I ,
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Beiträge zur Philosophie
s—
PRINZIPIEN
der psychologischen Erkenntnis
Prolegomena
zu einer Kritik der historischen Vernunft
von
WALTER STRICH
Heidelberg 1914
Carl Winters Universitätsbuchhandlung
Verlags-Nr. 1098.
Carl Winters Universitätsbuchhandlung in Heidelberg
Früher erschienen:
Beiträge zur Philosophie
1. Schillers Ästhetik im Verhältnis zur Kantischen von Dr. phil.
Willy Rosalewski. 8°. geh. 3 M. 60.
2. Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik. Eine er-
kenntnistheoretische Studie von Prof. Dr. Richard Hönigswald,
Breslau. 8°. geh. 2 M. 60.
3. Die wissenschaftliche Idee. Ein Entwurf über ihre Form von
Hellmuth Plessner. 8°. geh. 3 M. 80.
4. Philosophische Kunstwissenschaft. Von Dr. Erich Bernheimer.
8°. geh. 8 M.
Soeben erschien:
Das Gefühl und die Pädagogik. Von Dr. Otto von der Pfordten,
Professor an der Universität Straßburg. 8°. geh. 3 M 40.
Vom gleichen Verfasser sind erschienen:
Versuch einer Theorie von Urteil und Begriff . . . 2 M.
Vorfragen der Naturphilosophie 3 M. 80
Konformismus. Eine Philosophie der normativen Werke.
I. Theoretische Grundlegung 4M.
II. Psychologie des Geistes 6 M.
III. Die Grundurteile der Philosophie. Eine Ergän-
zung zur Geschichte der Philosophie. 1. Hälfte.
Griechenland 8 M. 20
Beiträge zur Philosophie
s— —
PRINZIPIEN
der psychologischen Erkenntnis
Prolegomena
zu einer Kritik der historischen Vernunft
von
WALTER STRICH
Heidelberg 1914
Carl Winters Universitätsbuchhandlung
•erlags-Nr. 1098.
Dem Andenken
meines Onkels Alexander Bernstein
Vorwort.
Die Zusammengehörigkeit von Psychologie und Geistes-
wissenschaft ist wohl selbstverständlich. Betrachtet man aber
unsere heutige wissenschaftliche Psychologie, so bleibt dieser
Zusammenhang nur ein Wort. Es gibt keine Brücke von ihr
zu den Geisteswissenschaften. Man hat dies auch gesehen
und eine Trennung innerhalb der Psychologie befürwortet.
Man scheidet die Beschreibung der lebenden Persönlich-
keiten von der erklärenden naturwissenschaftlichen Psycho-
logie. Ich habe mich zu zeigen bemüht, daß diese Trennung
logisch nicht zu Recht besteht, daß eine erklärende Psycho-
logie unmöglich ist. Es kam mir auf den Nachweis an, daß
unsere empirisch-psychologische Erkenntnis stets nur Indi-
vidualpsychologie sein kann. Der Gegensatz sollte aber
nicht lauten: Beschreiben und Erklären, sondern: Ver-
stehen und Erklären. Das Verstehen des psychischen Lebens
bildet zugleich die Grundlage der Geisteswissenschaft. Ich
behaupte aber nicht, daß diese damit erschöpft ist. Sie
bestünde vielmehr in einer Lehre von dem Bewußtsein über-
haupt, nicht in einer Theorie seiner Gesetzmäßigkeit, sondern
in dem Verständnis seiner möglichen Reaktionen und
Formungen, denen die verschiedenen Kultursysteme ent-
sprechen. Eine solche systematische Transzendentalpsycho-
logie bildet dann die Grundlage der Geistesgeschichte. In
ihr liegt der Beziehungspunkt für den historischen Vergleich.
Eine Kritik der historischen Vernunft hat in letzter Linie
die Geistesgeschichte zu begründen. ObwTohl nun von diesem
Problem in der vorliegenden Arbeit gar nicht die Rede ist,
habe ich doch nicht auf den Titel „Prolegomena zu einer
Kritik der historischen Vernunft" verzichtet. Mir kam es
VI
auch hier auf die prinzipielle Versöhnung von Psychologie
und Geschichte an, indem ich mich zu zeigen bemühte, daß
die Psychologie nach ihren logischen Grundlagen schon
historische Erkenntnis bedeutet. Die vermeintlich natur-
wissenschaftliche Psychologie kann niemals eine Geistes-
geschichte begründen. Die oben erwähnte Trennung inner-
halb der psychologischen Erkenntnis kann aber für das
kritische Denken keine Lösung des Problems bedeuten,
sondern verschärft nur den Konflikt. Bevor man an eine
Begründung der Transzendentalpsychologie oder der Geistes-
wissenschaften und der Geistesgeschichte herangehen kann,
ist es notwendig, erst allgemein die Erkenntnis des Psychi-
schen im Gegensatz zur Naturwissenschaft zu begründen.
Dieser Vergleich stößt schon auf den Gegensatz des histori-
schen und des mechanistischen Denkens. Und darum be-
deutet die Analyse der psychologischen Erkenntnis wirk-
lich eine Vorarbeit zu einer Kritik der historischen Vernunft
als Grundlegung der Geschichte.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung: Psychologie und Philosophie 1
Kapitel I. Der Gegenstand der Psychologie. Das Bewußtsein
und der Raum 6
,, II. Der inhaltliche Zusammenhang des Bewußtseins . 53
„ III. Der Wille 92
IV. Das Gedächtnis 247
V. Verstehen und Erklären 298
Schluß: Der Monismus 354
Einleitung:
Psychologie und Philosophie.
Es ist ein seltsames Mißverständnis der kritischen
Philosophie, wenn man die neueren Strömungen, die sich
allerorten bemerkbar machen, als biologische Modetendenzen
herabsetzt. Ich will damit keine Popularphilosophie ver-
teidigen, vielmehr halte ich es gerade für die Pflicht der
kritischen Philosophie, sich mit derartigen Problemen zu
beschäftigen. Zweifellos ist auch der Psychologismus ein
Symptom dieser Strömung, und man kann gar nicht genug
gegen die Verfälschung der Logik durch die Psychologie
kämpfen. Völlig verkehrt ist es aber, wenn man die Psycho-
logie überhaupt für die Philosophie ablehnt. Es wird geradezu
widersinnig, wenn man vom Idealismus aus die Kultur als
Tat des Geistes begreift. Nun ist dieser Kampf gegen die
Psychologie begreiflich, wenn man sich an die heutige Wissen-
schaft hält. Setzt man voraus, daß sie prinzipiell in ihrer
Fragestellung richtig ist, so ist es leicht, nachzuweisen, daß
sie mit Philosophie schlechterdings nichts zu tun hat. Daß
die Philosophie identisch ist mit Psychologie, diese Be-
hauptung liegt mir ganz fern. Ebenso wenig wie man aber
kritisch Philosophie ohne Naturwissenschaft treiben kann,
kann man es ohne Psychologie. Man kann vielleicht sagen,
daß die kritische Erkenntnistheorie und die darauf begrün-
dete Metaphysik nichts anderes ist als die Auseinander-
setzung der psychologischen mit der naturwissenschaft-
lichen Erkenntnis. Jedenfalls scheint es mir klar, daß die
einseitige Orientierung an der Naturwissenschaft zu einer
Metaphysik führt, die dem Problem des Lebens und der
Geschichte nicht gerecht werden kann. Und schließlich
Strich, Prinzipien. 1
— 2 —
ist unsere heutige falsche Psychologie auch die Schuld
jener Einseitigkeit. Den Hauptanteil daran trägt — Kant,
insofern er nämlich der falschen Psychologie im Prinzip
eine logische Rechtfertigung gab. Man muß bei der Frage
nach der Stellung der Psychologie in dem Kantschen System
Zweierlei auseinanderhalten. Das Positive, nämlich das
spezifisch Psychologische, das in seiner Erkenntnistheorie
steckt, lasse ich unerörtert; viel wichtiger ist das Negative.
Der schwerwiegendste Fehler seines Systems scheint mir
nämlich darin zu liegen, daß er die Psychologie nicht selbst
mit zum Gegenstand der Erkenntnistheorie gemacht hat.
An sich wäre dieses Unterlassen noch kein Fehler. Bei
Kant liegt es aber so, daß seine Erkenntnistheorie der Natur-
wissenschaft die Erkenntnistheorie überhaupt bedeutet, die
deswegen auch die gesamte Metaphysik zu vertreten hat.
Damit ist in Wahrheit gerade vom idealistischen Standpunkt
aus eine Gleichsetzung von Natur und Geist vorausgesetzt,
auf die sich Kant in seiner Ethik auch wirklich stützt,
um sie hinterher dogmatisch oder unkritisch-metaphysisch zu
überwinden. Gerade von diesem Standpunkt aus aber,
den auch ich zu vertreten behaupte, ist es nicht angängig,
die Erkenntnistheorie und damit die kritische Metaphysik
allein auf die Naturwissenschaft zu gründen. Die Geistes-
wissenschaften oder, wie wir noch sehen werden, die histori-
schen Wissenschaften, haben zum mindesten das gleiche
Recht, eher aber die Priorität, weil auch die Naturwissen-
schaft als Tat des Geistes begriffen werden muß. Um mich
gegen den Vorwurf des Psychologismus zu verwahren, möchte
ich noch einmal bemerken, daß man von der bestehenden
Psychologie mit all ihren Prinzipien und Fragestellungen
zunächst absehen muß. Sie will ich nicht verteidigen, son-
dern im Gegenteil widerlegen. Ich spreche nur von dem
Wissen des Psychischen. Durch seine kritische Grund-
legung kann allein der Streit zwischen Philosophie und Psycho-
logie geschlichtet werden.
— 3 —
Man kann das Kantsche System einen erkenntnis-
theoretischen Monismus nennen. Dies zeigt sich eben darin,
daß die naturwissenschaftliche Erfahrung als „die Erfahrung
überhaupt" hingestellt wird. Gerade vom Standpunkt des
Idealismus aus wäre aber damit zugleich ein metaphysischer
Monismus behauptet. Die Identifizierung von Welt und Raum
ist ein völlig unkritisches Dogma. Nur eine Konsequenz dieser
Behauptung ist die Forderung, daß die letzten Prinzipien
der mathematischen Naturwissenschaft auch für die Er-
kenntnis des psychischen und, wie ich gleich bemerken will,
des biologischen Geschehens normativ und konstituierend
sein sollen. Der Streit zwischen Mechanismus und Vitalis-
mus, Ursache und Zweck, Monismus und Dualismus kann
einzig und allein durch die Erkenntniskritik im Sinne Kants,
aber im Gegensatz zu seinem eigenen System geschlichtet
werden. Gelangt diese zu dem Resultat, daß es nur eine Art
Erkenntnis gibt, so ist der Monismus im Recht. Verschie-
dene Gegenstände können keinen kritischen Dualismus be-
gründen, wenn ihre Verschiedenheit nicht in der Art der
Erkenntnis begründet liegt.
Ich spreche absichtlich allgemein von Arten der Er-
kenntnis, um einem Wortstreit aus dem Wege zu gehen.
Hält man an dem spezifischen Sinn fest, den Kant dem
Begriff „Erfahrung" gegeben hat, so kann man, wie wir
noch sehen werden, allerdings keine andere Erfahrung an-
erkennen, als die Naturwissenschaft. Der erkenntniskritische
Dualismus ist aber gerade darin begründet, daß diese Er-
fahrung unsere Erkenntnis im allgemeinen nicht erschöpft.
Ich brauche wohl kaum zu bemerken, daß es dabei nur auf
den logisch-erkenntniskritischen Begriff der Erfahrung an-
kommt. Daß auch jene andere, noch nicht bestimmte Art
der Erkenntnis auf Erfahren im psychologischen Sinne be-
ruht, soll natürlich nicht bestritten werden. Lediglich auf
die Verschiedenheit der Prinzipien der Erkenntnis kommt es
an. Von diesem Standpunkt aus ist es z. B. ein unkritisches
1*
— 4 —
Dogma, daß die Handlung des Menschen als Teil der Natur
kausal bestimmt sei, wie es Kant annimmt, und weshalb
er sich in seiner Ethik nur mit einem anderen unkritischen
Dogma aus dem Monismus herausretten kann. Die Über-
tragung der Kausalität auf das Psychische ist ein Verstoß
gegen die transzendentale Logik. Erkenntniskritisch be-
deutet es eine ungerechtfertigte Gleichsetzung von Natur-
erfahrung und psychologischer Erkenntnis. Denn vom idealisti-
schen Standpunkt aus kann ja nur die Erkenntnis die spe-
zifische Art des Seins begründen.
Das Dogma von Kant besteht also in der Identifizierung
der reinen Vernunft mit der erkennenden Vernunft über-
haupt. Seine Erkenntniskritik muß ergänzt werden durch
eine Kritik der historischen Vernunft, die allerdings keine
Erfahrung in seinem Sinne begründen kann. Aber darin
steckt eben der unvermeidliche Dualismus der Vernunft
oder der Welt überhaupt.
Nun aber das Problem der Methode! Bestünde wirk-
lich die erkenntniskritische Aufgabe nur in der Analyse
einer gegebenen Wissenschaft, wie es die Newtonsche Natur-
wissenschaft ist, so wäre uns der Weg abgeschnitten. Denn
es gibt nicht im selben Sinne eine Psychologie, auf die eine
solche Analyse anwendbar wäre. Diese Spezialisierung ist
aber für die Erkenntniskritik auch nicht notwendig. Kant
hat gar nicht an die Newtonsche Naturwissenschaft an-
geknüpft, sondern nur an die formale Möglichkeit, aus der
Natur im Raum ein wissenschaftliches System zu konstruieren,
also nur an den Begriff einer Naturerkenntnis überhaupt.
Nur soweit kann auch die Analyse der Urteile reichen, von
der Kant doch ausgeht. Hätte er wirklich ein inhaltlich
wissenschaftliches System seiner Theorie zugrunde gelegt,
so wäre der Einwand berechtigt, daß sie philosophisch
ephemär und zufällig sei. In jener Methode aber können
wir ihm folgen. Es gibt zweifellos eine psychologische Er-
kenntnis, wenn es auch meines Erachtens keine richtige
— 5 —
Wissenschaft „Psychologie" gibt. Und diese Erkenntnis,
die sich im Gegensatz zu der Raumerkenntnis als historische
herausstellen wird, gilt es auf ihre Prinzipien hin zu analy-
sieren.
Ich wiederhole: Schon der Nachweis, daß es keine
Psychologie als Erfahrung im Sinne Kants geben kann, ist
ein Erfolg; denn damit fällt vom Standpunkt der idealisti-
schen Erkenntniskritik sofort das Dogma von der kausalen
Bestimmtheit der Handlung fort, da ja diese nur als Prinzip
dieser Erfahrung logisch begründet ist. Kant hat die Prin-
zipien der Erkenntnis der Welt im Raum begründet. Es gilt
die davon unabhängige Erkenntnis der historischen Welt
zu begründen. Der Sinn dieser Gegenüberstellung wird noch
deutlich werden. Kant hat die Erkenntnis nur soweit unter-
sucht, wie sie an den Raum gebunden ist. Daneben aber
gibt es eine Erkenntnis, die gerade durch den Mangel des
Raums als Methode zu charakterisieren ist.
Es ist bei der Art unserer Untersuchung selbstverständ-
lich, daß wir unsern Ausgangspunkt nicht bei dem psychi-
schen Moment des Erfahrens nehmen. Die falsche Theorie
der Selbstbeobachtung oder der inneren Wahrnehmung
werden wir im Laufe der Arbeit allerdings zu kritisieren
haben. Ebenso nichtssagend ist aber für uns die Gegenüber-
stellung von mittelbarer und unmittelbarer Erfahrung, die
sich zu einem Begriff der Erfahrung ergänzen sollen. Für uns
kommt es gerade darauf an, die logischen Verschieden-
heiten festzustellen, die sich durch den verschiedenen Stand-
punkt ergeben. Sonst bleibt die Gegenüberstellung im
Psychologismus stecken.
Allgemein philosophisch kann man sagen: Der Kritik
der reinen Vernunft kam es darauf an, den Skeptizismus zu
widerlegen durch die Begründung des Kausalitätsgesetzes;
der Kritik der historischen Vernunft kommt es ebenfalls
darauf an, einen Skeptizismus zu widerlegen, nämlich durch
die Begründung der Nicht- Kausalität im Psychischen.
— 6 —
Denn philosophisch muß das Dogma von der kausalen Be-
stimmtheit des Psychischen natürlich einen Skeptizismus
begründen. Daß Kant Platz geschaffen hat für die Freiheit
des Willens, kann man ihm nicht zugestehen. Nur durch
den Dualismus der reinen und der historischen Vernunft
läßt sich diese begründen.
I. Der Gegenstand der Psychologie. Das Bewußt-
sein und der Raum.
Es gilt zunächst ganz allgemein das psychische Objekt
als Gegenstand der Erkenntnis zu bestimmen. Dies ist ein
keineswegs einfaches Problem. Vor allem muß man sich
klar machen, daß es durch den Begriff des Bewußtseins
ebenso wenig gelöst ist, wie durch den der Seele. Wir müssen
vielmehr sofort auf die Erkenntnis im allgemeinen zurück-
greifen, um in ihrem Rahmen die Wesenhaftigkeit des
Spezifisch-Psychischen zu bestimmen. Dies hängt aufs
Engste mit jenem oben behaupteten Dualismus zusammen.
Das Psychische ist kein besonderer Gegenstand neben dem
Raum, der ebenso wie dieser der Erfahrung im allgemeinen
zugänglich wäre. Dieser naive Dualismus seitens der Gegen-
stände, der notwendigerweise dem kritischen — oder in
diesem Falle eben unkritischen — Monismus der Erkenntnis
entspricht, trägt die Schuld an unserer ganzen widersinnigen
Psychologie. Man reißt die Welt an einem Punkte auseinander
und wundert sich dann, daß man sie nicht mehr zusammen-
fügen kann. In Wirklichkeit ist man noch nicht über jenen
Standpunkt hinweggekommen, der in dem Psychischen ein
Abbild, in den Vorstellungen reale Bilder, etSoXa, der
wirklichen Dinge sah. Ob man diese Bilder durch Röhrchen
ins Gehirn wandern läßt, oder sie als kausale Wirkungen
der realen Dinge im Räume ansieht, ist völlig gleichgültig.
— 7 —
Nur darauf kommt es an, daß man von einer realen Wesens-
\ erschiedenheit der Vorstellung und des wirklichen Dinges
ausgeht. Es ist üblich geworden, die Wellenbewegung für
die Ursache des Tons auszugeben. Diese Anschauung ist
aber völlig unkritisch. In Wahrheit ist die Wellenbewegung
eine Umdenkung des Tons, niemals aber seine Ursache.
Ebenso wenig ist ein Körper im Raum die Ursache seiner
Wahrnehmung, sondern er ist der Gegenstand der Wahr-
nehmung — naturwissenschaftlich gedacht. Hier zeigt es sich,
ob man den Gegensatz von mittelbarer und unmittelbarer
Erfahrung kritisch oder psychologisch faßt. Besteht der
Unterschied wirklich nur in dem Standpunkt oder, wie wir
sagen, in den logischen Prinzipien des Denkens, dann ist das
Psychische kein an sich vom Physischen verschieden gegebener
Gegenstand. Dann aber ist auch die Rede von der kausalen
Folge des Psychischen durch das Räumliche unsinnig. Ab-
strahiert man bei einer Vorstellung von der Existenz des
Gegenstandes im Raum, so bleibt nicht ein aus psychischen
Elementen bestehendes Ding ,, Vorstellung" zurück, sondern
diese Abstraktion bedeutet in Wahrheit nur einen Unter-
schied des Denkens oder Auffassens. Das eine Mal wird
das Phänomen gedacht als Teil des Raumsystems ,, Natur",
das andere Mal als Teil des Zeitsystems „Subjekt". Faßt
man den Unterschied von mittelbarer und unmittelbarer
Erfahrung in diesem kritischen Sinne auf, so hat es keinen
Sinn mehr, von ,, einer" Erfahrung und verschiedenen Gegen-
ständen zu sprechen, wodurch die Psychologie logisch auf
eine Stufe mit der Naturwissenschaft zu stehen käme. Viel-
mehr wird die Verschiedenheit der Gegenstände, Psychisches
und Physisches, gerade durch den Unterschied der logischen
Denkarten begründet.
Wir stoßen also hier schon auf den Grundirrtum der
psychologischen und daraufhin der metaphysischen An-
schauung, den man auf das Primat des Raumdenkens zu-
rückführen oder eine Verfälschung durch dieses nennen kann.
— 8 —
Man konstruiert neben dem wirklichen, sagen wir : dem räum-
lichen Raum, einen unräumlichen psychischen, den man für
gewöhnlich das Bewußtsein nennt. Man zerreißt die Welt
in zwei, als gegeben angenommene Räume, von denen der
eine noch dazu die kausale Folge des andern sein soll. Man
sieht nicht, daß die Existenzform des Bewußtseins nur auf
einem spezifischen Denken beruht. Viel Schuld an diesem
Irrtum trägt die Sprache, die sich an dem Raumdenken
gebildet hat; allerdings gilt dies größtenteils nur von der
scheinbar wissenschaftlichen Ausdrucksweise der reflek-
tierenden Psychologie. Es ist üblich geworden, von der
Anwesenheit psychischer Elemente, Empfindungen, Vor-
stellungen, Gefühlen usw. „im" Bewußtsein zu sprechen.
Gar zu leicht aber vergißt man, daß diese dem Raum ent-
lehnte Ausdrucksweise nichts mehr als ein Bild ist. Man
läßt etwas im Bewußtsein hervorgerufen werden, was an
sich im Raum nicht existiert, ohne zu bedenken, daß man
damit das Bewußtsein selbst schon zu einem Raum neben
dem wirklichen Raum gemacht hat. Zwar leugnet man,
daß man sich das Bewußtsein räumlich vorstellt, aber wesent-
lich ist nur, daß man es als Raum denkt, und dies tut man
schon eben dann, wenn man eine besondere Art Gegenstände
neben dem Raum als unmittelbar existierend denkt.
Dabei kommt es uns keineswegs darauf an, ob man die
Vorstellungen für mehr oder minder konstante Dinge hält
oder nicht. Man dünkt sich weit über den Standpunkt Her-
barts hinaus, wenn man den Vorstellungen die Dinglichkeit
abspricht und sie in psychische Elemente auflöst. Im Prinzip
aber besteht gar kein Unterschied. Nur ist die Elementar-
theorie noch gefährlicher, weil sie nicht ganz so leicht zu
durchschauen ist. Ich komme auf die Kritik des Element-
begriffs in der Psychologie noch zu sprechen. An dieser
Stelle handelt es sich nur darum, daß in beiden Fällen eine
Wesenhaftigkeit des Psychischen konstruiert wird, die der
Art nach von dem Physischen im Raum verschieden sein
— 9 —
soll. Dieser naive Dualismus ist der Grundirrtum. Man
setzt damit irgend ein Medium voraus, in dem die psychi-
schen Elemente existieren, und auf Grund dieser Anschauung
war man allerdings genötigt, theoretisch jenen widersinnigen
Begriff der Selbstbeobachtung, der inneren Wahrnehmung
oder des inneren Sinnes zu konstruieren. Daß es sich nur
um eine Konstruktion handelt, dürfte wohl klar sein. Ob ein
Mensch in seiner Eigenschaft als Physiker oder als Psychologe
das beobachtet, was er sieht, ist doch ganz gleichgültig.
Ebenso nichtssagend ist aber auch der Unterschied des
optischen Sinnesgebietes von irgend einem anderen. Mein
Körper ist genau so ein Teil der Welt im Raum wie das
Thermometer. Beobachte ich meine Bewegungsempfindungen,
so beobachte ich die Welt im Raum und keine psychischen
Elemente. Oder aber die Welt im Raum besteht selbst aus
diesen psychischen Elementen. Hält man wirklich Töne und
Farben für psychische Elemente, so bestände der Raum aus
Unräumlichem. Dann hätten wir aber wieder keine Mög-
lichkeit der Trennung von Physischem und Psychischem.
Von unserem Standpunkt aus ist diese Trennung auf Grund
einer gegebenen Artverschiedenheit auch unmöglich. Aber
ich würde die Farbe oder den Ton weder ein psychisches
noch ein physisches Element nennen. Ich bezeichne sie zu-
nächst einmal ganz allgemein als Weltbestimmtheiten, und
diese allein nehmen wir wahr. Erst damit haben wir mit
dem Begriff der Aktualität im Gegensatz zu dem des Dinges
Ernst gemacht. Nennt man die Farbe eine Empfindung und
diese ein psychisches Element, so hat man das Psychische
genau so verräumlicht, wie wenn man die Vorstellung eines
Körpers für ein Ding hält. Die Ordnung der Farben zu einem
System ist daher für uns auch gar kein psychologisches
Problem, sondern viel eher, wie man gesagt hat, ein Problem
der allgemeinen Gegenstandstheorie. Aus diesen Welt-
bestimmtheiten, den Kantschen ,,Datis der Sinnlichkeit"
oder den Phänomenen konstruiert das Denken einmal die
— 10 —
Natur, das andere Mal das Subjekt. Von der psychischen
Tätigkeit des Erfahrens aus ist der Einheitspunkt das Er-
lebnis der Weltbestimmtheiten. Dies gilt sowohl für den
Psychologen wie für den Physiker. Beide nehmen keine
psychischen Elemente wahr, sondern die farbige und tönende
Welt. Der Unterschied zwischen beiden liegt nicht in dem
Akt der Wahrnehmung, sondern in der spezifischen Form
der Erkenntnis, die sich in der Form ihrer Urteile ausdrückt.
Die Erkenntnis des Psychologen vollzieht sich im Wahr-
nehmungsurteil, die des Physikers im Erfahrungsurteil,
beide Termini im Sinne Kants genommen.
Man muß sich also vor allem von dem Vorurteil frei-
machen, daß es eine Welt im Raum und daneben, in einem
andern Raum, nämlich dem Bewußtsein, noch eine andere,
unausgedehnte psychische Welt gibt. Diese Meinung ist
ebenso verkehrt wie die, daß neben der Erscheinung noch
irgendwo ein Ding an sich existiert. Wir erleben unmittel-
bar die Welt mit allen ihren Bestimmtheiten und konstruieren
daraus, nämlich in der Naturwissenschaft, die Natur im
Raum. Diese Konstruktion ist eine Objektivierung der Kant-
schen Data. Über diese gelangen wir nicht hinaus. Wir
können uns die Welt nur so vorstellen, wie wir sie wahr-
nehmen, d. h. mit den Bestimmtheiten, die wir die Data
der Sinnlichkeit nennen. Ganz genau dasselbe meint man
damit, daß wir die Welt immer nur in Bezug auf ein Bewußt-
sein bestimmen können. Daß hierbei, bei dem Vorstellen,
noch nicht von dem Kantschen „Bewußtsein überhaupt"
die Rede ist, brauche ich wohl kaum zu bemerken. Man kann
keine Bestimmtheit der Welt angeben ohne in Bezug auf
ein mögliches Erlebnis. Wo man über sein momentanes
Bewußtsein hinausgeht, existiert die Welt auch weiterhin
nur so, wie sie bewußt werden kann, d. h. im Moment un-
bewußt. So existiert für mich die Palme am Nil unbewußt,
und dies ist der einzig kritische Begriff des Unbewußten.
Neben der Farbe als Weltbestimmtheit gibt es also keine
— 11 —
Farbe als ein wesensverschiedenes psychisches Element.
Die Farbe ist räumlich ausgedehnt und existiert entweder
bewußt oder unbewußt. Jedenfalls aber ist die Welt bestimm-
bar nur als Gegenstand eines möglichen Bewußtseins. Der
Einheitspunkt der Erkenntnis ist also das Datum der Sinn-
lichkeit oder das Erlebnis der Welt. Was man fälschlicher-
weise als psychische Elemente, Empfindungen, bezeichnet,
sind, wie man auch sagen kann, qualitative Bestimmtheiten
des Raumes. Es ist daher völlig müßig, darüber zu streiten,
ob die Empfindung im Bewußtsein oder im Raum existiert.
Sie existiert im Bewußtsein wie der Raum selbst im Bewußt-
sein existiert. Sie existiert im Raum wie der Körper im Raum
existiert. Besser sagte man aber im ersten Falle nicht „im"
Bewußtsein, sondern „für" das Bewußtsein. Bevor wir
zu dem mathematischen Raum der Naturwissenschaft über-
gehen, existiert das Räumliche ja auch nur als Weltbestimmt-
heit für ein Bewußtsein, entweder bewußt oder unbewußt.
Nennt man „rot" eine Empfindung, so ist das Dreieck
genau so eine Empfindung. Besser aber nennt man beides
W7eltbestimmtheiten, die man meinetwegen als inhaltliche
und formale auseinanderhalten kann. An sich besteht
nicht der geringste Unterschied. Eine jede qualitative
Bestimmtheit ist irgendwo und jedes Irgendwo ist quali-
tativ bestimmt. In der falschen Sprache unserer Psycho-
logie ausgedrückt heißt das: jede Empfindung ist räumlich
bestimmt.
Es liegt mir ganz fern, hier den unfruchtbaren Streit
zwischen Nativisten und Empiristen aufrollen zu wollen.
Der Raum ist der Gegenstand unserer Wahrnehmung. Wie
wir dazu kommen, einen Raum wahrzunehmen, ist eine
völlig absurde Frage, ungefähr gleichbedeutend mit der,
wie es kommt, daß es eine Welt gibt. Nachdem wir nämlich
den Einheitspunkt der Erkenntnis in dem Erlebnis erkannt
haben, ist die Frage, wie das Raumerlebnis entsteht, gleich-
bedeutend mit der, wie der Raum entsteht. Der Raum ist
— 12 —
nichts anderes als Gegenstand des Erlebens. Mit der Be-
hauptung, daß er angeboren ist, läßt sich überhaupt kein
vernünftiger Sinn verbinden. Natürlich wird er erfahren,
insofern er wie jede andere Weltbestimmtheit erlebt wird.
Ich erfahre, daß die Welt dort dreieckig und außerdem
schwarz ist. Noch viel weniger kann man es aber verstehen,
wenn behauptet wird, daß diese Erfahrung des Räumlichen
abgeleitet werden müsse aus der Erfahrung der Qualitäten
oder, wie man fälschlicherweise sagt, aus den Empfindungs-
elementen. Hier zeigt sich ganz deutlich jenes Zerreißen
der Welt, jener absurde Dualismus, jene Verräumlichung des
Psychischen selbst. Man nimmt einen Raum an und außer-
dem eine Welt von psychischen Elementen, die an sich
nichts mit dem Raum zu tun haben, aus deren Qualitäten
sich erst die Raumwahrnehmung bilden soll. Es gibt aber
keinen vernünftigen Grund dafür, daß die psychischen Ele-
mente nur qualitativ bestimmt sind, und der Raum kein
solches Element ist. Man ist sich klar darüber, daß Farbe
und Raumform nur durch künstliche Abstraktion zu trennen
sind. Warum soll dann aber die Farbe ein psychisches Element
sein, und die Raumform nicht ? Es ist eben die Unsinnig-
keit der psychischen Elemente, die an der ganzen Ver-
wirrung Schuld hat. Da ist das Erlebnis der farbigen Fläche.
Weder die Farbe noch die Fläche ist ein psychisches Element,
sondern beide sind Bestimmtheiten der Welt als Gegenstand
des Erlebens, und eine andere gibt es nicht. Eine ganz andere
Frage ist es aber, wie wir lernen, uns im Räume zu orientie-
tieren. Hierbei handelt es sich nicht mehr um unmittelbare
Erlebnisse, sondern um Meinungen. Sie berührt unsere Frage
in keiner Beziehung. Allerdings ist die Auflösung der Raum-
wahrnehmung in die unmittelbaren Sinnesqualitäten nur die
Konsequenz der heute als wissenschaftlich geltenden psycho-
logischen Anschauung. Geht man überhaupt von unräum-
lichen, psychischen Elementen aus, so muß man auch den
Raum in solche auflösen, da man ihn selbst nicht gut als
— 13 —
ein unräumliches Element bezeichnen kann. Meiner Ansicht
nach beweist diese Konsequenz nur die Falschheit der Prä-
misse, nämlich der Bevorzugung der qualitativen Bestimmt-
heiten als gegebener psychischer Elemente1.
Auch wenn wir das Problem von der entwicklungs-
geschichtlichen Seite betrachten, so muß das Raumerlebnis
mindestens ebenso ursprünglich sein wie das Qualitäts-
erlebnis. In Wahrheit ist das eine ohne das andere nicht
denkbar. Das Gegenteil aber wäre absolut unverständlich.
Die Orientierung im Räume ist auf der primitivsten Stufe
des Psychischen so absolut notwendig, daß die Qualitäten
nur als Raumsignale überhaupt von Nutzen sein können.
Die Psychologie hat es also nicht mit psychischen
Elementen zu tun, die unabhängig vom Raum existieren,
sondern nur mit den Erlebnissen der Raumwelt, und das
bedeutet einen gewaltigen Unterschied. Man wird hier
vielleicht einwenden, daß die Vorstellung im Gegensatz zur
Wahrnehmung doch kein Erlebnis der Raumwelt ist, da ja
ihr Gegenstand nicht wirklich existiert. Aber die Wirklich-
keit der Welt hat hiermit überhaupt nichts zu tun. Sie ist
ein kritischer Begriff der Naturwissenschaft. Wir denken
gar nicht mehr psychologisch, wenn wir die Gegenstände als
wirklich und unwirklich unterscheiden. Psychologisch ist
die Halluzination genau so ein Erlebnis der Welt wie die
Wahrnehmung, und wenn wir auch nicht an die Wirklich-
keit der erlebten Welt glauben, so erleben wir doch die Welt
und keine psychischen Elemente.
Die falsche Psychologie beruht also auf einem Fehler
der Metaphysik, eben jenem geschilderten Zerreissen der
Welt in physische und psychische Elemente. Nur so konnte
1 Die Auflösung würde übrigens nie gelingen, wenn man
nicht den Raum in den Bewegungsempfindungen hineinschmuggeln
würde. Die Empfindung der Bewegung ist eben das Raumerlebnis,
und Intensitätsunterschiede dieser Empfindungen sind in Wahrheit
nur Größenunterschiede des erlebten Inhalts.
— 14 —
überhaupt das Problem von der Existenz der Außenwelt
entstehen. Von welcher Seite man auch ausgeht, immer
muß die andere problematisch werden. Es ist gar nicht wahr,
daß wir zunächst nur von psychischen Elementen, Empfin-
dungen, wissen. Unter dieser Voraussetzung würde aller-
dings die Welt im Raum problematisch werden. Aber selbst
der Solipsist weiß nichts von psychischen Elementen, son-
dern nur von Welterlebnissen, und wäre diese angenommene
Person das Genie jcoct' sxox^v, so bestünde auch für sie
trotz ihres Solipsismus die Außenwelt, nämlich als Gegen-
stand der Naturwissenschaft, die in diesem Falle eben das
Werk eines einzigen Menschen wäre. Der Unterschied läge
also nur darin, daß der Solipsist annimmt, daß er als Ein-
ziger die Welt erlebt, nicht aber darin, daß keine Welt,
sondern nur seine psychischen Elemente existierten. Ein
Problem liegt nur darin, wie man dazu kommt, an die Exi-
stenz psychischer Elemente zu glauben, nicht aber in dem
Glauben an eine Außenwelt. Existenz der Außenwelt heißt
terminologisch nichts anderes als Gegenstand des Bewußt-
seins, wenn man zunächst von der wissenschaftlichen Kon-
struktion der Existenz absieht. Fragt man aber nach dem
Recht der Existenz unabhängig von dem individuellen Be-
wußtsein, so handelt es sich da gar nicht um einen psycho-
logisch begreiflichen Glauben, sondern um die Tat der Natur-
wissenschaft, die diese Existenz konstruiert, nun nicht mehr
als Gegenstand eines individuellen Bewußtseins, sondern als
den des „Bewußtseins überhaupt".
Wir behaupten also, daß es keine psychischen Elemente
gibt, die der Welt im Räume wesensverschieden gegenüber-
stünden, sondern die im Raum gedachte Welt ist aus den-
selben datis der Sinnlichkeit konstruiert, die auch der un-
mittelbare Gegenstand der Psychologie sind. Nur der Stand-
punkt der Erkenntnis ist verschieden. Die Hauptaufgabe
ist es, diese Verschiedenheit logisch und nicht nur termino-
logisch festzulegen.
— 15 —
Dieser Unterschied zeigt sich zunächst darin, daß das
naturwissenschaftliche Denken die Weltbestimmtheiten als
Existenz im Raum auffaßt, das psychologische aber als
Existenz in der Zeitreihe „Subjekt". Der Körper im Raum
bewirkt keine Summe psychischer Elemente im Bewußtsein,
sondern wir denken einmal das Phänomen als Teil des
Raums, das anderemal als Teil der Zeitreihe „Bewußtsein".
Der Ausgangspunkt für Beides ist das Phänomen oder das
Datum der Sinnlichkeit. Die Erkenntnis aber ist verschieden,
nämlich einmal räumlich, das andere mal historisch. Die Wahr-
nehmung des Körpers ist nichts anderes als das Datum
historisch gedacht, der Körper selbst das Datum räumlich
gedacht.
Metaphysisch kann man sagen, daß die Welt nichts
anderes ist, als die unendlich vielen Reihen der Erlebnisse
der Subjekte. Wenigstens können wir die W7elt, auch wo
wir historisch noch keine Subjekte annehmen, doch nur als
Gegenstand möglicher Erlebnisse seitens der Subjekte be-
stimmen. Aber es genügt nicht, daß man das Wesen der
Welt lediglich als Reihe der Phänomene bestimmt. Das
Wesentliche des kritischen Phänomenalismus liegt vielmehr
in der Monadenlehre von Leibniz ausgesprochen. Man hat
gegen sie eingewandt, daß, wenn wirklich jede Monade die
ganze Welt vorstellt, und die Welt wieder nur aus solchen
Monaden bestände, die Welt, bildlich ausgedrückt, in der
Luft schweben würde. Diese Argumentation ist richtig,
aber kein Einwand. Allerdings schränke ich den Begriff
der Monade auf das lebende Subjekt ein. Dann aber ist es
unzweifelhaft so, daß die Welt ursprünglich in der Luft
schwebt. Besser allerdings würde man sagen, daß es gar
keine Welt gibt. Das scheinbar Widersinnige, was in dieser
Behauptung liegt, schwindet, wenn man den Akzent darauf
verlegt, daß es garnicht „eine" Welt gibt. Existieren täten
die Monaden, und jede Monade stellte die Welt vor. Ebensogut
aber könnte man sagen, daß diese Welt gar nichts anderes
— 16 —
ist als diese Monade. D. h. die Welt ist nichts anderes als
die Zeitexistenz der Monade, die Zeitreihe ihrer Phänomene,
zu denen natürlich auch der Raum gehört. Da es aber eine
unendliche Anzahl Monaden gibt, so gibt es auch eine un-
endliche Anzahl von Welten. „Die" Welt existiert nur als
Gegenstand der Naturwissenschaft. Erst diese konstruiert
sie als Gegenstand für die Monade überhaupt aus den un-
endlich vielen Welten, die als Inhalt der Monaden existieren.
Die Monade hat aber keine Fenster. Darin liegt der Phä-
nomenalismus ausgesprochen. Die Welt ist nichts anderes
als die Monade selbst. Erst die Naturwissenschaft konstruiert
„eine" wirkliche Welt, nämlich das System der Natur.
Und nun zeigt sich der Gegensatz von Psychologie und Natur-
wissenschaft. Die Psychologie konstruiert keine psychische
WTelt, die logisch dem System der Natur entsprechen würde.
Die metaphysische Konsequenz aus diesem erkenntnis-
kritischen Resultat ist dies: Spinoza hätte Recht, wenn es
keine Monaden gäbe. Die Substanz im Räume ist das System
der Natur, aber eine unausgedehnte, psychische Welt gibt
es nicht. Der Schwerpunkt liegt auf „eine". Sie könnte
nur existieren als System der Psychologie. Eine solche
Wissenschaft aber gibt es nicht. Das soll der Zentralpunkt
unserer ganzen Untersuchung sein. Statt der „einen"
psychischen Welt gibt es die unendliche Anzahl der Monaden,
von denen jede als Mikrokosmos der „einen" Natur als
Makrokosmos entspricht.
Die Monade, das Subjekt oder das Bewußtsein ist das
System, das die psychologische Erkenntnis erzeugt. Ver-
gleichen wir dieses System mit der Natur, so stoßen wir
auf den wichtigsten Gegensatz, den es für die Philosophie
geben kann. Das Bewußtsein ist die historische Ordnung der
Welt, die Natur die zeitlose, das System der platonischen
Ideen. Wir sagen wohl, daß die Naturvorgänge in Raum
und Zeit sich abspielen, das hindert aber nicht, daß die
Natur als Gegenstand der Naturwissenschaft nicht in
— 17 —
der Zeit existiert. Natürlich ist aber diese zeitlose Natur
oder die Substanz nur das Ziel oder eine Idee der Wissen-
schaft.
Der Ausgangspunkt ist das Phänomen. Als Wahrnehmung
existiert es rein in der Zeit, und zwar stets für ein individuelles
Bewußtsein. Der Raum ist dann selbst nur Erlebnis. So
wie er zur Existenzform wird, hat das Denken sich geändert.
Jetzt wird gefragt, was im Raum existiert, und das Streben
der Wissenschaft muß dahin gehen, diese Bestimmung mög-
lichst rein, d. h. mit Ausschluß alles Zeitlichen zu vollziehen.
Sie will feststellen, was dort zeitlos als Teil der ewigen
Substanz existiert. Diese Substanz aber erregt nicht das
Phänomen, sondern sie ist nur eine Existenzform der Welt,
die das Denken aus der ursprünglich rein historischen Exi-
stenz des Phänomens konstruiert. Solange die Bestimmtheit
als Substanz nicht erreicht ist, ist die Bestimmung noch
historisch, das Erfahrungsurteil aus dem Wahrnehmungs-
urteil noch nicht gewonnen. Wir sagen etwa: ich sehe einen
Tisch. Dieses Wahrnehmungsurteil faßt die Welt historisch
auf. Die Phänomene, die man auch Empfindungen nennt,
denke ich als Teil einer Zeitreihe : Subjekt, Bewußtsein oder
Ich. Wenn ich nun aber auch sage: dort steht ein Tisch, so
hat sich logisch an dem Urteil nichts geändert. Es bleibt
ein Wahrnehmungsurteil, nur der sprachliche Ausdruck ist
anders. Nur scheinbar haben wir ein Erfahrungsurteil über
den Raum abgegeben. In Wirklichkeit bleibt es ein histori-
sches Urteil. Denn der Tisch existiert gar nicht im Raum,
sondern nur in der Zeit. In der Welt der Naturwissenschaft
gibt es keinen Tisch und keinen Stuhl, aber auch keinen Arm
und keinen Kopf. Existieren tun ausschließlich jene letzten
Teile, in denen der Naturwissenschaftler die Substanz im
Raum denkt. Der Tisch existiert nur als historisches Objekt,
von einer ganz bestimmtem Dauer, nämlich solange er als
Tisch zu gebrauchen ist. Für die Naturwissenschaft existiert
aber die Raummasse, die wir Tisch nennen, ewig, d. h. zeit-
Strich, Prinzipien. 2
— 18 —
los. Für sie existiert im Moment nur eine besondere Kon-
stellation der Substanz, die selbst zeitlos ist. Nur die Form,
die die Substanz eingeht, existiert konstant und hat eine
bestimmte Dauer. An sich existieren im Raum dort, wo wir
den konstanten Körper wahrnehmen, stetige Veränderungen,
die wir letzten Endes als Lageänderungen zeitloser Elemente
erkennen sollen. In dieser Erkenntnis der ewigen Verände-
rung bestand die Weisheit des alten Heraklit. Von der
Naturwissenschaft aus existiert allerdings in zwei Momen-
ten nicht mehr derselbe Tisch. Darum aber ist unser
Urteil über den Tisch nicht falsch. Es ist nur kein natur-
wissenschaftliches, sondern ein historisches Urteil. Es ist
also nicht richtig, wenn man sagt: es existiert im Raum
der Tisch und im Bewußtsein die Vorstellung von ihm,
als ob das zwei wesensverschiedene Gegenstände wären, der
eine aus physischen, der andere aus psychischen Ele-
menten. Vielmehr denke ich die Welt einmal historisch als
Teil des Zeitsystems Subjekt, das andere Mal natur-
wissenschaftlich als Teil des einen Systems Natur. Histo-
risch aber existiert der Tisch gar nicht in einer Welt,
sondern nur in einer der unendlich vielen Zeitreihen, die wir
Monade, Bewußtsein, Ich oder Subjekt nennen. Stelle ich
eine andere Monade, eine Amöbe oder auch einen anderen
Menschen, vor denselben Raumausschnitt, so wäre es ganz
töricht, eo ipso zu behaupten, daß ein Tisch wahrgenommen
würde. Nehmen wir einmal an, der Tisch sei defekt, dann
wird er nur von dem als Tisch erlebt werden, der ihn noch
als solchen anerkennt. Ein anderer sieht vielleicht nur einen
Haufen Bretter, und was die Amöbe wahrnimmt, hat wohl
schwerlich etwas mit einem Tisch zu tun. Als Raumausschnitt
aus der Substanz existiert aber für alle in einem Moment
ganz das gleiche, nämlich das, was die Naturwissenschaft
dort denkt.
Wir stellten fest, daß es widersinnig ist, von einer Exi-
stenz psychischer Elemente zu sprechen, die wesensver-
— 19 —
schieden von den Raumteilen als Empfindungen im Bewußt-
sein anwesend wären. Im Bewußtsein anwesend ist höchstens
der qualitativ bestimmte Raum, der auch der Gegenstand
der naturwissenschaftlichen Bearbeitung ist. Nur kann schon
diese Ausdrucksweise zu Mißverständnissen Anlaß geben,
denn gar zu leicht verfällt man in das Raumdenken, als ob
das Bewußtsein ein Raum wäre, in den etwas hineingelangt
und aus dem es wieder verschwindet. In Wahrheit denkt
auch unsere Psychologie so, wenn man auch im ersten
Paragraphen behauptet, daß das Psychische unausgedehnt
ist. Sonst wäre man nie darauf verfallen, Psychologie als
Naturwissenschaft auszugeben, psychische Elemente zu be-
haupten, oder gar einen psycho-physischen Parallelismus
als notwendiges Prinzip aufzustellen. Denn alles das ist nur
möglich, wenn man das Raumdenken auf die Psychologie über-
trägt. Es gibt keine Welt, die ins Bewußtsein gelangt, die
Monade hat keine Fenster, sondern die Welt ist höchstens
das Bewußtsein selbst. Dieses ist eben an sich gar nicht von
seinem Inhalt zu trennen, und die Welt ist nichts anderes
als Bewußtseinsinhalt. Nur muß man sich das Grundprinzip
des Idealismus klarmachen, daß wir nämlich denkend über
das Denken nicht hinauskommen. Wenn ich sage: die
Welt ist nichts anderes als Inhalt eines Bewußtseins, so denke
ich die Welt, und zwar historisch. Sage ich: die Welt ist
Substanz in Raum und Zeit, so denke ich sie auch, und zwar
naturwissenschaftlich. Die Welt an sich ist deshalb wider-
sinnig. Ich kann sie nur in diesen beiden Formen denken
und kann sie nicht bestimmen, ohne zu denken. Dagegen
ist es falsch, die Erkenntnis der Welt an sich dadurch zu
widerlegen, daß wir nur durch unsere Sinne wahrnehmen.
Hinter den Sinnen steht gar nichts, sondern die „data"
der Sinnlichkeit sind der Ausgangspunkt unserer Denk-
konstruktion. Es ist aber von vornherein auch grund-
falsch zu sagen, die Welt ist der Inhalt „des" Bewußt-
seins. Denn vom individuellen Bewußtsein aus gibt es
2»
— 20 —
nur meine, deine und seine Welt, nicht aber „die" Welt.
„Die" Welt existiert als die Natur, als Gegenstand „des
Bewußtseins überhaupt". Damit denke ich nun nicht mehr
historisch oder psychologisch. Diese Welt wird nicht durch
eine Kausalwirkung Inhalt eines individuellen Bewußtseins,
sondern sie entsteht nur durch eine andere Auffassung der
zunächst historisch gedachten Welt. Behauptet man also
psychische Elemente, so besteht die Welt im Raum aus ihnen,
nicht aber das Bewußtsein. Ich fasse die Welt entweder als
Inhalt eines individuellen Bewußtseins auf — dann denke
ich psychologisch oder historisch; oder ich fasse sie als Inhalt
des Bewußtseins überhaupt auf — dann denke ich sie natur-
wissenschaftlich. Welt und Bewußtsein losgelöst voneinander
verlieren jeden Sinn. Dieser Dualismus, der für eine Er-
fahrung zwei Gegenstände annimmt, ist unkritisch. Der
kritische zeigt sich darin, daß die Welt nur nach zwei Seiten
hin aufgefaßt werden kann. Gehe ich aber von einer gegebe-
nen Welt im Raum aus, so kann ich das Psychische
gar nicht anders mehr denken, als in einem Nebenraum,
den man Bewußtsein nennt. Die Welt wird bewußt,
ohne daß sie zu psychischen Elementen wird oder gar
solche bewirkt.
Von hier aus können wir nun die übliche Meinung kriti-
sieren, daß der Gegenstand der Psychologie der Bewußtseins-
inhalt ist. An sich ist vielleicht nichts dagegen einzuwenden,
nur ist dieser Inhalt nichts Psychisches, sondern seine
Auffassungsweise ist psychologisch. In dieser Gegenüber-
stellung liegt das ganze Wesen der psychologischen Er-
kenntnis ausgesprochen. Der Inhalt des Bewußtseins ist
auch das Objekt der Naturwissenschaft. Erst durch die
Auffassung oder die Fragestellung wird er Objekt der Psycho-
logie. Analysiere ich also als Psychologe meinen Bewußt-
seinsinhalt, so erfahre ich Weltbestimmtheiten oder data der
Sinnlichkeit. Ich löse aber keinen psychischen Komplex
in Elemente auf. Dieser ist ein Hirngespinst unserer Psycho-
— 21 —
logen, eine Konstruktion auf Grund falscher metaphysi-
scher oder erkenntniskritischer Prämissen.
Völlig falsch ist es nun, den qualitativen Bewußtseins-
inhalt als den alleinigen Gegenstand der Psychologie anzu-
sehen. Man muß hier einen Unterschied machen zwischen
einer konsequenten und darum leicht widerlegbaren Theorie,
die auf einem psycho-physischen Parallelismus aufgebaut
ist, und einer völlig kritiklosen Theorie, die auf lauter wider-
spruchsvollen Prämissen beruht.
Trotz der Absurdität, zu der sie führt, ist die erste sympa-
thischer, weil sie wenigstens theoretisch den Versuch macht,
konsequent zu sein. Dies zeigt sich darin, daß sie das Wort
„Bewußtseinsinhalt" im prägnanten Sinne nimmt. Wir
befinden uns terminologisch völlig im Einklang mit ihr,
insofern wir unter dem Bewußtseinsinhalt die Gesamtheit
unserer qualitativen Empfindungsinhalte verstehen. Auch
darin stimme ich mit jener Theorie völlig überein, daß das
psychische Leben der wirklichen Persönlichkeit nicht der
Gegenstand einer erklärenden kausalen Psychologie sein kann.
Aber ich bestreite, daß es neben dem psychischen Leben der
Persönlichkeit noch etwas anderes Psychisches gibt, das
Gegenstand der psychologischen Erkenntnis sein kann, oder
daß dieses Leben unter einem speziellen Gesichtspunkt
kausal erklärt werden kann. Jene Theorie meint, das wirk-
liche Leben müsse objektiviert und deshalb als Bewußtseins-
inhalt dargestellt werden. Nun stammt aber der Begriff
des Bewußtseinsinhaltes aus der unmittelbaren Erfahrung
des wirklichen psychischen Lebens. Was in dieser Erfahrung
nicht Bewußtseinsinhalt ist, kann auch nicht von einem
andern Standpunkt aus dazu werden. Ganz etwas anderes
ist es, wenn etwa die Naturwissenschaft in ihrer Theorie auf
dem mathematischen Raum beruht, der nicht Gegenstand
des Erlebens, sondern des Denkens ist. Hier kann man viel-
leicht sagen, daß etwas unter einem besonderen Gesichts-
punkt zur mathematischen Größe wird, was es an sich nicht
— 22 —
ist. Von einer solchen Denkkonstruktion ist aber hier gar
nicht die Rede. Das Psychische wird nicht unter einem be-
sonderen Gesichtspunkt zum Bewußtseinsinhalt, sondern man
berücksichtigt von vornherein allein diesen Inhalt und läßt
alle anderen psychischen Realitäten, die sich in der Erfah-
rung des wirklichen Lebens der Persönlichkeit neben dem
Inhalt finden, unberücksichtigt. Ein Denkprozeß wird nicht
zu einer Reihe von Empfindungen, sondern man berücksich-
tigt nur diese Reihe, die zweifellos bei dem Denkprozeß
existiert. Es ist eine seltsame Ansicht, daß dadurch das
subjektive Leben objektiviert werden soll. Darunter kann
man schlechterdings nichts anderes verstehen, als die Kon-
struktion des Erfahrungsurteils aus dem Wahrnehmungs-
urteil. Den Bewußtseinsinhalt kann man objektivieren,
indem man eben Naturwissenschaft treibt. Ihn als psychi-
sches Phänomen auffassen, heißt geradezu: ihn nicht objekti-
vieren, ihn nicht als Teil der einen objektiven Welt auf-
fassen, sondern als Teil einer Monade. Gewiß kann man
den optischen Inhalt, etwa einen durch ein Fernrohr ge-
sehenen Stern erklären, aber durch die Gesetze der Optik
und Astronomie und nicht durch psychologische.
Diese Bevorzugung des Inhalts stammt natürlich aus
den falschen metaphysischen Überzeugungen des psycho-
physischen Parallelismus. Man behauptet allerdings auch,
daß die Selbstbeobachtung einem nichts anderes zeigt als
Empfindungsinhalte. Diese Selbstbeobachtung ist aber schon
eine falsche Konstruktion. Ich gebe zu, daß man nichts
anderes beobachten kann als Empfindungsinhalte. Ich nenne
das aber nicht Selbstbeobachtung, sondern Weltbeobachtung
und kann daraus nicht schließen, daß der Empfindungsinhalt
der alleinige Gegenstand der Psychologie ist, sondern nur, daß
das Beobachten nicht die einzige psychische Tätigkeit im
Leben ist.
Etwas paradox kann man geradezu behaupten, daß es
der Psychologie auf alles andere mehr ankommt, als auf den
— 23 —
Inhalt, nämlich auf das, was das Subjekt mit ihm anfängt,
oder wie es auf ihn reagiert. Zugegeben die Möglichkeit,
daß man eine Zeitreihe von Empfindungen konstruieren
kann, so kann man damit psychologisch schlechterdings gar
nichts anfangen. Es ist unmöglich, einen Zusammenhang
der Reihe psychologisch zu konstruieren, wenn man nur
die Qualität des Inhalts berücksichtigt. Die Reihe, die neben
dem Denkprozesse dahergeht, läßt sich wissenschaftlich nicht
begründen, ohne daß man vom Urteil, von der Stellung-
nahme des Subjektes ausgeht. Nun sagt man wohl, daß diese
sich in Worten als Inhalt ausdrückt. Will man aber nur die
Qualität der Empfindungen berücksichtigen, so gibt es kein
,, Sichausdrücken". Das ,, Nicht" als motorischer, akusti-
scher oder optischer Inhalt hat mit Verneinung nicht das
geringste zu tun. Das Bedeuten setzt eben einen Struktur-
zusammenhang des Bewußtseins voraus, der über das Neben-
einander der inhaltlichen Bestimmtheiten hinausgeht.
Nun gibt jene Theorie selber zu, daß die Lust oder die
Annehmlichkeit kein qualitativer Inhalt des Bewußtseins
und auch nicht einer Raumstelle im Gehirn zuzuordnen ist.
Das aber ist ja der einzige Vorteil, den die Empfindungen
— scheinbar — besitzen. Die Konsequenz wäre also die,
daß man das psychische Leben erklären kann, ohne zu be-
rücksichtigen, ob jemand etwas gern hat oder nicht. Wenn
man auch wieder sagen kann, daß die Unlust sich in den ab-
wehrenden Bewegungen ausdrückt, so dürfte dieses für jene
Psychologen eben nicht existieren. Gibt man zu, daß die
Unlust ein im Gehirn nicht lokalisierbares Verhältnis des
Bewußtseins zu dem Inhalt ist, so ist sie selbst kein Inhalt
und, da es nur diesen allein gibt, so muß man eben erklären,
ohne auf Lust und Unlust Rücksicht zu nehmen.
Man findet es selbstverständlich, daß die Reize, die mit
der Assoziationsreihe „Ich", bestehend aus unseren Inter-
essen und Idealen usw., verbunden sind, über die bloße
Annehmlichkeit siegen. Hält man sich aber an die Empfin-
— 24 —
dungsinhalte, die diesen Überzeugungen entsprechen, so
finde ich es nicht nur nicht selbstverständlich, sondern so
absolut rätselhaft, daß hier wirklich das Ignorabimus am
Platz ist. Will diese Theorie etwas erreichen, so kann sie
eben nicht konsequent sein. Nur aus dem wirklichen Leben
ist uns der Kampf der Motive verständlich.
Verband jene Theorie mit dem Begriff „Bewußtseins-
inhalt" noch einen vernünftigen Sinn, so liegt der Haupt-
fehler der zweiten, die ich kurz Elementarpsychologie nenne,
an der völlig kritiklosen Operation mit diesem Wort. Es ist
wirklich lobenswert, daß die erste wenigstens anerkannt hat,
daß das Urteilen, Wollen, Fühlen kein Bewußtseinsinhalt
und deshalb von der Psychologie auszuschließen ist. Nur so
kann das Wort einen bestimmten Sinn bekommen. Termino-
logische Fragen sind mir an sich gleichgültig, aber hier han-
delt es sich in Wahrheit um erkenntniskritische Prinzipien.
In der Art der Verwendung dieses Begriffs „Inhalt" steckt
nämlich der Beweis, daß jene Psychologie auf dem Raum-
denken, der Verdinglichung und Substanzialisierung des
Psychischen aufgebaut ist. Diese liegt nicht in der Existenz
von Vorstellungen als Dingen, sondern in dem Begriff des
Elements. Man leugnet, daß es eine Seele als Substanz
gibt, aber man denkt das Psychische logisch als Substanz.
Man beginnt die Psychologie für gewöhnlich mit der
Behauptung, daß der Bewußtseinsinhalt durch Analyse
in letzte Einneiten oder Elemente zu zerlegen ist. Vorher
aber müßte man fragen, ob es solch einen analysierbaren
Gegenstand überhaupt gibt. Diese Voraussetzung ist nicht
nur nicht selbstverständlich, sondern absolut falsch. Denn
dieser teilbare Gegenstand beruht schon auf einer Denk-
konstruktion, und zwar auf einer kritiklosen Übertragung
des Raumdenkens in die Psychologie. Gerade darin besteht
ja das logische Wesen der Naturwissenschaft, das man als
Abstraktion von den unmittelbaren Sinnesqualitäten be-
zeichnet. Ein Ton und eine Farbe lassen sich nicht ver-
— 25 —
gleichen, bevor man sie nicht in Raumteile umgedacht hat.
Dadurch kommt erst die Basis zustande, auf der die wissen-
schaftliche Bearbeitung möglich ist. Der Sinn des Element-
begriffs liegt nicht so sehr in der Unauflösbarkeit des Teils,
als in der logischen oder formalen Gleichheit, die damit für
die Substanz im Raum ausgesprochen ist. In der Behaup-
tung jener Theorie steckt also das zugrunde gelegte Prinzip:
das Psychische ist wie der Raum ein Gegenstand, der aus
formal oder logisch gleichwertigen Teilen besteht. Für die
Naturwissenschaft gilt dies deshalb, weil sie einen solchen
Raum als Methode zugrunde legt. Es ist ihr Grundprinzip,
daß alles, was sie als verschieden setzt, darin gleich ist, daß
es Teil des Raumes ist. Sie kennt also eine Verschiedenheit
nur nach einer Richtung hin, nämlich der Wesenhaftigkeit
des Raumteils. Spricht man von der Analyse des Bewußt-
seins in Elemente, so hat man gleichfalls dieses Prinzip
zugrunde gelegt. Man denkt das Bewußtsein als Raum.
Element ohne Raumordnung ist wie Größe ohne Zahl.
Man sagt, daß im Bewußtsein zwei Arten von Elementen,
Gefühle und Empfindungen, sind. Wo liegt dann aber das
Kriterium, ob etwas ein Gefühl oder eine Empfindung ist ?
An sich wäre diese Frage völlig gleichgültig, wenn es nicht
die logischen Prinzipien der Theorie berühren würde. Was
versteht man überhaupt unter dem Wort „Inhalt", wenn
er aus Elementen, Gefühlen und Empfindungen besteht.
Wenn die Elemente sich nur qualitativ unterscheiden, so
wäre der Unterschied zwischen Gefühl und Empfindung
nur vergleichbar mit dem des optischen und des akustischen
Elements, d. h. es gibt an sich keinen Unterschied, und dies
deshalb nicht, weil man von einem Ding ausgeht, das aus
Teilen besteht. Der Unterschied läßt sich überhaupt nur
anerkennen, wenn man von dem eigentümlichen Struktur-
zusammenhang des Bewußtseins ausgeht, der logisch als
Methode den Raum in der Psychologie vertritt. Zu seiner
formalen Bestimmung kann man dadurch kommen, daß
— 26 —
man von der Form des für die Psychologie charakteristischen
Urteils ausgeht, nämlich des Wahrnehmungsurteils. Der
Fehler der Psychologie liegt schon darin, daß sie rein sprach-
lich immer von der Form des Erfahrungsurteils ausgehen
will. Die Naturwissenschaft konstatiert letzten Endes, was
in ihrem Raum anwesend ist. Sie bestimmt seine Teile. Der
Psychologe aber kann bestimmen, was ich erlebe, und er
kann dieses Ich bestimmen. Der Unterschied deckt sich etwa
mit dem der Empfindung und des Gefühls. Man hat dies
halb und halb auch zugegeben dadurch, daß man die Gefühle
durch eine größere Subjektivität charakterisiert. Allein
gerade diese Halbheit ist das Verderbliche. Es läßt sich
nicht von groß und klein sprechen. Ein Unterschied ist über-
haupt nicht anzuerkennen, wenn man von Elementen im
Bewußtsein spricht. Größere Objektivität heißt nichts
anderes als Bestimmtheit des Nicht-Psychischen, nämlich
der Welt sein.
Man kann keinen Willen zugeben, wenn man nur an-
geben will, welche Elemente im Bewußtsein sind. Es ist
genau so töricht, ein Willenselement anzunehmen, wie ihn
in einen Komplex oder eine Reihe von Empfindungs- und
Gefühlselementen aufzulösen. Kann eine Farbe im Bewußt-
sein anwesend sein, so kann sich kein Wille in ihm befin-
den, denn beides sind nicht Teile eines Raumgegenstandes.
Der Wille ist nichts anderes als eine bestimmte Stellung-
nahme des Subjekts zur Welt. Niemals aber ein Teil des
Bewußtseins. Selbstverständlich ist auch der Wille gar nicht
der Beobachtung zugänglich. Man kann alle möglichen
Momente der Handlung beobachten, aber man gibt damit
niemals das wieder, was man unter „Wollen" versteht.
Die Fragestellung, was im Bewußtsein ist, setzt schon vor-
aus, daß alle Bestimmungen über das Psychische sich auf
Dinge beziehen. Daß man sie Elemente nennt, ändert
nichts. Die vorausgesetzte Gleichheit als Teil ist der Grund-
irrtum unserer Psychologie. Der Psychologe kann nicht
— 27 —
damit auskommen festzustellen, was in seinem Bewußtsein
ist. Zweifellos ist es eine psychologische Bestimmtheit, ob
ich etwas bejahe, annehme, verneine, will oder verabscheue,
ob ich traurig oder heiter bin usw. Damit konstatiere ich
aber niemals Elemente in meinem Bewußtsein, sondern
ich gebe ein Urteil über mich ab und nicht über das, was
mir von der Welt inhaltlich bewußt ist. Nur um eine Gleich-
heit mit der Naturwissenschaft herzustellen, geht man über
die populäre Beschreibung des psychischen Lebens hinaus.
Als ein absurdes Beispiel dieser Umdenkung möchte ich nur
das sogenannte sinnliche Gefühl anführen.
Nur jene falsche Verdinglichung konnte überhaupt den
Begriff Lust erfinden. Anders kann man es gar nicht nennen.
Man fordere einmal einen naiven Menschen auf, sein Bewußt-
sein daraufhin zu analysieren, ob in ihm ein Element Lust
oder Unlust anwesend ist. Nur ein Psychologe kann das.
Aber dieses Können beruht nicht auf einer größeren Fähig-
keit zur Selbstbeobachtung, sondern auf einer Verbildung
des Denkens. Die Konstruktion des Psychologen ist eben
gänzlich ungerechtfertigt, weil sie das Bewußtsein als Raum
denkt. Der naive Mensch sagt mit Recht: das Essen schmeckt
gut. Der Psychologe sagt: im Bewußtsein ist ein Element
Geschmack und ein Element Lust. Da aber für gewöhnlich
die Lust als kausale Wirkung einer Empfindung ausgegeben
wird, so kann man den Psychologen fragen, woher er über-
haupt weiß, daß sie durch den Geschmack hervorgerufen
wurde, wo doch mehrere Inhalte im Bewußtsein sein können.
Es gäbe nur eine vernünftige Antwort darauf: Durch die
wissenschaftliche Erfahrung oder durch Induktion. Das ist
natürlich absurd und beweist die Falschheit der Voraus-
setzung, nämlich daß ein Element Lust durch ein anderes
kausal bewirkt wird. Der Psychologe kann hier gar nicht
mehr analysieren, sondern nur seine unmittelbaren Er-
lebnisse theoretisch falsch widergeben. Tatsache ist, daß
uns Empfindungen angenehm, unangenehm oder gleich-
— 28 —
gültig sind. Die wissenschaftliche Psychologie kann dar-
über nicht hinaus. Als erklärende Kausalwissenschaft muß
sie freilich ein Ding haben, dessen Existenz an einem Ort,
dem Bewußtsein, sie erklären kann, und so konstruiert sie
neben dem Ding „Empfindung", ein anderes Ding „Lust",
und belegt sie mit dem naturwissenschaftlich klingenden
Namen „Element".
Wir haben also nachgewiesen, daß zunächst der Begriff
des psychischen Elements unsinnig ist, weil es neben dem
wirklichen Raum keinen andern psychischen gibt. Die
Welt im Raum ist der objektivierte Bewußtseinsinhalt der
Monaden. Die Farbe ist kein psychisches Element, das durch
ein Raumgeschehen bewirkt würde. Die Farbe ist überhaupt
nichts Psychisches, sondern ein erlebter Inhalt, den die
Naturwissenschaft als Raumgeschehen objektiviert. Sodann
mußte der Elementbegriff abgelehnt werden, weil die psycho-
logischen Bestimmungsmöglichkeiten sich nicht auf Teile
eines Raumgegenstandes beziehen. Der eigentümliche Struk-
turzusammenhang des Bewußtseins macht die Nebeneinander-
ordnung von Elementen unmöglich. Die Freude über ein
Ereignis läßt sich nicht darstellen als Vorstellung plus
Gefühl, die Auffassung eines Körpers als Tisch nicht als
Empfindung plus Vorstellung. In der Nebeneinanderordnung
der Elemente liegt die Verdinglichung des psychischen
Lebens.
Von der Elementarpsychologie aus kann nun auch gar
kein Unterschied zwischen Vorstellung und Wahrnehmung
bestehen. Freilich kommt man aber in der Praxis nicht ohne
ihn aus. Man führt damit aber einen Gesichtspunkt ein,
der über die Bestimmung der Qualität des Daseienden hin-
ausgeht. Die Frage ist interessant für die Gefühle. Man hat
die Einfühlungstheorie angegriffen, weil man die an einem
andern erlebten Gefühle als vorgestellt annahm. Von der
Eiemcntarpsychologie aus ist aber ein vorgestelltes Gefühl
logisch widersinnig. Wird das Gefühl erlebt und nicht nur
— 29 -
als Tatsache im Leben des andern gewußt, so ist es eben da.
Ich wüßte nicht, was die Vorstellung des Gefühls überhaupt
heißen sollte. Der Unterschied zwischen Vorstellung und
Wahrnehmung ist eben kein Unterschied in den psychischen
Elementen, sondern in dem Erlebten. Er beruht darauf,
ob dieses in dem wirklichen, objektiven Raum existiert oder
nicht. Da aber die Qualität des Gefühls überhaupt keine
Beziehung zu dem objektiven Raum hat, so ist eine Unter-
scheidung von diesem Standpunkt aus unsinnig. Nicht das
psychische Erlebnis wird vorgestellt, sondern das Erlebnis
ist das Vorstellen des Nicht-Psychischen. Das Erlebnis ist
da oder nicht da. Folglich wird ein Gefühl erlebt oder nicht
erlebt. Ein irreales Gefühl im Sinne eines vorgestellten ist
ein Nonsens. Insofern ist die Einfühlungstheorie unangreif-
bar. Von unserm Standpunkt aus aber ist der Unterschied
allerdings zu machen, und zwar in ganz dem gleichen Sinne
wie bei den Empfindungen. Die Vorstellung unterscheidet
sich von der Wahrnehmung dadurch, daß ihr Gegenstand
nicht durch die Wirklichkeit begründbar ist. Der gleiche
Unterschied existiert für das Fühlen. Ein Gefühl, das
ebenso real existiert wie die Vorstellung, mag auch ihr Gegen-
stand nicht real existieren, ist vorgestellt, wenn sein Grund
nicht in der psychischen Wirklichkeit des Subjekts selbst
existiert, wenn von dem realen Subjekt aus kein „wirklicher"
Grund dafür vorhanden ist. Von der Elementarpsychologie
aus ist es ganz müßig, darüber zu streiten, ob in dem Schau-
spieler das Gefühl real existiert oder nur vorgestellt ist.
Beides schließt sich nicht aus. Denn bei der Vorstellung
handelt es sich nur um eine Begründung der Realität. Die
Qualität ist da oder nicht da. Erst die Begründung der Wirk-
lichkeit macht einen Unterschied. Man kann nicht fragen,
ob die Empfindung als psychisches Erlebnis vorgestellt
wird oder nicht, sondern nur, ob der Raum, das Nicht-Psychi-
sche vorgestellt oder wahrgenommen wird. Damit fragt man
aber nach dem Grund des Erlebten, und diese Frage ist auch
30 —
bei dem Gefühl berechtigt. Es wäre in diesem Sinne irreal,
nur vorgestellt, wenn es nicht mit Notwendigkeit aus dem
Leben des eigentlichen Subjekts folgte. Der Schauspieler
würde dann nur vorgestellte Gefühle erleben, die bei ihm
den Charakter der Halluzination annehmen können. Für
den Betrachter bleibt die Halluzination aber eine Vorstellung.
Kompliziert wird der Fall aber noch dadurch, daß das Ge-
fühl von dem angenommenen System aus wiederum wahr
oder unwahr sein kann. Von dem Schauspieler als Menschen
aus ist aber jedes Gefühl irreal, was nicht aus dem eigent-
lichen System mit Notwendigkeit folgt. Die Halluzination
ist das Bewußtsein der Wirklichkeit. Der Unterschied zur
Vorstellung kann für eine Psychologie, die nach der Quali-
tät des Bewußtseinsinhalts fragt, überhaupt nicht existieren.
Er ist exakt überhaupt nur dort festzustellen — falls es
sich nicht um das eigne Erlebnis im Selbstbewußtsein han-
delt — , wo das Handeln durch den Inhalt des Erlebnisses
bestimmt ist. Man erlebt das Allermeiste, ohne sich Rechen-
schaft darüber zu geben, ob es wirklich oder unwirklich ist.
Es gibt daher gar keine Entscheidung, ob es eine Annahme,
eine Vorstellung, eine Halluzination oder eine Wahrnehmung
ist. Man sieht dabei von der Qualität des Inhalts ganz ab.
Nur durch den außerpsychologischen Gesichtspunkt der
Wirklichkeit ist der Unterschied möglich. Genau so wenig
ist es unmittelbar zu entscheiden, wie ein Gefühl erlebt
wird, ob das Bewußtsein der Unwirklichkeit in dem eigenen
System erlebt wird oder nicht. Wir trennen nur in der Er-
kenntnis das Eigene von dem Angenommenen, aber dies ist
eine Beurteilung und kein qualitativer Unterschied der
Erlebnisse. Andererseits aber muß man den Unterschied
auch im psychischen Erleben selbst anerkennen. Das kann
man aber nur, wenn man von dem Strukturzusammenhang
des Bewußtseins ausgeht und nicht von einer Summe der
Teile. Die Art, wie ein Inhalt erlebt wird, ist eine neue Be-
stimmungsmöglichkeit neben seiner Qualität. Das Bewußt-
— 31 —
sein seiner Wirklichkeit ist kein sprachliches Urteil neben
der Qualität, sondern eine unmittelbare Stellung zu dem
Nicht-Psychischen. Dieser selbe Unterschied wiederholt sich
bei den Denkerlebnissen. Derselbe Gegenstand kann bejaht
und verneint werden. Die Bejahung ist die Realität, die mir
psychologisch den Fortgang des Bewußtseins verständlich
machen kann. Sie ist aber kein Element neben der ge-
dachten Gegenständlichkeit. Es ist leider üblich geworden,
alles, was man sonst nicht unterbringen kann, als Gefühl
zu bezeichnen. Die exakte Elementarpsychologie über-
bietet darin noch den populären Sprachgebrauch. Sie spricht
von Begriffsgefühl, Wiedererkennungsgefühl usw. Auch das
Evidenzgefühl gehört hierher. Wahrscheinlich spricht man
in unserm Fall von Bejahungs- und Verneinungsgefühlen.
Ich will nicht auf das bequeme Ausfluchtsmittel der inneren
Wahrnehmung zurückgreifen und dem Dogma die sehr un-
interessante Tatsache gegenüberstellen, daß ich diese Gefühle
nicht erlebe. Die innere Wahrnehmung kann niemals einen
Streit schlichten. Hier handelt es sich, wie übrigens in fast
allen Fällen, wo man sich auf sie beruft, gar nicht um die
Beobachtung einer Tatsache, sondern um die theoretische Dar-
stellung eines für alle gleichen Erlebnisses. Es liegt ein ganz
bestimmtes Erlebnis des nichtpsychischen Gegenstandes vor.
Eine bestimmte Stellung, die bei dem gleichen Gegenstand
variabel sein kann. Diese Gegenständlichkeit kann bejaht,
verneint oder angenommen werden. Es tritt psychologisch
dabei kein verschiedenes Element zu einem gleichbleibenden
Komplex, wie dies die Meinung mancher Psychologen zu
sein scheint, die das Erlebnis einer Gegenständlichkeit als
„Annahme" für eine Grundklasse psychischer Phänomene
halten und das Überzeugungsgefühl dazutreten lassen,
wenn es sich um eine bejahende Behauptung handelt. Diese
Theorie scheint mir nur ein Beweis zu sein, daß man mit
der Elementarpsychologie nicht auskommt. Ihr Fehler liegt
in dem Übersehen des Strukturzusammenhangs, in der Be-
- 32 —
hauptung des Plus oder Nebeneinander im Bewußtsein.
Freilich ändert sich mit der veränderten Stellungnahme zu
dem Nicht-Psychischen auch der Bewußtseinsinhalt. Das
Wesentliche aber ist, daß wir diese Änderung ihrerseits
gerade aus der Stellungnahme verstehen. Es ist wenigstens
theoretisch konsequent, wenn man die Bejahung überhaupt
nicht in der Psychologie anerkennt. Der Inhalt kann die
Empfindung des „Ja", des „Ist" oder auch des Kopfnickens
sein. Wenn man aber dieses Nicken für den weiteren Zu-
sammenhang erkennend ausnützt, so stützt man sich ja
doch wieder auf den „Sinn", den es hat, und nicht auf die
Qualität des Empfindungserlebnisses. Man irrt sich ge-
waltig, wenn man meint, durch die Lokalisation der Emp-
findungen im Gehirn weiterzukommen. Meines Erachtens
ist eine Lokalisation überhaupt nur für die Bewegungs-
zentren möglich, soweit es sich um eine spezifische Be-
stimmung und nicht nur um eine Bestimmung von allgemeinen
Funktionen handelt. Nur der Körperteil kann mit dem Körper-
teil in eine bestimmte Beziehung gebracht werden. Vom
Mechanismus aus wäre aber das Gehirn Teil des naturwissen-
schaftlichen Raums. Damit kann der Psychologe schlechter-
dings nichts anfangen. Von dem Reiz im Raum aus müßte
seine Fortpflanzung und die daraus resultierende Verände-
rung weiterhin nur durch Raumverhältnisse bestimmt sein.
Tatsache aber ist, daß der Raumteil des Gehirns eine indivi-
duelle Bedeutung im Organismus bekommt. Gerade auf sie
fußt aber die psychologische Erkenntnis. Dem Wort ,, nicht"
und „not" entsprechen von den gleichen Organismen aus
dieselben Inervationszentren im Gehirn, d. h. aber jedem
einzelnen Wort andere. Die Zentren für „nicht" und „not"
sind verschieden. Infolgedessen kann man vom Raum aus
nicht weiter gelangen. Den Bewußtseinszusammenhang
kann man nur aus dem Sinn verstehen, der in den Worten
gleich ist, und nicht aus den Raumverhältnissen der Inerva-
tionszentren zu dem übrigen Raum. Auch wenn man vom
— 33 —
Gehirn ausgeht, legt man die individuelle Monade zugrunde
und garnicht den Raum der Naturwissenschaft. Darin
liegt der letzte Irrtum des psychophysischen Parallelismus.
Jedes Verständnis beruht einzig und allein auf dem Sinn.
Auch jene Psychologie erkennt nach ihm; nur wenn sie nach
ihm erkannt hat, leugnet sie, daß er für sie existiert. Dieser
Sinn bedeutet psychologisch einen Strukturzusammenhang
des Bewußtseins. Die Bejahung ist eine Stellungnahme des
historischen Subjekts zu dem Nichtpsychischen. Für die
Qualität der daseienden psychischen Elemente, für den
Inhalt des Bewußtseins existiert sie tatsächlich nicht, aber
man soll versuchen, ohne sie den Fortgang des Bewußtseins
zu verstehen oder zu erklären.
Die Bestimmung der Psychologie als die Lehre vom Be-
wußtseinsinhalt ist also nicht ausreichend. Sie trifft auch
für die Naturwissenschaft zu. Vor allem aber kommt es
darauf an, daß die Qualität dieses Inhalts nicht die einzige
Bestirnmungsmöglichkeit ist. Entscheidend für die Psycho-
logie ist seine subjektive Bedeutung in dem Zusammenhang
des System der Monade. Das psychologische Objekt ist
die phänomenale Welt als subjektives Erlebnis.
Wie ist nun die spezielle Bestimmung des Bewußtseins-
inhaltes möglich ? Die Elementarpsychologie findet hier
kein Problem, weil sie von der Voraussetzung objektiv ge-
gebener letzter Einheiten ausgeht. Allein dies würde heißen:
eine psychische Substanz aus objektiven Elementen an-
nehmen. Man setzt voraus, daß es darauf ankommt, einen
bestimmten Ausschnitt dieser Substanz, nämlich das Bewußt-
sein eines bestimmten Subjekts, zu bestimmen. So sehr man
auch betont, daß man sich das Psychische nicht als Raum
vorstellen darf, so sehr ist man selbst im Raumdenken be-
fangen. Man benutzt nicht nur Bilder aus der Raumwelt,
sondern man hängt logisch vom Raumdenken ab. Will man
die objektiven letzten Einheiten im Bewußtsein bestimmen,
so setzt man voraus, daß es eine objektive, psychische Welt
Strich, Prinzipien. 3
— 34 —
gibt, die aus solchen Elementen besteht. Dies aber ist die
Auffassung der Natur im Raum, und von diesem gar nicht
zu trennen. Die Theorie ist nicht Psychologie ohne Seele,
sondern ohne Bewußtsein. Denn dieses ist nur der Rahmen,
in dem die Elemente anwesend sind. Man stellt sich das
Bewußtsein ungefähr so vor wie das Netzhautbild, das man
in einem fremden Auge analysieren kann. Demgegenüber
stellen wir fest, daß das individuelle Bewußtsein kein Raum-
ausschnitt aus einer allgemeinen Substanz ist, daß man
infolge dessen auch nicht sagen kann, welche objektiven
Elemente in ihm sind. Im Bewußtsein existiert vielmehr die
Raumwelt, deren objektive Bestimmung die Naturwissen-
schaft durch die Konstruktion der Substanz vornimmt. Die
psychologische Bestimmung kann sich also nur darauf be-
ziehen, was dem Individuum subjektiv von dieser Welt be-
wußt ist, denn es gibt gar nicht eine psychische Welt wie die
objektive Natur. Letzte Einheiten existieren also für die
Psychologie nicht als gegebene Elemente, sondern im Ver-
gleich zu der gedachten objektiven Wirklichkeit als Formun-
gen des Bewußtseins. Psychologisch müssen wir nämlich aus-
gehen von der objektiven Welt als Idee, von einem ewig
wechselnden Raumgeschehen oder einer stetigen Verände-
rung. Setze ich zwei Menschen vor eine farbige Fläche, so
kann ich daraufhin nicht sagen, was im Bewußtsein ist.
