, bei welchen die komplizierte Gestalt des Ganzen aus
einer gesetzmäßigen Vereinigung untergeordneter Teile resultiert. Offen-
bar sind diese Eisblumen, Eisblätter etc. nach bestimmten Gesetzen
gebildet: es sind Aggregate von zahlreichen einzelnen Kilstalleu. von
vielen Individuen niederer Ordnung, welche zur Bildung des höheren
Ganzen sich vereinigt haben. Eine bestimmte Summe von zentralen
K^•istallindi^dduen bildet die Achse, um welche sich die peripherischen
Indi\iduen, bestimmten Anziehungs- und Abstoßungsverhältnissen
jener Achse gehorchend, ansetzen. Bei den komplizierten Eisbäumen,
welche den zusammengesetzteren Fiederblättern z. B. von Farnen
gleichen, scheint jede Fieder, jeder Seitenzweig der Hauptachse selbst
64 ürganismen und Anorgane. V.
wieder die Ansatzlinie für eine neue Reihe nocli mehr unterge-
ordneter Individuen werden zu können etc. Auch vielfach sonst
finden wir solche einfachere und zusammengesetztere Kristallaggregate
(z. B. in vielen sogenannten Kristalldrusen) vor, welche ganz offen-
bar nicht gesetzlos zusammengeworfene Kristallhaufen sind, sondern
durch bestimmte Anziehungs- und Abstoßungsverhältnisse geregelte,
gesetzmäßige Bildungen, in denen notwendig die komplizierte Form
des Ganzen aus der komplizierten Zusammenordnung der einzelnen
Teile resultiert. Wenn diese merkwürdigen Bildungen erst näher
untersucht sein werden, ist zu hoffen, daß auch bei diesen ,,Kristall-
stöcken", wie man sie nennen könnte, bestimmte Gesetze gefunden
w^erden, welche den Zusammentritt der Individuen verschiedener Ord-
nung zum höheren Ganzen bestimmen. Die Feststellung dieser
Gesetze würde für die Anorgane dieselbe Aufgabe sein, wie sie die
Tektologie für die Organismen verfolgt.
II) 2. Grundformen der organischen und anorganischen Gestalten.
Als einen weiteren wesentlichen Unterschied der organischen
und anorganischen Individuen haben wir oben die Verschiedenheit
der äußeren Gestalt selbst bezeichnet. Bei den ausgebildeten an-
organischen Individuen, den Kristallen, „ist die Form einer voll-
kommen exakten mathematischen Betrachtung ohne weiteres zu-
gänglich, und mit der stereometrischen Ausmessung derselben ist die
Aufgabe ihrer morphologischen Erkenntnis wesentlich gelöst. Die
anorganischen Individuen sind fast immer von ebenen Flächen,
geraden Linien und bestimmten meßbaren Winkeln begrentzt. Die
organischen Individuen hingegen, deren Form einer stereometrischen
Behandlung zugänglich ist, sind seltene Ausnahmen. Fast immer
ist ihr Körper von gekrümmten Flächen, gebogenen Linien und
unmeßbaren sphärischen Winkeln begrenzt".
Auch dieser Unterschied, den wir absichtlich oben so schroff
hingestellt haben, wie dies gewöhnlich geschieht, ist keineswegs so
absolut und durchgreifend, wie man glaubt. Vielmehr kommen auch
in dieser Beziehung, wie überall, Zwischenformen und Übergangs-
bildungen vor. Zunächst ist hier hervorzuheben, daß auch voll-
kommen reine anorganische Kristalle sich finden, welche nicht, gleich
den meisten anderen, von ebenen Flächen begrenzt sind, die in
geradlinigen Kanten zusammenstoßen. Am wichtigsten sind in dieser
Beziehung die von gekrümmten Flächen eingeschlossenen Diamant-
Y II. Organische und anorganische Formen. 65
kristalle. welche um so bemerkenswerter sind, als der Kohlenstoff,
der hier in reinster Form sphärische Kristallflächen hervorbringt,
zngieich dasjenige chemische Element ist, welches an der Spitze
der Organogene steht und die Avichtigste Rolle in der Bildnng der
organischen Verbindungen spielt. Dasselbe gilt auch vom Wasser,
welches nicht minder unentbehrlich für das Zustandekommen und
den Bestand der organischen Formen ist. Die unendlich mannig-
faltigen Kristallformen des Schnees und Eises, und vor allem
die sehr komplizierten, eben hervorgehobenen ,,höheren und voll-
kommeneren" Kristallformen (Eisblumen, Eisblätter etc.). welche
aus Kristallindividuen niederer Ordnung sich zusammensetzen,
zeigen äußerst häufig höchst komplizierte, einer stereometrischen
Betrachtung gar nicht mehr zugängliche, gekrümmte Linien und
Flächen.
Während so einerseits der Fall nicht selten ist. daß auch reine
und vollkommen geformte anorganische Individuen, gleich den orga-
nischen, nur gekrümmte Begrenzungsflächen und krumme Kantenlinien
zeigen, die in unmeßbaren Ecken zusammenstoßen, so kommt anderer-
seits noch häufiger der Fall vor, daß auch organische Individuen,
gleich den meisten anorganischen Kristallen, vollkommen ebene Be-
grenzungsflächen darbieten, welche sich in geraden Linien schneiden
und in meßbaren Raumecken zusammenstoßen. Wir meinen hier
nicht die Kristalle organischer Kohlenstoffverbindungen (z. B. Zucker,
organische Säuren. Fette etc.), da wir diese nicht als wirkliche orga-
nische Individuen, d. h. als physiologische Lebenseinheiten, ansehen
können : wir meinen vielmehr die bisher auffallend vernachlässigten,
äußerst interessanten Organismen aus dem Rhizopodenstamme, welche
besonders in der Radiolarienklasse einen so außerordentlichen Formen-
reichtum entwickeln und hier zum Teil vollständig, in ihrer gesamten
Körperform, und vor allem in ihrer Skelettbildung, die reinsten und
regelmäßigsten Kristallformen (Tetraeder, reguläre Oktaeder. Quadrat-
Oktaeder, Rhomben-Oktaeder, dreiseitige Prismen etc.) darstellen.
Im ganzen genommen ist freilich die Zahl dieser Organismen
in Kristallform gering, und es muß ausdrücklich hinzugefügt werden,
daß es immer nur ein Teil des Körpers ist (wenn auch oft der
größte, und häufig der einzige feste und geformte Teil), welcher
die einfache Kristallform annimmt. Denn zu diesem (meist aus
Kieselsäure gebildeten) Kristallskelett kommt stets noch zum minde-
sten die amorphe Sarkode, das lebende Protoplasma, hinzu. Diese
Haeckel. Prinz, d. Morphol. O
66 Organismen und Anoigane. V.
letztere kann allein die Lebensbewegung^en vermitteln, denen auch
jener Skelettkristall seine Entstehung verdankt.
Bei der Mehrzahl der Organismen ist die Kristallform gewöhnlich
schon deshalb ganz oder größtenteils ausgeschlossen, weil der ganze
Körper, oder doch der größte Teil desselben, aus imbibitionsfähiger
Materie besteht. Kristallisation und Imbibition schließen sich aber,
wie oben bemerkt, aus. Wir haben daher gewiß in der für das
Leben unentbehrlichen Quellungsfähigkeit der organischen
Materien die nächste Ursache für die nicht kristallinische
Form der meisten Organismen zu suchen.
Nächst der Irabibitionsfähigkeit, und in der nächsten Beziehung
und Verbindung mit ihr, ist es dann ferner die unbegrenzte Varia-
bilität der Organismen, welche, wie oben bemerkt, eine stereo-
metrische Betrachtung, Ausmessung und Berechnung der meisten
organischen Formen in gleicher Weise, wie sie die Kristallographie
für die Anorgane gibt, illusorisch macht. Die Individuen der orga-
nischen ,,Arten" (Spezies) sind nicht, wie die Individuen der anorga-
nischen Arten, einander (innerhalb des Speziesbegriffes) gleich, oder
auch nur in allen wesentlichen Stücken ähnlich. Vielmehr haben
wir die allgemeine Veränderlichkeit und Anpassungsfähigkeit aller
Organismen als eine äußerst wesentliche Grundeigenschaft derselben
zu konstatieren. Indem alle Individuen untereinander ungleich sind
und daher auch eine gemeinsame stereometrische Grundform nur für
eine bestimmte Summe von Individuen, welche innerhalb eines be-
schränkten Zeitraums (z. B. einige geologische Perioden hindurch)
existieren, aufgestellt werden kann, so würde die genaueste stereo-
metrische Ausmessung und Berechnung der Organismenformen, ihrer
komphzierten gekrümmten Begrenzungsflächen, Linien etc., auch wenn
sie möglich wäre, nur ein ganz untergeordnetes Interesse haben.
Dagegen ist eine allgemeine Betrachtung der stereometrischen Grund-
formen, welche den Organismenformen zugrunde liegen, allerdings
möglich und innerhalb gewisser Schranken ausführbar. In gewissem
Sinne entspricht diese Promorphologie der Kristallographie, ist das
Äquivalent einer ,.Kristallographie der Organismen", und man kann
diesen Vergleich noch durch die Erwägung näher begründen, daß
auch bei den reinen anorganischen Kristallen die vollkommene stereo-
metrische Grundform äußerst selten (oder nie) in der Natur realisiert
vorkommt und daher stets mehr oder minder eine (durch Ergänzung
vieler einzelner verglichener konkreter Kristallindividuen erhaltene)
Y_ III. Organische und anorganische Kräfte. 67
ideale Abstraktion darstellt. Die Unvollkoniinenheiten der aller-
meisten realen Kristallindividuen sind durch Anpassung ihrer Form
an die Umgebung bestimmt, welche während ihrer Entstehung wirk-
sam war. In gleicher Weise, nur in viel höherem Grade, wirkt die
Anpassung an die umgebenden Existenzbedingungen auf die werdenden
Organismen ein. weshalb hier die individuelle Verschiedenheit so
sehr viel beträchtlicher ist. und. indem sie viele Generationen hin-
durch vererbt und durch Vererbung in Verbindung mit fortdauernder
Abänderung gehäuft wird, schließlich zur Entstehung ganz neuer
Formen führt.
III. Org:aiiische und anorganische Kräfte.
III) 1. Lebenserscheinungen der Organismen und physikalische
Kräfte der Anorgane.
Durch die vorhergehenden Untersuchungen glauben wir gezeigt
zu haben, daß sowohl in der elementaren Konstitution und in der
chemischen Zusammensetzung der Materie, als auch in der Form, in
welcher sich dieselbe individualisiert, durchaus keine so wesentHchen
und absoluten Unterschiede zwischen Organismen und Anorganen
existieren, wie dies gewöhnlich angenommen wird. Die wirldich vor-
handenen Unterschiede erklären sich aus der komplizierteren Art und
Weise, in welcher die Atome der Elemente in den organischen Kör-
pern zu verwickeiteren Atomgruppen (Molekülen) zusammentreten,
und ganz besonders aus der außerordentlichen Fähigkeit des Kohlen-
stoffs, mit mehreren verschiedenen Atomarten sich in sehr verwickelter
Weise zu verbinden. Es ist lediglich diese verwickeitere atomistische
Konstitution der Kohlenstoffverbindungen und die damit zusammen-
hängende leichte Zersetzbarkeit derselben, die ungewöhnliche Neigung
und Fähigkeit der Atome, ihre gegenseitige Lagerung und Gruppierung
zu ändern, welche den organischen Materien zum Teil besondere
physikalische Eigenschaften verleiht. Von diesen ist die wichtigste
der festflüssige Aggregatzustand, die Quellungsfähigkeit. Nun entsteht
aber die Frage, ob denn auch alle die verwickeiteren Bewegungs-
erscheinungen der Materie, welche man unter dem Kollektivbegriff
des ..Lebens" zusammenfaßt, sich ledighch aus dieser komphzierteren
Konstitution der organischen Materie und der dadurch bedingten im-
bibitionsfähigen Form erklären lassen. Wir haben den Beweis zu
führen, daß dies in der Tat der Fall ist. und daß sämtliche Lebens-
erscheinungen der Organismen ohne Ausnahme ebenso unmittelbare
68 Organismen und Anorgane. V,
und notwendige Wirkungen der geformten organischen Materie sind,
als die physikalischen Eigenschaften jedes Kristalles unmittelbare
und notwendige Folgen seiner Form und stofflichen Qualität sind.
III) 2. Wachstum der organischen und anorganischen Individuen.
Der Ausdruck ..Leben" ist, wie bemerkt, nichts anderes als
eine Kollektivbezeichnung für eine Summe von komplizierteren Be-
wegungserscheinungen der Materie, welche nur den Organismen eigen
sind und den Anorganen allgemein fehlen. Es entsteht aber hier
zunächst die Frage, ob denn wirklich alle sogenannten Lebens-
erscheinungen durchaus ohne Analogon in der leblosen Natur sind.
Wenn wir nun in dieser Beziehung die molekularen Lebensbewegungen
der organischen Individuen mit den molekularen Bewegungen, welche
wir bei anorganischen Indi\iduen. insbesondere bei Kristallen, wahr-
nehmen, vergleichen, so tritt uns als verwandte Erscheinung zunächst
diejenige des Wachstums entgegen.
Die Erscheinungen des Wachstums in den anorganischen und
organischen Individuen sind schon vielfach und mit Recht verglichen
worden: und zweifelsohne ist hier der Punkt, von welchem unsere
Vergleichung am besten ausgehen kann. Bei allen Naturkörpern
besteht die Erscheinung des Wachstums darin, daß die räumliche
Ausdehnung und die Masse des Individuuns allmählich zunimmt,
indem dasselbe durch eigene Tätigkeit fremde, außerhalb befindliche
Massenteilchen anzieht. Bei den Kristall Individuen wird sowohl
ihr Wachstum, als auch ihre Entstehung allgemein und ohne Wider-
spruch zurückgeführt auf elementare Gesetze der Anziehung und
Abstoßung der Moleküle einer homogenen Materie. Für die Wirk-
samkeit dieser Gesetze ist der flüssige Aggregatzustand (entweder
als Lösung oder als Schmelzung) unbedingt erforderlich.
Offenbar sind es dieselben großen und einfachen Gesetze der
Massenanziehung und der chemischen Wahlverwandtschaft, welche
die Autogonie verschiedener Moneren, d. h. die spontane Entstehung*
von homogenen strukturlosen Urorganismen in einer anorganischen
Flüssigkeit, und welche die gesonderte Entstehung der verschiedenen
Kiistalle in einer gemischten Mutterlauge bedingen. Hier wie dort
erfolgt die Bildung der festen Körper aus der Flüssigkeit mit Not-
wendigkeit, durch die ureigene Kraft der Materie, ohne Zutun einer
davon verschiedenen, zweckmäßig wirkenden Kraft. Dieselbe funda-
mentale Übereinstimmung zeigt sich nun auch weiterhin in dem
V. III- Organische und anorganische Kräfte. 69
Wachstum der ..spontan" entstandenen Formen. Das Wachstum
beruht in allen Fällen darauf, daß der vorhandene feste Körper als
Attraktionszentrum, als Anziehungsmittelpunkt wirksam ist, und daß
die Anziehungskraft, welche die in demselben inniger verbundenen, sich
näher liegenden Moleküle auf ihre Umgebung ausüben, die schwächere
Kohäsion der in der umgebenden Flüssigkeit gelösten Moleküle über-
wiegt. Indem die letzteren weiter voneinander abstehen, sich weniger
stark in ihrer gegenseitigen Lage zu erhalten vermögen, folgen sie der
stärkeren Anziehung, welche von dem bereits gebildeten festen Körper
ausgeht; sie gehen nun ebenfalls in den festen Aggregatzustand über.
Sowohl der wachsende Kiistall, als das wachsende Moner zieht,
wie jede andere Cytode und wie jede Zelle, aus der umgebenden
Ernährungsfiüssigkeit nur diejenigen Substanzen an, welche es zu
seinem individuellen Wachstum braucht, und trifft daher, wenn viele
verschiedene ernährende Substanzen untereinander in der Flüssigkeit
gelöst sind, zwischen diesen eine bestimmte Auswahl. Bei der Kri-
stallisation der Anorgane zeigt sich dieses Phänomen ganz einfach
darin, daß. wenn in einer Mutterlauge viele verschiedene Salzlösungen
untereinander gemischt sich befinden, beim Abdampfen derselben alle
einzelnen Salze gesondert heraus kristallisieren, indem das Gleiche
stets das Gleiche anzieht. Beim Wachstum aller Organismen zeigt
sich dasselbe Grundgesetz in dem Phänomen der Assimilation, indem
z. B. in einem Teiche, in w^elchem viele einzellige Algen und Pro-
tisten untereinander leben, jede nur diejenigen bestimmten Salze,
diejenigen Quantitäten der organischen Verbindungselemente in sich
aufnimmt, welche zur Bildung von organischer Substanz ihresgleichen
dienen. Offenbar beruht diese wichtige Erscheinung, welche die
Gleichartigkeit der chemischen Substanz ganz ebenso in dem struktur-
ö'
losen Monere, wie in dem Kristalle bedingt, auf denselben Gesetzen
ö'
der molekularen Anziehung und Abstoßune,-. Dieselben Gesetze der
&•
chemischen Wahlverwandtschaft und der physikalischen Massen-
anziehung bewirken zusammen in gleicher Weise das Wachstum der
Organismen und der Anorgane.
Wenn wir uns nun von den strukturlosen Moneren zu den
höheren Organismen wenden, deren Leib aus einem Komplex von
differenzierten Zellen besteht, so finden wir auch hier dieselben ein-
fachen und großen Gesetze wirksam, und nur dadurch häufig sehr
versteckt, daß die unendlich verwickeitere Zusammensetzung der
höheren organischen Individuen aus sehr verschiedenartigen Teilen
70 Organismen und Anorgane. V.
aucli innner unendlich verwickeitere Bedingungen des Wachstums und
der Stoffauswahl setzt. So z. B. zieht bei den höheren Tieren aus der
gemeinsamen Ernährungsflüssigkeit, dem höchst zusammengesetzten
Blute, jede einzelne Zelle, jedes einzelne Organ nur diejenigen be-
stimmten Bestandteile an sich, welche seinesgleichen sind, welche
es zu seiner individuellen Vergrößerung braucht, und verschmäht die
übrigen. Aber selbst für diesen komplizierteren organischen AVachs-
tumsprozeß gibt es Analoga in der anorganischen Natur. Dahin
gehört das bekannte Experiment, welches schon von Reil 1796 in
seiner klassischen Abhandlung „von der Lebenskraft"' benutzt wurde,
um zu zeigen, daß die „Assimilation", die Ernährung und das Wachstum
der Tiere nichts weiter seien als eine „tierische KristaUisation", d. h.
..eine Anziehung tierischer Materie nach Gesetzen einer chemischen
Wahlverwandtschaft". Wenn man nämlich in eine Auflösung von
Salpeter und Glaubersalz einen Salpeterkristall hineinlegt, so kristalli-
siert nur der Salpeter heraus, und das Glaubersalz bleibt gelöst;
wenn man dagegen umgekehrt in dieselbe gemischte Auflösung einen
Glaubersalzkristall hineinlegt, so kristallisiert nur das Glaubersalz
heraus, und der Salpeter bleibt gelöst.
Diese wichtige Erscheinung, welche uns die Gleichheit der ein-
fachen Grundursachen im Wachstum der Organismen und Anorgane
beweist, führt uns unmittelbar zu einem weiteren wichtigen Grund-
gesetz des Wachstums, das sich ebenfalls auf bestimmte Verhältnisse
der Massenanziehung gründet. Es folgt nämlich aus jenem instruk-
tiven Versuche unmittelbar, daß ein bereits gebildeter fester Körper
in seiner Mutterlauge (d. h. in einer Flüssigkeit, welche die ihn zu-
sammensetzenden eigenen Stoffe gelöst enthält) eine stärkere Anziehung
auf die umgebenden in der Flüssigkeit gelösten Moleküle ausübt, als
diese unter sich auszuüben vermögen. Ist daher einmal in einer
solchen Bildungsflüssigkeit ein fester Körper vorhanden, so wirkt
dieser als Anziehungsmittelpunkt und vermag nun gleichartige ]\Iaterie,
welche in der Flüssigkeit gelöst ist, aus dem flüssigen in den festen
Aggregatzustand überzuführen, und zwar unter Umständen, unter denen
dieser Übergang (das Festwerden) ohne Anwesenheit des festen Körpers
nicht erfolgt wäre. Auch dieses wichtige Gesetz wird sicher in ganz
gleicher Weise für die Organismen wie für die Anorgane gelten und
wird namentlich dann zu berücksichtigen sein, wenn es sich um die
Autogenie der Moneren handelt, welche offenbar ein der primitiven
Kristallbildung in der Mutterlauge ganz analoger Prozeß ist.
V, in. Organische und anorganische Kräfte. 71
III) 3. Selbsterhaltung der organischeTX und anorganischen
Individuen.
Gleich der Kraft des Wachstums ist auch die Kraft der Selbst-
erliahung" eine allgemeine Funktion der Naturkörper. Jedes orga-
nische und jedes anorganische Individuum erhält sich einen beschränk-
ten Zeitraum hindurch selbst, so lange nämlich, als es die Wechsel-
wirkung seiner eigenen Materie mit derjenigen seiner Umgebung
gestattet.
Die Tätigkeit der Selbsterhaltung ist nun zwar allen Natur-
körpern gemeinsam, äußert sich aber doch bei den organischen und
anorganischen Individuen in sehr verschiedenen Erscheinungen. Bei
den Organismen ruft dieselbe die verwickelten Bewegungserschei-
nungen der Ernährung oder des Stoffwechsels hervor. Diese
Funktionen sind für den Bestand des Organismus ebenso wie für
seine sämtlichen übrigen Lebenserscheinungen die notwendige Unter-
lage. Denn alle anderen Funktionen, Willensbewegimg und Emp-
findung, Sinnestätigkeit und Fortpflanzung, beruhen auf molekularen
Bewegungserscheinungen, welche erst durch den Stoffwechsel und
die Ernährung möglich w^erden. Alle diese Bewegungen beruhen
im Grunde darauf, daß durch Bildung chemischer Verbindungen
gewisse bewegende Kräfte frei werden, welche in den unverbundenen
Materien gebunden waren; darauf also, daß gebundene oder Spann-
kräfte in lebendige Kräfte übergehen. Der Vorrat an Spann-
kraft, welcher bei dem Übergang in lebendige Kraft verbraucht
wurde, muß ersetzt werden, wenn das organische Individuum weitei'-
existieren soll, und dieser notwendige Ersatz wird durch die Ernäh-
rung geliefert. Die Ernährung beruht nun wieder, wie das Wachstum
der Organismen, darauf, daß die neu erworbenen assimilierten Mole-
küle in das Innere des Körpers hineingeführt w^erden und hier die
Stelle derjenigen Moleküle einnehmen, welche bei der Arbeitsleistung
des Organismus verbraucht w^urden. Diese Einführung neuer Sub-
stanz und ihre Assimilation, welche das Wesen der Ernährung
ausmacht, ist wieder nur möglich mittels des festflüssigen Aggregat-
zustandes, und es erklärt sich hieraus, warum die anorganischen
Individuen der Ernährung nicht fähig sind. Sie sind ihrer aber
auch nicht bedürftig. Sämtliche belebte Naturkörper existieren nur,
sie können ihre Existenz nur behaupten, indem sie sieh beständig,
wenn auch langsam, zersetzen; alle sind sie eingeschlossen in ein
72 Organismen und Anorgane. V.
Medium (Luft, Wasser, Inneres eines anderen Organismus), in
welchem sie sich notwendig zersetzen müssen. Denn die Biklung
der Verbindungen, durch welche die lebendigen Kräfte frei werden,
ist verbunden mit einer Zersetzung der vorhandenen Materie. Die
gebundenen Spannkräfte, welche eben bei dieser Zersetzung frei und
zu lebendigen Kräften werden, veranlassen durch ihre Bewegungen
die notwendigen Lebenserscheinungen. Der dabei beständig wirk-
samen Gefahr des Unterganges, des Todes, entziehen sich die orga-
nischen Individuen durch die Ernährung, welche jener Zersetzung
entgegenwirkt. Sie müssen daher, um ihre Existenz zu fristen, um
zu ..leben", sich in beständigem Stoffwechsel befinden, sich be-
ständig zersetzen und ernähren, und dies ist nur mittels der Imbi-
bition möglich. Wenn diese Wechselwirkung zwischen der Zersetzung
und der Ernährung der festflüssigen Materie aufhört, tritt der Tod
ein. Sämtliche anorganische Individuen dagegen können sich nie-
mals zersetzen, ohne dadurch ihre Existenz als solche aufzugeben.
Weil sie nicht imbibitionsfähig sind, können sie sich nicht ernähren,
und wenn sie sich zersetzen, so ist dies ihr Tod. So wenig aber
die Kristalle sich zersetzen können, ohne ihre individuelle Form und
damit ihren individuellen Charakter aufzugeben, so wenig bedürfen
sie der Zersetzung, um sich zu erhalten. Und hierin liegt gleichfalls
ein wesentlicher Unterschied zwischen den organischen und anorga-
nischen Individuen, der sich ebenfalls auf ihren verschiedenen Ag-
gregatzustand zurückführen läßt. Denn der feste Aggregatzustand
der Kristalle, welcher die inneren Bewegungserscheinungen aus-
schheßt, die für das Leben des festflüssigen Organismus unentbehrlich
sind, verleiht denselben zugleich die Fähigkeit der Selbsterhaltung,
ohne daß Stoffwechsel für die Konservation erforderlich ist.
III. 4. Anpassung der organischen und anorganischen Individuen.
Die Anpassung oder Adaptation ist diejenige formbildende
Funktion der Naturkörper, welche die unendlich mannigfaltigen in-
dividuellen Charaktere bedingt, durch welche sich alle Individuen
einer und derselben Art voneinander unterscheiden.
Wir haben schon oben, wo wir absichtlich die Differenzen in
der Form und Entstehung der organischen und anorganischen Indi-
viduen möglichst schroff gegenüberstellten, einen der wichtigsten
Unterschiede darin gefunden, daß alle anorganischen Individuen, die
einer und derselben Art angehören und dieselbe chemische Zu-
Y. III. Olganische und anorganische Kräfte. 73
sammensetzung haben, auch vollkommen dieselbe wesentliche Form
zeigen und sich nur durch ihre absolute Größe unterscheiden. Die
Kristalle einer anorganischen Spezies zeigen nicht die durch die
Variabilität bedingten individuellen Verschiedenheiten, welche alle
verschiedenen Individuen einer und derselben organischen Spezies
auszeichnen, und es bleibt daher auch die anorganische Art im
Laufe der Zeit vollkommen unveränderlich, konstant, während die
organischen Spezies durch fortschreitende Divergenz ihrer variablen
Individuen eine endlose Reihe ganz verschiedener Formen erzeugen.
Da den Anorganen die Fortpflanzung fehlt, so fehlt ihnen auch die
Fähigkeit der erblichen Übertragung von solchen Charakteren, die
durch Anpassung erworben sind.
Dennoch bedarf unsere obige Bemerkung einer bedeutenden Ein-
schränkung. Individuelle Verschiedenheiten finden sich auch
unter den anorganischen Individuen ganz allgemein vor. und
zwar sind sie die Folge der Anpassung an die Verhältnisse, unter
denen das Kristallindividuuni sich bildete. Bei Untersuchung dieses
wichtigen Verhältnisses muß man vor allem immer im Auge behal-
ten, daß bei der Entstehung aller individuahsierten Naturkörper, bei
der Bildung jedes Kristalls, wie bei der Bildung jedes Organismus,
stets zwei verschiedene Prinzipien oder gestaltende Mächte einander
entgegenwirken. Das eine Prinzip ist beim Kristall wie beim Orga-
nismus die Summe der spezifischen physikalischen und chemischen
Eigenschaften, welche seiner Materie inhärieren. Beim Organismus,
der sich nicht selbst erzeugt, sondern von anderen Individuen seines-
gleichen durch Fortpflanzung erzeugt wird, sehen wir diese Erschei-
nung als die notwendige Wirkung der Erblichkeit an, welche alle
wesentlichen Eigenschaften des Organismus auf seine Nachkommen
überträgt. Beim Kristall dagegen betrachten wir diese Erscheinung
als den unmittelbaren Ausfluß seiner materiellen Konstitution,
d. h. der spezifisch bestimmten Art und Weise, in welcher sich gesetz-
mäßig eine bestimmte Anzahl von Atomen zu bestimmten Molekülen
zusammensetzt. Durch einfache Attraktion dieser Moleküle entsteht
die charakteristische Form des Kristalls. Eine schärfere Vergieichung
ergibt nun alsbald, daß auch in dieser Beziehung kein wesentlicher
Unterschied zwischen den Organismen nnd Anorganen existiert.
Denn auch die Erblichkeit beruht auf der materiellen Kontinuität
des elterlichen und des von ihm erzeugten Organismus, und wir
können die fundamentale Erscheinung der Erblichkeit, der erblichen
74 Organismen und Anorgane. V.
Übertragung biologischer Funktionen durch nichts anderes erklären,
als durch die Übertragung der spezifisch konstituierten Materie selbst.
Die Erblichkeit der Organismen wirkt vollkommen äquivalent der
atomistischen Konstitution der Anorgane; hier wie dort ist es die
Materie, welche sämtliche allgemeinen Funktionen (die Lebens-
erscheinungen der Organismen, die physikalischen und chemischen
Kräfte der Anorgane) unmittelbar als Causa efficiens mit absoluter
Notwendigkeit bedingt.
Diesem mächtigen gestaltenden Prinzip, welches der Materie
des sich bildenden Individuums (gleicherweise des Kristalls wie des
Organismus) unmittelbar inhäriert, und welches wir demgemäß all-
gemein als die innere Gestaltungskraft oder den inneren
Bildungs trieb bezeichnen werden, wirkt nun beständig und überall
entgegen die zweite formbildende Macht, welche die zahllosen Eigen-
tümlichkeiten der individuellen Bildungen bedingt, durch die sich
alle Einzelwesen jeder Art voneinander unterscheiden. Diese nicht
minder wichtige Funktion des werdenden, des sich gestaltenden
Individuums können wir allgemein als Anpassung (Adaptatio.
Accommodatio) bezeichnen, oder, im Gegensatz zu ihrem Antago-
nisten, als äußere Gestaltungskraft oder äußeren Bildungs-
trieb. Die allgemeine Existenz und Wirksamkeit dieser formbilden-
den Potenz wird einfach durch die Tatsache bedingt, daß kein
einziger Naturkörper isoliert im Räume sich bildet und existiert,
daß vielmehr sämtliche Naturkörper sich bilden und existieren in
Wechselwirkung mit den anderen Naturkörpern, welche sie unmittel-
bar von allen Seiten umgeben. Die allgemeine Wechselwirkung
der gesamten Materie tritt uns hier als eines der obersten und
wichtigsten Naturgesetze gegenüber, welches unmittelbar mit deih all-
gemeinen Kausalgesetze zusammenhängt. Die innere Gestaltungs-
kraft jedes Teils der Materie, der innere Bildungstrieb jedes einzelnen
Naturkörpers, als die aus ihrer atomistischen Konstitution unmittel-
bar entspringende Kraftsumme kann niemals rein und ungestört die
individuelle Bildung vollenden. Denn beständig wird sie gestört
von der entgegenwirkenden äußeren Gestaltungskraft der umschließen-
den Materie, von dem äußeren Bildungstriebe aller einzelnen Natur-
körper, welche sie unmittelbar oder mittelbar umgeben. Da nun
die Summe dieser von außen einwirkenden Kräfte überall eine ver-
schiedenartige, überall aus verschiedenen Komponenten zusammen-
gesetzt ist, so muß auch ihre Wirkung auf ein und dieselbe Materie
Y. in. Organische und anorganische Kräfte. 75
in jedem individuellen Falle verschieden sein und lediglich diese
Wechselwirkung jedes Individuums mit seiner gesamten Umgebung
ist es, welche als Anpassung seine besonderen individuellen Cha-
raktere bedingt.
Versuchen wir diese äußerst wichtigen Fundamentalverhältnisse
der gesamten Körperwelt, welche für die anorganische und die
organische Natur ganz gleiche Geltung haben, als allgemeines Ge-
setz zu formulieren, so ließe sich dieses etwa in folgenden Worten
aussprechen: Jeder Teil der aus Atomen zusammengesetzten Materie
wirkt auf jeden anderen Teil der Materie, entweder anziehend (durch
Attraktion) oder abstoßend (durch Repulsion). Diese Wirkung er-
zeugt in erster Linie Bewegungen der aufeinander wirkenden Atome,
welche sich zu bestimmten Atomgruppen oder Molekülen gesetz-
mäßig in bestimmten Zahlenverhältnissen verbinden. Diese Mole-
küle wirken nun ebenso wieder aufeinander, entweder anziehend
oder abstoßend, und diese Wirkung erzeugt in zweiter Linie Be-
Avegungen der aufeinander wirkenden Moleküle, welche, aus dem
flüssigen in den festflüssigen oder festen Aggregatzustand übertretend,
sich zu bestimmten individuellen Formen gesetzmäßig, in bestimmten
Richtungen, verbinden, (amorphe Körner, kristalloide Körner. Kristalle.
Moneren, Zellen, mehrzellige Organismen). Bei der Bildung jedes
individuellen Naturkörpers treten zwei formbildende Kräfte in Wechsel-
wirkung, der innere Bildungstrieb, die unmittelbare Wirkung
der existierenden Materie des Individuums selbst (die Summe der
bewegenden Kräfte aller Moleküle, welche das Individuum zusammen-
setzen), und ihm gegenüber der äußere Bildungstrieb, die unmittel-
bare Wirkung der Materie, welche außerhalb des Individuums existiert
und dasselbe umgibt, die Summe der bewegenden Kräfte aller Mole-
küle, welche außerhalb des Individuums existieren und auf dasselbe
von außen bewegend (anziehend oder abstoßend) einwirken. Der
innere Bildungstrieb oder die innere Gestaltungskraft äußert
sich bei Bildung der anorganischen Individuen entweder als Aggre-
gation (amorpher Körner) oder als Kristallisation (unvollkommener
KristaUoide oder vollkommener Kristalle), bei Bildung der organischen
Individuen entweder als Aggregation (bei der Autogonie der spontan
entstehenden Moneren-Organismen) oder als Erblichkeit (bei der
Fortpflanzung elterlich erzeugter Organismen). Der äußere Bildungs-
trieb oder die äußere Gestaltungskraft äußert sich allgemein
als Anpassung, bei Bildung der anorganischen Individuen, indem sie
76 Organismen und Anorgane. V.
die verschiedene Größe und die untergeordneten Eigentümliclikeiten
der äußeren Form bedingt, durch welche sich die einzehien Kristall-
individuen derselben Art unterscheiden. Bei Bildung der organischen
Individuen dagegen, indem sie die individuellen Charaktere, die ver-
schiedene Größe und die unendhch mannigfaltigen untergeordneten
Eigentümlichkeiten der inneren und äußeren Form bedingt, durch
welche sich die einzelnen Organismen derselben Art unterscheiden
und welche nach Darwins Divergenzlehre zur Bildung der ver-
schiedenen Arten, Gattungen, Familien. Klassen usw. führen. Die
Anpassung der organischen und anorganischen Individuen unter-
scheidet sich nur insofern, als ihr verschiedener Aggregatzustand
und ihre verschiedene atomistische Konstitution hier bedingend wirken.
Der festflüssige Aggregatzustand der Kohlenstoffverbindungen in den
Organismen, welche im Innern des schon gebildeten Individuums
eine fortwährende Bewegung der Moleküle und eine Ersetzung der
verbrauchten Stoffteile durch neue nicht allein erlaubt, sondern auch
bedingt, gestattet und verursacht durch diese beständigen inneren
Veränderungen auch innere Anpassungen. Der feste Aggregat-
zustand der anorganischen Individuen dagegen, welcher keine Be-
wegung im Inneren des einmal gebildeten Individuums gestattet,
ohne dessen individuelles Wesen zu vernichten, erlaubt dadurch
zugleich auch keine innere Anpassung, sondern nur gewisse An-
passungen der von außen neu sich ansetzenden Schichten, die wir
im Gegensatz zu jenen äußeren Anpassungen nennen können.
Die Anpassung der anorganischen Individuen, der Kristalle, ist für die
Yergleichung derselben mit den Organismen äußerst wichtig, und da diese
Verhältnisse bisher von den Biologen in dieser Beziehung sehr wenig
gewürdigt sind, erlauben wir mis hier, ihre hohe Bedeutung besonders
hervorzuheben.
Die äußeren Bedingungen, denen sich die Kristalle bei ihrer Ent-
stehung anpassen (die äußeren Gestaltungskräfte) liegen teils in dem
absoluten Grade der Temperatur, teils in dem relativen Zeitmaße der
Temperaturveränderung, bei welcher die Kristallisation stattfindet, teils
in der Beimischung anderer Lösungen zu der Mutterlauge, aus welcher der
Kristall entsteht, teils in der Mischnng und Form der umgel)enden festen
I\ör])er etc. Doch ist uns das Nähere über die gesetzliche Wirksamkeit
dieser Anpassungsl)edingungen zurzeit noch größtenteils unbekannt. Schon
sehr feine Unterschiede in der Temperatur, in der Ruhe, in der Bei-
mischung fremder Lösungen zu der Flüssigkeit, in der Form imd Mischung
des die Flüssigkeit umschließenden Gefäßes etc. vermögen in Größe und
Form der einzelnen Kristallindividuen sehr beträchtliche Vei'schiedenheiten
zu licdingen. Aber selten können wir ein bestimmtes gesetzliches Yer-
Y_ III. Organische und anorganische Kräfte. 77
hältnis zwischen der unmerklichen Ursache und der auffallenden Wirkung-
nachweisen. Im ganzen genommen sind uns diese Gesetze und die bei der
Bildung der Kristalle auftretenden Kausalbeziehungen nicht besser l)ekannt.
ihrem innersten Wesen nach aber sind sie uns vollkommen el)enso rätsel-
haft als die Kausalgesetze, welche bei Entstehung der Organismen die
verschiedenen individuellen Formen aus einfacher gemeinsamer Grundlage
hervorgehen lassen. Von den verhältnismäßig Avenigen Fällen, in denen
wir die wirkenden Ursachen kennen, welche die abgeleiteten Kristallformen
bedingen, hat Bronn in seinen morphologischen Studien (S. 30, ;)7) eine
Reihe (größtenteils von Frankenheim, Mit scherlich. Lavalle und
B e u d a n t beobachtete Erscheinungen) zusammengestellt. Als Hauptursachen
für die Entstehung bestimmter abgeleiteter Kristallformen (eines und des-
selben Systems) werden dort angeführt. I. Die Anwesenheit stellvertretender
und außerwesenthcher Gemischteile in dem Minerale oder in der Flüssig-
keit, woraus sich dasselbe bildet, und IL Die Beschaffenheit der kristal-
hnischen Unterlage, a) Reiner Kalkspat besitzt eine viel größere Anzahl
abgeleiteter Flächen, als der mit isomorphen Salzen gemischte, b) Im
Inneren einer reinen Auflösung kristallisiert das Mineral gewöhnlich in
seiner reinen Kernform, während die Beschaffenheit der umschließenden
Gefäßwände oder fremde Beimischungen in der Flüssigkeit Modifikationen
der Kernform veranlassen. So z. B. kristallisiert Kochsalz in Würfeln,
bei anwesender Borsäure in Kubo-Oktaedern. bei anwesendem Harnstoff in
Oktaedern etc. c) Blei-Azotat kristallisiert aus saurer Flüssigkeit als ent-
ecktes Oktaeder, aus neutraler als vollkommenes Oktaeder, d) Jodkalium,
welches sonst als Würfel kristallisiert, erscheint auf Glimmer in Oktaeder-
form, e) Selbst die Lage des Kristalls ist bei langsamer Bildung von
Einfluß; wenn derselbe locker auf dem Boden des Gefäßes liegt, wird
die aufliegende Fläche größer, und entsprechend auch die gegenüber-
liegende, f) Die Winkel isomorpher Kristalle, welche bei 0^ niu- un1)e-
deutend voneinander verschieden sind, nehmen mit zunehmender Tempera-
tur teils zu, teils ab, aber in verschiedenen Graden.
Viel wichtiger aber als die Tatsache, daß selbst sehr geringfügige
äußere Einflüsse („Anpassmigsbedingungen") genügen, um sehr beträcht-
liche Differenzen in Größe und Formkomplikation der anschießenden
Kristalle hervorzurufen, welche in einer und derselben Flüssigkeit nach
einem und demselben Kristallsysteme sich bilden, ist der Umstand, daß
solche äußere Ursachen selbst auf die Wahl des Kristallsystems von
Einfluß sind, welches der anschießende Kristall annimmt, und daß geringe
Veränderungen der äußeren Einflüsse genügen, um den Kristall im einen
Falle nach diesem, im anderen nach jenem System sich bilden zu lassen.
Hierher gehören die zahlreichen Fälle vom Polymorphismus (meistens
Dimorphismus, selten Trimorphismus etc.) der Kristalle, bei denen man
allerdings nur selten die Ursache kennt, warum derselbe chemische Körper
das eine Mal dieses, das andere Mal jenes Kristallsystem sich auswählt.
Den größten Einfluß scheint in dieser Beziehung wieder der Tempe-
raturgrad zu haben, bei welchem die Kristalle sich bilden, sowie der
Unterschied, ob der kristallisierende Körper aus einer konzentrierten Lösung
70 Organismen und Anoigane. V,
sich absetzt, oder ol) er aus dem geschmolzenen Aggregatzustand durch
Al)kühlung in den festen übergeht. So z. B. können lediglich Temperatur-
unterschiede den kohlensauren Kalk Ijestimmen. bald als Kalkspat im
hexagonalen, bald als Arragonit im rhombischen Systeme zu kristallisieren.
Geschmolzener Schwefel schießt beim langsamen Erkalten in klinorhom-
bischen Säulen an. während derselbe Schwefel aus einem tropfbar-flüssigen
Medium, in welchem er gelöst ist, bei dessen Verdunstung oder langsamer
Abkühlung in Rhombenoktaedern kristallisiert.
Noch viel merkwürdiger aber ist es, daß schon der Kontakt mit einem
fremden heterogenen Kristalle genügt, den gelösten Kör])er zum Aufgeben
seiner eigenen und zur Annahme dieser fremden Kristallform zu bewegen.
So erscheint der Kalisal])eter. welcher dem rhombischen Kristallsysteme
angehört, in rhomoboedrischen, dem Kalkspat isomorphen Kristallen des
hexagonalen Systems, wenn er sich auf einem Minerale dieses Kristall-
systems als Unterlage bildet.
ni) 5. Korrelation der Teile in den organischen und anorganischen
Individuen.
Von besonderer Bedeutung für die Analogie zwischen den orga-
nischen nnd anorganischen Individuen scheint uns endhch die Korre-
lation oder Wechselbeziehung der Teile zu sein, welche gewöhnlich
als eine besondere nnd charakteristische Eigentümlichkeit der Orga-
nismen hingestellt wird, während sie doch in ganz ähnlicher Weise
auch den Kristallen zukommt. In ähnlicher Weise, wie im Organisnms
alle einzelnen Teile untereinander und zum Ganzen in bestimmten,
durch die Form des Organismus ausgedrückten Beziehungen stehen,
so finden wir auch beim Kristalle, daß alle einzelnen Teile unter-
einander und zum Ganzen in bestimmten, durch die gesetzmäßige
Verschiedenheit der Kohäsion in bestimmten Richtungen (Achsen) ge-
regelten Beziehungen stehen. Diese notwendige Wechselwirkung der
Teile untereinander und auf das Ganze ist ganz ebenso im Organismus
wie im Kristall durch die physikalischen Funktionen und die che-
mische Zusammensetzung seiner Materie mit Notwendigkeit bedingt.
Als Ausdruck dieser anorganischen Korrelation der Teile betrachten
wir zunächst das Symmetriegesetz der Kristalle, wonach alle
abgeleiteten Kristallformen, die als individuelle Variationen der Kristall-
grundformen auftreten, stets mehr oder minder symmetrisch modifiziert
auftreten. Alle gleichartigen Teile einer Kristallform erleiden bei Ver-
änderung eines einzigen Teiles von ihnen dieser entsprechende Ver-
änderungen. Wenn also eine Kante oder Ecke eines Oktaeders durch
eine bestimmte Fläche ersetzt wird, so müssen auch alle entsprechenden
Kanten und Ecken desselben durch eine Fläche von gleicher Beschaffen-
heit ersetzt werden. Beim Quadrat-Oktaeder, bei welchem die obere
Y_ III. Organische und anorganische Kräfte. 79
und untere Ecke von den vier unter sich gleichen (Quadrat-)Ecken des
mittleren Umfangs verschieden sind, können zweierlei Ecken-Veränderungen
(z. B. Abstumpfungen durch eine Fläche) eintreten, indem die eine Ver-
änderung die korrespondierende obere und untere Ecke, die andere Ver-
änderung die vier anderen Ecken trifft. Beim Rhomben-Oktaeder, wo
alle sechs Ecken paarweis gleich, die drei Paare aber ungleich sind,
kitnnen die sechs Ecken von drei verschiedenen Modifikationen getroffen
werden, indem jede Modifikation nur zwei gegenüberliegende Ecken
trifft usw. Die Kristallographie weist nach, welche große Menge
individuell verschiedener Kristallformen aus einer und dersell^en Grund-
form auf diese Weise durch gleiche Modifikation entsprechender Ecken.
Kanten und Flächen hervorgehen kihmen. Die Betrachtung dieser Ver-
schiedenheiten im einzelnen berührt uns hier nicht, um so mehr aber
das allgemeine Symmetriegesetz, welches daraus hervorgeht und welches
zeigt, daß korrespondierende (gleichartige oder gegenüberliegende) Teile
des Kristalls in einer ebenso innigen Wechselbeziehung zueinander
stehen, wie verschiedene korrespondierende Teile eines Organismus.
Der einzige wesentliche Unterschied, welchen die Kurrelation der
Teile in den organischen und anorganischen Individuen zeigt, besteht
darin, daß dieselbe bei den Organismen, deren Sul)stanz zeitlebens in
innerer Bewegung und Umänderung bleibt, auch ihr ganzes Lel)en hin-
durch wirksam ist. während dieselbe bei den Kristallen sich nur während
der Zeit ihrer Bildung äußern kann, in dem einmal gebildeten Kristalle
aber, bei welchem keine innere Bewegung ohne Zerstörung mehr statt-
findet, nicht mehr als lebendige Kraft bildend wirksam sein kann.
Äußerst lehrreich ist in dieser Beziehung ein Experiment von Lavalle.
Dieser zeigte, daß, wenn man einem in der Bildung begriffenen Oktaeder
eine Kante wegschneidet und so eine künstliche Fläche bildet, eine
ähnliche Fläche sich von selbst an der korrespondierenden gegenüber-
liegenden Kante bildet, während die übrigen sich scharf ausbilden.
Alle diese Erscheinungen der symmetrischen Kristallbildung l)eweisen
uns evident, daß die innere Struktur und die äußere Form der Kristalle
ebenso unmittelbar zusammenhängen, und daß der ganze Kristall ebenso
ein organisches Ganzes ist. wie der Organismus. Alle einzelnen den
Körper zusammensetzenden Teile hal)en in dem einzelnen Kristalle ebenso
eine innere Beziehung zueinander und zu der Totalität des ganzen Indivi-
duums, wie in dem einzelnen Organismus.
III) 6. Zellenbildung und Kristallbildung.
Bei der Vergieichtmg, welche wir im Vorhergehenden zwischen
Organismen und Anorganen anstellten, haben wir als Typus der voll-
kommensten anorganischen Individuen die Kristalle und als Typus
der einfachsten amd unvollkommensten Organismen die Moneren
hingestellt. In letzteren konnten wir durchaus keine differenten Teile
unterscheiden, fanden vielmehr ihren gesamten Körper aus einer voll-
gQ Organismen und Anorgane. V.
kommen homogenen, formlosen Eiweißmasse gebildet. Dieser in sich
völlig gleichartige Plasmaklumpen ist ein selbständiges organisches
Individuum, begabt mit den beiden wichtigsten Lebensfunktionen, der
Ernährung und Fortpflanzung.
Ein allgemeiner Vergleich der Zellen mit den Kristallen und
der Versuch, die Zellbildung in ähnlicher Weise wie die Kristall-
bildung auf einfache Molekularbewegungen der Materie zurückzuführen,
stößt bereits auf sehr viel größere Schwierigkeiten, weil wir in der
Zelle schon mindestens zwei verschiedene Formelemente zu einem
individuellen Ganzen verbunden haben, was bei den homogenen Cyto-
den noch nicht der Fall ist und bei den Kristallen niemals vorkommt.
Um so wichtiger und interessanter ist es, daß wir bereits seit langer
Zeit einen solchen Vergleich besitzen, der noch jetzt von hohem Werte
ist. Theodor Schwann nämlich hat in den epochemachenden
..mikroskopischen Untersuchungen", durch welche er 1839 die Gewebe-
lehre als besondere Wissenschaft neu begründete, den sehr aner-
kennenswerten Versuch gemacht, in monistischem Sinne die Zellen
als die eigentlichen Elementarorganismen nachzuweisen, welche den
Körper der höheren Organismen durch Aggregation zusammensetzen,
und hat dabei die Zellen als die eigentlichen organischen Individuen
mit den Kristallen als den anorganischen Individuen in Parallele
gestellt. In der berühmten ..Theorie der Zellen", welche den letzten
Teil im dritten Abschnitte jenes Werkes bildet (S. 220—257) hat
Schwann diesen Vergleich der Zellen mit den Kristallen durchzu-
führen versucht und hat unseres Erachtens mit bewundernswürdiger
Schärfe den schlagenden, wenn auch nicht vollständigen Beweis für die
Theorie geführt. ..daß die Bildung der Elementarteile der Organismen
nichts als eine Kristallisation imbibitionsfähiger Substanz, der Organis-
mus nichts als ein Aggregat solcher imbibitionsfähiger lüistalle ist."
lY. Einheit der orgaiüscheii und anorganischen Natur.
Wir haben in den drei vorhergehenden Abschnitten die Überein-
stimmungen und die Unterschiede zu schätzen und zu messen versucht,
w^elche die beiden großen Hauptgruppen der irdischen Naturkörper,
Organismen und Anorgane, hinsichtlich ihres Stoffes, ihrer Form
und ihrer Funktionen zeigen. Als das allgemeine Resultat dieser Ver-
gleichung können wir nun schließlich folgenden Satz aufstellen: Alle
uns bekannten Naturkörper der Erde, belebte und leblose, stimmen
V. IV. Einheit der organischen und anorganischen Natur. gl
überein in allen wesentlichen Grundeigenschaften der Materie, in ihrer
Zusammensetzung aus Massenatomen und darin, daß ihre Formen
und ihre Funktionen die unmittelbaren und notwendigen Wirkungen
dieser Materie sind. Die Unterschiede, welche zwischen beiden Haupt-
gruppen von Naturkörpern hinsichtlich ihrer Formen und Funktionen
existieren, sind lediglich die unmittelbare und notwendige Folge der
materiellen Unterschiede, welche zwischen beiden durch die verschieden-
artige chemische Verbindungsweise der in sie eintretenden Elemente
bedingi werden. Die eigentümlichen Bewegungserscheinungen, welche
man unter dem Namen des „Lebens" zusammenfaßt und welche
die eigentümlichen Formen der Organismen bedingen, sind nicht der
Ausfluß einer besonderen (innerhalb oder außerhalb des Organismus
befindlichen) Kraft (Lebenski'aft, Bauplan, wirkende Idee etc.), sondern
lediglich die unmittelbaren oder mittelbaren Leistungen der Eiweiß-
körper und anderer komplizierter Verbindungen des Kohlenstoffs."
Eine eingehendere Uiitersuclmno; und Yerffleichims; der individuellen
*pi
Organismen und Auorgane hinsichtlich ihrer materiellen Zusammen-
setzimg und der daraus unmittelbar resultierenden Form imd Funktion
wird leicht noch zahlreichere und schlagendere Beweise für die obigen
Sätze sammeln können, als uns hier auf dem beschränkten Earmi möglich
war. Wir müssen ims daher begnügen, einige der wichtigsten Punkte
hier besonders hervorgehoben zu haben und müssen das Weitere einer
künftigen synthetischen Untersuchung anheimgeben. Für uns kam es
hier vor aUem darauf an, der bisher ganz einseitig ausgel)ildeten analyti-
schen Unterscheidung der beiderlei Köri)er nun auch einmal ihre
synthetische Yergleichung gegenüberzustellen imd das weitverbreitete
Dogma zu beseitigen, daß das „Leben" etwas ganz Besonderes, absolut
von der leblosen Natur Verschiedenes und von ihr Unabhängiges sei.
Daß dies keineswegs der Fall ist imd daß nm* relative Differenzen die
leblosen mid belebten Naturkörper trennen, glauben wir hinsichtlich aller
drei Erscheinungsreihen, der stofflichen Zusammensetzung und der daraus
resultierenden körperlichen Form mid funktionellen Leistung gezeigt zu
haben. Wir fassen die wichtigsten Vergleichimgspimkte hier kurz zu-
sammen.
I) Die chemischen Urstoffe oder mizerlegbaren Elemente, welche
die lebendigen und die leblosen Naturkörper zusammensetzen, sind die-
selben. Es gibt kein Element, welches nur in den Organismen vor-
käme. Dagegen ist ein Element, der Kohlenstoff, Avelches auch in
der leblosen Natiu* als Kristallindividuum auftritt (als Diamant, als
Grapliit), dasjenige, welches in keinem Organismus fehlt und welches
durch seine außerordentliche, keinem anderen Elemente eigene Neigung
zu verwickeiteren Verbindungen mit den anderen Elementen, diejenige
unendliche Mannigfaltigkeit der „organischen Stoffe" erzeugt, welche die
unendUche Mannigfaltigkeit der organischen Formen imd Lel)enserschei-
H a e c k e 1 , Prinz, d. Morphol. b
82 Organismen und Anorgane. y.
nungen liervorljrin<ien. Eine der wichtigsten Eigenschaften vieler dieser
KohlenstofiVerhindungen ist ihre Fähigkeit, den festflüssigen Aggre-
gatzustand anzunehmen, welcher in den Anorganen niemals vorkommt.
Auf dieser Imbibitionsfähigkeit der organischen Materie, auf ihrer ver-
wickelten atomistischen Zusammensetzung und auf ihrer leichten Zersetz-
barkeit beruhen die sämtliclien eigentümlichen Bewegungsvorgänge, welche
wir als die charakteristischen Erscheinungen des Lebens ansehen.
11) Die Organismen treten sämtlich, die Anorgane teilweise in Form
von räumlich abgeschlossenen EinzelkiU-pern oder Individuen auf. Die
unvollkommensten organischen Individuen, die Moneren oder struktur-
losen Plasmaindividuen, stimmen mit den vollkommensten anorganischen
Individuen durch die homogene Beschaffenheit ihres strukturlosen Körpers
mehr überein, als mit den höheren, aus Individuen verschiedener Ordnung
zusammengesetzten Organismen. Diese Zusammensetzung des Individuums
aus ungleichartigen Teilen ist allerdings den meisten, aber nicht allen
Organismen eigentümlich, und deshalb kein absolut unterscheidender
Charakter von den Kristallen, welche ihrerseits ebenfalls bisweilen in
Mehrzahl zur Bildung von Individuen hiUierer Ordnung zusammentreten
(Kristallstöcken). In gleicher Weise wie die Organismen besitzen auch
die Kristalle eine innere Struktur und zeigen gesetzmäßige Beziehungen
der einzelnen Teile untereinander und zum Ganzen. Die äußere gesetz-
mäßige Form ist hier wie dort der Ausdruck und das Resultat der
inneren Struktur und hier wie dort durch die Wechselwirkung zweier
formbildender Triebe oder Kräfte bedingt, des inneren Bildungstriebes
(der materiellen Zusammensetzung) und des äußeren Bildungstriebes (der
Anpassung). Sowohl den organischen als den anorganischen Individuen
liegt meistens eine bestimmte stereometrische Grundform zugrunde, welche
bei den Kristallen meistens prismoid ist. Doch ist die prismoide Grund-
form der Kristalle (von ebenen Flächen, geraden Linien und meßbaren
Ecken begrenzt) nicht ausschließlich für die anorganischen Individuen
charakteristisch, da dieselbe sowohl bei vielen niedrigen Organismen
(Radiolarien) vorkommt, als auch bei anderen anorganischen Individuen
(Diamant-Kristallen und anderen krummflächigen Kristallen) fehlt. Wir
können also so wenig in der individuellen Bildung, als in der formellen
Zusammensetzung der Individuen, ebensowenig in der äußeren Form, als
in der inneren Struktur, ebensowenig in der stereometrischen Grund-
form, als in deren vielfältiger äußerlicher Modilikation, kurz, wir können
in keiner Beziehung irgendeinen absoluten, in allen Fällen durchgreifen-
den formellen Unterschied zwischen Organismen und Anorganen aufhnden.
in) Die Funktionen, Leistungen oder Kräfte der Naturkörper sind
entweder feinere oder gröbere Bewegungen ihrer materiellen Teilchen,
der Atome und der aus ihnen zusammengesetzten Moleküle. Sie sind
also unmittelbare Ausflüsse der materiellen chemischen Zusammensetzung
des Natui'körpers. Weil diese Leistungen bei den Organismen sehr viel
mannigfaltiger und zusammengesetzter sind, als bei den Anorganen,
bezeichnen wir sie als „ Lebeuserscheinungen". Die einfachen, ele-
mentaren Funktionen der Materie kommen sämtlich, und die verwickel-
Y_ IV. Einheit der organisclien und anorganischen Natur. 83
teren Funktionen zum großen Teil den Organismen und Anorganen in
gleicher Weise zu; zum Teil nher (Lebenstätigkeiten im engeren Sinne)
kommen die letzteren den Organismen ausschließlich zu. Eine der
wichtigsten und allgemeinsten körperlichen Fimktionen. welche allen leb-
losen mid belebten individuellen Naturkörpern gemeinsam zukommt, ist
das Wachstum der Individuen. Die Verschiedenheiten, welche sich im
Wachstimi der organischen mid anorganischen Individuen finden, sind in
der verwickeiteren chemischen Zusammensetzung und der Imbibitions-
fähigkeit vieler Kohlenstoffverl)indungen begründet. Aus diesen Ver-
schiedenheiten des Wachstums resultieren dann aber mit Notwendigkeit
für die Organismen die weiteren spezifischen Lebenserscheinungen der
Ernährung und Fortpflanzung, denen sich bei den höheren Organismen
noch die kompliziertesten Funktionen der Ortsbewegung und Empfindung
anschließen. Wir sehen also im ganzen, erstens, daß die anorganischen
und organischen Individuen eine gewisse Summe von Leistungen in
gleicher Weise ausüben, und zweitens, daß diejenigen zusammengesetzteren
Leistungen, welche als Lebenserscheinmigen im engeren Sinne den
Organismen eigentümlich sind (allgemein Ernährung und Fortpflanzung),
lediglich in der verwickeiteren chemischen Zusammensetzimg der Kolilen-
stoffverbindungen und in den daraus resultierenden physikalischen Eigen-
tümlichkeiten (vor allem der Imbibitionsfähigkeit) ihren unmittelbaren
materiellen Grund haben.
Alle bekannten Erfahrungen zusammengenommen zwingen uns also
zu der Überzeugmig, daß die Differenzen zwischen den Organismen und
Anorganen nm- relativ, lediglich in der verwickeiteren chemischen Zu-
sammensetzung der Kohlenstoffverbindungen begründet sind, und daß die
Materie liier wie dort denselben Gesetzen der Naturnotwendigkeit unter-
worfen ist. Diese feste Überzeugung ist von der größten Wichtigkeit
sowohl allgemein für die allein richtige monistische Beurteilung der
Gesamtnatur, als auch besonders für die richtige ßeantwortimg einer der
schwierigsten biologischen Fragen, derjenigen von der Entstehung der
ersten Organismen. Indem wir diese Frage im folgenden zu beantworten
versuchen, stützen wir uns unmittelbar auf jene feste Überzeugung von
der Einheit der organischen und anorganischen Natur.
Sechstes Kapitel.
Schöpfung und Selbstzeugung.
„Was war' ein Gott, der mir von außen stieße,
Im Kreis das AU am Finger laufen ließe !
Ihm ziemfs, die Welt im Innern zu bewegen,
Xatur in Sieh, Sich in Natur zu hegen,
So daß was in ihm lebt und webt und ist.
Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt."
Goethe.
I. Entstellung" der ersten Organismen.
Alle großen Erscheinimgsreihen der organischen Natur, alle all-
gemeinen Resultate der zoologischen und botanischen, morphologischen
und physiologischen Forschungen führen uns übereinstimmend mit
zwingender Gewalt zu dem gesetzlichen Schlüsse, daß sämtliche
Organismen, welche heutzutage die Erde beleben, und welche sie zu
irgendeiner Zeit belebt haben, durch allmähliche Umgestaltung und
langsame Vervollkommnung sich aus einer verhältnismäßig geringen
Anzahl von höchst einfachen Urwesen (Protorganismen) entwickelt
haben. Diese Entwickelung geschah und geschieht auf dem Wege
der materiellen Fortpflanzung, der elterlichen Zeugung, nach den
Gesetzen der Erblichkeit und der die Erblichkeit modifizierenden
Variabilität und Anpassung. Alle, auch die höchsten und kompli-
ziertesten Organismen können nur auf diesem Wege, durch allmähliche
Differenzierung und Transmutation von einfachsten und niedrigsten
Lebewesen entstanden sein.
Dieses äußerst wichtige Entwickelungsgesetz bildet den Kern
derjenigen Theorie, welche wir ein für allemal kurz als die Ab-
stammungslehre oder Deszendenztheorie bezeichnen w^ollen,
und deren Begründung wir vor allen Lamarck, Goethe und Dar-
win verdanken. Sie zeigt uns, in Übereinstimmung mit allen fest-
stehenden Erfahrungen, wie aus den einfachsten und unvollkommensten
Urwesen sich die höchsten und vollkommensten Organismen allmählich
VI. I. Entstehung der ersten Organismen. 85
durch Divergenz nach verschiedenen Richtungen haben hervorbilden
können. Diese Entwickelungstheorie läßt aber eine große und zu-
nächst sich daran anknüpfende Frage unbeantwortet, nämlich: „Wie
entstanden jene ersten und einfachsten Lebewesen, aus
denen sich alle übrigen, vollkommeneren Organismen
allmählich entwickelten?"
Die Beantwortung dieser äußerst wichtigen Frage von der ersten
Entstehung des Lebens auf der Erde wird von den meisten Menschen,
und selbst von sehr vielen Biologen, als eine außerhalb aller exakten
Naturforschung liegende, oder selbst als eine der Kompetenz unserer
menschlichen Erkenntnis entzogene Frage bezeichnet. Wir können
keiner von diesen Ansichten beipflichten, und müssen den freilich
sehr gewagten Versuch, die Frage hy^jothetisch zu beantworten,
ebenso als unser gutes Recht, wie unsere notwendige Pflicht
bezeichnen, wenn wir überhaupt die Erscheinungen der organischen
Natur monistisch, d. h. kausal erklären wollen.
Nichts zeigt wohl so sehr die äußerst niedrige Stufe der Entwicke-
lung, auf der sich die gesamte Biologie, sowohl Morphologie als Physio-
logie, noch gegenwärtig befindet, als der Umstand, daß wir zunächst
die Berechtigung dieser Frage, die doch jedem denkenden Menschen
selbstverständlich erscheinen sollte, ausdrücklich hervorheben müssen.
Denn so weit ist noch die herrschende Betrachtungsweise der Organismen
vermöge ihres grundverkelu'ten Dualismus von der allein wissenschaft-
hchen Erkenntnis, d. h. dem monistischen Verständnis der organischen
Naturerscheinungen entfernt, daß nicht nur die meisten Laien, sondern
selbst die meisten Natm-forscher die Berechtigimg jener Frage bestreiten
und sie als eine solche bezeichnen, zu deren "wissenschaftHchen Erörterung
Avir weder befugt, noch befäliigt seien.
Die Frage nach dem ersten Ursprung des Lebens auf der
Erde, nach der Entstehung jener ersten, einfachsten Organismen, aus
denen alle übrigen dm'ch allmähliche Umbildung sich entwickelten, ist
nach imserer Ansicht vollkommen ebenso berechtigt und muß von der
Naturwissenschaft ebenso notwendig gesteht werden, wie die Frage nach
der Entstehung der Erde selbst, die Frage nach der Entstehimg der
anorganischen Naturkörper. Wie wir bei den letzteren sowohl die Tat-
sachen ihres allmählichen Werdens, als auch die Ursachen desselben in
den Kreis imserer ^Forschimg zu ziehen haben, so verhält es sich auch
mit den Organismen. Wir werden also in diesem Kapitel ebensowohl
uns eine Theorie über die erste Entstehung der Organismen, wie über
die Ursachen derselben zu bilden haben. Und wir sind hier um so
mehr dazu verpflichtet, als Darwin in seinem klassischen Werke gerade
hier eine sehr empfindliche Lücke gelassen und erklärt hat. daß er
„nichts mit dem Ursprung der geistigen Grundkräfte, noch mit dem des
86 Schöpfimg und Selbstzeugung. VI.
Lebens selbst zu schaffen habe". Selbst viele von denjenigen Natur-
forschern luid Philosophen, welche geneigt sind, die sämtlichen Er-
scheinungen des bestehenden Lebens gleich allen anderen Naturer-
scheinimgen als notwendige Folgen mechanisch wirkender Ursachen, also
monistisch zu erklären, nehmen für die erste Entstehung der lebenden
Wesen zu der dualistischen Annahme einer freien Schöpfung ihre Zu-
flucht. Sie verzichten auf die rein kausale, d. h. mechanische Erklärimg
der Entstehung des ersten Lebens, teils weil sie dadurch mit einigen
der ältesten imd stärksten von unseren allgemein herrschenden großen
Vorurteilen zu kollidieren fürchten, teils Aveil sie die Möglichkeit einer
solchen Erklärung nicht einsehen.
II. Scliöpfiiiig'.
Wenn wir alle die unendlich verschiedenen und mannigfaltigen
Ansichten vergleichend in Erwähnung ziehen, welche von denkenden
Menschen aller Zeiten über die erste Entstehung des Lebens auf der
Erde aufgestellt worden sind, so können wir sie allesamt in zwei
schroff gegenüberstehende Gruppen bringen, deren Losungswort
Schöpfung und Urzeugung ist. Bei weitem die größere Mehr-
zahl aller jener Ansichten ist dualistisch und glaubt an eine
Schöpfung, d. h. an eine Entstehung der ersten lebendigen Wesen
durch eine außerhalb der Materie befindliche, zweckmäßig wirkende
Kraft. Nur verhältnismäßig wenige Ansichten sind monistisch und
nehmen eine Urzeugung an, d. h. eine erste Entstehung lebendiger
Körper durch die ureigenen, der Materie innewohnenden, mit ab-
soluter Notwendigkeit gesetzlich wirkenden Kräfte.
Die vielen verschiedenartigen Schöpfungs-Theorieen weichen
hauptsächlich darin voneinander ab, daß die einen einen individuellen
Schöpfungsakt für jeden einzelnen Organismus, die anderen einen
besonderen Schöpfimgsakt für jede ..Spezies" (aus der sich ihre Nach-
kommen durch natürliche Fortpflanzung entwickeln), die dritten
endlich eine Schöpfung nur für jene einfachsten Urorganismen fordern,
aus denen sich alle tibrigen „Spezies"', gemäß der Deszendenz-Theorie,
allmählich entwickelt haben. Von diesen drei verschiedenen An-
sichten brauchen wir bloß die letzte hier zu diskutieren. Denn die
erste Annahme, daß jeder individuelle Organismus (z. B. jeder ein-
zelne Tannenbaum, jede einzelne Diatomee, jede einzelne Stubenfliege,
jeder einzelne Mensch) für sich vom Schöpfer besonders erschaffen
sei, ist zwar unter den Menschenkindern (auch den sogenannten
„Gebildeten") noch sehr weit verbreitet, widerspricht aber so sehr
VI. II. Schöpfung. 87
den einfachsten und allgemeinsten natnrwissenschaftlichen Er-
fahrnngen. daß sie von keinem einzigen wahren Naturforscher mehr
verteidigt wird. Nicht so ist es mit der zweiten oben angeführten,
übrigens nicht minder nnwissenschaftlichen Ansicht; daß jede soge-
nannte „Spezies oder Art" einem besonderen Schöpfungsakt ihre
Entstehung verdanke, daß also von jeder Spezies einmal eines oder
mehrere Individuen geschaffen worden sind, von denen alle übrigen
auf dem Wege natürlicher Fortpflanzung erzeugt worden sind. Diese
auch unter den Naturforschern noch weit verbreitete und gewöhnlich
mit dem absurden Speziesdogma verkettete Ansicht bedarf hier eben-
falls keiner Widerlegung, da wir unten die Spezies selbst als eine
ganz willkürliche und künstliche Abstraktion und die Vorstellung
ihrer absoluten Konstanz als ganz unhaltbar nachweisen werden.
Wir haben also nur noch die letzte (auch von Darwin geteilte)
Schöpfungshypothese zu widerlegen, welche annimmt, daß die
wenigen einfachsten Stammformen, aus welchen alle übrigen durch
allmähliche Differenzierung sich entwickelt haben, unmittelbar ,, er-
schaffen" worden sind. Da wir diese Annahme dadurch widerlegen
müssen, daß wir die Schöpfung überhaupt als undenkbar nachweisen,
so werden dadurch zugleich sämtliche übrigen Schöpfungsannahmen
widerlegt.
Der Begriff der Schöpfung ist entweder überhaupt undenk-
bar oder doch mit jeder reinen, auf empirische Basis gegründeten
Naturanschauung vollkommen unverträglich. In der Abiologie ist
auch nirgends mehr von einer Schöpfung die Rede, und nur in der
Biologie ist man noch vielfach von diesem Irrtum Jjefangen. Voll-
kommen undenkbar ist der Begriff der Schöpfung, wenn man darunter
„ein Entstehen von etwas aus nichts" versteht. Diese Annahme
ist ganz unvereinbar mit einem der ersten und obersten Natur-
gesetze, welches auch allgemein anerkannt ist, dem großen Gesetze
nämlich, das alle Materie ewig ist, und daß nicht ein einziges
Atom aus der Körperwelt verschwinden, so wenig als ein einziges
neues hinzukommen kann. Der einzige denkbare Sinn, welcher
daher für den Begriff der Schöpfung übrig bleibt, ist die Vorstellung,
daß durch eine außerhalb der Materie stehende Kraft Bewegungser-
scheinungen der Materie hervorgerufen werden und daß diese zur
Bildung bestimmter Formen führen ; gewöhnlich versteht man darunter
speziell die Bildung individueller, vorzüglich organischer Formen, und
in unserem speziellen Falle die Bildung jener einfachsten organischen
88 Schö])fung und Selbstzeugung. YI.
Urformen. Die Annahme einer jeden solchen Schöpfung ist nun
deshalb durchaus unstatthaft, weil wir in der ganzen Körperwelt,
welche unserer naturwissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich ist,
nicht ein einziges Beispiel von einer außer der Materie stehenden
Kraft empirisch kennen. Alle Kräfte, die wir kennen, von den ein-
fachen ..physikalischen" Kräften (z. B. der Lichtbrechung, Wärme-
leitung) anorganischer Kristalle, bis zu den höchsten Lebeuserschei-
nungen der Organismen (bis zu der Blütenbildung der Bäume, bis
zu dem Fluge der Insekten, bis zu den philosophischen Gehirn-
operationen des Menschen) sind mit absoluter Notwendigkeit an die
Materie gebunden, und ebenso ist jede Materie (organische und
anorganische) notwendig mit einer gewissen Summe von Kräften
begabt. Einerseits also haben wir nicht einen einzigen, auch nur
wahrscheinlichen Erfahrungsbeweis für die Existenz einer solchen,
die Materie von außen beherrschenden und „schaffenden" Kraft (mag
man dieselbe nun Lebenskraft, Schöpferkraft, oder wie immer
nennen); andererseits aber gehört nur ein wenig tieferes Nachdenken
dazu, um zu der festen Überzeugung zu gelangen, daß eine solche
Kraft ganz undenkbar ist. Wie sollen wir uns eine Kraft außerhalb
der Materie nur irgend vorstellen, eine Kraft, der jeder Angriffs-
punkt, welchen die Materie bietet, als solcher unangreifbar ist?
eine Kraft, welche materielle Bewegungserscheinungen hervorruft,
ohne selbst materiell zu sein? eine Kraft, die eine Bewegung ohne
Anziehung und ohne Abstoßung, mithin eine Wirkung ohne Ursache
hervorrufen würde? Wir gestehen offen, daß wir persönlich voll-
kommen unfähig sind, uns irgendeine denkbare Vorstellung von einer
solchen immateriellen Kraft zu machen, und daß wir unter den zahl-
losen Definitionen und Darstellungen, welche von solchen immate-
riellen Kräften unter den verschiedensten Namen gegeben werden,
nicht eine einzige gefunden haben, die nicht vollständig mit den
allgemeinsten und unmittelbarsten sinnlichen Erfahrungen, sowie mit
den wichtigsten und obersten Grundgesetzen der Naturwissenschaft
(und vor allem mit dem Kausalgesetze) unvereinbar wäre.
Ist nun schon an sich der Begriff einer solchen immateriellen,
außerhalb der Materie befindlichen, von ihr unabhängigen und
dennoch auf sie wirkenden Kraft vollkommen unzulässig und
undenkbar, so wird es in unserem Falle hier die schöpferische Kraft
in um so höherem Maße, als mit deren Vorstellung sich die unhalt-
barsten teleologischen Vorstellungen und die handgreiflichsten Anthro-
VI. 11. Schöpfung. 89
pomorphismen verbinden. Denn es ist klar, daß jenes schöpferische
immaterielle Prinzip, welches bald als Lebenskraft, bald als Schöpfer-
kraft, bald als persönlicher Schöpfer die Organismen ., schaffen" soll,
hierbei dnrchaus in analoger Weise zn Werke gehen soll, wie der
Mensch oder andere Tiere bei „Schöpfung'' irgendeines Kunstwerks,
wie z. B. eine Wespe beim Bau ihres kunstvollen Nestes, oder wie
der Schneidervogel beim Zusammennähen der Blätter, oder wie der
Mensch beim Bauen eines Hauses, beim ModelHeren einer Statue.
Wie alle diese Tiere hierbei nach einem vorhergehenden Entwürfe
ihren Bau konstruieren, so soll auch die Schöpferki-aft oder der per-
sönliche Schöpfer nach einem bestimmten Bauplan die Organismen
zweckmäßig konstruieren, und wenn seine Schöpfungstätigkeit sich
auf die Erschaffung jener wenigen einfachsten ürwesen beschränkt,
aus denen sich die anderen hervorgebildet haben, so hat er jedem
dieser Urwesen die bestimmten Bewegungserscheinungen verliehen,
welche man als sein „Leben" bezeichnet. In allen diesen teleologi-
schen Vorstellungen, und gleicherweise in sämtlichen Schöpfungs-
geschichten, welche die dichterische Phantasie der Menschen produ-
ziert hat, liegt der grobe Anthropomorphismus ^) so auf der Hand,
^) Wie dm-chgreifend diesen Schöpf ungsansichten überall die Vorstellung
des tierischen und insbesondere des menschlichen freiwilligen Handelns nach
einem bestimmten (natürlich kausal bedingten) Wülensimpidse zugrunde liegt,
beweisen schon die allgemein gebräuchlichen Ausdrücke „des Bauplans, der
zweckmäßigen Einrichtung, des künstlichen Baues usw.". Offenbar wird hier
stets das zu schaffende oder erschaffene „Geschöpf" als das Produkt eines vor-
bedachten Planes betrachtet, welchen der „Schöpfer" in ganz gleicher Weise
entworfen, modifiziert und ausgeführt hat, wie der Mensch bei Konstruktion
seiner zweckmäßigen Maschinen und andere Wirbeltiere bei Ausführung ihrer oft
äußerst künstlichen und zweckmäßigen Nester, Bauten usw. tun. Der Anthro-
pomorphismus oder, allgemeiner gesagt: Zoomorphismus, welcher hier zur
Vorstellung des persönlichen oder individuellen Schöpfers führt, ist um so selt-
samer und airffallender, als dieser Schöpfer dabei zugleich als immaterielles
Wesen oder Geist gedacht wird, also im Grunde, wie Reil in der früher zitierten
Stelle treffend ausführt, als ein gasförmiger oder elastisch-flüssiger Körper, oder
als ein Individuimi, welches aus der feineren Materie des schwerelosen oder
unwägbaren Äthers (dem Wärmestoff zwischen den Atomen und Molekülen der
Materie) besteht. Einerseits also wird der die Materie modelnde und formende
Schöpfer nach Art des Menschen oder eines anderen höheren Wirbeltieres
denkend und planausführend, mithin als ein willkürlich bewegliches und mit
Organen handelndes Wirbeltier vorgestellt, andererseits als ein gasförmiger,
also organloser Körper (daher auch die Ausdrücke: Spiritus, Pneuma, Hauch
des Schöpfers, Blasen und Wehen seines Odems usw.). Wir gelangen somit zu
90 Schöpfung und Selbstzeugung. yi.
daß wir der Einsicht jedes überhaupt denkenden und nicht allzusehr
in traditionellen Vorurteilen befangenen Lesers die Vernichtung dieser
Schöpfungsvorstellung selbst überlassen können. Denjenigen Morpho-
logen aber, welche nicht durch eigenes Nachdenken zu dieser
Erkenntnis gelangen können, empfehlen wir zu aufmerksamer Lek-
türe den merkwürdigen ..Essay on Classification" des geistvollen
Agassiz, in welchem dieser berühmte Naturforscher (1859) die
teleologische Vorstellung des Schöpfers und der Schöpfungsakte da-
durch in glänzendster Weise widerlegt, daß er sie bis auf ihre
extremen Konsequenzen verfolgt und ihre unlöslichen Widersprüche
überall lichtvoll an den Tag fördert.
Eine Schöpfung der Organismen ist mithin teils ganz undenk-
bar, teils aller empirisch erworbenen Naturkenntnis so vollständig
zuwiderlaufend, daß wir uns zu dieser Hypothese auf keinen Fall
entschließen dürfen. Es bleibt mithin nichts übrig, als eine spontane
Entstehung der einfachsten Organismen, aus denen sich alle voll-
kommeneren durch allmähliche Umbildung entwickelten, anzunehmen,
eine Selbstformung oder Selbstgestaltung der Materie zum Organis-
mus, welche gewöhnlich Urzeugung oder Generatio spontan ea
(aeciuivoca) genannt wird.
III. Lrzeugimg- oder (leneratio spoiitaiiea.
Die ursprüngliche mechanische Entstehung oder die elternlose
Zeugung der einfachsten, strukturlosen Organismen, welche wir im
folgenden Abschnitt als Selbstzeugung oder Autogonie näher betrachten
werden, ist nicht oder nur teilweis identisch mit den verschiedenen
Arten der freiwilligen oder Urzeugung, Avelche unter dem Namen
der Generatio spontanea, aequivoca, heterogenea, originaria, automa-
tica, primitiva, primigenia, primaria usw. seit so langer Zeit und
mit so viel Interesse diskutiert worden sind. Die Vorstellungen der
verschiedenen Naturforscher über jene Urzeugung sind im allgemeinen
sehr verschieden, stimmen aber doch alle darin überein, daß durch
der paradoxen A'orstellung eines gasförmigen Wirbeltieres, einer Contra-
dictio in adjecto. Im ganzen gilt von diesen wie von den meisten ähnlichen
anthropomorphcn Vorstellungen der schöpferischen Persönlichkeit das Umgekehrte
von dem, was die Priester sagen: „Gott schuf den Menschen nach seinem BUde."
Es müßte vielmehr heißen: ..Der Mensch schafft Gott nach seinem Bilde", oder
wie es der Dichter in dem bekannten Spruche ausdrückt: „In seinen Göttern
malet sich der Mensch!''
Y], III. Urzeugung oder Generatio spontanea. 91
jenen Prozeß lebendige Wesen aus der nicht belebten (sogenannten
„toten"') Materie, durch deren innewohnende, ureigene Kraft, ohne
Dazwischentreten einer außerhalb der Materie stehenden Schöpfer-
kraft, hervorgehen sollen. In diesem Sinne also können wir alle
diese verschiedenen Vorstellungen zusammen als H^qDothesen von
der Urzeugung (Archigonie) den soeben widerlegten Hypothesen
von der Schöpfung (Creation) gegenüberstellen.
Wie nun alle die mannigfaltigen Schöpfungsliypothesen sich
in drei verschiedene Gruppen bringen ließen, die sich mehr oder
weniger von der wissenschaftlichen Erkenntnis entfernen, so können
wir auch die vielfältigen Urzeugungsliypothesen in drei verschiedene
Gruppen bringen, welche sich mehr oder weniger der wissenschaft-
lichen Erkenntnis nähern, und von denen wir nur eine einzige als
die für uns unentbehrliche Hypothese auswählen können.
Nach der einen Gruppe der Hypothesen sind von jeder Orga-
nismenart oder Spezies (zu einer gewissen Zeit oder zu verschiedenen
Zeiten der Erdgeschichte) eines oder mehrere Individuen spontan
entstanden, als deren durch unmittelbare Fortpflanzung entstandene
Nachkommen wir alle übrigen Individuen derselben „Spezies" anzu-
sehen hätten, welche zu irgendeiner Zeit der Erdgeschichte gelebt
haben oder welche noch jetzt leben. Danach wären also z. B. alle
einzelnen Individuen des Weinstocks, des Sperlings, des Menschen,
welche jemals existiert haben, die unmittelbaren Nachkommen eines
einzigen oder einer gewissen Zahl von Individuen des Weinstocks,
des • Sperlings, des Menschen, welche entweder einmal (zu einer
bestimmten Zeit) oder zu wiederholten Malen spontan entstanden
sind. Diese Hypothesengruppe (bei der es uns hier gleichgültig ist,
ob diese Entstehung nur einmal stattfand oder sich mehrmals wieder-
holte, ob dabei nur ein oder zwei oder mehrere Individuen ent-
standen, ob diese ersten Individuen als Eier oder als Erwachsene
entstanden usw.) schließt sich am nächsten an die vorher erwähnte,
am weitesten verbreitete Schöpfungsvorstellung an, nach welcher von
jeder Art ein Stammvater oder mehrere Ureltern geschaffen wurden;
sie unterscheidet sich von jener Hypothese nur dadurch, daß an die
Stelle des schöpferischen Planes oder Willens die bhnde Kraft der
„toten" Materie tritt. Sie bedarf, wie jene, schon deshalb keiner
Widerlegung, weil sie auf dem grundfalschen Dogma von der Kon-
stanz der Spezies fußt. Aber auch abgesehen hiervon widerspricht
die Vorstellung, daß so hoch organisierte und so verwickelt gebaute
92 Schöpfung und Selbstzeugung. YI.
Organismen, wie es die höheren Tiere und Pflanzen sind, bloß durch
die Kraft nicht organisierter Materie unmittelbar entstehen können,
so sehr den einfachsten Erkenntnissen und den bekanntesten Tat-
sachen, daß sich diese Hypothese niemals eine allgemeinere Aner-
kennung hat erringen können.
Die zweite Gruppe der ürzeugungsh}T)othesen behauptet, daß
aus vorhandener organischer Substanz, lediglich durch die organi-
sierende Kraft derselben, niedere Organismen, Tier- und Pflanzen-
formen von sehr einfacher Organisation entstehen können. Hierher
gehört die große Mehrzahl aller Vorstellungen, welche sich die Natur-
forscher der verschiedensten Zeiten über die Urzeugung gebildet
haben. Schon Aristoteles behauptete, daß aus warmem Schlamme
oder faulenden vegetabilischen Substanzen niedere Tiere (Würmer,
Insekten usw.) entstünden. Als man später mit dem Mikroskop die
Fülle von kleinen, dem bloßen Auge unsichtbaren Organismen ent-
deckte, welche alle Gewässer bevölkern, nahm man für einen großen
Teil dieser kleinen Pflanzen und Tiere eine selbständige Entstehung
aus der zersetzten organischen Substanz an, welche von abgestor-
benen Organismen geliefert wird und in allen Gewässern verbreitet
ist. Diese Vorstellung von der Generatio aequivoca wurde um so
mehr befestigt und verbreitet, als man bald entdeckte, daß in allen
Flüssigkeiten, welche durch Übergießung (Infusion) organischer Sub-
stanzen mit Wasser bereitet werden, derartige niedere Tiere und
Pflanzen gleichzeitig mit deren Zersetzung massenhaft entstehen
(Infusorien, Rotatorien, Anguillulen, Pilze, Algen, vielerlei Protisten).
Vorzüglich wurde diese Generatio aequivoca für die Eingeweide-
würmer und andere Organismen angenommen, deren Entstehung an
ihrem abgeschlossenen Wohnorte auf dem Wege der gewöhnlichen
Zeugung man sich nicht erklären konnte. Als nun später die ver-
wickelten und oft unter Wanderungen u. dgi. so versteckten Fort-
pflanzungsverhältnisse dieser Organismen entdeckt wurden, trat ein
allgemeiner Rückschlag ein, indem man nun hieraus die homogene
Fortpflanzung für alle Organismen deduzierte und die Urzeugung
für alle Organismen ohne Ausnahme bestritt. Dieser Satz wurde
so dogmatisch verallgemeinert, daß der „Glaube an die Generatio
aequivoca" in den letzten Dezennien fast allgemein für ein Kriterium
einer unwissenschaftlichen biologischen Richtung galt. Wie einseitig
dieser Rückschlag sich entwickelte, zeigen am deutlichsten die leb-
haften Streitigkeiten, welche in den letzten Jahren Aviederum im
VI. in. Urzeugung oder Generatio spontanea. 93
Sclioße der französischen Akademie geführt wnrden, und in denen
Pouche t für, Pasteur gegen die Generatio aequivoca eintrat.
Für- die uns hier beschäftigende Frage von der ersten Ent-
stehung der organischen Wesen hat diese Form der sogenannten
Generatio aequivoca, bei welcher sich gewisse niedere Organismen
aus vorhandener organischer Substanz ent^^ickeln, die von zer-
setzten Organismen herrührt, gar kein Interesse oder doch nur einen
ganz untergeordneten Wert. Denn das Vorhandensein dieser orga-
nischen Substanzen, aus denen sich spontan Organismen entwickeln
sollen, setzt bereits die Existenz anderer (abgestorbener) Organismen
voraus und erklärt uns also nicht die erste spontane Entstehung
lebender Wesen. Abgesehen hieiTOu aber ist die Art und Weise,
in welcher diese Frage von den meisten Autoren, sowohl Gegnern
als Anhängern der Urzeugung, diskutiert worden ist, eine so unwissen-
schaftliche, daß wir hier ganz darüber hinweggehen können.
Wenn wir noch beiläufig einen flüchtigen Blick auf die Art und
Weise werfen, in welcher diese Generatio aequivoca von zahlreichen
Naturforschern untersucht imd diskutiert worden ist, so tritt uns hier,
wie immer am deutlichsten in solchen all2:eraeinen Frajren. äußerst auf-
fallend der große ^langet einer streng philosophischen Methode entgegen,
welchen wir oben eingehend gerügt haben. Der Mangel an allgemeiner
Übersicht des Naturganzen mid an philosophischer Erfassimg desselben,
die daraus hervorgehende Planlosigkeit und verkehi'te Fragestellung an
die Natur, die Inkonsequenz der Untersuchnngsmethoden imd die Fehler-
haftigkeit der Schlüsse — alle diese Grundfehler einer falschen oder
doch einer unvollkommenen Methode der Natm-erkenntnis treten hier,
nur oberflächlich verdeckt durch eine scheinbar vollkommen „exakte"
Experimentalmethode, in so auffallendem Maße hervor, daß es uns nicht
Wimder nimmt, wenn hier noch gar kein Resultat, keine positive und
keine negative Entscheidimg, erreicht ist.
Was die experimentelle Begründung oder Widerlegung dieser
Generatio aequivoca betrifft, auf welche die ., exakte" Schule der Neuzeit
so großen Wert legt, so müssen wir in erster Linie hervorheben, daß
eine positive Widerlegung dieser Frage dadurch bisher nicht herbei-
geführt, aber auch gar nicht möglich ist. Denn was beweisen alle
diese ^-ielfachen und wegen ihrer raffinierten Komplikation zum Teil so
bewunderten Experimente (z. B. von Pasteur und seinen Genossen)
anderes, als daß unter diesen oder jenen, äußerst komplizierten, künst-
lichen und unnatürlichen Bedingungen eine mit Flüssigkeit infmidierte
organische Substanz keine Organismen geliefert hat? Ivanu dies irgend
etwas anderes beweisen, und was ist mit diesem Beweise erreicht?
Fnserer Ansicht nach gar nichts ! Und wenn man diese künstlichen
Experimente vertausendfachte, wenn man wirklich Bedingungen herstellte,
die den in der freien Natur vorkommenden älmlicher wären, imd wenn
94 Schöpfung und Solbstzeugung. VI.
hier bei Anwendung aller Vorsichtsmaßregeln niemals Organismen in der
Infusion entständen, so würde damit el)en immer nur der Beweis ge-
liefert sein, daß unter diesen oder jenen ganz bestimmten Bedingungen
keine Organismen in einer solchen Infusion entstehen. Niemals aber
wird dadurch der Beweis geliefert werden, daß eine solche Generatio
aequivoea unter keinen Bedingungen in der freien Natur möglich sei.
Niemals wird sich dieselbe in dieser Weise experimentell widerlegen
lassen.
Weiterhin werden gewöhnlich als solche Organismen, welche in der-
gleichen Infusionen entstehen, ganz kritiklos untereinander sehr einfache
und sehr kompliziert gebaute Organismen genannt, z. B. Vibrionen,
Monaden, Rhizopoden, Diatomeen, einzellige Algen, niedere Pilze, höhere
Algen und Pilze, Würmer, Rädertierchen etc. Nun ist es aber klar, daß
nur die Entstehung höchst einfacher imd noch nicht differenzierter
Organismen auf diesem Wege denkbar ist und daß nur die geringe,
mikroskopische Größe, welche allen diesen, sonst so verschieden diffe-
renzierten „Infusions" -Organismen gemein ist, zu einer kollektiven Zu-
sammenfassung derselben verleitet hat. Wollte man hier scharf und klar
sehen, so müßte man die einzelnen Organismen aus so verschiedenen
Klassen und Organisationshöhen, w^elche auf diese Weise entstehen, alle
einzeln hinsichthch ihrer Existenz- und Entsteliimgsbedingungen unter-
suchen, und würde dami finden, daß nur von den allerniedrigsten und
einfachsten Organismen, entweder von den ganz homogenen und struktur-
losen Moneren (Vibrionen, Protamoeben etc.) oder doch höchstens von
solchen, deren Körper noch nicht die Höhe einer differenzierten Zelle
erreicht hat, eine solche spontane Entstehung zu erwarten ist.
Endlich aber, und dies ist hier vor allem hervorzuheben, ist mit
Konstatierung der Tatsache wenig gewonnen, daß sich niedere Organismen
aus solchen organischen Substanzen entwickeln, welche von anderen,
schon dagewesenen Organismen herrühren. Hierdmxh kann niemals die
erste Entstehung des Lebens auf der Erde erklärt werden. Die erste
spontane Entstehung jener einfachsten, homogenen Urwesen, aus denen
sich alle übrigen durch Differenzierung und natürliche Züchtung all-
mählich entwickelt haben, läßt sich vielmehr einzig und allein durch
eine (h-itte und letzte Urzeugungshypothese erklären, welche den unmittel-
baren Übergang anorganischer Substanz in individualisierte organische
Substanz behauptet, ein Prozeß, der der Kristallisation der Anorgane
durchaus analog ist. Diese Urzeugung, welche also von der gewöhnlich
angenommen Generatio aequivoea Avesentlich verschieden ist, wollen wir
als Selbstzeugung oder Autogonie hier besonders in Erwägung ziehen.
YV. Selbi»;tzeug:iiiis' oder Autogonie.
Die Hypothese der Selbstzeugung oder Autogonie fordert, daß
die äußerst einfachen und vollkommen homogenen, strukturlosen
Organismen (Moneren), welche wir als die Stammformen aller übrigen,
YI. IV. Selbstzeugung oder Autogonie. 95
durch Differenzierung daraus hervorgegangenen zu betrachten haben,
unmittelbar aus dem Zusammentritt von Stoffen der anorganischen
Natur in älmlicher Weise sich in einer FKissigkeit gebildet haben,
wie es bei der Bildung von Kristallen in der Mutterlauge der Fall ist.
Von den soeben betrachteten Formen der Urzeugung oder Gene-
ratio aequivoca (spontanea etc.) wie sie gewöhnlich vorgestellt und
besprochen werden, unterscheidet sich unsere Selbstzeugung oder
Autogonie wesentlich dadurch, daß dort organische Materien (kompli-
ziertere Kohlenstoffverbindungen), welche von zersetzten Organismen
herrühren, hier dagegen nur sogenannte anorganische Materien (d. h.
einfachere Verbindungen) vorausgesetzt werden, aus denen sich zu-
nächst verwickeitere Kohlenstoff Verbindungen (Plasma), und hieraus
unmittelbar organische Individuen einfachster Art (Moneren) liervor-
bildeten. Uns erscheint diese Annahme für das Verständnis der ge-
samten organischen Natur vollkommen unentbehrlich, weil sie die
einzige große Lücke ausfüllt, welche bisher in der gesamten Ent-
wickelungsgeschichte der Erde und ihrer Bewohner bisher noch be-
standen hat. Wir müssen diese Hypothese als die unmittelbare
Konsequenz und als die notwendigste Ergänzung der allgemein an-
genommenen Erdbildungstheorie von Kaut und Laplace hinstellen,
und finden hierzu in der Gesamtheit der Naturerscheinungen eine
so zwingende logische Notwendigkeit, daß wir deshalb diese Deduk-
tion, die vielen sehr gewagt erscheinen wird, als unabweisbar be-
zeichnen müssen.
Jede irgendwie ins einzelne eingehende Darstellung- der Autogonie
ist vorläufig schon deshalb gänzlich unstatthaft, weil wir uns durchaus
keine irgendwie befriedigende Vorstelhmg von dem ganz eigentüudiclien
Zustande machen können, den unsere Erdoberfläche zur Zeit der ersten
Entstehung der Organismen darbot, vielmehr alle sicheren Anhaltspunkte
hierfür fehlen. Wahrscheinlich war die Erdoberfläche unseres Erdballes
zu der Zeit, als sie soweit erkaltet war, daß sich Organismen auf ihr
bilden konnten, ringsum von einem zusammenhängenden uferlosen Meere
umgeben, Zonenunterschiede noch nicht vorhanden. Von der Beschaffen-
heit jenes Urmeeres und der heißen, darüber ausgebreiteten, mit Ivolüen-
säure und Wasserdämpfen gesättigten Atmosphäre können wir uns aber
gar keine bestimmte Vorstellung machen, wenn wir bedenken, daß die
ungeheuren Mengen von Kohlenstoff. Wasserstoff, Sauerstoff und Stick-
stoff, die von der Steinkohlenzeit an bis zur Gegenwart und wahrscliein-
hch schon lange vor der Steinkohlenzeit an den Ivörper zahlloser Organis-
men gebunden waren, in jener Urzeit in ganz anderen, einfacheren
Verlnndungen nebeneinander existierten, oder ganz frei und ungebunden
aufeinander wirkten. Die ungeheuren Massen von Ivohlensäure, von ver-
96 Schöpfung und Selbstzeugung. YI.
schiedenen Kohlenwasserstoffen und von zahllosen anderen Kohlenstoff-
verbindungen, die damals zur Zeit der ersten Entstehung des Lebens teils
gasförmig in der Atmosphäre verbreitet, teils in dem Urmeere aufgelöst
oder auf dessen Boden niedergeschlagen gewesen sein müssen, gestatten
uns durchaus keine sichere hypothetische Vorstellung von den Existenz-
bedingungen, unter denen sich die ersten einfachsten Organismen in
jenem Urmeere bildeten. Nur so viel können wir mit Bestimmtheit
sagen, daß die Beschaffenheit des Urmeeres und der Uratmosphäre zu
jener Zeit sehr bedeutend verschieden von der jetzigen gewesen sein muß.
Die Anhänger der Generatio aequivoca pflegen gewöhnlich, wenn sie
die Natur der elternlos entstehenden Organismen erörtern, zu behaupten,
daß dies einzellige Wesen sein müßten. Dagegen halten wir es für viel
wahrscheinlicher, daß die einzelligen Wesen sich erst durch Differenzie-
rimg von innerem Kern imd äußerem Plasma aus den strukturlosen
Moneren liervorgebildet haben, und daß diese die wirklichen Autogonen
sind. Die Gründe hierfür liegen in der Vergleichimg, welche wir oben
zwischen diesen Moneren und den Kristallen ausgeführt haben, und in
welcher wir zw zeigen versuchten, Avie die spontane Entstehimg solcher
homogenen, imbibitionsfähigen Eiweißkörper ganz analog der spontanen
Entstehung von Kristallen in der Mutterlauge zu denken sei. Nach
unserer Hypothese sind demnach zuerst ausschließlich vollkommen struktur-
lose luid homogene Plasmaklimipen, gleich den Protamoeben, im Urmeere
entstanden; in diesen hat sich erst s})äter eine Differenz von festerem
Kern und weicherer Hülle gebildet, und noch später erst sind diese ein-
fachen kernhaltigen Zellen zur Bildung mehrzelliger Organismen zusam-
mengetreten, aus denen sich dann alle höheren allmählich durch natür-
liche Zuchtwahl entwickelt haben.
Siebentes Kapitel.
Tiere und Pflanzen.
„Wenn man Pflanzen und Tiere in ilirem unvoUlionunen-
sten Znstande betrachtet, so sind sie kaum zu unterscheiden.
So viel aber können wir sagen, dati die aus einer liaum zu
sondernden A'envandtschaft als Pflanzen und Tiere nach und
nach hervorti-etenden Geschöpfe nach zwei entgegengesetzten
Seiten sich vervollkommnen, so daß die Pflanze sieh zuletzt
im Baume dauernd und starr, das Tier im Mensehen zur
höchsten Beweglichkeit und Freiheit sich verherrliclit."
Goethe (Jena, 1807).
Unterscheidung- von Tier und Pflanze.
„Der wissenschaftliche Staudpunkt unserer Anschauungen von
der organischen Natur hat sich in keinem Verhältnisse jedesmal so
treu abgespiegelt, als da, wo es sich um Erörterung der Unterschiede
handelt, welche zwischen Tier und Pflanze bestehen. Seit jener Zeit,
als vor mehr denn hundert Jahren die Tiernatur der pflanzenartig
festsitzenden, baumähnlich verästelten und blütengleiche Individuen
tragenden Polypenstöcke kund ward, hat jede neue Forschung in
diesem Gebiete neue Theorien zutage gebracht, von denen eine die
andere verdrängte."' (Gegenbaur, 1859.)
Zusatz (1906). Das siebente Kapitel enthielt auf 48 Seiten
kritische Untersuchungen über die Unterscheidung und den Ursprung
von Tier- und Pflanzenreich, sowie die Begründung des nieder-
sten, zwischen beiden stehenden Protistenreiches. Darauf folgte
eine eingehende Charakteristik der drei Organismenreiche und
ihrer Stämme in chemischer, morphologischer und physiologischer
Beziehung. Die hier zuerst gegebene Darstellung und Einteilung des
Protistenreiches, sowie seine Abgrenzung gegen das Pflanzenreich
einerseits und das Tierreich andererseits, wurde ausführlicher behan-
delt und vielfach verbessert in den zehn aufeinander folgenden Auflagen
der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte". Eine selbständige Behand-
lung erfuhr diese wichtige Aufgabe schon 1878 in meiner (längst ver-
griffenen) Schrift: „Das Protistenreich, eine populäre Übersicht
über das Formengebiet der niedersten Lebewesen" (104 Seiten, mit
58 Figuren). Meine endgültige (für mich persönlich nach vielen Ver-
änderungen abgeschlossene !) Auffassung und Klassifikation der Protisten
(als einzellige, nicht gewebebildenden Organismen) gab ich 1894 im
ersten Bande meiner „Systematischen Phylogenie" (S. 34—251).
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DRITTES BUCH.
ERSTER TEIL DER ALLGEMEINEN ANATOMIE.
GENERELLE TEKTOLOGIE ODER
ALLGEMEINE STRUKTURLEHRE DER ORGANISMEN.
(INDIVIDUALITÄTSLEHRE DER ORGANISIklEN.)
„Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Meluheit; selbst in-
sofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von
lebendigen, selbständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in
der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können.
Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils finden und vereinigen
sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder, und bewirken so eine un-
endliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten.
„Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese Teile ein-
ander gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je voll-
kommener das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Teile einander. In
jenem Falle ist das Ganze den Teilen mehr oder weniger gleich, in diesem das
Ganze den Teilen unähnlich. Je ähnlicher die Teile einander sind, desto weniger
sind sie einander subordiniert. Die Subordination der Teile deutet auf ein voll-
kommneres Geschöpf.
„Daß nun das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung entweder
als gleich oder als ähnlich, ja sogar als völlig ungleich und unähnlich erscheinen
kann, darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur, das wir in
unsern Blättern zu entwerfen gedenken."
Goethe (Jena. 1807).
AcMes Kapitel.
Begriff und Aufgabe der Tektologie.
Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles,
Kein Lebendig-es ist Eins,
Immer ist's ein Vieles.
Goethe.
I. Die Tektologie als Lehre von der oii^amscheii Individualität.
Die Tektologie oder Strukturlehre der Organismen ist
die gesamte Wissenschaft von der Individualität der be-
lebten Natur kör per, welche meistens ein Aggregat von Individuen
verschiedener Ordnung darstellt. Die Aufgabe der organischen
Tektologie ist mithin die Erkenntnis und die Erklärung der organi-
schen Individualität, d. h. die Erkenntnis der bestimmten Natur-
gesetze, nach denen sich die organische Materie individualisiert, und
nach denen die meisten Organismen einen einheitlichen, aus Indivi-
duen verschiedener Ordnung zusammengesetzten Formenkomplex
bilden.
Begriff und Aufgabe der Tektologie, wie wir sie hier feststellen,
sind bisher von den meisten Morphologen nicht scharf ins Auge
gefaßt worden, da man in der Anatomie die Tektologie und Promor-
phologie stets vermischt zu behandeln pflegt. Wenn nun auch diese
Behandlungsweise in der anatomischen Praxis sich gewiß am meisten
empfiehlt, und es immer am bequemsten sein wird, bei der Anatomie
jedes einzelnen Organismus die gesamte Anatomie (Tektologie und
Promorphologie) der einzelnen Individuen verschiedener Ordnung
nach einander abzuhandeln, so müssen wir dagegen hervorheben,
daß es für das theoretische Verständnis des Organismus von der
größten Wichtigkeit ist, die wesentlich verschiedene Aufgabe der
beiden anatomischen Hauptzweige scharf getrennt zu erfassen, und
Tektologie und Promorphologie als gesonderte koordinierte Wissen-
102 Begriff und Aufgabe der Tektologie. VIII.
Schäften nebeneinander zu begreifen. Für die allgemeine und syn-
thetische Betrachtung einer Organismengruppe wird daher die voll-
ständige Trennung der Tektologie und Promorphologie, wie wir sie
hier durchführen, vorzuziehen sein, während für die besondere und
analytische Erforschung eines einzelnen Organismus sich mehr die
Verschmelzung der beiden anatomischen Hauptzweige empfehlen wird.
Der Körper der großen Mehrzahl aller jetzt lebender Organismen
stellt ein verwickeltes Gebäude dar, welches aus gleichartigen und
ungleichartigen Teilen oder Organen in sehr komplizierter Weise zu-
sammengesetzt ist. Allgemein können wir diese „Partes similares
et dissimilares'' derart in verschiedene subordinierte Kategorien
einteilen, daß jede höhere Kategorie eine in sich abgeschlossene und
selbständige Einheit, zugleich aber auch eine Vielheit von mehreren
Einheiten der nächstniederen Kategorie darstellt. Diese Kategorien
betrachten wir als verschiedene Stufen oder Ordnungen von organi-
schen Individuen. Wir konnten daher auch die Tektologie oder
Strukturlehre als die „Wissenschaft von der Zusammensetzung
der Organismen aus organischen Individuen verschiedener
Ordnung" bezeichnen. Hiergegen ist nur zu erinnern, daß diese
verwickelte Zusammensetzung des Organismus aus subordinierten
Individualitäten bei sehr zahlreichen niederen Organismen fehlt,
nämlich bei allen Lebewesen, welche zeitlebens auf der niedersten
Stufe der Individualität stehen bleiben und bloß den morphologischen
Wert einer einzigen Plastide (entweder einer Cytode oder einer
Zelle) behalten. Auch ist die Erwägung sehr wichtig, daß alle
organischen Individuen ohne Ausnahme, mögen sie auch in ihrer
vollendeten Form die höchste Stufe der Komplikation erreichen, in
ihren ersten Anfängen stets ein einfachstes Individuum erster Ord-
nung, eine einzelne Plastide, repräsentieren. Da wir nun außerdem
in den homogenen und strukturlosen Moneren Organismen kennen,
welche überhaupt nicht aus ungleichartigen Teilen, sondern bloß aus
gleichartigen Plasmamoleloilen zusammengesetzt sind, so erscheint
es nicht passend, die Tektologie allgemein als Merologie oder Lehre
von den Teilen zu bezeichnen, falls man unter diesen „Teilen" nur
die Individuen verschiedener Ordnung verstehen will. Vielmehr
würde es vom allgemeinen Gesichtspunkte aus passender erscheinen,
falls der Ausdruck der Tektologie oder Strukturlehre aus jenem
Gruntle zu beschränkt erscheinen sollte, diesen Zweig der Anatomie
als die „Wissenschaft von der organischen Individualität" oder kurz
VIII. II. Begriff des organischen Individuums im allgemeinen. 103
als Biontik, Biontologie oder Individualitätslehre zu be-
zeichnen.
Bevor wir die eigentliche Aufgabe der Tektologie oder Biontik
zu lösen und die Gesetze zu erkennen versuchen, nach denen sich
die organische Materie individualisiert, erscheint es uns notwendig,
den Begriff des organischen Individuums im allgemeinen zu erörtern
und die sehr verschiedenen Ansichten zu erwägen, welche die ver-
schiedenen Naturforscher sich über die Individualität der Organismen
gebildet haben. Erst dann können wir ausführlich unsere eigene
Ansicht von den morphologischen und physiologischen Individuen
verschiedener Ordnung begründen, welche nach unserem Dafürhalten
allgemein unterschieden werden müssen.
II. Be2:riff des organischen Individuums im all^^emeinen.
Das Wort ,,Individuum" wird in außerordentlich vielfacher
und verschiedenartiger Bedeutung angewandt. Seinem Wortlaute
nach soU dieser Begriff ein Unteilbares bezeichnen. Im strengsten
Sinne unteilbar können wir uns aber nur die Massenatome vor-
stellen, aus denen wir uns nach der anatomischen Hypothese die
Materie zusammengesetzt denken, und die Atome des expansiven
Äthers, welche die attraktiven Massenatome trennen, „Atom"
(aToijLoc) ist ja ursprünglich weiter nichts, als das griechische Wort
für das römische „Individuum", für das deutsche „Unteilbar". In
diesem Sinne wurden denn auch von früheren Philosophen die Aus-
drücke Atom und Individuum als gleichbedeutend angewandt.
Das Wort Atom hat späterhin diese ursprüngliche Bedeutung
des Individuum allein beibehalten und wird jetzt in diesem Sinne
ausschließlich zur Bezeichnung der einfachsten und letzten diskreten
Größen, der kleinsten, homogenen und unteilbaren Stoffteilchen ver-
wandt, aus deren Aggregation die atomistische Hypothese die Masse
und den zwischen den Massenatomen befindlichen Äther konstruiert.
Das Wort Individuum dagegen wird zur Bezeichnung sehr verschie-
dener Erscheinungsformen der Materie gebraucht, welchen nur die
Idee der Einheit als gemeinsames Band zugrunde liegt. Wenn
man von der einheitlichen Erscheinungsform der Individuen
absieht, so bleibt für den Begriff des Individuums weiter nichts übrig.
Hieraus folgt bereits, daß der Begriff des Individuums keiner
weiteren Definition fähig ist, daß er keine absolute, sondern nur eine
X()4 Begriff und Aufgabe der Tektologie. YIII.
relative Bedeutung besitzt. Streng genommen ist das Individuum
eigentlich gar kein Begriff, sondern nur die rein anschauliche Auf-
fassung irgendeines gegebenen Begriffes als Einheit unter einer Viel-
heit von gleichen Begriffen. So hat schon Schieiden das Indivi-
duum als ..die rein anschauliche Auffassung irgendeines wirk-
lichen Gegenstandes unter einem gegebenen Artbegriff" definiert.
Erst die Beziehung zu diesem Artbegriff läßt das Individuum als
solches erscheinen. Dasjenige, was im gewöhnlichen Leben am
häufigsten als Individuum bezeichnet wird, der einzelne Mensch, oder
die Person, ist ein Individuum unter dem Artbegriff seiner Nation;
die Nation ist ein Individuum unter den übrigen Nationen ihrer Rasse ;
die Rassen sind Individuen unter der Menschenart; die Menschenart
ist ein Individuum unter den verschiedenen Säugetierarten usw. Erst
wenn der Artbegriff vollkommen definiert ist, von dessen Individuen
man spricht, erhält das Individuum eine bestimmte Bedeutung. Es
tritt uns dann die Individualität als eine einheithche Erscheinung
entgegen, welche nicht geteilt werden kann, ohne ihren Charakter,
ihr eigenstes Wesen zu zerstören.
Über das gegenseitige Verhältnis der verschiedenartigen Indivi-
dualitäten, die uns in den konkreten Naturkörpern entgegentreten,
über ihr koordiniertes und subordiniertes Verhältnis im allgemeinen
existieren noch keine zusammenhängenden Untersuchungen. Desto-
mehr hat man sich bemüht, bestimmte Erscheinungsformen der Natur-
körper ysj.-z £;o/r^v als „eigentHche" Individuen zu bestimmen. Unter
den Anorganen ließ sich eine solche absolute Individualität leicht in
den Kristallen finden. Unter den Organismen hat man bei den
Tieren meistens keine Schwierigkeiten gefunden, indem man als
typisches Individuum die sowohl physiologisch als morphologisch
vollkommen abgeschlossene und einheitliche Erscheinung auffaßte,
in welcher der einzelne Mensch und alle übrigen Wirbeltiere, wie
die- große Mehrzahl der höheren Tiere überhaupt, auftreten, und
welche wir vorläufig als Person (Prosopon) bezeichnen wollen. Viel
schwieriger erschien dagegen die Feststellung eines solchen absoluten
Individuums im Pflanzenreiche, woher es sich erklärt, daß die Botaniker
am meisten sich mit dieser Frage beschäftigt haben. Als diejenige
Einheitsform, welche der tierischen Person äquivalent ist, haben die
meisten Botaniker bei den höheren Pflanzen den Sproß oder die
Knospe anerkannt. Da jedoch neben dieser Anschauung noch eine
Anzahl von anderen sehr verschiedenartigen Auffassungen der tieri-
Vin. VI. Morphologische imd physiologische Individualität. 105
sehen und pflanzlichen Individnahüit sich Gehnng verschafft haben,
so müssen wir auf die Aufstelhmg von absoluten organischen Indivi-
duen überhaupt verzichten und gelangen nur dadurch zum Ziele, daß
wir verschiedene Ordnungen oder Kategorien von relativen
Individuen in den organischen Naturkörpern unterscheiden.
Tl. Morpliologisclie und pliysiologiselie Individualität.
Morphologisches Individuum oder Formindividuum oder
organische Formeinheit nennen wir allgemein diejenige einheitliche
Formerscheinung, welche ein in sich abgeschlossenes und formell
kontinuierlich zusammenhängendes Ganzes bildet; ein Ganzes, von
dessen konstituierenden Bestandteilen man keinen hinwegnehmen,
und das man überhaupt nicht in Teile auseinanderlegen kann, ohne
das Wesen, den Charakter der ganzen Form zu vernichten. Das
Formindividuuni (Morphon) ist demnach eine einfache, zusam-
menhängende Raumgröße, die wir im Momente der Beurteilung als
eine unveränderliche Gestalt anzusehen haben.
P h y s i 0 1 0 g i s c h e s I n d i V i d u u m oder Leistungsindi viduura (Bion)^
oder Lebenseinheit, nennen wir diejenige einheitliche Formerschei-
nung, welche vollkommen selbständig längere oder kürzere Zeit hin-
durch eine eigene Existenz zu führen vermag; eine Existenz, welche
sich in allen Fällen in der Betätigung der allgemeinsten organischen
Funktion äußert, in der Selbsterhaltung. Das Leistungsindividuum
ist demnach eine einfache, zusammenhängende Raumgröße, welche
wir als solche längere oder kürzere Zeit hindurch leben, d. h. sich
ernähren sehen, und welche wir also im Momente der Beurteilung
als veränderlich ansehen. Sehr häufig vermag dieselbe außerdem
sich fortzupflanzen und auch andere Lebensfunktionen zu vollziehen.
Der Kürze halber wollen wir die physiologischen Individuen ein für
allemal mit dem Namen der Bionten belegen.^)
Die morphologische Individualität zerfällt in sechs verschiedene,
subordinierte Kategorien oder Ordnungen von Individuen, und
jede dieser Ordnungen tritt in bestimmten Organismen als physio-
logische Individualität auf. Für jede Art (Spezies) ist aber eine
bestimmte Ordnung als höchste charakteristisch und repräsentiert
1) ßfcv. -Jj (,3iovTC(, TÖ:) das physiologische Individuum als konkrete Lebens-
einheit, als selbständiges „Lebewesen."
IQß Begriff und Aufgabe der Tektologie. Ylll.
hier ausnahmslos die eigentliche physiologische Individualität, wenig-
stens zur Zeit der vollkommenen Reife des Organismus. Die sechs
Ordnungen der organischen Individualität sind folgende:
I. Plastiden (Cytoden und Zellen) oder „Elementarorganismen".
II. Organe oder Idorgane, (Zellenstöcke oder Zellfnsionen. einfache
oder homoplastische Organe, zusammengesetzte oder heteroplasti-
sche Organe. Organsysteme, Organapparate).
III. Antimeren (Gegenstücke oder homotype Teile). „Strahlen"
der Strahltiere, „Hälften" der eudipleuren (bilateral-symmetri-
schen) Tiere etc.
IV. Metameren (Folgestücke oder homodyname Teile). „Stengel-
glieder" der Phanerogamen, „Segmente", Ringe oder Zoniten
der GUedertiere, Wirbelsegmente der Wirbeltiere etc.
Y. Personen (Prosopen). Sprosse oder Gemmae der Pflanzen
und Coelenteraten usw. ..Individuen" im engsten Sinne Ijei den
höheren Tieren. (Später als Histonalen zusammengefaßt).
VI. Cormen (Stöcke oder Kolonien). Bäume, Sträucher etc. (Zu-
sammengesetzte Pflanzen). Salpenketten, Polypenstöcke etc.
Jedes dieser sechs morphologischen Individuen verschiedener
Ordnung vermag als selbständige Lebenseinheit aufzutreten und das
physiologische Individuum zu repräsentieren. Auf der niedersten
Stufe der Plastiden bleiben sehr viele Organismen zeitlebens stehen,
z. B. die meisten Protisten. Die zweite Kategorie des Formindivi-
duums, das Organ, erscheint als selbständige Lebenseinheit bei
vielen Protisten, Algen und Coelenteraten. Auf der dritten Stufe,
dem Antimerenzustande, bleibt die Lebenseinheit stehen bei ein-
zelnen niederen Pflanzen und Tieren. Die vierte Ordnung, das
Metamer, erscheint als Lebenseinheit bei den meisten Mollusken,
vielen niederen Würmern, Algen usw. Die fünfte Kategorie, die
Person, repräsentiert das physiologische Individuum bei den meisten
Tieren, aber wenigen Pflanzen. Endhch die sechste Ordnung der mor-
phologischen Individuen, der Stock, bildet die physiologische Indi-
vidualität bei den meisten Pflanzen und Coelenteraten.
Sehr wichtig ist nun die Erwägung, daß alle Organismen ohne
Ausnahme, welche als ausgebildete, reife Lebenseinheiten durch mor-
phologische Individuen höherer Ordnung repräsentiert werden, ur-
sprünglich nur der niedersten Ordnung angehören und sich zu den
höheren Stufen nur dadurch erheben können, daß sie die niederen
durchlaufen. Der Mensch z. B. und ebenso jedes andere Wirbeltier,
ist als Ei ursprünglich ein Formindividuum erster Ordnung, eine
Zelle. Es erreicht die zweite Stufe, indem aus der Eifurchung ein
YIJJ. yi. Morphologische und physiologische Individualität. 107
Zellenhaufen hervorgeht, der den morphologischen Wert eines Organs
besitzt. Mit der Ausbildung der Embryonalanlage und mit dem Auf-
treten des Primitivstreifcs (der Achsenplatte) scheidet es sich in zwei
Individuen dritter Ordnung oder Antimeren. Mit dem Hervorknospen
der Urwirbel beginnt die Gliederung des Rumpfes, der Zerfall in
Metameren, und mit deren Differenzierung ist die Ausbildung der
Person, des Formindividuums fünfter Ordnung, vollendet, welches
nun als physiologisches Individuum persistiert. Ebenso durchläuft
jede geschlechtlich erzeugte phanerogame Pflanze, indem sie aus
der einfachen Zelle (dem eigentlichen Ei) zum Zellenhaufen (Organ)
wird, der sich mit dem Auftreten einer Achse in zwei oder mehr
Antimeren differenziert, die drei ersten Stufen der Formindividualität.
Auf der vierten Stufe des Metamers bleibt sie bis zum Beginne der
Gliederung der Achse. Aus den differenzierten Stengelgliedern setzt
sich der Sproß zusammen, der nun aus der fünften zur sechsten
Stufe, dem Stocke, sich durch Bildung seitlicher Sprosse erhebt.
Hieraus geht deutlich hervor, daß der eigentliche morphologische
Wert der physiologischen Individualität für jede Organismenart nur
nach erlangter vollständiger Reife, wenn sie „ausgewachsen" ist,
bestimmt werden kann. Man darf daher auch niemals als Kriterium
der physiologischen Individualität, wie es vielfach geschehen ist, die
Entwickelungsfähigkeit zu einer selbständigen Lebenseinheit be-
trachten. Diese haftet ursprünglich stets an den Formindividuen
erster Ordnung, den Piastiden (Cytoden und Zellen), und erst durch
die Differenzierung der Zellen, w^elche bei den höheren Organismen
(besonders den Tieren) sehr weit geht, verlieren dieselben jene
Fähigkeit, oder vielmehr es bleibt dieselbe auf einzelne bestimmte
Piastiden (Eier) beschränkt. Ausnahmsweise (Hydra, viele Phanero-
gamen) behalten auch noch bei höher differenzierten Organismen
zahlreiche Piastiden diese Entwickelungsfähigkeit bei.
Ebensowenig als letztere darf man die Reproduktionsfähig-
keit, das Vermögen eines abgelösten Teils, sich zum Ganzen zu
ergänzen (Würmer, Coelenteraten, viele Phanerogamen), als Kriterium
der physiologischen Individualität anwenden, da auch hier das eigent-
lich Wirksame die ursprünglich allen Piastiden eigene Entwickelungs-
fähigkeit ist. Will man die physiologische Individualität der Orga-
nismen dadurch charakterisieren, so geht die Schärfe ihres Begriffes
vollständig verloren. Diese ist nur dadurch zu erhalten, daß wir
die Fähigkeit der Selbsterhaltung als das entscheidende Krite-
108 Begriff und Aufgabe der Tektologie. YIH.
riiiiii liinstellen, sowie es für die morphologische Individualität in
der Unfähigkeit der Teilung, in der individuellen Unteilbarkeit
liegt. Das Leistungsindividuuni ist der einheitliche Lebensherd,
dessen Existenz mit der Funktion der Selbsterhaltung erhscht; das
Formindividuum ist die einheitliche Lebensgestalt, deren Existenz
mit ihrer Teilung erlischt.
Die vielfach aufgeworfene Frage nach der absoluten Indivi-
dualität der Organismen ist also dahin zu beantworten, daß dieselbe
nicht existiert, und daß alle Organismen, als physiologische Indivi-
duen betrachtet, entweder zeitlebens auf der ersten Stufe der mor-
phologischen Individualität, der Plastide, stehen bleiben, oder aber,
von dieser ausgehend, sich sekundär zu höheren Stufen erheben.
Indem wir nun in den folgenden Kapiteln das Verhältnis der
verschiedenen IndLvidualitätsgrade zueinander, welches die eigent-
liche Grundlage der gesamten Tektologie ist, näher zu bestimmen
versuchen, wollen wir zunächst die Begriffe der sechs einzelnen
Ordnungen der morphologischen Individualität bestimmt feststellen,
und dann nachweisen, wie jede dieser verschiedenen Ordnungen in
verschiedenen Organismen die physiologische Individualität zu reprä-
sentieren vermag.
Neuntes Kapitel.
Morphologische Individualität der Organismen.
„Die Pflanze erscheint fast nur einen Aug^enblick als
Individuum, und zwar da, wenn sie sicli als Samenkorn von
der Mutterpflanze loslöst. In dem Verfolg' des Keimens er-
scheint sie schon als ein Tielfaches, an welchem nicht allein
ein identischer Teil aus identischen Teilen entspringet, son-
dern auch diese Teile durch Sukzession verschieden ausge-
bildet werden, so daß ein mannigfaltig'es, scheinbar verbun-
denes Ganzes zuletzt vor unseren Augen dasteht. Allein daß
dieses scheinbare Ganze aus sehr unabhängisfen Teilen be-
stehe, gibt teils der Augenschein, teils die Erfahrung : denn
Pflanzen in viele Teile getrennt und zerrissen, werden wieder
als eben so viele scheinbare Ganze aus der Erde hervor-
sprossen."
Goethe.
I. Morphologische Individuen erster Ordnung-:
Piastiden oder Plasmastücke.
I. 1. Untersclieidung von Cytoden und Zellen.
Als morphologische Individuen erster und niedrigster Ordnung
würden wir, der gegenwärtig herrschenden Auffassung gemäß, nur
eine einzige Art von Körpern, die Zellen (Cellulae) aufzuführen
haben. Nach derjenigen Auffassung des tierischen und pflanzlichen
Organismus, welche der unsrigen am nächsten steht, ist derselbe
entweder eine einzige einfache Zelle oder ein einheitliches Aggregat
von mehreren, entweder gleichartigen oder differenzierten Zellen.
Die Zelle ist hiernach das allgemeine Formelement oder das Elementar-
organ aller Organismen und wird als solches jetzt häufig als
Elementarorganismus bezeichnet. Die Zellen sind entweder
selbst die ganzen Organismen (Eier der Pflanzen und Tiere, permanent
einzellige Pflanzen und Tiere), oder sie sind die Individuen, durch
deren Verbindung der ganze Organismus, als Zellengesellschaft oder
Zellenstaat, sich konstituiert.
Es ist die Auffassung, welche von Schieiden und Schwann
in die Wissenschaft eingeführt wurde, und welche man nach ihnen
110 Morphologische Individualität der Organismen. IX.
allgemein als „Zellentlieorie" bezeichnet, gegenwärtig in der
gesamten Biologie die herrschende Theorie. So richtig dieselbe ohne
Zweifel im großen und ganzen ist, und so sehr wir sie für die große
Mehrzahl aller Organismen als die allein berechtigte anerkennen
müssen, so ist es dennoch nicht möglich, sie auf alle Organismen
ohne Ausnahme auszudehnen. Vielmehr kennen wir viele Organis-
men niedersten Ranges (z. B. Bakterien), deren ganzer Körper noch
nicht einmal den Wert einer einzigen Zelle besitzt, und einen indivi-
duell abgeschlossenen Formzustand der lebenden Materie repräsentiert,
den wir durch den Namen der Cytode oder des zellenälmlichen
Körpers bezeichnen wollen.
Als wesentliche Bestandteile aller echten Zellen müssen stets
zwei differente Teile betrachtet werden: I. der innere (zentrale oder
exzentrische) Zellkern (Nucleus, Cytoblastus), welcher entweder ein
fester, homogener, oder selbst wieder ein zusammengesetzter (bläschen-
förmiger) Körper ist: 11. der äußere, den Kern umschließende (peri-
pherische) Zellstoff (Protoplasma, Plasma), welcher aus einem
festflüssigen Eiweißkörper besteht. Als dritter, nicht konstanter und
in der ersten Jugend der Zelle stets oder doch meist fehlender
Bestandteil, kommt dazu in vielen Fällen eine äußerste, den Zell-
stoffkörper umschließende Zellhaut (Membrana cellulae), welche
entweder nur die verdichtete und als besondere Hautschicht differen-
zierte äußerste Oberflächenlage des Protoplasma oder aber von
diesem in flüssiger Form, als Sekret, nach außen abgeschieden, und
in Form einer Cuticula über demselben erstarrt, erhärtet ist.
Wir können demgemäß sämtliche Zellen des Pflanzen-, Protisten-
und Tierreichs in zwei Hauptgruppen bringen, Hautzellen und haut-
lose Zellen. Die nackten oder hautlosen Zellen oderUrzellen
(Cellulae primordiales,Gymnocyta)^), bestehenbloß aus innerem
Kern und äußerem Protoplasma. Dahin gehören viele Eier, die Teil-
produkte derselben oder Furchungskugeln, die Embryonalzellen, viele
Nervenzellen, Bindegewebszellen, die ausgeschlüpften Schwärmspdren
vieler Algen etc. Bei den Hautzellen oder Schlauchzellen
(Cellulae membranosae, Lepocyta)^) ist das den Kern um-
schließende Protoplasma selbst wieder von einer äußeren Membran
umgeben oder aber in Interzellularsubstanz eingeschlossen. Hierher
gehören die meisten pflanzlichen und viele tierische Zellen.
1) YU[j.vd? nackt: xüto; (to) Zelle.
2) X^TTo; (t6) Rinde, Hülle, Schale; 7'JTrj; (to) Zelle.
