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Full text of "Prinzipien der generellen Morphologie der Organismen. Wörtlicher Abdruck eines Teiles der 1866 erschienen Generellen Morphologie (allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformierte Deszendenz-Theorie)"

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in  &,  Hamburg 

Verlag 

von  Georg  Reimer,  Berlin 

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PRINZIPIEN  ^  ^ 

DER 

GENERELLEN  MORPHOLOGIE 

DEK  ORGANISMEN. 


WÖRTLICHER  ABDRUCK  EINES   TEILES  DER 

186(5  ERSCHIEXE^EX 

GENERELLEN   MORPHOLOGIE 

(ALLGEMEINE  GRUNDZÜGE  DER 

ORGANISCHEN  FORMEN-WISSENSCHAFT 

MECHANISCH  BEGRÜNDET  DURCH  DIE  VON  CHARLES  DARWIN 
REFORMIERTE  DESZENDENZ  -  THEORIE) 

VON 

ERNST  HAECKEL 

I'ROFESSOU    AN    DER    LSIVERSITÄT     JENA. 


•MIT  DEM  PORTRÄT  DES  VERFASSERS. 


» 


BERLIN 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  GEORG  REIMER 

1906. 


.,Die  Natur  schafft  ewig  neue  Gestalten:  was  da  ist,  war  noch  nie:  was 
war.  kommt  nicht  wieder:  alles  ist  neu,  und  doch  immer  das  Alte. 

.,Es  ist  ein  ewiges  Leben,  Werden  und  Bewegen  in  ihr.  Sie  verwandelt 
sich  ewig,  und  ist  kein  Moment  Stillstehen  in  ihr.  P'ür's  Bleiben  hat  sie  keinen 
Begriff,  und  ihren  Fluch  hat  sie  ans  Stillstehen  gehängt.  Sie  ist  fest:  ihr 
Tritt  ist  gemessen,  ihre  Gesetze  unwandelbar.  Gedacht  hat  sie  und  sinnt  be- 
ständig; aber  nicht  als  ein  Mensch,  sondern  als  Natur.  Jedem  erscheint  sie  in 
ihrer  eigenen  Gestalt.  Sie  verbirgt  sich  in  tausend  Namen  und  Termen,  und 
ist  immer  dieselbe. 

..Die  Natur  hat  mich  hereingestellt,  sie  wird  mich  auch  herausführen.  Ich 
vertraue  mich  ihr.  Sie  mag  mit  mir  schalten;  sie  wird  ihr  Werk  nicht  hassen. 
Ich  sprach  nicht  von  ihr:  nein,  was  wahr  ist  und  was  falsch  ist.  alles  hat  sie 
ges])rochen.     Alles  ist  ihre  Schuld,  alles  ist  ihr  Verdienst." 

Goethe. 


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VOR  wo  ET. 

Vierzig  Jahre  sind  verflossen,  seitdem  mein  Werk  über  „Gene- 
relle Morphologie  der  Organismen"  in  zwei  Bänden  erschien 
(Berlin.  Verlag  von  Georg  Reimer.  1866).  Dieses  Buch  war  der 
erste  Versuch,  „Allgemeine  Grundzüge  der  organischen  Formen- 
Wissenschaft,  mechanisch  begründet  durch  die  von  Charles  Darwin 
reformierte  Deszendenztheorie",  festzulegen.  Der  erste  Band:  „All- 
gemeine Anatomie  der  Organismen",  behandelte  (auf  606  Seiten) 
die  ..Entwickelten  Formen",  der  zweite  Band:  „Allgemeine  Ent- 
wickelungsgeschichte",  (auf  662  Seiten)  die  „Entstehenden  Formen 
der  Organismen".  Als  die  wichtigste  Aufgabe  bei  der  Ausführung 
dieser  Arbeit  stand  mir  beständig  das  Ziel  vor  Augen,  die  mo- 
nistische „E  n  t  wie  kein  ngslehre"  und  insbesondere  deren  be- 
deutendsten, damals  als  ,.Darwinismus"  aufgetretenen  Fortschritt 
auf  das  Gesamtgebiet  der  Biologie,-  vor  allem  aber  auf  deren 
schwierigsten  Teil,  die  Morphologie,  fruchtbringend  anzuwenden. 

Da  beide  Teile  der  „Generellen  Morphologie"  zahlreiche  neue 
Gedanken  enthielten,  und  da  dieses  Werk  überhaupt  der  erste  Ver- 
such war.  die  Deszendenztheorie  in  ihrer  philosophischen  allgemeinen 
Bedeutung  zusammenhängend  darzustellen,  hatte  ich  auf  rege 
Teilnahme  der  Biologen  und  Philosophen  an  meinem  schwierigen 
Unternehmen  gehofft.  Indessen  bheb  dieser  erwartete  Erfolg  zu- 
nächst fast  vollständig  aus.  Die  meisten  Zoologen  und  Botaniker, 
Morphologen  und  Physiologen  —  ebenso  auf  der  anderen  Seite  die 
meisten  Philosophen  und  Psychologen  —  ignorierten  mein  Buch  voll- 
ständig und  zeigten  für  die  vielen  darin  gebotenen  Anregungen  nicht 
die    geringste  Teilnahme.     Die   Ursachen   dieses   vollständigen  Miß- 


IV  ^'orvvol•t. 

erfolges  lagen  zum  Teil  in  meiner  schwerfälligen  und  schwerverständ- 
lichen Darstellung,  in  dem  Überwiegen  der  spekulativen  Betrachtungen 
über  die  empirischen  Darstellungen,  in  dem  Überfluß  an  neuen  Be- 
griffen und  ungewohnten  Ausdrücken:  zum  anderen  Teil  aber  auch 
wohl  daran,  daß  die  neue  Auffassung  und  Behandlung  des  organischen 
Lebens  zu  den  althergebrachten  Vorstellungen  in  schroffen  Wider- 
spruch trat  und  den  herrschenden  Autoritätsglauben  scharf  bekämpfte. 

Einige  Freunde,  welche  bei  eingehendem  Studium  der  ..Gene- 
rellen Morphologie''  diese  Mängel  stark  empfunden  und  die  dadurch 
bedingte  Erfolglosigkeit  meines  Versuches  lebhaft  bedauert  hatten, 
veranlaßten  mich,  einen  Auszug  aus  jenem  Werke  in  mehr  zugäng- 
licher Form  zu  veröffentlichen  und  insbesondere  die  Grundzüge  der 
neuen  monistischen  Entwickelungslehre  populär  darzulegen.  So  ent- 
stand zwei  Jahre  später  die  ..Natürliche  Schöpfungsgeschichte, 
Gemeinverständliche  wissenschaftliche  Vorträge  über  die  Entwicke- 
lungslehre im  allgemeinen  und  diejenige  von  Darwin.  Goethe  und 
Lamarck  im  besonderen,  über  die  Anwendung  derselben  auf  den 
Ursprung  des  Menschen  und  andere,  damit  zusammenhängende 
Grundfragen  der  Naturwissenschaft".  Die  erste  Auflage  dieses  Buches 
(1868  erschienen)  umfaßte  nur  568  Seiten  Text,  10  Tafeln  und  wenige 
Textfiguren;  die  zehnte  Auflage  (1902)  enthielt  in  zwei  Bänden  904 
Seiten  Text,  30  Tafeln,  zahlreiche  Textfiguren  und  systematische 
Tabellen.  Da  auch  von  den  zwölf  verschiedenen  Übersetzungen 
der  „Natürlichen  Schöpfungsgeschichte"  zahlreiche  Auflagen  in  allen 
Kulturländern  verbreitet  wurden,  so  hat  dieses  populäre  Werk  zur 
Anerkennung  der  Entwickelungslehre  und  zur  Ausbreitung  des 
Darwinismus  nicht  wenig  beigetragen. 

Als  der  wertvollste  Teil  der  „Generellen  Morphologie"  wurde 
gleich  anfangs  von  angesehenen,  systematisch  arbeitenden  Biologen 
die  ..Systematische  Einleitung  in  die  allgemeine  Ent- 
wickeln ngsgeschi  cht  e"  betrachtet,  welche  den  Eingang  zum 
zweiten  Bande  bildete  und  auf  160  Seiten  eine  „Genealogische 
Übersicht  des  natürlichen  Systems  der  Organismen"  gab  —  der 
erste  Versuch,  dieses  letztere  wirklich  als  „Stammbaum"  im  Sinne 
Darwins  zu  gestalten  und  die  natürhchen  Verwandtschaftsverhält- 
nisse der  Klassen   und   Ordnungen   im   Protistenreich.   Pflanzenreich 


Vorwort.  V 

und  TieiTeicli  phylogenetisch  zu  begründen.  Da  ich  diese  systematische 
Biologie  während  eines  halben  Jahrhunderts  mit  besonderer  Vorliebe 
gepflegt  habe,  und  da  ich  in  meinen  umfangreichen  Monographien  der 
Radiolarien.  Spongien.  IMedusen  und  Siphonophoren  Gelegenheit  fand, 
die  Wahrheit  der  Abstammungslehre  am  natürlichen  System  dieser 
formenreichen  Tierklassen  gründlich  zu  erproben,  so  entschloß  ich 
mich  später,  das  ganze  System  der  organischen  Stämme  in  diesem  Sinne 
zusammenhängend  zu  bearbeiten.  Das  Ergebnis  dieser  phyletischen 
Klassifikation  war  das  dreibändige  Werk:  „Systematische  Phylo- 
genie:  Entwurf  eines  Natürlichen  Systems  der  Organismen  auf  Grund 
ihrer  Stammesgeschichte";  I.  Band:  Protisten  und  Pflanzen.  1894 
(400  Seiten):  IL  Band:  Wirbellose  Tiere,  1896  (720  Seiten);  IIL  Band: 
Wirbeltiere,    1895  (660  Seiten):    (Berlin.  Verlag  von  Georg  Reimer). 

Im  siebenten  Buche  der  Generellen  Morphologie  (Bd.  II.  Seite 
423 — 438)  hatte  ich  kurz  ..die  Entwickelungsgeschichte  der  Or- 
ganismen in  ihrer  Bedeutung  für  die  Anthropologie"  erläutert,  im 
27.  Kapitel  ..die  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur"  besprochen 
und  im  28.  Kapitel  demgemäß  „die  Anthropologie  als  Teil  der 
Zoologie"  behandelt.  Bei  der  außerordentlichen  Bedeutung  dieser 
..Frage  aller  Fragen",  bei  ihrem  Einfluß  auf  das  gesamte  Gebiet 
der  menschlichen  Wissenschaft,  habe  ich  derselben  später  besonders 
eingehende  Studien  zugewendet.  Das  Ergebnis  derselben  veröffent- 
lichte ich  1874  in  der  „Anthropogenie  oder  Entwickelungsgeschichte 
des  Menschen.  Gemeinverständliche  wissenschaftliche  Vorträge  über 
die  Grundzüge  der  menschlichen  Keimes-  und  Stammesgeschichte"  (732 
Seiten,  12  Tafeln,  210  Textfiguren).  Die  folgenden  Auflagen  dieses 
Werkes  wnirden  ( —  ebenso  wie  diejenigen  der  Natürlichen  Schöpfungs- 
geschichte — )  wesentlich  erweitert  und  zeitgemäß  umgearbeitet.  Die 
letzte  (fünfte)  Auflage  umfaßte  992  Seiten,  30  Tafeln,  512  Text- 
figuren und  60  genetische  Tabellen:  der  erste  Band  enthält  die 
Keimesgeschichte  (Ontogenie),  der  zweite  die  Stammesgeschichte 
(Phylogenie):    —   (Leipzig,    1903,  Verlag  von  Wilhelm  Engelmann). 

In  den  vorstehend  angeführten  Schriften,  die  sämtlich  aus  der 
„Generellen  Morphologie"  ihren  Ursprung  genommen  und  nur  einzelne 
Teile  derselben  weiter  ausgeführt  haben,  hatte  ich  vielfach  die  refor- 
matorische Bedeutung  der  Entwickelungslehre  für  das  ganze  Gebiet 


VI  Vorwort. 

menschlicher  Erkenntnis  erörtert  und  insbesondere  auf  die  monistische 
Neugestaltung'  unserer  Weltanschauung  hingewiesen.  Alle  großen, 
darauf  bezüglichen  allgemeinen  Fragen  habe  ich  dann  am  Schlüsse 
des  19.  Jahrhunderts  zusammenfassend  in  meinem  Buche  über  ..Die 
Welträtsel"  behandelt  (Bonn.  Strauß.  1899).  Diese  ., Gemein- 
verständlichen Studien  über  monistische  Philosophie"  (480  Seiten) 
zerfallen  in  20  Kapitel  und  4  Teile:  der  erste,  anthropologische 
Teil  behandelt  .,den  Menschen",  der  zweite,  psychologische  Teil 
.,die  Seele",  der  dritte,  kosmologische  Teil  ..die  Welt",  der  vierte, 
theologische  Teil  ..den  Gott".  Die  lebhafte  Teilnahme  aller  gebildeten 
Ki'eise  an  diesen  höchsten  Problemen  der  Vernunft  gab  sich  kund 
in  dem  ungewöhnlichen  Erfolge  dieses  Buches,  von  dem  in  wenigen 
Monaten  zehntausend  Exemplare  abgesetzt  wurden:  von  der  billigen 
kleinen  Volksausgabe,  die  später  (1903)  auf  dringenden  Wunsch 
veranstaltet  wurde,  sind  jetzt  zweihunderttausend  in  Umlauf.  Ähn- 
liche weite  Verbreitung  fanden  auch  die  fünfzehn  Übersetzungen  der 
„Welträtsel". 

Manche  fühlbare  Lücken  in  dem  allgemeinen  Weltbilde,  tlas 
die  „Welträtsel"  in  einheitlichem  Zusammenhange  darstellen  sollten, 
sowie  zahlreiche,  dadurch  bedingte  Anfragen  teilnehmender  Leser 
veranlaßten  mich  endlich  1904  ( —  nach  Abschluß  meines  siebzigsten 
Lebensjahres  — )  noch  ein  letztes,  darauf  bezügliches  Werk  zu  ver- 
öffentlichen, die  „Lebens wunder"  (Stuttgart.  Alfred  Kröner).  Dieser 
Ergänzungsband  zu  dem  Buche  über  die  ..Welträtsel"  (580  Seiten) 
enthält  „Gemeinverständliche  Studien  über  Biologische  Philosophie" 
und  ist  gleich  dem  letzteren  in  20  Kapitel  und  4  Abschnitte  ein- 
geteilt: der  erste,  methodologische  Teil  behandelt  die  „Lebenserkennt- 
nis" der  zweite,  morphologische  Teil  die  „Lebensgestaltung",  der 
dritte,  physiologische  Teil  die  "Lebenstätigkeit",  der  vierte,  genea- 
logische Teil  die  „Lebensgeschichte".  Mit  der  Pubhkation  dieses 
letzten  Werkes  ist  nunmehr  die  Reihe  der  Untersuchungen  ab- 
geschlossen,  die  ich  vor  50  Jahren  begonnen  hatte,  und  deren  Auf- 
gaben vor  40  Jahren  in  der  „Generellen  Morphologie"  zuerst  bestimmt 
formuliert  waren. 

Inzwischen  ist  nun  schon  seit  vielen  Jahren  von  zahlreichen 
Lesern  meiner  Schriften  der  Wunsch  ausgesprochen  worden,  daß  ich 


Vorwort.  VJI 

endlich  auch  von  der  Generellen  Morphologie  selbst,  die  längst  ver- 
griffen ist,  eine  neue  Auflage  herausgeben  möchte.  Nach  vielem 
Bedenken  und  langem  Überlegen  habe  ich  endlich  geglaubt,  diesem 
Verlangen  entsprechen  zu  müssen:  und  so  erscheinen  denn  jetzt, 
nach  vierzig  Jahren,  die  „Prinzipien  der  Generellen  Morphologie". 
Die  anfänglich  beabsichtigte  zeitgemäße  Umarbeitung  des  Werkes 
erwies  sich  später  als  undurchführbar:  denn  die  Fortschritte  der 
Entwickelungslehre  im  Laufe  dieser  vier  Dezennien  sind  so  viel- 
seitig und  großartig,  die  darauf  gegründete  Literatur  so  ausgedehnt, 
daß  eine  gründliche  Neubearbeitung  —  unter  gewissenhafter  Be- 
rücksichtigung nur  der  wichtigsten  Arbeiten  —  eine  ganze  Reihe 
von  Bänden  in  Anspruch  genommen  haben  würde.  Dagegen  er- 
schien es  mir  zw^eckmäßig  und  besonders  für  die  Geschichte  der 
Entwickelungslehre  förderlich,  die  wichtigsten  Grundsätze  der- 
selben, w^ie  sie  damals  (1866)  zuerst  von  mir  aufgestellt  worden  sind, 
in  ihrer  ursprünglichen  Fassung  wörtlich  wiederzugeben.  Denn 
es  ist  später  von  mehreren  Seiten  mit  Recht  hervorgehoben 
w^orden.  daß  zahlreiche  anregende  und  fruchtbare  Gedanken,  die 
von  anderen  Autoren  erfolgreich  in  der  Biologie  zur  Geltung  ge- 
bracht wurden,  bereits  früher  in  der  Generellen  Morphologie  be- 
stimmt formuliert  worden  w^aren. 

Anderseits  ergab  eine  wiederholte  sorgfältige  Revision  des  Textes, 
daß  manche  Irrtümer  zu  entfernen  und  viele  nebensächliche  Aus- 
führungen zu  streichen  waren.  —  ebenso  auch  manche  überflüssige 
Wiederholungen,  zu  denen  mich  der  Wunsch  verführt  hatte,  recht 
klar  und  eindringlich  die  leitenden  Grundsätze  darzulegen.  So  ist 
denn  schließlich  in  diesen  vorliegenden  ..Prinzipien  der  Generellen 
Morphologie"  der  Text  des  ursprünglichen  Werkes  auf  ungefähr  den 
dritten  Teil  reduziert  worden  ( —  464  Seiten  statt  1230  Seiten  — ) 
oder  eigentlich  wohl  kaum  den  vierten  Teil  des  Inhalts,  da  fast 
alle  mit  kleiner  Schrift  gedruckten  Anmerkungen  und  Zusätze 
fortgelassen  wurden.  Die  dreißig  Kapitel  des  Werkes  haben  dabei 
eine  sehr  verschiedene  Abschätzung  erfahren.  Ganz  oder  fast 
ganz  erhalten  blieben  acht  Kapitel  (—  1.  20,  23,  26,  27,  28. 
29,  30  — );  teilweise  beibehalten  wurden  vierzehn  Kapitel 
(—  4,  5,   6,   8,   9,   10,    11.   12,   16,  17,  19,  21.  22,  24  — ):   ganz 


VIII  Vorwort. 

oder  größtenteils  sind  weggefallen  acht  Kapitel:  2,  3,  7,  13,  14, 
15,  18,  25. 

Bei  der  Korrektur  der  Druckbogen  wurde  ich  wesentlich  gefördert 
durch  meinen  Privat-Assistenten  Dr.  Heinrich  Schmidt  (Jena),  den 
General-Sekretär  des  ..Deutschen  Monistenbundes''.  Derselbe  unter- 
zog nicht  nur  den  Text  einer  sorgfältigen  wörtlichen  Revision  und 
Verglcichung.  sondern  fertigte  auch  das  neue  alphabetische  Register 
an.    Ich  statte  ihm  für  diese  Mühe  hier  meinen  freundlichen  Dank  ab. 

Die  langen  und  heißen  Kämpfe,  welche  in  den  letzten  vierzig 
Jahren  um  die  Anerkennung  der  Entwickelungslehre  und  insbesondere 
ihres  wichtigsten  Fortschrittes,  der  Deszendenztheorie,  geführt  worden 
sind,  haben  zu  einem  vollständigen  Siege  der  letzteren  geführt.  Die 
ganze  Biologie  ist  im  Beginne  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  von  der 
Wahrheit  der  grundlegenden  Lehren  durchdrungen,  die  schon  hundert 
Jahre  früher  von  Goethe  klar  erkannt  und  von  Lamarck  (1809) 
formuliert,  aber  erst  1859  durch  Darwin  zur  Geltung  gebracht 
wurden.  Um  den  weiteren  Ausbau  dieser  biogenetischen  Lehren 
und  ihrer  Folgeschlüsse  —  besonders  aber  ihre  Verknüpfung  mit 
der  monistischen  Philosophie  —  habe  ich  mich  seitdem  redlich  be- 
müht. Ich  kann  schließlich,  am  Ende  meiner  vielbewegten  literari- 
schen Laufbahn,  nur  den  Wunsch  aussprechen,  daß  die  leitenden 
Grundsätze  dieser  einheitlichen  Weltanschauung,  die  in  der  Gene- 
rellen Morphologie  zum  ersten  Male  ihre  scharfe  Formulierung  fanden, 
auch  in  dieser  neuen  Ausgabe  ihrer  Prinzipien  zur  Erkenntnis  der 
Wahrheit    und    zur  Förderung   der  Wissenschaft   dauernd  beitragen 


mögen. 


Jena,  16.  Februar  1906. 

Ernst  Haeckel. 


INHALTSVERZEICHNIS. 

Seite 

Vorwort     HI 

Inhaltsverzeichnis IX 

ERSTES  BUCH. 

Kritische  und  inethodologische  Einleitung  in  die  generelle  Morphologie 

der  Organismen 1 

Erstes  Kaiütel:   Begriff  und  Aufgabe   der  Morphologie  der  Orga- 
nismen      3 

Zweites    Kapitel:    Verhältnis    der   Morphologie    zu    den    anderen 

X  a  t  u  )■  w  i  s  s  e  n  s  c  h  a  f  t  e  n 9 

I.  Morphologie  und  Biologie 9 

II.  Morphologie  und  Physik 9 

III.  Morphologie  und  Chemie 9 

IV.  Morphologie  und  Physiologie 9 

Drittes   Kapitel:    Einteilung    der  Morphologie  in   untergeordnete 

Wissenschaften 9 

I.  Einteilung  der  Morphologie  in  Anatomie  und  Morphogenie 9 

II.  Einteilung  der  Anatomie  und  Morphogenie  in  vier  Wissenschaften  ...  9 

III.  Anatomie  und  Systematik 9 

IV.  Organologie  und  Histologie 9 

V.  Tektologie  und  Promorphologie    9 

VI.  Morphogenie  oder  Entwickeluugsgeschichte 9 

VII.  Entwickeluugsgeschichte  der  Individuen    9 

VIII.  Entwickelungsgeschichte  der  Stämme 9 

IX.  Generelle  und  spezielle  Morphologie 9 

Yiertes  Kapitel:  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen    ...  10 
Viertes  Kapitel:  Erste  Hälfte.   Kritik  der  naturwissenschaft- 
lichen Methoden,  welche  sich  gegenseitig  notwendig  ergänzen  müssen  .  10 
I.  Empirie  und  Philosophie  (Erfahrung  und  Erkenntnis) 10 


X  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

II.  Analyse  und  S\'nthese 21 

III.  Induktion  und  Deduktion "iH 

Viertes  Kapitel:  Zweite  Hälfte.    Kritik  der  naturwissenschaft- 
lichen  Metlioden,    welche    sich    gegenseitig    notwendig    ausschließen 

müssen ;5() 

IV.  Dogmatik  und  Kritik .'SD 

V.  Teleologie  und  Kausalität  (Vitalisnuis  und  Mechanismus) 83 

VI.  Dualismus  und  Monismus 4:> 


ZWEITES  BUCH. 

Allgemeine  Untersuchungen  über  die  Natur  und  erste  Entstehung 
der  Organismen,  ihr  Verhältnis  zu  den  Anorganen  und  ihre 
Einteilung  in  Tiere  und  Pflanzen 47 


Fünftes  Kapitel:   Organismen  und  Anorgane 4!> 

I.  Organische  und  anorganische  Stoffe 4!) 

I,  1.  Differentielle    Bedeutung     der     organischen     und     anorganischen 

^Materien 49 

I,  2.  Atomistische  Zusammensetzung  der  oiganischen  und  anorganischen 

Materien 51 

I,  3.  Verbindungen   der  Elemente    zu   organischen    und   anorganischen 

Materien "iS 

I,  4.  Aggregatzustände   der  oiganischen  und  anoiganischen  Materien  .  55 

II.  Organische  und  anorganische  Formen 5cS 

II,  1.  Individualität  der  organischen  und  anorganischen  Gestalten    .  .  .  58 

II.  2.  Grundformen  der  organischen  und  anorganischen  Gestalten    ...  (U 

III.  Organische  und  anorganische  Kräfte ()7 

III,  1.  Lebenserscheinungen    der   Organismen    und   physikalische   Kräfte 

der  Anorgane <)7 

III,  2.  Wachstum  der  organischen  und  anorganischen   Individuen    ....  (IS 

III,  3.  Selbsterhaltung  der  organischen  und  anorganischen  Individuen    .  71 

III.  4.  Anpassung  der  organischen  und  anorganischen  Individuen  ....  72 
III,  5.  Korrelation  der  Teile  in  den  organischen  und  anorganischen  Indi- 


viduen       78 

III,  ().  Zellenbildung  und  Kristallbildung 7!) 

IV.  Eiidieit  der  organischen  und  anorganischen  \atur SO 


Sechstes  Kapitel:   Schöpfung  und  Selbstzeugung 84 

I.  Entstehung  dei-  ersten  Organismen S4 

II.  Schöpfung S() 

ill.  Urzeugung  oder  Generatio  spontanen !)i> 

iV.  Selbstzeugung  oder  Autogonie !*4 


Inhaltsverzeichnis.  XI 

Seite 
Siebentes  Kapitel:  Tiere  und  Pflanzen BT 

Unterscheidung  von  Tier  und  Pflanze !>7 


DRITTES  BUCH. 

Erster  Teil  der  allgemeinen  Anatomie. 

Generelle  Tektologie  oder  allgemeine  Strukturlehre  der  Organismen  .  99 

Achtes  Kapitel:   Begriff  und  Aufgabe  der  Tektologie K^l 

I.  Die  Tektologie  als  Lehre  von  der  organischen  Individualität 101 

II.  Begriff  des  organischen  Individuums  im  allgemeinen 10):! 

VI.  Morphologische  und  physiologische  Individualität 10.") 

Neuntes  Kapitel:  Moiphologische  Individualität  der  Organismen.  1()9 

I.  Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden  oder  Plasmastücke  Hi!» 

I,  1.  Unterscheidimg  von  Cytoden  und  Zellen 109 

I.  2.  Zusammensetzung   der   Piastiden   (Cytoden   und   Zellen)   aus  ver- 
schiedenen Formbestandteilen =  ....111 

A.  Plasma.    (Protoplasma  oder  Cytoplasma.)     Zellstoff 111 

B.  Nucleus.    Cytoblastus  oder  Karyon.)    Zellkern 112 

C.  Plasniaprodukte 114 

a)  Äußere  Plasmaprodukte 110 

b)  Innere  Plasmaprodukte 117 

D.  Plasma  und  Xucleus  als  aktive  Zellsuljstanz IIS 

II.  Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung:   Organe  oder  Werkstücke  120 

Morphologischer  Begriff  des  Organes 12(t 

III.  Morphologische   Individuen    dritter   Ordnung:    Antimeren   oder   Gegen- 
stücke (Homotypische  Teile.) 12;! 

IV.  Morphologische   Individuen    vierter   Ordnung:    Metameren   oder   Folge- 
stücke (Homodyname  Teile.) 127 

V.  Morphologische  Individuen  fünfter  Ordnung:  Histonalen IcJn 

VI.  Morphologische  Individuen  sechster  (3rdnung:  Stöcke  oder  Cormen  .  .  l.!2 


Zehutes  Kapitel:  Physiologische  Individualität  der  Organismen.  i;)4 
Aktuelle,  virtuelle  und  partielle  Bionten 134 

Elftes  Kapitel:   Tektologische  Thesen \HS 

I.  Thesen  von  der  Fundamentalstruktur  der  Organismen loS 

II.  Thesen  von  der  organischen  Individualität 14(t 

III.  Thesen  von  den  einfachen  organischen  Individuen 141 

IV.  Thesen  von  den  zusammengesetzten  organischen  Individuen 142 

V.  Thesen  von  der  physiologischen  Individualität 142 

VI.  Thesen  von  der  tektologischeu  Differenzierung  und  Zentralisation  .  .  .  144 
VII.  Thesen  von   der  Vollkommenheit  der  verschiedenen  Individualitäten  .  .  14.') 


XII  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

VIERTES  BU(^H. 
Zweiter  Teil  der  allgemeinen  Anatomie. 
Generelle  Promoriiliologie  oder  allgemeine  Grundformenlehre  der  Or- 
ganismen   (Stereometrie  der  Organismen)    147 

Zwölftes  Kapitel:  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie   ....  149 

I.  Die  Promorphologie  als  Lehre  von  den  organischen  Grundformen  .  .  .  149 

II.  Begriff  der  organischen  Grundform  im  allgemeinen 151 

III.  Verschiedene  Ansichten  über  die  organischen  Grundformen 153 

IV.  Die  Promorphologie  als  organische  Stereometrie 155 

Dreizehntes  Kapitel:  System  der  organischen  Grundformen    ....  159 

I.  Das  promorphologische  System  als  generelles  Formensystem 159 

II.  Übersicht   der  wichtigsten   stereometrischen  Grundformen   nach  ihrem 

verschiedenen  Verhalten  zur  Körpermitte 160 

III.  Tabelle  über  die  promorphologischen  Kategorien 161 

IV.  Übersicht  der  realen  Typen  der  Grundformen 162 

V.  Tabelle  zur  Bestinunung  der  Grundformen 163 

Vierzelintes    Kapitel:     (irundformen     der     sechs     Individualitäts- 
Ordnungen  164 

Fünfzelintes  Kapitel:  Promorphologische  Thesen 164 

FÜNFTES  BUCH. 

Erster  Teil  der  allgemeinen  Entwickelungsgeschichte. 
Generelle  Ontogenie  oder  allgemeine  Entwickelungsgeschichte  der  or- 
ganischen Individuen  (Embryologie  und  Metamorphologie)    .  .  .  165 

Sechzehntes  Kapitel:  Begriff  und  Aufgabe  der  Ontogenie 167 

I.  Die  Ontogenie  als  Entwickelungsgeschichte  der  Bionten 167 

II.  Die  Ontogenie  und  die  Deszendenztheorie 167 

III.  Typus  und  Grad  der  individuellen  Entwickelung 168 

IV.  Evolution  und  Epigenesis 169 

V.  Entwickelung  und  Zeugung 170 

VI.  Aufbildung,  Umbildung,  Rückbildung 172 

VII.  Embryologie  und  Metamorphologie 173 

VIII.  Entwickelung  und  Metamorphose 175 

Siebzehntes  Kapitel :  E n t w i c k e  1  u n g s g e s c hi c h t e  d e r  p h y s i o  1  o g i s c h e n 

Individuen 17iS 

I.  Verschiedene  Arten  der  Zeugung 178 

A.  Urzeugung  (Archigonia) 179 

B.  Elternzeugung  (Tocogonia) 179 

1.  Ungeschlechtliche  Fortpflanzung  (Monogonia) 181 

A.  Ungeschlechtliche  Zeugung  durch  Spaltung     182 

Aa)  Die  Selbstteilung  oder  Division 182 

Ab)  Die  Knospung  oder  Knospenbildung  (Gemmatio)  .  .  183 


Inhaltsverzeichnis.  XIII 

Seite 

B.   Ungeschlechtliclie  Zeugung;  durch  Spoienl)ildung- 185 

2.  Geschlechtliche  FortpHanzung  (Amphigonia) 18(5 

I.  Geschlechtsverhältnisse  der  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen)  188 

la)  Hermaphroditismus  der  Piastiden     188 

Ib)  Gonochorismus  der  Piastiden 190 

II.  Geschlechtsverhältnisse  der  Organe 190 

IIa)  Hermaphroditismus  der  Organe 190 

IIb)  Gonochorismus  der  Organe 191 

III.  Geschlechtsverhältnisse  der  Antimeren 192 

III  a)  Hermaphroditismus  der  Antimeren 192 

III  b)  Gonochorismus  der  Antimeren    192 

IV.  Geschlechtsverhältnisse  der  Metameren 193 

IV  a)  Hermaphroditismus  der  Metameren 193 

IVb)  Gonochorismus  der  Metameren 194 

V.  Geschlechtsverhältnisse  der  Personen 194 

Va)  Hermaphroditismus  der  Personen  (Monoclinia)  .  .  .  194 

Vb)  Gonochorismus  der  Personen  (Diclinia) 195 

VI.  Geschlechtsverhältnisse  der  Stöcke 196 

Via)  Hermaphroditismus  der  Stöcke  (Monoecia) 196 

VIb)  Gonochorismus  der  Stöcke  (Dioecia) 196 

II.  System  der  ungeschlechtlichen  Fortpflanzungsarteii 197 

III.  System  der  geschlechtlichen  Fortpflanzungsarten 198 

IV.  Verschiedene  Funktionen  der  Entwickelung 199 

1.  Die  Zeugung  (Generatio)    199 

2.  Das  Wachstum  (Crescentia) 200 

3.  Die  Differenzierung  (Divergentia)  oder  Arbeitsteilung  (Polymorphismus)  201 

4.  Die  Entbildung  (Degeneratio) 202 

V.  Verschiedene  Stadien  der  Entwickelung    203 

1.  Anaplasis  oder  Aufbildung  (Evolutio) 203 

2.  Metaplasis  oder  Umbildung  (Transvolutio) 20.") 

3.  Cataplasis  oder  Rückbildung  (Involutio) 207 

VI.  Verschiedene  Arten  der  Zeugungskreise 209 

VII.  System  der  verschiedenen  Arten  der  Zeugungskreise 211 

VIII.  Allgemeine  Charakteristik  der  Zeugungskreise 212 

I.  Monogenesis 212 

I.  1.  Schizogenesis 212 

1  A.  Schizogenesis  monoplastidis 213 

1  B.   Schizogenesis  polyplastidis 213 

I,  2.  Sporogenesis 214 

2  A.  Sporogenesis  monoplastidis 215 

2  B.   Sporogenesis  polyplastidis 215 

II.  Amphigenesis 216 

II,  1.  Metagenesis 216 

II,  2.  Hypogenesis 221 

2  A.  Hypogenesis  metamorpha     222 

2  B,  Hypogenesis  epimorpha 224 

IX.  Metagenesis  und  Strophogenesis 226 


XI\'  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

Achtzehntes    Kajutel:    Entvvickelungsgeschiclite    der    morphologi- 
schen Individuen    230 

I.  Ontogenie  der  Piastiden 230 

II.  Ontogenie  der  Organe 230 

III.  Ontogenie  der  Antinieren 230 

IV.  Ontogenie  der  Metameren 230 

V.  Ontogenie  der  l'ersonen 230 

AI.  Ontogenie  der  Stöcke 230 

Neunzehntes  Kapitel:  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektions- 
theorie     231 

1.  Inhalt  und  Bedeutung  der  Deszendenztheorie 231 

II.  Entwickelungsgeschichte  der  Deszendenztheorie 231 

III.  Die  Selektionstheorie  (Der  Darwinismus.) 231 

IV.  Erblichkeit  und  Vererbung  (Atavismus.  Hereditas.) 235 

IV,  A.  Tatsache  und  Ursache  der  Vererbung 235 

IV,  B.   Vererbung  und  Fortpflanzung 236 

IV,  C.  Grad  der  Vererbung 237 

IV,  D.  Konservative  und  progressive  Vererbung    .  .  .  .  ■ 238 

IV,  E.  Gesetze  der  Vererbung 243 

E  a.  Gesetze  der  konservativen  Vererbung 243 

1.  Gesetz  der  ununterbrochenen  oder  kontinuierlichen  Ver- 
erbung   243 

2.  Gesetz   der  unterbrochenen   oder  verborgenen  oder  ab- 
wechselnden Vererbung 244 

3.  Gesetz  der  geschlechtlichen  Vererbung 246 

4.  Gesetz  der  gemischten  oder  beiderseitigen  Vererbung    .  246 

5.  Gesetz  der  abgekürzten  oder  vereinfachten  Vererbung  .  248 
E  b.  Gesetze  der  progressiven  Vererbung 249 

6.  Gesetz  der  angepaßten  und  erworbenen  Vererbung  .  .  .  249 

7.  Gesetz  der  befestigten  Vererbung 250 

8.  Gesetz  der  gleichörtlichen  Vererbung 251 

9.  Gesetz  der  gleichzeitlichen  Vererbung 252 

V.  Veränderlichkeit  und  Anpassung  (Variabilitas.  Adaptatio.) 254 

V.  A.  Tatsache  und  Ursache  der  Anpassung 254 

V,  B.  An])assung  und  Ernährung "...  255 

V,  C.  Grad  der  Anpassung    257 

V.  D.  Indirekte  und  direkte  Anpassung 258 

V.  E.  Gesetze  der  Anpassung 265 

E  a.  Gesetze  der  indirekten  oder  potentiellen  Anpassung  ....  265 

1.  Gesetz  der  individuellen  Abänderung 265 

2.  Gesetz  der  monströsen  oder  sprungweisen  Abänderung .  266 

3.  Gesetz  der  geschlechtlichen  Abänderung 269 

E  b.  Gesetze  der  direkten  oder  aktuellen  Anpassung 270 

4.  Gesetz  der  allgemeinen  Anpassung 270 

5.  Gesetz  der  gehäuften  Anpassung 271 

I.  Gehäufte  Anpassungen  durch  die  Wirkungen  äußerer 

Existenzbedingungen 272 


Inhaltsverzeichnis.  XV 

Seite 
II.  Gehäufte  Anpassungen  durch   die  Wiikungen  innerer 

Existenzbedingungen 274 

G.  Gesetz  der  wechselbezüglichen  Anpassung 278 

7.  Gesetz  der  abweichenden  Anpassung 279 

8.  Gesetz  der  unbeschränkten  Anpassung 281 

VI.  Vererbung  und  Anpassung  (Heredität  und  Variabilität) 285 

VII.  Züchtung  oder  Selektion  (Zuchtwahl,  Auslese.) 288 

VII,  A.  Die  künstliche  Züchtung  (Selectio  artificiaUs) 291 

VII.  B.  Die  natürliche  Züchtung  (Selectio  nafuraJis) 292 

VII.  C.  Vergleichung  der  natürlichen  und  der  künstlichen  Züchtung  .  .  3(J3 

VIII.  Die  Selektionstheorie  und  das  Divergenzgesetz 304 

IX.  Die  Selektionstheorie  und  das  Fortschrittsgesetz 311 

X.  Dysteleologie  oder  Unzweckniäßigkeitslehre 320 

X.  A.  Die  Dysteleologie  und  die  Selektionstheorie 320 

X,  ß.  Entwickelungsgeschichte  der  rudimentären  oder  kataplastischen 

Individuen    322 

XI.  Oekologie  und  Chorologie 333 

XII.  Die  Deszendenztheorie  als  Fundament  der  organischen  Morphologie.    .  337 

Zwanzig^stes  Kapitel:   Ontogenetische  Thesen 342 

I.  Thesen  von  der  mechanischen  Natur  der  organischen  Entwickelung  .  .  342 
11.  Thesen    von    den    physiologischen    Funktionen    der    organischen    Ent- 
wickelung      343 

III.  Thesen  von  den  organischen  Bildungstrieben    . 344 

IV.  Thesen  von  den  ontogenetischen  Stadien     345 

V.  Thesen  von  den  drei  genealogischen  Individualitäten 346 

\l.  Thesen  von    dem   Kausalnexus    der  biontischen   und  der  phyletischen 

Entwickelung 347 

SECHSTES  BUCH. 
Zweiter  Teil   der  allgemeinen  Entwickelungsgeschichte. 

Generelle    Phylogenie    oder    allgemeine    Entwickehmgsgescliiclite    der 

organischen  Stämme  (Genealogie  und  Paläontologie) 349 

Eiuundzwaiizig'stes  Kapitel:  Begriff  und  Aufgabe  der  Phylogenie   .  351 

I.  Die  Phylogenie  als  Entwickelungsgeschichte  der  Stämme 351 

II.  Paläontologie  und  Genealogie 352 

III.  Kritik  des  paläontologischen  Materials 355 

IV.  Die  Kataklysmentheorie  und  die  Kontinuitätstheoiie 359 

V.  Die  Perioden  der  Erdgeschichte 362 

VI.  Epacme.  Acme,  Paracme * 363 

Zweiiuulzwauzig'stes   Kapitel:  Entwickelungsgeschichte   der  Arten 

oder  Spezies 367 

1.  Allgemeine  Kritik  des  Speziesbegriffes 367 

II.  Der  morphologische  Begriff  der  Spezies 371 

III.  Gute  und  schlechte  Spezies 377 


XVI  Inlialtsverzeichnis. 

Seite 

Dreiuiidzwaiizig'.stes  Kaiutol:  Eut wickelungsgeschichte  der  Stämme 

oder  Phylen 380 

I.  P'iinktionen  der  pliyletisclien  Entwickeliing ;J80 

II.  Stadien  der  ])hvle(isc]ieii  Entwickoliiiiii- 381 

III.  Resultate  der  pliyletisclien  Entwickelung' 385 

IV.  Die  dreifache  genealogische  Parallele 386 

VienuMl/waiizig-.stes    Kaititel:    Das    natürliciie    System   als   Stamm- 

l)aum  (Prinzi])ien  der  Klassifikation) 3!)(> 

I.  Begrifi'sbestimmung  der  Kategorien  des  Systems 390 

II.  Bedeutung  der  Kategorien  für  die  Klassifikation 394 

III.  Gute  und  schlechte  (huppen  des  Systems 396 

IV.  Die  Baumgestalt  des  natürlichen  Systems 398 

V.  Anzahl  der  subordinierten  Kategorien 400 

VI.  Stufenleiter  der  subordinierten  Kategorien 401 

VII.  Charakterdifferenzen  der  subordinierten  Gruppen 402 

Fihifiiiul/wanzig-.stes  Kapitel:   Die  Verwandtschaft  der  Stämme.  .  .  4ü4 

Sech>iiindzivanzig:stes  Kapitel:   Phylogenetische  Thesen 405 

I.  Thesen  von  der  Kontinuität  der  Phylogenese 405 

II.  Thesen  von  der  genealogischen  Bedeutung  des  natürlichen  Systems  der 
Organismen 406 

III.  Thesen  von  der  organischen  Art  oder  Spezies 407 

IV.  Thesen  von  den  phylogenetischen  Stadien 408 

V.  Thesen  von  dem  dreifachen  Parallelismus  der  drei  genealogischen  Indi- 
vidnahtäten  (Zusatz  zum  V.  und  VI.  Buche  409) 4t)8 

SIEBENTES  BUCH. 

Die  Entwickelungsgeschiclite  der  Organismen   in  ilirer  Bedeutung  für 

die  Anthropologie 411 

Siel»einiiulzwanzig-stes  Kapitel:   Die  Stellung    des  Menschen  in   der 

Natur 413 

Achtinulzwanzig-ste.s  Kapitel:  Die  Anthropologie   als  Teil  der  Zoo- 
logie  (Zusatz:  Progonotaxis  des  Menschen  424) 418 

ACHTES  BUCH. 

Die  Entwickelungsgeschiclite  der  Organismen   in  ihrer  Bedeutung  für 

die  Kosmologie 427 

Neiiiiuiidz«anzigstes  Kapitel:  Die  Einheit  der  Natur  und   die  Ein- 
heit der  Wissenschaft  (System  des  Monismus) 429 

Dreißigrstes  Kapitel:   G  ott  in  der  Natur 434 

Register     439 


ERSTES  BUCH. 

KRITISCHE  UND  METHODOLOGISCHE  EINLEITUNG 
IN  DIE  GENERELLE  MORPHOLOGIE  DER 

ORGANISMEN. 


H  a  e  c  k  e  I ,  Prinz,  d.  Morphol. 


„Wenn  wir  Natiirgegenstände,  besonders  aber  die  lebendigen,  dergestalt 
gewahr  werden,  daß  wir  uns  eine  Einsicht  in  den  Zusammenhang  ihres  Wesens 
und  Wirkens  zu  verschaffen  wünschen,  so  glauben  wir  zu  einer  solchen  Kenntnis 
am  besten  durch  Trennung  der  Teile  gelangen  zu  können ;  wie  denn  auch  wirklich 
dieser  Weg  uns  sehr  weit  zu  führen  geeignet  ist.  Was  Chemie  und  Anatomie 
zur  Ein-  und  Übersicht  der  Natur  beigetragen  haben,  dürfen  wir  nur  mit  wenig 
Worten  den  Freunden  des  Wissens  ins  Gedächtnis  zurückrufen. 

.,Aber  diese  trennenden  Bemühungen,  immer  und  immer  fortgesetzt,  bringen 
auch  manchen  Nachteil  hervor.  Das  Lebendige  ist  zwar  in  Elemente  zerlegt, 
aber  man  kann  es  aus  diesen  nicht  wieder  zusammenstellen  und  beleben.  Dieses 
gilt  schon  von  vielen  anorganischen,  geschweige  von  organischen  Körpern. 

.,Es  hat  sich  daher  auch  in  dem  wissenschaftlichen  Menschen  zu  allen 
Zeiten  ein  Trieb  hervorgetan,  die  lebendigen  Bildimgen  als  solche  zu  erkennen, 
ihre  äußeren  sichtbaren  greiflichen  Teile  im  Zusammenhange  zu  erfassen,  sie  als 
Andeutungen  des  Inneren  aufzunehmen  und  so  das  Ganze  in  der  Anschauung 
gewissermaßen  zu  beherrschen.  Wie  nahe  dieses  wissenschaftliche  Verlangen  mit 
dem  Kunst-  und  Nachahmungstriebe  zusammenhänge,  braucht  wohl  nicht  um- 
ständlich angeführt  zu  werden. 

„Man  findet  daher  in  dem  Gange  der  Kunst,  des  Wissens  und  der  Wissen- 
schaft mehrere  Versuche  eine  Lehre  zu  giünden  und  auszubilden,  welche  wir  die 
Morphologie  nennen  möchten." 

Goethe  (Jena,  1807). 


Erstes  Kapitel. 

Begriff  und  Aufgabe  der  Morphologie  der  Organismen. 

„Weil  ich  für  mich  und  andere  einen  freieren  Spielraum 
in  der  Naturwissenschaft,  als  man  uns  bisher  geg'önnt,  zu 
erringen  wiiusche,  so  darf  man  mir  und  den  Gleichgesinnten 
keineswegs  verargen,  wenn  wir  dasjenige,  was  unseren  recht- 
mäßigen Forderungen  entgegensteht,  scharf  bezeichnen  und 
uns  nicht  mehr  gefallen  lassen,  was  man  seit  so  \-ielen  Jahren 
herlsömmlich  gegen  uns  verübte."  Goethe. 

Die  Morphologie  oder  Formenlehre  der  Organismen  ist 
die  gesamte  Wissenschaft  von  den  inneren  und  äußeren 
Formenverhältnissen  der  belebten  Naturkörper,  der  Tiere 
und  Pflanzen,  im  weitesten  Sinne  des  Wortes.  Die  Aufgabe  der 
organischen  Morphologie  ist  mithin  die  Erkenntnis  und  die  Erklärung 
dieser  Formenverhältnisse,  d.  h.  die  Zurückführung  ihrer  Erscheinung 
auf  bestimmte  Naturgesetze. 

Wenn  die  Morphologie  ihre  eigentliche  Aufgabe  erkennt  und 
eine  Wissenschaft  sein  will,  so  darf  sie  sich  nicht  begnügen  mit  der 
Kenntnis  der  Formen,  sondern  sie  muß  ihre  Erkenntnis  und  ihre 
Erklärung  erstreben,  sie  muß  nach  den  Gesetzen  suchen,  nach 
denen  die  Formen  gebildet  sind.  Es  muß  diese  hohe  Aufgabe  unserer 
Wissenschaft  deshalb  hier  gleich  beim  Eintritt  in  dieselbe  ausdrück- 
lich hervorgehoben  werden,  weil  eine  entgegengesetzte  irrige  Ansicht 
von  derselben  weit  verbreitet,  ja  selbst  heutzutage  noch  die  bei 
weitem  vorherrschende  ist.  Die  große  Mehrzahl  der  Naturforscher, 
welche  sich  mit  den  Formen  der  Organismen  beschäftigen,  Zoologen 
sowohl,  als  Botaniker,  begnügt  sich  mit  der  bloßen  Kenntnis  der- 
selben; sie  sucht  die  unendlich  mannigfaltigen  Formen,  die  äußeren 
und  inneren  Gestaltungsverhältnisse  der  tierischen  und  pflanzlichen 
Körper  auf  und  ergötzt  sich  an  ihrer  Schönheit,  bewundert  ihre 
Mannigfaltigkeit  und  erstaunt  über  ihre  Zweckmäßigkeit;  sie  beschreibt 
und  unterscheidet  alle  einzelnen  Formen,  belegt  jede  mit  einem 
besonderen  Namen  und  findet  in  deren  systematischer  Anordnung 
ihr  höchstes  Ziel. 


4  Begriff  und  Aufgabe  der  Morphologie  der  Organismen.  I. 

Diese  Kenntnis  der  org^anischen  Formen  gilt  noch  heute  in 
den  weitesten  Kreisen  als  wissenschaftliche  Morphologie  der  Orga- 
nismen. Man  verachtet  und  verspottet  zwar  die  früher  fast  aus- 
schließlich herrschende  oberflächliche  Systematik,  welche  sich  mit 
der  bloßen  Kenntnis  der  äußeren  Formen  Verhältnisse  der  Tiere  und 
Pflanzen  und  mit  deren  systematischer  Klassifikation  begnügte.  Man 
vergißt  dabei  aber  ganz,  daß  die  gegenwärtig  die  meisten  Zoologen 
und  Botaniker  beschäftigende  Kenntnis  der  inneren  Formenverhält- 
nisse an  sich  betrachtet  nicht  um  ein  Haar  höher  steht,  und  ebenso- 
wenig an  und  für  sich  auf  den  Rang  einer  erkennenden  Wissenschaft 
Anspruch  machen  kann.  Die  anatomischen  und  histologischen  Dar- 
stellungen einzelner  Teile  von  Tieren  und  Pflanzen,  sowie  die  ana- 
tomisch-histologischen  Monographien  einzelner  Formen,  welche  sich 
in  unseren  zoologischen  und  botanischen  Zeitschriften  von  Jahr  zu 
Jahr  immer  massenhafter  anhäufen  und  in  deren  Produktion  von 
den  meisten  das  eigentliche  Ziel  der  morphologischen  Wissenschaft 
gesucht  wird,  sind  für  diese  von  ebenso  untergeordnetem  Werte,  als 
die  im  vorigen  Jahrhundert  vorherrschenden  Beschreibungen  und 
Klassifikationen  der  äußeren  Speziesformen.  Die  Zootomie  und  die 
Phytotomie  sind  an  sich  so  wenig  wirkliche  Wissenschaften,  als  die 
von  ihnen  so  verachtete  sogenannte  Systematik;  sie  haben,  wie  diese, 
bloß  den  Rang  einer  unterhaltenden  „Gemüts-  und  Augenergötzung". 
Alle  Kenntnisse,  die  wir  auf  diesem  Wege  erlangen,  sind  nichts  als 
Bausteine,  aus  deren  Verbindung  das  Gebäude  unserer  Wissenschaft 
erst  aufgerichtet  werden  soll. 

Indem  sich  nun  die  große  Mehrzahl  der  Zoologen  und  Botaniker 
mit  dem  Aufsuchen,  Ausgraben  und  Herbeischleppen  dieser  Bausteine 
begnügt  und  in  dem  Wahne  lebt,  daß  diese  Kunst  die  eigentliche 
Wissenschaft  sei,  indem  sie  das  Kennen  mit  dem  Erkennen  ver- 
wechselt, kann  es  uns  nicht  wunder  nehmen,  wenn  der  Bau  unseres 
wissenschaftlichen  Lehrgebäudes  selbst  noch  unendlich  hinter  den 
bescheidensten  Anforderungen  unserer  heutigen  Bildung  zurück  ist. 
Der  denkenden  Baumeister  sind  nur  wenige,  und  diese  wenigen 
stehen  so  vereinzelt,  daß  sie  unter  der  Masse  der  Handlanger  ver- 
schwinden und  nicht  von  den  letzteren  verstanden  werden. 

So  gleicht  denn  leider  die  wissenschaftliche  Morphologie  der 
Organismen  heutzutage  mehr  einem  großen  wüsten  Steinhaufen,  als 
einem  bewohnbaren  Gebäude.  Und  dieser  Steinhaufen  wird  niemals 
dadurch  ein  Gebäude,    daß  man  alle  einzelnen  Steine  inwendig  und 


I.  Begriff  und  Aufgabe  der  Morphologie  der  Organismen.  5 

auswendig  untersucht  und  mikroskopiert,  beschreibt  und  abbildet, 
benennt  und  dann  wieder  hinwirft.  Wir  kennen  zwar  die  üblichen 
Phrasen  von  den  riesenhaften  Fortschritten  der  organischen  Natur- 
wissenschaften und  der  Morphologie  insbesondere;  die  Selbstbewun- 
derung, mit  der  man  die  quantitative  A^ermehrung  unserer  zoologi- 
schen und  botanischen  Kenntnisse  alljährlich  anstaunt.  Wo  aber, 
fragen  wir,  bleibt  die  denkende  und  erkennende  Verwertung  dieser 
Kenntnisse?  Wo  bleibt  der  qualitative  Fortschritt  in  der  Erkenntnis? 
Wo  bleibt  das  erklärende  Licht  in  dem  dunklen  Chaos  der  Gestalten? 
Wo  bleiben  die  morphologischen  Naturgesetze?  Wir  müssen 
in  diesem  rein  quantitativen  Zuwachs  mehr  Ballast  als  Nutzen  sehen. 
Der  Steinhaufen  wird  nicht  dadurch  zum  Gebäude,  daß  er  alle  Jahre 
um  so  und  so  viel  höher  wird.  Im  Gegenteil,  es  wird  nur  schwie- 
riger, sich  in  demselben  zurechtzufinden,  und  die  Ausführung  des 
Baues  wird  dadurch  nur  in  immer  weitere  Ferne  gerückt. 

Nicht  mit  Unrecht  erhebt  die  heutige  Physiologie  stolz  ihr 
Haupt  über  ihre  Schwester,  die  armselige  Morphologie.  So  lange 
die  letztere  nicht  nach  der  Erklärung  der  Formen,  nach  der  Er- 
kenntnis ihrer  Bildungsgesetze  strebt,  ist  sie  dieser  Verachtung  wert. 
Zwar  möchte  sie  dann  wenigstens  auf  den  Rang  einer  deskriptiven 
Wissenschaft  Anspruch  machen.  Indessen  eine  bloß  „beschreibende 
Wissenschaft"  ist  eine  ConfradicHo  in  adjcdo.  Nur  dadurch,  daß 
der  gesetzmäßige  Zusammenhang  in  der  Fülle  der  einzelnen 
Erscheinungen  gefunden  wird,  nur  dadurch  erhebt  sich  die  Kunst 
der  Formbeschreibung  zur  Wissenschaft   der  Formerkenntnis. 

Wenn  wir  nun  nach  den  Gründen  fragen,  warum  die  wissen- 
schaftliche Morphologie  noch  so  unendhch  zurück  ist,  warum  noch 
kaum  die  ersten  Grundlinien  dieses  großen  und  herrlichen  Gebäudes 
gelegt  sind,  warum  der  große  Steinhaufen  noch  roh  und  ungeordnet 
außerhalb  dieser  Grundlinien  liegt,  so  finden  wir  freihch  die  recht- 
fertigende Antwort  teilweise  in  der  außerordentlichen  Schwierigkeit 
der  Aufgabe.  Denn  die  wissenschaftliche  Morphologie  der  Organismen 
ist  vielleicht  von  allen  Naturwissenschaften  die  schwierigste  und 
unzugänglichste.  Wohl  in  keiner  anderen  Naturwissenschaft  steht 
die  reiche  Fülle  der  Erscheinungen  in  einem  solchen  Mißverhältnisse 
zu  unseren  dürftigen  Mitteln,  sie  zu  erklären,  ihre  Gesetzmäßig- 
keit zu  erkennen  und  zu  begründen.  Das  Zusammenwirken  der 
verschiedensten  Zweige  der  Naturwissenschaft,  welches  z.  B.  die 
Physiologie  in  dem  letzten  Dezennium  auf  eine  so  ansehnHche  Höhe 


6  Begriff  und  Aufgabe  der  Morphologie  der  Organismen.  I. 

erhoben  hat,  kommt  der  Morphologie  nur  in  äußerst  geringem  Maße 
zustatten.  Und  die  untrügliclie  mathematische  Sicherheit  der  messen- 
den und  rechnenden  Metliode,  welche  die  Morphologie  der  anorgani- 
schen Naturkörper,  die  Kristallographie,  auf  einen  so  hohen  Grad 
der  Vollendung  erhoben  hat,  ist  in  der  Morphologie  der  Organismen 
fast  nirgends  anwendbar. 

Zum  großen  Teil  aber  liegt  der  höchst  unvollkommene  Zustand 
unserer  heutigen  Morphologie  der  Organismen  auch  an  dem  unwissen- 
schaftlichen Verfahren  der  Morphologen.  Vor  allem  ist  es  die  tiber- 
mäßige Vernachlässigung  strenger  Denktätigkeit,  der  fast 
allgemeine  Mangel  an  wirklich  vergleichender  und  denkender  Natur- 
betrachtung, dem  wir  hier  den  größten  Teil  der  Schuld  beimessen 
müssen.  Freilich  ist  es  unendhch  ^del  bequemer,  irgendeine  der 
unzähhgen  Tier-  und  Pflanzenformen  herzunehmen,  sie  mit  den  aus- 
gebildeten anatomischen  und  mikroskopischen  Hilfsmitteln  der  Neu- 
zeit eingehend  zu  untersuchen  und  die  gefundenen  Formenverhält- 
nisse ausführlich  zu  beschreiben  und  abzubilden;  freihch  ist  es 
unendlich  viel  bequemer  und  wohlfeiler,  solche  sogenannte  ..Ent- 
deckungen" zu  machen,  als  durch  methodische  Vergleichung.  durch 
angestrengtes  Denken  das  Verständnis  der  beobachteten  Form  zu 
gewinnen  und  die  Gesetzmäßigkeit  der  Formerscheinung  nach- 
zuweisen. Insbesondere  in  den  letzten  acht  Jahren,  seit  dem  allzu 
frühen  und  nicht  genug  zu  beklagenden  Tode  von  Johannes  Müller 
(1858),  dessen  gewaltige  Autorität  bei  seinen  Lebzeiten  noch  einiger- 
maßen strenge  Ordnung  auf  dem  weiten  Gebiete  der  organischen 
Morphologie  aufrecht  zu  erhalten  wußte,  ist  eine  fortschreitende  Ver- 
wilderung und  allgemeine  Anarchie  auf  demselben  eingerissen,  so 
daß  jede  strenge  Vergleichung  der  quantitativ  so  bedeutend  wachsenden 
jährlichen  Leistungen  einen  ebenso  jährlich  beschleunigten  quali- 
tativen Rückschritt  nachweist.  In  der  Tat  nimmt  die  denkende 
Betrachtung  der  organischen  Formen  heutzutage  in  demselben  Ver- 
hältnisse alljährhch  ab,  als  die  gedankenlose  Produktion  des  Roh- 
materials zunimmt.  Sehr  richtig  sprach  in  dieser  Beziehung  schon 
Victor  Carus  vor  nunmehr  13  Jahren  die  freilich  wenig  beherzigten 
Worte:  „Wie  es  für  unsere  Zeit  charakteristisch  ist,  daß  fast  alle 
Wissenschaften  sich  in  endlose  Spezialitäten  verlieren  und  nur  selten 
zu  dem  roten  Faden  ihrer  Entwicklung  zurückkommen,  so  scheut  man 
sich  auch  in  der  Biologie  (und  ganz  vorzüglich  in  der  Morphologie!) 
vor  Anwendung  selbst  der  ungefährlichsten  Denkprozesse." 


I.  Begriff  und  Aufgabe  der  Morphologie  der  Organismen.  7 

Neben  der  fast  allgemein  herrschenden  Denkträgheit  ist  es  freilich 
auch  sehr  oft  die  höchst  mangelhafte  allgemeine  Bildung,  der 
Mangel  an  philosophischer  Vorbildung  und  an  Überblick  der  gesamten 
Naturwissenschaft,  welcher  den  Morphologen  unserer  Tage  den  Ge- 
sichtskreis so  verengt,  daß  sie  das  Ziel  ihrer  eigenen  Wissenschaft 
nicht  mehr  sehen  können.  Die  große  Mehrzahl  der  heutigen  Morpho- 
logen, und  zwar  sowohl  der  sogenannten  „Systematiker",  welche  die 
äußeren  Formen,  als  der  sogenannten  „vergleichenden  Anatomen", 
welche  den  inneren  Bau  der  Organismen  beschreiben  (ohne  ihn  zu 
vergleichen,  und  ohne  über  den  Gegenstand  überhaupt  ernstlich 
nachzudenken!),  hat  das  hohe  und  so  weit  entfernte  Ziel  unserer 
Wissenschaft  völlig  aus  den  Augen  verloren.  Sie  begnügen  sich 
damit,  die  organischen  Formen  (gleichgültig  ob  die  äußere  Gestalt 
oder  den  inneren  Bau),  ohne  sich  bestimmte  Fragen  vorzulegen, 
oberflächlich  zu  untersuchen  und  in  dicken  papierreichen  und  ge- 
dankenleeren Büchern  weitläufig  zu  beschreiben  und  abzubilden. 
Wenn  dieser  ganz  unnütze  Ballast  in  den  Jahrbüchern  der  Morpho- 
logie aufgeführt  und  bewundert  wird,  haben  sie  ihr  Ziel  erreicht. 

Wir  erlauben  uns,  diesen  traurigen  Zustand  hier  rücksichtslos 
und  scharf  hervorzuheben,  weil  wir  von  der  Überzeugung  durch- 
drungen sind,  daß  nur  durch  die  Erkenntnis  desselben  und  durch 
die  offene  Beleuchtung  des  dunkeln  Chaos,  welches  die  sogenannte 
Morphologie  gegenwärtig  darstellt,  eine  bessere  Behandlung  derselben, 
eine  wirklich  fördernde  Erkenntnis  der  Gestalten  angebahnt  Averden 
kann.  Erst  wenn  man  allgemein  danach  streben  wird,  den  gesetz- 
mäßigen Zusammenhang  in  den  endlosen  Reihen  der  einzelnen  Gestalt- 
erscheinungen aufzufinden,  wird  es  möglich  werden,  an  das  große 
und  gewaltige  Gebäude  der  Morphologie  selbst  konstruierend  heran- 
zutreten. Erst  wenn  die  Kenntnis  der  Formen  sich  zur  Erkenntnis, 
wenn  die  Betrachtung  der  Gestalten  sich  zur  Erklärung  erheben 
wird,  erst  wenn  aus  dem  bunten  Chaos  der  Gestalten  sich 
die  Gesetze  ihrer  Bildung  entwickeln  werden,  erst  dann 
wird  die  niedere  Kunst  der  Morphographie  sich  in  die  er- 
habene Wissenschaft   der  Morphologie  verwandeln  können. 

Man  wird  uns  von  vielen  Seiten  entgegnen,  daß  die  Zeit  dafür 
noch  nicht  gekommen,  daß  unsere  empirische  Basis  hierzu  noch 
nicht  genug  breit,  unsere  Naturanschauung  noch  nicht  genug  reif, 
unsere  Kenntnis  der  organischen  Gestalten  noch  viel  zu  unvoll- 
kommen sei.    Dieser  selbst  von  hervorragenden  Morphologen  geteilten 


8  Begriff  und  Aufgabe  der  Morphologie  der  Organismen.  I. 

Anscliaiumg  müssen  wir  auf  das  entschiedenste  entgegentreten. 
Niemals  wird  ein  so  hohes  und  fernes  Ziel,  wie  das  der  wissen- 
schaftlichen Morphologie  ist,  erreicht  werden,  wenn  man  dasselbe 
nicht  stets  im  Auge  behält.  Will  man  mit  der  Konstruktion  des 
Gebäudes,  mit  der  Aufsuchung  von  allgemeinen  Gestaltungsgesetzen 
warten,  bis  wir  alle  existierenden  Formen  kennen,  so  werden  wir 
niemals  damit  fertig  werden;  ja  wir  werden  niemals  auch  nur  zum 
Fundament  einer  wissenschaftlichen  Formenlehre  gelangen.  Des 
Ausbaues  und  der  Verbesserung  bedürftig  wird  das  Gebäude  ewig 
bleiben;  das  hindert  aber  nicht,  daß  wir  uns  wohnlich  darin  ein- 
richten, und  daß  wir  uns  der  Gesetzmäßigkeit  der  Gestalten  erfreuen, 
auch  wenn  wir  wissen,  daß  unsere  Erkenntnis  derselben  eine  be- 
schränkte ist. 


Zweites  Kapitel. 

Yerliältnis  der  Morphologie  zu  den  andern  lüaturwissenscliaften. 

„Eine  höchst  wiclitige  Betrachtung  in  der  Geschichte 
der  Wissenschaft  ist  die,  daß  sich  aus  den  ersten  Anfängen 
einer  Entdeckung  manches  in  den  Gang  des  Wissens  heran- 
und  durchzieht,  welches  den  Fortschritt  hindert,  sogar  öfters 
Uilimt.  So  hat  auch  jeder  Weg,  durch  den  wir  zu  einer 
neuen  Entdeckung  gelangen,  Einfluß  auf  Ansicht  und  Theorie. 
Was  würden  wir  von  einem  Architekten  sagen,  der  durch 
eine  Seitentüre  in  einen  Palast  gekommen  wäre,  und  nun, 
bei  Beschreibung  und  Darstellung  eines  solchen  Gebäudes, 
alles  auf  diese  erste  untergeordnete  Seite  beziehen  wollte? 
Und  doch  geschieht  dies  in  den  Wissenschaften  jeden  Tag.*" 

Goethe. 

I.  Morphologie  und  Biologie. 

IL  Morphologie  und  Physik, 

m.  Morphologie  und  Chemie. 

IV.  Morphologie  und  Physiologie. 

Drittes  Kapitel. 

Einteilung  der  Morphologie  in  untergeordnete  Wissenschaften. 

„Indem  sich  jeder  einzelne  Wirkungskreis  absondert,  so 
vereinzelt,  zersplittert  sich  auch  in  jedem  Kreise  die  Be- 
handlung. Kur  ein  Hauch  von  Theorie  erregt  schon  Furcht : 
denn  seit  mehr  als  einem  Jahrhundert  hat  man  sie  wie  ein 
Gespenst  geflohen  und,  bei  einer  fragmentarischen  Erfalirung, 
sich  doch  zuletzt  den  gemeinsten  Vorstellungen  in  die  Arme 
geworfen.  Niemand  will  gestehen,  daß  eine  Idee,  ein  Begriff 
der  Beobachtung  zum  Grunde  liegen,  die  Erfahrung  befördern, 
ja  das  Finden  und  Erfinden  begünstigen  könne." 

Goethe  (1819). 

I.  Einteilung  der  Morphologie  in  Anatomie  und  Morphogenie. 

IL  Einteilung  der  Anatomie  und  Morphogenie  in  vier  Wissenschaften, 

in.  Anatomie  und  Systematik. 

IV.  Organologie  und  Histologie. 

V.  Tektologie  und  Promorphologie. 

VI.  Morphogenie  oder  Entwicklungsgeschichte. 

VII.  Entwicklungsgeschichte  der  Individuen. 

Vin.  Entwicklungsgeschichte  der  Stämme. 

IX.  Generelle  und  spezielle  Morphologie. 


Viertes  Kapitel. 

Metliodik  der  Morpliologie  der  Organismen. 

„Wenn  ein  Wissen  reif  ist,  Wissenschaft  zu  werden,  so 
muß  notwendig-  eine  Krise  entstehen:  denn  es  wird  die  Diffe- 
renz offenbar  zwischen  denen,  die  das  Einzelne  trennen  und 
getrennt  darstellen,  und  solchen,  die  das  Allgemeine  im  Auge 
haben  und  gern  das  Besondere  an-  und  einfüg'en  möchten. 
Wie  nun  aber  die  wissenschaftliche,  ideelle,  umgreifendere 
Behandlung  sich  mehr  und  mehr  Freunde.  Gömier  und  Mit- 
arbeiter wirbt,  so  bleibt  auf  der  hölieren  Stufe  jene  Trennung 
zwar   nicht   so  entschieden,   aber  doch  genugsam  merklich." 

Goethe. 

Viertes  Kcapitel:    Erste  Hälfte. 

Kritik  der  naturwissenschaftlichen  Methoden,   welche  sich 
gegenseitig  notwendig  ergänzen  müssen. 

I.   Empirie  und  Philosophie. 

(Erfahrang  und  Erkenntnis.) 

„Die  wichtigsten  Wahrheiten  in  den  Naturwissenschaften  sind 
weder  allein  durch  Zergliederung  der  Begriffe  der  Philosophie,  noch 
allein  durch  bloßes  Erfahren  gefunden  worden,  sondern  durcli  eine 
denkende  Erfahrung,  welche  das  Wesentliche  von  dem  Zufälligen 
in  der  Erfahrung  unterscheidet  und  dadurch  Grundsätze  findet, 
aus  welchen  viele  Erfahrungen  abgeleitet  werden.  Dies  ist  mehr 
als  bloJäes  Erfahren,  und  wenn  man  will,  eine  philosophische 
Erfahrung."  Johannes  Müller  (Handbuch  der  Physiologie  des 
Menschen,  Bd.  II,  p.  522). 

„Vergleichen  wir  die  morphologischen  Wissenschaften  mit  den 
physikalischen  Theorien,  so  müssen  wir  uns  gestehen,  daß  erstere 
in  jeder  Hinsicht  unendlich  weit  zurück  sind.  Die  Ursache  dieser 
Erscheinung  liegt  nun  allerdings  zum  Teil  in  dem  Gegenstande, 
dessen  verwickeitere  Verhältnisse  sicli  noch  am  meisten  der  mathe- 
matischen Behandlung  entziehen,  aber  großenteils  ist  auch  die  große 


iy_  I.    Empirie  imd  Philosophie.  11 

Nichtaclitung  niethodologisclier  Verständigung  daran  schuld,  indem 
man  sich  einerseits  durchaus  nicht  um  scharfe  Fassung  der  leitenden 
Prinzipien  bekümmert,  andererseits  selbst  die  allgemeinsten  und 
bekanntesten  Anforderungen  der  Philosophie  hintangesetzt  hat,  weil 
bei  dem  weiten  Abstände  ihrer  allgemeinen  Aussprüche  von  den 
Einzelheiten,  mit  denen  sich  die  empirischen  Naturwissenschaften 
beschäftigen,  die  Notwendigkeit  ihrer  Anwendung  sich  der  unmittel- 
baren Auffassung  entzog.  So  sind  gar  viele  Arbeiter  in  dieser 
Beziehung  durchaus  nicht  mit  ihrer  Aufgabe  verständigt,  und  die 
Fortschritte  in  der  Wissenschaft  hängen  oft  rein  vom  Zufall  ab." 
Schieiden  (Grundzüge  der  wissenschaftlichen  Botanik,  „§  3  Me- 
thodik oder  über  die  Mittel  zur  Lösung  der  Aufgaben  in  der  Botanik"). 

Wir  erlauben  uns,  dieses  methodologische  Kapitel,  welches  die 
Mittel  und  Wege  zur  Lösung  unserer  morphologischen  Aufgaben 
zeigen  soll,  mit  zwei  vortrefflichen  Aussprüchen  von  den  beiden 
größten  Morphologen  einzuleiten,  welche  im  fünften  Dezennium  unseres 
Jahrhunderts  die  organische  Naturwissenschaft  in  Deutschland  be- 
herrschten. Wie  Johannes  Müller  für  die  Zoologie,  so  hat  Schieiden 
damals  für  die  Botanik  mit  der  klarsten  Bestimmtheit  den  Weg  ge- 
wiesen, welcher  uns  allein  auf  dem  Gebiete  der  Biologie,  und  ins- 
besondere auf  dem  der  Morphologie,  zu  dem  Ziele  unserer  Wissen- 
schaft hinzuführen  vermag.  Dieser  einzig  mögliche  Weg  kann 
natürlich  kein  anderer  sein  als  derjenige,  welcher  für  alle  Natur- 
wissenschaften —  oder,  was  dasselbe  ist,  für  alle  wahren  Wissen- 
schaften —  ausschließliche  Gültigkeit  hat.  Es  ist  dies  der  Weg 
der  denkenden  Erfahrung,  der  Weg  der  philosophischen 
Empirie.  Wir  könnten  ihn  ebensogut  als  den  Weg  des  erfahrungs- 
mäßigen Denkens,  den  Weg  der  empirischen  Philosophie 
bezeichnen. 

Absichtlich  stellen  wir  die  bedeutenden  Aussprüche  dieser  beiden 
großen  ., empirischen  und  exakten"  Naturforscher  an  die  Spitze  dieses 
methodologischen  Kapitels,  weil  wir  dadurch  hoffen,  die  Aufmerk- 
samkeit der  heutigen  Morphologen  und  der  Biologen  überhaupt 
intensiver  auf  einen  Punkt  zu  lenken,  der  nach  unserer  innigsten 
Überzeugung  für  den  Fortschritt  der  gesamten  Biologie,  und  der 
Morphologie  insbesondere,  von  der  allergrößten  Bedeutung  ist,  der 
aber  gerade  im  gegenwärtigen  Zeitpunkte  in  demselben  Maße  von 
den  allermeisten  Naturforschern  völlig  vernachlässigt  wird,  als  er 
vor  allen  anderen  hervorgehoben  zu  werden  verdiente.     Es   ist  dies 


12  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  ly. 

die  gegenseitige  Ergänzung  von  Beobachtung  und  Gedanken, 
der  innige  Zusammenhang  von  Naturbeschreibung  und 
Naturphilosophie,  die  notwendige  Wechselwirkung  zwi- 
schen Empirie  und  Theorie. 

Einer  der  größten  Morphologen,  den  unser  deutsches  Vaterland 
erzeugt  hat,  Karl  Ernst  v.  Bär,  hat  dem  klassischen  Werke,  durch 
welches  er  die  tierische  Ontogenie,  eine  sogenannte  „rein  empirische 
und  deskriptive  Wissenschaft",  neu  begründete,  den  Titel  vorange- 
setzt: ..Über  Entwickelungsgeschichte  der  Tiere.  Beobachtung  und 
Reflexion."  Wenn  seine  Nachfolger  diese  drei  Worte  stets  bei 
ihren  Arbeiten  im  Auge  behalten  hätten,  würde  es  besser  um  unsere 
Wissenschaft  aussehen,  als  es  jetzt  leider  aussieht.  „Beobachtung 
und  Reflexion"  sollte  die  Überschrift  jeder  wahrhaft  naturwissen- 
schaftlichen Arbeit  lauten  können.  Bei  wie  vielen  aber  ist  dies 
möglich?  Wenn  wir  ehrlich  sein  wollen,  können  wir  ihre  Zahl 
kaum  gering  genug  anschlagen  und  finden  unter  hunderten  kaum 
eine.  Und  dennoch  können  nur  durch  die  innigste  Wechselwirkung 
von  Beobachtung  und  Reflexion  wirkliche  Fortschritte  in  jeder  Natur- 
wissenschaft, und  also  auch  in  der  Morphologie,  gemacht  werden. 
Hören  wir  weiter,  was  K.  E.  v.  Bär,  der  „empirische  und  exakte" 
Naturforscher,  in  dieser  Beziehung  sagt: 

„Zwei  Wege  sind  es,  auf  denen  die  Naturwissenschaft  gefördert 
werden  kann,  Beobachtung  und  Reflexion.  Die  Forscher  ergrei- 
fen meistens  für  den  einen  von  beiden  Partei.  Einige  verlangen 
nach  Tatsachen,  andere  nach  Resultaten  und  allgemeinen  Ge- 
setzen, jene  nach  Kenntnis,  diese  nach  Erkenntnis,  jene  möch- 
ten für  besonnen,  diese  für  tiefblickend  gelten.  Glückhcherweise 
ist  der  Geist  des  Menschen  selten  so  einseitig  ausgebildet,  daß  es 
ihm  möghch  wird,  nur  den  einen  Weg  der  Forschung  zu  gehen, 
ohne  auf  den  anderen  Rücksicht  zu  nehmen.  Unwillkürlich  wird 
der  Verächter  der  Abstraktion  sich  von  Gedanken  bei  seiner  Beob- 
achtung beschleichen  lassen;  und  nur  in  kurzen  Perioden  der  Fieber- 
hitze ist  sein  Gegner  vermögend,  sich  der  Spekulation  im  Felde  der 
Naturwissenschaft  mit  völliger  Hintansetzung  der  Erfahrung  hinzu- 
geben. Indessen  bleibt  immer,  für  die  Individuen  sowohl  als  für 
ganze  Perioden  der  Wissenschaft,  die  eine  Tendenz  die  vorherr- 
schende, der  man  mit  Bewußtsein  des  Zwecks  sich  hingibt,  wenn 
auch  die  andere  nicht  ganz  fehlt." 

Mit  diesen  wenigen  Worten  ist  das  gegenseitige  Wechselverhält- 


IV.  I.   Empirie  und  Philosophie.  13 

nis  von  Beobachtung  und  Reflexion,  die  notwendige  Verbindung  von 
empirischer  Tatsachenkenntnis  und  von  philosophischer  Gesetzes- 
erkenntnis treffend  bezeichnet.  Aber  auch  die  Tatsache,  daß  in  den 
einzelnen  Naturforschern  sowohl  als  in  den  einzelnen  Perioden  der 
Naturwissenschaft  selten  beide  Richtungen  in  harmonischer  Eintracht 
und  gegenseitiger  Durchdringung  zusammenwirken,  vielmehr  eine 
von  beiden  fast  imftier  bedeutend  über  die  andere  überwiegt,  ist  von 
Bär  sehr  richtig  hervorgehoben  worden,  und  gerade  dieser  Punkt 
ist  es,  auf  den  wir  hier  zunächst  die  besondere  Aufmerksamkeit 
lenken  möchten.  Denn  wenn  wir  einerseits  überzeugt  sind,  daß 
wir  nur  durch  die  gemeinsame  Tätigkeit  beider  Richtungen  dem 
Ziele  unserer  Wissenschaft  uns  nähern  können,  und  wenn  wir  anderer- 
seits zu  der  Einsicht  gelangen,  welche  von  beiden  Richtungen  im 
gegenwärtigen  Stadium  unserer  wissenschaftlichen  Entwicklung  die 
einseitig  überwiegende  ist,  so  werden  wir  auch  die  Mittel  zur  Hebung 
dieser  Einseitigkeit  angeben  und  die  Methode  bestimmen  können, 
welche  die  Morphologie  gegenwärtig  zunächst  und  vorzugsweise  ein- 
zuschlagen hat. 

Es  bedarf  nun  keines  allzu  tiefen  Scharfblicks  und  keines  allzu 
w^eiten  Überblicks,  um  alsbald  zu  der  Überzeugung  zu  gelangen,  daß 
in  dem  ganzen  zweiten  Viertel  des  neunzehnten  Jahrhunderts  und 
darüber  hinaus  bis  jetzt,  und  zwar  vorzüglich  vom  Jahre  1840 — 1860, 
die  rein  empirische  und  „exakte"  Richtung  ganz  überwiegend  in  der 
Biologie  und  vor  allem  in  der  Morphologie  geherrscht,  und  daß  sie 
diese  Alleinherrschaft  in  fortschreitendem  Maße  dergestalt  ausgedehnt 
hat,  daß  die  spekulative  oder  philosophische  Richtung  im  fünften 
Dezennium  vorigen  Jahrhunderts  fast  vollständig  von  ihr  verdrängt 
war.  Auf  allen  Gebieten  der  Biologie,  sowohl  in  der  Zoologie,  als 
in  der  Botanik,  galt  während  dieses  Zeitraums  allgemein  die  Natur- 
beobachtung  und  die  Naturbeschreibung  als  „die  eigentliche  Natur- 
wissenschaft", und  die  „Naturphilosophie"  wurde  als  eine  Verirrung 
betrachtet,  als  ein  Phantasiespiel,  welches  nicht  nur  nichts  mit  der 
Beobachtung  und  Beschreibung  zu  tun  habe,  sondern  auch  gänzlich 
aus  dem  Gebiete  der  „eigentlichen  Naturwissenschaft"  zu  verbannen 
sei.  Freilich  war  diese  einseitige  Verkennung  der  Philosophie  nur 
zu  sehr  gefördert  und  gerechtfertigt  durch  das  verkehrte  und  willkür- 
liche Verfahren  der  sogenannten  „Naturphilosophie",  welche  im 
ersten  Drittel  unseres  Jahrhunderts  die  Naturwissenschaft  zu  unter- 
werfen suchte,  und  welche,  statt  von  empirischer  Basis  auszugehen. 


14  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  IV. 

in  der  iingemessensten  Weise  ihrer  wilden  und  erfahrungslosen 
Phantasie  die  Zügel  schießen  ließ.  Die  namentlich  von  Oken, 
Seh  ellin g  usw.  ausgehende  Naturphantasterei  mußte  ganz  natürhch 
als  anderes  Extrem  den  krassesten  Empirismus  hervorrufen.  Der 
natürliche  Rückschlag  gegen  diese  letztere  in  demselben  Grade  ein- 
seitige Richtung  trat  erst  im  Jahre  1859  ein,  als  Charles  Darwin 
seine  großartige  Entdeckung  der  ,.natürlichen  Züchtung"  veröffent- 
lichte und  damit  den  Anstoß  zu  einem  allgemeinen  Umschwung  der 
gesamten  Biologie  und  namentlich  der  Morphologie  gab.  Die 
gedankenvolle  Naturbetrachtung,  der  im  besten  Sinne  philosophische, 
d.  h.  naturgemäß  denkende  Geist,  welcher  sein  epochemachendes 
Werk  durchzieht,  wird  der  vergessenen  und  verlassenen  Natur- 
philosophie wieder  zu  dem  ihr  gebührenden  Platze  verhelfen  und 
den  Beginn  einer  neuen  Periode  der  Wissenschaft  bezeichnen.  Frei- 
lich ist  dieser  gewaltige  Umschwung  bei  weitem  noch  nicht  zu  all- 
gemeinem Durchbruch  gelangt:  die  Mehrzahl  der  Biologen  ist  noch 
zu  sehr  und  zu  allgemein  in  den  Folgen  der  vorher  überall  herr- 
schenden einseitig  empirischen  Richtung  befangen,  als  daß  wir  die 
Rückkehr  zur  denkenden  Naturbetrachtung  als  eine  bewußte  und 
allgemeine  bezeichnen  könnten.  Indes  hat  dieselbe  doch  bereits  in 
einigen  Kreisen  begonnen,  an  vielen  Stellen  feste  Wurzel  geschlagen, 
und  wird  voraussichtlich  nicht  allein  in  den  nächsten  Jahren  schon 
das  verlorene  Terrain  wieder  erobern,  sondern  in  wenigen  Dezennien 
sich  so  allgemeine  Geltung  verschafft  haben,  daß  man  (wohl  noch 
vor  Ablauf  unseres  Jahrhunderts)  verwundert  auf  die  Beschränktheit 
und  Verblendung  zahlreicher  Naturforscher  zurückblicken  wird,  die 
heute  noch  die  Philosophie  von  dem  Gebiete  der  Biologie  aus- 
schließen wollen.  Wir  unsererseits  sind  unerschütterlich  davon  über- 
zeugt, daß  man  in  der  wahrhaft  ,.erkennenden"  Wissenschaft  die 
Empirie  und  die  Philosophie  gar  nicht  voneinander  trennen  kann. 
Jene  ist  nur  die  erste  und  niederste,  diese  die  letzte  und  höchste 
Stufe  der  Erkenntnis.  Alle  wahre  Naturwissenschaft  ist  Philosophie 
und  alle  wahre  Philosophie  ist  Naturwissenschaft.  Alle  wahre 
Wissenschaft  aber  ist  in  diesem  Sinne  Naturphilosophie. 

In  der  Tat  könnte  heilte  schon  die  allgemein  übliche  einseitige  Aus- 
schließung der  Philosophie  aus  der  Naturwissenschaft  jedem  objektiv  dies 
Verhältnis  betrachtenden  Gebildeten  als  ein  befremdendes  Rätsel  erschei- 
nen, wenn  nicht  der  Entwickelungsgang  der  Biologie  selbst  ilim  die  Lösung 
dieses  Rätsels  sehr  nahe  legte.  Wenn  Avir  die  Geschichte  unserer  Wissen- 
schaft in  den  allgemeinsten  Zügen  überblicken,  so  bemerken  wir  alsbald, 


l\^  I.    Empirie  und  Philosophie.  15 

daß  die  beiden  scheinbar  entgegengesetzten,  in  der  Tat  aber  innig  ver- 
bundenen Forschungsrichtungen  in  der  Naturwissenschaft,  die  beobachtende 
oder  empirische  und  die  denkende  oder  philosophische,  zwar  stets  mehr 
oder  minder  eng  verbunden  nebeneinander  herlaufen,  daß  aber  doch,  wie 
es  Bär  sehr  richtig  ausdrückt,  immer  die  eine  der  beiden  Richtungen  über 
die  andere  bedeutend  überwiegt,  und  zwar  „sowohl  für  die  Individuen, 
als  für  ganze  Perioden  der  Wissenschaft".  So  finden  wir  ein  beständiges 
Oszilheren,  einen  Wechsel  der  beiden  Richtungen,  der  uns  zeigt,  daß  nie- 
mals in  gleichmäßigem  Fortschritt,  sondern  stets  in  wechselnder  Wellen- 
bewegung die  Biologie  ihrem  Ziele  sich  nähert.  Die  Exzesse,  welche  jede 
der  l)eiden  Forschungsrichtungen  begeht,  sobald  sie  das  Übergewicht  über 
■  die  andere  gewonnen  hat,  die  Ausschließlichkeit,  durch  welche  jede  in  der 
Regel  sich  als  die  allein  richtige,  als  die  „eigentliche"  Methode  der 
Naturwissenschaft  betrachtet,  führen  nach  längerer  oder  kürzerer  Dauer 
wieder  zu  einem  Umschwung,  welcher  der  überlegenen  Gegnerin  abermals 
zur  Herrschaft  verhilft. 

Wie  dieser  regelmäßige  Regierungswechsel  von  empirischer  und  philo- 
sophischer Naturforschung  auf  dem  gesamten  Gebiete  der  Biologie  uns 
überall  entgegentritt,  so  sehen  wir  ganz  besonders  bei  einem  allgemeinen 
Überblick  des  Entwickelungsganges,  den  die  Morphologie  vom  Anfang 
des  vorigen  Jahrhunderts  an  genommen,  daß  die  beiden  feindlichen 
Schwestern,  die  doch  im  Grunde  nicht  ohne  einander  leben  kihmen,  stets 
abwechselnd  die  Herrschaft  behauptet  haben.  Nachdem  Linne  die  Morpho- 
logie der  Organismen  zum  ersten  Male  in  feste  wissenschaftliche  Form 
gebracht  und  ihr  das  systematische  Gewand  angezogen  hatte,  wurde  zu- 
nächst der  allgemeine  Strom  der  neubelebten  Naturforschung  auf  die  rein 
empirische  Beobachtung  und  Beschreibung  der  zahllosen  neuen  Formen  hin- 
gelenkt, welche  imterschieden,  benannt  und  in  das  Fachwerk  des  Systems 
eingeordnet  werden  mußten.  Die  systematische  Beschreibung  und  Be- 
nennung, als  Büttel  des  geordneten  Ül^erblicks  der  zahllosen  Einzelformen, 
wurde  aljer  bald  Selbstzweck,  mid  damit  verlor  sich  die  Formbeobachtmig 
der  Tiere  und  Pflanzen  in  der  gedankenlosesten  Empirie.  Das  massenhaft 
sich  anhäufende  Rohmaterial  forderte  mehr  und  mehr  zu  einer  denkenden 
Verwertimg  desselben  auf,  und  so  entstand  die  Schule  der  Naturphilo- 
sophen, als  deren  bedeutendsten  Forscher,  wenn  aiich  nicht  (wegen  man- 
gelnder Anerkennimg)  als  deren  eigentlichen  Begründer  wir  Lamarck 
bezeichnen  müssen. ■'^)  In  Deutschland  vorzüglich  durch  Oken  und  Goethe, 
in  Frankreich  durch  Lamarck  und  Etienne  Geoffrov  S.  Hilaire  ver- 


1)  Selten  ist  wohl  das  Verdienst  eines  der  bedeutendsten  Männer  so  völlig 
von  seinen  Zeitgenossen  verkannt  und  gar  nicht  gewürdigt  worden,  wie  es  mit 
Lamarck  ein  halbes  Jahrhundert  hindurch  der  Fall  war.  Nichts  beweist  dies 
vielleicht  so  schlagend  als  der  Umstand,  daß  Cuvier  in  seinem  Bericht  über 
die  Fortschritte  der  Naturwissenschaften,  in  welchem  auch  die  unbedeutendsten 
Bereicherungen  des  empirischen  Materials  aufgeführt  werden,  des  bedeutendsten 
aller  biologischen  Werke  jenes  Zeitraums,  der  Philosophie  zoologique  von  La- 
marck, mit  keinem  Worte  Erwähnung  tut! 


16  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  JV. 

treten,  war  diese  ältere  Naturphilosophie  eifrigst  bemüht,  aus  dem  Chaos 
der  zahllosen  Einzelbeobachtungen,  die  sich  immer  mehr  zu  einem  un- 
übersehbaren Berge  häuften,  allgemeine  Gesetze  abzuleiten  und  den  Zu- 
sammenhang der  Erscheinungen  zu  ermitteln.  Wie  weit-  sie  schon  damals 
auf  diesem  Wege  gelangte,  zeigt  die  klassische  Philosophie  zoologique 
von  Lamarck  (1809)  und  die  bewunderungswürdige  Metamorphose  der 
Pflanzen  von  Goethe  (1790).  Doch  war  die  empirische  Basis,  auf 
welcher  diese  Heroen  der  Naturforschung  ihre  genialen  Gedankengebäude 
errichteten,  noch  zu  schmal  und  unvollkommen,  die  ganze  damalige  Kenntnis 
der  Organismen  noch  zu  sehr  bloß  auf  die  äußeren  Formverhältnisse  be- 
schränkt, als  daß  ihre  denkende  Naturbetrachtung  die  festesten  Anhalts- 
punkte hätte  gewinnen  und  die  darauf  gegründeten  allgemeinen  Gesetze 
schon  damals  eine  weitere  Geltung  hätten  erringen  können.  Entwickelimgs- 
geschichte  mid  Paläontologie  existierten  noch  nicht,  und  die  vergleichende 
Anatomie  hatte  kaum  noch  Wurzeln  geschlagen.  Wie  weit  aber  diese 
Genien  trotzdem  ihrer  Zeit  vorauseilten,  bezeugt  vor  allem  die  (in  der 
ersten  Hälfte  miseres  Jahrhunderts  fast  allgemein  ignorierte)  Tatsache,  daß 
beide,  sowohl  Lamarck  als  Goethe,  die  wichtigsten  Sätze  der  Des- 
zendenz-Theorie bereits  mit  voller  Klarheit  und  Bestimmtheit  aussprachen. 
Erst  ein  volles  halbes  Jahrhundert  später  sollte  Darwin  dafür  die  Be- 
weise liefern. 

Die  eigentliche  Blütezeit  der  älteren  Naturphilosophie  fällt  in  die 
ersten  Dezennien  unseres  Jahrhunderts.  Aber  schon  im  zweiten  und  noch 
sclmeller  im  dritten  näherte  sie  sich  ihrem  jähen  Untergange,  teils  durch 
eigene  Verblendung  und  Ausartung,  teils  durch  Mangel  an  Verständnis 
bei  der  Mehrzahl  der  Zeitgenossen,  teils  durch  das  rasche  imd  glänzende 
Emporblühen  der  empirischen  Richtung,  welche  in  Cuvier  einen  neuen 
und  gewaltigen  Reformator  fand.  Gegenüber  der  willkürlichen  und  ver- 
kehrten Phantasterei,  in  welche  die  Naturphilosophie  bald  sowohl  in  Frank- 
reich als  in  Deutschland  damals  ausartete,  war  es  dem  exakten,  strengen 
und  auf  der  breitesten  empirischen  Basis  stehenden  Cuvier  ein  leichtes, 
die  verwilderten  und  undisziplinierten  Gegner  aus  dem  Felde  zu  schlagen. 
Bekanntlich  war  es  der  22.  Februar  1830,  an  welchem  der  Konflikt 
zwischen  den  beiden  entgegengesetzten  Richtungen  in  der  Pariser  Akademie 
zum  öffentlichen  Austrage  kam  und  damit  definitiv  geendigt  zu  sein  schien, 
daß  Cuvier  seinen  Hauptgegner  E.  Geoffroy  S.  Hilaire  mit  Hülfe 
seiner  tiberwiegenden  empirischen  Beweismittel  in  den  Augen  der  großen 
Mehrheit  vollständig  besiegte.  Dieser  merkwürdige  öffentliche  Konflikt, 
dui'ch  welchen  die  Niederlage  der  älteren  Naturphilosophie  besiegelt  wurde, 
ist  in  mehrfacher  Beziehung  vom  h()chsten  Interesse,  vorzüglich  auch  des- 
halb, weil  er  von  Goethe  in  der  meisterhaftesten  Form  in  einem  kritischen 
Aufsatze  dargestellt  wurde,  welchen  derselbe  wenige  Tage  vor  seinem 
Tode  (im  März  1832)  vollendete.  Dieser  höchst  lesenswerte  Aufsatz,  das 
letzte  schriftliche  Vermächtnis,  welches  der  deutsche  Dichterfürst  uns 
hinterlassen,  enthält  nicht  allein  eine  vortreffliche  Charakteristik  von 
Cuvier  und  Geoffroy  S.  Hilaire,  sondern  auch  eine  ausgezeichnete  Dar- 
stellung  der  beiden  entgegengesetzten  von  ihnen  vertretenen  Richtungen, 


IV.  I.    Empirie  und  Philosophie.  17 

„des  immenvälu'enden  Konfliktes  zwischen  den  Denkweisen,  in  die  sich 
die  wissenschaftliche  Welt  schon  lange  trennt;  zwei  Denkweisen,  welche 
sich  in  dem  menschlichen  Geschlechte  meistens  getrennt  nnd  dergestalt 
verteilt  ünden,  daß  sie,  wie  überall,  so  auch  im  Wissenschaftlichen,  schwer 
zusammen  verbimden  angetroffen  werden,  und  vrie  sie  getrennt  sind,  sich 
nicht  Avolü  vereinigen  mögen.  Haben  wir  die  Geschichte  der  Wissen- 
schaften und  eine  eigene  lange  Erfahrung  vor  Augen,  so  möchte  man 
l)efürchten,  die  menschliche  Natur  werde  sich  von  diesem  Zwiespalt  kaum 
jemals  retten  können." 

Die  Niederlage  der  älteren  Naturphilosophie,  welche  Cuvier  als  der 
Heerführer  der  neu  erstehenden  ..exakten  Empirie"  herbeigeführt  und  in 
jenem  Konflikt  offenbar  gemacht  hatte,  war  so  vollständig,  daß  in  den 
folgenden  drei  Dezennien,  von  1880 — 1860.  unter  der  mm  allgemein 
sich  ausbreitenden  empirischen  Schule  von  Philosophie  gar  keine  Rede 
mehr  war.  ^lit  den  Träumereien  mid  Phantasiespielen  jener  ausgearteten 
Naturj^hantasterei  wurden  auch  die  wahren  und  großen  Verdienste  der 
alten  Naturphilosophie  vergessen,  aus  der  jene  hervorgegangen  war.  imd 
man  gewöhnte  sich  sehr  allgemein  an  die  Vorstellung,  daß  Naturwissen- 
schaft und  Philosophie  in  einem  imversöhnlichen  Gegensatze  zueinander 
ständen.  Dieser  Irrtimi  Avurde  dadm'ch  insbesondere  begünstigt,  daß  die 
verbesserten  Instrumente  und  Beobachtmigsmethoden  der  Nenzeit,  imd  vor 
allem  die  sehr  verbesserten  Mikroskope,  der  empirischen  Naturbeobachtimg 
ein  unendlich  Aveites  Feld  der  Forschmig  eröffneten,  auf  welchem  es  ein 
leichtes  war,  mit  wenig  Mühe  imd  ohne  große  GedankenanstrengTing 
Entdeckungen  neuer  Formverhältnisse  in  Hülle  imd  Fülle  zu  machen. 
Während  die  Beobachtungen  der  ersten  empirischen  Periode,  welche  sich 
aus  Linnes  Schule  entwickelte,  vorzugsweise  um*  auf  die  äußeren 
Formverhältnisse  der  Organismen  gerichtet  gewesen  waren,  wandte  sich 
nun  die  zweite  empirische  Periode,  welche  aus  Cuviers  Schule  hervor- 
ging, vorwiegend  der  Beol)achtimg  des  inneren  Baues  der  Tiere  und 
Pflanzen  zu.  Und  in  der  Tat  gab  es  hier,  nachdem  Cuvier  dmrh  Be- 
gründung der  vergleichenden  Anatomie  und  der  Paläontologie  ein  weites 
neues  Feld  der  Beobachtung  geöffnet,  nachdem  Bär  diu'ch  Reformation 
der  Entwickelungsgeschichte  und  Schwann  durch  Begründimg  der  Ge- 
webelehre auf  dem  tierischen,  Schlei  den  auf  dem  pflanzlichen  Gebiete 
neue  und  große  Ziele  gesteckt,  nachdem  Johannes  Müller  die  ge- 
samte Biologie  mit  gewaltiger  Hand  in  die  neu  geöffneten  Bahnen  der 
exakten  Beobachtimg  hineingewiesen  hatte,  überall  so  imendlich  viel  zu 
beobachten  und  zu  beschreiben,  es  wurde  so  leicht,  mit  nur  wenig  Ge- 
duld. Fleiß  und  Beobachtungsgabe  neue  Tatsachen  zu  entdecken,  daß  wir 
uns  nicht  wundern  können,  wenn  darüber  die  leitenden  Prinzipien  der 
Naturforschimg  gänzlich  vernachlässigt  imd  die  erklärende  Gedankenarbeit 
von  den  meisten  völlig  vergessen  ■wurde.  Da  noch  im  gegenwärtigen 
Augenblick  diese  „rein  empirische"  Richtung  die  allgemein  überwiegende 
ist,  da  die  Bezeichnung  der  Naturphilosophie  noch  in  den  weitesten  natur- 
wissenschaftlichen Kreisen  nur  als  Schimpfwort  gilt  und  selbst  von  den 
hervorragendsten  Biologen  nur  in  diesem  Sinne  gebraucht  wird,  so  haben 

H  a  e  c  k  e  1 ,  Prinz,  d.  Morj)hol.  2 


X8  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  jy. 

wir  nicht  nötig,  die  grenzenlose  Einseitigkeit  dieser  Richtimg  noch  näher 
zu  erläutern  und  werden  nur  noch  insofern  näher  darauf  eingehen,  als 
wir  gezwungen  sind,  unseren  Zeitgenossen  ihr  „exakt-empirisches",  d.  h. 
gedankenloses  und  beschränktes,  Spiegelbild  vorzuhalten.  Teilweise  ist 
dies  schon  im  vorigen  Kapitel  geschehen.  Wiederholt  wollen  wir  hier 
nur  nochmals  auf  die  seltsame  Selbsttäuschung  hinweisen,  in  welcher 
die  neuere  Biologie  befangen  ist,  wenn  sie  die  nackte  gedankenlose  Be- 
schreibung innerer  und  feinerer,  insbesondere  mikroskopischer  Form- 
verhältnisse als  „wissenschaftliche  Zoologie '■  und  „wissenschaft- 
liche Botanik"  preist  und  mit  nicht  geringem  Stolze  der  früher  aus- 
schließlich herrschenden  reinen  Beschreibung  der  äußeren  und  gröberen 
Formverhältnisse  gegenüberstellt,  welche  die  sogenannten  ..Sj^stematiker" 
beschäftigt.  Sobald  bei  diesen  beiden  Richtungen,  die  sich  so  scharf 
gegenüberziistellen  belieben,  die  Beschreibung  an  sich  das  Ziel  ist 
( —  gleichviel  ob  der  inneren  oder  äußeren,  der  feineren  oder  gröberen 
Formen  — ),  so  ist  die  eine  genau  so  viel  wert,  als  die  andere.  Beide 
werden  erst  zur  Wissenschaft,  wenn  sie  die  Form  zu  erklären  und  auf 
Gesetze  zurückzuführen  streben. 

Nach  imserer  eigenen  innigsten  Überzeugung  ist  der  Rückschlag, 
der  gegen  diese  ganz  einseitige  und  daher  beschränkte  Empirie  notwendig 
früher  oder  später  erfolgen  mußte,  bereits  tatsächlich  erfolgt,  wenn  auch 
zunächst  nur  in  wenigen  engen  Kreisen.  Die  lS5i)  von  Charles  Darwin 
veröffentlichte  Entdeckung  der  natürlichen  Zuchtwahl  im  Kampfe  ums 
Dasein,  eine  der  größten  Entdeckungen  des  menschlichen  Forschungs- 
triebes,  hat  mit  einem  Male  ein  so  gewaltiges  und  klärendes  Licht  in 
das  dunkle  Chaos  der  haufenweis  gesammelten  l)iologischen  Tatsachen 
geworfen,  daß  es  auch  den  krassesten  Empirikern  fernerhin,  wenn  sie 
überhaupt  mit  der  Wissenschaft  fortschreiten  wollen,  nicht  mehr  möglich 
sein  wird,  sich  der  daraus  emporwachsenden  neuen  Naturphilosophie  zu 
entziehen.  Indem  die  von  Darwin  neu  begründete  Deszendenztheorie 
die  ganze  gewaltige  Fülle  der  seither  empirisch  angehäuften  Tatsachen- 
massen  durch  einen  einzigen  genialen  Gedanken  erleuchtet,  die  schwierig- 
sten Probleme  der  Biologie  aus  dem  einen  obersten  Gesetze  der  ,,wirkenden 
Ursachen"  vollständig  erklärt,  die  unzusammenhängende  Masse  aller  bio- 
logischen Erscheinungen  auf  dieses  eine  einfache  große  Naturgesetz  zurück- 
führt, hat  sie  bereits  tatsächlich  die  bisher  ausschließlich  herrschende 
Empirie  völlig  überflügelt  und  einer  neuen  und  gesunden  Philosophie  die 
weiteste  und  fruchtbarste  Bahn  geöffnet.  Es  ist  eine  Hauptaufgabe  des 
vorhegenden  Werkes,  zu  zeigen,  wie  die  wichtigsten  Erscheinungsreihen 
der  Morphologie  sich  mit  Hülfe  derselben  vollständig  erklären  und  auf 
große  und  allgemeine  Naturgesetze  zurückführen  lassen. 

Wenn  wir  das  Resultat  dieses  flüchtigen  Überblickes  über  den  inneren 
Entwickelimgsgang  der  Morphologie  in  wenigen  Worten  zusammenfassen, 
so  können  wir  füglich  von  Beginn  des  achtzelinten  Jahrhunderts  an  bis 
jetzt  vier  abwechselnd  empirische  luid  philosophische  Perioden  der  Morpho- 
logie unterscheiden,  welche  durch  die  Namen  von  Linne,  Laraarck.  Cu- 
vier,  Darwin  bezeichnet  sind,  nämlich:    I.  Periode:  Linne  (geb.  1707). 


l\\  I.    Empirie  und  Philosoijhie.  19 

Erste  empirische  Periode  (achtzelintes  Jahrhundert).  Herrschaft  der 
empirischen  äußeren  Morphologie  (Systematik).  II.  Periode:  Lamarck 
(geb.  1744)  und  Goethe  (geb.  1741)j.^)  Erste  philosophische 
Periode  (erstes  Drittel  des  ueunzelmten  Jahrhmiderts).  Herrschaft 
der  phantastisch-pliilosoi)hischen  Morphologie  (ältere  Naturphilosophie). 
UI.  Periode:  Cuvier  (geb.  "1769). '^)  Zweite  empirische  Periode 
(zweites  Drittel  des  neunzehnten  Jahrhunderts).  Herrschaft  der  empirischen 
inneren  Morphologie  (Anatomie).  IV.  Periode:  Darwin  (geb.  1809). 
Zweite  philosophische  Periode.  Begonnen  1859.  Herrschaft  der 
empirisch-philosophischen  Morphologie  (neuere  Naturphilosopliie). 

Indem  wir  die  beiden  Richtungen  der  organischen  Morphologie,  die 
empirische  und  philosojjhische,  so  schroff  einander  gegenüberstellen, 
mftssen  wir  ausdrücklich  bemerken,  daß  nur  die  große  Masse  der 
beschränkteren  und  gröber  organisierten  Naturforscher  es  war,  welche 
diesen  Gegensatz  in  seiner  ganzen  Schärfe  ausbildete  und  entweder  die 
eine  oder  die  andere  Methode  als  die  allein  seligmachende  pries  und 
für  die  .,eigentnche"  Naturwissenschaft  hielt.  Die  imifassenderen  und 
feiner  organisierten  Natm-forscher,  imd  vor  allen  die  großen  Koryphäen, 
deren  Namen  wir  an  die  Spitze  der  von  ihnen  beherrschten  Perioden 
gestellt  haben,  Avaren  stets  mehr  oder  minder  überzeugt,  daß  nur  eine 
innige  Verbindung  von  Beobachtung  imd  Theorie,  von  Empirie  und  Philo- 
sophie, den  Fortschritt  der  Naturwissenschaft  wahrhaft  fördern  könnte. 
Man  pflegt  gewöhnlich  Cuvier  als  den  strengsten  und  exklusivsten  Em- 
piriker, als  den  abgesagtesten  Feind  jeder  Naturphilosophie  hinzustellen. 
Und  sind  nicht  seine  besten  Arbeiten,  seine  wertvollsten  Entdeckimgen. 
vde  z.  B.  die  AufsteUmig  der  vier  tierischen  T^-pen  (Stämme),  die  Begrün- 
dung des  Gesetzes  von  der  Korrelation  der  Teile,  von  den  ..Causes  finales". 
Ausflüsse  der  reinsten  Naturphilosophie?  Ist  nicht  die  von  ihm  neu 
begründete  „vergleichende  Anatomie"  ihrem  ganzen  Wesen  nach  eine 
rein  philosophische  Wissenschaft,  welche  das  empirische  Material  der 
Zootomie  bloß  als  Basis  braucht?  Ist  es  nicht  lediglich  der  Gedanke, 
die  Theorie,  welche  auf  der  rein  empirischen  Zootomie  als  notwendiger 
Grundlage  das  plülosophische  Lehrgebäude  der  vergleichenden  Anatomie 
errichten?  Und  wenn  Cuvier  aus  einem  einzigen  Zahne  oder  Knochen 
eines  fossilen  Tieres  die  ganze  Natur  und  systematische  Stellung  des- 
selben   mit    Sicherheit    erkannte,    war    dies    Beobachtung    oder    war    es 


1)  Wir  nennen  hier  absichtlicli  Lamarck  und  Goethe  als  die  geistvoUsten 
Repräsentanten  der  älteren  Naturphilosophie,  wenngleich  sie  sich  entfernt  nicht 
desselben  Einflusses  und  derselben  Anerkennimg  zu  erfreuen  hatten,  wie  Etienne 
Geoffroy  S.  Hilaire  (geb.  1771)  und  Lorenz  Oken  (geb.  1779),  die  gewöhn- 
lich als  die  Koryphäen  dieser  Richtung  vorangestellt  werden. 

-)  Als  hervorragende  Koryphäen  dieser  Periode  würden  wir  hier  noch  Jo- 
hannes Müller,  Schieiden  und  einige  andere  hervorzuheben  haben,  wenn  nicht 
gerade  diese  bedeutendsten  Männer,  als  wahrhaft  philosophische  Naturforscher, 
sich  von  der  großen  Einseitigkeit  freigeiialten  hätten,  welche  Cuviers  Schiüe 
und  der  große  Troß  der  Zeitgenossen  zum  extremsten  Empirismus  ausbildete. 


9  * 


20  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  IV. 

Reflexion?  Betrachten  wir  andererseits  den  Stifter  der  älteren  Natur- 
philosophie. Lamarck.  so  lirauchen  wir,  nm  den  Vorwurf  der  Einseitig- 
keit zu  widerlegen,  bloß  darauf  hinzuweisen,  daß  dieser  eminente  Mann 
seinen  Ruf  als  großer  Naturforscher  größtenteils  einem  vorwiegend  deskrip- 
tiven Werke,  der  berühmten  ..Histoire  naturelle  des  animaux  saus  ver- 
tebres"  verdankte.  Seine  ..Philosophie  zoologique".  Avelche  die  Deszen- 
denzlehre zum  ersten  Male  als  vollkommen  aljgerundete  Theorie  aufstellte, 
eilte  mit  ihrem  prophetischen  Gedankenfiuge  seiner  Zeit  so  voraiis,  daß 
sie  von  seinen  Zeitgenossen  gar  nicht  verstanden  und  ein  volles  halbes 
Jahrhundert  hindurch  (1809 — 1859}  totgeschwiegen  wurde.  Johannes 
Müller,  den  wir  Deutschen  mit  gerechtem  Stolz  als  den  größten  Bio- 
logen der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  unser  eigen  nennen, 
imd  der  in  den  Augen  der  meisten  jetzt  lebenden  Biologen  als  der 
strengste  Empiriker  und  Gegner  der  Naturphilosophie  gilt,  verdankt  die 
Fülle  seiner  zahlreichen  und  großen  Entdeckimgen  viel  weniger  seinem 
ausgezeichneten  sinnlichen  Beobachtungstalent,  als  seinem  kombinierenden 
Gedankenreichtum  und  der  natürlichen  Philosophie  seiner  wahrhaft  den- 
kenden Beobachtungsmethode.  Charles  Darwin,  der  größte  aller  jetzt 
lebenden  Naturforscher,  überragt  uns  alle  nicht  allein  durch  Ideenreich- 
tum und  Gedankenfülle  seines  die  ganze  organische  Natiu-  umfassenden 
Geistes,  sondern  ebensosehr  durch  die  intensiv  und  extensiv  gleichl)edeu- 
tende  und  fruchtbare  Methode  seiner  empirischen  Naturbeobachtung. 

Nach  luiserer  festesten  Überzeugmig  können  nur  diejenigen  Natur- 
forscher wahrhaft  fördernd  und  schaffend  in  den  Gang  der  Wissenschaft 
eingreifen,  welche,  bewußt  oder  imbewußt,  ebenso  scharfe  Denker  als 
sorgfältige  Beobachter  sind.  Niemals  kann  die  bloße  Entdeckimg  einer 
nackten  Tatsache,  und  wäre  sie  noch  so  merkwürdig,  einen  wahrhaften 
Fortschritt  in  der  Naturwissenschaft  herbeiführen,  sondern  stets  nur  der 
Gedanke,  die  Theorie,  welche  diese  Tatsache  erklärt,  sie  mit  den  ver- 
wandten Tatsachen  vergleichend  verbindet  und  daraus  ein  Gesetz  ab- 
leitet. Betrachten  Avir  die  größten  Naturforscher,  welche  zu  allen  Zeiten 
auf  dem  biologischen  Gebiete  tätig  gewesen  sind,  von  Aristoteles  an, 
Linne  und  Cuvier,  Lamarck  und  Goethe,  Bär  und  Johannes 
Müller  und  wie  die  Reihe  der  glänzenden  Sterne  erster  Größe,  bis  auf 
Charles  Darwin  herab,  weiter  heißt  —  sie  alle  sind  ebenso  große 
Denker,  als  Beobachter  gewesen,  und  sie  alle  verdanken  ihren  unsterb- 
lichen Ruhm  nicht  der  Summe  der  einzelnen  von  ihnen  entdeckten  Tat- 
sachen, sondern  ihrem  denkenden  Geiste,  der  diese  Tatsachen  in  Zu- 
sammenhang zu  I)ringen  und  daraus  Gesetze  abzuleiten  verstand.  Die 
rein  empirischen  Naturforscher,  welche  nur  durch  Entdeckung  neuer  Tat- 
sachen die  Wissenschaft  zu  fördern  glauben,  können  in  derselben  ebenso- 
wenig etwas  leisten,  als  die  rein  spekulativen  Philosophen,  welche  der 
Tatsachen  entbehren  zu  können  glauben  und  die  Natur  aus  ihren  Ge- 
danken konstruieren  wollen.  Diese  werden  zu  phantastischen  Träumern, 
jene  im  besten  Falle  zu  genauen  Kopiermaschinen  der  Natur.  Im  Grunde 
freilich  gestaltet  sich  das  tatsäclüiche  Verhältnis  überall  so,  daß  die 
reinen  Empiriker  sich  mit  einer  unvollständigen  und  unklaren,  ihnen 


lY^  II.    Analyse  iind  Synthese.  21 

selbst  nicht  bewußten  Philosophie,  die  reinen  Philosophen  dagegen 
mit  einer  ebensolchen,  unreinen  und  mangelhaften  Empirie  begnügen. 
Das  Ziel  der  Naturwissenschaft  ist  die  Herstelhmg  eines  vollkommen 
architektonisch  geordneten  Lehrgeljäudes.  Der  reine  Empiriker  bringt 
statt  dessen  einen  imgeordneten  Steinhaufen  zusammen;  der  reine  Philo- 
soph auf  der  andern  Seite  baut  Luftschlösser,  welche  der  erste  empiri- 
sche Windstoß  über  den  Haufen  wirft.  Jener  begnügt  sich  mit  dem 
Rohmaterial,  dieser  mit  dem  Plan  des  Gebäudes.  Aber  nur  durch 
die  innigste  Wechselwirkung  von  empirischer  Beobachtung 
und  philosophischer  Theorie  kann  das  Lehrgebäude  der  Natur- 
wissenschaft wirklich  zustande  kommen. 

Wir  schließen  diesen  Abschnitt,  wie  wir  ihn  begonnen,  mit  einem 
Ausspruch  von  Johannes  Müller:  „Die  Phantasie  ist  ein  unentbehr- 
liches Gut;  denn  sie  ist  es,  durch  welche  neue  Kombinationen  zm*  Ver- 
anlassung wichtiger  Entdeckungen  gemacht  werden.  Die  Kraft  der 
Unterscheidung  des  isolierenden  Verstandes  sowohl,  als  der 
erweiternden  und  zum  Allgemeinen  strebenden  Phantasie  sind 
dem  Naturforscher  in  einem  harmonischen  Wechselwirken  not- 
wendig. Durch  Störung  dieses  Gleichgewichts  wird  der  Naturforscher 
von  der  Phantasie  zu  Träumereien  hingerissen,  während  diese  Gabe  den 
talentvollen  Naturforscher  von  hinreichender  Verstandesstärke  zu  den 
wichtigsten  Entdeckungen  führt. "  ^) 


II.     Analyse  und  Synthese. 

„Ein  Jahrhundert,  das  sich  bloß  auf  die  Analyse  verlegt,  und 
sich  vor  der  Synthese  gleichsam  fürchtet,  ist  nicht  auf  dem  rechten 
Wege;  denn  nur  beide  zusammen,  wie  Aus-  und  Einatmen,  machen 
das  Leben  der  Wissenschaft.  —  Die  Hauptsache,  woran  man  bei 
ausschließlicher  Anwendung  der  Analyse  nicht  zu  denken  scheint, 
ist,  daß  jede  Analyse  eine  Synthese  voraussetzt.  —  Sondern  und 
Verknüpfen  sind  zwei  unzertrennliche  Lebensakte.  Vielleicht  ist  es 
besser  gesagt,  daß  es  unerläßlich  ist,  man  möge  wollen  oder  nicht, 
aus  dem  Ganzen  ins  Einzelne,  aus  dem  Einzelnen  ins  Ganze  zu 
gehen:  und  je  lebendiger  diese  Funktionen  des  Geistes,  wie  Aus- 
und  Einatmen,  sich  zusammen  verhalten,  desto  besser  wird  füi-  die 
Wissenschaften  und  ihre  Freunde  gesorgt  sein." 

Die  vorstehenden  Worte  von  Goethe  bezeichnen  das  notwendige 
Wechselverhältnis  zwischen  der  sondernden  Analyse  und  der  ver- 
knüpfenden Synthese  so  treffend,  daß  wir  mit  keinen  besseren  Wor- 
ten  die   folgende   Betrachtung    einleiten    konnten.     Wenn   wir    hier 


1)  Johannes  Müller.  Archiv  für  Anatomie  usw.  I.  Jahrgg.  1834.  ]).  4. 


22  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  JV. 

diese  wichtigen  gegenseitigen  Beziehungen  zwischen  der  analytischen 
und  synthetisclien,  der  auflösenden  und  zusammensetzenden  Natur- 
forschung kurz  einer  gesonderten  Betrachtung  unterzielien,  so  geschieht 
es  hauptsächlich,  weil  wir  die  vielfach  Aberkannte  notwendige  Wechsel- 
wirkung zwischen  diesen  wichtigen  Methoden  für  die  Morphologie 
besonders  eindringlich  hervorzuheben  wünschen,  und  weil  gerade 
im  gegenwärtigen  Zeitpunkte  eine  klare  Beleuchtung  dieses  Ver- 
hältnisses von  besonderer  Wichtigkeit  erscheint.  Da  die  analytische 
oder  sondernde  Methode  vorzugsweise  von  der  empirischen  Natur- 
beobachtung, die  synthetische  oder  verknüpfende  Methode  vorzugs- 
weise von  der  philosophischen  Naturbetrachtung  angewendet  wird, 
so  schließen  sich  die  folgenden  Bemerkungen  darüber  unmittelbar 
an  das  im  vorigen  Abschnitt  Gesagte  an.  Hiervon  ausgehend  wer- 
den wir  schon  im  voraus  sagen  können,  daß  ein  Grundfehler  der 
gegenwärtig  in  der  Biologie  herrschenden  Richtung  in  der  einseitigen 
Ausbildung  der  Analyse  und  in  der  übermäßigen  Vernachlässigung 
der  Synthese  liegen  wird.  Und  so  verhält  es  sich  auch  in  der  Tat, 
Auf  allen  Gebieten  der  organischen  Morphologie,  in  der  Organologie 
und  in  der  Histologie,  in  der  Entwicklungsgeschichte  der  Individuen 
und  in  derjenigen  der  Stämme,  ist  man  seit  langer  Zeit  fast  aus- 
schließlich analytisch  verfahren  und  hat  die  synthetische  Betrachtung 
eigentlich  nur  selten  und  in  so  geringer  Ausdehnung,  mit  so  über- 
triebener Scheu  angewendet,  daß  man  sich  ihrer  Fruchtbarkeit,  ja 
ihrer  Unentbehrlichkoit  gar  nicht  bewußt  geworden  ist.  Und  doch 
ist  es  die  Synthese,  durch  welche  die  Analyse  erst  ihren  wahren 
Wert  erhält,  und  durch  welche  wir  zu  einem  wirklichen  Verständ- 
nis des  durch  die  Analyse  uns  bekannt  gewordenen  Organismus 
gelangen. 

Bei  einem  Rückblicke  auf  die  beiden  empirischen  Perioden  der 
Morphologie,  die  wir  im  vorigen  Abschnitt  charakterisiert  haben, 
finden  wir,  daß  zwar  beide,  im  Gegensatz  zu  der  dazwischenliegen- 
den, vorzugsweise  der  Synthese  zugewandten  Periode  der  Naturphilo- 
sophie, vorwiegend  die  Analyse  kultivierten,  daß  aber  die  zweite 
empirische  Periode,  seit  Cuvier,  in  dieser  Beziehung  sich  noch  viel 
einseitiger  entwickelte,  als  die  erste  empirische  Periode,  seit  Linne. 
Denn  die  von  der  letzteren  fast  ausschließlich  betriebene  Unterschei- 
dung und  Beschreibung  der  äußeren  Körperformen  führte  immer 
zuletzt  zur  Systematik  hin,  welche  an  sich  schon  einen  gewissen 
Grad  von  synthetischer  Tätigkeit  erfordert,  wogegen  die  analytische 


IV.  ni.    Induktion  und  Deduktion.  23 

Untersuchung  und  Darstellung  der  inneren  Körperformeu ,  die 
..Anatomie"  im  engeren  Sinne,  welche  Cuviers  Nachfolger  vor- 
zugsweise beschäftigte,  der  Synthese  in  weit  höherem  Maße  ent- 
behren konnte.  Zwar  hatte  Cuvier  der  letzteren  das  hohe  Ziel 
gesteckt,  durch  Vergleichung  (und  das  ist  ja  eben  auch  Synthese) 
sich  zur  vergleichenden  Anatomie  zu  erheben;  indes  wurde  eine 
wahrhaft  philosophische  Vergleichung,  wie  Cuvier  selbst  und  Jo- 
hannes Müller  sie  so  fruchtbar  und  so  vielfach  geübt  hatten,  von 
der  Mehrzahl  ihrer  Nachfolger  so  selten  angewandt,  daß  die  meisten 
Ai'beiten,  welche  sich  „vergleichend  anatomisch"  nennen,  diesen 
Namen  nicht  verdienen.  Diese  einseitige  Ausbildung  der  Analyse, 
welche  sich  mit  der  Kenntnis  der  einzelnen  Teile  des  Organismus 
begnügt,  ohne  die  Erkenntnis  des  Ganzen  im  Auge  zu  behalten,  hat 
sich  in  den  letzten  drei  Dezennien  jährlich  in  zunehmender  Pro- 
gression gesteigert,  insbesondere  seitdem  jedermann  mit  dem  Mikro- 
skop anfing  „Entdeckungen"  zu  machen.  Eine  möglichst  vollständige 
histologische  Analyse  des  Körpers  wurde  bald  allgemein  das  höchste 
Ziel;  und  über  der  Beschreibung  und  Abbildung  der  einzelnen  Zellen- 
formen vergaß  man  völlig  den  ganzen  Organismus,  welchen  dieselben 
zusammensetzen. 

Nun  ist  zwar  nach  unserer  Ansicht  durch  Darwin,  welcher  die 
Synthese  wieder  im  großartigsten  Maßstabe  aufgenommen  und  mit 
dem  überwältigendsten  Erfolge  in  der  gesamten  organischen  Mor- 
phologie angewandt  hat,  deren  hohe  Bedeutung  so  sehr  zutage  ge- 
treten, daß  die  bisherige  einseitige  Analyse  sich  in  ihrer  exklusiven 
Richtung  nicht  fürder  wird  behaupten  können.  Indes  halten  wir  es 
doch  nicht  für  überflüssig,  die  äußerst  wichtige  Wechselbezie- 
hung zwischen  der  analytischen  Untersuchung  des  Ein- 
zelnen und  der  synthetischen  Betrachtung  des  Ganzen  hier 
nochmals  ausdrücklich  zu  betonen.  Allerdings  muß  die  erstere  der 
letzteren  vorausgehen,  aber  nur  als  die  erste  Stufe  der  Erkenntnis, 
welche  erst  mit  der  letzteren  ihren  wahren  Abschluß  erreicht. 


III.  IiKhiktioii  uud  Deduktion. 

..Die  allein  richtige  Methode  in  den  Naturwissenschaften  ist  die 
induktive.  Ihre  wesentliche  Eigentümlichkeit,  worin  eben  die 
Sicherheit  der  durch  sie  gewonnenen  Resultate  begründet  ist,  besteht 
darin,  daß  man  mit  Verwerfung  jeder  Hypothese  ohne  alle  Ausnahme 


24  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  lY. 

(z.  B.  der  Hypothese  einer  besonderen  Lebenskraft)  von  dem  unmittel- 
bar Gewissen  der  Wahrnehmung-  ausgeht,  durch  dieselbe  sich 
zur  Erfahrung  erhebt,  indem  man  die  einzelne  Wahrnehmung  mit 
dem  anderweit  schon  Festgestellten  in  Verbindung  setzt,  aus  Ver- 
gleichung  verwandter  Erfahrungen  durch  Induktion  bestimmt,  ob 
sie  unter  einem  Gesetze  und  unter  welchem  sie  stehen  und  so  fort, 
indem  man  mit  den  so  gefundenen  Gesetzen  ebenso  verfährt,  rück- 
wärts fortschreitet,  bis  man  bei  sich  selbst  genügenden,  mathemati- 
schen Axiomen  angekommen  ist."  Schi  ei  den  (Grundzüge  der 
wissenschaftlichen  Botanik.  §  3  Methodik). 

„Die  Methode  der  Untersuchung,  welche  uns  wegen  der  Unan- 
wendbarkeit  der  direkten  Methoden  der  Beobachtung  und  des  Experi- 
mentierens  als  die  Hauptquelle  unserer  Kenntnisse  die  wir  in  Be- 
ziehung auf  die  Bedingungen  und  Gesetze  der  Wiederkehr  der 
verwickeiteren  Naturerscheinungen  besitzen  oder  erlangen  können, 
übrig  bleibt,  wird  in  dem  allgemeinsten  Ausdruck  die  deduktive 
Methode  genannt.  —  Dieser  deduktiven  Methode  verdankt  der 
menschliche  Geist  seine  rühmlichsten  Triumphe  in  der  Erforschung 
der  Natur.  Ihr  verdanken  wir  alle  Theorien,  durch  welche  ausge- 
dehnte und  verwickelte  Naturerscheinungen  in  wenigen  Gesetzen  um- 
faßt werden,  und  die,  als  Gesetze  dieser  großen  Erscheinungen  be- 
trachtet, durch  direktes  Studium  nie  hätten  entdeckt  werden  können. 

,.Die  deduktive  Methode  besteht  aus  drei  Operationen: 
die  erste  ist  eine  direkte  Induktion,  die  zweite  eine  Folge- 
rung, die  dritte  eine  Bestätigung.  Ich  nenne  den  ersten  Schritt 
in  dem  Verfahren  eine  induktive  Operation,  weil  eine  direkte  Induk- 
tion als  die  Basis  des  Ganzen  vorhanden  sein  muß,  obgleich  in  vielen 
besonderen  Untersuchungen  die  Induktion  von  einer  früheren  Deduk- 
tion vertreten  werden  kann ;  die  Prämissen  dieser  früheren  Deduktion 
müssen  aber  von  einer  Induktion  abgeleitet  sein.  —  Die  Gesetze 
einer  jeden  besonderen  Ursache,  die  Anteil  an  der  Erzeugung  der 
Wirkung  nimmt,  zu  ermitteln,  ist  daher  das  erste  Erfordernis  (das 
erste  Stadium)  der  deduktiven  Methode:  —  der  zweite  Teil  (das 
zweite  Stadium)  derselben  ist  die  Bestimmung  aus  den  Gesetzen  der 
Ursachen,  welche  Wirkung  eine  gegebene  Kombination  dieser  Ur- 
sachen hervorbringen  wird.  Dies  ist  ein  Prozeß  der  Berechnung  in 
dem  weitesten  Sinne  des  Wortes  und  schließt  häufig  eine  Berechnung 
in  dem  engeren  Sinne  ein.  —  Den  dritten  wesentlichen  Bestandteil 
(das  dritte  Stadium)  der  deduktiven  Methode  und  ohne  welchen  alle 


jy  III.    Indiilvtioii  und  Deduktion.  25 

Resultate,  die  sie  gewähren  kann,  keinen  anderen  Wert  haben,  als 
den  einer  Vermutung,  bildet  die  Bestätigung  (Verifikation)  oder  Prol)e 
der  Folgerung.  Um  das  Vertrauen  auf  die  durch  Deduktion  erhaltenen 
allgemeinen  Schlüsse  zu  rechtfertigen,  müssen  diese  Schlüsse  bei 
einer  sorgfältigen  Vergieichung  mit  den  Resultaten  der  direkten  Be- 
obachtung, wo  man  sie  immer  haben  kann,  übereinstimmend  befunden 
werden."  John  Stuart  Mill  (Die  induktive  Logik.  Braunschweig, 
1849;  S.  180,  181,  187,  190). 

An  die  Spitze  dieses  Abschnittes,  welcher  die  höchst  wichtige 
und  notwendige  Wechselwirkung  der  induktiven  und  der 
deduktiven  Methode  erläutern  soll,  stellen  wir  die  Aussprüche 
zweier  ausgezeichneter  Männer,  von  denen  der  eine  als  „Natur- 
forscher", der  andere  als  „Philosoph"  die  größten  Verdienste  hat. 
Auf  den  ersten  Bhck  scheinen  sich  vielleicht  beide  geradezu  zu 
widersprechen.  Schieiden  preist  die  induktive,  Mill  die  deduktive 
Methode,  welche  diametral  von  der  ersteren  verschieden  zu  sein 
scheint,  als  die  „allein  richtige"  und  ausschließlich  zu  befolgende 
Methode  der  Naturwissenschaft.  Indessen  ergibt  eine  genauere  Be- 
trachtung ihrer  Erklärungen  alsbald,  daß  dieser  Gegensatz  nur  ein 
teilweiser,  nur  insofern  vorhanden  ist,  als  Schieiden  für  die  philo- 
sophische Naturwissenschaft  eine  engere,  Mill  eine  weitere  Grenze 
der  Schlußfolgerung  aus  der  Beobachtung  zieht.  Allerdings  will  der 
erstere  zunächst  nur  die  Induktion  gelten  lassen  und  schließt  die 
Deduktion  ganz  aus,  während  der  letztere  die  Induktion  ausdrücklich 
nur  als  eine  Voraussetzung,  als  das  notwendige  „erste  Stadium"  der 
Deduktion  gelten  läßt.  Nach  Schieiden  würde  die  Erfahrung  nur 
vom  Einzelnen  aus  in  das  Ganze,  vom  Besonderen  aus  in  das  All- 
gemeine gehen  und  nur  von  der  Wirkung  aus  auf  die  Ursache,  von 
der  Tatsache  aus  auf  das  Gesetz  schließen  dürfen.  Nach  Mill  da- 
gegen darf  die  Naturwissenschaft  nicht  auf  dieser  Stufe  stehen  bleiben, 
sondern  sie  darf  und  muß  auch  den  umgekehrten  Weg  der  Schluß- 
folgerung gehen;  sie  darf  und  muß  von  dem  Ganzen  auf  das  Einzelne, 
von  dem  Allgemeinen  auf  das  Besondere  schließen:  sie  darf  und  muß 
aus  der  Ursache  die  Wirkung,  aus  dem  Gesetze  die  Tatsache  folgern 
können. 

Die  hier  offen  zutage  tretende  tatsächliche  Differenz  über  die 
wichtigste  Methode  der  Naturforschung  zwischen  zwei  scharfsinnigen 
Männern,  die  beide  mit  tiefem  philosophischen  BKck  die  Geistes- 
operationen der  naturwissenschaftlichen  Schlußfolgerungen  untersucht 


26  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  IV. 

haben,  ist  deshalb  für  uns  von  hohem  Interesse,  weil  sie  uns  auf 
zwei  verschiedene  Denkweisen  unter  den  biologischen  Naturforschern 
hinweist,  die  gerade  jetzt  im  Begriffe  sind,  sich  mit  mehr  oder 
weniger  klarem  Bewußtsein  voneinander  zu  trennen  und  einseitig 
sich  gegenüberzutreten.  Es  kann  nämlich  keinem  Zweifel  unterliegen, 
daß  die  von  Schieiden  als  die  allein  richtige  Methode  gepriesene 
Induktion,  welche  damals  allerdings,  den  phantastischen  Träumereien 
und  den  unreifen  Deduktionen  der  früheren  Naturphilosophen  gegen- 
über, vollkommen  am  Platze  Avar,  durch  ihre  ausschließMche  Geltung 
sehr  viel  zu  der  einseitigen  „exakt-empirischen"  Richtung  beigetragen 
hat,  die  in  den  letzten  Dezennien  mehr  und  mehr  die  herrschende 
geworden  ist.  Indem  man  hier  immer  allgemeiner  nur  die  Induk- 
tion allein  als  die  ,,eigenthche"  Methode  der  Naturforschung  gelten 
ließ  und  die  Deduktion  völlig  ausschloß,  beraubte  man  sich  selbst 
des  fruchtbarsten  Denlqorozesses,  der  gerade  in  den  biologischen 
Disziplinen  zu  den  größten  Entdeckungen  führt.  Zum  wenigsten 
wollte  man  nichts  von  demselben  wissen,  wenngleich  man  unbewußt 
sich  desselben  häufig  und  mit  dem  größten  Erfolge  bediente.  Denn 
es  ist  nicht  schwer  nachzuweisen,  daß  die  wichtigsten  Entdeckungen, 
welche  in  dem  letztverflossenen  Zeitraum  gemacht  wurden,  und  ins- 
besondere die  allgemeineren  biologischen  Gesetze,  zu  denen  man 
gelangte,  zwar  durch  vorhergehende  und  höchst  wesentliche,  aber 
nicht  durch  ausschließliche  Hülfe  der  Induldion  gemacht  wurden,  daß 
vielmehr  fast  immer  die  der  Induktion  nachfolgende,  meist  unbewußte 
Deduktion  die  allgemeine  und  sichere  Geltung  der  Erfahrung  erst 
begründete. 

Wenn  die  Induktion  ausschließlich  in  dem  strengsten  Sinne,  wie 
Schieiden  will,  die  Methode  der  naturwissenschafthchen  Unter- 
suchung und  Schlußfolgerung  sein  und  bleiben  sollte,  so  würde  der 
Fortschritt  unserer  Erkenntnisse  und  ganz  besonders  der  Fortschritt 
in  der  Feststellung  allgemeiner  Gesetze  nur  ein  äußerst  langsamer 
und  allmählicher  sein:  ja,  wir  würden  sogar  zur  Aufstellung  der  all- 
gemeinsten und  wichtigsten  Naturgesetze  niemals  gelangen,  und  den 
allgemeinen  Zusammenhang  der  größten  und  umfassendsten  Erschei- 
nungsreihen  niemals  erkennen.  Zu  diesen  können  wir  immer  nur 
durch  deduktive  Verstandesoperationen  gelangen,  und  zwar  nur  durch 
reichliche  und  häufige,  allerdings  aber  auch  nur  durch  richtige  und 
sehr  vorsichtige  Anwendung  der  Deduktion. 

Induktion    und  Deduktion    stehen   nach  unserer  Ansicht  in 


IV.  III.    Induktion  und  Deduktion.  27 

der  innigsten  und  notwendigsten  Wechselwirkung,  in  ähnlicher  Weise, 
wie  es  Goethe  von  der  Analyse  und  Synthese  ausspricht:  „Nur 
beide  zusammen,  wie  Aus-  und  Einatmen,  machen  das  Leben  der 
Wissenschaft."  Mi  11  ist  sicher  im  vollkommensten  Rechte,  wenn  er 
der  Deduktion  die  größte  Zukunft  prophezeit  und  die  Induktion  vor- 
züglich nur  als  die  erste  Stufe,  als  das  erste  Stadium  der  Deduktion 
gelten  läßt.  Diese  Vorbedingung  ist  für  eine  richtige  Deduktion  aber 
auch  unerläßhch.  Entweder  muß  eine  direkte  Induktion  die  Basis 
der  ganzen  deduktiven  Operation  bilden,  oder  es  muß  statt  jener 
direkten  Induktion  eine  andere  Deduktion  zugrunde  liegen,  die  selbst 
wieder  direkt  oder  indirekt  durch  eine  Induktion  sicher  begründet  ist. 
Es  muß  also  in  allen  Fällen  —  und  dies  hervorzuheben  ist  sehr 
wichtig  —  eine  Induktion  die  Basis,  den  ersten  Schritt  des  ganzen 
Schlußverfahreus  bilden,  und  erst  auf  dieser  Basis  kann  sich  dann 
die  Deduktion  sicher  aufbauen. 

Es  wird  also  dadurch,  daß  man  die  deduktive  ]Methode  als  die 
wichtigste,  fruchtbarste  und  bedeutendste  der  naturwissenschaftlichen 
Forschung  hinstellt,  die  Bedeutung  der  induktiven  Methode  keineswegs 
geschmälert,  sondern  \aelmehr  nur  insofern  modifiziert,  als  sie  die 
notwendige  Basis,  die  unentbehrliche  Einleitung  der  ersteren  sein 
muß.  Wir  können  mithin  allgemein  aussprechen,  daß  die  Induktion 
die  erste,  unentbehrlichste  und  allgemeinste  Methode  der  Natur- 
forschung sein  muß,  daß  aber  die  letztere,  wenn  sie  zu  allgemeinen 
Gesetzen  gelangen,  diese  mit  Sicherheit  beweisen  und  den  fundamen- 
talen und  allgemeinen  Zusammenhang  der  Erscheinungen  erkennen 
will,  nicht  bei  der  Induktion  stehen  bleiben  darf,  sondern  sich  zur 
Deduktion  wenden  muß.  Die  Induktion  gelangt  durch  vergleichende 
Zusammenstellung  vieler  einzelner  verwandter  spezieller  Erfahrungen 
zur  Aufstellung  eines  allgemeinen  Gesetzes.  Die  Deduktion  folgert 
aus  diesem  generellen  Gesetze  eine  einzelne  spezielle  Tatsache.  Wird 
diese  letztere  nun  nachher  durch  die  Erfahrung  als  wirklich  erwiesen, 
so  war  die  deduktive  Folgerung  richtig,  und  durch  die  Probe  oder 
Verifikation,  welche  diese  nachträgliche  Erfahrung  liefert,  ist  das  Ge- 
setz bestätigt,  ist  die  allgemeine  Gültigkeit  des  Gesetzes  mit  weit 
größerer  Sicherheit  festgestellt,  als  es  durch  die  Induktion  jemals 
hätte  geschehen  können. 

Eine  klare  und  vollständige  Erkenntnis  von  dem  Wesen  dieser 
beiden  wichtigsten  Verstandes-Operationen,  eine  vollkommene  Über- 
zeugung von  der  Notwendigkeit  ihrer  präzisen  Anwendung  und  eine 


28  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  IV. 

richtige  Auffassung  des  innigen  gegenseitigen  Wechselverliältnisses.  in 
welchem  Induktion  und  Deduktion  zueinander  stellen,  halten  wir  für 
äußerst  wichtig,  und  für  einen  jeden  Natm-forscher,  der  die  Mittel 
zur  Lösung  seiner  Aufgabe  klar  erkennen  und  sein  Ziel  mit  Bewußt- 
sein verfolgen  will,  ganz  unerläßhch.  Wenn  die  meisten  Naturforscher 
gegenwärtig  von  diesen  Methoden  sowie  überhaupt  von  einer  streng 
philosophischen  Behandlung  ihrer  Aufgabe  nichts  wissen  und  leider 
auch  meist  nichts  wissen  wollen,  so  ist  es  ihr  eigener  schlimmer 
Nachteil.  Denn  tatsächlich  können  sie  diese  beiden  wichtigsten 
Geistesoperationen  des  Naturforschers  nirgends  entbehren,  und  tat- 
sächlich bedienen  sie  sich  derselben  fortwährend,  wenn  auch  ganz 
unbewußt,  und  daher  meist  unvollständig.  Induktive  und  deduktive 
Methode  sind  keineswegs,  wie  viele  meinen,  besondere  Erfindungen 
der  Philosophen,  sondern  es  sind  natürliche  Operationen  des  mensch- 
lichen Geistes,  welche  wir  überall  und  allgemein,  wenn  auch  meist 
unklar,  unvollständig  und  unbewußt  anwenden.  Wenn  aber  die 
wissenschaftliche  Anwendung  der  Induktion  und  Deduktion  mit  Be- 
wußtsein erfolgt,  wenn  sich  der  Naturforscher  der  Bedeutung  und 
des  Nutzens,  der  Tragweite  und  der  Gefahren  dieser  Methoden  be- 
wußt ist,  so  kann  er  sich  derselben  mit  weit  größerem  Erfolge  und 
mit  weit  vollkommenerer  Sicherheit  bedienen,  als  wenn  er  sie  unklar, 
unbewußt  und  daher  unvollständig  und  unvorsichtig  anwendet.  Jeder 
Wanderer,  der  auf  verwickelten  Wegen,  durch  Wald  und  Feld,  über 
Berg  und  Tal,  sein  Wanderziel  verfolgt,  erreicht  dasselbe  rascher  und 
sicherer,  mit  weniger  Gefahr  des  Irrtums  und  mit  geringerem  Zeit- 
aufwand, wenn  er  die  Wege  kennt,  als  wenn  sie  ihm  unbekannt 
sind.  Methoden,  und  zwar  ganz  vorzüglich  die  philosophischen 
Methoden  der  Naturwissenschaft,  sind  aber  nichts  anderes  als  Wege 
der  Forschung,  und  wer  diese  Wege  genau  kennt  und  mit  sicherem 
Bewußtsein  verfolgt,  wird  sein  wissenschaftliches  Ziel  ohne  Zweifel 
immer  besser  und  schneller  erreichen,  als  derjenige,  dem  diese 
Kenntnis  der  richtigen  Wege  fehlt. 

Obwohl  Induktion  und  Deduktion  zweifelsohne  die  wichtigsten  psy- 
chischen Funktionen  des  erkennenden  Menschen,  und  vor  allem  des  am 
tiefsten  und  gründlichsten  erkennenden  Menschen,  d.  h.  des  Natur- 
forschers, sind,  so  mangelt  es  dennoch  gänzlich  an  einer  gründlichen 
psychologischen  Erläuterung  derselben.  Freilich  geht  es  hier  diesen 
beiden  Methoden  nicht  viel  schlechter,  als  vielen  anderen  wichtigen 
Denkprozessen.  Auf  eine  wahrhaft  natürliche,  d.  h.  genetische  Erklä- 
runs;    derselben    werden    wir   erst    dann  hoffen  kihmen.    wenn  ein  natur- 


JY_  III.    Induktion  und  Deduktion.  29 

wissenschaftlich  imd  namentlich  biologisch  gebildeter  Philosoph,  d.  h.  ein 
an  klares  strenges  Denken  gewöhnter  Naturforscher  (eine  seltene  Er- 
scheinung!), endlich  einmal  eine  vergleichende  Psychologie  schaffen  wird, 
d.  h.  eine  Seelenlehre,  welche  die  gesamten  psychischen  Funktionen 
durch  die  ganze  Tierreihe  und  namentlich  durch  die  Stufenleiter  des 
Wirbeltierstammes  hindurch  verfolgt  und  die  allmähliche  Differenziervmg 
derselben  bis  zu  ihrer  höchsten  Blüte  im  Menschen  nachweist.  Da  die- 
jenigen Funktionen  des  Zentralnervensystems,  welche  man  unter  dem 
Namen  des  „Seelenlebens"  zusammenfaßt,  durchaus  nach  denselben  Ge- 
setzen entstehen  und  sich  entwickeln,  durchaus  in  gleicher  Weise  an 
die  sich  differenzierenden  Organe  gebunden  sind,  wie  die  übrigen  soma- 
tischen Funktionen,  so  können  wir  zu  einer  richtigen  Erkenntnis  der- 
selben (die  einen  Teil  der  Physiologie  bildet)  auch  nur  auf  dem  gleichen 
Wege  wie  bei  den  letzteren  gelangen,  d.  h.  auf  dem  vergleichenden 
und  dem  genetischen  Wege.  Nur  allein  die  Vergleichung  der  ver- 
schiedenen Entwickelungsstufen  des  Seelenlebens  bei  unseren  Verwandten, 
den  übrigen  Wirbeltieren,  das  Studium  der  allmählichen  Entwickelung 
desselben  von  frühester  Jugend  an  bei  allen  Vertebraten,  imd  die  Her- 
stellimg  der  vollständigen  Stufenleiter  von  allmählichen  Übergangsformen, 
welche  das  Seelenleben  von  den  niederen  zu  den  höheren  Wirbeltieren, 
mid  insbesondere  von  den  niedersten  Säugetieren  an  bis  zu  den  höch- 
sten, von  den  Beuteltieren  durch  die  Keihe  der  Halbaffen  und  Affen 
hindurch  bis  zum  Menschen  darstellt  —  nur  allein  diese  auf  dem  ver- 
gleichenden und  genetischen  Wege  erlangten  psychologischen  Erkennt- 
nisse werden  ims  das  volle  Verständnis  miseres  eigenen  Seelenlebens 
eröffnen  und  uns  die  bewimdernswürdig  weitgehende  Differenzierung  der 
psychischen  Funktionen  erkennen  lassen,  welche  mis  vor  allen  andern 
Wirbeltieren  auszeichnet. 

Daß  die  induktive  mid  deduktive  Geistesoperation  bei  den  uns 
nächstverwandten  Wirbeltieren  überall  nach  denselben  Gesetzen  und  in 
derselben  Weise,  wie  bei  ims  selbst,  zustande  kommt  imd  angewendet 
wird,  und  daß  hier  nur  quantitative,  keine  c^ualitativen  Differenzen  sich 
finden,  lehrt  jede  nur  einigermaßen  imbefangene  und  sorgfältige  Beob- 
achtung, z.  B.  schon  bei  den  uns  am  meisten  umgebenden  Haustieren. 
Auch  hier  gehören  induktive  und  deduktive  Erkenntnisse  zu  den  all- 
gemeinsten und  wichtigsten  psychischen  Prozessen.  Wenn  z.  B.  Jagd- 
himde,  wie  bekannt,  in  die  tödlichste  Angst  geraten,  sobald  der  Jäger 
das  Schießgewehr  auf  sie  anlegt,  so  ist  diese  Erregimg  die  Folge  eines 
vollständigen  induktiven  und  deduktiven  Denkprozesses.  Dm'ch  zahl- 
reiche einzelne  Erfahrungen  haben  sie  die  tödliche  Wirkung  des  Schieß- 
geAvehrs  kennen  gelernt.  Sie  schließen  daraus,  daß  diese  Wirkung  stets 
eintritt,  sobald  das  Gewehr  auf  ein  lebendes  Wesen  gerichtet  wird.  Aus 
diesem  als  allgemein  erkannten  Gesetze  folgern  sie,  daß  in  diesem  spe- 
ziellen Falle  dieselbe  Wirkung  eintreten  werde,  und  wenn  der  Jäger  mm 
Avirklich  auf  sie  schösse,  so  hätten  sie  den  vollständigen  Beweis  von  der 
Richtigkeit  ihres  deduktiven  Sclilusses  erhalten.  Auf  dieselben  psychi- 
schen Operationen  gründet   sich  auch  die  gesamte  Erziehung  der  Haus- 


30  Methodik  der  Morpliologie  der  Orgunisiiien.  IV. 

tiere.  wie  der  Menschenkinder,  mittels  der  gebräuchlichsten  und  allge- 
meinsten Erziehungsmittel,  der  Schläge.  Ein  Pferd  z.  B.  macht  in 
zahlreichen  einzelnen  Fällen  die  Erfahrung,  daß  mit  einem  bestimmten 
Zurufe  des  Kutschers  Schläge  verbunden  sind,  die  aufhören,  sobald  es 
sich  in  Trab  setzt.  Es  folgert  daraus  durch  Induktion  das  Gesetz  (die 
Erzielumgsmaxime),  daß  diese  Schläge  konstant  und  allgemein  mit  dem 
Zurufe  A'erbunden  sind,  und  setzt  sich,  um  jene  zu  vermeiden,  späterhin 
sofort  von  selbst  in  Trab,  sobald  der  Zuruf  ertönt.  Das  Pferd  schließt 
hier  in  jedem  einzelnen  Falle  durch  Deduktion  zurück,  daß  auf  den  Zu- 
ruf die  Schläge  erfolgen  werden,  und  wenn  sie  wirldich  erfolgen,  so  war 
die  Verifikation  seiner  Deduktion  geliefert. 


Viertes  Kapitel:  Zweite  Hälfte. 

Kritik  der  naturwissenschaftlichen  Methoden,   welche  sich 
gegenseitig"  notwendig  ausschließen  müssen. 

IT.  Dog:iuatik  und  Kritik. 

„In  aller  Bearbeitung  der  Wissenschaften  treten  sich  stets  zwei 
Methoden  als  unmittelbare  Gegensätze  gegenüber.  Einerseits  ist  es 
die  dogmatische  Behandlung,  die  schon  alles  weiß,  der  mit  ihrem 
augenblicklichen  Standpunkt  die  Geschichte  ein  Ende  erreiclit  hat. 
die  ihre  Weisheit  wohlverteilt  und  wohlgeordnet  vorträgt  und  von 
ihren  Schülern  keinen  andern  Bestimmungsgrnnd  zur  Annahme  des 
Gehörten  fordert,  als  das  auxo;  I97..  Dieser  in  ihrem  ganzen  Wesen 
falschen  Weise  tritt  nun  die  andere  entgegen,  die  wir  für  die  reine 
Philosophie  die  kritische,  für  die  angewandte  Philosophie  und  für 
die  Naturwissenschaften  die  induktorische  Methode  nennen;  die  sich 
bescheidet,  noch  wenig  zu  wissen;  die  ihren  Standpunkt  von  vorn- 
herein nur  als  eine  Stufe  in  der  Geschichte  der  Menschheit  ansieht, 
über  welche  hinaus  es  noch  viele  folgende  und  höhere  gibt,  die 
aber  freilicli  nur  als  ihr  folgende  angesehen  werden  können,  und 
die  ihre  Schüler  auffordert,  sie  zu  begleiten  und  unter  ihrer  An- 
leitung im  eigenen  Geist  und  in  der  Natur  zu  suchen  und  zu  finden." 
Schieiden  (Grundzüge  der  wissensch.  Botanik,  III.  Aufl.  p.  4). 

Obgleich  es  wohl  nach  dem  vorstehenden  Ausspruche  Schlei- 
dens,  der  den  Gegensatz  zwischen  kritischer  und  dogmatischer 
Methode  scharf  charakterisiert,  scheinen  könnte,  als  ob  die  kritische 
Methode  mit   dei-   im  vorigen  Abschnitte  erläuterten  induktiven  Me- 


IY_  IV.    Dogmatik  und  Kritik.  31 

thode  identisch  sei,  so  glauben  wir  doch,  daß  man  richtiger  die 
letztere  nur  als  einen  Inhaltsteil  der  ersteren,  als  eine  ihr  subordi- 
nierte Methode  auffaßt.  Der  Umfang  des  Begriffs  der  „Kritik"  ist 
weiter  als  derjenige  der  „Induktion",  und  nach  unserer  Überzeugung 
muß  auch  die  Deduktion,  welche  doch  von  der  Induktion  wesentlich 
verschieden  und  ihr  gewissermaßen  entgegengesetzt  ist  (indem  sie 
umgekehrt  verfährt),  stets  nicht  minder  „kritisch"  zu  Werke  gehen, 
als  die  Induktion  selbst.  Wir  halten  es  daher  nicht  für  überflüssig, 
die  Bedeutung  der  kritischen  Forschungsmethode  hier  noch  beson- 
ders zu  erörtern:  um  so  mehr,  als  einerseits  wir  im  vorigen  Ab- 
schnitt die  Induktion  nur  im  Gegensatz  zur  Deduktion  (und  nicht 
zur  Dogmatik)  besprochen  haben,  andererseits  aber  die  nur  allzu 
häufige  Vernachlässigung  der  kritischen  Methode  den  biologischen 
Naturwissenschaften  und  ganz  besonders  den  verschiedenen  Zweigen 
der  organischen  Morphologie  offenbar  geschadet  hat. 

Denn  wenn  man  die  vielen  grundverschiedenen  Ansichten  über- 
blickt und  vergleicht,  welche  von  den  verschiedenen  Morphologen 
zur  Erklärung  sowohl  zahlloser  Einzelerscheinungen  als  auch  größerer 
Erscheinungsreihen  auf  dem  botanischen  und  zoologischen  Gebiete 
aufgestellt  worden  sind,  so  erkennt  man  bald,  daß  nicht  bloß  die 
Schwierigkeit  des  höchst  verwickelten  Gegenstandes  selbst,  sondern 
mehr  noch  Mangel  an  allgemeinem  Überblick  und  vor  allem  Mangel 
an  Kritik  diese  grellen  und  seltsamen  Widersprüche  bedingt.  Statt 
umsichtiger  und  auf  breite  induktive  Basis  wohlbegründeter  Theo- 
rien treffen  wir  vielmehr  fast  allenthalben  höchst  vage  Hypothesen 
von  durchaus  dogmatischem  Charakter  an;  ja  bei  aufrichtiger  Prü- 
fung des  gegenwärtigen  Zustandes  unserer  Wissenschaft  müssen  wir 
zu  uuserm  Leidwesen  gestehen,  daß  überall  in  derselben  die  dogma- 
tische Richtung  noch  weit  die  ki'itische  überwiegt. 

Leider  ist  dieser  höchst  schädliche  Mangel  an  Kritik  so  all- 
gemein und  hat  insbesondere  in  den  letzten  Dezennien,  gleichzeitig 
und  in  gleichem  Schritt  mit  dem  extensiven  Wachstum  und  der  da- 
mit verbundenen  Verflachung  der  organischen  Morphologie,  so  sehr 
zugenommen,  daß  wir  kein  einzelnes  Beispiel  anzuführen  und  den 
unparteiischen  Leser  bloß  zu  ersuchen  brauchen,  einen  Blick  in  eine 
beliebige  Zeitschrift  für  „wissenschaftliche"  Zoologie  oder  Botanik 
zu  werfen,  um  sich  von  dem  dogmatischen  und  kritiklosen  Charakter 
der  meisten  Arbeiten  zu  überzeugen.  Nirgends  aber  tritt  dieser 
Charakter  so   nackt  und  abschreckend  zutage,   als  in  der  Mehrzahl 


32  3Iethodik  der  Morphologie  der  Organismen.  IV_ 

derjenigen  Schritten,  welche  die  Speziesfrage  behandehi.  und  ins- 
besondere in  denjenigen,  welche  die  Deszendenztheorie  zu  bekämpfen 
suchen.  Daß  gerade  in  dieser  hochwichtigen  allgemeinen  Frage  die 
gänzlich  dogmatische  und  kritiklose  Richtung  der  organischen  Mor- 
phologie in  ihrer  ganzen  Blöße  und  Schwäche  auftritt,  kann  freilich 
niemanden  überraschen,  der  durch  eigene  systematische  Studien  sich 
einen  Begriff  von  dem  außerordentlichen  Gewicht  dieser  allgemeinen 
Frage  gebildet  und  dabei  die  Überzeugung  gewonnen  hat.  daß  hier 
ein  einziges  kolossales  Dogma  die  gesamte  Wissenschaft  nach  Art 
des  drückendsten  Absolutismus  beherrscht.  Denn  nur  als  ein 
kolossales  Dogma,  welches  ebenso  durch  hohes  Alter  ge- 
heiligt, und  durch  blinden  Autoritätenglauben  mächtig, 
wie  in  seinen  Prämissen  haltlos  und  in  seinen  Konsequen- 
zen sinnlos  ist,  müssen  wir  hier  offen  die  gegenwärtig 
immer  noch  herrschende  Ansicht  bezeichnen,  daß  die  Spe- 
zies oder  Art  konstant  und  eine  für  sich  selbständig  er- 
schaffene Form  der  Organisation  ist. 

„Immerfort  wiederholte  Phrasen  verknöchern  sich  zuletzt  zur 
Überzeugung  und  verstumpfen  völlig  die  Organe  des  Anschauens." 
Dieses  goldene  Wort  Goethes  findet  nirgends  in  höherem  Grade 
Geltung,  als  in  dieser  Frage.  In  der  Tat,  wenn  man  mit  kritischer 
Vorurteilslosigkeit  unbefangen  alle  Voraussetzungen  erwägt,  auf 
welche  die  Anhänger  des  Speziesdogma  sich  stützen,  und  die  Folge- 
rungen zieht,  welche  notwendig  aus  demselben  gezogen  werden 
müssen,  so  begreift  man  nur  durch  Annahme  „einer  völligen  Ver- 
stumpf ung  der  Organe  des  Anschauens",  wie  dieses  in  sich  hohle 
und  widerspruchsvolle  Dogma  130  Jahre  hindurch  fast  unangefochten 
bestehen,  und  wie  dasselbe  nicht  allein  die  Masse  der  gedanken- 
losen Naturbeobachter,  sondern  auch  die  besten  und  denkendsten 
Köpfe  der  Wissenschaft  beherrschen  konnte.  Seltsames  Schauspiel! 
Einem  Götzen  gleich  steht  allmächtig  und  allbeherrschend  dieses 
paradoxe  Dogma  da,  welches  nichts  erklärt  und  nichts  nützt,  und 
welches  zu  der  Gesamtheit  aller  allgemeinen  biologischen  Erscheinungs- 
reihen sich  im  entschiedensten  Widerspruche  befindet.  Während 
alle  einzelnen  größeren  und  kleineren  Tatsachenreihen,  welche  auf 
dem  Gebiete  der  Biologie  und  namentlich  der  Morphologie  seit 
mehr  als  hundert  Jahren  sich  so  massenhaft  angehäuft  haben,  über- 
einstimmend und  gleichsam  spontan  zu  dem  großen  Resultate  hinleiten, 
daß   die   unendliche  Mannigfaltigkeit   der  Tier-   und  Pflanzenfonnen 


1V_  Y.    Teleologie  und  Kausalität.  33 

die  reich  differenzierte  Nachkommenschaft  einiger  weniger  einfacher 
gemeinsamer  Stammformen  sei,  während  alle  anatomischen  nnd 
embryologischen,  alle  paläontologischen  und  geologischen  Data  ebenso 
einfach  als  notwendig  anf  dieses  gewaltige  Resultat  hinarbeiten, 
bleibt  die  entgegengesetzte,  rein  dogmatische  und  durch  keine  Tat- 
sachen gestützte  Ansicht  über  ein  Jahrhundert  lang  allgemein  herr- 
schend!    Credunt.  quia  absurdum  est! 

In  Wahrheit  ist  diese  Betrachtung  für  die  Geschichte  der 
Wissenschaft  von  hohem  Interesse,  und  keine  andere  kann  uns  in 
so  hohem  Grade  vor  den  Gefahren  und  Nachteilen  einer  dogma- 
tischen und  lediglich  durch  die  Autorität  gestützten  Anschauungs- 
weise warnen,  und  so  nachdrücklich  auf  die  Notwendigkeit  einer 
strengen  kritischen  Untersuchungsmethode  hinweisen.  Wären  die 
Morphologen  nur  mit  etwas  mehr  Kritik  verfahren  und  hätten  sie  die 
Autorität  des  Speziesdogma  nur  etwas  weniger  gefürchtet,  so  hätte 
dasselbe  schon  längst  in  sich  zusammenstürzen  müssen.  Und  wie- 
viel  weiter  wären  wir  dadurch  gekommen!  So  aber  bewährt  sich 
auch  hier  wieder  der  alte  Spruch  von  Goethe:  „Die  Autorität  ver- 
ewigt im  einzelnen,  was  einzeln  vorübergehen  sollte,  lehnt  ab  und 
läßt  vorübergehen,  was  festgehalten  werden  sollte,  und  ist  haupt- 
sächlich Ursache,  daß  die  Menschheit  nicht  vom  Flecke  kommt." 


T.  Teleologie  und  Kausalität. 

(Vitalismus  und  Mechanismus.) 

..Ein  mechanisches  Kunstwerk  ist  hervorgebracht  nach  einer 
dem  Künstler  vorschwebenden  Idee,  dem  Zwecke  seiner  Wirkung. 
Eine  Idee  liegt  auch  jedem  Organismus  zugrunde,  und  nach  dieser 
Idee  werden  aUe  Organe  zweckmäßig  organisiert;  aber  diese  Idee 
ist  außer  der  Maschine,  dagegen  in  dem  Organismus,  und  hier 
schafft  sie  mit  Notwendigkeit  und  ohne  Absicht.  Denn  die 
zweckmäßig  wirkende  wirksame  Ursache  der  organischen  Körper 
hat  keinerlei  Wahl,  und  die  Verwirklichung  eines  einzigen  Plans  ist 
ihre  Notwendigkeit:  vielmehr  ist  zweckmäßig  wirken  und 
notwendig  wirken  in  dieser  wirksamen  Ursache  ein  und 
dasselbe.  Man  darf  daher  die  organisierende  Kraft  nicht  mit 
etwas  dem  Geistesbewußtsein  Analogen,  man  darf  ihre  blinde  not- 
wendige Tätigkeit  mit  keinem  Begriffbilden  vergleichen.  Organismus 
ist  die  faktische  Einheit  von  organischer  Schöpfungskraft  und  organi- 

H  a  e  c  k  e  1 ,  Prinz,  d.  Morphol.  '  3 


34  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  IV. 

scher  Materie."  Johannes  Müller  (Handbuch  der  Physiologie  des 
Menschen,  I,  S.  23;  11,  S.  505). 

Indem  wir  in  die  Untersuchung  des  äußerst  wichtigen  Gegen- 
satzes zwischen  der  teleologischen  oder  vitalistischen  und  der  mecha- 
nischen oder  kausalistischen  Naturbetrachtung  eintreten,  schicken 
wir  einen  Ausspruch  Johannes  Müllers  voraus,  der  für  das 
Wesen  dieses  Gegensatzes  sehr  charakteristisch  ist.  Johannes 
Müller,  den  wir  als  den  größten  Physiologen  und  Morphologen  der 
ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  verehren,  war  bekanntlich  seiner 
innersten  Überzeugung  nach  Vitalist,  trotzdem  er  mehr  als  irgend- 
ein anderer  Physiolog  vor  ihm  für  den  Durchbruch  der  mechani- 
schen Richtung  in  der  Physiologie  getan  und  in  einer  Reihe  der 
glänzendsten  und  vorzüghchsten  Arbeiten  auf  allen  einzelnen  physi- 
ologischen Gebietsteilen  die  alleinige  Anwendbarkeit  der  mechani- 
schen Methode  bewiesen  hatte.  Es  begegnete  ihm  nur  bisweilen, 
wie  auch  anderen  in  diesem  dualistischen  Zwiespalt  befangenen 
Naturforschern,  daß  er  auch  in  seinen  allgemeinen  Aussprüchen, 
die  doch  eigentlich  von  vitalistischen  Grundlagen  ausgingen,  sich 
von  der  allein  richtigen  mechanischen  Beurteilungsweise  auch  der 
organischen  Naturköiper  fortreißen  ließ.  Und  als  ein  solcher  Aus- 
spruch ist  die  obige  Stelle,  durch  welche  er  seine  Betrachtungen 
über  das  Seelenleben  einleitet,  von  besonderem  Interesse. 

Denn  was  ist  eine  in  jedem  Organismus  liegende  „Idee,  welche 
mit  Notwendigkeit  und  ohne  Absicht  wirkt",  anders,  als  die 
mit  dem  materiellen  Substrate  des  Organismus  unzertrennlich  ver- 
bundene Kraft,  welche  „mit  Notwendigkeit  und  ohne  Absicht"  sämt- 
liche biologische  Erscheinungen  bedingt?  Wenn,  wie  Müller  sagt, 
zweckmäßig  wirken  und  notwendig  wirken  in  dieser  wirksamen  Ur- 
sache im  Organismus  eins  und  dasselbe  ist,  so  fällt  die  zweck- 
tätige Causa  finalis  mit  der  mechanischen  Causa  efficiens  zu- 
sammen, so  gibt  die  erstere  sich  selbst  auf,  um  sich  der  letzteren 
unterzuordnen,  so  ist  die  mechanische  Auffassung  der  Organismen 
als  die  allein  richtige  anerkannt. 

Wir  haben  absichtlich  das  Beispiel  Johannes  Müllers  ge- 
wählt, um  diesen  inneren  Widerspruch  der  teleologischen  Naturbe- 
trachtung zu  zeigen,  einerseits  weil  dieser  unser  großer  Meister,  der 
so  erhaben  über  der  großen  Mehrzahl  der  heutigen  Physiologen  und 
Morphologen  dasteht,  von  vielen  schwächeren  Geistern  als  Autorität 
zugunsten   der  Teleologie  angerufen   wird,  andererseits   weil  an  ihm 


IV.  V.    Teleologie  und  Kausalität.  35 

sich  dieser  innere  Widersprucli  recht  auffallend  offenbart.  Wer  sein 
klassisches  ..Handbuch  der  Physiologie  des  Menschen"  studiert  hat, 
wer  seine  bahnbrechenden  mechanischen  Untersuchungen  über  die 
Physiologie  der  Stimme  und  Sprache,  des  Gesichtssinns  und  des 
Nervensystems  usw.  kennen  gelernt  hat,  der  wird  von  der  allein 
möglichen  Anwendung  der  kausal  -  mechanischen  Untersuchungs- 
methode des  Organismus  aufs  tiefste  durchdrungen  sein;  und  er 
wird  sich  in  dieser  Überzeugung  durch  die  vitalistisch-teleologischen 
Irrtümer,  welche  mit  Müllers  allgemein  biologischen  Bemerkungen 
verwebt  sind,  und  welche  bei  schärferer  Betrachtung  zu  unlösbaren 
Widersprüchen  führen,  nicht  irre  machen  lassen.  Wie  du  Bois- 
Reymond  treffend  bemerkt,  „tritt  bei  Johannes  Müller  dieser 
Irrtum  aus  dem  Nebel  vitalistischer  Träumereien  klar  und  scharf 
hervor,  mit  Hand  und  Fuß,  Fleisch  und  Bein  zum  Angriff  bietend. 
Muß,  wie  aus  Müllers  Betrachtungen  folgt,  die  Lebenskraft  gedacht 
werden  als  ohne  bestimmten  Sitz,  als  teilbar  in  unendlich  viele  dem 
Ganzen  gleichwertige  Bruchteile,  als  im  Tode  oder  Scheintode  ohne 
Wirkung  verschwindend,  als  mit  Bewußtsein  und  im  Besitze  physi- 
kalischer und  chemischer  Kenntnisse  nach  einem  Plane  handelnd, 
so  ist  es  so  gut,  als  ob  man  sagte:  es  gibt  keine  Lebenskraft; 
der  apogogische  Beweis  für  die  andere  Behauptung  ist  geführt." 

Es  könnte  wohl  manchem  überflüssig  erscheinen,  hier  die  ab- 
solute Verwerflichkeit  der  vitalistisch-teleologischen  Naturbetrachtung 
und  die  alleinige  Anwendbarkeit  der  mechanisch-kausalistischen  über- 
haupt noch  hervorzuheben.  Denn  in  den  allermeisten  naturwissen- 
schaftlichen Disziplinen,  vor  allem  in  der  gesamten  Physik  und 
Chemie,  ferner  auch  in  der  Morphologie  der  Anorgane  (Kristallo- 
graphie usw.).  wie  überhaupt  in  der  gesamten  Abiologie  ist  infolge 
der  enormen  Erkenntnisfortschritte  unseres  Jahrhunderts  jede  teleo- 
logische und  \italistische  Betrachtungsweise  so  vollständig  verdrängt 
worden,  daß  sie  sich  mit  Ehren  nicht  mehr  sehen  lassen  kann. 
Dasselbe  gilt  von  der  Physiologie,  in  welcher  jetzt  die  mechanisch- 
kausale Methode  die  Alleinherrschaft  gewonnen  hat;  nur  derjenige 
gänzlich  unkultivierte  Teil  der  Physiologie  des  Zentralnervensystems, 
welcher  das  Seelenleben  behandelt  und  künftig  einmal  als  empiri- 
sche Psychologie  die  Grundlage  der  gesamten  ., reinen  Philosophie" 
werden  wird,  liegt  noch  gänzlich  außerhalb  dieses  Fortschrittes  und 
ist  noch  gegenwärtig  ein  Tummelplatz  der  willkürlichsten  vitalisti- 
schen  und  teleologischen  Träumereien.    Leider  müssen  wir  nun  das- 

'd* 


36  jMethoclik  der  ]\Ioipliologie  der  Organismen.  Y\\ 

selbe,  was  von  der  Physiologie  der  Psyche  gilt,  auch  von  der  ge- 
samten Morphologie  der  Organismen  und  vor  allen  der  Tiere  sagen. 
Immer  spukt  hier  noch  am  hellen  Tage  das  Gespenst  der  „Lebens- 
kraft" oder  der  „zweckmäßig  wirkenden  Idee  im  Organismus",  und 
wenn  auch  die  wenigsten  Morphologen  mit  klarem  Bewußtsein  dem- 
selben folgen  und  daran  glauben,  so  beherrscht  dasselbe  desto  mehr 
unbewußt  die  meisten  Versuche,  welche  zu  einer  Erklärung  der 
organischen  Gestaltungsprozesse  gemacht  werden.  Die  noch  all- 
gemein in  der  vergleichenden  Anatomie  üblichen  Ausdrücke  des 
„Plans,  Bauplans,  der  allgemeinen  Idee",  welche  diese  oder  jene 
Formverhältnisse  bedingen,  die  vielgebrauchte  Wendung  der  ..Ab- 
sicht", des  ..Zwecks",  welchen  die  „schöpferische"  Natur  durch  diese 
oder  jene  ..Einrichtung"  erreichen  will,  endlich  die  neuerdings  viel- 
fach beliebte  Phrase  von  dem  .,Gedanken",  welchen  der  ,,Schöpfer" 
in  diesem  oder  jenem  Organismus  ..verkörpert"  hat.  bezeugen  hin- 
länglich, wie  tief  hier  die  alte  Irrlehre  Wurzel  geschlagen  hat,  und 
zwingen  uns  zu  einer  kurzen  Widerlegung  derselben. 

Zunächst  ist  hier  hervorzuheben,  daß  man  die  ..vitalistische" 
und  ..teleologische"  Beurteilungsweise  der  Organismen,  wie  wir  be- 
reits getan  haben,  als  identisch  annehmen  und  der  „mechanischen" 
Methode,  welche  ihrerseits  mit  der  „kausalistischen"  zusammenfällt, 
gegenübersetzen  kann.  Denn  es  ist  in  der  Tat  vollkommen  für  die 
Sache  gleichgültig,  unter  welchem  Namen  sich  die  erstere  verbirgt, 
und  ob  sich  das  von  der  Materie  verschiedene  organisierende  Prinzip, 
welches  das  „Leben"  und  den  „Organismus"  erzeugt  und  erhält, 
..Lebenskraft"  nennt,  oder  „Vitalprinzip",  ..organische  Kraft"  oder 
„Schöpferkraft",  „systematischer Grundcharakter"  (Reichert)  „zweck- 
mäßiger Bauplan  des  Organismus",  „Schöpfungsgedanke"  (Agassiz), 
oder  „ideale  Ursache",  „Endzweck"  oder  „zwecktätige  Ursache  (End- 
ursache. Causa  finalis)".  Alle  diese  scheinbar  so  verschiedenen  Aus- 
drücke sind  im  Grunde  doch  nur  äußerlich  verschiedene  Bezeich- 
nungen für  eine  und  dieselbe  irrige  Vorstellung.  Das  Wesentliche 
in  dieser  Vorstellung  bleibt  immer,  daß  diese  ., Kraft"  eine  ganz  be- 
sondere, von  den  chemischen  und  physikalischen  Kräften  verschie- 
dene und  nicht  an  die  Materie  gebunden  ist.  welche  sie  organisiert. 
Dadurch  steht  dieses  Dogma  von  der  Lebenskraft  oder  den  End- 
ursachen in  einem  scharfen  und  unversöhnlichen  (üegensatze  zu  der 
„mechanischen"  oder  ..kausalen"  Auffassung,  nach  welcher  das 
Leben    eine    Bewegungsei'scheinung    ist,    die    sich    nur    durch    ihre 


IV,  V.    Teleologie  und  Kausalität.  37 

kompliziertere  Ziisaniniensetzung  von  den  einfacheren  physikaliscli- 
eliemischen  ..Kräften'"  der  Anorgane  (Mineralien.  Wasser,  Atmo- 
sphäre) nnterscheidet,  und  welche  ebenso  unzertrennlich  mit  den 
zusammengesetzteren  Materien  des  Organismus  verbunden  ist.  wie 
die  physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften  der  Anorgane  mit 
ihrem  materiellen  Substrate.  Diese  Verbindung  ist  eine  absolut  not- 
wendige. Die  gesamten  komplizierten  ..Lebenserscheinungen  der 
Organismen"  sind  ebenso  durch  eine  absolute  Notwendigkeit 
bedingt,  wie  die  einfacheren  ..Funktionen"  oder  „Kräfte"  der  anor- 
ganischen Naturkörper.  Hier  wie  dort  sind  es  allein  mechanische 
Ursachen  (Causae  efficientes),  welche  der  Materie  inhärieren 
und  welche  unter  gleichen  Bedingungen  stets  mit  Notwendigkeit  die 
gleiche  Wirkung  äußern. 

Hier  tritt  uns  nun  das  einfache  Kausalgesetz,  das  Gesetz 
des  notwendigen  Zusammenhanges  von  Ursache  und  Wirkung,  als 
das  erste  und  oberste  aller  Naturgesetze  entgegen,  welches  die  ge- 
samte Natur,  lebendige  wie  leblose,  mit  absoluter  Notwendigkeit 
beherrscht.  Dieses  wichtigste  Naturgesetz,  in  welchem  unsere  ge- 
samte Naturerkenntnis  gipfelt,  sagt  zunächst  aus,  daß  jede  Wirkung 
ihre  bestimmte  wirkende  Ursache  (causa  efficiens),  sowie  jede 
Ursache  ihre  notwendige  Wirkung  (effectus)  hat.  Aus  diesem 
notwendigen  und  unlösbaren  Zusammenhange  von  Ursache  und 
Wirkung,  welcher  die  Grundlage  unserer  ganzen  Erkenntnis,  unserer 
gesamten  Verstandestätigkeit  ist.  folgt  dann  weiter,  daß  verschie- 
dene Wirkungen  auf  verschiedene  Ursachen  zurückgeführt  werden 
müssen,  sowie  umgekehrt  aus  verschiedenen  Ursachen  stets  ver- 
schiedene Wirkungen  abzuleiten  sind;  und  ebenso  folgt  daraus,  daß 
gleiche  Wirkungen  den  gleichen  Ursachen  zuzuschreiben  sind,  sowie 
auch  umgekehrt  gleiche  Ursachen  stets  notwendig  gleiche  Wirkungen 
haben  müssen. 

Nach  diesem  ersten  und  höchsten  aller  Naturgesetze  ist  Alles, 
was  in  der  Natur  existiert,  entstellt  und  vergeht,  das  notwendige 
Resultat  aus  einer  Anzahl  vorhergehender  Faktoren,  und  dieses  Re- 
sultat ist  selbst  wieder  ein  Faktor,  der  zur  Hervorbringung  anderer 
Resultate  mit  absoluter  Notwendigkeit  mitwirkt.  Diese  absolute  Not- 
wendigkeit des  unmittelbaren  Zusammenhanges  von  Ursache  und 
Wirkung  beherrscht  die  gesamte  Natur  ohne  Ausnahme,  da  ja  die 
gesamte  Natur,  lebendige  und  leblose,  nichts  anderes  ist  als  ein 
Wechselspiel  von  Kräften,  welche  der  gegebenen  Summe  von  Materie 


38  Methüdik  der  ^lorphologie  der  Organismen.  IV. 

inhärieren.  Wenn  man  dem  entgegen  in  der  organischen  Natur,  in 
den  belebten  Naturkörpern  eine  Wirkung  ohne  Ursache,  eine  Kraft 
ohne  Stoff  angenommen  liat.  welche  mithin  dem  Kausalgesetz  nicht 
unterworfen  wäre,  so  ist  dieser  Irrtum  lediglich  durch  die  weit 
größere  Komplikation  der  hier  auftretenden  Bewegungserscheinungen 
hervorgerufen  worden,  durch  die  weit  größere  Anzahl  der  verschie- 
denen Faktoren,  welche  auf  dem  Lebensgebiete  zur  Hervorbringung 
jedes  Resultats  zusammenwirken,  und  durch  die  weit  zusammenge- 
setztere Natur  dieser  Faktoren  selbst.  Da  wir  im  zweiten  und 
sechsten  Buche  auf  dieses  Verhältnis  noch  näher  zurückkommen 
müssen,  so  möge  diese  Bemerkung  genügen  und  die  ausdrückliche 
Hinweisung  auf  die  Tatsache,  daß  in  der  ganzen  Natur  dieselben 
Kräfte  wirksam  sind,  daß  die  organische  Natur  sich  aus  der  anor- 
ganischen erst  historisch  entwickelt  hat.  und  daß  nur  eine  gänz- 
liche Verkennung  dieses  Urastandes  und  die  Übertreibung  des  Unter- 
schiedes der  leblosen  und  belebten  Naturkörper  zu  den  gänzlich  un- 
begründeten teleologischen  und  vitalistischen  Dogmen  hat  verführen 
können.  Alles  was  uns  in  der  lebendigen  Natur  als  das  vorbedachte 
Resultat  einer  freien  zwecktätigen  Ursache,  einer  causa  finalis  er- 
scheint, welche  die  physikalisch-chemischen  Ursachen  beherrscht  und 
von  ihnen  unabhängig  ist,  alles  das  ist  in  der  Tat  weiter  nichts,  als 
die  notwendige  Folge  der  Wechselwirkung  zwischen  den  existierenden 
mechanischen  Ursachen  (den  „existing  causes"  oder  den  physi- 
kalisch-chemischen Ursachen),  ist  nichts,  als  die  notwendige  Wirkung 
mehrerer  Causae  efficientes. 

Daß  in  der  Tat  freie  zwecktätige  Ursachen  oder  Causae  finales 
in  der  gesamten  Natur  nicht  existieren,  daß  vielmehr  überall  nur 
notwendige  mechanische  Ursachen  tätig  sind,  wird  durch  die  Ge- 
samtheit aller  Erscheinungen  in  der  organischen  und  anorganischen 
Natur  auf  das  unwiderlegiichste  bewiesen.  Unter  allen  biologischen 
Erscheinungsreihen  ist  aber  .in  dieser  Beziehung  keine  von  so  außer- 
ordentlicher Wichtigkeit  und  dabei  bisher  so  gänzHch  fast  von  allen 
Philosophen  und  Naturforschern  vernachlässigt,  als  die  Wissen- 
schaft von  den  rudimentären  Organen,  welche  wir  geradezu  die 
Unzweckmäßigkeitslehre,  Dysteleologie  nennen  könnten.  Jeder 
höhere  und  entwickeltere  Organismus,  und  wahrscheinlich  die  große 
Mehrzahl  der  Organismen  überhaupt,  ist  im  Besitz  von  Organen,  welche 
keine  Funktionen  haben,  welche  zu  keiner  Zeit  des  Lebens  jemals  tätig 
sind  und  welche  im  besten  Falle  dem  Organismus  gleichgültig,  häufig 


\\\  V.    Teleologie  und  Kausalität.  39 

ihm  aber  geradezu  nachteilig  sind.  Diese  rudimentären  Organe, 
welche  zu  aller  Zeit  das  größte  Kreuz  der  Teleologie  waren,  sind  in 
der  Tat  für  dieselbe  das  unübersteiglichste  Hindernis,  und  diese  so- 
wohl als  die  zahlreichen  anderen  unzweckmäßigen  und  unvoll- 
kommenen, oft  sogar  für  den  Organismus  selbst  höchst 
nachteiligen  und  schädlichen  Einrichtungen,  welche  bei 
zahlreichen  Organismen  vorkommen,  lassen  sich  lediglich  aus  den 
mechanischen  wirkenden  Ursachen  und  durchaus  nicht  aus  zweck- 
tätigen Endursachen  erklären.  Diese  Erklärung  ist  nun  zuerst  von 
Darwin  gegeben  worden.  Seine  große  Entdeckung  der  natürlichen 
Zuchtwahl  im  Kampfe  um  das  Dasein  erklärt  alle  diese  Verhält- 
nisse ganz  vollkommen,  wie  im  fünften  und  sechsten  Buche  ge- 
zeigt werden  wird. 

Da  wir  dort  diese  Verhältnisse  noch  ausführlich  zu  erörtern  haben, 
so  genügt  hier  der  Hinweis  auf  das  ganz  besondere  Verdienst,  welches 
Darwin  um  die  definitive  Lösung  dieser  äußerst  wichtigen  Funda- 
mentalfragen hat.  Wir  erblicken  in  Darwins  Entdeckung  der 
natürlichen  Zuchtwahl  im  Kampfe  um  das  Dasein  den  schla- 
gendsten Beweis  für  die  ausschließliche  Gültigkeit  der 
mechanisch  wirkenden  Ursachen  auf  dem  gesamten  Gebiete 
der  Biologie,  wir  erblicken  darin  den  definitiven  Tod 
aller  teleologischen  und  vitalistischen  Beurteilung  der 
Organismen. 

Die  unschätzbaren  Entdeckungen  Darwins  haben  das  Gesamtgebiet 
der  organischen  Natur  pliUzlich  durch  einen  so  hellen  Lichtstrahl  er- 
leuchtet, daß  wir  fürderhin  keine  Tatsache  auf  demselben  mehr  als  un- 
erklärbar werden  anzusehen  hal)en.  Wir  sagen:  „unerldärbar",  nicht: 
„unerklärt".  Denn  erklärt  ist  auf  diesem  ganzen  vasten  Gebiet  immer 
noch  im  ganzen  außerordentlich  wenig.  Freilich  hatte  die  strenge  phy- 
sikalisch-chemische Richtung  in  der  Physiologie  die  Lebensfnnktionen  der 
bestehenden  Organismen  schon  seit  mehreren  Dezennien  in  so  hohem 
Maße  aufgeklärt  und  so  viele,  wenn  auch  zmiächst  nur  beschränkte  Ge- 
setze gefunden,  daß  an  einer  vollständigen  Erklärung  aller  Erscheinmigen 
auf  diesen  Gel)ieten  mittels  rein  mechanisch  wirkender  Ursachen  schon 
vor  dem  Erscheinen  von  Darwins  epochemachendem  Werk  (1859)  nicht 
gezweifelt  Averden  konnte.  Ganz  anders  aber  sah  es  bis  dahin  auf 
dem  Gebiete  der  Anatomie  und  der  Entwickelungsgeschichte  aus.  Die 
Entsteluuig  der  organischen  Formen,  die  Entwickelungsgeschichte  der 
Organismen  galten  fast  allgemein  für  Erscheinungsreihen,  welche  jeder 
mechanischen  Ivausalerklärnng  vollständig  unzugänglich  seien,  und  auf 
welche  nur  durch  teleologisch-vitalistische  Betrachtungen  ein  erklärendes 


40  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  IV. 

Licht  geworfen  werden  könne.  \)  Diesen  Irrtum  hat  Darwin  vollständig- 
imd  mit  einem  Schlage  vernichtet.  Darwin  hat  evident  bewiesen,  wie 
es  die  einfachsten  mechanischen  Kausalverhältnisse  sind,  welche  diese 
anscheinend  so  komplizierten  und  für  so  ganz  unerldärlich  gehaltenen 
Lebenserscheinungen,  die  Formbildiuig  und  die  Entwickelung  regeln  und 
beherrschen.  Da  wir  dies  im  fünften  und  sechsten  Buche  auseinander- 
zusetzen haben,  so  können  wir  hier  darauf  verweisen. 

Nur  ein  Umstand  möge  hier  noch  besonders  liervorgehol)en  Averden. 
nämlich,  daß  durch  die  von  Darwin  tatsächlich  erklärte  Entstehung  der 
kompliziertesten  organischen  Formen  bereits  faktisch  die  Hauptstütze  der 
Teleologie  vernichtet  und  zertrümmert  ist.  Alle  einer  teleologischen  Be- 
trachtung der  organischen  Naturerscheinungen  geneigten  Philosophen  und 
vor  allen  Kant,  dessen  Einfluß  auf  die  Entwickelung  der  Naturwissen- 
schaft in  unserem  Jahrhundert  (wegen  seiner  breiteren  empirischen  Grund- 
lage) größer  geworden  ist  als  derjenige  irgendeines  anderen  spekulativen 
Philosophen,  hatte  ausdrücklich  für  die  Notwendigkeit  einer  teleologischen 
Beurteilung  der  organischen  Natur  hervorgehoben,  daß  deren  Prozesse 
vollkommen  unerklärlich,  dem  Erkenntnisvermögen  des  Menschen  nicht 
zugänglich,  und  daß  insbesondere  die  Entstehung  der  komplizierteren 
Organismen  durch  bloß  mechanische  Ursachen  vollkommen  imbegreiflich 
sei.  Die  Befugnis  der  mechanischen  Ursachen  zur  Erklärung  dieser 
Erscheiiiungen  wurde  von  Kant  ausdrücklich  zugestanden,  aber  das  Ver- 
mögen der  Erklärung  ihnen  abgesprochen.  Daher  wollte  er  auch  die 
„natürliche  Zweckmäßigkeit"  der  Teleologie  nur  als  Maxime  der  Be- 
urteilung, nicht  als  Erkenntnisi)rinzip  zulassen.  Ausdrücklich  sagte  er 
deshalb,    daß    die   lel)endige   Natur   nicht    Gegenstand    der   Erkenntnis, 


1)  Daß  in  der  Tat  der  besclnänkte  teleologisch-vitahstische  Standpunkt, 
nur  iu  den  verschiedensten  Nuancen  der  Konsequenz  abgestuft,  und 
mit  den  verschiedensten  Graden  des  Bewußtseins  verfolgt,  in  der 
gesamten  Morphologie  der  Organismen  vor  Darwin  der  allgemein  herrschende 
gewesen  sei  (einzelne  ehrenvolle  Ausnahmen  natürlich  abgerechnet),  könnte  viel- 
leicht diesem  oder  jenem,  und  besonders  dem  längst  der  Teleologie  entwöhnten 
Pliysiologen  und  Abiologen,  eine  übertriebene  Behauptung  erscheinen.  Indes 
liefert  fast  die  gesamte  morphologische  Literatur  hierfür  die  schlagendsten  Be- 
weise. Selten  freilich  ist  dieser  kurzsichtige  Standpunkt  mit  solchem  Bewußtsein 
und  solcher  Konsequenz  festgehalten  worden,  wie  dies  z.  B.  von  Keichert 
geschehen  ist.  Wer  die  ganze  Beschränktheit,  die  wahrhaft  komischen  Wider- 
sprüche, und  den  gänzlichen  Mangel  an  Überblick  der  Gesamtnatur  und  an 
EinbHck  in  ihr  kausales  Wesen  kennen  lernen  will,  die  gewöhnlich  mit  der 
extremen  Konsequenz  des  Vitalismus  verbunden  sind,  dem  empfehlen  wii-  zur 
ebenso  belehrenden  als  erheiternden  F^ektüre  die  höchst  seltsamen  und  an  philo- 
sophischer Verworrenheit  das  Maximum  leistenden  Aufsätze  von  Reichert  in 
Müllers  Archiv  f.  An.  u.  Ph.  etc.  1855  p.  1  (über  atomistische  und  systematische 
Naturauffassung)  und  185G  [).  1  (die  Morphologie  auf  dem  Standpunkt  der  syste- 
matischen Naturauffassung). 


IW  V.    Teleologie  und  Kausalität.  41 

sondern  bloß  der  Betrachtung  sein  könne,  weil  eben  die  beAvegenden 
Kräfte  der  ilaterie  nicht  zur  Erklärung  der  Organisation  ausreichten.  So 
geriet  denn  auch  Kant  in  die  unauflösliche  Antinomie  zwischen  Mecha- 
nismus und  Teleologie.  Während  er  in  seinen  „metaphysischen  An- 
fangsgründen der  Naturwissenschaft"  bewiesen  hatte,  daß  alles  in  der 
materiellen  Natur  mechanisch  entstehe  und  aus  bewegenden  Kräften  als 
mechanischen  Ursachen  erklärt  Averden  müsse,  war  er  mm  in  der  ..Analytik 
der  teleologischen  Urteilskraft"  gezwungen  zu  erklären,  daß  einiges  in  der 
materiellen  Natur,  nämlich  das  Organische,  das  Leben,  nicht  mechanisch 
entstehen  imd  nicht  aus  bewegenden  Kräften  als  rein  mechanischen  Ursachen 
erklärt  werden  könne.  Hier  ist  die  Achillesferse  der  Kantischen  Philo- 
sophie. Während  Kant  in  allen  seinen  Erklärungen  der  anorganischen 
Natur,  vor  allem  in  seiner  Naturgeschichte  des  Himmels,  ein  bewunde- 
rungswürdiges Muster  der  exaktesten  denkenden  naturwissenschaftlichen 
Forschung,  der  besten  Naturphilosophie  geliefert  hatte,  verließ  er  auf 
dem  Gebiete  der  Biologie  die  allein  mögliche  Bahn  der  empirischen  Philo- 
sophie gänzlich  und  warf  sich  der  verführerischen  Teleologie  in  die  Arme, 
die  ihn  mm  von  Irrtum  zu  Irrtum  weiter  führte. 

Wenn  dieser  große  Irrtum  einen  so  hervorragenden  und  kritischen 
Denker,  wie  Kant  war.  vollkommen  gefangen  halten  imd  zu  so  starken 
dogmatischen  Fehlern  weiter  verleiten  konnte,  so  dürfen  wir  uns  nicht 
wundern,  daß  zahlreiche  unljedeutendere  Philosophen  demselben  blindlings 
folgten,  und  daß  das  ganze  Heer  der  Biologen,  welche  froh  waren,  nun 
nicht  weiter  denken  zu  brauchen,  dem  aufgepflanzten  Banner  mit  großer 
Genugtmmg  folgte.  In  der  Tat  war  es  so  außerordentlich  bequem  und 
leicht,  mit  irgendeiner  teleologischen  Betrachtung  jeden  Versuch  einer 
mechanischen  Erklärimg  der  organischen  Natur  abzuschneiden,  daß  die 
Teleologie  bald  zum  allgemeinen  Feldgeschrei  der  Biologie  wurde.  Niemand 
war  froher  darüber,  als  die  große  Mehrzahl  der  ^lorphologen,  welche  nun 
migestört  der  Beobachtmig.  Beschreibung  und  Abbildung  aller  möglichen 
organischen  Formen  sich  hingeben  konnten,  ohne  durch  irgendeinen 
unbequemen  kritischen  Gedanken  über  die  mögliche  Bedeutung  dieser 
Formen,  über  ihre  mechanischen  Ursachen  und  über  den  kausalen  Zu- 
sammenhang der  Formlnldungsreihen  beunruhigt  zu  werden.  Da  die  meisten 
Morphologen.  sowohl  die  ..Systematiker"  als  die  ..Anatomen"  in  diesem 
behaglichen  imd  idyllischen  Formgenusse  vollkommene  Befriedigung  fanden, 
und  da  sie  in  diesem  wissenschaftlichen  Halbschlafe  oder  doch  wenigstens 
in  diesem  gedankenarmen  Traumleben  von  der  eigentlichen  Aufgabe  ihrer 
Wissenschaft,  von  der  Erklärung  der  organischen  Formverhältnisse,  keine 
Ahnung  hatten,  so  erscheint  uns  schon  hieraus  die  tiefe  Entrüstung  voll- 
kommen erklärlich,  als  plötzlich  Darwins  lauter  Weckruf  ertönte,  imd 
diesem  behaglichen  teleologischen  Stilleben  mit  einem  Male  ein  jähes 
und  grausames  Ende  bereitete.  Aus  behaglichem  Mittagsschlummer 
durch  einen  kritischen  Stoß  aufgeschreckt  zu  werden  ist  immer  höchst 
unangenehm,  imd  besonders  wenn  dieser  sanfte  Schlummerzustand  ha- 
l)ituell,  fast  zur  anderen  Natur  geworden  ist,  wie  bei  unserer  heutigen 
Morphologie. 


42  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  |V. 

Was  Kant  betrifft,  so  zweifeln  wir  nicht,  daß,  wenn  er  heut  erstände, 
sein  ganzes  kritisches  Lehrgebäude  eine  vollkommen  andere  Form  erhalten 
würde,  und  daß  er  die  von  Darwin  entdeckte  mechanische  Erklärung 
der  Entstehung  der  Organismen  und  die  von  der  neueren  Physiologie 
festgestellte  mechanische  Erklärung  ihrer  Lebenserscheinungen,  nach  denen 
er  so  lange  und  so  vergeblich  gestrebt,  akzeptieren  würde.  Der  biologi- 
sche Teil  der  Kantischen  Philosophie  würde  dann,  mit  Ausschluß  aller 
Teleologie,  die  Erklärung  der  organischen  Natur  eben  so  vollkommen  auf 
rein  mechanische  „wirkende  Ursachen''  begründen,  wie  es  der  abiologische 
Teil  schon  damals  in  so  vollendetem  Maße  getan  hat. 

Dadurch,  daß  wir  die  Teleologie  Kants  für  einen  überwundenen 
Standpunkt  erklären,  wollen  wir  demselben  natürlich  in  keiner  "Weise  einen 
Vorwurf  machen,  und  es  vermindert  unsere  Verehrung  dieses  großen  Phi- 
losophen und  unsere  Hochachtung  vor  seinen  außerordentlichen  Verdiensten 
auf  dem  Gebiete  der  Abiologie  nicht  im  geringsten,  wemi  wir  demselben 
die  gleichen  Verdienste  auf  dem  biologischen  Gebiete  absprechen  imd  seine 
Kritik  der  teleologischen  Urteilskraft  für  ein  von  der  Basis  an  irrtümliches 
Lehrgebäude  halten.  Wenn  man  bedenkt,  auf  welcher  außerordentlich 
niedrigen  Stufe  zu  Kants  Zeit  die  gesamte  empirische  Biologie  stand,  wie 
die  Physiologie,  die  Entwickehmgsgeschichte,  die  Morphologie  der  Or- 
ganismen als  selbständige  Wissenschaften  damals  noch  gar  nicht  an- 
erkannt waren,  so  finden  wir  hierin,  und  in  den  vitalistischen  Vorurteilen, 
die  das  ganze  Zeitalter  gefangen  hielten,  Grund  genug  dafür,  daß  Kant 
an  der  Möglichkeit  einer  wissenschaftlichen  Biologie  geradezu  verzweifeln 
und  die  Erklärung  der  lebendigen  Natur  für  etwas  Unmögliches  halten 
konnte.  Mit  anderen  Worten  heißt  das  nichts  anderes,  als  daß  die  ge- 
samten Biologen  gleiche  Toren  sind,  wie  die  ^^elen  Träumer,  welche  den 
Stein  der  Weisen  suchten.  Wenn  die  gesamte  organische  Natur,  wie 
Kant  behauptet,  in  ihrem  innersten  Wesen  unbegreiflich  und  unerkennbar 
ist,  wenn  deren  Erscheinungen  nicht  aus  mechanisch  wirkenden  Ursachen 
erklärt  werden  können,  so  sind  alle  Naturforscher,  welche  nach  einer 
solchen  Erklärung  streben  und  suchen,  kindische  Toren.  In  dieser  not- 
wendigen Konsequenz  zeigt  sich  die  ganze  Unhaltbarkeit  der  Teleologie 
und  des  davon  nicht  trennbaren  Vitalismus.  Die  Teleologie  als  wissen- 
schaftliche Methode   ist   in  der  Tat   unmöglich ;    sie   verneint  sich  selbst. 