Der eine sieht vielleicht eine farbige Fläche, der andere
aber bemerkt Nuancen — an den Rändern ist dies nicht
schwer — , denen nicht einmal unsere Sprache gewachsen
ist. Es wäre ganz töricht zu sagen, daß in dem einen Bewußt-
sein nur ein Farbelement, in dem anderen mehrere anwesend
sind. Tatsache ist, daß der eine mehr Bestimmtheiten unter-
scheidet als der andere. Das Ausgehen von dem ungeformten
Material, wie es jede Psychologie tun muß, die von der
Gehirnphysiologie herkommt, ist unmöglich. Es gibt keine
daseienden Elemente, sondern nur das Bemerken von Unter-
schieden. Es ist möglich, daß ein genaueres Hinsehen die
— 35 —
ursprüngliche Einheit gleichfalls auflöst. In diesem Falle
hat man aber nicht einen konstanten, psychischen Gegen-
stand „Bewußtseinsinhalt" analysiert, sondern es ist jetzt
ein anderer Inhalt da, während die Konstanz in dem ge-
dachten Gegenstande liegt. Man hat nicht mehr psychische
Elemente entdeckt, die schon vorher unbemerkt da waren;
es sind auch nicht plötzlich mehr Elemente in das Bewußt-
sein gelangt, sondern man hat an dem als konstant ange-
nommenen Gegenstande mehr Bestimmtheiten wahrgenom-
men. Diese Prozedur kann man sich aber ins Unendliche
fortgesetzt denken. Man muß sogar annehmen, daß das
Licht an zwei beliebigen Stellen der Fläche niemals mathema-
tisch gleich gebrochen wird. Das genaueste Auge — so drücken
wir das aus — , kann nicht die unzähligen Farben unter-
scheiden, die wirklich da sind. Infolgedessen ist die Einheit
der Farbe abhängig von dem nicht bemerkten Unterschied
von Flächen. Dies können wir gegenüber der objektiven Ver-
schiedenheit nur ausdrücken als eine Einheitsformung des Be-
wußtseins. Es gibt also keine objektiv letzten Einheiten, son-
dern nur solche, die auf einer subjektiven Zusammenfassung
beruhen. Der Wechsel des Bewußtseinsinhaltes ist ein
Wechsel dieser Synthesen, über die wir nicht hinauskommen.
Der Begriff des Elements ist von dem objektiven Raum gar
nicht zu trennen. Wenn ich ein Löschpapier ansehe, be-
findet sich dann in meinem Bewußtsein ein Element „grün"
und mehrere „schwarz" oder nur ein Element „grün" und
eins „schwarz" ? Wenn man diese Frage ablehnt, so zeigt
sich nur darin die Sinnlosigkeit des Elementbegriffs. Denn
bei den Tönen wird jeder behaupten, daß jedem Ton ein
Element entspricht. Wo aber liegt der Unterschied zwischen
dem Akustischen und dem Optischen ? Behauptet man nun
noch, daß die Flächenvorstellung eine Verschmelzung von
Farbelementen mit anderen ist, so muß man auch, da ich
verschiedene Flächen als Teile einer größeren wahrnehmen
kann, behaupten, daß mehrere Elemente „schwarz" im
3*
— 36 —
Bewußtsein sind. Wie kann man aber dann noch behaupten,
daß man das Bewußtsein nicht als Raum denkt! Alle jene
Absurditäten liegen nur daran, daß man von den psychi-
schen Elementen ausgeht. Die Analyse stellt nur die Ein-
heiten fest, die das Subjekt an der Welt formend zustande
bringt. Der optische Inhalt besteht aus verschiedenfarbigen
Flächen, die wiederum zu neuen Einheiten vereinigt werden
können. Nicht in jedem Bewußtsein besteht ein angeschlage-
ner Dreiklang aus drei Tönen oder mehr, je nachdem wie viel
Obertöne anwesend sind. Treibt man Selbstbeobachtung
und stellt fest, wieviel Töne da sind, so beobachtet man die
konstante Welt genauer, nicht das Bewußtsein. Hört man
nach einiger Zeit einen Oberton, so hat sich der Bewußt-
seinsinhalt geändert. Ich habe eine neue Einheit geformt,
die nun neben den andern bestehen kann. Eine Bestimmt-
heit wird erst dadurch eine qualitative Einheit, daß das
Bewußtsein eine Formung vornimmt.
Aber nicht nur die formale Einheit, sondern auch die
Wesenhaftigkeit des Inhalts entzieht sich der objektiven
Bestimmung. Scheinbar liegt ja diese sehr einfach. Man
bestimmt eben was im Bewußtsein ist, also im Sinne der
Elementarpsychologie die Qualität der Elemente. Damit
fußt man aber absolut auf dem Begriff der Substanz. Man
kann niemals sagen, was objektiv in einem Bewußtsein
existiert, sondern nur was ein bestimmtes Subjekt erlebt.
Dazwischen besteht ein gewaltiger Unterschied. Die Natur-
wissenschaft stellt fest, was objektiv für alle gültig im Raum
existiert. Ihre Bestimmung beruht auf der Gleichheit der
Teile innerhalb des ,, einen'' Systems der Natur oder der
Substanz. Die kritiklose Konstatierung der im Bewußtsein
anwesenden Qualitäten setzt genau so „ein" System oder
„eine" psychische Substanz voraus. Diese könnte aber nur
als Gegenstand einer Psychologie existieren, die mit der
Naturwissenschaft identisch wäre. Die Konstruktion der
einen Natur ist aber nur eine logische Notwendigkeit wegen
— 37 —
der unendlichen Verschiedenheiten der Monaden. Jede von
ihnen bedeutet ein System, das der „einen" Natur entspricht.
Jede Bestimmung setzt also eine Gleichheit mit etwas
anderm voraus, was innerhalb desselben Systems existiert.
Da dieses System psychologisch die Zeitreihe der Monade
ist, so kann die Bestimmung nur eine historische sein. Es
stehen sich also gegenüber Raum und Zeit, Objektivität
und Subjektivität. Die erste ist vom Raum nicht zu trennen,
weil er allein ein allgemeines Medium für die Erkenntnis
bedeutet. Diesem „einen" Raum entsprechen die unzäh-
ligen Zeitreihen der Monaden. Weil die Bestimmung der
Psychologie sich nur auf die Gleichheit innerhalb eines
solchen Systems beziehen kann, deswegen nennen wir
sie subjektiv. Aber auch diese kann als psychologisches
Urteil richtig oder falsch sein. Man muß hier scharf unter-
scheiden die psychologische Bestimmung des Inhalts und die
Bestimmung der Welt durch das Subjekt. Wenn ich einen
Farbenblinden vor eine rote Fläche stelle, so nenne ich
seine Bestimmung der Fläche als „grau" falsch. Bestimme
ich aber den Inhalt seines Erlebnisses als grau, so kann diese
Bestimmung richtig sein, obwohl sie subjektiv ist. Dies
heißt nichts anderes, als daß ich die Bestimmung nach der
Gleichheit in dem „einen" Zeitsystem Subjekt vornehme.
An dieser verschiedenen Bestimmungsmöglichkeit scheitern
alle Versuche des Materialismus, des psycho-physischen
Parallelismus und einer jeden erklärenden Kausalpsycho-
logie.
Zunächst kommt es darauf an, daß die Bestimmung des
Inhaltes nur auf der Gleichheit beruhen kann, die für das
Subjekt existiert. Man sieht also schon hier, daß die Psycho-
logie die Erkenntnis des Subjekts und nicht der Gesetz-
mäßigkeit der Elemente ist. Sie kann nur damit beginnen,
was das Subjekt für gleich hält, niemals aber damit, was für
Elemente objektiv in seinem Bewußtsein sind. Nun bin ich
auf folgenden Einwand gefaßt: Das Gleichhalten ist eine
— 38 —
Denkfunktion, die wir etwa in dem primitiven Bewußtseins-
leben eines Kindes nicht voraussetzen dürfen. Dieser Ein-
wand beruht aber auf einem Psychologismus.
Wir können die Eigenart der psychologischen Erkenntnis
nicht erkennen, wenn wir sie nicht als Korrelat zur Natur-
wissenschaft begreifen. Wir haben durch sie das Recht, von
einer objektiven Welt auszugehen, die wir subjektiv er-
leben. Das gilt für die Amöbe, wie für den Psychologen.
Wenn nun der Naturwissenschaftler feststellt, daß bei zwei
Tönen die Anzahl der Schwingungen um eine einzige diffe-
riert, so existieren objektiv zwei verschiedene Töne. Wenn
aber das Subjekt unmittelbar keine Verschiedenheit der
Töne wahrnehmen kann, so haben wir zweifellos das Recht,
zu behaupten: in dem Bewußtsein existiert der gleiche Ton.
Da aber unsere Erkenntnis davon ausgeht, daß das Subjekt
die objektive Welt erlebt, so können wir gar nichts anderes
sagen, als daß das Subjekt die objektiv verschiedenen Töne
für gleich hält. Von einer Denkfunktion als psychologischem
Phänomen ist dabei gar nicht die Rede. Wir sprechen nicht
von im Bewußtsein anwesenden Funktionen neben den
Empfindungsinhalten, sondern nur von der Bestimmung
dieses Inhaltes selbst, und deshalb ist jener Einwand psycho-
logistisch. Der Ausdruck: ,,im" Bewußtsein existieren, ist
nur ein Raumbild für das, was „für" das Bewußtsein existiert.
Sonst gäbe es eine Psychologie ohne Bewußtsein. Als Teil
der objektiven Welt ist ein Inhalt, so kann man ruhig sagen,
niemals einem anderen gleich. Die objektive Gleichheit
existiert überhaupt nur als Idee der Mathematik. Ist er aber
als historischer Teil des Bewußtseins einem andern gleich,
so kann man nur sagen, daß das Subjekt ihn für gleich hält.
Dies ist nur ein anderer Ausdruck für seine subjektive Be-
stimmung, über die wir psychologisch nicht hinausgelangen.
Von einer Denkfunktion würde ich erst dort sprechen, wo
eine Gleichheit zum Gegenstand eines Urteils gemacht wird.
Wenn man sagt: das neugeborene Kind hält zwei Inhalte
— 39 —
für gleich, so ist gegen den Ausdruck gar nichts einzuwenden.
Ich erkenne und bestimme das Subjekt Kind genau so, wie
wenn ich sage: das Kind will trinken. Denn auch damit
bestimme ich, wie wir noch sehen werden, durchaus keine
Reihe von psychischen Elementen, sondern nur das histori-
sche Subjekt. Erst damit hätte man mit der Aktualitäts-
theorie Ernst gemacht. Aktualität und psychisches Element
ist ein Widerspruch, nämlich der Gegensatz zweier Katego-
rien des Denkens, die man auch als Spontaneität und Ding
bezeichnen kann. Weil man von der Idee einer objektiv
bestimmbaren Welt ausgeht, so kann man das Psychische
nur als Aktualität darstellen. Man hat dagegen ein-
gewandt, daß man in der Selbstbeobachtung nichts von
einer Tätigkeit des Bewußtseins wahrnehme. Damit bin
ich ganz einverstanden. Ich nehme aber auch im Raum
keine Tätigkeit wahr, wie wir noch zeigen werden, sondern
ich denke etwas als Tätigkeit, und es kommt nur darauf
an, ob diese Denkkategorie logisch notwendig ist. Sie ist
es deshalb, weil man den Unterschied anerkennen muß, der
zwischen der Auffassung des Subjekts und dem objektiven
Sein besteht. Da eben der Wahrnehmungsinhalt von uns
als Bestimmtheit der objektiven Welt gedacht wird, so
können wir seine Wesenhaftigkeit als Erlebnis nicht anders
als subjektive Auffassung nennen.
Es ist bekannt, daß man nach mehrmaligem Durch-
einander den Unterschied von Zucker und Salz nicht mehr
bemerken kann. Will man dies im Sinne der Elementar-
psychologie darstellen, nämlich die Qualität des daseienden
Elementes bestimmen, so wüßte ich wirklich nicht, welches
Element man konstatieren will. Es wäre ebenso unsinnig,
diese Bestimmung nach dem eventuell falschen Urteil des
Subjekts, wie nach meinem richtigen Urteil über die objek-
tive Welt vorzunehmen. Hält das Subjekt den Zucker für
Salz, so wäre es eben so falsch, zu sagen: in seinem Bewußt-
sein ist das Element ,, salzig", wie: dort befindet sich das
— 40 —
Element „süß". Objektiv kann ich nur feststellen, was im
Raum existiert, die Gleichheit des Raumteils mit andern.
Psychologisch aber kann ich nur die historische Gleichheit
eines Inhaltes mit anderen in demselben Individualsystem
feststellen. Es ist nur ein anderer Ausdruck für diese Idee
des Individualsystem, wenn ich sage: das Subjekt hält zwei
Inhalte für gleich. Schon hier sieht man den Unterschied
zwischen Beschreibung und Erklärung. Die Erklärung kann
nur beruhen auf der Konstatierung dessen, was objektiv
da ist. Denn eben dieses Dasein an einem Orte gilt es zu er-
klären. Wenn man sagt, daß die Psychologie garnichts zu
erklären hat, so bedeutet das keinen Skeptizismus, sondern
nur die Ablehnung einer unlogischen Fragestellung. Es ist
nichts objektiv Darstellbares da, dessen Dasein man er-
klären könnte. Die psychische Realität besteht in unserm
Fall in einer Verwechslung. Nun ist aber jede psychologische
Gleichheit objektiv eine solche Verwechslung. Eine Gleich-
heit von Inhalten gibt es ebenso wenig wie den mathemati-
schen Punkt als Inhalt. Eine Gleichsetzung läßt sich höch-
stens verstehen. Was das heißt, werden wir noch genauer
darlegen müssen. Hier genügt der Hinweis, daß ich die
Gleichsetzung verstehe, wenn die Inhalte so ähnlich sind,
daß auch ich eine Gleichsetzung vornehmen könnte. Diese
Ähnlichkeit erklärt aber die Gleichsetzung nicht, wenn
man das Wort im Sinne der Naturwissenschaft nimmt. Ich
kann nur das Subjekt beschreiben, nämlich daß es zwei
Inhalte für gleich hält, ohne daß etwas da wäre, was objektiv
zu bestimmen und zu erklären wäre. Schon aus diesem
Grund ist der psycho-physische Parallelismus unmöglich,
wie jeder Versuch das Psychische dem Raum einzuordnen.
Denn die subjektive Gleichsetzung kann man nicht in einen
Zusammenhang mit dem objektiv zu konstruierenden Raum-
geschehen bringen. Aus dem Raumgeschehen müßte ich
unbedingt auf die Objektivität des Bewußtseinsinhaltes
schließen können. Die Konsequenz wäre dann die, daß es
— 41 —
keinen Irrtum gäbe. Für gewöhnlich macht man geltend,
daß gerade der Irrtum ein kausal zu erklärender Denk-
prozeß sei. Er widerlegt aber gerade die Kausalität, denn
wenn man von der kausalen Wirkung der objektiven Welt
ausgeht, so gäbe es im Bewußtsein auch nur objektive
Gleichheiten, d. h. richtige. Da sich aber der Bewußtseins-
inhalt gar nicht objektiv bestimmen läßt, so ist er auch nicht
erklärbar. Wir bestimmen nicht den Bewußtseinsinhalt,
sondern das Subjekt. Aus der Außenwelt können wir nie-
mals auf den Bewußtseinsinhalt schließen. Das heißt: es gibt
keine unmittelbare Gegebenheit des Inhalts. Gerade weil
es vor der Konstruktion der Welt in der Naturwissenschaft
überhaupt nicht „die" Welt, sondern nur Subjekte oder
fensterlose Monaden gibt, müssen wir die Gegebenheit der
Welt ablehnen. Gehen wir von der Idee einer objektiv be-
stimmbaren Welt aus, so ist das Problem der Erkenntnis
dieser Welt die Auseinandersetzung von ihr mit den Welten
der Monaden. Gerade wenn wir von einer objektiven Welt
als Idee ausgehen, dürfen wir psychologisch nicht eine Ge-
gebenheit ihrer Bestimmtheiten annehmen. Wegen der
gegebenen Subjektivität in dem Erfahren kann die Objek-
tivität nicht gegeben sein. Die subjektive Auffassung der
Welt ist freilich gegeben und kann daher nur Gegenstand
der Beschreibung sein. Nicht die Gleichheit der Welt-
bestimmtheiten ist gegeben, sondern die Gleichsetzung oder
ihre historische Gleichheit im Individualsystem. Dies trifft
für alle Denkbestimmungen zu, denn jede beruht auf einer
Gleichheit. Stelle ich ein Subjekt vor 10 rote Kugeln, so
ist es zunächst gänzlich ungerechtfertigt zu sagen, daß das
Subjekt 10 rote Kugeln sieht. Meine subjektive Bestimmung
der Welt ist mir gegeben, aber meine subjektive Welt ist
nicht die Welt aller anderen Monaden. Diese wird erst von
der Naturwissenschaft als Gegenstand des „Bewußtseins
überhaupt" konstruiert, und es ist anzunehmen, daß meine
subjektive Auffassung gleicher Farben durch ihre Methoden
— 42 —
jederzeit als falsch bewiesen werden kann. Das Urteil über
den Inhalt ist verifizierbar, aber die Gleichsetzung ist das
Gegebene.
Es klingt sehr naturwissenschaftlich: Die Empfindung
wächst proportional dem Logarithmus des Reizes. In Wahr-
heit handelt es sich auch hier nur um eine Verwechslung oder
subjektive Gleichsetzung. Man wundert sich, daß das „Ge-
setz" nicht auf die Sinnesqualitäten anwendbar ist. Dies
ist aber in dem Moment selbstverständlich, wo man einsieht,
daß die sogenannte Größe der Empfindung nichts anderes
ist als das Erleben einer Größe. Kein Mensch wird behaup-
ten, daß die Empfindung wächst, wenn ich eine Strecke um
10 Zentimeter verlängere. Genau so liegt es aber in den Fällen,
wo das vermeintliche Gesetz sich bestätigt. Bei den Sinnes-
qualitäten erlebe ich keine Größen, wenn auch der Natur-
wissenschaftler sich bemüht, die Qualitäten in Größen um-
zudenken. Das Fechnersche Gesetz sagt nur, daß allzu
ähnliche Größen miteinander verwechselt werden. Die
Proportionalität ist uns verständlich, weil der Umkreis des
Ähnlichen mit der Größe des Erlebten wächst.
Wir können also bei der Wahrnehmung nur von einer
Formung des Bewußtseins sprechen, nicht aber von gegebenen
psychischen Elementen. Nur dadurch wird überhaupt die
Wahrnehmung oder der Bewußtseinsinhalt zu einem psycho-
logischen Problem. Denn abgesehen davon ist er nur Gegen-
stand der Naturwissenschaft. Diese erklärt die Wahrneh-
mung, nicht aber die Psychologie. Nur insofern ich die
Wahrnehmung als einen historischen Moment aus dem
Leben des Individuums auffasse, existiert eine psychologische
Fragestellung. Jede Bestimmung ist die Einordnung in die
subjektive Erfahrung des Individuums. Es gibt nicht eine
bestimmte Anzahl von Farbelementen, von denen eines ins
Bewußtsein gelangt. Bekanntlich unterscheiden gewisse
Hirtenvölker Farbennuancen, die wir etwa unter dem Be-
griff „braun" zusammenfassen. Dies liegt aber nicht allein
— 43 —
an der Sprache. Es wäre auch töricht anzunehmen, daß
diese Völker mehr Farbenelemente besitzen als wir. Wir
können nur sagen, daß wir manches für gleich halten, wo
ein anderer Unterschiede sieht.
Es dürfte klar sein, daß mit dieser Bestimmung der
allgemeinen Weltbestimmtheiten das Psychische nicht er-
schöpft ist. Für gewöhnlich stellt man es so dar, als ob tat-
sächlich nur Empfindungselemente da sind, die andere asso-
ziativ hervorrufen. Die populäre Erkenntnis sagt z.B.:
Ich nehme einen Tisch wahr. Der Elementarpsychologe
behauptet, daß nur Empfindungselemente da sind, die die
Vorstellung ,, Tisch" hervorrufen, diese selbst aber soll wieder
in Empfindungselemente analysierbar sein. Es gibt Fälle,
in denen ich durch einen Gegenstand an einen anderen er-
innert werde, wo also wirklich ein Nacheinander von Er-
lebnissen da ist. Dies trifft aber in unserem Fall nicht zu.
Hier handelt es sich nicht um ein Nacheinander, sondern
um die Bestimmung dessen, was momentan erlebt wird.
Dieses Erlebte kann ich nur mit der Vergangenheit des Sub-
jekts vergleichen. Man kann wohl von einer Gestaltqualität
sprechen. Man hat aber damit mit dem Begriff des Elements
gebrochen. Erlebt wird das eigentümliche Zusammensein
von Bestimmtheiten, die in den Augen des Subjekts für den
Tisch charakteristisch sind. Dieser Komplex ist logisch
ganz der Einheitsformung zu vergleichen, wie wir sie bei
der Einheit der Empfindung nachgewiesen haben, und be-
ruht auf dem eigentümlichen Strukturzusammenhang des
Bewußtseins.
Der Begriff der Gleichheit kann in der Psychologie
keinen andern als einen historischen Sinn haben. Infolge-
dessen kann man jede Empfindung eine Allgemeinempfin-
dung nennen. Das Erlebte kann nur als eine wiederholt
erlebte Bestimmtheit der Welt bestimmt werden. Die
Individualität ist als objektive Kategorie nur im Raum mög-
lich, nämlich durch den Ort. Infolgedessen muß die Er-
— 44 —
klärung der Naturwissenschaft die Ortsveränderung des
individuellen Teils nachweisen. Für die Psychologie kann
es aber ein individuelles Element in diesem Sinne nicht
geben. Ihre Individualität kommt nur durch den Zeit-
moment zustande. Erst wenn ich den Inhalt nicht psycho-
logisch auffasse, wird er als Gegenstand im Raum individuell.
Will ich also feststellen, was zu einer bestimmten Zeit im
Bewußtsein ist, so kann ich nur die historische Gleichheit von
Weltbestimmtheiten oder deren spezieller Komplexe namhaft
machen. Damit ist der psychologische Nominalismus wider-
legt. Das Wort hat als Bewußtseinsinhalt nämlich keine Aus-
nahmestellung. Die Einheit des Worts ist vielmehr ein Kom-
plex von Bestimmtheiten, wenn man will, eine spezielle Ge-
staltqualität, eine akustische Allgemeinvorstellung, die sich
logisch von keiner andern irgendwie unterscheidet. Es ist
ganz widersinnig, wenn die Gleichheit des Wortes die Ver-
schiedenheit der gemeinten Gegenstände vertreten soll,
denn das Wort ist von anderen genau so verschieden oder
ihnen genau so gleich, wie sich die optischen Vorstellungen
zueinander verhalten. Das Wort ,, Tisch" ist genau so als
akustischer Gegenstand ein allgemeiner Gegenstand, wie der
Tisch selbst als optischer. Seine Einheit ist auch nicht auf-
zulösen in eine Folge objektiver Elemente, ebensowenig
wie es im Sinne der Elementarpsychologie ein einzelnes
Element ist. Es ist nichts anderes als eine Einheitsformung
des Bewußtseins gegenüber einem objektiven Kontinuum.
Höre ich eine fremde Sprache, so höre ich vielleicht voll-
kommen andere Einheiten als einer, der sie versteht. Diese
Verschiedenheit ist aber nicht erklärbar aus verschiedenen
objektiven Elementen. Gerade die Elementarpsychologie
schneidet hier die Fragestellung ab. Es gibt nichts zu er-
klären, sondern nur historisch zu verstehen. Meine Er-
fahrung, mein Wissen beeinflußt meine akustischen Synthesen.
Der Gegenstand dieser Einheitsformung, das Wort, ist genau
so ein Gegenstand, der Bestimmtheiten hat, wie der Gegen-
— 45 —
stand der optischen Synthese. Das Wort kann die All-
gemeinheit des Gemeinten nicht erklären, weil es selbst eine
solche Allgemeinheit ist. Selbstverständlich wird auch nichts
geändert, wenn man es als einen optischen oder motorischen
Inhalt auffaßt. Man versuche nur einmal die objektiven
Elemente herauszufinden. Es ist möglich, daß man theore-
tisch behauptet: die Elemente der motorischen Empfindung
entsprechen der Anzahl der unterscheidbaren Muskeln. Aber
diese Atomistik entspricht etwa der Behauptung, daß der
Empfindungsinhalt „grau" beim Sehen der bekannten drei-
farbigen Scheibe aus den drei verschiedenen Elementen
bestünde. Über die Interpretation, die die Bewegungs-
empfindung als Einheit nur in einer Zeitstrecke sieht, kommen
wir nicht hinaus. Sie beruht auf einer Synthese, wo die Ana-
lyse in Objektivitäten unmöglich wird. Das Problem der
Allgemeinvorstellung ist nur deswegen unlösbar geworden,
weil man nicht gesehen hat, daß die psychologische Bestim-
mung jederzeit nur eine historische und keine räumliche
sein kann.
Wir sahen, daß der Wechsel des Bewußtseinsinhaltes
auf einem Wechsel der Einheitsformungen des Bewußtseins
beruht. Dies erlaubt eine Kritik der Selbstbeobachtung.
Es gehört für mich zu den Unklarheiten der Apperzeptions-
theorie, daß sie den Akt der inneren Wahrnehmung leugnet
und trotzdem von der Analyse des Inhaltes in Elemente
ausgeht. Logisch ist dabei doch jener Akt vorausgesetzt.
Man setzt nämlich einen relativ konstanten Gegenstand
voraus, der analysiert werden kann. Dies nennt man aber
innere Wahrnehmung. Es kommt mir nicht darauf an,
Unzulänglichkeiten dieser Beobachtung festzustellen, die
mehr oder minder beseitigt werden könnten, sondern nur
auf das absolut Unlogische, das diesem ganzen Begriffe
zugrunde liegt. Es gibt keinen Gegenstand der psycho-
logisch betrachtet werden kann, außer dem Raum. Selbst-
beobachtung ist nichts anderes als Beobachtung des Raumes,
— 46 —
wie er als Inhalt der Monade existiert. Weil aber zugleich
eine objektive Welt gedacht wird, so kann man auch sagen,
daß eine konstante Raumkonstellation beobachtet wird,
und in dieser Voraussetzung bekommt die Analyse des Be-
wußtseinsinhaltes einen ganz anderen Sinn. So wie ich etwas
Neues wahrnehme, hat mein individueller Bewußtseins-
inhalt gewechselt. Denkend aber beziehe ich das Wahr-
genommene auf einen konstanten Gegenstand. Im Bewußt-
sein befindet sich nur das, was ich unmittelbar erlebe. Diese
Erlebnisse kann ich, so gut es geht, namhaft machen. Habe
ich aber Grund anzunehmen, daß die objektive Welt sich nicht
geändert hat, so kann ich sagen: ich habe die Welt, die auch im
vorigen Moment dieselbe war wie jetzt, genauer analysiert,
nicht aber einen momentanen Bewußtseinsinhalt. Diese Auf-
fassung ist also das Korrelat zu der Konstruktion der Kausa-
lität, wie sie Kant begründet hat. Wenn nämlich der Wechsel
des Inhaltes nicht auf einen konstanten Gegenstand be-
zogen werden kann, dann ist die Folge des Wahrnehmungs-
urteils als ,, wirkliche" Veränderung durch die Kausalität
zu objektivieren. Wir kommen also zu dem Resultat, daß
der Psychologe in dem momentanen Bewußtsein nicht mehr
finden kann, als in dem gewöhnlichen Sterblichen da ist.
Auch sein Bewußtsein ist ein ständiger Wechsel von Ein-
heitsformen. Man erlebt das, was man erlebt. Es ist aber
möglich, daß etwas als Raumbestimmtheit existiert, was
ich nicht erlebe. Dies nennen wir unbewußt. Wenn es mir
aber bewußt wird und ich annehmen muß, daß sich die Wirk-
lichkeit in dem verflossenen Zeitraum nicht geändert hat,
so muß ich auch annehmen, daß es schon vorher existiert
hat. Das Unbewußte ist aber kein Grad des Bewußtseins.
Es ist richtig, daß die Bewegung unseres Auges uns die
Kenntnis räumlicher Verhältnisse vermittelt, weil durch die
sukzessive Reihe der optischen Bilder unsere Raumsynthesen
möglich werden. Diese Bewegungen des Auges lassen sich
bemerken. Es ist aber falsch zu behaupten, daß die Be-
— 47 -
wegungsempfindungen in jedem Bewußtsein anwesend sind
und nur durch eine genaue Selbstbeobachtung bemerkt
werden. Damit faßt man das Bewußtsein als Raumgegen-
stand auf. Was man hierbei Selbstbeobachtung nennt, ist
wieder nichts anderes als die genauere Beobachtung der
Außenwelt. Diese allein braucht nicht in jedem Bewußt-
sein anwesend zu sein. Was im Moment da ist, ist nicht
mehr oder minder bewußt, sondern es ist dem Gegenstand
im Raum gegenüber mehr oder minder bestimmt. Durch
die Aufmerksamkeit wird die Welt in dieser Hinsicht von
dem Psychologen genauer bestimmt als von dem praktisch
handelnden Menschen. Von einer Auflösung des Bewußt-
seinsinhaltes als psychischen Gegenstandes läßt sich nicht
sprechen. Die vermeintliche Analyse des Bewußtseins oder
die Selbstbeobachtung deckt sich also mit dem Begriff der
Apperzeption. Es gibt keine Grade des Bewußtseins, son-
dern nur eine genauere Bestimmung des nicht-psychischen
Gegenstandes. Die Randteile der Netzhaut bewirken keine
perzipierten Elemente. Was bewußt ist, ist bewußt, ohne
daß es Grade gäbe. Richtig aber ist, daß sich die Gegenstände,
die nicht ins Sehzentrum der Netzhaut fallen, nicht genau
bestimmen lassen. Der Unterschied von Apperzeption und
Perzeption beruht also auf einem Vergleich mit dem Gegen-
stande, nicht aber auf einem Vergleich der Grade des Be-
wußtseins. Ein Geräusch kann plötzlich bewußt werden.
Habe ich Grund anzunehmen, daß es auch früher da war,
so hat es unbewußt existiert. Kann ich aber feststellen, daß
es auch früher in irgend einer Weise schon bewußt war,
so habe ich von dem Gegenstand weniger wahrgenommen
als jetzt. Die psychischen Elemente aber haben keine Steige-
rung erfahren. Ich nehme jetzt vielleicht einen Rhythmus,
eine Klangnuance wahr, ich erkenne vielleicht ein Musik-
stück. Außerdem gibt es aber noch eine Möglichkeit, näm-
lich, daß etwas im Bewußtsein war, was vergessen worden
ist. Natürlich kann man das nur hypothetisch annehmen.
— 48 —
Wo aber die Tatsache des absoluten Vergessens existiert,
können wir logischerweise auch davon Gebrauch machen,
wenn wir damit einer unlogischen Annahme von unbewußten
Elementen im Bewußtsein entgehen. Ich glaube, wir wissen
das Allerwenigste von dem, was wir in einem Moment er-
leben. Das praktische Handeln gestattet uns nur die Be-
schäftigung mit einem kleinen Teil. Alles Übrige wird
momentan vergessen. Das verstehe ich unter dem, was man
die Fransen des Bewußtseins, „fringes", genannt hat. Ebenso
gibt es auch Vorstellungsfransen. Wir besinnen uns auf
einen Namen, wir erleben ihn plötzlich, aber ehe wir ihn aus-
sprechen können, ist die Vorstellung schon vergessen. Was
übrig bleibt, sind vielleicht noch ganz wenig und unbestimmte
motorische Empfindungen. Wir pflegen zu sagen: der Name
schwebte uns auf der Zunge. Die Elementarpsychologie
würde hier von dem dunklen Hintergrund des Bewußtseins
sprechen. Ich weiß wohl, daß man dies nicht wörtlich
nehmen darf. Eine Metapher kann aber dem Bewußtsein
nur etwas verdeutlichen. Hier liegt nun die ganze Verdeut-
lichung in dem Räumlichen des Bildes, und darum ist sie
nicht nur nichtssagend, sondern auch gefährlich. Die „fringes"
haben ihre Eigentümlichkeit nicht wegen der Raumdimen-
sionen des Bewußtseins und nicht wegen der Beleuchtung.
Der Sprachgebrauch darf sich ähnliche Metaphern erlauben,
die wissenschaftliche Terminologie nicht. Die Kürze der
Zeit ist das Entscheidende und vielleicht daraufhin die ge-
ringe Anzahl von Bestimmtheiten gegenüber der Wirklich-
keit. Hier kann die psychologische Aufmerksamkeit korri-
gieren, wenn es auch ausgeschlossen ist, daß die Benennung
und Beschreibung nur annähernd der Unzahl der Erlebnisse
nachkommen kann. Immerhin kann man hier durch Übung
etwas erreichen. Diese besteht aber in nichts anderem als
der Ausschaltung der ungleichmäßigen Beschäftigung mit
dem Erlebten, wie es das praktische Handeln verlangt.
Es gibt Menschen, denen mehr bewußt war, als sie im folgen-
— 49 —
den Moment wissen, weil sie vieles vergessen haben, worauf
sie keinen Wert legten. Es wäre aber auch falsch zu sagen,
daß wir ein Erinnerungsbild genauer analysieren können.
Auch das bedeutet eine Verdinglichung des Psychischen.
Die Vorstellung unterscheidet sich hierin nicht von der
Wahrnehmung. Es gibt nichts, was mir momentan bewußt
ist, ohne daß ich es weiß. Aber wohl ist es möglich, daß mir
etwas bewußt ist, was ich im nächsten Moment nicht mehr
weiß, oder etwas, wodurch ich den Gegenstand nicht genau
erkenne. Die Tätigkeit des Psychologen ist Selbsterkenntnis
oder Selbstbewußtsein. Jedes Wissen ist, solange es nicht
naturwissenschaftliche Erkenntnis ist, psychologisch. Wenn
das Kind das erste Urteil abgibt, so ist das ein Beweis, daß
die psychologische Erkenntnis in ihm erwacht ist. Es ordnet
das Erlebte seiner subjektiven Welt, seiner Erfahrung
ein. Mehr tut auch der Psychologe nicht. Aber der größte
Teil unseres Bewußtseinslebens läuft ab, ohne daß es Gegen-
stand urteilender Erkenntnis wird. Hierfür ist leider der
Name „unbewußt" üblich geworden. Besser wäre schon,
man sagte: „ungewußt". Wir wissen nur das von unseren
Erlebnissen, was uns im Gedächtnis bleibt. Für gewöhnlich
bleibt uns aber nur das im Gedächtnis, womit wir uns er-
kennend beschäftigt haben. Im praktischen Leben geht aber
vieles vorüber, ohne daß es nur im geringsten von uns be-
stimmt wurde. Wir haben eben mehr zu tun, als immer
Psychologen zu sein. Aber auch das, was wir nicht bestimmt
haben, kann für den Fortgang des psychischen Lebens sehr
wesentlich sein. Insofern ist wirklich das Ungewußte viel
wesentlicher als das, was wir von unserer Geschichte wissen.
Ich komme später nochmal darauf zurück.
Wir haben damit schon ein Problem berührt, das die
Elementarpsychologie, soviel ich sehe, überhaupt über-
gangen hat, nämlich das Problem der Zeit im Verhältnis zu
der Einheit des Erlebten. Nur bei der sogenannten Enge
des Bewußtseins wird diese Frage gestreift. Sollte die Er-
Strich, Prinzipien. 4
— 50 -
klärung in der Psychologie überhaupt einen Sinn haben,
so müßte es möglich sein, eine Folge von Elementen anzu-
geben, deren Existenz man dann erklären kann. Diese
stillschweigende Voraussetzung ist aber falsch. Unsere
empirische Zeitmessung beruht bekanntlich auf der Konsta-
tierung der Gleichzeitigkeit im Raum, wobei der eine Gegen-
stand für gewöhnlich die Bewegung des Uhrzeigers ist.
Psychologisch aber gibt es auch hier keine objektive Konsta-
tierung, sondern nur das Bewußtsein der Gleichzeitigkeit.
Dabei muß die Psychologie stehen bleiben, während für den
Gegenstand eine objektive Gleichzeitigkeit zustande kommt.
Man ist sich der Gleichzeitigkeit zweier Einheiten bewußt.
Wo es aber Synthesen gibt, die selbst mit einem zeitlichen
Wechsel des Inhalts verbunden sind, ist eine objektive Zu-
ordnung der Elemente zueinander schlechterdings eine Un-
möglichkeit. Ich denke z. B. etwas und bin mir der optischen
Eindrücke und der motorischen Empfindungen gleichzeitig
bewußt. Der Denkakt ist eine Synthese von zeitlicher
Dauer. Nehmen wir aber auch an, daß diese durch eine
Reihe von Elementen darstellbar ist, so käme es darauf an,
diese Reihe der motorischen und akustischen Elemente etwa
der Reihe der optischen Empfindungen zuzuordnen, d. h.
festzustellen, welche Elemente während des Zeitverlaufs
wirklich gleichzeitig zusammen waren. Das würde aber ein
Bewußtsein über dem Bewußtsein voraussetzen, einen inneren
Sinn. Daraus erhellt die Zwecklosigkeit der Elementar-
analyse. Man will die zeitliche Existenz des Psychischen er-
klären. Nun haben wir gezeigt, daß die Zeitanalyse nicht
weiter gelangt als zu der Konstruktion mehrerer dauernder
Synthesen. Die Zeit ist für die Psychologie keine objektivie-
rende Methode wie für die Naturwissenschaft. Man darf
freilich nicht objektiv und absolut verwechseln. Gerade
die neueste Theorie der Relitivität der Zeit ist ein Beweis
für die Objektivität der Methode, während die Absolutheit
der Zeit in der Psychologie nur wegen ihrer Subjektivität
— 51 —
möglich ist. Sie bedeutet keine stetige Reihe, kein homogenes
Medium, sondern eine reale Folge absoluter Momente. Wir
können das Psychische nicht mit Hilfe eines relativen Ko-
ordinatensystems zeitlich objektivieren. Das wäre aber
unbedingt notwendig, wenn man es wirklich als eine objek-
tive Zeitreihe von Elementkonstellationen darstellen wollte.
Statt dessen ist die Zeit selbst Erlebnis, eine formale Quali-
tät wie der Raum. Das Bewußtsein unterscheidet Einheiten
von Dauer nach den Synthesen. Wenn wir in der zeitlichen
Darstellung aber nur diese Zeiteinheiten, d. h. die nach der
Einheit der Synthesen, überhaupt kennen, so ist die ver-
langte Auflösung in Elemente eine nutzlose Spielerei. Ich
sehe etwa Bewegungen vor einer Fläche. Diese verlaufen
in der Zeit. Für den Psychologen existiert also ein dauernder
Zeitteil, der durch die optische Synthese bestimmt ist. Eine
Auflösung in Elemente hätte nur einen Zweck, wenn gleich-
zeitig damit eine objektive Konstruktion ihrer zeitlichen
Folge möglich wäre. Wir können nur sagen, was wir in
einem Moment erlebt haben, aber dieser Moment ist eine
absolute Größe von bestimmter Dauer, „ein" Moment nur
subjektiv wegen der Einheit der Synthese. Die Gleich-
zeitigkeit der dauernden Synthesen ist der Gegenstand
unseres Erlebens. Sie allein könnten das Objekt der Er-
klärung sein, während die Auflösung in Elemente für die Zeit-
erklärung gar nicht mitsprechen kann. _ Genau so wie „der"
Raum psychologisch nicht existiert, existiert auch nicht,, die"
Zeit. Nehmen wir eine objektive Zeit an und einen kleinsten
denkbaren Zeitteil, so müßte es für die Erklärung ideal mög-
lich sein, den Bewußtseinsinhalt mehrerer Monaden in diesem
Moment zu bestimmen. Allein dies wäre schon als Idee un-
logisch und nicht nur praktisch unmöglich. Für die Monaden
braucht es die Einheit des Moments nicht zu geben. Für
jede existiert nur die Folge der realen dauernden Momente.
Gewiß kann man auf irgend ein Signal hin sein Leben unter-
brechen und erzählen, was man in dem Moment erlebt hat.
4*
— 52 —
Eine unteilbare Einheit ist aber der Moment nur für den
Betreffenden selbst. Werde ich in einem Denkprozeß unter-
brochen, so wäre es eine Absurdität, den letzten Moment in
objektivem Sinne zu bestimmen. Was von meinem Erlebnis
aus eine Einheit ist, ist auch ein Zeitteil von Dauer, der
ebenso unteilbar ist wie die Qualität „rot" nicht in andere
Qualitäten teilbar ist. Infolgedessen besteht die Zeit psycho-
logisch nicht aus gleichen Teilen, sondern aus absoluten,
ungleichartigen, nämlich von verschiedener Dauer, und diese
Teilung hat mit den Erlebnissen einer andern Monade nichts
zu tun. Für den Psychologen gibt es nicht den Raum oder
die Zeit, sondern absolute Momente der Monaden. Erst die
Naturwissenschaft konstruiert durch die stetige Zeit in einem
relativen Koordinatensystem die Objektivität.
Dies richtet sich mit gegen Kant. Daß er die Zeit auch
als Form des ,, inneren Sinnes" angenommen hat, beweist
eine psychologistische Auffassung des Formbegriffs. Daß
wir das Psychische als Zeitverlauf wissen, ist selbstverständ-
lich. Allein gerade, wenn man die Zeit als Form des Bewußt-
seins für die Natur auffaßt, als eine Methode, um sie objektiv
zu konstruieren, ist es falsch, sie auch als Form für das Be-
wußtsein selbst auszugeben. Denn hier ist von einer Objek-
tivierung durch sie eben nicht die Rede. Das würde auch das
Problem des psychischen ,, Dinges an sich" im Sinne Kants
berühren. Wie sich, die Frage auch für die Natur verhalten
mag, für die Psychologie kann sie nur psychologistisch auf-
gefaßt werden. Der innere Sinn ist nichts anderes als die
innere Wahrnehmung, die die Erscheinungen des ,, Dinges
an sich" in der Zeit wahrnimmt, und diese Ansicht ist im
höchsten Grade unkritisch. Die Zeit spielt für die Psycho-
logie nicht dieselbe logische Rolle wie für die Naturwissen-
schaft.
— 53 —
IL Der inhaltliche Zusammenhang des Bewußtseins.
Das Interesse einer jeden Wissenschaft ist nun auf den
Zusammenhang von Phänomenen gerichtet. Zweifellos ist
jede einzelne Feststellung eines solchen abhängig von den
Erfahrungen, die wir machen. Immerhin ist das letzte Pro-
blem auch hier ein erkenntniskritisches, das seinen Grund
in der philosophischen Erfahrung hat. Diese unterscheidet
sich dadurch von der empirischen, daß sie nicht eine Samm-
lung und Ordnung einzelner Erkenntnisse ist, sondern die
Form und das Wesen dieser Ordnung selbst feststellt. Er-
fahrung bleibt sie, weil sie an eine bestehende Tatsächlich-
keit der Welt gebunden ist. So ist die Erkenntniskritik der
Naturwissenschaft die philosophische Erfahrung an der empi-
rischen Naturerfahrung, in dem sie ihre Wesenhaftigkeit
herauszuanalysieren hat. Sie hat also festzustellen, auf
welchem logischen Grund sich diese Erfahrung erhebt.
Es ist aber, wie gesagt, ein unkritisches Dogma, daß dieser
logische Grund die Erkenntnis überhaupt konstituiert.
Dieser erkenntniskritische Monismus führt zu dem meta-
physischen, aus dem man sich nur durch ein anderes un-
kritisches Dogma, das des Noumenon, herausretten kann.
Der Irrtum steckt schon darin, daß man eine Erfahrung des
Psychischen im Sinne der Naturwissenschaft als Selbstver-
ständlichkeit annimmt. Daß die Psychologie empirische
Erkenntnis ist, wird niemand bestreiten. Daß sie aber Er-
fahrung im rein erkenntniskritischen Sinne Kants ist, ist
nicht möglich. Das logische Charakteristikum dieser Er-
fahrung, das Gegenstandsurteil, trifft für sie nicht zu. Trotz-
dem gibt es eine psychologische Erkenntnis, und die Kritik
hat ihre logischen Prinzipien selbständig herauszuanalysieren.
Es gibt ein Wissen von Zusammenhängen in der Welt, das
auf ganz anderen logischen Voraussetzungen beruht, als die
mechanistische Naturwissenschaft, und dieses nennen wir das
historische. Es muß für die Erkenntniskritik oder die kri-
— 54 —
tische Metaphysik genau so vorausgesetzt werden wie die
Naturwissenschaft. Gerade daß dieses Wissen keine Wissen-
schaft im Sinne des Mechanismus bedeuten kann, ist sein
logisches Charakteristikum. Es ist ein Irrtum, daß der
Monismus eine logische Forderung der Vernunft sei. Nur
psychologisch ließe sich das Verlangen darnach rechtfertigen,
nicht aber die logische Forderung dadurch begründen. Weil
aber logisch der Dualismus notwendig ist, darum führt die
Kritik der Erkenntnis notwendig zu Antinomien. Die Kant-
schen Antinomien aber sind psychologistisch, nicht logisch
begründet, sondern psychologisch aus Bedürfnissen der Ver-
nunft. Die logisch notwendigen können sich allein aus dem
Dualismus der historischen und der reinen Vernunft ergeben.
Soweit die Kantschen richtig sind, müssen sie auf diesen
zurückführbar sein.
Gegenüber diesem transzendentallogischen Problem muß
der Gegensatz von Beschreibung und Erklärung ganz zu-
rücktreten, wenn man ihn so psychologistisch nimmt, wie es
üblich geworden ist. Soweit das Denken überhaupt an die
Tatsächlichkeit der Welt gebunden ist, ist jede Wissenschaft
Beschreibung, Logik und Mathematik genau so wie Psycho-
logie und Naturwissenschaft. Es fragt sich aber, was be-
schrieben wird. Und von diesem Standpunkt aus bleibt, wie
wir sehen werden, ein Unterschied bestehen, den man ter-
minologisch weiterhin als Beschreibung und Erklärung be-
zeichnen kann. Der eigentliche Unterschied aber besteht
zwischen Erklären und Verstehen. Diese letzten Formen
unseres Wissens, wie es der philosophischen Erfahrung ge-
geben ist, bedingen unsere Auffassung von der Welt. Die
Natur erklären wir, aber sie bleibt uns unverständlich. Das
Psychische verstehen wir, aber wir können es nicht er-
klären. In beiden Fällen bedeutet dies keinen Skeptizis-
mus, denn dieser beruht immer auf unberechtigten For-
derungen, die man auf Grund der Verwechslung beider
Gebiete stellt.
— 55 —
Wir berührten schon bei der Bestimmung des psychi-
schen Objekts als Erlebnis den Unterschied des Indivi-
dualsystems und der einen Natur. Dies ist der Gegensatz,
der für die ganze Grundlegung der Psychologie entscheidend
ist. Wir zeigten dort, daß der Unterschied zwischen Wahr-
nehmung und Gegenstand kein Gegensatz der Qualität von
Teilelementen ist, nicht der, daß das eine Ding aus psychi-
schen, das andere aus physischen Elementen besteht, son-
dern, daß es ein Unterschied in der Auffaussung oder dem
Denken der ,,data der Sinnlichkeit" ist. Als Wahrnehmung
denke ich sie innerhalb des historischen Systems des Be-
wußtseins, als Gegenstand innerhalb des Systems der Natur.
Das Denken konstruiert aus dem Phänomen den Gegenstand
und das Subjekt.
Der ungeheure Gegensatz, auf den es bei der Frage nach
dem psychischen Zusammenhang ankommt, ist folgender:
Die Naturwissenschaft— unter diesem Wort verstehe* ich
immer die mechanistische Naturwissenschaft — konstruiert
das eine System Natur, die psychologische Erkenntnis — ich
vermeide zu sagen: die Psychologie — erkennt die Indivi-
dualsysteme. Kant konnte Naturwissenschaft und Natur
identifizieren, wenn er nach ihrer Möglichkeit fragte. Es
gibt aber keine Psychologie als die Wissenschaft von der
psychischen Welt, sondern nur eine Erkenntnis der Monaden.
Die geniale Tat von Kant besteht gerade darin, das logische
Charakteristikum der Naturwissenschaft in der einen objek-
tiven Welt erkannt zu haben. Sie ist möglich durch Raum
und Zeit als Methoden der Objektivierung. Die Natur-
wissenschaft konstruiert die Substanz. Dieser Begriff be-
zeichnet gar nicht eine neue Wesenhaftigkeit neben den Er-
scheinungen, wie man oft annimmt, sondern nur den In-
begriff der gesamten Gegenständlichkeit. Er ist ein Aus-
druck für die Tatsache der ,, einen" Welt. Behauptet man nun,
daß es eine psychische Welt gibt, deren Gesetze man er-
kennen will, so legt man von vornherein diesen Substanz-
— 56 —
begriff als Idee zugrunde. Darum behaupte ich: Gerade die
Elementarpsychologie, die den Substanzbegriff eliminieren
will, fußt absolut auf ihm, was wir noch genauer zu beweisen
haben werden. Nun beruht freilich auch die kritische Psycho-
logie auf einer Substanz, nicht aber auf der Idee der einen all-
gemeinen Gesamtsubstanz, sondern auf der Idee der Einzel-
substanz. Diese Unterscheidung deckt sich vollkommen mit
der des Gesamtsystems und des Individualsystems, für die
sie nur ein anderer Ausdruck ist. Von einer metaphysischen
Seelensubstanz ist nicht die Rede.
Die Unklarheiten, die dem Substanzbegriff bei Aristoteles
anhaften, stammen nur aus der nicht scharf genug voll-
zogenen Trennung der historischen und der reinen Vernunft.
Sie schwinden, sobald man erkannt hat, daß das Recht der
Einzelsubstanz nur in der Notwendigkeit der historischen
Vernunft begründet ist. Die Naturwissenschaft kennt nur
die zeitlose allgemeine Substanz, die Geschichte aber nur die
Formen, die diese in der Zeit eingeht. Für den Mechanismus
kommt es nicht darauf an, ob etwas ein Tisch oder ein Stuhl
ist, denn was er als existierend setzt, ist nur eine momen-
tane Konstellation der allgemeinen Substanz, die selber
zeitlos ist. Die Form aber dauert. Sie begründet das histo-
rische Subjekt. Nur die Formen oder die Einzelsubstanzen
haben eine Geschichte oder besser gesagt: Nur durch die
Geschichte gibt es sie überhaupt. Zur kritischen Frage wird
aber dieser Gegensatz erst dann, wenn die Geschichte und
der Mechanismus in Konflikt geraten. Dieser Fall ist dann
gegeben, wenn die eine Auffassung die andere unmöglich
macht. Hier liegen die Antinomien der Vernunft überhaupt,
die sich alle um den Begriff des Lebens konzentrieren. Der
Begriff der Einzelsubstanz ist denknotwendig, soweit wir
unserm Denken die Gegensätze zwischen Leben und Tod
zugrunde legen.
Es handelt sich für uns darum, daß das Leben keinen
Unterschied unter den gleich erfahrenen Gegenständen be-
— 57 —
deutet, sondern ein Prinzip des Denkens ist, das im schärfsten
Gegensatz zu dem Mechanismus steht. Es ist falsch zu sagen,
daß das Leben überhaupt ein Gegenstand der Wahrnehmung
ist. Wir nehmen ebensowenig Leben wahr, wie wir eine
Tätigkeit oder einen Willen wahrnehmen. Wir denken
Leben und Tod. Das Leben ist das erkenntniskritische
Prinzip der historischen Erfahrung. Erst damit wird ein
kritischer Vitalismus begründet. Wir gehen gerade nicht
von einer Lebenskraft im Raum neben andern aus, auch
nicht von einem metaphysischen Zweckbegriff. Wir sehen
den Unterschied nur in dem Prinzip des Denkens. Den toten
Körper denken wir als Konstellation der einen ewigen
Substanz. Den lebenden Organismus dagegen denken wir
als historische Einheit in der Zeit. Die Frage, ob Vitalismus
oder Mechanismus, spitzt sich auf die zu: Ist der Begriff des
Lebens eine notwendige Kategorie unseres Denkens. Mit
vollständigem Recht aber können wir statt Leben Organis-
mus setzen. Denn wir verstehen terminologisch unter dem
Begriff Leben gar nichts anderes als den Zusammenhang
in der Zeit, der die Einheit des historischen Subjekts be-
gründet. Davon an anderer Stelle mehr.
Nichts anderes als das historische Subjekt, das als
Gegenstand der Biologie sein Recht hat, ist das Individual-
system als Gegenstand der Psychologie. Erst damit haben
wir ein Recht, von einer physiologischen oder biologischen
Psychologie zu sprechen. Es ist interessant, wie ohne die
kritische Grundlage die widerspruchsvollsten Begriffe in
einem System zusammengeschweißt werden müssen. Gerade
die Psychologie nennt sich heute physiologisch, die am wei-
testen von der biologischen Auffassung entfernt ist, gerade
die bekämpft die Substanz, die durchaus auf ihr begründet
ist. Man lehnt die Ichpsychologie als ein Derivat spiritualisti-
scher Metaphysik ab und sieht nicht, daß das Ich gar nichts
anderes ist, als ein anderer Name für die Zeiteinheit des
Organismus. Man meint vielleicht, daß auch die Biologie
— 58 —
ohne den Begriff des Organismus auskommen muß. Zweifel-
los ließe sich ein Buch denken, das dieses Wort nicht er-*
wähnt. Die kritische Frage lautet aber: Kann die Biologie
Wissenschaft sein, ohne einen historischen Zusammenhang
der Phänomene anzunehmen. Direkt muß man sagen: Die
Biologie ist überhaupt, wie wir noch sehen werden, nur da-
durch als Spezialwissenschaft möglich, daß sie von der
Idee eines historischen Zusammenhangs ausgeht.
Wir sagten, daß das Ich nur ein anderer Name für die
Idee des Organismus oder des Subjekts ist. Im Raum exi-
stiert nur das, was die mathematische Naturwissenschaft
dort setzt: die von ihr konstruierte Substanz, deren Kon-
stellation einer stetigen Veränderung unterworfen ist. Der
Organismus dagegen existiert nicht in diesem Raum, weil
er eine Zeitform der Substanz ist, die der Mechanismus
ebenso wenig kennt wie die des Stuhls oder des Tisches.
Er ist aber ein notwendiger Denkbegriff, weil die bestehende
biologische Erkenntnis nicht möglich ist, ohne von der
Idee des historischen Zusammenhangs auszugehen. Das-
selbe aber trifft für die psychologische Erkenntnis zu.
Wenn wir also von dem Ich als dem Grundbegriff der
psychologischen Erkenntnis ausgehen, so tun wir das gerade,
um den unkritischen Substanzbegriff aus der Psychologie
zu eliminieren, auf dem die sogenannte physiologische oder
naturwissenschaftliche oder kausal-erklärende Elementar-
psychologie aufgebaut ist. Es ist selbstverständlich, daß dabei
religiös-metaphysische Probleme gar nicht in Frage kommen.
Wenn wir auch das Ich als die Einzelsubstanz charakterisiert
haben, so hat dies mit einer Unsterblichkeit der Seele
schlechterdings nichts zu tun. Es ist wohl klar, daß dieses
Problem wie alle anderen philosophischen im abendländi-
schen Denken durch das Primat des Raumdenkens ver-
fälscht worden ist. Ich sagte „abendländisch", weil dem
indischen Denken dieser Fehler vielleicht nicht vorgeworfen
werden kann. Wir sahen ja gerade, daß die Einzelsubstanz
— 59 —
als erkenntniskritischer Begriff gerade an die Zeitform ge-
bunden ist. Irgend welche Konsequenzen von einer Fort-
dauer der Seele im Raum lassen sich daraus nicht ziehen,
weil die Seele oder das Ich überhaupt nicht im Raum existiert,
sondern nur in der Zeit, genau so wie das Leben, für dessen
historische Einheit sie in Wahrheit nur ein anderer Aus-
druck ist.
Wir bezeichnen also mit dem Ich nichts weiter als die
Tatsache, daß die biologisch-psychologische Erkenntnis im
Gegensatz zu dem Mechanismus von der Idee eines histo-
rischen Systems ausgeht. Die Art und Weise, wie man
diesen Begriff aus der Psychologie eleminieren wollte, ist
ein trauriger Beweis für den Verfall des kritischen Denkens.
Man behauptet, daß man noch nie ein Ich wahrgenommen
hat. Damit bin ich ganz einverstanden. Man spricht doch
aber auch von der einen gesetzmäßigen Welt. Meint man,
daß man diese wahrnehmen kann, so irrt man sich. Wahr-
nehmen tun wir qualitative Weltbestimmtheiten und nichts
weiter, weder „die" Natur noch „den" Raum, weder die
Kausalität noch das Leben, weder Kräfte noch Tätigkeiten.
Alles dies sind Denkbegriffe, in denen wir die phänomenale
Welt erkennen. Wir nehmen kein Ich und keine Welt wahr,
sondern wir konstruieren denkend aus den Phänomenen
eine Natur im Raum und die unendliche Anzahl der Monaden
oder Iche in der Zeit. Der Idee „Natur" der reinen Vernunft
entspricht zunächst die Idee des Ich in der historischen
Vernunft. Die Natur hat ihren Sinn in der Einheit des
Systems, genau dasselbe trifft für das Ich zu. Existiert aber
dort der Zusammenhang im zeitlosen Raum, so ist es hier
der Zusammenhang in der realen Zeit, der das System
konstituiert.
Allerdings gibt es auch für die historische Vernunft die
Idee „einer" Welt, die über den Monaden oder Individual-
systemen steht. Diese Welt wäre das transzendente Ich, der
objektive Geist, der als Korrelat der Kultur begriffen werden
— 60 -
muß. Das Problem der Geschichte in diesem Sinne ist die
transzendentale Frage nach der Möglichkeit des Geistes,
und dieses System wird durch die wertende Vernunft kon-
stituiert, die der historischen und der naturwissenschaft-
lichen an die Seite tritt. Die empirisch-psychologische Er-
kenntnis im Gegensatz zur transzendental-psychologischen
kennt aber kein anderes System als das individuelle Ich.
Man versucht diesen Begriff lächerlich zu machen durch
die Peststellung, daß man sein eigenes Bild im Spiegel
nicht zu erkennen braucht, und ist sich der eigenen Lächer-
lichkeit nicht bewußt, die darin liegt, daß man gerade in
diesem Urteil immer das Ich zugrunde legt. Man bildet sich
vielleicht ein, daß das nur an dem sprachlichen Ausdruck
liegt. Allein die Sprache kann nicht anders, als dem Denken
folgen. Ob man ein Urteil in der ersten oder dritten Person
aussagt, ist ganz gleichgültig. Wesentlich ist nur, daß man
von einem historischen Subjekt ausgeht. Am absurdesten
ist auch hier die Elementarpsychologie, die das Ich auf-
löst in ein Gefühlselement, in einen Bewußtseinsinhalt, der
dem Wort „Ich" oder dem Eigennamen entsprechen soll,
in eine Reihe von Inhalten, die neben andern schönen Sachen
auch unsere Ideale umfassen soll. Selbstverständlich ist
gerade diese Auswahl der Inhalte nicht empirisch, sondern
ethisch orientiert. Alles dies sind absurde Konsequenzen der
theoretischen Prinzipien. Es wäre dies nur dem zu ver-
gleichen, daß man die Kausalität als einen raumfüllenden
Gegenstand neben der Gesetzmäßigkeit der Welt annehmen
wollte. Das Ich ist weder ein Teil des Bewußtseinsinhaltes
noch überhaupt ein Gegenstand des Erlebnisses, sondern nur
ein Gegenstand der denkenden Erkenntnis oder des Wissens,
das man, wenn es sich auf das eigene Subjekt bezieht, ,,Ich"-
oder Selbstbewußtsein nennt. Freilich ist dieses Ich mit dem
Ichbewußtsein nicht identisch. Dieses ist nur ein anderer
Ausdruck für psychologische Erkenntnis. Ist das Ichbewußt-
sein da, so ist subjektive Erkenntnis da, aus der sich die
— 61 —
objektive entwickelt. Es taucht nicht plötzlich im Bewußt-
sein das Ich auf, sondern das Kind beginnt zu erkennen, und
zwar zunächst subjektiv seine Welt, wie sie als Inhalt dieser
Monade existiert. Selbstverständlich ist auch das sogenannte
Doppelbewußtsein kein Einwand gegen unsere Darstellung,
sondern im Gegenteil. Vom Standpunkt der mittelalter-
lichen Dämonenlehre allerdings gibt es Fälle, wo in einen
Körper ein anderes Ich hineinwandert. Über dieses Raum-
denken ist man ja Gott sei Dank hinausgekommen. Man
geht ja gerade davon aus, das Doppelbewußtsein aus dem
Leben des Individuums zu verstehen. Dies könnten wir
aber niemals, wenn wir nicht von der Idee eines Ichs als
Systems ausgehen, innerhalb dessen wir den Zusammenhang
suchen. Das Doppelbewußtsein ist in den Fällen, wo wirk-
lich davon gesprochen werden kann, nichts anderes als ein
Irrtum der Selbsterkenntnis oder eine Störung des Gedächt-
nisses. Diese falsche historisch-psychologische Erkenntnis
des Individuums ist für den erkennenden Betrachter Gegen-
stand seiner psychologischen Erkenntnis, ein Phänomen aus
dem System des andern Ich. Sonst könnte es niemals
Gegenstand des psychologischen Verstehens sein. Denn
dieses bedeutet nichts anderes als die historische Ableitung
aus der Vergangenheit. Etwas anderes als dieser zugrunde
gelegte historische Zusammenhang ist aber mit dem Ich-
begriff gar nicht gemeint.
Unsere psychologischen Urteile beziehen sich als Wahr-
nehmungsurteile immer auf dauernde Zeitformen, und darin
liegt ihr Gegensatz zu dem Gegenstandsurteil der Natur-
wissenschaft, das sich stets auf die zeitlose Substanz bezieht.
Schon der Ausdruck: ,,im Bewußtsein befindet sich etwas",
beruht auf einer Übertragung des Raumdenkens. In dem
Bewußtsein liegt schon die dauernde reale Zeitform. Geht
man aber von einer Gesetzmäßigkeit der Elemente unter-
einander aus, so denkt man das Bewußtsein nur als den Ort
für die Erscheinung der Gesetzmäßigkeit, als einen relativen
— 62 —
vom Denken konstruierten Ausschnitt aus der gesamten
psychischen Substanz. Tatsächlich ist dies der Grundirrtum
der erklärenden Psychologie. Der Gegenstand der psycho-
logischen Erkenntnis kann nur das System des historischen
Subjektes sein. Ein größerer Gegensatz zu der erklären-
den Psychologie läßt sich nicht denken. Diese muß not-
wendigerweise von der Idee einer psychischen Welt aus-
gehen, deren Gesetze sie erkennen will. Dieses ist logisch
unmöglich, weil Zeit und Raum keine Methoden der Objek-
tivierung für das Psychische sein können. Die empirische
Psychologie kann daher nur Individualpsychologie sein,
erkennende Geschichte der Subjekte, und nicht Wissenschaft
von den elementaren Gesetzen einer psychischen Welt. Der
Zusammenhang, durch den wir ein Phänomen verstehen
wollen, kann nur ein historischer sein. Wir können es aus
der Vergangenheit des Subjekts begreifen. Darin liegt aber
ein unüberbrückbarer Gegensatz zu jeder erklärenden Wissen-
schaft. Man muß sich hüten, in einen Streit um Worte zu
verfallen. Namen sind gleichgültig. Das logische Wesen der
Naturwissenschaft besteht darin, die realen historischen Tat-
sachen als zeitlose zu beschreiben. Und diese Beschreibung
nennt man für gewöhnlich Erklärung. Der Gegensatz zu
der historischen Beschreibung bleibt jedenfalls bestehen.
Der Gegenstand der Naturwissenschaft als Aufgabe sind die
platonischen Ideen, die zeitlosen Gesetze, die am indivi-
duellen Ort historisch erscheinen. Diese Erscheinung ist
natürlich rein bildlich zu verstehen. Für die Naturwissen-
schaft machen diese zeitlosen Gesetze allein das Wesen
der einen ewigen Welt oder Substanz aus. Selbstverständ-
lich ist diese Zeitlosigkeit nur eine Idee oder ein ideales Ziel.
Man hat in neuerer Zeit diese Zeitlosigkeit der Naturgesetze
bestritten, indem man von ihrer „contingence" sprach. Man
hat dabei aber Tatsache und Ideal verwechselt. Die Natur-
wissenschaft würde sich selbst aufheben, wenn sie nicht von
der Idee der Zeitlosigkeit ausginge. Es ist nicht nur möglich,
— 63 -
sondern sicher, daß unsere Formel des Gravitationsgesetzes
noch immer historisch ist, d. h. abhängig von einer Welt-
konstellation, die für die Ewigkeit nur einen Moment be-
deutet. Diese ist etwa bedingt durch die Zeit, in der wir
unser Sonnensystem wissenschaftlich bearbeiten. Die Formel
des Gravitationsgesetzes hängt zweifellos von dieser zeit-
lichen Konstellation des Sonnensystems ab. Allein schon
dadurch, daß wir diese Abhängigkeit konstatieren, beweisen
wir nur, daß wir von der Idee der Zeitlosigkeit ausgehen.
Sobald man nach einem Grund der Wandelbarkeit sucht,
erkennt man es als Aufgabe der Wissenschaft an, sie
immer mehr ihrer historischen Komponenten zu entkleiden.
Man kann den Fortschritt der Wissenschaft gar nicht
anders bestimmen. Stellt man fest, was für eine Wirkung
zufällig und notwendig ist, so scheidet man das Histo-
rische aus und beschreibt nur das Zeitlose. Diese Art
der Beschreibung nennt man Erklärung. Verwahrt man
sich gegen dieses Wort, um anzudeuten, daß man sich nicht
einbilden soll, dem Weltgeist dadurch näher gekommen zu
sein, so halte ich das vom pragmatistischen Standpunkt aus
für unökonomisch, weil es heute nicht mehr notwendig ist.
Gerade wenn man so großen Wert auf das ,,Nur-Beschreiben"
legt, scheint man eine Wesenhaftigkeit hinter den Erschei-
nungen anzunehmen, die man nicht erklären kann. Termino-
logisch heißt Erklären nichts anderes, als ein historisches
Phänomen als eine Tatsache darzustellen, die zeit- und raum-
los für alle denkenden Wesen existiert. Man stellt ein indi-
viduelles Erlebnis als Gegenstand des „Bewußtseins über-
haupt'' dar.
Weil diese Art wissenschaftlicher Beschreibung für die
Psychologie unmöglich ist, kann es auch keine erklärende
Psychologie geben. Es gibt für das Psychische und, was
daraus folgt, für die Geschichte kein Bewußtsein überhaupt,
weil das subjektive Bewußtsein gerade der zu erkennende
Gegenstand ist. Nennt man mit Malebranche dieses trän-
- 64 —
zendentale Bewußtsein, in dem wir denken, wenn wir wahr
denken: Gott, so existiert wohl die Natur in Gott, aber nicht
die Geschichte. Das psychische Phänomen läßt sich be-
schreiben nur innerhalb des Individualsystems und nicht
als Gegenstand dieses Bewußtseins oder, was dasselbe be-
sagt, nicht als eine zeitlose Gesetzmäßigkeit innerhalb einer
allgemeinen psychischen Substanz. Nur dies kann man unter
Erklären verstehen. Weil man nicht von der Idee einer
solchen psychischen Welt ausgeht, kann man sich auch
nicht bemühen, ein psychisches Phänomen aus allgemeinen
elementaren Gesetzen zu begreifen. Spinoza hätte eben nur
dann recht, wenn es keine Monaden gäbe. Zeitlose Gesetz-
mäßigkeit und historischer Zusammenhang in der realen
Zeit ist ein Widerspruch.
Die Einheit der Natur ist begründet durch den all-
gemeinen Kausalzusammenhang. Wenn in Amerika ein
Stein fällt, so muß dies auch in Europa seine Wirkung
haben. Die Größe aber entzieht sich jeder Feststellung.
Immerhin würde ein Laie sehr überrascht sein beim Anblick
einer modernen chemischen Wage, die meßbare Abhängig-
keiten berücksichtigt, an die der gewöhnliche Sterbliche
kaum denkt. Man kann aber nicht nach elementaren Kausal-
gesetzen suchen, ohne von dieser Idee der allgemeinen
Kausalität auszugehen. Will man das Ich aus der Psycho-
logie eliminieren, indem man es für ein Gefühl oder einen
Bewußtseinsinhalt ausgibt, so heißt das eigentlich nichts
anderes, als daß man wirklich „eine" psychische Welt kon-
struieren will. Das Bewußtsein wäre nur der Ort, wo ein
psychisches Element sich gerade befindet. Man müßte dann
aber auch annehmen, daß ein Wirkungszusammenhang
zwischen den Elementen verschiedener Monaden bestünde.
Im allgemeinen aber beschränkt man sich von vornherein
auf die Elemente des einzelnen Bewußtseins. Sucht man nach
allgemeinen elementaren Gesetzen, so ist dies gänzlich
ungerechtfertigt, und man beweist damit nur, daß man
- 65 —
nicht von der Idee ,, einer" gesetzmäßigen psychischen Welt,
sondern von der des Individualsystems ausgeht. Man legt
die Idee des Mikrokosmus zugrunde. Man treibt Individual-
psychologie.
Der Ichbegriff ist natürlich nicht auf den erwachsenen
Menschen zu beschränken. Er ist ein notwendiger Begriff
der psychologischen Erkenntnis und kein empirisches Phä-
nomen. Überall, wo wir von historischen Zusammenhängen
ausgehen, denken wir ein Ich. Ob wir es ,, diese" Amöbe oder
das Kind nennen, ist ganz gleichgültig. Es gibt nur die beiden
Möglichkeiten: Ich oder Gegenstand, Wahrnehmungsurteil
oder Erfahrungsurteil, historisches oder naturwissenschaft-
liches Urteil. Den Ichbegriff eliminieren heißt das Psychische
verdinglichen.
Sollte der Begriff Element überhaupt einen Sinn haben,
so könnte er nur darin liegen, daß eine Gesetzmäßigkeit
zwischen diesen letzten Teilen besteht. Eine solche ist aber
ohne das Medium des Raums nicht denkbar, was aber nicht
etwa heißt, daß die Tatsache des „Wirkens" einen Raum
voraussetzt. Schon aus der fehlenden objektiven Bestim-
mung des psychischen Elementes folgt die Unmöglichkeit
des elementaren Gesetzes. Der Gegenstand der Natur-
wissenschaft ist nichts anderes als der Inbegriff gesetz-
mäßiger Beziehungen. Newton hat nicht an einem an sich
bestehenden Ding ,, Masse" die Beziehung entdeckt, die wir
Gravitation nennen, sondern er hat den Begriff Masse kon-
struiert. Diese ist nichts anders als das, wovon das Gravi-
tationsgesetz gilt. Von den subjektiven Qualitäten der Welt
abstrahieren, heißt: ihre Wesenhaftigkeit in gesetzmäßige
Beziehungen auflösen. Wenn also der Naturwissenschaftler
irgendwo ein Element Radium weiß, so sind damit, voraus-
gesetzt, daß die Wissenschaft am Ziele wäre, auch alle nur
möglichen Veränderungen mitgesetzt, die sich dadurch er-
geben könnten. ,,Das" Radium ist nichts anderes als die
konstanten Beziehungen zu anderen Substanzteilen. Von
Strich, Prinzipien. 5
— 66 —
einer solchen objektiven Bestimmung kann aber in der
Psychologie keine Rede sein. Wir zeigten, daß die Bestim-
mung des Erlebten nur darauf gehen kann, was das Subjekt
für gleich hält. Selbst wenn aber auch eine objektive Be-
stimmung in diesem Sinne möglich wäre, so würde sich dar-
aus für die Erkenntnis eines Zusammenhanges nichts ergeben.
Die Bedeutung der Objektivität liegt ja allein darin, daß
— sagen wir einmal: gleichgültig, wie der Gegenstand aus-
sieht — seine Wirkung ein für allemal festgelegt ist. Diese
Gesetzmäßigkeit ist aber in der Psychologie nicht etwa noch
nicht erreicht, sondern kann überhaupt nicht als ihr Ideal
gelten. Die psychische Wesenhaftigkeit ist ja gerade „wie
die Welt aussieht", gerade das, wovon der Naturwissen-
schaftler abstrahiert, um zu dem Gesetz zu gelangen. Es
gibt gar nicht eine Welt, in der das Element ,,rotu durch seine
konstanten Beziehungen oder Wirkungen bestimmbar wäre.
Fänden wir auch bei einem oder tausend Menschen immer
eine und dieselbe Wirkung, etwa ein bestimmtes Gefühl der
Erregung, so hätten wir nach einer historischen Begründung
dieser Wirkung zu suchen. Psychologisch ist die Wesenhaf-
tigkeit der Empfindung mit ihr selbst gegeben. Was ich von
ihr aussage, ist eine Beschreibung, die ihre Wesenhaftigkeit
nicht berührt. Ganz anders liegt es für das chemische Element.
Seine Wesenhaftigkeit sind nur seine Beziehungen. Aus den
Wirkungen kann man daher auf seine Qualität schließen.
Psychologisch wäre das eine Absurdität. Die Anwesenheit
eines Elements im Raum erklärt deshalb die Folge, weil
diese eo ipso mitgesetzt ist. Die Naturwissenschaft braucht
nur zu beschreiben, was das ist. Damit sind auch die Gesetze
angegeben. Psychologisch kann man alles, was erlebt wird,
auf das Genaueste beschreiben, ohne nur im Geringsten da-
mit etwas erklären zu können, weil über die gesetzmäßigen
Beziehungen damit nichts gesagt ist. Die Psychologie kennt
keinen Gegenstandsbegriff, der nur Gesetze zum Inhalt hat,
sondern nur die unmittelbaren Qualitäten. Damit fällt jeder
— 67 —
Versuch einer Erklärung schon fort. Denn diese besteht in
nichts anderem, als daß das historische Faktum als ein zeit-
loses nachgewiesen wird. Erklärt ist etwas durch seine
Unterordnung unter einen Gegenstand, von dem die Wirkung
zeit- und raumlos gilt, während vorher eine Unklarheit be-
steht, von welchem historischen Faktor die Wirkung ab-
hängt. Die Psychologie ordnet niemals ein Element einem
allgemeinen Gegenstand unter, dessen zeitloses Wesen seine
gesetzmäßigen Beziehungen sind. Ihre Allgemeinheit existiert
nicht in einer objektiven Welt, sondern nur in dem Indivi-
dualsystem. Sie erkennt eine Gleichheit des Erlebten an.
Dadurch aber, daß ich eine Farbe unter den Begriff „Rot"
einordne, habe ich sie keinem objektiven Gegenstand unter-
geordnet, und folglich kann die Bestimmung auch nichts er-
klären. Die absolute Qualität der Empfindung ist tatsäch-
lich für die Psychologie gleichgültig. Soll hier überhaupt
etwas durch die Erkenntnis begründet werden, so kann es
nur das subjektive historische Erfahren sein. Man kann aber
nicht gesetzmäßige Beziehungen zwischen psychischen Ele-
menten suchen, ohne von der Idee auszugehen, daß diese Be-
ziehungen zeitlos und überindividuell mit ihnen verbunden
sind. Die Überindividualität ist für die Psychologie nur eine
Regel mit Ausnahmen und kein Gesetz.
Die deskriptiv-historische Psychologie kann aber cum
grano salis von gesetzmäßigen Zusammenhängen sprechen.
Gemeint sind damit konstante Beziehungen von quali-
tativen Bestimmtheiten innerhalb eines zeitlichen Indivi-
dualsystems. Diese konstante Beziehung liegt aber nur in
dem Zusammensein von Phänomenen, ohne daß eine Theorie
möglich wäre, die dieses Sein durch eine vorsichgehende Ver-
änderung erklären könnte, was von dem Begriff des Natur-
gesetzes nicht zu trennen ist.
Das Gesetz ist die Zusammenfassung zeitlich und räum-
lich individueller Fakta unter einen Begriff. Die Wirkung
des Radiums an einer Stelle im Raum ist nicht rätselhaft,
5*
— 68 —
weil sie von allen Radiumelementen im Raum gilt. Diesem
Raum entspricht in der Psychologie die Zeit. Der Natur-
wissenschaftler konstatiert Allgemeinheiten im Raum, Be-
ziehungen, die sich in ihm wiederholen. Sucht der Psycho-
loge aber nach Allgemeinheiten — und ohne sie wäre ja jede
Erkenntnis von vornherein unmöglich — , so kann er nur
nach Wiederholungen in der Zeit suchen. Die gesetzmäßigen
Beziehungen stellen sich also dar als das wiederholte Zu-
sammensein psychischer Phänomene in einem Teilmoment.
Die Erkenntnis stellt fest, daß in diesem Individualsystem
allgemein das Erlebnis a mit dem Erlebnis b zusammen ist.
Das konstante Zusammensein von a und b wäre also das
Gesetz, genau so wie in der Natur die Allgemeinheit in der
Wiederholung im Raum begründet ist. Wir drücken die Er-
kenntnis aus, daß A, wenn er a erlebt, immer auch b erlebt.
Dieses Gesetz entspräche dem Gesetz von dem Verhalten
der Massen im Raum. Ein völlig anderes Gesetz aber wäre
es z. B., daß A, wenn er c erlebt, immer auch d erlebt. Wir
hätten also eine Unzahl von Gesetzen, d. h. eine Wieder-
holung des Zusammenseins von Erlebnissen. Da nun dies
Zusammensein als Wahrnehmung psychologisch unerklärbar
und nur naturwissenschaftlich erklärbar ist, so können wir
sagen, jede Erfahrung kann zu einem psychologischen Gesetz
werden, zu einem konstanten Zusammensein verschiedener
Phänomene. Tatsächlich gelangen wir bei der Berücksich-
tigung des Bewußtseinsinhaltes nicht weiter. Andere psycho-
logische Gesetze sind von diesem Standpunkt aus schlechter-
dings unmöglich. Gerade das aber, was den Wert der Ge-
setze in der Natur ausmacht, nämlich die Überindividualität
oder die Zeitlosigkeit, fehlt in der Psychologie.
Wie man sieht, wenden wir uns damit gegen das soge-
nannte Assoziationsgesetz. Es ist ein Irrtum, daß dieses
„Gesetz" als allgemeineres die unzähligen anderen Gesetze
erklärt. Man hat es völlig unlogisch mit dem Gravitations-
gesetz verglichen, und alle Ausdrucksweisen unserer psycho-
— 69 -
logischen Lehrbücher begünstigen dies. Man spricht davon,
daß a — b nach sich zieht, wiedererweckt, hervorruft. Alles
dies sind aber aus der Raumsprache entlehnte Ausdrücke.
Tatsächlich sind sie aber nicht nur bildlich gemeint, sondern
sie beruhen alle auf der Annahme eines räumlich substan-
ziellen Zusammenhangs des Bewußtseins. Sonst wäre man
nie darauf verfallen, die Assoziation als ein Gesetz, geschweige
als eine Erklärung auszugeben.
Dies zeigt sich schon in der Fragestellung, nämlich in
dem Verlangen, die Existenz eines Inhalts im Bewußtsein
zu erklären. Diese Erklärung muß schon an dem einen Um-
stand scheitern, daß sie auf die Wahrnehmung schlechter-
dings nicht anwendbar ist. Sie hätte aber nur einen Sinn,
wenn durch sie eine gemeinschaftliche Basis für das Psychi-
sche geschaffen würde. Die Unterscheidung von Wahrneh-
mung und Vorstellung setzt einen aüßerpsychologischen
Gesichtspunkt voraus, nämlich die Wirklichkeit, die nur als
Kategorie der Naturwissenschaft existieren kann. Nur diese
kann eine Wahrnehmung erklären. Denn die psychologische
Fragestellung wird dadurch abgeschnitten, daß der Gegen-
stand als im Raum existierend aufgefaßt wird.