IX. I. Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden, Hl
Die Cytoden oder die kernlosen Plasmaklumpen zerfallen
gleich den echten kernhaltigen Zellen in zwei Gruppen, je nachdem
das weiche, festflüssige Plasma ihres Körpers außen nackt und
hüllenlos oder an der Oberfläche von einer Hülle oder Membran
umgeben ist. Diese Haut kann, wie die Zellhaut, entweder die ver-
dichtete, differenzierte Oberflächenschicht des Plasmakörpers selbst,
oder aber von der Oberfläche des Plasmakörpers nach außen als
flüssiges Sekret abgeschieden und außerhalb desselben zur Kapsel
erhärtet sein.
Die Cytoden, welchen der Kern stets fehlt, und die echten
Zellen, welche stets einen Kern zu irgendeiner Zeit ihres Lebens
besitzen, können unter dem Namen der Piastiden oder Bild-
nerinnen zusammengefaßt werden und stellen als solche die morpholo-
gischen Individuen erster Ordnung dar. Diese Bildnerinnen sind in
der Tat die bildenden, plastischen Elemente, welche durch ihr Zu-
sammenwirken die Formindividuen höherer Ordnung aufbauen, und
durch ihre Aggregation die Gewebe, die Organe etc. konstituieren.
Nach den vorausgehenden Erläuterungen können wir unter den
Piastiden allgemein vier Gruppen unterscheiden, welche sich in
folgender Übersicht auf zwei Hauptgruppen von Bildnerinnen (7:>vacixio£?)
verteilen :
Übersicht der verschiedenen morphologischen Individuen
erster Ordnung:
Plastitles (Plasmastücke oder Bildnerinnen).
I. Cytodae. (Cellinae.) Cytoden. Plasmaklumpen ohne Kern.
I. 1. Gymnocytodae. Urklumpen oder nackte Klumpen. Kernlose
Plasmaklumpen ohne Haut oder Schale.
I. 2. Lepocytodae. Hautklumpen oder Schläuche. Kernlose Plasma-
klumpen mit Haut oder Schale.
II. Cellulae. (Cyta.) Zellen. Plasmaklumpen mit Kern.
II. 1. Gymnocyta. Urzellen oder nackte Zellen. Kernhaltige Plasma-
klumpen ohne Haut oder Schale.
II. 2. Lepocyta. Hautzellen oder Kernschläuche. Kernhaltige Plasma-
klumpen mit Haut oder Schale.
II. 2. Zusammensetzung der Piastiden (Cytoden und Zellen)
aus verschiedenen Formbestandteilen,
A. Plasma. (Protoplasma oder Cytoplasma.) Zellstoff.
Da wir durch die Einteilung der Piastiden in Cytoden und
Zellen neue Begriffe in die Histologie eingeführt haben, deren Gebiet
-[\2 ]\Iori)hologische Individualität der Organismen. IX.
bisher die Zellen als die einzigen und allniäclitigen Elementar-
organismen beherrschten, und da uns diese Unterscheidung der
Cytoden und Zellen insbesondere für die Vorstellungen von der ersten
Entstehung der Organismen die größte Wichtigkeit zu besitzen scheint,
so müssen wir den verschiedenen Strukturverhältnissen der Piastiden
eine eingehendere Betrachtung widmen, als es bei den Individuen
höherer Ordnung gestattet sein wird. Wir werden daher hier be-
sonders die Zusammensetzung der Piastiden (Cytoden und Zellen)
aus verschiedenen Eormbestandteilen und die wesentlichen Eigen-
schaften dieser Formbestandteile ins Auge zu fassen haben, und
betrachten demgemäß zunächst das Plasma oder den Zellstoff, (Cyto-
plasma). dann den Nucleus oder Zellkern und endlich die verschie-
denen (äußeren und inneren) Plasmaprodukte.
Als Plasma oder Zellstoff, besser Bildungsstoff, bezeichnen
wir nach dem vorhergehenden alle diejenigen organischen Materien,
welche als die wesentlichen und in keinem Falle fehlenden Träger
der Lebensbewegung erscheinen, als das aktive materielle Sub-
strat des Lebens, und welche also gewissermaßen als der „Lebens-
stoff" oder die „lebende Materie" im engeren Sinne bezeichnet werden
könnten. Überall, wo wir bisher im Tier-, Protisten- und Pflanzen-
reiche in der Lage waren, die chemische Natur dieses Körpers
bestimmen zu können, hat sich derselbe als ein Eiweißkörper
oder Albuminat (sogenannte Proteinverbindimg) herausgestellt.
B. Nucleus. (Cytoblastus oder Karyonj. Zellkern.
Als derjenige wesenthche Formbestandteil, welcher die organi-
sche Zelle als solche charakterisiert und von der Cytode oder kern-
losen Plastide unterscheidet, ist der Nucleus oder Zellkern von
besonderem Interesse. Gleich dem Plasma aller Piastiden ist auch
der Nucleus aller Zellen stets aus einer Eiweißverbindung gebildet,
welche durch geringe physikalisch-chemische Differenzen sich von
der des Protoplasma oder Cytoplasma unterscheidet.
Bei den meisten tierischen Zellen ist der Nucleus während der
ganzen Zeit ihres Lebens nachzuweisen, während er dagegen bei
vielen Pflanzenzellcn (z. B. Holz- und Gefäßzellen) nur in ihrer Jugend
existiert und späterhin verschwindet. Der Kern erscheint in den
meisten Zellen als ein scharf umschriebener rundlicher Körper,
weniger umfangreich als das Protoplasma, das ihn gewöhnlich von
allen Seiten umschließt. In selteneren Fällen liegt in gewissen Haut-
JX. I. Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden. 113
Zellen der Kern ganz peripherisch, so daß er nur auf der einen
Seite vom Plasma, auf der anderen von der Membran begrenzt wird.
Im Gegensatze zum Plasma, welches durch Anpassung an die
Außenwelt die verschiedenartigsten Formen annehmen kann, zeigt
der Kern allermeist eine sehr einfache und scharf umschriebene
Form. Gewöhnlich ist er kugelig oder sphäroidal. bald mehr ellip-
soid. bald mehr linsenförmig, seltener zylindrisch verlängert oder
stäbchenförmig, sehr selten verästelt, sternförmig oder von kompli-
zierterer Form. Der Grenzkontur des Kerns gegen das umschließende
Plasma ist meist scharf und deutlich.
Betrachtet man die Zelle in ihren natürlichen Verhältnissen, mit
Vermeidung alterierender Flüssigkeiten, so erscheint der Kern sehr häuHg
homogen und klar, imd in seinem Lichtbrechungsvermögen wenig von
dem Plasma verschieden. Oft erzeugt aber schon Wasserzusatz, und in
den meisten FäUen bewirkt Zusatz von Essigsäure im Nucleus einen fein-
körnigen Niedersclüag. so daß derselbe sich als dunkel graniüierter
Ivörper scharf von dem umgebenden Protoplasma absetzt.
Über die Konsistenz und den Bau des Zellenkerns findet man bei
Botanikern und Zoologen die widersprechendsten Ansichten, die sich wohl
großenteils dadurch erklären werden, daß der Kern in verschiedenen
Zellen eine sehr verschiedene Beschaffenheit besitzt. Während die meisten
dem Iverne eine festere Beschaffenheit als dem Plasma zuschreiben und
ihn als einen „leidUch festen", soliden, homogenen Körper ansehen,
beschreiben ihn dagegen andere als ein „Bläschen", aus fester Membran
und flüssigem Inhalt gebildet, und in manchen Fällen wird er sogar als
ein halbflüssiger „Eiweißtropfen" geschildert. In der Tat scheint der
Ivohäsionsgrad bei verschiedenen Ivernen außerordentlich verschieden zu
sein. In sehr vielen Fällen ist der Nucleus olme Zweifel weit fester und
derber als das Plasma, und eine Differenz von Hülle und Inhalt dann
nicht an ihm nachzuweisen, während in anderen Fällen, z. B. bei vielen
Eiern, Furchunoskugeln, Embrvonalzellen, Nervenzellen und anderen
Urzellen, der Kern als ein zartes, oft ziemlich dickwandiges und doppelt
konturiertes Bläschen einen homogenen, eiweißartigen Inhalt zu um-
schließen scheint, dessen Konsistenz hinter derjenigen des Plasma zurück-
bleibt.
Sehr häufig bemerkt man in dem Kern, auch ohne Zusatz alterieren-
der Flüssigkeiten, mehrere feine Körner (oft vielleicht Bläschen?) und
außerdem ein größeres Korn oder Bläschen, welches sich in der Regel
dnrch stärkere Lichtbrechung auszeichnet. Dieser kleine Körper, welcher
entweder im Innern oder an der Peripherie des Nucleus liegt, wird als
Nucleolus oder Kernkörperchen beschrieben. Bisweilen ist in
diesem zentralen Körper nochmals ein vierter scharf umschriebener kleiner
Körper eingeschachtelt, der dann Nucleolinus oder Kernpunkt genannt
werden kann (z. B. in manchen Eiern. Ganglienzellen etc.).
Haeckel, Prii z. d. ilorphol. g
114 Älorpliologische Individualität der Organismen. JX.
Die chemische Zusammensetzung des Zellkerns und der in ihm ein-
geschlossenen Körperchen, Nucleolus und Nucleolinus, ist oft schwierig
zu ermitteln und in vielen Fällen imbekannt. Wahrscheinlich besteht
dersell)e aber immer aus einem vom Plasma etwas verschiedenen Eiweiß-
körper, sei es in l'estdiissigem, sei es in festem Aggregatzustande. In
allen Fällen, wo durch mikrochemische Reaktion die chemische Konstitution
des Kerns zu ermittehi war. hat sich stets eine Eiweißverbindung heraus-
gestellt.
C. Plasmaprodukte.
Da wir sämtliche Plastideii, sowohl Cytoden als Zellen, als
selbständige Elementarorganismen zu betrachten haben, die minde-
stens in ihrer Jngendzeit ein mehr oder minder unabhängiges Leben
als morphologische Individuen führen, so sind dieselben natürlich
der Lebensbewegung und damit einer Reihe von Veränderungen
unterworfen, die wir als Funktionen der Piastiden anzusehen haben,
und die ihre Ernährung, ihre Fortpflanzung, und ihre Beziehungen
zur Außenwelt betreffen. Von diesen verschiedenen Lebenstätigkeiten
der Piastiden sind für uns hier diejenigen zunächst von besonderem
Interesse, die man gewöhnlich unter dem Namen der Zell meta-
morph ose zusammenfaßt', und die sich auf die Veränderung der
Größe, Form, Konsistenz und namentlich auf die Produktion von
Teilen beziehen, welche vom Plasma und dem Kerne verschieden
sind. Wir können diese Teile, welche als integrierende morphologi-
sche Bestandteile der metamorphosierten Piastiden erscheinen, und
entweder in ihrem Inneren oder auf ihrer Oberfläche, aber immer
mit dem Plasma räumlich verbunden (adhärent) auftreten, allgemein
als Produkte des Plasma bezeichnen.
Unter Produkten des Plasma fassen wir demgemäß alle die-
jenigen Forrabestandteile der metamorphosierten Zelle zusammen,
welche von dem Plasma und dem Nucleus verschieden sind, mögen
sie nun im Plasma eingeschlossen oder außerhalb desselben liegen.
Demnach gehören hierher alle diejenigen Teile, welche man gewöhn-
lich in der tierischen und pflanzhchen Zellenlehre mit folgenden
Namen zu belegen pflegt: 1. die „Zellenmembranen"; 2. die „Inter-
cellularsubstanzen"; 3. der „Zellsaft"; 4. der „Zellinhalt", und noch
verschiedene andere Teile, w^elche logischerweise unter eine der er-
wähnten Kategorien sich einreihen lassen.
Sämtliche Produkte des Plasma, mögen dieselben innerhalb oder
außerhalb des metamorphosierten Plasma getroffen werden, entstehen
IX. I- Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden. 115
entweder durch Differenzierung des Plasma oder durch Aus-
scheidung des Plasma. Der Unterschied zwischen beiden Ent-
stehungsweisen der Plasmaprodukte liegt darin, daß im ersteren
Falle die Substanz des Plasma selbst sich verändert und in den
neuen Körper tibergeht, während im letzteren Falle der Plasmakörper
selbst unverändert bleibt und nicht in die Substanz des Produktes
tibergeht. Als eine reine Differenzierung des Plasma würden
wir z. B. die Entstehung der quergestreiften aus der homogenen
Muskelsubstanz, die Bildung gewisser eiweißartiger Intercellularsub-
stanzen, und tiberhaupt allgemein die Entstehung der heterogenen
und spezifischen Plasmakörper der Epithelzellen, Nervenzellen, Drtisen-
zellen usw. aus den indifferenten Plasmakörpern der homogenen und
indifferenten Embryonalzellen aufzufassen haben. Dagegen würden
wir als eine Ausscheidung des Plasma z. B. die Bildung der Cuti-
culae (der Chitinhäute etc.), der Zellulosemembranen und eines großen
Teils der Intercellularsubstanzen, ferner im Innern der Piastiden die
Bildung vieler nicht eiweißartiger Stoffe, z. B. der Stärkemehlkörner
und anderer Konkretionen, der Kristalle etc. anzusehen haben.
So scharf sich aber auch der prinzipielle Unterschied der bei-
derlei Plasmaprodukte in der Theorie dahin aussprechen läßt, daß
die Differenzierungsprodukte aus der Substanz des sich verän-
dernden Plasma selbst, die Ausscheiduugsprodukte durch Wirkung
des Plasma nach außen, Exsudation usw. entstehen, so schwierig
ist es in der Praxis in den meisten Fällen zu sagen, wohin das
eine oder das andere Produkt zu rechnen sei: und im Grunde genom-
men ist diese Unterscheidung nur eine rohe und obeiflächliche, denn
eigentlich ist auch jede Ausscheidung mit einer Veränderung, d. h.
Differenzierung der Substanz des Plasma, und umgekehrt jede Diffe-
renzierung mit einer Trennung bestimmter, weniger veränderter Plasma-
teile von anderen mehr veränderten, d. h. Ausscheidung verbunden.
In sehr vielen Fällen werden Ausscheidung und Differenzierung gleich-
mäßig bei der Bildung des Produktes zusammenwirken, oder in einer
Weise verbunden, daß der Anteil des einen und des anderen Pro-
zesses sehr schwierig zu bestimmen sein wird. Aus diesem Grunde
betrachten wir hier die Produkte der Differenzierung und Ausschei-
dung gemeinschaftlich als Plasmaprodukte und unterscheiden nur
zwischen äußeren, auf der Oberfläche des bleibenden Protoplasma
gelegenen und inneren, innerhalb oder zwischen einzelnen Teilen
des Plasma gelegenen Plasmaprodukten.
116 Morphologische Individualität der Organismen. IX.
Ca. Äußere Plasmaprodukte.
(..Zellenmembranen" und „Intercellular Substanzen".)
Die übliche Trennung der äußeren Plasmaprodukte in Zellen-
nierabranen und Intercellularsubstanzen ist künstlich und nicht ohne
Willkür durchzuführen, weshalb wir hier beiderlei Produkte gemein-
sam zu besprechen haben.
Die allgemeine Bedeutung der Membran der Piastiden hat in
neuerer Zeit sehr an Wichtigkeit verloren, seitdem, wie oben schon
angeführt wurde, der Beweis geführt worden ist, daß wir in allen
Fällen, wo eine Plastide von einer Haut umschlossen ist, sowohl
bei den kernhaltigen Zellen, als bei den kernlosen Cytoden, die
Membran für ein sekundäres Produkt des Plasma zu halten
haben, nicht für einen primären und integrierenden Bestandteil der
Plastide als solcher. In der Tat sind jetzt so sichere und so zahl-
reiche Beispiele von Cytoden und von Zellen bekannt, die Zeit ihres
Lebens nackt und membranlos bleiben, und von anderen Piastiden,
die anfangs (bei ihrer Entstehung durch Teilung oder Keimbildung)
nackt, später von einer Hülle oder Schale umgeben sind, daß an
der Wahrheit der obigen Behauptung nicht mehr gezweifelt w^erden
kann. Für die allgemeine biologische Auffassung der Zelle als Ele-
mentarorganismus ist aber dieser Umstand von der größten Wichtig-
keit. Denn während man früher, wo die allgemeine Anwesenheit
der Zellenmembran als eines das Plasma völlig umschließenden
Schlauches oder Sackes als allgemein gültiges Dogma die Zellen-
theorie beherrschte, der Membran meist eine hohe, oft selbst eine
größere physiologische Bedeutung als dem in ihr enthaltenen Plasma
zuschrieb, gewöhnt man sich jetzt richtiger daran, das Plasma als
das aktive, primär wirksame Element des Zellenlebens, und die
^lembran dagegen als passiven Bestandteil, als das sekundäre Pro-
dukt des ersteren, zu betrachten.
In sehr vielen Fällen existieren die nackten, hautlosen Piastiden
sehr lange Zeit hindurch, und zwar gerade in der Jugendzeit, wo
sie am tatkräftigsten und leistungsfähigsten sind, ohne alle Hülle,
und umgeben sich erst mit einer solchen, wenn sie in den ruhigeren
und passiveren Zustand des Alters übergehen. Insbesondere zeigt
sich dieser Umstand darin, daß die Membran meist ganz vermißt
wird, so lange die Zelle als Ganzes noch wächst und ihr Volum
ausdehnt, und so lange sie sich noch durch Teilung vermehrt. Eine
IX. I- Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden. 117
Plastide mit Membran (oder Lepoplastide) ist jedenfalls abge-
schlossener gegen die Außenwelt, als eine nackte hüllenlose Plastide
ohne Membran (oder Gymnoplastide) deren Obei-fläche unmittel-
bar mit ihrer Umgebung in Berührung steht und demgemäß mit
derselben in weit energischere Wechselwirkung treten kann. Dieses
Verhältnis ist besonders von Max Schnitze betont worden, w^elcher
die von einer Membran umschlossene Zelle sehr passend mit einem
encystierten Infusorium vergleicht, und hinzufügt, daß die Bildung
einer chemisch differenten Membran auf der Oberfläche des Proto-
plasma ein Zeichen beginnenden Rückschrittes sei. ein Zeichen heran-
nahender Dekreszenz, oder wenigstens eines Stadiums, auf welchem
die Zelle in den ihr ursprünglich zukommenden Lebenstätigkeiten
bereits eine bedeutende Einschränkung erleidet.
Die Zellenmembran fällt demnach in unserer Anschauung in
eine Ordnung oder Kategorie zusammen mit den übrigen Teilen der
Zelle, welche als Produkte der Zelle auftreten, und sind namentlich
nicht scharf zu trennen von einer anderen Reihe äußerer Plasma-
produkte, nämlich von den Intercellularsubstanzen, denen man,
besonders in der pflanzlichen Histologie, bei weitem nicht die Be-
deutung, wie den Membranen zuerkannt hat. Zwar werden die
Zellenmembranen und die Intercellularsubstanzen in der Regel, und
namentlich von den Botanikern, als ganz verschiedene Dinge be-
trachtet: indes ist es in sehr vielen, und namentlich tierischen Ge-
weben mit Sicherheit nachzuweisen, daß die Intercellularsubstanz
aus verschmelzenden 3Ienibranen benachbarter Zellen hervorgeht.
Daß beiderlei Substanzen in vielen Fällen von sehr verschiedener
chemischer und physikalischer Beschaffenheit sind, spricht nicht da-
gegen, da die Zelle fähig ist. in verschiedenen Perioden ihres Lebens
sehr verschiedene Stoffe abzuscheiden.
Cb. Innere Plasmaprodukte.
CZellsaft und Zellinhalt".)
Weit mannigfaltiger noch, als die formenreichen und auch
chemisch sehr differenten Stoffe, welche die Piastiden nach außen
auf ihre Oberfläche, sei es durch Differenzierung, sei es durch
Sekretion, oder durch beide Prozesse vereinigt, abscheiden, sind die-
jenigen teils formlosen teils geformten Bestandteile, welche man
gewöhnlich als ..Zelleninhalt" bezeichnet, und welche wir, da sie
218 Morphologische Individualität der Organismen. IX.
sämtlich vom Plasma umschlossen sind, als innere Plasmaprodukte
zusammenfassen.
Wir können diese inneren Ablagerungen in der Substanz der
Piastiden in flüssige und feste einteilen, oder, da sich zwischen die-
sen beiden Aggregatzuständen gerade hier alle möglichen Übergänge
durch das „Festflüssige" hindurch finden, in formlose und geformte.
Zu den formlosen inneren Plasmaprodukten rechnen wir ins-
besondere den sogenannten „Zellsaft", ferner das flüssige Fett der
Fettzellen etc. Unter den geformten inneren Plasmaprodukten
sind die Kristalle im Innern der Piastiden, die Konkretionen (z. B.
Amylumkörner), die Pigmentkörner etc. oft von großer Bedeutung.
D. Plasma und Nucleus als aktive Zellsubstanz.
Wir haben im vorhergehenden die Plasmaprodukte lediglich als
passive Erzeugnisse des Plasma, ohne Rücksicht auf den Kern
betrachtet, und es erscheint dies gerechtfertigt, nach dem, war wir
vom Verhältnis des Kern zum Plasma wissen. Da dieses Ver-
hältnis, obwohl, noch sehr dunkel, doch von der größten Wichtigkeit
und namentlich für unsere Betrachtung der Piastiden als morpho-
logischer Individuen von besonderem Interesse ist, so möge es
gestattet sein, hier mit wenigen Worten unsere Auffassung desselben
zu erläutern.
Im allgemeinen können wir bei allen Piastiden das Plasma als
die aktive, formende Substanz oder Keimsubstanz (.,germinal matter'')
und die Plasmaprodukte entsprechend als die passive, geformte Sub-
stanz (..formed matter") bezeichnen. Bei den Zellen, wo neben dem
Plasma auch noch der Kern als aktive Materie wirksam ist, haben
wir Kern und Plasma zusammen als formende Substanz aufzufassen.
Allerdings ist der Kern, seinem ersten Ursprünge nach, als Differen-
zierungsprodukt des Plasma zu betrachten, aber in dem Sinne, daß
nunmehr Plasma und Produkt als koordinierte Teile, gewissermaßen
als verschiedene Organe gleichen Ranges, nebeneinander stehen, und
differente Funktionen vollziehen.
Wenn wir, wie späterhin gezeigt w^erden wird, die Form jedes
Organismus als das Produkt aus zwei verschiedenen Faktoren, näm-
lich aus den ererbten Eigenschaften seiner Materie und aus der
Anpassung an die Verhältnisse der Außenwelt zu betrachten haben,
so müssen wir dieses Gesetz auch auf die Beurteilung der Elementar-
organismen, der Piastiden anwenden können. Hier scheinen nun
IX. I- Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden. 119
die beiden Funktionen der Erblichkeit und der Anpassung bei den
kernlosen Cytoden noch nicht auf differente Substanzen verteilt zu
sein, sondern der gesamten homogenen Materie des Plasma zu
inhärieren. während dieselben bei den kernführenden Zellen in der
Weise auf die beiden heterogenen aktiven Substanzen der Zelle ver-
teilt sind, daß der innere Kern die Vererbung der erblichen
Charaktere, das äußere Plasma dagegen die Anpassung, die
Akkomodation oder Adaptation an die Verhältnisse der Außenwelt
zu besorgen hat.
Für diese Auffassung dürfte auch namentlich die bedeutende
Rolle sprechen, welche der Kern allgemein bei der Fortpflanzung
der Zellen spielt. Fast immer geht der Teilung des Plasma die
Teilung des Zellenkerns vorher und die beiden so entstandenen Kerne
wirken nun als selbständige Attraktionszentra, um welche sich die
Substanz des Plasma sammelt. Das Plasma dagegen ist von
größerer Bedeutung für die Ernährung der Zelle. Ihm scheint bei
der Zellenvermehrung eine mehr passive Rolle zugeteilt zu sein, und
seine Hauptaufgabe scheint in der Zuführung des Nahrungsmaterials
zum Kerne, und in der Vermittlung des A^'erkehrs der Zelle mit der
Außenwelt zu liegen. Wenn wir demgemäß das Plasma vorzugs-
weise als den nutritiven, den Nucleus dagegen vorzugsweise als
den reproduktiven Bestandteil der Zelle ansehen können, und
wenn wir dazu den im fünften Buche nachgewiesenen Zusammen-
hang einerseits zwischen der Ernährung und Anpassung, anderer-
seits zwischen der Fortpflanzung und Erblichkeit in Erwägung ziehen,
so werden wir mit Recht den Kern der Zellen als das hauptsäch-
liche Organ der Vererbung, das Plasma als das hauptsächliche
Organ der Anpassung betrachten können. Bei den Cytoden,
wo Kern und Plasma noch nicht differenziert sind, werden wir das
gesamte Plasma als das gemeinsame Organ beider Funktionen zu
betrachten haben.
Hieraus ergibt sich, daß der Kern nicht bloß als ein Reserve-
körper für das Plasma zu betrachten ist, wie diese Auffassung
namentlich von Beale neuerdings vertreten worden ist. Gewiß ist
es ein großes Verdienst von Beale, die aktiven Teile der Gewebe
(als .,germinal matter" oder Keirasubstanz) als die eigentlich lebenden
und bildenden Elementarorganismen, scharf von den passiven Teilen
(der ..formed mattef' oder geformten Substanz) getrennt zu haben.
Auch ist es gewiß sehr richtig, wenn er die Zellmembran und die
1 20 Moiphologische Individualität der Organismen. IX.
Intercelliüarsubstanzen lediglich als geformte Substanzen und das
Plasma nebst Kern vorzugsweise als bildende Substanz auffaßt. Da-
gegen gellt er wohl zu weit, wenn er das Plasma stets in demselben
Grade, als es äußerlich durch Bildung anderer Stoffe abgenutzt, auf-
gebraucht wird, von innen her, durch Auflösung der äußeren Kern-
schichten, ersetzt werden läßt. Plasma und Kern sind mindestens
in \äelen Fällen doch wohl als wesentlich heterogene Piastidenteile
zu betrachten und dem Kern vorzugsweise (wenn auch nicht allein)
die Fortpflanzung und damit die Vererbung der erblichen Eigen-
schaften der Zelle, dem Plasma dagegen vorzugsweise die Ernährung
und damit zugleich die Anpassung derselben an die Umgebung,
zuzuschreiben^).
II. Morphologische liKlividiien zweiter Ordnung:
Organe oder Werkstücke.
II. 1. Morphologischer Begriff des Organes.
Die physiologische Individualität des Organismus bleibt bei zahl-
reichen niederen Organismen (Protisten) auf die morphologische
Individuahtät erster Ordnung, auf die Plastide beschränkt, ohne
sich jemals auf eine höhere Stufe zu erheben. Sobald in diesen
Fällen eine Vermehrung der Piastiden durch Teilung eintritt, ist
damit zugleich eine Vermehrung der physiologischen Individuen ge-
geben, die als selbständige Lebenseinheiten eine unabhängige Existenz
führen.
Bei der großen Mehrzahl derjenigen Lebewesen, welche gegen-
wärtig die Erde bevölkern, erhebt sich die physiologische Individua-
lität über den Rang der einfachen Piastiden, der Formindividuen
erster Ordnung, indem mehrere Piastiden zu einem geselligen Ver-
bände zusammentreten, der nun als eine höhere physiologische Ein-
heit in das Leben tritt. Es entstehen dadurch die verschiedenen
morphologischen Individuen höherer Ordnung, welche wir oben als
Organe, Antimeren, Metameren, Personen und Stöcke unterschieden
haben.
Die wesentlichsten und obersten Gesetze, welche diese Vereini-
gung der einfachen Formindividueu erster Ordnung zu zusammen-
^) (1906). Der Hegriff des Piasina ist später dahin erweitert, daß es die
gesamte aktive ..lel)endige Substanz'" umfaßt: Das innere Karyoplasma des
Zellkerns (Karyon) und das äußere Cytoplasma des Zellenleibes (Cytosoma).
IX. 11- Morphologische Individuen zweiter Ordnung: Organe. 121
gesetzten leiten, sind die Gesetze der Aggregation oder Gemeinde-
bildung und der Differenzierung oder Arbeitsteilung. Zunächst
tritt eine Mehrzahl von gleichartigen Piastiden zu einer einfachen,
aus homogenen Elementen bestehenden Gesellschaft zusammen (Zell-
verein, Coenohium). Die Erhöhung der Leistungsfähigkeit, die
physiologische Vervollkommnung, welche diese Gemeinde von gleich-
artigen Piastiden als höhere Einheit auszeichnet, besteht zunächst
bloß in einem quantitativen Zuwachs der Kräfte. Mehrere gleiche
Individuen vereinigt vermögen mehr Kraft zu entwickeln, als ein
einziges allein. Allmähhch aber geht aus dieser quantitativen
Vervollkommnung durch Aggregation die viel wichtigere quali-
tative Vervollkommnung durch Differenzierung hervor. Es treten
nämlich zunächst sehr geringe, bald aber bedeutendere Unterschiede
zwischen den ursprünglich gleichartigen Piastiden auf, welche endlich
zu einer vollständigen Arbeitsteilung führen. Indem die einzelnen
Cytoden oder Zellen ihre individuelle Selbständigkeit dadurch mehr
oder Aveniger aufgeben, und in die Dienste der höheren Einheit, des
Piastidenstockes, treten, entwickeln sie bestimmte Eigentümlichkeiten
einseitig nach gewissen Richtungen hin und ergänzen und bedingen
sich dadurch gegenseitig.
Die Bezeichnungen, welche die verschiedenen Autoren diesen
mannigfaltigen höheren Formindi^iduen beilegen, die noch nicht den
Rang der Person (des Individuums im gewöhnlichen, engeren Sinne)
erreichen, sind sehr verschieden. Man nennt sie „höhere Elementar-
teile, Gewebe, Organe, Systeme, Apparate" usw.. indem man bald
mehr an die morphologische, bald mehr an die physiologische Indi-
vidualität derselben denkt. Eine konsequente Unterscheidung und
klare Einteilung derselben ist aber noch kaum versucht und auch
nur sehr schwierig durch die ganze bunte Organismenwelt hindurch
auszuführen. Am meisten haben sich mit dieser Aufgabe die Antliro-
potomen beschäftigt, denen aber gewöhnlich der Überblick über die
vielfach verschiedenen einfacheren Organismen zu sehr abgeht, um
aus ihrer genauen Kenntnis der organischen Zusammensetzung des
menschlichen Körpers eine allgemein anwendbare Klassifikation der
Organe verschiedener Ordnung firr alle Organismen ableiten zu
können. In der Regel findet man die Angabe, daß der menschliche
Körper (und überhaupt der Wirbeltierorganismus) zusammengesetzt
sei aus vier verschiedenen, übereinander stehenden morphologischen
Einheiten, nänüich 1. Apparaten. 2. Systemen. 3. Organen, und
2^22 Morphologische Individualität der Organismen. IX.
diese letzteren endlich 4. aus den höheren und niederen Elementar-
teilen (Geweben und Zellen). Wir glauben, daß man alle diese ver-
schiedenen Teilkategorien am besten unter dem gemeinsamen Namen
der Organe zusammenfaßt, und unter diesen Organe verschiedener
Ordnungen oder Stufen unterscheidet.
Der Begriff des Organes oder „Werkteiles, Werkzeuges" ist
ursprünglich ein rein physiologischer und es bedarf daher einer
Rechtfertigung, wenn wir denselben zur Bezeichnung der morpholo-
gischen Individualität zweiter Ordnung verwenden. Diese Rechtferti-
gung hegt zunächst schon darin, daß die Leistungen jedes Werk-
zeuges nur zum Teile durch chemisch-physikalische Eigenschaften,
zum Teile aber zugleich, und sehr oft zum größten Teile, durch
seine Form und durch die der äußeren Form zugrunde liegende
innere Struktur oder Zusammensetzung bedingt sind. Für die Werk-
zeuge des Lebens, die wir im engeren Sinne „Organe" nennen, gilt
dies um so mehr, da sie meistens ungleich kompliziertere Form- und
Strukturverhältnisse zeigen, als die feinsten Organe der Maschinen,
die wir künstlich zu konstruieren imstande sind. Auf diese Zusam-
mensetzung des Organs aus einer Mehrzahl von untergeordneten
Formeinheiten gründete Victor Carus seine morphologische Cha-
rakteristik des Organs als einer „Summe bestimmter Elementarteile
oder Gewebe in konstanter Verbindung und Form". Diese Definition
ist aber zu allgemein, w^eil sie ebenso gut auf die Formindividuen
dritter bis sechster Ordnung paßt. Diese letzteren, sowie auch den
Begriff des Gewebes müssen wir ausschließen und den Ausdruck
Elementarteil durch den bestimmten morphologischen Begriff der
„Plastide" ersetzen, andererseits den einheitlichen Charakter des
Organs als eines Ganzen hervorheben.
Der morphologische Begriff des Organs im allgemeinen läßt sich
nach dieser unserer Auffassung feststellen als „eine konstante einheit-
liche Raumgröße von bestimmter Form, welche aus einer Summe von
mehreren bestimmten Piastiden (Cytoden oder Zellen) in konstanter
A^erbindung zusammengesetzt ist, und welche nicht die positiven
Charaktere der Formindividuen dritter bis sechster Ordnung erkennen
läßt." Diese morphologische Definition des Organs mag insbesondere
ihres teilweise negativen Inhalts wegen sehr mangelhaft erscheinen,
wird aber bei der außerordentlichen Verschiedenartigkeit der ver-
schiedenen Organe nicht leicht durch eine bessere allgemein anwend-
bare zu ersetzen sein.
IX. III- Morphologische Individuen dritter Ordnung: Antimeren. 123
III. Morphologische Iiulividuen dritter Ordnung:
Antimeren oder Gegenstücke.
(Homotypische Teile.)
Die vorhergehende Betrachtung der morphologischen Individuen
erster und zweiter Ordnung, der Piastiden und der Organe, hat uns
mit Überwindung großer Sch\\ierigkeiten in das verwickelte Laby-
rinth von koordinierten und subordinierten Teilen eingeführt, aus
welchen der ganze Organismus der höheren Tiere und Pflanzen als
höhere Einheit zusammengesetzt wird. Eine genauere Betrachtung
der höchst komplizierten und kunstvollen Art und Weise, auf welche
diese Zusammensetzung erfolgt, läßt uns alsbald erkennen, daß die
stufenweise emporsteigende Komphkation des organischen Baues,
wenigstens bei den höheren Pflanzen und Tieren, nicht allein nach
den großen Gesetzen der Aggregation und der Differenzierung (oder
des Polymorphismus) erfolgt, sondern daß die verschiedenen koordi-
nierten und subordinierten Teile sich derartig im ganzen verflechten,
gegenseitig räumlich durchwachsen und verbinden, und in so ver-
wickelter Weise ineinander eingreifen, daß wir zur Aufstellung ganz
verschiedener morphologischer Einheiten gelangen, je nachdem wir
unseren Standpunkt auf verschiedenen Seiten nehmen und von diesem
oder jenem gemeinsamen Tertium aus zwei Einheiten vergleichen.
So kann also derselbe Nerv, derselbe Muskel als ein Komplex von
einfachen Organen erster und zweiter Ordnung, oder als ein hetero-
plastisches Organ, oder als ein Teil eines Organsystems, oder als ein
Teil eines Organapparates aufgefaßt werden, und von jedem dieser
verschiedenen Gesichtspunkte aus wird er eine verschiedene Beurtei-
lung erfahren.
Schon hieraus geht hervor, daß die Organe (und ebenso die
morphologischen Individuen niederer Ordnung überhaupt) sich nicht
allein durch stufenweis fortgesetzte Aggregation und Arbeitsteilung
zu den Individualitäten höherer Ordnung zusammenfügen, sondern
daß hier komplizierte Gesetze der Formbildung walten, um deren
Erkenntnis man sich bisher noch kaum bemüht hat. Wie wenig
auf diesem wichtigen und interessanten Gebiete der allgemeinen
Morphologie noch geschehen ist, geht aber weiter namentlich daraus
hervor, daß man die höheren Individualitäten, welche zunächst aus
dem Zusammentreten der verschiedenen Organe hervorgehen, und die
124 Morphologische Individualität der Organismen. IX.
wir im folgenden als Antimeren nnd Metameren untersuchen werden,
überhaupt noch keiner eingehenden Untersuchung und allgemeinen
Vergleichung, ja häufig nicht einmal einer Erwähnung gewürdigt
hat. Mindestens sind sie als besondere morphologische Individuali-
täten bisher nur selten oder nie anerkannt worden.
Die Teile des Organismus, welche wir hier als Antimeren oder
Gegenstücke, und Metameren oder Folgestücke unterscheiden, sind
scharf ausgeprägte morphologische Individualitäten, welche einen
Rang über den Organen einnehmen, während sie den höheren mor-
phologischen Einheiten fünfter und sechster Ordnung beständig unter-
geordnet sind. In der bei weitem größten Mehrzahl der Organis-
menarten ist das einzelne physiologische Individuum nicht ein
bloßes Aggregat von Organen, sondern eine Einheit von mehreren
Metameren und Antimeren. Für die Gesamtform des Organismus
sind diese Teilstücke, welche als scharf ausgeprägte Formeinheiten
in Vielzahl neben- und hintereinander auftreten, von der allergrößten
Bedeutung, und dennoch hat man sie bisher fast gar keiner Betrach-
tung gewürdigt: ja es existiert für die beiden wesentlich ver-
schiedenen Individuahtäten des Antimeres oder Metameres nicht
einmal ein besonderer einfacher Name. Wo man sie bisher im
konkreten Falle der Verständigung halber hat erwähnen müssen, hat
man beide zusammen mit dem vieldeutigen Ausdrucke des Segments
oder Teilstücks oder Gliedes (Articulum), oder auch w^ohl des
„homologen oder homonomen Teils"' belegt. Die Metameren, als
w^elche wir z. B. die einzelnen gleichartigen hintereinander gele-
genen Abschnitte des Wirbeltier- und des Gliedertierrumpfes, die ein-
zelnen Stielgiieder der Krinoideenstengel. die Stengelglieder der
Phanerogamen ansehen, hat man insbesondere häufig „Glieder" und
bei den Gliedertieren und Würmern ,.Ringe" oder Zoniten genannt.
Die Antimeren, die nebeneinander gelegenen Hauptabschnitte da-
gegen hat man, wenn ihrer nur zwei zugegen sind, wie bei den
Wirbel-, Glieder- und Weichtieren, als „Körperhälften"', wenn ihrer
drei, vier, fünf oder mehr sind, wie bei den „Strahltieren" und
Phanerogamenblüten, als „Strahlen"' oder „Radialsegmente", oft aber
ebenfalls als „Glieder" bezeichnet.
Der einzige Naturforscher, welcher bisher diese beiderlei Teile
vom allgemeineren Gesichtspunkte aus untersucht und auf die hohe
Bedeutung derselben für die Gesetze der organischen Formbildung
hingewiesen hat, ist der verdienstvolle Bronn, welcher in seinen
JX. in. Morphologische Individuen dritter Ordnung: Antinieren. 125
trefflichen „morphologischen Studien" (1858) diejenigen nebenein-
ander gelegenen Hauptabschnitte, welche wir Antinieren nennen,
als liomo typische Teile, diejenigen hintereinander liegenden
Abschnitte dagegen, welche wir Metaraeren nennen, als homonyme
Teile bezeichnet hat. In dem Kapitel, in welchem er das wichtige
von ihm entdeckte „Gesetz der Zahlenreduktion gleichnamiger Teile"
behandelt, faßt er beiderlei Abschnitte als „gleichgesetzliche" oder
„homonome" Körperteile zusammen und gibt von beiden eine kurze
Definition, welche jedoch weder erschöpfend, noch hinreichend klar
und genau ist. Wir werden diese Definition in dem nächsten Ab-
schnitte, welcher von den Metameren handelt, wörtlich anfidiren und
näher beleuchten, und wenden uns hier sogleich zur näheren Betrach-
tung derjenigen Formeinheiten des Organisnms, welche wir allgemein
als Antinieren bezeichnen wollen.
Unter Antinieren oder Gegenstücken (den homotypi-
schen Organen Bronns) verstehen wir diejenigen neben- (nicht
hinter)einander liegenden, als deutlich geschlossene Einheiten auf-
tretenden Körperabschnitte oder „Segmente", welche als gleichwertige
Organkomplexe alle oder fast alle wesentlichen Körperteile der
Spezies (alle typischen Organe) in der Art zusammengesetzt ent-
halten, daß jedes Antimer die wesentlichsten Eigenschaften der
Spezies als Organkomplex repräsentiert, und daß nur noch die Zahl
der Antinieren als das die Speziesform bestimmende Element hin-
zutritt. Bei den meisten höheren, sogenannten „bilateral-symmetri-
schen" Tieren (Wirbel-, Glieder-, Weichtieren) besteht der Körper
demgemäß nur aus zwei Antinieren, den beiden Körperhälften
nämlich, welche in der Medianebene verwachsen sind. Bei den
sogenannten „Strahltieren", sowie bei den allermeisten Geschlechts-
individuen (Blüten) der Phanerogamen ist dagegen der Körper aus
so vielen Antinieren zusammengesetzt, als „Strahlen", d. h. Ki'euz-
achsen, vorhanden sind, also drei bei den meisten Monocotyledonen
und vielen Radiolarien, vier bei den meisten Medusen, den Rugosen
und Cereanthiden, ferner auch bei den meisten Würmern und bei
sehr vielen Dicotyledonen, fünf bei den meisten Echinodermen und
Dicotyledonen, sechs bei den meisten Anthozoen (Enallonemen,
die Rugosen ausgenommen, und Antipathiden) und bei einigen
Medusen (Carmariniden). Sehr selten im ganzen genommen ist der
Körper aus mehr als sechs Antinieren zusammengesetzt. Sieben
kommen nur ausnahmsweise vor, z. B. bei Lnidia Savignyi unter
126 Mor])hologische Individualität dor Organismen. IX.
den Seesternen, bei Trientalis europaea unter den Plianerogamen.
Acht Antimeren finden sich bei allen Ctenophoien und Octactinien
Alcyonarien), dagegen sehr selten bei den Plianerogamen {Mimusops)
unter den Sapotaceen. Ebenfalls selten treten neun, zehn, zwölf
und zwanzig oder mehr Antimeren zur Bildung des Körpers zu-
sammen. In der Regel sind die niedrigeren Zahlen der Antimeren
innerhalb der Spezies koiistant. Sobald aber mehr als sechs Antimeren
auftreten, wird die Grundzahl (acht ausgenommen) innerhalb der
Spezies schwankend und um so unbeständiger, je höher die Zahl
steigt. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch bei den Metameren,
z. B. wenn man die Insekten (mit wenigen, neun bis dreizehn
Ringen) und die Myriapoden und Arachniden (mit sehr zahlreichen
Metameren) vergleicht. Dies Verhältnis ist sehr wichtig für die
Begründung des Bronnschen Gesetzes der Zahlenreduktion gleich-
namiger Teile.
So unwesentlich es vom physiologischen Standpunkte aus
erscheinen mag, ob der ganze Körper (die Person) aus zwei, drei,
vier, fünf oder mehi* gleichen Körperteilen zusammengesetzt ist, von
denen jeder sämtliche wesentHche Organkomplexe oder typischen
Organe des Körpers in der gleichen Zahl, Form, Struktur und Lage-
rung enthält und also für sich schon die Spezies repräsentieren
könnte, so wichtig ist die ho mo typische Grundzahl, wie wir
mit B r o n n die spezifische A n t i m e r e n z a h 1 nennen können, für die
morphologische Betrachtung des Körpers als Ganzen. Ins-
besondere wird durch die Antimeren jene Summe von Formeigentüm-
lichkeiten bedingt, welche man gewöhnlich als Habitus bezeichnet,
und welche oft ebenso schwer zu definieren und näher zu bestimmen
ist, als sie dem geübten Auge charakterbestimmend, als physiogno-
misches Moment entgegentritt.
Freilich ist uns der Kausalnexus zwischen dem t\^3ischen
Organisationscharakter und der homotypischen Grundzahl der Organis-
men zurzeit noch vollständig unbekannt. Daß er aber vorhanden
ist, beweist die auffallende Konstanz, welche die Antimerenzahl
innerhalb der großen Hauptabteilungen des Tier- und Pflanzenreiches
zeigt. Ohne Ausnahme sind die Wirbeltiere und Weichtiere nur
aus zw^ei, die Ctcnophoren und Octactinien aus acht Antimeren
zusammengesetzt, und ganz vorherrschend ist unter den Echino-
dermen die Antimerenzahl fünf, unter den Monocotyledonen die
Zahl drei.
jX. IV. Morphologische Individuen vierter Ordnung: Metameren. 127
IT. Morplioloi^isclie Individuen vierter Ordnung;:
Metameren oder Folgestücke.
(Homodyname Teile oder allgemein homologe Teile.)
Eine der häufigsten Ersclieinungeu, welche der Organismus der
höheren Tiere bezüglich seines Aufbaues aus untergeordneten Teilen
darbietet, ist die Gliederung oder Segmentierung desselben,
d. h. die Bildung von hintereinander in einer Achse gelegenen Ab-
schnitten, deren jeder im wesentlichen dieselbe Anzahl von Organen
in gleicher oder ähnlicher Lagerung, Zusammensetzung, Form usw.
wiederholt. Diese Gliederung, wie sie am ausgesprochensten bei
den Wirbeltieren, Gliedertieren und Echinodermen auftritt (während
sie den Weichtieren in sehr charakteristischer Weise abgeht), kann
sowohl den Stamm (in der Längsachse) als die seitlichen Anhänge
des Stammes betreffen, welche entweder in der Breitenachse (bei
den Ghedertieren) oder in den Kreuzachsen (bei den Strahltieren)
hintereinander liegen. In beiden Fällen werden die Segmente von
Bronn als homonyme Teile bezeichnet. Ganz denselben allge-
meinen morphologischen Wert wie den einzelnen Segmenten oder
Zeniten des Wirbel- und Gliedertierrumpfes müssen wir
auch den einzelnen Stengelgliedern der Phanerogamen zuge-
stehen. Auch diese sind Wiederholungen homonymer Teile in der
Hauptachse. Und ebenso tragen wir kein Bedenken, die Gliede-
rung, die sich in Seitenteilen (Blattorganen) der Phanerogamen aus-
spricht, z. B. in den gefiederten Blättern, der Gliederung der Seiten-
anhänge (Extremitäten) bei den Wirbel- und Gliedertieren gleichzu-
setzen.
Für die richtige Wertschätzung der Rangstufe der subordinierten
Formgruppen, aus denen sich der ganze Leib jener gegliederten Tiere
und Pflanzen aufbaut, ist es aber durchaus notwendig, diese beiden
Fälle wohl zu unterscheiden. Wir werden daher den von Bronn
eingeführten Namen der Homonymie auf das Verhältnis der hinter-
einander liegenden Segmente beschränken, welche durch Gliederung
eines nicht in der Hauptachse liegenden Seitenteils entstehen, welcher
also einer Breitenachse oder Kreuzachse entspricht; während wir
dagegen die wechselseitige Beziehung derjenigen Segmente, welche
durch Gliederung des Rumpfes selbst in der Hauptachse (Längsachse)
entstehen, als Homodynamie zu bezeichnen vorschlagen. Ferner
\2S Morphologische Individualität der Organismen. JX.
werden wir der Kürze und Bequemlichkeit halber die Segmente
der Hauptachsen oder die homodynamen Teile Metameren,
die Segmente der Kreuzachsen (oder Breitenachsen) oder
die homonymen Teile Epimeren nennen.
Homonyme Organe in unserem Sinne oder Epimeren sind
also z. B. die Extremitätenabschnitte (z. B. Oberarm. Vorderarm,
Carpus, Metacarpus, Phalangen der vorderen Extremität) der Wirbel-
tiere, ferner die sogenannten Glieder oder Segmente der Extremitäten
(z. B. coxa, trochanter, femur, tibia, tarsus) der Gliedertiere, ferner
die einzelnen Abschnitte der Armzweige (Pinnulae etc.) bei den Cri-
noiden, die einzelnen Nesselringe an den Tentakeln der Medusen usw.
Im Pflanzenreiche haben wir dementsprechend als Epimeren oder
homonyme Teile alle ähnlichen Gliedcrbildungen an den Blättern zu
betrachten, z. B. die Fiedern der gefiederten Blätter etc.
Homodyname Organe oder Metameren sind dagegen: bei
den Wirbeltieren die einzelnen Abschnitte des Rumpfes, deren jeder
einem Urwirbel. und am ausgebildeten Tiere einem Wirbel nebst
zugehörigen Organen entspricht (einem Rippenpaar, einem Ganglien-
paar des Sympathicus, einem Paar austretender Interkostalnerven
und Gefäße etc.); bei den Gliedertieren ebenso die hintereinander
liegenden Segmente oder Glieder des Rumpfes, die bei den Glieder-
füßern schon weit differenziert (heteronom), bei den Würmern da-
gegen noch sehr gleichartig (homonom) sind, so daß in jedem Stücke
dieselben Organe sich wiederholen. Ebenso so stark entwickelt wie
bei den Wirbel- und Ghedertieren ist die Homodynamie oder Meta-
merenbildung auch bei den Echinodermen: hier haben wir als Meta-
meren zu betrachten: bei den Echiniden die hintereinander liegenden
Plattenpaare jedes Ambulacrums, nebst entsprechendem Segmente
des Ambulacralsystems, Nervensystems etc., bei den Ästenden die
sogenannten Wirbelstücke oder Pseudovertebrae der Arme,^) bei den
Crinoiden die Stengelgiieder des Stiels etc. Vollkommen diesen ent-
sprechende Metameren sind im Pflanzenreiche die Stengelgiieder der
Phanerogamen. Die Metameren sind also subordinierte Teile (Glieder)
^) Auf den ersten Blick könnte man mehr geneigt sein, diese Teile der
Echinodermen als Epimeren, als homonyme Teile zu betrachten. Indessen lehrt
eine tiefere Erfassung der schwierigen Echinodermenhomologien, daß wir die-
selben mit größerem Rechte als Metameren oder homonyme Teile auffassen.
Vgl. hierüber das VI. Buch.
IX. I^'- Morphologische Individuen vierter Ordnung: Metameren. 129
eines Formindividiuims fünfter, die Epimeren dagegen erster, zweiter
oder dritter Ordnung.
Die Metameren oder lioniodynamen Körperabschnitte haben als
Gliederungen der Hauptachse (Längsachse) natürlich einen weit
höheren morphologischen Wert als die Epimeren, w^elche nur als
Gliederungen der Nebenachsen (Breitenachse oder Kreuzachsen) auf-
treten. Auch werden wir unten sehen, daß die letzteren im Tier-
reiche niemals oder nur sehr selten der physiologischen Individuali-
sation fähig sind, welche die ersteren sehr leicht und häufig erlangen.
Die Metameren sind bei den niederen Formen des Tierstammes, in
welchem sie auftreten, lediglich 3[ultiplikationen der spezifischen
Form der betreffenden Art, Wiederholungen, welche ursprünglich so
unabhängig sind, daß sie sehr leicht sich voneinander abtrennen
und daß alsdann jedes einzelne Metamer jene Speziesform mehr
oder weniger vollständig repräsentiert. Die Epimeren dagegen ver-
mögen niemals in ähnlicher Weise die Speciesform zu vertreten, da
sie eben nicht Wiederholungen des ganzen Organismus, sondern
nur Multiplikationen von einzelnen seitlichen Teilen desselben, von
Organen verschiedener Ordnung sind. Die Epimeren verhalten
sich zu den Metameren ganz analog, wie die Parameren zu den
Antimeren.
Die sogenannte Gliederung oder homodyname Zusammen-
setzung des ganzen Organismus (dessen physiologische Individualität
in Form der Person auftritt), wie sie bei den Wirbeltieren, den
meisten Gliedertieren. Echinodermen und den meisten Phanerogamen
stattfindet, bekundet einen bedeutenden Fortschritt in der Organi-
sation und wir können daher allgemein diese Organismen als höher
und vollkommener bezeichnen, im Vergleich zu jenen, bei denen
die Metamerenbildung fehlt, und bei denen mithin das physio-
logische Individuum selbst nur den Wert eines Metameres erreicht,
wie bei den niederen Würmern, den Mollusken etc. Besonders
lehrreich für die richtige Auffassung der Homodynamie oder der
Metamerenbildung ist die allmähliche Übergangsreihe von un-
gegliederten zu gegliederten Formen, wie sie uns die niederen
Würmer (besonders Cestoden) zeigen; hier zeigt sich auf das
klarste, wie dieselben Teile (Metameren), die in den niederen
Formen als physiologische Individuen auftreten, in den höheren
Formen nur den Rang von homodynamen Teilen haben. (Vergl.
das zehnte Kapitel.)
Haeekel, Prinz, d. Morphol. 9
130 Morphologische Individualität der Organismen. IX.
\. Morphologische Individuen fünfter Ordnnni?:
Histonalen (Personen oder Prosopen im Tierreich,
und Sprosse oder Elasten im Pflanzenreich.)^)
Wir gelangen nunmehr im aufsteigenden Stnfengange unserer
Betrachtung zu derjenigen höheren organischen Formeinheit, welche
sowohl der gewöhnhche Sprachgebrauch der Laien, als auch die in
der Zoologie (nicht aber in der Botanik!) allgemein herrschende
Anschauungsweise als das „eigentliche" Individuum aufzufassen
pflegt. Obwohl eine unbefangene und tiefer eingehende Betrachtung
der organischen Individualität zeigt, daß auch diese ..eigentlichen"
oder absoluten Individuen in der Tat nur relative sind und auf keine
andere individuelle Geltung Anspruch machen können, als sie auch
dem Metamer und allen anderen, vorher aufgeführten Individuen
niederen Ranges zukommt, und obwohl diese ..eigentlichen" Indivi-
duen bei den meisten höheren Pflanzen und Coelenteraten nur als
subordinierte Bestandteile einer noch höher stehenden Einheit, des
Stockes erscheinen, so ist dennoch, ausgehend von der Individualität
des Menschen und der höheren Tiere, die irrtümliche Auffassung
der morphologischen Individuen fünfter Ordnung als der ,, eigentlichen"
organischen Individuen eine so allgemeine geworden und hat sich
so fest in dem wissenschaftlichen sowohl als im Volksbewußtsein
eingenistet, daß wir sie als die Hauptcpielle der zahlreichen ver-
schiedenartigen Auffassungen und Streitigkeiten, die in betreff der
organischen Individualität herrschen, bezeichnen müssen.
Um diese ,.ei gentliche Individualität", welche sich durch
bestimmte morphologische Eigenschaften mit voller Sicherheit als
ein ..morphologisches Individuum fünfter Ordnung" scharf charakte-
risieren läßt, ein für allemal von allen anderen organischen Indivi-
duahtätsformen zu unterscheiden, wollen wir für dieselbe im Tier-
reich die Bezeichnung der Person oder des Prosopon\) beibehalten.
Mit diesem Ausdrucke lehnen wir uns unmittelbar an den bestehenden
Sprachgebrauch an, welcher ja insbesondere das menschliche Indivi-
duum sehr allgemein als ,.Person" bezeichnet. Die Botaniker ge-
brauchen zur Bezeichnung derselben morphologischen Individualität
im Pflanzenreich den Ausdruck Sproß oder Blastus, welcher sehr
^) -poawrov, To: Persona, '(ii sjrj-'}^^ ö; der Sproß. Beide Begriffe sind später
von mir als Histoiial zusammengefaßt worden. (Zusatz 190ß.)
IX. V. [Morphologische Individuen fünfter Ordnung: Histonalen. 131
häutig iiTtttnilich durch den keineswegs gleichbedeutenden Ausdrucl^
der Knospe (Genima) ersetzt wird. Wir niaclien daher ausdrücklich
darauf aufmerksam, daß im Sinne der besten Botaniker und nament-
lich im Sinne derjenigen, welche die Individualität der Sprosse am
eingehendsten und klarsten behandelt haben, wie Alexander Braun,
der Ausdruck Sproß oder Blastus ausschließlich in dem hier beibe-
haltenen Sinne für das morphologische Pflanzenindividuum fünfter
Ordnuug gebraucht wird. Der Ausdruck Knospe oder Gemma,
welcher so oft damit verwechselt wird, ist dagegen, wenn er einen
scharf bestimmten Begriff bezeichnen soll, nur für diejenige rein
physiologische Individualität irgendeiner Ordnung anzuwenden,
welche durch den bestimmten ungeschlechtlichen Fortpflanzungs-
modus der Knospenbildung (Gemmatio) entsteht. Wie wir im
siebzehnten Kapitel noch näher ausführen werden, ist dieser wichtige
Spaltungsprozeß durch Gemmation bei organischen Individuen aller
Ordnungen weit verbreitet, und es entstehen nicht bloß viele Sprosse
durch Knospung. sondern auch viele Zellen. Organe. 3Ietameren
und Stöcke. Knospe oder Gemma bedeutet also in diesem korrekten
und fortan stets festzuhaltenden Sinne ausschließlich ein durch
Knospenbildung erzeugtes Individuum irgendeiner Ordnung. Sproß
oder Blastus dagegen nennen wir mit Alexander Braun u. a.
ausschheßlich das echte morphologische Individuum fünfter
Ordnung. Der pflanzhche Sproß, Blastos. ist also der tierischen
Person, dem Prosopon. gleichwertig und es könnte demnach die erstere
Bezeichnung überflüssig erscheinen. Man kann sie aber mit Vorteil
beibehalten für diejenigen Personen, welche nicht frei als Bionten
leben, sondern als untergeordnete Bestandteile der höheren Einheit,
des Stockes (Cormus) auftreten. Wir werden also fernerhin die
morphologischen Individuen fünfter Ordnung nur dann als Sprosse
(Blasti) bezeichnen, wenn sie integrierende Bestandteile eines Indivi-
duums sechster Ordnung (Cormus) sind, wie bei den meisten Phane-
rogamen und Coelenteraten; dagegen als Personen (Prosopa), wenn
sie frei als selbständige Bionten existieren, wie bei den Wirbeltieren
und Artln'opoden. Ähnhch verhalten sich die sogenannten „einfachen
Pflanzen" der Phanerogamen. mit ganz einfacher gegliederter Achse,
ohne alle Nebenachsen (Zweige, Ausläufer etc.).
Wenn wir nun in diesem Sinne die Bezeichnung der Person
imd des Sprosses beibehalten, so läßt sich der Begriff des Histonal.
der' beide vereinigt, als morphologisches Individuum fünfter Ordnung
(1*
132 Morpliolofiische Individualität der Organismen. ]X.
vollkommen schart' und bestimmt feststellen. Es bestellt nämlich
das echte Histonal in allen Fällen aus einer Vielheit von unter-
geordneten Individuen der ersten bis vierten Ordnung.
Jedes einzelne morphologische Individuum fünfter Ordnung ist also
zusammengesetzt aus mindestens zwei Metameren. mindestens zwei
Antimeren und ebenso stets aus einer Vielheit von Organen und
einer Vielheit von Piastiden. Eine jede physiologische Individualität,
welche diesem Begriffe nicht entspricht, wie z. B. die meisten Mol-
lusken, welche nicht aus Metameren zusammengesetzt, sondern einem
Metamer gleichwertig sind, können wir nicht als Person anerkennen.
Tl. Morpliologisclie Individuen sechster Ordnung-:
Stöcke oder Cormen.
Den höchsten Grad morphologischer Vollendung in der Zu-
sammensetzung aus verschiedenen Individualitäten finden wir bei
denjenigen Organismen, bei welchen eine Vielheit von Personen oder
Sprossen sich zu der höheren Einheit des Stockes oder Cormus ver-
bindet. Es ist dies die sechste und letzte Stufe, welche der Organis-
mus in seiner fortschreitenden Strukturverwickelung erreicht.
Unter Stock oder Cormus verstehen wir ausschließlich
diejenige organische Formeinheit, welche aus einer Viel-
heit von Histonalen oder Formindividuen fünfter Ordnung
zusammengesetzt ist. In dieser ihrer Eigenschaft als unter-
geordnete Bestandteile eines Stockes bezeichnen wir die Personen mit
dem Namen der Sprosse oder Blasten. Wir schließen also aus dem
morphologischen Begriffe des Cormus alle diejenigen stockähnlichen
Bildungen aus, welche sowohl in der Botanik als in der Zoologie
sehr oft als „Stöcke" bezeichnet werden, ohne wirkliche Cormen zu
sein. Solche falsche Stöcke sind die Coenobien der Protisten, bei
welchen die Komponenten des stockähnlichen Gebildes nicht Indivi-
duen fünfter, sondern erster Ordnung sind, einfache Cytoden oder
Zellen (z. B. die „Stöcke" der Diatomeen, Volvocinen und vieler In-
fusorien). Alle diese Schein stocke oder Pseudocormen stimmen
nur darin mit den echten Stöcken oder Cormen überein, daß sie
(meistens ziemlich lockere) Verbindungen von Individuen einer sub-
ordinierten Ordnung darstellen, niemals aber von echten Individuen
fünfter Ordnung. Es ist also lediglich die Zusammensetzung aus
untergeordneten Individualitäten, meistens noch verstärkt durch eine
IX. ^I- Morphologische Individuen sechster Ordnung: Stöcke. 133
äußere Älinliclikeit, welche zu der allgemeinen Verwechselung der
echten mit den Scheinstöcken geführt hat. Besonders die Art der
äußeren Spaltung, nämlich die laterale Knospenbildung, welche beiden
gemeinsam ist. scheint jenen Mangel einer wichtigen Unterscheidung
bewirkt zu haben. Bei vielen Scheinstöcken von Diatomeen. Flagel-
laten, Vorticellen sind es einzelne Piastiden, welche durch fortgesetzte
laterale Knospenbildung ganz ähnliche verzweigte Bildungen produ-
zieren, wie die stockbildenden Personen. Es ist aber für die all-
gemeine 3Iorphologie von der größten Wichtigkeit, den wesentlichen
Unterschied zwischen diesen echten Stöcken sechster Ordnung und
jenen falschen Scheinstöcken fünfter Ordnung (Personen) oder zweiter
Ordnung (Organen) zu erkennen. Der Ausdruck Kolonie oder
Gemeinde (Synusie) läßt sich auf alle diese stockartigen A^er-
bindimgen gemeinsam anwenden und bedeutet nichts als die Ver-
einigung einer Vielheit von Individuen niederer Ordnung zu einer
morphologischen Einheit höherer Ordnung. Der echte Stock oder
Cormus aber ist eine ganz bestimmte Art dieser Kolonien, nämlich
nur diejenige höchste und vollkommenste Art, welche aus Individuen
fünfter Ordnung oder Histonalen zusammengesetzt ist.
Da der Cormus die höchste und letzte von allen sechs Indivi-
dualitätsordnungen ist, so kann er niemals als integrierender Bestand-
teil einer höheren Ordnung auftreten, wie alle fünf untergeordneten
Individualitäten. I^a der morphologische Charakter der Person oder
des Sprosses, wie wir vorher sahen, ein ganz bestimmter ist, so muß
auch gleicherweise derjenige des Stockes, welcher stets eine Vielheit
von Sprossen ist. vollkommen fest bestimmt sein. Jeder Stock besteht
demnach nicht allein aus einer Mehrheit von Personen, sondern auch
natürlich aus einer Mehrheit von Metameren, Antimeren, Organen und
Piastiden, weil ja jeder einzelne Sproß allein schon eine Vielheit
Yon diesen vier untergeordneten Individualitäten repräsentiert.
Die echten Stöcke oder Cormen erreichen ihre höchste Ent-
wickelung und weiteste Verbreitung im Pflanzenreiche, wo die
allermeisten Phanerogamen und höheren Cryptogamen sich zu fest-
sitzenden Stöcken entwickeln. Nur sehr wenige Phanerogamen
bleiben auf einer niedrigeren Stufe der Individualität stehen. Aus-
nahmsweise kommen solche ganz einfache Plasten (astlose Haupt-
sprosse mit einer einzigen einfachen Blüte) auch bei solchen Spezies
vor, die gewöhnlich einen verzweigten Stock bilden, z. B. Radiola
miUegrana. Eryihraca puJchella, Saxifraga tridactylites.
Zelintes Kapitel.
Physiologische Individualität der Organismen.
„Das Anerkennen eines Neben-, Mit- und Ineinanderseins
und Wirkens verwandter lebendiger Wesen leitet uns bei
jeder Betracditung des Organismus und erleuchtet den Stufen-
weg vom Unvollkommenen zum Vollkommenen.'^
Goethe.
Aktuelle, virtuelle und partielle Bionten.
(Physiologische Individuen verschiedener Art.)
Jede der sechs verschiedenen Formeinheiten, welche wir im
vorigen Kapitel als sechs Ordnungen der morphologischen Indivi-
dualität unterschieden haben, tritt bei gewissen Organismenarten als
physiologisches Individuum oder Bion auf. Wir haben mit diesem
Ausdruck diejenige einheitliche Raumgröße bezeichnet, welche als
lebendiger Organismus, als zentralisierte Lebenseinheit, vollkommen
selbständig längere oder kürzere Zeit hindurch eine eigene Existenz
zu führen vermag; eine Existenz, welche sich in allen Fällen in der
Betätigung der allgemeinsten organischen Funktion äußert, in der
Selbsterhaltung durch Stoffwechsel. Auch andere Lebensfunktionen,
die Fortpflanzung oder die Erhaltung der Art, sowie die Vermittelung
ihrer Beziehungen zur Aussenwelt, z. B. durch Ortsbewegungen, ver-
mag das physiologische Individuum zu verrichten, ohne daß jedoch
die Verrichtung dieser Funktionen als notwendig zum Begriffe des
Bion betrachtet werden müßte. Das Bion oder Funktionsindividuum
ist demnach keineswegs, wie das morphologische Individuum, eine
unteilbare Raumgröße, die wir im Momente der Beurteilung als
unveränderlich anzusehen haben (unteilbar in dem Sinne, daß wir
keinen Teil von ihr wegnehmen können, ohne ihren Charakter als
Formindividuum zu vernichten). Vielmehr ist das physiologische
Individuum eine einheitliche, zusammenhängende Raumgröße, welche
wir als solche längere oder kürzere Zeit hindurch leben, d. h. sich
in der allgemeinen Lobensbewegung, im Stoffwechsel, erhalten sehen,
X. Aktuelle, virtuelle und partielle Bionten. 135
und welche wir also im Momente der Beurteilung als veränderlich
ansehen: auch können sich Teile von dem Funktionsindividuum ab-
lösen, ohne daß seine Individualität, d. h. sein Fortbestehen als
selbständige Lebenseinheit dadurch gefährdet wird. Wenn das Bion
sich fortpflanzt, geschieht sogar diese Ablösung von Teilen, die sich
zu neuen Bionten zu entwickeln vermögen, regelmäßig. Wir können
demnach den wichtigen Unterschied zwischen der morphologischen
und physiologischen Individuahtät kurz dahin zusammenfassen: Das
physiologische Individuum (Bion) ist eine einzelne orga-
nische Raumgröße, welche als zentralisierte Lebenseinheit
der Selbsterhaltung fähig und zugleich teilbar ist, und
welche wegen der mit diesen Funktionen verbundenen Be-
wegungen nur als eine in verschiedenen Zeitmomenten ver-
änderliche erkannt werden kann. Das morphologische Indi-
viduum (Morphon, erster bis sechster Ordnung) dagegen ist
eine einzelne organische Raumgröße, welche als vollkom-
men abgeschlossene Formeinheit unteilbar ist. und welche
in diesem ihren Wesen nur als eine in einem bestimmten
Zeitmomente unveränderliche erkannt werden kann.
Wie wir bereits oben zeigten, vermag jedes Morphon. jede der
sechs morphologischen Individualitäten verschiedener Ordnung, die
physiologische Individualität zu repräsentieren; und jedes Bion,
welches als der reife Repräsentant der Spezies einen höheren mor-
phologischen Individualitätsgrad besitzt, muß, falls es sich aus einem
befruchteten Ei oder einer unbefruchteten Plastide (Spore) entwickelt,
während seines Entwickelimgs-Cyklus alle vorhergehenden niederen
Tndividuahtätsgrade durchlaufen haben. Wir müssen jedoch unter-
scheiden zwischen drei wesenthch verschiedenen Erscheinungs-
weisen oder Arten der physiologischen Individualität, welche
allgemein als das aJdueUe Bion (oder das Bion im engeren Sinne),
das virtueUe oder potentielle Bion und das pariieUe oder scheinbare
Bion bezeichnet werden können.
I. Aktuelles Bion oder physiologisches Individuum im
engeren Sinne ist jedes vollständig entwickelte organische
Individuum, welches den höchsten Grad morphologischer
Individualität erreicht hat. der ihm als reifen, ausgewach-
senen Repräsentanten der Spezies zukommt. Dieser Grad
ist für jede organische Spezies ein bestimmter. Es ist also z. B. das
aktuelle Bion bei den Phanerogamen ein morphologisches Individuum
136 Physiologische Individualität der Organismen. X.
sechster, bei den Wirbeltieren fi'int'tcr. bei den meisten Mollusken
vierter, bei den Spongien dritter, bei den Volvocinen zweiter, bei
den einzelligen Protisten erster Ordnung.
IL Virtuelles Bion oder potentielles physiologisches
Individuum ist jedes unentwickelte organische Individuum,
so lange es noch nicht den höchsten Grad morphologischer
Individualität erreicht hat, welcher ihm als reifen, aus-
gewachsenen Repräsentanten der Spezies zukommt, und
zu welchem es sich entwickeln kann. Dieser Grad ist zu ver-
schiedenen Zeiten, in verschiedenen Stadien oder Perioden der indi-
viduellen Entwickelung ein verschiedener. Es ist also z. B. beim
Menschen und bei den Wirbeltieren überhaupt das virtuelle Bion
zuerst ein morphologisches Individuum erster (Ei), dann zweiter
(Blastoderma), dann dritter (Embryonalanlage ohne Primitivstreif),
dann vierter (Embryo mit Primitivstreif), dann endhch fünfter Ord-
nung (Embryo mit Primitivrinne und Urwirbelkette). Bei den Antho-
zoen, welche Stöcke bilden, z. B. den Astraeiden, ist das virtuelle
Bion im ersten Stadium der Entwickelung (als einfaches Ei) ein
morphologisches Individuum erster, dann (als kugeliger Zellenhaufen)
zweiter, dann (als protaxonier. noch nicht diradiierter Körper) dritter,
darauf (als diradiierter Körper mit sechs Antimeren) vierter, dann
(als Polyp mit gegliederter Hauptachse, nachdem die horizontalen
Böden. Tabulae, ausgebildet sind) fünfter, endlich (nachdem die Stock-
bildung durch Teilung oder Knospenbildung begonnen hat) sechster
Ordnung. Bei den Phanerogamen lassen sich die gleichen sechs
Stufen oder Ordnungen der morphologischen Individualität, welche
das virtuelle Bion während seiner Entwickelung bis zum aktuellen
durchläuft, folgendermaßen ordnen: erste Stufe: Embryobläschen
(Ei); zweite Stufe: Vorkeim (Proembryo); dritte Stufe: Keim (Embryo)
ohne Cotyledonen; vierte Stufe: Keim (Embryo) mit Cotyledonen;
fünfte Stufe: Keim (Embryo) mit Cotyledonen und Plumula (Inter-
nodien): nach dem Keimen: junge einfache Pflanze: sechste Stufe:
verzweigte Pflanze (Stock). Jeder Organismus also, welcher als
aktuelles Bion ein morphologisches Individuum zweiter oder höherer
Ordnung ist, muß vorher die vorhergehenden Individualitätsstufen
als virtuelles Bion durchlaufen haben. Hier tritt mithin das virtuelle
Bion als regulärer, in periodischem Cyklus sich wiederholender Ent-
wickelungszustand auf und ist zuerst, als Ei öder Spore, eine ein-
fache Plastide. ein P'ormindividuum erster Ordnung, welches einen
X, Aktuelle, virtuelle und partielle Bionten. 137
abgelösten Bestandteil des aktuellen elterlichen Bion bildete. Es
kann aber auch bei vielen Organismen jeder einzelne Körperteil
unter Umständen als virtuelles Bion auftreten, d. h. sich zum aktuellen
Bion entwickeln, wie es bei der Hydra der Fall ist und bei zahl-
reichen Pflanzenarten, wo viele einzelne Zellen oder Zellgruppen des
Körpers eine so ausgezeichnete Reproduktionsfähigkeit besitzen, daß
sie sich, losgelöst vom elterlichen Organismus, vom aktuellen Bion.
selbst wieder zu einem solchen ergänzen und heranbilden können.
III. Partielles Bion oder scheinbares physiologisches
Individuum ist jeder Teil eines organischen Individuums,
w^elcher die Fähigkeit besitzt, nach seiner Ablösung von
dem potentiellen oder aktuellen Bion längere oder kürzere
Zeit sich selbst zu erhalten und als scheinbares, selbstän-
diges Bion seine Existenz unabhängig fortzuführen, ohne
sich jedoch zum aktuellen Bion entwickeln zu können. Das
scheinbare oder partielle Bion vermag niemals, wie das virtuelle,
sich zum Ganzen zu reproduzieren und zum aktuellen Bion durch
selbständiges Wachstum allmählich sich auszubilden. Vielmehr geht
es zugrunde, nachdem es eine Zeitlang sich erhalten, und bisweilen
während dieser Zeit eine bestimmte Funktion (z. B. die Fortpflan-
zung) ausgeübt hat. So ist es z. B. mit dem Hectocotylus der
Cephalopoden (einem Organ), mit der Progiottis der Cestoden (einem
Metamer), mit dem männlichen Blütensproß der VaUisneria (einer
Person), w^elche sich von einem aktuellen Bion höherer Ordnung
abgelöst haben. Wie man sieht, ist der Begriff dieses partiellen
oder scheinbaren Bion ein sehr weiter und unbestimmter, und es
kommt ihm bei weitem nicht die hohe Bedeutung zu. wie dem
wesentlich verschiedenen virtuellen und aktuellen Bion. Doch haben
die meisten früheren Versuche, die organische Individualität zu be-
stimmen, gerade auf das partielle Bion einen außerordentlich hohen
Wert gelegt, und es ist deshalb wohl nicht überflüssig, dasselbe als
eine dritte Erscheinungsweise der physiologischen Individualität neben
dem virtuellen und aktuellen Bion aufzuführen.
Wenn wir oben wiederholt den wichtigen Satz hervorhoben,
daß jede der sechs morphologischen Individualitäten als Bion oder
physiologisches Individuum auftreten kann, so gilt dies von allen
drei Erscheinungsformen des letzteren. Sowohl das aktuelle, als
das virtuelle, als endlich auch das partielle Bion kann durch jede
der sechs morphologischen Individualitätsformen repräsentiert werden.
Elftes Kapitel.
Tektologisclie Thesen.
»Eine Erfalirung, die aus melireren anderen bestellt, ist
offenbar von einer liöheren Art. Auf solche Erfahrungen der
höheren Art loszuarbeiten halte ich für höchste Pflicht des
Naturforschers, und dahin weist uns das Exempel der vor-
züglichsten Männer, die in diesem Fache gearbeitet haben."
Goethe.
I. Thesen von der Fundamentalstniktur der Organismen.
1. Alle morphologischen Eigenschaften der Organismen,
sowohl ihre anatomischen, als ihre Ent\Yickelnngserscheinnngen, und
von den anatomischen Eigenschaften sowohl die tektologischen als
die promorphologischen Verhältnisse, sind die notwendigen Folgen
mechanischer wirkender Ursachen.
2. Jeder Organismus oder belebte Naturkörper ist eine mate-
rielle Raumgröße (Masseneinheit), welche als solche aus einer Summe
von Massenatomen und zwischen denselben befindlichen Ätheratomen
zusammengesetzt ist.
3. Die Massenatome, w^elche jeden Organismus zusammen-
setzen, gehören mindestens vier verschiedenen Atomarten (chemischen
Elementen oder ürstoffen) an, welche zu sehr verwickelten Verbin-
dungen in demselben vereinigt sind.
4. Die chemischen Verbindungen, aus welchen jeder
Organismus zusammengesetzt ist, sind teils konstante, welche allen
Organismen gemeinsam zukommen, teils inkonstante, welche einem
Teile der Organismen besonders zukommen.
5. Die konstanten, allen Organismen ohne Ausnahme zu-
kommenden chemischen Verbindungen sind Kohlenstoffverbin-
dungen aus der Gruppe der Eiweißkörper (Albuminate. Protein-
verbindungen), welche alle mindestens aus vier verschiedenen Atom-
arten: Kohlenstoff. Sauerstoff. Wasserstoff und Stickstoff zusammen-
W Tektologische Thesen. 139
gesetzt sind; meistens zugleich noch aus Schwefel und oft aus
Phosphor.
6. Die inkonstanten, nur einem Teile der Organismen zu-
kommenden chemischen Verbindungen sind teils organische
(kohlenstoffhaltige) Verbindungen (Fette, Kohlenhydrate etc.). teils
anorganische (kohlenstofffreie) Verbindungen (Alkalisalze. Kalksalze.
Kieselverbindungen etc.).
7. Von den chemischen Verbindungen, welche das materielle
Substrat jedes Organismus bilden, befindet sich immer wenigstens ein
Teil (und zwar ausnahmslos ein Teil der konstanten Eiweißverbin-
dungen) im festflüssigen Aggregatznstande (Imbibitionszustande).
8. Alle Eigenschaften der Organismen sind die unmittelbaren
oder mittelbaren Wirkungen der c h e m i s c h e n V e r b i n d u n gen. aus
denen sie zusammengesetzt sind, und in letzter Linie der Massen-
atome und Ätheratome, aus welchen jene chemischen Verbindungen
zusammengesetzt sind.
9. Alle Eigenschaften der Organismen sind entweder physio-
logische (Bewegungserscheinungen der Massenatome und der aus
ihnen zusammengesetzten Moleküle) oder morphologische (Lage-
run2;sverliältnisse der Massenatome und der aus ihnen zusammen-
gesetzten Moleküle).
10. Die Leistungen oder Funktionen der Organismen (physiolo-
gische Eigenschaften oder Lebenserscheinungen) sind als Bewegungen
(Anziehungen und Abstoßungen) der Atome und Moleküle nur in
einer Reihe von Zeitmomenten erkennbar und als solche Objekt der
Physiologie (Biodi/iiconik).
11. Die Formen oder Morphen der Organismen (morphologische
Eigenschaften oder Lebensbildungen) sind als Ruhezustände ((Gleich-
gewichtszustände) der Atome und Moleküle nur in einem einzigen
Zeitmomente erkennbar und als solche Objekt der Morphologie
( Biostat il\).
12. Die Massenbewegungen (Anziehungen und Abstoßungen der
Atome und Moleküle in den organischen Verbindungen), welche wir
Lebenserscheinungen nennen, erfolgen innerhalb jedes Organis-
mus nach denselben ewigen und unabänderlichen Gesetzen der die
gesammte Natur beherrschenden Notwendigkeit, wie alle Bewegungs-
erscheinungen in der anorganischen Natur: alle sind mithin die not-
wendigen Folgen wirkender Ursachen (nach dem allgemeinen Kausal-
gesetz).
140 Tektologische Thesen. XI.
18. Die Ruhezustände (Gleichgewichtszustände) der Atome und
Moleküle in den organischen Verbindungen, welche wir Lebens-
formen nennen, werden durch dieselben ewigen und unabänderlichen
Gesetze der absoluten Notwendigkeit bedingt, wie alle gesetzmäßigen
Formen in der anorganischen Natur (Kristalle); alle sind mithin die
notwendigen Folgen wirkender Ursachen (nach dem allgemeinen
Kausalgesetz).
14. Die Massebewegungen der organischen Atome und Mole-
küle, deren Endresultat die Lebensformen sind, gehen immer aus
von den niemals fehlenden, sehr beweglichen und veränderlichen
Eiweißverbindungen, welche die „aktive" organische Materie oder
das Plasma, den ..Lebensstoff" im engeren Sinne bilden.
II. Thesen von der organischen Individualität.
15. Jeder einzelne Organismus als lebendige Masseneinheit
erscheint in der Form einer einheitlich abgeschlossenen und selbst-
ständigen Raumgröße, welche ganz oder teilweise von festflüssiger
organischer Materie gebildet wird und eine einheitliche Summe von
Leistungen (Lebenserscheinungen) ausführt.
16. Jeder einzelne Organismus, vom morphologischen Stand-
punkte aus betrachtet und bloß hinsichtlich seiner formellen Indivi-
dualität als Einheit untersucht, erscheint als ein morphologisches
Individuum oder Morphon.
17. Jeder einzelne Organismus, vom physiologischen Stand-
punkte aus betrachtet und bloß hinsichtlich seiner funktionellen
Individualität als Lebenseinheit untersucht, erscheint als physiologi-
sches Individuum oder Bion.
18. Das Bion oder das physiologische Individuum als Lebens-
einheit ist an ein materielles Substrat gebunden, welches entweder
ein einziges einfaches morphologisches Individuum oder ein einheit-
licher Komplex (Synusie. Kolonie) von zwei oder mehreren, innig
verbundenen einfachen morphologischen Individuen ist.
19. Jeder einheitliche Komplex (Synusie oder Kolonie) von
zwei oder mehreren, innig verbundenen einfachen morphologischen
Individuen, welcher ein natürliches Ganzes, eine selbständige Form-
einheit bildet, ist als ein morphologisches Individuum zweiter oder
höherer Ordnung zu betrachten.
20. Alle morphologischen Individuen, welche im Tierreiche, im
XI. Tektologische Thesen. 141
Protistenreiclie, und im Pflanzenreiche als materielle Substrate der
Bionten, als Träger der einheitlichen Lebenserscheinungen auf-
treten, lassen sich in sechs subordinierte Stufen oder Ordnungen
gruppieren, welche wir. von unten nach oben aufsteigend, mit
folgenden morphologisch bestimmten Ausdrücken bezeichnen : 1) das
Plasmastück (Plastis): 2) das Werkstück (Organen): 3) das Gegen-
stück (Antimeros): 4) das Folgestück (Metameros): b) die Person
(Prosopon): 6) der Stock (Cormos).
21. Jede einzelne Formeinheit höherer Ordnung ist eine Viel-
heit (Synusie oder Kolonie) von mehreren vereinigten Formein-
heiten der vorhergehenden niederen Ordnungen.
22. Nur die Plastide (entweder Cytode oder Zelle), als das
morphologische Individuum erster und niederster Ordnung, ist dem-
nach ein wirkhch einfaches Formindividuum: alle übrigen mor-
phologischen Individuen (zweiter bis sechster Ordnung) sind stets
zusammengesetzte Individuen oder Kolonien (Synusien, Komplexe).
III. Thesen von den einfachen organischen Individuen.
23. Die Plastide oder das Plasmastück, als das einzige ein-
fache organische Individuum, ist das allgemeine P'ormelement aller
Organismen, die gemeinsame Grundlage aller Protisten, Tiere und
Pflanzen ohne Ausnahme.
24. Jede lebende Plastide ohne Ausnahme besteht aus einem
zusammenhängenden Stücke einer festflüssigen Eiweißverbindung
(Plasma), welche den eigentlich aktiven Lebensstoff repräsentiert,
indem sie in beständiger chemischer Umsetzung begriffen ist, und
dadurch die Lebensbewegungen veranlaßt.
25. Alle die endlos mannigfaltigen und verschiedenartigen mor-
phologischen und physiologischen Eigenschaften der Organismen
sind lediglich die unmittelbaren oder mittelbaren Wirkungen der
endlos mannigfaltigen und verschiedenartigen atoni istischen Zu-
sammensetzung der Eiweißverbindungen, welche als indi\dduelle
Plasmaklumpen das Plasma der Piastiden bilden.
26. In allen Piastiden ist das Plasma entweder der einzige
aktive Bestandteil (das ..Lebenselement"), oder es hat sich im Innern
des Plasma ein zweiter aktiver Bestandteil aus demselben differenziert.
der Kern oder Nucleus, welcher aus einer von dem Plasma verschie-
denen Eiweißverbindung besteht.
142 Tektologische Thesen. XL
27. Die Zellen (als IMastiden mit Plasma und Kern) sind dem-
nach als eine höhere Entwickelungsstufe, von den unvollkommeneren
Cytoden (den einfachen Plasmaklumpen ohne Kern) zu unter-
scheiden.
28. Alle Fornibestandteile der Piastiden, und also der Organis-
men überhaupt (als einfacher Piastiden oder Plastidenkomplexe),
welche nicht aktives Plasma oder aktiver Kern sind, werden als
passive oder sekundäre von jenen aktiven oder primären Plastiden-
teilen gebildet, entweder äußerlich (Zellenmembranen und Intercellu-
larsubstanzen) oder innerlich (innere Plasmaprodukte).
IT. Thesen von den zusaninieny:esetzten organischen Individuen.
29. x-Mle morphologischen und physiologischen Eigenschaften
der zusammengesetzten organischen Individuen (zweiter bis
sechster Ordnung) sind die notwendige Wirkung der sie kon-
stituierenden einfachen Individuen (Piastiden) und zwar in letzter
Instanz ihrer aktiven Bestandteile (Plasma und Kern).
30. Die Komposition der zusammengesetzten Individuen aus
Aggregaten von einfachen Individuen erfolgt in den Organismen aller
drei Reiche (Tiere, Protisten und Pflanzen) nach denselben einfachen
Gesetzen.
31. Das Organ (in rein morphologischem Sinne, als das mor-
phologische Individuum zweiter Ordnung) ist ein Komplex von zwei
oder mehreren vereinigten Piastiden (Cytoden oder Zellen).
32. Das Antimer oder der homotype Stückteil ist ein Komplex
von zwei oder mehreren vereinigten Organen.
33. Das Metamer oder der homodyname Stückteil ist ein
Komplex von zwei oder mehreren vereinigten Antimeren.
34. Die Person oder das Prosopon (Histonal) ist ein Komplex
von zwei oder mehreren vereinigten Metameren.
35. Der Stock oder Cormus ist ein Komplex von zwei oder
mehreren vereinigten Histonalen (Blasten oder Personen).
V. Thesen von der physiologischen Individualität.
36. Jede bestehende Art oder Spezies von Organismen ist
aus allen physiologischen Individuen zusammengesetzt, welche unter
nahezu gleichen Verhältnissen oder doch unter sehr ähnlichen
XI. Tektologische Thesen. 143
Existenzbedingungen eine nahezu gleiche oder doch sehr ähnHche
Fornienreihe während ihrer individuellen Entwickelung durchlaufen.
37. Für jede Art oder Spezies von Organismen ist die Stufe
der morphologischen Individualität, welche das vollständig reife und
ausgebildete physiologische Individuum repräsentiert, eine konstante,
w^elche wir mit dem Ausdruck des aktuellen Bion bezeichnen.
38. WirkHch einfache Organismenspezies können bloß die Mono-
plastiden genannt werden, d. h. diejenigen Arten, bei welchen das
aktuelle Bion sowohl, als alle Entwickelungsstadien desselben, den
Formenwert einer einzigen Plastide (entweder einer Cytode oder
einer Zelle) besitzen.
39. Alle Organismenarten, welche als aktuelle Bionten aus zwei
oder mehreren Piastiden zusammengesetzt sind, und demgemäß den
Formwert eines morphologischen Individuums zweiter bis sechster
Ordnung haben, können als zusammengesetzte Organismenspezies
oder Polyplastiden bezeichnet werden.
40. Alle Organismen, welche als aktuelle Bionten durch morpho-
logische Individuen zweiter bis sechster Ordnung dargestellt werden
(also alle zusammengesetzten Organismenspezies), durchlaufen während
ihrer individuellen Entwickelung die vorhergehenden niederen
Individualitätstufen, von der ersten an.
41. So lange das Bion sich auf einer morphologischen Indivi-
dualitätsstufe befindet, welche niedriger ist, als diejenige, welche es
später als aktuelles Bion erreicht, muß dasselbe entweder als virtu-
elles oder als partielles Bion bezeichnet werden.
42. Als virtuelles oder potentielles Bion muß das physiologi-
sche Individuum unterschieden werden, wenn dasselbe die Fähigkeit
besitzt, sich zu der höheren morphologischen Individualitätsstufe
zu entwickeln, welche dem aktuellen Bion seiner Spezies eigentüm-
lich ist.
43. Als partielles oder scheinbares Bion dagegen muß das
physiologische Individuum angesehen werden, wenn es zwar die
Fähigkeit besitzt, als selbständige Lebenseinheit längere oder kürzere
Zeit zu existieren, nicht aber sich zu der morphologischen Indivi-
dualitätsstufe zu entwickeln, welche dem aktuellen Bion seiner Spezies
eigentümlich ist.
44. Sowohl die aktuellen, als die virtuellen, als die partiellen
Bionten können als materielles Substrat jede der sechs morpho-
logischen Individualitätsordnungen haben.
144 Tektologische Thesen. XL
45. Alle physiologischen Individuen, gleichviel welche morpho-
logische Individualitätsoidnung ihr materielles Substrat bildet, sind
in allen ihren Leistungen und Formverhältnissen auf die morpholo-
gischen Individuen erster Ordnung, die Piastiden (Cytoden und
Zellen) als „Elementarorganismen"' zurückzuführen, da jedes Bion
entweder selbst eine einfache Plastide (Monoplastis) oder ein Aggre-
gat (Synusie, Kolonie) von mehreren Piastiden ist (Polyplastis).
46. Sämthche physiologische und morphologische Eigenschaften
eines jeden polyplastiden Organismus erscheinen mithin als das
notwendige Gesamtresultat aus den physiologischen und morpholo-
gischen Eigenschaften aller Piastiden, welche ihn zusammensetzen.
VI. Thesen von der tektologisclien DifFerenzierung und
Zentralisation.
47. Die Struktur oder der Körperbau (die innere Form) der
Organismen ist das Verhältnis der einzelnen konstituierenden Bestand-
teile der Organismen zueinander und zum Ganzen.
48. Bei den monoplastiden Organismen, welche als aktuelle
Bionten stets auf der ersten morphologischen Individualitätsstufe stehen
bleiben, ist die Struktur durch das Verhältnis der (aktiven) konsti-
tuierenden Plasmamoleküle und der von ihnen produzierten anderen
(passiven) Stoff moleküle zueinander und zum Ganzen bestimmt.
49. Bei den polyplastiden Organismen hingegen, welche als
aktuelle Bionten die zweite oder eine noch höhere morphologische
Individualitätsstufe erreichen, ist die Struktur durch das Verhältnis
bestimmt, welches die konstituierenden morphologischen Individuen
von allen untergeordneten, und in letzter Instanz von der ersten
Individualitätsstufe zueinander und zum Ganzen einnehmen.
50. Die verschiedenen Grade der morphologischen Vollkommen-
heit, welche die verschiedenen Organismenarten zeigen, sind teils
durch ihre tektologischen, teils durch ihre promorphologischen Eigen-
schaften bedingt, also weder allein durch die Struktur, noch allein
durch die Grundform.
51. Die verschiedenen Grade der Vollkommenheit der Organis-
men sind, insofern sie unmittelbar auf den Struktur- Verhältnissen
beruhen, durch mehrere verschiedene tektologische Momente bestimmt,
welche wesentlich auf dem gegenseitigen Verhältnis der aggregierten
morphologischen Individuen verschiedener Ordnung zueinander und
zum Ganzen beruhen.
XI. Tektologische Thesen. 145
52. Der Organismus ist um so vollkommener, je höher der
morphologische Individualitätsgrad ist, zu welchem er sich erhebt,
je größer also die Zahl der untergeordneten Individualitätsstufen ist.
welche ihn zusammensetzen.
53. Der Organismus ist. falls er aus gleichartigen Piastiden zu-
sammengesetzt ist. um so vollkommener, je größer die Anzahl
der konstituierenden Piastiden ist.
54. Der Organismus ist, falls er aus ungleichartigen Piastiden zu-
sammengesetzt ist. um so vollkommener, je ungleichartiger die konsti-
tuierenden Piastiden sind (Gesetz der Differenzierung der Piastiden).
55. Jede morphologische Individualität irgendeiner Ordnung ist um
so vollkommener, je ungleichartiger die in Mehrzahl vorhandenen Indi-
viduen der nächst tieferen Ordnung sind, welche sie konstituieren, je
größer also deren Polymorphismus (Arbeitsteilung. Differenzierung) ist.
56. Der Organismus ist um so vollkommener, je abhängiger die
gleichartigen Individualitäten, welche ihn zusammenzetzen, vonein-
ander und vom Ganzen sind, und je mehr also der ganze Organis-
mus zentralisiert ist. und alle subordinierten Indi^^dualitäten beherrscht
(Gesetz der Zentralisation).
57. Jedes einzelne Formindividuum irgend einer Ordnung ist
dagegen um so vollkommener, je unabhängiger dasselbe von seinen
koordinierten Genossen (den anderen Formindividuen derselben Ord-
nung) und je unabhängip,er es zugleich von dem übergeordneten
Ganzen ist (Gesetz der individuellen Autonomie).
58. Der Organismus ist um so vollkommener, je höher zwischen
allen untergeordneten IndividuaHtäten, welche ihn zusammensetzen,
der Grad der Arbeitsteilung und der Grad der Wechselwirkung
ist, je größer mithin die Differenzierung und die Zentralisation des
ganzen Organismus ist.
yil. Thesen von der Yollkoninienheit der yerscliiedenen
Individualitäten.
59. Die Formindividuen erster Ordnung, die Piastiden (Cytoden
und Zellen), sind allgemein um so vollkommener, je größer die An-
zahl der konstituierenden Plasmamoleküle ist, je differenter ihre
atomistische Zusammensetzung und folglich ihre physiologische Funk-
tion ist, je abhängiger mithin dieselben voneinander und von der
ganzen Plastide sind, und je mehr die ganze Plastide zentralisiert
und. von dem etwa übergeordneten Organe unabhängig ist.
Ha ecke!. Prinz, d. ilorphol. 10
146 Tektologische Thesen. XL
60. Die Formindividuen zweiter Ordnung, die Organe, sind
allgemein nm so vollkoniniener, je größer die Anzahl ihrer konsti-
tuierenden Piastiden ist. je differenter deren chemische Znsammen-
setzung und folglich auch ihre physiologische Funktion ist. je abhän-
giger mithin die Piastiden voneinander und vom ganzen Organ sind,
und je mehr das ganze Organ zentralisiert und von dem etwa über-
geordneten Antimer unabhängig ist.
61. Die Formindividuen dritter Orchning oder Antimeren sind
allgemein um so vollkommener, je größer die Anzahl der konstituie-
renden Organe, je differenter deren histologische Zusammensetzung,
imd folglich auch ihre physiologische Funktion ist. je abhängiger
mithin die Organe voneinander und vom ganzen Antimer sind, und
je mehr das ganze Antimer zentralisiert und von dem etwa über-
geordneten Metamer unabhängig ist.
62. Die Formindividuen vierter Ordnung, die Metameren oder
Folgestücke, sind allgemein um so vollkommener, je differenzierter,
je ungleichartiger ihre homotypische, organologische und histologische
Zusammensetzung, und folglich auch je vielseitiger ihre physiologi-
sche Funktion ist, je abhängiger mithin die konstituierenden Plasti-
den. Organe und Antimeren voneinander und vom ganzen Metamer
sind, und je mehr das ganze Metamer zentralisiert und von der
etwa übergeordneten Person unabhängig ist.
63. Die Formindividuen fünfter Ordnung, die Personen oder
Histonalen, sind allgemein um so vollkommener, je differenzierter,
je ungleichartiger ihre homodyname. homotypische, organologische
und histologische Zusammensetzung, und folglich auch je vielseitiger
ihre physiologische Funktion ist, je abhängiger mithin die konstituie-
renden Piastiden, Organe, Antimeren und Metameren voneinander
und vom ganzen Histonal sind, und je stärker die ganze Person
zentralisiert und von dem etwa übergeordneten Stocke unabhängig ist.
64. Die Formindividuen sechster Ordnung, die Stöcke oder
Cormen, sind allgemein um so vollkommener, je differenzierter, je
ungleichartiger ihre prosopologische, homodyname, homotypische,
organologische und histologische Zusammensetzung, und folglich auch
je vielseitiger ihre physiologische P'unktion ist. je abhängiger mithin
die konstituierenden Piastiden, Organe, Antimeren, Metameren und
Personen (Sprosse) voneinander und vom ganzen Stocke sind, und
je stärker also der ganze Stock zentralisiert ist.
VIERTES BUCH.
ZAVEITER TEIL DER ALLGEMEINEN ANATOMIE.
GENERELLE PROMORPHOLOGIE ODER
ALLGEMEINE GRUNDFORMENLEHRE DER ORGANISMEN.
(STEREOMETRIE DER ORGANISMEN.)
Beiuerkiiug-en zum vierten Buche (1906).
Die Gnmdfornienlehre oder Promorphologie behandehe im 12. Kapitel Be-
griff und Aufgabe dieser Wissenschaft (S. 375 — 399). im 13. Kapitel das neue
System der organischen Grundformen (S. 400 — 527), im 14. Kapitel die Grund-
formen der sechs Individualitätsordnungen (S. 528 — 539); im 15. Kapitel waren
die Ergebnisse dieser promorphologischen Untersuchungen in 95 Thesen zu-
sammengefaßt. Dazu kam dann noch ein Anhang von 5 Tabellen und die Er-
klärung der beiden promorphologischen Tafeln (S. 554 — 574).
Dieser ganze Teil der Morphologie gehört zu denjenigen, welche in weiteren
Kreisen wenig Interesse finden; man begnügt sich gewöhnlich noch heute mit
der Unterscheidung von drei Symmetrieverhältnissen: Regulären, Bilateralen und
Irregulären Formen. Die schärfere Unterscheidung und mathematische Präzision
zahlreicher Gruppen von Grundformen, die ich hier (1866) zuerst gegeben hatte,
ist nur selten berücksichtigt worden. Da zum klaren Verständnisse dieser
schwierigen promorphologischen Fragen zahlreiche Abbildungen erforderlich sind,
habe ich hier jetzt auf ihre eingehende Erörterung verzichtet. Ich verweise auf
die ausführliche Begründung, die ich inzwischen (unter Verwendung zahlreicher
Figuren) in zwei anderen Werken gegeben habe: I. Grundriß einer Allge-
meinen Naturgeschichte der Radiolarien (Berlin, Georg Reimer. 1887,
S. 8—20. mit 64 Tafeln). II. Kunstformen der Natur, Supplement-Heft:
Grundformen der Organismen. S. 9 — 49. 100 Tafeln. (Leipzig. Bibliogr. Institut.)
10*
„Freudig war seit vielen Jahren
Eifrig so der Geist bestrebt,
Zu erforschen, zu erfahren,
Wie Natur im Schaffen lebt.
Und es ist das ewig Eine,
Das sich vielfach offenbart:
Klein das Große, groß das Kleine,
Alles nach der eignen Art,
Immer wechselnd, fest sich haltend,
Nah und fern, und fern und nah
So gestaltend, umgestaltend —
Zum Erstaunen bin ich da."
Goethe.
Zwölftes Kapitel.
Begriff und Aufgabe der Promorpliologie.
„W?s man au der Natur GeheiniuisvoUes pries
Das wagen wir verständig' zu probieren,
Und was sie sonst org^anisieren ließ.
Das lassen wir kristallisieren."
Goe the.
I. Die Promorpliologie als Lehre von den organischen
Grundformen.
Die Proraorphologie oder Gruiidformenlehre der Orga-
nismen ist die gesamte Wissenschaft von der äußeren Form
der organischen Individuen, und von der stereometrischen
Grundform, welche derselben zugrunde liegt, und auf deren
Erkenntnis durch Abstraktion sich jede wissenschaftliche Darstellung
einer organischen Form stützen muß. Die Aufgabe der organischen
Promorphologie ist mithin die Erkenntnis und die Erklärung der
organischen individuellen Gesamtform durch ihre stereometrische
Grundform d. h. die Bestimmung der idealen Grundform durcli Ab-
straktion aus der realen organischen Form, und die Erkenntnis der
bestimmten Naturgesetze, nach denen die organische Materie die
äußere Gesamtform der organischen Individuen bildet.
Begriff und Aufgabe der organischen Promorphologie, wie wir
sie hier feststellen, sind bisher noch nicht Gegenstand von ein-
gehenden morphologischen Untersuchungen gewesen. Die Vorwtü'fe.
welche die meisten Zoologen und Botaniker hinsichtlich der allge-
meinen Vernachlässigung der Tektologie verdienen, gelten in noch
höherem Maße hinsichtlich der Promorphologie. Nur sehr wenige
Naturforscher haben versucht, in der scheinbar gesetzlosen und ganz
unberechenbaren Formenmannigfaltigkeit des Tier- und Pflanzen-
reichs nach der Erkenntnis allgemeiner Gesetze zu streben, nach
denen diese Formen gebiklet sind. Nur einzelne haben den wenig
150 Begriff und Aufgabe der Promorphologie. Xll.
berücksichtigten Versuch gemacht, mathematisch bestimmbare Grund-
formen aufzufinden, welche die notwendige Gesetzhchkeit auch in
den komphziertesten Bildungen der organischen Naturkörper ver-
raten; aber auch diese sind meistens bald vor den großen Schwierig-
keiten zurückgeschreckt, welche einer mathematischen Erkenntnis
der organischen Formen entgegenstehen, und welche bei jedem
tieferen Eindringen in das Rätsel ihrer höchst komplizierten Bildungen
die erstere unmöglich erscheinen lassen.
Die anorganische Morphologie ist in dieser Beziehung der
organischen unendhch voraus. Derjenige Wissenschaftszweig, welcher
dort der organischen Promorphologie entspricht, ist die Kristallo-
graphie, und es ist bekannt, welchen hohen Grad wissenschaft-
licher A^ollendung, vorzüglich durch strenge Anwendung der rein
mathematischen Methode, diese „Promorpliologie der Anorgane"
erlangt hat. Von der Kristallographie lernen wir. daß die Erkennt-
nis des Wesens der Form nicht durch die bloße Beschreibung der
realen Form des Individuums, sondern durch die Konstruktion seiner
idealen Grundform gewonnen wird. Der wissenschaftlichen Minera-
logie genügt nicht die genaueste äußerliche Beschreibung eines
individuellen Kristalles, wenn nicht das Verhältnis seiner verschie-
denen Achsen und deren Pole zueinander erörtert und daraus die
ideale stereometrische Grundform des Kristalles, sein ..System"
erkannt ist. Bei den Organismen dagegen begnügt man sich fast
allgemein mit der bloßen Beschreibung entweder der äußeren Ober-
flächen oder der inneren Struktur, und vernachlässigt die ideale
stereometrische Grundform, w^elche auch hier unter der verwickelten
individuellen Form verborgen liegt, entweder gänzlich: oder glaubt
genug getan zu haben, w^enn man sie entweder als „bilateral-sym-
metrische" oder als „radial-reguläre" bezeichnet.
Wir befinden uns also hier beim Eintritt in die Promorpliologie
in der seltsamen Lage, die Wissenschaft, deren Grundzüge wir dar-
stellen wollen, nicht allein in den ersten embryonalen Anfängen
schlummernd, sondern sogar nicht einmal als selbständige indivi-
duelle Disziplin anerkannt zu finden. Die Promorphologie der
Organismen, welche nach unserer Überzeugung ein so wichtiger
Bestandteil der organischen Morphologie ist. daß wir ihn sogar der
Tektologie als anderen ebenbürtigen Hauptzweig der Anatomie gegen-
überstellen, ist in der Tat als solcher bisher noch von keinem Natur-
forscher anerkannt, und selbst von den wenigen denkenden Männern,
XII. n. Begriff der organischen Grundformen im allgemeinen. 151
welche ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandten, nicht in gehörigem
Maße kultiviert und hervorgehoben worden.
Wenn wir daher im folgenden die Fundamente der organischen
Promorphologie für die "gesamte Formenwelt der drei organischen
Reiche festzustellen versuchen, so haben wir nicht allein mit der
großen Schwierigkeit des Gegenstandes an sich zu kämpfen, sondern
in noch höherem Maße mit den Vorurteilen der Zeitgenossen, welche
größtenteils diesem ersten Versuche einer „organischen Stereo-
metrie" in erhöhtem Maße die Ungunst der Beurteilung zuwenden
werden, die unsere morphologischen Reformversuche überhaupt zu
erwarten haben. Es erscheint deshalb notwendig, ehe wir die bis-
her unternommenen promorphologischen Versuche überblicken, den
Begriff der organischen Grundform selbst, wie er uns persönlich
vorschwebt und im folgenden speziell untersucht ist, in seiner all-
gemeinen Bedeutung kurz zu erörtern und festzustellen.
II. Begriff der organisclien Ofrimdform im allgemeinen.
Unter organischer Grundform oder Promorphe verstehen wir
allgemein denjenigen mathematischen Körper, welcher der äußeren
Form jedes organischen Individuums erster bis sechster Ordnung
zugrunde liegt, und welcher mit dieser letzteren in allen wesent-
lichen Verhältnissen der formbestimmenden Körperachsen und ihrer
beiden Pole übereinstimmt. Die ideale stereometrische Grundform
sowohl als die reale Form des organischen Individuums, in welcher
die erstere verkörpert ist, sind also lediglich durch ihre fest be-
stimmten Achsen und deren beide Pole erkennbar und einer mathe-
matischen Bestimmung fähig. Mithin sind nur diejenigen organi-
schen Individuen von dieser stereometrischen Erkenntnis ausge-
schlossen, bei denen wegen absoluten Mangels jeder bestimmten
Achse auch eine stereometrische Grundform nicht ausgesprochen ist,
näniHch die absolut unregelmäßigen oder amorphen Gestalten, welche
wir in der Formengruppe der Achsenlosen (Anaxonia) zusammen-
fassen. Die ..achsenlosen" organischen Individuen verhalten sich zu
der großen Mehrzahl der „achsenfesten'' oder Axoiiia ebenso, wie die
amorphen Anorgane zu den Kristallen.
Die ideale stereometrische Grundform, welche wir in jedem
realen organischen Formindividuum erster bis sechster Ordnung ver-
körpert finden, ist eine absolut bestimmte, eine vollkommen kon-
1^2 Begriff und Aufgabe der Proiiiorphologie. Xll.
stallte uiul daher gesetzmäßige. In dieser Konstanz der idealen
stereometrisclien Grundform, d. h. in ihrem notwendigen kausalen
Zusammenhange mit den formbildenden Ursachen der realen organi-
schen Form, kurz in ihrer Gesetzmäßigkeit, liegt der hohe Wert, den
dieselbe für eine wissenschaftliche Erkenntnis und Darstellung der
realen organischen Formen besitzt. Es wird nämlich dadurch mög-
lich, alle wesentlichen Fprmverhältnisse jedes organischen Körpers
durch den einfachsten Ausdruck mit mathematischer Sicherheit zu
bezeichnen. Die einfache Angabe der stereometrischen Grundform
jedes morphologischen Individuums genügt vollkommen, um alle
charakteristischen Formeigenschaften desselben mit einem einzigen
Wort zu bezeichnen, an welches danfl die Beschreibung der äußeren
Einzelheiten sicli ohne Mühe anschließen läßt. In dieser Beziehung
ist die Promorpliologie der wahre mathematische Grundstein der
mechanischen Morphologie der Organismen im allgemeinen und der
deskriptiven Morphographie im besonderen.
Die Form jedes Körpers, als die Summe aller äußeren Grenz-
flächen. Grenzlinien und Grenzwinkel desselben, ist im allgemeinen
nichts anderes als dasLagerungsverhältnis derkonstituierenden Bestand-
teile des Körpers, oder, genauer ausgedrückt, das Resultat aus der
Zahl und Größe, der gegenseitigen Lagerung und Verbindung, der
Gleichheit oder Ungleichheit aller konstituierenden Bestandteile des
Körpers. Wenn wir nun diese allgemeine Definition der Form jedes
Körpers auf die ideale organische Grundform übertragen, welche
einem morphologischen Individuum bestimmter Ordnung zugrunde
liegt, so zeigt sich auch diese wesentlich als das notwendige Resul-
tat der Zahl und Größe, Lagerung' und Verbindung, Gleichheit oder
Ungleichheit der konstituierenden Formbestandteile, d. h. zunächst
der morphologischen Individuen der nächst niederen Ordnung. Schon
hieraus ist klar, daß die stereometrische Grundform jedes morpho-
logischen Individuums nicht bloß aus der Oberflächenbetrachtung
seines Äußeren erkannt werden kann, daß vielmehr dazu eine voll-
ständige Erkenntnis seiner inneren Zusammensetzung aus den sub-
ordinierten Formindividuen niederer Ordnung unentbehrlich ist. Ob-
gleich also die Promorphologie wesentlicli die Aufgabe hat. die
äußere Forin jedes gegebenen morphologischen Individuums geome-
trisch zu erklären, kann sie diese Aufgabe doch nur lösen durch
die vorhergegangene tektologische Erkenntnis seiner inneren Form,
seiner Struktur. Aus diesem Grunde muß also stets die tektologi-
XII. III. Verschiedene Ansichten über die organischen Grundformen. 153
sehe Erkenntnis jedes oroanisclien Fonnindivicluums seiner pronior-
phologischen voransgehen.
Die organische Grundform ist also keineswegs eine willkürliche
Abstraktion, welche wir durch beliebige Hervorheining oder willkür-
liche Ergänzung einzelner Begrenzungsflächen. Linien oder Winkel
des organischen Körpers erhalten, sondern sie ist der notwendige
und unveränderliche Ausdruck des konstanten Lagerungsverhältnisses
aller konstituierenden Bestandteile der organischen P'orm zueinander
und zum Ganzen. Jedes organische Formindividuum besitzt also in
jedem gegebenen Zeitmomente nur eine einzige konstante geometri-
sche Grundform.
III. Terseliiedeue Aiisicliteu über die orgaiiiselieii Onuidfornieii.
Die allgemeine Existenz konstanter stereometrischer Grundformen
in allen realen morphologischen Individuen ist bisher nicht in dem
Sinne, wie wir soeben bestimmt haben, anerkannt worden. Zwar
haben einige wenige denkende Morphologen. unter denen namentlich
Bronn. Johannes Müller. Burmeister. G. Jäger hervorzuheben
sind, versucht, die verwickelten Tierformen auf einfache geometrische
Grundformen zurückzuführen. Indessen galt es doch bei der Mehr-
zahl der organischen Morphologen. und zwar bei den Botanikern
noch mehr, als bei den Zoologen, als feststehendes Dogma, daß eine
solche Reduktion entweder gar nicht oder nur in höchst beschränktem
Maße möglich sei. Vergleicht man in dieser Beziehung die ein-
leitenden Bemerkungen, welche selbst die besseren zoologischen und
botanischen Lehrbücher über die allgemeine Form der Tiere und
Pflanzen geben, so wird man meistens weiter nichts finden, als die
kurze Angabe, daß der Körper der Organismen, sow^ohl der Tiere
als der Pflanzen, von höchst komplizierten gekrümmten Flächen und
krummen Linien begrenzt werde, während die reinen Formen der
anorganischen jMaturkörper, der Kristalle, sich durch ebene Flächen
und gerade Linien scharf unterscheiden sollen. Es wird sogar diese
Differenz als eine der wesenthchsten aufgeführt, welche die beiden
großen Hauptabteilungen der Naturkörper, organische und anorgani-
sche, trennen; auch wird oft noch hinzugefügt, daß eine mathema-
tische Bestimmung der Form, eine Reduktion auf einfache geometri-
sche Grundformen, wie sie bei den Kristallen so leicht durchzuführen,
und Aufgabe der Kristallographie sei. bei den Tieren und Pflanzen
auf unüberwindHche Hindernisse stoße. Entweder sollen geometrisch
154 Begriff und Aufgabe der Promorphologie. XIL
I
reine Formen, wie die meisten Kristalle (aber auch nur annähernd !)
darstellen, im Organismus gar nicht vorkommen, oder ihre Regel-
mäßigkeit soll sieh darauf beschränken, daß die eine Gruppe der
Formen symmetrisch oder bilateral, d. h. aus zwei gleichen Hälften
zusammengesetzt, die andere Gruppe dagegen regulär oder radial,
d. h. aus mehr als zwei gleichen Stücken zusammengesetzt sei.
Dementsprechend werden sämtliche organische Formen von den
meisten Morphologen in drei große Gruppen gebracht: I. absolut
unregelmäßige Formen (nicht halbierbar): IL regelmäßige (oder
strahlige) Formen (in zwei oder mehreren Richtungen halbierbar);
III. symmetrische (oder zweiseitige) Formen (nur in einer einzigen
Richtung halbierbar).
Am wenigsten hat bisher die Frage nach der stereoraetrischen
Grundform des Organismus die Botaniker beschäftigt, obschon in
vielen Pflanzen dieselbe überraschend rein und scharf ausgesprochen
ist, allerdings mehr in einzelnen Teilen (z. B. symmetrischen Blättern,
pyramidalen Früchten, tetraedrischen und dodecaedrischen Pollen-
zellen), als in ganzen Pflanzen höherer Formordnung. Schieiden
sagt bloß: „Regelmäßig nennt man bei der Pflanze solche Formen,
die sich mit vielen Schnitten durch eine angenommene Achse in
zwei gleiche Teile teilen lassen, symmetrisch dagegen solche, die
nur durch einen einzigen Schnitt in zwei gleiche Teile, die sich
dann wie rechte und linke Hand verhalten, geteilt werden können."
E. Meyer nennt die ersteren (die regulären Formen) konzentrische,
die letzteren ebenfalls symmetrische, und unterscheidet als eine
dritte Form die diaphori sehen (unseren Dysdipleura entsprechend),
bei welcher rechte und linke Hälfte einen organischen Gegensatz
(durch ungleiches Wachstum) bilden, durch welchen ihre Symmetrie
teilweis wieder aufgehoben wird. Auch Hugo von Mohl hat in
seiner Dissertation ..über die Symmetrie der Pflanzen" (1836) nur
diese drei verschiedenen Grundformen betrachtet und mit besonderer
Rücksicht auf ihre Beziehungen zum Wachstumc und zur Differen-
zierung (besonders bei den niederen Pflanzen) erläutert, obwohl seine
schönen Untersuchungen über den Pollen (1834) ihn hätten veran-
lassen können, die Frage auch von einem weiteren Gesichtspunkte
aus zu behandeln und namentlich die rein stereometrische Grund-
form vieler Zellen hervorzuheben. Er behandelt aber nur die Sym-
metrie des Thallus, des Stengels und Blattes und die allmählichen
Übergänge der symmetrischen einerseits in die regulären („konzen-
XII. IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie. 155
tiisclien") andererseits in die diapliorisclien (asymmetrischen, nnsere
dysdipleuren) Formen.
Weit allg'emeiner mid eingehender, als die Botaniker, haben sich
die Zoologen mit den organischen Grundformen hinsichtlich ihrer
Einteilung in irreguläre, reguläre und symmetrische beschäftigt. Hier
ist sogar vielfach die Ansicht verbreitet, daß man symmetrische oder
Bilateraltiere und reguläre oder Strahltiere als zwei Hauptgrundformen
des Tierreiches unterscheiden könne. Zu den bilateralen oder sym-
metrischen Tieren, bei denen der Körper aus zwei gleichen oder
ähnlichen Teilhälften besteht, werden von den meisten Zoologen die
drei Stämme der Vertebraten, Articulaten und Mollusken gerechnet,
zu den regulären oder strahligen Tieren dagegen, bei denen der
Körper aus drei oder mehr gleichen Teilen besteht, die beiden
Stämme der Echinodermen und Coelenteraten. Einige Autoren stellen
zu den Strahltieren als einen dritten Stamm auch noch die bunte
Kollektivgruppe der „Protozoen", während andere die Gruppe der
Strahltiere auf die Echinodermen und Coelenteraten beschränken und
die Protozoen als eine dritte, unregelmäßige oder unsymmetrische
Gruppe des Tierreiches aufstellen, bei welcher gleiche Teile über-
haupt nicht zu unterscheiden seien. Eine weitere Unterscheidung
von tierischen Grundformen, als diese zwei oder drei, ist gewöhnlich
nicht zu finden, ebensowenig eine ausführlichere Erörterung der
wichtigen Unterschiede, welche diese Differenzen im ganzen Körper-
bau bedingen. Von den meisten Zoologen wird diese Frage, welche
die wichtigsten Grundsätze der allgemeinen Morphologie berührt, und
die ganze Auffassung der organischen Form wissenschaftlich regu-
lieren muß, vielmehr als eine gleichgültige Nebensache vernachlässigt.
IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie.
Die Forderung, daß die organische Morphologie die allein
absolut sichere Methode der mathematisch-philosophischen Erkennt-
nis einzuschlagen und daß sie insbesondere auch die Betrachtung
der organischen „Form an sich*' nach dieser stereometrischen Methode
zu beginnen habe, ist schon wiederholt und mit Recht von denken-
den Naturforschern gestellt und von den vorher genannten auch zu
erfüllen versucht worden. Insbesondere hat die neuere Physiologie,
seitdem sie den allein möglichen mechanisch-kausalen Weg bei Er-
forschung der dynamischen Lebensprozesse eingeschlagen hat, wieder-
\qQ Begriff und Aufgabe der Promoijihologie. XII.
holt die Notwendigkeit ausgesprochen, daß auch die organische
^rorpliologie bei Untersuchung der statischen Lebenssubstrate, der
organischen Formen, denselben Weg verfolgen müsse. Indessen
erschien diese Forderung immer ebenso leicht ausgesprochen, als
schwer zu erfüllen. Der theoretischen Notwendigkeit schien sich
stets die praktische Unmöglichkeit gegenüber zu stellen.
Der Grund dieser Erscheinung liegt nach unserer Ansicht
wesentlich darin, daß mau meistens nicht nach einer Erkenntnis der
stereometrischen Grundform, sondern nach einer absoluten mathe-
matischen Erkenntnis der gesamten äußeren Form des Organismus,
nach einer genauen Ausmessung und Berechnung aller Einzelein-
heiten seiner Oberfläche strebte. Diese ist aber in der Tat entweder
(in den meisten Fällen) ganz unmöglich, oder da. wo sie ausführbar
ist. von ganz untergeordnetem Werte. Die Gründe dafür liegen teils
in der absoluten und unbegrenzten Variabilität der Organismen, teils
in ihrem festflüssigen Aggregatzustande. Wollte man dennoch eine
sorgfältige stereometrische Ausmessung und Berechnung aller der
unendlich verwickelten und vielfältig gekrümmten Flächen. Linien
und Winkel versuchen, welche auch die meisten einfacheren, fest-
flüssigen organischen Formen begrenzen, so würde eine derartige
geometrische Bestimnning weder von theoretischem Interesse noch
von praktischer Bedeutung sein. Auf eine solche absolute mathe-
matische Bestimmung der Oberflächenformen können wir daher,
namentlich auch angesichts der individuellen Ungleichheit und
Variabilität aller Organismen, vollständig verzichten.
Anders verhält sich die theoretische Bedeutung und der prak-
tische Wert der stereometrischen Grundform, deren Erkenntnis für
den organischen Morphologen dieselbe Wichtigkeit, wie für den
anorganischen Kristallographen besitzt. Diese ist wesentlich unab-
hängig von allen Einzelheiten der Oberflächenbegrenzung und richtet
ihr Augenmerk vor allen auf die formbestimmenden Achsen des
Körpers und deren Pole. Die Methode der Kristallographie zeigt
uns hier den allein möglichen und richtigen Weg. Kein Kristallo-
graph würde jemals zu der Aufstellung von einigen wenigen geome-
trischen Grundformen für die mannigfaltigen vielflächigen Kristall-
körper der Mineralien gelangt sein, wenn er bei der Betrachtung der
Kristallflächen stehen geblieben wäre und sich mit der, wenn auch
noch so sorgfältigen Ausmessung derselben begnügt hätte. Zur Ent-
deckung der einfachen Grundform des Kristalles oder seines „Systems"
•s^ll IV. Die Piomorphologie als organische Stereometrie. 157
gelangt vielmehr der Mineralog nur dadurch, daß er die idealen
Achsen des Kristallkörpers aufsucht, mit bezug auf welche sämt-
liche Teilchen desselben eine bestimmte Lagerung einnehmen, und
daß er die gleiche oder verschiedene Beschaffenheit dieser Achsen
und ihrer Pole erwägt.
Ganz ebenso muß auch der Morpholog zu AVerke gehen, der
einfache geometrische Grundformen für die unendliche Mannigfaltig-
keit der Tier- und Pflanzengestalten auffinden will, und gerade in
dieser vorwiegenden Berücksichtigung der Achsen des organischen
Naturkörpers und seiner Pole ist das Verdienst der bahnbrechenden
Arbeiten von Bronn und der späteren von Gustav Jäger zu suchen.
Wie die nachfolgenden Untersuchungen beweisen werden, führt eine
scharfe Erfassung der Achsen und ihrer Pole nicht allein sicher,
sondern auch einfach und leicht zu der Entdeckung der einfachen
geometrischen Grundform, der Urgestalt oder des Modells, des
organisierten Kristalls gewissermaßen, welcher der augenscheinlich
ganz unberechenbaren Gestalt der allermeisten Tier-, Protisten- und
Pflanzengestalten zugrunde liegt. Erst wenn diese mathematisch
bestimmte Grundform, dieses konstante „Kristallsystem" des organi-
schen Individuums gefunden ist, welches mit einem einzigen Worte
alle wesentlichen Grundverhältnisse der Gestalt ausspricht, kann sich
daran die wissenschaftliche Darstellung der individuellen Einzelheiten
der Form anschließen. Man mißt dann zunächst die Länge der ver-
schiedenen Achsen und den Abstand der einzelnen Oberflächenteile
von denselben und von ihren Polen, und kann so erforderlichenfalls
eine mathematisch genaue Beschreibung des Ganzen entwerfen.
Als eine der wichtigsten Ergebnisse, welche uns diese stereome-
trische Betrachtunosweise der organischen individuellen Form geliefert
^ö
hat, ist schon oben hervorgehoben worden, daß die herrschende
Ansicht von der fundamentalen morphologischen Differenz der anor-
ganischen und organischen Naturkörper ein unbegründetes Dogma
ist. Wenn in den meisten Handbüchern die Grundformen der
mineralischen Kristalle einerseits, die der Tiere tmd Pflanzen anderer-
seits als vollkommen und im Grunde verschieden bezeichnet werden,
so ist dies ganz irrig. Es gibt Organismen, insbesondere unter den
Rhizopoden. welche zwar nicht in der Flächenausbildung, wohl aber
in der die Flächenform bestimmenden Achsenbildung von regulären
Kristallen gar nicht zu unterscheiden sind. Ja es lassen sich sogar
unter den Radiolarien viele Tierformen nachweisen, deren ganzes
158 Begriff luul Aufgabe der Promorphologie. XII.
Skelet gewissermaßen weiter nichts als ein System von verkörperten
Kristallaclisen ist, nnd zwar gehören diese organisierten Kristall-
formen den verschiedenen Systemen an, welche anch der Mineralog
unterscheidet. So finden wir z. B. in Haliomma hexacanthum nnd
Adinomma drymodes das regnläre Hexaeder des tesseralen Kristall-
systems, in Acanthosfaurus hastafus und Astromma AristoteJls das
Quadratoctaeder des tetragonalen Kristallsystems, in Tetraji'/Jc octa-
cfüifha nnd Sfeplianastrujn rhomhus das Rhombenoctaeder des
rhombischen Kristallsystems vollkommen regulär verkörpert. Man
braucht bloß die Spitzen der betreffenden Achsen durch Linien zu
verbinden und durch je zwei benachbarte Linien eine Fläche zu
legen, um in der Tat die entsprechenden Octaederformen zu erhalten.
Wie w^r nun in diesen Fällen unmittelbar durch die objektive
Betrachtung in der organischen Gestalt eine einfache stereometrische
Grundform erkennen, welche nicht von derjenigen eines Kristall-
systems zu unterscheiden ist, so finden wir auch in den anderen
konkreten Gestalten der organischen Individuen (bloß die amorphen
Anaxonien ausgenommen) unmittelbar eine einfache stereometrische
Form als ideale Grundform durch die konstanten Beziehungen der
Achsen und ihrer Pole konstant ausgesprochen, und wir können
demnach in der Tat die Promorphologie als Stereometrie der Organis-
men ansehen. Die detaillierte Beschreibung jeder organischen Form
muß zunächst diese Grundform aufsuchen, die Maßverhältnisse ihrer
Achsen bestimmen und an dieses mathematische Skelet der Form
die Darstellung der Einzelnheiten überall anfügen.
Dreizelintes Kapitel.
System der organischen Griundformen.
^Dich im Unendlichen zu linden.
Mußt unterscheiden und dann verbinden."
Go etile.
I. Das promorphologische System als generelles
Formensystem.
Das System der Grundformen haben wir zunächst aufgestellt, um
dadurch eine geordnete Übersicht über die unendliche Fülle der gesetz- -
mäßig ge])ildeten organischen Formen zu gewinnen. Indem wir am
Schlüsse des vierten Buches, in diesem Anhange, die wichtigsten Kate-
gorien jener organischen Grundformen nochmals, nach verschiedenen Ge-
sichtspimkten geordnet, übersichtlich zusammenstellen, wollen wir nicht
unterlassen, den Hinweis darauf vorauszuschicken. dalJ unser Formen-
system auch noch einer weiteren Anwendmig fähig ist. Wie wir l)ereits
die Krystallformen und die charakteristischen Formen gewisser mensch-
licher kunstprodukte als ebenfalls innerhalb des Formenkreises unseres
Systems fallend nachgewiesen haben, wie auch die Sphaeroidform der
Weltkörper sich der (anepipeden) Haplopolenform unterordnet, so werden
Avir bei allgemeinerer Betrachtung desselben finden, daß überhaupt alle
verschiedenen Körperformen, welche in der Natur, und ebenso auch die
verschiedenen Formen der Kunstprodukte, welche in der Sphäre mensch-
licher Kunsttätigkeit entstehen, sich demselben einordnen lassen. Die
Erkenntnis der formbestimmenden Achsen und ihrer Pole wird uns auch
hier überall als erklärende Leuchte in dem unendlichen Chaos der realen
Formen dienen. So erkennen wir z. B. in den meisten Bewegungswerk-
zeugen zu Wasser und zu Lande die Eudipleurenform. in den meisten
Waffen (Gewehren etc.) die Dysdipleurenform, in den meisten Vasen die
Diphragmenform. in den meisten Bechern, Schüsseln. Glasgefäßen, Luft-
ballons etc. entweder die homostaure oder die diplopole Grundform wieder.
Der innige mechanische Zusannnenhang zwischen Form und Funktion ist
hier ebenso wie bei den organischen Formen in der Natur unverkennbar.
Es wird daher imser promorphologisches System nur weniger Ergänzungen
bedürfen, um als erklärender Führer bei der geordneten vergleichenden
Betrachtung sämtlicher Kih-performen überhaupt gute Dienste leisten zu
können. Wir hoffen, damit die Grundlage eines generellen Formen-
systems gegeben zu haben.