Wenn  wir  bedenken,  daß  eine  Anzahl  von  Erscheinungen  der  organi- 
schen Natur  schon  wirklich  erklärt,  daß  die  Gesetze  für  eine  wenn  auch 
relativ  noch  kleine  Zahl  von  biologischen  Tatsachen  bereits  wirklich  ge- 
funden sind,  und  daß  diesen  Gesetzen  dieselbe  absolute  Geltung  zuge- 
standen werden  muß,  wie  jedem  physikalisch-chemischen  Gesetze,  wenn 
wir  bedenken,  daß  eine  wissenschaftliche  Physiologie  überhaupt  mu'  durch 
die  strengste  Ausschließmig  jeder  Teleologie  möglich  ist,  so  werden  wir 
die  letztere  auch  aus  dem  Gebiete  der  organischen  Morphologie  vollständig 
verbannen  dürfen.  Und  am  wenigsten  werden  wir,  wenn  wir  diese  Lehre 
als  wirkliche  Wissenschaft  ansehen,  mit  der  heuchlerischen  Miene,  die 
viele  Morphologen  lieben,  erklären  dürfen,  daß  wir  uns  demütig  mit  der 
bloßen  erbaulichen  Betrachtung  der  Organismen  begnügen  und  ja  keinen 


JY_  VI.    Dualismus  und  Monismus.  43 

indiskreten  Blick  in  das  uns  verschlossene  Geheimnis  ihrer  „inneren  Natur", 
ihres  kausalen  Wesens  tun  wollen. 

Einen  Punkt  müssen  wir  hierbei  scliließlich  noch  ulTen  berühren. 
Die  meisten  ^lorphologen  der  Neuzeit  lieben  es,  die  imversöhnliche  Gegner- 
schaft zwischen  teleologischer  und  mechanischer  Biologie  durch  ein  ver- 
söhnliches Mäntelchen  zu  verdecken  und  einen  Kompromiß  zwischen  den 
beiden  entgegengesetzten  Extremen  zu  erstreben.  Bis  zu  einer  gewissen 
Grenze  soll  die  organische  Natur  erkennbar  sein,  und  von  da  an  soll 
die  Erkennbarkeit  aufhih-en.  Eine  Reihe  von  biologischen  Erscheinungen 
soll  sich  auf  dem  mechanischen  Wege  aus  wirkenden  Ursachen  erklären 
lassen,  der  übrige  Rest  aber  nicht.  Dies  ist  allerdings  insofern  richtig, 
als  unser  menschliches  Erkenntnisvermögen  beschränkt  ist,  und 
als  wir  die  letzten  Gründe  nicht  von  einer  einzigen  Erscheinimg  wahr- 
haft erkennen  können.  Dies  gilt  aber  in  ganz  gleichem  Maße  von 
der  organischen  und  anorganischen  Natur.  Die  Entstehung  jedes 
Kristalls  bleibt  für  uns  in  ihren  letzten  Gründen  ebenso  rätselhaft,  wie 
die  Entstehung  jedes  Organismus.  Die  letzten  Gründe  sind  ims  hier 
nirgends  zugänglich.  Jenseits  der  Grenze  des  Erkenntnisvermögens  können 
wir  uns  beliebige,  ohne  induktive  Grundlage  gebildete  Vorstellungen  zu 
unserer  persönlichen  Gemütsbefriedigung  schaffen,  niemals  aber  dürfen  wir 
versuchen,  diese  rein  dogmatischen  Vorstellungen  des  Glaubens  in  die 
Wissenschaft  einzuführen.  Und  ein  solches  Glaubensdogma  ist  jeder  teleo- 
logische und  vitalistische  Erklärungsversuch. 

Von  allen  denkenden  Menschen  fordern  wir  in  erster  Linie,  daß  sie 
konse(iuent  sind,  imd  von  allen  Naturforschern,  welche  die  Teleologie  und 
den  Vitalismus  iu  der  Biologie  für  unentbehrlich  halten,  fordern  wir,  daß 
sie  diese  Methode  in  strengster  Konsequenz  für  die  Betrachtung  aller 
Erscheinungen  der  organischen  Natur  ohne  Ausnahme,  für  die  gesamte 
Physiologie,  Entwickelungsgeschichte  und  Morphologie,  durchführen.  Unse- 
res Wissens  liegt  nur  ein  einziger  derartiger  Versuch  im  größten  Stile 
aus  der  neueren  Zeit  vor.  Das  ist  der  äußerst  merkwürdige  „Essay  on 
Classification"  von  Louis  A gas siz,  der  fast  gleichzeitig  mit  seinem  ver- 
nichtenden Todfeinde,  mit  Darwins  Theorie,  das  Licht  der  Welt  erblickte. 
Jedem  Biologen,  welcher  sich  nicht  entschließen  kann  zur  absoluten  Ver- 
werfung der  teleologischen  und  zur  unbedingten  Annahme  der  mechanischen 
Methode,  empfehlen  wir  dieses  höchst  interessante  Buch,  welches  trotz  des 
größten  Aufwandes  von  Geist  in  jedem  Kapitel  sich  selbst  vernichtet  und 
negiert,  zur  aufmerksamen  Lektüre.  Und  wenn  er  dann  noch  an  dem 
Vitalismus  oder  der  Teleologie  festhalten  kann,  empfehlen  wir  ihm  dieselbe 
dualistische  Konsequenz  wie  Louis  Agassiz. 

Tl.  Dualismus  und  Zionismus. 

-  ..Die  Richtung  des  Denkens  der  Neuzeit  läuft  unverkennbar  auf 
Monismus  hinaus.  Der  Dualismus,  fasse  man  ihn  nun  als  Gegensatz 
von  Geist  und  Natur,   Inhalt   uiul  Form.   Wesen  und  Erscheinung, 


44  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  jy. 

oder  wie  man  ilin  sonst  bezeichnen  mag\  ist  für  die  natnrwissen- 
schaftliche  Anschauung-  unserer  Tage  ein  vollkommen  überwundener 
Standpunkt.  Für  diese  gibt  es  keine  Materie  ohne  Geist  (ohne  die 
sie  bestimmende  Notwendigkeit),  aber  ebensowenig  auch  Geist  ohne 
Materie.  Oder  vielmehr  es  gibt  weder  Geist  noch  Materie  im  ge- 
wöhnlichen Sinne,  sondern  nur  eins,  das  beides  zugleich  ist.  Diese 
auf  Beobachtung  beruhende  Ansicht  des  Materialismus  zu  beschul- 
digen, ist  ebenso  verkehrt,  als  wollte  man  sie  des  Spiritualismus 
zeihen."     August  Schleicher. 

Diese  Worte  des  berühmten  komparativen  Linguisten,  der  die 
naturwissenschaftliche  Untersuchungsmethode  in  der  vergleichenden 
Sprachforschung  durchgeführt  und  als  der  erste  von  allen  Sprach- 
forschern die  Theorie  Darwins  mit  ebensoviel  Geist  als  Erfolg  auf 
diesen  Teil  der  vergleichenden  Physiologie  angewandt  hat,  bezeichnen 
mit  treffender  Wahrheit  den  unversöhnlichen  Gegensatz  zwischen 
Dualismus  und  Monismus,  der  unsere  gesamte  Naturwissenschaft  wie 
die  ganze  Denktätigkeit  unserer  Zeit  in  zwei  feindliche  Heerlager 
trennt.  Wir  können  nicht  umhin,  hier  am  Schlüsse  unserer  kritisch- 
methodologischen  Einleitung  noch  kurz  bei  einer  Betrachtung  dieses 
Gegensatzes  zu  verweilen,  obschon  die  vorhergehenden  Abschnitte 
zur  Genüge  gezeigt  haben  werden,  daß  wir  den  Monismus  in  aller 
Schärfe  und  in  seinem  vollen  Umfange  für  die  einzig  richtige  Welt- 
anschauung und  folglich  auch  für  die  einzig  richtige  Methode  in  der 
gesamten  Naturwissenschaft  halten,  und  daß  wir  jede  dualistische 
Erkenntnismethode  unbedingt  verwerfen. 

Die  tatsächliche  A^ereinigung  und  vollkommene  Versöhnung, 
welche  in  dem  Monismus  solche  scheinbare  Gegensätze  finden,  wie 
es  Kraft  und  Stoff,  Geist  und  Körper,  Freiheit  und  Natur,  Wesen 
und  Erscheinung  sind,  ist  auf  keinem  Gebiete  des  Erkennens  mehr 
hervorzuheben  als  auf  demjenigen  der  Biologie  und  vor  allem  auf 
dem  der  organischen  Morphologie.  Denn  wie  schon  im  vorher- 
gehenden vielfach  gezeigt  worden  ist,  hat  nichts  so  sehr  einer  ge- 
sunden und  natürlichen  Entwickelung  unserer  Wissenschaft  geschadet, 
als  der  künstlich  erzeugte  Dualismus,  durch  welchen  man  bei  jeder 
Beurteilung  eines  Organismus  seiner  materiellen  körperlichen  Er- 
scheinung eine  davon  unabhängige  Idee  oder  einen  „Lebenszweck" 
entgegensetzte,  ein  Dualismus,  welcher  sich  in  der  naturwissenschaft- 
lichen Untersuchungsmethode  als  Gegensatz  von  Philosophie  und 
Naturwissenschaft,  von  Denken  und  Erfahren  überall   zum   größten 


IV,  VI.    Dualismus  uud  Monismus.  45 

Schaden  einer  natürliclien  Erkenntnis  entwickelt  hat.  Wie  unendlich 
viel  weiter  würde  unsere  Wissenschaft  jetzt  sein,  wenn  man  sich 
dieses  künstlich  erzeugten  Zwiespalts  bewußt  geworden  wäre,  und 
wenn  man  mit  klarem  Bewußtsein  die  monistische  Beurteilungsweise 
als  die  einzig  mögliche  Methode  einer  wirklichen  Naturerkenntnis 
befolgt  hätte. 

Indem  der  Monismus  als  piiilosophisclies  System  nichts  anderes 
als  das  reinste  und  allgemeinste  Resultat  unserer  allgemeinen  wissen- 
schaftlichen Weltanschauung,  unserer  gesamten  Naturerkenntniß 
ist.  bildet  seine  unterste  und  festeste  Grundlage  das  allgemeine 
Kausalgesetz:  „Jede  Ursache,  jede  Kraft,  hat  ihre  notwendige 
Wirkung,  und  jede  Wirkung,  jede  Erscheinung,  hat  ihre  notwendige 
Ursache.''  Schon  hieraus  ergibt  sich,  daß  derselbe  jede  Teleologie 
und  jeden  Yitalismus,  welche  Form  dieser  auch  annehmen  mag, 
absolut  verneint,  und  insofern  ist  die  monistische  Methode  in  der 
Biologie  zugleich  die  mechanische,  die  kausale,  deren  alleinige 
Berechtigung  der  vorige  Abschnitt  dargetan  hat.  Da  nun  die  viel- 
bestrittene Geltung  des  mechanischen  Kausalgesetzes  in  der 
organischen  Natur  durch  nichts  so  sehr  gefördert  und  so  bestimmt 
begründet  worden  ist.  als  durch  Darwins  Theorie,  so  können  wir 
auch  diese  Lehre  als  eine  rein  monistische  bezeichnen.  Und  in  der 
Tat  beruht  dieses  ganze  wundervolle  Lehrgebäude,  wie  alle  einzelnen 
Teile  desselben,  vollkommen  auf  reinen  monistischen  Anschauungen. 
Wenn  wir  dereinst  mit  Hülfe  der  Deszendenztheorie  die  gesamte 
Morphologie  der  Organismen  auf  die  allein  sichere  Grundlage 
der  mechanischen  Naturgesetze  begründet,  die  Erscheinungen  der 
organischen  Morphologie  mechanisch-kausal,  aus  ihren  wirkenden 
Ursachen  werden  erklärt  haben,  so  wird  das  darauf  gegründete 
System  der  Morphologie  der  Organismen  ein  absolut 
monistisches  Lehrgebäude  sein,  wie  es  freihch  jede  wahre 
Wissenschaft,  insofern  sie  Naturwissenschaft  sein  will  und  muß,  mit 
Notwendigkeit  erstreben  muß. 

Da  der  Ausdruck  Monismus  in  unzweideutiger  Weise  diejenige 
kritische  Auffassung  der  gesamten  (organischen  und  anorganischen) 
Natur,  und  diejenige  kritische  Methode  ihrer  Erkenntnis,  welche  wir 
auf  den  vorhergehenden  Seiten  als  die  allein  mögliche  und  durch- 
führbare dargetan  haben,  bezeichnet,  so  werden  wir  uns  dieses  kurzen 
und  bec|uemen  Ausdrucks  stets  bedienen,  wo  es  darauf  ankommt,  an 
die  von  uns  ausschließlich  befolgte  Methode  zu  erinnern:  andererseits 


46  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  IV. 

werden  wir  als  Dualismus  stets  kurz  diejenigen  verschiedenen, 
der  unserigen  entgegengesetzten  Auffassungsweisen  der  Natur  und 
Methoden  ihrer  Erkenntnis  bezeichnen,  welche  als  „teleologische" 
und  ..vitalistische,"  als  „systematische"  und  „spekulative"  Dogmen 
für  die  Beurteilung  und  Erkenntnis  der  organischen  Natur  andere 
Methoden  fordern,  als  für  die  Beurteilung  und  Erkenntnis  der  an- 
organischen Natur  allgemein  anerkannt  sind. 

A'on  allen  Gegensätzen,  welche  der  Dualismus  künstlich  erzeugt  und 
aufstellt,  und  welche  der  Monismus  versöhnt  und  aulhebt,  ist  keiner  für 
die  gesamte  Wissenschaft  wichtiger,  als  der  auch  jetzt  noch  meist  so 
allgemein  festgehaltene  Gegensatz  von  Kraft  und  Stoff,  von  Geist  und 
Materie  und  der  auf  diese  künstliche  Antinomie  gegründete  Gegensatz 
von  Erfahrung  und  Denken,  von  empirischer  Naturwissenschaft  und  spe- 
kulativer Philosophie.  Wir  haben  oben  im  Eingange  unserer  methodo- 
logischen Erörterungen  die  absolute  Notwendigkeit  einer  Vereinigung 
dieser  Richtungen  nachzuweisen  versucht,  und  wir  müssen  hier  am  Ende 
nochmals  kurz  darauf  zurückkommen,  da  nach  unserer  festesten  Über- 
zeugung die  versöhnende  Aufhebung  dieses  Gegensatzes  den  Anfang  und 
das  Ende,  das  A  und  das  0  aller  wirklichen  „Wissenschaft"  bildet. 
Leider  wird  ja  immer  noch  von  so  vielen  Seiten  der  durchaus  künst- 
liche Gegensatz,  durch  welchen  nian  Empirie  und  Philosophie  zu  trennen 
sucht  und  welcher  vorzüglich  einer  höchst  einseitigen  Verfolgung  jeder 
der  beiden  Richtungen  entsprungen  ist,  so  starr  festgehalten,  daß  nicht 
genug  auf  die  Notwendigkeit  ihrer  Versöhnung  durch  den  Monismus  hin- 
gewiesen werden  kann. 

Die  vollendete  Philosophie  der  Zukunft,  w^elche  wir  oben  als  das 
reife  Resultat  der  notwendigen  und  vollkommenen  gegenseitigen  Durch- 
dringung von  Empirie  und  Philosophie  bezeichnet  Imben,  wird  in  der 
Tat  nichts  weiter  sein  als  ein  vollendetes  System  des  Monismus.  Frei- 
lich wird  zur  Erreichung  dieses  hohen  Zieles  vor  allem  die  erste  Vor- 
bedingung zu  erfüllen  sein,  daß  die  Naturforscher  Philosophen  werden 
und  daß  sich  die  Philosophen  in  Naturforscher  nmwandeln,  oder  daß 
sich,  mit  anderen  Worten,  dieser  durchaus  künstliche  und  höchst  schäd- 
liche Zwiespalt  aufhebt.  In  der  Tat  ist,  wenn  wir  an  beide  die  An- 
forderung einer  vollständig  reifen  Ausbildung  auf  ihrem  Gebiete  stellen, 
nicht  ein  Unterschied  —  wir  sagen:  nicht  ein  Unterschied  —  zwischen 
Naturforschern  und  Philosophen,  zwischen  Natur- Wissenschaft  und  Natur- 
Philosophie  ausfindig  zu  machen.  Beide  sind  vielmehr  stets  und  über- 
all ein  und  dasselbe.  Die  höher  entwickelte  Zukunft  wird  diesen 
künstlich  erzeugten  Dualismus  nicht  mehr  kennen.  Ihre  monistische 
Weltanschauung  wird  Naturwissenschaft  und  Philosophie  zu 
dem  großen  Ganzen  einer  einzigen  allumfassenden  Wissenschaft  ver- 
schmelzen. 


Z^YEITES  BUCH. 

ALLGEMEINE  UNTERSUCHUNGEN 

ÜBER  DIE  NATUR  UND  ERSTE  ENTSTEHUNG  DER 
ORGANISMEN,  IHR  VERHÄLTNIS  ZU  DEN  ANORGANEN 
UND  IHRE  EINTEILUNG  IN  TIERE  UND  PFLANZEN. 


(PRINZIPIEN  DER  GENERELLEN  BIOLOGIE.) 


..Ins  Innre  der  Natur"   — 

0  du  Philister!  — 

..Dringt  kein  erschaffner  Geist." 

Mich  und  Geschwister 

Mögt  ihr  an  solches  Wort 

Nur  nicht  erinnern; 

Wir  denken :  Ort  für  Ort 

Sind  wir  im  Innern. 

..Glückselig!  wem  sie  nur 

..Die  äußre  Schale  weist!" 

Das  hör"  ich  sechzig  Jahre  wiederholen, 

Ich  fluche  drauf,  aber  verstohlen ; 

Sage  mir  tausend,  tausendmale: 

Alles  gibt  sie  reichlich  und  gern; 

Natur  hat  weder  Kern  noch  Schale, 

Alles  ist  sie  mit  einem  Male; 

Dich  prüfe  du  nur  allermeist. 

Ob  du  Kern  oder  Schale  seist. 

Goethe. 


Fünftes  Kapitel. 

Organismen  und  Anorgane. 


,Der  Geist  übt  sich  an  dem  wiirdig-sten  Gegenstände, 
indem  er  das  Lebendige  nach  seinem  innersten  Wert  zu 
kennen  und  zu  zergliedern  sucht." 

Goethe. 

I.  Organische  iiud  anorganische  Stoffe. 

I)    1.  Differentielle  Bedeutung  der  organischen  und  anorganischen 

Materien. 

Bevor  wir  an  unsere  eigentliche  Aufgabe  gehen,  und  nach  den 
im  ersten  Buche  festgestellten  Methoden  und  Prinzipien  die  Grund- 
züge der  generellen  Morphologie  der  Organismen  zu  entwerfen  ver- 
suchen, scheint  es  uns  unerläßlich,  den  Begriff  des  Organismus 
selbst,  sowie  sein  Verhältnis  zur  anorganischen  Natur,  und  die  üb- 
liche Einteilung  der  Organismen  in  Tiere  und  Pflanzen,  einer  all- 
gemeinen ki'itischen  Untersuchung  zu  unterwerfen.  Indem  wir  diese 
wichtigen  Grundbegriffe  feststellen,  gewinnen  wir  den  festen  Boden, 
auf  welchem  wir  nachher  sicher  weiter  bauen  können,  während  die 
gewöhnliche  Vernaclüässigung  der  unentbehrlichen  Fundamente  zu 
der  chaotischen  Begriffsverwirrung  führt,  von  welcher  gegenwärtig 
unsere  Wissenschaft  ein  so  trauriges  Bild  liefert. 

Um  zu  einer  klaren  Einsicht  in  „den  inneren  Wert  des  Leben- 
digen", in  den  wesentlichen  Charakter  der  Organismen,  der  Tiere 
und  Pflanzen,  zu  gelangen,  erscheint  es  uns  am  zweckmäßigsten,  den- 
selben die  leblosen  Naturkörper,  die  Anorgane,  gegenüberzustellen, 
und  beide  Hauptgruppen  von  Naturkörpern,  lebendige  und  leblose, 
hinsichtlich  aller  allgemeinen  Eigenschaften  (in  chemischer,  morpho- 
logischer und  physikalischer  Beziehung)  zu  vergleichen.  Indem  wir 
hierbei  sowohl  synthetisch  die  Übereinstimmungen,  als  analytisch 
die  Unterschiede  beider  Körpergruppen  hervorheben,  werden  wir  zu 
einer  tieferen  Einsicht  in  die  innerste  Natur  und  die   gegenseitigen 

Haeckel,   Prinz,  d.  Morphol.  4 


50  Organismen  imd  Anorgane.  V. 

Bezieliungen  derselben  gelangen,  als  es  durch  eine  bloße  Definition 
der  Begriffe  möglich  ist. 

Der  Begriff  des  Organismus  ruht  ursprünglich  auf  morpho- 
logischer Basis  und  bezeichnet  einen  Naturkörper,  welcher  aus 
„Organen"  zusammengesetzt  ist,  d.  h.  aus  Werkzeugen  oder  ungleich- 
artigen Teilen,  welche  zum  Zwecke  des  Ganzen  vereinigt  zusammen- 
wirken. Gegenwärtig  haben  wir  nun  zahlreiche  „Organismen  ohne 
Organe"  kennen  gelernt,  vor  allen  die  vollkommen  homogenen  und 
strukturlosen  Plasmakörper  oder  Moneren;  ferner  viele  einzellige 
Organismen,  deren  einziges  diskretes  Organ  der  im  Plasma  einge- 
schlossene Zellenkern  und  bisweilen  noch  eine  äußere  UmhüUungs- 
haut  ist  (viele  Protisten:  einzellige  Pflanzen  und  Tiere).  Da  vielen 
dieser  einfachsten  Organismen  bestimmte  morphologische  Charaktere 
ganz  fehlen  und  dieselben  zum  Teil  gar  keine,  zum  Teil  nur  solche 
different  geformte  Teile  besitzen,  die  kaum  den  Namen  von  „Organen" 
verdienen,  so  können  wir  den  Begriff'  des  Organismus  nur  auf 
physiologischer  Basis  begründen,  und  nennen  demgemäß  Organis- 
men alle  jene  Naturkörper,  welche  die  eigentümlichen  Be- 
wegungserscheinungen  des  „Lebens",  und  namentlich  ganz 
allgemein  diejenigen  der  Ernährung  zeigen.  Anorgane  da- 
gegen nennen  wir  alle  diejenigen  Naturkörper,  welche  niemals  die 
Funktion  der  Ernährung  und  auch  keine  der  anderen  spezifischen 
„Lebenstätigkeiten"  (Fortpflanzung,  willkürliche  Bewegung,  Empfin- 
dung) ausüben. 

Da  nun  die  Ernährungstätigkeit  der  Organismen,  gleich  allen 
anderen  Lebensfunktionen,  ebenso  eine  unmittelbare  Wirkung  ihrer 
materiellen  Zusammensetzung  ist,  wie  jede  physikalische  Eigenschaft 
eines  Anorganes  unmittelbar  in  dessen  Materie  begründet  ist,  da 
überhaupt  jede  Eigenschaft,  Kraft  oder  Funktion  eines  Körpers  die 
unmittelbare  Folge  seiner  materiellen  Zusammensetzung  und  seiner 
Wechselwirkung  mit  der  umgebenden  Materie  ist,  so  werden  wir 
die  nachfolgende  Vergleichung  der  Organismen  und  Anorgane  zu- 
nächst mit  der  vergleichenden  Betrachtung  ihres  materiellen  Sub- 
strates beginnen  müssen.  Denn  lediglich  aus  den  Verschiedenheiten, 
welche  sich  in  der  feineren  und  gröberen  Zusammensetzung  der 
Materie  zwischen  Organismen  und  Anorganen  zeigen,  können  wir 
uns  die  davon  unmittelbar  abhängigen  Verschiedenheiten  in  den 
Formen  und  Kräften  (Funktionen)  beider  Gruppen  von  Naturkörpern 
erklären. 


V_  I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  51 

I)    2.  Atomistische   Zusammensetzung  der  organischen  und 
anorganischen  Materien. 

Alle  Organismen  nnd  alle  Anorgane,  welche  unserer  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis  zugänglich  sind,  zeigen  ganz  übereinstimmend 
eine  gewisse  Summe  von  ursprünglichen  allgemeinen  Eigenschaften, 
welche  aller  Materie  notwendig  inhärieren.  Diese  generellen  Quali- 
täten der  Naturkörper,  welche  in  ganz  gleicher  Weise  sämtlichen 
belebten  wie  sämtlichen  leblosen  Körpern  zukommen,  sind:  Aus- 
dehnung, Undurchdringlichkeit,  Teilbarkeit,  Ausdehnbarkeit,  Zusam- 
mendrückbarkeit,  Elastizität,  Porosität,  Trägheit,  Schwere  etc.  Da 
wir  diese  allgemeinen  Grundeigenschaften  sämtlicher  Naturkörper  als 
aus  der  Physik  bekannte  und  allgemein  anerkannte  Tatsachen  vor- 
ausetzen  müssen,  so  haben  wir  nicht  nötig,  hier  näher  darauf  ein- 
zugehen, und  wollen  nur,  was  so  oft  vergessen  wird,  ausdrücklich 
konstatieren,  daß  in  allen  diesen  Beziehungen,  in  allen  allge- 
meinen Grundeigenschaften  der  Materie  nicht  der  ge- 
ringste Unterschied  zwischen  den  Organismen  und  den  An- 
organen  existiert. 

Aus  diesen  allgemeinsten  Resultaten  der  Physik  haben  sich  die 
Naturforscher  übereinstimmend  eine  allgemeine  Grundanschauung 
über  die  primitive  Konstitution  der  Materie  (organischer  und  an- 
organischer) gebildet,  welche  unter  dem  Namen  der  atomis tischen 
Theorie  von  allen  Physikern  und  Chemikern  angenommen  ist.  Da- 
nach besteht  die  gesamte  Materie  aus  Atomen,  d.  h.  aus  kleinsten, 
diskreten,  nicht  weiter  teilbaren  Massenteilchen,  welche  der  allge- 
meinen Massenanziehung,  der  Schwere  unterworfen,  sich  gegenseitig 
durch  diese  Attraktionskraft  oder  Kohäsion' anziehen.  Die  all- 
gemeinen Erscheinungen  der  Wärme,  des  Aggregatzustandes  usw. 
zwingen  ferner  zu  der  Annahme,  daß  diese  letzten  unzerlegbaren 
Massenteilchen  durch  eine  allgemein  verbreitete  indifferente  Materie 
von  nicht  wahrnehmbarem  Gewichte,  den  Äther,  getrennt  sind. 
Auf  den  Schwingungen  dieses  Äthers  beruhen  die  Erscheinungen 
der  Wärme  und  des  Lichtes.  Dieser  die  Atome  rings  umgebende 
und  voneinander  trennende  Äther  besteht  selbst  wieder,  gleich  der 
Materie,  aus  diskreten  Teilchen,  welche  von  den  Atomen  angezogen 
werden,  sich  selbst  aber  untereinander  durch  ihre  eigene  Ab- 
stoßungskraft oder  Repulsivkraft  (Expansion)  abstoßen.  Diese 
atomistische  Theorie  erklärt  in  ganz  gleicher  Weise  die  all- 
gemeinen Grundeigenschaften  der  Organismen  und  der  An- 

4* 


52  Organismen  und  Anorgane.  V. 

orgaue.  Die  fundamentale  Konstitution  der  Materie,  ihre  Zu- 
sammensetzung aus  Atomen,  ist  also  in  sämtlichen  Naturkörpern, 
leblosen  und  belebten,  dieselbe. 

Die  mannigfaltigen  Unterschiede  in  der  Erscheinung  und  im 
Wesen  der  verschiedenen  Naturkörper  beruhen  teils  auf  der  un- 
unterbrochenen Tätigkeit  der  allgemeinen  Molekularkräfte  (der  Ko- 
häsion  der  diskreten  Atome  und  der  Expansion  der  diski'eten,  die 
Atome  umhüllenden  und  trennenden  Ätherteilchen),  teils  auf  der 
qualitativen  Verschiedenheit  der  Atome.  Diese  letztere  anzunehmen 
werden  wir  durch  die  allgemeinsten  Resultate  der  Chemie  gezwungen. 
Indem  nämlich  die  Chemie  in  ihrem  Bestreben,  die  Materie  in  ihre 
einfachsten  Bestandteile  zu  zerlegen,  schließlich  überall  eine  geringe 
Zahl  von  unzerlegbaren,  quahtativ  verschiedenen  Urstoffen  oder 
chemischen  Elementen  als  allgemeine  Grundlage  der  gesamten 
Materie  nachweist,  führt  sie  in  Verbindung  mit  jenen  allgemeinsten 
Resultaten  der  Physik  zu  der  Annahme,  daß  die  qualitativen  Ver- 
schiedenheiten der  chemisch  nicht  weiter  zerlegbaren  Materien  be- 
dingt sind  durch  eine  qualitative  Verschiedenheit  der  Atome,  welche 
diese  Materien  konstituieren.  Es  würden  also  ebenso  viele  ver- 
schiedene Atomarten,  als  chemische  Elemente  existieren.  Da  sich 
die  chemischen  Elemente  in  bestimmten  Gewichtsverhältnissen  mit- 
einander verbinden,  so  muß  das  Gewicht  der  verschiedenen  Atom- 
arten ein  verschiedenes  sein.  Da  nun  diese  qualitative  Differenz 
der  Atomarten  und  der  aus  ihnen  zusammengesetzten  chemischen 
Elemente  die  ganze  Mannigfaltigkeit  in  den  Naturkörpern  bedingt, 
so  drängt  sich  hier  zunächst  die  Frage  auf,  ob  in  den  Organismen 
andere  Atomarten,  d.  h.  andere  chemische  Elemente,  vorkommen, 
als  in  den  Anorganen.  Als  negative  Antwort  hierauf  haben  wir  hier 
zunächst  das  hochwichtige  Gesetz  hervorzuheben,  daß  alle  che- 
mischen Elemente,  welche  den  Körper  der  Organismen  zu- 
sammensetzen, auch  in  der  anorganischen  Natur  vorkom- 
men. Es  gibt  keinen  unzerlegbaren  Grundstoff  in  irgendeinem 
Organismus,  welcher  nicht  auch  außerhalb  desselben  als  lebloser 
Naturkörper,  als  Anorgan  oder  als  Bestandteil  eines  solchen  auftritt. 

Diese  Tatsache  ist  zwar  allbekannt,  wird  aber  in  ihrer  ganzen 
Tragweite  insofern  meist  nicht  gehörig  gewürdigt,  als  man  daraus  ge- 
wöhnlich nicht  den  sich  unmittelbar  ergebenden  Schluß  zieht,  daß 
bei  der  qualitativen  Identität  der  Elementarstoffe,  welche  die  Anorgane 
und  die  Organismen  zusammensetzen,  auch  die  fundamentalen  Kräfte 


V.  I-    Organische  und  anorganische  Stoffe.  53 

oder  Funktionen  in  beiden  Klassen  von  Naturkörpern  nicht  qualitativ 
verschieden  sein  werden.  Aus  der  Nichtexistenz  eines  beson- 
deren Lebensstoffes  wird  daher  der  Monismus  schon  die 
Nichtexistenz  einer  besonderen  Lebenskraft  folgern  müssen. 
Wie  man  nun  infolge  unserer  vorgeschrittenen  chemischen  Kennt- 
nisse die  frühere  Annahme,  daß  besondere  den  Organismen  eigen- 
tümliche und  außerhalb  derselben  nicht  vorkommende  chemische 
Elemente,  besondere  ..Lebensstoffe",  die  organischen  Körper  zu- 
sammensetzen und  deren  Lebenserscheinungen  zugrunde  hegen, 
jetzt  allgemein  verlassen  hat,  so  wird  man  ebenso  notwendig  die 
auf  gleich  unvollständige  Erkenntnis  gegründete  Hypothese  fallen 
lassen  müssen,  daß  es  besondere  ..Lebenskräfte"  sind,  welche  die 
Formen  wie  die  Funktionen  der  Organismen  bedingen. 

Von  den  unzerlegbaren  chemischen  Elementen,  welche  bis  jetzt 
auf  unserer  Erde  gefunden  worden  sind  und  deren  Zahl  sich  bereits 
auf  mehr  als  sechzig  beläuft,  ist  nur  ungefähr  der  chitte  Teil  im 
Körper  der  Organismen  aufgefunden.  Und  von  diesen  ungefähr 
zwanzig  chemischen  Elementarstoffen  ist  es  wiederum  nur  etwa  die 
Hälfte,  welche  allgemein  verbreitet  und  in  größerer  Menge  in  den 
organischen  Körpern  vorkommt.  Bekanntlich  sind  es  vor  allen  die 
vier  Elemente :  Kohlenstoff,  Sauerstoff,  Wasserstoff  und  Stickstoff,  die 
vorzugsweise  die  sogenannten  organischen  Verbindungen  im  engeren 
Sinne  zusammensetzen  und  die  man  deshalb  auch  als  „Organogene" 
besonders  hervorgehoben  hat.  An  der  Spitze  derselben  steht  der 
Kohlenstoff,  dessen  merkwürdige  physikalische  und  chemische 
Eigentümlichkeiten  wir  als  die  letzte  Ursache  aller  der  eigentümlichen 
Funktionen  und  Formen  zu  betrachten  haben,  welche  die  Organismen 
vor  den  Anorganen  auszeichnen.  An  diese  vier  organogenen 
Elemente  schließen  sich  dann  zunächst  Schwefel  und  Phosphor  an. 
Von  den  übrigen  Elementen  sind  Chlor,  Kalium,  Natrium,  Calcium 
und  demnächst  Eisen  und  Kiesel  am  weitesten  verbreitet.  Viel 
seltener  und  meist  nur  in  kleinen  Quantitäten  kommen  Jod.  Brom, 
Fluor,  Magnesium.  Aluminium,  Manganium,  Strontium,  Lithium  und 
einige  andere  seltene  Urstoffe  in  den  Organismen  vor. 

I)     3.     Verbindungen  der  Elemente   zu  organischen  und 
anorganischen  Materien. 

Nachdem  die  Chemie  nachgewiesen  hatte,  daß  alle  chemischen 
Grundstoffe  oder  Elemente,  welche  den  Körper  der  Organismen  zu- 
sammensetzen,  sich  auch  außerhalb  desselben  in  der  anorganischen 


54  Organismen  und  Anorgane.  V. 

Natur  vorfinden,  daß  mithin  kein  besonderes  „organisches  Element" 
existiert,  glaubte  man  in  der  Art  und  Weise  des  Zusammentritts  der 
Elemente  zu  zusammengesetzten  Verbindungen  einen  absoluten  Unter- 
schied zwischen  Organismen  und  Anorganen  aufstellen  zu  können. 
Besondere  Gesetze  des  „Lebens"  sollten  die  Vereinigung  der  Elemente 
innerhalb  des  Organismus  regeln,  und  die  mystische  „Lebenskraft" 
sollte  die  Elemente  zum  Eingehen  von  Verbindungen  zwingen,  welche 
außerhalb  des  lebendigen  Körpers  nie  sollten  zustande  kommen 
können.  Diese  irrtümliche  Vorstellung,  welche  vorzüglich  durch  die 
Autoritäten  von  Berzelius  und  Johannes  Müller  in  der  Biologie 
zu  sehr  allgemeinem  Ansehen  gelangte,  hat  solchen  Einfluß  auf  die 
allgemeine  Beurteilung  der  Organismen  gewonnen,  und  behauptet 
denselben  teilweis  noch  heute,  daß  wir  dieselbe  hier  ausdrücklich 
als  einen  Irrtum  bezeichnen  müssen,  der  durch  die  neuere  Chemie 
definitiv  widerlegt  ist. 

Vollkommen  richtig  ist  es,  daß  diejenigen  eigentümlichen  Formen 
und  Funktionen,  welche  die  Organismen  von  den  Anorganen  unter- 
scheiden, einzig  und  allein  die  notwendige  Wirkung  sind  von  den 
eigentümlichen  Verbindungen,  welche  die  Elemente  im  Körper  der 
Organismen  eingehen  und  welche  man  allgemein  als  „organische" 
Materien  zusammenfaßt.  Vollkommen  falsch  aber  ist  es,  wenn  man 
diese  eigentümlichen  „organischen  Verbindungen"  von  etwas  anderem 
ableitet,  als  von  der  chemischen  Wahlverwandtschaft  der  Elemente, 
welche  in  allen  Fällen,  selbständig,  vermöge  der  ihren  Atomen  un- 
zertrennlich innewohnenden  Kräfte,  diese  Verbindungen  aktiv  schaffen. 
Es  existiert  also  auch  in  dieser  Beziehung  durchaus  kein  Unterschied 
zwischen  den  leblosen  und  den  belebten  Naturkörpern.  Wie  wir  in 
der  leblosen  Natur  die  gewöhnlich  einfacheren,  sogenannten  „anorgani- 
schen Verbindungen"  lediglich  durch  die  ureigenen  Kräfte  der  Ele- 
mente, nach  den  unabänderlichen  und  ewigen  Gesetzen  der  chemischen 
Wahlverwandtschaft,  entstehen  sehen,  so  erkennen  wir  ebenso  be- 
stimmt, daß  innerhalb  der  lebendigen  Körper  die  gewöhnlich  ver- 
wickeiteren, sogenannten  „organischen  Verbindungen"  lediglich  nach 
denselben  Gesetzen  der  chemischen  Affinität,  mit  absoluter  Notwendig- 
keit, entstellen  und  vergehen. 

Der  einzige  Unterschied,  welcher  in  der  chemischen  Zusammen- 
setzung der  Organismen  und  Anorgane  gefunden  werden  kann,  be- 
steht darin,  daß  in  allen  Organismen  neben  den  einfacheren  Ver- 
bindungen der  Elemente,  die  allenthalben  auch  in  der  leblosen  Natur 


Y_  I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  55 

vorkommen  (Wasser,  Kohlensäure  etc.),  eine  Anzahl  von  verwickei- 
teren Verbindungen  des  Kohlenstoffs  (und  namentlich  allgemein  ge- 
wisse Eiweißkörper)  sich  finden,  welche  gewöhnlich  in  der  an- 
organischen Natur  sich  nicht  zu  bilden  scheinen.  Diese  Verbindungen 
verdanken  aber  ihre  Existenz  nicht  einer  besonderen  Lebenskraft, 
sondern  den  eigentümlichen  und  äußerst  verwickelten  Verwandtschafts- 
beziehungen des  Kohlenstoffs  zu  den  meisten  übrigen  Elementen. 
Vielleicht  mit  allen  anderen  Elementen,  vorzüglich  aber  mit  den 
drei  Elementen:  Wasserstoff,  Sauerstoff  und  Stickstoff,  vermag  der 
Kohlenstoff  eine  endlose  Reihe  von  äußerst  verwickelten  Verbindungen 
einzugehen,  welche  zum  größten  Teil  durchaus  ohne  Analogen  unter 
den  kohlenstofflosen  Verbindungen  dastehen.  Wir  müssen  also  die 
chemische  und  physikalische  Natur  des  Kohlenstoffs  und  vor  allem 
seine  in  ihrer  Art  einzige  Fähigkeit,  mit  anderen  Elementen  höchst 
komplizierte  Verbindungen  einzugehen,  als  die  erste  und  letzte,  als  die 
einzige  Ursache  aller  derjenigen  Eigentümlichkeiten  ansehen,  welche 
die  sogenannten  organischen  Verbindungen  von  den  anorganischen 
unterscheiden. 

Es  würde  deshalb  richtiger  sein,  die  „organischen  Verbindungen,, 
konkreter  als  „Kohlenstoff Verbindungen"  zu  bezeichnen,  wie 
man  die  „organische  Chemie"  neuerdings  richtiger  die  „Chemie  der 
Kohlenstoffverbindungen"  genannt  hat.  Nur  darf  dabei  nicht  ver- 
gessen werden,  daß,  wie  der  reine  Kohlenstoff  selbst  (als  Diamant, 
Graphit),  so  auch  einfachere  Kolilenstoffverbindungen  in  der  an- 
organischen Natur,  außerhalb  der  Organismen,  weit  verbreitet  vor- 
kommen, wie  vor  allem  die  Kohlensäure,  das  Kohlenoxyd,  einzelne 
Kohlenwasserstoffe  usw.  Andererseits  darf  ebensowenig  vergessen 
werden,  daß  in  allen  Organismen  ohne  Ausnahme  neben  jenen 
„organischen",  d.  h.  verwickeiteren  Kohlenstoffverbindungen,  auch 
noch  einfachere  Kohlenstoffverbindungen  und  nicht  kohlenstoffhaltige 
Verbindungen  der  Elemente,  also  sogenannte  „anorganische"  Ver- 
bindungen vorkommen  (Wasser,  Kohlensäure,  Kochsalz  etc.). 

I)    4.  Aggregatzustände  der  organischen  und  anorganischen 

Materien. 

Unter  Aggregatzustand  der  Naturkörper  verstehen  wir  den 
Grad  der  Entfernung  und  der  dadurch  bedingten  relativen 
Beweglichkeit  ihrer  Massenatome.  Die  Differenzen  der  Aggre- 
gatzustände  beruhen   lediglich  auf   der  Verschiedenheit   der  Entfer- 


56  Organismen  und  Anorgane.  V. 

niingen  der  Atome  von  einander,  welche  durch  die  Wechselwirkung 
zwischen  der  Kohäsionskraft  der  Atome  und  der  Expansiouskraft 
der  Ätherteilchen  modifiziert  werden.  Bei  den  anorganischen  Natur- 
körpern ist  bekanntlich  eine  dreifache  Differenz  in  dieser  Beziehung 
möglich,  und  man  unterscheidet  demgemäß  bei  diesen  drei  Aggregat- 
zustände, den  festen,  tropfbaren  und  gasförmigen. 

Vergleichen  wir  mit  diesen  drei  bestimmten  und  stets  leicht 
erkennbaren  Aggregatzuständen  der  Anorgane  diejenigen  der  Organis- 
men, so  haben  wir  zunächst  zu  konstatieren,  daß  alle  drei  Aggregat- 
zustände in  Teilen  des  Körpers  vieler  Organismen  ebenso  rein  wie 
in  den  Anorganen  vorkommen,  und  daß  einer  davon,  nämlich  der 
flüssige,  in  allen  lebenden  Organismen  ohne  Ausnahme  allgemein 
verbreitet  ist.  Die  eigentümlichen  Bewegungserscheinungen,  welche 
wir  unter  dem  Kollektivnamen  des  Lebens  zusammenfassen,  können 
nur  durch  Mitwirkung  dieses  Aggregatzustandes  zustande  kommen, 
und  wir  können  daher  den  tropfbar  flüssigen  Zustand  mindestens  eines 
Teils  der  Materie  als  ein  für  alle  Organismen  notwendiges  Erfordernis 
bezeichnen.  Die  Hohlräume,  welche  diese  für  den  Transport  der 
Teilchen  beim  Stoffwechsel  unentbehrlichen  Flüssigkeiten  einschließen, 
sind  teils  (bei  den  höheren  Tieren)  besondere  Gefäße  (Blutgefäße, 
Wassergefäße,  Leibeshöhle  etc.,  teils  wandungslose  Hohlräume  zwischen 
den  Elementarteilen  und  im  Inneren  derselben  (Vakuolen  in  den 
Piastiden  etc.).  Außer  dem  rein  tropfbaren  kommt  nun  ferner  auch 
der  feste  und  der  gasförmige  Aggregatzustand  vollkommen  rein  im 
Körper  vieler  (nicht  aller!)  Organismen  vor.  Zu  den  absolut  festen 
Teilen  der  Organismen  können  wir  z.  B.  die  Otolithen  im  Gehör- 
organ, ferner  die  reinen  Kieselskelette  und  die  Skelette  aus  kohlen- 
saurem Kalke  rechnen,  welche  bei  vielen  wirbellosen  Tieren,  sowie 
die  Kristalle,  welche  sich  in  \delen  Pflanzen  vorfinden.  Ebenso 
kommen  Gase  in  elastisch-flüssiger  Form  (nicht  aufgelöst)  im  Körper 
vieler  Organismen  vor,  entweder  mit  der  Außenwelt  unmittelbar  kom- 
munizierend (z.  B.  in  den  Lungen,  Luftröhren,  in  den  pneumatischen 
Knochenhöhlen  der  Vögel  etc.)  oder  in  besonderen  Räumen  abge- 
schlossen (z.  B.  in  der  Luftblase  der  Siphonophoren,  der  Schwimm- 
blase vieler  Fische,  den  Gefäßen  der  Pflanzen  etc.). 

Außer  diesen  drei  Aggregatzuständen,  welche  also  in  belebten 
wie  in  leblosen  Naturkörpern  gleicherweise  vorkommen,  zeichnen  sich 
nun  aber  die  Organismen  noch  durch  einen  vierten  Aggregatzustand 
aus,  welcher  einem  Teile  der  Kohlenstoffverbindungen  ausschließlich 


V.  I.    Organische  und  anorganische  Stoffe.  57 

eigentttmlicli  ist  und  in  den  Anorganen  nicht  vorkommt,  und  welchen  • 
wir  als  festflüssigen  oder  gequollenen  Aggregatzustand  be- 
zeichnen können.  Es  bildet  dieser  Zustand,  wie  schon  der  Name 
sagt,  eine  eigentümliche  Mittelbildung  zwischen  dem  festen  und 
flüssigen  Zustand  und  ist  in  der  Tat  aus  einer  Verbindung  beider 
hervorgegangen.  Er  kommt  dadurch  zustande,  daß  Flüssigkeit  in 
bestimmter  (innerhalb  gewisser  Grenzen  eingeschlossener)  Quantität 
zwischen  die  Moleküle  eines  festen  Körpers  (einer  Kohlenstoff  Verbindung) 
eindringt  und  dessen  Intermolekularräume  erfüllt.  Diese  Zwischen- 
räume sind  in  denjenigen  organischen  Materien,  w^elche  einer  solchen 
Flüssigkeitsaufnahme  (Quelluug  oder  Imbibition)  fähig  sind,  offenbar 
von  anderer  Beschaffenheit,  als  bei  denjenigen  einfacheren  organischen 
Verbindungen,  welche,  gleich  allen  anorganischen  Verbindungen, 
nicht  Flüssigkeit  zwischen  ihre  Moleküle  aufnehmen  können,  ohne 
selbst  flüssig  zu  werden.  Wahrscheinlich  steht  diese  Fähigkeit  im 
engsten  Kausalzusammenhang  mit  der  komplizierten  Gruppierung  der 
Atome  in  den  betreffenden  Kohlenstoffverbindungen.  Denn  gerade 
diejenigen  organischen  Materien,  welche  in  diesen  Beziehungen  sich 
am  weitesten  von  den  Anorganen  entfernen,  sind  es,  welche  den  fest- 
flüssigen Aggregatzustand  in  der  größten  Ausdehnung  annehmen  können. 
Gerade  diese  höchst  kompliziert  und  locker  zusammengesetzten,  leicht 
zersetzbaren  Kohlenstoffverbindungen,  vor  allen  die  Eiweißstoffe  und 
deren  Derivate,  sind  es  aber  auch,  welche  die  kompliziertesten  Lebens- 
erscheinungen vermitteln,  und  da  diese  Kohlenstoffverbindungen,  als 
die  eigentlichen  aktiven,  organogenen  Stoffe  in  keinem  Organismus 
fehlen,  so  finden  wir  auch  den  für  sie  charakteristischen  gequollenen 
Aggregatzustand  in  allen  Organismen  ohne  Ausnahme  vor. 

Die  allgemeinen  physikalischen  Eigenschaften,  welche 
die  organische  Materie  durch  die  Quellung  oder  Imbibition 
erhält,  sind  für  die  Erklärung  der  Lebenserscheinungen 
von  äußerster  Wichtigkeit.  Indem  nämlich  die  festflüssigen  oder 
gequollenen  Materien  gewisse  Eigentümlichkeiten  des  festen  und  des 
flüssigen  Aggregatzustandes  in  sich  vereinigen,  indem  sie  Festigkeit 
mit  einem  bedeutenderen  Grade  von  Formveränderlichkeit,  Härte 
mit  einem  eigentümlichen  Grade  von  Weichheit  verbinden,  wird 
schon  hieraus  klar,  warum  die  Funktionen  der  organischen  Ma- 
terien weit  differenzierter  und  komplizierter  sein  können,  als  dies 
bei  dem  einfachen  Aggregatzustand  der  Anorgane  jemals  der  Fall 
sein  kann. 


58  Organismen  und  Anorgane.  V. 

Die  Aviclitigsten  aller  sogenannten  Lebenserscheimingen  und, 
gerade  diejenigen  Funktionen  der  organischen  Körper,  welche  man 
gewöhnlich  als  die  charakteristischen  Leistungen  des  Lebens  zu  be- 
zeichnen pflegt,  sind  nur  möglich  dadurch,  daß  die  Materie,  von 
welcher  sie  ausgehen,  sich  wenigstens  teilweis  im  vierten,  im  fest- 
flüssigen Aggregatzustand  befindet.  Die  sogenannten  „animalen"' 
Kräfte  der  Empfindung  und  Bewegung,  welche  von  der  Nerven-  und 
Muskelsubstanz  ausgehen,  wie  die  sogenannten  „vegetativen"  Kräfte 
der  Ernährung  und  Fortpflanzung,  welche  den  verschiedensten  Sub- 
stanzen der  Organismen  inhärieren,  sind  ohne  den  festflüssigen 
Aggregatzustand  ihres  materiellen  Substrates  gar  nicht  denkbar. 
Gerade  die  eigentümliche  Verbindung  von  Festigkeit  und  Flüssigkeit, 
von  Härte  und  Weiche,  von  Starrheit  und  Beweglichkeit,  welche 
durch  die  Lnbibition  gegeben  wird,  bedingt  und  ermöglicht  die  kom- 
plizierteren Molekularbewegungen,  welche  den  angeführten  organischen 
Prozessen  zugrunde  liegen.  Aus  diesen  Gründen  können  wir  den 
Quellungszustand  der  lebenden  Materien  gar  nicht  hoch  genug  an- 
schlagen und  werden  befugt  sein,  in  diesem  festflüssigen  Aggregat- 
zustande der  meisten  Kohlenstoffverbindungen,  gleichwie  in  ihrer 
komplizierteren  Zusammensetzung  aus  verwickelten  Atomgruppen 
(welche  wahrscheinlich  eng  mit  der  Quellungsfähigkeit  zusammen- 
hängt) eine  der  wichtigsten  Grundursachen  des  Lebens  zu  finden. 
Es  wird  daher  zur  Begründung  unserer  monistischen  Lebensbeurteiiung 
hier  gestattet  sein,  bei  dem  Fundamentalphänomen  der  Imbibition 
noch  etwas  zu  verweilen,  zumal  auch  für  die  Form  der  Organismen 
dieser  vierte  Aggregatzustand  von  der  größten  Bedeutung  ist. 


II.  Orgaiiisclie  und  anorganische  Formen. 

II)    1.  Individualität  der  organischen  und   anorganischen  Gestalten. 

So  wenig  zwischen  den  Organismen  und  Anorganen  ein  abso- 
luter, allgemein  durchgreifender  Unterschied  in  der  fundamentalen 
atomistischen  Zusammensetzung  der  Materie,  so^vie  in  den  fundamen- 
talen Kräften,  welche  derselben  inhärieren,  zu  finden  ist,  so  wenig 
existiert  ein  solcher  absoluter  Unterschied  zwischen  beiden  Gruppen 
von  Naturkörpern  auch  in  der  Form,  in  der  inneren  Zusammen- 
setzung und  in  der  äußeren  Gestalt.  Die  sehr  auffallenden  Diffe- 
renzen, welche  in  allen  diesen  Beziehungen  zwischen  leblosen  und 
belebten  Körpern  existieren,  sind  immer  nur  relativer  Natur,  indem 


Y_  II.    Organische  und  anorganische  Formen.  59 

sie  sich  allmählich  abstufen  und  indem  die  kompliziertere  Zusammen- 
setzungsweise und  die  Imbibitionsfähigkeit  der  organischen  Kohlen- 
stoffverbindungen notwendig  eine  kompliziertere  Funktion  und  eine 
kompliziertere  Form  mit  sich  bringt.  Allein  auf  der  untersten  Stufe 
der  so  reich  differenzierten  Organismenwelt  finden  wir  einfachste 
Formen,  welche  in  bezug  auf  Einfachheit  der  Zusammensetzung  und 
Form  nicht  hinter  den  Anorganen  zurückbleiben. 

Wir  haben  bereits  oben  eine  allgemeine  Vergleichung  der  Or- 
ganismen und  Anorgane  bezüglich  der  Zusammensetzung  und  Ent- 
stehung ihrer  Formen  angestellt,  um  die  verschiedenen  Seiten  der 
Formbetrachtung,  mit  welcher  wir  uns  beschäftigen  werden,  klar 
und  scharf  hervortreten  zu  lassen.  Wir  haben  dort  absichtlich  ..die 
wesentlichen  Formuuterschiede  zwischen  Organismen  und  Anorganen 
so  scharf  und  durchgreifend  gegenübergestellt,  wie  dies  fast  von 
allen  Naturforschern  geschieht''.  Nun  haben  wir  aber  gerechter- 
weise auch  die  gewöhnhch  ganz  vernachlässigte  Kehrseite  jener  Be- 
trachtung hervorzuheben  und  zu  untersuchen,  ob  die  dort  hervor- 
gehobenen Differenzen  wirklich  absolut  durchgreifende  sind. 

An  der  Spitze  unserer  vergleichenden  Betrachtung  der  organi- 
schen und  anorganischen  Form  haben  wir  oben  hervorgehoben,  daß 
beiderlei  Formen  uns  gewöhnhch  als  bestimmt  abgeschlossene  räum- 
liche Einheiten,  als  Individuen  entgegentreten.  Hier  ist  nun  zu- 
nächst hervorzuheben,  daß  dies  bei  den  Anorganen  keineswegs 
konstant  der  Fall  ist.  Vielmehr  tritt  uns  die  leblose  Materie  sehr 
häufig  nicht  in  individueller  Form  entgegen.  Dies  gilt  zunächst 
von  allen  Gasen  oder  elastischen  Flüssigkeiten.  Dasselbe  könnte 
ferner  auch  von  allen  tropfbaren  Flüssigkeiten  behauptet  werden, 
falls  man  hier  nicht  die  einzelnen  Tropfen,  welche,  innerhalb  einer 
nicht  mit  ihrem  Stoff  mischbaren  Flüssigkeit,  vermöge  der  Kohäsion 
ihrer  Moleküle  eine  bestimmte  Form  (in  einer  Flüssigkeit  vom  gleichen 
spezifischen  Gewichte  eine  Kugelform)  annehmen,  als  Individuen 
gelten  lassen  will.  Auch  die  festen  Anorgane  treten  sehr  oft  in 
einer  nicht  indi^iduaKsierten  Form  auf,  als  „amorphe"  unregel- 
mäßige Stücke  etc. 

Als  eigenthche  ausgebildete  anorganische  Individuen  können 
wir  nur  die  Kristalle  gelten  lassen,  welche  auch  schon  von  anderen 
Naturforschern  (vorzügHch  von  Schwann)  in  dieser  Beziehmig  unter- 
sucht und  mit  den  organischen  Individuen  vergKchen  worden  sind. 
Doch   müssen  wir   auch  hier  die  Übergangsbildungen  hervorheben. 


60  Organismen  und  Anorgane.  V. 

welche  zwischen  vollkommen  amorphen  mid  rein  kristallinischen 
Körpern  vorkommen,  nnd  welche  man  allgemein  mit  dem  Namen 
der  kristalloidischen  Bildungen  belegen  kann.  Während  bei  den 
vollkommen  amorphen  Anorganen  die  Atome  oder  Moleküle  einfach 
aggregiert,  ohne  jedes  bestimmte  Gesetz  aneinander  gelagert  sind, 
finden  wir  bei  den  Kristalloiden  eine  bestimmte  gesetzmäßige  An- 
lagerung und  Verbindungsweise  der  Moleküle  (z.  B.  in  einer  gewissen 
„stralüigen'"  oder  „blätterigen"  inneren  Struktur)  ausgesprochen,  ohne 
daß  dieselbe  aber,  wie  es  bei  den  echten  Kristallen  der  Fall  sein  muß. 
zur  Bildung  einer  symmetrischen  oder  regulären  prismoiden  Form  führt, 
zu  einer  Form,  welche  von  ebenen  Flächen,  geraden  Linien  und  be- 
stimmten unveränderlichen  Winkeln  und  Ecken  begrenzt  ist. 

Indem  wir  vorher  die  Kristalle  als  die  höchst  entwickelten 
anorganischen  Individuen  den  organischen  Individuen  vergleichend 
gegenübergestellt  hatten,  bemerkten  wir  zunächst,  daß  die  ersteren 
durch  und  durch  homogen,  in  sich  gleichartig,  aus  Molekülen  einer 
und  derselben  Art  zusammengesetzt  seien,  während  die  letzteren  im 
Inneren  heterogen,  in  sich  ungleichartig,  und  aus  Molekülen  nicht 
nur,  sondern  auch  aus  gröberen  Teilen  von  ganz  verschiedener  Art 
zusammengesetzt  seien.  Auf  diese  Zusammensetzung  des  Organismus 
aus  differenten  Teilen,  aus  Organen,  oder  aus  Individuen  verschie- 
dener Ordnung  gründen  wir  im  dritten  Buche  die  Strukturlehre  oder 
Tektologie. 

So  wesentlich  nun  dieser  Unterschied  im  großen  und  ganzen 
ist,  so  haben  wir  hier  doch  zweierlei  gegen  seine  allgemeine  Gültig- 
keit einzuwenden.  Erstens  nämlich  sind  die  Kristalle  in  ihrem 
Inneren  durchaus  nicht,  wie  man  oft  hervorhebt,  vollkonmien  homogen. 
Wenn  auch  die  chemische  Natur  ihrer  Moleküle,  die  Zusammen- 
setzung derselben  aus  Atomen,  gleichartig  ist,  so  gilt  dies  keineswegs 
von  deren  Lagerung  und  Verbindungsweise.  Diese  ist  vielmehr, 
entsprechend  den  verschiedenen  Achsen  des  Kristalls,  nach  verschie- 
denen Richtungen  hin  verschieden,  und  gerade  diese  innere  Un- 
gleichartigkeit,  die  ungleiche  Kohäsion  der  Moleküle  in  verschiedenen 
Richtungen,  ist  für  die  äußere  Form  des  Kristalls  ganz  bedingend. 
Zugleich  bedingt  dieselbe  die  blätterige  Struktur  im  Innern  des  Kri- 
stalls, seine  Zusammensetzung  aus  tibereinander  liegenden  Schichten 
von  verschiedenen  Kohäsionsgraden.  die  Blätterdurchgänge,  welche 
nach  verschiedenen  Richtungen  hin  sich  kreuzen  und  durchschneiden. 
Hierdurch  ist  dann  wieder  der  verschiedene  Widerstand  bedingt,  den 


Y_  II.    Organische  und  anorganische  Formen.  61 

der  Kristall  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  dem  Durchgänge 
des  Lichts,  der  Wärme,  der  Elektrizität  etc.  entgegensetzt.  Kurz,  wir 
sehen,  daß  der  Kristall  durchaus  kein  homogener,  in  sich  gleich- 
artiger Körper  ist,  wie  ein  amorphes  Anorgan,  sondern  vielmehr 
eine  innere  Struktur  besitzt,  wie  der  Organismus;  und  den  Teil 
der  Kristallographie,  welcher  von  dieser  inneren  Struktur  handelt, 
könnte  man  die  Anatomie  der  Kristalle,  oder  besser  noch  die 
Tektologie  der  Kristalle  nennen. 

Wie  wir  nun  so  einerseits  sehen,  daß  die  ..innere  Struktur",  die 
Zusammensetzung  aus  bestimmt  angeordneten  Teilen,  durchaus  keine 
ausschließliche  Eigenschaft  des  Organismus  ist,  so  müssen  wir  zwei- 
tens andererseits  hervorheben,  daß  es  auch  vollkommen  homogene 
Organismen  gibt,  solche  nämlich,  welche  (für  unsere  Hilfsmittel 
wenigstens)  als  durchaus  homogene  und  strukturlose  Körper  erscheinen. 
Dahin  gehören  mehrere,  schon  seit  längerer  Zeit  bekannte,  sogenannte 
„Amöben",  nämlich  diejenigen  einfachsten  Amöbenformen,  welche, 
ohne  Kern  und  ohne  kontraktile  Blase,  bloß  einen  strukturlosen  kon- 
traktilen Eiweißklumpen  darstellen.  Insofern  diese  durchaus  homogenen 
Amöben,  die  sich  durch  Diosmose  ernähren  und  durch  Teilung  fort- 
pflanzen, selbständige  „Spezies"  darstellen,  wollen  wir  dieselben  als 
„Protamoeba",  von  den  eigentlichen,  mit  Kern  und  kontraktiler 
Blase  versehenen  Amöben  unterscheiden.  Ferner  gehören  dahin 
die  merkwürdigen  „Protogenes",  welche  ebenfalls  vollkommen 
homogene  lebende  Eiweißklumpen  (Cytoden)  darstellen,  sich  aber 
durch  sehr  bedeutende  Größe  auszeichnen  und  durch  Anastomose 
der  dünnflüssigeren  (weicheren,  weniger  konsistenten)  formwechselnden 
Körperfortsätze  von  den  dickflüssigeren  (festeren)  Protamöben  (ohne 
Anastomose  der  Pseudopodien)  unterscheiden.  In  allen  diesen  äußerst 
merkwürdigen  und  wichtigen  Organismen  der  niedrigsten  Stufe,  welche 
sich  übrigens  unmittelbar  einerseits  an  die  mit  einer  Schale  versehenen 
Rhizopoden,  andererseits  an  die  Jugendzustände  der  Myxomyceten  an- 
schließen, besteht  der  gesamte  Organismus  aus  einem  volUvommen 
homogenen  lebenden  Eiweißklumpen  (Plasmaklumpen,  Cytoden),  wel- 
cher offenbar  lediglich  vermöge  seiner  atomistischen  Konstitution  als 
ein  leicht  zersetzbarer  und  imbibitionsfähiger  Eiweißstoff  sämtliche 
„Lebens"funktionen  zu  vollziehen  imstande  ist.  Die  Bewegung 
äußern  diese  primitiven  Urwesen  mittels  der  formlosen  und  beständig 
wechselnden  Fortsätze,  welche  sie  von  der  Oberfläche  ausstrecken  und 
welche  das  Resultat  der  gegenseitigen  Lageveränderung  der  Moleküle 


62  Organismen  und  Anorgane.  Y. 

in  der  festflüssigen  Eiweißsiibstanz  sind.  Die  Reizbarkeit  oder  Erreg- 
barkeit äußern  sie  als  Reflexbewegung  durch  bestimmte  Reaktionen, 
durch  Modifikationen  der  Bewegungen,  z.  B.  Zurückziehen  der  Pseudo- 
podien, bei  Berührung  mit  einem  reizausübenden  fremden  Körper, 
einer  in  Essigsäure  getauchten  Nadel  etc.  Die  Ernährung  voll- 
ziehen sie  entweder  dadurch,  daß  sie  die  in  dem  umgebenden  Wasser 
gelösten  einfacheren  Verbindungen:  Kohlensäure,  Ammoniak  etc. 
unmittelbar  zu  verwickelten  Kohlenstoffverbindungen,  zur  Eiweiß- 
substanz des  Protoplasma,  kombinieren;  oder  sie  ernähren  sich  durch 
mechanische  Aufnahme  fester  Stoffe  mittels  der  Pseudopodien,  aus 
denen  sie  dann  die  brauchbaren  Substanzen  durch  Zersetzung  aus- 
ziehen und  assimiheren.  Die  Fortpflanzung  endlich  geschieht  durch 
einfache  Selbstteilung.  Und  doch  haben  diese  Organismen  keine 
,.Organe"!  Sie  sind  so  vollkommen  homogen  als  die  Kristalle,  mor- 
phologisch aber  insofern  noch  unvollkommener,  als  ihre  konstituierenden 
Moleküle  nach  allen  Richtungen  frei  verschiebbar  sind,  und  das  ganze 
Individuum  keine  feste  bleibende  Form  besitzt. 

Um  diese  einfachsten  und  unvollkommensten  aller  Organismen, 
bei  denen  wir  weder  mit  dem  Mikroskop  noch  mit  den  chemischen 
Reagentien  irgend  eine  Differenzierung  des  homogenen  Plasmakörpers 
nachzuweisen  vermögen,  von  allen  übrigen,  aus  ungleichartigen  Teilen 
zusammengesetzten  Organismen  bestimmt  zu  unterscheiden,  wollen 
wir  sie  ein  für  allemal  mit  dem  Namen  der  Einfachen  oder 
Moneren  belegen.  Gewiß  dürfen  wir  auf  diese  höchst  interessanten, 
bisher  aber  fast  ganz  vernachlässigten  Organismen  besonders  die 
Aufmerksamkeit  hinlenken,  und  auf  ihre  äußerst  einfache  Form- 
beschaffenheit bei  völliger  Ausübung  aller  wesentlichen  Lebens- 
funktionen das  größte  Gewicht  legen,  wenn  es  gilt,  das  Leben  zu 
erklären,  es  aus  der  fälschlich  sogenannten  „toten"  Materie  ab- 
zuleiten und  die  übertriebene  Kluft  zwischen  Organismen  und 
Anorganen  auszugleichen.  Lulem  bei  diesen  homogenen  belebten 
Naturkörpern  von  diff'erenten  Formbestandteilen,  von  „Organen"  noch 
keine  Spur  zu  entdecken  ist,  vielmehr  alle  Moleküle  der  struktur- 
losen Kohlenstoffverbindung,  des  lebendigen  Plasma,  in  gleichem 
Maße  fähig  erscheinen,  sämtliche  Lebensfunktionen  zu  vollziehen, 
liefern  sie  klar  den  Beweis,  daß  der  Begriff"  des  Organismus  nur 
dynamisch  oder  physiologisch  aus  den  Lebensbewegungen,  nicht  aber 
statisch  oder  morphologisch  aus  der  Zusammensetzung  des  Körpers 
aus  „Organen"  abgeleitet  werden  kann. 


Y_  IL    Organische  und  anorganische  Formen.  63 

"Wenn  wir  die  Zusammensetzung  des  Körpers  aus  verschieden- 
artigen Teilen  als  Hauptcliarakter  der  Organismen  hervorheben 
wollten,  so  würde  die  Kluft  zwischen  jenen  einfachen,  lebenden 
Plasmaklumpen  und  den  höheren,  aus  Individuen  verschiedener  Ord- 
nung zusammengesetzten  Organismen  viel  größer  erscheinen,  als  die 
Kluft  zwischen  den  ersteren  einerseits  und  den  Kristallen  anderer- 
seits. Die  Moneren  stehen  in  dieser  Beziehung  wirldich  auf  der 
Grenze  zwischen  leblosen  und  lebenden  Naturkörpern.  Sie  leben, 
aber  ohne  Organe  des  Lebens;  alle  Lebenserscheinungen,  Ernährung 
und  Fortpflanzung,  Bewegung  und  Reizbarkeit,  erscheinen  hier  ledig- 
lich als  unmittelbare  Ausflüsse  der  formlosen  organischen  Materie, 
einer  Eiweißverbindung. 

Wir  können  demnach  weder  die  Zusammensetzung  des  Körpers 
aus  ungleichartigen  Teilen  (Organen  etc.),  noch  auch  nur  die  Zu- 
sammensetzung des  Individuums  aus  mehreren  gleichartigen  Individuen 
niederer  Ordnung,  wie  bisher  geschehen,  als  allgemeinen  Charakter 
der  Organismen  festhalten.  Wir  werden  dies  in  Zukunft  um  so 
weniger  können,  als  höchst  wahrscheinlich  eine  vielseitigere  Unter- 
suchung der  Anorgane  nachweisen  wird,  daß  auch  hier  bisweilen 
eine  Zusammensetzung  des  Individuums  aus  mehreren  Individuen 
niederer  Ordnung  vorkommt.  Wir  meinen  hier  die  zusammen- 
gesetzten, teils  rein  kristallinischen,  teils  kristalloiden  Bildungen, 
welche  insbesondere  das  kristallisierende  Wasser  so  leicht  hervor- 
bringt. Offenbar  sind  diese  sehr  mannigfaltigen  und  oft  äußerst 
zusammengesetzten  Gestalten,  welche  wir  als  Eisblumen.  Eisbäume 
etc.  im  Winter  an  unseren  Fensterscheiben  bewundern,  und  durch 
deren  Namen  schon  das  Volk  gleichsam  instinktiv  ihre  morphologische 
Ähnlichkeit  mit  Organismen  andeutet,  derartige  „höhere,  vollkommene" 
Anorgane,  bei  welchen  die  komplizierte  Gestalt  des  Ganzen  aus 
einer  gesetzmäßigen  Vereinigung  untergeordneter  Teile  resultiert.  Offen- 
bar sind  diese  Eisblumen,  Eisblätter  etc.  nach  bestimmten  Gesetzen 
gebildet:  es  sind  Aggregate  von  zahlreichen  einzelnen  Kilstalleu.  von 
vielen  Individuen  niederer  Ordnung,  welche  zur  Bildung  des  höheren 
Ganzen  sich  vereinigt  haben.  Eine  bestimmte  Summe  von  zentralen 
K^•istallindi^dduen  bildet  die  Achse,  um  welche  sich  die  peripherischen 
Indi\iduen,  bestimmten  Anziehungs-  und  Abstoßungsverhältnissen 
jener  Achse  gehorchend,  ansetzen.  Bei  den  komplizierten  Eisbäumen, 
welche  den  zusammengesetzteren  Fiederblättern  z.  B.  von  Farnen 
gleichen,  scheint  jede  Fieder,  jeder  Seitenzweig  der  Hauptachse  selbst 


64  ürganismen  und  Anorgane.  V. 

wieder  die  Ansatzlinie  für  eine  neue  Reihe  nocli  mehr  unterge- 
ordneter Individuen  werden  zu  können  etc.  Auch  vielfach  sonst 
finden  wir  solche  einfachere  und  zusammengesetztere  Kristallaggregate 
(z.  B.  in  vielen  sogenannten  Kristalldrusen)  vor,  welche  ganz  offen- 
bar nicht  gesetzlos  zusammengeworfene  Kristallhaufen  sind,  sondern 
durch  bestimmte  Anziehungs-  und  Abstoßungsverhältnisse  geregelte, 
gesetzmäßige  Bildungen,  in  denen  notwendig  die  komplizierte  Form 
des  Ganzen  aus  der  komplizierten  Zusammenordnung  der  einzelnen 
Teile  resultiert.  Wenn  diese  merkwürdigen  Bildungen  erst  näher 
untersucht  sein  werden,  ist  zu  hoffen,  daß  auch  bei  diesen  ,,Kristall- 
stöcken",  wie  man  sie  nennen  könnte,  bestimmte  Gesetze  gefunden 
w^erden,  welche  den  Zusammentritt  der  Individuen  verschiedener  Ord- 
nung zum  höheren  Ganzen  bestimmen.  Die  Feststellung  dieser 
Gesetze  würde  für  die  Anorgane  dieselbe  Aufgabe  sein,  wie  sie  die 
Tektologie  für  die  Organismen  verfolgt. 

II)   2.   Grundformen   der   organischen   und   anorganischen   Gestalten. 

Als  einen  weiteren  wesentlichen  Unterschied  der  organischen 
und  anorganischen  Individuen  haben  wir  oben  die  Verschiedenheit 
der  äußeren  Gestalt  selbst  bezeichnet.  Bei  den  ausgebildeten  an- 
organischen Individuen,  den  Kristallen,  „ist  die  Form  einer  voll- 
kommen exakten  mathematischen  Betrachtung  ohne  weiteres  zu- 
gänglich, und  mit  der  stereometrischen  Ausmessung  derselben  ist  die 
Aufgabe  ihrer  morphologischen  Erkenntnis  wesentlich  gelöst.  Die 
anorganischen  Individuen  sind  fast  immer  von  ebenen  Flächen, 
geraden  Linien  und  bestimmten  meßbaren  Winkeln  begrentzt.  Die 
organischen  Individuen  hingegen,  deren  Form  einer  stereometrischen 
Behandlung  zugänglich  ist,  sind  seltene  Ausnahmen.  Fast  immer 
ist  ihr  Körper  von  gekrümmten  Flächen,  gebogenen  Linien  und 
unmeßbaren  sphärischen  Winkeln  begrenzt". 

Auch  dieser  Unterschied,  den  wir  absichtlich  oben  so  schroff 
hingestellt  haben,  wie  dies  gewöhnlich  geschieht,  ist  keineswegs  so 
absolut  und  durchgreifend,  wie  man  glaubt.  Vielmehr  kommen  auch 
in  dieser  Beziehung,  wie  überall,  Zwischenformen  und  Übergangs- 
bildungen vor.  Zunächst  ist  hier  hervorzuheben,  daß  auch  voll- 
kommen reine  anorganische  Kristalle  sich  finden,  welche  nicht,  gleich 
den  meisten  anderen,  von  ebenen  Flächen  begrenzt  sind,  die  in 
geradlinigen  Kanten  zusammenstoßen.  Am  wichtigsten  sind  in  dieser 
Beziehung  die  von  gekrümmten  Flächen  eingeschlossenen  Diamant- 


Y  II.  Organische  und  anorganische  Formen.  65 

kristalle.  welche  um  so  bemerkenswerter  sind,  als  der  Kohlenstoff, 
der  hier  in  reinster  Form  sphärische  Kristallflächen  hervorbringt, 
zngieich  dasjenige  chemische  Element  ist,  welches  an  der  Spitze 
der  Organogene  steht  und  die  Avichtigste  Rolle  in  der  Bildnng  der 
organischen  Verbindungen  spielt.  Dasselbe  gilt  auch  vom  Wasser, 
welches  nicht  minder  unentbehrlich  für  das  Zustandekommen  und 
den  Bestand  der  organischen  Formen  ist.  Die  unendlich  mannig- 
faltigen Kristallformen  des  Schnees  und  Eises,  und  vor  allem 
die  sehr  komplizierten,  eben  hervorgehobenen  ,,höheren  und  voll- 
kommeneren" Kristallformen  (Eisblumen,  Eisblätter  etc.).  welche 
aus  Kristallindividuen  niederer  Ordnung  sich  zusammensetzen, 
zeigen  äußerst  häufig  höchst  komplizierte,  einer  stereometrischen 
Betrachtung  gar  nicht  mehr  zugängliche,  gekrümmte  Linien  und 
Flächen. 

Während  so  einerseits  der  Fall  nicht  selten  ist.  daß  auch  reine 
und  vollkommen  geformte  anorganische  Individuen,  gleich  den  orga- 
nischen, nur  gekrümmte  Begrenzungsflächen  und  krumme  Kantenlinien 
zeigen,  die  in  unmeßbaren  Ecken  zusammenstoßen,  so  kommt  anderer- 
seits noch  häufiger  der  Fall  vor,  daß  auch  organische  Individuen, 
gleich  den  meisten  anorganischen  Kristallen,  vollkommen  ebene  Be- 
grenzungsflächen darbieten,  welche  sich  in  geraden  Linien  schneiden 
und  in  meßbaren  Raumecken  zusammenstoßen.  Wir  meinen  hier 
nicht  die  Kristalle  organischer  Kohlenstoffverbindungen  (z.  B.  Zucker, 
organische  Säuren.  Fette  etc.),  da  wir  diese  nicht  als  wirkliche  orga- 
nische Individuen,  d.  h.  als  physiologische  Lebenseinheiten,  ansehen 
können :  wir  meinen  vielmehr  die  bisher  auffallend  vernachlässigten, 
äußerst  interessanten  Organismen  aus  dem  Rhizopodenstamme,  welche 
besonders  in  der  Radiolarienklasse  einen  so  außerordentlichen  Formen- 
reichtum entwickeln  und  hier  zum  Teil  vollständig,  in  ihrer  gesamten 
Körperform,  und  vor  allem  in  ihrer  Skelettbildung,  die  reinsten  und 
regelmäßigsten  Kristallformen  (Tetraeder,  reguläre  Oktaeder.  Quadrat- 
Oktaeder,  Rhomben-Oktaeder,  dreiseitige  Prismen  etc.)  darstellen. 

Im  ganzen  genommen  ist  freilich  die  Zahl  dieser  Organismen 
in  Kristallform  gering,  und  es  muß  ausdrücklich  hinzugefügt  werden, 
daß  es  immer  nur  ein  Teil  des  Körpers  ist  (wenn  auch  oft  der 
größte,  und  häufig  der  einzige  feste  und  geformte  Teil),  welcher 
die  einfache  Kristallform  annimmt.  Denn  zu  diesem  (meist  aus 
Kieselsäure  gebildeten)  Kristallskelett  kommt  stets  noch  zum  minde- 
sten die  amorphe  Sarkode,   das  lebende  Protoplasma,  hinzu.     Diese 

Haeckel.   Prinz,  d.  Morphol.  O 


66  Organismen  und  Anoigane.  V. 

letztere  kann  allein  die  Lebensbewegung^en  vermitteln,  denen  auch 
jener  Skelettkristall  seine  Entstehung  verdankt. 

Bei  der  Mehrzahl  der  Organismen  ist  die  Kristallform  gewöhnlich 
schon  deshalb  ganz  oder  größtenteils  ausgeschlossen,  weil  der  ganze 
Körper,  oder  doch  der  größte  Teil  desselben,  aus  imbibitionsfähiger 
Materie  besteht.  Kristallisation  und  Imbibition  schließen  sich  aber, 
wie  oben  bemerkt,  aus.  Wir  haben  daher  gewiß  in  der  für  das 
Leben  unentbehrlichen  Quellungsfähigkeit  der  organischen 
Materien  die  nächste  Ursache  für  die  nicht  kristallinische 
Form  der  meisten  Organismen  zu  suchen. 

Nächst  der  Irabibitionsfähigkeit,  und  in  der  nächsten  Beziehung 
und  Verbindung  mit  ihr,  ist  es  dann  ferner  die  unbegrenzte  Varia- 
bilität der  Organismen,  welche,  wie  oben  bemerkt,  eine  stereo- 
metrische Betrachtung,  Ausmessung  und  Berechnung  der  meisten 
organischen  Formen  in  gleicher  Weise,  wie  sie  die  Kristallographie 
für  die  Anorgane  gibt,  illusorisch  macht.  Die  Individuen  der  orga- 
nischen ,,Arten"  (Spezies)  sind  nicht,  wie  die  Individuen  der  anorga- 
nischen Arten,  einander  (innerhalb  des  Speziesbegriffes)  gleich,  oder 
auch  nur  in  allen  wesentlichen  Stücken  ähnlich.  Vielmehr  haben 
wir  die  allgemeine  Veränderlichkeit  und  Anpassungsfähigkeit  aller 
Organismen  als  eine  äußerst  wesentliche  Grundeigenschaft  derselben 
zu  konstatieren.  Indem  alle  Individuen  untereinander  ungleich  sind 
und  daher  auch  eine  gemeinsame  stereometrische  Grundform  nur  für 
eine  bestimmte  Summe  von  Individuen,  welche  innerhalb  eines  be- 
schränkten Zeitraums  (z.  B.  einige  geologische  Perioden  hindurch) 
existieren,  aufgestellt  werden  kann,  so  würde  die  genaueste  stereo- 
metrische Ausmessung  und  Berechnung  der  Organismenformen,  ihrer 
komphzierten  gekrümmten  Begrenzungsflächen,  Linien  etc.,  auch  wenn 
sie  möglich  wäre,  nur  ein  ganz  untergeordnetes  Interesse  haben. 
Dagegen  ist  eine  allgemeine  Betrachtung  der  stereometrischen  Grund- 
formen, welche  den  Organismenformen  zugrunde  liegen,  allerdings 
möglich  und  innerhalb  gewisser  Schranken  ausführbar.  In  gewissem 
Sinne  entspricht  diese  Promorphologie  der  Kristallographie,  ist  das 
Äquivalent  einer  ,.Kristallographie  der  Organismen",  und  man  kann 
diesen  Vergleich  noch  durch  die  Erwägung  näher  begründen,  daß 
auch  bei  den  reinen  anorganischen  Kristallen  die  vollkommene  stereo- 
metrische Grundform  äußerst  selten  (oder  nie)  in  der  Natur  realisiert 
vorkommt  und  daher  stets  mehr  oder  minder  eine  (durch  Ergänzung 
vieler  einzelner  verglichener  konkreter  Kristallindividuen   erhaltene) 


Y_  III.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  67 

ideale  Abstraktion  darstellt.  Die  Unvollkoniinenheiten  der  aller- 
meisten realen  Kristallindividuen  sind  durch  Anpassung  ihrer  Form 
an  die  Umgebung  bestimmt,  welche  während  ihrer  Entstehung  wirk- 
sam war.  In  gleicher  Weise,  nur  in  viel  höherem  Grade,  wirkt  die 
Anpassung  an  die  umgebenden  Existenzbedingungen  auf  die  werdenden 
Organismen  ein.  weshalb  hier  die  individuelle  Verschiedenheit  so 
sehr  viel  beträchtlicher  ist.  und.  indem  sie  viele  Generationen  hin- 
durch vererbt  und  durch  Vererbung  in  Verbindung  mit  fortdauernder 
Abänderung  gehäuft  wird,  schließlich  zur  Entstehung  ganz  neuer 
Formen  führt. 

III.  Org:aiiische  und  anorganische  Kräfte. 

III)    1.    Lebenserscheinungen    der    Organismen    und     physikalische 

Kräfte  der  Anorgane. 

Durch  die  vorhergehenden  Untersuchungen  glauben  wir  gezeigt 
zu  haben,  daß  sowohl  in  der  elementaren  Konstitution  und  in  der 
chemischen  Zusammensetzung  der  Materie,  als  auch  in  der  Form,  in 
welcher  sich  dieselbe  individualisiert,  durchaus  keine  so  wesentHchen 
und  absoluten  Unterschiede  zwischen  Organismen  und  Anorganen 
existieren,  wie  dies  gewöhnlich  angenommen  wird.  Die  wirldich  vor- 
handenen Unterschiede  erklären  sich  aus  der  komplizierteren  Art  und 
Weise,  in  welcher  die  Atome  der  Elemente  in  den  organischen  Kör- 
pern zu  verwickeiteren  Atomgruppen  (Molekülen)  zusammentreten, 
und  ganz  besonders  aus  der  außerordentlichen  Fähigkeit  des  Kohlen- 
stoffs, mit  mehreren  verschiedenen  Atomarten  sich  in  sehr  verwickelter 
Weise  zu  verbinden.  Es  ist  lediglich  diese  verwickeitere  atomistische 
Konstitution  der  Kohlenstoffverbindungen  und  die  damit  zusammen- 
hängende leichte  Zersetzbarkeit  derselben,  die  ungewöhnliche  Neigung 
und  Fähigkeit  der  Atome,  ihre  gegenseitige  Lagerung  und  Gruppierung 
zu  ändern,  welche  den  organischen  Materien  zum  Teil  besondere 
physikalische  Eigenschaften  verleiht.  Von  diesen  ist  die  wichtigste 
der  festflüssige  Aggregatzustand,  die  Quellungsfähigkeit.  Nun  entsteht 
aber  die  Frage,  ob  denn  auch  alle  die  verwickeiteren  Bewegungs- 
erscheinungen der  Materie,  welche  man  unter  dem  Kollektivbegriff 
des  ..Lebens"  zusammenfaßt,  sich  ledighch  aus  dieser  komphzierteren 
Konstitution  der  organischen  Materie  und  der  dadurch  bedingten  im- 
bibitionsfähigen  Form  erklären  lassen.  Wir  haben  den  Beweis  zu 
führen,  daß  dies  in  der  Tat  der  Fall  ist.  und  daß  sämtliche  Lebens- 
erscheinungen der  Organismen  ohne  Ausnahme  ebenso  unmittelbare 


68  Organismen  und  Anorgane.  V, 

und  notwendige  Wirkungen  der  geformten  organischen  Materie  sind, 
als  die  physikalischen  Eigenschaften  jedes  Kristalles  unmittelbare 
und  notwendige  Folgen   seiner  Form  und   stofflichen  Qualität   sind. 

III)     2.    Wachstum   der  organischen   und   anorganischen  Individuen. 

Der  Ausdruck  ..Leben"  ist,  wie  bemerkt,  nichts  anderes  als 
eine  Kollektivbezeichnung  für  eine  Summe  von  komplizierteren  Be- 
wegungserscheinungen der  Materie,  welche  nur  den  Organismen  eigen 
sind  und  den  Anorganen  allgemein  fehlen.  Es  entsteht  aber  hier 
zunächst  die  Frage,  ob  denn  wirklich  alle  sogenannten  Lebens- 
erscheinungen durchaus  ohne  Analogon  in  der  leblosen  Natur  sind. 
Wenn  wir  nun  in  dieser  Beziehung  die  molekularen  Lebensbewegungen 
der  organischen  Individuen  mit  den  molekularen  Bewegungen,  welche 
wir  bei  anorganischen  Indi\iduen.  insbesondere  bei  Kristallen,  wahr- 
nehmen, vergleichen,  so  tritt  uns  als  verwandte  Erscheinung  zunächst 
diejenige  des  Wachstums  entgegen. 

Die  Erscheinungen  des  Wachstums  in  den  anorganischen  und 
organischen  Individuen  sind  schon  vielfach  und  mit  Recht  verglichen 
worden:  und  zweifelsohne  ist  hier  der  Punkt,  von  welchem  unsere 
Vergleichung  am  besten  ausgehen  kann.  Bei  allen  Naturkörpern 
besteht  die  Erscheinung  des  Wachstums  darin,  daß  die  räumliche 
Ausdehnung  und  die  Masse  des  Individuuns  allmählich  zunimmt, 
indem  dasselbe  durch  eigene  Tätigkeit  fremde,  außerhalb  befindliche 
Massenteilchen  anzieht.  Bei  den  Kristall  Individuen  wird  sowohl 
ihr  Wachstum,  als  auch  ihre  Entstehung  allgemein  und  ohne  Wider- 
spruch zurückgeführt  auf  elementare  Gesetze  der  Anziehung  und 
Abstoßung  der  Moleküle  einer  homogenen  Materie.  Für  die  Wirk- 
samkeit dieser  Gesetze  ist  der  flüssige  Aggregatzustand  (entweder 
als  Lösung  oder  als  Schmelzung)  unbedingt  erforderlich. 

Offenbar  sind  es  dieselben  großen  und  einfachen  Gesetze  der 
Massenanziehung  und  der  chemischen  Wahlverwandtschaft,  welche 
die  Autogonie  verschiedener  Moneren,  d.  h.  die  spontane  Entstehung* 
von  homogenen  strukturlosen  Urorganismen  in  einer  anorganischen 
Flüssigkeit,  und  welche  die  gesonderte  Entstehung  der  verschiedenen 
Kiistalle  in  einer  gemischten  Mutterlauge  bedingen.  Hier  wie  dort 
erfolgt  die  Bildung  der  festen  Körper  aus  der  Flüssigkeit  mit  Not- 
wendigkeit, durch  die  ureigene  Kraft  der  Materie,  ohne  Zutun  einer 
davon  verschiedenen,  zweckmäßig  wirkenden  Kraft.  Dieselbe  funda- 
mentale  Übereinstimmung   zeigt    sich    nun   auch   weiterhin    in   dem 


V.  III-    Organische  und  anorganische  Kräfte.  69 

Wachstum  der  ..spontan"  entstandenen  Formen.  Das  Wachstum 
beruht  in  allen  Fällen  darauf,  daß  der  vorhandene  feste  Körper  als 
Attraktionszentrum,  als  Anziehungsmittelpunkt  wirksam  ist,  und  daß 
die  Anziehungskraft,  welche  die  in  demselben  inniger  verbundenen,  sich 
näher  liegenden  Moleküle  auf  ihre  Umgebung  ausüben,  die  schwächere 
Kohäsion  der  in  der  umgebenden  Flüssigkeit  gelösten  Moleküle  über- 
wiegt. Indem  die  letzteren  weiter  voneinander  abstehen,  sich  weniger 
stark  in  ihrer  gegenseitigen  Lage  zu  erhalten  vermögen,  folgen  sie  der 
stärkeren  Anziehung,  welche  von  dem  bereits  gebildeten  festen  Körper 
ausgeht;  sie  gehen  nun  ebenfalls  in  den  festen  Aggregatzustand  über. 
Sowohl  der  wachsende  Kiistall,  als  das  wachsende  Moner  zieht, 
wie  jede  andere  Cytode  und  wie  jede  Zelle,  aus  der  umgebenden 
Ernährungsfiüssigkeit  nur  diejenigen  Substanzen  an,  welche  es  zu 
seinem  individuellen  Wachstum  braucht,  und  trifft  daher,  wenn  viele 
verschiedene  ernährende  Substanzen  untereinander  in  der  Flüssigkeit 
gelöst  sind,  zwischen  diesen  eine  bestimmte  Auswahl.  Bei  der  Kri- 
stallisation der  Anorgane  zeigt  sich  dieses  Phänomen  ganz  einfach 
darin,  daß.  wenn  in  einer  Mutterlauge  viele  verschiedene  Salzlösungen 
untereinander  gemischt  sich  befinden,  beim  Abdampfen  derselben  alle 
einzelnen  Salze  gesondert  heraus  kristallisieren,  indem  das  Gleiche 
stets  das  Gleiche  anzieht.  Beim  Wachstum  aller  Organismen  zeigt 
sich  dasselbe  Grundgesetz  in  dem  Phänomen  der  Assimilation,  indem 
z.  B.  in  einem  Teiche,  in  w^elchem  viele  einzellige  Algen  und  Pro- 
tisten untereinander  leben,  jede  nur  diejenigen  bestimmten  Salze, 
diejenigen  Quantitäten  der  organischen  Verbindungselemente  in  sich 
aufnimmt,  welche  zur  Bildung  von  organischer  Substanz  ihresgleichen 
dienen.  Offenbar  beruht  diese  wichtige  Erscheinung,  welche  die 
Gleichartigkeit  der  chemischen  Substanz  ganz  ebenso  in  dem  struktur- 


ö' 


losen  Monere,  wie  in  dem  Kristalle  bedingt,  auf  denselben  Gesetzen 


ö' 


der  molekularen  Anziehung  und  Abstoßune,-.     Dieselben  Gesetze   der 


&• 


chemischen  Wahlverwandtschaft  und  der  physikalischen  Massen- 
anziehung bewirken  zusammen  in  gleicher  Weise  das  Wachstum  der 
Organismen  und  der  Anorgane. 

Wenn  wir  uns  nun  von  den  strukturlosen  Moneren  zu  den 
höheren  Organismen  wenden,  deren  Leib  aus  einem  Komplex  von 
differenzierten  Zellen  besteht,  so  finden  wir  auch  hier  dieselben  ein- 
fachen und  großen  Gesetze  wirksam,  und  nur  dadurch  häufig  sehr 
versteckt,  daß  die  unendlich  verwickeitere  Zusammensetzung  der 
höheren   organischen  Individuen  aus  sehr  verschiedenartigen  Teilen 


70  Organismen  und  Anorgane.  V. 

aucli  innner  unendlich  verwickeitere  Bedingungen  des  Wachstums  und 
der  Stoffauswahl  setzt.  So  z.  B.  zieht  bei  den  höheren  Tieren  aus  der 
gemeinsamen  Ernährungsflüssigkeit,  dem  höchst  zusammengesetzten 
Blute,  jede  einzelne  Zelle,  jedes  einzelne  Organ  nur  diejenigen  be- 
stimmten Bestandteile  an  sich,  welche  seinesgleichen  sind,  welche 
es  zu  seiner  individuellen  Vergrößerung  braucht,  und  verschmäht  die 
übrigen.  Aber  selbst  für  diesen  komplizierteren  organischen  AVachs- 
tumsprozeß  gibt  es  Analoga  in  der  anorganischen  Natur.  Dahin 
gehört  das  bekannte  Experiment,  welches  schon  von  Reil  1796  in 
seiner  klassischen  Abhandlung  „von  der  Lebenskraft"'  benutzt  wurde, 
um  zu  zeigen,  daß  die  „Assimilation",  die  Ernährung  und  das  Wachstum 
der  Tiere  nichts  weiter  seien  als  eine  „tierische  KristaUisation",  d.  h. 
..eine  Anziehung  tierischer  Materie  nach  Gesetzen  einer  chemischen 
Wahlverwandtschaft".  Wenn  man  nämlich  in  eine  Auflösung  von 
Salpeter  und  Glaubersalz  einen  Salpeterkristall  hineinlegt,  so  kristalli- 
siert nur  der  Salpeter  heraus,  und  das  Glaubersalz  bleibt  gelöst; 
wenn  man  dagegen  umgekehrt  in  dieselbe  gemischte  Auflösung  einen 
Glaubersalzkristall  hineinlegt,  so  kristallisiert  nur  das  Glaubersalz 
heraus,  und  der  Salpeter  bleibt  gelöst. 

Diese  wichtige  Erscheinung,  welche  uns  die  Gleichheit  der  ein- 
fachen Grundursachen  im  Wachstum  der  Organismen  und  Anorgane 
beweist,  führt  uns  unmittelbar  zu  einem  weiteren  wichtigen  Grund- 
gesetz des  Wachstums,  das  sich  ebenfalls  auf  bestimmte  Verhältnisse 
der  Massenanziehung  gründet.  Es  folgt  nämlich  aus  jenem  instruk- 
tiven Versuche  unmittelbar,  daß  ein  bereits  gebildeter  fester  Körper 
in  seiner  Mutterlauge  (d.  h.  in  einer  Flüssigkeit,  welche  die  ihn  zu- 
sammensetzenden eigenen  Stoffe  gelöst  enthält)  eine  stärkere  Anziehung 
auf  die  umgebenden  in  der  Flüssigkeit  gelösten  Moleküle  ausübt,  als 
diese  unter  sich  auszuüben  vermögen.  Ist  daher  einmal  in  einer 
solchen  Bildungsflüssigkeit  ein  fester  Körper  vorhanden,  so  wirkt 
dieser  als  Anziehungsmittelpunkt  und  vermag  nun  gleichartige  ]\Iaterie, 
welche  in  der  Flüssigkeit  gelöst  ist,  aus  dem  flüssigen  in  den  festen 
Aggregatzustand  überzuführen,  und  zwar  unter  Umständen,  unter  denen 
dieser  Übergang  (das  Festwerden)  ohne  Anwesenheit  des  festen  Körpers 
nicht  erfolgt  wäre.  Auch  dieses  wichtige  Gesetz  wird  sicher  in  ganz 
gleicher  Weise  für  die  Organismen  wie  für  die  Anorgane  gelten  und 
wird  namentlich  dann  zu  berücksichtigen  sein,  wenn  es  sich  um  die 
Autogenie  der  Moneren  handelt,  welche  offenbar  ein  der  primitiven 
Kristallbildung  in  der  Mutterlauge  ganz  analoger  Prozeß  ist. 


V,  in.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  71 


III)    3.    Selbsterhaltung  der  organischeTX  und  anorganischen 

Individuen. 

Gleich  der  Kraft  des  Wachstums  ist  auch  die  Kraft  der  Selbst- 
erliahung"  eine  allgemeine  Funktion  der  Naturkörper.  Jedes  orga- 
nische und  jedes  anorganische  Individuum  erhält  sich  einen  beschränk- 
ten Zeitraum  hindurch  selbst,  so  lange  nämlich,  als  es  die  Wechsel- 
wirkung seiner  eigenen  Materie  mit  derjenigen  seiner  Umgebung 
gestattet. 

Die  Tätigkeit  der  Selbsterhaltung  ist  nun  zwar  allen  Natur- 
körpern gemeinsam,  äußert  sich  aber  doch  bei  den  organischen  und 
anorganischen  Individuen  in  sehr  verschiedenen  Erscheinungen.  Bei 
den  Organismen  ruft  dieselbe  die  verwickelten  Bewegungserschei- 
nungen  der  Ernährung  oder  des  Stoffwechsels  hervor.  Diese 
Funktionen  sind  für  den  Bestand  des  Organismus  ebenso  wie  für 
seine  sämtlichen  übrigen  Lebenserscheinungen  die  notwendige  Unter- 
lage. Denn  alle  anderen  Funktionen,  Willensbewegimg  und  Emp- 
findung, Sinnestätigkeit  und  Fortpflanzung,  beruhen  auf  molekularen 
Bewegungserscheinungen,  welche  erst  durch  den  Stoffwechsel  und 
die  Ernährung  möglich  w^erden.  Alle  diese  Bewegungen  beruhen 
im  Grunde  darauf,  daß  durch  Bildung  chemischer  Verbindungen 
gewisse  bewegende  Kräfte  frei  werden,  welche  in  den  unverbundenen 
Materien  gebunden  waren;  darauf  also,  daß  gebundene  oder  Spann- 
kräfte in  lebendige  Kräfte  übergehen.  Der  Vorrat  an  Spann- 
kraft, welcher  bei  dem  Übergang  in  lebendige  Kraft  verbraucht 
wurde,  muß  ersetzt  werden,  wenn  das  organische  Individuum  weitei'- 
existieren  soll,  und  dieser  notwendige  Ersatz  wird  durch  die  Ernäh- 
rung geliefert.  Die  Ernährung  beruht  nun  wieder,  wie  das  Wachstum 
der  Organismen,  darauf,  daß  die  neu  erworbenen  assimilierten  Mole- 
küle in  das  Innere  des  Körpers  hineingeführt  w^erden  und  hier  die 
Stelle  derjenigen  Moleküle  einnehmen,  welche  bei  der  Arbeitsleistung 
des  Organismus  verbraucht  w^urden.  Diese  Einführung  neuer  Sub- 
stanz und  ihre  Assimilation,  welche  das  Wesen  der  Ernährung 
ausmacht,  ist  wieder  nur  möglich  mittels  des  festflüssigen  Aggregat- 
zustandes, und  es  erklärt  sich  hieraus,  warum  die  anorganischen 
Individuen  der  Ernährung  nicht  fähig  sind.  Sie  sind  ihrer  aber 
auch  nicht  bedürftig.  Sämtliche  belebte  Naturkörper  existieren  nur, 
sie  können  ihre  Existenz  nur  behaupten,  indem  sie  sieh  beständig, 
wenn    auch   langsam,   zersetzen;    alle  sind  sie  eingeschlossen  in  ein 


72  Organismen  und  Anorgane.  V. 

Medium  (Luft,  Wasser,  Inneres  eines  anderen  Organismus),  in 
welchem  sie  sich  notwendig  zersetzen  müssen.  Denn  die  Biklung 
der  Verbindungen,  durch  welche  die  lebendigen  Kräfte  frei  werden, 
ist  verbunden  mit  einer  Zersetzung  der  vorhandenen  Materie.  Die 
gebundenen  Spannkräfte,  welche  eben  bei  dieser  Zersetzung  frei  und 
zu  lebendigen  Kräften  werden,  veranlassen  durch  ihre  Bewegungen 
die  notwendigen  Lebenserscheinungen.  Der  dabei  beständig  wirk- 
samen Gefahr  des  Unterganges,  des  Todes,  entziehen  sich  die  orga- 
nischen Individuen  durch  die  Ernährung,  welche  jener  Zersetzung 
entgegenwirkt.  Sie  müssen  daher,  um  ihre  Existenz  zu  fristen,  um 
zu  ..leben",  sich  in  beständigem  Stoffwechsel  befinden,  sich  be- 
ständig zersetzen  und  ernähren,  und  dies  ist  nur  mittels  der  Imbi- 
bition möglich.  Wenn  diese  Wechselwirkung  zwischen  der  Zersetzung 
und  der  Ernährung  der  festflüssigen  Materie  aufhört,  tritt  der  Tod 
ein.  Sämtliche  anorganische  Individuen  dagegen  können  sich  nie- 
mals zersetzen,  ohne  dadurch  ihre  Existenz  als  solche  aufzugeben. 
Weil  sie  nicht  imbibitionsfähig  sind,  können  sie  sich  nicht  ernähren, 
und  wenn  sie  sich  zersetzen,  so  ist  dies  ihr  Tod.  So  wenig  aber 
die  Kristalle  sich  zersetzen  können,  ohne  ihre  individuelle  Form  und 
damit  ihren  individuellen  Charakter  aufzugeben,  so  wenig  bedürfen 
sie  der  Zersetzung,  um  sich  zu  erhalten.  Und  hierin  liegt  gleichfalls 
ein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  den  organischen  und  anorga- 
nischen Individuen,  der  sich  ebenfalls  auf  ihren  verschiedenen  Ag- 
gregatzustand zurückführen  läßt.  Denn  der  feste  Aggregatzustand 
der  Kristalle,  welcher  die  inneren  Bewegungserscheinungen  aus- 
schheßt,  die  für  das  Leben  des  festflüssigen  Organismus  unentbehrlich 
sind,  verleiht  denselben  zugleich  die  Fähigkeit  der  Selbsterhaltung, 
ohne  daß  Stoffwechsel  für  die  Konservation  erforderlich  ist. 

III.    4.    Anpassung   der    organischen    und    anorganischen   Individuen. 

Die  Anpassung  oder  Adaptation  ist  diejenige  formbildende 
Funktion  der  Naturkörper,  welche  die  unendlich  mannigfaltigen  in- 
dividuellen Charaktere  bedingt,  durch  welche  sich  alle  Individuen 
einer  und  derselben  Art  voneinander  unterscheiden. 

Wir  haben  schon  oben,  wo  wir  absichtlich  die  Differenzen  in 
der  Form  und  Entstehung  der  organischen  und  anorganischen  Indi- 
viduen möglichst  schroff  gegenüberstellten,  einen  der  wichtigsten 
Unterschiede  darin  gefunden,  daß  alle  anorganischen  Individuen,  die 
einer    und    derselben    Art    angehören    und    dieselbe    chemische  Zu- 


Y.  III.    Olganische  und  anorganische  Kräfte.  73 

sammensetzung  haben,  auch  vollkommen  dieselbe  wesentliche  Form 
zeigen  und  sich  nur  durch  ihre  absolute  Größe  unterscheiden.  Die 
Kristalle  einer  anorganischen  Spezies  zeigen  nicht  die  durch  die 
Variabilität  bedingten  individuellen  Verschiedenheiten,  welche  alle 
verschiedenen  Individuen  einer  und  derselben  organischen  Spezies 
auszeichnen,  und  es  bleibt  daher  auch  die  anorganische  Art  im 
Laufe  der  Zeit  vollkommen  unveränderlich,  konstant,  während  die 
organischen  Spezies  durch  fortschreitende  Divergenz  ihrer  variablen 
Individuen  eine  endlose  Reihe  ganz  verschiedener  Formen  erzeugen. 
Da  den  Anorganen  die  Fortpflanzung  fehlt,  so  fehlt  ihnen  auch  die 
Fähigkeit  der  erblichen  Übertragung  von  solchen  Charakteren,  die 
durch  Anpassung  erworben  sind. 

Dennoch  bedarf  unsere  obige  Bemerkung  einer  bedeutenden  Ein- 
schränkung. Individuelle  Verschiedenheiten  finden  sich  auch 
unter  den  anorganischen  Individuen  ganz  allgemein  vor.  und 
zwar  sind  sie  die  Folge  der  Anpassung  an  die  Verhältnisse,  unter 
denen  das  Kristallindividuuni  sich  bildete.  Bei  Untersuchung  dieses 
wichtigen  Verhältnisses  muß  man  vor  allem  immer  im  Auge  behal- 
ten, daß  bei  der  Entstehung  aller  individuahsierten  Naturkörper,  bei 
der  Bildung  jedes  Kristalls,  wie  bei  der  Bildung  jedes  Organismus, 
stets  zwei  verschiedene  Prinzipien  oder  gestaltende  Mächte  einander 
entgegenwirken.  Das  eine  Prinzip  ist  beim  Kristall  wie  beim  Orga- 
nismus die  Summe  der  spezifischen  physikalischen  und  chemischen 
Eigenschaften,  welche  seiner  Materie  inhärieren.  Beim  Organismus, 
der  sich  nicht  selbst  erzeugt,  sondern  von  anderen  Individuen  seines- 
gleichen durch  Fortpflanzung  erzeugt  wird,  sehen  wir  diese  Erschei- 
nung als  die  notwendige  Wirkung  der  Erblichkeit  an,  welche  alle 
wesentlichen  Eigenschaften  des  Organismus  auf  seine  Nachkommen 
überträgt.  Beim  Kristall  dagegen  betrachten  wir  diese  Erscheinung 
als  den  unmittelbaren  Ausfluß  seiner  materiellen  Konstitution, 
d.  h.  der  spezifisch  bestimmten  Art  und  Weise,  in  welcher  sich  gesetz- 
mäßig eine  bestimmte  Anzahl  von  Atomen  zu  bestimmten  Molekülen 
zusammensetzt.  Durch  einfache  Attraktion  dieser  Moleküle  entsteht 
die  charakteristische  Form  des  Kristalls.  Eine  schärfere  Vergieichung 
ergibt  nun  alsbald,  daß  auch  in  dieser  Beziehung  kein  wesentlicher 
Unterschied  zwischen  den  Organismen  nnd  Anorganen  existiert. 
Denn  auch  die  Erblichkeit  beruht  auf  der  materiellen  Kontinuität 
des  elterlichen  und  des  von  ihm  erzeugten  Organismus,  und  wir 
können  die  fundamentale  Erscheinung  der  Erblichkeit,  der  erblichen 


74  Organismen  und  Anorgane.  V. 

Übertragung  biologischer  Funktionen  durch  nichts  anderes  erklären, 
als  durch  die  Übertragung  der  spezifisch  konstituierten  Materie  selbst. 
Die  Erblichkeit  der  Organismen  wirkt  vollkommen  äquivalent  der 
atomistischen  Konstitution  der  Anorgane;  hier  wie  dort  ist  es  die 
Materie,  welche  sämtliche  allgemeinen  Funktionen  (die  Lebens- 
erscheinungen der  Organismen,  die  physikalischen  und  chemischen 
Kräfte  der  Anorgane)  unmittelbar  als  Causa  efficiens  mit  absoluter 
Notwendigkeit  bedingt. 

Diesem  mächtigen  gestaltenden  Prinzip,  welches  der  Materie 
des  sich  bildenden  Individuums  (gleicherweise  des  Kristalls  wie  des 
Organismus)  unmittelbar  inhäriert,  und  welches  wir  demgemäß  all- 
gemein als  die  innere  Gestaltungskraft  oder  den  inneren 
Bildungs trieb  bezeichnen  werden,  wirkt  nun  beständig  und  überall 
entgegen  die  zweite  formbildende  Macht,  welche  die  zahllosen  Eigen- 
tümlichkeiten der  individuellen  Bildungen  bedingt,  durch  die  sich 
alle  Einzelwesen  jeder  Art  voneinander  unterscheiden.  Diese  nicht 
minder  wichtige  Funktion  des  werdenden,  des  sich  gestaltenden 
Individuums  können  wir  allgemein  als  Anpassung  (Adaptatio. 
Accommodatio)  bezeichnen,  oder,  im  Gegensatz  zu  ihrem  Antago- 
nisten, als  äußere  Gestaltungskraft  oder  äußeren  Bildungs- 
trieb. Die  allgemeine  Existenz  und  Wirksamkeit  dieser  formbilden- 
den Potenz  wird  einfach  durch  die  Tatsache  bedingt,  daß  kein 
einziger  Naturkörper  isoliert  im  Räume  sich  bildet  und  existiert, 
daß  vielmehr  sämtliche  Naturkörper  sich  bilden  und  existieren  in 
Wechselwirkung  mit  den  anderen  Naturkörpern,  welche  sie  unmittel- 
bar von  allen  Seiten  umgeben.  Die  allgemeine  Wechselwirkung 
der  gesamten  Materie  tritt  uns  hier  als  eines  der  obersten  und 
wichtigsten  Naturgesetze  gegenüber,  welches  unmittelbar  mit  deih  all- 
gemeinen Kausalgesetze  zusammenhängt.  Die  innere  Gestaltungs- 
kraft jedes  Teils  der  Materie,  der  innere  Bildungstrieb  jedes  einzelnen 
Naturkörpers,  als  die  aus  ihrer  atomistischen  Konstitution  unmittel- 
bar entspringende  Kraftsumme  kann  niemals  rein  und  ungestört  die 
individuelle  Bildung  vollenden.  Denn  beständig  wird  sie  gestört 
von  der  entgegenwirkenden  äußeren  Gestaltungskraft  der  umschließen- 
den Materie,  von  dem  äußeren  Bildungstriebe  aller  einzelnen  Natur- 
körper, welche  sie  unmittelbar  oder  mittelbar  umgeben.  Da  nun 
die  Summe  dieser  von  außen  einwirkenden  Kräfte  überall  eine  ver- 
schiedenartige, überall  aus  verschiedenen  Komponenten  zusammen- 
gesetzt ist,  so  muß  auch  ihre  Wirkung  auf  ein  und  dieselbe  Materie 


Y.  in.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  75 

in  jedem  individuellen  Falle  verschieden  sein  und  lediglich  diese 
Wechselwirkung  jedes  Individuums  mit  seiner  gesamten  Umgebung 
ist  es,  welche  als  Anpassung  seine  besonderen  individuellen  Cha- 
raktere bedingt. 

Versuchen  wir  diese  äußerst  wichtigen  Fundamentalverhältnisse 
der  gesamten  Körperwelt,  welche  für  die  anorganische  und  die 
organische  Natur  ganz  gleiche  Geltung  haben,  als  allgemeines  Ge- 
setz zu  formulieren,  so  ließe  sich  dieses  etwa  in  folgenden  Worten 
aussprechen:  Jeder  Teil  der  aus  Atomen  zusammengesetzten  Materie 
wirkt  auf  jeden  anderen  Teil  der  Materie,  entweder  anziehend  (durch 
Attraktion)  oder  abstoßend  (durch  Repulsion).  Diese  Wirkung  er- 
zeugt in  erster  Linie  Bewegungen  der  aufeinander  wirkenden  Atome, 
welche  sich  zu  bestimmten  Atomgruppen  oder  Molekülen  gesetz- 
mäßig in  bestimmten  Zahlenverhältnissen  verbinden.  Diese  Mole- 
küle wirken  nun  ebenso  wieder  aufeinander,  entweder  anziehend 
oder  abstoßend,  und  diese  Wirkung  erzeugt  in  zweiter  Linie  Be- 
Avegungen  der  aufeinander  wirkenden  Moleküle,  welche,  aus  dem 
flüssigen  in  den  festflüssigen  oder  festen  Aggregatzustand  übertretend, 
sich  zu  bestimmten  individuellen  Formen  gesetzmäßig,  in  bestimmten 
Richtungen,  verbinden,  (amorphe  Körner,  kristalloide  Körner.  Kristalle. 
Moneren,  Zellen,  mehrzellige  Organismen).  Bei  der  Bildung  jedes 
individuellen  Naturkörpers  treten  zwei  formbildende  Kräfte  in  Wechsel- 
wirkung, der  innere  Bildungstrieb,  die  unmittelbare  Wirkung 
der  existierenden  Materie  des  Individuums  selbst  (die  Summe  der 
bewegenden  Kräfte  aller  Moleküle,  welche  das  Individuum  zusammen- 
setzen), und  ihm  gegenüber  der  äußere  Bildungstrieb,  die  unmittel- 
bare Wirkung  der  Materie,  welche  außerhalb  des  Individuums  existiert 
und  dasselbe  umgibt,  die  Summe  der  bewegenden  Kräfte  aller  Mole- 
küle, welche  außerhalb  des  Individuums  existieren  und  auf  dasselbe 
von  außen  bewegend  (anziehend  oder  abstoßend)  einwirken.  Der 
innere  Bildungstrieb  oder  die  innere  Gestaltungskraft  äußert 
sich  bei  Bildung  der  anorganischen  Individuen  entweder  als  Aggre- 
gation (amorpher  Körner)  oder  als  Kristallisation  (unvollkommener 
KristaUoide  oder  vollkommener  Kristalle),  bei  Bildung  der  organischen 
Individuen  entweder  als  Aggregation  (bei  der  Autogonie  der  spontan 
entstehenden  Moneren-Organismen)  oder  als  Erblichkeit  (bei  der 
Fortpflanzung  elterlich  erzeugter  Organismen).  Der  äußere  Bildungs- 
trieb oder  die  äußere  Gestaltungskraft  äußert  sich  allgemein 
als  Anpassung,  bei  Bildung  der  anorganischen  Individuen,  indem  sie 


76  Organismen  und  Anorgane.  V. 

die  verschiedene  Größe  und  die  untergeordneten  Eigentümliclikeiten 
der  äußeren  Form  bedingt,  durch  welche  sich  die  einzehien  Kristall- 
individuen derselben  Art  unterscheiden.  Bei  Bildung  der  organischen 
Individuen  dagegen,  indem  sie  die  individuellen  Charaktere,  die  ver- 
schiedene Größe  und  die  unendhch  mannigfaltigen  untergeordneten 
Eigentümlichkeiten  der  inneren  und  äußeren  Form  bedingt,  durch 
welche  sich  die  einzelnen  Organismen  derselben  Art  unterscheiden 
und  welche  nach  Darwins  Divergenzlehre  zur  Bildung  der  ver- 
schiedenen Arten,  Gattungen,  Familien.  Klassen  usw.  führen.  Die 
Anpassung  der  organischen  und  anorganischen  Individuen  unter- 
scheidet sich  nur  insofern,  als  ihr  verschiedener  Aggregatzustand 
und  ihre  verschiedene  atomistische  Konstitution  hier  bedingend  wirken. 
Der  festflüssige  Aggregatzustand  der  Kohlenstoffverbindungen  in  den 
Organismen,  welche  im  Innern  des  schon  gebildeten  Individuums 
eine  fortwährende  Bewegung  der  Moleküle  und  eine  Ersetzung  der 
verbrauchten  Stoffteile  durch  neue  nicht  allein  erlaubt,  sondern  auch 
bedingt,  gestattet  und  verursacht  durch  diese  beständigen  inneren 
Veränderungen  auch  innere  Anpassungen.  Der  feste  Aggregat- 
zustand der  anorganischen  Individuen  dagegen,  welcher  keine  Be- 
wegung im  Inneren  des  einmal  gebildeten  Individuums  gestattet, 
ohne  dessen  individuelles  Wesen  zu  vernichten,  erlaubt  dadurch 
zugleich  auch  keine  innere  Anpassung,  sondern  nur  gewisse  An- 
passungen der  von  außen  neu  sich  ansetzenden  Schichten,  die  wir 
im   Gegensatz   zu  jenen  äußeren  Anpassungen  nennen  können. 

Die  Anpassung  der  anorganischen  Individuen,  der  Kristalle,  ist  für  die 
Yergleichung  derselben  mit  den  Organismen  äußerst  wichtig,  und  da  diese 
Verhältnisse  bisher  von  den  Biologen  in  dieser  Beziehung  sehr  wenig 
gewürdigt  sind,  erlauben  wir  mis  hier,  ihre  hohe  Bedeutung  besonders 
hervorzuheben. 

Die  äußeren  Bedingungen,  denen  sich  die  Kristalle  bei  ihrer  Ent- 
stehung anpassen  (die  äußeren  Gestaltungskräfte)  liegen  teils  in  dem 
absoluten  Grade  der  Temperatur,  teils  in  dem  relativen  Zeitmaße  der 
Temperaturveränderung,  bei  welcher  die  Kristallisation  stattfindet,  teils 
in  der  Beimischung  anderer  Lösungen  zu  der  Mutterlauge,  aus  welcher  der 
Kristall  entsteht,  teils  in  der  Mischnng  und  Form  der  umgel)enden  festen 
I\ör])er  etc.  Doch  ist  uns  das  Nähere  über  die  gesetzliche  Wirksamkeit 
dieser  Anpassungsl)edingungen  zurzeit  noch  größtenteils  unbekannt.  Schon 
sehr  feine  Unterschiede  in  der  Temperatur,  in  der  Ruhe,  in  der  Bei- 
mischung fremder  Lösungen  zu  der  Flüssigkeit,  in  der  Form  imd  Mischung 
des  die  Flüssigkeit  umschließenden  Gefäßes  etc.  vermögen  in  Größe  und 
Form  der  einzelnen  Kristallindividuen  sehr  beträchtliche  Vei'schiedenheiten 
zu    licdingen.     Aber  selten  können  wir  ein    bestimmtes  gesetzliches  Yer- 


Y_  III.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  77 

hältnis  zwischen  der  unmerklichen  Ursache  und  der  auffallenden  Wirkung- 
nachweisen. Im  ganzen  genommen  sind  uns  diese  Gesetze  und  die  bei  der 
Bildung  der  Kristalle  auftretenden  Kausalbeziehungen  nicht  besser  l)ekannt. 
ihrem  innersten  Wesen  nach  aber  sind  sie  uns  vollkommen  el)enso  rätsel- 
haft als  die  Kausalgesetze,  welche  bei  Entstehung  der  Organismen  die 
verschiedenen  individuellen  Formen  aus  einfacher  gemeinsamer  Grundlage 
hervorgehen  lassen.  Von  den  verhältnismäßig  Avenigen  Fällen,  in  denen 
wir  die  wirkenden  Ursachen  kennen,  welche  die  abgeleiteten  Kristallformen 
bedingen,  hat  Bronn  in  seinen  morphologischen  Studien  (S.  30,  ;)7)  eine 
Reihe  (größtenteils  von  Frankenheim,  Mit  scherlich.  Lavalle  und 
B  e  u  d  a  n  t  beobachtete  Erscheinungen)  zusammengestellt.  Als  Hauptursachen 
für  die  Entstehung  bestimmter  abgeleiteter  Kristallformen  (eines  und  des- 
selben Systems)  werden  dort  angeführt.  I.  Die  Anwesenheit  stellvertretender 
und  außerwesenthcher  Gemischteile  in  dem  Minerale  oder  in  der  Flüssig- 
keit, woraus  sich  dasselbe  bildet,  und  IL  Die  Beschaffenheit  der  kristal- 
hnischen  Unterlage,  a)  Reiner  Kalkspat  besitzt  eine  viel  größere  Anzahl 
abgeleiteter  Flächen,  als  der  mit  isomorphen  Salzen  gemischte,  b)  Im 
Inneren  einer  reinen  Auflösung  kristallisiert  das  Mineral  gewöhnlich  in 
seiner  reinen  Kernform,  während  die  Beschaffenheit  der  umschließenden 
Gefäßwände  oder  fremde  Beimischungen  in  der  Flüssigkeit  Modifikationen 
der  Kernform  veranlassen.  So  z.  B.  kristallisiert  Kochsalz  in  Würfeln, 
bei  anwesender  Borsäure  in  Kubo-Oktaedern.  bei  anwesendem  Harnstoff  in 
Oktaedern  etc.  c)  Blei-Azotat  kristallisiert  aus  saurer  Flüssigkeit  als  ent- 
ecktes  Oktaeder,  aus  neutraler  als  vollkommenes  Oktaeder,  d)  Jodkalium, 
welches  sonst  als  Würfel  kristallisiert,  erscheint  auf  Glimmer  in  Oktaeder- 
form, e)  Selbst  die  Lage  des  Kristalls  ist  bei  langsamer  Bildung  von 
Einfluß;  wenn  derselbe  locker  auf  dem  Boden  des  Gefäßes  liegt,  wird 
die  aufliegende  Fläche  größer,  und  entsprechend  auch  die  gegenüber- 
liegende, f)  Die  Winkel  isomorpher  Kristalle,  welche  bei  0^  niu-  un1)e- 
deutend  voneinander  verschieden  sind,  nehmen  mit  zunehmender  Tempera- 
tur teils  zu,  teils  ab,   aber  in  verschiedenen  Graden. 

Viel  wichtiger  aber  als  die  Tatsache,  daß  selbst  sehr  geringfügige 
äußere  Einflüsse  („Anpassmigsbedingungen")  genügen,  um  sehr  beträcht- 
liche Differenzen  in  Größe  und  Formkomplikation  der  anschießenden 
Kristalle  hervorzurufen,  welche  in  einer  und  derselben  Flüssigkeit  nach 
einem  und  demselben  Kristallsysteme  sich  bilden,  ist  der  Umstand,  daß 
solche  äußere  Ursachen  selbst  auf  die  Wahl  des  Kristallsystems  von 
Einfluß  sind,  welches  der  anschießende  Kristall  annimmt,  und  daß  geringe 
Veränderungen  der  äußeren  Einflüsse  genügen,  um  den  Kristall  im  einen 
Falle  nach  diesem,  im  anderen  nach  jenem  System  sich  bilden  zu  lassen. 
Hierher  gehören  die  zahlreichen  Fälle  vom  Polymorphismus  (meistens 
Dimorphismus,  selten  Trimorphismus  etc.)  der  Kristalle,  bei  denen  man 
allerdings  nur  selten  die  Ursache  kennt,  warum  derselbe  chemische  Körper 
das  eine  Mal  dieses,  das  andere  Mal  jenes  Kristallsystem  sich  auswählt. 

Den  größten  Einfluß  scheint  in  dieser  Beziehung  wieder  der  Tempe- 
raturgrad zu  haben,  bei  welchem  die  Kristalle  sich  bilden,  sowie  der 
Unterschied,  ob  der  kristallisierende  Körper  aus  einer  konzentrierten  Lösung 


70  Organismen  und  Anoigane.  V, 

sich  absetzt,  oder  ol)  er  aus  dem  geschmolzenen  Aggregatzustand  durch 
Al)kühlung  in  den  festen  übergeht.  So  z.  B.  können  lediglich  Temperatur- 
unterschiede den  kohlensauren  Kalk  Ijestimmen.  bald  als  Kalkspat  im 
hexagonalen,  bald  als  Arragonit  im  rhombischen  Systeme  zu  kristallisieren. 
Geschmolzener  Schwefel  schießt  beim  langsamen  Erkalten  in  klinorhom- 
bischen  Säulen  an.  während  derselbe  Schwefel  aus  einem  tropfbar-flüssigen 
Medium,  in  welchem  er  gelöst  ist,  bei  dessen  Verdunstung  oder  langsamer 
Abkühlung  in  Rhombenoktaedern  kristallisiert. 

Noch  viel  merkwürdiger  aber  ist  es,  daß  schon  der  Kontakt  mit  einem 
fremden  heterogenen  Kristalle  genügt,  den  gelösten  Kör])er  zum  Aufgeben 
seiner  eigenen  und  zur  Annahme  dieser  fremden  Kristallform  zu  bewegen. 
So  erscheint  der  Kalisal])eter.  welcher  dem  rhombischen  Kristallsysteme 
angehört,  in  rhomoboedrischen,  dem  Kalkspat  isomorphen  Kristallen  des 
hexagonalen  Systems,  wenn  er  sich  auf  einem  Minerale  dieses  Kristall- 
systems als  Unterlage  bildet. 

ni)    5.  Korrelation  der  Teile  in  den  organischen  und  anorganischen 

Individuen. 

Von  besonderer  Bedeutung  für  die  Analogie  zwischen  den  orga- 
nischen nnd  anorganischen  Individuen  scheint  uns  endhch  die  Korre- 
lation oder  Wechselbeziehung  der  Teile  zu  sein,  welche  gewöhnlich 
als  eine  besondere  nnd  charakteristische  Eigentümlichkeit  der  Orga- 
nismen hingestellt  wird,  während  sie  doch  in  ganz  ähnlicher  Weise 
auch  den  Kristallen  zukommt.  In  ähnlicher  Weise,  wie  im  Organisnms 
alle  einzelnen  Teile  untereinander  und  zum  Ganzen  in  bestimmten, 
durch  die  Form  des  Organismus  ausgedrückten  Beziehungen  stehen, 
so  finden  wir  auch  beim  Kristalle,  daß  alle  einzelnen  Teile  unter- 
einander und  zum  Ganzen  in  bestimmten,  durch  die  gesetzmäßige 
Verschiedenheit  der  Kohäsion  in  bestimmten  Richtungen  (Achsen)  ge- 
regelten Beziehungen  stehen.  Diese  notwendige  Wechselwirkung  der 
Teile  untereinander  und  auf  das  Ganze  ist  ganz  ebenso  im  Organismus 
wie  im  Kristall  durch  die  physikalischen  Funktionen  und  die  che- 
mische Zusammensetzung  seiner  Materie  mit  Notwendigkeit  bedingt. 

Als  Ausdruck  dieser  anorganischen  Korrelation  der  Teile  betrachten 
wir  zunächst  das  Symmetriegesetz  der  Kristalle,  wonach  alle 
abgeleiteten  Kristallformen,  die  als  individuelle  Variationen  der  Kristall- 
grundformen auftreten,  stets  mehr  oder  minder  symmetrisch  modifiziert 
auftreten.  Alle  gleichartigen  Teile  einer  Kristallform  erleiden  bei  Ver- 
änderung eines  einzigen  Teiles  von  ihnen  dieser  entsprechende  Ver- 
änderungen. Wenn  also  eine  Kante  oder  Ecke  eines  Oktaeders  durch 
eine  bestimmte  Fläche  ersetzt  wird,  so  müssen  auch  alle  entsprechenden 
Kanten  und  Ecken  desselben  durch  eine  Fläche  von  gleicher  Beschaffen- 
heit   ersetzt    werden.     Beim    Quadrat-Oktaeder,    bei    welchem   die    obere 


Y_  III.    Organische  und  anorganische  Kräfte.  79 

und  untere  Ecke  von  den  vier  unter  sich  gleichen  (Quadrat-)Ecken  des 
mittleren  Umfangs  verschieden  sind,  können  zweierlei  Ecken-Veränderungen 
(z.  B.  Abstumpfungen  durch  eine  Fläche)  eintreten,  indem  die  eine  Ver- 
änderung die  korrespondierende  obere  und  untere  Ecke,  die  andere  Ver- 
änderung die  vier  anderen  Ecken  trifft.  Beim  Rhomben-Oktaeder,  wo 
alle  sechs  Ecken  paarweis  gleich,  die  drei  Paare  aber  ungleich  sind, 
kitnnen  die  sechs  Ecken  von  drei  verschiedenen  Modifikationen  getroffen 
werden,  indem  jede  Modifikation  nur  zwei  gegenüberliegende  Ecken 
trifft  usw.  Die  Kristallographie  weist  nach,  welche  große  Menge 
individuell  verschiedener  Kristallformen  aus  einer  und  dersell^en  Grund- 
form auf  diese  Weise  durch  gleiche  Modifikation  entsprechender  Ecken. 
Kanten  und  Flächen  hervorgehen  kihmen.  Die  Betrachtung  dieser  Ver- 
schiedenheiten im  einzelnen  berührt  uns  hier  nicht,  um  so  mehr  aber 
das  allgemeine  Symmetriegesetz,  welches  daraus  hervorgeht  und  welches 
zeigt,  daß  korrespondierende  (gleichartige  oder  gegenüberliegende)  Teile 
des  Kristalls  in  einer  ebenso  innigen  Wechselbeziehung  zueinander 
stehen,  wie  verschiedene  korrespondierende  Teile  eines  Organismus. 

Der  einzige  wesentliche  Unterschied,  welchen  die  Kurrelation  der 
Teile  in  den  organischen  und  anorganischen  Individuen  zeigt,  besteht 
darin,  daß  dieselbe  bei  den  Organismen,  deren  Sul)stanz  zeitlebens  in 
innerer  Bewegung  und  Umänderung  bleibt,  auch  ihr  ganzes  Lel)en  hin- 
durch wirksam  ist.  während  dieselbe  bei  den  Kristallen  sich  nur  während 
der  Zeit  ihrer  Bildung  äußern  kann,  in  dem  einmal  gebildeten  Kristalle 
aber,  bei  welchem  keine  innere  Bewegung  ohne  Zerstörung  mehr  statt- 
findet, nicht  mehr  als  lebendige  Kraft  bildend  wirksam  sein  kann. 
Äußerst  lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  ein  Experiment  von  Lavalle. 
Dieser  zeigte,  daß,  wenn  man  einem  in  der  Bildung  begriffenen  Oktaeder 
eine  Kante  wegschneidet  und  so  eine  künstliche  Fläche  bildet,  eine 
ähnliche  Fläche  sich  von  selbst  an  der  korrespondierenden  gegenüber- 
liegenden Kante  bildet,  während  die  übrigen  sich  scharf  ausbilden. 

Alle  diese  Erscheinungen  der  symmetrischen  Kristallbildung  l)eweisen 
uns  evident,  daß  die  innere  Struktur  und  die  äußere  Form  der  Kristalle 
ebenso  unmittelbar  zusammenhängen,  und  daß  der  ganze  Kristall  ebenso 
ein  organisches  Ganzes  ist.  wie  der  Organismus.  Alle  einzelnen  den 
Körper  zusammensetzenden  Teile  hal)en  in  dem  einzelnen  Kristalle  ebenso 
eine  innere  Beziehung  zueinander  und  zu  der  Totalität  des  ganzen  Indivi- 
duums, wie  in  dem  einzelnen  Organismus. 

III)    6.   Zellenbildung  und  Kristallbildung. 

Bei  der  Vergieichtmg,  welche  wir  im  Vorhergehenden  zwischen 
Organismen  und  Anorganen  anstellten,  haben  wir  als  Typus  der  voll- 
kommensten anorganischen  Individuen  die  Kristalle  und  als  Typus 
der  einfachsten  amd  unvollkommensten  Organismen  die  Moneren 
hingestellt.  In  letzteren  konnten  wir  durchaus  keine  differenten  Teile 
unterscheiden,  fanden  vielmehr  ihren  gesamten  Körper  aus  einer  voll- 


gQ  Organismen  und  Anorgane.  V. 

kommen  homogenen,  formlosen  Eiweißmasse  gebildet.  Dieser  in  sich 
völlig  gleichartige  Plasmaklumpen  ist  ein  selbständiges  organisches 
Individuum,  begabt  mit  den  beiden  wichtigsten  Lebensfunktionen,  der 
Ernährung  und  Fortpflanzung. 

Ein  allgemeiner  Vergleich  der  Zellen  mit  den  Kristallen  und 
der  Versuch,  die  Zellbildung  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Kristall- 
bildung auf  einfache  Molekularbewegungen  der  Materie  zurückzuführen, 
stößt  bereits  auf  sehr  viel  größere  Schwierigkeiten,  weil  wir  in  der 
Zelle  schon  mindestens  zwei  verschiedene  Formelemente  zu  einem 
individuellen  Ganzen  verbunden  haben,  was  bei  den  homogenen  Cyto- 
den  noch  nicht  der  Fall  ist  und  bei  den  Kristallen  niemals  vorkommt. 
Um  so  wichtiger  und  interessanter  ist  es,  daß  wir  bereits  seit  langer 
Zeit  einen  solchen  Vergleich  besitzen,  der  noch  jetzt  von  hohem  Werte 
ist.  Theodor  Schwann  nämlich  hat  in  den  epochemachenden 
..mikroskopischen  Untersuchungen",  durch  welche  er  1839  die  Gewebe- 
lehre als  besondere  Wissenschaft  neu  begründete,  den  sehr  aner- 
kennenswerten Versuch  gemacht,  in  monistischem  Sinne  die  Zellen 
als  die  eigentlichen  Elementarorganismen  nachzuweisen,  welche  den 
Körper  der  höheren  Organismen  durch  Aggregation  zusammensetzen, 
und  hat  dabei  die  Zellen  als  die  eigentlichen  organischen  Individuen 
mit  den  Kristallen  als  den  anorganischen  Individuen  in  Parallele 
gestellt.  In  der  berühmten  ..Theorie  der  Zellen",  welche  den  letzten 
Teil  im  dritten  Abschnitte  jenes  Werkes  bildet  (S.  220—257)  hat 
Schwann  diesen  Vergleich  der  Zellen  mit  den  Kristallen  durchzu- 
führen versucht  und  hat  unseres  Erachtens  mit  bewundernswürdiger 
Schärfe  den  schlagenden,  wenn  auch  nicht  vollständigen  Beweis  für  die 
Theorie  geführt.  ..daß  die  Bildung  der  Elementarteile  der  Organismen 
nichts  als  eine  Kristallisation  imbibitionsfähiger  Substanz,  der  Organis- 
mus nichts  als  ein  Aggregat  solcher  imbibitionsfähiger  lüistalle  ist." 

lY.  Einheit  der  orgaiüscheii  und  anorganischen  Natur. 

Wir  haben  in  den  drei  vorhergehenden  Abschnitten  die  Überein- 
stimmungen und  die  Unterschiede  zu  schätzen  und  zu  messen  versucht, 
w^elche  die  beiden  großen  Hauptgruppen  der  irdischen  Naturkörper, 
Organismen  und  Anorgane,  hinsichtlich  ihres  Stoffes,  ihrer  Form 
und  ihrer  Funktionen  zeigen.  Als  das  allgemeine  Resultat  dieser  Ver- 
gleichung  können  wir  nun  schließlich  folgenden  Satz  aufstellen:  Alle 
uns  bekannten  Naturkörper  der  Erde,   belebte  und  leblose,   stimmen 


V.  IV.    Einheit  der  organischen  und  anorganischen  Natur.  gl 

überein  in  allen  wesentlichen  Grundeigenschaften  der  Materie,  in  ihrer 
Zusammensetzung  aus  Massenatomen  und  darin,  daß  ihre  Formen 
und  ihre  Funktionen  die  unmittelbaren  und  notwendigen  Wirkungen 
dieser  Materie  sind.  Die  Unterschiede,  welche  zwischen  beiden  Haupt- 
gruppen von  Naturkörpern  hinsichtlich  ihrer  Formen  und  Funktionen 
existieren,  sind  lediglich  die  unmittelbare  und  notwendige  Folge  der 
materiellen  Unterschiede,  welche  zwischen  beiden  durch  die  verschieden- 
artige chemische  Verbindungsweise  der  in  sie  eintretenden  Elemente 
bedingi  werden.  Die  eigentümlichen  Bewegungserscheinungen,  welche 
man  unter  dem  Namen  des  „Lebens"  zusammenfaßt  und  welche 
die  eigentümlichen  Formen  der  Organismen  bedingen,  sind  nicht  der 
Ausfluß  einer  besonderen  (innerhalb  oder  außerhalb  des  Organismus 
befindlichen)  Kraft  (Lebenski'aft,  Bauplan,  wirkende  Idee  etc.),  sondern 
lediglich  die  unmittelbaren  oder  mittelbaren  Leistungen  der  Eiweiß- 
körper  und  anderer  komplizierter  Verbindungen  des  Kohlenstoffs." 
Eine  eingehendere  Uiitersuclmno;  und  Yerffleichims;  der  individuellen 


*pi 


Organismen  und  Auorgane  hinsichtlich  ihrer  materiellen  Zusammen- 
setzimg und  der  daraus  unmittelbar  resultierenden  Form  imd  Funktion 
wird  leicht  noch  zahlreichere  und  schlagendere  Beweise  für  die  obigen 
Sätze  sammeln  können,  als  uns  hier  auf  dem  beschränkten  Earmi  möglich 
war.  Wir  müssen  ims  daher  begnügen,  einige  der  wichtigsten  Punkte 
hier  besonders  hervorgehoben  zu  haben  und  müssen  das  Weitere  einer 
künftigen  synthetischen  Untersuchung  anheimgeben.  Für  uns  kam  es 
hier  vor  aUem  darauf  an,  der  bisher  ganz  einseitig  ausgel)ildeten  analyti- 
schen Unterscheidung  der  beiderlei  Köri)er  nun  auch  einmal  ihre 
synthetische  Yergleichung  gegenüberzustellen  imd  das  weitverbreitete 
Dogma  zu  beseitigen,  daß  das  „Leben"  etwas  ganz  Besonderes,  absolut 
von  der  leblosen  Natur  Verschiedenes  und  von  ihr  Unabhängiges  sei. 
Daß  dies  keineswegs  der  Fall  ist  imd  daß  nm*  relative  Differenzen  die 
leblosen  mid  belebten  Naturkörper  trennen,  glauben  wir  hinsichtlich  aller 
drei  Erscheinungsreihen,  der  stofflichen  Zusammensetzung  und  der  daraus 
resultierenden  körperlichen  Form  mid  funktionellen  Leistung  gezeigt  zu 
haben.  Wir  fassen  die  wichtigsten  Vergleichimgspimkte  hier  kurz  zu- 
sammen. 

I)  Die  chemischen  Urstoffe  oder  mizerlegbaren  Elemente,  welche 
die  lebendigen  und  die  leblosen  Naturkörper  zusammensetzen,  sind  die- 
selben. Es  gibt  kein  Element,  welches  nur  in  den  Organismen  vor- 
käme. Dagegen  ist  ein  Element,  der  Kohlenstoff,  Avelches  auch  in 
der  leblosen  Natiu*  als  Kristallindividuum  auftritt  (als  Diamant,  als 
Grapliit),  dasjenige,  welches  in  keinem  Organismus  fehlt  und  welches 
durch  seine  außerordentliche,  keinem  anderen  Elemente  eigene  Neigung 
zu  verwickeiteren  Verbindungen  mit  den  anderen  Elementen,  diejenige 
unendliche  Mannigfaltigkeit  der  „organischen  Stoffe"  erzeugt,  welche  die 
unendUche  Mannigfaltigkeit   der    organischen  Formen  imd  Lel)enserschei- 

H  a  e  c  k  e  1 ,   Prinz,  d.  Morphol.  b 


82  Organismen  und  Anorgane.  y. 

nungen  liervorljrin<ien.  Eine  der  wichtigsten  Eigenschaften  vieler  dieser 
KohlenstofiVerhindungen  ist  ihre  Fähigkeit,  den  festflüssigen  Aggre- 
gatzustand anzunehmen,  welcher  in  den  Anorganen  niemals  vorkommt. 
Auf  dieser  Imbibitionsfähigkeit  der  organischen  Materie,  auf  ihrer  ver- 
wickelten atomistischen  Zusammensetzung  und  auf  ihrer  leichten  Zersetz- 
barkeit  beruhen  die  sämtliclien  eigentümlichen  Bewegungsvorgänge,  welche 
wir  als  die  charakteristischen  Erscheinungen  des  Lebens  ansehen. 

11)  Die  Organismen  treten  sämtlich,  die  Anorgane  teilweise  in  Form 
von  räumlich  abgeschlossenen  EinzelkiU-pern  oder  Individuen  auf.  Die 
unvollkommensten  organischen  Individuen,  die  Moneren  oder  struktur- 
losen Plasmaindividuen,  stimmen  mit  den  vollkommensten  anorganischen 
Individuen  durch  die  homogene  Beschaffenheit  ihres  strukturlosen  Körpers 
mehr  überein,  als  mit  den  höheren,  aus  Individuen  verschiedener  Ordnung 
zusammengesetzten  Organismen.  Diese  Zusammensetzung  des  Individuums 
aus  ungleichartigen  Teilen  ist  allerdings  den  meisten,  aber  nicht  allen 
Organismen  eigentümlich,  und  deshalb  kein  absolut  unterscheidender 
Charakter  von  den  Kristallen,  welche  ihrerseits  ebenfalls  bisweilen  in 
Mehrzahl  zur  Bildung  von  Individuen  hiUierer  Ordnung  zusammentreten 
(Kristallstöcken).  In  gleicher  Weise  wie  die  Organismen  besitzen  auch 
die  Kristalle  eine  innere  Struktur  und  zeigen  gesetzmäßige  Beziehungen 
der  einzelnen  Teile  untereinander  und  zum  Ganzen.  Die  äußere  gesetz- 
mäßige Form  ist  hier  wie  dort  der  Ausdruck  und  das  Resultat  der 
inneren  Struktur  und  hier  wie  dort  durch  die  Wechselwirkung  zweier 
formbildender  Triebe  oder  Kräfte  bedingt,  des  inneren  Bildungstriebes 
(der  materiellen  Zusammensetzung)  und  des  äußeren  Bildungstriebes  (der 
Anpassung).  Sowohl  den  organischen  als  den  anorganischen  Individuen 
liegt  meistens  eine  bestimmte  stereometrische  Grundform  zugrunde,  welche 
bei  den  Kristallen  meistens  prismoid  ist.  Doch  ist  die  prismoide  Grund- 
form der  Kristalle  (von  ebenen  Flächen,  geraden  Linien  und  meßbaren 
Ecken  begrenzt)  nicht  ausschließlich  für  die  anorganischen  Individuen 
charakteristisch,  da  dieselbe  sowohl  bei  vielen  niedrigen  Organismen 
(Radiolarien)  vorkommt,  als  auch  bei  anderen  anorganischen  Individuen 
(Diamant-Kristallen  und  anderen  krummflächigen  Kristallen)  fehlt.  Wir 
können  also  so  wenig  in  der  individuellen  Bildung,  als  in  der  formellen 
Zusammensetzung  der  Individuen,  ebensowenig  in  der  äußeren  Form,  als 
in  der  inneren  Struktur,  ebensowenig  in  der  stereometrischen  Grund- 
form, als  in  deren  vielfältiger  äußerlicher  Modilikation,  kurz,  wir  können 
in  keiner  Beziehung  irgendeinen  absoluten,  in  allen  Fällen  durchgreifen- 
den formellen  Unterschied  zwischen  Organismen  und  Anorganen  aufhnden. 

in)  Die  Funktionen,  Leistungen  oder  Kräfte  der  Naturkörper  sind 
entweder  feinere  oder  gröbere  Bewegungen  ihrer  materiellen  Teilchen, 
der  Atome  und  der  aus  ihnen  zusammengesetzten  Moleküle.  Sie  sind 
also  unmittelbare  Ausflüsse  der  materiellen  chemischen  Zusammensetzung 
des  Natui'körpers.  Weil  diese  Leistungen  bei  den  Organismen  sehr  viel 
mannigfaltiger  und  zusammengesetzter  sind,  als  bei  den  Anorganen, 
bezeichnen  wir  sie  als  „  Lebeuserscheinungen".  Die  einfachen,  ele- 
mentaren  Funktionen  der  Materie  kommen  sämtlich,  und    die  verwickel- 


Y_  IV.    Einheit  der  organisclien  und  anorganischen  Natur.  83 

teren  Funktionen  zum  großen  Teil  den  Organismen  und  Anorganen  in 
gleicher  Weise  zu;  zum  Teil  nher  (Lebenstätigkeiten  im  engeren  Sinne) 
kommen  die  letzteren  den  Organismen  ausschließlich  zu.  Eine  der 
wichtigsten  und  allgemeinsten  körperlichen  Fimktionen.  welche  allen  leb- 
losen mid  belebten  individuellen  Naturkörpern  gemeinsam  zukommt,  ist 
das  Wachstum  der  Individuen.  Die  Verschiedenheiten,  welche  sich  im 
Wachstimi  der  organischen  mid  anorganischen  Individuen  finden,  sind  in 
der  verwickeiteren  chemischen  Zusammensetzung  und  der  Imbibitions- 
fähigkeit  vieler  Kohlenstoffverl)indungen  begründet.  Aus  diesen  Ver- 
schiedenheiten des  Wachstums  resultieren  dann  aber  mit  Notwendigkeit 
für  die  Organismen  die  weiteren  spezifischen  Lebenserscheinungen  der 
Ernährung  und  Fortpflanzung,  denen  sich  bei  den  höheren  Organismen 
noch  die  kompliziertesten  Funktionen  der  Ortsbewegung  und  Empfindung 
anschließen.  Wir  sehen  also  im  ganzen,  erstens,  daß  die  anorganischen 
und  organischen  Individuen  eine  gewisse  Summe  von  Leistungen  in 
gleicher  Weise  ausüben,  und  zweitens,  daß  diejenigen  zusammengesetzteren 
Leistungen,  welche  als  Lebenserscheinmigen  im  engeren  Sinne  den 
Organismen  eigentümlich  sind  (allgemein  Ernährung  und  Fortpflanzung), 
lediglich  in  der  verwickeiteren  chemischen  Zusammensetzimg  der  Kolilen- 
stoffverbindungen  und  in  den  daraus  resultierenden  physikalischen  Eigen- 
tümlichkeiten (vor  allem  der  Imbibitionsfähigkeit)  ihren  unmittelbaren 
materiellen  Grund  haben. 

Alle  bekannten  Erfahrungen  zusammengenommen  zwingen  uns  also 
zu  der  Überzeugmig,  daß  die  Differenzen  zwischen  den  Organismen  und 
Anorganen  nm-  relativ,  lediglich  in  der  verwickeiteren  chemischen  Zu- 
sammensetzung der  Kohlenstoffverbindungen  begründet  sind,  und  daß  die 
Materie  liier  wie  dort  denselben  Gesetzen  der  Naturnotwendigkeit  unter- 
worfen ist.  Diese  feste  Überzeugung  ist  von  der  größten  Wichtigkeit 
sowohl  allgemein  für  die  allein  richtige  monistische  Beurteilung  der 
Gesamtnatur,  als  auch  besonders  für  die  richtige  ßeantwortimg  einer  der 
schwierigsten  biologischen  Fragen,  derjenigen  von  der  Entstehung  der 
ersten  Organismen.  Indem  wir  diese  Frage  im  folgenden  zu  beantworten 
versuchen,  stützen  wir  uns  unmittelbar  auf  jene  feste  Überzeugung  von 
der  Einheit  der  organischen  und  anorganischen  Natur. 


Sechstes  Kapitel. 

Schöpfung  und  Selbstzeugung. 

„Was  war'  ein  Gott,  der  mir  von  außen  stieße, 
Im  Kreis  das  AU  am  Finger  laufen  ließe ! 
Ihm  ziemfs,  die  Welt  im  Innern  zu  bewegen, 
Xatur  in  Sieh,  Sich  in  Natur  zu  hegen, 
So  daß  was  in  ihm  lebt  und  webt  und  ist. 
Nie  Seine  Kraft,  nie  Seinen  Geist  vermißt." 

Goethe. 

I.  Entstellung"  der  ersten  Organismen. 

Alle  großen  Erscheinimgsreihen  der  organischen  Natur,  alle  all- 
gemeinen Resultate  der  zoologischen  und  botanischen,  morphologischen 
und  physiologischen  Forschungen  führen  uns  übereinstimmend  mit 
zwingender  Gewalt  zu  dem  gesetzlichen  Schlüsse,  daß  sämtliche 
Organismen,  welche  heutzutage  die  Erde  beleben,  und  welche  sie  zu 
irgendeiner  Zeit  belebt  haben,  durch  allmähliche  Umgestaltung  und 
langsame  Vervollkommnung  sich  aus  einer  verhältnismäßig  geringen 
Anzahl  von  höchst  einfachen  Urwesen  (Protorganismen)  entwickelt 
haben.  Diese  Entwickelung  geschah  und  geschieht  auf  dem  Wege 
der  materiellen  Fortpflanzung,  der  elterlichen  Zeugung,  nach  den 
Gesetzen  der  Erblichkeit  und  der  die  Erblichkeit  modifizierenden 
Variabilität  und  Anpassung.  Alle,  auch  die  höchsten  und  kompli- 
ziertesten Organismen  können  nur  auf  diesem  Wege,  durch  allmähliche 
Differenzierung  und  Transmutation  von  einfachsten  und  niedrigsten 
Lebewesen  entstanden  sein. 

Dieses  äußerst  wichtige  Entwickelungsgesetz  bildet  den  Kern 
derjenigen  Theorie,  welche  wir  ein  für  allemal  kurz  als  die  Ab- 
stammungslehre oder  Deszendenztheorie  bezeichnen  w^ollen, 
und  deren  Begründung  wir  vor  allen  Lamarck,  Goethe  und  Dar- 
win verdanken.  Sie  zeigt  uns,  in  Übereinstimmung  mit  allen  fest- 
stehenden Erfahrungen,  wie  aus  den  einfachsten  und  unvollkommensten 
Urwesen  sich  die  höchsten  und  vollkommensten  Organismen  allmählich 


VI.  I.    Entstehung  der  ersten  Organismen.  85 

durch  Divergenz  nach  verschiedenen  Richtungen  haben  hervorbilden 
können.  Diese  Entwickelungstheorie  läßt  aber  eine  große  und  zu- 
nächst sich  daran  anknüpfende  Frage  unbeantwortet,  nämlich:  „Wie 
entstanden  jene  ersten  und  einfachsten  Lebewesen,  aus 
denen  sich  alle  übrigen,  vollkommeneren  Organismen 
allmählich  entwickelten?" 

Die  Beantwortung  dieser  äußerst  wichtigen  Frage  von  der  ersten 
Entstehung  des  Lebens  auf  der  Erde  wird  von  den  meisten  Menschen, 
und  selbst  von  sehr  vielen  Biologen,  als  eine  außerhalb  aller  exakten 
Naturforschung  liegende,  oder  selbst  als  eine  der  Kompetenz  unserer 
menschlichen  Erkenntnis  entzogene  Frage  bezeichnet.  Wir  können 
keiner  von  diesen  Ansichten  beipflichten,  und  müssen  den  freilich 
sehr  gewagten  Versuch,  die  Frage  hy^jothetisch  zu  beantworten, 
ebenso  als  unser  gutes  Recht,  wie  unsere  notwendige  Pflicht 
bezeichnen,  wenn  wir  überhaupt  die  Erscheinungen  der  organischen 
Natur  monistisch,  d.  h.  kausal  erklären  wollen. 

Nichts  zeigt  wohl  so  sehr  die  äußerst  niedrige  Stufe  der  Entwicke- 
lung,  auf  der  sich  die  gesamte  Biologie,  sowohl  Morphologie  als  Physio- 
logie, noch  gegenwärtig  befindet,  als  der  Umstand,  daß  wir  zunächst 
die  Berechtigung  dieser  Frage,  die  doch  jedem  denkenden  Menschen 
selbstverständlich  erscheinen  sollte,  ausdrücklich  hervorheben  müssen. 
Denn  so  weit  ist  noch  die  herrschende  Betrachtungsweise  der  Organismen 
vermöge  ihres  grundverkelu'ten  Dualismus  von  der  allein  wissenschaft- 
hchen  Erkenntnis,  d.  h.  dem  monistischen  Verständnis  der  organischen 
Naturerscheinungen  entfernt,  daß  nicht  nur  die  meisten  Laien,  sondern 
selbst  die  meisten  Natm-forscher  die  Berechtigimg  jener  Frage  bestreiten 
und  sie  als  eine  solche  bezeichnen,  zu  deren  "wissenschaftHchen  Erörterung 
Avir  weder  befugt,  noch  befäliigt  seien. 

Die  Frage  nach  dem  ersten  Ursprung  des  Lebens  auf  der 
Erde,  nach  der  Entstehung  jener  ersten,  einfachsten  Organismen,  aus 
denen  alle  übrigen  dm'ch  allmähliche  Umbildung  sich  entwickelten,  ist 
nach  imserer  Ansicht  vollkommen  ebenso  berechtigt  und  muß  von  der 
Naturwissenschaft  ebenso  notwendig  gesteht  werden,  wie  die  Frage  nach 
der  Entstehung  der  Erde  selbst,  die  Frage  nach  der  Entstehimg  der 
anorganischen  Naturkörper.  Wie  wir  bei  den  letzteren  sowohl  die  Tat- 
sachen ihres  allmählichen  Werdens,  als  auch  die  Ursachen  desselben  in 
den  Kreis  imserer  ^Forschimg  zu  ziehen  haben,  so  verhält  es  sich  auch 
mit  den  Organismen.  Wir  werden  also  in  diesem  Kapitel  ebensowohl 
uns  eine  Theorie  über  die  erste  Entstehung  der  Organismen,  wie  über 
die  Ursachen  derselben  zu  bilden  haben.  Und  wir  sind  hier  um  so 
mehr  dazu  verpflichtet,  als  Darwin  in  seinem  klassischen  Werke  gerade 
hier  eine  sehr  empfindliche  Lücke  gelassen  und  erklärt  hat.  daß  er 
„nichts    mit  dem  Ursprung  der  geistigen  Grundkräfte,  noch  mit  dem  des 


86  Schöpfimg  und  Selbstzeugung.  VI. 

Lebens  selbst  zu  schaffen  habe".  Selbst  viele  von  denjenigen  Natur- 
forschern luid  Philosophen,  welche  geneigt  sind,  die  sämtlichen  Er- 
scheinungen des  bestehenden  Lebens  gleich  allen  anderen  Naturer- 
scheinimgen  als  notwendige  Folgen  mechanisch  wirkender  Ursachen,  also 
monistisch  zu  erklären,  nehmen  für  die  erste  Entstehung  der  lebenden 
Wesen  zu  der  dualistischen  Annahme  einer  freien  Schöpfung  ihre  Zu- 
flucht. Sie  verzichten  auf  die  rein  kausale,  d.  h.  mechanische  Erklärimg 
der  Entstehung  des  ersten  Lebens,  teils  weil  sie  dadurch  mit  einigen 
der  ältesten  imd  stärksten  von  unseren  allgemein  herrschenden  großen 
Vorurteilen  zu  kollidieren  fürchten,  teils  Aveil  sie  die  Möglichkeit  einer 
solchen  Erklärung  nicht  einsehen. 


II.  Scliöpfiiiig'. 

Wenn  wir  alle  die  unendlich  verschiedenen  und  mannigfaltigen 
Ansichten  vergleichend  in  Erwähnung  ziehen,  welche  von  denkenden 
Menschen  aller  Zeiten  über  die  erste  Entstehung  des  Lebens  auf  der 
Erde  aufgestellt  worden  sind,  so  können  wir  sie  allesamt  in  zwei 
schroff  gegenüberstehende  Gruppen  bringen,  deren  Losungswort 
Schöpfung  und  Urzeugung  ist.  Bei  weitem  die  größere  Mehr- 
zahl aller  jener  Ansichten  ist  dualistisch  und  glaubt  an  eine 
Schöpfung,  d.  h.  an  eine  Entstehung  der  ersten  lebendigen  Wesen 
durch  eine  außerhalb  der  Materie  befindliche,  zweckmäßig  wirkende 
Kraft.     Nur  verhältnismäßig  wenige  Ansichten  sind  monistisch  und 


nehmen  eine  Urzeugung  an,  d.  h.  eine  erste  Entstehung  lebendiger 
Körper  durch  die  ureigenen,  der  Materie  innewohnenden,  mit  ab- 
soluter Notwendigkeit  gesetzlich  wirkenden  Kräfte. 

Die  vielen  verschiedenartigen  Schöpfungs-Theorieen  weichen 
hauptsächlich  darin  voneinander  ab,  daß  die  einen  einen  individuellen 
Schöpfungsakt  für  jeden  einzelnen  Organismus,  die  anderen  einen 
besonderen  Schöpfimgsakt  für  jede  ..Spezies"  (aus  der  sich  ihre  Nach- 
kommen durch  natürliche  Fortpflanzung  entwickeln),  die  dritten 
endlich  eine  Schöpfung  nur  für  jene  einfachsten  Urorganismen  fordern, 
aus  denen  sich  alle  tibrigen  „Spezies"',  gemäß  der  Deszendenz-Theorie, 
allmählich  entwickelt  haben.  Von  diesen  drei  verschiedenen  An- 
sichten brauchen  wir  bloß  die  letzte  hier  zu  diskutieren.  Denn  die 
erste  Annahme,  daß  jeder  individuelle  Organismus  (z.  B.  jeder  ein- 
zelne Tannenbaum,  jede  einzelne  Diatomee,  jede  einzelne  Stubenfliege, 
jeder  einzelne  Mensch)  für  sich  vom  Schöpfer  besonders  erschaffen 
sei,  ist  zwar  unter  den  Menschenkindern  (auch  den  sogenannten 
„Gebildeten")  noch   sehr  weit  verbreitet,  widerspricht  aber   so  sehr 


VI.  II.    Schöpfung.  87 

den  einfachsten  und  allgemeinsten  natnrwissenschaftlichen  Er- 
fahrnngen.  daß  sie  von  keinem  einzigen  wahren  Naturforscher  mehr 
verteidigt  wird.  Nicht  so  ist  es  mit  der  zweiten  oben  angeführten, 
übrigens  nicht  minder  nnwissenschaftlichen  Ansicht;  daß  jede  soge- 
nannte „Spezies  oder  Art"  einem  besonderen  Schöpfungsakt  ihre 
Entstehung  verdanke,  daß  also  von  jeder  Spezies  einmal  eines  oder 
mehrere  Individuen  geschaffen  worden  sind,  von  denen  alle  übrigen 
auf  dem  Wege  natürlicher  Fortpflanzung  erzeugt  worden  sind.  Diese 
auch  unter  den  Naturforschern  noch  weit  verbreitete  und  gewöhnlich 
mit  dem  absurden  Speziesdogma  verkettete  Ansicht  bedarf  hier  eben- 
falls keiner  Widerlegung,  da  wir  unten  die  Spezies  selbst  als  eine 
ganz  willkürliche  und  künstliche  Abstraktion  und  die  Vorstellung 
ihrer  absoluten  Konstanz  als  ganz  unhaltbar  nachweisen  werden. 
Wir  haben  also  nur  noch  die  letzte  (auch  von  Darwin  geteilte) 
Schöpfungshypothese  zu  widerlegen,  welche  annimmt,  daß  die 
wenigen  einfachsten  Stammformen,  aus  welchen  alle  übrigen  durch 
allmähliche  Differenzierung  sich  entwickelt  haben,  unmittelbar  ,, er- 
schaffen" worden  sind.  Da  wir  diese  Annahme  dadurch  widerlegen 
müssen,  daß  wir  die  Schöpfung  überhaupt  als  undenkbar  nachweisen, 
so  werden  dadurch  zugleich  sämtliche  übrigen  Schöpfungsannahmen 
widerlegt. 

Der  Begriff  der  Schöpfung  ist  entweder  überhaupt  undenk- 
bar oder  doch  mit  jeder  reinen,  auf  empirische  Basis  gegründeten 
Naturanschauung  vollkommen  unverträglich.  In  der  Abiologie  ist 
auch  nirgends  mehr  von  einer  Schöpfung  die  Rede,  und  nur  in  der 
Biologie  ist  man  noch  vielfach  von  diesem  Irrtum  Jjefangen.  Voll- 
kommen undenkbar  ist  der  Begriff  der  Schöpfung,  wenn  man  darunter 
„ein  Entstehen  von  etwas  aus  nichts"  versteht.  Diese  Annahme 
ist  ganz  unvereinbar  mit  einem  der  ersten  und  obersten  Natur- 
gesetze, welches  auch  allgemein  anerkannt  ist,  dem  großen  Gesetze 
nämlich,  das  alle  Materie  ewig  ist,  und  daß  nicht  ein  einziges 
Atom  aus  der  Körperwelt  verschwinden,  so  wenig  als  ein  einziges 
neues  hinzukommen  kann.  Der  einzige  denkbare  Sinn,  welcher 
daher  für  den  Begriff  der  Schöpfung  übrig  bleibt,  ist  die  Vorstellung, 
daß  durch  eine  außerhalb  der  Materie  stehende  Kraft  Bewegungser- 
scheinungen der  Materie  hervorgerufen  werden  und  daß  diese  zur 
Bildung  bestimmter  Formen  führen ;  gewöhnlich  versteht  man  darunter 
speziell  die  Bildung  individueller,  vorzüglich  organischer  Formen,  und 
in  unserem  speziellen  Falle  die  Bildung  jener  einfachsten  organischen 


88  Schö])fung  und  Selbstzeugung.  YI. 

Urformen.  Die  Annahme  einer  jeden  solchen  Schöpfung  ist  nun 
deshalb  durchaus  unstatthaft,  weil  wir  in  der  ganzen  Körperwelt, 
welche  unserer  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis  zugänglich  ist, 
nicht  ein  einziges  Beispiel  von  einer  außer  der  Materie  stehenden 
Kraft  empirisch  kennen.  Alle  Kräfte,  die  wir  kennen,  von  den  ein- 
fachen ..physikalischen"  Kräften  (z.  B.  der  Lichtbrechung,  Wärme- 
leitung) anorganischer  Kristalle,  bis  zu  den  höchsten  Lebeuserschei- 
nungen  der  Organismen  (bis  zu  der  Blütenbildung  der  Bäume,  bis 
zu  dem  Fluge  der  Insekten,  bis  zu  den  philosophischen  Gehirn- 
operationen des  Menschen)  sind  mit  absoluter  Notwendigkeit  an  die 
Materie  gebunden,  und  ebenso  ist  jede  Materie  (organische  und 
anorganische)  notwendig  mit  einer  gewissen  Summe  von  Kräften 
begabt.  Einerseits  also  haben  wir  nicht  einen  einzigen,  auch  nur 
wahrscheinlichen  Erfahrungsbeweis  für  die  Existenz  einer  solchen, 
die  Materie  von  außen  beherrschenden  und  „schaffenden"  Kraft  (mag 
man  dieselbe  nun  Lebenskraft,  Schöpferkraft,  oder  wie  immer 
nennen);  andererseits  aber  gehört  nur  ein  wenig  tieferes  Nachdenken 
dazu,  um  zu  der  festen  Überzeugung  zu  gelangen,  daß  eine  solche 
Kraft  ganz  undenkbar  ist.  Wie  sollen  wir  uns  eine  Kraft  außerhalb 
der  Materie  nur  irgend  vorstellen,  eine  Kraft,  der  jeder  Angriffs- 
punkt, welchen  die  Materie  bietet,  als  solcher  unangreifbar  ist? 
eine  Kraft,  welche  materielle  Bewegungserscheinungen  hervorruft, 
ohne  selbst  materiell  zu  sein?  eine  Kraft,  die  eine  Bewegung  ohne 
Anziehung  und  ohne  Abstoßung,  mithin  eine  Wirkung  ohne  Ursache 
hervorrufen  würde?  Wir  gestehen  offen,  daß  wir  persönlich  voll- 
kommen unfähig  sind,  uns  irgendeine  denkbare  Vorstellung  von  einer 
solchen  immateriellen  Kraft  zu  machen,  und  daß  wir  unter  den  zahl- 
losen Definitionen  und  Darstellungen,  welche  von  solchen  immate- 
riellen Kräften  unter  den  verschiedensten  Namen  gegeben  werden, 
nicht  eine  einzige  gefunden  haben,  die  nicht  vollständig  mit  den 
allgemeinsten  und  unmittelbarsten  sinnlichen  Erfahrungen,  sowie  mit 
den  wichtigsten  und  obersten  Grundgesetzen  der  Naturwissenschaft 
(und  vor  allem  mit  dem  Kausalgesetze)  unvereinbar  wäre. 

Ist  nun  schon  an  sich  der  Begriff  einer  solchen  immateriellen, 
außerhalb  der  Materie  befindlichen,  von  ihr  unabhängigen  und 
dennoch  auf  sie  wirkenden  Kraft  vollkommen  unzulässig  und 
undenkbar,  so  wird  es  in  unserem  Falle  hier  die  schöpferische  Kraft 
in  um  so  höherem  Maße,  als  mit  deren  Vorstellung  sich  die  unhalt- 
barsten teleologischen  Vorstellungen  und  die  handgreiflichsten  Anthro- 


VI.  11.    Schöpfung.  89 

pomorphismen  verbinden.  Denn  es  ist  klar,  daß  jenes  schöpferische 
immaterielle  Prinzip,  welches  bald  als  Lebenskraft,  bald  als  Schöpfer- 
kraft, bald  als  persönlicher  Schöpfer  die  Organismen  ., schaffen"  soll, 
hierbei  dnrchaus  in  analoger  Weise  zn  Werke  gehen  soll,  wie  der 
Mensch  oder  andere  Tiere  bei  „Schöpfung''  irgendeines  Kunstwerks, 
wie  z.  B.  eine  Wespe  beim  Bau  ihres  kunstvollen  Nestes,  oder  wie 
der  Schneidervogel  beim  Zusammennähen  der  Blätter,  oder  wie  der 
Mensch  beim  Bauen  eines  Hauses,  beim  ModelHeren  einer  Statue. 
Wie  alle  diese  Tiere  hierbei  nach  einem  vorhergehenden  Entwürfe 
ihren  Bau  konstruieren,  so  soll  auch  die  Schöpferki-aft  oder  der  per- 
sönliche Schöpfer  nach  einem  bestimmten  Bauplan  die  Organismen 
zweckmäßig  konstruieren,  und  wenn  seine  Schöpfungstätigkeit  sich 
auf  die  Erschaffung  jener  wenigen  einfachsten  ürwesen  beschränkt, 
aus  denen  sich  die  anderen  hervorgebildet  haben,  so  hat  er  jedem 
dieser  Urwesen  die  bestimmten  Bewegungserscheinungen  verliehen, 
welche  man  als  sein  „Leben"  bezeichnet.  In  allen  diesen  teleologi- 
schen Vorstellungen,  und  gleicherweise  in  sämtlichen  Schöpfungs- 
geschichten, welche  die  dichterische  Phantasie  der  Menschen  produ- 
ziert hat,   liegt  der  grobe  Anthropomorphismus  ^)   so   auf   der  Hand, 


^)  Wie  dm-chgreifend  diesen  Schöpf ungsansichten  überall  die  Vorstellung 
des  tierischen  und  insbesondere  des  menschlichen  freiwilligen  Handelns  nach 
einem  bestimmten  (natürlich  kausal  bedingten)  Wülensimpidse  zugrunde  liegt, 
beweisen  schon  die  allgemein  gebräuchlichen  Ausdrücke  „des  Bauplans,  der 
zweckmäßigen  Einrichtung,  des  künstlichen  Baues  usw.".  Offenbar  wird  hier 
stets  das  zu  schaffende  oder  erschaffene  „Geschöpf"  als  das  Produkt  eines  vor- 
bedachten Planes  betrachtet,  welchen  der  „Schöpfer"  in  ganz  gleicher  Weise 
entworfen,  modifiziert  und  ausgeführt  hat,  wie  der  Mensch  bei  Konstruktion 
seiner  zweckmäßigen  Maschinen  und  andere  Wirbeltiere  bei  Ausführung  ihrer  oft 
äußerst  künstlichen  und  zweckmäßigen  Nester,  Bauten  usw.  tun.  Der  Anthro- 
pomorphismus  oder,  allgemeiner  gesagt:  Zoomorphismus,  welcher  hier  zur 
Vorstellung  des  persönlichen  oder  individuellen  Schöpfers  führt,  ist  um  so  selt- 
samer und  airffallender,  als  dieser  Schöpfer  dabei  zugleich  als  immaterielles 
Wesen  oder  Geist  gedacht  wird,  also  im  Grunde,  wie  Reil  in  der  früher  zitierten 
Stelle  treffend  ausführt,  als  ein  gasförmiger  oder  elastisch-flüssiger  Körper,  oder 
als  ein  Individuimi,  welches  aus  der  feineren  Materie  des  schwerelosen  oder 
unwägbaren  Äthers  (dem  Wärmestoff  zwischen  den  Atomen  und  Molekülen  der 
Materie)  besteht.  Einerseits  also  wird  der  die  Materie  modelnde  und  formende 
Schöpfer  nach  Art  des  Menschen  oder  eines  anderen  höheren  Wirbeltieres 
denkend  und  planausführend,  mithin  als  ein  willkürlich  bewegliches  und  mit 
Organen  handelndes  Wirbeltier  vorgestellt,  andererseits  als  ein  gasförmiger, 
also  organloser  Körper  (daher  auch  die  Ausdrücke:  Spiritus,  Pneuma,  Hauch 
des  Schöpfers,  Blasen  und  Wehen  seines  Odems  usw.).     Wir  gelangen  somit  zu 


90  Schöpfung  und  Selbstzeugung.  yi. 

daß  wir  der  Einsicht  jedes  überhaupt  denkenden  und  nicht  allzusehr 
in  traditionellen  Vorurteilen  befangenen  Lesers  die  Vernichtung  dieser 
Schöpfungsvorstellung  selbst  überlassen  können.  Denjenigen  Morpho- 
logen  aber,  welche  nicht  durch  eigenes  Nachdenken  zu  dieser 
Erkenntnis  gelangen  können,  empfehlen  wir  zu  aufmerksamer  Lek- 
türe den  merkwürdigen  ..Essay  on  Classification"  des  geistvollen 
Agassiz,  in  welchem  dieser  berühmte  Naturforscher  (1859)  die 
teleologische  Vorstellung  des  Schöpfers  und  der  Schöpfungsakte  da- 
durch in  glänzendster  Weise  widerlegt,  daß  er  sie  bis  auf  ihre 
extremen  Konsequenzen  verfolgt  und  ihre  unlöslichen  Widersprüche 
überall  lichtvoll  an  den  Tag  fördert. 

Eine  Schöpfung  der  Organismen  ist  mithin  teils  ganz  undenk- 
bar, teils  aller  empirisch  erworbenen  Naturkenntnis  so  vollständig 
zuwiderlaufend,  daß  wir  uns  zu  dieser  Hypothese  auf  keinen  Fall 
entschließen  dürfen.  Es  bleibt  mithin  nichts  übrig,  als  eine  spontane 
Entstehung  der  einfachsten  Organismen,  aus  denen  sich  alle  voll- 
kommeneren durch  allmähliche  Umbildung  entwickelten,  anzunehmen, 
eine  Selbstformung  oder  Selbstgestaltung  der  Materie  zum  Organis- 
mus, welche  gewöhnlich  Urzeugung  oder  Generatio  spontan ea 
(aeciuivoca)  genannt  wird. 

III.    Lrzeugimg-  oder  (leneratio  spoiitaiiea. 

Die  ursprüngliche  mechanische  Entstehung  oder  die  elternlose 
Zeugung  der  einfachsten,  strukturlosen  Organismen,  welche  wir  im 
folgenden  Abschnitt  als  Selbstzeugung  oder  Autogonie  näher  betrachten 
werden,  ist  nicht  oder  nur  teilweis  identisch  mit  den  verschiedenen 
Arten  der  freiwilligen  oder  Urzeugung,  Avelche  unter  dem  Namen 
der  Generatio  spontanea,  aequivoca,  heterogenea,  originaria,  automa- 
tica,  primitiva,  primigenia,  primaria  usw.  seit  so  langer  Zeit  und 
mit  so  viel  Interesse  diskutiert  worden  sind.  Die  Vorstellungen  der 
verschiedenen  Naturforscher  über  jene  Urzeugung  sind  im  allgemeinen 
sehr  verschieden,  stimmen  aber  doch  alle  darin  überein,    daß  durch 

der  paradoxen  A'orstellung  eines  gasförmigen  Wirbeltieres,  einer  Contra- 
dictio  in  adjecto.  Im  ganzen  gilt  von  diesen  wie  von  den  meisten  ähnlichen 
anthropomorphcn  Vorstellungen  der  schöpferischen  Persönlichkeit  das  Umgekehrte 
von  dem,  was  die  Priester  sagen:  „Gott  schuf  den  Menschen  nach  seinem  BUde." 
Es  müßte  vielmehr  heißen:  ..Der  Mensch  schafft  Gott  nach  seinem  Bilde",  oder 
wie  es  der  Dichter  in  dem  bekannten  Spruche  ausdrückt:  „In  seinen  Göttern 
malet  sich  der  Mensch!'' 


Y],  III.    Urzeugung  oder  Generatio  spontanea.  91 

jenen  Prozeß  lebendige  Wesen  aus  der  nicht  belebten  (sogenannten 
„toten"')  Materie,  durch  deren  innewohnende,  ureigene  Kraft,  ohne 
Dazwischentreten  einer  außerhalb  der  Materie  stehenden  Schöpfer- 
kraft, hervorgehen  sollen.  In  diesem  Sinne  also  können  wir  alle 
diese  verschiedenen  Vorstellungen  zusammen  als  H^qDothesen  von 
der  Urzeugung  (Archigonie)  den  soeben  widerlegten  Hypothesen 
von  der  Schöpfung  (Creation)  gegenüberstellen. 

Wie  nun  alle  die  mannigfaltigen  Schöpfungsliypothesen  sich 
in  drei  verschiedene  Gruppen  bringen  ließen,  die  sich  mehr  oder 
weniger  von  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  entfernen,  so  können 
wir  auch  die  vielfältigen  Urzeugungsliypothesen  in  drei  verschiedene 
Gruppen  bringen,  welche  sich  mehr  oder  weniger  der  wissenschaft- 
lichen Erkenntnis  nähern,  und  von  denen  wir  nur  eine  einzige  als 
die  für  uns  unentbehrliche  Hypothese  auswählen  können. 

Nach  der  einen  Gruppe  der  Hypothesen  sind  von  jeder  Orga- 
nismenart  oder  Spezies  (zu  einer  gewissen  Zeit  oder  zu  verschiedenen 
Zeiten  der  Erdgeschichte)  eines  oder  mehrere  Individuen  spontan 
entstanden,  als  deren  durch  unmittelbare  Fortpflanzung  entstandene 
Nachkommen  wir  alle  übrigen  Individuen  derselben  „Spezies"  anzu- 
sehen hätten,  welche  zu  irgendeiner  Zeit  der  Erdgeschichte  gelebt 
haben  oder  welche  noch  jetzt  leben.  Danach  wären  also  z.  B.  alle 
einzelnen  Individuen  des  Weinstocks,  des  Sperlings,  des  Menschen, 
welche  jemals  existiert  haben,  die  unmittelbaren  Nachkommen  eines 
einzigen  oder  einer  gewissen  Zahl  von  Individuen  des  Weinstocks, 
des  •  Sperlings,  des  Menschen,  welche  entweder  einmal  (zu  einer 
bestimmten  Zeit)  oder  zu  wiederholten  Malen  spontan  entstanden 
sind.  Diese  Hypothesengruppe  (bei  der  es  uns  hier  gleichgültig  ist, 
ob  diese  Entstehung  nur  einmal  stattfand  oder  sich  mehrmals  wieder- 
holte, ob  dabei  nur  ein  oder  zwei  oder  mehrere  Individuen  ent- 
standen, ob  diese  ersten  Individuen  als  Eier  oder  als  Erwachsene 
entstanden  usw.)  schließt  sich  am  nächsten  an  die  vorher  erwähnte, 
am  weitesten  verbreitete  Schöpfungsvorstellung  an,  nach  welcher  von 
jeder  Art  ein  Stammvater  oder  mehrere  Ureltern  geschaffen  wurden; 
sie  unterscheidet  sich  von  jener  Hypothese  nur  dadurch,  daß  an  die 
Stelle  des  schöpferischen  Planes  oder  Willens  die  bhnde  Kraft  der 
„toten"  Materie  tritt.  Sie  bedarf,  wie  jene,  schon  deshalb  keiner 
Widerlegung,  weil  sie  auf  dem  grundfalschen  Dogma  von  der  Kon- 
stanz der  Spezies  fußt.  Aber  auch  abgesehen  hiervon  widerspricht 
die  Vorstellung,  daß  so  hoch  organisierte  und  so  verwickelt  gebaute 


92  Schöpfung  und  Selbstzeugung.  YI. 

Organismen,  wie  es  die  höheren  Tiere  und  Pflanzen  sind,  bloß  durch 
die  Kraft  nicht  organisierter  Materie  unmittelbar  entstehen  können, 
so  sehr  den  einfachsten  Erkenntnissen  und  den  bekanntesten  Tat- 
sachen, daß  sich  diese  Hypothese  niemals  eine  allgemeinere  Aner- 
kennung hat  erringen  können. 

Die  zweite  Gruppe  der  ürzeugungsh}T)othesen  behauptet,  daß 
aus  vorhandener  organischer  Substanz,  lediglich  durch  die  organi- 
sierende Kraft  derselben,  niedere  Organismen,  Tier-  und  Pflanzen- 
formen von  sehr  einfacher  Organisation  entstehen  können.  Hierher 
gehört  die  große  Mehrzahl  aller  Vorstellungen,  welche  sich  die  Natur- 
forscher der  verschiedensten  Zeiten  über  die  Urzeugung  gebildet 
haben.  Schon  Aristoteles  behauptete,  daß  aus  warmem  Schlamme 
oder  faulenden  vegetabilischen  Substanzen  niedere  Tiere  (Würmer, 
Insekten  usw.)  entstünden.  Als  man  später  mit  dem  Mikroskop  die 
Fülle  von  kleinen,  dem  bloßen  Auge  unsichtbaren  Organismen  ent- 
deckte, welche  alle  Gewässer  bevölkern,  nahm  man  für  einen  großen 
Teil  dieser  kleinen  Pflanzen  und  Tiere  eine  selbständige  Entstehung 
aus  der  zersetzten  organischen  Substanz  an,  welche  von  abgestor- 
benen Organismen  geliefert  wird  und  in  allen  Gewässern  verbreitet 
ist.  Diese  Vorstellung  von  der  Generatio  aequivoca  wurde  um  so 
mehr  befestigt  und  verbreitet,  als  man  bald  entdeckte,  daß  in  allen 
Flüssigkeiten,  welche  durch  Übergießung  (Infusion)  organischer  Sub- 
stanzen mit  Wasser  bereitet  werden,  derartige  niedere  Tiere  und 
Pflanzen  gleichzeitig  mit  deren  Zersetzung  massenhaft  entstehen 
(Infusorien,  Rotatorien,  Anguillulen,  Pilze,  Algen,  vielerlei  Protisten). 
Vorzüglich  wurde  diese  Generatio  aequivoca  für  die  Eingeweide- 
würmer und  andere  Organismen  angenommen,  deren  Entstehung  an 
ihrem  abgeschlossenen  Wohnorte  auf  dem  Wege  der  gewöhnlichen 
Zeugung  man  sich  nicht  erklären  konnte.  Als  nun  später  die  ver- 
wickelten und  oft  unter  Wanderungen  u.  dgi.  so  versteckten  Fort- 
pflanzungsverhältnisse dieser  Organismen  entdeckt  wurden,  trat  ein 
allgemeiner  Rückschlag  ein,  indem  man  nun  hieraus  die  homogene 
Fortpflanzung  für  alle  Organismen  deduzierte  und  die  Urzeugung 
für  alle  Organismen  ohne  Ausnahme  bestritt.  Dieser  Satz  wurde 
so  dogmatisch  verallgemeinert,  daß  der  „Glaube  an  die  Generatio 
aequivoca"  in  den  letzten  Dezennien  fast  allgemein  für  ein  Kriterium 
einer  unwissenschaftlichen  biologischen  Richtung  galt.  Wie  einseitig 
dieser  Rückschlag  sich  entwickelte,  zeigen  am  deutlichsten  die  leb- 
haften  Streitigkeiten,   welche   in    den    letzten  Jahren  Aviederum    im 


VI.  in.    Urzeugung  oder  Generatio  spontanea.  93 

Sclioße  der  französischen  Akademie  geführt  wnrden,  und  in  denen 
Pouche t  für,  Pasteur  gegen  die  Generatio  aequivoca  eintrat. 

Für-  die  uns  hier  beschäftigende  Frage  von  der  ersten  Ent- 
stehung der  organischen  Wesen  hat  diese  Form  der  sogenannten 
Generatio  aequivoca,  bei  welcher  sich  gewisse  niedere  Organismen 
aus  vorhandener  organischer  Substanz  ent^^ickeln,  die  von  zer- 
setzten Organismen  herrührt,  gar  kein  Interesse  oder  doch  nur  einen 
ganz  untergeordneten  Wert.  Denn  das  Vorhandensein  dieser  orga- 
nischen Substanzen,  aus  denen  sich  spontan  Organismen  entwickeln 
sollen,  setzt  bereits  die  Existenz  anderer  (abgestorbener)  Organismen 
voraus  und  erklärt  uns  also  nicht  die  erste  spontane  Entstehung 
lebender  Wesen.  Abgesehen  hieiTOu  aber  ist  die  Art  und  Weise, 
in  welcher  diese  Frage  von  den  meisten  Autoren,  sowohl  Gegnern 
als  Anhängern  der  Urzeugung,  diskutiert  worden  ist,  eine  so  unwissen- 
schaftliche, daß  wir  hier  ganz  darüber  hinweggehen  können. 

Wenn  wir  noch  beiläufig  einen  flüchtigen  Blick  auf  die  Art  und 
Weise  werfen,  in  welcher  diese  Generatio  aequivoca  von  zahlreichen 
Naturforschern  untersucht  imd  diskutiert  worden  ist,  so  tritt  uns  hier, 
wie  immer  am  deutlichsten  in  solchen  all2:eraeinen  Frajren.  äußerst  auf- 
fallend  der  große  ^langet  einer  streng  philosophischen  Methode  entgegen, 
welchen  wir  oben  eingehend  gerügt  haben.  Der  Mangel  an  allgemeiner 
Übersicht  des  Naturganzen  mid  an  philosophischer  Erfassimg  desselben, 
die  daraus  hervorgehende  Planlosigkeit  und  verkehi'te  Fragestellung  an 
die  Natur,  die  Inkonsequenz  der  Untersuchnngsmethoden  imd  die  Fehler- 
haftigkeit der  Schlüsse  —  alle  diese  Grundfehler  einer  falschen  oder 
doch  einer  unvollkommenen  Methode  der  Natm-erkenntnis  treten  hier, 
nur  oberflächlich  verdeckt  durch  eine  scheinbar  vollkommen  „exakte" 
Experimentalmethode,  in  so  auffallendem  Maße  hervor,  daß  es  uns  nicht 
Wimder  nimmt,  wenn  hier  noch  gar  kein  Resultat,  keine  positive  und 
keine  negative  Entscheidimg,   erreicht  ist. 

Was  die  experimentelle  Begründung  oder  Widerlegung  dieser 
Generatio  aequivoca  betrifft,  auf  welche  die  ., exakte"  Schule  der  Neuzeit 
so  großen  Wert  legt,  so  müssen  wir  in  erster  Linie  hervorheben,  daß 
eine  positive  Widerlegung  dieser  Frage  dadurch  bisher  nicht  herbei- 
geführt, aber  auch  gar  nicht  möglich  ist.  Denn  was  beweisen  alle 
diese  ^-ielfachen  und  wegen  ihrer  raffinierten  Komplikation  zum  Teil  so 
bewunderten  Experimente  (z.  B.  von  Pasteur  und  seinen  Genossen) 
anderes,  als  daß  unter  diesen  oder  jenen,  äußerst  komplizierten,  künst- 
lichen und  unnatürlichen  Bedingungen  eine  mit  Flüssigkeit  infmidierte 
organische  Substanz  keine  Organismen  geliefert  hat?  Ivanu  dies  irgend 
etwas  anderes  beweisen,  und  was  ist  mit  diesem  Beweise  erreicht? 
Fnserer  Ansicht  nach  gar  nichts !  Und  wenn  man  diese  künstlichen 
Experimente  vertausendfachte,  wenn  man  wirklich  Bedingungen  herstellte, 
die  den  in  der  freien  Natur  vorkommenden    älmlicher  wären,  imd  wenn 


94  Schöpfung  und  Solbstzeugung.  VI. 

hier  bei  Anwendung  aller  Vorsichtsmaßregeln  niemals  Organismen  in  der 
Infusion  entständen,  so  würde  damit  el)en  immer  nur  der  Beweis  ge- 
liefert sein,  daß  unter  diesen  oder  jenen  ganz  bestimmten  Bedingungen 
keine  Organismen  in  einer  solchen  Infusion  entstehen.  Niemals  aber 
wird  dadurch  der  Beweis  geliefert  werden,  daß  eine  solche  Generatio 
aequivoea  unter  keinen  Bedingungen  in  der  freien  Natur  möglich  sei. 
Niemals  wird  sich  dieselbe  in  dieser  Weise  experimentell  widerlegen 
lassen. 

Weiterhin  werden  gewöhnlich  als  solche  Organismen,  welche  in  der- 
gleichen Infusionen  entstehen,  ganz  kritiklos  untereinander  sehr  einfache 
und  sehr  kompliziert  gebaute  Organismen  genannt,  z.  B.  Vibrionen, 
Monaden,  Rhizopoden,  Diatomeen,  einzellige  Algen,  niedere  Pilze,  höhere 
Algen  und  Pilze,  Würmer,  Rädertierchen  etc.  Nun  ist  es  aber  klar,  daß 
nur  die  Entstehung  höchst  einfacher  imd  noch  nicht  differenzierter 
Organismen  auf  diesem  Wege  denkbar  ist  und  daß  nur  die  geringe, 
mikroskopische  Größe,  welche  allen  diesen,  sonst  so  verschieden  diffe- 
renzierten „Infusions" -Organismen  gemein  ist,  zu  einer  kollektiven  Zu- 
sammenfassung derselben  verleitet  hat.  Wollte  man  hier  scharf  und  klar 
sehen,  so  müßte  man  die  einzelnen  Organismen  aus  so  verschiedenen 
Klassen  und  Organisationshöhen,  w^elche  auf  diese  Weise  entstehen,  alle 
einzeln  hinsichthch  ihrer  Existenz-  und  Entsteliimgsbedingungen  unter- 
suchen, und  würde  dami  finden,  daß  nur  von  den  allerniedrigsten  und 
einfachsten  Organismen,  entweder  von  den  ganz  homogenen  und  struktur- 
losen Moneren  (Vibrionen,  Protamoeben  etc.)  oder  doch  höchstens  von 
solchen,  deren  Körper  noch  nicht  die  Höhe  einer  differenzierten  Zelle 
erreicht  hat,  eine  solche  spontane  Entstehung  zu  erwarten  ist. 

Endlich  aber,  und  dies  ist  hier  vor  allem  hervorzuheben,  ist  mit 
Konstatierung  der  Tatsache  wenig  gewonnen,  daß  sich  niedere  Organismen 
aus  solchen  organischen  Substanzen  entwickeln,  welche  von  anderen, 
schon  dagewesenen  Organismen  herrühren.  Hierdmxh  kann  niemals  die 
erste  Entstehung  des  Lebens  auf  der  Erde  erklärt  werden.  Die  erste 
spontane  Entstehung  jener  einfachsten,  homogenen  Urwesen,  aus  denen 
sich  alle  übrigen  durch  Differenzierung  und  natürliche  Züchtung  all- 
mählich entwickelt  haben,  läßt  sich  vielmehr  einzig  und  allein  durch 
eine  (h-itte  und  letzte  Urzeugungshypothese  erklären,  welche  den  unmittel- 
baren Übergang  anorganischer  Substanz  in  individualisierte  organische 
Substanz  behauptet,  ein  Prozeß,  der  der  Kristallisation  der  Anorgane 
durchaus  analog  ist.  Diese  Urzeugung,  welche  also  von  der  gewöhnlich 
angenommen  Generatio  aequivoea  Avesentlich  verschieden  ist,  wollen  wir 
als  Selbstzeugung   oder   Autogonie   hier   besonders    in   Erwägung    ziehen. 

YV.  Selbi»;tzeug:iiiis'  oder  Autogonie. 

Die  Hypothese  der  Selbstzeugung  oder  Autogonie  fordert,  daß 
die  äußerst  einfachen  und  vollkommen  homogenen,  strukturlosen 
Organismen  (Moneren),  welche  wir  als  die  Stammformen  aller  übrigen, 


YI.  IV.    Selbstzeugung  oder  Autogonie.  95 

durch  Differenzierung  daraus  hervorgegangenen  zu  betrachten  haben, 
unmittelbar  aus  dem  Zusammentritt  von  Stoffen  der  anorganischen 
Natur  in  älmlicher  Weise  sich  in  einer  FKissigkeit  gebildet  haben, 
wie  es  bei  der  Bildung  von  Kristallen  in  der  Mutterlauge  der  Fall  ist. 
Von  den  soeben  betrachteten  Formen  der  Urzeugung  oder  Gene- 
ratio aequivoca  (spontanea  etc.)  wie  sie  gewöhnlich  vorgestellt  und 
besprochen  werden,  unterscheidet  sich  unsere  Selbstzeugung  oder 
Autogonie  wesentlich  dadurch,  daß  dort  organische  Materien  (kompli- 
ziertere Kohlenstoffverbindungen),  welche  von  zersetzten  Organismen 
herrühren,  hier  dagegen  nur  sogenannte  anorganische  Materien  (d.  h. 
einfachere  Verbindungen)  vorausgesetzt  werden,  aus  denen  sich  zu- 
nächst verwickeitere  Kohlenstoff  Verbindungen  (Plasma),  und  hieraus 
unmittelbar  organische  Individuen  einfachster  Art  (Moneren)  liervor- 
bildeten.  Uns  erscheint  diese  Annahme  für  das  Verständnis  der  ge- 
samten organischen  Natur  vollkommen  unentbehrlich,  weil  sie  die 
einzige  große  Lücke  ausfüllt,  welche  bisher  in  der  gesamten  Ent- 
wickelungsgeschichte  der  Erde  und  ihrer  Bewohner  bisher  noch  be- 
standen hat.  Wir  müssen  diese  Hypothese  als  die  unmittelbare 
Konsequenz  und  als  die  notwendigste  Ergänzung  der  allgemein  an- 
genommenen Erdbildungstheorie  von  Kaut  und  Laplace  hinstellen, 
und  finden  hierzu  in  der  Gesamtheit  der  Naturerscheinungen  eine 
so  zwingende  logische  Notwendigkeit,  daß  wir  deshalb  diese  Deduk- 
tion, die  vielen  sehr  gewagt  erscheinen  wird,  als  unabweisbar  be- 
zeichnen müssen. 

Jede  irgendwie  ins  einzelne  eingehende  Darstellung-  der  Autogonie 
ist  vorläufig  schon  deshalb  gänzlich  unstatthaft,  weil  wir  uns  durchaus 
keine  irgendwie  befriedigende  Vorstelhmg  von  dem  ganz  eigentüudiclien 
Zustande  machen  können,  den  unsere  Erdoberfläche  zur  Zeit  der  ersten 
Entstehung  der  Organismen  darbot,  vielmehr  alle  sicheren  Anhaltspunkte 
hierfür  fehlen.  Wahrscheinlich  war  die  Erdoberfläche  unseres  Erdballes 
zu  der  Zeit,  als  sie  soweit  erkaltet  war,  daß  sich  Organismen  auf  ihr 
bilden  konnten,  ringsum  von  einem  zusammenhängenden  uferlosen  Meere 
umgeben,  Zonenunterschiede  noch  nicht  vorhanden.  Von  der  Beschaffen- 
heit jenes  Urmeeres  und  der  heißen,  darüber  ausgebreiteten,  mit  Ivolüen- 
säure  und  Wasserdämpfen  gesättigten  Atmosphäre  können  wir  uns  aber 
gar  keine  bestimmte  Vorstellung  machen,  wenn  wir  bedenken,  daß  die 
ungeheuren  Mengen  von  Kohlenstoff.  Wasserstoff,  Sauerstoff  und  Stick- 
stoff, die  von  der  Steinkohlenzeit  an  bis  zur  Gegenwart  und  wahrscliein- 
hch  schon  lange  vor  der  Steinkohlenzeit  an  den  Ivörper  zahlloser  Organis- 
men gebunden  waren,  in  jener  Urzeit  in  ganz  anderen,  einfacheren 
Verlnndungen  nebeneinander  existierten,  oder  ganz  frei  und  ungebunden 
aufeinander  wirkten.     Die  ungeheuren  Massen  von  Ivohlensäure,  von  ver- 


96  Schöpfung  und  Selbstzeugung.  YI. 

schiedenen  Kohlenwasserstoffen  und  von  zahllosen  anderen  Kohlenstoff- 
verbindungen, die  damals  zur  Zeit  der  ersten  Entstehung  des  Lebens  teils 
gasförmig  in  der  Atmosphäre  verbreitet,  teils  in  dem  Urmeere  aufgelöst 
oder  auf  dessen  Boden  niedergeschlagen  gewesen  sein  müssen,  gestatten 
uns  durchaus  keine  sichere  hypothetische  Vorstellung  von  den  Existenz- 
bedingungen, unter  denen  sich  die  ersten  einfachsten  Organismen  in 
jenem  Urmeere  bildeten.  Nur  so  viel  können  wir  mit  Bestimmtheit 
sagen,  daß  die  Beschaffenheit  des  Urmeeres  und  der  Uratmosphäre  zu 
jener  Zeit  sehr  bedeutend  verschieden  von  der  jetzigen  gewesen  sein  muß. 
Die  Anhänger  der  Generatio  aequivoca  pflegen  gewöhnlich,  wenn  sie 
die  Natur  der  elternlos  entstehenden  Organismen  erörtern,  zu  behaupten, 
daß  dies  einzellige  Wesen  sein  müßten.  Dagegen  halten  wir  es  für  viel 
wahrscheinlicher,  daß  die  einzelligen  Wesen  sich  erst  durch  Differenzie- 
rimg von  innerem  Kern  imd  äußerem  Plasma  aus  den  strukturlosen 
Moneren  liervorgebildet  haben,  und  daß  diese  die  wirklichen  Autogonen 
sind.  Die  Gründe  hierfür  liegen  in  der  Vergleichimg,  welche  wir  oben 
zwischen  diesen  Moneren  und  den  Kristallen  ausgeführt  haben,  und  in 
welcher  wir  zw  zeigen  versuchten,  Avie  die  spontane  Entstehimg  solcher 
homogenen,  imbibitionsfähigen  Eiweißkörper  ganz  analog  der  spontanen 
Entstehung  von  Kristallen  in  der  Mutterlauge  zu  denken  sei.  Nach 
unserer  Hypothese  sind  demnach  zuerst  ausschließlich  vollkommen  struktur- 
lose luid  homogene  Plasmaklimipen,  gleich  den  Protamoeben,  im  Urmeere 
entstanden;  in  diesen  hat  sich  erst  s})äter  eine  Differenz  von  festerem 
Kern  und  weicherer  Hülle  gebildet,  und  noch  später  erst  sind  diese  ein- 
fachen kernhaltigen  Zellen  zur  Bildung  mehrzelliger  Organismen  zusam- 
mengetreten, aus  denen  sich  dann  alle  höheren  allmählich  durch  natür- 
liche Zuchtwahl  entwickelt  haben. 


Siebentes  Kapitel. 

Tiere  und  Pflanzen. 

„Wenn  man  Pflanzen  und  Tiere  in  ilirem  unvoUlionunen- 
sten  Znstande  betrachtet,  so  sind  sie  kaum  zu  unterscheiden. 
So  viel  aber  können  wir  sagen,  dati  die  aus  einer  liaum  zu 
sondernden  A'envandtschaft  als  Pflanzen  und  Tiere  nach  und 
nach  hervorti-etenden  Geschöpfe  nach  zwei  entgegengesetzten 
Seiten  sich  vervollkommnen,  so  daß  die  Pflanze  sieh  zuletzt 
im  Baume  dauernd  und  starr,  das  Tier  im  Mensehen  zur 
höchsten  Beweglichkeit  und  Freiheit  sich  verherrliclit." 

Goethe  (Jena,  1807). 

Unterscheidung-  von  Tier  und  Pflanze. 

„Der  wissenschaftliche  Staudpunkt  unserer  Anschauungen  von 
der  organischen  Natur  hat  sich  in  keinem  Verhältnisse  jedesmal  so 
treu  abgespiegelt,  als  da,  wo  es  sich  um  Erörterung  der  Unterschiede 
handelt,  welche  zwischen  Tier  und  Pflanze  bestehen.  Seit  jener  Zeit, 
als  vor  mehr  denn  hundert  Jahren  die  Tiernatur  der  pflanzenartig 
festsitzenden,  baumähnlich  verästelten  und  blütengleiche  Individuen 
tragenden  Polypenstöcke  kund  ward,  hat  jede  neue  Forschung  in 
diesem  Gebiete  neue  Theorien  zutage  gebracht,  von  denen  eine  die 
andere  verdrängte."'     (Gegenbaur,  1859.) 