Die Erklärung der Naturwissenschaft stützt sich auf
den Begriff der Veränderung. Wir sagen wohl: wir sehen die
Bewegung einer Kugel, aber schon das ist eigentlich eine Er-
klärung eines phänomenalen, historischen Faktums. Das
Ursprüngliche wäre nur eine Zeitreihe von gänzlich un-
bestimmten optischen Eindrücken, wie sie das philosophische
Denken annehmen kann. Daß eine Kugel jetzt hier und vorhin
dort war, das sehen wir nicht, sondern das denken wir. Dieses
Denken kann auch falsch sein, wie jedes Zauberkunststück
beweist. Wir denken eine Identität in der Zeit bei relativer
Ortsbestimmung. Dies ist die Grundtheorie oder Grund-
hypothese der Naturwissenschaft. Wir gehen von einem
Dasein aus, und das &au(i.a£eiv kann nur beginnen bei einer
Veränderung dieses Daseins. Das spätere Erlebnis der Kugel
- 70 —
muß erklärt werden, heißt nichts anderes, als daß wir wissen
müssen, wo sie herkommt. Durch ihre Bewegung erklären
wir uns schon die Zeitreihe unserer Erlebnisse. Die Natur-
wissenschaft besteht letzten Endes in der Konstruktion
ewiger, zeitloser Teile, deren Ortveränderung in der Zeit die
Phänomene erklärt. Diese Erklärung setzt also die dauernde
Existenz überhaupt voraus. Sie ist die erste denknotwendige
Hypothese für die Objektivierung der Phänomene. Dieses
Denken hat seine Berechtigung nur dadurch, daß so und nicht
anders eine objektive Welt ,, Natur" aus den historischen
Phänomenen konstruiert werden kann. Es gibt nicht einen
Glauben an die Realität der Außenwelt, sondern den Willen,
sie zu schaffen, d. h. objektiv zu denken. Glauben kann man
nur, daß die Tat gelungen ist. Die historischen Phänomene
sind aber an sich nicht erklärbar, denn das würde heißen, die
Existenz der Welt erklären. Die Erklärung kann sich dem
Sinne des Begriffs nach nicht auf die Existenz überhaupt,
sondern nur auf einen speziellen Ort beziehen. Erklären heißt
die objektive Welt konstruieren, die Wirklichkeit, an die das
subjektive Bewußtsein gebunden ist. Die Zeitreihe des Be-
wußtseins erklären, hieße nichts anderes, als die Welt aus
dem Nichts heraus zu erklären. Nur die historische Kon-
stellation der Substanz ist erklärbar. Behauptet man, daß
es auch der Inhalt des individuellen Bewußtseins ist, so
könnte dies gar nichts anderes besagen, als daß man einen
Moment als eine solche historische Konstellation des psy-
chischen Raumes auffaßt. Tatsächlich ist dies auch die Auf-
fassung der Elementarpsychologie. Denn einen anderen
Zweck kann die objektive Bestimmung psychischer Elemente
gar nicht haben. Ganz deutlich wird dies bei der Erklärung
der Vorstellung durch die Assoziation.
Gibt man den Unterschied von Wahrnehmung und Vor-
stellung als einen außerpsychologischen zu, bezeichnet man
beide als Komplexe psychischer Elemente, so muß man
fragen, mit welchem Recht man dann die Erklärung auf eine
— 71 —
Gruppe von Elementen einschränkt. Behauptet man, daß
im Falle der Vorstellung ein Element a reproduziert wird,
so müßte man folgerichtig auch behaupten, daß im Falle
der Wahrnehmung ein Element a reproduziert wird. Wie man
sich den Unterschied von der Gehirnphysiologie aus denkt,
wäre gleichgültig. Ob man dort einen Unterschied zwischen
peripherer und zentraler Erregung denkt, kommt für unser
Problem nicht im geringsten in Betracht. Wenn man be-
hauptet, daß ein Element a reproduziert werden kann, und
man den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vor-
stellung ablehnt, so muß man immer, wenn das Element a
im Bewußtsein anwesend ist, es als eine Reproduktion auf-
fassen. Das Wahrnehmungselement müßte genau so wieder-
erweckt worden sein, wie das Vorstellungselement. Nehme
ich heute etwas wahr, was ich gestern schon wahrgenommen
habe, so muß die Elementarpsychologie behaupten, daß die
gestrigen Elemente wiedererweckt worden sind. Denn für
die Bestimmung der psychischen Elemente ist es ganz gleich-
gültig, ob der Gegenstand wirklich existiert oder nicht. Zu
dieser Behauptung wird man sich nicht leicht bekennen.
Aber meines Erachtens ist die Erklärung der Vorstellung
durch die Reproduktion genau so ungereimt, und dies liegt
schon in dem Versuch zu erklären. Es gibt eben keine ver-
gangenen psychischen Elemente, sondern nur das Wieder-
erleben des Früheren. Darin sind Wahrnehmung und Vor-
stellung tatsächlich gleich. Die eine läßt sich aber psycho-
logisch auch ebensowenig erklären wie die andere. In beiden
Fällen gelangt nicht etwas ins Bewußtsein, was vorher
anderswo existiert hat.
Bei einer Wahrnehmung verzichtet man auf eine psycho-
logische Erklärung, weil der Gegenstand wirklich im Raum
ist. Alle Gesetze der Optik, alle Tatsachen der Gehirn-
anatomie sind keine psychologischen Erklärungen. Man be-
gnügt sich mit der Konstatierung, daß a, b, c wahrgenommen
wird. Man beschreibt also das Erlebnis und zwar historisch.
— 72 —
Genau so muß man aber auch mit der Vorstellung verfahren.
Man kann nicht mehr tun, als daß man beschreibt, was vor-
gestellt wird. Hält man die Wirklichkeit des Gegenstandes
im Raum für eine Erklärung der Wahrnehmung, so gäbe es
auch nur eine Erklärung der Vorstellung, nämlich durch die
momentane Raumkonstellation, zu der auch das Gehirn
gehört. Spricht man aber davon, daß Elemente reprodu-
ziert werden, so müßte das für beide Fälle zutreffen, oder es
ist im einen Fall ebenso töricht wie im andern. Wir können
bei der Vorstellung nichts anderes tun, als bei der Wahr-
nehmung, nämlich beschreiben, was erlebt wird. In beiden
Fällen handelt es sich um ein Wiedererleben. Hier rächt sich
aber die Unsinnigkeit, die Sinnesdata oder Qualitäten als
psychische Elemente zu bezeichnen. Nicht dasselbe psychi-
sche Element wird wieder erlebt, sondern dieselbe Raum-
bestimmtheit. Damit ist alles gesagt. Nun sind die Fälle
für die Beschreibung ganz gleich. Beidemal wird eine Raum-
bestimmtheit wieder erlebt. Meinetwegen mag man auch
sagen, daß dieselben Bestimmtheiten im Bewußtsein sind,
man kann aber nicht die Existenz dieser Bestimmtheiten
durch die Bewegung der Elemente erklären. Kein psychi-
sches Element taucht wieder auf, sondern dieselbe Raum-
bestimmtheit wird wiedererlebt. Ebenso wenig wie bei der
Wahrnehmung wird bei der Vorstellung ein Element repro-
duziert. Es wird dasselbe im Raum zeitlich wiedererlebt.
In einem Fall ist der Inhalt durch die Naturwissenschaft
objektivierbar — der Gegenstand existiert wirklich. Im andern
Fall ist dies nicht möglich — der Gegenstand wird nur vor-
gestellt. Für die Psychologie ist diese Objektivität ganz
gleichgültig. Nur die Ansicht des Subjekts darüber kommt in
Betracht, ob es den Gegenstand für wirklich hält oder nicht.
Es liegt dies also genau so wie bei der Gleichheit. Der Ver-
such, die Vorstellung zu erklären, setzt eo ipso die Idee der
psychischen Substanz voraus. Nicht in der Vorstellung,
sondern gerade in dem Element steckt die Versubstanziali-
— 73 —
sierung oder Verdinglichung des Psychischen. Behauptet
man, daß ein psychisches Element reproduziert wird, so
nimmt man an, daß nicht eine historisch-logische Gleichheit,
sondern eine reale Identität der Elemente existiert, und dies
heißt: eine Substanz voraussetzen.
Die Beschreibung begnügt sich damit, zu konstatieren,
was erlebt wird. Wir wiesen oben nach, daß diese Bestim-
mung immer nur eine historische Gleichheit innerhalb eines
Individualsystems feststellt. Dies trifft für die Wahrneh-
mung genau so zu wie für die Vorstellung. Die Konsequenz
daraus wäre allerdings die, daß wir einen ersten Eindruck
niemals bestimmen können. Wenn wir einen Blindgeborenen
operieren, so können wir nicht sagen, was er als ersten
optischen Eindruck erlebt, denn unsere Bestimmung sagt
für sein Bewußtsein garnichts. Pickt aber ein neugeborenes
Huhn nach dem ersten Korn, so können wir sein Erlebnis
bestimmen innerhalb eines historischen Systems, der Gattung.
Würden wir etwa bei dem operierten Blinden eine spezifische
Reaktion wahrnehmen, so könnten wir auch vielleicht sofort
den optischen Eindruck auf Grund der historischen Gleich-
heit innerhalb des Zeitsystems ,, Gattung" bestimmen. Auf
die absolute Qualität kommt es eben der Psychologie nie-
mals an. Es gibt keine objektive Bestimmung, sondern nur
eine historisch-subjektive in einem Zeitsystem. Nehmen wir
einmal ein Urbewußtsein an, so ließe sich der erste Eindruck
nie bestimmen. Seine Bestimmung würde schon besagen,
daß das Erlebte einem Früheren gleich ist. Erst den zweiten
Eindruck könnten wir bestimmen, nämlich hypothetisch
eine Gleichheit mit dem ersten annehmen, wenn die Reak-
tion auf die Eindrücke dieselbe wäre. Mit viel weniger Sicher-
Leit könnten wir im andern Falle behaupten, daß die Er-
lebnisse verschieden waren. Auf diese Hypothesen sind wir
solange angewiesen, bis wir in dem eigenen Urteil des Sub-
jektes einen sichern Maßstab der Bestimmung haben. Auch
die Naturwissenschaft stützt sich nur auf eine Gleichheit
— 74 —
und nicht auf eine absolute Bestimmung. Nur gilt diese
Gleichheit in dem Raum, der für alle Individuen gültig ist,
während psychologisch eben der Raum durch die Zeitreihe
des Subjekts ersetzt ist. Erlebt dieses etwas absolut Neues,
so käme für die Psychologie nur diese formale Bestimmung
„Neues" in Betracht, woraus wir den Fortgang des Bewußt-
seins verstünden. Das Anderssein hat in der Psychologie
ja auch keine objektive Bedeutung, sondern nur eine sub-
jektive für ein individuelles Bewußtsein. Käme aber die
Qualität des Inhalts in Betracht, so wäre er nicht absolut
neu, sondern tatsächlich früheren Erlebnissen gleich. Sieht
jemand zum ersten Male ein Automobil, so kann trotzdem
eine Gleichheit mit früheren Erlebnissen bestehen. Es wird
vielleicht ein großes Tier erlebt. Es wäre aber ein absoluter
Fehler, wenn man sagen wollte: Die Wahrnehmung des
Autos ruft die Vorstellung eines Tieres hervor. Das würde
dem entsprechen, daß bei dem Farbenblinden die Wahr-
nehmung Rot die Vorstellung Grau hervorruft, oder daß
überhaupt jedes psychische Element der Wahrnehmung
reproduziert wird. Das Auto existiert für mich als eine Be-
stimmung der Welt, aber nicht für den Betreffenden. Genau
so, wie eine Bestimmtheit Rot einer andern gleich ist, ist
hier ein Komplex von Bestimmtheiten einem andern gleich.
Die Beschreibung muß also dabei stehen bleiben, welche
historische Gleichheit zwischen dem Erlebten besteht. Die
erklärende Psychologie will die Existenz dieses Inhalts er-
klären, indem sie ihn allerdings nur im Falle der Vorstellung,
reproduziert sein läßt. Das Wesentliche dabei ist, daß man,
wenn man dies nicht als Beschreibung, sondern als Erklärung
auffaßt, aus der subjektiven Gleichheit eine reale Identität
macht. Man begnügt sich nicht damit, daß das gleiche er-
lebt wird, wie früher, sondern man meint, daß dieselben
Elemente jetzt wieder im Bewußtsein sind, dort hinein-
gezogen wurden. Solche Identität der Teile, die in der Zeit
den Ort wechseln können, kann es nur im Raum geben.
— 75 —
Man kann die psychologische Theorie gar nicht anders auf-
fassen, als daß das Element in einem andern Raum, den
man Gedächtnis nennt, weiterexistiert und nun wieder in
den Bewußtseinsraum gelangt. Sieht man von dem Raum
ab, so ist die ganze Reproduktion als erklärende Theorie
sinnlos. Erklärung und Substanz sind nicht zu trennen.
Nur das Hier oder Da läßt sich erklären. Da das Bewußtsein
aber kein Raumausschnitt aus einer Substanz ist, so kann
ich auch die Anwesenheit eines Elements in ihm nicht er-
klären, denn damit würde man voraussetzen, daß es als
Teil der Substanz zeitlos existiert und das Problem nur in
dem Ort liegt.
Daß man an eine Identität der Elemente innerhalb der
Zeit glaubt, ergibt sich daraus, daß man die Ähnlichkeits-
assoziation bekämpft. Für die beschreibende Psychologie
liegt der Fall so, daß ein Erlebnis dem andern folgt, wenn
das erste irgend eine Bestimmtheit hat, die schon einmal
mit einer andern des zweiten zusammen erlebt war. Natür-
lich bedeutet dies keine Erklärung, sondern wir beschreiben
nur den logischen Zusammenhang des Erlebten. Wie das
Erlebnis zustande kommt, entzieht sich jeder vernünftigen
Fragestellung. Ich weiß nur, daß etwas früher schon einmal
erlebt war, und zwar zusammen mit einer andern Bestimmt-
heit, die jetzt dem Erlebnis voranging. Dabei ist es nun ganz
gleichgültig, ob ich eine Ähnlichkeit oder Gleichheit behaupte.
Denn da es nur auf die subjektive Gleichheit ankommt, so
ist der Unterschied überhaupt nicht zu machen. Es ist
doch für die Gleichheit bedeutungslos, ob die Inhalte gleich-
zeitig im Bewußtsein sind oder nicht. Behauptet man, daß
in der Zeit das gleiche Element wiederkehrt, so müßte man
auch annehmen, daß, wenn ich zwei gleichzeitige Farben
für gleich halte, das gleiche oder „ein" Farbenelement im
Bewußtsein ist. Vom Standpunkt der Naturwissenschaft aus
gibt es nun keine Gleichheit des Erlebten. Es werden sich
niemals im Leben die Schwingungen im mathematischen
— 76 —
Sinne als gleich wiederholen, die einem Ton entsprechen.
Da es aber gar nicht auf eine solche objektive Gleichheit
ankommt, so ist es ganz gleichgültig, ob ich von der Gleich-
heit der Farben spreche, oder ob ich mich vorsichtig ausdrücke
und nur von Ähnlichkeit spreche. Die historische Gleich-
heit ist eben selbst nur ein Grad der Ähnlichkeit, da sie immer
nur subjektiv ist. Macht man überhaupt einen logischen
Unterschied zwischen beiden und legt man so großes Gewicht
darauf, daß ein gleiches Element da sein muß, oder daß die
Vorstellungen ein Element gemeinsam haben, so beweist
man damit nur, daß man die subjektive Gleichheit des Er-
lebten in eine reale Identität im psychischen Raum um-
gedacht hat. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Im
Raum gibt es eine objektive Gleichheit. Ein Element Radium
ist objektiv dem andern gleich, ohne mit ihm identisch zu
sein. Man kann aber nicht behaupten, daß das Element
„Rot" immer mit den Elementen a oder b verbunden ist.
Von „dem" Radium kann ich eine Beziehung behaupten,
weil es nur „eine" Natur gibt. Die Verbindung mit a oder b
kommt aber nicht „dem" Rot zu, sondern nur dem einen
Erlebnis, das in einer bestimmten Zeit von einem bestimmten
Individuum gemacht worden ist. Geht man also von den
Elementen aus, so ist nur dieses individuelle Element „Rot"
mit a oder b verbunden. Eine objektive Gleichheit mit
einem individuellen Element kann aber nichts anderes
heißen als dasselbe Element. Denn um eine Unterordnung
unter den Gegenstandsbegriff „Rot" in der psychischen Welt
kann es sich nicht handeln. Man erklärt also die Vorstellung
daraus, daß ein und dasselbe Element in einem Zeitpunkt
M und M1 im Bewußtsein ist und dieselben Elemente hervor-
ruft, mit denen es damals zusammen war. Es kommt mir
vor allem darauf an, daß dies nicht eine bildliche Ausdrucks-
weise ist, sondern als Tatsache von der Psychologie an-
genommen wird. Nur so kann man an eine Erklärung des
Vorgestellten glauben. Die Gleichheit existiert eben nicht
— 77 —
„im" Bewußtsein, sondern „für" das Bewußtsein. Die All-
gemeinheit, der ich das einzelne unterordne, existiert nur
in dem Individualsystem. Dafür aber ist es ganz gleich-
gültig, ob eine Gleichheit oder nur Ähnlichkeit besteht.
Jemand kann etwas für gleich halten, wo ein anderer nur
eine Ähnlichkeit sieht. Allerdings kann die Ähnlichkeits-
assoziation nichts erklären; aber gerade, daß man ihr das
als Vorwurf anrechnet, beweist eine falsche Auffassung des
Gleichen.
Das berühmte Assoziationsgesetz ist so, wie es die Ele-
mentarpsychologie auffaßt, überhaupt kein psychologisches
Gesetz. Es ist nicht der Gravitation zu vergleichen, sondern
höchstens der Kausalität. Das Wort Assoziation hat über-
haupt nur einen Sinn, wenn man darunter den eigentüm-
lichen Strukturzusammenhang des Bewußtseins versteht,
der sich darin zeigt, daß gewisse erlebte Inhalte eine Ver-
bindung eingehen und andere nicht. Will man absolut die
Assoziation mit irgend etwas im Raum vergleichen, so kann
es nur die Cohäsion, nicht die Gravitation sein. Dieser
Strukturzusammenhang, die Assoziation, hat psychologisch
die Bedeutung des Gesetzes in der Natur. Daß das Element
a mit b oder c verbunden ist, wäre das Gesetz in dem Indivi-
dualsystem, das etwa dem Raumgesetz vergleichbar wäre,
daß mit A immer die Wirkung B verbunden ist. Der Fehler
der Assoziationstheorie ist der, daß sie die Konstanz der Be-
ziehung selbst erklären will. Dies würde aber logisch der
Behauptung entsprechen, daß die Wiederholung der Gravi-
tation im Raum durch ein besonderes Gesetz erklärt werden
müsse. Man müßte etwa denken, daß die Masse durch eine
spezielle Kraft die Anziehungskraft nach sich zöge. Daß
man überhaupt den Versuch macht zu erklären, warum
„jede" Masse im Raum anzieht, wäre die Absurdität. Genau
so unlogisch aber ist die Assoziationstheorie. Sie will tat-
sächlich nichts anderes, als die gleiche Wirkung des Gleichen
in einem System erklären. Woher es kommt, daß das Er-
— 78 —
lebte wiedererlebt wird, läßt sich nicht erklären, weil der
fragliche Moment keine historische Konstellation einer zeit-
losen Substanz ist, weil das Bewußtsein kein Raumausschnitt
ist. Ein Naturgesetz kann nur die Beziehungen festlegen,
die im zeitlosen Raum sich wiederholen. Diesem Raum aber
entspricht in der Psychologie die Zeit. Das Allgemeine
kann daher nur Wiederholungen in der Zeit zusammenfassen.
Diese erklären wollen, hieße die Identität mit sich selbst
oder das System-sein erklären. Weil ein Element Radium
im Raum ebenso wirkt wie das andere, deswegen können
wir sagen: „das" Radium wirkt so und so. Weil in der Zeit
ein Erlebnis a ebenso wie das andere mit b und c verbunden
ist, deswegen können wir sagen: a ist mit b und c eine Ein-
heit oder Assoziation eingegangen. Die Wiederholung als
ein besonderes Geschehen entzieht sich aber jeder Erklärung.
Sie ist ja gerade dadurch begriffen, daß man die Beziehung
von einer Allgemeinheit aussagt. Diese Allgemeinheit exi-
stiert aber für die Psychologie nur innerhalb eines zeitlichen
Individualsystems.
Damit erlangt allerdings die Zeit in der Psychologie eine
ganz andere logische Bedeutung als in der Naturwissenschaft.
Für die historische Erkenntnis ist die Gegenwart nur ein
Teil des Systems, entsprechend dem individuellen Raum-
ausschnitt als Teil des Raumsystems. Damit ist gesagt,
daß sie logisch nicht als Folge betrachtet wird, genau so
wenig, wie der Raumteil als Folge anderer Teile aufgefaßt wird.
7 OR stellt den Raum dar,
OZ die Zeit. Die Naturwissen-
schaft geht auf die Erkenntnis
oder die Konstruktion von OR.
R Sie bestimmt, wie sich die ein-
zelnen Punkte zueinander ver-
halten. Dieses Verhalten ist zeitlos. Die gleichen Raum-
teile werden zu Gegenstandsbegriffen zusammengefaßt. Diese
Beziehung der Punkte zueinander ist aber an sich eine Ver-
— 79 —
änderung in der Zeit. Es ist unmöglich, eine Beziehung
eines Punktes zu einem andern zu erkennen oder — sagen
wir einmal — wahrzunehmen, ohne daß irgend eine Ver-
änderung vor sich geht. Diese Veränderung aber ist not-
wendig an die Zeit gebunden. Infolgedessen wird der Zeit-
verlauf als Folge erklärbar oder erkannt. Jede Gegenwart
in der Natur ist in unserm Koordinatensystem darstellbar
durch eine Projektion auf OR. Die Natur ist gleichsam das
Fortrücken von OR auf der Ordinate OZ. Die Naturwissen-
schaft wäre vollendet, wenn sie alle Unterschiede der Punkte
und alle nur möglichen Beziehungen zwischen ihnen erkannt
hätte. Ein jeder Zeitmoment ist abhängig von der voran-
gehenden Konstellation der zeitlosen Punkte, die die Natur-
wissenschaft als Teile von OR konstruiert. Gehen wir nicht
von dieser Idee aus, so gäbe es keine allgemeingültige Er-
fahrung, sondern nur einen historischen Bericht von der
Welt, keine Darstellung in den zeitlosen platonischen Ideen.
Wollen wir aber OZ erkennen, so ist dies eben der Gegenstand,
der logisch vollkommen OR entspricht, d. h. OZ existiert
für uns als eine Einheit. Es handelt sich etwa um die psycho-
logische Erkenntnis von Goethes Leben; eine Erkenntnis
ist nur möglich durch die Aufzeigung von Allgemeinheiten.
Diese setzt ein begrenztes System voraus, wenn auch die
Grenze nur Ideal ist. Für die psychologische Erkenntnis
liegt die empirische Grenzenlosigkeit in der Vergangenheit
über 0 als Anfang von ,, Goethe", hinaus. Dieses eine System
ist Goethes Leben. In ihm habe ich nach Allgemeinheiten
zu suchen, nach Wiederholungen von Zusammenhängen.
Ich fasse also die Einzelerlebnisse als Teile nebeneinander
auf und stelle Verschiedenheiten und Gleichheiten fest.
Damit ist aber gesagt, daß ich sie nicht als Folge betrachte.
Das Leben Goethes spielt sich nicht ,,inu der Zeit ab, sondern
es ist ein Teil der Zeit selbst. In der Zeit abspielen kann sich
nur die zeitlose Substanz im Raum. Wenn ich etwas er-
kennen will, so muß es existieren. Als Folge kann ich nur
- 80 —
das erkennen, was als Veränderung einer Existenz existiert.
Die Lageänderung der Magnetnadel kann ich als Folge er-
kennen, ihre momentane Stellung in der Zeit als Veränderung
der vorhergehenden. Betrachte ich aber die Zeit selbst,
so ist der eine Moment deshalb keine Folge des vorhergehenden,
weil nichts da ist, was ich schon vorher kannte und was sich
jetzt verändert hat. Es ist nur ein Teil da, dessen Gleichheit
mit andern, die in diesem Falle vorangegangen sind, ich er-
kennen kann. Aus dem Moment kann man also auf eine
allgemeine Beziehung schließen, die in dem vorliegenden
System herrscht. Die wichtigste Konsequenz daraus ist die:
Man kann alles, was psychisch geschieht, verstehen, man kann
aber niemals mit Sicherheit sagen, was geschehen wird. Das
letztere ist nur dadurch möglich, daß ich den zeitlosen Raum
kenne, seine momentane Ordnung und die Beziehungen, die
zwischen ihr und der späteren maßgebend sind. Das Psychi-
sche aber ist nur eine Zeitreihe mit Wiederholungen. Während
für die Naturwissenschaft die wirkliche Existenz in dem
Raum besteht, gibt es für die Psychologie keine andere
Existenz als die Zeit. Ich muß die Realität, die ich erkennen
will, als existierend denken. Die Gegenwart ist also nur ein
Teil des Gegenstandes, den ich erkennen will, während sie
naturwissenschaftlich nur eine Erscheinungsform des Raumes
ist, den man als wirklich existierenden Gegenstand erkennen
will. Selbstverständlich existiert diese Wirklichkeit nur als
Gegenstand der Denkkonstruktion zu dem Zweck, xa 90UV0-
(jieva 8i,aaco£e(JTou, wie es Plato ausgedrückt hat.
Jedes Erlebnis ist ein historisches Faktum. Genau so
wenig wie ich psychologisch die Erfahrungen des Indivi-
duums erklären kann, die in der Außenwelt ihren Grund
haben, kann ich die Erlebnisse psychologisch erklären,
denen keine Realität im Raum entspricht. Ebenso wie aber
die Erfahrung des Individuums niemals restlos durch die
Außenwelt bestimmt ist, so daß tatsächlich ein psycho-
logischer Rest zurückbleibt, ebenso bleibt auch bei dem
— 81 —
Verständnis der Vorstellung ein psychologischer Rest be-
stehen. Darauf komme ich gleich zurück.
Unsere Erkenntnis des Bewußtseinsinhalts stellt Wieder-
holungen von Erlebnissen fest. Diese erklären wollen, hieße die
Existenz der Welt erklären. Denn diese ist nichts anderes als
die Zeitreihe der Monaden. Unsere naturwissenschaftliche Er-
klärung ist deswegen niemals absolut, weil eine historische Kon-
stellation zu unseren Gesetzen immer vorausgesetzt ist.
Die Zeitreihe des Bewußtseins erklären wollen, hieße die reale
Geschichte der Welt erklären. Ob sich einige Erlebnisse
objektivieren lassen, spielt keine Rolle. Psychologisch kann
ich nur die subjektiv logischen Zusammenhänge aufzeigen,
die zwischen den Erlebnissen existieren. Ich kann sagen:
diese Bestimmtheit wurde schon einmal oder öfter erlebt,
oder: was ich jetzt erlebe, habe ich früher einmal mit einer
andern Bestimmtheit zusammen erlebt, die ich im vorher-
gehenden Moment wieder erlebt habe. Ich kann dies aber
auch so ausdrücken: es hat sich in meinem Leben eine
Assoziation mehrerer Bestimmtheiten wiederholt. Cum grano
salis kann ich diese Assoziation als ein allgemeines Gesetz
annehmen, nur handelt es sich nicht um eine objektive
Folge, weil es sich gar nicht um eine objektive Zeit handelt.
Ob es wirklich ein Moment ist, in dem ich die Bestimmtheiten
a und b zusammen erlebt habe oder ob es eine Zeitfolge war,
ist für die Assoziation ganz gleichgültig. In dieser Unter-
scheidung der subjektiven Folge und der objektiven besteht
ja gerade der Unterschied zwischen Kausalität und Asso-
ziation, durch den Kant Hume widerlegt und die Kausalität
logisch begründet hat. Es gibt eben psychologisch gar keine
objektive Zeitbestimmung. Der „wirkliche" Zeitverlauf ist
nur möglich durch die Objektivität der Folge, wie sie die
Naturwissenschaft konstruiert. Man spricht daher von
zeitlicher Berührung der Bestimmtheiten. Betrachte ich
einmal diese als gegeben, so kann ich sagen, eine Folge von
Bestimmtheiten hat sich wiederholt. In diesem Sinne ist
Strich, Prinzipien. 6
— 82 —
jede Assoziation ein historisches subjektives Gesetz. Handelt
es sich um eine Folge von wahrgenommenen Bestimmtheiten,
so kann sie durch die Theorie der Naturwissenschaft erklär-
bar sein, wenn die Folge nicht nur für mein Bewußtsein
existiert, sondern für jedes Bewußtsein. Die subjektive
Zeitfolge wird durch das zeitlose Gesetz objektiviert. Für
die Psychologie kommt aber nur in Betracht, ob das Sub-
jekt die Folge für objektivierbar, für wirklich hält oder nicht.
Was im Bewußtsein aber Folge ist, braucht objektiv nicht
Folge zu sein, sondern kann objektiv gleichzeitig sein und
nur nacheinander bewußt werden. So etwa, wenn ich der
Reihe nach verschiedene Bestimmtheiten eines Körpers
wahrnehme. Man kann also die Assoziation als eine histo-
risch entstandene Folge bezeichnen, die sich mit dem einen
Glied selbst wiederholt. Dem Gesetz fehlt aber einmal die
Zeitlosigkeit, zweitens die Objektivität der Folge, denn wenn
b auf a folgte, so kann umgekehrt später a auf b folgen.
Tatsache ist, daß sich ein zeitliches Zusammensein — wobei
über die Folge oder Gleichzeitigkeit nichts ausgemacht ist —
im Individualsystem wiederholt. Die Assoziation ist die
allgemeine Beziehung, die wir in dem System erkennen.
Hält man irgend etwas durch das Assoziationsgesetz für
erklärt, so entspräche das dem, daß der Physiker mit seinen
Untersuchungen aufhört und verkündet: die Natur ist durch
das Gesetz der Kausalität erklärt. In Wahrheit ist dies
absolut der Standpunkt unserer psychologischen Lehr-
bücher. Es ist unbegreiflich, wie man eine Psychologie exakt
nennen kann, die ihre vermeintlichen, stets nur formalen
Gesetze wegen der Fruchtlosigkeit dem einzelnen Fall
gegenüber mit dem Trägheitsgesetz der Naturwissenschaft
vergleichen kann. Die erste Bedingung von Exaktheit ist
nicht das Hippsche Chronoskop, sondern die Logik. Aller-
dings läßt sich aus dem Gesetz der Trägheit kein einziges
Geschehen erklären, aber nur deswegen nicht, weil die Träg-
heit nur eine qualitative Komponente des Geschehens ist. Um
— 83 —
das Geschehen darstellen zu können, gehören neben diesem
Gesetze noch andere. Das Assoziationsgesetz ist aber keine
Komponente des psychischen Geschehens, sondern höchstens
mit der Kausalität in der Natur überhaupt zu vergleichen.
Das Gravitationsgesetz hat Newton entdeckt. Vor ihm wußte
man nichts davon. Daß aber der Mensch durch Dinge an
andere erinnert wird, wußte man auch, bevor die Psycho-
logie das Gesetz entdeckte. Unser Wissen ist nicht im
geringsten dadurch bereichert worden. Denn wir verstehen
keine Erinnerung dadurch besser. Glaubt man aber dies,
so kann das nur daran liegen, daß man die Bildersprache der
Theorie für Wahrheit nimmt. Der Psychologe versteht
durch keine Theorie nur irgend ein Phänomen besser als der
„Laie". Verstehen tue ich das Vorstellungserlebnis eines
Individuums nicht durch das Assoziationsgesetz, sondern
durch die Kenntnis seiner Vergangenheit, d. h. seiner Ge-
schichte. Wenn man sagt, die Vorstellung sei durch Asso-
ziation erklärt, so wiederholt man nur, daß es sich um eine
Vorstellung und nicht um eine Wahrnehmung handelt. Ver-
standen habe ich sie dann, wenn ich die spezifische Asso-
ziation in unserm Sinne herausgefunden habe, und ihre
historische Entstehung in der Geschichte des Individuums
kenne. Natürlich bedeutet diese Erkenntnis keine Erklä-
rung, sondern nur eine historische Beschreibung.
Dieser Gegensatz zeigt sich besonders bei dem Problem des
Wiedererkennens. Die Sucht nach Verdinglichung verfälscht
auch hier schon die Stellung des Problems. Man fragt dar-
nach, was im Bewußtsein anwesend ist, und findet oder
besser, man konstruiert neben den Empfindungselementen ein
Wiedererkennungsgefühl oder Bekanntheitsgefühl. Dieses
letztere kann als Tatsache nicht geleugnet werden. Es gibt
Fälle, wo man genau weiß, daß man etwa eine Person kennt,
aber nicht sagen kann, wer sie ist, wo und wann man sie
gesehen hat. Dieses Bewußtsein ist mit einem charakteristi-
schen Gefühl verbunden, das man Bekanntheitsgefühl nennen
6*
— 84 —
kann, obwohl eine feinere Psychologie den Zustand viel
differenzierter beschreiben kann. Diese Gefühle aber
meint die Elementarpsychologie offenbar nicht. Für sie
sollen sie entweder das Wiedererkennen erklären oder
selbst das Wiedererkennen sein. Darüber ist man sich
nämlich selber nicht ganz klar, ebenso wenig darüber, ob
diese Gefühle bewirkt sind durch die Reste der früheren
Vorstellung im Hintergrund des Bewußtseins, oder ob sie
selbst diese Reste sind. Mich interessiert es noch weniger,
da ich die ganze Vorstellungsweise als eine Verdinglichung
des Bewußtseins ablehne. Diese liegt darin, daß man das
historische Faktum des Wiedererkennens in ein Neben-
einander von Elementen, die in einem Zeitpunkt existieren,
auflösen will. Es gibt gar kein Phänomen „Wiedererkennen4',
wenn man von dem momentanen Bewußtseinsinhalt und nicht
von dem historischen Ich ausgeht.
Wir wiesen oben nach, daß jedes Gleichsein innerhalb
des zeitlichen Individualsystems im Vergleich zu dem Raum
völlig richtig als ein Fürgleichhalten seitens des Individuums
dargestellt werden kann. Wenn ich also sage, daß ein Ele-
ment a im Bewußtsein ist, so heißt das schon, daß das Indivi-
duum das jetzt Erlebte einem früheren Erlebnis für gleich hält.
Von Wiedererkennen würde ich nur dann sprechen, wenn
eine Identität zum Gegenstand eines Urteils gemacht wird.
Man kann aber leben, ohne urteilend zu erkennen. Wären
wir in jedem Augenblick Historiker oder Psychologen, so
kämen wir als handelnde Wesen nicht von der Stelle. Dieses
Fürgleichhalten kann aber gar kein erklärbares Problem
sein, sonst müßte man auch zu erklären versuchen, warum
ein Element Radium dem andern gleich ist. Da ist der
gleiche Inhalt, aber kein Phänomen neben ihm. Die psycho-
logische Bestimmung ist eine Bestimmung des historischen
Subjekts und nicht eines Raumausschnitts „Bewußtseins-
inhalt". Nur dann gibt es ein Wiedererkennen. Wenn ein
primitiver Organismus auf gleiche Inhalte gleich reagiert,
— 85 —
so nehme ich auch an, daß er gewisse Inhalte für gleich hält.
Denn objektiv gibt es nicht zwei Reize, die gleich sind.
Nur für das Subjekt existiert die Gleichheit. Seltsamerweise
will man auch das Wiedererkennen in eine Assoziation auf-
lösen, wo es doch klar ist, daß sie selbst auf dem Wieder-
erkennen erst beruht. Wenn ein Wahrnehmungseindruck
einem früheren gleich ist, so kann dieser nicht erst
durch Assoziation wiedererweckt worden sein, denn er
ist ja eben schon da. Jede Assoziation setzt aber eine
solche Gleichheit mit der Vergangenheit voraus. Ich
wüßte aber auch nicht, was das Gefühl uns helfen soll.
Es wäre seltsam, wenn man an einem qualitativen Gefühl
merken sollte, daß ein gleiches Element erlebt wird. Nur
durch den Namen „Wiedererkennungsgefühl" täuscht man
sich über die Unhaltbarkeit der Voraussetzungen hinweg.
Das Gleichhalten ist überhaupt die Voraussetzung für den
historischen Zusammenhang, da es nur ein anderer Name für
die subjektive Gleichheit ist. Es wäre unmöglich, eine histo-
rische Einheit der Welt gegenüber anzunehmen, ohne von
dem Gleichhalten der Inhalte durch das historische Subjekt
auszugehen. Bei den Elementen tut dies auch die Elementar-
psychologie, wenn sie die Inhalte einer Allgemeinheit unter-
ordnet. Die Bestimmung einer Empfindung als rot ist eine
Bestimmung des Subjekts, nämlich dessen, was es für gleich
hält. Es besteht aber gar kein Unterschied zwischen einer
willkürlich abstrahierten Bestimmtheit und einem Komplex
von solchen. Hier besteht das Problem nur in der Formung
vieler Bestimmtheiten zu einer Einheit. Diese braucht sich
aber keineswegs mit der Einheitsformung eines andern zu
decken. Schon in der Beschreibung des Erlebten steckt
eine psychologische Erkenntnis. Unsere Psychologen würden
sagen: das Individuum sieht eine Gabel, erkennt sie aber
nicht wieder. Das kann aber ganz falsch sein. Wenn es den
Gegenstand nicht für eine Gabel hält, so sieht es auch keine
Gabel. Wenn ich jemandem einen Ton zu hören gebe und
— 86 —
gleich darauf einen anderen, der um wenige Schwingungen
differiert, und behaupte, daß das Individuum zwei verschie-
dene Töne gehört hat, so ist diese Beschreibung absolut
falsch, wenn das Individuum keinen Unterschied zwischen
den Tönen bemerkt. Genau so liegt es aber im ersten Bei-
spiel. Ich halte den Gegenstand für eine Gabel, für mich
existiert ein Komplex von Bestimmtheiten, der unzähligen
früher erlebten Komplexen gleich ist, und den ich Gabel
nenne. Zeige ich einem Kinde denselben Raumgegenstand
— ich vermeide es, von den pathologischen Fällen der
Aphasie usw. zu sprechen — , so erlebt es keine Gabel, weil
dieser Komplex von Bestimmtheiten für sein Bewußtsein
noch nicht existiert. Daß auf der Netzhaut dasselbe Bild
entsteht, ist völlig gleichgültig, wie es gleichgültig ist, ob
,, wirklich" verschiedene Schallwellen das Ohr treffen. Mit
der Konstatierung der qualitativen Bestimmtheiten der
sogenannten Elemente beginnt schon das Wiedererkennen
oder das Gleichhalten, denn meine Bestimmung darf nur
die Meinung des Subjekts berücksichtigen. Nur das absolute
Befangensein im Raumdenken kann das leugnen. Für was
das Subjekt einen Gegenstand hält, kann ich nicht erklären,
weil sich der Gegenstand gar nicht anders bestimmen läßt,
als wofür ihn das Subjekt hält. Ich kann nicht sagen, was
hier etwas bewirkt, ohne daß ich die Meinung, das zu Be-
wirkende, als Wirkendes schon voraussetze. Man übersieht
das, weil man seine eigene Bestimmung als die richtige vor-
aussetzt. Man stützt sich aber dabei nur mit gewissem Recht
auf die gleichen Meinungen der Subjekte, weil schließlich
die Lebensbedingungen ziemlich gleich sind. Infolgedessen
wird uns im praktischen Leben eigentlich nur die Abweichung
von dem, was „man" sieht, zum Problem. Tatsächlich
beginnt die psychologische Fragestellung immer erst bei
dem Falschen. Das Richtige muß als das Außerpsycho-
logische vorausgesetzt werden. So setzt etwa die Psy-
chologie des binokularen Sehens die Existenz „eines"
— 87 —
Gegenstandes im Raum, also ein Sehphänomen als richtig
voraus.
Die Bestimmung der eigentlichen Elemente macht aber
gar keine Ausnahme. Darum kann es gar kein Spezial-
phänomen ,, Gleichhalten'4 geben, das man erklären kann.
Denn das Erlebte kann gar nicht anders bestimmt werden
als durch die Gleichheit, die für das Subjekt existiert. Diese
ist die einzige Möglichkeit, daß überhaupt ein Zusammenhang
im Psychischen besteht und ausgesagt werden kann. Das
Bewußtsein ist selbst der subjektive Logos als historische
Reihe.
Dies berührt natürlich auch das Problem des Begriffes.
Es ist unlösbar geworden, da man es als Raumphänomen
und nicht als historisches Phänomen behandelt hat. Es ist
ganz unmöglich, von dem Begriff zu sprechen, losgelöst von
dem historischen Subjekt. Die Elementarpsychologie fragt
danach, was im Bewußtsein ist. Die Antwort kann nur
lauten : eine allgemeine Weltbestimmtheit oder ein allgemeiner
Komplex von solchen. Zum Problem aber wird der Begriff
nur dadurch, daß man antwortet: psychische Elemente.
Dann kann man freilich nicht umhin, von der Indivi-
dualität dieser psychischen Dinge auszugehen. Dann wird
das Wiedererkennen genau so problematisch wie der Begriff,
wie aber überhaupt jeder psychische Zusammenhang. Selbst-
verständlich ist das Begriffsgefühl, wie so oft das Gefühl
überhaupt, nur ein Lückenbüßer, ein asylum ignorantiae.
Nicht die Allgemeinvorstellung, sondern die Individual-
vorstellung ist ein Nonsens, denn jede Vorstellung ist Vor-
stellung eines Allgemeinen. Wenn man behauptet, daß ein
Element „Rot" im Bewußtsein ist, so behauptet man schon
die Existenz einer Allgemeinvorstellung, und eine andere ist
auch gar nicht möglich. Nur darf man sie nicht als ein Ding
ansehen, oder die erlebte Weltbestimmtheit als ein psychi-
sches Element. Denn jedes Ding oder Element ist individuell
durch den Ort, den es im Raum einnimmt. Psychologisch
— 88 —
wird aber nicht der Teil eines Ortes, sondern der einer Zeit-
reihe bestimmt, nicht was in einem Raumausschnitt existiert,
sondern was das historische Subjekt von der Welt erlebt.
In einem Zeitmoment des Bewußtseins existiert also immer
eine Bestimmtheit, die allgemein ist. Mehr aber sagt die
Allgemeinvorstellung nicht. Auch die Vorstellung eines
individuellen Menschens ist im Bewußtsein eine Allgemein-
vorstellung, ein Komplex von Bestimmtheiten, der histo-
risch anderen früheren gleich ist. Genau so ist das Wort
als akustisches Erlebnis eine Allgemeinvorstellung, ein
historisch wiederholbarer Komplex von Bestimmtheiten.
Wenn man behauptet, daß ein Element „Rot" im
Bewußtsein ist, so ist auch ein Element „Dreieck" im
Bewußtsein. Freilich stelle ich mir jederzeit ein Dreieck
vor, das im Raum ein bestimmtes ist. Ich würde aber
auch nicht von dem Element „Dreieck" sprechen, eben-
so wenig wie von dem Element „Rot". Genau so wie
ich in einem Falle von der Form der Fläche abstrahiere,
kann ich im andern von der Farbe und allem andern abstra-
hieren und nur die Weltbestimmtheit „Dreieck" herausheben.
Das Bild auf der Netzhaut ist im Raum und nicht im Be-
wußtsein. Hier sind allein jene Bestimmtheiten, die ich an
einem Raumgegenstand wahrnehmen und unterscheiden
kann, und dazu gehört in logisch gleicher Weise die Farbe
wie die Form. Die Bevorzugung der Qualitäten als Elemente
ist völlig ungerechtfertigt, wenn auch psychologisch ver-
ständlich. Denn das Dreieck oder das Quadrat als psychi-
sches Element auszugeben, wird einem allerdings schwer
fallen. Wir können aber das Bewußtsein überhaupt nicht aus
individuellen Elementen bestehend denken, sondern wir
können nur die wiederholt erlebten Bestimmtheiten oder Kom-
plexe von solchen bezeichnen. Damit fällt jede Schwierig-
keit für den Begriff fort. Er ist ja kein Ding, das im Moment
im Bewußtsein ist, sondern ich beschreibe mit ihm nur den
psychischen Zusammenhang. Wenn ich ein Urteil über einen
— 89 —
Stuhl abgebe und man fragt mich, was dabei an Inhalten in
meinem Bewußtsein war, so kann ich sagen: neben akusti-
schen und motorischen Bestimmtheiten auch ein Komplex
von optischen. Man wird dann sagen, daß immer nur ein
individueller Stuhl in meinem Bewußtsein sein kann. Wenn
ich ihn als Gegenstand im Raum bestimme, ist er freilich
individuell, aber damit bestimme ich eben nichts Psychi-
sches. Will ich dies bestimmen, so kann ich nur allgemeine
Bestimmtheiten angeben. Natürlich ist auch die bestimmte
Größe in meinem psychischen Leben eine Allgemeinheit.
Nun wird man sagen, daß das einfach daran liegt, daß ich,
wenn ich überhaupt beschreibe, mich nur in allgemeinen
Begriffen ausdrücken kann, daß ich also die sprachliche
Benennung mit dem wirklichen Inhalt des Bewußtseins
verwechsle. Dies beweist aber nur, daß man das Bewußtsein
als Raum denkt. Unsere Erkenntnis kann nur Bestimmt-
heiten angeben, die wir als historische Subjekte erleben.
Den Stuhl denken wir im Raum existierend. Seine Indivi-
dualität existiert für das denkende Bewußtsein, nicht aber
er als individueller Gegenstand im Bewußtsein. Im Raum
gibt es individuelle Teile, im Bewußtsein nicht. Hier gibt
es nur Bestimmtheiten, die historisch wiederholbar sind,
d. h. für das Bewußtsein gleich sind. Nur für die psycho-
logische Erkenntnis des historischen Bewußtseinszusammen-
hanges existiert der Begriff als Gegenstand, nicht aber als
ein Ding an sich. Das Denken ist an sich also kein Sonder-
phänomen, keine Vorstellung plus Begriffsgefühl. Es ist
zwecklos, darüber zu streiten, ob die Ameise oder das Pferd
denkt oder nicht. Denken ist nichts weiter als der logische
Zusammenhang des individuellen Bewußtseins, daß ich näm-
lich weder von dem. Pferd noch von dem Menschen etwas
anderes sagen kann, als daß die gleichen Bestimmtheiten in
der Zeit erlebt werden. Nur aus diesen logischen Zusammen-
hängen heraus kann das Psychische verstanden werden.
Ein Phänomen „Denken" gibt es von diesem Standpunkt aus
— 90 —
noch gar nicht. Erst die Erkenntnis, die Behauptung einer
spezifischen Gegenständlichkeit ist etwas Neues, eine Tat
mit einem eigentümlichen Strukturzusammenhang des Be-
wußtseins, den wir „Meinen" nennen. Sie ist möglich nur
durch die an sich bestehenden logischen Zusammenhänge des
historischen Bewußtseins, durch die ich sie verstehe, und die
zunächst der Gegenstand der Erkenntnis sind. Denn zu-
nächst erkennt die Monade nur ihre Welt. Sie beurteilt
nur die an sich bestehenden logischen Beziehungen innerhalb
ihres Bewußtseins. Sie ist Psychologe. Ihre Erkenntnis
ist subjektiv, ihr Gegenstand ist ihr persönlicher Bewußt-
seinsinhalt oder ihre Welt. Will man die logischen Bezie-
hungen selber erklären, so hört jede vernünftige Frage-
stellung auf. Dies würde heißen: erkennen wollen, ohne zu
erkennen. Denn die logischen Beziehungen oder, populär
ausgedrückt, die Tatsache, daß ich die Gleichheit zweier
Dinge bemerke, ist eine Voraussetzung, die zur Tat der Er-
kenntnis wohl erforderlich ist. Unsere Erkenntnis ist Be-
schreibung der Welt, und das Bewußtsein ist nun einmal der
subjektive Logos selbst und kein Raum. Wäre es anders, so
könnten wir ebensowenig den Raum wie das Bewußtsein
erkennen; denn der Logos kann nur den Raum und sich selbst
erkennen. Die Naturwissenschaft beruht auf der Erfahrung
der Subjekte. Die Psychologie des Bewußtseinsinhaltes ist die
Selbsterkenntnis der erfahrenden Subjekte. Die Erkenntnis
erkennt die für das Bewußtsein an sich bestehende Gleichheit.
Das individuelle Bewußtsein ist selbst der subjektive Logos
und kein Raum, der erst durch den Logos erkannt wird.
Die Lehre von dem Bewußtseinsinhalt ist also die Lehre
von dem Erfahren und nicht von einem Raum, der selbst
erfahren wird.
Betrachten wir das Denken als ein psychologisches
Problem, so können wir nichts weiter tun, als daß wir die
Gedankenkette logisch verstehen. Die Psychologie kommt
also dabei über das naive Verständnis nicht hinaus. Sie
— 91 —
„ findet" den Zusammenhang auf dieselbe Weise wie der
naive Mensch. Sie kann ihn hinterher nur theoretisch falsch
„darstellen", nämlich als substanziellen Zusammenhang.
Es ist selbstverständlich, daß die Psychologie die Wahrheit
oder Falschheit nichts angeht, aber mit der Ausschaltung der
logischen Beurteilung wird das Denken nicht plötzlich
kausal erklärbar. Es bleibt .weiterhin Tat, nur wird diese
nicht vorn Standpunkt der Objektivität aus bewertet oder
verglichen. Wir haben das Denken aus dem Wissen und aus
der Gleichsetzung der Subjekte heraus zu verstehen. Dieses
W'issen ist aber psychologisch eine Summe wiederholbarer
Assoziationen. Jede neue Erkenntnis ist eine neue Asso-
ziation. Sehen wir von der Bildung der Synthese und ihrer Be-
deutung für die Objektivität ab, so ist jedes deduktive
Schließen eine Erinnerung, eine Verwertung des Wissens.
Für die Psychologie des individuellen Bewußtseins bedeutet
die Synthese nur eine wiederholbare Assoziation. Rein
psychologisch bedeutet es keinen Unterschied, ob mich das
Radium an seine Wirkung erinnert oder an den Ort, wo ich
es zum erstenmal sah. Zum Schluß auf die Folge wird die
Erinnerung nur durch die Beziehung zur objektiven Welt.
Es ist daher ganz müßig darüber zu streiten, ob auch das
Tier denkt oder schließt. Das Denken ist kein Sonder-
phänomen, das im Bewußtsein anwesend ist. Wir bezeichnen
mit ihm nur den logisch-historischen Zusammenhang des
Bewußtseins. Das Tier kann genau so an die Folge erinnert
werden wie wir. Ob diese Assoziation der wirklichen Folge
entspricht, ist kein psychologischer Gesichtspunkt mehr.
In diesem Sinne ist der Schluß nicht mehr ein bloßer Bewußt-
seinszusammenhang, sondern er setzt den Willen voraus,
die Wirklichkeit zu „erkennen". In diesem Falle existiert
ein Kriterium der Richtigkeit, nämlich ob die Vorstellung
zur Wahrnehmung werden kann. An sich ist das Denken nur
ein logischer Zusammenhang des Bewußtseins, das Schließen
nur eine Erinnerung. Der Syllogismus ist deshalb niemals
— 92 —
eine Neuerwerbung des Wissens, sondern nur eine Verwertung
des Wissens dadurch, daß im Moment etwas an dem Objekt
bewußt wird, was mir unmittelbar nicht bewußt ist. In
einem ganz tiefen Sinne hat Plato Recht, wenn er die mathe-
matische Erkenntnis eine Erinnerung nennt. Sie erfährt
nichts Neues, sondern sie macht sich den Raum nur bewußt.
Der praktische Wert der Assoziation liegt darin, daß die
Wirklichkeit bewußt werden kann, ehe sie eintritt. Ist dies
der Zweck des Denkens, so muß die Gedankenfolge selber
eine Auswahl unter den möglichen Assoziationen darstellen.
Dann nützt nur die, die der objektiven Wirklichkeit ent-
spricht. Die schöpferische Tat liegt in der Synthese, die zur
wiederholbaren Assoziation wird, und in der Auswahl der Asso-
ziation selbst. Damit aber sind wir schon über den Zusammen-
hang des Inhalts hinausgeschritten. Wir haben eine neue
Kategorie zugrunde gelegt, die wir erst rechtfertigen müssen:
die Tat.
Von der Logik der Naturerkenntnis war hier mit keinem
Wort die Rede. Darum kann von einer Verwechslung des
logischen mit dem psychologischen Problem nicht gesprochen
werden. Die logischen Probleme liegen in den Prinzipien
der Objektivierung oder des Erfahrungsurteils im Gegensatz
zum Wahrnehmungsurteil. Hier sollte nur nachgewiesen
werden, daß das Denken durch Wahrnehmungsurteile psycho-
logisch verstanden werden kann und nicht durch Erfahrungs-
urteile umgedacht und erklärt werden kann. Das bewußte
Denken ist nichts weiter als eine Auswahl unter möglichen
Assoziationen, eine gewollte Assoziation, und weiterhin wieder
eine Auswahl unter diesen gewollten Assoziationen.
III. Der Wille.
Wir kommen nun zu dem wichtigsten Teil unserer
Untersuchung, zu den Grenzen der Kausalität. Das Willens-
problem kann kein ethisches, sondern nur ein erkenntnis-
— 93 —
kritisches sein. Wir werden zu beweisen haben, daß der Wille
eine notwendige Kategorie oder Methode der historischen
Vernunft ist. Wir nehmen keinen Willen wahr, sondern wir
denken etwas als Tat. Wir nehmen kein Leben wahr, sondern
wir denken etwas in einem historischen Zusammenhang.
Und wenn wir dies tun, so denken wir nicht mehr in den
Kategorien des Mechanismus. Infolgedessen behaupte ich,
daß nicht der Newton geboren werden muß, der uns das
Entstehen des Grashalms erklärt, sondern der Kant der
Biologie.
Wir zeigten, daß das Assoziationsgesetz in keiner Weise
eine Erklärung sein kann, weil wir im Psychischen nicht von
der Idee der Substanz ausgehen dürfen. Bei der Betrach-
tung des Inhalts können wir nur die subjektiven Gleich-
heiten zwischen den einzelnen Bestimmtheiten und ihre
Assoziationen konstatieren. Damit ist aber ihre Existenz
in der Zeit nicht erklärt. Dies ergibt sich schon daraus,
daß die einzelnen Bestimmtheiten in unzähligen Assozia-
tionen vorkommen können, und daß jeder Eindruck mehrere
Bestimmtheiten besitzt. Infolgedessen ist die wirklich
wiederholte Assoziation nur eine von vielen Möglichkeiten.
Aus den logischen Beziehungen mit der Vergangenheit können
wir die Wirklichkeit der Inhalte nie begreifen. Mehr als
diese kann sich aber aus der Betrachtung des Inhalts nicht
ergeben. Infolgedessen muß der Grund für die Wirklichkeit,
wenn dieser überhaupt erkennbar sein soll, anderswo als
im Inhalt liegen. Wir stoßen damit auf Faktoren, die die
Psychologie des Bewußtseinsinhaltes überhaupt nicht kennen
kann, auf die eine Analyse von ihm auch gar nicht stoßen
kann. Es wäre aber ein Irrtum, wenn man meinte, daß man
mit ihnen nur eine Komponente neben dem Assoziations-
gesetz gefunden hätte, etwa wie das Trägheitsgesetz keine
Bewegung alleine erklären kann. Es handelt sich vielmehr
um etwas schlechterdings anderes als um die logischen Be-
ziehungen in dem Zeitsystem. Nicht Komponenten, in die
— 94 —
wir die Wirklichkeit zerlegen, stehen in Frage, sondern jetzt
erst stellen wir überhaupt die Frage nach dem Grund der
psychischen oder historischen Wirklichkeit.
Diese Frage ist aber nicht allein bei der Vorstellung am
Platz, sondern genau so gut bei der Wahrnehmung. Für die
Natur ist der Grund der historischen Wirklichkeit die zeit-
lose Substanz. Wir gehen von der Idee aus, daß es eine
Welt gibt, aus der nichts verschwindet, und zu der nichts
hinzukommt. Alles Neue müßte irgendwoher kommen und
alles Verschwundene müßte irgendwohin gekommen sein.
Das ist die logische Konsequenz des Raumes. Wie man
dieses letzte Sein theoretisch denkt, ist gleichgültig. Es kann
in einem Moment nicht etwas wirklich sein, was nicht seit
Ewigkeiten schon wirklich war. Die Konstruktion dieser
ewigen Wirklichkeit ist das Ziel der Naturerkenntnis. Die
Psychologie kann aber nicht von der Idee einer solchen
Wirklichkeit ausgehen, weil sie nicht den Raum als Medium
der Existenz ihres Gegenstandes, sondern nur als Gegen-
stand des Erlebens kennt. Die Naturwissenschaft trennt die
Halluzination von der Wahrnehmung. Ihr Kriterium ist
nichts weiter als die Feststellung, ob das Erlebte auch vorher
wirklich war, und dieses ,, Vorher" muß in der Idee der
ewigen Existenz münden. Darum ist ihr letztes Problem
die Bewegung. Wir nehmen keine Bewegung wahr, sondern
wir denken sie. Gehen wir zurück auf den letzten Punkt in
der Entstehung unserer Urteile, so existiert eine Reihe von
optischen Eindrücken, die wir als das Gesichtsbild des
fallenden Steins bezeichnen. Diese Reihe besteht im Kant-
schen Sinne aus den „datis der Sinnlichkeit". Wenn wir
urteilen, daß der Stein gefallen ist, so haben wir schon eine
Denkkonstruktion vorgenommen. Aus der unmittelbaren
Zeitreihe, in der der Raum selbst nur ein Datum ist, haben
wir eine Identität in der Zeit konstruiert dadurch, daß wir
sie im Raum denken, nämlich den Stein. Nur weil wir
aber diese Identität denken, existiert für uns die Be-
— 95 —
wegung, nämlich als Ortsveränderung dieser Identität in
der Zeit.
Der Naturwissenschaftler muß die Welt als Bewegung
denken, wTeil er eine zeitlose Wirklichkeit denken will. Wenn
ich auch nur in zwei Momenten einen Stein als existierend
denke, so muß ich überhaupt eine Identität des Seins in der
Zeit denken. Folglich ist die Natur Bewegung des Räum-
lichen in der Zeit. In der Psychologie ist aber die Zeit keine
Existenzform, sondern der reale Gegenstand. Ein bestimmter
Moment oder Teil dieses Gegenstandes kann deshalb nie er-
klärt werden, weil die Erklärung die Existenz in der Zeit
schon voraussetzen müßte, seine ewige Existenz im Raum,
wodurch sein Dasein am bestimmten Ort erklärbar wäre.
Naturwissenschaftlich muß die Zeit selbst als eine Existenz-
form oder als eine Bestimmungskoordinate der Ewigkeit
selbst angesehen werden, genau wie der individuelle Ort.
Die Zeitbestimmung wäre die vierte Dimension der formalen
Bestimmtheiten der Phänomene überhaupt, die genau so
wie die räumlichen nur relativ bestimmbar wäre. Das
Psychische aber existiert als Zeit, nicht in der Zeit. Infolge-
dessen ist der Moment nicht als Wirklichkeit „erklärbar".
Was momentan existiert, können wir nicht denken als Be-
wegung dorthin.
Da wir nun aber im Fall der Wahrnehmung annehmen,
daß der Inhalt unserer Erlebnisse objektiv existiert, so
hätten wir keinen Grund, eine psychologische Frage an die
Wahrnehmung zu richten, wenn nicht gerade vom Stand-
punkt der objektiven Welt aus die Wahrnehmung selbst schon
eine Möglichkeit unter vielen wäre. Alle physiologischen
Untersuchungen der Wahrnehmung berühren nicht die
psychologische Erkenntnis. Sie sind nur Auseinander-
setzungen des Raumes mit dem Raum, um die objektive
Welt zu konstruieren. Ich beschreibe etwa mein Erlebnis:
Ich sehe zwei Stöße Papier. Man wird behaupten, daß diese
zwei Stöße meiner Wahrnehmung gegeben sind. Ich könnte
— 96 —
darunter nichts anderes verstehen, als daß ich nichts dafür
kann, daß zwei Stöße im Raum sind. Meint man diese
Gebundenheit an die Objektivität, so finde ich den Aus-
druck „gegeben" berechtigt. Sicherlich aber existieren noch
unendliche Möglichkeiten der Bestimmung dieses Raum-
ausschnitts. Bei der gleichen Stellung meiner Augen zu dem
als konstant angenommenen Raumteil, hätte ich noch vieles
andere sehen können, etwa daß der eine Stoß höher ist als
der andere, daß das erste Blatt des einen beschrieben ist,
das des andern nicht usw. Infolgedessen kann ich sagen, daß
meine Wahrnehmung an eine Objektivität gebunden ist.
Ich erschaffe nicht die Welt, aber die Wirklichkeit des psychi-
schen Moments ist nicht erklärt durch die Objektivität.
Ich zähle nicht alle Gegenstände, wenn sie auch alle nach
irgend einem Gesichtspunkt zählbar sind. Wenn zwei
Äpfel da sind, so habe ich das nicht bewirkt. Ich kann auch
nicht drei aus ihnen machen, aber daß ich zwei Äpfel sehe,
ist auch nicht bestimmt durch die Objektivität. Genau so
aber verhält es sich mit allen wahrgenommenen Bestimmt-
heiten. Eine jede Fläche besteht aus einer Unmenge klei-
nerer, die durch die Farbe unter sich verschieden sind. Mit
Hilfe eines Mikroskops kann man diese Unterscheidung noch
weiter fortsetzen. Jeder neuentdeckte Unterschied ist eine
Änderung in der Zeitreihe meiner Erlebnisse. Nehme ich
an, daß die Welt objektiv konstant geblieben ist, so kann
diese Zeitreihe nicht durch sie allein bestimmt sein. Ich kann
in ihr nicht den Grund für die Verschiedenheit meiner Er-
lebnisse entdecken. Will ich also diese psychische Wirk-
lichkeit erkennen, so kann ich den Grund nur in das Be-
wußtsein selbst versetzen. Eine andere Möglichkeit gibt es
nicht. Die Welt im Raum bedeutet nur den Inbegriff der
Möglichkeiten, an die ich in meinem Erlebnis gebunden bin.
Der Grund, warum eine davon wirklich wird, kann nicht in
ihnen liegen, sondern nur in mir. Dies nennen wir termino-
logisch: Die Wirklichkeit der Möglichkeit ist meine Tat.
— 97 —
Die kritische Naturwissenschaft kennt in diesem Sinne nicht
den Begriff der Möglichkeit. Von unserm Denken aus ist
vielmehr alles möglich. Wir lernen die Natur erst durch
Erfahrung kennen. Die Möglichkeiten werden also dadurch
beschränkt, daß die Wissenschaft die Wirklichkeit konstruiert.
Nach dieser Konstruktion besteht keine Möglichkeit mehr.
Denn durch die Wirklichkeit wird jeder Zufall ausgeschlossen.
Psychologisch ist es ein Zufall, daß ein Ziegelstein vom Dach
fällt, aber nicht naturwissenschaftlich. Jeder objektive Ein-
griff in die Zeitreihe des Lebens, d. h. jede Bedingtheit durch
die kausale Objektivität ist Zufall, weil es keine Tat ist.
Jede Wahrnehmung ist Zufall, soweit und weil sie kausal
bedingt ist. Gerade die Wirklichkeit der Naturwissenschaft
ist für die Psychologie nur Möglichkeit. Von ihr aus ist die
Wirklichkeit nicht durch die objektive Kausalität begründet,
sondern nur durch das Bewußtsein selbst, durch die Tat.
Jede Erkenntnis ist die Begründung einer Wirklichkeit.
Die Naturwissenschaft tut dies dadurch, daß sie erklärt,
durch welche zeitlosen Beziehungen oder Gesetze ewig
existierende Teile in diesem Moment gerade an dieser Stelle
sind. Auch die psychologische Erkenntnis muß eine Wirk-
lichkeit begründen. Der Weg der Naturwissenschaft ist ihr
verschlossen, denn es existiert keine psychische Substanz,
deren momentane Konstellation in der Zeit erklärbar wäre.
Das Psychische ist vielmehr der Ablauf der Zeit selbst.
Kann ich aber die Wirklichkeit nicht aus einer anderen
Wirklichkeit ableiten, keinen substanziellen Zusammen-
hang zwischen ihnen konstatieren, so bleibt dem Denken
nichts anderes übrig, als diese Wirklichkeit als Schöpfung
aus dem Nichts zu denken: als Tat.
Auch die Elementarpsychologie hat dies wohl gesehen.
Man wird mir einwenden, daß ich ziemlich umständlich von
einer längst bekannten Tatsache gehandelt habe, nämlich
von der Aufmerksamkeit oder der Apperzeption. Es war
aber notwendig, um die Auffassung der Apperzeption seitens
Strich, Prinzipien. 7
— 98 —
der Elementarpsychologie widerlegen zu können. Ihr Fehler
steckt nämlich darin, daß sie die Aufmerksamkeit als ein
Phänomen behandelt, wie sie dies ja auch mit dem Willen tut.
Sie muß die Tatsache wohl anerkennen, wie sie auch nicht
ohne den Ichbegriff auskommt; was sie aber der Theorie
zuliebe daraus macht, ist das Falsche. Es gibt kein Phä-
nomen „Aufmerksamkeit", das momentan da ist und ver-
schwindet, das ich etwa in der Selbstbeobachtung fest-
stellen könnte. Es ist auch kein Phänomen, das sehr häufig
oder vielleicht sogar immer im Bewußtsein da wäre. Es gibt
überhaupt keinen unaufmerksamen Menschen. Schon diese
Tatsache, die man wohl auch schon gesehen hat, sollte zu
denken geben. Der zerstreute Professor ist in Wahrheit
genau so aufmerksam wie jeder Andere. Spricht man von
Graden der Aufmerksamkeit, so ist er wohl der Aufmerk-
samste, der sich denken läßt. Beachtet der Schuljunge die
Soldaten und nicht die lateinische Grammatik, so ist er
empirisch-psychologisch nicht unaufmerksam, sondern höch-
stens vom ethisch-pädagogischen Standpunkt aus. Ebenso-
wenig wie es aber eine Unaufmerksamkeit gibt, kann es eine
Aufmerksamkeit als Phänomen im Bewußtsein geben. Was
auch immer in einem Moment erlebt wird, ist von der ob-
jektiven Welt aus nur eine von vielen Möglichkeiten.
Wollen wir aber die psychische Wirklichkeit erkennen, d. h.
einsehen, warum gerade diese Möglichkeit wirklich wurde,
so können wir nur die Auswahl als eine Tat des Subjekts
denken. Wir machen sie abhängig von der Aufmerksamkeit,
heißt nichts anderes als: wir machen sie abhängig von dem
historischen Subjekt. Es gibt keine besondere Wesenheit Auf-
merksamkeit, die sich im Bewußtsein befindet, bewirkt wird
oder selbst bewirkt, sondern ich kann die psychische Wirk-
lichkeit nur als Auswahl unter Möglichkeiten erkennen.
Diese nennen wir Aufmerksamkeit. Für den zerstreuten
Professor existiert die Möglichkeit, den Schirm zu apperzi-
pieren, von der objektiven Welt aus genau so gut wie für
— 99 —
den soliden Bürger. Wenn diese Möglichkeit nicht wirk-
lich wird, so liegt der Grund dazu nicht in dem Schirm,
sondern in dem Professor. Er hat nicht auf ihn, sondern auf
etwas anderes geachtet. Unaufmerksamkeit ist eine Be-
urteilung seiner Aufmerksamkeit, nämlich als nicht auf das
gerichtet, worauf sie sein sollte, folglich eine, wenn auch
etwas primitive, jedenfalls aber ethische Beurteilung seines
Tuns.
Man wird hier vielleicht einwenden, daß die Apper-
zeption doch von der objektiven Welt abhängt, etwa von der
Intensität der Empfindung. Ohne mich auf eine Kritik
dieser Intensität einzulassen, möchte ich sagen, daß wir die
Intensität nach der Apperzeption bestimmen, nicht aber
umgekehrt. Es fehlt ja vollkommen jeder Maßstab, um etwa
einen akustischen und einen optischen Reiz nach der Intensi-
tät zu vergleichen, wenn wir nicht von der Apperzeption
ausgehen. Wir nennen die akustischen Eindrücke der Militär-
musik intensiver als die optischen der lateinischen Grammatik,
weil die Aufmerksamkeit auf die ersten abgelenkt wird. Ein
Vergleich der Empfindungen an sich ist schlechterdings un-
möglich. Wo er aber auch möglich ist, nämlich in dem System
eines Empfindungsgebietes, ist trotzdem eine Erklärung der
Apperzeption dadurch ausgeschlossen. Es ist gar nicht wahr,
daß der intensivste Reiz bemerkt wird. Das Laboratoriums-
experiment muß hier irreführen. Wir werden noch sehen,
daß das Erlebnis im Laboratorium eine Ausnahme und
kein vereinfachtes elementares Geschehen im Vergleich zur
Wirklichkeit des Lebens bedeutet. Was der Psychologe
Übung in der Selbstbeobachtung nennt, ist nach dieser
Seite hin nur die Möglichkeit, rein persönliche Einstel-
lungen, etwa im Geschmack und den Interessen, zu negie-
ren und sich möglichst objektiv einzustellen. Diese Ausnahme-
einstellung würde es verständlich machen, daß die Aufmerk-
samkeit sich auf den objektiven Intensitätsunterschied
richtet, weil man von der speziellen Qualität möglichst ab-
7*
— 100 —
sehen will. Die Aufmerksamkeit ist nur dann von der Inten-
sität bestimmt, wenn sie es sein will. Nun glaubt man viel-
leicht, die Aufmerksamkeit durch die Gefühlsbetonung der
Empfindung determinieren zu können. Allein damit hat man
sich gerade auf unsern Standpunkt gestellt. Denn diese
Betonung ist ja gerade von dem subjektiven Moment der
Einstellung abhängig. Wenn wir die Aufmerksamkeit als
Tat des Subjekts hinstellen, so schließen wir ihre Begründung
nicht aus, sondern im Gegenteil. Wir sagen damit nur,
daß sie nicht aus der objektiven Welt verständlich ist. Nun
ist die Gefühlsbetonung zweifellos eine rein subjektive
Eigenschaft der Empfindung, und ebenso sicher ist es, daß
sie auf eine persönliche Einstellung des Subjekts hinausläuft.
Die Psychologie kann nicht alle Gefühlsbetonungen, die wir
als Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit bezeichnen, histo-
risch verstehen. Macht man aber allgemein die Aufmerksam-
keit von der Gefühlsbetonung abhängig, so kommt es in vielen
Fällen eben darauf an, die Gefühlsbetonung abhängig zu
machen von dem Subjekt. Es ist geradezu Pflicht, hier wie
überall möglichst wenig auf den Charakter als die letzte
Tatsache zu schieben, in der wir den Grenzbegriff der psycho-
logischen Erkenntnis sehen werden, und möglichst viel
individuell historisch zu verstehen. Tun wir das, so stoßen
wir auf eine historisch entstandene und verständliche Ten-
denz oder Determiniertheit des Subjekts. Wenn die Auf-
merksamkeit allgemein von der Gefühlsbetonung der Er-
lebnisse abhängen soll, so ist sie deswegen nicht durch das
Erlebte determiniert, sondern umgekehrt ist die Gefühls-
betonung determiniert durch die Tendenz des Subjekts.
Wir würden also auch hier in einen Zirkel geraten. Man
schneidet das Problem willkürlich ab, wenn man die
Aufmerksamkeit als Folge eines Gefühlselementes auffaßt,
das seinerseits kausal erregt worden ist. Wir haben vielmehr
die Gefühlsbetonung ebenso aus der subjektiven Einstellung
zu verstehen wie die Aufmerksamkeit selbst. Es ist un-
— 101 —
möglich, die Aufmerksamkeit durch ein objektives Gesetz
zu beschränken. Wir verstehen es genau so gut, wenn sie
sich auf das Neue, Ungewöhnliche, Unerwartete richtet, wie
auf das Bekannte. Es sprechen sich darin Verschiedenheiten
der Individuen, ihrer Willenstendenzen aus.
Die Aufmerksamkeit kann niemals etwas selbst er-
klären. Es wäre dies wieder so, wie wenn der Physiker die
Phänomene durch das Kausalitätsgesetz für erklärt hielte.
Die Apperzeption ist keine Wesenhaftigkeit im Bewußtsein,
die etwas bewirken könnte. Sie ist nur ein Prinzip, durch
das man jede psychische Wirklichkeit bestimmen muß, denn
sie ist eine Idee a priori der psychologischen Vernunft. Das
Problem der Psychologie kann nur das Spezielle sein, was
die Wirklichkeit begreiflich macht, wie das spezielle Natur-
gesetz die Natur erklärt. Und dieses Spezielle kann, wie wir
noch sehen werden, nichts anderes sein als eine bestimmte
Willensrichtung des Individuums. Sie ist die historische
Analogie zu dem zeitlosen Naturgesetz, nicht aber ein Phä-
nomen, das selbst durch ein Gesetz erklärbar wäre.
Unsere Ausführungen beziehen sich aber genau so gut auf
die Vorstellung. Wie die Wahrnehmung nicht durch die objek-
tive Welt allein bestimmbar ist, ist die Vorstellung, wie wir ge-
zeigt haben, nicht durch die Assoziation erklärt. Es existieren
eine unendliche Anzahl von Assoziationen, und zwar im glei-
chen Sinne unbewußt wie die Palme am Nil für mich in
diesem Moment. Ein jeder Eindruck hat eine Mehrheit von
Bestimmtheiten, und jede dieser Bestimmtheiten ist mit
einer Unzahl von anderen zusammengewesen. Die beschrei-
bende Erkenntnis stellt zunächst fest, an welche Bestimmt-
heit angeknüpft wurde, oder wie man zu sagen pflegt, das
reproduktive Element, sodann die mit ihr zusammenge-
wesenen Bestimmtheiten oder die reproduzierten Elemente.
Dann aber beginnt erst das psychologische Problem. Bis
jetzt hat man nur gesagt, daß sich eine Assoziation wieder-
holt hat. Wer das für eine Erklärung hält, der müßte als
— 102 —
Physiker das Fallen des Steins dadurch für erklärt halten,
daß es im Raum oft vorkommt. Gerade den wirklichen
Moment gilt es zu begreifen. Ist er in der Natur bestimmt als
Bewegung, so kann er psychologisch nur als Tat bestimmbar
sein, denn es existiert keine psychische Wirklichkeit, keine
Konstellation, die durch Bewegung in eine andere übergeht.
Das Problem lautet: Warum wurde gerade diese Bestimmtheit
zum reproduktiven Element, und warum wurden gerade diese
Bestimmtheiten reproduziert ? Die allgemeine Antwort lautet
darauf: Der Grund dazu liegt in dem Subjekt. Die Wirk-
lichkeit ist seine Tat. Damit aber ist noch nichts erkannt,
wie durch das Gesetz, daß die momentane Wirklichkeit der
Natur aus einer Bewegung entstanden ist, noch nichts er-
kannt ist. Natürlich handelt es sich wieder um das Prinzip
der Apperzeption, der diesmal nicht die Aussenwelt als Mög-
lichkeit gegenübersteht, sondern alle möglichen Asso-
ziationen. Erst als Prinzip des Denkens bekommt also die
Aktualität einen Sinn, nicht aber durch die bloße Benennung
des psychischen Objekts. Eine bestimmte Wlllensrichtung
macht die Wirklichkeit verständlich, diese ist das Gesetz
im Individualsystem. Allgemeine inhaltliche Gesetze in der
psychischen Welt sind logisch unmöglich.
Bevor wir aber über diesen Willen als Prinzip der psycho-
logischen Erkenntnis handeln, womit schon gesagt ist, daß
wir seine Auflösung in Elemente für unmöglich halten,
müssen wir noch die Körperhandlung logisch analysieren.
Dies Problem würde letzten Endes zu einer Erkenntnis-
kritik der Biologie führen, die ich aber im Zusammenhang
mit einer Kritik des Darwinismus zum Gegenstand einer
späteren Spezialuntersuchung zu machen gedenke, und von
der hier nur das Allerwenigste gesagt werden kann.
Es ist von vornherein klar, daß unser Problem gleich-
zeitig ein biologisches und ein psychologisches ist. Unsere
Behauptung ist die, daß es sich beide Male um dieselbe
Betrachtungsweise handelt, nämlich um die historische.
— 103 —
Es wäre eine Torheit der Philosophie, wenn sie der
Biologie Vorschriften machen würde, etwa die, daß sie ihrer
Erkenntnis nicht die Prinzipien des Mechanismus zugrunde
legen darf. Dieses Recht steht der Philosophie gar nicht zu,
weil es sich gar nicht begründen läßt. Die Erkenntniskritik
kann vielmehr nur aufzeigen, ob die Biologie auf dem Mechanis-
mus beruht oder nicht. Die Wissenschaft muß dabei als eine
bestehende Erkenntnis vorausgesetzt werden. Ebensowenig
aber existiert für den Philosophen irgend eine logische Not-
wendigkeit, die ihn zu der Forderung zwänge, daß die Biologie
mechanistisch orientiert sein muß. Allerdings muß die
Raumwelt, solange es geht, mechanistisch erklärt werden.
Daß dieses aber restlos möglich ist, wäre ein unhaltbares
Dogma. Die Behauptung der Biologie, daß sie mechanisti-
sche Naturwissenschaft ist, daß sie nur Ursachen und Ge-
setze anerkennt, ist noch kein Beweis. Die Erkenntnis-
kritik kennt nur die Taten des Biologen und nichts von dem,
wie er sie auslegt. Sie hat nur die logischen Prinzipien seiner
tatsächlichen Erkenntnis zu untersuchen. Von diesem
Standpunkt aus kann man beweisen, daß die Biologie nicht
überall mechanistisch denkt, wenn sie es auch vielleicht selbst
glaubt. Man kann sogar sagen, daß es kein einziges wirk-
lich biologisches Problem gibt, das von ihr mechanistisch
gedacht wird. Das scheint nun freilich auf einen Wort streit
hinauszulaufen, was ,, wirklich" biologisch ist und was nicht.
Allein dies läßt -sich erkenntniskritisch-logisch feststellen.
Es ist für den Chemiker gleichgültig, ob ein Verdauungs-
prozeß sich im Magen abspielt oder in der Retorte. Beidemal
handelt es sich um Chemie. Es ist nun vollkommen
gleichgültig, ob man den Vorgang dem Worte nach zur
Biologie rechnet oder nicht. Allein man kann mit gutem
Recht behaupten, daß man logisch keine biologische, sondern
eine chemische Untersuchung angestellt hat. Nun sagt man
wohl, daß die mechanistische Biologie nur physikalische
und chemische Prozesse kennt. In Wahrheit aber behauptet
— 104 —
man damit, daß es keine Sonderwissenschaft „Biologie",
sondern nur Chemie und Physik gibt. Nur scheinbar handelt
es sich dabei um einen bloßen Wortstreit. Von hier aus ist
vielmehr eine kritische Auseinandersetzung möglich.
Daß alle wahrnehmbaren Phänomene im Raum Gegen-
stand der mechanistischen Erkenntnis sind, nämlich von
Chemie und Physik, läßt sich kritisieren. Ob sie es sein
sollen, oder ob sie es logisch sein müssen, interessiert uns
nicht, weil das eine falsche und darum unlösbare Frage ist.
Ob sie es sind, darauf allein kommt es an, ob es eine Wissen-
schaft gibt, die Erkenntnis ist, ohne daß sie Chemie oder
Physik ist. Und diese Wissenschaft, die sich als tatsächlich
existierende beweisen läßt, ist die Biologie. Darum sage ich:
Nicht die Biologie läßt sich in Physik und Chemie auflösen,
sondern physikalische und chemische Probleme sind keine
biologischen. Ob man sie dem Namen nach dazu rechnet,
ist gleichgültig. Auf den logischen Unterschied kommt es
an. Die Frage lautet nur: Gibt es eine Wissenschaft „Bio-
logie" ? Haben wir das gezeigt, so ist damit gesagt, daß sie
nicht Chemie oder Physik ist, denn sonst wäre sie keine
Spezialwissenschaft.