160 IJ- Übersicht der wichtigsten stereometrischen Grundformen. Xlll.
IL Übersicht der wichtigsten stereometrischen Grundformen
nacli ihrem verschiedenen Verhalten zur Körpermitte.
I. Organische (irundformen ohne geometrische Mitte. Acentra.
1. Anaxonia. SpungiUa-Form. Klumpen (Absolut irreguläre Form.)
II. Organische Grinulformen mit einem Mittelpunkt. CentrostJgma.
1. Homaxonia. Spliacrozoum-Form. Kugel.
2. Allopolyguna. lihizosphaera-Form. Endosphärisches Polyeder mit ungleich-
vieleckigen Seiten.
3. Isopolygona. EUimosphaera-Form. Endosphärisches Polyeder mit gleich-
vieleckigen Seiten.
4. Icosaedra. AHlosphacra-icosacdra-Fonn. Regidäres Icosaeder.
5. Dodecaedra. Bucholzia-Pollen-Form (Bucholzia maritima etc.). Reguläres
Dodecaeder.
6. Octaedra. Chara-Antheridien-Form. Reguläres Octaeder.
7. Hexaedra. Hcxaedroinma-Form {kci\nommi\ drymodes). Reguläres Hexaeder.
8. Tetraedra. Corij dal in- Pollen- Form (Corydalis sempervirens etc.). Reguläres
Tetraeder.
III. Organische Grundformen mit einer Mittellinie (Achse). Centraxonia.
1. Haplopola anepipeda. Coccodiscus-Foriti. Sphäroid.
2. Haplopola amphepijjeda. Pyrosoma-Form. Zylinder.
3. Diplopola anepipeda. Ovulina-Forni. Ei.
4. Diplopola nionepipeda. Conulina-Form. Kegel.
5. Diplopola amphepipeda. Noduüaria-Form. Kegelstumpf.
6. Isostaura polypleura. Heliodiscus-Form. Reguläre Doppelpyramide.
7. Isostaura octopleura. Acanthostaiirns-Foriii. Quadrat-Octaeder.
8. Allostaura polypleura. Amphilonche-Form. Amphithecte Doppel-Pyramide.
9. Allostaura octopleura. StepJtanafitnim-Forni. Rhomben-Octaeder.
10. Homostaura. Adpiorea-Form. Reguläre Pyrauiide.
11. Tetractinota. Aurelia-Form. Quadrat-Pyramide.
12. Oxystaura. Eucharis-Form. Amphithecte Pyramide.
13. Orthostaura. Saplienia-Form. Rhomben-Pyramide.
IV. Organische Grundformen mit einer Mitlelehene. Cenlroplana.
1. Amphipleura. Spatamjus-Form. Halbe amphithecte Pyrauiide.
2. Eutetrapleiira radialia. Praya-Fonn. Doppeltgleichschenkelige Pyramide.
3. Eutetra[)lcura interradialia. Nereh-Fonn. Antiparallelogramm-Pyramide.
4. Dystetrapleura. Abyla-Form. Ungleichvierseitige Pyramide.
5. Eudipleura. Homo-Form. Gleichschenkelige Pyramide.
6. Dysdipleura. Pleuronectes-Form. Ungleichdreiseitige Pyramide.
XIII. in. Tabelle über die promovphologischen Kategorien. 161
III. Tabelle über die promorphologischen Kategorien.
I. Anaxonia. Achsenlose Formen. Klumpen. Absolut irreguläre Formen.
II. Axonia. Achsenfeste Grundformen.
II, 1. Homaxoiiia. Kugeln. Absolut reguläre Formen. Alle Achsen gleich.
II. 2. Hetcraxonia. Grundformen mit einer oder mehreren konstanten Achsen.
2, A. Polyaxonia. Grundformen mit mehreren konstanten Achsen
(ohne Hauptachse und ohne Kreuzachsen!).
A, a. Arrhj'thma. Irreguläre Polyeder.
a, I. Allopolycjona. Irreguläre Polyeder mit ungleichvieleck. Seiten.
a, II. Isoj)oh/(/o)ui. Irreguläre Polyeder mit gleichvieleck. Seiten.
A, b. E h y t li m i c a. Reguläre Polyeder.
b, I. Icosaedra. Reguläre Icosaeder.
b, II. Dodecaedra. Reguläre Dodecaeder.
b, III. Octaedra. Reguläre Octaeder.
b, IV. Hexaedra. Reguläre Hexaeder,
b, V. Tetraedra. Reguläre Tetraeder.
2. B. Protaxonia. Grundformen mit einer konstanten Achse oder
Hauptachse (mit oder ohne Kreuzachsen).
B, a. Monaxoiiia. Grundformen mit einer einzigen Achse (ohne
Ivi'euzachsenj.
a, I. Haplopola. Einachsige Grundformen mit gleichpoligerAchse.
1. 1. Haplopola anepipeda. Sphäroide.
I, 2. Haplopola amphepipeda. Zylinder.
a, IL Diplopola. Einachsige Grundformen mit ungleichpohger
Achse.
II. 1. Diplopola anepipeda. Eiformen.
II, 2. Diplopola monepipeda . Kegel.
11,3. Diplopola a»)phepipeda. Kegelstumpfe.
B, b. Stauraxonia. Doppel-Pyramiden oder Pyramiden (Grund-
formen mit einer Hauptachse und mit Kreuzachsen).
b, I. Hoinopola. Doppel-Pyramiden.
I. 1. Isostaura. Reguläre Doppel-Pyramiden.
1, A. Isostaura pohjpleura. Reguläre Doppel-Pyramiden von
6, 10, 10 -j- 2 n Seiten.
1, B. Isostaura odopleura. Quadrat-Octaeder.
1.2. Allostaura. Amphithecte Doppel-Pyramiden.
2, A. Allostaura polypleura. Amphithecte Doppel-Pyraraiden
von 8 -j-ln Seiten.
2, B. Allostaura octoplcnra. Rhomben-Octaeder.
b. II. Heteropola. Pyramiden.
IL 1. Homostaura. Reguläre Pyramiden.
\^ k: Isopola. Reguläre Pyramiden von 2 n Seiten.
1,B. Anisopola. Reguläre Pyramiden von 2n — 1 Seiten.
11,2. Heterostaura. Irreguläre Pyramiden.
2, A. Autopola. Amphithecte Pyramiden.
A, a. Oxystaura. Amphith. Pyram. von 4 -\- 2n Seiten.
A, b. Orthostaura. Rhomben-Pyramiden.
2, B. Allopola. Halbe amphithecte Pyramiden.
B, a. Amphipleura. H. a. P. von 4 + ^n Seiten.
B, b. Zygopleura. Halbe Rhomben-Pyramiden.
162
IV. Übersicht der realen Typen der Grundformen.
xin.
1. Lii»ostanre (irniidfornieii.
1. Klumpen (Holus)
2. Kuiiel (Sphaera)
Realer Typus. Deutsclie Bezeichnung.
SpongiUa Klumpen
Sphaerozown (Volvox) Kugelformen
Ungleichvieleckige
3. Endosphaer. Polyeder mit ungleichvieleckigen Wnzosphaera
Seiten
4. Endosphaer. Polyeder mit gleichvieleckigen FJlimosplwera
Seiten • i • r n t.
5. Reguläres Icosaeder Aulosphaera icosaedra Zwanziggleichtiachner
Gleichviel eckige
6. Reguläres Dodecaeder
7. Reguläres Octaeder
8. Regidäres Hexaeder
9. Reguläres Tetraeder
10. Sphäroid (Ellipsoid)
11. Zylinder
12. Yogelei
13. Kegel
14. Kegelstumpf
II. Diplopyraniidale oder pyramidale Grniidformeu.
15. Reguläre Doppelpyramide mit 6, 10, 10-|-2n
Seiten
16. (^)uadrat-Octaeder
17. Amphithecte Doppelpyramide mit 8 -|- 4 n Seiten
18. Rhomben-Octaeder
19. Reguläre Pyramide mit lO + Sn Seiten
20. Zehnseitige reguläre Pyramide
21. Achtseitige reguläre Pyramide
22. Sechsseitige reguläre Pyramide
23. Vierseitige reguläre Pyramide
24. Reguläre Pyramide mit 9-{-2n Seiten
25. Neunseitige reguläre Pyramide
26. Siel)enseitige regidäre Pyramide
27. Fünfseitige reguläre Pyramide
28. Dreiseitige regiüäre Pyramide
Bucholzia (Pollen) Zwölf gleichflächner
Chara (Antheridien) Achtgleichflächner
Actinomma dnjwoäcs Würfel
Cori/dalis (Pollen)
Coccodiscus
Pyrosoma
Ovulinn
Comd'ma
Nodosaria
Hcliodiscns
Acanthostaurus
Amphilonche
Stephanastrum
Aequorea
Aegineta globosa
Alcyonunn (Mimusops)
Carmarina (Achras)
Aurelia (Paris)
Brisinga
Luidia senegalensis
Trientalis
Ophiura (Primida)
Iris (Lvchnocaniinn)
Viergleichflächner
Sphäroidformen
Zylinderformen
Eiformen
Kegelformen
Kegelstumpfformen
Reguläre diplopyra-
midale
Quadrat-octaedrische
Amphithecte diplo-
pyramidale
Rhomben-octaedrische
Gradzahlige Viel-
strahlige
Zehnstrahlige
Achtstrahlige
Sechsstrahlige
A'ierstrahlige
Ungradz ahlige Viel-
strahlige
Neunstrahlige
Siebenstrahlige
Fünfstrahlige
Dreistrahlige
29. Achtseitige amphithecte Pyramide
30. Sechsseitige amphithecte Pyramide
Eiidiaris
Flabellnm
Achtreifige
Sechsreifige
31. Vierstückige Rhombenpyramide
32. Doppelstückige Rhoml)enpyramide
33. Halbe vierzehnseitige amphithecte Pyramide
34. Halbe zwölfseitige amphithecte Pyramide
35. Halbe zehnseitige amphithecte Pyramide
36. Halbe sechsseitige amjdiithecte Pyramide
37. I. Doppelt-gleichschenkelige Pyramide
37. II. Antiparallelogramm-Pyramide
88. Ungleichvierseitige Pyramide
89. Gleichschenkelige Pyramide
40. Ungleichdreiseitige Pyramide
Saphenia (Draba)
Petalospi/ris ( Circaea)
Disandra
Oculina (Ciiphea)
Spatangus (Viola)
Orchis (Dictvophimus)
?37. I. Fraya (Reseda)
\37. II. JXercis (Iberis)
Abyla
Homo (Fumaria)
Pleuronectes
Vierreifige
Zweireifige
Siebenschienige
Sechsschienige
Fünfschienige
Dreischienige
(Gleichhälftige
\ Zweipaarige
j Ungleichhälftige
\ Zweipaarige
Gleichhälftige Ein-
paarige
Ungleichh. Einpaarige
XIII.
V. Tabelle zur Bestimmunfir der Grundformen.
163
I. Organische (iriindfornien ohne Kreuzachsen. Lipostanra
Keine konstante Achse
Eine oder
mehrere
konstante
(vor allen
übrigen
ausge-
zeichnete)
Achsen ;
aber keine
Kreuzachsen
(Alle Achsen ungleich Absolut Irreguläre
\ Alle Achsen gleich Absolut Reguläre
Nicht alle Antimeren, Grenzflächen un-
Promorphologische Kategorie.
1. Anaxonia
2. Homaxonia
Mehrere
(mehr als
zwei)
konstante
Achsen
PoJi/axonia
Eine einzige
konstante ,
Achse I
(Längsachse) j
Monaxonia
kongruent
PoU/axonia
arrhythma
Alle Antimeren
kongruent
Pohjaxonia
rhythnica
Achse gleichpolig
Haplopola
Achse ungleichpolig
Diplopola
\ Grei
^ vi
gleichvielseitig
enzflächen gleich-
ielseitig
20 kongruente Anti-
meren
12 kongruente Anti-
meren
8 kongruente Anti-
meren
6 kongruente Anti-
meren
4 kongruente Anti-
meren
^ Keine Grenzebene
\ Zwei Grenzebenen
( Keine Grenzebene
I Eine Grenzebene
1 Zwei Grenzebenen
II. Organische Grundformen mit Krenzachsen. Staiiraxonia.
Längsachse
gleichpolig
Doppel-
P3'ramiden
Homopola
Längs-
achse
oder
Haupt-
achse
imgleich-
polig
Alle radialen oder alle
semiradialen Kreuzachsen
gleich Isostaura
Nicht alle radialen oder
semiradialen Kreuzachsen
gleich Allostaura
Alle radialen
oder alle
semiradialen
Kreuzachsen
untereinander
gleich
[3,5 oder ö-f-n Anti-
' raeren
Nur 4 Antimeren
4 -[- 2 n Antimeren
Nur 4 Antimeren
3. Allopolygona
4. Isopolygona
5. Icosaedra
6. Dodecaedra
7. Octacdra
8. Hexaedra
9. Tetraedra
10. Haplopola anepipeda
11. Haplopola aiiiphepipjeda
12. Diplopola anepipeda
13. Diplopola monepipeda
14. Diplopola amphepipeda
15. Isostanra polypleura
IG. Isostanra octopileura
17.
18.
Allostaura polypleura
Allostaura octopleura
Homostaura
Pyra-
miden
Hetero-
pola
Nicht
alle
radialen
oder
alle
seraira-
dialen
Kreuz-
achsen
gleich
Hetero-
staura
Dorso-
ventralachse
gleichpolig
Autopola
Dorso-
ventralachse
ungleich-
pohg
Zengita
(Centrepi-
peda)
Allopola
Kreuzachsen
gleichpolig,
halb radial,
halb inter-
radial
Isopola
Kreuzachsen
ungleich-
polig,
alle semira-
dial
Anisopola
3 oder 3 -}- n
radiale
Kreuzachsen
Oxystaura
2 oder eine
radiale
Kreuzachse
Orthostaura
3 oder 5 oder
5 -\- n Kreuz-
achsen
Amphipleura
4 Anti-
4 od. 2
10+2 n Anti-
meren
Antimeren
Antimeren
Antimeren
Antimeren
9 + 2 n Anti-
meren
Antimeren
Antimeren
Antimeren
Antimeren
19. Myriactinota
10
8
(3
4
9
7
5
3
Antimeren
Antimeren
Antimeren
Antimeren
Antimeren
Antimeren
Antimeren
Antimeren
Kreuz -
achsen
Zygo-
pleura
meren |
Tetra- \
pleura
2 Anti-.
meren |
Di. I
Lateralachse
gleichpoli."
Lateral achse
ungleichpolig
Lateralachse
gleichpolig
Lateral achse
pleura'' ungleichpolig
20.
21.
22.
23!
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
37.
38.
39.
40.
Decactinota
Octaclinota
Hexactinota
Tetractinota
Polyactinota
Enneactinota
Hcptactinota
Pentactinota
Triactinota
Octophragma
Hexapjhraguia
Tetraphragma
Diphrag))ia
Hepta iiiplt iple 1 ( ra
Hexauiph ipleura
Pentauiphi pleura
Triamphipleura
l. Eutetrapleura radialia
IL Eutetrapjleura interr.
Dystetrapleura
Eudipleura
Dysdipleura
11
Vierzehntes Kapitel.
G-rundformen der sechs Individualitätsordnungen.
„Wäre die Natur in iliren leblosen Anfängen nicht so
grUndlifh stereometrisch, wie wollte sie zuletzt zum
unberechenbaren und unermeßlichen Leben gelangen?'
Goethe.
Fünfzelmtes Kapitel.
Promorpliologische Thesen.
„Alles, was den Raum ertüUt, nimmt, insofern es
solidesziert, sogleich eine Gestalt an, diese regelt sich
mehr oder weniger und hat gegen die Umgebung gleiche
Beziige mit anderen gleichgestalteten Wesen."
Goethe.
Bemerkung (1906). Diese beiden Kapitel (XIV. und XV.), welche in der
Originalausgabe (1866) zusammen mit dem XIII. Kapitel einen Raum von 175
Seiten einnahmen (S. 400 — 574), fallen jetzt weg aus den S. 147 angegebenen
Gründen.
FÜNFTES BUCH.
BESTER TEIL DER
ALLGEMEINEN ENTWICKELUNGSGESCHICHTE.
GENERELLE ONTOGENIE ODER
ALLGEMEINE ENTWICKELUNGSGESCHICHTE DER
ORGANISCHEN INDIVIDUEN.
(EMBRYOLOGIE UND METAMORPHOLOGIE.)
„Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen
Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien
Blick ins weite Feld der Natur. Sie spendet die reichen
Lebensgaben umher, die Göttin; aber empfindet
Keine Sorge, wie sterbliche Frau'n. um ihrer Gehörnen
Sichere Nahrung; ihr ziemet es nicht: denn zwiefach bestimmte
Sie das höchste Gesetz, beschränkte jegliches Leben,
Gab ihm gemess'nes Bedürfnis und ungemessene Gaben,
Leicht zu finden, streute sie aus, imd ruhig begünstigt
Sie das muntre Bemüh'n der vielfach bedürftigen Kinder;
Unerzogen schwärmen sie fort nach ihrer Bestimmung."
•'S!"-
„Zweck sein selbst ist jegliches Tier; vollkommen entspringt es
Aus dem Schoß der Natur und zeugt vollkommene Kinder.
Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen,
Und die seltenste Form bewahrt im geheimen das Urbild."
t' '
„So ist jedem der Kinder die volle reine Gesundheit
Von der Mutter bestimmt: denn alle lebendigen Glieder
Widersprechen sich nie und wirken alle zum Leben.
Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres;
Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten
Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung,
Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen.
Doch im Innern findet die Kraft der edlern Geschöpfe
Sich im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen.
Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie:
Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich."
„Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,
Vorzug und Mangel, erfreue dich hoch; die heilige Muse
Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend.
Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker,
Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher,
Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone.
Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig,
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang.
Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke
Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse,
Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit."
Goethe (Die Metamorphose der Tiere. 1819).
Seclizelintes Kapitel.
Begriff und Aufgalie der Ontogenie.
Werdend betrachte sie nun, wie nach uud nach sich die Pflanze,
Stufenweise g^efülirt, bildet zu Blüteu und Frucht.
Also prangt die Natur in hoher voller Erscheinung;
Und sie zeiget, gereiht, Glieder an Glieder gestuft.
Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze,
Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.
Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug;
Kriecliend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig.
Bildsam andre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt!
Goethe (die Metamorphose der Pflanzen. 1817).
I. Die Ontoi?eiiie als Eiitwickelim2:si»escliichte der Biouteu.
Die Ontogenie oder Entwickelungsgeschichte der orga-
nischen Individuen ist die gesamte Wissenschaft von den
Formveränderungen, welche die Bionten oder physiologi-
schen Individuen während der ganzen Zeit ihrer indivi-
duellen Existenz durchlaufen, von ihrer Entstehung an bis zu
ihrer Vernichtung. Die Aufgabe der Ontogenie ist mithin die Er-
kenntnis und Erklärung der individuellen Formveränderungen, d. h.
die Feststellung der bestimmten Naturgesetze, nach welchen die
Formveräuderungen der morphologischen Individuen erfolgen, durch
welche die Bionten repräsentiert werden.
II. Die Ontogenie und die Deszendenztheorie.
So allgemeine Anerkennung und Anwendung auch die Ent-
wicklungsgeschichte in unserem Jahrhundert in der Zoologie und
Botanik erlangt hat, so haben dennoch die meisten Biologen weder
den weiten Umfang ihres Gebiets, noch den eigentlichen Grund ihres
hohen morphologischen Wertes richtig begriffen. Es wird dies sofort
klar, wenn wir daran erinnern, daß man unter Entwickelungsgeschichte
bisher fast immer nur diejenige der Individuen und nicht diejenige
168 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. XVI.
der Stämme begriffen hat. Die Ontogenie oder Entwickelungs-
geschichte der physiologischen Individuen ist aber mizertrenn-
lich nnd auf das innigste verbunden mit der Phylogenie oder
Entwickelungsgeschichte der genealogischen Stämme (Phy-
len). Jedoch haben in der ganzen Biologie kaum zwei Wissenschafts-
zweige so weit voneinander entfernt gestanden, als die Ontogenie
und die Phylogenie. Wie innig dieselben überall zusammenhängen,
wie wesentlich sie sich gegenseitig bedürfen und ergänzen, wie erst
aus der engen Verschmelzung beider sich die eigentliche Entwicke-
lungsgeschichte der Organismen im vollen Sinne des Wortes kon-
struieren läßt, ist bisher von den meisten Biologen entweder nicht
richtig gewürdigt oder auch gänzlich übersehen worden.
Freilich kann man zu der vollen Einsicht dieses wichtigen Ver-
hältnisses und zu der richtigen Schätzung seines außerordentlichen
Wertes nur durch die Deszendenztheorie gelangen, welche uns
allein den Schlüssel des Verständnisses für die wundervollen Erschei-
nungen der Entwickelungsgeschichte liefert und welche uns zeigt, daß
die Ontogenie weiter nichts ist als eine kurze Rekapitula-
tion der Phylogenie. Hierin gerade liegt die unermeßliche Be-
deutung der Abstammungslehre und hierin liegt die Quelle des außer-
ordentlichen Verdienstes, welches sich Darwin durch die Reformation
und die kausale Begründung der Deszendenztheorie erworben hat.
Die Abstammungslehre allein vermag uns die Entwicke-
lungsgeschichte der Organismen zu erklären.
III. Typus und Grad der individuellen Entwickelung".
Der unschätzbare Wert, den die Deszendenztheorie als das kausal
erklärende Fundament der Entwickelungsgeschichte besitzt, zeigt sich
nirgends schlagender als in den allgemeinsten Gesetzen, zu welchen
sich die letztere erhoben hat. Als das oberste dieser allgemeinen
Gesetze, welches aus der verglichenen Summe aller ontogenetischen
Tatsachen hervorgeht, gilt mit Recht die von Bär festgestellte Theorie,
daß die individuelle Entwickelung jedes Organismus von zwei ver-
schiedenen und gewissermaßen entgegengesetzten Momenten geleitet
werde, dem Typus der Organisation und dem Grade der Ausbil-
dung. Bär formuliert dieses Gesetz in folgenden Worten:
„Die Entwickelung eines Individuums einer bestimmen Tierform
wird von zwei Verhältnissen bestimmt: 1. von einer fortgehenden
Ausbildung des tierischen Körpers durch wachsende histologische
XVI. IV. Evolution und Epigenesis. 169
und morphologische Sonderung; 2. zugleich durch Fortbildung aus
einer allgemeineren Form des Typus in eine mehr besondere."
Nun ist es klar, daß Bars Typus der Entwickelung weiter
nichts ist als die Folge der Vererbung und Bars Grad der Aus-
bildung weiter nichts als die Folge der Anpassung. Jener läßt
sich also auf die Fortpflanzung, dieser auf die Ernährung als auf
seinen physiologischen Grund zurückführen. Offenbar tun wir aber
durch diese Zurückftthrung einen außerordentlich bedeutenden Schritt.
Denn es werden dadurch die beiden morphologischen Grundgesetze,
und somit überhaupt alle Erscheinungen der organischen Entwickelung
aus physiologischen Fundamenten erklärt, welche ihrerseits ledig-
lich auf mechanisch wirkenden Ursachen, auf chemischen und phy-
sikalischen Prozessen beruhen.
Während also die beiden Grunderscheinungen der organischen
Entwickelung, Bildungstypus und Ausbildungsgrad, welche Bär richtig
als die beiden formbildenden Kräfte der gesamten Organismenwelt
aus rein morphologischen Induktionen erkannte, ohne die Abstammungs-
lehre für uns zwei unverstandene Rätsel bleiben, welche weder durch
die anthropomorphe Vorstellung eines vorbedachten „Schöpfungsplans
oder Entwickelungsplans", noch durch die leere Phrase eines ., all-
gemeinen Entwickelungsgesetzes oder Bildungsgesetzes" dem tieferen
wissenschafthchen Verständnis, d. h. der monistischen, kausalen
Erkenntnis, näher gerückt werden, so werden uns durch die Deszendenz-
theorie diese beiden Rätsel im monistischen Sinne gelöst: wir erkennen
in dem Bildungstypus die Wirkung des inneren Bildungstriebes der
Vererbung, in dem Ausbildungsgrad die Wirkung des äußeren
Bildungstriebes der Anpassung, jene eine Teilerscheinung der Fort-
pflanzung, diese der Ernährung. Diese beiden aber beruhen aner-
kanntermaßen auf denselben physikahschen und chemischen Prozessen,
welche die gesamte organische und anorganische Natur einheitlich
beherrschen. So gelangen wir denn an das höchste Ziel, welches
Bär der Entwickelungsgeschichte gesteckt hat, die Zurückführung
der bildenden Kräfte des organisierten Körpers auf die all-
gemeinen Kräfte des Weltganzen.
IT. Evolution und Epigenesis.
Das Verhältnis der Evolution zur Epigenesis und die Geschichte
beider Theorien habe ich eingehend erörtert in meiner „Anthropogenie"
(Vortrag I— HI) 1874 (V. Aufl. 1903).
5^70 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. XYI.
T. Eutwickelung und Zeugung.
Die eigentümliche Stellung, welche die Entwickelungsgeschichte
zwischen der Morphologie und Physiologie einnimmt, haben wir bereits
früher eingehend erörtert. Wir haben gesehen, daß die Entwickelungs-
geschichte einerseits zur Physiologie oder Biodynamik gerechnet
werden kann, insofern sie die Reihe von Formveränderungen, d. h.
Bewegungserscheinungen, untersucht, welche die organischen Formen
während ihrer individuellen Existenz durchlaufen. Andererseits waren
wir genötigt, dieselbe für die Morphologie oder Biostatik in Anspruch
zu nehmen, insofern diese als bloße Anatomie, ohne die Entwickelungs-
gescliichte, keiner wahren wissenschaftlichen Existenz fähig ist. Da
die Kenntnis der werdenden Form des Organismus uns allein zum
Verständnis der gewordenen oder vollendeten Form desselben hin-
überzuleiten vermag, mußten wir Anatomie und Morphogenie als die
beiden koordinierten Hauptzweige der organischen i\Iorphologie be-
trachten. Wir konnten dies mit um so größerem Rechte, als die Ent-
wickelungsgeschichte der Organismen bisher fast ausschließlich Gegen-
stand anatomischer und nicht physiologischer Forschungen war, und
demgemäß auf ihrer gegenwärtigen niederen Entwickelungsstufe
wesentlich eine statische und nicht eine dynamische DiszipHn dar-
stellt. Denn in Wahrheit ist fast alles, was wir in der Zoologie,
Protistik und Botanik Entwickelungsgeschichte nennen, bisher wesent-
lich eine Kenntnis der morphogenetischen Tatsachen, nicht aber
eine Erkenntnis ihrer physikalisch-chemischen Ursachen gewesen.
Wenn wir zu letzterer gelangen wollen, und wenn wir also die Mor-
phogenie wirklich kausal begründen wollen, so müssen wir notwendig
auch an die Physiologie der Entwickelung uns wenden.
Nun haben wir keineswegs die Absicht, in den folgenden Blättern
eine allgemeine Beschreibung der bekannten organischen Entwicke-
lungserscheinungen zu geben ; vielmehr verfolgen wir das höhere Ziel
einer allgemeinen Erklärung derselben. Wir wollen den schwierigen
und bisher noch nicht unternommenen Versuch einer solchen mecha-
nisch-kausalen Erklärung der morphogenetischen Erscheinungs-
reihen wenigstens anbahnen, und zwar auf Grund derjenigen Theorie,
welche allein diese Erklärung zu liefern vermag, der Deszendenztheorie.
Insofern nun aber diese Theorie eine physiologische Erklärung der
morphologischen Erscheinungen gibt, werden wir uns nicht auf den
morphologischen Teil der Entwickelungsgeschichte beschränken
XVI. V. Entwickelung und Zeugung. 171
können, sondern auch ihren physiologischen Teil berücksichtigen müssen.
Es ist die Physiologie der Zeugung oder Generation, deren
Grundgesetze wir in ihren allgemeinsten Zügen verstehen müssen,
um zu einem wirklichen monistischen Verständnis der Entwickelungs-
geschichte zu gelangen.
Die Physiologie der Zeugung oder Fortpflanzung hängt auf das
engste zusammen mit der Physiologie der Ernährung und des
Wachstums. .,Das Wachstum ist Ernährung mit Bildung neuer Körper-
masse — in der Tat eine fortgesetzte Zeugung, und die Zeugung ist
nichts als der Anfang eines individuellen Wachstums." Die Fort-
pflanzung ist eine Ernährung und ein Wachstum des Or-
ganismus über das individuelle Maß hinaus, welche einen
Teil desselben zum Ganzen erhebt. Alle Organismen haben
eine beschränkte Zeitdauer ihrer individuellen Existenz als Bionten,
und die Arten der Organismen würden einem beständigen Wechsel
durch Aussterben der bestehenden Arten unterhegen, wenn nicht die
Fortpflanzung dieser Gefahr entgegenwirkte. Daher wird die Fort-
pflanzung ebenso als die Selbsterhaltung der Art bezeichnet, wie die
Ernährung als die Selbsterhaltung der Individuen. Wie aber die
Ernährung nur durch den Stoffwechsel möglich ist, so beruht die
Arterhaltung auf dem Individuenwechsel. Wie bei der Ernährung
beständig die materiellen Bestandteile des Organismus, welche durch
die Lebenstätigkeit verbraucht wurden, durch andere, neue gleichartige
Teile ersetzt werden, so werden bei der Fortpflanzung beständig die
aussterbenden Individuen (Bionten) durch neue Individuen ersetzt.
Die durch Fortpflanzung entstehenden neuen Individuen, die kind-
lichen Organismen (Partus), sind also allgemein Teile von bestehenden
Individuen, von elterlichen Organismen (Parens). Diese Teile haben
sich infolge des übermäßigen totalen oder partiellen Wachstums von
dem Ganzen abgelöst und wachsen nun selbst wieder zur Größe
und Form des Ganzen heran, indem sie sich ergänzen oder repro-
duzieren. Füi' diesen Vorgang als Wachstumserscheinung sind ins-
besondere die Ergänzungs- oder Reproduktions-Erscheinungen sehr
lehrreich, welche wir sehr allgemein bei niederen, aber auch bei
höheren Organismen eintreten sehen, wenn einzelne Teile durch trau-
matische oder sonstige äußere Einflüsse verloren gegangen sind. Bei
hochorganisierten Wirbeltieren, z. B. den Amphibien, und Gliedertieren,
z. B. den Crustaceen; sehen wir, daß selbst ganze verlorene Extremi-
täten mit Skelett, Muskeln, Nerven etc. vollständig wieder erzeugt.
]^72 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. XVI.
reproduziert werden. Bei niederen Tieren kann durch künst-
liche Teihmg das Individuum vervielfältigt werden, indem jedes der
künstlich getrennten Teilstücke sich alsbald wieder zu einem voll-
ständigen Individuum ergänzt. Diese wichtigen Wachstumserschei-
nungen werfen das bedeutendste Licht auf die Fortpflanzungsvorgänge,
welche uns in ihren höchsten Formen als ein ganz eigentümlicher
und schwer begreifbarer Lebensprozeß erscheinen, während doch die
niedersten Formen sich unmittelbar an jene Wachstums- und Repro-
duktionsprozesse anschließen. Bei der natürhchen Selbstteilung, als
der einfachsten Fortpflanzungsform, spaltet sich das Individuum spontan
in zwei Hälften, deren jede sich alsbald wieder durch Wachstum zu
einem vollständigen Individuum, einem aktuellen Bion regeneriert.
Jede Hälfte fungiert hier ebenso als virtuelles oder potentielles Bion,
wie bei der Fortpflanzung durch Eier oder Keimzellen (Sporen) die
einzelne, vom elterlichen Organismus abgesonderte Plastide.
Die weitere Betrachtung der verschiedenen Fortpflanzungsformen
bleibt dem siebzehnten Kapitel vorbehalten. ■ Hier wollten wir als
Grundlage für die Betrachtung der gesamten Ontogenie den wichtigen
Satz feststellen, daß die Fortpflanzung und die unmittelbar damit zu-
sammenhängende Entwickelung physiologische Funktionen und
in den materiellen Wachstumsgesetzen begründet sind.
Tl. Aufbilduiig-, Umbildung, Rückbüduiig.
Wir verstehen unter morphologischer Entwickelung des Individu-
ums die kontinuierlich zusammenhängende zeitliche Kette von Formver-
änderungen, welche das organische Individuum während der gesamten
Zeit seines individuellen Lebens, vom Beginn seiner Existenz an bis
zum Abschluß derselben, durchläuft. Immerhin wird es in vielen
FäUen von Vorteil sein, die verschiedenen Stadien der individuellen
Entwickelung, welche wir als „eigenthche Entwickelung", Reife und
Rückbildung unterscheiden, als drei untergeordnete Abschnitte des
individuellen Entwickelungskreises künstlich zu trennen imd die
Vorgänge, welche dieselben kennzeichnen, gesondert zu betrachten.
In diesen Fällen schlagen wir vor, die drei Stadien der Entwicke-
lung, welche wir im siebzehnten Kapitel allgemein zu charakterisieren
versuchen werden, bestimmter mit folgenden Benennungen zu be-
zeichnen.
L Anaplasis oder Aufbildung (Evolution). Erstes Stadium der
XVI. VII- Embryologie und Metaniorphologie. 173
individuellen Entwickelungskette. Sogenannte „eigentliche Entwickelung"
oder Entwickelung im engeren Sinne.
II. Metaplasis oder Umbildung (Transvolntion). Zweites Sta-
dium der individuellen Entwickelungskette. Sogenannte „Reife" oder
Vollendungszustand des Individuums.
III. Kataplasis oder Rückbildung (Involution). Drittes Stadium
der individuellen Entwickelungskette. Dekreszenz. Senilität.
VII. Embryologie und Metaniorphologie.
Die Entwickeluugsgescliichte der organischen Individuen, welche
wir Ontogenie nennen, wird gewöhnhch als Embryologie bezeichnet.
Indessen ist dieser Ausdruck nicht hierfür passend und nicht allgemein
anwendbar. Die eigentliche Embryologie ist nur ein Teil der Onto-
genie und bei sehr vielen Organisraenarten kann man überhaupt
nicht von Embryologie sprechen.
Der Begriff „Embryo" kann nur dann scharf bestimmt und
mit Nutzen angewandt werden, wenn man darunter den „Organis-
mus innerhalb der Ei hüllen" versteht. Diesen festbestimmten
Sinn hatte der Begriff des Embryo bereits im ganzen Altertum, wo
man stets die „ungeborene Frucht im Mutterleibe" (bei den Römern
Foetus, richtiger Fetus) darunter verstand. Mit dem Geburtsakte
galt das embryonale oder fetale Leben als beendet und der Embryon
oder Fetus wurde durch denselben zum selbständigen, freien Orga-
nismus. Ebenso wurde von den meisten neueren Naturforschern
sowohl der tierische wie pflanzliche Organismus stets nur so lange
als Embryo bezeichnet, so lange er sich innerhalb der Eihüllen be-
fand. Erst den letzten beiden Dezennien, welche sich durch die
überhandnehmende Verwilderung der Begriffe und fortschreitende
Verwirrung der Anschauungen in stets zunehmendem Maße vor den
früheren Zeiten auszeichneten, blieb es vorbehalten, auch diesen
klaren und festen Begriff zu vernichten und durch die Einführung
von „freien Embryonen" in die Wissenschaft diese aufs neue eines
sicheren Begriffs zu berauben. Seitdem man begonnen hat, die
„Larven" als Embryonen mit freiem und selbständigem Leben zu
bezeichnen, hat man sich leider in weiten Ki'eisen daran gewöhnt,
die gänzlich verschiedenen Begriffe der Larve und des Embryo (be-
sonders bei den niederen Tieren) gemischt zu gebrauchen, so daß
gegenwärtig der mißbräuchliche Ausdruck des „freien Embryo" statt
der „Larve" leider sehr verbreitet ist. Insbesondere nennt man
;[74 ■ Begriff und Aufgabe der Ontogenie. XVI.
häufig so die bewimperten, frei im Wasser schwimmenden Larven
vieler niederer Tiere, welche gewissen Infusorien sehr ähnlich sind.
Für diese werden die Ausdrücke Schwärm-Embryo, Wimper-Embryo,
infusorienartiger Embryo etc. so vielfältig gebraucht, daß darüber die
eigentliche Bedeutung des „Embryo" ganz vergessen worden ist. Es
ist dies um so mehr zu bedauern, als gar kein zwingendes Moment
vorlag, den sicheren und feststehenden Begriff des Embrvo aufzu-
geben. Wir halten daher unbedingt an demselben fest und verstehen
ein für allemal unter Embryo ausschließlich den Organismus inner-
halb der Eihüllen, und unter „embryonalem Leben" diejenige
Periode der individuellen Existenz, welche mit der Entstehung des
kindlichen Individuums durch den geschlechthchen Zeugungsakt be-
ginnt und mit seinem Durchbruch der Eihüllen abschließt. Diese
beiden Momente sind vollkommen scharf bestimmt und lassen keiner-
lei Verwechselung zu.
Nun ist es ohne weiteres klar, daß man die gesamte Entwicke-
lungsgeschichte des physiologischen Individuums, wie wir deren
Umfang soeben bezeichnet haben, in keinem einzigen Falle mit dem
Namen der Embryologie belegen darf, falls dieser Ausdruck irgend-
einen bestimmten Sinn haben soll. Denn es gibt keinen einzigen
Organismus, dessen individuelle Existenz sich auf das embryonale
Leben beschränkt. A^ielmehr erscheint dieses letztere, vom physiolo-
gischen Gesichtspunkte aus betrachtet, stets nur als die vorbereitende
Einleitung der individuellen Existenz, vom morphologischen Gesichts-
punkte aus als die „Rekapitulation der paläontologischen Entwickelung
des Stammes", zu welchem die durch das Individuum repräsentierte
Art gehört. Die Entwickelung, welche der Organismus außerhalb
der Eihüllen durchläuft, ist aber nicht minder Entwickelung, Genesis,
als diejenige, welche derselbe innerhalb derselben durchzumachen
hat. Wir werden also bei denjenigen Organismen, welche sich aus
einem befruchteten Ei entwickeln, allgemein zu unterscheiden haben zwi-
schen der embryonalen und der postembryonalen Entwickelung, welche
beide durch eine unzweideutige Grenzmarke voneinander getrennt
sind. Der Begriff der Embryologie ist demnach zu beschränken
auf die Wissenschaft von der embryonalen Entwickelung.
Dagegen bezeichnen wir die Wissenschaft von der po st embryo-
nalen Entwickelung mit dem Namen der Metamorphologie.
Will man in der Ontogenie noch verschiedene Zweige unter-
scheiden, entsprechend den drei Entwickelungsstadien der Aufbildung
XVI. VUI, Entwickelimg und Metamorphose. 175
(Evolution), Umbildung (Transvolution) und Rückbildung (Involution),
so würden diese drei untergeordneten Teile der Ontogenie allgemein
zu bezeichnen sein als Anaplastologie, Metaplastologie und Kata-
plastologie.
I. Anaplastolog-ie, Aiifliildungslehre: Entwickelungsgescliichte
des organischen hidividuums während der Periode der Aufbildung (Evo-
lution). Dieser Teil der Ontogenie ist derjenige, welcher allen organi-
schen Individuen (erster bis letzter Ordnung) ohne Ausnahme zukommt,
da alle ein Stadium der Anfl)ildung durchmachen, welches vorzugsweise
in Wachstum und Differenzierung besteht. Es gehört hierher alle Embryo-
logie und derjenige Teil der Metamor})hologie, welcher bis zur erlangten
Reife sich erstreckt. Die Anaplastologie entspricht mithin der Ent-
wickehmgsgeschichte im Sinne der meisten Menschen.
II. Metaplastologie, Umbildungslehre: Entwickelungsgeschichte
des organischen Individuums während der Periode der Umbildung (Trans-
volution). Dieser Teil der Ontogenie fehlt denjenigen organischen Indi-
viduen, deren Existenz zugleich mit ihrer Aufbildung abschließt, z. B. den
embryonalen Zellen, den Moneren und vielen anderen Protisten, welche
sich nach Erlangung der vollständigen Größe alsbald teilen. Er umfaßt
hauptsächlich Differenzierungsvorgänge.
III. Kat aplastologie, Rückbildungslehre: Entwickelimgsge-
schichte des organischen Individuums während der Periode der Rückbil-
dimg (Involution). Dieser Teil der Ontogenie fehlt vollständig bei
der großen Anzahl derjenigen organischen Indi\'iduen, welche überhaupt
keine Rückbildung erleiden, vielmehr ihre Existenz mit erlangter Diffe-
renzierung abschließen. Dagegen ist er sehr wichtig bei denjenigen
Spezies, welche parasitisch lel)en. Er umfaßt hauptsächlich Degene-
rationsprozesse.
Till. Entwickelimg und Metamorpliose.
Die Metamorphose oder Verwandelung und ihre Beziehungen zur
Entwickelung der Organismen sind auf verschiedenen Gebieten von
den Biologen in einer sehr verschiedenen Bedeutung aufgefaßt worden.
Die Botaniker verstehen seit Goethe unter „Metamorphose der
Pflanzen" die gesamte Entwickelungsgeschichte des Blütensprosses
oder des Individuums fünfter Ordnung bei den Fhanerogamen, welches
denselben morphologischen Wert hat, wie die tierische Person.
Goethe führte 1790 geistvoll den zuerst von C. F. Wolff (1764)
ausgesprochenen Gedanken aus. daß alle wesentlichen Teile der
Phanerogamenblüte, mit Ausnahme der Stengelorgane (Achsorgane).
nichts anderes seien, als „umgewandelte, metamorphosierte" Blätter,
d. h. verschiedenartig differenzierte Modifikationen eines und des-
selben Grundorgans, des Blattes. Das Wesentliche in diesem Ver-
]^76 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. XVI.
Wandelungsprozesse der Phanerogamenblüte ist also das Wachstum
und die Differenzierung, auf welcher die gesamte Entwickelung der-
selben beruht. Die Lehre von der Metamorphose umfaßt daher hier
die gesamte Anaplase und Metaplase, und es erscheint nicht nötig,
für diese die besondere Bezeichnung der Metamorphose als eines
besonderen ontogenetischen Vorganges beizubehalten. Vielmehr fällt
in diesem allgemeineren Sinne der Begriff der Metamorphose mit
dem Begriffe der epigenetischen Entwickelung überhaupt zusammen.
In einer wesentlich anderen Bedeutung wird dagegen der Begriff
der Metamorphose seit langer Zeit von den Zoologen angewendet.
Diese verstehen darunter größtenteils die auffallenderen Formvvande-
hmgen, welche zahlreiche, vorzüglich wirbellose Tiere während ihrer
postembryonalen Entwickelung durchmachen, ehe sie ihren Reife-
zustand erreichen. Ausgehend von dem am längsten und allgemeinsten
bekannten Beispiele der Insekten, bei denen Raupe. Puppe und
Schmetterhng und ebenso Made, Puppe und Fhege als drei auffallend
verschiedene und scharf voneinander abgegrenzte Entwickelungs-
zustände eines und desselben organischen Individuums aufeinander
folgen, belegte man allgemein die ähnlichen Formfolgen, welche in
neuerer Zeit bei so vielen wirbellosen Tieren aufgefunden wurden
und bei denen ebenfalls ein und dasselbe Tier in mehreren auffallend
verschiedenen äußeren Formen nacheinander erscheint, mit dem
Namen der Metamorphose. Da nun aber ähnliche „auffallende"
Formveränderungen, wie sie hier vom Organismus außerhalb der
EihüUen, also in der postembryonalen Zeit, durchlaufen werden, bei
vielen anderen Tieren, bei denen dies nicht der Fall ist, innerhalb
des embryonalen Lebens durchgemacht werden, so dehnte man später-
hin den Begriff der tierischen Metamorphose noch weiter aus und
verstand darunter die sämtlichen auffallenden Formveränderungen,
welche der tierische Organismus während der Aufbildungsperiode,
der Anaplase, durchläuft. Man konnte demnach zwischen einer
embryonalen und einer postembryonalen Metamorphose unterscheiden,
wie es auch neuerdings vielfach geschehen ist. Hier würde nun
wieder der Begriff der Metamorphose mit dem der individuellen Ent-
wickelung überhaupt zusammenfallen, oder man könnte diese letztere
höchstens insofern in Ontogenie mit und ohne Metamorphose unter-
scheiden, als die Formveränderungen des sich entwickelnden Indivi-
duums bald auffallende und plötzliche, bald unmerkliche und allmäh-
liche sind. Da nun aber gerade im embryonalen Leben eine solche
XVI. VIII. Entwickelimg und Metamorphose. 177
Untersclieidung gar nicht durchzuführen ist, und da streng genommen
alle embryonale Anaplase mit Metamorphose verbunden ist, so müssen
wir den Begriff der Metamorphose auf die postembryonale Ontogenie
beschränken und denselben auf diesem Gebiete schärfer zu bestimmen
versuchen.
Ohne nun auf die zahlreichen verschiedenen und sehr diver-
gierenden Versuche, welche in dieser Beziehung gemacht worden
sind, näher einzugehen, wollen wir hier nur denjenigen Begriff der
postembryonaleu Metamorphose feststellen, der uns allein bei einer
vergleichenden Betrachtung aller Organismen durchführbar zu sein
scheint. Wir nennen Metamorphose in diesem engeren Sinne die-
jenige Art der postembryonalen Umbildung oder Entwickelung, bei
welcher der jugendliche Organismus, ehe er in die geschlechtsreife
Form übergeht, bestimmt geformte Teile abwirft; derselbe ist also
ausgezeichnet durch den Besitz provisorischer Teile (gewöhnlich
Organe), welche er später als geschlechtsreifer Repräsentant der
Spezies nicht mehr besitzt. Der Verlust dieser provisorischen
Teile ist der eigentliche Kern der Metamorphose im engeren Sinne.
Die Entwickelungszustände der nietamorphen Organismen, welche
durch den Besitz provisorischer Teile ausgezeichnet sind, hat man
seit langer Zeit als Larven (Larvae) oder Schadonen (Aristoteles)
bezeichnet, die reifen Formen, welche aus der Larve durch die Meta-
morphose entstehen, als Bilder (Imagines).
Wichtig ist im Allgemeinen die Unterscheidung zwischen pro-
gressiver und regressiver Metamorphose. Diese beiden Formen der
echten postembryonalen Metamorphose, obwohl auch bisweilen in-
einander übergreifend, unterscheiden sich wesentlich dadurch, daß
die morphologische Differenzierung und also die Vollkommenheit des
ganzen Individuums im Falle der progressiven Metamorphose
größer ist bei der Imago als bei der Larve; im Falle der regres-
siven Metamorphose umgekehrt größer bei der Larve als bei der
Imago. Die fortschreitende oder progressive Verwandlung ist die
gewöhnliche Art der Metamorphose; die rückschreitende oder regres-
sive Verwandlung, welche durch Anpassung an einfachere Existenz-
bedingungen entstellt, findet sich vorzüglich bei parasitischen Tieren,
z. B. vielen Crustaceen.
Haeckel, Prinz, d. Morpliol. 12
Siebzehntes Kapitel.
Entwickelungsgescliiclite der physiologischen Individuen.
(Naturgeschichte der Zeugungskreise oder der genealogisclien
Individuen erster Ordnung.)
„Die Verg-Ieiclmns^' beider Geschlechter miteinander ist,
zu tieferer Einsicht in das Geheimnis der Fortpflanzung, als
des wichtigsten Ereignisses, der Physiologie unentbehrlich.
Beider Objekte natürlicher Parallelismus erleichtert sehr das
Geschäft, bei welchem unser hiiclister Begriff, die Natur
könne identische Organe dergestalt modifizieren und ver-
ändern, daß dieselben nicht nur in Gestalt und Bestimmung
völlig andere zu sein sclieinen. sondern sogar in gewissem
Sinne einen Gegensatz darstellen, bis zur sinnlichen An-
schauung heranzuführen ist."
Goethe.
I. Verschiedene Arten der Zenj;nng-.
Die Entwickelung- der organiscben Individuen in dem Umfange,
welchen wir oben für diesen Begriff festgestellt haben, dauert ihr
ganzes Leben hindurch ; denn das ganze Leben ist eine kontinuierliche
Kette von Bewegungserscheinungen der organischen Materie, welche
immer mit entsprechenden Formveränderungen verknüpft sind. Die
Erkenntnis dieser gesamten Formveränderungen, mögen dieselben nun
progressive oder regressive sein, ist das Objekt der Ontogenie, in
dem weiteren Sinne, welchen wir dieser Wissenschaft vindizieren.
Da die organische Individualität, welche jene Kette von Entwickelungs-
formen durchläuft, als physiologisches Individuum (Bion) auftritt, so
ist die Ontogenie des ganzen Organismus die Entwickelungsgeschichte
seiner physiologischen Individualität.
Die Existenz jedes physiologischen Individuums beginnt mit dem
Momente seiner Entstehung durch Zeugung und hört auf entweder
mit seinem Tode oder mit seinem vollständigen Zerfall in zwei oder
mehrere kindliche Individuen (Selbstteilung). Wir werden daher die
allgemeine Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen
mit einer allgemeinen Erörterung der Zeugungserscheinungen anfangen
XYII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 179
müssen, mit denen die Existenz aller organischen Individuen ohne
Ausnahme beginnt.
Der Begriff der Zeugung fällt zusammen mit dem Begriff der
Entstehung der organischen Individualität. Durch jeden
Zeugungsprozeß entsteht ein organisches Individuum, welches vorher
nicht existierte, und der Moment der Zeugung ist der Moment des Be-
ginnes seiner individuellen Existenz und seiner Entwickelung. Alle
Zeugung, d. h. also alle Entstehung organischer Individuen, ist ent-
weder Urzeugung (Generatio spontcmea) oder Elternzeugung {Generatio
parentalis). Die letztere geht aus von vorhandenen organischen In-
dividuen, die erstere nicht.
A. U r z e u g u n g.
(Archig'onia. Generatio spontanea.)
Die elternlose Zeugung oder Urzeugung (Generatio spontanea,
originaria, aequivoca, primaria etc.) besteht darin, daß organische
Individuen erster Ordnung von der einfachsten Beschaffenheit (struktur-
lose und homogene Moneren) unter bestimmten Bedingungen in einer
nicht organisierten Flüssigkeit entstehen, welche die den Organismus
zusammensetzenden Stoffe entweder in anorganischen oder in organischen
Verbindungen gelöst enthält. Wenn die chemischen Elemente, welche
zu verwickelten Verbindungen zusammengesetzt den Monerenkörper
konstituieren, in anorganischer Form (d. h. zu einfachen und festen
Verbindungen, Kohlensäure, Ammoniak, binären Salzen etc.) vereinigt
in der Bildungsflüssigkeit gelöst sind, so nennen wir diesen Modus
der Generatio spontanea Autogonie. Wenn dagegen jene Elemente
bereits zu organischen Verbindungen (d. h. zu verwickelten und lockeren
Kohlenstoffverbindungen, Eiweiß, Fett, Kohlehydraten etc.) vereinigt
in der Bildungsflüssigkeit gelöst sind, so nennen wir diese Art der
Generatio spontanea Pias mogo nie. (Vergl. Kapitel 6.)
B. Elternzeugung.
(Tocogonia. Oeneratio parentalis.)
Unter dem Begriffe der elterlichen Zeugung oder Tocogonie faßt
man allgemein diejenigen Entstehungsweisen organischer Individuen
zusammen, welche von bereits bestehenden organischen Individuen
ausgehen. Die Lebenstätigkeit der bestehenden oder elterlichen In-
dividuen, durch welche die neu entstehenden oder kindlichen Organismen
hervorgebracht werden, heißt allgemein Fortpflanzung (Propa-
12*
180 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII.
gatio). Das Wesen dieses Vorganges als einer Wachstumserschei-
nung haben wir bereits oben erörtert. Indem das Individunm über
sein individuelles Maß hinaus wächst, löst sich das überschüssige
Wachstumsprodukt in Form eines Teiles von ihm ab, welcher sich
alsbald wieder zu einem vollständigen Individuum durch eigenes
Wachstum ergänzt. Der neu erzeugte kindliehe Organismus {Partus)
ist also ein abgelöster Teil des elterlichen Organismus (Parens). Die
Ablösung kann vollständig oder unvollständig sein. Im ersteren Falle
erhält das neu erzeugte morphologische Individuum durch den Ab-
lösungsakt die Selbständigkeit des physiologischen Individuums (Bion).
Im letzteren Falle bleibt das kindliche morphologische Individuum
mit dem elterlichen mehr oder minder innig verbunden und bildet
mit ihm einen Komplex oder eine Kolonie (Synusia), ein physio-
logisches Individuum, welches einer höheren morphologischen Ordnung
angehört, als die beiden Komponenten.
Man pflegt die Tokogonie oder parentale Zeugung allgemein in
zwei verschiedene Reihen einzuteilen, unter welche sich alle ihre
zahlreichen Modifikationen subsumieren lassen: die geschlechtslose oder
monogone und die geschlechtliche oder amphigone Fortpflanzung. Bei
der Monogonie oder ungeschlechtlichen Fortpflanzung ist das einzelne
Wachstumsprodukt, welches sich von dem elterlichen Organismus
ablöst, zur Selbsterhaltung und zum selbständigen Wachstum befähigt,
ohne dazu der Mitwirkung eines anderen Wachstumsproduktes zu
bedürfen. Bei der Amphigonie oder geschlechthchen Fortpflanzung
dagegen wird das einzelne Wachstumsprodukt erst durch materielle
Verbindung mit einem zweiten davon verschiedenen Wachstumspro-
dukte, durch geschlechtliche Vermischung (Gamos) zur Selbsterhaltung
und zum selbständigen Wachstum befähigt. Die Grenze zwischen
diesen beiden, in ihren Extremen sehr abweichenden Fortpflanzungs-
arten, welche früherhin für vollständig verschiedene Zeugungsformen
galten, ist durch die neueren Entdeckungen über die Parthenogenesis
so sehr verwischt worden, daß es schwierig ist, eine scharfe Definition
derselben zu geben. Insbesondere haben die Fälle von Parthenogenesis
bei den Insekten (Bienen, Psychiden) dazu geführt, als das Kriterium
der geschlechtlichen Zeugung nicht die materielle Verbindung zweier
verschiedener Individuen zu bestimmen, sondern die Entstehung der
Keime, aus denen sich die neuen Individuen bilden, in einem „Ge-
schlechtsapparate"; die in dem „Eierstock" gebildete „Eizelle" soll
hier entscheidend sein, und es kann diese Ansicht namentlich gestützt
XVII. I- Verscliiedene Arten der Zeugimg. 181
werden durch die Betrachtung der Bienen, bei denen eine und die-
selbe Zelle, wenn sie befruchtet wird, sich zum Weibchen, wenn sie
nicht befruchtet wird, zum Männchen entwickelt.
1. Ungeschlechtliche Fortuflanzung.
(Mouogouia. Generatio mouogenea.J
Die ungeschlechtliche oder monogene Zeugung (Monogonie) ist
dadurch charakterisiert, daß das Wachstumsprodukt des elterlichen
Organismus selbständig entwickelungsfähig ist, ohne der Befruchtung,
der Vermischung mit einem anderen Wachstumsprodukte zu bedürfen.
Sie ist auch als Spaltung (Fisslo) bezeichnet worden, weil der ent-
wickelungsfähige Teil des Individuums, welcher sich zu einem neuen
Indi\äduum entwickelt, sich früher oder später von dem ersteren ab-
spaltet, und durch diese unvollständige oder vollständige Spaltung
selbständig wird. Indessen scheint es passender, den Begriff der
Spaltung auf die beiden Formen der monogenen Fortpflanzung, welche
man als Teilung und Knospenbildung bezeichnet, zu beschränken, da
die dritte Hauptform derselben, die Sporenbildung, ebenso wie die
Bildung der Geschlechtsprodukte, mehr auf einer inneren Aussonderung
eines einzelnen Wachstumsproduktes, als auf einer eigentlichen äußeren
Spaltung des ganzen Individuums beruht. Wir können also allgemein
zunächst zwei Hauptgruppen unter den verschiedenen monogenen
Fortpflanzungsformen unterscheiden, nämlich 1. die Spaltung oder
/Sc/ii^^o^o^ue (Fission) und 2. die Sporenbildung oder Sporogonie.
Bei der ersteren (Selbstteilung und Knospenbildung) bleibt das Wachs-
tumsprodukt entweder dauernd mit dem elterlichen Individuum in
Verbindung, oder es löst sich (meist äußerlich) von dem parentalen
Organismus erst ab, nachdem es schon eine größere oder geringere
Selbständigkeit und Ausdehnung erlangt hat. Meist entspricht das-
selbe bereits einem differenzierten Plastidenkomplexe, wenn die Ab-
spaltung erfolgt. Bei der Sporogonie dagegen sondert sich das Waclis-
tumsprodukt (meist innerlich) schon frühzeitig von dem elterlichen
Organismus ab, ehe es sich selbständig entwickelt hat, und stellt zur
Zeit der Ablösung meist eine einfache Plastide dar. In dieser Be-
ziehung erscheint also die Spore oder Keimplastide nicht sowohl als
Spaltungs-, wie als Absonderungsprodukt des elterlichen Organismus,
und schließt sich vielmehr den ebenfalls abgesonderten Geschlechts-
produkteu an. denen sie auch in ihren Entwickelungs- und besonders
in den Vererbungserscheinungen oft näher verwandt ist. Da nämlich
182 Entwickelungsgeschicbte der physiologischen Indi\äcluen. XVII.
die Kontinuität zwischen elterlichem und kindlichem Organismus bei
der Teilung und Knospenbildung inniger ist und längere Zeit hindurch
fortdauert, als bei der Sporenbildung und geschlechtlichen Zeugung,
so werden auch bei der ersteren die individuellen Eigenschaften des
elterlichen Organismus genauer und strenger auf das kindliche In-
dividuum übertragen, als bei der letzteren.
A. Ungeschlechtliche Zeugung durch Spaltung.
(Generatio flssipara. Fissio. Schizogonia.)
Die Monogonie durch Spaltung (Fissio) ist dadurch charakteri-
siert, daß das Wachstumsprodukt sich (meistenteils äußerlich) vom
elterlichen Organismus entweder überhaupt gar nicht oder erst dann
ablöst, nachdem dasselbe bereits eine im Verhältnis zu letzterem be-
trächtliche Ausdehnung und morphologische Differenzierung erhalten
hat. Bei den polyplastiden Organismen stellt dasselbe zur Ablösungs-
zeit bereits eine Mehrheit von Piastiden dar. Die beiden Hauptformeu,
welche man unter den verschiedenen Modifikationen der Spaltung
unterscheidet, sind 1. die Selbstteilung oder Divisio und 2. die
Knospenbildung oder Gemmatio. Bei der Selbstteilung ist das
die Fortpflanzung einleitende Wachstum des Individuums ein totales,
und es zerfällt dasselbe bei der Spaltung in seiner Totalität, so daß
die Teilungsprodukte gleichwertig sind. Bei der Knospenbildung
dagegen ist es ein einzelner Körperteil des Individuums, welcher
durch bevorzugtes Wachstum zur Bildung einer neuen Individualität
(Knospe) führt, und diese trennt sich dann von dem elterlichen Indi-
viduum unvollständig oder vollständig, ohne daß dessen eigene Indi^ä-
(hialität dadurch vernichtet wird. Es sind also die beiden Spaltungs-
produkte hier ungieichwertig.
Aa) Die Selbstteilung oder Division.
(Generatio scissipara sive ilivisiva. Divisio. Scissio.)
Die Selbstteilung wird eingeleitet durch ein allseitiges Wachstum
des Individuums, welches bei Überhandnähme desselben in seiner
Totalität zerfällt und durch den Teilungsprozeß selbst vernichtet wird.
Die Teilungsprodukte sind von gleichem Alter, also koordi-
niert, und auch ihrer morphologischen Bedeutung nach meistens voll-
kommen oder doch annähernd gleichwertig. Äußerlich beginnt der
Teilungsprozeß mit der Bildung einer ringförmigen Furche an der
Körperoberfläche, welche tiefer und tiefer greift und endlich oft mit
XVII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 183
der Bildung einer vollständigen Teilungsebene durclisclmeidet. In-
dessen gellt dieser äußerlichen Absclmürung immer als wesentliches
Moment des Prozesses die Bildung von zwei neuen Wachstumscentren
in dem dezentralisierten Individuum vorher. Sehr oft kommt auch die
Teilung äußerlich gar nicht als Furchung oder Abschnürung zur Er-
scheinung, während sie doch dadurch in gewisser Hinsicht vollständig
wird, daß sich eine heterogene Scheidewand zwischen den beiden
homogenen Hälften ausbildet. Dies ist insbesondere sehr allgemein
bei der Selbstteilung der Piastiden der Fall, welche zu Parenchpn
miteinander verbunden bleiben.
Man unterscheidet gewöhnlich vollständige Teilung (Divisio
completa), bei welcher die aus der Teilung entstehenden kindlichen
Individuen sich gänzlich voneinander trennen, und unvollständige
Teilung (Divisio incompleta). bei welcher dieselben zu Individuen-
komplexen oder Synusien vereinigt bleiben. Letztere ist außer-
ordentlich wichtig, da auf ihr meistens die Bildung der Individuen
höherer Ordnung beruht. Außerdem pflegt man noch, je nach der
verschiedenen Richtung der Teilungsebene zum Körper, Längsteilung
und Querteilung zu unterscheiden. Da eine schärfere Unterscheidung
dieser Formen, als bisher üblich war, für verschiedene Entwickelungs-
verhältnisse von hoher Bedeutung ist, so wollen wir auf dieselben
hier etwas näher eingehen.
Zunächst erscheint uns hier besonders wichtig der bisher nicht
berücksichtigte Unterschied zwischen der Zweiteilung (DimicUafio)^
wobei das Individuum in zwei gleiche Hälften, und der Strahl-
teilung (Diradiaüo), bei welcher dasselbe in drei oder mehr
gleiche Stücke zerfällt. Die letztere teilen wir wieder ein in
paarige (artia) und unpaarige Diradiation (anartid).
Ab) Die Knospung oder Knospenbildung.
(Generatio gemniipara. Gemraatio.)
Die Knospenbildung oder Gemmation als die zweite Hauptform
der Spaltung oder Fission ist, wie oben bemerkt, wesentlich dadurch
von der Selbstteilung verschieden, daß sie durch ein einseitiges (nicht
allseitiges) Wachstum des Individuums eingeleitet wird, und daß daher
bei der Abspaltung des einseitig gewucherten Teiles die Individuali-
tät des Ganzen nicht zerstört wird, sondern vielmehr erhalten bleibt.
Die Knospungsprodukte sind also von ungleichem Werte, und es ist
von Anfang an das elterliche Individuum von dem kindlichen, welches
184 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII.
als Knospe aus ihm hervorwächst, verschieden. Die beiden Spal-
tungsprodukte sind bei der Knospung von verschiedenem
Alter, bei der Teilung von gleichem Alter. Bei der letzteren
spaltet sich das Individuum in zwei oder mehrere koordinierte, bei
der ersteren in zwei oder mehrere subordinierte Teile. Der durch
bevorzugtes partielles Wachstum ausgebildete kindliche Organismus
oder die Knospe ist dem elterlichen knospenden Individuum unter-
geordnet, wenn er auch denselben Grad morphologischer Ausbildung
erreicht.
Wie bei der Teilung unterscheidet man auch bei der Knospung
gewöhnlich nach der verschiedenen Dauer des Zusammenhanges
zwischen beiden Spaltungsprodukten zwei Gemmationsarten: die voll-
ständige Knospen Spaltung (Gemmatio compJeia)^ bei welcher das
kindliche Individuum, die Knospe, sich vollständig von dem elter-
lichen ablöst, und die unvollständige Knospenspaltung (Gem-
matio incompleta)^ bei welcher dieselben als Individuenstock oder
Synusie vereinigt bleiben. Die letztere kommt in außerordentlich
mannigfaltiger Form zur Ausführung, besonders im Pflanzenreiche
und bei den Coelenteraten, wo die charakteristische Form der Kormen
größtenteils durch die Form der unvollständigen Knospenspaltung
bedingt wird.
Der Begriff der Knospe ((remma) ist ein streng physiologischer
(so gut wie der irgendeines anderen Spaltungsproduktes) und be-
deutet stets ein physiologisches Individuum {Bion), welches von
einem vorher bestehenden elterlichen Individuum durch den soeben
geschilderten Spaltungsprozeß, die Knospenbildung oder Gemmation.
erzeugt wird. Es ist sehr wichtig, diese einzig durchführbare scharfe
Bestimmung des Begriffs „Knospe" streng festzuhalten, und ebenso
sie bestimmt zu unterscheiden von dem rein morphologischen
Begriff des Sprosses (Blastos), welcher sehr häufig, besonders
in der Botanik, damit verwechselt wird. Durch diese Verwechse-
lung der beiden ganz verschiedenen Begriffe, welche beide einen
scharf bestimmten Umfang und Inhalt haben, ist schon unendliche
Verwirrung angerichtet worden. Der Sproß ist von der Knospe
ebenso verschieden, wie die Zelle oder wie der Stock. Der Sproß
oder Blastos ist, wie wir im neunten Itapitel festgestellt haben, das
morphologische Individuum fünfter Ordnung, das Histonal; bei den
Tieren meistens als das ., eigentliche Indi\äduum" die Person oder
das Prosopon, bei den Pflanzen bald als Sproß, bald als Knospe
XYII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 185
bezeichnet. Die Knospe (Gemma) dagegen kann als physiologisches
Individuum (Bion) von den morphologischen Individuen aller sechs
Ordnungen vertreten werden. Durch Knospung entstehen nicht
allein die meisten Sprosse, sondern auch die meisten Stöcke, die
meisten Organe (z. B. Blätter, Extremitäten), sehr viele Zellen und
Cytoden. Alle diese Form-Individuen verschiedenen Ranges können
mit Rücksicht auf ihre Entstehung als Knospen (Gemmae) bezeich-
net werden.
Als die verschiedenen Hauptformen der Knospen werden in
der Botanik allgemein die drei Formen der Terminalknospen, Axillar-
knospen und Adventivknospen unterschieden. Wichtiger ist die in
der Zoologie gebräuchliche Unterscheidung der äußeren und inneren
Knospenbildung, je nachdem die Knospen äußerlich auf der Ober-
fläche, oder innerlich in einem Hohlraum des elterlichen Individuums
entstellen.
B. Ungeschlechtliche Zeugung durch Sporenbildung.
(Generatio sporipara. Sporogonia.)
Die Sporogonie oder ungeschlechtliche Fortpflanzung durch Keime
unterscheidet sich als die zweite Hauptart der Monogonie von der ersten,
der Spaltung, wesentlich dadurch, daß das Wachstumsprodukt im
Inneren abgesondert wird und schon sehr frühzeitig, ehe es entwickelt
und differenziert ist. von dem elterlichen Organismus sich ablöst.
Die Trennung von demselben ist vollständig und erfolgt schon, ehe
das lokale Wachstumsprodukt eine im A^erhältnis zum elterlichen
Organismus irgend bedeutende Ausdehnung und morphologische Differen-
zierung erreicht hat. Von den vorher aufgeführten Formen der Mo-
nogonie steht die innere Knospenbildung der Sporogonie am nächsten.
AUein dort erreicht die Knospe schon einen weit höheren Grad der
individuellen Entwickelung, ehe sie sich vom Eltern-Indi\1duum ablöst.
Es ist die physiologische Abhängigkeit des kindhchen vom parentalen
Organismus bei der Knospenbildung eine größere, als bei der Sporo-
gonie, während die morphologische Abhängigkeit umgekehrt bei der
letzteren größer erscheinen kann als bei der ersteren. Die selbständige
Zentralisation der Spore ist viel bedeutender und beginnt viel früher,
als es bei der Knospe der Fall ist. Ein wesentlicher Unterschied
zwischen beiden hegt auch darin, daß die innere Knospe in einer
Höhle des parentalen Individuums, aber in Kontinuität mit deren
Wand, sich entwickelt, während der Keim oder die Spore mitten im
186 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XYII.
Parenchym desselben entsteht, durch Absonderung von der umhüllenden
Parenchynimasse, mit welcher er nur in lockerer Kontiguität bleibt.
Es ist daher die Sporogonie auch weniger eine Abspaltung (Fissio) als
vielmehr eine Absonderung (Secretio), und hierdurch schließt sie sich,
wie oben bemerkt, unmittelbar an die sexuelle Zeugung an, mit welcher
sie durch die Parthenogenesis fast untrennbar verbunden ist.
2. (weschlochtliclie Fortpflanziiug-,
(Ainphig-onia. Generatio dig-eiiea.)
Die geschlechtliche oder digene Zeugung {Amphigoiiia) läßt sich
nur dadurch scharf charakterisieren, daß wir als Kriterium derselben
die Vermischung zweier verschiedener Stoffe festhalten, welche von
zwei verschiedenen Individuen oder von zwei verschiedenen Teilen
(Geschlechtsteilen) eines und desselben Individuums produziert sind:
die weibliche Eizelle {Ovulum) und die männliche Samenzelle
{Spermium). Die verschiedenen Formen der geschlechtlichen Fort-
pflanzung unterscheiden sich zunächst am meisten durch die Ver-
teilung oder Vereinigung der beiden Geschlechtsprodukte, Ei und
Samen, auf verschiedene Individuen. Man pflegt hiernach allgemein
..Individuen mit vereinigten Geschlechtsprodukten" (Zweigeschlechtige,
Bisexuales, Zwitter oder Hermaphroditen) und „Individuen mit ge-
trennten Geschlechtsprodukten" (Getrenntgeschlechtige oder Einge-
schlechtige, Unisexuales oder Gonochoristen) zu unterscheiden. Die
Botaniker unterscheiden ferner zwischen monoecischen und dioecischen
Pflanzen. Monoecische oder einhäusige sind solche unisexuelle
Pflanzen, bei denen beiderlei eingeschlechtige Individuen (d. h. Blüten,
Individuen fünfter Ordnung) auf einem und demselben „zusammen-
gesetzten Individuum" (d. h. auf einem Individuum sechster Ordnung
oder Stock) vereinigt sind. Dioecische oder zweihäusige sind solche
unisexuelle Pflanzen, bei denen beiderlei eingeschlechtige Blüten auf
verschiedene Stöcke verteilt sind. Dieselbe Unterscheidung mon-
oecischor und dioecischer Stöcke ist auch bei den Coelenteraten, ins-
besondere den Anthozoen, welche den ..zusammengesetzten Pflanzen"
in ihrer Stockbildung so auffallend gleichen, von einigen Zoologen
richtig gemacht worden. Man kann also zunächst unter den Or-
ganismen allgemein Monoecisten und Dioecisten unterscheiden, je
nach der Verteilung der beiderlei Geschlechtsprodukte auf eines oder
auf verschiedene Individuen sechster Ordnung (Stöcke) und unter den
Monoecisten wiederum Bisexuelle und Unisexuelle, je nach der Ver-
XVII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. Ig7
teilung der beiderlei Geschlechtsprodiikte auf eines oder auf ver-
schiedene Individuen fünfter Ordnung- (Personen, Blütensprosse). Diese
Unterscheidung ist aber insofern ungenügend, als dabei die Verteilung
der beiderlei Geschlechtsprodukte auf eines oder auf verschiedene
Individuen der niederen Ordnungen (vierter, dritter, zweiter Ordnung)
nicht berücksichtigt ist. W^ie man überhaupt bisher diese niederen
Individualitätsgrade, die doch für das Verständnis des ganzen Or-
ganismus so wichtig sind, nicht gehörig unterschieden hat, so ist
auch jenes besondere Verhältnis ihrer geschlechtlichen Differenzierung
meist gänzlich übersehen oder doch nicht richtig beurteilt worden,
und daher, besonders in der Zoologie, eine ungemeine Verwirrung
in der Auffassung der Geschlechtsverhältnisse eingerissen. Bei den
Coelenteraten z. B. weiß niemand mehr, was er unter vereinigten
und getrennten Geschlechtern verstehen soU, da diese Ausdrücke bunt
durcheinander für monoecische und dioecische, unisexuelle und
bisexuelle Organismen und außerdem ohne alle Unterscheidung der
Geschlechts Verhältnisse bei den Individuen niederer Ordnung gebraucht
werden. Daher erscheint es uns unerläßlich, diese Begriffe scharf
zu bestimmen und das Verhältnis der Vereinigung oder Tren-
nung der Geschlechter bei den Individuen aller Ordnungen
scharf zu unterscheiden.
Wir bezeichnen demnach ganz allgemein zunächst die Vereinigung
der beiderlei Genitalprodukte auf einem Individuum (gleichviel
welcher Ordnmig) als Zwitterbildung oder HermaphrocUtismus.
Jedes Individuum (irgendeiner Ordnung) als Zwitter {Hermapliro-
diti(s) A^ereinigt in sich beiderlei Geschlechtsstoffe, Ovum und
Sperma. Der Gegensatz hierzu ist die Trennung der Genitalien, die
Verteilung der beiderlei Geschlechtsstoffe auf z w e iln dividuen (gleich-
viel welcher Ordnung), welche wir als Geschlechtstrennung oder
Gonocliorismus bezeichnen. Jedes Individuum irgendeiner Ordnung
als Nichtzwitter (Gonochoristus) besitzt nur einen von beiden Ge-
schlechtsstoffen, Ovum oder Sperma. Das getrenntgeschlechthche
Individuum mit Ovum, ohne Sperma, wird allgemein als weibliches
(femininum)^ das nichtzwitterige Individuum mit Sperma, ohne Ovum,
als männliches (masciilinuni) bezeichnet. Indem wir die zwölf mög-
lichen verschiedenen Fälle des Gonochorismus und Hermaphroditismus
einzeln betrachten, finden wir das Gesetz, daß immer der Herma-
phroditismus einer bestimmten Individualitätsordnung mit Gonochoris-
mus einer niedrigeren Ordnung verbunden ist.
188 Entwickelungsgeschichte der physiologisclien Individuen. XVII.
I. GesclileclitsverliältDisse der Piastiden (Cytoden
und Zellen).
Ja) Hermaphroditismus der Piastiden.
Zwitterbikluriy der Individuen erster Ordnung-.
Die beiderlei Geschleclitsstoffe sind in einem Indivi-
duum erster Ordnung (Plastide) vereinigt.
Der Hermaphroditismus der Piastiden ist von den zwölf mög-
lichen Fällen, welche uns die zweifach verschiedenen Geschlechts-
verhältnisse der Individuen von sechs verschiedenen Ordnungen dar-
bieten können, der einzige, dessen Existenz nicht ganz sicher nach-
gewiesen ist. Es ist uns kein Fall mit Sicherheit bekannt, daß eine
und dieselbe Plastide (sei es nun eine Cytode oder eine Zelle) beiderlei
Geschleclitsstoffe in sich erzeugt hätte. ^) Weder bei den Tieren, noch
bei den Protisten, noch bei den Pflanzen sind unzweifelhaft zwitterige
Cytoden oder Zellen beobachtet worden, d. h. einzelne Piastiden, die
in einem Teile ihres Leibes weibliche, in einem anderen männliche Zeu-
gungsstoffe produziert hätten. Selbst bei den einzelligen Algen, welche
geschlechtlich zeugen, entstehen entweder die beiden Geschlechts-
produkte in zwei verschiedenen Individuen (Zellen), oder wenn ein
einzelnes Individuum sie beide erzeugt, geschieht dies in besonderen
Abteilungen der Zelle, welche sich vorher durch Scheidewände von
den übrigen Teilen der Zelle getrennt haben, also im Grunde selbst
schon wieder selbständige Zellen darstellen. Vielleicht findet sich
jedoch wirklicher Hermaphroditismus der Piastiden bei einem
Teile derjenigen niederen Pflanzen (Desmidiaceen und Zygnemaceen)
und Tiere (Gregarinen, Infusorien), welche durch Konjugation und
Copulation zeugen. Bekanntlich besteht dieser Prozeß darin, daß
zwei Individuen erster Ordnung oder Piastiden (bald Zellen, bald
Cytoden) mit einer Stelle ihres Leibes sich aneinander legen, hier
verwachsen und endlich teilweise oder vollständig verschmelzen.
Die vollständige Verschmelzung, bei welcher aus zwei Individuen
eines wird, bezeichnet man als Kopulation (z. B. bei Gregarinen
und anderen Protoplasten, Rhizopoden, einigen Infusorien); dagegen
die unvollständige Verschmelzung, bei welcher die Individualität
1) (1906). Ein solcher Fall ist erst neuerdings in der Konjugation der
Wiraperinfusorien entdeckt worden. Jede der beiden konjugierenden Ciliaten-
zellen sondert im Standkern (Panlocarijon) einen weiblichen, im Wander-
kern (Planocaryon) einen männlichen Teil ab.
XVII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 189
der beiden verschmelzenden Piastiden mehr oder weniger erhalten
bleibt, als Konjugation (z. B. bei den Konjugaten: Zygnemaceen,
Desmidiaceen). Das Resultat dieser Verschmelzung ist die Bildung
einer einzigen oder mehrerer, zur selbständigen Entwickelung fähiger
Piastiden, welche man gewöhnlich als Sporen bezeichnet. Nach
unserer Auffassung ist die besonders von de Bary aufgestellte Ansicht
die richtigere, daß wir es hier mit einer wirklichen geschlechtlichen
Zeugung zu tun haben, und das Produkt derselben, die Zygospore,
ist demnach nicht als Spore, sondern als sexuelles Zeugungsprodukt,
als ..befruchtetes Ei" zu bezeichnen. Offenbar ist das Wesentliche
dieses Prozesses, wie bei jeder geschlechtlichen Zeugung, die Ver-
mischung zweier verschiedener Stoffe, welche zur Bildung
eines neuen Indi\äduums führt. Von den übrigen Formen der ge-
schlechtlichen Zeugung ist die Kopulation und Konjugation nur dadurch
verschieden, daß diese beiden verschiedenen Geschlechtsstoffe nicht
geformt sind, und gerade hierin liegt für uns die große Bedeutung
derselben, da sie offenbar den primitivsten Anfangszustand der
Amphigonie repräsentieren, der sich unmittelbar an die ungeschlecht-
liche Sporogonie anschließt. Man könnte nun wohl daran denken,
daß bereits in den noch nicht zur Kopulation oder Konjugation ge-
langten Piastiden eine Sonderung des Plasma in zweierlei verschie-
dene Zeugungsstoffe eingetreten sei, und es würde dann der Prozeß
der Kopulation und Konjugation selbst als eine wechselseitige
Befruchtung zweier hermaphroditischer Individuen erster
Ordnung aufzufassen sein, wie wir dieselbe sehr häufig bei zwitte-
rigen Individuen höherer Ordnung (z. B. den Schnecken) finden.^)
Insbesondere könnte hierfür angeführt werden, daß unter Umständen
auch die einzelnen Individuen, welche gewöhnlich konjugieren (z. B.
Zygnemen) oder kopulieren (z. B. Gregarinen) selbständig „Sporen"
in ihrem Innern erzeugen können. Indessen muß es vorläufig zweifel-
haft bleiben, ob hier eine Selbstbefruchtung einer hermaphroditischen
Zelle, oder eine Parthenogenesis, die schon zur Sporogonie zu rechnen
sein würde, vorliegt, da wir noch nicht imstande gewesen sind, die
Verschiedenheit der beiderlei Zeugungsstoffe in den einzelnen kopu-
lierenden und konjugierenden Individuen (weder in chemischer, noch
in morphologischer Beziehung) zu konstatieren.
^) (1906). Die hier ausgesprochene Vermutung ist 30 Jahre später durch
die modernen Entdeckungen über die Konjugation der Infusorien und Sporozoen
vollauf bestätigt worden.
190 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII.
Ib) Gonochorisnnis der Piastiden.
Geschlechtstreunung' der Imlividueii erster Ordiumg-.
Die beiderlei Gesclilechtsstoffe sind auf zwei verschie-
dene Individuen erster Ordnung (Piastiden) verteilt.
Dieser Fall der Geschlechtstrennung ist der allgemeinste von
allen sechs möglichen Fällen des Gonochorismus, und wenn ein
Hermaphroditismus der Plastidcn nicht existierte, so würden eigent-
lich sämthche Fälle der geschlechtlichen Differenzierung und Zeugung
überhaupt hierher zu ziehen sein. Denn bei allen sexuellen Indivi-
duen zweiter und höherer Ordnung, mögen dieselben nun Herma-
phroditen oder Gonochoristen sein, finden wir die beiderlei Geschlechts-
produkte von verschiedenen Individuen erster Ordnung erzeugt. In
allen uns bekannten Geschlechtsorganen gibt es männliche und weib-
liche Zellen nebeneinander, aber keine Piastiden, welche zugleich
männliche und weibhche Geschlechtsstoö'e bildeten. Zwitterige Zellen
sind bisher innerhalb eines Geschlechtsorgans nicht beobachtet worden.
Wenn wir also von den soeben erwähnten möglichen Fällen des
Hermaphroditismus bei kopuherenden und konjugierenden Protisten
absehen, so würden wir den Gonochorismus der Piastiden als all-
gemeine Eigenschaft sämtlicher amphigoner Organismen ansehen
können. Die weibliche Geschlechtszelle erzeugt gewöhnlich ein
einziges Ei, d. h. sie wandelt sich in ihrer Totalität in eine Eizelle
um. Die einzelne männliche Geschlechtszelle (Samenzelle) dagegen
erzeugt sehr häufig einen Komplex von mehreren Zoospermien; andere-
male fungiert sie in ihrer Totalität. Die Formenmannigfaltigkeit der
Zoospermien bei den verschiedenen Organismen ist außerordentlich
groß. Besonders bemerkenswert ist die auffallende Ähnlichkeit der
fadenförmigen bewegHchen Zoospermien (Geißelzellen) bei den Crypto-
garaen und den meisten Tieren. Ebenso zeigt auch die Form der
Eizelle, und besonders ihre Htillenbildung, bei Pflanzen und Tieren
mannigfaltige Analogien.
IL Geschlechtsverhältnisse der Organe.
IIa) Hermaphroditismus der Organe.
Zwitterbildung' der Individuen zweiter Ordnung'.
Die beiderlei Geschlechtsprodukte sind in einem Indi-
viduum zweiter Ordnung (Organ) vereinigt.
Die Zwitterbildung der Organe ist im ganzen selten, da bei
den meisten hermaphroditischen Organismen die beiden Geschlechts-
XYjj_ I. Verschiedene Arten der Zeugimg. 191
Stoffe auf zwei verschiedene ludividiien dritter oder höherer Ordnung
verteilt sind. Doch finden wir in sehr ausgezeichneter Weise beiderlei
Zeugungsstoffe von einem einzigen Organe produziert bei manchen
Mollusken, und zw^ar am auffallendsten bei den sonst hoch differen-
zierten Lungenschnecken (Pulmonaten). Trotz der außerordentlichen
Komplikation, welche der Geschlechtsapparat dieser Tiere im übrigen
darbietet, werden dennoch die Eier und Samenzellen von einem und
demselben Organe unmittelbar neben einander erzeugt. Eine gleiche
Zwitterdrüse (Glandula hermaphrodita) findet sich bei Sijnapia
unter den Echinodermen. Unter den Pflanzen kommen ähnliche
Zwitterdrüsen, d. h. Organe, welche männliche und weibliche Ge-
schlechtsprodukte zugleich erzeugen, nur sehr selten vor, z. B. bei
Marsilea, Pilidaria und einigen anderen Rhizocarpeen,
IIb) Gonochorisnius der Organe.
Gesehlechtstrennung' der ludividueu zweiter Ordnung'.
Die beiderlei Geschlechtsprodukte sind auf zwei ver-
schiedene Individuen zweiter Ordnung (Organe) verteilt.
Die Verteilung der Geschlechtstätigkeit auf verschiedene Organe
ist die allgemeine Regel für die große Mehrzahl aller Organismen,
auch für die meisten sogenannten „Zwitterindividuen'' (d. h. lierma-
phroditischen Individuen dritter und höherer Ordnung). Die weib-
lichen Organe, welche die Eier produzieren, heißen bei den Tieren
allgemein Eierstöcke {Ovaria), bei den phanerogamen Pflanzen
Samenknospen {Oemmulae), bei den meisten cryptogamen Oogonien
oder Archegonien (oder Pistillidien). Die männlichen Organe,
welche das Sperma produzieren, heißen bei den Tieren allgemein
Hoden (Spermaria, TcsticiiU), bei den Phanerogamen Antheren
oder Staubblätter, bei den Cryptogamen Antheridien. Bei den
Tieren entwickeln sich sehr häufig weibliche und männliche Ge-
schlechtsorgane aus einer und derselben Anlage, so zwar, daß bei
den beiderseitigen Embryonen beiderlei Organe bis zu einer gewissen
Zeit nicht zu unterscheiden sind und sich erst später differenzieren
(z. B. bei den Wirbeltieren). Bei den phanerogamen Pflanzen dage-
gen sind beiderlei Organe in morphologischer Beziehung wesentlich
verschieden, indem die männliche Geschlechtsdrüse ein reines Blatt-
organ („Staubblatt"), die weibliche Geschlechtsdrüse (Samenknospe)
dagegen entweder ein reines Achsenorgau oder eine wirkliche Knospe
(ein Achsenorgan mit Blattorganen) ist. Zwischen den vollkommen
192 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XYII.
getrennten Geschlechtsorganen nnd den vorhin erwähnten Zwitter-
drüsen gibt es bei den Tieren (insbesondere Schnecken nnd Würmern)
eine Menge vermittehider Übergänge, w^elche die alhnähUche Her-
vorbikhuig der ersteren aus den letzteren in schlagender Weise be-
kunden. Insbesondere sind die Ausführungsgänge der männlichen
und weiblichen Drüsen oft noch auf kürzere oder längere Strecken
hin vereinigt.
lU. Geschlechtsverhältnisse der Antimeren.
Illa) Hermaphroditismus der Antimeren.
Zwitterbildung- der Individuen dritter Ordnung.
Die beiderlei Geschlechtsorgane sind in einem Indivi-
duum dritter Ordnung (Antimer) vereinigt.
Dieser Fall ist die allgemeine Regel bei den allermeisten herma-
phroditischen Individuen vierter und höherer Ordnung. Insbesondere
bei den zwitterigen Tieren besitzt meist jeder homotypische Abschnitt
beiderlei Geschlechtsorgane. Fast allgemein finden wir bei den dipleuren
Zwittertieren beiderlei Organe sowohl auf der rechten als auf der
linken Hälfte, bei den centraxonien und amphipleuren Zwittertieren
in jedem ihrer „Strahlteile". Weniger allgemein ist dieses Verhältnis
bei den Pflanzen, wo öfters insbesondere die w^eiblichen Organe in
einem oder mehreren Antimeren abortieren, so daß diese bloß ein-
geschlechtig sind.
Illb) Gonochorismus der Antimeren.
Geschlechstrennung- der Individuen dritter Ordnung-.
Die beiderlei Geschlechtsorgane sind auf zwei ver-
schiedene Individuen dritter Ordnung (Antimeren) verteilt.
Dieser Fall ist im ganzen viel seltener als der vorige, besonders
im Tierreiche. Hier kommt es nur ausnahmsweise vor, daß bei einem
hermaphroditischen Organismus die Genitalien des einen Antimeres
männlich, die des anderen weiblich sind, so bei den Ctenophoren.
Bei einigen Anthozoen-Arten schließen die Mesenterialf alten (in der
Medianebene der Antimeren liegend) alternierend männliche und w^eib-
liche Genitalien ein. Derartige Zwitter finden sich bisweilen auch
bei dipleuren Tieren, die sonst getrennten Geschlechts sind, bei denen
aber beiderlei Organe sich aus derselben Anlage hervorbilden, wie
z. B. bei den Wirbeltieren. Unter letzteren sind solche Zwitter-
bildungen, w^o die rechte Hälfte weiblich, die linke männlich differenziert
XVII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 193
war, oder umgekehrt, mehrfach beobachtet worden, in einzehien Fällen
auch beim Menschen (sogenannter Hermaphroditismus lateralis). Eben
solche Fälle sind auch von unseren Flußmuscheln {Unio, Anodonta)
bekannt, wo bisweilen das Geschlechtsorgan der rechten Seite ein
Hoden, der linken ein Eierstock ist, und umgekehrt. Häufiger ist
diese sexuelle Differenzierung der Antimeren bei den phanerogamen
Pflanzen, wo oft in einer Zwitterblüte (Person), die im einen Ge-
schlechtskreise (Metamer) weibliche, im anderen männliche Organe
auf mehrere Antimeren verteilt trägt, der eine oder andere liomo-
typische Abschnitt kein Geschlechtsorgan entwickelt (abortiert), so daß
ein Teil der Antimeren bloß männlich, ein anderer Teil bloß weiblich
wird. Selten aber ist dieser Abortus in beiden Kreisen (männlichen
und weiblichen) so regelmäßig komplementär, daß die ganze Blüte
(Person) bloß aus rein männlichen und rein weiblichen Antimeren
zusammengesetzt ist. Vielmehr behält meistens ein Teil der Antimeren
(gewöhnlich die Mehrzahl) die ursprüngliche Zwitterbildung bei. In
höchst ausgezeichneter Weise findet sich der reine Gonochorismus
der Antimeren konstant bei Canna, wo nicht zwei Metameren (Blatt-
kreise) geschlechtlich differenziert sind, sondern wo nur ein einziger
Blattkreis (Metamer) zur geschlechtlichen Entwickelung gelangt, und
wo in diesem, aus drei Antimeren bestehenden Kreise, das eine An-
timer männlich, das zweite weiblich wird und das dritte abortiert.
IV. Geschlechtsverhältnisse der Metameren.
IVa. Hermaphroditismus der Metameren.
Zwitterliildung- der Individuen vierter Ordnung-.
Die beiderlei Geschlechtsorgane sind in einem Indivi-
duum vierter Ordnung (Metamer) vereinigt.
Dieser Fall ist die allgemeine Regel bei den hermaphroditischen
Tieren, bei welchen die physiologische Indi\idualität den Rang eines
Metameres hat. Hier müssen natürlich die beiderlei Genitalorgane
auf einem und demselben Metamer vereinigt sein, z. B. bei den Tre-
matoden, Zwitterschnecken. Bei den zwitterigen Articulaten, welche
durch Aggregation von Metameren Personen herstellen, wie auch bei
den Bandwürmern, wiederholen sich gewöhnlich ganz regelmäßig
weibliche und männliche Organe in mehr oder minder inniger, teil-
weiser Vereinigung in jedem Metamer, mit Ausnahme der geschlechts-
losen. Doch kommt es hier auch häufig vor (z. B. bei den Hirudineen,
Lumbricinen), daß nur einige Metameren hermaphroditisch, die anderen
Haecljel, Prinz, d. Morpliol. 13
194 Entwickeliingsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII.
dagegen unisexuell, bloß männlich oder bloß weiblich sind. Viel
seltener als bei den Tieren ist der Herniaphroditismus der Metameren
bei den phaneroganien Pflanzen (z. B. Canna): vielmehr ist der nm-
gekehrte folgende Fall hier die Regel.
IVb. (ionochorismu s der Metameren.
Gesehlecht.strennung' der hidividiien vierter Ortlniing-.
Die beiderlei Geschlechtsorgane sind anf zwei ver-
schiedene Individuen vierter Ordnung (Metameren) verteilt.
Im Gegensatz zu den zwitterigen Tier-Personen zeichnen sich die
hermaphroditisclien Blüten der phaneroganien Pflanzen dadurch aus,
daß gewöhnlich die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane auf
verschiedene Metameren oder Glieder verteilt sind. In den allermeisten
Fällen ist ein unteres (hinteres) Stengelglied vorhanden, welches den
Kreis der männlichen Staubblätter, und ein olleres (vorderes), welches
den (inneren) Kreis der weiblichen Fruchtblätter trägt, an denen die
Samenknospen sitzen. Da nun morphologisch jedes Stengelgiied,
das einen Bhittkreis trägt, auch wenn es ganz unentwickelt ist, ein
vollständiges Metamer darstellt, so sehen wir bei den meisten Phane-
roganien che Blüte aus einem (oder mehreren) weiblichen (oberen)
und männlichen (unteren) Metameren zusammengesetzt; das obere
weibliche Metamer heißt der Kreis der Fruchtblätter (Carpella), das
untere männliche der Kreis der Staubblätter (Antherae). Unter den
geschlechtlichen Kreisen stehen dann noch mehrere geschlechtslose
Metameren. welche nicht sexuell differenzierte Blattkreise (Blumen-,
Kelch-, Deckblätter etc.) tragen. Unter den Tieren ist dieser Gono-
chorismus der Metameren sehr verbreitet bei den gonochoristen Bionten
vierter Ordnung, insbesondere bei den höheren Mollusken, welche alle
den morphologischen Rang eines Metameres haben. Selten dagegen
ist er bei zwitterigen Bionten fünfter Ordnung. In ausgezeichneter
Weise findet er sich so bei Sagitta, welche aus zwei zwitterigen An-
timeren und zwei Metameren besteht, und wo das vordere Metamer
(entsprechend dem oberen oder vorderen der Phaneroganien) weiblich,
das hintere (entsprechend dem unteren) männlich ist.
V. Geschlechtsverhältnisse der Personen.
Va. Herniaphroditismus der Personen (Monoclinia).
Zuitterbiklung- der Individuen fünfter Ordnung.
Die beiderlei Geschlechtsorgane sind auf einem bi-
sexuellen Individnnm fünfter Ordnung (Prosopon) vereinigt.
XVII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 195
Dieser Fall wird von den Zoologen gewöhnlich als „Herm-
aphroditismus" schlechtweg bezeichnet, weil die meisten Tiere auf der
(fünften) tectologischen Rangstufe der Personen stehen bleiben. Bei
den Pflanzen dagegen, welche meistens die höhere (sechste) Rang-
stufe des Stockes erreichen, unterscheiden die Botaniker sorgfältiger
zwischen der Zwitterbildung der Sprosse (MonocUiiia) und der
Stöcke {Monoecia). Unter den Tieren ist der Hermaphroditismus
der Personen vorzugsweise bei den kleineren und niederen Formen
verbreitet. Im Stamme der Vertebraten findet er sich nur ausnahms-
w^eise (bei einigen Kröten, wenigstens rudimentär: h&i ScrranusmiiQY
den Fischen); im Stamme der Articulaten selten bei den höher
stehenden Arthropoden (Tardigraden unter den Arachniden. Cirripedien
unter den Crustaceen), häufiger bei den tiefer stehenden Würmern
(Hirudineen, Scoleinen, Sagitta etc.); im Echinodermenstamme selten
(bei Sijnapta): auch im Coelenteratengtamme nur ausnahmsweise. Un-
gleich verbreiteter ist der Hermaphroditismus der Personen bei den
Pflanzen, w^o er sich bei der großen Mehrzahl aller Phanerogamen
und sehr vielen Cryptogamen findet.
Vb. Gonochorismus der Personen (Diclinia).
Geschlechtstreimung- der Individueu füuftex- Ordmmg-.
Die beiderlei Geschlechtsorgane sind auf zwei ver-
schiedene unisexuelle Individuen fünfter Ordnung verteilt.
Die gonochoristen Personen sind es, welche die Zoologen ge-
wöhnlich als „getrennt-geschlechtige" Tiere im engeren Sinne, die
Botaniker schärfer als „diclinische" Pflanzen unterscheiden. Die weib-
liche Person wird bei den Phanerogamen als „w^eibliche Blüte" be-
zeichnet; die männliche Person als „männliche Blüte". Dieselbe
Trennung der Geschlechter findet sich bei der großen Mehrzahl aller
Tiere; bei allen Vertebraten (einige Kröten un{\.Serranus ausgenommen),
bei den meisten Arthropoden (die Cirripedien und Tardigraden aus-
genommen), bei den meisten höheren Würmern und den meisten
Coelenteraten. Unter den Pflanzen ist sie umgekehrt die Ausnahme.
Es gehören hierher alle Personen (Blütensprösse) der Phanerogamen,
welche monoecische und dioecische Stöcke zusammensetzen, außerdem
aber auch alle unisexuellen Blüten, welche keine Stöcke bilden (be-
sonders unter den Cryptogamen).
13*
196 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII.
VI. Geschlechtsverhältnisse der Stöcke.
VTa. Hormaphro ditismus der Stöcke (Monoecia).
Zwitterbildung' der Individuen sechster Ordnung.
Die beiderlei Geschlechtspersonen sind auf einem
bisexuellen Individuum sechster Ordnung(Cormus) vereinigt.
Alle hierher gehörigen Fälle von Zwitterbildung bei den Phanero-
gamen hat Linne in seiner einundzwanzigsten Phaneroganienklasse,
den Monoecia, zusammengefaßt. Die sogenannte „zusammengetzte
Pflanze", d. h. der Stock, ist hier hermaphroditisch, die einzelnen
Personen aber (Bltitensprosse). welche ihn zusammensetzen, diclinische,
teils männhche, teils weibliche Blüten. Es ist dies z. B. der Fall
bei den Birken, Buchen, Eichen, Riedgräsern etc. Ganz dieselbe
Vereinigung der beiderlei unisexuellen Personen auf einem Stocke
findet sich unter den Tieren bei den allermeisten Siphonophorenstöcken,
dagegen nur ausnahmsweise bei den Korallenstöcken (Anthozoen).
VIb. Gonochorismus der Stöcke (Dioecia).
Geschlechtstrenming' der Individuen sechster Ordnung.
Die beiderlei Geschlechtspersonen sind auf zwei ver-
schiedene unisexuelle Individuen sechster Ordnung (Cor-
men) verteilt.
Dieser zwölfte und letzte, am weitesten gehende Fall von Trennung
der Geschlechter gab Linne Veranlassung zur Aufstellung seiner
zweiundzwanzigsten Phaneroganienklasse, der Dioecia. Die soge-
nannte ..zusammengesetzte Pflanze" oder der Stock ist hier unisexuell,
entweder männlich oder weibhch. Alle einzelnen denselben zusammen-
setzenden Personen sind diclinisch und gehören einem und demselben
Geschlechte an. Es ist dies der Fall bei den Weiden und Pappeln,
den meisten Palmen und vielen Wasserpflanzen. Ferner gehören hierher
unter den Tieren die meisten Anthozoenstöcke, aber nur wenige
Siphonophorenstöcke, z. B. Diphyes quadrivalvis.
XVII.
System der ungeschlechtlichen Fortpflanzungsarten.
197
II. System der uiigesclileclitliclieii Fortpflaiizungsarten.
Beispiele.
A. Unge-
schlechtli-
che Zeu-
gungdurch
Spaltung
Scliizo-
gonia
Genera-
tio fissi-
p a r a
a) Selbstthei-
lung
Divisio
I. Zweiteilung
Dimidiatio
(Teilung in zwei
Hälften)
1. Stückteilung
Divisio indefinita.
fViele Protisten.
I Viele Piastiden
(Spaltung mit
Vernichtung
des zeugenden
Individuums)
1j) Knospung
Gemiuatio
II. Strahlteilung
Diradiatio
(Teilung in mehr
als zwei Stücke)
I. Äußere Knos-
penbildung
Gemmatio
externa
(Spaltung
ohne Vernich-
tung des
zeugenden
Indi\dduums)
II.
j von Tieren
l und Pflanzen.
( Diatomeen.
l Astraeiden.
( Turbinoliden.
[ Ophryoscoleci-
l neu.
( Halteria.
( Chlorogonium.
Divisio diagonalis | Lagenophyrs.
Vierzählige
Phanerogamen-
Blütensprosse.
Die meisten
Coelenteraten.
Die meisten
Blütensprosse
der Phanero-
gamen.
Die meisten
Echinodermen.
Internodien der
Phanerogamen.
Strobila der
Cestoden.
Axillarknospen
der Phanero-
gamen und
Bryozoen.
[Medusen, z. B.
pro-
lifera.
2. Längsteilung
Divisio longitudi-
nalis.
3. Querteilung
Divisio transversa-
lis
4. Diaeonalteilung
5. Paarige Strahlteilung
Diradiatio artia
6. Unpaarige Strahltei-
lung
Diradiatio anartia
1. Endknospenbildung
Gemmatio termina-
lis
2. Seitenknospenbildimg
Gemmatio lateralis
B. Unge-
schlechtli-
che Zeu-
gungdurch
SporenbU-
dung
Sporo-
goiiia
Genera-
tio spo-
ripara
I. Keimknospenbildung
Polysporogonia.
Produkt der Keimbildung
eine Mehrheit von Pla-
stiden (Polyspora).
3. Innere Knospen ohne
Knospenzapfen
Innere Knos- Gemmatio coelo-
penbildung blasta
4. Innere Knospung an
einem Knospenzapfen
Gemmatio organo-
blasta
1. Fortschreitende Keim-
knospenbildung
Polysporogonia pro-
Aegineta
Gemmatio
interna
f Salpa.
^^ Doliolum.
II. Keimplastidenbildung
Monosporogoni a
Produkt der Keimlnldung
eine einzelne Plastide
(Monospora).
2. Rückschreitende Keim-
knospenbildung
Polysporogonia regres
siva
3. Fortschreitende Keim-
plastidenl)ildung
M 0 n 0 s p 0 r 0 g 0 n i a pro-
gressiva
4. Rückschreitende Keim-
plastidenbildung
Monosporogonia regres-
siv a
Parthenogonia (pro parte?)
( Distomeen.
I Gyrodactylus
{ Infusorien.
(Gemmulae der
\ Sj^ongien.
Algen.
Pilze.
Rhizopoden.
Infusorien.
Ohara crinita.
Coelebogyne.
Aphis.
Apis.
Coceus.
198
Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen.
XVll.
11 1. System der gesclilechtliclicii Fortpflaiizim^sarteii.
I. Hermaphroditisnms der sechs Individualitätsordnnngen.
Verscliicdene Formen
der Gesclileclitsvertcilunsr.
1. Heimaphroditisnius der l'lastiden
(Zwitterbildung erster Ordnung).
2. Hennaphroditismus der Organe
(Zwitterbildung zweiter Ordnung).
o. Hermaphroditismus der Antimeren
(Zwitterl)ildiing dritter Ordnung).
4. Herniajjhroditismus derMetameren
(Zwitterbildung vierter Ordnung).
5. Herrn aphroditismus der Personen
(Zwitterbildung fünfter Ordnung).
(Monoclinia.)
(j. Hermaphroditismus der Cormen
(Zwitterbildung sechster Ordnimg).
(Monoecia.)
Beispiele aus dem
Pflanzenreiche.
Beispiele aus dem
Tierreiche.
Conjugatae.
Desmidiaceae.
Zygnemaceae.
Einige Rhizocarpeen (Pi-
lularia, Marsilea).
Die meisten zwitterigen
Phanerogamen. z. B.
Liliaceen, Primulaceen.
Sehr wenige zwitterige
Phanerogamen, z. B.
Canna.
Die meisten zwitterigen
Phanerogamen, z. B.
Liliaceen. Primulaceen.
Viele Bäume (Betiüa,
Quercus). Viele Was-
serpflanzen (Myriophyl-
lum, Typha).
Gregarinae.
Infusoria.
Synapta,
Gasteropoda pulmonata.
Die meisten zwitterigen
Tiere, z. B. Trematoden,
Cirripedien.
Die meisten zwitterigen
Tiere, z. B. Trematoden,
Cestoden , Planarien ,
Mollusken.
Wenige zwitterige Tiere,
z. B. Tardigraden, Cir-
ripedien.
Korallenstöcke
(Anthozoen). Die mei-
sten Siphonophoren-
stöeke.
Wenige
n. Gonochorisnms der sechs Individualitätsordnungen.
Die meisten sexuell diffe- Die meisten sexuell diffe-
1. Gonochorismus der Piastiden
(Gesclüechtstrennung erster
Ordnung).
2. Gonochorismus der Organe
(Gesclüechtstrennung zweiter
Ordnung).
3. Gonochorismus der Antimeren
(Geschlechtstrennung dritter
Ordnung).
4. (jonochorismus der Metameren
(Geschlechtstrennung \äerter
renzierten Pflanzen.
renzierten Tiere.
Die meisten se.xuell diffe- ' Die meisten se.xuell diffe-
renzierten Pflanzen. renzierten Tiere.
o.
6.
Ordnung).
Gonochorismus der
(Geschlechtstrennung
Ordnung).
(Diclinia.)
Gonochorismus der
(Geschlechtstrennung sechster
Ordnung).
(Dioecia.)
Personen
fünfter
Cormen
Einige zwitterige Phane-
rogamen, z. B. Canna.
Die meisten Phaneroga-
men, z. B. Lüiaceen,
Primulaceen.
Alle monoecischen und
dioecischen Phaneroga-
men.
Viele Bäume (Salix, Po-
pulus). Viele Wasser-
pflanzen (Hydrocharis,
Vallisneria).
Ctenophoren. Einige An-
thozoen mit alternierend
männlichen und weib-
lichen Antimeren.
Sagitta. Die meisten Mol-
lusca cephalota. (Alle
Cephalopoden etc.)
Die meisten Vertebraten
und Arthropoden (aus-
genommen Tardigraden
imd Cirripedien.)
Die meisten Korallen-
stöcke (Anthozoen).
Wenige Siphonophoren-
stöcke (z. B. Diphyes
quadrivalvis).
XVII. IV. Verschiedene Funktionen der Entwickelung. IQQ
IT. Terschiedeue riiiiktionen der Entwickehing.
„Die Entwickelimgsgeschichte des Individuums ist die Geschichte
der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung." In diesen
wenigen treffenden Worten spricht Bär das allgemeinste Resultat
seiner klassischen Untersuchungen und Beobachtungen über die Ent-
wickelungsgeschichte der Tiere aus. In der Tat ist das Wachstum
der Individuen diejenige organische Funktion, welche den wichtigsten
Entwickelungsvorgängen zugrunde liegt. Selbst die Zeugung, mit der
jede individuelle Entwickelung beginnt, ist im Grunde, wie wir sahen,
unmittelbar mit dem AVachstum zusammenhängend und in den aller-
meisten Fällen (die Generatio spontanea ausgenommen) die direkte
Folge des Wachstums über das individuelle Maß hinaus. Obgleich
wir also allgemein das Wachstum als die bedeutendste Fundamental-
funktion der ontogenetischen Prozesse bezeichnen können, müssen
wir dennoch, wenn wir den Begriff der Ontogensis in dem weitesten
oben festgestellten Umfange fassen, und nicht nur die Anaplase,
sondern auch die Metaplase und Cataplase darunter verstehen wollen,
neben dem Wachstum noch einige andere organische Funktionen
unterscheiden, welche zwar ebenfalls Ernährungsvorgänge sind und
schon als solche mit demselben zusammenhängen, aber doch wesent-
lich von ihm verschieden sind. Es sind dies namentlich die Er-
scheinungen der Differenzierung, welche wir im neunzehnten Kapitel
noch eingehender betrachten werden, und die Vorgänge der Degene-
ration oder Entbildung. Wir können demnach allgemein als ver-
schiedene „Funktionen der Ontogenesis" folgende vier Prozesse
unterscheiden: 1. die Zeugung: 2. das Wachstum im engeren
Sinne; 3. die Differenzierung; 4. die Degeneration. Alle
vier Prozesse, auf welche sich sämtliche übrigen ontogenetischen
Vorgänge zurückführen lassen, sind physiologische, d. h. physikalisch-
chemische Funktionen, welche unmittelbar mit der allgemeinen
organischen Fundamentalfunktion der Ernährung zusammenhängen.
1. Die Zeugung (Generatio).
Die Entstehung des organischen Individuums durch Zeugung ist
der erste und fundamentalste Prozeß, mit welchem jede individuelle
Entwickelung beginnt. Da wir ihre verschiedenen Formen im vorher-
gehenden bereits betrachtet haben, so heben wir hier bloß nochmals
200 Entwickelungsgeschichte dev physiologischen Individuen. XYII.
hervor, daß die Zeugung nicht allein als der erste Entstehungsakt
die Ontogenesis jedes organischen Individuums einleitet, sondern auch
das Wachstum der Individuen zweiter und höherer Ordnung dadurch
bewirkt, daß beständig die Individuen erster Ordnung, welche dieselben
zusammensetzen, durch wiederholte Zeugungsakte sich vermehren.
2. Das Wachstum (Crescentia).
Das Wachstum im engeren Sinne (Crescentia) zeigt sich äußer-
lich allgemein in einer Größenzunahme des Individuums, einer
totalen oder partiellen Vermehrung seines Volums und seiner Masse.
Das innere Wesen dieser unmittelbar mit der Ernährung zusammen-
hängenden Funktion haben wir bereits im fünften Kapitel eingehend
erläutert. Wir führten dort aus, daß das Wachstum sowohl der
organischen als der anorganischen Individuen wesentlich darin beruht,
daß das vorhandene Individuum, ein festflüssiger oder fester Körper,
als Attraktionszentrum wirksam ist und aus einer umgebenden Flüssig-
keit bestimmte Moleküle anzieht, welche in dieser gelöst sind und
welche er aus dem flüssigen in den festflüssigen Aggregatzustand
überführt. Die Anziehung der Moleküle geschieht mit einer bestimm-
ten, durch die chemische Wahlverwandtschaft des Körpers bedingten
Auswahl. Das Wachstum der organischen und anorganischen Indi-
viduen ist durchaus analog und beruht in beiden Fällen auf den
physikaHschen Gesetzen der Massenbewegung, Anziehung und Ab-
stoßung. Der wesentliche Unterschied im Wachstum beider Gruppen
von Naturkörpern besteht darin, daß das Wachstum des festflüssigen
organischen Individuums durch Intussusception nach innen, dasjenige
des festen anorganischen Individuums (Kristalls) durch Apposition von
außen erfolgt. Wenn wir im folgenden vom Wachstum im engsten
Sinne, oder vom „einfachen Wachstum" {Crescentia sitiqüeoc) der
Organismen sprechen, so verstehen wir darunter lediglich diesen
Prozeß, die Vergrößerung (Volumverraehrung) durch Aufnahme neuer
Moleküle. Diese einfache Wachstumsfunktion wird eigentlich nur von
den Individuen erster Ordnung (Piastiden) geübt. Denn das Wachs-
liiiii aller Individuen zweiter und höherer Ordnung ist erst das mittel-
bare Resultat des einfachen Wachstums der Individuen erster Ordnung,
und kann insofern als „zusammengesetztes Wachstum" {Cres-
centia composita) unterschieden werden, als es stets auf einer Ver-
bindung der beiden angeführten Entwickelungsfunktionen. Zeugung
und Wachstum der Piastiden, beruht. Wir können es daher
XVII. IV. Verschiedene Funktionen der Entwickelung. 201
als allgemeines Gesetz aussprechen, daß das Wachstum der morpho-
logischen Individuen erster Ordnung ein direktes oder einfaches,
das Wachstum der morphologischen Individuen zweiter und höherer
Ordnung dagegen ein indirektes ist, zusammengesetzt aus den beiden
zusammenwirkenden Funktionen der Zeugung und des Wachstums
der konstituierenden Piastiden. Obwohl die Entwickelungsfunktion
des Wachstums vorzugsweise in dem Stadium der Anaplasc wirksam
erscheint, setzt dieselbe dennoch ihre Tätigkeit auch noch während
der Stadien der Mctaplase und Cataplase beständig fort, da die
Deckung der Substanzverluste, welche durch die Lebensfunktionen
herbeigeführt werden, in letzter Instanz immer wieder durch die
Ernährung und das Wachstum der Piastiden bewirkt wird.
3. Die Differenzierung (Divergentia)
oder Arbeitsteilung (Polymorphismus).
Die dritte wichtige Fuhdamentalfunktion. welche bei der Ent-
wickelung der organischen Individuen wirksam ist, und auf welcher
alle höhere Entwickelung. alle Vervollkommnung derselben beruht,
bezeichnet man allgemein mit dem Namen der Differenzierung oder
Arbeitsteilung. Man versteht bekanntlich unter diesem wichtigen
Prozesse ganz im allgemeinen eine Hervorbildung ungleicharti-
ger Teile aus gleichartiger Grundlage, welche durch Anpassung
derselben an ungleiche Existenzbedingungen bewirkt wird. Im neun-
zehnten Kapitel werden wir die Divergenz des Charakters, w^elche
dieser ungleichartigen Entwickelung von ursprünglich gleichartigen
Teilen zugrunde liegt, näher zu erläutern und auf die Gesetze der
Anpassung- und Vererbung zurückzuführen haben. Hier sei daher
nur so viel bemerkt, daß wir den Begriff der Differenzierung im
w^eitesten Sinne fassen. Gewöhnlich wird derselbe nur auf die Bionten
oder physiologischen Individuen angewandt. Wie wir aber das Ver-
ständnis von deren Entwickelung nur dadurch erlangen können, daß
wir die Ontogenesis der morphologischen Individuen aller Ordnungen
erkennen, so verstehen wir auch den Polymorphismus der Bionten
nur dadurch, daß wir die Differenzierung aller untergeordneten Indi-
vidualitäten erkennen, w^elche die höheren zusammensetzen. Ja wir
g-ehen noch weiter, und leiten die divergente Entwickelung der Indi-
viduen erster Ordnung, der Piastiden, von einer Arbeitsteilung der
Eiweißmoleküle des Plasma ab, welches die aktive Piastidensubstanz
bildet. Wir führen mit einem Wort die morphologische und physiolo-
202 Eiitwickelungsf^eschiclite der jjlij'siologisclien Individuen. XVII.
ö
gisclie Dift'eronzierung auf die chemische Arbeitsteihing der Plasma-
molekül e ziiiück. Aus diesem Molekularvorgang resultieren alle
höheren Differenzierungsprozesse, welche die divergente Entwickelung
der vollkommenen Organismen möglich machen. So allgemein nun
auch diese Funktion in der ganzen organischen Welt und ganz be-
sonders bei der Meiaplase wirksam ist, so ist es doch sehr bemerkens-
wert, daß sie bei den einfachsten Organismen, den Moneren (Bacterien)
fehlt. Bei diesen homogenen und strukturlosen Protisten, welche sich
zunächst an die Kiistalle anschließen, beschränkt sich die Ontogenesis
auf die beiden Funktionen der Zeugung und des Wachstums, ohne
daß eine Differenzierung eintritt. Die Moneren schließen sich in
dieser wie in mehreren anderen Beziehungen näher an die organi-
schen Kristalle, als an die übrigen Organismen an.
4. Die Entbildung (Degeneratio).
Unter Entbildung oder Degeneration verstehen wir hier diejenige
Veränderung der organischen Individuen, deren Resultat eine Be-
schränkung oder Verminderung oder eine gänzliche Vernichtung ihrer
physiologischen Funktion zur Folge hat, und welche sich stets auch
in entsprechenden morphologischen Veränderungen ihrer Form und oft
in Verminderung ihres Volums kundgibt. Es ist dieser Prozeß also
dem des Wachstums gewissermaßen entgegengesetzt und wie das
letztere die Grundlage der Anaplase, so bildet die Degeneration das
Fundament der Catcqüase. Wir betrachten die Rückbildung, welche
oft der Entwickelung im engeren Sinne geradezu entgegengesetzt wird,
dennoch als einen Teil derselben, da wir oben gezeigt haben, daß
sich diese Vorgänge nicht scharf trennen lassen, und daß die voll-
ständige Ontogenie alle Stadien der individuellen Existenz zu begreifen
hat. Wir nennen die Degeneration, welche oft auch als „Rückbildung"
bezeichnet wird, „Entbildung", um sie scharf von der eigentlichen
Rückbildung oder Cataplase zu unterscheiden, von der sie nur einen
Teil darstellt. Die Rückbildung betrifft den ganzen Organismus in
seiner Totalität, die Entbildung nur einzelne Teile desselben. Durch
den Abschluß der Rückbildung wird die Existenz des organischen In-
dividuums vernichtet, durch den Abschluß der Entbildung dagegen
nicht: vielmehr verliert dasselbe durch letztere nur einzelne Teile.
Jede Entbildung eines Individuums zweiter oder höherer Ordnung ist
verbunden mit einer Rückbildung einer Anzahl von Individuen erster
Ordnung (Piastiden), welche das erstere zusammensetzen. Aber nicht
XVII. V. Verschiedene Stadien der Entwickelung. 203
jede Entbildung einer Plastide ist zugleich ihre Rückbildung-. Es
kann z. B. eine einzelne, stark differenzierte Pflanzenzelle einen Ent-
bildungsprozeß (z. B. Verlust bestimmter Fortsätze oder Inhaltsteile
der Zelle) vollständig von Anfang bis zu Ende durchmachen, ohne
daß dadurch ihre Rückbildung eintritt. Wir müssen also diese beiden
Prozesse, die totale Rückbildung des Bionten und seine partielle Ent-
bildung wohl unterscheiden, wenngleich immer die Rückbildung der
Individuen zweiter und höherer Ordnung auf einer Entbildung eines
Teiles ihrer konstituierenden Piastiden beruht. Im ganzen sind die
Vorgänge der Entbildung oder Degeneration noch sehr wenig unter-
sucht, da man sie meistens gar nicht als Teile der Entwickelungs-
geschichte betrachtet hat. Nur in der pathologischen Physiologie des
Menschen, wo sie von großer praktischer Bedeutung sind, haben die-
selben eine eingehendere Untersuchung erfahren. Es gehören dahin
besonders die Prozesse der fettigen Degeneration, der Erweichung,
Verkalkung, amyloiden Degeneration etc., kurz alle diejenigen, welche
man als Necrobiose zusammengefaßt hat. Bei den Pflanzen ge-
hören dahin die Verdickungen der Zellwände, die Bildung der luft-
haltigen Spiralgefäße durch Verschmelzung und Degeneration von
Zellen etc. Für die Cataplase und namentlich auch für die regressive
Metamorphose im engeren Sinne sind diese Vorgänge der De-
generation von der größten Bedeutung und verdienen ein weit ein-
gehenderes Studium, als ihnen bisher zu teil geworden ist.
Werfen wir nach dieser kurzen Übersicht der vier verschiedenen
Funktionen der individuellen Entwickelung auf dieselbe noch einen
vergleichenden Rückblick, so sehen wir, daß dieselbe im großen und
ganzen den verschiedenen Stadien der individuellen Entwickelung
entsprechen, so jedoch, daß gewöhnlich keine der ersteren ausschheß-
lich für sich allein eines der letzteren bildet. Es beteihgt sich die
Zeugung und das Wachstum vorzugsweise an der Anaplase, die
Differenzierung vorzugsweise an der Metaplase und die Degeneration
vorzugsweise an der Cataplase. Eine genauere Betrachtung der drei
Entwickelungsstadien wird uns dies noch bestimmter nachweisen.
Y. Yerschiedene Stadien der Entwickelung:.
1. Anaplasis oder Aufbildung (Evolutio).
(Aetas juvenilis. Juventus. Adolescentia. .Tugendalter.)
Wir haben oben im allgemeinen drei Stadien oder Perioden der
individuellen Entwickelung unterschieden, die Aufbildung, Umbildung
204 Entwickeliingsgescliichte der physiologischen Inclividuen. XYII.
und Hüc'kbikluiig'. und werden nun versuchen, den Charakter der-
selben etwas schärfer zu bestimmen. Das erste Stadium derselben,
die Aul'bildung oder Anaplase, ist dasjenige, welches der Entwickelimg
(Evolutio) im gewöhnlichen Sinne des Wortes entspricht. Es umfaßt
die aufsteigende oder fortschreitende Reihe von Formveränderungen,
welche das organische Individuum von dem Momente seiner Ent-
stehung an bis zur erlangten Reife durchläuft. Im weiteren Sinne
kann man diese Periode als das Jugendalter (Juventus, Aetas juvenihs)
des Individuums bezeichnen. Auch der Ausdruck Adolescentia wird
dafür gebraucht, der aber deshalb zweideutig ist, weil er von anderen
(nicht mit Recht) zur Bezeichnung des reifen Alters (Maturitas) ver-
wandt wird.
Die Entwiekelungsfunktionen, welche das Stadium der Anaplase
vorzugsweise charakterisieren, sind die Vorgänge der Zeugung und
des Wachstums. Wie diese beiden Prozesse mit der Ontogenese
aller organischen Individuen ohne Ausnahme verbunden sind, so ist
auch das Aufbildungsalter das einzige, welches allen Organismen
ohne Ausnahme zukommt. Bei den niedersten Organismen, den Mo-
neren, beschränkt sich die gesamte Entwickelung des Individuums
auf diese beiden Funktionen, auf seine Entstehung durch Zeugung
(entweder Archigonie oder Monogonie) und auf sein Wachstum. Hierin
stimmen diese einfachsten Bionten wesentlich mit den Kristallen überein,
deren Entwickelung ebenfalls auf die beiden Momente ihrer Ent-
stehung (durch einen der Archigonie ganz analogen Vorgang) und
ihres Wachstums beschränkt bleibt. Bei den allermeisten Organismen
kommt aber später noch die dritte Funktion der Differenzierung
hinzu, durch welche das anfangs gleichartige Individuum in ein un-
gleichartiges umgewandelt wird. Diese Differenzierung tritt schon
bei den meisten Organismen ein, welche zeitlebens auf der niedersten
morphologischen Stufe der Plastide stehen bleiben. Sie erreicht aber
ihre eigentliche Bedeutung und eine entschiedenere Wirksamkeit erst
dann, wenn durch Synusie von mehreren Piastiden ein Formindi-
viduum zweiter oder höherer Ordnung entsteht.
Die relative Ausdehnung und Bedeutung des Jugendalters ist bei
den Individuen verschiedener Ordnung und bei den Bionten ver-
schiedener Stämme und Klassen außerordentlich verschieden, und man
kann daher nicht allgemein bestimmte untergeordnete Perioden des-
selben unterscheiden. Bei denjenigen Individuen, welche durch ge-
schlechtliche Zeugung entstehen, zerfällt dasselbe stets in die beiden
XVII. ^ • Verschiedene Stadien der Entwickelung. 205
Abschnitte der embryonalen Jugend und der freien Jugend. So lange
das jugendliche Individuum in den Eihüllen eingeschlossen ist, heißt
es Embryo, sobald es dieselben verlassen hat, entweder Junges
{Juvcnis, Pidlus) oder Larve: letzteres, wenn es noch eine wirk-
liche Metamorphose (durch Abwerfen provisorischer Teile) durchzu-
machen hat, ersteres, wenn dies nicht der Fall ist. Bei denjenigen
Individuen, welche sich mit Metamorphose entwickeln, kommt also
auch die vierte Entwickelungsfunktion, die Degeneration zur Geltung,
indem ledighch durch diesen Prozeß der Verlust der provisorischen
Teile oder Larvenorgane bedingt wird. Sonst ist die Entbildung oder
Degeneration diejenige von den vier outogenetischen Funktionen,
welche am wenigsten von allen bei der Anaplase in Wirkung tritt.
Bei sehr zahlreichen organischen Individuen ist das Stadium der
Anaplase das einzige Entwickelungsstadium, welches sie durchlaufen,
da sie weder zur Reife, noch zur Rückbildung gelangen. Solche In-
dividuen sind z. B. die Furchungskugeln. die Embryonalzellen und
überhaupt alle in lebhafter Vermehrung begriffenen Piastiden. Aber
auch viele Individuen höherer Ordnung- gibt es, welche weder einer
Metaplase noch einer Cataplase unterworfen sind, und bei denen
mithin die ganze Zeit der individuellen Existenz sich auf das Jugend-
alter beschränkt. Dies ist z. B. der Fall bei aUen Individuen, welche,
sobald sie durch Wachstum eine bestimmte Grenze erreicht haben,
sich teilen und durch Zerfall in mehrere neue Individuen untergehen.
Insbesondere ist dies bei den niederen Organismen sehr allgemein
der Fall. Aber auch die meisten Pflanzen, selbst die höchst ent-
wickelten, sind den meisten Tieren gegenüber dadurch ausgezeichnet,
daß sehr viele von ihren Individualitäten (besonders die geschlechts-
losen Sprosse und die Stöcke) ein unbegrenztes Wachstum besitzen
und also nie eigentlich in das Reifealter übertreten. Bei den Tieren
sind viele niedere Formen durch die relativ bedeutendere Länge der
Juventus ausgezeichnet.
2. Metaplasis oder Umbildung (Transvolutio).
(Maturitas. Adultas. Aetas matura. Reifealter.)
Das mittlere der drei individuellen Entwickelungsstadien. die
Periode der Reife oder Maturität, ist, wie wir schon oben zeigten, in
keiner allgemein gültigen Weise scharf von den beiden anderen zu
trennen. Einerseits geht es ebenso allmählig aus dem Jugendalter
hervor, wie es sich andererseits in das Greisenalter verhert. Allgemein
206 Entwickelungsgesclüchte der physiologischen Iiulividueii. XYII.
kann man nur den Abschluß des Wachstums als den bezeichnenden
Beginn der Reife ansehen. Der Organismns gilt meistens für „reif"
oder „vollendet", wenn er ..ausgewachsen" ist. Bei den geschlecht-
lieh entwickelten Organismen pflegt man aber als das eigentliche
Kriterium des Reifealters die Fortpflanzungsfähigkeit anzusehen,
die vollständige Ausbildung der Geschlechtsorgane oder die Ge-
schlechtsreife. Wir haben indes schon oben gezeigt, daß dieses
Kriterium zwar in vielen Fällen, aber keineswegs allgemein anwendbar
ist, da sehr häufig der Abschluß des Wachstums nicht mit der Ge-
schlechtsreife zusammenfällt. Viele Tiere (z. B. Coelenteraten) und
noch mehr Pflanzen (aus vielen Gruppen) pflegen sich sowohl ge-
schlechtlich als ungeschlechtlich schon lange fortzupflanzen, ehe ihr
Wachstum seine Grenze erreicht hat; andere umgekehrt erst längere
Zeit, nachdem schon diese Grenze überschritten ist. Überdies gibt
es zahlreiche organische Individuen, die sich niemals fortpflanzen,
und die dennoch ein entschiedenes Alter der Reife erreichen. Wollen
wir daher anders den Begriff der Maturität irgendwie scharf gegen
den der Juventus abgrenzen, so müssen wir sagen : das organische
Individuum (aller Ordnungen) ist reif, sobald es ausgewachsen ist,
sobald es seine volle individuelle Größe erreicht hat.