Zusatz  (1906).  Das  siebente  Kapitel  enthielt  auf  48  Seiten 
kritische  Untersuchungen  über  die  Unterscheidung  und  den  Ursprung 
von  Tier-  und  Pflanzenreich,  sowie  die  Begründung  des  nieder- 
sten, zwischen  beiden  stehenden  Protistenreiches.  Darauf  folgte 
eine  eingehende  Charakteristik  der  drei  Organismenreiche  und 
ihrer  Stämme  in  chemischer,  morphologischer  und  physiologischer 
Beziehung.  Die  hier  zuerst  gegebene  Darstellung  und  Einteilung  des 
Protistenreiches,  sowie  seine  Abgrenzung  gegen  das  Pflanzenreich 
einerseits  und  das  Tierreich  andererseits,  wurde  ausführlicher  behan- 
delt und  vielfach  verbessert  in  den  zehn  aufeinander  folgenden  Auflagen 
der  „Natürlichen  Schöpfungsgeschichte".  Eine  selbständige  Behand- 
lung erfuhr  diese  wichtige  Aufgabe  schon  1878  in  meiner  (längst  ver- 
griffenen) Schrift:  „Das  Protistenreich,  eine  populäre  Übersicht 
über  das  Formengebiet  der  niedersten  Lebewesen"  (104  Seiten,  mit 
58  Figuren).  Meine  endgültige  (für  mich  persönlich  nach  vielen  Ver- 
änderungen abgeschlossene !)  Auffassung  und  Klassifikation  der  Protisten 
(als  einzellige,  nicht  gewebebildenden  Organismen)  gab  ich  1894  im 
ersten  Bande  meiner  „Systematischen  Phylogenie"  (S.  34—251). 

Haeckel,  Prinz,  d.  Morphol.  < 


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DRITTES  BUCH. 

ERSTER  TEIL  DER  ALLGEMEINEN  ANATOMIE. 


GENERELLE  TEKTOLOGIE  ODER 
ALLGEMEINE   STRUKTURLEHRE  DER   ORGANISMEN. 

(INDIVIDUALITÄTSLEHRE  DER  ORGANISIklEN.) 


„Jedes  Lebendige  ist  kein  Einzelnes,  sondern  eine  Meluheit;  selbst  in- 
sofern es  uns  als  Individuum  erscheint,  bleibt  es  doch  eine  Versammlung  von 
lebendigen,  selbständigen  Wesen,  die  der  Idee,  der  Anlage  nach  gleich  sind,  in 
der  Erscheinung  aber  gleich  oder  ähnlich,  ungleich  oder  unähnlich  werden  können. 
Diese  Wesen  sind  teils  ursprünglich  schon  verbunden,  teils  finden  und  vereinigen 
sie  sich.  Sie  entzweien  sich  und  suchen  sich  wieder,  und  bewirken  so  eine  un- 
endliche Produktion  auf  alle  Weise  und  nach  allen  Seiten. 

„Je  unvollkommener  das  Geschöpf  ist,  desto  mehr  sind  diese  Teile  ein- 
ander gleich  oder  ähnlich,  und  desto  mehr  gleichen  sie  dem  Ganzen.  Je  voll- 
kommener das  Geschöpf  wird,  desto  unähnlicher  werden  die  Teile  einander.  In 
jenem  Falle  ist  das  Ganze  den  Teilen  mehr  oder  weniger  gleich,  in  diesem  das 
Ganze  den  Teilen  unähnlich.  Je  ähnlicher  die  Teile  einander  sind,  desto  weniger 
sind  sie  einander  subordiniert.  Die  Subordination  der  Teile  deutet  auf  ein  voll- 
kommneres  Geschöpf. 

„Daß  nun  das,  was  der  Idee  nach  gleich  ist,  in  der  Erfahrung  entweder 
als  gleich  oder  als  ähnlich,  ja  sogar  als  völlig  ungleich  und  unähnlich  erscheinen 
kann,    darin    besteht    eigentlich   das    bewegliche    Leben    der   Natur,    das   wir   in 


unsern  Blättern  zu  entwerfen  gedenken." 


Goethe  (Jena.  1807). 


AcMes  Kapitel. 

Begriff  und  Aufgabe  der  Tektologie. 

Freuet  euch  des  wahren  Scheins, 
Euch  des  ernsten  Spieles, 
Kein  Lebendig-es  ist  Eins, 
Immer  ist's  ein  Vieles. 

Goethe. 

I.  Die  Tektologie  als  Lehre  von  der  oii^amscheii  Individualität. 

Die  Tektologie  oder  Strukturlehre  der  Organismen  ist 
die  gesamte  Wissenschaft  von  der  Individualität  der  be- 
lebten Natur  kör  per,  welche  meistens  ein  Aggregat  von  Individuen 
verschiedener  Ordnung  darstellt.  Die  Aufgabe  der  organischen 
Tektologie  ist  mithin  die  Erkenntnis  und  die  Erklärung  der  organi- 
schen Individualität,  d.  h.  die  Erkenntnis  der  bestimmten  Natur- 
gesetze, nach  denen  sich  die  organische  Materie  individualisiert,  und 
nach  denen  die  meisten  Organismen  einen  einheitlichen,  aus  Indivi- 
duen verschiedener  Ordnung  zusammengesetzten  Formenkomplex 
bilden. 

Begriff  und  Aufgabe  der  Tektologie,  wie  wir  sie  hier  feststellen, 
sind  bisher  von  den  meisten  Morphologen  nicht  scharf  ins  Auge 
gefaßt  worden,  da  man  in  der  Anatomie  die  Tektologie  und  Promor- 
phologie stets  vermischt  zu  behandeln  pflegt.  Wenn  nun  auch  diese 
Behandlungsweise  in  der  anatomischen  Praxis  sich  gewiß  am  meisten 
empfiehlt,  und  es  immer  am  bequemsten  sein  wird,  bei  der  Anatomie 
jedes  einzelnen  Organismus  die  gesamte  Anatomie  (Tektologie  und 
Promorphologie)  der  einzelnen  Individuen  verschiedener  Ordnung 
nach  einander  abzuhandeln,  so  müssen  wir  dagegen  hervorheben, 
daß  es  für  das  theoretische  Verständnis  des  Organismus  von  der 
größten  Wichtigkeit  ist,  die  wesentlich  verschiedene  Aufgabe  der 
beiden  anatomischen  Hauptzweige  scharf  getrennt  zu  erfassen,  und 
Tektologie  und   Promorphologie  als  gesonderte  koordinierte  Wissen- 


102  Begriff  und  Aufgabe  der  Tektologie.  VIII. 

Schäften  nebeneinander  zu  begreifen.     Für  die  allgemeine  und  syn- 
thetische Betrachtung  einer  Organismengruppe  wird  daher  die  voll- 
ständige Trennung  der  Tektologie   und  Promorphologie,   wie  wir  sie 
hier  durchführen,  vorzuziehen  sein,   während  für  die  besondere  und 
analytische  Erforschung  eines   einzelnen   Organismus  sich  mehr  die 
Verschmelzung  der  beiden  anatomischen  Hauptzweige  empfehlen  wird. 
Der  Körper  der  großen  Mehrzahl  aller  jetzt  lebender  Organismen 
stellt  ein  verwickeltes  Gebäude  dar,  welches   aus  gleichartigen  und 
ungleichartigen  Teilen  oder  Organen  in  sehr  komplizierter  Weise  zu- 
sammengesetzt ist.     Allgemein  können  wir  diese   „Partes  similares 
et    dissimilares''    derart    in    verschiedene    subordinierte    Kategorien 
einteilen,  daß  jede  höhere  Kategorie  eine  in  sich  abgeschlossene  und 
selbständige  Einheit,  zugleich  aber  auch  eine  Vielheit  von  mehreren 
Einheiten  der  nächstniederen  Kategorie   darstellt.     Diese  Kategorien 
betrachten  wir  als  verschiedene  Stufen  oder  Ordnungen  von  organi- 
schen   Individuen.     Wir    konnten    daher    auch    die    Tektologie  oder 
Strukturlehre  als  die  „Wissenschaft  von  der  Zusammensetzung 
der  Organismen  aus  organischen  Individuen  verschiedener 
Ordnung"   bezeichnen.     Hiergegen  ist  nur   zu  erinnern,   daß  diese 
verwickelte    Zusammensetzung    des    Organismus    aus    subordinierten 
Individualitäten    bei    sehr    zahlreichen    niederen    Organismen    fehlt, 
nämlich  bei  allen  Lebewesen,   welche   zeitlebens   auf  der  niedersten 
Stufe  der  Individualität  stehen  bleiben  und  bloß  den  morphologischen 
Wert  einer  einzigen  Plastide  (entweder   einer   Cytode    oder    einer 
Zelle)    behalten.     Auch    ist    die  Erwägung    sehr  wichtig,    daß   alle 
organischen  Individuen   ohne  Ausnahme,    mögen   sie   auch   in  ihrer 
vollendeten  Form   die  höchste  Stufe  der  Komplikation  erreichen,  in 
ihren  ersten  Anfängen  stets  ein  einfachstes  Individuum  erster  Ord- 
nung, eine  einzelne  Plastide,  repräsentieren.     Da  wir  nun  außerdem 
in  den  homogenen  und   strukturlosen  Moneren  Organismen  kennen, 
welche  überhaupt  nicht  aus  ungleichartigen  Teilen,  sondern  bloß  aus 
gleichartigen    Plasmamoleloilen    zusammengesetzt  sind,   so   erscheint 
es  nicht  passend,  die  Tektologie  allgemein  als  Merologie  oder  Lehre 
von  den  Teilen  zu  bezeichnen,  falls  man  unter  diesen  „Teilen"  nur 
die    Individuen    verschiedener    Ordnung    verstehen    will.      Vielmehr 
würde  es  vom  allgemeinen  Gesichtspunkte  aus  passender  erscheinen, 
falls   der   Ausdruck  der    Tektologie    oder    Strukturlehre    aus    jenem 
Gruntle  zu  beschränkt  erscheinen  sollte,  diesen  Zweig  der  Anatomie 
als  die  „Wissenschaft  von  der  organischen  Individualität"  oder  kurz 


VIII.  II.    Begriff  des  organischen  Individuums  im  allgemeinen.  103 

als   Biontik,  Biontologie   oder    Individualitätslehre    zu    be- 
zeichnen. 

Bevor  wir  die  eigentliche  Aufgabe  der  Tektologie  oder  Biontik 
zu  lösen  und  die  Gesetze  zu  erkennen  versuchen,  nach  denen  sich 
die  organische  Materie  individualisiert,  erscheint  es  uns  notwendig, 
den  Begriff  des  organischen  Individuums  im  allgemeinen  zu  erörtern 
und  die  sehr  verschiedenen  Ansichten  zu  erwägen,  welche  die  ver- 
schiedenen Naturforscher  sich  über  die  Individualität  der  Organismen 
gebildet  haben.  Erst  dann  können  wir  ausführlich  unsere  eigene 
Ansicht  von  den  morphologischen  und  physiologischen  Individuen 
verschiedener  Ordnung  begründen,  welche  nach  unserem  Dafürhalten 
allgemein  unterschieden  werden  müssen. 

II.     Be2:riff  des  organischen  Individuums  im  all^^emeinen. 

Das  Wort  ,,Individuum"  wird  in  außerordentlich  vielfacher 
und  verschiedenartiger  Bedeutung  angewandt.  Seinem  Wortlaute 
nach  soU  dieser  Begriff  ein  Unteilbares  bezeichnen.  Im  strengsten 
Sinne  unteilbar  können  wir  uns  aber  nur  die  Massenatome  vor- 
stellen, aus  denen  wir  uns  nach  der  anatomischen  Hypothese  die 
Materie  zusammengesetzt  denken,  und  die  Atome  des  expansiven 
Äthers,  welche  die  attraktiven  Massenatome  trennen,  „Atom" 
(aToijLoc)  ist  ja  ursprünglich  weiter  nichts,  als  das  griechische  Wort 
für  das  römische  „Individuum",  für  das  deutsche  „Unteilbar".  In 
diesem  Sinne  wurden  denn  auch  von  früheren  Philosophen  die  Aus- 
drücke Atom  und  Individuum  als  gleichbedeutend  angewandt. 

Das  Wort  Atom  hat  späterhin  diese  ursprüngliche  Bedeutung 
des  Individuum  allein  beibehalten  und  wird  jetzt  in  diesem  Sinne 
ausschließlich  zur  Bezeichnung  der  einfachsten  und  letzten  diskreten 
Größen,  der  kleinsten,  homogenen  und  unteilbaren  Stoffteilchen  ver- 
wandt, aus  deren  Aggregation  die  atomistische  Hypothese  die  Masse 
und  den  zwischen  den  Massenatomen  befindlichen  Äther  konstruiert. 
Das  Wort  Individuum  dagegen  wird  zur  Bezeichnung  sehr  verschie- 
dener Erscheinungsformen  der  Materie  gebraucht,  welchen  nur  die 
Idee  der  Einheit  als  gemeinsames  Band  zugrunde  liegt.  Wenn 
man  von  der  einheitlichen  Erscheinungsform  der  Individuen 
absieht,  so  bleibt  für  den  Begriff  des  Individuums  weiter  nichts  übrig. 

Hieraus  folgt  bereits,  daß  der  Begriff  des  Individuums  keiner 
weiteren  Definition  fähig  ist,  daß  er  keine  absolute,  sondern  nur  eine 


X()4  Begriff  und  Aufgabe  der  Tektologie.  YIII. 

relative  Bedeutung  besitzt.  Streng  genommen  ist  das  Individuum 
eigentlich  gar  kein  Begriff,  sondern  nur  die  rein  anschauliche  Auf- 
fassung irgendeines  gegebenen  Begriffes  als  Einheit  unter  einer  Viel- 
heit von  gleichen  Begriffen.  So  hat  schon  Schieiden  das  Indivi- 
duum als  ..die  rein  anschauliche  Auffassung  irgendeines  wirk- 
lichen Gegenstandes  unter  einem  gegebenen  Artbegriff"  definiert. 
Erst  die  Beziehung  zu  diesem  Artbegriff  läßt  das  Individuum  als 
solches  erscheinen.  Dasjenige,  was  im  gewöhnlichen  Leben  am 
häufigsten  als  Individuum  bezeichnet  wird,  der  einzelne  Mensch,  oder 
die  Person,  ist  ein  Individuum  unter  dem  Artbegriff  seiner  Nation; 
die  Nation  ist  ein  Individuum  unter  den  übrigen  Nationen  ihrer  Rasse ; 
die  Rassen  sind  Individuen  unter  der  Menschenart;  die  Menschenart 
ist  ein  Individuum  unter  den  verschiedenen  Säugetierarten  usw.  Erst 
wenn  der  Artbegriff  vollkommen  definiert  ist,  von  dessen  Individuen 
man  spricht,  erhält  das  Individuum  eine  bestimmte  Bedeutung.  Es 
tritt  uns  dann  die  Individualität  als  eine  einheithche  Erscheinung 
entgegen,  welche  nicht  geteilt  werden  kann,  ohne  ihren  Charakter, 
ihr  eigenstes  Wesen  zu  zerstören. 

Über  das  gegenseitige  Verhältnis  der  verschiedenartigen  Indivi- 
dualitäten, die  uns  in  den  konkreten  Naturkörpern  entgegentreten, 
über  ihr  koordiniertes  und  subordiniertes  Verhältnis  im  allgemeinen 
existieren  noch  keine  zusammenhängenden  Untersuchungen.  Desto- 
mehr  hat  man  sich  bemüht,  bestimmte  Erscheinungsformen  der  Natur- 
körper ysj.-z  £;o/r^v  als  „eigentHche"  Individuen  zu  bestimmen.  Unter 
den  Anorganen  ließ  sich  eine  solche  absolute  Individualität  leicht  in 
den  Kristallen  finden.  Unter  den  Organismen  hat  man  bei  den 
Tieren  meistens  keine  Schwierigkeiten  gefunden,  indem  man  als 
typisches  Individuum  die  sowohl  physiologisch  als  morphologisch 
vollkommen  abgeschlossene  und  einheitliche  Erscheinung  auffaßte, 
in  welcher  der  einzelne  Mensch  und  alle  übrigen  Wirbeltiere,  wie 
die- große  Mehrzahl  der  höheren  Tiere  überhaupt,  auftreten,  und 
welche  wir  vorläufig  als  Person  (Prosopon)  bezeichnen  wollen.  Viel 
schwieriger  erschien  dagegen  die  Feststellung  eines  solchen  absoluten 
Individuums  im  Pflanzenreiche,  woher  es  sich  erklärt,  daß  die  Botaniker 
am  meisten  sich  mit  dieser  Frage  beschäftigt  haben.  Als  diejenige 
Einheitsform,  welche  der  tierischen  Person  äquivalent  ist,  haben  die 
meisten  Botaniker  bei  den  höheren  Pflanzen  den  Sproß  oder  die 
Knospe  anerkannt.  Da  jedoch  neben  dieser  Anschauung  noch  eine 
Anzahl  von  anderen  sehr  verschiedenartigen  Auffassungen  der  tieri- 


Vin.  VI.    Morphologische  imd  physiologische  Individualität.  105 

sehen  und  pflanzlichen  Individnahüit  sich  Gehnng  verschafft  haben, 
so  müssen  wir  auf  die  Aufstelhmg  von  absoluten  organischen  Indivi- 
duen überhaupt  verzichten  und  gelangen  nur  dadurch  zum  Ziele,  daß 
wir  verschiedene  Ordnungen  oder  Kategorien  von  relativen 
Individuen  in  den  organischen  Naturkörpern  unterscheiden. 

Tl.    Morpliologisclie  und  pliysiologiselie  Individualität. 

Morphologisches  Individuum  oder  Formindividuum  oder 
organische  Formeinheit  nennen  wir  allgemein  diejenige  einheitliche 
Formerscheinung,  welche  ein  in  sich  abgeschlossenes  und  formell 
kontinuierlich  zusammenhängendes  Ganzes  bildet;  ein  Ganzes,  von 
dessen  konstituierenden  Bestandteilen  man  keinen  hinwegnehmen, 
und  das  man  überhaupt  nicht  in  Teile  auseinanderlegen  kann,  ohne 
das  Wesen,  den  Charakter  der  ganzen  Form  zu  vernichten.  Das 
Formindividuuni  (Morphon)  ist  demnach  eine  einfache,  zusam- 
menhängende Raumgröße,  die  wir  im  Momente  der  Beurteilung  als 
eine  unveränderliche  Gestalt  anzusehen  haben. 

P h y  s i 0 1 0 g i s c h e s  I n d i  V i d u u m  oder  Leistungsindi viduura  (Bion)^ 
oder  Lebenseinheit,  nennen  wir  diejenige  einheitliche  Formerschei- 
nung, welche  vollkommen  selbständig  längere  oder  kürzere  Zeit  hin- 
durch eine  eigene  Existenz  zu  führen  vermag;  eine  Existenz,  welche 
sich  in  allen  Fällen  in  der  Betätigung  der  allgemeinsten  organischen 
Funktion  äußert,  in  der  Selbsterhaltung.  Das  Leistungsindividuum 
ist  demnach  eine  einfache,  zusammenhängende  Raumgröße,  welche 
wir  als  solche  längere  oder  kürzere  Zeit  hindurch  leben,  d.  h.  sich 
ernähren  sehen,  und  welche  wir  also  im  Momente  der  Beurteilung 
als  veränderlich  ansehen.  Sehr  häufig  vermag  dieselbe  außerdem 
sich  fortzupflanzen  und  auch  andere  Lebensfunktionen  zu  vollziehen. 
Der  Kürze  halber  wollen  wir  die  physiologischen  Individuen  ein  für 
allemal  mit  dem  Namen  der  Bionten  belegen.^) 

Die  morphologische  Individualität  zerfällt  in  sechs  verschiedene, 
subordinierte  Kategorien  oder  Ordnungen  von  Individuen,  und 
jede  dieser  Ordnungen  tritt  in  bestimmten  Organismen  als  physio- 
logische Individualität  auf.  Für  jede  Art  (Spezies)  ist  aber  eine 
bestimmte   Ordnung   als   höchste   charakteristisch    und    repräsentiert 


1)  ßfcv.  -Jj  (,3iovTC(,  TÖ:)   das  physiologische  Individuum   als  konkrete  Lebens- 


einheit, als  selbständiges  „Lebewesen." 


IQß  Begriff  und  Aufgabe  der  Tektologie.  Ylll. 

hier  ausnahmslos  die  eigentliche  physiologische  Individualität,  wenig- 
stens zur  Zeit  der  vollkommenen  Reife  des  Organismus.  Die  sechs 
Ordnungen  der  organischen  Individualität  sind  folgende: 

I.  Plastiden  (Cytoden  und  Zellen)  oder   „Elementarorganismen". 

II.  Organe  oder  Idorgane,  (Zellenstöcke  oder  Zellfnsionen.  einfache 
oder  homoplastische  Organe,  zusammengesetzte  oder  heteroplasti- 
sche Organe.  Organsysteme,  Organapparate). 

III.  Antimeren  (Gegenstücke  oder  homotype  Teile).  „Strahlen" 
der  Strahltiere,  „Hälften"  der  eudipleuren  (bilateral-symmetri- 
schen) Tiere  etc. 

IV.  Metameren  (Folgestücke  oder  homodyname  Teile).  „Stengel- 
glieder" der  Phanerogamen,  „Segmente",  Ringe  oder  Zoniten 
der  GUedertiere,  Wirbelsegmente  der  Wirbeltiere  etc. 

Y.  Personen    (Prosopen).       Sprosse    oder    Gemmae    der    Pflanzen 
und  Coelenteraten  usw.    ..Individuen"   im  engsten  Sinne  Ijei  den 
höheren  Tieren.      (Später  als  Histonalen  zusammengefaßt). 
VI.  Cormen  (Stöcke  oder  Kolonien).     Bäume,   Sträucher  etc.    (Zu- 
sammengesetzte Pflanzen).     Salpenketten,  Polypenstöcke  etc. 
Jedes    dieser    sechs    morphologischen   Individuen   verschiedener 
Ordnung  vermag  als  selbständige  Lebenseinheit  aufzutreten  und  das 
physiologische   Individuum    zu    repräsentieren.     Auf   der    niedersten 
Stufe  der  Plastiden  bleiben  sehr  viele  Organismen  zeitlebens  stehen, 
z.  B.    die  meisten  Protisten.     Die   zweite  Kategorie   des  Formindivi- 
duums,   das   Organ,    erscheint    als   selbständige   Lebenseinheit   bei 
vielen  Protisten,   Algen   und   Coelenteraten.     Auf   der   dritten   Stufe, 
dem  Antimerenzustande,   bleibt  die  Lebenseinheit  stehen  bei  ein- 
zelnen   niederen    Pflanzen    und    Tieren.      Die    vierte    Ordnung,    das 
Metamer,   erscheint   als  Lebenseinheit  bei  den  meisten  Mollusken, 
vielen    niederen  Würmern,    Algen  usw.     Die    fünfte   Kategorie,    die 
Person,  repräsentiert  das  physiologische  Individuum  bei  den  meisten 
Tieren,  aber  wenigen  Pflanzen.    Endhch  die  sechste  Ordnung  der  mor- 
phologischen Individuen,   der  Stock,  bildet  die  physiologische  Indi- 
vidualität bei  den  meisten  Pflanzen  und  Coelenteraten. 

Sehr  wichtig  ist  nun  die  Erwägung,  daß  alle  Organismen  ohne 
Ausnahme,  welche  als  ausgebildete,  reife  Lebenseinheiten  durch  mor- 
phologische Individuen  höherer  Ordnung  repräsentiert  werden,  ur- 
sprünglich nur  der  niedersten  Ordnung  angehören  und  sich  zu  den 
höheren  Stufen  nur  dadurch  erheben  können,  daß  sie  die  niederen 
durchlaufen.  Der  Mensch  z.  B.  und  ebenso  jedes  andere  Wirbeltier, 
ist  als  Ei  ursprünglich  ein  Formindividuum  erster  Ordnung,  eine 
Zelle.     Es  erreicht  die  zweite  Stufe,  indem  aus   der  Eifurchung   ein 


YIJJ.  yi.    Morphologische  und  physiologische  Individualität.  107 

Zellenhaufen  hervorgeht,  der  den  morphologischen  Wert  eines  Organs 
besitzt.  Mit  der  Ausbildung  der  Embryonalanlage  und  mit  dem  Auf- 
treten des  Primitivstreifcs  (der  Achsenplatte)  scheidet  es  sich  in  zwei 
Individuen  dritter  Ordnung  oder  Antimeren.  Mit  dem  Hervorknospen 
der  Urwirbel  beginnt  die  Gliederung  des  Rumpfes,  der  Zerfall  in 
Metameren,  und  mit  deren  Differenzierung  ist  die  Ausbildung  der 
Person,  des  Formindividuums  fünfter  Ordnung,  vollendet,  welches 
nun  als  physiologisches  Individuum  persistiert.  Ebenso  durchläuft 
jede  geschlechtlich  erzeugte  phanerogame  Pflanze,  indem  sie  aus 
der  einfachen  Zelle  (dem  eigentlichen  Ei)  zum  Zellenhaufen  (Organ) 
wird,  der  sich  mit  dem  Auftreten  einer  Achse  in  zwei  oder  mehr 
Antimeren  differenziert,  die  drei  ersten  Stufen  der  Formindividualität. 
Auf  der  vierten  Stufe  des  Metamers  bleibt  sie  bis  zum  Beginne  der 
Gliederung  der  Achse.  Aus  den  differenzierten  Stengelgliedern  setzt 
sich  der  Sproß  zusammen,  der  nun  aus  der  fünften  zur  sechsten 
Stufe,  dem  Stocke,  sich  durch  Bildung  seitlicher  Sprosse  erhebt. 

Hieraus  geht  deutlich  hervor,  daß  der  eigentliche  morphologische 
Wert  der  physiologischen  Individualität  für  jede  Organismenart  nur 
nach  erlangter  vollständiger  Reife,  wenn  sie  „ausgewachsen"  ist, 
bestimmt  werden  kann.  Man  darf  daher  auch  niemals  als  Kriterium 
der  physiologischen  Individualität,  wie  es  vielfach  geschehen  ist,  die 
Entwickelungsfähigkeit  zu  einer  selbständigen  Lebenseinheit  be- 
trachten. Diese  haftet  ursprünglich  stets  an  den  Formindividuen 
erster  Ordnung,  den  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen),  und  erst  durch 
die  Differenzierung  der  Zellen,  w^elche  bei  den  höheren  Organismen 
(besonders  den  Tieren)  sehr  weit  geht,  verlieren  dieselben  jene 
Fähigkeit,  oder  vielmehr  es  bleibt  dieselbe  auf  einzelne  bestimmte 
Piastiden  (Eier)  beschränkt.  Ausnahmsweise  (Hydra,  viele  Phanero- 
gamen)  behalten  auch  noch  bei  höher  differenzierten  Organismen 
zahlreiche  Piastiden  diese  Entwickelungsfähigkeit  bei. 

Ebensowenig  als  letztere  darf  man  die  Reproduktionsfähig- 
keit, das  Vermögen  eines  abgelösten  Teils,  sich  zum  Ganzen  zu 
ergänzen  (Würmer,  Coelenteraten,  viele  Phanerogamen),  als  Kriterium 
der  physiologischen  Individualität  anwenden,  da  auch  hier  das  eigent- 
lich Wirksame  die  ursprünglich  allen  Piastiden  eigene  Entwickelungs- 
fähigkeit ist.  Will  man  die  physiologische  Individualität  der  Orga- 
nismen dadurch  charakterisieren,  so  geht  die  Schärfe  ihres  Begriffes 
vollständig  verloren.  Diese  ist  nur  dadurch  zu  erhalten,  daß  wir 
die  Fähigkeit  der  Selbsterhaltung  als  das  entscheidende  Krite- 


108  Begriff  und  Aufgabe  der  Tektologie.  YIH. 

riiiiii  liinstellen,  sowie  es  für  die  morphologische  Individualität  in 
der  Unfähigkeit  der  Teilung,  in  der  individuellen  Unteilbarkeit 
liegt.  Das  Leistungsindividuuni  ist  der  einheitliche  Lebensherd, 
dessen  Existenz  mit  der  Funktion  der  Selbsterhaltung  erhscht;  das 
Formindividuum  ist  die  einheitliche  Lebensgestalt,  deren  Existenz 
mit  ihrer  Teilung  erlischt. 

Die  vielfach  aufgeworfene  Frage  nach  der  absoluten  Indivi- 
dualität der  Organismen  ist  also  dahin  zu  beantworten,  daß  dieselbe 
nicht  existiert,  und  daß  alle  Organismen,  als  physiologische  Indivi- 
duen betrachtet,  entweder  zeitlebens  auf  der  ersten  Stufe  der  mor- 
phologischen Individualität,  der  Plastide,  stehen  bleiben,  oder  aber, 
von  dieser  ausgehend,  sich  sekundär  zu  höheren  Stufen  erheben. 

Indem  wir  nun  in  den  folgenden  Kapiteln  das  Verhältnis  der 
verschiedenen  IndLvidualitätsgrade  zueinander,  welches  die  eigent- 
liche Grundlage  der  gesamten  Tektologie  ist,  näher  zu  bestimmen 
versuchen,  wollen  wir  zunächst  die  Begriffe  der  sechs  einzelnen 
Ordnungen  der  morphologischen  Individualität  bestimmt  feststellen, 
und  dann  nachweisen,  wie  jede  dieser  verschiedenen  Ordnungen  in 
verschiedenen  Organismen  die  physiologische  Individualität  zu  reprä- 
sentieren vermag. 


Neuntes  Kapitel. 

Morphologische  Individualität  der  Organismen. 

„Die  Pflanze  erscheint  fast  nur  einen  Aug^enblick  als 
Individuum,  und  zwar  da,  wenn  sie  sicli  als  Samenkorn  von 
der  Mutterpflanze  loslöst.  In  dem  Verfolg'  des  Keimens  er- 
scheint sie  schon  als  ein  Tielfaches,  an  welchem  nicht  allein 
ein  identischer  Teil  aus  identischen  Teilen  entspringet,  son- 
dern auch  diese  Teile  durch  Sukzession  verschieden  ausge- 
bildet werden,  so  daß  ein  mannigfaltig'es,  scheinbar  verbun- 
denes Ganzes  zuletzt  vor  unseren  Augen  dasteht.  Allein  daß 
dieses  scheinbare  Ganze  aus  sehr  unabhängisfen  Teilen  be- 
stehe, gibt  teils  der  Augenschein,  teils  die  Erfahrung :  denn 
Pflanzen  in  viele  Teile  getrennt  und  zerrissen,  werden  wieder 
als  eben  so  viele  scheinbare  Ganze  aus  der  Erde  hervor- 
sprossen." 

Goethe. 

I.     Morphologische  Individuen  erster  Ordnung-: 

Piastiden  oder  Plasmastücke. 

I.     1.  Untersclieidung  von  Cytoden  und  Zellen. 

Als  morphologische  Individuen  erster  und  niedrigster  Ordnung 
würden  wir,  der  gegenwärtig  herrschenden  Auffassung  gemäß,  nur 
eine  einzige  Art  von  Körpern,  die  Zellen  (Cellulae)  aufzuführen 
haben.  Nach  derjenigen  Auffassung  des  tierischen  und  pflanzlichen 
Organismus,  welche  der  unsrigen  am  nächsten  steht,  ist  derselbe 
entweder  eine  einzige  einfache  Zelle  oder  ein  einheitliches  Aggregat 
von  mehreren,  entweder  gleichartigen  oder  differenzierten  Zellen. 
Die  Zelle  ist  hiernach  das  allgemeine  Formelement  oder  das  Elementar- 
organ aller  Organismen  und  wird  als  solches  jetzt  häufig  als 
Elementarorganismus  bezeichnet.  Die  Zellen  sind  entweder 
selbst  die  ganzen  Organismen  (Eier  der  Pflanzen  und  Tiere,  permanent 
einzellige  Pflanzen  und  Tiere),  oder  sie  sind  die  Individuen,  durch 
deren  Verbindung  der  ganze  Organismus,  als  Zellengesellschaft  oder 
Zellenstaat,  sich  konstituiert. 

Es  ist  die  Auffassung,  welche  von  Schieiden  und  Schwann 
in  die  Wissenschaft  eingeführt  wurde,  und  welche  man  nach  ihnen 


110  Morphologische  Individualität  der  Organismen.  IX. 

allgemein  als  „Zellentlieorie"  bezeichnet,  gegenwärtig  in  der 
gesamten  Biologie  die  herrschende  Theorie.  So  richtig  dieselbe  ohne 
Zweifel  im  großen  und  ganzen  ist,  und  so  sehr  wir  sie  für  die  große 
Mehrzahl  aller  Organismen  als  die  allein  berechtigte  anerkennen 
müssen,  so  ist  es  dennoch  nicht  möglich,  sie  auf  alle  Organismen 
ohne  Ausnahme  auszudehnen.  Vielmehr  kennen  wir  viele  Organis- 
men niedersten  Ranges  (z.  B.  Bakterien),  deren  ganzer  Körper  noch 
nicht  einmal  den  Wert  einer  einzigen  Zelle  besitzt,  und  einen  indivi- 
duell abgeschlossenen  Formzustand  der  lebenden  Materie  repräsentiert, 
den  wir  durch  den  Namen  der  Cytode  oder  des  zellenälmlichen 
Körpers  bezeichnen  wollen. 

Als  wesentliche  Bestandteile  aller  echten  Zellen  müssen  stets 
zwei  differente  Teile  betrachtet  werden:  I.  der  innere  (zentrale  oder 
exzentrische)  Zellkern  (Nucleus,  Cytoblastus),  welcher  entweder  ein 
fester,  homogener,  oder  selbst  wieder  ein  zusammengesetzter  (bläschen- 
förmiger) Körper  ist:  11.  der  äußere,  den  Kern  umschließende  (peri- 
pherische) Zellstoff  (Protoplasma,  Plasma),  welcher  aus  einem 
festflüssigen  Eiweißkörper  besteht.  Als  dritter,  nicht  konstanter  und 
in  der  ersten  Jugend  der  Zelle  stets  oder  doch  meist  fehlender 
Bestandteil,  kommt  dazu  in  vielen  Fällen  eine  äußerste,  den  Zell- 
stoffkörper umschließende  Zellhaut  (Membrana  cellulae),  welche 
entweder  nur  die  verdichtete  und  als  besondere  Hautschicht  differen- 
zierte äußerste  Oberflächenlage  des  Protoplasma  oder  aber  von 
diesem  in  flüssiger  Form,  als  Sekret,  nach  außen  abgeschieden,  und 
in  Form  einer  Cuticula  über  demselben  erstarrt,  erhärtet  ist. 

Wir  können  demgemäß  sämtliche  Zellen  des  Pflanzen-,  Protisten- 
und  Tierreichs  in  zwei  Hauptgruppen  bringen,  Hautzellen  und  haut- 
lose Zellen.  Die  nackten  oder  hautlosen  Zellen  oderUrzellen 
(Cellulae  primordiales,Gymnocyta)^),  bestehenbloß  aus  innerem 
Kern  und  äußerem  Protoplasma.  Dahin  gehören  viele  Eier,  die  Teil- 
produkte derselben  oder  Furchungskugeln,  die  Embryonalzellen,  viele 
Nervenzellen,  Bindegewebszellen,  die  ausgeschlüpften  Schwärmspdren 
vieler  Algen  etc.  Bei  den  Hautzellen  oder  Schlauchzellen 
(Cellulae  membranosae,  Lepocyta)^)  ist  das  den  Kern  um- 
schließende Protoplasma  selbst  wieder  von  einer  äußeren  Membran 
umgeben  oder  aber  in  Interzellularsubstanz  eingeschlossen.  Hierher 
gehören  die  meisten  pflanzlichen  und  viele  tierische  Zellen. 

1)  YU[j.vd?  nackt:  xüto;  (to)  Zelle. 

2)  X^TTo;  (t6)  Rinde,  Hülle,  Schale;  7'JTrj;  (to)  Zelle. 


IX.  I.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden,  Hl 

Die  Cytoden  oder  die  kernlosen  Plasmaklumpen  zerfallen 
gleich  den  echten  kernhaltigen  Zellen  in  zwei  Gruppen,  je  nachdem 
das  weiche,  festflüssige  Plasma  ihres  Körpers  außen  nackt  und 
hüllenlos  oder  an  der  Oberfläche  von  einer  Hülle  oder  Membran 
umgeben  ist.  Diese  Haut  kann,  wie  die  Zellhaut,  entweder  die  ver- 
dichtete, differenzierte  Oberflächenschicht  des  Plasmakörpers  selbst, 
oder  aber  von  der  Oberfläche  des  Plasmakörpers  nach  außen  als 
flüssiges  Sekret  abgeschieden  und  außerhalb  desselben  zur  Kapsel 
erhärtet  sein. 

Die  Cytoden,  welchen  der  Kern  stets  fehlt,  und  die  echten 
Zellen,  welche  stets  einen  Kern  zu  irgendeiner  Zeit  ihres  Lebens 
besitzen,  können  unter  dem  Namen  der  Piastiden  oder  Bild- 
nerinnen zusammengefaßt  werden  und  stellen  als  solche  die  morpholo- 
gischen Individuen  erster  Ordnung  dar.  Diese  Bildnerinnen  sind  in 
der  Tat  die  bildenden,  plastischen  Elemente,  welche  durch  ihr  Zu- 
sammenwirken die  Formindividuen  höherer  Ordnung  aufbauen,  und 
durch  ihre  Aggregation  die  Gewebe,  die  Organe  etc.  konstituieren. 
Nach  den  vorausgehenden  Erläuterungen  können  wir  unter  den 
Piastiden  allgemein  vier  Gruppen  unterscheiden,  welche  sich  in 
folgender  Übersicht  auf  zwei  Hauptgruppen  von  Bildnerinnen  (7:>vacixio£?) 
verteilen : 

Übersicht  der  verschiedenen  morphologischen  Individuen 

erster  Ordnung: 

Plastitles  (Plasmastücke  oder  Bildnerinnen). 

I.  Cytodae.  (Cellinae.)     Cytoden.     Plasmaklumpen  ohne  Kern. 

I.    1.    Gymnocytodae.     Urklumpen  oder  nackte  Klumpen.     Kernlose 

Plasmaklumpen  ohne  Haut  oder  Schale. 
I.    2.    Lepocytodae.  Hautklumpen  oder  Schläuche.  Kernlose  Plasma- 
klumpen mit  Haut  oder  Schale. 
II.  Cellulae.  (Cyta.)     Zellen.     Plasmaklumpen  mit  Kern. 

II.    1.    Gymnocyta.     Urzellen  oder  nackte  Zellen.    Kernhaltige  Plasma- 
klumpen ohne  Haut  oder  Schale. 
II.    2.    Lepocyta.  Hautzellen  oder  Kernschläuche.   Kernhaltige  Plasma- 
klumpen mit  Haut  oder  Schale. 


II.  2.  Zusammensetzung  der  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen) 
aus  verschiedenen  Formbestandteilen, 

A.    Plasma.     (Protoplasma  oder  Cytoplasma.)     Zellstoff. 
Da   wir   durch   die   Einteilung   der   Piastiden    in    Cytoden    und 
Zellen  neue  Begriffe  in  die  Histologie  eingeführt  haben,  deren  Gebiet 


-[\2  ]\Iori)hologische  Individualität  der  Organismen.  IX. 

bisher  die  Zellen  als  die  einzigen  und  allniäclitigen  Elementar- 
organismen beherrschten,  und  da  uns  diese  Unterscheidung  der 
Cytoden  und  Zellen  insbesondere  für  die  Vorstellungen  von  der  ersten 
Entstehung  der  Organismen  die  größte  Wichtigkeit  zu  besitzen  scheint, 
so  müssen  wir  den  verschiedenen  Strukturverhältnissen  der  Piastiden 
eine  eingehendere  Betrachtung  widmen,  als  es  bei  den  Individuen 
höherer  Ordnung  gestattet  sein  wird.  Wir  werden  daher  hier  be- 
sonders die  Zusammensetzung  der  Piastiden  (Cytoden  und  Zellen) 
aus  verschiedenen  Eormbestandteilen  und  die  wesentlichen  Eigen- 
schaften dieser  Formbestandteile  ins  Auge  zu  fassen  haben,  und 
betrachten  demgemäß  zunächst  das  Plasma  oder  den  Zellstoff,  (Cyto- 
plasma).  dann  den  Nucleus  oder  Zellkern  und  endlich  die  verschie- 
denen (äußeren  und  inneren)  Plasmaprodukte. 

Als  Plasma  oder  Zellstoff,  besser  Bildungsstoff,  bezeichnen 
wir  nach  dem  vorhergehenden  alle  diejenigen  organischen  Materien, 
welche  als  die  wesentlichen  und  in  keinem  Falle  fehlenden  Träger 
der  Lebensbewegung  erscheinen,  als  das  aktive  materielle  Sub- 
strat des  Lebens,  und  welche  also  gewissermaßen  als  der  „Lebens- 
stoff" oder  die  „lebende  Materie"  im  engeren  Sinne  bezeichnet  werden 
könnten.  Überall,  wo  wir  bisher  im  Tier-,  Protisten-  und  Pflanzen- 
reiche in  der  Lage  waren,  die  chemische  Natur  dieses  Körpers 
bestimmen  zu  können,  hat  sich  derselbe  als  ein  Eiweißkörper 
oder  Albuminat  (sogenannte  Proteinverbindimg)  herausgestellt. 

B.     Nucleus.     (Cytoblastus  oder  Karyonj.     Zellkern. 

Als  derjenige  wesenthche  Formbestandteil,  welcher  die  organi- 
sche Zelle  als  solche  charakterisiert  und  von  der  Cytode  oder  kern- 
losen Plastide  unterscheidet,  ist  der  Nucleus  oder  Zellkern  von 
besonderem  Interesse.  Gleich  dem  Plasma  aller  Piastiden  ist  auch 
der  Nucleus  aller  Zellen  stets  aus  einer  Eiweißverbindung  gebildet, 
welche  durch  geringe  physikalisch-chemische  Differenzen  sich  von 
der  des  Protoplasma  oder  Cytoplasma  unterscheidet. 

Bei  den  meisten  tierischen  Zellen  ist  der  Nucleus  während  der 
ganzen  Zeit  ihres  Lebens  nachzuweisen,  während  er  dagegen  bei 
vielen  Pflanzenzellcn  (z.  B.  Holz-  und  Gefäßzellen)  nur  in  ihrer  Jugend 
existiert  und  späterhin  verschwindet.  Der  Kern  erscheint  in  den 
meisten  Zellen  als  ein  scharf  umschriebener  rundlicher  Körper, 
weniger  umfangreich  als  das  Protoplasma,  das  ihn  gewöhnlich  von 
allen  Seiten  umschließt.     In  selteneren  Fällen  liegt  in  gewissen  Haut- 


JX.  I.    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  113 

Zellen  der  Kern  ganz  peripherisch,  so  daß  er  nur  auf  der  einen 
Seite  vom  Plasma,  auf  der  anderen  von  der  Membran  begrenzt  wird. 
Im  Gegensatze  zum  Plasma,  welches  durch  Anpassung  an  die 
Außenwelt  die  verschiedenartigsten  Formen  annehmen  kann,  zeigt 
der  Kern  allermeist  eine  sehr  einfache  und  scharf  umschriebene 
Form.  Gewöhnlich  ist  er  kugelig  oder  sphäroidal.  bald  mehr  ellip- 
soid.  bald  mehr  linsenförmig,  seltener  zylindrisch  verlängert  oder 
stäbchenförmig,  sehr  selten  verästelt,  sternförmig  oder  von  kompli- 
zierterer Form.  Der  Grenzkontur  des  Kerns  gegen  das  umschließende 
Plasma  ist  meist  scharf  und  deutlich. 

Betrachtet  man  die  Zelle  in  ihren  natürlichen  Verhältnissen,  mit 
Vermeidung  alterierender  Flüssigkeiten,  so  erscheint  der  Kern  sehr  häuHg 
homogen  und  klar,  imd  in  seinem  Lichtbrechungsvermögen  wenig  von 
dem  Plasma  verschieden.  Oft  erzeugt  aber  schon  Wasserzusatz,  und  in 
den  meisten  FäUen  bewirkt  Zusatz  von  Essigsäure  im  Nucleus  einen  fein- 
körnigen Niedersclüag.  so  daß  derselbe  sich  als  dunkel  graniüierter 
Ivörper  scharf  von  dem  umgebenden  Protoplasma  absetzt. 

Über  die  Konsistenz  und  den  Bau  des  Zellenkerns  findet  man  bei 
Botanikern  und  Zoologen  die  widersprechendsten  Ansichten,  die  sich  wohl 
großenteils  dadurch  erklären  werden,  daß  der  Kern  in  verschiedenen 
Zellen  eine  sehr  verschiedene  Beschaffenheit  besitzt.  Während  die  meisten 
dem  Iverne  eine  festere  Beschaffenheit  als  dem  Plasma  zuschreiben  und 
ihn  als  einen  „leidUch  festen",  soliden,  homogenen  Körper  ansehen, 
beschreiben  ihn  dagegen  andere  als  ein  „Bläschen",  aus  fester  Membran 
und  flüssigem  Inhalt  gebildet,  und  in  manchen  Fällen  wird  er  sogar  als 
ein  halbflüssiger  „Eiweißtropfen"  geschildert.  In  der  Tat  scheint  der 
Ivohäsionsgrad  bei  verschiedenen  Ivernen  außerordentlich  verschieden  zu 
sein.  In  sehr  vielen  Fällen  ist  der  Nucleus  olme  Zweifel  weit  fester  und 
derber  als  das  Plasma,  und  eine  Differenz  von  Hülle  und  Inhalt  dann 
nicht  an  ihm  nachzuweisen,  während  in  anderen  Fällen,  z.  B.  bei  vielen 
Eiern,  Furchunoskugeln,  Embrvonalzellen,  Nervenzellen  und  anderen 
Urzellen,  der  Kern  als  ein  zartes,  oft  ziemlich  dickwandiges  und  doppelt 
konturiertes  Bläschen  einen  homogenen,  eiweißartigen  Inhalt  zu  um- 
schließen scheint,  dessen  Konsistenz  hinter  derjenigen  des  Plasma  zurück- 
bleibt. 

Sehr  häufig  bemerkt  man  in  dem  Kern,  auch  ohne  Zusatz  alterieren- 
der Flüssigkeiten,  mehrere  feine  Körner  (oft  vielleicht  Bläschen?)  und 
außerdem  ein  größeres  Korn  oder  Bläschen,  welches  sich  in  der  Regel 
dnrch  stärkere  Lichtbrechung  auszeichnet.  Dieser  kleine  Körper,  welcher 
entweder  im  Innern  oder  an  der  Peripherie  des  Nucleus  liegt,  wird  als 
Nucleolus  oder  Kernkörperchen  beschrieben.  Bisweilen  ist  in 
diesem  zentralen  Körper  nochmals  ein  vierter  scharf  umschriebener  kleiner 
Körper  eingeschachtelt,  der  dann  Nucleolinus  oder  Kernpunkt  genannt 
werden  kann  (z.  B.   in  manchen  Eiern.   Ganglienzellen  etc.). 

Haeckel,  Prii  z.  d.  ilorphol.  g 


114  Älorpliologische  Individualität  der  Organismen.  JX. 

Die  chemische  Zusammensetzung  des  Zellkerns  und  der  in  ihm  ein- 
geschlossenen Körperchen,  Nucleolus  und  Nucleolinus,  ist  oft  schwierig 
zu  ermitteln  und  in  vielen  Fällen  imbekannt.  Wahrscheinlich  besteht 
dersell)e  aber  immer  aus  einem  vom  Plasma  etwas  verschiedenen  Eiweiß- 
körper,  sei  es  in  l'estdiissigem,  sei  es  in  festem  Aggregatzustande.  In 
allen  Fällen,  wo  durch  mikrochemische  Reaktion  die  chemische  Konstitution 
des  Kerns  zu  ermittehi  war.  hat  sich  stets  eine  Eiweißverbindung  heraus- 
gestellt. 

C.     Plasmaprodukte. 

Da  wir  sämtliche  Plastideii,  sowohl  Cytoden  als  Zellen,  als 
selbständige  Elementarorganismen  zu  betrachten  haben,  die  minde- 
stens in  ihrer  Jngendzeit  ein  mehr  oder  minder  unabhängiges  Leben 
als  morphologische  Individuen  führen,  so  sind  dieselben  natürlich 
der  Lebensbewegung  und  damit  einer  Reihe  von  Veränderungen 
unterworfen,  die  wir  als  Funktionen  der  Piastiden  anzusehen  haben, 
und  die  ihre  Ernährung,  ihre  Fortpflanzung,  und  ihre  Beziehungen 
zur  Außenwelt  betreffen.  Von  diesen  verschiedenen  Lebenstätigkeiten 
der  Piastiden  sind  für  uns  hier  diejenigen  zunächst  von  besonderem 
Interesse,  die  man  gewöhnlich  unter  dem  Namen  der  Zell  meta- 
morph ose  zusammenfaßt',  und  die  sich  auf  die  Veränderung  der 
Größe,  Form,  Konsistenz  und  namentlich  auf  die  Produktion  von 
Teilen  beziehen,  welche  vom  Plasma  und  dem  Kerne  verschieden 
sind.  Wir  können  diese  Teile,  welche  als  integrierende  morphologi- 
sche Bestandteile  der  metamorphosierten  Piastiden  erscheinen,  und 
entweder  in  ihrem  Inneren  oder  auf  ihrer  Oberfläche,  aber  immer 
mit  dem  Plasma  räumlich  verbunden  (adhärent)  auftreten,  allgemein 
als  Produkte  des  Plasma  bezeichnen. 

Unter  Produkten  des  Plasma  fassen  wir  demgemäß  alle  die- 
jenigen Forrabestandteile  der  metamorphosierten  Zelle  zusammen, 
welche  von  dem  Plasma  und  dem  Nucleus  verschieden  sind,  mögen 
sie  nun  im  Plasma  eingeschlossen  oder  außerhalb  desselben  liegen. 
Demnach  gehören  hierher  alle  diejenigen  Teile,  welche  man  gewöhn- 
lich in  der  tierischen  und  pflanzhchen  Zellenlehre  mit  folgenden 
Namen  zu  belegen  pflegt:  1.  die  „Zellenmembranen";  2.  die  „Inter- 
cellularsubstanzen";  3.  der  „Zellsaft";  4.  der  „Zellinhalt",  und  noch 
verschiedene  andere  Teile,  w^elche  logischerweise  unter  eine  der  er- 
wähnten Kategorien  sich  einreihen  lassen. 

Sämtliche  Produkte  des  Plasma,  mögen  dieselben  innerhalb  oder 
außerhalb  des  metamorphosierten  Plasma  getroffen  werden,  entstehen 


IX.  I-    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  115 

entweder  durch  Differenzierung  des  Plasma  oder  durch  Aus- 
scheidung des  Plasma.  Der  Unterschied  zwischen  beiden  Ent- 
stehungsweisen der  Plasmaprodukte  liegt  darin,  daß  im  ersteren 
Falle  die  Substanz  des  Plasma  selbst  sich  verändert  und  in  den 
neuen  Körper  tibergeht,  während  im  letzteren  Falle  der  Plasmakörper 
selbst  unverändert  bleibt  und  nicht  in  die  Substanz  des  Produktes 
tibergeht.  Als  eine  reine  Differenzierung  des  Plasma  würden 
wir  z.  B.  die  Entstehung  der  quergestreiften  aus  der  homogenen 
Muskelsubstanz,  die  Bildung  gewisser  eiweißartiger  Intercellularsub- 
stanzen,  und  tiberhaupt  allgemein  die  Entstehung  der  heterogenen 
und  spezifischen  Plasmakörper  der  Epithelzellen,  Nervenzellen,  Drtisen- 
zellen  usw.  aus  den  indifferenten  Plasmakörpern  der  homogenen  und 
indifferenten  Embryonalzellen  aufzufassen  haben.  Dagegen  würden 
wir  als  eine  Ausscheidung  des  Plasma  z.  B.  die  Bildung  der  Cuti- 
culae  (der  Chitinhäute  etc.),  der  Zellulosemembranen  und  eines  großen 
Teils  der  Intercellularsubstanzen,  ferner  im  Innern  der  Piastiden  die 
Bildung  vieler  nicht  eiweißartiger  Stoffe,  z.  B.  der  Stärkemehlkörner 
und  anderer  Konkretionen,  der  Kristalle  etc.  anzusehen  haben. 

So  scharf  sich  aber  auch  der  prinzipielle  Unterschied  der  bei- 
derlei Plasmaprodukte  in  der  Theorie  dahin  aussprechen  läßt,  daß 
die  Differenzierungsprodukte  aus  der  Substanz  des  sich  verän- 
dernden Plasma  selbst,  die  Ausscheiduugsprodukte  durch  Wirkung 
des  Plasma  nach  außen,  Exsudation  usw.  entstehen,  so  schwierig 
ist  es  in  der  Praxis  in  den  meisten  Fällen  zu  sagen,  wohin  das 
eine  oder  das  andere  Produkt  zu  rechnen  sei:  und  im  Grunde  genom- 
men ist  diese  Unterscheidung  nur  eine  rohe  und  obeiflächliche,  denn 
eigentlich  ist  auch  jede  Ausscheidung  mit  einer  Veränderung,  d.  h. 
Differenzierung  der  Substanz  des  Plasma,  und  umgekehrt  jede  Diffe- 
renzierung mit  einer  Trennung  bestimmter,  weniger  veränderter  Plasma- 
teile von  anderen  mehr  veränderten,  d.  h.  Ausscheidung  verbunden. 
In  sehr  vielen  Fällen  werden  Ausscheidung  und  Differenzierung  gleich- 
mäßig bei  der  Bildung  des  Produktes  zusammenwirken,  oder  in  einer 
Weise  verbunden,  daß  der  Anteil  des  einen  und  des  anderen  Pro- 
zesses sehr  schwierig  zu  bestimmen  sein  wird.  Aus  diesem  Grunde 
betrachten  wir  hier  die  Produkte  der  Differenzierung  und  Ausschei- 
dung gemeinschaftlich  als  Plasmaprodukte  und  unterscheiden  nur 
zwischen  äußeren,  auf  der  Oberfläche  des  bleibenden  Protoplasma 
gelegenen  und  inneren,  innerhalb  oder  zwischen  einzelnen  Teilen 
des  Plasma  gelegenen  Plasmaprodukten. 


116  Morphologische  Individualität  der  Organismen.  IX. 

Ca.     Äußere  Plasmaprodukte. 
(..Zellenmembranen"  und  „Intercellular Substanzen".) 

Die  übliche  Trennung  der  äußeren  Plasmaprodukte  in  Zellen- 
nierabranen  und  Intercellularsubstanzen  ist  künstlich  und  nicht  ohne 
Willkür  durchzuführen,  weshalb  wir  hier  beiderlei  Produkte  gemein- 
sam zu  besprechen  haben. 

Die  allgemeine  Bedeutung  der  Membran  der  Piastiden  hat  in 
neuerer  Zeit  sehr  an  Wichtigkeit  verloren,  seitdem,  wie  oben  schon 
angeführt  wurde,  der  Beweis  geführt  worden  ist,  daß  wir  in  allen 
Fällen,  wo  eine  Plastide  von  einer  Haut  umschlossen  ist,  sowohl 
bei  den  kernhaltigen  Zellen,  als  bei  den  kernlosen  Cytoden,  die 
Membran  für  ein  sekundäres  Produkt  des  Plasma  zu  halten 
haben,  nicht  für  einen  primären  und  integrierenden  Bestandteil  der 
Plastide  als  solcher.  In  der  Tat  sind  jetzt  so  sichere  und  so  zahl- 
reiche Beispiele  von  Cytoden  und  von  Zellen  bekannt,  die  Zeit  ihres 
Lebens  nackt  und  membranlos  bleiben,  und  von  anderen  Piastiden, 
die  anfangs  (bei  ihrer  Entstehung  durch  Teilung  oder  Keimbildung) 
nackt,  später  von  einer  Hülle  oder  Schale  umgeben  sind,  daß  an 
der  Wahrheit  der  obigen  Behauptung  nicht  mehr  gezweifelt  w^erden 
kann.  Für  die  allgemeine  biologische  Auffassung  der  Zelle  als  Ele- 
mentarorganismus ist  aber  dieser  Umstand  von  der  größten  Wichtig- 
keit. Denn  während  man  früher,  wo  die  allgemeine  Anwesenheit 
der  Zellenmembran  als  eines  das  Plasma  völlig  umschließenden 
Schlauches  oder  Sackes  als  allgemein  gültiges  Dogma  die  Zellen- 
theorie beherrschte,  der  Membran  meist  eine  hohe,  oft  selbst  eine 
größere  physiologische  Bedeutung  als  dem  in  ihr  enthaltenen  Plasma 
zuschrieb,  gewöhnt  man  sich  jetzt  richtiger  daran,  das  Plasma  als 
das  aktive,  primär  wirksame  Element  des  Zellenlebens,  und  die 
^lembran  dagegen  als  passiven  Bestandteil,  als  das  sekundäre  Pro- 
dukt des  ersteren,  zu  betrachten. 

In  sehr  vielen  Fällen  existieren  die  nackten,  hautlosen  Piastiden 
sehr  lange  Zeit  hindurch,  und  zwar  gerade  in  der  Jugendzeit,  wo 
sie  am  tatkräftigsten  und  leistungsfähigsten  sind,  ohne  alle  Hülle, 
und  umgeben  sich  erst  mit  einer  solchen,  wenn  sie  in  den  ruhigeren 
und  passiveren  Zustand  des  Alters  übergehen.  Insbesondere  zeigt 
sich  dieser  Umstand  darin,  daß  die  Membran  meist  ganz  vermißt 
wird,  so  lange  die  Zelle  als  Ganzes  noch  wächst  und  ihr  Volum 
ausdehnt,  und  so  lange  sie  sich  noch  durch  Teilung  vermehrt.   Eine 


IX.  I-    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  117 

Plastide  mit  Membran  (oder  Lepoplastide)  ist  jedenfalls  abge- 
schlossener gegen  die  Außenwelt,  als  eine  nackte  hüllenlose  Plastide 
ohne  Membran  (oder  Gymnoplastide)  deren  Obei-fläche  unmittel- 
bar mit  ihrer  Umgebung  in  Berührung  steht  und  demgemäß  mit 
derselben  in  weit  energischere  Wechselwirkung  treten  kann.  Dieses 
Verhältnis  ist  besonders  von  Max  Schnitze  betont  worden,  w^elcher 
die  von  einer  Membran  umschlossene  Zelle  sehr  passend  mit  einem 
encystierten  Infusorium  vergleicht,  und  hinzufügt,  daß  die  Bildung 
einer  chemisch  differenten  Membran  auf  der  Oberfläche  des  Proto- 
plasma ein  Zeichen  beginnenden  Rückschrittes  sei.  ein  Zeichen  heran- 
nahender Dekreszenz,  oder  wenigstens  eines  Stadiums,  auf  welchem 
die  Zelle  in  den  ihr  ursprünglich  zukommenden  Lebenstätigkeiten 
bereits  eine  bedeutende  Einschränkung  erleidet. 

Die  Zellenmembran  fällt  demnach  in  unserer  Anschauung  in 
eine  Ordnung  oder  Kategorie  zusammen  mit  den  übrigen  Teilen  der 
Zelle,  welche  als  Produkte  der  Zelle  auftreten,  und  sind  namentlich 
nicht  scharf  zu  trennen  von  einer  anderen  Reihe  äußerer  Plasma- 
produkte, nämlich  von  den  Intercellularsubstanzen,  denen  man, 
besonders  in  der  pflanzlichen  Histologie,  bei  weitem  nicht  die  Be- 
deutung, wie  den  Membranen  zuerkannt  hat.  Zwar  werden  die 
Zellenmembranen  und  die  Intercellularsubstanzen  in  der  Regel,  und 
namentlich  von  den  Botanikern,  als  ganz  verschiedene  Dinge  be- 
trachtet: indes  ist  es  in  sehr  vielen,  und  namentlich  tierischen  Ge- 
weben mit  Sicherheit  nachzuweisen,  daß  die  Intercellularsubstanz 
aus  verschmelzenden  3Ienibranen  benachbarter  Zellen  hervorgeht. 
Daß  beiderlei  Substanzen  in  vielen  Fällen  von  sehr  verschiedener 
chemischer  und  physikalischer  Beschaffenheit  sind,  spricht  nicht  da- 
gegen, da  die  Zelle  fähig  ist.  in  verschiedenen  Perioden  ihres  Lebens 
sehr  verschiedene  Stoffe  abzuscheiden. 


Cb.     Innere  Plasmaprodukte. 
CZellsaft  und  Zellinhalt".) 

Weit  mannigfaltiger  noch,  als  die  formenreichen  und  auch 
chemisch  sehr  differenten  Stoffe,  welche  die  Piastiden  nach  außen 
auf  ihre  Oberfläche,  sei  es  durch  Differenzierung,  sei  es  durch 
Sekretion,  oder  durch  beide  Prozesse  vereinigt,  abscheiden,  sind  die- 
jenigen teils  formlosen  teils  geformten  Bestandteile,  welche  man 
gewöhnlich   als   ..Zelleninhalt"   bezeichnet,   und  welche  wir,    da   sie 


218  Morphologische  Individualität  der  Organismen.  IX. 

sämtlich  vom  Plasma  umschlossen  sind,    als  innere  Plasmaprodukte 
zusammenfassen. 

Wir  können  diese  inneren  Ablagerungen  in  der  Substanz  der 
Piastiden  in  flüssige  und  feste  einteilen,  oder,  da  sich  zwischen  die- 
sen beiden  Aggregatzuständen  gerade  hier  alle  möglichen  Übergänge 
durch  das  „Festflüssige"  hindurch  finden,  in  formlose  und  geformte. 
Zu  den  formlosen  inneren  Plasmaprodukten  rechnen  wir  ins- 
besondere den  sogenannten  „Zellsaft",  ferner  das  flüssige  Fett  der 
Fettzellen  etc.  Unter  den  geformten  inneren  Plasmaprodukten 
sind  die  Kristalle  im  Innern  der  Piastiden,  die  Konkretionen  (z.  B. 
Amylumkörner),  die  Pigmentkörner  etc.  oft  von  großer  Bedeutung. 

D.     Plasma  und  Nucleus  als  aktive  Zellsubstanz. 

Wir  haben  im  vorhergehenden  die  Plasmaprodukte  lediglich  als 
passive  Erzeugnisse  des  Plasma,  ohne  Rücksicht  auf  den  Kern 
betrachtet,  und  es  erscheint  dies  gerechtfertigt,  nach  dem,  war  wir 
vom  Verhältnis  des  Kern  zum  Plasma  wissen.  Da  dieses  Ver- 
hältnis, obwohl,  noch  sehr  dunkel,  doch  von  der  größten  Wichtigkeit 
und  namentlich  für  unsere  Betrachtung  der  Piastiden  als  morpho- 
logischer Individuen  von  besonderem  Interesse  ist,  so  möge  es 
gestattet  sein,  hier  mit  wenigen  Worten  unsere  Auffassung  desselben 
zu  erläutern. 

Im  allgemeinen  können  wir  bei  allen  Piastiden  das  Plasma  als 
die  aktive,  formende  Substanz  oder  Keimsubstanz  (.,germinal  matter'') 
und  die  Plasmaprodukte  entsprechend  als  die  passive,  geformte  Sub- 
stanz (..formed  matter")  bezeichnen.  Bei  den  Zellen,  wo  neben  dem 
Plasma  auch  noch  der  Kern  als  aktive  Materie  wirksam  ist,  haben 
wir  Kern  und  Plasma  zusammen  als  formende  Substanz  aufzufassen. 
Allerdings  ist  der  Kern,  seinem  ersten  Ursprünge  nach,  als  Differen- 
zierungsprodukt  des  Plasma  zu  betrachten,  aber  in  dem  Sinne,  daß 
nunmehr  Plasma  und  Produkt  als  koordinierte  Teile,  gewissermaßen 
als  verschiedene  Organe  gleichen  Ranges,  nebeneinander  stehen,  und 
differente  Funktionen  vollziehen. 

Wenn  wir,  wie  späterhin  gezeigt  w^erden  wird,  die  Form  jedes 
Organismus  als  das  Produkt  aus  zwei  verschiedenen  Faktoren,  näm- 
lich aus  den  ererbten  Eigenschaften  seiner  Materie  und  aus  der 
Anpassung  an  die  Verhältnisse  der  Außenwelt  zu  betrachten  haben, 
so  müssen  wir  dieses  Gesetz  auch  auf  die  Beurteilung  der  Elementar- 
organismen,  der    Piastiden    anwenden   können.     Hier  scheinen   nun 


IX.  I-    Morphologische  Individuen  erster  Ordnung:  Piastiden.  119 

die  beiden  Funktionen  der  Erblichkeit  und  der  Anpassung  bei  den 
kernlosen  Cytoden  noch  nicht  auf  differente  Substanzen  verteilt  zu 
sein,  sondern  der  gesamten  homogenen  Materie  des  Plasma  zu 
inhärieren.  während  dieselben  bei  den  kernführenden  Zellen  in  der 
Weise  auf  die  beiden  heterogenen  aktiven  Substanzen  der  Zelle  ver- 
teilt sind,  daß  der  innere  Kern  die  Vererbung  der  erblichen 
Charaktere,  das  äußere  Plasma  dagegen  die  Anpassung,  die 
Akkomodation  oder  Adaptation  an  die  Verhältnisse  der  Außenwelt 
zu  besorgen  hat. 

Für  diese  Auffassung  dürfte  auch  namentlich  die  bedeutende 
Rolle  sprechen,  welche  der  Kern  allgemein  bei  der  Fortpflanzung 
der  Zellen  spielt.  Fast  immer  geht  der  Teilung  des  Plasma  die 
Teilung  des  Zellenkerns  vorher  und  die  beiden  so  entstandenen  Kerne 
wirken  nun  als  selbständige  Attraktionszentra,  um  welche  sich  die 
Substanz  des  Plasma  sammelt.  Das  Plasma  dagegen  ist  von 
größerer  Bedeutung  für  die  Ernährung  der  Zelle.  Ihm  scheint  bei 
der  Zellenvermehrung  eine  mehr  passive  Rolle  zugeteilt  zu  sein,  und 
seine  Hauptaufgabe  scheint  in  der  Zuführung  des  Nahrungsmaterials 
zum  Kerne,  und  in  der  Vermittlung  des  A^'erkehrs  der  Zelle  mit  der 
Außenwelt  zu  liegen.  Wenn  wir  demgemäß  das  Plasma  vorzugs- 
weise als  den  nutritiven,  den  Nucleus  dagegen  vorzugsweise  als 
den  reproduktiven  Bestandteil  der  Zelle  ansehen  können,  und 
wenn  wir  dazu  den  im  fünften  Buche  nachgewiesenen  Zusammen- 
hang einerseits  zwischen  der  Ernährung  und  Anpassung,  anderer- 
seits zwischen  der  Fortpflanzung  und  Erblichkeit  in  Erwägung  ziehen, 
so  werden  wir  mit  Recht  den  Kern  der  Zellen  als  das  hauptsäch- 
liche Organ  der  Vererbung,  das  Plasma  als  das  hauptsächliche 
Organ  der  Anpassung  betrachten  können.  Bei  den  Cytoden, 
wo  Kern  und  Plasma  noch  nicht  differenziert  sind,  werden  wir  das 
gesamte  Plasma  als  das  gemeinsame  Organ  beider  Funktionen  zu 
betrachten  haben. 

Hieraus  ergibt  sich,  daß  der  Kern  nicht  bloß  als  ein  Reserve- 
körper für  das  Plasma  zu  betrachten  ist,  wie  diese  Auffassung 
namentlich  von  Beale  neuerdings  vertreten  worden  ist.  Gewiß  ist 
es  ein  großes  Verdienst  von  Beale,  die  aktiven  Teile  der  Gewebe 
(als  .,germinal  matter"  oder  Keirasubstanz)  als  die  eigentlich  lebenden 
und  bildenden  Elementarorganismen,  scharf  von  den  passiven  Teilen 
(der  ..formed  mattef'  oder  geformten  Substanz)  getrennt  zu  haben. 
Auch  ist  es  gewiß    sehr  richtig,  wenn  er  die  Zellmembran  und  die 


1  20  Moiphologische  Individualität  der  Organismen.  IX. 

Intercelliüarsubstanzen  lediglich  als  geformte  Substanzen  und  das 
Plasma  nebst  Kern  vorzugsweise  als  bildende  Substanz  auffaßt.  Da- 
gegen gellt  er  wohl  zu  weit,  wenn  er  das  Plasma  stets  in  demselben 
Grade,  als  es  äußerlich  durch  Bildung  anderer  Stoffe  abgenutzt,  auf- 
gebraucht wird,  von  innen  her,  durch  Auflösung  der  äußeren  Kern- 
schichten,  ersetzt  werden  läßt.  Plasma  und  Kern  sind  mindestens 
in  \äelen  Fällen  doch  wohl  als  wesentlich  heterogene  Piastidenteile 
zu  betrachten  und  dem  Kern  vorzugsweise  (wenn  auch  nicht  allein) 
die  Fortpflanzung  und  damit  die  Vererbung  der  erblichen  Eigen- 
schaften der  Zelle,  dem  Plasma  dagegen  vorzugsweise  die  Ernährung 
und  damit  zugleich  die  Anpassung  derselben  an  die  Umgebung, 
zuzuschreiben^). 

II.     Morphologische  liKlividiien  zweiter  Ordnung: 

Organe  oder  Werkstücke. 
II.     1.  Morphologischer  Begriff  des  Organes. 

Die  physiologische  Individualität  des  Organismus  bleibt  bei  zahl- 
reichen niederen  Organismen  (Protisten)  auf  die  morphologische 
Individuahtät  erster  Ordnung,  auf  die  Plastide  beschränkt,  ohne 
sich  jemals  auf  eine  höhere  Stufe  zu  erheben.  Sobald  in  diesen 
Fällen  eine  Vermehrung  der  Piastiden  durch  Teilung  eintritt,  ist 
damit  zugleich  eine  Vermehrung  der  physiologischen  Individuen  ge- 
geben, die  als  selbständige  Lebenseinheiten  eine  unabhängige  Existenz 
führen. 

Bei  der  großen  Mehrzahl  derjenigen  Lebewesen,  welche  gegen- 
wärtig die  Erde  bevölkern,  erhebt  sich  die  physiologische  Individua- 
lität über  den  Rang  der  einfachen  Piastiden,  der  Formindividuen 
erster  Ordnung,  indem  mehrere  Piastiden  zu  einem  geselligen  Ver- 
bände zusammentreten,  der  nun  als  eine  höhere  physiologische  Ein- 
heit in  das  Leben  tritt.  Es  entstehen  dadurch  die  verschiedenen 
morphologischen  Individuen  höherer  Ordnung,  welche  wir  oben  als 
Organe,  Antimeren,  Metameren,  Personen  und  Stöcke  unterschieden 
haben. 

Die  wesentlichsten  und  obersten  Gesetze,  welche  diese  Vereini- 
gung der    einfachen  Formindividueu  erster  Ordnung  zu  zusammen- 


^)  (1906).  Der  Hegriff  des  Piasina  ist  später  dahin  erweitert,  daß  es  die 
gesamte  aktive  ..lel)endige  Substanz'"  umfaßt:  Das  innere  Karyoplasma  des 
Zellkerns  (Karyon)  und  das  äußere  Cytoplasma  des   Zellenleibes  (Cytosoma). 


IX.  11-    Morphologische  Individuen  zweiter  Ordnung:  Organe.  121 

gesetzten  leiten,  sind  die  Gesetze  der  Aggregation  oder  Gemeinde- 
bildung  und  der  Differenzierung  oder  Arbeitsteilung.  Zunächst 
tritt  eine  Mehrzahl  von  gleichartigen  Piastiden  zu  einer  einfachen, 
aus  homogenen  Elementen  bestehenden  Gesellschaft  zusammen  (Zell- 
verein,  Coenohium).  Die  Erhöhung  der  Leistungsfähigkeit,  die 
physiologische  Vervollkommnung,  welche  diese  Gemeinde  von  gleich- 
artigen Piastiden  als  höhere  Einheit  auszeichnet,  besteht  zunächst 
bloß  in  einem  quantitativen  Zuwachs  der  Kräfte.  Mehrere  gleiche 
Individuen  vereinigt  vermögen  mehr  Kraft  zu  entwickeln,  als  ein 
einziges  allein.  Allmähhch  aber  geht  aus  dieser  quantitativen 
Vervollkommnung  durch  Aggregation  die  viel  wichtigere  quali- 
tative Vervollkommnung  durch  Differenzierung  hervor.  Es  treten 
nämlich  zunächst  sehr  geringe,  bald  aber  bedeutendere  Unterschiede 
zwischen  den  ursprünglich  gleichartigen  Piastiden  auf,  welche  endlich 
zu  einer  vollständigen  Arbeitsteilung  führen.  Indem  die  einzelnen 
Cytoden  oder  Zellen  ihre  individuelle  Selbständigkeit  dadurch  mehr 
oder  Aveniger  aufgeben,  und  in  die  Dienste  der  höheren  Einheit,  des 
Piastidenstockes,  treten,  entwickeln  sie  bestimmte  Eigentümlichkeiten 
einseitig  nach  gewissen  Richtungen  hin  und  ergänzen  und  bedingen 
sich  dadurch  gegenseitig. 

Die  Bezeichnungen,  welche  die  verschiedenen  Autoren  diesen 
mannigfaltigen  höheren  Formindi^iduen  beilegen,  die  noch  nicht  den 
Rang  der  Person  (des  Individuums  im  gewöhnlichen,  engeren  Sinne) 
erreichen,  sind  sehr  verschieden.  Man  nennt  sie  „höhere  Elementar- 
teile, Gewebe,  Organe,  Systeme,  Apparate"  usw..  indem  man  bald 
mehr  an  die  morphologische,  bald  mehr  an  die  physiologische  Indi- 
vidualität derselben  denkt.  Eine  konsequente  Unterscheidung  und 
klare  Einteilung  derselben  ist  aber  noch  kaum  versucht  und  auch 
nur  sehr  schwierig  durch  die  ganze  bunte  Organismenwelt  hindurch 
auszuführen.  Am  meisten  haben  sich  mit  dieser  Aufgabe  die  Antliro- 
potomen  beschäftigt,  denen  aber  gewöhnlich  der  Überblick  über  die 
vielfach  verschiedenen  einfacheren  Organismen  zu  sehr  abgeht,  um 
aus  ihrer  genauen  Kenntnis  der  organischen  Zusammensetzung  des 
menschlichen  Körpers  eine  allgemein  anwendbare  Klassifikation  der 
Organe  verschiedener  Ordnung  firr  alle  Organismen  ableiten  zu 
können.  In  der  Regel  findet  man  die  Angabe,  daß  der  menschliche 
Körper  (und  überhaupt  der  Wirbeltierorganismus)  zusammengesetzt 
sei  aus  vier  verschiedenen,  übereinander  stehenden  morphologischen 
Einheiten,    nänüich    1.   Apparaten.    2.    Systemen.    3.  Organen,    und 


2^22  Morphologische  Individualität  der  Organismen.  IX. 

diese  letzteren  endlich  4.  aus  den  höheren  und  niederen  Elementar- 
teilen (Geweben  und  Zellen).  Wir  glauben,  daß  man  alle  diese  ver- 
schiedenen Teilkategorien  am  besten  unter  dem  gemeinsamen  Namen 
der  Organe  zusammenfaßt,  und  unter  diesen  Organe  verschiedener 
Ordnungen  oder  Stufen  unterscheidet. 

Der  Begriff  des  Organes  oder  „Werkteiles,  Werkzeuges"  ist 
ursprünglich  ein  rein  physiologischer  und  es  bedarf  daher  einer 
Rechtfertigung,  wenn  wir  denselben  zur  Bezeichnung  der  morpholo- 
gischen Individualität  zweiter  Ordnung  verwenden.  Diese  Rechtferti- 
gung hegt  zunächst  schon  darin,  daß  die  Leistungen  jedes  Werk- 
zeuges nur  zum  Teile  durch  chemisch-physikalische  Eigenschaften, 
zum  Teile  aber  zugleich,  und  sehr  oft  zum  größten  Teile,  durch 
seine  Form  und  durch  die  der  äußeren  Form  zugrunde  liegende 
innere  Struktur  oder  Zusammensetzung  bedingt  sind.  Für  die  Werk- 
zeuge des  Lebens,  die  wir  im  engeren  Sinne  „Organe"  nennen,  gilt 
dies  um  so  mehr,  da  sie  meistens  ungleich  kompliziertere  Form-  und 
Strukturverhältnisse  zeigen,  als  die  feinsten  Organe  der  Maschinen, 
die  wir  künstlich  zu  konstruieren  imstande  sind.  Auf  diese  Zusam- 
mensetzung des  Organs  aus  einer  Mehrzahl  von  untergeordneten 
Formeinheiten  gründete  Victor  Carus  seine  morphologische  Cha- 
rakteristik des  Organs  als  einer  „Summe  bestimmter  Elementarteile 
oder  Gewebe  in  konstanter  Verbindung  und  Form".  Diese  Definition 
ist  aber  zu  allgemein,  w^eil  sie  ebenso  gut  auf  die  Formindividuen 
dritter  bis  sechster  Ordnung  paßt.  Diese  letzteren,  sowie  auch  den 
Begriff  des  Gewebes  müssen  wir  ausschließen  und  den  Ausdruck 
Elementarteil  durch  den  bestimmten  morphologischen  Begriff  der 
„Plastide"  ersetzen,  andererseits  den  einheitlichen  Charakter  des 
Organs  als  eines  Ganzen  hervorheben. 

Der  morphologische  Begriff  des  Organs  im  allgemeinen  läßt  sich 
nach  dieser  unserer  Auffassung  feststellen  als  „eine  konstante  einheit- 
liche Raumgröße  von  bestimmter  Form,  welche  aus  einer  Summe  von 
mehreren  bestimmten  Piastiden  (Cytoden  oder  Zellen)  in  konstanter 
A^erbindung  zusammengesetzt  ist,  und  welche  nicht  die  positiven 
Charaktere  der  Formindividuen  dritter  bis  sechster  Ordnung  erkennen 
läßt."  Diese  morphologische  Definition  des  Organs  mag  insbesondere 
ihres  teilweise  negativen  Inhalts  wegen  sehr  mangelhaft  erscheinen, 
wird  aber  bei  der  außerordentlichen  Verschiedenartigkeit  der  ver- 
schiedenen Organe  nicht  leicht  durch  eine  bessere  allgemein  anwend- 
bare zu  ersetzen  sein. 


IX.  III-    Morphologische  Individuen  dritter  Ordnung:  Antimeren.  123 

III.     Morphologische  Iiulividuen  dritter  Ordnung: 

Antimeren  oder  Gegenstücke. 
(Homotypische  Teile.) 

Die  vorhergehende  Betrachtung  der  morphologischen  Individuen 
erster  und  zweiter  Ordnung,  der  Piastiden  und  der  Organe,  hat  uns 
mit  Überwindung  großer  Sch\\ierigkeiten  in  das  verwickelte  Laby- 
rinth von  koordinierten  und  subordinierten  Teilen  eingeführt,  aus 
welchen  der  ganze  Organismus  der  höheren  Tiere  und  Pflanzen  als 
höhere  Einheit  zusammengesetzt  wird.  Eine  genauere  Betrachtung 
der  höchst  komplizierten  und  kunstvollen  Art  und  Weise,  auf  welche 
diese  Zusammensetzung  erfolgt,  läßt  uns  alsbald  erkennen,  daß  die 
stufenweise  emporsteigende  Komphkation  des  organischen  Baues, 
wenigstens  bei  den  höheren  Pflanzen  und  Tieren,  nicht  allein  nach 
den  großen  Gesetzen  der  Aggregation  und  der  Differenzierung  (oder 
des  Polymorphismus)  erfolgt,  sondern  daß  die  verschiedenen  koordi- 
nierten und  subordinierten  Teile  sich  derartig  im  ganzen  verflechten, 
gegenseitig  räumlich  durchwachsen  und  verbinden,  und  in  so  ver- 
wickelter Weise  ineinander  eingreifen,  daß  wir  zur  Aufstellung  ganz 
verschiedener  morphologischer  Einheiten  gelangen,  je  nachdem  wir 
unseren  Standpunkt  auf  verschiedenen  Seiten  nehmen  und  von  diesem 
oder  jenem  gemeinsamen  Tertium  aus  zwei  Einheiten  vergleichen. 
So  kann  also  derselbe  Nerv,  derselbe  Muskel  als  ein  Komplex  von 
einfachen  Organen  erster  und  zweiter  Ordnung,  oder  als  ein  hetero- 
plastisches Organ,  oder  als  ein  Teil  eines  Organsystems,  oder  als  ein 
Teil  eines  Organapparates  aufgefaßt  werden,  und  von  jedem  dieser 
verschiedenen  Gesichtspunkte  aus  wird  er  eine  verschiedene  Beurtei- 
lung erfahren. 

Schon  hieraus  geht  hervor,  daß  die  Organe  (und  ebenso  die 
morphologischen  Individuen  niederer  Ordnung  überhaupt)  sich  nicht 
allein  durch  stufenweis  fortgesetzte  Aggregation  und  Arbeitsteilung 
zu  den  Individualitäten  höherer  Ordnung  zusammenfügen,  sondern 
daß  hier  komplizierte  Gesetze  der  Formbildung  walten,  um  deren 
Erkenntnis  man  sich  bisher  noch  kaum  bemüht  hat.  Wie  wenig 
auf  diesem  wichtigen  und  interessanten  Gebiete  der  allgemeinen 
Morphologie  noch  geschehen  ist,  geht  aber  weiter  namentlich  daraus 
hervor,  daß  man  die  höheren  Individualitäten,  welche  zunächst  aus 
dem  Zusammentreten  der  verschiedenen  Organe  hervorgehen,  und  die 


124  Morphologische  Individualität  der  Organismen.  IX. 

wir  im  folgenden  als  Antimeren  nnd  Metameren  untersuchen  werden, 
überhaupt  noch  keiner  eingehenden  Untersuchung  und  allgemeinen 
Vergleichung,  ja  häufig  nicht  einmal  einer  Erwähnung  gewürdigt 
hat.  Mindestens  sind  sie  als  besondere  morphologische  Individuali- 
täten bisher  nur  selten  oder  nie  anerkannt  worden. 

Die  Teile  des  Organismus,  welche  wir  hier  als  Antimeren  oder 
Gegenstücke,  und  Metameren  oder  Folgestücke  unterscheiden,  sind 
scharf  ausgeprägte  morphologische  Individualitäten,  welche  einen 
Rang  über  den  Organen  einnehmen,  während  sie  den  höheren  mor- 
phologischen Einheiten  fünfter  und  sechster  Ordnung  beständig  unter- 
geordnet sind.  In  der  bei  weitem  größten  Mehrzahl  der  Organis- 
menarten ist  das  einzelne  physiologische  Individuum  nicht  ein 
bloßes  Aggregat  von  Organen,  sondern  eine  Einheit  von  mehreren 
Metameren  und  Antimeren.  Für  die  Gesamtform  des  Organismus 
sind  diese  Teilstücke,  welche  als  scharf  ausgeprägte  Formeinheiten 
in  Vielzahl  neben-  und  hintereinander  auftreten,  von  der  allergrößten 
Bedeutung,  und  dennoch  hat  man  sie  bisher  fast  gar  keiner  Betrach- 
tung gewürdigt:  ja  es  existiert  für  die  beiden  wesentlich  ver- 
schiedenen Individuahtäten  des  Antimeres  oder  Metameres  nicht 
einmal  ein  besonderer  einfacher  Name.  Wo  man  sie  bisher  im 
konkreten  Falle  der  Verständigung  halber  hat  erwähnen  müssen,  hat 
man  beide  zusammen  mit  dem  vieldeutigen  Ausdrucke  des  Segments 
oder  Teilstücks  oder  Gliedes  (Articulum),  oder  auch  w^ohl  des 
„homologen  oder  homonomen  Teils"'  belegt.  Die  Metameren,  als 
w^elche  wir  z.  B.  die  einzelnen  gleichartigen  hintereinander  gele- 
genen Abschnitte  des  Wirbeltier-  und  des  Gliedertierrumpfes,  die  ein- 
zelnen Stielgiieder  der  Krinoideenstengel.  die  Stengelglieder  der 
Phanerogamen  ansehen,  hat  man  insbesondere  häufig  „Glieder"  und 
bei  den  Gliedertieren  und  Würmern  ,.Ringe"  oder  Zoniten  genannt. 
Die  Antimeren,  die  nebeneinander  gelegenen  Hauptabschnitte  da- 
gegen hat  man,  wenn  ihrer  nur  zwei  zugegen  sind,  wie  bei  den 
Wirbel-,  Glieder-  und  Weichtieren,  als  „Körperhälften"',  wenn  ihrer 
drei,  vier,  fünf  oder  mehr  sind,  wie  bei  den  „Strahltieren"  und 
Phanerogamenblüten,  als  „Strahlen"'  oder  „Radialsegmente",  oft  aber 
ebenfalls  als  „Glieder"  bezeichnet. 

Der  einzige  Naturforscher,  welcher  bisher  diese  beiderlei  Teile 
vom  allgemeineren  Gesichtspunkte  aus  untersucht  und  auf  die  hohe 
Bedeutung  derselben  für  die  Gesetze  der  organischen  Formbildung 
hingewiesen   hat,  ist  der  verdienstvolle  Bronn,   welcher  in  seinen 


JX.  in.    Morphologische  Individuen  dritter  Ordnung:  Antinieren.  125 

trefflichen  „morphologischen  Studien"  (1858)  diejenigen  nebenein- 
ander gelegenen  Hauptabschnitte,  welche  wir  Antinieren  nennen, 
als  liomo typische  Teile,  diejenigen  hintereinander  liegenden 
Abschnitte  dagegen,  welche  wir  Metaraeren  nennen,  als  homonyme 
Teile  bezeichnet  hat.  In  dem  Kapitel,  in  welchem  er  das  wichtige 
von  ihm  entdeckte  „Gesetz  der  Zahlenreduktion  gleichnamiger  Teile" 
behandelt,  faßt  er  beiderlei  Abschnitte  als  „gleichgesetzliche"  oder 
„homonome"  Körperteile  zusammen  und  gibt  von  beiden  eine  kurze 
Definition,  welche  jedoch  weder  erschöpfend,  noch  hinreichend  klar 
und  genau  ist.  Wir  werden  diese  Definition  in  dem  nächsten  Ab- 
schnitte, welcher  von  den  Metameren  handelt,  wörtlich  anfidiren  und 
näher  beleuchten,  und  wenden  uns  hier  sogleich  zur  näheren  Betrach- 
tung derjenigen  Formeinheiten  des  Organisnms,  welche  wir  allgemein 
als  Antinieren  bezeichnen  wollen. 

Unter  Antinieren  oder  Gegenstücken  (den  homotypi- 
schen Organen  Bronns)  verstehen  wir  diejenigen  neben-  (nicht 
hinter)einander  liegenden,  als  deutlich  geschlossene  Einheiten  auf- 
tretenden Körperabschnitte  oder  „Segmente",  welche  als  gleichwertige 
Organkomplexe  alle  oder  fast  alle  wesentlichen  Körperteile  der 
Spezies  (alle  typischen  Organe)  in  der  Art  zusammengesetzt  ent- 
halten, daß  jedes  Antimer  die  wesentlichsten  Eigenschaften  der 
Spezies  als  Organkomplex  repräsentiert,  und  daß  nur  noch  die  Zahl 
der  Antinieren  als  das  die  Speziesform  bestimmende  Element  hin- 
zutritt. Bei  den  meisten  höheren,  sogenannten  „bilateral-symmetri- 
schen" Tieren  (Wirbel-,  Glieder-,  Weichtieren)  besteht  der  Körper 
demgemäß  nur  aus  zwei  Antinieren,  den  beiden  Körperhälften 
nämlich,  welche  in  der  Medianebene  verwachsen  sind.  Bei  den 
sogenannten  „Strahltieren",  sowie  bei  den  allermeisten  Geschlechts- 
individuen (Blüten)  der  Phanerogamen  ist  dagegen  der  Körper  aus 
so  vielen  Antinieren  zusammengesetzt,  als  „Strahlen",  d.  h.  Ki'euz- 
achsen,  vorhanden  sind,  also  drei  bei  den  meisten  Monocotyledonen 
und  vielen  Radiolarien,  vier  bei  den  meisten  Medusen,  den  Rugosen 
und  Cereanthiden,  ferner  auch  bei  den  meisten  Würmern  und  bei 
sehr  vielen  Dicotyledonen,  fünf  bei  den  meisten  Echinodermen  und 
Dicotyledonen,  sechs  bei  den  meisten  Anthozoen  (Enallonemen, 
die  Rugosen  ausgenommen,  und  Antipathiden)  und  bei  einigen 
Medusen  (Carmariniden).  Sehr  selten  im  ganzen  genommen  ist  der 
Körper  aus  mehr  als  sechs  Antinieren  zusammengesetzt.  Sieben 
kommen   nur  ausnahmsweise  vor,  z.  B.  bei  Lnidia  Savignyi  unter 


126  Mor])hologische  Individualität  dor  Organismen.  IX. 

den  Seesternen,  bei  Trientalis  europaea  unter  den  Plianerogamen. 
Acht  Antimeren  finden  sich  bei  allen  Ctenophoien  und  Octactinien 
Alcyonarien),  dagegen  sehr  selten  bei  den  Plianerogamen  {Mimusops) 
unter  den  Sapotaceen.  Ebenfalls  selten  treten  neun,  zehn,  zwölf 
und  zwanzig  oder  mehr  Antimeren  zur  Bildung  des  Körpers  zu- 
sammen. In  der  Regel  sind  die  niedrigeren  Zahlen  der  Antimeren 
innerhalb  der  Spezies  koiistant.  Sobald  aber  mehr  als  sechs  Antimeren 
auftreten,  wird  die  Grundzahl  (acht  ausgenommen)  innerhalb  der 
Spezies  schwankend  und  um  so  unbeständiger,  je  höher  die  Zahl 
steigt.  Dasselbe  Verhältnis  zeigt  sich  auch  bei  den  Metameren, 
z.  B.  wenn  man  die  Insekten  (mit  wenigen,  neun  bis  dreizehn 
Ringen)  und  die  Myriapoden  und  Arachniden  (mit  sehr  zahlreichen 
Metameren)  vergleicht.  Dies  Verhältnis  ist  sehr  wichtig  für  die 
Begründung  des  Bronnschen  Gesetzes  der  Zahlenreduktion  gleich- 
namiger Teile. 

So  unwesentlich  es  vom  physiologischen  Standpunkte  aus 
erscheinen  mag,  ob  der  ganze  Körper  (die  Person)  aus  zwei,  drei, 
vier,  fünf  oder  mehi*  gleichen  Körperteilen  zusammengesetzt  ist,  von 
denen  jeder  sämtliche  wesentHche  Organkomplexe  oder  typischen 
Organe  des  Körpers  in  der  gleichen  Zahl,  Form,  Struktur  und  Lage- 
rung enthält  und  also  für  sich  schon  die  Spezies  repräsentieren 
könnte,  so  wichtig  ist  die  ho mo typische  Grundzahl,  wie  wir 
mit  B  r  o  n  n  die  spezifische  A  n  t  i  m  e  r  e  n  z  a  h  1  nennen  können,  für  die 
morphologische  Betrachtung  des  Körpers  als  Ganzen.  Ins- 
besondere wird  durch  die  Antimeren  jene  Summe  von  Formeigentüm- 
lichkeiten bedingt,  welche  man  gewöhnlich  als  Habitus  bezeichnet, 
und  welche  oft  ebenso  schwer  zu  definieren  und  näher  zu  bestimmen 
ist,  als  sie  dem  geübten  Auge  charakterbestimmend,  als  physiogno- 
misches  Moment  entgegentritt. 

Freilich  ist  uns  der  Kausalnexus  zwischen  dem  t\^3ischen 
Organisationscharakter  und  der  homotypischen  Grundzahl  der  Organis- 
men zurzeit  noch  vollständig  unbekannt.  Daß  er  aber  vorhanden 
ist,  beweist  die  auffallende  Konstanz,  welche  die  Antimerenzahl 
innerhalb  der  großen  Hauptabteilungen  des  Tier-  und  Pflanzenreiches 
zeigt.  Ohne  Ausnahme  sind  die  Wirbeltiere  und  Weichtiere  nur 
aus  zw^ei,  die  Ctcnophoren  und  Octactinien  aus  acht  Antimeren 
zusammengesetzt,  und  ganz  vorherrschend  ist  unter  den  Echino- 
dermen  die  Antimerenzahl  fünf,  unter  den  Monocotyledonen  die 
Zahl  drei. 


jX.  IV.    Morphologische  Individuen  vierter  Ordnung:  Metameren.  127 

IT.     Morplioloi^isclie  Individuen  vierter  Ordnung;: 

Metameren  oder  Folgestücke. 
(Homodyname  Teile  oder  allgemein  homologe  Teile.) 

Eine  der  häufigsten  Ersclieinungeu,  welche  der  Organismus  der 
höheren  Tiere  bezüglich  seines  Aufbaues  aus  untergeordneten  Teilen 
darbietet,  ist  die  Gliederung  oder  Segmentierung  desselben, 
d.  h.  die  Bildung  von  hintereinander  in  einer  Achse  gelegenen  Ab- 
schnitten, deren  jeder  im  wesentlichen  dieselbe  Anzahl  von  Organen 
in  gleicher  oder  ähnlicher  Lagerung,  Zusammensetzung,  Form  usw. 
wiederholt.  Diese  Gliederung,  wie  sie  am  ausgesprochensten  bei 
den  Wirbeltieren,  Gliedertieren  und  Echinodermen  auftritt  (während 
sie  den  Weichtieren  in  sehr  charakteristischer  Weise  abgeht),  kann 
sowohl  den  Stamm  (in  der  Längsachse)  als  die  seitlichen  Anhänge 
des  Stammes  betreffen,  welche  entweder  in  der  Breitenachse  (bei 
den  Ghedertieren)  oder  in  den  Kreuzachsen  (bei  den  Strahltieren) 
hintereinander  liegen.  In  beiden  Fällen  werden  die  Segmente  von 
Bronn  als  homonyme  Teile  bezeichnet.  Ganz  denselben  allge- 
meinen morphologischen  Wert  wie  den  einzelnen  Segmenten  oder 
Zeniten  des  Wirbel-  und  Gliedertierrumpfes  müssen  wir 
auch  den  einzelnen  Stengelgliedern  der  Phanerogamen  zuge- 
stehen. Auch  diese  sind  Wiederholungen  homonymer  Teile  in  der 
Hauptachse.  Und  ebenso  tragen  wir  kein  Bedenken,  die  Gliede- 
rung, die  sich  in  Seitenteilen  (Blattorganen)  der  Phanerogamen  aus- 
spricht, z.  B.  in  den  gefiederten  Blättern,  der  Gliederung  der  Seiten- 
anhänge (Extremitäten)  bei  den  Wirbel-  und  Gliedertieren  gleichzu- 
setzen. 

Für  die  richtige  Wertschätzung  der  Rangstufe  der  subordinierten 
Formgruppen,  aus  denen  sich  der  ganze  Leib  jener  gegliederten  Tiere 
und  Pflanzen  aufbaut,  ist  es  aber  durchaus  notwendig,  diese  beiden 
Fälle  wohl  zu  unterscheiden.  Wir  werden  daher  den  von  Bronn 
eingeführten  Namen  der  Homonymie  auf  das  Verhältnis  der  hinter- 
einander liegenden  Segmente  beschränken,  welche  durch  Gliederung 
eines  nicht  in  der  Hauptachse  liegenden  Seitenteils  entstehen,  welcher 
also  einer  Breitenachse  oder  Kreuzachse  entspricht;  während  wir 
dagegen  die  wechselseitige  Beziehung  derjenigen  Segmente,  welche 
durch  Gliederung  des  Rumpfes  selbst  in  der  Hauptachse  (Längsachse) 
entstehen,    als  Homodynamie  zu  bezeichnen  vorschlagen.     Ferner 


\2S  Morphologische  Individualität  der  Organismen.  JX. 

werden  wir  der  Kürze  und  Bequemlichkeit  halber  die  Segmente 
der  Hauptachsen  oder  die  homodynamen  Teile  Metameren, 
die  Segmente  der  Kreuzachsen  (oder  Breitenachsen)  oder 
die  homonymen  Teile  Epimeren  nennen. 

Homonyme  Organe  in  unserem  Sinne  oder  Epimeren  sind 
also  z.  B.  die  Extremitätenabschnitte  (z.  B.  Oberarm.  Vorderarm, 
Carpus,  Metacarpus,  Phalangen  der  vorderen  Extremität)  der  Wirbel- 
tiere, ferner  die  sogenannten  Glieder  oder  Segmente  der  Extremitäten 
(z.  B.  coxa,  trochanter,  femur,  tibia,  tarsus)  der  Gliedertiere,  ferner 
die  einzelnen  Abschnitte  der  Armzweige  (Pinnulae  etc.)  bei  den  Cri- 
noiden,  die  einzelnen  Nesselringe  an  den  Tentakeln  der  Medusen  usw. 
Im  Pflanzenreiche  haben  wir  dementsprechend  als  Epimeren  oder 
homonyme  Teile  alle  ähnlichen  Gliedcrbildungen  an  den  Blättern  zu 
betrachten,  z.  B.  die  Fiedern  der  gefiederten  Blätter  etc. 

Homodyname  Organe  oder  Metameren  sind  dagegen:  bei 
den  Wirbeltieren  die  einzelnen  Abschnitte  des  Rumpfes,  deren  jeder 
einem  Urwirbel.  und  am  ausgebildeten  Tiere  einem  Wirbel  nebst 
zugehörigen  Organen  entspricht  (einem  Rippenpaar,  einem  Ganglien- 
paar des  Sympathicus,  einem  Paar  austretender  Interkostalnerven 
und  Gefäße  etc.);  bei  den  Gliedertieren  ebenso  die  hintereinander 
liegenden  Segmente  oder  Glieder  des  Rumpfes,  die  bei  den  Glieder- 
füßern schon  weit  differenziert  (heteronom),  bei  den  Würmern  da- 
gegen noch  sehr  gleichartig  (homonom)  sind,  so  daß  in  jedem  Stücke 
dieselben  Organe  sich  wiederholen.  Ebenso  so  stark  entwickelt  wie 
bei  den  Wirbel-  und  Ghedertieren  ist  die  Homodynamie  oder  Meta- 
merenbildung  auch  bei  den  Echinodermen:  hier  haben  wir  als  Meta- 
meren zu  betrachten:  bei  den  Echiniden  die  hintereinander  liegenden 
Plattenpaare  jedes  Ambulacrums,  nebst  entsprechendem  Segmente 
des  Ambulacralsystems,  Nervensystems  etc.,  bei  den  Ästenden  die 
sogenannten  Wirbelstücke  oder  Pseudovertebrae  der  Arme,^)  bei  den 
Crinoiden  die  Stengelgiieder  des  Stiels  etc.  Vollkommen  diesen  ent- 
sprechende Metameren  sind  im  Pflanzenreiche  die  Stengelgiieder  der 
Phanerogamen.   Die  Metameren  sind  also  subordinierte  Teile  (Glieder) 


^)  Auf  den  ersten  Blick  könnte  man  mehr  geneigt  sein,  diese  Teile  der 
Echinodermen  als  Epimeren,  als  homonyme  Teile  zu  betrachten.  Indessen  lehrt 
eine  tiefere  Erfassung  der  schwierigen  Echinodermenhomologien,  daß  wir  die- 
selben   mit    größerem  Rechte    als   Metameren    oder   homonyme    Teile    auffassen. 


Vgl.  hierüber  das  VI.  Buch. 


IX.  I^'-    Morphologische  Individuen  vierter  Ordnung:  Metameren.  129 

eines  Formindividiuims  fünfter,  die  Epimeren  dagegen  erster,  zweiter 
oder  dritter  Ordnung. 

Die  Metameren  oder  lioniodynamen  Körperabschnitte  haben  als 
Gliederungen  der  Hauptachse  (Längsachse)  natürlich  einen  weit 
höheren  morphologischen  Wert  als  die  Epimeren,  w^elche  nur  als 
Gliederungen  der  Nebenachsen  (Breitenachse  oder  Kreuzachsen)  auf- 
treten. Auch  werden  wir  unten  sehen,  daß  die  letzteren  im  Tier- 
reiche niemals  oder  nur  sehr  selten  der  physiologischen  Individuali- 
sation  fähig  sind,  welche  die  ersteren  sehr  leicht  und  häufig  erlangen. 
Die  Metameren  sind  bei  den  niederen  Formen  des  Tierstammes,  in 
welchem  sie  auftreten,  lediglich  3[ultiplikationen  der  spezifischen 
Form  der  betreffenden  Art,  Wiederholungen,  welche  ursprünglich  so 
unabhängig  sind,  daß  sie  sehr  leicht  sich  voneinander  abtrennen 
und  daß  alsdann  jedes  einzelne  Metamer  jene  Speziesform  mehr 
oder  weniger  vollständig  repräsentiert.  Die  Epimeren  dagegen  ver- 
mögen niemals  in  ähnlicher  Weise  die  Speciesform  zu  vertreten,  da 
sie  eben  nicht  Wiederholungen  des  ganzen  Organismus,  sondern 
nur  Multiplikationen  von  einzelnen  seitlichen  Teilen  desselben,  von 
Organen  verschiedener  Ordnung  sind.  Die  Epimeren  verhalten 
sich  zu  den  Metameren  ganz  analog,  wie  die  Parameren  zu  den 
Antimeren. 

Die  sogenannte  Gliederung  oder  homodyname  Zusammen- 
setzung des  ganzen  Organismus  (dessen  physiologische  Individualität 
in  Form  der  Person  auftritt),  wie  sie  bei  den  Wirbeltieren,  den 
meisten  Gliedertieren.  Echinodermen  und  den  meisten  Phanerogamen 
stattfindet,  bekundet  einen  bedeutenden  Fortschritt  in  der  Organi- 
sation und  wir  können  daher  allgemein  diese  Organismen  als  höher 
und  vollkommener  bezeichnen,  im  Vergleich  zu  jenen,  bei  denen 
die  Metamerenbildung  fehlt,  und  bei  denen  mithin  das  physio- 
logische Individuum  selbst  nur  den  Wert  eines  Metameres  erreicht, 
wie  bei  den  niederen  Würmern,  den  Mollusken  etc.  Besonders 
lehrreich  für  die  richtige  Auffassung  der  Homodynamie  oder  der 
Metamerenbildung  ist  die  allmähliche  Übergangsreihe  von  un- 
gegliederten zu  gegliederten  Formen,  wie  sie  uns  die  niederen 
Würmer  (besonders  Cestoden)  zeigen;  hier  zeigt  sich  auf  das 
klarste,  wie  dieselben  Teile  (Metameren),  die  in  den  niederen 
Formen  als  physiologische  Individuen  auftreten,  in  den  höheren 
Formen  nur  den  Rang  von  homodynamen  Teilen  haben.  (Vergl. 
das  zehnte  Kapitel.) 

Haeekel,   Prinz,  d.  Morphol.  9 


130  Morphologische  Individualität  der  Organismen.  IX. 

\.     Morphologische  Individuen  fünfter  Ordnnni?: 

Histonalen  (Personen  oder  Prosopen  im  Tierreich, 
und  Sprosse   oder  Elasten  im  Pflanzenreich.)^) 

Wir  gelangen  nunmehr  im  aufsteigenden  Stnfengange  unserer 
Betrachtung  zu  derjenigen  höheren  organischen  Formeinheit,  welche 
sowohl  der  gewöhnhche  Sprachgebrauch  der  Laien,  als  auch  die  in 
der  Zoologie  (nicht  aber  in  der  Botanik!)  allgemein  herrschende 
Anschauungsweise  als  das  „eigentliche"  Individuum  aufzufassen 
pflegt.  Obwohl  eine  unbefangene  und  tiefer  eingehende  Betrachtung 
der  organischen  Individualität  zeigt,  daß  auch  diese  ..eigentlichen" 
oder  absoluten  Individuen  in  der  Tat  nur  relative  sind  und  auf  keine 
andere  individuelle  Geltung  Anspruch  machen  können,  als  sie  auch 
dem  Metamer  und  allen  anderen,  vorher  aufgeführten  Individuen 
niederen  Ranges  zukommt,  und  obwohl  diese  ..eigentlichen"  Indivi- 
duen bei  den  meisten  höheren  Pflanzen  und  Coelenteraten  nur  als 
subordinierte  Bestandteile  einer  noch  höher  stehenden  Einheit,  des 
Stockes  erscheinen,  so  ist  dennoch,  ausgehend  von  der  Individualität 
des  Menschen  und  der  höheren  Tiere,  die  irrtümliche  Auffassung 
der  morphologischen  Individuen  fünfter  Ordnung  als  der  ,, eigentlichen" 
organischen  Individuen  eine  so  allgemeine  geworden  und  hat  sich 
so  fest  in  dem  wissenschaftlichen  sowohl  als  im  Volksbewußtsein 
eingenistet,  daß  wir  sie  als  die  Hauptcpielle  der  zahlreichen  ver- 
schiedenartigen Auffassungen  und  Streitigkeiten,  die  in  betreff  der 
organischen  Individualität  herrschen,  bezeichnen  müssen. 

Um  diese  ,.ei gentliche  Individualität",  welche  sich  durch 
bestimmte  morphologische  Eigenschaften  mit  voller  Sicherheit  als 
ein  ..morphologisches  Individuum  fünfter  Ordnung"  scharf  charakte- 
risieren läßt,  ein  für  allemal  von  allen  anderen  organischen  Indivi- 
duahtätsformen  zu  unterscheiden,  wollen  wir  für  dieselbe  im  Tier- 
reich die  Bezeichnung  der  Person  oder  des  Prosopon\)  beibehalten. 
Mit  diesem  Ausdrucke  lehnen  wir  uns  unmittelbar  an  den  bestehenden 
Sprachgebrauch  an,  welcher  ja  insbesondere  das  menschliche  Indivi- 
duum sehr  allgemein  als  ,.Person"  bezeichnet.  Die  Botaniker  ge- 
brauchen zur  Bezeichnung  derselben  morphologischen  Individualität 
im  Pflanzenreich  den  Ausdruck  Sproß  oder  Blastus,  welcher  sehr 


^)  -poawrov,  To:  Persona,    '(ii sjrj-'}^^  ö;  der  Sproß.   Beide  Begriffe  sind  später 
von  mir  als  Histoiial  zusammengefaßt  worden.    (Zusatz  190ß.) 


IX.  V.    [Morphologische  Individuen  fünfter  Ordnung:  Histonalen.  131 

häutig  iiTtttnilich  durch  den  keineswegs  gleichbedeutenden  Ausdrucl^ 
der  Knospe  (Genima)  ersetzt  wird.  Wir  niaclien  daher  ausdrücklich 
darauf  aufmerksam,  daß  im  Sinne  der  besten  Botaniker  und  nament- 
lich im  Sinne  derjenigen,  welche  die  Individualität  der  Sprosse  am 
eingehendsten  und  klarsten  behandelt  haben,  wie  Alexander  Braun, 
der  Ausdruck  Sproß  oder  Blastus  ausschließlich  in  dem  hier  beibe- 
haltenen Sinne  für  das  morphologische  Pflanzenindividuum  fünfter 
Ordnuug  gebraucht  wird.  Der  Ausdruck  Knospe  oder  Gemma, 
welcher  so  oft  damit  verwechselt  wird,  ist  dagegen,  wenn  er  einen 
scharf  bestimmten  Begriff  bezeichnen  soll,  nur  für  diejenige  rein 
physiologische  Individualität  irgendeiner  Ordnung  anzuwenden, 
welche  durch  den  bestimmten  ungeschlechtlichen  Fortpflanzungs- 
modus der  Knospenbildung  (Gemmatio)  entsteht.  Wie  wir  im 
siebzehnten  Kapitel  noch  näher  ausführen  werden,  ist  dieser  wichtige 
Spaltungsprozeß  durch  Gemmation  bei  organischen  Individuen  aller 
Ordnungen  weit  verbreitet,  und  es  entstehen  nicht  bloß  viele  Sprosse 
durch  Knospung.  sondern  auch  viele  Zellen.  Organe.  3Ietameren 
und  Stöcke.  Knospe  oder  Gemma  bedeutet  also  in  diesem  korrekten 
und  fortan  stets  festzuhaltenden  Sinne  ausschließlich  ein  durch 
Knospenbildung  erzeugtes  Individuum  irgendeiner  Ordnung.  Sproß 
oder  Blastus  dagegen  nennen  wir  mit  Alexander  Braun  u.  a. 
ausschheßlich  das  echte  morphologische  Individuum  fünfter 
Ordnung.  Der  pflanzhche  Sproß,  Blastos.  ist  also  der  tierischen 
Person,  dem  Prosopon.  gleichwertig  und  es  könnte  demnach  die  erstere 
Bezeichnung  überflüssig  erscheinen.  Man  kann  sie  aber  mit  Vorteil 
beibehalten  für  diejenigen  Personen,  welche  nicht  frei  als  Bionten 
leben,  sondern  als  untergeordnete  Bestandteile  der  höheren  Einheit, 
des  Stockes  (Cormus)  auftreten.  Wir  werden  also  fernerhin  die 
morphologischen  Individuen  fünfter  Ordnung  nur  dann  als  Sprosse 
(Blasti)  bezeichnen,  wenn  sie  integrierende  Bestandteile  eines  Indivi- 
duums sechster  Ordnung  (Cormus)  sind,  wie  bei  den  meisten  Phane- 
rogamen  und  Coelenteraten;  dagegen  als  Personen  (Prosopa),  wenn 
sie  frei  als  selbständige  Bionten  existieren,  wie  bei  den  Wirbeltieren 
und  Artln'opoden.  Ähnhch  verhalten  sich  die  sogenannten  „einfachen 
Pflanzen"  der  Phanerogamen.  mit  ganz  einfacher  gegliederter  Achse, 
ohne  alle  Nebenachsen  (Zweige,  Ausläufer  etc.). 

Wenn  wir   nun   in    diesem   Sinne   die   Bezeichnung   der  Person 
imd  des  Sprosses  beibehalten,  so  läßt  sich  der  Begriff  des  Histonal. 

der'  beide  vereinigt,  als  morphologisches  Individuum  fünfter  Ordnung 

(1* 


132  Morpliolofiische  Individualität  der  Organismen.  ]X. 

vollkommen  schart'  und  bestimmt  feststellen.  Es  bestellt  nämlich 
das  echte  Histonal  in  allen  Fällen  aus  einer  Vielheit  von  unter- 
geordneten Individuen  der  ersten  bis  vierten  Ordnung. 
Jedes  einzelne  morphologische  Individuum  fünfter  Ordnung  ist  also 
zusammengesetzt  aus  mindestens  zwei  Metameren.  mindestens  zwei 
Antimeren  und  ebenso  stets  aus  einer  Vielheit  von  Organen  und 
einer  Vielheit  von  Piastiden.  Eine  jede  physiologische  Individualität, 
welche  diesem  Begriffe  nicht  entspricht,  wie  z.  B.  die  meisten  Mol- 
lusken, welche  nicht  aus  Metameren  zusammengesetzt,  sondern  einem 
Metamer  gleichwertig  sind,  können  wir  nicht  als  Person  anerkennen. 


Tl.     Morpliologisclie  Individuen  sechster  Ordnung-: 

Stöcke  oder  Cormen. 

Den  höchsten  Grad  morphologischer  Vollendung  in  der  Zu- 
sammensetzung aus  verschiedenen  Individualitäten  finden  wir  bei 
denjenigen  Organismen,  bei  welchen  eine  Vielheit  von  Personen  oder 
Sprossen  sich  zu  der  höheren  Einheit  des  Stockes  oder  Cormus  ver- 
bindet. Es  ist  dies  die  sechste  und  letzte  Stufe,  welche  der  Organis- 
mus in  seiner  fortschreitenden  Strukturverwickelung  erreicht. 

Unter  Stock  oder  Cormus  verstehen  wir  ausschließlich 
diejenige  organische  Formeinheit,  welche  aus  einer  Viel- 
heit von  Histonalen  oder  Formindividuen  fünfter  Ordnung 
zusammengesetzt  ist.  In  dieser  ihrer  Eigenschaft  als  unter- 
geordnete Bestandteile  eines  Stockes  bezeichnen  wir  die  Personen  mit 
dem  Namen  der  Sprosse  oder  Blasten.  Wir  schließen  also  aus  dem 
morphologischen  Begriffe  des  Cormus  alle  diejenigen  stockähnlichen 
Bildungen  aus,  welche  sowohl  in  der  Botanik  als  in  der  Zoologie 
sehr  oft  als  „Stöcke"  bezeichnet  werden,  ohne  wirkliche  Cormen  zu 
sein.  Solche  falsche  Stöcke  sind  die  Coenobien  der  Protisten,  bei 
welchen  die  Komponenten  des  stockähnlichen  Gebildes  nicht  Indivi- 
duen fünfter,  sondern  erster  Ordnung  sind,  einfache  Cytoden  oder 
Zellen  (z.  B.  die  „Stöcke"  der  Diatomeen,  Volvocinen  und  vieler  In- 
fusorien). Alle  diese  Schein  stocke  oder  Pseudocormen  stimmen 
nur  darin  mit  den  echten  Stöcken  oder  Cormen  überein,  daß  sie 
(meistens  ziemlich  lockere)  Verbindungen  von  Individuen  einer  sub- 
ordinierten Ordnung  darstellen,  niemals  aber  von  echten  Individuen 
fünfter  Ordnung.  Es  ist  also  lediglich  die  Zusammensetzung  aus 
untergeordneten  Individualitäten,  meistens  noch  verstärkt  durch  eine 


IX.  ^I-    Morphologische  Individuen  sechster  Ordnung:  Stöcke.  133 

äußere  Älinliclikeit,  welche  zu  der  allgemeinen  Verwechselung  der 
echten  mit  den  Scheinstöcken  geführt  hat.  Besonders  die  Art  der 
äußeren  Spaltung,  nämlich  die  laterale  Knospenbildung,  welche  beiden 
gemeinsam  ist.  scheint  jenen  Mangel  einer  wichtigen  Unterscheidung 
bewirkt  zu  haben.  Bei  vielen  Scheinstöcken  von  Diatomeen.  Flagel- 
laten,  Vorticellen  sind  es  einzelne  Piastiden,  welche  durch  fortgesetzte 
laterale  Knospenbildung  ganz  ähnliche  verzweigte  Bildungen  produ- 
zieren, wie  die  stockbildenden  Personen.  Es  ist  aber  für  die  all- 
gemeine 3Iorphologie  von  der  größten  Wichtigkeit,  den  wesentlichen 
Unterschied  zwischen  diesen  echten  Stöcken  sechster  Ordnung  und 
jenen  falschen  Scheinstöcken  fünfter  Ordnung  (Personen)  oder  zweiter 
Ordnung  (Organen)  zu  erkennen.  Der  Ausdruck  Kolonie  oder 
Gemeinde  (Synusie)  läßt  sich  auf  alle  diese  stockartigen  A^er- 
bindimgen  gemeinsam  anwenden  und  bedeutet  nichts  als  die  Ver- 
einigung einer  Vielheit  von  Individuen  niederer  Ordnung  zu  einer 
morphologischen  Einheit  höherer  Ordnung.  Der  echte  Stock  oder 
Cormus  aber  ist  eine  ganz  bestimmte  Art  dieser  Kolonien,  nämlich 
nur  diejenige  höchste  und  vollkommenste  Art,  welche  aus  Individuen 
fünfter  Ordnung  oder  Histonalen  zusammengesetzt  ist. 

Da  der  Cormus  die  höchste  und  letzte  von  allen  sechs  Indivi- 
dualitätsordnungen ist,  so  kann  er  niemals  als  integrierender  Bestand- 
teil einer  höheren  Ordnung  auftreten,  wie  alle  fünf  untergeordneten 
Individualitäten.  I^a  der  morphologische  Charakter  der  Person  oder 
des  Sprosses,  wie  wir  vorher  sahen,  ein  ganz  bestimmter  ist,  so  muß 
auch  gleicherweise  derjenige  des  Stockes,  welcher  stets  eine  Vielheit 
von  Sprossen  ist.  vollkommen  fest  bestimmt  sein.  Jeder  Stock  besteht 
demnach  nicht  allein  aus  einer  Mehrheit  von  Personen,  sondern  auch 
natürlich  aus  einer  Mehrheit  von  Metameren,  Antimeren,  Organen  und 
Piastiden,  weil  ja  jeder  einzelne  Sproß  allein  schon  eine  Vielheit 
Yon  diesen  vier  untergeordneten  Individualitäten  repräsentiert. 

Die  echten  Stöcke  oder  Cormen  erreichen  ihre  höchste  Ent- 
wickelung  und  weiteste  Verbreitung  im  Pflanzenreiche,  wo  die 
allermeisten  Phanerogamen  und  höheren  Cryptogamen  sich  zu  fest- 
sitzenden Stöcken  entwickeln.  Nur  sehr  wenige  Phanerogamen 
bleiben  auf  einer  niedrigeren  Stufe  der  Individualität  stehen.  Aus- 
nahmsweise kommen  solche  ganz  einfache  Plasten  (astlose  Haupt- 
sprosse mit  einer  einzigen  einfachen  Blüte)  auch  bei  solchen  Spezies 
vor,  die  gewöhnlich  einen  verzweigten  Stock  bilden,  z.  B.  Radiola 
miUegrana.  Eryihraca  puJchella,  Saxifraga  tridactylites. 


Zelintes  Kapitel. 

Physiologische  Individualität  der  Organismen. 

„Das  Anerkennen  eines  Neben-,  Mit-  und  Ineinanderseins 
und  Wirkens  verwandter  lebendiger  Wesen  leitet  uns  bei 
jeder  Betracditung  des  Organismus  und  erleuchtet  den  Stufen- 
weg  vom  Unvollkommenen  zum  Vollkommenen.'^ 

Goethe. 

Aktuelle,  virtuelle  und  partielle  Bionten. 

(Physiologische  Individuen  verschiedener  Art.) 

Jede  der  sechs  verschiedenen  Formeinheiten,  welche  wir  im 
vorigen  Kapitel  als  sechs  Ordnungen  der  morphologischen  Indivi- 
dualität unterschieden  haben,  tritt  bei  gewissen  Organismenarten  als 
physiologisches  Individuum  oder  Bion  auf.  Wir  haben  mit  diesem 
Ausdruck  diejenige  einheitliche  Raumgröße  bezeichnet,  welche  als 
lebendiger  Organismus,  als  zentralisierte  Lebenseinheit,  vollkommen 
selbständig  längere  oder  kürzere  Zeit  hindurch  eine  eigene  Existenz 
zu  führen  vermag;  eine  Existenz,  welche  sich  in  allen  Fällen  in  der 
Betätigung  der  allgemeinsten  organischen  Funktion  äußert,  in  der 
Selbsterhaltung  durch  Stoffwechsel.  Auch  andere  Lebensfunktionen, 
die  Fortpflanzung  oder  die  Erhaltung  der  Art,  sowie  die  Vermittelung 
ihrer  Beziehungen  zur  Aussenwelt,  z.  B.  durch  Ortsbewegungen,  ver- 
mag das  physiologische  Individuum  zu  verrichten,  ohne  daß  jedoch 
die  Verrichtung  dieser  Funktionen  als  notwendig  zum  Begriffe  des 
Bion  betrachtet  werden  müßte.  Das  Bion  oder  Funktionsindividuum 
ist  demnach  keineswegs,  wie  das  morphologische  Individuum,  eine 
unteilbare  Raumgröße,  die  wir  im  Momente  der  Beurteilung  als 
unveränderlich  anzusehen  haben  (unteilbar  in  dem  Sinne,  daß  wir 
keinen  Teil  von  ihr  wegnehmen  können,  ohne  ihren  Charakter  als 
Formindividuum  zu  vernichten).  Vielmehr  ist  das  physiologische 
Individuum  eine  einheitliche,  zusammenhängende  Raumgröße,  welche 
wir  als  solche  längere  oder  kürzere  Zeit  hindurch  leben,  d.  h.  sich 
in  der  allgemeinen  Lobensbewegung,  im  Stoffwechsel,  erhalten  sehen, 


X.  Aktuelle,  virtuelle  und  partielle  Bionten.  135 

und  welche  wir  also  im  Momente  der  Beurteilung  als  veränderlich 
ansehen:  auch  können  sich  Teile  von  dem  Funktionsindividuum  ab- 
lösen, ohne  daß  seine  Individualität,  d.  h.  sein  Fortbestehen  als 
selbständige  Lebenseinheit  dadurch  gefährdet  wird.  Wenn  das  Bion 
sich  fortpflanzt,  geschieht  sogar  diese  Ablösung  von  Teilen,  die  sich 
zu  neuen  Bionten  zu  entwickeln  vermögen,  regelmäßig.  Wir  können 
demnach  den  wichtigen  Unterschied  zwischen  der  morphologischen 
und  physiologischen  Individuahtät  kurz  dahin  zusammenfassen:  Das 
physiologische  Individuum  (Bion)  ist  eine  einzelne  orga- 
nische Raumgröße,  welche  als  zentralisierte  Lebenseinheit 
der  Selbsterhaltung  fähig  und  zugleich  teilbar  ist,  und 
welche  wegen  der  mit  diesen  Funktionen  verbundenen  Be- 
wegungen nur  als  eine  in  verschiedenen  Zeitmomenten  ver- 
änderliche erkannt  werden  kann.  Das  morphologische  Indi- 
viduum (Morphon,  erster  bis  sechster  Ordnung)  dagegen  ist 
eine  einzelne  organische  Raumgröße,  welche  als  vollkom- 
men abgeschlossene  Formeinheit  unteilbar  ist.  und  welche 
in  diesem  ihren  Wesen  nur  als  eine  in  einem  bestimmten 
Zeitmomente  unveränderliche  erkannt  werden  kann. 

Wie  wir  bereits  oben  zeigten,  vermag  jedes  Morphon.  jede  der 
sechs  morphologischen  Individualitäten  verschiedener  Ordnung,  die 
physiologische  Individualität  zu  repräsentieren;  und  jedes  Bion, 
welches  als  der  reife  Repräsentant  der  Spezies  einen  höheren  mor- 
phologischen Individualitätsgrad  besitzt,  muß,  falls  es  sich  aus  einem 
befruchteten  Ei  oder  einer  unbefruchteten  Plastide  (Spore)  entwickelt, 
während  seines  Entwickelimgs-Cyklus  alle  vorhergehenden  niederen 
Tndividuahtätsgrade  durchlaufen  haben.  Wir  müssen  jedoch  unter- 
scheiden zwischen  drei  wesenthch  verschiedenen  Erscheinungs- 
weisen oder  Arten  der  physiologischen  Individualität,  welche 
allgemein  als  das  aJdueUe  Bion  (oder  das  Bion  im  engeren  Sinne), 
das  virtueUe  oder  potentielle  Bion  und  das  pariieUe  oder  scheinbare 
Bion  bezeichnet  werden  können. 

I.  Aktuelles  Bion  oder  physiologisches  Individuum  im 
engeren  Sinne  ist  jedes  vollständig  entwickelte  organische 
Individuum,  welches  den  höchsten  Grad  morphologischer 
Individualität  erreicht  hat.  der  ihm  als  reifen,  ausgewach- 
senen Repräsentanten  der  Spezies  zukommt.  Dieser  Grad 
ist  für  jede  organische  Spezies  ein  bestimmter.  Es  ist  also  z.  B.  das 
aktuelle  Bion  bei  den  Phanerogamen  ein  morphologisches  Individuum 


136  Physiologische  Individualität  der  Organismen.  X. 

sechster,  bei  den  Wirbeltieren  fi'int'tcr.  bei  den  meisten  Mollusken 
vierter,  bei  den  Spongien  dritter,  bei  den  Volvocinen  zweiter,  bei 
den  einzelligen  Protisten  erster  Ordnung. 

IL  Virtuelles  Bion  oder  potentielles  physiologisches 
Individuum  ist  jedes  unentwickelte  organische  Individuum, 
so  lange  es  noch  nicht  den  höchsten  Grad  morphologischer 
Individualität  erreicht  hat,  welcher  ihm  als  reifen,  aus- 
gewachsenen Repräsentanten  der  Spezies  zukommt,  und 
zu  welchem  es  sich  entwickeln  kann.  Dieser  Grad  ist  zu  ver- 
schiedenen Zeiten,  in  verschiedenen  Stadien  oder  Perioden  der  indi- 
viduellen Entwickelung  ein  verschiedener.  Es  ist  also  z.  B.  beim 
Menschen  und  bei  den  Wirbeltieren  überhaupt  das  virtuelle  Bion 
zuerst  ein  morphologisches  Individuum  erster  (Ei),  dann  zweiter 
(Blastoderma),  dann  dritter  (Embryonalanlage  ohne  Primitivstreif), 
dann  vierter  (Embryo  mit  Primitivstreif),  dann  endhch  fünfter  Ord- 
nung (Embryo  mit  Primitivrinne  und  Urwirbelkette).  Bei  den  Antho- 
zoen,  welche  Stöcke  bilden,  z.  B.  den  Astraeiden,  ist  das  virtuelle 
Bion  im  ersten  Stadium  der  Entwickelung  (als  einfaches  Ei)  ein 
morphologisches  Individuum  erster,  dann  (als  kugeliger  Zellenhaufen) 
zweiter,  dann  (als  protaxonier.  noch  nicht  diradiierter  Körper)  dritter, 
darauf  (als  diradiierter  Körper  mit  sechs  Antimeren)  vierter,  dann 
(als  Polyp  mit  gegliederter  Hauptachse,  nachdem  die  horizontalen 
Böden.  Tabulae,  ausgebildet  sind)  fünfter,  endlich  (nachdem  die  Stock- 
bildung durch  Teilung  oder  Knospenbildung  begonnen  hat)  sechster 
Ordnung.  Bei  den  Phanerogamen  lassen  sich  die  gleichen  sechs 
Stufen  oder  Ordnungen  der  morphologischen  Individualität,  welche 
das  virtuelle  Bion  während  seiner  Entwickelung  bis  zum  aktuellen 
durchläuft,  folgendermaßen  ordnen:  erste  Stufe:  Embryobläschen 
(Ei);  zweite  Stufe:  Vorkeim  (Proembryo);  dritte  Stufe:  Keim  (Embryo) 
ohne  Cotyledonen;  vierte  Stufe:  Keim  (Embryo)  mit  Cotyledonen; 
fünfte  Stufe:  Keim  (Embryo)  mit  Cotyledonen  und  Plumula  (Inter- 
nodien):  nach  dem  Keimen:  junge  einfache  Pflanze:  sechste  Stufe: 
verzweigte  Pflanze  (Stock).  Jeder  Organismus  also,  welcher  als 
aktuelles  Bion  ein  morphologisches  Individuum  zweiter  oder  höherer 
Ordnung  ist,  muß  vorher  die  vorhergehenden  Individualitätsstufen 
als  virtuelles  Bion  durchlaufen  haben.  Hier  tritt  mithin  das  virtuelle 
Bion  als  regulärer,  in  periodischem  Cyklus  sich  wiederholender  Ent- 
wickelungszustand  auf  und  ist  zuerst,  als  Ei  öder  Spore,  eine  ein- 
fache Plastide.    ein  P'ormindividuum   erster  Ordnung,   welches   einen 


X,  Aktuelle,  virtuelle  und  partielle  Bionten.  137 


abgelösten  Bestandteil  des  aktuellen  elterlichen  Bion  bildete.  Es 
kann  aber  auch  bei  vielen  Organismen  jeder  einzelne  Körperteil 
unter  Umständen  als  virtuelles  Bion  auftreten,  d.  h.  sich  zum  aktuellen 
Bion  entwickeln,  wie  es  bei  der  Hydra  der  Fall  ist  und  bei  zahl- 
reichen Pflanzenarten,  wo  viele  einzelne  Zellen  oder  Zellgruppen  des 
Körpers  eine  so  ausgezeichnete  Reproduktionsfähigkeit  besitzen,  daß 
sie  sich,  losgelöst  vom  elterlichen  Organismus,  vom  aktuellen  Bion. 
selbst  wieder  zu   einem   solchen   ergänzen  und  heranbilden  können. 

III.  Partielles  Bion  oder  scheinbares  physiologisches 
Individuum  ist  jeder  Teil  eines  organischen  Individuums, 
w^elcher  die  Fähigkeit  besitzt,  nach  seiner  Ablösung  von 
dem  potentiellen  oder  aktuellen  Bion  längere  oder  kürzere 
Zeit  sich  selbst  zu  erhalten  und  als  scheinbares,  selbstän- 
diges Bion  seine  Existenz  unabhängig  fortzuführen,  ohne 
sich  jedoch  zum  aktuellen  Bion  entwickeln  zu  können.  Das 
scheinbare  oder  partielle  Bion  vermag  niemals,  wie  das  virtuelle, 
sich  zum  Ganzen  zu  reproduzieren  und  zum  aktuellen  Bion  durch 
selbständiges  Wachstum  allmählich  sich  auszubilden.  Vielmehr  geht 
es  zugrunde,  nachdem  es  eine  Zeitlang  sich  erhalten,  und  bisweilen 
während  dieser  Zeit  eine  bestimmte  Funktion  (z.  B.  die  Fortpflan- 
zung) ausgeübt  hat.  So  ist  es  z.  B.  mit  dem  Hectocotylus  der 
Cephalopoden  (einem  Organ),  mit  der  Progiottis  der  Cestoden  (einem 
Metamer),  mit  dem  männlichen  Blütensproß  der  VaUisneria  (einer 
Person),  w^elche  sich  von  einem  aktuellen  Bion  höherer  Ordnung 
abgelöst  haben.  Wie  man  sieht,  ist  der  Begriff  dieses  partiellen 
oder  scheinbaren  Bion  ein  sehr  weiter  und  unbestimmter,  und  es 
kommt  ihm  bei  weitem  nicht  die  hohe  Bedeutung  zu.  wie  dem 
wesentlich  verschiedenen  virtuellen  und  aktuellen  Bion.  Doch  haben 
die  meisten  früheren  Versuche,  die  organische  Individualität  zu  be- 
stimmen, gerade  auf  das  partielle  Bion  einen  außerordentlich  hohen 
Wert  gelegt,  und  es  ist  deshalb  wohl  nicht  überflüssig,  dasselbe  als 
eine  dritte  Erscheinungsweise  der  physiologischen  Individualität  neben 
dem  virtuellen  und  aktuellen  Bion  aufzuführen. 

Wenn  wir  oben  wiederholt  den  wichtigen  Satz  hervorhoben, 
daß  jede  der  sechs  morphologischen  Individualitäten  als  Bion  oder 
physiologisches  Individuum  auftreten  kann,  so  gilt  dies  von  allen 
drei  Erscheinungsformen  des  letzteren.  Sowohl  das  aktuelle,  als 
das  virtuelle,  als  endlich  auch  das  partielle  Bion  kann  durch  jede 
der  sechs  morphologischen  Individualitätsformen  repräsentiert  werden. 


Elftes  Kapitel. 

Tektologisclie  Thesen. 

»Eine  Erfalirung,  die  aus  melireren  anderen  bestellt,  ist 
offenbar  von  einer  liöheren  Art.  Auf  solche  Erfahrungen  der 
höheren  Art  loszuarbeiten  halte  ich  für  höchste  Pflicht  des 
Naturforschers,  und  dahin  weist  uns  das  Exempel  der  vor- 
züglichsten Männer,  die  in  diesem  Fache  gearbeitet  haben." 

Goethe. 

I.  Thesen  von  der  Fundamentalstniktur  der  Organismen. 

1.  Alle  morphologischen  Eigenschaften  der  Organismen, 
sowohl  ihre  anatomischen,  als  ihre  Ent\Yickelnngserscheinnngen,  und 
von  den  anatomischen  Eigenschaften  sowohl  die  tektologischen  als 
die  promorphologischen  Verhältnisse,  sind  die  notwendigen  Folgen 
mechanischer  wirkender  Ursachen. 

2.  Jeder  Organismus  oder  belebte  Naturkörper  ist  eine  mate- 
rielle Raumgröße  (Masseneinheit),  welche  als  solche  aus  einer  Summe 
von  Massenatomen  und  zwischen  denselben  befindlichen  Ätheratomen 
zusammengesetzt  ist. 

3.  Die  Massenatome,  w^elche  jeden  Organismus  zusammen- 
setzen, gehören  mindestens  vier  verschiedenen  Atomarten  (chemischen 
Elementen  oder  ürstoffen)  an,  welche  zu  sehr  verwickelten  Verbin- 
dungen in  demselben  vereinigt  sind. 

4.  Die  chemischen  Verbindungen,  aus  welchen  jeder 
Organismus  zusammengesetzt  ist,  sind  teils  konstante,  welche  allen 
Organismen  gemeinsam  zukommen,  teils  inkonstante,  welche  einem 
Teile  der  Organismen  besonders  zukommen. 

5.  Die  konstanten,  allen  Organismen  ohne  Ausnahme  zu- 
kommenden chemischen  Verbindungen  sind  Kohlenstoffverbin- 
dungen aus  der  Gruppe  der  Eiweißkörper  (Albuminate.  Protein- 
verbindungen), welche  alle  mindestens  aus  vier  verschiedenen  Atom- 
arten:    Kohlenstoff.  Sauerstoff.  Wasserstoff  und  Stickstoff  zusammen- 


W  Tektologische  Thesen.  139 


gesetzt    sind;    meistens   zugleich   noch    aus    Schwefel    und    oft    aus 
Phosphor. 

6.  Die  inkonstanten,  nur  einem  Teile  der  Organismen  zu- 
kommenden chemischen  Verbindungen  sind  teils  organische 
(kohlenstoffhaltige)  Verbindungen  (Fette,  Kohlenhydrate  etc.).  teils 
anorganische  (kohlenstofffreie)  Verbindungen  (Alkalisalze.  Kalksalze. 
Kieselverbindungen  etc.). 

7.  Von  den  chemischen  Verbindungen,  welche  das  materielle 
Substrat  jedes  Organismus  bilden,  befindet  sich  immer  wenigstens  ein 
Teil  (und  zwar  ausnahmslos  ein  Teil  der  konstanten  Eiweißverbin- 
dungen) im  festflüssigen  Aggregatznstande  (Imbibitionszustande). 

8.  Alle  Eigenschaften  der  Organismen  sind  die  unmittelbaren 
oder  mittelbaren  Wirkungen  der  c h e m i s c h e n  V e r b i n d u n gen.  aus 
denen  sie  zusammengesetzt  sind,  und  in  letzter  Linie  der  Massen- 
atome und  Ätheratome,  aus  welchen  jene  chemischen  Verbindungen 
zusammengesetzt  sind. 

9.  Alle  Eigenschaften  der  Organismen  sind  entweder  physio- 
logische (Bewegungserscheinungen  der  Massenatome  und  der  aus 
ihnen  zusammengesetzten  Moleküle)  oder  morphologische  (Lage- 
run2;sverliältnisse  der  Massenatome  und  der  aus  ihnen  zusammen- 
gesetzten  Moleküle). 

10.  Die  Leistungen  oder  Funktionen  der  Organismen  (physiolo- 
gische Eigenschaften  oder  Lebenserscheinungen)  sind  als  Bewegungen 
(Anziehungen  und  Abstoßungen)  der  Atome  und  Moleküle  nur  in 
einer  Reihe  von  Zeitmomenten  erkennbar  und  als  solche  Objekt  der 
Physiologie  (Biodi/iiconik). 

11.  Die  Formen  oder  Morphen  der  Organismen  (morphologische 
Eigenschaften  oder  Lebensbildungen)  sind  als  Ruhezustände  ((Gleich- 
gewichtszustände) der  Atome  und  Moleküle  nur  in  einem  einzigen 
Zeitmomente  erkennbar  und  als  solche  Objekt  der  Morphologie 
( Biostat  il\). 

12.  Die  Massenbewegungen  (Anziehungen  und  Abstoßungen  der 
Atome  und  Moleküle  in  den  organischen  Verbindungen),  welche  wir 
Lebenserscheinungen  nennen,  erfolgen  innerhalb  jedes  Organis- 
mus nach  denselben  ewigen  und  unabänderlichen  Gesetzen  der  die 
gesammte  Natur  beherrschenden  Notwendigkeit,  wie  alle  Bewegungs- 
erscheinungen in  der  anorganischen  Natur:  alle  sind  mithin  die  not- 
wendigen Folgen  wirkender  Ursachen  (nach  dem  allgemeinen  Kausal- 
gesetz). 


140  Tektologische  Thesen.  XI. 

18.  Die  Ruhezustände  (Gleichgewichtszustände)  der  Atome  und 
Moleküle  in  den  organischen  Verbindungen,  welche  wir  Lebens- 
formen nennen,  werden  durch  dieselben  ewigen  und  unabänderlichen 
Gesetze  der  absoluten  Notwendigkeit  bedingt,  wie  alle  gesetzmäßigen 
Formen  in  der  anorganischen  Natur  (Kristalle);  alle  sind  mithin  die 
notwendigen  Folgen  wirkender  Ursachen  (nach  dem  allgemeinen 
Kausalgesetz). 

14.  Die  Massebewegungen  der  organischen  Atome  und  Mole- 
küle, deren  Endresultat  die  Lebensformen  sind,  gehen  immer  aus 
von  den  niemals  fehlenden,  sehr  beweglichen  und  veränderlichen 
Eiweißverbindungen,  welche  die  „aktive"  organische  Materie  oder 
das  Plasma,  den  ..Lebensstoff"  im  engeren  Sinne  bilden. 

II.    Thesen  von  der  organischen  Individualität. 

15.  Jeder  einzelne  Organismus  als  lebendige  Masseneinheit 
erscheint  in  der  Form  einer  einheitlich  abgeschlossenen  und  selbst- 
ständigen Raumgröße,  welche  ganz  oder  teilweise  von  festflüssiger 
organischer  Materie  gebildet  wird  und  eine  einheitliche  Summe  von 
Leistungen  (Lebenserscheinungen)  ausführt. 

16.  Jeder  einzelne  Organismus,  vom  morphologischen  Stand- 
punkte aus  betrachtet  und  bloß  hinsichtlich  seiner  formellen  Indivi- 
dualität als  Einheit  untersucht,  erscheint  als  ein  morphologisches 
Individuum  oder  Morphon. 

17.  Jeder  einzelne  Organismus,  vom  physiologischen  Stand- 
punkte aus  betrachtet  und  bloß  hinsichtlich  seiner  funktionellen 
Individualität  als  Lebenseinheit  untersucht,  erscheint  als  physiologi- 
sches Individuum  oder  Bion. 

18.  Das  Bion  oder  das  physiologische  Individuum  als  Lebens- 
einheit ist  an  ein  materielles  Substrat  gebunden,  welches  entweder 
ein  einziges  einfaches  morphologisches  Individuum  oder  ein  einheit- 
licher Komplex  (Synusie.  Kolonie)  von  zwei  oder  mehreren,  innig 
verbundenen  einfachen  morphologischen  Individuen  ist. 

19.  Jeder  einheitliche  Komplex  (Synusie  oder  Kolonie)  von 
zwei  oder  mehreren,  innig  verbundenen  einfachen  morphologischen 
Individuen,  welcher  ein  natürliches  Ganzes,  eine  selbständige  Form- 
einheit bildet,  ist  als  ein  morphologisches  Individuum  zweiter  oder 
höherer  Ordnung  zu  betrachten. 

20.  Alle  morphologischen  Individuen,  welche  im  Tierreiche,  im 


XI.  Tektologische  Thesen.  141 

Protistenreiclie,  und  im  Pflanzenreiche  als  materielle  Substrate  der 
Bionten,  als  Träger  der  einheitlichen  Lebenserscheinungen  auf- 
treten, lassen  sich  in  sechs  subordinierte  Stufen  oder  Ordnungen 
gruppieren,  welche  wir.  von  unten  nach  oben  aufsteigend,  mit 
folgenden  morphologisch  bestimmten  Ausdrücken  bezeichnen :  1)  das 
Plasmastück  (Plastis):  2)  das  Werkstück  (Organen):  3)  das  Gegen- 
stück (Antimeros):  4)  das  Folgestück  (Metameros):  b)  die  Person 
(Prosopon):  6)  der  Stock  (Cormos). 

21.  Jede  einzelne  Formeinheit  höherer  Ordnung  ist  eine  Viel- 
heit (Synusie  oder  Kolonie)  von  mehreren  vereinigten  Formein- 
heiten der  vorhergehenden  niederen  Ordnungen. 

22.  Nur  die  Plastide  (entweder  Cytode  oder  Zelle),  als  das 
morphologische  Individuum  erster  und  niederster  Ordnung,  ist  dem- 
nach ein  wirkhch  einfaches  Formindividuum:  alle  übrigen  mor- 
phologischen Individuen  (zweiter  bis  sechster  Ordnung)  sind  stets 
zusammengesetzte   Individuen  oder  Kolonien   (Synusien,   Komplexe). 

III.    Thesen  von  den  einfachen  organischen  Individuen. 

23.  Die  Plastide  oder  das  Plasmastück,  als  das  einzige  ein- 
fache organische  Individuum,  ist  das  allgemeine  P'ormelement  aller 
Organismen,  die  gemeinsame  Grundlage  aller  Protisten,  Tiere  und 
Pflanzen  ohne  Ausnahme. 

24.  Jede  lebende  Plastide  ohne  Ausnahme  besteht  aus  einem 
zusammenhängenden  Stücke  einer  festflüssigen  Eiweißverbindung 
(Plasma),  welche  den  eigentlich  aktiven  Lebensstoff  repräsentiert, 
indem  sie  in  beständiger  chemischer  Umsetzung  begriffen  ist,  und 
dadurch  die  Lebensbewegungen  veranlaßt. 

25.  Alle  die  endlos  mannigfaltigen  und  verschiedenartigen  mor- 
phologischen und  physiologischen  Eigenschaften  der  Organismen 
sind  lediglich  die  unmittelbaren  oder  mittelbaren  Wirkungen  der 
endlos  mannigfaltigen  und  verschiedenartigen  atoni istischen  Zu- 
sammensetzung der  Eiweißverbindungen,  welche  als  indi\dduelle 
Plasmaklumpen  das  Plasma  der  Piastiden  bilden. 

26.  In  allen  Piastiden  ist  das  Plasma  entweder  der  einzige 
aktive  Bestandteil  (das  ..Lebenselement"),  oder  es  hat  sich  im  Innern 
des  Plasma  ein  zweiter  aktiver  Bestandteil  aus  demselben  differenziert. 
der  Kern  oder  Nucleus,  welcher  aus  einer  von  dem  Plasma  verschie- 
denen Eiweißverbindung  besteht. 


142  Tektologische  Thesen.  XL 

27.  Die  Zellen  (als  IMastiden  mit  Plasma  und  Kern)  sind  dem- 
nach als  eine  höhere  Entwickelungsstufe,  von  den  unvollkommeneren 
Cytoden  (den  einfachen  Plasmaklumpen  ohne  Kern)  zu  unter- 
scheiden. 

28.  Alle  Fornibestandteile  der  Piastiden,  und  also  der  Organis- 
men überhaupt  (als  einfacher  Piastiden  oder  Plastidenkomplexe), 
welche  nicht  aktives  Plasma  oder  aktiver  Kern  sind,  werden  als 
passive  oder  sekundäre  von  jenen  aktiven  oder  primären  Plastiden- 
teilen  gebildet,  entweder  äußerlich  (Zellenmembranen  und  Intercellu- 
larsubstanzen)  oder  innerlich  (innere  Plasmaprodukte). 

IT.  Thesen  von  den  zusaninieny:esetzten  organischen  Individuen. 

29.  x-Mle  morphologischen  und  physiologischen  Eigenschaften 
der  zusammengesetzten  organischen  Individuen  (zweiter  bis 
sechster  Ordnung)  sind  die  notwendige  Wirkung  der  sie  kon- 
stituierenden einfachen  Individuen  (Piastiden)  und  zwar  in  letzter 
Instanz  ihrer  aktiven  Bestandteile  (Plasma  und  Kern). 

30.  Die  Komposition  der  zusammengesetzten  Individuen  aus 
Aggregaten  von  einfachen  Individuen  erfolgt  in  den  Organismen  aller 
drei  Reiche  (Tiere,  Protisten  und  Pflanzen)  nach  denselben  einfachen 
Gesetzen. 

31.  Das  Organ  (in  rein  morphologischem  Sinne,  als  das  mor- 
phologische Individuum  zweiter  Ordnung)  ist  ein  Komplex  von  zwei 
oder  mehreren  vereinigten  Piastiden  (Cytoden  oder  Zellen). 

32.  Das  Antimer  oder  der  homotype  Stückteil  ist  ein  Komplex 
von  zwei  oder  mehreren  vereinigten  Organen. 

33.  Das  Metamer  oder  der  homodyname  Stückteil  ist  ein 
Komplex  von  zwei  oder  mehreren  vereinigten  Antimeren. 

34.  Die  Person  oder  das  Prosopon  (Histonal)  ist  ein  Komplex 
von  zwei  oder  mehreren  vereinigten  Metameren. 

35.  Der  Stock  oder  Cormus  ist  ein  Komplex  von  zwei  oder 
mehreren  vereinigten  Histonalen  (Blasten  oder  Personen). 

V.    Thesen  von  der  physiologischen  Individualität. 

36.  Jede  bestehende  Art  oder  Spezies  von  Organismen  ist 
aus  allen  physiologischen  Individuen  zusammengesetzt,  welche  unter 
nahezu    gleichen    Verhältnissen    oder    doch    unter    sehr    ähnlichen 


XI.  Tektologische  Thesen.  143 

Existenzbedingungen   eine   nahezu   gleiche   oder   doch   sehr  ähnHche 
Fornienreihe  während  ihrer  individuellen  Entwickelung  durchlaufen. 

37.  Für  jede  Art  oder  Spezies  von  Organismen  ist  die  Stufe 
der  morphologischen  Individualität,  welche  das  vollständig  reife  und 
ausgebildete  physiologische  Individuum  repräsentiert,  eine  konstante, 
w^elche  wir  mit  dem  Ausdruck  des  aktuellen  Bion  bezeichnen. 

38.  WirkHch  einfache  Organismenspezies  können  bloß  die  Mono- 
plastiden  genannt  werden,  d.  h.  diejenigen  Arten,  bei  welchen  das 
aktuelle  Bion  sowohl,  als  alle  Entwickelungsstadien  desselben,  den 
Formenwert  einer  einzigen  Plastide  (entweder  einer  Cytode  oder 
einer  Zelle)  besitzen. 

39.  Alle  Organismenarten,  welche  als  aktuelle  Bionten  aus  zwei 
oder  mehreren  Piastiden  zusammengesetzt  sind,  und  demgemäß  den 
Formwert  eines  morphologischen  Individuums  zweiter  bis  sechster 
Ordnung  haben,  können  als  zusammengesetzte  Organismenspezies 
oder  Polyplastiden  bezeichnet  werden. 

40.  Alle  Organismen,  welche  als  aktuelle  Bionten  durch  morpho- 
logische Individuen  zweiter  bis  sechster  Ordnung  dargestellt  werden 
(also  alle  zusammengesetzten  Organismenspezies),  durchlaufen  während 
ihrer  individuellen  Entwickelung  die  vorhergehenden  niederen 
Individualitätstufen,  von  der  ersten  an. 

41.  So  lange  das  Bion  sich  auf  einer  morphologischen  Indivi- 
dualitätsstufe befindet,  welche  niedriger  ist,  als  diejenige,  welche  es 
später  als  aktuelles  Bion  erreicht,  muß  dasselbe  entweder  als  virtu- 
elles oder  als  partielles  Bion  bezeichnet  werden. 

42.  Als  virtuelles  oder  potentielles  Bion  muß  das  physiologi- 
sche Individuum  unterschieden  werden,  wenn  dasselbe  die  Fähigkeit 
besitzt,  sich  zu  der  höheren  morphologischen  Individualitätsstufe 
zu  entwickeln,  welche  dem  aktuellen  Bion  seiner  Spezies  eigentüm- 
lich ist. 

43.  Als  partielles  oder  scheinbares  Bion  dagegen  muß  das 
physiologische  Individuum  angesehen  werden,  wenn  es  zwar  die 
Fähigkeit  besitzt,  als  selbständige  Lebenseinheit  längere  oder  kürzere 
Zeit  zu  existieren,  nicht  aber  sich  zu  der  morphologischen  Indivi- 
dualitätsstufe zu  entwickeln,  welche  dem  aktuellen  Bion  seiner  Spezies 
eigentümlich  ist. 

44.  Sowohl  die  aktuellen,  als  die  virtuellen,  als  die  partiellen 
Bionten  können  als  materielles  Substrat  jede  der  sechs  morpho- 
logischen Individualitätsordnungen  haben. 


144  Tektologische  Thesen.  XL 

45.  Alle  physiologischen  Individuen,  gleichviel  welche  morpho- 
logische Individualitätsoidnung  ihr  materielles  Substrat  bildet,  sind 
in  allen  ihren  Leistungen  und  Formverhältnissen  auf  die  morpholo- 
gischen Individuen  erster  Ordnung,  die  Piastiden  (Cytoden  und 
Zellen)  als  „Elementarorganismen"'  zurückzuführen,  da  jedes  Bion 
entweder  selbst  eine  einfache  Plastide  (Monoplastis)  oder  ein  Aggre- 
gat (Synusie,  Kolonie)  von  mehreren  Piastiden  ist  (Polyplastis). 

46.  Sämthche  physiologische  und  morphologische  Eigenschaften 
eines  jeden  polyplastiden  Organismus  erscheinen  mithin  als  das 
notwendige  Gesamtresultat  aus  den  physiologischen  und  morpholo- 
gischen Eigenschaften  aller  Piastiden,  welche  ihn  zusammensetzen. 

VI.     Thesen  von  der  tektologisclien  DifFerenzierung  und 

Zentralisation. 

47.  Die  Struktur  oder  der  Körperbau  (die  innere  Form)  der 
Organismen  ist  das  Verhältnis  der  einzelnen  konstituierenden  Bestand- 
teile der  Organismen  zueinander  und  zum  Ganzen. 

48.  Bei  den  monoplastiden  Organismen,  welche  als  aktuelle 
Bionten  stets  auf  der  ersten  morphologischen  Individualitätsstufe  stehen 
bleiben,  ist  die  Struktur  durch  das  Verhältnis  der  (aktiven)  konsti- 
tuierenden Plasmamoleküle  und  der  von  ihnen  produzierten  anderen 
(passiven)  Stoff moleküle  zueinander  und  zum  Ganzen  bestimmt. 

49.  Bei  den  polyplastiden  Organismen  hingegen,  welche  als 
aktuelle  Bionten  die  zweite  oder  eine  noch  höhere  morphologische 
Individualitätsstufe  erreichen,  ist  die  Struktur  durch  das  Verhältnis 
bestimmt,  welches  die  konstituierenden  morphologischen  Individuen 
von  allen  untergeordneten,  und  in  letzter  Instanz  von  der  ersten 
Individualitätsstufe  zueinander  und  zum  Ganzen  einnehmen. 

50.  Die  verschiedenen  Grade  der  morphologischen  Vollkommen- 
heit, welche  die  verschiedenen  Organismenarten  zeigen,  sind  teils 
durch  ihre  tektologischen,  teils  durch  ihre  promorphologischen  Eigen- 
schaften bedingt,  also  weder  allein  durch  die  Struktur,  noch  allein 
durch  die  Grundform. 

51.  Die  verschiedenen  Grade  der  Vollkommenheit  der  Organis- 
men sind,  insofern  sie  unmittelbar  auf  den  Struktur- Verhältnissen 
beruhen,  durch  mehrere  verschiedene  tektologische  Momente  bestimmt, 
welche  wesentlich  auf  dem  gegenseitigen  Verhältnis  der  aggregierten 
morphologischen  Individuen  verschiedener  Ordnung  zueinander  und 
zum  Ganzen  beruhen. 


XI.  Tektologische  Thesen.  145 

52.  Der  Organismus  ist  um  so  vollkommener,  je  höher  der 
morphologische  Individualitätsgrad  ist,  zu  welchem  er  sich  erhebt, 
je  größer  also  die  Zahl  der  untergeordneten  Individualitätsstufen  ist. 
welche  ihn  zusammensetzen. 

53.  Der  Organismus  ist.  falls  er  aus  gleichartigen  Piastiden  zu- 
sammengesetzt ist.  um  so  vollkommener,  je  größer  die  Anzahl 
der  konstituierenden  Piastiden  ist. 

54.  Der  Organismus  ist,  falls  er  aus  ungleichartigen  Piastiden  zu- 
sammengesetzt ist.  um  so  vollkommener,  je  ungleichartiger  die  konsti- 
tuierenden Piastiden  sind  (Gesetz  der  Differenzierung  der  Piastiden). 

55.  Jede  morphologische  Individualität  irgendeiner  Ordnung  ist  um 
so  vollkommener,  je  ungleichartiger  die  in  Mehrzahl  vorhandenen  Indi- 
viduen der  nächst  tieferen  Ordnung  sind,  welche  sie  konstituieren,  je 
größer  also  deren  Polymorphismus  (Arbeitsteilung.  Differenzierung)  ist. 

56.  Der  Organismus  ist  um  so  vollkommener,  je  abhängiger  die 
gleichartigen  Individualitäten,  welche  ihn  zusammenzetzen,  vonein- 
ander und  vom  Ganzen  sind,  und  je  mehr  also  der  ganze  Organis- 
mus zentralisiert  ist.  und  alle  subordinierten  Indi^^dualitäten  beherrscht 
(Gesetz  der  Zentralisation). 

57.  Jedes  einzelne  Formindividuum  irgend  einer  Ordnung  ist 
dagegen  um  so  vollkommener,  je  unabhängiger  dasselbe  von  seinen 
koordinierten  Genossen  (den  anderen  Formindividuen  derselben  Ord- 
nung) und  je  unabhängip,er  es  zugleich  von  dem  übergeordneten 
Ganzen  ist  (Gesetz  der  individuellen  Autonomie). 

58.  Der  Organismus  ist  um  so  vollkommener,  je  höher  zwischen 
allen  untergeordneten  IndividuaHtäten,  welche  ihn  zusammensetzen, 
der  Grad  der  Arbeitsteilung  und  der  Grad  der  Wechselwirkung 
ist,  je  größer  mithin  die  Differenzierung  und  die  Zentralisation  des 
ganzen  Organismus  ist. 

yil.    Thesen  von  der  Yollkoninienheit  der  yerscliiedenen 

Individualitäten. 

59.  Die  Formindividuen  erster  Ordnung,  die  Piastiden  (Cytoden 
und  Zellen),  sind  allgemein  um  so  vollkommener,  je  größer  die  An- 
zahl der  konstituierenden  Plasmamoleküle  ist,  je  differenter  ihre 
atomistische  Zusammensetzung  und  folglich  ihre  physiologische  Funk- 
tion ist,  je  abhängiger  mithin  dieselben  voneinander  und  von  der 
ganzen  Plastide  sind,  und  je  mehr  die  ganze  Plastide  zentralisiert 
und. von  dem  etwa  übergeordneten  Organe  unabhängig  ist. 

Ha  ecke!.    Prinz,  d.  ilorphol.  10 


146  Tektologische  Thesen.  XL 

60.  Die  Formindividuen  zweiter  Ordnung,  die  Organe,  sind 
allgemein  nm  so  vollkoniniener,  je  größer  die  Anzahl  ihrer  konsti- 
tuierenden Piastiden  ist.  je  differenter  deren  chemische  Znsammen- 
setzung und  folglich  auch  ihre  physiologische  Funktion  ist.  je  abhän- 
giger mithin  die  Piastiden  voneinander  und  vom  ganzen  Organ  sind, 
und  je  mehr  das  ganze  Organ  zentralisiert  und  von  dem  etwa  über- 
geordneten Antimer  unabhängig  ist. 

61.  Die  Formindividuen  dritter  Orchning  oder  Antimeren  sind 
allgemein  um  so  vollkommener,  je  größer  die  Anzahl  der  konstituie- 
renden Organe,  je  differenter  deren  histologische  Zusammensetzung, 
imd  folglich  auch  ihre  physiologische  Funktion  ist.  je  abhängiger 
mithin  die  Organe  voneinander  und  vom  ganzen  Antimer  sind,  und 
je  mehr  das  ganze  Antimer  zentralisiert  und  von  dem  etwa  über- 
geordneten Metamer  unabhängig  ist. 

62.  Die  Formindividuen  vierter  Ordnung,  die  Metameren  oder 
Folgestücke,  sind  allgemein  um  so  vollkommener,  je  differenzierter, 
je  ungleichartiger  ihre  homotypische,  organologische  und  histologische 
Zusammensetzung,  und  folglich  auch  je  vielseitiger  ihre  physiologi- 
sche Funktion  ist,  je  abhängiger  mithin  die  konstituierenden  Plasti- 
den.  Organe  und  Antimeren  voneinander  und  vom  ganzen  Metamer 
sind,  und  je  mehr  das  ganze  Metamer  zentralisiert  und  von  der 
etwa  übergeordneten  Person  unabhängig  ist. 

63.  Die  Formindividuen  fünfter  Ordnung,  die  Personen  oder 
Histonalen,  sind  allgemein  um  so  vollkommener,  je  differenzierter, 
je  ungleichartiger  ihre  homodyname.  homotypische,  organologische 
und  histologische  Zusammensetzung,  und  folglich  auch  je  vielseitiger 
ihre  physiologische  Funktion  ist,  je  abhängiger  mithin  die  konstituie- 
renden Piastiden,  Organe,  Antimeren  und  Metameren  voneinander 
und  vom  ganzen  Histonal  sind,  und  je  stärker  die  ganze  Person 
zentralisiert  und  von  dem  etwa  übergeordneten  Stocke  unabhängig  ist. 

64.  Die  Formindividuen  sechster  Ordnung,  die  Stöcke  oder 
Cormen,  sind  allgemein  um  so  vollkommener,  je  differenzierter,  je 
ungleichartiger  ihre  prosopologische,  homodyname,  homotypische, 
organologische  und  histologische  Zusammensetzung,  und  folglich  auch 
je  vielseitiger  ihre  physiologische  P'unktion  ist.  je  abhängiger  mithin 
die  konstituierenden  Piastiden,  Organe,  Antimeren,  Metameren  und 
Personen  (Sprosse)  voneinander  und  vom  ganzen  Stocke  sind,  und 
je  stärker  also  der  ganze  Stock  zentralisiert  ist. 


VIERTES  BUCH. 

ZAVEITER   TEIL    DER  ALLGEMEINEN  ANATOMIE. 


GENERELLE  PROMORPHOLOGIE  ODER 
ALLGEMEINE  GRUNDFORMENLEHRE  DER  ORGANISMEN. 

(STEREOMETRIE  DER  ORGANISMEN.) 


Beiuerkiiug-en  zum  vierten  Buche  (1906). 

Die  Gnmdfornienlehre  oder  Promorphologie  behandehe  im  12.  Kapitel  Be- 
griff und  Aufgabe  dieser  Wissenschaft  (S.  375 — 399).  im  13.  Kapitel  das  neue 
System  der  organischen  Grundformen  (S.  400 — 527),  im  14.  Kapitel  die  Grund- 
formen der  sechs  Individualitätsordnungen  (S.  528 — 539);  im  15.  Kapitel  waren 
die  Ergebnisse  dieser  promorphologischen  Untersuchungen  in  95  Thesen  zu- 
sammengefaßt. Dazu  kam  dann  noch  ein  Anhang  von  5  Tabellen  und  die  Er- 
klärung der  beiden  promorphologischen  Tafeln  (S.  554 — 574). 

Dieser  ganze  Teil  der  Morphologie  gehört  zu  denjenigen,  welche  in  weiteren 
Kreisen  wenig  Interesse  finden;  man  begnügt  sich  gewöhnlich  noch  heute  mit 
der  Unterscheidung  von  drei  Symmetrieverhältnissen:  Regulären,  Bilateralen  und 
Irregulären  Formen.  Die  schärfere  Unterscheidung  und  mathematische  Präzision 
zahlreicher  Gruppen  von  Grundformen,  die  ich  hier  (1866)  zuerst  gegeben  hatte, 
ist  nur  selten  berücksichtigt  worden.  Da  zum  klaren  Verständnisse  dieser 
schwierigen  promorphologischen  Fragen  zahlreiche  Abbildungen  erforderlich  sind, 
habe  ich  hier  jetzt  auf  ihre  eingehende  Erörterung  verzichtet.  Ich  verweise  auf 
die  ausführliche  Begründung,  die  ich  inzwischen  (unter  Verwendung  zahlreicher 
Figuren)  in  zwei  anderen  Werken  gegeben  habe:  I.  Grundriß  einer  Allge- 
meinen Naturgeschichte  der  Radiolarien  (Berlin,  Georg  Reimer.  1887, 
S.  8—20.  mit  64  Tafeln).  II.  Kunstformen  der  Natur,  Supplement-Heft: 
Grundformen  der  Organismen.  S.  9 — 49.    100  Tafeln.    (Leipzig.  Bibliogr.  Institut.) 

10* 


„Freudig  war  seit  vielen  Jahren 
Eifrig  so  der  Geist  bestrebt, 
Zu  erforschen,  zu  erfahren, 
Wie  Natur  im  Schaffen  lebt. 
Und  es  ist  das  ewig  Eine, 
Das  sich  vielfach  offenbart: 
Klein  das  Große,  groß  das  Kleine, 
Alles  nach  der  eignen  Art, 
Immer  wechselnd,  fest  sich  haltend, 
Nah  und  fern,  und  fern  und  nah 
So  gestaltend,  umgestaltend  — 
Zum  Erstaunen  bin  ich  da." 

Goethe. 


Zwölftes  Kapitel. 

Begriff  und  Aufgabe  der  Promorpliologie. 

„W?s  man  au  der  Natur  GeheiniuisvoUes  pries 
Das  wagen  wir  verständig'  zu  probieren, 
Und  was  sie  sonst  org^anisieren  ließ. 
Das  lassen  wir  kristallisieren." 

Goe  the. 

I.     Die  Promorpliologie  als  Lehre  von  den  organischen 

Grundformen. 

Die  Proraorphologie  oder  Gruiidformenlehre  der  Orga- 
nismen ist  die  gesamte  Wissenschaft  von  der  äußeren  Form 
der  organischen  Individuen,  und  von  der  stereometrischen 
Grundform,  welche  derselben  zugrunde  liegt,  und  auf  deren 
Erkenntnis  durch  Abstraktion  sich  jede  wissenschaftliche  Darstellung 
einer  organischen  Form  stützen  muß.  Die  Aufgabe  der  organischen 
Promorphologie  ist  mithin  die  Erkenntnis  und  die  Erklärung  der 
organischen  individuellen  Gesamtform  durch  ihre  stereometrische 
Grundform  d.  h.  die  Bestimmung  der  idealen  Grundform  durcli  Ab- 
straktion aus  der  realen  organischen  Form,  und  die  Erkenntnis  der 
bestimmten  Naturgesetze,  nach  denen  die  organische  Materie  die 
äußere  Gesamtform  der  organischen  Individuen  bildet. 

Begriff  und  Aufgabe  der  organischen  Promorphologie,  wie  wir 
sie  hier  feststellen,  sind  bisher  noch  nicht  Gegenstand  von  ein- 
gehenden morphologischen  Untersuchungen  gewesen.  Die  Vorwtü'fe. 
welche  die  meisten  Zoologen  und  Botaniker  hinsichtlich  der  allge- 
meinen Vernachlässigung  der  Tektologie  verdienen,  gelten  in  noch 
höherem  Maße  hinsichtlich  der  Promorphologie.  Nur  sehr  wenige 
Naturforscher  haben  versucht,  in  der  scheinbar  gesetzlosen  und  ganz 
unberechenbaren  Formenmannigfaltigkeit  des  Tier-  und  Pflanzen- 
reichs nach  der  Erkenntnis  allgemeiner  Gesetze  zu  streben,  nach 
denen  diese  Formen  gebiklet  sind.     Nur  einzelne   haben   den  wenig 


150  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie.  Xll. 

berücksichtigten  Versuch  gemacht,  mathematisch  bestimmbare  Grund- 
formen aufzufinden,  welche  die  notwendige  Gesetzhchkeit  auch  in 
den  komphziertesten  Bildungen  der  organischen  Naturkörper  ver- 
raten; aber  auch  diese  sind  meistens  bald  vor  den  großen  Schwierig- 
keiten zurückgeschreckt,  welche  einer  mathematischen  Erkenntnis 
der  organischen  Formen  entgegenstehen,  und  welche  bei  jedem 
tieferen  Eindringen  in  das  Rätsel  ihrer  höchst  komplizierten  Bildungen 
die  erstere  unmöglich  erscheinen  lassen. 

Die  anorganische  Morphologie  ist  in  dieser  Beziehung  der 
organischen  unendhch  voraus.  Derjenige  Wissenschaftszweig,  welcher 
dort  der  organischen  Promorphologie  entspricht,  ist  die  Kristallo- 
graphie, und  es  ist  bekannt,  welchen  hohen  Grad  wissenschaft- 
licher A^ollendung,  vorzüglich  durch  strenge  Anwendung  der  rein 
mathematischen  Methode,  diese  „Promorpliologie  der  Anorgane" 
erlangt  hat.  Von  der  Kristallographie  lernen  wir.  daß  die  Erkennt- 
nis des  Wesens  der  Form  nicht  durch  die  bloße  Beschreibung  der 
realen  Form  des  Individuums,  sondern  durch  die  Konstruktion  seiner 
idealen  Grundform  gewonnen  wird.  Der  wissenschaftlichen  Minera- 
logie genügt  nicht  die  genaueste  äußerliche  Beschreibung  eines 
individuellen  Kristalles,  wenn  nicht  das  Verhältnis  seiner  verschie- 
denen Achsen  und  deren  Pole  zueinander  erörtert  und  daraus  die 
ideale  stereometrische  Grundform  des  Kristalles,  sein  ..System" 
erkannt  ist.  Bei  den  Organismen  dagegen  begnügt  man  sich  fast 
allgemein  mit  der  bloßen  Beschreibung  entweder  der  äußeren  Ober- 
flächen oder  der  inneren  Struktur,  und  vernachlässigt  die  ideale 
stereometrische  Grundform,  w^elche  auch  hier  unter  der  verwickelten 
individuellen  Form  verborgen  liegt,  entweder  gänzlich:  oder  glaubt 
genug  getan  zu  haben,  w^enn  man  sie  entweder  als  „bilateral-sym- 
metrische" oder  als  „radial-reguläre"  bezeichnet. 

Wir  befinden  uns  also  hier  beim  Eintritt  in  die  Promorpliologie 
in  der  seltsamen  Lage,  die  Wissenschaft,  deren  Grundzüge  wir  dar- 
stellen wollen,  nicht  allein  in  den  ersten  embryonalen  Anfängen 
schlummernd,  sondern  sogar  nicht  einmal  als  selbständige  indivi- 
duelle Disziplin  anerkannt  zu  finden.  Die  Promorphologie  der 
Organismen,  welche  nach  unserer  Überzeugung  ein  so  wichtiger 
Bestandteil  der  organischen  Morphologie  ist.  daß  wir  ihn  sogar  der 
Tektologie  als  anderen  ebenbürtigen  Hauptzweig  der  Anatomie  gegen- 
überstellen, ist  in  der  Tat  als  solcher  bisher  noch  von  keinem  Natur- 
forscher anerkannt,  und  selbst  von  den  wenigen  denkenden  Männern, 


XII.  n.    Begriff  der  organischen  Grundformen  im  allgemeinen.  151 

welche  ihm  ihre  Aufmerksamkeit    zuwandten,    nicht    in    gehörigem 
Maße  kultiviert  und  hervorgehoben  worden. 

Wenn  wir  daher  im  folgenden  die  Fundamente  der  organischen 
Promorphologie  für  die  "gesamte  Formenwelt  der  drei  organischen 
Reiche  festzustellen  versuchen,  so  haben  wir  nicht  allein  mit  der 
großen  Schwierigkeit  des  Gegenstandes  an  sich  zu  kämpfen,  sondern 
in  noch  höherem  Maße  mit  den  Vorurteilen  der  Zeitgenossen,  welche 
größtenteils  diesem  ersten  Versuche  einer  „organischen  Stereo- 
metrie" in  erhöhtem  Maße  die  Ungunst  der  Beurteilung  zuwenden 
werden,  die  unsere  morphologischen  Reformversuche  überhaupt  zu 
erwarten  haben.  Es  erscheint  deshalb  notwendig,  ehe  wir  die  bis- 
her unternommenen  promorphologischen  Versuche  überblicken,  den 
Begriff  der  organischen  Grundform  selbst,  wie  er  uns  persönlich 
vorschwebt  und  im  folgenden  speziell  untersucht  ist,  in  seiner  all- 
gemeinen Bedeutung  kurz  zu  erörtern  und  festzustellen. 

II.     Begriff  der  organisclien  Ofrimdform  im  allgemeinen. 

Unter  organischer  Grundform  oder  Promorphe  verstehen  wir 
allgemein  denjenigen  mathematischen  Körper,  welcher  der  äußeren 
Form  jedes  organischen  Individuums  erster  bis  sechster  Ordnung 
zugrunde  liegt,  und  welcher  mit  dieser  letzteren  in  allen  wesent- 
lichen Verhältnissen  der  formbestimmenden  Körperachsen  und  ihrer 
beiden  Pole  übereinstimmt.  Die  ideale  stereometrische  Grundform 
sowohl  als  die  reale  Form  des  organischen  Individuums,  in  welcher 
die  erstere  verkörpert  ist,  sind  also  lediglich  durch  ihre  fest  be- 
stimmten Achsen  und  deren  beide  Pole  erkennbar  und  einer  mathe- 
matischen Bestimmung  fähig.  Mithin  sind  nur  diejenigen  organi- 
schen Individuen  von  dieser  stereometrischen  Erkenntnis  ausge- 
schlossen, bei  denen  wegen  absoluten  Mangels  jeder  bestimmten 
Achse  auch  eine  stereometrische  Grundform  nicht  ausgesprochen  ist, 
näniHch  die  absolut  unregelmäßigen  oder  amorphen  Gestalten,  welche 
wir  in  der  Formengruppe  der  Achsenlosen  (Anaxonia)  zusammen- 
fassen. Die  ..achsenlosen"  organischen  Individuen  verhalten  sich  zu 
der  großen  Mehrzahl  der  „achsenfesten''  oder  Axoiiia  ebenso,  wie  die 
amorphen  Anorgane  zu  den  Kristallen. 

Die  ideale  stereometrische  Grundform,  welche  wir  in  jedem 
realen  organischen  Formindividuum  erster  bis  sechster  Ordnung  ver- 
körpert finden,  ist  eine  absolut  bestimmte,  eine  vollkommen  kon- 


1^2  Begriff  und  Aufgabe  der  Proiiiorphologie.  Xll. 

stallte  uiul  daher  gesetzmäßige.  In  dieser  Konstanz  der  idealen 
stereometrisclien  Grundform,  d.  h.  in  ihrem  notwendigen  kausalen 
Zusammenhange  mit  den  formbildenden  Ursachen  der  realen  organi- 
schen Form,  kurz  in  ihrer  Gesetzmäßigkeit,  liegt  der  hohe  Wert,  den 
dieselbe  für  eine  wissenschaftliche  Erkenntnis  und  Darstellung  der 
realen  organischen  Formen  besitzt.  Es  wird  nämlich  dadurch  mög- 
lich, alle  wesentlichen  Fprmverhältnisse  jedes  organischen  Körpers 
durch  den  einfachsten  Ausdruck  mit  mathematischer  Sicherheit  zu 
bezeichnen.  Die  einfache  Angabe  der  stereometrischen  Grundform 
jedes  morphologischen  Individuums  genügt  vollkommen,  um  alle 
charakteristischen  Formeigenschaften  desselben  mit  einem  einzigen 
Wort  zu  bezeichnen,  an  welches  danfl  die  Beschreibung  der  äußeren 
Einzelheiten  sicli  ohne  Mühe  anschließen  läßt.  In  dieser  Beziehung 
ist  die  Promorpliologie  der  wahre  mathematische  Grundstein  der 
mechanischen  Morphologie  der  Organismen  im  allgemeinen  und  der 
deskriptiven  Morphographie  im  besonderen. 

Die  Form  jedes  Körpers,  als  die  Summe  aller  äußeren  Grenz- 
flächen. Grenzlinien  und  Grenzwinkel  desselben,  ist  im  allgemeinen 
nichts  anderes  als dasLagerungsverhältnis derkonstituierenden Bestand- 
teile des  Körpers,  oder,  genauer  ausgedrückt,  das  Resultat  aus  der 
Zahl  und  Größe,  der  gegenseitigen  Lagerung  und  Verbindung,  der 
Gleichheit  oder  Ungleichheit  aller  konstituierenden  Bestandteile  des 
Körpers.  Wenn  wir  nun  diese  allgemeine  Definition  der  Form  jedes 
Körpers  auf  die  ideale  organische  Grundform  übertragen,  welche 
einem  morphologischen  Individuum  bestimmter  Ordnung  zugrunde 
liegt,  so  zeigt  sich  auch  diese  wesentlich  als  das  notwendige  Resul- 
tat der  Zahl  und  Größe,  Lagerung'  und  Verbindung,  Gleichheit  oder 
Ungleichheit  der  konstituierenden  Formbestandteile,  d.  h.  zunächst 
der  morphologischen  Individuen  der  nächst  niederen  Ordnung.  Schon 
hieraus  ist  klar,  daß  die  stereometrische  Grundform  jedes  morpho- 
logischen Individuums  nicht  bloß  aus  der  Oberflächenbetrachtung 
seines  Äußeren  erkannt  werden  kann,  daß  vielmehr  dazu  eine  voll- 
ständige Erkenntnis  seiner  inneren  Zusammensetzung  aus  den  sub- 
ordinierten Formindividuen  niederer  Ordnung  unentbehrlich  ist.  Ob- 
gleich also  die  Promorphologie  wesentlicli  die  Aufgabe  hat.  die 
äußere  Forin  jedes  gegebenen  morphologischen  Individuums  geome- 
trisch zu  erklären,  kann  sie  diese  Aufgabe  doch  nur  lösen  durch 
die  vorhergegangene  tektologische  Erkenntnis  seiner  inneren  Form, 
seiner  Struktur.     Aus  diesem   Grunde   muß   also  stets  die  tektologi- 


XII.        III.    Verschiedene  Ansichten  über  die  organischen  Grundformen.        153 

sehe  Erkenntnis  jedes  oroanisclien  Fonnindivicluums  seiner  pronior- 
phologischen  voransgehen. 

Die  organische  Grundform  ist  also  keineswegs  eine  willkürliche 
Abstraktion,  welche  wir  durch  beliebige  Hervorheining  oder  willkür- 
liche Ergänzung  einzelner  Begrenzungsflächen.  Linien  oder  Winkel 
des  organischen  Körpers  erhalten,  sondern  sie  ist  der  notwendige 
und  unveränderliche  Ausdruck  des  konstanten  Lagerungsverhältnisses 
aller  konstituierenden  Bestandteile  der  organischen  P'orm  zueinander 
und  zum  Ganzen.  Jedes  organische  Formindividuum  besitzt  also  in 
jedem  gegebenen  Zeitmomente  nur  eine  einzige  konstante  geometri- 
sche Grundform. 

III.  Terseliiedeue  Aiisicliteu  über  die  orgaiiiselieii  Onuidfornieii. 

Die  allgemeine  Existenz  konstanter  stereometrischer  Grundformen 
in  allen  realen  morphologischen  Individuen  ist  bisher  nicht  in  dem 
Sinne,  wie  wir  soeben  bestimmt  haben,  anerkannt  worden.  Zwar 
haben  einige  wenige  denkende  Morphologen.  unter  denen  namentlich 
Bronn.  Johannes  Müller.  Burmeister.  G.  Jäger  hervorzuheben 
sind,  versucht,  die  verwickelten  Tierformen  auf  einfache  geometrische 
Grundformen  zurückzuführen.  Indessen  galt  es  doch  bei  der  Mehr- 
zahl der  organischen  Morphologen.  und  zwar  bei  den  Botanikern 
noch  mehr,  als  bei  den  Zoologen,  als  feststehendes  Dogma,  daß  eine 
solche  Reduktion  entweder  gar  nicht  oder  nur  in  höchst  beschränktem 
Maße  möglich  sei.  Vergleicht  man  in  dieser  Beziehung  die  ein- 
leitenden Bemerkungen,  welche  selbst  die  besseren  zoologischen  und 
botanischen  Lehrbücher  über  die  allgemeine  Form  der  Tiere  und 
Pflanzen  geben,  so  wird  man  meistens  weiter  nichts  finden,  als  die 
kurze  Angabe,  daß  der  Körper  der  Organismen,  sow^ohl  der  Tiere 
als  der  Pflanzen,  von  höchst  komplizierten  gekrümmten  Flächen  und 
krummen  Linien  begrenzt  werde,  während  die  reinen  Formen  der 
anorganischen  jMaturkörper,  der  Kristalle,  sich  durch  ebene  Flächen 
und  gerade  Linien  scharf  unterscheiden  sollen.  Es  wird  sogar  diese 
Differenz  als  eine  der  wesenthchsten  aufgeführt,  welche  die  beiden 
großen  Hauptabteilungen  der  Naturkörper,  organische  und  anorgani- 
sche, trennen;  auch  wird  oft  noch  hinzugefügt,  daß  eine  mathema- 
tische Bestimmung  der  Form,  eine  Reduktion  auf  einfache  geometri- 
sche Grundformen,  wie  sie  bei  den  Kristallen  so  leicht  durchzuführen, 
und  Aufgabe  der  Kristallographie  sei.  bei  den  Tieren  und  Pflanzen 
auf  unüberwindHche  Hindernisse  stoße.   Entweder  sollen  geometrisch 


154  Begriff  und  Aufgabe  der  Promorphologie.  XIL 

I 

reine  Formen,  wie  die  meisten  Kristalle  (aber  auch  nur  annähernd !) 

darstellen,  im  Organismus  gar  nicht  vorkommen,  oder  ihre  Regel- 
mäßigkeit soll  sieh  darauf  beschränken,  daß  die  eine  Gruppe  der 
Formen  symmetrisch  oder  bilateral,  d.  h.  aus  zwei  gleichen  Hälften 
zusammengesetzt,  die  andere  Gruppe  dagegen  regulär  oder  radial, 
d.  h.  aus  mehr  als  zwei  gleichen  Stücken  zusammengesetzt  sei. 
Dementsprechend  werden  sämtliche  organische  Formen  von  den 
meisten  Morphologen  in  drei  große  Gruppen  gebracht:  I.  absolut 
unregelmäßige  Formen  (nicht  halbierbar):  IL  regelmäßige  (oder 
strahlige)  Formen  (in  zwei  oder  mehreren  Richtungen  halbierbar); 
III.  symmetrische  (oder  zweiseitige)  Formen  (nur  in  einer  einzigen 
Richtung  halbierbar). 

Am  wenigsten  hat  bisher  die  Frage  nach  der  stereoraetrischen 
Grundform  des  Organismus  die  Botaniker  beschäftigt,  obschon  in 
vielen  Pflanzen  dieselbe  überraschend  rein  und  scharf  ausgesprochen 
ist,  allerdings  mehr  in  einzelnen  Teilen  (z.  B.  symmetrischen  Blättern, 
pyramidalen  Früchten,  tetraedrischen  und  dodecaedrischen  Pollen- 
zellen), als  in  ganzen  Pflanzen  höherer  Formordnung.  Schieiden 
sagt  bloß:  „Regelmäßig  nennt  man  bei  der  Pflanze  solche  Formen, 
die  sich  mit  vielen  Schnitten  durch  eine  angenommene  Achse  in 
zwei  gleiche  Teile  teilen  lassen,  symmetrisch  dagegen  solche,  die 
nur  durch  einen  einzigen  Schnitt  in  zwei  gleiche  Teile,  die  sich 
dann  wie  rechte  und  linke  Hand  verhalten,  geteilt  werden  können." 
E.  Meyer  nennt  die  ersteren  (die  regulären  Formen)  konzentrische, 
die  letzteren  ebenfalls  symmetrische,  und  unterscheidet  als  eine 
dritte  Form  die  diaphori sehen  (unseren  Dysdipleura  entsprechend), 
bei  welcher  rechte  und  linke  Hälfte  einen  organischen  Gegensatz 
(durch  ungleiches  Wachstum)  bilden,  durch  welchen  ihre  Symmetrie 
teilweis  wieder  aufgehoben  wird.  Auch  Hugo  von  Mohl  hat  in 
seiner  Dissertation  ..über  die  Symmetrie  der  Pflanzen"  (1836)  nur 
diese  drei  verschiedenen  Grundformen  betrachtet  und  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  ihre  Beziehungen  zum  Wachstumc  und  zur  Differen- 
zierung (besonders  bei  den  niederen  Pflanzen)  erläutert,  obwohl  seine 
schönen  Untersuchungen  über  den  Pollen  (1834)  ihn  hätten  veran- 
lassen können,  die  Frage  auch  von  einem  weiteren  Gesichtspunkte 
aus  zu  behandeln  und  namentlich  die  rein  stereometrische  Grund- 
form vieler  Zellen  hervorzuheben.  Er  behandelt  aber  nur  die  Sym- 
metrie des  Thallus,  des  Stengels  und  Blattes  und  die  allmählichen 
Übergänge  der  symmetrischen  einerseits  in  die  regulären  („konzen- 


XII.  IV.   Die  Promorphologie  als  organische  Stereometrie.  155 

tiisclien")  andererseits  in  die  diapliorisclien  (asymmetrischen,  nnsere 
dysdipleuren)  Formen. 

Weit  allg'emeiner  mid  eingehender,  als  die  Botaniker,  haben  sich 
die  Zoologen  mit  den  organischen  Grundformen  hinsichtlich  ihrer 
Einteilung  in  irreguläre,  reguläre  und  symmetrische  beschäftigt.  Hier 
ist  sogar  vielfach  die  Ansicht  verbreitet,  daß  man  symmetrische  oder 
Bilateraltiere  und  reguläre  oder  Strahltiere  als  zwei  Hauptgrundformen 
des  Tierreiches  unterscheiden  könne.  Zu  den  bilateralen  oder  sym- 
metrischen Tieren,  bei  denen  der  Körper  aus  zwei  gleichen  oder 
ähnlichen  Teilhälften  besteht,  werden  von  den  meisten  Zoologen  die 
drei  Stämme  der  Vertebraten,  Articulaten  und  Mollusken  gerechnet, 
zu  den  regulären  oder  strahligen  Tieren  dagegen,  bei  denen  der 
Körper  aus  drei  oder  mehr  gleichen  Teilen  besteht,  die  beiden 
Stämme  der  Echinodermen  und  Coelenteraten.  Einige  Autoren  stellen 
zu  den  Strahltieren  als  einen  dritten  Stamm  auch  noch  die  bunte 
Kollektivgruppe  der  „Protozoen",  während  andere  die  Gruppe  der 
Strahltiere  auf  die  Echinodermen  und  Coelenteraten  beschränken  und 
die  Protozoen  als  eine  dritte,  unregelmäßige  oder  unsymmetrische 
Gruppe  des  Tierreiches  aufstellen,  bei  welcher  gleiche  Teile  über- 
haupt nicht  zu  unterscheiden  seien.  Eine  weitere  Unterscheidung 
von  tierischen  Grundformen,  als  diese  zwei  oder  drei,  ist  gewöhnlich 
nicht  zu  finden,  ebensowenig  eine  ausführlichere  Erörterung  der 
wichtigen  Unterschiede,  welche  diese  Differenzen  im  ganzen  Körper- 
bau bedingen.  Von  den  meisten  Zoologen  wird  diese  Frage,  welche 
die  wichtigsten  Grundsätze  der  allgemeinen  Morphologie  berührt,  und 
die  ganze  Auffassung  der  organischen  Form  wissenschaftlich  regu- 
lieren muß,  vielmehr  als  eine  gleichgültige  Nebensache  vernachlässigt. 

IV.     Die  Promorphologie  als  organische  Stereometrie. 

Die  Forderung,  daß  die  organische  Morphologie  die  allein 
absolut  sichere  Methode  der  mathematisch-philosophischen  Erkennt- 
nis einzuschlagen  und  daß  sie  insbesondere  auch  die  Betrachtung 
der  organischen  „Form  an  sich*'  nach  dieser  stereometrischen  Methode 
zu  beginnen  habe,  ist  schon  wiederholt  und  mit  Recht  von  denken- 
den Naturforschern  gestellt  und  von  den  vorher  genannten  auch  zu 
erfüllen  versucht  worden.  Insbesondere  hat  die  neuere  Physiologie, 
seitdem  sie  den  allein  möglichen  mechanisch-kausalen  Weg  bei  Er- 
forschung der  dynamischen  Lebensprozesse  eingeschlagen  hat,  wieder- 


\qQ  Begriff  und  Aufgabe  der  Promoijihologie.  XII. 

holt  die  Notwendigkeit  ausgesprochen,  daß  auch  die  organische 
^rorpliologie  bei  Untersuchung  der  statischen  Lebenssubstrate,  der 
organischen  Formen,  denselben  Weg  verfolgen  müsse.  Indessen 
erschien  diese  Forderung  immer  ebenso  leicht  ausgesprochen,  als 
schwer  zu  erfüllen.  Der  theoretischen  Notwendigkeit  schien  sich 
stets  die  praktische  Unmöglichkeit  gegenüber  zu  stellen. 

Der  Grund  dieser  Erscheinung  liegt  nach  unserer  Ansicht 
wesentlich  darin,  daß  mau  meistens  nicht  nach  einer  Erkenntnis  der 
stereometrischen  Grundform,  sondern  nach  einer  absoluten  mathe- 
matischen Erkenntnis  der  gesamten  äußeren  Form  des  Organismus, 
nach  einer  genauen  Ausmessung  und  Berechnung  aller  Einzelein- 
heiten seiner  Oberfläche  strebte.  Diese  ist  aber  in  der  Tat  entweder 
(in  den  meisten  Fällen)  ganz  unmöglich,  oder  da.  wo  sie  ausführbar 
ist.  von  ganz  untergeordnetem  Werte.  Die  Gründe  dafür  liegen  teils 
in  der  absoluten  und  unbegrenzten  Variabilität  der  Organismen,  teils 
in  ihrem  festflüssigen  Aggregatzustande.  Wollte  man  dennoch  eine 
sorgfältige  stereometrische  Ausmessung  und  Berechnung  aller  der 
unendlich  verwickelten  und  vielfältig  gekrümmten  Flächen.  Linien 
und  Winkel  versuchen,  welche  auch  die  meisten  einfacheren,  fest- 
flüssigen organischen  Formen  begrenzen,  so  würde  eine  derartige 
geometrische  Bestimnning  weder  von  theoretischem  Interesse  noch 
von  praktischer  Bedeutung  sein.  Auf  eine  solche  absolute  mathe- 
matische Bestimmung  der  Oberflächenformen  können  wir  daher, 
namentlich  auch  angesichts  der  individuellen  Ungleichheit  und 
Variabilität  aller  Organismen,  vollständig  verzichten. 

Anders  verhält  sich  die  theoretische  Bedeutung  und  der  prak- 
tische Wert  der  stereometrischen  Grundform,  deren  Erkenntnis  für 
den  organischen  Morphologen  dieselbe  Wichtigkeit,  wie  für  den 
anorganischen  Kristallographen  besitzt.  Diese  ist  wesentlich  unab- 
hängig von  allen  Einzelheiten  der  Oberflächenbegrenzung  und  richtet 
ihr  Augenmerk  vor  allen  auf  die  formbestimmenden  Achsen  des 
Körpers  und  deren  Pole.  Die  Methode  der  Kristallographie  zeigt 
uns  hier  den  allein  möglichen  und  richtigen  Weg.  Kein  Kristallo- 
graph  würde  jemals  zu  der  Aufstellung  von  einigen  wenigen  geome- 
trischen Grundformen  für  die  mannigfaltigen  vielflächigen  Kristall- 
körper der  Mineralien  gelangt  sein,  wenn  er  bei  der  Betrachtung  der 
Kristallflächen  stehen  geblieben  wäre  und  sich  mit  der,  wenn  auch 
noch  so  sorgfältigen  Ausmessung  derselben  begnügt  hätte.  Zur  Ent- 
deckung der  einfachen  Grundform  des  Kristalles  oder  seines  „Systems" 


•s^ll  IV.    Die  Piomorphologie  als  organische  Stereometrie.  157 

gelangt  vielmehr  der  Mineralog  nur  dadurch,  daß  er  die  idealen 
Achsen  des  Kristallkörpers  aufsucht,  mit  bezug  auf  welche  sämt- 
liche Teilchen  desselben  eine  bestimmte  Lagerung  einnehmen,  und 
daß  er  die  gleiche  oder  verschiedene  Beschaffenheit  dieser  Achsen 
und  ihrer  Pole  erwägt. 

Ganz  ebenso  muß  auch  der  Morpholog  zu  AVerke  gehen,  der 
einfache  geometrische  Grundformen  für  die  unendliche  Mannigfaltig- 
keit der  Tier-  und  Pflanzengestalten  auffinden  will,  und  gerade  in 
dieser  vorwiegenden  Berücksichtigung  der  Achsen  des  organischen 
Naturkörpers  und  seiner  Pole  ist  das  Verdienst  der  bahnbrechenden 
Arbeiten  von  Bronn  und  der  späteren  von  Gustav  Jäger  zu  suchen. 
Wie  die  nachfolgenden  Untersuchungen  beweisen  werden,  führt  eine 
scharfe  Erfassung  der  Achsen  und  ihrer  Pole  nicht  allein  sicher, 
sondern  auch  einfach  und  leicht  zu  der  Entdeckung  der  einfachen 
geometrischen  Grundform,  der  Urgestalt  oder  des  Modells,  des 
organisierten  Kristalls  gewissermaßen,  welcher  der  augenscheinlich 
ganz  unberechenbaren  Gestalt  der  allermeisten  Tier-,  Protisten-  und 
Pflanzengestalten  zugrunde  liegt.  Erst  wenn  diese  mathematisch 
bestimmte  Grundform,  dieses  konstante  „Kristallsystem"  des  organi- 
schen Individuums  gefunden  ist,  welches  mit  einem  einzigen  Worte 
alle  wesentlichen  Grundverhältnisse  der  Gestalt  ausspricht,  kann  sich 
daran  die  wissenschaftliche  Darstellung  der  individuellen  Einzelheiten 
der  Form  anschließen.  Man  mißt  dann  zunächst  die  Länge  der  ver- 
schiedenen Achsen  und  den  Abstand  der  einzelnen  Oberflächenteile 
von  denselben  und  von  ihren  Polen,  und  kann  so  erforderlichenfalls 
eine  mathematisch  genaue  Beschreibung  des  Ganzen  entwerfen. 

Als  eine  der  wichtigsten  Ergebnisse,  welche  uns  diese  stereome- 
trische Betrachtunosweise  der  organischen  individuellen  Form  geliefert 


^ö 


hat,  ist  schon  oben  hervorgehoben  worden,  daß  die  herrschende 
Ansicht  von  der  fundamentalen  morphologischen  Differenz  der  anor- 
ganischen und  organischen  Naturkörper  ein  unbegründetes  Dogma 
ist.  Wenn  in  den  meisten  Handbüchern  die  Grundformen  der 
mineralischen  Kristalle  einerseits,  die  der  Tiere  tmd  Pflanzen  anderer- 
seits als  vollkommen  und  im  Grunde  verschieden  bezeichnet  werden, 
so  ist  dies  ganz  irrig.  Es  gibt  Organismen,  insbesondere  unter  den 
Rhizopoden.  welche  zwar  nicht  in  der  Flächenausbildung,  wohl  aber 
in  der  die  Flächenform  bestimmenden  Achsenbildung  von  regulären 
Kristallen  gar  nicht  zu  unterscheiden  sind.  Ja  es  lassen  sich  sogar 
unter  den  Radiolarien    viele  Tierformen    nachweisen,    deren    ganzes 


158  Begriff  luul  Aufgabe  der  Promorphologie.  XII. 

Skelet  gewissermaßen  weiter  nichts  als  ein  System  von  verkörperten 
Kristallaclisen  ist,  nnd  zwar  gehören  diese  organisierten  Kristall- 
formen den  verschiedenen  Systemen  an,  welche  anch  der  Mineralog 
unterscheidet.  So  finden  wir  z.  B.  in  Haliomma  hexacanthum  nnd 
Adinomma  drymodes  das  regnläre  Hexaeder  des  tesseralen  Kristall- 
systems, in  Acanthosfaurus  hastafus  und  Astromma  AristoteJls  das 
Quadratoctaeder  des  tetragonalen  Kristallsystems,  in  Tetraji'/Jc  octa- 
cfüifha  nnd  Sfeplianastrujn  rhomhus  das  Rhombenoctaeder  des 
rhombischen  Kristallsystems  vollkommen  regulär  verkörpert.  Man 
braucht  bloß  die  Spitzen  der  betreffenden  Achsen  durch  Linien  zu 
verbinden  und  durch  je  zwei  benachbarte  Linien  eine  Fläche  zu 
legen,  um  in  der  Tat  die  entsprechenden  Octaederformen  zu  erhalten. 
Wie  w^r  nun  in  diesen  Fällen  unmittelbar  durch  die  objektive 
Betrachtung  in  der  organischen  Gestalt  eine  einfache  stereometrische 
Grundform  erkennen,  welche  nicht  von  derjenigen  eines  Kristall- 
systems zu  unterscheiden  ist,  so  finden  wir  auch  in  den  anderen 
konkreten  Gestalten  der  organischen  Individuen  (bloß  die  amorphen 
Anaxonien  ausgenommen)  unmittelbar  eine  einfache  stereometrische 
Form  als  ideale  Grundform  durch  die  konstanten  Beziehungen  der 
Achsen  und  ihrer  Pole  konstant  ausgesprochen,  und  wir  können 
demnach  in  der  Tat  die  Promorphologie  als  Stereometrie  der  Organis- 
men ansehen.  Die  detaillierte  Beschreibung  jeder  organischen  Form 
muß  zunächst  diese  Grundform  aufsuchen,  die  Maßverhältnisse  ihrer 
Achsen  bestimmen  und  an  dieses  mathematische  Skelet  der  Form 
die  Darstellung  der  Einzelnheiten  überall  anfügen. 


Dreizelintes  Kapitel. 

System  der  organischen  Griundformen. 

^Dich  im  Unendlichen  zu  linden. 
Mußt  unterscheiden  und  dann  verbinden." 

Go  etile. 

I.    Das  promorphologische  System  als  generelles 

Formensystem. 