Man wird mir aber vielleicht einwenden: Empirisch
kennt man nur Gegenstände im Raum, folglich kann man
niemals beweisen, daß diese Gegenstände nicht Gegenstände
von Chemie oder Physik als der mechanistischen Erkenntnis
sind. Dies beruht aber auf einem Irrtum der empiristischen
Erkenntnistheorie. Es läßt sich beweisen, daß der Gegen-
stand der Biologie nicht im Raum existiert, sondern in der
Zeit. Das Paradoxe schwindet, wenn man sagt: nicht im
Räume des Mechanismus. Man kann es aber auch anders
ausdrücken: Der Gegenstand der Biologie unterscheidet sich
von dem der mechanistischen Naturwissenschaft nicht durch
einen wahrnehmbaren Unterschied der Körper im erlebten
Raum, sondern nur durch das Prinzip, in dem er gedacht
wird. Als Empiriker ist man gewohnt zu glauben, daß nur
— 105 —
der wahrgenommene Unterschied existiert, so daß es schwer
begreiflich sein wird, wenn ich sage: der Unterschied der
Gegenstände „Leben" und „Tod" liegt nur in dem Denken.
Man hat auch Kant eine Absurdität vorgeworfen, als er
sagte, daß das Denken erst die Kausalität in der Welt hervor-
bringt. Der große Fehler von ihm ist der gewesen, daß er
dies für das Leben nicht im selben Sinne nachgewiesen hat.
Vielleicht wird seine Behauptung an Klarheit gewinnen,
wenn man die Kausalität gerade als Korrelat zum Leben
begreift. Auch das Wahrnehmungsurteil ist ein Urteil, und
als solches Erkenntnis. In seinem Unterschied vom Er-
fahrungsurteil drückt sich der Gegensatz der reinen und
der historischen Vernunft aus, der bei dem Problem von
Leben und Tod wiederkehrt.
Ich sagte: Erst durch das Denken entsteht der Unter-
schied von Leben und Tod. Jeder Schuljunge aber wird mir
erwiedern, daß mein Denken keine Leiche zum Leben er-
wecken kann. Das habe ich aber auch nicht behauptet.
Ich weiß auch sehr gut, daß ich durch meine Wahrnehmung
bemerke, ob etwas lebendig oder tot ist. Ich sage nicht,
daß ich Körper lebendig machen kann oder ohne Wahrneh-
mung weiß, ob ein Körper lebendig ist. Meine Wahrnehmung
ist aber ein Indizium dafür, wie ich zu denken habe. Die
Puppe bei E. Th. A. Hofmann muß offenbar genau so „aus-
gesehen" haben, daß man sie für lebendig halten konnte.
Schließlich „sah" man wohl, daß sie nicht lebendig, sondern
eine Maschine war; man „sah", daß man falsch „gedacht"
hatte. Wenn ich behaupte, daß ich auf ein Leben schließe,
so schließe ich nicht mehr auf einen wahrnehmbaren Unter-
schied der Körper, sondern nur auf eine Art, die Phänomene
denken zu müssen. Der Unterschied zwischen Leben und Tod
besteht darin, daß ich das eine Mal den Körper als Raumteil
denke, als Teil der allgemeinen Substanz, das andere Mal
aber als einen Zeitteil, als etwas, was als identische Einheit
in der Zeit existiert, als Form, die die allgemeine Substanz
— 106 —
eingeht, als historische Einzelsubstanz, als Subjekt, d. h.
als Organismus. Man kann den Begriff des Sterbens nicht
anders fassen, als daß eine Zeitform aufhört und der Körper
wieder Substanz wird. Es ist aber klar, daß dieser Unter-
schied in nichts anderm liegt als in der Art zu denken.
Faßt man den Unterschied so, dann sind wir es gerade, die
den ,, realen" Gegensatz zwischen Leben und Tod anerkennen.
Denn die Behauptung des Mechanisten ist die, daß der
Unterschied nur scheinbar existiert, daß ihn die Wissen-
schaft nicht anerkennen darf. Nicht das Leben ist
mechanistisch zu erklären, sondern die Wissenschaft kennt
dann keinen Unterschied zwischen Leben und Tod. Er
ist nur ein Trug der Sinne. Das ist seine Behauptung.
Es gibt nur Chemie und Physik und keinen Spezialgegenstand
„Leben". Das naive Denken irrt sich, wenn es glaubt, daß
ein Unterschied besteht zwischen einer Leiche und dem leben-
den Menschen. Beides sind nur Körper, deren Veränderungen
chemisch und physikalisch zu erklären sind.
Die Frage, ob das Leben chemisch oder physikalisch zu
erklären ist, ist also widersinnig. Es kommt nur darauf an, ob
es überhaupt einen realen Gegensatz zwischen Leben und
Tod gibt, einen Gegensatz, den das Denken anerkennen muß,
weil er real existiert. Aber umgekehrt existiert nur das
real, was das Denken anerkennen muß. Ich nehme wahr
und halluziniere nicht, wenn das Denken die Wirklichkeit
des Gegenstandes anerkennen muß. Braucht mein Denken
keinen Gegensatz zwischen Leben und Tod anzuerkennen,
kommt es aus, wenn beides, der Organismus und die Leiche,
nur als stetige Veränderungen der Substanz aufgefaßt wer-
den, die durch Chemie und Physik erklärbar sind, dann
existiert für die Wissenschaft kein Gegensatz, dann ist er
ein Irrtum des naiven Menschen. Logisch wäre diese Ansicht
nicht zu widerlegen. Nicht die Logik, sondern die Natur-
wissenschaft entscheidet darüber. Der naive Mensch irrt
sich über so vieles, warum sollte er sich nicht auch darin
— 107 —
irren ? Die Wahrheit findet die Naturwissenschaft. Findet
sie, daß es keinen Unterschied gibt, so haben wir uns geirrt.
Irren wir uns aber nicht, so kann das nur heißen, daß die
Wissenschaft ihn anerkennt. Tut sie dies aber, so leugnet
sie, daß Chemie und Physik alle Erscheinungen im Raum
erklären können. Nur dadurch, daß wir den Unterschied
in dem Denken fassen, ist seine Realität verbürgt, — wenn
nämlich der Unterschied des Denkens notwendig ist. Not-
wendig ist er aber nur dann, wenn wir ohne ihn nicht alle
Erscheinungen im Raum wissenschaftlich erkennen können.
Man kann nicht die Realität des Unterschiedes praktisch
anerkennen und sie in der Wissenschaft leugnen. Behaupte
ich aber, daß der Mechanismus die Erscheinungen im Raum
restlos erklären kann, so heißt das nichts anderes, als daß der
Unterschied zwischen Leben und Tod nicht besteht, oder
— und dies ist die letzte Möglichkeit, — man steht auf dem
Standpunkt des unkritischen Vitalismus. Gibt man den
Unterschied zwischen dem lebendigen Organismus und einer
Leiche als realen zu und behauptet trotzdem, daß beide
mechanistisch erklärbar sind, so gibt es keine andere Mög-
lichkeit, als daß man den Unterschied in einem Qualitäts-
unterschied im Raum sieht, daß man einen Lebensstoff im
Raum anerkennt. Die exakte Biologie tut das nicht, wohl
aber unsere exakten Psychologen, wenn sie von der Kausali-
tät des Willens sprechen. Dieser Voluntarismus steht völlig
auf einer Stufe mit dem unkritischen Vitalismus. Der
Mechanismus kennt keinen andern Unterschied als den der
Qualität des Stoffes. Erkennt er also den realen Unterschied
zwischen Leben und Tod an, so ist damit eo ipso gesagt,
daß es für ihn im Raum neben andern Stoffen auch einen
Lebensstoff gibt. Gerade dies will er aber bekämpfen, und
in diesem Kampfe bin ich völlig auf seiner Seite. Besteht
aber überhaupt ein Unterschied, so kann er nur in den
Prinzipien des Denkens liegen. Ob eine Erkenntnis der Welt
ohne die Unterscheidung möglich ist, haben wir nicht zu
— 108 —
untersuchen. Wir können nur sagen, daß es heute eine
Wissenschaft gibt, die auf ihm beruht: nämlich die Biologie,
und daraus ergibt sich die logische Folgerung, daß die Bio-
logie nicht mechanistisch denkt, falls sie nicht unkritischer
Vitalismus ist. Die Biologie hat nur dann eine Berechti-
gung, wenn sich das Leben oder, wie wir noch sehen werden,
der Wille als Prinzip a priori der Vernunft nachweisen läßt,
und zwar als notwendiges Prinzip der historischen Vernunft.
Der Unterschied zwischen Leben und Tod ist nur real, wenn
sich Wille und Kausalität als die notwendigen Prinzipien
der Vernunft überhaupt nachweisen lassen, wenn wir nicht
vom unkritischen Monismus ausgehen, sondern von dem
Dualismus der historischen und der reinen Vernunft. Er
allein kann den Gegensatz begründen, nur dadurch aber ist
er wirklich und kein naiver Irrtum. Wir werden zu beweisen
haben, daß die Wissenschaft, die mit den Begriffen Organis-
mus, Entwicklung, Vererbung, Anlage, Spontaneität, Reiz,
Reaktion usw. arbeitet, eo ipso nicht mechanistisch denkt,
sondern historisch. Auf diesen Dualismus kommt alles an.
Der Gegensatz zwischen Organismus und Körper ist
nicht der Wahrnehmung gegeben, sondern er bedeutet
ein anderes Denken. Behauptet man, daß es nur „ein"
Denken gibt, nämlich die reine Vernunft, so gibt es keinen
besonderen Gegenstand „Organismus", sondern Körper ist
Körper. Ich wüßte nicht, warum die Biologie den fallenden
Stein von ihrer Betrachtung ausschlösse. Nun meint man
vielleicht, daß wir Unterschiede der Körper wahrnehmen,
daß wir etwa bei einem Teil spontane Bewegungen und Reak-
tionen auf Reize bemerken. Aber dies ist ein ungeheurer
Irrtum. Zur spontanen Bewegung und zur Reaktion wird
etwas nur durch das Denken. Eine Spontaneität kann man
nicht ,, sehen", sondern man kann nur eine Bewegung als spon-
tan oder — ich suche vergebens nach einem andern Wort —
als mechanistisch denken. Nur durch diesen Gegensatz
bekommt die Spontaneität überhaupt einen Sinn. An
— 109 —
sich, d. h. von der Wahrnehmung aus, besteht nicht der
geringste Unterschied, ob eine Fliege vom Windstoß fort-
getragen wird, oder ob sie selbst fliegt. Im Raum nehme ich
nur relative Ortsveränderungen wahr. Zur spontanen Be-
wegung wird diese erst durch das Prinzip des Denkens.
Wir sahen, daß auch eine Bewegung im Raum nicht wahr-
genommen wird, daß auch sie erst durch das Denken zustande
kommt. Wenn ich sage: ich sehe die Bewegung einer Kugel,
so ist der Ausdruck logisch falsch. Sehen könnte ich höch-
stens eine Folge von verschiedenen optischen Inhalten;
einige Flächen mögen konstant geblieben sein, die Form und
auch die Farbe anderer hat sich im Laufe der Zeit verändert.
Zum Schluß ist etwa der optische Inhalt, der vorher links
war, verschwunden und rechts ein neuer entstanden. Dies
habe ich gesehen. (Das ist zwar schon nicht ganz richtig,
aber im Moment kommt es auf eine Korrektur nicht an.)
Die Bewegung einer Kugel habe ich auf keinen Fall gesehen,
sondern gedacht. Dies heißt nicht etwa, daß ich die Be-
wegung nur glaube; ich weiß das vielmehr genau so gut
wie jeder andere. Ich will damit nur ausdrücken, daß ich
sie nicht „sehe". Ob ich nämlich feststelle, daß eine und
dieselbe Kugel jetzt hier und in einem andern Zeitmoment
dort war, ist ein Unterschied, den ich in dem Gegenstand der
Wahrnehmungen, nämlich jener Reihe von Farbflecken,
nicht finde. Nun kenne ich keine anderen Worte, um diesen
Unterschied auszudrücken, als Denken und Wahrnehmung.
Ich glaube aber auch nicht, daß diese Worte in der Umgangs-
sprache einen andern Sinn haben. Folglich entsteht erst
durch das Denken die Bewegung, nämlich für mich. Damit
will ich sagen, daß mein Denken die Kugel nicht in Bewegung
setzt. Aber daß ich, wo doch bloß jene Veränderung von
Farbflecken als Bewußtseinsinhalt existiert, die Bewegung
einer in der Zeit identischen Kugel behaupte, kann nur das
Werk meines Denkens sein. Diese Kugel und ihre Bewegung
sind von mir konstruiert, um jene Reihe erklären zu können.
— 110 —
Die Bewegung ist die erste Grundhypothese des Natur-
denkens. Nur jene Reihe ist als ,, Datum der Sinnlichkeit*'
gegeben. Würde ich sie aber als Wahrnehmungen im Urteil
„bestimmen", so wäre dies schon wieder mein Werk. Nun
nehme ich an, daß ich eine Ameise kriechen sehe. Was ich
dabei sehe, sind wieder nur eine Reihe von Farbflecken.
Der erste Schluß ist also der: ich denke oder konstruiere
aus jener Reihe einen in der Zeit identischen Körper — dessen
Raumform zu kompliziert ist, als daß ich ihn wie die Kugel
durch ein Wort benennen kann — und seine Bewegung in der
Zeit. Zunächst besteht also gar kein Unterschied zwischen
der Kugel und der Ameise. Selbstverständlich ist dies in
allen Fällen so, wo ich auf Grund von Wahrnehmungen
Bewegung denke. Woher kommt aber dann der Biologe
dazu zu sagen, daß die Kugel nicht in sein Gebiet fällt, wohl
aber die Ameise ? In den Wahrnehmungen kann der Grund
nicht liegen. Behauptet man, daß man einen Unterschied
bemerkt, und zwar den, daß die Ameise sich spontan von der
Stelle bewegt, was man von der Kugel nicht behaupten kann,
so ist er doch nicht in dem Wahrgenommenen gefunden
worden. Die Spontaneität ist kein Farbfleck. Wenn man
auch zugeben würde, was an sich völlig falsch wäre, daß wir
Bewegungen im Raum wahrnehmen, so könnte man sagen:
wir sehen die Bewegung einer Kugel und einer Ameise.
Einen weiteren Unterschied zu sehen ist schlechterdings
unmöglich. Ich leugne nicht die Spontaneität als Merkmal
des Lebens, aber sie ist eine Kategorie, in der ich Phänomene
denke, nicht aber eine wahrgenommene Eigenschaft, d. h.
ein Prinzip a priori. Was ich wahrnehme, ist in beiden
Fällen absolut dasselbe, nämlich Veränderungen im Raum.
(Das ist, wie gesagt, schon nicht ganz richtig, aber der Be-
quemlichkeit wegen nehme ich es einmal als richtig an.)
Der Unterschied zwischen der Bewegung der Kugel und der
Ameise entsteht erst dadurch, daß ich die data der Sinnlich-
keit, die Phänomene zum Gegenstand der Erkenntnis mache,
— 111 —
denn er liegt in nichts anderem als in der Verschiedenheit,
mit der ich die Raumveränderungen denkend begründe.
Ich behaupte gar nicht, daß die Kugel auch ein Gegenstand
der Biologie ist, aber ich möchte wissen, woher das Recht
stammt, die Ameise als einen Sonderkörper zu behandeln.
Würde die Biologie Mechanismus sein, so würde dies Recht
auch nicht bestehen. Monismus kann nichts anderes heißen,
als daß zwischen Kugel und Ameise kein Unterschied be-
steht, daß diese also wie jene Gegenstand der Physik ist.
Daß aber die Biologie den Unterschied anerkennt, ist Tat-
sache. Das Recht dazu liegt, wie man sagen wird, darin,
daß die Ameise ein lebender Organismus ist. Die kritische
Frage aber lautet: Was ist ein lebender Organismus? Die
Antwort kann nur die sein: Der Organismus beruht auf der
Idee einer historischen Einheit, einer Identität in der Zeit,
die ich ebenso wenig wahrnehme, wie die Identität der
Kugel. Damit ist scheinbar wieder der Unterschied ver-
wischt worden. Diese Schwierigkeit aber löst sich sofort.
Der Naturwissenschaftler zeigt mir nämlich, daß mein
naives Denken in einem Falle völlig falsch ist. Ich habe
mich gründlich geirrt, als ich die Identität der Kugel in der
Zeit annahm, und zwar deswegen, weil ich mit dieser An-
nahme niemals zu einer Erkenntnis der Phänomene kommen
würde. Schon darin zeigt sich, daß ich die Identität nicht
gesehen haben kann, denn auf die Wahrnehmung kann man
weder wahr noch falsch anwenden. Nur die denkende Be-
stimmung des Wahrgenommenen kann falsch sein. Der alte
Heraklit spricht von dem Trug der Sinne. Wir sagen: Das
naive Denken ist falsch. Es ist tauglich, mir den unmittel-
baren Moment zu erklären, aber vor der Kritik kann es nicht
bestehen In Wirklichkeit existiert gar keine Identität der
Kugel in der Zeit. Das heißt: Um die Phänomene im Raum
als ein System zu erkennen, dürfen wir nicht die Identität der
Kugel in der Zeit denken. Nehmen wir an, es handelt sich
um eine Kugel aus Eisen, so würden wir bei dieser Annahme
— 112 —
die Erscheinung des Röstens nie erkennen, nie begründen
können. Schon das naive Denken kann sich leicht selbst
korrigieren. Denn da die Kugel sich doch zweifellos ver-
ändert, so müßte auch irgend wann ihre Identität aufhören.
Die Wissenschaft verlangt von mir nun nichts anderes, als daß
ich, wenn ich denke, logisch denke, d. h. daß das, was ich
jetzt behaupte, auch noch nach zwei Sekunden, zwei Stunden,
zwei Jahren richtig ist. Logisch denken heißt nur behaupten,
was zeitlos ist. Wenn ich aber nach zwei Jahren nicht mehr
behaupten kann, daß es dieselbe Kugel ist, so kann ich es
auch nicht nach 0,000 . 1 Sekunden. Das Denken will er-
kennen, was da ist, und diese Konstatierung kann nur dann
richtig sein, wenn es konstatiert, was selber zeitlos, ewig
unverändert existiert. Es ist nicht gesagt, daß es jemals
zu diesem Ziel gelangt. Aber als Ideal existiert dieses Ziel
zweifellos. Folglich war mein Urteil, daß sich eine Kugel
von A nach B bewegt hat, falsch. Die Kugel ist eine „sterb-
liche" Identität, die die Naturwissenschaft nicht etwa nicht
anzuerkennen braucht, sondern die sie nicht anerkennen darf.
Das Urteil über die Ameise aber war richtig, jedoch nur des-
wegen, weil man ohne die Annahme der Identität in der
Zeit viele Phänomene nicht erkennen könnte, weil also die
Biologie in ihrer Erkenntnis die Identität a priori, voraus-
setzen muß. Das werden wir noch zu beweisen haben.
Man wird den Unterschied des Kantschen Erfahrungs-
und Wahrnehmungsurteils am besten verstehen, wenn man
ihn als Gegensatz des zeitlosen und des historischen Urteils
auffaßt. Allgemeingültig kann auch das Historische sein.
Seine Wahrheit ist psychologisch noch viel gewisser. Darauf
stützt sich bekanntlich Descartes. Daß jemand etwas für
gleich hält, ist als Urteil niemals zu bestreiten. Aber das
behauptete Gleichsein ist eine andere Frage. Das ganzeSystem
von Kant wird in dem Moment klar werden, wenn man von
dem Dualismus der historischen und der reinen Vernunft
ausgeht. Damit sind alle psychologistischen Zänkereien ein
— 113 —
für allemal unmöglich. Damit fällt aber auch der unkritische
Pragmatismus in Nichts zusammen. Die mechanistische
Naturwissenschaft ist weiter nichts als die Konstruktion des
zeitlos Existierenden, weil sie ein Erfahrungsurteil abgeben
will, d. h. ein zeitlos gültiges. Man mag dies Beschreibung
nennen oder nicht, es kommt nur darauf an, was beschrieben
wird. Der unmittelbare Gegenstand des historischen und des
zeitlosen Urteils als Anlaß ist derselbe, nämlich irgend ein
Phänomen. Der Naturwissenschaftler aber will ein zeit-
loses Urteil abgeben, infolgedessen muß er auch beschreiben,
was zeitlos im Raum existiert. Erst die Definition der All-
gemeingültigkeit durch die Zeitlosigkeit macht das Charakte-
ristikum des Erfahrungsurteils klar. Das historische Urteil
will gar keine Zeitlosigkeit behaupten. Ich sage etwa: hier
existiert ein Tisch. Das Urteil ist unbedingt richtig, aber nur
historisch und nur für den, der ihn als solchen anerkennt.
Daß ich ihn aber sehe, ist unbedingt wahr und allgemein-
gültig. Ich nehme eine Identität in der Zeit an. Will ich aber
ein Erfahrungsurteil abgeben, d. h. ein zeitloses, so muß ich
auch sagen, was zeitlos dort existiert. Dann wäre es eine
Torheit zu behaupten, daß ein Tisch existiert, denn er
existiert ja nur eine geraume Zeit, und wären es tausend
Jahre. In Wahrheit existiert derselbe Tisch aber nicht ein-
mal in zwei Sekunden. Der Naturwissenschaftler kennt also
nicht die Einzelsubstanz ,, Tisch", denn sie hat nur eine
Dauer, existiert also nicht zeitlos. Er kennt nur die all-
gemeine Substanz, d. h. nichts anderes als das, was ewig
existiert. Er löst also die zeitliche Form „Kugel" oder
„Tisch" in ihr Material auf, in Materie. Wo wir eine Kugel
denken, denkt er Prozesse. Nicht derselbe Ausschnitt der
Materie ist jetzt an einer anderen Stelle, sondern Elemente
sind hinzugekommen und andere anderswohin gewandert.
Will ich aber bei dieser in Bezug auf die Bewegung noch
immer historischen Beschreibung nicht stehen bleiben, so
muß ich auch sie als eine zeitlose darstellen. Ich muß das
Strich, Prinzipien. 8
— 114 —
finden, was immer geschieht, d. h. das Gesetz. Dies ist nichts
anderes als ein zeitloser Zusammenhang, wenn auch die Zeit-
losigkeit nur ein Ideal ist, nach dem die Wissenschaft strebt.
Erfahren wir eine Verwandlung eines Teils, den wir als
unauflösbaren angesehen haben, in einen andern, so war
entweder unser Denken falsch, oder wir haben es mit einer
historischen Tatsache zu tun, die jeder Erklärung spottet.
Wir müßten die Verwandlung anerkennen, könnten sie aber
nicht erkennen. Daß das Gravitationsgesetz keine reine
Zeitlosigkeit darstellt, können wir mit Bestimmtheit an-
nehmen. Damit ist aber nur gesagt, daß die Erkenntnis
nicht am Ende angelangt ist. Der Fortschritt beruht in der
immer weitergehenden Aussonderung historischer Bedin-
gungen, die an sich dem idealen Gesetz gegenüber zufällig
sind. Das allgemeinere Gesetz ist nichts anderes als das
Gesetz mit weniger historischen Bedingungen. Nichts hindert
uns, die naturwissenschaftliche Darstellung eine Beschrei-
bung zu nennen. Nur beschreiben wir keine historischen
Phänomene, sondern zeitlose. Wir bestimmen die pla-
tonische Idee, die hier und jetzt erscheint. Ich brauche
wohl kaum zu bemerken, daß diese Idee nirgends anders
existiert als in dem Denken, als Gegenstand der Wissenschaft.
Mein Urteil: hier fällt ein Stein, ist historisch eine richtige
Beschreibung. Den Naturwissenschaftler aber interessiert
sie gar nicht; er will die Idee bestimmen, die hier erscheint.
Er will das historische Geschehen als ein zeitloses beschrei-
ben. Dies nennen wir „Erklären". Der Mechanismus ist
die Negation der Zeit; sie ist für ihn nichts weiter als eine
Bestimmungsmöglichkeit der Individualität, die genau so
relativ ist, wie die des Raumes. Sein Gegenstand ist die
zeitlose Substanz und die Zeit nur die Folge ihrer formalen
Konstellationen, die sich nach zeitlosen Gesetzen verändern.
Will die Biologie mechanistisch sein, so heißt das nichts
anders, als daß sie die Phänomene im wahrgenommenen
oder erlebten Raum, im Raum des Mechanismus denken
— 115 —
will, als Konstellation der zeitlosen Substanz, die durch
zeitlose Gesetze aus der vorangehenden erklärbar ist. Sie
leugnet damit einen Unterschied der Phänomene. Es gäbe
nur Physik und Chemie. Geht sie aber von einem Organismus
aus, so sagt sie damit, daß sie nicht mechanistisch denken
will. Denn in dem Raum existieren keine Organismen, sondern
nur jene ewigen Substanzteile. Zweifellos besteht auch die
Ameise aus solchen. Wenn man sie aber so denkt, so existiert
die Ameise ebensowenig wie der Tisch, denn das sind
Formen der Substanz von bestimmter Dauer, die für das
mechanistische Denken nicht existieren. Tatsächlich denkt
der Chemiker die Ameise als Teil der zeitlosen Substanz.
Er kann nachweisen, daß die individuellen Teile, die die Raum-
form „Ameise" in einem bestimmten Moment ausmachen,
zu einer andern Zeit nicht mehr dort anwesend sind, daß
jetzt neue Teile die Raumform konstituieren, die wir noch
immer für dieselbe Ameise halten. Für den mechanistischen
Naturforscher ist dieser Glaube also ein widerlegbarer
Irrtum. Die absolute Änderung aller Teile dauert, glaube
ich, beim Menschen ungefähr neun Jahre. Der Chemiker
ist völlig im Recht, wenn es für ihn kein Leben gibt. Die
Frage lautet nur, ob der Biologe nicht die Identität der Zeit-
form seinem Denken zugrunde legt. Dasselbe trifft auch für
die Erkenntnis des Tisches zu. Gewiß existiert er für den
Mechanismus nicht. Es ist aber fraglich, ob das Zusammen-
sein von Substanzteilen, als das er den Tisch denkt, aus zeit-
losen Gesetzen erklärbar ist. Das eine ist aber nicht fraglich,
daß nämlich noch niemals jemand den Versuch gemacht hat,
dieses zu erklären. Aus diesem Grunde finde ich den Monis-
mus unmoralisch. Das ist die letzte und tiefste Widerlegung,
bis zu der die Erkenntniskritik gelangen kann. Ich finde es
unmoralisch zu behaupten, daß die Welt durchgängig
mechanistisch erklärbar ist und nicht den Versuch zu machen,
diese Forderung in Tat umzusetzen. Du kannst, denn du
sollst. Das ist die letzte ethische Weisheit. Nur durch die
8*
— 116 —
Tat läßt sich die Möglichkeit einer Forderung beweisen. Ich
sage garnicht, daß sich die Existenz einer Maschine nicht
mechanistisch erklären läßt; als Philosoph habe ich zu der
Behauptung kein Recht. Ich kann aber das Gegenteil nur
dann für richtig halten, wenn die erste Tat geschehen ist,
die mir diese Möglichkeit beweist. Ich weiß nur, daß die
Menschheit bis jetzt das Problem immer anders aufgefaßt
hat, nämlich daß sie sich bemüht hat, die Existenz der
Maschine oder des Tisches historisch zu verstehen. Beides
aber schließt sich gegenseitig absolut aus. Das läßt sich
beweisen. Im einen Falle existiert gar kein Tisch, sondern
nur eine Konstellation der zeitlosen Substanz, bestehend aus
jenen letzten Teilen bis zu denen der Naturwissenschaftler in
seiner Erkenntnis momentan durchgedrungen ist. Das Pro-
blem lautet: Nach welchen zeitlosen Gesetzen ist diese Kon-
stellation entstanden ? Auf diese Weise stellt z. B. der Geo-
loge das Problem, wenn er die Raumforrn ,,Erde" zum Gegen-
stand seiner Untersuchung macht. Gerade wegen dieser
Problemstellung ist die Geologie aber keine historische
Wissenschaft. Man wird dies vielleicht im besten Falle für
Wortklauberei halten. Es ist aber in Wahrheit derselbe
Irrtum, wenn man meint, daß die Astronomie deswegen
historisch geworden ist, weil sie die Entstehung des Sonnen-
systems zum Problem gemacht hat. Die logische Konsequenz
solcher Behauptungen wäre die, daß auch die Physik eine
historische Disziplin ist. Man hat dies auch behauptet.
Allein diese Konsequenz wird, glaube ich, eher die Falsch-
heit der anderen Behauptungen deutlich machen, die logisch
mit ihr stehen oder fallen.
Nicht die Astronomie denkt historisch, sondern die
mosaische Schöpfungslehre, nicht die Physik, sondern die
Mythologie. Daß alles, was real existiert, zunächst histo-
risch, d. h. in der Zeit existiert, ist selbstverständlich. Dar-
aus folgt aber nicht, daß jede Wissenschaft Geschichte ist.
Tatsächlich besteht gar kein logischer Unterschied zwischen
— 117 —
der Ablenkung der Magnetnadel und der Entstehung unseres
Sonnensystems. Daß das eine innerhalb von Sekunden-
teilen vor sich geht, das andere innerhalb eines größeren
Zeitraums ist für die Wissenschaft ganz gleichgültig. Wenn
das eine durch die Geschichte begriffen wird, so ist auch das
andere nur historisch zu begreifen. Wir haben gezeigt, daß
der Mechanismus, oder in unserem Falle die Physik, gerade
die Negation des Historischen ist. Wenn der Grieche sagt:
Zeus blitzt, so denkt er historisch. Es ist ein platter Psycho-
logismus, wenn man das Wesen der Mythologie in der Anthro-
pomorphisation, der Einfühlung, der Projektion oder Über-
tragung des Ich auf die Natur sieht. Man sollte sich einmal
fragen, was von der Projektion übrig bleibt, wenn man von
dem räumlichen Bild — denn das ist es doch zweifellos —
absieht. Schlechterdings nichts, als daß die Natur ebenso
gedacht wird wie das Menschenleben. Weiter als bis zu dieser
logischen Tatsache können wir auch nicht kommen. Es ist
Frivolität, wenn man meint, sie als historisches Ereignis
durch jenes Raumbild der Übertragung erklären zu können.
Ein Denken können wir nie erklären. Tatsächlich ist die
Mythologie aber nichts anderes als Erkenntnis, und zwar das
absolute Gegenstück zum materialistischen Monismus. Im
einen Falle stellt man die mathematische Naturwissenschaft
als „die" Erkenntnis hin, das andere Mal die Geschichte.
Damit will ich nicht sagen, daß eine spezielle mythologische
Ansicht nicht psychologisch verstanden sein will. Sie kann
es aber nur unter der Voraussetzung, daß ein Phänomen
historisch als Lebenserscheinung begriffen werden soll.
Dieses Denken können wir nicht erklären. Den Inhalt der
mythologischen Erkenntnis betrachten wir mit Recht als
Phantasie. Ebenso aber müßte der materialistische Monis-
mus auch die Geschichte des Lebens als psychologisch zu
verstehende Phantasie betrachten. Wir wiesen nach, daß
von ihm aus der lebendige Organismus eine Phantasie des
naiven Menschen wäre. Es ist nicht viel gesagt damit, daß
— 118 —
man den Glauben an die Existenz eines andern Menschen
auf eine Übertragung des eigenen Ich zurückführt. Ein
Unterschied liegt aber nur darin, daß man dieses Denken
für berechtigt hält, das mythologische aber nicht. Wir können
beide Auffassungen nicht psychologisch erklären, sondern nur
logisch kritisieren. Die Mythologie ist als monistische Er-
kenntnis ebenso unberechtigt wie der Materialismus, in
welcher monistischen Form er auch auftritt. Es ist falsch,
daß das Ich in innerer oder, was noch wissenschaftlicher
klingt, endopsychischer Wahrnehmung erfahren und nun auf
andere Objekte übertragen wird. Die falsche metaphysische
Orientierung hat das psychologische Problem hier verdreht.
Die unmythologische Erkenntnis ist bei weitem problema-
tischer als die mythologische, wenn man vom Entwicklungs-
geschichtlich-Psychologischen ausgeht. Der Fehler liegt auch
hier in dem Primat der inneren Erfahrung als eines besonderen
psychischen Wahrnehmungsaktes, der ja auch die Existenz
der Außenwelt überhaupt problematisch macht. Daß wir
zunächst uns selbst wahrnehmen, ist insofern richtig/ als wir
zunächst die Welt nur subjektiv erkennen, nur insoweit als
sie der Inhalt unserer Monade ist. Ein Problem der Außen-
welt existiert psychologisch überhaupt nicht. Denn sie ist
das Werk der Naturwissenschaft als Gegenstand des Be-
wußtseins überhaupt. Diese Konstruktion ist allein durch
die objektive Kausalität möglich. Die Naturwissenschaft
setzt den Willen nach Objektivität und den Glauben an das
Gelingen als logisches Gewissen voraus. Vor dieser Kon-
struktion aber ist es selbstverständlich, daß die Welt mytho-
logisch oder historisch gedacht wird. Die Naturwissenschaft
ist ein Problem, nicht die Mythologie. Es wird nichts über-
tragen in die Natur, was man anderswo wahrnehmend ent-
deckt hat, sondern die Tatsache liegt darin, daß man die Natur
ebenso wie alles andere als historische Phänomene begründet.
Weil diese Begründung nur eine psychologische sein kann,
deswegen verlangt jede spezielle Begründung ihrerseits eine
— 119 —
psychologische Begründung. Nur aus der psychischen Wir-
kung des Blitzes kann man es verstehen, daß man ihn auf
die schlechte Laune von Zeus zurückgeführt hat. Die Natur-
wissenschaft kennt keine psychologische Begründung ihrer
Erkenntnis, weil sie ja gerade von der Subjektivität abstra-
hieren und sich an das objektive Erlebnis halten will, das,
soweit es Wahrnehmung ist, kein psychologisches Problem
ist. Nur in diesem Sinne ist also der einzelne Mythos ein
psychologisches Problem, als Schöpfung der Phantasie,
während die Naturwissenschaft nur eine Beschreibung der
Realität ist, soweit sie nur an diese gebunden ist. Das Prinzip
der Mythologie aber, die historische Auffassung der Welt,
läßt sich psychologisch nicht erklären, sondern nur als
falsches Denken kritisieren, und auch dieses nur unter der
Voraussetzung, daß eine objektive Welt gestaltet werden
„soll". Psychologisch ist die Mythologie verständlich aus dem
allgemeinen Begründenwollen der Phänomene. Woher dieser
Wille stammt, kann uns hier nicht beschäftigen. Daß die Be-
gründung historisch war, läßt sich nicht erklären. Sie war der
Realität nach nicht nur möglich, sondern selbstverständlich.
Die Psychologie hat auch hier den Fehler begangen, das,
was in der logischen Analyse das Elementare zu sein scheint,
als das psychologisch Elementare anzusehen, wie man etwa
zu glauben geneigt ist, daß der Begriff der Eins in der Psycho-
logie des Zählens oder der Begriff der Individualität in der
Psychologie des Denkens das Elementare und das historisch
Ursprüngliche darstellt. Man findet die Mythologie proble-
matisch, weil man die Naturwissenschaft als das Richtige
für das Gegebene hält und sucht sie durch eine Übertragung
des Ich zu erklären. Mit gutem Recht kann man aber um-
gekehrt die Mythologie für das Gegebene halten. Nicht das
Ich wird in einen Körper projiziert, sondern alle Phänomene
werden in gleicher Weise erkannt wie das eigne soziale
Leben. Wir halten die Gleichsetzung für ungerechtfertigt.
Als Ergebnis der logischen Analyse ist der Begriff der Anthro-
— 120 —
pomorphisation berechtigt. Logisch bedeutet die Mytho-
logie eine Verlebendigung der toten Natur, wie der Materialis-
mus logisch eine Tötung der lebendigen Natur bedeutet.
Diese logische Bedeutung ist aber keine psychologische Auf-
klärung; sie bedeutet keine psychische Tätigkeit. Es kommt
darauf an, daß nichts verlebendigt wird, was an sich als tot
wahrgenommen wird. Wir sind immer geneigt, unsere An-
schauung auch als die gegebene Anschauung des primitiven
Menschen anzunehmen, wir können uns schwer vorstellen,
daß man an die Mythologie glaubt, weil wir sie für Phantasie-
gebilde halten. Dazu wird sie aber erst dadurch, daß wir sie
als Erkenntnis für falsch halten. Für den primitiven Menschen
bedeutet sie aber die einzige Wahrheit, wie sich jeder naive
Mensch schwer entschließen wird, die Bewegungen des andern
Menschen als Bewegung der toten Natur anzusehen. Es ist
ein psychologischer Fehler, in diesem Falle nicht von einer
Verlebendigung zu sprechen, weil der andere Mensch „wirk-
lich" lebendig ist. Vom Standpunkt des primitiven Menschen
ist die Natur auch „wirklich" lebendig. Er verlebendigt sie
nicht erst, sondern er denkt sie von vornherein als lebendig.
Er kennt nur die historische Vernunft. Es gibt für ihn gar
keine Möglichkeit, die Phänomene anders zu begründen. Leben
und Tod sind die letzten Kategorien, mit denen man historisch
oder naturwissenschaftlich denkt. Das historische Denken, die
subjektiv psychologische Erkenntnis ist das Frühere. Von
einer Übertragung ist daher ebensowenig die Rede, wie der
Glaube an das Leben des andern Menschen auf einer Über-
tragung des Ich als Tätigkeit beruht. Wir stoßen auf die
letzte Tatsache der Analyse, daß wir uns selbst wie andere
Wesen als historische Subjekte erkennen. Wir nehmen unser
Ich nicht wahr, sondern wir erkennen uns als Ich. Hinter
diese Erkenntnis können wir psychologisch auch nicht ge-
langen, weil sie selbst bei aller Erkenntnis vorausgesetzt ist.
Eine Anthropomorphisation als psychische Tätigkeit gibt es
bei primitiven Völkern überhaupt nicht, sondern nur bei
— 121 —
schlechten Dichtern, deren ,, Urteile" nicht auf Anschauung
beruhen. Der primitive Mensch denkt wie das Kind histo-
risch; er belebt nicht die Sonne — wenigstens ist dies nicht
notwendig — sondern er faßt den Aufgang der Sonne als
ein historisches Ereignis auf, etwa als das Fahren eines Wagens.
Er denkt allerdings historische Subjekte, mögen es auch die
ewigen Götter sein, denn ohne diese ist eine historische Be-
gründung unmöglich. Mit ihnen ist aber auch die Geschichte
unumgänglich. Das beweist die Mythologie. Der primitive
Mensch ist glücklicher als wir, denn er versteht, wo wir nichts
verstehen. Daß Zeus blitzt, wenn er sich ärgert, könnten wir
verstehen; daß aber eine elektrische Entladung vor sich geht,
kann man vielleicht als zeitloses Geschehen beschreiben,
d. h. durch Gesetze erklären, aber verstehen kann es nie-
mand. Jede Mythologie ist historische Erkenntnis. Das, was
geschieh^ wird als ein Moment aus der wirklichen Zeit ge-
dacht. Der Unterschied zur Physik ist gar nicht anders zu
definieren, als daß der Physiker die Phänomene nicht histo-
risch denkt, nicht als einen Moment aus der wirklichen Zeit,
sondern als ein zeitloses Geschehen. Er denkt die Idee des
Ereignisses, nämlich durch welche zeitlosen Gesetze jene
Konstellation der zeitlosen Materie zustande kam. Die Bibel
denkt die Entstehung des Sonnensystems historisch, der
Astronom ist nur deswegen Naturwissenschaftler, weil er
nicht historisch denkt, weil er das, was da ist, nur als eine
besondere Konstellation des zeitlos Existierenden denkt.
Genau dasselbe tut die Geologie. Nicht durch den Gegen-
stand, wo wir erkennend einsetzen, nicht durch die Wahr-
nehmung, die immer einen zeitlichen Gegenstand hat, ist
die Geschichte logisch charakterisiert. Sonst gäbe es wirk-
lich nur Geschichte und nichts anderes. Denn ich erlebe
empirisch nur zeitliche Vorgänge. Nur durch das Prinzip
des Denkens wird die Geschichte Spezialwissenschaft. Eine
Wissenschaft, die gerade ihren Sinn darin hat, daß sie ein
Phänomen oder eine Reihe von Phänomenen, die sich über
— 122 —
Milliarden von Jahren erstrecken kann, als Veränderung des
an sich Zeitlosen nach zeitlosen Gesetzen erklärt, denkt die
Phänomene eben nicht historisch und ist deswegen nicht
Geschichte. Dieser Begriff würde seinen Sinn verlieren, wenn
wir die Geologie und, was nur die logische Konsequenz
daraus wäre, die Physik Geschichte nennen würden.
Die Geschichte hat also nur Sinn als Gegensatz zum
Mechanismus. Ihr Gegenstand ist die reale Zeit, der des
Mechanismus das zeitlose Reich der platonischen Ideen. Das
unmittelbar Erlebte ist gleichgültig, nur auf das Denken
kommt es an. Ich kann den Tisch als Konstellation der zeit-
losen Substanz mechanistisch denken. Dies tue ich, wenn
ich die Veränderungen erkläre, die mit ihm vorgehen. Daß
aber die Raumform auch als Veränderung der Substanz nach
zeitlosen Gesetzen erklärbar sei, ist solange dogmatisch, bis
man nicht den Versuch gemacht hat. Bis jetzt hat man
seine Existenz nur historisch verstanden, als Gegenstand
einer Handlung, die nur aus den historischen Zusammen-
hängen zu verstehen ist, als Werk eines historischen Sub-
jekts, das zunächst aus seinem Leben heraus verstanden
werden muß. Dieses wieder ist aber nicht zu verstehen, ohne
sein Leben wieder als Teil der Zeit selbst zu begreifen, aus
dem, was ihm als reales Geschehen vorangegangen ist. Erst
durch das historische Denken entsteht der Gegenstand ,,Tischu.
Nur als solcher hat er eine Geschichte. Die Maschine ver-
stehen wir aus der Geschichte der Technik und nicht aus dem
Mechanismus. Erst durch die reine Vernunft entsteht der
Gegenstand „Substanz", wird die historische Form „Ma-
schine" zum Teil des zeitlosen Raumes.
Ganz das gleiche gilt für die Biologie. Sie ist nur des-
wegen eine Sonderwissenschaft, weil sie historisch und nicht
mechanistisch ist. Darum ist es töricht zu fragen, ob sie
mechanistisch sein muß. Man kann vernünftig nur fragen,
ob sie die Phänomene historisch denkt oder nicht. Der
Beweis ist damit erbracht, daß sie vom Organismus ausgeht.
— 123 —
Andererseits ist man damit aber erst Biologe, sonst ist man
Chemiker oder Physiker.
Vom Organismus aber geht man aus, wenn man von
Entwicklung, Vererbung, Anlage, Spontaneität, Funktion,
Reiz, Reaktion usw. spricht. Unsere Aufgabe kann es nicht
sein, diese Begriffe auf ihr Recht oder Unrecht hin zu prüfen.
Wir können nur beweisen, daß sie alle die historische Ver-
nunft voraussetzen, daß man mit ihnen nicht mechanistisch
denkt. Gewiß kann man das Hühnerei als Chemiker denken,
aber man denkt dann kein Hühnerei mehr. Will man ein
Erfahrungsurteil abgeben, d. h. ein zeitloses, so muß man auch
sagen, was dort zeitlos existiert, nämlich die chemischen
Elemente bestimmen. Damit würde man wirklich mecha-
nistisch und nicht biologisch denken. Man kann auch ver-
suchen, die Entstehung, d. h. das Zusammensein dieser
Elemente zu erklären, nämlich als Veränderung der zeit-
losen Substanz nach zeitlosen Gesetzen, bis diese Raum-
form entsteht. Man kann weiter versuchen, die Veränderung
dieser Raumform als eine gesetzmäßige Veränderung des all-
gemeinen Raums zu erklären, also das Dasein der Elemente,
die das spätere Huhn ausmachen. Nur müßte man es ver-
suchen. Berücksichtigt man aber, daß es sich um ein Hühnerei
handelt, dann hat man den Versuch von vornherein auf-
gegeben. Weder der Chemiker, noch der Physiker kennt
den Begriff „Huhn". In seinem Raum existieren Elemente,
Atome, Elektrone, was man auch immer für eine Theorie
der Substanz anerkennt. Ein Huhn existiert nicht in seinem
Raum. Da wir aber seine Erkenntnis für richtig halten, so
können wir sagen: ein Huhn existiert überhaupt nicht im
Raum. Freilich besteht es aus Raumelementen, und zwar
am Ende seines Lebens aus gänzlich anderen wie am Anfang.
Das Huhn aber existiert nur in der Zeit als Form, die die
Substanz eingeht, und die sich auflöst, wenn es stirbt. Genau
so existiert auch nicht der Tisch im Raum, sondern nur eine
Ansammlung von Elementen, die sich stetig ändert. Diese
— 124 —
existieren zeitlos. Der Tisch hat aber eine beschränkte Dauer,
er ist eine Form, die nur für den existiert, der lebt und ihn
als solchen anerkennt. Die Form hat sich aufgelöst, wenn er
nicht mehr als Tisch zu gebrauchen ist. Ist das Huhn tot,
so ist es nunmehr alleiniger Gegenstand der Chemie und
nicht mehr der Biologie. Denn jetzt existiert kein Huhn mehr,
sondern nur ein Raumteil der zeitlosen Substanz. Nur dieser
ist mechanistisch erklärbar. Denke ich aber ein Huhn, so
verzichte ich auf eine zeitlose Erklärung.
Der Mechanismus kennt nur zeitlose Gesetze und die
zeitlos existierende Substanz. Nehmen wir einmal an, es
gäbe wirklich Gesetze, die zeitlos und nicht nur für uns
eine Annäherung an das Ideal sein würden, so geht es
den Physiker gar nichts mehr an, was vorher schon in der
Welt geschehen ist, dann brauche ich nicht zu wissen, wie
unser Sonnensystem entstanden ist, und kann doch das Fallen
des Steins absolut erklären, wenn ich eine historische
Konstellation der Substanz als gegeben voraussetze. Denn
das muß ich immer. Aus dem Nichts heraus läßt sich nichts
erklären; nur eine Veränderung der Wirklichkeit kann zum
Problem werden. Angenommen, die Naturwissenschaft wäre
vollendet, so brauchte man nur zu wissen, was in einem
Moment da ist, und die Folge wäre erklärt. Die Biologie aber
denkt gar nicht so. Nicht einmal als Ideal gilt das für sie.
Sie berücksichtigt nämlich nicht, was an Zeitlosem da ist,
sondern was geschehen ist. Der Chemiker denkt das Ei nur
als das, was da ist, als Ausschnitt aus der Substanz. Der
Biologe aber berücksichtigt bei seiner Bestimmung, daß ein
Huhn das Ei geboren hat. Für den Naturwissenschaftler
existiert nur eine momentane Konstellation der Substanz.
Wo sie herkommt ist ihm ganz gleichgültig. Die Substanz
selbst ist zeitlos. Die Konstellation ist nach denselben zeit-
losen Gesetzen entstanden, wie die nächste, die er erklären
will. Berücksichtigt man aber, daß ein Hühnerei da ist,
so bestimmt man nicht mehr das Zeitlose, sondern die Be-
— 125 —
Stimmung ist historisch. Man berücksichtigt eine Zeitform
„Ei" als Identität in der Zeit über die Identität der Substanz
hinaus und bestimmt diese nach dem Organismus, aus dem sie
entstanden ist. Einer mechanistischen Biologie müßte es an sich
ebenso rätselhaft oder erklärlich sein, wenn aus einem Hühnerei
ein Huhn entsteht, wie wenn ein Wolf daraus entstünde.
Beide Möglichkeiten sind für den Mechanismus gleich groß.
Denn wenn ich nur berücksichtigen will, was zeitlos da ist,
wenn ich ein mechanistisches Urteil abgeben will, so gibt es
weder Huhn noch Wolf, so sind diese Begriffe irrtümlich,
wenn auch praktisch zur Orientierung. Räume ich aber der
historischen Tatsache, daß ein Huhn das Ei gelegt hat, einen
Einfluß auf die Zukunft ein, so denke ich nicht mehr mecha-
nistisch. Denn der Mechanismus kennt nicht die Beein-
flussung der Gegenwart durch ein historisches Geschehen,
sondern nur die gesetzmäßige Veränderung von dem, was
zeitlos da ist.
Der Biologe erkennt als Grundsatz an, daß Leben nur
aus Leben entsteht. Es ist eine der merkwürdigsten Ver-
drehungen der Geistesgeschichte, daß man meinte, dadurch
den Mechanismus gegen das Wunder zu verteidigen. In
Wahrheit behauptet man ja in dem Satz nur, daß man von
der logischen Idee ausgeht, das Leben sei kein Gegenstand
mechanistischer Erkenntnis. Diese behauptet ja gerade nur
„ein" gesetzmäßiges Geschehen, keinen Unterschied zwischen
Leben und Tod, denn sonst müßte man einen Lebensstoff
im Raum annehmen. Wenn aber alles Geschehen aus den
Konstellationen der Substanz als stetige Veränderung er-
klärt werden kann, was geht es dann die Wissenschaft noch
an, daß das naive Denken ein Leben annimmt ? Geben wir
aber einmal zu, daß der Begriff „Leben" mit dem Mechanis-
mus vereinbar sei, so würde der Grundsatz der Biologie
trotzdem sinnlos sein. Wenn das Leben mechanistisch er-
klärt werden soll, muß man von einer zeitlosen Gesetz-
mäßigkeit ausgehen. Man könnte nur untersuchen, aus welcher
— 126 —
Substanzkonstellation als Folge Leben entsteht. Wenn diese
Konstellation sich wiederholt, so ist es selbstverständlich,
daß wieder Leben entsteht. Man muß also von der Idee aus-
gehen, daß jeden Moment Leben entstehen kann. Denn jeden
Moment könnte sich die Substanzkonstellation wiederholen.
Daß also ein lebender Organismus entsteht, wäre genau so
wenig wunderbar, wie daß ein Stein fällt. Jener Grundsatz
ist freilich richtig, aber er besagt nichts anderes, als daß der
Organismus nicht mechanistisch als Teil der Substanz im
Raum gedacht werden darf, sondern nur als Teil der histori-
schen Lebensreihe. Man behauptet, daß er nicht mecha-
nistisch gedacht werden darf, und einen Moment später, daß
er so gedacht werden soll. In seinen Taten aber entscheidet
man sich für das Erste. Das ist die Unlogik unseres Monis-
mus, unserer vorgeblich mechanistischen Biologie.
Am merkwürdigsten wird die Zusammenstellung von
Entwicklung und Mechanismus; denn hier ist es ja ganz
deutlich, daß man die Idee der Zeitform zugrunde legt, die
gerade Chemie und Physik als irrtümlich aufheben
wollen. Durch die Stellung des Problems schneidet man den
Mechanismus ab. Dieser kann überhaupt den Begriff „Ent-
wicklung" gar nicht kennen, sondern nur den der Verände-
rung. Er gäbe sich sonst selber vollständig auf. Man hat
gemeint, daß die Geschichte nur deswegen von Entwick-
lung sprechen darf, weil sie einen Wert annimmt, die
Naturwissenschaft nicht, weil sie keine Bewertung an die
Welt anlegen darf. Dies ist aber eine völlig dogmatische
Konstatierung des Wertes als einer notwendigen Idee der
Geschichte. Sie ist schon deswegen falsch, weil auch das
Unwertvolle wie alles im Leben historisch begriffen werden
kann. Die Entwicklung ist logisch auch gar nicht durch
ein wertvolles Ende charakterisiert. Allerdings kennt der
Mechanismus keinen Wert, die Geschichte an sich aber
auch nicht. Es ist ganz gleichgültig, ob man unter Zu-
grundelegung irgend eines Wertmaßstabes den Menschen
— 127 —
für höher entwickelt hält als die Amöbe. Hoch und niedrig
kommt für die Biologie gar nicht in Betracht. Ihr logisches
Charakteristikum ist nur die Idee der zeitlichen Identität,
was sie absolut von der Veränderung des Mechanismus
trennt. Da im Raum kein Huhn existiert, kann dort
auch keine Entwicklung des Huhns stattfinden. Im Raum
ist es nur die Substanz, die sich verändert. Der Begriff des
,, Neuen'* existiert für den Mechanismus nur insofern, als die
Konstellation der Substanz neu ist. Es gibt keine Geburt
und keinen Tod, sondern nur Ewigkeit. Deswegen kann
es auch keine Entwicklung geben. Es wäre wieder ganz
töricht zu fragen, ob die Entwicklung mechanistisch
erklärbar ist oder nicht. Man kann nur fragen, ob eine
Entwicklung gedacht werden muß. Denn damit ist schon
gesagt, daß man nicht mehr mechanistisch denkt. Sowie
man eine Identität in der Zeit annimmt, die sich entwickelt,
hat man den Boden des Mechanismus verlassen, der die
Identität nur auf die Elemente der Substanz beziehen, das
Geschehen nur als Veränderung ihrer Konstellation er-
klären kann.
Für den Monismus besteht das Hauptdogma darin, daß
wir keinen Zweck zur Erklärung der Erscheinung annehmen
dürfen. Es läßt sich aber zeigen, daß die heute bestehende
Biologie absolut von dieser Idee ausgeht.
Aristoteles hatte Recht, als er die Form oder die Einzel-
substanz mit dem Zweck in Zusammenhang brachte. Ich
zeigte oben, wie die Existenz des Tisches bis heute nicht als
Substanzkonstellation erklärt worden ist, daß man ihn viel-
mehr als Zeitform historisch verstanden hat. Man faßt ihn
nämlich als das Werk einer Handlung auf, die eine frühere
wiederholt. Man würde es nicht begreifen, wenn die Hand-
lung nicht die Wiederexistenz der früheren Form zum Zweck
hätte. Natürlich gibt es im Raum des Mechanismus keine
Wiederexistenz einer Zeitform. Denn alles was existiert,
existiert ewig. Der Tisch existiert überhaupt nur als Zweck-
— 128 —
gegenständ. Wenn er nicht mehr als Tisch zu gebrauchen ist,
sondern nur ein Haufen Bretter und Nägel ist, ist er eben kein
Tisch mehr. Die Betrachtung wiederholt sich aber. Der Nagel
ist eine Form, die als Zweck existiert und mit ihm aufhört.
Aristoteles war mit dem Aufbau der Formen völlig im
Recht. Nur sah er leider nicht klar genug den Gegensatz der
historischen und der naturwissenschaftlichen Vernunft. Er
konnte es deshalb nicht, weil er von dem „sprachlichen"
Urteil ausging. In ihm aber drücken sich beide Erkenntnis-
weisen aus. Sprachlich ist es kein Unterschied, ob ich sage :
hier existiert ein Tisch, oder ob ich sage: hier existieren
Radiumelemente. Logisch aber besteht ein ungeheurer
Unterschied. Das einemal konstatiert man nämlich die
Existenz eines historischen Objekts von bestimmter Dauer,
das anderemal die Existenz von zeitlosen Elementen. Wenig-
stens muß die Naturwissenschaft von dieser Idee ausgehen.
Daß das Radium solch ein zeitloses Element ist, ist damit
nicht gesagt. Die Unterscheidung der Einzelsubstanz und
der allgemeinen Substanz läßt sich nur rechtfertigen durch
den Dualismus des historischen und des naturwissenschaft-
lichen Denkens. In der Form liegt aber schon der Zweck-
begriff, und dies gilt auch für die Biologie.
Wenn man es nämlich natürlicher findet, daß aus einem
Hühnerei ein Huhn und kein Wolf entsteht, so ist das nur
deshalb möglich, weil man die Zukunft des Eies vorher
determiniert. Man hat dafür auch ein Wort, nämlich Anlage,
Disposition, Id oder wie man es immer nennt. Für die
Biologie, die behauptet, mechanistische Wissenschaft zu
sein, ist es leider nur ein Wort geblieben, wo die Begriffe
fehlen. Wenn man sich den Sinn des Wortes vergegen-
wärtigt, so ist es nicht möglich zu behaupten, daß man
keinen Zweck zugrunde legt. Sein logisches Charakteristi-
kum besteht nicht darin, daß etwas gut ist; denn das setzt
selber schon wieder einen andern Zweck voraus, nämlich in
dem, wozu es gut ist. Kritisch kann man den Zweckbegriff
— 129 —
nur als ein Prinzip des Denkens fassen, und zwar nur durch
seinen Gegensatz zur Ursache. Zweck und Ursache ent-
sprechen der historischen und der reinen Vernunft. Man kann
nicht nach dem Wesen der Ursache fragen, ohne sie als Prin-
zip der Erkenntnis zu bestimmen. Erst durch diese wird
etwas zur Ursache. Ganz dasselbe trifft für den Zweck zu.
Das Wesen der Ursache besteht darin, daß das Geschehen
rein aus der Gegenwart allein bestimmbar ist. Das Wesen
des Zwecks ist nicht anders zu bestimmen, als daß eine Ver-
änderung durch die Zukunft bestimmt wird, durch das, was
eintreten wird. Einen größeren Gegensatz als zwischen
Zweck und Ursache kann es nicht geben. Wenn die Biologie
überhaupt die Existenz der Zeitform Organismus annimmt,
dann denkt sie auch nach dem Prinzip des Zwecks, nämlich
ein Geschehen, das nicht durch Ursachen bestimmt wird,
sondern als Werden durch Zwecke. In der Problemstellung
liegt schon der Zweck als Idee a priori. Wenn ich die Ent-
wicklung des Eies zum Huhn zum Gegenstand der Betrach-
tung mache, so bestimme ich das Geschehen mit dem Ei
darnach, daß es ein Huhn wird. Lege ich eine Einheit in
der Zeit zugrunde, die ihre bestimmte Dauer hat, nämlich
die Entwicklung des Eies, so determiniere ich schon das
Geschehen nach dem, was sein wird, d. h. nach dem Zweck.
Dieses Werden ist selbstverständlich durch mechanistische
Ursachen beeinflußbar. Eine Blume kann durch Ursachen
in eine spezifische Raumform gezwungen werden. Ein Kind
kann durch mechanische Ursachen verkrüppelt zur Welt
kommen. Trotzdem widerlegt dies nicht, daß man von
einem Zweck ausgeht. Dieser liegt in der historischen Be-
stimmung „Hühnerei". Man determiniert das Geschehen
durch einen Zweck uud erklärt es nicht durch die mit
dem Ei gleichzeitig existierenden Ursachen. Mit dem
Namen Anlage hat man das Prinzip nicht geändert. Sie
beruht selbst auf der historischen Bestimmung nach dem,
was sein wird. Die moderne Naturgeschichte ist nur insofern
Strich, Prinzipien. 9
— 130 —
kritisch geworden, als sie eben Geschichte ist. Sie will im
Prinzip keinen Zweck anerkennen, der nicht schon einmal
wirklich war. Sie muß die für das Werden maßgebende
Form als Wiederholung einer früher schon realisierten nach-
weisen. Der Unterschied zur Ursache läßt sich also genau
so gut durch die verschiedene Stellung zur Vergangenheit
charakterisieren. Der Mechanismus kennt keine Wieder-
holung des Werdens einer Form, die als Erklärung dienen
kann, weil beide Vorgänge durch die zeitlosen Gesetze er-
klärt werden müßten. Wir werden sehen, daß die Biologie
analog der Psychologie jedes „Neue" nicht erklären kann,
daß in dem Begriff der Variation jeder Versuch der Erklä-
rung ausgeschaltet ist. Die Biologie nimmt eine Beein-
flussung der Gegenwart durch die Vergangenheit an. Für
den Mechanismus aber ist die Vergangenheit nach denselben
Gesetzen erklärbar wie die Gegenwart. Diese Beeinflussung
ist aber nur dadurch möglich, daß die Vergangenheit als der
Zweck des gegenwärtigen Werdens gedacht wird. Das Ende,
das jetzt eingetreten ist, wird als Wiederholung einer früheren
Form aufgefaßt. Man denkt also das Werden danach, daß das
Vergangene wieder wirklich werden soll, und nicht mehr als
ein Geschehen, das nur durch die Gegenwart allein bestimmbar
wäre. Dieses würde voraussetzen, daß man nur die Kon-
stellation des Zeitlosen als existierend annimmt. Der Begriff
der Anlage aber durchbricht diese naturwissenschaftliche Be-
stimmung zugunsten der historischen. Er bezeichnet gerade
die Tatsache des Zwecks und beseitigt ihn nicht etwa. Er hat
seinen Sinn nur durch die Beziehung der Gegenwart zur
Zukunft oder zur Vergangenheit. Die Geschichte betrachtet es
als ihre Aufgabe, die Form, der das Werden des Tisches seinen
Ursprung verdankt, schon als dagewesen zu entdecken. Da er
nur in der Zeit existiert, so gäbe es keine Erkenntnis seiner
Existenz, wenn wir nicht die Form schon in der Vorzeit als
existierend annehmen. Wir müssen also die materielle Kultur
als Entwicklung verstehen, als Wiederholung in der Zeit,
— 131 —
aber nicht ah Wii Kind immer Kopie
des Vaters, würde es wohl auch ke:r.~ Verändern:.
UrzeLle gegeben haben. Wir er nur in einem
Fa. . in Wahrheit kömmt - auf
heraus. Dieser Begriff meint nur. daß das. was da war. als
ziichkeit besteht, zu werden In daß das. w^ ien
soll in demseLbri. Z imal da war.
. -seitigt also durchaus nicht c --:. Zweck, sonc
sie bringt ihn nur in einen historischen Zusammenhang mit
de: -cügenheit. V _ nd-
Hcher ist, daß ein Huhn aus einem Huhne: -teht und
kein V beruht :auf. daß Ei ah 7
Zeit auffaßt und seine Vi rh clung eines
>chehens in diesem 3 Biologie hat nc
weisen können, daß es im großen und ganzen sich jedesmal
um eine W _ - ganzer. Zeitsystems hanc
Man nennt ; Tataa las L . Grundges
allgemeinerung ist aber noch nicht ein Ges
ses ist von den. Begriff ; .nabtrennbar. Daß
die Tatsache richtig will ich nicht besti aber man
hat kein Geschehen aus einer T. nur
allgemeinste Tatsache itoriseh-bü nt-
nis bescL: Ifif dieser log Kritik soll selbst
ständlich die Entdecku:.^ lieser Tatsache nicht herab-
ges er ich behaupte, daß das logische I
auch allein auf das Ges müßte. Dies kl:
töricht, nachdem man es empirisch gefunden hat. Ich m-
nur Folgendes: Hätte man erkannt, daß wir jede Entw.
hing nur verstehen als W . in dem Zollsystem
:3 man sich sagen, dal -.usschnitt.
der wiederholt wird, ganz zufällig sein mu£ 5 .em
Zeitpunkt besteht überhaupt das Huhn, wo man doch an-
nimmt, daß es selbst 1-dung der Urzelle nur
ein Teil ist ? Es kann kein absoluter Abschnitt aus diesem
enssystem ~ .oh i g jar kein solcher
— 132 —
existiert, denn das hypothetisch erste Huhn stammt doch
von etwas, was noch nicht Huhn gewesen ist. Was hat aber
dieses wiederholt ? Und so fort. Nimmt man also eine
Entwicklung an und weiß man, daß sich jedes Werden eines
Organismus nur als Wiederholung des Vergangenen erkennen
läßt, so ist es nur eine logische Konsequenz, wenn man an-
nimmt, daß die ganze Vergangenheit sich wiederholt. Das
Gesetz hätte also entdeckt werden können als eine Tatsache,
von der wir ausgehen müssen, wenn wir nicht unlogisch sein
wollen. Nur dann aber wird es zur logischen Konsequenz, wenn
man sich die Prinzipien unserer tatsächlichen historisch-biologi-
schen Erkenntnis klar gemacht hat. Gerade das biogenetische
Grundgesetz ist ein Beweis gegen den Monismus und die
mechanistische Biologie. Denn man beweist damit, daß die
Veränderung des Eies nicht als Veränderung der Substanz
nach zeitlosen Gesetzen aufgefaßt werden darf, nicht als
Veränderung durch Ursachen, sondern daß jeder Organis-
mus in seinem Werden bestimmt ist durch das, was sein
wird, durch einen Zweck. Denn jeder Organismus ist als
Ur- oder Einzelle determiniert, das zu werden, was seine
Eltern waren. Diese Determination durch den Zweck nehmen
wir eo ipso an, wenn wir von einer Entwicklung zum Huhn
oder Menschen sprechen.
Man wird nun vielleicht einwenden, daß der Begriff
„Determination" ja schon ein mechanisches Geschehen be-
deutet. Das ist aber ein grober psychologistischer Irrtum.
Man kann ein Geschehen durch einen Zweck determinieren
und durch eine Ursache. Determinieren heißt nur ein Ge-
schehen erkennen, von etwas abhängig machen. Der Mecha-
nismus ist aber von der Ursache und dem zeitlosen Gesetz
gar nicht zu trennen. Hier aber erkennt man kein Geschehen
aus einem zeitlosen Gesetz, keine Ursache, die eine Ver-
änderung bewirkt, sondern man erkennt ein Geschehen als
Entwicklung zu dem, was sein soll. Es gibt hier also keine
Ursache und keine Wirkung. Damit kann aber auch von
— 133 —
Mechanismus nicht die Rede sein. Nur der Name „Gesetz"
stellt eine Gleichheit her, die den tiefen logischen Unter-
schied verdeckt. Weil es „immer" geschieht, ist es logisch
noch kein Naturgesetz. Das ist der Psychologismus in dem
Einwand. Man lehnt es sofort ab, nach Ursache und Wirkung
zu forschen, wenn man die Idee der Entwicklung zugrunde
legt.
Der geniale Gedanke von Kant war der, daß das Gesetz
der Kausalität gültig ist, weil sonst keine Objektivierung des
Zeitgeschehens, keine Naturerkenntnis möglich wäre. Die
objektive Folge ist eine Synthese zweier Phänomene in der
Zeit. Der nächste Moment ist aber nur dann objektiv eine
Folge, wenn er durch das Gesetz synthetisch mit dem vorher-
gehenden Moment verbunden ist. Zwei verschiedene Zeit-
momente sind nur dann Folge im objektiven Sinne, wenn der
eine als Ursache des andern gedacht werden kann. Sonst
wäre die Zeitfolge nur ein Zufall der Wahrnehmung; sie
ließe sich auch umgekehrt denken. Der subjektiv folgende
Moment wird erst durch die Kausalität zur objektiven oder
wirklichen Folge. Die Idee der Entwicklung aber geht nicht
davon aus, die objektive Folge zweier Momente zu erkennen,
sondern sie behauptet gerade eine Einheit, die mehrere
Momente, mehrere Stunden oder Jahre dauert. Ihre Phä-
nomene sind reale Zeitteile von Dauer. Wenn sie eine Ein-
heit des Organismus in der Zeit und sein Werden annimmt,
so faßt sie die Welt nicht mehr als eine Folge von Momenten
auf, die nur durch das Gesetz der Kausalität erkennbar wäre,
zwischen denen erst die Erkenntnis eine Synthesis nach
Ursache und Wirkung konstruieren muß. Sie geht vielmehr
a priori von der Synthesis in der Zeit aus, von der Einheit
des Werdens, das einige Zeit dauert. Sie kann nicht nach
den Ursachbeziehungen suchen, die den folgenden Moment
bestimmen, weil sie ja von der Einheit der Zeitspanne selbst
ausgeht. Der nächste Moment ist für sie nichts Neues, was
erklärt werden müsse, sondern er ist von vornherein schon
— 134 —
da als Teil der Entwicklung, die in der Zeit vor sich geht.
Die Zeit selbst ist ihre Realität. Die Momente der Entwick-
lung existieren für das Denken alle auf einmal, wie die Teile
des Raums alle zugleich da sind. Das Ende der Entwicklung
existiert schon mit dem Anfang. Die Realität ist das Werden
selbst, das eine Dauer hat. Der Naturwissenschaftler aber
denkt nur den Raum in der Zeit. Für ihn existiert der nächste
Moment nicht, sondern nur die Gegenwart. Infolgedessen
muß er ihn erklären, wenn er ihn erkennen will. Er muß
ihn als Wirkung einer Ursache auffassen und nicht als spä-
teren Teil — man erlaube mir das Paradox — eines gleich-
zeitigen Moments. Für den Biologen ist der Moment schon
da. Der Naturwissenschaftler muß ihn erst beweisen. Die Folge
ist schon objektiv, weil sie als die zugrundegelegte dauernde
Einheit existiert; sie ist in diesem Sinne gegeben, während
der Naturwissenschaftler die „wirkliche" Folge erst durch
die Kausalität konstruieren muß. Darum ist die Biologie
beschreibende Geschichte und nicht erklärende Naturwissen-
schaft. Das biogenetische Grundgesetz ist kein Naturgesetz,
weil es gar nicht die Synthese der Zeit durch Ursache und
Wirkung darstellt, sondern nur die Erzählung von einer sich
immer wiederholenden Geschichte bedeutet. Es besteht eben
doch ein Unterschied zwischen Tatsache und Gesetz. Daß
die Planeten sich um die Sonne bewegen, ist kein Gesetz,
obwohl es immer geschieht. Ein Gesetz ist logisch nur mög-
lich durch eine Theorie, durch die Konstruktion der Ab-
hängigkeit. Daß ein Geschehen ,, immer" eintritt, ist noch
kein Beweis für den Mechanismus, wenn man nicht eine
zeitlose Bedingung hat, die dem Geschehen vorangeht.
Das ,, Immer" muß nicht nur psychologisch, sondern logisch
ein ,, Immer" sein: es muß den Sinn von Ewigkeit und Zeit-
losigkeit haben. Dies kann für das biogenetische Grund-
gesetz schon deswegen nicht zutreffen, weil das Leben in
seiner Entwicklung nur einen Ausschnitt aus der Ewigkeit
bedeutet. Das Gesetz gilt als Idee für die Ewigkeit. Das
— 135 —
biogenetische Grundgesetz aber bezeichnet der Ewigkeit
gegenüber nur ein öfteres Geschehen, das erst durch ein
mechanistisches Naturgesetz zum zeitlosen gemacht werden
könnte, durch ein Gesetz, das in der Welt schon herrschte,
bevor es ein Leben in ihr gab. Findet man das absurd, so
beweist man nur den diametralen Gegensatz zwischen Leben
und Mechanismus.
Von einer Determinierung der Zukunft kann nur dann
gesprochen werden, wenn man ein Geschehen aus dem
Zweck oder Ziel erkennt. Der Mechanismus kennt in Wahr-
heit, wie wir noch sehen werden, nur „eine" Determinierung
des Geschehens, nämlich in dem Begriff der Bewegung.
Diese Determination wird durch das Prinzip des Trägheits-
gesetzes inhaltlich wieder aufgehoben. Eine Ursache be-
stimmt das Geschehen nur insoweit, als durch sie eine Be-
wegung bestimmt wird. Diese Bewegung aber ist noch kein
inhaltliches Geschehen. Wenn eine Kugel aus der Kanone
fliegt, so ist dadurch das Geschehen nicht determiniert,
auch wenn ich die Kraft genau kenne, die sich hier in Be-
wegung umsetzt. Das Phänomen besteht vielmehr in der
Kurve des Weges, den die Kugel durchmißt. Diese aber ist
bestimmt durch Faktoren, die auch außerhalb der Bewegung
selbst liegen. Gerade das ist der wesentliche Unterschied
des Mechanismus und der Biologie. Das Ei ist determiniert,
ein Huhn zu werden, wenn auch dieses Werden mecha-
nisch beeinflußbar ist. Der Embryologe kann das Werden
des Menschen nicht erklären, weil er seine Existenz schon
in den Keim verlegt. Er kann auch kein einzelnes Glied er-
klären, und seine Fragestellung geht auch gar nicht darauf.
Er forscht nur danach, wo heraus sich das Glied entwickelt
hat. Die Biologie hat besonders bei niederen Tieren hoch-
interessante Entdeckungen gemacht. Man kann etwa durch
Beseitigung eines winzigen Teils des Eies die Entwicklung
eines Gliedes inhibieren. Es ist nicht wunderbar, daß das
bei den niederen Tieren besser geht als bei den höheren.
— 136 —
Da die Metamorphose bei ihnen nicht so viel Stadien durch-
laufen muß, so ist die Ähnlichkeit zwischen dem Ei und dem
fertigen Organismus eine viel größere als beim Menschen, wo
erst in einem späteren Zeitpunkt etwas Menschenähnliches
entsteht. Bei derartigen anatomischen Eingriffen tut man also
nichts weiter, als daß man einem Tier ein Glied entfernt. Wir
haben vorläufig noch keine Ähnlichkeit entdeckt zwischen dem,
was man entfernt, und dem später fehlenden Gliede. Allein
was ist Ähnlichkeit ? Tatsächlich müssen wir behaupten, daß
wir dieses Glied entfernt haben. Entwicklung heißt nichts
anderes, als daß aus diesem Teil ein Bein wird. Von welchem
Zeitpunkt ab man es ein Bein nennt, ist ganz vage. Eine
logische Grenze läßt sich nicht ziehen. Das Bein „wird",
es beginnt schon im Ei. Seine Existenz ist schon mitgesetzt,
wie das fertige Huhn in der Bestimmung „Hühnerei" mit-
gesetzt ist. Deshalb kann sie auch nicht erklärt werden.
Wenn ich einem Kind ein Bein amputiere, ist es nicht wunder-
bar, daß es als erwachsener Mensch kein Bein mehr hat.
Ganz das gleiche ist der Fall, wenn ich einem Ei etwas ab-
schneide. Wunderbar ist eigentlich nur das Gegenteil, näm-
lich die Regeneration. Es ist bekannt, daß man mechanisch
die Entwicklung beeinflussen kann. Damit kann man alles
erklären — nur nicht die Entwicklung. Die Erklärung stützt
sich nämlich auf zwei Komponenten, auf die Determination
eines Teils, etwas Bestimmtes zu werden, und die Ursache,
die dieses Werden beeinflußt. Die mechanischen Ursachen
liegen also außerhalb der Determination. Der Mechanismus
bedeutet deswegen gerade einen Gegensatz zur Determination,
weil er im Prinzip nichts auf Zwecke, sondern alles auf
Ursachen zurückführt. Oder man teile das „Wort" und
spreche von immanenter und äußerer Determination. Imma-
nent heißt die Bestimmung nach dem Ziel. Ein Körper ist
bestimmt, etwas zu werden. Der Mechanismus kann dieses
Werden nicht anerkennen, weil sein Prinzip darin besteht,
ein Geschehen durch die Ursache zu erklären, durch das,
— 137 —
was außerhalb von ihm liegt. Nur das kann eine Ursache sein.
In der Biologie aber ist dies Geschehen immanent deter-
miniert, weil das Ende schon am Anfang angenommen wird
und nicht erst synthetisch durch Ursachen mit der Zeitreihe
verbunden werden muß.
In einem Falle aber geht auch der Mechanismus von
einer immanenten Determination aus, und dies ist deswegen
so bedeutsam, weil dadurch bewiesen wird, daß mit der
Anerkennung der Zeit als Realität auch der Begriff des
Zwecks zugrunde gelegt wird. Die Naturwissenschaft stellt
die Welt als eine Konstellation von Elementen dar. Wenn
aber alles als durchgängige Kausalität, als Wirkung der
vorhergehenden Konstellation dargestellt werden kann, so
würde die Zeit auflösbar sein in ein „Nebeneinander"
solcher Konstellationen, d. h. die Zeit selbst wird als
Realität negiert. „Wirklich" ist nur die Konstellation im
Raum. Diese Anschauung aber führt zu unlösbaren Wider-
sprüchen: zu den eleatischen Trugschlüssen. Existiert die
Zeit nur als das Nebeneinander von Raumkonstellationen
oder der Raum nur in der Zeit, diese selbst aber nicht als
Realität, so kann Achilles die Schildkröte nicht einholen,
wenn sie nur einen kleinen Vorsprung hat. ,,Er kann es nicht,"
heißt: wir könnten das Phänomen denkend nicht darstellen.
Keine Integral- und Differentialrechnungkann den Widerspruch
lösen. Der Trugschluß der Eleaten liegt vielmehr darin be-
gründet, daß sie nur den Raum als Realität annehmen. Von dem
mechanistischen Ursachdenken, von der reinen Vernunft aus,
sind sie aber vollständig im Recht. Sie konstruiert wirklich
die zeitlose Substanz und das zeitlose Reich der platonischen
Ideen oder Gesetze. Ursache ist für sie das, was da ist.
Geht man aber von dem Zeitlosen aus, so kann man selbst-
verständlich die Zeit selbst nicht erklären. Der Trugschluß
liegt darin, daß man die Existenz der Zeit nicht erklären
kann, wenn man nicht die Zeit von vornherein als Realität
annimmt. Die Eleaten haben nicht bewiesen, daß es keine
— 138 —
Bewegung geben kann, sondern sie haben angenommen,
daß es keine Bewegung gibt. Und diese Annahme liegt darin,
daß sie die Realität der Welt nur im Raum sahen, daß sie
die Zeit nur als eine Anordnung verschiedener Raumkonstel-
lationen betrachteten. Es läßt sich keine Bewegung erklären,
wenn man nicht die Realität der Bewegung von vornherein
annimmt. Man kann nicht die Existenz des Raums
erklären, sondern nur das ,, Dortsein". Der Trugschluß
ist also eine petitio prinzipii. Wenn ich keine Realität
der Bewegung denke, dann kann ich keine Realität der Be-
wegung denken. Die Eleaten hätten aus ihrem Beispiel
ebensogut den Schluß ziehen können: es gibt nur den Raum
und keine Zeit. Die Anerkennung der Realität der Bewegung
ist die Anerkennung der Realität der Zeit und nicht mehr
die des Raums in der Zeit. Wenn ich nämlich die Bewegung
des Achilles als eine Reihe von Raumkonstellationen denke,
so denke ich nicht mehr eine Bewegung. Wenn ich den Tisch
als Ausschnitt der Substanz denke, als die Raumanordnung
ihrer Elemente, dann denke ich nicht mehr den Tisch. Es
kommt aber vor allem darauf an, daß man die Realität
erkenntniskritisch zugrundelegt. Die Realität des Tisches
liegt in dem Denken einer dauernden Identität, ohne daß
diese ein zeitloses Element im Raum der Naturwissenschaft
wäre. Wenn in zwei Momenten aber dasselbe existiert, ohne
daß es selbst zeitloser Raumteil ist, so kann ich sagen, daß
der Moment mit dem folgenden gleichzeitig existiert, denn
er ist nur eine Eigenschaft des dauernd Existierenden. Es
ist zwar völlig unlogisch, daß das, was als Folge in der Zeit
existiert, gleichzeitig da sein soll. Aber ich behaupte ja
auch gerade, daß die metaphysisch „eine" Welt nicht
logisch zu Ende gedacht werden kann. Wenn ich den
Monismus bekämpfe, so stütze ich mich nicht auf
religiöse Dogmen, sondern nur auf die Unmöglichkeit,
die Welt restlos logisch, nämlich nach einem Prinzip,
denken zu können. Das Unlogische ist kein Fehler des
— 139 —
Denkens, sondern es beweist nur die Unmöglichkeit, „ein"
Denken anzunehmen. Raum und Zeit lassen sich nicht
in einem logischen Denken verbinden, weil von vornherein
zwei verschiedene logische Prinzipien zugrunde gelegt werden.
Da aber die Welt in Raum und Zeit existiert, so kann alles
nach beiden Prinzipien gedacht werden. Infolgedessen muß
es zu Widersprüchen kommen, zu Antinomien der Vernunft,
die allein den Dualismus begründen können, sonst wäre er
ein Irrtum, oder umgekehrt: eine wirkliche Antinomie der
Vernunft kann nicht psychologisch durch ein Bedürfnis
begründet werden, sondern nur durch einen der Vernunft
immanenten Dualismus.
Wir behaupten in einem Urteil eine Existenz. Wir
sagen: hier existiert ein Körper aus den und den Elementen.
Der Naturwissenschaftler kennt als Ziel nur die Behauptung
zeitlos existierender Elemente. Damit leugnet sein Denken
die Realität der Zeit. Zum mindesten berücksichtigt er sie
nicht, wenn er auch als Mensch nicht leugnen wird, daß die
Welt zeitlich abläuft. Es kommt allein auf die Analyse
seines Denkens an. Wenn er aber die Wirklichkeit nur nach
dem konstruiert, wras im Raum existiert, so erkennt er die
Zeit als Realität nicht an. Denn die Zeit ist kein Substanz-
element. Jeder Moment ist nur die Gleichzeitigkeit mehrerer
Elemente. Die Zeit wäre nur das Nebeneinander der gleich-
zeitigen Ordnungen. Wenn aber die Realität der Bewegung
behauptet wird, so kann damit auch nur eine Existenz be-
hauptet werden. Wenn ich sage: in diesem Moment existiert
eine Bewegung, so behaupte ich nicht mehr die Gleich-
zeitigkeit von Elementen. Damit würde ich ja gerade keine
Bewegung, sondern nur eine Konstellation der Substanz
denken. Bewegung denke ich nur dann, wenn ich den nächsten
Moment auch schon als existierend denke. Da mein Urteil
,,eine" Existenz behauptet, so behaupte ich also eine Existenz
von zwei Momenten. Wenn ich also sage: in diesem Moment
existiert eine Bewegung, so behaupte ich: in diesem Moment
— 140 —
existieren mehrere Momente. Und dies behaupte ich immer
dann, wenn ich nicht nur die Realität des Raumes, sondern
auch die der Zeit anerkenne. Denke ich die Substanz, so
behaupte ich ausschließlich die Realität des Raumes. Denke
ich aber die Zeit als Realität, so behaupte ich, daß ,, jetzt"
etwas existiert, was als Zeitfolge, was später erst existiert.