Nicht minder schwierig, meistens sogar noch weit schwieriger,
ist andererseits die Abgrenzung des Reifealters von dem der Rück-
bildung. Auch hier hat man bei denjenigen Individuen, welche sexuell
differenziert sind, besonders das Aufhören der Geschlechtstätigkeit als
den Beginn der Cataplase betrachtet. Indessen ist hier dieses Kri-
terium noch weniger anwendbar, da viele Organismen noch die volle
Zeugungsfähigkeit besitzen, während bereits entschiedene Rückbildung
eingetreten ist, andere umgekehrt dieselbe schon lange vorher ver-
lieren. Auch erleiden viele Individuen eine Rückbildung, welche niemals
geschlechtsreif werden, und andere verlieren ihre Zeugungsfähigkeit,
ohne sich rückzubilden. Hier scheint also nichts anderes übrig zu
bleiben, als das Ende der Reife und den Beginn der Rückbildung
durch das Auftreten von entschiedenen Degenerationsprozessen
einzelner integrierender Bestandteile zu bestimmen, welche an dem
ausgebildeten Organismus in voller Funktion waren.
Die Entwickelungsfunktion, welche das Stadium der Metaplase
vorzugsweise charakterisiert, ist die Differenzierung. Wie das
Wachstum für die Anaplase^ wie die Degeneration für die Cataplase^
so ist die Dift'erenzierung der Teile für die Metaplase das Vorzugs-
XYII. V. Verschiedene Stadien der Entwickelnng. 207
weise charakteristische Moment, und streng genommen die einzige
plastische Funktion derselben, welche dem Individuum selbst zugute
kommt. Wenn die Ernährungs Vorgänge, welche das Wachstum
veranlassen, während der Metaplase noch fortdauern, so führen die-
selben nicht mehr zur Vergrößerung des Individuums, sondern zu
seiner Fortpflanzung, zur Erzeugung neuer Individuen, und diese
Tätigkeit erscheint, wie bemerkt, bei sehr vielen (aber nicht bei
allen!) organischen Individuen zunächst als die am meisten auffallende
Äußerung der Reife. Man kann also sagen, daß zwar das Wachs-
tum an dem reifen und „ausgewachsenen" Individuum noch fort-
dauert, aber nicht mehr eine Volumvermehrung desselben, sondern
nur eine Ablösung der tiberschtissigen Wachstumsprodukte, eine Ab-
spaltung der Keime von neuen Individuen zur Folge hat. Eigentliche
Degenerationsvorgänge sind im Alter der Reife unter normalen (nicht
pathologischen) Verhältnissen gewöhnlich ausgeschlossen und ihr
Eintreten bezeichnet bereits den Beginn der Cataplase.
Das Maturitätsstadium tritt, wie schon bemerkt, keineswegs bei
allen organischen Individuen ein, fehlt vielmehr allgemein da, wo
die individuelle Existenz mit dem Abschluß des Wachstums selbst
beendigt ist. Die Zeitdauer der Reife steht bei den höheren Tieren
häufig (aber nicht immer) in einem gewissen Verhältnis zur Voll-
kommenheit derselben, so daß die Maturität, gegenüber der Juventus
und Senectus, um so länger dauert, je vollkommener das Tier ist.
Anderemale nimmt aber auch bei sehr vollkommenen Organismen
die Anaplase einen weit längeren Zeitraum in Anspruch, als die
Metaplase, so z. B. bei sehr vielen metabolen Insekten.
3. Cataplasis oder Rückbildung (Involutio).
(Senilitas. Aetas senilis. Deflorescentia. Decrescentia. Greisenalter.)
Das letzte der drei individuellen Entwickelungsstadien, die
Periode der Abnahme oder Rückbildung, ist dasjenige, welches im
allgemeinen die geringste Bedeutung hat und daher bis jetzt auch
nur sehr wenig sowohl in physiologischer als morphologischer Be-
ziehung berücksichtigt ist. Bei sehr vielen organischen Individuen
fehlt es ganz, und nur bei verhältnismäßig wenigen nimmt dasselbe
eine längere Zeit der individuellen Existenz ein. Dennoch kann
man dasselbe in vielen Fällen deutlich als einen besonderen letzten
Lebensabschnitt unterscheiden, und bei vielen höher entwickelten
Organismen ist es von nicht geringer physiologischer Bedeutung;
208 Entwickoliingsgoschichte der physiologischen Individuen. XVII.
sein Verlauf ist daher sowohl für die richtige Beurteilung der all-
gemeinen Lebensvorgänge, wie der partiellen Degenerationserschei-
nungen, von hohem Interesse.
Der Charakter des Greisenalters liegt im allgemeinen in einer
Abnahme teils der gesamten Lebenstätigkeit des Individuums, teils
besonderer physiologischer Leistungen und namentlich der Fortpflan-
zungsfunktionen. Mit dieser Dekreszenz der Funktionen geht eine ent-
sprechende rttckschreitende Veränderung auch der Formverhältnisse
Hand in Hand, welche allerdings oft mehr im allgemeinen zu bemer-
ken, als im einzelnen scharf nachzuweisen ist. Doch können wir
das morphologische Kriterium für den Beginn der Defloreszenz und
ihre Abgrenzung von dem Reifealter nur darin finden, daß Dege-
nerationsprozesse an einzelnen Teilen des Individuums
auftreten, welche an dem erw^achsenen Organismus sich beständig in
ihrer Integrität erhalten hatten. Es ist also ganz besonders die Ent-
wickelungsfunktion der Entbildung oder Degeneration, welche für
dieses dritte und letzte Hauptstadium der individuellen Entwickelung
charakteristisch ist. Das Individuum, welches während der Meta-
plase lediglich in Differenzierungs- und Fortpflanzungsprozessen sich
bewegt hatte, beginnt die Cataplase mit dem Eintritt degenerativer
Prozesse in einzelnen Teilen. Bei der menschlichen Person, w^o wir
das Greisenalter besonders genau kennen, sind es insbesondere fettige
und kalkige Degenerationen, Erweichungen und Verhärtungen der
Gewebe etc., welche in den verschiedensten Organen das Signal der
beginnenden Rückbildung, des Ca'eisenalters geben. Das Wachstum
und die Zeugungsfähigkeit haben schon vorher aufgehört oder dauern
doch nur kurze Zeit fort. Selten ist aber die Grenze zwischen den
beiden Perioden der Reife und der Dekreszenz scharf zu ziehen, und
bei sehr vielen Organismen können wir letztere als besondere Periode
schon deshalb nicht unterscheiden, weil bereits unmittelbar mit dem
Aufhören des Wachstums oder mitten in der vollen Reife plötzlich
die Vernichtung der individuellen Existenz eintritt, entweder durch
Selbstteilung oder durch den Tod.
Sämtliche Formveränderungen der organischen Individuen, welche
während der Cataplase auftreten, sind ebenso wie alle Formverände-
rungen, welche während der Metaplase und Anaplase vor sich gehen,
die notwendigen Wirkungen von physiologischen Ernährungsverände-
rungen, und als solche auf mechanische, physikalisch-chemische Ur-
sachen zurückführbar. Der spezielle Verlauf jener ontogenetischen
XVII. VI. Verschiedene Arten der Zeugungskreise. 209
Form Veränderungen wird mit kausaler Notwendigkeit durcli den Ver-
lauf der Wechselwirkung von Vererbung und Anpassung bedingt,
welche die paläontologische Entwickelung der Vorfahren des Indivi-
duums bestimmte und leitete.
VI. Verschiedene Arten der Zeugungskreise.
In den vorhergehenden drei Abschnitten dieses Kapitels haben
wir die verschiedenen Formen der Zeugung, die verschiedenen
Funktionen der Ontogenesis und die verschiedenen Stadien derselben
kennen gelernt, und es erübrigt nun noch, einen Überblick über die
verschiedenen Zeugungskreise zu gewinnen, welche durch die mannig-
faltigsten Kombinationen der verschiedenen Zeugungs- und Ent-
wickelungsarten bei den verschiedenen Individualitäten zustande
kommen.
Als Zeugungskreis (Cyclus generationis) haben wir die
genealogische Individualität erster Ordnung bezeichnet, den
geschlossenen Kreis oder die volle Summe aller der organischen
Formen, welche aus einem einzigen physiologischen Individuum her-
vorgehen, von dem Zeitpunkte an, wo dasselbe erzeugt wurde, bis zu
dem Zeitpunkte, wo dasselbe selbst wieder die gleiche organische
Form entweder direkt oder indirekt (durch Einschaltung verschie-
dener Generationen) erzeugt hat. Diese geschlossene Entwickelungs-
einheit, eine ringförmige Kette von Formzuständen, deren Ausgangs-
punkt und Ende gleich ist, erscheint für uns von großer Bedeutung
als die konkrete Grundlage der höheren Entwickelungseinheit, welche
wir Art oder Spezies nennen. Der Zeugungskreis ist diejenige
individuelle Einheit (das genealogische Individuum erster Ordnung),
aus deren Vielheit die höhere Einheit der Art oder Spezies (das
genealogische Individuum zweiter Ordnung) zusammengesetzt ist.
In dieser Beziehung ist auch der Zeugungskreis von einigen Autoren
nicht passend als „Artindividualität" bezeichnet w^orden. Dieser
Ausdruck muß der Spezies selbst vorbehalten bleiben, während man
den Zeugungskreis, um jenes Verhältnis auszudrücken, das Glied der
Art nennen könnte. In der Tat setzt sich die genealogische Einheit
der Spezies in ganz ähnhcher Weise aus einer Vielheit von subordi-
nierten Zeugungskreisen zusammen, wie die morphologische Einheit
der Person aus einer Vielheit von subordinierten Gliedern oder Meta-
meren.
H a e c k e 1 . Prinz, d. Morphol. 14
210 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. • XVII.
Wir haben oben im allgemeinen zwei verschiedene Hanptformen
von Zengungskreisen oder Generationszyklen aufgestellt, welche sich
durch den Mangel oder die Anwesenheit der geschlechtlichen Diffe-
renzierung unterscheiden. Diejenige einfachere Hauptform der Zeu-
gungskreise, welche bloß aus Wachstumsvorgängen und einem einzigen
ungeschlechtlichen Zeugungsakt, oder aber aus einer Reihe von unge-
schlechtlichen Zeugungsakten zusammengesetzt ist. haben wir den
Spaltungskreis benannt (Cyclus monogenes), und den Entwicke-
lungsvorgang innerhalb desselben Monogenesis oder Entwickelung
mit ausschließlich monogener Zeugung. Die entgegengesetzte höhere
Hauptform der Zeugungskreise, welche stets von einem geschlecht-
lichen Zeugungsakte ausgeht und zu diesem zurückkehrt, haben wir
als Eikreis {Cyclus ampliigenes) unterschieden, und den Entwicke-
lungsprozeß innerhalb desselben als Amphigenesis oder Entwicke-
lung mit geschlechtlicher Zeugung. Indem wir von diesem Haupt-
unterschiede in der Entstehung der Zeugungskreise ausgehen, können
wir unter jeder der beiden Hauptformen vier untergeordnete Formen
von Generationszyklen unterscheiden. Der monogene Zeugungs-
kreis zerfällt in die beiden Entwickelungsarten der Schizogenese
und Sporo genese, je nachdem er mit einfacher Spaltung (Teilung
oder Knospenbildung) oder mit Sporenbildung abschheßt. Unter
beiden Genesis-Arten können wir wieder als zwei Unterarten die
monoplastide und die polyplastide trennen, je nachdem die reife
Speziesform (das zeugungsfähige Bion) eine einfache Plastide (Form-
individuum erster Ordnung) oder einen Plastidenkomplex (Formindi-
viduum zweiter Ordnung) darstellt. Der amphigene Zeugungs-
kreis zerfällt ebenfalls in zwei untergeordnete Entwickelungsarten,
die Metagenese (mit Generationswechsel) und die Hypogenese
(ohne Generationswechsel). Unter der Metagenese unterscheiden wir
die beiden subordinierten Formen des progressiven und des regres-
siven Generationswechsels, je nachdem der amphigene Zyklus aus
mehr als zwei, oder nur aus zwei Bionten besteht. Unter der Hypo-
genese endlich, bei welcher der Eikreis nur durch ein einziges Bion
gebildet wird, können wir als zwei untergeordnete Formen die meta-
morphe und die epimorphe Hypogenese unterscheiden, erstere mit,
letztere ohne postembryonale Metamorphose.
Indem wir auf den folgenden Seiten eine systematische Über-
sicht und eine allgemeine Charakteristik der verschiedenen Arten der
Zeugungskreise zu geben versuchen, erinnern wir ausdrücklich daran.
XVII.
YII. System der verschiedenen Arten der Zeugungskreise.
211
YII. System der verscliiedeuen Arten der Zeuguiigskreise.
Jloiiogenesis.
Entwickelung
ohne geschlecht-
liche Zeugung.
Alle Bionten der
Spezies entstehen
durch unge-
schlechtliche
Zeugung. Genera-
tionszyklus ist
ein Spaltungs-
kreis (Cyclus
monogenes).
Ampliigeue.sis.
Entwickelung mit
geschlechtlicher
Zeugung.
Entweder ein Teil
der Bionten oder
alle Bionten der
Spezies entstehen
durch geschlecht-
liche Zeugung.
Generations-
zyklus ist ein
Eikreis (Cyclus
amphigenes).
Schizogeuesis.
Spaltungskreis
oderSpaltprodukt
(^Cyclus monoge-
nes) durch Tei-
lung oder Knos-
penbildung er-
zeugt.
Sporogeiiesis.
Spaltungskreis
oderSpaltprodukt
(Cyclus monoge-
nes) durch Spo-
renbildung er-
zeugt.
Metageuesis.
Eikreis oder Ei-
produkt (Cyclus
amphigenes) aus
zwei oder mehr
Bionten zusam-
mengesetzt.
Generations-
wechsel.
Hypogenesis.
Eikreis oder Ei-
produkt (Cyclus
amphigenes) aus
einem einzigen
Bionten beste-
hend. Kein
Gene ratio ns-
wechs el.
Reifes, spaltungs-
fähiges Bion
eine einfache
Plastide.
Reifes, spaltungs-
fähiges Bion eine
Piastidenkolonie.
Reifes, sporenbil-
dendes Bion eine
einzige Plastide.
Reifes, sporenbil-
dendes Bion eine
Piastidenkolonie.
Eiskreis aus mehr
als zwei Bionten
zusammen-
gesetzt.
Eikreis aus zwei
Bionten zusam-
mengesetzt.
Postembiyonale
Entwickelung mit
echter Metamor-
phose.
Postembryonale
Entwickelung
ohne echte Meta-
morphose.
Scliizogenesis monoplastidis.
Die einfachsten monoplastiden
Protisten, Moneren: Schizo-
phyten (Chromaceen, Bak-
terien); Amoeben, Flagella-
ten, Diatomeen.
Schizogenesis polyplasticlis.
Viele polyplastide Protisten,
Soziale Moneren (Ketten von
Chromaceen und Bakterien).
FlageUaten, Diatomeen etc.
Sporogenesis monoplastidis.
Viele monoplastide Protisten
(Rhizopoden, FlageUaten) u.
..einzellige Pflanzen", z. B.
Codiolum, Hydrocytium.
Sporogenesis polyplastidis.
Viele polyplastide Protisten
(Rhizopoden und FlageUaten,
Myxomyceten) und viele nie-
dere Pflanzen (Desmidiaceen
und andere Algen).
Metagenesis progressiva.
Viele Würmer (Platyelminthen
etc.), viele Tunicaten(Salpen),
die meisten Hydromedusen;
viele Cryptogamen (Moose,
Farne), Phanerogamen mit
Brutknospen.
Metagenesis regressiva.
Viele Arthropoden (Aphiden,
Cocciden, Daphniden).
Hypogenesis metamorpha.
Amphibien und einige Fische.
Die Mehrzahl der Articulaten,
Mollusken und Echinoder-
men.
Hypogenesis epimorpha .
Alle allantoiden und die meisten
anallantoiden Wirbeltiere.
Cephalopoden. Ametabole
Insekten. Wenige andere
Wirbellose. Die meisten
Phanerogamen. Einige Cryp-
togamen (Fucaceen etc.).
14*
212 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII.
daß dio ontooenetischeii Erscliciniiiiiicn. welche den Inhalt der indi-
viduellen Entwickelungsgeschichte bei allen Organismen bilden, nur
zu verstehen sind durch die Erkenntnis ihres kausalen Zusammen-
hanges mit der parallelen Phylogenie, mit der Entwickelungsgeschichte
des gesamten Stammes (Phylon), und speziell aller Vorfahren, von
welchen das Individuum in kontinuierlicher Erbfolge abstammt. Die
Reihe von Formveränderungen, welche den Zeugungskreis jedes indi-
viduellen Organismus konstituieren, ist die kurze und schnelle
Rekapitulation der wichtigsten Forraveränderungen, welche die
gesamte Reihe seiner Vorfahren während ihrer langsamen palä-
ontologischen Entwickelung in langen Zeiträumen durchlaufen hat.
Till. Allgemeine Charakteristik der Zeugimgskreise.
I. Monogrenesis.
Entwickelung ohne Amphigonie.
(Ontogenesis der Spaltuiig-sprodukte.)
DerZeugungskreis ist ein monogener Generationszyklus.
AUeBionten, welche die Spezies repräsentieren, entstehen
durch ungeschlechtliche P'ortpflanzung.
Die Bionten, welche die Spezies zusammensetzen, entwickeln
niemals Geschlechtsorgane und pflanzen sich niemals durch befruchtete
Eier fort. Das Spaltungsprodukt oder der Spaltungskreis, die Formen-
reihe, welche die Spezies innerhalb ihres ungeschlechthchen Fort-
pflanzungszyklus (von der vollständigen Spaltung bis zur vollstän-
digen Spaltung oder von der Spore bis zur Spore) durchläuft, wird
stets nur durch ein physiologisches Individuum (Bion) repräsentiert.
Die Entwickelung ist entweder ausschließliches Wachstum, oder mit
Differenzierung verbunden. Je nachdem der Fortpflanzungsprozeß
einfache Spaltung (Teilung oder Knospenbilduug) oder Sporenbildung
ist, unterscheiden wir Schizogenesis und Sporogenesis.
I. 1. Schizogenesis.
Entwickelung des Spaltungsproduktes ohne Sporenliildung.
Monogene Entwickelung mit Spaltung (Teilung oder
Knospenbildung) und mit einfachem oder zusammenge-
setztem Wachstum, ohne Sporenbildung. Der monogene
Zeugungskreis bildet ein einziges Bion erster oder höherer
Ordnung.
XVII. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 213
Der Organismus, welcher entweder einer einzigen oder einem
Komplex von mehreren Piastiden entspricht, pflanzt sich ausschließ-
lich durch einfache Spaltung (Teilung oder Knospenbildung) fort. Die
dadurch erzeugten Teilstücke ergänzen sich durch Wachstum zu der
elterlichen Form, aus deren Spaltung sie entstanden sind. Ist die
Spaltung stets vollständig, so sind die Bionten der Spezies Mono-
plastiden: ist sie abwechselnd unvollständig, so entstehen Polyplastiden.
1 A. Schizogenesis monoplastidis.
Monogene Entwickelung einer einfachen Plastide, mit
einfachem Wachstum. Fortpflanzung durch vollständige
Spaltung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein Bion
erster Ordnung (eine einfache Plastide).
Die monoplastide Schizogenese ist die einfachste und ursprüng-
lichste von allen verschiedenen Arten der Fortpflanzung und Ent-
wickelung. Sie findet sich bloß bei den jetzt noch lebenden Or-
ganismen niederster Stufe vor, bei den Moneren {Schizopliijten:
Chromaceen und Bakterien), bei vielen einzeUigen Rhizopoden und
Flagellaten, den einzelligen Diatomeen und einigen großen Siphoneen
(Caiderpa). Die Fortpflanzung ist hier möglichst einförmig, indem
sie stets beschränkt bleibt auf die einfache Selbstteilung oder Knospen-
bildung der Individuen. Ebenso beschränkt sich die Entwickelung
der durch Teilung entstandenen neuen Individuen auf einfaches Wachs-
tum bis zu dem Maße, welches die Spezies vor der Teilung als er-
wachsenes Indi^^duum besaß. Diese einfachste Art der Zeugung und
Entwickelung ist für uns insofern von besonderem Interesse, als sie
höchst wahrscheinlich die ursprüngliche Fortpflanzungsweise der
archigonen Moneren darstellt, aus denen sich zuerst alle organischen
Phylen entwickelt haben. Eigentlich kann hier von Entwickelung
kaum die Rede sein, da die einzige Veränderung des werdenden
Organisiuus eine Größenveränderung ist, die Form der Spezies aber
in allen Stadien dieselbe bleibt. Mehr als alle anderen Organismen
schließen sich diese einfachsten Moneren den anorganischen Kristallen
an, so auch darin, daß ihre Entwickelung bloß Wachstum ist. Das
physiologische Individuum (Bmi) ist hier jederzeit nur ein einfachstes
morphologisches Individuum erster Ordnung, eine kernlose Cytode.
IB. Schizogenesis polyplastidis.
Monogene Entwickelung einer Piastidenkolonie, mit
zusammengesetztem Wachstum und unvollständiger Spal-
214 Entwickclungsgeschichte der pliysiologischen Individuen. XVII.
tung. Fortpflanzung durch vollständige Spaltung. Der mo-
nogene Zeugungskreis bildet ein Bion zweiter oder höherer
Ordnung.
Diese Form der Ontogenesis schließt sicli zunächst an die vorige
an und unterscheidet sich nur dadurch, daß die Teilung der ein-
fachen Bionten nicht stets vollständig, sondern auch unvollständig
ist, so daß dieselben zu einer Piastidenkolonie (Coenohium) ver-
einigt bleiben. Der einfachste derartige Fall findet sich bei den so-
zialen Moneren, bei jenen Schizophyten, welche dm'ch Gliederung
Ketten von vollkommen homogenen und strukturlosen Cytoden her-
stellen. Durch diese Artikulation entstehen hier Individuen zweiter
Ordnung, Piastidenkolonien, welche sich dadurch fortpflanzen, daß
sich die einzelnen Glieder ablösen und selbständig durch Artikulation
zu neuen Ketten entwickeln. (Oscillatorien, Nostocaceen, Ketten-
bakterien). Die Entwickelung besteht also auch hier wesentlich, wie
bei der Schizogenese, in dem Wachstum der homogenen Organismen
und in der Kettenbildung durch unvollständige Teilung. Indessen
kommt hier zu der einfachen Größenveränderung doch schon die
Formveränderung der Spezies, welche durch die Kettenbildung der
einfachen Individuen selbst bewirkt wird. An die einfachste Form
der Gemeindebildung bei den Moneren sclüießt sich auch die Familien-
bildung derjenigen Diatomeen an (Bacillaria, Fragillaria etc.), bei
denen ebenfalls die durch unvollständige Teilung entstandenen In-
dividuen vereinigt bleiben. Diese Coenobien oder Piastidengemeinden
pflanzen sich einfach dadurch fort, daß die einzelnen Zellenindividuen
sich ablösen und durch abermalige unvollständige Teilung gleich
wieder zu neuen Gemeinden entwickeln.
I, 2. Spor ogenesis.
Entwickplung des Spaltungsproduktes mit Spürenbildung.
Monogene Entwickelung mit Sporenbildung, mit ein-
fachem oder zusammengesetztem Wachstum und mit Diffe-
renzierung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein ein-
ziges Bion erster oder höherer Ordnung.
Der Organismus, welcher entweder einer einzigen oder einem
Komplex von mehreren Piastiden entspricht, erzeugt Keimkörner
(Sporen), welche sich von ihm ablösen und sich durch Wachstum und
Differenzierung zu der elterlichen Form entwickeln. Die Spore ist
meistens eine Monospore (eine einfache Plastide), seltener eine
Polyspore (ein Piastidenkomplex),
XVII. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 215
2A. Sporogenesis monoplastidis.
Monogene Entwickelung einer einfachen Plastide, mit
einfachem Wachstum und Differenzierung. Fortpflanzung
durch Sporenbildung. Der monogene Zeugungskreis bildet
ein Bion erster Ordnung (eine einfache Plastide).
Die monoplastide Sporogenese scheint unter den einfachsten
Organismenarten erster morphologischer Ordnung weit verbreitet zu
sein. Sie besteht darin, daß Spezies, welche nicht den Rang der
einfachen Plastide überschreiten, in ihrem Inneren Keimkörner (Sporen)
erzeugen, welche aus der elterlichen Plastide heraustreten und sich
außerhalb derselben zu ihresgleichen entwickeln. Da in diesem
Falle die Keimkörner oder Sporen stets nicht allein an Größe, sondern
auch an Form von der elterlichen Plastide sich unterscheiden, so
besteht hier die Entwickelung des Bionten nicht allein mehr in einer
Veränderung der Größe, sondern auch der Form. Mithin beschränkt
sich die Ontogenese nicht auf ein einfaches Wachstum, sondern ist
mit einer Formveränderung verbunden, welche bereits den Namen
der Differenzierung verdient. Wir finden diese einfache Sporogenese
unter verschiedenen Stämmen des Protistenreiches, besonders bei den
Rhizopoden und Flagellaten. bei „einzelligen Algen" (z. B. Codiolum,
Hijdrocytium) u. a.
2B. Sporogenesis polyplastidis.
Monogene Entwickelung einer Piastidenkolonie, mit
zusammengesetztem Wachstum, Differenzierung und un-
vollständiger Spaltung. Fortpflanzung durch Sporenbildung.
Der monogene Zeugungskreis bildet ein Bion zweiter oder
höherer Ordnung.
Die polyplastide Sporogenese ist unter den einfacheren Organismen
des Protisten- und Pflanzenreiches weit verbreitet. Sie besteht darin,
daß Spezies, welche den Rang einer einfachen Plastide überschreiten
und durch unvollständige Teilung Piastidenkolonien oder selbst
differenzierte Piastidenaggregate (Formindividuen zweiter und höherer
Ordnung) darstellen, in ihrem Inneren Keimkörper (Sporen) erzeugen,
welche sich außerhalb des elterlichen Piastidenstockes durch fortge-
setzte unvollständige Teilung und Differenzierung wieder zu gleichen
Piastidenstöcken entwickeln. Dies ist der Fall bei vielen mehrzelligen
oder stockbildenden Protisten, bei den sozialen Rhizopoden und Fla-
gellaten, Myxomyceten, Polycyttarien u. a. Unter den niederen
216 Entwickelungsgescliichte der physiologischen Individuen. XVII.
Pflanzen ist dieser Fortpflanznngsmodus ebenfalls sehr verbreitet,
namentlich J3ei den niederen Algen (Desmidiaceen, Chlorophyceen etc.)
Bei den letzteren werden znni Teil selbst von einer Piastidenspezies
verschiedene Sporenarten gebildet. Die Entwickelung der aus der
Spore austretenden Plastide besteht hier in Wachstum, unvollständiger
Teilung und Differenzierung der Teilprodukte. Die Differenzierung
erreicht jedoch auch bei dieser vollkommensten Form der Mono-
genesis niemals dieselbe Höhe, wie bei der Amphigenesis.
II. A m p li i g- e n e s i s.
Entwickelung mit Amphigonie.
(Ontogenesis der Eiiiroiliikte.l
Der Zeugungskreis ist ein amphigener Generations-
zyklus. Entweder ein Teil der Bionten, oder alle Bionten,
welche die Spezies repräsentieren, entstehen durch ge-
schlechtliche Fortpflanzung.
Alle Bionten oder ein Teil der Bionten, welche die Spezies zu-
sammensetzen, entwickeln weibhche und männliche Geschlechtsorgane
und pflanzen sich durch befruchtete Eier fort. Das Eiprodukt oder
der Eikreis, die Formenreihe, welche die Spezies innerhalb ihres ge-
schlechtlichen Fortpflanzungszyklus (vom Ei bis wieder zum Ei)
durchläuft, wird entw^eder durch ein einziges oder durch mehrere
physiologische Individuen (Bionten) repräsentiert. Die Entwickelung
ist niemals bloß einfaches Wachstum, sondern stets mit Differenzierung
und häufig mit Metamorphose verbunden. Je nachdem das Eiprodukt
von einem einzigen oder von mehreren Bionten repräsentiert wird,
unterscheiden wir die Entwickelung der Eiprodukte in Hypogenesis
und Metagenesis. Beide können mit und ohne Metamorphose verlaufen.
II, 1. Metagenesis.
Entwickelung- des Eiproduktes mit Generationswechsel.
Amphigene Entwickelung mit m onogener Entwickelung
von Bionten innerhalb jedes Zeugungskreises abw^echselnd.
Der amphigene Zeugungskreis ist aus zwei oder mehreren
Bionten zusammengesetzt, von denen mindestens eines stets
geschlechtlich, das andere nicht geschlechtlich differen-
ziert ist. <
Der echte Generationswechsel oder die Metagenesis besteht
in allen Fällen aus cinei' Verbindung von geschlechtlicher und un-
XVll. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 217
geschlechtlicher Zeugung, in der Weise, daß die periodisch wieder-
kehrende Formenkette des regelmäßigen Zeugungskreises mindestens
aus zwei Bionten besteht, einem ungeschlechtlich und einem
geschlechthch erzeugten physiologischen Individuum. Bei allen Orga-
nismen mit echtem Generationsw^echsel entspringt aus dem befruchteten
Ei ein Individuum, welches zunächst bloß auf ungeschlechtlichem
Wege, durch Teilimg. Knospung oder Keimbildung sich fortpflanzt,
und die so erzeugten Individuen' w^erden entweder alle oder teil-
weise wieder geschleclitsreif, oder sie erzeugen selbst wieder auf
ungeschlechtlichem Wege eine oder mehrere folgende Generationen,
deren letzte endhch wieder Geschlechtsprodukte erzeugt. Hiermit ist
der regelmäßige Zyklus von Generationen geschlossen. Das geschlecht-
lich erzeugte Individuum kann zwar in manchen Fällen auch selbst
wieder geschlechtsreif werden, aber doch erst, nachdem es ein oder
mehrere neue Bionten auf ungeschlechtlichem Wege erzeugt hat. Die
unmittelbar aus dem befruchteten Ei entspringende Generationsform,
welche auf irgend einem ungeschlechtlichen Wege die nächste Ge-
neration erzeugt, wird allgemein als Amme (Altrix) bezeichnet.
Die Amme als Zwischenform, welche bei dem Generationswechsel in
den kontinuierlichen Entwäckelungslauf des Eiproduktes eingeschaltet
ist, unterscheidet sich von der Larve, w^elche als Zwischenform bei
der Metamorphose sow^ohl in die Hypogenese als in die Metagenese
eingeschaltet w^erden kann, dadurch, daß die Amme wirklich selbst-
ständige neue Keime von Bionten, die Larve dagegen nur proviso-
rische Organe entwickelt. Die geschlechtslose Amme geht beim Ge-
nerationswechsel zugrunde, ohne in das physiologische Individuum,
welches geschlechtsreif wird, überzugehen, während die geschlechts-
lose Larve bei der Metamorphose unmittelbar in die letztere übergeht.
Um die äußerst verwickelten und mannigfaltigen Vorgänge des
Generationswechsels in ihrem eigentlichen Wesen richtig zu erfassen,
ist es notwendig, die oben aufgestellte Charakteristik desselben stets
im Sinne zu behalten. Der echte Generationswechsel oder die Meta-
genesis. wie wir sie hier scharf bestimmen, ist w^esentlich dadurch
charakterisiert und von allen anderen Entwickelungsarten unterschieden,
daß der Zeugungskreis nicht aus einem einzigen physiologischen In-
dividuum oder Bion besteht, sondern aus zwei oder mehreren Bionten
zusammengesetzt wird. Sowohl bei allen Formen der Monogenesis
wie bei der Hypogenesis ist es ein und dasselbe physiologische In-
dividuum, an w^elchem der ganze Generationszyklus von Anfang bis
218 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII.
ZU Ende abläuft. Bei der Metagenesis dagegen finden wir stets min-
destens zwei, gewöhnlich aber mehrere physiologische Individuen, zu
einem einzigen Zeiignngskreis verbnndcn. Dieser metagenetische
Zeiigungskreis hat das Eigentümliche, daß er aus einem monogenen
und einem amphigenen zusammengesetzt ist. Der eine Teil der Bionten
wird ungeschlechtlich, der andere geschlechtlich erzeugt.
Durch diese scharfe Charakteristik der Metagenese trennen wir
dieselbe bestimmt von ähnlichen, aus ungeschlechtlichen und geschlecht-
lichen Zeugungsakten zusammengesetzten Entwickelungsprozessen,
auf welche man neuerdings ebenfalls den Begriff des Generations-
wechsels ausgedehnt hat, welche sich aber wesentlich dadurch unter-
scheiden, daß der ganze Zeugungskreis, vom Ei bis wieder zum Ei,
an einem und demselben physiologischen Individuum abläuft. Dies
ist z. B. bei dem sogenannten Generationswechsel der Phanerogamen
der Fall, welcher nach unserer Ansicht als Hupogenesis aufgefaßt
werden muß. Wir werden dies im nächsten Abschnitte zu begründen
suchen, wo wir allgemein die dem Generationswechsel ähnlichen
Entwickelungsvorgänge, welche sich aus geschlechtlichen und unge-
schlechtlichen Zeugungsakten zusammensetzen, aber an einem ein-
zigen Bion ablaufen, als Generationsfolge oder Strophogenesis
von der echten Metagenesis unterscheiden werden, mit welcher wir
uns hier allein beschäftigen.
Obgleich noch nicht ein halbes Jahrhundert verflossen ist, seit-
dem der Dichter Adalbert Cham is so 1819 den Generationswechsel
der Salpen entdeckte, und noch nicht ein Vierteljahrhundert, seitdem
J. Steenstrup 1842 diese Entdeckung mit den inzwischen aufge-
fundenen ähnlichen Fortpflanzungsvorgängen bei den Hydromedusen,
Trematoden etc. verglich und sie unter dem Namen des Generations-
wechsels zusammenfaßte, ist dennoch seit dieser kurzen Zeit die
Tatsache der Metagenesis als eine weit im Tier- und Pflanzenreiche
verbreitete festgestellt worden. Doch hat man neuerdings sein Ge-
biet allzusehr ausgedehnt, indem man auch alle verschiedenen Formen
der eben erwähnten Strophogenesis damit vereinigte.
Die echte Metagenesis. bei welcher der amphigene Zeugungs-
kreis aus zwei oder mehreren, teils geschlechtlich, teils ungeschlecht-
lich erzeugten Bionten zusammengesetzt ist, findet sich vor: 1. im
Tierreiche: unter den Arthropoden bei den Blattläusen, Cecidomyien,
Rotatorien, Phyllopoden, Daphniden etc.; unter den Anneliden bei
Piotiila, Syllis, Sabella, Nais etc.; ferner bei Nematoden (Ascaris
XVII. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 219
nigrovenosa), Platyelminthen (Trematoden, Cestoden); Tunicaten
(Salpa); unter den Coelenteraten vorzüglich bei den Hydromedusen
in der mannigfaltigsten Form ; bei manchen Schwämmen, bei denen die
ungeschlechthche Biontenbildnng durch Gemmnlae mit der geschlecht-
lichen durch befruchtete Eier (fälschlich sogenannte „Schwärm-
sporen") alterniert: 2. im Pflanzenreiche bei vielen Kiyptogamen,
insbesondere sehr allgemein bei den Gefäßkryptogamen (Farnen,
Lycopodiaceen, Equisetaceen) und Moosen. Dagegen fehlt die echte
Metagenesis bei den meisten Phanerogamen (mit Ausnahme derjenigen,
welche durch Brutknospen [Zwiebeln und Bulbillen] neue Bionten auf
monogenem Wege erzeugen). Ebenso fehlt sie allen Wirbeltieren und
allen Mollusken sowie der großen Mehrzahl der Arthropoden. ^)
Nicht allein eine sehr ausgedehnte Verbreitung, sondern auch
eine unerwartete Mannigfaltigkeit in der speziellen Ausführung des
metagenetischen Entwickelungsmodus haben uns die fleißigen Unter-
suchungen der letzten Dezennien eröffnet; so zwar, daß in dieser
Beziehung die Entwickelung mit Generationswechsel unendlich viel
mannigfaltiger erscheint, als alle anderen Entwickelungsformen zu-
sammengenommen. Es ist hier nicht der Ort, auf diese zahlreichen
und in vieler Hinsicht verschiedenen Modifikationen der Metagenese
näher einzugehen, und es ist auch die Masse der bis jetzt bekannten
verschiedenartigen Tatsachen noch keineswegs in der Weise geordnet,
daß ein zusammenhängender Überblick möglich wäre. Wir wollen
daher hier nur einige derjenigen Seiten des Generationswechsels be-
trachten, welche sich auf die Individualitätsfrage beziehen, und nur
diejenigen Modifikationen hervorheben, welche uns auf einer wesent-
lich verschiedenen kausalen Entstehung zu beruhen scheinen, und die
deshalb von ganz verschiedenem morphologischen Werte sind.
Ein sehr wichtiges, bisher nicht hervorgehobenes Moment, welches
sich auf die Entstehung, auf die paläontologische Entwickelung
des Generationswechsels bezieht, läßt nach unserer Auffassung alle
verschiedenen Formen der Metagenese in zwei entgegengesetzte Reihen
vereinigen, welche den entgegengesetzten Formen der Sporogonie
entsprechen und welche wir demgemäß als progressive und regressive
Reihe unterscheiden können. Der fortschreitende Generations-
wechsel (jMetagenesis progressiva) findet sich bei denjenigen
1) (1906). Neuerdings ist echte Metagenesis auch bei vielen einzelligen
Protisten nachgewiesen, bei Sporozoen, Rhizopoden, Infusorien und Algarien.
220 Eiitvvickelungsgeschichte der jDhysiologischen Individuen. Xlll.
Organismen, welche oewissermaßen nocli auf dem Übergangsstadium
von der Monogonie zur Amphigonie sich befinden, deren frühere
Stammeltern also niemals ausschließlich auf geschlechtlichem Wege
sich fortpflanzten. Dies ist wahrscheinlich bei der großen Mehrzahl
der bekannten Formen von Metagenesis der Fall. z. B. bei den Tre-
matoden. Hydromedusen etc. Hier haben immer, seitdem die ge-
schlechtliche Zeugung aus der ungeschlechtlichen sich hervorbildete,
ungeschlechtliche und geschlechtliche Generationen neben einander
bestanden und miteinander abgewechselt. Niemals ist die Spezies in
der Lage gewesen, sich ausschließlich durch Amphigonie fortzupflanzen.
Das Gegenteil zeigt uns der rückschreitende Generations-
wechsel (Metagenesis regressiva). w^elchen wir als einen Rück-
schlag der Amphigonie in die Monogonie auffassen. Diese
merkwürdige Entwickelungsweise glauben wir bei denjenigen höheren
Organismen mit Generationsw^echsel zu finden, deren nächste Ver-
Avandte sich allgemein auf rein hypogenem Wege, durch ausschließ-
liche Amphigonie fortpflanzen, und bei welchen außerdem die unge-
schlechtlich erzeugten Keime (Monosporen, „ Sommereier") in besonderen
Keimstöcken oder Sporocarpien entstehen, welche offenbar rück-
gebildete Eierstöcke sind. Dies ist der Fall bei den meisten
Insekten mit Generationswechsel (Aphiden, Cocciden), wahrscheinlich
auch bei den Rotatorien. Daphniden, Phyllopoden etc. Die unver-
kennbare Homologie, welche die Sporen („Sommereier") dieser Tiere
mit den echten Eiern („Wintereiern") der geschlechtlich entwickelten
Generation, die keimbildenden Sporocarpien (Keimstöcke) mit den
echten Orarien (Eierstöcken) der letzteren zeigen, scheint uns diese
Formen des Generationswechsels, welche also in einem regelmäßigen
Wechsel von Amphigonie und Parthenogonie bestehen, nicht
anders erklären zu lassen, als durch die Annahme, daß die früheren
Stammeltern der betreffenden Organismen ausschließhch auf ge-
schlechtlichem Wege sich fortpflanzten und erst später in den unge-
schlechtlichen Propagationsmodus noch früherer Zeit zurückfielen, aus
w'elchem sich die sexuelle Zeugung erst differenziert hatte. Offenbar
ist die biologische Bedeutung dieser beiden IMetagenesisarten eine
gänzlich entgegengesetzte, und wie wahrscheinlich ihre paläontologische
Entstehung grundverschieden war. so läßt sich vermuten, daß auch
ihre Zukunft es sein wird. Die progressive Metagenese der
Hydromedusen, Trematoden etc. wird sich allmählich zu reiner Hy-
pogenese erheben können, wie es bei nahe verwandten Formen
XVII. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 221
(z. B. Pelagia, Polystomeen) bereits der Fall ist. Die regressive
Monogenese der Insekten, Crustaceen etc. wird dagegen nmgekehrt
zu reiner Monogenese znrücksinken können, wie es bei den Psy-
chiden tatsächlich stattgefunden hat. ^)
II, 2. Hypogenesis.
Entwickelung- des Eiproduktes ohne Generationswechsel.
Amphigene Entwickelung ausschließlich die Zeugungs-
kreise bildend. Der amphigene Zeugungskreis besteht stets
nur aus einem einzigen Bion, welches geschlechtlich erzeugt
ist und selbst geschlechtsreif wird.
Das Eiprodukt oder der Eikreis wird durch ein einziges physio-
logisches Individuum (Bion) repräsentiert. Aus jedem befruchteten
Ei entsteht eine einfache Formenkette, welche kontinuierlich bis zur
Geschlechtsreife durchgeführt wird. Jeder individuelle Formzustand
ist ein Glied dieser Kette mid das unmittelbare Resultat einer am
vorhergegangenen Zustande oder Gliede stattgefundenen Differenzierung.
Es ist also niemals die geschlechtliche mit der ungeschlechtlichen
Fortpflanzung innerhalb des Formenkreises der Spezies kombiniert.
Die einfache geschlechtliche Fortpflanzung oder die ausschließ-
liche Entwickelung der Bionten aus befruchteten Eiern, w^elche wir
hier mit dem Namen der Hypogenese belegen, findet sich vorzugs-
weise bei den höheren und vollkommeneren Klassen des Tier- und
Pflanzenreiches, und bei den höchsten Abteilungen der niederen
Klassen. Insbesondere ist sie die ausschließhche Entwickelungsform
bei allen noch jetzt lebenden Gliedern des Vertebratenstammes, bei
der großen Mehrzahl aller Arthropoden, bei allen Mollusken und
Echinodermen, und bei vielen höheren Würmern, sowie bei der großen
Mehrzahl der Phanerogamen. Dagegen kommt sie bei den Hydro-
medusen und Kryptogamen nur selten, bei den Protisten vielleicht
niemals vor. In allen Fällen durchläuft bei dieser einfach kontinuier-
lichen Entwickelung das physiologische Individuum, welches aus dem
befruchteten Eie entspringt, eine einzige ununterbrochene Formen-
reihe, w^elche mit der Produktion von Geschlechtsorganen ihr Ziel
erreicht. Jeder Zustand der Spezies ist das unmittelbare Differen-
zierungsprodukt des nächst vorhergegangenen Zustandes. Niemals
1) (1906). Neuerdings wird die Form des Generationswechsels, die wir hier
(1866) regressive Metagenesis genannt haben, meistens ganz davon getrennt
und als Heterogonie bezeichnet.
222 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII.
wird diese zusaniincnhängende Kette von epigenetisch auseinander
hervoi-oeh enden Zuständen durch einen ungeschlechtlichen Zeugungs-
akt unterbrochen, welcher ein zweites selbständiges Bion produziert.
Man hat freilich auch viele Wachstums- und Differenzierungsakte,
welche im Bion während der hypogenetischen Entwickelung- vor sich
gehen, als ungeschlechtliche Zeugungsakte (Knospung, Teilung etc.)
bezeichnet, und es ist dies vollkommen richtig. Allein alle diese
ungeschlechtliclien Zeugungsakte produzieren nicht neue physio-
logische, sondern nur morphologische Individuen: und diese
letzteren sind niemals von dem Range, welchen die Spezies in ihrer
geschlechtsreifen vollendeten Form erreicht, sondern stets morpho-
logische Individuen niederen Ranges. So ist z. B. bei der Epigenese
der Wirbeltiere schon die Furchung des Eies ein Akt der Teilung
von Piastiden, die Entstehung der Urwirbel ein Akt der terminalen
Knospenbildung von Metameren, das Hervorsprossen der Extremitäten
ein Akt der lateralen Knospung von Organen, das Hervorsprossen
der Zehen ein Akt der Diradiation, und das Wachstum sowie das
Entstehen jedes neuen Organes ist mit Teilungsakten von Piastiden
verknüpft. Allein alle diese ungeschlechtlichen Zeugungakte führen
zusammen nur zur Entwickelung eines einzigen Bion, welches
als morphologisches Individuum fünfter Ordnung die reife und voll-
endete Speziesform repräsentiert, und diese Person pflanzt sich nur
auf geschlechtlichem Wege fort. Das Eiprodukt ist demnach in allen
Fällen echter Hypogenesis ein einziges physiologisches Individuum.
Man pflegt gewöhnlich die einfache Entwickelung aus befruchteten
Eiern, welche wir Hypogenesis nennen, einzuteilen in eine Ent-
wickelung mit und ohne Verwandlung, und wir werden, dieser Ein-
teilung folgend, Hypogenesis metamorpha, mit Metamorphose, und
Hypogenesis cpimoipha, ohne Metamorphose, unterscheiden. Wir
halten dabei den Begriff der Metamorp}iose , wie wir ihn oben definiert
haben, fest, als die Entwickelung außerhalb der Eihüllen mit Pro-
duktion provisorischer Organe, welche durch den Verwandlungsprozeß
verloren gehen.
II, 2 A. Hypogenesis metamoiplia.
Amphigene Entwickelung ohne Generationswechsel, mit
postembryonaler Metamorphose,
Das physiologische Individuum, welches aus dem befruchteten Ei
hervorgeht, entwickelt sich außerhalb der Eihüllen zur Geschlechts-
reife, nachdem es provisorische Teile abgeworfen hat.
XVII. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 223
Der wesentliche Charakter der postembryonalen Verwanclluni>.
welche man gewöhnlich schlechtweg- als Metamorphose bezeichnet,
liegt, wie wir oben zeigten, darin, daß das Bion nach dem Verlassen
der EihüUen provisorische Organe besitzt oder erhält, welche es verliert,
ehe es sich znr Geschlechtsreife entwickelt. So lange das den Ei-
hüUen entschlüpfte Individuum solche provisorische Organe besitzt,
wird dasselbe als Larve {Larva, Xymplia) bezeichnet. Der Verlust
dieser Organe ist der eigentliche Akt der Verwandlung, durch welchen
die Larve entweder zum jungen Bion (./««eins) oder, wenn dabei die
Geschlechtsorgane sich entwickeln, zum reifen und vollendeten Bion
(Ädtdtum) wird. Das Verhältnis der Larven zu den jungen und
reifen Bionten ist bei den verschiedenen Organismen außerordentlich
verschieden, je nach der Größe, Ausdehnung und Form der provi-
sorischen Organe. Es ließe sich hiernach eine Menge von verschiedenen
Formen bei der Metamorphose ebenso wie beim Generationswechsel
unterscheiden. Indessen ist die Masse der in dieser Beziehung be-
kannten Tatsachen ebenso ungenügend geordnet, als umfangreich, so
daß es vorläufig noch nicht möglich ist, in übersichtlicher Zusammen-
stellung das Verhältnis der einzelnen Metamorphosenarten zuein-
ander zu erörtern. Eine zukünftige kritische und denkende Vergleichung
derselben wird hier ebenso wie beim Generationswechsel eine sehr
reiche Fülle leichterer und tieferer Modifikationen zu unterscheiden
haben. Für uns genügt hier die Anführung einiger weniger Beispiele.
Als den extremsten Grad der Metamorphose müßten wir vor allen die
Ontogenese der Echinodermen bezeichnen: ferner diejenige der Nemer-
tinen und Museiden. Bei letzteren geht sie so weit, daß fast die
ganze embryonale Entwickelung des physiologischen Individuums wieder
von vorn anfängt, und daß nicht nur einzelne Organn. sondern ganze
Organsysteme als provisorische Formen aufgefaßt werden müssen.
So sehr nun auch diese extremste Form der Umbildung bei den
Fliegen von der Metamorphose sich zu entfernen scheint, so ist sie
dennoch in der Tat durch eine lange und allmähliche Kette von
Ubergangsformen. mit dem geringeren und zuletzt dem ganz ge-
ringen Grade der Metamorphose verbunden, und zwar von Über-
gangsformen, welche alle in derselben Insektenklasse vorkommen.
Während noch bei den Schmetterlingen, den Käfern und den meisten
anderen Insekten mit sogenannter vollkommener Verwandlung ge-
wöhnlich, drei scharf getrennte Abschnitte der postembryonalen Um-
bildung sich unterscheiden lassen (Larve, Puppe und Image), finden
224 Methodik der Morphologie der Organismen. XVII.
wir (lagegeil l)ei den Insekten mit sogenannter unvollkommener oder
halber Verwandlung den Prozeß der Metamorphose auf verschiedene
Häutungen und auf die Entwickelung der Flügel etc. beschränkt.
Die Formunterschiede der verschiedenen Häutungszustände sind bald
so bedeutend, daß die Häutung noch als unvollkommene Metamorphose
bezeichnet werden kann, bald so gering, daß sie unmittelbar in die
epimorphe Hypogenese übergeht. Auch bei den übrigen Articulaten
und überhaupt bei der großen Mehrzahl aller Wirbellosen sehen wir
die Hypogenese mit Metamorphose verbunden, so bei den meisten
Crustaceen, Würmern. Mollusken. Echinodermen. Coelenteraten ; sehr
häufig treten hier zugleich sehr verwickelte Formfolgen dadurch auf,
daß sich die Metamorphose mit der Metagenese verbindet. Unter
den Wirbeltieren ist die postembryonale Metamorphose auf den Ani-
phioxus, die Cyclostomen und Amphibien beschränkt.
II. 2 B. Hypogenesis epimorpha.
Ampliigene Entwickelung ohne Generationswechsel und
ohne postembryonale Metamorphose.
Das physiologische Individuum, welches aus dem befruchteten
Ei hervorgeht, entwickelt sich außerhalb der Eihüllen zur Geschlechts-
reife, ohne provisorische Teile abzuwerfen.
Die epimorphe Hypogenese, die postembryonale Entwickelung
ohne Verwandlung', ist diejenige Entwickelungsform, welche vorzugs-
weise für die Ontogenie der größten und höchst entwickelten Or-
ganismen, sowohl im Pflanzenreich als im Tierreich, geeignet erscheint,
^^elleicht schon deshalb, weil hier alle provisorischen Formzustände
innerhalb der Eihüllen durchlaufen und alle provisorischen Organe
während des embryonalen Lebens rückgebildet werden und verloren
gehen. Der Embryo durchbricht hier also die Eihüllen schon in der
ausgebildeten wesentlichen Form des reifen Tieres und alle postem-
bryonalen Veränderungen beschränken sich auf die Entwickelung der
Geschlechtsorgane und auf das bloße Wachstum: dieses vermag
allerdings dadurch, daß es in verschiedenen Körperteilen verschieden
rasch fortsclireitet und verschieden lange dauert, immerhin ziemlich
beträchtliche Proportionsunterschiede in der Größe und dadurch auch
in der Form des vollendeten und des werdenden Individuums hervor-
zurufen. Wir finden diese Hypogenese ohne Metamorphose bei den
allermeisten Wirbeltieren (mit Ausnahme der Amphibien, Cyclostomen
und Leptocardier), also bei allen Säugern, Vögeln, Reptilien und echten
XVII. VIII. Allgemeine Cliarakteristili der Zeugiuigskreise. 225
Fischen. Unter den Mollusken besitzen sie fast nur die Ceplialopoden,
welche sich auch in anderen Entwickelungsverhältnissen wesentlich von
den übrigen Mollusken unterscheiden. Unter den Articulaten ist die
epiniorphe Hypogenese im ganzen selten, ebenso unter allen übrigen
Wirbellosen. Obgleich man diesen Entwickelungsmodus gewöhnlich
für einen sehr einfachen zu halten pflegt, ist er doch, entsprechend
schon der hohen Organisationsstufe, welche die betreffenden Tiere
erreichen, umgekehrt für einen der kompliziertesten zu erachten, und
vom phylogenetischen Standpunkte aus für eine Art der Ontogenese,
welche erst durch lange dauernde „Abkürzung der Entwickelung"
entstanden ist.
Im Pflanzenreiche finden wir die epiniorphe Hypogenese ebenso
wie im Tierreiche als die fast ausschließliche Entwickelungsform aller
höheren und größeren Organismen wieder (mit Ausnahme der höheren
Kryptogamen). Wir finden dieselbe vor bei den höheren Algen (Fu-
caceen), ferner fast allgemein bei den Phanerogamen ; nur diejenigen
ausgenommen, welche durch frei sich ablösende Brutknospen (Bulbi
und Bulbilli) auf monogenem Wege neue Bionten erzeugen (echte
Metagenesis). Warum wir den Zeugungskreis der Phanerogamen
nicht als echte Metagenesis anerkennen können, werden wir sogleich
bei Betrachtung der Strophogenese näher begründen. Die ganze
Formenfolge vom Ei bis zum Ei bildet hier eine einzige geschlossene
Entwickelungskette und erscheint als ununterbrochene Differenzierungs-
reihe von sukzessiven Formzuständen eines einzigen Bion, ganz
wie bei den höheren Tieren. Es könnte demnach nur die Frage
entstehen, ob wir die Ontogenese der Phanerogamen als mdamorphe
oder als cpimorphe auffassen sollen, d. h. ob mit ihrer postembryonalen
Entwickelung eine Metamorphose verbunden ist oder nicht. Daß die
sogenannte „Metamorphose der Pflanzen", und der Phanerogamen
insbesondere, wesentlich eine Differenzierungserscheinung ist, und
keine Verwandlung in dem Sinne, in welchem der Begriff der Me-
tamorphose von den Zoologen fast allgemein und täglich gebraucht
wird, haben wir bereits oben gezeigt. Es könnte sich also nur fragen,
ob sich außerdem noch bei den hypogenen Pflanzen eine echte Meta-
morphose in dem vorher festgestellten Sinne findet, d. h. eine postem-
bryonale Entwickelung mit Verlust provisorischer Teile. Als solche
„provisorische Teile" könnte man bei den Phanerogamen die Coty-
ledonen oder Keimblätter auffassen : und wenn man diese Auffassung
gelten läßt, so würde die H}'pogenesis der Phanerogamen nicht als
Haeckel, Prinz, d. Morphol. lo
226 Entwickolungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII.
e]mnor2)]ie, sondern als metamorphe Entwickelung zu betrachten sein,
und der Verlust der Keimblätter als Akt der Verwandlung. Die
Keimpflanze, d. li. die dem Samen entkeimte, aus den Eihüllen her-
vorgebrochene junge Pflanze, wäre dann als „Larve" zu betrachten,
so lange sie noch die Cotyledonen (,.Larvenorgane") besitzt.
Man pflegt den Entwickelungsmodus der epimorphen Hypogeuese,
wie er den meisten höheren Tieren und Pflanzen zukommt, gewöhn-
lich als einen ..sehr einfachen" zu bezeichnen, gegenüber der meta-
morphen Hypogeuese und der Metagenese. Indessen übersieht man
dabei, daß die Entwickelungsvorgänge, welche hier innerhalb des Eies
verborgen verlaufen, viel komplizierter und aus größeren Reihen
differenter Zeugungsakte zusammengesetzt sind, als bei denjenigen an-
scheinend äußerlich mehr zusammengesetzten Entwickelungsreihen,
welche beim Generationswechsel etc. auftreten. Wahrscheinlich sind
auch die scheinbar einfachsten Formen der epimorphen Hjqiogenese
durch paläontologische „Abkürzung der Entwickelung" sekundär aus
viel verwickeiteren Generationsreihen von metagenetischer Form her-
vorgegangen, in ähnhcher Weise, wie es die sogleich zu besprechende
Strophogenese ahnen läßt.
IX. Metagenesis und Stropliogeiiesis.
(Generationswechsel und Generationsfolge.)
Die Charakteristik des echten Generationswechsels oder der Meta-
genesis, welche wir oben festzustellen versuchten, hob als das wesent-
lichste Moment dieses Entwickelungsmodus die Zusammensetzung des
Zeugungskreises aus zwei oder mehreren sukzessiven Bionten hervor,
welche teils auf geschlechthchem, teils auf ungeschlechtlichem Wege
entstehen. Es wird also hier die Spezies durch zwei oder mehr ver-
schiedene, teils sexuelle, teils esexuelle Bionten oder physiologische
Individuen vertreten, von denen die ersteren die unmittelbaren Er-
zeugnisse der letzteren sind.
Wie schon dort hervorgehoben wurde, hat man neuerdings den
Begriff des Generationswechsels viel weiter ausgedehnt, indem man
auch ähnliche Entwickelungsreihen von höheren Organismen und ins-
besondere von den Phanerogamen hereinzog. Allerdings ist der Zeugungs-
kreis, welchen die Stöcke der Phanerogamen durchlaufen, in mancher
Hinsicht der echten Metagenesis sehr ähnlich, aber dennoch unserer
Ansicht nach in anderer Beziehung wesentUch verschieden, und gerade
XVII. IX. Metagenesis iind Strophogenesis. 227
derjenige Charakter, den wir oben als den entscheidenden hingestellt
haben, fehlt denselben. Bei allen Phanerogamenstöcken entspringt
aus der geschlechtlichen Zeugung ein Sproß (Blastus), also ein Form-
Individuum fünfter Ordnung, welches durch wiederholte ungeschlecht-
liche Zeugungsakte, nämlich durch unvollständige äußere Knospen-
bilduug, zahlreiche andere Sprosse erzeugt, die zu einem Stocke oder
Cormus vereinigt bleiben. Dieser Cormus ist aber ein einziges Form-
indi\äduum sechster und höchster Ordnung, und als solches zugleich
das physiologische Individuum (Bion), welches als konkrete Lebens-
einheit die Art repräsentiert oder das Speziesglied bildet. Da nun
dieser Stock selbst wieder geschlechtsreif wird, oder da, genauer aus-
gedrückt, unmittelbar aus den integrierenden Bestandteilen dieses
Stocks, nämlich aus den geschlechtlich differenzierten Personen (Blüten-
sprossen), der Same amphigen erzeugt wird, welcher dem Stocke selbst
den Ursprung gibt, so haben wir den ganzen Zeugungskreis als einen
einfachen hypogenen Generationszyklus aufzufassen. In der Tat haben
wir vom Ei bis zum Ei die vollkommen geschlossene Formenkette
des einen physiologischen Individuums, welches als Stock aus einem
Ei entsteht und selbst wieder Eier zeugt. Der gewöhnliche Zeugungs-
kreis der Phanerogamen ist also ebensogut ein einfacher hypogener,
wie derjenige der Wirbeltiere.
Die Ansicht, das der Entwickelungskreis der Phanerogamenstöcke
auf einem echten Generationswechsel beruhe, würde dann richtig sein,
wenn der Sproß (Blastus) das physiologische Individuum derselben
wäre. Dies ist aber nicht der Fall, wie wir im dritten Buche gezeigt
haben. Vielmehr ist der Sproß, welcher als Formindividuum fünfter
Ordnung bei den Wirbeltieren in der Tat das physiologische Indivi-
duum bildet, bei den Phanerogamen nur ein untergeordneter Bestand-
teil des Stockes oder Cormus, welcher hier als Formindividuum
sechster Ordnung die physiologische Individualität repräsentiert. Und
da der letztere sich allerdings durch ungeschlechtliche Zeugungsakte
entwickelt, aber lediglich durch geschlechtliche Zeugungsakte fort-
pflanzt, so ist unzweifelhaft der gewöhnliche Generationszyklus der
Phanerogamen keine Metagenesis, sondern einfache Hypogenesis. wie
bei den Wirbeltieren. Der Unterschied zwischen beiden besteht nur
darin, daß die physiologische Individualität hier durch ein morpholo-
gisches Individuum fünfter, dort aber sechster Ordnung repräsentiert
wird. Als echten Generationswechsel, als wirkliche Metagenesis
können wir bei den Phanerogamen nm' jene Fälle auffassen, in denen
15*
228 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVI] .
sich Bnitknospeii (Biübi, Bulbilli etc.) selbsttätig vom Stocke ablösen
und also wirklich monogen erzeugte neue Biontcn bilden (z. B. Lilium
hnlbifenim, Dentaria buJbifora etc.).
Die Vergleichung des scheinbaren Generationswechsels der Pliane-
roganien mit dem echten Generationswechsel der Kryptogamen und
der höheren Tiere führt uns unmittelbar zu einer Betrachtung, welche
sowohl für das Verständnis des zusammengesetzten Baues der höheren
Organismen überhaupt, als auch besonders ihrer Entwickelungsver-
hältnisse von der größten Bedeutung ist. Bei den Phanerogamen, wie
sie uns besonders Alexander Brauns klare Betrachtungsweise
tektologisch erläutert hat, ist es nämlich ganz richtig, daß der Stock
(Cormus), also das morphologische Individuum sechster Ordnung, als
einfaches Bion durch eine Reihe von ungeschlechtlichen Zeugungs-
prozessen untergeordneter morphologischer Individualitäten entsteht,
welche endlich mit der Erzeugung geschlechtlicher Keime in den
Blütensprossen abschließen. Verfolgen wir den gewöhnlichen Phane-
rogamencormus auf seinem Lebenswege von der Teilung des Eies
(Keimbläschen) an, so können wir eine Reihe von ungeschlechtlichen
Zeugungsakten verschiedener Ordnungen unterscheiden, welche endlich
mit der Eibildung den amphigenen Zeugungskreis vollendet. Ganz
dasselbe finden wir aber auch, wenn wir die einzelnen Entwickelungs-
akte der höheren Tiere, z. B. der Wirbeltiere, vergleichen, deren
Ontogenesis doch allgemein und ohne Widerspruch als einfache Hyjso-
genesis, als Amphigenesis ohne Generationswechsel, aufgefaßt wird.
Auch hier stoßen wir von der Teilung (Furchung) des Eies an auf
eine ganze Reihe von ungeschlechtlichen Zeugungsakten, welche endlich
mit der Geschlechtsreife den amphigenen Zeugungskreis abschließt.
Bei den Wirbeltieren ebenso wie bei den Phanerogamen durchläuft
das Bion während seiner ontogenetischen Entwickelung die ganze
Reihe von untergeordneten morphologischen Individualitäten, welche
derjenigen vorausgehen, in der es schließlich als reifes Bion die Spezies
repräsentiert. Jede höhere Individualitätsordnung wird durch einen
besonderen ungeschlechtlichen Zeugungsakt von der vorhergehenden
nächst niederen erzeugt, und auch innerhalb des Entwickelungslaufes
jeder einzelnen Individualitätsordnung finden wir noch massen-
haft wiederholte monogene Zeugungsakte der Piastiden, welche die
Organe etc. konstituieren. Dennoch wird es niemand einfallen, diese
Entwickelungsreihe, die aus einer ganzen Kette von verschiedenen,
monogen auseinander hervorgehenden, untergeordneten Generationen
XVII. IX- Metagenesis und Strophogenesis. 229
besteht, als echte Metagenesis betrachten zu wollen. Denn die ganze
Zeugungskette verläuft Schritt für Schritt im ununterbrochenen Zu-
sammenhange an einem und demselben physiologischen Individuum
oder Bion. Der einzige Unterschied zwischen der Hypogenese der
höchsten Pflanzen und Tiere ist der, daß die letzteren (Vertebraten.
Arthropoden) nicht die letzte und höchste, die sechste Stufe der mor-
phologischen Individualität erreichen, sondern vorher auf der fünften
stehen bleiben. Der Cormus ist aber ebenso die spezifische Form
des reifen Bion bei den Phanerogamen, wie die Person bei den Verte-
braten und Arthropoden.
Ganz ähnliche Reihen von eng verketteten ungeschlechtlichen
Zeugungsakten begleiten die Ontogenesis bei allen Organismen, die
nicht als Bionten auf der ersten Stufe der Plastide stehen bleiben.
Bei den Mollusken z. B. können wir ganz eben solche Zeugungsreihen
unterscheiden, ohne daß wir auch hier von einer echten Metagenese
sprechen können.
Wir glauben daher nicht zu irren, wenn wir alle diese unge-
schlechtlichen Zeugungsketten, die an einem einzigen, geschlechtlich
erzeugten und selbst geschlechtsreif werdenden Bion verlaufen, von
dem echten Generationswechsel, der stets an zwei oder mehreren
Bionten abläuft, unterscheiden, und schlagen vor, dieselben allgemein
mit dem der Generationsfolge oder Strophogenesis zu be-
zeichnen. Es kann demnach der scheinbare Generationswechsel der
Phanerogamen als Strophogenesis von Cormen, die individuelle Ent-
wickelung der Vertebraten und Arthropoden als Strophogenesis von
Personen bezeichnet werden. Will man diese Auffassung bis zu ihren
letzten Konsequenzen verfolgen, so muß eigentlich alle Amphigenesis
von polyplastiden Organismen als Strophogenesis aufgefaßt werden, da
alles „zusammengesetzte Wachstum" derselben mit Zeugungsakten
von Piastiden verbunden ist.
Die objektive Betrachtung der Strophogenesis und ihr Vergleich
mit der Metagenesis ist äußerst wichtig und lehrreich, besonders auch
für das Verständnis der Parallele zwischen der Ontogenese und Phy-
logenese. Es ist leicht möglich, daß viele Prozesse, die wir jetzt zur
Strophogenese rechnen müssen, in früheren Zeiten der Erdgeschichte
wirkliche Metagenese waren und erst nachträglich durch „Abküi-zung
der Entwickelung" zusammengezogen wurden.
AcMzehntes Kapitel.
EntwickelungsgescliicMe der morphologisclien Individuen.
^Betrachten wir alle Gestalten, besonders die organi-
schen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend
ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß
vielmehr Alles in einer steten Bewegung schwankt. Das
Gebilde wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben
uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der
Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu
erhalten, nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht."
Goethe.
I. Ontogenie der Plastideu.
IL Ontogenie der Organe,
in. Ontogenie der Antimeren.
IV. Ontogenie der Metameren.
V. Ontogenie der Personen.
VI. Ontogenie der Stöcke.
Das achtzehnte Kapitel fällt fort, da ich dessen brauchbaren Inhalt später
wesentlich verbessert und teils in die Anthropogenie (1874, V. Aufl. 1903),
teils in die „Systematische Phylogenie" (1894 — 1896) aufgenommen habe.
(Vergl. auch meine Abhandlung über: .,Die Individualität des Tierkörpers"
in der Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaft, 1878, Bd. XII, S. 1.)
Neunzelintes Kapitel.
Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie.
„Dies also hätten wir g-ewonneu, ungescheut behaupten
zu dürfen, daß alle vollkommneren organischen Xaturen,
worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der
Spitze der letzteren den Menschen sehen, alle nach einem
Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr
beständigen Teilen mehr oder weniger hin- und
lierweicht, und sich noch täglich durch Fortpf 1 an-
zung aus- und umbildet.*
Goethe.
I. Inhalt und Bedeutung der Deszendenztheorie.
Alle Organismen, welche heutzutage die Erde bewohnen
und welche sie zu irgendeiner Zeit bewohnt haben, sind
im Laufe sehr langer Zeiträume durch allmähliche Umge-
staltung und langsame Vervollkommnung aus einer geringen
Anzahl von gemeinsamen Stammformen (vielleicht selbst
aus einer einzigen) hervorgegangen, welche als höchst ein-
fache Urorganismen vom Werte einer einfachsten Plastide
(Moneren) durch Autogonie aus unbelebter Materie ent-
standen sind.
II. Entwickehmgsgeschichte der Deszendenztheorie.
(Vergl. meine ,\atürliche Sc-höpfungsgeseliichte-, 1868, H.— VI. Vortrag. X.Auflage 1902.)
III. Die Selektionstheorie. (Der Darwinismus.)
Die Lehre von der natürlichen Züchtung („Natural Selection")
der Organismen oder von der „Erhaltung der vervollkommneten Rassen
im Kampfe um das Dasein", welche wir im folgenden immer kurz
als die Zuchtwahllehre oder Selektionstheorie bezeichnen
werden, ist von Charles Darwin zuerst aufgestellt und in so voll-
kommener Weise als die eigentlich kausale oder mechanische Basis
der gesamten Transmutationstlieorie nachgewiesen worden, daß die
232 '^if" IX'Szondpnztheoiie und die Solektionstheorie. XIX.
letztere erst durch die erstere als eine vollberechtigte und vollkommen
sichergestellte Theorie ersten Ranges ihren unvergänglichen Platz an
der Spitze der biologischen Wissenschaften erhalten hat. Diese Se-
lektionstheorie ist es, welche man mit vollem Rechte, ihrem
alleinigen Urheber zu Ehren, als Darwinismus bezeichnen kann,
während es nicht richtig ist, mit diesem Namen, wie es neuerdings
häufig geschieht, die gesamte Deszendenztheorie zu belegen, die
bereits von Lamarck als eine wissenschaftlich formulierte Theorie
in die Biologie eingeführt worden ist, und die man daher entsprechend
als Lamarekismus bezeichnen könnte. Die Deszendenztheorie
faßt die gesamten allgemeinen (morphologischen und physiologischen)
Erscheinungsreihen der organischen Natur in ein einziges großes
harmonisches Bild zusammen und zeigt, wie sich uns alle Züge des-
selben aus einem einzigen physiologischen Naturprozesse, aus der
Transmutation der Spezies, harmonisch und vollständig erklären.
Die Selektion stheorie zeigt uns dagegen, wie dieser Prozeß der
Spezies-Transmutation vor sich geht und warum derselbe notwendig
gerade so vor sich gehen muß, wie es tatsächhch geschieht; sie er-
klärt diesen physiologischen Prozeß selbst, indem sie uns seine
mechanischen Ursachen, die Causae efficientes, kennen lehrt.
Wenn daher Lamarck immer das Verdienst bleiben wird, die Ab-
stammungslehre zuerst in die Wissenschaft als selbständige Theorie
eingeführt zu haben, so wird dagegen Darwin das nicht geringere
Verdienst behalten, dieselbe nicht allein, entsprechend dem wissen-
schaftlichen Fortschritt eines halben Jahrhunderts, vielseitiger und
umfassender ausgebildet, sondern das größere und ebenso unsterbliche
Verdienst, ihr durch die Aufstellung der Zuchtwahllehre erst die
unerschütterhche mechanische Basis gegeben zu haben.
Der Grundgedanke von Darwins Selektionstheorie liegt in der
Wechselwirkung zweier physiologischer Funktionen, welche
allen Organismen eigentümlich sind, und welche wir. ebenso wie die
Ernährung und Fortpflanzung, mit denen sie unmittelbar zusammen-
hängen, als allgemeine organische Funktionen bezeichnen können.
Es sind dies die beiden äußert wichtigen Leistungen der Vererbung:
und der Anpassung, welche nach unserer Ansicht wesentlich den
beiden formbildcnden Elementen entsprechen, die wir oben im zweiten
Buche als inneren und äußeren Bildungstrieb einander gegenüberge-
stellt haben. Die Erblichkeit oder der innere Bildungstrieb
(die innere Gestaltungskraft) äußert sich darin, daß jeder Organismus
XIX. III. Die Selektionstheorie. (Der Darwinismus.) 233
bei der Fortpflanzung seinesgleichen erzeugt, oder, genauer ausge-
drückt, einen ihm (nicht gleichen, sondern) ähnlichen Organismus.
Die Anpassungsfähigkeit oder der äußere Bildungstrieb da-
gegen (die äußere Gestaltungskraft) äußert sich darin, daß jeder Or-
ganismus durch Wechselwirkung mit seiner Umgebung einen Teil
seiner ererbten Eigenschaften aufgibt und dafür neue Eigenschaften
annimmt, so daß er mithin dem Organismus, der ihn erzeugte, niemals
absolut gleich, sondern nur ähnlich ist. Aus der allgemein statt-
findenden Wechselwirkung dieser beiden gestaltenden Prinzipien geht
die ganze Mannigfaltigkeit der Organismenwelt hervor. Wäre die
Erblichkeit eine absolute, so würden alle Organismen eines jeden
Stammes einander gleich sein: wäre umgekehrt die Anpassung eine
absolute, so würden alle Organismen völlig verschieden sein. Der
faktisch vorhandene Grad der Wechselwirkung zwischen beiden
Bildungskräften bedingt den faktisch vorhandenen Grad der Ähnlich-
keit und Verschiedenheit zwischen allen Lebewesen. Alle Cha-
raktere der Organismen (und zwar sowohl chemische, als mor-
phologische, als physiologische Eigenschaften) sind entwederdurch
Vererbung oder durch Anpassung erworben; ein drittes form-
bildendes Element neben diesen beiden existiert nicht.
Die nächste Folge der Wechselwirkung zwischen der Vererbung
und der Anpassung, und insbesondere der Vererbung der durch An-
passung erworbenen Abänderungen, ist die dadurch bewirkte Divergenz
ihres Charakters oder die Differenzierung. Indem die Organismen
auf ihre Nachkommen durch Vererbung nicht allein die von ihnen
ererbten, sondern auch die von ihnen durch Anpassung erst erworbenen
Eigenschaften (Abänderungen) übertragen, gehen ihre Nachkommen
auseinander, divergieren, und indem diese Divergenz wegen der
unbegrenzten Abänderungsfälligkeit oder Variabilität in einem gewissen
Sinne keine Schranken hat, indem vielmehr der Organisnnis stets
anpassungsfähig, also variabel bleibt, so können im Laufe zahlreicher
Generationen aus einer und derselben ursprünglichen Stammform
gänzlich verschiedene Nachkommen hervorgehen. Aus einer und der-
selben Art entstehen durch Anpassung an sehr verschiedene Lebens-
bedingungen im Laufe von Generationen sehr verschiedene Arten.
Je mehr die Erblichkeit in der Generationsfolge überwiegt, desto
konstanter ist die Art und desto längere Zeit erhält sie sich; je mehr
die Anpassung überwiegt, desto variabler ist die Art und desto rascher
entstehen aus ihr neue Arten.
234 I^iß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Die ganze unendliche Mannigfaltigkeit der organischen Formen
wird also in letzter Instanz lediglich durch die Wechselwirkung dieser
beiden physiologischen Funktionen, der Anpassung und der Vererbung,
hervorgebracht. Sehr wichtig sind aber weiter die besonderen Ver-
hältnisse, unter denen diese Wechselwirkung überall stattfindet und
von denen sie in hohem Maße begünstigt wird. Die Summe dieser
Verhältnisse nennt Darwin mit einem metaphorischen Ausdruck den
„Kampf ums Dasein". Indem nämlich jeder Organismus den auf
ihn einwirkenden äußeren Umständen entgegenwirkt, kämpft er mit
denselben. Da nun alle Individuen einer Organismenart nicht absolut
gleich, sondern bloß ähnlich sind, so verhalten sie sich den gleichen
äußeren Einflüssen gegenüber verschieden. Außer diesem Kampfe mit
den Anpassungsbedingungen findet aber ferner auch überall ein
Wettkampf zwischen den zusammenlebenden Organismen statt. Da
nämlich alle Organismen eine w^eit zahlreichere Nachkommenschaft
produzieren, als sich zu erhalten imstande ist, so werden von der-
selben diejenigen sich am leichtesten und besten erhalten, welche sich
am leichtesten und besten den umgebenden Existenzbedingungen, dem
äußeren Bildungstriebe anpassen. Es sterben daher die am wenigsten
angepaßten Individuen frühzeitig aus, ohne sich fortpflanzen zu können,
während die am besten angepaßten Individuen erhalten bleiben und
sich fortpflanzen. Die ersteren werden von den letzteren in dem un-
vermeidhchen Wettkampfe um die Erlangung der unentbehrlichen,
aber nicht für alle ausreichenden Existenzbedingungen besiegt. Es
kommt hier die oben erwähnte Populationstheorie von Malthus zur
Anwendung. Diesen Sieg der befähigteren und besser angepaßten
Organismen im Kampfe um das Dasein nennt Darwin „Natural-
selection'' oder natürliche Zuchtwahl (natürliche Züchtung
oder Auslese), weil der Kampf um das Dasein hier dieselbe auslesende,
auswählende (züchtende) Wirkung auf viele ungleiche Individuen einer
und derselben Art ausübt, welche bei der ,.künstlichen Züchtung"
die absichtliche, zweckmäßige Auswahl des Menschen übt.
Die natürliche Selektion wählt also im Kampfe um das Dasein
diejenigen Individuen zur Fortpflanzung aus, welche sich am besten
den Existenzbedingungen anpassen können, und da in den meisten
Fällen diese Individuen die besseren, die vollkomnmeren sind, so ist
im allgemeinen (einzelne besondere Fälle ausgenommen !) damit zugleich
eine zwar langsame, aber beständig wirkende Vervollkommnung,
ein Fortschritt in der Organisation notwendig verbunden.
XIX. IV. Erblichkeit und Vererbung. 235
Da ferner der Kampf um das Dasein zwischen den zusammenleben-
den Individuen einer und derselben Art um so heftiger (also auch um
so gefährlicher) sein muß, je mehr sie sich gleichen, um so weniger
heftig, je mehr sie voneinander abweichen, so werden die am stärksten
divergierenden oder voneinander abweichenden Individuen am meisten
Aussicht haben, nebeneinander fortzuexistieren und sich fortzupflanzen,
und dadurch besonders wird allgemein die oben hervorgehobene
Divergenz des Charakters begünstigt, welche uns die allgemeine
Neigung der Organismen erklärt, immer mehr abzuändern, und immer
mehr neue und mannigfaltige Arten zu bilden. Aus der unendlich
verwickelten Wechselwirkung dieser inneren und äußeren formbildenden
Verhältnisse, und aus den notwendigen Folgerungen, welche sich un-
mittelbar daraus ableiten lassen, erklärt sich die ganze Mannigfaltigkeit
der organischen Natur, welche uns umgibt. Um dieses äußerst
wichtige Verhältnis zu würdigen, müssen wir zunächst die beiden
Funktionen der Vererbung und der Anpassung einer eingehenderen
physiologischen Betrachtung unterwerfen, als es bisher geschehen ist.
IV. Erblichkeit und Vererbimg.
(Atavismus, Hereditas.)
IV, A. Tatsache und Ursache der Vererbung.
Die Erblichkeit (Atavismus) als virtuelle Kraft, und die
Vererbung (Hereditas) als aktuelle Leistung der organischen
Individuen, sind allgemeine physiologische Funktionen der Or-
ganismen, welche mit der fundamentalen Funktion der Fortpflan-
zung unmittelbar zusammenhängen und eigentlich nur eine Teiler-
scheinung der letzteren darstellen. Sie äußern sich in der Tatsache,
daß jeder Organismus, wenn er sich fortpflanzt. Nachkommen erzeugt,
welche entweder ihm selbst ähnlich sind oder deren Nachkommen
doch wenigstens (nach Dazwischentreten einer oder mehrerer Gene-
rationen) ihm ähnlich werden. Diese Erscheinung ist eine so all-
gemeine und alltäglich zu beobachtende, daß sie, eben wegen dieser
Allgemeinheit, als etwas Selbstverständliches gilt. Die wichtigen
biologischen Schlüsse aber, welche aus dieser Tatsache hervorgehen,
werden von der gewöhnlichen oberflächlichen Naturbetrachtung ent-
weder übersehen oder doch nicht in ihrer voUen Bedeutung für die
Charakterbildung der Organismen erkannt. Gewöhnlich werden nur
auffallende Abweichungen von der Erblichkeit besonders hervorge-
23(5 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
hoben. Denn man findet es allgemein ganz „natürlich", daß das
Kind Eigenschaften seiner Eltern teilt („erbf), und daß der Baum
dem elterlichen Stamme ähnlich ist, von dem er als Same oder als
Knospe entnommen wurde. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm."
Der allgemeinste Ausdruck für das Grundgesetz der Erblichkeit
dürfte in den Worten hegen: „Ähnliches erzeugt Ähnliches",
oder genauer: „Jedes organische Individuum erzeugt bei der
Fortpflanzung direkt oder indirekt ein ihm ähnliches In-
dividuum."
Die Ursachen der Erblichkeit sind ebenso wie die Gesetze
ihrer viefachen Modifikationen bisher noch äußerst wenig untersucht
worden. Sie hängen aber offenbar direkt mit den Gesetzen der
Fortpflanzung des Organismus zusammen und bestehen
wesentlich in einer unmittelbaren Übertragung von mate-
riellen Teilen des elterlichen Organismus auf den kindlichen
Organismus, die mit jeder Fortpflanzung notwendig verbunden ist.
Alle, auch die verschiedenartigsten und scheinbar von den Fort-
pflanzungserscheinungen unabhängigsten Vererbungserscheinungen sind
physiologische Funktionen, welche sich in letzter Instanz auf die
Fortpflanzungstätigkeit des Organismus zurückführen lassen. Die
Erblichkeit ist also keineswegs eine besondere organische Funktion.
Vielmehr ist in allen Modifikationen derselben das wesentliche kausale
Fundament die materielle Kontinuität vom elterhchen und kind-
lichen Organismus. „Das Kind ist Fleisch und Bein der Eltern."
Lediglich die partielle Identität der spezifisch-konstituierten Materie
im elterlichen und im kindlichen Organismus, die Teilung dieser Materie
bei der Fortpflanzung, ist die Ursache der Erbhchkeit.
Wir haben im dritten Abschnitt des fünften Kapitels gezeigt,
daß die individuelle Form jedes Naturkörpers das Produkt aus der
Wechselwirkung von zwei entgegengesetzten Faktoren, einem äußeren
und einem inneren Bildungstriebe ist. Bei allen organischen Indi-
viduen, welche nicht durch spontane, sondern durch parentale Gene-
ration entstehen, ist der innere Bildungstrieb oder die innere Ge-
staltungskraft {Vis itlasüca inierna) identisch mit der Erblichkeit.
IV, B. Vererbung und Fortpflanzung.
Die Fortpflanzung (Propagatio) ist eine physiologische Funktion
der Organismen, welche unmittelbar mit den allgemeinen organischen
Funktionen der Ernährung und des Wachstums zusammenhängt, wie
XIX. I^'- Erblichkeit und Vererbung. 237
bereits im fünften und im siebzehnten Kapitel ausgeführt wurde. Wir
konnten dies allgemein mit den Worten ausdrücken: die Fortpflan-
zung ist ein Wachstum des Organismus über das individuelle
Maß hinaus. Die Wachstumserscheinungen der Organismen und die
Eigentümlichkeiten, welche dasselbe von dem Wachstum der Anorgane
unterscheiden, haben \vir dort bereits in Betracht gezogen.
IV, C. Grad der Vererbung.
Da die materielle Kontinuität des elterlichen und des kindlichen
Organismus bei den verschiedenen angeführten Arten der Fortpflanzung
einen verschiedenen Grad der Ausdehnung und der Dauer zeigt, so
läßt sich von vornherein schon erwarten, daß auch der Grad der
Erblichkeit bei denselben verschieden sein werde, und auch dies
sehen wir überall durch die Erfahrung bestätigt. Je größer im Ver-
hältnis zum ganzen zeugenden Individuum der Teil desselben ist, der
sich als überschüssiges Wachstumsprodukt von ersterem isoliert, desto
größer ist die Gemeinschaftlichkeit der materiellen Grundlage, desto
größer ist der Grad der Erblichkeit, d. h. die Übereinstimmung in
Form und Funktion des zeugenden und des erzeugten Organismus.
Daher ist die letztere viel bedeutender bei der Teilung und Knospen-
bildung, wo ein verhältnismäßig großer Teil sich von dem zeugenden
Individuum ablöst, als bei der Keimzellenbildung und geschlechtlichen
Zeugung, wo nur ein verhältnismäßig kleiner Teil aus dem elterlichen
Organismus sich abscheidet. Ebenso ist die längere Dauer des Zu-
sammenhanges beider Organismen hierbei von Einfluß. Je länger
der materielle Zusammenhang beider dauert, je später sich das kind-
liche Individuum von dem elterlichen trennt, desto gleichartiger werden
sich beide, als Teile eines und desselben materiellen Ganzen, aus-
bilden und desto größer wird der Grad der Erblichkeit, der biologischen
Übereinstimmung zwischen beiden sein. Dieser Umstand wirkt meist
mit dem vorigen zusammen. Da auch diese Dauer des Zusammen-
hanges bei der Teilung und Knospenbildung größer ist als bei der
Keimbildung und sexuellen Fortpflanzung, so wird auch aus diesem
Grunde der Grad der hereditären Ähnlichkeit bei letzteren geringer
als bei ersteren sein. Die Beispiele hierfür sind bei denjenigen Or-
ganismen zahlreich, welche sich gleichzeitig auf geschlechtlichem und
ungeschlechtlichem Wege fortpflanzen. Unsere veredelten Obstsorten
z. B. können wir nur durch ungeschlechtliche Vermehrung (Ablösung
von Knospen, Ablegern, Senkern etc.) fortpflanzen, wodurch die feinen
238 Di^ Deszendenztheorie und die Selektionstlieorie. XIX.
individuellen Vorzüge des veredelten Baumes sich genau auf seine
Nachkommen übertragen, während dieselben bei der geschlechtlichen
Fortpflanzung (durch Samen) Nachkommen liefern, die sich weit von
ihren Eltern entfernen und Rückschläge in die nicht veredelte wilde
Stammform zeigen. Ebenso können sogenannte Spielpflanzen mit
sehr ausgeprägten und namentlich mit plötzlich aufgetretenen indi-
viduellen Charakteren (z. B. die Blutbuche, die Roßkastanien mit
gefüllten Blüten, viele Trauerbäume oder Bäume mit hängenden
Zweigen) nur auf ungeschlechtlichem, nicht auf geschlechtlichem
Wege fortgepflanzt werden. Dagegen entstehen solche auszeichnende
individuelle Bildungen, Monstrositäten etc., weit häufiger bei solchen
Individuen, die sexuell, als bei solchen, die esexuell erzeugt sind.
Allgemein läßt sich das Erblichkeitsgesetz, welches diesen Erschei-
nungen zugrunde liegt, folgendermaßen formulieren: „Jede Ver-
erbungserscheinung der Organismen ist durch die materielle
Kontinuität zwischen elterlichem und kindlichem Orga-
nismus bedingt und der Grad der Vererbung (d. h. der Grad
der morphologischen und physiologischen Ähnlichkeit zwischen elter-
lichem und kindlichem Organismus) steht in geradem Verhält-
nisse zu derZeitdauer des kontinuierlichenZusammenhanges
zwischen zeugendem und erzeugtem Individuum, und
in umgekehrtem
zwischen beiden."
in umgekehrtem Verhältnis zu dem Größenunterschiede
IV, D. Konservative und progressive Vererbung.
(Vererbung ererbter und erworbener Charaktere.)
Die außerordentliche Wichtigkeit der Erblichkeitserscheinungen
für die Erklärung der organischen Formbildung konnte erst erkannt
werden, seit man den Grundgedanken der Deszendenztheorie erfaßt
hatte, und es hat sich daher auch die allgemeine Aufmerksamkeit
den ersteren erst dann mehr zugewendet, als Darwin die letztere
durch seine Selektionstheorie kausal begründet hatte. Wir werden
uns daher nicht wundern, daß vorher noch keine ernstlichen Ver-
suche gemacht worden waren, die Masse der hierher gehörigen ver-
schiedenartigen Erscheinungen zu ordnen und als „Erblichkeitsgesetze"
zu formulieren. Auch in den wenigen seitdem verflossenen Jahren
sind hierzu keine umfassenderen Schritte getan worden; und es ist
dies erklärlich bei den großen Schwierigkeiten, welche jeder geord-
neten Betrachtung des ungeheuren Chaos von ontogenetischen Tat-
XIX. IV. Erblichkeit und Vererbung. 239
Sachen sich entgegenstellen. Die sehr zahlreichen und verschieden-
artigen Beobachtungen über Vererbung, welche wir aus älterer und
neuerer Zeit besitzen, sind größtenteils nicht von streng naturwissen-
schaftlich gebildeten Beobachtern, sondern von Landwirten. Gärtnern.
Tierzüchtern u. dergl. mehr gesammelt worden, deren Angaben zum
großen Teil sehr ungenau und unzuverlässig sind. Auch war für
diese bei Wiedergabe ihrer Beobachtungen meist nicht der theoretisch-
wissenschaftliche, sondern vielmehr der praktisch -zweckdienliche
Standpunkt maßgebend, und es ist daher sehr schwer, diese Angaben
mit Sicherheit zu verwerten. Die Zoologen und Botaniker aber, für
welche die wissenschaftliche Erkenntnis der Vererbungserscheinungen
schon längst die dringendste Pflicht hätte sein sollen, waren meist
viel zu sehr mit der Speziesfabrikation und der anatomischen Dar-
stellung der vollendeten Formen in ihren toten Museen und Herbarien
beschäftigt, als daß sie Zeit und Lust gehabt hätten, die Erblichkeits-
Erscheinungen an den lebendigen Organismen zu studieren, und in
der Erkenntnis des Werdens der Formen das Verständnis der voll-
endeten zu gewinnen. Es gilt also von den Vererbungsgesetzen das-
selbe, wie von den Anpassungsgesetzen, daß ihre wissenschaftliche
Begründung der Zukunft angehört. Vor allem wird diese das äußerst
wertvolle Material zu verwerten haben, welches die Ärzte über die
Vererbungen pathologischer Zustände gesammelt haben, und welches
ebenfalls noch ganz ungeordnet ist. Wenn wir trotzdem hier den
Versuch machen, die wichtigsten Gesetze der Vererbung und der
Anpassung vorläufig zu formulieren, so wollen wir damit nur eine
neue Anregung zur Gesetzeserforschung, keineswegs aber eine voll-
ständige Reihe von feststehenden Gesetzen geben. Wir müssen des-
halb für diesen Versuch besondere Nachsicht beanspruchen.
Bevor wir die verschiedenen Gesetze der Erblichkeit, welche sich
mit einiger Sicherheit schon jetzt als besonders wichtig hervorheben
lassen, einzeln formulieren, erscheint es notwendig, den wesentlichen
Unterschied zwischen zwei verschiedenen Hauptformen der Heredität
hervorzuheben, nämlich zwischen der Vererbung ererbter und der-
jenigen erworbener Charaktere. Alle verschiedenen Erblichkeitser-
scheinungen lassen sich entweder der einen oder der anderen Kategorie
unterordnen. Beide sind aber bisher in sehr ungleichem Maße be-
rücksichtigt worden. Die meisten Zoologen oder Botaniker haben
immer das größte Gewicht auf Vererbung bereits ererbter Charaktere
oder auf die konservative Vererbung gelegt und dagegen die
240 ßie Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Vererbung erworbener Charaktere oder die progressive Vererbung
entweder gar nicht berücksichtigt oder doch nicht in ihrem außer-
ordentlichen morphologischen Werte erkannt. Hieraus vorzüglich
erklärt sich die Zähigkeit, mit welcher das falsche Dogma von der
Konstanz der Spezies selbst noch von Einsichtigeren festgehalten wird.
Denn aus der einseitigen Berücksichtigung bloß der konservativen
Vererbung entspringt die irrige Vorstellung, daß alle Glieder einer
Spezies durch eine bestimmte Summe von unveränderlichen Charak-
teren als ein natürliches Ganzes zusammengehalten werden, und daß
ihre unbestreitbare Variation oder Abänderung bestimmte enge Grenzen
nicht überschreitet. Erst durch die gerechte Würdigung der entgegen-
gesetzten progressiven Vererbung wird die unbegrenzte Veränderlichkeit
der organischen Formen und die freie Transmutation der Spezies
erkannt, aus welcher sich alle Tatsachen der organischen Morpho-
logie erklären.
Das Gesetz der konservativen oder beharrlichen Here-
dität oder der Vererbung ererbter Charaktere sagt aus, daß
alle Deszendenten ihren Eltern ebenso wie allen vorhergehenden Ge-
nerationen gleichen. Jeder Organismus vererbt dieselben mor-
phologischen und physiologischen Eigenschaften auf seine
Nachkommen, welche er selbst von seinen Eltern und Vor-
fahren ererbt hat. In der einseitigen Auffassung, in welcher
dasselbe gewöhnlich die dogmatischen Vorstellungen der Systematiker
beherrscht, würde dasselbe lauten: Alle Eigenschaften, welche der
Organismus von seinen Eltern ererbt hat, und nur diese, vererbt
derselbe auch ebenso vollständig auf seine Nachkommen. Daher sind
alle Generationen einer und derselben Spezies wesentlich gleich und
die Abänderungen durch Anpassung überschreiten niemals bestimmte
enge Grenzen. Die Spezies muß hiernach wirklich konstant sein;
denn „Gleiches erzeugt Gleiches". Wenn diese falsche Vorstellung
in ihrer ganzen Einseitigkeit konsequent festgehalten wird, so bleibt
die erste Entstehung der erblichen Eigenschaften, w^elche durch die
Fortpflanzung unverändert übertragen werden, vollständig unerklärt,
und man nmß notwendig zu der absurden dualistischen Vorstellung
einer ..Schöpfung der einzelnen Spezies"' flüchten. Jede organische
Art entsteht dann plötzlich zu irgendeiner Zeit der Erdgeschichte
lediglich durch den „Willen des Schöpfers'", d. h. ohne Ursachen!
Sie überträgt alle ihre „spezifischen, wesentlichen Charaktere" un-
verändert auf ihre Nachkommen mittels der Fortpflanzung (also durch
XIX. I^ • Erblichkeit und Vererbung. 241
wirkende Ursachen!), nnd nachdem sie eine bestimmte Reihe von
Generationen liindurch sich in dieser Konstanz erhalten hat, geht sie
ganz unmotiviert wieder unter, ohne Ursachen!
Daß diese Vorstelhmg von der einseitigen und ausschHeßlichen
Gültigkeit der konservativen Heredität grundfalsch ist, liegt auf der
Hand. Zwar beherrscht dieselbe noch heute die ganze zoologische
und botanische Systematik, weil die nicht monistisch gebildete Mehr-
heit der Morphologen daraus das Dogma von der Spezieskonstanz
ableitet, welches sie für unentbehrhch hält. Allein es bedarf nur
eines einfachen Hinweises auf die alltäglichen Züchtungserfahrungen
der Gärtner und Landwirte, um sie zu widerlegen. Die ganze künst-
liche Züchtung (und ebenso die natürliche) beruht darauf, daß die
konservative Heredität nicht ausschheßlich wirkt, sondern vielmehr
beständig und überall neben und mit der progressiven Vererbung
tätig ist.
Das Gesetz der progressiven oder fortschreitenden He-
redität oder der Vererbung erworbener Charaktere sagt aus,
daß alle Deszendenten von ihren Eltern nicht bloß die alten, von
diesen ererbten, sondern auch die neuen, von diesen erst während
ihrer Lebenszeit erworbenen Charaktere, wenigstens teilweis erben.
Jeder Organismus vererbt auf seine Nachkommen nicht bloß
die morphologischen und physiologischen Eigenschaften,
welche er selbst von seinen Eltern ererbt, sondern auch
einen Teil derjenigen, welche er selbst während seiner in-
dividuellen Existenz durch Anpassung erworben hat. Dieses
äußerst wichtige Gesetz läuft dem vorigen in gewisser Beziehung be-
schränkend zuwider, und wenn man dasselbe in gleicher Weise wie
jenes berücksichtigt hätte, so würde man längst das Dogma von der
Spezieskonstanz und damit die hinderlichste Schranke der monistischen
Morphologie beseitigt haben. Obwohl die Tatsachen, auf welchen
dieses fundamentale Gesetz unumstößUch fußt, alltäglich zu beobachten
und allbekannt sind, haben sich dennoch die meisten Morphologen
seiner Anerkennung auf das beharrlichste verschlossen. Freilich
führen die notwendigen Konsequenzen desselben den vollständigen
Ruin des unheilvollen Speziesdogma und des darauf begründeten
teleologischen Dualismus unaufhaltsam herbei. Denn es ist klar, daß
daraus zunächst die unbegrenzte Veränderlichkeit der Spezies folgt.
Daß die einzelnen Individuen während ihrer beschränkten Lebenszeit,
infolge der unendlich mannigfaltigen Abänderung ihrer Ernährung,
Haeckel, Prinz, d. Morphol. lo
242 l^if^ Deszendenztheorie und die Selelctionstheorie. XIX.
den maiiiiigfaltigsten und tiefgreifendsten Abänderungen unterliegen
können, und daß eine bestimmte Schranke dieser individuellen Ab-
änderung nicht existiert, ist allgemein anerkannt: wenn nun zugleich
das Gesetz von der progressiven Heredität als wahr anerkannt wird
— und es ist dies bei aufrichtiger Betrachtung mit offenen Augen
nicht zu vermeiden ^, so folgt daraus unmittelbar, daß auch eine
Schranke der Spezies-Transmutation nicht existiert, daß die Veränder-
lichkeit der Art unbegrenzt ist, weil jede neue, durch Anpassung er-
worbene Eigenschaft unter günstigen Umständen vom elterlichen
Organismus auf den kindlichen vererbt werden kann. Und so ist es
in der Tat.
Die ganze Formenmannigfaltigkeit der Tier- und Pflanzenwelt,
wie sie uns gegenwärtig umgibt, und wie sie sich während deren
paläontologischer Entwickelung allmählich umgestaltet hat, liefert uns
für diese Wechselwirkung von progressiver und konservativer Ver-
erbung den deutlichsten Beleg. Denn das beständige Schw^anken
zwischen Erhaltung und Abänderung, zwischen Konstanz und Trans-
mutation, welches uns alle Tier- und Pflanzenspezies zeigen, erklärt
sich uns einfach aus der Tatsache, daß die Vererbung der Charaktere
niemals ausschließlich eine konservative, sondern stets zugleich eine
progressive ist. Wenn die konservative Vererbung der ererbten Cha-
raktere allein herrschte, so würde die gesamte Organismenwelt durch-
aus konstant, zu allen Zeiten der Erdgeschichte dieselbe sein, und
es würden nur soviel Spezies existieren, als ursprünglich „geschaffen"
wurden (d. h. durch Archigonie entstanden). Dies wird durch die
Paläontologie widerlegt. Wenn umgekehrt die progressive Vererbung
allein wirksam wäre, so würde die gesamte Organismenwelt durch-
aus inkonstant sein, und es würden sich gar keine verschiedenen
Spezies unterscheiden lassen. Es würden eben so viele Spezies als
Indi\iduen existieren. Auch dies wird durch die Paläontologie wider-
legt. Alle paläontologischen, anatomischen und systematischen Tat-
sachen erklären sich nur aus der Annahme eines fortwährenden In-
einandergreif ens, einer beständigen Wechselwirkung der konservativen
und progressiven Heredität.
Eine eingehende physiologische Betrachtung der Ernährungs-
und Fortpflanzungsverhältnisse der Organismen zeigt uns, daß dies
gar nicht anders sein kann. Wir sahen, daß die Vererbung durch
die Fortpflanzung vermittelt wird und in einer materiellen Kon-
tinuität, einer partiellen Identität des elterlichen und kindlichen
XIX. I^'- Erblichkeit und Vererbung. 243
Organismus besteht. Andererseits werden wir bei der Betrachtung der
Anpassung sehen, daß jede Anpassung auf einer Ernährungs-
veränderung beruht. Da nun die ErnährungsverhäUnisse, d. h. über-
haupt die gesamten Existenzbedingungen im weitesten Sinne, überall
und zu jeder Zeit verschieden sind, da jeder individuelle Organismus
sich seinen speziellen Ernährungsbedingungen bis zu einem gewissen
Grade anpassen muß und dadurch bestimmte Veränderungen erleidet,
da endlich jede Veränderung nicht einen einzelnen Körperteil aus-
schließlich betrifft, sondern auf alle anderen Teile mit zurückwirkt,
so muß auch bei der Fortpflanzung des Individuums stets ein, wenn
auch noch so kleiner, Teil der erworbenen Veränderung mittels der
elterlichen Materie auf die kindliche übertragen werden und in dieser
wirksam bleiben.
Das Resultat dieser Untersuchung ist also die notwendige Wechsel-
wirkung von konservativer und progressiver Vererbung. Der Grad
der Konstanz jeder organischen Spezies wird durch den Anteil der
konservativen Vererbung, der Grad der Abänderung jeder organischen
Spezies durch den Anteil der progressiven Vererbung bedingt.
W, E. Gesetze der Vererbung.
Ea. Gesetze der konservativen Yererhung.
1. Gesetz der ununterbrochenen oder kontinuierlichen Vererbung.
(Lex hereditatis continuae.)
Bei den meisten Organismen sind alle unmittelbar auf-
einander folgenden Generationen einander in allen morpho-
logischen und physiologischen Charakteren entweder nahezu
gleich oder doch sehr ähnlich.
Die ununterbrochene Konservation der spezifischen Charaktere
in allen aufeinander unmittelbar folgenden Generationen einer und
derselben Spezies ist die allgemeine Regel bei allen höheren Tieren
und Pflanzen. Wenn wir die Kette der sukzessiven Generationen mit
den Buchstaben des Alphabets bezeichnen, so ist bei den meisten
höheren Organismen A = B = C = D^E^F usw. Die Gültigkeit
dieses Gesetzes ist aber nicht allein allgemein anerkannt, sondern
auch übertrieben worden, indem man die kontinuierliche Vererbung
als das allgemeine Grundgesetz der Vererbung für alle Organismen
ansah. Erst als man die weite Verbreitung des Generationswechsels
kennen lernte, und als dasjenige, was man zuerst „als Ausnahme
ansah, sich im Gange der Natur als die Regel" herausstellte, nämlich
16*
244 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
das Alternieren der Generationen bei den niederen Organismen ent-
sprechend dem nächsfolgenden zweiten Gesetze, mußte das Gesetz der
kontinuierlichen Vererbung als das nicht ausschließlich herrschende
erkannt werden. Auf jener früheren allzuweit gehenden Verallge-
meinerung desselben beruht auch die weit verbreitete, aber unbegründete
Definition der Spezies als des „Inbegriffes aller Individuen von
gleicher Abkunft, und derjenigen, welche ihnen eben so ähnlich, als
diese unter sich sind".
2. Gesetz der unterbrochenen oder verborgenen oder abwechselnden Vererbung.
(Lex herediiatis interruptae s. latentis s. alternanUs.)
Bei vielen Organismen sind nicht die unmittelbar auf-
einander folgenden Generationen einander in allen mor-
phologischen und physiologischen Charakteren entweder
nahezu gleich oder doch sehr ähnlich: sondern nur die-
jenigen, welche durch eine oder mehrere davon verschiedene
Generationen voneinander getrennt sind.
Die Vererbungserscheinungen, welche dieses wichtige Gesetz
begründen, sind allbekannt. Die Kette der aufeinander folgenden
Generationen ist hier aus zwei oder mehreren verschiedenen Gliedern
zusammengesetzt, die alternieren. Nur die mittelbaren Deszendenten
jedes Individuums sind demselben nahezu gleich oder nur sehr wenig
verschieden, während die unmittelbaren Deszendenten einen geringeren
oder höheren Grad bemerkbarer Abweichung zeigen. In sehr vielen
menschlichen Familien z. B. besitzen die Kinder sowohl in psy-
chischer als in somatischer Beziehung eine weit auffallendere Ähn-
lichkeit mit ihren Großeltern, als mit ihren Eltern. Dasselbe ist an
den Haustieren sehr oft zu beobachten. Es bleibt also hier ein Teil
der am meisten auffallenden und das Individuum auszeichnenden (in-
dividuellen) Charaktere eine oder mehrere Generationen hindurch
latent, ohne sichtbare Übertragung durch die unmittelbare FortpflauT
zung, um erst nach Verlauf derselben plötzlich wieder in einer ent-
fernteren Generation zutage zu treten.
Dieses Gesetz ist äußerst wichtig für die Erklärung des Gene-
rationswechsels, da offenbar ein sehr großer (vielleicht der größte)
Teil der verschiedenen Metagenesis-Formen unmittelbar durch eine
lange Zeit hindurch fortgesetzte und dadurch befestigte „latente Ver-
erbung" entstanden ist. So läßt sich z. B. der Generationswechsel
der Salpen sicher auf diese Weise erklären, indem sich allmählich
XIX, I^^- Erblichkeit und Vererbung. 245
die unmittelbar aufeinander folgenden Generationen (Eltern und Kinder)
mehr und mehr differenzierten, während die dritte Generation (Enkel)
immer wieder in die erste Generation zurückschlug, so daß Enkel
und Großeltern einander konstant gleich wurden. Wenn wir ver-
schiedene Formen des Generationswechsels in dieser Beziehung ver-
gleichen, so können wir mehrere verschiedene Modifikationen der latenten
Erblichkeit unterscheiden, zunächst je nachdem eine oder zwei oder
mehrere Generationen überschlagen werden, ehe der ursprüngliche
Charakter der Stammeltern sich wieder geltend macht. Bezeichnen
wir die unmittelbar aufeinander folgende Kette der Generationen
mit den laufenden Buchstaben des Alphabets, so ist I, im ersten Falle,
bei Überschlagung einer Generation (z. B. beim Generationswechsel
der Salpen), A = C = E = G und ebenso B = D = F = H etc.; II, im
zweiten Falle, bei Überschlagung zweier Generationen (z. B. beim
Generationswechsel vieler Trematoden etc., einiger Arten von Doliolum)
A = D = G und ebenso B = E=^H, ferner C = F^Jusw. In den-
jenigen weiteren Fällen, wo mehr als zwei Generationen überschlagen
werden, komplizieren sich die Verhältnisse oft außerordentlich. Wir
wollen jedoch auf dieselben hier um so weniger eingehen, als fast
noch nichts geschehen ist, um den Generationswechsel vom Gesichts-
punkt der Vererbungsgesetze aus zu erklären.
Wenn ein individueller Charakter eine längere Reihe von Gene-
rationen hindurch latent bleibt und erst nach Einschaltung einer
größeren Anzahl verschieden gebildeter Zwischengenerationen wieder
zur Geltung kommt, so bezeichnet man diese Modifikation der latenten
Erbhchkeit als Rückschlag. Bekanntlich spielt derselbe bei der
Züchtung unserer Haustiere und Kulturpflanzen eine außerordentlich
große und wichtige Rolle, und es ist erstaunlich, welche außerordentlich
lange Reihe von Generationen verstreichen kann, ehe gewisse aus-
zeichnende Charaktere einer alten Stammform wieder zur Geltung
kommen. Dies gilt z. B. von den bisweilen auftretenden Streifen an
unseren einfarbigen Pferden, welche als Rückschlag in ihre uralte
gestreifte Stammform erklärt werden müssen. Dasselbe beobachtet
man sehr häufig bei der „Verwilderung" domestizierter Formen, z. B.
der Obstsorten, des Kohls etc. Regelmäßig tritt dieselbe Erscheinung
in vielen Formen des Generationswechsels (z. B. bei den Blattläusen,
vielen Phanerogamen) auf, wo die geschlechtlich entwickelten Gene-
rationen nur periodisch auftreten, nachdem eine längere oder kürzere
Reihe von Zwischengenerationen eingeschaltet worden ist.
246 Di« Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
3. Gesetz der geschlechtlichen A^ererbung.
(Lex heredifatis sexnalis.)
Bei allen Organismen mit getrennten Geschlechtern
vererben sich die primären nnd sekundären Sexualcharak-
tere einseitig fort; d. h. es gleichen die männlichen
Deszendenten in der wesentlichen Summe der sekundären
Sexual-Charaktere mehr dem Vater, die weiblichen mehr
der Mutter.
Dieses Gesetz ist von großer Bedeutung für Konservation, Be-
festigung und weitere Differenzierung der Geschlechtsunterschiede, und
besonders der sekundären Sexualcharaktere, bei den amphigonen Or-
ganismen. Wir verstehen darunter diejenigen Unterschiede der beiden
Geschlechter, welche dieselben, auch abgesehen von der Differenz
der primären Sexualcharaktere (der unmittelbar die Fortpflanzung
bewirkenden Geschlechtsorgane), unterscheiden. Solche sekundäre
Geschlechtseigentümlichkeiten sind sowohl unter den niederen als
unter den höheren Tieren mit getrennten Geschlechtern sehr allge-
mein verbreitet: es gehören dahin z. B. die ausgezeichneten Unter-
schiede der gesamten Körperform und Größe, welche die getrennten
Geschlechter vieler Hydroidpolypen, vieler Insekten, Crustacen etc.
zeigen, ferner die auffallenden Differenzen in Größe, in Färbung des
Federkleides, in der Bildung gewisser Zierrate (z. B. Hahnenkamm)
der Vögel, ferner die meist bloß dem männlichen Geschlechte eigenen
Geweihe, Hörner, Haarbüschel etc. der Wiederkäuer. Beim Menschen
gehört dahin der Bart und die entwickeltere Muskelkraft, Willens-
tätigkeit und Denktätigkeit des Mannes, die zartere Beschaffenheit
und geringere Behaarung der Haut, die entwickeltere Empfindungs-
tätigkeit des Weibes. Alle diese nur einem der beiden Geschlechter
zukommenden Eigentümlichkeiten werden von demselben nach dem
obigen „Gesetz der sexuellen Vererbimg" in der Regel nur auf das
eine der beiden Geschlechter und zwar auf das entsprechende weiter
vererbt. So bleiben im Laufe langer Generations-Reihen die männ-
lichen Individuen den männhchen Vorfahren, die weiblichen Indi-
viduen den weiblichen Vorfahren gleich oder doch in allen wesent-
lichen Charakterzügen sehr ähnlich.
4. Gesetz der gemischten oder beiderseitigen Vererbung.
(Lex heredifatis mixtae s. amphigonae.)
Bei allen Organismen mit getrennten Geschlechtern
vererben sich die nichtsexuellen Charaktere gemischt fort,
XIX. iV. Erblichkeit und Vererbung. 247
d. h. es gleichen die männlichen Deszendenten zwar in den
meisten und wichtigsten Charakteren mehr dem Vater, aber
in einigen auch mehr der Mutter, und ebenso gleichen die
weiblichen Deszendenten zwar in den meisten und wich-
tigsten Charakteren mehr der Mutter, aber in einigen auch
mehr dem Vater.
Dieses Gesetz scheint dem vorigen, dem der sexuellen Vererbung,
in gewisser Beziehung zu widersprechen und es ist in der Tat eine
Modifikation desselben. Es verhält sich zu jenem ähnlich, wie das
Gesetz der latenten zu dem der kontinuierlichen Vererbung. Wahr-
scheinlich ist es sehr allgemein herrschend, allein gewöhnlich schwer
zu konstatieren, weil die betreffenden „gekreuzten" Charaktere, welche
vom Vater auf die Tochter, von der Mutter auf den Sohn übergehen,
meist untergeordneter Natur oder doch für unsere groben Beobachtungs-
mittel schwer oder gar nicht wahrzunehmen sind. Von der größten
Bedeutung ist das Gesetz der gemischten Vererbung für die Erschei-
nungen der Bastardzeugung und Kreuzung. Die Hybridismus-
gesetze, welche gegenwärtig sich noch nicht scharf formulieren lassen,
werden großenteils auf dieses Gesetz zurückzuführen sein. Am deut-
lichsten gewahren wir die Wirkungen der gemischten Vererbung bei Be-
trachtung der Erblichkeits-Erscheinungen am Menschen selbst, welcher
überhaupt für das Studium der gesamten Erblichkeitsgesetze weit in-
teressantere und lehrreichere Beispiele liefert, als die meisten anderen
Tiere. Es hängt dies teils ab von der größereu individuellen Differen-
zierung des Menschen, teils von unserer größeren Fähigkeit, die
feineren Differenzen in Form und Funktion hier zu erkennen. Nun
ist es allbekannt, wie allgemein in den menschlichen Familien die
gemischte oder gekreuzte Vererbung herrschend ist, wie der eine
Junge oder das eine Mädchen in dieser oder jener Beziehung bald
mehr dem Vater, bald mehr der Mutter gleicht. Gerade durch diese
Mischung der Charaktere von beiden Geschlechtern in den Nach-
kommen wird die unendliche Mannigfaltigkeit der individuellen Cha-
raktere in erster Linie bedingt. Bekannt ist, was Goethe in dieser
Beziehung von sich aussagt:
„Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens enistes Führen;
Vom Mütterchen die Frohnatiu-
Und Lust zu fabidieren."
248 Dip Deszendenztheorie und die Selektionstheoiie. XIX.
ö. Gesetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung.
(Lex hereditatis abbreviatae s. simplicatae.)
Die Kette von ererbten Charakteren, welche in einer
bestimmten Reihenfolge sukzessiv während der individuellen
Entwiekelung vererbt werden und nacheinander auftreten,
wird im Laufe der Zeit abgekürzt, indem einzelne Glieder
derselben ausfallen.
Obgleich im ganzen die individuelle Entwickelungsgeschichte
jedes organischen Individuums eine kurze Wiederholung der langen
paläontologischen Entwiekelung seiner Vorfahren, die Ontogenie eine
kurze Rekapitulation der Phylogenie ist, so müssen wir dennoch als
eine sehr wichtige Ergänzung dieses fundamentalen Satzes hinzufügen,
daß diese Wiederholung niemals eine ganz vollständige ist. Es finden bei
jeder individuellen Entwickelungsgeschichte zahlreiche Abkürzungen
und Vereinfachungen statt, indem nach und nach die vollständige
Kette aller derjenigen Veränderungen, welche die Vorfahren des In-
dividuums durchliefen, durch Ausfall einzelner Glieder immer kürzer
zusammengezogen und dadurch immer unvollständiger wird. Wie
Fritz Müller in seiner ausgezeichneten und höchst nachahmungs-
würdigen Schrift über die Morphogenie der Crustaceen schlagend ge-
zeigt hat, ..wird die in der individuellen Entwickelungsgeschichte
erhaltene geschichtliche Urkunde allmählich verwischt, indem die
Entwiekelung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen Tiere
einschlägt, und sie wird häufig gefälscht durch den Kampf ums Dasein,
den die frei lebenden Larven zu bestehen haben. Die Urgeschichte
der Art (Phylogenie) wird in ihrer Entwickelungsgeschichte (Ontogenie)
um so vollständiger erhalten sein, je länger die Reihe der Jugend-
zustände ist, die sie gleichmäßigen Schritts durchläuft, und um so
treuer, je weniger sich die Lebensweise der Jungen von der der Alten
entfernt, und je weniger die Eigentümlichkeiten der einzelnen Jugend-
zustände als aus späteren in frühere Lebensabschnitte zurückverlegt
oder als selbständig erworben sich auffassen lassen." Je verschieden-
artiger die Existenzbedingimgen sind, unter denen das Individuum
in den verschiedenen Zeitabschnitten seiner Entwiekelung lebt, desto
mehr wird dasselbe sich diesen anpassen müssen und dadurch von
der Entwiekelung seiner Vorfahren entfernen. Je heftiger der Kampf
um das Dasein ist, den die jungen Individuen und die Larven zu
bestehen haben, desto mehr ist es für sie von Vorteil, wenn sie
möglichst rasch den vollendeteren späteren Zuständen sich nähern.
XIX. IV. Erblichkeit imd Vererbung. 249
und indem also die schneller sich entwickelnden, bei denen die
Ontogenesis zufällig abgekürzt wird, oder bei denen einzelne Ab-
schnitte derselben ausfallen, dadurch einen Vorteil im Kampf um
das Dasein erlangen, werden sie die langsamer sich entwickelnden
überleben, und so ihre individuelle schnellere Entwickelungsweise als
eine nützliche „Abkürzung oder Vereinfachung der Entwickelung"
auf ihre Nachkommen vererben. Wenn diese Vereinfachung weit
geht, so kann sie selbst bei nächst verwandten Arten eine sehr ver-
schiedene Ontogenese bedingen. So ist z. B. nach Fritz Müllers
schöner Entdeckung die gemeinsame ursprüngliche Larvenform der
Podophthalmen und vieler niederer Crustaceen, der Xaiq)Uus. bei den
allermeisten stieläugigen Krebsen, wo derselbe späterhin in die Zoea-
Forni übergeht, durch Vereinfachung der Entwickelung verschwunden,
und nur bei einigen Garneelen {Peneus) übrig geblieben. Bei den
letzteren ist also nicht dieselbe Abkürzung der Vererbung (durch
Ausfall des Ncmplms-^ia.A\\\mQ) eingetreten, wie bei den meisten
anderen Podophthalmen, wo die Zoea unmittelbar aus dem Ei kommt.
Eh. Gesetze der i^r ogr essiven Vererbung.
6. Gesetz der angepaßten und erworbenen Vererbung.
(Lex hereditatis adaptatae s. accommodatae.)
Alle Charaktere, welche der Organismus während seiner
individuellen Existenz durch Anpassung erwirbt und welche
seine Vorfahren nicht besaßen, kann derselbe unter gün-
stigen Umständen auf seine Nachkommen vererben.
Gleichwie alle von den Voreltern ererbten, so können auch alle
neu erworbenen Eigenschaften der Materie durch die Vererbung fort-
gepflanzt werden. Es gibt keine morphologischen und physiologischen
Eigentümlichkeiten, welche das organische Individuum durch die
Wechselwirkung mit der umgebenden Außenwelt erwirbt, mit einem
Worte keine „Anpassungen", welche nicht durch Vererbung auf die
Nachkommenschaft übertragen werden könnten. Dieses große Gesetz
ist von der höchsten Wichtigkeit, weil darauf unmittelbar die Ver-
änderlichkeit der Arten, die Möglichkeit, daß verschiedene neue Spezies
aus einer vorhandenen hervorgehen, beruht. Wir kennen in der Tat
keine einzige in die Mischung, Form oder Funktion des Organismus
eingreifende Veränderung, welche nicht unter bestimmten (uns ge-
wöhnlich ganz unbekannten) Verhältnissen, auf wenige oder auf viele
250 I^i*^ Deszendenztheorie und die Selektionstlieorie. XIX.
Generationen hinaus vererbt werden könnte. Am leichtesten geschieht
dies, wenn die Veränderung sehr langsam und allmählich erfolgt (wie
z. B. bei Erwerbung chronischer Krankheiten).
7. Gesetz der befestigten Vererbung.
(Lex hereditatis constitutae.)
Alle Charaktere, welche der Organismus während seiner
individuellen Existenz durch Anpassung erwirbt und welche
seine Vorfahren nicht besaßen, werden um so sichererund
vollständiger auf alle folgenden Generationen vererbt, je
anhaltender die kausalen Anpassungsbedingungen ein-
wirkten, und je länger sie noch auf die nächstfolgenden
Generationen einwirken.
Die große Bedeutung dieses Gesetzes ist wegen seiner ungemeinen
praktischen Wichtigkeit für die künstliche Züchtung allgemein aner-
kannt. Jeder Gärtner und Landwirt weiß, daß neu erschienene Ab-
änderungen von Tieren und Pflanzen auf die Nachkommenschaft nur
dann dauernd übertragen und befestigt werden können, wenn die
Ursache, welche die Veränderung bedingte, entweder wiederholt, oder
längere Zeit hindurch, am sichersten, wenn sie dauernd durch eine
Reihe von vielen Generationen einwirkte. Ist dies nicht der Fall,
so schlägt die veränderte Form in ihrer Nachkommenschaft sehr
leicht wieder in die Stammform zurück. Die Befestigung aber ist um
so tiefer, je länger die Ursache einwirkte. Jeder Organismus besitzt
in dieser Beziehung einen gewissen Elastizitätsgrad. Wenn die Biegung
der elastischen Form längere Zeit durch einen biegenden äußeren
Einfluß erhalten wird, so bleibt sie nach dem Aufhören dieses Ein-
flusses von selbst bestehen, während sie in den früheren, nicht ge-
bogenen Zustand zurückschnellt, wenn der biegende Einfluß sie nur
km-ze Zeit zur Biegung zwang. Wie in einem künstlich gebogenen
elastischen Metallstabe sich die Moleküle des Metalls bei längerer
Dauer der Biegung so anordnen, daß sie auch nach Aufhören
derselben diese Anordnung beibehalten, dagegen in ihre frühere An-
ordnung zurückkehren, wenn die biegende Kraft nur kurze Zeit ein-
wirkte, so verhalten sich auch die Moleküle des Eiweißes in einem
Organismus, welcher durch die Anpassung „gebogen" wird. Die all-
gemeine Gültigkeit des Gesetzes von der ..Befestigung der Vererbung"
ist so bekannt, daß wir kaum Beispiele anzuführen brauchen. Jeder
Landwirt kann eine neue iVbänderung einer Tierform, jeder Gärtner
XIX. IV. Erblichkeit und Vererbung. 251
eine neue Anpassung einer Pflanzeuform nur dadurch ., erhalten"' und
dauerhaft erhaken, d. h. befestigen, wenn er sorgfältig darauf achtet,
daß die neue Form erst einige Generationen hindurch unter denselben
Bedingungen erhalten und „rein" fortgepflanzt wird. Wenn hierbei
nicht die nötige Vorsicht angewendet wird, so schlägt die veränderte
Form schon in den ersten Generationen wieder in die ursprüngliche
Stammform zurück. Es steht also der Grad der Befestigung einer
Veränderung (eines erworbenen Charakters) in geradem Verliältnisse
zur Zeitdauer des verändernden Einflusses und zur Zahl der Generatio-
nen, durch welche er sich bereits vererbt hat.
8. Gesetz der gleichörtlichen Vererbung.
(Lex hereditatis homotopae.)
Alle Organismen können die bestimmten Veränderungen
irgend eines Körperteils, welche sie während ihrer indi-
viduellen Existenz durch Anpassung erworben haben und
welche ihre Vorfahren nicht besaßen, genau in derselben
Form auf denselben Körperteil ihrer Nachkommen vererben.
Auch dieses Gesetz der gleichörtlichen oder homotopen Vererbung
hat im ganzen Tier- und Pflanzenreiche so allgemeine Geltung, daß
man sich niemals über diese alltägliche Erscheinung wundert. Und
doch ist dieselbe von der größten Bedeutung; denn es kann kaum
etwas Wunderbareres und schwerer zu Erklärendes geben, als die all-
bekannte Tatsache, daß der Organismus einen lokalen Charakter, den
er während seiner individuellen Existenz erworben hat, auch genau
auf denselben Körperteil seiner Nachkommen überträgt. In der Tat
ist der unvermeidliche und notwendige Gedanke äußerst schwierig zu
verfolgen, daß das Zoosperm des Vaters und die Eizelle der Mutter,
diese minimale Quantität einer formlosen Eiweißverbindung, eine
äußerst geringfügige und unbedeutende Abänderung, welche irgend-
ein Körperteil der Eltern zu irgendeiner Lebenszeit erfahren hat,
genau auf denselben Körperteil des Embryo oder selbst erst des er-
wachsenen Organismus überträgt, der sich aus jenem, vom Zoosperni
befruchteten Ei epigenetisch entwickelt und erst allmählich zur
spezifischen Form differenziert hat. Und doch sehen wir diese Tat-
sache alltäglich verwirklicht vor Augen. Sie gibt uns einen Begriff
von der unendlichen Feinheit der organischen Materie und der un-
begreiflichen Komplikation der in derselben stattfindenden Molekular-
bewegungen, zu deren richtiger Würdigung gegenwärtig weder das
252 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie XIX.
BeolDachtungsvermögeii unserer Sinne, noch das Denkvermögen unseres
Verstandes ausreicht.
In der auffallendsten Weise offenbart sich das Gesetz der homo-
topen oder gleichörtlichen Vererbung in den häufigen Fällen, in denen
ein menschliches Individuum eine ihm eigentümliche, von seinen Vor-
eltern nicht besessene, und äußerlich leicht wahrnehmbare A^eränderung
in der Größe, Form, Farbe etc. eines bestimmten Organs zeigt, die
sich gleicherweise an dem gleichen Organe seiner Nachkommen
wiederholt. Sehr deutlich ist dies wahrzunehmen an den sogenannten
„Muttermalen" oder „Leberflecken", lokalen Pigmentanhäufungen an
den verschiedensten Stellen der Haut, die sehr häufig bei allen oder
doch bei einigen Nachkommen dieses Individuums Generationen hin-
durch an genau derselben Stelle der Haut wieder erscheinen. Dasselbe
zeigen sehr auffallend die gefleckten Spielarten unserer Haustiere und
Kulturpflanzen, bei denen unter gewissen Bedingungen dieser oder
jener auffallende Pigmentfleck, der unvermittelt in einer Generation
zum ersten Male aufgetreten ist, nun in ganz gleicher Form, Größe
und Farbe an derselben Stelle des Körpers der Nachkommen wieder
auftritt. Ferner ist dasselbe bekanntlich in ausgezeichneter Weise
an vielen pathologischen Erscheinungen wahrzunehmen. Eine krank-
hafte Veränderung eines inneren oder äußeren Organs (z. B. eine
Hypertrophie, Atrophie, chronische Entzündung), welche von einer
einzelnen Person während ihres Lebens erworben ist, kehrt sehr oft
in genau derselben Form an demselben Organe der Nachkommen-
schaft wieder. Wenn wir aber vom weiteren Standpunkte aus das
Gesetz der homotopen oder gleichörtlichen Vererbung betrachten, so
erkennen wir darin, wie in dem folgenden Gesetze der homochronen
oder gleichzeitlichen Vererbung, eines der ersten und wichtigsten
Grundgesetze der gesamten Embryologie und der Ontogenie überhaupt.
9. Gesetz der gleichzeitlichen Vererbung.
(Lex hereditaiis hoiiiochronne.)
Alle Organismen können die bestimmten Veränderungen,
welche sie zu irgend einer Zeit ihrer individuellen Existenz
durch Anpassung erworben haben, und welche ihre Vor-
fahren nicht besaßen, genau in derselben Lebenszeit auf
ihre Nachkommen vererben.
Dieses Gesetz ist gleich dem vorigen von der äußersten Wichtig-
keit für die Erklärung der allgemeinen Erscheinungen der Embryologie
und der Ontogenie überhaupt. Darwin, der zuerst hierauf hinge-
XIX. I^"- Erblichkeit und Vererbung. 253
wiesen hat, nennt dasselbe das „Gesetz der Vererbung in kor-
respondierendem Lebensalter". Bequemer ist der kürzere Aus-
druck: Gesetz der gleichzeitlichen (oder homochronen) Vererbung.
Auch die Wirkungen dieses Gesetzes sind, wie die des vorigen, so
alltäglich zu beobachtende, und so allgemeine, daß sie eben deshalb
noch niemals besondere Bewunderung erregt und zu eingehender
Untersuchung Veranlassung gegeben haben. Und doch sind auch sie
von der größten biologischen Bedeutung und gehören zu den wunder-
barsten und am schwersten zu erklärenden Erscheinungen, welche
überhaupt in der Natur vorkommen. Denn ist nicht wirklich die
allbekannte Tatsache wunderbar, daß eine bestimmte Veränderung,
welche der Körper eines Organismus zu irgendeiner Zeit seines
Lebens erlitten hat, genau zu derselben Zeit auch an seinen Nach-
kommen wiederkehrt? Auch hier können wir kaum begreifen, wie
die feinen Molekularbewegungen des Plasma, welche solchen Ver-
änderungen zugrunde liegen, beim Zeugungsakt in der Weise mittels
des Sperma oder des Eies auf den gezeugten kindlichen Organismus
von den Eltern übertragen werden, daß sie eine ganz bestimmte Zeit
hindurch an dem Kinde nicht zur Erscheinung kommen (also latent
existieren) und erst dann bemerkbar werden, wenn der kindliche
Organismus in dieselbe Lebensperiode eingetreten ist, in w^elcher der
elterliche jene Veränderung erworben hat.