Das  System  der  Grundformen  haben  wir  zunächst  aufgestellt,  um 
dadurch  eine  geordnete  Übersicht  über  die  unendliche  Fülle  der  gesetz-  - 
mäßig  ge])ildeten  organischen  Formen  zu  gewinnen.  Indem  wir  am 
Schlüsse  des  vierten  Buches,  in  diesem  Anhange,  die  wichtigsten  Kate- 
gorien jener  organischen  Grundformen  nochmals,  nach  verschiedenen  Ge- 
sichtspimkten  geordnet,  übersichtlich  zusammenstellen,  wollen  wir  nicht 
unterlassen,  den  Hinweis  darauf  vorauszuschicken.  dalJ  unser  Formen- 
system auch  noch  einer  weiteren  Anwendmig  fähig  ist.  Wie  wir  l)ereits 
die  Krystallformen  und  die  charakteristischen  Formen  gewisser  mensch- 
licher kunstprodukte  als  ebenfalls  innerhalb  des  Formenkreises  unseres 
Systems  fallend  nachgewiesen  haben,  wie  auch  die  Sphaeroidform  der 
Weltkörper  sich  der  (anepipeden)  Haplopolenform  unterordnet,  so  werden 
Avir  bei  allgemeinerer  Betrachtung  desselben  finden,  daß  überhaupt  alle 
verschiedenen  Körperformen,  welche  in  der  Natur,  und  ebenso  auch  die 
verschiedenen  Formen  der  Kunstprodukte,  welche  in  der  Sphäre  mensch- 
licher Kunsttätigkeit  entstehen,  sich  demselben  einordnen  lassen.  Die 
Erkenntnis  der  formbestimmenden  Achsen  und  ihrer  Pole  wird  uns  auch 
hier  überall  als  erklärende  Leuchte  in  dem  unendlichen  Chaos  der  realen 
Formen  dienen.  So  erkennen  wir  z.  B.  in  den  meisten  Bewegungswerk- 
zeugen zu  Wasser  und  zu  Lande  die  Eudipleurenform.  in  den  meisten 
Waffen  (Gewehren  etc.)  die  Dysdipleurenform,  in  den  meisten  Vasen  die 
Diphragmenform.  in  den  meisten  Bechern,  Schüsseln.  Glasgefäßen,  Luft- 
ballons etc.  entweder  die  homostaure  oder  die  diplopole  Grundform  wieder. 
Der  innige  mechanische  Zusannnenhang  zwischen  Form  und  Funktion  ist 
hier  ebenso  wie  bei  den  organischen  Formen  in  der  Natur  unverkennbar. 
Es  wird  daher  imser  promorphologisches  System  nur  weniger  Ergänzungen 
bedürfen,  um  als  erklärender  Führer  bei  der  geordneten  vergleichenden 
Betrachtung  sämtlicher  Kih-performen  überhaupt  gute  Dienste  leisten  zu 
können.  Wir  hoffen,  damit  die  Grundlage  eines  generellen  Formen- 
systems gegeben  zu  haben. 


160  IJ-    Übersicht  der  wichtigsten  stereometrischen  Grundformen.         Xlll. 

IL  Übersicht  der  wichtigsten  stereometrischen  Grundformen 
nacli  ihrem  verschiedenen  Verhalten  zur  Körpermitte. 

I.  Organische  (irundformen  ohne  geometrische  Mitte.    Acentra. 

1.    Anaxonia.     SpungiUa-Form.     Klumpen  (Absolut  irreguläre  Form.) 

II.  Organische  Grinulformen  mit  einem  Mittelpunkt.    CentrostJgma. 

1.  Homaxonia.     Spliacrozoum-Form.     Kugel. 

2.  Allopolyguna.    lihizosphaera-Form.    Endosphärisches  Polyeder  mit  ungleich- 
vieleckigen  Seiten. 

3.  Isopolygona.     EUimosphaera-Form.      Endosphärisches  Polyeder  mit  gleich- 
vieleckigen Seiten. 

4.  Icosaedra.     AHlosphacra-icosacdra-Fonn.     Regidäres  Icosaeder. 

5.  Dodecaedra.     Bucholzia-Pollen-Form  (Bucholzia  maritima  etc.).     Reguläres 
Dodecaeder. 

6.  Octaedra.     Chara-Antheridien-Form.     Reguläres  Octaeder. 

7.  Hexaedra.   Hcxaedroinma-Form  {kci\nommi\  drymodes).    Reguläres  Hexaeder. 

8.  Tetraedra.     Corij  dal  in- Pollen- Form  (Corydalis  sempervirens  etc.).    Reguläres 
Tetraeder. 

III.  Organische  Grundformen  mit  einer  Mittellinie  (Achse).    Centraxonia. 

1.  Haplopola  anepipeda.     Coccodiscus-Foriti.     Sphäroid. 

2.  Haplopola  amphepijjeda.     Pyrosoma-Form.     Zylinder. 

3.  Diplopola  anepipeda.     Ovulina-Forni.     Ei. 

4.  Diplopola  nionepipeda.     Conulina-Form.     Kegel. 

5.  Diplopola  amphepipeda.     Noduüaria-Form.     Kegelstumpf. 

6.  Isostaura  polypleura.     Heliodiscus-Form.     Reguläre  Doppelpyramide. 

7.  Isostaura  octopleura.     Acanthostaiirns-Foriii.     Quadrat-Octaeder. 

8.  Allostaura   polypleura.     Amphilonche-Form.     Amphithecte  Doppel-Pyramide. 

9.  Allostaura  octopleura.     StepJtanafitnim-Forni.     Rhomben-Octaeder. 

10.  Homostaura.     Adpiorea-Form.     Reguläre  Pyrauiide. 

11.  Tetractinota.     Aurelia-Form.     Quadrat-Pyramide. 

12.  Oxystaura.     Eucharis-Form.     Amphithecte  Pyramide. 

13.  Orthostaura.     Saplienia-Form.     Rhomben-Pyramide. 

IV.  Organische  Grundformen  mit  einer  Mitlelehene.    Cenlroplana. 

1.  Amphipleura.     Spatamjus-Form.     Halbe  amphithecte  Pyrauiide. 

2.  Eutetrapleiira  radialia.     Praya-Fonn.     Doppeltgleichschenkelige  Pyramide. 

3.  Eutetra[)lcura  interradialia.     Nereh-Fonn.     Antiparallelogramm-Pyramide. 

4.  Dystetrapleura.     Abyla-Form.     Ungleichvierseitige  Pyramide. 

5.  Eudipleura.     Homo-Form.     Gleichschenkelige  Pyramide. 

6.  Dysdipleura.     Pleuronectes-Form.     Ungleichdreiseitige  Pyramide. 


XIII.  in.    Tabelle  über  die  promovphologischen  Kategorien.  161 

III.    Tabelle  über  die  promorphologischen  Kategorien. 

I.  Anaxonia.     Achsenlose  Formen.     Klumpen.     Absolut  irreguläre  Formen. 
II.  Axonia.     Achsenfeste  Grundformen. 

II,  1.  Homaxoiiia.     Kugeln.     Absolut  reguläre  Formen.     Alle  Achsen  gleich. 
II.  2.  Hetcraxonia.    Grundformen  mit  einer  oder  mehreren  konstanten  Achsen. 
2,  A.  Polyaxonia.      Grundformen    mit    mehreren    konstanten   Achsen 
(ohne  Hauptachse  und  ohne  Kreuzachsen!). 
A,  a.  Arrhj'thma.     Irreguläre  Polyeder. 

a,  I.  Allopolycjona.  Irreguläre  Polyeder  mit  ungleichvieleck.  Seiten. 

a,  II.  Isoj)oh/(/o)ui.    Irreguläre  Polyeder  mit  gleichvieleck.  Seiten. 

A,  b.  E  h  y  t  li  m  i  c  a.     Reguläre  Polyeder. 

b,  I.  Icosaedra.     Reguläre  Icosaeder. 

b,   II.  Dodecaedra.     Reguläre  Dodecaeder. 
b,  III.  Octaedra.     Reguläre  Octaeder. 
b,  IV.  Hexaedra.     Reguläre  Hexaeder, 
b,    V.   Tetraedra.     Reguläre  Tetraeder. 
2.  B.   Protaxonia.      Grundformen    mit   einer   konstanten   Achse    oder 
Hauptachse  (mit  oder  ohne  Kreuzachsen). 

B,  a.   Monaxoiiia.      Grundformen   mit   einer   einzigen  Achse   (ohne 

Ivi'euzachsenj. 

a,  I.  Haplopola.  Einachsige  Grundformen  mit  gleichpoligerAchse. 

1. 1.  Haplopola  anepipeda.     Sphäroide. 
I,  2.  Haplopola  amphepipeda.     Zylinder. 

a,  IL  Diplopola.     Einachsige  Grundformen  mit  ungleichpohger 

Achse. 
II.  1.  Diplopola  anepipeda.    Eiformen. 
II,  2.  Diplopola  monepipeda .     Kegel. 
11,3.  Diplopola  a»)phepipeda.     Kegelstumpfe. 
B,  b.  Stauraxonia.      Doppel-Pyramiden    oder    Pyramiden    (Grund- 
formen mit  einer  Hauptachse  und  mit  Kreuzachsen). 

b,  I.  Hoinopola.     Doppel-Pyramiden. 

I.  1.  Isostaura.     Reguläre  Doppel-Pyramiden. 
1,  A.  Isostaura  pohjpleura.    Reguläre  Doppel-Pyramiden  von 
6,  10,  10 -j- 2  n  Seiten. 

1,  B.  Isostaura  odopleura.     Quadrat-Octaeder. 

1.2.  Allostaura.     Amphithecte  Doppel-Pyramiden. 

2,  A.  Allostaura  polypleura.   Amphithecte  Doppel-Pyraraiden 

von  8  -j-ln  Seiten. 
2,  B.  Allostaura  octoplcnra.     Rhomben-Octaeder. 
b.  II.  Heteropola.     Pyramiden. 

IL  1.  Homostaura.     Reguläre  Pyramiden. 

\^  k:  Isopola.     Reguläre  Pyramiden  von  2 n  Seiten. 
1,B.  Anisopola.     Reguläre  Pyramiden  von  2n  —  1  Seiten. 
11,2.  Heterostaura.     Irreguläre  Pyramiden. 
2,  A.  Autopola.     Amphithecte  Pyramiden. 

A,  a.  Oxystaura.     Amphith.  Pyram.  von  4  -\-  2n  Seiten. 

A,  b.  Orthostaura.     Rhomben-Pyramiden. 
2,  B.  Allopola.     Halbe  amphithecte  Pyramiden. 

B,  a.  Amphipleura.     H.  a.  P.  von  4  +  ^n  Seiten. 
B,  b.  Zygopleura.     Halbe  Rhomben-Pyramiden. 


162 


IV.    Übersicht  der  realen  Typen  der  Grundformen. 


xin. 


1.   Lii»ostanre  (irniidfornieii. 


1.  Klumpen  (Holus) 

2.  Kuiiel  (Sphaera) 


Realer  Typus.         Deutsclie Bezeichnung. 

SpongiUa  Klumpen 

Sphaerozown  (Volvox)    Kugelformen 


Ungleichvieleckige 


3.  Endosphaer.  Polyeder  mit  ungleichvieleckigen    Wnzosphaera 

Seiten 

4.  Endosphaer.    Polyeder    mit    gleichvieleckigen    FJlimosplwera 

Seiten  •     i  •  r  n    t. 

5.  Reguläres  Icosaeder  Aulosphaera  icosaedra   Zwanziggleichtiachner 


Gleichviel  eckige 


6.  Reguläres  Dodecaeder 

7.  Reguläres  Octaeder 

8.  Regidäres  Hexaeder 

9.  Reguläres  Tetraeder 

10.  Sphäroid  (Ellipsoid) 

11.  Zylinder 

12.  Yogelei 

13.  Kegel 

14.  Kegelstumpf 

II.  Diplopyraniidale  oder  pyramidale  Grniidformeu. 

15.  Reguläre  Doppelpyramide  mit  6,  10,  10-|-2n 

Seiten 

16.  (^)uadrat-Octaeder 

17.  Amphithecte  Doppelpyramide  mit  8  -|-  4  n  Seiten 

18.  Rhomben-Octaeder 

19.  Reguläre  Pyramide  mit  lO  +  Sn  Seiten 

20.  Zehnseitige  reguläre  Pyramide 

21.  Achtseitige  reguläre  Pyramide 

22.  Sechsseitige  reguläre  Pyramide 

23.  Vierseitige  reguläre  Pyramide 

24.  Reguläre  Pyramide  mit  9-{-2n  Seiten 

25.  Neunseitige  reguläre  Pyramide 

26.  Siel)enseitige  regidäre  Pyramide 

27.  Fünfseitige  reguläre  Pyramide 

28.  Dreiseitige  regiüäre  Pyramide 


Bucholzia  (Pollen)  Zwölf gleichflächner 

Chara  (Antheridien)        Achtgleichflächner 
Actinomma  dnjwoäcs     Würfel 


Cori/dalis  (Pollen) 

Coccodiscus 

Pyrosoma 

Ovulinn 

Comd'ma 

Nodosaria 


Hcliodiscns 

Acanthostaurus 
Amphilonche 

Stephanastrum 
Aequorea 

Aegineta  globosa 
Alcyonunn  (Mimusops) 
Carmarina  (Achras) 
Aurelia  (Paris) 
Brisinga 

Luidia  senegalensis 
Trientalis 
Ophiura  (Primida) 
Iris  (Lvchnocaniinn) 


Viergleichflächner 

Sphäroidformen 

Zylinderformen 

Eiformen 

Kegelformen 

Kegelstumpfformen 


Reguläre  diplopyra- 

midale 
Quadrat-octaedrische 
Amphithecte  diplo- 

pyramidale 
Rhomben-octaedrische 
Gradzahlige  Viel- 

strahlige 
Zehnstrahlige 
Achtstrahlige 
Sechsstrahlige 
A'ierstrahlige 
Ungradz  ahlige  Viel- 

strahlige 
Neunstrahlige 
Siebenstrahlige 
Fünfstrahlige 
Dreistrahlige 


29.  Achtseitige  amphithecte  Pyramide 

30.  Sechsseitige  amphithecte  Pyramide 


Eiidiaris 
Flabellnm 


Achtreifige 
Sechsreifige 


31.  Vierstückige  Rhombenpyramide 

32.  Doppelstückige  Rhoml)enpyramide 

33.  Halbe    vierzehnseitige    amphithecte    Pyramide 

34.  Halbe  zwölfseitige  amphithecte  Pyramide 

35.  Halbe  zehnseitige  amphithecte  Pyramide 

36.  Halbe  sechsseitige  amjdiithecte  Pyramide 

37.  I.  Doppelt-gleichschenkelige  Pyramide 
37.  II.  Antiparallelogramm-Pyramide 

88.  Ungleichvierseitige  Pyramide 

89.  Gleichschenkelige  Pyramide 
40.  Ungleichdreiseitige  Pyramide 


Saphenia  (Draba) 
Petalospi/ris  ( Circaea) 
Disandra 
Oculina  (Ciiphea) 
Spatangus  (Viola) 
Orchis  (Dictvophimus) 
?37.  I.  Fraya  (Reseda) 
\37.  II.  JXercis  (Iberis) 

Abyla 

Homo  (Fumaria) 

Pleuronectes 


Vierreifige 
Zweireifige 
Siebenschienige 
Sechsschienige 
Fünfschienige 
Dreischienige 
(Gleichhälftige 
\  Zweipaarige 
j  Ungleichhälftige 
\  Zweipaarige 
Gleichhälftige  Ein- 
paarige 

Ungleichh.  Einpaarige 


XIII. 


V.    Tabelle  zur  Bestimmunfir  der  Grundformen. 


163 


I.   Organische  (iriindfornien  ohne  Kreuzachsen.   Lipostanra 
Keine  konstante  Achse 


Eine  oder 

mehrere 
konstante 
(vor  allen 

übrigen 

ausge- 
zeichnete) 

Achsen ; 

aber  keine 

Kreuzachsen 


(Alle  Achsen  ungleich  Absolut  Irreguläre 
\  Alle  Achsen  gleich       Absolut  Reguläre 
Nicht  alle  Antimeren, Grenzflächen     un- 


Promorphologische  Kategorie. 

1.  Anaxonia 

2.  Homaxonia 


Mehrere 

(mehr  als 

zwei) 
konstante 

Achsen 
PoJi/axonia 

Eine  einzige 
konstante    , 
Achse       I 
(Längsachse)  j 
Monaxonia 


kongruent 
PoU/axonia 
arrhythma 


Alle  Antimeren 
kongruent 


Pohjaxonia 
rhythnica 

Achse  gleichpolig 

Haplopola 

Achse  ungleichpolig 
Diplopola 


\  Grei 
^     vi 


gleichvielseitig 
enzflächen  gleich- 


ielseitig 
20  kongruente  Anti- 
meren 
12  kongruente  Anti- 
meren 
8  kongruente  Anti- 
meren 
6  kongruente  Anti- 
meren 
4  kongruente  Anti- 
meren 
^  Keine  Grenzebene 
\   Zwei  Grenzebenen 
(  Keine  Grenzebene 
I   Eine  Grenzebene 
1   Zwei  Grenzebenen 


II.   Organische  Grundformen  mit  Krenzachsen.     Staiiraxonia. 


Längsachse 
gleichpolig 

Doppel- 
P3'ramiden 

Homopola 

Längs- 
achse 
oder 
Haupt- 
achse 
imgleich- 
polig 


Alle     radialen     oder    alle 
semiradialen  Kreuzachsen 

gleich  Isostaura 
Nicht    alle    radialen    oder 
semiradialen  Kreuzachsen 

gleich  Allostaura 

Alle  radialen 

oder  alle 

semiradialen 

Kreuzachsen 

untereinander 

gleich 


[3,5  oder  ö-f-n  Anti- 
'         raeren 

Nur  4  Antimeren 

4  -[-  2  n  Antimeren 
Nur  4  Antimeren 


3.  Allopolygona 

4.  Isopolygona 

5.  Icosaedra 

6.  Dodecaedra 

7.  Octacdra 

8.  Hexaedra 

9.  Tetraedra 

10.  Haplopola  anepipeda 

11.  Haplopola  aiiiphepipjeda 

12.  Diplopola  anepipeda 

13.  Diplopola  monepipeda 

14.  Diplopola  amphepipeda 


15.  Isostanra  polypleura 

IG.  Isostanra  octopileura 

17. 

18. 


Allostaura  polypleura 
Allostaura  octopleura 


Homostaura 


Pyra- 
miden 

Hetero- 
pola 


Nicht 

alle 
radialen 

oder 

alle 
seraira- 
dialen 
Kreuz- 
achsen 
gleich 


Hetero- 
staura 


Dorso- 

ventralachse 

gleichpolig 

Autopola 

Dorso- 

ventralachse 

ungleich- 

pohg 


Zengita 
(Centrepi- 

peda) 
Allopola 


Kreuzachsen 
gleichpolig, 
halb  radial, 
halb    inter- 
radial 
Isopola 
Kreuzachsen 
ungleich- 
polig, 
alle  semira- 
dial 
Anisopola 
3  oder  3  -}-  n 

radiale 

Kreuzachsen 

Oxystaura 

2  oder  eine 

radiale 
Kreuzachse 
Orthostaura 
3  oder  5  oder 
5  -\-  n  Kreuz- 
achsen 
Amphipleura 
4  Anti- 
4  od.  2 


10+2  n  Anti- 
meren 
Antimeren 
Antimeren 
Antimeren 
Antimeren 
9  +  2  n  Anti- 
meren 
Antimeren 
Antimeren 
Antimeren 
Antimeren 


19.  Myriactinota 


10 
8 
(3 
4 


9 
7 
5 
3 


Antimeren 
Antimeren 


Antimeren 
Antimeren 
Antimeren 
Antimeren 
Antimeren 
Antimeren 


Kreuz - 
achsen 


Zygo- 
pleura 


meren  | 
Tetra-  \ 
pleura 
2  Anti-. 
meren  | 
Di.    I 


Lateralachse 
gleichpoli." 


Lateral  achse 
ungleichpolig 
Lateralachse 
gleichpolig 
Lateral achse 
pleura''  ungleichpolig 


20. 
21. 
22. 
23! 
24. 

25. 
26. 
27. 

28. 


29. 
30. 


31. 
32. 
33. 
34. 
35. 
36. 
37. 
37. 

38. 
39. 
40. 


Decactinota 

Octaclinota 

Hexactinota 

Tetractinota 

Polyactinota 

Enneactinota 
Hcptactinota 
Pentactinota 
Triactinota 


Octophragma 
Hexapjhraguia 


Tetraphragma 
Diphrag))ia 
Hepta  iiiplt  iple  1  ( ra 
Hexauiph  ipleura 
Pentauiphi pleura 
Triamphipleura 
l.  Eutetrapleura  radialia 
IL  Eutetrapjleura  interr. 

Dystetrapleura 
Eudipleura 


Dysdipleura 


11 


Vierzehntes  Kapitel. 

G-rundformen  der  sechs  Individualitätsordnungen. 


„Wäre  die  Natur  in  iliren  leblosen  Anfängen  nicht  so 
grUndlifh  stereometrisch,  wie  wollte  sie  zuletzt  zum 
unberechenbaren  und   unermeßlichen  Leben  gelangen?' 

Goethe. 


Fünfzelmtes  Kapitel. 

Promorpliologische  Thesen. 


„Alles,  was  den  Raum  ertüUt,  nimmt,  insofern  es 
solidesziert,  sogleich  eine  Gestalt  an,  diese  regelt  sich 
mehr  oder  weniger  und  hat  gegen  die  Umgebung  gleiche 
Beziige  mit  anderen  gleichgestalteten  Wesen." 

Goethe. 


Bemerkung  (1906).  Diese  beiden  Kapitel  (XIV.  und  XV.),  welche  in  der 
Originalausgabe  (1866)  zusammen  mit  dem  XIII.  Kapitel  einen  Raum  von  175 
Seiten  einnahmen  (S.  400 — 574),  fallen  jetzt  weg  aus  den  S.  147  angegebenen 
Gründen. 


FÜNFTES   BUCH. 

BESTER  TEIL  DER 
ALLGEMEINEN  ENTWICKELUNGSGESCHICHTE. 


GENERELLE   ONTOGENIE   ODER 

ALLGEMEINE  ENTWICKELUNGSGESCHICHTE  DER 

ORGANISCHEN  INDIVIDUEN. 

(EMBRYOLOGIE  UND  METAMORPHOLOGIE.) 


„Wagt  ihr,  also  bereitet,  die  letzte  Stufe  zu  steigen 

Dieses  Gipfels,  so  reicht  mir  die  Hand  und  öffnet  den  freien 

Blick  ins  weite  Feld  der  Natur.     Sie  spendet  die  reichen 

Lebensgaben  umher,  die  Göttin;  aber  empfindet 

Keine  Sorge,  wie  sterbliche  Frau'n.  um  ihrer  Gehörnen 

Sichere  Nahrung;  ihr  ziemet  es  nicht:  denn  zwiefach  bestimmte 

Sie  das  höchste  Gesetz,  beschränkte  jegliches  Leben, 

Gab  ihm  gemess'nes  Bedürfnis  und  ungemessene  Gaben, 

Leicht  zu  finden,  streute  sie  aus,  imd  ruhig  begünstigt 

Sie  das  muntre  Bemüh'n  der  vielfach  bedürftigen  Kinder; 

Unerzogen  schwärmen  sie  fort  nach  ihrer  Bestimmung." 


•'S!"- 


„Zweck  sein  selbst  ist  jegliches  Tier;  vollkommen  entspringt  es 
Aus  dem  Schoß  der  Natur  und  zeugt  vollkommene  Kinder. 
Alle  Glieder  bilden  sich  aus  nach  ew'gen  Gesetzen, 
Und  die  seltenste  Form  bewahrt  im  geheimen  das  Urbild." 


t' ' 


„So  ist  jedem  der  Kinder  die  volle  reine  Gesundheit 

Von  der  Mutter  bestimmt:  denn  alle  lebendigen  Glieder 

Widersprechen  sich  nie  und  wirken  alle  zum  Leben. 

Also  bestimmt  die  Gestalt  die  Lebensweise  des  Tieres; 

Und  die  Weise  zu  leben,  sie  wirkt  auf  alle  Gestalten 

Mächtig  zurück.     So  zeiget  sich  fest  die  geordnete  Bildung, 

Welche  zum  Wechsel  sich  neigt  durch  äußerlich  wirkende  Wesen. 

Doch  im  Innern  findet  die  Kraft  der  edlern  Geschöpfe 

Sich  im  heiligen  Kreise  lebendiger  Bildung  beschlossen. 

Diese  Grenzen  erweitert  kein  Gott,  es  ehrt  die  Natur  sie: 

Denn  nur  also  beschränkt  war  je  das  Vollkommene  möglich." 

„Dieser  schöne  Begriff  von  Macht  und  Schranken,  von  Willkür 

Und  Gesetz,  von  Freiheit  und  Maß,  von  beweglicher  Ordnung, 

Vorzug  und  Mangel,  erfreue  dich  hoch;  die  heilige  Muse 

Bringt  harmonisch  ihn  dir,  mit  sanftem  Zwange  belehrend. 

Keinen  höhern  Begriff  erringt  der  sittliche  Denker, 

Keinen  der  tätige  Mann,  der  dichtende  Künstler;  der  Herrscher, 

Der  verdient  es  zu  sein,  erfreut  nur  durch  ihn  sich  der  Krone. 

Freue  dich,  höchstes  Geschöpf  der  Natur,  du  fühlest  dich  fähig, 

Ihr  den  höchsten  Gedanken,  zu  dem  sie  schaffend  sich  aufschwang. 

Nachzudenken.     Hier  stehe  nun  still  und  wende  die  Blicke 

Rückwärts,  prüfe,  vergleiche,  und  nimm  vom  Munde  der  Muse, 

Daß  du  schauest,  nicht  schwärmst,  die  liebliche  volle  Gewißheit." 

Goethe  (Die  Metamorphose  der  Tiere.     1819). 


Seclizelintes  Kapitel. 

Begriff  und  Aufgalie  der  Ontogenie. 


Werdend  betrachte  sie  nun,  wie  nach  uud  nach  sich  die  Pflanze, 

Stufenweise  g^efülirt,  bildet  zu  Blüteu  und  Frucht. 
Also  prangt  die  Natur  in  hoher  voller  Erscheinung; 

Und  sie  zeiget,  gereiht,  Glieder  an  Glieder  gestuft. 
Jede  Pflanze  verkündet  dir  nun  die  ew'gen  Gesetze, 

Jede  Blume,  sie  spricht  lauter  und  lauter  mit  dir. 
Aber  entzifferst  du  hier  der  Göttin  heilige  Lettern, 

Überall  siehst  du  sie  dann,  auch  in  verändertem  Zug; 
Kriecliend  zaudre  die  Raupe,    der  Schmetterling  eile    geschäftig. 

Bildsam  andre  der  Mensch  selbst  die  bestimmte  Gestalt! 

Goethe  (die  Metamorphose  der  Pflanzen.     1817). 


I.    Die  Ontoi?eiiie  als  Eiitwickelim2:si»escliichte  der  Biouteu. 


Die  Ontogenie  oder  Entwickelungsgeschichte  der  orga- 
nischen Individuen  ist  die  gesamte  Wissenschaft  von  den 
Formveränderungen,  welche  die  Bionten  oder  physiologi- 
schen Individuen  während  der  ganzen  Zeit  ihrer  indivi- 
duellen Existenz  durchlaufen,  von  ihrer  Entstehung  an  bis  zu 
ihrer  Vernichtung.  Die  Aufgabe  der  Ontogenie  ist  mithin  die  Er- 
kenntnis und  Erklärung  der  individuellen  Formveränderungen,  d.  h. 
die  Feststellung  der  bestimmten  Naturgesetze,  nach  welchen  die 
Formveräuderungen  der  morphologischen  Individuen  erfolgen,  durch 
welche  die  Bionten  repräsentiert  werden. 


II.     Die  Ontogenie  und  die  Deszendenztheorie. 

So  allgemeine  Anerkennung  und  Anwendung  auch  die  Ent- 
wicklungsgeschichte in  unserem  Jahrhundert  in  der  Zoologie  und 
Botanik  erlangt  hat,  so  haben  dennoch  die  meisten  Biologen  weder 
den  weiten  Umfang  ihres  Gebiets,  noch  den  eigentlichen  Grund  ihres 
hohen  morphologischen  Wertes  richtig  begriffen.  Es  wird  dies  sofort 
klar,  wenn  wir  daran  erinnern,  daß  man  unter  Entwickelungsgeschichte 
bisher  fast  immer  nur  diejenige  der  Individuen  und  nicht  diejenige 


168  Begriff  und  Aufgabe  der  Ontogenie.  XVI. 

der  Stämme  begriffen  hat.  Die  Ontogenie  oder  Entwickelungs- 
geschichte  der  physiologischen  Individuen  ist  aber  mizertrenn- 
lich  nnd  auf  das  innigste  verbunden  mit  der  Phylogenie  oder 
Entwickelungsgeschichte  der  genealogischen  Stämme  (Phy- 
len).  Jedoch  haben  in  der  ganzen  Biologie  kaum  zwei  Wissenschafts- 
zweige so  weit  voneinander  entfernt  gestanden,  als  die  Ontogenie 
und  die  Phylogenie.  Wie  innig  dieselben  überall  zusammenhängen, 
wie  wesentlich  sie  sich  gegenseitig  bedürfen  und  ergänzen,  wie  erst 
aus  der  engen  Verschmelzung  beider  sich  die  eigentliche  Entwicke- 
lungsgeschichte der  Organismen  im  vollen  Sinne  des  Wortes  kon- 
struieren läßt,  ist  bisher  von  den  meisten  Biologen  entweder  nicht 
richtig  gewürdigt  oder  auch  gänzlich  übersehen  worden. 

Freilich  kann  man  zu  der  vollen  Einsicht  dieses  wichtigen  Ver- 
hältnisses und  zu  der  richtigen  Schätzung  seines  außerordentlichen 
Wertes  nur  durch  die  Deszendenztheorie  gelangen,  welche  uns 
allein  den  Schlüssel  des  Verständnisses  für  die  wundervollen  Erschei- 
nungen der  Entwickelungsgeschichte  liefert  und  welche  uns  zeigt,  daß 
die  Ontogenie  weiter  nichts  ist  als  eine  kurze  Rekapitula- 
tion der  Phylogenie.  Hierin  gerade  liegt  die  unermeßliche  Be- 
deutung der  Abstammungslehre  und  hierin  liegt  die  Quelle  des  außer- 
ordentlichen Verdienstes,  welches  sich  Darwin  durch  die  Reformation 
und  die  kausale  Begründung  der  Deszendenztheorie  erworben  hat. 
Die  Abstammungslehre  allein  vermag  uns  die  Entwicke- 
lungsgeschichte der  Organismen  zu  erklären. 

III.     Typus  und  Grad  der  individuellen  Entwickelung". 

Der  unschätzbare  Wert,  den  die  Deszendenztheorie  als  das  kausal 
erklärende  Fundament  der  Entwickelungsgeschichte  besitzt,  zeigt  sich 
nirgends  schlagender  als  in  den  allgemeinsten  Gesetzen,  zu  welchen 
sich  die  letztere  erhoben  hat.  Als  das  oberste  dieser  allgemeinen 
Gesetze,  welches  aus  der  verglichenen  Summe  aller  ontogenetischen 
Tatsachen  hervorgeht,  gilt  mit  Recht  die  von  Bär  festgestellte  Theorie, 
daß  die  individuelle  Entwickelung  jedes  Organismus  von  zwei  ver- 
schiedenen und  gewissermaßen  entgegengesetzten  Momenten  geleitet 
werde,  dem  Typus  der  Organisation  und  dem  Grade  der  Ausbil- 
dung.    Bär  formuliert  dieses  Gesetz  in  folgenden  Worten: 

„Die  Entwickelung  eines  Individuums  einer  bestimmen  Tierform 
wird  von  zwei  Verhältnissen  bestimmt:  1.  von  einer  fortgehenden 
Ausbildung    des    tierischen   Körpers   durch   wachsende   histologische 


XVI.  IV.    Evolution  und  Epigenesis.  169 

und  morphologische  Sonderung;  2.  zugleich  durch  Fortbildung  aus 
einer  allgemeineren  Form  des  Typus  in  eine  mehr  besondere." 

Nun  ist  es  klar,  daß  Bars  Typus  der  Entwickelung  weiter 
nichts  ist  als  die  Folge  der  Vererbung  und  Bars  Grad  der  Aus- 
bildung weiter  nichts  als  die  Folge  der  Anpassung.  Jener  läßt 
sich  also  auf  die  Fortpflanzung,  dieser  auf  die  Ernährung  als  auf 
seinen  physiologischen  Grund  zurückführen.  Offenbar  tun  wir  aber 
durch  diese  Zurückftthrung  einen  außerordentlich  bedeutenden  Schritt. 
Denn  es  werden  dadurch  die  beiden  morphologischen  Grundgesetze, 
und  somit  überhaupt  alle  Erscheinungen  der  organischen  Entwickelung 
aus  physiologischen  Fundamenten  erklärt,  welche  ihrerseits  ledig- 
lich auf  mechanisch  wirkenden  Ursachen,  auf  chemischen  und  phy- 
sikalischen Prozessen  beruhen. 

Während  also  die  beiden  Grunderscheinungen  der  organischen 
Entwickelung,  Bildungstypus  und  Ausbildungsgrad,  welche  Bär  richtig 
als  die  beiden  formbildenden  Kräfte  der  gesamten  Organismenwelt 
aus  rein  morphologischen  Induktionen  erkannte,  ohne  die  Abstammungs- 
lehre für  uns  zwei  unverstandene  Rätsel  bleiben,  welche  weder  durch 
die  anthropomorphe  Vorstellung  eines  vorbedachten  „Schöpfungsplans 
oder  Entwickelungsplans",  noch  durch  die  leere  Phrase  eines  ., all- 
gemeinen Entwickelungsgesetzes  oder  Bildungsgesetzes"  dem  tieferen 
wissenschafthchen  Verständnis,  d.  h.  der  monistischen,  kausalen 
Erkenntnis,  näher  gerückt  werden,  so  werden  uns  durch  die  Deszendenz- 
theorie diese  beiden  Rätsel  im  monistischen  Sinne  gelöst:  wir  erkennen 
in  dem  Bildungstypus  die  Wirkung  des  inneren  Bildungstriebes  der 
Vererbung,  in  dem  Ausbildungsgrad  die  Wirkung  des  äußeren 
Bildungstriebes  der  Anpassung,  jene  eine  Teilerscheinung  der  Fort- 
pflanzung, diese  der  Ernährung.  Diese  beiden  aber  beruhen  aner- 
kanntermaßen auf  denselben  physikahschen  und  chemischen  Prozessen, 
welche  die  gesamte  organische  und  anorganische  Natur  einheitlich 
beherrschen.  So  gelangen  wir  denn  an  das  höchste  Ziel,  welches 
Bär  der  Entwickelungsgeschichte  gesteckt  hat,  die  Zurückführung 
der  bildenden  Kräfte  des  organisierten  Körpers  auf  die  all- 
gemeinen Kräfte  des  Weltganzen. 

IT.  Evolution  und  Epigenesis. 

Das  Verhältnis  der  Evolution  zur  Epigenesis  und  die  Geschichte 
beider  Theorien  habe  ich  eingehend  erörtert  in  meiner  „Anthropogenie" 
(Vortrag  I— HI)  1874  (V.  Aufl.  1903). 


5^70  Begriff  und  Aufgabe  der  Ontogenie.  XYI. 

T.  Eutwickelung  und  Zeugung. 

Die  eigentümliche  Stellung,  welche  die  Entwickelungsgeschichte 
zwischen  der  Morphologie  und  Physiologie  einnimmt,  haben  wir  bereits 
früher  eingehend  erörtert.  Wir  haben  gesehen,  daß  die  Entwickelungs- 
geschichte  einerseits  zur  Physiologie  oder  Biodynamik  gerechnet 
werden  kann,  insofern  sie  die  Reihe  von  Formveränderungen,  d.  h. 
Bewegungserscheinungen,  untersucht,  welche  die  organischen  Formen 
während  ihrer  individuellen  Existenz  durchlaufen.  Andererseits  waren 
wir  genötigt,  dieselbe  für  die  Morphologie  oder  Biostatik  in  Anspruch 
zu  nehmen,  insofern  diese  als  bloße  Anatomie,  ohne  die  Entwickelungs- 
gescliichte,  keiner  wahren  wissenschaftlichen  Existenz  fähig  ist.  Da 
die  Kenntnis  der  werdenden  Form  des  Organismus  uns  allein  zum 
Verständnis  der  gewordenen  oder  vollendeten  Form  desselben  hin- 
überzuleiten vermag,  mußten  wir  Anatomie  und  Morphogenie  als  die 
beiden  koordinierten  Hauptzweige  der  organischen  i\Iorphologie  be- 
trachten. Wir  konnten  dies  mit  um  so  größerem  Rechte,  als  die  Ent- 
wickelungsgeschichte  der  Organismen  bisher  fast  ausschließlich  Gegen- 
stand anatomischer  und  nicht  physiologischer  Forschungen  war,  und 
demgemäß  auf  ihrer  gegenwärtigen  niederen  Entwickelungsstufe 
wesentlich  eine  statische  und  nicht  eine  dynamische  DiszipHn  dar- 
stellt. Denn  in  Wahrheit  ist  fast  alles,  was  wir  in  der  Zoologie, 
Protistik  und  Botanik  Entwickelungsgeschichte  nennen,  bisher  wesent- 
lich eine  Kenntnis  der  morphogenetischen  Tatsachen,  nicht  aber 
eine  Erkenntnis  ihrer  physikalisch-chemischen  Ursachen  gewesen. 
Wenn  wir  zu  letzterer  gelangen  wollen,  und  wenn  wir  also  die  Mor- 
phogenie wirklich  kausal  begründen  wollen,  so  müssen  wir  notwendig 
auch  an  die  Physiologie  der  Entwickelung  uns  wenden. 

Nun  haben  wir  keineswegs  die  Absicht,  in  den  folgenden  Blättern 
eine  allgemeine  Beschreibung  der  bekannten  organischen  Entwicke- 
lungserscheinungen  zu  geben ;  vielmehr  verfolgen  wir  das  höhere  Ziel 
einer  allgemeinen  Erklärung  derselben.  Wir  wollen  den  schwierigen 
und  bisher  noch  nicht  unternommenen  Versuch  einer  solchen  mecha- 
nisch-kausalen Erklärung  der  morphogenetischen  Erscheinungs- 
reihen wenigstens  anbahnen,  und  zwar  auf  Grund  derjenigen  Theorie, 
welche  allein  diese  Erklärung  zu  liefern  vermag,  der  Deszendenztheorie. 
Insofern  nun  aber  diese  Theorie  eine  physiologische  Erklärung  der 
morphologischen  Erscheinungen  gibt,  werden  wir  uns  nicht  auf  den 
morphologischen     Teil     der    Entwickelungsgeschichte     beschränken 


XVI.  V.   Entwickelung  und  Zeugung.  171 

können,  sondern  auch  ihren  physiologischen  Teil  berücksichtigen  müssen. 
Es  ist  die  Physiologie  der  Zeugung  oder  Generation,  deren 
Grundgesetze  wir  in  ihren  allgemeinsten  Zügen  verstehen  müssen, 
um  zu  einem  wirklichen  monistischen  Verständnis  der  Entwickelungs- 
geschichte  zu  gelangen. 

Die  Physiologie  der  Zeugung  oder  Fortpflanzung  hängt  auf  das 
engste  zusammen  mit  der  Physiologie  der  Ernährung  und  des 
Wachstums.  .,Das  Wachstum  ist  Ernährung  mit  Bildung  neuer  Körper- 
masse —  in  der  Tat  eine  fortgesetzte  Zeugung,  und  die  Zeugung  ist 
nichts  als  der  Anfang  eines  individuellen  Wachstums."  Die  Fort- 
pflanzung ist  eine  Ernährung  und  ein  Wachstum  des  Or- 
ganismus über  das  individuelle  Maß  hinaus,  welche  einen 
Teil  desselben  zum  Ganzen  erhebt.  Alle  Organismen  haben 
eine  beschränkte  Zeitdauer  ihrer  individuellen  Existenz  als  Bionten, 
und  die  Arten  der  Organismen  würden  einem  beständigen  Wechsel 
durch  Aussterben  der  bestehenden  Arten  unterhegen,  wenn  nicht  die 
Fortpflanzung  dieser  Gefahr  entgegenwirkte.  Daher  wird  die  Fort- 
pflanzung ebenso  als  die  Selbsterhaltung  der  Art  bezeichnet,  wie  die 
Ernährung  als  die  Selbsterhaltung  der  Individuen.  Wie  aber  die 
Ernährung  nur  durch  den  Stoffwechsel  möglich  ist,  so  beruht  die 
Arterhaltung  auf  dem  Individuenwechsel.  Wie  bei  der  Ernährung 
beständig  die  materiellen  Bestandteile  des  Organismus,  welche  durch 
die  Lebenstätigkeit  verbraucht  wurden,  durch  andere,  neue  gleichartige 
Teile  ersetzt  werden,  so  werden  bei  der  Fortpflanzung  beständig  die 
aussterbenden  Individuen  (Bionten)  durch  neue  Individuen  ersetzt. 

Die  durch  Fortpflanzung  entstehenden  neuen  Individuen,  die  kind- 
lichen Organismen  (Partus),  sind  also  allgemein  Teile  von  bestehenden 
Individuen,  von  elterlichen  Organismen  (Parens).  Diese  Teile  haben 
sich  infolge  des  übermäßigen  totalen  oder  partiellen  Wachstums  von 
dem  Ganzen  abgelöst  und  wachsen  nun  selbst  wieder  zur  Größe 
und  Form  des  Ganzen  heran,  indem  sie  sich  ergänzen  oder  repro- 
duzieren. Füi'  diesen  Vorgang  als  Wachstumserscheinung  sind  ins- 
besondere die  Ergänzungs-  oder  Reproduktions-Erscheinungen  sehr 
lehrreich,  welche  wir  sehr  allgemein  bei  niederen,  aber  auch  bei 
höheren  Organismen  eintreten  sehen,  wenn  einzelne  Teile  durch  trau- 
matische oder  sonstige  äußere  Einflüsse  verloren  gegangen  sind.  Bei 
hochorganisierten  Wirbeltieren,  z.  B.  den  Amphibien,  und  Gliedertieren, 
z.  B.  den  Crustaceen;  sehen  wir,  daß  selbst  ganze  verlorene  Extremi- 
täten  mit  Skelett,  Muskeln,   Nerven  etc.  vollständig  wieder  erzeugt. 


]^72  Begriff  und  Aufgabe  der  Ontogenie.  XVI. 

reproduziert  werden.  Bei  niederen  Tieren  kann  durch  künst- 
liche Teihmg  das  Individuum  vervielfältigt  werden,  indem  jedes  der 
künstlich  getrennten  Teilstücke  sich  alsbald  wieder  zu  einem  voll- 
ständigen Individuum  ergänzt.  Diese  wichtigen  Wachstumserschei- 
nungen werfen  das  bedeutendste  Licht  auf  die  Fortpflanzungsvorgänge, 
welche  uns  in  ihren  höchsten  Formen  als  ein  ganz  eigentümlicher 
und  schwer  begreifbarer  Lebensprozeß  erscheinen,  während  doch  die 
niedersten  Formen  sich  unmittelbar  an  jene  Wachstums-  und  Repro- 
duktionsprozesse anschließen.  Bei  der  natürhchen  Selbstteilung,  als 
der  einfachsten  Fortpflanzungsform,  spaltet  sich  das  Individuum  spontan 
in  zwei  Hälften,  deren  jede  sich  alsbald  wieder  durch  Wachstum  zu 
einem  vollständigen  Individuum,  einem  aktuellen  Bion  regeneriert. 
Jede  Hälfte  fungiert  hier  ebenso  als  virtuelles  oder  potentielles  Bion, 
wie  bei  der  Fortpflanzung  durch  Eier  oder  Keimzellen  (Sporen)  die 
einzelne,  vom  elterlichen  Organismus  abgesonderte  Plastide. 

Die  weitere  Betrachtung  der  verschiedenen  Fortpflanzungsformen 
bleibt  dem  siebzehnten  Kapitel  vorbehalten.  ■  Hier  wollten  wir  als 
Grundlage  für  die  Betrachtung  der  gesamten  Ontogenie  den  wichtigen 
Satz  feststellen,  daß  die  Fortpflanzung  und  die  unmittelbar  damit  zu- 
sammenhängende Entwickelung  physiologische  Funktionen  und 
in  den  materiellen  Wachstumsgesetzen  begründet  sind. 

Tl.     Aufbilduiig-,  Umbildung,  Rückbüduiig. 

Wir  verstehen  unter  morphologischer  Entwickelung  des  Individu- 
ums die  kontinuierlich  zusammenhängende  zeitliche  Kette  von  Formver- 
änderungen, welche  das  organische  Individuum  während  der  gesamten 
Zeit  seines  individuellen  Lebens,  vom  Beginn  seiner  Existenz  an  bis 
zum  Abschluß  derselben,  durchläuft.  Immerhin  wird  es  in  vielen 
FäUen  von  Vorteil  sein,  die  verschiedenen  Stadien  der  individuellen 
Entwickelung,  welche  wir  als  „eigenthche  Entwickelung",  Reife  und 
Rückbildung  unterscheiden,  als  drei  untergeordnete  Abschnitte  des 
individuellen  Entwickelungskreises  künstlich  zu  trennen  imd  die 
Vorgänge,  welche  dieselben  kennzeichnen,  gesondert  zu  betrachten. 
In  diesen  Fällen  schlagen  wir  vor,  die  drei  Stadien  der  Entwicke- 
lung, welche  wir  im  siebzehnten  Kapitel  allgemein  zu  charakterisieren 
versuchen  werden,  bestimmter  mit  folgenden  Benennungen  zu  be- 
zeichnen. 

L    Anaplasis  oder  Aufbildung  (Evolution).    Erstes  Stadium  der 


XVI.  VII-    Embryologie  und  Metaniorphologie.  173 

individuellen  Entwickelungskette.     Sogenannte  „eigentliche  Entwickelung" 
oder  Entwickelung  im  engeren  Sinne. 

II.  Metaplasis  oder  Umbildung  (Transvolntion).  Zweites  Sta- 
dium der  individuellen  Entwickelungskette.  Sogenannte  „Reife"  oder 
Vollendungszustand   des  Individuums. 

III.  Kataplasis  oder  Rückbildung  (Involution).  Drittes  Stadium 
der  individuellen  Entwickelungskette.     Dekreszenz.      Senilität. 


VII.    Embryologie  und  Metaniorphologie. 

Die  Entwickeluugsgescliichte  der  organischen  Individuen,  welche 
wir  Ontogenie  nennen,  wird  gewöhnhch  als  Embryologie  bezeichnet. 
Indessen  ist  dieser  Ausdruck  nicht  hierfür  passend  und  nicht  allgemein 
anwendbar.  Die  eigentliche  Embryologie  ist  nur  ein  Teil  der  Onto- 
genie und  bei  sehr  vielen  Organisraenarten  kann  man  überhaupt 
nicht  von  Embryologie  sprechen. 

Der  Begriff  „Embryo"  kann  nur  dann  scharf  bestimmt  und 
mit  Nutzen  angewandt  werden,  wenn  man  darunter  den  „Organis- 
mus innerhalb  der  Ei  hüllen"  versteht.  Diesen  festbestimmten 
Sinn  hatte  der  Begriff  des  Embryo  bereits  im  ganzen  Altertum,  wo 
man  stets  die  „ungeborene  Frucht  im  Mutterleibe"  (bei  den  Römern 
Foetus,  richtiger  Fetus)  darunter  verstand.  Mit  dem  Geburtsakte 
galt  das  embryonale  oder  fetale  Leben  als  beendet  und  der  Embryon 
oder  Fetus  wurde  durch  denselben  zum  selbständigen,  freien  Orga- 
nismus. Ebenso  wurde  von  den  meisten  neueren  Naturforschern 
sowohl  der  tierische  wie  pflanzliche  Organismus  stets  nur  so  lange 
als  Embryo  bezeichnet,  so  lange  er  sich  innerhalb  der  Eihüllen  be- 
fand. Erst  den  letzten  beiden  Dezennien,  welche  sich  durch  die 
überhandnehmende  Verwilderung  der  Begriffe  und  fortschreitende 
Verwirrung  der  Anschauungen  in  stets  zunehmendem  Maße  vor  den 
früheren  Zeiten  auszeichneten,  blieb  es  vorbehalten,  auch  diesen 
klaren  und  festen  Begriff  zu  vernichten  und  durch  die  Einführung 
von  „freien  Embryonen"  in  die  Wissenschaft  diese  aufs  neue  eines 
sicheren  Begriffs  zu  berauben.  Seitdem  man  begonnen  hat,  die 
„Larven"  als  Embryonen  mit  freiem  und  selbständigem  Leben  zu 
bezeichnen,  hat  man  sich  leider  in  weiten  Ki'eisen  daran  gewöhnt, 
die  gänzlich  verschiedenen  Begriffe  der  Larve  und  des  Embryo  (be- 
sonders bei  den  niederen  Tieren)  gemischt  zu  gebrauchen,  so  daß 
gegenwärtig  der  mißbräuchliche  Ausdruck  des  „freien  Embryo"  statt 
der   „Larve"  leider    sehr   verbreitet    ist.      Insbesondere    nennt    man 


;[74  ■    Begriff  und  Aufgabe  der  Ontogenie.  XVI. 

häufig  so  die  bewimperten,  frei  im  Wasser  schwimmenden  Larven 
vieler  niederer  Tiere,  welche  gewissen  Infusorien  sehr  ähnlich  sind. 
Für  diese  werden  die  Ausdrücke  Schwärm-Embryo,  Wimper-Embryo, 
infusorienartiger  Embryo  etc.  so  vielfältig  gebraucht,  daß  darüber  die 
eigentliche  Bedeutung  des  „Embryo"  ganz  vergessen  worden  ist.  Es 
ist  dies  um  so  mehr  zu  bedauern,  als  gar  kein  zwingendes  Moment 
vorlag,  den  sicheren  und  feststehenden  Begriff  des  Embrvo  aufzu- 
geben.  Wir  halten  daher  unbedingt  an  demselben  fest  und  verstehen 
ein  für  allemal  unter  Embryo  ausschließlich  den  Organismus  inner- 
halb der  Eihüllen,  und  unter  „embryonalem  Leben"  diejenige 
Periode  der  individuellen  Existenz,  welche  mit  der  Entstehung  des 
kindlichen  Individuums  durch  den  geschlechthchen  Zeugungsakt  be- 
ginnt und  mit  seinem  Durchbruch  der  Eihüllen  abschließt.  Diese 
beiden  Momente  sind  vollkommen  scharf  bestimmt  und  lassen  keiner- 
lei Verwechselung  zu. 

Nun  ist  es  ohne  weiteres  klar,  daß  man  die  gesamte  Entwicke- 
lungsgeschichte  des  physiologischen  Individuums,  wie  wir  deren 
Umfang  soeben  bezeichnet  haben,  in  keinem  einzigen  Falle  mit  dem 
Namen  der  Embryologie  belegen  darf,  falls  dieser  Ausdruck  irgend- 
einen bestimmten  Sinn  haben  soll.  Denn  es  gibt  keinen  einzigen 
Organismus,  dessen  individuelle  Existenz  sich  auf  das  embryonale 
Leben  beschränkt.  A^ielmehr  erscheint  dieses  letztere,  vom  physiolo- 
gischen Gesichtspunkte  aus  betrachtet,  stets  nur  als  die  vorbereitende 
Einleitung  der  individuellen  Existenz,  vom  morphologischen  Gesichts- 
punkte aus  als  die  „Rekapitulation  der  paläontologischen  Entwickelung 
des  Stammes",  zu  welchem  die  durch  das  Individuum  repräsentierte 
Art  gehört.  Die  Entwickelung,  welche  der  Organismus  außerhalb 
der  Eihüllen  durchläuft,  ist  aber  nicht  minder  Entwickelung,  Genesis, 
als  diejenige,  welche  derselbe  innerhalb  derselben  durchzumachen 
hat.  Wir  werden  also  bei  denjenigen  Organismen,  welche  sich  aus 
einem  befruchteten  Ei  entwickeln,  allgemein  zu  unterscheiden  haben  zwi- 
schen der  embryonalen  und  der  postembryonalen  Entwickelung,  welche 
beide  durch  eine  unzweideutige  Grenzmarke  voneinander  getrennt 
sind.  Der  Begriff  der  Embryologie  ist  demnach  zu  beschränken 
auf  die  Wissenschaft  von  der  embryonalen  Entwickelung. 
Dagegen  bezeichnen  wir  die  Wissenschaft  von  der  po  st  embryo- 
nalen  Entwickelung   mit   dem  Namen   der  Metamorphologie. 

Will  man  in  der  Ontogenie  noch  verschiedene  Zweige  unter- 
scheiden, entsprechend  den  drei  Entwickelungsstadien  der  Aufbildung 


XVI.  VUI,   Entwickelimg  und  Metamorphose.  175 

(Evolution),  Umbildung  (Transvolution)  und  Rückbildung  (Involution), 
so  würden  diese  drei  untergeordneten  Teile  der  Ontogenie  allgemein 
zu  bezeichnen  sein  als  Anaplastologie,  Metaplastologie  und  Kata- 
plastologie. 

I.  Anaplastolog-ie,  Aiifliildungslehre:  Entwickelungsgescliichte 
des  organischen  hidividuums  während  der  Periode  der  Aufbildung  (Evo- 
lution). Dieser  Teil  der  Ontogenie  ist  derjenige,  welcher  allen  organi- 
schen Individuen  (erster  bis  letzter  Ordnung)  ohne  Ausnahme  zukommt, 
da  alle  ein  Stadium  der  Anfl)ildung  durchmachen,  welches  vorzugsweise 
in  Wachstum  und  Differenzierung  besteht.  Es  gehört  hierher  alle  Embryo- 
logie und  derjenige  Teil  der  Metamor})hologie,  welcher  bis  zur  erlangten 
Reife  sich  erstreckt.  Die  Anaplastologie  entspricht  mithin  der  Ent- 
wickehmgsgeschichte  im  Sinne  der  meisten  Menschen. 

II.  Metaplastologie,  Umbildungslehre:  Entwickelungsgeschichte 
des  organischen  Individuums  während  der  Periode  der  Umbildung  (Trans- 
volution).  Dieser  Teil  der  Ontogenie  fehlt  denjenigen  organischen  Indi- 
viduen, deren  Existenz  zugleich  mit  ihrer  Aufbildung  abschließt,  z.  B.  den 
embryonalen  Zellen,  den  Moneren  und  vielen  anderen  Protisten,  welche 
sich  nach  Erlangung  der  vollständigen  Größe  alsbald  teilen.  Er  umfaßt 
hauptsächlich  Differenzierungsvorgänge. 

III.  Kat  aplastologie,  Rückbildungslehre:  Entwickelimgsge- 
schichte  des  organischen  Individuums  während  der  Periode  der  Rückbil- 
dimg  (Involution).  Dieser  Teil  der  Ontogenie  fehlt  vollständig  bei 
der  großen  Anzahl  derjenigen  organischen  Indi\'iduen,  welche  überhaupt 
keine  Rückbildung  erleiden,  vielmehr  ihre  Existenz  mit  erlangter  Diffe- 
renzierung abschließen.  Dagegen  ist  er  sehr  wichtig  bei  denjenigen 
Spezies,  welche  parasitisch  lel)en.  Er  umfaßt  hauptsächlich  Degene- 
rationsprozesse. 

Till.    Entwickelimg  und  Metamorpliose. 

Die  Metamorphose  oder  Verwandelung  und  ihre  Beziehungen  zur 
Entwickelung  der  Organismen  sind  auf  verschiedenen  Gebieten  von 
den  Biologen  in  einer  sehr  verschiedenen  Bedeutung  aufgefaßt  worden. 
Die  Botaniker  verstehen  seit  Goethe  unter  „Metamorphose  der 
Pflanzen"  die  gesamte  Entwickelungsgeschichte  des  Blütensprosses 
oder  des  Individuums  fünfter  Ordnung  bei  den  Fhanerogamen,  welches 
denselben  morphologischen  Wert  hat,  wie  die  tierische  Person. 
Goethe  führte  1790  geistvoll  den  zuerst  von  C.  F.  Wolff  (1764) 
ausgesprochenen  Gedanken  aus.  daß  alle  wesentlichen  Teile  der 
Phanerogamenblüte,  mit  Ausnahme  der  Stengelorgane  (Achsorgane). 
nichts  anderes  seien,  als  „umgewandelte,  metamorphosierte"  Blätter, 
d.  h.  verschiedenartig  differenzierte  Modifikationen  eines  und  des- 
selben Grundorgans,  des  Blattes.     Das  Wesentliche   in   diesem  Ver- 


]^76  Begriff  und  Aufgabe  der  Ontogenie.  XVI. 

Wandelungsprozesse   der  Phanerogamenblüte  ist  also  das  Wachstum 
und  die  Differenzierung,  auf  welcher  die  gesamte  Entwickelung  der- 
selben beruht.    Die  Lehre  von  der  Metamorphose  umfaßt  daher  hier 
die  gesamte  Anaplase  und  Metaplase,  und  es  erscheint  nicht  nötig, 
für   diese   die   besondere   Bezeichnung    der  Metamorphose   als   eines 
besonderen  ontogenetischen  Vorganges  beizubehalten.    Vielmehr  fällt 
in   diesem    allgemeineren    Sinne   der   Begriff   der  Metamorphose  mit 
dem  Begriffe  der  epigenetischen  Entwickelung  überhaupt  zusammen. 
In  einer  wesentlich  anderen  Bedeutung  wird  dagegen  der  Begriff 
der  Metamorphose  seit  langer  Zeit  von   den  Zoologen  angewendet. 
Diese  verstehen  darunter  größtenteils  die  auffallenderen  Formvvande- 
hmgen,  welche  zahlreiche,  vorzüglich  wirbellose  Tiere  während  ihrer 
postembryonalen   Entwickelung   durchmachen,    ehe   sie   ihren  Reife- 
zustand erreichen.  Ausgehend  von  dem  am  längsten  und  allgemeinsten 
bekannten    Beispiele    der    Insekten,    bei   denen   Raupe.    Puppe   und 
Schmetterhng  und  ebenso  Made,  Puppe  und  Fhege  als  drei  auffallend 
verschiedene    und    scharf    voneinander    abgegrenzte    Entwickelungs- 
zustände  eines  und    desselben   organischen  Individuums   aufeinander 
folgen,   belegte  man  allgemein  die  ähnlichen  Formfolgen,  welche  in 
neuerer  Zeit  bei  so  vielen  wirbellosen  Tieren    aufgefunden  wurden 
und  bei  denen  ebenfalls  ein  und  dasselbe  Tier  in  mehreren  auffallend 
verschiedenen    äußeren    Formen    nacheinander    erscheint,    mit    dem 
Namen   der   Metamorphose.     Da    nun    aber    ähnliche    „auffallende" 
Formveränderungen,   wie   sie    hier   vom    Organismus   außerhalb  der 
EihüUen,  also  in  der  postembryonalen  Zeit,  durchlaufen  werden,  bei 
vielen   anderen  Tieren,   bei   denen  dies  nicht  der  Fall  ist,   innerhalb 
des  embryonalen  Lebens  durchgemacht  werden,  so  dehnte  man  später- 
hin  den  Begriff  der   tierischen  Metamorphose  noch  weiter  aus   und 
verstand  darunter  die    sämtlichen   auffallenden  Formveränderungen, 
welche   der   tierische   Organismus  während    der  Aufbildungsperiode, 
der   Anaplase,    durchläuft.      Man    konnte    demnach    zwischen   einer 
embryonalen  und  einer  postembryonalen  Metamorphose  unterscheiden, 
wie   es   auch   neuerdings   vielfach   geschehen   ist.     Hier  würde  nun 
wieder  der  Begriff  der  Metamorphose  mit  dem  der  individuellen  Ent- 
wickelung überhaupt  zusammenfallen,  oder  man  könnte  diese  letztere 
höchstens  insofern  in  Ontogenie  mit  und  ohne  Metamorphose  unter- 
scheiden, als  die  Formveränderungen  des  sich  entwickelnden  Indivi- 
duums bald  auffallende  und  plötzliche,  bald  unmerkliche  und  allmäh- 
liche sind.     Da  nun  aber  gerade  im  embryonalen  Leben  eine  solche 


XVI.  VIII.    Entwickelimg  und  Metamorphose.  177 

Untersclieidung  gar  nicht  durchzuführen  ist,  und  da  streng  genommen 
alle  embryonale  Anaplase  mit  Metamorphose  verbunden  ist,  so  müssen 
wir  den  Begriff  der  Metamorphose  auf  die  postembryonale  Ontogenie 
beschränken  und  denselben  auf  diesem  Gebiete  schärfer  zu  bestimmen 
versuchen. 

Ohne  nun  auf  die  zahlreichen  verschiedenen  und  sehr  diver- 
gierenden Versuche,  welche  in  dieser  Beziehung  gemacht  worden 
sind,  näher  einzugehen,  wollen  wir  hier  nur  denjenigen  Begriff  der 
postembryonaleu  Metamorphose  feststellen,  der  uns  allein  bei  einer 
vergleichenden  Betrachtung  aller  Organismen  durchführbar  zu  sein 
scheint.  Wir  nennen  Metamorphose  in  diesem  engeren  Sinne  die- 
jenige Art  der  postembryonalen  Umbildung  oder  Entwickelung,  bei 
welcher  der  jugendliche  Organismus,  ehe  er  in  die  geschlechtsreife 
Form  übergeht,  bestimmt  geformte  Teile  abwirft;  derselbe  ist  also 
ausgezeichnet  durch  den  Besitz  provisorischer  Teile  (gewöhnlich 
Organe),  welche  er  später  als  geschlechtsreifer  Repräsentant  der 
Spezies  nicht  mehr  besitzt.  Der  Verlust  dieser  provisorischen 
Teile  ist  der  eigentliche  Kern  der  Metamorphose  im  engeren  Sinne. 

Die  Entwickelungszustände  der  nietamorphen  Organismen,  welche 
durch  den  Besitz  provisorischer  Teile  ausgezeichnet  sind,  hat  man 
seit  langer  Zeit  als  Larven  (Larvae)  oder  Schadonen  (Aristoteles) 
bezeichnet,  die  reifen  Formen,  welche  aus  der  Larve  durch  die  Meta- 
morphose entstehen,  als  Bilder  (Imagines). 

Wichtig  ist  im  Allgemeinen  die  Unterscheidung  zwischen  pro- 
gressiver und  regressiver  Metamorphose.  Diese  beiden  Formen  der 
echten  postembryonalen  Metamorphose,  obwohl  auch  bisweilen  in- 
einander übergreifend,  unterscheiden  sich  wesentlich  dadurch,  daß 
die  morphologische  Differenzierung  und  also  die  Vollkommenheit  des 
ganzen  Individuums  im  Falle  der  progressiven  Metamorphose 
größer  ist  bei  der  Imago  als  bei  der  Larve;  im  Falle  der  regres- 
siven Metamorphose  umgekehrt  größer  bei  der  Larve  als  bei  der 
Imago.  Die  fortschreitende  oder  progressive  Verwandlung  ist  die 
gewöhnliche  Art  der  Metamorphose;  die  rückschreitende  oder  regres- 
sive Verwandlung,  welche  durch  Anpassung  an  einfachere  Existenz- 
bedingungen entstellt,  findet  sich  vorzüglich  bei  parasitischen  Tieren, 
z.  B.  vielen  Crustaceen. 


Haeckel,   Prinz,  d.  Morpliol.  12 


Siebzehntes  Kapitel. 

Entwickelungsgescliiclite  der  physiologischen  Individuen. 

(Naturgeschichte  der   Zeugungskreise  oder  der   genealogisclien 
Individuen  erster  Ordnung.) 

„Die  Verg-Ieiclmns^'  beider  Geschlechter  miteinander  ist, 
zu  tieferer  Einsicht  in  das  Geheimnis  der  Fortpflanzung,  als 
des  wichtigsten  Ereignisses,  der  Physiologie  unentbehrlich. 
Beider  Objekte  natürlicher  Parallelismus  erleichtert  sehr  das 
Geschäft,  bei  welchem  unser  hiiclister  Begriff,  die  Natur 
könne  identische  Organe  dergestalt  modifizieren  und  ver- 
ändern, daß  dieselben  nicht  nur  in  Gestalt  und  Bestimmung 
völlig  andere  zu  sein  sclieinen.  sondern  sogar  in  gewissem 
Sinne  einen  Gegensatz  darstellen,  bis  zur  sinnlichen  An- 
schauung heranzuführen  ist." 

Goethe. 

I.  Verschiedene  Arten  der  Zenj;nng-. 

Die  Entwickelung-  der  organiscben  Individuen  in  dem  Umfange, 
welchen  wir  oben  für  diesen  Begriff  festgestellt  haben,  dauert  ihr 
ganzes  Leben  hindurch ;  denn  das  ganze  Leben  ist  eine  kontinuierliche 
Kette  von  Bewegungserscheinungen  der  organischen  Materie,  welche 
immer  mit  entsprechenden  Formveränderungen  verknüpft  sind.  Die 
Erkenntnis  dieser  gesamten  Formveränderungen,  mögen  dieselben  nun 
progressive  oder  regressive  sein,  ist  das  Objekt  der  Ontogenie,  in 
dem  weiteren  Sinne,  welchen  wir  dieser  Wissenschaft  vindizieren. 
Da  die  organische  Individualität,  welche  jene  Kette  von  Entwickelungs- 
formen  durchläuft,  als  physiologisches  Individuum  (Bion)  auftritt,  so 
ist  die  Ontogenie  des  ganzen  Organismus  die  Entwickelungsgeschichte 
seiner  physiologischen  Individualität. 

Die  Existenz  jedes  physiologischen  Individuums  beginnt  mit  dem 
Momente  seiner  Entstehung  durch  Zeugung  und  hört  auf  entweder 
mit  seinem  Tode  oder  mit  seinem  vollständigen  Zerfall  in  zwei  oder 
mehrere  kindliche  Individuen  (Selbstteilung).  Wir  werden  daher  die 
allgemeine  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen 
mit  einer  allgemeinen  Erörterung  der  Zeugungserscheinungen  anfangen 


XYII.  I-    Verschiedene  Arten  der  Zeugung.  179 

müssen,   mit  denen   die  Existenz  aller   organischen  Individuen  ohne 
Ausnahme  beginnt. 

Der  Begriff  der  Zeugung  fällt  zusammen  mit  dem  Begriff  der 
Entstehung  der  organischen  Individualität.  Durch  jeden 
Zeugungsprozeß  entsteht  ein  organisches  Individuum,  welches  vorher 
nicht  existierte,  und  der  Moment  der  Zeugung  ist  der  Moment  des  Be- 
ginnes seiner  individuellen  Existenz  und  seiner  Entwickelung.  Alle 
Zeugung,  d.  h.  also  alle  Entstehung  organischer  Individuen,  ist  ent- 
weder Urzeugung  (Generatio  spontcmea)  oder  Elternzeugung  {Generatio 
parentalis).  Die  letztere  geht  aus  von  vorhandenen  organischen  In- 
dividuen, die  erstere  nicht. 

A.     U  r  z  e  u  g  u  n  g. 

(Archig'onia.     Generatio  spontanea.) 

Die  elternlose  Zeugung  oder  Urzeugung  (Generatio  spontanea, 
originaria,  aequivoca,  primaria  etc.)  besteht  darin,  daß  organische 
Individuen  erster  Ordnung  von  der  einfachsten  Beschaffenheit  (struktur- 
lose und  homogene  Moneren)  unter  bestimmten  Bedingungen  in  einer 
nicht  organisierten  Flüssigkeit  entstehen,  welche  die  den  Organismus 
zusammensetzenden  Stoffe  entweder  in  anorganischen  oder  in  organischen 
Verbindungen  gelöst  enthält.  Wenn  die  chemischen  Elemente,  welche 
zu  verwickelten  Verbindungen  zusammengesetzt  den  Monerenkörper 
konstituieren,  in  anorganischer  Form  (d.  h.  zu  einfachen  und  festen 
Verbindungen,  Kohlensäure,  Ammoniak,  binären  Salzen  etc.)  vereinigt 
in  der  Bildungsflüssigkeit  gelöst  sind,  so  nennen  wir  diesen  Modus 
der  Generatio  spontanea  Autogonie.  Wenn  dagegen  jene  Elemente 
bereits  zu  organischen  Verbindungen  (d.  h.  zu  verwickelten  und  lockeren 
Kohlenstoffverbindungen,  Eiweiß,  Fett,  Kohlehydraten  etc.)  vereinigt 
in  der  Bildungsflüssigkeit  gelöst  sind,  so  nennen  wir  diese  Art  der 
Generatio  spontanea  Pias mogo nie.     (Vergl.  Kapitel  6.) 

B.     Elternzeugung. 

(Tocogonia.     Oeneratio  parentalis.) 

Unter  dem  Begriffe  der  elterlichen  Zeugung  oder  Tocogonie  faßt 
man  allgemein  diejenigen  Entstehungsweisen  organischer  Individuen 
zusammen,  welche  von  bereits  bestehenden  organischen  Individuen 
ausgehen.  Die  Lebenstätigkeit  der  bestehenden  oder  elterlichen  In- 
dividuen, durch  welche  die  neu  entstehenden  oder  kindlichen  Organismen 
hervorgebracht   werden,    heißt  allgemein  Fortpflanzung    (Propa- 

12* 


180  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

gatio).  Das  Wesen  dieses  Vorganges  als  einer  Wachstumserschei- 
nung  haben  wir  bereits  oben  erörtert.  Indem  das  Individunm  über 
sein  individuelles  Maß  hinaus  wächst,  löst  sich  das  überschüssige 
Wachstumsprodukt  in  Form  eines  Teiles  von  ihm  ab,  welcher  sich 
alsbald  wieder  zu  einem  vollständigen  Individuum  durch  eigenes 
Wachstum  ergänzt.  Der  neu  erzeugte  kindliehe  Organismus  {Partus) 
ist  also  ein  abgelöster  Teil  des  elterlichen  Organismus  (Parens).  Die 
Ablösung  kann  vollständig  oder  unvollständig  sein.  Im  ersteren  Falle 
erhält  das  neu  erzeugte  morphologische  Individuum  durch  den  Ab- 
lösungsakt die  Selbständigkeit  des  physiologischen  Individuums  (Bion). 
Im  letzteren  Falle  bleibt  das  kindliche  morphologische  Individuum 
mit  dem  elterlichen  mehr  oder  minder  innig  verbunden  und  bildet 
mit  ihm  einen  Komplex  oder  eine  Kolonie  (Synusia),  ein  physio- 
logisches Individuum,  welches  einer  höheren  morphologischen  Ordnung 
angehört,  als  die  beiden  Komponenten. 

Man  pflegt  die  Tokogonie  oder  parentale  Zeugung  allgemein  in 
zwei  verschiedene  Reihen  einzuteilen,  unter  welche  sich  alle  ihre 
zahlreichen  Modifikationen  subsumieren  lassen:  die  geschlechtslose  oder 
monogone  und  die  geschlechtliche  oder  amphigone  Fortpflanzung.  Bei 
der  Monogonie  oder  ungeschlechtlichen  Fortpflanzung  ist  das  einzelne 
Wachstumsprodukt,  welches  sich  von  dem  elterlichen  Organismus 
ablöst,  zur  Selbsterhaltung  und  zum  selbständigen  Wachstum  befähigt, 
ohne  dazu  der  Mitwirkung  eines  anderen  Wachstumsproduktes  zu 
bedürfen.  Bei  der  Amphigonie  oder  geschlechthchen  Fortpflanzung 
dagegen  wird  das  einzelne  Wachstumsprodukt  erst  durch  materielle 
Verbindung  mit  einem  zweiten  davon  verschiedenen  Wachstumspro- 
dukte, durch  geschlechtliche  Vermischung  (Gamos)  zur  Selbsterhaltung 
und  zum  selbständigen  Wachstum  befähigt.  Die  Grenze  zwischen 
diesen  beiden,  in  ihren  Extremen  sehr  abweichenden  Fortpflanzungs- 
arten, welche  früherhin  für  vollständig  verschiedene  Zeugungsformen 
galten,  ist  durch  die  neueren  Entdeckungen  über  die  Parthenogenesis 
so  sehr  verwischt  worden,  daß  es  schwierig  ist,  eine  scharfe  Definition 
derselben  zu  geben.  Insbesondere  haben  die  Fälle  von  Parthenogenesis 
bei  den  Insekten  (Bienen,  Psychiden)  dazu  geführt,  als  das  Kriterium 
der  geschlechtlichen  Zeugung  nicht  die  materielle  Verbindung  zweier 
verschiedener  Individuen  zu  bestimmen,  sondern  die  Entstehung  der 
Keime,  aus  denen  sich  die  neuen  Individuen  bilden,  in  einem  „Ge- 
schlechtsapparate"; die  in  dem  „Eierstock"  gebildete  „Eizelle"  soll 
hier  entscheidend  sein,  und  es  kann  diese  Ansicht  namentlich  gestützt 


XVII.  I-    Verscliiedene  Arten  der  Zeugimg.  181 

werden  durch  die  Betrachtung  der  Bienen,  bei  denen  eine  und  die- 
selbe Zelle,  wenn  sie  befruchtet  wird,  sich  zum  Weibchen,  wenn  sie 
nicht  befruchtet  wird,  zum  Männchen  entwickelt. 

1.  Ungeschlechtliche  Fortuflanzung. 

(Mouogouia.     Generatio  mouogenea.J 

Die  ungeschlechtliche  oder  monogene  Zeugung  (Monogonie)  ist 
dadurch  charakterisiert,  daß  das  Wachstumsprodukt  des  elterlichen 
Organismus  selbständig  entwickelungsfähig  ist,  ohne  der  Befruchtung, 
der  Vermischung  mit  einem  anderen  Wachstumsprodukte  zu  bedürfen. 
Sie  ist  auch  als  Spaltung  (Fisslo)  bezeichnet  worden,  weil  der  ent- 
wickelungsfähige  Teil  des  Individuums,  welcher  sich  zu  einem  neuen 
Indi\äduum  entwickelt,  sich  früher  oder  später  von  dem  ersteren  ab- 
spaltet, und  durch  diese  unvollständige  oder  vollständige  Spaltung 
selbständig  wird.  Indessen  scheint  es  passender,  den  Begriff  der 
Spaltung  auf  die  beiden  Formen  der  monogenen  Fortpflanzung,  welche 
man  als  Teilung  und  Knospenbildung  bezeichnet,  zu  beschränken,  da 
die  dritte  Hauptform  derselben,  die  Sporenbildung,  ebenso  wie  die 
Bildung  der  Geschlechtsprodukte,  mehr  auf  einer  inneren  Aussonderung 
eines  einzelnen  Wachstumsproduktes,  als  auf  einer  eigentlichen  äußeren 
Spaltung  des  ganzen  Individuums  beruht.  Wir  können  also  allgemein 
zunächst  zwei  Hauptgruppen  unter  den  verschiedenen  monogenen 
Fortpflanzungsformen  unterscheiden,  nämlich  1.  die  Spaltung  oder 
/Sc/ii^^o^o^ue  (Fission)  und  2.  die  Sporenbildung  oder  Sporogonie. 
Bei  der  ersteren  (Selbstteilung  und  Knospenbildung)  bleibt  das  Wachs- 
tumsprodukt entweder  dauernd  mit  dem  elterlichen  Individuum  in 
Verbindung,  oder  es  löst  sich  (meist  äußerlich)  von  dem  parentalen 
Organismus  erst  ab,  nachdem  es  schon  eine  größere  oder  geringere 
Selbständigkeit  und  Ausdehnung  erlangt  hat.  Meist  entspricht  das- 
selbe bereits  einem  differenzierten  Plastidenkomplexe,  wenn  die  Ab- 
spaltung erfolgt.  Bei  der  Sporogonie  dagegen  sondert  sich  das  Waclis- 
tumsprodukt  (meist  innerlich)  schon  frühzeitig  von  dem  elterlichen 
Organismus  ab,  ehe  es  sich  selbständig  entwickelt  hat,  und  stellt  zur 
Zeit  der  Ablösung  meist  eine  einfache  Plastide  dar.  In  dieser  Be- 
ziehung erscheint  also  die  Spore  oder  Keimplastide  nicht  sowohl  als 
Spaltungs-,  wie  als  Absonderungsprodukt  des  elterlichen  Organismus, 
und  schließt  sich  vielmehr  den  ebenfalls  abgesonderten  Geschlechts- 
produkteu  an.  denen  sie  auch  in  ihren  Entwickelungs-  und  besonders 
in  den  Vererbungserscheinungen  oft  näher  verwandt  ist.    Da  nämlich 


182  Entwickelungsgeschicbte  der  physiologischen  Indi\äcluen.  XVII. 

die  Kontinuität  zwischen  elterlichem  und  kindlichem  Organismus  bei 
der  Teilung  und  Knospenbildung  inniger  ist  und  längere  Zeit  hindurch 
fortdauert,  als  bei  der  Sporenbildung  und  geschlechtlichen  Zeugung, 
so  werden  auch  bei  der  ersteren  die  individuellen  Eigenschaften  des 
elterlichen  Organismus  genauer  und  strenger  auf  das  kindliche  In- 
dividuum übertragen,  als  bei  der  letzteren. 

A.    Ungeschlechtliche  Zeugung  durch  Spaltung. 

(Generatio  flssipara.     Fissio.     Schizogonia.) 

Die  Monogonie  durch  Spaltung  (Fissio)  ist  dadurch  charakteri- 
siert, daß  das  Wachstumsprodukt  sich  (meistenteils  äußerlich)  vom 
elterlichen  Organismus  entweder  überhaupt  gar  nicht  oder  erst  dann 
ablöst,  nachdem  dasselbe  bereits  eine  im  Verhältnis  zu  letzterem  be- 
trächtliche Ausdehnung  und  morphologische  Differenzierung  erhalten 
hat.  Bei  den  polyplastiden  Organismen  stellt  dasselbe  zur  Ablösungs- 
zeit bereits  eine  Mehrheit  von  Piastiden  dar.  Die  beiden  Hauptformeu, 
welche  man  unter  den  verschiedenen  Modifikationen  der  Spaltung 
unterscheidet,  sind  1.  die  Selbstteilung  oder  Divisio  und  2.  die 
Knospenbildung  oder  Gemmatio.  Bei  der  Selbstteilung  ist  das 
die  Fortpflanzung  einleitende  Wachstum  des  Individuums  ein  totales, 
und  es  zerfällt  dasselbe  bei  der  Spaltung  in  seiner  Totalität,  so  daß 
die  Teilungsprodukte  gleichwertig  sind.  Bei  der  Knospenbildung 
dagegen  ist  es  ein  einzelner  Körperteil  des  Individuums,  welcher 
durch  bevorzugtes  Wachstum  zur  Bildung  einer  neuen  Individualität 
(Knospe)  führt,  und  diese  trennt  sich  dann  von  dem  elterlichen  Indi- 
viduum unvollständig  oder  vollständig,  ohne  daß  dessen  eigene  Indi^ä- 
(hialität  dadurch  vernichtet  wird.  Es  sind  also  die  beiden  Spaltungs- 
produkte hier  ungieichwertig. 

Aa)    Die  Selbstteilung  oder  Division. 

(Generatio  scissipara  sive  ilivisiva.     Divisio.     Scissio.) 

Die  Selbstteilung  wird  eingeleitet  durch  ein  allseitiges  Wachstum 
des  Individuums,  welches  bei  Überhandnähme  desselben  in  seiner 
Totalität  zerfällt  und  durch  den  Teilungsprozeß  selbst  vernichtet  wird. 
Die  Teilungsprodukte  sind  von  gleichem  Alter,  also  koordi- 
niert, und  auch  ihrer  morphologischen  Bedeutung  nach  meistens  voll- 
kommen oder  doch  annähernd  gleichwertig.  Äußerlich  beginnt  der 
Teilungsprozeß  mit  der  Bildung  einer  ringförmigen  Furche  an  der 
Körperoberfläche,  welche  tiefer  und  tiefer  greift  und  endlich  oft  mit 


XVII.  I-    Verschiedene  Arten  der  Zeugung.  183 

der  Bildung  einer  vollständigen  Teilungsebene  durclisclmeidet.  In- 
dessen gellt  dieser  äußerlichen  Absclmürung  immer  als  wesentliches 
Moment  des  Prozesses  die  Bildung  von  zwei  neuen  Wachstumscentren 
in  dem  dezentralisierten  Individuum  vorher.  Sehr  oft  kommt  auch  die 
Teilung  äußerlich  gar  nicht  als  Furchung  oder  Abschnürung  zur  Er- 
scheinung, während  sie  doch  dadurch  in  gewisser  Hinsicht  vollständig 
wird,  daß  sich  eine  heterogene  Scheidewand  zwischen  den  beiden 
homogenen  Hälften  ausbildet.  Dies  ist  insbesondere  sehr  allgemein 
bei  der  Selbstteilung  der  Piastiden  der  Fall,  welche  zu  Parenchpn 
miteinander  verbunden  bleiben. 

Man  unterscheidet  gewöhnlich  vollständige  Teilung  (Divisio 
completa),  bei  welcher  die  aus  der  Teilung  entstehenden  kindlichen 
Individuen  sich  gänzlich  voneinander  trennen,  und  unvollständige 
Teilung  (Divisio  incompleta).  bei  welcher  dieselben  zu  Individuen- 
komplexen oder  Synusien  vereinigt  bleiben.  Letztere  ist  außer- 
ordentlich wichtig,  da  auf  ihr  meistens  die  Bildung  der  Individuen 
höherer  Ordnung  beruht.  Außerdem  pflegt  man  noch,  je  nach  der 
verschiedenen  Richtung  der  Teilungsebene  zum  Körper,  Längsteilung 
und  Querteilung  zu  unterscheiden.  Da  eine  schärfere  Unterscheidung 
dieser  Formen,  als  bisher  üblich  war,  für  verschiedene  Entwickelungs- 
verhältnisse  von  hoher  Bedeutung  ist,  so  wollen  wir  auf  dieselben 
hier  etwas  näher  eingehen. 

Zunächst  erscheint  uns  hier  besonders  wichtig  der  bisher  nicht 
berücksichtigte  Unterschied  zwischen  der  Zweiteilung  (DimicUafio)^ 
wobei  das  Individuum  in  zwei  gleiche  Hälften,  und  der  Strahl- 
teilung (Diradiaüo),  bei  welcher  dasselbe  in  drei  oder  mehr 
gleiche  Stücke  zerfällt.  Die  letztere  teilen  wir  wieder  ein  in 
paarige  (artia)  und  unpaarige  Diradiation  (anartid). 

Ab)    Die  Knospung  oder  Knospenbildung. 

(Generatio  gemniipara.     Gemraatio.) 

Die  Knospenbildung  oder  Gemmation  als  die  zweite  Hauptform 
der  Spaltung  oder  Fission  ist,  wie  oben  bemerkt,  wesentlich  dadurch 
von  der  Selbstteilung  verschieden,  daß  sie  durch  ein  einseitiges  (nicht 
allseitiges)  Wachstum  des  Individuums  eingeleitet  wird,  und  daß  daher 
bei  der  Abspaltung  des  einseitig  gewucherten  Teiles  die  Individuali- 
tät des  Ganzen  nicht  zerstört  wird,  sondern  vielmehr  erhalten  bleibt. 
Die  Knospungsprodukte  sind  also  von  ungleichem  Werte,  und  es  ist 
von  Anfang  an  das  elterliche  Individuum  von  dem  kindlichen,  welches 


184  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

als  Knospe  aus  ihm  hervorwächst,  verschieden.  Die  beiden  Spal- 
tungsprodukte sind  bei  der  Knospung  von  verschiedenem 
Alter,  bei  der  Teilung  von  gleichem  Alter.  Bei  der  letzteren 
spaltet  sich  das  Individuum  in  zwei  oder  mehrere  koordinierte,  bei 
der  ersteren  in  zwei  oder  mehrere  subordinierte  Teile.  Der  durch 
bevorzugtes  partielles  Wachstum  ausgebildete  kindliche  Organismus 
oder  die  Knospe  ist  dem  elterlichen  knospenden  Individuum  unter- 
geordnet, wenn  er  auch  denselben  Grad  morphologischer  Ausbildung 
erreicht. 

Wie  bei  der  Teilung  unterscheidet  man  auch  bei  der  Knospung 
gewöhnlich  nach  der  verschiedenen  Dauer  des  Zusammenhanges 
zwischen  beiden  Spaltungsprodukten  zwei  Gemmationsarten:  die  voll- 
ständige Knospen  Spaltung  (Gemmatio  compJeia)^  bei  welcher  das 
kindliche  Individuum,  die  Knospe,  sich  vollständig  von  dem  elter- 
lichen ablöst,  und  die  unvollständige  Knospenspaltung  (Gem- 
matio incompleta)^  bei  welcher  dieselben  als  Individuenstock  oder 
Synusie  vereinigt  bleiben.  Die  letztere  kommt  in  außerordentlich 
mannigfaltiger  Form  zur  Ausführung,  besonders  im  Pflanzenreiche 
und  bei  den  Coelenteraten,  wo  die  charakteristische  Form  der  Kormen 
größtenteils  durch  die  Form  der  unvollständigen  Knospenspaltung 
bedingt  wird. 

Der  Begriff  der  Knospe  ((remma)  ist  ein  streng  physiologischer 
(so  gut  wie  der  irgendeines  anderen  Spaltungsproduktes)  und  be- 
deutet stets  ein  physiologisches  Individuum  {Bion),  welches  von 
einem  vorher  bestehenden  elterlichen  Individuum  durch  den  soeben 
geschilderten  Spaltungsprozeß,  die  Knospenbildung  oder  Gemmation. 
erzeugt  wird.  Es  ist  sehr  wichtig,  diese  einzig  durchführbare  scharfe 
Bestimmung  des  Begriffs  „Knospe"  streng  festzuhalten,  und  ebenso 
sie  bestimmt  zu  unterscheiden  von  dem  rein  morphologischen 
Begriff  des  Sprosses  (Blastos),  welcher  sehr  häufig,  besonders 
in  der  Botanik,  damit  verwechselt  wird.  Durch  diese  Verwechse- 
lung der  beiden  ganz  verschiedenen  Begriffe,  welche  beide  einen 
scharf  bestimmten  Umfang  und  Inhalt  haben,  ist  schon  unendliche 
Verwirrung  angerichtet  worden.  Der  Sproß  ist  von  der  Knospe 
ebenso  verschieden,  wie  die  Zelle  oder  wie  der  Stock.  Der  Sproß 
oder  Blastos  ist,  wie  wir  im  neunten  Itapitel  festgestellt  haben,  das 
morphologische  Individuum  fünfter  Ordnung,  das  Histonal;  bei  den 
Tieren  meistens  als  das  ., eigentliche  Indi\äduum"  die  Person  oder 
das  Prosopon,     bei   den  Pflanzen   bald  als   Sproß,    bald    als  Knospe 


XYII.  I-    Verschiedene  Arten  der  Zeugung.  185 

bezeichnet.  Die  Knospe  (Gemma)  dagegen  kann  als  physiologisches 
Individuum  (Bion)  von  den  morphologischen  Individuen  aller  sechs 
Ordnungen  vertreten  werden.  Durch  Knospung  entstehen  nicht 
allein  die  meisten  Sprosse,  sondern  auch  die  meisten  Stöcke,  die 
meisten  Organe  (z.  B.  Blätter,  Extremitäten),  sehr  viele  Zellen  und 
Cytoden.  Alle  diese  Form-Individuen  verschiedenen  Ranges  können 
mit  Rücksicht  auf  ihre  Entstehung  als  Knospen  (Gemmae)  bezeich- 
net werden. 

Als  die  verschiedenen  Hauptformen  der  Knospen  werden  in 
der  Botanik  allgemein  die  drei  Formen  der  Terminalknospen,  Axillar- 
knospen und  Adventivknospen  unterschieden.  Wichtiger  ist  die  in 
der  Zoologie  gebräuchliche  Unterscheidung  der  äußeren  und  inneren 
Knospenbildung,  je  nachdem  die  Knospen  äußerlich  auf  der  Ober- 
fläche, oder  innerlich  in  einem  Hohlraum  des  elterlichen  Individuums 
entstellen. 

B.     Ungeschlechtliche  Zeugung  durch  Sporenbildung. 

(Generatio  sporipara.     Sporogonia.) 

Die  Sporogonie  oder  ungeschlechtliche  Fortpflanzung  durch  Keime 
unterscheidet  sich  als  die  zweite  Hauptart  der  Monogonie  von  der  ersten, 
der  Spaltung,  wesentlich  dadurch,  daß  das  Wachstumsprodukt  im 
Inneren  abgesondert  wird  und  schon  sehr  frühzeitig,  ehe  es  entwickelt 
und  differenziert  ist.  von  dem  elterlichen  Organismus  sich  ablöst. 
Die  Trennung  von  demselben  ist  vollständig  und  erfolgt  schon,  ehe 
das  lokale  Wachstumsprodukt  eine  im  A^erhältnis  zum  elterlichen 
Organismus  irgend  bedeutende  Ausdehnung  und  morphologische  Differen- 
zierung erreicht  hat.  Von  den  vorher  aufgeführten  Formen  der  Mo- 
nogonie steht  die  innere  Knospenbildung  der  Sporogonie  am  nächsten. 
AUein  dort  erreicht  die  Knospe  schon  einen  weit  höheren  Grad  der 
individuellen  Entwickelung,  ehe  sie  sich  vom  Eltern-Indi\1duum  ablöst. 
Es  ist  die  physiologische  Abhängigkeit  des  kindhchen  vom  parentalen 
Organismus  bei  der  Knospenbildung  eine  größere,  als  bei  der  Sporo- 
gonie, während  die  morphologische  Abhängigkeit  umgekehrt  bei  der 
letzteren  größer  erscheinen  kann  als  bei  der  ersteren.  Die  selbständige 
Zentralisation  der  Spore  ist  viel  bedeutender  und  beginnt  viel  früher, 
als  es  bei  der  Knospe  der  Fall  ist.  Ein  wesentlicher  Unterschied 
zwischen  beiden  hegt  auch  darin,  daß  die  innere  Knospe  in  einer 
Höhle  des  parentalen  Individuums,  aber  in  Kontinuität  mit  deren 
Wand,  sich  entwickelt,  während  der  Keim  oder  die  Spore  mitten  im 


186  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XYII. 

Parenchym  desselben  entsteht,  durch  Absonderung  von  der  umhüllenden 
Parenchynimasse,  mit  welcher  er  nur  in  lockerer  Kontiguität  bleibt. 
Es  ist  daher  die  Sporogonie  auch  weniger  eine  Abspaltung  (Fissio)  als 
vielmehr  eine  Absonderung  (Secretio),  und  hierdurch  schließt  sie  sich, 
wie  oben  bemerkt,  unmittelbar  an  die  sexuelle  Zeugung  an,  mit  welcher 
sie  durch  die  Parthenogenesis  fast  untrennbar  verbunden  ist. 

2.  (weschlochtliclie  Fortpflanziiug-, 

(Ainphig-onia.     Generatio  dig-eiiea.) 

Die  geschlechtliche  oder  digene  Zeugung  {Amphigoiiia)  läßt  sich 
nur  dadurch  scharf  charakterisieren,  daß  wir  als  Kriterium  derselben 
die  Vermischung  zweier  verschiedener  Stoffe  festhalten,  welche  von 
zwei  verschiedenen  Individuen  oder  von  zwei  verschiedenen  Teilen 
(Geschlechtsteilen)  eines  und  desselben  Individuums  produziert  sind: 
die  weibliche  Eizelle  {Ovulum)  und  die  männliche  Samenzelle 
{Spermium).  Die  verschiedenen  Formen  der  geschlechtlichen  Fort- 
pflanzung unterscheiden  sich  zunächst  am  meisten  durch  die  Ver- 
teilung oder  Vereinigung  der  beiden  Geschlechtsprodukte,  Ei  und 
Samen,  auf  verschiedene  Individuen.  Man  pflegt  hiernach  allgemein 
..Individuen  mit  vereinigten  Geschlechtsprodukten"  (Zweigeschlechtige, 
Bisexuales,  Zwitter  oder  Hermaphroditen)  und  „Individuen  mit  ge- 
trennten Geschlechtsprodukten"  (Getrenntgeschlechtige  oder  Einge- 
schlechtige, Unisexuales  oder  Gonochoristen)  zu  unterscheiden.  Die 
Botaniker  unterscheiden  ferner  zwischen  monoecischen  und  dioecischen 
Pflanzen.  Monoecische  oder  einhäusige  sind  solche  unisexuelle 
Pflanzen,  bei  denen  beiderlei  eingeschlechtige  Individuen  (d.  h.  Blüten, 
Individuen  fünfter  Ordnung)  auf  einem  und  demselben  „zusammen- 
gesetzten Individuum"  (d.  h.  auf  einem  Individuum  sechster  Ordnung 
oder  Stock)  vereinigt  sind.  Dioecische  oder  zweihäusige  sind  solche 
unisexuelle  Pflanzen,  bei  denen  beiderlei  eingeschlechtige  Blüten  auf 
verschiedene  Stöcke  verteilt  sind.  Dieselbe  Unterscheidung  mon- 
oecischor  und  dioecischer  Stöcke  ist  auch  bei  den  Coelenteraten,  ins- 
besondere den  Anthozoen,  welche  den  ..zusammengesetzten  Pflanzen" 
in  ihrer  Stockbildung  so  auffallend  gleichen,  von  einigen  Zoologen 
richtig  gemacht  worden.  Man  kann  also  zunächst  unter  den  Or- 
ganismen allgemein  Monoecisten  und  Dioecisten  unterscheiden,  je 
nach  der  Verteilung  der  beiderlei  Geschlechtsprodukte  auf  eines  oder 
auf  verschiedene  Individuen  sechster  Ordnung  (Stöcke)  und  unter  den 
Monoecisten  wiederum  Bisexuelle  und   Unisexuelle,  je  nach  der  Ver- 


XVII.  I-    Verschiedene  Arten  der  Zeugung.  Ig7 

teilung  der  beiderlei  Geschlechtsprodiikte  auf  eines  oder  auf  ver- 
schiedene Individuen  fünfter  Ordnung-  (Personen,  Blütensprosse).  Diese 
Unterscheidung  ist  aber  insofern  ungenügend,  als  dabei  die  Verteilung 
der  beiderlei  Geschlechtsprodukte  auf  eines  oder  auf  verschiedene 
Individuen  der  niederen  Ordnungen  (vierter,  dritter,  zweiter  Ordnung) 
nicht  berücksichtigt  ist.  W^ie  man  überhaupt  bisher  diese  niederen 
Individualitätsgrade,  die  doch  für  das  Verständnis  des  ganzen  Or- 
ganismus so  wichtig  sind,  nicht  gehörig  unterschieden  hat,  so  ist 
auch  jenes  besondere  Verhältnis  ihrer  geschlechtlichen  Differenzierung 
meist  gänzlich  übersehen  oder  doch  nicht  richtig  beurteilt  worden, 
und  daher,  besonders  in  der  Zoologie,  eine  ungemeine  Verwirrung 
in  der  Auffassung  der  Geschlechtsverhältnisse  eingerissen.  Bei  den 
Coelenteraten  z.  B.  weiß  niemand  mehr,  was  er  unter  vereinigten 
und  getrennten  Geschlechtern  verstehen  soU,  da  diese  Ausdrücke  bunt 
durcheinander  für  monoecische  und  dioecische,  unisexuelle  und 
bisexuelle  Organismen  und  außerdem  ohne  alle  Unterscheidung  der 
Geschlechts  Verhältnisse  bei  den  Individuen  niederer  Ordnung  gebraucht 
werden.  Daher  erscheint  es  uns  unerläßlich,  diese  Begriffe  scharf 
zu  bestimmen  und  das  Verhältnis  der  Vereinigung  oder  Tren- 
nung der  Geschlechter  bei  den  Individuen  aller  Ordnungen 
scharf  zu  unterscheiden. 

Wir  bezeichnen  demnach  ganz  allgemein  zunächst  die  Vereinigung 
der  beiderlei  Genitalprodukte  auf  einem  Individuum  (gleichviel 
welcher  Ordnmig)  als  Zwitterbildung  oder  HermaphrocUtismus. 
Jedes  Individuum  (irgendeiner  Ordnung)  als  Zwitter  {Hermapliro- 
diti(s)  A^ereinigt  in  sich  beiderlei  Geschlechtsstoffe,  Ovum  und 
Sperma.  Der  Gegensatz  hierzu  ist  die  Trennung  der  Genitalien,  die 
Verteilung  der  beiderlei  Geschlechtsstoffe  auf  z  w  e  iln  dividuen  (gleich- 
viel welcher  Ordnung),  welche  wir  als  Geschlechtstrennung  oder 
Gonocliorismus  bezeichnen.  Jedes  Individuum  irgendeiner  Ordnung 
als  Nichtzwitter  (Gonochoristus)  besitzt  nur  einen  von  beiden  Ge- 
schlechtsstoffen,  Ovum  oder  Sperma.  Das  getrenntgeschlechthche 
Individuum  mit  Ovum,  ohne  Sperma,  wird  allgemein  als  weibliches 
(femininum)^  das  nichtzwitterige  Individuum  mit  Sperma,  ohne  Ovum, 
als  männliches  (masciilinuni)  bezeichnet.  Indem  wir  die  zwölf  mög- 
lichen verschiedenen  Fälle  des  Gonochorismus  und  Hermaphroditismus 
einzeln  betrachten,  finden  wir  das  Gesetz,  daß  immer  der  Herma- 
phroditismus einer  bestimmten  Individualitätsordnung  mit  Gonochoris- 
mus einer  niedrigeren  Ordnung  verbunden  ist. 


188  Entwickelungsgeschichte  der  physiologisclien  Individuen.  XVII. 

I.    GesclileclitsverliältDisse  der  Piastiden  (Cytoden 

und  Zellen). 

Ja)    Hermaphroditismus  der  Piastiden. 

Zwitterbikluriy  der  Individuen  erster  Ordnung-. 

Die  beiderlei  Geschleclitsstoffe  sind  in  einem  Indivi- 
duum erster  Ordnung  (Plastide)  vereinigt. 

Der  Hermaphroditismus  der  Piastiden  ist  von  den  zwölf  mög- 
lichen Fällen,  welche  uns  die  zweifach  verschiedenen  Geschlechts- 
verhältnisse der  Individuen  von  sechs  verschiedenen  Ordnungen  dar- 
bieten können,  der  einzige,  dessen  Existenz  nicht  ganz  sicher  nach- 
gewiesen ist.  Es  ist  uns  kein  Fall  mit  Sicherheit  bekannt,  daß  eine 
und  dieselbe  Plastide  (sei  es  nun  eine  Cytode  oder  eine  Zelle)  beiderlei 
Geschleclitsstoffe  in  sich  erzeugt  hätte. ^)  Weder  bei  den  Tieren,  noch 
bei  den  Protisten,  noch  bei  den  Pflanzen  sind  unzweifelhaft  zwitterige 
Cytoden  oder  Zellen  beobachtet  worden,  d.  h.  einzelne  Piastiden,  die 
in  einem  Teile  ihres  Leibes  weibliche,  in  einem  anderen  männliche  Zeu- 
gungsstoffe produziert  hätten.  Selbst  bei  den  einzelligen  Algen,  welche 
geschlechtlich  zeugen,  entstehen  entweder  die  beiden  Geschlechts- 
produkte  in  zwei  verschiedenen  Individuen  (Zellen),  oder  wenn  ein 
einzelnes  Individuum  sie  beide  erzeugt,  geschieht  dies  in  besonderen 
Abteilungen  der  Zelle,  welche  sich  vorher  durch  Scheidewände  von 
den  übrigen  Teilen  der  Zelle  getrennt  haben,  also  im  Grunde  selbst 
schon  wieder  selbständige  Zellen  darstellen.  Vielleicht  findet  sich 
jedoch  wirklicher  Hermaphroditismus  der  Piastiden  bei  einem 
Teile  derjenigen  niederen  Pflanzen  (Desmidiaceen  und  Zygnemaceen) 
und  Tiere  (Gregarinen,  Infusorien),  welche  durch  Konjugation  und 
Copulation  zeugen.  Bekanntlich  besteht  dieser  Prozeß  darin,  daß 
zwei  Individuen  erster  Ordnung  oder  Piastiden  (bald  Zellen,  bald 
Cytoden)  mit  einer  Stelle  ihres  Leibes  sich  aneinander  legen,  hier 
verwachsen  und  endlich  teilweise  oder  vollständig  verschmelzen. 
Die  vollständige  Verschmelzung,  bei  welcher  aus  zwei  Individuen 
eines  wird,  bezeichnet  man  als  Kopulation  (z.  B.  bei  Gregarinen 
und  anderen  Protoplasten,  Rhizopoden,  einigen  Infusorien);  dagegen 
die  unvollständige  Verschmelzung,  bei  welcher  die  Individualität 


1)  (1906).  Ein  solcher  Fall  ist  erst  neuerdings  in  der  Konjugation  der 
Wiraperinfusorien  entdeckt  worden.  Jede  der  beiden  konjugierenden  Ciliaten- 
zellen  sondert  im  Standkern  (Panlocarijon)  einen  weiblichen,  im  Wander- 
kern (Planocaryon)  einen  männlichen  Teil  ab. 


XVII.  I-    Verschiedene  Arten  der  Zeugung.  189 

der  beiden  verschmelzenden  Piastiden  mehr  oder  weniger  erhalten 
bleibt,  als  Konjugation  (z.  B.  bei  den  Konjugaten:  Zygnemaceen, 
Desmidiaceen).  Das  Resultat  dieser  Verschmelzung  ist  die  Bildung 
einer  einzigen  oder  mehrerer,  zur  selbständigen  Entwickelung  fähiger 
Piastiden,  welche  man  gewöhnlich  als  Sporen  bezeichnet.  Nach 
unserer  Auffassung  ist  die  besonders  von  de  Bary  aufgestellte  Ansicht 
die  richtigere,  daß  wir  es  hier  mit  einer  wirklichen  geschlechtlichen 
Zeugung  zu  tun  haben,  und  das  Produkt  derselben,  die  Zygospore, 
ist  demnach  nicht  als  Spore,  sondern  als  sexuelles  Zeugungsprodukt, 
als  ..befruchtetes  Ei"  zu  bezeichnen.  Offenbar  ist  das  Wesentliche 
dieses  Prozesses,  wie  bei  jeder  geschlechtlichen  Zeugung,  die  Ver- 
mischung zweier  verschiedener  Stoffe,  welche  zur  Bildung 
eines  neuen  Indi\äduums  führt.  Von  den  übrigen  Formen  der  ge- 
schlechtlichen Zeugung  ist  die  Kopulation  und  Konjugation  nur  dadurch 
verschieden,  daß  diese  beiden  verschiedenen  Geschlechtsstoffe  nicht 
geformt  sind,  und  gerade  hierin  liegt  für  uns  die  große  Bedeutung 
derselben,  da  sie  offenbar  den  primitivsten  Anfangszustand  der 
Amphigonie  repräsentieren,  der  sich  unmittelbar  an  die  ungeschlecht- 
liche Sporogonie  anschließt.  Man  könnte  nun  wohl  daran  denken, 
daß  bereits  in  den  noch  nicht  zur  Kopulation  oder  Konjugation  ge- 
langten Piastiden  eine  Sonderung  des  Plasma  in  zweierlei  verschie- 
dene Zeugungsstoffe  eingetreten  sei,  und  es  würde  dann  der  Prozeß 
der  Kopulation  und  Konjugation  selbst  als  eine  wechselseitige 
Befruchtung  zweier  hermaphroditischer  Individuen  erster 
Ordnung  aufzufassen  sein,  wie  wir  dieselbe  sehr  häufig  bei  zwitte- 
rigen Individuen  höherer  Ordnung  (z.  B.  den  Schnecken)  finden.^) 
Insbesondere  könnte  hierfür  angeführt  werden,  daß  unter  Umständen 
auch  die  einzelnen  Individuen,  welche  gewöhnlich  konjugieren  (z.  B. 
Zygnemen)  oder  kopulieren  (z.  B.  Gregarinen)  selbständig  „Sporen" 
in  ihrem  Innern  erzeugen  können.  Indessen  muß  es  vorläufig  zweifel- 
haft bleiben,  ob  hier  eine  Selbstbefruchtung  einer  hermaphroditischen 
Zelle,  oder  eine  Parthenogenesis,  die  schon  zur  Sporogonie  zu  rechnen 
sein  würde,  vorliegt,  da  wir  noch  nicht  imstande  gewesen  sind,  die 
Verschiedenheit  der  beiderlei  Zeugungsstoffe  in  den  einzelnen  kopu- 
lierenden und  konjugierenden  Individuen  (weder  in  chemischer,  noch 
in  morphologischer  Beziehung)  zu  konstatieren. 

^)  (1906).  Die  hier  ausgesprochene  Vermutung  ist  30  Jahre  später  durch 
die  modernen  Entdeckungen  über  die  Konjugation  der  Infusorien  und  Sporozoen 
vollauf  bestätigt  worden. 


190  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

Ib)    Gonochorisnnis  der  Piastiden. 

Geschlechtstreunung'  der  Imlividueii  erster  Ordiumg-. 

Die  beiderlei  Gesclilechtsstoffe  sind  auf  zwei  verschie- 
dene Individuen  erster  Ordnung  (Piastiden)  verteilt. 

Dieser  Fall  der  Geschlechtstrennung  ist  der  allgemeinste  von 
allen  sechs  möglichen  Fällen  des  Gonochorismus,  und  wenn  ein 
Hermaphroditismus  der  Plastidcn  nicht  existierte,  so  würden  eigent- 
lich sämthche  Fälle  der  geschlechtlichen  Differenzierung  und  Zeugung 
überhaupt  hierher  zu  ziehen  sein.  Denn  bei  allen  sexuellen  Indivi- 
duen zweiter  und  höherer  Ordnung,  mögen  dieselben  nun  Herma- 
phroditen oder  Gonochoristen  sein,  finden  wir  die  beiderlei  Geschlechts- 
produkte von  verschiedenen  Individuen  erster  Ordnung  erzeugt.  In 
allen  uns  bekannten  Geschlechtsorganen  gibt  es  männliche  und  weib- 
liche Zellen  nebeneinander,  aber  keine  Piastiden,  welche  zugleich 
männliche  und  weibhche  Geschlechtsstoö'e  bildeten.  Zwitterige  Zellen 
sind  bisher  innerhalb  eines  Geschlechtsorgans  nicht  beobachtet  worden. 
Wenn  wir  also  von  den  soeben  erwähnten  möglichen  Fällen  des 
Hermaphroditismus  bei  kopuherenden  und  konjugierenden  Protisten 
absehen,  so  würden  wir  den  Gonochorismus  der  Piastiden  als  all- 
gemeine Eigenschaft  sämtlicher  amphigoner  Organismen  ansehen 
können.  Die  weibliche  Geschlechtszelle  erzeugt  gewöhnlich  ein 
einziges  Ei,  d.  h.  sie  wandelt  sich  in  ihrer  Totalität  in  eine  Eizelle 
um.  Die  einzelne  männliche  Geschlechtszelle  (Samenzelle)  dagegen 
erzeugt  sehr  häufig  einen  Komplex  von  mehreren  Zoospermien;  andere- 
male  fungiert  sie  in  ihrer  Totalität.  Die  Formenmannigfaltigkeit  der 
Zoospermien  bei  den  verschiedenen  Organismen  ist  außerordentlich 
groß.  Besonders  bemerkenswert  ist  die  auffallende  Ähnlichkeit  der 
fadenförmigen  bewegHchen  Zoospermien  (Geißelzellen)  bei  den  Crypto- 
garaen  und  den  meisten  Tieren.  Ebenso  zeigt  auch  die  Form  der 
Eizelle,  und  besonders  ihre  Htillenbildung,  bei  Pflanzen  und  Tieren 
mannigfaltige  Analogien. 

IL    Geschlechtsverhältnisse  der  Organe. 
IIa)    Hermaphroditismus  der  Organe. 

Zwitterbildung'  der  Individuen  zweiter  Ordnung'. 

Die  beiderlei  Geschlechtsprodukte  sind  in  einem  Indi- 
viduum zweiter  Ordnung  (Organ)  vereinigt. 

Die  Zwitterbildung  der  Organe  ist  im  ganzen  selten,  da  bei 
den  meisten  hermaphroditischen  Organismen  die  beiden  Geschlechts- 


XYjj_  I.    Verschiedene  Arten  der  Zeugimg.  191 

Stoffe  auf  zwei  verschiedene  ludividiien  dritter  oder  höherer  Ordnung 
verteilt  sind.  Doch  finden  wir  in  sehr  ausgezeichneter  Weise  beiderlei 
Zeugungsstoffe  von  einem  einzigen  Organe  produziert  bei  manchen 
Mollusken,  und  zw^ar  am  auffallendsten  bei  den  sonst  hoch  differen- 
zierten Lungenschnecken  (Pulmonaten).  Trotz  der  außerordentlichen 
Komplikation,  welche  der  Geschlechtsapparat  dieser  Tiere  im  übrigen 
darbietet,  werden  dennoch  die  Eier  und  Samenzellen  von  einem  und 
demselben  Organe  unmittelbar  neben  einander  erzeugt.  Eine  gleiche 
Zwitterdrüse  (Glandula  hermaphrodita)  findet  sich  bei  Sijnapia 
unter  den  Echinodermen.  Unter  den  Pflanzen  kommen  ähnliche 
Zwitterdrüsen,  d.  h.  Organe,  welche  männliche  und  weibliche  Ge- 
schlechtsprodukte  zugleich  erzeugen,  nur  sehr  selten  vor,  z.  B.  bei 
Marsilea,  Pilidaria  und  einigen  anderen  Rhizocarpeen, 

IIb)    Gonochorisnius  der  Organe. 

Gesehlechtstrennung'  der  ludividueu  zweiter  Ordnung'. 

Die  beiderlei  Geschlechtsprodukte  sind  auf  zwei  ver- 
schiedene   Individuen   zweiter   Ordnung   (Organe)   verteilt. 

Die  Verteilung  der  Geschlechtstätigkeit  auf  verschiedene  Organe 
ist  die  allgemeine  Regel  für  die  große  Mehrzahl  aller  Organismen, 
auch  für  die  meisten  sogenannten  „Zwitterindividuen''  (d.  h.  lierma- 
phroditischen  Individuen  dritter  und  höherer  Ordnung).  Die  weib- 
lichen Organe,  welche  die  Eier  produzieren,  heißen  bei  den  Tieren 
allgemein  Eierstöcke  {Ovaria),  bei  den  phanerogamen  Pflanzen 
Samenknospen  {Oemmulae),  bei  den  meisten  cryptogamen  Oogonien 
oder  Archegonien  (oder  Pistillidien).  Die  männlichen  Organe, 
welche  das  Sperma  produzieren,  heißen  bei  den  Tieren  allgemein 
Hoden  (Spermaria,  TcsticiiU),  bei  den  Phanerogamen  Antheren 
oder  Staubblätter,  bei  den  Cryptogamen  Antheridien.  Bei  den 
Tieren  entwickeln  sich  sehr  häufig  weibliche  und  männliche  Ge- 
schlechtsorgane aus  einer  und  derselben  Anlage,  so  zwar,  daß  bei 
den  beiderseitigen  Embryonen  beiderlei  Organe  bis  zu  einer  gewissen 
Zeit  nicht  zu  unterscheiden  sind  und  sich  erst  später  differenzieren 
(z.  B.  bei  den  Wirbeltieren).  Bei  den  phanerogamen  Pflanzen  dage- 
gen sind  beiderlei  Organe  in  morphologischer  Beziehung  wesentlich 
verschieden,  indem  die  männliche  Geschlechtsdrüse  ein  reines  Blatt- 
organ („Staubblatt"),  die  weibliche  Geschlechtsdrüse  (Samenknospe) 
dagegen  entweder  ein  reines  Achsenorgau  oder  eine  wirkliche  Knospe 
(ein  Achsenorgan  mit  Blattorganen)  ist.     Zwischen  den  vollkommen 


192  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XYII. 

getrennten  Geschlechtsorganen  nnd  den  vorhin  erwähnten  Zwitter- 
drüsen gibt  es  bei  den  Tieren  (insbesondere  Schnecken  nnd  Würmern) 
eine  Menge  vermittehider  Übergänge,  w^elche  die  alhnähUche  Her- 
vorbikhuig  der  ersteren  aus  den  letzteren  in  schlagender  Weise  be- 
kunden. Insbesondere  sind  die  Ausführungsgänge  der  männlichen 
und  weiblichen  Drüsen  oft  noch  auf  kürzere  oder  längere  Strecken 
hin  vereinigt. 

lU.    Geschlechtsverhältnisse  der  Antimeren. 

Illa)     Hermaphroditismus  der  Antimeren. 

Zwitterbildung-  der  Individuen  dritter  Ordnung. 

Die  beiderlei  Geschlechtsorgane  sind  in  einem  Indivi- 
duum dritter  Ordnung  (Antimer)  vereinigt. 

Dieser  Fall  ist  die  allgemeine  Regel  bei  den  allermeisten  herma- 
phroditischen Individuen  vierter  und  höherer  Ordnung.  Insbesondere 
bei  den  zwitterigen  Tieren  besitzt  meist  jeder  homotypische  Abschnitt 
beiderlei  Geschlechtsorgane.  Fast  allgemein  finden  wir  bei  den  dipleuren 
Zwittertieren  beiderlei  Organe  sowohl  auf  der  rechten  als  auf  der 
linken  Hälfte,  bei  den  centraxonien  und  amphipleuren  Zwittertieren 
in  jedem  ihrer  „Strahlteile".  Weniger  allgemein  ist  dieses  Verhältnis 
bei  den  Pflanzen,  wo  öfters  insbesondere  die  w^eiblichen  Organe  in 
einem  oder  mehreren  Antimeren  abortieren,  so  daß  diese  bloß  ein- 
geschlechtig sind. 

Illb)     Gonochorismus  der  Antimeren. 

Geschlechstrennung-  der  Individuen  dritter  Ordnung-. 

Die  beiderlei  Geschlechtsorgane  sind  auf  zwei  ver- 
schiedene Individuen  dritter  Ordnung  (Antimeren)  verteilt. 

Dieser  Fall  ist  im  ganzen  viel  seltener  als  der  vorige,  besonders 
im  Tierreiche.  Hier  kommt  es  nur  ausnahmsweise  vor,  daß  bei  einem 
hermaphroditischen  Organismus  die  Genitalien  des  einen  Antimeres 
männlich,  die  des  anderen  weiblich  sind,  so  bei  den  Ctenophoren. 
Bei  einigen  Anthozoen-Arten  schließen  die  Mesenterialf alten  (in  der 
Medianebene  der  Antimeren  liegend)  alternierend  männliche  und  w^eib- 
liche  Genitalien  ein.  Derartige  Zwitter  finden  sich  bisweilen  auch 
bei  dipleuren  Tieren,  die  sonst  getrennten  Geschlechts  sind,  bei  denen 
aber  beiderlei  Organe  sich  aus  derselben  Anlage  hervorbilden,  wie 
z.  B.  bei  den  Wirbeltieren.  Unter  letzteren  sind  solche  Zwitter- 
bildungen, w^o  die  rechte  Hälfte  weiblich,  die  linke  männlich  differenziert 


XVII.  I-    Verschiedene  Arten  der  Zeugung.  193 

war,  oder  umgekehrt,  mehrfach  beobachtet  worden,  in  einzehien  Fällen 
auch  beim  Menschen  (sogenannter  Hermaphroditismus  lateralis).  Eben 
solche  Fälle  sind  auch  von  unseren  Flußmuscheln  {Unio,  Anodonta) 
bekannt,  wo  bisweilen  das  Geschlechtsorgan  der  rechten  Seite  ein 
Hoden,  der  linken  ein  Eierstock  ist,  und  umgekehrt.  Häufiger  ist 
diese  sexuelle  Differenzierung  der  Antimeren  bei  den  phanerogamen 
Pflanzen,  wo  oft  in  einer  Zwitterblüte  (Person),  die  im  einen  Ge- 
schlechtskreise (Metamer)  weibliche,  im  anderen  männliche  Organe 
auf  mehrere  Antimeren  verteilt  trägt,  der  eine  oder  andere  liomo- 
typische  Abschnitt  kein  Geschlechtsorgan  entwickelt  (abortiert),  so  daß 
ein  Teil  der  Antimeren  bloß  männlich,  ein  anderer  Teil  bloß  weiblich 
wird.  Selten  aber  ist  dieser  Abortus  in  beiden  Kreisen  (männlichen 
und  weiblichen)  so  regelmäßig  komplementär,  daß  die  ganze  Blüte 
(Person)  bloß  aus  rein  männlichen  und  rein  weiblichen  Antimeren 
zusammengesetzt  ist.  Vielmehr  behält  meistens  ein  Teil  der  Antimeren 
(gewöhnlich  die  Mehrzahl)  die  ursprüngliche  Zwitterbildung  bei.  In 
höchst  ausgezeichneter  Weise  findet  sich  der  reine  Gonochorismus 
der  Antimeren  konstant  bei  Canna,  wo  nicht  zwei  Metameren  (Blatt- 
kreise) geschlechtlich  differenziert  sind,  sondern  wo  nur  ein  einziger 
Blattkreis  (Metamer)  zur  geschlechtlichen  Entwickelung  gelangt,  und 
wo  in  diesem,  aus  drei  Antimeren  bestehenden  Kreise,  das  eine  An- 
timer  männlich,  das  zweite  weiblich  wird   und   das    dritte  abortiert. 

IV.     Geschlechtsverhältnisse  der  Metameren. 
IVa.     Hermaphroditismus  der  Metameren. 

Zwitterliildung-  der  Individuen  vierter  Ordnung-. 

Die  beiderlei  Geschlechtsorgane  sind  in  einem  Indivi- 
duum vierter  Ordnung  (Metamer)  vereinigt. 

Dieser  Fall  ist  die  allgemeine  Regel  bei  den  hermaphroditischen 
Tieren,  bei  welchen  die  physiologische  Indi\idualität  den  Rang  eines 
Metameres  hat.  Hier  müssen  natürlich  die  beiderlei  Genitalorgane 
auf  einem  und  demselben  Metamer  vereinigt  sein,  z.  B.  bei  den  Tre- 
matoden,  Zwitterschnecken.  Bei  den  zwitterigen  Articulaten,  welche 
durch  Aggregation  von  Metameren  Personen  herstellen,  wie  auch  bei 
den  Bandwürmern,  wiederholen  sich  gewöhnlich  ganz  regelmäßig 
weibliche  und  männliche  Organe  in  mehr  oder  minder  inniger,  teil- 
weiser Vereinigung  in  jedem  Metamer,  mit  Ausnahme  der  geschlechts- 
losen. Doch  kommt  es  hier  auch  häufig  vor  (z.  B.  bei  den  Hirudineen, 
Lumbricinen),  daß  nur  einige  Metameren  hermaphroditisch,  die  anderen 

Haecljel,    Prinz,  d.  Morpliol.  13 


194  Entwickeliingsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

dagegen  unisexuell,  bloß  männlich  oder  bloß  weiblich  sind.  Viel 
seltener  als  bei  den  Tieren  ist  der  Herniaphroditismus  der  Metameren 
bei  den  phaneroganien  Pflanzen  (z.  B.  Canna):  vielmehr  ist  der  nm- 
gekehrte  folgende  Fall  hier  die  Regel. 

IVb.     (ionochorismu  s  der  Metameren. 

Gesehlecht.strennung'  der  hidividiien  vierter  Ortlniing-. 

Die  beiderlei  Geschlechtsorgane  sind  anf  zwei  ver- 
schiedene Individuen  vierter  Ordnung  (Metameren)  verteilt. 

Im  Gegensatz  zu  den  zwitterigen  Tier-Personen  zeichnen  sich  die 
hermaphroditisclien  Blüten  der  phaneroganien  Pflanzen  dadurch  aus, 
daß  gewöhnlich  die  männlichen  und  weiblichen  Geschlechtsorgane  auf 
verschiedene  Metameren  oder  Glieder  verteilt  sind.  In  den  allermeisten 
Fällen  ist  ein  unteres  (hinteres)  Stengelglied  vorhanden,  welches  den 
Kreis  der  männlichen  Staubblätter,  und  ein  olleres  (vorderes),  welches 
den  (inneren)  Kreis  der  weiblichen  Fruchtblätter  trägt,  an  denen  die 
Samenknospen  sitzen.  Da  nun  morphologisch  jedes  Stengelgiied, 
das  einen  Bhittkreis  trägt,  auch  wenn  es  ganz  unentwickelt  ist,  ein 
vollständiges  Metamer  darstellt,  so  sehen  wir  bei  den  meisten  Phane- 
roganien che  Blüte  aus  einem  (oder  mehreren)  weiblichen  (oberen) 
und  männlichen  (unteren)  Metameren  zusammengesetzt;  das  obere 
weibliche  Metamer  heißt  der  Kreis  der  Fruchtblätter  (Carpella),  das 
untere  männliche  der  Kreis  der  Staubblätter  (Antherae).  Unter  den 
geschlechtlichen  Kreisen  stehen  dann  noch  mehrere  geschlechtslose 
Metameren.  welche  nicht  sexuell  differenzierte  Blattkreise  (Blumen-, 
Kelch-,  Deckblätter  etc.)  tragen.  Unter  den  Tieren  ist  dieser  Gono- 
chorismus  der  Metameren  sehr  verbreitet  bei  den  gonochoristen  Bionten 
vierter  Ordnung,  insbesondere  bei  den  höheren  Mollusken,  welche  alle 
den  morphologischen  Rang  eines  Metameres  haben.  Selten  dagegen 
ist  er  bei  zwitterigen  Bionten  fünfter  Ordnung.  In  ausgezeichneter 
Weise  findet  er  sich  so  bei  Sagitta,  welche  aus  zwei  zwitterigen  An- 
timeren  und  zwei  Metameren  besteht,  und  wo  das  vordere  Metamer 
(entsprechend  dem  oberen  oder  vorderen  der  Phaneroganien)  weiblich, 
das  hintere  (entsprechend  dem  unteren)  männlich  ist. 

V.     Geschlechtsverhältnisse  der  Personen. 
Va.     Herniaphroditismus  der  Personen  (Monoclinia). 

Zuitterbiklung-  der  Individuen  fünfter  Ordnung. 

Die  beiderlei  Geschlechtsorgane  sind  auf  einem  bi- 
sexuellen Individnnm  fünfter  Ordnung  (Prosopon)  vereinigt. 


XVII.  I-    Verschiedene  Arten  der  Zeugung.  195 

Dieser  Fall  wird  von  den  Zoologen  gewöhnlich  als  „Herm- 
aphroditismus" schlechtweg  bezeichnet,  weil  die  meisten  Tiere  auf  der 
(fünften)  tectologischen  Rangstufe  der  Personen  stehen  bleiben.  Bei 
den  Pflanzen  dagegen,  welche  meistens  die  höhere  (sechste)  Rang- 
stufe des  Stockes  erreichen,  unterscheiden  die  Botaniker  sorgfältiger 
zwischen  der  Zwitterbildung  der  Sprosse  (MonocUiiia)  und  der 
Stöcke  {Monoecia).  Unter  den  Tieren  ist  der  Hermaphroditismus 
der  Personen  vorzugsweise  bei  den  kleineren  und  niederen  Formen 
verbreitet.  Im  Stamme  der  Vertebraten  findet  er  sich  nur  ausnahms- 
w^eise  (bei  einigen  Kröten,  wenigstens  rudimentär:  h&i  ScrranusmiiQY 
den  Fischen);  im  Stamme  der  Articulaten  selten  bei  den  höher 
stehenden  Arthropoden  (Tardigraden  unter  den  Arachniden.  Cirripedien 
unter  den  Crustaceen),  häufiger  bei  den  tiefer  stehenden  Würmern 
(Hirudineen,  Scoleinen,  Sagitta  etc.);  im  Echinodermenstamme  selten 
(bei  Sijnapta):  auch  im  Coelenteratengtamme  nur  ausnahmsweise.  Un- 
gleich verbreiteter  ist  der  Hermaphroditismus  der  Personen  bei  den 
Pflanzen,  w^o  er  sich  bei  der  großen  Mehrzahl  aller  Phanerogamen 
und  sehr  vielen  Cryptogamen  findet. 


Vb.     Gonochorismus  der  Personen  (Diclinia). 

Geschlechtstreimung-  der  Individueu  füuftex-  Ordmmg-. 

Die  beiderlei  Geschlechtsorgane  sind  auf  zwei  ver- 
schiedene unisexuelle  Individuen  fünfter  Ordnung  verteilt. 

Die  gonochoristen  Personen  sind  es,  welche  die  Zoologen  ge- 
wöhnlich als  „getrennt-geschlechtige"  Tiere  im  engeren  Sinne,  die 
Botaniker  schärfer  als  „diclinische"  Pflanzen  unterscheiden.  Die  weib- 
liche Person  wird  bei  den  Phanerogamen  als  „w^eibliche  Blüte"  be- 
zeichnet; die  männliche  Person  als  „männliche  Blüte".  Dieselbe 
Trennung  der  Geschlechter  findet  sich  bei  der  großen  Mehrzahl  aller 
Tiere;  bei  allen  Vertebraten  (einige  Kröten  un{\.Serranus  ausgenommen), 
bei  den  meisten  Arthropoden  (die  Cirripedien  und  Tardigraden  aus- 
genommen), bei  den  meisten  höheren  Würmern  und  den  meisten 
Coelenteraten.  Unter  den  Pflanzen  ist  sie  umgekehrt  die  Ausnahme. 
Es  gehören  hierher  alle  Personen  (Blütensprösse)  der  Phanerogamen, 
welche  monoecische  und  dioecische  Stöcke  zusammensetzen,  außerdem 
aber  auch  alle  unisexuellen  Blüten,  welche  keine  Stöcke  bilden  (be- 
sonders unter  den  Cryptogamen). 

13* 


196  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

VI.  Geschlechtsverhältnisse  der   Stöcke. 
VTa.     Hormaphro  ditismus  der  Stöcke  (Monoecia). 

Zwitterbildung'  der  Individuen  sechster  Ordnung. 

Die  beiderlei  Geschlechtspersonen  sind  auf  einem 
bisexuellen  Individuum  sechster  Ordnung(Cormus)  vereinigt. 

Alle  hierher  gehörigen  Fälle  von  Zwitterbildung  bei  den  Phanero- 
gamen  hat  Linne  in  seiner  einundzwanzigsten  Phaneroganienklasse, 
den  Monoecia,  zusammengefaßt.  Die  sogenannte  „zusammengetzte 
Pflanze",  d.  h.  der  Stock,  ist  hier  hermaphroditisch,  die  einzelnen 
Personen  aber  (Bltitensprosse).  welche  ihn  zusammensetzen,  diclinische, 
teils  männhche,  teils  weibliche  Blüten.  Es  ist  dies  z.  B.  der  Fall 
bei  den  Birken,  Buchen,  Eichen,  Riedgräsern  etc.  Ganz  dieselbe 
Vereinigung  der  beiderlei  unisexuellen  Personen  auf  einem  Stocke 
findet  sich  unter  den  Tieren  bei  den  allermeisten  Siphonophorenstöcken, 
dagegen   nur    ausnahmsweise    bei  den  Korallenstöcken  (Anthozoen). 


VIb.     Gonochorismus  der  Stöcke  (Dioecia). 

Geschlechtstrenming'  der  Individuen  sechster  Ordnung. 

Die  beiderlei  Geschlechtspersonen  sind  auf  zwei  ver- 
schiedene unisexuelle  Individuen  sechster  Ordnung  (Cor- 
men)  verteilt. 

Dieser  zwölfte  und  letzte,  am  weitesten  gehende  Fall  von  Trennung 
der  Geschlechter  gab  Linne  Veranlassung  zur  Aufstellung  seiner 
zweiundzwanzigsten  Phaneroganienklasse,  der  Dioecia.  Die  soge- 
nannte ..zusammengesetzte  Pflanze"  oder  der  Stock  ist  hier  unisexuell, 
entweder  männlich  oder  weibhch.  Alle  einzelnen  denselben  zusammen- 
setzenden Personen  sind  diclinisch  und  gehören  einem  und  demselben 
Geschlechte  an.  Es  ist  dies  der  Fall  bei  den  Weiden  und  Pappeln, 
den  meisten  Palmen  und  vielen  Wasserpflanzen.  Ferner  gehören  hierher 
unter  den  Tieren  die  meisten  Anthozoenstöcke,  aber  nur  wenige 
Siphonophorenstöcke,  z.  B.  Diphyes  quadrivalvis. 


XVII. 


System  der  ungeschlechtlichen  Fortpflanzungsarten. 


197 


II.    System  der  uiigesclileclitliclieii  Fortpflaiizungsarten. 

Beispiele. 


A.  Unge- 
schlechtli- 
che Zeu- 
gungdurch 
Spaltung 


Scliizo- 
gonia 


Genera- 

tio  fissi- 

p  a  r  a 


a)  Selbstthei- 

lung 

Divisio 


I.  Zweiteilung 


Dimidiatio 

(Teilung   in  zwei 

Hälften) 


1.  Stückteilung 
Divisio  indefinita. 


fViele  Protisten. 
I  Viele  Piastiden 


(Spaltung  mit 

Vernichtung 

des  zeugenden 

Individuums) 


1j)  Knospung 
Gemiuatio 


II.  Strahlteilung 


Diradiatio 
(Teilung  in  mehr 
als   zwei  Stücke) 


I.  Äußere  Knos- 
penbildung 

Gemmatio 
externa 


(Spaltung 
ohne  Vernich- 
tung des 
zeugenden 
Indi\dduums) 


II. 


j     von  Tieren 
l  und  Pflanzen. 
(     Diatomeen. 
l     Astraeiden. 
(  Turbinoliden. 
[  Ophryoscoleci- 
l  neu. 

(       Halteria. 
(  Chlorogonium. 
Divisio  diagonalis    |  Lagenophyrs. 

Vierzählige 

Phanerogamen- 

Blütensprosse. 

Die  meisten 

Coelenteraten. 

Die  meisten 

Blütensprosse 

der  Phanero- 

gamen. 
Die  meisten 
Echinodermen. 
Internodien  der 
Phanerogamen. 
Strobila  der 
Cestoden. 
Axillarknospen 
der  Phanero- 
gamen und 
Bryozoen. 

[Medusen,   z.  B. 
pro- 
lifera. 


2.  Längsteilung 
Divisio  longitudi- 

nalis. 

3.  Querteilung 
Divisio  transversa- 

lis 
4.  Diaeonalteilung 


5.  Paarige  Strahlteilung 
Diradiatio  artia 


6.  Unpaarige  Strahltei- 
lung 
Diradiatio  anartia 


1.  Endknospenbildung 

Gemmatio  termina- 

lis 

2.  Seitenknospenbildimg 
Gemmatio  lateralis 


B.  Unge- 
schlechtli- 
che Zeu- 
gungdurch 
SporenbU- 
dung 


Sporo- 
goiiia 

Genera- 

tio  spo- 

ripara 


I.  Keimknospenbildung 

Polysporogonia. 

Produkt  der  Keimbildung 

eine  Mehrheit  von  Pla- 

stiden  (Polyspora). 


3.  Innere  Knospen  ohne 
Knospenzapfen 
Innere  Knos-       Gemmatio  coelo- 
penbildung  blasta 

4.  Innere  Knospung  an 

einem  Knospenzapfen 

Gemmatio  organo- 

blasta 

1.  Fortschreitende  Keim- 

knospenbildung 
Polysporogonia  pro- 


Aegineta 


Gemmatio 
interna 


f         Salpa. 
^^      Doliolum. 


II.  Keimplastidenbildung 

Monosporogoni  a 

Produkt  der  Keimlnldung 

eine  einzelne  Plastide 

(Monospora). 


2.  Rückschreitende  Keim- 

knospenbildung 

Polysporogonia    regres 

siva 

3.  Fortschreitende  Keim- 

plastidenl)ildung 
M  0  n  0  s  p  0  r  0  g  0  n  i  a  pro- 
gressiva 
4.  Rückschreitende  Keim- 
plastidenbildung 
Monosporogonia  regres- 
siv a 
Parthenogonia  (pro  parte?) 


(     Distomeen. 
I    Gyrodactylus 
{     Infusorien. 

(Gemmulae    der 
\     Sj^ongien. 


Algen. 


Pilze. 
Rhizopoden. 
Infusorien. 


Ohara  crinita. 
Coelebogyne. 

Aphis. 
Apis. 

Coceus. 


198 


Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen. 


XVll. 


11 1.    System  der  gesclilechtliclicii  Fortpflaiizim^sarteii. 

I.    Hermaphroditisnms  der  sechs  Individualitätsordnnngen. 


Verscliicdene  Formen 
der  Gesclileclitsvertcilunsr. 


1.  Heimaphroditisnius  der  l'lastiden 
(Zwitterbildung  erster  Ordnung). 

2.  Hennaphroditismus    der    Organe 
(Zwitterbildung  zweiter  Ordnung). 

o.  Hermaphroditismus  der  Antimeren 
(Zwitterl)ildiing  dritter  Ordnung). 

4.  Herniajjhroditismus  derMetameren 
(Zwitterbildung  vierter  Ordnung). 


5.  Herrn aphroditismus  der  Personen 

(Zwitterbildung  fünfter  Ordnung). 

(Monoclinia.) 

(j.  Hermaphroditismus    der    Cormen 

(Zwitterbildung  sechster  Ordnimg). 

(Monoecia.) 


Beispiele  aus  dem 
Pflanzenreiche. 


Beispiele  aus  dem 
Tierreiche. 


Conjugatae. 

Desmidiaceae. 

Zygnemaceae. 

Einige  Rhizocarpeen  (Pi- 

lularia,  Marsilea). 
Die    meisten     zwitterigen 

Phanerogamen.     z.    B. 

Liliaceen,  Primulaceen. 
Sehr    wenige     zwitterige 

Phanerogamen,     z.     B. 

Canna. 

Die  meisten  zwitterigen 
Phanerogamen,  z.  B. 
Liliaceen.   Primulaceen. 

Viele  Bäume  (Betiüa, 
Quercus).  Viele  Was- 
serpflanzen (Myriophyl- 
lum,  Typha). 


Gregarinae. 
Infusoria. 

Synapta, 

Gasteropoda  pulmonata. 

Die  meisten  zwitterigen 
Tiere,  z.  B.  Trematoden, 
Cirripedien. 

Die  meisten  zwitterigen 
Tiere,  z.  B.  Trematoden, 
Cestoden ,  Planarien , 
Mollusken. 

Wenige  zwitterige  Tiere, 
z.  B.  Tardigraden,  Cir- 
ripedien. 

Korallenstöcke 
(Anthozoen).  Die  mei- 
sten Siphonophoren- 
stöeke. 


Wenige 


n.    Gonochorisnms  der  sechs  Individualitätsordnungen. 

Die  meisten  sexuell  diffe-     Die  meisten  sexuell  diffe- 


1.  Gonochorismus     der    Piastiden 
(Gesclüechtstrennung      erster 
Ordnung). 

2.  Gonochorismus       der       Organe 
(Gesclüechtstrennung  zweiter 
Ordnung). 

3.  Gonochorismus    der   Antimeren 
(Geschlechtstrennung     dritter 
Ordnung). 

4.  (jonochorismus   der  Metameren 
(Geschlechtstrennung    \äerter 


renzierten  Pflanzen. 


renzierten  Tiere. 


Die  meisten  se.xuell  diffe-  '  Die  meisten  se.xuell  diffe- 
renzierten Pflanzen.  renzierten  Tiere. 


o. 


6. 


Ordnung). 

Gonochorismus  der 
(Geschlechtstrennung 
Ordnung). 

(Diclinia.) 
Gonochorismus      der 
(Geschlechtstrennung  sechster 
Ordnung). 

(Dioecia.) 


Personen 
fünfter 


Cormen 


Einige   zwitterige   Phane- 
rogamen,   z.  B.  Canna. 


Die  meisten  Phaneroga- 
men, z.  B.  Lüiaceen, 
Primulaceen. 

Alle  monoecischen  und 
dioecischen  Phaneroga- 
men. 

Viele  Bäume  (Salix,  Po- 
pulus).  Viele  Wasser- 
pflanzen (Hydrocharis, 
Vallisneria). 


Ctenophoren.  Einige  An- 
thozoen mit  alternierend 
männlichen  und  weib- 
lichen Antimeren. 

Sagitta.  Die  meisten  Mol- 
lusca cephalota.  (Alle 
Cephalopoden  etc.) 

Die  meisten  Vertebraten 
und  Arthropoden  (aus- 
genommen Tardigraden 
imd  Cirripedien.) 

Die      meisten      Korallen- 
stöcke   (Anthozoen). 
Wenige  Siphonophoren- 
stöcke    (z.   B.   Diphyes 
quadrivalvis). 


XVII.  IV.    Verschiedene  Funktionen  der  Entwickelung.  IQQ 


IT.    Terschiedeue  riiiiktionen  der  Entwickehing. 

„Die  Entwickelimgsgeschichte  des  Individuums  ist  die  Geschichte 
der  wachsenden  Individualität  in  jeglicher  Beziehung."  In  diesen 
wenigen  treffenden  Worten  spricht  Bär  das  allgemeinste  Resultat 
seiner  klassischen  Untersuchungen  und  Beobachtungen  über  die  Ent- 
wickelungsgeschichte  der  Tiere  aus.  In  der  Tat  ist  das  Wachstum 
der  Individuen  diejenige  organische  Funktion,  welche  den  wichtigsten 
Entwickelungsvorgängen  zugrunde  liegt.  Selbst  die  Zeugung,  mit  der 
jede  individuelle  Entwickelung  beginnt,  ist  im  Grunde,  wie  wir  sahen, 
unmittelbar  mit  dem  AVachstum  zusammenhängend  und  in  den  aller- 
meisten Fällen  (die  Generatio  spontanea  ausgenommen)  die  direkte 
Folge  des  Wachstums  über  das  individuelle  Maß  hinaus.  Obgleich 
wir  also  allgemein  das  Wachstum  als  die  bedeutendste  Fundamental- 
funktion der  ontogenetischen  Prozesse  bezeichnen  können,  müssen 
wir  dennoch,  wenn  wir  den  Begriff  der  Ontogensis  in  dem  weitesten 
oben  festgestellten  Umfange  fassen,  und  nicht  nur  die  Anaplase, 
sondern  auch  die  Metaplase  und  Cataplase  darunter  verstehen  wollen, 
neben  dem  Wachstum  noch  einige  andere  organische  Funktionen 
unterscheiden,  welche  zwar  ebenfalls  Ernährungsvorgänge  sind  und 
schon  als  solche  mit  demselben  zusammenhängen,  aber  doch  wesent- 
lich von  ihm  verschieden  sind.  Es  sind  dies  namentlich  die  Er- 
scheinungen der  Differenzierung,  welche  wir  im  neunzehnten  Kapitel 
noch  eingehender  betrachten  werden,  und  die  Vorgänge  der  Degene- 
ration oder  Entbildung.  Wir  können  demnach  allgemein  als  ver- 
schiedene „Funktionen  der  Ontogenesis"  folgende  vier  Prozesse 
unterscheiden:  1.  die  Zeugung:  2.  das  Wachstum  im  engeren 
Sinne;  3.  die  Differenzierung;  4.  die  Degeneration.  Alle 
vier  Prozesse,  auf  welche  sich  sämtliche  übrigen  ontogenetischen 
Vorgänge  zurückführen  lassen,  sind  physiologische,  d.  h.  physikalisch- 
chemische  Funktionen,  welche  unmittelbar  mit  der  allgemeinen 
organischen  Fundamentalfunktion  der  Ernährung  zusammenhängen. 

1.    Die  Zeugung  (Generatio). 

Die  Entstehung  des  organischen  Individuums  durch  Zeugung  ist 
der  erste  und  fundamentalste  Prozeß,  mit  welchem  jede  individuelle 
Entwickelung  beginnt.  Da  wir  ihre  verschiedenen  Formen  im  vorher- 
gehenden bereits  betrachtet  haben,  so  heben  wir  hier  bloß  nochmals 


200  Entwickelungsgeschichte  dev  physiologischen  Individuen.  XYII. 

hervor,  daß  die  Zeugung  nicht  allein  als  der  erste  Entstehungsakt 
die  Ontogenesis  jedes  organischen  Individuums  einleitet,  sondern  auch 
das  Wachstum  der  Individuen  zweiter  und  höherer  Ordnung  dadurch 
bewirkt,  daß  beständig  die  Individuen  erster  Ordnung,  welche  dieselben 
zusammensetzen,    durch   wiederholte   Zeugungsakte   sich   vermehren. 

2.    Das  Wachstum  (Crescentia). 

Das  Wachstum  im  engeren  Sinne  (Crescentia)  zeigt  sich  äußer- 
lich allgemein  in  einer  Größenzunahme  des  Individuums,  einer 
totalen  oder  partiellen  Vermehrung  seines  Volums  und  seiner  Masse. 
Das  innere  Wesen  dieser  unmittelbar  mit  der  Ernährung  zusammen- 
hängenden Funktion  haben  wir  bereits  im  fünften  Kapitel  eingehend 
erläutert.  Wir  führten  dort  aus,  daß  das  Wachstum  sowohl  der 
organischen  als  der  anorganischen  Individuen  wesentlich  darin  beruht, 
daß  das  vorhandene  Individuum,  ein  festflüssiger  oder  fester  Körper, 
als  Attraktionszentrum  wirksam  ist  und  aus  einer  umgebenden  Flüssig- 
keit bestimmte  Moleküle  anzieht,  welche  in  dieser  gelöst  sind  und 
welche  er  aus  dem  flüssigen  in  den  festflüssigen  Aggregatzustand 
überführt.  Die  Anziehung  der  Moleküle  geschieht  mit  einer  bestimm- 
ten, durch  die  chemische  Wahlverwandtschaft  des  Körpers  bedingten 
Auswahl.  Das  Wachstum  der  organischen  und  anorganischen  Indi- 
viduen ist  durchaus  analog  und  beruht  in  beiden  Fällen  auf  den 
physikaHschen  Gesetzen  der  Massenbewegung,  Anziehung  und  Ab- 
stoßung. Der  wesentliche  Unterschied  im  Wachstum  beider  Gruppen 
von  Naturkörpern  besteht  darin,  daß  das  Wachstum  des  festflüssigen 
organischen  Individuums  durch  Intussusception  nach  innen,  dasjenige 
des  festen  anorganischen  Individuums  (Kristalls)  durch  Apposition  von 
außen  erfolgt.  Wenn  wir  im  folgenden  vom  Wachstum  im  engsten 
Sinne,  oder  vom  „einfachen  Wachstum"  {Crescentia  sitiqüeoc)  der 
Organismen  sprechen,  so  verstehen  wir  darunter  lediglich  diesen 
Prozeß,  die  Vergrößerung  (Volumverraehrung)  durch  Aufnahme  neuer 
Moleküle.  Diese  einfache  Wachstumsfunktion  wird  eigentlich  nur  von 
den  Individuen  erster  Ordnung  (Piastiden)  geübt.  Denn  das  Wachs- 
liiiii  aller  Individuen  zweiter  und  höherer  Ordnung  ist  erst  das  mittel- 
bare Resultat  des  einfachen  Wachstums  der  Individuen  erster  Ordnung, 
und  kann  insofern  als  „zusammengesetztes  Wachstum"  {Cres- 
centia composita)  unterschieden  werden,  als  es  stets  auf  einer  Ver- 
bindung der  beiden  angeführten  Entwickelungsfunktionen.  Zeugung 
und  Wachstum    der   Piastiden,   beruht.     Wir   können   es   daher 


XVII.  IV.    Verschiedene  Funktionen  der  Entwickelung.  201 

als  allgemeines  Gesetz  aussprechen,  daß  das  Wachstum  der  morpho- 
logischen Individuen  erster  Ordnung  ein  direktes  oder  einfaches, 
das  Wachstum  der  morphologischen  Individuen  zweiter  und  höherer 
Ordnung  dagegen  ein  indirektes  ist,  zusammengesetzt  aus  den  beiden 
zusammenwirkenden  Funktionen  der  Zeugung  und  des  Wachstums 
der  konstituierenden  Piastiden.  Obwohl  die  Entwickelungsfunktion 
des  Wachstums  vorzugsweise  in  dem  Stadium  der  Anaplasc  wirksam 
erscheint,  setzt  dieselbe  dennoch  ihre  Tätigkeit  auch  noch  während 
der  Stadien  der  Mctaplase  und  Cataplase  beständig  fort,  da  die 
Deckung  der  Substanzverluste,  welche  durch  die  Lebensfunktionen 
herbeigeführt  werden,  in  letzter  Instanz  immer  wieder  durch  die 
Ernährung  und  das  Wachstum  der  Piastiden  bewirkt  wird. 

3.    Die  Differenzierung  (Divergentia) 
oder  Arbeitsteilung  (Polymorphismus). 

Die  dritte  wichtige  Fuhdamentalfunktion.  welche  bei  der  Ent- 
wickelung der  organischen  Individuen  wirksam  ist,  und  auf  welcher 
alle  höhere  Entwickelung.  alle  Vervollkommnung  derselben  beruht, 
bezeichnet  man  allgemein  mit  dem  Namen  der  Differenzierung  oder 
Arbeitsteilung.  Man  versteht  bekanntlich  unter  diesem  wichtigen 
Prozesse  ganz  im  allgemeinen  eine  Hervorbildung  ungleicharti- 
ger Teile  aus  gleichartiger  Grundlage,  welche  durch  Anpassung 
derselben  an  ungleiche  Existenzbedingungen  bewirkt  wird.  Im  neun- 
zehnten Kapitel  werden  wir  die  Divergenz  des  Charakters,  w^elche 
dieser  ungleichartigen  Entwickelung  von  ursprünglich  gleichartigen 
Teilen  zugrunde  liegt,  näher  zu  erläutern  und  auf  die  Gesetze  der 
Anpassung-  und  Vererbung  zurückzuführen  haben.  Hier  sei  daher 
nur  so  viel  bemerkt,  daß  wir  den  Begriff  der  Differenzierung  im 
w^eitesten  Sinne  fassen.  Gewöhnlich  wird  derselbe  nur  auf  die  Bionten 
oder  physiologischen  Individuen  angewandt.  Wie  wir  aber  das  Ver- 
ständnis von  deren  Entwickelung  nur  dadurch  erlangen  können,  daß 
wir  die  Ontogenesis  der  morphologischen  Individuen  aller  Ordnungen 
erkennen,  so  verstehen  wir  auch  den  Polymorphismus  der  Bionten 
nur  dadurch,  daß  wir  die  Differenzierung  aller  untergeordneten  Indi- 
vidualitäten erkennen,  w^elche  die  höheren  zusammensetzen.  Ja  wir 
g-ehen  noch  weiter,  und  leiten  die  divergente  Entwickelung  der  Indi- 
viduen erster  Ordnung,  der  Piastiden,  von  einer  Arbeitsteilung  der 
Eiweißmoleküle  des  Plasma  ab,  welches  die  aktive  Piastidensubstanz 
bildet.    Wir  führen  mit  einem  Wort  die  morphologische  und  physiolo- 


202  Eiitwickelungsf^eschiclite  der  jjlij'siologisclien  Individuen.  XVII. 


ö 


gisclie  Dift'eronzierung  auf  die  chemische  Arbeitsteihing  der  Plasma- 
molekül e  ziiiück.  Aus  diesem  Molekularvorgang  resultieren  alle 
höheren  Differenzierungsprozesse,  welche  die  divergente  Entwickelung 
der  vollkommenen  Organismen  möglich  machen.  So  allgemein  nun 
auch  diese  Funktion  in  der  ganzen  organischen  Welt  und  ganz  be- 
sonders bei  der  Meiaplase  wirksam  ist,  so  ist  es  doch  sehr  bemerkens- 
wert, daß  sie  bei  den  einfachsten  Organismen,  den  Moneren  (Bacterien) 
fehlt.  Bei  diesen  homogenen  und  strukturlosen  Protisten,  welche  sich 
zunächst  an  die  Kiistalle  anschließen,  beschränkt  sich  die  Ontogenesis 
auf  die  beiden  Funktionen  der  Zeugung  und  des  Wachstums,  ohne 
daß  eine  Differenzierung  eintritt.  Die  Moneren  schließen  sich  in 
dieser  wie  in  mehreren  anderen  Beziehungen  näher  an  die  organi- 
schen Kristalle,  als  an  die  übrigen  Organismen  an. 

4.     Die  Entbildung  (Degeneratio). 

Unter  Entbildung  oder  Degeneration  verstehen  wir  hier  diejenige 
Veränderung   der   organischen   Individuen,   deren   Resultat   eine  Be- 
schränkung oder  Verminderung  oder  eine  gänzliche  Vernichtung  ihrer 
physiologischen  Funktion  zur  Folge  hat,  und  welche  sich  stets  auch 
in  entsprechenden  morphologischen  Veränderungen  ihrer  Form  und  oft 
in  Verminderung  ihres  Volums  kundgibt.    Es  ist  dieser  Prozeß  also 
dem   des  Wachstums    gewissermaßen    entgegengesetzt    und   wie  das 
letztere  die  Grundlage  der  Anaplase,  so  bildet  die  Degeneration  das 
Fundament  der  Catcqüase.    Wir  betrachten  die  Rückbildung,  welche 
oft  der  Entwickelung  im  engeren  Sinne  geradezu  entgegengesetzt  wird, 
dennoch   als  einen  Teil  derselben,   da  wir  oben  gezeigt  haben,   daß 
sich  diese  Vorgänge  nicht  scharf  trennen  lassen,   und  daß  die  voll- 
ständige Ontogenie  alle  Stadien  der  individuellen  Existenz  zu  begreifen 
hat.  Wir  nennen  die  Degeneration,  welche  oft  auch  als  „Rückbildung" 
bezeichnet  wird,  „Entbildung",  um  sie  scharf  von  der  eigentlichen 
Rückbildung  oder  Cataplase  zu  unterscheiden,  von  der  sie  nur  einen 
Teil   darstellt.     Die  Rückbildung  betrifft  den  ganzen  Organismus  in 
seiner  Totalität,  die  Entbildung  nur  einzelne  Teile  desselben.    Durch 
den  Abschluß  der  Rückbildung  wird  die  Existenz  des  organischen  In- 
dividuums vernichtet,   durch   den  Abschluß  der  Entbildung  dagegen 
nicht:  vielmehr   verliert   dasselbe    durch   letztere   nur  einzelne  Teile. 
Jede  Entbildung  eines  Individuums  zweiter  oder  höherer  Ordnung  ist 
verbunden  mit  einer  Rückbildung  einer  Anzahl  von  Individuen  erster 
Ordnung  (Piastiden),  welche  das  erstere  zusammensetzen.    Aber  nicht 


XVII.  V.    Verschiedene  Stadien  der  Entwickelung.  203 

jede  Entbildung  einer  Plastide  ist  zugleich  ihre  Rückbildung-.  Es 
kann  z.  B.  eine  einzelne,  stark  differenzierte  Pflanzenzelle  einen  Ent- 
bildungsprozeß  (z.  B.  Verlust  bestimmter  Fortsätze  oder  Inhaltsteile 
der  Zelle)  vollständig  von  Anfang  bis  zu  Ende  durchmachen,  ohne 
daß  dadurch  ihre  Rückbildung  eintritt.  Wir  müssen  also  diese  beiden 
Prozesse,  die  totale  Rückbildung  des  Bionten  und  seine  partielle  Ent- 
bildung wohl  unterscheiden,  wenngleich  immer  die  Rückbildung  der 
Individuen  zweiter  und  höherer  Ordnung  auf  einer  Entbildung  eines 
Teiles  ihrer  konstituierenden  Piastiden  beruht.  Im  ganzen  sind  die 
Vorgänge  der  Entbildung  oder  Degeneration  noch  sehr  wenig  unter- 
sucht, da  man  sie  meistens  gar  nicht  als  Teile  der  Entwickelungs- 
geschichte  betrachtet  hat.  Nur  in  der  pathologischen  Physiologie  des 
Menschen,  wo  sie  von  großer  praktischer  Bedeutung  sind,  haben  die- 
selben eine  eingehendere  Untersuchung  erfahren.  Es  gehören  dahin 
besonders  die  Prozesse  der  fettigen  Degeneration,  der  Erweichung, 
Verkalkung,  amyloiden  Degeneration  etc.,  kurz  alle  diejenigen,  welche 
man  als  Necrobiose  zusammengefaßt  hat.  Bei  den  Pflanzen  ge- 
hören dahin  die  Verdickungen  der  Zellwände,  die  Bildung  der  luft- 
haltigen Spiralgefäße  durch  Verschmelzung  und  Degeneration  von 
Zellen  etc.  Für  die  Cataplase  und  namentlich  auch  für  die  regressive 
Metamorphose  im  engeren  Sinne  sind  diese  Vorgänge  der  De- 
generation von  der  größten  Bedeutung  und  verdienen  ein  weit  ein- 
gehenderes Studium,  als  ihnen  bisher  zu  teil  geworden  ist. 

Werfen  wir  nach  dieser  kurzen  Übersicht  der  vier  verschiedenen 
Funktionen  der  individuellen  Entwickelung  auf  dieselbe  noch  einen 
vergleichenden  Rückblick,  so  sehen  wir,  daß  dieselbe  im  großen  und 
ganzen  den  verschiedenen  Stadien  der  individuellen  Entwickelung 
entsprechen,  so  jedoch,  daß  gewöhnlich  keine  der  ersteren  ausschheß- 
lich  für  sich  allein  eines  der  letzteren  bildet.  Es  beteihgt  sich  die 
Zeugung  und  das  Wachstum  vorzugsweise  an  der  Anaplase,  die 
Differenzierung  vorzugsweise  an  der  Metaplase  und  die  Degeneration 
vorzugsweise  an  der  Cataplase.  Eine  genauere  Betrachtung  der  drei 
Entwickelungsstadien  wird  uns  dies  noch  bestimmter  nachweisen. 

Y.     Yerschiedene  Stadien  der  Entwickelung:. 

1.     Anaplasis  oder  Aufbildung  (Evolutio). 

(Aetas  juvenilis.     Juventus.     Adolescentia.     .Tugendalter.) 

Wir  haben  oben  im  allgemeinen  drei  Stadien  oder  Perioden  der 
individuellen  Entwickelung  unterschieden,  die  Aufbildung,  Umbildung 


204  Entwickeliingsgescliichte  der  physiologischen  Inclividuen.  XYII. 

und  Hüc'kbikluiig'.  und  werden  nun  versuchen,  den  Charakter  der- 
selben etwas  schärfer  zu  bestimmen.  Das  erste  Stadium  derselben, 
die  Aul'bildung  oder  Anaplase,  ist  dasjenige,  welches  der  Entwickelimg 
(Evolutio)  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  entspricht.  Es  umfaßt 
die  aufsteigende  oder  fortschreitende  Reihe  von  Formveränderungen, 
welche  das  organische  Individuum  von  dem  Momente  seiner  Ent- 
stehung an  bis  zur  erlangten  Reife  durchläuft.  Im  weiteren  Sinne 
kann  man  diese  Periode  als  das  Jugendalter  (Juventus,  Aetas  juvenihs) 
des  Individuums  bezeichnen.  Auch  der  Ausdruck  Adolescentia  wird 
dafür  gebraucht,  der  aber  deshalb  zweideutig  ist,  weil  er  von  anderen 
(nicht  mit  Recht)  zur  Bezeichnung  des  reifen  Alters  (Maturitas)  ver- 
wandt wird. 

Die  Entwiekelungsfunktionen,  welche  das  Stadium  der  Anaplase 
vorzugsweise  charakterisieren,  sind  die  Vorgänge  der  Zeugung  und 
des  Wachstums.  Wie  diese  beiden  Prozesse  mit  der  Ontogenese 
aller  organischen  Individuen  ohne  Ausnahme  verbunden  sind,  so  ist 
auch  das  Aufbildungsalter  das  einzige,  welches  allen  Organismen 
ohne  Ausnahme  zukommt.  Bei  den  niedersten  Organismen,  den  Mo- 
neren, beschränkt  sich  die  gesamte  Entwickelung  des  Individuums 
auf  diese  beiden  Funktionen,  auf  seine  Entstehung  durch  Zeugung 
(entweder  Archigonie  oder  Monogonie)  und  auf  sein  Wachstum.  Hierin 
stimmen  diese  einfachsten  Bionten  wesentlich  mit  den  Kristallen  überein, 
deren  Entwickelung  ebenfalls  auf  die  beiden  Momente  ihrer  Ent- 
stehung (durch  einen  der  Archigonie  ganz  analogen  Vorgang)  und 
ihres  Wachstums  beschränkt  bleibt.  Bei  den  allermeisten  Organismen 
kommt  aber  später  noch  die  dritte  Funktion  der  Differenzierung 
hinzu,  durch  welche  das  anfangs  gleichartige  Individuum  in  ein  un- 
gleichartiges umgewandelt  wird.  Diese  Differenzierung  tritt  schon 
bei  den  meisten  Organismen  ein,  welche  zeitlebens  auf  der  niedersten 
morphologischen  Stufe  der  Plastide  stehen  bleiben.  Sie  erreicht  aber 
ihre  eigentliche  Bedeutung  und  eine  entschiedenere  Wirksamkeit  erst 
dann,  wenn  durch  Synusie  von  mehreren  Piastiden  ein  Formindi- 
viduum zweiter  oder  höherer  Ordnung  entsteht. 

Die  relative  Ausdehnung  und  Bedeutung  des  Jugendalters  ist  bei 
den  Individuen  verschiedener  Ordnung  und  bei  den  Bionten  ver- 
schiedener Stämme  und  Klassen  außerordentlich  verschieden,  und  man 
kann  daher  nicht  allgemein  bestimmte  untergeordnete  Perioden  des- 
selben unterscheiden.  Bei  denjenigen  Individuen,  welche  durch  ge- 
schlechtliche Zeugung  entstehen,  zerfällt  dasselbe  stets  in  die  beiden 


XVII.  ^  •   Verschiedene  Stadien  der  Entwickelung.  205 

Abschnitte  der  embryonalen  Jugend  und  der  freien  Jugend.  So  lange 
das  jugendliche  Individuum  in  den  Eihüllen  eingeschlossen  ist,  heißt 
es  Embryo,  sobald  es  dieselben  verlassen  hat,  entweder  Junges 
{Juvcnis,  Pidlus)  oder  Larve:  letzteres,  wenn  es  noch  eine  wirk- 
liche Metamorphose  (durch  Abwerfen  provisorischer  Teile)  durchzu- 
machen hat,  ersteres,  wenn  dies  nicht  der  Fall  ist.  Bei  denjenigen 
Individuen,  welche  sich  mit  Metamorphose  entwickeln,  kommt  also 
auch  die  vierte  Entwickelungsfunktion,  die  Degeneration  zur  Geltung, 
indem  ledighch  durch  diesen  Prozeß  der  Verlust  der  provisorischen 
Teile  oder  Larvenorgane  bedingt  wird.  Sonst  ist  die  Entbildung  oder 
Degeneration  diejenige  von  den  vier  outogenetischen  Funktionen, 
welche  am  wenigsten  von  allen  bei  der  Anaplase  in  Wirkung  tritt. 
Bei  sehr  zahlreichen  organischen  Individuen  ist  das  Stadium  der 
Anaplase  das  einzige  Entwickelungsstadium,  welches  sie  durchlaufen, 
da  sie  weder  zur  Reife,  noch  zur  Rückbildung  gelangen.  Solche  In- 
dividuen sind  z.  B.  die  Furchungskugeln.  die  Embryonalzellen  und 
überhaupt  alle  in  lebhafter  Vermehrung  begriffenen  Piastiden.  Aber 
auch  viele  Individuen  höherer  Ordnung-  gibt  es,  welche  weder  einer 
Metaplase  noch  einer  Cataplase  unterworfen  sind,  und  bei  denen 
mithin  die  ganze  Zeit  der  individuellen  Existenz  sich  auf  das  Jugend- 
alter beschränkt.  Dies  ist  z.  B.  der  Fall  bei  aUen  Individuen,  welche, 
sobald  sie  durch  Wachstum  eine  bestimmte  Grenze  erreicht  haben, 
sich  teilen  und  durch  Zerfall  in  mehrere  neue  Individuen  untergehen. 
Insbesondere  ist  dies  bei  den  niederen  Organismen  sehr  allgemein 
der  Fall.  Aber  auch  die  meisten  Pflanzen,  selbst  die  höchst  ent- 
wickelten, sind  den  meisten  Tieren  gegenüber  dadurch  ausgezeichnet, 
daß  sehr  viele  von  ihren  Individualitäten  (besonders  die  geschlechts- 
losen Sprosse  und  die  Stöcke)  ein  unbegrenztes  Wachstum  besitzen 
und  also  nie  eigentlich  in  das  Reifealter  übertreten.  Bei  den  Tieren 
sind  viele  niedere  Formen  durch  die  relativ  bedeutendere  Länge  der 
Juventus  ausgezeichnet. 

2.     Metaplasis  oder  Umbildung  (Transvolutio). 

(Maturitas.     Adultas.     Aetas  matura.     Reifealter.) 

Das  mittlere  der  drei  individuellen  Entwickelungsstadien.  die 
Periode  der  Reife  oder  Maturität,  ist,  wie  wir  schon  oben  zeigten,  in 
keiner  allgemein  gültigen  Weise  scharf  von  den  beiden  anderen  zu 
trennen.  Einerseits  geht  es  ebenso  allmählig  aus  dem  Jugendalter 
hervor,  wie  es  sich  andererseits  in  das  Greisenalter  verhert.    Allgemein 


206  Entwickelungsgesclüchte  der  physiologischen  Iiulividueii.  XYII. 

kann  man  nur  den  Abschluß  des  Wachstums  als  den  bezeichnenden 
Beginn  der  Reife  ansehen.  Der  Organismns  gilt  meistens  für  „reif" 
oder  „vollendet",  wenn  er  ..ausgewachsen"  ist.  Bei  den  geschlecht- 
lieh entwickelten  Organismen  pflegt  man  aber  als  das  eigentliche 
Kriterium  des  Reifealters  die  Fortpflanzungsfähigkeit  anzusehen, 
die  vollständige  Ausbildung  der  Geschlechtsorgane  oder  die  Ge- 
schlechtsreife. Wir  haben  indes  schon  oben  gezeigt,  daß  dieses 
Kriterium  zwar  in  vielen  Fällen,  aber  keineswegs  allgemein  anwendbar 
ist,  da  sehr  häufig  der  Abschluß  des  Wachstums  nicht  mit  der  Ge- 
schlechtsreife zusammenfällt.  Viele  Tiere  (z.  B.  Coelenteraten)  und 
noch  mehr  Pflanzen  (aus  vielen  Gruppen)  pflegen  sich  sowohl  ge- 
schlechtlich als  ungeschlechtlich  schon  lange  fortzupflanzen,  ehe  ihr 
Wachstum  seine  Grenze  erreicht  hat;  andere  umgekehrt  erst  längere 
Zeit,  nachdem  schon  diese  Grenze  überschritten  ist.  Überdies  gibt 
es  zahlreiche  organische  Individuen,  die  sich  niemals  fortpflanzen, 
und  die  dennoch  ein  entschiedenes  Alter  der  Reife  erreichen.  Wollen 
wir  daher  anders  den  Begriff  der  Maturität  irgendwie  scharf  gegen 
den  der  Juventus  abgrenzen,  so  müssen  wir  sagen :  das  organische 
Individuum  (aller  Ordnungen)  ist  reif,  sobald  es  ausgewachsen  ist, 
sobald  es  seine  volle  individuelle  Größe  erreicht  hat. 

Nicht  minder  schwierig,  meistens  sogar  noch  weit  schwieriger, 
ist  andererseits  die  Abgrenzung  des  Reifealters  von  dem  der  Rück- 
bildung. Auch  hier  hat  man  bei  denjenigen  Individuen,  welche  sexuell 
differenziert  sind,  besonders  das  Aufhören  der  Geschlechtstätigkeit  als 
den  Beginn  der  Cataplase  betrachtet.  Indessen  ist  hier  dieses  Kri- 
terium noch  weniger  anwendbar,  da  viele  Organismen  noch  die  volle 
Zeugungsfähigkeit  besitzen,  während  bereits  entschiedene  Rückbildung 
eingetreten  ist,  andere  umgekehrt  dieselbe  schon  lange  vorher  ver- 
lieren. Auch  erleiden  viele  Individuen  eine  Rückbildung,  welche  niemals 
geschlechtsreif  werden,  und  andere  verlieren  ihre  Zeugungsfähigkeit, 
ohne  sich  rückzubilden.  Hier  scheint  also  nichts  anderes  übrig  zu 
bleiben,  als  das  Ende  der  Reife  und  den  Beginn  der  Rückbildung 
durch  das  Auftreten  von  entschiedenen  Degenerationsprozessen 
einzelner  integrierender  Bestandteile  zu  bestimmen,  welche  an  dem 
ausgebildeten  Organismus  in  voller  Funktion  waren. 

Die  Entwickelungsfunktion,  welche  das  Stadium  der  Metaplase 
vorzugsweise  charakterisiert,  ist  die  Differenzierung.  Wie  das 
Wachstum  für  die  Anaplase^  wie  die  Degeneration  für  die  Cataplase^ 
so   ist  die  Dift'erenzierung  der  Teile  für  die  Metaplase  das  Vorzugs- 


XYII.  V.    Verschiedene  Stadien  der  Entwickelnng.  207 

weise  charakteristische  Moment,  und  streng  genommen  die  einzige 
plastische  Funktion  derselben,  welche  dem  Individuum  selbst  zugute 
kommt.  Wenn  die  Ernährungs Vorgänge,  welche  das  Wachstum 
veranlassen,  während  der  Metaplase  noch  fortdauern,  so  führen  die- 
selben nicht  mehr  zur  Vergrößerung  des  Individuums,  sondern  zu 
seiner  Fortpflanzung,  zur  Erzeugung  neuer  Individuen,  und  diese 
Tätigkeit  erscheint,  wie  bemerkt,  bei  sehr  vielen  (aber  nicht  bei 
allen!)  organischen  Individuen  zunächst  als  die  am  meisten  auffallende 
Äußerung  der  Reife.  Man  kann  also  sagen,  daß  zwar  das  Wachs- 
tum an  dem  reifen  und  „ausgewachsenen"  Individuum  noch  fort- 
dauert, aber  nicht  mehr  eine  Volumvermehrung  desselben,  sondern 
nur  eine  Ablösung  der  tiberschtissigen  Wachstumsprodukte,  eine  Ab- 
spaltung der  Keime  von  neuen  Individuen  zur  Folge  hat.  Eigentliche 
Degenerationsvorgänge  sind  im  Alter  der  Reife  unter  normalen  (nicht 
pathologischen)  Verhältnissen  gewöhnlich  ausgeschlossen  und  ihr 
Eintreten  bezeichnet  bereits  den  Beginn  der  Cataplase. 

Das  Maturitätsstadium  tritt,  wie  schon  bemerkt,  keineswegs  bei 
allen  organischen  Individuen  ein,  fehlt  vielmehr  allgemein  da,  wo 
die  individuelle  Existenz  mit  dem  Abschluß  des  Wachstums  selbst 
beendigt  ist.  Die  Zeitdauer  der  Reife  steht  bei  den  höheren  Tieren 
häufig  (aber  nicht  immer)  in  einem  gewissen  Verhältnis  zur  Voll- 
kommenheit derselben,  so  daß  die  Maturität,  gegenüber  der  Juventus 
und  Senectus,  um  so  länger  dauert,  je  vollkommener  das  Tier  ist. 
Anderemale  nimmt  aber  auch  bei  sehr  vollkommenen  Organismen 
die  Anaplase  einen  weit  längeren  Zeitraum  in  Anspruch,  als  die 
Metaplase,  so  z.  B.  bei  sehr  vielen  metabolen  Insekten. 

3.    Cataplasis  oder  Rückbildung  (Involutio). 

(Senilitas.     Aetas  senilis.     Deflorescentia.     Decrescentia.     Greisenalter.) 

Das  letzte  der  drei  individuellen  Entwickelungsstadien,  die 
Periode  der  Abnahme  oder  Rückbildung,  ist  dasjenige,  welches  im 
allgemeinen  die  geringste  Bedeutung  hat  und  daher  bis  jetzt  auch 
nur  sehr  wenig  sowohl  in  physiologischer  als  morphologischer  Be- 
ziehung berücksichtigt  ist.  Bei  sehr  vielen  organischen  Individuen 
fehlt  es  ganz,  und  nur  bei  verhältnismäßig  wenigen  nimmt  dasselbe 
eine  längere  Zeit  der  individuellen  Existenz  ein.  Dennoch  kann 
man  dasselbe  in  vielen  Fällen  deutlich  als  einen  besonderen  letzten 
Lebensabschnitt  unterscheiden,  und  bei  vielen  höher  entwickelten 
Organismen    ist   es   von   nicht   geringer  physiologischer  Bedeutung; 


208  Entwickoliingsgoschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

sein  Verlauf  ist  daher  sowohl  für  die  richtige  Beurteilung  der  all- 
gemeinen Lebensvorgänge,  wie  der  partiellen  Degenerationserschei- 
nungen, von  hohem  Interesse. 

Der  Charakter  des  Greisenalters  liegt  im  allgemeinen  in  einer 
Abnahme  teils  der  gesamten  Lebenstätigkeit  des  Individuums,  teils 
besonderer  physiologischer  Leistungen  und  namentlich  der  Fortpflan- 
zungsfunktionen. Mit  dieser  Dekreszenz  der  Funktionen  geht  eine  ent- 
sprechende rttckschreitende  Veränderung  auch  der  Formverhältnisse 
Hand  in  Hand,  welche  allerdings  oft  mehr  im  allgemeinen  zu  bemer- 
ken, als  im  einzelnen  scharf  nachzuweisen  ist.  Doch  können  wir 
das  morphologische  Kriterium  für  den  Beginn  der  Defloreszenz  und 
ihre  Abgrenzung  von  dem  Reifealter  nur  darin  finden,  daß  Dege- 
nerationsprozesse an  einzelnen  Teilen  des  Individuums 
auftreten,  welche  an  dem  erw^achsenen  Organismus  sich  beständig  in 
ihrer  Integrität  erhalten  hatten.  Es  ist  also  ganz  besonders  die  Ent- 
wickelungsfunktion  der  Entbildung  oder  Degeneration,  welche  für 
dieses  dritte  und  letzte  Hauptstadium  der  individuellen  Entwickelung 
charakteristisch  ist.  Das  Individuum,  welches  während  der  Meta- 
plase  lediglich  in  Differenzierungs-  und  Fortpflanzungsprozessen  sich 
bewegt  hatte,  beginnt  die  Cataplase  mit  dem  Eintritt  degenerativer 
Prozesse  in  einzelnen  Teilen.  Bei  der  menschlichen  Person,  w^o  wir 
das  Greisenalter  besonders  genau  kennen,  sind  es  insbesondere  fettige 
und  kalkige  Degenerationen,  Erweichungen  und  Verhärtungen  der 
Gewebe  etc.,  welche  in  den  verschiedensten  Organen  das  Signal  der 
beginnenden  Rückbildung,  des  Ca'eisenalters  geben.  Das  Wachstum 
und  die  Zeugungsfähigkeit  haben  schon  vorher  aufgehört  oder  dauern 
doch  nur  kurze  Zeit  fort.  Selten  ist  aber  die  Grenze  zwischen  den 
beiden  Perioden  der  Reife  und  der  Dekreszenz  scharf  zu  ziehen,  und 
bei  sehr  vielen  Organismen  können  wir  letztere  als  besondere  Periode 
schon  deshalb  nicht  unterscheiden,  weil  bereits  unmittelbar  mit  dem 
Aufhören  des  Wachstums  oder  mitten  in  der  vollen  Reife  plötzlich 
die  Vernichtung  der  individuellen  Existenz  eintritt,  entweder  durch 
Selbstteilung  oder  durch  den  Tod. 

Sämtliche  Formveränderungen  der  organischen  Individuen,  welche 
während  der  Cataplase  auftreten,  sind  ebenso  wie  alle  Formverände- 
rungen, welche  während  der  Metaplase  und  Anaplase  vor  sich  gehen, 
die  notwendigen  Wirkungen  von  physiologischen  Ernährungsverände- 
rungen, und  als  solche  auf  mechanische,  physikalisch-chemische  Ur- 
sachen  zurückführbar.     Der    spezielle  Verlauf  jener  ontogenetischen 


XVII.  VI.    Verschiedene  Arten  der  Zeugungskreise.  209 

Form  Veränderungen  wird  mit  kausaler  Notwendigkeit  durcli  den  Ver- 
lauf der  Wechselwirkung  von  Vererbung  und  Anpassung  bedingt, 
welche  die  paläontologische  Entwickelung  der  Vorfahren  des  Indivi- 
duums bestimmte  und  leitete. 


VI.    Verschiedene  Arten  der  Zeugungskreise. 

In  den  vorhergehenden  drei  Abschnitten  dieses  Kapitels  haben 
wir  die  verschiedenen  Formen  der  Zeugung,  die  verschiedenen 
Funktionen  der  Ontogenesis  und  die  verschiedenen  Stadien  derselben 
kennen  gelernt,  und  es  erübrigt  nun  noch,  einen  Überblick  über  die 
verschiedenen  Zeugungskreise  zu  gewinnen,  welche  durch  die  mannig- 
faltigsten Kombinationen  der  verschiedenen  Zeugungs-  und  Ent- 
wickelungsarten  bei  den  verschiedenen  Individualitäten  zustande 
kommen. 

Als  Zeugungskreis  (Cyclus  generationis)  haben  wir  die 
genealogische  Individualität  erster  Ordnung  bezeichnet,  den 
geschlossenen  Kreis  oder  die  volle  Summe  aller  der  organischen 
Formen,  welche  aus  einem  einzigen  physiologischen  Individuum  her- 
vorgehen, von  dem  Zeitpunkte  an,  wo  dasselbe  erzeugt  wurde,  bis  zu 
dem  Zeitpunkte,  wo  dasselbe  selbst  wieder  die  gleiche  organische 
Form  entweder  direkt  oder  indirekt  (durch  Einschaltung  verschie- 
dener Generationen)  erzeugt  hat.  Diese  geschlossene  Entwickelungs- 
einheit,  eine  ringförmige  Kette  von  Formzuständen,  deren  Ausgangs- 
punkt und  Ende  gleich  ist,  erscheint  für  uns  von  großer  Bedeutung 
als  die  konkrete  Grundlage  der  höheren  Entwickelungseinheit,  welche 
wir  Art  oder  Spezies  nennen.  Der  Zeugungskreis  ist  diejenige 
individuelle  Einheit  (das  genealogische  Individuum  erster  Ordnung), 
aus  deren  Vielheit  die  höhere  Einheit  der  Art  oder  Spezies  (das 
genealogische  Individuum  zweiter  Ordnung)  zusammengesetzt  ist. 
In  dieser  Beziehung  ist  auch  der  Zeugungskreis  von  einigen  Autoren 
nicht  passend  als  „Artindividualität"  bezeichnet  w^orden.  Dieser 
Ausdruck  muß  der  Spezies  selbst  vorbehalten  bleiben,  während  man 
den  Zeugungskreis,  um  jenes  Verhältnis  auszudrücken,  das  Glied  der 
Art  nennen  könnte.  In  der  Tat  setzt  sich  die  genealogische  Einheit 
der  Spezies  in  ganz  ähnhcher  Weise  aus  einer  Vielheit  von  subordi- 
nierten Zeugungskreisen  zusammen,  wie  die  morphologische  Einheit 
der  Person  aus  einer  Vielheit  von  subordinierten  Gliedern  oder  Meta- 
meren. 

H  a  e  c  k  e  1 .   Prinz,  d.  Morphol.  14 


210  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.   •         XVII. 

Wir  haben  oben  im  allgemeinen  zwei  verschiedene  Hanptformen 
von  Zengungskreisen  oder  Generationszyklen  aufgestellt,  welche  sich 
durch  den  Mangel  oder  die  Anwesenheit  der  geschlechtlichen  Diffe- 
renzierung unterscheiden.     Diejenige  einfachere  Hauptform  der  Zeu- 
gungskreise, welche  bloß  aus  Wachstumsvorgängen  und  einem  einzigen 
ungeschlechtlichen  Zeugungsakt,  oder  aber  aus  einer  Reihe  von  unge- 
schlechtlichen Zeugungsakten   zusammengesetzt  ist.   haben   wir   den 
Spaltungskreis   benannt  (Cyclus  monogenes),   und    den   Entwicke- 
lungsvorgang  innerhalb  desselben  Monogenesis  oder  Entwickelung 
mit  ausschließlich  monogener  Zeugung.    Die  entgegengesetzte  höhere 
Hauptform  der  Zeugungskreise,   welche   stets  von   einem  geschlecht- 
lichen Zeugungsakte  ausgeht  und  zu  diesem  zurückkehrt,  haben  wir 
als  Eikreis  {Cyclus  ampliigenes)  unterschieden,   und  den  Entwicke- 
lungsprozeß  innerhalb  desselben  als  Amphigenesis  oder  Entwicke- 
lung mit  geschlechtlicher  Zeugung.     Indem  wir  von   diesem  Haupt- 
unterschiede in  der  Entstehung  der  Zeugungskreise  ausgehen,  können 
wir  unter  jeder  der  beiden  Hauptformen  vier  untergeordnete  Formen 
von  Generationszyklen  unterscheiden.     Der  monogene  Zeugungs- 
kreis zerfällt  in  die  beiden  Entwickelungsarten  der  Schizogenese 
und  Sporo genese,  je  nachdem  er  mit  einfacher  Spaltung  (Teilung 
oder    Knospenbildung)    oder    mit    Sporenbildung    abschheßt.      Unter 
beiden   Genesis-Arten    können   wir   wieder    als   zwei  Unterarten   die 
monoplastide  und  die  polyplastide  trennen,  je  nachdem  die  reife 
Speziesform  (das  zeugungsfähige  Bion)  eine  einfache  Plastide  (Form- 
individuum erster  Ordnung)  oder  einen  Plastidenkomplex  (Formindi- 
viduum zweiter  Ordnung)   darstellt.     Der  amphigene  Zeugungs- 
kreis zerfällt  ebenfalls  in  zwei   untergeordnete  Entwickelungsarten, 
die   Metagenese  (mit  Generationswechsel)   und    die  Hypogenese 
(ohne  Generationswechsel).    Unter  der  Metagenese  unterscheiden  wir 
die  beiden  subordinierten  Formen  des  progressiven  und  des  regres- 
siven Generationswechsels,   je  nachdem  der  amphigene  Zyklus  aus 
mehr  als  zwei,  oder  nur  aus  zwei  Bionten  besteht.    Unter  der  Hypo- 
genese endlich,  bei  welcher  der  Eikreis  nur  durch  ein  einziges  Bion 
gebildet  wird,  können  wir  als  zwei  untergeordnete  Formen  die  meta- 
morphe und  die  epimorphe  Hypogenese  unterscheiden,  erstere  mit, 
letztere  ohne  postembryonale  Metamorphose. 

Indem  wir  auf  den  folgenden  Seiten  eine  systematische  Über- 
sicht und  eine  allgemeine  Charakteristik  der  verschiedenen  Arten  der 
Zeugungskreise  zu  geben  versuchen,  erinnern  wir  ausdrücklich  daran. 


XVII. 


YII.    System  der  verschiedenen  Arten  der  Zeugungskreise. 


211 


YII.    System  der  verscliiedeuen  Arten  der  Zeuguiigskreise. 


Jloiiogenesis. 

Entwickelung 
ohne    geschlecht- 
liche Zeugung. 
Alle  Bionten  der 
Spezies  entstehen 
durch    unge- 
schlechtliche 
Zeugung.  Genera- 
tionszyklus      ist 
ein       Spaltungs- 
kreis        (Cyclus 
monogenes). 


Ampliigeue.sis. 

Entwickelung  mit 
geschlechtlicher 

Zeugung. 
Entweder  ein  Teil 
der  Bionten  oder 
alle  Bionten  der 
Spezies  entstehen 
durch  geschlecht- 
liche      Zeugung. 

Generations- 
zyklus    ist     ein 
Eikreis      (Cyclus 
amphigenes). 


Schizogeuesis. 

Spaltungskreis 
oderSpaltprodukt 
(^Cyclus  monoge- 
nes) durch  Tei- 
lung oder  Knos- 
penbildung er- 
zeugt. 


Sporogeiiesis. 

Spaltungskreis 
oderSpaltprodukt 
(Cyclus  monoge- 
nes) durch  Spo- 
renbildung er- 
zeugt. 


Metageuesis. 

Eikreis  oder  Ei- 
produkt (Cyclus 
amphigenes)  aus 
zwei  oder  mehr 
Bionten  zusam- 
mengesetzt. 
Generations- 
wechsel. 


Hypogenesis. 

Eikreis  oder  Ei- 
produkt (Cyclus 
amphigenes)  aus 
einem  einzigen 
Bionten  beste- 
hend. Kein 
Gene  ratio  ns- 
wechs  el. 


Reifes,  spaltungs- 
fähiges Bion 
eine  einfache 
Plastide. 


Reifes,  spaltungs- 
fähiges Bion  eine 
Piastidenkolonie. 


Reifes,  sporenbil- 
dendes Bion  eine 
einzige  Plastide. 


Reifes,  sporenbil- 
dendes Bion  eine 
Piastidenkolonie. 


Eiskreis  aus  mehr 
als  zwei  Bionten 
zusammen- 
gesetzt. 


Eikreis  aus  zwei 
Bionten     zusam- 
mengesetzt. 

Postembiyonale 
Entwickelung  mit 
echter   Metamor- 
phose. 


Postembryonale 
Entwickelung 
ohne  echte  Meta- 
morphose. 


Scliizogenesis  monoplastidis. 

Die  einfachsten  monoplastiden 
Protisten,  Moneren:  Schizo- 
phyten  (Chromaceen,  Bak- 
terien); Amoeben,  Flagella- 
ten,  Diatomeen. 

Schizogenesis    polyplasticlis. 

Viele  polyplastide  Protisten, 
Soziale  Moneren  (Ketten  von 
Chromaceen  und  Bakterien). 
FlageUaten,   Diatomeen  etc. 

Sporogenesis   monoplastidis. 
Viele    monoplastide     Protisten 

(Rhizopoden,  FlageUaten)  u. 

..einzellige   Pflanzen",    z.  B. 

Codiolum,  Hydrocytium. 

Sporogenesis     polyplastidis. 

Viele  polyplastide  Protisten 
(Rhizopoden  und  FlageUaten, 
Myxomyceten)  und  viele  nie- 
dere Pflanzen  (Desmidiaceen 
und  andere  Algen). 

Metagenesis  progressiva. 
Viele  Würmer  (Platyelminthen 
etc.),  viele  Tunicaten(Salpen), 
die  meisten  Hydromedusen; 
viele  Cryptogamen  (Moose, 
Farne),  Phanerogamen  mit 
Brutknospen. 

Metagenesis    regressiva. 
Viele    Arthropoden     (Aphiden, 
Cocciden,  Daphniden). 

Hypogenesis  metamorpha. 
Amphibien  und  einige  Fische. 
Die  Mehrzahl  der  Articulaten, 
Mollusken    und    Echinoder- 
men. 

Hypogenesis  epimorpha . 
Alle  allantoiden  und  die  meisten 
anallantoiden  Wirbeltiere. 
Cephalopoden.  Ametabole 
Insekten.  Wenige  andere 
Wirbellose.  Die  meisten 
Phanerogamen.  Einige  Cryp- 
togamen (Fucaceen  etc.). 

14* 


212  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

daß  dio  ontooenetischeii  Erscliciniiiiiicn.  welche  den  Inhalt  der  indi- 
viduellen Entwickelungsgeschichte  bei  allen  Organismen  bilden,  nur 
zu  verstehen  sind  durch  die  Erkenntnis  ihres  kausalen  Zusammen- 
hanges mit  der  parallelen  Phylogenie,  mit  der  Entwickelungsgeschichte 
des  gesamten  Stammes  (Phylon),  und  speziell  aller  Vorfahren,  von 
welchen  das  Individuum  in  kontinuierlicher  Erbfolge  abstammt.  Die 
Reihe  von  Formveränderungen,  welche  den  Zeugungskreis  jedes  indi- 
viduellen Organismus  konstituieren,  ist  die  kurze  und  schnelle 
Rekapitulation  der  wichtigsten  Forraveränderungen,  welche  die 
gesamte  Reihe  seiner  Vorfahren  während  ihrer  langsamen  palä- 
ontologischen Entwickelung  in  langen  Zeiträumen  durchlaufen  hat. 


Till.     Allgemeine  Charakteristik  der  Zeugimgskreise. 

I.    Monogrenesis. 

Entwickelung  ohne  Amphigonie. 

(Ontogenesis  der  Spaltuiig-sprodukte.) 

DerZeugungskreis  ist  ein  monogener  Generationszyklus. 
AUeBionten,  welche  die  Spezies  repräsentieren,  entstehen 
durch  ungeschlechtliche  P'ortpflanzung. 

Die  Bionten,  welche  die  Spezies  zusammensetzen,  entwickeln 
niemals  Geschlechtsorgane  und  pflanzen  sich  niemals  durch  befruchtete 
Eier  fort.  Das  Spaltungsprodukt  oder  der  Spaltungskreis,  die  Formen- 
reihe, welche  die  Spezies  innerhalb  ihres  ungeschlechthchen  Fort- 
pflanzungszyklus (von  der  vollständigen  Spaltung  bis  zur  vollstän- 
digen Spaltung  oder  von  der  Spore  bis  zur  Spore)  durchläuft,  wird 
stets  nur  durch  ein  physiologisches  Individuum  (Bion)  repräsentiert. 
Die  Entwickelung  ist  entweder  ausschließliches  Wachstum,  oder  mit 
Differenzierung  verbunden.  Je  nachdem  der  Fortpflanzungsprozeß 
einfache  Spaltung  (Teilung  oder  Knospenbilduug)  oder  Sporenbildung 
ist,  unterscheiden  wir  Schizogenesis  und  Sporogenesis. 

I.  1.     Schizogenesis. 

Entwickelung  des  Spaltungsproduktes  ohne  Sporenliildung. 

Monogene  Entwickelung  mit  Spaltung  (Teilung  oder 
Knospenbildung)  und  mit  einfachem  oder  zusammenge- 
setztem Wachstum,  ohne  Sporenbildung.  Der  monogene 
Zeugungskreis  bildet  ein  einziges  Bion  erster  oder  höherer 
Ordnung. 


XVII.  VIII.    Allgemeine  Charakteristik  der  Zeugungskreise.  213 

Der  Organismus,  welcher  entweder  einer  einzigen  oder  einem 
Komplex  von  mehreren  Piastiden  entspricht,  pflanzt  sich  ausschließ- 
lich durch  einfache  Spaltung  (Teilung  oder  Knospenbildung)  fort.  Die 
dadurch  erzeugten  Teilstücke  ergänzen  sich  durch  Wachstum  zu  der 
elterlichen  Form,  aus  deren  Spaltung  sie  entstanden  sind.  Ist  die 
Spaltung  stets  vollständig,  so  sind  die  Bionten  der  Spezies  Mono- 
plastiden:  ist  sie  abwechselnd  unvollständig,  so  entstehen  Polyplastiden. 

1  A.     Schizogenesis  monoplastidis. 

Monogene  Entwickelung  einer  einfachen  Plastide,  mit 
einfachem  Wachstum.  Fortpflanzung  durch  vollständige 
Spaltung.  Der  monogene  Zeugungskreis  bildet  ein  Bion 
erster  Ordnung  (eine  einfache  Plastide). 

Die  monoplastide  Schizogenese  ist  die  einfachste  und  ursprüng- 
lichste von  allen  verschiedenen  Arten  der  Fortpflanzung  und  Ent- 
wickelung. Sie  findet  sich  bloß  bei  den  jetzt  noch  lebenden  Or- 
ganismen niederster  Stufe  vor,  bei  den  Moneren  {Schizopliijten: 
Chromaceen  und  Bakterien),  bei  vielen  einzeUigen  Rhizopoden  und 
Flagellaten,  den  einzelligen  Diatomeen  und  einigen  großen  Siphoneen 
(Caiderpa).  Die  Fortpflanzung  ist  hier  möglichst  einförmig,  indem 
sie  stets  beschränkt  bleibt  auf  die  einfache  Selbstteilung  oder  Knospen- 
bildung der  Individuen.  Ebenso  beschränkt  sich  die  Entwickelung 
der  durch  Teilung  entstandenen  neuen  Individuen  auf  einfaches  Wachs- 
tum bis  zu  dem  Maße,  welches  die  Spezies  vor  der  Teilung  als  er- 
wachsenes Indi^^duum  besaß.  Diese  einfachste  Art  der  Zeugung  und 
Entwickelung  ist  für  uns  insofern  von  besonderem  Interesse,  als  sie 
höchst  wahrscheinlich  die  ursprüngliche  Fortpflanzungsweise  der 
archigonen  Moneren  darstellt,  aus  denen  sich  zuerst  alle  organischen 
Phylen  entwickelt  haben.  Eigentlich  kann  hier  von  Entwickelung 
kaum  die  Rede  sein,  da  die  einzige  Veränderung  des  werdenden 
Organisiuus  eine  Größenveränderung  ist,  die  Form  der  Spezies  aber 
in  allen  Stadien  dieselbe  bleibt.  Mehr  als  alle  anderen  Organismen 
schließen  sich  diese  einfachsten  Moneren  den  anorganischen  Kristallen 
an,  so  auch  darin,  daß  ihre  Entwickelung  bloß  Wachstum  ist.  Das 
physiologische  Individuum  (Bmi)  ist  hier  jederzeit  nur  ein  einfachstes 
morphologisches  Individuum   erster  Ordnung,   eine    kernlose  Cytode. 

IB.     Schizogenesis   polyplastidis. 
Monogene  Entwickelung    einer   Piastidenkolonie,    mit 
zusammengesetztem  Wachstum  und  unvollständiger  Spal- 


214  Entwickclungsgeschichte  der  pliysiologischen  Individuen.  XVII. 

tung.  Fortpflanzung  durch  vollständige  Spaltung.  Der  mo- 
nogene Zeugungskreis  bildet  ein  Bion  zweiter  oder  höherer 
Ordnung. 

Diese  Form  der  Ontogenesis  schließt  sicli  zunächst  an  die  vorige 
an  und  unterscheidet  sich  nur  dadurch,  daß  die  Teilung  der  ein- 
fachen Bionten  nicht  stets  vollständig,  sondern  auch  unvollständig 
ist,  so  daß  dieselben  zu  einer  Piastidenkolonie  (Coenohium)  ver- 
einigt bleiben.  Der  einfachste  derartige  Fall  findet  sich  bei  den  so- 
zialen Moneren,  bei  jenen  Schizophyten,  welche  dm'ch  Gliederung 
Ketten  von  vollkommen  homogenen  und  strukturlosen  Cytoden  her- 
stellen. Durch  diese  Artikulation  entstehen  hier  Individuen  zweiter 
Ordnung,  Piastidenkolonien,  welche  sich  dadurch  fortpflanzen,  daß 
sich  die  einzelnen  Glieder  ablösen  und  selbständig  durch  Artikulation 
zu  neuen  Ketten  entwickeln.  (Oscillatorien,  Nostocaceen,  Ketten- 
bakterien). Die  Entwickelung  besteht  also  auch  hier  wesentlich,  wie 
bei  der  Schizogenese,  in  dem  Wachstum  der  homogenen  Organismen 
und  in  der  Kettenbildung  durch  unvollständige  Teilung.  Indessen 
kommt  hier  zu  der  einfachen  Größenveränderung  doch  schon  die 
Formveränderung  der  Spezies,  welche  durch  die  Kettenbildung  der 
einfachen  Individuen  selbst  bewirkt  wird.  An  die  einfachste  Form 
der  Gemeindebildung  bei  den  Moneren  sclüießt  sich  auch  die  Familien- 
bildung derjenigen  Diatomeen  an  (Bacillaria,  Fragillaria  etc.),  bei 
denen  ebenfalls  die  durch  unvollständige  Teilung  entstandenen  In- 
dividuen vereinigt  bleiben.  Diese  Coenobien  oder  Piastidengemeinden 
pflanzen  sich  einfach  dadurch  fort,  daß  die  einzelnen  Zellenindividuen 
sich  ablösen  und  durch  abermalige  unvollständige  Teilung  gleich 
wieder  zu  neuen  Gemeinden  entwickeln. 

I,  2.     Spor ogenesis. 

Entwickplung  des  Spaltungsproduktes  mit  Spürenbildung. 

Monogene  Entwickelung  mit  Sporenbildung,  mit  ein- 
fachem oder  zusammengesetztem  Wachstum  und  mit  Diffe- 
renzierung. Der  monogene  Zeugungskreis  bildet  ein  ein- 
ziges Bion  erster  oder  höherer  Ordnung. 

Der  Organismus,  welcher  entweder  einer  einzigen  oder  einem 
Komplex  von  mehreren  Piastiden  entspricht,  erzeugt  Keimkörner 
(Sporen),  welche  sich  von  ihm  ablösen  und  sich  durch  Wachstum  und 
Differenzierung  zu  der  elterlichen  Form  entwickeln.  Die  Spore  ist 
meistens  eine  Monospore  (eine  einfache  Plastide),  seltener  eine 
Polyspore  (ein  Piastidenkomplex), 


XVII.  VIII.    Allgemeine  Charakteristik  der  Zeugungskreise.  215 

2A.     Sporogenesis  monoplastidis. 

Monogene  Entwickelung  einer  einfachen  Plastide,  mit 
einfachem  Wachstum  und  Differenzierung.  Fortpflanzung 
durch  Sporenbildung.  Der  monogene  Zeugungskreis  bildet 
ein  Bion  erster  Ordnung  (eine  einfache  Plastide). 

Die  monoplastide  Sporogenese  scheint  unter  den  einfachsten 
Organismenarten  erster  morphologischer  Ordnung  weit  verbreitet  zu 
sein.  Sie  besteht  darin,  daß  Spezies,  welche  nicht  den  Rang  der 
einfachen  Plastide  überschreiten,  in  ihrem  Inneren  Keimkörner  (Sporen) 
erzeugen,  welche  aus  der  elterlichen  Plastide  heraustreten  und  sich 
außerhalb  derselben  zu  ihresgleichen  entwickeln.  Da  in  diesem 
Falle  die  Keimkörner  oder  Sporen  stets  nicht  allein  an  Größe,  sondern 
auch  an  Form  von  der  elterlichen  Plastide  sich  unterscheiden,  so 
besteht  hier  die  Entwickelung  des  Bionten  nicht  allein  mehr  in  einer 
Veränderung  der  Größe,  sondern  auch  der  Form.  Mithin  beschränkt 
sich  die  Ontogenese  nicht  auf  ein  einfaches  Wachstum,  sondern  ist 
mit  einer  Formveränderung  verbunden,  welche  bereits  den  Namen 
der  Differenzierung  verdient.  Wir  finden  diese  einfache  Sporogenese 
unter  verschiedenen  Stämmen  des  Protistenreiches,  besonders  bei  den 
Rhizopoden  und  Flagellaten.  bei  „einzelligen  Algen"  (z.  B.  Codiolum, 
Hijdrocytium)  u.  a. 