Diese Folge existiert in einem Moment, oder es existiert
etwas, was die Eigenschaft hat, eine Zeitlang zu dauern.
Diese Eigenschaft existiert aber solange, als das existiert,
wovon sie gilt. Folglich existiert die Dauer in jedem Moment,
in dem der Gegenstand existiert. Diese Eigenschaft ist aber
nichts anderes als seine Existenz in späteren Momenten.
Folglich existiert in jedem Moment seine Existenz im spä-
teren, oder die spätere Zeit existiert schon jetzt. Aus diesen
Widersprüchen kommen wir nicht heraus, weil wir immer
aussagen müssen, was in der Zeit existiert. Wenn wir also
eine Realität der Zeit behaupten, so behaupten wir die Exi-
stenz der Zeit in der Zeit. Darin liegt das Unlogische, näm-
lich daß das, was selbst Zeit ist, in der Zeit existiert. Für den
Raum liegt darin keine Unlogik. Denn einen Raum kann ich
als Teil eines Raumes denken. Einen realen Zeitteil, der
selbst Folge ist, kann ich aber nicht widerspruchslos in einer
bestimmten Zeit als existierend denken.
Interessant wird das Problem aber erst vom Standpunkt
der idealistischen Erkenntniskritik aus. Im Moment, wo
wir die Realität der Bewegung denken, also die Realität der
Zeit, denken wir auch nach dem Prinzip der historischen
Vernunft, nach dem Zweck. Solange der Mechanismus aber
dies nicht tut, solange kann auch Achilles die Schildkröte
nicht einholen. Solange kann er überhaupt keine Bewegung
erklären. Nach Kant kommt die Folge nur dadurch zustande,
daß die Momente der Zeit voneinander in Ursache und Wir-
kung abhängen. Das Denken hat erst diese Synthese zu kon-
struieren. Dann holt Achilles die Schildkröte nicht ein, dann
existiert nicht die Zeit, sondern nur der Raum. Nur wenn
- 141 —
ich die Realität der Zeit in irgend einer Form selbst denke,
ist dies möglich. Nur wenn ich ein dauerndes Etwas a priori
setze, wenn ich nicht mehr die Folge als Synthese konstruiere,
sondern sie selbst für das Denken schon als existierend denke,
kann der Pfeil fliegen oder Achilles die Schildkröte einholen.
Nur dann, wenn ich mich nicht mehr bemühe, die Zeit zu
erklären, sondern wenn ich ihre Existenz als Realität vor-
aussetze, ist dies möglich. Erkenne ich aber die Realität der
Zeit an, so heißt das, daß ich einen Moment nicht als Folge
des vorhergehenden erkläre, sondern schon mit ihm als
existierend denke. Dies tut der Naturwissenschaftler in dem
Begriff der Bewegung.
Denke ich Bewegung als Realität und nicht als Neben-
einander von Raumkonstellationen, so denke ich die Zu-
kunft schon in der Gegenwart oder, was dasselbe besagt,
die Zukunft immanent determiniert, nicht bestimmt durch
eine äußere Ursache, sondern durch einen Zweck, durch das
was werden soll. Würde ich den Endpunkt der Bewegung
des Achilles nicht schon am Anfang der Bewegung deter-
miniert denken, dann könnte Achilles die Schildkröte nicht
überholen, d. h. ich könnte den Endpunkt niemals logisch
erklären. Diese Determination denkt der Naturwissenschaft-
ler darin, daß er eine Schnelligkeit und eine Richtung der
Bewegung denkt. Diese Bestimmungen sind Zweck- oder
Zukunftsbestimmungen und beruhen als solche auf der histo-
rischen Vernunft. Nur weil die Endpunkte der Bewegung
der Schildkröte und des Achilles von vornherein durch die
verschiedenen Schnelligkeiten und Richtungen im Anfang
determiniert sind, kann vor dem logischen Denken die Tat-
sache zurecht bestehen, daß Achilles die Schildkröte über-
holt. Denke ich die Momente nur als die Folgen von Ursachen,
so wäre dies nicht möglich. Denkt der Naturwissenschaftler
die Ereignisse nur als Nebeneinander von Raumkonstella-
tionen, von denen jede als Folge von Ursachen entsteht, so
kommt er nicht weiter als bis zu dem Schluß, daß Achilles
— 142 —
die Schildkröte nicht einholen kann. Das Denken könnte das
real Erlebte nicht logisch denken. Das haben die Eleaten
bewiesen. Er muß also eine Bewegung als selbständige
Realität denken. Dies heißt aber nichts anderes, als daß er
den zweiten Moment nicht als Folge einer Ursache denkt,
sondern mit dem ersten in einer unmittelbaren Einheit, die
die Erfahrung nicht erst als Folge konstruiert, sondern die
von vornherein als Folge angenommen wird. Ein Moment in
der dauernden Bewegung ist nicht die Folge des ersten,
sondern er existiert schon zusammen mit ihm. Da er aber
doch später eintritt, so müssen wir sagen, daß er für das
Denken schon durch den ersten Moment determiniert ist.
Nur wegen dieses Denkens ist er Teil der Bewegung. Wir
haben also für ihn nach keiner Ursache zu fragen; aber nur
deswegen nicht, weil wir die Gegenwart durch den Zweck
bestimmen. Die Richtung der Bewegung ist nichts anderes
als eine Bestimmung der Gegenwart durch die Zukunft,
analog dem biologischen Begriff der Anlage. Erst durch
diese erhält die Richtung überhaupt einen Sinn. Dasselbe
läßt sich für die Schnelligkeit nachweisen. Die Bestimmung
durch die Zukunft haben wir aber als das logische Charakte-
ristikum des Zweckes kennen gelernt. Mythologisch oder
populär ausgedrückt heißt das: Behauptet man die Be-
wegung eines Körpers, so behauptet man, daß er in einem
bestimmten Zeitraum an einem Punkte sein „will". Ein
Problem entsteht erst, wenn in der Zeit dieser Wille nicht
mehr durchgesetzt wird. Dann hat man nach Ursachen der
Hemmung zu suchen. Für uns kommt es nur darauf an,
daß die Determinierung der Bewegung nach Richtung und
Schnelligkeit auch ohne Mythologie auf dem Prinzip des Zwecks
beruht. Man hat es nicht nötig, die Zeitpunkte synthetisch
als Folgen zu erklären, weil sie schon am Anfang der Be-
wegung mitgedacht werden. Sie ergeben sich durch ein analy-
tisches Urteil und verlangen keine Synthesis in der Erfah-
rung. Die Gegenwart wird durch die Zukunft, durch den
— 143 —
Zweck bestimmt. Da die Naturwissenschaft von der Reali-
tät der Bewegung ausgehen muß, so muß sie auch von dem
Begriff der immanenten Determinierung oder dem Zweck
ausgehen. Die Ursache kann nur in die Bewegung eingreifen.
Diese selbst ist eine unmittelbare Synthese und keine Folge
von Ursache und Wirkung. Nur Veränderungen dieser un-
mittelbaren Determination lassen sich erklären, nur diese
können überhaupt zum Problem gemacht werden. Nur weil
die Zukunft als Ziel schon determiniert ist, deshalb ist der
folgende Moment die logische Folge des ersten und kann
nicht als objektive Folge durch die Kausalität erklärt werden.
Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß die Bewegung als
solche durch das empirische Gesetz der Trägheit oder der
Erhaltung der Bewegung erklärt wird. In Wahrheit handelt
es sich dabei nicht um ein erklärendes Naturgesetz, sondern
nur um ein Prinzip des Denkens, das die Erfahrung oder das
Naturgesetz erst möglich macht. Es besagt nämlich nur das,
was wir eben dargestellt haben: daß die Dauer einer Be-
wegung nicht erklärt werden kann als Folge von Ursachen,
sondern logisch schon zu ihr gehört. Da aber diese Annahme
der Realität der Bewegung notwendig ist, um überhaupt zu
erkennen, so handelt es sich eben um ein Prinzip a priori.
Wenn in ihr ein Geschehen vorliegt, das nur durch sich selbst
und durch keine äußeren Ursachen bestimmt ist, so folgt
aus dem Satz der Identität, daß die Bewegung ewig weiter-
geht. Der Naturwissenschaftler setzt dies a priori voraus,
weil er nur eine Veränderung erkennen kann. Das Träg-
heitsgesetz sagt nur: die Bewegung selbst ist kein Problem
der Erklärung, sondern nur eine Veränderung der Bewegung.
Nun kennen wir aber gar nichts anderes als Bewegung.
Was wir Ruhe nennen, gilt nur relativ innerhalb eines ge-
schlossenen Systems. Die Beziehungen in ihm können
konstant bleiben, aber das System selbst kann in Bewegung
sein. Wir müssen dies annehmen, weil sonst die Bewegung
in der Welt ein unlösbares Problem bliebe. Die Frage, wie
— 144 —
sie entstanden ist, wäre von diesem Standpunkt aus genau so
unsinnig wie die nach der Entstehung der Welt. Die Bewe-
gung ist die Realität, und diese können wir nicht erklären.
Was für uns Anfang der Bewegung einer Kugel heißt, ist in
Wahrheit nur Beschleunigung, die wir durch die relativen
Beziehungen innerhalb eines Systems feststellen. Die Kugel
selbst müssen wir aber an sich schon in Bewegung denken.
Die Naturwissenschaft kann immer nur eine Veränderung
der Bewegung zum Problem machen. Weil aber diese Be-
wegung zu der Realität selbst gehört, so müssen wir sie
ursachlos, d. h. immanent determiniert denken. Die Ursache
entsteht erst in der Veränderung der immanenten Bewegung
durch außerhalb liegende Faktoren.
Hierin liegt ein mythologischer Rest des Mechanismus,
der nicht beseitigt werden kann, der sich vielmehr aus dem
Nebeneinander der historischen und der reinen Vernunft als
notwendig ergibt. Es ist ein unzweckmäßiger Ausdruck, daß
die Planeten beseelt sind. Es ist aber nicht zu leugnen, daß
wir uns eine immanent determinierte Bewegung gar nicht
anders denken können, als daß das, was sich bewegt, in Zu-
kunft an einer anderen Stelle sein „will". Wir werden zu
zeigen haben, daß der Wille nichts anderes ist als das der
Kausalität entsprechende Prinzip der historischen Vernunft.
Die Planeten bilden aber keine Ausnahme. Wir müssen alles
in Bewegung denken. Nehmen wir die Bewegung nicht als
eine absolute Bestimmung der Realität an, so könnten wir
niemals eine Veränderung erkennen. In dem Moment, wo
die reine Vernunft historisch wird, kommen wir nicht mehr
ohne den Willen aus. Gibt der Naturwissenschaftler zu, daß
es Bewegung und nicht nur ein Sein gibt, so gibt er zu, daß
die Zukunft nicht allein durch Ursachen bestimmt ist.
Dies besagt das Gesetz von der Erhaltung der Bewegung.
Erst daß es nicht so kommt, wie wir die Zukunft in der Be-
wegung determinieren, kann durch Ursachen erklärt werden.
Diese immanente Determinierung ohne Ursachen nennen wir
— 145 —
aber „Wille". Hier sind wir am Ende unserer Weisheit.
Natürlich steht diese Analyse in gar keinem Zusammenhang
mit Schopenhauers Metaphysik. Ich will überhaupt keine
metaphysische Konsequenz ziehen. Für uns handelt es sich
nur um eine Form der Antinomie der Vernunft, daß wir
nämlich etwas als Wille denken müssen, was wir nicht als
Wille denken dürfen, weil wir die Natur nicht rein histo-
risch, nicht als Subjekt denken können. Es ist wieder ein
platter Psychologismus, wenn man das Mythologische der
Naturwissenschaft in der Übertragung des Kraftbegriffs aus
der inneren Erfahrung auf die äußere sieht. Von einer Über-
tragung als psychischer Tätigkeit dürfen wir auch hier nicht
sprechen. Der Kraftbegriff selbst läßt sich auch in der Natur-
wissenschaft durch die Zahl kritisch fassen. Das Mytho-
logische läge nur in dem Denken einer ,, Handlung". Wenn
jemand „versteht", daß der Stein fällt, dann beweist er,
daß er mythologisch denkt, daß er die Anziehung als Hand-
lung eines Subjekts auffaßt. Für die Naturwissenschaft aber
existiert dabei nur eine Bewegungsbeziehung. Soweit aber
die Bewegung eine immanente Determinierung des späteren
Moments voraussetzt, beruht sie logisch auf dem Prinzip der
Mythologie, der Erkenntnis der Lebensgeschichte. Dieses
Prinzip aber besagt hier garnichts, weil seine sinngemäße
Anwendung den Begriff des historischen Subjekts voraus-
setzen würde, und dieser in der reinen Vernunft, die die all-
gemeine Substanz konstruieren will, unmöglich ist.
Wir halten nun die Behauptung zwar aufrecht, daß
der Naturwissenschaftler die Bewegung in dem Begriff der
Richtung und Schnelligkeit, die unabtrennbar von ihr sind,
durch den Zweck bestimmt. Nichtsdestoweniger aber bleibt
der Gegensatz zur Biologie bestehen. Man kann ihn nicht
anders ausdrücken als durch den des formalen oder räum-
lichen und des inhaltlichen oder historischen Zwecks.
Wenn die Bewegung durch die Richtung bestimmt ist,
so ist die Zukunft des Körpers nur formal und räumlich
Strich, Prinzipien. 10
— 146 —
determiniert. Das liegt in dem Prinzip der Trägheit aus-
gesprochen. Ich determiniere nämlich eine unendliche An-
zahl von Punkten, die der Körper durchlaufen muß. Die
Punkte folgen logisch aus der Bestimmung des ersten Mo-
ments. Das Ende oder der historische Endpunkt wird nicht
determiniert. Gerade er ist vielmehr das Problem der reinen
Vernunft, des Mechanismus. Der Naturwissenschaftler zer-
legt deshalb das Geschehen in eine immanent determinierte
Richtung von ewiger Fortsetzung und in Ursachen, durch die
wir erklären, wenn es anders kommt. Die wirkliche Kurve
der Kanonenkugel ist aus Ursachen erklärbar nur unter der
Voraussetzung einer bestimmten Bewegung selbst, die
immanent determiniert ist. Die Determination bezieht sich
also nur auf die Möglichkeit einer unendlichen Anzahl von
Raumpunkten. Die Abweichung oder der scheinbare, d. h.
relative Endpunkt ist der Gegenstand des Mechanismus,
nicht aber die Bewegung. Nach dem Trägheitsgesetz ist das
historische Ende ein Zufall, der durch den Mechanismus
aufgehoben wird.
Von dem Mechanismus aus haben wir aber die Pflicht,
die immanente Determinierung möglichst einzuschränken
und die spezifische Bewegung möglichst von Bedingungen ab-
hängig zu machen. Wir müssen dann von der Idee ausgehen,
daß die rein immanent determinierte Richtung nur gerade, die
des Lichtes, sein kann. In dieser ist die immanente Bestim-
mung auf ein Minimum reduziert. Der Ausgangspunkt an-
genommen, so ist nur noch ein zu erreichender Punkt not-
wendig, um die andern Punkte in gleicher Weise durch ihre
Beziehungen zu bestimmen. Ohne die euklidsche Geometrie
zugrunde zu legen, können wir dadurch nicht die Grade
definieren. Im nicht-euklidschen Raum wäre sie immer
noch eine Auswahl von Punkten, die durch die Beziehung zu
zwei Punkten in gleicher Weise bestimmbar wären. Wir
können nur soviel sagen, daß die Punkte der Fortpflanzung
des Lichtes die Bedingung erfüllen, alle in gleicher Weise
— 147 —
durch die Beziehung zu zwei Punkten innerhalb der Bewegung
selbst bestimmbar zu sein. Welches Raumsystem wir aber
auch zugrunde legen, immer müssen wir die minimalste Be-
stimmung der Richtung als die immanent determinierte an-
nehmen. Das Wesen der immanenten Determinierung be-
steht darin, daß sich die Punkte analytisch aus der Bestim-
mung ergeben. Nur das Minimum der Bestimmung dürfen
wir als immanent ansehen, jede weitere muß einen Grund
haben. Legen wir den euklidischen Raum zugrunde, so
folgt daraus, daß wir jede Kurve der Idee nach als Abweichung
von der Graden zu erklären haben; denn jede Kurve setzt
zu ihrer eindeutigen Bestimmung mindestens einen Punkt
außerhalb des eigenen Systems voraus. Der nächste
! Moment der Bewegung bestimmt einen Punkt. Den
Weg dorthin müssen wir uns denken als bestimmt nur
durch den Anfang und den Endpunkt, ohne daß ein
Wechsel der Bestimmung eintritt. Denn dieser müßte
problematisch sein. Im euklidschen Raum ist nur die gerade
Linie durch diese Punkte eindeutig bestimmt. Jede Kurve
würde noch einen dritten Punkt zur Bestimmung voraus-
setzen. Wir müssen alle Bewegungen immanent in grader
Richtung determiniert denken, sobald wir überhaupt nach
einer Erklärung der Bewegung suchen. Diese Forderung
kann aber nicht auf dem Dogma beruhen, daß die Natur
immer den kürzesten Weg geht. Die Forderung ist vielmehr
eine Forderung des Geistes. Wenn wir nach Gründen der
realen Kurve fragen, so müssen wir eine Bestimmtheit der
Bewegung voraussetzen. Nur die Veränderung der Identität
kann zum Gegenstand der Kausalität werden. Diese Identität
dürfen wir nur durch einen Punkt bestimmen, der in der Be-
wegung selbst liegt. Jeder andere Punkt wäre von der Be-
wegung aus schon zufällig, er müßte einen Grund haben.
Die Erklärung setzt also die immanente Determinierung
voraus. Sie kann sich nur auf die Abweichung von der
Graden und das Ende der Bewegung beziehen.
10*
— 148 —
Ich wollte zeigen, daß die Physik in dem Begriff der
Bewegung die immanente Determination voraussetzt. Sie
hebt aber das historische Prinzip durch das Trägheitsgesetz
sofort wieder auf. Dies besagt, daß das historische Ende der
Bewegung nicht immanent determiniert ist, sondern nur eine
unendliche Anzahl von Möglichkeiten, nämlich die Punkte,
die logisch aus der Bewegung selbst folgen. Der Biologe aber
setzt in dem Begriff der Entwicklung voraus, daß nicht die
unendliche Bewegung in einem Zeitpunkt beginnt, sondern
eine bestimmte Form, die dem bloß formalen Zweck der
Richtung und Schnelligkeit gegenüber inhaltlich genannt
werden muß. Für ihn beginnt der Organismus, ein histo-
rischer Endpunkt, nämlich der Tod. Seine Erklärung be-
zieht sich nur auf die Ursachen, die diese historische Reihe
beeinflussen. Selbstverständlich kann auch der Tod mecha-
nisch bedingt sein. Indessen denken wir das abgeschlossene
Leben als eine Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt; der
Keim ist immanent determiniert, etwas Bestimmtes zu wer-
den. Nur dieses Werden ist beeinflußbar, aber nicht selbst
erklärbar durch Ursachen, durch den Mechanismus.
Der wesentlichste Unterschied zwischen äußerer und
innerer Determination besteht in Folgendem. Die Verschie-
denheit der Phänomene ist das Problem der Erklärung.
Dies kann man aber von der historischen Vernunft nicht be-
haupten, weil von ihr aus in gar keiner Weise eine Gleichheit
vorausgesetzt oder erwartet werden kann. Die historische
Vernunft macht durchaus nicht die Verschiedenheit zum
Problem, sondern die Erscheinung an sich. Der Natur-
wissenschaftler will z. B. die bestimmte Richtung eines be-
wegten Körpers erklären. Für das extrem-mythologische
Denken bestünde hier auch ein Problem. Aber die Bewegung
würde begründet werden allein von dem Körper selbst aus.
Damit würde jede naturwissenschaftliche Problemstellung
aufgehoben werden. Der Grund der Bewegung würde immer
nur für den Körper selbst existieren und nicht in einem
— 149 —
objektiven System. Für das mythologische Denken ist jedes
Phänomen absolut, weil es völlig subjektiv bleibt. Die reine
Vernunft kennt nichts Absolutes, weil sie objektiv sein will.
Sie macht nicht die Schnelligkeit als absolutes Phänomen zum
Problem, sondern sie begründet die Verschiedenheit zu andern
Schnelligkeiten. Der historischen Vernunft sind aber diese
völlig gleichgültig. Sie versteht ein Phänomen von den
Individualsystemen aus oder nicht. Sie kennt gar nicht die
Fragestellung der reinen Vernunft, wTeil sie nicht von der
Kausalität oder der ihr zugrunde liegenden Identität aus-
geht. Für die Naturwissenschaft existiert ein Grund der
Verschiedenheit, weil ohne ihn Gleichheit bestehen würde.
Dies klingt selbstverständlich, ist es aber durchaus nicht.
Der Satz der Identität hat einen positiven Sinn nur als
Idee des objektiven Systems. Er besagt, daß eigentlich jeder
Raumteil als solcher gleich ist. Damit ist zugleich gesagt,
daß jede Ungleichheit einen Grund hat, der aber wiederum
auf eine Gleichheit, d. h. ein Gesetz zurückgeführt
werden muß. Es kommt hier aber nicht darauf an, daß die
Verschiedenheit auf eine Wirkung im Raum zurückgeführt
wird. Es handelt sich vielmehr um eine rein logische Er-
wägung. Die letzte Methode der Naturwissenschaft ist der
Vergleich; daraufhin ist ihr Gegenstand die Zahl. Ihr Pro-
blem ist die größere Schnelligkeit, die größere Schwere oder
was es ist. Die äußere Determination besteht darin, daß die
Erscheinung in ihrem Wesen zurückgeführt wird auf einen
Vergleich mit anderen, während die innere Determination
das Phänomen als absolutes nimmt. Wo die Naturwissen-
schaft etwa auf eine Verschiedenheit von Elementen stößt,
die absolut existiert, ist die reine Vernunft an einer Grenze
angelangt, denn sie begründet die Erscheinung nicht mehr
durch Relationen innerhalb eines Systems. Sie würde eine
grundlose Verschiedenheit behaupten. Deswegen muß sie
der Idee nach die Materie durch die Zahl konstruieren. Sie
muß die Verschiedenheit der Folgeerscheinungen begründen
— 150 —
durch die relative Vielfältigkeit einer durchgängigen all-
gemeinen Gleichheit. Für die neue Atomistik existiert eine
solche in dem Elektrizitätsquantum. Das Charakteristische
der äußeren Determination besteht also in der Bestimmung
durch Relationen innerhalb eines Systems, in dem das Ob-
jekt nur Teil ist. Für die immanente Determination existiert
aber kein solches System. Die Erscheinung ist als solche
absolut, d. h. sie wird als Problem nicht bestimmt durch
Relationen zu Objekten, die ganz außerhalb des Individual-
systems liegen. Erst durch die Zahlrelation entsteht über-
haupt das „eine" System. Wegen der Absolutheit existiert
auf der andern Seite das Individualsystem. Der Sinn der
objektiven Kausalität liegt also darin, daß eine Erscheinung
in dem System ,, Natur" als Verschiedenheit begründet wird,
d. h. als Zahlverschiedenheit der Teile. Damit hat jede Ver-
schiedenheit einen Grund, weil der Teil als Teil gleich sein
müßte. Die reine Vernunft muß jede Verschiedenheit des
Verhaltens auf eine Verschiedenheit des Seins durch Rela-
tionen zurückführen. Die historische Vernunft aber nicht.
Für sie existiert eine Erscheinung nur von einem Subjekt
aus und nicht als Teil eines objektiven Systems.
Geht der Biologe etwa von einer Entwicklung aus, so
bedeutet das, wie wir gesehen haben, eine logische Idee,
eine Synthese von Zeiterscheinungen. Damit negiert er die
Wesenhaftigkeit der Teile als Raumteile. Die Raumform der
Körper ist bei ihm eine Zeiterscheinung, eine absolute Form.
Entscheidend ist, woher die Form stammt, und nicht die
Zahlrelation des Stoffes als Teils eines Gesamtsystems. Damit
begründet er durch die immanente Determination. Als Ei
ist die Zelle absolut historisch bestimmt und nicht mehr
räumlich als Teil durch Relationen zu andern Teilen. Durch
diese Absolutheit ist die Identität, das „eine" System
als real-logische Idee negiert. Sie kann nur besagen, daß der
Teil Teil eines Gesamtsystems ist. Das ist die transzen-
dentallogische Bedeutung des Identitätsgesetzes. Sie be-
— 151 —
gründet ihrerseits die Kausalität als notwendige Idee. Die
Verschiedenheit der Teile muß einen Raumgrund haben,
die Verschiedenheit des historischen Verhaltens einen ob-
jektiven Grund im Sein. Die absolute Bestimmung be-
gründet umgekehrt keine Kausalität, sondern ermöglicht
eine Begründung innerhalb des Systems der Monade.
Genau so existiert für die Biologie nur eine absolute
Bewegung und keine relative. Die Veränderung des Raums
wird nicht bestimmt durch die veränderten Relationen der
Teile; die Richtung der Bewegung ist ein Phänomen des
Subjekts und keine Beziehung im mathematischen Raum.
Es kommt uns hier aber vor allem auf die Bewegung des
Organismus an. Man kann nicht fragen, ob sie kausal ge-
dacht werden muß oder nicht, sondern nur, wie die be-
stehende Biologie sie denkt. Ich untersuche nicht, ob die
Bewegung der Pflanze zum Licht, die Bewegung der Infu-
sorien zum elektrischen Pol, die Bewegung des Frosch-
schenkels beim galvanischen Experiment Beweise für den
Mechanismus sind. Sind sie mechanistisch denkbar, so ent-
spräche dies der Fortbewegung des Menschen in der elek-
trischen Straßenbahn oder der Fortbewegung der Fliege
durch einen Windstoß. Wir hätten es tatsächlich nur mit
einer Veränderung der Substanzkonstellation zu tun, die
durch zeitlose Naturgesetze bestimmt wird. Aber eins ist
sicher: Wir dürften die Bewegung ebensowenig „spontan"
wie ,, Reaktion auf einen Reiz" nennen. Namen tun zwar
nichts zur Sache, aber jene Begriffe würden ihren ganzen
Sinn verlieren. Wir müßten dann nämlich auch die Bewegung
der Magnetnadel „Reaktion auf einen Reiz" nennen. Und
damit wäre entweder alles Reizreaktion oder garnichts.
Wenn die Biologie spontane oder reaktive Bewegungen be-
hauptet, so denkt sie sie nicht mechanisch, nämlich nicht
zeitlos, sondern historisch bedingte. Wir zeigten, daß die Spon-
taneität kein wahrnehmbares Merkmal ist, sondern nur eine
Kategorie des Denkens. Der Unterschied zum Mechanis-
— 152 —
mus liegt darin, daß die Biologie die Bewegung rein histo-
risch denkt, jener aber die historische Bestimmung nur
formal denkt. Wir sagen wohl: der Pfeil ist von A nach B
geflogen. B ist aber nicht immanent determiniert, sondern
im Gegenteil von der Bewegung aus zufällig, nämlich
bestimmt durch die Gravitation. Die Bewegung A-B
ist also keine real existierend angenommene Einheit, sondern
die Kurve muß erst durch das Ursachdenken zur synthe-
tischen Einheit konstruiert werden. Denkt man aber eine
Bewegung als spontan, so heißt das: sie ist als solche rein
immanent determiniert. Das Phänomen ist da als Folge
in der Zeit, als unmittelbare Einheit, wie die Teile eines
Körpers zusammen da sind. Ein Teil der realen Zeit existiert,
ohne daß ein späterer Moment als Folge erklärt werden muß.
Die Bewegung des Pfeils ist eine objektivierte Folge von
Momenten, insofern der momentane Ort in seiner Abweichung
von der immanenten Determination als Folge einer Ursache
angesehen wird. Die spontane Bewegung ist durch den
Raum nicht objektiviert. Sie existiert als unmittelbare
Synthese. Die Bewegung nach B hin beginnt und hört
auf. Das Ende ist kein Zufall, der erklärt werden muß,
sondern es ist selbst immanent determiniert. Nicht eine
nach dem Trägheitsgesetz unendliche Bewegung fängt an,
deren Abweichung von der immanenten Richtung, Be-
schleunigung, Verlangsamung, Ende durch Ursachen er-
klärt werden muß und kann, sondern die Bewegung von A
nach B ist das „eine" Phänomen, das erkannt werden will.
Sie existiert also nicht im Raum des Mechanismus, sondern
als Teil der Zeit oder des Lebens. Die spontane Bewegung
ist eine Bestimmtheit des historischen Subjekts und nicht
eines Raumausschnittes der Substanz. Das Urteil ist ein
historisches. Man denkt die Bewegung als Handlung. Das
Phänomen ist nicht durch die objektive Welt des Mechanis-
mus determiniert, sondern subjektiv. Das haben wir als
Charakteristikum der Kategorie der Tat erkannt. Denke ich
— 153 —
nicht so, dann habe ich auch kein Recht, die Bewegung
„spontan" oder den Körper „lebendig" zu nennen.
Daß die lebendige Bewegung als historisches Phänomen
gedacht wird, ergibt sich schon daraus, daß sie nur im histo-
rischen Zusammenhang verstanden sein will. Aus diesem
Grunde sind wir auch wahrscheinlich berechtigt, die Bewegung
des Froschschenkels bei dem galvanischen Experiment als eine
Reizreaktion aufzufassen. Nur so kann die Problemstellung
lauten. Die Frage, ob die Reaktion mechanisch erfolgt, ist
unlogisch. Durch welche chemischen Unterschiede wir auch
den Unterschied des lebendigen und des toten Nerven be-
stimmen können, dadurch kämen wir dem Problem nur
indirekt näher; wir kämen nicht zu dem eigentlichen Kern.
Die Frage lautet: ob wir die Bewegung im Raum erklären
können aus den zeitlosen Gesetzen der Elektrizität, oder ob
wir annehmen müssen, daß der Froschschenkel schon einmal
die Bewegung ausgeführt hat, ob eine Tendenz, eine Anlage
zu dieser Bewegung besteht, die jetzt aktuell wird. Damit
würden wir eine immanente Determination „inhaltlich" und
„historisch" voraussetzen. Dann hätten wir erst Recht,
eine Reaktion zu denken, die nur scheinbar oder psycho-
logistisch mechanisch abliefe. Wenn sich ein Samenfädchen
bewegt, oder besser gesagt : wenn es bewegt würde, so hätte
der Mechanismus zu erklären, warum aus der unmittelbaren
Konstellation der Substanzteile eine Veränderung der Kon-
stellation erfolgt. Dies tut der Biologe aber nicht, indem er
die Bewegung für eine Eigenschaft eines Organismus hält,
der gar nicht im Raum des Mechanismus existiert. Stellt
man ein Gesetz auf, daß das Infusorium sich nach dem be-
stimmten elektrischen Pol hinbewegt, so hat man sicherlich
kein Naturgesetz aufgestellt, nämlich kein zeitloses. Denn
das Infusorium existiert selbst nicht zeitlos. Man wird viel-
leicht einwenden, daß es dann überhaupt kein zeitloses
Gesetz gibt. Das behaupte ich auch nicht. Aber sicher ist,
daß der Naturwissenschaftler ewig bemüht sein wird, ein
— 154 —
zeitloses Gesetz zu finden. Der Mechanismus müßte die
historische Tatsache der Bewegung der Infusorien aus Ge-
setzen zu erklären versuchen, die ewig existierten, bevor es
überhaupt ein Infusorium gab, die so ewig sind, wie die Teile,
die im Moment seinen Körper ausmachen, ewig sind und schon
existiert haben, bevor es in der Welt ein Infusorium gab.
Natürlich ist eine chemische Verbindung, die auch etwas
„Neues" gegenüber den Elementen darstellt, nicht mit dieser
absoluten Zeitform zu vergleichen. Solange man nicht diese
Gesetze gefunden hat, ist es eine historische Tatsache in der
Welt, wie etwa die, daß das Mammut sich von Pflanzenkost
nährt oder genährt hat. Das vermeintliche Gesetz gehört
nur in die beschreibende Naturgeschichte. Deswegen ist es
aber logisch eben kein Gesetz zu nennen. Hält man wirk-
lich den einzelnen Fall durch das Allgemeine hierbei erklärt,
so hat man verzichtet, ihn mechanistisch zu erklären. Man
hält nämlich die Bewegung für eine Bestimmtheit histori-
scher Subjekte und erklärt sie nicht aus den Gesetzen der
Substanz. Daß der Fall für uns immer eintritt, ist kein
Grund, von einem Gesetz zu sprechen, denn dieses „immer"
hat keine rein logische Bedeutung von Ewigkeit. Der Gegen-
satz zu der relativ historischen Größe der chemischen Ver-
bindung dürfte wohl klar sein. Der Unterschied der histo-
rischen Tatsache und der „contingence" der Naturgesetze
bleibt bestehen. Hält man die Schleuderbewegung des
Samenfädchens für eine Eigentümlichkeit dieses Organis-
mus, so denkt man den Einzelfall nicht durch zeitlose Gesetze
bestimmt, sondern immanent determiniert durch das Sub-
jekt. Man beschreibt und erklärt nicht. Die allgemeine Tat-
sache lautet: das Samenfädchen tut das, der Vogel fliegt,
der Mensch geht. Man kann die mechanistische Abhängig-
keit bis ins letzte aufklären: das Lebendige durch das Tote
kann man nie erklären. Das Leben, das Subjekt, die An-
lage usw. setzt man immer voraus.
Ebensowenig ist die Bewegung als Reaktion auf einen
— 155 —
Reiz mechanisch bedingt. Man kommt damit nämlich nicht
aus der Zeit heraus, sondern im Gegenteil. Nennt man die
Verbindung von Reiz und Reaktion ,, Ursache" und „Wir-
kung", so muß man auch die Bewegung der Magnetnadel
Reaktion auf den Reiz des elektrischen Stromes nennen.
Terminologisch wäre dagegen gar nichts zu sagen. Aber der
logische Unterschied wird dadurch nicht beseitigt. Der
Physiker ,, sieht" an der Stelle ein historisches Phänomen,
aber er ,, denkt" ein zeitloses Geschehen. Er denkt etwas, was
schon immer da war, ob es Elektronen, Atome, Energien
sind, ist gleichgültig. Außerdem bemüht er sich, das Ge-
schehen zu sondern in zufällige Faktoren, die nur historisch
,,auch" da sind, und in solche die notwendig sind, d. h.
er bemüht sich, das Gesetz zu finden, die zeitlose Beziehung,
die ewig in der ewigen Welt herrscht. Denkt man aber etwas
als Reiz, so denkt man nicht das Zeitlose, was da existiert,
denkt man eine Reaktion, so denkt man keine zeitlose Be-
ziehung. Erfolgt eine Reaktion auf einen Lichtreiz, so exi-
stiert nur scheinbar das Licht als derselbe Gegenstand,
den der mechanistische Physiker untersucht. Wir stoßen
damit auf den Gegensatz, mit dem wir die ganze Arbeit be-
gonnen haben, nämlich den von Wahrnehmung und Gegen-
stand. Wir zeigten dort, daß beides keine wesensverschiedenen
Dinge sind, daß der Unterschied nicht in der Art der Elemente
liegt, sondern nur in verschiedenen Denkweisen der „data der
Sinnlichkeit", der Phänomene. Als Wahrnehmung wird das
datum der Sinnlichkeit historisch, als Inhalt einer Monade
gedacht, als Gegenstand — im Räume der mathematischen
Naturwissenschaft. Der gleiche Unterschied besteht zwischen
Reiz und Gegenstand. Die Konsequenz daraus ist, daß jeder
Reiz eine Wahrnehmung ist. Da aber Wahrnehmung, wie
man sagen wird, nicht ohne Bewußtsein möglich ist, so müßte
die Amöbe und auch die Pflanze, wenn man bei ihnen Reak-
tionen anzunehmen gezwungen ist, Bewußtsein haben.
Davon wissen wir aber nichts, wird man uns einwenden.
— 156 —
Ich würde mich allerdings getrauen zu sagen: Wo auch immer
wir Reiz und Reaktion denken, denken wir auch eine Seele,
wenn nicht das Raumdenken diesen Begriff so verfälscht
hätte, daß man nichts mehr mit ihm anfangen kann. Kritisch
ist die Seele nichts, was im Raum existiert, ebensowenig wie
der Organismus. Sie ist nichts weiter als ein notwendiges
Prinzip der historischen Erkenntnis, wie das Ich, das Subjekt
oder die aristotelische Einzelsubstanz. Ist die historische
Erkenntnis selbst notwendig, so ist damit ihre Realität ver-
bürgt, aber deswegen nicht die im Raum. Die Frage lautet
nur: Kommen wir ohne historische Erkenntnis, ohne Biologie
und Psychologie aus ? Ist unsere ganze biologische und psycho-
logische Erkenntnis ein Irrtum des naiven Denkens ? Dann
ist die Seele genau so ein Irrtum wie das Leben. Ist sie es
nicht, so existiert sie genau so real wie das Leben, für dessen
Einheit in der Zeit sie nur ein anderer Name ist. Kommen wir
erkennend aus ohne die Idee eines historischen Zusammen-
hangs der Phänomene, den der Mechanismus ja in einen
räumlichen umdenkt ? Kommen wir aus ohne die Idee des
historischen Individualsystems, ohne daß wir die Identität
einer Form in der Zeit annehmen, die über der Ewigkeit
der Substanzelemente existiert? (Die chemische Zeitform,
die über den Elementen existiert, ist kein Individualsystem.)
Kommen wir aus, ohne daß wir ein Phänomen nach seiner
Gleichheit mit andern in demselben Zeitsystem bestimmen,
ohne daß die Gleichheit objektiv im Raumsystem existiert ?
Aus dem letzten folgt schon die Absurdität der Annahme.
Denn ohne daß ich eine historische Gleichheit bemerke, ohne
daß also zwei Phänomene in meinem Individualsystem histo-
risch gleich sind, könnte ich ja niemals empirisch eine Gleich-
heit im Raum behaupten. Die Tatsache, daß ein historischer
Zusammenhang da ist, daß das Individualsystem ein sub-
jektiver Logos ist, ermöglicht ja erst die Erkenntnis des
mechanischen Zusammenhangs. Das Ich ist die Voraus-
setzung jeder Behauptung über den Raum.
— 157 —
Die Seele existiert genau so wenig im Körper, wie das
Bewußtsein in ihm existiert. Darum ist es schon falsch aus-
gedrückt, daß die Wahrnehmung ein Bewußtsein voraus-
setzt. Das Bewußtsein ist keine voraussetzbare selbständige
Größe. Ein Phänomen als Wahrnehmung denken, heißt: es
als existierend in einem Individualsystem denken. Das datum
der Sinnlichkeit, das für die philosophische Abstraktion die
unmittelbare Realität allein ausmacht, wird in diesem Falle
als Inhalt eines individuellen historischen Bewußtseins ge-
dacht, während der Naturwissenschaftler dort einen Gegen-
stand des Bewußtseins überhaupt denkt. Die Bestimmung
der philosophisch unmittelbaren Realität, die nur auf einer
kühnen Abstraktion beruht, kann nur erfolgen durch das
vorausgesetzte Denken. Zur Existenz ist also immer ein Be-
wußtsein vorausgesetzt. Das individuelle Bewußtsein ist
nichts anderes als die individuell historische Ordnung der
Phänomene. Wenn sich also nachweisen läßt, daß wir in
dem Begriff des Reizes historisch denken, so ist damit ge-
sagt, daß wir ein Individualsystem in der Zeit annehmen,
in dem er existiert, damit aber auch, daß wir das datum der
Sinnlichkeit als Inhalt einer Monade oder eines individuellen
Bewußtseins denken. Dies ist die logische Darstellung des
mehr geistreichen Ausdrucks, daß das Gehirn eine Telephon-
zentrale ist. Das Bewußtsein ist an sich gar nichts. Es
existiert nur als Kategorie des Denkens. Etwas gelangt in
die Telephonzentrale nur dadurch, daß es als Inhalt eines
Individualsystems aufgefaßt wird. Sonst gäbe es kein
Telephon. Denkt man aber mechanistisch, so bedarf es keiner
Telephonzentrale, weil es keines historischen Zusammen-
hanges bedarf. Ist aber dieser zur Erkenntnis notwendig,
so muß der Reiz auch in dem System existieren, in dem die
Reaktion existiert, d. h. in dem Individualsystem und nicht
im Raumsystem des Mechanismus.
Wenn wir von Reiz sprechen, so denken freilich die Psy-
chologen an Wellenbewegung oder etwas Ähnliches. Gerade
— 158 —
dies ist falsch. Der Reiz ist die Empfindung, die akustische
Wellenbewegung ist nur der als Gegenstand gedachte Reiz.
Ursprünglich ist die Wahrnehmung gar nichts anderes als ein
Reiz für eine Reaktion. Bei der optischen Wahrnehmung
wird dies ganz klar. Der Reiz existiert nicht im Raum,
sondern der Raum selbst ist ja nur Phänomen, Gegenstand
des Erlebens. Wenn eine Reaktion erst auf eine bestimmte
Entfernung hin erfolgt, so bedeutet das keine gradweise
Steigerung der Wirkung, wie etwa bei der Gravitation,
sondern erst das bestimmte Raumerlebnis ruft die Reaktion
hervor. Sie tritt nicht ein wegen der relativen Ortsverände-
rung im mechanistischen Raum, sondern auf Grund des
absoluten Raumerlebnisses. Das ergibt sich schon aus der
einen Tatsache, daß die Halluzination genau so als Reiz
wirken kann wie die Wahrnehmung.
Der Gegensatz zur Kausalität liegt nun darin, daß die
Verbindung zwischen Reiz und Reaktion als wiederholbare
Assoziation gedacht wird. Wo dies nicht der Fall ist, hat man
auch kein Recht, von Reiz und Reaktion zu sprechen. Kann
man die Bewegung der Sonnenblume zum Licht hin erklären
als eine physikalisch bewirkte Änderung der Substanz-
konstellation, so existiert kein Reiz, sondern eine Ursache
der Bewegung. Man denkt kein historisches Individual-
system. Hält man es aber für eine Eigenschaft der Mimose,
auf einen Tastreiz zu reagieren, so heißt das, daß man ein
Urteil über die Einzelsubstanz abgibt. Das einzelne Phä-
nomen wird aus einer allgemeinen Tatsache begriffen; aber
diese Allgemeinheit bezieht sich nur auf die zeitlich wieder-
holten Bewegungen in dem Zeitsystem der individuellen
Mimose und nicht auf Wiederholungen in dem zeitlosen
Raum. Erkläre ich das eine Mal etwas in der Zeit durch ein
allgemeines Gesetz, das in dem zeitlosen Raum gilt, so be-
schreibe ich das andere Mal nur eine Wiederholung in der
Zeit. Mechanistisch wäre die Bewegung der Mimose nur dann
bestimmbar, wenn ich gar keine Rücksicht darauf nehme,
— 159 —
ob diese Bewegung schon einmal mit der Mimose vor sich
gegangen ist. Werden die Blätter durch äußere Ursachen
zusammengedrückt, so erkläre ich dies Geschehen mecha-
nistisch, nämlich völlig ohne Rücksicht auf das Individual-
system Mimose. Ebenso wird die Bewegung der Fliege durch
den Windstoß erklärt. Wir haben es nur mit Ursachen und
nicht mit Reizen zu tun. Berücksichtigt man aber, daß
die Bewegung der Mimose im Leben schon einmal dagewesen
ist, so denkt man das ganze Phänomen in einem Individual-
system. Man denkt die Bewegung als Bestimmtheit der
Mimose, als Handlung in der Zeit, als spontan. Man denkt
keine Raumursache, sondern historische Reize, das Phä-
nomen nicht im Raum des Mechanismus, sondern als Inhalt
einer Monade, und man versteht die gleiche Handlung aus
der historischen Gleichheit der Reize. Erst durch das histo-
rische Denken wird also etwas zum Reiz und zur Reaktion.
Wegen des mechanistischen Denkens ist die Ablenkung der
Magnetnadel keine Reaktion, der elektrische Strom kein
Reiz. Wegen des historischen Denkens ist aber auch die
Reaktion eine spontane Bewegung, eine subjektiv bestimmte
oder immanent determinierte. Gerade weil sie abhängig ist
vom Reiz, deswegen ist sie subjektiv oder immanent deter-
miniert; denn der Reiz existiert schon subjektiv, weil er
keine zeitlose Ursache ist.
Man wird mir einwenden, daß damit die ganze Biologie in
ihrem Prinzip in Psychologie aufgelöst wird. Dies ist aber kein
Einwand. Um ihm zu begegnen, mußte ich den ganzen Umweg
über die Erkenntniskritik der Biologie antreten. Es ist nämlich
absolut unverständlich, warum unsere psychologischen Lehr-
bücher, die doch von den psychischen Elementen ausgehen,
überhaupt von einer Willenshandlung sprechen, warum man
eine Bewegung des Körpers überhaupt in einem psychologi-
schen Lehrbuch behandelt. Wenn man die Wesenhaftigkeit
des Psychischen in den psychischen Elementen sieht, so ist
eine Bewegung des Körpers überhaupt kein Gegenstand der
— 160 —
Psychologie. Denn eine Bewegung im Raum ist kein psychi-
sches Element. Wenn wir aber in der Tierreihe hinabsteigen,
wo wird dann plötzlich eine Bewegung Gegenstand der
Psychologie ? Entweder nie oder alle Bewegungen der
Organismen sind Gegenstände der Psychologie. Man müßte
gerade behaupten, daß im Menschen allein ein metaphysi-
sches Ding ,, Seele" wohnt; man müßte ferner die Voraus-
setzung machen, daß dieses Raumding den Körper beein-
flußt. Dies wird die kritische Psychologie wohl ablehnen.
Wenn man aber die Bewegung des Menschen in Zusammen-
hang bringt mit psychischen Phänomenen, so gibt es gar
keinen Grund, vor der Amöbe Halt zu machen. Von hier
aus gibt es tatsächlich keine Grenze von Psychologie und
Biologie. Entweder man nimmt an einer willkürlichen Stelle
der historischen Reihe des Lebens auf einmal eine Seele an,
oder jeder Organismus ist logisch gleich. Dann aber gibt es
keine Unterscheidung, wann etwas ein biologisches oder
psychologisches, sondern nur, wann etwas ein historisches
oder mechanistisches Problem ist. Geht man allerdings
von psychischen Elementen im menschlichen Bewußtsein
aus, dann klingt es absurd, von dem Seelenleben der
Amöbe zu sprechen. Aber ich glaube nachgewiesen zu haben,
daß im Gegenteil die Absurdität eher in den psychischen
Elementen des menschlichen Bewußtseins besteht. Die
Psychologie ist eine besondere Auffassung der Welt. Ich
glaube wohl, daß manche Psychologen die vorliegende Arbeit
zu der spiritualistischen Psychologie rechnen werden. In
Wahrheit aber geht gerade sie vom Leibe aus, nämlich vom
Organismus. Wir nehmen nicht willkürlich in der Amöbe
eine Seele an, sondern stützen uns nur auf das notwendige
Prinzip der Erkenntnis, das in dem Begriff Organismus
steckt. Es ist nur eine logische Konsequenz, daß diese
Prinzipien auch für die Erkenntnis des Menschen zutreffen.
Ich schließe nicht von dem Menschen auf die Mimose, son-
dern eher umgekehrt, von der Mimose auf den Menschen.
— 161 —
Denn dieser ist auch nur ein Organismus. Es gibt keine
Grenze in dieser Hinsicht zwischen Biologie und Psychologie,
sondern beide sind eins als die historische Erkenntnis des
Lebens. Das Wort Seele ist nur ein anderer Name für die
Einheit des Lebens. Jede Bewegung des Menschen, die
spontan oder reaktiv gedacht wird, ist ein biologisches
Problem, weil es ein historisches ist. Natürlich kann man sie
auch ein psychologisches Problem nennen. Dann ist aber
auch die Bewegung der Amöbe ein psychologisches Problem,
denn ein Unterschied zwischen beiden existiert nicht.
Wie das datum der Sinnlichkeit, das wir Weltbestimmt-
heit nennen, dadurch zum psychologischen Faktor wird,
daß es in einem Individualsystem gedacht wird, auf dieselbe
Weise wird die Bewegung im Raum zum psychischen Faktor.
Man faßt beides als Erlebnis auf, das eine als Wahrnehmung,
das andere als Handlung. Eine Bewegung kann niemals
Gegenstand der Psychologie sein, wenn sie im naturwissen-
schaftlichen Raum gedacht wird, wie der Körper niemals
Gegenstand der Psychologie ist, wenn er als Raumausschnitt
der Substanz gedacht wird. Die Psychologie entsteht nur
durch ein bestimmtes Denken der Welt, nicht durch einen
besonderen gegebenen Gegenstand. Anders könnte eine
Bewegung im Raum niemals Gegenstand der Psychologie
sein. Bei dem Raumgegenstand hat man dies durch eine
unlogische Theorie möglich zu machen versucht, nämlich
durch das psychische „Bild" des Gegenstandes, durch die
Konstruktion psychischer Elemente. Analog müßte man
sagen, daß die Bewegung als Summe psychischer Elemente
im Bewußtsein abgebildet wird. Tatsächlich tut man auch
etwas Ähnliches, wenn man die Bewegung in Körperverände-
rung und Bewegungsimpuls zerlegt. Die Vorstellung ist, wie
wir nachgewiesen haben ,nur eine Kategorie, in der die data
der Sinnlichkeit historisch gedacht werden. Es tritt nicht
etwas Neues neben den Raum, nämlich das Psychische,
sondern man denkt jetzt nicht mehr eine Existenz im Raum,
Strich, Prinzipien. 11
— 162 —
sondern nur in der Zeit, und zwar in einem Individualsystem.
Genau so wird eine Reihe von Phänomenen nicht mehr als
Bewegung im zeitlosen Raum gedacht, sondern als Handlung.
Nur durch das Denken entsteht der Gegensatz von Gegen-
stand und Bewegung, Vorstellung und Handlung. Wie es
aber sinnlos sein würde, die Existenz der chemischen Ele-
mente, aus denen der im Raum gedachte Körper besteht,
psychologisch zu erklären, so kann man auch die Bewegung
der Elemente im Raum nicht psychologisch erklären. Als
Bewegung im Raum existiert sie gar nicht mehr psychologisch,
nicht als Phänomen des Lebens, sondern als Raum-Änderung
der Raum-Konstellation, hat also gar nichts mehr mit Psy-
chologie zu tun. Wie die chemischen Elemente, die meine
Hand ausmachen, eine Beschleunigung erlangen und nach
einer anderen Stelle im mathematischen Raum gelangen,
ist kein psychologisches und kein biologisches Problem.
Nur als Handlung existiert hier ein psychologisches Phä-
nomen. Als Zeitphänomen, als Teil des Lebens oder des
Individualsystems kann ich sie psychologisch begreifen.
Der Gegenstand der Wahrnehmung läßt sich psycho-
logisch nicht erklären, sondern nur naturwissenschaftlich.
Umgekehrt ist die Handlung nicht naturwissenschaftlich zu
begreifen. Es ist logisch unmöglich, daß wir eine Wahrneh-
mung als psychisches Phänomen aus Raumbewegungen er-
klären können und Raumbewegungen aus Wahrnehmungen.
Die historische Vernunft und die reine Vernunft lassen sich
nicht monistisch vereinigen. Der Mechanismus ist logisch
begründbar nur durch den Gegensatz dieser Denkprinzipien.
Man hat also das Problem von Leib und Seele schon falsch
gestellt. Es kann gar nicht ,,ein" Problem geben, weil es
nicht „eine" Welt gibt, die aus physischen und psychischen
Elementen besteht. Es gibt philosophisch nur ein Chaos,
d. h. die in der Abstraktion vollständig unbestimmt an-
genommenen data der Sinnlichkeit. Jede Bestimmung des
Chaos, die wir urteilend aussagen, hat sich a priori ent-
— 163 —
schieden, als welche Welt das Chaos gedacht sein soll. Be-
stimmt man das datum als grün, denkt man historisch. Denn
die Bestimmung stützt sich auf eine Gleichheit mit einem
vergangenen Erlebnis. Bestimmt man das Chaos als Radium,
denkt man es als Raum. Es ist völlig widersinnig zu fragen,
wie aus einer Schallwelle ein Ton entsteht, weil die Voraus-
setzung, daß er aus ihr entsteht, schon widersinnig ist. Man
denkt das eine Mal den Ton als Wahrnehmung, das andere Mal
als Raumgegenstand. Ebenso widersinnig ist es zu fragen,
wie durch Wahrnehmungen eine Bewegung im Raum ent-
steht. Entweder denkt man historisch oder räumlich. Hand-
lung und Bewegung entsprechen vollkommen dem Ton und
der Schallwelle. Sobald eine Reihe als Handlung gedacht
wird, existiert sie nicht mehr im Raum des Mechanismus,
kann folglich auch nicht mehr dort erklärt werden. Der
Dualismus der historischen und der reinen Vernunft macht
diese Erklärung von vornherein logisch unmöglich. Beides
sind unmittelbare Realitäten, das handelnde Leben und die
Bewegung der toten Substanz. Eins ist nicht aus dem andern
zu erklären, weil damit die Realität des Gegensatzes eben
aufhören würde. Das handelnde Leben wäre ein Irrtum des
naiven Denkens — das ist der Standpunkt des Monismus — ,
oder die Bewegung der toten Substanz wäre ein Irrtum des
naiven Denkens — das ist der Standpunkt der Mythologie.
Leben und Tod als wirklichen Gegensatz denken, heißt nichts
anderes als logisch die Unmöglichkeit zugeben, beides in einer
Erkenntnis zu vereinigen. Sonst wäre es ein irrtümlicher Gegen-
satz. Nur dadurch, daß der Unterschied als in dem Denken selbst
gelegen nachgewiesen wird, existiert er als Realität, also nur
wegen des Dualismus der historischen und der reinen Vernunft.
Wenn ich aber sage, daß die Bewegung historisch ge-
dacht zur Handlung wird, so scheint hier ein Widerspruch vor-
zuliegen. Wenn nämlich der Gegenstand durch das psychologi-
sche Denken zur Wahrnehmung wird, so müßte jede Bewe-
gung psychologisch werden als Wahrnehmung der Bewegung.
11*
— 164 —
Der Widerspruch löst sich, wenn man sich an die Verschieden-
heit der Monaden und an den Unterschied von Denken und
Wahrnehmung hält. Wenn man nämlich Bewegung denkt,
so denkt man nicht mehr historisch, sondern räumlich.
Eine „Wahrnehmung" der Bewegung existiert also gar
nicht, sondern nur das Denken einer Reihe als Bewegung.
In meiner Welt gibt es zunächst nur ,,eine" Bewegung, die
psychologisch gedacht werden kann, nämlich meine Hand-
lung. Alles andere wird an sich im Raum gedacht. Der
andere Mensch ist zunächst „Gegenstand", seine Hand-
lungen Bewegungen im Raum. Von diesem Standpunkt aus
gibt es keinen Unterschied, ob ein Ziegelstein mir auf den
Kopf fällt, oder ob er geworfen wird. Der Arm, der ihn
schleudert, ist für mich nichts weiter als ein Hebel. In meiner
Welt ist das Historische nur das, was ich erfahre und tue.
Aber meine Welt ist auch nicht die Welt des Anderen. Zur
Handlung wird die Bewegung erst dann, wenn ich sie als
historisches Phänomen seiner Welt denke. Wer mir den Ziegel-
stein auf den Kopf wirft, will mich vielleicht morden, weil
ich ihm ein unsympathischer Gegenstand bin. In meiner
Welt bin ich aber weder unsympathisch noch Gegenstand.
Hier existiert auch empirisch zunächst gar nicht sein Wille,
sondern alles, was nicht mein Wille ist, ist dira necessitas,
blinder Zwang, als Wahrnehmung mir aufgezwungen, ebenso-
wenig psychologisch zu erklären, wie alle anderen Bewe-
gungen, die ich wahrnehme. Abgesehen von dem ethischen
Problem, das hier vorliegt, kommt aber meine Erkenntnis
damit nicht aus. Ich weiß wohl, daß die Bewegungen nur
Hebelbewegungen im Raum sind; ich kann aber ihre Existenz
aus dem Raum nicht begreifen. Denke ich sie aber psycho-
logisch, so wird die Bewegung zur Handlung, weil ich sie
jetzt in seiner Welt denke, in der ich z. B. unsympathisch
bin. Es berührt sich dies mit der sogenannten Einfühlung.
Man muß aber auch ein ,, Eindenken" und „Einempfinden"
zugeben. Selbstverständlich existieren diese Phänomene nur
— 165 —
für die beschreibende Psychologie. Das Beziehen auf
einen andern ist wieder ein eigentümlicher Struktur-
zusammenhang des Bewußtseins, der sich nur durch eine
Beschreibung des Subjekts nicht aber durch eine Aufzählung
der anwesenden Elemente wiedergeben läßt. Psychologisch
denken heißt die Welt subjektiv denken, nicht als Gegenstand
des Bewußtseins überhaupt, sondern als Inhalt des indivi-
duellen Bewußtseins. Darum muß ich sie aber auch als
Inhalt eines andern Bewußtseins denken können.
Die Kategorie der Handlung trifft aber genau ebenso auf
das Vorstellungserlebnis zu. Man kann sagen, daß gewisse
Assoziationen sich dem Bewußtsein aufdrängen, und auf
Grund dieser psychologischen Tatsache spricht man viel-
leicht von einem Mechanismus der Vorstellung. Dies wäre
aber wieder ein Psychologismus. Erkenntniskritisch haben wir
zu fragen, ob die Art des Zusammenhanges, auf Grund dessen
wir das Auftreten der Vorstellung verstehen, identisch ist
mit dem mechanischen, auf Grund dessen wir ein Phänomen
der Natur erklären. Der psychologische Zwang als Erlebnis
begründet keine logische Verwandtschaft. Es ist ja von
vornherein klar, daß die Psychologie hier keine Reihe von
Ursache und Wirkung konstruieren kann. Wir geben ohne
weiteres die selbstverständliche Tatsache zu, daß ein sprach-
liches Urteil stets mit einer Reihe von Empfindungen ver-
bunden ist. Diese Verbindung stellt sich aber als ein eigen-
tümlicher Strukturzusammenhang des Bewußtseins dar, den
wir ,, Meinen" nennen, und nicht als ein bloßes Plus oder
Nebeneinander im Bewußtseinsraum, wie ihn das Raum-
denken der Elementarpsychologie für gewöhnlich auffaßt.
Will man diese Reihe kausal erklären, so könnte das nur
heißen, daß ein Zeitmoment die Folge des vorhergehenden
ist, von ihm bewirkt wird. Wird aber vielleicht das erste
Wort der Reihe von dem vorhergehenden Satz bewirkt, ruft
vielleicht das „der" die Elemente „Baum" ins Bewußtsein
und diese wieder „ist" usw.? Nun ist das Hören, Lesen,
— 166 —
Sprechen von „der" ja selbst schon eine Zeitreihe. Der
Elementarpsychologe müßte also das Wort in Elemente
auflösen, die sich zeitlich folgen. Notwendigerweise müßte
er aber auch hier einen Kausalitätszusammenhang kon-
struieren. Denn es wäre ganz unsinnig anzunehmen, daß die
Kausalität in der Welt eine Zeitlang unterbrochen würde.
So wie der Psychologe eine Einheit von Dauer zugibt, hat
er von vornherein auf Kausalität verzichtet. Diese kann gar
nichts anderes heißen, als daß die Reihe der Zeit durch Ur-
sache und Wirkung konstruiert werden muß. Nehme ich
aber das Wort als Einheit an, so kann ich mit demselben
Recht auch das Urteil als Einheit annehmen, das beginnt und
aufhört. Die Zeiteinheit hat nur eine größere Dauer. Da-
durch wird die Reihe nicht mehr problematisch. Es kann
nicht ein Moment die Folge des andern sein, weil beide ja
nur Teile einer existierenden Einheit sind. Obwohl sie sich
zeitlich folgen, existieren sie logisch nicht als objektive Folge.
Das Wahrnehmungsurteil läßt sich nicht in ein Erfahrungs-
urteil umdenken. Das psychologische Urteil ist eben ein
historisches oder ein Wahrnehmungsurteil, d. h. das Urteil ist
eine Handlung. Trotzdem es eine Zeitreihe ist, ist es doch
„ein" Phänomen: es wird auf die Objektivierung der Zeit
durch die Kausalität verzichtet. So wie der Psychologe
überhaupt zwei Verschiedenheiten als Bestimmtheiten einer
wenn auch nur kurz dauernden Einheit annimmt, verzichtet
er darauf, die Verschiedenheiten als Folge aufzufassen. Dies
trifft aber nicht nur für die akustische Folge des Wortes zu,
sondern ebenso für die optische Vorstellung. Gerade durch
diesen Unterschied hat ja Kant die Objektivität der Kausa-
lität bewiesen. Diese objektiviert durch den Raum als Form
des „Bewußtseins überhaupt" die subjektive Folge des
Psychischen. Diese selbst ist aber nur die Folge von dauern-
den Einheiten. Von der erklärenden Psychologie aus ist es
Frivolität, wenn man diese dauernden Einheiten oder die
mehr oder minder großen Zeitteile als die Momente selbst
— 167 —
ansieht, die man kausal erklären will. Das Prädikat soll
womöglich im Satz kausal erregt worden sein, aber die ganze
Reihe der Empfindungselemente nicht. Auch die Fieber-
phantasien lassen sich nicht als kausale Reihe von psychischen
Elementen darstellen, schon weil man im Wahrnehmungsgebiet
überhaupt die „wirkliche" Folge der Elemente garnicht wissen
kann. Dies wird durch den Strukturzusammenhang des
Bewußtseins unmöglich gemacht, durch den die sogenannten
Elemente Bestimmtheiten einer erlebten dauernden Einheit
werden. Sagt man: das Subjekt stellt sich einen laufenden
Mann vor, so hat man keine kausale Reihe von Elementen,
sondern eine unmittelbare Synthese in der Zeit. Es ist
absolut unlogisch, eine Auswahl zu treffen, was Folge des
vorhergehenden Momentes ist und was Teil eines dauernden
Momentes ist. Eine kausale Wissenschaft ist unmöglich ohne
die Zeit als Methode der Objektivierung stetiger Verände-
rungen anzunehmen. Die Psychologie kennt aber die Zeit
nur als Realität. Sie muß daher beim Wrahrnehmungsurteil
stehen bleiben und kann kein Erfahrungsurteil konstruieren.
Keiner Psychologie kommt es in der Praxis auch darauf an, ein
Geschehen in der Zeit kausal zu erklären. Sie kann nur das
Leben beschreiben als eine subjektive Folge von größeren
oder kleineren realen Momenten, die historisch-logisch zu-
sammenhängen. Keine Theorie von Assimilation oder Ver-
schmelzung hilft darüber hinweg, daß man die Zeitreihe der
Elemente nicht erst durch die Kausalität bestimmt sein
läßt, sondern durch die unmittelbare Zeitsynthese, durch
die das Ende für den Anfang bestimmt ist, insofern es an-
fängt. Man kann diese Einheit eine Gestaltsqualität nennen.
Das Wichtige aber ist, daß es die Psychologie ausschließlich
mit solchen Gestaltqualitäten zu tun hat. Das Wort ist für
den Psychologen genau so ein akustischer Gegenstand wie
der Tisch oder der Stuhl, den ich sehe, ein optischer. Seine
Bestimmtheiten werden mir nacheinander bewußt. Natür-
lich ist das Versprechen oder Verlesen kein Einwand gegen
— 168 —
uns. Niemals ruft das letzte Element der Wahrnehmung ein
vorgestelltes Element hervor, sondern eine vorangegangene
Einheit, die zeitlich aus verschiedenen Elementen bestehen
würde, wenn dieser Begriff hier überhaupt einen Sinn hätte.
Die Psychologie kennt nicht die Auflösung der Zeit in ein ewiges
Nacheinander von Ursache und Wirkung. Das Wort als Einheit
wäre eine ganz willkürliche Unterbrechung der Stetigkeit,
da es einen dauernden Moment als Einheit nimmt, ohne in
diesem Fall die Elemente als Ursache und Wirkung aufzufassen.
Natürlich stammt auch diese Einheit aus dem ,, Meinen"
als Handeln. Es ist eine grobe Fahrlässigkeit des psycho-
logischen Nominalismus, das Wort als eine gegebene psycho-
logische Einheit anzunehmen. Seine Einheit als Formung
der akustischen Eindrücke empfängt es erst durch die dahinter-
liegende Handlung des Meinens seitens der Subjekte. Dieses
Gemeinte wird nicht assoziativ von der Empfindung reprodu-
ziert, sondern durch das Gemeinte entsteht erst die Einheits-
form der Empfindung. Genau so entsteht durch die Hand-
lung aus den Einheiten der Worte die Einheit des Satzteils
und des Satzes. Für die deskriptive Psychologie allein
existiert diese Einheit, nämlich als Handlung, die Teilhandlung
sein kann, wie die Körperhandlung aus Teilhandlungen be-
steht, wobei allerdings psychologisch der Teil wieder auf den
Strukturzusammenhang des Bewußtseins, die ,, Fundierung",
zurückführt. Keine Psychologie kann etwas anderes tun, als
das Urteil als synthetische Einheit zum Gegenstand der Er-
kenntnis zu machen. Es ist eine leere, nichtssagende Be-
hauptung hinterher, daß man eine Reihe von Elementen,
Empfindungen, in kausaler Folge denkt.
Wir sagten, daß die Körperhandlung eine immanent
determinierte Bewegung bedeutet. Die Handlung wird da-
durch zum historischen Phänomen. Sie ist eine dauernde
Zeitgröße, weil ihr Ende anfängt und kein Zufall ist, der
durch äußere Ursachen erklärt werden muß. Damit ist aber
zugleich gesagt, daß der Anfang durch das Ende begriffen
— 169 —
ist. Nehme ich eine unmittelbare Einheit als zu begreifendes
Phänomen an, so folgt daraus, daß der Anfang aus dem Ende
und das Ende aus dem Anfang verstanden werden muß.
Dadurch aber, daß etwas als Handlung oder Tat gedacht
wird, ist eine Abhängigkeit von dem lebenden Subjekt und
nicht von den zeitlosen Gesetzen der Substanz behauptet.
Ich begreife die Tat, wenn ich erkenne, was gewollt ist.
Bestimme ich eine Handlung als den Anfang vom Ende,
so bestimme ich den Anfang aus dem Seinsollen des Endes,
wie ich in der Richtung der Bewegung ein Seinsollen der
Zukunft bestimme. Hier aber handelt es sich um ein inhalt-
liches Ende, das sein soll und ferner um die Bestimmung
des Endes als Zeit- und nicht als Raumphänomen. Das Ende
existiert für die erkennende Bestimmung der Handlung, aber es
existiert noch nicht real. Es wird oder fängt an. Von dem Subj ekt
aus, von dem wir die Handlung oder Tat abhängig machen,
existiert das Ende als Seinsollen. Das Sollen ist eine Kategorie
der historischen Vernunft. Man darf sie aber von vornherein
nicht als ethische Kategorie auffassen; genau so wenig, wie
es psychologisch darauf ankommt, ob das Wissen des Sub-
jekts Wahrheit ist, ob das von ihm anerkannte Sein das
wirkliche Sein ist, braucht auch das Sollen „wahres" Sollen
zu sein. Psychologisch interessiert nur, daß etwas von dem
Subjekt aus sein soll, daß es etwas will. Die Geschichte aber
kommt ebenso wie der Mechanismus aus, ohne die Tat oder
die Wertung des Subjekts zu bewerten, aber nicht ohne die
Bewertung seitens der Subjekte, ohne Willen. Wenn man das
Ende anfangen läßt, so heißt das, daß das Ende für den,
der anfängt, für das Subjekt sein soll. Nur durch seine
Wertbedeutung ist der Anfang begründet, während die reine
Vernunft nur die Veränderung des Seienden begründet.
Wir stoßen damit auf den tiefsten Gegensatz in der
Auffassung der Realität. Die reine Vernunft kennt nur das,
was ist, die historische das, was sein soll. Dieses Sollen aber
hat für die empirische Erkenntnis der Monaden nicht die Be-
— 170 —
deutung einer objektiven Kategorie, nicht die einer Kategorie
des Bewußtseins überhaupt. Entscheidend für die Erkenntnis
ist das, was von dem Subjekt aus sein soll. Die Bewertung
der Tat vom Standpunkt der Objektivität aus liegt außer-
halb der empirisch-psychologischen Erkenntnis. Die Natur-
wissenschaft baut den historischen Moment auf aus der zu
konstruierenden zeitlosen Wirklichkeit. Das ist der Sinn
des Raumes und der Elemente. Die Psychologie kennt keine
Wirklichkeit, die sich verändert. Jeder Moment ist ein neuer
Teil der Realität, wie jeder Raumteil ein neuer Teil des
Raumes ist. Daneben bleibt freilich die Zeit „Folge". Diese
ist aber niemals erklärt aus dem gesetzmäßigen Dasein einer
früheren Wirklichkeit. Man gibt auch zu, daß etwas Neues
möglich ist, das durch die Elemente der Vergangenheit nicht
allein darstellbar ist. Dieses Neue existiert auch für den
Chemiker. Das logische Prinzip an der schöpferischen Synthese
im Psychischen liegt darin, daß die Erkenntnis die historische
Wertbedeutung des Moments berücksichtigen muß und nicht
allein das, woraus er besteht, nämlich die vermeintlichen
Elemente. Die Wirklichkeit des historischen Moments ist nicht
begründeten der vorhergehenden Wirklichkeit, deren Ver-
änderung sie nur wäre, sondern allein in der Wirklichkeit des
historischen Subjekts. Als seine Tat oder Schöpfung existiert
sie. Die reale Zeit ist eine ewige Schöpfung aus dem Nichts.
Denn es existiert für sie kein psychischer Raum, der schon
vorher da wa*\ Aber es gilt, diese Tat erkennend zu begrün-
den, und dies ist nur möglich durch die Bedeutung, die der
neue Moment in dem Leben hat, durch seinen subjektiven
Wert. Wir müssen wissen, ,, warum" der Moment sein soll,
und nicht, nach welchen Gesetzen sich die Wirklichkeit
verändert hat. Es kommt alles auf die Einsicht an, daß
man hier zwei ganz verschiedene Prinzipien der Welterkennt-
nis vor sich hat, zwei ganz verschiedene Weltauffassungen.
Was nützt es, wenn man das Motiv Ursache nennt, wenn man
die Lust als kausalen Faktor des Geschehens ausgibt! Nur
— 171 —
Wort und Name verdecken den unüberbrückbaren Gegen-
satz. Die Lust ist keine selbständige Größe, kein Gegenstand,
kein Element, keine Ursache, die in der Welt etwas bewirkt.
Es ist „verständlich", daß die Bewegung geschieht, die eine
Lustbereicherung für das Subjekt bedeutet. Gerade aus der
Verständlichkeit aber folgt, daß die Lust keine Ursache ist.
Denn die Wirkung einer Ursache ist niemals an sich ver-
ständlich, sondern muß erst durch die mühselige Arbeit des
induktiven Forschens festgestellt werden. Die Lust wäre
bestenfalls der allgemeinste Zweckgegenstand, den das
Subjekt verwirklichen will. Da aber der Mechanismus völlig
damit im Recht ist, daß er den Zweck nicht anerkennt, so
kann man auch in der Psychologie ihn nicht als Ursache an-
setzen. Es besteht ein diametraler Gegensatz zwischen er-
klärender Ursache und verständlichem Zweck. In einer
Psychologie, die nach den kausalen Zusammenhängen der
Phänomene sucht, hat der Begriff der Lust überhaupt keinen
Platz. Man erkennt die Wirklichkeit eben nicht mehr aus
einem gesetzmäßigen Geschehen, sondern aus dem Interesse
des Subjekts. Dieses ist der Schöpfer der neuen Zeit. Sie
„mußte" nicht kommen,' weil die Gesetze das Geschehen
beherrschen, sondern sie „sollte" kommen, weil sie in dem
realen Leben eine Wertbedeutung für das Subjekt hat.
Aus ihr erkennen wir die Wirklichkeit. Wir erkennnen die
Tat, wenn wir wissen, was das Subjekt an der eintretenden
Wirklichkeit gewollt hat. Kein Wertgefühl als ein Phä-
nomen unter vielen anderen erklärt uns etwas wegen seiner
spezifischen Qualität, sondern wir denken historisch die Welt
unter der Kategorie des Sollens. Die Naturwissenschaft kann
diese gar nicht kennen. Es wäre sinnlos, wenn sie von Sein-
sollen spräche, wo es für sie nur ein Sein und ein Müssen
gibt. Wie dieses Müssen durch die Kategorie der Kausalität
begründet wird, so ist es der Wille, der das Sollen begründet.
Die historische Wirklichkeit läßt sich nicht durch ein Müssen
begründen, sondern nur durch das Sollen, die Wertbedeutung
— 172 —
oder den Willen des Subjekts. Hierin liegt der tiefste Gegen-
satz zu der Elementarpsychologie. Die Theorie der psychi-
schen Elemente beruht schon dem Begriff nach auf dem
voreiligen Dogma, daß der psychischen Wirklichkeit ein
Sein zugrunde liegt, das aus existierenden Teilen aufzubauen
ist. Darin liegt ein völliges Verkennen der erkenntniskriti-
schen Bedeutung der Zeit und des Historischen. Darin, daß
man in dem Willen den wichtigsten Komplex psychischer
Elemente sieht, sehe ich keinen Grund, das System einen
Voluntarismus zu nennen. Es kommt darauf an, daß der
Wille eine ganz andere Betrachtungsweise der Wirklichkeit
bedingt. Für die Erkenntnis ist es dann gleichgültig, was da
ist. Was da sein „soll", ist das Wesentliche. Das Problem
der Psychologie ist das Wirklichwerden, das der Naturwissen-
schaft das Wirklichsein, das sich nur verändert. Sie will den
Moment erklären unter der Voraussetzung, daß nichts Neues
entstehen kann, daß nur eine Lageänderung vor sich ge-
gangen ist. Der historische Moment aber ist immer das Neue,
das erst wirklich geworden ist. Er kann logisch eine Wieder-
holung sein, aber das Frühere ist nicht an einen andern Ort
gewandert. Das Neue ist eine Schöpfung aus dem Nichts,
auch als Wiederholung ist es von dem Subjekt getan worden,
und seine historische Wirklichkeit — nur eine solche kennt
die Psychologie — ist einzig und allein aus dem Willen des
Subjekts zu begreifen.
Damit aber beginnt erst das psychologische Problem.
Wollten wir uns nämlich schon damit begnügen, daß der
Wille die Wirklichkeit begründet, so würde das dem ent-
sprechen, daß der Physiker seine Arbeit für getan hält,
wenn er ein Geschehen auf die Kausalität zurückführt. Der
Wille ist an sich gar nichts. Er ist nur ein Prinzip der Erkennt-
nis wie die Kausalität. Erst die spezielle Willenstendenz be-
deutet Erkenntnis ; sie ist die Analogie zu den Naturgesetzen,
das historische Gesetz innerhalb des Individualsystems.
Man kann von allem Psychischen sagen, daß seine Wirklich-
— 173 —
keit auf dem Willen des Subjekts beruht. Auch die Wahr-
nehmung bildet davon keine Ausnahme, soweit sie Formung
und Auswahl ist. Damit ist aber noch nichts erkannt.
Allerdings ist aber auch nicht gesagt, daß alles erkennbar
ist. Wenn jemand zwischen zwei völlig gleichgültigen Hand-
lungen wählt, so sehe ich wohl die Entscheidung. Es ist auch
sein Wille gewesen, der die Wirklichkeit begründet. Sobald
ich aber nicht das ausschlaggebende Moment kenne, nicht
das Interesse an der einen Handlung, so geringfügig es auch
sein mag, habe ich sie nicht erkannt. So geht im Leben
wohl vieles vorüber, was man als Tatsache hinnehmen muß
und nicht erkennen kann. Das Gesetz, das den Fall bestimmt,
kann die Psychologie durch weitere Vervollkommnung der
Erkenntnis nicht finden. Es ist der Wille des Subjekts, den
man kennen muß. Erst die spezifische Willenstendenz ist
das Problem der Psychologie, der Erkenntnis des Indivi-
duums. Die Handlung ist nicht bestimmt durch ein Gesetz
der psychischen Welt, die der Gegenstand der Psychologie
wäre, sondern durch das Gesetz innerhalb des Mikrokosmos,
der der Gegenstand der psychologischen Erkenntnis ist. .
Das Ende der Handlung ist selbst ein absoluter histo-
rischer Moment aus dem Leben, während das Ende einer Be-
wegung nur eine Raumrelation bedeutet, deren absolute zeit-
liche Bestimmung für die mechanische Naturwissenschaft
gleichgültig sein muß. Darum ist der Zweck, der, wie wir
gesehen haben, auch dem Begriff der Bewegung zugrunde
liegt, erst in der Psychologie wirklich historisch, im Mecha-
nismus nur räumlich. Ich brauche das Ende nicht mehr
zu erleben. Ich kann es ja durch meinen Tod erkaufen.
Aber es muß dann für Andere als realer Zeitmoment existieren.
Gewiß zeigt mir die Naturwissenschaft, daß es sich überall
nur um eine relative Raumveränderung handeln kann. Aber
der Historiker denkt eben nicht naturwissenschaftlich.
Esse ich das Brot, so fasse ich ein Geschehen als Zeit und
nicht im Raum auf. Es schwindet ein historischer Moment,
— 174 —
der Hunger, und ein neuer tritt ein, die Sättigung. Durch
meine Tat ist das Brot aus d^r Welt verschwunden, mag der
Naturwissenschaftler mir auch beweisen, daß das nicht wahr
ist, daß es ewig existiert hat und ewig weiter existiert. Als
historisches Urteil ist es doch wahr. Der Bäcker hat das
Brot gemacht, und ich habe es zum Verschwinden gebracht.
Wehrt eine Reaktion einen Reiz ab, so existiert im Raum
eine relative Ortsveränderung der Elemente. Historisch aber
existiert etwas absolut Neues, nämlich daß der Reiz nicht
mehr stört. Nur aus dem historischen Moment im absoluten
Sinne, nur durch den Vergleich der Zeiten ist die Realität
der Zeit verständlich. Die Determination des Historikers
bestimmt nicht eine Veränderung im Raum, nicht daß
A in ihm nach B gekommen ist, sondern sie denkt
das Ende genau so wie den Reiz und die Bewegung
psychologisch als Erlebnis, als einen neuen historischen
Moment im Leben einer oder vieler Monaden. Wenn man eine
Bewegung überhaupt als historische Größe denkt, so kann
man sie auch nur historisch determinieren, nur durch das,
was aufhört zu existieren, und was anfängt. Diese Determi-
nation nennen wir Motiv und Zweck. Natürlich kann der
Mechanismus sie nicht anerkennen, weil der Zweck nur als
historische Realität existieren kann, der Mechanismus • aber
nur eine stetige Veränderung kennt. Solange kein Leben da
ist, kann auch kein Zweck da sein. So wie aber eine Einheit
besteht, die eine historische Größe ist, eine Einheit in der
Zeit von realer Dauer, dann wird die Welt zum Reiz, zum
Motiv, dann wird auch sie historisch. Dann hört die Emp-
findung auf, während der Gegenstand bleibt. Dann ver-
stehen wir die Bewegung nicht aus zeitlosen Ursachen,
sondern aus historischen Momenten, nicht daraus, daß ewig
derselbe Raum existiert, sondern daraus, daß etwas ver-
schwindet und ein Neues eintritt was vorher nicht da war.
Die Geschichte steht also im absoluten Gegensatz zur Natur-
wissenschaft. Sie kennt keinen Aufbau aus dem Bestehenden,
— 175 —
sondern das Neue als Werk der Tat, als Schöpfung. Jede
Bewegung können wir aber jetzt auch nur noch aus dem
Individualsystem verstehen, indem sie stattfindet. Sie findet
nicht mehr im allgemeinen Raum statt, sondern in dem
Zeitsystem „Subjekt'*, mag dieses ein namenloses Infusorium
oder Shakespeare sein. Die Bewegung ist nicht mehr erklär-
bar aus zeitlosen Gesetzen im Raum, sondern verständlich
aus den vergangenen Erfahrungen und der gewollten Zu-
kunft des Subjekts.