Die Beispiele auch für diesen höchst wunderbaren Vorgang sind
in der Tat zahllose, da die gesamte individuelle Entwickelungsge-
schichte der Organismen als Illustration dieses Gesetzes angesehen
werden muß. Besonders auffallende Beispiele liefert aber auch hier
wieder der so fein differenzierte und so mannigfaltig abändernde
menschliche Organismus. Namentlich sind hier häufig und allbekannt
viele merkwürdige Tatsachen aus der Pathologie, wie z. B. die gleich-
zeitliche Vererbung von Krankheiten der Ernährungsorgane, des
Darmes, der Leber, der Lungen etc. Alle diese Erkrankungen wieder-
holen sich gewöhnlich in den Familien, wo sie erblich werden, an
den Nachkommen genau zu derselben Zeit, zu welcher die Eltern sie
zum ersten Male erworben haben. Ferner sehen wir dasselbe Gesetz
bestätigt an unseren Haustieren und Kulturpflanzen, wo ebenfalls sehr
häufig auffallende äußere Veränderungen (z. B. in Form und Größe
einzelner Organe), die in späterer Lebenszeit erst von einem ein-
zelnen Indi\iduum erworben wurden, sich auf die Nachkommen des-
selben vererben, anfänglich aber latent sind, und erst dann sichtbar
254 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstlieorie. XIX.
werden, wenn das entsprechende spätere Lebensalter erreicht ist.
Wenn dagegen eine tiefe Veränderung der Organisation, wie es sehr
häufig der Fall ist. bereits in sehr früher Lebenszeit des Individuums,
während seiner embryonalen Entwickelung eintritt, so erscheint die-
selbe auch an seinen Nachkommen zur selbigen frühen Zeit wieder
und es werden die letzteren, gleich dem ersteren, bereits mit dieser
Veränderung geboren.
Auch dieses äußerst wichtige, von den Erscheinungen der em-
bryonalen Entwickelung (Ontogenese) induktiv abgeleitete Gesetz der
homochronen Vererbung erlaubt gleich demjenigen der homotopen
Vererbung die weiteste deduktive Anwendung auf das Gebiet der
parallelen paläontologischen Entwickelung (Phylogenie), und es ergibt
sich hieraus z. B., warum die Kälber hörnerlos geboren werden und
ihre Hörner erst später erhalten, warum die Kaulquappen zuerst in
fischähnlicher Form existieren und erst später die ausgebildete
schwanzlose Froschform annehmen usw.
T. Yeräuderlichkeit und Anpassung'.
(Variabilitas. Adaptatio.)
V, A. Tatsache und Ursache der Anpassung.
Die Anpassungsfähigkeit {Adaptabilitas) oder Veränder-
lichkeit (Variabilitas) als virtuelle Kraft, und die Anpassung
{Adaptatio) oder Abänderung {Variatio) als aktuelle Leistung
der organischen Individuen, sind allgemeine physiologische Funk-
tionen der Organismen, welche mit der fundamentalen Funktion
der Ernäh]-ung unmittelbar zusammenhängen und eigentlich nur
eine Teilerscheinung der letzteren darstellen. Sie äußern sich in
der Tatsache, daß jeder Organismus sich während seiner individuellen
Existenz in einer von den Erblichkeitsgesetzen unabhängigen Weise,
lediglich durch den Einfluß der ihn umgebenden Existenzbedingungen,
verändern, sich den letzteren anpassen und also Eigenschaften er-
werben kann, welche seine Voreltern nicht besaßen. Diese Er-
scheinung ist, wie die Erblichkeit, eine so allgemeine und alltäglich
zu beobachtende, daß sie, eben wegen dieser Allgemeinheit, von der
gewöhnlichen oberflächlichen Naturbetrachtung entweder gar nicht
in Betracht gezogen oder doch in ihrer fundamentalen Bedeutung
für die Charakterbildung des ganzen Organismus bei weitem unter-
XIX. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 255
*
schätzt wird. Am bekanntesten, weil von unmittelbarer praktischer
Bedeutung, sind diejenigen Erscheinungen der Veränderlichkeit und
Anpassung, welche als Angewöhnung. Erziehung, Dressur. Erkrankung
etc. so vielfähig- in das Kulturleben des Menschen eingreifen. Alle
diese Erscheinungen beruhen auf Veränderungen der Organismen,
die durch ihre Anpassungsfähigkeit bedingt sind.
Die Ursachen der Veränderlichkeit und die Gesetze ihrer
\ielfachen Modifikationen sind, ebenso wie diejenigen der Erbhch-
keit, bisher noch äußerst wenig untersucht. Sie hängen aber offen-
bar direkt zusammen mit den Gesetzen der Selbsterhaltung und
speziell mit den Gesetzen der Ernährung des Organismus,
und bestehen wesenthch in einer materiellen Wechselwirkung
zwischen Teilen des Organismus und der ihn umgebenden
Außenwelt. Alle, auch die verschiedenartigsten und scheinbar von
der Ernährungsfunktion unabhängigsten Anpassungserscheinungen
sind physiologische Funktionen, welche sich in letzter Instanz als
Ernährungsveränderungen des Organismus nachweisen lassen. Wenn
wir sagen, daß diese oder jene Veränderung des Köi-pers „durch
Übung, durch Gewohnheit, durch Wechselbeziehungen der Entwicke-
lung" usw. entstehe, so erscheint es zunächst, daß diese Ursachen
der Anpassung ganz selbständige organische Funktionen seien. So-
bald wir aber denselben näher nachgehen und auf den Grund der-
selben zu kommen suchen, so gelangen wir zu dem Resultate, daß
alle diese Funktionen ohne Ausnahme zuletzt wieder von der Er-
nährungsfnnktion abhängig sind. Die Veränderlichkeit oder An-
passungsfähigkeit ist also keineswegs eine besondere organische
Funktion, wie dies sehr häufig angenommen wird. Vielmehr ist es sehr
wichtig, festzuhalten, daß alle Anpassungs-Erscheinungen in letzter
Instanz auf Ernährungs- Vorgängen beruhen, und daß die materiellen,
physikalisch -chemischen Prozesse des Stoffwechsels ebenso die
mechanischen Causae efficientes . der Anpassung und der Abänderung
sind, wie die materiellen physiologischen Prozesse der Fortpflanzung
die bewirkenden Ursachen der Vererbung sind.
V, B. Anpassung und Ernährung.
Die Ernährung (Nutriüo), welche auf dem organischen Stoff-
wechsel beruht, haben wir im fünften Kapitel des zweiten Buches
als die allgemeinste und fundamentalste physiologische Funktion
aUer Organismen nachgewiesen, als diejenige, welche zum Bestehen
256 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
aller Organismen ohne Ausnahme notwendig ist. und als diejenige,
aus welcher alle übrigen Funktionen, auch die Fortpflanzung, un-
mittelbar oder mittelbar sich ableiten lassen. Die Ernährung ist
zugleich diejenige physikalisch-chemische Leistung der Organismen,
welche dieselben am durchgreifendsten von den Anorganen unter-
scheidet. Die Selbsterhaltung der organischen Individuen
ist nur durch den mit der Ernährung unzertrennlich ver-
bundenen Stoffwechsel möglich, während die Selbsterhaltung
der anorganischen Individuen (Kristalle etc.) gerade umgekehrt nur
durch den Ausschluß jedes Stoffwechsels, durch das Beharren in
der durch das Wachstum erlangten Form möglich ist. Die Existenz
der anorganischen Individuen ist also an die Konstanz der gegen-
seitigen Lagerung und Verbindung der Moleküle ihres Körpers, die
Existenz der organischen Individuen gerade umgekehrt an den
Wechsel der gegenseitigen Lagerung und Verbindung der Mole-
küle ihres Körpers geknüpft, und an den Ersatz der durch die
Lebenstätigkeit verbrauchten Stoffteilchen durch neue Stoffteilchen,
welche von außen aufgenommen werden. Dieser Stoffwechsel,
welcher allen Ernährungserscheinungen zugrunde liegt, ist nun zu-
gleich die Ursache und die Grundbedingung aller der Verände-
rungen, welche der Organismus durch Anpassung eingeht.
Wenn wir die letzten Ursachen des Stoffwechsels aufsuchen, so
gelangen wir wiederum zu den eigentümlichen, im fünften Kapitel
ausführlich erörterten chemischen und physikalischen Eigenschaften
der „organischen" Materien, und vor allen der wichtigsten und
kompliziertesten dieser Kohlenstoffverbindungen, der Eiweißkörper
oder Albuminate. Die außerordentliche Imbibitionsfähigkeit dieser
Materien, ihr starkes Vermögen, durch Quellung bedeutende Flüssig-
keitsmengen zwischen die Moleküle aufzunehmen, bedingt die Mög-
lichkeit, beständig die durch die Lebenstätigkeit verbrauchten Stoffe
nach außen abzuführen und dagegen neue, brauchbare Stoffe von
außen einzuführen, zu assimilieren. Die komplizierte und lockere
Verbindung der Atome in diesen Albuminaten zu höchst zusammen-
gesetzten und leicht zersetzbaren Atomgruppen bedingt ihre außer-
ordentliche Fähigkeit der Umsetzung, ihr ausgezeichnetes Vermögen,
sich selbst zu verändern und verändernd, metabolisch auf die be-
nachbarten Stoffe einzuwirken. Dadurch ist aber zugleich den um-
gebenden Materien der Außenwelt Gelegenheit gegeben, vielfach
ändernd auf diese Eiweißverbindungen einzuwirken, und in dieser
XIX. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 257
Wechselwirkung- zwischen beiden beruhen die Vorgänge der Er-
nährung und die unmittelbar damit zusammenhängenden Vorgänge
der Veränderung der organischen Formen, der Anpassung.
V. C. Grad der Anpassung.
Wenn wir die vorhergehenden, im fünften Kapitel näher be-
gründeten Erwägungen stets im Sinne behalten, so finden wir, daß
alle die unendlich mannigfaltigen und scheinbar so äußerst zweck-
mäßigen Anpassungen der Formen und Funktionen der Organismen
in letzter Instanz nichts anderes sind, als notwendige Folgen des
unendlich mannigfaltigen Stoffwechsels, der unendlich mannig-
faltigen Wechselwirkung zwischen den konstituierenden Piastiden der
Organismen und der sie umgebenden Außenwelt, den unendlich man-
nigfaltigen Existenzbedingungen. Es waltet also auch hier, wie über-
all in der Natur, das allgemeine Kausalgesetz. Jede Veränderung,
jede Anpassung eines Organismus ist die notwendige Folge aus dem
Zusammenwirken von mehreren Ursachen, und zwar aus der Wechsel-
wirkung der materiellen Teile des Organismus selbst und der mate-
riellen Teile seiner Umgebung. Es muß demnach auch der Grad
der Abänderung oder Anpassung dem Grade der Veränderung in
den äußeren Existenzbedingungen entsprechen, welche mit dem Or-
ganismus in Wechselwirkung stehen. Je größer die Verschiedenheit
in den Existenzbedingungen ist, unter welchen der Organismus und
unter welchen seine Eltern leben, desto intensiver wird die Einwirkung
der ersteren sein, und desto größer die Abänderung, d. h. die Differenz
in der Beschaffenheit des kindlichen (angepaßten) und des elterlichen
Organismus. Ebenso wird diese Differenz (die Anpassung) um so
stärker sein, je längere Zeit hindurch die umbildenden neuen Existenz-
bedingungen auf den kindlichen Organismus einwirken. Der Grad
der Anpassung ist also mit Notwendigkeit kausal bedingt durch den
Grad und die Zeitdauer der Einwirkung veränderter Lebensbedingungen
auf den Organismus. Der Grad der Wirkung steht in bestimmtem
Verhältnisse zum Grade der Ursache. So einfach und selbstver-
ständlich dieses Gesetz ist, so wird es dennoch vielleicht nirgends
häufiger übersehen und ignoriert, als in der Lehre von den Abän-
derungen und Anpassungen der Organismen. Dem gegenüber heben
wir hier als oberstes Grundgesetz der Anpassung ausdrücklich fol-
genden Satz hervor: „Jede Anpassungserscheinung (Abände-
rung) der Organismen ist durch die materielle Wechsel-
Haeckel, Prinz, d. Morphol. 17
258 ß^^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Wirkung zwischen der Materie des Organismus und der
Materie, welche denselben als Außenwelt umgibt, bedingt,
und der Grad der Abänderung (d. h. der Grad der morpho-
logischen und physiologischen Ungleicheit zwischen dem abgeänderten
Organismus und seinen Eltern) steht in geradem Verhältnisse zu
der Zeitdauer und zu der Intensität der materiellen Wechsel-
wirkung zwischen dem Organismus und den veränderten
Existenzbedingungen der Außenwelt."
V, D. Indirekte und direkte Anpassung.
Bevor wir den Versuch machen, diejenigen Erscheinungen der
Anpassung, welche als mehr oder minder bedeutende allgemeine
Gesetze der Variabilität sich schon gegenwärtig formulieren lassen,
zu unterscheiden, ist es notwendig, den Unterschied hervorzuheben,
welcher zwischen zwei wesentlich verschiedenen Hauptformen der
Anpassung, der direkten und der indirekten Adaptation besteht. Zwar
ist dieser Unterschied bisher noch kaum urgiert worden; doch er-
scheint er uns von solcher Bedeutung, daß wir glauben, alle ver-
schiedenen Variabilitätsphänomene entweder als Wirkungen der
direkten oder der indirekten Anpassung betrachten zu können.
Direkte Anpassungen nennen wir solche, welche durch eine
unmittelbare Ernährungsveränderung des Organismus zu irgendeiner
Zeit seiner individuellen Existenz veranlaßt werden und noch während
derselben durch bestimmte Veränderungen der Mischung, Funktion
und Form in die Erscheinimg treten. Indirekte Anpassungen
dagegen nennen wir diejenigen Ernährungsveränderungen des Or-
ganismus, welche erst in den von ihm erzeugten Nachkommen, also
mittelbar, ihre Wirkung äußern, und bestimmte Veränderungen in der
Mischung, Form und Funktion des kindlichen Organismus zur Er-
scheinung bringen, welche an dem unmittelbar betroffenen elterlichen
Organismus nicht sichtbar wurden.
Um diesen wichtigen Unterschied richtig zu würdigen, müssen
wir zuerst die Grenzen und den Begriff der individuellen Existenz,
und namentlich deren Beginn scharf zu bestimmen suchen. So ein-
fach und leicht diese Aufgabe zunächst erscheint, so zeigt doch eine
eingehende Vergleichung bald, daß ibre Lösung oft äußerst schwierig
und in vielen Fällen ganz unmöglich ist. Eigentlich müßten wir
jedes durch Fortpflanzung erzeugte organische Individuum von dem
XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 259
Momente an für selbständig erklären, in welchem es als selbständiges
Waclistumszentrum den übrigen Teilen des elterlichen Organismus
gegenübertritt. Doch ist dieses Moment niemals scharf zu bezeichnen.
Andererseits könnte man bei der ungeschlechtlichen Fortpflan-
zung den Beginn der individuellen Existenz in das Moment setzen,
in welchem das kindliche Individuum sich von dem elterlichen
räumhch vollständig trennt; bei der Teilung. Knospenbildung. Keim-
bildung also in das Moment, in welchem aus einem Körper zwei
oder mehrere räumlich getrennt werden entweder durch eine voll-
ständige Spaltungsebene oder durch Bildung einer realen Scheide-
wand. Allein in zahlreichen, nahe mit dieser vollständigen Trennung
verbundenen Fällen erfolgt die räumliche Loslösung oder die
Bildung eines vollständigen realen Septum tatsächlich nicht, so z. B.
bei der unvollständigen Teilung und Knospenbildung; und es ist
dann oft ganz ebenso unmöglich, zeitlich wie räumlich, die Grenze
des selbständigen und unselbständigen individuellen Lebens zu
fixieren.
Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung werden wir den
Beginn der individuellen selbständigen Existenz allgemein in das
Moment der Befruchtung setzen können. In diesem Moment hört
das Ei auf, ein reiner Bestandteil des mütterlichen Organismus zu
sein und verschmilzt durch wahre materielle Vermischung mit dem
väterlichen Sperma zu einem neuen Individuum, welches weder Ei
noch Sperma allein, sondern eine wirkliche Verbindung von beiden,
ein neuer, dritter Körper ist. Die weitere Entwickelung dieses be-
fruchteten Eies zum selbständigen kindlichen Individuum kann zwar
äußerlich noch längere Zeit vom mütterlichen Organismus abhängig
erscheinen (wie bei den lebendig gebärenden Tieren, den Phane-
rogamen etc., wo sich der Embryo innerhalb des mütterlichen Or-
ganismus bis zu einem gewissen Grade entwickelt). Allein durch das
Moment der Befruchtung ist der Beginn der individuellen Entwicke-
lungsbewegung. des selbständigen Wachstums und überhaupt der
physiologischen Selbständigkeit des neu erzeugten Organismus be-
stimmt bezeichnet, und der mütterliche Organismus, mag er mit dem
kindhchen noch so eng (wie bei den Säugetieren) verbunden erscheinen,
ist ebensogut, wie der väterliche für den kindlichen doch nur
Außenwelt, äußere Existenzbedingung. Wenn daher der kindhche
Organismus hier schon, noch während seiner embryonalen Entwickelung,
Veränderungen erfährt (z. B. monströse Ausbildung einzelner Teile
17*
260 Di^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX,
durch mechanische, experimentell herbeigeführte Störung der Ent-
wickelung), so sind diese Veränderungen wirkliche direkte An-
passungen. Wir haben sie als solche ebensogut zu bezeichnen,
wie in denjenigen Fällen, in welchen der Beginn der individuellen
selbständigen Existenz mit einer vollständigen räumlichen Trennung
des elterhchen und kindlichen Organismus verbunden ist (z. B. bei
der vollständigen Teilung einzelliger Protisten, der Diatomeen etc.,
und der Zellen innerhalb mehrzelliger Organismen).
Anders aber steht es in den eben berührten Fällen, in denen
eine solche natürliche Begrenzung des Beginnes der individuellen
Existenz nicht möglich ist. Hier können wir nicht so scharf zwischen
der direkten und indirekten Anpassung unterscheiden, weil die Er-
nährung der beiden Organismen, des elterlichen und kindlichen, ge-
meinsam bleibt und wegen der fortdauernden Kontinuität beider (z. B.
bei der Stockbildung durch unvollständige Knospenbildung) eine be-
ständige nutritive Wechselwirkung zwischen beiden fortdauert. Der
theoretische Unterschied zwischen der direkten und indirekten An-
passung ist freilich auch hier klar. Im ersten Falle beruht die
morphologische und physiologische Abänderung stets in einer Ver-
änderung der Ernährung des angepaßten Individuums selbst; im letzteren
Falle dagegen auf einer Ernährungsveränderung, welche sowohl allein
vom kindlichen, als allein vom elterlichen Organismus, als endlich
auch gemischt von beiden zusammen ausgehen kann. Im konkreten
einzelnen Falle wird es aber ganz unmöglich sein, die Grenze zwischen
diesen drei abstrakten Möglichkeiten scharf zu bestimmen, ebenso
unmöglich, als die Grenze der nutritiven Selbständigkeit zwischen
dem kontinuierlich materiell zusammenhängenden elterlichen und
kindlichen Organismus scharf festzustellen ist.
Obwohl es also in vielen Fällen nicht möglich ist, die Grenze
der nutritiven Selbständigkeit des kindlichen Individuums scharf zu
bestimmen, wird dadurch doch der Unterschied zwischen der indirekten
und der direkten Anpassung keineswegs aufgehoben. Denn es ist
klar, daß der Begriff der individuellen Anpassung eigenthch
streng genommen nur auf diejenigen Fälle der Abänderung angewendet
werden kann, in denen die Abänderung tatsächlich durch Wechsel-
wirkung zwischen den selbständigen Individuen und der Außenwelt
erfolgt. Nur in diesen Fällen ist es lediglich eine Veränderung in
der Ernährung dieses einzelnen Individuums, welche der Anpassung
zugrunde liegt. In den zahlreichen Fällen dagegen, wo dieselbe
XIX. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 261
ein nicht vollkommen selbständiges Individuum betrifft, ist es un-
möglich, zu sagen, wieviel von der erworbenen Veränderung auf Kosten
einer Ernährungsveränderung des Individuums selbst kommt, wieviel
auf Kosten einer Ernährungsveränderung des elterlichen Organismus,
welcher mit dem kindlichen noch in bleibender Wechselwirkung, in
unmittelbarer materieller Kontinuität und beständigem Stoffaustausch
verharrt.
Diese Erwägung ist. wie Darwin zuerst gezeigt hat, von äußerster
Wichtigkeit. Denn tatsächlich lehrt die Erfahrung, daß Ernährungs-
veränderungen, welche den elterlichen Organismus betreffen, und
welche an diesem selbst nur eine geringe, oft in Form und Funktion
nicht wahrnehmbare Mi schungs Veränderung hervorbringen, in ihrer
Wirkung auf den kindlichen, von jenem erzeugten Organismus sehr
bedeutende, in Form und Funktion oft äußerst auffallende Abän-
derungen hervorbringen. Obwohl also hier die wirkende Ursache
bloß den elterlichen Organismus trifft, kommt sie doch nicht an diesem,
sondern erst an dem kindlichen Organismus zur Erscheinung. Dieses
wichtige Gesetz zeigt sich äußerst auffallend bei unseren Haustieren
und Kulturpflanzen, bei denen wir nicht selten imstande sind, durch
ganz bestimmte Beeinflussung ihrer Ernährung ganz bestimmte Ver-
änderungen in Form und Funktion zu erzielen, welche aber nicht an
ihnen selbst, sondern erst an ihren Nachkommen in die Erscheinung
treten. Dies gilt aber nicht nur für alle oben erwähnten FäUe von
unvollständiger Trennung des elterlichen und kindlichen Organismus,
sondern es gilt auch für alle Fälle von vollständiger Trennung und
namentlich auch für alle Fälle von geschlechtlicher Fortpflanzung.
Es zeigt sich hier die höchst merkwürdige und wichtige Tatsache,
daß selbst leichte Ernährungsveränderungen, welche in den meisten
Organen und Funktionen des elterlichen Organismus keine bemerkbare
oder nur eine ganz unbedeutende Abänderung bewirken, auf die Ge-
schlechtsorgane desselben (nach dem Gesetz von der Wechselbeziehung
der Organe) eine verhältnismäßig kolossale Wirkung ausüben, und
namentlich auf die noch nicht vereinigten Geschlechtsprodukte (Sperma
und Eier) so bedeutend einwirken, daß diese Einwirkung nach er-
folgter Vereinigung derselben (Befruchtung) in Abänderungen der
Form und Funktion des kindlichen Organismus äußerst auffallend
heiTortritt. Allerdings sind uns im einzelnen diese höchst wichtigen
nutritiven Wechselbeziehungen zwischen den Fortpflanzungsorganen und
den übrigen Teilen des Organismus noch fast ganz unbekannt, und
262 ßie Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
zum größten Teil sehr rätselhaft. Allgemeine und sehr merkwürdige
Beweise für deren Existenz besitzen wir aber sehr viele, wie z. B. die
bekannten Veränderungen im Stimmorgan, in der Fettbildung und in
den psychischen Tätigkeiten bei kastrierten männlichen Tieren; ferner
die wichtige Tatsache, daß schon leichte Ernährungsstörungen, und
bei vielen wilden Tieren sogar schon der Verlust ihrer natürlichen
Freiheit und das Leben in Gefangenschaft ausreichen, um sie voll-
ständig unfruchtbar zu machen. So pflanzen sich z. B. die Affen und
die bärenartigen Raubtiere, der Elephant, die Raubvögel, und viele
andere Tiere, ebenso auch viele Pflanzenarten, in der Gefangenschaft
und im Kulturzustande niemals oder nur sehr selten fort, während
andere dies regelmäßig tun. Oft genügt schon übermäßig reichliche
Nahrung, um Sterilität (und zugleich vielfache Variationen) hervor-
zurufen. Ebenso wie die Sterilität wird aber auch die Produktion
einer sehr abweichenden und selbst monströsen Nachkommenschaft
sehr oft lediglich durch derartige Ernährungsstörungen des elterlichen
Organismus bedingt, ohne daß er selbst bereits die auffallenden
Charaktere seiner Kinder ausgebildet zeigt.
Diese äußerst wichtige Erscheinung, welche wir bei allen Arten
der Fortpflanzung beobachten, und welche uns wiederum den innigen
Zusammenhang zwischen der Fortpflanzung und Ernährung vor Augen
führt, läßt sich, streng genommen, nicht als individuelle Anpassung
bezeichnen, insofern es nicht das selbständige Individuum ist, welches
die Abänderung durch Wechselwirkung mit der Außenwelt erfährt.
Vielmehr wird der Grund der Abänderung vermittelst der materiellen
Grundlage des elterlichen Organismus in diejenige des kindlichen
Individuums gelegt, schon bevor dasselbe sich überhaupt vom elter-
lichen Organismus irgendwie isoliert hat. Eine individuelle Ernährungs-
modifikation des letzteren ist die eigentliche erste Ursache. Es wird
also die Anlage zur Abänderung bereits im elterlichen Organismus
(durch die Ernährung) bewirkt und von diesem auf den kindlichen
Organismus (durch die Fortpflanzung) übertragen. In letzterer Hinsicht
könnte man versucht sein, den Vorgang eher eine Erscheinung der
Vererbung als der Anpassung zu nennen. Allein der wesentliche
Unterschied von der Vererbung liegt darin, daß bei dieser letzteren
die (chemischen, physiologischen, morphologischen) Eigenschaften,
welche der elterliche Organismus auf den kindlichen überträgt, bei
dem elterlichen bereits wirklich entwickelt in die Erscheinung ge-
treten waren und also nicht bloß jjofotfia, sondern auch «ff^r in ihm
XIX. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 263
verlianden waren. Im ersteren Falle dagegen sind jene Eigenschaften
in dem elterlichen Organismus bloß potentia, nicht adu vorhanden,
und zwar latent in dem Keime des kindlichen Organismus, bei dessen
Entwickelung erst sie in die Erscheinung treten. Wir können daher
diesen Vorgang seinem Wesen nach nicht als eine Erblichkeitser-
scheinung, sondern müssen ihn als eine Anpassungs-Erscheinung
auffassen, wenngleich wir hervorheben müssen, daß er eine un-
mittelbare Übergangsstufe zwischen den entgegengesetzten
und entgegenwirkenden Erscheinungen der Vererbung (die
mit der Fortpflanzung) und der eigentlichen individuellen An-
passung (die mit der Ernährung zusammenhängt), darstellt. Um ihn
von der letzteren, der aktuellen oder direkten Anpassung zu unter-
scheiden, wollen wir ihn ein für allemal als indirekte oder potentielle
Anpassung bezeichnen. Alle Anpassungen, welche bei den Organismen
vorkommen, gehören einer von diesen beiden Kategorien an.
Das Gesetz der indirekten oder potentiellen Anpassung
oder der Abänderung des Organismus durch Ernährungsmodifikationen
seines elterlichen Organismus läßt sich demnach folgendermaßen
formuHeren: „Jeder Organismus kann durch Wechselwirkung
mit der umgebenden Außenwelt nutritive Veränderungen
erleiden, welche nicht in seiner eigenen Formbildung,
sondern erst mittelbar in der Formbildung seiner Nach-
kommenschaft, als indirekte Anpassung, in die Erscheinung
treten."
Das Gesetz der direkten oder aktuellen Anpassung oder
der Abänderung des Organismus durch eigene, ihn selbst betreffende
Ernährungsmodifikationen würde dagegen lauten : ., J e d e r 0 r g a n i s m u s
kann durch Wechselwirkung mit der umgebenden Außen-
welt nutritive Veränderungen erleiden, welche unmittelbar
in seiner eigenen Formbildung, als direkte Anpassung, in
die Erscheinung treten." Hierher gehören die meisten Fälle in-
dividueller xlbänderungen, welche man gewöhnlich als Anpassung (im
engeren Sinne) bezeichnet.
Wenn wir nunmehr an die Betrachtung der verschiedenen Gesetze
der indirekten und der direkten Anpassung herantreten, welche wir
gegenwärtig unterscheiden zu können glauben, so müssen wir zunächst
leider dieselbe Bemerkung vorausschicken, welche wir soeben bei
Besprechung der Erblichkeitsgesetze gemacht haben, daß wir uns
nämlich auf einem ebenso ausgedehnten als wichtigen Gebiete der
264 i^iP Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Biologie befinden, auf welchem fast noch nichts geschehen ist. um
die wertvollen daselbst verborgen liegenden Schätze zu heben. Zw^ar
sind den Zoologen und Botanikern, seitdem Linne das systematische
Studium der äußeren Morphologie begründete, zahllose Varietäten.
Rassen, Spielarten und andere Abändeningsformen der sogenannten
„guten Arten'' bekannt geworden, und der größte Teil der zoologischen
und botanischen Literatur ist mit Beschreibung dieser zahllosen
Abänderungsformen gefüllt und mit den unnützesten und hirnlosesten
Streitigkeiten über die Frage, ob diese oder jene Form als „gute Art"
oder bloß als Unterart, als Gattung oder als Varietät, als Rasse oder
nur als individuelle Abänderung zu deuten sei. Da indessen die meisten
hierauf bezüglichen Untersuchungen nur mit einem höchst beschränk-
ten Materiale und mit einem noch mehr beschränkten Verstände an-
gestellt sind, so haben dieselben keinen oder nur sehr geringen
wissenschaftlichen Wert. Die meisten Botaniker und Zoologen, die
ihr Leben mit solchen unnützen Spielereien zugebracht haben, sind
ohne alle philosophische Basis zu Werke gegangen und haben sich
weder die Mühe gegeben, über die eigentliche Bedeutung der Begriffe
„Art, Unterart. Rasse, Abart, Varietät, Spielart etc.'" nachzudenken,
noch über die Ursachen, durch welche die tatsächlichen Verschieden-
heiten dieser subordinierten Kategorien entstanden sind. An eine wissen-
schaftliche Untersuchung der Abänderungsgesetze hat aber vor Darwin
fast noch niemand gedacht, und auch Darwin hat mehr Verdienst
um die klare Hervorhebung der kausalen Verhältnisse der Abän-
derungen, als um die ordnungsgemäße Unterscheidung ihrer ver-
schiedenen Modifikationen, die in diesem Chaos von ungeordneten
Tatsachen allerdings ebenso schwierig als wichtig ist. Unter diesen
Umständen können wir eine vollständige Erkenntnis der mannigfal-
tigen Verhältnisse erst von der intelligenten Morphologie der Zukunft
hoffen, welche bemüht sein wird, gerade die feinen individuellen Unter-
schiede und die geringen Differenzen der Varietäten, Rassen etc. sorg-
fältig zu wägen und daraus zusammenhängende Entwickelungsreihen
herzustellen, während die bisherige künstliche Systematik gerade das
Gegenteil erstrebte und nur bemüht war, die Arten scharf zu trennen,
indem sie die vorhandenen Zwischenformen beiseite schob und
ignorierte. Der folgende Versuch, die verschiedenen Abänderungser-
scheinungen als geordnete Gesetze aufzuführen, kann unter diesen
Umständen nur ein ganz provisorischer sein.
1
XIX. y- Veränderlichkeit und Anpassung. 265
V, E. Gesetze der Anpassung.
Ea. Gesetze der indirekten oder potentiellen Anpassung.
1. Gesetz der individuellen Abänderung.
(Lex variationis iiidividualis.)
Alle organischen Individuen sind von Beginn ihrer
individuellen Existenz an ungleich, wenn auch oft höchst
ähnlich.
Dieses wichtige Gesetz der individuellen Abänderung, welches
wir auch das der angeborenen Ungleichheit nennen könnten, ist das
allgemeinste, welches sich auf die Abänderungsverhältnisse bezieht
und steht unmittelbar gegenüber dem allgemeinsten Yererbungsgesetze,
wonach die unmittelbaren Deszendenten der Organismen ihren Eltern
entweder nahezu gleich oder doch sehr ähnlich sind. Beide Gesetze
widersprechen sich nicht. Denn wenn auch alle Individuen einer
und derselben „Art" oder ..Abart'' noch so sehr ähnlich sein mögen,
und wenn wir auch mit unseren besten Hülfsmitteln keine Unter-
schiede zwischen denselben wahrnehmen können, so haben wir doch
Gründe genug zu der Annahme, daß nur höchst selten und zufälHg
eine absolute Gleichheit zweier ähnlicher Individuen stattfindet.
Wir begründen dieses Gesetz induktiv auf die allgemein bekannte Un-
gleichheit der menschlichen Indi\iduen von der Zeit ihrer Geburt
an. Niemand wird behaupten, daß es jemals zwei Menschen ge-
geben habe, welche absolut gleich gewesen seien, welche absolut
dieselbe Größe, Form und Farbe, dasselbe Gesicht, dieselbe Zahl
von Epidermiszellen, Blutzellen etc., dieselben Seelenbewegungen
(Wille, Empfindung, Denken in absolut gleicher Form) besessen haben.
Schon bei der Geburt sind allgemein individuelle Ungleichheiten vor-
handen, wenn sie auch oft schwer zu erkennen sind und erst später
deutlicher hervortreten. Was vom Menschen, das gilt auch von den
übrigen Säugetieren, und es ist allen Menschen, die sich eingehend
mit einer größeren Anzahl von Indi^iduen einer Art beschäftigt und
dieselben genau und lange Zeit beobachtet haben (z. B. den Hirten
von Viehherden, den Förstern, Ausstopfern) wohl bekannt, daß alle
einzelnen Individuen einer und derselben Spezies, trotz der größten
Ähnhchkeit, dennoch individuelle Unterschiede zeigen. Dasselbe
wissen alle systematischen Botaniker, welche Massen von Individuen
einer und derselben Spezies eingehend verglichen haben. Dasselbe
weiß jedermann von allen Bäumen eines Waldes. Niemand wird
266 Diß Deszendenztheorie und die öelektioustheorie. XIX.
z. B. behaupten, daß es jemals zwei Bäume von einer und derselben
Art, z. B. zwei Apfelbäume oder zwei Roßkastanien gegeben habe,
welche in allen Beziehungen, in der Zahl der Blätter und Blüten,
der Bildung der Rinde, der Verzweigung des Stammes, in der Zahl
und Form aller konstituierenden Zellen absolut gleich gewesen seien.
Schon eine Betrachtung einer Baumschule lehrt hiervon das gerade
Gegenteil, und eine sorgfältige Vergleichung der jüngsten Samen-
pflanzen zeigt, daß sie schon von erster Jugend an individuelle
Unterschiede zeigen. Nun könnte man zwar behaupten, daß diese
absolute Ungleichheit aller organischen Individuen durch die univer-
selle direkte Anpassung erworben sei, und zum großen Teile ist
dies gewiss der Fall, da niemals zwei Individuen ihr ganzes Leben
unter absolut denselben Existenzbedingungen zubringen. Allein Dar-
win hat gezeigt, daß wir hinreichende Gründe haben, die allgemeine
individuelle Ungleichheit der Organismen auch teilweis als Folge
einer indirekten Abänderung derselben anzusehen, hervorgebracht
durch primitive Verschiedenheiten in der chemischen Zusammen-
setzung der von den Eltern erzeugten Keime.
2. Gesetz der monströsen oder sprungweisen Abänderung.
(Lex variafionis monsfrosae sive generatlvae.)
Alle Organismen sind unter bestimmten, sehr abweichen-
den und ungewöhnlichen Ernährungsbedingungen fähig,
eine Nachkommenschaft zu erzeugen, welche nicht in dem
gewöhnlichen geringen Grade der individuellen A'^eränder-
lichkeit, sondern in einem so außerordentlichen und un-
gewöhnlichen Grade von den Charakteren des elterlichen
Organismus abweicht, daß man dieselben als Monstra oder
Mißbildungen bezeichnet.*)
Dieses noch wenig bekannte, und auch hinsichtlich der zugrunde
liegenden Tatsachen noch wenig untersuchte Gesetz ist, soviel wir
bis jetzt wissen, nur von geringer, bisweilen vielleicht aber auch
von sehr bedeutender Wichtigkeit für die Entstehung von neuen
Arten. Es gehören hierher wahrscheinlich alle diejenigen Fälle,
welche man als sprungweise Abänderung, plötzliche Aus-
*) Anm. (190()). Neuerdings hat der Botaniker Hugo de Vries (1901)
die sprungweise ])lötzliche Variation unter dem Namen ..Mutation" als die
wichtigste Quelle der Speziesbildung zu erweisen versucht. Vergl. über diese
Mutationstheorie meine „Lebenswunder" (1904, S. 429).
XIX. V. Veränderung und Anpassung. 267
artung. monströse Entwiekelung etc. bezeichnet. Bei den Menschen
sowohl als bei den andern im Kultm-zustande lebenden Tieren, eben-
so bei den Knltnrpflanzen sind solche monströse Abänderungen
verhältnismäßig häufig und oft so bedeutend, daß sie nicht allein
über den Charakter der Art und Gattung, sondern auch sehr oft
über denjenigen der Familie und Ordnung weit hinausgreifen. Es
gehören hierher z. B. die bekannten Fälle von Menschen mit sechs
Fingern an jeder Hand und jedem Fuß, ferner die berühmten Stachel-
schweinmenschen mit schuppenartiger Epidermis, die ka\ikornien
Wiederkäuermonstra ohne Hörner (von einer sonst gehörnten Art)
oder mit 4 — 6 — 8 (statt der normalen zwei) Hörnern, dann der all-
gemeine Pigmentmangel der Haut (Leucosis) bei den Albinos der
verschiedensten Tierarten, die ungewöhnlichen Größenproportionen
einzelner Körperteile untereinander und zum Ganzen, ferner die
zahlreichen, höchst auffallenden und plötzlich entstehenden ..mon-
strösen" x\bänderungen in Größe. Farbe. Blätterzahl etc. bei den
Blüten und Früchten unserer Kulturpflanzen, viele ..gefüllte Blüten"
etc. Aber nicht allein solche auffallende äußerliche, leicht erkenn-
bare Mißbildungen treten oft ganz plötzlich in einer Generation auf,
sondern auch die wichtigsten Abweichungen von der Lage, Größe
und Gestalt innerer Organe, so z. B. die Umkehrung von Rechts
und Links bei dipleuren Tieren (Perversio viscerum des Menschen,
links gewundene Individuen von regelmäßig rechts gewundenen
Schnecken etc.).
Die kausale Entstehung der meisten dieser plötzlich auftreten-
den Monstrositäten ist uns mit Sicherheit nicht bekannt. In \ielen
Fällen sind es mechanische oder nutritive Störungen in der Ent-
wiekelung des Embryo, welche die „Mißbildung" verursachen (dann
also direkte Anpassungen!), in sehr fielen anderen Fällen dagegen
sind es sicher Nutritionsstörungen des elterlichen Organismus, welche
auf das Genitalsystem desselben zurückwirken und die auffallende
Abänderung des kindlichen Organismus schon im ersten Keime, im
noch nicht befruchteten Ei oder im Sperma bedingen. Hierbei tritt
der ungeheure Einfluß, den che veränderte Ernährung des Organis-
mus auf seine Fortpflanzungsorgane hat, besonders auffallend her-
vor. Wie bereits Darwin hervorgehoben hat, sind solche monströse
Abweichungen, welche er als „generative" bezeichnet, fast durch-
gängig zuerst sehr unbeständig und zeigen dies besonders darin, daß,
wenn sie sich mehrere Generationen hindm'ch vererben, der Grad
268 l^ic Deszendenztheorie und die Selektionstheoiie. XIX.
der monströsen Ausbildung in verschiedenen Generationen und Indi-
viduen ein sehr verschiedener ist. Auch verschwinden sie oft ebenso
plötzlich wieder in einer Generation, wie sie in einer vorhergehen-
den entstanden sind. Indes gelingt es der künstlichen Züchtung
doch oft, dieselben zu erhalten und durch generationenlange Pflege
zu befestigen, wie es z. B. bei den vierhörnigen und sechshörni-
gen Schafen der Fall gewesen ist, bei dem berühmten hörnerlosen
Bullen von Paraguay, von dem man eine ganze Rinderrasse erzog,
bei dem krummbeinigen Schafbock von Seth Wright in Massa-
chusetts, der ebenfalls der Stammvater einer ganzen krummbeini-
gen Schafrasse (der Otterschafe) wurde etc. Ebensogut ist es nun
denkbar und vielleicht in der Tat sehr oft geschehen, daß eine plötz-
hche und starke Veränderung in der Ernährung einer Spezies im
Naturzustande (z. B. dadurch, daß sich plötzlich das Klima einer
Gegend ändert) auf die Generationsorgane zurückwirkt und zur
massenhaften sprungweisen Erzeugung neuer monströser Formen
führt, welche sich durch Inzucht fortpflanzen und eine neue „Art"
bilden. So gut wir diesen Prozeß bei wilden Pflanzen und Tieren
in umgekehrter Reihenfolge als plötzlichen „Rückschlag" verfolgen
können, so gut ist es auch denkbar, daß dieselbe sprungweise Um-
bildung nach vorwärts eintritt und zur Bildung neuer Arten führt.
So finden wir z. B. bei Lippenblüten (und besonders häufig bei der
bekannten Linaria vulgaris) nicht selten die auffallende „Monstrosi-
tät", welche mit dem Namen Peloria belegt wird und welche offen-
bar als einfacher Rückschlag in die weit zurückliegende pentakti-
note (regulärstrahlige fünfzälilige) Stammform der pentamphipleuren
Lippenblüte zu deuten ist. Wie wir hier plötzlich (oft an einzelnen
Blüten eines sonst Lippenblüten tragenden Stockes) den weiten Sprung
in die alte regulär-radiale Stammform zurück eintreten sehen, welche
man als ..Monstrum'-'- bezeichnet, so kann auch umgekehrt ursprüng-
lich die alte pentamphipleure Lippenblüte, die wir jetzt als die „nor-
male" ansehen, durch einen plötzlichen Sprung aus der ersteren als
„Monstrum" entstanden sein. Besonders weit dürfte der Spielraum
für die sprungweise Entstehung solcher monströser ..Abarten" oder
,.Ausartungen", die sich dann unter günstigen Umständen zu ..guten
Arten" befestigten, bei den meisten Organismen liinsichtHch der Zahl
der Antimeren und Metameren gewesen sein, wovon uns noch heute die
große Variabilität der homotypischen und homodynamen Grundzahlen
bei vielen Tier- und Pflanzenarten berichtet. Auch in Gruppen, in
XIX. ^- Veränderlichkeit und Anpassung. 269
(leren meisten Arten sich diese Grnndzahlen fixiert haben, kommen
einzehie Arten vor, bei denen dieselbe noch schwankt, so unter den
fünfzähligen Echinodermen einzelne mit mehr als fünf (und dann
mit einer schwankenden Anzahl!) Antimeren versehene Ästenden.
Offenbar findet hier die Bestimmung der Grundzahl für jedes Indi-
viduum schon im ersten Anfang seiner Entwickelung statt.
3. Gesetz der geschlechtlichen Abänderung.
(Lex variationis sexualis.)
Bei allen Organismen mit geschlechtlicher Fortpflan-
zung vermag sowohl eine Ernährungsveränderung, welche
auf die männlichen, als eine solche, welche auf die weib-
lichen Geschlechtsorgane einwirkt, eine entsprechende Ab-
änderung der geschlechtlich erzeugten Nachkommenschaft
zu veranlassen, und es äußert sich dann entweder aus-
schließlich oder doch vorwiegend die Ernährungsverän-
derung der männlichen Genitalien in der Abänderung der
männlichen, diejenige der weiblichen Genitalien in der Ab-
änderung der weiblichen Nachkommen.
Dieses Gesetz der sexuellen Abänderung hängt sehr eng mit
demjenigen der sexuellen Vererbung zusammen. Bei der letzteren
fanden wir, daß die Gesamtcharaktere jedes der beiden Geschlechter,
und zwar sowohl die primären als die sekundären Sexualcharaktere,
sich meistens einseitig, also entweder vorwiegend oder fast ausschließ-
lich nur auf das entsprechende Geschlecht vererben, so daß Gene-
rationen hindurch sich einerseits die männlichen, andererseits die
weiblichen Deszendenten mehr gleichen, als beide Reihen unter sich.
Bei der sexuellen Abänderung finden wir dementsprechend, daß jede
Ernährungsveränderung, welche eines der beiderlei Geschlechtsorgane
betrifft und das andere nicht berührt, entweder vorwiegend oder selbst
ganz ausschließlich eine Veränderung bloß in demjenigen Geschlechte
der Nachkommen hervorruft, welches dem veränderten Sexualsystem
der Eltern entspricht : während das andere Geschlecht nicht abändert.
Wenn also z. B. bei den Hühnervögeln eine eingreifende Veränderung
in der Ernährungsweise bloß den Hahn betrifft und auf dessen Hoden
zurückwirkt, während die Henne und also auch ihr Eierstock nicht
von derselben betroffen wird, so wird eine entsprechende, vielleicht
monströse, Abänderung in der Bildung der von beiden geschlechtlich
erzeugten Nachkommen nur an den Hähnen, nicht an den Hennen
270 Di*^ Deszeiidenztlieorie und die Selektionstlieorie. XIX.
siclitbar werden. Im ganzen ist diese Erscheinung noch dunkel,
wenig beachtet, und meist auch sehr schwierig in ihrem ursächliclien
Zusammenhang zu verfolgen, vielleicht aber von großer Wichtigkeit
für die Erklärung der Entstehung der sekundären Sexualcharaktere.
Eb. Gesetze der direJden oder aktuellen Anpassung.
4. Gesetz der allgemeinen Anpassung.
(Lex arlapfationift universalis.)
Alle organischen Individuen werden während ihrer
individuellen Existenz durch Anpassung an verschiedene
Lebensbedingungen ungleich, wenn sie auch oft höchst
ähnlich bleiben.
Dieses Gesetz bewirkt, im Verein mit demjenigen der individuellen
Anpassung, die allgemeine Ungleichheit aller organischen Individuen.
Durch die universelle Anpassung wird die erworbene, durch die
individuelle Anpassung dagegen die angeborene Ungleichheit
aller Einzelwesen bedingt. Die erstere läßt sich viel leichter nach-
weisen als die letztere, denn während wir über die angeborene Ver-
schiedenheit aller organischen Individuen noch so sehr im unklaren
sind, daß wir die allgemeine Gültigkeit des Gesetzes der individuellen
Abänderung nur mit sehr geringer Sicherheit und nur auf allgemeine
Gründe gestützt, behaupten können, so ist das Gegenteil bei der er-
worbenen Ungleichheit der Fall, welche sich mit mathematischer
Sicherheit aus dem allgemeinen Kausalgesetze folgern läßt. Indem
die äußeren Existenzbedingungen, wie allgemein anerkannt wird,
umbildend auf den Organismus einwirken, indem ferner diese Existenz-
bedingungen für alle Individuen ungleich (niemals absolut die-
selben) sind, so müssen, selbst den unwahrscheinlichen Fall ange-
borener Gleichheit der Individuen angenommen, infolge der allgemeinen
Ungleichheit der einwirkenden Ursachen im Laufe der individuellen
Existenz stets mehr oder minder bedeutende Unterschiede in der
Bildung der Individuen eintreten. So läßt sich, selbst ohne die be-
stätigenden Beweise der unmittelbaren Beobachtung, eine allgemeine
Ungleichheit sämtlicher organischer Individuen mit Sicherheit be-
haupten. Hinsichtlich der empirischen Bestätigung berufen wir uns
auch wieder zunäclist auf den Menschen selbst, von welchem es all-
gemein anerkannt ist, daß die verschiedene Lebensweise und Be-
schäftigung, der verschiedenartige Umgang mit anderen Menschen,
kurz die für jedes Individuum allgemein verschiedenen Verhältnisse
XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 271
der Eruälinmg sowohl als der Beziehung zur Außenwelt, individuelle
Verschiedenheiten in der Bildung, dem Charakter, den somatischen
und psychischen Eigenschaften veranlassen, welche um so größer werden,
je älter der Mensch wird, d. h. je länger jene verschiedenen Ursachen
einwirken. Dasselbe gilt ebenso von den Individuen aller anderen
Tiere und Pflanzen. Bei den Pflanzen tritt gewöhnlich die individuelle
Ungleichheit viel auffallender als bei den Tieren hervor, weil die
Organe dort äußerlich, hier innerlich entfaltet werden. Wie wir aber
oben bereits sagten, ist es außerordentlich schwierig, zu sagen, wie-
viel Anteil an der tatsächlich existierenden Verschiedenheit der
erwachsenen Individuen auf Rechnung der angeborenen Ungleichheit,
wieviel auf Rechnung der erworbenen Ungleichheit zu setzen ist.
Darwin scheint im ganzen größeres Gewicht der ersteren (dem
Gesetz der individuellen Abänderung) zuzuschreiben, während wir
glauben möchten, daß die letzere (das Gesetz der universellen An-
passung) eine allgemeinere und eingreifendere Wirksamkeit entfalte.
5. Gesetz der gehäuften Anpassung.
(Lex adaptationis cumulativae.)
(Gesetz der Gewohnheit, der Ühung-, der Akklimatisation, der Reaktion etc.)
Alle Organismen erleiden bedeutende und bleibende
(chemische, morphologische und physiologische) Abän-
derungen, wenn eine an sich unbedeutende Veränderung in
den Existenzbedingungen lange Zeit hindurch oder zu vielen
Malen wiederholt auf sie einwirkt.
In dem ,.Gesetze der gehäuften Anpassung" glauben wir mehrere,
scheinbar sehr weit voneinander entfernte Anpassungsgesetze ver-
einigen zu müssen, welche gewöhnlich als ganz verschiedene betrachtet
werden, die wir aber nicht scharf zu trennen imstande sind. Die
Abänderungen nämlich, welche wir als gehäufte oder kumulative
zusammenfassen, sind solche, welche von Darwin und vielen anderen
mehrfach unterschieden und wenigstens in zwei ganz verschiedene
Kategorien gebracht werden, nämlich: I. Unmittelbare Folgen
der Einwirkung der äußeren Existenzbedingungen: Nahrung,
Klima, Bodenbeschaffenheit, Umgebung etc. IL Folgen der Ge-
wohnheit oder Angewöhnung (Übung, Gebrauch oder Nichtge-
brauch der Organe, Akklimatisation etc.). Wir gestehen, daß wh- un-
fähig sind, diese Kategorien scharf zu scheiden und vielmehr glauben,
daß die eigentliche ursächliche Grundlage bei allen diesen Anpassungs-
erscheinungen dieselbe ist, nämlich eine langsame aber andauernde
272 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Veränderung in der Ernährung des Organismus oder einzelner Teile,
welche zwar zuerst und in jedem einzelnen Falle nur eine sehr un-
bedeutende Einwirkung auf die physiologische und morphologische
Beschaffenheit der Organe ausübt, allein durch lang andauernde und
oft wiederholte kleine Einwirkungen schließhch sehr bedeutende Um-
bildungsresultate zu erzielen vermag. Wir wollen, um diese An-
schauung zu stützen und womöglich zu beweisen, jede der beiden
Kategorien, die man unnützerweise noch in verschiedene kleinere
gespalten hat, gesondert für sich betrachten. Wir können die beiden
verschiedenen Gruppen von Existenzbedingungen, welche durch ku-
mulative Einwirkung gehäufte Anpassungen verursachen, als äußere
und innere Existenzbedingungen unterscheiden.')
I. Geliäiifte Aiipassiuigen durch die Wirkiing-en äußerer Existenzbedingung-en.
(Anpassung-en an die Nahrung, das Klima, die Umgebung etc.)
Die Abänderungen der Organismen durch die sogenannte ,,un-
mittelbare Wirkung der äußeren Existenzbedingungen" oder den „un-
mittelbaren Einfluß der Außenwelt" sind die bekanntesten von allen,
und sehr viele Naturforscher sind von jeher geneigt gewesen, denselben
überhaupt alle Veränderungen zuzuschreiben, die wir an den Or-
ganismen wahrnehmen. Jedermann weiß, daß die verschiedene Qualität
der Ntihrungsmittel, des Lichts, der Wärme, der Feuchtigkeit einen
bestimmten Einfluß auf die Größe, Farbe, Form und innere Beschaffen-
heit der Organismen, auf ihre morphologische Ausbildung und ihre
physiologische Funktion ausübt. Wir brauchen statt aller Beispiele
hier bloß an die Tatsache zu erinnern, wie äußerst empfindlich der
menschliche Organismus gegen diesen Einfluß der „Medien" ist, wie
jede Veränderung des Klimas, der Nahrung (Diät), der Umgebung etc.
unmittelbar eine bestimmte Veränderung des Organismus hervorruft,
welche sich in seinen Funktionen noch deutlicher als in seinen
Formen äußert, und welche wir entweder als heilsame, oder als
gleichgültige, oder als schädhche betrachten. Dasselbe nun, was wir
alle vom Menschen anerkennen, gilt ebenso auch von allen anderen
Tieren und von allen Organismen überhaupt. Jeder ohne Ausnahme
ist empfänglich für den Einfluß der verschiedenen Qualität und
Quantität der unmittelbar eingeführten Nahrungsstoffe, des Klimas
1) Anm. (11)015). Das wichtige Gesetz der ..kumulativen Anpassung", das
ich hier (18(56) begründet und durch „Ernährungsabänderungen'- physiologisch
erklärt habe, ist identisch mit dem Gesetze der funktionellen Anpassung,
das Wilhelm Roux 15 Jahre später (1881) zu großem Ansehen gebracht hat.
XIX. ^ • Veräiideilichkeit und Aiipassiing. 273
(den verschiedenen Grad von Licht, Wärme, Fenchtigkeit etc.) Zu-
nächst ist die Einwirkung- derselben gewöhnlich nur an einer Ab-
änderung der Funktion bemerkbar und erst später an einer Abänderung
der Form des Organs, welche sich natürlich der Funktion entsprechend
verändern muß. Man kann diese abändernden Einflüsse allgemein
als die chemischen und physikalischen Agentien oder besser als die
anorganischen Agentien zusammenfassen, im Gegensatz zu den or-
ganischen Agentien, welche bei der folgenden Art der Anpassung
tätig sind. So wichtig diese Agentien sind, so ist dennoch gewiß
ihr Einfluß gewöhnlich insofern sehr überschätzt worden, als man
sie meist viel zu ausschließlich als die einzigen oder doch die vor-
züglichsten Anpassungsbedingungen betrachtet hat, und insofern hat
Darwin vollkommen recht, wenn er denselben eine viel geringere
Bedeutung beimißt. Indessen möchten wir ihren Einfluß doch nicht
so gering wie letzterer schätzen, wenn wir daran denken, welche
enormen Veränderungen z. B. allein unser Zentralnervensystem (die
Vorstellungen des Wollens, Empfindens und Denkens) durch die Ein-
wirkung des Klimas (Licht, Wärme. Feuchtigkeit), der verschiedenen
Nahrungsmittel (alkoholische Getränke, Kaffee und Thee. Fleisch,
Amylaceen etc. zu erleiden hat: wie der Charakter ganzer Nationen
durch das Klima und die Art der Nahrung bestimmt wird, wie wir
bei unseren Haustieren und Kulturpflanzen durch geringe Verän-
derungen der Nahrung und des Klimas bedeutende Abänderungen in
Form und Funktion hervorrufen können.
Nach unserer Ansicht liegt die falsche Auffassung, welche man
diesem Einflüsse gewöhnlich hat angedeihen lassen, vorzüglich darin,
daß man den Organismus dabei als ein ganz oder doch vorwiegend
passives Wesen aufgefaßt hat. während doch in der Tat derselbe
sich allen Einflüssen gegenüber zugleich aktiv verhält. Jede Aktion
eines äußeren Agens, gleichviel ob dasselbe Licht oder Wärme
oder Wasser oder irgendein anderes Nahrungsmittel, ein Medikament
oder ein Gift ist; jede Aktion eines solchen unmittelbar auf die Er-
nährung des Organismus einwirkenden Agens ruft eo ipso zugleich
eine Reaktion des Organismus hervor, die sich eben in der Mo-
difikation der Ernährungstätigkeit und in dem aktiven (abwehrenden,
indifferenten oder aufnehmenden) Verhalten der Ernährungsorgane
gegenüber den Medien und der Nahrung äußert, sowie in der Rück-
wirkung auf die Ernährung des Ganzen. Man faßt gewöhnlich,
dieses Verhältnis ignorierend, den unmittelbaren Einfluß der äußeren
Haeckel, Prinz, d. Morjiliol. • 18
274 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Existenzbcdingunji;en als einen einseitigen, bloß äußerlichen auf und
berücksichtigt nicht die aktive Gegenwirkung des Organismus, durch
welche allein die allmähliche Anpassung möglich ist. Diese ver-
mögen wir aber nicht von der ,, Gewöhnung" zu unterscheiden, welche
man gewöhnlich als eine ganz verschiedene Art der Anpassung an-
zusehen pflegt.
n. Gehäufte Anpassini gen durch die Wirkung' en innerer Exis te uz hedingungfen.
(Anpassungen durcli Gewohnlieit. Gehrauc-li und Niehfgel)raueh der Organe efc.)
Die Abänderungen der Organismen durch die sogenannte „Ge-
wöhnung und Übung, den Gebrauch und Nichtgebrauch der Or-
gane"' etc. scheinen auf den ersten Blick von den vorher betrachte-
ten hinsichtlich der bewirkenden Ursachen sehr verschieden zu sein
und werden auch von Darwin und anderen in dieser Weise auf-
gefaßt. Es scheinen dort äußere, hier dadegen innere, im Organis-
mus selbst liegende Impulse zu sein, welche die Abänderung veran-
lassen, und man könnte die bewirkenden Ursachen insofern als
innere Existenzbedingungen jenen äußeren gegenüberstellen.
Wie man aber dort die äußeren Einflüsse allein hervorhob und die
innere Gegenwirkung des Organismus ignorierte, so hebt man hier
umgekehrt die innere Gegenwirkung allein hervor und ignoriert die
äußeren Einflüsse, durch welche die erstere überhaupt erst hervor-
gerufen wurde. Man vergißt ganz, daß die scheinbar spontan von
innen heraus geschehenden Wirkungen des Organismus, welche man
als ,.Angewöhnung, Übung, Gebrauch der Organe" etc. bezeichnet,
nichts weniger als spontane sind, sondern erst hervorgerufen durch
die Einwirkung (den „Reiz") der äußeren Existenz-Bedingungen, also
erst eine Reaktion, eine Gegenwirkung des Organismus, welche jenem
äußeren Einflüsse adäquat ist und solange fortdauert, als jener
anhält.
Untersuchen wir näher den Ursprung der falschen Vorstellun-
gen, welche man sich vom Wesen der Gewöhnungsverhältnisse ge-
macht hat, so glauben wir als den Grundirrtum, welcher diese lange
Kette unrichtiger Vorstellungen hervorgerufen hat, das falsche Dogma
von der Freiheit des Willens bezeichnen zu müssen. Man ging
bei Untersuchung jener A^erhältnisse aus von der Beobachtung des
Menschen und anderer Tiere und fand bald, daß die kumulativen
Anpassungstätigkeiten, welche wir als Gewöhnung, Übung etc. be-
XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 275
zeichnen, ihren scheinbar letzten Grund in dem „freien Willen" der
Tiere haben, welcher die Bewegungen bestimmt und durch Veran-
lassung bestimmter, oft wiederholter und anhaltender Bewegungen
auch die Ursache der Funktionsmodifikation und Formveränderung
der Organe wird. Nun ist diese Ansicht von der kumulativen Wirkung
der Willensbewegungen auf die Anpassung vollkommen richtig. Falsch
ist nur das eine Glied der Schlußkette, daß der Wille ..frei"' ist,
und daß er der letzte Grund der Gewöhnungserscheinungen ist.
Jede eingehende und objektive Prüfung der „freien"' Willenshandlun-
gen an uns selbst und an anderen Tieren zeigt uns, daß der Wille
niemals frei ist, vielmehr jede, und auch die scheinbar freieste
Willenshandhmg, die notwendige Folge ist von einer langen und
höchst verwickelten Kette von bewirkenden Ursachen, von Empfin-
dungen. Denkbewegungen und anderen Ursachen, die alle selbst
wiederum niemals frei, sondern in letzter Instanz kausal bedinat
sind: entweder durch die vorher besprochenen äußeren Existenz-
bedingungen (Licht, Wärme. Klima etc.) oder durch die der indi-
viduellen organischen Materie inhärenten (durch Vererbung erhaltenen)
Kräfte.
Daß diese Ansicht richtig ist, ergibt sich mit Notwendigkeit,
wenn wir einzelne, aus scheinbar freiem Willen entsprungene und
durch oftmalige Wiederholung (Kumulation) zur Gewohnheit gewor-
dene Willenshandlungen (freiwillige Bewegungen) und die kumula-
tiven Anpassungen, welche der Organismus in Abänderung der Form
und Funktion der „geübten" Teile dabei erlitten hat, scharf unter-
suchen und bis auf ihre letzten Gründe zu verfolgen streben. Es
zeigt sich dann allemal, daß sie ganz ebenso wie die vorhin auf-
geführten ..Wirkungen der äußeren Existenzbedingungen" nicht ein-
seitige Wirkungen von (hier äußeren, dort inneren) Einflüssen sind,
sondern vielmehr ausnahmslos „Wechselwirkungen zwischen
dem Organismus und der Außenwelt". Auch die scheinbar freie
Willenshandlung, welche durch anhaltende oder oftmalige Wieder-
holung zur „Gewohnheit" wird, ist in der Tat nichts als eine not-
wendige Reaktion, eine innere Gegenwirkung gegen den äusseren
Einfluss der physikahsch und chemisch einwirkenden Existenz-
bedingungen. In letzter Instanz sind es auch hier, wie dort, Er-
nährungsabänderungen , welche durch die letzteren bewirkt
Averden. und welche erst indirekt die Abänderung auf das Zentral-
nervensystem, den Willen, etc. übertragen. Hier wie dort erblicken
18*
276 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
wir oiiio verwickelte Kette von kausal bedint;ten und kausal wirken-
den ^lolekularbewegungen, bei welchen dadurch, daß die Moleküle
oftmals wiederholt oder lange Zeit hindurch in einer neuen, aber
immer in einer und derselben Richtung bewegt oder geordnet w^erden,
endlich diese neue Anordnung oder Bewegungsrichtung der Moleküle
ZU!' bleibenden wird, d. h. eine feste Abänderung hervorruft.*)
Daß diese theoretische Anschauung in der Tat die richtige ist,
zeigt sich auch darin, daß wir bei der praktischen Beurteilung der
gehäuften Anpassungen sehr oft nicht imstande sind, zu sagen,
ob dieselben „durch unmittelbare Einwirkung der äußeren Existenz-
bedingungen'' oder durch „Übung und Gewohnheit" bedingt sind.
Dies ist z. B. bei den bekannten und wichtigen Vorgängen der Akkli-
matisation der Tiere und Pflanzen der Fall. Eine genaue Analyse
dieser Erscheinung beweist, daß die sogenannte „unmittelbare" Ein-
wirkung auch hier allerdings immer die erste Ursache, aber niemals
die unmittelbare Ursache der bewirkten Abänderung ist. daß diese
vielmehr immer erst eine Folge der Gegenwirkung, der Reaktion
des Organismus ist. Auch dadurch wird diese Auffassung bestätigt^
daß man bei der kumulativen Anpassung der Pflanzen fast immer
ganz ausschließlich oder doch vorwiegend die „unmittelbare Wirkung
der äusseren Existenzbedingungen"', bei der gehäuften Anpassung der
Tiere dagegen ebenso ausschließlich oder vorwiegend die ..Uebung
und Gewohnheit" als die wirkende Ursache betrachtet, wobei man
wiederum durch die falsche Vorstellung geleitet wird, daß sich die
Tiere durch einen freien Willen vor den Pflanzen auszeichnen, was.
wir bereits im siebenten Kapitel widerlegt haben.
In Wahrheit ist es hier wie dort, sowohl wenn die kumulative
Anpassung durch die scheinbar ..unmittelbare" Wirkung der äußeren
Bedingungen (des Lichts, der Wärme etc.), als wenn sie durch die
scheinbar „freie" Wirkung der inneren Bedingungen (der Gewohn-
heit, Übung etc.) hervorgerufen wird, die Gegenwirkung (Reaktion)
des Organismus gegen die Einwirkung der Außenwelt, welche
umbildend, abändernd auf den Organismus einwirkt. Der Organismus
verhält sich weder dort rein passiv, noch hier rein aktiv. Vielmehr
verhält er sich in beiden Fällen reaktiv, und diese Reaktion ist
*) (1906). Die physiologische Beziehung der Ernährungsveränderungen
der Gewebe zur kn in ulativen (= funktionellen) Anpassung 'hat Wilhelm
Roux später (1881) als „trophischen Reiz" bezeichnet.
XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 2 < <
in letzter Instanz stets eine von der Ernährung- abhängige Funktion.
Das wesentlich wirksame Moment, welches wir aber noch dabei
besonders hervorheben müssen, ist die Häufung oder Kumulation
der Einwirkungen und Gegenwirkungen, da sie allein bleibende
Abänderungen hervorzurufen imstande ist. Eine abändernde Ursache,
welche nur einmal oder wenige Male, oder nur kurze Zeit hindurch
auf den Organismus einwirkt, z. B. ein neues, wesentlich von den
gewohnten verschiedenes Nahrungsmittel, ein Gift, eine Verwundung etc.
vermag entweder gar keine bleibende Veränderung des Organismus
hervorzurufen, oder nur dadurch, daß sie neue Molekularbewegungen
in demselben veranlaßt, welche (als Reaktion) lange Zeit in demselben
anhalten (z. B. bei einer traumatischen Affektion). Auch in diesen
scheinbar nicht kumulativen Anpassungen ist es also dennoch im
Grunde eine Kumulation von zahlreichen, oft wiederholten oder lange
andauernden Molekularbewegungen, welche die bleibende Abänderung
veranlaßt. Für unsere Betrachtung sind aber diese Fälle einmaliger
Einwirkung um so weniger wichtig, als die durch sie hervorgerufene
Abänderung, auch wenn sie im Individuum bleibt, sich doch im
ganzen nur selten vererbt.
Um so wichtiger dagegen ist die Wirkung der Häufung oder
Kumulation der Reaktion, d. h. die Erscheinung, daß sehr geringe
und unscheinbare Einwirkungen der Außenwelt durch sehr oft wieder-
hohe oder andauernde Einwirkung endlich die bedeutendsten und
scheinbar in keinem A'"erhältnis stehenden Abänderungen, zunächst in
der Ernährung des Organismus oder einzelner Organe, weiterhin in
der Funktion derselben, und endlich auch, dieser entsprechend, in der
Form der verändert ernährten Organe hervorrufen. Dies ist der Grund-
zug der kumulativen Anpassung, welche wir Übung, Gewöhnung etc.
nennen, und hierin gleicht das Gesetz der gehäuften Anpassung dem
oben erläuterten Gesetze der befestigten Vererbung.
Wie mächtig dieses Gesetz der Angewöhnung wirkt, ist so all-
bekannt, daß wir keine weiteren Beispiele anzuführen und bloß an
das bekannte Sprichwort zu erinnern brauchen: Consuetudo altera
natura. Wir wollen nur nocli ausdrückhch hervorheben, daß der
Nichtgebrauch der Organe, welcher rückbildend auf dieselben wirkt,
nicht minder wichtig ist, als der Gebrauch der Organe, welcher aus-
bildend auf sie wirkt. Durch die Gewohnheit des Nichtgebrauchs
entstehen z. B. die meisten rudimentären Organe, welche für die
Dysteleologie so bedeutsam sind.
278 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie XIX.
6. Gesetz der wechselbezüglichen Anpassung.
{Lex adaptatiunis correlativae.)
(Gesetz von den AVechselbezichung-en der Bildung, von der Kompensation der Entwiclselung, von der
Korrelation der Teile etc.)
Alle Abäuderungen, welche in einzelnen Teilen des
Organismus durch kumulative oder sonstige Anpassung
entstehen, wirken dadurch auf den ganzen Organismus und
oft besonders noch auf einzelne bestimmte Teile desselben
zurück, und bewirken hier Abänderungen, welche nicht
unmittelbar durch jene Anpassung bedingt sind.
Dieses Anpassungsgesetz ist eines der wichtigsten und ist in
seinen Wirkungen schon längst anerkannt. Die vergleichende Anatomie
mußte auf dieses allgemein gültige Gesetz schon sehr frühzeitig auf-
merksam werden, und so finden wir es denn von fast allen bedeuten-
den ..vergleichenden Anatomen" hervorgehoben, oft unter sehr ver-
schiedenen Namen, als das Gesetz von der Wechselbeziehung der
Entwickelung, von der Korrelation der Organe, von der Kompensation
der verschiedenen Körperteile etc. Besonders die Naturphilosophen,
und vor allen Goethe, haben auf die ausnehmende Wichtigkeit
dieses Gesetzes beständig hingewiesen. Indessen haben die meisten
Morphologen doch nur die fertige Wirkung dieses Gesetzes vor Augen
gehabt, ohne sich dessen bewirkender Ursachen bewußt zu werden.
Diese können nur in dem Zusammenhange der Ernährungser-
scheinungen des Organismus gefunden werden, und zwar in einer
nutritiven Wechselwirkung zwischen allen Teilen des
Organismus. Eine durch äußere Einflüsse, und namentlich durch
die kumulative Anpassung bewirkte Veränderung in der Ernährung
eines Organs wirkt stets verändernd zurück auf den gesamten Orga-
nismus, welcher ja eine geschlossene physiologische Ernährungsein-
heit darstellt. Gewöhnlich aber sind es einzelne Teile, welche vor-
zugsweise durch jene rückwirkende Veränderung betroffen werden
und demgemäß zunächst in ihrer Ernährung, weiterhin in ihrer be-
stimmten Funktion und Form, entsprechende Abänderungen erleiden.
Vorzugsweise sind homologe und analoge Teile, wie z. B. die ver-
schiedenen Teile des Hautsystems oder die verschiedenen Teile des
Zentralnervensystems, von dieser wechselbezüglichen Anpassung ab-
hängig, wie z. B. bei den Cavicornien (Rindern, Schafen, Ziegen etc.)
jede eintretende Veränderung in der Haarbildung gewöhnlich zugleich
eine entsprechende Veränderung in der Ausbildung der Hörner. der
XIX. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 279
Hufe etc. veranlaßt. Ferner bewirkt eine Veränderung eines Sinnes-
organs in der Regel eine kompensatorische in den übrigen Sinnes-
organen. Aber auch Teile, die scheinbar in sehr geringem morpho-
logischen und physiologischen Zusammenhange stehen, z.B. Hautsystem
und Muskelsystem, stehen in kompensatorischer Wechselbeziehung,
wie denn bekanntlich bei den Cavicornien bestimmte Veränderungen
in der Haarbildung (z. B. der Schafwolle) auf die Qualität des
Fleisches zurückwirken. Oft sind diese Wechselbeziehungen der
merkwürdigsten Art: so z.B. sind Katzen mit blauen Augen allezeit
taub; Vögel mit langen Beinen haben meist auch lange Hälse und
Schnäbel ; blonde Menschen mit hellen Haaren und heller Hautfarbe
sind für gewisse innere Krankheiten, z. B. khmatische Fieber, Leber-
entzündungen etc. weit empfänglicher, als brünette mit dunklen Haaren
und dunkler Hautfarbe. Besonders merkwürdig ist die innige Wechsel-
beziehung zwischen den Geschlechtsorganen und dem Zentralnerven-
system, welche sich bekanntlich in einer Fülle der auffallendsten
Wechselbeziehungen äußert. Wie sehr gerade das Genitalsystem auf
die übrigen Organsysteme zurückwirkt, zeigt vielleicht kein Beispiel
auffallender, als dasjenige der Kastraten, bei welchen die künstliche
Verhinderung der sexuellen Entwickelung eine entsprechende Hemmungs-
bildung des Kehlkopfes und eine kompensatorische Entwickelung des
Panniculus adiposus der Haut hervorruft. Ebenso befördert man bei
den Pflanzen die Blattentwickelung durch Unterdriickung der Blüten-
entwickelung. Dieser allgemeine Gegensatz zwischen den generativen
und nutritiven Teilen geholt zu den wichtigsten Erscheinungen, welche
unter das Gesetz von der Korrelation der Teile fallen. Ledighch
eine Folge dieser Gegenwirkung, eine Folge der äußerst empfindlichen
Reaktion des Genitalsystems gegen die Ernährungsveränderungen
des übrigen Körpers ist das äußerst wichtige Gesetz der potentiellen
Anpassung oder indirekten Abänderung, welches wir in den vorher-
gehenden Abschnitten erläutert haben.
7. Gesetz der abweichenden Anpassung.
(Lex adaptatinnis divergentis.)
(Gesetz von der iins'leiehartig'en AbUiidenmaf gleichartiger Teile.)
Gleiche Teile (gleiche Individuen einer und derselben
ludividualitätsordnung), welche in Mehrzahl in dem
Organismus verbunden sind, erleiden ungleiche Abände-
rungen, indem dieselben in verschiedenem Grade der
kumulativen Anpassung unterliegen.
280 I^'P Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Auch dieses Anpassun.osgesetz ist von der größten Wichtigkeit.
Denn dieses ist es vorzüglich, welches in Wechselwirkung mit den
Vererbungsgesetzen die großen Erscheinungen der organischen Diffe-
renzii'ung. der divergenten Entwickelung gleichartiger Teile bewirkt,
und dadurch in erster Linie bei der Erzeugung der unendlichen
Mannigfaltigkeit organischer Formen mitwirkt. Hier haben wir die
divergente Adaptation natürlich nicht in der großartigen Wirksamkeit
zu betrachten, welche sie. in Verbindung mit der Erblichkeit, im
Laute von Generationen entfaltet, sondern nur insofern sie innerhalb
des Laufes der individuellen Existenz wirksam ist. Da aber auf
dieser beschränkten ontogenetischen Wirksamkeit des Divergenzge-
setzes seine umfassendere Wirksamkeit als phylogenetisches Diffe-
renzierungsgesetz beruht, so müssen wir dasselbe hier gebührend
hervorheben, um so mehr, als es in dieser Beziehung meist nicht
«gehörig gewürdigt wird.
Das Gesetz der divergierenden oder abweichenden Anpassung be-
hauptet, daß allgemein in den Organismen, welche eine Wiederholung
von gleichartigen Teilen enthalten, diese das Bestreben haben, sich
nach ganz verschiedenen Richtungen hin zu entwickeln, indem sie in
verschiedenem Grade der kumulativen oder korrelativen Anpassung
unterhegen. Dieses Gesetz gilt von den Individuen aller Ordnungen,
von der Plastide bis zur Person hinauf, und ist die Basis des be-
rühmten Gesetzes der Arbeitsteilung. Wir sehen also, daß in einem
Organe oder Organismus, welcher anfangs aus vielen gleichen Piastiden
bestellt, im Laufe seiner individuellen Existenz eine Differenzierung
derselben eintritt, indem die einen Cytoden oder Zellen in dieser, die
andern in jener Weise abändern. So differenzieren sich in allen
Organen die anfangs gleichen Zellen später durch divergierende An-
passung in verschiedene Gewebe, indem z. B. an einer aus lauter
gleichen Zellen zusammengesetzten embryonalen Extremität die einen
zu Muskeln, die andern zu Nerven, die dritten zu Gefässen etc. sich
gestalten. Ebenso entstehen durch Differenzierung von mehreren
urspiiinglich gleichartigen Organen (z. B. den fünf Zehen des Wirbel-
tierfußes) später durch divergente Ausbildung ungleichartige Organe.
Ferner differenzieren sich in derselben Weise die ursprünglich gleichen
Metameren des Gliedertierkörpers: während sie bei den niedersten
Anneliden alle gleich bleiben, sehen wir bei den höheren Ringelwürmern
und den Arthropoden eine divergente Entwickelung eintreten und zwar
ebenso im Laufe der Ontogenese, wie der Phylogenese. Ebenso
XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 281
differenzieren sich die gleichartigen Personen, welche zn Stöcken zn-
sannnengefttgt sind, durch divergente Anpassung (Arbeitsteilung) zu
verschiedenen Formen (Siphonophoren).
Dieses allgemeine Differenzierungsgesetz oder Divergenz-
gesetz ist in den vollendeten Folgen seiner nngehenern und äußerst
mannigfaltigen Wirkung von allen Naturforschern anerkannt. Viele
haben auch seine kausale Bedeutung und aktive Wirksamkeit während
des Laufes der erabryologischen. wenige während des parallelen Laufes
der paläontologischen Entwickelung erkannt. Die wenigsten aber
sind von der äußerst wichtigen Tatsache durchdrungen, daß alle
Differenzierungen oder Divergenzerscheinungen. welche wir während
jener laufenden Entwickelungsreihe beobachten, nur die gehäuften
Folgen und Wiederholungen von zahllosen verschiedenen divergenten
Anpassungen sind, welche die einzelnen Organismen während des
Laufes ihrer individuellen Existenz allmählich erfahren haben. Die
Ursachen der divergenten Anpassung liegen ganz einfach in dem
Nutzen, den die Arbeitsteilung oder Differenzierung, die ungleich-
artige Ausbildung von ursprünglich gleichartigen Teilen, einem jeden
Organismus gewährt.
b"
8. Gesetz der unbeschränkten Anpassung.
(Lex adapiaiionis inpnitae.)
Alle Organismen können zeitlebens, zu jeder Zeit ihrer
Entwickelung und an jedem Teile ihres Körpers, neue An-
passungen erleiden: und diese Abänderungsfähigkeit ist
unbeschränkt, entsprechend der unbeschränkten Mannig-
faltigkeit und beständigen Veränderung der auf den Or-
ganismus einwirkenden Existenzbedingungen.
Auch dieses Gesetz ist für die Umbildung der organischen Formen
von größter Wichtigkeit. Während die Aufstellung desselben von
allen Physiologen und von denjenigen Morphologen. welche einen
weiteren Überblick über die gesamten Erscheinungen der organi-
schen Natur besitzen, vielleicht für überflüssig, weil selbstverständ-
lich, erachtet werden wird, muß dasselbe dagegen von denjenigen
Morphologen. welche auf Grund ihrer beschränkten Naturanschauung
die Spezieskonstanz verteidigen, mit aller Macht bekämpft werden.
Denn aus diesem großen Grundgesetz allein schon, auch ohne Rück-
sicht auf die übrigen, muß die Unhahbarkeit des Dogma von der
Spezieskonstanz folgen. Alle Speziesdogmatiker. auch die ver-
282 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
minftigeren, welche einen großen Spielraum der Variabilität für jede
Spezies zulassen, behaupten, daß dieser Spielraum innerhalb ganz
bestimmter Grenzen beschränkt sei, und daß eine ..Art", möge sie
noch so sehr durch Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen
abändern, sich immer innerhalb eines bestimmten, von dem Schöpfer
uranfänglich in dem systematischen Kataloge seiner Baupläne fest-
gestellten Formenkreises bewege. Indem der Schöpfer jede ,. Spezies"
als geschlossene Einheit nach einem vorher von ihm ausgedachten
Modelle, einem architektonischen Entwürfe schuf, gab er ihr zugleich
die Fähigkeit mit, sich an bestimmte Lebensbedingungen bis zu einem
gewissen Grade anzupassen, bestimmte er ihr einen geschlossenen
A'^ariabilitätskreis, erlaubte ihr aber nicht, diese Grenze zu über-
schreiten.
In der Tat finden wir aber in der gesamten organischen Natur
nicht eine einzige Erscheinung, welche der Annahme widerspricht,
daß alle Organismen zu jeder Zeit ihres Lebens und an jedem Teile
ihres Körpers eine neue Abänderung erleiden können, sobald sie
neuen Existenzbedingungen unterworfen werden. Daß immer neue
Existenzbedingungen entstehen, daß die vorhandenen einer beständi-
gen Veränderung unterworfen sind, daß die ganze Welt nicht still
steht, sondern sich in einer beständigen Veränderung, und zwar in
einer fortschreitenden Entwickelungsbewegung befindet, wird niemand
leugnen, der einen allgemeinen Überblick der uns umgebenden Er-
scheinungswelt besitzt. Aus dieser beständigen, unaufhörlichen, wenn
auch langsam und allmählich stattfindenden Umänderung der Außen-
welt, welche dem Organismus seine Existenzbedingungen vorschreibt,
folgt nun schon unmittelbar eine entsprechende Umänderung der
Organismen selbst; denn wo die Ursachen sich ändern, da kann
auch die Wirkung nicht dieselbe bleiben. Entsprechend der überall
und jederzeit stattfindenden Veränderung der Außenwelt, mit welcher
die Organismen in Wechselwirkung leben, muß auch überall und
jederzeit eine Anpassung der letzteren an die erstere, also eine un-
beschränkte Umgestaltung stattfinden. Diese kann zu jeder Zeit des
Lebens und an jedem Teil des Organismus eintreten, da die umge-
staltenden Kräfte, d. h. die Veränderungen der Existenzbedingungen
zu jeder Zeit stattfinden und auf jeden Teil des Körpers mittelbar
oder unmittelbar einwirken können.
Selbstverständlich ist eine bestimmte Schranke der Anpassungs-
fähigkeit allgemein durch die ihr entgegenwirkende Erblichkeit ge-
XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 283
setzt, durch den ,.Typus" des Stammes: allein innerhalb dieses
Typus, innerhalb der unveräußerlichen Charaktere des Phylon, ist
eine Schranke nicht vorhanden, und die parasitischen Crustaceen
z. B. scheinen auch jene Grenze der Typuscharaktere zu über-
schreiten.
Mit der gleichen Notwendigkeit, mit welcher sich dieses Gesetz
als eine unmittelbare Folgerung aus der großen Erscheinung der be-
ständigen Umänderung der Gesamtnatur (und speziell der anorgani-
schen Natur) ableiten läßt, mit derselben Notwendigkeit drängt sich
uns unmittelbar seine allgemeine Geltung auf. wenn wir die ge-
samten Erscheinungsreihen der organischen Natur von dem höheren
allgemeinen Gesichtspunkte aus vergleichend betrachten. Die ge-
samte Phylogenie, die gesamte Physiologie der Organismen liefert
eine übereinstimmende Kette von Beweisen für dasselbe. Die Phylo-
genie zeigt uns, wie ein und derselbe Stamm von organischen Formen,
z. B. der der Wirbeltiere, aus einfacher Basis entspringend, sich nach
allen Seiten reich verzweigt, wie die Mannigfaltigkeit seiner diver-
genten Äste mehr und mehr im Laufe der Erdgeschichte zunimmt
und wie dieselben noch in der Gegenwart eine unbegrenzte Fällig-
keit zur Abänderung zeigen. Freilich ist diese Fähigkeit sehr ver-
schieden. Die einen Spezies sind äußerst variabel, die anderen sehr
konstant, eine dritte Gruppe nur in mäßigem Grade abänderungs-
fähig. Diese Tatsache entspricht aber vollkommen der ungleichen
physiologischen Konstitution und Lebensweise der verschiedenen
Arten. Solche Arten, die nur unter ganz beschränkten Bedingun-
gen existieren können, die sich bereits einer großen Summe spe-
zieller Existenzverhältnisse angepaßt haben (wie z. B. viele Parasiten),
die also auch nur einen beschränkten Verbreitungsbezirk haben werden,
können sich nur in geringem Grade und nur nach bestimmten eng
begrenzten Richtungen hin verändern und neu anpassen. Solche
Arten dagegen, die unter sehr verschiedenen Bedingungen existieren
können, die sich nur einer kleinen Summe spezieller Existenzver-
hältnisse angepasst haben (wie z. B. die Mäuse), die also auch einen
weiteren Yerbreitungsbezirk haben werden, können sich noch in hohem
Grade und nach vielen verschiedenen Richtungen hin verändern und
neu anpassen. Wir können die letzteren Arten mit Snell als ideale,
die ersteren dagegen als praktische Typen bezeichnen.
Dieser Unterschied zwischen den praktischen oder ein-
seitigen und den idealen oder vielseitigen Organisations-
;2S4 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
typen gilt nicht allein von den einzelnen Arten, sondern auch von
den Gattungen. Klassen und überhaupt von allen Zweigen des syste-
matischen Staiiinibaumes. Wir können alle Kategorien desselben
allgemein in die beiden (natürlich nie scharf zu trennenden, sich
aller doch im (lanzen gegenüberstehenden) Gruppen der idealen oder
in weitem Umfang anpassungsfähigen Gestalten und der praktischen
oder in engem Umfang adaptalen Gestalten scheiden. Ideale oder
polytrope Typen sind z. B. unter den Artikulaten die Anneliden, untei-
den Phanerogamen die Cupuliferen. Praktische oder monotrope
Typen dagegen sind unter den Artikulaten die Insekten, unter den
Phaneroganen die Palmen und Orchideen. Ferner sind ideale oder
vielseitige Gruppen unter den Wirbeltieren z. B. die Selachier, die
Eidechsen, die Halbaffen; praktische oder einseitige Gruppen da-
gegen sind die Teleostier, die Schildkröten, die Fledermäuse. Die
idealen oder vielseitigen Gruppen passen sich weniger speziell be-
stimmten Bedingungen an und bleiben dadurch in höherem Grade
entwickelungsfähig. Die praktischen oder einseitigen Gruppen passen
sich dagegen ganz speziell bestimmten Bedingungen an, leisten auf
diesem beschränkten Gebiete Größeres, büßen dadurch aber die
weitere Entwickelungsfähigkeit ein. Dieser höchst wichtige Unter-
schied ist auch unter den Individuen der menschlichen Gesellschaft
überall und also auch in der Wissenschaft zu verfolgen. Die idealen
und vielseitigen, philosophisch gebildeten Köpfe, welche die Erschei-
nungen synthetisch vergleichen und denkend ordnen, sind es. welche
die Menschheit im ganzen weiterbringen, weil sie sie anpassungs-
fähig erhalten. Die praktischen und einseitigen Gelehrten dagegen,
welche die Erscheinungen nur analytisch zergliedern, und welche sich
nicht höheren Ideen anpassungsfähig erhalten, können jenen bloß
das Material liefern, das sie zum Besten des Ganzen verwerten.
Wie der Mensch, als das am genauesten und am längsten untei'-
suchte Tier, für alle allgemeinen biologischen Erscheinungen (und
namentlich für die von uns hier untersuchten Gesetze der Vererbung
und der Abänderung) die besten und schlagendsten Beweise liefert,
so gibt er uns auch den sichersten Bew^eis für das große Gesetz der
unbeschränkten Anpassung. In diesem Gesetze liegt die ganze un-
begrenzte Entwickelungsfähigkeit des Menschengeschlechts einge-
schlossen, und für uns speziell die tröstliche Aussicht, daß der
vielgerühmte Kulturzustand des neunzehnten Jahrhunderts sicher
nach Verlauf weniger Jahihunderte. und vielleicht schon vor Be-
XIX. ^'^- Vererbung und Anpassung. 285
ginn des zweiten Jahrtausends n. Chr. als der Zeitpunkt des Er-
wachens aus den scholastischen, halb barbarischen Vorurteilen des
Mittelalters und seiner Fortsetzung bis zur Gegenwart bezeichnet
werden wird. Es hieße an dem Werte der Menschheit und dem
ungeheuren Fortschritt, den sie bereits seit ihrer Divergenz von den
übrigen Affen gemacht hat. verzweifeln, wenn man nicht die gleiche
Fähigkeit der dauernden xVnpassung und Vervollkommnung auch
für alle kommenden Zeiten behaupten wollte. Wie aber im Gehirne
des Menschen sich die unbegrenzte Anpassungsfähigkeit des Organis-
mus auf das schlagendste bekundet, so gilt dieselbe auch als all-
gemeines Gesetz für alle übrigen Organismen.
Tl. Tererbiing und Anpassung.
(Heredität und Variabilität.)
Vererbung und Anpassung sind die beiden einzigen
physiologischen Funktionen, welche in ihrer beständigen
Wechselwirkung die unendlich mannigfaltigen Unter-
schiede aller Organismen bedingen, und zwar nicht bloß die
morphologischen, sondern auch die davon nicht trennbaren physiolo-
gischen Unterschiede. Alle Eigenschaften, welche wir an den einzelnen
Organismen wahrnehmen, und durch welche wir sie von den andern
unterscheiden, und zwar ebenso alle Eigenschaften der Form, wie des
Stoffes und der Funktion, sind lediglich die notwendigen Produkte
der Wechselwirkung jener beiden formenden Kräfte. Im allgemeinen
ist jeder ausgebildete Charakter, jedes entwickelte Merkmal, jede
wesenthche Eigenschaft des Organismus ein Produkt beider Faktoren,
der auf der Fortpflanzung beruhenden Vererbung und der auf der
Ernährung beruhenden Anpassung. Im besonderen jedoch können
wir von jedem einzelnen Merkmal sagen, daß es in seinem gegen-
wärtigen Zustande entweder vorwiegend durch Vererbung oder vor-
wiegend durch Anpassung erworben sei: und ursprünglich sind alle
Charaktere entweder vererbte oder erworbene. Wir können also,
und es ist dies von der größten Wichtigkeit für die Systematik, alle
Eigenschaften, alle Charaktere der Organismen in zwei gegenüber-
stehende Gruppen bringen: Ererbte Eigenschaften (Characteres
hereditarii) und durch Abänderung der vererbten erworbene, an-
gepaßte Eigenschaften {Characteres adapüvi).
286 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Wählend diese Vereinigung von ererbten und durch Anpassung
erworbenen Charakteren sich bei allen Organismen findet, welche
durch Fortpflanzung von elterlichen Organismen entstehen, existiert
ein etAvas anderes Verhältnis bei denjenigen Organismen, welche
elternlos durch Selbstzeugung oder Autogonie entstanden, bei den
strukturlosen Moneren. Bei diesen fällt natürlich das Moment der
Ererbung weg und an dessen Stelle tritt die unmittelbare physikalische
und chemische Beschaffenheit der Materie, aus welcher das autogene
Moner besteht. Diese ist es, welche hier der Anpassung entgegen-
wirkt, und welche zum erblichen Charakter wird, w^enn das Moner
sich fortpflanzt. Im Grunde ist aber dieser Unterschied nur sehr
unwesentlich, da ja auch das Wesen der erblichen Eigenschaften in
der unmittelbaren physikalischen und chemischen Beschaffenheit der
Materie liegt, aus w^elcher der Organismus besteht. Wir kommen
hier im w^esentlichen zurück auf den Unterschied der beiden in
Wechselwirkung stehenden gestaltenden Kräfte, w^elche wir im fünften
Kapitel untersucht haben, auf den inneren und äußeren Bildungstrieb.
Wir sprachen dort aus, daß jeder Organismus ein Produkt der Wechsel-
wirkung dieser beiden Faktoren ist, des inneren Bildungstriebes,
d. h. der physikalischen und chemischen Kräfte, welche der den
Organismus konstituierenden Materie inhärieren, und des äußeren
Bildungstriebes, d. h. der physikalischen und chemischen Kräfte,
welche der den Organismus umgebenden Materie der Außenw^elt inne-
wohnen und auf erstere einwirken. Offenbar ist jener nun bei allen
Organismen, die durch Fortpflanzung entstanden sind, der in der
Vererbung wirkende, dieser dagegen in allen Fällen der in der
Anpassung und Abänderung wirkende Gestaltungstrieb. Wir können
also das wichtige Gesetz, w^elches die gesamte Mannigfaltigkeit der
Organismen weit auf die Wechselwirkung von nur zwei gestaltenden
Kräften zurückführt, in folgende Worte zusammenfassen:
Alle Eigenschaften oder Charaktere der Organismen
sind das Produkt der Wechselwirkung von zwei gestalten-
den physiologischen Funktionen, dem inneren, auf der
materiellen Zusammensetzung des Organismus beruhenden
und durch die Fortpflanzung vermittelten Bildungstriebe
der Vererbung, und dem äußeren, auf der Gegenwirkung
des Organismus gegen die x\ußenwelt beruhenden und
durch die Ernährung vermittelten Bildungstriebe der An-
passung. In jeder Eigenschaft des Organismus kann aber der eine
XIX. VI. Vererbung und Anpassung. 287
der beiden Bildungstriebe als die vorzugsweise bewirkende Ursache
erkannt werden, und in dieser Beziehung sind alle Charaktere
des Organismus in erster Instanz entweder ererbt oder durch
Anpassung erworben.
Aus Gründen, welche wir im sechsten Buche erörtern werden,
bezeichnen wir die ererbten oder V er er bungs Charaktere als
homologe, die angepaßten oder Anpassungs Charaktere als
analoge. Eine Hauptaufgabe der gesamten Morphologie der Organismen
beruht in der Erkenntnis dieses Unterschiedes, und wenn die Syste-
matik und die vergleichende Anatomie immer in erster Linie bestrebt
gewesen wäre, diesen Unterschied zu entdecken, so würde sie ihrer
Aufgabe, der Erkenntnis der natürlichen Verwandtschaften der
Organismen, schon unendlich näher sein. Denn es liegt auf der Hand,
daß nur die homologen oder ererbten Charaktere uns auf die Er-
kenntnis der natürlichen Blutsverwandtschaft hinleiten können, während
die analogen oder angepaßten Charaktere nur geeignet sind, dieselbe
uns zu verhüllen. Die ganze Kunst der vergleichenden Morphologie
beruht also darauf, zu erkennen, ob die Ähnlichkeit, welche zwei
„verwandte"' Organismen verbindet, eine Homologie oder eine Analogie
ist. Je mehr zwei verwandte Organismen gemeinsame Homologien
besitzen, desto enger sind sie verwandt; je mehr ihre Ähnlichkeit
bloß auf Analogie oder Konvergenz beruht, d. h. auf der Anpassung
an gleiche oder ähnliche Lebensbedingungen, desto weniger sind sie
verwandt. So stehen die Walfische durch Analogie den Fischen, durch
Homologie den Menschen näher. Ebenso stehen die Insekten durch
Analogie den Vögeln, durch Homologie den Würmern näher.
Die beiden allmächtigen bewegenden Kräfte der Vererbung und
der Anpassung, welche wir oben auf die physiologischen Funktionen
der Fortpflanzung und Ernährung zurückgeführt haben, sind in ihrer
allgemeinen Wechselwirkung die beiden einzigen Faktoren, welche
die gesamte organische Welt gebildet haben und noch immerfort
bilden. Sie haben an die Stelle der inneren Idee, des Schöpfers.
des zweckmäßigen Bauplanes zu treten, und wie alle die irrtümlichen
Vorstellungen weiter heißen mögen, welchen die Teleologie und der
Dualismus überhaupt die ,. Schöpfung" der Organismen zuschreibt.
So einfach nun dieses große Gesetz ist, so fest wir überzeugt
sind, daß diese beiden Faktoren allein die organische Welt geschaffen
haben, so außerordentlich schwierig ist es, im einzelnen den Prozeß
ihrer Wechselwirkung zu verfolgen und von jeder einzelnen Funktion,
288 ^^i*^ Deszpiulonztlieoiie und elie Selektioiistlieorie. XIX
von joder einzelnen Fornieigenschat't des Organismus zu sagen, wie-
viel davon Wirkung der Vererbung, wieviel Wirkung der Anpassung
sei. Denn alle die verschiedenen Modifikationen der Heredität und
Adaptation, welche wir in den oben begründeten Gesetzen aufgeführt
haben, treten im Organismus in eine so äußerst komplizierte Wechsel-
wirkung, daß es, wenigstens bei unseren jetzigen, noch höchst unvoll-
ständigen Kenntnissen, äußerst schwierig ist, den Prozeß der organischen
Umbildung selbst zu verfolgen.
Hier nun gelangen wir zur Betrachtung der ungemein wichtigen
Gesetze, welche sich bis jetzt aus der Wechselwirkung der Vererbung-
und Anpassung haben ableiten lassen und deren Aufstellung das be-
sondere und höchst bewunderungswürdige Verdienst von Charles Dar-
win ist. Zunächst haben wir die wichtigen Vorgänge der natürlichen
und künstlichen Züchtung oder Auslese (Selektion) zu betrachten,
welche den wertvollen Kern seiner Selektionstheorie bilden, und
demnächst die weitgreifenden Gesetze der Divergenz oder Differen-
zierung, und des Fortschritts oder der Vervollkommnung, welche
sich als Konsequenzen aus dem Selektionsgesetz ergeben.
TU. Zik'litiiiii;- oder Selektion.
(Zuchtwahl, Auslese.)
Das erste und oberste Gesetz, welches die Entstehung neuer
organischer Formen durch die Wechselwirkung von Vererbung und
Anpassung regelt, ist das Gesetz der Züchtung oder Selektion. Das
Wesen des Züchtungsvorganges liegt darin, daß von zahlreichen
nebeneinander lebenden ähnlichen, aber ungleichen Individuen von
einerlei Art nur eine bestimmte Anzahl zur Fortpflanzung gelangt,
und also seine individuellen Eigenschaften auf die Nachkommenschaft
vererbt und dadurch erhält, während die anderen, nicht zur Fort-
pflanzung gelangenden Individuen derselben Art aussterben, ohne ihre
individuellen Eigenschaften vererben und so in den Nachkommen
erhalten zu können. Es findet also bei der P'ortpflanzung aller
Organismen von einerlei Art eine Auswahl oder Auslese, Selektion,
statt, welche die einen Individuen bevorzugt, indem sie ihnen gestattet,
ihre individuellen Charaktere auf die Nachkommenschaft zu vererben,
während sie die anderen Individuen benachteiligt, indem sie ihnen
XIX. VII. Züchtung oder Selektion. 289
dies nicht gestattet. Durch diese Auslese oder Zuchtwalil wird eine
aUmähHche Abänderung der ganzen Organisnienart bedingt, indem
die individuellen Charaktere des sich fortpflanzenden Bruchteils der
Art Gelegenheit erhalten, sich durch Vererbung zu befestigen und
so immer stärker hervorzutreten,
Der Vorgang der Züchtung oder Auslese ist von dem ^Menschen
künstlich betrieben worden seit jener weit zurückliegenden Zeit, in
welcher er, selbst erst dem niedersten Zustande tierischer Rohheit
entw^achsen, zum ersten Male anfing, Tiere und Pflanzen zu seinem
Nutzen bei sich zu halten und fortzupflanzen. Dieser Prozeß w^ar
von Anfang an mit einer, zunächst allerdings unbewußten Auslese
oder Zuchtwahl (Selektion) verbunden, indem der Mensch nur einen
Bruchteil der zu seinem Nutzen gezogenen Tiere und Pflanzen zur
Fortpflanzung- der Art benutzte, die übrigen dagegen in verschiedener
Weise zu seinem Nutzen verwandte. Nun wird der Mensch, sobald
er den großen Nutzen einsah, der ihm durch die Kultur der Tiere
und Pflanzen erwächst, schon frühzeitig auf den Gedanken gekommen
sein, nicht allein dieselben durch Fortpflanzung bloß zu erhalten,
sondern auch, bei der offenbaren Ungleichheit der Individuen, die für
seinen Vorteil tauglicheren Individuen allein zu erhalten, die übrigen,
w^eniger tauglichen dagegen zu vernachlässigen. Er wird also bloß
die ersteren, nicht die letzteren zur Fortpflanzung (Nachzucht) benutzt
haben, und hiermit war bereits die Kunst der individuellen Auswahl,
der Auslese zur Nachzucht erfunden, welche das Wesen der künst-
lichen Züchtung bildet. Indem nämlich der Mensch bei dieser Aus-
wahl der tauglichsten Individuen zur Nachzucht Generationen hindurch
diejenigen Individuen aussuchte, die einen bestimmten (für ihn vor-
teilhaften) Charakter oder eine neu erworbene Abänderung besonders
deuthch zeigten, die anderen dagegen, die denselben w^eniger aus-
gesprochen oder gar nicht zeigten, ausschied, wurde nicht allein dieser
erwünschte Charakter oder die neue Abänderung erhalten, sondern
er wurde auch nach den Vererbungsgesetzen durch Häufung ge-
steigert und befestigt. Ledighch durch diese, Generationen hin-
durch fortgesetzte Auswahl bestimmter Individuen zur Fortpflanzung
(Nachzucht), lediglich durch diese andauernde künstliche Auslese oder
Zuchtwahl, war der Mensch imstande, die Wechselwirkung zwischen
Vererbung und Abänderung so zu benutzen, daß er schließlich die
zahllosen Kulturformen der Haustiere und Nutzpflanzen erzeugte, die
zum Teil von ihren natürlichen Vorfahren viel w^eiter verschieden
Haeckel, Prinz, d. Morphol. 1«^
290 DiP Deszendenztheorie und die Selektiunstlieoiie. XIX.
sind, als es verschiedene sogenannte ..gute Arten" und selbst ver-
schiedene Gattungen im Naturzustande sind.
Es ist nun Darwins unschätzbares und besonderes Verdienst,
nachgewiesen zu haben, daß einem ganz analogen Züchtungsvorgange
auch die unendliche ^Mannigfaltigkeit der Tiere und Pflanzen im
wilden Zustande ihre Entstehung verdankt, und daß überall und
jederzeit in der vom Menschen unabhängigen Natur eine ..natürliche
Zuchtwahl" Avirksam ist, welche der künstlichen vom Menschen be-
triebenen Auslese durchaus analog ist. Dasjenige auslesende Prinzip,
welches in der Natur die auswählende willkürliche Tätigkeit des
Menschen ersetzt, ist das von Darwin zuerst entdeckte, äußerst
wichtige und komplizierte Wechselverhältnis der Organismen zuein-
ander, welches er mit dem Namen des ..Kampfes um das Dasein"
(Struggle forlife) belegt. Die ..natürliche Züchtung'' (Natural selection).
welche dieses beständig tätige Prinzip ausübt, wirkt durchaus analog
der vom menschlichen Willen ausgeübten ..künstlichen Züchtung'' und
erzielt durchaus ähnliche Resultate. Allein während die neuen Formen,
welche die künstliche Züchtung hervorbringt, der menschlichen Aus-
lese entsprechend dem Nutzen des Menschen dienen, sind dagegen
die neuen Formen, welche die natürliche Züchtung hervorbringt, dem
Nutzen des abgeänderten Organismus selbst dienstbar. Auch wirkt
aus gleich zu erörternden Gründen die letztere zwar langsamer, aber
ungleich mächtiger, stetiger und allgemeiner, als die erstere. Um
den äußerst wichtigen Prozeß der natürlichen Züchtung, welcher das
Skelet der ganzen Selektionstheorie bildet, richtig zu verstehen,
wollen wir zuvor den besser bekannten, aber ganz analogen Vor-
aans- der künstlichen Züchtung noch etwas näher ins Auge fassen.
Doch können wir schon jetzt den wesentlichen Unterschied zwischen
beiden analogen Erscheinungen in folgenden Worten zusammen-
fassen :
Die künstliche Züchtung besteht darin, daß der plan-
mäßig wirkende Wille des Menschen die Fortpflanzung
derjenigen Individuen begünstigt, welche durch eine für
den Vorteil des Menschen nützliche individuelle Eigen-
tümlichkeit, sich auszeichnen. Die natürliche Züchtung
besteht darin, daß der planlos wirkende Kampf ums Dasein
die Fortpflanzung derjenigen Individuen begünstigt, welche
durch eine für ihren eigenen Vorteil nützliche individuelle
Eigentümlichkeit sich auszeichnen.
XIX. ^'iJ[- Züchtung oder Selektion. 291
VU, A. Die künstliche Züchtung (SelecUo artificiaUs).
(ZiR-htwahl oder Auslese cUirt-h den Willen des Menschen.)
Alle Gesetze der Vererbung und alle Gesetze der Anpassung,
welche wir oben erörtert haben, kommen bei der künstlichen Züch-
tung zur Anwendung, und die große und schwere Kunst des tüchtigen
Züchters besteht darin, diese Gesetze richtig zu erkennen und zu hand-
haben, ihre Wirksamkeit passend zu regeln und die äußerst genaue
Kenntnis der Züchtungsobjekte sich zu erwerben, welche hierfür un-
entbehrlich ist. Für einen guten Züchter ist daher eine scharfe und
sorgfältige Naturbeobachtung sowohl, als eine tiefe und auf langen in-
timen Verkehr gegründete Bekanntschaft mit der Physiologie der Er-
nährung und Fortpflanzung, und vor allem mit der unendlichen Bieg-
samkeit des Organismus unentbehrlich. Er muß die kleinsten und
unscheinbarsten individuellen Abweichungen einzelner Tiere und Pflan-
zen, welche seinem Vorteil entsprechen, erkennen, benutzen und durch
sorgfältige Vererbung häufen, befestigen und steigern. Der Schlüssel
für die Züchtungserscheinungen, sagt Darwin, liegt in des Menschen
.. akkumulativen Wahlvermögen, d. h. in seinem Vermögen,
durch jedesmalige Auswahl derjenigen Individuen zur Nachzucht,
welche die ihm erwünschten Eigenschaften im höchsten Grade be-
sitzen, diese Eigenschaften bei jeder Generation um einen wenn auch
noch so unscheinbaren Betrag zu steigern. Die Natur liefert all-
mählich mancherlei x\bänderungen: der Mensch befördert sie in ge-
wissen ihm nützlichen Richtungen. In diesem Sinne kann man von
ihm sagen, er schaffe sich nützliche Rassen.'" Es kommt also alles
darauf an, unter zahlreichen kultivierten Individuen von einer und
derselben Art diejenigen heraus zu erkennen und zur Nachzucht
auszulesen, welche irgend eine ganz unbedeutende Abänderung, z. B.
eine neue Färbung, zeigen, die dem Wunsche des Züchters ent-
spricht. Indem nun diese Individuen sorgfältig fortgepflanzt werden,
und indem unter ihren Nachkommen immer diejenigen zur weiteren
Fortpflanzung ausgewählt werden, welche jene Abänderung am meisten
ausgesprochen zeigen, wird dieser Charakter, welcher anfänghch höchst
unbedeutend und dem ungeübten Auge gar nicht erkennbar war,- durch
Vererbung befestigt, durch fortdauernde Anpassung gehäuft, und da-
durch endlich so stark entwickelt, daß er zuletzt eine neue Rasse
charakterisiert.
Das wichtigste allgemeine Resultat, zu welchem uns die be-
i;vunderuugswürdigen Erfolge der planmäßig betriebenen künstlichen
19*
292 I-^iß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Züchtung liinfiihren, läßt sicli in folgende Worte ztisanimenfassen:
Die Unterschiede in physiologischen tiiid morphologischen
Charakteren der Tiere und Pflanzen, welche der Mensch
durch künstliche Züchtung bei verschiedenen Nachkom-
men eines und desselben Organismus hervorzubringen ver-
mag, sind oft viel bedeutender, als die Unterschiede in
physiologischen und morphologischen Charakteren, welche
die Botaniker und Zoologen bei den Pflanzen und Tieren
im Naturzustande für ausreichend erachten, um darauf ver-
schiedene Spezies oder selbst verschiedene Genera zu be-
gründen.
VU, B. Die natürliche Züchtung (Selectio naturalis).
(Zuclitwalil oder Auslese ilurcli den Kampf ums Dasein.)
Die Zuchtwahl, die auslesende Tätigkeit, auf welcher die Züch-
tung beruht, und welche bei der künstlichen Züchtung durch den
,. Willen des Menschen" geübt wird, dieselbe wird bei der natür-
lichen Züchtung durch das gegenseitige Wechselverhältnis der Or-
ganismen geübt, welches Darwin als „Kampf ums Dasein" be-
zeichnet. Auf eine richtige Erfassung dieses Satzes und auf seine
beständige Geltendmachung kommt alles an, wenn man Darwins.
Entdeckung der „natürlichen Züchtung im Kampfe ums Dasein'^
richtig verstehen und in ihrer ungeheuren kausalen Bedeutung würdi-
gen will. Wir müssen daher deren wesentlichen Inhalt kurz er-
örtern, um so mehr, als auffallenderweise derselbe den gröbsten Miß-
verständnissen und den albernsten Entstellungen ausgesetzt worden ist.
Der Kampf um das Dasein oder das Ringen um die
Existenz oder die Mitbewerbung um das Leben (SfruggJe for
Vife, am passendsten vielleicht als „Wettkampf um die Lebens-
bedürfnisse" zu bezeichnen) ist eines der größten und mäch-
tigsten Naturgesetze, welches die gesamte Organismen-
weit, die Menschenwelt nicht ausgeschlossen, regiert, und
welches allenthalben und zu jeder Zeit bei der unaufhörlichen Le-
bensbewegung der Organismen tätig ist. Da dasselbe überall unter
unseren Augen wirksam ist, könnte es höchst auffallend erscheinen,
daß vor Darwin niemand dasselbe hervorgehoben und wissenschaft-
lich formuliert hat, wenn es nicht eine bekannte Tatsache wäre, daß
die Menschen auf die nächstliegenden Betrachtungen immer zuletzt
XIX. VII. Züchtung oder Selektion. 293
kommen und das Einfachste und Natürlichste am wenigsten be-
greifen wollen: eine Tatsache, für welche die Geschichte der organi-
schen Morphologie und vor allem ihrer wissenschaftlichen Grund-
lage, der Deszendenztheorie, auf jeder Seite schlagende Beweise
liefert.
Die wesentliche Grundidee des Gesetzes vom Kampfe ums Da-
sein bildet die Erwägung, daß alle Organismen ohne Ausnahme durch
Fortpflanzung eine unendlich viel größere Anzahl von Individuen
erzeugen, als unter den allgemein beschränkten Lebensverhältnissen
der Organismen, innerhalb der bestimmten Grenzen ihrer notwendigen
Existenzbedingungen, nebeneinander fortexistieren können. Die bei
weitem überwiegende Mehrzahl aller organischen Individuen muß
notwendig in früherer oder späterer Zeit (die meisten in der frühesten
Zeit) ihrer individuellen Existenz zugrunde gehen, ohne zur Fort-
pflanzung gelangt zu sein. Die allermeisten Individuen unterliegen
mannigfaltigen Hindernissen der Entwickelung, und gehen frühzeitig
unter in dem „Wettkampfe", den sie mit ihresgleichen um die Er-
langung der unentbehrlichen Existenzbedingungen zu kämpfen haben.
Nur verhältnismäßig wenige von den zahlreichen Nachkommen jedes
organischen Individuums sind vor den übrigen in diesem Ringen um
die Existenz bevorzugt, überleben dieselben und gelangen zur Reife
imd zur Fortpflanzung. Diese wenigen werden aber offenbar, da
alle Individuen ungleich sind, diejenigen sein, welche sich den für
alle nicht ausreichenden Existenzbedingungen am besten anpassen
konnten und vor den übrigen eine ihnen vorteilhafte individuelle
Eigentümlichkeit voraus hatten. Wenn sich nun dieser Vorgang,
diese „Auslese der Besten", d. h. die Auswahl der am meisten Be-
günstigten zur Nachzucht. Generationen hindurch wiederholt, so wird
sich die individuelle Eigentümlichkeit, der vorteilhafte Charakter, die
nützliche Abänderung, welche den am meisten begünstigten Indi-
Yiduen jenen Vorteil im Wettkampfe verlieh, nicht allein erhalten,
sondern auch befestigen und häufen. So entstehen aus einer indi-
viduellen Abänderung nach den Gesetzen der Vererbung und An-
passung im Verlaufe von Generationen neue Varietäten oder Rassen,
welche sich allmähhch zu neuen Spezies divergent entwickeln und
immer weiter divergierenden Nachkommen den Ursprung geben
können. So bringt der Kampf ums Dasein durch natürliche Züch-
tung zunächst neue Varietäten, weiterhin aber auch neue Arten,
Gattungen etc. hervor.
294 f^iP Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Bei der außerordentlichen Wiclitigkeit dieses Verhältnisses wollen
wir ant' einige Seiten desselben noch spezieller eingehen. Was erstens
die Zahlonverhältnisse der Vermehrung aller Organismen betrifft, so ist
es eine bekannte Tatsache, daß die Zahl der möglichen Individuen,
d. h. derjenigen, welche als Keime produziert werden, ohne sich zu
entwickeln, in gar keinem A^erhältnisse steht zu der Zahl der ver-
schwindend geringen Zahl der wirklichen Individuen, welche tat-
sächlich aus einzelnen Keimen zur Entwickelung gelangen. ..Es gibt,"'
sagt Darwin, „keine Ausnahme von der Regel, daß jedes organische
Wesen sich auf natürliche Weise in dem Grade vermehre, daß. wenn
es nicht durch Zerstörung litte, die Erde bald von der Nachkommen-
schaft eines einzigen Paares bedeckt sein würde." Die allermeisten
organischen Individuen erzeugen während ihres Lebens Hunderte und
Tausende, sehr viele aber Hunderttausende und Millionen von Keimen,
welche neuen Individuen den Ursprung geben könnten. Und doch
gelangen nur verhältnismäßig äußerst wenige von diesen Keimen,
oft nur ein oder zwei, sehr häufig nur ein paar Dutzend, zur Ent-
wickelung, und von diesen sich entwickelnden ist es wiederum nur
ein ganz geringer Bruchteil, welcher zur vollständigen Reife und
zur Fortpflanzung gelangt. Diese unbezweifelbare und höchst wich-
tige Tatsache zeigt sich am schlagendsten darin, daß die absolute
Anzahl der organischen Individuen, welche unsere Erde
bevölkern, im großen und ganzen durchschnittlich die-
selbe bleibt, und daß nur die relativen Zahlenverhältnisse
der einzelnen Arten zueinander beständig sich ändern.
Die Tatsache, daß zwischen allen Organismen, welche an einem
und demselben Orte der Erde beisammen leben, äußerst zusammen-
gesetzte Wechselbeziehungen herrschen, kann nicht geleugnet werden,
ebensowenig die Tatsache, daß von den zahlreichen individuellen
Keimen aller Organismen nur eine ganz geringe Anzahl zur Ent-
wickelung und Fortpflanzung gelangt. Bringen wir nun diese un-
leugbaren Tatsachen mit den oben festgestellten Gesetzen der Ver-
erbung und Abänderung in Zusammenhang, so folgt aus dieser
Kombination mit absoluter Notwendigkeit die Existenz und
Wirksamkeit der natürlichen Züchtung. Denn da alle Indi-
viduen ungleich und abänderungsfähig sind, da nur eine beschränkte
Anzahl der im Keime existierenden Individuen sich entwickeln kann,
so muß notwendig ein Kampf um das Dasein, d. h. ein Wettkampf
zwischen den Organismen um die Erlangung der Existenzbedingungen
XIX. VII. Züchtung oder Selektion. 295
Stattfinden, in welchem die nngleichen Individuen ungleiche Stellun-
gen und ungleiche Aussichten haben. Diejenigen Individuen, welche
durch irgend eine individuelle Eigentümlichkeit, irgend eine neu er-
worbene Abänderung, einen Vorzug vor den übrigen ihrer Art vor-
aus haben, werden ihnen überlegen sein und sie besiegen. Sie allein
werden zur Fortpflanzung gelangen und ihre Abänderung auf die
Nachkommenschaft übertragen. Diese individuelle Eigenschaft wird
sich auf die Nachkommen in ungleichem Maße vererben, und da
von diesen wiederum diejenigen, welche dieselben am weitesten ent-
wickelt zeigen, die im Kampfe bevorzugten sind, so werden sie aber-
mals zur Fortpflanzung gelangen und ihren Vorzug weiter vererben.
Indem sich dieser Prozeß Generationen hindurch wiederholt, muß er
notwendig zunächst zur Erhaltung, dann aber weiter zur Befestigung,
Häufung und immer stärkeren Entwickelung jenes ursprünglich er-
worbenen Charakters führen. Da nun offenbar die Mitbewerbung
der ähnlichen Individuen, der Kampf zwischen den verschiedenen
Repräsentanten einer und derselben Art um so heftiger und gefähr-
licher sein muß, je weniger sie verschieden sind, dagegen um so
milder und schwächer, je verschiedener ihre Eigenschaften und Be-
dürfnisse sind, so werden die am meisten voneinander abweichen-
den Formen einer und derselben Art sich am wenigsten bekämpfen,
am leichtesten nebeneinander fortbestehen können, und hieraus folgt
die wichtige Konsequenz der natürlichen Züchtung, welche wir als
Divergenzgesetz oder Differenzierungsgesetz sogleich noch näher
betrachten werden.
Wie wir hieraus sehen, ist es eigentlich vor allem die Mit-
be Werbung, der Wettkampf zwischen den zusammenlebenden
Individuen derselben Art und der nächstverwandten Arten, welcher
durch .,natürliche Züchtung" umbildend wirkt. Ähnliche oder nahezu
gleiche Individuen, welche dieselben Bedürfnisse haben, denselben
Existenzbedingungen unterworfen sind, machen sich die Erlangung
derselben streitig und suchen sich gegenseitig in diesem Kampfe zu
übeiilügeln. Es findet also in dieser Hinsicht ein wahrer AVettkampf
statt und dieser Wettkampf muß natürlich um so heftiger sein, je
gleichartiger die Natur der miteinander ringenden Individuen und
die Natur ihrer Lebensbedürfnisse ist. Daher werden zwar immer
alle Organismen überhaupt, die an irgend einem Orte der Erde zu-
sammenleben, sich vermöge ihrer notwendigen Berührungen und
Wechselbeziehungen miteinander im Kampfe befinden: der Kampf
296 r)i^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
wird aber zwischen den verschiedenen Arten von sehr verschiedener
Heftigkeit, am heftigsten und wirksamsten immer zwischen Indi-
viduen einer und derselben Art sein, welche nahezu die gleiche
Form und die gleichen Lebensbedürfnisse haben.
Da jeder tiefere Blick in die organische Natur uns die äußerst
verwickelten Wechselbeziehungen der Organismen offenbart, welche
den Kampf ums Dasein und die natürliche Züchtung bedingen, so
könnte es überflüssig erscheinen, besondere einzelne Fälle ihrer Wirk-
samkeit hier anzuführen. Doch wollen wir als besonders schlagende
Beispiele wenigstens zwei besondere Wirkungsweisen der natürlichen
Auslese hervorheben, welche Darwin als sexuelle Zuchtwahl und als
sympathische Färbung der Tiere anfühlt.
Die sympathische Färbung der Tiere, welche vielleicht besser
die sympathische Farbenwahl oder die gleichfarbige Zucht-
wahl (Selectio concolor) genannt würde, äußert sich in der weit
verbreiteten und sehr auffallenden Erscheinung, daß die äußere Färbung
sehr zahlreicher Tiere in merkwürdiger Weise übereinstimmt mit
der vorherrschenden Farbe ihrer gewöhnlichen Umgebung. So sind
die Blattläuse und zahlreiche andere, auf grünen Blättern lebende
Insekten grün gefärbt: die meisten Bewohner der gelben oder grau-
braunen Sandwüste (z. B. die Antilopen, Springmäuse, Löwen etc.)
gelb oder graubraun: die Colibris und Tagfalter, welche nur um die
bunten glänzenden Blüten schweben, bunt und glänzend, wie diese:
die meisten Bewohner der Polargegenden sind weiß, wie der Schnee
und das Eis, von dem sie umgeben sind (Eisbär, Eisfuchs. Schnee-
huhn etc.). Von den letzteren sind sogar Viele (z. B. Polarfuchs
und Schneehuhn) bloß im Winter, so lange der reine weiße Schnee
die Landschaft bedeckt, weiß, dagegen im Sommer, w^o derselbe teil-
weise abgeschmolzen ist, graubraun, gleich der entblößten Erde. Nun
erklärt sich diese scheinbar so auffallende Erscheinung ganz einfach
durch die Wirksamkeit der natürlichen Züchtung. Nehmen wir an,
daß jede Tierart ein veränderliches Farbenkleid besessen habe (wie
es ja in der Tat der Fall ist) und daß verschiedene Individuen der-
selben Art in alle möglichen Farbenuancen hinein variiert haben,
so haben offenbar diejenigen einen großen Vorteil im Kampfe ums
Dasein gehabt, deren Färbung sich möglichst enge an diejenige ihrer
Umgebung anschloß. Denn sie wurden von ihren Feinden, die ihnen
nachstellten, weniger leicht bemerkt und aufgespürt, und konnten
umgekehrt, wenn sie selbst Raubtiere waren, sich ihrer Beute leichter
XIX. ^'li- Ziichtiiiisj oder Selektion. 297
und unbeinerkter nähern, als die übrigen Individuen der gleichen Art,
welche eine abweichende Färbung besaßen. Die letzteren, weniger
begünstigten, mußten allmählich aussterben, und den ersteren. mehr
begünstigten das Feld räumen.
Aus diesem Kausalverhältnisse der sympathischen Farbenwahl
ist. wie wir glauben, auch eine der merkwürdigsten, bisher aber noch
wenig gewürdigten, zoologischen Erscheinungen zu erklären, nämlich
die Wasserähnlichkeit der pelagischen Fauna. Von allen den
wundervollen und neuen Erscheinungen, welche den im Binnenlande
erzogenen Zoologen bei seinem ersten Besuche der Meeresküste und
beim ersten Anblick der unendlich mannigfaltigen Meeresfauna über-
raschen, erscheint vielleicht keine einzige so wunderbar, so auffallend,
so unerklärlich, als die Tatsache, daß zahlreiche Seetiere aus den
verschiedensten Klassen und Ordnungen, ganz abweichend von den
allermeisten Tieren der süßen Gewässer und des Binnenlandes, sich
auszeichnen durch vollständigen Mangel der Farbe oder durch eine
nur schwach bläuliche, violette oder grünliche Färbung, gleich der
des Meerwassers, und daß diese farblosen Tiere dabei so vollkommen
wasserhell und durchsichtig, wie Glas sind, oder wie das Meerwasser,
in welchem sie leben: bei den meisten erlaubt die vollständige glas-
artige Durchsichtigkeit des kristallhellen Körpers ohne weiteres den
vollständigsten Einblick in alle gröberen und feineren Verhältnisse
der inneren Organisation. Zu dieser pelagischen Fauna der Glas-
tiere, wie man kollektiv alle diese ausschheßlich im Seewasser
schwimmend sich bewegenden (nicht auf dem Grunde oder an der
Küste lebenden) wasserklaren Seetiere nennen kann, gehören: von
den Fischen die Gruppe der Helmichthyiden {Leptocephalus, Helm-
ichthys, Tilurus etc.); von den Mollusken sehr zahlreiche Repräsen-
tanten verschiedener Klassen (von den Cephalopoden Loligopsls.
von den C e p h a 1 o p h o r e n Ph i/Uirrh oc und die allermeisten Pteropoden
und Heteropoden: von den Tunicaten PyrosonuL DolioJum und
sämtliche Salpen: von den Crustaceen sehr zahlreiche Reprä-
sentanten fast aller Ordnungen, vorzugsweise aber Copepoden und
Amphipoden: von den Würmern die Alciope und Sagiüa und zahl-
reiche Larven; von den Echinodermen die schwimmenden Larven;
von den Coelenteraten endlich fast alle pelagischen Formen, also
die ganze Klasse der Ctenophoren und alle pelagischen Hydromedusen
(Acraspeden. Craspedoten. Siphonophoren). Gewiß muß es äußerst
merkwürdig und seltsam erscheinen, daß so zahlreiche und in ihrer
298 ^^'(' Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
ganzen Organisation so äußerst verschiedenartige Tiere der ver-
schiedensten Klassen, als es die genannten nnd viele andere pelagische
Tiere sind, sämtlich in dem so höchst anffallenden Charakter der
glasartigen Durchsichtigkeit des wasserhellen Körpers übereinstimmen
und sich dadurch so außerordentlich in ihrem ganzen Habitus von
ihren nächsten Verwandten entfernen, welche den Boden oder die
Küsten des Meeres, oder das Süßwasser oder das Festland bewohnen.
Grade in diesem offenbaren tatsächlichen Zusammenhange zwischen
der wasserklaren Durchsichtigkeit der Glastiere und ihrer pelagischen
Lebensweise, ihrem beständigen Aufenthalte in dem durchsichtigen
Wasser, müssen wir notwendig auch ihre kausale Erklärung suchen.
Der letztere ist die bewirkende Ursache der ersteren. . Offenbar ist
allen diesen Glastieren in dem unaufhörlichen Kampfe, den sie mit-
einander führen, die glashelle Körperbeschaff'enheit vom äußersten
Nutzen. Die Verfolger können sich ihrer Beute unbemerkter nähern,
die Verfolgten können sich den ersteren leichter entziehen, als wenn
Beide gefärbt und undurchsichtig, und also im hellen Wasser leicht
sichtbar wären. Nehmen wir nun an, daß von diesen Glastieren
ursprünglich zahlreiche verschiedene Varietäten, verschieden haupt-
sächlich in dem Grade der Durchsichtigkeit und dem Mangel der
Farbe, nebeneinander existiert hätten, so wüiden sicherlich die am
meisten durchsichtigen und farblosen Individuen im Kampfe um das
Dasein das Übergewicht über die anderen errungen haben, und indem
sie Generationen hindurch diese individuelle vorteilhafte Eigentüm-
lichkeit befestigten und verstärkten, schließlich notwendig zur Aus-
bildung der vollkommen glasartigen Körperbeschaff'enheit gelangt sein.
Daß letztere in der Tat auf diesem Wege, durch natürliche Züchtung
entstanden ist, kann um so weniger zweifelhaft sein, als die nächsten
Verwandten der pelagischen Glastiere, welche nicht pelagisch an der
Oberfläche des Meeres (oder in tieferen Wasserschichten) leben, sondern
den Grund des Meeres oder die Küste bewohnen, die glasartige Körper-
beschaff'enheit nicht besitzen, sondern vielmehr undurchsichtig und
entsprechend den bunten Felsen und Fucoideen gefärbt sind, zwischen
und auf welchen sie leben. Zur besonderen Bestätigung dieser Auf-
fassung kann auch noch der Umstand dienen, daß viele Seetiere nui*
in der Jugend, so lange sie als Larven pelagisch leben, glashell und
farblos sind, dagegen später, wenn sie den Meeresgrund oder die Küste
bewohnen, undurchsichtig und bunt gefärbt werden, so z. B. die
allermeisten Echinodernien, sehr viele Würmer etc.