2B.     Sporogenesis  polyplastidis. 

Monogene  Entwickelung  einer  Piastidenkolonie,  mit 
zusammengesetztem  Wachstum,  Differenzierung  und  un- 
vollständiger Spaltung.  Fortpflanzung  durch  Sporenbildung. 
Der  monogene  Zeugungskreis  bildet  ein  Bion  zweiter  oder 
höherer  Ordnung. 

Die  polyplastide  Sporogenese  ist  unter  den  einfacheren  Organismen 
des  Protisten-  und  Pflanzenreiches  weit  verbreitet.  Sie  besteht  darin, 
daß  Spezies,  welche  den  Rang  einer  einfachen  Plastide  überschreiten 
und  durch  unvollständige  Teilung  Piastidenkolonien  oder  selbst 
differenzierte  Piastidenaggregate  (Formindividuen  zweiter  und  höherer 
Ordnung)  darstellen,  in  ihrem  Inneren  Keimkörper  (Sporen)  erzeugen, 
welche  sich  außerhalb  des  elterlichen  Piastidenstockes  durch  fortge- 
setzte unvollständige  Teilung  und  Differenzierung  wieder  zu  gleichen 
Piastidenstöcken  entwickeln.  Dies  ist  der  Fall  bei  vielen  mehrzelligen 
oder  stockbildenden  Protisten,  bei  den  sozialen  Rhizopoden  und  Fla- 
gellaten,   Myxomyceten,    Polycyttarien    u.    a.     Unter    den    niederen 


216  Entwickelungsgescliichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

Pflanzen  ist  dieser  Fortpflanznngsmodus  ebenfalls  sehr  verbreitet, 
namentlich  J3ei  den  niederen  Algen  (Desmidiaceen,  Chlorophyceen  etc.) 
Bei  den  letzteren  werden  znni  Teil  selbst  von  einer  Piastidenspezies 
verschiedene  Sporenarten  gebildet.  Die  Entwickelung  der  aus  der 
Spore  austretenden  Plastide  besteht  hier  in  Wachstum,  unvollständiger 
Teilung  und  Differenzierung  der  Teilprodukte.  Die  Differenzierung 
erreicht  jedoch  auch  bei  dieser  vollkommensten  Form  der  Mono- 
genesis  niemals  dieselbe  Höhe,  wie  bei  der  Amphigenesis. 

II.     A  m  p  li  i  g-  e  n  e  s  i  s. 

Entwickelung  mit  Amphigonie. 

(Ontogenesis  der  Eiiiroiliikte.l 

Der  Zeugungskreis  ist  ein  amphigener  Generations- 
zyklus. Entweder  ein  Teil  der  Bionten,  oder  alle  Bionten, 
welche  die  Spezies  repräsentieren,  entstehen  durch  ge- 
schlechtliche Fortpflanzung. 

Alle  Bionten  oder  ein  Teil  der  Bionten,  welche  die  Spezies  zu- 
sammensetzen, entwickeln  weibhche  und  männliche  Geschlechtsorgane 
und  pflanzen  sich  durch  befruchtete  Eier  fort.  Das  Eiprodukt  oder 
der  Eikreis,  die  Formenreihe,  welche  die  Spezies  innerhalb  ihres  ge- 
schlechtlichen Fortpflanzungszyklus  (vom  Ei  bis  wieder  zum  Ei) 
durchläuft,  wird  entw^eder  durch  ein  einziges  oder  durch  mehrere 
physiologische  Individuen  (Bionten)  repräsentiert.  Die  Entwickelung 
ist  niemals  bloß  einfaches  Wachstum,  sondern  stets  mit  Differenzierung 
und  häufig  mit  Metamorphose  verbunden.  Je  nachdem  das  Eiprodukt 
von  einem  einzigen  oder  von  mehreren  Bionten  repräsentiert  wird, 
unterscheiden  wir  die  Entwickelung  der  Eiprodukte  in  Hypogenesis 
und  Metagenesis.    Beide  können  mit  und  ohne  Metamorphose  verlaufen. 

II,  1.     Metagenesis. 

Entwickelung-  des  Eiproduktes  mit  Generationswechsel. 

Amphigene  Entwickelung  mit  m  onogener  Entwickelung 
von  Bionten  innerhalb  jedes  Zeugungskreises  abw^echselnd. 
Der  amphigene  Zeugungskreis  ist  aus  zwei  oder  mehreren 
Bionten  zusammengesetzt,  von  denen  mindestens  eines  stets 
geschlechtlich,  das  andere  nicht  geschlechtlich  differen- 
ziert ist.  < 

Der  echte  Generationswechsel  oder  die  Metagenesis  besteht 
in  allen  Fällen  aus  cinei'  Verbindung   von  geschlechtlicher  und  un- 


XVll.  VIII.    Allgemeine  Charakteristik  der  Zeugungskreise.  217 

geschlechtlicher  Zeugung,  in  der  Weise,  daß  die  periodisch  wieder- 
kehrende Formenkette  des  regelmäßigen  Zeugungskreises  mindestens 
aus  zwei  Bionten  besteht,  einem  ungeschlechtlich  und  einem 
geschlechthch  erzeugten  physiologischen  Individuum.  Bei  allen  Orga- 
nismen mit  echtem  Generationsw^echsel  entspringt  aus  dem  befruchteten 
Ei  ein  Individuum,  welches  zunächst  bloß  auf  ungeschlechtlichem 
Wege,  durch  Teilimg.  Knospung  oder  Keimbildung  sich  fortpflanzt, 
und  die  so  erzeugten  Individuen'  w^erden  entweder  alle  oder  teil- 
weise wieder  geschleclitsreif,  oder  sie  erzeugen  selbst  wieder  auf 
ungeschlechtlichem  Wege  eine  oder  mehrere  folgende  Generationen, 
deren  letzte  endhch  wieder  Geschlechtsprodukte  erzeugt.  Hiermit  ist 
der  regelmäßige  Zyklus  von  Generationen  geschlossen.  Das  geschlecht- 
lich erzeugte  Individuum  kann  zwar  in  manchen  Fällen  auch  selbst 
wieder  geschlechtsreif  werden,  aber  doch  erst,  nachdem  es  ein  oder 
mehrere  neue  Bionten  auf  ungeschlechtlichem  Wege  erzeugt  hat.  Die 
unmittelbar  aus  dem  befruchteten  Ei  entspringende  Generationsform, 
welche  auf  irgend  einem  ungeschlechtlichen  Wege  die  nächste  Ge- 
neration erzeugt,  wird  allgemein  als  Amme  (Altrix)  bezeichnet. 
Die  Amme  als  Zwischenform,  welche  bei  dem  Generationswechsel  in 
den  kontinuierlichen  Entwäckelungslauf  des  Eiproduktes  eingeschaltet 
ist,  unterscheidet  sich  von  der  Larve,  w^elche  als  Zwischenform  bei 
der  Metamorphose  sow^ohl  in  die  Hypogenese  als  in  die  Metagenese 
eingeschaltet  w^erden  kann,  dadurch,  daß  die  Amme  wirklich  selbst- 
ständige neue  Keime  von  Bionten,  die  Larve  dagegen  nur  proviso- 
rische Organe  entwickelt.  Die  geschlechtslose  Amme  geht  beim  Ge- 
nerationswechsel zugrunde,  ohne  in  das  physiologische  Individuum, 
welches  geschlechtsreif  wird,  überzugehen,  während  die  geschlechts- 
lose Larve  bei  der  Metamorphose  unmittelbar  in  die  letztere  übergeht. 
Um  die  äußerst  verwickelten  und  mannigfaltigen  Vorgänge  des 
Generationswechsels  in  ihrem  eigentlichen  Wesen  richtig  zu  erfassen, 
ist  es  notwendig,  die  oben  aufgestellte  Charakteristik  desselben  stets 
im  Sinne  zu  behalten.  Der  echte  Generationswechsel  oder  die  Meta- 
genesis.  wie  wir  sie  hier  scharf  bestimmen,  ist  w^esentlich  dadurch 
charakterisiert  und  von  allen  anderen  Entwickelungsarten  unterschieden, 
daß  der  Zeugungskreis  nicht  aus  einem  einzigen  physiologischen  In- 
dividuum oder  Bion  besteht,  sondern  aus  zwei  oder  mehreren  Bionten 
zusammengesetzt  wird.  Sowohl  bei  allen  Formen  der  Monogenesis 
wie  bei  der  Hypogenesis  ist  es  ein  und  dasselbe  physiologische  In- 
dividuum, an  w^elchem  der  ganze  Generationszyklus  von  Anfang  bis 


218  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

ZU  Ende  abläuft.  Bei  der  Metagenesis  dagegen  finden  wir  stets  min- 
destens zwei,  gewöhnlich  aber  mehrere  physiologische  Individuen,  zu 
einem  einzigen  Zeiignngskreis  verbnndcn.  Dieser  metagenetische 
Zeiigungskreis  hat  das  Eigentümliche,  daß  er  aus  einem  monogenen 
und  einem  amphigenen  zusammengesetzt  ist.  Der  eine  Teil  der  Bionten 
wird  ungeschlechtlich,  der  andere  geschlechtlich  erzeugt. 

Durch  diese  scharfe  Charakteristik  der  Metagenese  trennen  wir 
dieselbe  bestimmt  von  ähnlichen,  aus  ungeschlechtlichen  und  geschlecht- 
lichen Zeugungsakten  zusammengesetzten  Entwickelungsprozessen, 
auf  welche  man  neuerdings  ebenfalls  den  Begriff  des  Generations- 
wechsels ausgedehnt  hat,  welche  sich  aber  wesentlich  dadurch  unter- 
scheiden, daß  der  ganze  Zeugungskreis,  vom  Ei  bis  wieder  zum  Ei, 
an  einem  und  demselben  physiologischen  Individuum  abläuft.  Dies 
ist  z.  B.  bei  dem  sogenannten  Generationswechsel  der  Phanerogamen 
der  Fall,  welcher  nach  unserer  Ansicht  als  Hupogenesis  aufgefaßt 
werden  muß.  Wir  werden  dies  im  nächsten  Abschnitte  zu  begründen 
suchen,  wo  wir  allgemein  die  dem  Generationswechsel  ähnlichen 
Entwickelungsvorgänge,  welche  sich  aus  geschlechtlichen  und  unge- 
schlechtlichen Zeugungsakten  zusammensetzen,  aber  an  einem  ein- 
zigen Bion  ablaufen,  als  Generationsfolge  oder  Strophogenesis 
von  der  echten  Metagenesis  unterscheiden  werden,  mit  welcher  wir 
uns  hier  allein  beschäftigen. 

Obgleich  noch  nicht  ein  halbes  Jahrhundert  verflossen  ist,  seit- 
dem der  Dichter  Adalbert  Cham is so  1819  den  Generationswechsel 
der  Salpen  entdeckte,  und  noch  nicht  ein  Vierteljahrhundert,  seitdem 
J.  Steenstrup  1842  diese  Entdeckung  mit  den  inzwischen  aufge- 
fundenen ähnlichen  Fortpflanzungsvorgängen  bei  den  Hydromedusen, 
Trematoden  etc.  verglich  und  sie  unter  dem  Namen  des  Generations- 
wechsels zusammenfaßte,  ist  dennoch  seit  dieser  kurzen  Zeit  die 
Tatsache  der  Metagenesis  als  eine  weit  im  Tier-  und  Pflanzenreiche 
verbreitete  festgestellt  worden.  Doch  hat  man  neuerdings  sein  Ge- 
biet allzusehr  ausgedehnt,  indem  man  auch  alle  verschiedenen  Formen 
der  eben  erwähnten  Strophogenesis  damit  vereinigte. 

Die  echte  Metagenesis.  bei  welcher  der  amphigene  Zeugungs- 
kreis aus  zwei  oder  mehreren,  teils  geschlechtlich,  teils  ungeschlecht- 
lich erzeugten  Bionten  zusammengesetzt  ist,  findet  sich  vor:  1.  im 
Tierreiche:  unter  den  Arthropoden  bei  den  Blattläusen,  Cecidomyien, 
Rotatorien,  Phyllopoden,  Daphniden  etc.;  unter  den  Anneliden  bei 
Piotiila,    Syllis,    Sabella,   Nais  etc.;    ferner   bei  Nematoden  (Ascaris 


XVII.  VIII.    Allgemeine  Charakteristik  der  Zeugungskreise.  219 

nigrovenosa),  Platyelminthen  (Trematoden,  Cestoden);  Tunicaten 
(Salpa);  unter  den  Coelenteraten  vorzüglich  bei  den  Hydromedusen 
in  der  mannigfaltigsten  Form ;  bei  manchen  Schwämmen,  bei  denen  die 
ungeschlechthche  Biontenbildnng  durch  Gemmnlae  mit  der  geschlecht- 
lichen durch  befruchtete  Eier  (fälschlich  sogenannte  „Schwärm- 
sporen") alterniert:  2.  im  Pflanzenreiche  bei  vielen  Kiyptogamen, 
insbesondere  sehr  allgemein  bei  den  Gefäßkryptogamen  (Farnen, 
Lycopodiaceen,  Equisetaceen)  und  Moosen.  Dagegen  fehlt  die  echte 
Metagenesis  bei  den  meisten  Phanerogamen  (mit  Ausnahme  derjenigen, 
welche  durch  Brutknospen  [Zwiebeln  und  Bulbillen]  neue  Bionten  auf 
monogenem  Wege  erzeugen).  Ebenso  fehlt  sie  allen  Wirbeltieren  und 
allen  Mollusken  sowie  der  großen  Mehrzahl  der  Arthropoden.  ^) 

Nicht  allein  eine  sehr  ausgedehnte  Verbreitung,  sondern  auch 
eine  unerwartete  Mannigfaltigkeit  in  der  speziellen  Ausführung  des 
metagenetischen  Entwickelungsmodus  haben  uns  die  fleißigen  Unter- 
suchungen der  letzten  Dezennien  eröffnet;  so  zwar,  daß  in  dieser 
Beziehung  die  Entwickelung  mit  Generationswechsel  unendlich  viel 
mannigfaltiger  erscheint,  als  alle  anderen  Entwickelungsformen  zu- 
sammengenommen. Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  diese  zahlreichen 
und  in  vieler  Hinsicht  verschiedenen  Modifikationen  der  Metagenese 
näher  einzugehen,  und  es  ist  auch  die  Masse  der  bis  jetzt  bekannten 
verschiedenartigen  Tatsachen  noch  keineswegs  in  der  Weise  geordnet, 
daß  ein  zusammenhängender  Überblick  möglich  wäre.  Wir  wollen 
daher  hier  nur  einige  derjenigen  Seiten  des  Generationswechsels  be- 
trachten, welche  sich  auf  die  Individualitätsfrage  beziehen,  und  nur 
diejenigen  Modifikationen  hervorheben,  welche  uns  auf  einer  wesent- 
lich verschiedenen  kausalen  Entstehung  zu  beruhen  scheinen,  und  die 
deshalb  von  ganz  verschiedenem  morphologischen  Werte  sind. 

Ein  sehr  wichtiges,  bisher  nicht  hervorgehobenes  Moment,  welches 
sich  auf  die  Entstehung,  auf  die  paläontologische  Entwickelung 
des  Generationswechsels  bezieht,  läßt  nach  unserer  Auffassung  alle 
verschiedenen  Formen  der  Metagenese  in  zwei  entgegengesetzte  Reihen 
vereinigen,  welche  den  entgegengesetzten  Formen  der  Sporogonie 
entsprechen  und  welche  wir  demgemäß  als  progressive  und  regressive 
Reihe  unterscheiden  können.  Der  fortschreitende  Generations- 
wechsel (jMetagenesis  progressiva)   findet   sich   bei    denjenigen 


1)  (1906).     Neuerdings  ist    echte    Metagenesis    auch    bei    vielen    einzelligen 
Protisten  nachgewiesen,   bei  Sporozoen,   Rhizopoden,   Infusorien  und  Algarien. 


220  Eiitvvickelungsgeschichte  der  jDhysiologischen  Individuen.  Xlll. 

Organismen,  welche  oewissermaßen  nocli  auf  dem  Übergangsstadium 
von  der  Monogonie  zur  Amphigonie  sich  befinden,  deren  frühere 
Stammeltern  also  niemals  ausschließlich  auf  geschlechtlichem  Wege 
sich  fortpflanzten.  Dies  ist  wahrscheinlich  bei  der  großen  Mehrzahl 
der  bekannten  Formen  von  Metagenesis  der  Fall.  z.  B.  bei  den  Tre- 
matoden.  Hydromedusen  etc.  Hier  haben  immer,  seitdem  die  ge- 
schlechtliche Zeugung  aus  der  ungeschlechtlichen  sich  hervorbildete, 
ungeschlechtliche  und  geschlechtliche  Generationen  neben  einander 
bestanden  und  miteinander  abgewechselt.  Niemals  ist  die  Spezies  in 
der  Lage  gewesen,  sich  ausschließlich  durch  Amphigonie  fortzupflanzen. 
Das  Gegenteil  zeigt  uns  der  rückschreitende  Generations- 
wechsel (Metagenesis  regressiva).  w^elchen  wir  als  einen  Rück- 
schlag der  Amphigonie  in  die  Monogonie  auffassen.  Diese 
merkwürdige  Entwickelungsweise  glauben  wir  bei  denjenigen  höheren 
Organismen  mit  Generationsw^echsel  zu  finden,  deren  nächste  Ver- 
Avandte  sich  allgemein  auf  rein  hypogenem  Wege,  durch  ausschließ- 
liche Amphigonie  fortpflanzen,  und  bei  welchen  außerdem  die  unge- 
schlechtlich erzeugten  Keime  (Monosporen,  „  Sommereier")  in  besonderen 
Keimstöcken  oder  Sporocarpien  entstehen,  welche  offenbar  rück- 
gebildete  Eierstöcke  sind.  Dies  ist  der  Fall  bei  den  meisten 
Insekten  mit  Generationswechsel  (Aphiden,  Cocciden),  wahrscheinlich 
auch  bei  den  Rotatorien.  Daphniden,  Phyllopoden  etc.  Die  unver- 
kennbare Homologie,  welche  die  Sporen  („Sommereier")  dieser  Tiere 
mit  den  echten  Eiern  („Wintereiern")  der  geschlechtlich  entwickelten 
Generation,  die  keimbildenden  Sporocarpien  (Keimstöcke)  mit  den 
echten  Orarien  (Eierstöcken)  der  letzteren  zeigen,  scheint  uns  diese 
Formen  des  Generationswechsels,  welche  also  in  einem  regelmäßigen 
Wechsel  von  Amphigonie  und  Parthenogonie  bestehen,  nicht 
anders  erklären  zu  lassen,  als  durch  die  Annahme,  daß  die  früheren 
Stammeltern  der  betreffenden  Organismen  ausschließhch  auf  ge- 
schlechtlichem Wege  sich  fortpflanzten  und  erst  später  in  den  unge- 
schlechtlichen Propagationsmodus  noch  früherer  Zeit  zurückfielen,  aus 
w'elchem  sich  die  sexuelle  Zeugung  erst  differenziert  hatte.  Offenbar 
ist  die  biologische  Bedeutung  dieser  beiden  IMetagenesisarten  eine 
gänzlich  entgegengesetzte,  und  wie  wahrscheinlich  ihre  paläontologische 
Entstehung  grundverschieden  war.  so  läßt  sich  vermuten,  daß  auch 
ihre  Zukunft  es  sein  wird.  Die  progressive  Metagenese  der 
Hydromedusen,  Trematoden  etc.  wird  sich  allmählich  zu  reiner  Hy- 
pogenese    erheben    können,    wie   es  bei  nahe   verwandten  Formen 


XVII.  VIII.    Allgemeine  Charakteristik  der  Zeugungskreise.  221 

(z.  B.  Pelagia,  Polystomeen)  bereits  der  Fall  ist.  Die  regressive 
Monogenese  der  Insekten,  Crustaceen  etc.  wird  dagegen  nmgekehrt 
zu  reiner  Monogenese  znrücksinken  können,  wie  es  bei  den  Psy- 
chiden  tatsächlich  stattgefunden  hat.  ^) 

II,  2.     Hypogenesis. 

Entwickelung-  des  Eiproduktes  ohne  Generationswechsel. 

Amphigene  Entwickelung  ausschließlich  die  Zeugungs- 
kreise bildend.  Der  amphigene  Zeugungskreis  besteht  stets 
nur  aus  einem  einzigen  Bion,  welches  geschlechtlich  erzeugt 
ist  und  selbst  geschlechtsreif  wird. 

Das  Eiprodukt  oder  der  Eikreis  wird  durch  ein  einziges  physio- 
logisches Individuum  (Bion)  repräsentiert.  Aus  jedem  befruchteten 
Ei  entsteht  eine  einfache  Formenkette,  welche  kontinuierlich  bis  zur 
Geschlechtsreife  durchgeführt  wird.  Jeder  individuelle  Formzustand 
ist  ein  Glied  dieser  Kette  mid  das  unmittelbare  Resultat  einer  am 
vorhergegangenen  Zustande  oder  Gliede  stattgefundenen  Differenzierung. 
Es  ist  also  niemals  die  geschlechtliche  mit  der  ungeschlechtlichen 
Fortpflanzung  innerhalb  des  Formenkreises    der  Spezies   kombiniert. 

Die  einfache  geschlechtliche  Fortpflanzung  oder  die  ausschließ- 
liche Entwickelung  der  Bionten  aus  befruchteten  Eiern,  w^elche  wir 
hier  mit  dem  Namen  der  Hypogenese  belegen,  findet  sich  vorzugs- 
weise bei  den  höheren  und  vollkommeneren  Klassen  des  Tier-  und 
Pflanzenreiches,  und  bei  den  höchsten  Abteilungen  der  niederen 
Klassen.  Insbesondere  ist  sie  die  ausschließhche  Entwickelungsform 
bei  allen  noch  jetzt  lebenden  Gliedern  des  Vertebratenstammes,  bei 
der  großen  Mehrzahl  aller  Arthropoden,  bei  allen  Mollusken  und 
Echinodermen,  und  bei  vielen  höheren  Würmern,  sowie  bei  der  großen 
Mehrzahl  der  Phanerogamen.  Dagegen  kommt  sie  bei  den  Hydro- 
medusen  und  Kryptogamen  nur  selten,  bei  den  Protisten  vielleicht 
niemals  vor.  In  allen  Fällen  durchläuft  bei  dieser  einfach  kontinuier- 
lichen Entwickelung  das  physiologische  Individuum,  welches  aus  dem 
befruchteten  Eie  entspringt,  eine  einzige  ununterbrochene  Formen- 
reihe, w^elche  mit  der  Produktion  von  Geschlechtsorganen  ihr  Ziel 
erreicht.  Jeder  Zustand  der  Spezies  ist  das  unmittelbare  Differen- 
zierungsprodukt  des   nächst   vorhergegangenen   Zustandes.     Niemals 


1)  (1906).  Neuerdings  wird  die  Form  des  Generationswechsels,  die  wir  hier 
(1866)  regressive  Metagenesis  genannt  haben,  meistens  ganz  davon  getrennt 
und  als  Heterogonie  bezeichnet. 


222  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

wird  diese  zusaniincnhängende  Kette  von  epigenetisch  auseinander 
hervoi-oeh enden  Zuständen  durch  einen  ungeschlechtlichen  Zeugungs- 
akt unterbrochen,  welcher  ein  zweites  selbständiges  Bion  produziert. 
Man  hat  freilich  auch  viele  Wachstums-  und  Differenzierungsakte, 
welche  im  Bion  während  der  hypogenetischen  Entwickelung-  vor  sich 
gehen,  als  ungeschlechtliche  Zeugungsakte  (Knospung,  Teilung  etc.) 
bezeichnet,  und  es  ist  dies  vollkommen  richtig.  Allein  alle  diese 
ungeschlechtliclien  Zeugungsakte  produzieren  nicht  neue  physio- 
logische, sondern  nur  morphologische  Individuen:  und  diese 
letzteren  sind  niemals  von  dem  Range,  welchen  die  Spezies  in  ihrer 
geschlechtsreifen  vollendeten  Form  erreicht,  sondern  stets  morpho- 
logische Individuen  niederen  Ranges.  So  ist  z.  B.  bei  der  Epigenese 
der  Wirbeltiere  schon  die  Furchung  des  Eies  ein  Akt  der  Teilung 
von  Piastiden,  die  Entstehung  der  Urwirbel  ein  Akt  der  terminalen 
Knospenbildung  von  Metameren,  das  Hervorsprossen  der  Extremitäten 
ein  Akt  der  lateralen  Knospung  von  Organen,  das  Hervorsprossen 
der  Zehen  ein  Akt  der  Diradiation,  und  das  Wachstum  sowie  das 
Entstehen  jedes  neuen  Organes  ist  mit  Teilungsakten  von  Piastiden 
verknüpft.  Allein  alle  diese  ungeschlechtlichen  Zeugungakte  führen 
zusammen  nur  zur  Entwickelung  eines  einzigen  Bion,  welches 
als  morphologisches  Individuum  fünfter  Ordnung  die  reife  und  voll- 
endete Speziesform  repräsentiert,  und  diese  Person  pflanzt  sich  nur 
auf  geschlechtlichem  Wege  fort.  Das  Eiprodukt  ist  demnach  in  allen 
Fällen  echter  Hypogenesis  ein  einziges  physiologisches  Individuum. 
Man  pflegt  gewöhnlich  die  einfache  Entwickelung  aus  befruchteten 
Eiern,  welche  wir  Hypogenesis  nennen,  einzuteilen  in  eine  Ent- 
wickelung mit  und  ohne  Verwandlung,  und  wir  werden,  dieser  Ein- 
teilung folgend,  Hypogenesis  metamorpha,  mit  Metamorphose,  und 
Hypogenesis  cpimoipha,  ohne  Metamorphose,  unterscheiden.  Wir 
halten  dabei  den  Begriff  der  Metamorp}iose ,  wie  wir  ihn  oben  definiert 
haben,  fest,  als  die  Entwickelung  außerhalb  der  Eihüllen  mit  Pro- 
duktion provisorischer  Organe,  welche  durch  den  Verwandlungsprozeß 

verloren  gehen. 

II,  2  A.     Hypogenesis  metamoiplia. 

Amphigene Entwickelung  ohne  Generationswechsel,  mit 
postembryonaler  Metamorphose, 

Das  physiologische  Individuum,  welches  aus  dem  befruchteten  Ei 
hervorgeht,  entwickelt  sich  außerhalb  der  Eihüllen  zur  Geschlechts- 
reife, nachdem  es  provisorische  Teile  abgeworfen  hat. 


XVII.  VIII.    Allgemeine  Charakteristik  der  Zeugungskreise.  223 

Der  wesentliche  Charakter  der  postembryonalen  Verwanclluni>. 
welche  man  gewöhnlich  schlechtweg-  als  Metamorphose  bezeichnet, 
liegt,  wie  wir  oben  zeigten,  darin,  daß  das  Bion  nach  dem  Verlassen 
der  EihüUen  provisorische  Organe  besitzt  oder  erhält,  welche  es  verliert, 
ehe  es  sich  znr  Geschlechtsreife  entwickelt.  So  lange  das  den  Ei- 
hüUen entschlüpfte  Individuum  solche  provisorische  Organe  besitzt, 
wird  dasselbe  als  Larve  {Larva,  Xymplia)  bezeichnet.  Der  Verlust 
dieser  Organe  ist  der  eigentliche  Akt  der  Verwandlung,  durch  welchen 
die  Larve  entweder  zum  jungen  Bion  (./««eins)  oder,  wenn  dabei  die 
Geschlechtsorgane  sich  entwickeln,  zum  reifen  und  vollendeten  Bion 
(Ädtdtum)  wird.  Das  Verhältnis  der  Larven  zu  den  jungen  und 
reifen  Bionten  ist  bei  den  verschiedenen  Organismen  außerordentlich 
verschieden,  je  nach  der  Größe,  Ausdehnung  und  Form  der  provi- 
sorischen Organe.  Es  ließe  sich  hiernach  eine  Menge  von  verschiedenen 
Formen  bei  der  Metamorphose  ebenso  wie  beim  Generationswechsel 
unterscheiden.  Indessen  ist  die  Masse  der  in  dieser  Beziehung  be- 
kannten Tatsachen  ebenso  ungenügend  geordnet,  als  umfangreich,  so 
daß  es  vorläufig  noch  nicht  möglich  ist,  in  übersichtlicher  Zusammen- 
stellung das  Verhältnis  der  einzelnen  Metamorphosenarten  zuein- 
ander zu  erörtern.  Eine  zukünftige  kritische  und  denkende  Vergleichung 
derselben  wird  hier  ebenso  wie  beim  Generationswechsel  eine  sehr 
reiche  Fülle  leichterer  und  tieferer  Modifikationen  zu  unterscheiden 
haben.  Für  uns  genügt  hier  die  Anführung  einiger  weniger  Beispiele. 
Als  den  extremsten  Grad  der  Metamorphose  müßten  wir  vor  allen  die 
Ontogenese  der  Echinodermen  bezeichnen:  ferner  diejenige  der  Nemer- 
tinen  und  Museiden.  Bei  letzteren  geht  sie  so  weit,  daß  fast  die 
ganze  embryonale  Entwickelung  des  physiologischen  Individuums  wieder 
von  vorn  anfängt,  und  daß  nicht  nur  einzelne  Organn.  sondern  ganze 
Organsysteme  als  provisorische  Formen  aufgefaßt  werden  müssen. 
So  sehr  nun  auch  diese  extremste  Form  der  Umbildung  bei  den 
Fliegen  von  der  Metamorphose  sich  zu  entfernen  scheint,  so  ist  sie 
dennoch  in  der  Tat  durch  eine  lange  und  allmähliche  Kette  von 
Ubergangsformen.  mit  dem  geringeren  und  zuletzt  dem  ganz  ge- 
ringen Grade  der  Metamorphose  verbunden,  und  zwar  von  Über- 
gangsformen, welche  alle  in  derselben  Insektenklasse  vorkommen. 
Während  noch  bei  den  Schmetterlingen,  den  Käfern  und  den  meisten 
anderen  Insekten  mit  sogenannter  vollkommener  Verwandlung  ge- 
wöhnlich, drei  scharf  getrennte  Abschnitte  der  postembryonalen  Um- 
bildung sich  unterscheiden  lassen  (Larve,  Puppe  und  Image),  finden 


224  Methodik  der  Morphologie  der  Organismen.  XVII. 

wir  (lagegeil  l)ei  den  Insekten  mit  sogenannter  unvollkommener  oder 
halber  Verwandlung  den  Prozeß  der  Metamorphose  auf  verschiedene 
Häutungen  und  auf  die  Entwickelung  der  Flügel  etc.  beschränkt. 
Die  Formunterschiede  der  verschiedenen  Häutungszustände  sind  bald 
so  bedeutend,  daß  die  Häutung  noch  als  unvollkommene  Metamorphose 
bezeichnet  werden  kann,  bald  so  gering,  daß  sie  unmittelbar  in  die 
epimorphe  Hypogenese  übergeht.  Auch  bei  den  übrigen  Articulaten 
und  überhaupt  bei  der  großen  Mehrzahl  aller  Wirbellosen  sehen  wir 
die  Hypogenese  mit  Metamorphose  verbunden,  so  bei  den  meisten 
Crustaceen,  Würmern.  Mollusken.  Echinodermen.  Coelenteraten ;  sehr 
häufig  treten  hier  zugleich  sehr  verwickelte  Formfolgen  dadurch  auf, 
daß  sich  die  Metamorphose  mit  der  Metagenese  verbindet.  Unter 
den  Wirbeltieren  ist  die  postembryonale  Metamorphose  auf  den  Ani- 
phioxus,  die  Cyclostomen  und  Amphibien  beschränkt. 

II.  2  B.     Hypogenesis  epimorpha. 

Ampliigene  Entwickelung  ohne  Generationswechsel  und 
ohne  postembryonale  Metamorphose. 

Das  physiologische  Individuum,  welches  aus  dem  befruchteten 
Ei  hervorgeht,  entwickelt  sich  außerhalb  der  Eihüllen  zur  Geschlechts- 
reife, ohne  provisorische  Teile  abzuwerfen. 

Die  epimorphe  Hypogenese,  die  postembryonale  Entwickelung 
ohne  Verwandlung',  ist  diejenige  Entwickelungsform,  welche  vorzugs- 
weise für  die  Ontogenie  der  größten  und  höchst  entwickelten  Or- 
ganismen, sowohl  im  Pflanzenreich  als  im  Tierreich,  geeignet  erscheint, 
^^elleicht  schon  deshalb,  weil  hier  alle  provisorischen  Formzustände 
innerhalb  der  Eihüllen  durchlaufen  und  alle  provisorischen  Organe 
während  des  embryonalen  Lebens  rückgebildet  werden  und  verloren 
gehen.  Der  Embryo  durchbricht  hier  also  die  Eihüllen  schon  in  der 
ausgebildeten  wesentlichen  Form  des  reifen  Tieres  und  alle  postem- 
bryonalen  Veränderungen  beschränken  sich  auf  die  Entwickelung  der 
Geschlechtsorgane  und  auf  das  bloße  Wachstum:  dieses  vermag 
allerdings  dadurch,  daß  es  in  verschiedenen  Körperteilen  verschieden 
rasch  fortsclireitet  und  verschieden  lange  dauert,  immerhin  ziemlich 
beträchtliche  Proportionsunterschiede  in  der  Größe  und  dadurch  auch 
in  der  Form  des  vollendeten  und  des  werdenden  Individuums  hervor- 
zurufen. Wir  finden  diese  Hypogenese  ohne  Metamorphose  bei  den 
allermeisten  Wirbeltieren  (mit  Ausnahme  der  Amphibien,  Cyclostomen 
und  Leptocardier),  also  bei  allen  Säugern,  Vögeln,  Reptilien  und  echten 


XVII.  VIII.    Allgemeine  Cliarakteristili  der  Zeugiuigskreise.  225 

Fischen.  Unter  den  Mollusken  besitzen  sie  fast  nur  die  Ceplialopoden, 
welche  sich  auch  in  anderen  Entwickelungsverhältnissen  wesentlich  von 
den  übrigen  Mollusken  unterscheiden.  Unter  den  Articulaten  ist  die 
epiniorphe  Hypogenese  im  ganzen  selten,  ebenso  unter  allen  übrigen 
Wirbellosen.  Obgleich  man  diesen  Entwickelungsmodus  gewöhnlich 
für  einen  sehr  einfachen  zu  halten  pflegt,  ist  er  doch,  entsprechend 
schon  der  hohen  Organisationsstufe,  welche  die  betreffenden  Tiere 
erreichen,  umgekehrt  für  einen  der  kompliziertesten  zu  erachten,  und 
vom  phylogenetischen  Standpunkte  aus  für  eine  Art  der  Ontogenese, 
welche  erst  durch  lange  dauernde  „Abkürzung  der  Entwickelung" 
entstanden  ist. 

Im  Pflanzenreiche  finden  wir  die  epiniorphe  Hypogenese  ebenso 
wie  im  Tierreiche  als  die  fast  ausschließliche  Entwickelungsform  aller 
höheren  und  größeren  Organismen  wieder  (mit  Ausnahme  der  höheren 
Kryptogamen).  Wir  finden  dieselbe  vor  bei  den  höheren  Algen  (Fu- 
caceen),  ferner  fast  allgemein  bei  den  Phanerogamen ;  nur  diejenigen 
ausgenommen,  welche  durch  frei  sich  ablösende  Brutknospen  (Bulbi 
und  Bulbilli)  auf  monogenem  Wege  neue  Bionten  erzeugen  (echte 
Metagenesis).  Warum  wir  den  Zeugungskreis  der  Phanerogamen 
nicht  als  echte  Metagenesis  anerkennen  können,  werden  wir  sogleich 
bei  Betrachtung  der  Strophogenese  näher  begründen.  Die  ganze 
Formenfolge  vom  Ei  bis  zum  Ei  bildet  hier  eine  einzige  geschlossene 
Entwickelungskette  und  erscheint  als  ununterbrochene  Differenzierungs- 
reihe von  sukzessiven  Formzuständen  eines  einzigen  Bion,  ganz 
wie  bei  den  höheren  Tieren.  Es  könnte  demnach  nur  die  Frage 
entstehen,  ob  wir  die  Ontogenese  der  Phanerogamen  als  mdamorphe 
oder  als  cpimorphe  auffassen  sollen,  d.  h.  ob  mit  ihrer  postembryonalen 
Entwickelung  eine  Metamorphose  verbunden  ist  oder  nicht.  Daß  die 
sogenannte  „Metamorphose  der  Pflanzen",  und  der  Phanerogamen 
insbesondere,  wesentlich  eine  Differenzierungserscheinung  ist,  und 
keine  Verwandlung  in  dem  Sinne,  in  welchem  der  Begriff  der  Me- 
tamorphose von  den  Zoologen  fast  allgemein  und  täglich  gebraucht 
wird,  haben  wir  bereits  oben  gezeigt.  Es  könnte  sich  also  nur  fragen, 
ob  sich  außerdem  noch  bei  den  hypogenen  Pflanzen  eine  echte  Meta- 
morphose in  dem  vorher  festgestellten  Sinne  findet,  d.  h.  eine  postem- 
bryonale Entwickelung  mit  Verlust  provisorischer  Teile.  Als  solche 
„provisorische  Teile"  könnte  man  bei  den  Phanerogamen  die  Coty- 
ledonen  oder  Keimblätter  auffassen :  und  wenn  man  diese  Auffassung 
gelten  läßt,   so  würde  die  H}'pogenesis  der  Phanerogamen  nicht  als 

Haeckel,   Prinz,  d.  Morphol.  lo 


226  Entwickolungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVII. 

e]mnor2)]ie,  sondern  als  metamorphe  Entwickelung  zu  betrachten  sein, 
und  der  Verlust  der  Keimblätter  als  Akt  der  Verwandlung.  Die 
Keimpflanze,  d.  li.  die  dem  Samen  entkeimte,  aus  den  Eihüllen  her- 
vorgebrochene junge  Pflanze,  wäre  dann  als  „Larve"  zu  betrachten, 
so  lange  sie  noch  die  Cotyledonen  (,.Larvenorgane")  besitzt. 

Man  pflegt  den  Entwickelungsmodus  der  epimorphen  Hypogeuese, 
wie  er  den  meisten  höheren  Tieren  und  Pflanzen  zukommt,  gewöhn- 
lich als  einen  ..sehr  einfachen"  zu  bezeichnen,  gegenüber  der  meta- 
morphen Hypogeuese  und  der  Metagenese.  Indessen  übersieht  man 
dabei,  daß  die  Entwickelungsvorgänge,  welche  hier  innerhalb  des  Eies 
verborgen  verlaufen,  viel  komplizierter  und  aus  größeren  Reihen 
differenter  Zeugungsakte  zusammengesetzt  sind,  als  bei  denjenigen  an- 
scheinend äußerlich  mehr  zusammengesetzten  Entwickelungsreihen, 
welche  beim  Generationswechsel  etc.  auftreten.  Wahrscheinlich  sind 
auch  die  scheinbar  einfachsten  Formen  der  epimorphen  Hjqiogenese 
durch  paläontologische  „Abkürzung  der  Entwickelung"  sekundär  aus 
viel  verwickeiteren  Generationsreihen  von  metagenetischer  Form  her- 
vorgegangen, in  ähnhcher  Weise,  wie  es  die  sogleich  zu  besprechende 
Strophogenese  ahnen  läßt. 

IX.    Metagenesis  und  Stropliogeiiesis. 

(Generationswechsel  und  Generationsfolge.) 

Die  Charakteristik  des  echten  Generationswechsels  oder  der  Meta- 
genesis, welche  wir  oben  festzustellen  versuchten,  hob  als  das  wesent- 
lichste Moment  dieses  Entwickelungsmodus  die  Zusammensetzung  des 
Zeugungskreises  aus  zwei  oder  mehreren  sukzessiven  Bionten  hervor, 
welche  teils  auf  geschlechthchem,  teils  auf  ungeschlechtlichem  Wege 
entstehen.  Es  wird  also  hier  die  Spezies  durch  zwei  oder  mehr  ver- 
schiedene, teils  sexuelle,  teils  esexuelle  Bionten  oder  physiologische 
Individuen  vertreten,  von  denen  die  ersteren  die  unmittelbaren  Er- 
zeugnisse der  letzteren  sind. 

Wie  schon  dort  hervorgehoben  wurde,  hat  man  neuerdings  den 
Begriff  des  Generationswechsels  viel  weiter  ausgedehnt,  indem  man 
auch  ähnliche  Entwickelungsreihen  von  höheren  Organismen  und  ins- 
besondere von  den  Phanerogamen  hereinzog.  Allerdings  ist  der  Zeugungs- 
kreis, welchen  die  Stöcke  der  Phanerogamen  durchlaufen,  in  mancher 
Hinsicht  der  echten  Metagenesis  sehr  ähnlich,  aber  dennoch  unserer 
Ansicht  nach  in  anderer  Beziehung  wesentUch  verschieden,  und  gerade 


XVII.  IX.    Metagenesis  iind  Strophogenesis.  227 

derjenige  Charakter,  den  wir  oben  als  den  entscheidenden  hingestellt 
haben,  fehlt  denselben.  Bei  allen  Phanerogamenstöcken  entspringt 
aus  der  geschlechtlichen  Zeugung  ein  Sproß  (Blastus),  also  ein  Form- 
Individuum  fünfter  Ordnung,  welches  durch  wiederholte  ungeschlecht- 
liche Zeugungsakte,  nämlich  durch  unvollständige  äußere  Knospen- 
bilduug,  zahlreiche  andere  Sprosse  erzeugt,  die  zu  einem  Stocke  oder 
Cormus  vereinigt  bleiben.  Dieser  Cormus  ist  aber  ein  einziges  Form- 
indi\äduum  sechster  und  höchster  Ordnung,  und  als  solches  zugleich 


das  physiologische  Individuum  (Bion),  welches  als  konkrete  Lebens- 
einheit  die  Art  repräsentiert  oder  das  Speziesglied  bildet.  Da  nun 
dieser  Stock  selbst  wieder  geschlechtsreif  wird,  oder  da,  genauer  aus- 
gedrückt, unmittelbar  aus  den  integrierenden  Bestandteilen  dieses 
Stocks,  nämlich  aus  den  geschlechtlich  differenzierten  Personen  (Blüten- 
sprossen), der  Same  amphigen  erzeugt  wird,  welcher  dem  Stocke  selbst 
den  Ursprung  gibt,  so  haben  wir  den  ganzen  Zeugungskreis  als  einen 
einfachen  hypogenen  Generationszyklus  aufzufassen.  In  der  Tat  haben 
wir  vom  Ei  bis  zum  Ei  die  vollkommen  geschlossene  Formenkette 
des  einen  physiologischen  Individuums,  welches  als  Stock  aus  einem 
Ei  entsteht  und  selbst  wieder  Eier  zeugt.  Der  gewöhnliche  Zeugungs- 
kreis der  Phanerogamen  ist  also  ebensogut  ein  einfacher  hypogener, 
wie  derjenige  der  Wirbeltiere. 

Die  Ansicht,  das  der  Entwickelungskreis  der  Phanerogamenstöcke 
auf  einem  echten  Generationswechsel  beruhe,  würde  dann  richtig  sein, 
wenn  der  Sproß  (Blastus)  das  physiologische  Individuum  derselben 
wäre.  Dies  ist  aber  nicht  der  Fall,  wie  wir  im  dritten  Buche  gezeigt 
haben.  Vielmehr  ist  der  Sproß,  welcher  als  Formindividuum  fünfter 
Ordnung  bei  den  Wirbeltieren  in  der  Tat  das  physiologische  Indivi- 
duum bildet,  bei  den  Phanerogamen  nur  ein  untergeordneter  Bestand- 
teil des  Stockes  oder  Cormus,  welcher  hier  als  Formindividuum 
sechster  Ordnung  die  physiologische  Individualität  repräsentiert.  Und 
da  der  letztere  sich  allerdings  durch  ungeschlechtliche  Zeugungsakte 
entwickelt,  aber  lediglich  durch  geschlechtliche  Zeugungsakte  fort- 
pflanzt, so  ist  unzweifelhaft  der  gewöhnliche  Generationszyklus  der 
Phanerogamen  keine  Metagenesis,  sondern  einfache  Hypogenesis.  wie 
bei  den  Wirbeltieren.  Der  Unterschied  zwischen  beiden  besteht  nur 
darin,  daß  die  physiologische  Individualität  hier  durch  ein  morpholo- 
gisches Individuum  fünfter,  dort  aber  sechster  Ordnung  repräsentiert 
wird.  Als  echten  Generationswechsel,  als  wirkliche  Metagenesis 
können  wir  bei  den  Phanerogamen  nm'  jene  Fälle  auffassen,  in  denen 

15* 


228  Entwickelungsgeschichte  der  physiologischen  Individuen.  XVI] . 

sich  Bnitknospeii  (Biübi,  Bulbilli  etc.)  selbsttätig  vom  Stocke  ablösen 
und  also  wirklich  monogen  erzeugte  neue  Biontcn  bilden  (z.  B.  Lilium 
hnlbifenim,  Dentaria  buJbifora  etc.). 

Die  Vergleichung  des  scheinbaren  Generationswechsels  der  Pliane- 
roganien  mit  dem  echten  Generationswechsel  der  Kryptogamen  und 
der  höheren  Tiere  führt  uns  unmittelbar  zu  einer  Betrachtung,  welche 
sowohl  für  das  Verständnis  des  zusammengesetzten  Baues  der  höheren 
Organismen  überhaupt,  als  auch  besonders  ihrer  Entwickelungsver- 
hältnisse  von  der  größten  Bedeutung  ist.  Bei  den  Phanerogamen,  wie 
sie  uns  besonders  Alexander  Brauns  klare  Betrachtungsweise 
tektologisch  erläutert  hat,  ist  es  nämlich  ganz  richtig,  daß  der  Stock 
(Cormus),  also  das  morphologische  Individuum  sechster  Ordnung,  als 
einfaches  Bion  durch  eine  Reihe  von  ungeschlechtlichen  Zeugungs- 
prozessen untergeordneter  morphologischer  Individualitäten  entsteht, 
welche  endlich  mit  der  Erzeugung  geschlechtlicher  Keime  in  den 
Blütensprossen  abschließen.  Verfolgen  wir  den  gewöhnlichen  Phane- 
rogamencormus  auf  seinem  Lebenswege  von  der  Teilung  des  Eies 
(Keimbläschen)  an,  so  können  wir  eine  Reihe  von  ungeschlechtlichen 
Zeugungsakten  verschiedener  Ordnungen  unterscheiden,  welche  endlich 
mit  der  Eibildung  den  amphigenen  Zeugungskreis  vollendet.  Ganz 
dasselbe  finden  wir  aber  auch,  wenn  wir  die  einzelnen  Entwickelungs- 
akte  der  höheren  Tiere,  z.  B.  der  Wirbeltiere,  vergleichen,  deren 
Ontogenesis  doch  allgemein  und  ohne  Widerspruch  als  einfache  Hyjso- 
genesis,  als  Amphigenesis  ohne  Generationswechsel,  aufgefaßt  wird. 
Auch  hier  stoßen  wir  von  der  Teilung  (Furchung)  des  Eies  an  auf 
eine  ganze  Reihe  von  ungeschlechtlichen  Zeugungsakten,  welche  endlich 
mit  der  Geschlechtsreife  den  amphigenen  Zeugungskreis  abschließt. 
Bei  den  Wirbeltieren  ebenso  wie  bei  den  Phanerogamen  durchläuft 
das  Bion  während  seiner  ontogenetischen  Entwickelung  die  ganze 
Reihe  von  untergeordneten  morphologischen  Individualitäten,  welche 
derjenigen  vorausgehen,  in  der  es  schließlich  als  reifes  Bion  die  Spezies 
repräsentiert.  Jede  höhere  Individualitätsordnung  wird  durch  einen 
besonderen  ungeschlechtlichen  Zeugungsakt  von  der  vorhergehenden 
nächst  niederen  erzeugt,  und  auch  innerhalb  des  Entwickelungslaufes 
jeder  einzelnen  Individualitätsordnung  finden  wir  noch  massen- 
haft wiederholte  monogene  Zeugungsakte  der  Piastiden,  welche  die 
Organe  etc.  konstituieren.  Dennoch  wird  es  niemand  einfallen,  diese 
Entwickelungsreihe,  die  aus  einer  ganzen  Kette  von  verschiedenen, 
monogen  auseinander  hervorgehenden,  untergeordneten  Generationen 


XVII.  IX-    Metagenesis  und  Strophogenesis.  229 

besteht,  als  echte  Metagenesis  betrachten  zu  wollen.  Denn  die  ganze 
Zeugungskette  verläuft  Schritt  für  Schritt  im  ununterbrochenen  Zu- 
sammenhange an  einem  und  demselben  physiologischen  Individuum 
oder  Bion.  Der  einzige  Unterschied  zwischen  der  Hypogenese  der 
höchsten  Pflanzen  und  Tiere  ist  der,  daß  die  letzteren  (Vertebraten. 
Arthropoden)  nicht  die  letzte  und  höchste,  die  sechste  Stufe  der  mor- 
phologischen Individualität  erreichen,  sondern  vorher  auf  der  fünften 
stehen  bleiben.  Der  Cormus  ist  aber  ebenso  die  spezifische  Form 
des  reifen  Bion  bei  den  Phanerogamen,  wie  die  Person  bei  den  Verte- 
braten und  Arthropoden. 

Ganz  ähnliche  Reihen  von  eng  verketteten  ungeschlechtlichen 
Zeugungsakten  begleiten  die  Ontogenesis  bei  allen  Organismen,  die 
nicht  als  Bionten  auf  der  ersten  Stufe  der  Plastide  stehen  bleiben. 
Bei  den  Mollusken  z.  B.  können  wir  ganz  eben  solche  Zeugungsreihen 
unterscheiden,  ohne  daß  wir  auch  hier  von  einer  echten  Metagenese 
sprechen  können. 

Wir  glauben  daher  nicht  zu  irren,  wenn  wir  alle  diese  unge- 
schlechtlichen Zeugungsketten,  die  an  einem  einzigen,  geschlechtlich 
erzeugten  und  selbst  geschlechtsreif  werdenden  Bion  verlaufen,  von 
dem  echten  Generationswechsel,  der  stets  an  zwei  oder  mehreren 
Bionten  abläuft,  unterscheiden,  und  schlagen  vor,  dieselben  allgemein 
mit  dem  der  Generationsfolge  oder  Strophogenesis  zu  be- 
zeichnen. Es  kann  demnach  der  scheinbare  Generationswechsel  der 
Phanerogamen  als  Strophogenesis  von  Cormen,  die  individuelle  Ent- 
wickelung  der  Vertebraten  und  Arthropoden  als  Strophogenesis  von 
Personen  bezeichnet  werden.  Will  man  diese  Auffassung  bis  zu  ihren 
letzten  Konsequenzen  verfolgen,  so  muß  eigentlich  alle  Amphigenesis 
von  polyplastiden  Organismen  als  Strophogenesis  aufgefaßt  werden,  da 
alles  „zusammengesetzte  Wachstum"  derselben  mit  Zeugungsakten 
von  Piastiden  verbunden  ist. 

Die  objektive  Betrachtung  der  Strophogenesis  und  ihr  Vergleich 
mit  der  Metagenesis  ist  äußerst  wichtig  und  lehrreich,  besonders  auch 
für  das  Verständnis  der  Parallele  zwischen  der  Ontogenese  und  Phy- 
logenese. Es  ist  leicht  möglich,  daß  viele  Prozesse,  die  wir  jetzt  zur 
Strophogenese  rechnen  müssen,  in  früheren  Zeiten  der  Erdgeschichte 
wirkliche  Metagenese  waren  und  erst  nachträglich  durch  „Abküi-zung 
der  Entwickelung"  zusammengezogen  wurden. 


AcMzehntes  Kapitel. 

EntwickelungsgescliicMe  der  morphologisclien  Individuen. 


^Betrachten  wir  alle  Gestalten,  besonders  die  organi- 
schen, so  finden  wir,  daß  nirgend  ein  Bestehendes,  nirgend 
ein  Ruhendes,  ein  Abgeschlossenes  vorkommt,  sondern  daß 
vielmehr  Alles  in  einer  steten  Bewegung  schwankt.  Das 
Gebilde  wird  sogleich  wieder  umgebildet,  und  wir  haben 
uns,  wenn  wir  einigermaßen  zum  lebendigen  Anschauen  der 
Natur  gelangen  wollen,  selbst  so  beweglich  und  bildsam  zu 
erhalten,  nach  dem  Beispiele,  mit  dem  sie  uns  vorgeht." 

Goethe. 


I.  Ontogenie  der  Plastideu. 

IL  Ontogenie  der  Organe, 

in.  Ontogenie  der  Antimeren. 

IV.  Ontogenie  der  Metameren. 

V.  Ontogenie  der  Personen. 

VI.  Ontogenie  der  Stöcke. 


Das  achtzehnte  Kapitel  fällt  fort,  da  ich  dessen  brauchbaren  Inhalt  später 
wesentlich  verbessert  und  teils  in  die  Anthropogenie  (1874,  V.  Aufl.  1903), 
teils  in  die  „Systematische  Phylogenie"  (1894 — 1896)  aufgenommen  habe. 
(Vergl.  auch  meine  Abhandlung  über:  .,Die  Individualität  des  Tierkörpers" 
in  der  Jenaischen  Zeitschrift  für  Naturwissenschaft,  1878,  Bd.  XII,  S.  1.) 


Neunzelintes  Kapitel. 
Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie. 

„Dies  also  hätten  wir  g-ewonneu,  ungescheut  behaupten 
zu  dürfen,  daß  alle  vollkommneren  organischen  Xaturen, 
worunter  wir  Fische,  Amphibien,  Vögel,  Säugetiere  und  an  der 
Spitze  der  letzteren  den  Menschen  sehen,  alle  nach  einem 
Urbilde  geformt  seien,  das  nur  in  seinen  sehr 
beständigen  Teilen  mehr  oder  weniger  hin-  und 
lierweicht,  und  sich  noch  täglich  durch  Fortpf  1  an- 
zung  aus-  und  umbildet.* 

Goethe. 

I.     Inhalt  und  Bedeutung  der  Deszendenztheorie. 

Alle  Organismen,  welche  heutzutage  die  Erde  bewohnen 
und  welche  sie  zu  irgendeiner  Zeit  bewohnt  haben,  sind 
im  Laufe  sehr  langer  Zeiträume  durch  allmähliche  Umge- 
staltung und  langsame  Vervollkommnung  aus  einer  geringen 
Anzahl  von  gemeinsamen  Stammformen  (vielleicht  selbst 
aus  einer  einzigen)  hervorgegangen,  welche  als  höchst  ein- 
fache Urorganismen  vom  Werte  einer  einfachsten  Plastide 
(Moneren)  durch  Autogonie  aus  unbelebter  Materie  ent- 
standen sind. 

II.  Entwickehmgsgeschichte  der  Deszendenztheorie. 

(Vergl.  meine  ,\atürliche  Sc-höpfungsgeseliichte-,  1868,  H.— VI.  Vortrag.  X.Auflage  1902.) 

III.    Die  Selektionstheorie.    (Der  Darwinismus.) 

Die  Lehre  von  der  natürlichen  Züchtung  („Natural  Selection") 
der  Organismen  oder  von  der  „Erhaltung  der  vervollkommneten  Rassen 
im  Kampfe  um  das  Dasein",  welche  wir  im  folgenden  immer  kurz 
als  die  Zuchtwahllehre  oder  Selektionstheorie  bezeichnen 
werden,  ist  von  Charles  Darwin  zuerst  aufgestellt  und  in  so  voll- 
kommener Weise  als  die  eigentlich  kausale  oder  mechanische  Basis 
der  gesamten  Transmutationstlieorie  nachgewiesen   worden,    daß  die 


232  '^if"  IX'Szondpnztheoiie  und  die  Solektionstheorie.  XIX. 

letztere  erst  durch  die  erstere  als  eine  vollberechtigte  und  vollkommen 
sichergestellte  Theorie  ersten  Ranges  ihren  unvergänglichen  Platz  an 
der  Spitze  der  biologischen  Wissenschaften  erhalten  hat.  Diese  Se- 
lektionstheorie ist  es,  welche  man  mit  vollem  Rechte,  ihrem 
alleinigen  Urheber  zu  Ehren,  als  Darwinismus  bezeichnen  kann, 
während  es  nicht  richtig  ist,  mit  diesem  Namen,  wie  es  neuerdings 
häufig  geschieht,  die  gesamte  Deszendenztheorie  zu  belegen,  die 
bereits  von  Lamarck  als  eine  wissenschaftlich  formulierte  Theorie 
in  die  Biologie  eingeführt  worden  ist,  und  die  man  daher  entsprechend 
als  Lamarekismus  bezeichnen  könnte.  Die  Deszendenztheorie 
faßt  die  gesamten  allgemeinen  (morphologischen  und  physiologischen) 
Erscheinungsreihen  der  organischen  Natur  in  ein  einziges  großes 
harmonisches  Bild  zusammen  und  zeigt,  wie  sich  uns  alle  Züge  des- 
selben aus  einem  einzigen  physiologischen  Naturprozesse,  aus  der 
Transmutation  der  Spezies,  harmonisch  und  vollständig  erklären. 
Die  Selektion stheorie  zeigt  uns  dagegen,  wie  dieser  Prozeß  der 
Spezies-Transmutation  vor  sich  geht  und  warum  derselbe  notwendig 
gerade  so  vor  sich  gehen  muß,  wie  es  tatsächhch  geschieht;  sie  er- 
klärt diesen  physiologischen  Prozeß  selbst,  indem  sie  uns  seine 
mechanischen  Ursachen,  die  Causae  efficientes,  kennen  lehrt. 
Wenn  daher  Lamarck  immer  das  Verdienst  bleiben  wird,  die  Ab- 
stammungslehre zuerst  in  die  Wissenschaft  als  selbständige  Theorie 
eingeführt  zu  haben,  so  wird  dagegen  Darwin  das  nicht  geringere 
Verdienst  behalten,  dieselbe  nicht  allein,  entsprechend  dem  wissen- 
schaftlichen Fortschritt  eines  halben  Jahrhunderts,  vielseitiger  und 
umfassender  ausgebildet,  sondern  das  größere  und  ebenso  unsterbliche 
Verdienst,  ihr  durch  die  Aufstellung  der  Zuchtwahllehre  erst  die 
unerschütterhche   mechanische   Basis   gegeben  zu  haben. 

Der  Grundgedanke  von  Darwins  Selektionstheorie  liegt  in  der 
Wechselwirkung  zweier  physiologischer  Funktionen,  welche 
allen  Organismen  eigentümlich  sind,  und  welche  wir.  ebenso  wie  die 
Ernährung  und  Fortpflanzung,  mit  denen  sie  unmittelbar  zusammen- 
hängen, als  allgemeine  organische  Funktionen  bezeichnen  können. 
Es  sind  dies  die  beiden  äußert  wichtigen  Leistungen  der  Vererbung: 
und  der  Anpassung,  welche  nach  unserer  Ansicht  wesentlich  den 
beiden  formbildcnden  Elementen  entsprechen,  die  wir  oben  im  zweiten 
Buche  als  inneren  und  äußeren  Bildungstrieb  einander  gegenüberge- 
stellt haben.  Die  Erblichkeit  oder  der  innere  Bildungstrieb 
(die  innere  Gestaltungskraft)  äußert  sich  darin,  daß  jeder  Organismus 


XIX.  III.    Die  Selektionstheorie.    (Der  Darwinismus.)  233 

bei  der  Fortpflanzung  seinesgleichen  erzeugt,  oder,  genauer  ausge- 
drückt, einen  ihm  (nicht  gleichen,  sondern)  ähnlichen  Organismus. 
Die  Anpassungsfähigkeit  oder  der  äußere  Bildungstrieb  da- 
gegen (die  äußere  Gestaltungskraft)  äußert  sich  darin,  daß  jeder  Or- 
ganismus durch  Wechselwirkung  mit  seiner  Umgebung  einen  Teil 
seiner  ererbten  Eigenschaften  aufgibt  und  dafür  neue  Eigenschaften 
annimmt,  so  daß  er  mithin  dem  Organismus,  der  ihn  erzeugte,  niemals 
absolut  gleich,  sondern  nur  ähnlich  ist.  Aus  der  allgemein  statt- 
findenden Wechselwirkung  dieser  beiden  gestaltenden  Prinzipien  geht 
die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  Organismenwelt  hervor.  Wäre  die 
Erblichkeit  eine  absolute,  so  würden  alle  Organismen  eines  jeden 
Stammes  einander  gleich  sein:  wäre  umgekehrt  die  Anpassung  eine 
absolute,  so  würden  alle  Organismen  völlig  verschieden  sein.  Der 
faktisch  vorhandene  Grad  der  Wechselwirkung  zwischen  beiden 
Bildungskräften  bedingt  den  faktisch  vorhandenen  Grad  der  Ähnlich- 
keit und  Verschiedenheit  zwischen  allen  Lebewesen.  Alle  Cha- 
raktere der  Organismen  (und  zwar  sowohl  chemische,  als  mor- 
phologische, als  physiologische  Eigenschaften)  sind  entwederdurch 
Vererbung  oder  durch  Anpassung  erworben;  ein  drittes  form- 
bildendes Element  neben  diesen  beiden  existiert  nicht. 

Die  nächste  Folge  der  Wechselwirkung  zwischen  der  Vererbung 
und  der  Anpassung,  und  insbesondere  der  Vererbung  der  durch  An- 
passung erworbenen  Abänderungen,  ist  die  dadurch  bewirkte  Divergenz 
ihres  Charakters  oder  die  Differenzierung.  Indem  die  Organismen 
auf  ihre  Nachkommen  durch  Vererbung  nicht  allein  die  von  ihnen 
ererbten,  sondern  auch  die  von  ihnen  durch  Anpassung  erst  erworbenen 
Eigenschaften  (Abänderungen)  übertragen,  gehen  ihre  Nachkommen 
auseinander,  divergieren,  und  indem  diese  Divergenz  wegen  der 
unbegrenzten  Abänderungsfälligkeit  oder  Variabilität  in  einem  gewissen 
Sinne  keine  Schranken  hat,  indem  vielmehr  der  Organisnnis  stets 
anpassungsfähig,  also  variabel  bleibt,  so  können  im  Laufe  zahlreicher 
Generationen  aus  einer  und  derselben  ursprünglichen  Stammform 
gänzlich  verschiedene  Nachkommen  hervorgehen.  Aus  einer  und  der- 
selben Art  entstehen  durch  Anpassung  an  sehr  verschiedene  Lebens- 
bedingungen im  Laufe  von  Generationen  sehr  verschiedene  Arten. 
Je  mehr  die  Erblichkeit  in  der  Generationsfolge  überwiegt,  desto 
konstanter  ist  die  Art  und  desto  längere  Zeit  erhält  sie  sich;  je  mehr 
die  Anpassung  überwiegt,  desto  variabler  ist  die  Art  und  desto  rascher 
entstehen  aus  ihr  neue  Arten. 


234  I^iß  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Die  ganze  unendliche  Mannigfaltigkeit  der  organischen  Formen 
wird  also  in  letzter  Instanz  lediglich  durch  die  Wechselwirkung  dieser 
beiden  physiologischen  Funktionen,  der  Anpassung  und  der  Vererbung, 
hervorgebracht.  Sehr  wichtig  sind  aber  weiter  die  besonderen  Ver- 
hältnisse, unter  denen  diese  Wechselwirkung  überall  stattfindet  und 
von  denen  sie  in  hohem  Maße  begünstigt  wird.  Die  Summe  dieser 
Verhältnisse  nennt  Darwin  mit  einem  metaphorischen  Ausdruck  den 
„Kampf  ums  Dasein".  Indem  nämlich  jeder  Organismus  den  auf 
ihn  einwirkenden  äußeren  Umständen  entgegenwirkt,  kämpft  er  mit 
denselben.  Da  nun  alle  Individuen  einer  Organismenart  nicht  absolut 
gleich,  sondern  bloß  ähnlich  sind,  so  verhalten  sie  sich  den  gleichen 
äußeren  Einflüssen  gegenüber  verschieden.  Außer  diesem  Kampfe  mit 
den  Anpassungsbedingungen  findet  aber  ferner  auch  überall  ein 
Wettkampf  zwischen  den  zusammenlebenden  Organismen  statt.  Da 
nämlich  alle  Organismen  eine  w^eit  zahlreichere  Nachkommenschaft 
produzieren,  als  sich  zu  erhalten  imstande  ist,  so  werden  von  der- 
selben diejenigen  sich  am  leichtesten  und  besten  erhalten,  welche  sich 
am  leichtesten  und  besten  den  umgebenden  Existenzbedingungen,  dem 
äußeren  Bildungstriebe  anpassen.  Es  sterben  daher  die  am  wenigsten 
angepaßten  Individuen  frühzeitig  aus,  ohne  sich  fortpflanzen  zu  können, 
während  die  am  besten  angepaßten  Individuen  erhalten  bleiben  und 
sich  fortpflanzen.  Die  ersteren  werden  von  den  letzteren  in  dem  un- 
vermeidhchen  Wettkampfe  um  die  Erlangung  der  unentbehrlichen, 
aber  nicht  für  alle  ausreichenden  Existenzbedingungen  besiegt.  Es 
kommt  hier  die  oben  erwähnte  Populationstheorie  von  Malthus  zur 
Anwendung.  Diesen  Sieg  der  befähigteren  und  besser  angepaßten 
Organismen  im  Kampfe  um  das  Dasein  nennt  Darwin  „Natural- 
selection''  oder  natürliche  Zuchtwahl  (natürliche  Züchtung 
oder  Auslese),  weil  der  Kampf  um  das  Dasein  hier  dieselbe  auslesende, 
auswählende  (züchtende)  Wirkung  auf  viele  ungleiche  Individuen  einer 
und  derselben  Art  ausübt,  welche  bei  der  ,.künstlichen  Züchtung" 
die  absichtliche,  zweckmäßige  Auswahl  des  Menschen  übt. 

Die  natürliche  Selektion  wählt  also  im  Kampfe  um  das  Dasein 
diejenigen  Individuen  zur  Fortpflanzung  aus,  welche  sich  am  besten 
den  Existenzbedingungen  anpassen  können,  und  da  in  den  meisten 
Fällen  diese  Individuen  die  besseren,  die  vollkomnmeren  sind,  so  ist 
im  allgemeinen  (einzelne  besondere  Fälle  ausgenommen !)  damit  zugleich 
eine  zwar  langsame,  aber  beständig  wirkende  Vervollkommnung, 
ein  Fortschritt  in  der  Organisation  notwendig  verbunden. 


XIX.  IV.    Erblichkeit  und  Vererbung.  235 

Da  ferner  der  Kampf  um  das  Dasein  zwischen  den  zusammenleben- 
den Individuen  einer  und  derselben  Art  um  so  heftiger  (also  auch  um 
so  gefährlicher)  sein  muß,  je  mehr  sie  sich  gleichen,  um  so  weniger 
heftig,  je  mehr  sie  voneinander  abweichen,  so  werden  die  am  stärksten 
divergierenden  oder  voneinander  abweichenden  Individuen  am  meisten 
Aussicht  haben,  nebeneinander  fortzuexistieren  und  sich  fortzupflanzen, 
und  dadurch  besonders  wird  allgemein  die  oben  hervorgehobene 
Divergenz  des  Charakters  begünstigt,  welche  uns  die  allgemeine 
Neigung  der  Organismen  erklärt,  immer  mehr  abzuändern,  und  immer 
mehr  neue  und  mannigfaltige  Arten  zu  bilden.  Aus  der  unendlich 
verwickelten  Wechselwirkung  dieser  inneren  und  äußeren  formbildenden 
Verhältnisse,  und  aus  den  notwendigen  Folgerungen,  welche  sich  un- 
mittelbar daraus  ableiten  lassen,  erklärt  sich  die  ganze  Mannigfaltigkeit 
der  organischen  Natur,  welche  uns  umgibt.  Um  dieses  äußerst 
wichtige  Verhältnis  zu  würdigen,  müssen  wir  zunächst  die  beiden 
Funktionen  der  Vererbung  und  der  Anpassung  einer  eingehenderen 
physiologischen  Betrachtung  unterwerfen,  als  es  bisher  geschehen  ist. 

IV.     Erblichkeit  und  Vererbimg. 

(Atavismus,  Hereditas.) 

IV,  A.     Tatsache  und  Ursache  der  Vererbung. 

Die  Erblichkeit  (Atavismus)  als  virtuelle  Kraft,  und  die 
Vererbung  (Hereditas)  als  aktuelle  Leistung  der  organischen 
Individuen,  sind  allgemeine  physiologische  Funktionen  der  Or- 
ganismen, welche  mit  der  fundamentalen  Funktion  der  Fortpflan- 
zung unmittelbar  zusammenhängen  und  eigentlich  nur  eine  Teiler- 
scheinung der  letzteren  darstellen.  Sie  äußern  sich  in  der  Tatsache, 
daß  jeder  Organismus,  wenn  er  sich  fortpflanzt.  Nachkommen  erzeugt, 
welche  entweder  ihm  selbst  ähnlich  sind  oder  deren  Nachkommen 
doch  wenigstens  (nach  Dazwischentreten  einer  oder  mehrerer  Gene- 
rationen) ihm  ähnlich  werden.  Diese  Erscheinung  ist  eine  so  all- 
gemeine und  alltäglich  zu  beobachtende,  daß  sie,  eben  wegen  dieser 
Allgemeinheit,  als  etwas  Selbstverständliches  gilt.  Die  wichtigen 
biologischen  Schlüsse  aber,  welche  aus  dieser  Tatsache  hervorgehen, 
werden  von  der  gewöhnlichen  oberflächlichen  Naturbetrachtung  ent- 
weder übersehen  oder  doch  nicht  in  ihrer  voUen  Bedeutung  für  die 
Charakterbildung  der  Organismen  erkannt.  Gewöhnlich  werden  nur 
auffallende  Abweichungen  von  der  Erblichkeit   besonders    hervorge- 


23(5  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

hoben.  Denn  man  findet  es  allgemein  ganz  „natürlich",  daß  das 
Kind  Eigenschaften  seiner  Eltern  teilt  („erbf),  und  daß  der  Baum 
dem  elterlichen  Stamme  ähnlich  ist,  von  dem  er  als  Same  oder  als 
Knospe  entnommen  wurde.  „Der  Apfel  fällt  nicht  weit  vom  Stamm." 
Der  allgemeinste  Ausdruck  für  das  Grundgesetz  der  Erblichkeit 
dürfte  in  den  Worten  hegen:  „Ähnliches  erzeugt  Ähnliches", 
oder  genauer:  „Jedes  organische  Individuum  erzeugt  bei  der 
Fortpflanzung  direkt  oder  indirekt  ein  ihm  ähnliches  In- 
dividuum." 

Die  Ursachen  der  Erblichkeit  sind  ebenso  wie  die  Gesetze 
ihrer  viefachen  Modifikationen  bisher  noch  äußerst  wenig  untersucht 
worden.  Sie  hängen  aber  offenbar  direkt  mit  den  Gesetzen  der 
Fortpflanzung  des  Organismus  zusammen  und  bestehen 
wesentlich  in  einer  unmittelbaren  Übertragung  von  mate- 
riellen Teilen  des  elterlichen  Organismus  auf  den  kindlichen 
Organismus,  die  mit  jeder  Fortpflanzung  notwendig  verbunden  ist. 
Alle,  auch  die  verschiedenartigsten  und  scheinbar  von  den  Fort- 
pflanzungserscheinungen unabhängigsten  Vererbungserscheinungen  sind 
physiologische  Funktionen,  welche  sich  in  letzter  Instanz  auf  die 
Fortpflanzungstätigkeit  des  Organismus  zurückführen  lassen.  Die 
Erblichkeit  ist  also  keineswegs  eine  besondere  organische  Funktion. 
Vielmehr  ist  in  allen  Modifikationen  derselben  das  wesentliche  kausale 
Fundament  die  materielle  Kontinuität  vom  elterhchen  und  kind- 
lichen Organismus.  „Das  Kind  ist  Fleisch  und  Bein  der  Eltern." 
Lediglich  die  partielle  Identität  der  spezifisch-konstituierten  Materie 
im  elterlichen  und  im  kindlichen  Organismus,  die  Teilung  dieser  Materie 
bei  der  Fortpflanzung,  ist  die  Ursache  der  Erbhchkeit. 

Wir  haben  im  dritten  Abschnitt  des  fünften  Kapitels  gezeigt, 
daß  die  individuelle  Form  jedes  Naturkörpers  das  Produkt  aus  der 
Wechselwirkung  von  zwei  entgegengesetzten  Faktoren,  einem  äußeren 
und  einem  inneren  Bildungstriebe  ist.  Bei  allen  organischen  Indi- 
viduen, welche  nicht  durch  spontane,  sondern  durch  parentale  Gene- 
ration entstehen,  ist  der  innere  Bildungstrieb  oder  die  innere  Ge- 
staltungskraft {Vis itlasüca  inierna)  identisch  mit  der  Erblichkeit. 

IV,  B.     Vererbung  und  Fortpflanzung. 

Die  Fortpflanzung  (Propagatio)  ist  eine  physiologische  Funktion 
der  Organismen,  welche  unmittelbar  mit  den  allgemeinen  organischen 
Funktionen  der  Ernährung  und  des  Wachstums  zusammenhängt,  wie 


XIX.  I^'-    Erblichkeit  und  Vererbung.  237 

bereits  im  fünften  und  im  siebzehnten  Kapitel  ausgeführt  wurde.  Wir 
konnten  dies  allgemein  mit  den  Worten  ausdrücken:  die  Fortpflan- 
zung ist  ein  Wachstum  des  Organismus  über  das  individuelle 
Maß  hinaus.  Die  Wachstumserscheinungen  der  Organismen  und  die 
Eigentümlichkeiten,  welche  dasselbe  von  dem  Wachstum  der  Anorgane 
unterscheiden,  haben  \vir  dort  bereits  in  Betracht  gezogen. 

IV,  C.     Grad  der  Vererbung. 

Da  die  materielle  Kontinuität  des  elterlichen  und  des  kindlichen 
Organismus  bei  den  verschiedenen  angeführten  Arten  der  Fortpflanzung 
einen  verschiedenen  Grad  der  Ausdehnung  und  der  Dauer  zeigt,  so 
läßt  sich  von  vornherein  schon  erwarten,  daß  auch  der  Grad  der 
Erblichkeit  bei  denselben  verschieden  sein  werde,  und  auch  dies 
sehen  wir  überall  durch  die  Erfahrung  bestätigt.  Je  größer  im  Ver- 
hältnis zum  ganzen  zeugenden  Individuum  der  Teil  desselben  ist,  der 
sich  als  überschüssiges  Wachstumsprodukt  von  ersterem  isoliert,  desto 
größer  ist  die  Gemeinschaftlichkeit  der  materiellen  Grundlage,  desto 
größer  ist  der  Grad  der  Erblichkeit,  d.  h.  die  Übereinstimmung  in 
Form  und  Funktion  des  zeugenden  und  des  erzeugten  Organismus. 
Daher  ist  die  letztere  viel  bedeutender  bei  der  Teilung  und  Knospen- 
bildung, wo  ein  verhältnismäßig  großer  Teil  sich  von  dem  zeugenden 
Individuum  ablöst,  als  bei  der  Keimzellenbildung  und  geschlechtlichen 
Zeugung,  wo  nur  ein  verhältnismäßig  kleiner  Teil  aus  dem  elterlichen 
Organismus  sich  abscheidet.  Ebenso  ist  die  längere  Dauer  des  Zu- 
sammenhanges beider  Organismen  hierbei  von  Einfluß.  Je  länger 
der  materielle  Zusammenhang  beider  dauert,  je  später  sich  das  kind- 
liche Individuum  von  dem  elterlichen  trennt,  desto  gleichartiger  werden 
sich  beide,  als  Teile  eines  und  desselben  materiellen  Ganzen,  aus- 
bilden und  desto  größer  wird  der  Grad  der  Erblichkeit,  der  biologischen 
Übereinstimmung  zwischen  beiden  sein.  Dieser  Umstand  wirkt  meist 
mit  dem  vorigen  zusammen.  Da  auch  diese  Dauer  des  Zusammen- 
hanges bei  der  Teilung  und  Knospenbildung  größer  ist  als  bei  der 
Keimbildung  und  sexuellen  Fortpflanzung,  so  wird  auch  aus  diesem 
Grunde  der  Grad  der  hereditären  Ähnlichkeit  bei  letzteren  geringer 
als  bei  ersteren  sein.  Die  Beispiele  hierfür  sind  bei  denjenigen  Or- 
ganismen zahlreich,  welche  sich  gleichzeitig  auf  geschlechtlichem  und 
ungeschlechtlichem  Wege  fortpflanzen.  Unsere  veredelten  Obstsorten 
z.  B.  können  wir  nur  durch  ungeschlechtliche  Vermehrung  (Ablösung 
von  Knospen,  Ablegern,  Senkern  etc.)  fortpflanzen,  wodurch  die  feinen 


238  Di^  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstlieorie.  XIX. 

individuellen  Vorzüge  des  veredelten  Baumes  sich  genau  auf  seine 
Nachkommen  übertragen,  während  dieselben  bei  der  geschlechtlichen 
Fortpflanzung  (durch  Samen)  Nachkommen  liefern,  die  sich  weit  von 
ihren  Eltern  entfernen  und  Rückschläge  in  die  nicht  veredelte  wilde 
Stammform  zeigen.  Ebenso  können  sogenannte  Spielpflanzen  mit 
sehr  ausgeprägten  und  namentlich  mit  plötzlich  aufgetretenen  indi- 
viduellen Charakteren  (z.  B.  die  Blutbuche,  die  Roßkastanien  mit 
gefüllten  Blüten,  viele  Trauerbäume  oder  Bäume  mit  hängenden 
Zweigen)  nur  auf  ungeschlechtlichem,  nicht  auf  geschlechtlichem 
Wege  fortgepflanzt  werden.  Dagegen  entstehen  solche  auszeichnende 
individuelle  Bildungen,  Monstrositäten  etc.,  weit  häufiger  bei  solchen 
Individuen,  die  sexuell,  als  bei  solchen,  die  esexuell  erzeugt  sind. 
Allgemein  läßt  sich  das  Erblichkeitsgesetz,  welches  diesen  Erschei- 
nungen zugrunde  liegt,  folgendermaßen  formulieren:  „Jede  Ver- 
erbungserscheinung  der  Organismen  ist  durch  die  materielle 
Kontinuität  zwischen  elterlichem  und  kindlichem  Orga- 
nismus bedingt  und  der  Grad  der  Vererbung  (d.  h.  der  Grad 
der  morphologischen  und  physiologischen  Ähnlichkeit  zwischen  elter- 
lichem und  kindlichem  Organismus)  steht  in  geradem  Verhält- 
nisse zu  derZeitdauer  des  kontinuierlichenZusammenhanges 
zwischen  zeugendem  und  erzeugtem  Individuum,  und 
in  umgekehrtem 
zwischen  beiden." 


in  umgekehrtem    Verhältnis    zu    dem    Größenunterschiede 


IV,  D.     Konservative  und  progressive  Vererbung. 
(Vererbung  ererbter  und  erworbener  Charaktere.) 

Die  außerordentliche  Wichtigkeit  der  Erblichkeitserscheinungen 
für  die  Erklärung  der  organischen  Formbildung  konnte  erst  erkannt 
werden,  seit  man  den  Grundgedanken  der  Deszendenztheorie  erfaßt 
hatte,  und  es  hat  sich  daher  auch  die  allgemeine  Aufmerksamkeit 
den  ersteren  erst  dann  mehr  zugewendet,  als  Darwin  die  letztere 
durch  seine  Selektionstheorie  kausal  begründet  hatte.  Wir  werden 
uns  daher  nicht  wundern,  daß  vorher  noch  keine  ernstlichen  Ver- 
suche gemacht  worden  waren,  die  Masse  der  hierher  gehörigen  ver- 
schiedenartigen Erscheinungen  zu  ordnen  und  als  „Erblichkeitsgesetze" 
zu  formulieren.  Auch  in  den  wenigen  seitdem  verflossenen  Jahren 
sind  hierzu  keine  umfassenderen  Schritte  getan  worden;  und  es  ist 
dies  erklärlich  bei  den  großen  Schwierigkeiten,  welche  jeder  geord- 
neten Betrachtung  des  ungeheuren  Chaos   von   ontogenetischen  Tat- 


XIX.  IV.    Erblichkeit  und  Vererbung.  239 

Sachen  sich  entgegenstellen.  Die  sehr  zahlreichen  und  verschieden- 
artigen Beobachtungen  über  Vererbung,  welche  wir  aus  älterer  und 
neuerer  Zeit  besitzen,  sind  größtenteils  nicht  von  streng  naturwissen- 
schaftlich gebildeten  Beobachtern,  sondern  von  Landwirten.  Gärtnern. 
Tierzüchtern  u.  dergl.  mehr  gesammelt  worden,  deren  Angaben  zum 
großen  Teil  sehr  ungenau  und  unzuverlässig  sind.  Auch  war  für 
diese  bei  Wiedergabe  ihrer  Beobachtungen  meist  nicht  der  theoretisch- 
wissenschaftliche, sondern  vielmehr  der  praktisch -zweckdienliche 
Standpunkt  maßgebend,  und  es  ist  daher  sehr  schwer,  diese  Angaben 
mit  Sicherheit  zu  verwerten.  Die  Zoologen  und  Botaniker  aber,  für 
welche  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  der  Vererbungserscheinungen 
schon  längst  die  dringendste  Pflicht  hätte  sein  sollen,  waren  meist 
viel  zu  sehr  mit  der  Speziesfabrikation  und  der  anatomischen  Dar- 
stellung der  vollendeten  Formen  in  ihren  toten  Museen  und  Herbarien 
beschäftigt,  als  daß  sie  Zeit  und  Lust  gehabt  hätten,  die  Erblichkeits- 
Erscheinungen  an  den  lebendigen  Organismen  zu  studieren,  und  in 
der  Erkenntnis  des  Werdens  der  Formen  das  Verständnis  der  voll- 
endeten zu  gewinnen.  Es  gilt  also  von  den  Vererbungsgesetzen  das- 
selbe, wie  von  den  Anpassungsgesetzen,  daß  ihre  wissenschaftliche 
Begründung  der  Zukunft  angehört.  Vor  allem  wird  diese  das  äußerst 
wertvolle  Material  zu  verwerten  haben,  welches  die  Ärzte  über  die 
Vererbungen  pathologischer  Zustände  gesammelt  haben,  und  welches 
ebenfalls  noch  ganz  ungeordnet  ist.  Wenn  wir  trotzdem  hier  den 
Versuch  machen,  die  wichtigsten  Gesetze  der  Vererbung  und  der 
Anpassung  vorläufig  zu  formulieren,  so  wollen  wir  damit  nur  eine 
neue  Anregung  zur  Gesetzeserforschung,  keineswegs  aber  eine  voll- 
ständige Reihe  von  feststehenden  Gesetzen  geben.  Wir  müssen  des- 
halb für  diesen  Versuch  besondere  Nachsicht  beanspruchen. 

Bevor  wir  die  verschiedenen  Gesetze  der  Erblichkeit,  welche  sich 
mit  einiger  Sicherheit  schon  jetzt  als  besonders  wichtig  hervorheben 
lassen,  einzeln  formulieren,  erscheint  es  notwendig,  den  wesentlichen 
Unterschied  zwischen  zwei  verschiedenen  Hauptformen  der  Heredität 
hervorzuheben,  nämlich  zwischen  der  Vererbung  ererbter  und  der- 
jenigen erworbener  Charaktere.  Alle  verschiedenen  Erblichkeitser- 
scheinungen lassen  sich  entweder  der  einen  oder  der  anderen  Kategorie 
unterordnen.  Beide  sind  aber  bisher  in  sehr  ungleichem  Maße  be- 
rücksichtigt worden.  Die  meisten  Zoologen  oder  Botaniker  haben 
immer  das  größte  Gewicht  auf  Vererbung  bereits  ererbter  Charaktere 
oder  auf  die  konservative  Vererbung   gelegt    und    dagegen    die 


240  ßie  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Vererbung  erworbener  Charaktere  oder  die  progressive  Vererbung 
entweder  gar  nicht  berücksichtigt  oder  doch  nicht  in  ihrem  außer- 
ordentlichen morphologischen  Werte  erkannt.  Hieraus  vorzüglich 
erklärt  sich  die  Zähigkeit,  mit  welcher  das  falsche  Dogma  von  der 
Konstanz  der  Spezies  selbst  noch  von  Einsichtigeren  festgehalten  wird. 
Denn  aus  der  einseitigen  Berücksichtigung  bloß  der  konservativen 
Vererbung  entspringt  die  irrige  Vorstellung,  daß  alle  Glieder  einer 
Spezies  durch  eine  bestimmte  Summe  von  unveränderlichen  Charak- 
teren als  ein  natürliches  Ganzes  zusammengehalten  werden,  und  daß 
ihre  unbestreitbare  Variation  oder  Abänderung  bestimmte  enge  Grenzen 
nicht  überschreitet.  Erst  durch  die  gerechte  Würdigung  der  entgegen- 
gesetzten progressiven  Vererbung  wird  die  unbegrenzte  Veränderlichkeit 
der  organischen  Formen  und  die  freie  Transmutation  der  Spezies 
erkannt,  aus  welcher  sich  alle  Tatsachen  der  organischen  Morpho- 
logie erklären. 

Das  Gesetz  der  konservativen  oder  beharrlichen  Here- 
dität oder  der  Vererbung  ererbter  Charaktere  sagt  aus,  daß 
alle  Deszendenten  ihren  Eltern  ebenso  wie  allen  vorhergehenden  Ge- 
nerationen gleichen.  Jeder  Organismus  vererbt  dieselben  mor- 
phologischen und  physiologischen  Eigenschaften  auf  seine 
Nachkommen,  welche  er  selbst  von  seinen  Eltern  und  Vor- 
fahren ererbt  hat.  In  der  einseitigen  Auffassung,  in  welcher 
dasselbe  gewöhnlich  die  dogmatischen  Vorstellungen  der  Systematiker 
beherrscht,  würde  dasselbe  lauten:  Alle  Eigenschaften,  welche  der 
Organismus  von  seinen  Eltern  ererbt  hat,  und  nur  diese,  vererbt 
derselbe  auch  ebenso  vollständig  auf  seine  Nachkommen.  Daher  sind 
alle  Generationen  einer  und  derselben  Spezies  wesentlich  gleich  und 
die  Abänderungen  durch  Anpassung  überschreiten  niemals  bestimmte 
enge  Grenzen.  Die  Spezies  muß  hiernach  wirklich  konstant  sein; 
denn  „Gleiches  erzeugt  Gleiches".  Wenn  diese  falsche  Vorstellung 
in  ihrer  ganzen  Einseitigkeit  konsequent  festgehalten  wird,  so  bleibt 
die  erste  Entstehung  der  erblichen  Eigenschaften,  w^elche  durch  die 
Fortpflanzung  unverändert  übertragen  werden,  vollständig  unerklärt, 
und  man  nmß  notwendig  zu  der  absurden  dualistischen  Vorstellung 
einer  ..Schöpfung  der  einzelnen  Spezies"'  flüchten.  Jede  organische 
Art  entsteht  dann  plötzlich  zu  irgendeiner  Zeit  der  Erdgeschichte 
lediglich  durch  den  „Willen  des  Schöpfers'",  d.  h.  ohne  Ursachen! 
Sie  überträgt  alle  ihre  „spezifischen,  wesentlichen  Charaktere"  un- 
verändert auf  ihre  Nachkommen  mittels  der  Fortpflanzung  (also  durch 


XIX.  I^  •    Erblichkeit  und  Vererbung.  241 

wirkende  Ursachen!),  nnd  nachdem  sie  eine  bestimmte  Reihe  von 
Generationen  liindurch  sich  in  dieser  Konstanz  erhalten  hat,  geht  sie 
ganz  unmotiviert  wieder  unter,  ohne  Ursachen! 

Daß  diese  Vorstelhmg  von  der  einseitigen  und  ausschHeßlichen 
Gültigkeit  der  konservativen  Heredität  grundfalsch  ist,  liegt  auf  der 
Hand.  Zwar  beherrscht  dieselbe  noch  heute  die  ganze  zoologische 
und  botanische  Systematik,  weil  die  nicht  monistisch  gebildete  Mehr- 
heit der  Morphologen  daraus  das  Dogma  von  der  Spezieskonstanz 
ableitet,  welches  sie  für  unentbehrhch  hält.  Allein  es  bedarf  nur 
eines  einfachen  Hinweises  auf  die  alltäglichen  Züchtungserfahrungen 
der  Gärtner  und  Landwirte,  um  sie  zu  widerlegen.  Die  ganze  künst- 
liche Züchtung  (und  ebenso  die  natürliche)  beruht  darauf,  daß  die 
konservative  Heredität  nicht  ausschheßlich  wirkt,  sondern  vielmehr 
beständig  und  überall  neben  und  mit  der  progressiven  Vererbung 
tätig  ist. 

Das  Gesetz  der  progressiven  oder  fortschreitenden  He- 
redität oder  der  Vererbung  erworbener  Charaktere  sagt  aus, 
daß  alle  Deszendenten  von  ihren  Eltern  nicht  bloß  die  alten,  von 
diesen  ererbten,  sondern  auch  die  neuen,  von  diesen  erst  während 
ihrer  Lebenszeit  erworbenen  Charaktere,  wenigstens  teilweis  erben. 
Jeder  Organismus  vererbt  auf  seine  Nachkommen  nicht  bloß 
die  morphologischen  und  physiologischen  Eigenschaften, 
welche  er  selbst  von  seinen  Eltern  ererbt,  sondern  auch 
einen  Teil  derjenigen,  welche  er  selbst  während  seiner  in- 
dividuellen Existenz  durch  Anpassung  erworben  hat.  Dieses 
äußerst  wichtige  Gesetz  läuft  dem  vorigen  in  gewisser  Beziehung  be- 
schränkend zuwider,  und  wenn  man  dasselbe  in  gleicher  Weise  wie 
jenes  berücksichtigt  hätte,  so  würde  man  längst  das  Dogma  von  der 
Spezieskonstanz  und  damit  die  hinderlichste  Schranke  der  monistischen 
Morphologie  beseitigt  haben.  Obwohl  die  Tatsachen,  auf  welchen 
dieses  fundamentale  Gesetz  unumstößUch  fußt,  alltäglich  zu  beobachten 
und  allbekannt  sind,  haben  sich  dennoch  die  meisten  Morphologen 
seiner  Anerkennung  auf  das  beharrlichste  verschlossen.  Freilich 
führen  die  notwendigen  Konsequenzen  desselben  den  vollständigen 
Ruin  des  unheilvollen  Speziesdogma  und  des  darauf  begründeten 
teleologischen  Dualismus  unaufhaltsam  herbei.  Denn  es  ist  klar,  daß 
daraus  zunächst  die  unbegrenzte  Veränderlichkeit  der  Spezies  folgt. 
Daß  die  einzelnen  Individuen  während  ihrer  beschränkten  Lebenszeit, 
infolge  der   unendlich   mannigfaltigen  Abänderung  ihrer  Ernährung, 

Haeckel,   Prinz,  d.  Morphol.  lo 


242  l^if^  Deszendenztheorie  und  die  Selelctionstheorie.  XIX. 

den  maiiiiigfaltigsten  und  tiefgreifendsten  Abänderungen  unterliegen 
können,  und  daß  eine  bestimmte  Schranke  dieser  individuellen  Ab- 
änderung nicht  existiert,  ist  allgemein  anerkannt:  wenn  nun  zugleich 
das  Gesetz  von  der  progressiven  Heredität  als  wahr  anerkannt  wird 
—  und  es  ist  dies  bei  aufrichtiger  Betrachtung  mit  offenen  Augen 
nicht  zu  vermeiden  ^,  so  folgt  daraus  unmittelbar,  daß  auch  eine 
Schranke  der  Spezies-Transmutation  nicht  existiert,  daß  die  Veränder- 
lichkeit der  Art  unbegrenzt  ist,  weil  jede  neue,  durch  Anpassung  er- 
worbene Eigenschaft  unter  günstigen  Umständen  vom  elterlichen 
Organismus  auf  den  kindlichen  vererbt  werden  kann.  Und  so  ist  es 
in  der  Tat. 

Die  ganze  Formenmannigfaltigkeit  der  Tier-  und  Pflanzenwelt, 
wie  sie  uns  gegenwärtig  umgibt,  und  wie  sie  sich  während  deren 
paläontologischer  Entwickelung  allmählich  umgestaltet  hat,  liefert  uns 
für  diese  Wechselwirkung  von  progressiver  und  konservativer  Ver- 
erbung den  deutlichsten  Beleg.  Denn  das  beständige  Schw^anken 
zwischen  Erhaltung  und  Abänderung,  zwischen  Konstanz  und  Trans- 
mutation, welches  uns  alle  Tier-  und  Pflanzenspezies  zeigen,  erklärt 
sich  uns  einfach  aus  der  Tatsache,  daß  die  Vererbung  der  Charaktere 
niemals  ausschließlich  eine  konservative,  sondern  stets  zugleich  eine 
progressive  ist.  Wenn  die  konservative  Vererbung  der  ererbten  Cha- 
raktere allein  herrschte,  so  würde  die  gesamte  Organismenwelt  durch- 
aus konstant,  zu  allen  Zeiten  der  Erdgeschichte  dieselbe  sein,  und 
es  würden  nur  soviel  Spezies  existieren,  als  ursprünglich  „geschaffen" 
wurden  (d.  h.  durch  Archigonie  entstanden).  Dies  wird  durch  die 
Paläontologie  widerlegt.  Wenn  umgekehrt  die  progressive  Vererbung 
allein  wirksam  wäre,  so  würde  die  gesamte  Organismenwelt  durch- 
aus inkonstant  sein,  und  es  würden  sich  gar  keine  verschiedenen 
Spezies  unterscheiden  lassen.  Es  würden  eben  so  viele  Spezies  als 
Indi\iduen  existieren.  Auch  dies  wird  durch  die  Paläontologie  wider- 
legt. Alle  paläontologischen,  anatomischen  und  systematischen  Tat- 
sachen erklären  sich  nur  aus  der  Annahme  eines  fortwährenden  In- 
einandergreif ens,  einer  beständigen  Wechselwirkung  der  konservativen 
und  progressiven  Heredität. 

Eine  eingehende  physiologische  Betrachtung  der  Ernährungs- 
und Fortpflanzungsverhältnisse  der  Organismen  zeigt  uns,  daß  dies 
gar  nicht  anders  sein  kann.  Wir  sahen,  daß  die  Vererbung  durch 
die  Fortpflanzung  vermittelt  wird  und  in  einer  materiellen  Kon- 
tinuität,   einer    partiellen    Identität    des    elterlichen    und    kindlichen 


XIX.  I^'-    Erblichkeit  und  Vererbung.  243 

Organismus  besteht.  Andererseits  werden  wir  bei  der  Betrachtung  der 
Anpassung  sehen,  daß  jede  Anpassung  auf  einer  Ernährungs- 
veränderung beruht.  Da  nun  die  ErnährungsverhäUnisse,  d.  h.  über- 
haupt die  gesamten  Existenzbedingungen  im  weitesten  Sinne,  überall 
und  zu  jeder  Zeit  verschieden  sind,  da  jeder  individuelle  Organismus 
sich  seinen  speziellen  Ernährungsbedingungen  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  anpassen  muß  und  dadurch  bestimmte  Veränderungen  erleidet, 
da  endlich  jede  Veränderung  nicht  einen  einzelnen  Körperteil  aus- 
schließlich betrifft,  sondern  auf  alle  anderen  Teile  mit  zurückwirkt, 
so  muß  auch  bei  der  Fortpflanzung  des  Individuums  stets  ein,  wenn 
auch  noch  so  kleiner,  Teil  der  erworbenen  Veränderung  mittels  der 
elterlichen  Materie  auf  die  kindliche  übertragen  werden  und  in  dieser 
wirksam  bleiben. 

Das  Resultat  dieser  Untersuchung  ist  also  die  notwendige  Wechsel- 
wirkung von  konservativer  und  progressiver  Vererbung.  Der  Grad 
der  Konstanz  jeder  organischen  Spezies  wird  durch  den  Anteil  der 
konservativen  Vererbung,  der  Grad  der  Abänderung  jeder  organischen 
Spezies  durch  den  Anteil  der  progressiven  Vererbung  bedingt. 

W,  E.     Gesetze  der  Vererbung. 

Ea.     Gesetze  der  konservativen   Yererhung. 
1.    Gesetz  der  ununterbrochenen  oder  kontinuierlichen  Vererbung. 

(Lex  hereditatis  continuae.) 

Bei  den  meisten  Organismen  sind  alle  unmittelbar  auf- 
einander folgenden  Generationen  einander  in  allen  morpho- 
logischen und  physiologischen  Charakteren  entweder  nahezu 
gleich  oder  doch  sehr  ähnlich. 

Die  ununterbrochene  Konservation  der  spezifischen  Charaktere 
in  allen  aufeinander  unmittelbar  folgenden  Generationen  einer  und 
derselben  Spezies  ist  die  allgemeine  Regel  bei  allen  höheren  Tieren 
und  Pflanzen.  Wenn  wir  die  Kette  der  sukzessiven  Generationen  mit 
den  Buchstaben  des  Alphabets  bezeichnen,  so  ist  bei  den  meisten 
höheren  Organismen  A  =  B  =  C  =  D^E^F  usw.  Die  Gültigkeit 
dieses  Gesetzes  ist  aber  nicht  allein  allgemein  anerkannt,  sondern 
auch  übertrieben  worden,  indem  man  die  kontinuierliche  Vererbung 
als  das  allgemeine  Grundgesetz  der  Vererbung  für  alle  Organismen 
ansah.  Erst  als  man  die  weite  Verbreitung  des  Generationswechsels 
kennen  lernte,  und  als  dasjenige,  was  man  zuerst  „als  Ausnahme 
ansah,  sich  im  Gange  der  Natur  als  die  Regel"  herausstellte,  nämlich 

16* 


244  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

das  Alternieren  der  Generationen  bei  den  niederen  Organismen  ent- 
sprechend dem  nächsfolgenden  zweiten  Gesetze,  mußte  das  Gesetz  der 
kontinuierlichen  Vererbung  als  das  nicht  ausschließlich  herrschende 
erkannt  werden.  Auf  jener  früheren  allzuweit  gehenden  Verallge- 
meinerung desselben  beruht  auch  die  weit  verbreitete,  aber  unbegründete 
Definition  der  Spezies  als  des  „Inbegriffes  aller  Individuen  von 
gleicher  Abkunft,  und  derjenigen,  welche  ihnen  eben  so  ähnlich,  als 
diese  unter  sich  sind". 

2.   Gesetz  der  unterbrochenen  oder  verborgenen  oder  abwechselnden  Vererbung. 

(Lex  herediiatis  interruptae  s.  latentis  s.  alternanUs.) 

Bei  vielen  Organismen  sind  nicht  die  unmittelbar  auf- 
einander folgenden  Generationen  einander  in  allen  mor- 
phologischen und  physiologischen  Charakteren  entweder 
nahezu  gleich  oder  doch  sehr  ähnlich:  sondern  nur  die- 
jenigen, welche  durch  eine  oder  mehrere  davon  verschiedene 
Generationen  voneinander  getrennt  sind. 

Die  Vererbungserscheinungen,  welche  dieses  wichtige  Gesetz 
begründen,  sind  allbekannt.  Die  Kette  der  aufeinander  folgenden 
Generationen  ist  hier  aus  zwei  oder  mehreren  verschiedenen  Gliedern 
zusammengesetzt,  die  alternieren.  Nur  die  mittelbaren  Deszendenten 
jedes  Individuums  sind  demselben  nahezu  gleich  oder  nur  sehr  wenig 
verschieden,  während  die  unmittelbaren  Deszendenten  einen  geringeren 
oder  höheren  Grad  bemerkbarer  Abweichung  zeigen.  In  sehr  vielen 
menschlichen  Familien  z.  B.  besitzen  die  Kinder  sowohl  in  psy- 
chischer als  in  somatischer  Beziehung  eine  weit  auffallendere  Ähn- 
lichkeit mit  ihren  Großeltern,  als  mit  ihren  Eltern.  Dasselbe  ist  an 
den  Haustieren  sehr  oft  zu  beobachten.  Es  bleibt  also  hier  ein  Teil 
der  am  meisten  auffallenden  und  das  Individuum  auszeichnenden  (in- 
dividuellen) Charaktere  eine  oder  mehrere  Generationen  hindurch 
latent,  ohne  sichtbare  Übertragung  durch  die  unmittelbare  FortpflauT 
zung,  um  erst  nach  Verlauf  derselben  plötzlich  wieder  in  einer  ent- 
fernteren Generation  zutage  zu  treten. 

Dieses  Gesetz  ist  äußerst  wichtig  für  die  Erklärung  des  Gene- 
rationswechsels, da  offenbar  ein  sehr  großer  (vielleicht  der  größte) 
Teil  der  verschiedenen  Metagenesis-Formen  unmittelbar  durch  eine 
lange  Zeit  hindurch  fortgesetzte  und  dadurch  befestigte  „latente  Ver- 
erbung" entstanden  ist.  So  läßt  sich  z.  B.  der  Generationswechsel 
der  Salpen  sicher  auf  diese  Weise  erklären,  indem    sich   allmählich 


XIX,  I^^-    Erblichkeit  und  Vererbung.  245 

die  unmittelbar  aufeinander  folgenden  Generationen  (Eltern  und  Kinder) 
mehr  und  mehr  differenzierten,  während  die  dritte  Generation  (Enkel) 
immer  wieder  in  die  erste  Generation  zurückschlug,  so  daß  Enkel 
und  Großeltern  einander  konstant  gleich  wurden.  Wenn  wir  ver- 
schiedene Formen  des  Generationswechsels  in  dieser  Beziehung  ver- 
gleichen, so  können  wir  mehrere  verschiedene  Modifikationen  der  latenten 
Erblichkeit  unterscheiden,  zunächst  je  nachdem  eine  oder  zwei  oder 
mehrere  Generationen  überschlagen  werden,  ehe  der  ursprüngliche 
Charakter  der  Stammeltern  sich  wieder  geltend  macht.  Bezeichnen 
wir  die  unmittelbar  aufeinander  folgende  Kette  der  Generationen 
mit  den  laufenden  Buchstaben  des  Alphabets,  so  ist  I,  im  ersten  Falle, 
bei  Überschlagung  einer  Generation  (z.  B.  beim  Generationswechsel 
der  Salpen),  A  =  C  =  E  =  G  und  ebenso  B  =  D  =  F  =  H  etc.;  II,  im 
zweiten  Falle,  bei  Überschlagung  zweier  Generationen  (z.  B.  beim 
Generationswechsel  vieler  Trematoden  etc.,  einiger  Arten  von  Doliolum) 
A  =  D  =  G  und  ebenso  B  =  E=^H,  ferner  C  =  F^Jusw.  In  den- 
jenigen weiteren  Fällen,  wo  mehr  als  zwei  Generationen  überschlagen 
werden,  komplizieren  sich  die  Verhältnisse  oft  außerordentlich.  Wir 
wollen  jedoch  auf  dieselben  hier  um  so  weniger  eingehen,  als  fast 
noch  nichts  geschehen  ist,  um  den  Generationswechsel  vom  Gesichts- 
punkt der  Vererbungsgesetze  aus  zu  erklären. 

Wenn  ein  individueller  Charakter  eine  längere  Reihe  von  Gene- 
rationen hindurch  latent  bleibt  und  erst  nach  Einschaltung  einer 
größeren  Anzahl  verschieden  gebildeter  Zwischengenerationen  wieder 
zur  Geltung  kommt,  so  bezeichnet  man  diese  Modifikation  der  latenten 
Erbhchkeit  als  Rückschlag.  Bekanntlich  spielt  derselbe  bei  der 
Züchtung  unserer  Haustiere  und  Kulturpflanzen  eine  außerordentlich 
große  und  wichtige  Rolle,  und  es  ist  erstaunlich,  welche  außerordentlich 
lange  Reihe  von  Generationen  verstreichen  kann,  ehe  gewisse  aus- 
zeichnende Charaktere  einer  alten  Stammform  wieder  zur  Geltung 
kommen.  Dies  gilt  z.  B.  von  den  bisweilen  auftretenden  Streifen  an 
unseren  einfarbigen  Pferden,  welche  als  Rückschlag  in  ihre  uralte 
gestreifte  Stammform  erklärt  werden  müssen.  Dasselbe  beobachtet 
man  sehr  häufig  bei  der  „Verwilderung"  domestizierter  Formen,  z.  B. 
der  Obstsorten,  des  Kohls  etc.  Regelmäßig  tritt  dieselbe  Erscheinung 
in  vielen  Formen  des  Generationswechsels  (z.  B.  bei  den  Blattläusen, 
vielen  Phanerogamen)  auf,  wo  die  geschlechtlich  entwickelten  Gene- 
rationen nur  periodisch  auftreten,  nachdem  eine  längere  oder  kürzere 
Reihe  von  Zwischengenerationen  eingeschaltet  worden  ist. 


246  Di«  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

3.     Gesetz  der  geschlechtlichen  A^ererbung. 

(Lex  heredifatis  sexnalis.) 

Bei  allen  Organismen  mit  getrennten  Geschlechtern 
vererben  sich  die  primären  nnd  sekundären  Sexualcharak- 
tere  einseitig  fort;  d.  h.  es  gleichen  die  männlichen 
Deszendenten  in  der  wesentlichen  Summe  der  sekundären 
Sexual-Charaktere  mehr  dem  Vater,  die  weiblichen  mehr 
der  Mutter. 

Dieses  Gesetz  ist  von  großer  Bedeutung  für  Konservation,  Be- 
festigung und  weitere  Differenzierung  der  Geschlechtsunterschiede,  und 
besonders  der  sekundären  Sexualcharaktere,  bei  den  amphigonen  Or- 
ganismen. Wir  verstehen  darunter  diejenigen  Unterschiede  der  beiden 
Geschlechter,  welche  dieselben,  auch  abgesehen  von  der  Differenz 
der  primären  Sexualcharaktere  (der  unmittelbar  die  Fortpflanzung 
bewirkenden  Geschlechtsorgane),  unterscheiden.  Solche  sekundäre 
Geschlechtseigentümlichkeiten  sind  sowohl  unter  den  niederen  als 
unter  den  höheren  Tieren  mit  getrennten  Geschlechtern  sehr  allge- 
mein verbreitet:  es  gehören  dahin  z.  B.  die  ausgezeichneten  Unter- 
schiede der  gesamten  Körperform  und  Größe,  welche  die  getrennten 
Geschlechter  vieler  Hydroidpolypen,  vieler  Insekten,  Crustacen  etc. 
zeigen,  ferner  die  auffallenden  Differenzen  in  Größe,  in  Färbung  des 
Federkleides,  in  der  Bildung  gewisser  Zierrate  (z.  B.  Hahnenkamm) 
der  Vögel,  ferner  die  meist  bloß  dem  männlichen  Geschlechte  eigenen 
Geweihe,  Hörner,  Haarbüschel  etc.  der  Wiederkäuer.  Beim  Menschen 
gehört  dahin  der  Bart  und  die  entwickeltere  Muskelkraft,  Willens- 
tätigkeit und  Denktätigkeit  des  Mannes,  die  zartere  Beschaffenheit 
und  geringere  Behaarung  der  Haut,  die  entwickeltere  Empfindungs- 
tätigkeit  des  Weibes.  Alle  diese  nur  einem  der  beiden  Geschlechter 
zukommenden  Eigentümlichkeiten  werden  von  demselben  nach  dem 
obigen  „Gesetz  der  sexuellen  Vererbimg"  in  der  Regel  nur  auf  das 
eine  der  beiden  Geschlechter  und  zwar  auf  das  entsprechende  weiter 
vererbt.  So  bleiben  im  Laufe  langer  Generations-Reihen  die  männ- 
lichen Individuen  den  männhchen  Vorfahren,  die  weiblichen  Indi- 
viduen den  weiblichen  Vorfahren  gleich  oder  doch  in  allen  wesent- 
lichen Charakterzügen  sehr  ähnlich. 

4.    Gesetz  der  gemischten  oder  beiderseitigen  Vererbung. 

(Lex  heredifatis  mixtae  s.  amphigonae.) 

Bei  allen  Organismen  mit  getrennten  Geschlechtern 
vererben  sich  die  nichtsexuellen  Charaktere  gemischt  fort, 


XIX.  iV.    Erblichkeit  und  Vererbung.  247 

d.  h.  es  gleichen  die  männlichen  Deszendenten  zwar  in  den 
meisten  und  wichtigsten  Charakteren  mehr  dem  Vater,  aber 
in  einigen  auch  mehr  der  Mutter,  und  ebenso  gleichen  die 
weiblichen  Deszendenten  zwar  in  den  meisten  und  wich- 
tigsten Charakteren  mehr  der  Mutter,  aber  in  einigen  auch 
mehr  dem  Vater. 

Dieses  Gesetz  scheint  dem  vorigen,  dem  der  sexuellen  Vererbung, 
in  gewisser  Beziehung  zu  widersprechen  und  es  ist  in  der  Tat  eine 
Modifikation  desselben.  Es  verhält  sich  zu  jenem  ähnlich,  wie  das 
Gesetz  der  latenten  zu  dem  der  kontinuierlichen  Vererbung.  Wahr- 
scheinlich ist  es  sehr  allgemein  herrschend,  allein  gewöhnlich  schwer 
zu  konstatieren,  weil  die  betreffenden  „gekreuzten"  Charaktere,  welche 
vom  Vater  auf  die  Tochter,  von  der  Mutter  auf  den  Sohn  übergehen, 
meist  untergeordneter  Natur  oder  doch  für  unsere  groben  Beobachtungs- 
mittel schwer  oder  gar  nicht  wahrzunehmen  sind.  Von  der  größten 
Bedeutung  ist  das  Gesetz  der  gemischten  Vererbung  für  die  Erschei- 
nungen der  Bastardzeugung  und  Kreuzung.  Die  Hybridismus- 
gesetze, welche  gegenwärtig  sich  noch  nicht  scharf  formulieren  lassen, 
werden  großenteils  auf  dieses  Gesetz  zurückzuführen  sein.  Am  deut- 
lichsten gewahren  wir  die  Wirkungen  der  gemischten  Vererbung  bei  Be- 
trachtung der  Erblichkeits-Erscheinungen  am  Menschen  selbst,  welcher 
überhaupt  für  das  Studium  der  gesamten  Erblichkeitsgesetze  weit  in- 
teressantere und  lehrreichere  Beispiele  liefert,  als  die  meisten  anderen 
Tiere.  Es  hängt  dies  teils  ab  von  der  größereu  individuellen  Differen- 
zierung des  Menschen,  teils  von  unserer  größeren  Fähigkeit,  die 
feineren  Differenzen  in  Form  und  Funktion  hier  zu  erkennen.  Nun 
ist  es  allbekannt,  wie  allgemein  in  den  menschlichen  Familien  die 
gemischte  oder  gekreuzte  Vererbung  herrschend  ist,  wie  der  eine 
Junge  oder  das  eine  Mädchen  in  dieser  oder  jener  Beziehung  bald 
mehr  dem  Vater,  bald  mehr  der  Mutter  gleicht.  Gerade  durch  diese 
Mischung  der  Charaktere  von  beiden  Geschlechtern  in  den  Nach- 
kommen wird  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  der  individuellen  Cha- 
raktere in  erster  Linie  bedingt.  Bekannt  ist,  was  Goethe  in  dieser 
Beziehung  von  sich  aussagt: 

„Vom  Vater  hab  ich  die  Statur, 
Des  Lebens  enistes  Führen; 
Vom  Mütterchen  die  Frohnatiu- 
Und  Lust  zu  fabidieren." 


248  Dip  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheoiie.  XIX. 

ö.     Gesetz  der  abgekürzten  oder  vereinfachten  Vererbung. 

(Lex  hereditatis  abbreviatae  s.  simplicatae.) 

Die  Kette  von  ererbten  Charakteren,  welche  in  einer 
bestimmten  Reihenfolge  sukzessiv  während  der  individuellen 
Entwiekelung  vererbt  werden  und  nacheinander  auftreten, 
wird  im  Laufe  der  Zeit  abgekürzt,  indem  einzelne  Glieder 
derselben  ausfallen. 

Obgleich  im  ganzen  die  individuelle  Entwickelungsgeschichte 
jedes  organischen  Individuums  eine  kurze  Wiederholung  der  langen 
paläontologischen  Entwiekelung  seiner  Vorfahren,  die  Ontogenie  eine 
kurze  Rekapitulation  der  Phylogenie  ist,  so  müssen  wir  dennoch  als 
eine  sehr  wichtige  Ergänzung  dieses  fundamentalen  Satzes  hinzufügen, 
daß  diese  Wiederholung  niemals  eine  ganz  vollständige  ist.  Es  finden  bei 
jeder  individuellen  Entwickelungsgeschichte  zahlreiche  Abkürzungen 
und  Vereinfachungen  statt,  indem  nach  und  nach  die  vollständige 
Kette  aller  derjenigen  Veränderungen,  welche  die  Vorfahren  des  In- 
dividuums durchliefen,  durch  Ausfall  einzelner  Glieder  immer  kürzer 
zusammengezogen  und  dadurch  immer  unvollständiger  wird.  Wie 
Fritz  Müller  in  seiner  ausgezeichneten  und  höchst  nachahmungs- 
würdigen Schrift  über  die  Morphogenie  der  Crustaceen  schlagend  ge- 
zeigt hat,  ..wird  die  in  der  individuellen  Entwickelungsgeschichte 
erhaltene  geschichtliche  Urkunde  allmählich  verwischt,  indem  die 
Entwiekelung  einen  immer  geraderen  Weg  vom  Ei  zum  fertigen  Tiere 
einschlägt,  und  sie  wird  häufig  gefälscht  durch  den  Kampf  ums  Dasein, 
den  die  frei  lebenden  Larven  zu  bestehen  haben.  Die  Urgeschichte 
der  Art  (Phylogenie)  wird  in  ihrer  Entwickelungsgeschichte  (Ontogenie) 
um  so  vollständiger  erhalten  sein,  je  länger  die  Reihe  der  Jugend- 
zustände ist,  die  sie  gleichmäßigen  Schritts  durchläuft,  und  um  so 
treuer,  je  weniger  sich  die  Lebensweise  der  Jungen  von  der  der  Alten 
entfernt,  und  je  weniger  die  Eigentümlichkeiten  der  einzelnen  Jugend- 
zustände als  aus  späteren  in  frühere  Lebensabschnitte  zurückverlegt 
oder  als  selbständig  erworben  sich  auffassen  lassen."  Je  verschieden- 
artiger  die  Existenzbedingimgen  sind,  unter  denen  das  Individuum 
in  den  verschiedenen  Zeitabschnitten  seiner  Entwiekelung  lebt,  desto 
mehr  wird  dasselbe  sich  diesen  anpassen  müssen  und  dadurch  von 
der  Entwiekelung  seiner  Vorfahren  entfernen.  Je  heftiger  der  Kampf 
um  das  Dasein  ist,  den  die  jungen  Individuen  und  die  Larven  zu 
bestehen  haben,  desto  mehr  ist  es  für  sie  von  Vorteil,  wenn  sie 
möglichst    rasch  den  vollendeteren  späteren  Zuständen  sich  nähern. 


XIX.  IV.    Erblichkeit  imd  Vererbung.  249 

und  indem  also  die  schneller  sich  entwickelnden,  bei  denen  die 
Ontogenesis  zufällig  abgekürzt  wird,  oder  bei  denen  einzelne  Ab- 
schnitte derselben  ausfallen,  dadurch  einen  Vorteil  im  Kampf  um 
das  Dasein  erlangen,  werden  sie  die  langsamer  sich  entwickelnden 
überleben,  und  so  ihre  individuelle  schnellere  Entwickelungsweise  als 
eine  nützliche  „Abkürzung  oder  Vereinfachung  der  Entwickelung" 
auf  ihre  Nachkommen  vererben.  Wenn  diese  Vereinfachung  weit 
geht,  so  kann  sie  selbst  bei  nächst  verwandten  Arten  eine  sehr  ver- 
schiedene Ontogenese  bedingen.  So  ist  z.  B.  nach  Fritz  Müllers 
schöner  Entdeckung  die  gemeinsame  ursprüngliche  Larvenform  der 
Podophthalmen  und  vieler  niederer  Crustaceen,  der  Xaiq)Uus.  bei  den 
allermeisten  stieläugigen  Krebsen,  wo  derselbe  späterhin  in  die  Zoea- 
Forni  übergeht,  durch  Vereinfachung  der  Entwickelung  verschwunden, 
und  nur  bei  einigen  Garneelen  {Peneus)  übrig  geblieben.  Bei  den 
letzteren  ist  also  nicht  dieselbe  Abkürzung  der  Vererbung  (durch 
Ausfall  des  Ncmplms-^ia.A\\\mQ)  eingetreten,  wie  bei  den  meisten 
anderen  Podophthalmen,  wo  die  Zoea  unmittelbar  aus  dem  Ei  kommt. 

Eh.     Gesetze  der  i^r ogr essiven   Vererbung. 
6.     Gesetz  der  angepaßten  und  erworbenen  Vererbung. 

(Lex  hereditatis  adaptatae  s.  accommodatae.) 

Alle  Charaktere,  welche  der  Organismus  während  seiner 
individuellen  Existenz  durch  Anpassung  erwirbt  und  welche 
seine  Vorfahren  nicht  besaßen,  kann  derselbe  unter  gün- 
stigen Umständen  auf  seine  Nachkommen  vererben. 

Gleichwie  alle  von  den  Voreltern  ererbten,  so  können  auch  alle 
neu  erworbenen  Eigenschaften  der  Materie  durch  die  Vererbung  fort- 
gepflanzt werden.  Es  gibt  keine  morphologischen  und  physiologischen 
Eigentümlichkeiten,  welche  das  organische  Individuum  durch  die 
Wechselwirkung  mit  der  umgebenden  Außenwelt  erwirbt,  mit  einem 
Worte  keine  „Anpassungen",  welche  nicht  durch  Vererbung  auf  die 
Nachkommenschaft  übertragen  werden  könnten.  Dieses  große  Gesetz 
ist  von  der  höchsten  Wichtigkeit,  weil  darauf  unmittelbar  die  Ver- 
änderlichkeit der  Arten,  die  Möglichkeit,  daß  verschiedene  neue  Spezies 
aus  einer  vorhandenen  hervorgehen,  beruht.  Wir  kennen  in  der  Tat 
keine  einzige  in  die  Mischung,  Form  oder  Funktion  des  Organismus 
eingreifende  Veränderung,  welche  nicht  unter  bestimmten  (uns  ge- 
wöhnlich ganz  unbekannten)  Verhältnissen,  auf  wenige  oder  auf  viele 


250  I^i*^  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstlieorie.  XIX. 

Generationen  hinaus  vererbt  werden  könnte.  Am  leichtesten  geschieht 
dies,  wenn  die  Veränderung  sehr  langsam  und  allmählich  erfolgt  (wie 
z.  B.  bei  Erwerbung  chronischer  Krankheiten). 

7.     Gesetz  der  befestigten  Vererbung. 

(Lex  hereditatis  constitutae.) 

Alle  Charaktere,  welche  der  Organismus  während  seiner 
individuellen  Existenz  durch  Anpassung  erwirbt  und  welche 
seine  Vorfahren  nicht  besaßen,  werden  um  so  sichererund 
vollständiger  auf  alle  folgenden  Generationen  vererbt,  je 
anhaltender  die  kausalen  Anpassungsbedingungen  ein- 
wirkten, und  je  länger  sie  noch  auf  die  nächstfolgenden 
Generationen  einwirken. 

Die  große  Bedeutung  dieses  Gesetzes  ist  wegen  seiner  ungemeinen 
praktischen  Wichtigkeit  für  die  künstliche  Züchtung  allgemein  aner- 
kannt. Jeder  Gärtner  und  Landwirt  weiß,  daß  neu  erschienene  Ab- 
änderungen von  Tieren  und  Pflanzen  auf  die  Nachkommenschaft  nur 
dann  dauernd  übertragen  und  befestigt  werden  können,  wenn  die 
Ursache,  welche  die  Veränderung  bedingte,  entweder  wiederholt,  oder 
längere  Zeit  hindurch,  am  sichersten,  wenn  sie  dauernd  durch  eine 
Reihe  von  vielen  Generationen  einwirkte.  Ist  dies  nicht  der  Fall, 
so  schlägt  die  veränderte  Form  in  ihrer  Nachkommenschaft  sehr 
leicht  wieder  in  die  Stammform  zurück.  Die  Befestigung  aber  ist  um 
so  tiefer,  je  länger  die  Ursache  einwirkte.  Jeder  Organismus  besitzt 
in  dieser  Beziehung  einen  gewissen  Elastizitätsgrad.  Wenn  die  Biegung 
der  elastischen  Form  längere  Zeit  durch  einen  biegenden  äußeren 
Einfluß  erhalten  wird,  so  bleibt  sie  nach  dem  Aufhören  dieses  Ein- 
flusses von  selbst  bestehen,  während  sie  in  den  früheren,  nicht  ge- 
bogenen Zustand  zurückschnellt,  wenn  der  biegende  Einfluß  sie  nur 
km-ze  Zeit  zur  Biegung  zwang.  Wie  in  einem  künstlich  gebogenen 
elastischen  Metallstabe  sich  die  Moleküle  des  Metalls  bei  längerer 
Dauer  der  Biegung  so  anordnen,  daß  sie  auch  nach  Aufhören 
derselben  diese  Anordnung  beibehalten,  dagegen  in  ihre  frühere  An- 
ordnung zurückkehren,  wenn  die  biegende  Kraft  nur  kurze  Zeit  ein- 
wirkte, so  verhalten  sich  auch  die  Moleküle  des  Eiweißes  in  einem 
Organismus,  welcher  durch  die  Anpassung  „gebogen"  wird.  Die  all- 
gemeine Gültigkeit  des  Gesetzes  von  der  ..Befestigung  der  Vererbung" 
ist  so  bekannt,  daß  wir  kaum  Beispiele  anzuführen  brauchen.  Jeder 
Landwirt  kann  eine  neue  iVbänderung  einer  Tierform,  jeder  Gärtner 


XIX.  IV.    Erblichkeit  und  Vererbung.  251 

eine  neue  Anpassung  einer  Pflanzeuform  nur  dadurch  ., erhalten"'  und 
dauerhaft  erhaken,  d.  h.  befestigen,  wenn  er  sorgfältig  darauf  achtet, 
daß  die  neue  Form  erst  einige  Generationen  hindurch  unter  denselben 
Bedingungen  erhalten  und  „rein"  fortgepflanzt  wird.  Wenn  hierbei 
nicht  die  nötige  Vorsicht  angewendet  wird,  so  schlägt  die  veränderte 
Form  schon  in  den  ersten  Generationen  wieder  in  die  ursprüngliche 
Stammform  zurück.  Es  steht  also  der  Grad  der  Befestigung  einer 
Veränderung  (eines  erworbenen  Charakters)  in  geradem  Verliältnisse 
zur  Zeitdauer  des  verändernden  Einflusses  und  zur  Zahl  der  Generatio- 
nen, durch  welche  er  sich  bereits  vererbt  hat. 

8.     Gesetz  der  gleichörtlichen  Vererbung. 

(Lex  hereditatis  homotopae.) 

Alle  Organismen  können  die  bestimmten  Veränderungen 
irgend  eines  Körperteils,  welche  sie  während  ihrer  indi- 
viduellen Existenz  durch  Anpassung  erworben  haben  und 
welche  ihre  Vorfahren  nicht  besaßen,  genau  in  derselben 
Form  auf  denselben  Körperteil  ihrer  Nachkommen  vererben. 

Auch  dieses  Gesetz  der  gleichörtlichen  oder  homotopen  Vererbung 
hat  im  ganzen  Tier-  und  Pflanzenreiche  so  allgemeine  Geltung,  daß 
man  sich  niemals  über  diese  alltägliche  Erscheinung  wundert.  Und 
doch  ist  dieselbe  von  der  größten  Bedeutung;  denn  es  kann  kaum 
etwas  Wunderbareres  und  schwerer  zu  Erklärendes  geben,  als  die  all- 
bekannte Tatsache,  daß  der  Organismus  einen  lokalen  Charakter,  den 
er  während  seiner  individuellen  Existenz  erworben  hat,  auch  genau 
auf  denselben  Körperteil  seiner  Nachkommen  überträgt.  In  der  Tat 
ist  der  unvermeidliche  und  notwendige  Gedanke  äußerst  schwierig  zu 
verfolgen,  daß  das  Zoosperm  des  Vaters  und  die  Eizelle  der  Mutter, 
diese  minimale  Quantität  einer  formlosen  Eiweißverbindung,  eine 
äußerst  geringfügige  und  unbedeutende  Abänderung,  welche  irgend- 
ein Körperteil  der  Eltern  zu  irgendeiner  Lebenszeit  erfahren  hat, 
genau  auf  denselben  Körperteil  des  Embryo  oder  selbst  erst  des  er- 
wachsenen Organismus  überträgt,  der  sich  aus  jenem,  vom  Zoosperni 
befruchteten  Ei  epigenetisch  entwickelt  und  erst  allmählich  zur 
spezifischen  Form  differenziert  hat.  Und  doch  sehen  wir  diese  Tat- 
sache alltäglich  verwirklicht  vor  Augen.  Sie  gibt  uns  einen  Begriff 
von  der  unendlichen  Feinheit  der  organischen  Materie  und  der  un- 
begreiflichen Komplikation  der  in  derselben  stattfindenden  Molekular- 
bewegungen, zu  deren  richtiger  Würdigung    gegenwärtig    weder  das 


252  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie  XIX. 

BeolDachtungsvermögeii  unserer  Sinne,  noch  das  Denkvermögen  unseres 
Verstandes  ausreicht. 

In  der  auffallendsten  Weise  offenbart  sich  das  Gesetz  der  homo- 
topen  oder  gleichörtlichen  Vererbung  in  den  häufigen  Fällen,  in  denen 
ein  menschliches  Individuum  eine  ihm  eigentümliche,  von  seinen  Vor- 
eltern nicht  besessene,  und  äußerlich  leicht  wahrnehmbare  A^eränderung 
in  der  Größe,  Form,  Farbe  etc.  eines  bestimmten  Organs  zeigt,  die 
sich  gleicherweise  an  dem  gleichen  Organe  seiner  Nachkommen 
wiederholt.  Sehr  deutlich  ist  dies  wahrzunehmen  an  den  sogenannten 
„Muttermalen"  oder  „Leberflecken",  lokalen  Pigmentanhäufungen  an 
den  verschiedensten  Stellen  der  Haut,  die  sehr  häufig  bei  allen  oder 
doch  bei  einigen  Nachkommen  dieses  Individuums  Generationen  hin- 
durch an  genau  derselben  Stelle  der  Haut  wieder  erscheinen.  Dasselbe 
zeigen  sehr  auffallend  die  gefleckten  Spielarten  unserer  Haustiere  und 
Kulturpflanzen,  bei  denen  unter  gewissen  Bedingungen  dieser  oder 
jener  auffallende  Pigmentfleck,  der  unvermittelt  in  einer  Generation 
zum  ersten  Male  aufgetreten  ist,  nun  in  ganz  gleicher  Form,  Größe 
und  Farbe  an  derselben  Stelle  des  Körpers  der  Nachkommen  wieder 
auftritt.  Ferner  ist  dasselbe  bekanntlich  in  ausgezeichneter  Weise 
an  vielen  pathologischen  Erscheinungen  wahrzunehmen.  Eine  krank- 
hafte Veränderung  eines  inneren  oder  äußeren  Organs  (z.  B.  eine 
Hypertrophie,  Atrophie,  chronische  Entzündung),  welche  von  einer 
einzelnen  Person  während  ihres  Lebens  erworben  ist,  kehrt  sehr  oft 
in  genau  derselben  Form  an  demselben  Organe  der  Nachkommen- 
schaft wieder.  Wenn  wir  aber  vom  weiteren  Standpunkte  aus  das 
Gesetz  der  homotopen  oder  gleichörtlichen  Vererbung  betrachten,  so 
erkennen  wir  darin,  wie  in  dem  folgenden  Gesetze  der  homochronen 
oder  gleichzeitlichen  Vererbung,  eines  der  ersten  und  wichtigsten 
Grundgesetze  der  gesamten  Embryologie  und  der  Ontogenie  überhaupt. 

9.     Gesetz  der  gleichzeitlichen  Vererbung. 

(Lex  hereditaiis  hoiiiochronne.) 

Alle  Organismen  können  die  bestimmten  Veränderungen, 
welche  sie  zu  irgend  einer  Zeit  ihrer  individuellen  Existenz 
durch  Anpassung  erworben  haben,  und  welche  ihre  Vor- 
fahren nicht  besaßen,  genau  in  derselben  Lebenszeit  auf 
ihre  Nachkommen  vererben. 

Dieses  Gesetz  ist  gleich  dem  vorigen  von  der  äußersten  Wichtig- 
keit für  die  Erklärung  der  allgemeinen  Erscheinungen  der  Embryologie 
und  der  Ontogenie  überhaupt.     Darwin,   der   zuerst  hierauf  hinge- 


XIX.  I^"-    Erblichkeit  und  Vererbung.  253 

wiesen  hat,  nennt  dasselbe  das  „Gesetz  der  Vererbung  in  kor- 
respondierendem Lebensalter".  Bequemer  ist  der  kürzere  Aus- 
druck: Gesetz  der  gleichzeitlichen  (oder  homochronen)  Vererbung. 
Auch  die  Wirkungen  dieses  Gesetzes  sind,  wie  die  des  vorigen,  so 
alltäglich  zu  beobachtende,  und  so  allgemeine,  daß  sie  eben  deshalb 
noch  niemals  besondere  Bewunderung  erregt  und  zu  eingehender 
Untersuchung  Veranlassung  gegeben  haben.  Und  doch  sind  auch  sie 
von  der  größten  biologischen  Bedeutung  und  gehören  zu  den  wunder- 
barsten und  am  schwersten  zu  erklärenden  Erscheinungen,  welche 
überhaupt  in  der  Natur  vorkommen.  Denn  ist  nicht  wirklich  die 
allbekannte  Tatsache  wunderbar,  daß  eine  bestimmte  Veränderung, 
welche  der  Körper  eines  Organismus  zu  irgendeiner  Zeit  seines 
Lebens  erlitten  hat,  genau  zu  derselben  Zeit  auch  an  seinen  Nach- 
kommen wiederkehrt?  Auch  hier  können  wir  kaum  begreifen,  wie 
die  feinen  Molekularbewegungen  des  Plasma,  welche  solchen  Ver- 
änderungen zugrunde  liegen,  beim  Zeugungsakt  in  der  Weise  mittels 
des  Sperma  oder  des  Eies  auf  den  gezeugten  kindlichen  Organismus 
von  den  Eltern  übertragen  werden,  daß  sie  eine  ganz  bestimmte  Zeit 
hindurch  an  dem  Kinde  nicht  zur  Erscheinung  kommen  (also  latent 
existieren)  und  erst  dann  bemerkbar  werden,  wenn  der  kindliche 
Organismus  in  dieselbe  Lebensperiode  eingetreten  ist,  in  w^elcher  der 
elterliche  jene  Veränderung  erworben  hat. 

Die  Beispiele  auch  für  diesen  höchst  wunderbaren  Vorgang  sind 
in  der  Tat  zahllose,  da  die  gesamte  individuelle  Entwickelungsge- 
schichte  der  Organismen  als  Illustration  dieses  Gesetzes  angesehen 
werden  muß.  Besonders  auffallende  Beispiele  liefert  aber  auch  hier 
wieder  der  so  fein  differenzierte  und  so  mannigfaltig  abändernde 
menschliche  Organismus.  Namentlich  sind  hier  häufig  und  allbekannt 
viele  merkwürdige  Tatsachen  aus  der  Pathologie,  wie  z.  B.  die  gleich- 
zeitliche Vererbung  von  Krankheiten  der  Ernährungsorgane,  des 
Darmes,  der  Leber,  der  Lungen  etc.  Alle  diese  Erkrankungen  wieder- 
holen sich  gewöhnlich  in  den  Familien,  wo  sie  erblich  werden,  an 
den  Nachkommen  genau  zu  derselben  Zeit,  zu  welcher  die  Eltern  sie 
zum  ersten  Male  erworben  haben.  Ferner  sehen  wir  dasselbe  Gesetz 
bestätigt  an  unseren  Haustieren  und  Kulturpflanzen,  wo  ebenfalls  sehr 
häufig  auffallende  äußere  Veränderungen  (z.  B.  in  Form  und  Größe 
einzelner  Organe),  die  in  späterer  Lebenszeit  erst  von  einem  ein- 
zelnen Indi\iduum  erworben  wurden,  sich  auf  die  Nachkommen  des- 
selben vererben,  anfänglich  aber  latent  sind,  und  erst  dann  sichtbar 


254  Diß  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstlieorie.  XIX. 

werden,  wenn  das  entsprechende  spätere  Lebensalter  erreicht  ist. 
Wenn  dagegen  eine  tiefe  Veränderung  der  Organisation,  wie  es  sehr 
häufig  der  Fall  ist.  bereits  in  sehr  früher  Lebenszeit  des  Individuums, 
während  seiner  embryonalen  Entwickelung  eintritt,  so  erscheint  die- 
selbe auch  an  seinen  Nachkommen  zur  selbigen  frühen  Zeit  wieder 
und  es  werden  die  letzteren,  gleich  dem  ersteren,  bereits  mit  dieser 
Veränderung  geboren. 

Auch  dieses  äußerst  wichtige,  von  den  Erscheinungen  der  em- 
bryonalen Entwickelung  (Ontogenese)  induktiv  abgeleitete  Gesetz  der 
homochronen  Vererbung  erlaubt  gleich  demjenigen  der  homotopen 
Vererbung  die  weiteste  deduktive  Anwendung  auf  das  Gebiet  der 
parallelen  paläontologischen  Entwickelung  (Phylogenie),  und  es  ergibt 
sich  hieraus  z.  B.,  warum  die  Kälber  hörnerlos  geboren  werden  und 
ihre  Hörner  erst  später  erhalten,  warum  die  Kaulquappen  zuerst  in 
fischähnlicher  Form  existieren  und  erst  später  die  ausgebildete 
schwanzlose  Froschform  annehmen  usw. 


T.  Yeräuderlichkeit  und  Anpassung'. 

(Variabilitas.     Adaptatio.) 
V,  A.     Tatsache  und  Ursache   der  Anpassung. 

Die  Anpassungsfähigkeit  {Adaptabilitas)  oder  Veränder- 
lichkeit (Variabilitas)  als  virtuelle  Kraft,  und  die  Anpassung 
{Adaptatio)  oder  Abänderung  {Variatio)  als  aktuelle  Leistung 
der  organischen  Individuen,  sind  allgemeine  physiologische  Funk- 
tionen der  Organismen,  welche  mit  der  fundamentalen  Funktion 
der  Ernäh]-ung  unmittelbar  zusammenhängen  und  eigentlich  nur 
eine  Teilerscheinung  der  letzteren  darstellen.  Sie  äußern  sich  in 
der  Tatsache,  daß  jeder  Organismus  sich  während  seiner  individuellen 
Existenz  in  einer  von  den  Erblichkeitsgesetzen  unabhängigen  Weise, 
lediglich  durch  den  Einfluß  der  ihn  umgebenden  Existenzbedingungen, 
verändern,  sich  den  letzteren  anpassen  und  also  Eigenschaften  er- 
werben kann,  welche  seine  Voreltern  nicht  besaßen.  Diese  Er- 
scheinung ist,  wie  die  Erblichkeit,  eine  so  allgemeine  und  alltäglich 
zu  beobachtende,  daß  sie,  eben  wegen  dieser  Allgemeinheit,  von  der 
gewöhnlichen  oberflächlichen  Naturbetrachtung  entweder  gar  nicht 
in  Betracht  gezogen  oder  doch  in  ihrer  fundamentalen  Bedeutung 
für  die  Charakterbildung  des  ganzen  Organismus  bei  weitem  unter- 


XIX.  V.    Veränderlichkeit  und  Anpassung.  255 

* 

schätzt  wird.  Am  bekanntesten,  weil  von  unmittelbarer  praktischer 
Bedeutung,  sind  diejenigen  Erscheinungen  der  Veränderlichkeit  und 
Anpassung,  welche  als  Angewöhnung.  Erziehung,  Dressur.  Erkrankung 
etc.  so  vielfähig-  in  das  Kulturleben  des  Menschen  eingreifen.  Alle 
diese  Erscheinungen  beruhen  auf  Veränderungen  der  Organismen, 
die  durch  ihre  Anpassungsfähigkeit  bedingt  sind. 

Die  Ursachen  der  Veränderlichkeit  und  die  Gesetze  ihrer 
\ielfachen  Modifikationen  sind,  ebenso  wie  diejenigen  der  Erbhch- 
keit,  bisher  noch  äußerst  wenig  untersucht.  Sie  hängen  aber  offen- 
bar direkt  zusammen  mit  den  Gesetzen  der  Selbsterhaltung  und 
speziell  mit  den  Gesetzen  der  Ernährung  des  Organismus, 
und  bestehen  wesenthch  in  einer  materiellen  Wechselwirkung 
zwischen  Teilen  des  Organismus  und  der  ihn  umgebenden 
Außenwelt.  Alle,  auch  die  verschiedenartigsten  und  scheinbar  von 
der  Ernährungsfunktion  unabhängigsten  Anpassungserscheinungen 
sind  physiologische  Funktionen,  welche  sich  in  letzter  Instanz  als 
Ernährungsveränderungen  des  Organismus  nachweisen  lassen.  Wenn 
wir  sagen,  daß  diese  oder  jene  Veränderung  des  Köi-pers  „durch 
Übung,  durch  Gewohnheit,  durch  Wechselbeziehungen  der  Entwicke- 
lung"  usw.  entstehe,  so  erscheint  es  zunächst,  daß  diese  Ursachen 
der  Anpassung  ganz  selbständige  organische  Funktionen  seien.  So- 
bald wir  aber  denselben  näher  nachgehen  und  auf  den  Grund  der- 
selben zu  kommen  suchen,  so  gelangen  wir  zu  dem  Resultate,  daß 
alle  diese  Funktionen  ohne  Ausnahme  zuletzt  wieder  von  der  Er- 
nährungsfnnktion  abhängig  sind.  Die  Veränderlichkeit  oder  An- 
passungsfähigkeit ist  also  keineswegs  eine  besondere  organische 
Funktion,  wie  dies  sehr  häufig  angenommen  wird.  Vielmehr  ist  es  sehr 
wichtig,  festzuhalten,  daß  alle  Anpassungs-Erscheinungen  in  letzter 
Instanz  auf  Ernährungs- Vorgängen  beruhen,  und  daß  die  materiellen, 
physikalisch -chemischen  Prozesse  des  Stoffwechsels  ebenso  die 
mechanischen  Causae  efficientes .  der  Anpassung  und  der  Abänderung 
sind,  wie  die  materiellen  physiologischen  Prozesse  der  Fortpflanzung 
die  bewirkenden  Ursachen  der  Vererbung  sind. 

V,  B.  Anpassung  und  Ernährung. 

Die  Ernährung  (Nutriüo),  welche  auf  dem  organischen  Stoff- 
wechsel beruht,  haben  wir  im  fünften  Kapitel  des  zweiten  Buches 
als  die  allgemeinste  und  fundamentalste  physiologische  Funktion 
aUer  Organismen  nachgewiesen,  als  diejenige,  welche  zum  Bestehen 


256  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

aller  Organismen  ohne  Ausnahme  notwendig  ist.  und  als  diejenige, 
aus  welcher  alle  übrigen  Funktionen,  auch  die  Fortpflanzung,  un- 
mittelbar oder  mittelbar  sich  ableiten  lassen.  Die  Ernährung  ist 
zugleich  diejenige  physikalisch-chemische  Leistung  der  Organismen, 
welche  dieselben  am  durchgreifendsten  von  den  Anorganen  unter- 
scheidet. Die  Selbsterhaltung  der  organischen  Individuen 
ist  nur  durch  den  mit  der  Ernährung  unzertrennlich  ver- 
bundenen Stoffwechsel  möglich,  während  die  Selbsterhaltung 
der  anorganischen  Individuen  (Kristalle  etc.)  gerade  umgekehrt  nur 
durch  den  Ausschluß  jedes  Stoffwechsels,  durch  das  Beharren  in 
der  durch  das  Wachstum  erlangten  Form  möglich  ist.  Die  Existenz 
der  anorganischen  Individuen  ist  also  an  die  Konstanz  der  gegen- 
seitigen Lagerung  und  Verbindung  der  Moleküle  ihres  Körpers,  die 
Existenz  der  organischen  Individuen  gerade  umgekehrt  an  den 
Wechsel  der  gegenseitigen  Lagerung  und  Verbindung  der  Mole- 
küle ihres  Körpers  geknüpft,  und  an  den  Ersatz  der  durch  die 
Lebenstätigkeit  verbrauchten  Stoffteilchen  durch  neue  Stoffteilchen, 
welche  von  außen  aufgenommen  werden.  Dieser  Stoffwechsel, 
welcher  allen  Ernährungserscheinungen  zugrunde  liegt,  ist  nun  zu- 
gleich die  Ursache  und  die  Grundbedingung  aller  der  Verände- 
rungen, welche  der  Organismus  durch  Anpassung  eingeht. 

Wenn  wir  die  letzten  Ursachen  des  Stoffwechsels  aufsuchen,  so 
gelangen  wir  wiederum  zu  den  eigentümlichen,  im  fünften  Kapitel 
ausführlich  erörterten  chemischen  und  physikalischen  Eigenschaften 
der  „organischen"  Materien,  und  vor  allen  der  wichtigsten  und 
kompliziertesten  dieser  Kohlenstoffverbindungen,  der  Eiweißkörper 
oder  Albuminate.  Die  außerordentliche  Imbibitionsfähigkeit  dieser 
Materien,  ihr  starkes  Vermögen,  durch  Quellung  bedeutende  Flüssig- 
keitsmengen zwischen  die  Moleküle  aufzunehmen,  bedingt  die  Mög- 
lichkeit, beständig  die  durch  die  Lebenstätigkeit  verbrauchten  Stoffe 
nach  außen  abzuführen  und  dagegen  neue,  brauchbare  Stoffe  von 
außen  einzuführen,  zu  assimilieren.  Die  komplizierte  und  lockere 
Verbindung  der  Atome  in  diesen  Albuminaten  zu  höchst  zusammen- 
gesetzten und  leicht  zersetzbaren  Atomgruppen  bedingt  ihre  außer- 
ordentliche Fähigkeit  der  Umsetzung,  ihr  ausgezeichnetes  Vermögen, 
sich  selbst  zu  verändern  und  verändernd,  metabolisch  auf  die  be- 
nachbarten Stoffe  einzuwirken.  Dadurch  ist  aber  zugleich  den  um- 
gebenden Materien  der  Außenwelt  Gelegenheit  gegeben,  vielfach 
ändernd   auf   diese   Eiweißverbindungen    einzuwirken,  und   in   dieser 


XIX.  V.  Veränderlichkeit  und  Anpassung.  257 

Wechselwirkung-  zwischen  beiden  beruhen  die  Vorgänge  der  Er- 
nährung und  die  unmittelbar  damit  zusammenhängenden  Vorgänge 
der  Veränderung  der  organischen  Formen,  der  Anpassung. 

V.  C.     Grad  der  Anpassung. 

Wenn  wir  die  vorhergehenden,  im  fünften  Kapitel  näher  be- 
gründeten Erwägungen  stets  im  Sinne  behalten,  so  finden  wir,  daß 
alle  die  unendlich  mannigfaltigen  und  scheinbar  so  äußerst  zweck- 
mäßigen Anpassungen  der  Formen  und  Funktionen  der  Organismen 
in  letzter  Instanz  nichts  anderes  sind,  als  notwendige  Folgen  des 
unendlich  mannigfaltigen  Stoffwechsels,  der  unendlich  mannig- 
faltigen Wechselwirkung  zwischen  den  konstituierenden  Piastiden  der 
Organismen  und  der  sie  umgebenden  Außenwelt,  den  unendlich  man- 
nigfaltigen Existenzbedingungen.  Es  waltet  also  auch  hier,  wie  über- 
all in  der  Natur,  das  allgemeine  Kausalgesetz.  Jede  Veränderung, 
jede  Anpassung  eines  Organismus  ist  die  notwendige  Folge  aus  dem 
Zusammenwirken  von  mehreren  Ursachen,  und  zwar  aus  der  Wechsel- 
wirkung der  materiellen  Teile  des  Organismus  selbst  und  der  mate- 
riellen Teile  seiner  Umgebung.  Es  muß  demnach  auch  der  Grad 
der  Abänderung  oder  Anpassung  dem  Grade  der  Veränderung  in 
den  äußeren  Existenzbedingungen  entsprechen,  welche  mit  dem  Or- 
ganismus in  Wechselwirkung  stehen.  Je  größer  die  Verschiedenheit 
in  den  Existenzbedingungen  ist,  unter  welchen  der  Organismus  und 
unter  welchen  seine  Eltern  leben,  desto  intensiver  wird  die  Einwirkung 
der  ersteren  sein,  und  desto  größer  die  Abänderung,  d.  h.  die  Differenz 
in  der  Beschaffenheit  des  kindlichen  (angepaßten)  und  des  elterlichen 
Organismus.  Ebenso  wird  diese  Differenz  (die  Anpassung)  um  so 
stärker  sein,  je  längere  Zeit  hindurch  die  umbildenden  neuen  Existenz- 
bedingungen auf  den  kindlichen  Organismus  einwirken.  Der  Grad 
der  Anpassung  ist  also  mit  Notwendigkeit  kausal  bedingt  durch  den 
Grad  und  die  Zeitdauer  der  Einwirkung  veränderter  Lebensbedingungen 
auf  den  Organismus.  Der  Grad  der  Wirkung  steht  in  bestimmtem 
Verhältnisse  zum  Grade  der  Ursache.  So  einfach  und  selbstver- 
ständlich dieses  Gesetz  ist,  so  wird  es  dennoch  vielleicht  nirgends 
häufiger  übersehen  und  ignoriert,  als  in  der  Lehre  von  den  Abän- 
derungen und  Anpassungen  der  Organismen.  Dem  gegenüber  heben 
wir  hier  als  oberstes  Grundgesetz  der  Anpassung  ausdrücklich  fol- 
genden Satz  hervor:  „Jede  Anpassungserscheinung  (Abände- 
rung)  der   Organismen   ist   durch   die   materielle   Wechsel- 

Haeckel,    Prinz,  d.  Morphol.  17 


258  ß^^  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Wirkung  zwischen  der  Materie  des  Organismus  und  der 
Materie,  welche  denselben  als  Außenwelt  umgibt,  bedingt, 
und  der  Grad  der  Abänderung  (d.  h.  der  Grad  der  morpho- 
logischen und  physiologischen  Ungleicheit  zwischen  dem  abgeänderten 
Organismus  und  seinen  Eltern)  steht  in  geradem  Verhältnisse  zu 
der  Zeitdauer  und  zu  der  Intensität  der  materiellen  Wechsel- 
wirkung zwischen  dem  Organismus  und  den  veränderten 
Existenzbedingungen  der  Außenwelt." 

V,  D.     Indirekte  und  direkte  Anpassung. 

Bevor  wir  den  Versuch  machen,  diejenigen  Erscheinungen  der 
Anpassung,  welche  als  mehr  oder  minder  bedeutende  allgemeine 
Gesetze  der  Variabilität  sich  schon  gegenwärtig  formulieren  lassen, 
zu  unterscheiden,  ist  es  notwendig,  den  Unterschied  hervorzuheben, 
welcher  zwischen  zwei  wesentlich  verschiedenen  Hauptformen  der 
Anpassung,  der  direkten  und  der  indirekten  Adaptation  besteht.  Zwar 
ist  dieser  Unterschied  bisher  noch  kaum  urgiert  worden;  doch  er- 
scheint er  uns  von  solcher  Bedeutung,  daß  wir  glauben,  alle  ver- 
schiedenen Variabilitätsphänomene  entweder  als  Wirkungen  der 
direkten  oder  der  indirekten  Anpassung  betrachten  zu  können. 

Direkte  Anpassungen  nennen  wir  solche,  welche  durch  eine 
unmittelbare  Ernährungsveränderung  des  Organismus  zu  irgendeiner 
Zeit  seiner  individuellen  Existenz  veranlaßt  werden  und  noch  während 
derselben  durch  bestimmte  Veränderungen  der  Mischung,  Funktion 
und  Form  in  die  Erscheinimg  treten.  Indirekte  Anpassungen 
dagegen  nennen  wir  diejenigen  Ernährungsveränderungen  des  Or- 
ganismus, welche  erst  in  den  von  ihm  erzeugten  Nachkommen,  also 
mittelbar,  ihre  Wirkung  äußern,  und  bestimmte  Veränderungen  in  der 
Mischung,  Form  und  Funktion  des  kindlichen  Organismus  zur  Er- 
scheinung bringen,  welche  an  dem  unmittelbar  betroffenen  elterlichen 
Organismus  nicht  sichtbar  wurden. 

Um  diesen  wichtigen  Unterschied  richtig  zu  würdigen,  müssen 
wir  zuerst  die  Grenzen  und  den  Begriff  der  individuellen  Existenz, 
und  namentlich  deren  Beginn  scharf  zu  bestimmen  suchen.  So  ein- 
fach und  leicht  diese  Aufgabe  zunächst  erscheint,  so  zeigt  doch  eine 
eingehende  Vergleichung  bald,  daß  ibre  Lösung  oft  äußerst  schwierig 
und  in  vielen  Fällen  ganz  unmöglich  ist.  Eigentlich  müßten  wir 
jedes  durch  Fortpflanzung  erzeugte  organische  Individuum  von   dem 


XIX.  ^  •    Veränderlichkeit  und  Anpassung.  259 

Momente  an  für  selbständig  erklären,  in  welchem  es  als  selbständiges 
Waclistumszentrum  den  übrigen  Teilen  des  elterlichen  Organismus 
gegenübertritt.  Doch  ist  dieses  Moment  niemals  scharf  zu  bezeichnen. 
Andererseits  könnte  man  bei  der  ungeschlechtlichen  Fortpflan- 
zung den  Beginn  der  individuellen  Existenz  in  das  Moment  setzen, 
in  welchem  das  kindliche  Individuum  sich  von  dem  elterlichen 
räumhch  vollständig  trennt;  bei  der  Teilung.  Knospenbildung.  Keim- 
bildung also  in  das  Moment,  in  welchem  aus  einem  Körper  zwei 
oder  mehrere  räumlich  getrennt  werden  entweder  durch  eine  voll- 
ständige Spaltungsebene  oder  durch  Bildung  einer  realen  Scheide- 
wand. Allein  in  zahlreichen,  nahe  mit  dieser  vollständigen  Trennung 
verbundenen  Fällen  erfolgt  die  räumliche  Loslösung  oder  die 
Bildung  eines  vollständigen  realen  Septum  tatsächlich  nicht,  so  z.  B. 
bei  der  unvollständigen  Teilung  und  Knospenbildung;  und  es  ist 
dann  oft  ganz  ebenso  unmöglich,  zeitlich  wie  räumlich,  die  Grenze 
des  selbständigen  und  unselbständigen  individuellen  Lebens  zu 
fixieren. 

Bei  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung  werden  wir  den 
Beginn  der  individuellen  selbständigen  Existenz  allgemein  in  das 
Moment  der  Befruchtung  setzen  können.  In  diesem  Moment  hört 
das  Ei  auf,  ein  reiner  Bestandteil  des  mütterlichen  Organismus  zu 
sein  und  verschmilzt  durch  wahre  materielle  Vermischung  mit  dem 
väterlichen  Sperma  zu  einem  neuen  Individuum,  welches  weder  Ei 
noch  Sperma  allein,  sondern  eine  wirkliche  Verbindung  von  beiden, 
ein  neuer,  dritter  Körper  ist.  Die  weitere  Entwickelung  dieses  be- 
fruchteten Eies  zum  selbständigen  kindlichen  Individuum  kann  zwar 
äußerlich  noch  längere  Zeit  vom  mütterlichen  Organismus  abhängig 
erscheinen  (wie  bei  den  lebendig  gebärenden  Tieren,  den  Phane- 
rogamen  etc.,  wo  sich  der  Embryo  innerhalb  des  mütterlichen  Or- 
ganismus bis  zu  einem  gewissen  Grade  entwickelt).  Allein  durch  das 
Moment  der  Befruchtung  ist  der  Beginn  der  individuellen  Entwicke- 
lungsbewegung.  des  selbständigen  Wachstums  und  überhaupt  der 
physiologischen  Selbständigkeit  des  neu  erzeugten  Organismus  be- 
stimmt bezeichnet,  und  der  mütterliche  Organismus,  mag  er  mit  dem 
kindhchen  noch  so  eng  (wie  bei  den  Säugetieren)  verbunden  erscheinen, 
ist  ebensogut,  wie  der  väterliche  für  den  kindlichen  doch  nur 
Außenwelt,  äußere  Existenzbedingung.  Wenn  daher  der  kindhche 
Organismus  hier  schon,  noch  während  seiner  embryonalen  Entwickelung, 
Veränderungen   erfährt   (z.  B.   monströse  Ausbildung   einzelner  Teile 

17* 


260  Di^  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX, 

durch  mechanische,  experimentell  herbeigeführte  Störung  der  Ent- 
wickelung),  so  sind  diese  Veränderungen  wirkliche  direkte  An- 
passungen. Wir  haben  sie  als  solche  ebensogut  zu  bezeichnen, 
wie  in  denjenigen  Fällen,  in  welchen  der  Beginn  der  individuellen 
selbständigen  Existenz  mit  einer  vollständigen  räumlichen  Trennung 
des  elterhchen  und  kindlichen  Organismus  verbunden  ist  (z.  B.  bei 
der  vollständigen  Teilung  einzelliger  Protisten,  der  Diatomeen  etc., 
und  der  Zellen  innerhalb  mehrzelliger  Organismen). 

Anders  aber  steht  es  in  den  eben  berührten  Fällen,  in  denen 
eine  solche  natürliche  Begrenzung  des  Beginnes  der  individuellen 
Existenz  nicht  möglich  ist.  Hier  können  wir  nicht  so  scharf  zwischen 
der  direkten  und  indirekten  Anpassung  unterscheiden,  weil  die  Er- 
nährung der  beiden  Organismen,  des  elterlichen  und  kindlichen,  ge- 
meinsam bleibt  und  wegen  der  fortdauernden  Kontinuität  beider  (z.  B. 
bei  der  Stockbildung  durch  unvollständige  Knospenbildung)  eine  be- 
ständige nutritive  Wechselwirkung  zwischen  beiden  fortdauert.  Der 
theoretische  Unterschied  zwischen  der  direkten  und  indirekten  An- 
passung ist  freilich  auch  hier  klar.  Im  ersten  Falle  beruht  die 
morphologische  und  physiologische  Abänderung  stets  in  einer  Ver- 
änderung der  Ernährung  des  angepaßten  Individuums  selbst;  im  letzteren 
Falle  dagegen  auf  einer  Ernährungsveränderung,  welche  sowohl  allein 
vom  kindlichen,  als  allein  vom  elterlichen  Organismus,  als  endlich 
auch  gemischt  von  beiden  zusammen  ausgehen  kann.  Im  konkreten 
einzelnen  Falle  wird  es  aber  ganz  unmöglich  sein,  die  Grenze  zwischen 
diesen  drei  abstrakten  Möglichkeiten  scharf  zu  bestimmen,  ebenso 
unmöglich,  als  die  Grenze  der  nutritiven  Selbständigkeit  zwischen 
dem  kontinuierlich  materiell  zusammenhängenden  elterlichen  und 
kindlichen  Organismus  scharf  festzustellen  ist. 

Obwohl  es  also  in  vielen  Fällen  nicht  möglich  ist,  die  Grenze 
der  nutritiven  Selbständigkeit  des  kindlichen  Individuums  scharf  zu 
bestimmen,  wird  dadurch  doch  der  Unterschied  zwischen  der  indirekten 
und  der  direkten  Anpassung  keineswegs  aufgehoben.  Denn  es  ist 
klar,  daß  der  Begriff  der  individuellen  Anpassung  eigenthch 
streng  genommen  nur  auf  diejenigen  Fälle  der  Abänderung  angewendet 
werden  kann,  in  denen  die  Abänderung  tatsächlich  durch  Wechsel- 
wirkung zwischen  den  selbständigen  Individuen  und  der  Außenwelt 
erfolgt.  Nur  in  diesen  Fällen  ist  es  lediglich  eine  Veränderung  in 
der  Ernährung  dieses  einzelnen  Individuums,  welche  der  Anpassung 
zugrunde   liegt.      In    den   zahlreichen   Fällen   dagegen,    wo    dieselbe 


XIX.  V.  Veränderlichkeit  und  Anpassung.  261 

ein  nicht  vollkommen  selbständiges  Individuum  betrifft,  ist  es  un- 
möglich, zu  sagen,  wieviel  von  der  erworbenen  Veränderung  auf  Kosten 
einer  Ernährungsveränderung  des  Individuums  selbst  kommt,  wieviel 
auf  Kosten  einer  Ernährungsveränderung  des  elterlichen  Organismus, 
welcher  mit  dem  kindlichen  noch  in  bleibender  Wechselwirkung,  in 
unmittelbarer  materieller  Kontinuität  und  beständigem  Stoffaustausch 
verharrt. 

Diese  Erwägung  ist.  wie  Darwin  zuerst  gezeigt  hat,  von  äußerster 
Wichtigkeit.  Denn  tatsächlich  lehrt  die  Erfahrung,  daß  Ernährungs- 
veränderungen, welche  den  elterlichen  Organismus  betreffen,  und 
welche  an  diesem  selbst  nur  eine  geringe,  oft  in  Form  und  Funktion 
nicht  wahrnehmbare  Mi schungs Veränderung  hervorbringen,  in  ihrer 
Wirkung  auf  den  kindlichen,  von  jenem  erzeugten  Organismus  sehr 
bedeutende,  in  Form  und  Funktion  oft  äußerst  auffallende  Abän- 
derungen hervorbringen.  Obwohl  also  hier  die  wirkende  Ursache 
bloß  den  elterlichen  Organismus  trifft,  kommt  sie  doch  nicht  an  diesem, 
sondern  erst  an  dem  kindlichen  Organismus  zur  Erscheinung.  Dieses 
wichtige  Gesetz  zeigt  sich  äußerst  auffallend  bei  unseren  Haustieren 
und  Kulturpflanzen,  bei  denen  wir  nicht  selten  imstande  sind,  durch 
ganz  bestimmte  Beeinflussung  ihrer  Ernährung  ganz  bestimmte  Ver- 
änderungen in  Form  und  Funktion  zu  erzielen,  welche  aber  nicht  an 
ihnen  selbst,  sondern  erst  an  ihren  Nachkommen  in  die  Erscheinung 
treten.  Dies  gilt  aber  nicht  nur  für  alle  oben  erwähnten  FäUe  von 
unvollständiger  Trennung  des  elterlichen  und  kindlichen  Organismus, 
sondern  es  gilt  auch  für  alle  Fälle  von  vollständiger  Trennung  und 
namentlich  auch  für  alle  Fälle  von  geschlechtlicher  Fortpflanzung. 
Es  zeigt  sich  hier  die  höchst  merkwürdige  und  wichtige  Tatsache, 
daß  selbst  leichte  Ernährungsveränderungen,  welche  in  den  meisten 
Organen  und  Funktionen  des  elterlichen  Organismus  keine  bemerkbare 
oder  nur  eine  ganz  unbedeutende  Abänderung  bewirken,  auf  die  Ge- 
schlechtsorgane desselben  (nach  dem  Gesetz  von  der  Wechselbeziehung 
der  Organe)  eine  verhältnismäßig  kolossale  Wirkung  ausüben,  und 
namentlich  auf  die  noch  nicht  vereinigten  Geschlechtsprodukte  (Sperma 
und  Eier)  so  bedeutend  einwirken,  daß  diese  Einwirkung  nach  er- 
folgter Vereinigung  derselben  (Befruchtung)  in  Abänderungen  der 
Form  und  Funktion  des  kindlichen  Organismus  äußerst  auffallend 
heiTortritt.  Allerdings  sind  uns  im  einzelnen  diese  höchst  wichtigen 
nutritiven  Wechselbeziehungen  zwischen  den  Fortpflanzungsorganen  und 
den  übrigen  Teilen  des  Organismus  noch  fast  ganz  unbekannt,   und 


262  ßie  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

zum  größten  Teil  sehr  rätselhaft.  Allgemeine  und  sehr  merkwürdige 
Beweise  für  deren  Existenz  besitzen  wir  aber  sehr  viele,  wie  z.  B.  die 
bekannten  Veränderungen  im  Stimmorgan,  in  der  Fettbildung  und  in 
den  psychischen  Tätigkeiten  bei  kastrierten  männlichen  Tieren;  ferner 
die  wichtige  Tatsache,  daß  schon  leichte  Ernährungsstörungen,  und 
bei  vielen  wilden  Tieren  sogar  schon  der  Verlust  ihrer  natürlichen 
Freiheit  und  das  Leben  in  Gefangenschaft  ausreichen,  um  sie  voll- 
ständig unfruchtbar  zu  machen.  So  pflanzen  sich  z.  B.  die  Affen  und 
die  bärenartigen  Raubtiere,  der  Elephant,  die  Raubvögel,  und  viele 
andere  Tiere,  ebenso  auch  viele  Pflanzenarten,  in  der  Gefangenschaft 
und  im  Kulturzustande  niemals  oder  nur  sehr  selten  fort,  während 
andere  dies  regelmäßig  tun.  Oft  genügt  schon  übermäßig  reichliche 
Nahrung,  um  Sterilität  (und  zugleich  vielfache  Variationen)  hervor- 
zurufen. Ebenso  wie  die  Sterilität  wird  aber  auch  die  Produktion 
einer  sehr  abweichenden  und  selbst  monströsen  Nachkommenschaft 
sehr  oft  lediglich  durch  derartige  Ernährungsstörungen  des  elterlichen 
Organismus  bedingt,  ohne  daß  er  selbst  bereits  die  auffallenden 
Charaktere  seiner  Kinder  ausgebildet  zeigt. 

Diese  äußerst  wichtige  Erscheinung,  welche  wir  bei  allen  Arten 
der  Fortpflanzung  beobachten,  und  welche  uns  wiederum  den  innigen 
Zusammenhang  zwischen  der  Fortpflanzung  und  Ernährung  vor  Augen 
führt,  läßt  sich,  streng  genommen,  nicht  als  individuelle  Anpassung 
bezeichnen,  insofern  es  nicht  das  selbständige  Individuum  ist,  welches 
die  Abänderung  durch  Wechselwirkung  mit  der  Außenwelt  erfährt. 
Vielmehr  wird  der  Grund  der  Abänderung  vermittelst  der  materiellen 
Grundlage  des  elterlichen  Organismus  in  diejenige  des  kindlichen 
Individuums  gelegt,  schon  bevor  dasselbe  sich  überhaupt  vom  elter- 
lichen Organismus  irgendwie  isoliert  hat.  Eine  individuelle  Ernährungs- 
modifikation des  letzteren  ist  die  eigentliche  erste  Ursache.  Es  wird 
also  die  Anlage  zur  Abänderung  bereits  im  elterlichen  Organismus 
(durch  die  Ernährung)  bewirkt  und  von  diesem  auf  den  kindlichen 
Organismus  (durch  die  Fortpflanzung)  übertragen.  In  letzterer  Hinsicht 
könnte  man  versucht  sein,  den  Vorgang  eher  eine  Erscheinung  der 
Vererbung  als  der  Anpassung  zu  nennen.  Allein  der  wesentliche 
Unterschied  von  der  Vererbung  liegt  darin,  daß  bei  dieser  letzteren 
die  (chemischen,  physiologischen,  morphologischen)  Eigenschaften, 
welche  der  elterliche  Organismus  auf  den  kindlichen  überträgt,  bei 
dem  elterlichen  bereits  wirklich  entwickelt  in  die  Erscheinung  ge- 
treten waren  und  also  nicht  bloß  jjofotfia,  sondern  auch  «ff^r  in  ihm 


XIX.  V.  Veränderlichkeit  und  Anpassung.  263 

verlianden  waren.  Im  ersteren  Falle  dagegen  sind  jene  Eigenschaften 
in  dem  elterlichen  Organismus  bloß  potentia,  nicht  adu  vorhanden, 
und  zwar  latent  in  dem  Keime  des  kindlichen  Organismus,  bei  dessen 
Entwickelung  erst  sie  in  die  Erscheinung  treten.  Wir  können  daher 
diesen  Vorgang  seinem  Wesen  nach  nicht  als  eine  Erblichkeitser- 
scheinung, sondern  müssen  ihn  als  eine  Anpassungs-Erscheinung 
auffassen,  wenngleich  wir  hervorheben  müssen,  daß  er  eine  un- 
mittelbare Übergangsstufe  zwischen  den  entgegengesetzten 
und  entgegenwirkenden  Erscheinungen  der  Vererbung  (die 
mit  der  Fortpflanzung)  und  der  eigentlichen  individuellen  An- 
passung (die  mit  der  Ernährung  zusammenhängt),  darstellt.  Um  ihn 
von  der  letzteren,  der  aktuellen  oder  direkten  Anpassung  zu  unter- 
scheiden, wollen  wir  ihn  ein  für  allemal  als  indirekte  oder  potentielle 
Anpassung  bezeichnen.  Alle  Anpassungen,  welche  bei  den  Organismen 
vorkommen,  gehören  einer  von  diesen  beiden  Kategorien  an. 

Das  Gesetz  der  indirekten  oder  potentiellen  Anpassung 
oder  der  Abänderung  des  Organismus  durch  Ernährungsmodifikationen 
seines  elterlichen  Organismus  läßt  sich  demnach  folgendermaßen 
formuHeren:  „Jeder  Organismus  kann  durch  Wechselwirkung 
mit  der  umgebenden  Außenwelt  nutritive  Veränderungen 
erleiden,  welche  nicht  in  seiner  eigenen  Formbildung, 
sondern  erst  mittelbar  in  der  Formbildung  seiner  Nach- 
kommenschaft, als  indirekte  Anpassung,  in  die  Erscheinung 
treten." 

Das  Gesetz  der  direkten  oder  aktuellen  Anpassung  oder 
der  Abänderung  des  Organismus  durch  eigene,  ihn  selbst  betreffende 
Ernährungsmodifikationen  würde  dagegen  lauten : .,  J  e  d  e  r  0  r  g  a  n  i  s  m  u  s 
kann  durch  Wechselwirkung  mit  der  umgebenden  Außen- 
welt nutritive  Veränderungen  erleiden,  welche  unmittelbar 
in  seiner  eigenen  Formbildung,  als  direkte  Anpassung,  in 
die  Erscheinung  treten."  Hierher  gehören  die  meisten  Fälle  in- 
dividueller xlbänderungen,  welche  man  gewöhnlich  als  Anpassung  (im 
engeren  Sinne)  bezeichnet. 

Wenn  wir  nunmehr  an  die  Betrachtung  der  verschiedenen  Gesetze 
der  indirekten  und  der  direkten  Anpassung  herantreten,  welche  wir 
gegenwärtig  unterscheiden  zu  können  glauben,  so  müssen  wir  zunächst 
leider  dieselbe  Bemerkung  vorausschicken,  welche  wir  soeben  bei 
Besprechung  der  Erblichkeitsgesetze  gemacht  haben,  daß  wir  uns 
nämlich  auf  einem   ebenso    ausgedehnten    als  wichtigen  Gebiete  der 


264  i^iP  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Biologie  befinden,  auf  welchem  fast  noch  nichts  geschehen  ist.  um 
die  wertvollen  daselbst  verborgen  liegenden  Schätze  zu  heben.  Zw^ar 
sind  den  Zoologen  und  Botanikern,  seitdem  Linne  das  systematische 
Studium  der  äußeren  Morphologie  begründete,  zahllose  Varietäten. 
Rassen,  Spielarten  und  andere  Abändeningsformen  der  sogenannten 
„guten  Arten''  bekannt  geworden,  und  der  größte  Teil  der  zoologischen 
und  botanischen  Literatur  ist  mit  Beschreibung  dieser  zahllosen 
Abänderungsformen  gefüllt  und  mit  den  unnützesten  und  hirnlosesten 
Streitigkeiten  über  die  Frage,  ob  diese  oder  jene  Form  als  „gute  Art" 
oder  bloß  als  Unterart,  als  Gattung  oder  als  Varietät,  als  Rasse  oder 
nur  als  individuelle  Abänderung  zu  deuten  sei.  Da  indessen  die  meisten 
hierauf  bezüglichen  Untersuchungen  nur  mit  einem  höchst  beschränk- 
ten Materiale  und  mit  einem  noch  mehr  beschränkten  Verstände  an- 
gestellt sind,  so  haben  dieselben  keinen  oder  nur  sehr  geringen 
wissenschaftlichen  Wert.  Die  meisten  Botaniker  und  Zoologen,  die 
ihr  Leben  mit  solchen  unnützen  Spielereien  zugebracht  haben,  sind 
ohne  alle  philosophische  Basis  zu  Werke  gegangen  und  haben  sich 
weder  die  Mühe  gegeben,  über  die  eigentliche  Bedeutung  der  Begriffe 
„Art,  Unterart.  Rasse,  Abart,  Varietät,  Spielart  etc.'"  nachzudenken, 
noch  über  die  Ursachen,  durch  welche  die  tatsächlichen  Verschieden- 
heiten dieser  subordinierten  Kategorien  entstanden  sind.  An  eine  wissen- 
schaftliche Untersuchung  der  Abänderungsgesetze  hat  aber  vor  Darwin 
fast  noch  niemand  gedacht,  und  auch  Darwin  hat  mehr  Verdienst 
um  die  klare  Hervorhebung  der  kausalen  Verhältnisse  der  Abän- 
derungen, als  um  die  ordnungsgemäße  Unterscheidung  ihrer  ver- 
schiedenen Modifikationen,  die  in  diesem  Chaos  von  ungeordneten 
Tatsachen  allerdings  ebenso  schwierig  als  wichtig  ist.  Unter  diesen 
Umständen  können  wir  eine  vollständige  Erkenntnis  der  mannigfal- 
tigen Verhältnisse  erst  von  der  intelligenten  Morphologie  der  Zukunft 
hoffen,  welche  bemüht  sein  wird,  gerade  die  feinen  individuellen  Unter- 
schiede und  die  geringen  Differenzen  der  Varietäten,  Rassen  etc.  sorg- 
fältig zu  wägen  und  daraus  zusammenhängende  Entwickelungsreihen 
herzustellen,  während  die  bisherige  künstliche  Systematik  gerade  das 
Gegenteil  erstrebte  und  nur  bemüht  war,  die  Arten  scharf  zu  trennen, 
indem  sie  die  vorhandenen  Zwischenformen  beiseite  schob  und 
ignorierte.  Der  folgende  Versuch,  die  verschiedenen  Abänderungser- 
scheinungen  als  geordnete  Gesetze  aufzuführen,  kann  unter  diesen 
Umständen  nur  ein  ganz  provisorischer  sein. 


1 


XIX.  y-    Veränderlichkeit  und  Anpassung.  265 

V,  E.    Gesetze  der  Anpassung. 

Ea.    Gesetze  der  indirekten  oder  potentiellen  Anpassung. 
1.    Gesetz  der  individuellen  Abänderung. 

(Lex  variationis  iiidividualis.) 

Alle  organischen  Individuen  sind  von  Beginn  ihrer 
individuellen  Existenz  an  ungleich,  wenn  auch  oft  höchst 
ähnlich. 

Dieses  wichtige  Gesetz  der  individuellen  Abänderung,  welches 
wir  auch  das  der  angeborenen  Ungleichheit  nennen  könnten,  ist  das 
allgemeinste,  welches  sich  auf  die  Abänderungsverhältnisse  bezieht 
und  steht  unmittelbar  gegenüber  dem  allgemeinsten  Yererbungsgesetze, 
wonach  die  unmittelbaren  Deszendenten  der  Organismen  ihren  Eltern 
entweder  nahezu  gleich  oder  doch  sehr  ähnlich  sind.  Beide  Gesetze 
widersprechen  sich  nicht.  Denn  wenn  auch  alle  Individuen  einer 
und  derselben  „Art"  oder  ..Abart''  noch  so  sehr  ähnlich  sein  mögen, 
und  wenn  wir  auch  mit  unseren  besten  Hülfsmitteln  keine  Unter- 
schiede zwischen  denselben  wahrnehmen  können,  so  haben  wir  doch 
Gründe  genug  zu  der  Annahme,  daß  nur  höchst  selten  und  zufälHg 
eine  absolute  Gleichheit  zweier  ähnlicher  Individuen  stattfindet. 
Wir  begründen  dieses  Gesetz  induktiv  auf  die  allgemein  bekannte  Un- 
gleichheit der  menschlichen  Indi\iduen  von  der  Zeit  ihrer  Geburt 
an.  Niemand  wird  behaupten,  daß  es  jemals  zwei  Menschen  ge- 
geben habe,  welche  absolut  gleich  gewesen  seien,  welche  absolut 
dieselbe  Größe,  Form  und  Farbe,  dasselbe  Gesicht,  dieselbe  Zahl 
von  Epidermiszellen,  Blutzellen  etc.,  dieselben  Seelenbewegungen 
(Wille,  Empfindung,  Denken  in  absolut  gleicher  Form)  besessen  haben. 
Schon  bei  der  Geburt  sind  allgemein  individuelle  Ungleichheiten  vor- 
handen, wenn  sie  auch  oft  schwer  zu  erkennen  sind  und  erst  später 
deutlicher  hervortreten.  Was  vom  Menschen,  das  gilt  auch  von  den 
übrigen  Säugetieren,  und  es  ist  allen  Menschen,  die  sich  eingehend 
mit  einer  größeren  Anzahl  von  Indi^iduen  einer  Art  beschäftigt  und 
dieselben  genau  und  lange  Zeit  beobachtet  haben  (z.  B.  den  Hirten 
von  Viehherden,  den  Förstern,  Ausstopfern)  wohl  bekannt,  daß  alle 
einzelnen  Individuen  einer  und  derselben  Spezies,  trotz  der  größten 
Ähnhchkeit,  dennoch  individuelle  Unterschiede  zeigen.  Dasselbe 
wissen  alle  systematischen  Botaniker,  welche  Massen  von  Individuen 
einer  und  derselben  Spezies  eingehend  verglichen  haben.  Dasselbe 
weiß  jedermann  von   allen  Bäumen   eines  Waldes.     Niemand  wird 


266  Diß  Deszendenztheorie  und  die  öelektioustheorie.  XIX. 

z.  B.  behaupten,  daß  es  jemals  zwei  Bäume  von  einer  und  derselben 
Art,  z.  B.  zwei  Apfelbäume  oder  zwei  Roßkastanien  gegeben  habe, 
welche  in  allen  Beziehungen,  in  der  Zahl  der  Blätter  und  Blüten, 
der  Bildung  der  Rinde,  der  Verzweigung  des  Stammes,  in  der  Zahl 
und  Form  aller  konstituierenden  Zellen  absolut  gleich  gewesen  seien. 
Schon  eine  Betrachtung  einer  Baumschule  lehrt  hiervon  das  gerade 
Gegenteil,  und  eine  sorgfältige  Vergleichung  der  jüngsten  Samen- 
pflanzen zeigt,  daß  sie  schon  von  erster  Jugend  an  individuelle 
Unterschiede  zeigen.  Nun  könnte  man  zwar  behaupten,  daß  diese 
absolute  Ungleichheit  aller  organischen  Individuen  durch  die  univer- 
selle direkte  Anpassung  erworben  sei,  und  zum  großen  Teile  ist 
dies  gewiss  der  Fall,  da  niemals  zwei  Individuen  ihr  ganzes  Leben 
unter  absolut  denselben  Existenzbedingungen  zubringen.  Allein  Dar- 
win hat  gezeigt,  daß  wir  hinreichende  Gründe  haben,  die  allgemeine 
individuelle  Ungleichheit  der  Organismen  auch  teilweis  als  Folge 
einer  indirekten  Abänderung  derselben  anzusehen,  hervorgebracht 
durch  primitive  Verschiedenheiten  in  der  chemischen  Zusammen- 
setzung der  von  den  Eltern  erzeugten  Keime. 

2.    Gesetz  der  monströsen  oder  sprungweisen  Abänderung. 

(Lex  variafionis  monsfrosae  sive  generatlvae.) 

Alle  Organismen  sind  unter  bestimmten,  sehr  abweichen- 
den und  ungewöhnlichen  Ernährungsbedingungen  fähig, 
eine  Nachkommenschaft  zu  erzeugen,  welche  nicht  in  dem 
gewöhnlichen  geringen  Grade  der  individuellen  A'^eränder- 
lichkeit,  sondern  in  einem  so  außerordentlichen  und  un- 
gewöhnlichen Grade  von  den  Charakteren  des  elterlichen 
Organismus  abweicht,  daß  man  dieselben  als  Monstra  oder 
Mißbildungen  bezeichnet.*) 

Dieses  noch  wenig  bekannte,  und  auch  hinsichtlich  der  zugrunde 
liegenden  Tatsachen  noch  wenig  untersuchte  Gesetz  ist,  soviel  wir 
bis  jetzt  wissen,  nur  von  geringer,  bisweilen  vielleicht  aber  auch 
von  sehr  bedeutender  Wichtigkeit  für  die  Entstehung  von  neuen 
Arten.  Es  gehören  hierher  wahrscheinlich  alle  diejenigen  Fälle, 
welche   man   als   sprungweise   Abänderung,    plötzliche  Aus- 


*)  Anm.  (190()).  Neuerdings  hat  der  Botaniker  Hugo  de  Vries  (1901) 
die  sprungweise  ])lötzliche  Variation  unter  dem  Namen  ..Mutation"  als  die 
wichtigste  Quelle  der  Speziesbildung  zu  erweisen  versucht.  Vergl.  über  diese 
Mutationstheorie  meine  „Lebenswunder"  (1904,  S.  429). 


XIX.  V.  Veränderung  und  Anpassung.  267 

artung.  monströse  Entwiekelung  etc.  bezeichnet.  Bei  den  Menschen 
sowohl  als  bei  den  andern  im  Kultm-zustande  lebenden  Tieren,  eben- 
so bei  den  Knltnrpflanzen  sind  solche  monströse  Abänderungen 
verhältnismäßig  häufig  und  oft  so  bedeutend,  daß  sie  nicht  allein 
über  den  Charakter  der  Art  und  Gattung,  sondern  auch  sehr  oft 
über  denjenigen  der  Familie  und  Ordnung  weit  hinausgreifen.  Es 
gehören  hierher  z.  B.  die  bekannten  Fälle  von  Menschen  mit  sechs 
Fingern  an  jeder  Hand  und  jedem  Fuß,  ferner  die  berühmten  Stachel- 
schweinmenschen mit  schuppenartiger  Epidermis,  die  ka\ikornien 
Wiederkäuermonstra  ohne  Hörner  (von  einer  sonst  gehörnten  Art) 
oder  mit  4 — 6 — 8  (statt  der  normalen  zwei)  Hörnern,  dann  der  all- 
gemeine Pigmentmangel  der  Haut  (Leucosis)  bei  den  Albinos  der 
verschiedensten  Tierarten,  die  ungewöhnlichen  Größenproportionen 
einzelner  Körperteile  untereinander  und  zum  Ganzen,  ferner  die 
zahlreichen,  höchst  auffallenden  und  plötzlich  entstehenden  ..mon- 
strösen" x\bänderungen  in  Größe.  Farbe.  Blätterzahl  etc.  bei  den 
Blüten  und  Früchten  unserer  Kulturpflanzen,  viele  ..gefüllte  Blüten" 
etc.  Aber  nicht  allein  solche  auffallende  äußerliche,  leicht  erkenn- 
bare Mißbildungen  treten  oft  ganz  plötzlich  in  einer  Generation  auf, 
sondern  auch  die  wichtigsten  Abweichungen  von  der  Lage,  Größe 
und  Gestalt  innerer  Organe,  so  z.  B.  die  Umkehrung  von  Rechts 
und  Links  bei  dipleuren  Tieren  (Perversio  viscerum  des  Menschen, 
links  gewundene  Individuen  von  regelmäßig  rechts  gewundenen 
Schnecken  etc.). 

Die  kausale  Entstehung  der  meisten  dieser  plötzlich  auftreten- 
den Monstrositäten  ist  uns  mit  Sicherheit  nicht  bekannt.  In  \ielen 
Fällen  sind  es  mechanische  oder  nutritive  Störungen  in  der  Ent- 
wiekelung des  Embryo,  welche  die  „Mißbildung"  verursachen  (dann 
also  direkte  Anpassungen!),  in  sehr  fielen  anderen  Fällen  dagegen 
sind  es  sicher  Nutritionsstörungen  des  elterlichen  Organismus,  welche 
auf  das  Genitalsystem  desselben  zurückwirken  und  die  auffallende 
Abänderung  des  kindlichen  Organismus  schon  im  ersten  Keime,  im 
noch  nicht  befruchteten  Ei  oder  im  Sperma  bedingen.  Hierbei  tritt 
der  ungeheure  Einfluß,  den  che  veränderte  Ernährung  des  Organis- 
mus auf  seine  Fortpflanzungsorgane  hat,  besonders  auffallend  her- 
vor. Wie  bereits  Darwin  hervorgehoben  hat,  sind  solche  monströse 
Abweichungen,  welche  er  als  „generative"  bezeichnet,  fast  durch- 
gängig zuerst  sehr  unbeständig  und  zeigen  dies  besonders  darin,  daß, 
wenn   sie   sich  mehrere   Generationen  hindm'ch  vererben,   der  Grad 


268  l^ic  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheoiie.  XIX. 

der  monströsen  Ausbildung  in  verschiedenen  Generationen  und  Indi- 
viduen ein  sehr  verschiedener  ist.  Auch  verschwinden  sie  oft  ebenso 
plötzlich  wieder  in  einer  Generation,  wie  sie  in  einer  vorhergehen- 
den entstanden  sind.  Indes  gelingt  es  der  künstlichen  Züchtung 
doch  oft,  dieselben  zu  erhalten  und  durch  generationenlange  Pflege 
zu  befestigen,  wie  es  z.  B.  bei  den  vierhörnigen  und  sechshörni- 
gen  Schafen  der  Fall  gewesen  ist,  bei  dem  berühmten  hörnerlosen 
Bullen  von  Paraguay,  von  dem  man  eine  ganze  Rinderrasse  erzog, 
bei  dem  krummbeinigen  Schafbock  von  Seth  Wright  in  Massa- 
chusetts, der  ebenfalls  der  Stammvater  einer  ganzen  krummbeini- 
gen Schafrasse  (der  Otterschafe)  wurde  etc.  Ebensogut  ist  es  nun 
denkbar  und  vielleicht  in  der  Tat  sehr  oft  geschehen,  daß  eine  plötz- 
hche  und  starke  Veränderung  in  der  Ernährung  einer  Spezies  im 
Naturzustande  (z.  B.  dadurch,  daß  sich  plötzlich  das  Klima  einer 
Gegend  ändert)  auf  die  Generationsorgane  zurückwirkt  und  zur 
massenhaften  sprungweisen  Erzeugung  neuer  monströser  Formen 
führt,  welche  sich  durch  Inzucht  fortpflanzen  und  eine  neue  „Art" 
bilden.  So  gut  wir  diesen  Prozeß  bei  wilden  Pflanzen  und  Tieren 
in  umgekehrter  Reihenfolge  als  plötzlichen  „Rückschlag"  verfolgen 
können,  so  gut  ist  es  auch  denkbar,  daß  dieselbe  sprungweise  Um- 
bildung nach  vorwärts  eintritt  und  zur  Bildung  neuer  Arten  führt. 
So  finden  wir  z.  B.  bei  Lippenblüten  (und  besonders  häufig  bei  der 
bekannten  Linaria  vulgaris)  nicht  selten  die  auffallende  „Monstrosi- 
tät", welche  mit  dem  Namen  Peloria  belegt  wird  und  welche  offen- 
bar als  einfacher  Rückschlag  in  die  weit  zurückliegende  pentakti- 
note  (regulärstrahlige  fünfzälilige)  Stammform  der  pentamphipleuren 
Lippenblüte  zu  deuten  ist.  Wie  wir  hier  plötzlich  (oft  an  einzelnen 
Blüten  eines  sonst  Lippenblüten  tragenden  Stockes)  den  weiten  Sprung 
in  die  alte  regulär-radiale  Stammform  zurück  eintreten  sehen,  welche 
man  als  ..Monstrum'-'-  bezeichnet,  so  kann  auch  umgekehrt  ursprüng- 
lich die  alte  pentamphipleure  Lippenblüte,  die  wir  jetzt  als  die  „nor- 
male" ansehen,  durch  einen  plötzlichen  Sprung  aus  der  ersteren  als 
„Monstrum"  entstanden  sein.  Besonders  weit  dürfte  der  Spielraum 
für  die  sprungweise  Entstehung  solcher  monströser  ..Abarten"  oder 
,.Ausartungen",  die  sich  dann  unter  günstigen  Umständen  zu  ..guten 
Arten"  befestigten,  bei  den  meisten  Organismen  liinsichtHch  der  Zahl 
der  Antimeren  und  Metameren  gewesen  sein,  wovon  uns  noch  heute  die 
große  Variabilität  der  homotypischen  und  homodynamen  Grundzahlen 
bei  vielen  Tier-   und  Pflanzenarten  berichtet.     Auch  in  Gruppen,  in 


XIX.  ^-    Veränderlichkeit  und  Anpassung.  269 

(leren  meisten  Arten  sich  diese  Grnndzahlen  fixiert  haben,  kommen 
einzehie  Arten  vor,  bei  denen  dieselbe  noch  schwankt,  so  unter  den 
fünfzähligen  Echinodermen  einzelne  mit  mehr  als  fünf  (und  dann 
mit  einer  schwankenden  Anzahl!)  Antimeren  versehene  Ästenden. 
Offenbar  findet  hier  die  Bestimmung  der  Grundzahl  für  jedes  Indi- 
viduum schon  im  ersten  Anfang  seiner  Entwickelung  statt. 

3.    Gesetz  der  geschlechtlichen  Abänderung. 

(Lex  variationis  sexualis.) 

Bei  allen  Organismen  mit  geschlechtlicher  Fortpflan- 
zung vermag  sowohl  eine  Ernährungsveränderung,  welche 
auf  die  männlichen,  als  eine  solche,  welche  auf  die  weib- 
lichen Geschlechtsorgane  einwirkt,  eine  entsprechende  Ab- 
änderung der  geschlechtlich  erzeugten  Nachkommenschaft 
zu  veranlassen,  und  es  äußert  sich  dann  entweder  aus- 
schließlich oder  doch  vorwiegend  die  Ernährungsverän- 
derung der  männlichen  Genitalien  in  der  Abänderung  der 
männlichen,  diejenige  der  weiblichen  Genitalien  in  der  Ab- 
änderung der  weiblichen  Nachkommen. 

Dieses  Gesetz  der  sexuellen  Abänderung  hängt  sehr  eng  mit 
demjenigen  der  sexuellen  Vererbung  zusammen.  Bei  der  letzteren 
fanden  wir,  daß  die  Gesamtcharaktere  jedes  der  beiden  Geschlechter, 
und  zwar  sowohl  die  primären  als  die  sekundären  Sexualcharaktere, 
sich  meistens  einseitig,  also  entweder  vorwiegend  oder  fast  ausschließ- 
lich nur  auf  das  entsprechende  Geschlecht  vererben,  so  daß  Gene- 
rationen hindurch  sich  einerseits  die  männlichen,  andererseits  die 
weiblichen  Deszendenten  mehr  gleichen,  als  beide  Reihen  unter  sich. 
Bei  der  sexuellen  Abänderung  finden  wir  dementsprechend,  daß  jede 
Ernährungsveränderung,  welche  eines  der  beiderlei  Geschlechtsorgane 
betrifft  und  das  andere  nicht  berührt,  entweder  vorwiegend  oder  selbst 
ganz  ausschließlich  eine  Veränderung  bloß  in  demjenigen  Geschlechte 
der  Nachkommen  hervorruft,  welches  dem  veränderten  Sexualsystem 
der  Eltern  entspricht :  während  das  andere  Geschlecht  nicht  abändert. 
Wenn  also  z.  B.  bei  den  Hühnervögeln  eine  eingreifende  Veränderung 
in  der  Ernährungsweise  bloß  den  Hahn  betrifft  und  auf  dessen  Hoden 
zurückwirkt,  während  die  Henne  und  also  auch  ihr  Eierstock  nicht 
von  derselben  betroffen  wird,  so  wird  eine  entsprechende,  vielleicht 
monströse,  Abänderung  in  der  Bildung  der  von  beiden  geschlechtlich 
erzeugten  Nachkommen  nur  an  den  Hähnen,   nicht   an   den  Hennen 


270  Di*^  Deszeiidenztlieorie  und  die  Selektionstlieorie.  XIX. 

siclitbar  werden.  Im  ganzen  ist  diese  Erscheinung  noch  dunkel, 
wenig  beachtet,  und  meist  auch  sehr  schwierig  in  ihrem  ursächliclien 
Zusammenhang  zu  verfolgen,  vielleicht  aber  von  großer  Wichtigkeit 
für  die  Erklärung  der  Entstehung  der  sekundären  Sexualcharaktere. 

Eb.     Gesetze  der  direJden  oder  aktuellen  Anpassung. 
4.    Gesetz  der  allgemeinen  Anpassung. 

(Lex  arlapfationift  universalis.) 

Alle  organischen  Individuen  werden  während  ihrer 
individuellen  Existenz  durch  Anpassung  an  verschiedene 
Lebensbedingungen  ungleich,  wenn  sie  auch  oft  höchst 
ähnlich  bleiben. 

Dieses  Gesetz  bewirkt,  im  Verein  mit  demjenigen  der  individuellen 
Anpassung,  die  allgemeine  Ungleichheit  aller  organischen  Individuen. 
Durch  die  universelle  Anpassung  wird  die  erworbene,  durch  die 
individuelle  Anpassung  dagegen  die  angeborene  Ungleichheit 
aller  Einzelwesen  bedingt.  Die  erstere  läßt  sich  viel  leichter  nach- 
weisen als  die  letztere,  denn  während  wir  über  die  angeborene  Ver- 
schiedenheit aller  organischen  Individuen  noch  so  sehr  im  unklaren 
sind,  daß  wir  die  allgemeine  Gültigkeit  des  Gesetzes  der  individuellen 
Abänderung  nur  mit  sehr  geringer  Sicherheit  und  nur  auf  allgemeine 
Gründe  gestützt,  behaupten  können,  so  ist  das  Gegenteil  bei  der  er- 
worbenen Ungleichheit  der  Fall,  welche  sich  mit  mathematischer 
Sicherheit  aus  dem  allgemeinen  Kausalgesetze  folgern  läßt.  Indem 
die  äußeren  Existenzbedingungen,  wie  allgemein  anerkannt  wird, 
umbildend  auf  den  Organismus  einwirken,  indem  ferner  diese  Existenz- 
bedingungen für  alle  Individuen  ungleich  (niemals  absolut  die- 
selben) sind,  so  müssen,  selbst  den  unwahrscheinlichen  Fall  ange- 
borener Gleichheit  der  Individuen  angenommen,  infolge  der  allgemeinen 
Ungleichheit  der  einwirkenden  Ursachen  im  Laufe  der  individuellen 
Existenz  stets  mehr  oder  minder  bedeutende  Unterschiede  in  der 
Bildung  der  Individuen  eintreten.  So  läßt  sich,  selbst  ohne  die  be- 
stätigenden Beweise  der  unmittelbaren  Beobachtung,  eine  allgemeine 
Ungleichheit  sämtlicher  organischer  Individuen  mit  Sicherheit  be- 
haupten. Hinsichtlich  der  empirischen  Bestätigung  berufen  wir  uns 
auch  wieder  zunäclist  auf  den  Menschen  selbst,  von  welchem  es  all- 
gemein anerkannt  ist,  daß  die  verschiedene  Lebensweise  und  Be- 
schäftigung, der  verschiedenartige  Umgang  mit  anderen  Menschen, 
kurz  die  für  jedes  Individuum  allgemein  verschiedenen  Verhältnisse 


XIX.  ^  •    Veränderlichkeit  und  Anpassung.  271 

der  Eruälinmg  sowohl  als  der  Beziehung  zur  Außenwelt,  individuelle 
Verschiedenheiten  in  der  Bildung,  dem  Charakter,  den  somatischen 
und  psychischen  Eigenschaften  veranlassen,  welche  um  so  größer  werden, 
je  älter  der  Mensch  wird,  d.  h.  je  länger  jene  verschiedenen  Ursachen 
einwirken.  Dasselbe  gilt  ebenso  von  den  Individuen  aller  anderen 
Tiere  und  Pflanzen.  Bei  den  Pflanzen  tritt  gewöhnlich  die  individuelle 
Ungleichheit  viel  auffallender  als  bei  den  Tieren  hervor,  weil  die 
Organe  dort  äußerlich,  hier  innerlich  entfaltet  werden.  Wie  wir  aber 
oben  bereits  sagten,  ist  es  außerordentlich  schwierig,  zu  sagen,  wie- 
viel Anteil  an  der  tatsächlich  existierenden  Verschiedenheit  der 
erwachsenen  Individuen  auf  Rechnung  der  angeborenen  Ungleichheit, 
wieviel  auf  Rechnung  der  erworbenen  Ungleichheit  zu  setzen  ist. 
Darwin  scheint  im  ganzen  größeres  Gewicht  der  ersteren  (dem 
Gesetz  der  individuellen  Abänderung)  zuzuschreiben,  während  wir 
glauben  möchten,  daß  die  letzere  (das  Gesetz  der  universellen  An- 
passung) eine  allgemeinere  und  eingreifendere  Wirksamkeit  entfalte. 

5.     Gesetz  der  gehäuften  Anpassung. 

(Lex  adaptationis  cumulativae.) 
(Gesetz  der  Gewohnheit,  der  Ühung-,  der  Akklimatisation,  der  Reaktion  etc.) 

Alle  Organismen  erleiden  bedeutende  und  bleibende 
(chemische,  morphologische  und  physiologische)  Abän- 
derungen, wenn  eine  an  sich  unbedeutende  Veränderung  in 
den  Existenzbedingungen  lange  Zeit  hindurch  oder  zu  vielen 
Malen  wiederholt  auf  sie  einwirkt. 