Gewiß haben wir die Zweckhandlung des Tieres dar-
winistisch zu verstehen. Allein es geht dies nicht ohne die
Voraussetzung des Wollens. Wäre die erste Reaktion mecha-
nistisch entstanden, so müßten wir dies auch bei allen anderen
späteren annehmen. Dann gilt es aber, eben das zeitlose
Gesetz für alle diese Fälle zu finden. Sowie man die spätere
Reaktion als Wiederholung der ersten versteht, dann hat es
auch keinen Sinn mehr, diese als mechanische Bewegung
zu erklären. Gewiß entsteht vieles aus Zufall, was nachher
Zweck wird. Jedenfalls aber bestimmen wir die Bewegung
auch als Spiel schon als spontan oder gewollt. Eine unend-
liche Anzahl von Bewegungen in unserem Leben ist Spiel,
trotzdem sind sie gewollt, wenn auch keine Umgestaltung
der Welt als Zweck namhaft gemacht werden kann. Fassen
wir aber jede spätere Bewegung weiterhin als Spiel des
Organismus auf, so verzichten wir damit auf eine Erkenntnis.
Wenn eine Nahrungsaufnahme durch die Bewegung erreicht
wird, so haben wir uns die Assoziation von Reiz und Be-
wegung zunächst vielleicht als zufällig entstanden zu denken
wie die Wahrnehmungsassociation. Ihre Wiederholung aber
können wir, wenn wir sie überhaupt erkennen wollen, nicht
wieder als psychologischen Zufall auffassen. Das würde
nur heißen: Wir wollen sie nicht erkennen. Diesen Zufall,
der dem in diesem Sinne zwecklosen Spiel entspricht, können
wir nur dadurch aufheben, daß wir die Bewegung aus dem
Wollen des in der Welt Erreichten bestimmen. Es gibt nur
— 176 —
zwei Möglichkeiten, den Zufall zu negieren oder, was das-
selbe besagt, zu erkennen: das zeitlose Gesetz und den Willen.
Man kann nichts dagegen haben, Goethes Schreib-
bewegungen als Raumveränderungen der Substanz zu erklären.
Eins aber muß man dann verlangen, man darf Goethe nicht als
historische Einheit betrachten, man hat nur ein Konglomerat
von Substanzteilen zu denken. Man hat die Bewegungen
zu erklären als Veränderung der zeitlosen Substanz nach
zeitlosen Gesetzen. Man muß also sehr wohl von der Ein-
wirkung von Strahlen auf die Netzhaut, Nerven, Gehirn etc.
ausgehen. Man hat diese Teile aber nur chemisch als Sub-
stanzteile zu denken ohne Verbindung mit einer historischen
Größe ,, Subjekt". Man darf schon nicht davon ausgehen,
daß eine Empfindung da war, denn im Raum, wo es Elek-
tronen gibt, gibt es keine Empfindung, was schon daraus
zu ersehen ist, daß die Empfindung auftaucht und ver-
schwindet, das Elektron aber in irgend einer Form ewig
ist. Ganz widersinnig wäre es, wenn man auf eine Gleichheit
der Empfindung mit früheren sich berufen würde. Das
würde ja voraussetzen, daß ein historisches Subjekt da ist,
was auch schon früher da war, geboren wurde und starb.
Das muß für eine Wissenschaft gleichgültig sein, die alles
aus zeitlosen Naturgesetzen erklären will. Ein Naturgesetz
ohne Zeitlosigkeit würde sich aber selber aufheben. Im Raum
gibt es nur die ewig sich verändernde Konstellation der Sub-
stanz. Gleiche Reize gibt es nur insofern, als ein Element
Radium so wirkt wie das andere, also nur Gleichheit im
Raum. Man brauchte nur zu sagen, was im Moment auf
einen Substanzausschnitt wirkt, und die Folge wäre gegeben,
denn die Beziehung ist selber zeitlos. Es wäre ganz absurd,
wenn man die jetzige Bewegung im Raum damit erklären
würde, daß früher schon einmal derselbe Reiz die Bewegung
des Substanzausschnitts hervorgerufen hätte. Jetzt sind
ja ganz andere Substanzteile dort anwesend. Man müßte die
Bewegungen also von der Qualität der Substanzelemente ab-
— 177 —
hängig machen, dann wäre es aber ganz gleichgültig, ob schon
einmal die Bewegung auf den Reiz folgte, wenn ich nicht eben
das zeitlose Gesetz gefunden habe, nach dem die Bewegung
damals und jetzt eingetreten ist. Habe ich dieses gefunden,
so ist es ganz gleichgültig, ob es sich schon einmal an dieser
Stelle ereignet hat oder an Milliarden von anderen, die
keinen Teil mit unserm Substanzausschnitt gemeinsam haben.
Die frühere Bewegung kann die jetzige nicht erklären, weil
beide erst aus dem zeitlosen Gesetz erklärt werden müssen.
Ganz lächerlich wäre es, wenn ich berücksichtigen würde,
was bei der Bewegung herauskam. Nehmen wir an, Goethe
schrieb einmal auf ein Blatt Papier: „Faust". Von jenem
Standpunkt aus wäre das nach — zeitlosen Gesetzen not-
wendig gewesen. Ich will es nicht leugnen, ich analysiere
die Behauptung nur. Wir haben die Schreibbewegung als
Veränderung der Substanz im Raum aufzufassen, folglich:
als Zufall. Denn da ich nur immer eine Konstellation aus
der andern als notwendig erklären kann, so muß ich bei
der vollendeten Erkenntnis bei einer Halt machen. Da
diese aber für mich ganz zufällig wäre, so wären es auch
alle andern. Zum mindesten wäre die Bewegung im
gleichen Sinne Zufall wie die Tatsache, daß ein Mensch durch
einen fallenden Stein erschlagen wird. Unter Zufall ver-
stehen wir jede historische Existenz, die die Folge einer
Raumexistenz ist, aber nicht selbst psychologisch erklärt
werden kann. Gerade die Kausalität ist für die Psychologie
der Zufall und umgekehrt der Wille Zufall für die Natur-
wissenschaft. Irgend wem müßte man schon dankbar sein,
daß die blinden Naturgesetze es dahin brachten, daß in einer
bestimmten Zeit Bewegungen geschahen, durch die das
Gravitationsgesetz auf dem Papier stand. Nur gibt es von
diesem Standpunkt aus wohl die Gravitation, aber nicht
das Gesetz als Erkenntnis, als vererbbare logische Tatsache.
Ganz das gleiche wäre mit Faust der Fall. Das, was nämlich
durch die Bewegung der Substanz entsteht, wäre wieder
Strich, Prinzipien. 12
— 178 —
nur eine stetig sich verändernde Substanzkonstellation.
Das Papier vergilbt, die Tinte verblaßt. Alles dies geschieht
gesetzmäßig. Schließlich sind alle Elemente wohl noch da,
aber Gott weiß wo. Wäre unsere Naturwissenschaft an
ihrem Ideal angelangt, so würde sie es auch wissen können,
wenn sie sich darum bemühte. Wir erkennen die Wahrheit,
wenn wir in dem Bewußtsein überhaupt denken. Die Schrift
,, Faust" existiert genau so, wie eine bestimmte Sandfor-
mation in der Sahara momentan oder etwas länger existiert,
wenn ein Windstoß über sie hinfährt. Das könnte man ja
denken. Aber man darf dann eben nicht berücksichtigen,
daß die Absicht vorlag, das Wort ,, Faust" zu schreiben.
Man muß annehmen, daß es an einer momentanen Kon-
stellation der Substanz lag, daß jene Anhäufung chemischer
Elemente, die wir beschriebenes Papier nennen, herauskam
und verschwindet. Man darf nicht annehmen, daß Goethe
existiert, schreiben gelernt hat, daß das Wort ,, Faust" exi-
stiert hat, daß er es gelesen hat und jetzt schreiben wollte,
damit andere Menschen es auch lesen können. Alles dies
wäre ein Irrtum. Vom Monismus aus kann es nur die eine
sich gesetzmäßig verändernde Substanz geben, keinen Goethe,
keinen Faust, kein Schreiben, kein Lesen und kein Lernen,
keinen Willen und keine andern Menschen. Erkennt man
nur einen jener Begriffe an, so hat man das Spiel verloren.
Will man eine Substanzkonstellation gesetzmäßig aus der
vorhergehenden erklären, so gibt es alles dies nicht.
Man wird mir einwenden, daß, so wie ich den Monismus
dargestellt habe, kein Mensch daran glaubt. Indessen würde
das gerade nur beweisen, daß man ihn noch nicht logisch
zu Ende gedacht hat. Was ich darstellte, ist nur die
logische Konsequenz der Annahme, daß die reine Ver-
nunft, die Erkenntnis der Naturgesetze, alle Phänomene
prinzipiell erklären kann. Wenn man das Geschichtliche
als Erkenntnis anerkennt und trotzdem einen Monismus
behauptet, so ist das ein Widerspruch in sich selbst. Denn
— 179 —
die historische Erkenntnis läßt sich mit der Raumerkenntnis
nicht zu einer Erkenntnis vereinigen, nur diese aber könnte
einen Monismus begründen. Mit einem unkritischen Monis-
mus, der selbst nicht weiß, was er will, für den die Einheit
nur ein Wort ist, wo die Begriffe fehlen, ist eine Auseinander-
setzung unmöglich. Wenn ich den Monismus bekämpfe,
so kann ich dabei nur eine kritische Form zugrunde legen,
nämlich das Dogma, daß die reine Vernunft die Welt-
erkenntnis bedeutet. Von diesem Standpunkt aus war
unsere Darstellung nur konsequent. Der Monismus müßte
so denken, wenn er logisch denken würde. Eine Behauptung
über das Sein ohne die Begründung durch die Erkenntnis
ist jederzeit haltlos metaphysisch und infolgedessen un-
diskutierbar.
Mit der ersten historischen Bestimmung hat man schon
die Kette der Kausalität zerrissen. Im Raum existieren
Elemente, aber nicht die Tatsache, daß jemand etwas schreibt
und ein anderer es liest. Die schlimmste Verirrung des
Denkens ist gerade die kausale Psychologie. Besser wäre
noch der reine Materialismus. Das Willens-, Färb- oder Lust-
element etc. sind alles Ausgeburten gelehrter Phantasie.
Unsere Psychologie hat das Raumdenken zum Prinzip er-
hoben. Es ist eine unselige Verblendung, daß durch die
Konstruktion des psychischen Bewußtseinsraums an jenem
Beispiel von Goethe nur das Geringste verändert wird. Es
wird dadurch viel unsinniger, wenn man dann noch von
Kausalität spricht. Es gibt gar nichts Psychisches, was wirkt
und bewirkt wird. Alles dies sind unkritische metaphysische
Konstruktionen. Zu allem übrigen müßte dann noch die
zur Verzweiflung treibende Frage auftauchen, warum es
überhaupt ein Bewußtsein, Lust und Leid in der Welt gibt.
Wenn alles durch die Gesetze der Substanz bewirkt wird, so
wäre dies ein unerhörter und wohl auch frivoler Luxus der
Natur. Vom Standpunkt der sogenannt exakten Psychologie,
die ja immer mit dem psychophysischen Parallelismus
12*
— 180 —
kokettiert, gäbe es darauf nur eine, aber sehr merkwürdige
Antwort. Man räumt nämlich der Psychologie das vor-
läufige Recht ein, den Zusammenhang in dem Bewußtsein
zu suchen, da der im Raum, im Gehirn, noch immer zu wenig
bekannt ist. Das Bewußtsein hätte also dann eine Existenz-
berechtigung dadurch, daß die Phänomene so „leichter"
erkennbar sind als durch den Raum. Eine andere Antwort
läßt sich nicht finden. Daß man aber das Bewußtsein selbst
in den Kausalzusammenhang der Welt hineinbeziehen will,
ist die frivolste und unkritischste Behauptung, die sich
denken läßt. Das Bewußtsein hat mit dem Raum nur den
einen Berührungspunkt, daß der erlebte Raum eben Inhalt
des Bewußtseins ist. Es ist aber keine Existenz neben dem
Raum. Es gibt keine psychische Wesenhaftigkeit, die in
Beziehung zum Raum treten könnte. Das Psychische be-
deutet ein anderes Denken der Welt. Mit ihm beginnt die
Geschichte. Es ist nur dadurch charakterisierbar, daß es
kein kausales Denken der Phänomene bedeutet. Der histo-
rische Zusammenhang des individuellen Bewußtseins läßt
sich mit der allgemeinen Kausalität überhaupt nicht ver-
gleichen. Jede Gehirnlokalisation übersieht, daß sie das
Gehirn gar nicht mehr als Teil des einen objektiven Raums
denkt; sie sieht nicht, daß der Teil eine individuelle historische
Bedeutung im Organismus empfängt. Abgesehen von der
Verbindung des Gehirns mit dem übrigen Körper, wird es
die Lokalisaüonstheorie niemals weiter bringen, als bis zu
der Zuordnung historischer Funktionen zu bestimmten
Raumsphären. Man kann das Sehen lokalisieren, aber
nicht das Gesehene. Jede Kritik des Monismus muß
bei dem Worte enden: Spinoza hätte Recht, wenn
es keine Monaden gäbe. Aber die Existenz der Monade
wäre viel gewisser als die Existenz des mathematischen
Raums, wenn dieser Vergleich überhaupt einen Sinn hätte.
Die Natur ist das Werk der Monaden, das Erzeugnis des
Willens nach Objektivität. Es ist von der empirischen Er-
— 181 —
fahrung aus gar nicht einzusehen, warum der psychophysische
Parallelismus, die kausale Psychologie oder die mechanistische
Biologie eine Denkforderung der Vernunft sein soll. Wir
haben uns erkennend mit der Welt abzufinden, wie sie ist.
Daß ein Mensch handelt, um einer Unlust zu entgehen,
ist eine Tatsache, die mit der Kausalität im Raum nichts zu
tun hat. Weder ist seine Bewegung erklärbar ohne sein Be-
wußtsein, noch ist sie durch die Unlust kausal im Raum er-
klärbar. Kein Naturgesetz wird dadurch im Raum auf-
gehoben, keinem Prinzip der Naturwissenschaft wider-
sprochen. Der Wille ist keine neue Energie im Raum, sondern
ein Prinzip, die Phänomene zu begründen. Darum bleibt
das Gesetz der Erhaltung der Energie auch von dem kri-
tischen oder historischen Vitalismus aus unangetastet.
Es wird nur die Tatsache ausgesprochen, daß die Gesetze
der toten Natur das Leben nicht erklären können. Keine
Logik kann beweisen, daß sie es tun müssen.
Es gibt in unserm Fall nur eine Möglichkeit. Man
entscheidet sich, ob Goethe existiert hat oder nicht. Wenn
ja, dann kann man seine Schreibbewegungen auch nur
historisch begründen durch seine Erlebnisse und seine Zwecke.
Wenn nicht, dann muß man nach zeitlosen Ursachen suchen,
die es dahin gebracht haben, daß aus der Substanzkonstel-
lation zu Adams Zeiten sich das herausgebildet hat, was
wir beschriebenes Papier nennen.
Was Goethe recht ist, ist aber der Amöbe billig. Oder
man muß beweisen, daß man verpflichtet ist, in einem
Moment die Reihe des Lebens zu unterbrechen. Bei Goethe
hört die Kausalität nicht auf, sondern bei dem ersten Or-
ganismus, dessen Bewegung man spontan nennt. Denn
damit ist gesagt, daß sie nicht anders als historisch ver-
standen werden kann.
Das Fallen des Steins ist abhängig von der Masse.
Wäre das Gravitationsgesetz kein zeitloses, so müßte
man annehmen, daß es selbst wieder durch ein anderes
— 182 —
erklärbar ist. Angenommen, die Naturwissenschaft wäre
heute noch nicht über das Gesetz hinausgelangt, so ist es
für sie das zeitlose. Die größere Masse ist die zeitlose Ursache
der Bewegung des Steins. Wenn ich aber sehe, daß ein
Mensch um ein brennendes Feuer einen Umweg macht,
und ich sage, daß dies erklärt ist aus dem, daß er früher
gehen gelernt hat, daß er das Feuer kennt, etc., so habe ich
seine Bewegung, damit auch die Bewegung der Masse nicht
abhängig gemacht von zeitlosen Ursachen, sondern von
ganz bestimmten historischen Ereignissen. Es besteht,
keine Abhängigkeit von dem, was der Naturwissenschaftler
im Raum annimmt, wie er auch immer die Wärme theo-
retisch denkt, sondern von der Wärme als historischer
Realität, die auch nicht die Folge jener Wärme im Raum
etwa wäre, sondern nur dasselbe datum, aber in einem
andern System, nicht in der Natur, sondern im Leben.
Wenn man das zugibt, dann gibt es keine kausale Psycho-
logie und — keine Kausalität des Willens.
Bevor ich darauf eingehe, möchte ich kurz den Dar-
winismus berühren. Das 19. Jahrhundert hat sich dem
Fluch der Lächerlichkeit ausgesetzt, daß es in ihm Menschen
gegeben hat, die geglaubt haben, Darwinismus und Mechanis-
mus seien miteinander vereinbar, oder der Darwinismus
sei ein Beweis für den Mechanismus, oder Darwin erkläre die
Entwicklung mechanisch, oder der Darwinismus habe aus
der beschreibenden Naturgeschichte eine erklärende gemacht,
oder Darwin habe den Zweck durch die Ursache ersetzt.
Ich will aber nicht den Grundgedanken des Darwinismus
etwa angreifen, sondern im Gegenteil nur zeigen, daß er
mit dem Mechanismus der Naturwissenschaft oder mit
dem Monismus nicht zu vereinbaren ist. Dieser Glaube
ist schon psychologisch merkwürdig. Denn wo liegt der
Unterschied zwischen dem, was uns Darwin erzählt und
dem, was unsere Geschichtsbücher und Zeitungen erzählen ?
Man wird vielleicht sagen, daß auch unsere Menschen-
— 183 —
geschichte mechanistisch erklärbar sei. Ich will das nicht
bestreiten. Eins aber ist sicher, man wird etwa Mommsens
Römische Geschichte kaum für eine mechanistische Erklärung
halten können. Wir hören in unserer bestehenden Geschichts-
wissenschaft von Kriegen, von dem Untergang alter Völker,
von der Liebe und dem Haß einzelner Männer und Frauen.
Dasselbe hören wir bei Darwin. Nur ist dort von Tieren
die Rede. Wir hören von der Liebe der Tiere, von dem Haß,
von Kriegen, die nicht so gut organisiert waren, deshalb
auch länger dauerten, aber auch mit dem Untergang von
Völkern endeten. Darwin kann uns leider auch nur erzählen,
daß es passiert ist. Was geschehen ist, kann er auch nicht
sagen. Besäßen wir die Geschichte sämtlicher Organismen,
die je gelebt haben, so würden wir vielleicht die Gestalt der
heute lebenden Bienen historisch begreifen. Aber diese Ge-
schichte ist praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Man muß
bedenken, daß die Körperformen ebenso historisch zu ver-
stehen oder nicht zu verstehen sind wie das Tun der Organis-
men. Es wäre von vornherein absurd, den Bienenstaat natur-
gesetzlich erklären zu wollen, und zwar gerade vom Stand-
punkt Darwins aus. Prinzipiell hätten wir es mit einem geistes-
geschichtlichen Problem zu tun, wenn es überhaupt eine
Geistesgeschichte über den Menschen hinaus gäbe. Ich werde
weiter unten mich zu zeigen bemühen, daß eine solche Ge-
schichte für uns unmöglich ist. Daraus folgt, daß wir
den Bienenstaat nie begreifen werden. Es wäre dies aber
nur möglich, indem wir ihn historisch zurückverfolgen,
genau so, wie wir den Körper der Biene nur begreifen könn-
ten, wenn wir die ganze Geschichte der Ahnen der heute
lebenden Bienen zurückverfolgen könnten. Die mechanische
Naturwissenschaft könnte uns hierbei ebensowenig nützen
wie etwa bei der Aufhellung der ägyptischen Geschichte.
In beiden Fällen handelte es sich darum, die Geschichte
zu finden, nicht aber Gesetze zu entdecken, die ein Geschehen
erklärten. Weil das Leben der Bienen stabiler ist
— 184 —
als das der Europäer, deswegen vergißt man allzu leicht,
daß es sich doch nur um historische Phänomene handelt,
die logisch nur einer Epoche der Menschheitsgeschichte
vergleichbar sind. Man vergißt überhaupt, daß der Dar-
winismus gleichbedeutend ist mit Natur-,, Geschichte". Im
allgemeinen kann man sagen, daß man heute die eigentliche
Geschichtswissenschaft erst bei der Kultur beginnen läßt
und die Geschichte der Bienen und noch die der Busch-
männer zur Naturwissenschaft rechnet. Die Namen tun
nichts zur Sache. Man muß nur bedenken, daß logisch
kein Unterschied innerhalb der Geschichte existiert, daß
ein prinzipieller Gegensatz vielmehr nur zwischen Ge-
schichte und Naturwissenschaft im Sinne des Mechanis-
mus besteht.
Darwin hat eigentlich das große Verdienst, dies erkannt
zu haben. Er hat einen unkritischen Zweckbegriff aus der
Geschichte entfernt, den man nicht nur in der Tier-, sondern
auch in der Menschengeschichte angenommen hat. Wir
betrachten heute Napoleon nicht mehr als eine von Gott
gesandte Geißel der Völker. Aber den Zweck hat er deshalb
aus der Geschichte als Wissenschaft nicht entfernt. Er
hat ihn, den man von einem metaphysischen Willen abhängig
machte, so weit es geht, zum Gegenstand des Willens
der Organismen selbst zu machen versucht oder die zu-
fällig entstandene, d. h. genetisch unerkannte Zweckmäßig-
keit für die historische Erkenntnis ausgenutzt. Er hat
versucht, soweit wie möglich die Kausalität auszuschalten
und die Geschichte als „Tat" der Organismen und der
Natur zu beweisen. Ein außerweltlicher Wille wäre ein
mechanischer Eingriff in die Geschichte, wie es in die
Welt des einzelnen ein mechanischer Eingriff ist, gleich-
gültig, ob ein Stein auf den Kopf fällt oder geworfen
wird. Darwin hat versucht, den Mechanismus aufzu-
heben, indem er das Geschehen in das Leben und den
Willen selbst verlegte. Damit hat er die Geschichte des
— 185 —
Lebens begründet, von der die menschliche der kleinste, aber
einzig sicher feststellbare Teil ist.
Anders kann man den Kampf ums Dasein und die
natürliche Zuchtwahl gar nicht auffassen. Darwin sagt
damit: die Zweckmäßigkeit ist kein mechanischer Zufall,
sondern das Resultat heißen Bemühens. Er läßt etwas
nicht als Zweckmäßigkeit entstehen, aber er läßt es als
Zweckmäßigkeit fortbestehen. Das Rätsel der Entstehung
aber hat er überhaupt nicht berührt, geschweige erklärt,
nur benannt hat er es, nämlich mit dem Namen ,, Variation".
Die Organismen kämpfen um ihr Dasein. Man spricht immer
von dem Auftauchen des darwinistischen Gedankens bei
Empedokles. Der Unterschied aber ist doch vielleicht
bedeutender. Was Empedokles als mechanistischen
Zufall auffaßte, hat Darwin historisch verständlich gemacht.
Gerade das Nichtmechanistische ist bei Darwin die Haupt-
sache.
Darwin hat kein Naturgesetz entdeckt, das die Ent-
wicklung beherrscht, sondern er hat die Entwicklung
entdeckt. Er hat nicht die Zweckmäßigkeit aus Ursachen
erklärt, sondern er hat sie nur zum Verständnis der Geschichte
ausgenutzt. Ihm ist die historische Tatsache aufgefallen, daß
Organismen entstehen, die unfähig sind zum Leben. Damit hat
er aber nicht die Existenz des Zweckmäßigen durch Ursachen
erklärt. Nehmen wir an, daß die Variabilität mechanisch be-
dingt ist, so gibt es nicht ,,ein" Gesetz, das sie erklärt, sondern
jeder Fall ist von den speziellen Naturgesetzen abhängig.
Darwin hat die so entstandene historisch zufällige Form
durch ihre Zweckbedeutung ausgenutzt. Es gibt Eigen-
schaften, die für das Leben zweckmäßig sind, und andere,
die unzweckmäßig sind. Die einen Organismen bleiben
leben, die andern nicht. Dies ist der Bericht von einer
historischen Tatsache, aber keine naturgesetzliche Erklärung.
Darwin hat mit dem metaphysischen Zweckbegriff gebrochen.
Er hat die Entstehung des Zweckmäßigen nicht auf einen
— 186 —
außerweltlichen Willen zurückgeführt, sondern auf den
Willen des Lebens. Der Begriff der Variation nämlich steht
im Gegensatz zum Mechanismus. Für den Mechanismus
gäbe es nur mechanisch bedingte Substanzbildungen. Daß
man sie als Variationen einer Art denkt, bedeutet schon das
Verlassen des mechanistischen Prinzips. Man geht nämlich
dabei von der Idee der immanenten Determinierung und
des historischen Zufalls aus. Man täuscht sich, wenn
man glaubt, im Rahmen des Mechanismus die Varietät
erklären zu können. Es wäre wirklich höchst wunderbar,
wenn eine mechanisch bedingte Abweichung der immanenten
Determination vererbt werden könnte. Zweifellos gibt es
solche mechanistische Beeinflussung. Man denke an gewisse
Verkrüpplungen durch mechanische Ursachen während des
embryonalen Lebens. Allein solch ein Eingriff in die lebende
Einzelsubstanz ist noch nicht als vererbbar nachgewiesen
worden und kann es meines Erachtens logisch auch nicht
sein. Das Prinzip der Vererbung ist nichts anderes als die
Erkenntnis der Wiederholung innerhalb eines Zeitsystems.
Eine mechanistische Umgestaltung der Raumsubstanz, etwa
wenn man einer Maus den Schwanz abschneidet, ist aber
kein Phänomen innerhalb des Zeitsystems. Der Gegensatz
wird nur klar durch den Gegensatz der historischen und der
räumlichen Determinierung. Vererbung ist eine Wieder-
holung der historischen Determination. Wir nennen das
Entwicklung der Anlage. Das Wesentliche ist dies, daß
die Variabilität selbst als eine Bestimmtheit des Lebens
aufgefaßt wird und nicht als ein mechanischer Eingriff in
die historische Determinierung, nicht als eine Abänderung
durch den Raum, sondern selbst als eine immanente Deter-
minierung. Der Biologe behauptet zwar vielleicht, daß es
Raumursachen gibt, die eine Variation bedingen. Allein
bis jetzt ist dies nur eine Behauptung. Bisweilen allerdings
spricht man auch von einem Spiel der Natur und von Spiel-
formen. Dabei würde es sich aber um die allerschärfsten
— 187 —
logischen Gegensätze handeln. Die Maus ohne Schwanz
wird als keine Spielform der Natur aufgefaßt, sondern als
eine künstlich bewirkte. Es kommt dabei nicht darauf an,
daß wir das Messer zur Hand nehmen, das ist vom mecha-
nistischen Standpunkt aus ganz gleichgültig. Nur darauf
kommt es an, daß hier ein Organismus von ihm aus mecha-
nistisch umgestaltet ist. Die Spielform der Natur aber
ist entstanden rein als historische Determination. Wir können
keine Ursache für sie finden. Wir stoßen vielmehr auf die
Tatsache, daß aus einem Elternpaar abweichende Organismen
entstehen. Wir denken die Variation als eine Eigenschaft
des Lebens und nicht als gesetzmäßig entstandene Substanz-
konstellation, wie es allerdings bei der Maus der Fall wäre.
Wir fassen damit den Gegensatz von historischer und reiner
Vernunft. Wir sprechen sehr berechtigter Weise von einem Spiel
der Natur. Die tote Natur spielt nicht. In ihr gibt es nur
Gesetze. Das Leben erzeugt Variationen. Dies ist eine histo-
rische Tatsache, die wir nicht als mechanische Entstehung
der Raumkonstellation ansehen. In dem Begriff der
Variation liegt schon der Gegensatz zum Mechanismus.
Wir denken etwas als Variation einer Art oder als eine mecha-
nische Beeinflussung eines einzelnen Organismus. Es ist
derselbe Gegensatz wie zwischen spontaner und mechanischer
Bewegung. Erst das Denken macht etwas zu einer Variation.
Keinem wird es einfallen, einen Menschen, dem man den
Blinddarm herausgenommen hat, für eine Variation der
Rasse „Mensch" zu halten. Aber eine angeborene abnorme
Verkümmerung des Blinddarms könnte eine Variation be-
gründen. Der logische Unterschied besteht in nichts anderm,
als daß wir das eine Mal eine Veränderung des Organismus
auf einen mechanischen Eingriff zurückführen, das andere
Mal auf ein Werk der Natur. Werk der Natur heißt aber
nichts anderes, als daß wir die Variation auf eine imma-
nente Determinierung und nicht auf eine Ursache zurück-
führen.
— 188 —
Daran wird auch nichts geändert, wenn wir die Vari-
ationen aus den Vorgängen im Keimplasma zu verstehen
suchen. Der Begriff der Anlage steht im schärfsten Gegensatz
zum Mechanismus. Man schaltet den Willen des Lebens nur
sprachlich aus. Man erwähnt ihn nicht. Allein er liegt der
ganzen Darstellung zugrunde. Die Anlage ist nur die momen-
tane Hypostasierung der zukünftigen Form. Dadurch, daß
man eine solche annimmt, gibt man die Problemstellung
des Mechanismus auf. Man betrügt sich selbst, wenn man
dann noch von Mechanismus spricht. Es käme ja gerade
darauf an, die Anlage zu erklären. Soweit diese aber nicht
vererbt ist, d. h. historisch zurückgeführt wird, mit andern
Worten, soweit sie eine Variation bedeutet, kann man sie
nicht erklären als schon in der Vergangenheit existierend.
Sie ist auf alle Fälle eine Schöpfung aus dem Nichts, mag
man sie als sinnvolle oder zufällige Schöpfung ansehen.
Daran wird auch nichts geändert, wenn man an sich Tausende
oder Millionen von Anlagen annimmt und nur eine durch
mechanische Ursachen zur Entwicklung kommen läßt.
Daß die Anlagen da sind, wäre wieder Wille des Lebens oder
der lebendigen Natur. Erklären kann man die Abweichung
niemals, weil sie nur eine „andere" immanente Determination
voraussetzt, nicht aber einen mechanischen Eingriff in die
identische immanente Determination bedeutet. Ein mecha-
nischer Eingriff in das Keimplasma hat die gleiche logische
Bedeutung wie bei dem schon etwas mehr entwickelten
Organismus. Der Kampf gegen die Vererbung erworbener
Eigenschaften ist, soweit er berechtigt ist, ein Kampf gegen
den Mechanismus in der Biologie. Sonst wäre es auch gar
nicht möglich, „logische" Einwände gegen sie zu erheben.
Mechanische Umgestaltungen sind nicht vererbbar, sondern
nur immanente Determinierungen.
In dem Begriff der Variation steckt schon das Aufgeben
des mechanistischen Prinzips. Jede Variation ist eine histo-
rische Tat und kein mechanisches Geschehen. Deswegen
— 189 —
müssen wir von der Tat des Lebenswillens ausgehen. Ich
behaupte nicht, daß damit etwas erklärt ist, sondern gerade
das Gegenteil. Es gäbe aber eben überhaupt nur etwas zu
erklären, wenn wir von der Kausalität ausgehen würden
und nicht von der historischen Vernunft. Weil die Variation
eine historische Tatsache ist, deswegen können wir das
Spätere als Wiederholung erkennen, wodurch wir wieder
einen Gegensatz zum Mechanismus behaupten. Die Ver-
erbung leugnet gerade das mechanistische Prinzip. Wir
verstehen etwas als Wiederholung in dem Zeitsystem ,, Leben"
und erklären es nicht durch eine Wiederholung im zeitlosen
Raum, durch ein Naturgesetz. Die Tatsache der Vererbung
selbst aber als ein Naturgesetz anzusehen, hat überhaupt
keinen Sinn. Nur das völlig kritiklose Denken kann hier
ein dem Gravitationsgesetz logisch entsprechendes, entdecktes
Naturgesetz behaupten. Es ist dies nur dem zu vergleichen,
daß man das Assoziationsgesetz als ein Naturgesetz an-
gesehen hat. Man hat überhaupt kein Gesetz entdeckt.
Daß Menschen aus Menschen entstehen, wußte man auch
schon vor Darwin. Diesen Vorgang hat man durch kein
Gesetz erklärt. Man hat keine Ursachen gefunden, sondern
ihm nur einen Namen gegeben: Vererbung. Es ist überhaupt
nicht ersichtlich, was man eigentlich unter dem „Gesetz"
der Vererbung versteht. Tatsächlich hat die Vererbung
nur einen methodischen Sinn, nämlich den, daß die moni-
stische oder mechanistische Problemstellung von vornherein
ausgeschaltet wird. Man hält das Geschehen nicht für bedingt
durch die zeitlosen Naturgesetze, die für jede verschiedene
Bildung übrigens verschieden sein müßten, sondern nur
für bestimmt als historische Wiederholung. Die Anpassung
ist uns als Geschichte verständlich. Die Variation, die das
Leben, nicht der Mechanismus zustande gebracht hat, lebt
weiter und pflanzt sich fort. Kein mechanistischer Einfluß
kommt für die Entwicklungstheorie in Betracht, vielmehr
nur die immanente Determinierung. Aus dem Experiment
— 190 —
mit der Maus hätte man schließen müssen auf den Gegensatz
von Leben und Mechanismus. Dies Problem versteckt sich
in der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften.
Was in seiner jetzigen Existenz nur historisch, als Vererbung,
begründbar ist, kann auch in seinem Ursprung nur historisch,
immanent oder spontan, und nicht mechanistisch begründet
werden, denn es existiert für das Denken überhaupt nicht
mehr im Raum des Mechanismus. Darwins große Tat ist es
gewesen, daß er den Willen zum Leben zum Prinzip der
Geschichte erhob. Aber schon der „Wille" hätte genügt.
Der Wille zum Leben ist ein Pleonasmus. Wer nicht gut aus-
gerüstet ist zum Kampf, unterliegt und stirbt, ohne Nachkom-
men zu hinterlassen, weil er nicht zur Fortpflanzung kam. Das
letztere berührt die Psychologie der Liebe. Darwin hat in dieser
Hinsicht die Geschichte verständlich gemacht aus einer unend-
lichen Anzahl von Geschichten, von Liebesromanen, die sich
ungefähr so gleich sind wie ein Liebesroman in der modernen
Literatur dem andern, durch glückliche und unglückliche
Liebe, Vergewaltigung, Duelle, Tod etc. Von Ursachen ist
im Darwinismus nichts zu sehen. Sein Prinzip ist, daß „die
Geschichte" zu verstehen ist aus den Geschichten, die passiert
sind. Diese selbst kann er so wenig erklären wie ein anderer.
Sonst wären es keine Geschichten, sondern zeitlose Vorgänge
wie die Gravitation. Vielleicht ist es öfter vorgekommen,
daß der geschlechtliche Akt eine Vergewaltigung war, viel-
leicht auch öfter, daß das Weibchen sich selbst nach dem
Männchen sehnte, das Heldentaten verrichtet hatte. Immer
handelt es sich um historische Tatsachen, die durch kein
zeitloses Gesetz erklärt werden können. Darwins Geschichte
beruht genau so auf Zweckhandlungen und Wille wie jede
Geschichte. Sein Verdienst ist gerade, daß er die eigene Tat des
Individuums entscheiden läßt und sie weder durch einen
außerhalb liegenden Zweck noch durch eine außerhalb
liegende Ursache mechanistisch erklären will. Er fußt
absolut auf dem Dualismus des Lebens und des Todes, von
— 191 —
Zweck und Ursache, Geschichte und Mechanismus, wenn
man sagen will — Geist und Materie. Denn das Wort Geist
kann empirisch nur eine andere Bezeichnung für den han-
delnden Organismus sein.
Wenn der Monist sich auf Darwin beruft, so weiß er nicht,
was er tut. Als Naturforscher ist das auch nicht seine Pflicht.
Die Philosophie aber ist nur die Erkenntnis dessen, was man
tut. Die Fragen nach Monismus und Dualismus sind philo-
sophische Probleme, zu denen man nur Stellung nehmen
sollte, wenn man überhaupt weiß, was Philosophie ist. Der
Philosoph weist nach, daß die Erkenntnis zweierlei „tut",
nämlich historisch und mechanistisch die Welt formt oder
erkennt, daß beides unüberbrückbare Gegensätze sind. Daraus
folgt, daß es zwei Realitäten gibt — die Entwicklung des
einen Lebens in der Zeit und die Veränderung der einen
zeitlosen Substanz. Nach dieser Trennung kann man mit
dem Monismus keinen vernünftigen Sinn mehr verbinden
außer dem, daß alles in Zeit und Raum sich abspielt, so daß
es möglich ist, alles entweder im Raum zu denken, wobei
man das Leben nicht erkennt, oder alles in der Zeit, wobei
man die Mythologie an die Stelle der Naturwissenschaft
setzt. Ein religiöses Dogma kann das philosophische Problem
des Monismus überhaupt nicht berühren. Ebensowenig
war von einem Wertdualismus die Rede. Es ist eine müßige
Frage, ob man den Organismus, den Geist, höher zu bewerten
hat als die Materie, denn eine kritische Bewertung kann sich
nur auf die Taten des Geistes beziehen.
Wir bestimmen die Tat durch das, was im erlebten
Raum und nicht im Raum der Naturwissenschaft eintritt.
Wir bemühen uns die Veränderung historisch zu begreifen.
Dies gelingt uns aber nicht, wenn wir die Zukunft denken
als das, was von der Wirklichkeit aus nach der Kausalität
sein muß, sondern nur, wenn wir sie als das denken, was sein
soll. Nur durch die Kategorie des Sollens wird die Zeit historisch
erkennbar. Wir suchen nach einem Zusammenhang der Lebens-
— 192 —
phänomene. Wir kennen aber keine Realität, die sich nach zeit-
losen Gesetzen verändert, so daß die Zeit erklärt ist durch das,
was sein muss, weil es ist. Historisch geschieht etwas, aber
da wir nichts haben, woraus es als notwendig folgt, müssen
wir den Grund des Geschehens, wenn wir ihn überhaupt er-
kennen wollen, in ihm selbst sehen. Wir verstehen die Reali-
tät der Zeit dadurch, daß der historische Moment sein soll.
Eine andere Möglichkeit ist ausgeschlossen. Diese Determinie-
rung nennen wir Wille. Jeder historische Moment ist in Wahr-
heit ,, causa suiu und nicht Folge von Ursachen. Dies kann
gar nicht anders sein, wenn wir die Zeit als Realität annehmen.
Auch der Naturwissenschaftler nimmt eine ,, causa sui"
an, nämlich in dem letzten Gesetz, das er findet, und in dem
Begriff der Bewegung. Nehmen wir einmal an, daß das
Gravitationsgesetz das allerletzte, also zeitlose Gesetz ist,
das die Wirklichkeit ausmacht. Wir erkennen damit die
Realität, aber wir können sie selbst nicht erklären. Wir
erklären vielmehr die historische Veränderung innerhalb
der Zeit. Die Realität selbst erklären, hieße die Welt aus
dem Nichts erklären. Nun ist die Realität des Psychologen
nur die Zeit und nicht der Raum. Betrachten wir das Leben
Goethes, so ist dieses System der reale Gegenstand, den
wir erkennen wollen. Wir können nur Gleichheiten innerhalb
dieses Systems feststellen, wie der Naturwissenschaftler
solche im Raum feststellt. Wie aber der Naturwissenschaftler
nicht die Realität der Substanz erklären, sondern nur erkennen
kann, so kann auch der Psychologe die Realität wohl durch
Allgemeinheiten erkennen, aber nicht aus dem Nichts heraus
erklären. Das ganze Leben von Goethe existiert in diesem
Sinne als gegebener Gegenstand, wie der Raum oder die
Wirklichkeit gegeben ist. Andererseits aber ist das Leben
eine Folge von Momenten und nicht ein jeden Moment
existierender Gegenstand wie der Raum. Da beide Auf-
fassungsweisen berechtigt sind, so entsteht ein Dilemma,
aus dem es keinen Ausweg gibt, wenn man die Zeit nicht
— 193 —
als eine causa sui ansieht oder, was dasselbe besagt, nicht
durch den Willen bestimmt.
Es ist schlechterdings unmöglich, nach einer Ursache
der Gravitation zu fragen, falls sie wirklich das letzte Gesetz
ist, bis zu dem die Erkenntnis gedrungen ist. Die Realität ist
immer der Grenzbegriff unserer Erfahrung. Irgendwo hört die
Frage nach dem Grund auf, nämlich da, wo die Realität
anfängt. Wir können nur die Welt erkennen und nicht aus
dem Nichts heraus begreifen. Infolgedessen müssen wir
sagen, daß die Welt selbst für unser Denken causa sui ist.
Wir lösen damit nicht das Rätsel, wir sagen nur, daß
die Grenze unserer Erfahrung immer ein Rätsel ist. Ist
die Gravitation eine momentane Grenze unserer Erfahrung,
so können wir keinen Grund für sie erkennen. Sie ist
also causa sui. Wollen wir diese letzte Tatsache aber
subjektiv noch erkennen, so können wir dies interessanterweise
nicht anders als durch den Willen. Es ist dies keine natur-
wissenschaftliche Erkenntnis mehr. Wir können aber die
Grenze der Realität nicht mehr anders bestimmen, als
daß wir uns sagen: die Masse „will" anziehen, das „soll"
so sein. Damit freilich ist das Problem erledigt, aber weder
naturwissenschaftlich noch psychologisch gelöst.
Wenn aber der Historiker die Zeit als Realität auffaßt,
so muß sich bei ihm ganz das gleiche zeigen. Jede Realität
ist causa sui. Für den Naturwissenschaftler ist diese Realität
der Raum. Darum kann er durch seine Theorie den Zeit-
moment erklären. Für ihn ist die Wiederholung in der
Zeit erklärt, weil er sie als Wiederholung im zeit-
losen Raum denkt. Hätte er aber gefunden, was sich dort
überall abspielt, d. h. eine Theorie, die alles erklärt, so ist
diese seine Realität, seine causa sui. Für den Psychologen
existiert aber kein Raum, durch den er die Wiederholung
in der Zeit erklären könnte. Er kann nur sagen, was sich
wiederholt. Da wir aber dazu gedrängt werden, diese
Wiederholung der Zeit selbst zu erklären, so können wir
Strich, Prinzipien. 13
— 194 —
nur dasselbe tun wie der Naturwissenschaftler, nämlich die
Realität als causa sui ansehen, als bestimmt durch das Sein-
sollen, wo wir es nicht mehr auf ein anderes Sein zurück-
führen können, oder, was dasselbe besagt, bestimmt durch
den Willen.
Zu Ende gedacht ergibt das folgendes metaphysisches
Resultat: Die Welt, historisch gedacht, können wir nicht
anders bestimmen als durch die Tat des Ich. Dies ist nur
der Ausdruck dafür, daß wir die Existenz der Welt nicht
erklären können. Es ginge, wenn wir die historische Folge des
Bewußtseins erklären könnten, denn diese ist nichts weiter
als die historische Reihe der data der Sinnlichkeit, die Zeit-
folge der Empfindungen oder Weltbestimmtheiten. Der
Naturwissenschaftler erklärt die historische Reihe dadurch,
daß er sie nicht historisch, sondern im Raum denkt. Aber
er stößt dabei auch auf eine Grenze. Könnte er sie erklären,
so hätte er die Welt erklärt, dadurch aber auch die historische
Reihe des Bewußtseins. Diese Annahme ist aber auch von
ihm aus eine Absurdität. Auch er endet mit der Weisheit,
daß die Masse anzieht — vorausgesetzt, daß dies die
Grenze seiner Erfahrung wäre — , daß das Geschehen eine
causa sui ist. Er konstruiert eine farblose, tonlose Welt,
um die farbige und tönende zu erklären. Diese farbige Welt
ist nichts anderes als die historische, die Reihe der Bewußt-
seinsinhalte. Er endet bei der Erklärung der Zeitreihe, in
der der Raum selbst etwas Erlebtes und kein mathematisches
Medium ist, genau so bei der Tat der Masse, wie der Philosoph,
wenn er die farbige und tönende Welt denkt, bei der Tat
des Ich landet. Der eine nimmt den Raum als Realität,
der andere die Zeit. Beide können die Existenz nicht erklären,
sondern sie nur in der Kategorie denken, die als letzte des
Denkens existiert — als Tat. Ob ich die Welt als Zeit oder
Raum denken will, steht mir frei. Beide Male kann ich ihre
Existenz nicht erklären. Wirklich „metaphysisch" dabei
ist aber nur jenes „eine" Ich, als dessen Inhalt ich die Welt
— 195 —
historisch denke. Denn empirisch gibt es nur die Iche, die
Organismen oder Monaden. Dies „eine" Ich ist die Idee der
„einen" historischen Welt, die das Korrelat zu dem „einen"
Raum bildet, den der Naturwissenschaftler konstruiert. Wie er
die eine Welt als Gegenstand des „Ich überhaupt" denkt,
so können wir diese eine Welt historich auch nicht anders
denken als durch die Beziehung zu diesem einen Ich. Nun
wird die Verbindung von Raum und Zeit in dem Problem
der Wahrnehmung klar. Rein historisch ist die Welt die
Tat jenes metaphysischen transzendenten „einen" Ich.
Den Inhalt der einzelnen Monade aber erkenne ich nicht
mehr als ihre Tat, wenn sie als die Tat „des Ich" erkannt
worden ist. Dies wird sie, wenn sie der Naturwissenschaftler
in dem „einen" Raum erklärt hat, der das Korrelat dieses
Ich ist. Dann nenne ich den Inhalt eine Wahrnehmung.
Alles das, was nicht in diesem einen Räume denkbar ist,
ist nicht die Tat jenes transzendenten Ichs, sondern die Tat
der individuellen Monade, die an sich ebenso unerklärbar ist
wie die Welt überhaupt, denke ich sie als Zeit oder Raum.
Historisch ist die Welt eine Reihe von Taten und räumlich
gleichfalls. Wo die historische Welt mit der Raumwelt
zusammentrifft, da sprechen wir von „Wahr"nehmung, nicht
mehr von meiner Tat, sondern von Wahrheit und Wirklichkeit.
Tat aber bleibt es, nämlich entweder Tat jenes trans-
zendenten Ich, als die ich die Welt historisch denke, oder
Tat der Masse, als die ich die Welt räumlich denke. Alles
ist nur ein Ausdruck dafür, daß sich die Welt nicht aus dem
Nichts heraus erklären läßt. Sie selbst kann nicht anders
als als causa sui, als Tat oder als Sollen gedacht werden.
Tat ist ein Synonym für unerklärbare Existenz. Nur psycho-
logisch wäre sie zu begreifen. Wüßte ich, was die Masse
will oder bezweckt, wenn sie sich bewegt, so würde ich die
Welt begreifen, wenn auch nicht erklären. Wüßte ich, was
das transzendente Ich will, würde ich sie von der andern
Seite her begreifen. In beiden Fällen würde die Philosophie
13*
— 196 —
mythologisch. Hier hört Fichte auf kontrollierbar zu sein,
wenn er die historische Welt auch nur formal bestimmt
durch den Willen des Ich nach eigner Beschränkung. Es ist
weder wahr noch falsch, nur unkontrollierbar für die empi-
rische Erkenntnis. Von dem einzelnen historischen begrenzten
Subjekt aus ist aber die Tat durch den Willen erkennbar,
wenn auch nicht im Raum erklärbar. Sie bleibt causa sui.
Aber hier erkenne ich die causa als Zweck für das Subjekt.
Wir setzen ein begrenztes Subjekt voraus, eine Individualität.
Ihr Wille ist der Grenzbegriff der psychologischen Er-
kenntnis. Durch das, was gewollt ist, ist die Tat verstanden,
aber ihre Existenz nicht erklärt. Sonst wäre sie keine Tat.
Es kommt hier alles auf die eine Erkenntnis an, daß
der Begriff des Willens nur mit dem der Kausalität selbst
vergleichbar ist. Darin liegt die Lösung des psychischen
Kausalitätsproblems eingeschlossen wie die Kritik an allen
mythologisierenden und verräumlichenden Theorien des
Willens. Der Sexualtrieb ist nichts, was im Bewußtsein oder
im Unterbewußtsein existiert, sondern wir erkennen aus der
allgemeinen Beziehung die einzelne Handlung. Diese Be-
ziehung ist mit dem Naturgesetz vergleichbar. Die spezielle
Willenstendenz ist das Gesetz in dem Individualsystem.
Der Sexualtrieb ist genau so wenig ein Element, wie das
Gravitationsgesetz ein Element ist. Das Geschehen im Raum
erkennen wir durch die Kausalität. Diese aber ist nicht
selbst ein Geschehen im Raum. Sie zwingt auch nicht das
Gravitationsgesetz jetzt wirksam zu sein. Ebensowenig
ist das Gravitationsgesetz etwas, was im Raum existiert
und die Masse zwingt anzuziehen. Die ganze Verworrenheit
unserer Psychologie stammt nur daher, daß man niemals
das Problem des Willens erkenntniskritisch faßt. Was
jeder vernünftige Mensch in der Naturwissenschaft für
lächerlichen Unsinn halten würde, nämlich daß die Kausalität
oder das Gravitationsgesetz neben der Masse im Raum sitzt
und das Geschehen lenkt, das hält man in der Psychologie
— 197 —
für selbstverständlich. Man muß aber noch geistige Beweg-
lichkeit haben, um aus dem Netz des Raumdenkens in der
Psychologie herauskommen zu können.
Der tragischste Fehler unserer Psychologie ist es ge-
wesen, daß sie bei ihrer Auflösung des Bewußtseins in Ele-
mente noch eine Realität des Willens angenommen hat.
Die theoretisch konsequente kausale Psychologie hat dies
wenigstens eingesehen, sich aber damit in praxi ein für
allemal die Möglichkeit genommen, konsequent zu sein.
Wenn man eine erklärende kausale Psychologie annimmt,
so kann es in ihr unmöglich einen Willen geben. Es ist der
plumpste Fehler, wenn man nach einer Existenz des Willens
,,im" Bewußtsein sucht, womöglich durch Selbstbeob-
achtung. Es läßt sich das überhaupt nur dem vergleichen,
daß ein besonders empiristischer Naturforscher durch ein
ganz vervollkommnetes Mikroskop die Anwesenheit
oder Abwesenheit der Kausalität im Raum entdecken und
sehen wollte. Beides ist logisch absolut gleichbedeutend.
Der Wille ist weder ein Element noch 3 oder 20, weder
ein momentanes noch ein dauerndes Element, weder ein
momentaner Komplex noch eine Zeitreihe von Elementen.
Der Wille existiert überhaupt nicht „im" Bewußtsein,
genau so wenig, wie die Kausalität neben der Masse im Raum
existiert. Es wäre von der kausalen Psychologie ebenso
sinnvoll zu behaupten, daß die Kausalität im Bewußtsein
neben andern Elementen sitzt und die Folge bewirkt, wie daß
der Wille im Bewußtsein sitzt. Am allerwenigsten aber ist der
Wille ein Mensch im Menschen, der in einen anderen Raum
gestoßen wird und womöglich verkleidet wieder erscheint.
Auf diese neueste Errungenschaft des psychologischen
Raumdenkens komme ich noch zurück. Die ganze Theorie
des Unbewußten, des Symbols etc. stürzt zusammen, wenn
man die Raumbilder nicht mehr als Bilder nimmt, sondern
nach einer Wesenhaftigkeit sucht, die hinter dem Worte
liegt. Daß ein Wille in verkappter Gestalt aus dem
— 198 —
Unterbewußtsein ins Oberbewußtsein tritt, wird man
wohl selbst nur als Bild der Sprache ansehen. Es ist
ganz charakteristisch für unsere Psychologie, daß man
sich darüber streitet, ob es ein besonderes Element Nicht-
wollen oder nur ein Wollen des Nichtseins gibt. Von
der Elementarspychologie und der Selbstbeobachtung aus
wäre dies nicht zu entscheiden. Geht man aber davon aus,
daß man überhaupt nicht die objektive Existenz quali-
tativer Elemente im Bewußtseinsraum feststellen kann,
sondern nur das Subjekt in seinem Verhältnis zur Umwelt
beschreiben kann, so gibt es keinen Streit. Wie ich nämlich
sprachlich die Stellung schildere, ist ganz belanglos. Die
subjektive Stellung des Subjekts zur Umwelt allein ist das
Wesentliche, was mir die Handlung verständlich macht.
Wollen ist das, was der naive, von keiner Theorie angekrän-
kelte Mensch darunter versteht, nämlich eine mehr oder
minder konstante wertende Stellung des handelnden Subjekts
zu der Welt. In einem Trinker existiert der Wille zu trinken
genau so, wie in der Masse die Gravitation sitzt. Existieren
tun alle seine Bewegungen, die ich als Handlungen in der
Zeit auffasse, und deren Existenz ich allein dadurch erkenne,
daß ich den historischen Moment des Endes als Zweck des
Individuums auffasse. Genau so existieren im Raum Be-
wegungen, die ich nicht objektiv erkennen könnte, wenn ich
sie nicht als Folge der unmittelbaren Vergangenheit auf-
fassen würde. Der Kausalität im Raum entspricht der Wille
des Subjekts in der Zeit. Wollte man sich begnügen, eine
Handlung durch den Willen zu erklären, so würde das nicht
viel mehr heißen, als mit den physikalischen Untersuchungen
aufzuhören, weil sie durch die Kausalität erklärt werden
können. Der Wille ist nur das Prinzip der Erkenntnis.
Welcher Wille oder welches Gesetz den Einzelfall, die Hand-
lung oder das Geschehen verständlich macht, das ist die
Frage. Mit dem speziellen Willen gibt man aber keine exi-
stierenden Ursachen an, sondern höchstens ein Gesetz des
— 199 —
Individualsystems, wenn man dieses Wort anwenden will.
Den Willen selbst in die Kette der Kausalität einzuschalten,
hat genau so viel Sinn, wie das Gravitationsgesetz als Faktor
des Geschehens anzusehen. In dem Schwimmer existiert
keine Ursache: ,, Wille über Wasser zu bleiben", die seine
Bewegungen im Raum bestimmt. Dieser Wille existiert
für ihn genau so wie der, seine Schularbeiten zu machen,
sein Examen zu bestehen, ein anständiger Mensch zu bleiben
etc. etc. Er existiert als eine Bestimmtheit des historischen
Subjekts, das in der Zeit existiert. Ein chemisches Element
Ahat zu dem Element B eine bestimmte Beziehung und zuC
eine andere. Wenn es mit B in Berührung gelangt, so kann ich
das eintretende Faktum nicht aus seiner Beziehung zu C er-
klären. Solange A existiert, existiert aber auch diese Beziehung.
Genau so ist es mit dem Willen. Ein Wille taucht nicht im
Bewußtsein auf, ebensowenig wie die Schwerkraft in der Masse
auftaucht. Er existiert als Bestimmtheit des Subjekts, wenn
ich die momentane Handlung aus ihm verstehe, genau so wie
die andern Tendenzen, die für die momentane Handlung
nicht in Betracht kommen. Es wäre plumpes Raumdenken,
wenn man den einen Willen im Bewußtsein, die andern
im Unbewußtsein existierend annehmen wollte. Das Un-
bewußte ist in diesem Sinne in Wahrheit nur eine Übertragung
des Raumdenkens auf die Psychologie, eine völlig materiali-
stische Theorie, eine plumpe Erklärung, die gerade nicht zu
den Tiefen des Lebens gelangt.
Mit dieser Verräumlichung des Bewußtseins hängt
aufs engste der rationalistische Fehler der Willenspsycho-
logie zusammen, daß nämlich nur die „Vornahme" als
Wille angesehen wird oder erklärbar erscheint. Man darf
nicht das Psychische in zwei Räume teilen, das Bewußtsein
und das Unbewußte oder Ober- und Unterbewußtsein, aber
man muß beschreibend das Gewußte von dem Ungewußten
trennen. Dieser Unterschied ist aber nur anzuerkennen,
wenn man das alte Märchen von dem Bewußtseinsraum,
— 200 —
den psychischen Elementen oder Dingen, zu denen auch der
Wille gehört, der Selbstbeobachtung oder endopsychischen
Wahrnehmung aufgibt, kurz alle Raumtheorien zur Erklärung
von etwas, was nur dadurch überhaupt etwas ist, daß es
nicht räumlich gedacht werden kann. Wogegen ich kämpfe,
das ist der Rationalismus als psychologische Theorie, und
diese Theorie des Unbewußten ist nur eine versteckte, viel-
leicht aber auch verstärkte Form des Rationalismus.
Dadurch, daß man den Willen als einen psychischen
Gegenstand und nicht als eine Beziehung oder ein Gesetz
des Subjekts auffaßt, ist man gezwungen, auch den Gegen-
stand des Willens im Bewußtsein existieren zu lassen. Dann
wird allerdings das unbewußte Handeln zu einer Unmöglich-
keit, zu einem psychologischen Nonsens. Wir sind gewohnt,
wir sind aber auch gezwungen, jedes Handeln durch einen
Willen zu interpretieren. Dies ist die einzige Möglichkeit,
die historische Wirklichkeit zu begreifen oder zu verstehen.
Es ist aber ganz unmöglich, die Wirklichkeit zu erklären,
dadurch daß man irgendwo eine existierende Ursache, Willen,
annimmt, die der Handlung vorhergeht und sie bewirkt.
Wir bezeichnen mit dem Willen die Beziehung des Subjekts
zur Welt und gar nicht einen Moment, in dem der Bezie-
hungsgegenstand im Bewußtsein in irgend einer Form erlebt
wird. Es ist plumpes Raumdenken, wenn man meint, daß
ein solcher Wille im Bewußtsein existiert. Bewußtsein kann
kritisch oder berechtigt hier nur besagen, daß das Subjekt den
Willen weiß. Dieses Wissen oder dieses Bewußtsein von sich
selbst ist aber für uns keine notwendige Bedingung, um die
Handlung zu verstehen. Die Handlung kann auch unbewußt
geschehen oder, wie man vielleicht besser sagen würde:
ungewußt. Nicht alles, was geschieht, brauchen wir zu
erkennen. Hier haben wir es mit dem Spezialfall zu tun,
daß historisch an uns selbst etwas geschieht, was wir nicht
wissen. Unsere rationalistische Psychologie kann das nicht
zugeben, weil sie das Psychische für einen Raum hält, in dem
— 201 —
etwas da ist oder nicht da ist. Im Bewußtsein ist aber als In-
halt nur die Raumwelt und nichts anderes, bei einer Handlung
also etwa die Körperempfindungen, die unmittelbar wieder
vergessen wrerden können, so daß sie im nächsten Moment
schon nicht mehr bewußt sind. Darauf komme ich bei der
Erörterung des Gedächtnisses zurück. Wir verstehen die
Handlung aus dem Wollen eines Ziels. Wir haben aber
damit keine im psychischen Raum existiernde Ursache
entdeckt, die eine Bewegung im „räumlichen" Raum ins
Werk setzt. Es kommt nicht darauf an, ob man sich das
Bewußtsein als Raum vorstellt, was wohl niemand tun wird,
sondern ob man es wissenschaftlich als Raum denkt. Das
tut heute die gesamte Psychologie, und dadurch ist der
Rationalismus unvermeidlich. Da das Bewußtsein ein
Wissen ist, so wäre die Konsequenz die : Wenn eine Handlung
nur dann von dem Willen bestimmt ist, wenn er im Bewußtsein
existiert, so ist eine Handlung nur möglich, wenn das Subjekt
das Gewollte weiß. Es gibt nur durch das Wissen bedingte
Zweckhandlungen. Diesem Widersinn des Rationalismus
entgeht man aber nicht dadurch, daß man den Willen ins
Unterbewußtsein verlegt. Diese Theorie ist nur eine versteckte
Form des Rationalismus. Sie beruht nur auf einem andern
Namen. Im Prinzip hat sich gar nichts geändert. Man hat
das Raumdenken nur noch mehr betont, und in ihm steckt
allein der ganze Fehler. Ob man den Willen im Ober- oder
Unterbewußtsein als existierende Ursache annimmt, ist
gleichgültig. Daß man ihn überhaupt als psychischen Gegen-
stand ansieht, ist das Verkehrte ; daß man die Beziehung des
Wissens und Nichtwissens als eine Raumbeziehung auffaßt,
ist das absurde. Das Nichtgewußte existiert nicht in einem
Nebenraum des Gewußten oder des Bewußtseins. Daß man
das Wollen des Ziels als Gegenstand im psychischen Raum
ansieht, das ist der Fehler des Rationalismus. Wie man
den Raum nennt, ob man ihn in zwei Räume teilt, tut nichts
zur Sache. Der Organismus handelt, auch ohne daß er sein
— 202 —
Wollen und das Ziel weiß, ohne daß sie ihm bewußt sind.
Sein Wollen ist von ihm ungewußt oder unbewußt. Darum
existiert es aber trotzdem als Bestimmtheit, die wir als
Betrachter erkennen, die er aber nicht zu wissen braucht.
Wenn das, was wirklich werden soll, schon vorher im Be-
wußtsein als Vorstellung existieren muß, so wüßte ich nicht,
wie man etwa die Frage als Willenshandlung kann gelten
lassen. Wenn ich etwas wissen will, so kann ich es eben nicht
jetzt schon als Vorstellung erleben, sonst würde ich kaum noch
fragen. Trotzdem wird wohl jeder zugeben, daß man die
Frage als Willen verstehen muß. Vielleicht nimmt man
einen Wissenswillen, einen Erkenntnistrieb im Bewußtsein
dabei an. Gewiß verstehe ich die einzelne Frage aus dieser
allgemeinen Willenstendenz. Aber man stellt doch damit
nicht fest, was im Bewußtsein ist, man charakterisiert nur
das Subjekt. In jedem Moment existiert der Selbsterhaltungs-
trieb als Bestimmtheit. Allein, wenn man eine Handlung
psychologisch dadurch erklärt, daß der Wille und das
Ziel im Bewußtsein ist, so muß man doch etwas anderes
darunter verstehen als diesen Trieb. Man wird doch nicht
behaupten wollen, daß in dem Schwimmer neben dem
Willen, über Wasser zu bleiben, noch der Selbsterhaltungs-
trieb existiert und außerdem noch der Wille zu den einzelnen
Bewegungen. Wir verstehen die Bewegungen aus dem Willen
über Wasser zu bleiben, und diesen Willen wieder aus dem
allgemeinen Lebenswillen. Diese Beziehungen existieren
für unsere Erkenntnis. Sie sind aber nicht in ein Raum-
verhältnis umzudeuten, etwa daß der Selbsterhaltungs-
trieb in einer speziellen Gestalt erscheint, wenn man dabei
aus dem Bild Wahrheit macht. Ich behaupte, daß
kein Wille in einer andern Form existiert als der Selbst-
erhaltungstrieb, nämlich nur als eine Bestimmtheit, aus
der wir die Handlung verstehen. Dieser Wille existiert
nicht im Bewußtsein. Es kann uns aber bewußt werden, daß wir
um unser Leben kämpfen. Es ist ein Irrtum des Rationalis-
— 203 —
mus, daß das, was wir wollen, immer im Ober- oder im Unter-
bewußtsein als Vorstellung existieren muß, als ob die Hand-
lung als Geschehen dadurch allein erklärbar ist. Wir ver-
stehen sie aus dem Willen, ob sie gewußt oder ungewußt
geschieht. Geschieht sie gewußt, so heißt das nur, daß
sich das Subjekt selbst erkennt oder weiß. Diese Erkenntnis
aber erklärt uns das Geschehen nicht. Weiß das Subjekt
sein Wollen und sein Ziel, so sprechen wir von ,, Vornahme* '.
Nur deshalb, weil man die Handlung in diesem Falle nicht für
rätselhaft, sondern für erklärt hält, wird der Instinkt absolut
rätselhaft. Die vorgenommene Handlung ist aber als Vorgang
oder Geschehen im Raum nicht im mindesten verständlicher
als der Instinkt oder Trieb. Der Unterschied liegt nur darin,
daß sie von dem Subjekt selbst erkannt wird. Das Leben
aber läuft zum allergrößten Teil eben unerkannt oder un-
gewußt ab. Deshalb wird es aber noch nicht mechanisch
bedingt. Es bleibt durch den WTillen bestimmt, d. b. durch
ihn verständlich und nicht durch zeitlose Gesetze erklärbar.
Es ist selbstverständlich, daß die Erkenntnis das Handeln be-
einflußt. Das Willensleben selber ist uns oft nur aus dem
eigenen Bewußtsein verständlich. Durch das Wissen ist
erst eine bewußte Auswahl möglich. In diesem Sinne gibt
es mehr oder minder bewTußte Menschen, wie es mehr oder
minder lebendige Menschen gibt. Damit ist aber sofort
gesagt, daß dieses Bewußtsein etwas ganz anderes bedeutet
als der vermeintliche Gegenstand der Psychologie. Die
Biologie kennt auch keine Grade des Lebens. Dieses Bewußt-
sein verändert nicht das Prinzip des Willens. Es klingt
nur rationalistisch, wenn ich sage, daß der Wille immer
nur als Gegenstand der Erkenntnis existiert. Es soll damit
nur betont werden, daß er kein Gegenstand im psychischen
Raum ist. Das Gravitationsgesetz existiert wohl in der
Welt. Aber wenn wir die Masse im Raum denken, so exi-
stiert das Gesetz nicht im Raum. Wir können auch hier
nur von einer Existenz als Gegenstand der Erkenntnis
— 204 —
sprechen. Wenn ein Kind Schornsteinfeger oder Konditor
werden will, so können wir nicht anders sagen, als daß
das Selbstbewußtsein sich erkennend bestimmt. Wir werden
vielleicht sagen, daß der Wille nur vorgestellt ist, wenn seine
Wirklichkeit zum Verständnis der Handlung nicht unbedingt
notwendig ist. Das Selbstbewußtsein ist nichts anderes
als die psychologische Erkenntnis des eigenen Subjekts.
Wenn ein Trinker versichert, daß er nicht mehr trinken will,
so ist das ein psychologisches oder historisches Urteil. Im
Moment, wo er es doch tut, hat es seine Gültigkeit verloren.
Er wollte doch trinken. Seine Selbsterkenntnis war falsch,
er hat sich über seine eigene Geschichte geirrt. Das Leben
ist ein ewiger Wechsel von Bewußtseinsinhalten, Gefühlen
und Handlungen; wir können dieses Leben nur durch die
Willenstendenzen interpretieren. Sie sind die historischen
Gesetze, durch die wir das Leben verstehen. Es ist nicht
ganz richtig zu sagen, daß wir einen Willen „erleben". Wir
„wissen" ihn, wie wir unser Ich wissen. Der Psychologe
muß hier terminologisch wieder genauer sein als der Sprach-
gebrauch. Was wir an Qualitäten erleben, sind bestimmte
Empfindungen und Gefühle. Das Subjekt braucht sich
nicht selbst zu erkennen. Sein Wille ist ihm nicht
bewußt, aber er existiert nicht im Unterbewußtsein. Das
Gravitationsgesetz existierte auch vor Newton, aber es
war nicht gewußt. Der Sexualtrieb existiert nicht im
Unterbewußtsein, sondern er braucht nicht gewußt zu
werden. Wir verstehen als Psychologen die Handlung
aus ihm. Aber das Subjekt handelt nur, es braucht kein
Sexualpsychologe zu sein. Der Sexual- oder Selbsterhaltungs-
trieb sind Gesetze des Individualsystems und keine
psychischen Gegenstände. Als solche existieren sie im
Menschen wie im Tiere. Die Handlung des Tieres können
wir auch nur durch den Willen verstehen. Wir nennen ihn im
Gegensatz zu dem gewußten oder bewußten Willen „Instinkt".
Das Tier ist eine Monade ohne Selbstbewußtsein oder
— 205 —
Selbsterkenntnis. Psychologisch ist der Instinkt merkwürdiger
als der Wille, weil wir seine Geschichte nicht kennen, woher
dem Subjekt das Ziel bekannt ist, und woher es weiß, durch
welche Mittel es erreicht wird. Aber der eigentliche Wille als
Erkenntnisprinzip wird dadurch nicht berührt. Die Handlung
als Geschehen wird durch das vorgestellte Ziel auch nicht
erklärt. Wir interpretieren durch das Ziel die Handlung.
Das müssen wir auch bei dem Instinkt tun. Wenn wir aber
historisch den Willen verstehen wollen, so müssen wir aus
der Erfahrung das Ziel verstehen. Wenn wir den Instinkt
von dem Willen abtrennen, so drücken wir damit nur aus,
daß wir das Ziel in vielen Fällen nicht aus den persönlichen
Erfahrungen des Individuums verstehen. Damit berühren
wir aber nur denselben Unterschied, der auch bei dem Ver-
ständnis der Körperformen des Organismus besteht. Wir
müssen dort unterscheiden zwischen der selbsterworbenen
Gestalt und der vererbten. Die Hand des Individuums
ist mitgestaltet durch die persönliche Beschäftigung. Wir
verstehen die Verschiedenheiten aus der Verschiedenheit
der persönlichen Geschichte. Aber die Hand selbst verstehen
wir nicht aus der persönlichen Geschichte, sondern aus
der erweiterten Ahnen- oder Gattungsgeschichte. Soweit
man überhaupt eine Frage an den Instinkt stellen kann,
muß dies auch für ihn zutreffen. Es kann keine andere
Problemstellung geben, sonst müssen wir uns einfach mit
der Tat oder dem Willen der Natur begnügen. Suchen wir
aber überhaupt nach einer Begründung, so kann sie nur
in der Geschichte liegen.
Freilich ist es völlig falsch, von einem Gesetz der
Vererbung zu sprechen, das uns ein Phänomen erklärt.
Im Gegenteil sagen wir mit diesem Begriff nur, daß
wir ein Phänomen nicht erklären können. Wir bemerken
nur, daß es in der Vergangenheit schon einmal da
war. Damit aber, daß wir auf die Wiederholung in der Zeit
unsere Erkenntnis stützen, haben wir ihr die Idee ,, eines"
— 206 —
Systems zugrunde gelegt, das „des" Lebens oder der „einen
Zeit überhaupt". Auch das, was wir unbewußtes Handeln
oder Gewohnheit in unserm eigenen Individualsystem nennen,
ist Vererbung in der Zeit. Wir erweitern aber die Zeitreihe
über die Ahnen hinaus. Solange nicht eine eigene persönliche
Anpassung nötig ist, kann das eigene Wissen oder die
persönliche Erfahrung dem Individuum nichts nützen,
sondern im Gegenteil dem Handeln nur im Wege stehen.
Nur bei ausgesprochen individuellen Handlungen müssen
wir die individuelle Geschichte des Subjekts zu Rate ziehen.
Dasselbe wiederholt sich in der eigenen Geschichte. Wenn
wir etwas als Gewohnheit verstehen, so ist damit gesagt,
daß die Handlung historisch nicht aus einem individuellen
Moment heraus zu verstehen ist. Die Handlung ist in diesem
Sinne nicht individuell. Die Instinkthandlung ist nichts
anderes als eine unindividuelle Handlung, die als Gewohnheit
des Individuums oder der Gattung und nicht als persönlich
momentane Anpassung zu verstehen ist. Als solche ist sie
historisch-darwinistisch zu begreifen oder nicht zu begreifen,
genau wie die Bildung der Körperformen. Auch hier gibt
es individuelle Anpassungen, die nicht durch Vererbung zu
verstehen sind. Wie die Biene aber überhaupt als Körper
entstanden ist, wissen wir auch nicht. Man begnügt sich
vielleicht damit zu sagen, daß diese Form darwinistisch zu
erklären ist. Man bedenkt aber dabei nicht, daß dies genau
so viel besagt, wie wenn wir uns mit der Behauptung oder
Erkenntnis begnügen würden, daß die Natur durch die
Kausalität erklärt ist. Man vergißt, daß der Darwinismus
nur das Prinzip angibt, nach dem die Erklärung erfolgen
könnte. Er sagt nicht mehr, als daß die Biene historisch und
nicht mechanistisch begriffen werden muß. Wie sie ent-
standen ist, ist aber die — praktisch wohl unlösbare —
Frage der Geschichte. Ebenso unlösbar ist die psycho-
logisch-historische Frage nach der Entstehung ihrer In-
stinkte.
— 207 —
Jede Handlung des Lebendigen ist nur durch den
Willen zu interpretieren. Bei dem Instinkt aber stoßen
wir auf die Unmöglichkeit, das psychologische Ziel des
Willens zu erkennen. Das übersieht man häufig. Wir
wissen oft nicht, was der Organismus an der erreichten
Wirklichkeit will. Es wäre nur natürlich, daß für einen
vollkommeneren Geist unsere ganzen Handlungen, die
eine Nahrungsaufnahme bezwecken, rätselhafte Instinkt-
handlungen bedeuten würden. Er würde die Handlung
etwa beschreiben darnach, daß eine notwendige Menge
Kalorien aufgenommen werden. Dieser Zweck existiert
für das Individuum niemals. Wir können den Willen nach-
erleben, weil wir die Empfindung kennen, die für das Indi-
viduum das unmittelbare Ziel seiner Handlung ist. Bei der
Instinkthandlung der Organismen brauchen wir dies nicht zu
wissen. Ich glaube auch nicht, daß die Intuition uns das
jemals wird verraten können. Es ist nicht gesagt, daß unser
Empfindungsleben eine Gleichheit besitzt mit dem der
Wespe. Wenn sie ihr Opfer lähmt und nicht tötet, so müssen
wir dies prinzipiell durch ihren Willen begreif en. Daß sie aber
das will, was wir eben angegeben haben, würde auf einer
Stufe stehen damit, daß jemand behauptet, wir wollen mit
der Atmungsbewegung dem Blute neuen Sauerstoff zuführen.
Eine Anpassung bedeutet die Handlung der Wespe zweifellos.
Durch welche psychologischen Momente sie bedingt ist,
werden wir in diesem Falle niemals sagen können, weil die
Welt dieser Monade eine ganz andere sein kann als die
unsrige.
Wie gesagt, können wir uns nur deswegen so schwer
entschließen, den Instinkt absolut als Willen anzusehen,
weil wir gewohnt sind, die bewußte Vornahme allein für
den Willen anzusehen. Aber das denkende Bewußtsein
ist keine Bedingung des Wollens. Es liegt hier ebenso wie
mit dem Wiedererkennen. Die gleiche Reaktion folgt auf
die subjektiv gleichen Reize. Gegenüber der kausalen Objek-
- 208 -
tivität der Natur, in der das Salz niemals Zucker sein kann,
wenn es ihm auch noch so ähnlich ist, müssen wir dies als
ein Gleichhalten der Subjekte bezeichnen. Trotzdem aber
wissen wir, daß die Gleichheit nicht erkannt ist, nicht im
Urteil als Gegenstand gesetzt ist oder gesetzt zu sein braucht.
Das erkennende Bewußtsein, das als subjektive Erkenntnis
eben Selbstbewußtsein der Monade ist, erkennt nicht die
Gleichheit, die für das Subjekt beim Handeln existiert.
Genau so erkennt die Monade nicht den Zweck, aber sie
handelt nach ihm. Das Erkennen ist nur dann eine not-
wendige Bedingung, wenn es sich um eine auch im Leben
des Individuums selbst momentan individuelle Anpassung
handelt, wo uns keine Gattungserfahrung, keine Gewohnheit
etwas helfen kann. Sie ist dann eine selbsterworbene Hand-
lung, wo wir den Zweck als Erlebnis mit der persönlichen
Vergangenheit des Subjekts in einen historischen Zusammen-
hang bringen müssen. Daß er im Moment der Handlung
als Vorstellung im Bewußtsein ist, daraus wird die Handlung
als eintretendes Geschehen im Raum nicht besser verständlich.
Aber im ganz individuellen Fall verstehen wir nichts ohne die
Annahme, daß das persönliche Individuum denkend weiß,
was entstehen wird. Wir verstehen dann die Entstehung des
Zweckes, aber die Handlung selbst nicht besser als vorher.
Das allermeiste in unserm Leben ist aber Gewohnheit.
Die allerwenigsten Handlungen sind von uns gewußt,
die allerwenigsten Zwecke durch Kombinationen persönlicher
Erfahrungen entstanden.
Man würde mich mißverstehen, wenn man glaubte,
daß ich das Gesagte für eine „Erklärung" der Instinkt-
handlung ansehe. In Wahrheit ist sie genau so uner-
klärbar wie die Entstehung irgend eines Organismus.
Wir können in vielen Fällen die Zweckmäßigkeit einer
Körperform erkennen. Wir haben mit Darwin anzunehmen,
daß in ihr der Grund jedenfalls für die ,, heutige'' Existenz
liegt. Dasselbe können wir bei den Instinkthandlungen
- 209 -
erkennen. Beide Male ist damit nur das Prinzip der Er-
kenntnis angegeben. Die Geschichte von der Amöbe bis
zur Biene kennen wir nicht, selbst wenn wir Milliarden von
Zwischenformen kennen würden. Wenn wir die Biene nach
Körper und Geist begreifen wollen, müßten wir aber die
Geschichte aller Ahnen kennen, d. h. aller Organismen,
die die Ahnenreihe der heutigen Biene bis zur Amöbe herauf
bilden. Es ist dies aber auch schon deswegen eine Unmöglich-
keit, weil wir gar nicht die Welt kennen, die die Biene erlebt.
Wir kennen nicht die Qualitäten, die subjektiven Welt-
bestimmtheiten, die ihre historischen Erfahrungen aus-
machen. Aber die Geschichte wäre die einzige Möglichkeit,
den Bienenstaat zu verstehen. Der Wille ist die einzige
Möglichkeit der Erkenntnis, wenn wir die Bewegungen
nicht als Veränderungen der zeitlosen Substanz auffassen. Wo
wir aber die Geschichte nicht kennen, können wir auch den
spezifischen Willen nicht begreifen. Nur soweit eine Gleich-
heit der Welten der Monaden existiert, und soweit wir die
Geschichte der einzelnen Individuen kennen, ist eine solche
Erkenntnis möglich. Den Vorgang der Handlung im Raum
aber verstehen wir dadurch, daß der Zweck vorher als Vor-
stellung erlebt wird, nicht besser. Das ist der Irrtum der
rationalistischen Elementarpsychologie. Wir interpretieren,
geben aber damit keine Reihe von Ursache und Wirkung wieder.
Nur müssen wir manche Handlungen aus der Geschichte
der persönlichen Erfahrungen, dem persönlichen Wissen
verstehen. Das Allgemeine aber hat nicht die Bedeutung
einer allgemeinen zeitlosen Gesetzmäßigkeit, sondern es
ist begründet in der historischen Reihe des Lebens überhaupt.
In dieser Erkenntnis liegt die Bedeutung des Darwinismus.
Er hat im Gegensatz zu „der" Natur das „eine" System des
Lebens begründet.
Was wir Vornahme nennen, ist nur psychologische Er-
kenntnis, deren Gegenstand wir selbst sind. Als Historiker
erkennen wir, was wir wollen. Aber diese Selbsterkenntnis
Strich, Prinzipien. 14
- 210 -
— etwas anderes kann die Psychologie nicht sein —
oder dieses Selbstbewußtsein — denn dieses ist ja nur ein
anderer Name für die unmittelbare historisch-psychologische
Erkenntnis — macht uns den Vorgang der Tat nicht im
mindesten verständlicher. Selbst wenn ich eine deutliche Vor-
stellung habe von dem, was ich heute abend tun werde, bleibt
die Bewegung im Raum genau so unerklärbar. Als Psychologe
oder als Historiker weiß ich, was ich tun werde. Das neu-
geborene Kind ist noch kein Psychologe. Es weiß daher nicht,
was es tut, sondern es tut nur. Der Mensch unterscheidet
sich von anderen Wesen zunächst nur durch die Erkenntnis.
Der Psychologe hat eben einen völlig falschen Begriff vom
Bewußtsein. Das Leben des Organismus läuft ab. Der Mensch
ist aber selbst auch nur ein Organismus wie die Amöbe.
Was der Psychologe Bewußtsein nennt, ist nicht der Gegen-
stand der psychologischen Beobachtung, sondern ist schon
psychologische Erkenntnis. Das erste Urteil des Kindes,
das erste Meinen, worauf wir auf die bemerkte Gleichheit
zweier Eindrücke schließen, ist historische Erkenntnis.
Das Kind ist Psychologe geworden. Die Monade hat begonnen,
ihre individuelle historische Welt zu erkennen. Diese Welt
existiert aber auch so. Man kann wenigstens annehmen,
daß die Amöbe lebt, ohne dazu verdammt zu sein, Psychologe
zu werden. Ebenso leben unsere Psychologen, ohne immer
Psychologen zu sein. Sonst würden sie wohl bald aussterben.