XIX. ^'I'- /''iiehtun-- oder Selektion. 299
Die sexuelle Zuchtwahl oder geschlechtliche Auslese
(Selccfio sexualis) wird von Darwin als eine hesondere Form dei-
Auslese oder Selektion aufgeführt. ..welche nicht von einem Kampfe
ums Dasein, sondern von einem Kampfe zwischen den Männchen
um den Besitz der Weibchen abhängt". Indessen werden wir diese
sexuelle Selektion doch nur als eine Modifikation oder eine speziellere
Weise des „Kampfes um das Dasein" aufzufassen haben, sobald wir
uns erinnern, daß der letztere überhaupt den ..Wettkampf um die
Lebensbedürfnisse" bezeichnet. Nun ist aber die Fortpflanzung (die
sich bei den höheren Tieren im Triebe der sexuellen ..Liebe"' äußert)
ebenso ein Lebensbedürfnis, eine Existenzbedingnng. wie die Er-
nährung (die sich bei den höheren Tieren im Triebe des ..Hungers"
äußert). Und daher werden wir auch den Wettkampf der Männchen
um die Weibchen, welcher bei den meisten höheren Tieren in ähn-
licher Weise, Avie beim Menschen stattfindet, als einen Teil des Wett-
kampfes ums Dasein betrachten können. Dieser sexuelle Wettkampf
ist äußert wichtig und interessant: denn auf ihm beruht großenteils
die Entstellung der merkwürdigen sekundären Sexualcharaktere. durch
welche sich die beiden Geschlechter der höheren Tiere so oft unter-
scheiden. Die Auswahl oder Selektion, welche bei der künstlichen
Züchtung der durch den menschlichen Vorteil geleitete Wille des
Menschen, bei der natürlichen Züchtung stets der Vorteil des ge-
züchteten Organismus selbst ausübt, wird bei der sexuellen Züchtung-
weiche nur ein Teil der letzteren ist. durch den Vorteil des einen
Geschlechts geübt. Darwin berücksichtigt hierbei nur das männ-
liche Geschlecht, indem er die sexuelle Auslese allgemein als einen
„Wettkampf der Männchen um den Besitz der Weibchen
darstellt, dessen Folgen für den Besiegten nicht in Tod und er-
folgloser Mitbewerbung, sondern in einer spärlicheren oder ganz
ausfallenden Nachkommenschaft bestehen. Im allgemeinen werden
die kräftigsten, die ihre Stelle in der Natur am besten ausfüllenden
^lännchen die meiste Nachkommenschaft hinterlassen". Indessen
glauben wir, daß die sexuelle Auslese auf beide Geschlechter
wirkt und daß es auch einen .,Wettkampf der Weibchen um
den Besitz der Männchen" gibt, welcher entschieden ebenso um-
bildend und züchtend auf die Weibchen wirkt, als der von Darwin
dargestellte auf die Männchen: dies lehrt schon das Beispiel des
Menschen. W^ir können daher allgemein die sexuelle Selektion
als einen beide Geschlechter umbildenden Züchtungsprozeß
300 Dil' Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
bezeichnen: der Wettkampf der Männchen nni den Besitz der Weibchen,
bei welchem dcas anslesende. ziiclitende Prinzip unmittelbar die Vor-
züge der Männchen, mittelbar aber die dadurch bewirkte aktive Aus-
wahl der Weibchen ist, und bei welchem also eigentlich die Weibchen
wählend, auslesend wirken, kann die weibliche Zuchtwahl (*S'e?ecfio
feminina) heißen: umgekehrt kann der Wettkampf der Weibchen
um den Besitz der Männchen, bei welchem das auslesende züchtende
Prinzip unmittelbar die Vorzüge der Weibchen, mittelbar die dadurch
bewirkte aktive Auswahl der Männchen ist, und bei welchem also
eigentlich die Männchen wählend, auslesend wirken, die männliche
Zuchtwahl (Seledio masculina) genannt werden: hier wählen die
Männchen, dort die Weibchen.
Die sexuelle Züchtung ist deshalb eine besonders interessante
und wichtige Form der natürlichen Züchtung, weil sie auch im mensch-
lichen Leben, wie bei den übrigen höheren Tieren, eine sehr bedeutend
umgestaltende Wirkung auf beide Geschlechter ausübt. Die somatischen
lind psychischen Vorzüge des Weibes sind Produkte der männlichen
Zuchtwahl: die somatischen und psychischen Vorzüge des Mannes
sind Produkte der weiblichen Zuchtwahl. Diese auswählende, züchtende,
umgestaltende Wechselwirkung beider Geschlechter ist äußerst wichtig,
und wir glauben, daß ein sehr großer Teil der vielen Vorzüge, welche
den Menschen vor den übrigen Primaten auszeichnen, eine unmittel-
bare Wirkung der beim Menschen so sehr viel höher entwickelten
sexuellen Zuchtwahl ist.
Wie beim Kampfe um das Dasein überhaupt, so sind auch beim
Kampfe um die Fortpflanzung die Kämpfe unter den höheren Tieren
teils mittelbare Wettkämpfe, teils unmittelbare Vernichtungskämpfe
der wetteifernden Nebenbuhler. Unmittelbare Verniclitungskämpfe der
um den Besitz der Weibchen streitenden Männchen finden sich häufig
bei den Säugetieren: die Mähne des Löwen, die Wamme des Stiers
sind offenbar Schutzwaffen — das Geweihe des Hirsches, der Hauer
des Ebers, der Sporn des männlichen Schnabeltiers, der Sporn des
Hahns, der geweihähnliche Oberkiefer des männlichen Hirschkäfers etc.
sind offenbar Angriffswaffen, welche durch Anpassung im unmittel-
baren Vernichtungskampfe der um die Weibchen kämpfenden Männchen,
durch natürliche Züchtung sich entwickelten. Ebenso wird allgemein
die größere Muskelkraft der männlichen Säugetiere von diesem Kampfe
abzuleiten sein. Vom Menschen wurden diese Kämpfe besonders im
Altertum und Mittelalter ausgeübt, wo zahlreiche Duelle und Turniere
XIX. VII. Züchtung oder Selektion. 301
von den Rittern ausgeführt wurden, und wo allgemein der Stärkere
die Braut heimführte, und durch Vererbung seiner individuellen Körper-
stärke die Muskelkraft des männlichen Geschlechts häufen und be-
festigen half.
Mittelbare Wettkämpfe um die Fortpflanzung finden namentlich
häufig in sehr ausgezeichneter Weise bei den Vögeln und beim Menschen
statt. Die Vorzüge, welche dem begünstigten Mitbewerber den Sieg
verleihen, sind hier nicht, wie beim unmittelbaren Vernichtungs-
kampfe, körperliche Stärke und besondere Waffen, sondern vielmehr
andere individuelle Eigenschaften, welche die Neigung des anderen
Geschlechts erwecken. Besonders kommen hier die Vorzüge körper-
licher Schönheit und der Stimme (des Gesanges) und beim ]\Ienschen
die feineren psychischen Vorzüge in Betracht. Die körperliche Schön-
heit ist insbesondere bei den Vögeln und Schmetterlingen sehr wirk-
sam, und zwar meistens als weibliche Zuchtwahl, indem gewöhnlich
das männliche Geschlecht es ist, welches durch Ausbildung besonderer
Zierden, z. B. Federbüsche, Hautlappen, bunte Flecken etc. die be-
sondere Aufmerksamkeit und Neigung der auswählenden Weibchen
zu erregen sucht. Auf diese Weise ist wohl größtenteils die ausge-
zeichnet schöne und mannigfaltige Färbung vieler männlichen Vögel
und Schmetterlinge entstanden, deren Weibchen einfarbig oder unan-
sehnlich sind. Ebenso sind zweifelsohne die mannigfaltigen Haut-
auswüchse und Körperanhänge entstanden, die besonders bei den
Hühnervögeln so entwickelt vorkommen, der radbildende Schweif des
Pfauen, des Truthahns, der Pfauentaube, die Fleischkämme und bunten
Hautlappen oder Federbüsche und Haarbüsche auf dem Kopfe und
an der Brust des Haushahns, des Truthahns und vieler anderer Hühner-
vögel. Beim Menschen kann der männliche Bart als eine auf diesem
Wege erworbene Zierde gelten. Gewöhnlich ist es aber beim Menschen
nicht die weibliche, sondern die männliche (aktive) Zuchtwahl, welche
durch die Entwickelung körperlicher Schönheit geleitet wird, indem
hier vorzugsweise das weibliche Geschlecht die körperlichen Zierden
entwickelt, durch welche es die Bewerber des andern Geschlechts
anzulocken sucht. Es ist bekannt, welcher Aufwand in miseren
„hoch zivilisierten'' Gesellschaften von den Weibern entwickelt wird,
um durch künstliche Zierrate (Geschmeide, bunte Kleider, Kopfputz etc.)
die vorhandenen körperlichen Vorzüge zu erhöhen oder die mangeln-
den zu ersetzen, und so durch möglichst starke Anziehung der wählen-
den Männer die übrigen Weiber in der Mitbewerbung zu überwinden.
302 iJit' Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Außer der durch anziehende Formen und reizende Farben wirkenden
körperUchen Schönheit ist es insbesondere die Entwickelun^- der
modulierten Stimme zum Gesänge, welche von einem der beiden
Geschlechter benutzt wird, um das andere anzulocken, und die voll-
kommneren Sänger sind es, welche in diesem Falle den Sieg über
ihre Mitbewerber gewinnen und vor ihnen zur Fortpflanzung gelangen.
Am stärksten ist diese Art der sexuellen Auslese bei den Singvögeln
nnd beim Menschen entwickelt, vielleicht auch bei manchen Insekten,
z. B. den Heuschrecken und Cicaden. Bei den Singvögeln ist es be-
i:anntlich gewöhnlich das Männchen, welches durch eine außerordentliche
und höchst bewunderungswürdige Modulation der Stimme sich liebens-
wih'dig zu machen und vor seinen Nebenbuhlern bei der Bewerbung
um die Weibchen sich auszuzeichnen sucht. In dieser Beziehung
kommen manche Singvögel nicht allein den besten menschhchen Sängern
gleich, sondern sie übertreffen sie noch bedeutend an Wohlklang,
Umfang, Zartheit, ^lodulationsfähigkeit der Stimme und an ^lannig-
faltigkeit der Singweisen. Offenbar ist die hohe Differenzierung des
Kehlkopfs, welche dieser herrlichen Funktion zugrunde liegt, erst
durch den musikalischen Wettkampf der Männchen um die Weibchen
entstanden, ebenso bei den Singvögeln, wie beim Menschen. Doch
ist es gewöhnlich beim Menschen umgekehrt das weibliche Geschlecht,
w'elches sich durch die vielseitigere und feinere Ausbildung des
Stimmorgans auszeichnet, und durch einen schön modulierten Gesang
die auswählenden Männer anzuziehen sucht. Diesem Umstände ist
gewiß vorzugsweise die allgemeine Übung und hohe Ausbildung des
w^eiblichen Gesangs in unseren hochzivilisierten Gesellschaften zu
verdanken.
Die starke und vielseitige Differenzierung der beiden mensch-
lichen Geschlechter, die sich auf fast alle Teile des Körpers und seiner
Funktionen erstreckt, und welche gewiß eine Hauptbedingung für die
iortsch reitende Entwickelung der menschlichen Kultur ist, beruht also
sicher zum größten Teile auf sexueller Zuchtwahl, welche von beiden
Geschlechtern gegenseitig ausgeübt wird. Wie nun aber der veredelte
Mensch sich durch nichts so sehr vor den übrigen Tieren auszeichnet,
als durch die außerordentlich weit gehende Differenzierung des Ge-
hirns und der von diesem ausgehenden psychischen Funktionen, so
wird auch die sexuelle Zuchtwahl bei den höher stehenden, veredelten
Menschenrassen vorzugsweise durch psychische Funktionen vermittelt,
und es ist dies um so mehr zu beiücksichtigen, als sie offenbar in
XIX. ^'11- Züchtung oder Selektion. 303
hohem Grade veredehul auf das Gehirn selbst zurückwirkt. Dadurch
kommt es, daß bei den höchst entwickehen Menschen vorzugsweise
die psychischen Vorzüge (und zwar die Vorzüge der höchsten psychi-
schen Funktionen, der Gedanken) des einen Geschlechts bestimmend
auf die sexuelle Wahl des anderen einwirken, und indem so bestimmte
psychische Vorzüge gleich den somatischen vererbt, durch Generationen
hindurch befestigt werden, erlangen die beiderseitigen Vorzüge der
beiden sich ergänzenden Geschlechter jenen hohen Grad der Ver-
edelung, welcher in der harmonischen Wechselwirkung der beiden
veredehen Geschlechter in der Ehe das höchste Glück des mensch-
lichen Lebens bedingt.
Gleich der sexuellen Zuchtwahl wirken auch die verschiedenen
anderen Formen der natürlichen Auslese ebenso auf den Menschen,
wie auf alle übrigen Organismen, umbildend, vervollkommnend, ver-
edelnd ein. und bringen als unscheinbare Ursachen die größten
Wirkungen hervor.
VII, C. Vergleichung der natürlichen und der künstlichen
Züchtung.
Daß die künstliche und natürhche Züchtung durchaus ähnliche
physiologische Vorgänge sind, und daß beide Selektionen lediglich
auf der Wechselwirkung zweier allgemeiner physiologischer Funktionen,
Vererbung und Anpassung, beruhen, haben wir oben bereits gezeigt.
Auch die wesentlichen Unterschiede, welche beide Formen der Aus-
lese voneinander trennen, sind dort bereits berührt. Doch scheint
es nicht überflüssig, die wichtigsten übereinstimmenden und trennenden
Momente beider Ausleseformen nochmals vergleichend hervorzuheben,
da die unmittelbar daraus folgende Selektionstheorie die kausale
Grundlage der ganzen Deszendenztheorie bildet, und da die meisten
Naturforscher, wie aus ihren unverständigen Einwürfen hervorgeht,
Darwin entweder gar nicht verstanden oder doch großenteils miß-
verstanden haben.
I. Natürliche und künstliche Züchtung sind gleichartige physiolo-
gische Umbildungsvorgänge der Organismen, welche auf kausal-
mechanischem Wege, durch die Wechselwirkung der Vererbungs- und
der Anpassungsgesetze, neue Formen und Funktionen der Organismen
hervorrufen.
IL Die Regulierung und Modifikation der Wechselwirkung zwischen
304 I^'^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
den beiden wirkenden Grundursachen, der Vererbung und der An-
passung, wird bei der natürlichen Züchtung durcli den planlos wirken-
den ,.Kainpt' ums Dasein", bei der künstlichen Züchtung durch den
planmäßig wirkenden „Willen des Menschen" ausgeübt.
III. Die Umbildungen der Formen und Funktionen der Organis-
men, welche die Züchtung hervorruft, fallen bei der natürlichen
Züchtung zum Nutzen des gezüchteten Organismus, bei der künstlichen
Züchtung zum Nutzen des züchtenden Menschen aus.
IV. Die natürliche Züchtung wirkt sehr langsam und unmerklich
umbildend, da das auslesende Prinzip, der Kampf ums Dasein, sich
nur sehr langsam und unmerklich ändert, und selten plötzlich ganz
neue Existenzbedingungen einwirken läßt. Die künstliche Züchtung
dagegen wirkt verhältnismäßig sehr rasch und auffallend umbildend,
da das auslesende Prinzip, der Wille des Menschen, sich oft sehr rasch
und auffallend ändert, und oft plötzlich ganz neue Existenzbedingungen
einwirken läßt.
V. Die Veränderungen der Organismen, welche die natürliche
Züchtung hervorbringt, wachsen sehr langsam, weil die abgeänderten
Individuen sich leicht mit nicht abgeänderten kreuzen können und
daher leicht wieder in die Form der letzteren zurückschlagen. Da-
gegen wachsen die Veränderungen, welche die künstliche Züchtung
hervorbringt, sehr rasch, weil die Kreuzung der abgeänderten und
der nicht abgeänderten Individuen, und dadurch der Rückschlag der
ersteren in die Form der letzteren sorgfältig vermieden wird.
VI. Die durch die natürliche Züchtung bewirkten Veränderungen
der Organismen gehen meist sehr tief und bleiben dauernd, weil
sie durch sehr langsame Häufung der Anpassungen allmählich ent-
stehen: die durch die künstliche Züchtung bewirkten Veränderungen
dagegen sind meist nur oberflächlich und verschwinden leicht wieder,
weil sie durch sehr rasche Häufung der Anpassungen in kurzer Zeit
entstehen.
VIII. Die Selektionstheorie und das Uivergenzgesetz.
Die Differenzierung (Dircrgcntia) oder Arbeitsteilung
(Polymorjjhismus) als notwendige Wirkung der Selektion.
Die ganze unendliche Mannigfaltigkeit der organischen Natur
und das harmonische Ineinandergreifen ihres höchst komplizierten
Räderwerks, welches uns so leicht zu der falschen teleologischen
XIX. VIII. Die Selektionstheoiie und das Diveigenzgesetz. 305
Vorstellung eines ..zweckmäßig- wirkenden Schöpfungsplanes" ver-
führt, ist lediglich das notwendige Resultat jener unaufhörlichen,
mechanischen Tätigkeit des „Kampfes ums Dasein", welcher durch
natürliche Züchtung umbildend wirkt. Um die ganze, ungeheure
Wichtigkeit dieses interessantesten Vorgangs richtig zu würdigen,
müssen wir nun noch einige unmittelbare Konsequenzen desselben
besonders hervorheben, deren richtiges Verständnis für die mecha-
nische Auffassung der organischen Natur von der größten Bedeutung
ist. Zu diesen unmittelbaren und notwendigen Wirkungen rechnen
wir in erster Linie die bekannten Erscheinungen der organischen
Differenzierung und sodann diejenigen der organischen Vervoll-
kommnung.
Die organische Differenzierung {Dlrergcntia) oder Ar-
beitsteilung {Polymoyphismus) haben wir oben als eine der vier
fundamentalen physiologischen Entwickelungsfunktionen aufgefaßt,
auf denen die gesamte Morphogenie beruht: und wir haben im acht-
zehnten Kapitel gezeigt, daß der Differenzierungsprozeß bei der
Ontogenese aller morphologischen Individuen die hervorragendste
Rolle spielt. Die drei anderen Entwickelungsfunktionen, die Zeugung,
das Wachstum und die Degeneration konnten wir unmittelbar auf
die rein physiologischen (physikalisch-chemischen) Prozesse der Er-
nährung, als auf ihre mechanische Ursache zurückführen. Dasselbe
gilt auch von dem A^organge der Verwachsung oder Konkreszenz,
falls wir diesen als eine besondere fünfte Entwickelungsfunktion
auffassen wollten. Dagegen konnten wir die Entwickelungsfunktion
der Differenzierung oder Divergenz nicht unmittelbar als eine ein-
fache Teilerscheinung der Ernährung und des Wachstums auffassen.
Die mechanische Erklärung dieser Funktion ist vielmehr nur mög-
lich durch die Selektionstheorie, welche es klar zeigt, daß die
Divergenz des Charakters keine besondere rätselhafte organische
Erscheinung, sondern vielmehr eine notwendige Folge der natür-
lichen Züchtung ist.
Die Divergenz des Charakters oder die Differenzierung
der Individuen folgt notwendig unmittelbar aus der Wech-
selwirkung zwischen der Vererbung und der Anpassung,
und zwar speziell aus dem vorher erörterten Umstände, daß der
Kampf ums Dasein zwischen Organismen, die an einem
und demselben Orte miteinander um die Lebensbedürf-
nisse ringen, um so heftiger ist, je gleichartiger sie selbst,
Haeckel, Prinz, d. Morpliol. 20
306 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
je gleichartiger also auch ihre Bedürfnisse sind. Umgekehrt
können an einer und derselben Stelle des Naturhaushalts um so mehr
Individuen nebeneinander existieren, je mehr ihre Charaktere und
ihre Bedürfnisse verschieden sind, je mehr sie „divergieren". So
können z. B. auf einem Baume viel zahlreichere Käfer nebenein-
ander existieren, wenn die einen bloß von den Früchten, die andern
von den Blüten, noch andere bloß von den Blättern leben, als
wenn sie alle hloß von den Blättern leben können, und noch
viel größer wird jene Zahl, wenn daneben auch noch andere
Käfer vom Holze oder von der Rinde oder von der Wurzel
leben können. So können in einer und derselben kleinen Stadt
sehr gut fünfzig Handwerker nebeneinander existieren, die zehn oder
zwanzig verschiedene Professionen treiben, während sie unmöglich
nebeneinander existieren könnten, wenn sie alle auf ein und das-
selbe Handwerk angewiesen wären. Ferner können alle Konkurrenten,
die eine und dieselbe Profession treiben, um so besser nebeneinander
bestehen, je mehr sich dieselben auf einzelne verschiedene Zweige
ihres gemeinsamen Handwerks beschränken, und je mehr jeder
ein einzelnes Spezialfach nach einer bestimmten Richtung hin aus-
bildet. Mit einem Worte, die Konkurrenz zwischen allen Organismen,
welche an einem und demselben Orte nebeneinander sich die un-
entbehrlichen Lebensbedürfnisse zu erringen suchen, wird um so
weniger heftig, um so weniger für jeden einzelnen gefahrdrohend
sein, je verschiedenartiger ihre Bedürfnisse und demgemäß ihre
Eigenschaften, ihre Tätigkeiten und ihre Charaktere sind. Es wird
also durch die natürlichen Verhältnisse des Kampfes um das Da-
sein überall die Ungleichartigkeit, die Divergenz der Charaktere der
verschiedenen Individuen begünstigt, weil sie ihnen selbst vorteilhaft
ist, und weil eine Anzahl von Individuen an einer und derselben be-
schränkten Stelle im Naturhaushalte um so leichter und besser neben-
einander existieren können, je stärker sie divergieren. Hieraus folgt
dann unmittelbar weiter die höchst wichtige Tatsache, daß der
Kampf um das Dasein das Erlöschen der Mittelformen, den
Untergang der verbindenden Zwischenglieder zwischen den Extremen,
mit Notwendigkeit zur Folge hat. Denn diese sind immer die
am meisten gefährdeten, und wenn eine Art in zahlreiche Varietäten
auseinander geht, so werden die am stärksten divergierenden die
vorteilhafteste, die verbindenden Zwischenformen dagegen die ge-
fährlichste Position im Kampfe um das Dasein einnehmen.
XIX. VIII. Die Selektionstlieorie und das Divergenzgesetz. 307
Jede unbefangene und tiefere Betrachtung der Selektionstheorie
zeigt uns. wie der Divergenzprozess der organischen Formen, das
fortschreitende Auseinandergehen der divergierenden Extreme und das
Erlöschen der verbindenden Mittelglieder und namentlich der ge-
meinsamen Stammformen der ersteren. unmittelbar und mit kausaler
Notwendigkeit aus dem Kampfe um das Dasein und aus der Wechsel-
wirkung zwischen Vererbung und Anpassung folgt. Wenn es wahr
ist. daß alle Organismen den Gesetzen der Erblichkeit und Ver-
äuderhchkeit unterworfen sind — w^as niemand leugnen kann —
wenn es ferner wahr ist. daß alle Organismen sich überall und be-
ständig im Kampfe um das Dasein befinden. — ■ was eben so wenig
geleugnet werden kann — so folgt hieraus von selbst und mit ab-
soluter Notwendigkeit die natürhche Selektion, die Divergenz des
Charakters und das Erlöschen der vermittelnden Zwischenformen.
Darwin hat diese notwendigen I'olgerungen in dem vierten Kapitel
seines Werkes so meisterhaft und ausführlich begründet, daß wir
bloß darauf zu verweisen brauchen. Wir können aber die bindende
Notwendigkeit dieses Kausalnexus zwischen Divergenz und
Selektion nicht genug hervorheben, w^eil sie uns die sicherste Gegen-
probe für die Wahrheit der Selektionstheorie liefert. Die unendlich
mannigfaltigen Erscheinungen der Divergenz sind allbekannte Tat-
sachen und werden von niemand geleugnet. Sie erklären sich voll-
ständig aus der Selektionstheorie, und nur allein aus dieser.
Ohne letztere sind sie vollkommen unverständlich. Wir können da-
her mit der vollsten Sicherheit aus den Tatsachen der Differenzierung
auf die Richtigkeit der Zuchtwahllehre zurückschheßen. Wenn wir
nichts von Paläontologie und Geologie, nichts von Embryologie und
Dysteleologie wüßten, so würden wir die Abstammungslehre schon
allein deshalb für wahr erkennen müssen, weil sie allein uns die
mechanisch-kausale Erklärung der großen Tatsache der Divergenz
zu liefern vermag.
Das Divergenzgesetz oder Differenzierungsprinzip, in dem Sinne
wie Darwin dasselbe als die notwendige Folge der natürhchen Züch-
tung entwickelt, umfaßt nur diejenigen Differenzierungs-Phänomene,
welche zwischen physiologischen Individuen einer und derselben Art
stattfinden, und zunächst zur Bildung neuer Varietäten, späterhin
zur Bildung neuer Arten, Gattungen etc. führen. Darwin begreift
also unter seiner „Divergenz des Charakters'" eigenthch nur die
physiologische Differenzierung der Bionten. oder der physio-
20*
308 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
logischen Individuen, welche die Zeugungskreise und dadurch die
..Arten" zusammensetzen. Nach unserer Ansicht ist jedoch diese Di-
vergenz der Spezies nicht verschieden von der sogenannten „Differen-
zierung der Organe", d. h. von der Arbeitsteilung der untergeord-
neten Formindividuen verschiedener Ordnung, welche die Bionten
konstituieren. Vielmehr glauben wir, in allen Differenzierungs-
Erscheinungen ein und dasselbe Grundphänomen. die durch natür-
liche Züchtung bedingte physiologische Arbeitsteilung erblicken zu
müssen, gleichviel ob dieselbe selbständige physiologische Individuen
betrifft, welche an einem und demselben Orte miteinander um das
Dasein kämpfen, oder untergeordnete morphologische Individuen ver-
schiedener Ordnungen, w^elche jene als konstituierende Teile zu-
sammensetzen. Die wesentliche Tatsache des Prozesses ist in allen
Fällen eine Hervorbildung ungleichartiger Formen aus gleich-
artiger Grundlage, imd die mechanische Ursache derselben ist
die natürliche Zuchtwahl im Kampf um das Dasein.
Den Unterschied zwischen der paläontologischen und
der individuellen Divergenz des Charakters müssen wir hier
noch besonders betonen, da es von der größten Wichtigkeit ist, sich
dessen bewußt zu bleiben. Wie aber in der gesamten Entwickelungs-
geschichte fast immer bloß die an sich unverständlichen individuellen,
und nur selten die erklärenden paläontologischen Entwickelungspro-
zesse berücksichtigt worden sind, so gilt dies auch von der Ent-
wickelungsfunktion der Differenzieruug oder Arbeitsteilung. Die Tat-
sachen der individuellen oder ontogenetischen Differenzierung, wie
wir sie während des raschen Laufs der individuellen Entwickelung-
des Organismus Schritt für Schritt unmittelbar verfolgen und direkt
beobachten können, sind zunächst nur durch die Gesetze der Ver-
erbung (und vorzüglich durch die Gesetze der abgekürzten, der
gleichzeitlichen und gleichörtlichen Vererbung) bedingt: und nichts
weiter als zusammengedrängte Wiederholungen der paläontologi-
schen oder phylogenetischen Differenzierung, welche im langsamen
Verlaufe der paläontologischen Entwickelung der Vorfahren des be-
treffenden Organismus allmählich stattgefunden hat, und welche das
unmittelbare Produkt der Wechselwirkung von Vererbung und An-
passung, der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein ist.
Als unmittelbare Resultate der Arbeitsteilung im Laufe der indivi-
duellen Entwickelung können nur diejenigen Divergenzerscheinungen
angesehen werden, welche an dem betreffenden Individuum zum
XIX. VIII. Die Selektionstheorie und das Diveigenzgesetz. 309
erstenmal, durch Anpassung an eine neue Existenzbedingung ver-
<inlaßt, auftreten, und welche also, wenn sie durch angepaßte Ver-
erbung auf die Nachkommen dieses Individuums übertragen werden,
der individuellen Entwickelungskette ein neues Glied einfügen.
Außer der primären paläontologischen (phylogenetischen) und
der sekundären individuellen (ontogenetischen) können wir übrigens
noch eine dritte Art der Differenzierung unterscheiden, welche wir
kurz mit dem Namen der systematischen oder spezifischen
Differenzierung bezeichnen wollen. Man pflegt nämlich auch die
faktisch bestehenden Unterschiede zwischen koexistenten verwandten
Organismen als Differenzierungen zu unterscheiden. So sagt man
z. B. in der zoologischen und botanischen Systematik sehr häufig
bei Vergieichung verwandter Organismengruppen, daß die eine mehr
differenziert oder polymorpher sei, als die andere, z. B. die Säuge-
tiere mehr als die Vögel, die Crustaceen mehr als die Insekten, die
Dikotyledonen mehr als die Monokotyledonen. Ebenso sagt man bei
Vergieichung verwandter Zustände, z. B. in der menschlichen Ge-
sellschaft, daß der eine stärkere Differenzierung, einen höheren Grad
der Arbeitsteilung zeige, als der andere, so z. B. die verschiedenen
Kulturzustände. Staatsformen, Lehranstalten der verschiedenen Völker
etc. Vorzüglich aber verfolgt die vergleichende Anatomie als ihre
Hauptaufgabe die „Differenziemng der Organe"', indem sie nach-
weist, wie ein und dasselbe Organ bei den verschiedenen Tieren
ganz verschiedene Grade der Ausbildung, ganz verschiedene Stufen
der ..Differenzierung" darbietet. Hierauf vorzüglich beruht die Unter-
scheidung der höheren und niederen, vollkommeneren und unvoll-
kommeneren Organe. Der Begriff der Differenzierung wird in diesen
Fällen meistens ziemlich unklar, und oft in sehr verschiedener Be-
deutung angewendet. Sehr häufig gebraucht man denselben als
gleichbedeutend mit Vollkommenheit oder Fortschritt. Doch ist dies,
wie wir im folgenden Abschnitt zeigen werden, nicht richtig. Denn
obwohl in sehr zahlreichen Fällen die Erscheinungen der Divergenz
und des Fortschritts zusammenfallen, so ist dennoch nicht jede
Differenzierung ein Fortschritt, und nicht jeder Fortschritt ist eine
Differenzierung. Andere denken dagegen, wenn sie von der Differen-
zierung koexistenter Formen im obigen „systematischen" Sinne
sprechen, weniger an die Vollkommenheit, als an die Mannigfaltig-
keit der verglichenen Formen. Doch zeigt sich bei genauerer Be-
trachtung, daß der Begriff der Mannigialtigkeit ebenso wie der der
310 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Yollkonimenlieit, den Begriff der Differenzierung zwar in vielen, aber
keineswegs in allen Fällen deckt. Denn die Insektenklasse z. B. ist
weit mannigfaltiger und artenreicher als die Krustazeenklasse, und
dennoch ist die letztere weit stärker differenziert, als die erstere.
Versuchen wir, den Begriff der systematischen oder spezifischen
Differenzierung, wie er bei Vergleichung verwandter und koexistenter
(nicht sukzessiver!) Formen so oft gebraucht wird, tiefer zu ergründen,
so finden wir. daß derselbe eigentlich in den meisten Fällen wesent-
lich mit dem Begriff" der phylogenetischen Differenzierung zu-
sammenfällt, und daß er ebenso wie der letztere, auf der Vorstellung-
einer Hervorbildung ungleichartiger Formen aus gleichartiger Grund-
lage beruht. Während aber die Betrachtung der phylogenetischen
Differenzierung den gesammten Entwickelungsprozeß als solchen zu
erfassen und alle einzelnen Zweige und Äste der verzweigten Divergeuz-
bewegung von der Wurzel an bis zu ihren letzten Ausläufern zu
verfolgen hat, so begnügt sich die Betrachtung der systematischen
Differenzierung mit der A^ergieichung der verschiedenen Ausläufer
oder einzelnen Äste und Zweige: d. h. sie sucht nicht den ganzen
paläontologischen Differenzierungsprozeß, sondern nur die fertigen
Resultate desselben, wie sie in der gleichzeitigen Koexistenz ver-
schiedener „Arten" nebeneinander sich zeigen, zu erforschen, und
vorzüglich den Divergenzgrad, welcher dieselben trennte, zu messen.
Der gew^öhnhchste Fehler, den man bei Untersuchung dieser
systematischen Differenzierung begeht, liegt darin, daß man die ver-
schiedenen koexistenten Zweige des Stammbaums als subordinierte
Glieder einer einzigen leiterförmigen Reihe betrachtet, während sie
in der Tat koordinierte Zweige eines ramifizierten Baumes sind.
Hierauf beruht z. B. der Irrtum der älteren Systematiker. welche die
sämtlichen Tiere oder Pflanzen in eine einzige Dift'erenzierungsreihe
zu ordnen trachteten. Statt also den Divergenzgrad der verschiedenen
Formen von der gemeinsamen Stammform zu messen, beschränkt
man sich auf Messung des Unterschiedes, den sie voneinander haben.
Obgleich also die systematische oder spezifische Differenzierung,
\velclie die aus gemeinsamer Wurzel stammenden Arten als fertige
Produkte voneinander scheidet, eigentlich nicht von der paläontolo-
gischen oder phylogenetischen Differenzierung verschieden ist, sondern
nur das Resultat der letzteren darstellt, wollen wir sie dennoch als
einen besonderen und dritten Divergenzmodus hier hervorheben, dessen
Beziehungen zu den beiden anderen und vorzüglich ihre dreifache
XIX. IX- Diß Selektionstheorie und das Fortschrittsgesetz. 311
Parallele im folgenden Buche noch näher erörtert werden sollen. Wie
die paläontologisclie Differenzierung Objekt derPhylogenie, die embryo-
logische Objekt der Ontogenie, so ist die systematische Differenzierung
vorzugsweise Objekt der vergleichenden Anatomie. Der merkwürdige
und höchst wichtige Parallelismus dieser drei Divergenzreihen erklärt
sich vollkommen aus der Selektionstheorie.
Alle die unendlich mannigfaltigen und wichtigen Naturerschei-
nungen, welche wir vom morphologischen Standpunkte aus als
Phänomene der Differenzierung oder Divergenz des Charakters,
vom physiologischen Standpunkte aus als Phänomene des Poly-
morphismus oder der Arbeitsteilung ansehen, sind in letzter Instanz
also weiter nichts, als die unmittelbaren und notwendigen Folgen
der Züchtung: entweder (bei den Organismen im Kuhurzustande)
Folgen der künstlichen Züchtung durch den Willen des Menschen,
oder (bei den Organismen im Naturzustande) Folgen der natürlichen
Züchtung durch den Kampf um das Dasein. Alle diese Divergenz-
erscheinungen sind durch che Gesetze der Anpassung (Ernährung)
und Vererbung (Fortpflanzung) bedingt: und wenn uns die individuelle
Entwickelungsgeschichte die ontogenetische Charakterdivergenz der
morphologischen Individuen in schneller Reihenfolge vor Augen führt,
so haben wir darin lediglich die Vererbung der phylogenetischen
Differenzierung zu erblicken, welche die Vorfahren des betreffenden
Organismus während ihrer langsamen paläontologischen Entwickelung
erhtten haben, und deren reife Früchte in der Gegenwart uns die
vergleichende Anatomie als ..systematische Differenzierung" nachweist.
Die Entwickelungsfunktion der Differenzierung oder des Polymorphis-
mus wird also durch die Selektionstheorie auf die physiologischen
Ursachen der Vererbung und Anpassung zurückgeführt, d. h. sie wird
mechanisch erklärt. Ohne die Selektionstheorie dagegen bleibt sie
uns in ihrem eigentlichen Wesen unverständlich.
IX. Die Selektionstlieorie und das Fortsclirittsgesetz.
D erFortschritt(Pro^rc.ss^/.s) od er die Vervoll komm nung(T<^/eo.s<.s)
als notwendige Wirkung der Selektion.
Ebenso w^e die Differenzierung oder Arbeitsteilung der Organismen,
müssen wir auch die nicht minder wichtige und auffallende Vervoll-
kommnung oder den Fortschritt der Organismen, wie er sich in der
gesamten indi\iduellen und paläontologischen Entwickelungsgeschichte
312 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
und in clor vergleichenden Anatomie offenbart, als die unmittelbare
und notwendige Folge der natürlichen Züchtung im Kampfe um das
Dasein betrachten. Ebenso wie die Erscheinung der Differenzierung,
wird auch die Erscheinung der Vervollkommnung unmittelbar durch
die Selektionstheorie — und nur durch diese! — mechanisch erklärt,
und da wir überall die Tatsachen der Progression ebenso wie diejenigen
der Divergenz vor Augen sehen, so können wir aus den ersteren.
ebenso wie aus den letzteren, wiederum auf die Wahrheit der Selektions-
theorie zurückschließen.
Die Tatsachen der fortschreitenden Entwickelung oder der all-
mählichen Vervollkommnung der Organismen sind so allbekannt, daß
wir dieselben hier nicht mit Beispielen zu belegen brauchen. Die
gesamte Paläontologie, die gesamte Embryologie, die gesamte Syste-
matik der Tiere, Protisten und Pflanzen liefert uns hierfür eine fort-
laufende Beweiskette. Alle gedankenvollen Arbeiter auf diesen Wissen-
schaftsgebieten haben jenes Gesetz der fortschreitenden Entwickelung
(Progressus) oder der Vervollkommnung (Tclcosis) als eines der
obersten organischen Grundgesetze anerkannt. Am ausführlichsten
hat dasselbe in neuerer Zeit der treffhche Bronn behandelt, welcher
sowohl für die paläontologische als für die systematische Entwickelung
das „Gesetz der progressiven Entwickelung" oder das Gesetz der
Vervollkommnung durch eine sehr sorgfältige Zusammenstellung der
beweiskräftigsten Tatsachen empirisch unumstößlich begründet hat.
Obwohl nun in den letzten Jahrzehnten die Geltung des Gesetzes
der fortschreitenden Entwickelung als einer empirisch festgestellten
Tatsache von den verschiedensten Seiten anerkannt w^orden ist, so
bheb dieselbe doch für die meisten ein rätselhaftes und unbegreif-
liches „organisches Naturgesetz", dessen Erklärung nur durch die
dualistische Annahme eines teleologischen Schöpfungsplans, den der
Schöpfer bei Fabrikation der Organismen befolgte, möglich schien.
Eine naturwissenschaftliche, d. h. eine monistische, mechanisch-kausale
Erklärung des empirischen Gesetzes wurde erst durch die Deszendenz-
theorie, und in letzter Instanz erst durch ihre kausale Grundidee,
die Selektionstheorie, möglich. Diese aber erklärt uns die Tatsachen
des Fortschritts, ebenso wie diejenigen der Differenzierung, in der
einfachsten Weise, als die notwendige Wirkung der natürlichen Züchtung
im Kampfe um das Dasein.
Wir müssen hier zunächst bemerken, daß das Fortschrittsgesetz
keineswegs mit dem Divergenzgesetz identisch ist, wie es von vielen
XIX. I-^- Die Selektionstheorie und das Fortschrittsgesetz. 313
Autoren iiTtümlicli angenommen wird. Sehr liäufic;- werden diese
beiden verschiedenen Begriffe veimischt. Der Grund hiervon liegt darin,
daß allerdings die allermeisten Differenzierungsprozesse progressive
Entwickelungsvorgänge oder Vervollkommnungen sind. Daneben gibt
es jedoch auch viele Divergenzvorgänge, welche weder als Fortschritt
noch als Rückschritt, und andere, welche entschieden als Rückschritt
angesehen werden müssen. Ebenso w^enig ist auf der anderen Seite
jeder Fortschritt eine Differenzierung: vielmehr gibt es andere pro-
gressive Entwickelungsvorgänge (namentlich Wachstumsprozesse),
welche keineswegs eine Divergenz, aber dennoch einen Fortschritt
bewirken. Bronn, welcher am genauesten diese verschiedenen Vor-
gänge untersucht hat, unterscheidet demgemäß sechs verschiedene
Gesetze progressiver Entwickelung. Diese Gesetze sind: 1. Differen-
zierung der Funktionen und Organe: 2. Reduktion der Zahlen gleich-
namiger Organe: 3. Konzentrierung der Funktionen und ihrer Organe
auf bestimmte Teile des Körpers: 4. Zentralisierung eines jeden ganzen
oder teilweisen Organsystems, so daß seine ganze Tätigkeit von einem
Zentralorgane abhängig wird ; 5. Internierung insbesondere der edelsten
Organe, so weit sie nicht eben notwendig an der Oberfläche hervor-
treten müssen, um die Beziehungen des Organismus mit der Außen-
welt zu unterhalten: 6. größere räumliche Ausdehnung im einzelnen
und ganzen. Obw^ohl es gewiß ein großes Verdienst Bronns ist,
hierdurch gezeigt zu haben, daß nicht alle Progreß-Phaenomene ein-
fache Differenzierungen sind, so müssen wir doch gegen die allgemeine
Gültigkeit der sechs von ihm unterschiedenen Fortschrittsgesetze
vielfache Bedenken erheben. Nicht bloß die vier letzten, welche nur
sehr beschränkte und spezielle Gültigkeit haben, sondern auch das
zweite Gesetz (das Gesetz der Zahlenreduktion gleichartiger Teile),
welches nächst dem Differenzierungsgesetze offenbar das wichtigste
ist, müssen noch sehr bedeutende Modifikationen erleiden und in
anderer Form präzisiert werden. Da jedoch dieser Gegenstand, wie
überhaupt die ganze Frage von der fortschreitenden A'ervollkommnung
der Organismen und von den Kriterien der organischen Vollkommen-
heit äußerst schwierig und verwickelt ist, und da noch keine weiteren
ernstlichen Versuche gemacht sind, in das Chaos des unendlichen
Materials, welches für diese wichtige Frage vorliegt, klares Licht zu
bringen, so können wir nicht näher darauf eingehen.
Da die allermeisten Fortschrittserscheinungen unmittelbar mit
Differenzierungsprozessen verknüpft, oder selbst mit diesen identisch
;-^|4 ^ie Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
sind, so bedarf es für diese, in Hinblick auf den vorhergehenden Ab-
schnitt, keines Beweises, daß sie unmittelbare und notwendige
Wirkungen der natürlichen Züchtung im Kampfe um das Dasein sind.
Aber auch für die anderen Erscheinungen der Vervollkommnung,
welche wir vorher angeführt haben, und welche nicht unmittelbar
als Divergenzphänomene angesehen werden können, unterliegt es
keinem Zweifel, daß dieselben vollständig durch die Selektionstheorie
erklärt werden. Die Zentralisation der Organsysteme, die Konzentration
und Internierung der Organe, die Größenzunahme und die Zahlen-
reduktion der gleichartigen Teile sind immer, und ganz besonders
in den Fällen, wo sie einen entschiedenen Organisationsfortschritt
bekunden, entweder unmittelbare Anpassungen, oder aber durch die
Wechselwirkung von Anpassung und Vererbung bedingt. Da diese
progressiven Entwickelungsprozesse in allen Fällen den betreffenden
Organismen im Kampfe um das Dasein nützlich sind, und ihnen
entschiedene Vorteile über die nächstverwandten, nicht progressiv
abgeänderten Formen gewähren, so werden [sie einfach durch die
natürliche Züchtung erhalten und befestigt. Alle diese Erscheinungen
der Vervollkommnung lassen sich mithin als notwendige Folgen der
Wechselwirkung von Vererbung und Anpassung nachweisen, und sind
keineswegs die Folgen eines unbekannten und unerklärten, auf rätsel-
haften Ursachen beruhenden ., Gesetzes der fortschreitenden Ent-
wickelung".
Einige Autoren haben das Fortschrittsgesetz oder das Ge-
setz der fortschreitenden Entwickelung als ein absolutes, allgemein
gültiges und ausnahmsloses betrachtet, und behauptet, daß dasselbe
allerorten und allerzeit die gesamten Organisationsverhältnisse vor-
wärts treibe und ohne Unterbrechung zur beständigen Vervollkommnung
ansporne. So richtig diese Behauptung im großen und ganzen ist,
so muß sie dennoch durch zahlreiche Ausnahmen modifiziert werden.
Es ist natürlich und notwendig, daß die immer zunehmende Differen-
zierung aller irdischen Verhältnisse und aller Existenzbedingungen
für die Organismen auch eine entsprechende Differenzierung der
Organismen selbst zur unmittelbaren Folge hat, und in den aller-
meisten Fällen ist diese Differenzierung selbst ein entschiedener Fort-
schritt, eine unzweifelhafte Vervollkommnung. Andrerseits ist aber
nicht zu vergessen, daß jede Arbeitsteilung neben den ganz über-
wiegenden Vorteilen und Fortschritten auch ihre großen Nachteile
und Rückschritte notwendig im unmittelbaren Gefolge hat. Wir sehen
XIX. I^^- Die Selektioiistheorie und das Fortschiittsgesetz. 315
(lies überall in dem Polymorphismus der menschlichen Gesellschaft,
welche uns in ihrer staatlichen und sozialen, besonders aber in ihrer
wissenschaftlichen Entwickelung die kompliziertesten nnd am meisten
zusammengesetzten von allen Differenzierungs-Phänomenen zeigt. Wir
brauchen bloß auf die Morphologie der Organismen in ihrem gegen-
wärtigen traurigen Zustande einen Blick zu werfen, um diese erheb-
lichen Schattenseiten der weit vorgeschrittenen Arbeitsteilung klar vor
Augen zu sehen. Wäre dies nicht der Fall, so müßte die Selektions-
theorie bereits die gesamte Biologie beherrschen. Die größten Nach-
teile für die Wissenschaft entstehen dadurch, daß sich die meisten
Arbeiter ganz auf ein einzelnes kleines Arbeitsfeld beschränken und
den engsten Spezialanschauungen anpassen, während sie sich um das
große Ganze nicht mehr bekümmern. Dadurch verlieren sie aber
nicht nur den freien Überblick für das umfassende Allgemeine, sondern
auch die Fähigkeit, in dem auserwählten Spezialgebiete weitergreifende
Fortschritte herbeizuführen. Dieser große Nachteil der einseitigen
Spezialisierung wird von den meisten übersehen, gegenüber den be-
deutenden Vorteilen, welche jene einseitige, spezielle ..Fachbildung"'
dem Detailarbeiter gewährt; und gerade dieser praktische Nutzen
ist es, welcher die rückschreitende allgemeine Bildung der Spezialisten
begünstigt.
Was uns so die menschlichen Verhältnisse, und besonders die
wissenschaftlichen, in den verwickeltsten Differenzierungsprozessen
zeigen, das gilt ebenso für die gesamte organische Natur. Überall
wird die Entwickelung der praktischen Typen auf Kosten der idealen
durch die natürliche Züchtung begünstigt. Zugleich entstehen immer
neben den höchsten Plätzen und den einseitig vervollkommneten
Stellen im Naturhaushalte zahlreiche unvollkommene Plätze und sehr
beschränkte Stellen: und die Organismen, die diesen sich anpassen,
erleiden dadurch gewöhnlich eine sehr bedeutende Rückbildung. Rück-
schritt ist also hier neben und mit dem Fortschritt eine unmittelbare
Folge der Differenzierung durch die Züchtung. Die schwächeren und
unvollkommneren Individuen, welche im Wettkampfe mit den stärkeren
und vollkommneren unterliegen, und nicht der von den letzteren
erorberten besten Existenzbedingungen teilhaftig werden, können sich
nur dadurch erhalten, daß sie auf jenes höhere Ziel verzichten und
sich mit einfacheren Verhältnissen begnügen. Indem sie sich diesen
aber anpassen, erleiden sie notwendig mehr oder minder bedeutende
Rückbildungen, welche bei sehr einfachen Verhältnissen (z. B. Para-
316 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheoiie. XIX.
sitisniiis) oft erstaunlich weit gehen. Schon aus dieser einfachen
Erwägung folgt, daß die natürhehe Züchtung keineswegs ausschließ-
lich fortbildend und vervollkommnend, sondern auch rückbildend und
erniedrigend wirkt. Die Veränderungen der organischen Natur halten
mit denen dei' anorganischen immer gleichen Schritt. Wir finden,
daß in Beiden die fortschreitende Differenzierung im ganzen zwar
tiberwiegt, aber doch im einzelnen zugleich notwendig vielfache Rück-
schritte bedingt. Während die höheren und besseren Stellen im
Naturhaushalte an Zahl und vollkommener Ausstattung beständig
zunehmen, und von entsprechend verbesserten und vervollkommneten
Organismen besetzt werden, benutzen die weniger begünstigten und
von letzteren im Wettkampfe besiegten Organismen die gleichzeitig
frei werdenden einfacheren und schlechteren Stellen des Naturhaus-
halts, um ihre Existenz zu retten. Während die ersteren fortschreiten,
gehen die letzteren zurück. Keine Gruppe von organischen Erscheinungen
zeigt uns die hohe Bedeutung dieser Tatsache so schlagend, als die
mannigfaltigen Phänomene des Parasitisnms, vorzüglich in den Ab-
teilungen der Crustaceen, Würmer und Orobancheen. Wie die Ontogenese
dieser Organismen unwiderleglich zeigt, beruht ihre Phylogenese auf
einer entschiedenen rückschreitenden Differenzierung, die durch die
natürliche Züchtung veranlaßt ist.
Wenn wir daher die gesamten Differenzierungsphänomene in der
organischen Natur nach ihrem historischen Verlauf vergleichend über-
blicken, so gelangen wir zu demselben großen und erfreulichen Ge-
samtresultat, welches uns auch die Geschichte der menschlichen
Völker (oder die sogenannte Weltgeschichte) und namentlich die
Kulturgeschichte, allein schon deutlich zeigt: Im großen und
ganzen ist die Entwickelungsbewegung der gesamten orga-
nischen Welt eine stetig und tiberall fortschreitende, wenn-
gleich die überall wirkenden Differenzierungsprozesse notwendig neben
den überwiegenden Fortschrittsvorgängen im kleinen und einzelnen
auch zahlreiche, und oft bedeutende Rückschritte in der Organisation
bedingen. Indessen treten diese Rückschritte, wie sie in der Völker-
geschichte vorzüglich durch die Herrschaft der Priester und Despoten,
in der übrigen organischen Natur vorzüglich durch Parasitismus be-
dingt werden, doch im großen und ganzen vollständig zurück gegen-
über der ganz vorherrschenden Vervollkommnung. Der Fortschritt
zu höheren Stufen der Vollkommenheit ist in der gesamten organischen
Natur ein genereller und universeller, der gleichzeitig stattfindende
XIX. ^^- Die Selektionstlieoiie und das Fortsclirittsgesetz. 317
Rückschritt zu niederen Stufen ein spezieller und lokaler Prozeß.
Sowohl der überwiegende Fortschritt in der Vervoll-
kommnung des Ganzen, als der hemmende Rückschritt in
der Organisation des Einzelnen, sind mechanische Natur-
prozesse, welche mit Notwendigkeit durch die natürliche
Züchtung im Kampfe um das Dasein bedingt sind, und
durch die Selektionstheorie (und nur durch sie allein!) voll-
ständig erklärt werden.
Dieser letztere Satz muß besonders betont werden, weil gerade
an diesem Punkte die teleologische und dualistische Dogmatik besonders
tiefe und feste Wurzeln geschlagen hat. Dies zeigt sich nicht allein
in den kindlichen und keiner Widerlegung bedürftigen Behauptungen
derjenigen Teleologen, welche in dem Gesetze der fortschreitenden
Entwickelung einen besonderen Beweis für die Yortrefflichkeit des
Schöpfungsplans und für die AVeisheit des (natürlich ganz anthropo-
morph gedachten) Schöpfers erblicken wollen. Auch monistische
Naturforscher, welche im ganzen unsere Ansichten teilen, haben sich
der Annahme eines besonderen ., Vervollkommnungsprinzips" nicht
entziehen zu können geglaubt. So hat insbesondere Nägeli neben
der „Nützlichkeitstheorie"' (wie er Darwins Selektionstheorie nennt),
noch eine besondere „Vervollkommnungstheorie'' festhalten zu müssen
geglaubt, welche die Annahme fordert, „daß die individuellen Ab-
änderungen nicht unbestimmt, nicht nach allen Seiten gleichmäßig,
sondern vorzugsweise und mit bestimmter Orientierung nach Oben,
nach einer zusammengesetzteren Organisation zielen"'. Nägeli glaubt
zwar, für dieses Vervollkommmmgsprinzip „keine übernatürliche Ein-
wirkung nötig zu haben". Indessen ist er den Beweis einer not-
wendigen Existenz desselben und einer mechanischen Erklärung seiner
Wirksamkeit schuldig geblieben, und wir glauben nicht, daß dieser
wird geliefert werden können. Durch Nägeli"s Annahme. ..daß der
Organismus in sich die Tendenz habe, in einen komplizierter ge-
bauten sich umzubilden," geraten wir auf die schiefe Ebene der
Teleologie, auf der wir rettungslos in den Abgrund dualistischer
Widersprüche hinabrutschen und uns von der allein möglichen
mechanischen Naturerklärung völlig entfernen. Wir können uns aber
um so weniger zur Annahme eines solchen besonderen, bis jetzt ganz
unerklärlichen Vervollkommnungsprinzips entschließen, als uns die
Selektionstheorie die vorwiegend fortschreitende Richtung der
Differenzierung durch die natürliche Züchtung; ganz wohl erklärt,
318 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
und als daneben die überall vorkommenden Rückbildungen zeigen,
daß der Fortschritt keineswegs ein ausschließlicher und unbeding-
ter ist.
Indem wir also den allgemeinen und überwiegenden, jedoch durch
A'iele einzelne Rückschritte unterbrochenen Fortschritt als ein allge-
meines mechanisches Naturgesetz festhalten, welches mit Notwendig-
keit aus der beständigen Wirksamkeit der natürlichen Züchtung folgt,
haben wir schließlich noch einen Blick auf die drei verschiedenen
Erscheinungsreihen der fortschreitenden Entwickelung zu werfen,
welche den drei Differenzierungsreihen entsprechen, und welche in
ihrer auffallenden Parallele uns einen der wichtigsten Beweise für
die Wahrheit der Deszendenztheorie liefern. Es sind dies die drei
parallelen Fortschrittsketten der paläontologischen, erabryologischen
und systematischen Vervollkommnung.
Die paläontologische Vervollkommnung oder der phylo-
genetische Fortschritt ist von diesen drei parallelen fortschreiten-
den Entwickelungsreihen (wie dies auch ebenso von den drei parallelen
Differenzierungsreihen gilt) der ursprünglichste und daher wichtigste.
Wenn wir vorher zeigten, daß der Fortschritt eine notwendige Folge
der Wechselwirkung von Anpassung und Vererbung sei, so galt dies
zunächst nur von der phylogenetischen Vervollkommnung, welche
sich in der allmählich fortschreitenden Entwickelung der Arten und
Stämme zeigt, darin also, daß die Transmutation der Spezies nicht
allein zur Erzeugung neuer, sondern im ganzen auch vollkommnerer
Arten führt, und daß mithin auch die Stämme im ganzen sich be-
ständig vervollkommnen. Die gesamte Paläontologie liefert hierfür
eine fortlaufende Beweiskette.
Die embryologische Vervollkommnung oder der onto-
genetische Fortschritt, welcher sich in der gesamten indivi-
duellen Entwickelungsgeschichte der Organismen als die am meisten
auffallende Erscheinung offenbart, ist die natürliche Folge des paläonto-
logischen Fortschritts, und durch die Vererbungsgesetze (besonders
durch die Gesetze der abgekürzten, der homochronen und homotopen
Vererbung) mit Notwendigkeit bedingt. Da die gesamte Onfogmie
nichts weiter, als eine kurze und schnelle Rekapitulation der
Phjloyenie des betreffenden Organismus ist, so muß natürlich auch
die vorzugsweise fortschreitende Bewegung der^ letzteren in der-
selben Weise wieder wie in der ersteren zutage treten. Da, wo
der überwiegende paläontologische Fortschritt durch Anpassung der
XIX. IX. Die Selektionstheorie und das Fortschrittsgesetz. 319
vollkoiniuneren Organismen an einfachere Existenzbedingungen lokal
modifiziert und beschränkt worden ist, wie namentlich bei den
Parasiten, da muß derselbe natürlich auch ebenso in der indi-
viduellen Entwickelung eine entsiDrechende ..regressive Metamor-
jjhose'^ zur Folge haben (sehr ausgezeichnet bei den parasitischen
Crustaceen).
Die systematische Vervollkommnung oder der spezi-
fische Fortschritt endlich, welcher vorzugsweise Objekt der ver-
gleichenden Anatomie ist, folgt ebenso unmittelbar wie der ontogene-
tische, aus dem paläontologischen Fortschritt. Zunächst ist hier zu
erwägen, daß die Vervollkommnung bei den verschiedenen Organismen
einen äußerst ungleichen Verlauf hinsichtlich ihrer Ausdehnung und
Schnelligkeit nimmt. Während einige Organismen in verhältnis-
mäßig kurzer Zeit einen sehr hohen Grad der Differenzierung und
der Vollkommenheit erreichen (z. B. die Säugetiere unter den Wirbel-
tieren, und besonders die Carnivoren und Primaten) verändern sich
andere, verwandte Organismen auch in sehr langen Zeiträumen nur
sehr wenig, und zeigen nur einen sehr geringen Grad der Vervoll-
kommnung und Divergenz (z. B. die Fische unter den Wirbeltieren,
und besonders die Ganoiden und Selachier). Noch andere, diesen ver-
wandte Organismen verändern sich zwar bedeutend, aber nicht in
fortschreitender, sondern in rückschreitender Richtung (z. B. die
Parasiten). Daher finden wir. daß sehr viele gleichzeitig existierende
Organismen, obgleich sie von einer und derselben gemeinsamen
Stammform abstammen, dennoch einen äußerst verschiedenen Grad
der Vollkommenheit, ebenso wie der Differenzierung zeigen. Dieser
systematische oder spezifische Fortschritt, wie ihn die Systematik
und vergleichende Anatomie bei Vergieichung der verwandten und
koexistenten Organismen in der Form des Systems so deutlich nach-
weist, erklärt sich ebenso einfach, wie die beiden anderen Fort-
schrittsreihen, aus der Selektionstheorie. Er zeigt uns nur die reifen
Früchte des fortschreitenden Vervollkommnungs-Prozesses, wie er
sich in der Phylogenie divergierend gestaltet, und wie er sich in der
Ontogenie kurz wiederholt. Die vollkommene Parallele dieser drei
fortschreitenden Entwickelungsreihen. der paläontologischen, der em-
bryologischen und der systematischen Vervollkommnung, ist einer
der stärksten Beweise für die Wahrheit der Deszendenztheorie.
320 r)ie Deszendenztheorie und die Sclektionstheorie. XIX.
X. Dysteleologie oder Unzweckmäßigkeitslehre.
(Wissenschaft von den rudimentären, abortiven, verkümmeiten, fehl-
geschlagenen, atrophischen oder kataplastischen Individuen.)
X, A. Die Dysteleologie und die Selektionstheorie.
Von allen großen und allgemeinen Erscheinungsreihen der orga-
nischen Morphologie, welche uns durch die Deszendenztheorie voll-
kommen erklärt werden, während sie ohne dieselbe gänzlich uner-
klärt bleiben, ist nächst der dreifachen Parallele der paläontologischen,
embryologischen und systematischen Entwickelung vielleicht keine
einzige von so mächtiger und unmittelbar überzeugender Beweiskraft,
als der ebenso interessante als wichtige Phänomenenkomplex der
sogenannten ..rudimentären Organe", welche man häufig auch als
abortive, atrophische, verkümmerte oder fehlgeschlagene Organe be-
zeichnet. Wenn nicht die gesamte generelle Biologie, ebensowohl
die Morphologie als die Physiologie, in allen einzelnen Abschnitten
und Zweigen eine fortlaufende Kette von harmonischen Beweisen
für die Wahrheit der Abstammungslehre wäre, so würde allein schon
die Kenntnis jener ., Organe ohne Funktion" uns von derselben auf
das bestimmteste überzeugen. In gleichem Maße aber, als die Organe,
welche man sowohl in der Zoologie, als in der Botanik mit jenen
Namen bezeichnet, die höchste morphologische Bedeutung besitzen,
in gleichem ]Maße sind sie bisher fast allgemein vernachlässigt, oder
doch bei weitem nicht in dem Grade, wie sie es verdienen, gewür-
digt worden. Es war dies auch ganz natürlich, solange man in
Ermangelung der Deszendenztheorie nichts mit ihnen anfangen konnte,
und auf eine allgemeine mechanisch-kausale Erklärung der morpho-
logischen, und namentlich der ontogenetischen Tatsachen überhaupt
verzichten nmßte. Erst als Darwin die Abstammungslehre neu be-
lebte und durch die Selektionstheorie fest begründete, kamen auch
die rudimentären Organe wieder hoch zu Ehren. Sie werden von
jetzt an als eines der schlagendsten und wichtigsten Argumente zu-
gunsten derselben gelten müssen und als solche eine bisher nicht
geahnte Bedeutung erlangen.
Wenn die teologische und dadurch dualistische Biologie noch
heute allgemein behauptet und bis auf Darwin fast unangefochten
behauptet hat, daß die morphologischen Erscheinungen im Thier-
und Pflanzenreiche „zweckmäßige Einrichtungen" seien, daß sie nach
XIX. -^^- Dysteleologie oder Unzweckmäßigkeitslehre. 321
einem „zweckmäßigen Plane" angelegt und ausgeführt, durch „zweck-
tätige Ursachen" (causae finales) bestimmt seien, so wird diese grund-
falsche Ansicht, abgesehen von ihrer sonstigen Unhaltbarkeit, durch
nichts schlagender widerlegt, als durch die rudimentären Organe,
welche entweder ganz gleichgültig und unnütz, oder sogar ent-
schieden ..unzweckmäßig" sind. Die außerordentliche theoretische
Bedeutung, welche dieselben dadurch besitzen, die unerschütterliche
Basis, welche sie der von uns vertretenen und allein wahren mo-
nistischen, d. h. mechanisch-kausalen Erkenntnis der organischen
Natur liefern, ermächtig-t uns. die Wissenschaft von den rudimentären
Organen zu einer besonderen Disziplin der organischen Morphologie
zu erheben, welcher wir die bedeutendste Zukunft versprechen können.
Wir glauben diese Lehre mit keiner passenderen, und ihre hohe phi-
losophische Bedeutung richtiger andeutenden Bezeichnung belegen
zu können, als mit derjenigen der „Unzweckmäßigkeitslehre
oder Dysteleologie".
Die Organe, oder allgemeiner gesagt, organischen Körperteile,
welche das Objekt der Dysteleologie bilden, sind in der Botanik und
Zoologie mit mehreren verschiedenen Namen belegt worden: rudimen-
täre oder verkümmerte, atrophische oder unentwickelte, abortive oder
fehlgeschlagene Teile, auch wohl Hemmungsbildungen. Am besten
würde man sie wohl, mit Rücksicht auf ihre Entstehung durch re-
gressive oder kataplastische Entwicklung, „kataplastische oder
rückgebildete" Teile nennen, oder, mit Rücksicht auf den physiologi-
schen Degenerationsprozess, der diese bewirkt: ..degenerierte oder
entbildete Teile". Im ganzen hat man denselben in der Botanik
eine weit allgemeinere Aufmerksamkeit geschenkt, als in der Zoo-
logie, ohne daß jedoch, dort wie hier, die eigentliche Bedeutung
derselben gewöhnlich richtig erkannt worden wäre. Allerdings liegen
bei den Pflanzen, deren Organdifferenzierung durchschnittlich ja sehr
viel einfacher als diejenige der Tiere ist, diese kataplastischen Or-
gane viel offener und augenfälliger zutage, und es läßt sich hier
auch oft durch vergleichend anatomische und morphogenetische Unter-
suchung viel leichter der Nachweis ihrer eigentlichen Entstehung
und Bedeutung führen, als bei den Tieren; doch sind dieselben auch
bei den letzteren so allgemein vorhanden, daß es bei jeder genaueren
vergleichenden Betrachtung gelingt., sie in Menge nachzuweisen.
Die einzige Vorsicht, welche bei der Untersuchung der rudimen-
tären oder abortiven Teile nötig ist, besteht darin, daß man sich vor
Haeckel. Prinz, d. Moriihol. -1
322 I^i*^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
einer Verwechslung derselben mit werdenden oder neu entstehenden
Teilen hütet. Auch diese, in Anaplase begriffenen Teile, können als
„Rudimente", d. h. als unbedeutende und unscheinbare, physio-
logisch wertlose und morphologisch unentwickelte Teile erscheinen.
Meistens wird aber entweder ein Blick auf den Gang der individuellen
Entwickelung oder auf die Bildung desselben Organs bei verwandten
Organismen, genügen, uns erkennen zu lassen, ob dasselbe in fort-
schreitender Anaplase oder in rückschreitender Kataplase be-
griffen ist. Nur im letzteren Falle verdient es den Namen des
„abortiven oder atrophischen Organs''.
Am leichtesten werden wir zur Erkenntnis der rudimentären
Teile gewöhnlich auf physiologischem Wege geleitet, durch die Fest-
stellung nämlich, daß der betreffende Körperteil, obwohl morpholo-
gisch vorhanden, dennoch physiologisch nicht existiert, indem er
keine entsprechenden Funktionen ausführt. In dieser Beziehung
kann also der betreffende Körperteil entweder für den Organismus
vollständig nutzlos, gleichgültig, ein „Organ ohne Funktion", ein
„Werkzeug außer Dienst'* sein, oder aber ihm sogar positiv nach-
teilig und schädlich. Sehr häufig bedarf es jedoch keiner physio-
logischen Reflexion, um die rudimentären oder katapl astischen Teile
als solche zu erkennen. Ein Blick auf ihre empirisch leicht fest-
zustellende individuelle Entwickelung, oft schon ein vergleichend
anatomischer Blick auf ihre Bildung bei verwandten Organismen, ge-
nügt, um sie als wirklich rückgebildete, kataplastische Teile nach-
zuweisen.
X, B. Entwickelungsgeschichte der rudimentären oder
kat aplastischen Individuen.
Wenn es wirkHch solche „unzweckmäßige, unnütze" oder sogar
nachteilige und positiv schädhche Teile (Formindividuen) im Körper
der meisten Organismen gibt, wie sie von der Dysteleologie in der
ausgedehntesten Verbreitung nachgewiesen werden, so kann die Er-
klärung dieser höchst merkwürdigen Erscheinungen nur von der
Entwickelungsgeschichte gehefert werden. Da die Existenz der
rudimentären Teile vollkommen unvereinbar ist mit der herrschen-
den teleologischen Dogmatik, und speziell mit der duahstischen An-
nahme, daß der Organismus in allen seinen Teilen zweckmäßig ein-
gerichtet sei, daß alle Teile durch eine Causa finalis bestimmt
werden, als zwecktätige Organe zum Besten des Ganzen zusammen-
XIX. X. Dysteleologie oder Unzweckmäßigkeitslehre. 323
zuwirken, so können nur blinde mechanische „Causae efficientes"'
als die Ursachen ihrer Entstehung gedacht werden. Die einzig mög-
hche Annahme, welche dieselben zu erklären vermag, welche sie
aber auch vollständig und in der befriedigendsten Weise erklärt, ist
aus der Deszendenztheorie zu entnehmen; diese behauptet, daß die
kataplastischen Teile die außer Dienst getretenen, unbrauchbar ge-
wordenen Reste von wohl entwickelten Teilen sind, welche in den
Voreltern der betreffenden Organismen zu irgend einer Zeit voll-
ständig entwickelt, funktionsfähig, und tatsächlich wirksam waren:
und diese Erklärung der Abstammungslehre wird durch die Tat-
sachen der phylogenetischen und ontogenetischen Entwickelungs-
geschichte vollkommen bestätigt. Daß diese früher gut entwickelten
und leistungsfähigen Teile später in der jüngeren Generation der
Spezies leistungsunfähig wurden, und verkümmerten, liegt zunächst
und unmittelbar an einer Ernährungs Veränderung des betreffen-
den Teils, welche durch besondere Anpassungsbedingungen verursacht
ist. Diese Adaptionsverhältnisse können sehr verschiedener Natur
sein. Die größte Rolle spielt dabei gewöhnlich der Nichtgebrauch des
Organs, die mangelhafte oder ganz ausfallende Funktion. Ebenso wie
durch andauernden Gebrauch und Übung eines bestimmten Körper-
teils dessen Ernährung und damit auch das Wachstum gefördert
wird, wie Gebrauch und Übung zur A'^ergrößerung und Verstärkung
(Hypertrophie) eines Körperteils führen, ebenso führt umgekehrt der
mangelhafte oder unvollständige Gebrauch zur Schwächung und x\b-
nahme desselben (Atrophie), indem zunächst das Wachstum und die
Ernährung herabgesetzt wird. Indem nun diese durch Anpassung an
bestimmte Existenzbedingungen bewirkte Modifikation eines Körper-
teils von dem betreffenden Organismus auf seine Nachkommen ver-
erbt wird, indem durch fortdauernden Nichtgebrauch des abnehmen-
den Organs sich die Schwächung desselben häuft, führt dieser
Generationen hindurch fortgesetzte Mangel an Übung endlich zu
einem vollständigen Ausfallen, einem gänzlichen Schwunde des Or-
gans. Es werden also Körperteile, welche Generationen hindurch
gar nicht oder nur schwach gebraucht werden, nicht allein beständig
schwächer, atrophischer, rudimentärer, sondern ihr Rückbildungs-
prozeß, ihre Kataplase, führt schließlich zum vollständigen Schwunde,
zum vollendeten „Abortus".
Der Weg, auf dem die rudimentären Teile entstehen, ist also
offenbar derselbe, wie derjenige, auf dem neue Teile entstehen. Nur
21*
324 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
die Richtung der Bildungsbewegiiiiij; ist in beiden Fällen entgegen-
gesetzt. Ebenso wie bei der Neubildnng eines Organs eine Reihe
von vielen Generationen hindnrch zahlreiche kleine Zunahmen sich
häufen, und so endlich zur Entstehung eines ganz neuen Teils führen,
so häufen sich bei der Rückbildung eines Organs allmählich zahl-
reiche kleine Abnahmen, bis dasselbe nach Verlauf einer größeren
Generationsreihe endlich ganz verschwindet. Hier wie dort sind es
die Anpassung und die Vererbung, welche zusammen wirken und
welche, im Kampfe ums Dasein wirksam, die natürliche Zuchtwahl
als die bildende Ursache erkennen lassen.
Wir kommen hierbei zurück auf die wichtige Tatsache, daß die
natürliche Züchtung keineswegs immer bloß fortbildend, anaplastisch,
sondern auch rückbildend, kataplastisch wirkt. Sobald die Existenz-
bedingungen (z. B. beim Parasitismus) so einfach werden, daß der
Organismus, vorher an kompliziertere Bedingungen angepaßt, seine
entsprechend komplizierten Organe nicht mehr braucht, so werden
diejenigen Individuen, welche sich am meisten und am schnellsten
zurückbilden, diesen einfacheren Lebensbedingungen sich am besten
und vollständigsten anpassen, und daher einen Vorteil im Kampf
ums Dasein vor den voUkommneren Individuen der gleichen Art be-
sitzen. So entstehen also durch natürliche Zuchtwahl nicht nur voll-
kommnere, sondern auch unvoUkommnere Individuen und Organe.
Ein und derselbe Prozeß führt in einem Falle zur höheren Aus-
bildung und Vervollkommnung des Organs und selbst zur Neubildung
vorher nicht existierender Teile, im anderen Falle dagegen umgekehrt
zur Rückbildung und Verkümmerimg desselben, und endlich selbst
zum Verschwinden mancher existierenden Teile. Schon hieraus geht
hervor, daß, wie wir in den beiden vorhergehenden Abschnitten
zeigten, die Differenzierung der Organismen keineswegs immer und
notwendig mit einer Vervollkommnung, vielmehr häufig mit ent-
schiedener Rückbildung verbunden ist. Es ist besonders wichtig,
hierbei ins Auge zu fassen, daß durch den Besitz hoch differen-
zierter Teile dem Organismus nicht allein Vorteile, sondern auch
Lasten erwachsen, und daß also das Verschwinden solcher Teile,
welche immer eine bestimmte Quantität von Nahrung erfordern, fih-
ihn ein positiver Vorteil ist, sobald dieselben nicht mehr in Gebrauch,
ihm nicht mehr von Nutzen sind. So wird für eine Vogelart, welche
aus irgend einem Grunde sich das Fliegen abgewöhnt und sich zum
Laufen ausbildet, die allmähliche Verkümmerung und Reduktion der
XIX. ^- Dysteleologie oder Unzweckmäßigkeitslehre. 325
Flügel schon allein ans dem Grande ein großer Vorteil sein, weil
der beträchtliche Anfwand von Nahrungsniaterial, den die Flügel
erforderten, nunmehr dem übrigen Körper zugute kommt. Die
schwächere Ernährung der oberen, nicht mehr gebrauchten Ex-
tremitäten, wird hier unmittelbar eine entsprechend stärkere Er-
nährung der unteren, allein zur Ortsbewegung gebrauchten Ex-
tremitäten herbeiführen, und der Auf bil düng der letzteren wird die
Rückbildung der ersteren parallel gehen. Für ein parasitisches
Krustentier, welches in der Jugend frei beweglich und mit Sinnes-
organen versehen ist, wird späterhin, wenn es zur parasitischen
Lebensweise übergegangen ist und sich festgesetzt hat, der Verlust
der Sinnes- und Bewegungsorgane ein entschiedener Vorteil sein.
Denn dieselben Ernährungssäfte, dieselben Massen von Materie,
welche vorher für die Unterhaltung und Übung jener Organe ver-
wandt wurden, können nunmehr, wo diese nicht mehr in Wirksam-
keit sind, zur Bildung von Fortpflanzungstoffen verwandt werden.
Es ist also die möglichst ausgedehnte Rückbildung und der eventuelle
Schwund der unnützen Teile für den übrigen Körper von ent-
schiedenem Nutzen, wie wir es schon nach dem Gesetz der wechsel-
bezüglichen Anpassung, bei der großen Wichtigkeit der Wechsel-
beziehungen der verschiedenen Körperteile zueinander, erwarten
konnten. Der negative Vorteil, den der Verlust bestimmter über-
flüssiger oder schädlicher Teile dem Organismus gewährt, wird also
im Kampfe um das Dasein ebenso züchtend wirken, wie irgend ein
anderer positiver Vorteil. Er wird die Rückbildung (Kataplase) und
endlich die vollständige Vernichtung (Abortus) des kataplastischen
Teils bewirken.
Die Parallele zwischen der Phylogenie und Ontogenie tritt auch
in diesem Falle wiederum auf das schlagendste ans Licht; denn die
gesamte individuelle Entwickelungsgeschichte der rudimentären Teile
zeichnet uns in kurzer Z^t mit flüchtigen aber charakteristischen
Strichen die Grundzüge des langen und langsamen kataplastischen
Prozesses, durch welchen die rudimentären Teile im Laufe vieler Ge-
nerationen durch Anpassung an einfachere Lebensbedingungen, durch
Nichtgebrauch, NichtÜbung etc. von ihrer früheren Ausbildungshöhe
herabsanken. Hier, wenn irgendwo, kann auch der eifrigste Dualist,
falls er nicht ganz mit teleologischer Blindheit geschlagen ist, sich
monistischen Anschauungen nicht entziehen; ja dieselben sind hier
sogar unbewußt schon durch den Sprachgebrauch ausgedrückt, denn
326 I^i^ Deszendenztheorie uiul die Selektionstheorie. XIX.
die Bezeiclinungen der „verkümmerten, fehlgeschlagenen, abortierten,
atrophischen" Teile involvieren selbstverständlich die Annahme einer
früher dagewesenen höheren Ausbildung. Bei Betrachtung der para-
sitischen Crustaceen und ihrer regressiven Metamorphose muß jeder
Zweifel verschwinden. Hier hört jeder dualistische Erklärungsver-
such auf. Jede Teleologie unterhegt dem Gewichte dieser hand-
greiflichen Argumente, und der Monismus feiert durch die Deszendenz-
theorie seinen glänzendsten Sieg.
„Organe" im engeren Sinne, welche die Bezeichnungen „rudimen-
tärer, atrophischer, abortiver, fehlgeschlagener, verkümmerter, entarteter
Organe" etc. verdienen und welche wir sämtlich als „kataplastische
Organe" zusammenfassen wollen, sind in der gesamten Organismen-
welt so außerordentlich weit verbreitet, und so äußerst mannigfaltig
gebildet, daß die gesamte vergleichende Anatomie in fast allen Orga-
nismengruppen uns eine Fülle von schlagenden Beispielen liefert.
Wir wollen nur einige der wichtigsten hervorheben.
Am auffallendsten und bemerkenswertesten sind diejenigen Fälle
von kataplastischen Organen, bei denen eine ganz bestimmte, spezielle
und besonders ausgebildete Funktion eines sehr zusammengesetzten
Organs vollständig aufgehoben ist, trotzdem das Organ selbst vor-
handen ist. Kein Organ des tierischen Körpers ist in dieser Beziehung
vielleicht so außerordentlich merkwürdig, als das Auge, und die
rudimentären Augen der parasitischen und unterirdischen Tiere müssen
selbst dem befangensten und blödesten Naturforscherauge die Unmög-
lichkeit teleologisch -vitalistischer Erklärungen klar machen. Wir
finden solche rudimentäre Augen in den verschiedensten Stadien der
Kataplase, nicht selten noch mit vollständig erhaltenen lichtbrechenden
Medien und dem gesaraten optischen Apparate der ausgebildeten und
funktionierenden Augen, während sie doch statt der durchsichtigen
Cornea vollständig von undurchsichtiger Haut bedeckt sind, so daß
kein Lichtstrahl in sie hineinfallen kann. Bei parasitischen und be-
sonders bei Höhlen bewohnenden Tieren der verschiedensten Gruppen
können wir sie von diesem ersten Stadium der Kataplase bis zur
vollständigen Verkümmerung und endlich zum gänzlichen Schwunde
verfolgen. Von den zahlreichen Beispielen erwähnen wir bloß: von
den Säugetieren: mehrere Maulwürfe {Talpa caeca, Chrysochloris)
und Bhndmäuse {Spalax typMus, Ctenoymjs etc.); von den Reptilien:
viele unterirdisch lebende Eidechsen und Schlangen {TypliUnc, Diha-
mus, Äcontias caecus, AmpliisJmena, TypJüops etc.): unter den Am-
XIX. '\- Dysteleologie oder Unzwecknnißigkeitslehre. 327
pliibien: Caccilia, Proteus anguincus und andere Proteiden; unter
den Fischen: die YieX^xo^x^mx (Ambhjopsis spclaeus und Typhlichtliys
suhferraneus), einige Welse {Silnrns caecidicns), einige Aale {Aptcr-
ichtliijs caccus), und die parasitischen Myxinoiden (besonders Gastro-
hranchus caecus). Noch viel zahlreicher, als unter den Wirbeltieren,
sind Beispiele von rudimentären Augen unter allen Abteilungen der
Wirbellosen zu finden, besonders bei Parasiten, Höhlenbewohnern,
und solchen, die auf dem dunkeln Grunde des tiefen Meeres leben:
wir erinnern bloß an die zahlreichen blinden Insekten (besonders
Hymenoptereu und Käfer), Arachniden, Crustaceen, Schnecken.
Würmer etc. Alle Stadien der paläontologischen Kataplase sind hier
anzutreffen und liefern die unwiderlegiichsten Beweise für die Des-
zendenztheorie.
Nächst den Gesichtsorganen sind es vorzüglich die Flugorgane,
welche unter den kataplastischen Organen besonders merkwürdig und
wichtig sind. Wir haben bloß zwei Tierklassen mit entwickelten
Flugorganen, welche hier in Betracht kommen, die Vögel und die
Insekten: denn die unvollkommenen Flügel (Brustflossen) der fliegenden
Fische {Dadylopteriis, Exocoetus, Pegasus), sowie der fliegenden
Leguane (Draco), Beuteltiere (Petaurus), Nagetiere (Pteroiui/s) und
Dermopteren {Gcdeopiihccus), sind erst werdende (anaplastische),
nicht verkümmernde Flugorgane, und unter den fliegenden Fleder-
mäusen und Pterodactylen mit vollkommen entwickelten Flugorganen
sind uns keine rudimentären oder verkümmerten Fälle bekannt. Unter
den Vögeln sind dm-cli die mehr oder weniger weit gehende Reduktion
der Flugwerkzeuge vorzüglich diejenigen ausgezeichnet, welche sich
das Laufen angewöhnt und dabei das Fliegen verlernt haben: die
merkwürdige Ordnung der Cursores: Strauß, Rhea, Kasuar, Apteryx,
Didus. Als rudimentäre Flugorgane können auch die Flügel der
Pinguine {Aptenodytes), betrachtet werden, welche jedoch in gute
Scliwimmorgane umgewandelt, und daher nicht so ohne Funktion,
wie die Flügel der Cursores oder Laufvögel sind. Unter den Insekten
sind die Beispiele von rudimentären oder verkümmerten Flügeln in
allen Ordnungen, und in sehr vielen Famihen, so überaus zahlreich,
daß wir in dieser Beziehung einfach auf die Handbücher der Entomologie
verweisen können. Es finden sich hier nicht allein viele Arten, bei
denen eines der beiden Geschlechter (gewöhnlich das Weibchen) flügel-
los, das andere (gewöhnlich das Männchen) geflügelt ist, sondern
auch viele Gattungen, von denen einzelne Arten mit i-udimentären,
328 Die Deszendenztheorie und die Selel^tionstiieorie. XIX.
die andern mit entwickelten Flügeln versehen sind, ferner ganze
flügellose Gattungen neben anderen geflügelten Gattungen derselben
Familie, flügellose Familien neben geflügelten Familien derselben
Ordnung, und endlich eine so große Gruppe von niederen flügellosen
Insekten ohne Yerwandlung, daß man dieselben sogar als eine be-
sondere Ordnung unter dem Namen der flügellosen Insekten (Aptera)
vereinigt hat. Die Flugwerkzeuge finden sich in allen diesen Fällen
auf den verschiedensten Stadien der paläontologischen Kataplase, so
daß über ihre Verkümmerung durch natürliche Züchtung gar kein
Zweifel existieren kann. Es sind aber diese Fälle um so wichtiger,
als offenbar alle anatomischen und morphogenetischen Verhältnisse
der Insekten bestimmt darauf hinweisen, daß alle Mitglieder der
Insektenklasse, in dem Umfange, in welchem wir heutzutage dieselbe
kennen (also auch aUe jetzt lebenden Insekten aller Ordnungen) von
gemeinsamen geflügelten Voreltern abstammen, und daß demnach
alle gegenwärtig existierenden Fälle von Insekten mit rudimentären
Flügeln (ebenso wie alle Fälle von Vögeln mit rudimentären Flügeln)
einer phylogenetischen Kataplase durch natürliche Zuchtwahl ihren
Ursprung verdanken.
Wie die Flugwerkzeuge, so liefern uns auch die übrigen Be-
wegungsorgane der Tiere eine endlose Fülle von schlagenden Bei-
spielen für die Dysteleologie. Es gehören hierher die interessantesten
Phänomene aus der vergleichenden Anatomie der aktiven (Muskeln)
und passiven Bewegungsw^erkzeuge (Skeletteile). Wir erinnern bloß
an einen der wichtigsten und am besten bekannten Teile der ver-
gleichenden Anatomie, an die komparative Osteologie und Myologie
der Wirbeltiere. Wie dieser Teil der Morphologie von den geist-
reichsten vergleichenden Anatomen aller Zeiten, von Aristoteles
an bis auf Goethe, Cuvier, Johannes Müller, Gegenbaur und
Huxley, mit Recht als besonderer Lieblingszweig bevorzugt worden
ist, und wie er uns auf jeder Seite die schlagendsten Beweise für
die Deszendenztheorie in Hülle und Fülle liefert, so bereichert der-
selbe auch die Dysteleologie mit einer solchen Masse von Material,
daß es schwer wird, einzelne Fälle besonders hervorzuheben. Es
gibt fast keinen Teil des Wirbeltierskelets und der Wirbeltiermuskulatur,
welcher nicht durch alle Stadien der phylogenetischen Kataplase
hindurch (in sehr vielen Fällen sogar bis zum vollständigen Schwunde)
zu verfolgen wäre. Ganz vorzüglich gilt dies von den Extremitäten.
Wir erinnern bloß daran, daß alle uns bekannten Wirbeltiere mit
XIX. X- Dysteleologie oder Uiizweckmäßigkeitslehre. 329
Ausnahme des Ampliioxu>i und der Cydostomen) von genieinsanien
arcliozoisclien Voreltern abstammen, welche zwei Extremitätenpaare,
ein Paar Vorderbeine (Brustflossen) und ein Paar Hinterbeine (Bauch-
flossen) besaßen, und daß diese vier Extremitäten sowohl unter den
jetzt noch lebenden Vertebraten, als unter ihren ausgestorbenen Vor-
eltern, durch alle Stadien der historischen Rückbildung oder der
phylogenetischen Kataplase hindurch zu verfolgen sind, und zwar
sowohl die ganzen Extremitäten, als alle ihre einzelnen Teile, von
letzteren namentlich auch die fünf Zehen (welches offenbar die ur-
sprüngliche Zeilenzahl für jeden Fuß der gemeinsamen Stammeltern
aller höheren Wirbeltiere von den Amphibien aufwärts war). Den
Gipfel der paläontologischen Reduktion der vier ursprünglichen Wirbel-
tierextremitäten finden wir erreicht in ihrem vollständigen Schwunde
bei den meisten Schlangen und bei den flossenlosen Fischen {Apter-
ichthijs. Uropterygius, Oymnothorax und anderen Aalen). Übrigens
sind auch bei allen Klassen der Wirbellosen die Beispiele von teil-
weiser und vollständiger Kataplase der aktiven und passiven Be-
wegungsorgane, und besonders der Extremitäten, so außerordentlich
zahlreich und mannigfaltig, daß wir in der Tat keinen besonderen
Fall hervorzuheben brauchen. Die auffallendsten Beispiele liefern
die Gliedertiere, vorzüglich die Parasiten in den verschiedenen Ordnungen
der Insekten, Crustaceen etc.
Auch unter den Ernährungs Organen finden wir alle möghchen
Stadien der phylogenetischen Kataplase durch natürliche Züchtung.
Alle einzelnen Teile der Verdauungs- und Zirkulationsorgane, der
Respirations- und Sekretionsorgane, sowie diese ganzen Organapparate
selbst, können teilweise oder vollständig der historischen Rückbildung
im Kampf ums Dasein unterhegen. Eine Menge von besonders ein-
fachen und schlagenden Beispielen hefert das Gebiß der Wirbeltiere
und besonders der Säugetiere. NamentKch sind hier die von Darwin
angezogenen Beispiele der Wiederkäuer und Cetaceen von Interesse.
Die Kälber der Rinder besitzen vor der Geburt im Oberkiefer ver-
borgene Zähne, welche niemals den Kiefer durchbrechen. Ebenso
besitzen die Embryonen der zahnlosen Bartenwale in beiden Kiefern
Zähne, die niemals in Funktion treten. Bei den meisten Ordnungen
der Säugetiere sind einzelne Zähne des kompleten Gebisses rudimentär
geworden, welches die gemeinsamen Voreltern der Mamm allen besaßen,
bei der einen die Schneide-, bei der anderen die Eck-, bei der dritten
die Backzähne. Bei den Edentaten geht diese Reduktion noch viel
330 I^^^' Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
weiter und wird oft ganz Yollständig und allgemein. Die Speichel-
drüsen werden bei vielen im Wasser lebenden Säugetieren rudimentär,
so namentlich bei den Pinnipedien und den karnivoren Cetaceen,
bei welchen letzteren sie gänzlich schwinden. Sehr häufig werden
auch andere Drüsen und Anhänge des Darmkanals rudimentär,
z. B. ein Teil der Kiemen, die Appendices pyloricae und die
Schwimmblase bei vielen Fischen.
Beim Menschen ist als ein solcher rudimentärer Darmanhang
besonders der Processus vermiformis des Blinddarms hervorzuheben.
Er verdient deshalb besondere Berücksichtigung, weil er nicht nur
ein unnützes, sondern sogar ein entschieden schädliches und
gefährliches „nulimentäres Organ" darstellt. BekanntHch veran-
laßt das Steckenbleiben von Fruchtkernen u. dergl. im Wurmanhang
sehr häufig Entzündungen desselben und seiner Umgebung (Typhlitis,
Perit}T)hlitis), w^elche meistens letalen Ausgang haben. Dagegen ist
die Verödung und Verwachsung desselben infolge einer solchen
Entzündung durchaus mit keinem Nachteil für den menschlichen
Organismus verbunden. Es ist daher zu erwarten, daß die natürliche
Züchtung denselben vollständig zum Verschwinden bringen wird.
Ganz vollständige Verkümmerung des Darmkanals bis zum
Schwinden findet sich bei einigen Imagines (namentlich Männchen)
von Insekten (deren Larven einen Darm besitzen), ferner bei einigen
Crustaceen und vielen Würmern, besonders den Acanthocephalen und
Cestoden, deren Voreltern zweifelsohne einen Darm besessen haben.
Nicht minder zahlreich und mannigfaltig sind die dysteleologischen
Beispiele im Bereiche des Zirkulationssystems. Wir erinnern bloß
daran, daß von den mehrfachen (6 — 7) Aortenbogenpaaren, welche
die gemeinsamen Voreltern aller uns bekannten Wirbeltiere besaßen,
die meisten Vertebiaten nur einen oder einige Bogen entwickelt, den
größeren Teil verkümmert zeigen, und daß von den beiden abdominalen
Aortenstämmen bei den Vögeln der linke, bei den Säugern der rechte
atrop liiert. Vollständigen Schwund des Zirkulationssystems, und
ebenso auch des Respirationssystems finden wir bei vielen durch
Parasitismus rückgebildeten Tieren, besonders Gliedertieren. Durch
Schwund einer von beiden Lungen zeichnen sich die meisten Schlangen
und viele schlangenähnliche Eidechsen aus. Partieller Schwund der
Kiemen (an der Zahlenreduktion der Kiemenblattreihen sehr deutlich
nachzuweisen) findet sich bei vielen Fischen. Ebenso erleiden die
verschiedenartigen Sekretions- und Exkretionsorgane in den ver-
XIX. X. Dysteleologie oder Unzwecknüißigkeitslehre. 331
schiedeneii Tierklassen, oft bei nahe verwandten Arten, den ver-
schiedensten Grad der Kataplase.
Anch die Fortpflanzungsorgane liefern uns eine Fülle der
trefflichsten dysteleologischen Beweise, die besonders dann von Interesse
sind, wenn die Sexualorgane bei beiden Geschlechtern in derselben
Form angelegt und ursprünglich in der Weise differenziert sind, daß
beim männlichen Geschlecht eine Reihe, beim weiblichen Geschlecht
eine andere Reihe von Teilen rudimentär geworden ist. während eine
dritte Reihe bei beiden Geschlechtern zur vollständigen Entwickelung
gekommen ist. Auch hier wieder sind die Wirbeltiere und namentlich
die Säugetiere von besonderer Wichtigkeit. Hier werden beim Manne die
MüUerschen Fäden rudimentär und nur die Reste ihres unteren Endes
bilden den Uterus masculinus (die Vesicula prostatica). die Reste
des oberen Endes die Morgagnische Cyste des Nebenhodenkopfs,
während beim Weibe Uterus und Eileiter aus denselben MüUerschen
Fäden gebildet werden. Umgekehrt verhalten sich die Wölfischen
Gänge oder die Ausführungsgänge der Primordialnieren. welche beim
Weibe (als sogenannte „Gartnersche Kanäle") rudimentär werden,
während dieselben beim Manne sich zu den Samenleitern ausbilden.
Ebenso schwinden auch beim Weibe die Urnieren selbst (oder die
Wolffschen Körper), indem als abortiver Rest derselben bloß die
Rosenmüllerschen Organe oder Nebeneierstöcke (Parovaria) übrig
bleiben, wogegen aus denselben beim ]\Iaune sich der Nebenhoden
(Epididymis) entwickelt. Was dagegen die äußeren Genitalien be-
trifft, die ebenso wie die inneren bei beiden Geschlechtern aus der-
selben gemeinschaftlichen Grundlage sich entwickeln, so ist die weibliche
Clitoris. welche dem männlichen Penis entspricht, nicht als ein
rudimentäres kataplastisches, sondern als ein werdendes Organ zu
betrachten. Die ^Milchdrüsen (Mammae) und die dazu gehörigen
Milchzitzen (Bnistwarzen) der Säugetiere finden sich ebenfalls bei
beiden Geschlechtern der Säugetiere, beim männlichen aber bloß
rudimentär. Bisweilen können sie auch hier wieder in Funktion
treten und sich nochmals anaplastisch entwickeln, wie die bekannten
Beispiele von säugenden Männern und Ziegenböcken beweisen, welche
durch A. v. Humboldt und andere sichere Gewährsmänner festge-
stellt sind. Bei den alten gemeinsamen Voreltern der Säugetiere
haben demnach wahrscheinlich beide Geschlechter die Jungen gesäugt
und erst später ist zwischen Beiden die Arbeitsteilung des Säuge-
g'eschäfts eingetreten.
332 Di^ Deszendenztheorie nnd die Selektionstheorie. XIX.
Im Pflanzenreiche haben die rudimentären Organe, hier ge-
wöhnUch als ..fehlgeschlagene oder abortierte" bezeichnet, schon seit
langer Zeit weit mehr Beachtung als im Tierreiche gefunden, obwohl
auch hier die wahre Erklärung der längst bekannten, aber immer
falsch gedeuteten Tatsachen erst durch die Deszendenztheorie möglich
geworden ist. In allen iVbteilungen des Pflanzenreichs sind rudimentäre
Organe, und bei den Kormophyten sowohl Blatt- als Stengelorgane,
in entschieden kataplastischem Zustand sehr leicht nachzuweisen.
Doch müssen wir auch hier ebenso wie im Tierreiche wohl unter-
scheiden zwischen werdenden (anaplastischen) und rückschreitenden
(kataplastischen) Organen, welche letzteren allein den Namen der
„rudimentären Organe" in engerem Sinne verdienen. Diese wichtige
theoretische Unterscheidung ist oft sehr schwierig, sowohl bei rudi-
mentären Blatt- als Stengelorganen. Als unzweifelhaft kataplastische
Ernährungsorgane können wir z. B. die haarförmigen, borsten-
förmigen und schuppenförmigen Blattrudimente der Kakteen, des
Ruscus^ vieler Schmarotzer (Orobanchc, Lathraea) etc. ansehen.
Äußerst verbreitet sind kataplastische Blätter in den Fortpflanzungs-
organen (Blütenteilen) der Phanerogamen, von denen wohl die aller-
meisten jetzt lebenden Arten dergleichen besitzen. Es ist nämlich
aus vielen (besonders promorphologischen) Gründen zu vermuten, daß
die homotypisclie Grundzahl oder die Antimerenzahl (bei den Mono-
cotyledonen ganz vorherrschend drei, bei den Dicotyledonen fünf,
seltener vier) ursprünglich in allen Blattkreisen (Metameren) der
Blüte dieselbe gewesen ist, und daß erst durch nachträgliche Reduktion
(Kataplase) einzelner Antimeren in einzelnen Blattkreisen die betreffen-
den Geschlechtsorgane rückgebildet worden oder verloren gegangen
sind. Am häufigsten trifft diese phylogenetische Kataplase die weib-
lichen, viel seltener die männlichen Geschlechtsteile, und von den
BlüteuhüUblättern viel häufiger die Krone, als den Kelch. In sehr
zahlreichen Fällen liefert uns noch gegenwärtig die Ontogenie der
Blüte den unwiderleglichen Beweis dafür, indem die später verküm-
mernden Teile in der ursprünglichen Anlage nicht allein vorhanden,
sondern auch ebenso gut entwickelt sind, als diejenigen, welche später
allein vollständig ausgebildet erscheinen. Doch ist es auch hier oft
sehr schwer, zwischen der bloßen Hemmungsbildung (d. h. dem Stehen-
bleiben einzelner Organe auf früherer, niederer Stufe und der ein-
seitigen Ausbildung anderer koordinierter Organe) und der wirkHchen
paläontologischen Rückbildung zu unterscheiden. Die letztere scheint
XIX. XI. Oekologie und Chorologie. 333
jedoch im ganzen sehr viel häufiger als die ersterc zu sein. Die
besonderen Verhältnisse der natürlichen Züchtung, welche im Kampfe
um das Dasein diese äußerst häufige Reduktion einzelner Geschlechts-
organe bedingt haben und noch jetzt beständig begünstigen, sind uns
noch ganz unbekannt. Je geringer aber das physiologische, um so
höher ist das morphologische Interesse dieser für die Dysteleologie
äußerst Avichtigen Erscheinungsreihen.
Die gesamte vergleichende Anatomie der Phanerogamenblüten
liefert solche Massen von Beispielen für die phylogenetische Kataplase
einzelner Geschlechtsorgane, daß wir hier nur ein paar Exempel für
beiderlei Genitalien erwähnen w^ollen. Die weiblichen Genitalien,
welche hierin am meisten ausgezeichnet sind, bieten dergleichen fast
überall. Von den drei Griffeln der Gräser ist der eine abortiert,
ebenso meist die eine von den drei Narben der Cyperaceen. Von
den fünf Griffeln der Umbelliferen sind drei verkümmert, von den
fünf Griffeln der Parnassia nur einer. Die Reduktion eines Teiles
der männlichen Genitalien charakterisiert oft große „natürliche
Familien"' der Phanerogamen. So ist z. B. bei den Labiaten (Didynamia)
von den ursprünglichen fünf Staubfäden fast immer einer, bisweilen
aber auch drei fehlgeschlagen (z. B. Lycopus, Bosmarinus, Salvia).
Ebenso sind bei den Kruziferen (Tetradynamia) fast allgemein von
den ursprünglichen acht Staubfäden zwei (der dorsale und ventrale
des äußeren Kreises) abortiert, bisweilen aber auch sechs {Lepidium
ruderale). Ebenso geht sehr häufig das eine oder andere Blatt aus
den vollzähligen Blattkreisen der Blütenhüllen, des Kelchs und be-
sonders der Krone verloren. .
XI. Oekologie und Chorologie.
In den vorhergehenden Abschnitten haben wir wiederholt darauf
hingewiesen, daß alle großen und allgemeinen Erscheinungsreihen
der organischen Natur ohne die Deszendenztheorie vollkommen un-
verständliche und unerklärliche Rätsel bleiben, während sie durch
dieselbe eine ebenso einfache als harmonische Erklärung erhalten.
Dies gilt in ganz vorzüglichem Maße von zwei biologischen Phänomen-
komplexen, welche wir schließlich noch mit einigen Worten besonders
hervorheben wollen, und welche das Objekt von zwei besonderen,
bisher meist in hohem Grade vernachlässigten physiologischen Dis-
ziplinen bilden, von der Oekologie und Chorologie der Organismen.
334 I^ip Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Unter Oekologie verstehen wir die gesamte Wissenschaft
von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden
Außenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle „Existenzbedin-
gungen" rechnen können.*) Diese sind teils organischer, teils an-
organischer Natur: sow^ohl diese als jene sind, wie wir vorher ge-
zeigt haben, von der größten Bedeutung für die Form der Organismen,
weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen. Zu den anorganischen
Existenzbedingungen, welchen sich jeder Organismus anpassen muß,
gehören zunächst die physikalischen und chemischen Eigenschaften
seines Wohnortes, das Klima (Licht, Wärme, Feuchtigkeits- und
Elektrizitätsverhältnisse der Atmosphäre), die anorganischen Nahrungs-
mittel, Beschaffenheit des Wassers und des Bodens etc.
Als organische Existenzbedingungen betrachten wir die sämt-
lichen Verhältnisse des Organismus zu allen übrigen Organismen,
mit denen er in Berührung kommt, und von denen die meisten ent-
weder zn seinem Nutzen oder zu seinem Schaden beitragen. Jeder
Organismus hat unter den übrigen Freunde und Feinde, solche,
w^elche seine Existenz begünstigen und solche, welche sie beein-
trächtigen. Die Organismen, w^elche als organische Nahrungsmittel
für andere dienen, oder welche als Parasiten auf ihnen leben, ge-
^^«liören ebenfalls in diese Kategorie der organischen Existenzbedingun-
gen. Von welcher ungeheuren Wichtigkeit alle diese Anpassungs-
verhältnisse für die gesamte Formbildung der Organismen sind, wie
insbesondere die organischen Existenzbedingungen im Kampfe um
das Dasein noch viel tiefer umbildend auf die Organismen ein-
wirken, als die anorganischen, haben wir in unserer Erörterung
der Selektionstheorie gezeigt. Der außerordentlichen Bedeutung dieser
Verhältnisse entspricht aber ihre wissenschaftliche Behandlung nicht
im mindesten. Die Physiologie, welcher dieselbe gebührt, hat bis-
her in höchst einseitiger Weise fast bloß die Konservationsleistungen
der Organismen untersucht (Erhaltung der Individuen und der Arten,
Ernährung und Fortpflanzung), und von den Relationsfunktionen
bloß diejenigen, welche die Beziehungen der einzelnen Teile des Or-
ganismus zu einander und zum Ganzen herstellen. Dagegen hat sie
die Beziehungen desselben zur Außenwelt, die Stellung, welche jeder
Organismus im Naturhaushalte, in der Ökonomie des Naturganzen
*) Anni. (190G). Die Bezeiclmung Oekoloj!;ie ist später Ijald durch
Bionomie, bald durch Ethologie ersetzt worden. Vielfach wird sie auch
noch Biologie schlechtweg (im engsten Sinne!!) genannt.
XIX. XI. Oekologie und Chorologie. B35
einnimmt, in hohem Grade vernachlässigt, und die Sammhing- der
hierauf bezüghchen Tatsachen der kritiklosen „Naturgeschichte" über-
lassen, ohne einen Versuch zu ihrer mechanischen Erklärung zu
machen.
Diese große Lücke der Physiologie wird nun von der Selektions-
theorie und der daraus unmittelbar folgenden Deszendenztheorie voll-
ständig ausgefüllt. Sie zeigt uns, wie alle die unendlich komplizierten
Beziehungen, in denen sich jeder Organismus zur Außenwelt be-
findet, wie die beständige Wechselwirkung desselben mit allen or-
ganischen und anorganischen Existenzbedingungen nicht die vor-
bedachten Einrichtungen eines planmäßig die Natur bearbeitenden
Schöpfers, sondern die notwendigen Wirkungen der existierenden
Materie mit ihren unveräußerlichen Eigenschaften, und deren kon-
tinuierlicher Bewegung in Zeit und Raum sind. Die Deszendenz-
theorie erklärt uns also die Haushaltsverhältnisse der Organismen
mechanisch, als die notwendigen Folgen wirkender Ursachen, und
bildet somit die monistische Grundlage der Oekologie. Ganz das-
selbe gilt nun auch von der Chorologie der Organismen.
Unter Chorologie verstehen wir die gesamte Wissenschaft
von der räumlichen Verbreitung der Organismen, von ihrer
-geographischen und topographischen Ausdehnung über die Erdober-
fläche. Diese Disziplin hat nicht bloß die Ausdehnung der Stand-
orte und die Grenzen der Verbreitnngsbezirke in horizontaler Richtung
zu projizieren sondern auch die Ausdehnung der Organismen ober-
halb und unterhalb des Meeresspiegels, ihr Herabsteigen in die
Tiefen des Ozeans, ihr Heraufsteigen auf die Höhen der Gebirge in
vertikaler Richtung zu verfolgen. Im weitesten Sinne gehört mithin
die gesamte „Geographie und Topographie der Tiere und Pflanzen"
hierher, sowie die Statistik der Organismen, welche diese Verbreitungs-
Verhältnisse mathematisch darstellt. Nun ist zwar dieser Teil der
Biologie in den letzten Jahren mehr als früher Gegenstand der
Aufmerksamkeit geworden. Insbesondere hat die „Geographie der
Pflanzen" durch die Bemühungen Alexander von Humboldts
und P'rederik Schouws lebhaftes und allgemeines Interesse erregt.
Auch die Geographie der Tiere ist von Berghaus. Seh mar da und
anderen als selbständige Disziplin bearbeitet worden. Indessen ver-
folgten alle bisherigen Versuche in dieser Richtung entweder vor-
wiegend oder selbst ausschließlich nur das Ziel einer Sammlung und
geordneten Darstellung der chorologischen Tatsachen, ohne nach
336 Di^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
den Ursachen derselben zu forschen. Man suchte zwar die unmittel-
bare Abhängigkeit der Organismen von den unentbehrlichen Exi-
stenzbedingungen vielfach als die nächste Ursache ihrer geographischen
und topographischen Verbreitung nachzuweisen, wie sie dies zum Teil
auch ist. Allein eine tiefere Erkenntnis der weiteren Ursachen, und
des kausalen Zusammenhangs aller chorologischen Erscheinungen war
unmöglich, solange das Dogma von der Spezieskonstanz herrschte
und eine vernünftige, monistische Beurtheilung der organischen Natur
verhinderte. Erst durch die Deszendenztheorie, welche das erstere
vernichtete, wurde die letztere möghch, und wurde eine ebenso klare,
als durchschlagende Erklärung der chorologischen Phänomene ge-
geben. Im elften und zwölften Kapitel seines Werkes hat Charles
Darwin gezeigt, wie alle die unendlich verwickelten und mannig-
faltigen Beziehungen in der geographischen und topographischen
Verbreitung der Tiere und Pflanzen sich aus dem leitenden Grund-
gedanken der Deszendenztheorie in der befriedigendsten Weise er-
klären, während sie ohne denselben vollständig unerklärt bleiben.
Wir verweisen hier ausdrücklich auf jene geistvolle Darstellung, da
wir an diesem Orte keine Veranlassung haben, auf den Gegenstand
selbst näher einzugehen.
Alle Erscheinungen, welche uns die rein empirische Chorologie
als Tatsachen kennen gelehrt hat — die Verbreitung der verschie-
denen Organismenarten über die Erde in horizontaler und vertikaler
Richtung; die Ungleichartigkeit und veränderliche Begrenzung dieser
Verbreitungsbezirke; das Ausstrahlen der Arten von sogenannten
„Schöpfungsmittelpunkten-'; die zunehmende Variabilität an den
Grenzen der Verbreitungsbezirke; die nähere Verwandtschaft der
Arten innerhalb eines engeren Bezirkes; das eigentümhche Verhält-
nis der Süßwasserbewohner zu den Seebewohnern, wie der Insel-
bewohner zu den benachbarten Festlandsbewohnern; die Differenzen
zwischen den Bewohnern der südlichen und nördlichen, wie der öst-
lichen und westlichen Hemisphäre — alle diese wichtigen Erschei-
nungen erklären sich durch die Deszendenztheorie als die notwendigen
Wirkungen der natürlichen Züchtung im Kampfe um das Dasein,
als die mechanischen Folgen wirkender Ursachen. Wenn wir von
jener Theorie ausgehend uns ein allgemeines theoretisches Bild von
den notwendigen allgemeinen Folgen der natürlichen Züchtung für
die geographische und topographische Verbreitung der Organismen
entwerfen wollten, so würden die Umrisse dieses Bildes vollständig
XIX. >^II- nie Deszendenztheorie als Fundament der Morphologie. 337
mit den Umrissen des cliorologisclien Bildes zusammenfallen, welches
uns die empirische Beobachtung liefert.
Wir finden also, daß die tatsächlich existierenden Beziehungen
der Organismen zur Außenwelt, wie sie sich in der gesamten Summe
der oekologischen und chorologischen Verhältnisse aussprechen, durch
die Deszendenztheorie als die notwendigen Folgen mechanischer Ur-
sachen erklärt werden, während sie ohne dieselbe vollkommen un-
erklärt bleiben; wir erblicken daher in dieser Erklärung einen starken
Stützpfeiler der Deszendenztheorie selbst.
XII. Die Deszeiideiiztlieorie als Fundament der
organischen Morphologie.
Die Selektionstheorie und die durch sie kausal be-
gründete Deszendenztheorie sind physiologische Theo-
rien, welche für die Morphologie der Organismen das
unentbehrliche Fundament bilden. Die Darstelhmg der beiden
Theorien, welche wir in den vorhergehenden Abschnitten gegeben
haben, hielten wir für unerläßlich, weil wir in denselben — und
nur in ihnen allein! — den Schlüssel zum monistischen Verständnis
der Entwickeluugsgeschichte, und dadurch zur gesamten Morphologie
der Organismen überhaupt finden. Die unermeßliche Bedeutung jener
Theorien liegt nach unserer Ansicht darin, daß sie die gesamten
Erscheinungen der Biologie, und ganz besonders der Morphologie
der Organismen, monistisch, d. h. mechanisch erklären, in-
dem sie dieselben als die notwendigen Folgen wirkender Ur-
sachen nachweisen. Die beiden physiologischen Funktionen der
Anpassung, welche mit der Ernährung, und der Vererbung, welche
mit der Fortpflanzung zusammenhängt, genügen, um durch ihre
mechanische Wechselwirkung in dem allgemeinen Kampfe um das
Dasein die ganze 3Iannigfaltigkeit der organischen Natur hervorzu-
bringen, welche die entgegengesetzte dualistische Weltansicht nur
als das künstliche Produkt eines zweckmäßig tätigen Schöpfers be-
trachtet, und somit nicht erklärt. Bei den vielfachen Mißverständ-
nissen, welche in dieser Hinsicht über die Bedeutung der Selektions-
theorie und der Deszendenztheorie herrschen, und bei der falschen
Beurteilung, welche dieselben in so weiten Kreisen gefunden haben,
erscheint es passend, das Verhältnis der beiden Theorien zueinander,
zur Entwickelungsgeschichte und dadurch zur gesamten Morphologie
der Organismen nochmals ausdrücklich hervorzuheben.
H a e c k e 1 , Prinz, d. Morphol. '^^
338 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX.
Die Selektionstheorie von Darwin ist die kausale
Begründung der von Goethe und Laraarck aufgestellten
Deszendenztheorie. Die erstere zeigt uns, warum die unendlich
mannigfaltigen Organismenarten sich in dieser Weise aus gemein-
samen Stammformen durch Umbildung und Divergenz entwickeln,
wie es die Deszendenztheorie behauptet hatte. Wir selbst haben
gezeigt, wie die beiden formenden Bildungstriebe, welche Darwin
als die beiden Faktoren der Selektion nachwies, Vererbung und An-
passung, keine besonderen, unbekannten und rätselhaften Naturkräfte,
sondern einfache und notwendige Eigenschaften der orga-
nischen Materie, mechanisch erklärbare physiologische Funktionen
sind. Es ist möglich, daß neben der natürhchen Züchtung auch
andere ähnliche mechanische Verhältnisse in der organischen Natur
werden entdeckt werden, welche bei der Umwandlung der Spezies
mit wirksam sind. Indessen erscheint uns die natürhche Züchtung
vollkommen ausreichend, um die Entstehung der Spezies auf mecha-
nischem Wege zu erklären.
Die Deszendenztheorie ist die kausale Begründung
der Entwickelungsgeschichte, und dadurch der gesamten
Morphologie der Organismen. Wie wir zu dieser höchst wich-
tigen Kenntnis gelangt sind, haben die vorhergehenden Kapitel ge-
zeigt und werden die folgenden noch weiter erläutern. Hier wollen
wir nur als besonders wichtig nochmals hervorheben, daß der Grund-
gedanke der Deszendenztheorie, die gemeinsame Abstammung der
„verwandten'' Organismen von einfachsten Stammeltern, der einzige
Gedanke ist, welcher überhaupt die Entwickelung der Organismen
und dadurch ihre gesamten Formverhältnisse mechanisch erklärt.
Es gibt keine andere Theorie, welche uns die gesamten
Formverhältnisse der Organismen erklärt. Hierin finden wir
einen Unterschied zwischen der Deszendenztheorie und der Selektions-
theorie. Die Deszendenztheorie steht nach unserer Ansicht als einzig
mögliche unerschütterlich fest und kann durch keine andere ersetzt
werden. Es gibt keine andere Erklärung für die morpho-
logischen Erscheinungen, als die wirkliche Blutsverwandt-
schaft der Organismen. Eine Vervollkommnung der Deszendenz-
theorie kann daher nur insofern stattfinden, als die Abstammung der
einzelnen Organismengruppen von gemeinsamen Stammformen im
einzelnen näher bestimmt, und die Zahl und Beschaffenheit der
letzteren ermittelt wird. Dagegen kann die Selektionstheorie, wie
XIX. XII- Die Deszendenztheorie als Fundament der Morphologie. 339
bemerkt, wohl dadurch noch ergänzt werden, daß neben der natür-
lichen Züchtung' andere mechanische Verhältnisse entdeckt werden,
welche in ähnlicher Weise die Umbildung der Arten bewirken oder
doch befördern helfen.
Die der Deszendenztheorie entgegengesetzte dualisti-
sche Behauptung, daß jede Art oder Spezies unabhängig
von den verwandten entstanden sei, und daß die Formen-
verwandtschaft der ähnlichen Arten keine Blutsverwandt-
schaft sei, ist ein unwissenschaftliches Dogma, und als
solches keiner Widerlegung bedürftig. Es erscheint daher
hier keineswegs angemessen, noch weiter auf dieses ganz unhalt-
bare Dogma einzugehen und die absurden Konsequenzen, zu denen
dasselbe notwendig führt, hervorzuheben. Nur das wollen wir
hier noch bemerken, daß gerade in dieser Absurdität und vollstän-
digen Grundlosigkeit des Speziesdogma und der damit zusammen-
hängenden Schöpfungshypothesen seine innere Stärke liegt. Die
Kulturgeschichte der Menschheit und ganz besonders die Rehgions-
geschichte zeigt uns auf jeder Seite, daß willkürhch ersonnene
Dogmen um so fester und tiefer wurzeln, um so sicherer und all-
gemeiner geglaubt werden, je unbegreiflicher sie sind, und je mehr
sie sich einer wissenschafthchen Begründung entziehen. Es fehlt
dann der gemeinschaftliche Boden, auf welchem der Kampf zwischen
beiden entschieden werden könnte. Zugleich finden alle solche Dog-
men eine kräftige Stütze in der Trägheit des Denkvermögens bei
den meisten Menschen. Die große Mehrheit scheut sich, anstrengen-
den Gedanken über den tieferen Kausalnexus der Erscheinungen
nachzuhängen und ist froh, wenn ein aus der Luft gegriffenes Dogma
sie dieser Anstrengungen überhebt. Dies gilt ganz besonders von
den organischen Morphologen, welche von jeher in dieser Beziehung
sich vor allen andern Naturforschern ausgezeichnet haben. Natür-
Hch Hegt das nicht an den Personen, sondern an der Sache selbst.
Die Beschäftigung mit der unendlichen Fülle, Mannigfaltigkeit und
Schönheit der organischen Formen, sättigt so sehr den Anschauungs-
trieb (Naturgenuß) der organischen Morphologen, daß darüber der
höhere Erkennungstrieb meistens nicht zur Entwickelung kommt. Man
begnügt sich mit der Kenntnis der Formen, statt nach ihrer Er-
kenntnis zu streben. Der heitere Formengenuß tritt an die Stelle
des ernsten Forraenverständnisses. Hieraus und aus der mangel-
haften philosophischen Bildung der meisten Morphologen erklärt
90*
340 Die Deszendenztheorie mul die Selektionstheorie. XIX.
sich genügend ihr Abscheu gegen den wissenschaftlichen Ernst der
Deszendenztheorie, und ihre Vorliebe für das sinnlose Speziesdognia.
Die Annahme einer selbständigen Erschaffung konstanter Spezies
und die damit zusammenhängenden dualistisch -teleologischen Vor-
stellungen wenden sich an transzendentale, vollkommen unbegreifliche,
unerklärliche und unerforschliche Kräfte und Prozesse, und entfernen
sich somit gänzlich von dem empirischen Boden der Wissenschaft.
Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie sind
keine willkürlichen Hypothesen, sondern vollberechtigte
Theorien. Nicht allein die verblendeten und unverständigen Gegner
derselben, sondern auch manche treffliche und verständige Anhänger
derselben nennen die Deszendenztheorie eine Hypothese. Diese
Bezeichnung müssen wir entschieden verwerfen. Die Deszendenztheorie
behauptet keine Vorgänge, welche nicht empirisch festgestellt sind,
sondern sie verallgemeinert nur die Resultate zahlloser übereinstimmen-
der empirischer Beobachtungen und zieht daraus einen mächtigen
lud uktions Schluß, welcher so sicher steht, wie jede andere wohl
begründete Induktion. Eine solche Induktion ist aber keine bloße
Hypothese, sondern eine vollberechtigte Theorie. Sie verbindet die
Fülle aller bekannten Erscheinungen in der organischen Formenwelt
durch einen einzigen erklärenden Gedanken, welcher keiner einzigen
bekannten Tatsache widerspricht. Eine Hypothese, w^enngleich eine
notwendige, und zugleich eine Hypothese, welche die Schlußkette der
gesamten Deszendenztheorie vervollständigt, ist unsere Annahme der
Archigonie, welche im sechsten Kapitel des zweiten Buches von
uns begründet worden ist. Wir bedürfen dieser Hypothese durchaus,
um die einzige Lücke noch auszufüllen, welche die Deszendenztheorie
in dem mechanischen Gebäude der monistischen Morphologie gelassen
hat. Wir können nicht zweifeln, daß zu irgend einer Zeit des Erden-
lebens Moneren durch Autogonie entstanden sind. Indessen bleibt
die Archigonie eine reine Hypothese, weil wir darin einen Natur-
prozeß, den Übergang lebloser Materie in belebten Stoff, annehmen,
welcher bis jetzt noch durch keine sichere Beobachtung eine empi-
rische Begründung erhalten hat. Ganz anders verhält es sich mit
der Deszendenztheorie und der Selektionstheorie, welche sich in jedem
Punkte auf eine Fülle von empirischen Erfahrungen stützen, und für
welche die gesamte Morphologie der Organismen, sobald man ihre
Tatsachenketten objektiv beurteilt und richtig verknüpft, eine einzige
zusammenhängende Beweiskette herstellt. Daher wissen auch die
XIX. XII. Die Deszendenztheorie als Fundament der Morphologie. 341
kenntnisreicheren Morphologen. welche Gegner derselben sind, keine
Tatsache gegen dieselbe vorzubringen, sondern nur Einwürfe, welche
teils Ausflüsse blinden Autoritätenglaubens, teils konsequente Folgen
einer falschen dualistisch-teleologischen Gesamtauffassung der orga-
nischen Natur sind.
Die Selektionstheorie Darwins bedarf zu ihrer vollen
Gültigkeit keine weiteren Beweise. Sie stützt sich auf allge-
mein anerkannte physiologische Prozesse, die sich gleich allen anderen
auf mechanische Ursachen zurückführen lassen. Wer überhaupt eines
logischen Schlusses aus anerkannt richtigen Prämissen fähig ist, kann
ihr seine Anerkennung nicht vorenthalten. Wie selten aber solche
Logik unter den ., empirischen" Naturforschern und unter den scho-
lastischen ..Gelehrten" sind, beweisen am besten die zahlreichen
Verdammungsurteile über Darwins bewunderungswüi-diges Werk,
die. wieHuxley sehr richtig sagt. ..keineswegs das darauf verwendete
Papier wert sind."
Die Deszendenztheorie Lamarcks bedarf zu ihrer vollen
Gültigkeit keine weiteren Beweise. Wer sich auf Grund aller
bisherigen Erfahrungen noch nicht von ihrer Wahrheit überzeugen
kann, den wird auch keine einzige mögliche weitere „Entdeckung"
davon überzeugen. Abgesehen davon, daß Darwins Selektionstheorie
eine vollkommen ausreichende kausal-]nechanische Begründung der-
selben liefert, finden wir die stärksten Beweise für iJire Wahrheit
in der gesamten Morphologie und Physiologie der Organismen. Alle
uns bekannten Tatsachen dieses Wissenschaftsgebiets, namentlich alle
Erscheinungen der paläontologischen, individuellen und systematischen
Entwickelung, sowie die äußerst wichtige dreifache Parallele zwischen
diesen drei Entwickelungsreihen, die gesamte Dysteleologie, Ökologie
und Chorologie — kurz alle allgemeinen Phänomenkomplexe der
organischen Natur sind uns nur durch den einen Grundgedanken der
Deszendenztheorie verständlich und werden durch ihn vollkommen
erklärt. Ohne ihn bleiben sie gänzlich unverständlich und unerldärt.
Andererseits existiert in der gesamten organischen Natur keine einzige
Tatsache, welche mit demselben in unvereinbarem Widerspruch steht.
Wir haben also bloß die Wahl zwischen dem völligen Ver-
zicht auf jede wissenschaftliche Erklärung der organischen
Naturerscheinungen einerseits und der unbedingten An-
nahme der Deszendenztheorie anderseits.
Zwanzigstes Kapitel.
Ontogenetisclie Thesen.
„Kein Phäuomen erklärt sich aus sith selbst; nur
viele zusammen überschaut, methodiscli g:eor(lnet, g-eben zu-
letzt etwas, was für Theorie gelten könnte."
Goethe.
I. Thesen von der mechanischen Natnr der organischen
Entwickelung.
1. Die Entwickelung der Organismen ist ein physiologischer
Prozeß, welcher als solcher auf mechanischen „wirkenden Ursachen",
(1. h. auf physikalisch-chemischen Bewegungen beruht.
2. Die' Bewegungserscheinungen der Materie, welche
jeden physiologischen Entwickelungsprozeß veranlassen und be-
wirken, sind in letzter Instanz Anziehungen der Massenatome und
Abstoßungen der Ätheratome, aus welchen die organische Materie
ebenso wie die anorganische zusammengesetzt ist.
3. Die Entwickelung der Organismen äußert sich in einer
kontinuierlichen Kette von Formveränderungen der organischen Ma-
terie, welche sämtlich auf derartige physikalisch-chemische Bewe-
gungen, als auf ihre wirkenden Ursachen zurückzuführen sind.
4. Gleich allen wahrnehmbaren Bewegungserscheinungen in
der Natur, also auch gleich allen physiologischen Erscheinungen,
welche wir überhaupt kennen, erfolgen auch diejenigen der orga-
nischen Entwickelung mit absoluter Notwendigkeit und sind be-
dingt durch die ewig konstanten Eigenschaften der Materie und die
beständige Wechselwirkung ihrer wechselnden Verbindungen.
5. Alle organischen Entwickelungsbewegungen gehen unmittelbar
und zunächst aus von den labilen und höchst zusammengesetzten
Kohlenstoff Verbindungen der Eiweißgruppe, w^elche als ..Plasma"
der Piastiden das aktive materielle Substrat oder den ..Lebens -
Stoff"' im Körper aller Organismen bilden.
XX. Ontogenedsche Thesen. 343
6. Es existiert weder ein „Ziel", noch ein „Plan" der orga-
nischen Entwickelung.
IL Thesen von den physiologischen Funktionen der
organischen Entwickelung.
7. Die physiologischen Funktionen, auf denen ausschließlich
alle organische Entwickelung beruht, lassen sich sämtlich als Teil-
erscheinungen auf die allgemeine organische Fundamentalfunktion
der Selbsterhaltung oder der Ernährung im weiteren Sinne zu-
rückführen.
8. Die physiologischen Entwickeluugsfunktionen, auf welche
sich alle während der Morphogenese eintretenden Formveränderun-
gen, als auf ihre bewirkenden Ursachen zurückführen lassen, sind
die fünf Funktionen der Zeugung, des Wachstums, der Ver-
wachsung, der Differenzierung und der Degeneration.
9. Die erste Entwickelungsfunktion, die Zeugung (Generatio)
oder die Entstehung des morphologischen Individuums, mit welcher
jeder organische Entwickelungsprozeß beginnt, ist entweder Urzeu-
gung (Archigonia, Generatio sponianca) oder Elternzeugung (Fort-
pflanzung, Tocogonia, Propagatio, Gener aüo parentalis): sie ist im
letzteren Falle stets mit der Vererbung verknüpft und als Er-
nährungsprozeß aufzufassen, welcher über das individuelle Maß
hinausgeht.
10. Die zweite Entwickelungsfunktion, das Wachstum {Cre-
scentia)^ welches als einfaches oder zusammengesetztes Wachstum
jeden organischen Entwickelungsprozeß (mindestens in der ersten
Zeit) begleitet, ist eine Ernährungserscheinung, welche mit Volums-
zunahme des Individuums verbunden ist.
11. Die dritte Entwickelungsfunktion, die Differenzierung
(Divergeutia), welche sich in einer Hervorbildung ungleichartiger Teile
aus gleichartiger Grundlage äußert, ist eine Ernährungsveränderung,
welche durch die Anpassung an die Außenwelt, d. h. durch die
materielle Wechselwirkung der Materie des organischen Individuums
mit der umgebenden Materie bedingt ist.
12. Die vierte Entwickelungsfunktion, die Entbildung (De-
generatio), welche zuletzt stets das Ende der indivithiellen Ent-
wickelung herbeiführt, ist eine Ernährungsveränderung, welche mit
Abnahme der physiologischen Funktionen verbunden ist.
344 Ontogenetische Thesen. XX.
13. Die fünfte Entwickelungsfunktion. die Verwachsung
{ConcroiiCPiifia). welche gleicli den vorigen die morphologischen In-
dividuen aller sechs Ordnungen betreffen kann, besteht in einer
sekundären Verbindung von mehreren vorher getrennten Individuen
einer und derselben morphologischen Ordnung, durch welche ein
neues Individuum nächst höherer Ordnung entsteht.
III. Thesen von den organischen Bildungstrieben.
14. Die Formveränderungen, welche die organische Materie
während ihrer Entwickelung durchläuft, sind das Resultat der
Wechselwirkung zweier entgegengesetzter Bildungstriebe oder Ge-
staltungskräfte: eines inneren und eines äußeren Bildungstriebes.
15. Der innere Bildungstrieb oder die innere Gestaltungs-
kraft {Vis plastica interna) ist die unmittelbare Folge der mate-
riellen Zusammensetzung des Organismus, und daher mit der Erb-
lichkeit (Atavismus) identisch.
16. Der äußere Bildungstrieb oder die äußere Gestaltungs-
kraft {Vis plastica externa) ist die unmittelbare Folge der Abhängig-
keit, in welcher die materielle Zusammensetzung des Organismus
von derjenigen der umgebenden Materie (der Außenwelt) steht, und
daher mit der Anpassungsfähigkeit (Variabilitas) identisch.
17. Die beiden fundamentalen Bildungstriebe, welche durch ihre
beständige Wechselwirkung die jeden organischen Entwickelungs-
prozeß begleitenden Formveränderungen bedingen, sind demnach nicht
verschieden von den oben angeführten Entwickelungsfunktionen, da
die Vererbung unmittelbar durch die Fortpflanzung, die Anpassung
dagegen unmittelbar durch die Ernährung des Organismus vermittelt
wird.