In  dem  ,.Gesetze  der  gehäuften  Anpassung"  glauben  wir  mehrere, 
scheinbar  sehr  weit  voneinander  entfernte  Anpassungsgesetze  ver- 
einigen zu  müssen,  welche  gewöhnlich  als  ganz  verschiedene  betrachtet 
werden,  die  wir  aber  nicht  scharf  zu  trennen  imstande  sind.  Die 
Abänderungen  nämlich,  welche  wir  als  gehäufte  oder  kumulative 
zusammenfassen,  sind  solche,  welche  von  Darwin  und  vielen  anderen 
mehrfach  unterschieden  und  wenigstens  in  zwei  ganz  verschiedene 
Kategorien  gebracht  werden,  nämlich:  I.  Unmittelbare  Folgen 
der  Einwirkung  der  äußeren  Existenzbedingungen:  Nahrung, 
Klima,  Bodenbeschaffenheit,  Umgebung  etc.  IL  Folgen  der  Ge- 
wohnheit oder  Angewöhnung  (Übung,  Gebrauch  oder  Nichtge- 
brauch der  Organe,  Akklimatisation  etc.).  Wir  gestehen,  daß  wh-  un- 
fähig sind,  diese  Kategorien  scharf  zu  scheiden  und  vielmehr  glauben, 
daß  die  eigentliche  ursächliche  Grundlage  bei  allen  diesen  Anpassungs- 
erscheinungen dieselbe  ist,  nämlich  eine  langsame  aber  andauernde 


272  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Veränderung  in  der  Ernährung  des  Organismus  oder  einzelner  Teile, 
welche  zwar  zuerst  und  in  jedem  einzelnen  Falle  nur  eine  sehr  un- 
bedeutende Einwirkung  auf  die  physiologische  und  morphologische 
Beschaffenheit  der  Organe  ausübt,  allein  durch  lang  andauernde  und 
oft  wiederholte  kleine  Einwirkungen  schließhch  sehr  bedeutende  Um- 
bildungsresultate zu  erzielen  vermag.  Wir  wollen,  um  diese  An- 
schauung zu  stützen  und  womöglich  zu  beweisen,  jede  der  beiden 
Kategorien,  die  man  unnützerweise  noch  in  verschiedene  kleinere 
gespalten  hat,  gesondert  für  sich  betrachten.  Wir  können  die  beiden 
verschiedenen  Gruppen  von  Existenzbedingungen,  welche  durch  ku- 
mulative Einwirkung  gehäufte  Anpassungen  verursachen,  als  äußere 
und  innere  Existenzbedingungen  unterscheiden.') 

I.     Geliäiifte  Aiipassiuigen  durch   die  Wirkiing-en  äußerer  Existenzbedingung-en. 
(Anpassung-en  an  die  Nahrung,  das  Klima,  die  Umgebung  etc.) 

Die  Abänderungen  der  Organismen  durch  die  sogenannte  ,,un- 
mittelbare  Wirkung  der  äußeren  Existenzbedingungen"  oder  den  „un- 
mittelbaren Einfluß  der  Außenwelt"  sind  die  bekanntesten  von  allen, 
und  sehr  viele  Naturforscher  sind  von  jeher  geneigt  gewesen,  denselben 
überhaupt  alle  Veränderungen  zuzuschreiben,  die  wir  an  den  Or- 
ganismen wahrnehmen.  Jedermann  weiß,  daß  die  verschiedene  Qualität 
der  Ntihrungsmittel,  des  Lichts,  der  Wärme,  der  Feuchtigkeit  einen 
bestimmten  Einfluß  auf  die  Größe,  Farbe,  Form  und  innere  Beschaffen- 
heit der  Organismen,  auf  ihre  morphologische  Ausbildung  und  ihre 
physiologische  Funktion  ausübt.  Wir  brauchen  statt  aller  Beispiele 
hier  bloß  an  die  Tatsache  zu  erinnern,  wie  äußerst  empfindlich  der 
menschliche  Organismus  gegen  diesen  Einfluß  der  „Medien"  ist,  wie 
jede  Veränderung  des  Klimas,  der  Nahrung  (Diät),  der  Umgebung  etc. 
unmittelbar  eine  bestimmte  Veränderung  des  Organismus  hervorruft, 
welche  sich  in  seinen  Funktionen  noch  deutlicher  als  in  seinen 
Formen  äußert,  und  welche  wir  entweder  als  heilsame,  oder  als 
gleichgültige,  oder  als  schädhche  betrachten.  Dasselbe  nun,  was  wir 
alle  vom  Menschen  anerkennen,  gilt  ebenso  auch  von  allen  anderen 
Tieren  und  von  allen  Organismen  überhaupt.  Jeder  ohne  Ausnahme 
ist  empfänglich  für  den  Einfluß  der  verschiedenen  Qualität  und 
Quantität  der  unmittelbar  eingeführten   Nahrungsstoffe,    des   Klimas 

1)  Anm.  (11)015).  Das  wichtige  Gesetz  der  ..kumulativen  Anpassung",  das 
ich  hier  (18(56)  begründet  und  durch  „Ernährungsabänderungen'-  physiologisch 
erklärt  habe,  ist  identisch  mit  dem  Gesetze  der  funktionellen  Anpassung, 
das  Wilhelm    Roux   15  Jahre  später  (1881)  zu  großem  Ansehen  gebracht  hat. 


XIX.  ^  •    Veräiideilichkeit  und  Aiipassiing.  273 

(den  verschiedenen  Grad  von  Licht,  Wärme,  Fenchtigkeit  etc.)  Zu- 
nächst ist  die  Einwirkung-  derselben  gewöhnlich  nur  an  einer  Ab- 
änderung der  Funktion  bemerkbar  und  erst  später  an  einer  Abänderung 
der  Form  des  Organs,  welche  sich  natürlich  der  Funktion  entsprechend 
verändern  muß.  Man  kann  diese  abändernden  Einflüsse  allgemein 
als  die  chemischen  und  physikalischen  Agentien  oder  besser  als  die 
anorganischen  Agentien  zusammenfassen,  im  Gegensatz  zu  den  or- 
ganischen Agentien,  welche  bei  der  folgenden  Art  der  Anpassung 
tätig  sind.  So  wichtig  diese  Agentien  sind,  so  ist  dennoch  gewiß 
ihr  Einfluß  gewöhnlich  insofern  sehr  überschätzt  worden,  als  man 
sie  meist  viel  zu  ausschließlich  als  die  einzigen  oder  doch  die  vor- 
züglichsten Anpassungsbedingungen  betrachtet  hat,  und  insofern  hat 
Darwin  vollkommen  recht,  wenn  er  denselben  eine  viel  geringere 
Bedeutung  beimißt.  Indessen  möchten  wir  ihren  Einfluß  doch  nicht 
so  gering  wie  letzterer  schätzen,  wenn  wir  daran  denken,  welche 
enormen  Veränderungen  z.  B.  allein  unser  Zentralnervensystem  (die 
Vorstellungen  des  Wollens,  Empfindens  und  Denkens)  durch  die  Ein- 
wirkung des  Klimas  (Licht,  Wärme.  Feuchtigkeit),  der  verschiedenen 
Nahrungsmittel  (alkoholische  Getränke,  Kaffee  und  Thee.  Fleisch, 
Amylaceen  etc.  zu  erleiden  hat:  wie  der  Charakter  ganzer  Nationen 
durch  das  Klima  und  die  Art  der  Nahrung  bestimmt  wird,  wie  wir 
bei  unseren  Haustieren  und  Kulturpflanzen  durch  geringe  Verän- 
derungen der  Nahrung  und  des  Klimas  bedeutende  Abänderungen  in 
Form  und  Funktion  hervorrufen  können. 

Nach  unserer  Ansicht  liegt  die  falsche  Auffassung,  welche  man 
diesem  Einflüsse  gewöhnlich  hat  angedeihen  lassen,  vorzüglich  darin, 
daß  man  den  Organismus  dabei  als  ein  ganz  oder  doch  vorwiegend 
passives  Wesen  aufgefaßt  hat.  während  doch  in  der  Tat  derselbe 
sich  allen  Einflüssen  gegenüber  zugleich  aktiv  verhält.  Jede  Aktion 
eines  äußeren  Agens,  gleichviel  ob  dasselbe  Licht  oder  Wärme 
oder  Wasser  oder  irgendein  anderes  Nahrungsmittel,  ein  Medikament 
oder  ein  Gift  ist;  jede  Aktion  eines  solchen  unmittelbar  auf  die  Er- 
nährung des  Organismus  einwirkenden  Agens  ruft  eo  ipso  zugleich 
eine  Reaktion  des  Organismus  hervor,  die  sich  eben  in  der  Mo- 
difikation der  Ernährungstätigkeit  und  in  dem  aktiven  (abwehrenden, 
indifferenten  oder  aufnehmenden)  Verhalten  der  Ernährungsorgane 
gegenüber  den  Medien  und  der  Nahrung  äußert,  sowie  in  der  Rück- 
wirkung auf  die  Ernährung  des  Ganzen.  Man  faßt  gewöhnlich, 
dieses  Verhältnis  ignorierend,  den  unmittelbaren  Einfluß  der  äußeren 

Haeckel,   Prinz,  d.  Morjiliol.  •  18 


274  Diß  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Existenzbcdingunji;en  als  einen  einseitigen,  bloß  äußerlichen  auf  und 
berücksichtigt  nicht  die  aktive  Gegenwirkung  des  Organismus,  durch 
welche  allein  die  allmähliche  Anpassung  möglich  ist.  Diese  ver- 
mögen wir  aber  nicht  von  der  ,, Gewöhnung"  zu  unterscheiden,  welche 
man  gewöhnlich  als  eine  ganz  verschiedene  Art  der  Anpassung  an- 
zusehen pflegt. 

n.   Gehäufte  Anpassini  gen    durch   die  Wirkung' en  innerer  Exis  te  uz  hedingungfen. 
(Anpassungen  durcli  Gewohnlieit.  Gehrauc-li  und  Niehfgel)raueh  der  Organe  efc.) 

Die  Abänderungen  der  Organismen  durch  die  sogenannte  „Ge- 
wöhnung und  Übung,  den  Gebrauch  und  Nichtgebrauch  der  Or- 
gane"' etc.  scheinen  auf  den  ersten  Blick  von  den  vorher  betrachte- 
ten hinsichtlich  der  bewirkenden  Ursachen  sehr  verschieden  zu  sein 
und  werden  auch  von  Darwin  und  anderen  in  dieser  Weise  auf- 
gefaßt. Es  scheinen  dort  äußere,  hier  dadegen  innere,  im  Organis- 
mus selbst  liegende  Impulse  zu  sein,  welche  die  Abänderung  veran- 
lassen, und  man  könnte  die  bewirkenden  Ursachen  insofern  als 
innere  Existenzbedingungen  jenen  äußeren  gegenüberstellen. 
Wie  man  aber  dort  die  äußeren  Einflüsse  allein  hervorhob  und  die 
innere  Gegenwirkung  des  Organismus  ignorierte,  so  hebt  man  hier 
umgekehrt  die  innere  Gegenwirkung  allein  hervor  und  ignoriert  die 
äußeren  Einflüsse,  durch  welche  die  erstere  überhaupt  erst  hervor- 
gerufen wurde.  Man  vergißt  ganz,  daß  die  scheinbar  spontan  von 
innen  heraus  geschehenden  Wirkungen  des  Organismus,  welche  man 
als  ,.Angewöhnung,  Übung,  Gebrauch  der  Organe"  etc.  bezeichnet, 
nichts  weniger  als  spontane  sind,  sondern  erst  hervorgerufen  durch 
die  Einwirkung  (den  „Reiz")  der  äußeren  Existenz-Bedingungen,  also 
erst  eine  Reaktion,  eine  Gegenwirkung  des  Organismus,  welche  jenem 
äußeren  Einflüsse  adäquat  ist  und  solange  fortdauert,  als  jener 
anhält. 

Untersuchen  wir  näher  den  Ursprung  der  falschen  Vorstellun- 
gen, welche  man  sich  vom  Wesen  der  Gewöhnungsverhältnisse  ge- 
macht hat,  so  glauben  wir  als  den  Grundirrtum,  welcher  diese  lange 
Kette  unrichtiger  Vorstellungen  hervorgerufen  hat,  das  falsche  Dogma 
von  der  Freiheit  des  Willens  bezeichnen  zu  müssen.  Man  ging 
bei  Untersuchung  jener  A^erhältnisse  aus  von  der  Beobachtung  des 
Menschen  und  anderer  Tiere  und  fand  bald,  daß  die  kumulativen 
Anpassungstätigkeiten,  welche  wir  als  Gewöhnung,   Übung  etc.   be- 


XIX.  ^  •    Veränderlichkeit  und  Anpassung.  275 

zeichnen,  ihren  scheinbar  letzten  Grund  in  dem  „freien  Willen"  der 
Tiere  haben,  welcher  die  Bewegungen  bestimmt  und  durch  Veran- 
lassung bestimmter,  oft  wiederholter  und  anhaltender  Bewegungen 
auch  die  Ursache  der  Funktionsmodifikation  und  Formveränderung 
der  Organe  wird.  Nun  ist  diese  Ansicht  von  der  kumulativen  Wirkung 
der  Willensbewegungen  auf  die  Anpassung  vollkommen  richtig.  Falsch 
ist  nur  das  eine  Glied  der  Schlußkette,  daß  der  Wille  ..frei"'  ist, 
und  daß  er  der  letzte  Grund  der  Gewöhnungserscheinungen  ist. 
Jede  eingehende  und  objektive  Prüfung  der  „freien"'  Willenshandlun- 
gen an  uns  selbst  und  an  anderen  Tieren  zeigt  uns,  daß  der  Wille 
niemals  frei  ist,  vielmehr  jede,  und  auch  die  scheinbar  freieste 
Willenshandhmg,  die  notwendige  Folge  ist  von  einer  langen  und 
höchst  verwickelten  Kette  von  bewirkenden  Ursachen,  von  Empfin- 
dungen. Denkbewegungen  und  anderen  Ursachen,  die  alle  selbst 
wiederum  niemals  frei,  sondern  in  letzter  Instanz  kausal  bedinat 
sind:  entweder  durch  die  vorher  besprochenen  äußeren  Existenz- 
bedingungen (Licht,  Wärme.  Klima  etc.)  oder  durch  die  der  indi- 
viduellen organischen  Materie  inhärenten  (durch  Vererbung  erhaltenen) 
Kräfte. 

Daß  diese  Ansicht  richtig  ist,  ergibt  sich  mit  Notwendigkeit, 
wenn  wir  einzelne,  aus  scheinbar  freiem  Willen  entsprungene  und 
durch  oftmalige  Wiederholung  (Kumulation)  zur  Gewohnheit  gewor- 
dene Willenshandlungen  (freiwillige  Bewegungen)  und  die  kumula- 
tiven Anpassungen,  welche  der  Organismus  in  Abänderung  der  Form 
und  Funktion  der  „geübten"  Teile  dabei  erlitten  hat,  scharf  unter- 
suchen und  bis  auf  ihre  letzten  Gründe  zu  verfolgen  streben.  Es 
zeigt  sich  dann  allemal,  daß  sie  ganz  ebenso  wie  die  vorhin  auf- 
geführten ..Wirkungen  der  äußeren  Existenzbedingungen"  nicht  ein- 
seitige Wirkungen  von  (hier  äußeren,  dort  inneren)  Einflüssen  sind, 
sondern  vielmehr  ausnahmslos  „Wechselwirkungen  zwischen 
dem  Organismus  und  der  Außenwelt".  Auch  die  scheinbar  freie 
Willenshandlung,  welche  durch  anhaltende  oder  oftmalige  Wieder- 
holung zur  „Gewohnheit"  wird,  ist  in  der  Tat  nichts  als  eine  not- 
wendige Reaktion,  eine  innere  Gegenwirkung  gegen  den  äusseren 
Einfluss  der  physikahsch  und  chemisch  einwirkenden  Existenz- 
bedingungen. In  letzter  Instanz  sind  es  auch  hier,  wie  dort,  Er- 
nährungsabänderungen ,  welche  durch  die  letzteren  bewirkt 
Averden.  und  welche  erst  indirekt  die  Abänderung  auf  das  Zentral- 
nervensystem, den  Willen,  etc.  übertragen.    Hier  wie  dort  erblicken 

18* 


276  Diß  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

wir  oiiio  verwickelte  Kette  von  kausal  bedint;ten  und  kausal  wirken- 
den ^lolekularbewegungen,  bei  welchen  dadurch,  daß  die  Moleküle 
oftmals  wiederholt  oder  lange  Zeit  hindurch  in  einer  neuen,  aber 
immer  in  einer  und  derselben  Richtung  bewegt  oder  geordnet  w^erden, 
endlich  diese  neue  Anordnung  oder  Bewegungsrichtung  der  Moleküle 
ZU!'  bleibenden  wird,  d.  h.  eine  feste  Abänderung  hervorruft.*) 

Daß  diese  theoretische  Anschauung  in  der  Tat  die  richtige  ist, 
zeigt  sich  auch  darin,  daß  wir  bei  der  praktischen  Beurteilung  der 
gehäuften  Anpassungen  sehr  oft  nicht  imstande  sind,  zu  sagen, 
ob  dieselben  „durch  unmittelbare  Einwirkung  der  äußeren  Existenz- 
bedingungen'' oder  durch  „Übung  und  Gewohnheit"  bedingt  sind. 
Dies  ist  z.  B.  bei  den  bekannten  und  wichtigen  Vorgängen  der  Akkli- 
matisation der  Tiere  und  Pflanzen  der  Fall.  Eine  genaue  Analyse 
dieser  Erscheinung  beweist,  daß  die  sogenannte  „unmittelbare"  Ein- 
wirkung auch  hier  allerdings  immer  die  erste  Ursache,  aber  niemals 
die  unmittelbare  Ursache  der  bewirkten  Abänderung  ist.  daß  diese 
vielmehr  immer  erst  eine  Folge  der  Gegenwirkung,  der  Reaktion 
des  Organismus  ist.  Auch  dadurch  wird  diese  Auffassung  bestätigt^ 
daß  man  bei  der  kumulativen  Anpassung  der  Pflanzen  fast  immer 
ganz  ausschließlich  oder  doch  vorwiegend  die  „unmittelbare  Wirkung 
der  äusseren  Existenzbedingungen"',  bei  der  gehäuften  Anpassung  der 
Tiere  dagegen  ebenso  ausschließlich  oder  vorwiegend  die  ..Uebung 
und  Gewohnheit"  als  die  wirkende  Ursache  betrachtet,  wobei  man 
wiederum  durch  die  falsche  Vorstellung  geleitet  wird,  daß  sich  die 
Tiere  durch  einen  freien  Willen  vor  den  Pflanzen  auszeichnen,  was. 
wir  bereits  im  siebenten  Kapitel  widerlegt  haben. 

In  Wahrheit  ist  es  hier  wie  dort,  sowohl  wenn  die  kumulative 
Anpassung  durch  die  scheinbar  ..unmittelbare"  Wirkung  der  äußeren 
Bedingungen  (des  Lichts,  der  Wärme  etc.),  als  wenn  sie  durch  die 
scheinbar  „freie"  Wirkung  der  inneren  Bedingungen  (der  Gewohn- 
heit, Übung  etc.)  hervorgerufen  wird,  die  Gegenwirkung  (Reaktion) 
des  Organismus  gegen  die  Einwirkung  der  Außenwelt,  welche 
umbildend,  abändernd  auf  den  Organismus  einwirkt.  Der  Organismus 
verhält  sich  weder  dort  rein  passiv,  noch  hier  rein  aktiv.  Vielmehr 
verhält   er  sich    in    beiden  Fällen  reaktiv,   und   diese  Reaktion  ist 


*)  (1906).  Die  physiologische  Beziehung  der  Ernährungsveränderungen 
der  Gewebe  zur  kn  in  ulativen  (=  funktionellen)  Anpassung  'hat  Wilhelm 
Roux  später  (1881)  als  „trophischen  Reiz"  bezeichnet. 


XIX.  ^  •    Veränderlichkeit  und  Anpassung.  2  <  < 

in  letzter  Instanz  stets  eine  von  der  Ernährung-  abhängige  Funktion. 
Das  wesentlich  wirksame  Moment,  welches  wir  aber  noch  dabei 
besonders  hervorheben  müssen,  ist  die  Häufung  oder  Kumulation 
der  Einwirkungen  und  Gegenwirkungen,  da  sie  allein  bleibende 
Abänderungen  hervorzurufen  imstande  ist.  Eine  abändernde  Ursache, 
welche  nur  einmal  oder  wenige  Male,  oder  nur  kurze  Zeit  hindurch 
auf  den  Organismus  einwirkt,  z.  B.  ein  neues,  wesentlich  von  den 
gewohnten  verschiedenes  Nahrungsmittel,  ein  Gift,  eine  Verwundung  etc. 
vermag  entweder  gar  keine  bleibende  Veränderung  des  Organismus 
hervorzurufen,  oder  nur  dadurch,  daß  sie  neue  Molekularbewegungen 
in  demselben  veranlaßt,  welche  (als  Reaktion)  lange  Zeit  in  demselben 
anhalten  (z.  B.  bei  einer  traumatischen  Affektion).  Auch  in  diesen 
scheinbar  nicht  kumulativen  Anpassungen  ist  es  also  dennoch  im 
Grunde  eine  Kumulation  von  zahlreichen,  oft  wiederholten  oder  lange 
andauernden  Molekularbewegungen,  welche  die  bleibende  Abänderung 
veranlaßt.  Für  unsere  Betrachtung  sind  aber  diese  Fälle  einmaliger 
Einwirkung  um  so  weniger  wichtig,  als  die  durch  sie  hervorgerufene 
Abänderung,  auch  wenn  sie  im  Individuum  bleibt,  sich  doch  im 
ganzen  nur  selten  vererbt. 

Um  so  wichtiger  dagegen  ist  die  Wirkung  der  Häufung  oder 
Kumulation  der  Reaktion,  d.  h.  die  Erscheinung,  daß  sehr  geringe 
und  unscheinbare  Einwirkungen  der  Außenwelt  durch  sehr  oft  wieder- 
hohe oder  andauernde  Einwirkung  endlich  die  bedeutendsten  und 
scheinbar  in  keinem  A'"erhältnis  stehenden  Abänderungen,  zunächst  in 
der  Ernährung  des  Organismus  oder  einzelner  Organe,  weiterhin  in 
der  Funktion  derselben,  und  endlich  auch,  dieser  entsprechend,  in  der 
Form  der  verändert  ernährten  Organe  hervorrufen.  Dies  ist  der  Grund- 
zug der  kumulativen  Anpassung,  welche  wir  Übung,  Gewöhnung  etc. 
nennen,  und  hierin  gleicht  das  Gesetz  der  gehäuften  Anpassung  dem 
oben  erläuterten  Gesetze  der  befestigten  Vererbung. 

Wie  mächtig  dieses  Gesetz  der  Angewöhnung  wirkt,  ist  so  all- 
bekannt, daß  wir  keine  weiteren  Beispiele  anzuführen  und  bloß  an 
das  bekannte  Sprichwort  zu  erinnern  brauchen:  Consuetudo  altera 
natura.  Wir  wollen  nur  nocli  ausdrückhch  hervorheben,  daß  der 
Nichtgebrauch  der  Organe,  welcher  rückbildend  auf  dieselben  wirkt, 
nicht  minder  wichtig  ist,  als  der  Gebrauch  der  Organe,  welcher  aus- 
bildend auf  sie  wirkt.  Durch  die  Gewohnheit  des  Nichtgebrauchs 
entstehen  z.  B.  die  meisten  rudimentären  Organe,  welche  für  die 
Dysteleologie  so  bedeutsam  sind. 


278  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie  XIX. 

6.     Gesetz  der  wechselbezüglichen  Anpassung. 

{Lex  adaptatiunis  correlativae.) 

(Gesetz  von   den  AVechselbezichung-en  der  Bildung,   von  der  Kompensation    der  Entwiclselung,    von  der 

Korrelation  der  Teile  etc.) 

Alle  Abäuderungen,  welche  in  einzelnen  Teilen  des 
Organismus  durch  kumulative  oder  sonstige  Anpassung 
entstehen,  wirken  dadurch  auf  den  ganzen  Organismus  und 
oft  besonders  noch  auf  einzelne  bestimmte  Teile  desselben 
zurück,  und  bewirken  hier  Abänderungen,  welche  nicht 
unmittelbar  durch  jene  Anpassung  bedingt  sind. 

Dieses  Anpassungsgesetz  ist  eines  der  wichtigsten  und  ist  in 
seinen  Wirkungen  schon  längst  anerkannt.  Die  vergleichende  Anatomie 
mußte  auf  dieses  allgemein  gültige  Gesetz  schon  sehr  frühzeitig  auf- 
merksam werden,  und  so  finden  wir  es  denn  von  fast  allen  bedeuten- 
den ..vergleichenden  Anatomen"  hervorgehoben,  oft  unter  sehr  ver- 
schiedenen Namen,  als  das  Gesetz  von  der  Wechselbeziehung  der 
Entwickelung,  von  der  Korrelation  der  Organe,  von  der  Kompensation 
der  verschiedenen  Körperteile  etc.  Besonders  die  Naturphilosophen, 
und  vor  allen  Goethe,  haben  auf  die  ausnehmende  Wichtigkeit 
dieses  Gesetzes  beständig  hingewiesen.  Indessen  haben  die  meisten 
Morphologen  doch  nur  die  fertige  Wirkung  dieses  Gesetzes  vor  Augen 
gehabt,  ohne  sich  dessen  bewirkender  Ursachen  bewußt  zu  werden. 
Diese  können  nur  in  dem  Zusammenhange  der  Ernährungser- 
scheinungen des  Organismus  gefunden  werden,  und  zwar  in  einer 
nutritiven  Wechselwirkung  zwischen  allen  Teilen  des 
Organismus.  Eine  durch  äußere  Einflüsse,  und  namentlich  durch 
die  kumulative  Anpassung  bewirkte  Veränderung  in  der  Ernährung 
eines  Organs  wirkt  stets  verändernd  zurück  auf  den  gesamten  Orga- 
nismus, welcher  ja  eine  geschlossene  physiologische  Ernährungsein- 
heit darstellt.  Gewöhnlich  aber  sind  es  einzelne  Teile,  welche  vor- 
zugsweise durch  jene  rückwirkende  Veränderung  betroffen  werden 
und  demgemäß  zunächst  in  ihrer  Ernährung,  weiterhin  in  ihrer  be- 
stimmten Funktion  und  Form,  entsprechende  Abänderungen  erleiden. 
Vorzugsweise  sind  homologe  und  analoge  Teile,  wie  z.  B.  die  ver- 
schiedenen Teile  des  Hautsystems  oder  die  verschiedenen  Teile  des 
Zentralnervensystems,  von  dieser  wechselbezüglichen  Anpassung  ab- 
hängig, wie  z.  B.  bei  den  Cavicornien  (Rindern,  Schafen,  Ziegen  etc.) 
jede  eintretende  Veränderung  in  der  Haarbildung  gewöhnlich  zugleich 
eine  entsprechende  Veränderung  in  der  Ausbildung  der  Hörner.  der 


XIX.  V.    Veränderlichkeit  und  Anpassung.  279 

Hufe  etc.  veranlaßt.  Ferner  bewirkt  eine  Veränderung  eines  Sinnes- 
organs in  der  Regel  eine  kompensatorische  in  den  übrigen  Sinnes- 
organen. Aber  auch  Teile,  die  scheinbar  in  sehr  geringem  morpho- 
logischen und  physiologischen  Zusammenhange  stehen,  z.B.  Hautsystem 
und  Muskelsystem,  stehen  in  kompensatorischer  Wechselbeziehung, 
wie  denn  bekanntlich  bei  den  Cavicornien  bestimmte  Veränderungen 
in  der  Haarbildung  (z.  B.  der  Schafwolle)  auf  die  Qualität  des 
Fleisches  zurückwirken.  Oft  sind  diese  Wechselbeziehungen  der 
merkwürdigsten  Art:  so  z.B.  sind  Katzen  mit  blauen  Augen  allezeit 
taub;  Vögel  mit  langen  Beinen  haben  meist  auch  lange  Hälse  und 
Schnäbel ;  blonde  Menschen  mit  hellen  Haaren  und  heller  Hautfarbe 
sind  für  gewisse  innere  Krankheiten,  z.  B.  khmatische  Fieber,  Leber- 
entzündungen etc.  weit  empfänglicher,  als  brünette  mit  dunklen  Haaren 
und  dunkler  Hautfarbe.  Besonders  merkwürdig  ist  die  innige  Wechsel- 
beziehung zwischen  den  Geschlechtsorganen  und  dem  Zentralnerven- 
system, welche  sich  bekanntlich  in  einer  Fülle  der  auffallendsten 
Wechselbeziehungen  äußert.  Wie  sehr  gerade  das  Genitalsystem  auf 
die  übrigen  Organsysteme  zurückwirkt,  zeigt  vielleicht  kein  Beispiel 
auffallender,  als  dasjenige  der  Kastraten,  bei  welchen  die  künstliche 
Verhinderung  der  sexuellen  Entwickelung  eine  entsprechende  Hemmungs- 
bildung des  Kehlkopfes  und  eine  kompensatorische  Entwickelung  des 
Panniculus  adiposus  der  Haut  hervorruft.  Ebenso  befördert  man  bei 
den  Pflanzen  die  Blattentwickelung  durch  Unterdriickung  der  Blüten- 
entwickelung.  Dieser  allgemeine  Gegensatz  zwischen  den  generativen 
und  nutritiven  Teilen  geholt  zu  den  wichtigsten  Erscheinungen,  welche 
unter  das  Gesetz  von  der  Korrelation  der  Teile  fallen.  Ledighch 
eine  Folge  dieser  Gegenwirkung,  eine  Folge  der  äußerst  empfindlichen 
Reaktion  des  Genitalsystems  gegen  die  Ernährungsveränderungen 
des  übrigen  Körpers  ist  das  äußerst  wichtige  Gesetz  der  potentiellen 
Anpassung  oder  indirekten  Abänderung,  welches  wir  in  den  vorher- 
gehenden Abschnitten  erläutert  haben. 

7.     Gesetz  der  abweichenden  Anpassung. 

(Lex  adaptatinnis  divergentis.) 
(Gesetz  von  der  iins'leiehartig'en  AbUiidenmaf  gleichartiger  Teile.) 

Gleiche  Teile  (gleiche  Individuen  einer  und  derselben 
ludividualitätsordnung),  welche  in  Mehrzahl  in  dem 
Organismus  verbunden  sind,  erleiden  ungleiche  Abände- 
rungen, indem  dieselben  in  verschiedenem  Grade  der 
kumulativen  Anpassung  unterliegen. 


280  I^'P  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Auch  dieses  Anpassun.osgesetz  ist  von  der  größten  Wichtigkeit. 
Denn  dieses  ist  es  vorzüglich,  welches  in  Wechselwirkung  mit  den 
Vererbungsgesetzen  die  großen  Erscheinungen  der  organischen  Diffe- 
renzii'ung.  der  divergenten  Entwickelung  gleichartiger  Teile  bewirkt, 
und  dadurch  in  erster  Linie  bei  der  Erzeugung  der  unendlichen 
Mannigfaltigkeit  organischer  Formen  mitwirkt.  Hier  haben  wir  die 
divergente  Adaptation  natürlich  nicht  in  der  großartigen  Wirksamkeit 
zu  betrachten,  welche  sie.  in  Verbindung  mit  der  Erblichkeit,  im 
Laute  von  Generationen  entfaltet,  sondern  nur  insofern  sie  innerhalb 
des  Laufes  der  individuellen  Existenz  wirksam  ist.  Da  aber  auf 
dieser  beschränkten  ontogenetischen  Wirksamkeit  des  Divergenzge- 
setzes seine  umfassendere  Wirksamkeit  als  phylogenetisches  Diffe- 
renzierungsgesetz beruht,  so  müssen  wir  dasselbe  hier  gebührend 
hervorheben,  um  so  mehr,  als  es  in  dieser  Beziehung  meist  nicht 
«gehörig  gewürdigt  wird. 

Das  Gesetz  der  divergierenden  oder  abweichenden  Anpassung  be- 
hauptet, daß  allgemein  in  den  Organismen,  welche  eine  Wiederholung 
von  gleichartigen  Teilen  enthalten,  diese  das  Bestreben  haben,  sich 
nach  ganz  verschiedenen  Richtungen  hin  zu  entwickeln,  indem  sie  in 
verschiedenem  Grade  der  kumulativen  oder  korrelativen  Anpassung 
unterhegen.  Dieses  Gesetz  gilt  von  den  Individuen  aller  Ordnungen, 
von  der  Plastide  bis  zur  Person  hinauf,  und  ist  die  Basis  des  be- 
rühmten Gesetzes  der  Arbeitsteilung.  Wir  sehen  also,  daß  in  einem 
Organe  oder  Organismus,  welcher  anfangs  aus  vielen  gleichen  Piastiden 
bestellt,  im  Laufe  seiner  individuellen  Existenz  eine  Differenzierung 
derselben  eintritt,  indem  die  einen  Cytoden  oder  Zellen  in  dieser,  die 
andern  in  jener  Weise  abändern.  So  differenzieren  sich  in  allen 
Organen  die  anfangs  gleichen  Zellen  später  durch  divergierende  An- 
passung in  verschiedene  Gewebe,  indem  z.  B.  an  einer  aus  lauter 
gleichen  Zellen  zusammengesetzten  embryonalen  Extremität  die  einen 
zu  Muskeln,  die  andern  zu  Nerven,  die  dritten  zu  Gefässen  etc.  sich 
gestalten.  Ebenso  entstehen  durch  Differenzierung  von  mehreren 
urspiiinglich  gleichartigen  Organen  (z.  B.  den  fünf  Zehen  des  Wirbel- 
tierfußes) später  durch  divergente  Ausbildung  ungleichartige  Organe. 
Ferner  differenzieren  sich  in  derselben  Weise  die  ursprünglich  gleichen 
Metameren  des  Gliedertierkörpers:  während  sie  bei  den  niedersten 
Anneliden  alle  gleich  bleiben,  sehen  wir  bei  den  höheren  Ringelwürmern 
und  den  Arthropoden  eine  divergente  Entwickelung  eintreten  und  zwar 
ebenso    im   Laufe   der   Ontogenese,    wie   der   Phylogenese.      Ebenso 


XIX.  ^  •    Veränderlichkeit  und  Anpassung.  281 

differenzieren  sich  die  gleichartigen  Personen,  welche  zn  Stöcken  zn- 
sannnengefttgt  sind,  durch  divergente  Anpassung  (Arbeitsteilung)  zu 
verschiedenen  Formen  (Siphonophoren). 

Dieses  allgemeine  Differenzierungsgesetz  oder  Divergenz- 
gesetz ist  in  den  vollendeten  Folgen  seiner  nngehenern  und  äußerst 
mannigfaltigen  Wirkung  von  allen  Naturforschern  anerkannt.  Viele 
haben  auch  seine  kausale  Bedeutung  und  aktive  Wirksamkeit  während 
des  Laufes  der  erabryologischen.  wenige  während  des  parallelen  Laufes 
der  paläontologischen  Entwickelung  erkannt.  Die  wenigsten  aber 
sind  von  der  äußerst  wichtigen  Tatsache  durchdrungen,  daß  alle 
Differenzierungen  oder  Divergenzerscheinungen.  welche  wir  während 
jener  laufenden  Entwickelungsreihe  beobachten,  nur  die  gehäuften 
Folgen  und  Wiederholungen  von  zahllosen  verschiedenen  divergenten 
Anpassungen  sind,  welche  die  einzelnen  Organismen  während  des 
Laufes  ihrer  individuellen  Existenz  allmählich  erfahren  haben.  Die 
Ursachen  der  divergenten  Anpassung  liegen  ganz  einfach  in  dem 
Nutzen,  den  die  Arbeitsteilung  oder  Differenzierung,  die  ungleich- 
artige Ausbildung  von  ursprünglich  gleichartigen  Teilen,  einem  jeden 
Organismus  gewährt. 


b" 


8.    Gesetz  der  unbeschränkten  Anpassung. 

(Lex  adapiaiionis  inpnitae.) 

Alle  Organismen  können  zeitlebens,  zu  jeder  Zeit  ihrer 
Entwickelung  und  an  jedem  Teile  ihres  Körpers,  neue  An- 
passungen erleiden:  und  diese  Abänderungsfähigkeit  ist 
unbeschränkt,  entsprechend  der  unbeschränkten  Mannig- 
faltigkeit und  beständigen  Veränderung  der  auf  den  Or- 
ganismus einwirkenden  Existenzbedingungen. 

Auch  dieses  Gesetz  ist  für  die  Umbildung  der  organischen  Formen 
von  größter  Wichtigkeit.  Während  die  Aufstellung  desselben  von 
allen  Physiologen  und  von  denjenigen  Morphologen.  welche  einen 
weiteren  Überblick  über  die  gesamten  Erscheinungen  der  organi- 
schen Natur  besitzen,  vielleicht  für  überflüssig,  weil  selbstverständ- 
lich, erachtet  werden  wird,  muß  dasselbe  dagegen  von  denjenigen 
Morphologen.  welche  auf  Grund  ihrer  beschränkten  Naturanschauung 
die  Spezieskonstanz  verteidigen,  mit  aller  Macht  bekämpft  werden. 
Denn  aus  diesem  großen  Grundgesetz  allein  schon,  auch  ohne  Rück- 
sicht auf  die  übrigen,  muß  die  Unhahbarkeit  des  Dogma  von  der 
Spezieskonstanz    folgen.      Alle    Speziesdogmatiker.     auch    die    ver- 


282  Diß  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

minftigeren,  welche  einen  großen  Spielraum  der  Variabilität  für  jede 
Spezies  zulassen,  behaupten,  daß  dieser  Spielraum  innerhalb  ganz 
bestimmter  Grenzen  beschränkt  sei,  und  daß  eine  ..Art",  möge  sie 
noch  so  sehr  durch  Anpassung  an  verschiedene  Lebensbedingungen 
abändern,  sich  immer  innerhalb  eines  bestimmten,  von  dem  Schöpfer 
uranfänglich  in  dem  systematischen  Kataloge  seiner  Baupläne  fest- 
gestellten Formenkreises  bewege.  Indem  der  Schöpfer  jede  ,. Spezies" 
als  geschlossene  Einheit  nach  einem  vorher  von  ihm  ausgedachten 
Modelle,  einem  architektonischen  Entwürfe  schuf,  gab  er  ihr  zugleich 
die  Fähigkeit  mit,  sich  an  bestimmte  Lebensbedingungen  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  anzupassen,  bestimmte  er  ihr  einen  geschlossenen 
A'^ariabilitätskreis,  erlaubte  ihr  aber  nicht,  diese  Grenze  zu  über- 
schreiten. 

In  der  Tat  finden  wir  aber  in  der  gesamten  organischen  Natur 
nicht  eine  einzige  Erscheinung,  welche  der  Annahme  widerspricht, 
daß  alle  Organismen  zu  jeder  Zeit  ihres  Lebens  und  an  jedem  Teile 
ihres  Körpers  eine  neue  Abänderung  erleiden  können,  sobald  sie 
neuen  Existenzbedingungen  unterworfen  werden.  Daß  immer  neue 
Existenzbedingungen  entstehen,  daß  die  vorhandenen  einer  beständi- 
gen Veränderung  unterworfen  sind,  daß  die  ganze  Welt  nicht  still 
steht,  sondern  sich  in  einer  beständigen  Veränderung,  und  zwar  in 
einer  fortschreitenden  Entwickelungsbewegung  befindet,  wird  niemand 
leugnen,  der  einen  allgemeinen  Überblick  der  uns  umgebenden  Er- 
scheinungswelt besitzt.  Aus  dieser  beständigen,  unaufhörlichen,  wenn 
auch  langsam  und  allmählich  stattfindenden  Umänderung  der  Außen- 
welt, welche  dem  Organismus  seine  Existenzbedingungen  vorschreibt, 
folgt  nun  schon  unmittelbar  eine  entsprechende  Umänderung  der 
Organismen  selbst;  denn  wo  die  Ursachen  sich  ändern,  da  kann 
auch  die  Wirkung  nicht  dieselbe  bleiben.  Entsprechend  der  überall 
und  jederzeit  stattfindenden  Veränderung  der  Außenwelt,  mit  welcher 
die  Organismen  in  Wechselwirkung  leben,  muß  auch  überall  und 
jederzeit  eine  Anpassung  der  letzteren  an  die  erstere,  also  eine  un- 
beschränkte Umgestaltung  stattfinden.  Diese  kann  zu  jeder  Zeit  des 
Lebens  und  an  jedem  Teil  des  Organismus  eintreten,  da  die  umge- 
staltenden Kräfte,  d.  h.  die  Veränderungen  der  Existenzbedingungen 
zu  jeder  Zeit  stattfinden  und  auf  jeden  Teil  des  Körpers  mittelbar 
oder  unmittelbar  einwirken  können. 

Selbstverständlich  ist  eine  bestimmte  Schranke  der  Anpassungs- 
fähigkeit  allgemein  durch   die  ihr  entgegenwirkende  Erblichkeit  ge- 


XIX.  ^  •    Veränderlichkeit  und  Anpassung.  283 

setzt,  durch  den  ,.Typus"  des  Stammes:  allein  innerhalb  dieses 
Typus,  innerhalb  der  unveräußerlichen  Charaktere  des  Phylon,  ist 
eine  Schranke  nicht  vorhanden,  und  die  parasitischen  Crustaceen 
z.  B.  scheinen  auch  jene  Grenze  der  Typuscharaktere  zu  über- 
schreiten. 

Mit  der  gleichen  Notwendigkeit,  mit  welcher  sich  dieses  Gesetz 
als  eine  unmittelbare  Folgerung  aus  der  großen  Erscheinung  der  be- 
ständigen Umänderung  der  Gesamtnatur  (und  speziell  der  anorgani- 
schen Natur)  ableiten  läßt,  mit  derselben  Notwendigkeit  drängt  sich 
uns  unmittelbar  seine  allgemeine  Geltung  auf.  wenn  wir  die  ge- 
samten Erscheinungsreihen  der  organischen  Natur  von  dem  höheren 
allgemeinen  Gesichtspunkte  aus  vergleichend  betrachten.  Die  ge- 
samte Phylogenie,  die  gesamte  Physiologie  der  Organismen  liefert 
eine  übereinstimmende  Kette  von  Beweisen  für  dasselbe.  Die  Phylo- 
genie zeigt  uns,  wie  ein  und  derselbe  Stamm  von  organischen  Formen, 
z.  B.  der  der  Wirbeltiere,  aus  einfacher  Basis  entspringend,  sich  nach 
allen  Seiten  reich  verzweigt,  wie  die  Mannigfaltigkeit  seiner  diver- 
genten Äste  mehr  und  mehr  im  Laufe  der  Erdgeschichte  zunimmt 
und  wie  dieselben  noch  in  der  Gegenwart  eine  unbegrenzte  Fällig- 
keit zur  Abänderung  zeigen.  Freilich  ist  diese  Fähigkeit  sehr  ver- 
schieden. Die  einen  Spezies  sind  äußerst  variabel,  die  anderen  sehr 
konstant,  eine  dritte  Gruppe  nur  in  mäßigem  Grade  abänderungs- 
fähig. Diese  Tatsache  entspricht  aber  vollkommen  der  ungleichen 
physiologischen  Konstitution  und  Lebensweise  der  verschiedenen 
Arten.  Solche  Arten,  die  nur  unter  ganz  beschränkten  Bedingun- 
gen existieren  können,  die  sich  bereits  einer  großen  Summe  spe- 
zieller Existenzverhältnisse  angepaßt  haben  (wie  z.  B.  viele  Parasiten), 
die  also  auch  nur  einen  beschränkten  Verbreitungsbezirk  haben  werden, 
können  sich  nur  in  geringem  Grade  und  nur  nach  bestimmten  eng 
begrenzten  Richtungen  hin  verändern  und  neu  anpassen.  Solche 
Arten  dagegen,  die  unter  sehr  verschiedenen  Bedingungen  existieren 
können,  die  sich  nur  einer  kleinen  Summe  spezieller  Existenzver- 
hältnisse angepasst  haben  (wie  z.  B.  die  Mäuse),  die  also  auch  einen 
weiteren  Yerbreitungsbezirk  haben  werden,  können  sich  noch  in  hohem 
Grade  und  nach  vielen  verschiedenen  Richtungen  hin  verändern  und 
neu  anpassen.  Wir  können  die  letzteren  Arten  mit  Snell  als  ideale, 
die  ersteren  dagegen  als  praktische  Typen  bezeichnen. 

Dieser  Unterschied  zwischen  den  praktischen  oder  ein- 
seitigen und   den  idealen  oder  vielseitigen  Organisations- 


;2S4  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

typen  gilt  nicht  allein  von  den  einzelnen  Arten,  sondern  auch  von 
den  Gattungen.  Klassen  und  überhaupt  von  allen  Zweigen  des  syste- 
matischen Staiiinibaumes.  Wir  können  alle  Kategorien  desselben 
allgemein  in  die  beiden  (natürlich  nie  scharf  zu  trennenden,  sich 
aller  doch  im  (lanzen  gegenüberstehenden)  Gruppen  der  idealen  oder 
in  weitem  Umfang  anpassungsfähigen  Gestalten  und  der  praktischen 
oder  in  engem  Umfang  adaptalen  Gestalten  scheiden.  Ideale  oder 
polytrope  Typen  sind  z.  B.  unter  den  Artikulaten  die  Anneliden,  untei- 
den  Phanerogamen  die  Cupuliferen.  Praktische  oder  monotrope 
Typen  dagegen  sind  unter  den  Artikulaten  die  Insekten,  unter  den 
Phaneroganen  die  Palmen  und  Orchideen.  Ferner  sind  ideale  oder 
vielseitige  Gruppen  unter  den  Wirbeltieren  z.  B.  die  Selachier,  die 
Eidechsen,  die  Halbaffen;  praktische  oder  einseitige  Gruppen  da- 
gegen sind  die  Teleostier,  die  Schildkröten,  die  Fledermäuse.  Die 
idealen  oder  vielseitigen  Gruppen  passen  sich  weniger  speziell  be- 
stimmten Bedingungen  an  und  bleiben  dadurch  in  höherem  Grade 
entwickelungsfähig.  Die  praktischen  oder  einseitigen  Gruppen  passen 
sich  dagegen  ganz  speziell  bestimmten  Bedingungen  an,  leisten  auf 
diesem  beschränkten  Gebiete  Größeres,  büßen  dadurch  aber  die 
weitere  Entwickelungsfähigkeit  ein.  Dieser  höchst  wichtige  Unter- 
schied ist  auch  unter  den  Individuen  der  menschlichen  Gesellschaft 
überall  und  also  auch  in  der  Wissenschaft  zu  verfolgen.  Die  idealen 
und  vielseitigen,  philosophisch  gebildeten  Köpfe,  welche  die  Erschei- 
nungen synthetisch  vergleichen  und  denkend  ordnen,  sind  es.  welche 
die  Menschheit  im  ganzen  weiterbringen,  weil  sie  sie  anpassungs- 
fähig erhalten.  Die  praktischen  und  einseitigen  Gelehrten  dagegen, 
welche  die  Erscheinungen  nur  analytisch  zergliedern,  und  welche  sich 
nicht  höheren  Ideen  anpassungsfähig  erhalten,  können  jenen  bloß 
das  Material  liefern,  das  sie  zum  Besten  des  Ganzen  verwerten. 

Wie  der  Mensch,  als  das  am  genauesten  und  am  längsten  untei'- 
suchte  Tier,  für  alle  allgemeinen  biologischen  Erscheinungen  (und 
namentlich  für  die  von  uns  hier  untersuchten  Gesetze  der  Vererbung 
und  der  Abänderung)  die  besten  und  schlagendsten  Beweise  liefert, 
so  gibt  er  uns  auch  den  sichersten  Bew^eis  für  das  große  Gesetz  der 
unbeschränkten  Anpassung.  In  diesem  Gesetze  liegt  die  ganze  un- 
begrenzte Entwickelungsfähigkeit  des  Menschengeschlechts  einge- 
schlossen, und  für  uns  speziell  die  tröstliche  Aussicht,  daß  der 
vielgerühmte  Kulturzustand  des  neunzehnten  Jahrhunderts  sicher 
nach   Verlauf  weniger  Jahihunderte.    und  vielleicht   schon  vor  Be- 


XIX.  ^'^-    Vererbung  und  Anpassung.  285 

ginn  des  zweiten  Jahrtausends  n.  Chr.  als  der  Zeitpunkt  des  Er- 
wachens aus  den  scholastischen,  halb  barbarischen  Vorurteilen  des 
Mittelalters  und  seiner  Fortsetzung  bis  zur  Gegenwart  bezeichnet 
werden  wird.  Es  hieße  an  dem  Werte  der  Menschheit  und  dem 
ungeheuren  Fortschritt,  den  sie  bereits  seit  ihrer  Divergenz  von  den 
übrigen  Affen  gemacht  hat.  verzweifeln,  wenn  man  nicht  die  gleiche 
Fähigkeit  der  dauernden  xVnpassung  und  Vervollkommnung  auch 
für  alle  kommenden  Zeiten  behaupten  wollte.  Wie  aber  im  Gehirne 
des  Menschen  sich  die  unbegrenzte  Anpassungsfähigkeit  des  Organis- 
mus auf  das  schlagendste  bekundet,  so  gilt  dieselbe  auch  als  all- 
gemeines Gesetz  für  alle  übrigen  Organismen. 


Tl.    Tererbiing  und  Anpassung. 

(Heredität  und  Variabilität.) 

Vererbung  und  Anpassung  sind  die  beiden  einzigen 
physiologischen  Funktionen,  welche  in  ihrer  beständigen 
Wechselwirkung  die  unendlich  mannigfaltigen  Unter- 
schiede aller  Organismen  bedingen,  und  zwar  nicht  bloß  die 
morphologischen,  sondern  auch  die  davon  nicht  trennbaren  physiolo- 
gischen Unterschiede.  Alle  Eigenschaften,  welche  wir  an  den  einzelnen 
Organismen  wahrnehmen,  und  durch  welche  wir  sie  von  den  andern 
unterscheiden,  und  zwar  ebenso  alle  Eigenschaften  der  Form,  wie  des 
Stoffes  und  der  Funktion,  sind  lediglich  die  notwendigen  Produkte 
der  Wechselwirkung  jener  beiden  formenden  Kräfte.  Im  allgemeinen 
ist  jeder  ausgebildete  Charakter,  jedes  entwickelte  Merkmal,  jede 
wesenthche  Eigenschaft  des  Organismus  ein  Produkt  beider  Faktoren, 
der  auf  der  Fortpflanzung  beruhenden  Vererbung  und  der  auf  der 
Ernährung  beruhenden  Anpassung.  Im  besonderen  jedoch  können 
wir  von  jedem  einzelnen  Merkmal  sagen,  daß  es  in  seinem  gegen- 
wärtigen Zustande  entweder  vorwiegend  durch  Vererbung  oder  vor- 
wiegend durch  Anpassung  erworben  sei:  und  ursprünglich  sind  alle 
Charaktere  entweder  vererbte  oder  erworbene.  Wir  können  also, 
und  es  ist  dies  von  der  größten  Wichtigkeit  für  die  Systematik,  alle 
Eigenschaften,  alle  Charaktere  der  Organismen  in  zwei  gegenüber- 
stehende Gruppen  bringen:  Ererbte  Eigenschaften  (Characteres 
hereditarii)  und  durch  Abänderung  der  vererbten  erworbene,  an- 
gepaßte Eigenschaften  {Characteres  adapüvi). 


286  Diß  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Wählend  diese  Vereinigung  von  ererbten  und  durch  Anpassung 
erworbenen  Charakteren  sich  bei  allen  Organismen  findet,  welche 
durch  Fortpflanzung  von  elterlichen  Organismen  entstehen,  existiert 
ein  etAvas  anderes  Verhältnis  bei  denjenigen  Organismen,  welche 
elternlos  durch  Selbstzeugung  oder  Autogonie  entstanden,  bei  den 
strukturlosen  Moneren.  Bei  diesen  fällt  natürlich  das  Moment  der 
Ererbung  weg  und  an  dessen  Stelle  tritt  die  unmittelbare  physikalische 
und  chemische  Beschaffenheit  der  Materie,  aus  welcher  das  autogene 
Moner  besteht.  Diese  ist  es,  welche  hier  der  Anpassung  entgegen- 
wirkt, und  welche  zum  erblichen  Charakter  wird,  w^enn  das  Moner 
sich  fortpflanzt.  Im  Grunde  ist  aber  dieser  Unterschied  nur  sehr 
unwesentlich,  da  ja  auch  das  Wesen  der  erblichen  Eigenschaften  in 
der  unmittelbaren  physikalischen  und  chemischen  Beschaffenheit  der 
Materie  liegt,  aus  w^elcher  der  Organismus  besteht.  Wir  kommen 
hier  im  w^esentlichen  zurück  auf  den  Unterschied  der  beiden  in 
Wechselwirkung  stehenden  gestaltenden  Kräfte,  w^elche  wir  im  fünften 
Kapitel  untersucht  haben,  auf  den  inneren  und  äußeren  Bildungstrieb. 
Wir  sprachen  dort  aus,  daß  jeder  Organismus  ein  Produkt  der  Wechsel- 
wirkung dieser  beiden  Faktoren  ist,  des  inneren  Bildungstriebes, 
d.  h.  der  physikalischen  und  chemischen  Kräfte,  welche  der  den 
Organismus  konstituierenden  Materie  inhärieren,  und  des  äußeren 
Bildungstriebes,  d.  h.  der  physikalischen  und  chemischen  Kräfte, 
welche  der  den  Organismus  umgebenden  Materie  der  Außenw^elt  inne- 
wohnen und  auf  erstere  einwirken.  Offenbar  ist  jener  nun  bei  allen 
Organismen,  die  durch  Fortpflanzung  entstanden  sind,  der  in  der 
Vererbung  wirkende,  dieser  dagegen  in  allen  Fällen  der  in  der 
Anpassung  und  Abänderung  wirkende  Gestaltungstrieb.  Wir  können 
also  das  wichtige  Gesetz,  w^elches  die  gesamte  Mannigfaltigkeit  der 
Organismen  weit  auf  die  Wechselwirkung  von  nur  zwei  gestaltenden 
Kräften  zurückführt,  in  folgende  Worte  zusammenfassen: 

Alle  Eigenschaften  oder  Charaktere  der  Organismen 
sind  das  Produkt  der  Wechselwirkung  von  zwei  gestalten- 
den physiologischen  Funktionen,  dem  inneren,  auf  der 
materiellen  Zusammensetzung  des  Organismus  beruhenden 
und  durch  die  Fortpflanzung  vermittelten  Bildungstriebe 
der  Vererbung,  und  dem  äußeren,  auf  der  Gegenwirkung 
des  Organismus  gegen  die  x\ußenwelt  beruhenden  und 
durch  die  Ernährung  vermittelten  Bildungstriebe  der  An- 
passung.   In  jeder  Eigenschaft  des  Organismus  kann  aber  der  eine 


XIX.  VI.    Vererbung  und  Anpassung.  287 

der  beiden  Bildungstriebe  als  die  vorzugsweise  bewirkende  Ursache 
erkannt  werden,  und  in  dieser  Beziehung  sind  alle  Charaktere 
des  Organismus  in  erster  Instanz  entweder  ererbt  oder  durch 
Anpassung  erworben. 

Aus  Gründen,  welche  wir  im  sechsten  Buche  erörtern  werden, 
bezeichnen  wir  die  ererbten  oder  V  er  er  bungs  Charaktere  als 
homologe,  die  angepaßten  oder  Anpassungs Charaktere  als 
analoge.  Eine  Hauptaufgabe  der  gesamten  Morphologie  der  Organismen 
beruht  in  der  Erkenntnis  dieses  Unterschiedes,  und  wenn  die  Syste- 
matik und  die  vergleichende  Anatomie  immer  in  erster  Linie  bestrebt 
gewesen  wäre,  diesen  Unterschied  zu  entdecken,  so  würde  sie  ihrer 
Aufgabe,  der  Erkenntnis  der  natürlichen  Verwandtschaften  der 
Organismen,  schon  unendlich  näher  sein.  Denn  es  liegt  auf  der  Hand, 
daß  nur  die  homologen  oder  ererbten  Charaktere  uns  auf  die  Er- 
kenntnis der  natürlichen  Blutsverwandtschaft  hinleiten  können,  während 
die  analogen  oder  angepaßten  Charaktere  nur  geeignet  sind,  dieselbe 
uns  zu  verhüllen.  Die  ganze  Kunst  der  vergleichenden  Morphologie 
beruht  also  darauf,  zu  erkennen,  ob  die  Ähnlichkeit,  welche  zwei 
„verwandte"'  Organismen  verbindet,  eine  Homologie  oder  eine  Analogie 
ist.  Je  mehr  zwei  verwandte  Organismen  gemeinsame  Homologien 
besitzen,  desto  enger  sind  sie  verwandt;  je  mehr  ihre  Ähnlichkeit 
bloß  auf  Analogie  oder  Konvergenz  beruht,  d.  h.  auf  der  Anpassung 
an  gleiche  oder  ähnliche  Lebensbedingungen,  desto  weniger  sind  sie 
verwandt.  So  stehen  die  Walfische  durch  Analogie  den  Fischen,  durch 
Homologie  den  Menschen  näher.  Ebenso  stehen  die  Insekten  durch 
Analogie  den  Vögeln,  durch  Homologie  den  Würmern  näher. 

Die  beiden  allmächtigen  bewegenden  Kräfte  der  Vererbung  und 
der  Anpassung,  welche  wir  oben  auf  die  physiologischen  Funktionen 
der  Fortpflanzung  und  Ernährung  zurückgeführt  haben,  sind  in  ihrer 
allgemeinen  Wechselwirkung  die  beiden  einzigen  Faktoren,  welche 
die  gesamte  organische  Welt  gebildet  haben  und  noch  immerfort 
bilden.  Sie  haben  an  die  Stelle  der  inneren  Idee,  des  Schöpfers. 
des  zweckmäßigen  Bauplanes  zu  treten,  und  wie  alle  die  irrtümlichen 
Vorstellungen  weiter  heißen  mögen,  welchen  die  Teleologie  und  der 
Dualismus  überhaupt  die  ,.  Schöpfung"  der  Organismen  zuschreibt. 

So  einfach  nun  dieses  große  Gesetz  ist,  so  fest  wir  überzeugt 
sind,  daß  diese  beiden  Faktoren  allein  die  organische  Welt  geschaffen 
haben,  so  außerordentlich  schwierig  ist  es,  im  einzelnen  den  Prozeß 
ihrer  Wechselwirkung  zu  verfolgen  und  von  jeder  einzelnen  Funktion, 


288  ^^i*^  Deszpiulonztlieoiie  und  elie  Selektioiistlieorie.  XIX 

von  joder  einzelnen  Fornieigenschat't  des  Organismus  zu  sagen,  wie- 
viel davon  Wirkung  der  Vererbung,  wieviel  Wirkung  der  Anpassung 
sei.  Denn  alle  die  verschiedenen  Modifikationen  der  Heredität  und 
Adaptation,  welche  wir  in  den  oben  begründeten  Gesetzen  aufgeführt 
haben,  treten  im  Organismus  in  eine  so  äußerst  komplizierte  Wechsel- 
wirkung, daß  es,  wenigstens  bei  unseren  jetzigen,  noch  höchst  unvoll- 
ständigen Kenntnissen,  äußerst  schwierig  ist,  den  Prozeß  der  organischen 
Umbildung  selbst  zu  verfolgen. 

Hier  nun  gelangen  wir  zur  Betrachtung  der  ungemein  wichtigen 
Gesetze,  welche  sich  bis  jetzt  aus  der  Wechselwirkung  der  Vererbung- 
und  Anpassung  haben  ableiten  lassen  und  deren  Aufstellung  das  be- 
sondere und  höchst  bewunderungswürdige  Verdienst  von  Charles  Dar- 
win ist.  Zunächst  haben  wir  die  wichtigen  Vorgänge  der  natürlichen 
und  künstlichen  Züchtung  oder  Auslese  (Selektion)  zu  betrachten, 
welche  den  wertvollen  Kern  seiner  Selektionstheorie  bilden,  und 
demnächst  die  weitgreifenden  Gesetze  der  Divergenz  oder  Differen- 
zierung, und  des  Fortschritts  oder  der  Vervollkommnung,  welche 
sich  als  Konsequenzen  aus  dem  Selektionsgesetz  ergeben. 


TU.     Zik'litiiiii;-  oder  Selektion. 

(Zuchtwahl,  Auslese.) 

Das  erste  und  oberste  Gesetz,  welches  die  Entstehung  neuer 
organischer  Formen  durch  die  Wechselwirkung  von  Vererbung  und 
Anpassung  regelt,  ist  das  Gesetz  der  Züchtung  oder  Selektion.  Das 
Wesen  des  Züchtungsvorganges  liegt  darin,  daß  von  zahlreichen 
nebeneinander  lebenden  ähnlichen,  aber  ungleichen  Individuen  von 
einerlei  Art  nur  eine  bestimmte  Anzahl  zur  Fortpflanzung  gelangt, 
und  also  seine  individuellen  Eigenschaften  auf  die  Nachkommenschaft 
vererbt  und  dadurch  erhält,  während  die  anderen,  nicht  zur  Fort- 
pflanzung gelangenden  Individuen  derselben  Art  aussterben,  ohne  ihre 
individuellen  Eigenschaften  vererben  und  so  in  den  Nachkommen 
erhalten  zu  können.  Es  findet  also  bei  der  P'ortpflanzung  aller 
Organismen  von  einerlei  Art  eine  Auswahl  oder  Auslese,  Selektion, 
statt,  welche  die  einen  Individuen  bevorzugt,  indem  sie  ihnen  gestattet, 
ihre  individuellen  Charaktere  auf  die  Nachkommenschaft  zu  vererben, 
während  sie  die  anderen  Individuen  benachteiligt,   indem   sie  ihnen 


XIX.  VII.    Züchtung  oder  Selektion.  289 

dies  nicht  gestattet.  Durch  diese  Auslese  oder  Zuchtwalil  wird  eine 
aUmähHche  Abänderung  der  ganzen  Organisnienart  bedingt,  indem 
die  individuellen  Charaktere  des  sich  fortpflanzenden  Bruchteils  der 
Art  Gelegenheit  erhalten,  sich  durch  Vererbung  zu  befestigen  und 
so  immer  stärker  hervorzutreten, 

Der  Vorgang  der  Züchtung  oder  Auslese  ist  von  dem  ^Menschen 
künstlich  betrieben  worden  seit  jener  weit  zurückliegenden  Zeit,  in 
welcher  er,  selbst  erst  dem  niedersten  Zustande  tierischer  Rohheit 
entw^achsen,  zum  ersten  Male  anfing,  Tiere  und  Pflanzen  zu  seinem 
Nutzen  bei  sich  zu  halten  und  fortzupflanzen.  Dieser  Prozeß  w^ar 
von  Anfang  an  mit  einer,  zunächst  allerdings  unbewußten  Auslese 
oder  Zuchtwahl  (Selektion)  verbunden,  indem  der  Mensch  nur  einen 
Bruchteil  der  zu  seinem  Nutzen  gezogenen  Tiere  und  Pflanzen  zur 
Fortpflanzung-  der  Art  benutzte,  die  übrigen  dagegen  in  verschiedener 
Weise  zu  seinem  Nutzen  verwandte.  Nun  wird  der  Mensch,  sobald 
er  den  großen  Nutzen  einsah,  der  ihm  durch  die  Kultur  der  Tiere 
und  Pflanzen  erwächst,  schon  frühzeitig  auf  den  Gedanken  gekommen 
sein,  nicht  allein  dieselben  durch  Fortpflanzung  bloß  zu  erhalten, 
sondern  auch,  bei  der  offenbaren  Ungleichheit  der  Individuen,  die  für 
seinen  Vorteil  tauglicheren  Individuen  allein  zu  erhalten,  die  übrigen, 
w^eniger  tauglichen  dagegen  zu  vernachlässigen.  Er  wird  also  bloß 
die  ersteren,  nicht  die  letzteren  zur  Fortpflanzung  (Nachzucht)  benutzt 
haben,  und  hiermit  war  bereits  die  Kunst  der  individuellen  Auswahl, 
der  Auslese  zur  Nachzucht  erfunden,  welche  das  Wesen  der  künst- 
lichen Züchtung  bildet.  Indem  nämlich  der  Mensch  bei  dieser  Aus- 
wahl der  tauglichsten  Individuen  zur  Nachzucht  Generationen  hindurch 
diejenigen  Individuen  aussuchte,  die  einen  bestimmten  (für  ihn  vor- 
teilhaften) Charakter  oder  eine  neu  erworbene  Abänderung  besonders 
deuthch  zeigten,  die  anderen  dagegen,  die  denselben  w^eniger  aus- 
gesprochen oder  gar  nicht  zeigten,  ausschied,  wurde  nicht  allein  dieser 
erwünschte  Charakter  oder  die  neue  Abänderung  erhalten,  sondern 
er  wurde  auch  nach  den  Vererbungsgesetzen  durch  Häufung  ge- 
steigert und  befestigt.  Ledighch  durch  diese,  Generationen  hin- 
durch fortgesetzte  Auswahl  bestimmter  Individuen  zur  Fortpflanzung 
(Nachzucht),  lediglich  durch  diese  andauernde  künstliche  Auslese  oder 
Zuchtwahl,  war  der  Mensch  imstande,  die  Wechselwirkung  zwischen 
Vererbung  und  Abänderung  so  zu  benutzen,  daß  er  schließlich  die 
zahllosen  Kulturformen  der  Haustiere  und  Nutzpflanzen  erzeugte,  die 
zum  Teil  von  ihren  natürlichen   Vorfahren  viel  w^eiter  verschieden 

Haeckel,    Prinz,  d.  Morphol.  1«^ 


290  DiP  Deszendenztheorie  und  die  Selektiunstlieoiie.  XIX. 

sind,  als  es  verschiedene  sogenannte  ..gute  Arten"  und  selbst  ver- 
schiedene Gattungen  im  Naturzustande  sind. 

Es  ist  nun  Darwins  unschätzbares  und  besonderes  Verdienst, 
nachgewiesen  zu  haben,  daß  einem  ganz  analogen  Züchtungsvorgange 
auch  die  unendliche  ^Mannigfaltigkeit  der  Tiere  und  Pflanzen  im 
wilden  Zustande  ihre  Entstehung  verdankt,  und  daß  überall  und 
jederzeit  in  der  vom  Menschen  unabhängigen  Natur  eine  ..natürliche 
Zuchtwahl"  Avirksam  ist,  welche  der  künstlichen  vom  Menschen  be- 
triebenen Auslese  durchaus  analog  ist.  Dasjenige  auslesende  Prinzip, 
welches  in  der  Natur  die  auswählende  willkürliche  Tätigkeit  des 
Menschen  ersetzt,  ist  das  von  Darwin  zuerst  entdeckte,  äußerst 
wichtige  und  komplizierte  Wechselverhältnis  der  Organismen  zuein- 
ander, welches  er  mit  dem  Namen  des  ..Kampfes  um  das  Dasein" 
(Struggle  forlife)  belegt.  Die  ..natürliche  Züchtung''  (Natural  selection). 
welche  dieses  beständig  tätige  Prinzip  ausübt,  wirkt  durchaus  analog 
der  vom  menschlichen  Willen  ausgeübten  ..künstlichen  Züchtung''  und 
erzielt  durchaus  ähnliche  Resultate.  Allein  während  die  neuen  Formen, 
welche  die  künstliche  Züchtung  hervorbringt,  der  menschlichen  Aus- 
lese entsprechend  dem  Nutzen  des  Menschen  dienen,  sind  dagegen 
die  neuen  Formen,  welche  die  natürliche  Züchtung  hervorbringt,  dem 
Nutzen  des  abgeänderten  Organismus  selbst  dienstbar.  Auch  wirkt 
aus  gleich  zu  erörternden  Gründen  die  letztere  zwar  langsamer,  aber 
ungleich  mächtiger,  stetiger  und  allgemeiner,  als  die  erstere.  Um 
den  äußerst  wichtigen  Prozeß  der  natürlichen  Züchtung,  welcher  das 
Skelet  der  ganzen  Selektionstheorie  bildet,  richtig  zu  verstehen, 
wollen  wir  zuvor  den  besser  bekannten,  aber  ganz  analogen  Vor- 
aans-  der  künstlichen  Züchtung  noch  etwas  näher  ins  Auge  fassen. 
Doch  können  wir  schon  jetzt  den  wesentlichen  Unterschied  zwischen 
beiden  analogen  Erscheinungen  in  folgenden  Worten  zusammen- 
fassen : 

Die  künstliche  Züchtung  besteht  darin,  daß  der  plan- 
mäßig wirkende  Wille  des  Menschen  die  Fortpflanzung 
derjenigen  Individuen  begünstigt,  welche  durch  eine  für 
den  Vorteil  des  Menschen  nützliche  individuelle  Eigen- 
tümlichkeit, sich  auszeichnen.  Die  natürliche  Züchtung 
besteht  darin,  daß  der  planlos  wirkende  Kampf  ums  Dasein 
die  Fortpflanzung  derjenigen  Individuen  begünstigt,  welche 
durch  eine  für  ihren  eigenen  Vorteil  nützliche  individuelle 
Eigentümlichkeit  sich  auszeichnen. 


XIX.  ^'iJ[-    Züchtung  oder  Selektion.  291 

VU,  A.    Die  künstliche  Züchtung  (SelecUo  artificiaUs). 

(ZiR-htwahl  oder  Auslese  cUirt-h  den  Willen  des  Menschen.) 

Alle  Gesetze  der  Vererbung  und  alle  Gesetze  der  Anpassung, 
welche  wir  oben  erörtert  haben,  kommen  bei  der  künstlichen  Züch- 
tung zur  Anwendung,  und  die  große  und  schwere  Kunst  des  tüchtigen 
Züchters  besteht  darin,  diese  Gesetze  richtig  zu  erkennen  und  zu  hand- 
haben, ihre  Wirksamkeit  passend  zu  regeln  und  die  äußerst  genaue 
Kenntnis  der  Züchtungsobjekte  sich  zu  erwerben,  welche  hierfür  un- 
entbehrlich ist.  Für  einen  guten  Züchter  ist  daher  eine  scharfe  und 
sorgfältige  Naturbeobachtung  sowohl,  als  eine  tiefe  und  auf  langen  in- 
timen Verkehr  gegründete  Bekanntschaft  mit  der  Physiologie  der  Er- 
nährung und  Fortpflanzung,  und  vor  allem  mit  der  unendlichen  Bieg- 
samkeit des  Organismus  unentbehrlich.  Er  muß  die  kleinsten  und 
unscheinbarsten  individuellen  Abweichungen  einzelner  Tiere  und  Pflan- 
zen, welche  seinem  Vorteil  entsprechen,  erkennen,  benutzen  und  durch 
sorgfältige  Vererbung  häufen,  befestigen  und  steigern.  Der  Schlüssel 
für  die  Züchtungserscheinungen,  sagt  Darwin,  liegt  in  des  Menschen 
.. akkumulativen  Wahlvermögen,  d.  h.  in  seinem  Vermögen, 
durch  jedesmalige  Auswahl  derjenigen  Individuen  zur  Nachzucht, 
welche  die  ihm  erwünschten  Eigenschaften  im  höchsten  Grade  be- 
sitzen, diese  Eigenschaften  bei  jeder  Generation  um  einen  wenn  auch 
noch  so  unscheinbaren  Betrag  zu  steigern.  Die  Natur  liefert  all- 
mählich mancherlei  x\bänderungen:  der  Mensch  befördert  sie  in  ge- 
wissen ihm  nützlichen  Richtungen.  In  diesem  Sinne  kann  man  von 
ihm  sagen,  er  schaffe  sich  nützliche  Rassen.'"  Es  kommt  also  alles 
darauf  an,  unter  zahlreichen  kultivierten  Individuen  von  einer  und 
derselben  Art  diejenigen  heraus  zu  erkennen  und  zur  Nachzucht 
auszulesen,  welche  irgend  eine  ganz  unbedeutende  Abänderung,  z.  B. 
eine  neue  Färbung,  zeigen,  die  dem  Wunsche  des  Züchters  ent- 
spricht. Indem  nun  diese  Individuen  sorgfältig  fortgepflanzt  werden, 
und  indem  unter  ihren  Nachkommen  immer  diejenigen  zur  weiteren 
Fortpflanzung  ausgewählt  werden,  welche  jene  Abänderung  am  meisten 
ausgesprochen  zeigen,  wird  dieser  Charakter,  welcher  anfänghch  höchst 
unbedeutend  und  dem  ungeübten  Auge  gar  nicht  erkennbar  war,-  durch 
Vererbung  befestigt,  durch  fortdauernde  Anpassung  gehäuft,  und  da- 
durch endlich  so  stark  entwickelt,  daß  er  zuletzt  eine  neue  Rasse 
charakterisiert. 

Das  wichtigste  allgemeine  Resultat,  zu  welchem  uns  die  be- 
i;vunderuugswürdigen  Erfolge  der  planmäßig  betriebenen  künstlichen 

19* 


292  I-^iß  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Züchtung  liinfiihren,  läßt  sicli  in  folgende  Worte  ztisanimenfassen: 
Die  Unterschiede  in  physiologischen  tiiid  morphologischen 
Charakteren  der  Tiere  und  Pflanzen,  welche  der  Mensch 
durch  künstliche  Züchtung  bei  verschiedenen  Nachkom- 
men eines  und  desselben  Organismus  hervorzubringen  ver- 
mag, sind  oft  viel  bedeutender,  als  die  Unterschiede  in 
physiologischen  und  morphologischen  Charakteren,  welche 
die  Botaniker  und  Zoologen  bei  den  Pflanzen  und  Tieren 
im  Naturzustande  für  ausreichend  erachten,  um  darauf  ver- 
schiedene Spezies  oder  selbst  verschiedene  Genera  zu  be- 
gründen. 

VU,  B.    Die  natürliche  Züchtung  (Selectio  naturalis). 

(Zuclitwalil  oder  Auslese  ilurcli  den  Kampf  ums  Dasein.) 

Die  Zuchtwahl,  die  auslesende  Tätigkeit,  auf  welcher  die  Züch- 
tung beruht,  und  welche  bei  der  künstlichen  Züchtung  durch  den 
,. Willen  des  Menschen"  geübt  wird,  dieselbe  wird  bei  der  natür- 
lichen Züchtung  durch  das  gegenseitige  Wechselverhältnis  der  Or- 
ganismen geübt,  welches  Darwin  als  „Kampf  ums  Dasein"  be- 
zeichnet. Auf  eine  richtige  Erfassung  dieses  Satzes  und  auf  seine 
beständige  Geltendmachung  kommt  alles  an,  wenn  man  Darwins. 
Entdeckung  der  „natürlichen  Züchtung  im  Kampfe  ums  Dasein'^ 
richtig  verstehen  und  in  ihrer  ungeheuren  kausalen  Bedeutung  würdi- 
gen will.  Wir  müssen  daher  deren  wesentlichen  Inhalt  kurz  er- 
örtern, um  so  mehr,  als  auffallenderweise  derselbe  den  gröbsten  Miß- 
verständnissen und  den  albernsten  Entstellungen  ausgesetzt  worden  ist. 

Der  Kampf  um  das  Dasein  oder  das  Ringen  um  die 
Existenz  oder  die  Mitbewerbung  um  das  Leben  (SfruggJe  for 
Vife,  am  passendsten  vielleicht  als  „Wettkampf  um  die  Lebens- 
bedürfnisse" zu  bezeichnen)  ist  eines  der  größten  und  mäch- 
tigsten Naturgesetze,  welches  die  gesamte  Organismen- 
weit,  die  Menschenwelt  nicht  ausgeschlossen,  regiert,  und 
welches  allenthalben  und  zu  jeder  Zeit  bei  der  unaufhörlichen  Le- 
bensbewegung der  Organismen  tätig  ist.  Da  dasselbe  überall  unter 
unseren  Augen  wirksam  ist,  könnte  es  höchst  auffallend  erscheinen, 
daß  vor  Darwin  niemand  dasselbe  hervorgehoben  und  wissenschaft- 
lich formuliert  hat,  wenn  es  nicht  eine  bekannte  Tatsache  wäre,  daß 
die  Menschen   auf  die   nächstliegenden  Betrachtungen  immer  zuletzt 


XIX.  VII.     Züchtung  oder  Selektion.  293 

kommen  und  das  Einfachste  und  Natürlichste  am  wenigsten  be- 
greifen wollen:  eine  Tatsache,  für  welche  die  Geschichte  der  organi- 
schen Morphologie  und  vor  allem  ihrer  wissenschaftlichen  Grund- 
lage, der  Deszendenztheorie,  auf  jeder  Seite  schlagende  Beweise 
liefert. 

Die  wesentliche  Grundidee  des  Gesetzes  vom  Kampfe  ums  Da- 
sein bildet  die  Erwägung,  daß  alle  Organismen  ohne  Ausnahme  durch 
Fortpflanzung  eine  unendlich  viel  größere  Anzahl  von  Individuen 
erzeugen,  als  unter  den  allgemein  beschränkten  Lebensverhältnissen 
der  Organismen,  innerhalb  der  bestimmten  Grenzen  ihrer  notwendigen 
Existenzbedingungen,  nebeneinander  fortexistieren  können.  Die  bei 
weitem  überwiegende  Mehrzahl  aller  organischen  Individuen  muß 
notwendig  in  früherer  oder  späterer  Zeit  (die  meisten  in  der  frühesten 
Zeit)  ihrer  individuellen  Existenz  zugrunde  gehen,  ohne  zur  Fort- 
pflanzung gelangt  zu  sein.  Die  allermeisten  Individuen  unterliegen 
mannigfaltigen  Hindernissen  der  Entwickelung,  und  gehen  frühzeitig 
unter  in  dem  „Wettkampfe",  den  sie  mit  ihresgleichen  um  die  Er- 
langung der  unentbehrlichen  Existenzbedingungen  zu  kämpfen  haben. 
Nur  verhältnismäßig  wenige  von  den  zahlreichen  Nachkommen  jedes 
organischen  Individuums  sind  vor  den  übrigen  in  diesem  Ringen  um 
die  Existenz  bevorzugt,  überleben  dieselben  und  gelangen  zur  Reife 
imd  zur  Fortpflanzung.  Diese  wenigen  werden  aber  offenbar,  da 
alle  Individuen  ungleich  sind,  diejenigen  sein,  welche  sich  den  für 
alle  nicht  ausreichenden  Existenzbedingungen  am  besten  anpassen 
konnten  und  vor  den  übrigen  eine  ihnen  vorteilhafte  individuelle 
Eigentümlichkeit  voraus  hatten.  Wenn  sich  nun  dieser  Vorgang, 
diese  „Auslese  der  Besten",  d.  h.  die  Auswahl  der  am  meisten  Be- 
günstigten zur  Nachzucht.  Generationen  hindurch  wiederholt,  so  wird 
sich  die  individuelle  Eigentümlichkeit,  der  vorteilhafte  Charakter,  die 
nützliche  Abänderung,  welche  den  am  meisten  begünstigten  Indi- 
Yiduen  jenen  Vorteil  im  Wettkampfe  verlieh,  nicht  allein  erhalten, 
sondern  auch  befestigen  und  häufen.  So  entstehen  aus  einer  indi- 
viduellen Abänderung  nach  den  Gesetzen  der  Vererbung  und  An- 
passung im  Verlaufe  von  Generationen  neue  Varietäten  oder  Rassen, 
welche  sich  allmähhch  zu  neuen  Spezies  divergent  entwickeln  und 
immer  weiter  divergierenden  Nachkommen  den  Ursprung  geben 
können.  So  bringt  der  Kampf  ums  Dasein  durch  natürliche  Züch- 
tung zunächst  neue  Varietäten,  weiterhin  aber  auch  neue  Arten, 
Gattungen  etc.  hervor. 


294  f^iP  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Bei  der  außerordentlichen  Wiclitigkeit  dieses  Verhältnisses  wollen 
wir  ant'  einige  Seiten  desselben  noch  spezieller  eingehen.  Was  erstens 
die  Zahlonverhältnisse  der  Vermehrung  aller  Organismen  betrifft,  so  ist 
es  eine  bekannte  Tatsache,  daß  die  Zahl  der  möglichen  Individuen, 
d.  h.  derjenigen,  welche  als  Keime  produziert  werden,  ohne  sich  zu 
entwickeln,  in  gar  keinem  A^erhältnisse  steht  zu  der  Zahl  der  ver- 
schwindend geringen  Zahl  der  wirklichen  Individuen,  welche  tat- 
sächlich aus  einzelnen  Keimen  zur  Entwickelung  gelangen.  ..Es  gibt,"' 
sagt  Darwin,  „keine  Ausnahme  von  der  Regel,  daß  jedes  organische 
Wesen  sich  auf  natürliche  Weise  in  dem  Grade  vermehre,  daß.  wenn 
es  nicht  durch  Zerstörung  litte,  die  Erde  bald  von  der  Nachkommen- 
schaft eines  einzigen  Paares  bedeckt  sein  würde."  Die  allermeisten 
organischen  Individuen  erzeugen  während  ihres  Lebens  Hunderte  und 
Tausende,  sehr  viele  aber  Hunderttausende  und  Millionen  von  Keimen, 
welche  neuen  Individuen  den  Ursprung  geben  könnten.  Und  doch 
gelangen  nur  verhältnismäßig  äußerst  wenige  von  diesen  Keimen, 
oft  nur  ein  oder  zwei,  sehr  häufig  nur  ein  paar  Dutzend,  zur  Ent- 
wickelung, und  von  diesen  sich  entwickelnden  ist  es  wiederum  nur 
ein  ganz  geringer  Bruchteil,  welcher  zur  vollständigen  Reife  und 
zur  Fortpflanzung  gelangt.  Diese  unbezweifelbare  und  höchst  wich- 
tige Tatsache  zeigt  sich  am  schlagendsten  darin,  daß  die  absolute 
Anzahl  der  organischen  Individuen,  welche  unsere  Erde 
bevölkern,  im  großen  und  ganzen  durchschnittlich  die- 
selbe bleibt,  und  daß  nur  die  relativen  Zahlenverhältnisse 
der  einzelnen  Arten  zueinander  beständig  sich  ändern. 

Die  Tatsache,  daß  zwischen  allen  Organismen,  welche  an  einem 
und  demselben  Orte  der  Erde  beisammen  leben,  äußerst  zusammen- 
gesetzte Wechselbeziehungen  herrschen,  kann  nicht  geleugnet  werden, 
ebensowenig  die  Tatsache,  daß  von  den  zahlreichen  individuellen 
Keimen  aller  Organismen  nur  eine  ganz  geringe  Anzahl  zur  Ent- 
wickelung und  Fortpflanzung  gelangt.  Bringen  wir  nun  diese  un- 
leugbaren Tatsachen  mit  den  oben  festgestellten  Gesetzen  der  Ver- 
erbung und  Abänderung  in  Zusammenhang,  so  folgt  aus  dieser 
Kombination  mit  absoluter  Notwendigkeit  die  Existenz  und 
Wirksamkeit  der  natürlichen  Züchtung.  Denn  da  alle  Indi- 
viduen ungleich  und  abänderungsfähig  sind,  da  nur  eine  beschränkte 
Anzahl  der  im  Keime  existierenden  Individuen  sich  entwickeln  kann, 
so  muß  notwendig  ein  Kampf  um  das  Dasein,  d.  h.  ein  Wettkampf 
zwischen  den  Organismen  um  die  Erlangung  der  Existenzbedingungen 


XIX.  VII.    Züchtung  oder  Selektion.  295 

Stattfinden,  in  welchem  die  nngleichen  Individuen  ungleiche  Stellun- 
gen und  ungleiche  Aussichten  haben.  Diejenigen  Individuen,  welche 
durch  irgend  eine  individuelle  Eigentümlichkeit,  irgend  eine  neu  er- 
worbene Abänderung,  einen  Vorzug  vor  den  übrigen  ihrer  Art  vor- 
aus haben,  werden  ihnen  überlegen  sein  und  sie  besiegen.  Sie  allein 
werden  zur  Fortpflanzung  gelangen  und  ihre  Abänderung  auf  die 
Nachkommenschaft  übertragen.  Diese  individuelle  Eigenschaft  wird 
sich  auf  die  Nachkommen  in  ungleichem  Maße  vererben,  und  da 
von  diesen  wiederum  diejenigen,  welche  dieselben  am  weitesten  ent- 
wickelt zeigen,  die  im  Kampfe  bevorzugten  sind,  so  werden  sie  aber- 
mals zur  Fortpflanzung  gelangen  und  ihren  Vorzug  weiter  vererben. 
Indem  sich  dieser  Prozeß  Generationen  hindurch  wiederholt,  muß  er 
notwendig  zunächst  zur  Erhaltung,  dann  aber  weiter  zur  Befestigung, 
Häufung  und  immer  stärkeren  Entwickelung  jenes  ursprünglich  er- 
worbenen Charakters  führen.  Da  nun  offenbar  die  Mitbewerbung 
der  ähnlichen  Individuen,  der  Kampf  zwischen  den  verschiedenen 
Repräsentanten  einer  und  derselben  Art  um  so  heftiger  und  gefähr- 
licher sein  muß,  je  weniger  sie  verschieden  sind,  dagegen  um  so 
milder  und  schwächer,  je  verschiedener  ihre  Eigenschaften  und  Be- 
dürfnisse sind,  so  werden  die  am  meisten  voneinander  abweichen- 
den Formen  einer  und  derselben  Art  sich  am  wenigsten  bekämpfen, 
am  leichtesten  nebeneinander  fortbestehen  können,  und  hieraus  folgt 
die  wichtige  Konsequenz  der  natürlichen  Züchtung,  welche  wir  als 
Divergenzgesetz  oder  Differenzierungsgesetz  sogleich  noch  näher 
betrachten  werden. 

Wie  wir  hieraus  sehen,  ist  es  eigentlich  vor  allem  die  Mit- 
be Werbung,  der  Wettkampf  zwischen  den  zusammenlebenden 
Individuen  derselben  Art  und  der  nächstverwandten  Arten,  welcher 
durch  .,natürliche  Züchtung"  umbildend  wirkt.  Ähnliche  oder  nahezu 
gleiche  Individuen,  welche  dieselben  Bedürfnisse  haben,  denselben 
Existenzbedingungen  unterworfen  sind,  machen  sich  die  Erlangung 
derselben  streitig  und  suchen  sich  gegenseitig  in  diesem  Kampfe  zu 
übeiilügeln.  Es  findet  also  in  dieser  Hinsicht  ein  wahrer  AVettkampf 
statt  und  dieser  Wettkampf  muß  natürlich  um  so  heftiger  sein,  je 
gleichartiger  die  Natur  der  miteinander  ringenden  Individuen  und 
die  Natur  ihrer  Lebensbedürfnisse  ist.  Daher  werden  zwar  immer 
alle  Organismen  überhaupt,  die  an  irgend  einem  Orte  der  Erde  zu- 
sammenleben, sich  vermöge  ihrer  notwendigen  Berührungen  und 
Wechselbeziehungen   miteinander  im   Kampfe   befinden:    der   Kampf 


296  r)i^  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

wird  aber  zwischen  den  verschiedenen  Arten  von  sehr  verschiedener 
Heftigkeit,  am  heftigsten  und  wirksamsten  immer  zwischen  Indi- 
viduen einer  und  derselben  Art  sein,  welche  nahezu  die  gleiche 
Form  und  die  gleichen  Lebensbedürfnisse  haben. 

Da  jeder  tiefere  Blick  in  die  organische  Natur  uns  die  äußerst 
verwickelten  Wechselbeziehungen  der  Organismen  offenbart,  welche 
den  Kampf  ums  Dasein  und  die  natürliche  Züchtung  bedingen,  so 
könnte  es  überflüssig  erscheinen,  besondere  einzelne  Fälle  ihrer  Wirk- 
samkeit hier  anzuführen.  Doch  wollen  wir  als  besonders  schlagende 
Beispiele  wenigstens  zwei  besondere  Wirkungsweisen  der  natürlichen 
Auslese  hervorheben,  welche  Darwin  als  sexuelle  Zuchtwahl  und  als 
sympathische  Färbung  der  Tiere  anfühlt. 

Die  sympathische  Färbung  der  Tiere,  welche  vielleicht  besser 
die  sympathische  Farbenwahl  oder  die  gleichfarbige  Zucht- 
wahl (Selectio  concolor)  genannt  würde,  äußert  sich  in  der  weit 
verbreiteten  und  sehr  auffallenden  Erscheinung,  daß  die  äußere  Färbung 
sehr  zahlreicher  Tiere  in  merkwürdiger  Weise  übereinstimmt  mit 
der  vorherrschenden  Farbe  ihrer  gewöhnlichen  Umgebung.  So  sind 
die  Blattläuse  und  zahlreiche  andere,  auf  grünen  Blättern  lebende 
Insekten  grün  gefärbt:  die  meisten  Bewohner  der  gelben  oder  grau- 
braunen Sandwüste  (z.  B.  die  Antilopen,  Springmäuse,  Löwen  etc.) 
gelb  oder  graubraun:  die  Colibris  und  Tagfalter,  welche  nur  um  die 
bunten  glänzenden  Blüten  schweben,  bunt  und  glänzend,  wie  diese: 
die  meisten  Bewohner  der  Polargegenden  sind  weiß,  wie  der  Schnee 
und  das  Eis,  von  dem  sie  umgeben  sind  (Eisbär,  Eisfuchs.  Schnee- 
huhn etc.).  Von  den  letzteren  sind  sogar  Viele  (z.  B.  Polarfuchs 
und  Schneehuhn)  bloß  im  Winter,  so  lange  der  reine  weiße  Schnee 
die  Landschaft  bedeckt,  weiß,  dagegen  im  Sommer,  w^o  derselbe  teil- 
weise abgeschmolzen  ist,  graubraun,  gleich  der  entblößten  Erde.  Nun 
erklärt  sich  diese  scheinbar  so  auffallende  Erscheinung  ganz  einfach 
durch  die  Wirksamkeit  der  natürlichen  Züchtung.  Nehmen  wir  an, 
daß  jede  Tierart  ein  veränderliches  Farbenkleid  besessen  habe  (wie 
es  ja  in  der  Tat  der  Fall  ist)  und  daß  verschiedene  Individuen  der- 
selben Art  in  alle  möglichen  Farbenuancen  hinein  variiert  haben, 
so  haben  offenbar  diejenigen  einen  großen  Vorteil  im  Kampfe  ums 
Dasein  gehabt,  deren  Färbung  sich  möglichst  enge  an  diejenige  ihrer 
Umgebung  anschloß.  Denn  sie  wurden  von  ihren  Feinden,  die  ihnen 
nachstellten,  weniger  leicht  bemerkt  und  aufgespürt,  und  konnten 
umgekehrt,  wenn  sie  selbst  Raubtiere  waren,  sich  ihrer  Beute  leichter 


XIX.  ^'li-    Ziichtiiiisj  oder  Selektion.  297 

und  unbeinerkter  nähern,  als  die  übrigen  Individuen  der  gleichen  Art, 
welche  eine  abweichende  Färbung  besaßen.  Die  letzteren,  weniger 
begünstigten,  mußten  allmählich  aussterben,  und  den  ersteren.  mehr 
begünstigten  das  Feld  räumen. 

Aus  diesem  Kausalverhältnisse  der  sympathischen  Farbenwahl 
ist.  wie  wir  glauben,  auch  eine  der  merkwürdigsten,  bisher  aber  noch 
wenig  gewürdigten,  zoologischen  Erscheinungen  zu  erklären,  nämlich 
die  Wasserähnlichkeit  der  pelagischen  Fauna.  Von  allen  den 
wundervollen  und  neuen  Erscheinungen,  welche  den  im  Binnenlande 
erzogenen  Zoologen  bei  seinem  ersten  Besuche  der  Meeresküste  und 
beim  ersten  Anblick  der  unendlich  mannigfaltigen  Meeresfauna  über- 
raschen, erscheint  vielleicht  keine  einzige  so  wunderbar,  so  auffallend, 
so  unerklärlich,  als  die  Tatsache,  daß  zahlreiche  Seetiere  aus  den 
verschiedensten  Klassen  und  Ordnungen,  ganz  abweichend  von  den 
allermeisten  Tieren  der  süßen  Gewässer  und  des  Binnenlandes,  sich 
auszeichnen  durch  vollständigen  Mangel  der  Farbe  oder  durch  eine 
nur  schwach  bläuliche,  violette  oder  grünliche  Färbung,  gleich  der 
des  Meerwassers,  und  daß  diese  farblosen  Tiere  dabei  so  vollkommen 
wasserhell  und  durchsichtig,  wie  Glas  sind,  oder  wie  das  Meerwasser, 
in  welchem  sie  leben:  bei  den  meisten  erlaubt  die  vollständige  glas- 
artige Durchsichtigkeit  des  kristallhellen  Körpers  ohne  weiteres  den 
vollständigsten  Einblick  in  alle  gröberen  und  feineren  Verhältnisse 
der  inneren  Organisation.  Zu  dieser  pelagischen  Fauna  der  Glas- 
tiere, wie  man  kollektiv  alle  diese  ausschheßlich  im  Seewasser 
schwimmend  sich  bewegenden  (nicht  auf  dem  Grunde  oder  an  der 
Küste  lebenden)  wasserklaren  Seetiere  nennen  kann,  gehören:  von 
den  Fischen  die  Gruppe  der  Helmichthyiden  {Leptocephalus,  Helm- 
ichthys,  Tilurus  etc.);  von  den  Mollusken  sehr  zahlreiche  Repräsen- 
tanten verschiedener  Klassen  (von  den  Cephalopoden  Loligopsls. 
von  den  C e p h a  1  o p h o r e n  Ph i/Uirrh oc und  die  allermeisten Pteropoden 
und  Heteropoden:  von  den  Tunicaten  PyrosonuL  DolioJum  und 
sämtliche  Salpen:  von  den  Crustaceen  sehr  zahlreiche  Reprä- 
sentanten fast  aller  Ordnungen,  vorzugsweise  aber  Copepoden  und 
Amphipoden:  von  den  Würmern  die  Alciope  und  Sagiüa  und  zahl- 
reiche Larven;  von  den  Echinodermen  die  schwimmenden  Larven; 
von  den  Coelenteraten  endlich  fast  alle  pelagischen  Formen,  also 
die  ganze  Klasse  der  Ctenophoren  und  alle  pelagischen  Hydromedusen 
(Acraspeden.  Craspedoten.  Siphonophoren).  Gewiß  muß  es  äußerst 
merkwürdig  und  seltsam  erscheinen,  daß  so  zahlreiche  und  in  ihrer 


298  ^^'('  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

ganzen  Organisation  so  äußerst  verschiedenartige  Tiere  der  ver- 
schiedensten Klassen,  als  es  die  genannten  nnd  viele  andere  pelagische 
Tiere  sind,  sämtlich  in  dem  so  höchst  anffallenden  Charakter  der 
glasartigen  Durchsichtigkeit  des  wasserhellen  Körpers  übereinstimmen 
und  sich  dadurch  so  außerordentlich  in  ihrem  ganzen  Habitus  von 
ihren  nächsten  Verwandten  entfernen,  welche  den  Boden  oder  die 
Küsten  des  Meeres,  oder  das  Süßwasser  oder  das  Festland  bewohnen. 
Grade  in  diesem  offenbaren  tatsächlichen  Zusammenhange  zwischen 
der  wasserklaren  Durchsichtigkeit  der  Glastiere  und  ihrer  pelagischen 
Lebensweise,  ihrem  beständigen  Aufenthalte  in  dem  durchsichtigen 
Wasser,  müssen  wir  notwendig  auch  ihre  kausale  Erklärung  suchen. 
Der  letztere  ist  die  bewirkende  Ursache  der  ersteren.  .  Offenbar  ist 
allen  diesen  Glastieren  in  dem  unaufhörlichen  Kampfe,  den  sie  mit- 
einander führen,  die  glashelle  Körperbeschaff'enheit  vom  äußersten 
Nutzen.  Die  Verfolger  können  sich  ihrer  Beute  unbemerkter  nähern, 
die  Verfolgten  können  sich  den  ersteren  leichter  entziehen,  als  wenn 
Beide  gefärbt  und  undurchsichtig,  und  also  im  hellen  Wasser  leicht 
sichtbar  wären.  Nehmen  wir  nun  an,  daß  von  diesen  Glastieren 
ursprünglich  zahlreiche  verschiedene  Varietäten,  verschieden  haupt- 
sächlich in  dem  Grade  der  Durchsichtigkeit  und  dem  Mangel  der 
Farbe,  nebeneinander  existiert  hätten,  so  wüiden  sicherlich  die  am 
meisten  durchsichtigen  und  farblosen  Individuen  im  Kampfe  um  das 
Dasein  das  Übergewicht  über  die  anderen  errungen  haben,  und  indem 
sie  Generationen  hindurch  diese  individuelle  vorteilhafte  Eigentüm- 
lichkeit befestigten  und  verstärkten,  schließlich  notwendig  zur  Aus- 
bildung der  vollkommen  glasartigen  Körperbeschaff'enheit  gelangt  sein. 
Daß  letztere  in  der  Tat  auf  diesem  Wege,  durch  natürliche  Züchtung 
entstanden  ist,  kann  um  so  weniger  zweifelhaft  sein,  als  die  nächsten 
Verwandten  der  pelagischen  Glastiere,  welche  nicht  pelagisch  an  der 
Oberfläche  des  Meeres  (oder  in  tieferen  Wasserschichten)  leben,  sondern 
den  Grund  des  Meeres  oder  die  Küste  bewohnen,  die  glasartige  Körper- 
beschaff'enheit nicht  besitzen,  sondern  vielmehr  undurchsichtig  und 
entsprechend  den  bunten  Felsen  und  Fucoideen  gefärbt  sind,  zwischen 
und  auf  welchen  sie  leben.  Zur  besonderen  Bestätigung  dieser  Auf- 
fassung kann  auch  noch  der  Umstand  dienen,  daß  viele  Seetiere  nui* 
in  der  Jugend,  so  lange  sie  als  Larven  pelagisch  leben,  glashell  und 
farblos  sind,  dagegen  später,  wenn  sie  den  Meeresgrund  oder  die  Küste 
bewohnen,  undurchsichtig  und  bunt  gefärbt  werden,  so  z.  B.  die 
allermeisten  Echinodernien,  sehr  viele  Würmer  etc. 


XIX.  ^'I'-    /''iiehtun--  oder  Selektion.  299 

Die  sexuelle  Zuchtwahl  oder  geschlechtliche  Auslese 
(Selccfio  sexualis)  wird  von  Darwin  als  eine  hesondere  Form  dei- 
Auslese  oder  Selektion  aufgeführt.  ..welche  nicht  von  einem  Kampfe 
ums  Dasein,  sondern  von  einem  Kampfe  zwischen  den  Männchen 
um  den  Besitz  der  Weibchen  abhängt".  Indessen  werden  wir  diese 
sexuelle  Selektion  doch  nur  als  eine  Modifikation  oder  eine  speziellere 
Weise  des  „Kampfes  um  das  Dasein"  aufzufassen  haben,  sobald  wir 
uns  erinnern,  daß  der  letztere  überhaupt  den  ..Wettkampf  um  die 
Lebensbedürfnisse"  bezeichnet.  Nun  ist  aber  die  Fortpflanzung  (die 
sich  bei  den  höheren  Tieren  im  Triebe  der  sexuellen  ..Liebe"'  äußert) 
ebenso  ein  Lebensbedürfnis,  eine  Existenzbedingnng.  wie  die  Er- 
nährung (die  sich  bei  den  höheren  Tieren  im  Triebe  des  ..Hungers" 
äußert).  Und  daher  werden  wir  auch  den  Wettkampf  der  Männchen 
um  die  Weibchen,  welcher  bei  den  meisten  höheren  Tieren  in  ähn- 
licher Weise,  Avie  beim  Menschen  stattfindet,  als  einen  Teil  des  Wett- 
kampfes ums  Dasein  betrachten  können.  Dieser  sexuelle  Wettkampf 
ist  äußert  wichtig  und  interessant:  denn  auf  ihm  beruht  großenteils 
die  Entstellung  der  merkwürdigen  sekundären  Sexualcharaktere.  durch 
welche  sich  die  beiden  Geschlechter  der  höheren  Tiere  so  oft  unter- 
scheiden. Die  Auswahl  oder  Selektion,  welche  bei  der  künstlichen 
Züchtung  der  durch  den  menschlichen  Vorteil  geleitete  Wille  des 
Menschen,  bei  der  natürlichen  Züchtung  stets  der  Vorteil  des  ge- 
züchteten Organismus  selbst  ausübt,  wird  bei  der  sexuellen  Züchtung- 
weiche  nur  ein  Teil  der  letzteren  ist.  durch  den  Vorteil  des  einen 
Geschlechts  geübt.  Darwin  berücksichtigt  hierbei  nur  das  männ- 
liche Geschlecht,  indem  er  die  sexuelle  Auslese  allgemein  als  einen 
„Wettkampf  der  Männchen  um  den  Besitz  der  Weibchen 
darstellt,  dessen  Folgen  für  den  Besiegten  nicht  in  Tod  und  er- 
folgloser Mitbewerbung,  sondern  in  einer  spärlicheren  oder  ganz 
ausfallenden  Nachkommenschaft  bestehen.  Im  allgemeinen  werden 
die  kräftigsten,  die  ihre  Stelle  in  der  Natur  am  besten  ausfüllenden 
^lännchen  die  meiste  Nachkommenschaft  hinterlassen".  Indessen 
glauben  wir,  daß  die  sexuelle  Auslese  auf  beide  Geschlechter 
wirkt  und  daß  es  auch  einen  .,Wettkampf  der  Weibchen  um 
den  Besitz  der  Männchen"  gibt,  welcher  entschieden  ebenso  um- 
bildend und  züchtend  auf  die  Weibchen  wirkt,  als  der  von  Darwin 
dargestellte  auf  die  Männchen:  dies  lehrt  schon  das  Beispiel  des 
Menschen.  W^ir  können  daher  allgemein  die  sexuelle  Selektion 
als  einen  beide  Geschlechter  umbildenden  Züchtungsprozeß 


300  Dil'  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

bezeichnen:  der  Wettkampf  der  Männchen  nni  den  Besitz  der  Weibchen, 
bei  welchem  dcas  anslesende.  ziiclitende  Prinzip  unmittelbar  die  Vor- 
züge der  Männchen,  mittelbar  aber  die  dadurch  bewirkte  aktive  Aus- 
wahl der  Weibchen  ist,  und  bei  welchem  also  eigentlich  die  Weibchen 
wählend,  auslesend  wirken,  kann  die  weibliche  Zuchtwahl  (*S'e?ecfio 
feminina)  heißen:  umgekehrt  kann  der  Wettkampf  der  Weibchen 
um  den  Besitz  der  Männchen,  bei  welchem  das  auslesende  züchtende 
Prinzip  unmittelbar  die  Vorzüge  der  Weibchen,  mittelbar  die  dadurch 
bewirkte  aktive  Auswahl  der  Männchen  ist,  und  bei  welchem  also 
eigentlich  die  Männchen  wählend,  auslesend  wirken,  die  männliche 
Zuchtwahl  (Seledio  masculina)  genannt  werden:  hier  wählen  die 
Männchen,  dort  die  Weibchen. 

Die  sexuelle  Züchtung  ist  deshalb  eine  besonders  interessante 
und  wichtige  Form  der  natürlichen  Züchtung,  weil  sie  auch  im  mensch- 
lichen Leben,  wie  bei  den  übrigen  höheren  Tieren,  eine  sehr  bedeutend 
umgestaltende  Wirkung  auf  beide  Geschlechter  ausübt.  Die  somatischen 
lind  psychischen  Vorzüge  des  Weibes  sind  Produkte  der  männlichen 
Zuchtwahl:  die  somatischen  und  psychischen  Vorzüge  des  Mannes 
sind  Produkte  der  weiblichen  Zuchtwahl.  Diese  auswählende,  züchtende, 
umgestaltende  Wechselwirkung  beider  Geschlechter  ist  äußerst  wichtig, 
und  wir  glauben,  daß  ein  sehr  großer  Teil  der  vielen  Vorzüge,  welche 
den  Menschen  vor  den  übrigen  Primaten  auszeichnen,  eine  unmittel- 
bare Wirkung  der  beim  Menschen  so  sehr  viel  höher  entwickelten 
sexuellen  Zuchtwahl  ist. 

Wie  beim  Kampfe  um  das  Dasein  überhaupt,  so  sind  auch  beim 
Kampfe  um  die  Fortpflanzung  die  Kämpfe  unter  den  höheren  Tieren 
teils  mittelbare  Wettkämpfe,  teils  unmittelbare  Vernichtungskämpfe 
der  wetteifernden  Nebenbuhler.  Unmittelbare  Verniclitungskämpfe  der 
um  den  Besitz  der  Weibchen  streitenden  Männchen  finden  sich  häufig 
bei  den  Säugetieren:  die  Mähne  des  Löwen,  die  Wamme  des  Stiers 
sind  offenbar  Schutzwaffen  —  das  Geweihe  des  Hirsches,  der  Hauer 
des  Ebers,  der  Sporn  des  männlichen  Schnabeltiers,  der  Sporn  des 
Hahns,  der  geweihähnliche  Oberkiefer  des  männlichen  Hirschkäfers  etc. 
sind  offenbar  Angriffswaffen,  welche  durch  Anpassung  im  unmittel- 
baren Vernichtungskampfe  der  um  die  Weibchen  kämpfenden  Männchen, 
durch  natürliche  Züchtung  sich  entwickelten.  Ebenso  wird  allgemein 
die  größere  Muskelkraft  der  männlichen  Säugetiere  von  diesem  Kampfe 
abzuleiten  sein.  Vom  Menschen  wurden  diese  Kämpfe  besonders  im 
Altertum  und  Mittelalter  ausgeübt,  wo  zahlreiche  Duelle  und  Turniere 


XIX.  VII.  Züchtung  oder  Selektion.  301 

von  den  Rittern  ausgeführt  wurden,  und  wo  allgemein  der  Stärkere 
die  Braut  heimführte,  und  durch  Vererbung  seiner  individuellen  Körper- 
stärke die  Muskelkraft  des  männlichen  Geschlechts  häufen  und  be- 
festigen half. 

Mittelbare  Wettkämpfe  um  die  Fortpflanzung  finden  namentlich 
häufig  in  sehr  ausgezeichneter  Weise  bei  den  Vögeln  und  beim  Menschen 
statt.     Die  Vorzüge,  welche  dem  begünstigten  Mitbewerber  den  Sieg 
verleihen,    sind   hier   nicht,   wie   beim   unmittelbaren   Vernichtungs- 
kampfe, körperliche  Stärke  und  besondere  Waffen,  sondern  vielmehr 
andere  individuelle  Eigenschaften,  welche  die  Neigung  des   anderen 
Geschlechts  erwecken.    Besonders  kommen  hier  die  Vorzüge  körper- 
licher Schönheit  und  der  Stimme  (des  Gesanges)  und  beim  ]\Ienschen 
die  feineren  psychischen  Vorzüge  in  Betracht.    Die  körperliche  Schön- 
heit ist  insbesondere  bei  den  Vögeln  und  Schmetterlingen  sehr  wirk- 
sam, und  zwar  meistens  als  weibliche  Zuchtwahl,  indem  gewöhnlich 
das  männliche  Geschlecht  es  ist,  welches  durch  Ausbildung  besonderer 
Zierden,  z.  B.  Federbüsche,   Hautlappen,   bunte  Flecken  etc.  die  be- 
sondere Aufmerksamkeit  und  Neigung  der  auswählenden  Weibchen 
zu  erregen  sucht.    Auf  diese  Weise  ist  wohl  größtenteils  die  ausge- 
zeichnet schöne  und  mannigfaltige  Färbung  vieler  männlichen  Vögel 
und  Schmetterlinge  entstanden,  deren  Weibchen  einfarbig  oder  unan- 
sehnlich   sind.     Ebenso  sind   zweifelsohne  die   mannigfaltigen  Haut- 
auswüchse  und   Körperanhänge   entstanden,   die   besonders   bei   den 
Hühnervögeln  so  entwickelt  vorkommen,  der  radbildende  Schweif  des 
Pfauen,  des  Truthahns,  der  Pfauentaube,  die  Fleischkämme  und  bunten 
Hautlappen   oder  Federbüsche  und  Haarbüsche  auf  dem  Kopfe  und 
an  der  Brust  des  Haushahns,  des  Truthahns  und  vieler  anderer  Hühner- 
vögel.   Beim  Menschen  kann  der  männliche  Bart  als  eine  auf  diesem 
Wege  erworbene  Zierde  gelten.    Gewöhnlich  ist  es  aber  beim  Menschen 
nicht  die  weibliche,  sondern  die  männliche  (aktive)  Zuchtwahl,  welche 
durch  die  Entwickelung  körperlicher  Schönheit  geleitet  wird,   indem 
hier  vorzugsweise  das  weibliche  Geschlecht  die  körperlichen  Zierden 
entwickelt,  durch  welche  es  die   Bewerber  des  andern   Geschlechts 
anzulocken   sucht.     Es    ist   bekannt,   welcher   Aufwand   in   miseren 
„hoch  zivilisierten''  Gesellschaften  von  den  Weibern  entwickelt  wird, 
um  durch  künstliche  Zierrate  (Geschmeide,  bunte  Kleider,  Kopfputz  etc.) 
die  vorhandenen  körperlichen  Vorzüge  zu  erhöhen  oder  die  mangeln- 
den zu  ersetzen,  und  so  durch  möglichst  starke  Anziehung  der  wählen- 
den Männer  die  übrigen  Weiber  in  der  Mitbewerbung  zu  überwinden. 


302  iJit'  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Außer  der  durch  anziehende  Formen  und  reizende  Farben  wirkenden 
körperUchen  Schönheit  ist  es  insbesondere  die  Entwickelun^-  der 
modulierten  Stimme  zum  Gesänge,  welche  von  einem  der  beiden 
Geschlechter  benutzt  wird,  um  das  andere  anzulocken,  und  die  voll- 
kommneren  Sänger  sind  es,  welche  in  diesem  Falle  den  Sieg  über 
ihre  Mitbewerber  gewinnen  und  vor  ihnen  zur  Fortpflanzung  gelangen. 
Am  stärksten  ist  diese  Art  der  sexuellen  Auslese  bei  den  Singvögeln 
nnd  beim  Menschen  entwickelt,  vielleicht  auch  bei  manchen  Insekten, 
z.  B.  den  Heuschrecken  und  Cicaden.  Bei  den  Singvögeln  ist  es  be- 
i:anntlich  gewöhnlich  das  Männchen,  welches  durch  eine  außerordentliche 
und  höchst  bewunderungswürdige  Modulation  der  Stimme  sich  liebens- 
wih'dig  zu  machen  und  vor  seinen  Nebenbuhlern  bei  der  Bewerbung 
um  die  Weibchen  sich  auszuzeichnen  sucht.  In  dieser  Beziehung 
kommen  manche  Singvögel  nicht  allein  den  besten  menschhchen  Sängern 
gleich,  sondern  sie  übertreffen  sie  noch  bedeutend  an  Wohlklang, 
Umfang,  Zartheit,  ^lodulationsfähigkeit  der  Stimme  und  an  ^lannig- 
faltigkeit  der  Singweisen.  Offenbar  ist  die  hohe  Differenzierung  des 
Kehlkopfs,  welche  dieser  herrlichen  Funktion  zugrunde  liegt,  erst 
durch  den  musikalischen  Wettkampf  der  Männchen  um  die  Weibchen 
entstanden,  ebenso  bei  den  Singvögeln,  wie  beim  Menschen.  Doch 
ist  es  gewöhnlich  beim  Menschen  umgekehrt  das  weibliche  Geschlecht, 
w'elches  sich  durch  die  vielseitigere  und  feinere  Ausbildung  des 
Stimmorgans  auszeichnet,  und  durch  einen  schön  modulierten  Gesang 
die  auswählenden  Männer  anzuziehen  sucht.  Diesem  Umstände  ist 
gewiß  vorzugsweise  die  allgemeine  Übung  und  hohe  Ausbildung  des 
w^eiblichen  Gesangs  in  unseren  hochzivilisierten  Gesellschaften  zu 
verdanken. 

Die  starke  und  vielseitige  Differenzierung  der  beiden  mensch- 
lichen Geschlechter,  die  sich  auf  fast  alle  Teile  des  Körpers  und  seiner 
Funktionen  erstreckt,  und  welche  gewiß  eine  Hauptbedingung  für  die 
iortsch reitende  Entwickelung  der  menschlichen  Kultur  ist,  beruht  also 
sicher  zum  größten  Teile  auf  sexueller  Zuchtwahl,  welche  von  beiden 
Geschlechtern  gegenseitig  ausgeübt  wird.  Wie  nun  aber  der  veredelte 
Mensch  sich  durch  nichts  so  sehr  vor  den  übrigen  Tieren  auszeichnet, 
als  durch  die  außerordentlich  weit  gehende  Differenzierung  des  Ge- 
hirns und  der  von  diesem  ausgehenden  psychischen  Funktionen,  so 
wird  auch  die  sexuelle  Zuchtwahl  bei  den  höher  stehenden,  veredelten 
Menschenrassen  vorzugsweise  durch  psychische  Funktionen  vermittelt, 
und  es  ist  dies  um  so  mehr  zu  beiücksichtigen,   als  sie  offenbar  in 


XIX.  ^'11-    Züchtung  oder  Selektion.  303 

hohem  Grade  veredehul  auf  das  Gehirn  selbst  zurückwirkt.  Dadurch 
kommt  es,  daß  bei  den  höchst  entwickehen  Menschen  vorzugsweise 
die  psychischen  Vorzüge  (und  zwar  die  Vorzüge  der  höchsten  psychi- 
schen Funktionen,  der  Gedanken)  des  einen  Geschlechts  bestimmend 
auf  die  sexuelle  Wahl  des  anderen  einwirken,  und  indem  so  bestimmte 
psychische  Vorzüge  gleich  den  somatischen  vererbt,  durch  Generationen 
hindurch  befestigt  werden,  erlangen  die  beiderseitigen  Vorzüge  der 
beiden  sich  ergänzenden  Geschlechter  jenen  hohen  Grad  der  Ver- 
edelung, welcher  in  der  harmonischen  Wechselwirkung  der  beiden 
veredehen  Geschlechter  in  der  Ehe  das  höchste  Glück  des  mensch- 
lichen Lebens  bedingt. 

Gleich  der  sexuellen  Zuchtwahl  wirken  auch  die  verschiedenen 
anderen  Formen  der  natürlichen  Auslese  ebenso  auf  den  Menschen, 
wie  auf  alle  übrigen  Organismen,  umbildend,  vervollkommnend,  ver- 
edelnd ein.  und  bringen  als  unscheinbare  Ursachen  die  größten 
Wirkungen  hervor. 

VII,  C.  Vergleichung  der  natürlichen  und  der   künstlichen 

Züchtung. 

Daß  die  künstliche  und  natürhche  Züchtung  durchaus  ähnliche 
physiologische  Vorgänge  sind,  und  daß  beide  Selektionen  lediglich 
auf  der  Wechselwirkung  zweier  allgemeiner  physiologischer  Funktionen, 
Vererbung  und  Anpassung,  beruhen,  haben  wir  oben  bereits  gezeigt. 
Auch  die  wesentlichen  Unterschiede,  welche  beide  Formen  der  Aus- 
lese voneinander  trennen,  sind  dort  bereits  berührt.  Doch  scheint 
es  nicht  überflüssig,  die  wichtigsten  übereinstimmenden  und  trennenden 
Momente  beider  Ausleseformen  nochmals  vergleichend  hervorzuheben, 
da  die  unmittelbar  daraus  folgende  Selektionstheorie  die  kausale 
Grundlage  der  ganzen  Deszendenztheorie  bildet,  und  da  die  meisten 
Naturforscher,  wie  aus  ihren  unverständigen  Einwürfen  hervorgeht, 
Darwin  entweder  gar  nicht  verstanden  oder  doch  großenteils  miß- 
verstanden haben. 

I.  Natürliche  und  künstliche  Züchtung  sind  gleichartige  physiolo- 
gische Umbildungsvorgänge  der  Organismen,  welche  auf  kausal- 
mechanischem Wege,  durch  die  Wechselwirkung  der  Vererbungs-  und 
der  Anpassungsgesetze,  neue  Formen  und  Funktionen  der  Organismen 
hervorrufen. 

IL   Die  Regulierung  und  Modifikation  der  Wechselwirkung  zwischen 


304  I^'^  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

den  beiden  wirkenden  Grundursachen,  der  Vererbung  und  der  An- 
passung, wird  bei  der  natürlichen  Züchtung  durcli  den  planlos  wirken- 
den ,.Kainpt'  ums  Dasein",  bei  der  künstlichen  Züchtung  durch  den 
planmäßig  wirkenden  „Willen  des  Menschen"  ausgeübt. 

III.  Die  Umbildungen  der  Formen  und  Funktionen  der  Organis- 
men, welche  die  Züchtung  hervorruft,  fallen  bei  der  natürlichen 
Züchtung  zum  Nutzen  des  gezüchteten  Organismus,  bei  der  künstlichen 
Züchtung  zum  Nutzen  des  züchtenden  Menschen  aus. 

IV.  Die  natürliche  Züchtung  wirkt  sehr  langsam  und  unmerklich 
umbildend,  da  das  auslesende  Prinzip,  der  Kampf  ums  Dasein,  sich 
nur  sehr  langsam  und  unmerklich  ändert,  und  selten  plötzlich  ganz 
neue  Existenzbedingungen  einwirken  läßt.  Die  künstliche  Züchtung 
dagegen  wirkt  verhältnismäßig  sehr  rasch  und  auffallend  umbildend, 
da  das  auslesende  Prinzip,  der  Wille  des  Menschen,  sich  oft  sehr  rasch 
und  auffallend  ändert,  und  oft  plötzlich  ganz  neue  Existenzbedingungen 
einwirken  läßt. 

V.  Die  Veränderungen  der  Organismen,  welche  die  natürliche 
Züchtung  hervorbringt,  wachsen  sehr  langsam,  weil  die  abgeänderten 
Individuen  sich  leicht  mit  nicht  abgeänderten  kreuzen  können  und 
daher  leicht  wieder  in  die  Form  der  letzteren  zurückschlagen.  Da- 
gegen wachsen  die  Veränderungen,  welche  die  künstliche  Züchtung 
hervorbringt,  sehr  rasch,  weil  die  Kreuzung  der  abgeänderten  und 
der  nicht  abgeänderten  Individuen,  und  dadurch  der  Rückschlag  der 
ersteren  in  die  Form  der  letzteren  sorgfältig  vermieden  wird. 

VI.  Die  durch  die  natürliche  Züchtung  bewirkten  Veränderungen 
der  Organismen  gehen  meist  sehr  tief  und  bleiben  dauernd,  weil 
sie  durch  sehr  langsame  Häufung  der  Anpassungen  allmählich  ent- 
stehen: die  durch  die  künstliche  Züchtung  bewirkten  Veränderungen 
dagegen  sind  meist  nur  oberflächlich  und  verschwinden  leicht  wieder, 
weil  sie  durch  sehr  rasche  Häufung  der  Anpassungen  in  kurzer  Zeit 
entstehen. 

VIII.    Die  Selektionstheorie  und  das  Uivergenzgesetz. 

Die  Differenzierung  (Dircrgcntia)   oder  Arbeitsteilung 
(Polymorjjhismus)  als   notwendige  Wirkung  der  Selektion. 

Die  ganze  unendliche  Mannigfaltigkeit  der  organischen  Natur 
und  das  harmonische  Ineinandergreifen  ihres  höchst  komplizierten 
Räderwerks,  welches   uns   so    leicht   zu   der   falschen  teleologischen 


XIX.  VIII.    Die  Selektionstheoiie  und  das  Diveigenzgesetz.  305 

Vorstellung  eines  ..zweckmäßig-  wirkenden  Schöpfungsplanes"  ver- 
führt, ist  lediglich  das  notwendige  Resultat  jener  unaufhörlichen, 
mechanischen  Tätigkeit  des  „Kampfes  ums  Dasein",  welcher  durch 
natürliche  Züchtung  umbildend  wirkt.  Um  die  ganze,  ungeheure 
Wichtigkeit  dieses  interessantesten  Vorgangs  richtig  zu  würdigen, 
müssen  wir  nun  noch  einige  unmittelbare  Konsequenzen  desselben 
besonders  hervorheben,  deren  richtiges  Verständnis  für  die  mecha- 
nische Auffassung  der  organischen  Natur  von  der  größten  Bedeutung 
ist.  Zu  diesen  unmittelbaren  und  notwendigen  Wirkungen  rechnen 
wir  in  erster  Linie  die  bekannten  Erscheinungen  der  organischen 
Differenzierung  und  sodann  diejenigen  der  organischen  Vervoll- 
kommnung. 

Die  organische  Differenzierung  {Dlrergcntia)  oder  Ar- 
beitsteilung {Polymoyphismus)  haben  wir  oben  als  eine  der  vier 
fundamentalen  physiologischen  Entwickelungsfunktionen  aufgefaßt, 
auf  denen  die  gesamte  Morphogenie  beruht:  und  wir  haben  im  acht- 
zehnten Kapitel  gezeigt,  daß  der  Differenzierungsprozeß  bei  der 
Ontogenese  aller  morphologischen  Individuen  die  hervorragendste 
Rolle  spielt.  Die  drei  anderen  Entwickelungsfunktionen,  die  Zeugung, 
das  Wachstum  und  die  Degeneration  konnten  wir  unmittelbar  auf 
die  rein  physiologischen  (physikalisch-chemischen)  Prozesse  der  Er- 
nährung, als  auf  ihre  mechanische  Ursache  zurückführen.  Dasselbe 
gilt  auch  von  dem  A^organge  der  Verwachsung  oder  Konkreszenz, 
falls  wir  diesen  als  eine  besondere  fünfte  Entwickelungsfunktion 
auffassen  wollten.  Dagegen  konnten  wir  die  Entwickelungsfunktion 
der  Differenzierung  oder  Divergenz  nicht  unmittelbar  als  eine  ein- 
fache Teilerscheinung  der  Ernährung  und  des  Wachstums  auffassen. 
Die  mechanische  Erklärung  dieser  Funktion  ist  vielmehr  nur  mög- 
lich durch  die  Selektionstheorie,  welche  es  klar  zeigt,  daß  die 
Divergenz  des  Charakters  keine  besondere  rätselhafte  organische 
Erscheinung,  sondern  vielmehr  eine  notwendige  Folge  der  natür- 
lichen Züchtung  ist. 

Die  Divergenz  des  Charakters  oder  die  Differenzierung 
der  Individuen  folgt  notwendig  unmittelbar  aus  der  Wech- 
selwirkung zwischen  der  Vererbung  und  der  Anpassung, 
und  zwar  speziell  aus  dem  vorher  erörterten  Umstände,  daß  der 
Kampf  ums  Dasein  zwischen  Organismen,  die  an  einem 
und  demselben  Orte  miteinander  um  die  Lebensbedürf- 
nisse ringen,  um  so  heftiger  ist,  je  gleichartiger  sie  selbst, 

Haeckel,   Prinz,  d.  Morpliol.  20 


306  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

je  gleichartiger  also  auch  ihre  Bedürfnisse  sind.  Umgekehrt 
können  an  einer  und  derselben  Stelle  des  Naturhaushalts  um  so  mehr 
Individuen  nebeneinander  existieren,  je  mehr  ihre  Charaktere  und 
ihre  Bedürfnisse  verschieden  sind,  je  mehr  sie  „divergieren".  So 
können  z.  B.  auf  einem  Baume  viel  zahlreichere  Käfer  nebenein- 
ander existieren,  wenn  die  einen  bloß  von  den  Früchten,  die  andern 
von  den  Blüten,  noch  andere  bloß  von  den  Blättern  leben,  als 
wenn  sie  alle  hloß  von  den  Blättern  leben  können,  und  noch 
viel  größer  wird  jene  Zahl,  wenn  daneben  auch  noch  andere 
Käfer  vom  Holze  oder  von  der  Rinde  oder  von  der  Wurzel 
leben  können.  So  können  in  einer  und  derselben  kleinen  Stadt 
sehr  gut  fünfzig  Handwerker  nebeneinander  existieren,  die  zehn  oder 
zwanzig  verschiedene  Professionen  treiben,  während  sie  unmöglich 
nebeneinander  existieren  könnten,  wenn  sie  alle  auf  ein  und  das- 
selbe Handwerk  angewiesen  wären.  Ferner  können  alle  Konkurrenten, 
die  eine  und  dieselbe  Profession  treiben,  um  so  besser  nebeneinander 
bestehen,  je  mehr  sich  dieselben  auf  einzelne  verschiedene  Zweige 
ihres  gemeinsamen  Handwerks  beschränken,  und  je  mehr  jeder 
ein  einzelnes  Spezialfach  nach  einer  bestimmten  Richtung  hin  aus- 
bildet. Mit  einem  Worte,  die  Konkurrenz  zwischen  allen  Organismen, 
welche  an  einem  und  demselben  Orte  nebeneinander  sich  die  un- 
entbehrlichen Lebensbedürfnisse  zu  erringen  suchen,  wird  um  so 
weniger  heftig,  um  so  weniger  für  jeden  einzelnen  gefahrdrohend 
sein,  je  verschiedenartiger  ihre  Bedürfnisse  und  demgemäß  ihre 
Eigenschaften,  ihre  Tätigkeiten  und  ihre  Charaktere  sind.  Es  wird 
also  durch  die  natürlichen  Verhältnisse  des  Kampfes  um  das  Da- 
sein überall  die  Ungleichartigkeit,  die  Divergenz  der  Charaktere  der 
verschiedenen  Individuen  begünstigt,  weil  sie  ihnen  selbst  vorteilhaft 
ist,  und  weil  eine  Anzahl  von  Individuen  an  einer  und  derselben  be- 
schränkten Stelle  im  Naturhaushalte  um  so  leichter  und  besser  neben- 
einander existieren  können,  je  stärker  sie  divergieren.  Hieraus  folgt 
dann  unmittelbar  weiter  die  höchst  wichtige  Tatsache,  daß  der 
Kampf  um  das  Dasein  das  Erlöschen  der  Mittelformen,  den 
Untergang  der  verbindenden  Zwischenglieder  zwischen  den  Extremen, 
mit  Notwendigkeit  zur  Folge  hat.  Denn  diese  sind  immer  die 
am  meisten  gefährdeten,  und  wenn  eine  Art  in  zahlreiche  Varietäten 
auseinander  geht,  so  werden  die  am  stärksten  divergierenden  die 
vorteilhafteste,  die  verbindenden  Zwischenformen  dagegen  die  ge- 
fährlichste Position  im  Kampfe  um   das  Dasein  einnehmen. 


XIX.  VIII.    Die  Selektionstlieorie  und  das  Divergenzgesetz.  307 

Jede  unbefangene  und  tiefere  Betrachtung  der  Selektionstheorie 
zeigt  uns.  wie  der  Divergenzprozess  der  organischen  Formen,  das 
fortschreitende  Auseinandergehen  der  divergierenden  Extreme  und  das 
Erlöschen  der  verbindenden  Mittelglieder  und  namentlich  der  ge- 
meinsamen Stammformen  der  ersteren.  unmittelbar  und  mit  kausaler 
Notwendigkeit  aus  dem  Kampfe  um  das  Dasein  und  aus  der  Wechsel- 
wirkung zwischen  Vererbung  und  Anpassung  folgt.  Wenn  es  wahr 
ist.  daß  alle  Organismen  den  Gesetzen  der  Erblichkeit  und  Ver- 
äuderhchkeit  unterworfen  sind  —  w^as  niemand  leugnen  kann  — 
wenn  es  ferner  wahr  ist.  daß  alle  Organismen  sich  überall  und  be- 
ständig im  Kampfe  um  das  Dasein  befinden.  — ■  was  eben  so  wenig 
geleugnet  werden  kann  —  so  folgt  hieraus  von  selbst  und  mit  ab- 
soluter Notwendigkeit  die  natürhche  Selektion,  die  Divergenz  des 
Charakters  und  das  Erlöschen  der  vermittelnden  Zwischenformen. 
Darwin  hat  diese  notwendigen  I'olgerungen  in  dem  vierten  Kapitel 
seines  Werkes  so  meisterhaft  und  ausführlich  begründet,  daß  wir 
bloß  darauf  zu  verweisen  brauchen.  Wir  können  aber  die  bindende 
Notwendigkeit  dieses  Kausalnexus  zwischen  Divergenz  und 
Selektion  nicht  genug  hervorheben,  w^eil  sie  uns  die  sicherste  Gegen- 
probe für  die  Wahrheit  der  Selektionstheorie  liefert.  Die  unendlich 
mannigfaltigen  Erscheinungen  der  Divergenz  sind  allbekannte  Tat- 
sachen und  werden  von  niemand  geleugnet.  Sie  erklären  sich  voll- 
ständig aus  der  Selektionstheorie,  und  nur  allein  aus  dieser. 
Ohne  letztere  sind  sie  vollkommen  unverständlich.  Wir  können  da- 
her mit  der  vollsten  Sicherheit  aus  den  Tatsachen  der  Differenzierung 
auf  die  Richtigkeit  der  Zuchtwahllehre  zurückschheßen.  Wenn  wir 
nichts  von  Paläontologie  und  Geologie,  nichts  von  Embryologie  und 
Dysteleologie  wüßten,  so  würden  wir  die  Abstammungslehre  schon 
allein  deshalb  für  wahr  erkennen  müssen,  weil  sie  allein  uns  die 
mechanisch-kausale  Erklärung  der  großen  Tatsache  der  Divergenz 
zu  liefern  vermag. 

Das  Divergenzgesetz  oder  Differenzierungsprinzip,  in  dem  Sinne 
wie  Darwin  dasselbe  als  die  notwendige  Folge  der  natürhchen  Züch- 
tung entwickelt,  umfaßt  nur  diejenigen  Differenzierungs-Phänomene, 
welche  zwischen  physiologischen  Individuen  einer  und  derselben  Art 
stattfinden,  und  zunächst  zur  Bildung  neuer  Varietäten,  späterhin 
zur  Bildung  neuer  Arten,  Gattungen  etc.  führen.  Darwin  begreift 
also  unter  seiner  „Divergenz  des  Charakters'"  eigenthch  nur  die 
physiologische   Differenzierung  der  Bionten.    oder  der  physio- 

20* 


308  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

logischen  Individuen,  welche  die  Zeugungskreise  und  dadurch  die 
..Arten"  zusammensetzen.  Nach  unserer  Ansicht  ist  jedoch  diese  Di- 
vergenz der  Spezies  nicht  verschieden  von  der  sogenannten  „Differen- 
zierung der  Organe",  d.  h.  von  der  Arbeitsteilung  der  untergeord- 
neten Formindividuen  verschiedener  Ordnung,  welche  die  Bionten 
konstituieren.  Vielmehr  glauben  wir,  in  allen  Differenzierungs- 
Erscheinungen  ein  und  dasselbe  Grundphänomen.  die  durch  natür- 
liche Züchtung  bedingte  physiologische  Arbeitsteilung  erblicken  zu 
müssen,  gleichviel  ob  dieselbe  selbständige  physiologische  Individuen 
betrifft,  welche  an  einem  und  demselben  Orte  miteinander  um  das 
Dasein  kämpfen,  oder  untergeordnete  morphologische  Individuen  ver- 
schiedener Ordnungen,  w^elche  jene  als  konstituierende  Teile  zu- 
sammensetzen. Die  wesentliche  Tatsache  des  Prozesses  ist  in  allen 
Fällen  eine  Hervorbildung  ungleichartiger  Formen  aus  gleich- 
artiger Grundlage,  imd  die  mechanische  Ursache  derselben  ist 
die  natürliche  Zuchtwahl  im  Kampf  um  das  Dasein. 

Den  Unterschied  zwischen  der  paläontologischen  und 
der  individuellen  Divergenz  des  Charakters  müssen  wir  hier 
noch  besonders  betonen,  da  es  von  der  größten  Wichtigkeit  ist,  sich 
dessen  bewußt  zu  bleiben.  Wie  aber  in  der  gesamten  Entwickelungs- 
geschichte  fast  immer  bloß  die  an  sich  unverständlichen  individuellen, 
und  nur  selten  die  erklärenden  paläontologischen  Entwickelungspro- 
zesse  berücksichtigt  worden  sind,  so  gilt  dies  auch  von  der  Ent- 
wickelungsfunktion  der  Differenzieruug  oder  Arbeitsteilung.  Die  Tat- 
sachen der  individuellen  oder  ontogenetischen  Differenzierung,  wie 
wir  sie  während  des  raschen  Laufs  der  individuellen  Entwickelung- 
des  Organismus  Schritt  für  Schritt  unmittelbar  verfolgen  und  direkt 
beobachten  können,  sind  zunächst  nur  durch  die  Gesetze  der  Ver- 
erbung (und  vorzüglich  durch  die  Gesetze  der  abgekürzten,  der 
gleichzeitlichen  und  gleichörtlichen  Vererbung)  bedingt:  und  nichts 
weiter  als  zusammengedrängte  Wiederholungen  der  paläontologi- 
schen oder  phylogenetischen  Differenzierung,  welche  im  langsamen 
Verlaufe  der  paläontologischen  Entwickelung  der  Vorfahren  des  be- 
treffenden Organismus  allmählich  stattgefunden  hat,  und  welche  das 
unmittelbare  Produkt  der  Wechselwirkung  von  Vererbung  und  An- 
passung, der  natürlichen  Zuchtwahl  im  Kampfe  um  das  Dasein  ist. 
Als  unmittelbare  Resultate  der  Arbeitsteilung  im  Laufe  der  indivi- 
duellen Entwickelung  können  nur  diejenigen  Divergenzerscheinungen 
angesehen   werden,    welche   an    dem   betreffenden   Individuum    zum 


XIX.  VIII.    Die  Selektionstheorie  und  das  Diveigenzgesetz.  309 

erstenmal,  durch  Anpassung  an  eine  neue  Existenzbedingung  ver- 
<inlaßt,  auftreten,  und  welche  also,  wenn  sie  durch  angepaßte  Ver- 
erbung auf  die  Nachkommen  dieses  Individuums  übertragen  werden, 
der  individuellen  Entwickelungskette  ein  neues  Glied  einfügen. 

Außer  der  primären  paläontologischen  (phylogenetischen)  und 
der  sekundären  individuellen  (ontogenetischen)  können  wir  übrigens 
noch  eine  dritte  Art  der  Differenzierung  unterscheiden,  welche  wir 
kurz  mit  dem  Namen  der  systematischen  oder  spezifischen 
Differenzierung  bezeichnen  wollen.  Man  pflegt  nämlich  auch  die 
faktisch  bestehenden  Unterschiede  zwischen  koexistenten  verwandten 
Organismen  als  Differenzierungen  zu  unterscheiden.  So  sagt  man 
z.  B.  in  der  zoologischen  und  botanischen  Systematik  sehr  häufig 
bei  Vergieichung  verwandter  Organismengruppen,  daß  die  eine  mehr 
differenziert  oder  polymorpher  sei,  als  die  andere,  z.  B.  die  Säuge- 
tiere mehr  als  die  Vögel,  die  Crustaceen  mehr  als  die  Insekten,  die 
Dikotyledonen  mehr  als  die  Monokotyledonen.  Ebenso  sagt  man  bei 
Vergieichung  verwandter  Zustände,  z.  B.  in  der  menschlichen  Ge- 
sellschaft, daß  der  eine  stärkere  Differenzierung,  einen  höheren  Grad 
der  Arbeitsteilung  zeige,  als  der  andere,  so  z.  B.  die  verschiedenen 
Kulturzustände.  Staatsformen,  Lehranstalten  der  verschiedenen  Völker 
etc.  Vorzüglich  aber  verfolgt  die  vergleichende  Anatomie  als  ihre 
Hauptaufgabe  die  „Differenziemng  der  Organe"',  indem  sie  nach- 
weist, wie  ein  und  dasselbe  Organ  bei  den  verschiedenen  Tieren 
ganz  verschiedene  Grade  der  Ausbildung,  ganz  verschiedene  Stufen 
der  ..Differenzierung"  darbietet.  Hierauf  vorzüglich  beruht  die  Unter- 
scheidung der  höheren  und  niederen,  vollkommeneren  und  unvoll- 
kommeneren Organe.  Der  Begriff  der  Differenzierung  wird  in  diesen 
Fällen  meistens  ziemlich  unklar,  und  oft  in  sehr  verschiedener  Be- 
deutung angewendet.  Sehr  häufig  gebraucht  man  denselben  als 
gleichbedeutend  mit  Vollkommenheit  oder  Fortschritt.  Doch  ist  dies, 
wie  wir  im  folgenden  Abschnitt  zeigen  werden,  nicht  richtig.  Denn 
obwohl  in  sehr  zahlreichen  Fällen  die  Erscheinungen  der  Divergenz 
und  des  Fortschritts  zusammenfallen,  so  ist  dennoch  nicht  jede 
Differenzierung  ein  Fortschritt,  und  nicht  jeder  Fortschritt  ist  eine 
Differenzierung.  Andere  denken  dagegen,  wenn  sie  von  der  Differen- 
zierung koexistenter  Formen  im  obigen  „systematischen"  Sinne 
sprechen,  weniger  an  die  Vollkommenheit,  als  an  die  Mannigfaltig- 
keit der  verglichenen  Formen.  Doch  zeigt  sich  bei  genauerer  Be- 
trachtung,  daß   der  Begriff  der  Mannigialtigkeit  ebenso  wie  der  der 


310  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Yollkonimenlieit,  den  Begriff  der  Differenzierung  zwar  in  vielen,  aber 
keineswegs  in  allen  Fällen  deckt.  Denn  die  Insektenklasse  z.  B.  ist 
weit  mannigfaltiger  und  artenreicher  als  die  Krustazeenklasse,  und 
dennoch  ist  die  letztere  weit  stärker  differenziert,  als  die  erstere. 

Versuchen  wir,  den  Begriff  der  systematischen  oder  spezifischen 
Differenzierung,  wie  er  bei  Vergleichung  verwandter  und  koexistenter 
(nicht  sukzessiver!)  Formen  so  oft  gebraucht  wird,  tiefer  zu  ergründen, 
so  finden  wir.  daß  derselbe  eigentlich  in  den  meisten  Fällen  wesent- 
lich mit  dem  Begriff"  der  phylogenetischen  Differenzierung  zu- 
sammenfällt, und  daß  er  ebenso  wie  der  letztere,  auf  der  Vorstellung- 
einer Hervorbildung  ungleichartiger  Formen  aus  gleichartiger  Grund- 
lage beruht.  Während  aber  die  Betrachtung  der  phylogenetischen 
Differenzierung  den  gesammten  Entwickelungsprozeß  als  solchen  zu 
erfassen  und  alle  einzelnen  Zweige  und  Äste  der  verzweigten  Divergeuz- 
bewegung  von  der  Wurzel  an  bis  zu  ihren  letzten  Ausläufern  zu 
verfolgen  hat,  so  begnügt  sich  die  Betrachtung  der  systematischen 
Differenzierung  mit  der  A^ergieichung  der  verschiedenen  Ausläufer 
oder  einzelnen  Äste  und  Zweige:  d.  h.  sie  sucht  nicht  den  ganzen 
paläontologischen  Differenzierungsprozeß,  sondern  nur  die  fertigen 
Resultate  desselben,  wie  sie  in  der  gleichzeitigen  Koexistenz  ver- 
schiedener „Arten"  nebeneinander  sich  zeigen,  zu  erforschen,  und 
vorzüglich  den  Divergenzgrad,  welcher  dieselben  trennte,  zu  messen. 

Der  gew^öhnhchste  Fehler,  den  man  bei  Untersuchung  dieser 
systematischen  Differenzierung  begeht,  liegt  darin,  daß  man  die  ver- 
schiedenen koexistenten  Zweige  des  Stammbaums  als  subordinierte 
Glieder  einer  einzigen  leiterförmigen  Reihe  betrachtet,  während  sie 
in  der  Tat  koordinierte  Zweige  eines  ramifizierten  Baumes  sind. 
Hierauf  beruht  z.  B.  der  Irrtum  der  älteren  Systematiker.  welche  die 
sämtlichen  Tiere  oder  Pflanzen  in  eine  einzige  Dift'erenzierungsreihe 
zu  ordnen  trachteten.  Statt  also  den  Divergenzgrad  der  verschiedenen 
Formen  von  der  gemeinsamen  Stammform  zu  messen,  beschränkt 
man  sich  auf  Messung  des  Unterschiedes,  den  sie  voneinander  haben. 

Obgleich  also  die  systematische  oder  spezifische  Differenzierung, 
\velclie  die  aus  gemeinsamer  Wurzel  stammenden  Arten  als  fertige 
Produkte  voneinander  scheidet,  eigentlich  nicht  von  der  paläontolo- 
gischen oder  phylogenetischen  Differenzierung  verschieden  ist,  sondern 
nur  das  Resultat  der  letzteren  darstellt,  wollen  wir  sie  dennoch  als 
einen  besonderen  und  dritten  Divergenzmodus  hier  hervorheben,  dessen 
Beziehungen   zu  den  beiden   anderen  und   vorzüglich  ihre    dreifache 


XIX.  IX-    Diß  Selektionstheorie  und  das  Fortschrittsgesetz.  311 

Parallele  im  folgenden  Buche  noch  näher  erörtert  werden  sollen.  Wie 
die  paläontologisclie  Differenzierung  Objekt  derPhylogenie,  die  embryo- 
logische Objekt  der  Ontogenie,  so  ist  die  systematische  Differenzierung 
vorzugsweise  Objekt  der  vergleichenden  Anatomie.  Der  merkwürdige 
und  höchst  wichtige  Parallelismus  dieser  drei  Divergenzreihen  erklärt 
sich  vollkommen  aus  der  Selektionstheorie. 

Alle  die  unendlich  mannigfaltigen  und  wichtigen  Naturerschei- 
nungen, welche  wir  vom  morphologischen  Standpunkte  aus  als 
Phänomene  der  Differenzierung  oder  Divergenz  des  Charakters, 
vom  physiologischen  Standpunkte  aus  als  Phänomene  des  Poly- 
morphismus oder  der  Arbeitsteilung  ansehen,  sind  in  letzter  Instanz 
also  weiter  nichts,  als  die  unmittelbaren  und  notwendigen  Folgen 
der  Züchtung:  entweder  (bei  den  Organismen  im  Kuhurzustande) 
Folgen  der  künstlichen  Züchtung  durch  den  Willen  des  Menschen, 
oder  (bei  den  Organismen  im  Naturzustande)  Folgen  der  natürlichen 
Züchtung  durch  den  Kampf  um  das  Dasein.  Alle  diese  Divergenz- 
erscheinungen sind  durch  che  Gesetze  der  Anpassung  (Ernährung) 
und  Vererbung  (Fortpflanzung)  bedingt:  und  wenn  uns  die  individuelle 
Entwickelungsgeschichte  die  ontogenetische  Charakterdivergenz  der 
morphologischen  Individuen  in  schneller  Reihenfolge  vor  Augen  führt, 
so  haben  wir  darin  lediglich  die  Vererbung  der  phylogenetischen 
Differenzierung  zu  erblicken,  welche  die  Vorfahren  des  betreffenden 
Organismus  während  ihrer  langsamen  paläontologischen  Entwickelung 
erhtten  haben,  und  deren  reife  Früchte  in  der  Gegenwart  uns  die 
vergleichende  Anatomie  als  ..systematische  Differenzierung"  nachweist. 
Die  Entwickelungsfunktion  der  Differenzierung  oder  des  Polymorphis- 
mus wird  also  durch  die  Selektionstheorie  auf  die  physiologischen 
Ursachen  der  Vererbung  und  Anpassung  zurückgeführt,  d.  h.  sie  wird 
mechanisch  erklärt.  Ohne  die  Selektionstheorie  dagegen  bleibt  sie 
uns  in  ihrem  eigentlichen  Wesen  unverständlich. 

IX.     Die  Selektionstlieorie  und  das  Fortsclirittsgesetz. 

D  erFortschritt(Pro^rc.ss^/.s)  od  er  die  Vervoll  komm  nung(T<^/eo.s<.s) 
als  notwendige  Wirkung  der  Selektion. 

Ebenso  w^e  die  Differenzierung  oder  Arbeitsteilung  der  Organismen, 
müssen  wir  auch  die  nicht  minder  wichtige  und  auffallende  Vervoll- 
kommnung oder  den  Fortschritt  der  Organismen,  wie  er  sich  in  der 
gesamten  indi\iduellen  und  paläontologischen  Entwickelungsgeschichte 


312  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

und  in  clor  vergleichenden  Anatomie  offenbart,  als  die  unmittelbare 
und  notwendige  Folge  der  natürlichen  Züchtung  im  Kampfe  um  das 
Dasein  betrachten.  Ebenso  wie  die  Erscheinung  der  Differenzierung, 
wird  auch  die  Erscheinung  der  Vervollkommnung  unmittelbar  durch 
die  Selektionstheorie  —  und  nur  durch  diese!  —  mechanisch  erklärt, 
und  da  wir  überall  die  Tatsachen  der  Progression  ebenso  wie  diejenigen 
der  Divergenz  vor  Augen  sehen,  so  können  wir  aus  den  ersteren. 
ebenso  wie  aus  den  letzteren,  wiederum  auf  die  Wahrheit  der  Selektions- 
theorie zurückschließen. 

Die  Tatsachen  der  fortschreitenden  Entwickelung  oder  der  all- 
mählichen Vervollkommnung  der  Organismen  sind  so  allbekannt,  daß 
wir  dieselben  hier  nicht  mit  Beispielen  zu  belegen  brauchen.  Die 
gesamte  Paläontologie,  die  gesamte  Embryologie,  die  gesamte  Syste- 
matik der  Tiere,  Protisten  und  Pflanzen  liefert  uns  hierfür  eine  fort- 
laufende Beweiskette.  Alle  gedankenvollen  Arbeiter  auf  diesen  Wissen- 
schaftsgebieten haben  jenes  Gesetz  der  fortschreitenden  Entwickelung 
(Progressus)  oder  der  Vervollkommnung  (Tclcosis)  als  eines  der 
obersten  organischen  Grundgesetze  anerkannt.  Am  ausführlichsten 
hat  dasselbe  in  neuerer  Zeit  der  treffhche  Bronn  behandelt,  welcher 
sowohl  für  die  paläontologische  als  für  die  systematische  Entwickelung 
das  „Gesetz  der  progressiven  Entwickelung"  oder  das  Gesetz  der 
Vervollkommnung  durch  eine  sehr  sorgfältige  Zusammenstellung  der 
beweiskräftigsten  Tatsachen  empirisch  unumstößlich  begründet  hat. 

Obwohl  nun  in  den  letzten  Jahrzehnten  die  Geltung  des  Gesetzes 
der  fortschreitenden  Entwickelung  als  einer  empirisch  festgestellten 
Tatsache  von  den  verschiedensten  Seiten  anerkannt  w^orden  ist,  so 
bheb  dieselbe  doch  für  die  meisten  ein  rätselhaftes  und  unbegreif- 
liches „organisches  Naturgesetz",  dessen  Erklärung  nur  durch  die 
dualistische  Annahme  eines  teleologischen  Schöpfungsplans,  den  der 
Schöpfer  bei  Fabrikation  der  Organismen  befolgte,  möglich  schien. 
Eine  naturwissenschaftliche,  d.  h.  eine  monistische,  mechanisch-kausale 
Erklärung  des  empirischen  Gesetzes  wurde  erst  durch  die  Deszendenz- 
theorie, und  in  letzter  Instanz  erst  durch  ihre  kausale  Grundidee, 
die  Selektionstheorie,  möglich.  Diese  aber  erklärt  uns  die  Tatsachen 
des  Fortschritts,  ebenso  wie  diejenigen  der  Differenzierung,  in  der 
einfachsten  Weise,  als  die  notwendige  Wirkung  der  natürlichen  Züchtung 
im  Kampfe  um  das  Dasein. 

Wir  müssen  hier  zunächst  bemerken,  daß  das  Fortschrittsgesetz 
keineswegs  mit  dem  Divergenzgesetz  identisch  ist,  wie  es  von  vielen 


XIX.  I-^-    Die  Selektionstheorie  und  das  Fortschrittsgesetz.  313 

Autoren  iiTtümlicli  angenommen  wird.  Sehr  liäufic;-  werden  diese 
beiden  verschiedenen  Begriffe  veimischt.  Der  Grund  hiervon  liegt  darin, 
daß  allerdings  die  allermeisten  Differenzierungsprozesse  progressive 
Entwickelungsvorgänge  oder  Vervollkommnungen  sind.  Daneben  gibt 
es  jedoch  auch  viele  Divergenzvorgänge,  welche  weder  als  Fortschritt 
noch  als  Rückschritt,  und  andere,  welche  entschieden  als  Rückschritt 
angesehen  werden  müssen.  Ebenso  w^enig  ist  auf  der  anderen  Seite 
jeder  Fortschritt  eine  Differenzierung:  vielmehr  gibt  es  andere  pro- 
gressive Entwickelungsvorgänge  (namentlich  Wachstumsprozesse), 
welche  keineswegs  eine  Divergenz,  aber  dennoch  einen  Fortschritt 
bewirken.  Bronn,  welcher  am  genauesten  diese  verschiedenen  Vor- 
gänge untersucht  hat,  unterscheidet  demgemäß  sechs  verschiedene 
Gesetze  progressiver  Entwickelung.  Diese  Gesetze  sind:  1.  Differen- 
zierung der  Funktionen  und  Organe:  2.  Reduktion  der  Zahlen  gleich- 
namiger Organe:  3.  Konzentrierung  der  Funktionen  und  ihrer  Organe 
auf  bestimmte  Teile  des  Körpers:  4.  Zentralisierung  eines  jeden  ganzen 
oder  teilweisen  Organsystems,  so  daß  seine  ganze  Tätigkeit  von  einem 
Zentralorgane  abhängig  wird ;  5.  Internierung  insbesondere  der  edelsten 
Organe,  so  weit  sie  nicht  eben  notwendig  an  der  Oberfläche  hervor- 
treten müssen,  um  die  Beziehungen  des  Organismus  mit  der  Außen- 
welt zu  unterhalten:  6.  größere  räumliche  Ausdehnung  im  einzelnen 
und  ganzen.  Obw^ohl  es  gewiß  ein  großes  Verdienst  Bronns  ist, 
hierdurch  gezeigt  zu  haben,  daß  nicht  alle  Progreß-Phaenomene  ein- 
fache Differenzierungen  sind,  so  müssen  wir  doch  gegen  die  allgemeine 
Gültigkeit  der  sechs  von  ihm  unterschiedenen  Fortschrittsgesetze 
vielfache  Bedenken  erheben.  Nicht  bloß  die  vier  letzten,  welche  nur 
sehr  beschränkte  und  spezielle  Gültigkeit  haben,  sondern  auch  das 
zweite  Gesetz  (das  Gesetz  der  Zahlenreduktion  gleichartiger  Teile), 
welches  nächst  dem  Differenzierungsgesetze  offenbar  das  wichtigste 
ist,  müssen  noch  sehr  bedeutende  Modifikationen  erleiden  und  in 
anderer  Form  präzisiert  werden.  Da  jedoch  dieser  Gegenstand,  wie 
überhaupt  die  ganze  Frage  von  der  fortschreitenden  A'ervollkommnung 
der  Organismen  und  von  den  Kriterien  der  organischen  Vollkommen- 
heit äußerst  schwierig  und  verwickelt  ist,  und  da  noch  keine  weiteren 
ernstlichen  Versuche  gemacht  sind,  in  das  Chaos  des  unendlichen 
Materials,  welches  für  diese  wichtige  Frage  vorliegt,  klares  Licht  zu 
bringen,  so  können  wir  nicht  näher  darauf  eingehen. 

Da   die  allermeisten  Fortschrittserscheinungen    unmittelbar  mit 
Differenzierungsprozessen  verknüpft,  oder  selbst  mit  diesen  identisch 


;-^|4  ^ie  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

sind,  so  bedarf  es  für  diese,  in  Hinblick  auf  den  vorhergehenden  Ab- 
schnitt, keines  Beweises,  daß  sie  unmittelbare  und  notwendige 
Wirkungen  der  natürlichen  Züchtung  im  Kampfe  um  das  Dasein  sind. 
Aber  auch  für  die  anderen  Erscheinungen  der  Vervollkommnung, 
welche  wir  vorher  angeführt  haben,  und  welche  nicht  unmittelbar 
als  Divergenzphänomene  angesehen  werden  können,  unterliegt  es 
keinem  Zweifel,  daß  dieselben  vollständig  durch  die  Selektionstheorie 
erklärt  werden.  Die  Zentralisation  der  Organsysteme,  die  Konzentration 
und  Internierung  der  Organe,  die  Größenzunahme  und  die  Zahlen- 
reduktion der  gleichartigen  Teile  sind  immer,  und  ganz  besonders 
in  den  Fällen,  wo  sie  einen  entschiedenen  Organisationsfortschritt 
bekunden,  entweder  unmittelbare  Anpassungen,  oder  aber  durch  die 
Wechselwirkung  von  Anpassung  und  Vererbung  bedingt.  Da  diese 
progressiven  Entwickelungsprozesse  in  allen  Fällen  den  betreffenden 
Organismen  im  Kampfe  um  das  Dasein  nützlich  sind,  und  ihnen 
entschiedene  Vorteile  über  die  nächstverwandten,  nicht  progressiv 
abgeänderten  Formen  gewähren,  so  werden  [sie  einfach  durch  die 
natürliche  Züchtung  erhalten  und  befestigt.  Alle  diese  Erscheinungen 
der  Vervollkommnung  lassen  sich  mithin  als  notwendige  Folgen  der 
Wechselwirkung  von  Vererbung  und  Anpassung  nachweisen,  und  sind 
keineswegs  die  Folgen  eines  unbekannten  und  unerklärten,  auf  rätsel- 
haften Ursachen  beruhenden  ., Gesetzes  der  fortschreitenden  Ent- 
wickelung". 

Einige  Autoren  haben  das  Fortschrittsgesetz  oder  das  Ge- 
setz der  fortschreitenden  Entwickelung  als  ein  absolutes,  allgemein 
gültiges  und  ausnahmsloses  betrachtet,  und  behauptet,  daß  dasselbe 
allerorten  und  allerzeit  die  gesamten  Organisationsverhältnisse  vor- 
wärts treibe  und  ohne  Unterbrechung  zur  beständigen  Vervollkommnung 
ansporne.  So  richtig  diese  Behauptung  im  großen  und  ganzen  ist, 
so  muß  sie  dennoch  durch  zahlreiche  Ausnahmen  modifiziert  werden. 
Es  ist  natürlich  und  notwendig,  daß  die  immer  zunehmende  Differen- 
zierung aller  irdischen  Verhältnisse  und  aller  Existenzbedingungen 
für  die  Organismen  auch  eine  entsprechende  Differenzierung  der 
Organismen  selbst  zur  unmittelbaren  Folge  hat,  und  in  den  aller- 
meisten Fällen  ist  diese  Differenzierung  selbst  ein  entschiedener  Fort- 
schritt, eine  unzweifelhafte  Vervollkommnung.  Andrerseits  ist  aber 
nicht  zu  vergessen,  daß  jede  Arbeitsteilung  neben  den  ganz  über- 
wiegenden Vorteilen  und  Fortschritten  auch  ihre  großen  Nachteile 
und  Rückschritte  notwendig  im  unmittelbaren  Gefolge  hat.    Wir  sehen 


XIX.  I^^-    Die  Selektioiistheorie  und  das  Fortschiittsgesetz.  315 

(lies  überall  in  dem  Polymorphismus  der  menschlichen  Gesellschaft, 
welche  uns  in  ihrer  staatlichen  und  sozialen,  besonders  aber  in  ihrer 
wissenschaftlichen  Entwickelung  die  kompliziertesten  nnd  am  meisten 
zusammengesetzten  von  allen  Differenzierungs-Phänomenen  zeigt.  Wir 
brauchen  bloß  auf  die  Morphologie  der  Organismen  in  ihrem  gegen- 
wärtigen traurigen  Zustande  einen  Blick  zu  werfen,  um  diese  erheb- 
lichen Schattenseiten  der  weit  vorgeschrittenen  Arbeitsteilung  klar  vor 
Augen  zu  sehen.  Wäre  dies  nicht  der  Fall,  so  müßte  die  Selektions- 
theorie bereits  die  gesamte  Biologie  beherrschen.  Die  größten  Nach- 
teile für  die  Wissenschaft  entstehen  dadurch,  daß  sich  die  meisten 
Arbeiter  ganz  auf  ein  einzelnes  kleines  Arbeitsfeld  beschränken  und 
den  engsten  Spezialanschauungen  anpassen,  während  sie  sich  um  das 
große  Ganze  nicht  mehr  bekümmern.  Dadurch  verlieren  sie  aber 
nicht  nur  den  freien  Überblick  für  das  umfassende  Allgemeine,  sondern 
auch  die  Fähigkeit,  in  dem  auserwählten  Spezialgebiete  weitergreifende 
Fortschritte  herbeizuführen.  Dieser  große  Nachteil  der  einseitigen 
Spezialisierung  wird  von  den  meisten  übersehen,  gegenüber  den  be- 
deutenden Vorteilen,  welche  jene  einseitige,  spezielle  ..Fachbildung"' 
dem  Detailarbeiter  gewährt;  und  gerade  dieser  praktische  Nutzen 
ist  es,  welcher  die  rückschreitende  allgemeine  Bildung  der  Spezialisten 
begünstigt. 

Was  uns  so  die  menschlichen  Verhältnisse,  und  besonders  die 
wissenschaftlichen,  in  den  verwickeltsten  Differenzierungsprozessen 
zeigen,  das  gilt  ebenso  für  die  gesamte  organische  Natur.  Überall 
wird  die  Entwickelung  der  praktischen  Typen  auf  Kosten  der  idealen 
durch  die  natürliche  Züchtung  begünstigt.  Zugleich  entstehen  immer 
neben  den  höchsten  Plätzen  und  den  einseitig  vervollkommneten 
Stellen  im  Naturhaushalte  zahlreiche  unvollkommene  Plätze  und  sehr 
beschränkte  Stellen:  und  die  Organismen,  die  diesen  sich  anpassen, 
erleiden  dadurch  gewöhnlich  eine  sehr  bedeutende  Rückbildung.  Rück- 
schritt ist  also  hier  neben  und  mit  dem  Fortschritt  eine  unmittelbare 
Folge  der  Differenzierung  durch  die  Züchtung.  Die  schwächeren  und 
unvollkommneren  Individuen,  welche  im  Wettkampfe  mit  den  stärkeren 
und  vollkommneren  unterliegen,  und  nicht  der  von  den  letzteren 
erorberten  besten  Existenzbedingungen  teilhaftig  werden,  können  sich 
nur  dadurch  erhalten,  daß  sie  auf  jenes  höhere  Ziel  verzichten  und 
sich  mit  einfacheren  Verhältnissen  begnügen.  Indem  sie  sich  diesen 
aber  anpassen,  erleiden  sie  notwendig  mehr  oder  minder  bedeutende 
Rückbildungen,   welche  bei  sehr  einfachen  Verhältnissen  (z.  B.  Para- 


316  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheoiie.  XIX. 

sitisniiis)  oft  erstaunlich  weit  gehen.  Schon  aus  dieser  einfachen 
Erwägung  folgt,  daß  die  natürhehe  Züchtung  keineswegs  ausschließ- 
lich fortbildend  und  vervollkommnend,  sondern  auch  rückbildend  und 
erniedrigend  wirkt.  Die  Veränderungen  der  organischen  Natur  halten 
mit  denen  dei'  anorganischen  immer  gleichen  Schritt.  Wir  finden, 
daß  in  Beiden  die  fortschreitende  Differenzierung  im  ganzen  zwar 
tiberwiegt,  aber  doch  im  einzelnen  zugleich  notwendig  vielfache  Rück- 
schritte bedingt.  Während  die  höheren  und  besseren  Stellen  im 
Naturhaushalte  an  Zahl  und  vollkommener  Ausstattung  beständig 
zunehmen,  und  von  entsprechend  verbesserten  und  vervollkommneten 
Organismen  besetzt  werden,  benutzen  die  weniger  begünstigten  und 
von  letzteren  im  Wettkampfe  besiegten  Organismen  die  gleichzeitig 
frei  werdenden  einfacheren  und  schlechteren  Stellen  des  Naturhaus- 
halts, um  ihre  Existenz  zu  retten.  Während  die  ersteren  fortschreiten, 
gehen  die  letzteren  zurück.  Keine  Gruppe  von  organischen  Erscheinungen 
zeigt  uns  die  hohe  Bedeutung  dieser  Tatsache  so  schlagend,  als  die 
mannigfaltigen  Phänomene  des  Parasitisnms,  vorzüglich  in  den  Ab- 
teilungen der  Crustaceen,  Würmer  und  Orobancheen.  Wie  die  Ontogenese 
dieser  Organismen  unwiderleglich  zeigt,  beruht  ihre  Phylogenese  auf 
einer  entschiedenen  rückschreitenden  Differenzierung,  die  durch  die 
natürliche  Züchtung  veranlaßt  ist. 

Wenn  wir  daher  die  gesamten  Differenzierungsphänomene  in  der 
organischen  Natur  nach  ihrem  historischen  Verlauf  vergleichend  über- 
blicken, so  gelangen  wir  zu  demselben  großen  und  erfreulichen  Ge- 
samtresultat, welches  uns  auch  die  Geschichte  der  menschlichen 
Völker  (oder  die  sogenannte  Weltgeschichte)  und  namentlich  die 
Kulturgeschichte,  allein  schon  deutlich  zeigt:  Im  großen  und 
ganzen  ist  die  Entwickelungsbewegung  der  gesamten  orga- 
nischen Welt  eine  stetig  und  tiberall  fortschreitende,  wenn- 
gleich die  überall  wirkenden  Differenzierungsprozesse  notwendig  neben 
den  überwiegenden  Fortschrittsvorgängen  im  kleinen  und  einzelnen 
auch  zahlreiche,  und  oft  bedeutende  Rückschritte  in  der  Organisation 
bedingen.  Indessen  treten  diese  Rückschritte,  wie  sie  in  der  Völker- 
geschichte vorzüglich  durch  die  Herrschaft  der  Priester  und  Despoten, 
in  der  übrigen  organischen  Natur  vorzüglich  durch  Parasitismus  be- 
dingt werden,  doch  im  großen  und  ganzen  vollständig  zurück  gegen- 
über der  ganz  vorherrschenden  Vervollkommnung.  Der  Fortschritt 
zu  höheren  Stufen  der  Vollkommenheit  ist  in  der  gesamten  organischen 
Natur  ein  genereller  und   universeller,   der  gleichzeitig  stattfindende 


XIX.  ^^-    Die  Selektionstlieoiie  und  das  Fortsclirittsgesetz.  317 

Rückschritt  zu  niederen  Stufen  ein  spezieller  und  lokaler  Prozeß. 
Sowohl  der  überwiegende  Fortschritt  in  der  Vervoll- 
kommnung des  Ganzen,  als  der  hemmende  Rückschritt  in 
der  Organisation  des  Einzelnen,  sind  mechanische  Natur- 
prozesse, welche  mit  Notwendigkeit  durch  die  natürliche 
Züchtung  im  Kampfe  um  das  Dasein  bedingt  sind,  und 
durch  die  Selektionstheorie  (und  nur  durch  sie  allein!)  voll- 
ständig erklärt  werden. 

Dieser  letztere  Satz  muß  besonders  betont  werden,  weil  gerade 
an  diesem  Punkte  die  teleologische  und  dualistische  Dogmatik  besonders 
tiefe  und  feste  Wurzeln  geschlagen  hat.  Dies  zeigt  sich  nicht  allein 
in  den  kindlichen  und  keiner  Widerlegung  bedürftigen  Behauptungen 
derjenigen  Teleologen,  welche  in  dem  Gesetze  der  fortschreitenden 
Entwickelung  einen  besonderen  Beweis  für  die  Yortrefflichkeit  des 
Schöpfungsplans  und  für  die  AVeisheit  des  (natürlich  ganz  anthropo- 
morph  gedachten)  Schöpfers  erblicken  wollen.  Auch  monistische 
Naturforscher,  welche  im  ganzen  unsere  Ansichten  teilen,  haben  sich 
der  Annahme  eines  besonderen  ., Vervollkommnungsprinzips"  nicht 
entziehen  zu  können  geglaubt.  So  hat  insbesondere  Nägeli  neben 
der  „Nützlichkeitstheorie"'  (wie  er  Darwins  Selektionstheorie  nennt), 
noch  eine  besondere  „Vervollkommnungstheorie''  festhalten  zu  müssen 
geglaubt,  welche  die  Annahme  fordert,  „daß  die  individuellen  Ab- 
änderungen nicht  unbestimmt,  nicht  nach  allen  Seiten  gleichmäßig, 
sondern  vorzugsweise  und  mit  bestimmter  Orientierung  nach  Oben, 
nach  einer  zusammengesetzteren  Organisation  zielen"'.  Nägeli  glaubt 
zwar,  für  dieses  Vervollkommmmgsprinzip  „keine  übernatürliche  Ein- 
wirkung nötig  zu  haben".  Indessen  ist  er  den  Beweis  einer  not- 
wendigen Existenz  desselben  und  einer  mechanischen  Erklärung  seiner 
Wirksamkeit  schuldig  geblieben,  und  wir  glauben  nicht,  daß  dieser 
wird  geliefert  werden  können.  Durch  Nägeli"s  Annahme.  ..daß  der 
Organismus  in  sich  die  Tendenz  habe,  in  einen  komplizierter  ge- 
bauten sich  umzubilden,"  geraten  wir  auf  die  schiefe  Ebene  der 
Teleologie,  auf  der  wir  rettungslos  in  den  Abgrund  dualistischer 
Widersprüche  hinabrutschen  und  uns  von  der  allein  möglichen 
mechanischen  Naturerklärung  völlig  entfernen.  Wir  können  uns  aber 
um  so  weniger  zur  Annahme  eines  solchen  besonderen,  bis  jetzt  ganz 
unerklärlichen  Vervollkommnungsprinzips  entschließen,  als  uns  die 
Selektionstheorie  die  vorwiegend  fortschreitende  Richtung  der 
Differenzierung   durch  die   natürliche    Züchtung;  ganz    wohl   erklärt, 


318  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

und  als  daneben  die  überall  vorkommenden  Rückbildungen  zeigen, 
daß  der  Fortschritt  keineswegs  ein  ausschließlicher  und  unbeding- 
ter ist. 

Indem  wir  also  den  allgemeinen  und  überwiegenden,  jedoch  durch 
A'iele  einzelne  Rückschritte  unterbrochenen  Fortschritt  als  ein  allge- 
meines mechanisches  Naturgesetz  festhalten,  welches  mit  Notwendig- 
keit aus  der  beständigen  Wirksamkeit  der  natürlichen  Züchtung  folgt, 
haben  wir  schließlich  noch  einen  Blick  auf  die  drei  verschiedenen 
Erscheinungsreihen  der  fortschreitenden  Entwickelung  zu  werfen, 
welche  den  drei  Differenzierungsreihen  entsprechen,  und  welche  in 
ihrer  auffallenden  Parallele  uns  einen  der  wichtigsten  Beweise  für 
die  Wahrheit  der  Deszendenztheorie  liefern.  Es  sind  dies  die  drei 
parallelen  Fortschrittsketten  der  paläontologischen,  erabryologischen 
und  systematischen  Vervollkommnung. 

Die  paläontologische  Vervollkommnung  oder  der  phylo- 
genetische Fortschritt  ist  von  diesen  drei  parallelen  fortschreiten- 
den Entwickelungsreihen  (wie  dies  auch  ebenso  von  den  drei  parallelen 
Differenzierungsreihen  gilt)  der  ursprünglichste  und  daher  wichtigste. 
Wenn  wir  vorher  zeigten,  daß  der  Fortschritt  eine  notwendige  Folge 
der  Wechselwirkung  von  Anpassung  und  Vererbung  sei,  so  galt  dies 
zunächst  nur  von  der  phylogenetischen  Vervollkommnung,  welche 
sich  in  der  allmählich  fortschreitenden  Entwickelung  der  Arten  und 
Stämme  zeigt,  darin  also,  daß  die  Transmutation  der  Spezies  nicht 
allein  zur  Erzeugung  neuer,  sondern  im  ganzen  auch  vollkommnerer 
Arten  führt,  und  daß  mithin  auch  die  Stämme  im  ganzen  sich  be- 
ständig vervollkommnen.  Die  gesamte  Paläontologie  liefert  hierfür 
eine  fortlaufende  Beweiskette. 

Die  embryologische  Vervollkommnung  oder  der  onto- 
genetische  Fortschritt,  welcher  sich  in  der  gesamten  indivi- 
duellen Entwickelungsgeschichte  der  Organismen  als  die  am  meisten 
auffallende  Erscheinung  offenbart,  ist  die  natürliche  Folge  des  paläonto- 
logischen Fortschritts,  und  durch  die  Vererbungsgesetze  (besonders 
durch  die  Gesetze  der  abgekürzten,  der  homochronen  und  homotopen 
Vererbung)  mit  Notwendigkeit  bedingt.  Da  die  gesamte  Onfogmie 
nichts  weiter,  als  eine  kurze  und  schnelle  Rekapitulation  der 
Phjloyenie  des  betreffenden  Organismus  ist,  so  muß  natürlich  auch 
die  vorzugsweise  fortschreitende  Bewegung  der^  letzteren  in  der- 
selben Weise  wieder  wie  in  der  ersteren  zutage  treten.  Da,  wo 
der  überwiegende  paläontologische  Fortschritt   durch  Anpassung  der 


XIX.  IX.    Die  Selektionstheorie  und  das  Fortschrittsgesetz.  319 

vollkoiniuneren  Organismen  an  einfachere  Existenzbedingungen  lokal 
modifiziert  und  beschränkt  worden  ist,  wie  namentlich  bei  den 
Parasiten,  da  muß  derselbe  natürlich  auch  ebenso  in  der  indi- 
viduellen Entwickelung  eine  entsiDrechende  ..regressive  Metamor- 
jjhose'^  zur  Folge  haben  (sehr  ausgezeichnet  bei  den  parasitischen 
Crustaceen). 

Die  systematische  Vervollkommnung  oder  der  spezi- 
fische Fortschritt  endlich,  welcher  vorzugsweise  Objekt  der  ver- 
gleichenden Anatomie  ist,  folgt  ebenso  unmittelbar  wie  der  ontogene- 
tische,  aus  dem  paläontologischen  Fortschritt.  Zunächst  ist  hier  zu 
erwägen,  daß  die  Vervollkommnung  bei  den  verschiedenen  Organismen 
einen  äußerst  ungleichen  Verlauf  hinsichtlich  ihrer  Ausdehnung  und 
Schnelligkeit  nimmt.  Während  einige  Organismen  in  verhältnis- 
mäßig kurzer  Zeit  einen  sehr  hohen  Grad  der  Differenzierung  und 
der  Vollkommenheit  erreichen  (z.  B.  die  Säugetiere  unter  den  Wirbel- 
tieren, und  besonders  die  Carnivoren  und  Primaten)  verändern  sich 
andere,  verwandte  Organismen  auch  in  sehr  langen  Zeiträumen  nur 
sehr  wenig,  und  zeigen  nur  einen  sehr  geringen  Grad  der  Vervoll- 
kommnung und  Divergenz  (z.  B.  die  Fische  unter  den  Wirbeltieren, 
und  besonders  die  Ganoiden  und  Selachier).  Noch  andere,  diesen  ver- 
wandte Organismen  verändern  sich  zwar  bedeutend,  aber  nicht  in 
fortschreitender,  sondern  in  rückschreitender  Richtung  (z.  B.  die 
Parasiten).  Daher  finden  wir.  daß  sehr  viele  gleichzeitig  existierende 
Organismen,  obgleich  sie  von  einer  und  derselben  gemeinsamen 
Stammform  abstammen,  dennoch  einen  äußerst  verschiedenen  Grad 
der  Vollkommenheit,  ebenso  wie  der  Differenzierung  zeigen.  Dieser 
systematische  oder  spezifische  Fortschritt,  wie  ihn  die  Systematik 
und  vergleichende  Anatomie  bei  Vergieichung  der  verwandten  und 
koexistenten  Organismen  in  der  Form  des  Systems  so  deutlich  nach- 
weist, erklärt  sich  ebenso  einfach,  wie  die  beiden  anderen  Fort- 
schrittsreihen, aus  der  Selektionstheorie.  Er  zeigt  uns  nur  die  reifen 
Früchte  des  fortschreitenden  Vervollkommnungs-Prozesses,  wie  er 
sich  in  der  Phylogenie  divergierend  gestaltet,  und  wie  er  sich  in  der 
Ontogenie  kurz  wiederholt.  Die  vollkommene  Parallele  dieser  drei 
fortschreitenden  Entwickelungsreihen.  der  paläontologischen,  der  em- 
bryologischen und  der  systematischen  Vervollkommnung,  ist  einer 
der  stärksten  Beweise  für  die  Wahrheit  der  Deszendenztheorie. 


320  r)ie  Deszendenztheorie  und  die  Sclektionstheorie.  XIX. 

X.    Dysteleologie  oder  Unzweckmäßigkeitslehre. 

(Wissenschaft  von  den  rudimentären,  abortiven,  verkümmeiten,  fehl- 
geschlagenen, atrophischen  oder  kataplastischen  Individuen.) 

X,  A.     Die  Dysteleologie  und   die   Selektionstheorie. 

Von  allen  großen  und  allgemeinen  Erscheinungsreihen  der  orga- 
nischen Morphologie,  welche  uns  durch  die  Deszendenztheorie  voll- 
kommen erklärt  werden,  während  sie  ohne  dieselbe  gänzlich  uner- 
klärt bleiben,  ist  nächst  der  dreifachen  Parallele  der  paläontologischen, 
embryologischen  und  systematischen  Entwickelung  vielleicht  keine 
einzige  von  so  mächtiger  und  unmittelbar  überzeugender  Beweiskraft, 
als  der  ebenso  interessante  als  wichtige  Phänomenenkomplex  der 
sogenannten  ..rudimentären  Organe",  welche  man  häufig  auch  als 
abortive,  atrophische,  verkümmerte  oder  fehlgeschlagene  Organe  be- 
zeichnet. Wenn  nicht  die  gesamte  generelle  Biologie,  ebensowohl 
die  Morphologie  als  die  Physiologie,  in  allen  einzelnen  Abschnitten 
und  Zweigen  eine  fortlaufende  Kette  von  harmonischen  Beweisen 
für  die  Wahrheit  der  Abstammungslehre  wäre,  so  würde  allein  schon 
die  Kenntnis  jener  ., Organe  ohne  Funktion"  uns  von  derselben  auf 
das  bestimmteste  überzeugen.  In  gleichem  Maße  aber,  als  die  Organe, 
welche  man  sowohl  in  der  Zoologie,  als  in  der  Botanik  mit  jenen 
Namen  bezeichnet,  die  höchste  morphologische  Bedeutung  besitzen, 
in  gleichem  ]Maße  sind  sie  bisher  fast  allgemein  vernachlässigt,  oder 
doch  bei  weitem  nicht  in  dem  Grade,  wie  sie  es  verdienen,  gewür- 
digt worden.  Es  war  dies  auch  ganz  natürlich,  solange  man  in 
Ermangelung  der  Deszendenztheorie  nichts  mit  ihnen  anfangen  konnte, 
und  auf  eine  allgemeine  mechanisch-kausale  Erklärung  der  morpho- 
logischen, und  namentlich  der  ontogenetischen  Tatsachen  überhaupt 
verzichten  nmßte.  Erst  als  Darwin  die  Abstammungslehre  neu  be- 
lebte und  durch  die  Selektionstheorie  fest  begründete,  kamen  auch 
die  rudimentären  Organe  wieder  hoch  zu  Ehren.  Sie  werden  von 
jetzt  an  als  eines  der  schlagendsten  und  wichtigsten  Argumente  zu- 
gunsten derselben  gelten  müssen  und  als  solche  eine  bisher  nicht 
geahnte  Bedeutung  erlangen. 

Wenn  die  teologische  und  dadurch  dualistische  Biologie  noch 
heute  allgemein  behauptet  und  bis  auf  Darwin  fast  unangefochten 
behauptet  hat,  daß  die  morphologischen  Erscheinungen  im  Thier- 
und  Pflanzenreiche  „zweckmäßige  Einrichtungen"  seien,  daß  sie  nach 


XIX.  -^^-    Dysteleologie  oder  Unzweckmäßigkeitslehre.  321 

einem  „zweckmäßigen  Plane"  angelegt  und  ausgeführt,  durch  „zweck- 
tätige  Ursachen"  (causae  finales)  bestimmt  seien,  so  wird  diese  grund- 
falsche Ansicht,  abgesehen  von  ihrer  sonstigen  Unhaltbarkeit,  durch 
nichts  schlagender  widerlegt,  als  durch  die  rudimentären  Organe, 
welche  entweder  ganz  gleichgültig  und  unnütz,  oder  sogar  ent- 
schieden ..unzweckmäßig"  sind.  Die  außerordentliche  theoretische 
Bedeutung,  welche  dieselben  dadurch  besitzen,  die  unerschütterliche 
Basis,  welche  sie  der  von  uns  vertretenen  und  allein  wahren  mo- 
nistischen, d.  h.  mechanisch-kausalen  Erkenntnis  der  organischen 
Natur  liefern,  ermächtig-t  uns.  die  Wissenschaft  von  den  rudimentären 
Organen  zu  einer  besonderen  Disziplin  der  organischen  Morphologie 
zu  erheben,  welcher  wir  die  bedeutendste  Zukunft  versprechen  können. 
Wir  glauben  diese  Lehre  mit  keiner  passenderen,  und  ihre  hohe  phi- 
losophische Bedeutung  richtiger  andeutenden  Bezeichnung  belegen 
zu  können,  als  mit  derjenigen  der  „Unzweckmäßigkeitslehre 
oder  Dysteleologie". 

Die  Organe,  oder  allgemeiner  gesagt,  organischen  Körperteile, 
welche  das  Objekt  der  Dysteleologie  bilden,  sind  in  der  Botanik  und 
Zoologie  mit  mehreren  verschiedenen  Namen  belegt  worden:  rudimen- 
täre oder  verkümmerte,  atrophische  oder  unentwickelte,  abortive  oder 
fehlgeschlagene  Teile,  auch  wohl  Hemmungsbildungen.  Am  besten 
würde  man  sie  wohl,  mit  Rücksicht  auf  ihre  Entstehung  durch  re- 
gressive oder  kataplastische  Entwicklung,  „kataplastische  oder 
rückgebildete"  Teile  nennen,  oder,  mit  Rücksicht  auf  den  physiologi- 
schen Degenerationsprozess,  der  diese  bewirkt:  ..degenerierte  oder 
entbildete  Teile".  Im  ganzen  hat  man  denselben  in  der  Botanik 
eine  weit  allgemeinere  Aufmerksamkeit  geschenkt,  als  in  der  Zoo- 
logie, ohne  daß  jedoch,  dort  wie  hier,  die  eigentliche  Bedeutung 
derselben  gewöhnlich  richtig  erkannt  worden  wäre.  Allerdings  liegen 
bei  den  Pflanzen,  deren  Organdifferenzierung  durchschnittlich  ja  sehr 
viel  einfacher  als  diejenige  der  Tiere  ist,  diese  kataplastischen  Or- 
gane viel  offener  und  augenfälliger  zutage,  und  es  läßt  sich  hier 
auch  oft  durch  vergleichend  anatomische  und  morphogenetische  Unter- 
suchung viel  leichter  der  Nachweis  ihrer  eigentlichen  Entstehung 
und  Bedeutung  führen,  als  bei  den  Tieren;  doch  sind  dieselben  auch 
bei  den  letzteren  so  allgemein  vorhanden,  daß  es  bei  jeder  genaueren 
vergleichenden  Betrachtung  gelingt.,  sie  in  Menge  nachzuweisen. 

Die  einzige  Vorsicht,  welche  bei  der  Untersuchung  der  rudimen- 
tären oder  abortiven  Teile  nötig  ist,  besteht  darin,  daß  man  sich  vor 

Haeckel.   Prinz,  d.  Moriihol.  -1 


322  I^i*^  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

einer  Verwechslung  derselben  mit  werdenden  oder  neu  entstehenden 
Teilen  hütet.  Auch  diese,  in  Anaplase  begriffenen  Teile,  können  als 
„Rudimente",  d.  h.  als  unbedeutende  und  unscheinbare,  physio- 
logisch wertlose  und  morphologisch  unentwickelte  Teile  erscheinen. 
Meistens  wird  aber  entweder  ein  Blick  auf  den  Gang  der  individuellen 
Entwickelung  oder  auf  die  Bildung  desselben  Organs  bei  verwandten 
Organismen,  genügen,  uns  erkennen  zu  lassen,  ob  dasselbe  in  fort- 
schreitender Anaplase  oder  in  rückschreitender  Kataplase  be- 
griffen ist.  Nur  im  letzteren  Falle  verdient  es  den  Namen  des 
„abortiven  oder  atrophischen  Organs''. 

Am  leichtesten  werden  wir  zur  Erkenntnis  der  rudimentären 
Teile  gewöhnlich  auf  physiologischem  Wege  geleitet,  durch  die  Fest- 
stellung nämlich,  daß  der  betreffende  Körperteil,  obwohl  morpholo- 
gisch vorhanden,  dennoch  physiologisch  nicht  existiert,  indem  er 
keine  entsprechenden  Funktionen  ausführt.  In  dieser  Beziehung 
kann  also  der  betreffende  Körperteil  entweder  für  den  Organismus 
vollständig  nutzlos,  gleichgültig,  ein  „Organ  ohne  Funktion",  ein 
„Werkzeug  außer  Dienst'*  sein,  oder  aber  ihm  sogar  positiv  nach- 
teilig und  schädlich.  Sehr  häufig  bedarf  es  jedoch  keiner  physio- 
logischen Reflexion,  um  die  rudimentären  oder  katapl astischen  Teile 
als  solche  zu  erkennen.  Ein  Blick  auf  ihre  empirisch  leicht  fest- 
zustellende individuelle  Entwickelung,  oft  schon  ein  vergleichend 
anatomischer  Blick  auf  ihre  Bildung  bei  verwandten  Organismen,  ge- 
nügt, um  sie  als  wirklich  rückgebildete,  kataplastische  Teile  nach- 
zuweisen. 

X,  B.    Entwickelungsgeschichte  der  rudimentären  oder 
kat aplastischen  Individuen. 

Wenn  es  wirkHch  solche  „unzweckmäßige,  unnütze"  oder  sogar 
nachteilige  und  positiv  schädhche  Teile  (Formindividuen)  im  Körper 
der  meisten  Organismen  gibt,  wie  sie  von  der  Dysteleologie  in  der 
ausgedehntesten  Verbreitung  nachgewiesen  werden,  so  kann  die  Er- 
klärung dieser  höchst  merkwürdigen  Erscheinungen  nur  von  der 
Entwickelungsgeschichte  gehefert  werden.  Da  die  Existenz  der 
rudimentären  Teile  vollkommen  unvereinbar  ist  mit  der  herrschen- 
den teleologischen  Dogmatik,  und  speziell  mit  der  duahstischen  An- 
nahme, daß  der  Organismus  in  allen  seinen  Teilen  zweckmäßig  ein- 
gerichtet sei,  daß  alle  Teile  durch  eine  Causa  finalis  bestimmt 
werden,  als  zwecktätige  Organe  zum  Besten  des  Ganzen  zusammen- 


XIX.  X.    Dysteleologie  oder  Unzweckmäßigkeitslehre.  323 

zuwirken,  so  können  nur  blinde  mechanische  „Causae  efficientes"' 
als  die  Ursachen  ihrer  Entstehung  gedacht  werden.  Die  einzig  mög- 
hche  Annahme,  welche  dieselben  zu  erklären  vermag,  welche  sie 
aber  auch  vollständig  und  in  der  befriedigendsten  Weise  erklärt,  ist 
aus  der  Deszendenztheorie  zu  entnehmen;  diese  behauptet,  daß  die 
kataplastischen  Teile  die  außer  Dienst  getretenen,  unbrauchbar  ge- 
wordenen Reste  von  wohl  entwickelten  Teilen  sind,  welche  in  den 
Voreltern  der  betreffenden  Organismen  zu  irgend  einer  Zeit  voll- 
ständig entwickelt,  funktionsfähig,  und  tatsächlich  wirksam  waren: 
und  diese  Erklärung  der  Abstammungslehre  wird  durch  die  Tat- 
sachen der  phylogenetischen  und  ontogenetischen  Entwickelungs- 
geschichte  vollkommen  bestätigt.  Daß  diese  früher  gut  entwickelten 
und  leistungsfähigen  Teile  später  in  der  jüngeren  Generation  der 
Spezies  leistungsunfähig  wurden,  und  verkümmerten,  liegt  zunächst 
und  unmittelbar  an  einer  Ernährungs Veränderung  des  betreffen- 
den Teils,  welche  durch  besondere  Anpassungsbedingungen  verursacht 
ist.  Diese  Adaptionsverhältnisse  können  sehr  verschiedener  Natur 
sein.  Die  größte  Rolle  spielt  dabei  gewöhnlich  der  Nichtgebrauch  des 
Organs,  die  mangelhafte  oder  ganz  ausfallende  Funktion.  Ebenso  wie 
durch  andauernden  Gebrauch  und  Übung  eines  bestimmten  Körper- 
teils dessen  Ernährung  und  damit  auch  das  Wachstum  gefördert 
wird,  wie  Gebrauch  und  Übung  zur  A'^ergrößerung  und  Verstärkung 
(Hypertrophie)  eines  Körperteils  führen,  ebenso  führt  umgekehrt  der 
mangelhafte  oder  unvollständige  Gebrauch  zur  Schwächung  und  x\b- 
nahme  desselben  (Atrophie),  indem  zunächst  das  Wachstum  und  die 
Ernährung  herabgesetzt  wird.  Indem  nun  diese  durch  Anpassung  an 
bestimmte  Existenzbedingungen  bewirkte  Modifikation  eines  Körper- 
teils von  dem  betreffenden  Organismus  auf  seine  Nachkommen  ver- 
erbt wird,  indem  durch  fortdauernden  Nichtgebrauch  des  abnehmen- 
den Organs  sich  die  Schwächung  desselben  häuft,  führt  dieser 
Generationen  hindurch  fortgesetzte  Mangel  an  Übung  endlich  zu 
einem  vollständigen  Ausfallen,  einem  gänzlichen  Schwunde  des  Or- 
gans. Es  werden  also  Körperteile,  welche  Generationen  hindurch 
gar  nicht  oder  nur  schwach  gebraucht  werden,  nicht  allein  beständig 
schwächer,  atrophischer,  rudimentärer,  sondern  ihr  Rückbildungs- 
prozeß, ihre  Kataplase,  führt  schließlich  zum  vollständigen  Schwunde, 
zum  vollendeten  „Abortus". 

Der  Weg,  auf  dem  die  rudimentären  Teile  entstehen,  ist  also 
offenbar  derselbe,  wie  derjenige,  auf  dem  neue  Teile  entstehen.    Nur 

21* 


324  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

die  Richtung  der  Bildungsbewegiiiiij;  ist  in  beiden  Fällen  entgegen- 
gesetzt. Ebenso  wie  bei  der  Neubildnng  eines  Organs  eine  Reihe 
von  vielen  Generationen  hindnrch  zahlreiche  kleine  Zunahmen  sich 
häufen,  und  so  endlich  zur  Entstehung  eines  ganz  neuen  Teils  führen, 
so  häufen  sich  bei  der  Rückbildung  eines  Organs  allmählich  zahl- 
reiche kleine  Abnahmen,  bis  dasselbe  nach  Verlauf  einer  größeren 
Generationsreihe  endlich  ganz  verschwindet.  Hier  wie  dort  sind  es 
die  Anpassung  und  die  Vererbung,  welche  zusammen  wirken  und 
welche,  im  Kampfe  ums  Dasein  wirksam,  die  natürliche  Zuchtwahl 
als  die  bildende  Ursache  erkennen  lassen. 

Wir  kommen  hierbei  zurück  auf  die  wichtige  Tatsache,  daß  die 
natürliche  Züchtung  keineswegs  immer  bloß  fortbildend,  anaplastisch, 
sondern  auch  rückbildend,  kataplastisch  wirkt.  Sobald  die  Existenz- 
bedingungen (z.  B.  beim  Parasitismus)  so  einfach  werden,  daß  der 
Organismus,  vorher  an  kompliziertere  Bedingungen  angepaßt,  seine 
entsprechend  komplizierten  Organe  nicht  mehr  braucht,  so  werden 
diejenigen  Individuen,  welche  sich  am  meisten  und  am  schnellsten 
zurückbilden,  diesen  einfacheren  Lebensbedingungen  sich  am  besten 
und  vollständigsten  anpassen,  und  daher  einen  Vorteil  im  Kampf 
ums  Dasein  vor  den  voUkommneren  Individuen  der  gleichen  Art  be- 
sitzen. So  entstehen  also  durch  natürliche  Zuchtwahl  nicht  nur  voll- 
kommnere,  sondern  auch  unvoUkommnere  Individuen  und  Organe. 
Ein  und  derselbe  Prozeß  führt  in  einem  Falle  zur  höheren  Aus- 
bildung und  Vervollkommnung  des  Organs  und  selbst  zur  Neubildung 
vorher  nicht  existierender  Teile,  im  anderen  Falle  dagegen  umgekehrt 
zur  Rückbildung  und  Verkümmerimg  desselben,  und  endlich  selbst 
zum  Verschwinden  mancher  existierenden  Teile.  Schon  hieraus  geht 
hervor,  daß,  wie  wir  in  den  beiden  vorhergehenden  Abschnitten 
zeigten,  die  Differenzierung  der  Organismen  keineswegs  immer  und 
notwendig  mit  einer  Vervollkommnung,  vielmehr  häufig  mit  ent- 
schiedener Rückbildung  verbunden  ist.  Es  ist  besonders  wichtig, 
hierbei  ins  Auge  zu  fassen,  daß  durch  den  Besitz  hoch  differen- 
zierter Teile  dem  Organismus  nicht  allein  Vorteile,  sondern  auch 
Lasten  erwachsen,  und  daß  also  das  Verschwinden  solcher  Teile, 
welche  immer  eine  bestimmte  Quantität  von  Nahrung  erfordern,  fih- 
ihn  ein  positiver  Vorteil  ist,  sobald  dieselben  nicht  mehr  in  Gebrauch, 
ihm  nicht  mehr  von  Nutzen  sind.  So  wird  für  eine  Vogelart,  welche 
aus  irgend  einem  Grunde  sich  das  Fliegen  abgewöhnt  und  sich  zum 
Laufen  ausbildet,  die  allmähliche  Verkümmerung  und  Reduktion  der 


XIX.  ^-    Dysteleologie  oder  Unzweckmäßigkeitslehre.  325 

Flügel  schon  allein  ans  dem  Grande  ein  großer  Vorteil  sein,  weil 
der  beträchtliche  Anfwand  von  Nahrungsniaterial,  den  die  Flügel 
erforderten,  nunmehr  dem  übrigen  Körper  zugute  kommt.  Die 
schwächere  Ernährung  der  oberen,  nicht  mehr  gebrauchten  Ex- 
tremitäten, wird  hier  unmittelbar  eine  entsprechend  stärkere  Er- 
nährung der  unteren,  allein  zur  Ortsbewegung  gebrauchten  Ex- 
tremitäten herbeiführen,  und  der  Auf bil düng  der  letzteren  wird  die 
Rückbildung  der  ersteren  parallel  gehen.  Für  ein  parasitisches 
Krustentier,  welches  in  der  Jugend  frei  beweglich  und  mit  Sinnes- 
organen versehen  ist,  wird  späterhin,  wenn  es  zur  parasitischen 
Lebensweise  übergegangen  ist  und  sich  festgesetzt  hat,  der  Verlust 
der  Sinnes-  und  Bewegungsorgane  ein  entschiedener  Vorteil  sein. 
Denn  dieselben  Ernährungssäfte,  dieselben  Massen  von  Materie, 
welche  vorher  für  die  Unterhaltung  und  Übung  jener  Organe  ver- 
wandt wurden,  können  nunmehr,  wo  diese  nicht  mehr  in  Wirksam- 
keit sind,  zur  Bildung  von  Fortpflanzungstoffen  verwandt  werden. 
Es  ist  also  die  möglichst  ausgedehnte  Rückbildung  und  der  eventuelle 
Schwund  der  unnützen  Teile  für  den  übrigen  Körper  von  ent- 
schiedenem Nutzen,  wie  wir  es  schon  nach  dem  Gesetz  der  wechsel- 
bezüglichen Anpassung,  bei  der  großen  Wichtigkeit  der  Wechsel- 
beziehungen der  verschiedenen  Körperteile  zueinander,  erwarten 
konnten.  Der  negative  Vorteil,  den  der  Verlust  bestimmter  über- 
flüssiger oder  schädlicher  Teile  dem  Organismus  gewährt,  wird  also 
im  Kampfe  um  das  Dasein  ebenso  züchtend  wirken,  wie  irgend  ein 
anderer  positiver  Vorteil.  Er  wird  die  Rückbildung  (Kataplase)  und 
endlich  die  vollständige  Vernichtung  (Abortus)  des  kataplastischen 
Teils  bewirken. 

Die  Parallele  zwischen  der  Phylogenie  und  Ontogenie  tritt  auch 
in  diesem  Falle  wiederum  auf  das  schlagendste  ans  Licht;  denn  die 
gesamte  individuelle  Entwickelungsgeschichte  der  rudimentären  Teile 
zeichnet  uns  in  kurzer  Z^t  mit  flüchtigen  aber  charakteristischen 
Strichen  die  Grundzüge  des  langen  und  langsamen  kataplastischen 
Prozesses,  durch  welchen  die  rudimentären  Teile  im  Laufe  vieler  Ge- 
nerationen durch  Anpassung  an  einfachere  Lebensbedingungen,  durch 
Nichtgebrauch,  NichtÜbung  etc.  von  ihrer  früheren  Ausbildungshöhe 
herabsanken.  Hier,  wenn  irgendwo,  kann  auch  der  eifrigste  Dualist, 
falls  er  nicht  ganz  mit  teleologischer  Blindheit  geschlagen  ist,  sich 
monistischen  Anschauungen  nicht  entziehen;  ja  dieselben  sind  hier 
sogar  unbewußt  schon  durch  den  Sprachgebrauch  ausgedrückt,  denn 


326  I^i^  Deszendenztheorie  uiul  die  Selektionstheorie.  XIX. 

die  Bezeiclinungen  der  „verkümmerten,  fehlgeschlagenen,  abortierten, 
atrophischen"  Teile  involvieren  selbstverständlich  die  Annahme  einer 
früher  dagewesenen  höheren  Ausbildung.  Bei  Betrachtung  der  para- 
sitischen Crustaceen  und  ihrer  regressiven  Metamorphose  muß  jeder 
Zweifel  verschwinden.  Hier  hört  jeder  dualistische  Erklärungsver- 
such auf.  Jede  Teleologie  unterhegt  dem  Gewichte  dieser  hand- 
greiflichen Argumente,  und  der  Monismus  feiert  durch  die  Deszendenz- 
theorie seinen  glänzendsten  Sieg. 