Auch ihr Leben läuft wie das der Amöbe zum großen Teil
ungewußt oder unerkannt ab. Der Fehler des Rationalismus
besteht darin, daß er das Unerkannte verwechselt mit dem
Nichtdaseienden. Noch viel unkritischer ist es aber, wenn man
das Ungewußte in einen neuen Raum unter dem Bewußtsein
verlegt, in das Unbewußte. Das sogenannte Oberbewußtsein
ist nichts anderes als das Erkennen von sich selbst, seinen
Wahrnehmungen und seinem Wollen, das dem Irrtum aus-
gesetzt sein kann. Es ist eine falsche Annahme des Rationalis-
mus, daß meine Handlung für den Betrachter erst dadurch
- 211 -
erkennbar sein soll, daß ich sie selbst erkenne, selbst
zum Gegenstand des erkennenden Urteils gemacht habe.
Nichts anderes aber heißt es, wenn man die Vornahme
einer Handlung für ihre Erklärung ansieht. Der Unterschied
zwischen dem Tier und dem erwachsenen Menschen besteht
nur darin, daß er erkennt. Wir erkennen das Tier und uns
selbst. Wir erkennen unsere eigene Gleichsetzung und unsere
Handlung. Aber die Erkenntnis der Handlung erklärt nicht
ihre Existenz. Sie kann genau so existieren, ohne daß ich
sie erkenne, oder daß sie überhaupt jemand erkennt. Die
Handlung bleibt Handlung, ob ich sie selbst oder ein anderer
zum Gegenstand des Wissens mache, d. h. die Handlung
ist auch Handlung, wenn sie ungewußt ist. Zweifellos haben
wir aber im Leben mehr zu tun, als uns in jedem
Moment zu erkennen. Infolgedessen ist wohl das Aller-
meiste, was im Leben geschieht, ungewußt. Jede Vornahme
ist ein voreiliges psychologisches Urteil über sich selbst,
das erst die Zukunft bestätigen kann. Ebensowenig dürfen
wir von vornherein annehmen, daß jeder sich selbst am
besten erkennt. Der Betrachter der Handlung kann und
muß sie so interpretieren, wie sie ihm am verständlichsten
ist. Dabei kann es zu Konflikten zwischen dem Urteil des
Handelnden und meinem Urteil über ihn kommen. Der
Handelnde selbst kann nicht durch innere Wahrnehmung
etwas sehen, was ein anderer nur hypothetisch annehmen
kann. Der Wille existiert aber deswegen nicht im Unter-
bewußtsein ; er hat genau so wenig oder genau so gut existiert,
wie das Gravitationsgesetz existiert hat, bevor es Newton
entdeckte. Niemand aber wird behaupten, daß es im Raum
neben der Masse existierte und sie in Bewegung setzte. Eben-
sowenig hat mein Wille im Ober- oder Unterbewußtsein
existiert, sondern nur als Prinzip der psychologischen Er-
kenntnis. Der Wille ist genau so eine Realität wie die Kau-
salität. Aber diese Realität ist erst darin begründet, daß
beide notwendige Prinzipien des Denkens sind. Wahr-
14*
- 212 -
genommen hat noch niemand die Kausalität. Darin gab
Kant seinem Gegner Hume völlig recht. Leider sind unsere
Psychologen keine Skeptiker, sondern unklare Dogmatiker,
die gerade behaupten, daß man den Willen wahrnehmen
kann. In Wirklichkeit kann man nichts anderes wahrnehmen
als die data der Sinnlichkeit. Aber man erkennt die Welt
durch die Kausalität und durch den Willen. Dadurch ist
erst die Realität begründbar. In dem Begriff der Bewegung
und dem letzten Gesetz der Naturwissenschaft hört die
Kausalität auch für den Physiker auf. Aber es hat keinen
Sinn mehr, dort von Willen zu sprechen, wo es keine histo-
rischen Subjekte von Dauer, keine Zukunft, sondern nur
Ewigkeit gibt, wo wir nicht erkennen können, was als
historische Wirklichkeit erreicht werden soll.
Der Satz, daß jede Handlung durch einen Willen ver-
standen werden muß, ist so viel oder nichtssagend wie
der, daß jedes Naturgeschehen als Kausalität erklärt werden
muß. Das Problem liegt nur in dem spezifischen Willen.
Aber ich bezweifle, daß unsere Erkenntnis immer zum Ziel
gelangen muß. Man kann sagen, die Natur handelt, aber
wir können sie nicht immer erkennen, wie die Variation
der Art schon eine Tat des Lebens ist, die wir als Tatsache
wissen, ohne sie begründen zu können. Man irrt sich, wenn
man meint, sie dadurch erklären zu können, daß man die
unendliche Anzahl von Möglichkeiten hypothetisch in die
Raumteile verlegt. Die psychologische Erkenntnis muß
schon deswegen nicht zum Ziel gelangen, weil eine historische
Vervollkommnung einer Wissenschaft hier unmöglich ist.
Man versteht den einzelnen Fall oder man versteht ihn nicht.
Es ist undenkbar, daß eine spätere Zeit ein Gesetz entdecken
wird, das mir den Fall verständlicher macht, als er jetzt ist.
In den Fällen, wo wir uns, wie man sagt, frei dünken, ohne
es zu sein, wo wir eine von zwei Handlungen ausführen,
ohne irgend einen Grund für die Entscheidung zu haben,
liegt von unserm Standpunkt aus nur eine Unmöglichkeit
- 213 -
der Erkenntnis vor. Notwendig ist die Handlung nur durch
den Willen. Wir wollen dieses Resultat, aber wir erkennen
oft den Willen nicht, weil wir nicht erkennen, warum dieses
Resultat mehr bedeutet als das andere. Der psychologische
Scharfblick kann aber oft noch weiter kommen als der
Laie. Er kann eine allgemeinere Willenstendenz entdecken, in
die der einzelne Fall untergeordnet werden kann, wie der Natur-
wissenschaftler ein Gesetz durch ein allgemeineres erklärt.
Darin besteht die psychologische Erkenntnis. Wir zeigten, daß
die Bestimmung des Erlebten schon psychologisch-histo-
rische Erkenntnis ist. Denn man kann nur die Gleichheit
zweier Erlebnisse in der Zeit bestimmen und keine ob-
jektiven psychischen Wesenhaftigkeiten, keine objektiven
psychischen Elemente. Ganz das Gleiche zeigt sich bei der
Bestimmung des Gewollten. Verstanden haben wir die Hand-
lung durch die Erkenntnis des Zieles. Dieses Ziel ist aber
nicht durch die Wahrnehmung gegeben, wenn wir auch
einen Menschen handeln ,, sehen". Wir müssen erkennen,
was an der Wirklichkeit gewollt ist. Wir sehen, daß jemand
einen Tisch kauft. Wir sagen vielleicht, daß er einen Tisch
kaufen wollte. Dieses Urteil kann genau so falsch sein, wie
wenn ich daraufhin, daß ich zwei Töne unterscheide, be-
haupte, daß ein anderer zwei verschiedene Töne hört. Viel-
leicht wollte der Betreffende nur Holz kaufen. Wir müssen
das Gewollte einer Allgemeinheit unterordnen, die in dem
Individualsystem existiert. Was wTir Anlage, Disposition,
Tendenz nennen, entspricht also völlig dem Begriff. Es
gibt ebensowenig einen Individualwillen für unsere Erkennt-
nis, wie es eine Individualvorstellung gibt. Das Problem
des Allgemeinen ist für die Psychologie nur darum unlösbar
geworden, weil sie nicht von dem historischen System,
sondern von einem Raumsystem ausgeht. Das vermeintliche
Element „Rot" oder,, Grau" ist genau so gut eine Allgemein-
vorstellung in dem Individualsystem wie alles andere. Die
Aufgabe des Psychologen ist es, die Allgemeinheit zu erkennen,
- 214 -
die gewollt wird. Erst durch sie ist eine historische Erkenntnis
möglich. Jede Bestimmung des Gewollten ist aber auch
schon Erkenntnis des historischen Zusammenhangs, falls
sie richtig ist. Denn es wird schon dadurch eine Gleichheit
in dem Zeitsystem bestimmt. Aber dieses muß zugrunde
gelegt werden, nicht das System des Betrachters, d. h. nicht
seine Meinung über die Welt. Der Psychologe muß aber
weiterhin die Zielallgemeinheit mit andern in Zusammenhang
zu bringen suchen, indem er sie wiederum, natürlich von
Seiten des Subjekts selbst, unter größere Allgemeinheiten
zusammenfaßt oder mindestens ihre Verwandtschaft erkennt.
Dies ist in Wahrheit eine Aufgabe, und es gibt gute und
schlechte, viel und wenig wissende Psychologen. Diese
von der exakten Psychologie als unwissenschaftlich ab-
gelehnte Fragestellung ist die einzige, die zu Recht besteht,
wenn man überhaupt den Willen für die wissenschaftliche
Betrachtungsweise zugibt. Er kann ebenso wie das Asso-
ziationsgesetz nur ein Prinzip sein, nach dem die Erkenntnis
erfolgt. Der Wille selbst ist nichts, was irgend etwas er-
klärt. Es muß erkannt werden, „was" gewollt ist, und der
Zusammenhang zwischen diesen Zielen. Die Wissenschaft
kann hier nicht die Erkenntnis der einen psychischen Welt
vervollkommnen. Kein Lehrbuch der Psychologie kann
etwas helfen. Nicht jeder sieht in zwei äußerlich verschie-
denen Handlungen die innere Gleichheit, nämlich die der
Willenstendenz. Nicht jeder sieht, wie sich in verschiedenen
Handlungen des einen Individuums der gleiche Charakter
zeigt oder die Willenstendenz, die wir Zeitstil nennen,
als gleich in den Taten und Werken der einzelnen Individuen.
Nicht der Wille ist das Gesetz, sondern die spezielle Willens-
tendenz. Der bestimmte Stil ist das historische Gesetz der
Zeit. Der Psychologe hat die Aufgabe, die verschiedenen
Tendenzen zu vereinigen, ihre Verwandtschaft zu erkennen,
bis er zu der Grenze kommt, die wir den individuellen Cha-
rakter nennen. Er ist als das letzte und allgemeinste Gesetz
- 215 -
der Grenzbegriff der psychologischen Erkenntnis. Auch
der Kontrast ist eine psychologische Verwandtschaft. Wir
verstehen durch ihn das Nebeneinander zweier Willens-
tendenzen in einem Individualsystem. Aber daß das Subjekt
gleichsam ein Äquivalent für die eine Richtung sucht, ist für
dieses charakteristisch. Man darf hierbei nicht das Empi-
rische mit dem Ethischen verwechseln. Es ist vielleicht
eine ethische Forderung, daß das Individualsystem logisch
sein soll. Dies ist es subjektiv dann, wenn seine Willens-
tendenzen alle in einer allgemeinen Tendenz wurzeln, die
wir Individualität nennen, wenn keine da ist, die mit seiner
Natur nicht übereinstimmt, etwa nur durch Nachahmung
entstanden ist. Eine solche Betrachtungsweise ist nicht
mehr empirisch. Das Unethische ist die Laune, die Abhängig-
keit von außen und nicht von sich selbst. Sie ist die Lüge
im Gegensatz zu der wahren Natur des Individuums, der
diametrale Gegensatz zur ethischen Freiheit. Empirisch
aber ist auch die Laune ein Charakterzug, ein allgemeines
Gesetz des Individualsystems. Näher kann ich auf den
Unterschied der Betrachtungsweisen hier nicht eingehen.
Es ist klar, daß wir auch das Spezifisch-Historische
der Entwicklung nicht anders verstehen können. Durch
alle wahrnehmenden Erfahrungen zusammen kann die
Tat nicht begriffen werden. Denn immer bleibt der sub-
jektive Rest, durch den die Tat erst Tat wird. An sich
besteht dieselbe Möglichkeit, daß aus einem Verbrecher-
milieu ein Verbrecher entsteht wie das Gegenteil. Erklären
kann man nichts, verstehen kann man beides. Die psycho-
logische Erkenntnis erkennt ja nur den Mikrokosmus, den
individuellen Menschen, wie der Naturwissenschaftler den
Makrokosmus erkennt. Beide Male lassen sich die Wieder-
holungen nur zu einer Realität vereinigen. Ist sie für den
Naturwissenschaftler etwa das Gravitationsgesetz, so ist
sie für den Psychologen das, was wir Charakter nennen,
im idealen Falle eine Willenstendenz, die in allen Hand-
- 216 -
hingen wiederkehrt. Wir können nicht erkennen, warum
dieser körperliche Organismus zum Verbrecher wurde,
sondern wir erkennen diesen Menschen, der für uns eine
Realität, eine unerklärbare Existenz ist. Es wäre nicht
richtig zu sagen, daß wir dieselbe Erfahrung und doch andere
Taten voraussetzen können, denn schon die Erfahrungen
sind als Taten durch den Charakter bestimmt. Wir können
nur dieselbe objektive Welt und andere Taten voraussetzen.
Keine Wahrnehmung ist die mechanistische Folge der
objektiven Welt, sondern jede Wahrnehmung ist zugleich
Tat, Auswahl und Formung. Alles andere an ihr ist kein
psychologisches Problem. Das Leben der Menschen ist die
unerklärbare Realität, die wir als Tat und Wille psychologisch
begreifen. Wir können die historische Realität ,, Goethe"
vielleicht erkennen, aber wir können die Realität nicht selbst
erklären. Wir können den Verbrecher begreifen, nämlich
warum ,,er" gerade zum Verbrecher wurde. Wir können
aber nicht erkennen, warum er ,,eru wurde. Wir können
nur bis zu ihm als etwas Bestimmtem durchdringen. Wir
können aber nicht erkennen, wie das angenommene unbe-
stimmte Chaos, eine tabula rasa, die Bestimmtheit erlangte.
Wir erkennen nur ihn als eine Realität, sein Leben aus
seinen Willenstendenzen und seinen Erfahrungen. Könnten
wir in diesem Sinne erklären, warum er zum Verbrecher
wurde, so hätten wir die Welt an diesem Punkte aus dem
Nichts heraus erklärt. Es wäre dies gleichbedeutend damit,
daß der Naturwissenschaftler erklären würde, wie aus dem
Nichts diese individuelle Welt entstand, in der die Massen
sich nach der Formel des Gravitationsgesetzes anziehen.
Solange das Leben noch nicht abgeschlossen ist, ,, kennt"
man noch nicht die Realität, die man „erkennen" will.
Das ist das Tragische der Zeit. Die Naturwissenschaft
würde sich selbst aufheben, wenn sie nicht das ewige Dasein
des Raums voraussetzen würde. Nur dadurch ist es ihr
möglich, die Zeit vorauszusagen, nämlich dadurch, daß der
- 217 -
erkannte Raum auch in der Zukunft derselbe ist. Für den
Historiker existiert aber nur die Zeit selbst. Sie muß da
sein, wenn ich sie erkennen will. Würde es möglich sein,
die Zeit psychologisch vorherzusagen, so brauchten wir
keine Naturwissenschaft, so könnten wir psychologisch alle
Gesetze, die der Naturwissenschaftler durch Erfahrung erst
findet, als Gedanken voraussagen. Gäbe es eine kausale Psycho-
logie, so müßten wir annehmen, daß das Newtonsche Gravi-
tationsgesetz als Bewußtseinsinhalt auch psychologisch zu
finden gewesen wäre. Dieses Ideal der Wissenschaft Psycho-
logie wäre schon eine Absurdität. Es wäre aber gar nicht von
der Idee der Kausalität zu trennen. Jede Tat läßt sich aus der
Vergangenheit verstehen, wenigstens existiert dies als Ideal.
Aber die Zeit läßt sich nicht als eine Veränderung der an
sich bestimmten Wirklichkeit erkennen. Man hat die Tat
verstanden, wenn der Wille als Wiederholung eines früheren
bekannten Willens erkannt worden ist. Nur scheinbar ist
damit eine Willensänderung logisch unmöglich. Aber jede
Änderung des Willens müssen wir aus dem Menschen heraus
verstehen. Damit ist schon gesagt, daß wir in der Vergangen-
heit nach Tendenzen suchen müssen, die jetzt die Umkehr
verständlich machen, sonst bliebe sie wirklich ein Rätsel,
unerkennbar. Gewiß kann ein Mensch plötzlich sein Ziel
ändern, aber entweder hat sich dies neue Ziel aus der Ver-
gangenheit herausentwickelt, so daß die Änderung nur für
uns, nur scheinbar existiert, oder wir müssen auch diese
Tat aus einer allgemeinen Willenstendenz verstehen. Diese
kann etwa auch darin liegen, der Mode nachzulaufen,
dann wäre dies das Ziel und gar nicht das inhaltlich be-
stimmte. Es gibt keine andere Möglichkeit, als eine Tat
als Wiederholung eines Willens zu erkennen, der als Bestimmt-
heit des Subjekts schon existierte. Erfahrungen können einen
Menschen ändern. Soweit aber eine Erkenntnis der Ände-
rung möglich ist, wird dabei immer eine Willenstendenz
vorausgesetzt, die konstant geblieben ist. Der Schluß, den
- 218 -
ein Mensch aus der Erfahrung zieht, ist nicht in ihr gegeben^
sondern in ihm. Die Reaktion auf die objektive Welt ist
das Wesentliche, und sie läßt sich nur begreifen aus dem,
was schon vorher da war, als Wiederholung. Jede Erziehung
kann nur in der Ausnutzung einer bestimmten Willens-
tendenz liegen. Jede Strafe benutzt etwa den Willen, un-
angenehme Eingriffe zu vermeiden. Bekanntlich können
wir uns dabei aber auch irren. Der Wille braucht nicht da
zu sein. Keine Wahrnehmung allein kann eine Tat begreif-
lich machen. Wenn ich auch weiß, wann Goethe das alte
Faustbuch gelesen hat, so sagt dies für seinen Faust noch
gar nichts. Seine Tat habe ich aus ihm heraus zu verstehen.
Nur scheinbar wird das Leben dadurch in eine lang-
weilige Wiederholung aufgelöst. Jede Tat ist vielmehr die
Schöpfung eines neuen Moments, die so noch nie da war,
wenn man nicht gerade an die Lehre der ewigen Wiederkunft
glaubt. Keine Geburt ist eine Wiederholung der Eltern.
Alles aber, was nicht Wiederholung ist, ist auch unerkennbar.
Die Variation in der Natur ist Tatsache, aber nicht erklärbar.
Erkennen kann nichts anderes bedeuten, als ein Phänomen
auf eine Gleichheit in einem System zurückzuführen. Keine
Psychologie wird als eine zu vervollkommnende Wissen-
schaft die Existenz des Faust als Tat jemals erkennen.
Der tiefere Psychologe sieht nur tiefer als der oberflächliche.
Was wir können, ist schematisch nur dies: Der Faust ist da,
jetzt können wir in ihm Meinungen und Taten oder Willens-
tendenzen seines Schöpfers entdecken, die wir auch in andern
Werken oder Taten entdecken. Verstehen tun wir nur das,
was Wiederholung ist. Das spezifisch Neue entzieht sich
jeder Erkenntnis. Alles ist Wille oder Tat des Subjekts,
was über das unbestimmte Datum der Sinnlichkeit in der
Wahrnehmung hinausgeht. Es wäre ja von vornherein eine
Lächerlichkeit, hier ein kausales Problem zu stellen. Es
ist hier gar keine Zeitreihe kausal zu konstuieren. Lautete
das Problem aber wirklich so, so wäre eine Lösung ein für
- 219 -
allemal ausgeschlossen. Denn wie sollte es möglich sein,
die Lebensreihe Goethes zu konstruieren, in der jeder Moment
die Folge des vorhergehenden wäre ? Tatsächlich aber könnte
die kausale Psychologie kein anderes Problem stellen. Man
vergleiche auch nicht den Fall etwa mit der Geologie. Natür-
lich ist es ganz unmöglich, die Zeitreihe zu konstruieren,
die der Entstehung der Erdoberfläche entspricht. Dadurch
wird es uns aber auch allerdings unmöglich, diese Fläche
in den Einzelheiten zu erkennen. Wir können nur die all-
gemeinsten Gestaltungen ableiten. In der Psychologie
aber liegt das Problem ganz anders. Dort gilt es allgemeine
Naturgesetze zu finden, die uns im Prinzip die Gestaltung
der Erdrinde erklären, ohne die einzelne Form als Substanz-
konstellation begreiflich zu machen. Hier aber gilt es kein
allgemeines Gesetz einer Welt zu finden, das den Faust erklärt
und sich auch sonst in der psychischen Welt zeigt, sondern aus
Goethes Leben und dem seiner Zeit heraus ist er zu verstehen.
Die Erdrinde ist entstanden als eine gesetzmäßige Verände-
rung der zeitlosen Substanz. Ein Vergleich mit dem Faust
ist sinnlos, weil nichts dabei als gesetzmäßige Veränderung ent-
standen ist. Er ist, wie er da ist, gar nicht als Zeitreihe
darzustellen, geschweige denn kausal zu erklären. Das
erste aber wäre die unbedingte Voraussetzung. Gewiß gibt
es das Problem der zeitlichen Entstehung seiner Teile. Aber
dieses bedeutet niemals die Einordnung von Momenten
in die eine Lebensreihe. Das historische Problem setzt
vielmehr nur verschiedene Epochen des einen Subjekts
voraus, niemals aber eine Zeitreihe von psychischen Element-
konstellationen. Was existiert, ist Goethe und nicht eine
Folge momentaner Bewußtseinsinhalte, von denen einer
aus dem andern kausal folgte. Keine Psychologie hat noch
jemals überhaupt in Praxis ein kausales Problem gestellt.
Die Beschreibung des sinngemäßen Zusammenhangs ist
das einzige Ziel, das sie kennt. Was vom Faust da ist,
muß als gewollte Tat des historischen Subjekts begriffen
- 220 -
werden. Daß dieser Wille nicht mit der Vornahme identisch
ist, davon war oben die Rede. Wir können aber nicht weiter
gelangen, als die Tat aus dem existierenden Subjekt zu
verstehen, d. h. wir können nur das an ihr verstehen, was
Wiederholung in dem Zeitsystem ist, was mit einer auch
sonst bekannten Tendenz übereinstimmt.
Der Faust bildet aber keine Ausnahme. Es ist in jedem
Falle sinnlos, nach allgemeinen elementaren Gesetzen der
psychischen Welt zu suchen, weil es gar keine solche
Welt gibt. Jede Vorstellung ist aus dem Subjekt zu begreifen.
Auch die Synthesen, Meinungen und Handlungen des Geistes-
kranken sind aus seinem Willen heraus zu verstehen. Das
empirische Phänomen der Zwangsvorstellung widerlegt nicht
das Prinzip. Sie ist ein besonderes Erlebnis, das Charakte-
ristische liegt in einem besonderen Gefühl oder in einem
Mangel der Selbsterkenntnis. Sie ist aber nicht anders
entstanden als die andern Vorstellungen. Es ist das Verdienst
der neueren Psychiatrie, auch hier den Willen zu suchen,
wenn auch ihre Behauptungen und Interpretationen inhalt-
lich nicht richtig zu sein brauchen. Es liegt dabei ebenso
wie bei der Wahrnehmung. Wenn unsere Aufmerksamkeit
sich auf einen höchst unangenehmen Reiz richtet, so pflegen
wir das mit Recht auf den Reiz zu schieben. Mit demselben
Recht müssen wir es aber auch auf unsern Willen schieben.
Der Wille ist nicht etwas, was hinzukommen und wegbleiben
kann. Wenn wir das eine Mal von Willen sprechen, so nehmen
wir ein grundlegendes Prinzip an, das für alle Fälle gilt.
Genau so wie der Naturwissenschaftler nicht bei einem
Phänomen eine Kausalität annehmen und bei dem andern
leugnen kann, so sind wir verpflichtet, in allen Fällen auch
das Prinzip des Willens zugrunde zu legen. Der unangenehme
Reiz ist eine Auswahl unter vielen möglichen. Es ist ja auch
denkbar, daß einer unter Hunderten ihn nicht bemerkt.
Ebenso ist die Erinnerung an das Unangenehme Tat des
Willens. Wenn wir überhaupt in der Gefühlsbetonung den
- 221 -
Grund der Existenz sehen, so ist damit gesagt, daß wir die
Existenz von dem Willen und nicht von der Kausalität ab-
hängig machen. Wir sagen: jemand wühlt in seinem Schmerz.
Wir nennen seine Tat charakteristisch für ihn. Wir bringen
seinen jetzigen Willen in Zusammenhang mit andern Willens-
tendenzen. Was wir Charakter oder Persönlichkeit nennen, ist
nichts anderes als die allgemeinste Tendenz oder das letzte
Gesetz, das sich im Leben des Individuums zeigt. Gewiß kann
man die Entstehung von Goethes Faust mit dem Assoziations-
gesetz abtun. Zweifellos ist er auf Assoziationen zurück-
zuführen. Kein allgemeines Gesetz kann mir aber den Faust
erklären, wenn ich die Persönlichkeit oder den Willen Goethes
nicht dabei berücksichtige. Das Assoziationsgesetz erklärt
ebensowenig etwas wie die Behauptung, daß Goethe den
Faust schreiben wollte, oder wie das berüchtigte Willens-
gesetz, daß der Mensch nach Lust strebt, auf das ich gleich
zurückkomme. Tatsächlich wäre dies die Konsequenz
unserer psychologischen Lehrbücher. Durch das Gesetz
der schöpferischen Synthese erklärt man nichts, sondern
man sagt nur, daß man etwas nicht erklären kann. Es ist
unverständlich, wie man dieses Gesetz etwa dem Trägheits-
gesetz vergleichen kann, weil es als abstraktes Gesetz zum
mindesten minderwertig erscheint und seine Bedeutung
erst durch die Fülle der Anwendung findet. Das Trägheits-
gesetz ist aber gar nicht minderwertig. Es bezieht sich von
vornherein nur auf eine Komponente der Wirklichkeit, die
niemals allein etwas erklären kann. Das trifft für jedes
Naturgesetz zu. Zwischen ihm und dem Gesetz der schöp-
ferischen Synthese besteht überhaupt gar kein Beziehungs-
punkt. Es ist unmöglich, in ihm eine Komponente der psy-
chischen Wirklichkeit zu sehen, die neben andern das indi-
viduelle Phänomen begreiflich macht. Es ist kein Gesetz, das
nur irgend etwas an der Wirklichkeit erklärt. Es sagt nur,
daß das Bestehende nicht absolut als Wiederholung der
Vergangenheit anzusehen ist. Was aber besteht, kann man
- 222 -
durch das Gesetz nicht erklären, sondern man sagt nur,
daß man es nicht erklären kann. Nur in der Existenz
des Bestehenden aber kann das psychologische Problem
liegen. Das Gesetz sagt etwa in unserem Falle, was
jedes Kind weiß, daß Goethe der Schöpfer eines neuen
Werkes ist. Diese Schöpfung läßt sich überhaupt nicht
durch ein Gesetz bestimmen, sonst wäre es keine Schöpfung,
sondern nur die Wiederholung des Ewigen in der Zeit. Was
ich daran begreife, begreife ich aus dem Leben, den Erfah-
rungen und Taten des Subjekts. Kein Assoziationsgesetz,
kein Willensgesetz, kein Lehrbuch der Psychologie kann
mir dabei das Geringste nützen. Man irrt sich aber, wenn
man annimmt, daß wir es hierbei mit einem Ausnahmefall
zu tun haben. Die Psychologie kennt ebensowenig prin-
zipielle Ausnahmen wie die Naturwissenschaft. Die kausale
Psychologie ist in jedem Falle ein Hirngespinst. Goethes
Faust ist nach denselben Prinzipien zu verstehen wie jeder
Reaktionsversuch im psychologischen Laboratorium. Nicht
im Laboratorium finde ich Gesetze, die mir den Faust er-
klären, sondern das Experiment ist auch nur zu ,, verstehen"
und nicht gesetzmäßig zu erklären wie der Faust. Die Er-
fahrungen, die Einstellungen oder immanenten Deter-
minationen machen mir das Phänomen verständlich. Auch
hier kann ich nur den Menschen verstehen und nicht Gesetze
der psychischen Welt entdecken. Jede Tat ist ein Teil der
Realität, den ich mit andern Teilen in Zusammenhang
bringen kann. Man kann erkennen, was gewollt ist, und
keine Psychologie wird jemals weiter gelangen können.
Wir sagen mit Recht: honny soit qui mal y pense, d. h.
wir führen einen Einfall auf eine immanente Determinierung
oder Willenstendenz zurück. Andererseits stellen wir mit
Recht den Einfall in Gegensatz zu dem Willen. Wir sprechen
im praktischen Leben in solchen Fällen von ,, Fühlen".
Der Psychologe muß hier terminologisch genauer sein als
der populäre Sprachgebrauch. Es gibt kein Gefühl von
- 223 -
einer Meinung. Es soll damit nur gesagt werden, daß der
Einfall nicht die Beantwortung einer gestellten Frage ist.
Wir bezeichnen also nur ein Meinen, das nicht das Resultat
einer gewollten logischen Diskursion ist. Der Rationalismus
scheint mir gerade darin zu liegen, daß man den Unterschied
als einen absoluten ansieht, das logische Zweckdenken als
etwas absolut anderes als den Einfall. Nicht das erste ist
das Vorbild für das zweite. Beides wird uns nur verständlich
aus immanenten Determinierungen. Das eine ist von der
Psychologie aus genau so Denken wie das andere. Es ist
aber möglich, daß wir ein Gefühl durch einen Gedanken
begründen oder interpretieren. Das Gefühl bleibt aber eine
charakteristische Qualität. Es gibt kein Fühlen einer Gegen-
ständlichkeit, wie wir sie denken. Wir geben uns oft keine
Rechenschaft über die logischen Gründe unserer Meinung.
Weil die Überzeugung in diesem Falle nicht auf einem dis-
kursiven Denken beruht, deshalb nennen wir sie ,, Fühlen",
besonders dann, wenn das Urteil nicht nur eine beliebige
konstatierte Tatsache bedeutet, sondern selbst mit der
ganzen wollenden und fühlenden Persönlichkeit zusammen-
hängt, was man gewiß nicht von allen unsern Urteilen sagen
kann. Die Überzeugung braucht nicht entstanden zu sein
dadurch, daß man der Objektivität nachgeht. Das Gefühl
ist aber tatsächlich hier nur ein Wort. Das logische Denken
ist uns als Determinierung bewußt, es ist Vornahme; aber
diese ist nicht gleichbedeutend mit dem Prinzip der im-
manenten Determination.
Die psychologische Erkenntnis ist damit gegeben: Sage
mir, was du denkst und was du tust, und ich will dir sagen,
wer du bist. Das „Wer" ist der zu konstruierende
Gegenstand der Psychologie. Jede Verwertung oder Wirkung
einer Erfahrung vom ersten Moment des Lebens bis zum
letzten ist bestimmt von diesem „Wer". Jede Sinnesänderung
ist die Fortführung einer Bestimmtheit dieses „Wer". Man
nennt es Charakter. Es ist die letzte Willenstendenz oder
- 224 -
wertende Stellung des Subjekts zur Welt, das letzte Gesetz
des Individualsystems oder der Grenzbegriff der psycho-
logischen Erfahrung. Umgekehrt kann man sagen: Weiß
ich, wer du bist, so weiß ich auch was du denken oder tun
wirst. Falsch aber ist es zu sagen: Kennt man die psycho-
logischen Gesetze, so wird man auch sagen können, was
du denken oder tun wirst.
Wir zeigten, daß man nicht fragen kann, ob das Leben
auch ein Gegenstand der mechanistischen Erkenntnis ist,
sondern nur, ob der Begriff des Lebens ein notwendiger
Begriff der Erkenntnis überhaupt ist. Ist er dies, so gibt es
neben der Erkenntnis der toten Natur eine andere, nämlich
die Geschichte des Lebens. Genau das gleiche trifft für den
Begriff des Willens zu. Es hat keinen Sinn zu fragen, ob der
Wille mechanistisch bestimmt ist. Die Frage kann nur
lauten, ob der Wille ein notwendiger Begriff der Erkenntnis
überhaupt ist, und mit der Anerkennung der Geschichte
ist auch diese Frage positiv beantwortet.
Es war der größte Irrtum von Kant, als er annahm,
daß der Mensch überhaupt in irgend einer Weise ein Teil
der Natur sei, die er in seiner Kritik der reinen Vernunft
begründet hat. Losgelöst von der mathematischen Natur-
wissenschaft verliert die Kausalität ihren logischen Sinn.
Es wäre haltlose Metaphysik, wenn man eine Kausalität
behaupten wollte, ohne daß sie die Erkenntnis spezieller
räum- und zeitloser Gesetze begründet. Kants Tat gegen-
über Hume besteht ja gerade darin, daß er die Kausalität
nicht als erfahrenes Gesetz, sondern als Prinzip der Erfahrung
bewies. Losgelöst von der Erkenntnis verliert der Satz,
daß alles in der Welt Wirkung und Ursache ist, jeden Sinn.
Die Erkenntnis sucht nach einem Zusammenhang. Der
von Ursache und Wirkung ist aber ein ganz spezieller, näm-
lich der zeitlose in dem System Natur. Die Psychologie
kann nicht nach Ursache und Wirkung suchen, weil sie
nicht im Raum objektivieren kann. Es hat keinen Sinn,
- 225 -
das Motiv einfach Ursache zu „nennen". Der Sinn des
Motivs liegt nur darin, daß etwas nicht als Gegenstand
einer objektiven Welt aufgefaßt wird, die durch ihre Gesetze
beherrscht ist, sondern daß es subjektiv in dem historischen
Individualsystem gedacht wird. Die Psychologie sucht nach
historischen Zusammenhängen innerhalb einer Monade, eines
Bewußtseins, der Naturwissenschaftler aber nach zeitlosen
in dem einen System der Natur. Will er die Wirklichkeit
erkennen, so will er die Welt erkennen, wie sie zeitlos existiert.
Kausalität und zeitloses Gesetz im Raum sind unauflöslich
verbunden. Durch die Kausalität wird ein historisches
Ereignis zu einem zeitlosen. Die Psychologie aber sucht
gerade nach den tatsächlichen historischen Vorgängen inner-
halb eines Individualsystems, die das Phänomen begreiflich
machen. Nicht das Assoziationsgesetz macht eine Vorstellung
begreiflich, sondern die persönliche Erfahrung, die das
bestimmte Individuum in einem Zeitmoment gemacht hat.
Denkt man ein historisches Subjekt oder einen Organismus,
so hat man schon das Suchen nach Kausalität aufgegeben.
Man denkt nicht mehr zeitlose Existenz, die sich nach zeit-
losen Gesetzen verändert, sondern einen bestimmten Teil der
Zeit, etwas, das lebt, stirbt und handelt. Es ist ein Mißbrauch
der Sprache, wenn man den Willen in den Zusammenhang
von Ursache und Wirkung einbezieht. Wenn man aber eine
Kausalität behauptet und den Willen nicht als Faktor
in den Zusammenhang aufnimmt, so wüßte ich nicht, warum
man ihn überhaupt als eine Realität in der Psychologie
zugibt. Ursache und Wirkung reichen so weit, wie die reine
Vernunft reicht. Auch die historische Vernunft begründet
Phänomene, aber nicht durch die Kausalität, nicht durch
allgemein gültige, zeitlose Naturgesetze, sondern durch das
zeitliche Subjekt, durch seine persönliche Erfahrung und seine
Willenstendenzen. Der Wille ist die einzige Möglichkeit,
die Wirklichkeit historischer Phänomene zu begreifen, neben
der Kausalität, die die einzige Möglichkeit ist, die Wirklich-
strich, Prinzipien. 15
- 226 -
keit der Natur zu erkennen. Wo immer man Handlung
denkt, denkt man das Geschehen historisch bedingt und
nicht zeitlos, nicht durch vorhergehende Ursachen, sondern
durch den Zweck, der wirklich werden soll. Von der Kau-
salität aus ist alles auf einmal wirklich. Die Änderung der
Raumkonstellation wäre nichts Neues, wenn nicht der
historische Moment für das Leben in Betracht käme. Sie
ist neu nur wegen ihrer Wertbedeutung.
Der Naturwissenschaftler erklärt ein Phänomen als
Folge der unmittelbar vorangehenden Substanzkonstellation.
Eine kausale Wissenschaft würde sich selbst aufheben, wenn
sie annehmen würde, daß nicht alles wirkt, was da ist. Die
Kausalität als Prinzip wäre sinnlos, wenn nicht alles, was
im Moment da ist, den folgenden mitbestimmt. Freilich
können wir nicht alle Zusammenhänge berücksichtigen.
Aber der Physiker berücksichtigt wohl viel mehr, als der
naive Mensch vermutet, der beim Anblick einer chemischen
Wage wohl sehr überrascht sein würde, weil dabei Faktoren
berücksichtigt sind, denen er niemals eine Einwirkung auf
die Wägung einräumen würde. Der Naturwissenschaftler
lenkt die Wirkung vieler Teile ab, indem er sie „wo anders"
hinbringt. Wir brauchen die Existenz des Uranos nicht in Be-
tracht zu ziehen, wenn wir die Bewegung des fallenden Steins
bestimmen. Aber für die ideale Erkenntnis existiert eine Ein-
wirkung. Spricht die Psychologie von Kausalität, so hätte das
nur einen Sinn, wenn auch sie von der Idee ausginge, daß alles,
was da ist, den folgenden Moment bestimmt. Das momentan
vorangehende Dasein ist aber nichts anderes als die reale
verflossene Zeit, von der Urzelle an bis zum letzten Moment,
die Ahnenreihe des Individuums, und nicht eine bestimmte
Anordnung von etwas, was ,,in" der Zeit existiert. Sucht
man in ihr nach Ursachen, so kann man das nur, wenn man
diese verflossene Zeit als einen Nebenraum des Raums
denkt. Die Schwierigkeit der Naturwissenschaft liegt darin,
die Spezialwirkung der einzelnen Teile zu bestimmen, die
- 227 -
mit allen andern zusammen da sind. Behauptet man etwa,
daß der momentane Inhalt des Bewußtseins das Dasein
wäre, aus dem der folgende Moment zu erklären sei, so muß
man annehmen, daß alles, was da ist, Ursache für den nächsten
Moment sei. Von dieser Idee der allgemeinen Kausalität
geht die Psychologie in Wahrheit nie aus. Sie behauptet
etwa, daß eine Vorstellung aus Elementen besteht, und daß
ein Element die nächste Vorstellung bewirkt. Dann hätte
nur ein Element andere kausal nach sich gezogen. Diese
Idee wäre in der Naturwissenschaft unsinnig. Wenn etwas
Ursache ist, so muß alles Ursache sein. Es ist unmöglich, daß
nur ein Teil von dem, was gleichzeitig da ist, in kausalem
Zusammenhang mit dem nächsten Moment steht und das
Übrige nicht. Von dem Inhalt des Bewußtseins geht aber
das Allerwenigste als Komponente in die Bewirkung des
folgenden Moments ein. Nun hält man den Moment auch
kausal bestimmt durch den Willen. Man behauptet, daß
er im Bewußtsein da ist und wirkt. Man hat aber damit
selbst ein Ding hineinkonstruiert, um eine Ursache zu haben.
Daß der Wille anwesend ist, schließt man aus der Handlung.
Niemals aber könnte man ihn einen Moment vorher in einem
Bewußtsein entdecken und daraus den folgenden Moment
erklären. Ursache und Wirkung ist nur dadurch möglich,
daß eine bestimmte Raumanordnung bestimmter Elemente
in einem Moment angenommen wird. Da es eine solche
psychologisch nicht gibt, gibt es auch keine Kausalität.
Die Raumtheorie selbst entstammt als letzte Grundidee
erst dem Zweck, die Inhalte des Bewußtseins zu erklären.
Was an sich historische Folge im Wahrnehmungsurteil ist,
wird durch die Kausalität im Raum objektiviert. Psycho-
logisch aber bleibt die Erkenntnis bei der Beschreibung
der historischen Folge stehen. Sie konstruiert keine Substanz,
die die Wirklichkeit ausmacht und die nur ,,in" der Zeit
erscheint. Nur dann aber wäre eine Erkenntnis nach Ursache
und Wirkung möglich. So aber existiert nur die Zeitfolge.
15*
- 228 -
Kein Element bewirkt eine objektive Folge. Nicht eine
Raumkonstellation geht dem zu erklärenden Moment voran,
sondern die ganze Zeit. Wir erkennen zunächst einen Moment
als Teil dieses Zeitsystems durch seine historische Gleichheit
mit der Vergangenheit. Das gilt sowohl für den erlebten
Inhalt wie für die Folge. Wir fassen beides zu Allgemein-
heiten zusammen, die aber nur in dem Individualsystem
existieren. Wir bestimmen das Erlebte als Rot, als Tisch etc.
WTir bestimmen damit den Inhalt als Teil der Zeit. Wir
zeigten aber deutlich, daß schon bei der Wahrnehmung
ein psychologisches Problem auftritt, während sie ja sonst
gerade durch die Naturwissenschaft erklärt wird. Da sie
jederzeit nur eine Auswahl von Möglichkeiten ist, so gilt
es, diese Beschränkung der Wirklichkeit zu verstehen. Wenn
wir in der Objektivität, in der Welt der Naturwissenschaften,
in dem mathematischen Raum keine Ursache dafür finden
können, so gibt es nur eine Möglichkeit: die immanente
Determinierung; die Auswahl ist die Tat des Subjekts.
Wir verstehen sie durch ihre historische Gleichheit innerhalb
des Individualsystems genau so wie den Inhalt selbst als
Wiederholung eines früheren Teils. Wir verstehen die
Aufmerksamkeit durch die historische Gleichheit der Aus-
wahl. Wir verstehen, wenn ein Schuljunge auf die Soldaten
Acht gibt, weil er sich „immer" für ähnliche Gegenstände
interessiert. Seine jetzige Tat ist nur die Wiederholung
vieler vergangener Taten. Genau so verstehen wir die Asso-
ziation als eine Tatauswahl unter unendlichen Möglichkeiten.
Jede Bestimmtheit kann reproduktiv sein, jede ist mit tausend
andern schon zusammen da gewesen. Das, was wirklich
da ist, verstehen wir als Tat, die selber wieder eine Wieder-
holung der Vergangenheit ist. Nur von diesem Standpunkt
aus haben die Reaktionsversuche überhaupt einen Sinn.
Unsere psychologische Erkenntnis kann auch im Laborato-
rium nur historische Individualpsychologie sein, wenn man
sich nicht auf nebensächliche Beschreibungen einläßt, indem
- 229 -
man vergißt, daß das Ziel jeder Wissenschaft die Erkenntnis
von den Zusammenhängen in der Zeit ist. Nur aus der Ge-
schichte, aus den Erfahrungen und den Willenstendenzen
des Subjekts kann man eine Assoziation verstehen. Auch
sie ist eine Auswahl der Aufmerksamkeit oder der Ein-
stellung. Durch die Reaktion wird das Individuum erkannt,
nicht sie aber durch allgemeine Gesetze.
Die Aufmerksamkeit ist aber keine spezielle Form des
Willens. Es kommt uns nicht auf die triviale Tatsache an,
daß im psychischen Leben Wille, Gefühl und Vorstellung in
jedem Moment zu einem Ganzen verbunden da wären und
nur durch die wissenschaftliche Abstraktion zu trennen sind.
Bei diesem „Ganzen" liegt doch schon das Raumdenken
zugrunde. Es ist nicht unsere Ansicht, daß ,, immer" der
Wille da ist, sondern wir können eher behaupten, daß er
niemals ,,da ist". Die psychische Wirklichkeit läßt sich nur
nicht anders begreifen als durch den Willen, wie keine Raum-
erfahrung möglich ist ohne die Kausalität. Man kann aber
nur nach speziellen Naturgesetzen oder nach speziellen Willens-
tendenzen suchen. Der Wille existiert nicht neben dem Inhalt
im Bewußtsein, sondern er macht mir die Existenz des
Inhalts begreiflich, wie das Gravitationsgesetz nicht neben
der Masse existiert, sondern nur Bewegungen im Raum erklärt.
Der Wille ist ein notwendiges Prinzip der Erkenntnis, weil
man durch die Konstruktion der kausalen objektiven Welt
die Phänomene der historischen nicht verstehen kann. Wohl
wird die Wahrnehmung erklärt, aber nicht die Tatsache,
warum ich gerade das wahrnehme, wo auch die Möglichkeit
zu anderen Wahrnehmungen besteht. Der vorgestellte
Inhalt kann aber überhaupt nicht durch die Objektivität
erklärt werden. Er existiert nur als Willensauswahl unter
den möglichen Assoziationen.
Genau so ist es mit der Körperhandlung. Eine Be-
wegung im Raum der Naturwissenschaft ist bedingt durch
die zeitlosen Naturgesetze. Sie wird aber überhaupt nur
- 230 -
dadurch zum psychologischen Problem, daß ich sie nicht
in diesem Raum denke. Sie ist dann keine relative Orts-
änderung letzter Teile im zeitlosen Raum, sondern ein
historisches Phänomen, ein Teil aus dem Leben der Zeitreihe
des Individualsystems. Von der Einheit dieses Systems
ist sie abhängig, von einem bestimmten Willen. Der Wille
setzt nichts im mathematischen Raum in Bewegung. Er ist
keine Kraft neben der Anziehungskraft. Denn durch ihn er-
kläre ich nicht die Reihe der Phänomene, wie sie die Theorie
der Naturwissenschaft denkt. Nur die historische Wirklich-
keit wird durch ihn verstanden, nicht die im Raum erklärt.
Die Handlung ist die Realität selbst, die ich historisch be-
greifen kann durch ihre Gleichheit in dem System, wo sie
existiert. Der Naturwissenschaftler kann auch nicht die
Welt aus dem Nichts erklären. Er konstruiert seine Realität.
Sie kann er nicht erklären, nur Gleichheiten des Geschehens
kann er namhaft machen, die in seinem unerklärbaren
System stattfinden. Die Wirkung des Radiums muß er
erkennen als ein Geschehen, das sich im Raum wiederholt.
Die Realität des Psychologen aber ist nicht der Raum,
sondern die Zeit. Für den Naturwissenschaftler ist der
Zeitmoment erklärbar, weil seine unerklärbare Realität
der Raum ist. Eine solche Umdenkung ist für den Psycho-
logen unmöglich. Es gibt für ihn keine andere Realität als
die Zeit oder das Leben, das begonnen hat und endet. Er
kann nicht nach Kausalitäten suchen, weil er keinen Raum
annimmt. Nur weil dieser zu allen Zeiten derselbe bleibt,
ist eine Wiederholung in der Natur damit erklärt, daß sie
als Wiederholung im Raum dargestellt wird. Eine Kausalität
könnte man nur dann behaupten, wenn das Leben ein irrtüm-
licher Begriff wäre, wenn es in Wirklichkeit keinen Unter-
schied gäbe zwischen Leben und Tod. Denn es kann keinen
andern Unterschied zwischen beiden geben als den des
zeitlosen und des historischen Zusammenhangs. Infolge-
dessen gibt es auch keine Kausalität des Willens, sondern
- 231 -
nur die Erkenntnis der Phänomene durch den Willen. Wäre
er kausal determiniert, so müßte er im Raum der mathe-
matischen Naturwissenschaft existieren. Dann wäre auch
die Kausalität durch die Kausalität determiniert und so fort.
Mehr Sinn hat die Frage, ob der Wille determiniert ist,
wirklich nicht. Man könnte auch fragen, ob die tote Natur
kausal ablaufen muß, oder warum sie es tun muß. Ihre
Kausalität ist die notwendige Idee, wenn ich sie überhaupt
erkennen will. Ebenso ist der Wille die notwendige Idee,
um zu erkennen. Er ist ein Prinzip, durch das ich er-
kenne. Ihn selbst erkennen wollen, wäre gleichbedeutend
mit der Frage, warum in der toten Natur die Kausa-
lität herrscht. Nicht der Mensch hat einen Willen,
sondern das Leben kann nur durch ihn erkannt
werden. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied
zwischen der Amöbe und Goethe. Die Frage, ob der Wille
frei oder unfrei ist, ist gleichbedeutend mit der, ob die Kau-
salität frei oder unfrei ist. Meint man, daß Kausalität gleich-
bedeutend ist mit Unfreiheit, so ist Wille gleichbedeutend
mit Freiheit. Beides sind korrelative Begriffe, die sich
gegenseitig erst ihren Sinn geben. Zum Schluß läuft beides
auf die Frage hinaus, ob die Welt notwendig da ist oder
freiwillig. Darüber kann die Erkenntniskritik nichts mehr
sagen. Wir können durch den Willen und die Kausalität
die Welt erkennen. Ob sie beide oder unsre Welt da sein
„muß", ist keine Frage der Logik.
Praktisch scheint die Frage für den Willen allerdings
wichtig zu sein, nämlich in dem Problem der Verantwort-
lichkeit. Allein dies Problem beruht auf einer Unklarheit
des Denkens im Zusammenhang einer unkritischen Meta-
physik. Man fragt wohl, ob ein Mensch für seinen Willen
etwas kann oder nicht. Die Frage ist aber ganz unlogisch,
weil dieser Mensch gar nichts anderes ist als dieser Wille.
Sie beruht auf der falschen Annahme, daß die Seele etwas
ist, was im Körper wohnt. Schon Aristoteles hat uns gelehrt,
- 232 -
daß die Seele nur die Form des Subjekts ist, die historische
Einheit. Sie ist aber nichts, was den Willen wählt oder auf-
gezwungen erhält. Die Frage entspricht der: kann das
Element Gold etwas dafür, daß es nicht Silber ist, oder:
muß die Masse anziehen oder tut sie es freiwillig ? Es gibt
keine wählende Seele neben der wählenden Seele, wie es
neben dem Element kein Element gibt, das sich seine Quali-
tät wählen kann. Der Mensch ist nichts anderes als sein Er-
fahren und sein Wollen. Ob dieser Mensch auch hätte anders
wollen können, heißt nichts mehr und nichts weniger als,
ob die Welt hätte anders sein können, als sie ist. Diese Frage
bleibt auch für den Naturwissenschaftler trotz der Kausalität
offen. Daß dieses Element Gold ist, läßt sich durch die Kau-
salität, selbst wenn man seine historische Entstehung an-
nimmt — womit gesagt ist, daß man es nicht für ein Element
hält — , nicht restlos begründen. Die Frage entzieht sich
jeder Entscheidung, sowohl für den Historiker wie für den
Naturwissenschaftler, denn beide setzen die Realität der
Welt voraus. Aber unsere Ansicht ist natürlich das gerade
Gegenteil des Fatalismus. Ich weiß nicht, was ich im nächsten
Moment tun werde, denn ich kenne die Realität noch nicht.
Was ich aber auch tue, so ist es mein Wille, der es bestimmt.
Führe ich eine vorgenommene Absicht aus, so habe ich mit
meiner Selbsterkenntnis recht gehabt. Der Mensch ist verant-
wortlich, heißt nur, daß er etwas getan hat. Ob ein anderer
Wille hätte da sein können, ist müßig zu fragen. Wir können
hier den tatsächlichen Willen als die Realität erkennen,
aber diese selbst nicht begründen. Eines aber ist sicher:
Was wir tun werden, ist nicht durch ein zeitloses Gesetz
bestimmt, sondern rein durch unseren Willen. Er allein
ist die Realität und wenn das Leben zu Ende ist, werden
wir sie erkennen. Er ist selbst das Gesetz und nicht ein
Gegenstand, der dem Gesetz unterworfen ist.
Praktisch aber ist das Problem komplizierter. Wir
handelten bis jetzt von dem Verhältnis des Menschen zu
- 233 -
seinem Willen. Man kann aber augh nach dem Grund fragen,
warum eine von den vielen Willensbestimmtheiten des ganzen
historischen Subjekts die Tat bestimmt. Die Psychologie
spricht gewöhnlich von einem Kampf der Motive. Wenn
man aber darin mehr als ein Wort, nämlich eine Erklärung
sieht, so beweist das wieder nur ein unkritisches Raum-
denken. Wir dürfen uns keinen Kampf von Kräften vor-
stellen. Jede Erklärung muß daran scheitern, daß die
Tat nicht das Resultat von Komponenten in naturwissen-
schaftlichem Sinne ist. Die verschiedenen Willenstendenzen
bilden keine Raumordnung, durch die ihre Wirksamkeit
bestimmt wäre. Nicht jede Willenstendenz liefert einen
Beitrag für die Folge; sondern aus einer heraus haben wir
die Tat zu verstehen. Die andern sind unwirksam geblieben.
Die Erkenntnis einer Notwendigkeit ist hier ausgeschlossen.
Es kommt aber alles darauf an, daß darin nicht die Freiheit
liegt, sondern in dem Begriff des Willens selbst als dem
Prinzip der historischen Erkenntnis. In dem Gegensatz
zu der Kausalität besteht sie, in der subjektiven Willens-
bestimmung überhaupt, in dem Nichtbedingtsein von den
zeitlosen Naturgesetzen im Raum. Daß überhaupt die
Handlung aus einer Willenstendenz zu verstehen ist, darin
liegt die Freiheit, nicht aber in einer vermeintlichen Aus-
wahl unter den Willenstendenzen, die wieder ein meta-
physisches Subjekt über dem wirklichen voraussetzen und
die Frage wieder in einen regressus ad infinitum auflösen
würde. Wir glauben allerdings, die Auswahl empirisch in
der bewußten Überlegung fassen zu können. Allein wir
fassen damit wieder nur das Selbstbewußtsein oder die
Selbsterkenntnis. Wir lernen in ihm kennen, welche Willens-
tendenzen für uns maßgebend sind, und welche nicht. In
diesem Bewußtsein kann die Freiheit empirisch nicht liegen,
sonst müßten wir dem Menschen eine Ausnahmestellung
unter den Organismen einräumen. Wir könnten dann nie
den Willen als ein Prinzip der Erkenntnis überhaupt nach-
- 234 -
weisen. Denn er wäre ein besonderes Phänomen des besonde-
ren Gegenstandes „Mensch". Für die empirische Erkenntnis
ist die Tat, die nicht überlegt geschieht, genau so frei wie
die überlegte, nämlich bestimmt durch den subjektiven
Willen. Glaubt man an eine kausale Bedingtheit der Tier-
handlung, so würde allerdings die menschliche Willens-
freiheit nur metaphysisch gerechtfertigt werden können.
Nennt man nur die überlegte Tat frei, so bedeutet das einen
ganz andern Standpunkt. Man fragt da nämlich nicht
mehr allein nach der Erkenntnis der historischen Wirklich-
keit. Will man begründen, was da ist, so kann man die Tat
des Geisteskranken oder die im Dämmerzustand auch nicht
anders begründen als durch den Willen, d. h. sie ist nicht
bedingt durch die objektive Kausalität. Die Tat ist frei,
ob der Wille frei ist, ist eine müßige Frage für die Erkenntnis.
Da aber der bestimmte Wille selbst eine Möglichkeit unter
anderen ist, so bleibt hier eine offene Frage, die die Erkenntnis
nicht mehr entscheiden kann. Sie kann die Auswahl des
Willens nicht mehr als gewollte Tat begründen. Nur in einem
Punkte kann sie noch weiter gelangen, wenn auch nur negativ.
Der bestimmende Wille ist eine von vielen Möglichkeiten.
Wir können nur die Wirklichkeit erkennen. Empirisch
kommt es aber darauf an, ob tatsächlich die Möglichkeit der
andern Willenstendenzen überhaupt gegeben ist. In diesem
Sinne gibt es auch, wenn man so sagen will, eine gradweise
Willensunfreiheit. Sie besteht in der Unmöglichkeit, daß
andere Willenstendenzen als die wirklichen maßgebend sein
können. Auf keinen Fall aber bedeutet dieser sogenannte
Ausschluß des freien Willens eine kausale Bedingtheit.
Wir erkennen die Tat des Geisteskranken als bestimmt
durch seinen Willen. Sie ist genau so frei wie jede
andere. Neben dieser Erkenntnis aber können wir die
Frage stellen, ob nicht andere Willenstendenzen hätten
maßgebend sein können. Damit erkennen wir nicht
mehr empirisch nur die Wirklichkeit. Wir können auch
- 235
nur das Negative der Frage entscheiden, daß nämlich in
einigen Fällen, die wir pathologisch nennen, die Möglichkeit
anderer Tendenzen ausgeschlossen ist. Wo diese Möglichkeit
aber besteht, können wir eine Notwendigkeit der tatsäch-
lichen Wirklichkeit nicht mehr erkennen, den Willen nicht
als Auswahl unter den einzelnen Willen begründen, sondern
die Tat nur durch den speziellen Willen selbst. Wir
machen bei der ethischen Bewertung die Voraussetzung,
daß auch andere Willenstendenzen bei der Tat hätten
mitbestimmend sein können. Diese Voraussetzung trifft
in den pathologischen Fällen nicht zu. Trotzdem aber
bleibt die Tat durch den Willen bestimmt und nicht durch
die Kausalität. Nur würde eine Bestrafung natürlich sinn-
los sein. Abgesehen von den Fällen, wo es uns von vorn-
herein unmöglich ist, dem Individuum gewisse Willens-
tendenzen anzuzüchten, kann die pathologische Tat auf
einer Gedächtnisstörung beruhen, die akut sein oder chro-
nisch werden kann. Wenn wir den speziellen Willen als eine
Möglichkeit unter andern Bestimmtheiten ansehen, so hat
das nur Sinn, wenn wir das ganze historische Subjekt als
existierend betrachten. Im pathologischen Fall existiert
aber nicht mehr das ganze Subjekt. Der Zusammen-
hang in der Zeit ist aufgehoben. Das bezeichnen wir
als Gedächtnisstörung. Der Geisteskranke kann unter
Umständen mit unheimlicher Logik seine fixe Idee ver-
teidigen. Aber die früheren Erfahrungen können* seine
Meinung nicht mehr korrigieren, weil sie nicht mehr für
ihn existieren. Das ganze wissende Subjekt ist also auf-
gehoben. Dasselbe trifft für den Willen zu. Wo wir eine
absolute Störung des Gedächtnisses annehmen können,
müssen wir auch annehmen, daß die andern Willenstendenzen,
die wir erwarten würden, nicht wirksam sein können, weil
das eine historische Subjekt in der Zeit in dem eigenen
Bewußtsein aufgehoben ist. Für uns als Historiker existiert
es freilich weiter. Für unsere historische Erkenntnis aber
- 236 -
kommt es auch gar nicht in Betracht, ob der Mensch in diesem
Sinne frei oder unfrei war. Wir haben die Wirklichkeit,
soweit es geht, zu verstehen. Sind wir damit fertig, so kann
uns die Frage, ob die Wirklichkeit anders hätte sein können,
nicht mehr interessieren. Nur für die Bewertung der Wirk-
lichkeit kommt sie in Betracht, ob wir den Menschen ent-
schuldigen oder verdammen. Bekanntlich ist es sehr schwierig
zu entscheiden, ob eine Unmöglichkeit hemmender Tendenzen,
eine absolute Gedächtnisstörung bestanden hat oder nicht.
Man sollte aber nicht vom Ausschluß des freien Willens
sprechen. Denn die Freiheit der Tat liegt schon in dem Be-
griff des Willens. Von jenem Standpunkt aus aber fragen
wir gar nicht nach dem Grund der Wirklichkeit, sondern
nach dem Grund der Nichtwirklichkeit von etwas, was wir
als berechtigt erwarten zu dürfen glauben. Daraus ist er-
sichtlich, daß wir die Tat, selbst wenn wir einen absolut
pathologischen Fall annehmen, doch nicht als kausal be-
stimmt annehmen. Das würde auch einen Bruch des Prinzips
der Erkenntnis bedeuten oder auch im anderen Fall das
Prinzip als gültig aufheben. Die Handlung wird nicht
plötzlich kausal bestimmt. Sie bleibt weiter von dem Willen
des Subjekts abhängig, aber der Wille ist insofern unfrei
geworden, als die hemmenden Tendenzen nicht mehr be-
stimmend sein ^können, weil sie im Moment nicht mehr
existieren. Der historische Zusammenhang ist zerrissen, und
dieser -Zustand kann chronisch oder akut sein.
In diesem Sinne gibt es freilich Grade der Freiheit. Der
eine extreme Fall ist die Überlegung, das Abwägen aller
Motive, der andere die absolute Zerstörung des Gedächt-
nisses. Schon die Laune ist eine Unfreiheit, da die Tat nicht
mehr von den dauernden Überzeugungen abhängt. Für
die Erkenntnis ist aber keine Tat durch die Kausalität be-
stimmt, gleichgültig, ob das ganze dauernde Subjekt ihr
zugrunde liegt oder nicht. Freiheit besagt hier nur: be-
stimmt durch den eigenen Willen und nicht durch zeitlose
- 237 -
Naturgesetze. Inwieweit eine Tat aus Überlegung mit Be-
wußtsein geschehen ist, läßt sich niemals entscheiden. Diese
Entscheidung ist für die Erkenntnis der Wirklichkeit auch
gar nicht nötig. Die Möglichkeit besteht für das normale
selbstbewußte Subjekt immer. Nur im pathologischen Fall ist
sie aufgehoben. Jener andere Freiheitsbegriff setzt einen
ethischen Gesichtspunkt voraus, nämlich unsere wertende
Stellung zu der Realität. Wenn wir den realen Willen be-
werten, so muß die Möglichkeit anderer Willenstendenzen
bestehen. Solange das eine Subjekt als Ganzes in der Zeit
besteht, existiert sie. Im andern Fall ist die Tat wohl frei,
aber das Subjekt nicht verantwortlich für sie. Wenn nicht
mehr der historische Zusammenhang im eigenen Bewußtsein
besteht, so hat es auch keinen Sinn mehr, ein Subjekt ver-
antwortlich zu machen, das eben gar nicht existiert. Die
Tat ist dann kein Teil mehr des Subjekts, das wir etwa
bestrafen würden. Für unsere Erkenntnis existiert das eine
Individualsystem in der Zeit. Aber wir erkennen weiter, daß
für das Bewußtsein selbst das Systemsein aufgehört hat.
Von dem ganzen Subjekt aus ist uns darum die Tat in diesem
Falle absolut unbegreiflich. Sie ist uns nur verständlich,
wenn wir nicht mehr das ganze Subjekt als existierend an-
nehmen. An sich freilich verstehen wir auch die normale
Tat nur aus einem Teil, einer bestimmten Willenstendenz.
Erst für die ethische Beurteilung müssen wir jedenfalls
die Existenz des ganzen Subjekts voraussetzen. Inwieweit
diese ganze Einheit an der Tat beteiligt ist, entzieht sich
der Erkenntnis. Nur daß sie in einigen Fällen nicht beteiligt
sein kann, wissen wir. Dies interessiert aber nur die ethische
Beurteilung, nicht die Erkenntnis der Wirklichkeit. Somit
wird die Freiheit als Prinzip der Erkenntnis niemals auf-
gehoben, denn sie liegt schon in dem Begriff des Willens.
Im pathologischen Fall ist die Tat frei von der Kausalität,
aber nicht mehr frei von dem ganzen Subjekt aus, das auf-
gehört hat zu existieren. Nur an dieses kann sich aber die
- 238 -
ethische Bewertung richten. Der ethische Begriff der Freiheit
setzt die absolute Ganzheit des Subjekts voraus, die empi-
risch nicht zu bestehen braucht, der empirische aber nur
den Willen überhaupt als das Prinzip der Erkenntnis. Mit
der Bestimmung der maßgebenden Tendenz sind wir mit
unserer Erkenntnis zu Ende. Wir können nur in einigen
Fällen sagen, daß andere Tendenzen nicht beteiligt sein konn-
ten. Damit ist die empirische Freiheit mit der ethischen
Unverantwortlichkeit versöhnt. Die Überlegung ist keine
empirische Bedingung der Willenshandlung, sondern ihre
Möglichkeit nur die Voraussetzung für die ethische Be-
wertung.
Daß die Nichtkausalität des Willens logisch eine Ein-
wirkung ausschließt, ist ein frivoles Märchen mancher mo-
dernen Straf rechtstheorie. Im Gegenteil wäre unter Voraus-
setzung der Kausalität der leiseste Eingriff in das Leben des
andern die furchtbarste Barbarei, von welcher Theorie der
Strafe man auch ausgeht. Denn Kausalität kann nichts
anderes heißen, als daß es beim Anfang der Welt schon
bestimmt war, daß an dem und dem Tag an der und der
Stelle ein Mord passierte. Alle Versuche, Kausalität und
Fatalismus zu trennen, können nur Spiegelfechtereien sein.
Wenn man aber weiß, daß die Tat des Menschen durch seine
persönlichen Erfahrungen und Willenstendenzen bestimmt
ist, so ist es nur selbstverständlich, wenn man in sein
Leben künstlich Erfahrungen einführt. Allerdings kann
niemand mit Bestimmtheit sagen, daß sie nützen werden.
Denn die objektive Welt kann das psychische Leben nie
vollständig erklären. Ein subjektiver Rest ist immer voraus-
gesetzt, die Art, die Wahrnehmung aufzunehmen und zu
verwerten. Die Zukunft können wir psychologisch nie mit
Sicherheit erkennen, da wir die Realität nicht kennen, sondern
nur vermuten. Erkennen können wir das Leben nur, wenn
es zu Ende ist, wenn der Teil der Zeit da ist, den wir in
seinem System erkennen wollen.
- 239 -
Daß uns die Taten der niederen Tiere unfrei vor-
kommen, die der höheren immer freier, ist psychologisch
verständlich wegen der allmählichen Differenzierung oder
Individualisierung. Wegen der großen Gleichförmigkeit
kann man leicht zu allgemeinen historischen Tatsachen
kommen. Damit sind sie aber keine Naturgesetze im
Sinne des Mechanismus geworden. Der Mensch ist keine
Ausnahme. Nur gibt es so viele verschiedene Menschen,
daß eine beschreibende Erkenntnis „des" Menschen
eine Unmöglichkeit ist. Ich möchte hier aber darauf
aufmerksam machen, daß unsere Grundlegung der Indivi-
dualspychologie nicht auf dieser Verschiedenheit der
Individuen beruht. Damit hätte man das Prinzip völlig
verkannt. Ob es unter den Infusorien verschiedene Indi-
vidualsysteme gibt oder nicht, tut nichts zur Sache. Auch
bei ihnen verstehen wir die Bewegung historisch und nicht
räumlich. Die Zeit begründet aber nicht „ein" System wie
der Raum. Die Bewegung wird also nur innerhalb des
Individualsystems verstanden, innerhalb der historischen
Monade und nicht in einem allgemeinen System: „psychische
Natur''. Ob viele Monaden gleich sind, geht die Erkenntnis
der einen Bewegung nichts an.
Nun glaubt die Psychologie ein Gesetz gefunden zu
haben, das den Willen selbst determiniert: Der Wille strebt
nach Lust. Soweit dies aber überhaupt einen Sinn hat,
ist es ein analytischer Satz oder eine Tautologie. In Wahrheit
sagt man nur: Wenn man etwas will, dann will man das,
was man will.
Daß der Satz kein empirisches Gesetz bedeutet, zeigt
sich schon darin, daß er nicht durch die Erfahrung wider-
legbar ist. Das Gravitationsgesetz ist aus Erfahrung ge-
wonnen. An sich wäre es logisch denkbar, daß die Masse
sich nicht so verhält, wie das Gesetz es sagt. Die Erfahrung
hat entdeckt, daß es so ist. Sie hat eine Synthese a posteriori
konstruiert, die nicht a priori selbstverständlich ist. Für
- 240 -
das Lustgesetz trifft dies nicht zu. Ein Gesetz hat nur Sinn,
wenn eine von unendlichen Möglichkeiten dadurch als Tat-
sache festgelegt wird. Unser Gesetz hätte also nur Sinn,
wenn auch das Gegenteil logisch denkbar wäre, durch die
Erfahrung aber nicht als zutreffend nachgewiesen werden
könnte. Es müßte also auch logisch denkbar sein, daß der
Wille nach Unlust strebt, und erst die Erfahrung würde
lehren, daß dies in Wahrheit nicht zutrifft. Nun gibt man
wohl notgedrungen zu, daß ein solches Streben nach Unlust
vorkommt, etwa bei einem Fakir, aber man brauchte wohl
nicht erst so weit zu schweifen. In dem Leben fast aller
Menschen finden sich derartige Phänomene. Trotzdem
behält das Gesetz für den Psychologen seine Gültigkeit.
Denn die Unlust ist es in diesem Falle, die Lust bereitet.
Wir stoßen also auf die merkwürdige Tatsache, daß das
Gegenteil des Gesetzes logisch undenkbar ist, weil immer
die „Ausrede" da sein kann, daß die Unlust Lust bereitet.
Infolgedessen ist es zum mindesten keine Bereicherung
meiner Erfahrung, ich erfahre dadurch nicht, daß einer von
vielen Gegenständen immer der Gegenstand des Willens
ist, denn es wird durch das Gesetz kein Gegenstand des
Willens ausgeschlossen. Infolgedessen bin ich genau so
klug wie zuvor. Ich wollte wissen, wonach der Wille
strebt, und ich höre, daß er nach allem, auch nach Unlust
streben kann. Wrir haben es also gar nicht mit einem empi-
rischen Gesetz zu tun, das man aus der Erfahrung kon-
struiert hat, sondern man geht von vornherein von einer
Idee aus, die auf jede Erfahrung anwendbar ist. Man kann
aus jedem Willen schließen, daß das Ziel dem Subjekt Lust
bereitet, aber man kann niemals aus dem Gesetz auf den
Gegenstand des Willens schließen. Wäre der Satz keine
Tautologie, so hätten wir ohne Erfahrung ein Naturgesetz
gefunden. Denn wenn das Gegenteil „logisch" unmöglich
ist, so kann dasGesetz auch nicht aus der Erfahrung stammen.
Es bliebe also nur die Möglichkeit, daß wir es mit einem
- 241 -
synthetischen Satz a priori im Sinne Kants zu tun haben,
entsprechend dem Satz der Kausalität. Dies ist insofern
wirklich richtig, als damit gesagt ist, daß der Wille das
notwendige Prinzip der psychologischen Erfahrung ist.
Die inhaltliche Determination dieses Willens selbst beruht
aber auf einer Tautologie.
Faßt man das Gesetz so allgemein, daß wirklich keine
Erfahrung es widerlegen kann, so würde ich lieber sagen,
das Subjekt strebt nach Befriedigung. Was auch immer
getan wird, man kann immer daraus schließen, daß das
Subjekt glaubt, durch die Erreichung des Ziels befriedigt
zu sein. Würde man aber den Grund dieses Strebens
nach Befriedigung zum Problem machen, so gerät
man in denselben regressus ad infinitum wie bei der
Selbstbeobachtung. Wenn man einen psychischen Akt
annimmt, der ein Element Lust wahrnimmt, so müßte
man auch weitergehen und diese Wahrnehmung auf
eine Beobachtung der Beobachtung zurückführen und
so fort. Genau so wäre es beim Wollen. Ich würde
die Befriedigung wollen, weil die Befriedigung befriedigt
und so fort. Diesem regressus entgehen wir nur, wenn wir
nicht die Befriedigung zum Gegenstand des Wollens, sondern
zum Grund des Gegenstandswollens machen. Wir begründen
damit das Wollen. Ich wüßte nicht, warum wir nach Be-
friedigung streben sollten, denn dieses Erlebnis ist an sich
gar nicht angenehmer als die Unzufriedenheit. Hinter dem
Element ,,Lust" verbergen sich zwei ganz verschiedene
Tatbestände. Das eine Mal bezeichnet man damit die ganz be-
stimmte Eigenschaft eines qualitativen Erlebnisses, die An-
nehmlichkeit, das andere Mal einen bestimmten Gefühls-
zustand, der an sich weder angenehm noch unangenehm ist.
Es läßt sich kaum etwas Unsinnigeres denken, als daß der
Psychologe durch Selbstbeobachtung feststellt, ob ein Ele-
ment Lust oder Unlust in seinem Bewußtsein ist. Es gehört
keine Übung der Selbstbeobachtung dazu, sondern die ganze
Strich, Prinzipien. 16
- 242 -
theoretische Verbildung eines Psychologen, um überhaupt
so etwas zu behaupten. Man müßte konsequent auch sagen,
daß ich jedesmal, wenn ich ein Urteil über das Essen abgebe,
zunächst Selbstbeobachtung treibe, ob ich nämlich ein Element
Lust oder Unlust in meinem Bewußtsein entdecke. Aber
auch wenn ich kein Urteil abgebe, sondern nur darnach
handle, so müßte auch das Element durch innereWahrnehmung
entdeckt worden sein. Ist die Selbstbeobachtung im Recht,
so wäre jeder Mensch zunächst in einem argen Dilemma.
Man entdeckt mehrere Inhalte und ein Element Unlust.
Woher sollte man dann wissen, durch welches Empfindungs-
element das Gefühlselement erregt worden ist ? Es gäbe
nur eine vernünftige Antwort: durch induktive Erfahrung,
die einen Kausalzusammenhang feststellt. Jeder unver-
bildete Mensch wird sagen, daß ein Geschmack unangenehm
ist. Von einem Element neben dem Inhalt kann keiner
etwas entdecken. Weiter kann aber auch der Psychologe
nicht kommen, selbst wenn er im Laboratorium Chinin ißt
und dazu das Hippsche Chronoskop aufzieht. Sein Fehler
ist aber nicht ein ungeschickter sprachlicher Ausdruck,
sondern jene Raumtheorie, durch die er das Bewußtsein als
einen Rahmen voll psychischer Dinge denkt, wozu er dann
ein inneres Auge braucht, um diese Dinge wahrzunehmen.
Alles dies ist deswegen verkehrt, weil das Bewußtsein kein
Raum neben dem wirklichen Raum ist. Das Subjekt urteilt
nicht nur, was es erlebt, sondern es beurteilt auch das Er-
lebnis als angenehm, unangenehm oder gleichgültig. Es tritt
aber kein Gefühlselement neben ein Empfindungselement.
Es ist auch nicht immer ein Gefühlselement da, das bisweilen
nur so schwach ist, daß wir es nicht merken. Seltsamerweise
hat man gesagt: Daß Schmerzen weh tun, ist ebenso sinnvoll,
wie daß Gerüche riechen. Indessen gibt es keinen Geruch,
der riecht, sondern es gibt das Erlebnis des Geruches, und
dieses kann unangenehm sein. Ebenso gibt es bestimmte
Inhalte, die wir sprachlich, ob mit Recht oder Unrecht,
- 243 -
als Schmerzempfindungen bezeichnen, deren Erlebnis
unangenehm sein kann. Es gibt aber auch Schmerz-
empfindungen, die oft künstlich wiederholt werden, weil
sie angenehm sind. Dahin gehört etwa das Drücken auf
einen ,, blauen Fleck", das man bei fast allen Menschen
beobachten kann. Man mag dies als Perversität bezeichnen.
Es wäre dies aber genau so wie mit dem Hautgout des
Wildes als Geschmack. Soweit ein erlebter Inhalt be-
zeichnet wird, ist der Schmerz eine Empfindung.
Schränkt man aber das Wort ,, Schmerz" nur auf die
unangenehmen Empfindungen ein, so bestimmt man
nicht mehr allein nach dem Inhalt. Mit der Gefühls-
betonung des erlebten Inhalts oder der erlebten Bestimmt-
heit ist etwas ganz anderes gemeint. Der Psychologe
muß auch hier terminologisch genauer sein als der naive
Sprachgebrauch. Er muß den Inhalt des Erlebten trennen
von der Stellungnahme des Subjekts, durch die wir sein
Handeln verstehen. Keine logische Überlegung kann den
naiven Menschen widerlegen, der seine Empfindungserlebnisse
angenehm oder unangenehm nennt, ihnen also eine sub-
jektive Eigenschaft beilegt. Daß diese Eigenschaft des
Erlebens von einer andern Eigenschaft des Erlebten,
der Intensität, abhängt, widerlegt nicht das Recht, von einer
Eigenschaft zu sprechen. Die Intensität begründet ein
qualitativ neues Erlebnis, wenn auch das Denken eine Gleich-
heit zwischen zwei Inhalten feststellt. Die Annehmlichkeit
ist keine Eigenschaft des erlebten Inhalts, sondern des
Erlebnisses. Diese Erlebnisse können den Grund abgeben
für Befriedigung und Unbefriedigung. Aber es wäre absolut
falsch, zu behaupten, daß sie allein den Grund abgeben
müssen. Ein guter Teil der persönlichen Kultur beruht
gerade in der Unabhängigkeit des Gefühls von der Annehm-
lichkeit oder Unannehmlichkeit der Empfindung. Mit dem
Gefühl aber bezeichnen wir an sich kein unangenehmes
oder angenehmes Erlebnis. Vielmehr ist das Gefühl das
16*
- 244 -
Symptom, daß mir irgend etwas in der Welt nicht angenehm
ist. Weder das Lesen des Unglückstelegramms noch das
Gefühl der Trauer ist unangenehm, sondern das Ereignis,
das mitgeteilt wird. An meinem Gefühl liegt mir dabei
gar nichts. Nur die Tatsache ist etwas, was ich nicht will.
Es wäre ganz töricht zu sagen: ich will sie deshalb nicht,
weil sie mich traurig macht. Ich wüßte nichts, was ich gegen
die Trauer als Erlebnis haben sollte. Darum ist überhaupt
jenes ganze Unlustgefühl eine Torheit. Ist vielleicht der
Ernst ein Unlustgefühl, das man stets beseitigen möchte,
ist ein ernster Mensch ein unglücklicher Mensch ? In dem
Gefühl drückt sich eine Reaktion auf die Welt aus, die von
der Annehmlichkeit der persönlichen Empfindungserlebnisse
ganz unabhängig sein kann. Nach dieser Reaktion als Er-
lebnis zu streben, haben wir gar keinen Grund. Wir sind
unzufrieden, wenn wir etwas anders wollen, als es ist. Wir
sind zufrieden, wenn es so ist, wie wir es wollen. Das be-
rühmte Lustgesetz sagt also nichts mehr, als daß wir die
Welt so wollen, wie wir sie wollen. Dann sind wir zufrieden.
Wenn man aber sagt, wir streben nach Zufriedenheit, so
ist das eine Tautologie. Das Gegenteil ist deswegen logisch
unmöglich, weil es heißen würde, wir wollen die Welt so, wie
wir sie nicht wollen. Fassen wir es nicht als Tautologie auf,
so wird es empirisch falsch. Dann gibt es z. B. Menschen,
denen nicht eher wohl ist, als bis sie etwas haben, womit
sie unzufriedan sein können. Sagen wir aber, daß diese
Menschen nur durch ihre Unzufriedenheit zufrieden sind,
so sagen wir nicht mehr, als daß sie unzufrieden sein wollen.
Sagt man, sie streben nach Zufriedenheit durch Unzufrieden-
heit, so ist das richtig, weil es eine Tautologie ist. Sie wollen
das, was sie wollen. Nimmt man also das Gefühl als einen
qualitativen Gegenstand des Wollens, so ist es nicht wahr,
daß wir alle in jedem Moment nach Zufriedenheit streben.
Dies ist nur dann richtig, wenn wir unter dem Gefühl nur
die formale Beziehung des Subjekts zu der Verwirklichung
- 245 -
des Gegenstandes des Wollens verstehen und nicht
diesen Gegenstand selbst. Folglich ist das berühmte Gesetz
nur ein Ausdruck dafür, daß wir überhaupt etwas wollen.
Das Streben nach Lust wäre etwa gleichbedeutend damit,
daß die Erkenntnis nach Bejahung strebt. Die Fälle sind
darin gleich, daß man die Negation als eine Bejahung des
Negativen auffassen kann, wie man die Unlust auch als
Lust an der Unlust auffassen kann. Dann aber wäre jenes
Erkenntnisziel auch nur eine Tautologie, nämlich, daß die
Erkenntnis erkennen will. Genau so wenig wie die Be-
jahung in diesem Sinne ein selbständiger Faktor ist, ist
es auch die Lust. Wie aber die Geistestätigkeit eines Menschen
dahin charakterisiert werden kann, daß er stets nur negieren
will, so kann auch das Wollen eines Menschen charakterisiert
werden dadurch, daß er als Selbstquäler Unlust will. Dann
erst ist der Gegenstand seines Wollens eine positive Wirk-
lichkeit. Als allgemeines Gesetz ist der Satz also ganz nichts-
sagend, weil die Lust gar kein objektiver Faktor in der Welt ist,
sondern wieder auf den Willen oder die persönliche Stellung
zur objektiven Welt zurückführt. Eine konsequente Psycho-
logie, die eine objektive Kausalität des Bewußtseinsinhalts
darstellen will, darf deshalb die Lust überhaupt nicht als
einen erklärenden Faktor gelten lassen. Die Lust bewirkt
nicht die Handlung als Geschehen, sondern aus der Be-
friedigung, die erreicht wird, verstehe ich die historische
Wirklichkeit der Handlung. In diesem allgemeinen Sinne ist
sie nur ein Symptom der Willenstendenz.
Jede Handlung ist determiniert durch den Willen,
heißt nichts anderes als: sie ist nicht determiniert durch
zeitlose Naturgesetze. Nur wenn man diesen Vergleich
zieht, kann man ein Urteil über die Freiheit abgeben.