18. Alle Charaktere der Organismen sind entweder ererbte
(durch Heredität erhaltene) oder angepaßte (durch Adaptation er-
worbene) Eigenschaften.
19. Die ererbten Eigenschaften (Characteres hereditarii) erhält
der Organismus durch Vererbung von seinen Eltern und A^oreltern
mittelst der Fortpflanzung.
20. Die angepaßten Eigenschaften {(liaractercs adaptati) er-
wirbt der Organismus entweder unmittelbar durch seine eigene An-
passung oder mittelbar durch Vererbung der Anpassungen seiner
Eltern und Voreltern.
XX. Ontogenetische Thesen. 345
21. Die erblichen Charaktere sind in letzter Instanz Wirkungen
der materiellen Zusammensetzung- der Eiweißverbindungen, welche
das Plasma der konstituierenden Plastiden bilden, und welche in
gewisser Beharrlichkeit durch alle Generationen übertragen werden.
22. Die angepaßten Charaktere sind in letzter Instanz die Folgen
der Wechselwirkung zwischen den Eiweißverbindungen der Pla-
stiden des Organismus und den damit in Berührung kommenden
Materien der Umgebung, welche in allen Generationen eine gewisse
Verschiedenheit zeigen.
28. Die erblichen Charaktere zeigen sich vorzugsweise in der
Bildung morphologisch wichtiger, physiologisch dagegen unwichtiger
Körperteile : sie erscheinen daher nur bei blutsverwandten Organismen
ähnlich, als Homologien.
24. Die angepaßten Charaktere zeigen sich vorzugsweise in der
Bildung physiologisch wichtiger, morphologisch dagegen unwichtiger
Kchp erteile: sie erscheinen daher auch bei nicht blutsverwandten
Organismen ähnhcli. als Analogien.
25. Im Laufe der individuellen Entwickelung treten die erblichen
Charaktere im ganzen früher als die angepaßten auf, und je früher
ein bestimmter Charakter in der Ontogenese auftritt, desto weiter
liegt die Zeit zurück, in welcher er von den Vorfahren erworben wurde,
lind desto bedeutender ist sein morphologischer Wert.
26. Für die Erkenntnis der Stammverwandtschaft ver-
schiedener Organismen haben nur die erblichen oder homologen
Charaktere, nicht die angepaßten oder analogen Charaktere Bedeutung.
IV. Thesen von den ontogenetischen Stadien.
27. Die Ontogenesis oder biontische Entwickelung, d. h. die
Entwickelung jedes Bionten oder physiologischen Individuums ist ein
physiologischer Prozeß von bestimmter Zeitdauer.
2S. Die Zeitdauer der individuellen Entwickelung jedes Bionten
wird durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bestimmt, und
ist lediglich das Resultat der Wechselwirkung dieser beiden physiolo-
gischen Faktoren.
29. In dem zeitlichen Verlaufe der individuellen Entwickelung
lassen sich allgemein drei verschiedene Abschnitte oder Stadien
unterscheiden, welche mehr oder minder deutlich voneinander sich
absetzen.
346 Ontogenetische Thesen. XX.
80. Jedes Stadium der individuellen Entwickelung ist durch einen
bestimmten physiologischen Entwickelungsprozeß charakterisiert,
welcher in demselben zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend
wirksam ist.
31. Das erste Stadium der biontischen Entwickelung. das Jugend-
alter oder die Aufbild ungs zeit, Anaplasis, ist durch das Wachs-
tum des Individuums charakterisiert.
32. Das zweite Stadium der biontischen Entwickelung. das Reife-
alter oder die Umbildungszeit, Metaplasis, ist durch die Differen-
zierung des Individuums charakterisiert.
33. Das dritte Stadium der biontischen Entwickelung, das Greisen-
alter oder die Rückbildungszeit, Kataplasis, ist durch die Degene-
ration des Individuums charakterisiert.
V. Thesen von den drei genealogischen Individualitäten.
34. Da die Lebensdauer der organischen Individuen eine be-
schränkte ist, die durch sie repräsentierte bestimmte organische Form
(Art) aber sich durch die Fortpflanzung der Individuen erhält, so
müssen wir bei Betrachtung der organischen Entwickelung unter-
scheiden zwischen derjenigen der Bionten und derjenigen der Arten.
35. Die individuelle oder biontische Entwickelung (Onto-
genesis) umfaßt die gesamte Reihe der Formverändeningen, welche
das physiologische Individuum (Blon) und der durch eines oder
mehrere verschiedene Bionten repräsentierte Zeugungskreis {Cyclus
generationis) während der ganzen Zeit seiner individuellen Existenz
durchläuft.
36. Die paläontologische oder phyletische Entwickelung
{Phyloyenesis) umfaßt die gesamte Reihe der Formveränderungen,
welche die Art (Specics) und der durch eine oder mehrere ver-
schiedene Arten repräsentierte Stamm (Phi/lon) während der ganzen
Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft.
37. Der Zeugungskreis (Cyclus generationis oder Tococydus)
bildet entweder als Spaltungskreis (Cyclus monogenes) oder als Ei-
kreis (Cyclus amphigenes) die genealogische Individualität erster
Ordnung.
38. Die Art {Species) bildet als die Summe aller gleichen Zeu-
gungskreise die genealogische Individualität zweiter Ordnung.
39. Der Stamm {PhyJiim) bildet als die Summe aller bluts-
verwandten Arten die genealogische Individualität dritter Ordnung.
XX. Ontogenetische Thesen. 34.7
VI. Thesen von dem Kausalnexus der biontischen und dvv
phyletischen Entwickelung,
40. Die Ontoyenesi^ oder die Entwickelung der organischen
Individuen, als die Reihe von Formveränderungen, welche jeder in-
dividuelle Organismus w^ährend der gesamten Zeit seiner individuellen
Existenz durchläuft, ist unmittelbar bedingt durch die FhyJogenesis
oder die Entwickelung des organischen Stammes (Phylon), zu welchem
derselbe gehört.
41. Die Oniogenesis ist die kurze und schnelle Rekapitu-
lation der Pliijlogenesis, bedingt durch die physiologischen Funktionen
der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung).
42. Das organische Individuum (als morphologisches Individuum
erster bis sechster Ordnung) wiederholt während des raschen und
kurzen Laufes seiner individuellen Entwickelung die wichtigsten von
denjenigen Formveränderungen, w^elche seine Voreltern während
des langsamen und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwicke-
lung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen
haben.
43. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen
durch die biontische Entwickelung wird verwischt und abgekürzt
durch sekundäre Zusammenziehung, indem die Ontogenese einen
immer geraderen Weg einschlägt; daher ist die Wiederholung um so
vollständiger, je länger die Reihe der sukzessiv durchlaufenen Jugend-
zustände ist.
44. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen
durch die biontische Entwickelung wird gefälscht und abgeändert
durch sekundäre Anpassung, indem sich das Bion während seiner
individuellen Entwickelung neuen Verhältnissen anpaßt: daher ist
die Wiederholung um so getreuer, je gleichartiger die Existenzbedin-
gungen sind, unter denen sich das Bion und seine Vorfahren entwickelt
haben.
SECHSTES BUCH.
ZWEITER TEIL DER ALLGEMEINEN
ENTWICKELUNG SGESCHICHTE.
GENERELLE PHYLOGENIE ODER
ALLGEMEINE ENTWICKELUNGSGESCHICHTE DER
ORGANISCHEN STÄMME.
(GENEALOGIE UND PALÄONTOLOGIE.)
..Die Kenntnis der organischen Naturen iilierhaupt. die Kenntnis der voll-
koniinneren. welche wir im eigentlichen Sinne Tiere und besonders Säugetiere
nennen, der Einblick, wie die allgemeinen Gesetze bei verschieden beschränkten
Naturen wirksam sind, die Einsicht zuletzt, wie der Mensch dergestalt gebaut
sei, daß er so viele Eigenschaften und Naturen in sich vereinige und dadurch
schon physisch als eine kleine Welt, als ein Repräsentant der übrigen Tier-
gattungen existiere — alles dieses kann nur dann am deutlichsten und schönsten
eingesehen werden, wenn wir nicht, wie bisher leider nur zu oft geschehen,
unsere Betrachtungen von oben herab anstellen und den Menschen im Tiere
suchen, sondern wenn wir von unten herauf anfangen und das einfachere Tier
im zusammengesetzten Menschen endlich wieder entdecken.
.,Es ist hierin schon unglaublich viel getan; allein es liegt so zerstreut
so manche falsche Bemerkungen und Folgerungen verdüstern die wahren und
echten, täglich kommt zu diesem Chaos wieder neues Wahre und Falsche hinzu,
sodaß weder des Menschen Kräfte, noch sein Leben hinreichen, alles zu sondern
und zu ordnen, wenn wir nicht den Weg, den uns die Naturhistoriker nur äußer-
lich vorgezeichnet, auch bei der Zergliederung verfolgen, imd es möglich machen,
das Einzelne in übersehbarer Ordnung zu erkennen, um das Ganze nach Gesetzen,
die unserem Geiste gemäß sind, zusammen zu bilden.
..Man wendete auch hier, wie in anderen Wissenschaften, nicht genug ge-
läuterte Vorstellungsarten an. Nahm die eine Partei die Gegenstände ganz ge-
mein und hielt sich ohne Nachdenken an den bloßen Augenschein, so eilte die
andere, sich durch Annahme von Endursachen aus der Verlegenheit zu helfen;
und wenn man auf jene Weise niemals zum Begriff eines lebendigen Wesens ge-
langen konnte, so entfernte man sich auf diesem Wege von eben dem Begriffe,
dem man sich zu nähern glaubte.
„Ebensoviel und auf gleiche Weise hinderte die fromme Vorstelhmgsart, da
man die Erscheinungen der organischen Welt zur Ehre Gottes unmittelbar deuten
und anwenden wollte.
..Sollte es denn aber unmöglich sein, da wir einmal anerkennen, daß die
schaffende Gewalt nach einem allgemeinen Schema die vollkommneren organischen
Naturen erzeugt und entwickelt, dieses Urbild, wo nicht den Sinnen, doch dem
Geiste darzustellen ? Hat man aber die Idee von diesem Typus gefaßt, so wird
man erst recht einsehen, wie unmöglich es sei, eine einzelne Gattung als Kanon
aufzustellen. Das Einzelne kann kein Muster vom Ganzen sein, und so dürfen
wir das Muster für alle nicht im Einzelnen suchen. Die Klassen, Gattungen,
Arten und Individuen verhalten sich wie die Fälle zum Gesetz: sie sind darin
enthalten, aber sie enthalten imd geben es nicht.''
Goethe (1796).
Einundzwanzigstes Kapitel.
Begriff und Aufgabe der Phylogenie.
,Eine innere und ursprüng-liche Gemeinschaft liegt
aller Organisation zug-runde; die Verschiedenheit der
Gestalten dag-egen entspringt aus den not-
wendigen Beziehungs Verhältnissen zur Außen-
welt, und man darf daher eine ursprüngliche, gleichzeitige
Verschiedenheit und eine unaufhaltsam fortschrei-
tende Umbildung mit Recht annehmen, um die ebenso
konstanten als abweichenden Erscheinungen begreifen zu
können.- Goethe (1824).
I. Die Phylogenie als Entwickelungsgesclüchte der Stämme.
Die Phylogenie oder Entwickelungsgeschichte der or-
ganischen Stämme ist die gesamte Wissenschaft von den
Formveränderungen, welche die Pliylen oder organischen
Stämme v^ährend der ganzen Zeit ihrer individuellen
Existenz durchlaufen, von dem Wechsel also der Arten oder
Spezies, welche als sukzessive und koexistente blutsverwandte Glieder
jeden Stamm zusammensetzen. Die iVufgabe der Phylogenie ist mithin
die Erkenntnis und die Erklärung der spezifischen Formveränderungen,
d. h. die Feststellung der bestimmten Naturgesetze, nach welchen alle
verschiedenen organischen Arten oder Spezies entstehen, welche als
divergente Nachkommen einer einzigen, gemeinsamen, autogenen Ur-
form ein einziges Phylon constituieren.
Wenn wir auch allgemein als die Aufgabe der Phylogenie die
Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme oder
Phylen bezeichnen können, so wird dennoch der reale Inhalt dieser
Disziphn eigentUch die konkrete Entwickelungsgeschichte der
Arten oder Spezies sein. Denn die sogenannten Arten oder Spezies
der Organismen setzen in ähnlicher Weise die höhere Individuahtät
des Stammes zusammen, wie sie selbst aus der niederen Individualität
des Zeugungskreises oder Generationszyklus zusammengesetzt sind.
352 Begriff und Aufgabe der Plivlogenie. XXL
Wie wir oben zeigten, stehen diese drei subordinierten Individualitäten,
der (rencrailons.iiß-hi!<, die Spciios und das FhiiJon. in einem ähn-
lichen Verhältnis zueinander, wie die verschiedenen, im neunten
Kapitel festgestellten Kategorien der morphologischen Individualität.
Jedes Phylon ist eine Vielheit von blutsverwandten Spezies und jede
Spezies ist eine Vielheit von gleichen oder vielmehr höchst ähnlichen
Zeugungslü-eisen. Wir konnten daher dieselben als drei verschiedene
Ordnungen oder Kategorien der genealogischen Individua-
lität, oder als drei subordinierte Entwickelungseinheiten folgender-
maßen über einander stellen: I. Der Zeugungskreis {Cydiis
generaüonis) ist die erste und niedrigste Stufe, IL die Art {Specics)
ist die zweite und mittlere Stufe, III. der Stamm {Phi/hon) ist die
dritte und höchste Stufe der genealogischen Individualität.
Die Phylogenie, als die Entwickelungsgeschichte der Stämme,
verhält sich demnach zur genealogischen Systematik, oder der Ent-
wickelungsgeschichte der Arten ganz analog, wie die Entwickelungs-
geschichte der physiologischen Individuen zu derjenigen der morpho-
logischen Individuen. Wie das physiologische Individuum während
verschiedener Perioden seiner individuellen Existenz durch eine
wechselnde Anzahl von morphologischen Individuen verschiedener
Ordnung repräsentiert wird, so wird gleicherweise das Phylon während
verschiedener Zeiten seiner individuellen Existenz durch eine wechselnde
Anzahl von verschiedenen Spezies dargestellt, w^elche sich nach dem
Grade ihres genealogischen Zusammenhanges in die verschiedeneu
Ordnungsstufen oder Kategorien des Systems neben und über ein-
ander ordnen lassen. Die konkrete Aufgabe der Phylogenie wird
also zunächst die Entwickelungsgeschichte der einzelnen blutsver-
w^andten Arten oder Spezies sein, und erst aus deren richtiger Er-
kenntnis und vergleichenden Synthese ergibt sich dann w^eiterhin als
das höhere und höchste Ziel der genealogische Zusammenhang der
verschiedenen Arten im natürlichen System, oder die wirklich zu-
sammenhängende Entwickelungsgeschichte der Stämme.
II. Paläoiitolosjie und Oeiiealogie.
Der innige und allgemeine Zusammenhang, w^elcher zwischen
der Phylogenie und der Ontogenie besteht, ist von uns bereits im
fünften Buche auf das entschiedenste hervorgehoben worden. Wir
erblicken in diesem unlösbaren Zusammenhange, in der gegenseitigen
XXI. II- Paläontologie und Genealogie. 353
Erläuterung" der Phylogenie und der Ontogenie, in ihrem durch die
Deszendenztheorie erklärten Kausalnexus, die wissenschaftliche
Grundlage der gesamten Entwickelungsgeschichte , und dadurch zu-
gleich der gesamten Morphologie. Diese äußerst wichtige Wechsel-
beziehung zwischen der Entwickelungsgeschichte der organischen
Individuen und der organischen Stämme bewog uns im achtzehnten
Kapitel, am Schlüsse jedes Abschnitts unser ..Ceferum censeo" folgen
zu lassen: „Alle Erscheinungen, welche die individuelle Entwickelung
der Organismen begleiten, erklären sich ledigHch aus der paläontolo-
gischen Entwickelung ihrer Vorfahren. Die gesamte Ontogenie
der Organismen ist eine kurze Rekapitulation ihrer Phy-
logenie."
Dieses Gesetz ( — unser Biogenetisches Grundgesetz — )
halten wir für so äußerst wichtig, daß wir dasselbe nicht genug
glauben hervorheben zu können; denn ohne die Phylogenie bleibt
uns die Ontogenie ein unverstandenes Rätsel. Wenn wir dagegen
das kausale Verständnis der Phylogenie durch die Deszendenztheorie
gewonnen haben, so erklärt sich uns daraus die Ontogenie eben so
einfach, als harmonisch. Andererseits bedürfen w^ir der Ontogenie
auf das dringendste, um die Phylogenie richtig zu w^ürdigen. Dieses
Verhältnis ist vorzüglich in dem Umstände begründet, daß unsere
empirischen Kenntnisse in der Entwickelungsgeschichte der Individuen
weit umfassender und vollständiger sind, als in derjenigen der Stämme.
Fast das einzige unmittelbare empirische Material, welches der letzteren
zugrunde liegt, liefert uns die Paläontologie. Dieses Material ist
aber nicht im entferntesten zu vergleichen mit demjenigen, w^elches
uns für die Ontogenie zu Gebote steht; vielmehr ist dasselbe im
höchsten Grade lückenhaft und unvollständig.
In der individuellen oder biontischen Entwickelungsgeschichte
können wir, wenigstens in sehr vielen Fällen, unmittelbar und Schritt
für Schritt mit unseren Augen die Formveränderungen verfolgen,
welche das physiologische Individuum während der ganzen Zeit seiner
Existenz, von seiner Entstehung bis zu seinem Tode durchläuft. Es
ist daher nicht zu verwundern, daß selbst sehr gedankenlose Zoologen
und Botaniker bisweilen ganz brauchbare biontische Entwickelungs-
geschichten von Tieren und Pflanzen schreiben. Es gehört dazu wesent-
lich nur ein gesundes Auge, ein wenig Geduld und Fleiß, und so
viel Verstand, um das unmittelbar Beobachtete getreu wiedergeben
zu können.
Haeckel, Prinz, d. Morpliol. ^^
354 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. XXI.
Unendlich schwieriger gestahet sich die Aufgabe für die paläon-
tologische oder phyletische Entwickelungsgeschichte. Hier liegt nirgends
eine zusammenhängende Kette von Tatsachen vor. welche der glück-
liche Beobachter einfach aufzunehmen und so darzustellen hat, wie
er sie sieht. Niemals ist der kontinuierliche Zusammenhang zwischen
den einzelnen aufeinanderfolgenden Entwickelungsstadien so wie
in der Embryologie gegeben. Vielmehr findet der Genealoge, welcher
es unternimmt, die Entwickelungsgeschichte eines Stammes und der
denselben zusammensetzenden Arten darzustellen, in allen Fällen nur
höchst unvollständige und vereinzelte Bruchstücke vor, welche es
gilt, mit kritischem Blicke — und fast möchten wir sagen: mit
richtigem morphologischem Instinkte — zusammenzusetzen und daraus
das ungefähre Schattenbild des längst entschwundenen Entwickelungs-
vorganges zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion erfordert ebenso
umfassende biologische und spezielle morphologische Kenntnisse, als
allgemeines Verständnis des Zusammenhanges der biologischen Er-
scheinungen: sie erfordert ebenso die äußerste Vorsicht, als die größte
Kühnheit in der hypothetischen Ergänzung der dürftigen Fragmente,
w^elche die Paläontologie uns liefert. Die Hypothese ist hier, wie
in der gesamten Genealogie, nicht bloß das erste Recht, sondern
auch die dringendste Pflicht.
Die paläontologische Entwickelungsgeschichte, wie sie
bisher behandelt, und in neuerer Zeit auch von einigen hervorragenden
Paläontologen im Zusammenhange dargestellt worden ist. bleibt ein
vollständig lückenhaftes und zerrissenes Flickwerk, w^enn sie sich auf
die bloßen Tatsachen beschränkt, welche die Paläontologie uns liefert,
und w^enn sie nicht zu deren Ergänzung den äußerst wichtigen drei-
fachen Parallelismus benutzt, welcher zwischen der biontischen, der
phyletischen und der systematischen Entwickelungsreihe besteht. Diese
Ergänzung durch ebenso umfassende und kühne, als vorsichtige und
kritische Anwendung der phyletischen Hypothese ist die erste Pflicht
der Genealogie oder Stamm bäum sichre im weiteren Sinne,
wie wir auch die gesamte theoretische Phylogenie oder die phyletische
Entwickelungsgeschichte nennen könnten. Wenn wir aber unter
Genealogie im engeren Sinne nur den ergänzenden und unentbehrlichen
hypothetischen Teil, unter Paläontologie im engeren Sinne dagegen
den empirischen, unmittelbar durch die Versteinerungskunde gegebenen
Teil der Phylogenie verstehen, so verhält sich die letztere zur ersteren
wohl nur selten ungefähr wie Eins zu Tausend, in den allermeisten
XXI. III- Kritik des paläontologischen Materials. 355
Fällen wohl kaum wie Eins zu Hunderttansend oder zur Million.
Dennoch ist hier bei Anwendung- der notwendigen Kritik außerordent-
lich viel zu leisten, und vorzüglich auf Grund der Ergänzung der
Paläontologie durch die Embryologie und Systematik, eine Reihe der
wichtigsten und sichersten Resultate zu erzielen.
Die Phylogenie oder die Entwickelungsgeschichte der organischen
Stämme in unserem Sinne ist also eine Wissenschaft, welche sich nur
zum allerkleinsten Teile aus dem empirischen Materiale der Palä-
ontologie oder Versteinerungskunde, zum bei weitem größten Teile
aus den ergänzenden Hypothesen der kritischen Genealogie oder
Stammbaumskunde zusammensetzt. Die letztere muß sich in erster
Linie auf das ergänzende Material der vergleichenden Anatomie,
Ontogenie und Systematik, und weiterhin auf eine denkende Benutzung
aller allgemeinen Organisationsgesetze sttitzen.
^b^
III. Kritik des paläontologiselieii Materials.
Für das richtige Verständnis der Phylogenie ist eine der ersten
und notwendigsten Vorbedingungen die richtige und volle Erkenntnis
von dem außerordentlich hohen Grade der UnvoUständigkeit und
Lückenhaftigkeit, den das gesamte empirische Material der Paläontologie
besitzt. Wir haben schon im vorhergehenden hervorgehoben, daß der
philosophischen Genealogie, welche auf Grund ontogenetischer und
systematischer Induktionen den hypothetischen Bau der zusammen-
hängenden Phylogenie zu errichten hat, ein weit größerer und um-
fassenderer Teil der phylogenetischen Aufgabe zufällt, als der empiri-
schen Paläontologie, welche uns nur einzelne isolierte Bruchstücke
für den Aufbau derselben zu liefern vermag. Diese Erkenntnis ist so
wesentlich, daß wir hier kurz die wichtigsten Ursachen der außer-
ordentlichen UnvoUständigkeit des paläontologischen Materials hervor-
heben müssen. Niemand hat dieselben bisher so richtig gewürdigt,
als die beiden großen Engländer Darwin und Lyell, von denen
der erstere dieselbe Reformation auf dem Gebiete der Paläontologie, wie
der letztere auf dem der Geologie durchgeführt hat. Darwin hat
der ..UnvoUkommenheit der geologischen Überlieferungen" ein be-
sonderes Kapitel seines Werkes (das neunte) gewidmet, auf welches
wir hier als besonders wichtig ausdrücklich verweisen.
Wenn wir die sämtlichen Umstände, welche die empirische
Paläontologie zu einem so höchst fragmentarischen Stückwerk machen,
23*
356 15egriff und Aufgabe der Tlivlngenie. XXI.
vergleichend erwägen, so können wir sie in zwei Reihen bringen,
von denen die einen ihre Ursache in der Beschaffenheit der Orga-
nismen, die anderen in der Beschaffenheit der Umstände haben,
unter denen ihre Reste in den neptunischen, aus dem Wasser abge-
lagerten Erdschichten erhalten werden können. In ersterer Beziehung
ist vor allem zu erwägen, daß in der Regel nur harte und feste Teile,
vorzüglich also Skelette, der Erhaltung im fossilen Zustande oder
der Petrifikation fähig waren. Nur verhähnismäßig selten konnten
auch von weichen und zarten Teilen der Organismen Abdrücke erhalten
werden. Es fehlen daher fast alle erkennbaren Reste von solchen
Organismen, die keine Skelette oder harten Teile besaßen. Dahin
gehören alle autogenen Moneren, welche wir als die ursprünglichen
Stammformen sämtlicher Phylen zu betrachten haben, sowie eine
große Anzahl zunächst von jenen Autogenen abstammender Genera-
tionen: sodann sehr viele Protisten, die meisten Wasserpflanzen, sehr
viele niedere Tiere (Medusen, Würmer, Nacktschnecken, Wirbeltiere
mit bloß knorpeligem Skelett etc.), endlich alle Embryonen aus der
ersten und sehr viele auch aus späterer Entwickelungszeit; sowie
überhaupt sehr viele zarte jugendliche Formen, auch von solchen
Organismen, die späterhin ein hartes Skelett erhalten. Bei allen
diesen Organismen fehhen eigenthche innere oder äußere Skelette,
und überhaupt geformte harte Teile, welche der Erhaltung fähig ge-
wesen wären. Aber auch bei den übrigen Organismen, welche solche
harte konservationsfähige Teile besitzen, machen dieselben in der
Regel nur einen sehr unbedeutenden und oft einen morphologisch
sehr wertlosen Teil des ganzen Körpers aus Am wichtigsten sind
in dieser Beziehung diejenigen Wirbeltiere, welche ein verknöchertes
inneres Skelett besitzen, ferner die hartschaligen Echinodermen und
Crustaceen, sowie die mit Kalkgehäusen versehenen Mollusken. Doch
kann man insbesondere bei den letzteren aus der Form der äußeren
Schale nur sehr unsichere Schlüsse auf die anatomische Beschaffen-
heit der Weichteile ziehen. Von der Beschaffenheit des Nervensystems
und des Gefäßsystems, sowie der meisten übrigen Organsysteme sagen
uns aber jene konservierten Hartgebilde unmittelbar gar nichts, und
die Andeutungen, welche wir von ihnen in dieser Beziehung erhalten,
sind nur sehr unsicher. Die ganze Summe der wirklich erhaltenen
tierischen Reste gibt uns also schon aus diesem Grunde nur ein sehr
unsicheres Bild von ihrer vormaligen Gesamtorganisation. Nicht
besser steht es mit den Pflanzen, von denen gerade die morpho-
XXI. III. Kritik des paläontologischen Materials. 357
logisch wichtigsten Teile, die Blüten, wegen ihrer zarten Struktur
nur sehr selten und höchst unvollständig in Abdrücken erhalten
werden konnten. Die Schlüsse, welche wir hier aus den Abdrücken
ganzer Pflanzen, sowie aus den besser konservierten härteren Teilen
(Holzstämmen, Früchten) ziehen können, ersetzen jenen Mangel nur
in sehr beschränktem Maße.
Höchst ungleichmäßig sind ferner die Bedingungen der Kon-
servation je nach dem verschiedenen Wohnorte der Organismen.
Bei weitem die größte Mehrzahl der Petrelakten gehört Meeres-
bewohnern an: viel seltener sind die Reste von Süßwasserbewohnern
und von Landbewohnern, und am seltensten diejenigen der Luft-
bewohner. Die Gründe, weshalb das Meer die günstigsten, das
Süßwasser viel ungünstigere, und das Festland die ungünstigsten
Bedingungen zur Fossilisation verstorbener Organismen darbot, liegen
so nahe, daß wir dieselben nicht zu erörtern brauchen. Ebenso
konnten selbstverständlich von Entozoen und von anderen Parasiten
keine Reste konserviert werden. Wenn wir ferner bedenken, wie
rasch überall jedes Kadaver seine Liebhaber findet, wie schnell
überall Tausende von Organismen beschäftigt sind, sich Fleisch und
Blut der Verstorbenen zunutze zu machen, wie die allermeisten
organischen Individuen nicht natürlichen Todes sterben, sondern von
übermächtigen Feinden vernichtet werden, so werden wir uns mehr
darüber wundern, daß noch so viele, als daß so äußerst wenige
deutlich erkennbare Reste übrig bleiben konnten.
Die andere Reihe von Ursachen, welche auf die fossile Kon-
servation der organischen Reste höchst nachteilig einwirken, liegt
in den Umständen, unter denen die neptunischen Erdschichten aus
dem Wasser abgelagert werden. Vor allem ist hier der von Dar-
wnn mit Recht besonders hervorgehobene Umstand äußerst wichtig,
daß versteinerungsführende Schichten nur während langer
Perioden andauernder Senkung des Bodens abgelagert
werden konnten. Wenn dagegen Senkungen mit Hebungen
wechselten, oder wenn lange Zeit hindurch Hebungen fortdauerten,
so konnten die neuabgelagerten Schichten nicht erhalten bleiben,
da sie alsbald wieder in den Bereich der Brandung versetzt und
so zerstört wurden. Diesen Umstand gehörig zu würdigen, ist aber
um so wichtiger, als gerade während der Hebungszeit (durch Ge-
winnung neuer Stellen im Naturhaushalte) die Divergenz der orga-
nischen Formen und die Entstehung neuer Arten sehr begünstigt
358 IJegiiff und Aufgabe der Pliylogenie. XXI.
wurde, während dagegen in den Senkungszeiten mehr Arten er-
löschen und zugrunde gehen mußten. Zwischen den langen Zeit-
räumen, in welchen je zwei aufeinander folgende Formationen oder
Etagen abgelagert wurden, und welche zwei Senkungsperioden ent-
sprechen, liegt demnach ein ungeheuer langer Zeitraum, in welchem
die alternierende Hebung des Bodens und die damit parallel gehende
Entstehung neuer Arten stattfand, von denen uns aber gar keine
Reste erhalten werden konnten. So erklärt sich ganz einfach der
zunächst befremdende *XJmstand, daß Flora und Fauna zweier ver-
schiedener, übereinander liegender Schichten so sehr verschieden
sind. In sehr vielen Sedimentsschichten endlich, wie z. B. in vielen
grobkörnigen Sandsteinen, ist die Erhaltung organischer Reste schon
wegen der Struktur des Gesteins selbst fast ganz unmöglich.
Aber auch die wirklich erhaltenen versteinerungsführenden
Schichten sind uns nur im höchsten Grade unvollständig bekannt.
Wir kennen von diesen fossiliferen Straten nur einen äußerst ge-
ringen Teil: sorgfältiger ist bisher nur ein Teil Europas und Nord-
amerikas hierauf untersucht. Von den Sediment-Schichten Asiens,
Südamerikas, Afrikas und Australiens, sowie überhaupt der ganzen
südlichen Hemisphäre kennen wir nur ganz geringe Bruchstücke.
Wie unvollständig wir aber selbst die am meisten untersuchten
Schichten (z. B. den lithographischen Schiefer des Jura) kennen,
geht am besten daraus hervor, daß noch jährlich neue Formen in
demselben entdeckt werden. Wir kennen ferner gar nichts von den
ungeheuren Massen fossilienhaltiger Schichten, welche gegenwärtig
unter dem Meeresspiegel ruhen, von denjenigen, welche jenseits der
Polarkreise liegen und von denjenigen, welche sich in metamor-
phischem Zustande befinden. Und doch sind die letzteren allein
aller Wahrscheinlichkeit nach bedeutend mächtiger, als alle nicht
metamorphischen Schichtenlagen zusammen.
Alle diese Umstände zusammengenommen beweisen uns. daß
die Gesamtheit des paläontologischen Materials oder die sogenannte
„geologische Schöpfungsurkunde" im allerhöchsten Maße unvoll-
ständig und lückenhaft ist, und daß sie uns für die zusammen-
hängende phyletische Entwickelungsgeschichte nur einzelne dürftige
Andeutungen, nirgends aber eine vollständige und zusammenhängende
Entwickelungsreihe liefert. Von sehr vielen fossilen Organismen-
arten kennen wir nur ein einziges Exemplar oder einige wenige
höchst unvollkommene Bruchstücke, z. B. einen einzelnen Zahn oder
XXI. I^ • Die Kataklysmeutheorie und die Kontiiiuitätstheorie. 359
ein paar Knochen. Von keiner einzigen fossilen Art können wir
uns ein einigermaßen vollständiges Bild ihrer gesamten Verbreitung
und Entwickelung in der Vorzeit entwerfen. Alle unsere paläonto-
logischen Sammlungen zusammengenommen sind nur ein winziges
Fragment, nur ein Tropfen im Meere, gegenüber der ungeheuren
Masse erloschener Organismen, die in früheren Zeiten unsere Erd-
rinde belebten. Bevor diese Überzeugung nicht durch reifliche Er-
wägung aller hier einschlagenden Umstände befestigt ist, wird jede
Beurteilung des paläontologischen Materials verfehlt bleiben und zu
irrigen Schlüssen verführen.
IV. Die Kataklysmeutheorie und die Kontinuitätstheorie
(Cuvier und Lyell).
Wenn wir die außerordentliche Unvollständigkeit des gesamten
phylogenetischen Materials mit der befriedigenden Vollständigkeit
mindestens eines großen Teiles des ontogenetischen Materials ver-
gleichen, so begreifen wir, warum die Entwickelungsgeschichte der
Arten und Stämme so weit hinter derjenigen der Individuen und
Zeugungskreise zurückbleiben konnte. Doch ist diese Differenz in
der Ausbildung beider Zweige der Entwickelungsgeschichte nicht
allein in jener ganz verschiedenen Beschaffenheit des empirischen
Materials, sondern auch zum großen Teil in der eigentümlichen
Stellung begründet, welche die Paläontologie von Anfang an zu
ihren nächstverbündeten Wissenschaften einnahm. Vorzüglich aber
ist in dieser Beziehung die Abhängigkeit derselben von der Geologie
sehr einflußreich geworden, sowie der Umstand, daß die meisten so-
genannten Zoologen und Botaniker dieselbe wie ein Stiefkind be-
handelten, oder sich wohl auch gar nicht um die Tiere und Pflanzen
der unbekannten ..A^orwelf' bekümmerten.
Die empirische Paläontologie, als die Versteinerungskunde oder
„Petrefaktologie", verdankt ihre Entwickelung und Kultur größten-
teils nicht den Untersuchungen der Zoologen und Botaniker (welche
in den Petrefakten meistens nicht die Überbleibsel der ausgestorbenen
Vorfahren der jetzt lebenden Organismen zu erkennen vermochten),
sondern den Bemühungen der Geologen, welche die Petrefakten nur
als „Leitmuscheln", als „Denkmünzen der Schöpfung" schätzen und
verwerten, um mit Hülfe derselben das relative Alter der über-
einander gelagerten Gebirgsschichten zu bestimmen. Das Interesse der
360 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. XXI.
beiderlei Naturforscher an diesen Objekten ist daher nicht weniger
verschieden, als etwa das Interesse eines Archäologen und eines
Künstlers oder Ästhetikers an einer antiken Statue. Der genea-
logische Zusammenhang der fossilen und der lebenden Organismen,
sowie überhaupt die paläontologische Entwickelungsgeschichte der
Organismen mußte den eigentlichen Geologen von jeher als ein
untergeordneter Nebenzweck oder auch als eine gleichgültige Sache
erscheinen, um so mehr, als die meisten Geologen nicht hinreichend
gründliche biologische und namentlich morphologische Bildung be-
saßen, um das hohe Interesse jenes Zusammenhanges richtig würdigen
zu können. Dazu kam, daß die falsche Kataklysmentheorie die ge-
samte Geologie und die davon in Abhängigkeit erhaltene Paläontologie
im vorigen Jahrhundert und in den drei ersten Dezennien des jetzigen
vollständig beherrschte. Allgemein nahm man an. daß die aus dem
Bau der festen Erdrinde ersichtliche Übereinanderlagerung einer be-
stimmten Anzahl verschiedener Gebirgsformationen, deren jede ihre
eigentünüichen tierischen und pflanzlichen Reste einschließt, einer
gleichen Anzahl von aufeinanderfolgenden Erdrevolutionen unbe-
kannten Ursprungs entspreche, deren jede die damals existierende
Flora und Fauna vernichtet und in den zusammengeschütteten
Trümmern der umgewühlten Erdrinde begraben habe. Am Anfange
jeder neuen Periode der Erdgeschichte sollte ebenso unmotiviert
plötzlich eine neue Flora und Fauna erschaffen worden sein,
wie die vorhergehende durch unmotivierte, ungeheure, allgemeine
Überschwemmungen und Umwälzungen der Erdrinde vernichtet
Avorden war.
Diese falsche Theorie wurde vorzüglich dadurch verhängnis-
voll, daß sie durch Cuvier zu allgemeiner Anerkennung gelangte,
der sich im Anfange unseres Jahrhunderts die größten Verdienste
um eine schärfere Bestimmung und Erkenntnis der organischen
fossilen Reste erwarb. Seine große Autorität hielt das gesamte Ge-
biet der Paläontologie ein halbes Jahrhundert hindurch so voll-
ständig beherrscht, und erhielt die Kataklysmentheorie als funda-
mentales Dogma in derselben so unbedingt aufrecht, daß lange Zeit
noch ein großer Teil der Paläontologen sich nicht entschließen konnte,
dasselbe aufzugeben. Hier trat nun die Paläontologie, insofern sie
noch lange in weiten Kreisen das Dogma von einer Reihenfolge
plötzlicher Vernichtungen der schubweise in die Welt gesetzten
Schöpfungen aufrecht erhielt, in einen seltsamen Gegensatz zu der
XXI. IV. Die Kataklysmentheorie und die Kontinuitätstheorie. 361
früher sie beherrscliendeii Geologie, in welcher jenes Dogma seit
nunmehr 76 Jahren als beseitigt betrachtet werden kann. Jm Jahre
1830 erschien das bewunderungswürdige Werk von Charles Lyell:
..fhe Principles of Geology''. durch welches dieser große Engländer
dieselbe Reformation auf dem Gebiete der Geologie und in der Ent-
wickelungsgeschichte der anorganischen Erdrinde durchführte, welche
sein ebenbürtiger Landsmann. Charles Darwin, fast 30 Jahre
später auf dem Gebiete der Paläontologie und in der phyletischen
Entwickelungsgeschichte der Organismen vollendete. Lyell wies
überzeugend nach, daß wir zur Erklärung der geologischen Tat-
sachen nicht jene mythischen „Revolutionen und Kataklysmen" un-
bekannten Ursprungs, nicht jene plötzlichen und unmotivierten Über-
schwemmungen und Umwälzungen der gesamten Erdrinde bedürfen,
auf denen die frühere Geologie beruht. Er zeigte, wie die gegen-
wärtig existierenden geoplastischen Ursachen, wie namentlich der
Wechsel wiederholter langsamer Hebungen und Senkungen, wie die
Tätigkeit des Wassers und der atmosphärischen Agentien. wie die
..existing causes" der Meteorologie und die vulkanische Aktion des
Erdinnern vollkommen ausreichen, um in dem Verlaufe sehr langer
Zeiträume durch sehr langsame und allmähliche, aber beständige
und ununterbrochene Tätigkeit jene gewaltigen Wirkungen hervor-
zubringen, die wir in dem Gebirgsbau der entwickelten Erdrinde
bewundern.
Das große Prinzip des Aktualismus, der Grundsatz, daß
die Kräfte der Materie ebenso wie sie selbst, zu allen Zeiten die-
selben bleiben, und daß heute noch ebenso wie in der Primordial-
zeit gleiche Ursachen gleiche Wirkungen hervorbringen, war durch
jenes Werk Lyells gewahrt, und dadurch das große Gesetz der
kontinuierlichen Entwickelung, der sukzessiven Metamorphose,
der ununterbrochenen Umbildung für die organische Natur festgestellt.
So groß war aber die Macht des durch Cuviers Autorität gestützten
Dogmas von den Kataklysmen und den schubweise in die Welt ge-
setzten Schöpfungen, daß das letztere dadurch in der Paläontologie
gar nicht erschüttert zu sein schien. Nun muß es aber für jeden
Denkenden klar sein, daß jenes Dogma in der Paläontologie zum
vollständigen Unsinn wurde, nachdem ihm in der Geologie aller
Boden entzogen war. Und dennoch lehrten die Zoologen und Bo-
taniker im A^erein mit den Paläontologen unbekümmert und un-
gestört ihr absurdes Dogma weiter und behaupteten, daß jede Art
362 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. XXI.
selbständig- uiul unabhängig von der anderen erschaffen, und nach
ihrem Untergange durch andere, von ihr unabhängige, verwandte
Arten ersetzt worden sei.
Es ist in der Tat erstauuHch, daß noch dreißig Jahre verfließen
konnten, ehe die von Lyell in der Geologie durchgeführte Reform
auch in der Paläontologie zur Geltung gelangte. Sobald die un-
unterbrochene und allmähliche Entwickelung der anorganischen Erd-
rinde durch Lyells Kontinuitätstheorie begründet war, mußte
die Deszendenztheorie in der von Darwin gegebenen Vollständig-
keit als die notwendige Folge derselben erseheinen, und die gleiche
ununterbrochene und allmähliche Entwickelung auch für die orga-
nische Bevölkerung der Erdrinde nachweisen. Wir sehen aber hier
wiederum einen neuen Beweis von der außerordentlichen Gewalt,
welche eingerostete falsche Dogmen auf die Ansichten der Menschen
dauernd ausüben, sobald sie durch mächtige Autoritäten gestützt
werden. Und wiederum müssen wir an Goethes Wort denken:
..Die Autorität verewigt im Einzelnen, was einzeln vorübergehen
sollte, lehnt ab und läßt vorübergehen, was festgehalten werden
sollte, und ist hauptsächlich Ursache, daß die Menschheit nicht vom
Flecke kommt."
Y. Die Perioden der Erdgeschichte.
Jede der vielen übereinander gelagerten neptunischen Schichten
der Erdrinde bezeichnet einen bestimmten Zeitraum der Erdgeschichte.
Die versteinerten Reste und Abdrücke von Tieren und Pflanzen,
welche in denselben enthalten sind, geben uns ein rudimentäres und
höchst unvollständiges Bild von der Fauna und Flora, welche während
jener Zeit die Erdrinde belebten. Dagegen besitzen wir gar keine
solchen Reste oder „Denkmünzen der Schöpfungsgeschichte" aus den
sehr langen Zeiträumen, welche zwischen der Ablagerung je zweier
Schichten oder Formationen verflossen. Diese empfindlichen Lücken
sind, wie wir vorher sahen, um so mehr zu bedauern, als gerade in
jenen Zwischenzeiten, in welchen Hebungen der Erdrinde stattfanden
und deslialb keine versteinerungsführenden Schichten abgelagert
wurden, die Umbildung der Organismen und die Entstehung neuer
Arten und Artengruppen wegen der Umgestaltung der Existenz-
bedingungen und wegen der Entstehung neuer Stellen im Natur-
haushalte sehr lebhaft sein mußten. Wir müssen daher jene empirisch
XXI. VI. Epacme. Acme, Paracme. 363
nie ausfüllbareu Lücken dnrcli Hypothesen überbrücken und den durch
jene Intervalle zerrissenen Faden der paläontologischen Entwickelung
wieder zusammenknüpfen. Die fünf großen Hauptperioden oder Zeit-
alter der organischen Erdgeschichte umfassen folgende Perioden:
I. Archozoisches Zeitalter (Primordial-Zeit). 1. Laurentische,
2. Cambrische, 3. Silurische Periode.
II. Paläozoisches Zeitalter (Primär -Zeit). 4. Devonische,
5. Carbonische, 6. Permische Periode.
III. Mesozoisches Zeitalter (Secundär-Zeit). 7. Trias-,
8. Jura-, 9. Kreide-Periode.
IV. Cänozoisches Zeitalter (Tertiär - Zeit). 10. Eocän-.
11. 3Iiocän-, 12. Pliocän-Periode.
V. A.nthropozoisches Zeitalter (Quartär-Zeit). 13. Glaciale,
14. Postelaciale. 15. Kultur-Periode.
"&*
Tl. Epacme, Acme, Paracme.
Aufbildung (Anaplasis), Umbildung {Metaplasis) und Rück-
bildung {Cataplasis) haben wir im 16. Kapitel drei verschiedene
Stadien der Entwickelung genannt, welche wir allgemein in der
Genesis der organischen Individuen unterscheiden konnten. Den
Charakter dieser drei individuellen Entwickelungsperioden haben
wir im 17. Kapitel schärfer zu bestimmen versucht. Wir kommen
hier auf jene Bestimmung zurück, w^eil die vollständige Parallele
zwischen der Ontogenie und Phylogenie auch in dieser Beziehung-
nicht fehlt, und weil auch die organischen Arten und Stämme
in gleicher Weise wie die organischen Individuen, die drei Stadien
der Aufbildung, der Umbildung und der Rückbildung zu durchlaufen
haben.
Wie die gesamte Entwickelungsbewegung der Arten und der
Stämme bisher nur selten als kontinuierliche Bewegungserscheinung
erkannt, und noch seltener in ihrem hohen Interesse gewürdigt worden
ist. so gilt dies auch von den verschiedenen Stadien oder Haupt-
perioden ihrer Entwickelung. Allerdings mußten schon die ersten
Anfänge der paläontologischen Statistik zu der Überzeugung führen,
daß die verschiedenen Gruppen des Systems hinsichtlich der Dauer
und Ausdehnung ihrer Entwickelung sich zu verschiedenen Zeiten
der Erdgeschichte sehr verschieden verhalten haben, und daß das
Zahlenverhältnis der Arten und der sie repräsentierenden Individuen
364 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. XXI.
in den verscliiedenen Gruppen des Tier- und Pflanzenreichs sich zu
allen Zeiten sehr verschieden gestaltet hat. Die Zunahme und Ab-
nahme der Artenzahl und der Sippenzahl in den einzelnen Familien,
Ordnungen und Klassen ist daher schon seit längerer Zeit Gegen-
stand der Aufmerksamkeit und der statistischen Bestimmung der
Paläontologen gewesen, und man hat namentlich sehr oft die Zeit-
dauer der einzelnen Gruppen, sowie ihre Zunahme und Abnahme an
Zahl der Gattungen und Arten in den verschiedenen Perioden der
Erdgeschichte graphisch durch doppelkegelförmige Linien darzustellen
versucht. Insbesondei'e ist Bronn in seiner ,, Geschichte der Natur"
und in seinen trefflichen „Untersuchungen über die Entwickelungs-
gesetze der organischen Welt'" bemüht gewesen, diese historische Zu-
nahme. Dauer und Abnahme der Artenzahl und Sippenzahl in den
verschiedenen Abteilungen des Tier- und Pflanzenreichs festzustellen.
Indessen mußten diesen Bemühungen so lange ihr bestimmtes Ziel
und ihr kausaler Leitstern fehlen, als nicht der leitende Grundgedanke
der Deszendenztheorie den genealogischen Zusammenhang der „ver-
wandten" Organismen als die Ursache ihrer paläontologischen Er-
scheinungsweise nachgewiesen hatte. Nur von diesem Standpunkte
aus können wir begreifen, warum die Arten. Gattungen, Klassen etc.,
kurz alle die verschiedenen Kategorien des Systems, von der Varietät
bis zum Stamm hinauf, überall ebenso verschiedene Stadien ihrer
Entwickelung unterscheiden lassen, wie die einzelnen Individuen
während der Zeit ihrer individuellen Existenz.
Wie wir aber zeigten, daß wir unter Ontogenese die gesamte
Reihe von Formveränderungen begreifen müssen, welche der indivi-
duelle Organismus während der ganzen Zeit seiner individuellen
Existenz durchläuft, so müssen wir hier dasselbe für die Phylo-
genese wiederholen. Auch die Entwickelung der Arten und der
Stämme, und gleicherweise jeder anderen Kategorie des Systems,
umfaßt ebenso wie diejenige der physiologischen Individuen die
ganze Reihe von Formveränderungen, welche jede dieser genea-
logischen Kategorien während der gesamten Zeit ihrer Existenz durch-
läuft. Jede dieser Kategorien hat eine beschränkte Zeitdauer ihrer
Existenz, und diese wird durch den Kampf um das Dasein bestimmt.
Die drei Stadien der Aufbildung. Umbildung und Rückbildung
sind nun zwar in der Phylogenese ebenso wie in der Ontogenese
allgemein zu unterscheiden: indessen ist es dort ebensowenig als
hier möglich, dieselben scharf zu charakterisieren und durch scharfe
XXI. ^ I- Epacme, Acnie, Paracme. 365
Grenzlinien voneinander zn scheiden. Vielmehr gehen die Stadien
der phylogenetischen ebenso wie die der ontogenetischen Ent-
wickelung allmählich ineinander über, und oft sind selbst ihre un-
gefähfen Grenzen nur sehr undeutlich zu bestimmen. Dennoch ist
die Unterscheidung derselben von großem Vorteil und sogar durch-
aus notwendig, um eine klare Übersicht über das phylogenetische
Verhältnis der einzelnen Gruppen zueinander und zum ganzen
Stamme zu erhalten.
Um die Verwechselung der phylogenetischen Entwickelungs-
stadien mit den ontogenetischen zu vermeiden, erscheint es passend,
dieselben durch besondere feststehende Ausdrücke zu bezeichnen,
welche den letzteren entsprechen. Wir nennen das erste Stadium
der Phylogenese, welches der ontogenetischen Anaplase gleichsteht,
ihre Aufblühzeit {Epacme), das zweite, welches der Metaplase ent-
spricht, die Blütezeit {Acme), und das dritte, welches der Kataplase
korrespondiert, die Verblühzeit {Paracme).
I. Die Auf blühzeit {Epacme), das erste Stadium der Phylo-
genese, umfaßt diejenige Zeit in der Entwickelung der Arten und
der Stämme, welche von ihrer Entstehung bis zu ihrer Blütezeit
reicht. Sie entspricht also dem Jugendalter {Juventus, Aclolescenüa)
oder der Aufbildungszeit {Anaplasis, Eroluüo), welche wir oben
als das erste Stadium der individuellen Entwickelung charakterisiert
haben. Als diejenige physiologische Entwickelungsfunktion. welche
vorzugsweise für dieses Stadium der Ontogenese charakteristisch und
bedeutend ist, haben wir daselbst das Wachstum bezeichnet, und
ebenso werden wir das Wachstum auch als den charakteristischen
Prozeß der phylogenetischen Epacme betrachten können. Die epacma-
stische Kreszenz der Arten und Stämme besteht ebenso wie das
anaplastische Wachstum der Bionten, in einer Ausdehnung und Größen-
zunahme. Bei den Arten wächst die Anzahl der Individuen und bei
den Stämmen die Anzahl der subordinierten Kategorien (Klassen.
Ordnungen etc.), welche dieselben zusammensetzen.
IL Die Blütezeit {Acme), das zweite und mittlere Stadium
der Phylogenese, begreift diejenige Zeit in der Entwickelung der
Arten und Stämme, welche zwischen der Epacme und der Paracme
hegt. Sie korrespondiert mithin dem Reife alt er {Maturitas, Adul-
tas) oder der Umbildungszeit {Metaplasis, TransvoluUo). welche
wir oben als das zweite Stadium der individuellen Entwickelung ab-
gesteckt haben. Diejenige physiologische Entwickelungsfunktion.
3(jß Begriff und Aufgabe der Phylogenie. XXI.
welche vorzugsweise dieses Stadium der Ontogenese beherrscht, ist
die Differenzierung oder Divergenz der Form, und ebenso können
wir diesen Prozeß auch als die wesentlichste Funktion der phylogene-
tischen Acme betrachten. Die acraastische Differenzierung
der reiferen Arten und Stämme besteht, ebenso wie die nietaplastische
Divergenz der Bionten. weniger in einer quantitativen als in einer
qualitativen Vervollkommnung, und vorzugsweise in der vielseitigen
Anpassung an die verschiedenartigsten Existenzbedingungen. Durch
diese Differenzierung der Arten bilden dieselben ein reiches und viel-
strahliges Varietätenbüschel, während durch die Divergenz der Stämme
eine große Anzahl von neuen Gruppen entstehen.
III. Die Verblühzeit (Paraonc). das dritte und letzte Stadium
der Phylogenese, umfaßt diejenige Zeit in der Entwickelung der Arten
und Stämme, welche vom Ende der Blütezeit bis zum Ende ihrer
Existenz reicht. Sie entspricht also dem Greisen alt er (Deflo-
resccnticL SeniUtas) oder der Rückbildungszeit {Caiaplasis. Inro-
luiio). welche oben als das dritte und letzte Stadium der individuellen
Entwickelung geschildert worden ist. iVls diejenige physiologische
Entwickelungsfunktion. welche vorzugsweise in diesem Stadium der
Ontogenese herrscht, haben wir daselbst die Degeneration nach-
gewiesen, und dieser Prozeß charakterisiert ebenso auch die phylo-
genetische Paracme. Die paracmastische Degeneration der
Arten und Stämme bestellt ebenso wie die ontogenetische Ent-
bildung der Bionten. zunächst in einer Beschränkung und Vermin-
derung ihres physiologischen und infolgedessen auch ihres morpho-
logischen Bestandes und Vermögens. Bei den Arten nimmt die
Zahl der Individuen ab. indem sie entweder aussterben oder in
andere Arten übergehen. Bei den Stämmen nimmt die Zahl aller
Kategorien und der sie vertretenden Stämme ab bis zum voll-
ständigen Aussterben.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
EntwickelungsgescMclite der Arten oder Spezies.
(Naturgeschichte der organischen Arten oder genealogischen
Individuen zweiter Ordnung.)
„Die Idee der Me tamo riihose ist gleich der vis
centrifuga und würde sicli ins Unendliche verlieren, wäre
ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den
Spez ifikations trieb, das zähe Beharrlichkeitsvermögeii
dessen, was einmal zur Wirklichlveit gekommen, eine vis
centripeta, welcher in ilirem tiefsten Grunde keine Äußer-
lichkeit etwas anhaben kann." Goethe.
I. Allgemeine Kritik des Speziesbegriffes.
Seitdem Linne im Jahre 1735 in seinem Systema naturac znm
ersten Male die außerordentlichen Vorteile gezeigt hatte, welche die
von ihm eingeführte binäre Nomenklatur für die übersichtliche Re-
gistratur der Organismen bietet, und seitdem die Einordnung der ver-
schiedenartigen Formen in das Svstem. und ihre Benennung mit
Genus- und Speziesnamen mehr und mehr Hauptbeschäftigung der
sogenannten „ Systematik'" geworden war, hat es nicht an viel-
fältigen Versuchen gefehlt, das eigentliche Wesen der Art oder Spezies
in seinem eigentümlichen Werte zu erkennen und den Begriff der-
selben zu bestimmen. Die Geschichte dieser größtenteils verfehlten
Versuche ist für die Geschichte der gesamten organischen Morpho-
logie von großer Bedeutung. Denn einerseits hat das zur all-
gemeinen Herrschaft gelangte Dogma von der Konstanz der
Spezies die irrtümlichsten allgemeinen Anschauungen in allen
einzelnen Zweigen der morphologischen Botanik und Zoologie her-
vorgerufen. Andererseits aber zeigen sich gerade in der Art und
Weise, in welcher man jenes Dogma aufgebaut und zum Fundament
aller generellen morphologischen Reflexionen erhoben hat, auf das
klarste alle die prinzipiellen Fehler und methodologischen Irrwege,
368 Entwickeliingsgeschichte der Arten oder Spezies. XXII.
welche bisher in allen Zweigen der organischen Morphologie die
Geltung der allein richtigen monistischen Naturanschanung und so-
mit auch die Erkenntnis der allein maßgebenden kausalmechanischen
Naturgesetze gehindert haben. Die blinde Dogmatik und der Mangel
an Kritik, die einseitige Vertiefung in der isolierenden Analyse und
der Mangel an vergleichender Synthese, das unklare Haschen nach
teleologischen Scheingrtinden und die vorurteilsvolle Vernachlässigung
der wirklichen mechanischen Gründe — kurz alle die Mängel und
Fehler, welche bisher die Morphologie der Organismen gehindert
haben, sich auf den objektiven monistischen Standpunkt aller übrigen
Naturwissenschaften zu erheben, und welche sie in der Knechtschaft
subjektiver dualistischer Vorurteile erhalten haben — alle diese
Mängel und Fehler sind auf das engste mit dem fundamentalen
Dogma von der absoluten Individualität und Konstanz der Spezies
verknüpft und durch dasselbe größtenteils unmittelbar bedingt. Der
allgemeine Mangel an natürlicher Logik und überhanpt an gesunder
Philosophie, welcher das Grundübel der ganzen organischen Morpho-
logie bildet, zeigt sich daher auch nirgends so auffallend wie in
der Speziesfrage.
Obwohl deshalb eine kritische Entwickelungsgescliichte der
Speziesdogmatik für die gesamte Morphologie der Organismen von
hohem Interesse ist, würde es uns doch hier viel zu weit führen,
wollten wir alle verschiedenen Ansichten auch nur der hervor-
ragendsten Morphologen über die Spezies einer allgemeinen Be-
sprechung unterziehen und den verwickelten Knäuel unklarer und
widersprechender Vorstellungen darüber entwirren. Dies muß einer
zukünftigen Geschichte der Deszendenztheorie vorbehalten bleiben.
Wir beschränken uns vielmehr hier darauf, den ganz verschieden-
artigen Inhalt und Umfang des Speziesbegriffes hervorzuheben, welchen
derselbe, von morphologischem, physiologischem und genealogischem
(morphogenetischem) Gesichtspunkte aus bestimmt, besitzt.
Das Wichtigste, was in dieser Beziehung zunächst zu beachten
ist, finden wir in dem Umstände, daß der praktische Gebrauch
des Speziesbegriffes sich meistens ganz unabhängig von der
theoretischen Bestimmung desselben erhielt. Die alte authentische
Definition Linnes, welcher den Speziesbegriff nicht allein zuerst theo-
retisch aufstellte, sondern auch mit dem glänzendsten Erfolge praktisch
anwandte, lautete: .,8pccies tot sunt diversae, quot diversae formae
ab initio sunt creatae" . Diese Definition ist offenbar rein Spekula-
XXII. I- Allgemeine Kritik des Speziesbegriffes. 369
tiver Natur, auf das eingewurzelte theoretische Schöpfungsdogma
gegründet und ganz unabhängig von der praktischen, auf die Ver-
gleichung konkreter Individuen und ihre Unterscheidung durch
konstante Merkmale gestützten Bestimmung der Arten. Mehr in
Verbindung mit der letzteren wurde späterhin die theoretische
Spezies-Definition durch Cuvier gebracht, welcher nächst Linne den
größten und nachhaltigsten Einfluß auf die Systematik ausübte. Nach
Cuvier ist die Spezies Ja reunion des individus descendant l'un
de Vautre et des parents eommuns, et de ceux, qui leur ressemblent
autant, qic'ils se ressemblent enire cux." In dieser Bestimmung,
an welche sich die meisten späteren mehr oder minder eng an-
schließen, wird offenbar zweierlei für die zu einer Spezies gehörigen
Individuen verlangt, erstens nämlich ein gewisser Grad von Ähn-
lichkeit oder annähernder Gleichheit der Charaktere und zweitens
ein verwandtschaftlicher Zusammenhang durch das Band gemein-
samer x\bstammung. Von den späteren Autoren ist bei den zahlreichen
Versuchen, die Definition zu vervollkommnen, bald mehr auf die
genealogische Blutsverwandtschaft aller Individuen einer Art, bald
mehr auf ihre morphologische Übereinstimmung in allen wesentlichen
Charakteren Rücksicht genommen worden. Im allgemeinen kann
man aber behaupten, daß bei der praktischen Anwendung des Art-
begriffs, bei der Unterscheidung und Benennung der einzelnen Spezies
fast immer nur das letztere Moment zur Geltung gelangte, das erstere
dagegen ganz vernachlässigt wurde. Späterhin wurde zwar die genea-
logische Vorstellung von der gemeinsamen Abstammung aller Indi-
viduen einer Art noch durch die physiologische Bestimmung ergänzt,
daß alle Individuen einer Art miteinander eine fruchtbare Nach-
kommenschaft erzeugen können, während die sexuelle Vermischung
von Individuen verschiedener Arten gar keine oder nur eine unfruchtbare
Nachkommenschaft liefert. Indessen war man in der systematischen
Praxis allgemein vollkommen zufrieden, wenn man bei einer unter-
suchten Anzahl höchst ähnlicher Individuen die Übereinstimmung in
allen wesentlichen Charakteren festgestellt hatte, und frug nicht
weiter danach, ob diese zu einer Art gerechneten Individuen in der
Tat gemeinsamen Ursprungs und fähig seien, bei der Begattung
miteinander eine fruchtbare ?^chkommenschaft zu erzeugen. Viel-
mehr kam diese physiologische Bestimmung natürlicherweise bei
der praktischen Unterscheidung der Tier- und Pflanzenarten ebenso-
wenig in Anwendung, als die vorausgesetzte gemeinsame Abstammung
Haeckel, Prinz, d. Morphol. 24
370 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Spezies. XXII.
von einem und demselben Elternpaare. Andererseits unterschied
man oline Bedenken zwei näclistverwandte Formen als zwei ver-
schiedene „gute Arten", sobald man bei einer untersuchten Anzahl
von ähnlichen Individuen eine konstante Differenz, wenn auch nur
in einem verhältnismäßig untergeordneten Charakter, nachgewiesen
hatte. Auch hier kümmerte man sich nicht darum, ob die beiden
verschiedenen Reihen wirklich nicht von gemeinsamen Voreltern ab-
stammten, und wirklich miteinander keine oder doch nur unfrucht-
bare Bastarde zeugen konnten.
Aus diesen einfachen Gründen und besonders aus der Unmög-
lichkeit, die gemeinsame Abstammung und die Fähigkeit zur Er-
zeugung fruchtbarer Nachkommen bei allen Individuen derselben
Spezies nachzuweisen, wurde dann die offenbare Trennung zwischen
der theoretischen und der ganz davon unabhängigen prakti-
schen Unterscheidung der Spezies mehr oder weniger unbe-
wußt den Systematikern zur Gewohnheit. Theoretisch wurde die
Art bestimmt als der Inbegriff aller Individuen verschiedenen Ge-
schlechts, die miteinander eine fruchtbare, die Gattung- als Inbegriff
derer, die keine oder eine unfruchtbare Nachkommenschaft erzeugen.
Dabei setzte man gewöhnlich stillschweigend voraus, daß alle Indi-
\iduen einer Art ursprünglich von gleichen, alle Arten einer Gattung
dagegen von verschiedenen Voreltern abstammten. Ebenso wurde
die Unveränderlichkeit oder Konstanz der Art in der Zeit voraus-
gesetzt. Bei der praktischen Speziesunterscheidung dagegen wurde
diese Voraussetzung gewöhnlich nicht im mindesten berücksichtigt,
und man hielt sich bloß an die Übereinstimmung oder die Differenz
der sogenannten „wesentlichen" Charaktere in den gerade zur Be-
stimmung vorliegenden und zu vergleichenden Exemplaren. Leichtere
und auch oft bedeutende, aber inkonstante Differenzen zwischen
denselben wurden nicht als Merkmale von besonderen Arten, sondern
nur von Abarten oder Spielarten (Varietäten, Subspezies) angesehen.
Die Probe mit der Fortpflanzungsfähigkeit wurde nicht gemacht.
Auch wäre es ja in der Tat in den allermeisten Fällen, wie z. B.
bei der Feststellung der Spezies von nicht lebend zu beobachtenden,
sowie von allen ausgestorbenen Tieren, ganz unmöglich gewesen,
die verlangte Probe mit der gleichartigen Fortpflanzung anzustellen
und die Abstammung von einem einzigen Elternpaare empirisch
nachzuweisen. Daß aber auf diese Weise die erwähnten Voraus-
setzungen bald nur zu einem leeren Dogma ausarteten, welches bloß in
XXII. II- Dei' moipliologische Begriff der Spezies. 371
den Handbücliern in Ermangelnng einer besseren Definition der
Spezies schulgerecht fortgeführt und allgemein wiederholt wurde,
liegt auf der Hand. Jede eingehende kritische Untersuchung zeigt,
daß in der zoologischen und botanischen Praxis allein die morpho-
logische Rücksicht auf die unterscheidenden sogenannten spezifischen
Charaktere zur Geltung kam, nicht aber das genealogische Kriterium,
gezogen aus der Voraussetzung gemeinsamer Abstammung und eben-
sowenig die physiologische Erwägung, daß zwei verschiedene Spezies
keine fruchtbare Nachkommenschaft miteinander erzeugen können.
Daß dieser Mangel an Zusammenhang zwischen der theoretisch-
physiologischen und der praktisch-morphologischen Bestimmung der
Spezies den Wert der ersteren ganz illusorisch machte, wurde selt-
samerweise von den meisten zoologischen und botanischen Systema-
tikern gar nicht bemerkt. In dem Eingange zu den Handbüchern
wurde immer wieder gewissenhaft die theoretische Definition wieder-
holt, daß zu einer Art alle Individuen (und nur diese!) gehören,
welche von gemeinsamen Voreltern abstammen, und welche bei der
sexuellen Vermischung eine fruchtbare Nachkommenschaft erzeugen.
In der Tat aber wurde die Richtigkeit dieser Bestimmung niemals
wirklich geprüft, vielmehr die Unterscheidung und Benennung der
Spezies lediglich durch Ermittelung der Übereinstimmung in allen
„wesentlichen" morphologischen Charakteren bewirkt.
II. Der morphologische Begriff der Spezies.
Die praktische Unterscheidung und Benennung der Arten, wie
sie von der botanischen und zoologischen Systematik allgemein geübt
wird, gründet sich ganz vorwiegend auf die Erkenntnis morpho-
logischer und nicht physiologischer Differenzen, welche zwischen
den verglichenen ähnlichen Formen sich auffinden lassen. Jeder
Blick auf die kurz gefaßten Diagnosen oder die ausführlicheren Be-
schreibungen, durch welche in den systematischen Handbüchern und
Monographien die verschiedenen Arten einer Gattung getrennt werden,
lehrt uns, daß dasjenige Moment, welches man in der systematischen
Praxis durchgängig und fast allein zur Feststellung und Unter-
scheidung der Spezies benutzt, die Vergleichung und Wägung der
morphologischen Charaktere ist. Daß dieses morphologische Prinzip
allein, mit völliger Beiseitlassung des gemeinsamen Abstammungs-
prinzips und ohne Rücksicht auf das physiologische Prinzip der
24*
372 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Spezies. XXII.
fruchtbaren Fortpflanzungsfähigkeit die Systematiker bei ihrer ana-
lytischen Speziesbestimmung leitet, muß allgemein zugegeben werden.
Ebenso sicher ist es aber auch, daß die meisten Systematiker nicht
imstande sind, anzugeben, welche Rücksichten sie hierbei als maß-
gebende Richtschnur im Auge haben und worin das Wesen der
.,spezifischen Formcharaktere" besteht. Sehr wenige nur haben
sich die Mühe genommen, hierüber nachzudenken, und unter diesen
ist vor allen Louis Agassiz hervorzuheben.
Von den meisten anderen Naturforschern abweichend, erklärt
Agassiz die Spezies für eine ebenso ideale Wesenheit („ideal eniity")^
als die übergeordneten Begriffe der Gattung, Familie, Ordnung, Klasse
und T}T3us. Alle diese idealen Einheiten sind in der Natur realisiert,
sind verkörperte Schöpfungsgedanken. Die Charaktere, durch welche
sich diese verschiedenen, stufenweise sich erhebenden Kategorien
unterscheiden, sind von verschiedener Qualität. Die Unterschiede
der Spezies betreffen das Verhältnis der einzelnen Körperteile zuein-
ander, sowie die absolute Größe des ganzen Tieres, ferner die Färbung
und allgemeine Verzierung der Körperoberfläche, endlich die Bezie-
hungen der Individuen zueinander und zur umgebenden Welt. Die
Spezies wird durch eine gewisse Menge von Individuen repräsentiert,
die als solche in engster Beziehung zueinander stehen, niemals aber
durch ein einzelnes Individuum. Denn keines der zu einer Spezies
gehörigen Individuen bietet alle charakteristischen Merkmale dieser
Spezies dar. Durch diese Auffassung nimmt Agassiz dem Spezies-
begrifte die absolute Starrheit, die er in den Augen der meisten
Systematiker besitzt, und stellt ihn als eine subjektive Kategorie,
einen Kollektivbegriff hin, der ebensoviel objektive Begründung in der
Natur und nicht mehr besitzt, als die höheren Begriffe der Gattung,
Ordnung, Klasse etc. W^enn wir nun aber die morphologischen (oder
richtiger anatomischen) Kriterien näher betrachten, welche Agassiz
als „spezifische" Merkmale xat' £c''V."V'' betrachtet, die absolute Größe
und das Verhältnis der einzelnen Körperteile zueinander, die Farbe
und die allgemeine Verzierung der Körperoberfläche, so ergibt sich,
daß diese zwar in vielen, aber bei weitem nicht in allen Fällen be-
stimmend sind. Oft sind dieselben Merkmale kaum genügend, zwei
anerkannte Varietäten zu unterscheiden, während sie andere Male
selbst zur Unterscheidung „guter" Genera für ausreichend erachtet
werden. Andererseits braucht man bloß eine Reihe beliebiger Spezies-
gruppen aus verschiedenen Hauptabteilungen des Pflanzen- oder Tier-
XXII. II- Dpi' niorphologische Begriff der Spezies. 373
reichs miteinander zu vergleichen und auf diesen Punkt zu unter-
suchen, und man wird sehen, daß Charaktere von der allerver-
schiedensten Qualität zur Unterscheidung benutzt werden.
Die wenigen von Agassiz und anderen gemachten Versuche,
das Wesen und Gewicht der unterscheidenden morphologischen Spezies-
charaktere schärfer zu bestimmen und dadurch bei der praktischen
Unterscheidung der Spezies zu einer sicheren Grundlage zu gelangen,
sind auch bei der systematischen Praxis zu keiner allgemeinen
Geltung gelangt. Wenden wir uns von diesen mehr oder minder
mißglückten A^ersuchen zu der Betrachtung der zoologischen und
botanischen Praxis, wie sie von den Systematikern täglich bei der
Unterscheidung, Benennung und Bestimmung der Arten geübt wird,
so zeigt sich bald, daß die meisten Systematiker sich dabei wesent-
lich von einem gewissen praktischen Takte leiten lassen. Höchstens
kommt bei den kritischer Verfahrenden hie und da eine bestimmte
Maxime von ziemlich vager Natur zur Anwendung. Eine der am
weitesten verbreiteten derartigen Maximen oder Bestimmungsregeln
ist der Satz: „Zu einer Art gehören alle Individuen, die in allen
wesentlichen Merkmalen übereinstimmen." Indessen ist nur bei
einer geringen Zahl der niedrigsten Organismen diese Behauptung
ohne weiteres richtig. Bei den allermeisten dagegen umfaßt der
Speziesbegriff nicht eine einzige Form, sondern eine ganze Entwicke-
lungsreihe verschiedener Formen, nämhch den Zeugungskreis,
die Formenkette, die das Individuum vom Momente seiner Ent-
stehung an bis zu seinem Tode durchläuft. Es müssen also die ver-
schiedenen Jugendzustände berücksichtigt werden, die oft sehr ab-
weichend von den Erwachsenen sich verhalten, und bei denjenigen,
die einer Metamorphose unterworfen sind, die verschiedenen Larven-
zustände. die das Individuum durchläuft. Gleicherweise sind bei den
der Metagenesis unterworfenen Arten die verschiedenen Generationen
zu berücksichtigen. Wie oft sind aber nicht, lediglich aus Nicht-
berücksichtigung dieses so einfachen Verhältnisses, abweichend ge-
bildete Jugendformen, Larven und Ammen als eigene Spezies, wie
oft als Glieder weit entfernter Familien oder selbst Klassen beschrieben
worden! Wer hätte bei der paradoxen Form des Pluteus gedacht,
daß er die Amme einer Ophiure sei. bei PiUdium, daß es zu einem
Nemertes gehöre, hei PhyUosoma, daß es die Larve von Palinurus sei?
Wie oft sind selbst bei den höheren Wirbeltieren eigentümlich gefärbte
Jugendformen als besondere Arten beschrieben worden! Wie zahl-
374 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Spezies. XXII.
reich sind in der Abteilung der Würmer, der Crustaceen, der Mol-
lusken die Beispiele von zusammengehörigen Larven und reifen
Formen, die man friiher als ganz verschiedene Spezies beschrieben
und erst vor kurzem als himmelweit verschiedene Zustände eines
Individuums entdeckt hat.
Nicht minder wesentlich als die Formverschiedenheiten der zu-
sammengehörigen Entwickelungsstadien eines und desselben Indivi-
duums sind die Gestaltdifferenzen, welche zwischen den verschie-
denen polymorphen Individuen einer und derselben Spezies sich
vorfinden. Auch diese sind unendHch oft in der systematischen
Praxis nicht berücksichtigt worden und daraus zahllose Irrtümer
entsprungen. Wie oft sind nicht allein die beiden zusammengehörigen
Geschlechter einer einzigen Spezies als verschiedene Arten beschrieben
worden! Freilich sind die Verschiedenheiten der beiden zusammen-
gehörigen Geschlechtsbionten in vielen Fällen von weitgehendem
sexuellen Dimorphismus auch der Art, daß dieselben fast in gar
keinem „wesentlichen'' Merkmale mehr übereinstimmen. Man denke
nur an die parasitenähnlichen Männchen vieler niederer Crustaceen
und der Rotatorien.
Schon aus diesen wenigen Erwägungen geht hervor, wie un-
genügend die vielfach angewendete Definition ist, daß „die Spezies
der Komplex aller Individuen sei, die in allen wesentlichen Merk-
malen übereinstimmen''. Um ein naturgemäßes Bild von der Spezies
zu erhalten, ist es durchaus notwendig, alle die erwähnten, oft so
weit divergierenden Gestalten ihres Formenkreises in Betracht zu
ziehen. Auch ist in der Tat diese Notwendigkeit von den besseren
Systematikern in ihrer analytischen Praxis mehr oder weniger unbe-
wußt anerkannt und gewürdigt worden, und man hat also außer den
anatomischen auch die ontogenetischen Formen zugleich mit berück-
sichtigt. Sehr oft ist dies aber auch nicht geschehen, und sehr oft konnte
es nicht geschehen. Und wieviel Irrtum und Verwirrung ist daraus für
die Systematik entsprungen! Wieviel verschiedene Jugendzustände,
Larven, Ammen, dimorphe Geschlechtsindividuen und polymorphe
differenzierte Gesellschaftsindividuen sind nicht als selbständige Arten
beschrieben worden !
Lassen wir indessen diesen oft unvermeidlichen Fehler beiseite,
und verfolgen wir weiter den Systematiker in seiner praktischen
Arbeit, wie er die Spezies unterscheidet, bestimmt, benennt, ordnet
und für das System zurechtmacht. Sehen wir dabei ab von den
XXII. II. Der morphologische Begriff der Spezies. 375
möglichen Irrungen, die durch die verschiedenen Jugendfornien, die Ge-
schleclitsdift'erenzeu, den oft so weit abweichenden Generationswechsel
innerhalb einer und derselben Art vorkommen können, und nehmen
wir an, daß geschlechtsreife Individuen beider Geschlechter oder doch
wenigstens ausgewachsene und geschlechtsreife Männchen (die ge-
wölmhch bei Feststellung des Speziescharakters bevorzugt werden)
von vielen verschiedenen Arten zur Untersuchung vorliegen. Nach
welchen Regeln, aus welchen Gesichtspunkten sucht der Systema-
tiker die unterscheidenden Merkmale aufzufinden und festzustellen?
Gibt es überhaupt für diesen Zweck feste leitende Grundsätze?
Nicht im mindesten ! Das Geschäft wird vielmehr rein empirisch be-
trieben ! Als die entscheidenden und die wichtigsten Speziescharaktere
gelten allein die konstantesten, d.h. diejenigen, die am wenigsten
bei den am meisten sich ähnlichen Individuen variieren, und die bei
diesen allen vorkommen, während sie bei einer Anzahl anderer,
ebenfalls ähnlicher Individuen, die aber eine besondere Art bilden
sollen, konstant fehlen. Offenbar bewegt man sich hier aber (und
es geschieht unendlich oft) in einem volUvommenen Zirkelschluß.
Einmal fordert man, daß der Artbegriff alle diejenigen Individuen
umfasse, die in allen „wesentlichen" Merkmalen übereinstimmen, und
dann wieder hält man nur diejenigen Merkmale für „wesentlich",
welche man in allen untersuchten Individuen, die eine sogenannte
„gute Art" zusammensetzen sollen, konstant vorfindet. Mit anderen
Worten lautet dieser sehr beliebte Zirkelschluß: ..Jede Art wird
charakterisiert durch die Konstanz der Merkmale; konstante Merk-
male aber sind solche, die sich bei allen Individuen einer Art vor-
finden". Jeder aufrichtige Naturforscher muß zugeben, daß das
„Wesentliche" des Speziescharakters nichts anderes ist als seine
Konstanz, und daß man umgekehrt nur eben die konstanten Merkmale
als wesentliche ansieht. Dieselben deutlich ausgeprägten Artmerk-
male, wie z. B. relative Länge der Extremitäten, Färbung des Haars.
Zahl der Zähne, welche in der einen Gattung allgemein zur Unter-
scheidung ihrer Arten benutzt werden, weil sie hier sehr konstant
sind und wenig variieren, können in einem anderen, nahe ver-
wandten Genus nicht zur Diagnose der Spezies dienen, weil sie hier
vielfach abändern und nicht konstant sind. Hier sucht man sich
dann andere Merkmale heraus, die konstanter sind, die aber in der
ersten Gattung nicht gelten konnten, weil sie dort variierten. Die
Qualität der unterscheidenden Merkmale ist also niemals das für
376 Entwickelungsgescliichte der Arten oder Spezies. XXII.
eine Art Charakteristische, sondern ihre Konstanz; nnd dieselben
Unterschiede, auf welche man in der einen Forniengruppe Gattungen
oder selbst Familien gründet, reichen in anderen nicht aus, um nur
die Arten zu unterscheiden. Die unbedeutendsten, geringfügigsten
Merkmale, ein paar bunte Flecke oder ein Haarbüschel oder eine
nackte Hautstelle auf dem Fell eines Säugetiers gelten aber als voll-
kommen genügende ..gute" Charaktere, wenn sie zufällig bei allen
jetzt zur Untersuchung vorliegenden IndiAiduen übereinstimmend vor-
kommen, und wenn sie allen Individuen von sonst nächstverwandten
Arten, die vielleicht aus einer anderen Gegend stammen, fehlen.
Auf dieses letztere Moment, den geographischen Verbreitungsbezirk,
wird dabei oft unbewußt großes Gewicht gelegt. Zwei kaum ver-
schiedene Formen gelten oft als zwei gute Arten, wenn sie aus zwei
entfernten und nicht zusammenhängenden Gegenden stammen, wäh-
rend jedermann dieselben nur als untergeordnete Varietäten einer und
derselben Art betrachten würde, wenn sie in derselben Gegend ge-
mischt vorkämen. Derartige sekundäre Erwägungen sind auch bei
Unterscheidung der fossilen Tierformen oft fast allein maßgebend.
Sehr oft werden liiei" zwei kaum zu unterscheidende Formen als zwei
gute Arten angenommen, weil sie in zwei weit auseinanderliegenden
Formationen gefunden wurden, während sie in den dazwischen
Hegenden fehlten. Würden beide Arten in einer und derselben
Formation vereinigt vorkommen, so würden sie nur für eine
einzige Art gelten. In der Paläontologie ist man überhaupt mit
Unterscheidung und Benennung der Arten noch weit gedankenloser
und unvorsichtiger vorgegangen, als bei der Diagnostik der lebenden
Formen, obwohl gerade bei der Unvollständigkeit der fossilen Reste
scharfe Kritik doppelt nötig wäre. Vergleicht man wägend ihrem
Werte nach die Differentialcharaktere, durch welche fossile Spezies,
mit denjenigen, durch welche lebende Spezies unterschieden werden.
so wird man sehr oft finden, daß höchst minutiöse Charaktere bei
den ersteren schon als vollkommen ausreichend zur spezifischen
Unterscheidung zweier Arten angesehen werden, welche bei den
letzteren nicht für genügend gelten würden, um nur zwei verschie-
dene Varietäten einer Art darauf zu basieren.
Untersucht man nun aber näher die sogenannten „guten", d. h.
wesentlichen oder konstanten Charaktere der Arten, indem man eine
größere Anzahl von Individuen sorgfältig vergleicht, so findet man
in der Regel bald, daß auch diese angebliche Konstanz niemals
XXII. ^- Gute und sclilechte Spezies. 377
absolut ist, daß vielmehr auch sie einen gewissen, wenn auch
nur geringen Spielraum von Abänderung zuläßt: unter einer großen
Zahl kaum zu unterscheidender Individuen wird man dann meistens
einige wenige treffen, die doch die wesentlichen Artmerkmale weniger
deutlich und scharf ausgeprägt zeigen, als die große Mehrzahl der
übrigen. Gerade diese aber, die weniger scharf bestimmten Grenz-
formen, die häufig Mittelstufen und Übergangsbildungen zu nahe
verwandten Arten herstellen, sind bisher überwiegend vernachlässigt
worden. In dem vorherrschenden Bestreben, die Arten durch mög-
lichst scharfe Charaktere voneinander zu trennen und die einzelnen
Speziesdiagnosen klar voneinander abzusetzen, hat man das ganze
Gewicht auf die, oft sehr geringfügigen. Unterschiede gelegt und
dagegen das Gemeinsame der Erscheinungen in den Hintergrund
gedrängt und nicht berücksichtigt. So ist es denn gekommen, daß
in unseren Systemen sich überall die einzelnen Arten weit schärfer
und klarer voneinander abheben, als es in der Natur der Fall ist.
Fast bei allen Gruppen von Organismen haben sich deshalb die
besseren und gewissenhafteren Systematiker genötigt gesehen, von
denjenigen Arten, die genauer bekannt und in sehr zahlreichen
Exemplaren untersucht sind, und namentlich von denjenigen, welche
einen sehr großen Verbreitungsbezirk besitzen, die abweichenden In-
dividuen, welche die spezifischen Charaktere mehr oder weniger
modifiziert zeigen, oder sich als mehr oder minder entschiedene
Übergangsbildungen zu verwandten Arten hinneigen, als besondere
Unterarten (Subspecies) oder Spielarten (Varietates) zu be-
schreiben. Das genauere Studium derselben ist aber bisher über-
wiegend vernachlässigt worden, weil sie dem Schematismus des
Systems Abbruch tun. Und doch sind sie gerade von der höchsten
Bedeutung für das Verständnis der natürlichen Verwandtschaft. In
vollständiger Verkennung der letzteren hat man immer nur den
Hauptnachdruck auf die sogenannten ..t^^Dischen" Individuen der Art
gelegt, die weniger ausgesprochen charakterisierten Varietäten da-
gegen beiseite geschoben.
y. Gute und schlechte Spezies.
„Gute und schlechte Arten" bilden eine der gebräuchlichsten
Unterscheidungen in der systematischen Praxis. Gleichwohl haben
die meisten Systematiker gar keine klaren oder nur falsche Vor-
378 Entwickelungsgeschichte dcM- Arten oder Spezies. XXII.
stellungeil über den eigentlichen Wert dieser Unterscheidung, wes-
halb wir hier ein paar Worte beifügen wollen.
„Gute Arten"' werden gewöhnlich entweder solche Spezies ge-
nannt, deren meiste Charaktere innerhalb des kurzen Zeitraums, seit-
dem sie beobachtet sind, sich sehr wenig verändert haben, auch jetzt
noch sehr wenig variieren und sich deshalb scharf umschreiben lassen;
oder solche Arten, deren verbindende und den Übergang zu anderen
Arten vermittelnde Zwischenformen uns unbekannt sind, und deren
unterscheidende Charaktere daher scharf hervortreten. Je besser
wir eine Spezies kennen, je größer die Anzahl der dazu gehörigen
Individuen ist. die wir haben untersuchen können, und je weiter
ihr geographischer Verbreitungsbezirk ist. insbesondere aber je
verschiedenartiger ihre Existenzbedingungen an den verschiedenen
Wohnorten sind, desto umfangreicher und desto mehr divergierend
ist gewöhnlich der Varietätenbüschel dieser Art, desto zahlreicher
sind die unmittelbaren Übergänge zu verwandten Arten und in desto
mehr verschiedene Formengruppen läßt sich diese eine Spezies spalten,
Formengruppen, die von den einen Systematikern für Arten, von den
andern bloß für Varietäten gehalten werden. Daher sind denn in der
Regel die am wenigsten bekannten Spezies die ^.besten", und sie
werden um so schlechter, je besser wir sie kennen lernen, je weiter
wir die Divergenz ihres Varietätenbüschels verfolgen und je deut-
licher wir ihren genealogischen Zusammenhang mit verwandten
Formen nachweisen können. Wenn jemand behaupten wollte, daß
die große Mehrzahl aller bekannten Arten ..gute" seien, so würde
sich diese Behauptung, ihre Wahrheit vorausgesetzt, ganz einfach
aus unserer außerordentlichen Unkenntnis von der übergroßen Melir-
zahl aller Organismenarten erklären. Von unendlich vielen Arten
sind nur einzelne wenige oder gar nur ein einziges Exemplar be-
kannt. Dazu kennt man die meisten nur von wenigen ihrer Wohn-
orte her und bei weitem nicht aus allen Teilen des Gebiets, über
welches sie verbreitet sind. Von sehr vielen Spezies kennen wir
nur einzelne Alters- und Entwickelungszustände oder nur das eine
der beiden Geschlechter. Und wie oberflächlich und ungenau sind
die allermeisten Untersuchungen, auf welche neue Spezies begründet
werden! Man begnügt sich mit der Erfassung dieses oder jenes
mehr oder weniger in die Augen fallenden oberflächlichen Unter-
schieds, gewöhnlich in der Form, Färbung oder dem Größenverhält-
nis eines einzelnen Teiles hervortretend, ohne die geringe Bedeutung
XXII. V. Gute und schlechte Spezies. 379
dieses spezifischen Charakters, seine Variabilität etc. gehörig zu
würdigen. Hierbei kommen wir wieder auf den Grundfehler zurück,
der unsere ganze Systematik beherrscht, daß man stets nur bemüht
ist, das Unterscheidende jeder organischen Form möglichst scharf
hervorzuheben, während man das Gemeinsame, das sie mit den
nächstverwandten Formen verbindet, gänzlich vernachlässigt. Zu
welchen Irrtümern diese streng analytische Richtung und der Aus-
schluß der synthetischen Vergleichung führt, haben wir schon oben
gezeigt, als wir die notwendige Wechselwirkung von x\nalyse und
Synthese erörterten.
..Schlechte Arten" im Sinne der Speziesfabrikanten würden
alle Spezies ohne Ausnahme sein, wenn wir sie vollständig
kennen würden, d. h. wenn wir nicht allein ihren gesamten
gegenwärtigen Formenkreis, wie er über die ganze Erde verbreitet
ist, kennen würden, sondern auch alle ihre ausgestorbenen Stamm-
verwandten, die zu irgend einer Zeit gelebt haben. Es würden dann
überall die verbindenden Zwischenformen und die gemeinsamen
Stammformen der einzelnen Arten hervortreten, deren Kenntnis uns
jetzt fehlt. Es würde ganz unmöglich sein, die einzelnen Forraen-
gruppen als Spezies scharf voneinander abzugrenzen, so unmöglich
als es an jedem Baume ist, zu sagen, wo der eine Zweig aufhört
und der andere anfängt. Die meisten derjenigen Arten, die wir
genauer kennen, werden allerdings im Systeme als „gute" Arten
fortgeführt. Dies ist aber nur dadurch möglich, daß man einesteils
nicht ihre historische Entwickelung und ihren genealogischen Zu-
sammenhang mit den verwandten Formen berücksichtigt, andern-
teils aber die zahlreichen am stärksten divergierenden und am
meisten abweichenden Formen ihres Varietätenbüschels, die schon
von andern als „gute Arten" angesehen werden, als ..schlechte"
betrachtet und als Varietäten um die „typische'" Hauptform sammelt.
Aber auch deshalb erscheinen uns viele unter den genauer bekannten
Spezies als „gute", d. h. scharf zu umschreibende Arten, weil sie
bereits im Erlöschen sind und ihrem Untergange entgegengehen,
weil ihr Varietätenbüschel sich nicht mehr ausdehnt, und weil sie
schon auf einen engen Raum und einförmige Existenzbedingungen
zurückgedrängt sind, so daß sie sich nicht mehr an neue Bedingungen
anpassen können.
Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Entwickeln ngsgescliichte der Stämme oder Phylen.
(Naturgescliichte der organischen Stämme oder der genealogischen
Individuen dritter Ordnung.)
.Die Sehwieriifkeit, Idee und Erfahrung- miteinander zu
verbinden, erscheint sehr hinderlich bei aller Naturforschuns,' :
die Idee ist unabhängig von Raum und Zeit, die Natur-
forschung ist in Raum und Zeit beschränkt; daher ist in
der Idee Simultanes und Sukzessives innigst verbunden, auf
dem Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt.'^
G oe tlie.
T. Funktionen der ph.vletisclien Entwickehing*.
Die Phylogenese oder paläontologisclie Entwickelung, die Diver-
genz der blutsverAvandten Formen, welche zur Entstehung der Arten,
Gattungen. Familien und aller anderen Kategorien des organischen
Systems führt, ist ein physiologischer Prozeß, welcher, gleich
allen übrigen physiologischen Funktionen der Organismen, mit ab-
soluter Notwendigkeit durch mechanische Ursachen bewirkt wird.
Diese Ursachen sind Bewegungen der Atome und Moleküle, welche
die organische Materie zusammensetzen, und die unendliche Mannig-
faltigkeit, welche sich in den phyletischen Entwickelungsprozessen
offenbart, entspricht einer gleich unendlichen Mannigfaltigkeit in der
Zusammensetzung der organischen Materie, und zunächst der Ei-
weißverbin (hingen, welche das aktive Plasma der konstituierenden
Piastiden aller Organismen bilden. Die phyletische oder paläonto-
logische Entwickelung der Stämme und ihrer sämtlichen subordi-
nierten Kategorien ist also weder das vorbedachte zweckmäßige
Resultat eines denkenden Schöpfers, noch das Produkt irgendeiner
unbekannten mystischen Naturkraft, sondern die einfache und not-
wendige Wirkung derjenigen bekannten physikalisch-chemischen Pro-
zesse, welche uns die Physiologie als mechanische Entwickelungs-
funktionen der organischen Materie nachweist.
XXIII. II. Stadien der phyletischen Entwickelung:. 381
Die physiologischen Funktionen, auf welche sich sämtHche
phyletische oder paläontologische Entwickelungs-Erscheinungen als
auf ihre bewirkenden Ursachen zurückführen lassen, sind die beiden
fundamentalen Entwickelungsfunktionen der Vererbung (Hereditas)
und der Anpassung {Adaptafio), von denen die erstere eine Teil-
erscheinung der Fortpflanzung, die letztere der Ernährung ist.
Die beiden ursprünglichen Konservationsfunktionen der Propagation
(Erhaltung der Art) und der Nutrition (Erhaltung des Individuums)
genügen also vollständig, um durch ihre beständige Wechselwirkung
unter dem Einflüsse der in der Außenwelt gegebenen Existenz-
bedingungen die Divergenz der Arten und somit die Entwickelung
der Stämme zu bewirken. Diese Grundanschauung halten wir zum
richtigen Verständnis der Phylogenese für unentbehrlich. Wie wir
vermittelst der Deszendenztheorie zu derselben gelangt sind, ist im
neunzehnten Kapitel von uns erörtert worden. Die daselbst von uns
erläuterte Entstehung der Arten durch natürliche Züchtung, durch
die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung im Kampf um
das Dasein, ist in der Tat weiter nichts als die Grundlage der
phyletischen Entwickelung selbst. Das ganze neunzehnte Kapitel
würde eigentlich hier seine Stelle finden. Wir haben es aber ab-
sichtlich dem fünften Buch überwiesen, weil die Ontogenese oder
individuelle Entwickelungsgeschichte ohne die Phylogenese oder
paläontologische Entwickelungsgeschichte gar nicht zu verstehen ist,
und weil die Erläuterung der phyletischen Entwickelungsfunktionen,
welche die Selektionstheorie und die durch sie begründete Deszendenz-
theorie gibt, für das Verständnis der biontischen Entwickelungs-
funktionen unerläßlich ist.
II. Stadien der phyletischen Entwickelung-.
Die Stämme sowohl wie alle untergeordneten Kategorien der-
selben, von der Klasse und Ordnung bis zur Gattung und Art herab,
zeigen ihren Parallelismus mit der individuellen Entwickelung. wie
schon oben gezeigt wurde, auch darin, daß im Laufe ihrer histori-
schen Entwickelung mehrere verschiedene Stadien sich unterscheiden
lassen, welche den Stadien der individuellen Entwickelung ent-
sprechen. Den drei Perioden der ontogenetischen Anaplase. Meta-
plase und Cataplase entsprechend haben wir die drei Abschnitte der
phylogenetischen Epacme, Acme und Paracme unterschieden, welche
382 Entwickelungsgeschichte der Stämme oder Phylen. XXIII.
ebensowohl bei den i^anzen Stämmen wie bei den ihnen unter-
geordneten Gruppen sich finden. Wie sich die Arten oder Spezies
hierin verhalten, ist bereits oben erörtert. Wir wenden uns da-
her hier nur zu den Entwickelungsstadien der höheren Stamm-
gruppen, von dem Genus und der Familie an aufwärts, wobei wir
ausdrücklich bemerken, daß auch in dieser Beziehung ein scharfer
und absoluter Unterschied zwischen den verschiedenen Kategorien
des natürlichen Systems ebensowenig existiert, als ein solcher sich
in anderer Hinsicht konstatieren läßt. Alle Genera und Familien,
Ordnungen und Klassen, sowie auch alle diesen subordinierte Gruppen
des Systems, die Subgenera, Subfamilien. Sektionen, Tribus etc. ver-
halten sich auch hinsichtlich der Entwickelungsstadien ebenso wie
die ganzen Stämme, w^elche sie zusammensetzen, und wie die Arten,
aus denen sie selbst zusammengesetzt sind.
T. Die Aufblühzeit oder Epacmc der Phylen und ihrer sub-
ordinierten Kategorien umfaßt das erste Stadium ihrer phyletischen
Entwickelung. welches dem Jugendalter oder der Anaplase der Bionten
entspricht und von ihrer Entstehung bis zum Beginne der Blütezeit
reicht. Die erste Entstehung der Stämme beginnt mit der
Archigonie von strukturlosen Moneren (C/i?wnaceen, Chroococcaceen),
aus denen sich zunächst nur monoplastide, später erst polyplastide
Spezies differenzierten. Die Entstehung der subordinierten
Kategorien der Stämme dagegen erfolgte durch die Divergenz des
Charakters der Spezies, welche aus der Differenzierung der auto-
genen Moneren hervorgehen, durch das Erlöschen der verbindenden
Zwischenformen zwischen den divergierenden Spezies. Derjenige
Prozeß, welcher nun bei der weiteren Entwickelung der entstandenen
Stämme und ihrer subordinierten Gruppen das Stadium der Epacme
vorzugsweise charakterisiert, ist das Wachstum. Die phyletische
Kreszenz äußert sich ebenso wie die spezifische zunächst in der
progressiven Zunahme der Individuenzahl und in der Ausdehnung
des von ihnen eroberten Verbreitungsbezirks. Ebenso wie die Arten,
so erringen sich auch die aus ihrer Divergenz entstehenden Gattungen,
Famihen, Klassen etc. und ebenso der ganze Stamm, w^elchem alle
diese Gruppen angehören, während ihres epakmastischen Wachs-
tums eine Anzahl von Stellen im Naturhaushalte, und verteidigen
die so gewonnenen Positionen im Kampf um das Dasein gegenüber
den in Mitbewerbung befindhchen Gruppen. Solange jede Gruppe
sich immer weiter ausbreitet, solange die Zahl der ihr untergeordneten
XXIII. n. Stadien tlcM- pliyletischeu Entwickelung. 383
Gruppen und damit zugleich der Individuen, in denen sie verkörpert
sind, zunimmt, solange ist die Gruppe im Wachstum begriffen, und
erst wenn eine weitere quantitative Zunahme und Ausdehnung ihres
Verbreitungsbezirkes im großen und ganzen nicht mehr stattfindet,
beginnt die zweite Periode der Entwickelung, die Akme.
IL Die Blütezeit oder Aouc der Pliylen und der verschie-
denen untergeordneten Systemsgruppen, welche das zweite Stadium
der phyletischen Entwickelung bildet und als solches dem Reifealter
oder der Metaplase der Bionten korrespondiert, ist gleich dem letz-
teren vorzüglich durch qualitative Vervollkommnung ausgezeichnet,
gegen welche das quantitative Wachstum nunmehr zurücktritt. Das
Genus, die FamiHe, Ordnung und Klasse etc.. ebenso der ganze
Stamm, welcher sich in der Blütezeit, auf der Höhe seiner Ent-
wickelung befindet, nimmt nicht mehr oder doch nicht wesentlich
am Umfang, wohl aber an Vollkommenheit zu. Die phyletische
Position, der geographische und topographische Verbreitungsbezirk,
welchen die Gruppe im Kampf um das Dasein errungen hat. wird
behauptet und befestigt und gegen die Angriffe der mitbewerbenden
Gruppen mit Erfolg verteidigt. Dieser Kampf an sich schon ver-
vollkommnet die Gruppe und zwingt sie. sich möglichst gut den
verschiedenen Existenzbedingungen innerhalb des errungenen Gebiets
anzupassen. Daher finden in großer x\usdehnung Prozesse der
akmastischen Differenzierung statt, indem jede Gruppe in
einen reichen und vielverzweigten Büschel von subordinierten Grup-
pen zerfällt. Jedes Genus bildet eine Menge Subgenera, jede Fa-
milie eine Anzahl Subfamilien. jede Ordnung eine Gruppe von
Unterordnungen etc. Die reichliche Produktion solcher subordinierter
Gruppen, welche wesentlich durch Divergenz des Charakters und
Ausfall der verbindenden Zwischenformen erfolgt, charakterisiert die
Acme jeder Gruppe ebenso wie die Erzeugung neuer Individuen die
Metaplase der Bionten. Erst wenn die erzeugten Gruppen so weit
divergieren, daß sie die Ranghöhe der parentalen Gruppe erreichen
und selbst überschreiten, so daß die letztere hinter ihnen zurück-
tritt, erst dann ist die Acme der letzteren vorbei, und die Paracme
hat begonnen.
ni. Die Verblüh zeit oder Paracme der Phylen und ihrer sub-
ordinierten Kategorien begreift das dritte und letzte Stadium ihrer
Entwickelung und entspricht als solches dem Greisenalter oder der
Kataplase der physiologischen Individuen. Sie umfaßt die ganze
334 Entwickelungsgeschichte der Stämme oder Pliylen. XXIIl.
Zeit vom Ende der Acme bis zum Erlöschen der Gruppe und ver-
läuft meist, wie die entsprechende Dekreszenz der Art, langsam und
allmählich. Wie bei den Spezies sind es auch bei den tibergeord-
ueten Gruppen des Systems, bei den Gattungen, Familien, Klassen etc.
vorzugsweise die nächstverwandten und die koordinierten Gruppen
einer jeden Kategorie, welche sich auf Kosten der letzteren ent-
wickeln und ihren Untergang herbeiführen. Namentlich sind auch
hier wieder am gefährlichsten für ihr Bestehen die eigenen Nach-
kommen, d. h. die aus der Differenzierung der reifen Gruppe her-
vorgegangenen neuen Gruppen, welche wieder subordiniert sind,
späterhin aber durch fortschreitende Vervollkommnung und Ausfall
der verbindenden Zwischenformen sich zur gleichen Stufenordnung
erheben und nunmehr über die parentale Stammgruppe das Über-
gewicht gewinnen. In weiterem Sinne kann auch dieses Zurück-
bleiben der letzteren hinter den ersteren als p a r a k ra a s t i s c h e D e -
generation bezeichnet werden, insofern die parentale Gruppe nicht
mehr den Anforderungen entspricht, welche die gesteigerten Existenz-
bedingungen an sie stellen, während sie früher denselben gewachsen
war. Doch ist diese Degeneration wohl mehr ein Mangel an der
notwendigen Fortbildung, als eine positive Rückbildung, und es er-
folgt der Untergang der Gruppen in der Mehrzahl der Fälle weniger
durch vollständiges Aussterben, durch Erlöschen aller Zweige der-
selben, als vielmehr durch einseitige Fortbildung und bevorzugte
Ausbildung einzelner Zweige, welche sich auf Kosten ihrer koordi-
nierten und übergeordneten älteren Zweige entwickeln. Je höher
der Rang einer systematischen Gruppe ist, desto weniger leicht tritt
ihr vollständiges Erlöschen ein, weil desto größer die Möglichkeit
und Wahrscheinlichkeit ist, daß auch beim Erlöschen des größten
Teils der Gruppe doch noch der eine oder andere Zweig derselben
erhalten bleibt und den ursprünglichen Stamm in dieser Richtung
fortsetzt. Daher ist die Zahl der ausgestorbenen Gattungen nicht
bloß absolut, sondern auch relativ viel größer als die Zahl der aus-
gestorbenen Familien, diese letztere ebenso viel größer als die Zahl
der ausgestorbenen Ordnungen, und diese wiederum viel größer als
die Zahl der ausgestorbenen Klassen. Von letzteren kennen wir nur
sehr wenige, und von ausgestorbenen ganzen Stämmen mit Sicherheit
sogar kein Beispiel, obwohl offenbar einzelne Stämme bereits auf
dem Wege der Rückbildung, in der Verblühzeit sind.
XXIIl. III- Resultate der jihyletischen Entwickeliuig. 385
III. Resultate der phyletisclien Eiitwickeluui»-.
Die physiologischen Funktionen der phyletischen Entwickekmg,
deren Wechselwirkung wir im neunzehnten Kapitel ausführlich dar-
gelegt haben, Vererbung und Anpassung, führen unmittelbar und mit
absoluter Notw^endigkeit die höchst bedeutenden und großartigen
Veränderungen der Organismenwelt herbei, welche wir ebendaselbst
als das Divergenzgesetz und als das Fortschrittsgesetz erläutert
haben. Das allgemeinste Endresultat dieses ungeheuren und unauf-
hörhch tätigen Entwickelungsprozesses ist in jedem einzelnen Ab-
schnitt der Erdgeschichte einerseits die endlose Mannigfaltigkeit,
welche sich in der Form und Struktur der verschiedeneu Protisten,
Pflanzen und Tiere offenbart, andererseits die allgemeine Familien-
ähnlichkeit oder die ..Formenverwandtschaft", welche trotzdem die
blutsverwandten Organismen eines jeden Stammes zu einem Systeme
von subordinierten Formengruppen verbindet. Diese natürliche Grup-
pierung der „verwandten" Organismen in zahlreiche über- und neben-
einander geordnete Gruppen oder Kategorien, die Tatsache, daß nur
eine sehr geringe Anzahl von obersten, grundverschiedenen Haupt-
gruppen existiert, unter welchen alle übrigen als „verwandte'' Formen
sich einordnen lassen, diese Tatsache ist lediglich das einfache und
notwendige Resultat des phyletischen Entwickelungsprozesses, und
die Selektionstheorie zedgt uns im allgemeinen, warum dieses Resul-
tat gerade so erfolgen mußte, wie es wirklich erfolgt ist.
Wir stehen hier vor einem der größten und bewunderungs-
würdigsten Phänomene der organischen Natur, vor der Tatsache des
natürlichen Systems oder der baumförmig verzweigten Anordnung
der verwandten Organismengruppen, einer Tatsache, von der Darwin
sehr richtig bemerkt, daß wir das Wunderbare derselben nur infolge
unserer vollständigen Gewöhnung daran zu übersehen pflegen. Von
frühester Jugend au von einer Fülle ähnlicher und doch verschiedener
Gestalten umgeben, gewöhnen wir uns schon, indem wir sprechen
lernen, daran, die verwandtesten Formen unter einer engen Kollektiv-
bezeichnung zusammenzufassen und die divergenteren Formen wieder
unter einem weiteren Kollektivnamen zu vereinigen. So unterscheiden
wir zuerst Tiere und Pflanzen, dann unter den Tieren Vögel und
Fische, unter den A^ögeln Raubvögel und Schwimmvögel etc. Kurz
die Gruppenbildung, die Spezifikation des natürUchen Systems ver-
wächst so frühzeitig mit allen unseren Vorstellungen, daß wir
9.-,
Haeckel, Prinz, d. Morphol. -'-'
3gß Entvvickelungsgeschichte der Stämme oder Pliylen. XXIII.
dieselbe nur zu leicht als etwas Selbstverständliches betrachten
und das große Rätsel übersehen, welches uns die Verwandtschaft
der Formen beständig vorlegt. Am auffallendsten zeigt sich dies
bei jenen gedankenlosen Systematikern, welche ihr ganzes Leben
mit der Umschreibung und Bezeichnung der Systemgruppen, mit
der Registratur und der Nomenklatur der Organismen verbringen,
und dennoch niemals oder nur selten sich die naheliegende Frage
nach der Ursache dieser merkwürdigen Gruppenbildung vorlegen.
Die Lösung dieses „heihgen Rätsels", dieses „geheimen Ge-
setzes" von der „Verwandtschaft" der organischen Gestalten ist einzig
und allein in der Deszendenztheorie zu finden. Nachdem Goethe
schon 1790 auf diese Lösung hingewiesen, nachdem Lamarck die-
selbe 1809 wesenthch weiter geführt hatte, wurde sie endlich 1859
durch Darwin vollendet, welcher in dem 13. Kapitel seiner Selek-
tionstheorie das natürliche System für den Stammbaum der Orga-
nismen und „gemeinsame Abstammung für das Band erklärte,
wonach alle Naturforscher unbewußt er weise in ihren Klassifika-
tionen gesucht haben, nicht aber ein unbekannter Schöpfungsplan,
oder eine bequeme Form für allgemeine Beschreibung, oder eine
angemessene Methode, die Naturgegenstände nach den Graden ihrer
Ähnlichkeit oder Unähnhchkeit zu sortieren." Sobald wir den Grund-
gedanken der Deszendenztheorie richtig erfaßt und uns mit den
notwendigen Konsequenzen desselben vertraut gemacht haben, so
muß uns die wunderbare Tatsache der Gruppenbildung im natür-
lichen System als das notwendige Resultat des natürlichen Züch-
tungsprozesses, d. h. der mechanischen Entwickelung der organischen
Stämme erscheinen.
IT. Die dreifache s^enealogisclie Parallele.
Schon zu wiederholten Malen haben wir auf den dreifachen Par-
allehsmus der phyletischen (paläontologischen), der biontischen
(individuellen) und der systematischen (spezifischen) Entwickelung
hingewiesen als auf eine der größten, merkwürdigsten und wichtigsten
allgemeinen Erscheinungsreihen der organischen Natur. Bisher ist
dieselbe nicht entfernt in dem Maße, in welchem sie es verdient,
hervorgehoben und an die Spitze der organischen Morphologie ge-
stellt worden. Sehr vielen sogenannten Zoologen und Botanikern
ist dieselbe gänzlich unbekannt; die meisten anderen, denen sie be-
XXlIl. I^- Die di-eifache genealogische Parallele. 387
kannt ist, bewundern sie als ein schnurriges Kuriosuni oder als
einen Ausfluß der unverständlichen Weisheit eines unverständlichen
Schöpfers. Sehr wenige Naturforscher nur haben bisher das ganze
kolossale Gewicht dieses großartigen Phänomens begriffen und nach
einem wirklichen Verständnis desselben gesucht. Dieses Verständnis
ist aber nur durch die Deszendenztheorie zu gewinnen, welche uns
die dreifache genealogische Parallele ebenso einfach als vollständig
erklärt, wie andererseits die Parallele selbst eine der stärksten
Stützen der Deszendenztheorie ist.
Seltsamerweise hat derjenige Naturforscher, welcher bisher den
Parallelismus der phyletischen, biontischen und systematischen Ent-
wickelung am meisten hervorgehoben und am längsten besprochen
hat. Louis Agassiz, gerade den entgegengesetzten Weg zu seiner
Erldärung betreten, und es vorgezogen, dadurch den indirekten Beweis
für die Wahrheit der Deszendenztheorie zu führen. Denn nur als
solchen können wir die seltsamen teleologisch-theosophischen Speku-
lationen bezeichnen, welche der geistvolle Agassiz in seinem be-
rühmten dualistischen „Essay on Classification" (1858) zur Erklärung
der dreifachen genealogischen Parallele herbeizieht, und durch deren
Ausführung er zeigt, daß dieselben in der Tat nichts erklären!
Was nun die mechanisch-monistische Erklärung der dreifachen
genealogischen Parallele selbst betrifft, so haben wir bereits im
V. Buche und namentlich im 18. und 19. Kapitel darüber so viel ge-
sagt, daß wir hier nur die wichtigsten Punkte nochmals hervor-
heben wollen. Auszugehen ist dabei immer zunächst von der palä-
ontologischen Entwickelung, an welche die individuelle Eutwickelnng
sich als kurze und schnelle Rekapitulation, die systematische Ent-
wickelung dagegen als das anatomische Resultat unmittelbar an-
schließt.
I. Der Parallelismus zwischen der phyletischen (pa-
läontologischen) und der biontischen (individuellen) Ent-
wickelung erklärt sich einfach mechanisch aus den Vererbungs-
gesetzen und insbesondere aus den Gesetzen der gleichzeitlichen, der
gleichörtlichen und der abgekürzten Vererbung. Alle Erscheinungen,
welche die individuelle Entwickelung begleiten, erklären sich ledig-
lich, soweit sie nicht unmittelbares Resultat der Anpassung an neue
Existenzbedingungen sind, aus der paläontologischen Entwickelung
der Vorfahren des Individuums. Die gesamte Ontogenie ist eine kurze
und schnelle Rekapitulation der langen und langsamen Phylogenie.
388 Entwickelungsgeschichte der Stämme oder Phylen. XXIII.
11. Der Parallelismus zwischen der pliyletischeu (pa-
läontologischen) und der systematischen (spezifischen) Ent-
wickelung erklärt sich einfach aus der Deszendenztheorie und
speziell aus den Gesetzen der Divergenz und des Fortschritts, ins-
besondere aber aus dem Umstände, daß die divergente Entwickelung-
der verschiedenen Zweige und Äste eines und desselben Stammes so
äußerst ungleichmäßig in bezug auf Grad und Schnelligkeit der Ver-
änderung verläuft. Einige Äste haben sich seit der silurischen Zeit
fast unverändert erhalten, wie z. B. die Krinoiden unter den Echino-
dermen, die Phyllopoden unter den Crustaceen; andere haben sich
zwar bedeutend, aber doch nur langsam verändert, wie z. B. die
Ophiuriden unter den Echinodermen, die Makruren unter den Cru-
staceen; noch andere haben sich endlich sehr bedeutend und sehr
rasch verändert, wie z. B. die Echiniden unter den Echinodermen,
die Brachyuren unter den Crustaceen. Ebenso haben sich unter den
Kormophyten die Farne seit der Steinkohlenzeit nur sehr wenig,
die Koniferen mäßig stark, die erst in der Tertiärzeit entstandenen
Gamopetalen sehr bedeutend verändert; die ersten haben sich sehr
langsam, die zweiten mäßig rascli, die dritten sehr schnell ent-
wickelt; die ersten sind ihren ursprünglichen Stammeltern sehr ähn-
lich und daher auf einer verhältnismäßig tiefen Stufe stehen geblieben
(langsam reife oder sehr zähe Typen); die zweiten haben sich mäßig
entwickelt, indem sie zwischen konservativer und progressiver Rich-
tung hin- und herschwankten (mittelreife oder halbzähe Typen); die
dritten endlich, schnell und kräftig neuen, günstigen Existenzbedin-
gungen sich anpassend, haben in kurzer Zeit einen hohen Grad der
Vollkommenheit erreicht (schnellreife oder nichtzähe Typen). Unter
den Wirbeltieren gehören z. B. die Rochen und die Monitoren zu den
langsamreifen, die Ganoiden und die Krokodile zu den mittelreifen^
die Akanthopteren und Dinosaurier zu den schnellreifen Typen. In
vielen Fällen sind die langsamreifen zugleich polytrope oder ideale,
die schnellreifen zugleich monotrope oder praktische Typen; in vielen
Fällen findet aber auch gerade das Gegenteil statt, so daß jene
Kategorien sich keineswegs decken. Jeder Blick auf die paläonto-
logische Übersichtstabelle irgend einer Organismengruppe lehrt uns
die äußerst ungleichmäßige, an SchneUigkeit, Qualität und Quantität
der Veränderung äußerst divergente Entwickelung ihrer verschiedenen
Formenbüschel, und so erklärt sich vollständig die aufsteigende und
baumförmig verästelte Gestalt, welche das natürliche System aller
XXIII. I^ • Dip dreifache genealogische Parallele. 389
gleichzeitig lebenden Glieder der Gruppe als das anatomische Resul-
tat ihrer phyletischen Entwickelung darbietet, und welche der auf-
steigenden und baumähnlich verästelten Form entspricht, die ihre
gemeinsamen Vorfahren durch ihre paläontologische Entwickelungs-
reihe bilden.
TTT. Der Parallelismus zwischen der biontischen (indi-
viduellen) und der systematischen (spezifischen) Entwicke-
lung erklärt sich einfach schon aus der Verbindung der beiden
vorigen Parallelen. Wenn zwei Linien (systematische und biontische
Entwickelungsreihe) einer dritten (der phyletischen Entwickelungs-
reihe) parallel sind, so sind sie auch untereinander parallel (so ist
auch die systematische der biontischen Entwickelungsreihe parallel).
Die Parallele der phyletischen und systematischen Entwickelungs-
reihe zeigt uns z. B. in der aufsteigenden Stufenleiter der Wirbeltier-
klassen oder in derjenigen der Kormophytengruppen (Pteridophyten,
Gymnospermen, Monokotyledonen, Monochlamydeen, Polypetalen,
Gamopetalen). daß die verschiedenen Stufen der paläontologischen
Entwickelung nicht allein in der Zeit aufeinanderfolgen, sondern
auch im Systeme der gegenwärtig lebenden Organismen eine jener
sukzessiven Scala parallele, coexistente, aufsteigende Stufenleiter
bilden: denn von jeder Stufe haben sich zähe Repräsentanten er-
halten und bis zur Gegenwart nur wenig verändert, während ihre
Geschwister sich der Veränderung zuneigten und zu schnellreifen
Seitenzweigen entwickelten. Andererseits zeigt uns die Parallele der
phyletischen und biontischen Entwickelung, daß die letztere nur eine
kurze und schnelle Rekapitulation der ersteren ist. Es muß daher
mit Notwendigkeit auch die biontische Entwickelung im ganzen der
systematischen parallel verlaufen.
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Das natüiiiclie System als Stammbaum.
(Prinzipien der Klassifikation.)
„Der Triumph der physiologischen Metamorphose zeigt
sich da, wo das Ganze sieh in Familien, Familien sich in Ge-
schlechter, Geschlechter in Sippen, und die.se wieder in andere
Mannigfaltigkeiten bis zur Individualität scheiden, sondern
und umbilden. Ganz ins Unendliclie geht dieses Geschäft der
Xatur ; sie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht
Alles, was sie liervorbrachte, bewahren und erhalten. Haben
wir doch von organischen Geschöpfen, die sich in lebendiger
Fortpflanzung nicht verewigen konnten, die entschiedensten
Reste. Dagegen entwickeln sich aus dem Samen immer ab-
weichende, die Verhältnisse ihrer Teile zueinander vei--
ändert l)estimmende Pflanzen." Goethe (1819).
I. BegTiffsbestimmimg- der Kategorien des Systems.
Die Älinlichkeitsbezieliimgen, welche zwischen den verschiedenen
Formen der Organismen existieren, und wek^he man gewöhnlich mit
dem Ausdruck der Verwandtschaft bezeichnet, sind sowohl hin-
sichtlich ihrer Qualität als Quantität außerordentlich verschieden.
Auf die Erkenntnis dieser Verschiedenheit gründet sich größten-
teils die kunstvolle Gliederung der meisten organischen Systeme, ihr
Aufbau aus zahlreichen, teils über, teils nebeneinander geordneten
Gruppen oder Kategorien, die Unterscheidung der Klassen, Ord-
nungen, Familien, Gattungen, Arten, Varietäten etc. Alle diese ver-
schiedenen Kategorien des Systems unterscheiden sich vorzugsweise
durch den Grad der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit in der äußeren
Form und in der inneren Struktur, welcher die verwandten Formen
teils näher zusammenstellt, teils weiter trennt. Je mehr sich die
Systematik entwickelte, desto sorgfältiger fing man an, diese ver-
schiedenen Ähnlichkeitsgrade gegeneinander vergleichend abzuwägen,
und desto mehr differenzierte und erweiterte sich die Stufenleiter der
darauf gegründeten Kategorien.
XXIV. I- Begriffsbestimmung der Kategorien des Systems. 391
Eine klare und bestimmte Unterscheidung der verschiedenen
Kategorien des Systems begann jedocli erst am Anfange des acht-
zehnten Jahrhunderts, als der um die formelle Ausbildung der
systematischen Naturgeschichte hochverdiente Linne mittelst der
binären Nomenklatur eine logisch geordnete Benennung und strengere
systematische Anordnung der bis dahin regellos benannten und zu-
sammengeworfenen Organismen einführte. Linne unterschied fünf
übereinander geordnete Stufenreihen oder Kategorien des Systems,
deren gegenseitige Beziehungen er in dem folgenden Schema aus-
drückte :
Classis
Ordo
Genus
S p e c i es
V a r i e t a s
enus summum)
(Geuiis iuterrae-
dium)
(G
enus proxi-
mum)
(Species)
(Individuum)
Pro\dnciae
Territoria
Paroecia
Pagi
Domicilium
Legiones
Cohortes
Manipuli
C'ontubernia
Miles.
Die Nachfolger Linnes waren meistens vor allem bestrebt, die
zu beschreibenden Arten in diese Kategorien einzuordnen. Die Tier-
klassen aber, als die allgemeinsten und umfassendsten dieser Kate-
gorien, wurden von ihnen in eine einzige Reihe von der niedersten
bis zur höchsten geordnet, gleich wie auch innerhalb der Klasse die
Ordnungen, innerhalb jeder Ordnung die dieselbe konstituierenden
Familien, innerhalb der Familie die verschiedenen Genera derselben,
und endlich innerhalb jedes Genus seine Spezies in einer einzigen
Reihe hintereinander geordnet wurden. Man hielt dafür, daß eine
einzige, in eine kontinuierliche Reihe geordnete Stufenleiter vom un-
vollkommensten bis zum vollkommensten Organismus hierauf führe
(„la chaine des etres'").
Diese Anschauung wurde erst überwunden und ein wesentlicher
Schritt weiter in der Systematik getan, als im Anfange des neun-
zehnten Jahrhunderts gleichzeitig zwei große Naturforscher die Theorie
von den vier grundverschiedenen Typen oder großen Hauptabteilungen
des Tierreichs aufstellten, die ganz voneinander unabhängig seien.
George Cuvier gelangte zu dieser höchst wichtigen Anschauung
auf vergleichend anatomischem, Carl Ernst von Bär dagegen auf
vergleichend embryologischem Wege. Cuvier fand den Grund der
fundamentalen Verschiedenheit der vier tierischen Typen oder Haupt-
formen (Embranchements) in vier grundverschiedenen Bauplänen,
welche deren anatomischer Struktur zugrunde liegen. Bär fand den
wesentlichsten Unterschied derselben in ihrer von Anfang an gänz-
lich verschieden embryonalen Entwickelungsweise. Nach der über-
392 Dtjs natürliche System als Staminbaiiin. XXIV.
einstimmenden Ansicht beider Forscher stellten die vier großen
Hanptgruppen, die Wirbeltiere. Gliedertiere, Weichtiere und Strahl-
tiere, ebenso viele ganz selbständige Entwickelungsreilien dar, deren
jede, unabhängig von den anderen, eine Stufenleiter von niederen
zu höheren Formen zeigt.
Durch diese Aufstellung der Typen, als allgemeinster und um-
fassendster Hauptabteilungen, der obersten Kategorien des Systems,
denen sich alle verschiedenen Klassen etc. unterordnen ließen, war
eine höchst wesentliche Erweiterung nicht allein der formellen
Systematik, sondern auch der gesamten Morphologie geschehen.
Eine weitere wesentliche Bereicherung des systematischen künst-
lichen Fachwerks führte Cuvier dadurch ein, daß er zuerst natür-
liche Familien unterschied, eine Kategorie des Systems, die er
zwischen Ordo und Genus stellte, und die Linne unbekannt war.
Außerdem schuf Cuvier in seinem Systeme auch noch eine Anzahl
anderer untergeordneter, jedoch über dem Genus stehender Kate-
gorien, die er mit dem Namen der Sektionen, Divisionen und Tribus
belegte, so wie er auch die großen Genera in Subgenera spaltete.
Auf dieser von Cuvier gegebenen formalen Grundlage des
Systems hat sich nun die neuere Systematik in seinem Sinne weiter
entwickelt, ohne daß sie sich in der Regel die geringste Mühe gab.
den relativen Wert der verschiedenen übereinander geordneten Kate-
gorien näher zu prüfen und zu bestimmen. Vielmehr verfuhren die
allermeisten Systematiker bei der Einreihung neuer Arten und Gat-
tungen in das System ledighch nach einem gewissen praktischen,
durch Übung erworbenen Takt, wobei jedoch häufig das subjektive
Gutdünken sehr willkürlich obwaltete. Man faßte im allgemeinen
immer zuerst die nächstähnlichen konkreten Individuen, welche
zur Untersuchung vorlagen, in der abstrakten Einheit der Art oder
Spezies zusammen, vereinigte dann die sich am nächsten stehenden,
nur durch „spezifische" Merkmale getrennten Spezies zu einem Genus,
die nächstähnlichen Genera zu einer Familie etc., wobei man dann
je nach Bedürfnis untergeordnete Kategorien (z. B. Subclassis, Sub-
ordo, Subfamilia) zwischen die am meisten gebräuchlichen System-
stufen der Klasse, Ordnung, Famihe, Gattung etc. einschaltete. All-
gemein sind alle diese verschiedenen übereinander geordneten Rang-
stufen in der systematischen Praxis im Gebrauch, ohne daß sich
aber irgend einbestimmter Begriff mit denselben verbindet. Vielmehr
muß zugegeben werden, daß meistens lediglich das relative und
XXIV. I- Begriffsbestininiung der Kategorien des Systems. 393
nur nach subjektivem Gutdünken zu bemessende Verhältnis der
graduellen Formähnlichkeit oder morphologischen Differenz es ist,
das die Erhebung einer neuen spezifischen Form zu einer besonderen
Gattung, Familie, Ordnung etc. rechtfertigt. Je mehr zwei ver-
schiedene Spezies in äußerer Form und innerer Struktur überein-
stimmen, je größer die Anzahl der übereinstimmenden Charaktere
ist, desto tiefer ist die Stufe der Kategorienskala, auf welcher sie
vereinigt sind: je weiter sie sich in allen inneren und äußeren Form-
beziehungen voneinander entfernen, je geringer die Summe ihrer ge-
meinsamen Charaktere ist, auf desto höherer Stufe des Systems erst
werden sie zusammengestellt.
Sehr häufig ist es aber auch nicht der wirkliche Grad der
morphologischen Differenz, sondern es sind ganz untergeordnete
sekundäre und unbedeutende Nebenumstände, welche die Trennung
zweier nächstverwandten Formen und ihre Stellung in zwei ver-
schiedene Gattungen, Familien. Ordnungen etc. bestimmen. Insbe-
sondere übt hier der absolute Umfang der einzelnen Abteilungen
auf die Vorstellung vieler Systematiker einen entscheidenden Einfluß
aus. Viele früher einfachen Gattungen sind allmählich in mehrere
Genera zerspalten und zum Range von Familien erhoben worden,
lediglich weil die Zahl der in denselben enthaltenen Arten beträcht-
lich gewachsen ist, obschon deren Differenzgrad nicht gleichzeitig
sich erhöhte. Andererseits sind vielfach einzelne sehr ausgezeichnete
Formen (sogenannte aberrante Formen) nicht zu dem eigentlich
ihnen zukommenden Range einer besonderen Ordnung. Klasse etc.
erhoben worden, bloß aus dem Grunde, weil die betreffende Form
nur durch eine einzige Spezies oder eine einzige Gattung repräsentiert
ist, so z. B. Amphioxus, DentaUmn, Hydra. Auch andere dergleichen
sekundäre Erwägungen sind häufig für die Bestimmung der Kategorien-
stufe, die einer einzelnen Spezies zukommt, ganz maßgebend ge-
wesen, und an die Stelle einer objektiven vergleichenden Wägung
der Charaktere getreten, die allein jene Stufe bestimmen sollte.
Da nun aber ein bestimmtes Gewicht für jene Wägung. ein all-
gemein gültiger Maßstab für die Messung der Entfernung der ein-
zelnen Speziescharaktere, gleichwie eine anerkannte Wertbestimmung
der Systemkategorien selbst vollständig fehlt, so ist der subjektiven
Willkür der Systematiker überall Tor und Tür geöffnet. Die Folge
davon zeigt sich denn auch deutlich genug in der chaotischen Ver-
wirrung, die auf allen Gebieten der Systematik herrscht. Nicht zwei
394 Das natürliche System als Stainiiibaiini. XXIV.
Naturi'orsclier sind in allen Fällen über die Rangstufe, auf welche
eine bestimmte Form zu erheben ist, einig. Unterschiede, die den
einen bestimmen, sie zu einer Gattung zu erheben, läßt ein anderer
nur als Speziesdifferenzen gelten, während ein dritter darauf eine
neue Familie gründet. Eine Formengruppe, die der erste als Ord-
nung betrachtet, sieht der zweite nur als untergeordnete Familie an,
während der dritte sie zum Wert einer Klasse erhebt. Aber auch ein
und derselbe Naturforscher mißt die Arten, Gattungen, Familien etc.
in verschiedenen Abteilungen des Pflanzenreichs und des Tierreichs
mit verschiedenem Maße. Jeder vergleichende Blick auf eine größere
Anzahl von Familien, Gattungen und Arten aus verschiedenen Klassen
zeigt, daß dieselben Unterschiede, welche in der einen Klasse kaum
für genügend gelten, um zwei verschiedene Formengruppen als Genera
zu trennen, in einer anderen Klasse von demselben Naturforscher für
vollkommen ausreichend gehalten werden, um zwei Formengruppen
als Familien aufzustellen, während sie ihm in einer dritten Klasse
vielleicht gar für so wesentlich gelten, daß er daraufhin zwei Fornien-
gruppen als besondere Ordnungen unterscheidet.