„Organe"  im  engeren  Sinne,  welche  die  Bezeichnungen  „rudimen- 
tärer, atrophischer,  abortiver,  fehlgeschlagener,  verkümmerter,  entarteter 
Organe"  etc.  verdienen  und  welche  wir  sämtlich  als  „kataplastische 
Organe"  zusammenfassen  wollen,  sind  in  der  gesamten  Organismen- 
welt so  außerordentlich  weit  verbreitet,  und  so  äußerst  mannigfaltig 
gebildet,  daß  die  gesamte  vergleichende  Anatomie  in  fast  allen  Orga- 
nismengruppen uns  eine  Fülle  von  schlagenden  Beispielen  liefert. 
Wir  wollen  nur  einige  der  wichtigsten  hervorheben. 

Am  auffallendsten  und  bemerkenswertesten  sind  diejenigen  Fälle 
von  kataplastischen  Organen,  bei  denen  eine  ganz  bestimmte,  spezielle 
und  besonders  ausgebildete  Funktion  eines  sehr  zusammengesetzten 
Organs  vollständig  aufgehoben  ist,  trotzdem  das  Organ  selbst  vor- 
handen ist.  Kein  Organ  des  tierischen  Körpers  ist  in  dieser  Beziehung 
vielleicht  so  außerordentlich  merkwürdig,  als  das  Auge,  und  die 
rudimentären  Augen  der  parasitischen  und  unterirdischen  Tiere  müssen 
selbst  dem  befangensten  und  blödesten  Naturforscherauge  die  Unmög- 
lichkeit teleologisch -vitalistischer  Erklärungen  klar  machen.  Wir 
finden  solche  rudimentäre  Augen  in  den  verschiedensten  Stadien  der 
Kataplase,  nicht  selten  noch  mit  vollständig  erhaltenen  lichtbrechenden 
Medien  und  dem  gesaraten  optischen  Apparate  der  ausgebildeten  und 
funktionierenden  Augen,  während  sie  doch  statt  der  durchsichtigen 
Cornea  vollständig  von  undurchsichtiger  Haut  bedeckt  sind,  so  daß 
kein  Lichtstrahl  in  sie  hineinfallen  kann.  Bei  parasitischen  und  be- 
sonders bei  Höhlen  bewohnenden  Tieren  der  verschiedensten  Gruppen 
können  wir  sie  von  diesem  ersten  Stadium  der  Kataplase  bis  zur 
vollständigen  Verkümmerung  und  endlich  zum  gänzlichen  Schwunde 
verfolgen.  Von  den  zahlreichen  Beispielen  erwähnen  wir  bloß:  von 
den  Säugetieren:  mehrere  Maulwürfe  {Talpa  caeca,  Chrysochloris) 
und  Bhndmäuse  {Spalax  typMus,  Ctenoymjs  etc.);  von  den  Reptilien: 
viele  unterirdisch  lebende  Eidechsen  und  Schlangen  {TypliUnc,  Diha- 
mus,  Äcontias  caecus,  AmpliisJmena,  TypJüops  etc.):  unter  den  Am- 


XIX.  '\-    Dysteleologie  oder  Unzwecknnißigkeitslehre.  327 

pliibien:  Caccilia,  Proteus  anguincus  und  andere  Proteiden;  unter 
den  Fischen:  die  YieX^xo^x^mx  (Ambhjopsis  spclaeus  und  Typhlichtliys 
suhferraneus),  einige  Welse  {Silnrns  caecidicns),  einige  Aale  {Aptcr- 
ichtliijs  caccus),  und  die  parasitischen  Myxinoiden  (besonders  Gastro- 
hranchus  caecus).  Noch  viel  zahlreicher,  als  unter  den  Wirbeltieren, 
sind  Beispiele  von  rudimentären  Augen  unter  allen  Abteilungen  der 
Wirbellosen  zu  finden,  besonders  bei  Parasiten,  Höhlenbewohnern, 
und  solchen,  die  auf  dem  dunkeln  Grunde  des  tiefen  Meeres  leben: 
wir  erinnern  bloß  an  die  zahlreichen  blinden  Insekten  (besonders 
Hymenoptereu  und  Käfer),  Arachniden,  Crustaceen,  Schnecken. 
Würmer  etc.  Alle  Stadien  der  paläontologischen  Kataplase  sind  hier 
anzutreffen  und  liefern  die  unwiderlegiichsten  Beweise  für  die  Des- 
zendenztheorie. 

Nächst  den  Gesichtsorganen  sind  es  vorzüglich  die  Flugorgane, 
welche  unter  den  kataplastischen  Organen  besonders  merkwürdig  und 
wichtig  sind.  Wir  haben  bloß  zwei  Tierklassen  mit  entwickelten 
Flugorganen,  welche  hier  in  Betracht  kommen,  die  Vögel  und  die 
Insekten:  denn  die  unvollkommenen  Flügel  (Brustflossen)  der  fliegenden 
Fische  {Dadylopteriis,  Exocoetus,  Pegasus),  sowie  der  fliegenden 
Leguane  (Draco),  Beuteltiere  (Petaurus),  Nagetiere  (Pteroiui/s)  und 
Dermopteren  {Gcdeopiihccus),  sind  erst  werdende  (anaplastische), 
nicht  verkümmernde  Flugorgane,  und  unter  den  fliegenden  Fleder- 
mäusen und  Pterodactylen  mit  vollkommen  entwickelten  Flugorganen 
sind  uns  keine  rudimentären  oder  verkümmerten  Fälle  bekannt.  Unter 
den  Vögeln  sind  dm-cli  die  mehr  oder  weniger  weit  gehende  Reduktion 
der  Flugwerkzeuge  vorzüglich  diejenigen  ausgezeichnet,  welche  sich 
das  Laufen  angewöhnt  und  dabei  das  Fliegen  verlernt  haben:  die 
merkwürdige  Ordnung  der  Cursores:  Strauß,  Rhea,  Kasuar,  Apteryx, 
Didus.  Als  rudimentäre  Flugorgane  können  auch  die  Flügel  der 
Pinguine  {Aptenodytes),  betrachtet  werden,  welche  jedoch  in  gute 
Scliwimmorgane  umgewandelt,  und  daher  nicht  so  ohne  Funktion, 
wie  die  Flügel  der  Cursores  oder  Laufvögel  sind.  Unter  den  Insekten 
sind  die  Beispiele  von  rudimentären  oder  verkümmerten  Flügeln  in 
allen  Ordnungen,  und  in  sehr  vielen  Famihen,  so  überaus  zahlreich, 
daß  wir  in  dieser  Beziehung  einfach  auf  die  Handbücher  der  Entomologie 
verweisen  können.  Es  finden  sich  hier  nicht  allein  viele  Arten,  bei 
denen  eines  der  beiden  Geschlechter  (gewöhnlich  das  Weibchen)  flügel- 
los, das  andere  (gewöhnlich  das  Männchen)  geflügelt  ist,  sondern 
auch  viele  Gattungen,   von  denen   einzelne  Arten  mit   i-udimentären, 


328  Die  Deszendenztheorie  und  die  Selel^tionstiieorie.  XIX. 

die  andern  mit  entwickelten  Flügeln  versehen  sind,  ferner  ganze 
flügellose  Gattungen  neben  anderen  geflügelten  Gattungen  derselben 
Familie,  flügellose  Familien  neben  geflügelten  Familien  derselben 
Ordnung,  und  endlich  eine  so  große  Gruppe  von  niederen  flügellosen 
Insekten  ohne  Yerwandlung,  daß  man  dieselben  sogar  als  eine  be- 
sondere Ordnung  unter  dem  Namen  der  flügellosen  Insekten  (Aptera) 
vereinigt  hat.  Die  Flugwerkzeuge  finden  sich  in  allen  diesen  Fällen 
auf  den  verschiedensten  Stadien  der  paläontologischen  Kataplase,  so 
daß  über  ihre  Verkümmerung  durch  natürliche  Züchtung  gar  kein 
Zweifel  existieren  kann.  Es  sind  aber  diese  Fälle  um  so  wichtiger, 
als  offenbar  alle  anatomischen  und  morphogenetischen  Verhältnisse 
der  Insekten  bestimmt  darauf  hinweisen,  daß  alle  Mitglieder  der 
Insektenklasse,  in  dem  Umfange,  in  welchem  wir  heutzutage  dieselbe 
kennen  (also  auch  aUe  jetzt  lebenden  Insekten  aller  Ordnungen)  von 
gemeinsamen  geflügelten  Voreltern  abstammen,  und  daß  demnach 
alle  gegenwärtig  existierenden  Fälle  von  Insekten  mit  rudimentären 
Flügeln  (ebenso  wie  alle  Fälle  von  Vögeln  mit  rudimentären  Flügeln) 
einer  phylogenetischen  Kataplase  durch  natürliche  Zuchtwahl  ihren 
Ursprung  verdanken. 

Wie  die  Flugwerkzeuge,  so  liefern  uns  auch  die  übrigen  Be- 
wegungsorgane der  Tiere  eine  endlose  Fülle  von  schlagenden  Bei- 
spielen für  die  Dysteleologie.  Es  gehören  hierher  die  interessantesten 
Phänomene  aus  der  vergleichenden  Anatomie  der  aktiven  (Muskeln) 
und  passiven  Bewegungsw^erkzeuge  (Skeletteile).  Wir  erinnern  bloß 
an  einen  der  wichtigsten  und  am  besten  bekannten  Teile  der  ver- 
gleichenden Anatomie,  an  die  komparative  Osteologie  und  Myologie 
der  Wirbeltiere.  Wie  dieser  Teil  der  Morphologie  von  den  geist- 
reichsten vergleichenden  Anatomen  aller  Zeiten,  von  Aristoteles 
an  bis  auf  Goethe,  Cuvier,  Johannes  Müller,  Gegenbaur  und 
Huxley,  mit  Recht  als  besonderer  Lieblingszweig  bevorzugt  worden 
ist,  und  wie  er  uns  auf  jeder  Seite  die  schlagendsten  Beweise  für 
die  Deszendenztheorie  in  Hülle  und  Fülle  liefert,  so  bereichert  der- 
selbe auch  die  Dysteleologie  mit  einer  solchen  Masse  von  Material, 
daß  es  schwer  wird,  einzelne  Fälle  besonders  hervorzuheben.  Es 
gibt  fast  keinen  Teil  des  Wirbeltierskelets  und  der  Wirbeltiermuskulatur, 
welcher  nicht  durch  alle  Stadien  der  phylogenetischen  Kataplase 
hindurch  (in  sehr  vielen  Fällen  sogar  bis  zum  vollständigen  Schwunde) 
zu  verfolgen  wäre.  Ganz  vorzüglich  gilt  dies  von  den  Extremitäten. 
Wir   erinnern   bloß  daran,    daß   alle   uns  bekannten  Wirbeltiere  mit 


XIX.  X-   Dysteleologie  oder  Uiizweckmäßigkeitslehre.  329 

Ausnahme  des  Ampliioxu>i  und  der  Cydostomen)  von  genieinsanien 
arcliozoisclien  Voreltern  abstammen,  welche  zwei  Extremitätenpaare, 
ein  Paar  Vorderbeine  (Brustflossen)  und  ein  Paar  Hinterbeine  (Bauch- 
flossen) besaßen,  und  daß  diese  vier  Extremitäten  sowohl  unter  den 
jetzt  noch  lebenden  Vertebraten,  als  unter  ihren  ausgestorbenen  Vor- 
eltern, durch  alle  Stadien  der  historischen  Rückbildung  oder  der 
phylogenetischen  Kataplase  hindurch  zu  verfolgen  sind,  und  zwar 
sowohl  die  ganzen  Extremitäten,  als  alle  ihre  einzelnen  Teile,  von 
letzteren  namentlich  auch  die  fünf  Zehen  (welches  offenbar  die  ur- 
sprüngliche Zeilenzahl  für  jeden  Fuß  der  gemeinsamen  Stammeltern 
aller  höheren  Wirbeltiere  von  den  Amphibien  aufwärts  war).  Den 
Gipfel  der  paläontologischen  Reduktion  der  vier  ursprünglichen  Wirbel- 
tierextremitäten finden  wir  erreicht  in  ihrem  vollständigen  Schwunde 
bei  den  meisten  Schlangen  und  bei  den  flossenlosen  Fischen  {Apter- 
ichthijs.  Uropterygius,  Oymnothorax  und  anderen  Aalen).  Übrigens 
sind  auch  bei  allen  Klassen  der  Wirbellosen  die  Beispiele  von  teil- 
weiser und  vollständiger  Kataplase  der  aktiven  und  passiven  Be- 
wegungsorgane, und  besonders  der  Extremitäten,  so  außerordentlich 
zahlreich  und  mannigfaltig,  daß  wir  in  der  Tat  keinen  besonderen 
Fall  hervorzuheben  brauchen.  Die  auffallendsten  Beispiele  liefern 
die  Gliedertiere,  vorzüglich  die  Parasiten  in  den  verschiedenen  Ordnungen 
der  Insekten,  Crustaceen  etc. 

Auch  unter  den  Ernährungs Organen  finden  wir  alle  möghchen 
Stadien  der  phylogenetischen  Kataplase  durch  natürliche  Züchtung. 
Alle  einzelnen  Teile  der  Verdauungs-  und  Zirkulationsorgane,  der 
Respirations-  und  Sekretionsorgane,  sowie  diese  ganzen  Organapparate 
selbst,  können  teilweise  oder  vollständig  der  historischen  Rückbildung 
im  Kampf  ums  Dasein  unterhegen.  Eine  Menge  von  besonders  ein- 
fachen und  schlagenden  Beispielen  hefert  das  Gebiß  der  Wirbeltiere 
und  besonders  der  Säugetiere.  NamentKch  sind  hier  die  von  Darwin 
angezogenen  Beispiele  der  Wiederkäuer  und  Cetaceen  von  Interesse. 
Die  Kälber  der  Rinder  besitzen  vor  der  Geburt  im  Oberkiefer  ver- 
borgene Zähne,  welche  niemals  den  Kiefer  durchbrechen.  Ebenso 
besitzen  die  Embryonen  der  zahnlosen  Bartenwale  in  beiden  Kiefern 
Zähne,  die  niemals  in  Funktion  treten.  Bei  den  meisten  Ordnungen 
der  Säugetiere  sind  einzelne  Zähne  des  kompleten  Gebisses  rudimentär 
geworden,  welches  die  gemeinsamen  Voreltern  der  Mamm allen  besaßen, 
bei  der  einen  die  Schneide-,  bei  der  anderen  die  Eck-,  bei  der  dritten 
die  Backzähne.     Bei  den  Edentaten  geht  diese  Reduktion  noch  viel 


330  I^^^'  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

weiter  und  wird  oft  ganz  Yollständig  und  allgemein.  Die  Speichel- 
drüsen werden  bei  vielen  im  Wasser  lebenden  Säugetieren  rudimentär, 
so  namentlich  bei  den  Pinnipedien  und  den  karnivoren  Cetaceen, 
bei  welchen  letzteren  sie  gänzlich  schwinden.  Sehr  häufig  werden 
auch  andere  Drüsen  und  Anhänge  des  Darmkanals  rudimentär, 
z.  B.  ein  Teil  der  Kiemen,  die  Appendices  pyloricae  und  die 
Schwimmblase  bei  vielen  Fischen. 

Beim  Menschen  ist  als  ein  solcher  rudimentärer  Darmanhang 
besonders  der  Processus  vermiformis  des  Blinddarms  hervorzuheben. 
Er  verdient  deshalb  besondere  Berücksichtigung,  weil  er  nicht  nur 
ein  unnützes,  sondern  sogar  ein  entschieden  schädliches  und 
gefährliches  „nulimentäres  Organ"  darstellt.  BekanntHch  veran- 
laßt das  Steckenbleiben  von  Fruchtkernen  u.  dergl.  im  Wurmanhang 
sehr  häufig  Entzündungen  desselben  und  seiner  Umgebung  (Typhlitis, 
Perit}T)hlitis),  w^elche  meistens  letalen  Ausgang  haben.  Dagegen  ist 
die  Verödung  und  Verwachsung  desselben  infolge  einer  solchen 
Entzündung  durchaus  mit  keinem  Nachteil  für  den  menschlichen 
Organismus  verbunden.  Es  ist  daher  zu  erwarten,  daß  die  natürliche 
Züchtung  denselben  vollständig  zum  Verschwinden  bringen  wird. 

Ganz  vollständige  Verkümmerung  des  Darmkanals  bis  zum 
Schwinden  findet  sich  bei  einigen  Imagines  (namentlich  Männchen) 
von  Insekten  (deren  Larven  einen  Darm  besitzen),  ferner  bei  einigen 
Crustaceen  und  vielen  Würmern,  besonders  den  Acanthocephalen  und 
Cestoden,  deren  Voreltern  zweifelsohne  einen  Darm  besessen  haben. 
Nicht  minder  zahlreich  und  mannigfaltig  sind  die  dysteleologischen 
Beispiele  im  Bereiche  des  Zirkulationssystems.  Wir  erinnern  bloß 
daran,  daß  von  den  mehrfachen  (6 — 7)  Aortenbogenpaaren,  welche 
die  gemeinsamen  Voreltern  aller  uns  bekannten  Wirbeltiere  besaßen, 
die  meisten  Vertebiaten  nur  einen  oder  einige  Bogen  entwickelt,  den 
größeren  Teil  verkümmert  zeigen,  und  daß  von  den  beiden  abdominalen 
Aortenstämmen  bei  den  Vögeln  der  linke,  bei  den  Säugern  der  rechte 
atrop liiert.  Vollständigen  Schwund  des  Zirkulationssystems,  und 
ebenso  auch  des  Respirationssystems  finden  wir  bei  vielen  durch 
Parasitismus  rückgebildeten  Tieren,  besonders  Gliedertieren.  Durch 
Schwund  einer  von  beiden  Lungen  zeichnen  sich  die  meisten  Schlangen 
und  viele  schlangenähnliche  Eidechsen  aus.  Partieller  Schwund  der 
Kiemen  (an  der  Zahlenreduktion  der  Kiemenblattreihen  sehr  deutlich 
nachzuweisen)  findet  sich  bei  vielen  Fischen.  Ebenso  erleiden  die 
verschiedenartigen    Sekretions-    und   Exkretionsorgane    in    den    ver- 


XIX.  X.    Dysteleologie  oder  Unzwecknüißigkeitslehre.  331 

schiedeneii   Tierklassen,   oft  bei   nahe  verwandten   Arten,   den   ver- 
schiedensten Grad  der  Kataplase. 

Anch  die  Fortpflanzungsorgane  liefern  uns  eine  Fülle  der 
trefflichsten  dysteleologischen  Beweise,  die  besonders  dann  von  Interesse 
sind,  wenn  die  Sexualorgane  bei  beiden  Geschlechtern  in  derselben 
Form  angelegt  und  ursprünglich  in  der  Weise  differenziert  sind,  daß 
beim  männlichen  Geschlecht  eine  Reihe,  beim  weiblichen  Geschlecht 
eine  andere  Reihe  von  Teilen  rudimentär  geworden  ist.  während  eine 
dritte  Reihe  bei  beiden  Geschlechtern  zur  vollständigen  Entwickelung 
gekommen  ist.  Auch  hier  wieder  sind  die  Wirbeltiere  und  namentlich 
die  Säugetiere  von  besonderer  Wichtigkeit.  Hier  werden  beim  Manne  die 
MüUerschen  Fäden  rudimentär  und  nur  die  Reste  ihres  unteren  Endes 
bilden  den  Uterus  masculinus  (die  Vesicula  prostatica).  die  Reste 
des  oberen  Endes  die  Morgagnische  Cyste  des  Nebenhodenkopfs, 
während  beim  Weibe  Uterus  und  Eileiter  aus  denselben  MüUerschen 
Fäden  gebildet  werden.  Umgekehrt  verhalten  sich  die  Wölfischen 
Gänge  oder  die  Ausführungsgänge  der  Primordialnieren.  welche  beim 
Weibe  (als  sogenannte  „Gartnersche  Kanäle")  rudimentär  werden, 
während  dieselben  beim  Manne  sich  zu  den  Samenleitern  ausbilden. 
Ebenso  schwinden  auch  beim  Weibe  die  Urnieren  selbst  (oder  die 
Wolffschen  Körper),  indem  als  abortiver  Rest  derselben  bloß  die 
Rosenmüllerschen  Organe  oder  Nebeneierstöcke  (Parovaria)  übrig 
bleiben,  wogegen  aus  denselben  beim  ]\Iaune  sich  der  Nebenhoden 
(Epididymis)  entwickelt.  Was  dagegen  die  äußeren  Genitalien  be- 
trifft, die  ebenso  wie  die  inneren  bei  beiden  Geschlechtern  aus  der- 
selben gemeinschaftlichen  Grundlage  sich  entwickeln,  so  ist  die  weibliche 
Clitoris.  welche  dem  männlichen  Penis  entspricht,  nicht  als  ein 
rudimentäres  kataplastisches,  sondern  als  ein  werdendes  Organ  zu 
betrachten.  Die  ^Milchdrüsen  (Mammae)  und  die  dazu  gehörigen 
Milchzitzen  (Bnistwarzen)  der  Säugetiere  finden  sich  ebenfalls  bei 
beiden  Geschlechtern  der  Säugetiere,  beim  männlichen  aber  bloß 
rudimentär.  Bisweilen  können  sie  auch  hier  wieder  in  Funktion 
treten  und  sich  nochmals  anaplastisch  entwickeln,  wie  die  bekannten 
Beispiele  von  säugenden  Männern  und  Ziegenböcken  beweisen,  welche 
durch  A.  v.  Humboldt  und  andere  sichere  Gewährsmänner  festge- 
stellt sind.  Bei  den  alten  gemeinsamen  Voreltern  der  Säugetiere 
haben  demnach  wahrscheinlich  beide  Geschlechter  die  Jungen  gesäugt 
und  erst  später  ist  zwischen  Beiden  die  Arbeitsteilung  des  Säuge- 
g'eschäfts  eingetreten. 


332  Di^  Deszendenztheorie  nnd  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Im  Pflanzenreiche  haben  die  rudimentären  Organe,  hier  ge- 
wöhnUch  als  ..fehlgeschlagene  oder  abortierte"  bezeichnet,  schon  seit 
langer  Zeit  weit  mehr  Beachtung  als  im  Tierreiche  gefunden,  obwohl 
auch  hier  die  wahre  Erklärung  der  längst  bekannten,  aber  immer 
falsch  gedeuteten  Tatsachen  erst  durch  die  Deszendenztheorie  möglich 
geworden  ist.  In  allen  iVbteilungen  des  Pflanzenreichs  sind  rudimentäre 
Organe,  und  bei  den  Kormophyten  sowohl  Blatt-  als  Stengelorgane, 
in  entschieden  kataplastischem  Zustand  sehr  leicht  nachzuweisen. 
Doch  müssen  wir  auch  hier  ebenso  wie  im  Tierreiche  wohl  unter- 
scheiden zwischen  werdenden  (anaplastischen)  und  rückschreitenden 
(kataplastischen)  Organen,  welche  letzteren  allein  den  Namen  der 
„rudimentären  Organe"  in  engerem  Sinne  verdienen.  Diese  wichtige 
theoretische  Unterscheidung  ist  oft  sehr  schwierig,  sowohl  bei  rudi- 
mentären Blatt-  als  Stengelorganen.  Als  unzweifelhaft  kataplastische 
Ernährungsorgane  können  wir  z.  B.  die  haarförmigen,  borsten- 
förmigen  und  schuppenförmigen  Blattrudimente  der  Kakteen,  des 
Ruscus^  vieler  Schmarotzer  (Orobanchc,  Lathraea)  etc.  ansehen. 
Äußerst  verbreitet  sind  kataplastische  Blätter  in  den  Fortpflanzungs- 
organen (Blütenteilen)  der  Phanerogamen,  von  denen  wohl  die  aller- 
meisten jetzt  lebenden  Arten  dergleichen  besitzen.  Es  ist  nämlich 
aus  vielen  (besonders  promorphologischen)  Gründen  zu  vermuten,  daß 
die  homotypisclie  Grundzahl  oder  die  Antimerenzahl  (bei  den  Mono- 
cotyledonen  ganz  vorherrschend  drei,  bei  den  Dicotyledonen  fünf, 
seltener  vier)  ursprünglich  in  allen  Blattkreisen  (Metameren)  der 
Blüte  dieselbe  gewesen  ist,  und  daß  erst  durch  nachträgliche  Reduktion 
(Kataplase)  einzelner  Antimeren  in  einzelnen  Blattkreisen  die  betreffen- 
den Geschlechtsorgane  rückgebildet  worden  oder  verloren  gegangen 
sind.  Am  häufigsten  trifft  diese  phylogenetische  Kataplase  die  weib- 
lichen, viel  seltener  die  männlichen  Geschlechtsteile,  und  von  den 
BlüteuhüUblättern  viel  häufiger  die  Krone,  als  den  Kelch.  In  sehr 
zahlreichen  Fällen  liefert  uns  noch  gegenwärtig  die  Ontogenie  der 
Blüte  den  unwiderleglichen  Beweis  dafür,  indem  die  später  verküm- 
mernden Teile  in  der  ursprünglichen  Anlage  nicht  allein  vorhanden, 
sondern  auch  ebenso  gut  entwickelt  sind,  als  diejenigen,  welche  später 
allein  vollständig  ausgebildet  erscheinen.  Doch  ist  es  auch  hier  oft 
sehr  schwer,  zwischen  der  bloßen  Hemmungsbildung  (d.  h.  dem  Stehen- 
bleiben einzelner  Organe  auf  früherer,  niederer  Stufe  und  der  ein- 
seitigen Ausbildung  anderer  koordinierter  Organe)  und  der  wirkHchen 
paläontologischen  Rückbildung  zu  unterscheiden.    Die  letztere  scheint 


XIX.  XI.    Oekologie  und  Chorologie.  333 

jedoch  im  ganzen  sehr  viel  häufiger  als  die  ersterc  zu  sein.  Die 
besonderen  Verhältnisse  der  natürlichen  Züchtung,  welche  im  Kampfe 
um  das  Dasein  diese  äußerst  häufige  Reduktion  einzelner  Geschlechts- 
organe bedingt  haben  und  noch  jetzt  beständig  begünstigen,  sind  uns 
noch  ganz  unbekannt.  Je  geringer  aber  das  physiologische,  um  so 
höher  ist  das  morphologische  Interesse  dieser  für  die  Dysteleologie 
äußerst  Avichtigen  Erscheinungsreihen. 

Die  gesamte  vergleichende  Anatomie  der  Phanerogamenblüten 
liefert  solche  Massen  von  Beispielen  für  die  phylogenetische  Kataplase 
einzelner  Geschlechtsorgane,  daß  wir  hier  nur  ein  paar  Exempel  für 
beiderlei  Genitalien  erwähnen  w^ollen.  Die  weiblichen  Genitalien, 
welche  hierin  am  meisten  ausgezeichnet  sind,  bieten  dergleichen  fast 
überall.  Von  den  drei  Griffeln  der  Gräser  ist  der  eine  abortiert, 
ebenso  meist  die  eine  von  den  drei  Narben  der  Cyperaceen.  Von 
den  fünf  Griffeln  der  Umbelliferen  sind  drei  verkümmert,  von  den 
fünf  Griffeln  der  Parnassia  nur  einer.  Die  Reduktion  eines  Teiles 
der  männlichen  Genitalien  charakterisiert  oft  große  „natürliche 
Familien"'  der  Phanerogamen.  So  ist  z.  B.  bei  den  Labiaten  (Didynamia) 
von  den  ursprünglichen  fünf  Staubfäden  fast  immer  einer,  bisweilen 
aber  auch  drei  fehlgeschlagen  (z.  B.  Lycopus,  Bosmarinus,  Salvia). 
Ebenso  sind  bei  den  Kruziferen  (Tetradynamia)  fast  allgemein  von 
den  ursprünglichen  acht  Staubfäden  zwei  (der  dorsale  und  ventrale 
des  äußeren  Kreises)  abortiert,  bisweilen  aber  auch  sechs  {Lepidium 
ruderale).  Ebenso  geht  sehr  häufig  das  eine  oder  andere  Blatt  aus 
den  vollzähligen  Blattkreisen  der  Blütenhüllen,  des  Kelchs  und  be- 
sonders der  Krone  verloren.  . 

XI.    Oekologie  und  Chorologie. 

In  den  vorhergehenden  Abschnitten  haben  wir  wiederholt  darauf 
hingewiesen,  daß  alle  großen  und  allgemeinen  Erscheinungsreihen 
der  organischen  Natur  ohne  die  Deszendenztheorie  vollkommen  un- 
verständliche und  unerklärliche  Rätsel  bleiben,  während  sie  durch 
dieselbe  eine  ebenso  einfache  als  harmonische  Erklärung  erhalten. 
Dies  gilt  in  ganz  vorzüglichem  Maße  von  zwei  biologischen  Phänomen- 
komplexen, welche  wir  schließlich  noch  mit  einigen  Worten  besonders 
hervorheben  wollen,  und  welche  das  Objekt  von  zwei  besonderen, 
bisher  meist  in  hohem  Grade  vernachlässigten  physiologischen  Dis- 
ziplinen bilden,  von  der  Oekologie  und  Chorologie  der  Organismen. 


334  I^ip  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Unter  Oekologie  verstehen  wir  die  gesamte  Wissenschaft 
von  den  Beziehungen  des  Organismus  zur  umgebenden 
Außenwelt,  wohin  wir  im  weiteren  Sinne  alle  „Existenzbedin- 
gungen" rechnen  können.*)  Diese  sind  teils  organischer,  teils  an- 
organischer Natur:  sow^ohl  diese  als  jene  sind,  wie  wir  vorher  ge- 
zeigt haben,  von  der  größten  Bedeutung  für  die  Form  der  Organismen, 
weil  sie  dieselbe  zwingen,  sich  ihnen  anzupassen.  Zu  den  anorganischen 
Existenzbedingungen,  welchen  sich  jeder  Organismus  anpassen  muß, 
gehören  zunächst  die  physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften 
seines  Wohnortes,  das  Klima  (Licht,  Wärme,  Feuchtigkeits-  und 
Elektrizitätsverhältnisse  der  Atmosphäre),  die  anorganischen  Nahrungs- 
mittel, Beschaffenheit  des  Wassers  und  des  Bodens  etc. 

Als  organische  Existenzbedingungen  betrachten  wir  die  sämt- 
lichen Verhältnisse  des  Organismus  zu  allen  übrigen  Organismen, 
mit  denen  er  in  Berührung  kommt,  und  von  denen  die  meisten  ent- 
weder zn  seinem  Nutzen  oder  zu  seinem  Schaden  beitragen.  Jeder 
Organismus  hat  unter  den  übrigen  Freunde  und  Feinde,  solche, 
w^elche  seine  Existenz  begünstigen  und  solche,  welche  sie  beein- 
trächtigen. Die  Organismen,  w^elche  als  organische  Nahrungsmittel 
für  andere  dienen,  oder  welche  als  Parasiten  auf  ihnen  leben,  ge- 
^^«liören  ebenfalls  in  diese  Kategorie  der  organischen  Existenzbedingun- 
gen. Von  welcher  ungeheuren  Wichtigkeit  alle  diese  Anpassungs- 
verhältnisse für  die  gesamte  Formbildung  der  Organismen  sind,  wie 
insbesondere  die  organischen  Existenzbedingungen  im  Kampfe  um 
das  Dasein  noch  viel  tiefer  umbildend  auf  die  Organismen  ein- 
wirken, als  die  anorganischen,  haben  wir  in  unserer  Erörterung 
der  Selektionstheorie  gezeigt.  Der  außerordentlichen  Bedeutung  dieser 
Verhältnisse  entspricht  aber  ihre  wissenschaftliche  Behandlung  nicht 
im  mindesten.  Die  Physiologie,  welcher  dieselbe  gebührt,  hat  bis- 
her in  höchst  einseitiger  Weise  fast  bloß  die  Konservationsleistungen 
der  Organismen  untersucht  (Erhaltung  der  Individuen  und  der  Arten, 
Ernährung  und  Fortpflanzung),  und  von  den  Relationsfunktionen 
bloß  diejenigen,  welche  die  Beziehungen  der  einzelnen  Teile  des  Or- 
ganismus zu  einander  und  zum  Ganzen  herstellen.  Dagegen  hat  sie 
die  Beziehungen  desselben  zur  Außenwelt,  die  Stellung,  welche  jeder 
Organismus  im  Naturhaushalte,   in   der  Ökonomie  des  Naturganzen 


*)  Anni.  (190G).  Die  Bezeiclmung  Oekoloj!;ie  ist  später  Ijald  durch 
Bionomie,  bald  durch  Ethologie  ersetzt  worden.  Vielfach  wird  sie  auch 
noch  Biologie  schlechtweg  (im  engsten  Sinne!!)  genannt. 


XIX.  XI.    Oekologie  und  Chorologie.  B35 

einnimmt,  in  hohem  Grade  vernachlässigt,  und  die  Sammhing-  der 
hierauf  bezüghchen  Tatsachen  der  kritiklosen  „Naturgeschichte"  über- 
lassen, ohne  einen  Versuch  zu  ihrer  mechanischen  Erklärung  zu 
machen. 

Diese  große  Lücke  der  Physiologie  wird  nun  von  der  Selektions- 
theorie und  der  daraus  unmittelbar  folgenden  Deszendenztheorie  voll- 
ständig ausgefüllt.  Sie  zeigt  uns,  wie  alle  die  unendlich  komplizierten 
Beziehungen,  in  denen  sich  jeder  Organismus  zur  Außenwelt  be- 
findet, wie  die  beständige  Wechselwirkung  desselben  mit  allen  or- 
ganischen und  anorganischen  Existenzbedingungen  nicht  die  vor- 
bedachten Einrichtungen  eines  planmäßig  die  Natur  bearbeitenden 
Schöpfers,  sondern  die  notwendigen  Wirkungen  der  existierenden 
Materie  mit  ihren  unveräußerlichen  Eigenschaften,  und  deren  kon- 
tinuierlicher Bewegung  in  Zeit  und  Raum  sind.  Die  Deszendenz- 
theorie erklärt  uns  also  die  Haushaltsverhältnisse  der  Organismen 
mechanisch,  als  die  notwendigen  Folgen  wirkender  Ursachen,  und 
bildet  somit  die  monistische  Grundlage  der  Oekologie.  Ganz  das- 
selbe gilt  nun  auch  von  der  Chorologie  der  Organismen. 

Unter  Chorologie  verstehen  wir  die  gesamte  Wissenschaft 
von  der  räumlichen  Verbreitung  der  Organismen,  von  ihrer 
-geographischen  und  topographischen  Ausdehnung  über  die  Erdober- 
fläche. Diese  Disziplin  hat  nicht  bloß  die  Ausdehnung  der  Stand- 
orte und  die  Grenzen  der  Verbreitnngsbezirke  in  horizontaler  Richtung 
zu  projizieren  sondern  auch  die  Ausdehnung  der  Organismen  ober- 
halb und  unterhalb  des  Meeresspiegels,  ihr  Herabsteigen  in  die 
Tiefen  des  Ozeans,  ihr  Heraufsteigen  auf  die  Höhen  der  Gebirge  in 
vertikaler  Richtung  zu  verfolgen.  Im  weitesten  Sinne  gehört  mithin 
die  gesamte  „Geographie  und  Topographie  der  Tiere  und  Pflanzen" 
hierher,  sowie  die  Statistik  der  Organismen,  welche  diese  Verbreitungs- 
Verhältnisse  mathematisch  darstellt.  Nun  ist  zwar  dieser  Teil  der 
Biologie  in  den  letzten  Jahren  mehr  als  früher  Gegenstand  der 
Aufmerksamkeit  geworden.  Insbesondere  hat  die  „Geographie  der 
Pflanzen"  durch  die  Bemühungen  Alexander  von  Humboldts 
und  P'rederik  Schouws  lebhaftes  und  allgemeines  Interesse  erregt. 
Auch  die  Geographie  der  Tiere  ist  von  Berghaus.  Seh  mar  da  und 
anderen  als  selbständige  Disziplin  bearbeitet  worden.  Indessen  ver- 
folgten alle  bisherigen  Versuche  in  dieser  Richtung  entweder  vor- 
wiegend oder  selbst  ausschließlich  nur  das  Ziel  einer  Sammlung  und 
geordneten   Darstellung  der  chorologischen  Tatsachen,   ohne  nach 


336  Di^  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

den  Ursachen  derselben  zu  forschen.  Man  suchte  zwar  die  unmittel- 
bare Abhängigkeit  der  Organismen  von  den  unentbehrlichen  Exi- 
stenzbedingungen vielfach  als  die  nächste  Ursache  ihrer  geographischen 
und  topographischen  Verbreitung  nachzuweisen,  wie  sie  dies  zum  Teil 
auch  ist.  Allein  eine  tiefere  Erkenntnis  der  weiteren  Ursachen,  und 
des  kausalen  Zusammenhangs  aller  chorologischen  Erscheinungen  war 
unmöglich,  solange  das  Dogma  von  der  Spezieskonstanz  herrschte 
und  eine  vernünftige,  monistische  Beurtheilung  der  organischen  Natur 
verhinderte.  Erst  durch  die  Deszendenztheorie,  welche  das  erstere 
vernichtete,  wurde  die  letztere  möghch,  und  wurde  eine  ebenso  klare, 
als  durchschlagende  Erklärung  der  chorologischen  Phänomene  ge- 
geben. Im  elften  und  zwölften  Kapitel  seines  Werkes  hat  Charles 
Darwin  gezeigt,  wie  alle  die  unendlich  verwickelten  und  mannig- 
faltigen Beziehungen  in  der  geographischen  und  topographischen 
Verbreitung  der  Tiere  und  Pflanzen  sich  aus  dem  leitenden  Grund- 
gedanken der  Deszendenztheorie  in  der  befriedigendsten  Weise  er- 
klären, während  sie  ohne  denselben  vollständig  unerklärt  bleiben. 
Wir  verweisen  hier  ausdrücklich  auf  jene  geistvolle  Darstellung,  da 
wir  an  diesem  Orte  keine  Veranlassung  haben,  auf  den  Gegenstand 
selbst  näher  einzugehen. 

Alle  Erscheinungen,  welche  uns  die  rein  empirische  Chorologie 
als  Tatsachen  kennen  gelehrt  hat  —  die  Verbreitung  der  verschie- 
denen Organismenarten  über  die  Erde  in  horizontaler  und  vertikaler 
Richtung;  die  Ungleichartigkeit  und  veränderliche  Begrenzung  dieser 
Verbreitungsbezirke;  das  Ausstrahlen  der  Arten  von  sogenannten 
„Schöpfungsmittelpunkten-';  die  zunehmende  Variabilität  an  den 
Grenzen  der  Verbreitungsbezirke;  die  nähere  Verwandtschaft  der 
Arten  innerhalb  eines  engeren  Bezirkes;  das  eigentümhche  Verhält- 
nis der  Süßwasserbewohner  zu  den  Seebewohnern,  wie  der  Insel- 
bewohner zu  den  benachbarten  Festlandsbewohnern;  die  Differenzen 
zwischen  den  Bewohnern  der  südlichen  und  nördlichen,  wie  der  öst- 
lichen und  westlichen  Hemisphäre  —  alle  diese  wichtigen  Erschei- 
nungen erklären  sich  durch  die  Deszendenztheorie  als  die  notwendigen 
Wirkungen  der  natürlichen  Züchtung  im  Kampfe  um  das  Dasein, 
als  die  mechanischen  Folgen  wirkender  Ursachen.  Wenn  wir  von 
jener  Theorie  ausgehend  uns  ein  allgemeines  theoretisches  Bild  von 
den  notwendigen  allgemeinen  Folgen  der  natürlichen  Züchtung  für 
die  geographische  und  topographische  Verbreitung  der  Organismen 
entwerfen  wollten,   so  würden  die  Umrisse  dieses  Bildes  vollständig 


XIX.         >^II-    nie  Deszendenztheorie  als  Fundament  der  Morphologie.  337 

mit  den  Umrissen  des  cliorologisclien  Bildes  zusammenfallen,  welches 
uns  die  empirische  Beobachtung  liefert. 

Wir  finden  also,  daß  die  tatsächlich  existierenden  Beziehungen 
der  Organismen  zur  Außenwelt,  wie  sie  sich  in  der  gesamten  Summe 
der  oekologischen  und  chorologischen  Verhältnisse  aussprechen,  durch 
die  Deszendenztheorie  als  die  notwendigen  Folgen  mechanischer  Ur- 
sachen erklärt  werden,  während  sie  ohne  dieselbe  vollkommen  un- 
erklärt bleiben;  wir  erblicken  daher  in  dieser  Erklärung  einen  starken 
Stützpfeiler  der  Deszendenztheorie  selbst. 

XII.    Die  Deszeiideiiztlieorie  als  Fundament  der 
organischen  Morphologie. 

Die  Selektionstheorie  und  die  durch  sie  kausal  be- 
gründete Deszendenztheorie  sind  physiologische  Theo- 
rien, welche  für  die  Morphologie  der  Organismen  das 
unentbehrliche  Fundament  bilden.  Die  Darstelhmg  der  beiden 
Theorien,  welche  wir  in  den  vorhergehenden  Abschnitten  gegeben 
haben,  hielten  wir  für  unerläßlich,  weil  wir  in  denselben  —  und 
nur  in  ihnen  allein!  —  den  Schlüssel  zum  monistischen  Verständnis 
der  Entwickeluugsgeschichte,  und  dadurch  zur  gesamten  Morphologie 
der  Organismen  überhaupt  finden.  Die  unermeßliche  Bedeutung  jener 
Theorien  liegt  nach  unserer  Ansicht  darin,  daß  sie  die  gesamten 
Erscheinungen  der  Biologie,  und  ganz  besonders  der  Morphologie 
der  Organismen,  monistisch,  d.  h.  mechanisch  erklären,  in- 
dem sie  dieselben  als  die  notwendigen  Folgen  wirkender  Ur- 
sachen nachweisen.  Die  beiden  physiologischen  Funktionen  der 
Anpassung,  welche  mit  der  Ernährung,  und  der  Vererbung,  welche 
mit  der  Fortpflanzung  zusammenhängt,  genügen,  um  durch  ihre 
mechanische  Wechselwirkung  in  dem  allgemeinen  Kampfe  um  das 
Dasein  die  ganze  3Iannigfaltigkeit  der  organischen  Natur  hervorzu- 
bringen, welche  die  entgegengesetzte  dualistische  Weltansicht  nur 
als  das  künstliche  Produkt  eines  zweckmäßig  tätigen  Schöpfers  be- 
trachtet, und  somit  nicht  erklärt.  Bei  den  vielfachen  Mißverständ- 
nissen, welche  in  dieser  Hinsicht  über  die  Bedeutung  der  Selektions- 
theorie und  der  Deszendenztheorie  herrschen,  und  bei  der  falschen 
Beurteilung,  welche  dieselben  in  so  weiten  Kreisen  gefunden  haben, 
erscheint  es  passend,  das  Verhältnis  der  beiden  Theorien  zueinander, 
zur  Entwickelungsgeschichte  und  dadurch  zur  gesamten  Morphologie 
der  Organismen  nochmals  ausdrücklich  hervorzuheben. 

H  a  e  c  k  e  1 ,   Prinz,  d.  Morphol.  '^^ 


338  Diß  Deszendenztheorie  und  die  Selektionstheorie.  XIX. 

Die  Selektionstheorie  von  Darwin  ist  die  kausale 
Begründung  der  von  Goethe  und  Laraarck  aufgestellten 
Deszendenztheorie.  Die  erstere  zeigt  uns,  warum  die  unendlich 
mannigfaltigen  Organismenarten  sich  in  dieser  Weise  aus  gemein- 
samen Stammformen  durch  Umbildung  und  Divergenz  entwickeln, 
wie  es  die  Deszendenztheorie  behauptet  hatte.  Wir  selbst  haben 
gezeigt,  wie  die  beiden  formenden  Bildungstriebe,  welche  Darwin 
als  die  beiden  Faktoren  der  Selektion  nachwies,  Vererbung  und  An- 
passung, keine  besonderen,  unbekannten  und  rätselhaften  Naturkräfte, 
sondern  einfache  und  notwendige  Eigenschaften  der  orga- 
nischen Materie,  mechanisch  erklärbare  physiologische  Funktionen 
sind.  Es  ist  möglich,  daß  neben  der  natürhchen  Züchtung  auch 
andere  ähnliche  mechanische  Verhältnisse  in  der  organischen  Natur 
werden  entdeckt  werden,  welche  bei  der  Umwandlung  der  Spezies 
mit  wirksam  sind.  Indessen  erscheint  uns  die  natürhche  Züchtung 
vollkommen  ausreichend,  um  die  Entstehung  der  Spezies  auf  mecha- 
nischem Wege  zu  erklären. 

Die  Deszendenztheorie  ist  die  kausale  Begründung 
der  Entwickelungsgeschichte,  und  dadurch  der  gesamten 
Morphologie  der  Organismen.  Wie  wir  zu  dieser  höchst  wich- 
tigen Kenntnis  gelangt  sind,  haben  die  vorhergehenden  Kapitel  ge- 
zeigt und  werden  die  folgenden  noch  weiter  erläutern.  Hier  wollen 
wir  nur  als  besonders  wichtig  nochmals  hervorheben,  daß  der  Grund- 
gedanke der  Deszendenztheorie,  die  gemeinsame  Abstammung  der 
„verwandten''  Organismen  von  einfachsten  Stammeltern,  der  einzige 
Gedanke  ist,  welcher  überhaupt  die  Entwickelung  der  Organismen 
und  dadurch  ihre  gesamten  Formverhältnisse  mechanisch  erklärt. 
Es  gibt  keine  andere  Theorie,  welche  uns  die  gesamten 
Formverhältnisse  der  Organismen  erklärt.  Hierin  finden  wir 
einen  Unterschied  zwischen  der  Deszendenztheorie  und  der  Selektions- 
theorie. Die  Deszendenztheorie  steht  nach  unserer  Ansicht  als  einzig 
mögliche  unerschütterlich  fest  und  kann  durch  keine  andere  ersetzt 
werden.  Es  gibt  keine  andere  Erklärung  für  die  morpho- 
logischen Erscheinungen,  als  die  wirkliche  Blutsverwandt- 
schaft der  Organismen.  Eine  Vervollkommnung  der  Deszendenz- 
theorie kann  daher  nur  insofern  stattfinden,  als  die  Abstammung  der 
einzelnen  Organismengruppen  von  gemeinsamen  Stammformen  im 
einzelnen  näher  bestimmt,  und  die  Zahl  und  Beschaffenheit  der 
letzteren   ermittelt  wird.     Dagegen  kann  die   Selektionstheorie,   wie 


XIX.  XII-    Die  Deszendenztheorie  als  Fundament  der  Morphologie.  339 

bemerkt,  wohl  dadurch  noch  ergänzt  werden,  daß  neben  der  natür- 
lichen Züchtung'  andere  mechanische  Verhältnisse  entdeckt  werden, 
welche  in  ähnlicher  Weise  die  Umbildung  der  Arten  bewirken  oder 
doch  befördern  helfen. 

Die  der  Deszendenztheorie  entgegengesetzte  dualisti- 
sche Behauptung,  daß  jede  Art  oder  Spezies  unabhängig 
von  den  verwandten  entstanden  sei,  und  daß  die  Formen- 
verwandtschaft der  ähnlichen  Arten  keine  Blutsverwandt- 
schaft sei,  ist  ein  unwissenschaftliches  Dogma,  und  als 
solches  keiner  Widerlegung  bedürftig.  Es  erscheint  daher 
hier  keineswegs  angemessen,  noch  weiter  auf  dieses  ganz  unhalt- 
bare Dogma  einzugehen  und  die  absurden  Konsequenzen,  zu  denen 
dasselbe  notwendig  führt,  hervorzuheben.  Nur  das  wollen  wir 
hier  noch  bemerken,  daß  gerade  in  dieser  Absurdität  und  vollstän- 
digen Grundlosigkeit  des  Speziesdogma  und  der  damit  zusammen- 
hängenden Schöpfungshypothesen  seine  innere  Stärke  liegt.  Die 
Kulturgeschichte  der  Menschheit  und  ganz  besonders  die  Rehgions- 
geschichte  zeigt  uns  auf  jeder  Seite,  daß  willkürhch  ersonnene 
Dogmen  um  so  fester  und  tiefer  wurzeln,  um  so  sicherer  und  all- 
gemeiner geglaubt  werden,  je  unbegreiflicher  sie  sind,  und  je  mehr 
sie  sich  einer  wissenschafthchen  Begründung  entziehen.  Es  fehlt 
dann  der  gemeinschaftliche  Boden,  auf  welchem  der  Kampf  zwischen 
beiden  entschieden  werden  könnte.  Zugleich  finden  alle  solche  Dog- 
men eine  kräftige  Stütze  in  der  Trägheit  des  Denkvermögens  bei 
den  meisten  Menschen.  Die  große  Mehrheit  scheut  sich,  anstrengen- 
den Gedanken  über  den  tieferen  Kausalnexus  der  Erscheinungen 
nachzuhängen  und  ist  froh,  wenn  ein  aus  der  Luft  gegriffenes  Dogma 
sie  dieser  Anstrengungen  überhebt.  Dies  gilt  ganz  besonders  von 
den  organischen  Morphologen,  welche  von  jeher  in  dieser  Beziehung 
sich  vor  allen  andern  Naturforschern  ausgezeichnet  haben.  Natür- 
Hch  Hegt  das  nicht  an  den  Personen,  sondern  an  der  Sache  selbst. 
Die  Beschäftigung  mit  der  unendlichen  Fülle,  Mannigfaltigkeit  und 
Schönheit  der  organischen  Formen,  sättigt  so  sehr  den  Anschauungs- 
trieb (Naturgenuß)  der  organischen  Morphologen,  daß  darüber  der 
höhere  Erkennungstrieb  meistens  nicht  zur  Entwickelung  kommt.  Man 
begnügt  sich  mit  der  Kenntnis  der  Formen,  statt  nach  ihrer  Er- 
kenntnis zu  streben.  Der  heitere  Formengenuß  tritt  an  die  Stelle 
des  ernsten  Forraenverständnisses.  Hieraus  und  aus  der  mangel- 
haften   philosophischen    Bildung   der    meisten    Morphologen    erklärt 

90* 


340  Die  Deszendenztheorie  mul  die  Selektionstheorie.  XIX. 

sich  genügend  ihr  Abscheu  gegen   den  wissenschaftlichen  Ernst  der 
Deszendenztheorie,  und  ihre  Vorliebe  für  das  sinnlose  Speziesdognia. 
Die  Annahme    einer    selbständigen    Erschaffung    konstanter   Spezies 
und  die   damit   zusammenhängenden   dualistisch -teleologischen  Vor- 
stellungen wenden  sich  an  transzendentale,  vollkommen  unbegreifliche, 
unerklärliche  und  unerforschliche  Kräfte  und  Prozesse,  und  entfernen 
sich   somit  gänzlich  von  dem   empirischen  Boden   der  Wissenschaft. 
Die  Deszendenztheorie  und   die  Selektionstheorie  sind 
keine    willkürlichen  Hypothesen,    sondern    vollberechtigte 
Theorien.    Nicht  allein  die  verblendeten  und  unverständigen  Gegner 
derselben,  sondern  auch  manche  treffliche  und  verständige  Anhänger 
derselben  nennen    die  Deszendenztheorie    eine  Hypothese.     Diese 
Bezeichnung  müssen  wir  entschieden  verwerfen.  Die  Deszendenztheorie 
behauptet  keine  Vorgänge,    welche  nicht   empirisch  festgestellt  sind, 
sondern  sie  verallgemeinert  nur  die  Resultate  zahlloser  übereinstimmen- 
der empirischer  Beobachtungen  und  zieht    daraus  einen  mächtigen 
lud uktions Schluß,  welcher  so  sicher  steht,  wie  jede  andere  wohl 
begründete  Induktion.     Eine   solche   Induktion   ist  aber  keine  bloße 
Hypothese,   sondern  eine  vollberechtigte  Theorie.     Sie  verbindet  die 
Fülle  aller  bekannten  Erscheinungen  in  der  organischen  Formenwelt 
durch  einen  einzigen  erklärenden  Gedanken,  welcher  keiner  einzigen 
bekannten  Tatsache  widerspricht.     Eine  Hypothese,  w^enngleich  eine 
notwendige,  und  zugleich  eine  Hypothese,  welche  die  Schlußkette  der 
gesamten  Deszendenztheorie  vervollständigt,  ist  unsere  Annahme  der 
Archigonie,   welche  im  sechsten  Kapitel  des  zweiten  Buches   von 
uns  begründet  worden  ist.    Wir  bedürfen  dieser  Hypothese  durchaus, 
um  die  einzige  Lücke  noch  auszufüllen,  welche  die  Deszendenztheorie 
in  dem  mechanischen  Gebäude  der  monistischen  Morphologie  gelassen 
hat.    Wir  können  nicht  zweifeln,  daß  zu  irgend  einer  Zeit  des  Erden- 
lebens  Moneren   durch  Autogonie   entstanden  sind.     Indessen  bleibt 
die  Archigonie  eine  reine  Hypothese,  weil  wir  darin  einen  Natur- 
prozeß, den  Übergang  lebloser  Materie  in  belebten  Stoff,  annehmen, 
welcher  bis  jetzt  noch  durch  keine   sichere  Beobachtung  eine  empi- 
rische Begründung  erhalten  hat.     Ganz   anders  verhält  es  sich   mit 
der  Deszendenztheorie  und  der  Selektionstheorie,  welche  sich  in  jedem 
Punkte  auf  eine  Fülle  von  empirischen  Erfahrungen  stützen,  und  für 
welche  die  gesamte  Morphologie   der  Organismen,   sobald  man  ihre 
Tatsachenketten  objektiv  beurteilt  und  richtig  verknüpft,  eine  einzige 
zusammenhängende  Beweiskette  herstellt.     Daher  wissen    auch  die 


XIX.         XII.    Die  Deszendenztheorie  als  Fundament  der  Morphologie.  341 

kenntnisreicheren  Morphologen.  welche  Gegner  derselben  sind,  keine 
Tatsache  gegen  dieselbe  vorzubringen,  sondern  nur  Einwürfe,  welche 
teils  Ausflüsse  blinden  Autoritätenglaubens,  teils  konsequente  Folgen 
einer  falschen  dualistisch-teleologischen  Gesamtauffassung  der  orga- 
nischen Natur  sind. 

Die  Selektionstheorie  Darwins  bedarf  zu  ihrer  vollen 
Gültigkeit  keine  weiteren  Beweise.  Sie  stützt  sich  auf  allge- 
mein anerkannte  physiologische  Prozesse,  die  sich  gleich  allen  anderen 
auf  mechanische  Ursachen  zurückführen  lassen.  Wer  überhaupt  eines 
logischen  Schlusses  aus  anerkannt  richtigen  Prämissen  fähig  ist,  kann 
ihr  seine  Anerkennung  nicht  vorenthalten.  Wie  selten  aber  solche 
Logik  unter  den  ., empirischen"  Naturforschern  und  unter  den  scho- 
lastischen ..Gelehrten"  sind,  beweisen  am  besten  die  zahlreichen 
Verdammungsurteile  über  Darwins  bewunderungswüi-diges  Werk, 
die.  wieHuxley  sehr  richtig  sagt.  ..keineswegs  das  darauf  verwendete 
Papier  wert  sind." 

Die  Deszendenztheorie  Lamarcks  bedarf  zu  ihrer  vollen 
Gültigkeit  keine  weiteren  Beweise.  Wer  sich  auf  Grund  aller 
bisherigen  Erfahrungen  noch  nicht  von  ihrer  Wahrheit  überzeugen 
kann,  den  wird  auch  keine  einzige  mögliche  weitere  „Entdeckung" 
davon  überzeugen.  Abgesehen  davon,  daß  Darwins  Selektionstheorie 
eine  vollkommen  ausreichende  kausal-]nechanische  Begründung  der- 
selben liefert,  finden  wir  die  stärksten  Beweise  für  iJire  Wahrheit 
in  der  gesamten  Morphologie  und  Physiologie  der  Organismen.  Alle 
uns  bekannten  Tatsachen  dieses  Wissenschaftsgebiets,  namentlich  alle 
Erscheinungen  der  paläontologischen,  individuellen  und  systematischen 
Entwickelung,  sowie  die  äußerst  wichtige  dreifache  Parallele  zwischen 
diesen  drei  Entwickelungsreihen,  die  gesamte  Dysteleologie,  Ökologie 
und  Chorologie  —  kurz  alle  allgemeinen  Phänomenkomplexe  der 
organischen  Natur  sind  uns  nur  durch  den  einen  Grundgedanken  der 
Deszendenztheorie  verständlich  und  werden  durch  ihn  vollkommen 
erklärt.  Ohne  ihn  bleiben  sie  gänzlich  unverständlich  und  unerldärt. 
Andererseits  existiert  in  der  gesamten  organischen  Natur  keine  einzige 
Tatsache,  welche  mit  demselben  in  unvereinbarem  Widerspruch  steht. 
Wir  haben  also  bloß  die  Wahl  zwischen  dem  völligen  Ver- 
zicht auf  jede  wissenschaftliche  Erklärung  der  organischen 
Naturerscheinungen  einerseits  und  der  unbedingten  An- 
nahme der  Deszendenztheorie  anderseits. 


Zwanzigstes  Kapitel. 

Ontogenetisclie  Thesen. 


„Kein  Phäuomen  erklärt  sich  aus  sith  selbst;  nur 
viele  zusammen  überschaut,  methodiscli  g:eor(lnet,  g-eben  zu- 
letzt etwas,   was  für  Theorie  gelten  könnte." 

Goethe. 

I.    Thesen  von  der  mechanischen  Natnr  der  organischen 

Entwickelung. 

1.  Die  Entwickelung  der  Organismen  ist  ein  physiologischer 
Prozeß,  welcher  als  solcher  auf  mechanischen  „wirkenden  Ursachen", 
(1.  h.  auf  physikalisch-chemischen  Bewegungen  beruht. 

2.  Die'  Bewegungserscheinungen  der  Materie,  welche 
jeden  physiologischen  Entwickelungsprozeß  veranlassen  und  be- 
wirken, sind  in  letzter  Instanz  Anziehungen  der  Massenatome  und 
Abstoßungen  der  Ätheratome,  aus  welchen  die  organische  Materie 
ebenso  wie  die  anorganische  zusammengesetzt  ist. 

3.  Die  Entwickelung  der  Organismen  äußert  sich  in  einer 
kontinuierlichen  Kette  von  Formveränderungen  der  organischen  Ma- 
terie, welche  sämtlich  auf  derartige  physikalisch-chemische  Bewe- 
gungen, als  auf  ihre  wirkenden  Ursachen  zurückzuführen  sind. 

4.  Gleich  allen  wahrnehmbaren  Bewegungserscheinungen  in 
der  Natur,  also  auch  gleich  allen  physiologischen  Erscheinungen, 
welche  wir  überhaupt  kennen,  erfolgen  auch  diejenigen  der  orga- 
nischen Entwickelung  mit  absoluter  Notwendigkeit  und  sind  be- 
dingt durch  die  ewig  konstanten  Eigenschaften  der  Materie  und  die 
beständige  Wechselwirkung  ihrer  wechselnden  Verbindungen. 

5.  Alle  organischen  Entwickelungsbewegungen  gehen  unmittelbar 
und  zunächst  aus  von  den  labilen  und  höchst  zusammengesetzten 
Kohlenstoff  Verbindungen  der  Eiweißgruppe,  w^elche  als  ..Plasma" 
der  Piastiden  das  aktive  materielle  Substrat  oder  den  ..Lebens - 
Stoff"'  im  Körper  aller  Organismen  bilden. 


XX.  Ontogenedsche  Thesen.  343 

6.  Es  existiert  weder  ein  „Ziel",  noch  ein  „Plan"  der  orga- 
nischen Entwickelung. 

IL    Thesen  von  den  physiologischen  Funktionen  der 
organischen  Entwickelung. 

7.  Die  physiologischen  Funktionen,  auf  denen  ausschließlich 
alle  organische  Entwickelung  beruht,  lassen  sich  sämtlich  als  Teil- 
erscheinungen auf  die  allgemeine  organische  Fundamentalfunktion 
der  Selbsterhaltung  oder  der  Ernährung  im  weiteren  Sinne  zu- 
rückführen. 

8.  Die  physiologischen  Entwickeluugsfunktionen,  auf  welche 
sich  alle  während  der  Morphogenese  eintretenden  Formveränderun- 
gen, als  auf  ihre  bewirkenden  Ursachen  zurückführen  lassen,  sind 
die  fünf  Funktionen  der  Zeugung,  des  Wachstums,  der  Ver- 
wachsung, der  Differenzierung  und  der  Degeneration. 

9.  Die  erste  Entwickelungsfunktion,  die  Zeugung  (Generatio) 
oder  die  Entstehung  des  morphologischen  Individuums,  mit  welcher 
jeder  organische  Entwickelungsprozeß  beginnt,  ist  entweder  Urzeu- 
gung (Archigonia,  Generatio  sponianca)  oder  Elternzeugung  (Fort- 
pflanzung, Tocogonia,  Propagatio,  Gener aüo  parentalis):  sie  ist  im 
letzteren  Falle  stets  mit  der  Vererbung  verknüpft  und  als  Er- 
nährungsprozeß aufzufassen,  welcher  über  das  individuelle  Maß 
hinausgeht. 

10.  Die  zweite  Entwickelungsfunktion,  das  Wachstum  {Cre- 
scentia)^  welches  als  einfaches  oder  zusammengesetztes  Wachstum 
jeden  organischen  Entwickelungsprozeß  (mindestens  in  der  ersten 
Zeit)  begleitet,  ist  eine  Ernährungserscheinung,  welche  mit  Volums- 
zunahme  des  Individuums  verbunden  ist. 

11.  Die  dritte  Entwickelungsfunktion,  die  Differenzierung 
(Divergeutia),  welche  sich  in  einer  Hervorbildung  ungleichartiger  Teile 
aus  gleichartiger  Grundlage  äußert,  ist  eine  Ernährungsveränderung, 
welche  durch  die  Anpassung  an  die  Außenwelt,  d.  h.  durch  die 
materielle  Wechselwirkung  der  Materie  des  organischen  Individuums 
mit  der  umgebenden  Materie  bedingt  ist. 

12.  Die  vierte  Entwickelungsfunktion,  die  Entbildung  (De- 
generatio),  welche  zuletzt  stets  das  Ende  der  indivithiellen  Ent- 
wickelung herbeiführt,  ist  eine  Ernährungsveränderung,  welche  mit 
Abnahme  der  physiologischen  Funktionen  verbunden  ist. 


344  Ontogenetische   Thesen.  XX. 

13.  Die  fünfte  Entwickelungsfunktion.  die  Verwachsung 
{ConcroiiCPiifia).  welche  gleicli  den  vorigen  die  morphologischen  In- 
dividuen aller  sechs  Ordnungen  betreffen  kann,  besteht  in  einer 
sekundären  Verbindung  von  mehreren  vorher  getrennten  Individuen 
einer  und  derselben  morphologischen  Ordnung,  durch  welche  ein 
neues  Individuum  nächst  höherer  Ordnung  entsteht. 

III.    Thesen  von  den  organischen  Bildungstrieben. 

14.  Die  Formveränderungen,  welche  die  organische  Materie 
während  ihrer  Entwickelung  durchläuft,  sind  das  Resultat  der 
Wechselwirkung  zweier  entgegengesetzter  Bildungstriebe  oder  Ge- 
staltungskräfte: eines  inneren  und  eines  äußeren  Bildungstriebes. 

15.  Der  innere  Bildungstrieb  oder  die  innere  Gestaltungs- 
kraft {Vis  plastica  interna)  ist  die  unmittelbare  Folge  der  mate- 
riellen Zusammensetzung  des  Organismus,  und  daher  mit  der  Erb- 
lichkeit (Atavismus)  identisch. 

16.  Der  äußere  Bildungstrieb  oder  die  äußere  Gestaltungs- 
kraft {Vis  plastica  externa)  ist  die  unmittelbare  Folge  der  Abhängig- 
keit, in  welcher  die  materielle  Zusammensetzung  des  Organismus 
von  derjenigen  der  umgebenden  Materie  (der  Außenwelt)  steht,  und 
daher  mit  der  Anpassungsfähigkeit  (Variabilitas)  identisch. 

17.  Die  beiden  fundamentalen  Bildungstriebe,  welche  durch  ihre 
beständige  Wechselwirkung  die  jeden  organischen  Entwickelungs- 
prozeß  begleitenden  Formveränderungen  bedingen,  sind  demnach  nicht 
verschieden  von  den  oben  angeführten  Entwickelungsfunktionen,  da 
die  Vererbung  unmittelbar  durch  die  Fortpflanzung,  die  Anpassung 
dagegen  unmittelbar  durch  die  Ernährung  des  Organismus  vermittelt 
wird. 

18.  Alle  Charaktere  der  Organismen  sind  entweder  ererbte 
(durch  Heredität  erhaltene)  oder  angepaßte  (durch  Adaptation  er- 
worbene) Eigenschaften. 

19.  Die  ererbten  Eigenschaften  (Characteres  hereditarii)  erhält 
der  Organismus  durch  Vererbung  von  seinen  Eltern  und  A^oreltern 
mittelst  der  Fortpflanzung. 

20.  Die  angepaßten  Eigenschaften  {(liaractercs  adaptati)  er- 
wirbt der  Organismus  entweder  unmittelbar  durch  seine  eigene  An- 
passung oder  mittelbar  durch  Vererbung  der  Anpassungen  seiner 
Eltern  und  Voreltern. 


XX.  Ontogenetische  Thesen.  345 

21.  Die  erblichen  Charaktere  sind  in  letzter  Instanz  Wirkungen 
der  materiellen  Zusammensetzung-  der  Eiweißverbindungen,  welche 
das  Plasma  der  konstituierenden  Plastiden  bilden,  und  welche  in 
gewisser  Beharrlichkeit  durch  alle  Generationen  übertragen  werden. 

22.  Die  angepaßten  Charaktere  sind  in  letzter  Instanz  die  Folgen 
der  Wechselwirkung  zwischen  den  Eiweißverbindungen  der  Pla- 
stiden des  Organismus  und  den  damit  in  Berührung  kommenden 
Materien  der  Umgebung,  welche  in  allen  Generationen  eine  gewisse 
Verschiedenheit  zeigen. 

28.  Die  erblichen  Charaktere  zeigen  sich  vorzugsweise  in  der 
Bildung  morphologisch  wichtiger,  physiologisch  dagegen  unwichtiger 
Körperteile :  sie  erscheinen  daher  nur  bei  blutsverwandten  Organismen 
ähnlich,  als  Homologien. 

24.  Die  angepaßten  Charaktere  zeigen  sich  vorzugsweise  in  der 
Bildung  physiologisch  wichtiger,  morphologisch  dagegen  unwichtiger 
Kchp erteile:  sie  erscheinen  daher  auch  bei  nicht  blutsverwandten 
Organismen  ähnhcli.  als  Analogien. 

25.  Im  Laufe  der  individuellen  Entwickelung  treten  die  erblichen 
Charaktere  im  ganzen  früher  als  die  angepaßten  auf,  und  je  früher 
ein  bestimmter  Charakter  in  der  Ontogenese  auftritt,  desto  weiter 
liegt  die  Zeit  zurück,  in  welcher  er  von  den  Vorfahren  erworben  wurde, 
lind  desto  bedeutender  ist  sein  morphologischer  Wert. 

26.  Für  die  Erkenntnis  der  Stammverwandtschaft  ver- 
schiedener Organismen  haben  nur  die  erblichen  oder  homologen 
Charaktere,  nicht  die  angepaßten  oder  analogen  Charaktere  Bedeutung. 

IV.    Thesen  von  den  ontogenetischen  Stadien. 

27.  Die  Ontogenesis  oder  biontische  Entwickelung,  d.  h.  die 
Entwickelung  jedes  Bionten  oder  physiologischen  Individuums  ist  ein 
physiologischer  Prozeß  von  bestimmter  Zeitdauer. 

2S.  Die  Zeitdauer  der  individuellen  Entwickelung  jedes  Bionten 
wird  durch  die  Gesetze  der  Vererbung  und  Anpassung  bestimmt,  und 
ist  lediglich  das  Resultat  der  Wechselwirkung  dieser  beiden  physiolo- 
gischen Faktoren. 

29.  In  dem  zeitlichen  Verlaufe  der  individuellen  Entwickelung 
lassen  sich  allgemein  drei  verschiedene  Abschnitte  oder  Stadien 
unterscheiden,  welche  mehr  oder  minder  deutlich  voneinander  sich 
absetzen. 


346  Ontogenetische  Thesen.  XX. 

80.  Jedes  Stadium  der  individuellen  Entwickelung  ist  durch  einen 
bestimmten  physiologischen  Entwickelungsprozeß  charakterisiert, 
welcher  in  demselben  zwar  nicht  ausschließlich,  aber  doch  vorwiegend 
wirksam  ist. 

31.  Das  erste  Stadium  der  biontischen  Entwickelung.  das  Jugend- 
alter oder  die  Aufbild ungs zeit,  Anaplasis,  ist  durch  das  Wachs- 
tum des  Individuums  charakterisiert. 

32.  Das  zweite  Stadium  der  biontischen  Entwickelung.  das  Reife- 
alter oder  die  Umbildungszeit,  Metaplasis,  ist  durch  die  Differen- 
zierung des  Individuums  charakterisiert. 

33.  Das  dritte  Stadium  der  biontischen  Entwickelung,  das  Greisen- 
alter oder  die  Rückbildungszeit,  Kataplasis,  ist  durch  die  Degene- 
ration des  Individuums  charakterisiert. 

V.    Thesen  von   den    drei  genealogischen  Individualitäten. 

34.  Da  die  Lebensdauer  der  organischen  Individuen  eine  be- 
schränkte ist,  die  durch  sie  repräsentierte  bestimmte  organische  Form 
(Art)  aber  sich  durch  die  Fortpflanzung  der  Individuen  erhält,  so 
müssen  wir  bei  Betrachtung  der  organischen  Entwickelung  unter- 
scheiden zwischen  derjenigen  der  Bionten  und  derjenigen  der  Arten. 

35.  Die  individuelle  oder  biontische  Entwickelung  (Onto- 
genesis)  umfaßt  die  gesamte  Reihe  der  Formverändeningen,  welche 
das  physiologische  Individuum  (Blon)  und  der  durch  eines  oder 
mehrere  verschiedene  Bionten  repräsentierte  Zeugungskreis  {Cyclus 
generationis)  während  der  ganzen  Zeit  seiner  individuellen  Existenz 
durchläuft. 

36.  Die  paläontologische  oder  phyletische  Entwickelung 
{Phyloyenesis)  umfaßt  die  gesamte  Reihe  der  Formveränderungen, 
welche  die  Art  (Specics)  und  der  durch  eine  oder  mehrere  ver- 
schiedene Arten  repräsentierte  Stamm  (Phi/lon)  während  der  ganzen 
Zeit  seiner  individuellen  Existenz  durchläuft. 

37.  Der  Zeugungskreis  (Cyclus  generationis  oder  Tococydus) 
bildet  entweder  als  Spaltungskreis  (Cyclus  monogenes)  oder  als  Ei- 
kreis  (Cyclus  amphigenes)  die  genealogische  Individualität  erster 
Ordnung. 

38.  Die  Art  {Species)  bildet  als  die  Summe  aller  gleichen  Zeu- 
gungskreise die  genealogische  Individualität  zweiter  Ordnung. 

39.  Der  Stamm  {PhyJiim)  bildet  als  die  Summe  aller  bluts- 
verwandten Arten  die  genealogische  Individualität  dritter  Ordnung. 


XX.  Ontogenetische  Thesen.  34.7 

VI.  Thesen  von   dem  Kausalnexus   der  biontischen   und  dvv 

phyletischen  Entwickelung, 

40.  Die  Ontoyenesi^  oder  die  Entwickelung  der  organischen 
Individuen,  als  die  Reihe  von  Formveränderungen,  welche  jeder  in- 
dividuelle Organismus  w^ährend  der  gesamten  Zeit  seiner  individuellen 
Existenz  durchläuft,  ist  unmittelbar  bedingt  durch  die  FhyJogenesis 
oder  die  Entwickelung  des  organischen  Stammes  (Phylon),  zu  welchem 
derselbe  gehört. 

41.  Die  Oniogenesis  ist  die  kurze  und  schnelle  Rekapitu- 
lation der  Pliijlogenesis,  bedingt  durch  die  physiologischen  Funktionen 
der  Vererbung  (Fortpflanzung)  und  Anpassung  (Ernährung). 

42.  Das  organische  Individuum  (als  morphologisches  Individuum 
erster  bis  sechster  Ordnung)  wiederholt  während  des  raschen  und 
kurzen  Laufes  seiner  individuellen  Entwickelung  die  wichtigsten  von 
denjenigen  Formveränderungen,  w^elche  seine  Voreltern  während 
des  langsamen  und  langen  Laufes  ihrer  paläontologischen  Entwicke- 
lung nach  den  Gesetzen  der  Vererbung  und  Anpassung  durchlaufen 
haben. 

43.  Die  vollständige  und  getreue  Wiederholung  der  phyletischen 
durch  die  biontische  Entwickelung  wird  verwischt  und  abgekürzt 
durch  sekundäre  Zusammenziehung,  indem  die  Ontogenese  einen 
immer  geraderen  Weg  einschlägt;  daher  ist  die  Wiederholung  um  so 
vollständiger,  je  länger  die  Reihe  der  sukzessiv  durchlaufenen  Jugend- 
zustände ist. 

44.  Die  vollständige  und  getreue  Wiederholung  der  phyletischen 
durch  die  biontische  Entwickelung  wird  gefälscht  und  abgeändert 
durch  sekundäre  Anpassung,  indem  sich  das  Bion  während  seiner 
individuellen  Entwickelung  neuen  Verhältnissen  anpaßt:  daher  ist 
die  Wiederholung  um  so  getreuer,  je  gleichartiger  die  Existenzbedin- 
gungen sind,  unter  denen  sich  das  Bion  und  seine  Vorfahren  entwickelt 
haben. 


SECHSTES  BUCH. 

ZWEITER  TEIL  DER  ALLGEMEINEN 
ENTWICKELUNG  SGESCHICHTE. 


GENERELLE  PHYLOGENIE  ODER 

ALLGEMEINE  ENTWICKELUNGSGESCHICHTE  DER 

ORGANISCHEN  STÄMME. 

(GENEALOGIE  UND  PALÄONTOLOGIE.) 


..Die  Kenntnis  der  organischen  Naturen  iilierhaupt.  die  Kenntnis  der  voll- 
koniinneren.  welche  wir  im  eigentlichen  Sinne  Tiere  und  besonders  Säugetiere 
nennen,  der  Einblick,  wie  die  allgemeinen  Gesetze  bei  verschieden  beschränkten 
Naturen  wirksam  sind,  die  Einsicht  zuletzt,  wie  der  Mensch  dergestalt  gebaut 
sei,  daß  er  so  viele  Eigenschaften  und  Naturen  in  sich  vereinige  und  dadurch 
schon  physisch  als  eine  kleine  Welt,  als  ein  Repräsentant  der  übrigen  Tier- 
gattungen existiere  —  alles  dieses  kann  nur  dann  am  deutlichsten  und  schönsten 
eingesehen  werden,  wenn  wir  nicht,  wie  bisher  leider  nur  zu  oft  geschehen, 
unsere  Betrachtungen  von  oben  herab  anstellen  und  den  Menschen  im  Tiere 
suchen,  sondern  wenn  wir  von  unten  herauf  anfangen  und  das  einfachere  Tier 
im  zusammengesetzten  Menschen  endlich  wieder  entdecken. 

.,Es  ist  hierin  schon  unglaublich  viel  getan;  allein  es  liegt  so  zerstreut 
so  manche  falsche  Bemerkungen  und  Folgerungen  verdüstern  die  wahren  und 
echten,  täglich  kommt  zu  diesem  Chaos  wieder  neues  Wahre  und  Falsche  hinzu, 
sodaß  weder  des  Menschen  Kräfte,  noch  sein  Leben  hinreichen,  alles  zu  sondern 
und  zu  ordnen,  wenn  wir  nicht  den  Weg,  den  uns  die  Naturhistoriker  nur  äußer- 
lich vorgezeichnet,  auch  bei  der  Zergliederung  verfolgen,  imd  es  möglich  machen, 
das  Einzelne  in  übersehbarer  Ordnung  zu  erkennen,  um  das  Ganze  nach  Gesetzen, 
die  unserem  Geiste  gemäß  sind,  zusammen  zu  bilden. 

..Man  wendete  auch  hier,  wie  in  anderen  Wissenschaften,  nicht  genug  ge- 
läuterte Vorstellungsarten  an.  Nahm  die  eine  Partei  die  Gegenstände  ganz  ge- 
mein und  hielt  sich  ohne  Nachdenken  an  den  bloßen  Augenschein,  so  eilte  die 
andere,  sich  durch  Annahme  von  Endursachen  aus  der  Verlegenheit  zu  helfen; 
und  wenn  man  auf  jene  Weise  niemals  zum  Begriff  eines  lebendigen  Wesens  ge- 
langen konnte,  so  entfernte  man  sich  auf  diesem  Wege  von  eben  dem  Begriffe, 
dem  man  sich  zu  nähern  glaubte. 

„Ebensoviel  und  auf  gleiche  Weise  hinderte  die  fromme  Vorstelhmgsart,  da 

man  die  Erscheinungen  der  organischen  Welt  zur  Ehre  Gottes  unmittelbar  deuten 

und  anwenden  wollte. 

..Sollte   es   denn    aber  unmöglich    sein,   da  wir  einmal  anerkennen,    daß  die 

schaffende  Gewalt  nach  einem  allgemeinen  Schema  die  vollkommneren  organischen 

Naturen  erzeugt  und  entwickelt,   dieses  Urbild,  wo  nicht  den  Sinnen,  doch  dem 

Geiste  darzustellen  ?    Hat  man  aber  die  Idee  von  diesem  Typus  gefaßt,  so  wird 

man  erst  recht  einsehen,  wie  unmöglich  es  sei,  eine  einzelne  Gattung  als  Kanon 

aufzustellen.     Das  Einzelne  kann  kein  Muster  vom  Ganzen  sein,   und  so  dürfen 

wir    das   Muster  für  alle   nicht  im  Einzelnen  suchen.     Die  Klassen,   Gattungen, 

Arten  und  Individuen  verhalten   sich  wie   die  Fälle  zum  Gesetz:   sie  sind  darin 

enthalten,  aber  sie  enthalten  imd  geben  es  nicht.'' 

Goethe   (1796). 


Einundzwanzigstes  Kapitel. 

Begriff  und  Aufgabe  der  Phylogenie. 


,Eine  innere  und  ursprüng-liche  Gemeinschaft  liegt 
aller  Organisation  zug-runde;  die  Verschiedenheit  der 
Gestalten  dag-egen  entspringt  aus  den  not- 
wendigen Beziehungs Verhältnissen  zur  Außen- 
welt, und  man  darf  daher  eine  ursprüngliche,  gleichzeitige 
Verschiedenheit  und  eine  unaufhaltsam  fortschrei- 
tende Umbildung  mit  Recht  annehmen,  um  die  ebenso 
konstanten  als  abweichenden  Erscheinungen  begreifen  zu 
können.-  Goethe   (1824). 


I.    Die  Phylogenie  als  Entwickelungsgesclüchte  der  Stämme. 

Die  Phylogenie  oder  Entwickelungsgeschichte  der  or- 
ganischen Stämme  ist  die  gesamte  Wissenschaft  von  den 
Formveränderungen,  welche  die  Pliylen  oder  organischen 
Stämme  v^ährend  der  ganzen  Zeit  ihrer  individuellen 
Existenz  durchlaufen,  von  dem  Wechsel  also  der  Arten  oder 
Spezies,  welche  als  sukzessive  und  koexistente  blutsverwandte  Glieder 
jeden  Stamm  zusammensetzen.  Die  iVufgabe  der  Phylogenie  ist  mithin 
die  Erkenntnis  und  die  Erklärung  der  spezifischen  Formveränderungen, 
d.  h.  die  Feststellung  der  bestimmten  Naturgesetze,  nach  welchen  alle 
verschiedenen  organischen  Arten  oder  Spezies  entstehen,  welche  als 
divergente  Nachkommen  einer  einzigen,  gemeinsamen,  autogenen  Ur- 
form ein  einziges  Phylon  constituieren. 

Wenn  wir  auch  allgemein  als  die  Aufgabe  der  Phylogenie  die 
Entwickelungsgeschichte  der  organischen  Stämme  oder 
Phylen  bezeichnen  können,  so  wird  dennoch  der  reale  Inhalt  dieser 
Disziphn  eigentUch  die  konkrete  Entwickelungsgeschichte  der 
Arten  oder  Spezies  sein.  Denn  die  sogenannten  Arten  oder  Spezies 
der  Organismen  setzen  in  ähnlicher  Weise  die  höhere  Individuahtät 
des  Stammes  zusammen,  wie  sie  selbst  aus  der  niederen  Individualität 
des  Zeugungskreises   oder  Generationszyklus   zusammengesetzt   sind. 


352  Begriff  und  Aufgabe  der  Plivlogenie.  XXL 

Wie  wir  oben  zeigten,  stehen  diese  drei  subordinierten  Individualitäten, 
der  (rencrailons.iiß-hi!<,  die  Spciios  und  das  FhiiJon.  in  einem  ähn- 
lichen Verhältnis  zueinander,  wie  die  verschiedenen,  im  neunten 
Kapitel  festgestellten  Kategorien  der  morphologischen  Individualität. 
Jedes  Phylon  ist  eine  Vielheit  von  blutsverwandten  Spezies  und  jede 
Spezies  ist  eine  Vielheit  von  gleichen  oder  vielmehr  höchst  ähnlichen 
Zeugungslü-eisen.  Wir  konnten  daher  dieselben  als  drei  verschiedene 
Ordnungen  oder  Kategorien  der  genealogischen  Individua- 
lität, oder  als  drei  subordinierte  Entwickelungseinheiten  folgender- 
maßen über  einander  stellen:  I.  Der  Zeugungskreis  {Cydiis 
generaüonis)  ist  die  erste  und  niedrigste  Stufe,  IL  die  Art  {Specics) 
ist  die  zweite  und  mittlere  Stufe,  III.  der  Stamm  {Phi/hon)  ist  die 
dritte  und  höchste  Stufe  der  genealogischen  Individualität. 

Die  Phylogenie,  als  die  Entwickelungsgeschichte  der  Stämme, 
verhält  sich  demnach  zur  genealogischen  Systematik,  oder  der  Ent- 
wickelungsgeschichte der  Arten  ganz  analog,  wie  die  Entwickelungs- 
geschichte der  physiologischen  Individuen  zu  derjenigen  der  morpho- 
logischen Individuen.  Wie  das  physiologische  Individuum  während 
verschiedener  Perioden  seiner  individuellen  Existenz  durch  eine 
wechselnde  Anzahl  von  morphologischen  Individuen  verschiedener 
Ordnung  repräsentiert  wird,  so  wird  gleicherweise  das  Phylon  während 
verschiedener  Zeiten  seiner  individuellen  Existenz  durch  eine  wechselnde 
Anzahl  von  verschiedenen  Spezies  dargestellt,  w^elche  sich  nach  dem 
Grade  ihres  genealogischen  Zusammenhanges  in  die  verschiedeneu 
Ordnungsstufen  oder  Kategorien  des  Systems  neben  und  über  ein- 
ander ordnen  lassen.  Die  konkrete  Aufgabe  der  Phylogenie  wird 
also  zunächst  die  Entwickelungsgeschichte  der  einzelnen  blutsver- 
w^andten  Arten  oder  Spezies  sein,  und  erst  aus  deren  richtiger  Er- 
kenntnis und  vergleichenden  Synthese  ergibt  sich  dann  w^eiterhin  als 
das  höhere  und  höchste  Ziel  der  genealogische  Zusammenhang  der 
verschiedenen  Arten  im  natürlichen  System,  oder  die  wirklich  zu- 
sammenhängende Entwickelungsgeschichte  der  Stämme. 

II.    Paläoiitolosjie  und  Oeiiealogie. 

Der  innige  und  allgemeine  Zusammenhang,  w^elcher  zwischen 
der  Phylogenie  und  der  Ontogenie  besteht,  ist  von  uns  bereits  im 
fünften  Buche  auf  das  entschiedenste  hervorgehoben  worden.  Wir 
erblicken  in  diesem  unlösbaren  Zusammenhange,  in  der  gegenseitigen 


XXI.  II-   Paläontologie  und  Genealogie.  353 

Erläuterung"  der  Phylogenie  und  der  Ontogenie,  in  ihrem  durch  die 
Deszendenztheorie  erklärten  Kausalnexus,  die  wissenschaftliche 
Grundlage  der  gesamten  Entwickelungsgeschichte ,  und  dadurch  zu- 
gleich der  gesamten  Morphologie.  Diese  äußerst  wichtige  Wechsel- 
beziehung zwischen  der  Entwickelungsgeschichte  der  organischen 
Individuen  und  der  organischen  Stämme  bewog  uns  im  achtzehnten 
Kapitel,  am  Schlüsse  jedes  Abschnitts  unser  ..Ceferum  censeo"  folgen 
zu  lassen:  „Alle  Erscheinungen,  welche  die  individuelle  Entwickelung 
der  Organismen  begleiten,  erklären  sich  ledigHch  aus  der  paläontolo- 
gischen Entwickelung  ihrer  Vorfahren.  Die  gesamte  Ontogenie 
der  Organismen  ist  eine  kurze  Rekapitulation  ihrer  Phy- 
logenie." 

Dieses  Gesetz  ( —  unser  Biogenetisches  Grundgesetz  — ) 
halten  wir  für  so  äußerst  wichtig,  daß  wir  dasselbe  nicht  genug 
glauben  hervorheben  zu  können;  denn  ohne  die  Phylogenie  bleibt 
uns  die  Ontogenie  ein  unverstandenes  Rätsel.  Wenn  wir  dagegen 
das  kausale  Verständnis  der  Phylogenie  durch  die  Deszendenztheorie 
gewonnen  haben,  so  erklärt  sich  uns  daraus  die  Ontogenie  eben  so 
einfach,  als  harmonisch.  Andererseits  bedürfen  w^ir  der  Ontogenie 
auf  das  dringendste,  um  die  Phylogenie  richtig  zu  w^ürdigen.  Dieses 
Verhältnis  ist  vorzüglich  in  dem  Umstände  begründet,  daß  unsere 
empirischen  Kenntnisse  in  der  Entwickelungsgeschichte  der  Individuen 
weit  umfassender  und  vollständiger  sind,  als  in  derjenigen  der  Stämme. 
Fast  das  einzige  unmittelbare  empirische  Material,  welches  der  letzteren 
zugrunde  liegt,  liefert  uns  die  Paläontologie.  Dieses  Material  ist 
aber  nicht  im  entferntesten  zu  vergleichen  mit  demjenigen,  w^elches 
uns  für  die  Ontogenie  zu  Gebote  steht;  vielmehr  ist  dasselbe  im 
höchsten  Grade  lückenhaft  und  unvollständig. 

In  der  individuellen  oder  biontischen  Entwickelungsgeschichte 
können  wir,  wenigstens  in  sehr  vielen  Fällen,  unmittelbar  und  Schritt 
für  Schritt  mit  unseren  Augen  die  Formveränderungen  verfolgen, 
welche  das  physiologische  Individuum  während  der  ganzen  Zeit  seiner 
Existenz,  von  seiner  Entstehung  bis  zu  seinem  Tode  durchläuft.  Es 
ist  daher  nicht  zu  verwundern,  daß  selbst  sehr  gedankenlose  Zoologen 
und  Botaniker  bisweilen  ganz  brauchbare  biontische  Entwickelungs- 
geschichten  von  Tieren  und  Pflanzen  schreiben.  Es  gehört  dazu  wesent- 
lich nur  ein  gesundes  Auge,  ein  wenig  Geduld  und  Fleiß,  und  so 
viel  Verstand,  um  das  unmittelbar  Beobachtete  getreu  wiedergeben 
zu  können. 

Haeckel,   Prinz,  d.  Morpliol.  ^^ 


354  Begriff  und  Aufgabe  der  Phylogenie.  XXI. 

Unendlich  schwieriger  gestahet  sich  die  Aufgabe  für  die  paläon- 
tologische oder  phyletische  Entwickelungsgeschichte.  Hier  liegt  nirgends 
eine  zusammenhängende  Kette  von  Tatsachen  vor.  welche  der  glück- 
liche Beobachter  einfach  aufzunehmen  und  so  darzustellen  hat,  wie 
er  sie  sieht.  Niemals  ist  der  kontinuierliche  Zusammenhang  zwischen 
den  einzelnen  aufeinanderfolgenden  Entwickelungsstadien  so  wie 
in  der  Embryologie  gegeben.  Vielmehr  findet  der  Genealoge,  welcher 
es  unternimmt,  die  Entwickelungsgeschichte  eines  Stammes  und  der 
denselben  zusammensetzenden  Arten  darzustellen,  in  allen  Fällen  nur 
höchst  unvollständige  und  vereinzelte  Bruchstücke  vor,  welche  es 
gilt,  mit  kritischem  Blicke  —  und  fast  möchten  wir  sagen:  mit 
richtigem  morphologischem  Instinkte  —  zusammenzusetzen  und  daraus 
das  ungefähre  Schattenbild  des  längst  entschwundenen  Entwickelungs- 
vorganges  zu  rekonstruieren.  Diese  Rekonstruktion  erfordert  ebenso 
umfassende  biologische  und  spezielle  morphologische  Kenntnisse,  als 
allgemeines  Verständnis  des  Zusammenhanges  der  biologischen  Er- 
scheinungen: sie  erfordert  ebenso  die  äußerste  Vorsicht,  als  die  größte 
Kühnheit  in  der  hypothetischen  Ergänzung  der  dürftigen  Fragmente, 
w^elche  die  Paläontologie  uns  liefert.  Die  Hypothese  ist  hier,  wie 
in  der  gesamten  Genealogie,  nicht  bloß  das  erste  Recht,  sondern 
auch  die  dringendste  Pflicht. 

Die  paläontologische  Entwickelungsgeschichte,  wie  sie 
bisher  behandelt,  und  in  neuerer  Zeit  auch  von  einigen  hervorragenden 
Paläontologen  im  Zusammenhange  dargestellt  worden  ist.  bleibt  ein 
vollständig  lückenhaftes  und  zerrissenes  Flickwerk,  w^enn  sie  sich  auf 
die  bloßen  Tatsachen  beschränkt,  welche  die  Paläontologie  uns  liefert, 
und  w^enn  sie  nicht  zu  deren  Ergänzung  den  äußerst  wichtigen  drei- 
fachen Parallelismus  benutzt,  welcher  zwischen  der  biontischen,  der 
phyletischen  und  der  systematischen  Entwickelungsreihe  besteht.  Diese 
Ergänzung  durch  ebenso  umfassende  und  kühne,  als  vorsichtige  und 
kritische  Anwendung  der  phyletischen  Hypothese  ist  die  erste  Pflicht 
der  Genealogie  oder  Stamm  bäum  sichre  im  weiteren  Sinne, 
wie  wir  auch  die  gesamte  theoretische  Phylogenie  oder  die  phyletische 
Entwickelungsgeschichte  nennen  könnten.  Wenn  wir  aber  unter 
Genealogie  im  engeren  Sinne  nur  den  ergänzenden  und  unentbehrlichen 
hypothetischen  Teil,  unter  Paläontologie  im  engeren  Sinne  dagegen 
den  empirischen,  unmittelbar  durch  die  Versteinerungskunde  gegebenen 
Teil  der  Phylogenie  verstehen,  so  verhält  sich  die  letztere  zur  ersteren 
wohl  nur  selten  ungefähr  wie  Eins  zu  Tausend,  in  den  allermeisten 


XXI.  III-    Kritik  des  paläontologischen  Materials.  355 

Fällen  wohl  kaum  wie  Eins  zu  Hunderttansend  oder  zur  Million. 
Dennoch  ist  hier  bei  Anwendung-  der  notwendigen  Kritik  außerordent- 
lich viel  zu  leisten,  und  vorzüglich  auf  Grund  der  Ergänzung  der 
Paläontologie  durch  die  Embryologie  und  Systematik,  eine  Reihe  der 
wichtigsten  und  sichersten  Resultate  zu  erzielen. 

Die  Phylogenie  oder  die  Entwickelungsgeschichte  der  organischen 
Stämme  in  unserem  Sinne  ist  also  eine  Wissenschaft,  welche  sich  nur 
zum  allerkleinsten  Teile  aus  dem  empirischen  Materiale  der  Palä- 
ontologie oder  Versteinerungskunde,  zum  bei  weitem  größten  Teile 
aus  den  ergänzenden  Hypothesen  der  kritischen  Genealogie  oder 
Stammbaumskunde  zusammensetzt.  Die  letztere  muß  sich  in  erster 
Linie  auf  das  ergänzende  Material  der  vergleichenden  Anatomie, 
Ontogenie  und  Systematik,  und  weiterhin  auf  eine  denkende  Benutzung 
aller  allgemeinen  Organisationsgesetze  sttitzen. 


^b^ 


III.    Kritik  des  paläontologiselieii  Materials. 

Für  das  richtige  Verständnis  der  Phylogenie  ist  eine  der  ersten 
und  notwendigsten  Vorbedingungen  die  richtige  und  volle  Erkenntnis 
von  dem  außerordentlich  hohen  Grade  der  UnvoUständigkeit  und 
Lückenhaftigkeit,  den  das  gesamte  empirische  Material  der  Paläontologie 
besitzt.  Wir  haben  schon  im  vorhergehenden  hervorgehoben,  daß  der 
philosophischen  Genealogie,  welche  auf  Grund  ontogenetischer  und 
systematischer  Induktionen  den  hypothetischen  Bau  der  zusammen- 
hängenden Phylogenie  zu  errichten  hat,  ein  weit  größerer  und  um- 
fassenderer Teil  der  phylogenetischen  Aufgabe  zufällt,  als  der  empiri- 
schen Paläontologie,  welche  uns  nur  einzelne  isolierte  Bruchstücke 
für  den  Aufbau  derselben  zu  liefern  vermag.  Diese  Erkenntnis  ist  so 
wesentlich,  daß  wir  hier  kurz  die  wichtigsten  Ursachen  der  außer- 
ordentlichen UnvoUständigkeit  des  paläontologischen  Materials  hervor- 
heben müssen.  Niemand  hat  dieselben  bisher  so  richtig  gewürdigt, 
als  die  beiden  großen  Engländer  Darwin  und  Lyell,  von  denen 
der  erstere  dieselbe  Reformation  auf  dem  Gebiete  der  Paläontologie,  wie 
der  letztere  auf  dem  der  Geologie  durchgeführt  hat.  Darwin  hat 
der  ..UnvoUkommenheit  der  geologischen  Überlieferungen"  ein  be- 
sonderes Kapitel  seines  Werkes  (das  neunte)  gewidmet,  auf  welches 
wir  hier  als  besonders  wichtig  ausdrücklich  verweisen. 

Wenn  wir  die  sämtlichen  Umstände,  welche  die  empirische 
Paläontologie  zu  einem  so  höchst  fragmentarischen  Stückwerk  machen, 

23* 


356  15egriff  und  Aufgabe  der  Tlivlngenie.  XXI. 

vergleichend  erwägen,  so  können  wir  sie  in  zwei  Reihen  bringen, 
von  denen  die  einen  ihre  Ursache  in  der  Beschaffenheit  der  Orga- 
nismen, die  anderen  in  der  Beschaffenheit  der  Umstände  haben, 
unter  denen  ihre  Reste  in  den  neptunischen,  aus  dem  Wasser  abge- 
lagerten Erdschichten  erhalten  werden  können.  In  ersterer  Beziehung 
ist  vor  allem  zu  erwägen,  daß  in  der  Regel  nur  harte  und  feste  Teile, 
vorzüglich  also  Skelette,  der  Erhaltung  im  fossilen  Zustande  oder 
der  Petrifikation  fähig  waren.  Nur  verhähnismäßig  selten  konnten 
auch  von  weichen  und  zarten  Teilen  der  Organismen  Abdrücke  erhalten 
werden.  Es  fehlen  daher  fast  alle  erkennbaren  Reste  von  solchen 
Organismen,  die  keine  Skelette  oder  harten  Teile  besaßen.  Dahin 
gehören  alle  autogenen  Moneren,  welche  wir  als  die  ursprünglichen 
Stammformen  sämtlicher  Phylen  zu  betrachten  haben,  sowie  eine 
große  Anzahl  zunächst  von  jenen  Autogenen  abstammender  Genera- 
tionen: sodann  sehr  viele  Protisten,  die  meisten  Wasserpflanzen,  sehr 
viele  niedere  Tiere  (Medusen,  Würmer,  Nacktschnecken,  Wirbeltiere 
mit  bloß  knorpeligem  Skelett  etc.),  endlich  alle  Embryonen  aus  der 
ersten  und  sehr  viele  auch  aus  späterer  Entwickelungszeit;  sowie 
überhaupt  sehr  viele  zarte  jugendliche  Formen,  auch  von  solchen 
Organismen,  die  späterhin  ein  hartes  Skelett  erhalten.  Bei  allen 
diesen  Organismen  fehhen  eigenthche  innere  oder  äußere  Skelette, 
und  überhaupt  geformte  harte  Teile,  welche  der  Erhaltung  fähig  ge- 
wesen wären.  Aber  auch  bei  den  übrigen  Organismen,  welche  solche 
harte  konservationsfähige  Teile  besitzen,  machen  dieselben  in  der 
Regel  nur  einen  sehr  unbedeutenden  und  oft  einen  morphologisch 
sehr  wertlosen  Teil  des  ganzen  Körpers  aus  Am  wichtigsten  sind 
in  dieser  Beziehung  diejenigen  Wirbeltiere,  welche  ein  verknöchertes 
inneres  Skelett  besitzen,  ferner  die  hartschaligen  Echinodermen  und 
Crustaceen,  sowie  die  mit  Kalkgehäusen  versehenen  Mollusken.  Doch 
kann  man  insbesondere  bei  den  letzteren  aus  der  Form  der  äußeren 
Schale  nur  sehr  unsichere  Schlüsse  auf  die  anatomische  Beschaffen- 
heit der  Weichteile  ziehen.  Von  der  Beschaffenheit  des  Nervensystems 
und  des  Gefäßsystems,  sowie  der  meisten  übrigen  Organsysteme  sagen 
uns  aber  jene  konservierten  Hartgebilde  unmittelbar  gar  nichts,  und 
die  Andeutungen,  welche  wir  von  ihnen  in  dieser  Beziehung  erhalten, 
sind  nur  sehr  unsicher.  Die  ganze  Summe  der  wirklich  erhaltenen 
tierischen  Reste  gibt  uns  also  schon  aus  diesem  Grunde  nur  ein  sehr 
unsicheres  Bild  von  ihrer  vormaligen  Gesamtorganisation.  Nicht 
besser  steht  es  mit   den  Pflanzen,  von   denen  gerade   die   morpho- 


XXI.  III.    Kritik  des  paläontologischen  Materials.  357 

logisch  wichtigsten  Teile,  die  Blüten,  wegen  ihrer  zarten  Struktur 
nur  sehr  selten  und  höchst  unvollständig  in  Abdrücken  erhalten 
werden  konnten.  Die  Schlüsse,  welche  wir  hier  aus  den  Abdrücken 
ganzer  Pflanzen,  sowie  aus  den  besser  konservierten  härteren  Teilen 
(Holzstämmen,  Früchten)  ziehen  können,  ersetzen  jenen  Mangel  nur 
in  sehr  beschränktem  Maße. 

Höchst  ungleichmäßig  sind  ferner  die  Bedingungen  der  Kon- 
servation  je  nach  dem  verschiedenen  Wohnorte  der  Organismen. 
Bei  weitem  die  größte  Mehrzahl  der  Petrelakten  gehört  Meeres- 
bewohnern an:  viel  seltener  sind  die  Reste  von  Süßwasserbewohnern 
und  von  Landbewohnern,  und  am  seltensten  diejenigen  der  Luft- 
bewohner. Die  Gründe,  weshalb  das  Meer  die  günstigsten,  das 
Süßwasser  viel  ungünstigere,  und  das  Festland  die  ungünstigsten 
Bedingungen  zur  Fossilisation  verstorbener  Organismen  darbot,  liegen 
so  nahe,  daß  wir  dieselben  nicht  zu  erörtern  brauchen.  Ebenso 
konnten  selbstverständlich  von  Entozoen  und  von  anderen  Parasiten 
keine  Reste  konserviert  werden.  Wenn  wir  ferner  bedenken,  wie 
rasch  überall  jedes  Kadaver  seine  Liebhaber  findet,  wie  schnell 
überall  Tausende  von  Organismen  beschäftigt  sind,  sich  Fleisch  und 
Blut  der  Verstorbenen  zunutze  zu  machen,  wie  die  allermeisten 
organischen  Individuen  nicht  natürlichen  Todes  sterben,  sondern  von 
übermächtigen  Feinden  vernichtet  werden,  so  werden  wir  uns  mehr 
darüber  wundern,  daß  noch  so  viele,  als  daß  so  äußerst  wenige 
deutlich  erkennbare  Reste  übrig  bleiben  konnten. 

Die  andere  Reihe  von  Ursachen,  welche  auf  die  fossile  Kon- 
servation  der  organischen  Reste  höchst  nachteilig  einwirken,  liegt 
in  den  Umständen,  unter  denen  die  neptunischen  Erdschichten  aus 
dem  Wasser  abgelagert  werden.  Vor  allem  ist  hier  der  von  Dar- 
wnn  mit  Recht  besonders  hervorgehobene  Umstand  äußerst  wichtig, 
daß  versteinerungsführende  Schichten  nur  während  langer 
Perioden  andauernder  Senkung  des  Bodens  abgelagert 
werden  konnten.  Wenn  dagegen  Senkungen  mit  Hebungen 
wechselten,  oder  wenn  lange  Zeit  hindurch  Hebungen  fortdauerten, 
so  konnten  die  neuabgelagerten  Schichten  nicht  erhalten  bleiben, 
da  sie  alsbald  wieder  in  den  Bereich  der  Brandung  versetzt  und 
so  zerstört  wurden.  Diesen  Umstand  gehörig  zu  würdigen,  ist  aber 
um  so  wichtiger,  als  gerade  während  der  Hebungszeit  (durch  Ge- 
winnung neuer  Stellen  im  Naturhaushalte)  die  Divergenz  der  orga- 
nischen Formen  und  die  Entstehung    neuer  Arten    sehr  begünstigt 


358  IJegiiff  und  Aufgabe  der  Pliylogenie.  XXI. 

wurde,  während  dagegen  in  den  Senkungszeiten  mehr  Arten  er- 
löschen und  zugrunde  gehen  mußten.  Zwischen  den  langen  Zeit- 
räumen, in  welchen  je  zwei  aufeinander  folgende  Formationen  oder 
Etagen  abgelagert  wurden,  und  welche  zwei  Senkungsperioden  ent- 
sprechen, liegt  demnach  ein  ungeheuer  langer  Zeitraum,  in  welchem 
die  alternierende  Hebung  des  Bodens  und  die  damit  parallel  gehende 
Entstehung  neuer  Arten  stattfand,  von  denen  uns  aber  gar  keine 
Reste  erhalten  werden  konnten.  So  erklärt  sich  ganz  einfach  der 
zunächst  befremdende  *XJmstand,  daß  Flora  und  Fauna  zweier  ver- 
schiedener, übereinander  liegender  Schichten  so  sehr  verschieden 
sind.  In  sehr  vielen  Sedimentsschichten  endlich,  wie  z.  B.  in  vielen 
grobkörnigen  Sandsteinen,  ist  die  Erhaltung  organischer  Reste  schon 
wegen  der  Struktur  des  Gesteins  selbst  fast  ganz  unmöglich. 

Aber  auch  die  wirklich  erhaltenen  versteinerungsführenden 
Schichten  sind  uns  nur  im  höchsten  Grade  unvollständig  bekannt. 
Wir  kennen  von  diesen  fossiliferen  Straten  nur  einen  äußerst  ge- 
ringen Teil:  sorgfältiger  ist  bisher  nur  ein  Teil  Europas  und  Nord- 
amerikas hierauf  untersucht.  Von  den  Sediment-Schichten  Asiens, 
Südamerikas,  Afrikas  und  Australiens,  sowie  überhaupt  der  ganzen 
südlichen  Hemisphäre  kennen  wir  nur  ganz  geringe  Bruchstücke. 
Wie  unvollständig  wir  aber  selbst  die  am  meisten  untersuchten 
Schichten  (z.  B.  den  lithographischen  Schiefer  des  Jura)  kennen, 
geht  am  besten  daraus  hervor,  daß  noch  jährlich  neue  Formen  in 
demselben  entdeckt  werden.  Wir  kennen  ferner  gar  nichts  von  den 
ungeheuren  Massen  fossilienhaltiger  Schichten,  welche  gegenwärtig 
unter  dem  Meeresspiegel  ruhen,  von  denjenigen,  welche  jenseits  der 
Polarkreise  liegen  und  von  denjenigen,  welche  sich  in  metamor- 
phischem  Zustande  befinden.  Und  doch  sind  die  letzteren  allein 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  bedeutend  mächtiger,  als  alle  nicht 
metamorphischen  Schichtenlagen  zusammen. 

Alle  diese  Umstände  zusammengenommen  beweisen  uns.  daß 
die  Gesamtheit  des  paläontologischen  Materials  oder  die  sogenannte 
„geologische  Schöpfungsurkunde"  im  allerhöchsten  Maße  unvoll- 
ständig und  lückenhaft  ist,  und  daß  sie  uns  für  die  zusammen- 
hängende phyletische  Entwickelungsgeschichte  nur  einzelne  dürftige 
Andeutungen,  nirgends  aber  eine  vollständige  und  zusammenhängende 
Entwickelungsreihe  liefert.  Von  sehr  vielen  fossilen  Organismen- 
arten  kennen  wir  nur  ein  einziges  Exemplar  oder  einige  wenige 
höchst  unvollkommene  Bruchstücke,  z.  B.  einen  einzelnen  Zahn  oder 


XXI.  I^  •    Die  Kataklysmeutheorie  und  die  Kontiiiuitätstheorie.  359 

ein  paar  Knochen.  Von  keiner  einzigen  fossilen  Art  können  wir 
uns  ein  einigermaßen  vollständiges  Bild  ihrer  gesamten  Verbreitung 
und  Entwickelung  in  der  Vorzeit  entwerfen.  Alle  unsere  paläonto- 
logischen Sammlungen  zusammengenommen  sind  nur  ein  winziges 
Fragment,  nur  ein  Tropfen  im  Meere,  gegenüber  der  ungeheuren 
Masse  erloschener  Organismen,  die  in  früheren  Zeiten  unsere  Erd- 
rinde belebten.  Bevor  diese  Überzeugung  nicht  durch  reifliche  Er- 
wägung aller  hier  einschlagenden  Umstände  befestigt  ist,  wird  jede 
Beurteilung  des  paläontologischen  Materials  verfehlt  bleiben  und  zu 
irrigen  Schlüssen  verführen. 

IV.    Die  Kataklysmeutheorie  und  die  Kontinuitätstheorie 

(Cuvier  und  Lyell). 

Wenn  wir  die  außerordentliche  Unvollständigkeit  des  gesamten 
phylogenetischen  Materials  mit  der  befriedigenden  Vollständigkeit 
mindestens  eines  großen  Teiles  des  ontogenetischen  Materials  ver- 
gleichen, so  begreifen  wir,  warum  die  Entwickelungsgeschichte  der 
Arten  und  Stämme  so  weit  hinter  derjenigen  der  Individuen  und 
Zeugungskreise  zurückbleiben  konnte.  Doch  ist  diese  Differenz  in 
der  Ausbildung  beider  Zweige  der  Entwickelungsgeschichte  nicht 
allein  in  jener  ganz  verschiedenen  Beschaffenheit  des  empirischen 
Materials,  sondern  auch  zum  großen  Teil  in  der  eigentümlichen 
Stellung  begründet,  welche  die  Paläontologie  von  Anfang  an  zu 
ihren  nächstverbündeten  Wissenschaften  einnahm.  Vorzüglich  aber 
ist  in  dieser  Beziehung  die  Abhängigkeit  derselben  von  der  Geologie 
sehr  einflußreich  geworden,  sowie  der  Umstand,  daß  die  meisten  so- 
genannten Zoologen  und  Botaniker  dieselbe  wie  ein  Stiefkind  be- 
handelten, oder  sich  wohl  auch  gar  nicht  um  die  Tiere  und  Pflanzen 
der  unbekannten  ..A^orwelf'  bekümmerten. 

Die  empirische  Paläontologie,  als  die  Versteinerungskunde  oder 
„Petrefaktologie",  verdankt  ihre  Entwickelung  und  Kultur  größten- 
teils nicht  den  Untersuchungen  der  Zoologen  und  Botaniker  (welche 
in  den  Petrefakten  meistens  nicht  die  Überbleibsel  der  ausgestorbenen 
Vorfahren  der  jetzt  lebenden  Organismen  zu  erkennen  vermochten), 
sondern  den  Bemühungen  der  Geologen,  welche  die  Petrefakten  nur 
als  „Leitmuscheln",  als  „Denkmünzen  der  Schöpfung"  schätzen  und 
verwerten,  um  mit  Hülfe  derselben  das  relative  Alter  der  über- 
einander gelagerten  Gebirgsschichten  zu  bestimmen.    Das  Interesse  der 


360  Begriff  und  Aufgabe  der  Phylogenie.  XXI. 

beiderlei  Naturforscher  an  diesen  Objekten  ist  daher  nicht  weniger 
verschieden,  als  etwa  das  Interesse  eines  Archäologen  und  eines 
Künstlers  oder  Ästhetikers  an  einer  antiken  Statue.  Der  genea- 
logische Zusammenhang  der  fossilen  und  der  lebenden  Organismen, 
sowie  überhaupt  die  paläontologische  Entwickelungsgeschichte  der 
Organismen  mußte  den  eigentlichen  Geologen  von  jeher  als  ein 
untergeordneter  Nebenzweck  oder  auch  als  eine  gleichgültige  Sache 
erscheinen,  um  so  mehr,  als  die  meisten  Geologen  nicht  hinreichend 
gründliche  biologische  und  namentlich  morphologische  Bildung  be- 
saßen, um  das  hohe  Interesse  jenes  Zusammenhanges  richtig  würdigen 
zu  können.  Dazu  kam,  daß  die  falsche  Kataklysmentheorie  die  ge- 
samte Geologie  und  die  davon  in  Abhängigkeit  erhaltene  Paläontologie 
im  vorigen  Jahrhundert  und  in  den  drei  ersten  Dezennien  des  jetzigen 
vollständig  beherrschte.  Allgemein  nahm  man  an.  daß  die  aus  dem 
Bau  der  festen  Erdrinde  ersichtliche  Übereinanderlagerung  einer  be- 
stimmten Anzahl  verschiedener  Gebirgsformationen,  deren  jede  ihre 
eigentünüichen  tierischen  und  pflanzlichen  Reste  einschließt,  einer 
gleichen  Anzahl  von  aufeinanderfolgenden  Erdrevolutionen  unbe- 
kannten Ursprungs  entspreche,  deren  jede  die  damals  existierende 
Flora  und  Fauna  vernichtet  und  in  den  zusammengeschütteten 
Trümmern  der  umgewühlten  Erdrinde  begraben  habe.  Am  Anfange 
jeder  neuen  Periode  der  Erdgeschichte  sollte  ebenso  unmotiviert 
plötzlich  eine  neue  Flora  und  Fauna  erschaffen  worden  sein, 
wie  die  vorhergehende  durch  unmotivierte,  ungeheure,  allgemeine 
Überschwemmungen  und  Umwälzungen  der  Erdrinde  vernichtet 
Avorden  war. 

Diese  falsche  Theorie  wurde  vorzüglich  dadurch  verhängnis- 
voll, daß  sie  durch  Cuvier  zu  allgemeiner  Anerkennung  gelangte, 
der  sich  im  Anfange  unseres  Jahrhunderts  die  größten  Verdienste 
um  eine  schärfere  Bestimmung  und  Erkenntnis  der  organischen 
fossilen  Reste  erwarb.  Seine  große  Autorität  hielt  das  gesamte  Ge- 
biet der  Paläontologie  ein  halbes  Jahrhundert  hindurch  so  voll- 
ständig beherrscht,  und  erhielt  die  Kataklysmentheorie  als  funda- 
mentales Dogma  in  derselben  so  unbedingt  aufrecht,  daß  lange  Zeit 
noch  ein  großer  Teil  der  Paläontologen  sich  nicht  entschließen  konnte, 
dasselbe  aufzugeben.  Hier  trat  nun  die  Paläontologie,  insofern  sie 
noch  lange  in  weiten  Kreisen  das  Dogma  von  einer  Reihenfolge 
plötzlicher  Vernichtungen  der  schubweise  in  die  Welt  gesetzten 
Schöpfungen   aufrecht   erhielt,   in   einen  seltsamen  Gegensatz  zu  der 


XXI.  IV.    Die  Kataklysmentheorie  und  die  Kontinuitätstheorie.  361 

früher  sie  beherrscliendeii  Geologie,  in  welcher  jenes  Dogma  seit 
nunmehr  76  Jahren  als  beseitigt  betrachtet  werden  kann.  Jm  Jahre 
1830  erschien  das  bewunderungswürdige  Werk  von  Charles  Lyell: 
..fhe  Principles  of  Geology''.  durch  welches  dieser  große  Engländer 
dieselbe  Reformation  auf  dem  Gebiete  der  Geologie  und  in  der  Ent- 
wickelungsgeschichte  der  anorganischen  Erdrinde  durchführte,  welche 
sein  ebenbürtiger  Landsmann.  Charles  Darwin,  fast  30  Jahre 
später  auf  dem  Gebiete  der  Paläontologie  und  in  der  phyletischen 
Entwickelungsgeschichte  der  Organismen  vollendete.  Lyell  wies 
überzeugend  nach,  daß  wir  zur  Erklärung  der  geologischen  Tat- 
sachen nicht  jene  mythischen  „Revolutionen  und  Kataklysmen"  un- 
bekannten Ursprungs,  nicht  jene  plötzlichen  und  unmotivierten  Über- 
schwemmungen und  Umwälzungen  der  gesamten  Erdrinde  bedürfen, 
auf  denen  die  frühere  Geologie  beruht.  Er  zeigte,  wie  die  gegen- 
wärtig existierenden  geoplastischen  Ursachen,  wie  namentlich  der 
Wechsel  wiederholter  langsamer  Hebungen  und  Senkungen,  wie  die 
Tätigkeit  des  Wassers  und  der  atmosphärischen  Agentien.  wie  die 
..existing  causes"  der  Meteorologie  und  die  vulkanische  Aktion  des 
Erdinnern  vollkommen  ausreichen,  um  in  dem  Verlaufe  sehr  langer 
Zeiträume  durch  sehr  langsame  und  allmähliche,  aber  beständige 
und  ununterbrochene  Tätigkeit  jene  gewaltigen  Wirkungen  hervor- 
zubringen, die  wir  in  dem  Gebirgsbau  der  entwickelten  Erdrinde 
bewundern. 

Das  große  Prinzip  des  Aktualismus,  der  Grundsatz,  daß 
die  Kräfte  der  Materie  ebenso  wie  sie  selbst,  zu  allen  Zeiten  die- 
selben bleiben,  und  daß  heute  noch  ebenso  wie  in  der  Primordial- 
zeit  gleiche  Ursachen  gleiche  Wirkungen  hervorbringen,  war  durch 
jenes  Werk  Lyells  gewahrt,  und  dadurch  das  große  Gesetz  der 
kontinuierlichen  Entwickelung,  der  sukzessiven  Metamorphose, 
der  ununterbrochenen  Umbildung  für  die  organische  Natur  festgestellt. 
So  groß  war  aber  die  Macht  des  durch  Cuviers  Autorität  gestützten 
Dogmas  von  den  Kataklysmen  und  den  schubweise  in  die  Welt  ge- 
setzten Schöpfungen,  daß  das  letztere  dadurch  in  der  Paläontologie 
gar  nicht  erschüttert  zu  sein  schien.  Nun  muß  es  aber  für  jeden 
Denkenden  klar  sein,  daß  jenes  Dogma  in  der  Paläontologie  zum 
vollständigen  Unsinn  wurde,  nachdem  ihm  in  der  Geologie  aller 
Boden  entzogen  war.  Und  dennoch  lehrten  die  Zoologen  und  Bo- 
taniker im  A^erein  mit  den  Paläontologen  unbekümmert  und  un- 
gestört ihr  absurdes  Dogma  weiter  und  behaupteten,   daß  jede  Art 


362  Begriff  und  Aufgabe  der  Phylogenie.  XXI. 

selbständig-  uiul  unabhängig  von  der  anderen  erschaffen,  und  nach 
ihrem  Untergange  durch  andere,  von  ihr  unabhängige,  verwandte 
Arten  ersetzt  worden  sei. 

Es  ist  in  der  Tat  erstauuHch,  daß  noch  dreißig  Jahre  verfließen 
konnten,  ehe  die  von  Lyell  in  der  Geologie  durchgeführte  Reform 
auch  in  der  Paläontologie  zur  Geltung  gelangte.  Sobald  die  un- 
unterbrochene und  allmähliche  Entwickelung  der  anorganischen  Erd- 
rinde durch  Lyells  Kontinuitätstheorie  begründet  war,  mußte 
die  Deszendenztheorie  in  der  von  Darwin  gegebenen  Vollständig- 
keit als  die  notwendige  Folge  derselben  erseheinen,  und  die  gleiche 
ununterbrochene  und  allmähliche  Entwickelung  auch  für  die  orga- 
nische Bevölkerung  der  Erdrinde  nachweisen.  Wir  sehen  aber  hier 
wiederum  einen  neuen  Beweis  von  der  außerordentlichen  Gewalt, 
welche  eingerostete  falsche  Dogmen  auf  die  Ansichten  der  Menschen 
dauernd  ausüben,  sobald  sie  durch  mächtige  Autoritäten  gestützt 
werden.  Und  wiederum  müssen  wir  an  Goethes  Wort  denken: 
..Die  Autorität  verewigt  im  Einzelnen,  was  einzeln  vorübergehen 
sollte,  lehnt  ab  und  läßt  vorübergehen,  was  festgehalten  werden 
sollte,  und  ist  hauptsächlich  Ursache,  daß  die  Menschheit  nicht  vom 
Flecke  kommt." 


Y.    Die  Perioden  der  Erdgeschichte. 

Jede  der  vielen  übereinander  gelagerten  neptunischen  Schichten 
der  Erdrinde  bezeichnet  einen  bestimmten  Zeitraum  der  Erdgeschichte. 
Die  versteinerten  Reste  und  Abdrücke  von  Tieren  und  Pflanzen, 
welche  in  denselben  enthalten  sind,  geben  uns  ein  rudimentäres  und 
höchst  unvollständiges  Bild  von  der  Fauna  und  Flora,  welche  während 
jener  Zeit  die  Erdrinde  belebten.  Dagegen  besitzen  wir  gar  keine 
solchen  Reste  oder  „Denkmünzen  der  Schöpfungsgeschichte"  aus  den 
sehr  langen  Zeiträumen,  welche  zwischen  der  Ablagerung  je  zweier 
Schichten  oder  Formationen  verflossen.  Diese  empfindlichen  Lücken 
sind,  wie  wir  vorher  sahen,  um  so  mehr  zu  bedauern,  als  gerade  in 
jenen  Zwischenzeiten,  in  welchen  Hebungen  der  Erdrinde  stattfanden 
und  deslialb  keine  versteinerungsführenden  Schichten  abgelagert 
wurden,  die  Umbildung  der  Organismen  und  die  Entstehung  neuer 
Arten  und  Artengruppen  wegen  der  Umgestaltung  der  Existenz- 
bedingungen und  wegen  der  Entstehung  neuer  Stellen  im  Natur- 
haushalte sehr  lebhaft  sein  mußten.   Wir  müssen  daher  jene  empirisch 


XXI.  VI.    Epacme.  Acme,  Paracme.  363 

nie  ausfüllbareu  Lücken  dnrcli  Hypothesen  überbrücken  und  den  durch 
jene  Intervalle  zerrissenen  Faden  der  paläontologischen  Entwickelung 
wieder  zusammenknüpfen.  Die  fünf  großen  Hauptperioden  oder  Zeit- 
alter der  organischen  Erdgeschichte  umfassen  folgende  Perioden: 

I.  Archozoisches  Zeitalter  (Primordial-Zeit).   1.  Laurentische, 
2.  Cambrische,  3.  Silurische  Periode. 

II.  Paläozoisches   Zeitalter    (Primär -Zeit).      4.  Devonische, 
5.  Carbonische,  6.  Permische  Periode. 

III.  Mesozoisches     Zeitalter     (Secundär-Zeit).       7.    Trias-, 
8.  Jura-,  9.  Kreide-Periode. 

IV.  Cänozoisches     Zeitalter     (Tertiär  -  Zeit).      10.    Eocän-. 
11.  3Iiocän-,  12.  Pliocän-Periode. 

V.  A.nthropozoisches  Zeitalter  (Quartär-Zeit).    13.  Glaciale, 
14.  Postelaciale.  15.  Kultur-Periode. 


"&* 


Tl.    Epacme,  Acme,  Paracme. 

Aufbildung  (Anaplasis),  Umbildung  {Metaplasis)  und  Rück- 
bildung {Cataplasis)  haben  wir  im  16.  Kapitel  drei  verschiedene 
Stadien  der  Entwickelung  genannt,  welche  wir  allgemein  in  der 
Genesis  der  organischen  Individuen  unterscheiden  konnten.  Den 
Charakter  dieser  drei  individuellen  Entwickelungsperioden  haben 
wir  im  17.  Kapitel  schärfer  zu  bestimmen  versucht.  Wir  kommen 
hier  auf  jene  Bestimmung  zurück,  w^eil  die  vollständige  Parallele 
zwischen  der  Ontogenie  und  Phylogenie  auch  in  dieser  Beziehung- 
nicht  fehlt,  und  weil  auch  die  organischen  Arten  und  Stämme 
in  gleicher  Weise  wie  die  organischen  Individuen,  die  drei  Stadien 
der  Aufbildung,  der  Umbildung  und  der  Rückbildung  zu  durchlaufen 
haben. 

Wie  die  gesamte  Entwickelungsbewegung  der  Arten  und  der 
Stämme  bisher  nur  selten  als  kontinuierliche  Bewegungserscheinung 
erkannt,  und  noch  seltener  in  ihrem  hohen  Interesse  gewürdigt  worden 
ist.  so  gilt  dies  auch  von  den  verschiedenen  Stadien  oder  Haupt- 
perioden ihrer  Entwickelung.  Allerdings  mußten  schon  die  ersten 
Anfänge  der  paläontologischen  Statistik  zu  der  Überzeugung  führen, 
daß  die  verschiedenen  Gruppen  des  Systems  hinsichtlich  der  Dauer 
und  Ausdehnung  ihrer  Entwickelung  sich  zu  verschiedenen  Zeiten 
der  Erdgeschichte  sehr  verschieden  verhalten  haben,  und  daß  das 
Zahlenverhältnis  der  Arten  und  der  sie  repräsentierenden  Individuen 


364  Begriff  und  Aufgabe  der  Phylogenie.  XXI. 

in  den  verscliiedenen  Gruppen  des  Tier-  und  Pflanzenreichs  sich  zu 
allen  Zeiten  sehr  verschieden  gestaltet  hat.  Die  Zunahme  und  Ab- 
nahme der  Artenzahl  und  der  Sippenzahl  in  den  einzelnen  Familien, 
Ordnungen  und  Klassen  ist  daher  schon  seit  längerer  Zeit  Gegen- 
stand der  Aufmerksamkeit  und  der  statistischen  Bestimmung  der 
Paläontologen  gewesen,  und  man  hat  namentlich  sehr  oft  die  Zeit- 
dauer der  einzelnen  Gruppen,  sowie  ihre  Zunahme  und  Abnahme  an 
Zahl  der  Gattungen  und  Arten  in  den  verschiedenen  Perioden  der 
Erdgeschichte  graphisch  durch  doppelkegelförmige  Linien  darzustellen 
versucht.  Insbesondei'e  ist  Bronn  in  seiner  ,, Geschichte  der  Natur" 
und  in  seinen  trefflichen  „Untersuchungen  über  die  Entwickelungs- 
gesetze  der  organischen  Welt'"  bemüht  gewesen,  diese  historische  Zu- 
nahme. Dauer  und  Abnahme  der  Artenzahl  und  Sippenzahl  in  den 
verschiedenen  Abteilungen  des  Tier-  und  Pflanzenreichs  festzustellen. 
Indessen  mußten  diesen  Bemühungen  so  lange  ihr  bestimmtes  Ziel 
und  ihr  kausaler  Leitstern  fehlen,  als  nicht  der  leitende  Grundgedanke 
der  Deszendenztheorie  den  genealogischen  Zusammenhang  der  „ver- 
wandten" Organismen  als  die  Ursache  ihrer  paläontologischen  Er- 
scheinungsweise nachgewiesen  hatte.  Nur  von  diesem  Standpunkte 
aus  können  wir  begreifen,  warum  die  Arten.  Gattungen,  Klassen  etc., 
kurz  alle  die  verschiedenen  Kategorien  des  Systems,  von  der  Varietät 
bis  zum  Stamm  hinauf,  überall  ebenso  verschiedene  Stadien  ihrer 
Entwickelung  unterscheiden  lassen,  wie  die  einzelnen  Individuen 
während  der  Zeit  ihrer  individuellen  Existenz. 

Wie  wir  aber  zeigten,  daß  wir  unter  Ontogenese  die  gesamte 
Reihe  von  Formveränderungen  begreifen  müssen,  welche  der  indivi- 
duelle Organismus  während  der  ganzen  Zeit  seiner  individuellen 
Existenz  durchläuft,  so  müssen  wir  hier  dasselbe  für  die  Phylo- 
genese wiederholen.  Auch  die  Entwickelung  der  Arten  und  der 
Stämme,  und  gleicherweise  jeder  anderen  Kategorie  des  Systems, 
umfaßt  ebenso  wie  diejenige  der  physiologischen  Individuen  die 
ganze  Reihe  von  Formveränderungen,  welche  jede  dieser  genea- 
logischen Kategorien  während  der  gesamten  Zeit  ihrer  Existenz  durch- 
läuft. Jede  dieser  Kategorien  hat  eine  beschränkte  Zeitdauer  ihrer 
Existenz,  und  diese  wird  durch  den  Kampf  um  das  Dasein  bestimmt. 

Die  drei  Stadien  der  Aufbildung.  Umbildung  und  Rückbildung 
sind  nun  zwar  in  der  Phylogenese  ebenso  wie  in  der  Ontogenese 
allgemein  zu  unterscheiden:  indessen  ist  es  dort  ebensowenig  als 
hier  möglich,  dieselben  scharf  zu  charakterisieren  und  durch  scharfe 


XXI.  ^  I-  Epacme,  Acnie,  Paracme.  365 

Grenzlinien  voneinander  zn  scheiden.  Vielmehr  gehen  die  Stadien 
der  phylogenetischen  ebenso  wie  die  der  ontogenetischen  Ent- 
wickelung  allmählich  ineinander  über,  und  oft  sind  selbst  ihre  un- 
gefähfen  Grenzen  nur  sehr  undeutlich  zu  bestimmen.  Dennoch  ist 
die  Unterscheidung  derselben  von  großem  Vorteil  und  sogar  durch- 
aus notwendig,  um  eine  klare  Übersicht  über  das  phylogenetische 
Verhältnis  der  einzelnen  Gruppen  zueinander  und  zum  ganzen 
Stamme  zu  erhalten. 

Um  die  Verwechselung  der  phylogenetischen  Entwickelungs- 
stadien  mit  den  ontogenetischen  zu  vermeiden,  erscheint  es  passend, 
dieselben  durch  besondere  feststehende  Ausdrücke  zu  bezeichnen, 
welche  den  letzteren  entsprechen.  Wir  nennen  das  erste  Stadium 
der  Phylogenese,  welches  der  ontogenetischen  Anaplase  gleichsteht, 
ihre  Aufblühzeit  {Epacme),  das  zweite,  welches  der  Metaplase  ent- 
spricht, die  Blütezeit  {Acme),  und  das  dritte,  welches  der  Kataplase 
korrespondiert,  die  Verblühzeit  {Paracme). 

I.  Die  Auf  blühzeit  {Epacme),  das  erste  Stadium  der  Phylo- 
genese, umfaßt  diejenige  Zeit  in  der  Entwickelung  der  Arten  und 
der  Stämme,  welche  von  ihrer  Entstehung  bis  zu  ihrer  Blütezeit 
reicht.  Sie  entspricht  also  dem  Jugendalter  {Juventus,  Aclolescenüa) 
oder  der  Aufbildungszeit  {Anaplasis,  Eroluüo),  welche  wir  oben 
als  das  erste  Stadium  der  individuellen  Entwickelung  charakterisiert 
haben.  Als  diejenige  physiologische  Entwickelungsfunktion.  welche 
vorzugsweise  für  dieses  Stadium  der  Ontogenese  charakteristisch  und 
bedeutend  ist,  haben  wir  daselbst  das  Wachstum  bezeichnet,  und 
ebenso  werden  wir  das  Wachstum  auch  als  den  charakteristischen 
Prozeß  der  phylogenetischen  Epacme  betrachten  können.  Die  epacma- 
stische  Kreszenz  der  Arten  und  Stämme  besteht  ebenso  wie  das 
anaplastische  Wachstum  der  Bionten,  in  einer  Ausdehnung  und  Größen- 
zunahme. Bei  den  Arten  wächst  die  Anzahl  der  Individuen  und  bei 
den  Stämmen  die  Anzahl  der  subordinierten  Kategorien  (Klassen. 
Ordnungen  etc.),  welche  dieselben  zusammensetzen. 

IL  Die  Blütezeit  {Acme),  das  zweite  und  mittlere  Stadium 
der  Phylogenese,  begreift  diejenige  Zeit  in  der  Entwickelung  der 
Arten  und  Stämme,  welche  zwischen  der  Epacme  und  der  Paracme 
hegt.  Sie  korrespondiert  mithin  dem  Reife  alt  er  {Maturitas,  Adul- 
tas)  oder  der  Umbildungszeit  {Metaplasis,  TransvoluUo).  welche 
wir  oben  als  das  zweite  Stadium  der  individuellen  Entwickelung  ab- 
gesteckt   haben.       Diejenige    physiologische    Entwickelungsfunktion. 


3(jß  Begriff  und  Aufgabe  der  Phylogenie.  XXI. 

welche  vorzugsweise  dieses  Stadium  der  Ontogenese  beherrscht,  ist 
die  Differenzierung  oder  Divergenz  der  Form,  und  ebenso  können 
wir  diesen  Prozeß  auch  als  die  wesentlichste  Funktion  der  phylogene- 
tischen Acme  betrachten.  Die  acraastische  Differenzierung 
der  reiferen  Arten  und  Stämme  besteht,  ebenso  wie  die  nietaplastische 
Divergenz  der  Bionten.  weniger  in  einer  quantitativen  als  in  einer 
qualitativen  Vervollkommnung,  und  vorzugsweise  in  der  vielseitigen 
Anpassung  an  die  verschiedenartigsten  Existenzbedingungen.  Durch 
diese  Differenzierung  der  Arten  bilden  dieselben  ein  reiches  und  viel- 
strahliges  Varietätenbüschel,  während  durch  die  Divergenz  der  Stämme 
eine  große  Anzahl  von  neuen  Gruppen  entstehen. 

III.  Die  Verblühzeit  (Paraonc).  das  dritte  und  letzte  Stadium 
der  Phylogenese,  umfaßt  diejenige  Zeit  in  der  Entwickelung  der  Arten 
und  Stämme,  welche  vom  Ende  der  Blütezeit  bis  zum  Ende  ihrer 
Existenz  reicht.  Sie  entspricht  also  dem  Greisen  alt  er  (Deflo- 
resccnticL  SeniUtas)  oder  der  Rückbildungszeit  {Caiaplasis.  Inro- 
luiio).  welche  oben  als  das  dritte  und  letzte  Stadium  der  individuellen 
Entwickelung  geschildert  worden  ist.  iVls  diejenige  physiologische 
Entwickelungsfunktion.  welche  vorzugsweise  in  diesem  Stadium  der 
Ontogenese  herrscht,  haben  wir  daselbst  die  Degeneration  nach- 
gewiesen, und  dieser  Prozeß  charakterisiert  ebenso  auch  die  phylo- 
genetische Paracme.  Die  paracmastische  Degeneration  der 
Arten  und  Stämme  bestellt  ebenso  wie  die  ontogenetische  Ent- 
bildung  der  Bionten.  zunächst  in  einer  Beschränkung  und  Vermin- 
derung ihres  physiologischen  und  infolgedessen  auch  ihres  morpho- 
logischen Bestandes  und  Vermögens.  Bei  den  Arten  nimmt  die 
Zahl  der  Individuen  ab.  indem  sie  entweder  aussterben  oder  in 
andere  Arten  übergehen.  Bei  den  Stämmen  nimmt  die  Zahl  aller 
Kategorien  und  der  sie  vertretenden  Stämme  ab  bis  zum  voll- 
ständigen Aussterben. 


Zweiundzwanzigstes  Kapitel. 

EntwickelungsgescMclite  der  Arten  oder  Spezies. 

(Naturgeschichte  der  organischen  Arten  oder  genealogischen 
Individuen  zweiter  Ordnung.) 


„Die  Idee  der  Me  tamo  riihose  ist  gleich  der  vis 
centrifuga  und  würde  sicli  ins  Unendliche  verlieren,  wäre 
ihr  nicht  ein  Gegengewicht  zugegeben:  ich  meine  den 
Spez  ifikations  trieb,  das  zähe  Beharrlichkeitsvermögeii 
dessen,  was  einmal  zur  Wirklichlveit  gekommen,  eine  vis 
centripeta,  welcher  in  ilirem  tiefsten  Grunde  keine  Äußer- 
lichkeit etwas  anhaben  kann."  Goethe. 


I.    Allgemeine  Kritik  des  Speziesbegriffes. 

Seitdem  Linne  im  Jahre  1735  in  seinem  Systema  naturac  znm 
ersten  Male  die  außerordentlichen  Vorteile  gezeigt  hatte,  welche  die 
von  ihm  eingeführte  binäre  Nomenklatur  für  die  übersichtliche  Re- 
gistratur der  Organismen  bietet,  und  seitdem  die  Einordnung  der  ver- 
schiedenartigen Formen  in  das  Svstem.  und  ihre  Benennung  mit 
Genus-  und  Speziesnamen  mehr  und  mehr  Hauptbeschäftigung  der 
sogenannten  „  Systematik'"  geworden  war,  hat  es  nicht  an  viel- 
fältigen Versuchen  gefehlt,  das  eigentliche  Wesen  der  Art  oder  Spezies 
in  seinem  eigentümlichen  Werte  zu  erkennen  und  den  Begriff  der- 
selben zu  bestimmen.  Die  Geschichte  dieser  größtenteils  verfehlten 
Versuche  ist  für  die  Geschichte  der  gesamten  organischen  Morpho- 
logie von  großer  Bedeutung.  Denn  einerseits  hat  das  zur  all- 
gemeinen Herrschaft  gelangte  Dogma  von  der  Konstanz  der 
Spezies  die  irrtümlichsten  allgemeinen  Anschauungen  in  allen 
einzelnen  Zweigen  der  morphologischen  Botanik  und  Zoologie  her- 
vorgerufen. Andererseits  aber  zeigen  sich  gerade  in  der  Art  und 
Weise,  in  welcher  man  jenes  Dogma  aufgebaut  und  zum  Fundament 
aller  generellen  morphologischen  Reflexionen  erhoben  hat,  auf  das 
klarste   alle  die   prinzipiellen  Fehler  und  methodologischen  Irrwege, 


368  Entwickeliingsgeschichte  der  Arten  oder  Spezies.  XXII. 

welche  bisher  in  allen  Zweigen  der  organischen  Morphologie  die 
Geltung  der  allein  richtigen  monistischen  Naturanschanung  und  so- 
mit auch  die  Erkenntnis  der  allein  maßgebenden  kausalmechanischen 
Naturgesetze  gehindert  haben.  Die  blinde  Dogmatik  und  der  Mangel 
an  Kritik,  die  einseitige  Vertiefung  in  der  isolierenden  Analyse  und 
der  Mangel  an  vergleichender  Synthese,  das  unklare  Haschen  nach 
teleologischen  Scheingrtinden  und  die  vorurteilsvolle  Vernachlässigung 
der  wirklichen  mechanischen  Gründe  —  kurz  alle  die  Mängel  und 
Fehler,  welche  bisher  die  Morphologie  der  Organismen  gehindert 
haben,  sich  auf  den  objektiven  monistischen  Standpunkt  aller  übrigen 
Naturwissenschaften  zu  erheben,  und  welche  sie  in  der  Knechtschaft 
subjektiver  dualistischer  Vorurteile  erhalten  haben  —  alle  diese 
Mängel  und  Fehler  sind  auf  das  engste  mit  dem  fundamentalen 
Dogma  von  der  absoluten  Individualität  und  Konstanz  der  Spezies 
verknüpft  und  durch  dasselbe  größtenteils  unmittelbar  bedingt.  Der 
allgemeine  Mangel  an  natürlicher  Logik  und  überhanpt  an  gesunder 
Philosophie,  welcher  das  Grundübel  der  ganzen  organischen  Morpho- 
logie bildet,  zeigt  sich  daher  auch  nirgends  so  auffallend  wie  in 
der  Speziesfrage. 

Obwohl  deshalb  eine  kritische  Entwickelungsgescliichte  der 
Speziesdogmatik  für  die  gesamte  Morphologie  der  Organismen  von 
hohem  Interesse  ist,  würde  es  uns  doch  hier  viel  zu  weit  führen, 
wollten  wir  alle  verschiedenen  Ansichten  auch  nur  der  hervor- 
ragendsten Morphologen  über  die  Spezies  einer  allgemeinen  Be- 
sprechung unterziehen  und  den  verwickelten  Knäuel  unklarer  und 
widersprechender  Vorstellungen  darüber  entwirren.  Dies  muß  einer 
zukünftigen  Geschichte  der  Deszendenztheorie  vorbehalten  bleiben. 
Wir  beschränken  uns  vielmehr  hier  darauf,  den  ganz  verschieden- 
artigen Inhalt  und  Umfang  des  Speziesbegriffes  hervorzuheben,  welchen 
derselbe,  von  morphologischem,  physiologischem  und  genealogischem 
(morphogenetischem)  Gesichtspunkte  aus  bestimmt,  besitzt. 

Das  Wichtigste,  was  in  dieser  Beziehung  zunächst  zu  beachten 
ist,  finden  wir  in  dem  Umstände,  daß  der  praktische  Gebrauch 
des  Speziesbegriffes  sich  meistens  ganz  unabhängig  von  der 
theoretischen  Bestimmung  desselben  erhielt.  Die  alte  authentische 
Definition  Linnes,  welcher  den  Speziesbegriff  nicht  allein  zuerst  theo- 
retisch aufstellte,  sondern  auch  mit  dem  glänzendsten  Erfolge  praktisch 
anwandte,  lautete:  .,8pccies  tot  sunt  diversae,  quot  diversae  formae 
ab  initio  sunt  creatae" .     Diese  Definition  ist  offenbar  rein  Spekula- 


XXII.  I-    Allgemeine  Kritik  des  Speziesbegriffes.  369 

tiver  Natur,  auf  das  eingewurzelte  theoretische  Schöpfungsdogma 
gegründet  und  ganz  unabhängig  von  der  praktischen,  auf  die  Ver- 
gleichung  konkreter  Individuen  und  ihre  Unterscheidung  durch 
konstante  Merkmale  gestützten  Bestimmung  der  Arten.  Mehr  in 
Verbindung  mit  der  letzteren  wurde  späterhin  die  theoretische 
Spezies-Definition  durch  Cuvier  gebracht,  welcher  nächst  Linne  den 
größten  und  nachhaltigsten  Einfluß  auf  die  Systematik  ausübte.  Nach 
Cuvier  ist  die  Spezies  Ja  reunion  des  individus  descendant  l'un 
de  Vautre  et  des  parents  eommuns,  et  de  ceux,  qui  leur  ressemblent 
autant,  qic'ils  se  ressemblent  enire  cux."  In  dieser  Bestimmung, 
an  welche  sich  die  meisten  späteren  mehr  oder  minder  eng  an- 
schließen, wird  offenbar  zweierlei  für  die  zu  einer  Spezies  gehörigen 
Individuen  verlangt,  erstens  nämlich  ein  gewisser  Grad  von  Ähn- 
lichkeit oder  annähernder  Gleichheit  der  Charaktere  und  zweitens 
ein  verwandtschaftlicher  Zusammenhang  durch  das  Band  gemein- 
samer x\bstammung.  Von  den  späteren  Autoren  ist  bei  den  zahlreichen 
Versuchen,  die  Definition  zu  vervollkommnen,  bald  mehr  auf  die 
genealogische  Blutsverwandtschaft  aller  Individuen  einer  Art,  bald 
mehr  auf  ihre  morphologische  Übereinstimmung  in  allen  wesentlichen 
Charakteren  Rücksicht  genommen  worden.  Im  allgemeinen  kann 
man  aber  behaupten,  daß  bei  der  praktischen  Anwendung  des  Art- 
begriffs, bei  der  Unterscheidung  und  Benennung  der  einzelnen  Spezies 
fast  immer  nur  das  letztere  Moment  zur  Geltung  gelangte,  das  erstere 
dagegen  ganz  vernachlässigt  wurde.  Späterhin  wurde  zwar  die  genea- 
logische Vorstellung  von  der  gemeinsamen  Abstammung  aller  Indi- 
viduen einer  Art  noch  durch  die  physiologische  Bestimmung  ergänzt, 
daß  alle  Individuen  einer  Art  miteinander  eine  fruchtbare  Nach- 
kommenschaft erzeugen  können,  während  die  sexuelle  Vermischung 
von  Individuen  verschiedener  Arten  gar  keine  oder  nur  eine  unfruchtbare 
Nachkommenschaft  liefert.  Indessen  war  man  in  der  systematischen 
Praxis  allgemein  vollkommen  zufrieden,  wenn  man  bei  einer  unter- 
suchten Anzahl  höchst  ähnlicher  Individuen  die  Übereinstimmung  in 
allen  wesentlichen  Charakteren  festgestellt  hatte,  und  frug  nicht 
weiter  danach,  ob  diese  zu  einer  Art  gerechneten  Individuen  in  der 
Tat  gemeinsamen  Ursprungs  und  fähig  seien,  bei  der  Begattung 
miteinander  eine  fruchtbare  ?^chkommenschaft  zu  erzeugen.  Viel- 
mehr kam  diese  physiologische  Bestimmung  natürlicherweise  bei 
der  praktischen  Unterscheidung  der  Tier-  und  Pflanzenarten  ebenso- 
wenig in  Anwendung,  als  die  vorausgesetzte  gemeinsame  Abstammung 

Haeckel,    Prinz,  d.  Morphol.  24 


370  Entwickelungsgeschichte  der  Arten  oder  Spezies.  XXII. 

von  einem  und  demselben  Elternpaare.  Andererseits  unterschied 
man  oline  Bedenken  zwei  näclistverwandte  Formen  als  zwei  ver- 
schiedene „gute  Arten",  sobald  man  bei  einer  untersuchten  Anzahl 
von  ähnlichen  Individuen  eine  konstante  Differenz,  wenn  auch  nur 
in  einem  verhältnismäßig  untergeordneten  Charakter,  nachgewiesen 
hatte.  Auch  hier  kümmerte  man  sich  nicht  darum,  ob  die  beiden 
verschiedenen  Reihen  wirklich  nicht  von  gemeinsamen  Voreltern  ab- 
stammten, und  wirklich  miteinander  keine  oder  doch  nur  unfrucht- 
bare Bastarde  zeugen  konnten. 

Aus  diesen  einfachen  Gründen  und  besonders  aus  der  Unmög- 
lichkeit, die  gemeinsame  Abstammung  und  die  Fähigkeit  zur  Er- 
zeugung fruchtbarer  Nachkommen  bei  allen  Individuen  derselben 
Spezies  nachzuweisen,  wurde  dann  die  offenbare  Trennung  zwischen 
der  theoretischen  und  der  ganz  davon  unabhängigen  prakti- 
schen Unterscheidung  der  Spezies  mehr  oder  weniger  unbe- 
wußt den  Systematikern  zur  Gewohnheit.  Theoretisch  wurde  die 
Art  bestimmt  als  der  Inbegriff  aller  Individuen  verschiedenen  Ge- 
schlechts, die  miteinander  eine  fruchtbare,  die  Gattung-  als  Inbegriff 
derer,  die  keine  oder  eine  unfruchtbare  Nachkommenschaft  erzeugen. 
Dabei  setzte  man  gewöhnlich  stillschweigend  voraus,  daß  alle  Indi- 
\iduen  einer  Art  ursprünglich  von  gleichen,  alle  Arten  einer  Gattung 
dagegen  von  verschiedenen  Voreltern  abstammten.  Ebenso  wurde 
die  Unveränderlichkeit  oder  Konstanz  der  Art  in  der  Zeit  voraus- 
gesetzt. Bei  der  praktischen  Speziesunterscheidung  dagegen  wurde 
diese  Voraussetzung  gewöhnlich  nicht  im  mindesten  berücksichtigt, 
und  man  hielt  sich  bloß  an  die  Übereinstimmung  oder  die  Differenz 
der  sogenannten  „wesentlichen"  Charaktere  in  den  gerade  zur  Be- 
stimmung vorliegenden  und  zu  vergleichenden  Exemplaren.  Leichtere 
und  auch  oft  bedeutende,  aber  inkonstante  Differenzen  zwischen 
denselben  wurden  nicht  als  Merkmale  von  besonderen  Arten,  sondern 
nur  von  Abarten  oder  Spielarten  (Varietäten,  Subspezies)  angesehen. 
Die  Probe  mit  der  Fortpflanzungsfähigkeit  wurde  nicht  gemacht. 
Auch  wäre  es  ja  in  der  Tat  in  den  allermeisten  Fällen,  wie  z.  B. 
bei  der  Feststellung  der  Spezies  von  nicht  lebend  zu  beobachtenden, 
sowie  von  allen  ausgestorbenen  Tieren,  ganz  unmöglich  gewesen, 
die  verlangte  Probe  mit  der  gleichartigen  Fortpflanzung  anzustellen 
und  die  Abstammung  von  einem  einzigen  Elternpaare  empirisch 
nachzuweisen.  Daß  aber  auf  diese  Weise  die  erwähnten  Voraus- 
setzungen bald  nur  zu  einem  leeren  Dogma  ausarteten,  welches  bloß  in 


XXII.  II-    Dei'  moipliologische  Begriff  der  Spezies.  371 

den  Handbücliern  in  Ermangelnng  einer  besseren  Definition  der 
Spezies  schulgerecht  fortgeführt  und  allgemein  wiederholt  wurde, 
liegt  auf  der  Hand.  Jede  eingehende  kritische  Untersuchung  zeigt, 
daß  in  der  zoologischen  und  botanischen  Praxis  allein  die  morpho- 
logische Rücksicht  auf  die  unterscheidenden  sogenannten  spezifischen 
Charaktere  zur  Geltung  kam,  nicht  aber  das  genealogische  Kriterium, 
gezogen  aus  der  Voraussetzung  gemeinsamer  Abstammung  und  eben- 
sowenig die  physiologische  Erwägung,  daß  zwei  verschiedene  Spezies 
keine  fruchtbare  Nachkommenschaft  miteinander  erzeugen  können. 
Daß  dieser  Mangel  an  Zusammenhang  zwischen  der  theoretisch- 
physiologischen und  der  praktisch-morphologischen  Bestimmung  der 
Spezies  den  Wert  der  ersteren  ganz  illusorisch  machte,  wurde  selt- 
samerweise von  den  meisten  zoologischen  und  botanischen  Systema- 
tikern gar  nicht  bemerkt.  In  dem  Eingange  zu  den  Handbüchern 
wurde  immer  wieder  gewissenhaft  die  theoretische  Definition  wieder- 
holt, daß  zu  einer  Art  alle  Individuen  (und  nur  diese!)  gehören, 
welche  von  gemeinsamen  Voreltern  abstammen,  und  welche  bei  der 
sexuellen  Vermischung  eine  fruchtbare  Nachkommenschaft  erzeugen. 
In  der  Tat  aber  wurde  die  Richtigkeit  dieser  Bestimmung  niemals 
wirklich  geprüft,  vielmehr  die  Unterscheidung  und  Benennung  der 
Spezies  lediglich  durch  Ermittelung  der  Übereinstimmung  in  allen 
„wesentlichen"   morphologischen  Charakteren  bewirkt. 

II.    Der  morphologische  Begriff  der  Spezies. 

Die  praktische  Unterscheidung  und  Benennung  der  Arten,  wie 
sie  von  der  botanischen  und  zoologischen  Systematik  allgemein  geübt 
wird,  gründet  sich  ganz  vorwiegend  auf  die  Erkenntnis  morpho- 
logischer und  nicht  physiologischer  Differenzen,  welche  zwischen 
den  verglichenen  ähnlichen  Formen  sich  auffinden  lassen.  Jeder 
Blick  auf  die  kurz  gefaßten  Diagnosen  oder  die  ausführlicheren  Be- 
schreibungen, durch  welche  in  den  systematischen  Handbüchern  und 
Monographien  die  verschiedenen  Arten  einer  Gattung  getrennt  werden, 
lehrt  uns,  daß  dasjenige  Moment,  welches  man  in  der  systematischen 
Praxis  durchgängig  und  fast  allein  zur  Feststellung  und  Unter- 
scheidung der  Spezies  benutzt,  die  Vergleichung  und  Wägung  der 
morphologischen  Charaktere  ist.  Daß  dieses  morphologische  Prinzip 
allein,  mit  völliger  Beiseitlassung  des  gemeinsamen  Abstammungs- 
prinzips    und    ohne   Rücksicht    auf    das    physiologische   Prinzip    der 

24* 


372  Entwickelungsgeschichte  der  Arten  oder  Spezies.  XXII. 

fruchtbaren  Fortpflanzungsfähigkeit  die  Systematiker  bei  ihrer  ana- 
lytischen Speziesbestimmung  leitet,  muß  allgemein  zugegeben  werden. 
Ebenso  sicher  ist  es  aber  auch,  daß  die  meisten  Systematiker  nicht 
imstande  sind,  anzugeben,  welche  Rücksichten  sie  hierbei  als  maß- 
gebende Richtschnur  im  Auge  haben  und  worin  das  Wesen  der 
.,spezifischen  Formcharaktere"  besteht.  Sehr  wenige  nur  haben 
sich  die  Mühe  genommen,  hierüber  nachzudenken,  und  unter  diesen 
ist  vor  allen  Louis  Agassiz  hervorzuheben. 

Von  den  meisten  anderen  Naturforschern  abweichend,  erklärt 
Agassiz  die  Spezies  für  eine  ebenso  ideale  Wesenheit  („ideal  eniity")^ 
als  die  übergeordneten  Begriffe  der  Gattung,  Familie,  Ordnung,  Klasse 
und  T}T3us.  Alle  diese  idealen  Einheiten  sind  in  der  Natur  realisiert, 
sind  verkörperte  Schöpfungsgedanken.  Die  Charaktere,  durch  welche 
sich  diese  verschiedenen,  stufenweise  sich  erhebenden  Kategorien 
unterscheiden,  sind  von  verschiedener  Qualität.  Die  Unterschiede 
der  Spezies  betreffen  das  Verhältnis  der  einzelnen  Körperteile  zuein- 
ander, sowie  die  absolute  Größe  des  ganzen  Tieres,  ferner  die  Färbung 
und  allgemeine  Verzierung  der  Körperoberfläche,  endlich  die  Bezie- 
hungen der  Individuen  zueinander  und  zur  umgebenden  Welt.  Die 
Spezies  wird  durch  eine  gewisse  Menge  von  Individuen  repräsentiert, 
die  als  solche  in  engster  Beziehung  zueinander  stehen,  niemals  aber 
durch  ein  einzelnes  Individuum.  Denn  keines  der  zu  einer  Spezies 
gehörigen  Individuen  bietet  alle  charakteristischen  Merkmale  dieser 
Spezies  dar.  Durch  diese  Auffassung  nimmt  Agassiz  dem  Spezies- 
begrifte  die  absolute  Starrheit,  die  er  in  den  Augen  der  meisten 
Systematiker  besitzt,  und  stellt  ihn  als  eine  subjektive  Kategorie, 
einen  Kollektivbegriff  hin,  der  ebensoviel  objektive  Begründung  in  der 
Natur  und  nicht  mehr  besitzt,  als  die  höheren  Begriffe  der  Gattung, 
Ordnung,  Klasse  etc.  W^enn  wir  nun  aber  die  morphologischen  (oder 
richtiger  anatomischen)  Kriterien  näher  betrachten,  welche  Agassiz 
als  „spezifische"  Merkmale  xat'  £c''V."V''  betrachtet,  die  absolute  Größe 
und  das  Verhältnis  der  einzelnen  Körperteile  zueinander,  die  Farbe 
und  die  allgemeine  Verzierung  der  Körperoberfläche,  so  ergibt  sich, 
daß  diese  zwar  in  vielen,  aber  bei  weitem  nicht  in  allen  Fällen  be- 
stimmend sind.  Oft  sind  dieselben  Merkmale  kaum  genügend,  zwei 
anerkannte  Varietäten  zu  unterscheiden,  während  sie  andere  Male 
selbst  zur  Unterscheidung  „guter"  Genera  für  ausreichend  erachtet 
werden.  Andererseits  braucht  man  bloß  eine  Reihe  beliebiger  Spezies- 
gruppen aus  verschiedenen  Hauptabteilungen  des  Pflanzen-  oder  Tier- 


XXII.  II-    Dpi'  niorphologische  Begriff  der  Spezies.  373 

reichs  miteinander  zu  vergleichen  und  auf  diesen  Punkt  zu  unter- 
suchen, und  man  wird  sehen,  daß  Charaktere  von  der  allerver- 
schiedensten  Qualität  zur  Unterscheidung  benutzt  werden. 

Die  wenigen  von  Agassiz  und  anderen  gemachten  Versuche, 
das  Wesen  und  Gewicht  der  unterscheidenden  morphologischen  Spezies- 
charaktere schärfer  zu  bestimmen  und  dadurch  bei  der  praktischen 
Unterscheidung  der  Spezies  zu  einer  sicheren  Grundlage  zu  gelangen, 
sind  auch  bei  der  systematischen  Praxis  zu  keiner  allgemeinen 
Geltung  gelangt.  Wenden  wir  uns  von  diesen  mehr  oder  minder 
mißglückten  A^ersuchen  zu  der  Betrachtung  der  zoologischen  und 
botanischen  Praxis,  wie  sie  von  den  Systematikern  täglich  bei  der 
Unterscheidung,  Benennung  und  Bestimmung  der  Arten  geübt  wird, 
so  zeigt  sich  bald,  daß  die  meisten  Systematiker  sich  dabei  wesent- 
lich von  einem  gewissen  praktischen  Takte  leiten  lassen.  Höchstens 
kommt  bei  den  kritischer  Verfahrenden  hie  und  da  eine  bestimmte 
Maxime  von  ziemlich  vager  Natur  zur  Anwendung.  Eine  der  am 
weitesten  verbreiteten  derartigen  Maximen  oder  Bestimmungsregeln 
ist  der  Satz:  „Zu  einer  Art  gehören  alle  Individuen,  die  in  allen 
wesentlichen  Merkmalen  übereinstimmen."  Indessen  ist  nur  bei 
einer  geringen  Zahl  der  niedrigsten  Organismen  diese  Behauptung 
ohne  weiteres  richtig.  Bei  den  allermeisten  dagegen  umfaßt  der 
Speziesbegriff  nicht  eine  einzige  Form,  sondern  eine  ganze  Entwicke- 
lungsreihe  verschiedener  Formen,  nämhch  den  Zeugungskreis, 
die  Formenkette,  die  das  Individuum  vom  Momente  seiner  Ent- 
stehung an  bis  zu  seinem  Tode  durchläuft.  Es  müssen  also  die  ver- 
schiedenen Jugendzustände  berücksichtigt  werden,  die  oft  sehr  ab- 
weichend von  den  Erwachsenen  sich  verhalten,  und  bei  denjenigen, 
die  einer  Metamorphose  unterworfen  sind,  die  verschiedenen  Larven- 
zustände.  die  das  Individuum  durchläuft.  Gleicherweise  sind  bei  den 
der  Metagenesis  unterworfenen  Arten  die  verschiedenen  Generationen 
zu  berücksichtigen.  Wie  oft  sind  aber  nicht,  lediglich  aus  Nicht- 
berücksichtigung dieses  so  einfachen  Verhältnisses,  abweichend  ge- 
bildete Jugendformen,  Larven  und  Ammen  als  eigene  Spezies,  wie 
oft  als  Glieder  weit  entfernter  Familien  oder  selbst  Klassen  beschrieben 
worden!  Wer  hätte  bei  der  paradoxen  Form  des  Pluteus  gedacht, 
daß  er  die  Amme  einer  Ophiure  sei.  bei  PiUdium,  daß  es  zu  einem 
Nemertes  gehöre,  hei  PhyUosoma,  daß  es  die  Larve  von  Palinurus  sei? 
Wie  oft  sind  selbst  bei  den  höheren  Wirbeltieren  eigentümlich  gefärbte 
Jugendformen  als  besondere  Arten  beschrieben  worden!     Wie  zahl- 


374  Entwickelungsgeschichte  der  Arten  oder  Spezies.  XXII. 

reich  sind  in  der  Abteilung  der  Würmer,  der  Crustaceen,  der  Mol- 
lusken die  Beispiele  von  zusammengehörigen  Larven  und  reifen 
Formen,  die  man  friiher  als  ganz  verschiedene  Spezies  beschrieben 
und  erst  vor  kurzem  als  himmelweit  verschiedene  Zustände  eines 
Individuums  entdeckt  hat. 

Nicht  minder  wesentlich  als  die  Formverschiedenheiten  der  zu- 
sammengehörigen Entwickelungsstadien  eines  und  desselben  Indivi- 
duums sind  die  Gestaltdifferenzen,  welche  zwischen  den  verschie- 
denen polymorphen  Individuen  einer  und  derselben  Spezies  sich 
vorfinden.  Auch  diese  sind  unendHch  oft  in  der  systematischen 
Praxis  nicht  berücksichtigt  worden  und  daraus  zahllose  Irrtümer 
entsprungen.  Wie  oft  sind  nicht  allein  die  beiden  zusammengehörigen 
Geschlechter  einer  einzigen  Spezies  als  verschiedene  Arten  beschrieben 
worden!  Freilich  sind  die  Verschiedenheiten  der  beiden  zusammen- 
gehörigen Geschlechtsbionten  in  vielen  Fällen  von  weitgehendem 
sexuellen  Dimorphismus  auch  der  Art,  daß  dieselben  fast  in  gar 
keinem  „wesentlichen''  Merkmale  mehr  übereinstimmen.  Man  denke 
nur  an  die  parasitenähnlichen  Männchen  vieler  niederer  Crustaceen 
und  der  Rotatorien. 

Schon  aus  diesen  wenigen  Erwägungen  geht  hervor,  wie  un- 
genügend die  vielfach  angewendete  Definition  ist,  daß  „die  Spezies 
der  Komplex  aller  Individuen  sei,  die  in  allen  wesentlichen  Merk- 
malen übereinstimmen''.  Um  ein  naturgemäßes  Bild  von  der  Spezies 
zu  erhalten,  ist  es  durchaus  notwendig,  alle  die  erwähnten,  oft  so 
weit  divergierenden  Gestalten  ihres  Formenkreises  in  Betracht  zu 
ziehen.  Auch  ist  in  der  Tat  diese  Notwendigkeit  von  den  besseren 
Systematikern  in  ihrer  analytischen  Praxis  mehr  oder  weniger  unbe- 
wußt anerkannt  und  gewürdigt  worden,  und  man  hat  also  außer  den 
anatomischen  auch  die  ontogenetischen  Formen  zugleich  mit  berück- 
sichtigt. Sehr  oft  ist  dies  aber  auch  nicht  geschehen,  und  sehr  oft  konnte 
es  nicht  geschehen.  Und  wieviel  Irrtum  und  Verwirrung  ist  daraus  für 
die  Systematik  entsprungen!  Wieviel  verschiedene  Jugendzustände, 
Larven,  Ammen,  dimorphe  Geschlechtsindividuen  und  polymorphe 
differenzierte  Gesellschaftsindividuen  sind  nicht  als  selbständige  Arten 
beschrieben  worden ! 

Lassen  wir  indessen  diesen  oft  unvermeidlichen  Fehler  beiseite, 
und  verfolgen  wir  weiter  den  Systematiker  in  seiner  praktischen 
Arbeit,  wie  er  die  Spezies  unterscheidet,  bestimmt,  benennt,  ordnet 
und  für  das   System  zurechtmacht.     Sehen   wir  dabei   ab  von    den 


XXII.  II.   Der  morphologische  Begriff  der  Spezies.  375 

möglichen  Irrungen,  die  durch  die  verschiedenen  Jugendfornien,  die  Ge- 
schleclitsdift'erenzeu,  den  oft  so  weit  abweichenden  Generationswechsel 
innerhalb  einer  und  derselben  Art  vorkommen  können,  und  nehmen 
wir  an,  daß  geschlechtsreife  Individuen  beider  Geschlechter  oder  doch 
wenigstens  ausgewachsene  und  geschlechtsreife  Männchen  (die  ge- 
wölmhch  bei  Feststellung  des  Speziescharakters  bevorzugt  werden) 
von  vielen  verschiedenen  Arten  zur  Untersuchung  vorliegen.  Nach 
welchen  Regeln,  aus  welchen  Gesichtspunkten  sucht  der  Systema- 
tiker die  unterscheidenden  Merkmale  aufzufinden  und  festzustellen? 
Gibt  es  überhaupt  für  diesen  Zweck  feste  leitende  Grundsätze? 
Nicht  im  mindesten !  Das  Geschäft  wird  vielmehr  rein  empirisch  be- 
trieben !  Als  die  entscheidenden  und  die  wichtigsten  Speziescharaktere 
gelten  allein  die  konstantesten,  d.h.  diejenigen,  die  am  wenigsten 
bei  den  am  meisten  sich  ähnlichen  Individuen  variieren,  und  die  bei 
diesen  allen  vorkommen,  während  sie  bei  einer  Anzahl  anderer, 
ebenfalls  ähnlicher  Individuen,  die  aber  eine  besondere  Art  bilden 
sollen,  konstant  fehlen.  Offenbar  bewegt  man  sich  hier  aber  (und 
es  geschieht  unendlich  oft)  in  einem  volUvommenen  Zirkelschluß. 
Einmal  fordert  man,  daß  der  Artbegriff  alle  diejenigen  Individuen 
umfasse,  die  in  allen  „wesentlichen"  Merkmalen  übereinstimmen,  und 
dann  wieder  hält  man  nur  diejenigen  Merkmale  für  „wesentlich", 
welche  man  in  allen  untersuchten  Individuen,  die  eine  sogenannte 
„gute  Art"  zusammensetzen  sollen,  konstant  vorfindet.  Mit  anderen 
Worten  lautet  dieser  sehr  beliebte  Zirkelschluß:  ..Jede  Art  wird 
charakterisiert  durch  die  Konstanz  der  Merkmale;  konstante  Merk- 
male aber  sind  solche,  die  sich  bei  allen  Individuen  einer  Art  vor- 
finden". Jeder  aufrichtige  Naturforscher  muß  zugeben,  daß  das 
„Wesentliche"  des  Speziescharakters  nichts  anderes  ist  als  seine 
Konstanz,  und  daß  man  umgekehrt  nur  eben  die  konstanten  Merkmale 
als  wesentliche  ansieht.  Dieselben  deutlich  ausgeprägten  Artmerk- 
male, wie  z.  B.  relative  Länge  der  Extremitäten,  Färbung  des  Haars. 
Zahl  der  Zähne,  welche  in  der  einen  Gattung  allgemein  zur  Unter- 
scheidung ihrer  Arten  benutzt  werden,  weil  sie  hier  sehr  konstant 
sind  und  wenig  variieren,  können  in  einem  anderen,  nahe  ver- 
wandten Genus  nicht  zur  Diagnose  der  Spezies  dienen,  weil  sie  hier 
vielfach  abändern  und  nicht  konstant  sind.  Hier  sucht  man  sich 
dann  andere  Merkmale  heraus,  die  konstanter  sind,  die  aber  in  der 
ersten  Gattung  nicht  gelten  konnten,  weil  sie  dort  variierten.  Die 
Qualität   der  unterscheidenden  Merkmale  ist  also  niemals  das  für 


376  Entwickelungsgescliichte  der  Arten  oder  Spezies.  XXII. 

eine  Art  Charakteristische,  sondern  ihre  Konstanz;  nnd  dieselben 
Unterschiede,  auf  welche  man  in  der  einen  Forniengruppe  Gattungen 
oder  selbst  Familien  gründet,  reichen  in  anderen  nicht  aus,  um  nur 
die  Arten  zu  unterscheiden.  Die  unbedeutendsten,  geringfügigsten 
Merkmale,  ein  paar  bunte  Flecke  oder  ein  Haarbüschel  oder  eine 
nackte  Hautstelle  auf  dem  Fell  eines  Säugetiers  gelten  aber  als  voll- 
kommen genügende  ..gute"  Charaktere,  wenn  sie  zufällig  bei  allen 
jetzt  zur  Untersuchung  vorliegenden  IndiAiduen  übereinstimmend  vor- 
kommen, und  wenn  sie  allen  Individuen  von  sonst  nächstverwandten 
Arten,  die  vielleicht  aus  einer  anderen  Gegend  stammen,  fehlen. 
Auf  dieses  letztere  Moment,  den  geographischen  Verbreitungsbezirk, 
wird  dabei  oft  unbewußt  großes  Gewicht  gelegt.  Zwei  kaum  ver- 
schiedene Formen  gelten  oft  als  zwei  gute  Arten,  wenn  sie  aus  zwei 
entfernten  und  nicht  zusammenhängenden  Gegenden  stammen,  wäh- 
rend jedermann  dieselben  nur  als  untergeordnete  Varietäten  einer  und 
derselben  Art  betrachten  würde,  wenn  sie  in  derselben  Gegend  ge- 
mischt vorkämen.  Derartige  sekundäre  Erwägungen  sind  auch  bei 
Unterscheidung  der  fossilen  Tierformen  oft  fast  allein  maßgebend. 
Sehr  oft  werden  liiei"  zwei  kaum  zu  unterscheidende  Formen  als  zwei 
gute  Arten  angenommen,  weil  sie  in  zwei  weit  auseinanderliegenden 
Formationen  gefunden  wurden,  während  sie  in  den  dazwischen 
Hegenden  fehlten.  Würden  beide  Arten  in  einer  und  derselben 
Formation  vereinigt  vorkommen,  so  würden  sie  nur  für  eine 
einzige  Art  gelten.  In  der  Paläontologie  ist  man  überhaupt  mit 
Unterscheidung  und  Benennung  der  Arten  noch  weit  gedankenloser 
und  unvorsichtiger  vorgegangen,  als  bei  der  Diagnostik  der  lebenden 
Formen,  obwohl  gerade  bei  der  Unvollständigkeit  der  fossilen  Reste 
scharfe  Kritik  doppelt  nötig  wäre.  Vergleicht  man  wägend  ihrem 
Werte  nach  die  Differentialcharaktere,  durch  welche  fossile  Spezies, 
mit  denjenigen,  durch  welche  lebende  Spezies  unterschieden  werden. 
so  wird  man  sehr  oft  finden,  daß  höchst  minutiöse  Charaktere  bei 
den  ersteren  schon  als  vollkommen  ausreichend  zur  spezifischen 
Unterscheidung  zweier  Arten  angesehen  werden,  welche  bei  den 
letzteren  nicht  für  genügend  gelten  würden,  um  nur  zwei  verschie- 
dene Varietäten  einer  Art  darauf  zu  basieren. 

Untersucht  man  nun  aber  näher  die  sogenannten  „guten",  d.  h. 
wesentlichen  oder  konstanten  Charaktere  der  Arten,  indem  man  eine 
größere  Anzahl  von  Individuen  sorgfältig  vergleicht,  so  findet  man 
in  der  Regel  bald,   daß  auch  diese  angebliche  Konstanz  niemals 


XXII.  ^-    Gute  und  sclilechte  Spezies.  377 

absolut  ist,  daß  vielmehr  auch  sie  einen  gewissen,  wenn  auch 
nur  geringen  Spielraum  von  Abänderung  zuläßt:  unter  einer  großen 
Zahl  kaum  zu  unterscheidender  Individuen  wird  man  dann  meistens 
einige  wenige  treffen,  die  doch  die  wesentlichen  Artmerkmale  weniger 
deutlich  und  scharf  ausgeprägt  zeigen,  als  die  große  Mehrzahl  der 
übrigen.  Gerade  diese  aber,  die  weniger  scharf  bestimmten  Grenz- 
formen, die  häufig  Mittelstufen  und  Übergangsbildungen  zu  nahe 
verwandten  Arten  herstellen,  sind  bisher  überwiegend  vernachlässigt 
worden.  In  dem  vorherrschenden  Bestreben,  die  Arten  durch  mög- 
lichst scharfe  Charaktere  voneinander  zu  trennen  und  die  einzelnen 
Speziesdiagnosen  klar  voneinander  abzusetzen,  hat  man  das  ganze 
Gewicht  auf  die,  oft  sehr  geringfügigen.  Unterschiede  gelegt  und 
dagegen  das  Gemeinsame  der  Erscheinungen  in  den  Hintergrund 
gedrängt  und  nicht  berücksichtigt.  So  ist  es  denn  gekommen,  daß 
in  unseren  Systemen  sich  überall  die  einzelnen  Arten  weit  schärfer 
und  klarer  voneinander  abheben,  als  es  in  der  Natur  der  Fall  ist. 
Fast  bei  allen  Gruppen  von  Organismen  haben  sich  deshalb  die 
besseren  und  gewissenhafteren  Systematiker  genötigt  gesehen,  von 
denjenigen  Arten,  die  genauer  bekannt  und  in  sehr  zahlreichen 
Exemplaren  untersucht  sind,  und  namentlich  von  denjenigen,  welche 
einen  sehr  großen  Verbreitungsbezirk  besitzen,  die  abweichenden  In- 
dividuen, welche  die  spezifischen  Charaktere  mehr  oder  weniger 
modifiziert  zeigen,  oder  sich  als  mehr  oder  minder  entschiedene 
Übergangsbildungen  zu  verwandten  Arten  hinneigen,  als  besondere 
Unterarten  (Subspecies)  oder  Spielarten  (Varietates)  zu  be- 
schreiben. Das  genauere  Studium  derselben  ist  aber  bisher  über- 
wiegend vernachlässigt  worden,  weil  sie  dem  Schematismus  des 
Systems  Abbruch  tun.  Und  doch  sind  sie  gerade  von  der  höchsten 
Bedeutung  für  das  Verständnis  der  natürlichen  Verwandtschaft.  In 
vollständiger  Verkennung  der  letzteren  hat  man  immer  nur  den 
Hauptnachdruck  auf  die  sogenannten  ..t^^Dischen"  Individuen  der  Art 
gelegt,  die  weniger  ausgesprochen  charakterisierten  Varietäten  da- 
gegen beiseite  geschoben. 

y.    Gute  und  schlechte  Spezies. 

„Gute  und  schlechte  Arten"  bilden  eine  der  gebräuchlichsten 
Unterscheidungen  in  der  systematischen  Praxis.  Gleichwohl  haben 
die   meisten   Systematiker   gar  keine   klaren   oder  nur  falsche  Vor- 


378  Entwickelungsgeschichte  dcM-  Arten  oder  Spezies.  XXII. 

stellungeil  über   den   eigentlichen  Wert  dieser  Unterscheidung,  wes- 
halb wir  hier  ein  paar  Worte  beifügen  wollen. 

„Gute  Arten"'  werden  gewöhnlich  entweder  solche  Spezies  ge- 
nannt, deren  meiste  Charaktere  innerhalb  des  kurzen  Zeitraums,  seit- 
dem sie  beobachtet  sind,  sich  sehr  wenig  verändert  haben,  auch  jetzt 
noch  sehr  wenig  variieren  und  sich  deshalb  scharf  umschreiben  lassen; 
oder  solche  Arten,  deren  verbindende  und  den  Übergang  zu  anderen 
Arten  vermittelnde  Zwischenformen  uns  unbekannt  sind,  und  deren 
unterscheidende  Charaktere  daher  scharf  hervortreten.  Je  besser 
wir  eine  Spezies  kennen,  je  größer  die  Anzahl  der  dazu  gehörigen 
Individuen  ist.  die  wir  haben  untersuchen  können,  und  je  weiter 
ihr  geographischer  Verbreitungsbezirk  ist.  insbesondere  aber  je 
verschiedenartiger  ihre  Existenzbedingungen  an  den  verschiedenen 
Wohnorten  sind,  desto  umfangreicher  und  desto  mehr  divergierend 
ist  gewöhnlich  der  Varietätenbüschel  dieser  Art,  desto  zahlreicher 
sind  die  unmittelbaren  Übergänge  zu  verwandten  Arten  und  in  desto 
mehr  verschiedene  Formengruppen  läßt  sich  diese  eine  Spezies  spalten, 
Formengruppen,  die  von  den  einen  Systematikern  für  Arten,  von  den 
andern  bloß  für  Varietäten  gehalten  werden.  Daher  sind  denn  in  der 
Regel  die  am  wenigsten  bekannten  Spezies  die  ^.besten",  und  sie 
werden  um  so  schlechter,  je  besser  wir  sie  kennen  lernen,  je  weiter 
wir  die  Divergenz  ihres  Varietätenbüschels  verfolgen  und  je  deut- 
licher wir  ihren  genealogischen  Zusammenhang  mit  verwandten 
Formen  nachweisen  können.  Wenn  jemand  behaupten  wollte,  daß 
die  große  Mehrzahl  aller  bekannten  Arten  ..gute"  seien,  so  würde 
sich  diese  Behauptung,  ihre  Wahrheit  vorausgesetzt,  ganz  einfach 
aus  unserer  außerordentlichen  Unkenntnis  von  der  übergroßen  Melir- 
zahl  aller  Organismenarten  erklären.  Von  unendlich  vielen  Arten 
sind  nur  einzelne  wenige  oder  gar  nur  ein  einziges  Exemplar  be- 
kannt. Dazu  kennt  man  die  meisten  nur  von  wenigen  ihrer  Wohn- 
orte her  und  bei  weitem  nicht  aus  allen  Teilen  des  Gebiets,  über 
welches  sie  verbreitet  sind.  Von  sehr  vielen  Spezies  kennen  wir 
nur  einzelne  Alters-  und  Entwickelungszustände  oder  nur  das  eine 
der  beiden  Geschlechter.  Und  wie  oberflächlich  und  ungenau  sind 
die  allermeisten  Untersuchungen,  auf  welche  neue  Spezies  begründet 
werden!  Man  begnügt  sich  mit  der  Erfassung  dieses  oder  jenes 
mehr  oder  weniger  in  die  Augen  fallenden  oberflächlichen  Unter- 
schieds, gewöhnlich  in  der  Form,  Färbung  oder  dem  Größenverhält- 
nis eines  einzelnen  Teiles  hervortretend,  ohne  die  geringe  Bedeutung 


XXII.  V.   Gute  und  schlechte  Spezies.  379 

dieses  spezifischen  Charakters,  seine  Variabilität  etc.  gehörig  zu 
würdigen.  Hierbei  kommen  wir  wieder  auf  den  Grundfehler  zurück, 
der  unsere  ganze  Systematik  beherrscht,  daß  man  stets  nur  bemüht 
ist,  das  Unterscheidende  jeder  organischen  Form  möglichst  scharf 
hervorzuheben,  während  man  das  Gemeinsame,  das  sie  mit  den 
nächstverwandten  Formen  verbindet,  gänzlich  vernachlässigt.  Zu 
welchen  Irrtümern  diese  streng  analytische  Richtung  und  der  Aus- 
schluß der  synthetischen  Vergleichung  führt,  haben  wir  schon  oben 
gezeigt,  als  wir  die  notwendige  Wechselwirkung  von  x\nalyse  und 
Synthese  erörterten. 

..Schlechte  Arten"  im  Sinne  der  Speziesfabrikanten  würden 
alle  Spezies  ohne  Ausnahme  sein,  wenn  wir  sie  vollständig 
kennen  würden,  d.  h.  wenn  wir  nicht  allein  ihren  gesamten 
gegenwärtigen  Formenkreis,  wie  er  über  die  ganze  Erde  verbreitet 
ist,  kennen  würden,  sondern  auch  alle  ihre  ausgestorbenen  Stamm- 
verwandten, die  zu  irgend  einer  Zeit  gelebt  haben.  Es  würden  dann 
überall  die  verbindenden  Zwischenformen  und  die  gemeinsamen 
Stammformen  der  einzelnen  Arten  hervortreten,  deren  Kenntnis  uns 
jetzt  fehlt.  Es  würde  ganz  unmöglich  sein,  die  einzelnen  Forraen- 
gruppen  als  Spezies  scharf  voneinander  abzugrenzen,  so  unmöglich 
als  es  an  jedem  Baume  ist,  zu  sagen,  wo  der  eine  Zweig  aufhört 
und  der  andere  anfängt.  Die  meisten  derjenigen  Arten,  die  wir 
genauer  kennen,  werden  allerdings  im  Systeme  als  „gute"  Arten 
fortgeführt.  Dies  ist  aber  nur  dadurch  möglich,  daß  man  einesteils 
nicht  ihre  historische  Entwickelung  und  ihren  genealogischen  Zu- 
sammenhang mit  den  verwandten  Formen  berücksichtigt,  andern- 
teils  aber  die  zahlreichen  am  stärksten  divergierenden  und  am 
meisten  abweichenden  Formen  ihres  Varietätenbüschels,  die  schon 
von  andern  als  „gute  Arten"  angesehen  werden,  als  ..schlechte" 
betrachtet  und  als  Varietäten  um  die  „typische'"  Hauptform  sammelt. 
Aber  auch  deshalb  erscheinen  uns  viele  unter  den  genauer  bekannten 
Spezies  als  „gute",  d.  h.  scharf  zu  umschreibende  Arten,  weil  sie 
bereits  im  Erlöschen  sind  und  ihrem  Untergange  entgegengehen, 
weil  ihr  Varietätenbüschel  sich  nicht  mehr  ausdehnt,  und  weil  sie 
schon  auf  einen  engen  Raum  und  einförmige  Existenzbedingungen 
zurückgedrängt  sind,  so  daß  sie  sich  nicht  mehr  an  neue  Bedingungen 
anpassen  können. 


Dreiundzwanzigstes  Kapitel. 

Entwickeln ngsgescliichte  der  Stämme  oder  Phylen. 

(Naturgescliichte  der  organischen  Stämme  oder  der  genealogischen 
Individuen  dritter  Ordnung.) 

.Die  Sehwieriifkeit,  Idee  und  Erfahrung-  miteinander  zu 
verbinden,  erscheint  sehr  hinderlich  bei  aller  Naturforschuns,' : 
die  Idee  ist  unabhängig  von  Raum  und  Zeit,  die  Natur- 
forschung ist  in  Raum  und  Zeit  beschränkt;  daher  ist  in 
der  Idee  Simultanes  und  Sukzessives  innigst  verbunden,  auf 
dem    Standpunkt   der  Erfahrung   hingegen   immer   getrennt.'^ 

G  oe tlie. 

T.    Funktionen  der  ph.vletisclien  Entwickehing*. 

Die  Phylogenese  oder  paläontologisclie  Entwickelung,  die  Diver- 
genz der  blutsverAvandten  Formen,  welche  zur  Entstehung  der  Arten, 
Gattungen.  Familien  und  aller  anderen  Kategorien  des  organischen 
Systems  führt,  ist  ein  physiologischer  Prozeß,  welcher,  gleich 
allen  übrigen  physiologischen  Funktionen  der  Organismen,  mit  ab- 
soluter Notwendigkeit  durch  mechanische  Ursachen  bewirkt  wird. 
Diese  Ursachen  sind  Bewegungen  der  Atome  und  Moleküle,  welche 
die  organische  Materie  zusammensetzen,  und  die  unendliche  Mannig- 
faltigkeit, welche  sich  in  den  phyletischen  Entwickelungsprozessen 
offenbart,  entspricht  einer  gleich  unendlichen  Mannigfaltigkeit  in  der 
Zusammensetzung  der  organischen  Materie,  und  zunächst  der  Ei- 
weißverbin (hingen,  welche  das  aktive  Plasma  der  konstituierenden 
Piastiden  aller  Organismen  bilden.  Die  phyletische  oder  paläonto- 
logische Entwickelung  der  Stämme  und  ihrer  sämtlichen  subordi- 
nierten  Kategorien  ist  also  weder  das  vorbedachte  zweckmäßige 
Resultat  eines  denkenden  Schöpfers,  noch  das  Produkt  irgendeiner 
unbekannten  mystischen  Naturkraft,  sondern  die  einfache  und  not- 
wendige Wirkung  derjenigen  bekannten  physikalisch-chemischen  Pro- 
zesse, welche  uns  die  Physiologie  als  mechanische  Entwickelungs- 
funktionen  der  organischen  Materie  nachweist. 


XXIII.  II.    Stadien  der  phyletischen  Entwickelung:.  381 

Die  physiologischen  Funktionen,  auf  welche  sich  sämtHche 
phyletische  oder  paläontologische  Entwickelungs-Erscheinungen  als 
auf  ihre  bewirkenden  Ursachen  zurückführen  lassen,  sind  die  beiden 
fundamentalen  Entwickelungsfunktionen  der  Vererbung  (Hereditas) 
und  der  Anpassung  {Adaptafio),  von  denen  die  erstere  eine  Teil- 
erscheinung  der  Fortpflanzung,  die  letztere  der  Ernährung  ist. 
Die  beiden  ursprünglichen  Konservationsfunktionen  der  Propagation 
(Erhaltung  der  Art)  und  der  Nutrition  (Erhaltung  des  Individuums) 
genügen  also  vollständig,  um  durch  ihre  beständige  Wechselwirkung 
unter  dem  Einflüsse  der  in  der  Außenwelt  gegebenen  Existenz- 
bedingungen die  Divergenz  der  Arten  und  somit  die  Entwickelung 
der  Stämme  zu  bewirken.  Diese  Grundanschauung  halten  wir  zum 
richtigen  Verständnis  der  Phylogenese  für  unentbehrlich.  Wie  wir 
vermittelst  der  Deszendenztheorie  zu  derselben  gelangt  sind,  ist  im 
neunzehnten  Kapitel  von  uns  erörtert  worden.  Die  daselbst  von  uns 
erläuterte  Entstehung  der  Arten  durch  natürliche  Züchtung,  durch 
die  Wechselwirkung  der  Vererbung  und  Anpassung  im  Kampf  um 
das  Dasein,  ist  in  der  Tat  weiter  nichts  als  die  Grundlage  der 
phyletischen  Entwickelung  selbst.  Das  ganze  neunzehnte  Kapitel 
würde  eigentlich  hier  seine  Stelle  finden.  Wir  haben  es  aber  ab- 
sichtlich dem  fünften  Buch  überwiesen,  weil  die  Ontogenese  oder 
individuelle  Entwickelungsgeschichte  ohne  die  Phylogenese  oder 
paläontologische  Entwickelungsgeschichte  gar  nicht  zu  verstehen  ist, 
und  weil  die  Erläuterung  der  phyletischen  Entwickelungsfunktionen, 
welche  die  Selektionstheorie  und  die  durch  sie  begründete  Deszendenz- 
theorie gibt,  für  das  Verständnis  der  biontischen  Entwickelungs- 
funktionen unerläßlich  ist. 


II.    Stadien  der  phyletischen  Entwickelung-. 

Die  Stämme  sowohl  wie  alle  untergeordneten  Kategorien  der- 
selben, von  der  Klasse  und  Ordnung  bis  zur  Gattung  und  Art  herab, 
zeigen  ihren  Parallelismus  mit  der  individuellen  Entwickelung.  wie 
schon  oben  gezeigt  wurde,  auch  darin,  daß  im  Laufe  ihrer  histori- 
schen Entwickelung  mehrere  verschiedene  Stadien  sich  unterscheiden 
lassen,  welche  den  Stadien  der  individuellen  Entwickelung  ent- 
sprechen. Den  drei  Perioden  der  ontogenetischen  Anaplase.  Meta- 
plase  und  Cataplase  entsprechend  haben  wir  die  drei  Abschnitte  der 
phylogenetischen  Epacme,  Acme  und  Paracme  unterschieden,  welche 


382  Entwickelungsgeschichte  der  Stämme  oder  Phylen.  XXIII. 

ebensowohl  bei  den  i^anzen  Stämmen  wie  bei  den  ihnen  unter- 
geordneten Gruppen  sich  finden.  Wie  sich  die  Arten  oder  Spezies 
hierin  verhalten,  ist  bereits  oben  erörtert.  Wir  wenden  uns  da- 
her hier  nur  zu  den  Entwickelungsstadien  der  höheren  Stamm- 
gruppen, von  dem  Genus  und  der  Familie  an  aufwärts,  wobei  wir 
ausdrücklich  bemerken,  daß  auch  in  dieser  Beziehung  ein  scharfer 
und  absoluter  Unterschied  zwischen  den  verschiedenen  Kategorien 
des  natürlichen  Systems  ebensowenig  existiert,  als  ein  solcher  sich 
in  anderer  Hinsicht  konstatieren  läßt.  Alle  Genera  und  Familien, 
Ordnungen  und  Klassen,  sowie  auch  alle  diesen  subordinierte  Gruppen 
des  Systems,  die  Subgenera,  Subfamilien.  Sektionen,  Tribus  etc.  ver- 
halten sich  auch  hinsichtlich  der  Entwickelungsstadien  ebenso  wie 
die  ganzen  Stämme,  w^elche  sie  zusammensetzen,  und  wie  die  Arten, 
aus  denen  sie  selbst  zusammengesetzt  sind. 

T.  Die  Aufblühzeit  oder  Epacmc  der  Phylen  und  ihrer  sub- 
ordinierten Kategorien  umfaßt  das  erste  Stadium  ihrer  phyletischen 
Entwickelung.  welches  dem  Jugendalter  oder  der  Anaplase  der  Bionten 
entspricht  und  von  ihrer  Entstehung  bis  zum  Beginne  der  Blütezeit 
reicht.  Die  erste  Entstehung  der  Stämme  beginnt  mit  der 
Archigonie  von  strukturlosen  Moneren  (C/i?wnaceen,  Chroococcaceen), 
aus  denen  sich  zunächst  nur  monoplastide,  später  erst  polyplastide 
Spezies  differenzierten.  Die  Entstehung  der  subordinierten 
Kategorien  der  Stämme  dagegen  erfolgte  durch  die  Divergenz  des 
Charakters  der  Spezies,  welche  aus  der  Differenzierung  der  auto- 
genen Moneren  hervorgehen,  durch  das  Erlöschen  der  verbindenden 
Zwischenformen  zwischen  den  divergierenden  Spezies.  Derjenige 
Prozeß,  welcher  nun  bei  der  weiteren  Entwickelung  der  entstandenen 
Stämme  und  ihrer  subordinierten  Gruppen  das  Stadium  der  Epacme 
vorzugsweise  charakterisiert,  ist  das  Wachstum.  Die  phyletische 
Kreszenz  äußert  sich  ebenso  wie  die  spezifische  zunächst  in  der 
progressiven  Zunahme  der  Individuenzahl  und  in  der  Ausdehnung 
des  von  ihnen  eroberten  Verbreitungsbezirks.  Ebenso  wie  die  Arten, 
so  erringen  sich  auch  die  aus  ihrer  Divergenz  entstehenden  Gattungen, 
Famihen,  Klassen  etc.  und  ebenso  der  ganze  Stamm,  w^elchem  alle 
diese  Gruppen  angehören,  während  ihres  epakmastischen  Wachs- 
tums eine  Anzahl  von  Stellen  im  Naturhaushalte,  und  verteidigen 
die  so  gewonnenen  Positionen  im  Kampf  um  das  Dasein  gegenüber 
den  in  Mitbewerbung  befindhchen  Gruppen.  Solange  jede  Gruppe 
sich  immer  weiter  ausbreitet,  solange  die  Zahl  der  ihr  untergeordneten 


XXIII.  n.    Stadien  tlcM-  pliyletischeu  Entwickelung.  383 

Gruppen  und  damit  zugleich  der  Individuen,  in  denen  sie  verkörpert 
sind,  zunimmt,  solange  ist  die  Gruppe  im  Wachstum  begriffen,  und 
erst  wenn  eine  weitere  quantitative  Zunahme  und  Ausdehnung  ihres 
Verbreitungsbezirkes  im  großen  und  ganzen  nicht  mehr  stattfindet, 
beginnt  die  zweite  Periode  der  Entwickelung,  die  Akme. 

IL  Die  Blütezeit  oder  Aouc  der  Pliylen  und  der  verschie- 
denen untergeordneten  Systemsgruppen,  welche  das  zweite  Stadium 
der  phyletischen  Entwickelung  bildet  und  als  solches  dem  Reifealter 
oder  der  Metaplase  der  Bionten  korrespondiert,  ist  gleich  dem  letz- 
teren vorzüglich  durch  qualitative  Vervollkommnung  ausgezeichnet, 
gegen  welche  das  quantitative  Wachstum  nunmehr  zurücktritt.  Das 
Genus,  die  FamiHe,  Ordnung  und  Klasse  etc..  ebenso  der  ganze 
Stamm,  welcher  sich  in  der  Blütezeit,  auf  der  Höhe  seiner  Ent- 
wickelung befindet,  nimmt  nicht  mehr  oder  doch  nicht  wesentlich 
am  Umfang,  wohl  aber  an  Vollkommenheit  zu.  Die  phyletische 
Position,  der  geographische  und  topographische  Verbreitungsbezirk, 
welchen  die  Gruppe  im  Kampf  um  das  Dasein  errungen  hat.  wird 
behauptet  und  befestigt  und  gegen  die  Angriffe  der  mitbewerbenden 
Gruppen  mit  Erfolg  verteidigt.  Dieser  Kampf  an  sich  schon  ver- 
vollkommnet die  Gruppe  und  zwingt  sie.  sich  möglichst  gut  den 
verschiedenen  Existenzbedingungen  innerhalb  des  errungenen  Gebiets 
anzupassen.  Daher  finden  in  großer  x\usdehnung  Prozesse  der 
akmastischen  Differenzierung  statt,  indem  jede  Gruppe  in 
einen  reichen  und  vielverzweigten  Büschel  von  subordinierten  Grup- 
pen zerfällt.  Jedes  Genus  bildet  eine  Menge  Subgenera,  jede  Fa- 
milie eine  Anzahl  Subfamilien.  jede  Ordnung  eine  Gruppe  von 
Unterordnungen  etc.  Die  reichliche  Produktion  solcher  subordinierter 
Gruppen,  welche  wesentlich  durch  Divergenz  des  Charakters  und 
Ausfall  der  verbindenden  Zwischenformen  erfolgt,  charakterisiert  die 
Acme  jeder  Gruppe  ebenso  wie  die  Erzeugung  neuer  Individuen  die 
Metaplase  der  Bionten.  Erst  wenn  die  erzeugten  Gruppen  so  weit 
divergieren,  daß  sie  die  Ranghöhe  der  parentalen  Gruppe  erreichen 
und  selbst  überschreiten,  so  daß  die  letztere  hinter  ihnen  zurück- 
tritt, erst  dann  ist  die  Acme  der  letzteren  vorbei,  und  die  Paracme 
hat  begonnen. 

ni.  Die  Verblüh  zeit  oder  Paracme  der  Phylen  und  ihrer  sub- 
ordinierten Kategorien  begreift  das  dritte  und  letzte  Stadium  ihrer 
Entwickelung  und  entspricht  als  solches  dem  Greisenalter  oder  der 
Kataplase    der  physiologischen   Individuen.     Sie    umfaßt   die   ganze 


334  Entwickelungsgeschichte  der  Stämme  oder  Pliylen.  XXIIl. 

Zeit  vom  Ende  der  Acme  bis  zum  Erlöschen  der  Gruppe  und  ver- 
läuft meist,  wie  die  entsprechende  Dekreszenz  der  Art,  langsam  und 
allmählich.  Wie  bei  den  Spezies  sind  es  auch  bei  den  tibergeord- 
ueten  Gruppen  des  Systems,  bei  den  Gattungen,  Familien,  Klassen  etc. 
vorzugsweise  die  nächstverwandten  und  die  koordinierten  Gruppen 
einer  jeden  Kategorie,  welche  sich  auf  Kosten  der  letzteren  ent- 
wickeln und  ihren  Untergang  herbeiführen.  Namentlich  sind  auch 
hier  wieder  am  gefährlichsten  für  ihr  Bestehen  die  eigenen  Nach- 
kommen, d.  h.  die  aus  der  Differenzierung  der  reifen  Gruppe  her- 
vorgegangenen neuen  Gruppen,  welche  wieder  subordiniert  sind, 
späterhin  aber  durch  fortschreitende  Vervollkommnung  und  Ausfall 
der  verbindenden  Zwischenformen  sich  zur  gleichen  Stufenordnung 
erheben  und  nunmehr  über  die  parentale  Stammgruppe  das  Über- 
gewicht gewinnen.  In  weiterem  Sinne  kann  auch  dieses  Zurück- 
bleiben der  letzteren  hinter  den  ersteren  als  p  a  r  a k  ra  a  s  t i  s  c  h  e  D  e  - 
generation  bezeichnet  werden,  insofern  die  parentale  Gruppe  nicht 
mehr  den  Anforderungen  entspricht,  welche  die  gesteigerten  Existenz- 
bedingungen an  sie  stellen,  während  sie  früher  denselben  gewachsen 
war.  Doch  ist  diese  Degeneration  wohl  mehr  ein  Mangel  an  der 
notwendigen  Fortbildung,  als  eine  positive  Rückbildung,  und  es  er- 
folgt der  Untergang  der  Gruppen  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  weniger 
durch  vollständiges  Aussterben,  durch  Erlöschen  aller  Zweige  der- 
selben, als  vielmehr  durch  einseitige  Fortbildung  und  bevorzugte 
Ausbildung  einzelner  Zweige,  welche  sich  auf  Kosten  ihrer  koordi- 
nierten und  übergeordneten  älteren  Zweige  entwickeln.  Je  höher 
der  Rang  einer  systematischen  Gruppe  ist,  desto  weniger  leicht  tritt 
ihr  vollständiges  Erlöschen  ein,  weil  desto  größer  die  Möglichkeit 
und  Wahrscheinlichkeit  ist,  daß  auch  beim  Erlöschen  des  größten 
Teils  der  Gruppe  doch  noch  der  eine  oder  andere  Zweig  derselben 
erhalten  bleibt  und  den  ursprünglichen  Stamm  in  dieser  Richtung 
fortsetzt.  Daher  ist  die  Zahl  der  ausgestorbenen  Gattungen  nicht 
bloß  absolut,  sondern  auch  relativ  viel  größer  als  die  Zahl  der  aus- 
gestorbenen Familien,  diese  letztere  ebenso  viel  größer  als  die  Zahl 
der  ausgestorbenen  Ordnungen,  und  diese  wiederum  viel  größer  als 
die  Zahl  der  ausgestorbenen  Klassen.  Von  letzteren  kennen  wir  nur 
sehr  wenige,  und  von  ausgestorbenen  ganzen  Stämmen  mit  Sicherheit 
sogar  kein  Beispiel,  obwohl  offenbar  einzelne  Stämme  bereits  auf 
dem  Wege  der  Rückbildung,  in  der  Verblühzeit  sind. 