Alle denkenden und unbefangenen Systematiker müssen uns ein-
gestehen, daß der spezielle Ausbau des systematischen Fachwerks
ohne alle allgemein gültigen Regeln in sehr willkürlicher Weise ge-
schieht, daß die verschiedenen Kategorienstufen künstliche Abteilungen,
und daß die Differenzen derselben keine absoluten, sondern nur rela-
tive sind. Der größere Teil der Naturforscher nahm jedoch bis jetzt
gewöhnlich, wenn er auch jene Willkür zugab, den Speziesbegriff
davon aus. Die Spezieskategorie allein sollte eine absolut bestimmte,
reale, in der Natur selbst begründete und festumschriebene Formen-
summe umfassen.
II. Bedeiitiins^ der Kategorien für die Klassifikation.
Daß alle Gruppenbildungen unserer zoologischen und botanischen
Systeme von der Spezies bis zur Klasse hinauf, vollkommen künst-
liche und willkürliche sind, hat bereits Lamarck, der geistvolle Be-
gründer der Deszendenztheorie, auf das bestimmteste ausgesprochen.
An der Spitze seiner klassischen „Philosophie zoologique", im ersten
Kapitel des ersten Bandes, handelt er von den künstlichen Be-
trachtungsweisen der Naturkörper (..des parties de Vart dcms les pro-
ductions de Ja nature") und weist nach, daß alle unsere systemati-
schen Abteilungen, die Klassen, die Ordnungen, die Familien und
XXIV. JI- Bedeutung der Kategorien für die Klassifikation. 395
die Gattungen, ebenso wie die Nomenklatur, willkürlich geschaffene
Kunstprodukte sind; daß die Abteilungen, welche wir in unsern
stets künstlichen Systemen scharf trennen und umgrenzen, in der
Natm* überall durch kontinuierliche Verbindungsstufen unmittelbar
zusammenhängen, und daß der relative Wert der einzelnen Gruppen
sich durchaus nicht in absoluter Weise bestimmen läßt. Wenn man
alle Arten eines organischen Reiches vollständig kennte, so würden
alle durch dieselben gebildeten Gruppen verschiedenen Grades (die
Gattungen, Ordnungen, Klassen etc.) lediglich kleinere und größere
übereinander geordnete Familien von verschiedenem Umfang dar-
stellen, deren Grenzen nur willkürlich zu ziehen wären.
Nach Lamarck haben auch noch manche andere Naturforscher,
darunter die kenntnisreichsten und erfahrensten Systematiker, ihre
Überzeugung von der künstlichen Abgrenzung der System gruppen und
dem subjektiven Werte dieser Kategorien (die Spezies ausgenommen!}
ausgesprochen. Niemand hat jedoch dieselben richtiger erkannt und
erläutert, als Darwin, welcher zuerst klar die Bedeutung des natür-
lichen Systems als Stammbaums und der Gruppen desselben
als Äste und Zweige dieses genealogischen Baumes dargetan hat.
Er wies auch besonders auf die sehr wichtige radiale Divergenz
der Ver wandt Schaftslinien hin, w^elche jene Kategorien ver-
verschiedener Ordnung verbinden. Die trefflichsten Bemerkungen
hierüber enthält in Darwins Werke das vierte Kapitel, welches
von der Divergenz des Charakters handelt, und das dreizehnte.
w^elches die Gruppenbildungen bei der Klassifikation erläutert; hier
ist das Verhältnis der Koordination und der Subordination der ver-
schiedenen Kategorien aus ihrem verschiedenen Abgange und Ab-
stände vom Hauptstamme erklärt.
Der Spezies-Begriff verliert seinen absoluten Wert, sobald wir
die A'^ariabilität, w^elche allen Spezies eigen ist, mit in den Kreis
unserer Betrachtung ziehen. Aus dieser ergiebt sich, daß die
Varietätenbüschel jeder Spezies sich beständig erweitern und die
einzelnen abweichenden Formen durch Divergenz des Charakters
immer weiter auseinander gehen müssen. Viele von diesen Varietäten
gehen früher oder später als solche unter. Andere gelangen in
Verhältnisse, unter denen sie ihre Charaktere lange Zeit hindurch
(oft viele hundert Jahrtausende!) verhältnismäßig konstant erhalten
können. Diese werden dann als Arten bezeichnet. Die Varietäten
sind also beginnende Arten.
396 D^s natürliche System als Stammbaum. XXIV.
III. Oute und schlechte Gruppen des Systems.
„Gute und schlechte Gruppen, gute und schlechte Gattungen,
Familien. Ordnungen, Klassen etc." werden in der systematischen
Praxis ebenso allgemein wie „gute und schlechte Arten" unter-
schieden : und wie bei den letzteren, so haben auch hier die meisten
Systematiker keine richtige Vorstellung von dem eigentlichen Wert
dieser Unterscheidung. Der Grund derselben ist dort wie hier der-
selbe, und was wir oben von den ,,guten und schlechten Arten" be-
merkten, gilt ebenso von den übrigen Kategorien des Systems.
.,Gute Gruppen", gute oder natürhche Genera, Familien, Ord-
nungen, Klassen sind solche, die sich scharf und bestimmt umschreiben
lassen und durch keine Übergänge mit den verwandten Formen ver-
bunden sind. Solche Klassen sind z. B. die der Säugetiere, Vögel
und Reptilien. Es fehlen hier lebende Ubergangsformen, und es
fehlt uns die Kenntnis der ausgestorbenen Zwischenformen, welche
die gemeinsamen Stammeltern dieser Gruppen waren und dieselben
aufs innigste verbanden. Ebenso sind gute Ordnungen diejenigen der
Insektenklasse, deren verbindende Zwischenglieder uns größtenteils
unbekannt sind. Wenn sich eine Klasse so scharf und bestimmt
umschreiben läßt wie die der Vögel, der Insekten, so beruht dies
zunächst immer auf unserer höchst unvollständigen historischen
Kenntnis derselben, die hauptsächlich durch große und wesentliche
Lücken in ihrer paläontologischen Entwickelungsgeschichte bedingt ist.
„Schlechte Gruppen", schlechte oder unnatürliche Genera,
Famihen, Ordnungen, Klassen nennen die Systematiker solche, deren
Abgrenzung sehr schwierig ist, weil die entferntesten Formen der
Gruppe durch eine kontinuierliche Kette von verbindenden Zwischen-
gliedern zusammenhängen. Solche Klassen sind z. B. die der Amphi-
bien und Fische, zwischen denen Lepidosiren in der Mitte steht, der
seltsame, wenig veränderte Nachkomme von den alten gemeinsamen
Stammeltern der Amphibien und Teleostier. Ebenso sind schlechte
Gruppen die einzelnen Ordnungen z. B. der Crustaceen. der Gastero-
poden etc. Je vollständiger wir die lebenden und ausgestorbenen
Glieder irgendeiner Gruppe kennen lernen, desto unmöghcher wird
es, die einzelnen Unterabteilungen scharf voneinander zu trennen,
und desto schAvieriger, den gesamten Charakter der ganzen Gruppe
zusammenzufassen. Während wir einerseits die Charaktere der
XXIV. in. Gute und schlechte Gruppen des Systems. 397
Insektenklasse scharf definieren nnd ihre einzehien Ordnungen glatt
abtrennen können, ist es bei der nahe verwandten Klasse der Crusta-
ceen ganz unniögiicli, den Gesamtcharakter der Gruppe zusammen-
zufassen und ihre einzelnen Ordnungen scharf zu unterscheiden. Die
drei Ordnungen der Huftiere, Pachydermen. Wiederkäuer und Ein-
hufer waren drei der besten und natürlichsten Ordnungen, solange
man ihre fossilen Zwischenformen nicht kannte. Als diese gemein-
samen Stammformen entdeckt waren, wurde es unmöglich, sie noch
länger scharf zu trennen. Es waren nun schlechte und unnatürliche
Abteilungen geworden. Sehr viele kleinere und größere Abteilungen
des Tierreichs erscheinen uns nur deshalb als ..natürliche'' Gruppen,
weil wir bloß die hoch ausgebildeten und differenzierten Epigonen aus
einer verhältnismäßig- späten Zeit ihrer historischen Entwickelung
kennen, so die Wirbeltiere, die Echinodermen. Während die Charak-
teristik solcher späteren Gruppen sich leicht und präzis zusammen-
fassen läßt, weil wir nicht genötigt sind, ihre relativ unvollkommenen
und einfachen Vorfahren mit darunter zu begreifen, so können wir
umgekehrt eine allgemeine und zugleich bestimmte Charakteristik
z. B. der Würmer gar nicht aufstellen, weil wir hier neben den hoch-
ausgebildeten späteren Epigonen noch die unvollkommensten niedersten
Anfänge, der Reihe kennen und von den ersteren nicht trennen
können. Hieraus geht hervor, daß wir eine für alle Glieder eines
Stammes gültige allgemeine Charakteristik desselben, wenn wir alle
Glieder vom ersten bis zum letzten kennten, gar nicht würden
geben können, weil die niedersten Anfangsstufen, die Wurzeln, noch
zu indifferent, für unsere Definitionen noch viel zu charakterlos sind.
Ganz ebenso wie die Spezies werden also auch die umfassen-
deren und weiteren Kategorien des Systems, die Genera, Familien,
Klassen etc. gut und natürlich genannt, wenn wir ihre gesamten
Formensummen und namentlich die ausgestorbenen Stammformen
derselben schlecht und unvollständig kennen; dagegen werden
dieselben Abteilungen schlecht und unnatürlich genannt, wenn
wir ihren gesamten Formenkreis und namentlich die gemeinsamen
Stammeltern derselben gut und vollständig in ihrem genealogi-
schen Zusammenhange kennen. Daher wird jede gute und natür-
liche Gruppe des Systems um so schlechter und unnatürlicher, je
vollständiger wir sie durch Auffindung der verbindenden Übergangs-
formen und namentlich der ausgestorbenen gemeinsamen Stamm-
formen kennen lernen.
398 Das natürliche System als Stammbaum. . XXIV.
IT. Die Baunigestalt des uatürliclien Systems.
Wenn wir das gesamte System der Organismen vollständig von
Anfang an kennen würden, wenn wir im vollständigen Besitze aller
Tier- und Pflanzenarten sein würden, welche jetzt leben und jemals
auf der Erde gelebt haben, so würde es, wie Lamarck, Goethe
und Darwin bemerkt haben, ganz unmöglich sein, ein System mit
scharf abgegrenzten Kategorien aufzustellen. Da die einzige reale
Kategorie des Systems der Stamm oder Typus ist, so würden wir nur
eine (wahrscheinlich geringe) Zahl von solchen Stämmen nebenein-
ander vor uns sehen; Stämme, deren jeder sich im Laufe der Zeit
aus einer ganz einfachen Wurzel durch fortgesetzte Ramifikation
(Divergenz des Charakters) zu einem vielverzweigten Baume mit ge-
waltiger Krone und äußerst formenreichen Ästen entwickelt hat.
Kein anderes Bild vermag uns die wahre Bedeutung, welche
die verschiedenen Kategorien innerhalb eines jeden Stam-
mes besitzen, so treffend, klar und anschaulich zu versinn-
lichen, als das Bild eines weitverzweigten Baumes, dessen
Äste und Zweige, nach verschiedenen Richtungen diver-
gierend, sich zu verschiedenen Formen entwickelt haben.
Es ist dies in der Tat der genealogische Stammbaum jedes Stammes
oder Typus. Die einfache' Wurzel des Hauptstammes ist die gemein-
same Urform, aus welcher der gesamte Formenreichtum der Äste,
Zweige etc. sich entwickelt hat. Die großen Hauptäste, in welche
zunächst der Stamm sich spaltet, sind die Klassen des Stammes, die
Äste, die aus deren Teilung hervorgehen, die Ordnungen; jede Ord-
nung verästelt sich wieder in mehrere Zweige, welche wir Familien
nennen, und die Verästelungen dieser Zweige sind die Gattungen;
die feineren Ästchen dieser Ramifikationen sind die Spezies, und die
feinsten Zweiglein dieser die Varietäten; die Blätter endlich, welche
büschelweis an den letzten Zweigspitzen sitzen, sind die Zeugungs-
kreise oder die physiologischen Individuen, welche diese repräsen-
tieren. Die Zweige und Äste mit frisch grünenden Blättern sind die
lebenden, die älteren mit den abgestorbenen welken Blättern die
ausgestorbenen Formen und Formgruppen des Stammes.
Gleichwie es nun ganz unmöglich ist, an einem solchen Stamme
zu sagen, wo die Grenze der einzelnen Astgruppen ist, wo die grö-
beren Äste als Einheiten aufhören und die feineren aus ihnen hervor-
gehenden anfangen, oder wie es unmöglich ist, den Anteil des
XXIV. I^ • Die Bauingestalt des natürlichen Systems. 399
gemeinsamen Stammes scharf zu bestimmen, der jedem Aste zukommt,
ganz so unmöglich ist es, an jedem Stamme des Tier- und Pflanzen-
reichs die Grenze der einzelnen Klassen, Ordnungen, Familien, Gat-
tungen, Arten scharf anzugeben. Wo dies möglich ist, da befindet
sich eine Lücke in unserer Kenntnis, welche uns eine Kluft zwischen
zwei verwandten Formengruppen vorspiegelt, die in der Natur nicht
vorhanden, sondern entweder durch noch lebende oder durch aus-
gestorbene Zwischenformen überbrückt ist. Alle Äste und Zweige
dieses Baumes gehen auf ungleicher Höhe vom Stamme ab, erreichen
einen ungleichen Grad der Entwickelung in Länge, Dicke und Ver-
zweigung, und alle Zweige enden auf verschiedener Höhe und tragen
eine ungleiche Anzahl von Blättern. Ganz so verhält es sich mit
jedem Stamme des Tier- und Pflanzenreichs, und es ergibt sich hier-
aus, daß die Koordination und Subordination der verschiedenen Kate-
gorien (Verästelungsgrade) durchaus nicht in der Weise schematisch
zu bestimmen ist, wie es gewöhnlich geschieht. Der Grad der Ko-
ordination und Subordination kann vielmehr bei allen Gruppen eines
Stammes ein äußerst verschiedenartiger sein.
Aus dieser und der vorhergehenden Betrachtung erledigt sich
mm die vielerörterte Frage, ob es ein natürliches System der
Organismen gäbe, und welches dieses einzige System sei, von selbst.
Es gibt allerdings ein natürliches System, und zwar nur ein
einziges. Dieses einzig natürhche System ist der reale Stamm-
baum, das Phylema. Jeder einzelne Stamm, jedes Phylum zeigt
uns unter der Form eines einzigen, vielfach verästelten Baumes durch
radial divergierende Verwandtschaftslinien (Äste und Zweige
des Baums) den verschiedenen Grad der Blutsverwandtschaft an, der
die verschiedenen untergeordneten Gruppen des Stammes verbindet.
Wenn wir dieses Bild festhalten und uns dabei stets erinnern,
daß alle Kategorien des Systems künstlich und nicht absolut zu um-
grenzen sind, sondern nur wegen der Lückenhaftigkeit unserer Kennt-
nisse absolut zu sein scheinen; wenn wir uns ferner erinnern, daß
alle diese Kategorien abstrakte Begriffe von relativem Werte sind,
und daß jede Kategorie in verschiedenen Stämmen und Stammteilen
einen sehr ungleichen Wert haben kann — wenn wir dieser
künstlichen Natur des systematischen Fachwerks stets eingedenk
bleiben, so werden wir dasselbe mit dem größten Vorteile zur
übersichtlichen und vergleichenden Darstellung der komplizierten
Verwandtschaftsverhältnisse der einzelnen Stammgruppen anwenden
400 I^^s natüi-liclie System als Stammbaum. XXIV.
können; ja es wird sich sogar eine wirklich naturentsprechende
Anschauung von dem natüi'lichen Systeme jedes Stammes nur dann
gewinnen lassen, wenn wir die einzelnen über- und nebeneinander
geordneten Gruppen durch zahlreiche dichtverzweigte und radial
divergierende Verwandtschaftslinien verbinden.
y. Anzahl der subordiniert en Kategorien.
Da die einzelnen Kategorien oder Gruppen des natürlichen
Systems keinen absoluten Inhalt und Umfang besitzen, sondern nur
die verschiedenen Divergenzgrade der Äste des Stammbaumes be-
zeichnen, da ihr ganzer Wert für die Klassifikation mithin in dem
relativen Verhältnis der Subordination liegt, so ist es klar,
daß die Zahl derselben ganz unbeschränkt ist, und daß der Stamm-
baum um so übersichtlicher wird, je größer die Zahl der überein-
ander geordneten Gruppen ist. Wenn Agassiz und viele andere
Systematiker diese Zahl auf sechs beschränken und nur die Begriffe
der Spesies, Oenus, Familia, Ordo, Classis, Tyims als wirklich
natürhche und reale Kategorien gelten lassen wollen, so ist dies voll-
kommen willkürlich und wird am besten durch die Tatsache wider-
legt, daß Agassiz selbst genötigt war, dennoch die untergeordneten
Kategorien der Subclassis, Subordo^ Subfamilia etc. nachträglich
anzuerkennen und selbst in Gebrauch zu ziehen. Wir werden also
die Zahl der Kategorien ganz beliebig je nach Bedürfnis verviel-
fältigen können, und die einzige praktische Regel, die bei deren An-
wendung zu verfolgen sein wird, dürfte diejenige sein, daß wir den
relativen Rang der einzelnen Kategorien konstant fixieren
und stets in einem und demselben Sinne festhalten, daß wir also
z. B. die Ordnung stets als eine weitere, umfassendere Kategorie über
die Famihe, die Famihe über die Tribus stellen und nicht umgekehrt
(wie es auch geschehen ist). Wenn wir in diesem Sinne die Stufen-
leiter der verschiedenen subordinierten Gruppen in der Reihenfolge,
wie sie von den meisten Systematikern angenommen und befolgt
wird, festsetzen, so ergibt sich die nachstehende Rangordnung, in
welcher jede vorausgehende Kategorie einen umfassenderen und
weiteren Begriff hat, als jede nachfolgende. Als Beispiel fügen wir
die systematische Bezeichnung der verschiedenen Kategorien für
ein Säugetier {Hypudaens amjjhihius) und für eine Dikotyledone
(Hieracium pilosella) bei.
XXIV.
VI. Stufenleiter der subordinierten Kategorien.
401
Tl. Stufenleiter der subordinierten Kategorien.*)
Kategorie des
Systems.
Deutsche Bezeich-
nung der Gruppe.
Beispiel aus dem
Tierreiche.
Beispiel aus dem
Pflanzenreiche.
1.
3.
o.
l'li ylum
2. Subphylum
Cladus
4. S üb cladus
C 1 a s s i s
6. Subclassis
7. Legio
8. Sublegio
9. Ordo
10. Subordo
11. Sectio
12. Sub Sectio
13. Familia
Stamm (TN'pus)
Unterstamm
Stammast
Unterast
Klasse
Unterklasse
Legion
Unterlegion
Ordnung
Unterordnung
Haufe
Unterhaufe
Familie
14. S u b f a m i 1 i a Unterfamilie
15. Tri b US ' Sippschaft
16. Subtrilms Untersippschaft
17. Genus i Sippe (Gattung)
18. Subgenus \ Untersippe
(Untergattung)
19. Cohors Rotte
20. Sub cohors | Unterrotte
21. Species Art
22 . S u b s p e c i e s Unterart
23. Yarietas
Rasse
24. Subvarietas Spielart
Vertebrata
Craniota
Amniota
Mammalia
Monodelphia
Trogontia
Neotrogontia
Rodentia
Myomorpha
Murina
Arvicolida
Hi/pudaei
Arvicola
Paludicola
Arvicola amphihius
Arvicola (amph ibius) j
terrestris
' Arvicola (ampJd- i
hius terrestris) ar-
gentoratensis
Cormophyta
Anthophyta
Angiospermae
Dicotyledones
Dichlamydeae
Aggregatae
Compositae
(Syngenesia)
Liguliflorae
Cichoraceae
Crepideae
Hieraciiim
Piloselloidea
Monocephala
Sieracium pilosella
Hieraciumpilosissi-
nium
j ( Hieracimn (pilo-
I sclla pilosissi-
i| mum) peleterin-
1 1 mim
*) Anmerkung (190G). Die Unterscheidung einer größeren Anzahl von
Kategorien oder ..Gruppenstiifen", die hier ( — vor 40 Jahren — ) zuerst vor-
geschlagen wurde, hat zwar bisher wenig Anklang gefunden, ist aber für den
weiteren Ausbau des natürlichen Systems und seine logische Begründung von
hoher Bedeutung.
Haeckel, Prinz, d. iloriihol. 26
402 I^^s natürliche System als Stammbaum. XXIV.
TU. Charakterdifferenzeii der subordinierten (irnppen.
Nachdem wir unsere Ansicht von der genealogischen Bedeutung
der Klassifikation und von dem natürlichen Systeme als dem
wirklichen Stammbaum oder Phylema dargelegt haben, wird es
vielleicht nicht unpassend erscheinen, noch einen Blick auf den
Wert der Charaktere der verschiedenen Kategorien bezüglich ihres
relativen Gewichtes zu werfen. Daß eine absolute Bestimmung des
Inhalts und Umfangs dieser abstrakten Begriffe nicht möglich sei,
wurde schon durch die oben gegebene Analyse klar. Dagegen sahen
wir, daß ein relativer Unterschied zwischen denselben insofern exi-
stiert, als jede weitere und höhere Kategorie durch allgemeinere
und tiefer greifende Charaktere ausgezeichnet ist, als die nächst
vorhergehende, engere und niedere Stufe. Je niedriger und enger
die Kategorie ist, desto mehr haften ihre Charaktere bloß an der
Oberfläche des Organismus und desto beschränkter und weniger tief
sind sie. Zunächst erscheint diese Differenz lediglich als eine gra-
duelle: jedoch ist in vielen Fällen auch ein qualitativer Unterschied
ihres Wertes insofern nachzuweisen, als die Charaktere der niederen
Kategorien vorzugsweise analoge, durch Anpassung erworbene,
diejenigen der höheren dagegen vorzugsweise homologe, durch
Erbschaft erworbene sind. Je umfassender und allgemeiner eine
Kategorie ist, wie z. B. diejenigen der Ordnung, der Klasse, desto
ausschließlicher sind ihre auszeichnenden Charaktere in der Gesanit-
anlage und in der Innern Struktur des Körpers ausgesprochen und
durch Vererbung von vielen Generationen her erworben: je enger
und beschränkter umgekehrt die Kategorie ist, wie z. B. Genus,
Spezies, desto exklusiver spricht sich ihr Charakter bloß im einzelnen
und im Äußeren der Körperform aus und ist durch Anpassung erst
seit kurzer Zeit erworben. Die Charaktere der höheren und
allgemeineren Kategorien sind ältere, längere Zeit hindurch
vererbte, während diejenigen der niederen und spezielleren
Gruppen jüngere und erst durch eine kleinere Reihe von Genera-
tionen vererbt sind. Tiefer greifend und mehr den Gesamtcharakter
der Form bestimmend sind aber die w^esentlichen Charaktere der all-
gemeineren und älteren Kategorien eben deshalb, weil sie älter sind,
und weil nur die tieferen Veränderungen der Struktur sich durch
eine lange Reihe von Generationen vererben können, während die
oberflächlichen und mehr äußere Einzelheiten der Form betreffenden
XXIV. VII. Chaiakterdifferenzen der subordinierten Gruppen. 403
Charaktere der spezielleren und jüngeren Kategorien leichter sich
wieder verwischen und durch andere Abänderungen verdrängt werden,
eben weil sie jünger und nicht durch so langdauernde Vererbungen
befestigt sind.
Diese Betrachtung bestätigt vollkommen unsere Auffassung von
dem genealogischen Charakter des natürlichen Systems. Es ist hier-
nach wesentlich das höhere x\lter, die längere Reihe der vererbenden
Generationen, welche den höheren Grad der Differenz und damit die
allgemeinere Bedeutung der Kategorien bestimmt. Im allgemeinen
wird daher jede Kategorie des Systems älter sein als die nächst-
engere, darunter stehende, jünger als die nächstweitere, darüber
stehende Stufe des Systems. So ist die Spezies jünger als das zu-
gehörige Genus, älter als die zugehörenden Varietäten; ebenso ist die
Ordnung jünger als die zugehörige Klasse, älter als die zugehörenden
Familien. Diese Erwägung ist insofern sehr wichtig, als sie uns den
Kausalnexus offenbart zwischen dem Alter und dem systematischen
Werte der Charaktere. Je älter ein Differentialcharakter ist, je
größer die Anzahl der Generationen, durch welche hindurch er sich
vererbt und so befestigt hat, desto tiefer greift er in die Gesamt-
organisation des Tieres ein, desto schwerer ist er durch weitergehende
Veränderung zu verwischen und desto allgemeiner und höher ist die
Rangstufe, auf welche er die betreffende Form erhebt.
Auf diesen höchst wichtigen Unterschied in dem systematischen
Werte der ererbten und der angepaßten Charaktere muß der Morpho-
loge bei der genealogischen Subordination der verschiedenen System-
gruppen das meiste Gewicht legen. Viel unwichtiger ist der Umstand,
ob sich der gemeinsame typische Charakter einer bestimmten Gruppe
in Form einer exklusiven Diagnose zusammenfassen läßt oder nicht.
Je besser wir die betreffende Gruppe mit allen ihren Übergangs-
formen zu den nächstverwandten Gruppen kennen, desto weniger
wird eine solche scharfe und exklusive Diagnose möglich sein. Bei
der genealogischen Rekonstruktion des natürlichen Systems, als des
Stammbaums der Organismen, wird es daher nicht darauf ankommen,
die einzelnen koordinierten und subordinierten Gruppen durch scharfe
und exklusive Charakteristiken zu trennen, sondern vielmehr die
vorwiegend erbliche oder angepaßte Natur der Differentialcharaktere,
ihr relatives Alter zu erkennen und danach die gegenseitige Stellung
der verwandten Gruppen zu bestimmen.
2G*
Fünfundzwanzig'stes Kapitel.
Die Yerwandtschaft der Stämme.
„Der Meuseli, wo er bedeutend auftritt, verhält sich
g-esetzg-ebend. In der Wissenschaft deuten die unzähligen
Versuche, zu systematisieren, zu schematisieren, dahin.
Unsere g'anze Aufmerlisamkeit muß aber dahin gerichtet
sein, der Natur ihr Verfahren abzulauschen, damit wir sie
durch zwängende Vorschriften niclit widerspenstig machen,
aber uns dageg'en auch durch ilu'e Willkür nicht vom Zweck
entfernen lassen." Goethe.
Bemerkung (1906). Das 25. Kapitel enthielt auf 15 Seiten (S. 403— 417)
den ersten Versuch, die wichtige Frage von der Verwandtschaft, dem Ursprung
und den Beziehungen der organischen Stämme oder Phylen zu beantworten.
Diese Frage wurde ausführlicher, und in stetig verbesserter Anordnung des
Stoffes, in den zehn verschiedenen Auflagen der „Natürlichen Schöpfungs-
geschichte'' (1868 — 1902) zu beantworten versucht. Die ausführlichste und
streng wissenschaftliche Behandlung derselben enthält meine „Systematische
Phylogenie, Entwurf eines Natürlichen Systems der Organismen auf Grund
ihrer Stammesgeschichte" (I.Band: Protisten imd Pflanzen. 1894: II. Band: Wirbel-
lose Tiere, 1896; III. Band: Wirbeltiere, 1895). Da in diesen Werken mein
letzter ( — für mich persönlich abgeschlossener — ) Versuch vorliegt, das
„Natürliche System der Organismen" auf phylogenetischer Grundlage aufzubauen,
und da die früheren Versuche dazu durch die „Natürliche Schöpfungsgeschichte"
eine weite Verbreitung erfahren haben, so erscheint es jetzt angemessen, jenen
ältesten Versuch (im 25. Kapitel) und seine Ausführung in der „Systematischen
Einleitung" (S. XVII — CLX) hier nicht zu wiederholen.
Seclisundz wanzigstes Kapitel.
Phylogenetisclie Thesen.
«Der Philosoph wird gar bald entdecken, daß sich die
Beobachter selten zu einem Standpunkte erheben, aus
welchem sie so viele bedeutend bezügliche Gegenstände
übersehen können.'^ Goethe.
I. Thesen von der Kontinuität der Phylogenese.
1. Die Phylogenesis oder die phyletische Entwickelung, d. h.
die Epigenesis der Arten und der aus ihnen zusammengesetzten
Stämme, ist ein ebenso kontinuierlicher Prozeß als die Onfogenesis
oder die biontische Entwickelung, d. h. die Epigenesis der Bionten
oder der physiologischen Individuen.
2. Die kontinuierliche Phylogenesis ist ebenso eine wirkhche
Epigenesis (und nicht eine Evolution aus einer „Idee"), wie die
kontinuierliche Ontogenesis.
3. Die einzelnen Arten oder Spezies, aus denen jeder Stamm
(oder Phylum) zusammengesetzt ist, sind daher ebenso unmittelbar
auseinander hervorgegangen, wie die einzelnen Entwickelungszustände,
aus denen die Ontogenesis jedes physiologischen Indi\äduums zusam-
mengesetzt ist.
4. Die Entstellung der Arten auseinander ist ein mecha-
nischer Prozeß, welcher durch die Wechselwirkung der Anpassung
und der Vererbung im Kampfe um das Dasein bedingt wird.
5. Es existiert also ebensowenig eine Schöpfung oder Erschaf-
fung der einzelnen organischen Arten, als der einzelnen organischen
Individuen.
6. Es existiert mithin auch ebensowenig ein „zweckmäßiger
Plan" oder ein „vorbedachtes Ziel" in (i^x phgletischen Entwickelung
der Arten, wie in der hiontischen Entwickelung der Individuen.
406 Phylogenetische Thesen. XXVI.
II. Thesen von der genealogischen Bedeutung des
natürlichen Systems der Organismen.
7. Es existiert ein einziges zusammenhängendes natürliches
System der Organismen, und dieses einzige natürhche System
ist der Ausdruck realer Beziehungen, welche tatsächlich zwischen
allen Organismen bestehen, die gegenwärtig auf der Erde leben und
zu irgend einer Zeit auf derselben gelebt haben.
8. Die realen Beziehungen, w^elche alle lebenden und ausge-
storbenen Organismen untereinander zu den Hauptgruppen des natür-
lichen Systems verbinden, sind genealogischer Natur: ihre For-
menverwandtschaft ist Stammverwandtschaft: das natürhche
System ist daher der Stammbaum der Organismen, ihr Phylema
oder Genealogema.
9. Entweder sind alle Organismen Glieder eines einzigen Ur-
stammes (Phylunt) d. h. Deszendenten einer und derselben gemein-
samen autogenen Stammform: oder es existieren verschiedene selbst-
ständige Phylen nebeneinander, welche sich unabhängig voneinander
aus selbständigen autogenen Stammformen entwickelt haben: im
ersteren Falle bildet das natürliche System einen einzigen Stamm-
baum, im letzteren Falle eine Kollektivgruppe von mehreren Stamm-
bäumen, und zwar von so vielen Stammbäumen, als autogene Stamm-
formen unabhängig voneinander entstanden sind.
10. Die autogenen Stammformen aller Stämme, welche unab-
hängig voneinander durch unmittelbaren Übergang anorganischer
Materie in organische entstanden sind, können nur Organismen der
denkbar einfachsten Natur, vöUig strukturlose und homogene Plasma-
stückchen (Moneren) gewesen sein.
11. Alle Organismen sind in letzter Linie Nachkommen solcher
autogenen Moneren, und haben sich infolge der Divergenz des
Charakters durch natürliche Züchtung entwickelt.
12. Die verschiedenen subordinierten Gruppen des natürlichen
Systems, die Kategorien der Klasse. Ordnung, Familie, Sippeetc. sind
schwächere und stärkere Äste des Stammbaumes, deren Divergenzgrad
den genealogischen Entfernungsgrad der blutsverwandten Organismen
voneinander und von den gemeinsamen Stammformen bezeichnet.
13. Alle verschiedenen Gruppen oder subordinierten Kategorien
des natürlichen Systems besitzen demnach nur eine relative, keine
absolute Bedeutung und sind untereinander durch alle möglichen
Zwischenstufen kontinuierlich verbunden.
XXVI. Phylogenetische Thesen. 407
14. Die Lebensdauer jeder Gruppe des Systems ist nicht durch
Prädestination beschränkt, sondern lediglich die notwendige Folge
der Wecliselwirkung von Anpassung und Vererbung im Kampfe um
das Dasein.
15. Diejenige Gruppenstnfe oder Kategorie des natürlichen Sy-
stems, welche alle Organismen umfaßt, die unter gleichen Existenz-
bedingungen gleiche Charaktere besitzen, zeichnen wir als Art oder
Spezies vor den übergeordneten Gruppen der Sippe, Familie etc. und
vor den untergeordneten Gruppen der Subspezies, Varietät etc. aus.
in. Thesen von der organischen Art oder Spezies.
16. Die organische Art oder Spezies, als das genealogische
Individuum zweiter Ordnung, ist einerseits ebenso eine Vielheit von
Zeugungskreisen oder genealogischen Individuen erster Ordnung, wie
andererseits jeder Stamm (Phylitm) als genealogisches Individuum
dritter Ordnung die Vielheit aller blutsverwandten Arten ist.
17. Die Spezies ist die Gesamtheit aller Zeugungskreise, welche
unter gleichen Existenzbedingungen gleiche Form besitzen und sich
höchstens durch den Polymorphismus adelphischer Bionten unter-
scheiden.
18. Die Subspezies und Varietäten, als die nächstunter-
geordneten Gruppenstufen des Systems, sind beginnende Spezies.
19. Die Genera und Familien, als die nächst übergeordneten
Gruppenstufen des Systems, sind untergegangene Spezies, welche
sich in ein divergierendes Formenbüschel aufgelöst haben.
20. Die Spezies sind in unbegrenztem Maße veränderlich und
können sich durch Anpassung an neue Existenzbedingungen jeder-
zeit in neue Arten umwandeln.
21. Die Umwandelung oder Transmutation der Spezies in
neue Arten und die Divergenz ihres Varietätenbttschels, durch welche
neue Arten entstehen, wird vorzüglich durch die Wechselwirkung der
Vererbung und Anpassung im Kampfe um das Dasein bedingt.
22. Es existieren keine morphologischen Eigentümlichkeiten,
welche die Spezies von den anderen Gruppenstufen des Systems
(Varietäten, Genera etc.) durchgreifend unterscheiden.
23. Es existieren keine physiologischen Eigentümhchkeiten
welche die Spezies von den anderen Gruppenstufen des Systems
(Varietäten, Genera etc.) durchgreifend unterscheiden.
408 Phylogenetische Thesen. XXVI.
24. Die Lebensdauer jeder Art ist nicht durch Prädesti-
nation beschränkt, sondern ledighch die notwendige Folge der Wechsel-
wirkung von Anpassung und Vererbung im Kampfe um das Dasein.
IV. Thesen von den phylogenetischen Stadien.
25. Die Phylogenesis oder phyletische Entwickelung,
(1. h. die Entwickelung jeder genealogischen Gruppe oder Kategorie
des natürlichen Systems, von der Varietät, Spezies und dem Genus
bis hinauf zu der Ordnung, Klasse und dem Stamm, ist ein physio-
logischer Prozeß von bestimmter Zeitdauer.
26. Die Zeitdauer der phyletischen Entwickelung jeder System-
gruppe wird durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung be-
stimmt und ist ledighch das Resultat der Wechselwirkung dieser
beiden physiologischen Faktoren.
27. In dem zeitlichen Verlaufe der phyletischen Entwickelung
jeder Systemgruppe lassen sich allgemein drei verschiedene Ab-
schnitte oder Stadien unterscheiden, welche mehr oder minder
deutlich voneinander sich absetzen.
28. Jedes Stadium der phyletischen Entwickelung jeder System-
gruppe ist durch einen bestimmten physiologischen Entwickelungs-
prozeß charakterisiert, welcher in demselben zwar nicht ausschheßlich.
aber doch vorwiegend wirksam ist.
29. Das erste Stadium der phyletischen Entwickelung, das
Jugendalter der Systemsgruppe oder die Aufblühzeit, Epacmc, ist
durch das Wachstum der Gruppe charakterisiert.
30. Das zweite Stadium der phyletischen Entwickelung, das
Reifealter oder die Blütezeit, Acme, ist durch die Differenzierung
der Gruppe charakterisiert.
31. Das dritte Stadium der phyletischen Entwickelung, das
Greisenalter oder die Verblühzeit, Paracme, ist durch die De-
generation der Gruppe charakterisiert.
V. Thesen von dem dreifachen Parallelismus der drei
genealogischen Individualitäten.
32. Die Kette von sukzessiven Formveränderungen, welche
die Zeugungskreise oder die dieselben repräsentierenden Bionten wäh-
rend ihrer individuellen Existenz durchlaufen, ist im ganzen parallel
der Kette von sukzessiven Formveränderungen, welche die Vorfahren
der betreffenden Zeugungskreise während ihrer paläontologischen
XXVI. Phylogenetische Thesen. 409
Entwickelung' aus der ursprünglichen Stammform ihres Phylon durch-
laufen haben.
33. Diese Parallele zwischen der Inontisclien und Aqy phyleüsdien
Entwickelung erklärt sich aus den Gesetzen der Vererbung, und
insbesondere aus den Gesetzen der abbreviierten. homotopen und
honiochronen Vererbung.
34. Die Kette von ko existenten Formverschiedenheiten, welche
die verwandten Arten und Artengruppen jedes Stammes zu jeder Zeit
der Erdgeschichte darbieten, ist im ganzen parallel der Kette von suk-
zessiven Form Veränderungen, welche die divergenten Formenbüschel
dieses Stammes während ihrer paläontologischen Entwickelung
aus der gemeinsamen ursprünglichen Stammform durchlaufen haben.
35. Diese Parallele zwischen der systematischen und der phyle-
tischen Entwickelung erklärt sich aus den Gesetzen der Divergenz,
und insbesondere aus der Erscheinung, daß die verschiedenen Äste
und Zweige eines und desselben Stammes einen sehr ungleich raschen
Verlauf ihrer phyletischen Veränderung- erleiden und zu sehr un-
gleicher Höhe sich entwickeln.
36. Die Kette von koexistenten Formverschiedenheiten, welche
die verwandten Arten und Artengruppen jedes Stammes zu jeder Zeit
der Erdgeschichte darbieten, ist im ganzen parallel der Kette von
sukzessiven Formveränderungen, welche dieBionten der betreffenden
Artengruppe während ihrer individuellen Existenz durchlaufen.
37. Diese Parallele erldärt sich aus der gemeinsamen Ab-
stammung der verwandten Arten, und zunächst schon aus der Ver-
bindung der beiden vorhergehenden Parallelen: denn wenn die
phyletische Entwickelungsreihe sowohl der biontischen als der syste-
matischen Entwickelungsreihe parallel ist, so müssen auch diese
beiden letzteren untereinander parallel sein.
38. Der dreifache Parallelismus der pliuldischen, hion-
tischen und systematischen Entwickelung erklärt sich demnach, gleich
allen anderen allgemeinen Entwickelungserscheinungen. einfach und
vollständig durch die Deszendenztheorie, während er ohne dieselbe,
gleich diesen allen, völlig unerklärt bleibt.
Zusatz (1906). Die kritischen Grundzüge der ,. Allgemeinen
Entwickelungsgeschichte", welche hier im fünften und sechsten Buche
der Generellen Morphologie 1866 von mir entworfen wurden, waren
der erste Versuch, die von Jean Lamarck begründete und von
410 Phylogenetische Thesen. XXVL
Charles Darwin reformierte Deszendenztheorie logisch nach allen
Seiten auszubauen und systematisch zu verwerten. Wie alle solche
..ersten Versuche" mußte auch mein gewagtes Unternehmen in vieler
Hinsicht mangelhaft und unvollkommen bleiben. Aber trotzdem
glaube ich hoffen zu dürfen, daß diese schwierige und mühevolle
Arbeit nicht vergeblich war. und daß sie in der Geschichte der Ent-
wickelungslehre dauernd einen Platz behaupten wird. Denn hier
sind zum ersten Male die Gesetze der konservativen und progressiven
Vererbung, die Gesetze der indirekten und direkten Anpassung
scharf formuliert, und durch ihre verwickelte Wechselwirkung die
großen Gesetze der Divergenz und des Fortschritts als not-
wendige Folgen der Selektion nachgewiesen worden. Ferner ist hier
zuerst die Phylogenie oder Stammesgeschichte als ein selbständiger
Zweig der Biologie aufgestellt und ihre innige kausale Verknüpfung mit
der Ontogenie oder Keimesgeschichte eingehend begründet worden.
Das Biogenetische Grundgesetz, das diesen fundamentalen
Kausalnexus in präzisester Form zusammenfaßt, hat im 19. und 20.,
im 22. und 26. Kapitel seine ausführliche Begründung erfahren.
Im Laufe der vierzig Jahre, die seitdem verflossen sind, hat
sich über diese wichtigsten Grundfragen der Biologie eine unüber-
sehbar reiche Literatur entwickelt. Dabei ist vielfach, besonders
in neuester Zeit, ein prinzipieller Gegensatz zwischen den Lehren
von Lamarck und Darwin betont worden: dieser besteht nach
meiner Ansicht nicht. Beide große Naturforscher waren von der
kontinuierlichen Umbildung der organischen Formen ( — nicht der
„sprungweisen Mutation"! — ) und von der ,.progressiven Vererbung''
( — der erblichen Übertragung erworbener Eigenschaften — ) ebenso
fest überzeugt wie ich selbst. Der größte Fortschritt, den Darwin
über seinen Vorgänger Lamarck hinaus hat. war die Aufstellung
der Selektionstheorie, nach meiner Ansicht die wichtigste und
unerschütterliche Ergänzung der Deszendenztheorie. Ich habe in
meiner Gasträatheorie (1872) den Beweis dafür durch die phylo-
genetische Reform der Keimblätterlehre zu geben versucht, und in
meiner „Systematischen Phylogenie" (1894 — 1896) die Frucht-
barkeit ihrer Anwendung auf die Klassifikation der organischen Formen
nachgewiesen. Dieses letztere Werk ist die Ausführung der ..Genea-
logischen Übersicht des Natürlichen Systems der Organismen", die
ich 1866 dem zweiten Band der „Generellen Morphologie" als
Systematische Einleitung vorausschickte (160 Seiten).
SIEBENTES BUCH.
DIE ENTWICKELUNGSGESCHICHTE DER ORGANISMEN
IN IHRER BEDEUTUNG FÜR DIE ANTHROPOLOGIE.
„Großer Braiiia, Herr der Mächte!
Alles ist von Deinem Samen,
Und so bist Du der Gerechte!
Hast Du denn allein die Bramen,
Nur die Rajas und die Reichen,
Hast Du sie allein geschaffen?
Oder bist auch Du's, der Affen
Werden ließ und unserseleichen ?
■^b^
„Edel sind wir nicht zu nennen,
Denn das Schlechte, das gehört uns.
Und was Andre tödlich kennen.
Das alleine, das vermehrt uns.
Mag dies für die Menschen gelten.
Mögen sie uns doch verachten:
Aber Du. Du sollst uns achten.
Denn Du könntest Alle schelten!
„Also Herr, nach diesem Flehen,
Segne mich zu Deinem Kinde;
Oder Eines laß entstehen.
Das auch mich mit Dir verbinde!
Denn Du hast den Bajaderen
Eine Göttin selbst erhoben:
Auch wir Andern, Dich zu loben.
Wollen solch ein Wunder hören!"
Goetiie (des Paria Gebet).
Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Die Stellung des Menschen in der Natur.
„Ein wenig: besser würd' er leben.
Hätt'st Du ihm nicht den Sehein des Himmelslichts gegeben ;
Er nennt's Vernunft, und braucht's allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.
Er scheint mir, mit Yerlaub von Euer Gnaden,
AVie eine der langbeinigen Cieaden,
Die immer fliegt und fliegend springt.
Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt. "^
Goethe.
A^on allen speziellen Folgemngen, -welche die kausale Begrün-
dung der organischen Entwickelungsgeschichte durch die Deszendenz-
theorie nach sich zieht, ist keine einzige von so hervorragender Be-
deutung, als ihre An-wendung auf den Menschen selbst. Nur durch
sie wird die Frage von der „Stellung des Menschen in der Natur"
gelöst, diese „Frage aller Fragen für die Menschheit'' — wie sie
Huxley mit Recht nennt — „das Problem, welches allen übrigen
zugrunde liegt, und welches tiefer interessiert als irgend ein anderes."
In der Tat ist dieses Problem von so fundamentaler theoretischer
Wichtigkeit für die gesamte menschliche Wissenschaft, von so un-
ermeßlicher praktischer Bedeutung für das gesamte menschliche
Leben, daß wir nicht umhin kömien, am Schlüsse unserer all-
gemeinen Entwickelungsgeschichte einen Blick auf dasselbe zu
werfen. Denn nur allein vom Standpunkte der Deszendenz-
theorie und der durch diese begründeten Entwickelungs-
geschichte kann diese Frage wissenschaftlich gelöst
werden, und ist dieselbe bereits in den letzten Jahren auf den
Weg ihrer definitiven Lösung geführt worden. Zwar gehört sie
eigentHch in das Gebiet der speziellen Entwickelungsgeschichte;
indessen wird ihr ungeheures Gewicht und der Umstand, daß die
allgemeine Entwickelungsgeschichte zunächst den festen Boden für
414 Die Stellung des Mensclien in der Natur. XXVII.
(leren Entscheidung liefert, es gewiß genügend rechtfertigen, daß wir
derselben hier einen besonderen, wenn aucli ganz aphoristisch ge-
haltenen Abschnitt widmen.
Darwin selbst hat in seinem epochemachenden Werke die
Anwendung seiner Theorie auf die Menschen nicht gemaclit. in
weiser Voraussicht der Aufnahme, welche dieselbe finden würde.
Sicherlich würde die durch sein Werk reformierte Deszendenztheorie
gleich von Anfang an noch weit mehr Widerstand und Anfeindung
gefunden haben, wenn sogleich jene wichtigste Folgerung in das-
selbe mit aufgenommen worden wäre. Dagegen wurde diese Lücke
schon wenige Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Werke
durch x\rbeiten von mehreren der hervorragendsten Zoologen aus-
gefüllt, unter denen wir hier insbesondere Huxley und Karl Vogt
hervorzuheben haben (1863).
Es ist unbestritten, und es ist auch noch von allen freidenkenden
nnd konseciuent schließenden Naturforschern, sowohl von den Geg-
nern als von den Anhängern der Deszendenztheorie, jetzt allgemein
anerkannt, daß unter allen umständen die Abstammung des Menschen-
geschlechts von niederen Wirbeltieren, und zwar zunächst von
affenartigen Säugetieren deren notwendige und unvermeidhche
Konsequenz ist. Gerade wegen dieser Konsequenz, welche mit den
Vorurteilen der meisten Menschen unvereinbar ist, sind viele zu
Gegnern der Deszendenztheorie geworden, welche an und für sich
derselben geneigt sein w^ürden.
Die Deszendenztheorie ist ein allgemeines Induktions-
gesetz, welches sich aus der vergleichenden Synthese aller
organischen Naturerscheinungen und insbesondere aus der
dreifachen Parallele der phyletischen, biontischen und
systematischen Entwickelung mit absoluter Notwendigkeit
ergibt. Der Satz, daß der Mensch sich aus niederen Wirbel-
tieren und zw^ar zunächst aus echten Affen entwickelt hat,
ist ein spezieller Deduktionsschluß, w^elcher sich aus dem
generellen Induktionsgesetz der Deszendenztheorie mit
absoluter Notwendigkeit ergibt.
Diesen Stand der Frage „von der Stellung des Menschen in der
Natur" glauben wir nicht genug hervorheben zu können. Wenn über-
haupt die Deszendenztheorie richtig ist, so ist die Theorie von der
Entwickelung des Menschen aus niederen Wirbeltieren weiter nichts
als ein unvermeidlicher einzelner Deduktionsschluß aus jenem all-
XXVJl. Die Stellung des Menschen in der Natur. 415
gemeinen Induktionsgesetz. Es können daher auch alle weite-
ren Entdeckungen, welche in Zukunft unsere Kenntnisse
über die phyletische Entwickelung des Menschen noch be-
reichern werden, nichts weiter sein, als spezielle Verifi-
kationen jener Deduktion, die auf der breitesten induk-
tiven Basis ruht. Denn in der Tat ist es die Summe aller
bekannten Erscheinungen in der organischen Morphologie, auf welche
wir jenes große Induktionsgesetz der Deszendenztheorie gründen,
und jene spezielle Folgerung aus demselben ist ebenso sicher, als
irgend eine andere Deduktion. Ebenso sicher, als wir schheßen,
daß alle von uns gezüchteten Pferderassen Nachkommen einer ge-
meinsamen Stammform, daß alle Huftiere Epigonen eines und des-
selben Stammvaters, daß alle Säugetiere Deszendenten eines und des-
selben Mammalienstammes sind, vollkommen ebenso sicher schließen
wir auch, daß das Menschengeschlecht nichts weiter als eines der
kleinsten und jüngsten Ästchen dieses formenreichen Stammes ist.
Was die speziellen Abstammungsverhältnisse des Menschen-
geschlechts von der Affenordnung betrifft, so haben wir dieselbe
auf die systematische Stellung des Menschen in der Ordnung der
Affen begründet. Die Phylogenie der Wirbeltiere, soweit sie
sich durch die Paläontologie empirisch begründen und durch den
Parallelismus der embryologischen und systematischen Entwickelung
ergänzen läßt, ergibt folgende
Ahnenreilie des Menschen.
1. Leptokardier oder Akranier; dem AmpMoxus näclistverwandte Wirbel-
tiere, ohne Gehirn, ohne Schädel und ohne zentralisiertes Herz (in der
archozoischen Zeit, vor der Silurzeit).
2. Selachier oder Urfische. und zwar speziell den Squalaceen oder
Haifischen nächstverwandte Fische (zu Ende des archozoischen und im
Beginne des paläozoischen Zeitalters, in der Silur- und Devonzeit).
3. Amphibien, und zwar früher den kiementragenden Sozobranchien
oder Perennibranchien (Prof ejfs, >S'ireH), später den kiemenlosen Sozuren
oder Salamandern {Triton. Salamandra) nächstverwandte Amphibien
(während des größten Teiles der paläozoischen Zeit).
4. Amnioten von unbekannter Form, welche den Übergang von den kienien-
losen Amphibien (Sozuren) zu den niedersten Säugetieren (Ornithodel2)hien)
vermittelten (zu Ende des paläozoischen oder im Beginne des mesozoischen
Zeitalters).
ö. Ornithodelphien oder Monotremen von unbekannter Form, den
niedersten jetztlebenden Säugetieren, Ornithorht/nchus und EcMdna nächst-
verwandt (im Beginne der Sekundärzeit: Triasperiode).
416 Die Stellung des Menschen in der Natur. XXVII.
G. Didelphien oder Marsupialien, ausgestorbene Beuteltiere, und zwar
wahrscheinlich den Beutelratten {D'ulelphijs) nächstverwandte Formen
(während des größten Teiles, vielleicht während der ganzen Sekundärzeit).
7. Monodelphien von unbekannter Form, Piacentalien ohne Dezidua, welche
den Übergang von den Didelphien zu den Primaten und zwar speziell zu
deren Stammgruppe, den Prosimien vermittelten (gegen Ende der Sekundär-
zeit oder in der ältesten Eocaenzeit).
8. Prosimien oder Halbaffen (Hemipitheken), den jetzt lebenden Lemuren
(Lemur, Stenops etc.) nächstverwandt (während der ältesten Eocaenzeit).
9. Katarrhinen oder schmalnasige Affen, und zwar zunächst Menocerken,
den heutigen Anasken {Semnopithecus, Colobus) nächstverwandt, mit Schwanz
und mit Gesäßschwielen (während der Eocaen- oder Miocaenzeit).
10. Anthropoiden, d.h. Katarrhinen ohne Schwanz, den heutigen Menschen-
affen nächstverwandte Affen, und zwar früher Tylogluten (H//Jobates
ähnlich) mit Gesäßschwielen, später Lipotylen (Gorilla ähnlich), ohne Ge-
säßschwielen (während der mittleren und neueren Tertiärzeit).
Wir können hier nicht auf eine Widerlegung der heftigen An-
griffe eingelien. welche die unvermeidliche Anwendung der Deszen-
denztheorie auf die Entstehung des Menschen hervorgerufen hat
und bei dem gegenwärtigen niederen Bildungsgrade der sogenannten
„Kulturvölker" notwendig hervorrufen mußte. Glücklicherweise sind
die meisten dieser Angriffe entweder so ohne alle biologische Tat-
sachenkenntnis oder so ohne allen logischen Verstand geschrieben,
daß sie einer ernstlichen Widerlegung kaum bedürfen. Interessant und
lehrreich ist dabei nur der Umstand, daß besonders diejenigen Menschen
über die Entdeckung der natürlichen Entwickehmg des Menschen-
geschlechts aus echten Affen am meisten empört sind und in den hef-
tigsten Zorn geraten, welche offenbar hinsichtlich ihrer intellektuellen
Ausbildung und cerebralen Differenzierung sich bisher noch am wenig-
sten von unsern gemeinsamen tertiären Stammeltern entfernt haben.
Viele Menschen haben in der Aufstellung des natürlichen Stamm-
baums unseres Geschlechts eine „Entwürdigung" des Menschen finden
wollen und weisen mit Abscheu die Affen, Amphibien und Haifische
als ihre uralten Vorfahren zurück. Wir unsererseits können in der
Erkenntnis dieser Abstammung umgekehrt nur die höchste Ehre
und Verherrlichung des Menschengeschlechts erblicken. Denn was
kann es für den Menschen Erhebenderes geben und worauf kann er
stolzer sein, als auf die Tatsache, daß er in der unendlich kompli-
zierten Entwickelungs-Konkurrenz, in welcher sich die Organismen
seit Milliarden von Jahrtausenden befinden, sich von der niedrigsten
Organisationsstufe zur höchsten von allen erhoben, alle seine Ver-
XXVII. Diß Stellung des Menschen in der Natur. 417
wandten überflügelt und sich zum Herrn und Meister über die ganze
Natur erhoben hat; daß er Haifische und Salamander, Beuteltiere
und Halbaffen so weit hinter sich gelassen hat, daß in der Tat
nichts weiter in der gesamten organischen Natur mit diesem Ent-
wickelungs -Triumphe zu vergleichen ist!
Obgleich alle somatischen und psychischen Differenzen zwischen
dem Menschen und den übrigen Tieren nitr c|uantitativer, nicht quali-
tativer Natur sind, so erscheint dennoch die Kluft, w^elche ihn von
jenen trennt, als höchst bedeutend. Dieser Umstand ist nach unserer
Ansicht vorzugsw^eise darin begründet, daß der Mensch in sich
mehrere hervorragende Eigenschaften vereinigt, welche
bei den übrigen Tieren nur getrennt vorkommen. Als solche
Eigenschaften von der höchsten Wichtigkeit möchten war namentlich
vier hervorheben, nämlich die höhere Differenzierungsstufe des Kehl-
kopfs (der Sprache), des Gehirns (der Seele) und der Extremitäten,
und endlich den aufrechten Gang. Alle diese Vorzüge kommen einzeln
auch anderen Tieren zu: die Sprache, als Mitteilung artikuKerter
Laute, vermögen Vögel (Papageien etc.) mit hoch differenziertem
Kehlkopf und Zunge ebenso vollständig als d-^r Mensch zu erlernen.
Die Seelentätigkeit steht bei vielen höheren Tieren (insbesondere
bei Hunden. Elefanten, Pferden) auf einer höheren Stufe der Aus-
bildung als bei den niedersten Menschen. Die Hände sind als
ausgezeichnete mechanische Werkzeuge bei den höchsten Affen schon
ebenso entwickelt w4e bei den niedersten Menschen. Den auf-
rechten Gang endlich teilt der Mensch mit dem Gibbon, Känguruh,
Pinguin und einigen anderen Tieren. Die Lokomotionsfähigkeit ist
außerdem bei sehr vielen Tieren vollkommener und höher als beim
Menschen entwickelt. Aber der Mensch ist das einzige Tier, w^elches
alle diese ätißerst wichtigen Eigenschaften in einer Person ver-
einigt und gerade dadurch sich so hoch über seine nächsten Ver-
wandten emporgeschwungen hat. Es ist also lediglich die glück-
liche Kombination eines höheren Entwickelungsgrades von
mehreren sehr wichtigen tierischen Organen und Funk-
tionen, welche die meisten Menschen (nicht alle!) so hoch
über alle Tiere erhebt. Dadurch wird aber die Tatsache ihrer Ab-
stammung von echten Affen in keiner Weise alteriert. Der Mensch
hat sich ebenso aus Affen, wie diese aus niederen Säuge-
tieren entwickelt.
Haefkel. Prinz, d. Morphol. 27
AclitundzwarLzigstes Kapitel.
Die Anthropologie als Teil der Zoologie.
„Der Erdenkreis ist mir genug bekannt;
Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt.
Thor, wer dorthin die Augen bhnzend richtet,
Sich über Wolken seinesgleichen dichtet !
Er stehe fest und sehe hier sich um;
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu sehweifen?
Was er erkennt, läßt sich ergreifen!
Er wandle so den Erdentag entlang;
Wenn Geister spuken, geh' er seinen Gang;
Im Weiterschreiten find" er Qual und Glück,
Er, unbefriedigt jeden Augenblick.
Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben.
Das ist der Weisheit letzter Schluß;
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß."
Goethe (Faust).
Die vollständige Umwälzung, welche die Deszendenztheorie und
ihre spezielle Anwendung auf den Menschen in allen menschlichen
Wissenschaften hervorrufen wird, verspricht nirgends fruchtbarer
und segensreicher zu wirken, als auf dem Gebiete der Anthropologie.
Erst seitdem die Abstammung des Menschen vom Affen,
seine allmähliche Entwickelung aus niederen Wirbeltieren, durch die
Deszendenztheorie festgestellt, erst seitdem dadurch die „Stellung
des Menschen in der Natur" ein für allemal bestimmt ist, erscheint
der Bauplatz abgesteckt, auf welchem das Lehrgebäude der wissen-
schaftlichen Anthropologie errichtet werden kann.
Da der Mensch nur durch quantitative, nicht durch qualitative
Differenzen von den übrigen Tieren getrennt ist, da er seinem Baue,
seinen Funktionen, seiner Entwickelung nach sich weniger von den
höheren Tieren entfernt, als diese von den niederen, so wird auch
dieselbe Methode, durch welche wir die Erkenntnis der übrigen
Tiere erwerben, uns bei unserm Streben nach Erkenntnis des
Menschen leiten müssen. Diese Methode ist nicht verschieden von
XXVIII. Die Anthropologie als Teil der Zoologie. 419
derjenigen aller anderen Naturwissenschaften, wie wir sie im 4. Ka-
pitel erläutert haben. Die Modifikationen der Erkenntnismethode,
Avelche durch die eigentümliche Natur des tierischen Organismus
bedingt sind, werden ebenso in der Anthropologie ihre Anwendung
finden; es wird also auch hier in erster Linie die Entwickelungs-
geschichte der rote Faden sein, welcher uns als unentbehrlicher
Führer durch das weite Gebiet der mannigfaltigen und verwickelten
Erscheinungen hindurch leiten muß. Wie uns die vergleichende
Ontogenie und Phylogenie, die individuelle und die paläontologische
Entwickelungsgeschichte des Menschen, zur Erkenntnis seiner Ab-
stammung von den Affen geführt hat, so müssen wir ihrer Leitung
auch auf allen einzelnen Gebieten der Anthropologie folgen. Und da
für alle biologischen, sowohl physiologischen als morphologischen
Untersuchungen die Vergleichung der verwandten Erschei-
nungen unerläßlich ist, so werden wir auch zur wissenschaftlichen
Anthropologie nur durch das intensivste und extensivste Studium
der vergleichenden Zoologie gelangen.
Da die Anthropologie nichts anderes ist, als ein einzelner Spezial-
zweig der Zoologie, die Naturgeschichte eines einzelnen tierischen
Organismus, so wird diese Wissenschaft natürlich auch in alle die
untergeordneten Wissenschaften zerfallen, aus welchen sich die ge-
samte Zoologie zusammensetzt. Es wird also zunächst die Anthropo-
logie als die Gesamtwissenschaft vom Menschen in die beiden Haupt-
zweige der menschlichen Morphologie und Physiologie zerfallen,
von denen jene die gesamten Formverhältnisse, diese die gesamten
Lebenserscheinungen des menschlichen Organismus zu erforschen hat.
Die Morphologie des Menschen spaltet sich wiederum in die beiden
Zweige der menschlichen Anatomie und der menschlichen Ent-
wickelungsgeschichte, zu welcher letzteren nicht bloß die Embryo-
logie des Menschen, sondern auch seine Paläontologie, sowie die
Völkergeschichte oder die sogenannte „Weltgeschichte" gehört. Die
Physiologie des Menschen andererseits zerfällt in die beiden Zweige
der Konservationsphysiologie und der Relationsphysiologie
des Menschen; erstere hat alle auf die menschliche Ernährung
und Fortpflanzung bezüglichen Verhältnisse, letztere die Beziehungen
seiner einzelnen Körperteile zueinander (Physiologie der Nerven und
Muskeln etc.), sowie seine Beziehungen zur Außenwelt (Ökologie
und Geographie des Menschen) zu untersuchen. In diese vier Haupt-
zweige der Anthropologie lassen sich sämtliche Wissenschaften, w^elche
27*
420 I^'ß Anthropologie als Teil der Zoologie. XXVIII.
überhaupt von menscliliclien Verhältnissen handehi (insbesondere auch
alle sogenannten moralischen, politischen, sozialen und historischen
Wissenschaften, die Ethnographie etc.) einordnen, und die Methoden
ihrer Behandlung müssen dieselben sein, wie in der übrigen Zoologie
und wie in der Biologie überhaupt.
Von allen Zweigen der Anthropologie wird keiner so sehr von
der Deszendenztheorie betroffen und umgestaltet, als die Psycho-
logie oder Seelenlehre, jener schwierige Teil der Physiologie, welcher
von den Bewegungserscheinungen im Zentralnervensystem handelt.
Auf keinem Gebietsteile der Anthropologie sind Vorurteile aller Art
so mächtig und so allgemein herrschend, als auf diesem, und auf
keinem wird die Deszendenztheorie größere Fortschritte bewirken,
als hier. Nichts beweist dies so sehr, als der Umstand, daß man
noch heutzutage fast allgemein die Seelenerscheinungen von allen
übrigen physiologischen Funktionen unterscheidet, und daß man die
menschliche Seele als etwas ganz Besonderes hinstellt, was aller
Analogie in der übrigen organischen Natur entbehren soll. Und
doch gehorcht auch das Seelenleben des Menschen ganz denselben
Gesetzen, wie das Seelenleben der höheren Tiere, und ist von diesem
nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden. Wie alle übrigen
komplizierten Erscheinungen an den höheren Organismen, so kann
auch die Seele, als die komplizierteste und höchste Funktion von
allen, nur dadurch wahrhaft verstanden und in ihrem innersten
Wesen erkannt werden, daß wir sie mit den einfacheren und un-
vollkommeneren Erscheinungen derselben Art bei den niederen Orga-
nismen vergleichen, und daß wir ihre allmähliche und stufenweise
Entwickelung Schritt für Schritt verfolgen. Wie wir schon oben
bemerkten, müssen wir hier überall nicht bloß auf die biontische,
sondern auch auf die phyletische Entwickelung zurückgehen.
Wir müssen also, um das hoch differenzierte, feine Seelenleben des
Kulturmenschen richtig zu verstehen, nicht allein sein allmähliches
Erwachen im Kinde zu Rate ziehen, sondern auch seine stufenweise
Entwickelung bei den niederen Naturmenschen, und bei den
Wirbeltieren, aus denen sich diese zunächst entwickelt haben.
Die eigentliche Natur der tierischen Seele haben wir bereits
im 7. Kapitel gelegentlich erörtert. Wenn wir hier auf das dort
Gesagte zurückkommen und nun mit Rücksicht auf die daselbst ge-
gebene Erläuterung der wichtigsten psychischen Funktionsgruppen,
des Empfindens, Wollens und Denkens, menschliche und tierische
XXVIII. Die Anthroi)ologie als Teil der Zoologie. 421
Psyche objektiv und unbefangen vergleichen, so kommen wir überall
unausweichlich zu dem Resultate, daß nur quantitative, nicht quah-
tative Differenzen auch in dieser Beziehung den Menschen vom
Tiere trennen. Natürlich dürfen wir, um hier zu reinen Resultaten
zu gelangen, nicht den gänzlich verkehrten Weg der spekulativen
Philosophen von Fach gehen, welche ihr hoch diiferenziertes eigenes
Gehirn als einziges empirisches Untersuchungsmaterial benutzen und
daraus die Psychologie des Menschen konstruieren wollen. Vielmehr
müssen wir vor allem auf die vergleichende Psychologie der
Kinder, der Geistesarmen, der Geisteskranken und der niederen
Menschenrassen zurückgehen, und wir müssen deren ganzes Seelen-
leben mit demjenigen der höchst entwickelten Tiere vergleichen, um
uns hier ein richtiges und objektives Urteil zu erwerben. Wenn wir
dies mit unbefangenem Blicke tun, so gelangen wir auf dem psycho-
logischen Gebiet zu demselben hochwichtigen Resultat, welches die
Physiologie bereits für alle anderen Lebenserscheinungen, die ver-
gleichende Morphologie für die Formverhältnisse festgestellt hat:
daß die Unterschiede zwischen den niedersten Menschen
und den höchsten Tieren nur quantitativer Natur und viel
geringer sind, als die Unterschiede zwischen den höheren
und den niederen Tieren. Mit Bezug auf alle einzelnen Seelen-
erscheinungen können wir selbst den Satz dahin formulieren, daß
die Unterschiede zwischen den höchsten und den nieder-
sten Menschen größer sind, als diejenigen zwischen den
niedersten Menschen und den höchsten Tieren.
Von den einzelnen Bewegungserscheinungen im Zentralnerven-
system, welche man gewöhnhch als Seele zusammenfaßt, wollen
wir hier nur auf die wichtigsten einen flüchtigen Blick werfen. Der
Wille ist bei den höheren Tieren ganz ebenso wie beim Menschen
entwickelt, häufig an Intensität und Beweglichkeit letzterem über-
legen. Der Wille ist bei den Menschen ebenso wie bei den Tieren
niemals wirklich frei, vielmehr in allen Fällen durch kausale
Motive mit Notwendigkeit bedingt. Die Empfindung ist bei
den edelsten Tieren ebenso wie beim Menschen, oft aber zarter und
feiner entwickelt. Selbst die edelsten und schönsten aller mensch-
lichen Gemütsregungen, die Gattenliebe, die MutterHebe, die Freund-
schaft, die Nächstenhebe, sind bei vielen Tieren zu einem höheren
Grade als bei vielen Menschen entwickelt. Die Zärthchkeit der
„Inseparables", bei denen der Tod des einen Gatten stets den des
42 2 Diß Anthropologie als Teil der Zoologie. XXVlll.
anderen nach sich zieht, die Mutterliebe der Löwin und der Elefantin,
die Treue und die Aufopferuni^sfähigkeit der Hunde und Pferde ist
sprichwörtlich geworden und kann leider der großen Mehrzahl der
Menschen als Muster dienen. Die moralischen Regungen des Mit-
leids, des Gewissens etc. sind bei Hunden und Pferden bekanntlich
ebenfalls oft sehr entwickelt, und mehr als bei vielen Menschen,
ebenso die Leidenschaften des Ehrgeizes, der Eitelkeit etc. Selbst
die Laster der Lüge und Heuchelei, welche einen Grundzug der
neueren Kultur bilden, finden wir bei den am meisten kultivierten
Haustieren, insbesondere den Hunden, ebenso wie beim Menschen
entwickelt. Hier wie dort gibt es böse und gute, falsche und treue
Individuen.
In der Tat sind die Vorstellungen der Empfindung und des
Willens bei vielen der höheren Tiere so hoch differenziert, daß sie
diesen nur selten abgesprochen worden sind. Anders verhält es sich
aber mit der Funktion des Denkens, der Gedankenbildung, jenen
höchsten und verwickeltsten Vorstellungen der tierischen Seele, welche
wahrscheinlich immer durch eine höchst komplizierte Wechselwirkung
zahlreicher zentrifugaler und zentripetaler Erregungen erzeugt werden.
Die Gedankenbildung wird merkwürdigerweise den Tieren sehr
allgemein abgesprochen, während doch in der Tat nichts leichter ist,
als sich durch objektive Beobachtung zu überzeugen, daß die Ge-
setze des Denkens bei den höheren Tieren und beim Men-
schen durchaus dieselben sind, und daß die Induktionen und
Deduktionen hier wie dort durchaus in der gleichen Weise gebildet
werden. Auch in dieser Frage stoßen wir wiederum auf die heftigste
Opposition gerade bei denjenigen Menschen, welche durch ihre un-
vollkommenere Verstandsentwickelung oft selbst hinter den höheren
Tieren zurückbleiben. Dies gilt nicht allein von den niederen Menschen-
rassen, sondern auch von vielen Individuen der höchsten Rassen, und
selbst von solchen, bei denen man vermuten sollte, daß die Masse
erworbener Kenntnisse ihr Denkvermögen geschärft habe.
Das geistige Leben wird also ebenso wie das körperliche bei
den Tieren von denselben Naturgesetzen regiert wie beim Menschen.
Dagegen ist die Stufenleiter der psychischen Entwickelung innerhalb
des Tierreiches außerordentlich viel mannigfaltiger differenziert und
erstreckt sich vom Nullpunkt der Reflexion bis zu ihrer höchsten
Potenzierung. Gerade für das richtige Verständnis der Entwicke-
lung neuer Funktionen durch Differenzierung ist die ver-
XXVIII. Die Anthropologie als Teil der Zoologie. 423
gleichende Seelenlehre der Tiere vom höchsten Interesse und für die
wissenschaftHche Psychologie des Menschen ganz unentbehrlich.
Wie mit dem Seelenleben im ganzen, so verhält es sich auch
mit allen einzelnen Teilen desselben. Alle werden bei Menschen und
Tieren durch dieselben Naturgesetze regiert, und alle psychischen
Funktionen und die daraus hervorgehenden Institutionen des mensch-
lichen Lebens haben sich erst aus den entsprechenden Funktionen
der Vorfahren des Menschen, zunächst insbesondere der Affen, all-
mählich heraufgebildet. Ganz besonders gilt dies auch von allen
staatlichen und sozialen Einrichtungen der menschlichen
Gesellschaft. Wir finden die Anfänge, und zum Teil vollkommenere
Stufen derselben, bei den Tieren und oft selbst bei weit vom Menschen
entfernten Tieren wieder, wie z. B. bei den Insekten (Ameisen). Auch
für das Verständnis dieser höchst verwickelten Erscheinungen ist das
vergleichende Studium derselben bei den Tieren unerläßlich, und die
Staatsmänner, die*Volkswirtschaftslehrer. die Geschichtsschreiber der
Zukunft werden vor allem vergleichende Zoologie, d. h. ver-
gleichende Morphologie und Physiologie der Tiere als unerläßliche
Grundlage studieren müssen, wenn sie zu einem wahrhaft natur-
gemäßen Verständnisse der entsprechenden menschlichen Erschei-
nungen gelangen wollen.
Die interessantesten, wichtigsten und lehrreichsten Erscheinungen
des organischen Lebens versprechen auf diesem noch fast ganz unkulti-
vierten Wissenchaftsgebiete eine bisher ungeahnte Fülle der reichsten
Ausbeute. Die zoologisch gebildeten und vergleichend untersuchenden
Psychologen der Zukunft werden hier eine Ernte halten, von der sich
die erfahrungslosen Psychologen der scholastischen Spekulation bis-
her nichts haben träumen lassen. In noch weit höherem Maße, als
die ., vergleichende Anatomie" der Tiere die früher ausschließlich
kultivierte .,rein menschliche" Anatomie überflügelt und dennoch ihr
zugleich ein unendlich höheres Interesse gegeben hat, wird die ., ver-
gleichende Psychologie" der Tiere mit allen ihren Zweigen die bis-
herige „rein menschliche" Psychologie überflügeln und sie zugleich
zu einer ganz neuen Wissenschaft umgestalten.
Wie weit man aber noch allgemein von der richtigen Erkenntnis
dieses Verhältnisses entfernt ist, zeigt sich nicht allein in der gänz-
lichen Vernachlässigung der Tierseelenkunde, sondern auch in der
allgemeinen Unterschätzung der psychischen Differenzierung des
Menschen selbst. Die wenigsten Menschen wissen den unermeßhch
424 Diß Anthropologie als Teil der Zoologie. XXVIIl.
weiten Abstand zn schätzen, welcher die höchsten von den tiefsten
Menschenrassen, nnd unter den ersteren wiederum die höchst diffe-
renzierten Seelen von den wenigst differenzierten trennt.
Die richtige Wertschätzung dieser äußerst wichtigen Verhältnisse
wird uns lediglich durch die vergleichende En t wickeln ngsge -
schichte gelehrt. Nur durch sie erkennen wir die wahre Stellung
des Menschen in der Natur. Nur durch sie gewinnen wir die wert-
volle Überzeugung, daß die Anthropologie nur ein Spezialzweig der
Zoologie ist.
Zusatz (1906). Progonotaxis des Menschen.
Als ich vor vierzig Jahren in der generellen Morphologie den
ersten Versuch unternahm, die tierische Ahnenreihe oder ,, Pro-
gonotaxis" des Menschen — den Anforderungen* der Deszendenz-
theorie entsprechend — zu ergründen, erschien die Lösung dieser
bedeutungsvollen Aufgabe viel schwieriger und unsicherer, als es
heute der Fall ist. Damals mußte ich mich darauf beschränken,
den Stammbaum des Menschen zunächst nur in der Reihe der
Wirbeltiere festzustellen und die zehn Hauptstufen seiner Ahnen-
reihe zu unterscheiden, welche auf S. 414 aufgeführt und heute fast
allgemein als sicher begründet anerkannt sind (S. 428 — 429 des
zweiten Bandes der G. M.). Allein die wichtige Frage vom ..ersten
Ursprung der Wirbeltiere", ihrer Abstammung von einer Reihe
wirbelloser Tiere, erschien damals noch ..in tiefes Dunkel gehüllt".
(Genealogische Übersicht des natürlichen Systems, 1. c. p. CXIX).
Erst kurze Zeit darauf wurden die wichtigen embryologischen Ent-
deckungen bekannt, welche die überraschende Übereinstimmung in
der Ontogenese des Amphioxus und der Ascidia offenbarten und da-
mit einen hellen Lichtstrahl auf die nahe, bis dahin kaum geahnte
Stammverwandtschaft der Vertehrateii und TiinicateM warfen.
Erst dadurch wurde es möglich, die Frage nach den wirbel-
losen Ahnen der Wirbeltiere näher zu beantworten und hypo-
thetisch eine Anzahl von Protozoen und niederen Metazoen als die
wahrscheinlichen Vorfahren der ältesten Vertebraten zu bezeichnen.
Die weitere Lösung dieser schwierigen Aufgabe, die ich schon 1868
in der ersten Auflage meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte"
versuchte, hat mich seitdem ununterbrochen beschäftigt und in den
XXVIII. DiP Anthropologie als Teil der Zoologie. 425
neun folgenden Auflagen dieses Werkes ( — X. Auflage 1902 — )
vielfache Fortschritte gemacht. Am eingehendsten jedoch, und mit
besonderer Rücksicht auf die Stammesgeschichte jedes einzelnen
Organsystems, habe ich dieselbe in meiner Anthropogenie be-
handelt, deren erste Auflage 1874 erschien.*) Die 30 Haupt-
stufen der Ahnenreihe, die hier unterschieden wurden, habe ich in
zwei Gruppen geteilt: die ältere Ahnenreihe umfaßt die 15 Haupt-
stufen, die vor der Silurzeit lebten und wegen Mangels fester Skelett-
teile keine fossilen Reste hinterlassen konnten (A. 5 Stufen von
Protisten, B. 6 Stufen von wirbellosen Metazoen, C 4 Stufen von
Monorhinen: 2 Acranier und 2 Cyclostomen). Die jüngere Ahnen-
reihe umfaßt die 15 Hauptstufen der Wirbeitierahnen . welche
feste, versteinerungsfähige Skeletteile besaßen und daher deutliche
fossile Reste hinterlassen konnten: sie treten zuerst in der Silurzeit
auf (D. 5 Stufen von kaltblütigen niederen Wirbeltieren: Fischen,
Amphibien und Reptilien; E. 3 Stufen von älteren Säugetieren, aus
der Sekundärzeit. Monotremen, MarsupiaUen. Mallotherien; F. 7 Stufen
von Primaten: Halbaffen, Affen und Menschen). Die Begründung
und Kritik dieser hypothetischen Progonotaxis habe ich für weitere
Kreise in dem Vortrage gegeben, den ich 1898 auf dem vierten
internationalen Zoologenkongresse in Cambridge hielt: ..Über unsere
gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen'' (Stuttgart, 1905,
Neunte Auflg.). Erläuternde kritische Bemerkungen dazu aus neuester
Zeit enthalten die drei Vorträge, die ich in Berlin (im April 1905)
gehalten habe: „Der Kampf um den Entwickelungsgedanken": I. Der
Kampf um die Schöpfung (Abstammungslehre und Kirchenglaube):
IL Der Kampf uin den Stammbaum (Affenverwandtschaft und Wirbel-
tierstamm): III. Der Kampf um die Seele (Unsterblichkeit und Gottes-
begriff). (G. Reimer, Berlin.)
*) Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. I.Band:
Keimesgeschichte oder Ontogenie: II. Band: Stammesgeschichte oder Phylogenie.
Leipzig 1874. Fünfte umgearbeitete Auflage 1903. 990 Seiten, mit 30 Tafeln,
500 Textfiguren und 60 genetischen Tabellen. (W. Engelmann. Leipzig.)
ACHTES BUCH.
DIE ENTWICKELUNGSGESCHICHTE DER ORGANISMEN
IN IHRER BEDEUTUNG FÜR DIE KOSMOLOGIE.
Bedecke deinen HimmeK Zeus, mit Wolkendunst.
Und übe. dem Knaben gleich, der Disteln köpft.
An Eichen dicli und Bergeshöhn:
Mußt mir meine Erde doch lassen stehn.
Und meine Hütte, die du nicht gebaut.
Und meinen Herd, um dessen Glut
Du micli beneidest.
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn", als euch Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern und Gebetshauch eure Majestät
Und darbtet, wären nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war, nicht wußte wo aus noch ein.
Kehrt' ich mein verirrtes Auge zur Sonne, als wenn drüber war"
Ein Ohr, zu hören meine Klage.
Ein Herz, wie meins, sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich, von Sklaverei?
Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut. betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillt je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal,
Meine Herren und deine?
Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen.
In Wüsten fliehen, weil nicht alle
Blütenträume reiften?
Hier sitz" ich. forme Menschen nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei.
Zu leiden, zu weinen.
Zu genießen und zu freuen sich:
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
Goethe (Prometheus;.
Neunundzwanzigstes Kapitel.
Die Einheit der Natur und die Einheit der Wissen schaft.
System des Moiiisiims.
.Xaoli ewigen, ehernen
Großen Gesetzen
Müssen wir Alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden."
Goethe.
Nachdem wir versucht haben, in dem Objekte unserer Unter-
suchung-, in der gesamten organischen Formenwelt, die absolute
Herrschaft eines einzigen, allumfassenden Naturgesetzes, des all-
gemeinen Kausalgesetzes, nachzuweisen, nachdem wir gezeigt
haben, daß alle Organismen ohne Ausnahme, den Menschen mit in-
begriffen, diesem obersten und höchsten Naturgesetze der absoluten
Notwendigkeit unterworfen sind, erscheint es am Schlüsse unserer
Darstellung wohl nicht unpassend, von dem so errungenen Stand-
punkte aus einen Bhck auf unser Verhältnis zur Gesamtnatur, sowie
insbesondere auf das Verhältnis der organischen Morphologie zur
gesamten Naturwissenschaft zu werfen.
Kosmos oder Weltall nennen wir das allumfassende Natur-
ganze, wie es der Erkenntnis des Menschen zugänglich ist. Dieser
Kosmos ist die Gesamtsumme aller Materie und aller Kraft, da wir
uns als Menschen weder eine Vorstellung von einer Materie ohne
Kraft, noch von einer Kraft ohne Materie machen können. Man
kann diesen Kosmos oder Mundus, das Universum (to -5v), wie ihn
Alexander von Humboldt in der großartigsten Weise als Ganzes
erfaßt und dargestellt hat, in einen siderischen und in einen
telluri sehen Teil zerlegen, von denen der letztere sich bloß mit
dem vom Menschen bewohnten Planeten, der Erde, der erstere mit
dem gesamten übrigen, außerirdischen Weltall beschäftigt. Der
tellurische Kosmos wird wiederum in eine anorganische und in
430 ßie Einheit der Natur und die Einlieit der Wissenschaft. XXIX.
eine organische Natur geteilt, deren gegenseitige Beziehungen wir
im 5. Kapitel ausführlich erläutert haben.
Kosmologie oder Weltlehre können wir im weitesten Sinne
die menschliche Wissenschaft vom Weltall nennen. Diese all-
umfassende Wissenschaft ist zugleich die Wissenschaft xai' e^o/'z-v.
da es eine andere Erkenntnisquelle als das Weltall oder die Gesamt-
natur nicht gibt. Alle wirklichen Wissenschaften sind also
entweder Teile der Kosmologie oder das umfassende Ganze der
Kosmologie selbst. Der Einteilung des Kosmos in siderischen und
tellurischen Teil entsprechend kann man die Uranologie (Hinimels-
kimde) und die Pangeologie (Erdkunde im weitesten Sinne oder
Gesamtwissenschaft von der Erde) unterscheiden. Die Pangeologie
ist ebenso ein Teil der Kosmologie, wie die Anthropologie ein Teil
der Biologie. Die Pangeologie zerfällt wiederum in die beiden Zweige
der anorganischen Erdwissenschaft (Abiologie) und der or-
ganischen Erd wissen Schaft (Biologie), deren Verhältnis zuein-
ander, sowie das ihrer einzelnen Zweige wir im 2. Kapitel erörtert
haben.
Die Materie und die davon untrennbare Kraftsumme
der Welt sind in Zeit und Raum unbeschränkt, ewig und
unendlich. Da aber ein ununterbrochenes Wechselspiel von Kräften,
eine unbeschränkte Wechselfolge und Gegenwirkung von Anziehungen
und Abstoßungen die Materie in beständiger Bewegung erhält, so
befindet sich ihre Form in beständiger Veränderung. Während also
Stoff und Kraft ewig und unendlich sind, ist dagegen ihre
Form in ewiger und unendlicher Veränderung (Bewegung)
begriffen. Die Wissenschaft von dieser ewigen Bewegung des Welt-
alls kann als Weltgeschichte im weitesten Sinne oder auch als
"ö '
Entwickelungsgeschichte des Universums, als Kosmosenie bezeichnet
'b"b
w^erden. Die Kosmogenie zerfällt in die beiden Zweige der Urano-
genie (welche Kant sehr richtig die „Naturgeschichte des
Himmels" nannte) und in die Geogenie, die „Naturgeschichte
der Erde" oder die Entwickclimgsgeschichte der Erde, welche auch
häufig mit dem mehrdeutigen Namen der „Geologie" bezeichnet wird.
Wenn wir von der Entwickelungsbewegung des Wehalls als
solcher absehen, und das fertige Resultat derselben in irgend einem
Zeitmomente betrachten, so bezeichnen wir die wissenschaftliche
Kenntnis dieses Resultates passend als Weltbeschreibung- oder
Kosmographie, welche wiederum in einen siderischen und telluri-
XXIX. l^ie Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft. 431
sehen TeiL in die Uranographie und in die Geographie zerfällt.
Diese Wissenschaften nehmen zu den vorhergehenden (zur Kosmogenie,
Uranogenie und Geogenie) dieselbe Stellung ein, wie die Anatomie
der Organismen zu ihrer Entwickelungsgeschichte. Erst durch die
Erkenntnis der letzteren gelangen wir zum Verständnis der ersteren.
Erst durch die Geschichte der Welt oder eines Teiles derselben wird
ihre Beschreibung zur wirklichen Wissenschaft, zur Erkenntnis.^)
..Xihil est m intcIJecfn, qiiod non ante fuerit in sensu." Dieser
Satz bildet den Ausgangspunkt für die richtige Wertschätzung unseres
Erkenntnisvermögens. .,Homo naturac minister et interjjres tantiim
facit et intelligit, qiiantiim de naturae ordine, re et mente obser-
vaverit: nee amplius seit aut potest.^^ Mit diesen Worten hat bereits
Baco von Verulam den wichtigsten Grundsatz festgestellt, daß
alle menschliche Erkenntnis in letzter Instanz sinnlich, d.h. a posteriori
ist. Es gibt keine Erkenntnisse a priori. Der weit verbreitete
Irrtum, daß solche existieren, konnte nur auf einer falschen anthropo-
^) \Yie die gelehrte Scholastik des Mittelalters noch vielfach unsere An-
schauungen beherrscht, zeigt sich vielleicht nirgends so auffallend als in der
üblichen und altherge])rachten Einteilung der Wissenschaften, wie sie sich nament-
lich auch in der Einteilung der Fakultäten auf unseren Universitäten offenbart.
Voran steht die Theologie. Die wirklich natürliche d.h. wahrheitsgemäße
Theologie fällt zusammen mit der Kosmologie, oder was dasselbe ist, mit
der Naturphilosophie. Denn da Gott allmächtig, da er die Summe aller
Kräfte in der Welt ist. da er das ganze Universum umfaßt, so muß er auch in
allen Teilen des Kosmos erkennbar sein, so ist jede Naturerscheinung eine
Wirkung Gottes, oder was dasselbe ist, des Kausalgesetzes, und die allumfassende
Naturwissenschaft ist zugleich Gotteserkenntnis. Die scholastische Theologie da-
gegen, wie sie gewöhnlich gelehrt wird, ist in ihrem historischen Teile (als Ent-
wickelungsgeschichte der Glaubensdichtungen) ein kleiner Teil der Anthropologie
und speziell der genetischen Psychologie; in ihrem dogmatischen Teile ist sie
keine Wissenschaft, da Dogma und Erkenntnis als solche sich ausschließen. Zum
großen Teile gehört die Theologie in das psychiatrische Gebiet; zum großen Teile
ist sie. ebenso wie die Jurisprudenz und Medizin, eine Kunst, eine praktische
Sammlung von Kenntnissen und Anweisung zu deren Gebrauch, aber keine reine
Wissenschaft. Daß alle Wissenschaften, welche speziell menschliche Verhältnisse
betreffen, insbesondere auch die historischen, philologischen, statistischen Wissen-
schaften etc. Teile der Anthropologie und mithin der Zoologie sind, wurde bereits
im vorigen Kapitel gezeigt. Es bleibt mithin als einzige reine, allumfassende
Wissenschaft in der Tat nur die Naturphilosophie (identisch mit der Kosmologie)
übrig, von welcher die Anthropologie nur ein ganz kleiner beschränkter Teil
ist. Die Mathematik ist ein Teil der allgemeinen Kosmologie, wie die Psycho-
logie ein Teil der speziellen Anthropologie und die Logik ein Teil der Psychologie.
432 Die Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft. XXIX.
logischen Basis sich erheben. Seitdem wir in der wahren Erkenntnis
der menschlichen Deszendenz, in der Gewißheit, daß sich der Mensch
aus niederen Wirbeltieren entwickelt hat, den allein richtigen Stand-
punkt für die Wertschätzung seiner Geistestätigkeit ein für allemal
gewonnen haben, ist es klar, daß man nicht mehr von Erkenntnissen
a priori sprechen kann. Die Vererbungsgesetze, und namentlich
das Gesetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung,
erklären uns vollkommen jenen Irrtum. Alle Erkenntnisse ohne
Ausnahme sind a posteriori, durch die sinnliche Erfahrung,
erworben: sie scheinen aber häufig a priori zu sein, weil sie
schon durch viele Generationen vererbt sind. Ebenso werden auch
die durch Dressur anerzogenen Fähigkeiten bestimmter Hunderassen
(z. B. der Spürhunde) durch Vererbung zu angeborenen (a priori).
A^on der Mathematik, welche am meisten von allen wirklichen
Wissenschaften als a priori konstruiert gelten könnte, hat bereits
John Stuart Mi 11 in seiner vortrefflichen induktiven Logik gezeigt,
daß dieselbe in der Tat eine Wissenschaft a posteriori ist. Jede
Zahlgröße, jede Raumgröße, jedes Gesetz über deren Verhältnisse ist
eine Abstraktion aus vorhergegangener Erfahrung oder ein durch
Kombination mehrerer solcher Abstraktionen gewonnener Schluß.
Hier tritt nun die unermeßliche Bedeutung, welche die all-
gemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen und die
des Menschen im besonderen für die universale Kosmologie besitzt,
in ihr volles Licht. Lediglich vermittelst der durch die Deszendenz-
theorie erworbenen Erkenntnis, daß der Mensch nichts v^-eiter ist,
als einer der letzten imd jüngst entwickelten Zweige des Wirbeltier-
Stammes, gelangen wir zu einem richtigen, naturgemäßen Verständnis
der Anthropologie, und somit auch der Erkenntnisgrenzen des
Menschen und des Verhältnisses seiner Wissenschaft zum Weltganzen.
Nur wenn man auf Grund der Deszendenztheorie und der durch sie
kausal begründeten Morphogenie die „Stellung des Menschen in der
Natur" richtig begriffen und konsequent durchdacht hat, kann man
auch zu dem allein wahren d. h. naturgemäßen Verständnis der
menschlichen Wissenschaft gelangen.
Der Grundgedanke, welcher unser System der „generellen Morpho-
logie der Organismen" als roter Faden durchzieht, und w^elcher nach
unserer unerschütterlichen Überzeugung die unerläßliche Basis aller
wahrhaft wissenschaftlichen Bestrebungen zum Verständnis der orga-
nischen Formen weit sein muß, ist der Gedanke von der absoluten
XXIX. Die Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft. 433
Einheit der Natur, der Grundgedanke, daß es ein und dasselbe
allmächtige und unabänderliche Kausalgesetz ist, welches die ge-
samte Katur ohne Ausnahme, die organische wie die anorganische
Welt regiert. Dieses Kausalgesetz ist die allumfassende Notwen-
digkeit, die ctva-f/.'/j, welche ebensowenig einen „Zufall"' als einen
„freien Willen"' zuläßt. Durch eingehende Vergleichung der Orga-
nismen und der Anorgane hinsichtlich ihrer Stoffe, Formen und
Kräfte haben wir im 5. Kapitel zu zeigen versucht, daß diese äußerst
wichtige philosophische Erkenntnis von der Einheit der orga-
nischen und anorganischen Natur empirisch fest begründet ist.
Dieser Einheit der Natur entspricht vollständig die Einheit
der menschlichen Naturerkenntnis, die Einheit der Naturwissen-
schaft, oder w^as dasselbe ist, die Einheit der Wissenschaft
überhaupt. Alle menschliche Wissenschaft ist Erkenntnis, welche
auf Erfahrung beruht, ist empirische Philosophie, oder wenn
man lieber will, philosophische Empirie. Die denkende Er-
fahrung oder das erfahrungsmäßige Denken sind die einzigen Wege
und Methoden zur Erkenntnis der Wahrheit. So kommen wir
auf den wichtigen Satz zurück, welchen wir bereits im 4. Kapitel
begründet haben :
Alle wahre Naturwissenschaft ist Philosophie, und
alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft. Alle wahre
Wissenschaft aber ist Naturphilosophie.*)
*) Anmerkung (1906). Die Prinzipien der Monistischen Natur-
philosophie, wir sie hier vor vierzig Jahren zuerst formuliert wurden, sind
neuerdings von mir weiter ausgeführt und besonders durch das einheitliche
Substanz-Gesetz eingehend begründet worden in meinem Buche über ..Die
AVelträtsel" (1899) und dessen Ergänzungsband: ..Die Lebenswnnder" (1904).
Mein konsequenter und streng einheitlicher Monismus ist weder einseitiger
..Materialismus", noch ebenso einseitiger ..Spiritualismus" (Dynamismus oder
Energetik); über seine Stellung zu anderen philosophischen Systemen vergl. die
neue ..Geschichte der Philosophie seit Kant" von Otto Gramzow: Charlotten-
burg, Georg Bürkner, 1905. (Heft 13, Haeckel.)
Haeekel, Prinz, d. Mor[)hol. 28
Dreissigstes Kapitel.
G-ott in der Ifatur.
(Amphitheismus und Monotheismus.)
Wer darf ihn nennen? und wer bekennen: Ich g-lauh" ihn?
Wer empfinden, und sich unterwinden, zu sagen : Ich glauli'
ilin nicht?
Der Allunifasser. der AUerlialter.
Faßt und erliält er nicht dich, micli, sich selb.st ?
Wölbt sich der Himmel nicht da droben?
Liegt die Erde nicht hier unten fest?
Und steig'en. freundlich blinkend, ewig'e Sterne nicht herauf?
Goethe.
Der Monismus, wie wir denselben in der generellen Morpho-
logie der Organismen als das unentbehrliche Fundament der Wissen-
schaft und als die notwendige Voraussetzung der reinen Erkenntnis
nachgewiesen und allgemein durchgeführt haben, ist von vielen
Seiten als Atheismus und als Materialismus verschrien und als solcher
auf das heftigste bekämpft worden. Wir sind darauf gefaßt, diesen
Vorwurf auch gegen unsere monistische Naturanschauung erhoben
zu sehen, um so mehr, als wir die herrschende, dualistische Vorstellung
eines persönlichen Schöpfers, wie jeder ,,Schöpfung" überhaupt,
auf das entschiedenste verwerfen und bekämpfen. Bei der all-
gemeinen Uuklarheit und Urteilslosigkeit, welche gerade in der
empirischen Morphologie in betreff dieser wichtigsten Grundprinzipien
herrscht, erscheint es passend, am Schlüsse dieses Werkes unsern
betreffenden Standpuukt klar zu bestimmen und kurz zu zeigen,
daß der von uns ausschließlich kultivierte Monismus zugleich
der reinste Monotheismus ist.
Was zunächst den Vorwurf des Materialismus betrifft, den
man gegen den Monismus erhoben hat, so ist derselbe, wie schon
Schleicher bemerkt iiat, ganz ..ebenso verkehrt, als wollte man
ihn des Spiritualismus zeihen''. Der Monismus kennt weder die
Materie ohne Geist, von welcher der Materialismus spricht, noch
Gott in der Natur. 435
den Geist ohne Materie, welchen der Spiritualismus annimmt. Viel-
mehr gibt es für ihn ..weder Geist noch Materie im gewöhn-
lichen Sinne, sondern nur eins, das beides zugleich ist."
Wir kennen eine geistlose Materie, d. h. einen Stoff ohne Kraft,
ebensowenig als einen immateriellen Geist, d. h. eine Kraft ohne
Stoff'. Jeder Stoff" als solcher besitzt eine Summe von Spannkräften,
welche als lebendige Kraft in die Erscheinung treten, und jede Kraft
kann nur durch die Materie, an welcher sie haftet, als solche wirk-
sam sein. Diese rein monistische Ansicht, welche wir auf das ent-
schiedenste vertreten, ist schon vor langer Zeit von einem unserer
hervorragendsten Denker und Naturforscher, von Wolfgang Goethe.
so klar und bestimmt ausgesprochen worden, daß wir nichts besseres
tun können, als seinen merkwürdigen Ausspruch hier nochmals her-
vorzuheben:
..Weil die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne
Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch
die Materie sich zu steigern, sowie sich's der Geist nicht
nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen; wie derjenige
nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat,
um zu verbinden, genugsam verbunden hat. um wieder
trennen zu mögen!"
Was nun aber zweitens den Vorwurf des Atheismus betrifft,
den zweifelsohne sowohl gedankenlose Naturkenner als auch kennt-
nislose Naturdenker gegen unseren Monismus erheben werden, so
schleudern wir diesen schweren Vorwurf dadurch auf sie zurück,
daß wir ihren angeblichen Theismus als Amphitheismus, unseren
Monismus dagegen als reinen Monotheismus nachweisen.
Es ist in der Tat nicht schwer, bei objektiver und vorurteils-
freier Betrachtung zu der klaren Überzeugung zu gelangen, daß der
mythologisch begründete Theismus, welcher angeblich als „reiner
Monotheismus" die Kulturvölker der neueren Zeit beherrscht, und
welcher in der organischen Morphologie als „ Schöpf ungsnnihus"
bis vor kurzem eine so hervorragende Rolle spielte, in der Tat kein
Monotheismus, sondern Amphitheismus ist. Monotheismus war
diese herrschende Gotteslehre nur so lange, als alle Naturerschei-
nungen ohne Ausnahme für das unmittelbare Resultat der persön-
lichen göttlichen Weltherrschaft galten, nur so lange, als alle an-
organischen und organischen Phänomene — vom Wehen des Windes
und dem Rollen des Donners bis zu dem Lichte der Sonne imd dem
28*
436 Gott in der Natur.
XXX.
Laufe der Gestirne, von dem Blütenduft der Pflanze und dem Fluge
des Vogels bis zu der Gedankenbildung des Menschen und der Ent-
wickelungsgeschichte der Völker — direkte Wirkungen eines monar-
chischen, persönlichen Schöpfers waren. Als aber die neuere Natur-
wissenschaft nachwies, daß das gesamte Gebiet der anorganischen
Natur durch feste und ausnahmslose Naturgesetze regiert werde,
als Physik und Chemie die Abiologie in mathematische P'ormeln
brachten, da wurde dem persönlichen Schöpfer die Hälfte seines
Gebietes entrissen, und es blieb ihm nur noch die organische Natur
übrig, und selbst von dieser wurde durch die neuere Physiologie
abermals die Hälfte abgelöst, so daß bloß noch die organische
Morphologie dem persönlichen Willkürregimente des mediatisierten
Weltherrschers unterworfen blieb. So wurde aus dem früheren
Monotheismus der vollständige Amphitheismus. welcher gegen-
wärtig die mystische Weltanschauung der Kulturvölker beherrscht, und
welcher in der Wissenschaft als der grundverkehrte Dualismus er-
scheint, den wir in der generellen Morphologie auf das entschiedenste
bekämpft haben.
Was ist dieser Dualismus anderes als der Kampf zwischen zwei
Göttern von grundverschiedener Natur? Dort sehen wir auf dem
von dem Mechanismus eroberten Gebiete der Abiologie die aus-
schließliche Herrschaft von ausnahmslosen und notwendigen Natur-
gesetzen, von der dvy.jAq, welche zu allen Zeiten und an allen
Orten dieselbe, und sich beständig gleich bleibt. Hier dagegen er-
blicken wir auf dem von der Teleologie noch bedrohten Gebiete
der Biologie, und vorzüglich auf dem der organischen Morphologie,
die launenhafte Willkürherrschaft eines persönlichen und durchaus
menschenähnhchen Schöpfers, welcher sich vergeblich abmüht,
endlich einmal einen .,vollkommenen" Organismus zu schaffen und
beständig die früheren Schöpfungen der „Vorwelt" verwirft, indem
er neue verbesserte Auflagen an deren Stelle setzt. Wir haben schon
im 6. Kapitel gezeigt, w^arum wir diese klägliche Vorstellung des
..persönlichen Schöpfers" durchaus verwerfen müssen. In der Tat
ist dieselbe eine Entwürdigung der reinen Gottesidee. Die meisten
Menschen stellen sich diesen „lieben Gott" durchaus menschen-
ähnlich vor: er ist in ihren Augen ein Baumeister, welcher nach
einem vorher entworfenen Plane den Weltbau ausführt, aber nie
damit fertig wird, weil er während der Ausführung immer auf
neue, bessere Ideen kommt: er ist ein Theaterdirektor, welcher die
Gott in der Natur. 437
Erde wie ein großes Marionettentheater dirigiert und die zahllosen
Drähte, an denen er der Menschen Herzen lenkt, gewöhnUch mit
leidlicher Geschicklichkeit zu handhaben weiß: er ist ein halbbe-
schränkter König, der nur auf dem anorganischen Gebiete konstitu-
tionell nach fest beschworenen Gesetzen, auf dem organischen Gebiete
dagegen absolut, als patriarchalischer Landesvater herrscht und sich
hier durch die Wünsche und Bitten seiner Landeskinder, unter denen
die vollkommensten Wirbeltiere die am meisten begünstigten sind,
bestimmen läßt, seinen Weltenplan täglich abzuändern.
Wenden wir uns weg von diesem unwürdigen Anthropomor-
phismus der modernen Dogmatik. welcher Gott selbst zu einem ..gas-
förmigen Wirbeltier"' erniedrigt, und betrachten wir dagegen die
unendlich erhabenere Gottesvorstellung, zu welcher uns der Monismus
hinführt, indem er die Einheit Gottes in der gesamten Natur
nachweist, und den Gegensatz eines organischen und eines anorga-
nischen Gottes aufhebt, welcher den Todeskeim in der Brust jenes
herrschenden Amphitheismus bildet. Unsere Weltanschauung kennt
nur einen einzigen Gott, imd dieser allmächtige Gott beherrscht
die gesamte Natur ohne Ausnahme. Wir erblicken seine Wirksamkeit
in allen Erscheinungen ohne Ausnahme. Die gesamte anorganische
Körperwelt ist ihr ebenso wie die gesamte organische unterworfen.
Wenn jeder Körper im luftleeren Räume in der ersten Sekunde
15 Fuß fällt, wenn jedesmal drei Atome Sauerstoff mit einem Atom
Schwefel sich zu Schwefelsäure verbinden, wenn der Winkel, den
eine Säulenfläche des Bergkristalls mit der benachbarten macht, stets
120^ beträgt, so sind diese Erscheinungen ebenso die unmittelbaren
AVirkungen Gottes, wie es die Blüten der Pflanzen, die Bewegungen
der Tiere, die Gedanken der Menschen sind. Wir sind alle ..von
Gottes Gnaden", der Stein so gut wie das Wasser, das Radiolar so
gut wie die Fichte, der Gorilla so gut wie der Kaiser von China.
Nur diese Wehanschauung, welche Gottes Geist und Kraft in
allen Naturerscheinungen erblickt, ist seiner allumfassenden
Größe würdig: nur wenn wir alle Kräfte und alle Bewegungs-
erscheinungen, alle Formen und Eigenschaften der Materie auf Gott,
als den Urheber aller Dinge, zurückführen, gelangen wir zu der-
jenigen menschlichen Gottesanschauung und Gottesverehrung, welche
seiner unendlichen Größe in Wahrheit entspricht. Denn ,.in ihm
leben, weben und sind wir". So wird die Naturphilosophie in der
Tat zur Theologie. Der Kultus der Natur wird zu jenem wahren
438 Cfott in der Natur.
Gottesdienste, von welchem Goethe sagt: „Gewiß, es gibt Iveine
schönere Gottesverehrung- als diejenige, welche aus dem
Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen ent-
springt!"
Gott ist allmächtig: er ist der einzige Urheber, die Ursache
aller Dinge, d.h. mit anderen Worten : Gott ist das allgemeine
Kausalgesetz. Gott ist absolut vollkommen, er kann niemals
anders als vollkommen gut handeln: er kann also auch niemals will-
kürlich oder frei handeln, d. h. Gott ist die Notwendigkeit.
Gott ist die Summe aller Kräfte, also auch aller Materie. Jede
Vorstellung von Gott, welche ihn von der Materie trennt, setzt ihm
eine Summe von Kräften gegenüber, welche nicht göttlicher Natur
sind, jede solche Vorstellung führt zum Amphitheismus. weiterhin
zum Polytheismus.
Indem der Monismus die Einheit in der gesamten Natur
nachweist, zeigt er zugleich, daß nur ein Gott existiert, und daß
dieser Gott in den gesamten Naturerscheinungen sich offenbart. In-
dem der Monismus die gesamten Phänomene der organischen und
anorganischen Natur auf das allgemeine Kausalgesetz begründet
und dieselben als die Folgen „wirkender Ursachen" nachweist, zeigt
er zugleich, daß Gott die notwendige Ursache aller Dinge
und das Gesetz selbst ist. Indem der Monismus keine anderen
als die göttlichen Kräfte in der Natur erkennt, indem er alle Natur-
gesetze als göttliche anerkennt, erhebt er sich zu der größten und
erhabensten Vorstellung, welcher der Mensch als das vollkommenste
aller Tiere fähig ist, zu der Vorstellung der Einheit Gottes und
der Natur.
„Was war' ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen.
So daß, was in Ihm lebt und webt und ist.
Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt.''
REGISTEK.
Abänderung 2i>4.
— geschlechtliche 209.
— individuelle 265.
— monströse 266.
— sexuelle 269.
— sprungweise 266.
Abiologie 430.
Abortive Organe 322.
Abortus 323.
Abstammung des Menschen 414.
Abstammungslehre 84.
Abweichende Anpassung 279.
Abweichung, generative 267.
Acentra 160.
Achsenfeste 151.
Achsenlose 151.
Acme 36.5, 383.
Adaptabilitas 254.
Adaptatio correlativa 278.
— cumulativa 271.
— divergens 279.
— individualis 265.
— infinita 281.
— monstrosa 266.
— sexualis 269.
— universalis 270.
Adaptation 72, 2.54.
Adolescentia 203.
Adulta 223.
Adultas 205.
Aetas juvenilis 203.
— matura 205.
— senilis 207.
Affenabstammung 419.
Aggregat-Zustände 55.
Aggregation 121.
Ahnenreihe des Menschen 415,
Akklimatisation 271.
Aktualismus 361.
Aktuelle Anpassung 263. 270.
Aktuelle liionten 135.
Albuminat 112.
Allgemeine An|)assung 270.
Altrix 217.
Amme 217.
Amphigenesis 216.
Amphigonie 186.
Amphitheismus 435.
Analoge Charaktere 287.
Analogie 287.
Analyse 21.
Anaplasis 172, 203.
Anaplastologie 175.
Anaxonia 151.
Angepaßte Eigenschaften 285.
Angewöhnung 271.
Anorgane 49.
Anorganische Aggregatzustände 55.
— Anpassung 72.
— Bildungstriebe 74.
— Formen 58.
— Grundformen 64.
— Individualität 58.
— Korrelation 78.
— Kräfte 67.
— Materien 49.
— Selbsterhaltung 71.
— Verbindungen 53.
440
Register.
Anoiiranisc'Iies Wachstum (58.
Anpassung 72. 254. 285.
— abweichende 279.
— aktuelle 263, 270.
— allgemeine 270.
— direkte 258. 270.
— funktionelle 272.
— gehäufte 271.
— indirekte 258. 265.
— korrelative 278.
— kumulative 271.
— potentielle 263, 265.
— unbeschränkte 281.
— wechselbezügliche 278.
— Gesetze 2G5.
— Grad 257.
— Grundgesetz 257.
— Ursachen 255.
Anpassnngscharaktere 287.
Anpassungsfähigkeit 254.
Antheren 191, 194.
Antheridien 191.
.Anthropogenie 425.
Anthropologie 411. 418.
Anthropomorphismus 89.
Antimeren 106, 123.
— Geschlechtscharaktere 192.
Arbeitsteilung 121, 201. 280, 304.
Archegonien 191.
Archigonie 91, 179.
Art 367, 371.
Artbeständigkeit 377.
Atavismus 235.
Atheismus 435.
Äther 51.
Atom 103.
Atomistische Theorie 51.
Atrophie 323.
Atrophische Organe 322.
Attraktion 51.
Aufbildung 172. 203.
Aufblühzeit 365, 382.
Ausartungen 268.
Auslese 289.
— der Besten 293.
— geschlechtliche 299.
Autogonie 94.
Axen der Grundformen 157.
Axonia 151.
Bastardzeugung 247.
Baumgestalt des Systems 398.
Beobachtung 12.
ßildungsstoff 112.
Bildungstrieb 74. 286.
Biogenetisches Grundgesetz 353, 410.
Biologie 428.
Bion 105. 134.
Bionomie 334.
Biontik 103.
Bisexuales 186.
Blasti 130.
Blütezeit 365. 383.
Carpelle 194.
Cataplasis 207.
Causae efficientes 34, 37.
Causae finales 34. 38.
Cellulae 109.
Cellulae membranosae HO.
— primordiales HO.
Centraxonia 160.
Centroplana 160.
Centrostigma 16(1.
Charakterdifferenzen der System-
gruppen 402.
Charakteres adaptivi 285.
— hereditarii 285.
Chorologie 335.
Cormen 106, 132.
Creseentia 200.
Cyclus amphigenes 210.
— generationis 209.
— monogenes 210.
Cytoblastus HO. 112.
Cytode HO.
Cytoplasma 111. 120.
Darwin 20. 39.
Darwinismus 231.
Decrescentia 207.
Register.
441
Deduktion 28.
Defloiescentia 207.
Degeneration 202.
Dekreszenz 173.
Denken 422.
Denkmünzen der Schöpfung 3;")!)
Deszendenztlieorie 84. 231. 337.
Diclinia 195.
Differenzierung 121. 201. 304.
Digene Zeugung 18G.
Dimidiatio 183.
Dioecia 190.
Dioecisten 186.
Diradiatio 183.
Direkte Anpassung 258. 270.
Divergentia 201. 304.
Divergenz, individuelle 308.
— paläontologische 308.
— spezitische 309.
— systematische 309.
— des Charakters 235. 307.
Divergenzgesetz 281, 304.
Divisio 182.
Dogmatik 30.
Dogmen 339.
Dualismus 43.
Dysteleologie 38, 320.
Ehe 303.
Eierstöcke 191. 220.
Eigenschaften, angepaßte 285.
— ererbte 285.
Eikreis 210, 221.
Einheit der Natur 80, 429.
— der Wissenschaft 427.
Eiweißkörper 112.
Eizelle. 180. 186.
Elementarorganismus 109.
Elemente .53.
Elternzeugung 179.
Embryo 173.
Embryologischer Fortschritt 318.
Embryologie 173.
Empfindung 420.
Empirie 10.
Entbildune- 202.
Ent Wickelung 170.
Entwickelung. Funktionen 199. 380.
— Resultate 385.
— Stadien 381.
Entwickelungsgeschichte 178.
Entwürdigung des Menschen 416.
Epacme 365, 382.
Epigenesis 169.
Epimeren 128.
Erblichkeit 73. 235.
— Grundgesetz 236.
Erblichkeitsgesetze 238.
Erdgeschichte 430.
Ererbte Eigenschaften 285.
Erfahrung 10.
Erkenntnis 10.
— der Wahrheit 433.
Erkenntnisse a priori 431.
Erkenntnisvermögen 43.
Erlöschen der Mittelformen 3t)6.
Ernährung 71, 255.
Ernährungsabänderungen 275.
Evolutio 169. 172, 203.
Existenz, individuelle 258.
Fakultäten 431.
Farbenwahl, sympathische 296.
Fehlgeschlagene Individuen 320.
Fissio 181.
Folgestücke 127.
Formed matter 118.
Formengenuß 339.
— Verständnis 339.
— Verwandtschaft 385.
Formindividuum 105.
Fortpflanzung 179. 236.
Fortpflanzungsarten 197. 198.
Fortschritt 311.
— ontogenetischer 318.
— paläontologischer 318.
— spezifischer 319.
Fortschrittsgesetz 311.
Frage aller Fragen 413.
Freier Wille 274. 421.
Freiheit des Willens 274, 421.
Fruchtblättei- 194.
442
Register.
Funktionelle Anpassung 272.
Funktionen der Kntwickelung l!)i).
(iasfönniges Wirbeltier 90.
Gasträatheorie 410.
Gedankenbildung 421.
Gegenstücke 12o.
Gehäufte Anpassung 271.
Gemeinde 133.
Gemeindebildung 121.
Gemma 131, 184.
Gemmatio 131, 183.
Gemmulae 191.
Gemüt 421.
Genealogie 352.
Genealogischer Parallelismus 386.
Generatio 199.
Generatio digenea 180.
— divisiva 182.
— fissipara 182.
— gemmipara 183.
— monogenea 181.
— parentalis 179.
— scissipara 182.
— spontanea 9t), 179.
— sporipara 18.").
Generationsfülge 218.
Generationswechsel 218, 244.
Generative Abweichungen 2G7.
Geographie der Organismen 335.
Geologische Überlieferung 355.
Germinal matter 118.
Gesang 302.
Geschlechtliche Auslese 299.
— Fortpflanzung 18(5.
Geschlechtstrennung 187.
Geschlechtsverhältnisse der Individuali-
tätsstufen 188—196.
— Antimeren 192.
— Metameren 193.
— Organe 190.
— Personen 194.
— Piastiden 188.
— Stöcke 196.
Gesetze der Anpassung 2(55.
— Vererbung 243.
Gestaltungskraft 74.
Gewebe 121.
Gewohnheit 271.
Glandula hermaphrodita 191.
Glastiere 297.
Gleichfarbige Zuchtwahl 296.
Gliederung 127, 129.
Gonochorismus 187.
— der Antimeren 192.
— der Metameren 194.
— der Organe 191.
— der Personen 195.
— der Piastiden 190.
— der Stöcke 196.
Gonochoristen 186.
Gott 434. 438.
Grad der Ausbildung 168.
— der Vererbung 237.
Greisenalter 207.
Grundformen 64, 151.
— System 158—163.
Grundformenlehre 149.
Grundgesetz, biogenetisches 353. 410.
— der Erblichkeit 236.
— der Anpassung 257.
Gruppen, gute und schlechte 396.
Gruppenstufen 401.
Gute Arten 378.
— Gruppen 396.
Gymnocyta 110.
Gymnoplastide 117.
Hautlose Zellen 110.
Hautzellen 110.
Hereditas 235.
— abbreviata 248.
— accommodata 249.
— adaptata 249.
— alternans 244.
— amphigona 246.
— constituta 250.
— continua 243.
— homochrona 252.
— homotopa 251.
— interrupta 244.
— latens 244.
Register.
443
Hereditas inixta 246.
— sexualis 246.
— siniplicata 248.
Heredität 285.
— progressive 241.
Herniaphroditismus 187.
— der Antimeren 192.
— der Metameren 193.
— der Organe 190.
— der Personen 194.
— der Piastiden 188.
— der Stöcke 19G.
Hermaphroditen 186.
Heterogonie 221.
Histonalen 130.
Hoden 191.
Honiodyname Teile 127.
Honiodynamie 127.
Homologe Charaktere 287.
Homologie 287.
Homonymie 127.
Homonyme Teile 127.
Homotypische Grundzahl 126.
— Teile 123.
Hunger 299.
Hypertrophie 323.
Hypogenesis 220.
— epimorpha 224.
— metamorpha 222.
Ideale Typen 283.
Idorgane 106.
Indirekte Anpassung 258, 265.
Individualitätslehre 103.
Individuelle Abänderung 265.
. — Divergenz 308.
— Existenz 258.
Individuen 59, 103.
Induktion 23.
Intercellularsubstanz 116.
Involutio 207.
Imagines 177.
Imbibition 57.
Involution 173.
Jugendalter 203.
Juventus 203.
Kampf ums Dasein 234. 292.
Karyon (Zellkern) 112.
Karyoplasma 120.
Kataklysmentheorie 359.
Kataplasis 173.
Kataplastische Individuen 322.
Kataplastologie 175.
Kategorien des Systems 390.
— promorphologische 163.
— System 401.
Kausalgesetz 37, 429.
Kausalität 33.
Keimstöcke 220.
Keimsubstanz 118.
Kern 119.
Kernkörperchen 113.
Kernpunkt 113.
Klassifikation 384.
Knospe 131, 184.
Knospenbildung 131.
Knospung 183.
Kohlenstoff 55.
Kolonie 133.
Kompensation 278.
Konjugation 188.
Konservative Vererbung 238.
Kopulation 188.
Korrelation 78, 278.
Korrelative Anpassung 278.
Kosmogenie 430.
Kosmologie 430.
Kosmos 429.
Konservations-Physiologie 98.
Kontinuitätstheorie 359.
Kreuzung 247.
Kristallbildung 79.
Kristalloide 60.
Kritik 30.
Kumulative Anpassung 271.
Kunstformen der Natur 147.
Künstliche Züchtung 291.
Lamarekismus 232.
Larve 173, 177, 223.
Leben 50, 67.
Lebenskraft 35, 54, 88.
U4:
Register.
Lebensstoff 53. 112.
Leitmuscheln 359.
Lepocvta 110.
Lepoplastide 117.
Letzte Gründe 43.
Liebe 299.
Lipostaura 161.
Männliche Zuchtwahl 300.
Materialismus 434.
.Materie und Kraft 430.
:\Iaturitas 205.
Mechanismus 33.
Membrana cellulae 110.
Mensch, Ahnenreihe 415.
— Entwürdigung 416.
— Progonotaxis 424.
— Stellung 413.
Metagenesis 216, 226.
— progressiva 219.
— regressiva 220.
Metameren 106. 127.
— Geschlechtsverhältnisse 193.
Metamorphose 175, 223.
Metaplasis 173, 205.
Metaplastologie 175.
Methodik 10.
Mißbildung 267.
Mitbewerbung 295.
Mittelformen 30().
]\Ioneren 62.
Monismus 43, 434.
— System 429.
Monistische Erklärung 337.
Monoclinia 194.
Monoecia 196.
Monoecisten 186.
Monogenesis 212.
Monogonia 181.
Monospore 214.
Monotheismus 434.
Monströse Abänderungen 266.
Moral 422.
Morphologie 3.
Morphologische Individuen 105.
— erster Ordnung 109.
Morphologische Individuen zweiter
Ordnung 120.
— dritter Ordnung 123.
— vierter Ordnung 127.
— fünfter Ordnung 130.
— sechster Ordnung 132.
Morphologischer Speziesbegriff 371.
Mor])hon 105.
Mutationstheorie 266, 410.
Muttermale 252.
Nachzucht 289.
Natürliches System 390.
Natürliche Zuchtwahl 234.
Naturphilosophie 13. 14. 431. 433.
Notwendigkeit 34.
Nucleolinus 113.
Nucleolus 113.
Nucleus 110. 112. 118.
Nützlichkeitstheorie 317.
Nympha 223.
Oekologie 334.
Ontogenesis. Funktionen 199.
Ontogenetische Thesen 342.
Ontogenetischer Fortschritt 318.
Ontogenie 98, 167.
Organe 106. 120, 122.
Geschlechtsverhältnisse 190.
Organische Aggregatzustände 55.
— Anpassung 72.
— Bildungstriebe 74.
— Formen 58.
— Grundformen 64.
— Individualität 58.
— Korrelation 78.
— Kräfte 67.
— ]\Iaterien 49.
— Selbsterhaltung 71.
— Verbindungen 53.
— Wachstum 68.
— Stereometrie 151. 155.
Organismus 49.
Ovaria 191, 220.
Paläontologie 352.
Paläontologische Divergenz 308.
Register.
445
l'aläontologisches Material o5.").
Pangeologie 430.
Paracme 30(3, 383.
Parallele, genealogische 38G.
Partielle Bionten 137.
Perioden der Erdgeschichte 3G2.
Person 104.
Personen 106, 130.
— Geschlechtsverhältnisse 1!)4.
Pflanzen und Tiere 97.
Philosophie 10, 46.
Phvlema 399.
Phylogenetische Entwickeliing 347.
— Funktionen 380.
— Resultate 885.
— Stadien 381.
— Thesen 405.
Phylogenie 98, 351.
— systematische 404, 410.
Physiologische Individualität 134.
— Individuen 134.
Pistillidien 191.
Plasma HO, 118, 120.
Plasmaprodukte 114.
Piastiden 109.
— Geschlechtsverhältnisse 188.
Pole der Grundformen 157.
Polymorphismus 201, 304.
Polyspore 214.
Potentielle Anpassung 263, 265.
Praktische Typen 283.
Prinzipien der Klassifikation 390.
Progonotaxis des Menschen 424.
Progressive Heredität 241.
— Metamor])hose 177.
— Vererbung 238.
Progressus 311.
Promorphe 151.
Promorphologie 98, 149.
Promorphologische Kategorien 163.
Propagatio 179, 236.
Prosopen 130.
Prosopon 104.
Protamoeba 61.
Proteinverbindung 112.
Protistenreich 97.
Protogenes 61.
Protoplasma HO.
Pseudocormen 132.
Psychologie 35, 421.
Putz 301.
Reaktion 271.
Reflexion 12.
Regressive Metamorphose 177.
Reife 173.
Reifealter 205.
Reiz, trophischer 276.
Relations-Physiologie 98.
Repulsion 51.
Ringen um die Existenz 292.
Rückbildung 172. 207.
Rückschlag 245.
Rudimente 322.
Rudimentäre Individuen 322.
Samenknospen 191.
Samenzelle 186.
Schadonen 177.
Scheinstöcke 132.
Schizogenesis 212.
Schizog. raonoplastidis 213.
Schizog. polyplastidis 213.
Schizogonie 181, 182.
Schlauchzellen HO.
Schlechte Arten 379.
— Gruppen 396.
— und gute Spezies 377.
Schöpfer 89, 434.
Schöpferkraft 36.
Schöpfung 84, 86, 434.
Schöpfungsgedanke 36. 88.
Schöpfungsmittelpunkt 336.
Schöpfungstheorien 86.
Scissio 182.
Seelenlehre 29, 420.
Segmentierung 127.
Selbsterhaltung .71.
Selbstteilung 182.
Selbstzeugung 84. 94.
Selektion 288.
Selectio artificialis 291.
— concolor 296.
446
Register.
Selectio feminina ;}00.
— masculina 300.
— naturalis 292.
— scxiialis 299.
Selektionstheorie 231.
Senilität 173, 207.
Sonimereier 220.
Spaltung: 181.
Spaltungskreis 210.
Spermaria 191.
Spermium 186.
Spezies 371.
Speziesbegriff ."52, 367.
Spezifische Divergenz 309.
Spielarten 377.
Spiritualismus 434.
Sporenbildung 181,
Sporocarpien 220.
Sporogenesis 214.
— inonoplastidis 215.
— polyplastidis 215.
Sporogonie 181, 185.
Sprachforschung 44.
Sprosse 130.
Sprungweise Abänderung 266.
Stadien der Entwickelung 203.
Stammbaum 398.
Staubblätter 191, 194.
Staura.xonia 161.
Stellung des Menschen 413.
Stereometrie der Organismen 155.
Stereometrische Grundformen 160.
Stöcke 132.
— Geschlechtsverhältnisse 196.
Stoffwechsel 71. 255.
Strahlteilung 183.
Strophogenesis 218. 226.
Struggle for life 290.
Struktuilehre 101.
Subsiiezies 377.
Sympathische Färbung 296.
Synthese 21.
Synusie 133.
System. Kategorien 390.
Systematische Phylogenie 404. 410.
— Divergenz 309.
Systematische Vervollkommnung 319.
System als Stammbaum 390.
— der Fortpflanzungsarten 197.
— der Grundformen 158.
— der Kategorien 401.
— der Zeugungskreise 211.
— des Monismus 429.
Systemgruppen 402.
Tektologie 98. 101.
Tektologische Thesen 138.
Teleologie 33.
Teleosis 311.
Testiculi 191.
Theismus 435.
Theologie 431.
Thesen, ontogenetische 342.
— phylogenetische 405.
— tektologische 138.
Tiere und Pflanzen 97.
Tierkunde 98.
Tierseele 420.
Tocogonie 179.
Transvolution 173, 205.
Trophischer Reiz 276.
Typen, ideale 283.
— praktische 283.
Typus der Organisation 168.
Übung 271.
Umbildung 172. 205.
Umgebung 272.
Ungeschlechtliche Fortpflanzung 181.
Unisexuales 186.
Universum 429.
Unterarten 377.
Unzweckmäßigkeitslehre 38, 320.
Uranologie 430.
Ursprung des Lebens 84, 90.
Urstoffe 52.
Urzellen 110.
Urzeugung 90, 179.
Variabilität 66. 254. 285.
Variatiü 254.
— individualis 265.
Register.
447
Vaiiatio monstrosa 260.
— sexualis 269.
Varietäten 377. 395.
Veränderliclikeit 254.
— Ursaclien 255.
Yerblühzeit 366, 383.
Vererbung 235. 2S5.
— abgekürzte 248.
— amphigone 246.
— angepaßte 249.
— beiderseitige 246.
— befestigte 2.50.
— erworbene 249.
— erworbener Charaktere 241.
— gemischte 24(5.
— geschlechtliche 246.
■ — Gesetze 243.
— gleichörtliche 251.
— gleichzeitliche 252.
— Grad 237.
— homochrone 252.
— honiotope 251.
— in korresp. Lebensaltern 253.
— konservative 238, 243.
— kontinuierliche 243.
— progressive 238. 249.
— ununterbrochene 243.
— Ursache 135.
— vereinfachte 248.
Vererbungscharaktere 287.
Vermelirung und Auslese 294.
Vervollkoinninung 311.
— enil)ryologische 318.
— paläontologische 318.
— systematische 319.
Vervollkomnmungsprinzip 31 7.
Verwandtschaft der Stämme 4U4.
Verwilderung 245.
Vis plastica externa 344.
— interna 344.
Virtuelle Bionten 136.
Vitalismus 33.
Wachstum 68. 200.
Weibliche Zuchtwahl 300.
Weltall 429.
Weltgeschichte 430.
Werkstücke 120.
Wesentliche Charaktere 370.
Wettkampf 292.
Willensfreiheit 274. 421.
Wintereier 220.
Zellen 109.
Zellenbildung 79.
Zellenmembran 116.
Zellentheorie 110.
Zellhaut 110.
Zellinhalt 117.
Zellkern 110. 112.
Zellmetamorphose 114.
Zellsaft 117.
Zellstoff 110.
Zentralisation 144.
Zeugung 170. 199.
— Arten 178.
Zeugungskreis 209.
Zierate 301.
Zoologie 98.
Zoomorphismus 89.
Züchtung 288.
— künstliche 291.
— natürliche 292.
— Vergleich 303.
Zuchtwahl 288.
— gleichfarbige 296.
— männliche 300.
— sexuelle 299.
-^ weibliche 300.
Zuchtwahllehre 231.
Zweiteilung 183.
Zwitter 186.
Zwitterdrüse 191.
Zygospore 189.
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