XXIIl.  III-    Resultate  der  jihyletischen  Entwickeliuig.  385 

III.    Resultate  der  phyletisclien  Eiitwickeluui»-. 

Die  physiologischen  Funktionen  der  phyletischen  Entwickekmg, 
deren  Wechselwirkung  wir  im  neunzehnten  Kapitel  ausführlich  dar- 
gelegt haben,  Vererbung  und  Anpassung,  führen  unmittelbar  und  mit 
absoluter  Notw^endigkeit  die  höchst  bedeutenden  und  großartigen 
Veränderungen  der  Organismenwelt  herbei,  welche  wir  ebendaselbst 
als  das  Divergenzgesetz  und  als  das  Fortschrittsgesetz  erläutert 
haben.  Das  allgemeinste  Endresultat  dieses  ungeheuren  und  unauf- 
hörhch  tätigen  Entwickelungsprozesses  ist  in  jedem  einzelnen  Ab- 
schnitt der  Erdgeschichte  einerseits  die  endlose  Mannigfaltigkeit, 
welche  sich  in  der  Form  und  Struktur  der  verschiedeneu  Protisten, 
Pflanzen  und  Tiere  offenbart,  andererseits  die  allgemeine  Familien- 
ähnlichkeit oder  die  ..Formenverwandtschaft",  welche  trotzdem  die 
blutsverwandten  Organismen  eines  jeden  Stammes  zu  einem  Systeme 
von  subordinierten  Formengruppen  verbindet.  Diese  natürliche  Grup- 
pierung der  „verwandten"  Organismen  in  zahlreiche  über-  und  neben- 
einander geordnete  Gruppen  oder  Kategorien,  die  Tatsache,  daß  nur 
eine  sehr  geringe  Anzahl  von  obersten,  grundverschiedenen  Haupt- 
gruppen existiert,  unter  welchen  alle  übrigen  als  „verwandte''  Formen 
sich  einordnen  lassen,  diese  Tatsache  ist  lediglich  das  einfache  und 
notwendige  Resultat  des  phyletischen  Entwickelungsprozesses,  und 
die  Selektionstheorie  zedgt  uns  im  allgemeinen,  warum  dieses  Resul- 
tat gerade  so  erfolgen  mußte,  wie  es  wirklich  erfolgt  ist. 

Wir  stehen  hier  vor  einem  der  größten  und  bewunderungs- 
würdigsten Phänomene  der  organischen  Natur,  vor  der  Tatsache  des 
natürlichen  Systems  oder  der  baumförmig  verzweigten  Anordnung 
der  verwandten  Organismengruppen,  einer  Tatsache,  von  der  Darwin 
sehr  richtig  bemerkt,  daß  wir  das  Wunderbare  derselben  nur  infolge 
unserer  vollständigen  Gewöhnung  daran  zu  übersehen  pflegen.  Von 
frühester  Jugend  au  von  einer  Fülle  ähnlicher  und  doch  verschiedener 
Gestalten  umgeben,  gewöhnen  wir  uns  schon,  indem  wir  sprechen 
lernen,  daran,  die  verwandtesten  Formen  unter  einer  engen  Kollektiv- 
bezeichnung zusammenzufassen  und  die  divergenteren  Formen  wieder 
unter  einem  weiteren  Kollektivnamen  zu  vereinigen.  So  unterscheiden 
wir  zuerst  Tiere  und  Pflanzen,  dann  unter  den  Tieren  Vögel  und 
Fische,  unter  den  A^ögeln  Raubvögel  und  Schwimmvögel  etc.  Kurz 
die  Gruppenbildung,  die  Spezifikation  des  natürUchen  Systems  ver- 
wächst   so    frühzeitig    mit    allen    unseren   Vorstellungen,    daß    wir 

9.-, 

Haeckel,   Prinz,  d.  Morphol.  -'-' 


3gß  Entvvickelungsgeschichte  der  Stämme  oder  Pliylen.  XXIII. 

dieselbe  nur  zu  leicht  als  etwas  Selbstverständliches  betrachten 
und  das  große  Rätsel  übersehen,  welches  uns  die  Verwandtschaft 
der  Formen  beständig  vorlegt.  Am  auffallendsten  zeigt  sich  dies 
bei  jenen  gedankenlosen  Systematikern,  welche  ihr  ganzes  Leben 
mit  der  Umschreibung  und  Bezeichnung  der  Systemgruppen,  mit 
der  Registratur  und  der  Nomenklatur  der  Organismen  verbringen, 
und  dennoch  niemals  oder  nur  selten  sich  die  naheliegende  Frage 
nach  der  Ursache  dieser  merkwürdigen  Gruppenbildung  vorlegen. 

Die  Lösung  dieses  „heihgen  Rätsels",  dieses  „geheimen  Ge- 
setzes" von  der  „Verwandtschaft"  der  organischen  Gestalten  ist  einzig 
und  allein  in  der  Deszendenztheorie  zu  finden.  Nachdem  Goethe 
schon  1790  auf  diese  Lösung  hingewiesen,  nachdem  Lamarck  die- 
selbe 1809  wesenthch  weiter  geführt  hatte,  wurde  sie  endlich  1859 
durch  Darwin  vollendet,  welcher  in  dem  13.  Kapitel  seiner  Selek- 
tionstheorie das  natürliche  System  für  den  Stammbaum  der  Orga- 
nismen und  „gemeinsame  Abstammung  für  das  Band  erklärte, 
wonach  alle  Naturforscher  unbewußt  er  weise  in  ihren  Klassifika- 
tionen gesucht  haben,  nicht  aber  ein  unbekannter  Schöpfungsplan, 
oder  eine  bequeme  Form  für  allgemeine  Beschreibung,  oder  eine 
angemessene  Methode,  die  Naturgegenstände  nach  den  Graden  ihrer 
Ähnlichkeit  oder  Unähnhchkeit  zu  sortieren."  Sobald  wir  den  Grund- 
gedanken der  Deszendenztheorie  richtig  erfaßt  und  uns  mit  den 
notwendigen  Konsequenzen  desselben  vertraut  gemacht  haben,  so 
muß  uns  die  wunderbare  Tatsache  der  Gruppenbildung  im  natür- 
lichen System  als  das  notwendige  Resultat  des  natürlichen  Züch- 
tungsprozesses, d.  h.  der  mechanischen  Entwickelung  der  organischen 
Stämme  erscheinen. 

IT.    Die  dreifache  s^enealogisclie  Parallele. 

Schon  zu  wiederholten  Malen  haben  wir  auf  den  dreifachen  Par- 
allehsmus  der  phyletischen  (paläontologischen),  der  biontischen 
(individuellen)  und  der  systematischen  (spezifischen)  Entwickelung 
hingewiesen  als  auf  eine  der  größten,  merkwürdigsten  und  wichtigsten 
allgemeinen  Erscheinungsreihen  der  organischen  Natur.  Bisher  ist 
dieselbe  nicht  entfernt  in  dem  Maße,  in  welchem  sie  es  verdient, 
hervorgehoben  und  an  die  Spitze  der  organischen  Morphologie  ge- 
stellt worden.  Sehr  vielen  sogenannten  Zoologen  und  Botanikern 
ist  dieselbe  gänzlich  unbekannt;  die  meisten  anderen,  denen  sie  be- 


XXlIl.  I^-   Die  di-eifache  genealogische  Parallele.  387 

kannt  ist,  bewundern  sie  als  ein  schnurriges  Kuriosuni  oder  als 
einen  Ausfluß  der  unverständlichen  Weisheit  eines  unverständlichen 
Schöpfers.  Sehr  wenige  Naturforscher  nur  haben  bisher  das  ganze 
kolossale  Gewicht  dieses  großartigen  Phänomens  begriffen  und  nach 
einem  wirklichen  Verständnis  desselben  gesucht.  Dieses  Verständnis 
ist  aber  nur  durch  die  Deszendenztheorie  zu  gewinnen,  welche  uns 
die  dreifache  genealogische  Parallele  ebenso  einfach  als  vollständig 
erklärt,  wie  andererseits  die  Parallele  selbst  eine  der  stärksten 
Stützen  der  Deszendenztheorie  ist. 

Seltsamerweise  hat  derjenige  Naturforscher,  welcher  bisher  den 
Parallelismus  der  phyletischen,  biontischen  und  systematischen  Ent- 
wickelung  am  meisten  hervorgehoben  und  am  längsten  besprochen 
hat.  Louis  Agassiz,  gerade  den  entgegengesetzten  Weg  zu  seiner 
Erldärung  betreten,  und  es  vorgezogen,  dadurch  den  indirekten  Beweis 
für  die  Wahrheit  der  Deszendenztheorie  zu  führen.  Denn  nur  als 
solchen  können  wir  die  seltsamen  teleologisch-theosophischen  Speku- 
lationen bezeichnen,  welche  der  geistvolle  Agassiz  in  seinem  be- 
rühmten dualistischen  „Essay  on  Classification"  (1858)  zur  Erklärung 
der  dreifachen  genealogischen  Parallele  herbeizieht,  und  durch  deren 
Ausführung  er  zeigt,  daß  dieselben  in  der  Tat  nichts  erklären! 

Was  nun  die  mechanisch-monistische  Erklärung  der  dreifachen 
genealogischen  Parallele  selbst  betrifft,  so  haben  wir  bereits  im 
V.  Buche  und  namentlich  im  18.  und  19.  Kapitel  darüber  so  viel  ge- 
sagt, daß  wir  hier  nur  die  wichtigsten  Punkte  nochmals  hervor- 
heben wollen.  Auszugehen  ist  dabei  immer  zunächst  von  der  palä- 
ontologischen Entwickelung,  an  welche  die  individuelle  Eutwickelnng 
sich  als  kurze  und  schnelle  Rekapitulation,  die  systematische  Ent- 
wickelung dagegen  als  das  anatomische  Resultat  unmittelbar  an- 
schließt. 

I.  Der  Parallelismus  zwischen  der  phyletischen  (pa- 
läontologischen) und  der  biontischen  (individuellen)  Ent- 
wickelung erklärt  sich  einfach  mechanisch  aus  den  Vererbungs- 
gesetzen und  insbesondere  aus  den  Gesetzen  der  gleichzeitlichen,  der 
gleichörtlichen  und  der  abgekürzten  Vererbung.  Alle  Erscheinungen, 
welche  die  individuelle  Entwickelung  begleiten,  erklären  sich  ledig- 
lich, soweit  sie  nicht  unmittelbares  Resultat  der  Anpassung  an  neue 
Existenzbedingungen  sind,  aus  der  paläontologischen  Entwickelung 
der  Vorfahren  des  Individuums.  Die  gesamte  Ontogenie  ist  eine  kurze 
und  schnelle  Rekapitulation  der  langen  und  langsamen  Phylogenie. 


388  Entwickelungsgeschichte  der  Stämme  oder  Phylen.  XXIII. 

11.    Der  Parallelismus  zwischen   der  pliyletischeu   (pa- 
läontologischen) und  der  systematischen  (spezifischen)  Ent- 
wickelung    erklärt    sich    einfach    aus    der   Deszendenztheorie    und 
speziell  aus  den  Gesetzen  der  Divergenz  und   des  Fortschritts,   ins- 
besondere aber  aus  dem  Umstände,  daß  die  divergente  Entwickelung- 
der  verschiedenen  Zweige  und  Äste  eines  und  desselben  Stammes  so 
äußerst  ungleichmäßig  in  bezug  auf  Grad  und  Schnelligkeit  der  Ver- 
änderung verläuft.     Einige  Äste  haben  sich  seit  der  silurischen  Zeit 
fast  unverändert  erhalten,  wie  z.  B.  die  Krinoiden  unter  den  Echino- 
dermen,   die  Phyllopoden  unter  den  Crustaceen;   andere  haben  sich 
zwar  bedeutend,    aber   doch   nur  langsam  verändert,   wie   z.  B.   die 
Ophiuriden  unter  den  Echinodermen,   die  Makruren  unter   den  Cru- 
staceen;   noch  andere  haben  sich  endlich  sehr  bedeutend  und  sehr 
rasch  verändert,  wie  z.  B.  die  Echiniden   unter  den  Echinodermen, 
die  Brachyuren  unter  den  Crustaceen.    Ebenso  haben  sich  unter  den 
Kormophyten   die   Farne   seit   der   Steinkohlenzeit   nur   sehr   wenig, 
die  Koniferen  mäßig  stark,   die   erst  in  der  Tertiärzeit  entstandenen 
Gamopetalen  sehr  bedeutend  verändert;   die  ersten  haben  sich  sehr 
langsam,    die   zweiten  mäßig   rascli,    die    dritten    sehr   schnell   ent- 
wickelt; die  ersten  sind  ihren  ursprünglichen  Stammeltern  sehr  ähn- 
lich und  daher  auf  einer  verhältnismäßig  tiefen  Stufe  stehen  geblieben 
(langsam  reife  oder  sehr  zähe  Typen);  die  zweiten  haben  sich  mäßig 
entwickelt,  indem  sie  zwischen  konservativer  und  progressiver  Rich- 
tung hin-  und  herschwankten  (mittelreife  oder  halbzähe  Typen);  die 
dritten  endlich,   schnell  und  kräftig  neuen,  günstigen  Existenzbedin- 
gungen sich  anpassend,  haben  in  kurzer  Zeit  einen  hohen  Grad  der 
Vollkommenheit  erreicht  (schnellreife  oder  nichtzähe  Typen).     Unter 
den  Wirbeltieren  gehören  z.  B.  die  Rochen  und  die  Monitoren  zu  den 
langsamreifen,   die  Ganoiden  und  die  Krokodile  zu  den  mittelreifen^ 
die  Akanthopteren  und  Dinosaurier  zu  den  schnellreifen  Typen.     In 
vielen  Fällen  sind  die  langsamreifen  zugleich  polytrope  oder  ideale, 
die  schnellreifen  zugleich  monotrope  oder  praktische  Typen;  in  vielen 
Fällen   findet   aber  auch   gerade   das  Gegenteil   statt,    so    daß   jene 
Kategorien  sich  keineswegs  decken.     Jeder  Blick  auf  die  paläonto- 
logische Übersichtstabelle  irgend   einer  Organismengruppe  lehrt  uns 
die  äußerst  ungleichmäßige,  an  SchneUigkeit,  Qualität  und  Quantität 
der  Veränderung  äußerst  divergente  Entwickelung  ihrer  verschiedenen 
Formenbüschel,  und  so  erklärt  sich  vollständig  die  aufsteigende  und 
baumförmig  verästelte  Gestalt,   welche   das   natürliche   System   aller 


XXIII.  I^  •    Dip  dreifache  genealogische  Parallele.  389 

gleichzeitig  lebenden  Glieder  der  Gruppe  als  das  anatomische  Resul- 
tat ihrer  phyletischen  Entwickelung  darbietet,  und  welche  der  auf- 
steigenden und  baumähnlich  verästelten  Form  entspricht,  die  ihre 
gemeinsamen  Vorfahren  durch  ihre  paläontologische  Entwickelungs- 
reihe  bilden. 

TTT.  Der  Parallelismus  zwischen  der  biontischen  (indi- 
viduellen) und  der  systematischen  (spezifischen)  Entwicke- 
lung erklärt  sich  einfach  schon  aus  der  Verbindung  der  beiden 
vorigen  Parallelen.  Wenn  zwei  Linien  (systematische  und  biontische 
Entwickelungsreihe)  einer  dritten  (der  phyletischen  Entwickelungs- 
reihe)  parallel  sind,  so  sind  sie  auch  untereinander  parallel  (so  ist 
auch  die  systematische  der  biontischen  Entwickelungsreihe  parallel). 
Die  Parallele  der  phyletischen  und  systematischen  Entwickelungs- 
reihe zeigt  uns  z.  B.  in  der  aufsteigenden  Stufenleiter  der  Wirbeltier- 
klassen oder  in  derjenigen  der  Kormophytengruppen  (Pteridophyten, 
Gymnospermen,  Monokotyledonen,  Monochlamydeen,  Polypetalen, 
Gamopetalen).  daß  die  verschiedenen  Stufen  der  paläontologischen 
Entwickelung  nicht  allein  in  der  Zeit  aufeinanderfolgen,  sondern 
auch  im  Systeme  der  gegenwärtig  lebenden  Organismen  eine  jener 
sukzessiven  Scala  parallele,  coexistente,  aufsteigende  Stufenleiter 
bilden:  denn  von  jeder  Stufe  haben  sich  zähe  Repräsentanten  er- 
halten und  bis  zur  Gegenwart  nur  wenig  verändert,  während  ihre 
Geschwister  sich  der  Veränderung  zuneigten  und  zu  schnellreifen 
Seitenzweigen  entwickelten.  Andererseits  zeigt  uns  die  Parallele  der 
phyletischen  und  biontischen  Entwickelung,  daß  die  letztere  nur  eine 
kurze  und  schnelle  Rekapitulation  der  ersteren  ist.  Es  muß  daher 
mit  Notwendigkeit  auch  die  biontische  Entwickelung  im  ganzen  der 
systematischen  parallel  verlaufen. 


Vierundzwanzigstes  Kapitel. 

Das  natüiiiclie  System  als  Stammbaum. 

(Prinzipien  der  Klassifikation.) 


„Der  Triumph  der  physiologischen  Metamorphose  zeigt 
sich  da,  wo  das  Ganze  sieh  in  Familien,  Familien  sich  in  Ge- 
schlechter, Geschlechter  in  Sippen,  und  die.se  wieder  in  andere 
Mannigfaltigkeiten  bis  zur  Individualität  scheiden,  sondern 
und  umbilden.  Ganz  ins  Unendliclie  geht  dieses  Geschäft  der 
Xatur ;  sie  kann  nicht  ruhen,  noch  beharren,  aber  auch  nicht 
Alles,  was  sie  liervorbrachte,  bewahren  und  erhalten.  Haben 
wir  doch  von  organischen  Geschöpfen,  die  sich  in  lebendiger 
Fortpflanzung  nicht  verewigen  konnten,  die  entschiedensten 
Reste.  Dagegen  entwickeln  sich  aus  dem  Samen  immer  ab- 
weichende, die  Verhältnisse  ihrer  Teile  zueinander  vei-- 
ändert  l)estimmende  Pflanzen."  Goethe  (1819). 


I.    BegTiffsbestimmimg-  der  Kategorien  des  Systems. 

Die  Älinlichkeitsbezieliimgen,  welche  zwischen  den  verschiedenen 
Formen  der  Organismen  existieren,  und  wek^he  man  gewöhnlich  mit 
dem  Ausdruck  der  Verwandtschaft  bezeichnet,  sind  sowohl  hin- 
sichtlich ihrer  Qualität  als  Quantität  außerordentlich  verschieden. 
Auf  die  Erkenntnis  dieser  Verschiedenheit  gründet  sich  größten- 
teils die  kunstvolle  Gliederung  der  meisten  organischen  Systeme,  ihr 
Aufbau  aus  zahlreichen,  teils  über,  teils  nebeneinander  geordneten 
Gruppen  oder  Kategorien,  die  Unterscheidung  der  Klassen,  Ord- 
nungen, Familien,  Gattungen,  Arten,  Varietäten  etc.  Alle  diese  ver- 
schiedenen Kategorien  des  Systems  unterscheiden  sich  vorzugsweise 
durch  den  Grad  der  Ähnlichkeit  oder  Verschiedenheit  in  der  äußeren 
Form  und  in  der  inneren  Struktur,  welcher  die  verwandten  Formen 
teils  näher  zusammenstellt,  teils  weiter  trennt.  Je  mehr  sich  die 
Systematik  entwickelte,  desto  sorgfältiger  fing  man  an,  diese  ver- 
schiedenen Ähnlichkeitsgrade  gegeneinander  vergleichend  abzuwägen, 
und  desto  mehr  differenzierte  und  erweiterte  sich  die  Stufenleiter  der 
darauf  gegründeten  Kategorien. 


XXIV.  I-    Begriffsbestimmung  der  Kategorien  des  Systems.  391 

Eine  klare  und  bestimmte  Unterscheidung  der  verschiedenen 
Kategorien  des  Systems  begann  jedocli  erst  am  Anfange  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts,  als  der  um  die  formelle  Ausbildung  der 
systematischen  Naturgeschichte  hochverdiente  Linne  mittelst  der 
binären  Nomenklatur  eine  logisch  geordnete  Benennung  und  strengere 
systematische  Anordnung  der  bis  dahin  regellos  benannten  und  zu- 
sammengeworfenen Organismen  einführte.  Linne  unterschied  fünf 
übereinander  geordnete  Stufenreihen  oder  Kategorien  des  Systems, 
deren  gegenseitige  Beziehungen  er  in  dem  folgenden  Schema  aus- 
drückte : 


Classis 

Ordo 

Genus 

S  p  e  c  i  es 

V  a  r  i  e  t  a  s 

enus  summum) 

(Geuiis  iuterrae- 
dium) 

(G 

enus  proxi- 
mum) 

(Species) 

(Individuum) 

Pro\dnciae 

Territoria 

Paroecia 

Pagi 

Domicilium 

Legiones 

Cohortes 

Manipuli 

C'ontubernia 

Miles. 

Die  Nachfolger  Linnes  waren  meistens  vor  allem  bestrebt,  die 
zu  beschreibenden  Arten  in  diese  Kategorien  einzuordnen.  Die  Tier- 
klassen aber,  als  die  allgemeinsten  und  umfassendsten  dieser  Kate- 
gorien, wurden  von  ihnen  in  eine  einzige  Reihe  von  der  niedersten 
bis  zur  höchsten  geordnet,  gleich  wie  auch  innerhalb  der  Klasse  die 
Ordnungen,  innerhalb  jeder  Ordnung  die  dieselbe  konstituierenden 
Familien,  innerhalb  der  Familie  die  verschiedenen  Genera  derselben, 
und  endlich  innerhalb  jedes  Genus  seine  Spezies  in  einer  einzigen 
Reihe  hintereinander  geordnet  wurden.  Man  hielt  dafür,  daß  eine 
einzige,  in  eine  kontinuierliche  Reihe  geordnete  Stufenleiter  vom  un- 
vollkommensten bis  zum  vollkommensten  Organismus  hierauf  führe 
(„la  chaine  des  etres'"). 

Diese  Anschauung  wurde  erst  überwunden  und  ein  wesentlicher 
Schritt  weiter  in  der  Systematik  getan,  als  im  Anfange  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  gleichzeitig  zwei  große  Naturforscher  die  Theorie 
von  den  vier  grundverschiedenen  Typen  oder  großen  Hauptabteilungen 
des  Tierreichs  aufstellten,  die  ganz  voneinander  unabhängig  seien. 
George  Cuvier  gelangte  zu  dieser  höchst  wichtigen  Anschauung 
auf  vergleichend  anatomischem,  Carl  Ernst  von  Bär  dagegen  auf 
vergleichend  embryologischem  Wege.  Cuvier  fand  den  Grund  der 
fundamentalen  Verschiedenheit  der  vier  tierischen  Typen  oder  Haupt- 
formen (Embranchements)  in  vier  grundverschiedenen  Bauplänen, 
welche  deren  anatomischer  Struktur  zugrunde  liegen.  Bär  fand  den 
wesentlichsten  Unterschied  derselben  in  ihrer  von  Anfang  an  gänz- 
lich verschieden   embryonalen  Entwickelungsweise.     Nach  der  über- 


392  Dtjs  natürliche  System   als  Staminbaiiin.  XXIV. 

einstimmenden  Ansicht  beider  Forscher  stellten  die  vier  großen 
Hanptgruppen,  die  Wirbeltiere.  Gliedertiere,  Weichtiere  und  Strahl- 
tiere, ebenso  viele  ganz  selbständige  Entwickelungsreilien  dar,  deren 
jede,  unabhängig  von  den  anderen,  eine  Stufenleiter  von  niederen 
zu  höheren  Formen  zeigt. 

Durch  diese  Aufstellung  der  Typen,  als  allgemeinster  und  um- 
fassendster Hauptabteilungen,  der  obersten  Kategorien  des  Systems, 
denen  sich  alle  verschiedenen  Klassen  etc.  unterordnen  ließen,  war 
eine  höchst  wesentliche  Erweiterung  nicht  allein  der  formellen 
Systematik,  sondern  auch  der  gesamten  Morphologie  geschehen. 
Eine  weitere  wesentliche  Bereicherung  des  systematischen  künst- 
lichen Fachwerks  führte  Cuvier  dadurch  ein,  daß  er  zuerst  natür- 
liche Familien  unterschied,  eine  Kategorie  des  Systems,  die  er 
zwischen  Ordo  und  Genus  stellte,  und  die  Linne  unbekannt  war. 
Außerdem  schuf  Cuvier  in  seinem  Systeme  auch  noch  eine  Anzahl 
anderer  untergeordneter,  jedoch  über  dem  Genus  stehender  Kate- 
gorien, die  er  mit  dem  Namen  der  Sektionen,  Divisionen  und  Tribus 
belegte,   so  wie  er  auch   die  großen  Genera  in  Subgenera   spaltete. 

Auf  dieser  von  Cuvier  gegebenen  formalen  Grundlage  des 
Systems  hat  sich  nun  die  neuere  Systematik  in  seinem  Sinne  weiter 
entwickelt,  ohne  daß  sie  sich  in  der  Regel  die  geringste  Mühe  gab. 
den  relativen  Wert  der  verschiedenen  übereinander  geordneten  Kate- 
gorien näher  zu  prüfen  und  zu  bestimmen.  Vielmehr  verfuhren  die 
allermeisten  Systematiker  bei  der  Einreihung  neuer  Arten  und  Gat- 
tungen in  das  System  ledighch  nach  einem  gewissen  praktischen, 
durch  Übung  erworbenen  Takt,  wobei  jedoch  häufig  das  subjektive 
Gutdünken  sehr  willkürlich  obwaltete.  Man  faßte  im  allgemeinen 
immer  zuerst  die  nächstähnlichen  konkreten  Individuen,  welche 
zur  Untersuchung  vorlagen,  in  der  abstrakten  Einheit  der  Art  oder 
Spezies  zusammen,  vereinigte  dann  die  sich  am  nächsten  stehenden, 
nur  durch  „spezifische"  Merkmale  getrennten  Spezies  zu  einem  Genus, 
die  nächstähnlichen  Genera  zu  einer  Familie  etc.,  wobei  man  dann 
je  nach  Bedürfnis  untergeordnete  Kategorien  (z.  B.  Subclassis,  Sub- 
ordo,  Subfamilia)  zwischen  die  am  meisten  gebräuchlichen  System- 
stufen der  Klasse,  Ordnung,  Famihe,  Gattung  etc.  einschaltete.  All- 
gemein sind  alle  diese  verschiedenen  übereinander  geordneten  Rang- 
stufen in  der  systematischen  Praxis  im  Gebrauch,  ohne  daß  sich 
aber  irgend  einbestimmter  Begriff  mit  denselben  verbindet.  Vielmehr 
muß  zugegeben   werden,   daß  meistens  lediglich   das  relative   und 


XXIV.  I-    Begriffsbestininiung  der  Kategorien  des  Systems.  393 

nur  nach  subjektivem  Gutdünken  zu  bemessende  Verhältnis  der 
graduellen  Formähnlichkeit  oder  morphologischen  Differenz  es  ist, 
das  die  Erhebung  einer  neuen  spezifischen  Form  zu  einer  besonderen 
Gattung,  Familie,  Ordnung  etc.  rechtfertigt.  Je  mehr  zwei  ver- 
schiedene Spezies  in  äußerer  Form  und  innerer  Struktur  überein- 
stimmen, je  größer  die  Anzahl  der  übereinstimmenden  Charaktere 
ist,  desto  tiefer  ist  die  Stufe  der  Kategorienskala,  auf  welcher  sie 
vereinigt  sind:  je  weiter  sie  sich  in  allen  inneren  und  äußeren  Form- 
beziehungen voneinander  entfernen,  je  geringer  die  Summe  ihrer  ge- 
meinsamen Charaktere  ist,  auf  desto  höherer  Stufe  des  Systems  erst 
werden  sie  zusammengestellt. 

Sehr  häufig  ist  es  aber  auch  nicht  der  wirkliche  Grad  der 
morphologischen  Differenz,  sondern  es  sind  ganz  untergeordnete 
sekundäre  und  unbedeutende  Nebenumstände,  welche  die  Trennung 
zweier  nächstverwandten  Formen  und  ihre  Stellung  in  zwei  ver- 
schiedene Gattungen,  Familien.  Ordnungen  etc.  bestimmen.  Insbe- 
sondere übt  hier  der  absolute  Umfang  der  einzelnen  Abteilungen 
auf  die  Vorstellung  vieler  Systematiker  einen  entscheidenden  Einfluß 
aus.  Viele  früher  einfachen  Gattungen  sind  allmählich  in  mehrere 
Genera  zerspalten  und  zum  Range  von  Familien  erhoben  worden, 
lediglich  weil  die  Zahl  der  in  denselben  enthaltenen  Arten  beträcht- 
lich gewachsen  ist,  obschon  deren  Differenzgrad  nicht  gleichzeitig 
sich  erhöhte.  Andererseits  sind  vielfach  einzelne  sehr  ausgezeichnete 
Formen  (sogenannte  aberrante  Formen)  nicht  zu  dem  eigentlich 
ihnen  zukommenden  Range  einer  besonderen  Ordnung.  Klasse  etc. 
erhoben  worden,  bloß  aus  dem  Grunde,  weil  die  betreffende  Form 
nur  durch  eine  einzige  Spezies  oder  eine  einzige  Gattung  repräsentiert 
ist,  so  z.  B.  Amphioxus,  DentaUmn,  Hydra.  Auch  andere  dergleichen 
sekundäre  Erwägungen  sind  häufig  für  die  Bestimmung  der  Kategorien- 
stufe, die  einer  einzelnen  Spezies  zukommt,  ganz  maßgebend  ge- 
wesen, und  an  die  Stelle  einer  objektiven  vergleichenden  Wägung 
der  Charaktere  getreten,  die  allein  jene  Stufe  bestimmen  sollte. 

Da  nun  aber  ein  bestimmtes  Gewicht  für  jene  Wägung.  ein  all- 
gemein gültiger  Maßstab  für  die  Messung  der  Entfernung  der  ein- 
zelnen Speziescharaktere,  gleichwie  eine  anerkannte  Wertbestimmung 
der  Systemkategorien  selbst  vollständig  fehlt,  so  ist  der  subjektiven 
Willkür  der  Systematiker  überall  Tor  und  Tür  geöffnet.  Die  Folge 
davon  zeigt  sich  denn  auch  deutlich  genug  in  der  chaotischen  Ver- 
wirrung, die  auf  allen  Gebieten  der  Systematik  herrscht.    Nicht  zwei 


394  Das  natürliche  System  als  Stainiiibaiini.  XXIV. 

Naturi'orsclier  sind  in  allen  Fällen  über  die  Rangstufe,  auf  welche 
eine  bestimmte  Form  zu  erheben  ist,  einig.  Unterschiede,  die  den 
einen  bestimmen,  sie  zu  einer  Gattung  zu  erheben,  läßt  ein  anderer 
nur  als  Speziesdifferenzen  gelten,  während  ein  dritter  darauf  eine 
neue  Familie  gründet.  Eine  Formengruppe,  die  der  erste  als  Ord- 
nung betrachtet,  sieht  der  zweite  nur  als  untergeordnete  Familie  an, 
während  der  dritte  sie  zum  Wert  einer  Klasse  erhebt.  Aber  auch  ein 
und  derselbe  Naturforscher  mißt  die  Arten,  Gattungen,  Familien  etc. 
in  verschiedenen  Abteilungen  des  Pflanzenreichs  und  des  Tierreichs 
mit  verschiedenem  Maße.  Jeder  vergleichende  Blick  auf  eine  größere 
Anzahl  von  Familien,  Gattungen  und  Arten  aus  verschiedenen  Klassen 
zeigt,  daß  dieselben  Unterschiede,  welche  in  der  einen  Klasse  kaum 
für  genügend  gelten,  um  zwei  verschiedene  Formengruppen  als  Genera 
zu  trennen,  in  einer  anderen  Klasse  von  demselben  Naturforscher  für 
vollkommen  ausreichend  gehalten  werden,  um  zwei  Formengruppen 
als  Familien  aufzustellen,  während  sie  ihm  in  einer  dritten  Klasse 
vielleicht  gar  für  so  wesentlich  gelten,  daß  er  daraufhin  zwei  Fornien- 
gruppen  als  besondere  Ordnungen  unterscheidet. 

Alle  denkenden  und  unbefangenen  Systematiker  müssen  uns  ein- 
gestehen, daß  der  spezielle  Ausbau  des  systematischen  Fachwerks 
ohne  alle  allgemein  gültigen  Regeln  in  sehr  willkürlicher  Weise  ge- 
schieht, daß  die  verschiedenen  Kategorienstufen  künstliche  Abteilungen, 
und  daß  die  Differenzen  derselben  keine  absoluten,  sondern  nur  rela- 
tive sind.  Der  größere  Teil  der  Naturforscher  nahm  jedoch  bis  jetzt 
gewöhnlich,  wenn  er  auch  jene  Willkür  zugab,  den  Speziesbegriff 
davon  aus.  Die  Spezieskategorie  allein  sollte  eine  absolut  bestimmte, 
reale,  in  der  Natur  selbst  begründete  und  festumschriebene  Formen- 
summe umfassen. 

II.    Bedeiitiins^  der  Kategorien  für  die  Klassifikation. 

Daß  alle  Gruppenbildungen  unserer  zoologischen  und  botanischen 
Systeme  von  der  Spezies  bis  zur  Klasse  hinauf,  vollkommen  künst- 
liche und  willkürliche  sind,  hat  bereits  Lamarck,  der  geistvolle  Be- 
gründer der  Deszendenztheorie,  auf  das  bestimmteste  ausgesprochen. 
An  der  Spitze  seiner  klassischen  „Philosophie  zoologique",  im  ersten 
Kapitel  des  ersten  Bandes,  handelt  er  von  den  künstlichen  Be- 
trachtungsweisen der  Naturkörper  (..des  parties  de  Vart  dcms  les  pro- 
ductions  de  Ja  nature")  und  weist  nach,  daß  alle  unsere  systemati- 
schen Abteilungen,   die  Klassen,   die   Ordnungen,   die  Familien  und 


XXIV.  JI-    Bedeutung  der  Kategorien  für  die  Klassifikation.  395 

die  Gattungen,  ebenso  wie  die  Nomenklatur,  willkürlich  geschaffene 
Kunstprodukte  sind;  daß  die  Abteilungen,  welche  wir  in  unsern 
stets  künstlichen  Systemen  scharf  trennen  und  umgrenzen,  in  der 
Natm*  überall  durch  kontinuierliche  Verbindungsstufen  unmittelbar 
zusammenhängen,  und  daß  der  relative  Wert  der  einzelnen  Gruppen 
sich  durchaus  nicht  in  absoluter  Weise  bestimmen  läßt.  Wenn  man 
alle  Arten  eines  organischen  Reiches  vollständig  kennte,  so  würden 
alle  durch  dieselben  gebildeten  Gruppen  verschiedenen  Grades  (die 
Gattungen,  Ordnungen,  Klassen  etc.)  lediglich  kleinere  und  größere 
übereinander  geordnete  Familien  von  verschiedenem  Umfang  dar- 
stellen, deren  Grenzen  nur  willkürlich  zu  ziehen  wären. 

Nach  Lamarck  haben  auch  noch  manche  andere  Naturforscher, 
darunter  die  kenntnisreichsten  und  erfahrensten  Systematiker,  ihre 
Überzeugung  von  der  künstlichen  Abgrenzung  der  System gruppen  und 
dem  subjektiven  Werte  dieser  Kategorien  (die  Spezies  ausgenommen!} 
ausgesprochen.  Niemand  hat  jedoch  dieselben  richtiger  erkannt  und 
erläutert,  als  Darwin,  welcher  zuerst  klar  die  Bedeutung  des  natür- 
lichen Systems  als  Stammbaums  und  der  Gruppen  desselben 
als  Äste  und  Zweige  dieses  genealogischen  Baumes  dargetan  hat. 
Er  wies  auch  besonders  auf  die  sehr  wichtige  radiale  Divergenz 
der  Ver  wandt  Schaftslinien  hin,  w^elche  jene  Kategorien  ver- 
verschiedener  Ordnung  verbinden.  Die  trefflichsten  Bemerkungen 
hierüber  enthält  in  Darwins  Werke  das  vierte  Kapitel,  welches 
von  der  Divergenz  des  Charakters  handelt,  und  das  dreizehnte. 
w^elches  die  Gruppenbildungen  bei  der  Klassifikation  erläutert;  hier 
ist  das  Verhältnis  der  Koordination  und  der  Subordination  der  ver- 
schiedenen Kategorien  aus  ihrem  verschiedenen  Abgange  und  Ab- 
stände vom  Hauptstamme  erklärt. 

Der  Spezies-Begriff  verliert  seinen  absoluten  Wert,  sobald  wir 
die  A'^ariabilität,  w^elche  allen  Spezies  eigen  ist,  mit  in  den  Kreis 
unserer  Betrachtung  ziehen.  Aus  dieser  ergiebt  sich,  daß  die 
Varietätenbüschel  jeder  Spezies  sich  beständig  erweitern  und  die 
einzelnen  abweichenden  Formen  durch  Divergenz  des  Charakters 
immer  weiter  auseinander  gehen  müssen.  Viele  von  diesen  Varietäten 
gehen  früher  oder  später  als  solche  unter.  Andere  gelangen  in 
Verhältnisse,  unter  denen  sie  ihre  Charaktere  lange  Zeit  hindurch 
(oft  viele  hundert  Jahrtausende!)  verhältnismäßig  konstant  erhalten 
können.  Diese  werden  dann  als  Arten  bezeichnet.  Die  Varietäten 
sind  also  beginnende  Arten. 


396  D^s  natürliche  System  als  Stammbaum.  XXIV. 


III.    Oute  und  schlechte  Gruppen  des  Systems. 

„Gute  und  schlechte  Gruppen,  gute  und  schlechte  Gattungen, 
Familien.  Ordnungen,  Klassen  etc."  werden  in  der  systematischen 
Praxis  ebenso  allgemein  wie  „gute  und  schlechte  Arten"  unter- 
schieden :  und  wie  bei  den  letzteren,  so  haben  auch  hier  die  meisten 
Systematiker  keine  richtige  Vorstellung  von  dem  eigentlichen  Wert 
dieser  Unterscheidung.  Der  Grund  derselben  ist  dort  wie  hier  der- 
selbe, und  was  wir  oben  von  den  ,,guten  und  schlechten  Arten"  be- 
merkten, gilt  ebenso  von  den  übrigen  Kategorien  des  Systems. 

.,Gute  Gruppen",  gute  oder  natürhche  Genera,  Familien,  Ord- 
nungen, Klassen  sind  solche,  die  sich  scharf  und  bestimmt  umschreiben 
lassen  und  durch  keine  Übergänge  mit  den  verwandten  Formen  ver- 
bunden sind.  Solche  Klassen  sind  z.  B.  die  der  Säugetiere,  Vögel 
und  Reptilien.  Es  fehlen  hier  lebende  Ubergangsformen,  und  es 
fehlt  uns  die  Kenntnis  der  ausgestorbenen  Zwischenformen,  welche 
die  gemeinsamen  Stammeltern  dieser  Gruppen  waren  und  dieselben 
aufs  innigste  verbanden.  Ebenso  sind  gute  Ordnungen  diejenigen  der 
Insektenklasse,  deren  verbindende  Zwischenglieder  uns  größtenteils 
unbekannt  sind.  Wenn  sich  eine  Klasse  so  scharf  und  bestimmt 
umschreiben  läßt  wie  die  der  Vögel,  der  Insekten,  so  beruht  dies 
zunächst  immer  auf  unserer  höchst  unvollständigen  historischen 
Kenntnis  derselben,  die  hauptsächlich  durch  große  und  wesentliche 
Lücken  in  ihrer  paläontologischen  Entwickelungsgeschichte  bedingt  ist. 

„Schlechte  Gruppen",  schlechte  oder  unnatürliche  Genera, 
Famihen,  Ordnungen,  Klassen  nennen  die  Systematiker  solche,  deren 
Abgrenzung  sehr  schwierig  ist,  weil  die  entferntesten  Formen  der 
Gruppe  durch  eine  kontinuierliche  Kette  von  verbindenden  Zwischen- 
gliedern zusammenhängen.  Solche  Klassen  sind  z.  B.  die  der  Amphi- 
bien und  Fische,  zwischen  denen  Lepidosiren  in  der  Mitte  steht,  der 
seltsame,  wenig  veränderte  Nachkomme  von  den  alten  gemeinsamen 
Stammeltern  der  Amphibien  und  Teleostier.  Ebenso  sind  schlechte 
Gruppen  die  einzelnen  Ordnungen  z.  B.  der  Crustaceen.  der  Gastero- 
poden  etc.  Je  vollständiger  wir  die  lebenden  und  ausgestorbenen 
Glieder  irgendeiner  Gruppe  kennen  lernen,  desto  unmöghcher  wird 
es,  die  einzelnen  Unterabteilungen  scharf  voneinander  zu  trennen, 
und  desto  schAvieriger,  den  gesamten  Charakter  der  ganzen  Gruppe 
zusammenzufassen.     Während    wir    einerseits    die    Charaktere    der 


XXIV.  in.    Gute  und  schlechte  Gruppen  des  Systems.  397 

Insektenklasse  scharf  definieren  nnd  ihre  einzehien  Ordnungen  glatt 
abtrennen  können,  ist  es  bei  der  nahe  verwandten  Klasse  der  Crusta- 
ceen  ganz  unniögiicli,  den  Gesamtcharakter  der  Gruppe  zusammen- 
zufassen und  ihre  einzelnen  Ordnungen  scharf  zu  unterscheiden.  Die 
drei  Ordnungen  der  Huftiere,  Pachydermen.  Wiederkäuer  und  Ein- 
hufer waren  drei  der  besten  und  natürlichsten  Ordnungen,  solange 
man  ihre  fossilen  Zwischenformen  nicht  kannte.  Als  diese  gemein- 
samen Stammformen  entdeckt  waren,  wurde  es  unmöglich,  sie  noch 
länger  scharf  zu  trennen.  Es  waren  nun  schlechte  und  unnatürliche 
Abteilungen  geworden.  Sehr  viele  kleinere  und  größere  Abteilungen 
des  Tierreichs  erscheinen  uns  nur  deshalb  als  ..natürliche''  Gruppen, 
weil  wir  bloß  die  hoch  ausgebildeten  und  differenzierten  Epigonen  aus 
einer  verhältnismäßig-  späten  Zeit  ihrer  historischen  Entwickelung 
kennen,  so  die  Wirbeltiere,  die  Echinodermen.  Während  die  Charak- 
teristik solcher  späteren  Gruppen  sich  leicht  und  präzis  zusammen- 
fassen läßt,  weil  wir  nicht  genötigt  sind,  ihre  relativ  unvollkommenen 
und  einfachen  Vorfahren  mit  darunter  zu  begreifen,  so  können  wir 
umgekehrt  eine  allgemeine  und  zugleich  bestimmte  Charakteristik 
z.  B.  der  Würmer  gar  nicht  aufstellen,  weil  wir  hier  neben  den  hoch- 
ausgebildeten späteren  Epigonen  noch  die  unvollkommensten  niedersten 
Anfänge,  der  Reihe  kennen  und  von  den  ersteren  nicht  trennen 
können.  Hieraus  geht  hervor,  daß  wir  eine  für  alle  Glieder  eines 
Stammes  gültige  allgemeine  Charakteristik  desselben,  wenn  wir  alle 
Glieder  vom  ersten  bis  zum  letzten  kennten,  gar  nicht  würden 
geben  können,  weil  die  niedersten  Anfangsstufen,  die  Wurzeln,  noch 
zu  indifferent,  für  unsere  Definitionen  noch  viel  zu  charakterlos  sind. 
Ganz  ebenso  wie  die  Spezies  werden  also  auch  die  umfassen- 
deren und  weiteren  Kategorien  des  Systems,  die  Genera,  Familien, 
Klassen  etc.  gut  und  natürlich  genannt,  wenn  wir  ihre  gesamten 
Formensummen  und  namentlich  die  ausgestorbenen  Stammformen 
derselben  schlecht  und  unvollständig  kennen;  dagegen  werden 
dieselben  Abteilungen  schlecht  und  unnatürlich  genannt,  wenn 
wir  ihren  gesamten  Formenkreis  und  namentlich  die  gemeinsamen 
Stammeltern  derselben  gut  und  vollständig  in  ihrem  genealogi- 
schen Zusammenhange  kennen.  Daher  wird  jede  gute  und  natür- 
liche Gruppe  des  Systems  um  so  schlechter  und  unnatürlicher,  je 
vollständiger  wir  sie  durch  Auffindung  der  verbindenden  Übergangs- 
formen und  namentlich  der  ausgestorbenen  gemeinsamen  Stamm- 
formen kennen  lernen. 


398  Das  natürliche  System  als  Stammbaum. .  XXIV. 

IT.    Die  Baunigestalt  des  uatürliclien  Systems. 

Wenn  wir  das  gesamte  System  der  Organismen  vollständig  von 
Anfang  an  kennen  würden,  wenn  wir  im  vollständigen  Besitze  aller 
Tier-  und  Pflanzenarten  sein  würden,  welche  jetzt  leben  und  jemals 
auf  der  Erde  gelebt  haben,  so  würde  es,  wie  Lamarck,  Goethe 
und  Darwin  bemerkt  haben,  ganz  unmöglich  sein,  ein  System  mit 
scharf  abgegrenzten  Kategorien  aufzustellen.  Da  die  einzige  reale 
Kategorie  des  Systems  der  Stamm  oder  Typus  ist,  so  würden  wir  nur 
eine  (wahrscheinlich  geringe)  Zahl  von  solchen  Stämmen  nebenein- 
ander vor  uns  sehen;  Stämme,  deren  jeder  sich  im  Laufe  der  Zeit 
aus  einer  ganz  einfachen  Wurzel  durch  fortgesetzte  Ramifikation 
(Divergenz  des  Charakters)  zu  einem  vielverzweigten  Baume  mit  ge- 
waltiger Krone  und  äußerst  formenreichen  Ästen  entwickelt  hat. 
Kein  anderes  Bild  vermag  uns  die  wahre  Bedeutung,  welche 
die  verschiedenen  Kategorien  innerhalb  eines  jeden  Stam- 
mes besitzen,  so  treffend,  klar  und  anschaulich  zu  versinn- 
lichen, als  das  Bild  eines  weitverzweigten  Baumes,  dessen 
Äste  und  Zweige,  nach  verschiedenen  Richtungen  diver- 
gierend, sich  zu  verschiedenen  Formen  entwickelt  haben. 
Es  ist  dies  in  der  Tat  der  genealogische  Stammbaum  jedes  Stammes 
oder  Typus.  Die  einfache'  Wurzel  des  Hauptstammes  ist  die  gemein- 
same Urform,  aus  welcher  der  gesamte  Formenreichtum  der  Äste, 
Zweige  etc.  sich  entwickelt  hat.  Die  großen  Hauptäste,  in  welche 
zunächst  der  Stamm  sich  spaltet,  sind  die  Klassen  des  Stammes,  die 
Äste,  die  aus  deren  Teilung  hervorgehen,  die  Ordnungen;  jede  Ord- 
nung verästelt  sich  wieder  in  mehrere  Zweige,  welche  wir  Familien 
nennen,  und  die  Verästelungen  dieser  Zweige  sind  die  Gattungen; 
die  feineren  Ästchen  dieser  Ramifikationen  sind  die  Spezies,  und  die 
feinsten  Zweiglein  dieser  die  Varietäten;  die  Blätter  endlich,  welche 
büschelweis  an  den  letzten  Zweigspitzen  sitzen,  sind  die  Zeugungs- 
kreise oder  die  physiologischen  Individuen,  welche  diese  repräsen- 
tieren. Die  Zweige  und  Äste  mit  frisch  grünenden  Blättern  sind  die 
lebenden,  die  älteren  mit  den  abgestorbenen  welken  Blättern  die 
ausgestorbenen  Formen  und  Formgruppen  des  Stammes. 

Gleichwie  es  nun  ganz  unmöglich  ist,  an  einem  solchen  Stamme 
zu  sagen,  wo  die  Grenze  der  einzelnen  Astgruppen  ist,  wo  die  grö- 
beren Äste  als  Einheiten  aufhören  und  die  feineren  aus  ihnen  hervor- 
gehenden   anfangen,    oder   wie    es    unmöglich    ist,    den  Anteil   des 


XXIV.  I^  •    Die  Bauingestalt  des  natürlichen  Systems.  399 

gemeinsamen  Stammes  scharf  zu  bestimmen,  der  jedem  Aste  zukommt, 
ganz  so  unmöglich  ist  es,  an  jedem  Stamme  des  Tier-  und  Pflanzen- 
reichs die  Grenze  der  einzelnen  Klassen,  Ordnungen,  Familien,  Gat- 
tungen, Arten  scharf  anzugeben.  Wo  dies  möglich  ist,  da  befindet 
sich  eine  Lücke  in  unserer  Kenntnis,  welche  uns  eine  Kluft  zwischen 
zwei  verwandten  Formengruppen  vorspiegelt,  die  in  der  Natur  nicht 
vorhanden,  sondern  entweder  durch  noch  lebende  oder  durch  aus- 
gestorbene Zwischenformen  überbrückt  ist.  Alle  Äste  und  Zweige 
dieses  Baumes  gehen  auf  ungleicher  Höhe  vom  Stamme  ab,  erreichen 
einen  ungleichen  Grad  der  Entwickelung  in  Länge,  Dicke  und  Ver- 
zweigung, und  alle  Zweige  enden  auf  verschiedener  Höhe  und  tragen 
eine  ungleiche  Anzahl  von  Blättern.  Ganz  so  verhält  es  sich  mit 
jedem  Stamme  des  Tier-  und  Pflanzenreichs,  und  es  ergibt  sich  hier- 
aus, daß  die  Koordination  und  Subordination  der  verschiedenen  Kate- 
gorien (Verästelungsgrade)  durchaus  nicht  in  der  Weise  schematisch 
zu  bestimmen  ist,  wie  es  gewöhnlich  geschieht.  Der  Grad  der  Ko- 
ordination und  Subordination  kann  vielmehr  bei  allen  Gruppen  eines 
Stammes  ein  äußerst  verschiedenartiger  sein. 

Aus  dieser  und  der  vorhergehenden  Betrachtung  erledigt  sich 
mm  die  vielerörterte  Frage,  ob  es  ein  natürliches  System  der 
Organismen  gäbe,  und  welches  dieses  einzige  System  sei,  von  selbst. 
Es  gibt  allerdings  ein  natürliches  System,  und  zwar  nur  ein 
einziges.  Dieses  einzig  natürhche  System  ist  der  reale  Stamm- 
baum, das  Phylema.  Jeder  einzelne  Stamm,  jedes  Phylum  zeigt 
uns  unter  der  Form  eines  einzigen,  vielfach  verästelten  Baumes  durch 
radial  divergierende  Verwandtschaftslinien  (Äste  und  Zweige 
des  Baums)  den  verschiedenen  Grad  der  Blutsverwandtschaft  an,  der 
die  verschiedenen  untergeordneten  Gruppen  des  Stammes  verbindet. 

Wenn  wir  dieses  Bild  festhalten  und  uns  dabei  stets  erinnern, 
daß  alle  Kategorien  des  Systems  künstlich  und  nicht  absolut  zu  um- 
grenzen sind,  sondern  nur  wegen  der  Lückenhaftigkeit  unserer  Kennt- 
nisse absolut  zu  sein  scheinen;  wenn  wir  uns  ferner  erinnern,  daß 
alle  diese  Kategorien  abstrakte  Begriffe  von  relativem  Werte  sind, 
und  daß  jede  Kategorie  in  verschiedenen  Stämmen  und  Stammteilen 
einen  sehr  ungleichen  Wert  haben  kann  —  wenn  wir  dieser 
künstlichen  Natur  des  systematischen  Fachwerks  stets  eingedenk 
bleiben,  so  werden  wir  dasselbe  mit  dem  größten  Vorteile  zur 
übersichtlichen  und  vergleichenden  Darstellung  der  komplizierten 
Verwandtschaftsverhältnisse  der  einzelnen  Stammgruppen  anwenden 


400  I^^s  natüi-liclie  System  als  Stammbaum.  XXIV. 

können;  ja  es  wird  sich  sogar  eine  wirklich  naturentsprechende 
Anschauung  von  dem  natüi'lichen  Systeme  jedes  Stammes  nur  dann 
gewinnen  lassen,  wenn  wir  die  einzelnen  über-  und  nebeneinander 
geordneten  Gruppen  durch  zahlreiche  dichtverzweigte  und  radial 
divergierende  Verwandtschaftslinien  verbinden. 

y.    Anzahl  der  subordiniert en  Kategorien. 

Da  die  einzelnen  Kategorien  oder  Gruppen  des  natürlichen 
Systems  keinen  absoluten  Inhalt  und  Umfang  besitzen,  sondern  nur 
die  verschiedenen  Divergenzgrade  der  Äste  des  Stammbaumes  be- 
zeichnen, da  ihr  ganzer  Wert  für  die  Klassifikation  mithin  in  dem 
relativen  Verhältnis  der  Subordination  liegt,  so  ist  es  klar, 
daß  die  Zahl  derselben  ganz  unbeschränkt  ist,  und  daß  der  Stamm- 
baum um  so  übersichtlicher  wird,  je  größer  die  Zahl  der  überein- 
ander geordneten  Gruppen  ist.  Wenn  Agassiz  und  viele  andere 
Systematiker  diese  Zahl  auf  sechs  beschränken  und  nur  die  Begriffe 
der  Spesies,  Oenus,  Familia,  Ordo,  Classis,  Tyims  als  wirklich 
natürhche  und  reale  Kategorien  gelten  lassen  wollen,  so  ist  dies  voll- 
kommen willkürlich  und  wird  am  besten  durch  die  Tatsache  wider- 
legt, daß  Agassiz  selbst  genötigt  war,  dennoch  die  untergeordneten 
Kategorien  der  Subclassis,  Subordo^  Subfamilia  etc.  nachträglich 
anzuerkennen  und  selbst  in  Gebrauch  zu  ziehen.  Wir  werden  also 
die  Zahl  der  Kategorien  ganz  beliebig  je  nach  Bedürfnis  verviel- 
fältigen können,  und  die  einzige  praktische  Regel,  die  bei  deren  An- 
wendung zu  verfolgen  sein  wird,  dürfte  diejenige  sein,  daß  wir  den 
relativen  Rang  der  einzelnen  Kategorien  konstant  fixieren 
und  stets  in  einem  und  demselben  Sinne  festhalten,  daß  wir  also 
z.  B.  die  Ordnung  stets  als  eine  weitere,  umfassendere  Kategorie  über 
die  Famihe,  die  Famihe  über  die  Tribus  stellen  und  nicht  umgekehrt 
(wie  es  auch  geschehen  ist).  Wenn  wir  in  diesem  Sinne  die  Stufen- 
leiter der  verschiedenen  subordinierten  Gruppen  in  der  Reihenfolge, 
wie  sie  von  den  meisten  Systematikern  angenommen  und  befolgt 
wird,  festsetzen,  so  ergibt  sich  die  nachstehende  Rangordnung,  in 
welcher  jede  vorausgehende  Kategorie  einen  umfassenderen  und 
weiteren  Begriff  hat,  als  jede  nachfolgende.  Als  Beispiel  fügen  wir 
die  systematische  Bezeichnung  der  verschiedenen  Kategorien  für 
ein  Säugetier  {Hypudaens  amjjhihius)  und  für  eine  Dikotyledone 
(Hieracium  pilosella)  bei. 


XXIV. 


VI.    Stufenleiter  der  subordinierten  Kategorien. 


401 


Tl.    Stufenleiter  der  subordinierten  Kategorien.*) 


Kategorie  des 
Systems. 


Deutsche  Bezeich- 
nung der  Gruppe. 


Beispiel  aus  dem 
Tierreiche. 


Beispiel  aus  dem 
Pflanzenreiche. 


1. 


3. 


o. 


l'li  ylum 
2.  Subphylum 
Cladus 
4.  S  üb  cladus 
C 1  a  s  s  i  s 
6.  Subclassis 
7.  Legio 

8.  Sublegio 
9.     Ordo 

10.  Subordo 
11.     Sectio 

12.  Sub Sectio 
13.     Familia 


Stamm  (TN'pus) 

Unterstamm 

Stammast 

Unterast 

Klasse 

Unterklasse 

Legion 

Unterlegion 

Ordnung 

Unterordnung 

Haufe 

Unterhaufe 

Familie 


14.  S  u b  f  a  m  i  1  i  a    Unterfamilie 
15.     Tri b US  '  Sippschaft 

16.  Subtrilms     Untersippschaft 
17.     Genus  i  Sippe  (Gattung) 

18.  Subgenus    \  Untersippe 

(Untergattung) 
19.     Cohors  Rotte 

20.  Sub  cohors  |  Unterrotte 
21.     Species  Art 

22 .  S  u  b  s  p  e  c  i  e  s    Unterart 


23.     Yarietas 


Rasse 


24.  Subvarietas    Spielart 


Vertebrata 

Craniota 

Amniota 

Mammalia 

Monodelphia 

Trogontia 

Neotrogontia 

Rodentia 

Myomorpha 

Murina 


Arvicolida 
Hi/pudaei 

Arvicola 


Paludicola 


Arvicola  amphihius 


Arvicola  (amph  ibius)  j 

terrestris 
'  Arvicola  (ampJd-    i 

hius  terrestris)  ar- 
gentoratensis 


Cormophyta 

Anthophyta 

Angiospermae 

Dicotyledones 
Dichlamydeae 


Aggregatae 


Compositae 
(Syngenesia) 

Liguliflorae 

Cichoraceae 

Crepideae 

Hieraciiim 


Piloselloidea 
Monocephala 
Sieracium  pilosella 
Hieraciumpilosissi- 
nium 


j  (  Hieracimn  (pilo- 
I      sclla  pilosissi- 
i|      mum)  peleterin- 
1 1     mim 


*)  Anmerkung  (190G).  Die  Unterscheidung  einer  größeren  Anzahl  von 
Kategorien  oder  ..Gruppenstiifen",  die  hier  ( —  vor  40  Jahren  — )  zuerst  vor- 
geschlagen wurde,  hat  zwar  bisher  wenig  Anklang  gefunden,  ist  aber  für  den 
weiteren  Ausbau  des  natürlichen  Systems  und  seine  logische  Begründung  von 
hoher  Bedeutung. 

Haeckel,    Prinz,  d.  iloriihol.  26 


402  I^^s  natürliche  System  als  Stammbaum.  XXIV. 

TU.    Charakterdifferenzeii  der  subordinierten  (irnppen. 

Nachdem  wir  unsere  Ansicht  von  der  genealogischen  Bedeutung 
der  Klassifikation  und  von  dem  natürlichen  Systeme  als  dem 
wirklichen  Stammbaum  oder  Phylema  dargelegt  haben,  wird  es 
vielleicht  nicht  unpassend  erscheinen,  noch  einen  Blick  auf  den 
Wert  der  Charaktere  der  verschiedenen  Kategorien  bezüglich  ihres 
relativen  Gewichtes  zu  werfen.  Daß  eine  absolute  Bestimmung  des 
Inhalts  und  Umfangs  dieser  abstrakten  Begriffe  nicht  möglich  sei, 
wurde  schon  durch  die  oben  gegebene  Analyse  klar.  Dagegen  sahen 
wir,  daß  ein  relativer  Unterschied  zwischen  denselben  insofern  exi- 
stiert, als  jede  weitere  und  höhere  Kategorie  durch  allgemeinere 
und  tiefer  greifende  Charaktere  ausgezeichnet  ist,  als  die  nächst 
vorhergehende,  engere  und  niedere  Stufe.  Je  niedriger  und  enger 
die  Kategorie  ist,  desto  mehr  haften  ihre  Charaktere  bloß  an  der 
Oberfläche  des  Organismus  und  desto  beschränkter  und  weniger  tief 
sind  sie.  Zunächst  erscheint  diese  Differenz  lediglich  als  eine  gra- 
duelle: jedoch  ist  in  vielen  Fällen  auch  ein  qualitativer  Unterschied 
ihres  Wertes  insofern  nachzuweisen,  als  die  Charaktere  der  niederen 
Kategorien  vorzugsweise  analoge,  durch  Anpassung  erworbene, 
diejenigen  der  höheren  dagegen  vorzugsweise  homologe,  durch 
Erbschaft  erworbene  sind.  Je  umfassender  und  allgemeiner  eine 
Kategorie  ist,  wie  z.  B.  diejenigen  der  Ordnung,  der  Klasse,  desto 
ausschließlicher  sind  ihre  auszeichnenden  Charaktere  in  der  Gesanit- 
anlage  und  in  der  Innern  Struktur  des  Körpers  ausgesprochen  und 
durch  Vererbung  von  vielen  Generationen  her  erworben:  je  enger 
und  beschränkter  umgekehrt  die  Kategorie  ist,  wie  z.  B.  Genus, 
Spezies,  desto  exklusiver  spricht  sich  ihr  Charakter  bloß  im  einzelnen 
und  im  Äußeren  der  Körperform  aus  und  ist  durch  Anpassung  erst 
seit  kurzer  Zeit  erworben.  Die  Charaktere  der  höheren  und 
allgemeineren  Kategorien  sind  ältere,  längere  Zeit  hindurch 
vererbte,  während  diejenigen  der  niederen  und  spezielleren 
Gruppen  jüngere  und  erst  durch  eine  kleinere  Reihe  von  Genera- 
tionen vererbt  sind.  Tiefer  greifend  und  mehr  den  Gesamtcharakter 
der  Form  bestimmend  sind  aber  die  w^esentlichen  Charaktere  der  all- 
gemeineren und  älteren  Kategorien  eben  deshalb,  weil  sie  älter  sind, 
und  weil  nur  die  tieferen  Veränderungen  der  Struktur  sich  durch 
eine  lange  Reihe  von  Generationen  vererben  können,  während  die 
oberflächlichen  und  mehr  äußere  Einzelheiten  der  Form  betreffenden 


XXIV.  VII.  Chaiakterdifferenzen  der  subordinierten  Gruppen.  403 

Charaktere  der  spezielleren  und  jüngeren  Kategorien  leichter  sich 
wieder  verwischen  und  durch  andere  Abänderungen  verdrängt  werden, 
eben  weil  sie  jünger  und  nicht  durch  so  langdauernde  Vererbungen 
befestigt  sind. 

Diese  Betrachtung  bestätigt  vollkommen  unsere  Auffassung  von 
dem  genealogischen  Charakter  des  natürlichen  Systems.  Es  ist  hier- 
nach wesentlich  das  höhere  x\lter,  die  längere  Reihe  der  vererbenden 
Generationen,  welche  den  höheren  Grad  der  Differenz  und  damit  die 
allgemeinere  Bedeutung  der  Kategorien  bestimmt.  Im  allgemeinen 
wird  daher  jede  Kategorie  des  Systems  älter  sein  als  die  nächst- 
engere, darunter  stehende,  jünger  als  die  nächstweitere,  darüber 
stehende  Stufe  des  Systems.  So  ist  die  Spezies  jünger  als  das  zu- 
gehörige Genus,  älter  als  die  zugehörenden  Varietäten;  ebenso  ist  die 
Ordnung  jünger  als  die  zugehörige  Klasse,  älter  als  die  zugehörenden 
Familien.  Diese  Erwägung  ist  insofern  sehr  wichtig,  als  sie  uns  den 
Kausalnexus  offenbart  zwischen  dem  Alter  und  dem  systematischen 
Werte  der  Charaktere.  Je  älter  ein  Differentialcharakter  ist,  je 
größer  die  Anzahl  der  Generationen,  durch  welche  hindurch  er  sich 
vererbt  und  so  befestigt  hat,  desto  tiefer  greift  er  in  die  Gesamt- 
organisation des  Tieres  ein,  desto  schwerer  ist  er  durch  weitergehende 
Veränderung  zu  verwischen  und  desto  allgemeiner  und  höher  ist  die 
Rangstufe,  auf  welche  er  die  betreffende  Form  erhebt. 

Auf  diesen  höchst  wichtigen  Unterschied  in  dem  systematischen 
Werte  der  ererbten  und  der  angepaßten  Charaktere  muß  der  Morpho- 
loge  bei  der  genealogischen  Subordination  der  verschiedenen  System- 
gruppen das  meiste  Gewicht  legen.  Viel  unwichtiger  ist  der  Umstand, 
ob  sich  der  gemeinsame  typische  Charakter  einer  bestimmten  Gruppe 
in  Form  einer  exklusiven  Diagnose  zusammenfassen  läßt  oder  nicht. 
Je  besser  wir  die  betreffende  Gruppe  mit  allen  ihren  Übergangs- 
formen zu  den  nächstverwandten  Gruppen  kennen,  desto  weniger 
wird  eine  solche  scharfe  und  exklusive  Diagnose  möglich  sein.  Bei 
der  genealogischen  Rekonstruktion  des  natürlichen  Systems,  als  des 
Stammbaums  der  Organismen,  wird  es  daher  nicht  darauf  ankommen, 
die  einzelnen  koordinierten  und  subordinierten  Gruppen  durch  scharfe 
und  exklusive  Charakteristiken  zu  trennen,  sondern  vielmehr  die 
vorwiegend  erbliche  oder  angepaßte  Natur  der  Differentialcharaktere, 
ihr  relatives  Alter  zu  erkennen  und  danach  die  gegenseitige  Stellung 
der  verwandten  Gruppen  zu  bestimmen. 

2G* 


Fünfundzwanzig'stes  Kapitel. 

Die  Yerwandtschaft  der  Stämme. 


„Der  Meuseli,  wo  er  bedeutend  auftritt,  verhält  sich 
g-esetzg-ebend.  In  der  Wissenschaft  deuten  die  unzähligen 
Versuche,  zu  systematisieren,  zu  schematisieren,  dahin. 
Unsere  g'anze  Aufmerlisamkeit  muß  aber  dahin  gerichtet 
sein,  der  Natur  ihr  Verfahren  abzulauschen,  damit  wir  sie 
durch  zwängende  Vorschriften  niclit  widerspenstig  machen, 
aber  uns  dageg'en  auch  durch  ilu'e  Willkür  nicht  vom  Zweck 
entfernen  lassen."  Goethe. 


Bemerkung  (1906).  Das  25.  Kapitel  enthielt  auf  15  Seiten  (S.  403— 417) 
den  ersten  Versuch,  die  wichtige  Frage  von  der  Verwandtschaft,  dem  Ursprung 
und  den  Beziehungen  der  organischen  Stämme  oder  Phylen  zu  beantworten. 
Diese  Frage  wurde  ausführlicher,  und  in  stetig  verbesserter  Anordnung  des 
Stoffes,  in  den  zehn  verschiedenen  Auflagen  der  „Natürlichen  Schöpfungs- 
geschichte'' (1868 — 1902)  zu  beantworten  versucht.  Die  ausführlichste  und 
streng  wissenschaftliche  Behandlung  derselben  enthält  meine  „Systematische 
Phylogenie,  Entwurf  eines  Natürlichen  Systems  der  Organismen  auf  Grund 
ihrer  Stammesgeschichte"  (I.Band:  Protisten  imd  Pflanzen.  1894:  II.  Band:  Wirbel- 
lose Tiere,  1896;  III.  Band:  Wirbeltiere,  1895).  Da  in  diesen  Werken  mein 
letzter  ( —  für  mich  persönlich  abgeschlossener  — )  Versuch  vorliegt,  das 
„Natürliche  System  der  Organismen"  auf  phylogenetischer  Grundlage  aufzubauen, 
und  da  die  früheren  Versuche  dazu  durch  die  „Natürliche  Schöpfungsgeschichte" 
eine  weite  Verbreitung  erfahren  haben,  so  erscheint  es  jetzt  angemessen,  jenen 
ältesten  Versuch  (im  25.  Kapitel)  und  seine  Ausführung  in  der  „Systematischen 
Einleitung"  (S.  XVII — CLX)  hier  nicht  zu  wiederholen. 


Seclisundz wanzigstes  Kapitel. 

Phylogenetisclie  Thesen. 


«Der  Philosoph  wird  gar  bald  entdecken,  daß  sich  die 
Beobachter  selten  zu  einem  Standpunkte  erheben,  aus 
welchem  sie  so  viele  bedeutend  bezügliche  Gegenstände 
übersehen  können.'^  Goethe. 


I.    Thesen  von  der  Kontinuität  der  Phylogenese. 

1.  Die  Phylogenesis  oder  die  phyletische  Entwickelung,  d.  h. 
die  Epigenesis  der  Arten  und  der  aus  ihnen  zusammengesetzten 
Stämme,  ist  ein  ebenso  kontinuierlicher  Prozeß  als  die  Onfogenesis 
oder  die  biontische  Entwickelung,  d.  h.  die  Epigenesis  der  Bionten 
oder  der  physiologischen  Individuen. 

2.  Die  kontinuierliche  Phylogenesis  ist  ebenso  eine  wirkhche 
Epigenesis  (und  nicht  eine  Evolution  aus  einer  „Idee"),  wie  die 
kontinuierliche  Ontogenesis. 

3.  Die  einzelnen  Arten  oder  Spezies,  aus  denen  jeder  Stamm 
(oder  Phylum)  zusammengesetzt  ist,  sind  daher  ebenso  unmittelbar 
auseinander  hervorgegangen,  wie  die  einzelnen  Entwickelungszustände, 
aus  denen  die  Ontogenesis  jedes  physiologischen  Indi\äduums  zusam- 
mengesetzt ist. 

4.  Die  Entstellung  der  Arten  auseinander  ist  ein  mecha- 
nischer Prozeß,  welcher  durch  die  Wechselwirkung  der  Anpassung 
und  der  Vererbung  im  Kampfe  um  das  Dasein  bedingt  wird. 

5.  Es  existiert  also  ebensowenig  eine  Schöpfung  oder  Erschaf- 
fung der  einzelnen  organischen  Arten,  als  der  einzelnen  organischen 
Individuen. 

6.  Es  existiert  mithin  auch  ebensowenig  ein  „zweckmäßiger 
Plan"  oder  ein  „vorbedachtes  Ziel"  in  (i^x  phgletischen  Entwickelung 
der  Arten,  wie  in  der  hiontischen  Entwickelung  der  Individuen. 


406  Phylogenetische  Thesen.  XXVI. 

II.    Thesen  von   der  genealogischen  Bedeutung    des 
natürlichen  Systems  der  Organismen. 

7.  Es  existiert  ein  einziges  zusammenhängendes  natürliches 
System  der  Organismen,  und  dieses  einzige  natürhche  System 
ist  der  Ausdruck  realer  Beziehungen,  welche  tatsächlich  zwischen 
allen  Organismen  bestehen,  die  gegenwärtig  auf  der  Erde  leben  und 
zu  irgend  einer  Zeit  auf  derselben  gelebt  haben. 

8.  Die  realen  Beziehungen,  w^elche  alle  lebenden  und  ausge- 
storbenen Organismen  untereinander  zu  den  Hauptgruppen  des  natür- 
lichen Systems  verbinden,  sind  genealogischer  Natur:  ihre  For- 
menverwandtschaft ist  Stammverwandtschaft:  das  natürhche 
System  ist  daher  der  Stammbaum  der  Organismen,  ihr  Phylema 
oder  Genealogema. 

9.  Entweder  sind  alle  Organismen  Glieder  eines  einzigen  Ur- 
stammes  (Phylunt)  d.  h.  Deszendenten  einer  und  derselben  gemein- 
samen autogenen  Stammform:  oder  es  existieren  verschiedene  selbst- 
ständige Phylen  nebeneinander,  welche  sich  unabhängig  voneinander 
aus  selbständigen  autogenen  Stammformen  entwickelt  haben:  im 
ersteren  Falle  bildet  das  natürliche  System  einen  einzigen  Stamm- 
baum, im  letzteren  Falle  eine  Kollektivgruppe  von  mehreren  Stamm- 
bäumen, und  zwar  von  so  vielen  Stammbäumen,  als  autogene  Stamm- 
formen unabhängig  voneinander  entstanden  sind. 

10.  Die  autogenen  Stammformen  aller  Stämme,  welche  unab- 
hängig voneinander  durch  unmittelbaren  Übergang  anorganischer 
Materie  in  organische  entstanden  sind,  können  nur  Organismen  der 
denkbar  einfachsten  Natur,  vöUig  strukturlose  und  homogene  Plasma- 
stückchen (Moneren)  gewesen  sein. 

11.  Alle  Organismen  sind  in  letzter  Linie  Nachkommen  solcher 
autogenen  Moneren,  und  haben  sich  infolge  der  Divergenz  des 
Charakters  durch  natürliche  Züchtung  entwickelt. 

12.  Die  verschiedenen  subordinierten  Gruppen  des  natürlichen 
Systems,  die  Kategorien  der  Klasse.  Ordnung,  Familie,  Sippeetc.  sind 
schwächere  und  stärkere  Äste  des  Stammbaumes,  deren  Divergenzgrad 
den  genealogischen  Entfernungsgrad  der  blutsverwandten  Organismen 
voneinander  und  von  den  gemeinsamen  Stammformen  bezeichnet. 

13.  Alle  verschiedenen  Gruppen  oder  subordinierten  Kategorien 
des  natürlichen  Systems  besitzen  demnach  nur  eine  relative,  keine 
absolute  Bedeutung  und  sind  untereinander  durch  alle  möglichen 
Zwischenstufen  kontinuierlich  verbunden. 


XXVI.  Phylogenetische  Thesen.  407 

14.  Die  Lebensdauer  jeder  Gruppe  des  Systems  ist  nicht  durch 
Prädestination  beschränkt,  sondern  lediglich  die  notwendige  Folge 
der  Wecliselwirkung  von  Anpassung  und  Vererbung  im  Kampfe  um 
das  Dasein. 

15.  Diejenige  Gruppenstnfe  oder  Kategorie  des  natürlichen  Sy- 
stems, welche  alle  Organismen  umfaßt,  die  unter  gleichen  Existenz- 
bedingungen gleiche  Charaktere  besitzen,  zeichnen  wir  als  Art  oder 
Spezies  vor  den  übergeordneten  Gruppen  der  Sippe,  Familie  etc.  und 
vor  den  untergeordneten  Gruppen  der  Subspezies,  Varietät  etc.  aus. 

in.    Thesen  von  der  organischen  Art  oder  Spezies. 

16.  Die  organische  Art  oder  Spezies,  als  das  genealogische 
Individuum  zweiter  Ordnung,  ist  einerseits  ebenso  eine  Vielheit  von 
Zeugungskreisen  oder  genealogischen  Individuen  erster  Ordnung,  wie 
andererseits  jeder  Stamm  (Phylitm)  als  genealogisches  Individuum 
dritter  Ordnung  die  Vielheit  aller  blutsverwandten  Arten  ist. 

17.  Die  Spezies  ist  die  Gesamtheit  aller  Zeugungskreise,  welche 
unter  gleichen  Existenzbedingungen  gleiche  Form  besitzen  und  sich 
höchstens  durch  den  Polymorphismus  adelphischer  Bionten  unter- 
scheiden. 

18.  Die  Subspezies  und  Varietäten,  als  die  nächstunter- 
geordneten Gruppenstufen  des  Systems,  sind  beginnende  Spezies. 

19.  Die  Genera  und  Familien,  als  die  nächst  übergeordneten 
Gruppenstufen  des  Systems,  sind  untergegangene  Spezies,  welche 
sich  in  ein  divergierendes  Formenbüschel  aufgelöst  haben. 

20.  Die  Spezies  sind  in  unbegrenztem  Maße  veränderlich  und 
können  sich  durch  Anpassung  an  neue  Existenzbedingungen  jeder- 
zeit in  neue  Arten  umwandeln. 

21.  Die  Umwandelung  oder  Transmutation  der  Spezies  in 
neue  Arten  und  die  Divergenz  ihres  Varietätenbttschels,  durch  welche 
neue  Arten  entstehen,  wird  vorzüglich  durch  die  Wechselwirkung  der 
Vererbung  und  Anpassung  im  Kampfe  um  das  Dasein  bedingt. 

22.  Es  existieren  keine  morphologischen  Eigentümlichkeiten, 
welche  die  Spezies  von  den  anderen  Gruppenstufen  des  Systems 
(Varietäten,  Genera  etc.)  durchgreifend  unterscheiden. 

23.  Es  existieren  keine  physiologischen  Eigentümhchkeiten 
welche  die  Spezies  von  den  anderen  Gruppenstufen  des  Systems 
(Varietäten,  Genera  etc.)  durchgreifend  unterscheiden. 


408  Phylogenetische  Thesen.  XXVI. 

24.  Die  Lebensdauer  jeder  Art  ist  nicht  durch  Prädesti- 
nation beschränkt,  sondern  ledighch  die  notwendige  Folge  der  Wechsel- 
wirkung von  Anpassung  und  Vererbung  im  Kampfe  um  das  Dasein. 

IV.    Thesen  von  den  phylogenetischen  Stadien. 

25.  Die  Phylogenesis  oder  phyletische  Entwickelung, 
(1.  h.  die  Entwickelung  jeder  genealogischen  Gruppe  oder  Kategorie 
des  natürlichen  Systems,  von  der  Varietät,  Spezies  und  dem  Genus 
bis  hinauf  zu  der  Ordnung,  Klasse  und  dem  Stamm,  ist  ein  physio- 
logischer Prozeß  von  bestimmter  Zeitdauer. 

26.  Die  Zeitdauer  der  phyletischen  Entwickelung  jeder  System- 
gruppe wird  durch  die  Gesetze  der  Vererbung  und  Anpassung  be- 
stimmt und  ist  ledighch  das  Resultat  der  Wechselwirkung  dieser 
beiden  physiologischen  Faktoren. 

27.  In  dem  zeitlichen  Verlaufe  der  phyletischen  Entwickelung 
jeder  Systemgruppe  lassen  sich  allgemein  drei  verschiedene  Ab- 
schnitte oder  Stadien  unterscheiden,  welche  mehr  oder  minder 
deutlich  voneinander  sich  absetzen. 

28.  Jedes  Stadium  der  phyletischen  Entwickelung  jeder  System- 
gruppe  ist  durch  einen  bestimmten  physiologischen  Entwickelungs- 
prozeß  charakterisiert,  welcher  in  demselben  zwar  nicht  ausschheßlich. 
aber  doch  vorwiegend  wirksam  ist. 

29.  Das  erste  Stadium  der  phyletischen  Entwickelung,  das 
Jugendalter  der  Systemsgruppe  oder  die  Aufblühzeit,  Epacmc,  ist 
durch  das  Wachstum  der  Gruppe  charakterisiert. 

30.  Das  zweite  Stadium  der  phyletischen  Entwickelung,  das 
Reifealter  oder  die  Blütezeit,  Acme,  ist  durch  die  Differenzierung 
der  Gruppe  charakterisiert. 

31.  Das  dritte  Stadium  der  phyletischen  Entwickelung,  das 
Greisenalter  oder  die  Verblühzeit,  Paracme,  ist  durch  die  De- 
generation der  Gruppe  charakterisiert. 

V.    Thesen  von  dem    dreifachen  Parallelismus  der  drei 
genealogischen  Individualitäten. 

32.  Die  Kette  von  sukzessiven  Formveränderungen,  welche 
die  Zeugungskreise  oder  die  dieselben  repräsentierenden  Bionten  wäh- 
rend ihrer  individuellen  Existenz  durchlaufen,  ist  im  ganzen  parallel 
der  Kette  von  sukzessiven  Formveränderungen,  welche  die  Vorfahren 
der    betreffenden    Zeugungskreise    während    ihrer    paläontologischen 


XXVI.  Phylogenetische  Thesen.  409 

Entwickelung'  aus  der  ursprünglichen  Stammform  ihres  Phylon  durch- 
laufen haben. 

33.  Diese  Parallele  zwischen  der  Inontisclien  und  Aqy phyleüsdien 
Entwickelung  erklärt  sich  aus  den  Gesetzen  der  Vererbung,  und 
insbesondere  aus  den  Gesetzen  der  abbreviierten.  homotopen  und 
honiochronen  Vererbung. 

34.  Die  Kette  von  ko existenten  Formverschiedenheiten,  welche 
die  verwandten  Arten  und  Artengruppen  jedes  Stammes  zu  jeder  Zeit 
der  Erdgeschichte  darbieten,  ist  im  ganzen  parallel  der  Kette  von  suk- 
zessiven Form  Veränderungen,  welche  die  divergenten  Formenbüschel 
dieses  Stammes  während  ihrer  paläontologischen  Entwickelung 
aus  der  gemeinsamen  ursprünglichen  Stammform  durchlaufen  haben. 

35.  Diese  Parallele  zwischen  der  systematischen  und  der  phyle- 
tischen  Entwickelung  erklärt  sich  aus  den  Gesetzen  der  Divergenz, 
und  insbesondere  aus  der  Erscheinung,  daß  die  verschiedenen  Äste 
und  Zweige  eines  und  desselben  Stammes  einen  sehr  ungleich  raschen 
Verlauf  ihrer  phyletischen  Veränderung-  erleiden  und  zu  sehr  un- 
gleicher Höhe  sich  entwickeln. 

36.  Die  Kette  von  koexistenten  Formverschiedenheiten,  welche 
die  verwandten  Arten  und  Artengruppen  jedes  Stammes  zu  jeder  Zeit 
der  Erdgeschichte  darbieten,  ist  im  ganzen  parallel  der  Kette  von 
sukzessiven  Formveränderungen,  welche  dieBionten  der  betreffenden 
Artengruppe  während  ihrer  individuellen  Existenz  durchlaufen. 

37.  Diese  Parallele  erldärt  sich  aus  der  gemeinsamen  Ab- 
stammung der  verwandten  Arten,  und  zunächst  schon  aus  der  Ver- 
bindung der  beiden  vorhergehenden  Parallelen:  denn  wenn  die 
phyletische  Entwickelungsreihe  sowohl  der  biontischen  als  der  syste- 
matischen Entwickelungsreihe  parallel  ist,  so  müssen  auch  diese 
beiden  letzteren  untereinander  parallel  sein. 

38.  Der  dreifache  Parallelismus  der  pliuldischen,  hion- 
tischen  und  systematischen  Entwickelung  erklärt  sich  demnach,  gleich 
allen  anderen  allgemeinen  Entwickelungserscheinungen.  einfach  und 
vollständig  durch  die  Deszendenztheorie,  während  er  ohne  dieselbe, 
gleich  diesen  allen,  völlig  unerklärt  bleibt. 


Zusatz  (1906).  Die  kritischen  Grundzüge  der  ,. Allgemeinen 
Entwickelungsgeschichte",  welche  hier  im  fünften  und  sechsten  Buche 
der  Generellen  Morphologie  1866  von  mir  entworfen  wurden,  waren 
der  erste  Versuch,   die  von  Jean  Lamarck  begründete  und  von 


410  Phylogenetische  Thesen.  XXVL 

Charles  Darwin  reformierte  Deszendenztheorie  logisch  nach  allen 
Seiten  auszubauen  und  systematisch  zu  verwerten.  Wie  alle  solche 
..ersten  Versuche"  mußte  auch  mein  gewagtes  Unternehmen  in  vieler 
Hinsicht  mangelhaft  und  unvollkommen  bleiben.  Aber  trotzdem 
glaube  ich  hoffen  zu  dürfen,  daß  diese  schwierige  und  mühevolle 
Arbeit  nicht  vergeblich  war.  und  daß  sie  in  der  Geschichte  der  Ent- 
wickelungslehre  dauernd  einen  Platz  behaupten  wird.  Denn  hier 
sind  zum  ersten  Male  die  Gesetze  der  konservativen  und  progressiven 
Vererbung,  die  Gesetze  der  indirekten  und  direkten  Anpassung 
scharf  formuliert,  und  durch  ihre  verwickelte  Wechselwirkung  die 
großen  Gesetze  der  Divergenz  und  des  Fortschritts  als  not- 
wendige Folgen  der  Selektion  nachgewiesen  worden.  Ferner  ist  hier 
zuerst  die  Phylogenie  oder  Stammesgeschichte  als  ein  selbständiger 
Zweig  der  Biologie  aufgestellt  und  ihre  innige  kausale  Verknüpfung  mit 
der  Ontogenie  oder  Keimesgeschichte  eingehend  begründet  worden. 
Das  Biogenetische  Grundgesetz,  das  diesen  fundamentalen 
Kausalnexus  in  präzisester  Form  zusammenfaßt,  hat  im  19.  und  20., 
im  22.  und  26.  Kapitel  seine  ausführliche  Begründung  erfahren. 

Im  Laufe  der  vierzig  Jahre,  die  seitdem  verflossen  sind,  hat 
sich  über  diese  wichtigsten  Grundfragen  der  Biologie  eine  unüber- 
sehbar reiche  Literatur  entwickelt.  Dabei  ist  vielfach,  besonders 
in  neuester  Zeit,  ein  prinzipieller  Gegensatz  zwischen  den  Lehren 
von  Lamarck  und  Darwin  betont  worden:  dieser  besteht  nach 
meiner  Ansicht  nicht.  Beide  große  Naturforscher  waren  von  der 
kontinuierlichen  Umbildung  der  organischen  Formen  ( —  nicht  der 
„sprungweisen  Mutation"!  — )  und  von  der  ,.progressiven  Vererbung'' 
( —  der  erblichen  Übertragung  erworbener  Eigenschaften  — )  ebenso 
fest  überzeugt  wie  ich  selbst.  Der  größte  Fortschritt,  den  Darwin 
über  seinen  Vorgänger  Lamarck  hinaus  hat.  war  die  Aufstellung 
der  Selektionstheorie,  nach  meiner  Ansicht  die  wichtigste  und 
unerschütterliche  Ergänzung  der  Deszendenztheorie.  Ich  habe  in 
meiner  Gasträatheorie  (1872)  den  Beweis  dafür  durch  die  phylo- 
genetische Reform  der  Keimblätterlehre  zu  geben  versucht,  und  in 
meiner  „Systematischen  Phylogenie"  (1894 — 1896)  die  Frucht- 
barkeit ihrer  Anwendung  auf  die  Klassifikation  der  organischen  Formen 
nachgewiesen.  Dieses  letztere  Werk  ist  die  Ausführung  der  ..Genea- 
logischen Übersicht  des  Natürlichen  Systems  der  Organismen",  die 
ich  1866  dem  zweiten  Band  der  „Generellen  Morphologie"  als 
Systematische  Einleitung  vorausschickte  (160  Seiten). 


SIEBENTES  BUCH. 

DIE  ENTWICKELUNGSGESCHICHTE  DER  ORGANISMEN 
IN  IHRER  BEDEUTUNG  FÜR  DIE  ANTHROPOLOGIE. 


„Großer  Braiiia,   Herr  der  Mächte! 
Alles  ist  von  Deinem  Samen, 
Und  so  bist  Du  der  Gerechte! 
Hast  Du  denn  allein   die  Bramen, 
Nur  die  Rajas  und  die  Reichen, 
Hast  Du  sie  allein  geschaffen? 
Oder  bist  auch  Du's,  der  Affen 
Werden  ließ  und  unserseleichen  ? 


■^b^ 


„Edel  sind  wir  nicht  zu  nennen, 
Denn  das  Schlechte,  das  gehört  uns. 
Und  was  Andre  tödlich  kennen. 
Das  alleine,  das  vermehrt  uns. 
Mag  dies  für  die  Menschen  gelten. 
Mögen  sie  uns  doch  verachten: 
Aber  Du.  Du  sollst  uns  achten. 
Denn  Du  könntest  Alle  schelten! 

„Also  Herr,  nach  diesem  Flehen, 
Segne  mich  zu  Deinem  Kinde; 
Oder  Eines  laß  entstehen. 
Das  auch  mich  mit  Dir  verbinde! 
Denn  Du  hast  den  Bajaderen 
Eine  Göttin  selbst  erhoben: 
Auch  wir  Andern,  Dich  zu  loben. 
Wollen  solch  ein  Wunder  hören!" 

Goetiie  (des  Paria  Gebet). 


Siebenundzwanzigstes  Kapitel. 

Die  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur. 


„Ein  wenig:  besser  würd'  er  leben. 
Hätt'st  Du  ihm  nicht  den  Sehein  des  Himmelslichts  gegeben ; 
Er  nennt's  Vernunft,  und   braucht's  allein, 
Nur  tierischer  als  jedes  Tier  zu  sein. 
Er  scheint  mir,   mit  Yerlaub  von  Euer  Gnaden, 
AVie  eine  der  langbeinigen  Cieaden, 
Die  immer  fliegt  und  fliegend  springt. 
Und  gleich  im  Gras  ihr  altes  Liedchen  singt. "^ 

Goethe. 


A^on  allen  speziellen  Folgemngen,  -welche  die  kausale  Begrün- 
dung der  organischen  Entwickelungsgeschichte  durch  die  Deszendenz- 
theorie nach  sich  zieht,  ist  keine  einzige  von  so  hervorragender  Be- 
deutung, als  ihre  An-wendung  auf  den  Menschen  selbst.  Nur  durch 
sie  wird  die  Frage  von  der  „Stellung  des  Menschen  in  der  Natur" 
gelöst,  diese  „Frage  aller  Fragen  für  die  Menschheit''  —  wie  sie 
Huxley  mit  Recht  nennt  —  „das  Problem,  welches  allen  übrigen 
zugrunde  liegt,  und  welches  tiefer  interessiert  als  irgend  ein  anderes." 
In  der  Tat  ist  dieses  Problem  von  so  fundamentaler  theoretischer 
Wichtigkeit  für  die  gesamte  menschliche  Wissenschaft,  von  so  un- 
ermeßlicher praktischer  Bedeutung  für  das  gesamte  menschliche 
Leben,  daß  wir  nicht  umhin  kömien,  am  Schlüsse  unserer  all- 
gemeinen Entwickelungsgeschichte  einen  Blick  auf  dasselbe  zu 
werfen.  Denn  nur  allein  vom  Standpunkte  der  Deszendenz- 
theorie und  der  durch  diese  begründeten  Entwickelungs- 
geschichte kann  diese  Frage  wissenschaftlich  gelöst 
werden,  und  ist  dieselbe  bereits  in  den  letzten  Jahren  auf  den 
Weg  ihrer  definitiven  Lösung  geführt  worden.  Zwar  gehört  sie 
eigentHch  in  das  Gebiet  der  speziellen  Entwickelungsgeschichte; 
indessen  wird  ihr  ungeheures  Gewicht  und  der  Umstand,  daß  die 
allgemeine  Entwickelungsgeschichte  zunächst  den  festen  Boden  für 


414  Die  Stellung  des  Mensclien  in  der  Natur.  XXVII. 

(leren  Entscheidung  liefert,  es  gewiß  genügend  rechtfertigen,  daß  wir 
derselben  hier  einen  besonderen,  wenn  aucli  ganz  aphoristisch  ge- 
haltenen Abschnitt  widmen. 

Darwin  selbst  hat  in  seinem  epochemachenden  Werke  die 
Anwendung  seiner  Theorie  auf  die  Menschen  nicht  gemaclit.  in 
weiser  Voraussicht  der  Aufnahme,  welche  dieselbe  finden  würde. 
Sicherlich  würde  die  durch  sein  Werk  reformierte  Deszendenztheorie 
gleich  von  Anfang  an  noch  weit  mehr  Widerstand  und  Anfeindung 
gefunden  haben,  wenn  sogleich  jene  wichtigste  Folgerung  in  das- 
selbe mit  aufgenommen  worden  wäre.  Dagegen  wurde  diese  Lücke 
schon  wenige  Jahre  nach  dem  Erscheinen  von  Darwins  Werke 
durch  x\rbeiten  von  mehreren  der  hervorragendsten  Zoologen  aus- 
gefüllt, unter  denen  wir  hier  insbesondere  Huxley  und  Karl  Vogt 
hervorzuheben  haben  (1863). 

Es  ist  unbestritten,  und  es  ist  auch  noch  von  allen  freidenkenden 
nnd  konseciuent  schließenden  Naturforschern,  sowohl  von  den  Geg- 
nern als  von  den  Anhängern  der  Deszendenztheorie,  jetzt  allgemein 
anerkannt,  daß  unter  allen  umständen  die  Abstammung  des  Menschen- 
geschlechts von  niederen  Wirbeltieren,  und  zwar  zunächst  von 
affenartigen  Säugetieren  deren  notwendige  und  unvermeidhche 
Konsequenz  ist.  Gerade  wegen  dieser  Konsequenz,  welche  mit  den 
Vorurteilen  der  meisten  Menschen  unvereinbar  ist,  sind  viele  zu 
Gegnern  der  Deszendenztheorie  geworden,  welche  an  und  für  sich 
derselben  geneigt  sein  w^ürden. 

Die  Deszendenztheorie  ist  ein  allgemeines  Induktions- 
gesetz, welches  sich  aus  der  vergleichenden  Synthese  aller 
organischen  Naturerscheinungen  und  insbesondere  aus  der 
dreifachen  Parallele  der  phyletischen,  biontischen  und 
systematischen  Entwickelung  mit  absoluter  Notwendigkeit 
ergibt.  Der  Satz,  daß  der  Mensch  sich  aus  niederen  Wirbel- 
tieren und  zw^ar  zunächst  aus  echten  Affen  entwickelt  hat, 
ist  ein  spezieller  Deduktionsschluß,  w^elcher  sich  aus  dem 
generellen  Induktionsgesetz  der  Deszendenztheorie  mit 
absoluter  Notwendigkeit  ergibt. 

Diesen  Stand  der  Frage  „von  der  Stellung  des  Menschen  in  der 
Natur"  glauben  wir  nicht  genug  hervorheben  zu  können.  Wenn  über- 
haupt die  Deszendenztheorie  richtig  ist,  so  ist  die  Theorie  von  der 
Entwickelung  des  Menschen  aus  niederen  Wirbeltieren  weiter  nichts 
als  ein   unvermeidlicher  einzelner  Deduktionsschluß  aus  jenem   all- 


XXVJl.  Die  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur.  415 

gemeinen  Induktionsgesetz.  Es  können  daher  auch  alle  weite- 
ren Entdeckungen,  welche  in  Zukunft  unsere  Kenntnisse 
über  die  phyletische  Entwickelung  des  Menschen  noch  be- 
reichern werden,  nichts  weiter  sein,  als  spezielle  Verifi- 
kationen jener  Deduktion,  die  auf  der  breitesten  induk- 
tiven Basis  ruht.  Denn  in  der  Tat  ist  es  die  Summe  aller 
bekannten  Erscheinungen  in  der  organischen  Morphologie,  auf  welche 
wir  jenes  große  Induktionsgesetz  der  Deszendenztheorie  gründen, 
und  jene  spezielle  Folgerung  aus  demselben  ist  ebenso  sicher,  als 
irgend  eine  andere  Deduktion.  Ebenso  sicher,  als  wir  schheßen, 
daß  alle  von  uns  gezüchteten  Pferderassen  Nachkommen  einer  ge- 
meinsamen Stammform,  daß  alle  Huftiere  Epigonen  eines  und  des- 
selben Stammvaters,  daß  alle  Säugetiere  Deszendenten  eines  und  des- 
selben Mammalienstammes  sind,  vollkommen  ebenso  sicher  schließen 
wir  auch,  daß  das  Menschengeschlecht  nichts  weiter  als  eines  der 
kleinsten  und  jüngsten  Ästchen  dieses  formenreichen  Stammes  ist. 
Was  die  speziellen  Abstammungsverhältnisse  des  Menschen- 
geschlechts von  der  Affenordnung  betrifft,  so  haben  wir  dieselbe 
auf  die  systematische  Stellung  des  Menschen  in  der  Ordnung  der 
Affen  begründet.  Die  Phylogenie  der  Wirbeltiere,  soweit  sie 
sich  durch  die  Paläontologie  empirisch  begründen  und  durch  den 
Parallelismus  der  embryologischen  und  systematischen  Entwickelung 
ergänzen  läßt,  ergibt  folgende 

Ahnenreilie  des  Menschen. 

1.  Leptokardier  oder  Akranier;  dem  AmpMoxus  näclistverwandte  Wirbel- 
tiere, ohne  Gehirn,  ohne  Schädel  und  ohne  zentralisiertes  Herz  (in  der 
archozoischen  Zeit,  vor  der  Silurzeit). 

2.  Selachier  oder  Urfische.  und  zwar  speziell  den  Squalaceen  oder 
Haifischen  nächstverwandte  Fische  (zu  Ende  des  archozoischen  und  im 
Beginne  des  paläozoischen  Zeitalters,  in  der  Silur-  und  Devonzeit). 

3.  Amphibien,  und  zwar  früher  den  kiementragenden  Sozobranchien 
oder  Perennibranchien  (Prof ejfs,  >S'ireH),  später  den  kiemenlosen  Sozuren 
oder  Salamandern  {Triton.  Salamandra)  nächstverwandte  Amphibien 
(während  des  größten  Teiles  der  paläozoischen  Zeit). 

4.  Amnioten  von  unbekannter  Form,  welche  den  Übergang  von  den  kienien- 
losen  Amphibien  (Sozuren)  zu  den  niedersten  Säugetieren  (Ornithodel2)hien) 
vermittelten  (zu  Ende  des  paläozoischen  oder  im  Beginne  des  mesozoischen 
Zeitalters). 

ö.  Ornithodelphien  oder  Monotremen  von  unbekannter  Form,  den 
niedersten  jetztlebenden  Säugetieren,  Ornithorht/nchus  und  EcMdna  nächst- 
verwandt (im  Beginne  der  Sekundärzeit:  Triasperiode). 


416  Die  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur.  XXVII. 

G.  Didelphien  oder  Marsupialien,  ausgestorbene  Beuteltiere,  und  zwar 
wahrscheinlich  den  Beutelratten  {D'ulelphijs)  nächstverwandte  Formen 
(während  des  größten  Teiles,  vielleicht  während  der  ganzen  Sekundärzeit). 

7.  Monodelphien  von  unbekannter  Form,  Piacentalien  ohne  Dezidua,  welche 
den  Übergang  von  den  Didelphien  zu  den  Primaten  und  zwar  speziell  zu 
deren  Stammgruppe,  den  Prosimien  vermittelten  (gegen  Ende  der  Sekundär- 
zeit oder  in  der  ältesten  Eocaenzeit). 

8.  Prosimien  oder  Halbaffen  (Hemipitheken),  den  jetzt  lebenden  Lemuren 
(Lemur,   Stenops  etc.)  nächstverwandt  (während  der  ältesten  Eocaenzeit). 

9.  Katarrhinen  oder  schmalnasige  Affen,  und  zwar  zunächst  Menocerken, 
den  heutigen  Anasken  {Semnopithecus,  Colobus)  nächstverwandt,  mit  Schwanz 
und  mit  Gesäßschwielen  (während  der  Eocaen-  oder  Miocaenzeit). 

10.  Anthropoiden,  d.h.  Katarrhinen  ohne  Schwanz,  den  heutigen  Menschen- 
affen nächstverwandte  Affen,  und  zwar  früher  Tylogluten  (H//Jobates 
ähnlich)  mit  Gesäßschwielen,  später  Lipotylen  (Gorilla  ähnlich),  ohne  Ge- 
säßschwielen (während  der  mittleren  und  neueren  Tertiärzeit). 

Wir  können  hier  nicht  auf  eine  Widerlegung  der  heftigen  An- 
griffe eingelien.  welche  die  unvermeidliche  Anwendung  der  Deszen- 
denztheorie auf  die  Entstehung  des  Menschen  hervorgerufen  hat 
und  bei  dem  gegenwärtigen  niederen  Bildungsgrade  der  sogenannten 
„Kulturvölker"  notwendig  hervorrufen  mußte.  Glücklicherweise  sind 
die  meisten  dieser  Angriffe  entweder  so  ohne  alle  biologische  Tat- 
sachenkenntnis oder  so  ohne  allen  logischen  Verstand  geschrieben, 
daß  sie  einer  ernstlichen  Widerlegung  kaum  bedürfen.  Interessant  und 
lehrreich  ist  dabei  nur  der  Umstand,  daß  besonders  diejenigen  Menschen 
über  die  Entdeckung  der  natürlichen  Entwickehmg  des  Menschen- 
geschlechts aus  echten  Affen  am  meisten  empört  sind  und  in  den  hef- 
tigsten Zorn  geraten,  welche  offenbar  hinsichtlich  ihrer  intellektuellen 
Ausbildung  und  cerebralen  Differenzierung  sich  bisher  noch  am  wenig- 
sten von  unsern  gemeinsamen  tertiären  Stammeltern  entfernt  haben. 

Viele  Menschen  haben  in  der  Aufstellung  des  natürlichen  Stamm- 
baums unseres  Geschlechts  eine  „Entwürdigung"  des  Menschen  finden 
wollen  und  weisen  mit  Abscheu  die  Affen,  Amphibien  und  Haifische 
als  ihre  uralten  Vorfahren  zurück.  Wir  unsererseits  können  in  der 
Erkenntnis  dieser  Abstammung  umgekehrt  nur  die  höchste  Ehre 
und  Verherrlichung  des  Menschengeschlechts  erblicken.  Denn  was 
kann  es  für  den  Menschen  Erhebenderes  geben  und  worauf  kann  er 
stolzer  sein,  als  auf  die  Tatsache,  daß  er  in  der  unendlich  kompli- 
zierten Entwickelungs-Konkurrenz,  in  welcher  sich  die  Organismen 
seit  Milliarden  von  Jahrtausenden  befinden,  sich  von  der  niedrigsten 
Organisationsstufe  zur  höchsten  von   allen   erhoben,   alle   seine  Ver- 


XXVII.  Diß  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur.  417 

wandten  überflügelt  und  sich  zum  Herrn  und  Meister  über  die  ganze 
Natur  erhoben  hat;  daß  er  Haifische  und  Salamander,  Beuteltiere 
und  Halbaffen  so  weit  hinter  sich  gelassen  hat,  daß  in  der  Tat 
nichts  weiter  in  der  gesamten  organischen  Natur  mit  diesem  Ent- 
wickelungs -Triumphe  zu  vergleichen  ist! 

Obgleich  alle  somatischen  und  psychischen  Differenzen  zwischen 
dem  Menschen  und  den  übrigen  Tieren  nitr  c|uantitativer,  nicht  quali- 
tativer Natur  sind,  so  erscheint  dennoch  die  Kluft,  w^elche  ihn  von 
jenen  trennt,  als  höchst  bedeutend.  Dieser  Umstand  ist  nach  unserer 
Ansicht  vorzugsw^eise  darin  begründet,  daß  der  Mensch  in  sich 
mehrere  hervorragende  Eigenschaften  vereinigt,  welche 
bei  den  übrigen  Tieren  nur  getrennt  vorkommen.  Als  solche 
Eigenschaften  von  der  höchsten  Wichtigkeit  möchten  war  namentlich 
vier  hervorheben,  nämlich  die  höhere  Differenzierungsstufe  des  Kehl- 
kopfs (der  Sprache),  des  Gehirns  (der  Seele)  und  der  Extremitäten, 
und  endlich  den  aufrechten  Gang.  Alle  diese  Vorzüge  kommen  einzeln 
auch  anderen  Tieren  zu:  die  Sprache,  als  Mitteilung  artikuKerter 
Laute,  vermögen  Vögel  (Papageien  etc.)  mit  hoch  differenziertem 
Kehlkopf  und  Zunge  ebenso  vollständig  als  d-^r  Mensch  zu  erlernen. 
Die  Seelentätigkeit  steht  bei  vielen  höheren  Tieren  (insbesondere 
bei  Hunden.  Elefanten,  Pferden)  auf  einer  höheren  Stufe  der  Aus- 
bildung als  bei  den  niedersten  Menschen.  Die  Hände  sind  als 
ausgezeichnete  mechanische  Werkzeuge  bei  den  höchsten  Affen  schon 
ebenso  entwickelt  w4e  bei  den  niedersten  Menschen.  Den  auf- 
rechten Gang  endlich  teilt  der  Mensch  mit  dem  Gibbon,  Känguruh, 
Pinguin  und  einigen  anderen  Tieren.  Die  Lokomotionsfähigkeit  ist 
außerdem  bei  sehr  vielen  Tieren  vollkommener  und  höher  als  beim 
Menschen  entwickelt.  Aber  der  Mensch  ist  das  einzige  Tier,  w^elches 
alle  diese  ätißerst  wichtigen  Eigenschaften  in  einer  Person  ver- 
einigt und  gerade  dadurch  sich  so  hoch  über  seine  nächsten  Ver- 
wandten emporgeschwungen  hat.  Es  ist  also  lediglich  die  glück- 
liche Kombination  eines  höheren  Entwickelungsgrades  von 
mehreren  sehr  wichtigen  tierischen  Organen  und  Funk- 
tionen, welche  die  meisten  Menschen  (nicht  alle!)  so  hoch 
über  alle  Tiere  erhebt.  Dadurch  wird  aber  die  Tatsache  ihrer  Ab- 
stammung von  echten  Affen  in  keiner  Weise  alteriert.  Der  Mensch 
hat  sich  ebenso  aus  Affen,  wie  diese  aus  niederen  Säuge- 
tieren entwickelt. 


Haefkel.    Prinz,  d.  Morphol.  27 


AclitundzwarLzigstes  Kapitel. 

Die  Anthropologie  als  Teil  der  Zoologie. 

„Der  Erdenkreis  ist  mir  genug  bekannt; 
Nach  drüben  ist  die  Aussicht  uns  verrannt. 
Thor,  wer  dorthin  die  Augen  bhnzend  richtet, 
Sich  über  Wolken  seinesgleichen  dichtet ! 
Er  stehe  fest  und  sehe  hier  sich  um; 
Dem  Tüchtigen  ist  diese  Welt  nicht  stumm. 
Was  braucht  er  in  die  Ewigkeit  zu  sehweifen? 
Was  er  erkennt,  läßt  sich  ergreifen! 
Er  wandle  so  den  Erdentag  entlang; 
Wenn  Geister  spuken,  geh'  er  seinen  Gang; 
Im  Weiterschreiten  find"   er  Qual  und  Glück, 
Er,  unbefriedigt  jeden  Augenblick. 
Ja!  diesem  Sinne  bin  ich  ganz  ergeben. 
Das  ist  der  Weisheit  letzter  Schluß; 

Nur   der  verdient    sich   Freiheit   wie    das  Leben, 
Der  täglich  sie  erobern  muß." 

Goethe  (Faust). 

Die  vollständige  Umwälzung,  welche  die  Deszendenztheorie  und 
ihre  spezielle  Anwendung  auf  den  Menschen  in  allen  menschlichen 
Wissenschaften  hervorrufen  wird,  verspricht  nirgends  fruchtbarer 
und  segensreicher  zu  wirken,  als  auf  dem  Gebiete  der  Anthropologie. 
Erst  seitdem  die  Abstammung  des  Menschen  vom  Affen, 
seine  allmähliche  Entwickelung  aus  niederen  Wirbeltieren,  durch  die 
Deszendenztheorie  festgestellt,  erst  seitdem  dadurch  die  „Stellung 
des  Menschen  in  der  Natur"  ein  für  allemal  bestimmt  ist,  erscheint 
der  Bauplatz  abgesteckt,  auf  welchem  das  Lehrgebäude  der  wissen- 
schaftlichen Anthropologie  errichtet  werden  kann. 

Da  der  Mensch  nur  durch  quantitative,  nicht  durch  qualitative 
Differenzen  von  den  übrigen  Tieren  getrennt  ist,  da  er  seinem  Baue, 
seinen  Funktionen,  seiner  Entwickelung  nach  sich  weniger  von  den 
höheren  Tieren  entfernt,  als  diese  von  den  niederen,  so  wird  auch 
dieselbe  Methode,  durch  welche  wir  die  Erkenntnis  der  übrigen 
Tiere  erwerben,  uns  bei  unserm  Streben  nach  Erkenntnis  des 
Menschen  leiten   müssen.     Diese  Methode  ist  nicht  verschieden  von 


XXVIII.  Die  Anthropologie  als  Teil  der  Zoologie.  419 

derjenigen  aller  anderen  Naturwissenschaften,  wie  wir  sie  im  4.  Ka- 
pitel erläutert  haben.  Die  Modifikationen  der  Erkenntnismethode, 
Avelche  durch  die  eigentümliche  Natur  des  tierischen  Organismus 
bedingt  sind,  werden  ebenso  in  der  Anthropologie  ihre  Anwendung 
finden;  es  wird  also  auch  hier  in  erster  Linie  die  Entwickelungs- 
geschichte  der  rote  Faden  sein,  welcher  uns  als  unentbehrlicher 
Führer  durch  das  weite  Gebiet  der  mannigfaltigen  und  verwickelten 
Erscheinungen  hindurch  leiten  muß.  Wie  uns  die  vergleichende 
Ontogenie  und  Phylogenie,  die  individuelle  und  die  paläontologische 
Entwickelungsgeschichte  des  Menschen,  zur  Erkenntnis  seiner  Ab- 
stammung von  den  Affen  geführt  hat,  so  müssen  wir  ihrer  Leitung 
auch  auf  allen  einzelnen  Gebieten  der  Anthropologie  folgen.  Und  da 
für  alle  biologischen,  sowohl  physiologischen  als  morphologischen 
Untersuchungen  die  Vergleichung  der  verwandten  Erschei- 
nungen unerläßlich  ist,  so  werden  wir  auch  zur  wissenschaftlichen 
Anthropologie  nur  durch  das  intensivste  und  extensivste  Studium 
der  vergleichenden  Zoologie  gelangen. 

Da  die  Anthropologie  nichts  anderes  ist,  als  ein  einzelner  Spezial- 
zweig  der  Zoologie,  die  Naturgeschichte  eines  einzelnen  tierischen 
Organismus,  so  wird  diese  Wissenschaft  natürlich  auch  in  alle  die 
untergeordneten  Wissenschaften  zerfallen,  aus  welchen  sich  die  ge- 
samte Zoologie  zusammensetzt.  Es  wird  also  zunächst  die  Anthropo- 
logie als  die  Gesamtwissenschaft  vom  Menschen  in  die  beiden  Haupt- 
zweige der  menschlichen  Morphologie  und  Physiologie  zerfallen, 
von  denen  jene  die  gesamten  Formverhältnisse,  diese  die  gesamten 
Lebenserscheinungen  des  menschlichen  Organismus  zu  erforschen  hat. 
Die  Morphologie  des  Menschen  spaltet  sich  wiederum  in  die  beiden 
Zweige  der  menschlichen  Anatomie  und  der  menschlichen  Ent- 
wickelungsgeschichte, zu  welcher  letzteren  nicht  bloß  die  Embryo- 
logie des  Menschen,  sondern  auch  seine  Paläontologie,  sowie  die 
Völkergeschichte  oder  die  sogenannte  „Weltgeschichte"  gehört.  Die 
Physiologie  des  Menschen  andererseits  zerfällt  in  die  beiden  Zweige 
der  Konservationsphysiologie  und  der  Relationsphysiologie 
des  Menschen;  erstere  hat  alle  auf  die  menschliche  Ernährung 
und  Fortpflanzung  bezüglichen  Verhältnisse,  letztere  die  Beziehungen 
seiner  einzelnen  Körperteile  zueinander  (Physiologie  der  Nerven  und 
Muskeln  etc.),  sowie  seine  Beziehungen  zur  Außenwelt  (Ökologie 
und  Geographie  des  Menschen)  zu  untersuchen.  In  diese  vier  Haupt- 
zweige der  Anthropologie  lassen  sich  sämtliche  Wissenschaften,  w^elche 

27* 


420  I^'ß  Anthropologie  als  Teil  der  Zoologie.  XXVIII. 

überhaupt  von  menscliliclien  Verhältnissen  handehi  (insbesondere  auch 
alle  sogenannten  moralischen,  politischen,  sozialen  und  historischen 
Wissenschaften,  die  Ethnographie  etc.)  einordnen,  und  die  Methoden 
ihrer  Behandlung  müssen  dieselben  sein,  wie  in  der  übrigen  Zoologie 
und  wie  in  der  Biologie  überhaupt. 

Von  allen  Zweigen  der  Anthropologie  wird  keiner  so  sehr  von 
der  Deszendenztheorie  betroffen  und  umgestaltet,  als  die  Psycho- 
logie oder  Seelenlehre,  jener  schwierige  Teil  der  Physiologie,  welcher 
von  den  Bewegungserscheinungen  im  Zentralnervensystem  handelt. 
Auf  keinem  Gebietsteile  der  Anthropologie  sind  Vorurteile  aller  Art 
so  mächtig  und  so  allgemein  herrschend,  als  auf  diesem,  und  auf 
keinem  wird  die  Deszendenztheorie  größere  Fortschritte  bewirken, 
als  hier.  Nichts  beweist  dies  so  sehr,  als  der  Umstand,  daß  man 
noch  heutzutage  fast  allgemein  die  Seelenerscheinungen  von  allen 
übrigen  physiologischen  Funktionen  unterscheidet,  und  daß  man  die 
menschliche  Seele  als  etwas  ganz  Besonderes  hinstellt,  was  aller 
Analogie  in  der  übrigen  organischen  Natur  entbehren  soll.  Und 
doch  gehorcht  auch  das  Seelenleben  des  Menschen  ganz  denselben 
Gesetzen,  wie  das  Seelenleben  der  höheren  Tiere,  und  ist  von  diesem 
nur  quantitativ,  nicht  qualitativ  verschieden.  Wie  alle  übrigen 
komplizierten  Erscheinungen  an  den  höheren  Organismen,  so  kann 
auch  die  Seele,  als  die  komplizierteste  und  höchste  Funktion  von 
allen,  nur  dadurch  wahrhaft  verstanden  und  in  ihrem  innersten 
Wesen  erkannt  werden,  daß  wir  sie  mit  den  einfacheren  und  un- 
vollkommeneren Erscheinungen  derselben  Art  bei  den  niederen  Orga- 
nismen vergleichen,  und  daß  wir  ihre  allmähliche  und  stufenweise 
Entwickelung  Schritt  für  Schritt  verfolgen.  Wie  wir  schon  oben 
bemerkten,  müssen  wir  hier  überall  nicht  bloß  auf  die  biontische, 
sondern  auch  auf  die  phyletische  Entwickelung  zurückgehen. 
Wir  müssen  also,  um  das  hoch  differenzierte,  feine  Seelenleben  des 
Kulturmenschen  richtig  zu  verstehen,  nicht  allein  sein  allmähliches 
Erwachen  im  Kinde  zu  Rate  ziehen,  sondern  auch  seine  stufenweise 
Entwickelung  bei  den  niederen  Naturmenschen,  und  bei  den 
Wirbeltieren,  aus  denen  sich  diese  zunächst  entwickelt  haben. 

Die  eigentliche  Natur  der  tierischen  Seele  haben  wir  bereits 
im  7.  Kapitel  gelegentlich  erörtert.  Wenn  wir  hier  auf  das  dort 
Gesagte  zurückkommen  und  nun  mit  Rücksicht  auf  die  daselbst  ge- 
gebene Erläuterung  der  wichtigsten  psychischen  Funktionsgruppen, 
des  Empfindens,  Wollens  und  Denkens,    menschliche  und  tierische 


XXVIII.  Die  Anthroi)ologie  als  Teil  der  Zoologie.  421 

Psyche  objektiv  und  unbefangen  vergleichen,  so  kommen  wir  überall 
unausweichlich  zu  dem  Resultate,  daß  nur  quantitative,  nicht  quah- 
tative  Differenzen  auch  in  dieser  Beziehung  den  Menschen  vom 
Tiere  trennen.  Natürlich  dürfen  wir,  um  hier  zu  reinen  Resultaten 
zu  gelangen,  nicht  den  gänzlich  verkehrten  Weg  der  spekulativen 
Philosophen  von  Fach  gehen,  welche  ihr  hoch  diiferenziertes  eigenes 
Gehirn  als  einziges  empirisches  Untersuchungsmaterial  benutzen  und 
daraus  die  Psychologie  des  Menschen  konstruieren  wollen.  Vielmehr 
müssen  wir  vor  allem  auf  die  vergleichende  Psychologie  der 
Kinder,  der  Geistesarmen,  der  Geisteskranken  und  der  niederen 
Menschenrassen  zurückgehen,  und  wir  müssen  deren  ganzes  Seelen- 
leben mit  demjenigen  der  höchst  entwickelten  Tiere  vergleichen,  um 
uns  hier  ein  richtiges  und  objektives  Urteil  zu  erwerben.  Wenn  wir 
dies  mit  unbefangenem  Blicke  tun,  so  gelangen  wir  auf  dem  psycho- 
logischen Gebiet  zu  demselben  hochwichtigen  Resultat,  welches  die 
Physiologie  bereits  für  alle  anderen  Lebenserscheinungen,  die  ver- 
gleichende Morphologie  für  die  Formverhältnisse  festgestellt  hat: 
daß  die  Unterschiede  zwischen  den  niedersten  Menschen 
und  den  höchsten  Tieren  nur  quantitativer  Natur  und  viel 
geringer  sind,  als  die  Unterschiede  zwischen  den  höheren 
und  den  niederen  Tieren.  Mit  Bezug  auf  alle  einzelnen  Seelen- 
erscheinungen können  wir  selbst  den  Satz  dahin  formulieren,  daß 
die  Unterschiede  zwischen  den  höchsten  und  den  nieder- 
sten Menschen  größer  sind,  als  diejenigen  zwischen  den 
niedersten  Menschen  und  den  höchsten  Tieren. 

Von  den  einzelnen  Bewegungserscheinungen  im  Zentralnerven- 
system, welche  man  gewöhnhch  als  Seele  zusammenfaßt,  wollen 
wir  hier  nur  auf  die  wichtigsten  einen  flüchtigen  Blick  werfen.  Der 
Wille  ist  bei  den  höheren  Tieren  ganz  ebenso  wie  beim  Menschen 
entwickelt,  häufig  an  Intensität  und  Beweglichkeit  letzterem  über- 
legen. Der  Wille  ist  bei  den  Menschen  ebenso  wie  bei  den  Tieren 
niemals  wirklich  frei,  vielmehr  in  allen  Fällen  durch  kausale 
Motive  mit  Notwendigkeit  bedingt.  Die  Empfindung  ist  bei 
den  edelsten  Tieren  ebenso  wie  beim  Menschen,  oft  aber  zarter  und 
feiner  entwickelt.  Selbst  die  edelsten  und  schönsten  aller  mensch- 
lichen Gemütsregungen,  die  Gattenliebe,  die  MutterHebe,  die  Freund- 
schaft, die  Nächstenhebe,  sind  bei  vielen  Tieren  zu  einem  höheren 
Grade  als  bei  vielen  Menschen  entwickelt.  Die  Zärthchkeit  der 
„Inseparables",  bei  denen  der  Tod  des   einen  Gatten   stets  den  des 


42  2  Diß  Anthropologie  als  Teil  der  Zoologie.  XXVlll. 

anderen  nach  sich  zieht,  die  Mutterliebe  der  Löwin  und  der  Elefantin, 
die  Treue  und  die  Aufopferuni^sfähigkeit  der  Hunde  und  Pferde  ist 
sprichwörtlich  geworden  und  kann  leider  der  großen  Mehrzahl  der 
Menschen  als  Muster  dienen.  Die  moralischen  Regungen  des  Mit- 
leids, des  Gewissens  etc.  sind  bei  Hunden  und  Pferden  bekanntlich 
ebenfalls  oft  sehr  entwickelt,  und  mehr  als  bei  vielen  Menschen, 
ebenso  die  Leidenschaften  des  Ehrgeizes,  der  Eitelkeit  etc.  Selbst 
die  Laster  der  Lüge  und  Heuchelei,  welche  einen  Grundzug  der 
neueren  Kultur  bilden,  finden  wir  bei  den  am  meisten  kultivierten 
Haustieren,  insbesondere  den  Hunden,  ebenso  wie  beim  Menschen 
entwickelt.  Hier  wie  dort  gibt  es  böse  und  gute,  falsche  und  treue 
Individuen. 

In  der  Tat  sind  die  Vorstellungen  der  Empfindung  und  des 
Willens  bei  vielen  der  höheren  Tiere  so  hoch  differenziert,  daß  sie 
diesen  nur  selten  abgesprochen  worden  sind.  Anders  verhält  es  sich 
aber  mit  der  Funktion  des  Denkens,  der  Gedankenbildung,  jenen 
höchsten  und  verwickeltsten  Vorstellungen  der  tierischen  Seele,  welche 
wahrscheinlich  immer  durch  eine  höchst  komplizierte  Wechselwirkung 
zahlreicher  zentrifugaler  und  zentripetaler  Erregungen  erzeugt  werden. 
Die  Gedankenbildung  wird  merkwürdigerweise  den  Tieren  sehr 
allgemein  abgesprochen,  während  doch  in  der  Tat  nichts  leichter  ist, 
als  sich  durch  objektive  Beobachtung  zu  überzeugen,  daß  die  Ge- 
setze des  Denkens  bei  den  höheren  Tieren  und  beim  Men- 
schen durchaus  dieselben  sind,  und  daß  die  Induktionen  und 
Deduktionen  hier  wie  dort  durchaus  in  der  gleichen  Weise  gebildet 
werden.  Auch  in  dieser  Frage  stoßen  wir  wiederum  auf  die  heftigste 
Opposition  gerade  bei  denjenigen  Menschen,  welche  durch  ihre  un- 
vollkommenere Verstandsentwickelung  oft  selbst  hinter  den  höheren 
Tieren  zurückbleiben.  Dies  gilt  nicht  allein  von  den  niederen  Menschen- 
rassen, sondern  auch  von  vielen  Individuen  der  höchsten  Rassen,  und 
selbst  von  solchen,  bei  denen  man  vermuten  sollte,  daß  die  Masse 
erworbener  Kenntnisse  ihr  Denkvermögen  geschärft  habe. 

Das  geistige  Leben  wird  also  ebenso  wie  das  körperliche  bei 
den  Tieren  von  denselben  Naturgesetzen  regiert  wie  beim  Menschen. 
Dagegen  ist  die  Stufenleiter  der  psychischen  Entwickelung  innerhalb 
des  Tierreiches  außerordentlich  viel  mannigfaltiger  differenziert  und 
erstreckt  sich  vom  Nullpunkt  der  Reflexion  bis  zu  ihrer  höchsten 
Potenzierung.  Gerade  für  das  richtige  Verständnis  der  Entwicke- 
lung neuer  Funktionen    durch   Differenzierung   ist    die  ver- 


XXVIII.  Die  Anthropologie  als  Teil  der  Zoologie.  423 

gleichende  Seelenlehre  der  Tiere  vom  höchsten  Interesse  und  für  die 
wissenschaftHche  Psychologie  des  Menschen  ganz  unentbehrlich. 

Wie  mit  dem  Seelenleben  im  ganzen,  so  verhält  es  sich  auch 
mit  allen  einzelnen  Teilen  desselben.  Alle  werden  bei  Menschen  und 
Tieren  durch  dieselben  Naturgesetze  regiert,  und  alle  psychischen 
Funktionen  und  die  daraus  hervorgehenden  Institutionen  des  mensch- 
lichen Lebens  haben  sich  erst  aus  den  entsprechenden  Funktionen 
der  Vorfahren  des  Menschen,  zunächst  insbesondere  der  Affen,  all- 
mählich heraufgebildet.  Ganz  besonders  gilt  dies  auch  von  allen 
staatlichen  und  sozialen  Einrichtungen  der  menschlichen 
Gesellschaft.  Wir  finden  die  Anfänge,  und  zum  Teil  vollkommenere 
Stufen  derselben,  bei  den  Tieren  und  oft  selbst  bei  weit  vom  Menschen 
entfernten  Tieren  wieder,  wie  z.  B.  bei  den  Insekten  (Ameisen).  Auch 
für  das  Verständnis  dieser  höchst  verwickelten  Erscheinungen  ist  das 
vergleichende  Studium  derselben  bei  den  Tieren  unerläßlich,  und  die 
Staatsmänner,  die*Volkswirtschaftslehrer.  die  Geschichtsschreiber  der 
Zukunft  werden  vor  allem  vergleichende  Zoologie,  d.  h.  ver- 
gleichende Morphologie  und  Physiologie  der  Tiere  als  unerläßliche 
Grundlage  studieren  müssen,  wenn  sie  zu  einem  wahrhaft  natur- 
gemäßen Verständnisse  der  entsprechenden  menschlichen  Erschei- 
nungen gelangen  wollen. 

Die  interessantesten,  wichtigsten  und  lehrreichsten  Erscheinungen 
des  organischen  Lebens  versprechen  auf  diesem  noch  fast  ganz  unkulti- 
vierten Wissenchaftsgebiete  eine  bisher  ungeahnte  Fülle  der  reichsten 
Ausbeute.  Die  zoologisch  gebildeten  und  vergleichend  untersuchenden 
Psychologen  der  Zukunft  werden  hier  eine  Ernte  halten,  von  der  sich 
die  erfahrungslosen  Psychologen  der  scholastischen  Spekulation  bis- 
her nichts  haben  träumen  lassen.  In  noch  weit  höherem  Maße,  als 
die  ., vergleichende  Anatomie"  der  Tiere  die  früher  ausschließlich 
kultivierte  .,rein  menschliche"  Anatomie  überflügelt  und  dennoch  ihr 
zugleich  ein  unendlich  höheres  Interesse  gegeben  hat,  wird  die  ., ver- 
gleichende Psychologie"  der  Tiere  mit  allen  ihren  Zweigen  die  bis- 
herige „rein  menschliche"  Psychologie  überflügeln  und  sie  zugleich 
zu  einer  ganz  neuen  Wissenschaft  umgestalten. 

Wie  weit  man  aber  noch  allgemein  von  der  richtigen  Erkenntnis 
dieses  Verhältnisses  entfernt  ist,  zeigt  sich  nicht  allein  in  der  gänz- 
lichen Vernachlässigung  der  Tierseelenkunde,  sondern  auch  in  der 
allgemeinen  Unterschätzung  der  psychischen  Differenzierung  des 
Menschen  selbst.    Die  wenigsten  Menschen  wissen  den  unermeßhch 


424  Diß  Anthropologie  als  Teil  der  Zoologie.  XXVIIl. 

weiten  Abstand  zn  schätzen,  welcher  die  höchsten  von  den  tiefsten 
Menschenrassen,  nnd  unter  den  ersteren  wiederum  die  höchst  diffe- 
renzierten Seelen  von  den  wenigst  differenzierten  trennt. 

Die  richtige  Wertschätzung  dieser  äußerst  wichtigen  Verhältnisse 
wird  uns  lediglich  durch  die  vergleichende  En t wickeln ngsge - 
schichte  gelehrt.  Nur  durch  sie  erkennen  wir  die  wahre  Stellung 
des  Menschen  in  der  Natur.  Nur  durch  sie  gewinnen  wir  die  wert- 
volle Überzeugung,  daß  die  Anthropologie  nur  ein  Spezialzweig  der 
Zoologie  ist. 


Zusatz  (1906).     Progonotaxis  des  Menschen. 

Als  ich  vor  vierzig  Jahren  in  der  generellen  Morphologie  den 
ersten  Versuch  unternahm,  die  tierische  Ahnenreihe  oder  ,, Pro- 
gonotaxis" des  Menschen  —  den  Anforderungen*  der  Deszendenz- 
theorie entsprechend  —  zu  ergründen,  erschien  die  Lösung  dieser 
bedeutungsvollen  Aufgabe  viel  schwieriger  und  unsicherer,  als  es 
heute  der  Fall  ist.  Damals  mußte  ich  mich  darauf  beschränken, 
den  Stammbaum  des  Menschen  zunächst  nur  in  der  Reihe  der 
Wirbeltiere  festzustellen  und  die  zehn  Hauptstufen  seiner  Ahnen- 
reihe zu  unterscheiden,  welche  auf  S.  414  aufgeführt  und  heute  fast 
allgemein  als  sicher  begründet  anerkannt  sind  (S.  428 — 429  des 
zweiten  Bandes  der  G.  M.).  Allein  die  wichtige  Frage  vom  ..ersten 
Ursprung  der  Wirbeltiere",  ihrer  Abstammung  von  einer  Reihe 
wirbelloser  Tiere,  erschien  damals  noch  ..in  tiefes  Dunkel  gehüllt". 
(Genealogische  Übersicht  des  natürlichen  Systems,  1.  c.  p.  CXIX). 
Erst  kurze  Zeit  darauf  wurden  die  wichtigen  embryologischen  Ent- 
deckungen bekannt,  welche  die  überraschende  Übereinstimmung  in 
der  Ontogenese  des  Amphioxus  und  der  Ascidia  offenbarten  und  da- 
mit einen  hellen  Lichtstrahl  auf  die  nahe,  bis  dahin  kaum  geahnte 
Stammverwandtschaft  der  Vertehrateii  und   TiinicateM  warfen. 

Erst  dadurch  wurde  es  möglich,  die  Frage  nach  den  wirbel- 
losen Ahnen  der  Wirbeltiere  näher  zu  beantworten  und  hypo- 
thetisch eine  Anzahl  von  Protozoen  und  niederen  Metazoen  als  die 
wahrscheinlichen  Vorfahren  der  ältesten  Vertebraten  zu  bezeichnen. 
Die  weitere  Lösung  dieser  schwierigen  Aufgabe,  die  ich  schon  1868 
in  der  ersten  Auflage  meiner  „Natürlichen  Schöpfungsgeschichte" 
versuchte,   hat  mich  seitdem  ununterbrochen  beschäftigt  und  in  den 


XXVIII.  DiP  Anthropologie  als  Teil  der  Zoologie.  425 

neun  folgenden  Auflagen  dieses  Werkes  ( —  X.  Auflage  1902  — ) 
vielfache  Fortschritte  gemacht.  Am  eingehendsten  jedoch,  und  mit 
besonderer  Rücksicht  auf  die  Stammesgeschichte  jedes  einzelnen 
Organsystems,  habe  ich  dieselbe  in  meiner  Anthropogenie  be- 
handelt, deren  erste  Auflage  1874  erschien.*)  Die  30  Haupt- 
stufen der  Ahnenreihe,  die  hier  unterschieden  wurden,  habe  ich  in 
zwei  Gruppen  geteilt:  die  ältere  Ahnenreihe  umfaßt  die  15  Haupt- 
stufen, die  vor  der  Silurzeit  lebten  und  wegen  Mangels  fester  Skelett- 
teile keine  fossilen  Reste  hinterlassen  konnten  (A.  5  Stufen  von 
Protisten,  B.  6  Stufen  von  wirbellosen  Metazoen,  C  4  Stufen  von 
Monorhinen:  2  Acranier  und  2  Cyclostomen).  Die  jüngere  Ahnen- 
reihe umfaßt  die  15  Hauptstufen  der  Wirbeitierahnen .  welche 
feste,  versteinerungsfähige  Skeletteile  besaßen  und  daher  deutliche 
fossile  Reste  hinterlassen  konnten:  sie  treten  zuerst  in  der  Silurzeit 
auf  (D.  5  Stufen  von  kaltblütigen  niederen  Wirbeltieren:  Fischen, 
Amphibien  und  Reptilien;  E.  3  Stufen  von  älteren  Säugetieren,  aus 
der  Sekundärzeit.  Monotremen,  MarsupiaUen.  Mallotherien;  F.  7  Stufen 
von  Primaten:  Halbaffen,  Affen  und  Menschen).  Die  Begründung 
und  Kritik  dieser  hypothetischen  Progonotaxis  habe  ich  für  weitere 
Kreise  in  dem  Vortrage  gegeben,  den  ich  1898  auf  dem  vierten 
internationalen  Zoologenkongresse  in  Cambridge  hielt:  ..Über  unsere 
gegenwärtige  Kenntnis  vom  Ursprung  des  Menschen''  (Stuttgart,  1905, 
Neunte  Auflg.).  Erläuternde  kritische  Bemerkungen  dazu  aus  neuester 
Zeit  enthalten  die  drei  Vorträge,  die  ich  in  Berlin  (im  April  1905) 
gehalten  habe:  „Der  Kampf  um  den  Entwickelungsgedanken":  I.  Der 
Kampf  um  die  Schöpfung  (Abstammungslehre  und  Kirchenglaube): 
IL  Der  Kampf  uin  den  Stammbaum  (Affenverwandtschaft  und  Wirbel- 
tierstamm): III.  Der  Kampf  um  die  Seele  (Unsterblichkeit  und  Gottes- 
begriff).    (G.  Reimer,  Berlin.) 


*)  Anthropogenie  oder  Entwickelungsgeschichte  des  Menschen.  I.Band: 
Keimesgeschichte  oder  Ontogenie:  II.  Band:  Stammesgeschichte  oder  Phylogenie. 
Leipzig  1874.  Fünfte  umgearbeitete  Auflage  1903.  990  Seiten,  mit  30  Tafeln, 
500  Textfiguren  und  60  genetischen  Tabellen.     (W.  Engelmann.  Leipzig.) 


ACHTES  BUCH. 

DIE  ENTWICKELUNGSGESCHICHTE  DER  ORGANISMEN 
IN  IHRER  BEDEUTUNG  FÜR  DIE  KOSMOLOGIE. 


Bedecke  deinen  HimmeK  Zeus,  mit  Wolkendunst. 

Und  übe.  dem  Knaben  gleich,  der  Disteln  köpft. 

An  Eichen  dicli  und  Bergeshöhn: 

Mußt  mir  meine  Erde  doch  lassen  stehn. 

Und  meine  Hütte,  die  du  nicht  gebaut. 

Und  meinen  Herd,  um  dessen  Glut 

Du  micli  beneidest. 

Ich  kenne  nichts  Ärmeres 

Unter  der  Sonn",  als  euch  Götter! 

Ihr  nähret  kümmerlich 

Von  Opfersteuern  und  Gebetshauch  eure  Majestät 

Und  darbtet,  wären  nicht  Kinder  und  Bettler 

Hoffnungsvolle  Toren. 

Da  ich  ein  Kind  war,  nicht  wußte  wo  aus  noch  ein. 

Kehrt'  ich  mein  verirrtes  Auge  zur  Sonne,   als  wenn  drüber  war" 

Ein  Ohr,  zu  hören  meine  Klage. 

Ein  Herz,  wie  meins,  sich  des  Bedrängten  zu  erbarmen. 

Wer  half  mir  wider  der  Titanen  Übermut? 

Wer  rettete  vom  Tode  mich,  von  Sklaverei? 

Hast  du  nicht  alles  selbst  vollendet,  heilig  glühend  Herz? 

Und  glühtest,  jung  und  gut.  betrogen,  Rettungsdank 

Dem  Schlafenden  da  droben? 

Ich  dich  ehren?    Wofür? 

Hast  du  die  Schmerzen  gelindert  je  des  Beladenen? 

Hast  du  die  Tränen  gestillt  je  des  Geängsteten? 

Hat  nicht  mich  zum  Manne  geschmiedet 

Die  allmächtige  Zeit  und  das  ewige  Schicksal, 

Meine  Herren  und  deine? 

Wähntest  du  etwa,  ich  sollte  das  Leben  hassen. 
In  Wüsten  fliehen,  weil  nicht  alle 
Blütenträume  reiften? 

Hier  sitz"  ich.  forme  Menschen  nach  meinem  Bilde, 

Ein  Geschlecht,  das  mir  gleich  sei. 

Zu  leiden,  zu  weinen. 

Zu  genießen  und  zu  freuen  sich: 

Und  dein  nicht  zu  achten, 

Wie  ich! 

Goethe  (Prometheus;. 


Neunundzwanzigstes  Kapitel. 

Die  Einheit  der  Natur  und  die  Einheit  der  Wissen schaft. 

System  des  Moiiisiims. 


.Xaoli  ewigen,  ehernen 
Großen  Gesetzen 
Müssen  wir  Alle 
Unseres  Daseins 
Kreise  vollenden." 

Goethe. 


Nachdem  wir  versucht  haben,  in  dem  Objekte  unserer  Unter- 
suchung-, in  der  gesamten  organischen  Formenwelt,  die  absolute 
Herrschaft  eines  einzigen,  allumfassenden  Naturgesetzes,  des  all- 
gemeinen Kausalgesetzes,  nachzuweisen,  nachdem  wir  gezeigt 
haben,  daß  alle  Organismen  ohne  Ausnahme,  den  Menschen  mit  in- 
begriffen, diesem  obersten  und  höchsten  Naturgesetze  der  absoluten 
Notwendigkeit  unterworfen  sind,  erscheint  es  am  Schlüsse  unserer 
Darstellung  wohl  nicht  unpassend,  von  dem  so  errungenen  Stand- 
punkte aus  einen  Bhck  auf  unser  Verhältnis  zur  Gesamtnatur,  sowie 
insbesondere  auf  das  Verhältnis  der  organischen  Morphologie  zur 
gesamten  Naturwissenschaft  zu  werfen. 

Kosmos  oder  Weltall  nennen  wir  das  allumfassende  Natur- 
ganze, wie  es  der  Erkenntnis  des  Menschen  zugänglich  ist.  Dieser 
Kosmos  ist  die  Gesamtsumme  aller  Materie  und  aller  Kraft,  da  wir 
uns  als  Menschen  weder  eine  Vorstellung  von  einer  Materie  ohne 
Kraft,  noch  von  einer  Kraft  ohne  Materie  machen  können.  Man 
kann  diesen  Kosmos  oder  Mundus,  das  Universum  (to  -5v),  wie  ihn 
Alexander  von  Humboldt  in  der  großartigsten  Weise  als  Ganzes 
erfaßt  und  dargestellt  hat,  in  einen  siderischen  und  in  einen 
telluri sehen  Teil  zerlegen,  von  denen  der  letztere  sich  bloß  mit 
dem  vom  Menschen  bewohnten  Planeten,  der  Erde,  der  erstere  mit 
dem  gesamten  übrigen,  außerirdischen  Weltall  beschäftigt.  Der 
tellurische  Kosmos  wird  wiederum  in   eine   anorganische  und  in 


430  ßie  Einheit  der  Natur  und  die  Einlieit  der  Wissenschaft.  XXIX. 

eine  organische  Natur  geteilt,  deren  gegenseitige  Beziehungen  wir 
im  5.  Kapitel  ausführlich  erläutert  haben. 

Kosmologie  oder  Weltlehre  können  wir  im  weitesten  Sinne 
die  menschliche  Wissenschaft  vom  Weltall  nennen.  Diese  all- 
umfassende Wissenschaft  ist  zugleich  die  Wissenschaft  xai'  e^o/'z-v. 
da  es  eine  andere  Erkenntnisquelle  als  das  Weltall  oder  die  Gesamt- 
natur nicht  gibt.  Alle  wirklichen  Wissenschaften  sind  also 
entweder  Teile  der  Kosmologie  oder  das  umfassende  Ganze  der 
Kosmologie  selbst.  Der  Einteilung  des  Kosmos  in  siderischen  und 
tellurischen  Teil  entsprechend  kann  man  die  Uranologie  (Hinimels- 
kimde)  und  die  Pangeologie  (Erdkunde  im  weitesten  Sinne  oder 
Gesamtwissenschaft  von  der  Erde)  unterscheiden.  Die  Pangeologie 
ist  ebenso  ein  Teil  der  Kosmologie,  wie  die  Anthropologie  ein  Teil 
der  Biologie.  Die  Pangeologie  zerfällt  wiederum  in  die  beiden  Zweige 
der  anorganischen  Erdwissenschaft  (Abiologie)  und  der  or- 
ganischen Erd  wissen  Schaft  (Biologie),  deren  Verhältnis  zuein- 
ander, sowie  das  ihrer  einzelnen  Zweige  wir  im  2.  Kapitel  erörtert 
haben. 

Die  Materie  und  die  davon  untrennbare  Kraftsumme 
der  Welt  sind  in  Zeit  und  Raum  unbeschränkt,  ewig  und 
unendlich.  Da  aber  ein  ununterbrochenes  Wechselspiel  von  Kräften, 
eine  unbeschränkte  Wechselfolge  und  Gegenwirkung  von  Anziehungen 
und  Abstoßungen  die  Materie  in  beständiger  Bewegung  erhält,  so 
befindet  sich  ihre  Form  in  beständiger  Veränderung.  Während  also 
Stoff  und  Kraft  ewig  und  unendlich  sind,  ist  dagegen  ihre 
Form  in  ewiger  und  unendlicher  Veränderung  (Bewegung) 
begriffen.  Die  Wissenschaft  von  dieser  ewigen  Bewegung  des  Welt- 
alls  kann   als  Weltgeschichte  im   weitesten  Sinne   oder  auch  als 


"ö  ' 


Entwickelungsgeschichte  des  Universums,  als  Kosmosenie  bezeichnet 


'b"b 


w^erden.  Die  Kosmogenie  zerfällt  in  die  beiden  Zweige  der  Urano- 
genie  (welche  Kant  sehr  richtig  die  „Naturgeschichte  des 
Himmels"  nannte)  und  in  die  Geogenie,  die  „Naturgeschichte 
der  Erde"  oder  die  Entwickclimgsgeschichte  der  Erde,  welche  auch 
häufig  mit  dem  mehrdeutigen  Namen  der  „Geologie"  bezeichnet  wird. 
Wenn  wir  von  der  Entwickelungsbewegung  des  Wehalls  als 
solcher  absehen,  und  das  fertige  Resultat  derselben  in  irgend  einem 
Zeitmomente  betrachten,  so  bezeichnen  wir  die  wissenschaftliche 
Kenntnis  dieses  Resultates  passend  als  Weltbeschreibung-  oder 
Kosmographie,  welche  wiederum  in  einen  siderischen  und  telluri- 


XXIX.  l^ie  Einheit  der  Natur  und  die  Einheit  der  Wissenschaft.  431 

sehen  TeiL  in  die  Uranographie  und  in  die  Geographie  zerfällt. 
Diese  Wissenschaften  nehmen  zu  den  vorhergehenden  (zur  Kosmogenie, 
Uranogenie  und  Geogenie)  dieselbe  Stellung  ein,  wie  die  Anatomie 
der  Organismen  zu  ihrer  Entwickelungsgeschichte.  Erst  durch  die 
Erkenntnis  der  letzteren  gelangen  wir  zum  Verständnis  der  ersteren. 
Erst  durch  die  Geschichte  der  Welt  oder  eines  Teiles  derselben  wird 
ihre  Beschreibung  zur  wirklichen  Wissenschaft,  zur  Erkenntnis.^) 
..Xihil  est  m  intcIJecfn,  qiiod  non  ante  fuerit  in  sensu."  Dieser 
Satz  bildet  den  Ausgangspunkt  für  die  richtige  Wertschätzung  unseres 
Erkenntnisvermögens.  .,Homo  naturac  minister  et  interjjres  tantiim 
facit  et  intelligit,  qiiantiim  de  naturae  ordine,  re  et  mente  obser- 
vaverit:  nee  amplius  seit  aut  potest.^^  Mit  diesen  Worten  hat  bereits 
Baco  von  Verulam  den  wichtigsten  Grundsatz  festgestellt,  daß 
alle  menschliche  Erkenntnis  in  letzter  Instanz  sinnlich,  d.h.  a  posteriori 
ist.  Es  gibt  keine  Erkenntnisse  a  priori.  Der  weit  verbreitete 
Irrtum,  daß  solche  existieren,  konnte  nur  auf  einer  falschen  anthropo- 


^)  \Yie  die  gelehrte  Scholastik  des  Mittelalters  noch  vielfach  unsere  An- 
schauungen beherrscht,  zeigt  sich  vielleicht  nirgends  so  auffallend  als  in  der 
üblichen  und  altherge])rachten  Einteilung  der  Wissenschaften,  wie  sie  sich  nament- 
lich auch  in  der  Einteilung  der  Fakultäten  auf  unseren  Universitäten  offenbart. 
Voran  steht  die  Theologie.  Die  wirklich  natürliche  d.h.  wahrheitsgemäße 
Theologie  fällt  zusammen  mit  der  Kosmologie,  oder  was  dasselbe  ist,  mit 
der  Naturphilosophie.  Denn  da  Gott  allmächtig,  da  er  die  Summe  aller 
Kräfte  in  der  Welt  ist.  da  er  das  ganze  Universum  umfaßt,  so  muß  er  auch  in 
allen  Teilen  des  Kosmos  erkennbar  sein,  so  ist  jede  Naturerscheinung  eine 
Wirkung  Gottes,  oder  was  dasselbe  ist,  des  Kausalgesetzes,  und  die  allumfassende 
Naturwissenschaft  ist  zugleich  Gotteserkenntnis.  Die  scholastische  Theologie  da- 
gegen, wie  sie  gewöhnlich  gelehrt  wird,  ist  in  ihrem  historischen  Teile  (als  Ent- 
wickelungsgeschichte der  Glaubensdichtungen)  ein  kleiner  Teil  der  Anthropologie 
und  speziell  der  genetischen  Psychologie;  in  ihrem  dogmatischen  Teile  ist  sie 
keine  Wissenschaft,  da  Dogma  und  Erkenntnis  als  solche  sich  ausschließen.  Zum 
großen  Teile  gehört  die  Theologie  in  das  psychiatrische  Gebiet;  zum  großen  Teile 
ist  sie.  ebenso  wie  die  Jurisprudenz  und  Medizin,  eine  Kunst,  eine  praktische 
Sammlung  von  Kenntnissen  und  Anweisung  zu  deren  Gebrauch,  aber  keine  reine 
Wissenschaft.  Daß  alle  Wissenschaften,  welche  speziell  menschliche  Verhältnisse 
betreffen,  insbesondere  auch  die  historischen,  philologischen,  statistischen  Wissen- 
schaften etc.  Teile  der  Anthropologie  und  mithin  der  Zoologie  sind,  wurde  bereits 
im  vorigen  Kapitel  gezeigt.  Es  bleibt  mithin  als  einzige  reine,  allumfassende 
Wissenschaft  in  der  Tat  nur  die  Naturphilosophie  (identisch  mit  der  Kosmologie) 
übrig,  von  welcher  die  Anthropologie  nur  ein  ganz  kleiner  beschränkter  Teil 
ist.  Die  Mathematik  ist  ein  Teil  der  allgemeinen  Kosmologie,  wie  die  Psycho- 
logie ein  Teil  der  speziellen  Anthropologie  und  die  Logik  ein  Teil  der  Psychologie. 


432  Die  Einheit  der  Natur  und  die  Einheit  der  Wissenschaft.  XXIX. 

logischen  Basis  sich  erheben.  Seitdem  wir  in  der  wahren  Erkenntnis 
der  menschlichen  Deszendenz,  in  der  Gewißheit,  daß  sich  der  Mensch 
aus  niederen  Wirbeltieren  entwickelt  hat,  den  allein  richtigen  Stand- 
punkt für  die  Wertschätzung  seiner  Geistestätigkeit  ein  für  allemal 
gewonnen  haben,  ist  es  klar,  daß  man  nicht  mehr  von  Erkenntnissen 
a  priori  sprechen  kann.  Die  Vererbungsgesetze,  und  namentlich 
das  Gesetz  der  abgekürzten  oder  vereinfachten  Vererbung, 
erklären  uns  vollkommen  jenen  Irrtum.  Alle  Erkenntnisse  ohne 
Ausnahme  sind  a  posteriori,  durch  die  sinnliche  Erfahrung, 
erworben:  sie  scheinen  aber  häufig  a  priori  zu  sein,  weil  sie 
schon  durch  viele  Generationen  vererbt  sind.  Ebenso  werden  auch 
die  durch  Dressur  anerzogenen  Fähigkeiten  bestimmter  Hunderassen 
(z.  B.  der  Spürhunde)  durch  Vererbung  zu  angeborenen  (a  priori). 
A^on  der  Mathematik,  welche  am  meisten  von  allen  wirklichen 
Wissenschaften  als  a  priori  konstruiert  gelten  könnte,  hat  bereits 
John  Stuart  Mi  11  in  seiner  vortrefflichen  induktiven  Logik  gezeigt, 
daß  dieselbe  in  der  Tat  eine  Wissenschaft  a  posteriori  ist.  Jede 
Zahlgröße,  jede  Raumgröße,  jedes  Gesetz  über  deren  Verhältnisse  ist 
eine  Abstraktion  aus  vorhergegangener  Erfahrung  oder  ein  durch 
Kombination  mehrerer  solcher  Abstraktionen  gewonnener  Schluß. 

Hier  tritt  nun  die  unermeßliche  Bedeutung,  welche  die  all- 
gemeine Entwickelungsgeschichte  der  Organismen  und  die 
des  Menschen  im  besonderen  für  die  universale  Kosmologie  besitzt, 
in  ihr  volles  Licht.  Lediglich  vermittelst  der  durch  die  Deszendenz- 
theorie erworbenen  Erkenntnis,  daß  der  Mensch  nichts  v^-eiter  ist, 
als  einer  der  letzten  imd  jüngst  entwickelten  Zweige  des  Wirbeltier- 
Stammes,  gelangen  wir  zu  einem  richtigen,  naturgemäßen  Verständnis 
der  Anthropologie,  und  somit  auch  der  Erkenntnisgrenzen  des 
Menschen  und  des  Verhältnisses  seiner  Wissenschaft  zum  Weltganzen. 
Nur  wenn  man  auf  Grund  der  Deszendenztheorie  und  der  durch  sie 
kausal  begründeten  Morphogenie  die  „Stellung  des  Menschen  in  der 
Natur"  richtig  begriffen  und  konsequent  durchdacht  hat,  kann  man 
auch  zu  dem  allein  wahren  d.  h.  naturgemäßen  Verständnis  der 
menschlichen  Wissenschaft  gelangen. 

Der  Grundgedanke,  welcher  unser  System  der  „generellen  Morpho- 
logie der  Organismen"  als  roter  Faden  durchzieht,  und  w^elcher  nach 
unserer  unerschütterlichen  Überzeugung  die  unerläßliche  Basis  aller 
wahrhaft  wissenschaftlichen  Bestrebungen  zum  Verständnis  der  orga- 
nischen Formen  weit  sein  muß,  ist  der  Gedanke  von  der  absoluten 


XXIX.  Die  Einheit  der  Natur  und  die  Einheit  der  Wissenschaft.  433 

Einheit  der  Natur,  der  Grundgedanke,  daß  es  ein  und  dasselbe 
allmächtige  und  unabänderliche  Kausalgesetz  ist,  welches  die  ge- 
samte Katur  ohne  Ausnahme,  die  organische  wie  die  anorganische 
Welt  regiert.  Dieses  Kausalgesetz  ist  die  allumfassende  Notwen- 
digkeit, die  ctva-f/.'/j,  welche  ebensowenig  einen  „Zufall"'  als  einen 
„freien  Willen"'  zuläßt.  Durch  eingehende  Vergleichung  der  Orga- 
nismen und  der  Anorgane  hinsichtlich  ihrer  Stoffe,  Formen  und 
Kräfte  haben  wir  im  5.  Kapitel  zu  zeigen  versucht,  daß  diese  äußerst 
wichtige  philosophische  Erkenntnis  von  der  Einheit  der  orga- 
nischen und  anorganischen  Natur  empirisch  fest  begründet  ist. 

Dieser  Einheit  der  Natur  entspricht  vollständig  die  Einheit 
der  menschlichen  Naturerkenntnis,  die  Einheit  der  Naturwissen- 
schaft, oder  w^as  dasselbe  ist,  die  Einheit  der  Wissenschaft 
überhaupt.  Alle  menschliche  Wissenschaft  ist  Erkenntnis,  welche 
auf  Erfahrung  beruht,  ist  empirische  Philosophie,  oder  wenn 
man  lieber  will,  philosophische  Empirie.  Die  denkende  Er- 
fahrung oder  das  erfahrungsmäßige  Denken  sind  die  einzigen  Wege 
und  Methoden  zur  Erkenntnis  der  Wahrheit.  So  kommen  wir 
auf  den  wichtigen  Satz  zurück,  welchen  wir  bereits  im  4.  Kapitel 
begründet  haben : 

Alle  wahre  Naturwissenschaft  ist  Philosophie,  und 
alle  wahre  Philosophie  ist  Naturwissenschaft.  Alle  wahre 
Wissenschaft  aber  ist  Naturphilosophie.*) 


*)  Anmerkung  (1906).  Die  Prinzipien  der  Monistischen  Natur- 
philosophie, wir  sie  hier  vor  vierzig  Jahren  zuerst  formuliert  wurden,  sind 
neuerdings  von  mir  weiter  ausgeführt  und  besonders  durch  das  einheitliche 
Substanz-Gesetz  eingehend  begründet  worden  in  meinem  Buche  über  ..Die 
AVelträtsel"  (1899)  und  dessen  Ergänzungsband:  ..Die  Lebenswnnder"  (1904). 
Mein  konsequenter  und  streng  einheitlicher  Monismus  ist  weder  einseitiger 
..Materialismus",  noch  ebenso  einseitiger  ..Spiritualismus"  (Dynamismus  oder 
Energetik);  über  seine  Stellung  zu  anderen  philosophischen  Systemen  vergl.  die 
neue  ..Geschichte  der  Philosophie  seit  Kant"  von  Otto  Gramzow:  Charlotten- 
burg, Georg  Bürkner,  1905.    (Heft  13,  Haeckel.) 


Haeekel,  Prinz,  d.  Mor[)hol.  28 


Dreissigstes  Kapitel. 

G-ott  in  der  Ifatur. 

(Amphitheismus  und  Monotheismus.) 

Wer  darf  ihn   nennen?    und  wer  bekennen:    Ich  g-lauh"  ihn? 
Wer  empfinden,  und  sich  unterwinden,  zu  sagen :  Ich  glauli' 

ilin  nicht? 
Der  Allunifasser.  der  AUerlialter. 
Faßt  und  erliält  er  nicht  dich,  micli,  sich  selb.st  ? 
Wölbt  sich  der  Himmel  nicht  da  droben? 
Liegt  die  Erde  nicht  hier  unten  fest? 

Und  steig'en.  freundlich  blinkend,  ewig'e  Sterne  nicht  herauf? 

Goethe. 

Der  Monismus,  wie  wir  denselben  in  der  generellen  Morpho- 
logie der  Organismen  als  das  unentbehrliche  Fundament  der  Wissen- 
schaft und  als  die  notwendige  Voraussetzung  der  reinen  Erkenntnis 
nachgewiesen  und  allgemein  durchgeführt  haben,  ist  von  vielen 
Seiten  als  Atheismus  und  als  Materialismus  verschrien  und  als  solcher 
auf  das  heftigste  bekämpft  worden.  Wir  sind  darauf  gefaßt,  diesen 
Vorwurf  auch  gegen  unsere  monistische  Naturanschauung  erhoben 
zu  sehen,  um  so  mehr,  als  wir  die  herrschende,  dualistische  Vorstellung 
eines  persönlichen  Schöpfers,  wie  jeder  ,,Schöpfung"  überhaupt, 
auf  das  entschiedenste  verwerfen  und  bekämpfen.  Bei  der  all- 
gemeinen Uuklarheit  und  Urteilslosigkeit,  welche  gerade  in  der 
empirischen  Morphologie  in  betreff  dieser  wichtigsten  Grundprinzipien 
herrscht,  erscheint  es  passend,  am  Schlüsse  dieses  Werkes  unsern 
betreffenden  Standpuukt  klar  zu  bestimmen  und  kurz  zu  zeigen, 
daß  der  von  uns  ausschließlich  kultivierte  Monismus  zugleich 
der  reinste  Monotheismus  ist. 

Was  zunächst  den  Vorwurf  des  Materialismus  betrifft,  den 
man  gegen  den  Monismus  erhoben  hat,  so  ist  derselbe,  wie  schon 
Schleicher  bemerkt  iiat,  ganz  ..ebenso  verkehrt,  als  wollte  man 
ihn  des  Spiritualismus  zeihen''.  Der  Monismus  kennt  weder  die 
Materie   ohne  Geist,    von   welcher    der  Materialismus   spricht,    noch 


Gott  in  der  Natur.  435 

den  Geist  ohne  Materie,  welchen  der  Spiritualismus  annimmt.  Viel- 
mehr gibt  es  für  ihn  ..weder  Geist  noch  Materie  im  gewöhn- 
lichen Sinne,  sondern  nur  eins,  das  beides  zugleich  ist." 
Wir  kennen  eine  geistlose  Materie,  d.  h.  einen  Stoff  ohne  Kraft, 
ebensowenig  als  einen  immateriellen  Geist,  d.  h.  eine  Kraft  ohne 
Stoff'.  Jeder  Stoff"  als  solcher  besitzt  eine  Summe  von  Spannkräften, 
welche  als  lebendige  Kraft  in  die  Erscheinung  treten,  und  jede  Kraft 
kann  nur  durch  die  Materie,  an  welcher  sie  haftet,  als  solche  wirk- 
sam sein.  Diese  rein  monistische  Ansicht,  welche  wir  auf  das  ent- 
schiedenste vertreten,  ist  schon  vor  langer  Zeit  von  einem  unserer 
hervorragendsten  Denker  und  Naturforscher,  von  Wolfgang  Goethe. 
so  klar  und  bestimmt  ausgesprochen  worden,  daß  wir  nichts  besseres 
tun  können,  als  seinen  merkwürdigen  Ausspruch  hier  nochmals  her- 
vorzuheben: 

..Weil  die  Materie  nie  ohne  Geist,  der  Geist  nie  ohne 
Materie  existiert  und  wirksam  sein  kann,  so  vermag  auch 
die  Materie  sich  zu  steigern,  sowie  sich's  der  Geist  nicht 
nehmen  läßt,  anzuziehen  und  abzustoßen;  wie  derjenige 
nur  allein  zu  denken  vermag,  der  genugsam  getrennt  hat, 
um  zu  verbinden,  genugsam  verbunden  hat.  um  wieder 
trennen  zu  mögen!" 

Was  nun  aber  zweitens  den  Vorwurf  des  Atheismus  betrifft, 
den  zweifelsohne  sowohl  gedankenlose  Naturkenner  als  auch  kennt- 
nislose Naturdenker  gegen  unseren  Monismus  erheben  werden,  so 
schleudern  wir  diesen  schweren  Vorwurf  dadurch  auf  sie  zurück, 
daß  wir  ihren  angeblichen  Theismus  als  Amphitheismus,  unseren 
Monismus  dagegen  als  reinen  Monotheismus  nachweisen. 

Es  ist  in  der  Tat  nicht  schwer,  bei  objektiver  und  vorurteils- 
freier Betrachtung  zu  der  klaren  Überzeugung  zu  gelangen,  daß  der 
mythologisch  begründete  Theismus,  welcher  angeblich  als  „reiner 
Monotheismus"  die  Kulturvölker  der  neueren  Zeit  beherrscht,  und 
welcher  in  der  organischen  Morphologie  als  „ Schöpf ungsnnihus" 
bis  vor  kurzem  eine  so  hervorragende  Rolle  spielte,  in  der  Tat  kein 
Monotheismus,  sondern  Amphitheismus  ist.  Monotheismus  war 
diese  herrschende  Gotteslehre  nur  so  lange,  als  alle  Naturerschei- 
nungen ohne  Ausnahme  für  das  unmittelbare  Resultat  der  persön- 
lichen göttlichen  Weltherrschaft  galten,  nur  so  lange,  als  alle  an- 
organischen und  organischen  Phänomene  —  vom  Wehen  des  Windes 
und  dem  Rollen  des  Donners  bis  zu  dem  Lichte  der  Sonne  imd  dem 

28* 


436  Gott  in  der  Natur. 


XXX. 


Laufe  der  Gestirne,  von  dem  Blütenduft  der  Pflanze  und  dem  Fluge 
des  Vogels  bis  zu  der  Gedankenbildung  des  Menschen  und  der  Ent- 
wickelungsgeschichte  der  Völker  —  direkte  Wirkungen  eines  monar- 
chischen, persönlichen  Schöpfers  waren.  Als  aber  die  neuere  Natur- 
wissenschaft nachwies,  daß  das  gesamte  Gebiet  der  anorganischen 
Natur  durch  feste  und  ausnahmslose  Naturgesetze  regiert  werde, 
als  Physik  und  Chemie  die  Abiologie  in  mathematische  P'ormeln 
brachten,  da  wurde  dem  persönlichen  Schöpfer  die  Hälfte  seines 
Gebietes  entrissen,  und  es  blieb  ihm  nur  noch  die  organische  Natur 
übrig,  und  selbst  von  dieser  wurde  durch  die  neuere  Physiologie 
abermals  die  Hälfte  abgelöst,  so  daß  bloß  noch  die  organische 
Morphologie  dem  persönlichen  Willkürregimente  des  mediatisierten 
Weltherrschers  unterworfen  blieb.  So  wurde  aus  dem  früheren 
Monotheismus  der  vollständige  Amphitheismus.  welcher  gegen- 
wärtig die  mystische  Weltanschauung  der  Kulturvölker  beherrscht,  und 
welcher  in  der  Wissenschaft  als  der  grundverkehrte  Dualismus  er- 
scheint, den  wir  in  der  generellen  Morphologie  auf  das  entschiedenste 
bekämpft  haben. 

Was  ist  dieser  Dualismus  anderes  als  der  Kampf  zwischen  zwei 
Göttern  von  grundverschiedener  Natur?  Dort  sehen  wir  auf  dem 
von  dem  Mechanismus  eroberten  Gebiete  der  Abiologie  die  aus- 
schließliche Herrschaft  von  ausnahmslosen  und  notwendigen  Natur- 
gesetzen, von  der  dvy.jAq,  welche  zu  allen  Zeiten  und  an  allen 
Orten  dieselbe,  und  sich  beständig  gleich  bleibt.  Hier  dagegen  er- 
blicken wir  auf  dem  von  der  Teleologie  noch  bedrohten  Gebiete 
der  Biologie,  und  vorzüglich  auf  dem  der  organischen  Morphologie, 
die  launenhafte  Willkürherrschaft  eines  persönlichen  und  durchaus 
menschenähnhchen  Schöpfers,  welcher  sich  vergeblich  abmüht, 
endlich  einmal  einen  .,vollkommenen"  Organismus  zu  schaffen  und 
beständig  die  früheren  Schöpfungen  der  „Vorwelt"  verwirft,  indem 
er  neue  verbesserte  Auflagen  an  deren  Stelle  setzt.  Wir  haben  schon 
im  6.  Kapitel  gezeigt,  w^arum  wir  diese  klägliche  Vorstellung  des 
..persönlichen  Schöpfers"  durchaus  verwerfen  müssen.  In  der  Tat 
ist  dieselbe  eine  Entwürdigung  der  reinen  Gottesidee.  Die  meisten 
Menschen  stellen  sich  diesen  „lieben  Gott"  durchaus  menschen- 
ähnlich vor:  er  ist  in  ihren  Augen  ein  Baumeister,  welcher  nach 
einem  vorher  entworfenen  Plane  den  Weltbau  ausführt,  aber  nie 
damit  fertig  wird,  weil  er  während  der  Ausführung  immer  auf 
neue,  bessere  Ideen  kommt:   er  ist  ein  Theaterdirektor,  welcher  die 


Gott  in  der  Natur.  437 

Erde  wie  ein  großes  Marionettentheater  dirigiert  und  die  zahllosen 
Drähte,  an  denen  er  der  Menschen  Herzen  lenkt,  gewöhnUch  mit 
leidlicher  Geschicklichkeit  zu  handhaben  weiß:  er  ist  ein  halbbe- 
schränkter König,  der  nur  auf  dem  anorganischen  Gebiete  konstitu- 
tionell nach  fest  beschworenen  Gesetzen,  auf  dem  organischen  Gebiete 
dagegen  absolut,  als  patriarchalischer  Landesvater  herrscht  und  sich 
hier  durch  die  Wünsche  und  Bitten  seiner  Landeskinder,  unter  denen 
die  vollkommensten  Wirbeltiere  die  am  meisten  begünstigten  sind, 
bestimmen  läßt,  seinen  Weltenplan  täglich  abzuändern. 

Wenden  wir  uns  weg  von  diesem  unwürdigen  Anthropomor- 
phismus  der  modernen  Dogmatik.  welcher  Gott  selbst  zu  einem  ..gas- 
förmigen Wirbeltier"'  erniedrigt,  und  betrachten  wir  dagegen  die 
unendlich  erhabenere  Gottesvorstellung,  zu  welcher  uns  der  Monismus 
hinführt,  indem  er  die  Einheit  Gottes  in  der  gesamten  Natur 
nachweist,  und  den  Gegensatz  eines  organischen  und  eines  anorga- 
nischen Gottes  aufhebt,  welcher  den  Todeskeim  in  der  Brust  jenes 
herrschenden  Amphitheismus  bildet.  Unsere  Weltanschauung  kennt 
nur  einen  einzigen  Gott,  imd  dieser  allmächtige  Gott  beherrscht 
die  gesamte  Natur  ohne  Ausnahme.  Wir  erblicken  seine  Wirksamkeit 
in  allen  Erscheinungen  ohne  Ausnahme.  Die  gesamte  anorganische 
Körperwelt  ist  ihr  ebenso  wie  die  gesamte  organische  unterworfen. 
Wenn  jeder  Körper  im  luftleeren  Räume  in  der  ersten  Sekunde 
15  Fuß  fällt,  wenn  jedesmal  drei  Atome  Sauerstoff  mit  einem  Atom 
Schwefel  sich  zu  Schwefelsäure  verbinden,  wenn  der  Winkel,  den 
eine  Säulenfläche  des  Bergkristalls  mit  der  benachbarten  macht,  stets 
120^  beträgt,  so  sind  diese  Erscheinungen  ebenso  die  unmittelbaren 
AVirkungen  Gottes,  wie  es  die  Blüten  der  Pflanzen,  die  Bewegungen 
der  Tiere,  die  Gedanken  der  Menschen  sind.  Wir  sind  alle  ..von 
Gottes  Gnaden",  der  Stein  so  gut  wie  das  Wasser,  das  Radiolar  so 
gut  wie  die  Fichte,  der  Gorilla  so  gut  wie  der  Kaiser  von  China. 

Nur  diese  Wehanschauung,  welche  Gottes  Geist  und  Kraft  in 
allen  Naturerscheinungen  erblickt,  ist  seiner  allumfassenden 
Größe  würdig:  nur  wenn  wir  alle  Kräfte  und  alle  Bewegungs- 
erscheinungen, alle  Formen  und  Eigenschaften  der  Materie  auf  Gott, 
als  den  Urheber  aller  Dinge,  zurückführen,  gelangen  wir  zu  der- 
jenigen menschlichen  Gottesanschauung  und  Gottesverehrung,  welche 
seiner  unendlichen  Größe  in  Wahrheit  entspricht.  Denn  ,.in  ihm 
leben,  weben  und  sind  wir".  So  wird  die  Naturphilosophie  in  der 
Tat  zur  Theologie.    Der  Kultus  der  Natur  wird  zu  jenem  wahren 


438  Cfott  in  der  Natur. 

Gottesdienste,  von  welchem  Goethe  sagt:  „Gewiß,  es  gibt  Iveine 
schönere  Gottesverehrung-  als  diejenige,  welche  aus  dem 
Wechselgespräch  mit  der  Natur  in  unserem  Busen  ent- 
springt!" 

Gott  ist  allmächtig:  er  ist  der  einzige  Urheber,  die  Ursache 
aller  Dinge,  d.h.  mit  anderen  Worten :  Gott  ist  das  allgemeine 
Kausalgesetz.  Gott  ist  absolut  vollkommen,  er  kann  niemals 
anders  als  vollkommen  gut  handeln:  er  kann  also  auch  niemals  will- 
kürlich oder  frei  handeln,  d.  h.  Gott  ist  die  Notwendigkeit. 
Gott  ist  die  Summe  aller  Kräfte,  also  auch  aller  Materie.  Jede 
Vorstellung  von  Gott,  welche  ihn  von  der  Materie  trennt,  setzt  ihm 
eine  Summe  von  Kräften  gegenüber,  welche  nicht  göttlicher  Natur 
sind,  jede  solche  Vorstellung  führt  zum  Amphitheismus.  weiterhin 
zum  Polytheismus. 

Indem  der  Monismus  die  Einheit  in  der  gesamten  Natur 
nachweist,  zeigt  er  zugleich,  daß  nur  ein  Gott  existiert,  und  daß 
dieser  Gott  in  den  gesamten  Naturerscheinungen  sich  offenbart.  In- 
dem der  Monismus  die  gesamten  Phänomene  der  organischen  und 
anorganischen  Natur  auf  das  allgemeine  Kausalgesetz  begründet 
und  dieselben  als  die  Folgen  „wirkender  Ursachen"  nachweist,  zeigt 
er  zugleich,  daß  Gott  die  notwendige  Ursache  aller  Dinge 
und  das  Gesetz  selbst  ist.  Indem  der  Monismus  keine  anderen 
als  die  göttlichen  Kräfte  in  der  Natur  erkennt,  indem  er  alle  Natur- 
gesetze als  göttliche  anerkennt,  erhebt  er  sich  zu  der  größten  und 
erhabensten  Vorstellung,  welcher  der  Mensch  als  das  vollkommenste 
aller  Tiere  fähig  ist,  zu  der  Vorstellung  der  Einheit  Gottes  und 
der  Natur. 

„Was  war'  ein  Gott,  der  nur  von  außen  stieße, 
Im  Kreis  das  All  am  Finger  laufen  ließe! 
Ihm  ziemt's,  die  Welt  im  Innern  zu  bewegen, 
Natur  in  Sich,  Sich  in  Natur  zu  hegen. 
So  daß,  was  in  Ihm  lebt  und  webt  und  ist. 
Nie  Seine  Kraft,  nie  Seinen  Geist  vermißt.'' 


REGISTEK. 


Abänderung  2i>4. 

—  geschlechtliche  209. 

—  individuelle  265. 

—  monströse  266. 

—  sexuelle  269. 

—  sprungweise  266. 
Abiologie  430. 
Abortive  Organe  322. 
Abortus  323. 

Abstammung  des  Menschen  414. 
Abstammungslehre  84. 
Abweichende  Anpassung  279. 
Abweichung,  generative  267. 
Acentra  160. 
Achsenfeste  151. 
Achsenlose  151. 
Acme  36.5,  383. 
Adaptabilitas  254. 
Adaptatio  correlativa  278. 

—  cumulativa  271. 

—  divergens  279. 

—  individualis  265. 

—  infinita  281. 

—  monstrosa  266. 

—  sexualis  269. 

—  universalis  270. 
Adaptation  72,  2.54. 
Adolescentia  203. 
Adulta  223. 
Adultas  205. 
Aetas  juvenilis  203. 

—  matura  205. 

—  senilis  207. 
Affenabstammung  419. 


Aggregat-Zustände  55. 

Aggregation  121. 

Ahnenreihe  des  Menschen  415, 

Akklimatisation  271. 

Aktualismus  361. 

Aktuelle  Anpassung  263.  270. 

Aktuelle  liionten  135. 

Albuminat  112. 

Allgemeine  An|)assung  270. 

Altrix  217. 

Amme  217. 

Amphigenesis  216. 

Amphigonie  186. 

Amphitheismus  435. 

Analoge  Charaktere  287. 

Analogie  287. 

Analyse  21. 

Anaplasis  172,  203. 

Anaplastologie  175. 

Anaxonia  151. 

Angepaßte  Eigenschaften  285. 

Angewöhnung  271. 

Anorgane  49. 

Anorganische  Aggregatzustände  55. 

—  Anpassung  72. 

—  Bildungstriebe  74. 

—  Formen  58. 

—  Grundformen  64. 

—  Individualität  58. 

—  Korrelation  78. 

—  Kräfte  67. 

—  Materien  49. 

—  Selbsterhaltung  71. 

—  Verbindungen  53. 


440 


Register. 


Anoiiranisc'Iies  Wachstum  (58. 
Anpassung  72.  254.  285. 

—  abweichende  279. 

—  aktuelle  263,  270. 

—  allgemeine  270. 

—  direkte  258.  270. 

—  funktionelle  272. 

—  gehäufte  271. 

—  indirekte  258.  265. 

—  korrelative  278. 

—  kumulative  271. 

—  potentielle  263,  265. 

—  unbeschränkte  281. 

—  wechselbezügliche  278. 

—  Gesetze  2G5. 

—  Grad  257. 

—  Grundgesetz  257. 

—  Ursachen  255. 
Anpassnngscharaktere  287. 
Anpassungsfähigkeit  254. 
Antheren  191,  194. 
Antheridien  191. 
.Anthropogenie  425. 
Anthropologie  411.  418. 
Anthropomorphismus  89. 
Antimeren  106,  123. 

—  Geschlechtscharaktere  192. 
Arbeitsteilung  121,  201.  280,  304. 
Archegonien  191. 

Archigonie  91,  179. 
Art  367,  371. 
Artbeständigkeit  377. 
Atavismus  235. 
Atheismus  435. 
Äther  51. 
Atom  103. 

Atomistische  Theorie  51. 
Atrophie  323. 
Atrophische  Organe  322. 
Attraktion  51. 
Aufbildung  172.  203. 
Aufblühzeit  365,  382. 
Ausartungen  268. 
Auslese  289. 

—  der  Besten  293. 

—  geschlechtliche  299. 


Autogonie  94. 

Axen  der  Grundformen  157. 

Axonia  151. 

Bastardzeugung  247. 

Baumgestalt  des  Systems  398. 

Beobachtung  12. 

ßildungsstoff  112. 

Bildungstrieb  74.   286. 

Biogenetisches  Grundgesetz  353,  410. 

Biologie  428. 

Bion  105.  134. 

Bionomie  334. 

Biontik  103. 

Bisexuales  186. 

Blasti  130. 

Blütezeit  365.  383. 

Carpelle  194. 

Cataplasis  207. 

Causae  efficientes  34,  37. 

Causae  finales  34.  38. 

Cellulae  109. 

Cellulae  membranosae  HO. 

—  primordiales  HO. 
Centraxonia  160. 
Centroplana  160. 
Centrostigma  16(1. 
Charakterdifferenzen  der  System- 
gruppen 402. 

Charakteres  adaptivi  285. 

—  hereditarii  285. 
Chorologie  335. 
Cormen  106,  132. 
Creseentia  200. 
Cyclus  amphigenes  210. 

—  generationis  209. 

—  monogenes  210. 
Cytoblastus  HO.  112. 
Cytode   HO. 
Cytoplasma  111.  120. 

Darwin  20.  39. 
Darwinismus  231. 
Decrescentia  207. 


Register. 


441 


Deduktion  28. 

Defloiescentia  207. 

Degeneration  202. 

Dekreszenz  173. 

Denken  422. 

Denkmünzen  der  Schöpfung  3;")!) 

Deszendenztlieorie  84.  231.  337. 

Diclinia  195. 

Differenzierung  121.  201.  304. 

Digene  Zeugung  18G. 

Dimidiatio   183. 

Dioecia  190. 

Dioecisten  186. 

Diradiatio  183. 

Direkte  Anpassung  258.  270. 

Divergentia  201.  304. 

Divergenz,  individuelle  308. 

—  paläontologische  308. 

—  spezitische  309. 

—  systematische  309. 

—  des  Charakters  235.  307. 
Divergenzgesetz  281,  304. 
Divisio  182. 

Dogmatik  30. 
Dogmen  339. 
Dualismus  43. 
Dysteleologie  38,  320. 

Ehe  303. 

Eierstöcke  191.  220. 
Eigenschaften,  angepaßte  285. 

—  ererbte  285. 
Eikreis  210,  221. 
Einheit  der  Natur  80,  429. 

—  der  Wissenschaft  427. 
Eiweißkörper  112. 
Eizelle.  180.  186. 
Elementarorganismus  109. 
Elemente  .53. 
Elternzeugung  179. 
Embryo  173. 

Embryologischer  Fortschritt  318. 
Embryologie  173. 
Empfindung  420. 

Empirie  10. 
Entbildune-  202. 


Ent  Wickelung  170. 

Entwickelung.  Funktionen  199.  380. 

—  Resultate  385. 

—  Stadien  381. 
Entwickelungsgeschichte  178. 
Entwürdigung  des  Menschen  416. 
Epacme  365,  382. 

Epigenesis  169. 
Epimeren  128. 
Erblichkeit  73.  235. 

—  Grundgesetz  236. 
Erblichkeitsgesetze  238. 
Erdgeschichte  430. 
Ererbte  Eigenschaften  285. 
Erfahrung  10. 
Erkenntnis  10. 

—  der  Wahrheit  433. 
Erkenntnisse  a  priori  431. 
Erkenntnisvermögen  43. 
Erlöschen  der  Mittelformen  3t)6. 
Ernährung  71,  255. 
Ernährungsabänderungen  275. 
Evolutio  169.  172,  203. 
Existenz,  individuelle  258. 

Fakultäten  431. 

Farbenwahl,  sympathische  296. 

Fehlgeschlagene  Individuen  320. 

Fissio  181. 

Folgestücke  127. 

Formed  matter  118. 

Formengenuß  339. 

—  Verständnis  339. 

—  Verwandtschaft  385. 
Formindividuum  105. 
Fortpflanzung  179.  236. 
Fortpflanzungsarten  197.  198. 
Fortschritt  311. 

—  ontogenetischer  318. 

—  paläontologischer  318. 

—  spezifischer  319. 
Fortschrittsgesetz  311. 
Frage  aller  Fragen  413. 
Freier  Wille  274.  421. 
Freiheit  des  Willens  274,  421. 
Fruchtblättei-  194. 


442 


Register. 


Funktionelle  Anpassung  272. 
Funktionen  der  Kntwickelung  l!)i). 

(iasfönniges  Wirbeltier  90. 

Gasträatheorie  410. 

Gedankenbildung  421. 

Gegenstücke  12o. 

Gehäufte  Anpassung  271. 

Gemeinde  133. 

Gemeindebildung  121. 

Gemma  131,  184. 

Gemmatio  131,  183. 

Gemmulae  191. 

Gemüt  421. 

Genealogie  352. 

Genealogischer  Parallelismus  386. 

Generatio  199. 

Generatio  digenea  180. 

—  divisiva  182. 

—  fissipara  182. 

—  gemmipara  183. 

—  monogenea  181. 

—  parentalis  179. 

—  scissipara  182. 

—  spontanea  9t),  179. 

—  sporipara  18."). 
Generationsfülge  218. 
Generationswechsel  218,  244. 
Generative  Abweichungen  2G7. 
Geographie  der  Organismen  335. 
Geologische  Überlieferung  355. 
Germinal  matter  118. 

Gesang  302. 
Geschlechtliche  Auslese  299. 

—  Fortpflanzung  18(5. 
Geschlechtstrennung  187. 
Geschlechtsverhältnisse  der  Individuali- 
tätsstufen 188—196. 

—  Antimeren  192. 

—  Metameren  193. 

—  Organe  190. 

—  Personen  194. 

—  Piastiden  188. 

—  Stöcke  196. 

Gesetze  der  Anpassung  2(55. 

—  Vererbung  243. 


Gestaltungskraft  74. 
Gewebe  121. 
Gewohnheit  271. 
Glandula  hermaphrodita  191. 
Glastiere  297. 

Gleichfarbige  Zuchtwahl  296. 
Gliederung  127,  129. 
Gonochorismus  187. 

—  der  Antimeren  192. 

—  der  Metameren  194. 

—  der  Organe  191. 

—  der  Personen  195. 

—  der  Piastiden  190. 

—  der  Stöcke  196. 
Gonochoristen  186. 
Gott  434.  438. 

Grad  der  Ausbildung  168. 

—  der  Vererbung  237. 
Greisenalter  207. 
Grundformen  64,  151. 

—  System  158—163. 
Grundformenlehre  149. 
Grundgesetz,  biogenetisches  353.  410. 

—  der  Erblichkeit  236. 

—  der  Anpassung  257. 
Gruppen,  gute  und  schlechte  396. 
Gruppenstufen  401. 

Gute  Arten  378. 

—  Gruppen  396. 
Gymnocyta  110. 
Gymnoplastide  117. 

Hautlose  Zellen  110. 
Hautzellen  110. 
Hereditas  235. 

—  abbreviata  248. 

—  accommodata  249. 

—  adaptata  249. 

—  alternans  244. 

—  amphigona  246. 

—  constituta  250. 

—  continua  243. 

—  homochrona  252. 

—  homotopa  251. 

—  interrupta  244. 

—  latens  244. 


Register. 


443 


Hereditas  inixta  246. 

—  sexualis  246. 

—  siniplicata  248. 
Heredität  285. 

—  progressive  241. 
Herniaphroditismus  187. 

—  der  Antimeren  192. 

—  der  Metameren  193. 

—  der  Organe  190. 

—  der  Personen  194. 

—  der  Piastiden  188. 

—  der  Stöcke  19G. 
Hermaphroditen  186. 
Heterogonie  221. 
Histonalen  130. 
Hoden  191. 

Honiodyname  Teile   127. 
Honiodynamie  127. 
Homologe  Charaktere  287. 
Homologie  287. 
Homonymie  127. 
Homonyme  Teile  127. 
Homotypische  Grundzahl  126. 

—  Teile  123. 
Hunger  299. 
Hypertrophie  323. 
Hypogenesis  220. 

—  epimorpha  224. 

—  metamorpha  222. 

Ideale  Typen  283. 
Idorgane  106. 

Indirekte  Anpassung  258,  265. 
Individualitätslehre  103. 
Individuelle  Abänderung  265. 
. —  Divergenz  308. 

—  Existenz  258. 
Individuen  59,  103. 
Induktion  23. 
Intercellularsubstanz  116. 
Involutio  207. 
Imagines  177. 
Imbibition  57. 
Involution  173. 
Jugendalter  203. 
Juventus  203. 


Kampf  ums  Dasein  234.  292. 
Karyon  (Zellkern)  112. 
Karyoplasma   120. 
Kataklysmentheorie  359. 
Kataplasis  173. 

Kataplastische  Individuen  322. 
Kataplastologie  175. 
Kategorien  des  Systems  390. 

—  promorphologische  163. 

—  System  401. 
Kausalgesetz  37,  429. 
Kausalität  33. 
Keimstöcke  220. 
Keimsubstanz  118. 
Kern  119. 

Kernkörperchen  113. 
Kernpunkt  113. 
Klassifikation  384. 
Knospe  131,  184. 
Knospenbildung  131. 
Knospung  183. 
Kohlenstoff  55. 
Kolonie  133. 
Kompensation  278. 
Konjugation  188. 
Konservative  Vererbung  238. 
Kopulation  188. 
Korrelation  78,  278. 
Korrelative  Anpassung  278. 
Kosmogenie  430. 
Kosmologie  430. 

Kosmos  429. 

Konservations-Physiologie  98. 
Kontinuitätstheorie  359. 
Kreuzung  247. 
Kristallbildung  79. 
Kristalloide  60. 
Kritik  30. 

Kumulative  Anpassung  271. 
Kunstformen  der  Natur  147. 
Künstliche  Züchtung  291. 

Lamarekismus  232. 
Larve  173,  177,  223. 
Leben  50,  67. 
Lebenskraft  35,  54,  88. 


U4: 


Register. 


Lebensstoff  53.  112. 
Leitmuscheln  359. 
Lepocvta  110. 
Lepoplastide  117. 
Letzte  Gründe  43. 
Liebe  299. 
Lipostaura  161. 

Männliche  Zuchtwahl  300. 
Materialismus  434. 
.Materie  und  Kraft  430. 
:\Iaturitas  205. 
Mechanismus  33. 
Membrana  cellulae  110. 
Mensch,  Ahnenreihe  415. 

—  Entwürdigung  416. 

—  Progonotaxis  424. 

—  Stellung  413. 
Metagenesis  216,  226. 

—  progressiva  219. 

—  regressiva  220. 
Metameren  106.  127. 

—  Geschlechtsverhältnisse  193. 
Metamorphose  175,  223. 
Metaplasis  173,  205. 
Metaplastologie  175. 
Methodik  10. 

Mißbildung  267. 
Mitbewerbung  295. 
Mittelformen  30(). 
]\Ioneren  62. 
Monismus  43,  434. 

—  System  429. 
Monistische  Erklärung  337. 
Monoclinia  194. 
Monoecia  196. 
Monoecisten  186. 
Monogenesis  212. 
Monogonia  181. 
Monospore  214. 
Monotheismus  434. 
Monströse  Abänderungen  266. 
Moral  422. 

Morphologie  3. 
Morphologische  Individuen  105. 

—  erster  Ordnung  109. 


Morphologische  Individuen  zweiter 
Ordnung  120. 

—  dritter  Ordnung  123. 

—  vierter  Ordnung  127. 

—  fünfter  Ordnung  130. 

—  sechster  Ordnung  132. 
Morphologischer  Speziesbegriff  371. 
Mor])hon  105. 
Mutationstheorie  266,  410. 
Muttermale  252. 

Nachzucht  289. 
Natürliches  System  390. 
Natürliche  Zuchtwahl  234. 
Naturphilosophie  13.  14.  431.  433. 
Notwendigkeit  34. 
Nucleolinus  113. 
Nucleolus  113. 
Nucleus  110.  112.  118. 
Nützlichkeitstheorie  317. 
Nympha  223. 

Oekologie   334. 

Ontogenesis.  Funktionen  199. 

Ontogenetische  Thesen  342. 

Ontogenetischer  Fortschritt  318. 

Ontogenie  98,  167. 

Organe  106.  120,  122. 

Geschlechtsverhältnisse  190. 
Organische  Aggregatzustände  55. 

—  Anpassung  72. 

—  Bildungstriebe  74. 

—  Formen  58. 

—  Grundformen  64. 

—  Individualität  58. 

—  Korrelation  78. 

—  Kräfte  67. 

—  ]\Iaterien  49. 

—  Selbsterhaltung  71. 

—  Verbindungen  53. 

—  Wachstum  68. 

—  Stereometrie  151.  155. 
Organismus  49. 

Ovaria  191,  220. 

Paläontologie  352. 
Paläontologische  Divergenz  308. 


Register. 


445 


l'aläontologisches  Material  o5."). 
Pangeologie  430. 
Paracme  30(3,  383. 
Parallele,  genealogische  38G. 
Partielle  Bionten  137. 
Perioden  der  Erdgeschichte  3G2. 
Person  104. 
Personen  106,  130. 

—  Geschlechtsverhältnisse  1!)4. 
Pflanzen  und  Tiere  97. 
Philosophie  10,  46. 

Phvlema  399. 

Phylogenetische  Entwickeliing  347. 

—  Funktionen  380. 

—  Resultate  885. 

—  Stadien  381. 

—  Thesen  405. 
Phylogenie  98,  351. 

—  systematische  404,  410. 
Physiologische  Individualität  134. 

—  Individuen  134. 
Pistillidien  191. 
Plasma  HO,  118,  120. 
Plasmaprodukte  114. 
Piastiden  109. 

—  Geschlechtsverhältnisse  188. 
Pole  der  Grundformen  157. 
Polymorphismus  201,  304. 
Polyspore  214. 

Potentielle  Anpassung  263,  265. 
Praktische  Typen  283. 
Prinzipien  der  Klassifikation  390. 
Progonotaxis  des  Menschen  424. 
Progressive  Heredität  241. 

—  Metamor])hose  177. 

—  Vererbung  238. 
Progressus  311. 
Promorphe  151. 
Promorphologie  98,  149. 
Promorphologische  Kategorien  163. 
Propagatio  179,  236. 

Prosopen  130. 
Prosopon  104. 
Protamoeba  61. 
Proteinverbindung  112. 
Protistenreich  97. 


Protogenes  61. 
Protoplasma  HO. 
Pseudocormen  132. 
Psychologie  35,  421. 
Putz  301. 

Reaktion  271. 

Reflexion  12. 

Regressive  Metamorphose  177. 

Reife  173. 

Reifealter  205. 

Reiz,  trophischer  276. 

Relations-Physiologie  98. 

Repulsion  51. 

Ringen  um  die  Existenz  292. 

Rückbildung  172.  207. 

Rückschlag  245. 

Rudimente  322. 

Rudimentäre  Individuen  322. 

Samenknospen  191. 
Samenzelle  186. 
Schadonen  177. 
Scheinstöcke  132. 
Schizogenesis  212. 
Schizog.  raonoplastidis  213. 
Schizog.  polyplastidis  213. 
Schizogonie  181,  182. 
Schlauchzellen  HO. 
Schlechte  Arten  379. 

—  Gruppen  396. 

—  und  gute  Spezies  377. 

Schöpfer  89,  434. 
Schöpferkraft  36. 
Schöpfung  84,  86,  434. 
Schöpfungsgedanke  36.  88. 
Schöpfungsmittelpunkt  336. 
Schöpfungstheorien  86. 
Scissio  182. 
Seelenlehre  29,  420. 
Segmentierung  127. 
Selbsterhaltung  .71. 
Selbstteilung  182. 
Selbstzeugung  84.  94. 
Selektion  288. 
Selectio  artificialis  291. 

—  concolor  296. 


446 


Register. 


Selectio  feminina  ;}00. 

—  masculina  300. 

—  naturalis  292. 

—  scxiialis  299. 
Selektionstheorie  231. 
Senilität  173,  207. 
Sonimereier  220. 
Spaltung:  181. 
Spaltungskreis  210. 
Spermaria  191. 
Spermium  186. 
Spezies  371. 
Speziesbegriff  ."52,  367. 
Spezifische  Divergenz  309. 
Spielarten  377. 
Spiritualismus  434. 
Sporenbildung  181, 
Sporocarpien  220. 
Sporogenesis  214. 

—  inonoplastidis  215. 

—  polyplastidis  215. 
Sporogonie  181,  185. 
Sprachforschung  44. 
Sprosse  130. 

Sprungweise  Abänderung  266. 
Stadien  der  Entwickelung  203. 
Stammbaum  398. 
Staubblätter  191,  194. 
Staura.xonia  161. 

Stellung  des  Menschen  413. 
Stereometrie  der  Organismen  155. 
Stereometrische  Grundformen  160. 
Stöcke  132. 

—  Geschlechtsverhältnisse  196. 
Stoffwechsel  71.  255. 
Strahlteilung  183. 
Strophogenesis  218.  226. 
Struggle  for  life  290. 
Struktuilehre  101. 
Subsiiezies  377. 
Sympathische  Färbung  296. 
Synthese  21. 

Synusie  133. 

System.  Kategorien  390. 

Systematische  Phylogenie  404.  410. 

—  Divergenz  309. 


Systematische  Vervollkommnung  319. 
System  als  Stammbaum  390. 

—  der  Fortpflanzungsarten  197. 

—  der  Grundformen  158. 

—  der  Kategorien  401. 

—  der  Zeugungskreise  211. 

—  des  Monismus  429. 
Systemgruppen  402. 

Tektologie  98.  101. 

Tektologische  Thesen  138. 

Teleologie  33. 

Teleosis  311. 

Testiculi  191. 

Theismus  435. 

Theologie  431. 

Thesen,  ontogenetische  342. 

—  phylogenetische  405. 

—  tektologische  138. 
Tiere  und  Pflanzen  97. 
Tierkunde  98. 
Tierseele  420. 
Tocogonie  179. 
Transvolution  173,  205. 
Trophischer  Reiz  276. 
Typen,  ideale  283. 

—  praktische  283. 

Typus  der  Organisation  168. 

Übung  271. 

Umbildung  172.  205. 

Umgebung  272. 

Ungeschlechtliche  Fortpflanzung  181. 

Unisexuales  186. 

Universum  429. 

Unterarten  377. 

Unzweckmäßigkeitslehre  38,  320. 

Uranologie  430. 

Ursprung  des  Lebens  84,  90. 

Urstoffe  52. 

Urzellen  110. 

Urzeugung  90,  179. 

Variabilität  66.  254.  285. 
Variatiü  254. 

—  individualis  265. 


Register. 


447 


Vaiiatio  monstrosa  260. 

—  sexualis  269. 
Varietäten  377.  395. 
Veränderliclikeit  254. 

—  Ursaclien  255. 
Yerblühzeit  366,  383. 
Vererbung  235.  2S5. 

—  abgekürzte  248. 

—  amphigone  246. 

—  angepaßte  249. 

—  beiderseitige  246. 

—  befestigte  2.50. 

—  erworbene  249. 

—  erworbener  Charaktere  241. 

—  gemischte  24(5. 

—  geschlechtliche  246. 
■ —  Gesetze  243. 

—  gleichörtliche  251. 

—  gleichzeitliche  252. 

—  Grad  237. 

—  homochrone  252. 

—  honiotope  251. 

—  in  korresp.  Lebensaltern  253. 

—  konservative  238,  243. 

—  kontinuierliche  243. 

—  progressive  238.  249. 

—  ununterbrochene  243. 

—  Ursache  135. 

—  vereinfachte  248. 
Vererbungscharaktere  287. 
Vermelirung  und  Auslese  294. 
Vervollkoinninung  311. 

—  enil)ryologische  318. 

—  paläontologische  318. 

—  systematische  319. 
Vervollkomnmungsprinzip  31 7. 
Verwandtschaft  der  Stämme  4U4. 
Verwilderung  245. 

Vis  plastica  externa  344. 

—  interna  344. 
Virtuelle  Bionten  136. 
Vitalismus  33. 


Wachstum  68.  200. 
Weibliche  Zuchtwahl  300. 
Weltall  429. 
Weltgeschichte  430. 
Werkstücke  120. 
Wesentliche  Charaktere  370. 
Wettkampf  292. 
Willensfreiheit  274.  421. 
Wintereier  220. 


Zellen  109. 
Zellenbildung  79. 
Zellenmembran  116. 
Zellentheorie  110. 
Zellhaut  110. 
Zellinhalt  117. 
Zellkern  110.  112. 
Zellmetamorphose  114. 
Zellsaft  117. 
Zellstoff  110. 
Zentralisation  144. 
Zeugung  170.  199. 

—  Arten  178. 
Zeugungskreis  209. 
Zierate  301. 
Zoologie  98. 
Zoomorphismus  89. 
Züchtung  288. 

—  künstliche  291. 

—  natürliche  292. 

—  Vergleich  303. 
Zuchtwahl  288. 

—  gleichfarbige  296. 

—  männliche  300. 

—  sexuelle  299. 
-^  weibliche  300. 
Zuchtwahllehre  231. 
Zweiteilung  183. 
Zwitter  186. 
Zwitterdrüse  191. 
Zygospore  189. 


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