Die Tat ist frei, weil sie vom Willen abhängt. Unfreie Tat
ist ein Widerspruch in sich selbst. Freier Wille aber hat
nicht mehr Sinn als unfreie Kausalität. Diese Freiheit allein
ermöglicht die mutmaßende Voraussage der Handlung, auf
- 246 -
der unser ganzes soziales Leben beruht. Keine wissenschaft-
liche Psychologie wird jemals hier mehr erreichen können
als die „Menschenkenntnis". Wir haben bewiesen, daß die
psychologische Erkenntnis nicht eine gesetzmäßige psychische
Welt konstruiert, sondern nur die einzelnen Monaden. Wir
erkennen den realen Menschen als historisches Subjekt, und
keine psychische Natur. Diese Erkenntnis der Erfahrungen
und Willenstendenzen ermöglicht uns eine Berechnung
der Handlungen. Wir gehen von der Voraussetzung aus,
daß ein bestimmter Mensch mit einer bestimmten Willens-
tendenz auf ein Ereignis reagieren wird. Würden wir aber
auf eine Kausalität der Handlungen rechnen, so könnten wir
praktisch niemals zu einer Voraussage kommen. Durch die
Kausalität würde jede Handlung für uns psychologisch zu-
fällig werden. Wir dürften nicht den Menschen voraussetzen,
sondern nur die bestimmte Konstellation der Welt, die der
Handlung als Bewegung vorhergeht. Es gibt keine andere
Möglichkeit, die Zukunft vorauszusagen, als das Vertrauen
auf die richtige Erkenntnis der historischen Realität des
Individuums, seiner Willenstendenzen, d. h. der Freiheit
von den zeitlosen Naturgesetzen. Wie die Voraussage des
Naturwissenschaftlers auf der Identität des Raums beruht,
so beruht die des Psychologen auf der Identität des Indi-
viduums, das wir kennen gelernt haben. Die Assoziationen
und die Willenstendenzen sind die Gesetze, die in dem Indi-
vidualsystem gelten. Eine unbedingte Voraussage auf Grund
zeitloser Gesetze kann daher nicht einmal das Ideal der
Psychologie sein. Sie muß immer ein bestimmtes historisches
Subjekt voraussetzen, und in dieser Voraussetzung liegt
die kritische Freiheit des Willens. Es gibt keine allge-
meinen psychologischen Gesetze, weil es nicht „ein" System
„Psyche" gibt, wie es eine Natur gibt, sondern nur Indi-
vidualsysteme oder Monaden. Spinoza hätte Recht, wenn
es keine Monaden gäbe. Ein Wissen der Zukunft im natur-
wissenschaftlichen Sinne ist hier logisch ausgeschlossen, weil
- 247 -
eine Vervollkommnung der Menschenkenntnis durch die
Wissenschaft ausgeschlossen ist. Selbst wenn wir uns ganz
fest auf einen Menschen verlassen, weil wir ihn kennen,
so bleibt dies logisch doch nur ein Glaube.
IV. Das Gedächtnis.
Ich habe während unserer Untersuchung noch nicht
das Wort ,, Gedächtnis" erwähnt, teils absichtlich, teils weil
es nicht notwendig war. Man kann dies aber leicht korri-
gieren, indem man überall dort, wo vom historischen Zu-
sammenhang die Rede ist, das Wort Gedächtnis einsetzt.
Tatsächlich bezeichnet es gar nichts anderes. Auch hier hat
das Raumdenken den Begriff verfälscht. Hätte man nicht
das Gedächtnis nicht nur bildlich, sondern in Wirklichkeit
als einen Kasten betrachtet, den das Bewußtsein mit sich
schleppt, so hätte man nie das Assoziationsgesetz für eine
Erklärung des Geschehens halten können. Das ganze Denken
der Elementarpsychologie beruht darauf, daß man Gedächt-
nis und Bewußtsein als ein Raumverhältnis denkt. Tat-
sächlich aber ist das Gedächtnis nichts weiter als das ver-
gangene Bewußtsein, die verflossene Zeitreihe des Indi-
vidualsystems, die auch in der Gegenwart existiert, weil
das System oder das Subjekt als ganzes existiert. Wie der
ganze Raum existiert, so besteht für den Psychologen die
ganze Zeit als Realität. Wir erkennen ein Erlebnis als Wieder-
holung innerhalb des Zeitsystems, wir können aber diese
Wiederholungen nicht durch das Gedächtnis erklären, denn
dieses würde schon heißen, daß wir die Zeit als Raum denken,
das Psychische als Substanz. Wir benennen diesen historischen
Zusammenhang der Phänomene mit dem Wort Gedächtnis.
Wir verstehen die Gegenwart als Gedächtnis heißt: wir
verstehen sie als Wiederholung in dem einen System, wie
wir eine Erscheinung im Raum begreifen als Wiederholung
- 248 -
in dem einen Raumsystem. Was sich im Raum wiederholt,
ist eine konstante elementare Beziehung, in der Psychologie
eine Assoziation von Inhalten oder Inhalten mit Handlungen.
Daraus folgt, daß wir überall dort, wo wir Phänomene
als historische Wiederholungen und nicht als Raumwieder-
holungen begreifen, auch Gedächtnis denken. Denn es ist
nur ein anderer Name für dasselbe logische Prinzip. Wenn
sich aber heute die Biologie mit dem Gedanken vertraut
macht, das Gedächtnis für eine Eigenschaft der Materie
zu halten, so ist das — soweit es richtig ist — nur die kritische
Entdeckung einer Tatsache, die man schon lange der Forschung
als Idee zugrunde gelegt hat. Falsch aber ist die Bezeichnung
des Gedächtnisses als Eigenschaft der Materie überhaupt.
Wir haben gezeigt, daß die Biologie gar nicht Materie denkt,
sondern die Zeitform, die die Materie eingeht, nämlich den
Organismus. Daß der Biologe von dieser Form, von dem
Individualsystem in der Zeit ausgeht, heißt nichts anderes,
als daß er Gedächtnis denkt. Dieses ist kein Phänomen,
das der Naturforscher als Eigenschaft des Organismus ent-
deckt, ebensowenig wie er die Spontaneität der Bewegungen
„wahrnehmen" kann. Man kann nicht durch Erfahrung
feststellen, ob der Organismus Gedächtnis besitzt, man
kann auch keine diesbezügliche Hypothese aufstellen.
Eine solche läge höchstens in dem Begriff des Organismus,
aber als eine notwendige Grundhypothese, die überhaupt
erst die biologische Erkenntnis konstituiert. Man kann nicht
,, sehen", ob das Infusorium reagiert, ob seine Bewegung
eine Gedächtniserscheinung ist, sondern man kann nur
fragen, ob das Phänomen als Substanzveränderung zu er-
klären ist oder von dem historischen Subjekt abhängt.
Erkennt man ein Phänomen als Wiederholung in dem Zeit-
system, so erkennt man es als Gedächtniserscheinung. Dieses
Wort kann die Wiederholung nicht erklären. Genau so
töricht wäre es, wenn der Chemiker sich bemühte zu er-
klären, warum die Wirkung des Radiums sich bei jedem
- 249 -
Element wiederholt, nachdem er einmal von der Idee des
einen Systems ,, Natur" ausgegangen ist. Wir verstehen
etwas als Gedächtniserscheinung, aber wir können die
Erscheinung nicht durch das Gedächtnis erklären. Die
biologischen Phänomene sind als Zentralisation und De-
zentralisation, als Organisation und Differenzierung des
Gedächtnisses aufzufassen.
Überall, wo man eine Reaktion von einem Reiz abhängen
läßt, legt man die Idee des Gedächtnisses zugrunde, indem
man in dem Individualsystem die Wiederholung einer Asso-
ziation annimmt. Ob ich die Hand von dem brennenden
Ofen zurückziehe, oder die Mimose die Blätter schließt,
wenn sie berührt wird, ist logisch völlig gleich. Beides sind
Gedächtniserscheinungen, beides wird begriffen als die
Wiederholung einer oder vieler historischer Momente aus
der Vergangenheit. Nur ob eine Reaktion oder eine mecha-
nische Raumveränderung vorliegt, kann man fragen. Von
diesem Standpunkt aus ist auch die Vererbung eine Ge-
dächtniserscheinung. Ich betone immer wieder, daß das
Gedächtnis die Vererbung nicht erklärt, sondern nur benennt.
Diese Benennung hat aber den einen Vorteil, daß man sofort
die mechanistische Unerklärbarkeit der Vererbung einsieht.
Der Mechanismus stößt hier nicht auf ein Problem, das
er nicht lösen kann, sondern das Denken stellt ein Problem,
das der Mechanismus nicht denken kann. Es ist ein Beweis
für das völlig kritiklose Denken, wenn man von einem „Ver-
erbungsgesetz" neben dem Gravitationsgesetz spricht. Es
gibt kein empirisches Gesetz der Vererbung, sondern die
Vererbung ist eine Idee a priori der Biologie. Versteht man
etwas als Vererbung, so heißt das, daß man nicht nach
mechanischen Ursachen der Erscheinung sucht. Beides
widerspricht sich absolut. Entweder man begründet etwas
durch zeitlose Ursachen, durch Wiederholung konstanter
Beziehungen im zeitlosen Raum, durch Naturgesetze, oder
man begründet etwas als Wiederholung in der realen Zeit
- 250 -
in dem Zeitsystem ,, Leben". Das eine Mal denkt man mecha-
nistisch, das andere Mal historisch. Eine Vermengung beider
Prinzipien, ein Mechanismus der Vererbung oder ein Gesetz
der Vererbung selbst ist ein logischer Nonsens. Hält man
die Entstehung der Organismen für mechanisch bedingt,
so gibt es überhaupt nicht ,,ein" Gesetz ihrer Erklärung,
sondern jede Raumform ist durch die speziellen Naturgesetze
zu erklären. Für den Mechanismus muß es gleichgültig sein,
ob ein Phänomen im Leben schon einmal da gewesen ist.
Er darf nur ewige Gesetzmäßigkeiten anerkennen, die sich
im Raum wiederholen. Daß schon einmal ein Körper da
war, der gewisse Ähnlichkeiten mit einem jetzt entstandenen
Huhn hatte, geht den Mechanismus schlechterdings nichts
an. Er hat diesen Raumkörper durch zeitlose Naturgesetze
zu erklären. Der Biologe aber begründet ein Phänomen gerade
dadurch, daß es schon einmal oder tausendmal in der Ver-
gangenheit vorgekommen ist, er denkt es als Vererbung
oder Gedächtnis. Beides kommt logisch auf dasselbe Prinzip
heraus, nämlich auf das des historischen Zusammenhangs.
Wir stoßen damit aber nicht auf eine empirisch wahrge-
nommene Erfahrung, sondern auf das Denkprinzip der
Biologie als Wissenschaft. Das Seltsame, was diese Zusammen-
stellung heute für uns hat, liegt nur daran, daß unser ganzes
Denken von dem Raumdenken aus metaphysisch falsch orien-
tiert ist. Der Begriff ,, Geist" hat einen falschen Sinn be-
kommen, weil man ihn nicht erkenntniskritisch begründet.
Unsere sogenannte physiologische Psychologie ist in Wahrheit
das Gegenteil einer physiologischen oder biologischen Psycho-
logie, weil gerade sie von der Wesenhaftigkeit des Psychischen
ausgeht ohne seine Beziehung zum lebenden Organismus.
Nicht durch das Gehirn als Raumteil läßt sich dieser Zu-
sammenhang herstellen, sondern nur durch das gleiche
Prinzip der Erkenntnis. Der Geist oder das Psychische
überhaupt ist kein Gegenstand neben der Materie,
sondern ihre Form, wie dies Aristoteles schon erkannt hat.
- 251 -
Diese Form aber liegt schon in dem Begriff des lebenden
Organismus als einer historischen Größe. Das logische Prinzip
von Vererbung und Gedächtnis ist gleich. Nur die Aus-
dehnung des Zeitsystems, in dem wir es zugrunde legen,
ist verschieden. Der Biologe begründet die Zeit als ,,ein"
System des Lebens, von dem das Individualsystem nur ein
Teil ist. Weil sein System nur als Zeit und nicht als Raum
existiert, ist die Deszendenztheorie eine logische Forderung,
wenn es eben überhaupt ,,ein" System geben soll. Auf den
Raum bezogen ist ja unser individuelles Gedächtnis auch nichts
anderes als Vererbung. Wir wissen, daß die Substanzteile
des Gehirns im Laufe der Zeit ganz andere sind als im Anfang.
Folglich ist auch im Individualsystem selbst das Gedächtnis
eine Vererbung der Anlagen von früheren Substanzen auf
die jetzige. Hierin liegt die Unmöglichkeit, von der Gehirn-
physiologie als Raumwissenschaft aus das Psychische zu
begreifen. Es ist unlogisch, die Beziehung von Körper und
Geist ergründen zu wollen, wenn man darin ein empi-
risch lösbares und kein logisches Problem sieht. Unlogisch
daran ist die stillschweigende Voraussetzung, daß es ,,ein"
solches Problem überhaupt gibt, oder, was dasselbe besagt,
daß es ,,eine" Erkenntnis gibt. Wir können die Raumerkennt-
nis bis zum äußersten vervollkommnen, wir werden nie
Körper und Geist in „einer" Erkenntnis vereinigen können.
Denn der Geist ist kein Gegenstand neben dem Körper,
deren Beziehungen sich erklären lassen. Es gibt keine Er-
kenntnis, die die Welt als ,, einen" Gegenstand konstruiert.
Kritisch gefaßt lautet der Gegensatz nicht : Geist und Materie,
sondern: Raum und Zeit. Wir fassen die psychische Gegen-
wart auf als Teil des realen Zeitsystems, zugleich aber wissen
wir ihre Abhängigkeit von dem zeitlosen Raumsystem.
Darin liegt eine Antinomie der Vernunft überhaupt. Der
Begriff der Disposition, der Anlage oder, wie man es auch
nennt, ist wohl brauchbar, aber nur als Bezeichnung für
die Spezialorganisation der Materie. Das Problem von Zeit
- 252 -
und Raum wird dadurch nicht gelöst, die Vererbung nicht
erklärt, der historische Zusammenhang nicht in einen Raum-
zusammenhang aufgelöst. Eine Anlage existiert nicht im
Raum des Mechanismus, weil sie ein rein historischer Begriff
ist. Man sagt damit nur, daß man etwas nicht als Raum-
geschehen auffaßt. Weder das Gedächtnis noch die Ver-
erbung wird durch die Disposition erklärt. Aber es gibt
eben auch hier gar nichts „Erklärbares", weil der Monismus
als logische Voraussetzung falsch ist. In der zurückschauenden
Betrachtung ist die Disposition weiter nichts als das Ge-
dächtnis, die Kristallisation der Vergangenheit in dem
Moment der Gegenwart. Man kann aber auch die Disposition
in bezug auf die Zukunft betrachten, und dann ist sie weiter
nichts als der Zweckgedanke. Man kristallisiert die Zukunft
als Realität in der Gegenwart: als solche ist die Disposition
Wille. Wenn man die Realität aus einer Disposition ver-
steht, so gründet man das darauf, daß etwas wirklich werden
will, was schon einmal wirklich war. Im andern Fall ist die
Disposition absolutes Rätsel. Wir kommen nicht weiter
als bis zur Konstatierung des Angebornen, während wir
dieses im andern Falle als Wiederholung in einem größeren
System, als vererbt verstehen. Wichtig ist dies für die Auf-
fassung der Variationen. Verlegt man alles Neue, was wirk-
lich eintritt, als Anlage in den Keim, so gibt man von vorn-
herein zu, daß man weder etwas erklären noch etwas verstehen
will. Aus der Anlage kann man etwas verstehen, aber nicht
die Gründe der Anlage selbst. Man kann nichts erkennen,
ohne daß man es als Wiederholung in irgend einem System
nachweist. Mit der Keimanlage, der das „Neue" entspringt,
beschreibt man also nur eine Tatsache, eine Tat der Natur,
eine absolute Schöpfung, die ebenso sich der Erkenntnis
entzieht, wie eine angenommene Schöpfung in der Welt.
Man könnte die Tat nur dadurch erkennen, daß man
einen Naturwillen annimmt, der etwas bezweckt. Die
schöpferische oder wollende Natur kann keinen Wider-
- 253 -
spruch bilden zu dem Mechanismus, weil sie eine Idee der
Biologie als historischer Erkenntnis wäre. Zweck und
Ursache widerstreiten sich nur insofern, als der Monismus
eine falsche metaphysische Annahme ist.
Die Psychologie glaubt, daß das Gedächtnis ein erklär-
bares Sonderphänomen ist. Wir wissen aber gar nichts
weiter von ihm, als daß die Vergangenheit sich wieder-
holt. Das aber ist auch das Charakteristische der Vererbung.
Wir sind nicht daran gewöhnt, das Gedächtnis als Vererbung
und umgekehrt die Vererbung als Gedächtnis zu denken,
weil wir von der Identität des Organismus im Raum aus-
gehen. Diese Identität aber bedeutet in Wahrheit nur, daß
wir in der Erkenntnis von dem Zeitsystem ausgehen. Der
Biologe aber tut nichts anderes, als daß er von einem größeren
Zeitsystem ausgeht, das, völlig zu Ende gedacht, die ganze
Ahnenreihe, die Entwicklung von der Urzelle bis zum Tode
eines jeden Individuums umfaßt.
Als ein Sonderphänomen könnte man nur die bewußte
Erinnerung bezeichnen. Es wiederholt sich hier der gleiche
Fall wie bei dem Willen oder dem Wiedererkennen. Wir
verstehen eine Handlung aus dem Willen, auch ohne daß eine
bewußte Vornahme besteht. Wir verstehen sie aus einer Gleich-
heit der Reize, auch ohne daß diese von dem erkennenden
Subjekt gewußt oder zum Gegenstand des Urteils gemacht
wird. Ebenso müssen wir die Halluzination als eine Gedächt-
niserscheinung verstehen, deren Wesen gerade darin liegt,
daß sie nicht als solche gewußt ist. Dasselbe trifft für den
Traum zu. Für eine Psychologie des Bewußtseinsinhalts
gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen Vorstellung
und Wahrnehmung. Das Phänomenale liegt nur in dem,
was erlebt wird. Ob etwas eine Erinnerung oder eine Wahr-
nehmung ist, liegt nicht in dem qualitativen Bewußtseins-
inhalt, selbst wenn stets ein Intensitätsunterschied des Er-
lebten vorhanden wäre. Es handelt sich dabei nicht um
einen Unterschied der daseienden Elemente, sondern um
— 254 —
eine Beurteilung des Erlebten. Für eine Psychologie, die
den Bewußtseinsinhalt als Reihe kausal erklären will, kann
es weder ein Vorstellen noch ein Behalten oder Vergessen
geben. Ihre Erklärung kann sich nur auf das beziehen, was
da ist. Das Vergessen beruht aber immer auf dem Vergleich,
was möglich ist und nicht da ist. Dieser historische Ver-
gleich liegt aber ganz außerhalb einer Wissenschaft, die das
Daseiende erklären will. In denselben logischen Fehler
verfällt die vermeintlich mechanistische Biologie, wenn sie
ein Glied als rudimentär erklärt. Für sie käme es nur
darauf an, die Gesetze zu finden, durch die die momentane
Raumform der Substanz zustande gekommen ist. Dafür
aber ist die Erkenntnis, daß das „entsprechende" Glied
früher anders ausgesehen hat, ganz gleichgültig. Mit der
Bestimmung als Rudiment begreift man nicht das Dasein,
sondern das Nicht-Dasein. Dieser Gegensatz der Vergangen-
heit und der Gegenwart kann nur für die historische Be-
schreibung existieren, aber nicht für die Erklärung dessen,
was momentan da ist. Genau so hat Erinnern und Vergessen
nur in der deskriptiven Psychologie des historischen Subjekts
einen Platz. Unser Denken stellt fest, ob das Erlebte wirklich
ist. Mit unserer Beurteilung kommen wir aber dem Phänomen
gegenüber unter Umständen nicht aus. Unser Denken genügt
nicht. Wir können die Handlungen nicht verstehen, wenn wir
nicht das Denken des Subjekts selbst zugrunde legen. Wir
verstehen im Falle der Halluzination das Handeln nicht,
wenn wir von unserm Denken ausgehen und das Erlebte
als Vorstellung oder Erinnerung auffassen. Für das
Subjekt ist es eine Wahrnehmung, und nur von ihm
aus verstehen wir seine Handlung, genau so, wie meine
Bestimmung des Gegenstandes für das andere Subjekt
ganz gleichgültig sein kann. Auf eine objektive Wahr-
heit kommt es der Psychologie bei der Bestimmung des
Raums nicht an. Die subjektive Meinung allein ist das
Phänomen.
— 255 —
Wir verstehen alles, was nicht unmittelbare Wahr-
nehmung ist, als Gedächtniserscheinung, als Wiederholung
der Vergangenheit. Für uns ist auch die Halluzination eine
Vorstellung. Für das Subjekt selbst gibt es aber noch einen
andern Begriff des Gedächtnisses, nämlich als eines Wissens.
Für uns als Betrachter existiert das Subjekt als ein System,
als eine Zeitreihe von Erlebnissen und Handlungen. Dieses
Subjekt existiert in jedem Augenblick des Lebens. Wir
zeigten aber, daß in den pathologischen Fällen dies Subjekt
in Wirklichkeit nicht als Ganzes existiert. Für unsere Er-
kenntnis existiert die Tatsache des früheren Erlebnisses,
das Subjekt aber hat es vergessen. Das Erlebnis ist nicht
mehr wiederholbar. Wir müssen also das Gedächtnis auf die
wiederholbare Vergangenheit beschränken, soweit ein Gegen-
satz zwischen der Erinnerung und dem Vergessen besteht.
Trotzdem aber kann der Fall eintreten, daß wir die Gegenwart
nur aus einem vergangenen Erlebnis heraus verstehen können,
selbst wenn dieses von dem Subjekt selbst vergessen worden
ist. Wir verstehen etwas als Gedächtniserscheinung, obwohl
die Erinnerung daran nicht vorhanden ist. Wir stoßen damit
wieder auf den Gegensatz von Wissen und Bewußtsein.
Der Gegenstand der psychologischen Erkenntnis ist die
Zeitreihe des Bewußtseins, von der die Gegenwart nur ein
Teil ist. In diesem System kann sich eine Assoziation wieder-
holen, an deren Entstehung sich das Subjekt selbst nicht
mehr zu erinnern braucht. Diese Erinnerung ist also das
Wissen von der eigenen vergangenen Geschichte des selbst-
bewußten Subjekts. Dieses wissende Gedächtnis ist aber
für den Ablauf des Lebens nicht unbedingt vorausgesetzt.
Die Monade braucht weder Psychologe noch Historiker ihrer
eigener. Geschichte zu sein. Prüfen wir das Gedächtnis, so
prüfen wir das Wissen. Der historische Zusammenhang
aber kann auch da sein ohne ein wissendes Gedächnis. Er
existiert auch in der Mimose, wahrscheinlich ohne daß sie
ihn weiß. Eine Bewegung kann als Gedächtniserscheinung
— 256 —
aufgefaßt werden, ohne daß ein wissendes Gedächtnis vorliegt.
Das wissende Gedächtnis ist als aktueller Moment, als momen-
tanes Phänomen auch nur eine Wiederholung der Vergangen-
heit, aber nicht ohne das Bewußtsein der Indentität des früher
und jetzt Erlebten. Es ist also genau derselbe Unterschied
wie zwischen dem Gleichsein der Reize und der gewußten
Gleichheit, zwischen dem Gleichhalten und dem Wieder-
erkennen. Eine Assoziation wiederholt sich bei einer Be-
stimmtheit. Das Subjekt aber identifiziert nicht die Bestimmt-
heit mit einer früher erlebten, sie erinnert sich nicht mehr an
das erste Erlebnis. Trotzdem liegt in der Wiederholung des sub-
jektiv Gleichen der Grund für die Wiederholung der Asso-
ziation. Die Mimose braucht sich an den früheren Reiz nicht
zu erinnern. Sie braucht auch nicht die Gleichheit der Reize
zu erkennen; sie braucht sich auch nicht die Bewegung
vorzunehmen; trotzdem verstehen wir die Handlung nur
als Gedächtnis, als Gleichhalten — denn die Gleichheit
besteht nur historisch subjektiv — , als Wollen. Die Erinne-
rung ist phänomenologisch auch nur eine Wiederholung der
Vergangenheit, aber mit der logischen Bedeutung des Wissens
von sich selbst, seiner eigenen Geschichte, wie das Wieder-
erkennen ein Wissen um die Gleichheit in dem eigenen sub-
jektiven System, wie die Vornahme ein Wissen um das eigene
Wollen ist. Für den erkennenden Betrachter ist das Ge-
dächtnis die Vergangenheit des Subjekts. Soweit aber das
Subjekt selbst erkennt, ist sein Gedächtnis nur eine Auswahl
der Vergangenheit, nämlich das, was das Subjekt noch von
ihr weiß. In diesem Sinne ist es also das historische Wissen
der eigenen Geschichte, das wir im speziellen Fall als eine Ge-
dächtniserscheinung im ursprünglichen Sinn auffassen müssen,
als eine Wiederholung der Vergangenheit mit dem Bewußtsein,
das Frühere wieder zu erleben. Dieses Wissen dürfen wir
nicht in allen Monaden voraussetzen. Es erklärt uns auch
nichts, wie das Wiedererkennen nichts erklärt. Die bestehende
Tatsache liegt in der subjektiven Gleichheit zweier Inhalte,
— 257 —
in der Gleichheit innerhalb eines lndividualsystems oder
für ein Bewußtsein. Nur ein anderer Name dafür ist das
Gleichhalten seitens des historischen Subjekts. Das Wieder-
erkennen ist nur das Wissen um diese Gleichheit. Wenn man
sagt, etwas existiert im Gedächtnis, so ist der Ausdruck
ebenso mißdeutbar wie die Existenz im Bewußtsein. Für den
Historiker existiert die Vergangenheit als Geschichte. Aber für
das wissende Subjekt selbst braucht nicht mehr die ganze
Vergangenheit zu existieren. Für dieses existiert nur ein
Teil, und diesen nennen wir Gedächtnis. Er bedeutet aber
wirklich nur einen Teil der Vergangenheit, die der Psychologe
weiter voraussetzen muß, selbst wenn sich das Subjekt nicht
mehr an sie erinnert. Die Zeit ist für ihn die Realität, der
historische Zusammenhang das Problem. Sein Gegenstand
ist der subjektive Logos selbst, der als Gegenstand der Selbst-
erkenntnis gewußt wird, aber auch Logos bleibt, wenn er
nicht gewußt wird. Darin, daß das Bewußtsein Gegen-
stand des Wissens wird, ohne eine dem Bewußtsein selbst
gegenüberstehende Welt zu sein, darin daß der Logos sich
selbst erkennt, liegt die ungeheure Schwierigkeit der Darstel-
lung. Die Elementarpsychologie verwickelt sich in unlösbare
Widersprüche, weil sie das eigentliche Bewußtsein, was
seinerseits bewußt werden kann, als einen der Beobachtung
zugänglichen Raum darstellt. Wir müssen unterscheiden
zwischen dem Gedächtnis als der Bestimmung des gegen-
wärtigen Bewußtseins als Wiederholung und dem Gedächtnis
als Phänomen des Selbstbewußtseins oder Wissens. Wir
können terminologisch das gewußte und das ungewußte
Gedächtnis unterscheiden.
Das führt uns zu dem Begriff des Unbewußten, der
auch nur durch das Raumdenken unkritisch geworden
ist. Die Bewußtseinserlebnisse existieren nicht in einem
Nebenraum des Bewußtseins, dem Gedächtnis, weiter und
gelangen von hier in den Hauptraum zurück. Die Vergangen-
heit existiert für den Psychologen gleichzeitig mit der
Strich, Prinzipien. 17
— 258 —
Gegenwart, denn die Zeit selbst ist die Realität, die dem
Raum entspricht. Dafür ist es zunächst gleichgültig, ob das
Selbstbewußtsein sich der Vergangenheit erinnert oder
nicht. Psychologisch existieren tut sie auch ohne das. Wie
es kein Bewußtsein gibt, in das etwas hineingelangt, sondern
wie wir nur sagen können, daß etwas im Raum bewußt
ist, so gibt es auch kein Unbewußtes, in dem sich etwas
befindet, sondern nur etwas, was unbewußt existiert. Dazu
gehört etwa im Moment die Palme am Nil, ebenso wie alle
meine Erlebnisse, an die ich mich im Moment nicht erinnere.
Für den Naturwissenschaftler existiert die Palme, für den
Psychologen meine eigene Vergangenheit. Soweit nicht die
Aufmerksamkeit eine Auswahl unter dem Unbewußten im
Raum ist, kommt für den Psychologen nur die Vergangenheit
als unbewußte Existenz in Betracht. Soweit die Psychologie
Geschichte des Individuums ist, soweit rechnet sie also mit
dem Unbewußten, nämlich mit der Vergangenheit. Von diesem
Unbewußten muß man scharf trennen das Ungewußte.
In einem bestimmten Moment existiert das Unbewußte
nur als Vergangenheit. Wir wiesen aber schon öfters darauf
hin, daß das Leben keineswegs ein immerwährendes Wissen
von sich selbst verlangt. Von diesem Standpunkt aus
existiert vieles, was wir nur von dem Bewußtsein aus dar-
stellen können, was aber von dem Subjekt selbst nicht ge-
wußt wird.
Die unkritischste Formulierung des Problems des Unbe-
wußten, mit der eine heutige Richtung der Psychologie,'
die Psychoanalyse, arbeitet, ist das Unterbewußtsein.
Hier stützt sich die ganze Theorie darauf, daß aus einem
Raumbild eine Wirklichkeit gemacht worden ist. Soweit
man ein momentanes gegenwärtiges Erlebnis aus der Ver-
gangenheit des Subjekts begreift, begreift man es aus
dem Unbewußten. Der Irrtum der rationalistischen Psycho-
logie liegt darin, daß sie das Selbstbewußtsein oder die
Selbsterkenntnis mit Bewußtsein verwechselt, daß sie näm-
— 259 —
lieh eine Beeinflussung der Gegenwart durch die Ver-
gangenheit nur dann für möglich hält, wenn das Individuum
selbst den Zusammenhang erkennt. Gegen diesen verhängnis-
vollen Irrtum kämpft jene Psychologie des Unbewußten, die
Psychoanalyse, mit Recht, leider aber selbst, mit untauglichen
Mitteln. Das Wissen ist nicht die notwendige psychologische
Bedingung des Lebens, sondern der historische Zusammenhang
des Bewußtseins, also der Zusammenhang des Unbewußten
mit dem Bewußten, der Vergangenheit mit der Gegenwart,
der auch da sein kann, ohne daß das Subjekt ihn weiß. Will
aber das Subjekt als Psychologe sein eigenes gegenwärtiges
Bewußtsein verstehen, dann muß es den Zusammenhang
mit der Vergangenheit erkennen. Dafür ist natürlich not-
wendig, daß es als Historiker seine eigene Geschichte kennt
und nicht vergessen hat. Es ist aber völlig unlogisch, die
Beziehung des Gewußten und des Ungewußten als Raum-
verhältnis darzustellen, das Bewußtsein in Ober- und Unter-
bewußtsein zu zerlegen. Es ist dies eine Verräumlichung
und Mythologisierung des Psychischen, die alles überbietet, was
die Elementartheorie unserer psychologischen Lehrbücher
geleistet hat. Es ist das plumpste materialistischste Denken,
bis zu dem es die Psychologie überhaupt gebracht hat. Der
Anklang, dessen sich diese Richtung ja leider heute erfreut,
beruht neben dem stofflich Interessierenden, mit dem die
Theorie ausgestattet ist, nur darauf, daß das Wort „unbewußt"
so romantisch, so mystisch und rätselhaft klingt. In Wahr-
heit ist sie aber eine versteckte und verstärkte Form des
Rationalismus.
Es ist ganz müßig darüber zu streiten, ob es das Un-
bewußte gibt oder nicht. Gewiß existiert im gegenwärtigen
Moment nur das, was bewußt ist, und es gibt keinen Neben-
raum, in dem sich andere psychische Wesenhaftigkeiten
befinden. Die Psychologie aber ist historische Erkenntnis.
Man kann die Gegenwart nur erkennen als Teil der ganzen
Zeit. Diese Zeit existiert auch in der Gegenwart, aber da
17*
— 260 —
sie nicht bewußt ist, so nennen wir sie mit Recht unbewußt.
Das Unbewußte existiert also im gegenwärtigen Moment
nur in dem Sinne, wie die vergangene Zeit für den
Historiker momentan existiert. Man kann also sagen,
daß wir die Gegenwart allein aus dem Unbewußten ver-
stehen. Dazu ist es nötig, daß man die Geschichte des
Subjekts kennt. Dies gilt aber nicht nur für den Be-
trachter, sondern auch für das Subjekt selbst, wenn es als
Psychologe seine eigene Gegenwart verstehen will. Diese
Kenntnis ist nun keineswegs immer vorhanden, besonders
selten, wenn es sich um die erste Kindheit handelt. Daneben
gibt es aber auch ganz abnorme Fälle von Vergeßlichkeit, die
schon in das Gebiet der Pathologie gehören. Diese vergessenen
Erlebnisse können aber trotzdem für das Verständnis der
Gegenwart sehr wesentlich sein. Das Vergessen des erken-
nenden Wesens ist kein Grund dafür, daß die Vergangenheit
die Gegenwart nicht beeinflussen kann. Ob das Subjekt
sie selbst weiß, oder ob das Unbewußte auch ungewußt
existiert, ist ganz gleichgültig. Das Unlogische liegt aber
darin, daß man diese Beziehung des Wissens in ein Raum-
verhältnis umdenkt. Man sagt, daß etwas „im" Unter-
bewußtsein weiter existiert und in verkleideter Gestalt
im Oberbewußtsein auftauchen kann. Dies kann man zu-
nächst nur als Metapher oder als Bild verstehen. Wir kennen
das Bewußtsein nicht als Raum und Nebenraum, wir kennen
auch nicht einen Willen oder ein Erlebnis als einen handelnden
Menschen im Bewußtsein, der sich umziehen und in ver-
kappter Gestalt an einem andern Ort wieder erscheinen
kann. Entkleidet man aber die Theorie ihrer Bildhaftigkeit,
so bleibt absolut gar nichts übrig, was man zum Verständnis
heranziehen könnte. Es ist die allerplumpste Mythologie,
die überhaupt denkbar ist, wenn man meint, dadurch in
die Tiefen des Seelenlebens zu kommen. Daß man aus dem
Raumbild eine Wirklichkeit macht, zeigt sich, wie wir sehen
werden, in den Konsequenzen, die man aus der Anschauung
— 261 —
zieht, nämlich in' der Auffassung des psychischen Lebens
als einer Maschine, die in Unordnung geraten und wieder
in Ordnung gebracht werden kann.
Es gibt etwa Fälle, wo wir bei einem Individuum auf
eine völlig unlogische Angst vor gewissen Objekten stoßen.
Durch das Unlogische wird sie zum Spezialproblem. Wenn
jemand vor einer Klapperschlange Angst hat, oder wenn
jemand über den Straßendamm geht und vor einem heran-
nahenden Automobil zurückspringt, so finden wir das nicht
rätselhaft. Natürlich müssen wir auch diese Erscheinungen
aus den Erfahrungen, also aus der Vergangenheit, aus dem
momentan Unbewußten verstehen. Nun gibt es aber Fällp —
wir nennen sie pathologisch, weil sie unlogisch sind — , wo
wir auf eine Angst vor Objekten stoßen, die wir für nicht
berechtigt halten, die das Subjekt selbst auch nicht
rechtfertigen kann, die es aber später sich möglicher Weise
durch weitere Denkumgestaltungen begreiflich macht, wo-
durch es immer weiter ins Unlogische gerät. Wir halten
diese Denkgestaltungen nicht für objektive Erkenntnis,
sondern für Phantastereien oder fixe Ideen. Als Psy-
chologen haben wir aber die Pflicht, jene Angst genau
so aus der Geschichte des Subjekts zu verstehen wie
die Angst vor der Klapperschlange. Hier nehmen wir
etwa an, daß ein W7ille zum Leben da ist, daß wir gehört
haben, die Klapperschlange sei sehr giftig etc. Infolge-
dessen verstehen wir die Angst. Wir finden aber etwa
die Angst eines Kindes vor einer Ringelnatter oder einer
Blindschleiche auch berechtigt, d. h. verständlich. Wir
wissen, daß sie unberechtigt ist, denn wir wissen, daß
jene Tiere nicht schädlich sind. Aber die Ähnlichkeit mit
einer giftigen Schlange ist zu groß, und schließlich können
wir es keinem Kind übelnehmen, wenn es nicht allzusehr
den Versicherungen der erwachsenen Menschen Glauben
schenkt. Der Glaube an die Wahrheit des Mitgeteilten ver-
langt schon eine gewisse logische und ethische Entwicklung.
— 262 —
Mit diesem Beispiel kommen wir der Pathologie näher.
Wir verstehen die Angst vor einem Objekt nicht selbst.
Wir können sie unmittelbar nicht nachfühlen wie die Angst
vor der Klapperschlange, aber wir verstehen sie aus der
Ähnlichkeit des Objekts mit andern, vor denen die Angst
berechtigt und unmittelbar nachfühlbar ist. Nach dieser
Methode haben wir die pathologische Angst zu verstehen,
die auch nichts anderes als ein unzweckmäßiges, d. h. in
diesem Falle ein unlogisches oder unberechtigtes Gefühl ist.
Denn historisch, nicht naturwissenschaftlich, ist das Un-
logische das Unzweckmäßige. Wenn jemand behauptet,
daß etwas ein Stuhl ist, so ist das gar nicht anders zu be-
weisen oder zu widerlegen, als daß man ihn als Stuhl benutzt.
Taugt er zu dem verlangten Zweck, so ist er ein Stuhl. Logisch
ist die Angst, wenn sie zweckmäßig ist, wenn sie zur even-
tuellen Erhaltung des Lebens beitragen kann. Ist sie unzweck-
mäßig, so ist sie pathologisch. Sie muß aber genau so einen
psychologischen Grund haben wie die normale, sie muß
aus der Geschichte des Subjekts verständlich sein. Sie
wird uns nach derselben Methode verständlich wie jene
Angst des Kindes vor der Blindschleiche. Es muß ein sub-
jektiv logischer Zusammenhang zwischen dem Objekt und
einem andern da sein, vor dem die negative Gefühlsbetonung
berechtigt war. Wir können sie nur aus den vergangenen
Erlebnissen verstehen, vorausgesetzt, daß wir sie überhaupt
verstehen können.
Wir wiesen oben nach, daß die sogenannten Asso-
ziationen auf einer Einheitsformung, einem Fürgleichhalten
seitens des Subjekts beruhen, Wir bemerken dies am leich-
testen bei der Entwicklung des kindlichen Denkens. Wir
finden hier gleiche Benennungen für Gegenstände, die uns
so lange ganz rätselhaft erscheinen, bis wir die Einheits-
formung des Kindes entdecken oder vom Objekt aus die
Ähnlichkeit, die das Kind zu dieser Gleichsetzung veranlaßte.
Auch hier müssen wir das Kind nacherleben können, wenn
— 263 —
wir es verstehen wollen. Der erwachsene Mensch kennt in
der historisch-praktischen Erkenntnis nur die Zweckmäßig-
keit. Wir fassen viele Gegenstände, die an sich gar nichts
miteinander zu tun haben, zu dem Begriff „Tisch" zusammen,
weil sie alle den gleichen Zweck erfüllen. Diese praktische
Orientierung kennt das Kind nicht. Es denkt nur nach
den Gleichheiten, die ihm auffallen. Es bezeichnet mit
einem Wort eine Bestimmtheit an den wahrgenommenen
Gegenständen, die für uns völlig gleichgültig ist, auf die
hin wir niemals die Gegenstände zu einem Begriff zusammen-
fassen würden. Solange wir aber von der historischen Er-
kenntnis ausgehen, ist das eine so logisch wie das andere.
Nur ist das eine unzweckmäßiger als das andere. Der bio-
logische Wert des ursprünglichen Bewußtseins ist kein anderer,
als daß wir von den gleichen Objekten das Gleiche erwarten.
Hat sich bei dem Kinde irgend eine Einheitsformung heraus-
gebildet, hält es Objekte wegen spezifischer Bestimmtheiten
für gleich, so ist es auch selbstverständlich, daß es von
ihnen das Gleiche erwartet. Ich nehme irgend ein mögliches
Beispiel, gleichgültig, ob es schon einmal vorgekommen ist.
Das Kind hat alle vierbeinigen Gegenstände zu einer Einheits-
form zusammengefaßt. Die Vierbeinigkeit ist für das Kind
eine Wesenhaftigkeit, ein wiederholbares Erlebnis wie die
schwarze Farbe. Jetzt macht das Kind an einer Vierbeinig-
keit eine unangenehme Erfahrung. Es erschrickt vor einem
durchgehenden Pferd. Wir finden das durchaus verständlich.
Wir finden es auch weiter verständlich, wenn eine Angst
vor einem Pferd zurückbleibt. Das Kind ist klug und ver-
läßt sich nicht darauf, daß es sich nur um ein individuelles
Pferd, also um eine Ausnahme gehandelt hat. Die Indivi-
dualität ist der letzte und nicht der erste Denkgegenstand,
wie die Psychologie, besonders der Nominalismus, ott irrtüm-
lich annimmt. Ebensowenig aber dürfte es uns wundern, wenn
die Gefühlsbetonung sich auf alle Vierbeinigkeiten erstreckt,
z. B. auf einen Tisch. Wir haben es dann mit einer für uns
— 264 —
unberechtigten Angst zu tun, die man pathologisch nennen
kann. Meinetwegen mag man auch zunächst hypothetisch
das Erlebnis mit dem Pferd als Vorstellung dazwischen
schieben und nachher verschwinden lassen. Damit ist nicht
mehr erklärt. Die Vorstellung würde auch nur die Ein-
heitsformung, das Gleichhalten von Bestimmtheiten beweisen.
Jedenfalls ist es denkbar, daß das Gefühlserlebnis un-
mittelbar der wiedererlebten Bestimmtheit folgt. Ich weiß
sehr wohl, daß viele Fälle bei weitem komplizierter liegen.
Ich will auch nicht leugnen, daß die Sexualität schon im
Kindesalter eine ungeheure Rolle im Gefühls- und Willens-
leben spielt. Es kommt mir nur darauf an, daß wir nirgends
den absurden Begriff des Unterbewußtseins brauchen, und
daß wir nicht logisch gezwungen sind, auf die Sexualität
zurückzugreifen, wenn wir ein Phänomen aus andern Willens-
tendenzen verstehen. Ich würde es für lächerlich halten,
wenn man das Ausweichen vor dem Automobil auf eine Angst
zurückführen würde, die sich aus der spezifischen Sexualität
heraus entwickelt hätte. Es wäre dies eine willkürliche
Hypothese, die absolut eine Komplikation und nicht eine
Vereinfachung darstellen würde. Es ist aus dem Lebenswillen
allein verständlich, daß ich jeder Bedrohung des Lebens
ausweiche. Für das Kind ist der Schreck vor einem fallenden
Pferde schon ein Symptom der Bedrohung des Lebens.
Der Schreck und die Gefühlsbetonung ist aus dem unmittel-
baren Erlebnis verständlich. Jene pathologische Gefühls-
betonung vor dem Tisch ist uns aber aus dem unmittelbaren
Erlebnis nicht verständlich, nur deswegen nennen wir sie
pathologisch. Wie wir das Objekt sehen, können wir keinen
Grund des Gefühls einsehen. Aus der Geschichte des Kindes
aber wird sie uns verständlich. Wir entdecken, daß sich eine
Assoziation zwischen Gefühl und Weltbestimmtheit heraus-
gebildet hat, die wir als unlogisch oder unzweckmäßig be-
zeichnen. Wir sehen keinen Grund, die Objekte nach ihrer
Vierbeinigkeit zusammenzufassen und von jedem Objekt
— 265 —
mit dieser Bestimmtheit das Gleiche zu erwarten. Die Er-
ziehung kann jene Assoziation, die sich bei dem Erleben
der gleichen Bestimmtheit wiederholt, korrigieren wie alle
falschen Einheitsbildungen des Kindes, die sich keineswegs
alle sprachlich formuliert zu haben brauchen. Es lernt die
Welt zu Einheiten zusammenzufassen, die sich im Leben
als zweckmäßig herausgestellt haben. Es lernt die Sprache
richtig gebrauchen. Dies ist ein Symptom dafür, daß es sich in
seinen Einheitsformungen dem Leben anpaßt. Die Erziehung
zerstört in unserm Fall die Einheitsformung ,, Vierbeinigkeit",
die an sich logisch völlig berechtigt ist wie jede andere;
aber sie ist unzweckmäßig wegen der ungeheuren Verschieden-
heit der Bedeutung, die die vierbeinigen Gegenstände im
Leben haben. Ebenso könnte das Kind lernen, daß das
Schwarzsein für die Praxis des Lebens sehr wenig besagt,
und daß deswegen kein Grund vorliegt, alle schwarzen
Gegenstände in einer Einheitsform zusammenzufassen,
d. h. alle für gleich zu halten. Dieses Gleichhalten ist für
uns, wie schon oft gesagt, nur ein anderer sprachlicher Aus-
druck für die subjektive Gleichheit in dem Individualsystem,
nicht aber für eine urteilsmäßige Meinung des Subjekts.
Jene Assoziation ist aber zunächst da und wiederholt sich.
Das Kind ist geheilt von der Angst, wenn die Asso-
ziation zerstört ist, wenn das Kind die Unberechtigung
einsieht. Dies ist aber nur dadurch erreichbar, daß man
dem Kind die Angst, die als Tatsache einmal da ist, er-
klärt, ihm zeigt, woher sie kommt. Man greift also zu-
rück auf das Erlebnis, wo die Angst ganz berechtigt war.
Man zeigt ihm aber zugleich die Individualität des Falles,
daß nicht alle Pferde gleich sind, und daß vor allem ein
Pferd und ein Tisch doch eigentlich nur eine ganz vage
Ähnlichkeit besitzen. Man würde es darauf aufmerksam
machen, daß es vor einem durchgehenden Pferd ruhig weiter
Angst haben kann, denn das ist für das Kind durchaus zweck-
mäßig, daß aber nicht jedes Pferd durchgeht, und daß ein
— 266 —
Tisch kein Pferd ist. Sieht das Kind unsere Argumentation
ein, so wird es die auftauchende Angst korrigieren können,
und sie kann verschwinden. Die psycho-analytische Theorie
wiederholt in diesem Sinne nur die Lehre Spinozas, daß die
klare Erkenntnis der Affekte den Menschen von ihrer Ge-
walt befreit, indem sie sie auf das Falsche, das Pathologische,
anwendet.
Will man in diese Darstellung absolut das Wort „un-
bewußt" aufnehmen, so braucht man nur die Vergangenheit
oder jenes erste Erlebnis unbewußt zu nennen im Vergleich
mit der Gegenwart, dem gegenwärtigen Inhalt und Gefühl.
Da diese Vergangenheit als Realität für den Psychologen
genau so existiert wie die Gegenwart, so existiert sie, wenn
sie im Moment nicht bewußt ist, eben unbewußt. Sie kann
aber auch für das Kind ungewußt existieren. Das Kind
braucht sich an das Erlebnis nicht mehr zu erinnern. Trotz-
dem verstehen wir die Gegenwart als Gedächtnis. Wir wissen
die Geschichte des Kindes, aber das Kind selbst kann das
Erlebnis vielleicht vergessen haben. Es ist vorläufig ein
schlechter Historiker. Trotzdem existiert das Erlebnis
in dem System, das wir erkennen wollen, und das das Kind
selbst als historischer Psychologe erkennen muß, wenn es
die Unlogik seiner Angst begreifen will. Von einer Existenz
im Unterbewußtsein oder im Unbewußten kann hier ebenso-
wenig die Rede sein, wie etwas im Oberbewußtsein oder im
Bewußtsein existiert. Die Gegenwart ist das Bewußte, die
Vergangenheit das Unbewußte, die, falls sie vergessen ist,
auch ungewußt ist. Auf diese Weise ist jede pathologische
Phobie zu begründen, soweit sie eben überhaupt zu verstehen
ist. Eine andere Möglichkeit existiert für den Psychologen
nicht. Das Ungewußte existiert gleichzeitig mit dem Bewußt-
sein, soweit die Zeit analog dem Raum als Realität auf-
gefaßt wird. Niemals aber wird die Vergangenheit ein Neben-
raum des Bewußtseins. Was wir bei dem Kinde leicht ver-
stehen, ist uns bei dem Erwachsenen nur schwer verständlich.
— 267 —
Aber im Prinzip bleibt es dasselbe. Der Psychologe kann die
unberechtigte Gefühlsbetonung gewisser Objekte nur historisch
verstehen; er muß herausbekommen, welchen vergangenen
Objekten die gegenwärtigen subjektiv gleich sind, und welches
berechtigte, an sich verständliche, Gefühlserlebnis vor
jenen Objekten stattgefunden hat. Wir finden es merk-
würdig, daß sich eine Assoziation zwischen einem Ge-
fühl und einem Objekt herausbildet, das an sich völlig
nebensächlich ist, das nur miterlebt wurde mit den Momen-
ten, die das Gefühl begründeten. Es ist aber ganz das
gleiche wie bei dem Kinde, wenn es das Wesentliche, das
Charakteristische des Pferdes nicht erkennt. Wir können
es bei dem Erwachsenen gar nicht anders verstehen, als
daß er sofort mit der Assoziation das Erlebnis vergißt.
Wir verstehen ihre Wiederholung. Sie war im Moment
des Erlebnisses da. Der normale Mensch würde sofort
das Zufällige von dem Wesentlichen trennen können.
Auch bei ihm ist es möglich, daß sich die Gefühlsbetonung
auf Gegenstände erstreckt, die nur zufällig miterlebt wurden.
Aber dies Gefühl nennen wir nicht pathologisch, weil es nicht
unzweckmäßig ist. Wir finden es nicht krankhaft, wenn wir
uns als Erinnerung an einen Menschen etwas aufheben, was
in irgend einer Beziehung zu ihm gestanden hat. Sehr viele
Objekte behalten eine Gefühlsbetonung nur, weil sie
zufällig zu einem Gesamtkomplex von Eindrücken gehören,
der als Ganzes stark gefühlsbetont war. Pathologisch wird
diese Erinnerung nur dann, wenn sie uns im Handeln hindert,
wenn wir den Grund des momentanen Gefühls nicht mehr
wissen, wodurch dann das Subjekt in ganz abnormen Fällen
gezwungen wird, sich selbst einen Roman zu konstruieren,
der dem Gefühl Recht gibt. Das Anormale liegt in der
festen Assoziation zwischen Gefühl und Objekt, ohne daß
das Subjekt den eigentlichen Grund des Gefühls kennt.
Nehmen wir bei dem Kinde an, daß der eigentliche Grund
bei der mangelhaften Erfahrung noch nicht herausgefunden
— 268 —
werden konnte, so können wir uns bei dem Erwachsenen den
Fall nur dadurch erklären, daß er total vergessen worden ist.
Er existiert als Erlebnis nicht nur unbewußt wie die ganze
Vergangenheit des Subjekts, sondern er existiert ungewußt.
Das Subjekt hat als Historiker seine eigene Geschichte ver-
gessen und kann sich daher als Psychologe selbstverständlich
nicht mehr verstehen. Auch hier sehe ich keinen Grund
ein, das Unbewußte oder das Unterbewußtsein als einen
Nebenraum des Bewußtseins einzuführen. Das Erlebnis
existiert wie alle andern in keinem andern Raum weiter.
Das erkennende Subjekt oder das selbstbewußte hat es nicht
seinen Erfahrungen eingeordnet. Es ist nur Bildersprache,
wenn man sagt, daß es ins Unbewußte verdrängt worden ist.
Das Erlebnis existiert, weil die ganze Vergangenheit für den
Psychologen gleichzeitig mit dem Subjekt existiert, aber
dieses selbst hat es vergessen. Wir dürfen dieses Vergessen,
das jedermann kennt, nicht räumlich umdenken, weil wir
damit unlogisch werden. Ein Bild mag etwas anschaulich
machen, was man sich sonst nicht vorstellen kann, allein
es ist der größte Fehler, wenn man das Bild für Wahrheit
hält und darauf eine Theorie aufbaut. Jedes Raumbild
kann in der Psychologie nur schaden. Um das Vergessen
zu verdeutlichen, ist aber auch gar kein Bild notwendig.
Ein jedes Vergessen hat seinen Grund in der Wert-
bedeutung des Erlebten. Es ist die einzige Methode, nach der
wir überhaupt erkennen können. Wir entdecken das nicht
empirisch, sondern es gibt von vornherein keine andere
Möglichkeit, als die psychischen Erscheinungen aus den
immanenten Determinierungen heraus zu verstehen. Wir
zeigten oben, daß auch die Intensität auf die Wertbedeutung
zurückführt. Daß der Pythagoreische Lehrsatz so leicht ver-
gessen wird, liegt in seiner geringen Wertbedeutung für die
immanenten Determinierungen der meisten Individuen. Wir
stoßen auf eine Steigerung der geringen Bedeutung zur nega-
tiven. Es ist aber sofort für das Individuum charakteristisch,
— 269 —
d. h. aus seinen Determinierungen verständlich, wenn das nega-
tiv Gefühlsbetonte leichter vergessen wird als das Positive.
Wir haben damit das Vergessen nicht erklärt. Man kann
ruhig sagen: das Individuum wollte das Erlebnis vergessen.
Tatsache ist und bleibt, daß das Vergessen einen Grund
hat, und zwar keinen mechanischen, sondern einen inneren,
daß die Beziehungen zur immanenten oder Willensdeter-
minierung das Ausschlaggebende sind. Wie man dies sprach-
lich ausdrückt, ist gleichgültig. Allerdings hat in vielen
Fällen schon die starke Gefühlsbetonung und fernerhin das
Vergessen einen somatischen Grund, der wahrscheinlich auf
Erkrankungen gewisser Drüsensekretionen zurückgeht. Man
muß sich dabei aber immer vor Augen halten, daß wir damit
nicht mehr die psychische Reihe erkennen. Wir kommen
nicht weiter, als in diesen Raumvorgängen die allgemeine,
aber eben psychologisch völlig rätselhafte Bedingung für das
Psycho-Pathologische zu erkennen, was wir mit dem Begriff
der psychopathischen Konstitution bezeichnen. Die psycho-
logische Erkenntnis bricht damit völlig ab. In der Mischung,
nicht in der Einheit beider Erkenntnisweisen besteht die
Eigenart der Begründung des Psycho-Pathologischen.
Das Vergessen ist also ein Mangel des Wissens und nicht
eine Ortsänderung des Erlebnisses, nicht eine Wanderung
in einen Nebenraum. Wir verstehen die Gegenwrart aus der
Vergangenheit, aber nicht aus einer Raumbeziehung zwischen
Ungewußtem und Bewußtsein. Gelingt es uns, dem Subjekt
zur Kenntnis seiner eigenen Geschichte zu verhelfen, so
würde es die Gegenwart genau so verstehen wie wir und
das Unlogische des Gefühls, seine Unberechtigung, genau so
einsehen wie wir. Der Mensch wäre von dem pathologischen
Gefühl geheilt. Wir bringen aber nicht die Raummaschine
wieder in Ordnung, dadurch daß wir einen Teil wieder ein-
fügen, der herausgesprengt war. Das ist plumpes Raumdenken,
eine absolute Mechanisierung des Psychischen. Wir rechnen
mit der Erkenntnis des Subjekts, wie wir damit rechnen,
— 270 —
daß ein Mensch sich nicht mehr vor einer Blindschleiche
fürchtet, wenn er weiß, daß sie nicht giftig, überhaupt keine
Schlange usw. ist. Wir fügen damit keine mechanische
Ursache ein, die die Angst aus dem Bewußtsein herausstößt.
Wir rechnen nur damit, daß, wenn dem Individuum der
Grund zu dem Gefühl schwindet, auch dieses selbst schwinden
wird. Genau so liegt es in der Pathologie. Wir nehmen an:
wenn das Individuum weiß, woher das Gefühl stammt, so
wird ihm jetzt, wo es den eigentlichen Grund kennt, der
falsche Grund oder die absolute Rätselhaftigkeit schwinden
und damit auch das Gefühl vor den Objekten, die nur zufällig
mit dem eigentlichen Grund verbunden waren. Darin liegt
die Wahrheit der psycho-analytischen Behandlung. Auf
die seltsame Methode, die Geschichte des Individuums —
nichts anders ist das Unbewußte — zu entdecken, gehe ich
nicht ein1. Nur auf eines möchte ich hinweisen. Es folgt
nämlich unmittelbar aus unseren Erörterungen, daß eine
eventuelle Heilung kein Beweis dafür ist, daß wir den wahren
Grund des pathologischen Gefühls gefunden haben. Die
Heilung besteht nicht in einer objektiven Umgestaltung
des psychischen Raums. Es wird keine Maschine wieder
in Ordnung gebracht, sondern das Subjekt korrigiert sich,
es gibt auf, was es als unlogisch und nur zufällig ent-
standen eingesehen hat. Es kommt daher auf nichts
anderes an als auf den „Glauben" des Subjekts selbst
und nicht auf die objektive Wirklichkeit. Es braucht nur
die Unberechtigtheit des Gefühls einsehen. Da dieses aber
als Tatsache da ist, so wird es diese nur einsehen, wenn ihm
das Gefühl in seiner logisch zufälligen, historischen Ent-
stehung verständlich ist. Hat es einen plausiblen Grund
dafür, so ist es gut. Nur seine Meinung ist das Entscheidende.
1 Die Psychiatrie kommt wohl wieder auf die Methode zurück,
mit der die Theorie begonnen und die sie leider später aufgegeben
hat, nämlich durch das in der Hypnose gesteigerte historische Be-
wußtsein die Vergangenheit zu eruieren.
— 271 —
Ob sie objektiv wahr ist, tut nichts zur Sache. So können
religiöse Vorstellungen positiv in das Leben des Subjekts ein-
greifen, allein damit ist ihre Wahrheit nicht erwiesen. Nur
der Glaube an die Wahrheit ist das psychologisch Entschei-
dende. Genau so liegt es bei jenen Heilungen. Der Glaube
heilt, nicht die objektive Umgestaltung des Bewußtseins-
raums. Wo allerdings das Pathologische auf das Somatische
übergreift — und solche Fälle scheinen erwiesen zu sein — ,
wird wohl eine dauernde Heilung nur möglich sein, wo der
„wirkliche" Grund entdeckt worden ist. Eine Suggestion
wird hier keinen dauernden Erfolg haben. Trotzdem ist
aber damit nichts für die Mechanisierung des Psychischen
bewiesen. So lange wir im Psychologischen bleiben, „ver-
stehen" wir die Erscheinungen, ohne sie objektiv erklären
zu können, und von einer Zuordnung der somatischen und
der psychischen Reihe als Erklärung kann niemals die
Rede sein.
Auch als Psychologen haben wir die Pflicht, das Patho-
logische als einen Spezialfall des Normalen anzusehen, genau
so wie das Pathologische des körperlichen Organismus.
Es gibt keinen spezifischen Krankheitsstoff, sondern ein
vom normalen abweichendes Verhalten des Organismus.
Soweit diese Abweichung nicht von einem Eingriff von
außen her abhängt, der die immanente Determination be-
einflußt, handelt es sich bei dem Pathologischen stets um
eine Desorganisation. Das psychische Leben ist eine Or-
ganisation der Erfahrung, eine Anpassung an die Realität.
In diesem Sinne ist auch die Wissenschaft nur Organisation.
Das Lebensproblem des Individuums ist die Ordnung seiner
Erfahrungen zu einem widerspruchslosen System. Jede
Geisteskrankheit, soweit sie sich in unlogischen Ideen äußert,
bedeutet eine Dezentralisation. Soweit die Ordnung Sache
des Wissens ist, ist sie eine Störung des Gedächtnisses, denn
von der subjektiven Erkenntnis aus ist das ordnende Wissen
nur die Ordnung der eigenen Erlebnisse in der Zeit, also des
— 272 —
Gedächtnisses. Wir finden, daß der Kranke mit unheimlicher
Logik jede neue Erfahrung sofort seiner fixen Idee einordnet.
Diese Spezialorganisation ist aber in dem Zusammenhang
des ganzen Lebens eine Desorganisation. Sie ist unlogisch, weil
sie in keinem organischen Zusammenhang mit den früheren
Erfahrungen steht. Organisch heißt aber nichts anderes,
als daß eine zentralistische Einheit besteht. Wir können
jede Geisteskrankheit als eine Gedächtnisstörung auffassen,
aber wir dürfen dies nicht mechanistisch ausdeuten. Der
historische Zusammenhang ist auch weiter da, aber nur
für unsere betrachtende Erkenntnis. Wir müssen uns be-
mühen, den jetzigen Zustand aus der Vergangenheit des
Subjekts heraus zu verstehen. Die Anschauung des Mittel-
alters, daß ein anderer Dämon im Körper sitzt, ist genau
so unlogisch wie die alte Pathologie, die eine Krankheit
als Spezialwesen im Organismus annahm. Was wir „ver-
gessen" nennen, ist nicht umdenkbar als ein Dasein im andern
Raum oder ein Nichtmehrdasein von psychischen Elementen
im psychischen Raum überhaupt, sondern es ist nur der
Ausdruck für die Desorganisation. Durch das Absperren oder
die Absplitterung eines Erlebnisses kann man die Folge
nicht erklären, damit würde man aus dem Raumbild Wahr-
heit machen. Man benennt nur die Desorganisation. Man
hat nur einen andern Ausdruck dafür, daß ein Erlebnis
in den psychischen Organismus nicht aufgenommen ist. Das
Subjekt weiß es nicht mehr, heißt: es hat es nicht seinen
Erfahrungen eingegliedert. Pathologisch ist dieses Vergessen
oder diese Desorganisation, wenn die Lebensmöglichkeit da-
durch unterbunden wird. Wir können uns nur an das erinnern,
was wir organisiert haben. Dies führt uns noch einmal zu der
Theorie der Apperzeption. Apperzeption und Perzeption
vergleichen nicht psychische Elemente nach dem Grade
des Bewußtseins, sondern das Erlebte mit der gedachten
Wirklichkeit im Raum. Was erlebt wird, hat keine Grade.
Es ist da. Aber im Vergleich zu dem wirklichen Gegenstande
— 273 —
kann es ,, wenig" sein. Der Gegenstand wird nicht apper-
zipiert, weil ich zu wenig E^estimmtheiten an ihm erlebe.
Die Apperzeption des Gegenstandes ist aber schon eine
Organisation, ein Symptom des Gedächtnisses. Sie be-
deutet das Festhalten einer Einheit, eines Zentralpunktes
im Wechsel der Erlebnisse dadurch, daß sie die zeitliche Folge
auf ,, einen" Gegenstand bezieht. Wenn ich nicht künstlich
meine Aufmerksamkeit einstelle, wird deshalb auch jedes
Erlebnis momentan vergessen, das nicht irgendwie organisiert
ist, nicht als Bestimmtheit einer wenn auch noch so kurz
dauernden Einheit aufgefaßt wird. Diese Erlebnisse hat
man die Fransen „fringes" des Bewußtseins genannt. Sie
sind da, werden aber sofort vergessen. Das heißt nichts
anderes, als daß sie mit dem nächsten Moment keine Einheit
eingehen, daß sie nicht auf eine dauernde Größe bezogen
werden. Wir vergessen das, womit wir uns nicht mindestens
zwei Momente beschäftigen. Der Moment ist ja psychologisch
eine reale dauernde Zeitgröße, das Erlebnis einer Einheit
ohne den geringsten Wechsel, denn jeder Wechsel bedeutet
einen neuen Moment. Das Festhalten einer Einheit trotz des
Wechsels ist also ein Symptom des Gedächtnisses. Das Be-
wußtsein ist keine Folge von a, b, c, d , sondern
eine Organisation. A existiert auch noch im Moment, wo
b erlebt wird, falls es nicht nur eine Franse des Bewußtseins
war. Ideenflucht im absoluten Sinne heißt Bewußtsein
ohne Gedächtnis, ohne Organisation, ohne Beschäftigung
mit dem Gegenstand. Wir erleben also wahrscheinlich
viel mehr, als wir wissen. Aber es kommt darauf an, daß wir
es ,,im nächsten Moment" nicht mehr wissen. Im Moment
des Erlebens war es da wie alles andere, nur ist dieser Moment
kein Teil eines größeren Moments geworden. Es fehlt die
Organisation der Zeit oder das Gedächtnis. Es wurde nichts
im Unbewußten erlebt, sondern es wird etwas als Erlebnis im
nächsten Moment nicht mehr gewußt. Natürlich steht es
dem praktischen Menschen völlig frei, das Unbewußte
Strich, Prinzipien. 18
— 274 —
oder das Unterbewußtsein sprachlich anzuwenden, genau so
wie er keine Trennung zwischen Gefühl und Empfindung
macht. Die Wissenschaft aber muß in ihrer Terminologie
reinlich sein. Wir wissen, daß die Apperzeption von der
immanenten Determinierung abhängt. Die Fransen gehen
spurlos vorüber, weil sie für die momentanen Determinie-
rungen gleichgültig sind. Das Vergessen ist dann pathologisch,
wenn das Erlebnis für den weiteren Zusammenhang durch-
aus nicht gleichgültig sein dürfte. Das Vergessen eines Er-
eignisses bedeutet prinzipiell nichts anderes als den Gegen-
satz von Perzeption und Apperzeption. Nur die Zeitspanne
ist größer geworden. Das Erlebnis ist nicht organisiert
worden zu einer größeren Einheit. Die Geisteskrankheit
ist ein Bruch mit der Vergangenheit, eine Gedächtnisstörung,
eine Dezentralisierung der Erfahrungen. Diese Desorgani-
sation können wir aber nicht räumlich dadurch begreifen,
daß wir die vergessenen Erlebnisse an einem andern Ort
denken. Damit verlieren wir den notwendigen Beziehungs-
punkt des zeitlichen Subjekts. Wir würden eine Psychologie
ohne Bewußtsein bekommen. Selbstverständlich sind auch
die Willenstendenzen das Problem einer solchen Organisation.
Ich betrachte sie hier nicht vom ethischen Standpunkt,
sondern rein vom biologisch-psychologischen. Der Kampf der
Motive ist eine Organisation der Tendenzen. Im Moment, wo
eine Willenstendenz alleinherrschend wird, können wir auch
von einer Gedächtnisstörung sprechen. Wir bezeichnen
aber damit wieder nur eine Desorganisation. Wir können
sie nicht durch eine mythologische Deutung erklären, dadurch
daß das Oberbewußtsein als Mensch im Menschen vorgestellt
wird, daß es als Wärter abgesetzt werden kann. Das Doppel-
bewußtsein oder den Dämmerzustand können wir nicht
durch ein Raumverhältnis erklären.
Wir kommen in diesen und allen andern Fällen mit
den Prinzipien der gewöhnlichen psychologischen Erkenntnis
aus, ohne eine Raumtheorie des Bewußtseins nötig zu haben.
— 275 —
Selbstverständlich ist damit gesagt, daß es nicht Fälle gibt,
die dem Laien völlig rätselhaft sind. Aber die Prinzipien
des Verständnisses sind in allen Fällen die gleichen; wir
verstehen die Gegenwart aus der Vergangenheit, die von
dem Subjekt selbst vergessen sein kann. Wir stoßen etwa
auf einen eigentümlichen Zustand, der uns deswegen ver-
wundert, weil sich ein völlig anderer Charakter in dem
Individuum zeigt, als wir sonst bei ihm kennen. Der Psycho-
loge hat auch ihn historisch zu verstehen. Wir zeigten, daß
der Charakter nur in spezifischen Willenstendenzen besteht.
Wollen wir die Gegenwart verstehen, so können wir gar nichts
anderes tun, als sie als Wiederholung der Vergangenheit
begreifen. Wir sind methodisch zu der Annahme gezwungen,
daß die sich jetzt zeigenden Willenstendenzen auch früher
schon einmal da waren. Gewiß kann man sagen, daß das
Unbewußte auftaucht. Aber dies ist in keinem andern Sinn zu
nehmen, als wenn irgend eine Vorstellung auftaucht. Auch
diese ist ein Aktuellwerden des Unbewußten, nämlich der
Vergangenheit. Ich will hier kein Phänomen leugnen, sondern
nur die theoretische Darstellung, mit der man es erklären
zu können glaubt. Wir können eine gegenwärtige Handlung
nur verstehen aus einer Willenstendenz des zeitlich dauernden
Subjekts. Wir können ebenso eine Vorstellung nur aus
den persönlichen Erfahrungen dieses Subjekts begreifen.
Zum pathologischen Problem wird uns die Gegenwart erst
dann, wenn sie uns unlogisch erscheint, wenn wir sie nicht
zentral verstehen können. Wir müssen sie jetzt aus einer
Willenstendenz begreifen, die wir für gewöhnlich nicht
zum Verständnis heranzuziehen brauchten. Dieselbe Handlung
braucht bei einem andern Subjekt nicht pathologisch zu
sein, weil sich der diesbezügliche Wille immer gezeigt hat.
Man braucht aber nicht auf jene absurde Raumtheorie zurück-
zugreifen. Wir kennen alle die Bekämpfung des eigenen
Willens, das Zurückdrängen eines Wunsches zugunsten
eines andern. Wir dürfen aus dem Wort, dem Raumbild,
18*
— 276 —
aber keine Wahrheit machen. Wir stoßen den Willen nicht
in einen Nebenraum, aus dem er wieder in den Hauptraum
gelangt. Für den Psychologen existiert nur die Tatsache,
daß wir eine Handlung aus dieser oder jener Willenstendenz
zu verstehen haben. Beides sind keine psychischen Dinge.
Tatsache ist, daß für das Verständnis plötzlich eine Willens-
tendenz maßgebend ist, die wir bis jetzt für die Körper-
handlungen nicht heranzuziehen brauchten, vielleicht aber
für das Verständnis des Vorstellungslebens. Wir können
auch sagen, daß jetzt die Tendenzen vergessen werden, die
als Hemmungen ihr entgegenstanden. Es geschieht aber gar
nichts unbewußt. Was geschieht, geschieht. Aber wir machen
die Beobachtung, daß das Subjekt selbst später nichts mehr
davon weiß. Ein Zeitabschnitt existiert also von dem späteren
Subjekt aus ungewußt, er ist nicht organisiert. Gewiß ist
dies merkwürdig, aber ich sehe keinen Grund zu jener
mythologischen Darstellung, daß ein Wächter, der an der
Klappe im Oberbewußtsein sitzt, von dem andrängenden
Willen aus dem Nebenraum überrumpelt wird. Diese Mytho-
logie kann wissenschaftlich nicht die geringste Bedeutung
haben. Für den historischen Psychologen existiert das
ganze Leben, von dem die Gegenwart nur ein Teil ist. Des-
wegen weil das Subjekt dieses Leben nicht weiß, existiert
es nicht in einem andern Raum. Wir haben den Moment
auch nicht durch das Geschehen in einem andern Raum zu
erklären. Di-e Absurdität steckt wirklich nur darin, daß
man die Vergangenheit als Ding im Raum denkt. Es ist
gar nichts dagegen zu sagen, wenn jemand behauptet: das
Psychische ist nur das Bewußtsein, und ein Unbewußtes
gibt es überhaupt nicht. Das ist vollständig richtig, wenn
man unter der Existenz nur die unmittelbare Gegenwart
versteht. Bewußtsein und Gegenwart ist dasselbe. Aber
für die Psychologie ist diese Gegenwart nur ein Teil der
ganzen Zeitreihe. Diese ist im Vergleich zu dem Bewußtsein
das Unbewußte. Was gegenwärtig da ist, existiert bewußt;
— 277 —
nur soweit es eine Wiederholung der Vergangenheit ist, nur
soweit die Handlung uns aus den vergangenen Erlebnissen
und vergangenen Willenstendenzen verständlich wird, exi-
stiert auch das Unbewußte. Es existiert in der Gegenwart,
weil die Zeit die Realität ist, wie die Teile des Raums alle
zusammen existieren. Ganz falsch ist es aber zu sagen, daß
das Unbewußte im Bewußtsein oder unter dem Bewußtsein
existiert und wirkt. Der Wille ist kein Ding, das etwas in
Bewegung setzt. Die Willenstendenzen sind da, weil die
Vergangenheit da ist, als Bestimmtheiten des historischen
Subjekts. Sie existieren als Grund der Erkenntnis, weil
diese nur Gleichheiten in einem System zusammenfassen
kann, das in diesem Falle kein Raum-, sondern ein Zeitsystem
ist. Auch jene Willensbestimmtheiten des Subjekts existieren,
aus denen ich die momentane Handlung nicht verstehe. Wir
sind allzusehr gewohnt, räumlich zu denken. Die Willens-
tendenz ist kein Ding, sondern eine mehr oder minder kon-
stante Beziehung des Subjekts zur Welt. Man fragt bei der
Handlung nicht nach dem daseienden Faktor, der Ursache
ist, sondern nach dem Gesetz, aus dem sie zu verstehen ist.
Dieses Gesetz, den Willen, braucht das Subjekt nicht zu wissen.
Damit aber, daß man den Willen als Ursache ins Unbewußte
verlegt, ist gar nichts gesagt. Kein Wille existiert im Be-
wußtsein, weder im Ober- noch im Unterbewußtsein, sondern
die Willenstendenz, aus der man die momentane Handlung
versteht, existiert als Bestimmtheit des historischen Subjekts
wie alle andern. Das Dasein, von dem die Zukunft abhängt,
ist das Subjekt mit seiner ganzen Vergangenheit und kein
momentaner Raumausschnitt des Bewußtseins. Es wäre
falsch zu behaupten, daß wir ständig bewußt handeln, wenn
man darunter das Wissen um sein Tun versteht. Es ist aber
genau so rationalistisch, wenn man dieses Wissen im Ober-
bewußtsein annimmt, wie wenn man es ins Unterbewußtsein
verlegt. Es wäre freilich höchst bequem, wenn wir die kom-
plizierten Instinkte der Tiere alle uns dadurch klarmachen
— 278 —
könnten, daß wir das Wissen der Zwecke in ihr Unter-
bewußtsein verlegten. Man kann es als selbstverständlich
ansehen, daß der Mensch auch ohne intellektuelle Aufklärung
zu sexuellen Handlungen kommen würde. Wir können aber
auch in dem unreifen Individuum viele Handlungen nur
aus dem Sexualtrieb heraus verstehen. Soweit die Hand-
lungen da sind, ist auch der Trieb da, aber weder im Ober-
noch im Unterbewußtsein, sondern als Bestimmtheit des
Subjekts. Nennt man ihn unbewußt, so kann ich darunter
nur die zweifellos richtige Tatsache verstehen, daß das Kind
,, theoretisch" noch nichts von der Sexualität weiß. Man
kann also sagen, daß das Kind noch nicht weiß, was es tut.
Der Trieb existiert nicht als Sache im Unbewußten, sondern
er existiert ungewußt als psychologisches Gesetz. Das Kind
ist noch nicht Sexualpsychologe. Ebenso glaube ich auch
nicht, daß ein junges Huhn, wenn es nach einem Korn pickt,
weiß, daß alle Hühner nach Körnern picken. Darauf würde
es aber auch in unserm Fall hinauslaufen. Ich will nicht
darüber streiten, ob man die Zärtlichkeit des kleinen Kindes
zur Mutter als Sexualität auffassen muß. Darauf kommt
es mir hier nicht an. Ganz belanglos aber ist die Behauptung,
daß das Kind „eigentlich" etwas anderes will, als es tut, oder
daß der Sexualtrieb im Unbewußten existiert. Soweit eine
Ähnlichkeit des Verhaltens da ist, führen wir sie auf die
gleiche Willenstendenz zurück. Das, was das Kind tut,
will es tun. Daß es eigentlich etwas anderes tun will, ist
nicht nur vollständig unverifizierbar, sondern es ist prinzipiell
unlogisch. Ich finde es auch falsch zu sagen, daß die alte
Jungfer, die ihr Liebesbedürfnis an Hunden und Katzen
auslebt, „eigentlich" etwas anderes will, daß der unbewußte
Trieb im Bewußtsein eine andere Gestalt angenommen hat.
Das ist alles plumpes Raumdenken. Existieren tun ihre
Taten, und als Psychologe ist man verpflichtet, die den Taten
zugrunde liegenden Willenstendenzen in logische Beziehungen
zu setzen. Wir schließen auch hier aus der Ähnlichkeit des
— 279 —
Verhaltens auf die gleiche Willenstendenz. Von einem Unter-
bewußtsein, einer Verkleidung des Willens zu sprechen, halte
ich für gefährlich und unnotwendig. Kein Mensch kann be-
weisen, daß der Erkenntnistrieb ein sublimierter Geschlechts-
trieb ist. Man kann keine Identität einer im psychischen
Raum existierenden Größe nachweisen. Man mag sagen,
daß die gleichen Energien auf verschiedene Weise ausgelebt
werden. Man stützt sich aber dabei gerade auf eine Verschieden-
heit des Wollens. Nicht der Geschlechtstrieb wird in andere
Bahnen gelenkt, sondern höchstens die allgemeine Energie,
die sich eben in verschiedenen Willenstendenzen und Tätig-
keiten äußern kann. Man postuliert überhaupt von vorn-
herein eine Gleichheit aller Lust mit sexueller Befriedigung,
ohne den geringsten Grund dafür zu haben, und ohne es jemals
beweisen zu können. Gewiß muß das Lutschen am Zeh dem
Kinde Lust bereiten. Warum muß es aber eine sexuelle Lust
oder die Handlung eine sexuelle Betätigung sein ? Wir können
letzten Endes den Erkenntnis- und den Sexualtrieb vielleicht
auf einen noch allgemeineren Trieb zurückführen, beide der
umfaßt, etwa auf den Willen zur Macht, wie ihn Nietzsche
genannt hat. Wir können von einer anderen Seite her den
Drang nach der Wahrheit mit der Liebe in dem platonischen
Begriff des zpac, zusammenfassen. Dies interessiert uns
nicht an dieser Stelle. Hier kommt es nur darauf an, daß
wir alle Betätigung auf allgemeinere Tendenzen zurückführen
müssen, die je allgemeiner, desto inhaltsarmer werden. Wir
haben den Menschen zu verstehen. Wir können dabei viel-
leicht psychologisch von einer allgemeinen Energie ausgehen,
die sich ausleben will. Die Sexualität wäre dann eine Bahn
neben andern, die allein die ganze Energie oder auch
gar keine beanspruchen könnte. Ganz willkürlich aber ist
die Identifizierung von Energie und Sexualität, als ob alle
Betätigungen als Sexualität zu verstehen sind. Der empi-
rische Ausgangspunkt ist jedenfalls gerade das Gegenteil,
nämlich die Verschiedenheit. Beweisen läßt sich die Identität
— 280 —
niemals. Sie ist ein metaphysisches Dogma. Zwei verschie-
dene Tätigkeiten lassen sich höchstens durch dieselbe Willens-
tendenz begründen. Davon ist man aber in jener allgemeinen
Identifizierung weit entfernt. Man behauptet nur, daß alle
Tätigkeit auf dem Willen beruht und daß es nur einen Willen,
den sexuellen, gibt. Soweit wir eine Ähnlichkeit der Ziele
entdecken, sind wir berechtigt, von der gleichen Willens-
tendenz zu sprechen. Wir würden also mit dem Willen zur
Macht noch hinter die Sexualität gelangen und könnten
sie dadurch mit dem Erkenntnistrieb aus einem allgemeineren
Gesetz verstehen. Ob das eine fruchtbare inhaltsreiche
Erkenntnis wäre, will ich hier nicht erörtern. Ebenso können
wir die Beschäftigung der alten Jungfer verstehen aus dem
allgemeinen Bedürfnis nach Liebe. Diese allgemeine Tendenz
ist aber kein Ding im Unterbewußtsein, das im Oberbewußt-
sein eine besondere Gestalt angenommen hat. Dieses Unter-
bewußtsein ist überhaupt von der historischen Psychologie
aus in keinem Falle nötig. Dieses ,, Eigentlich etwas Anders-
sein" ist der Grundirrtum jener Anschauung, ist kindliche
Mythologie. Wir zeigten, daß die psychologische Erkenntnis
danach trachten muß, die verschiedenen Willenstendenzen
in allgemeinere zusammenzufassen, bis wir einschließlich die
allgemeinste Beziehung gefunden haben, die sich in Allem
zeigt. Dieses allgemeinste Gesetz innerhalb des Individual-
systems, diesen Grenzbegriff der psychologischen Erkenntnis
nennen wir den Charakter. Wir müssen danach versuchen,
das sexuelle Leben des Subjekts mit seinen sonstigen Ten-
denzen in Zusammenhang zu bringen. Wir sind methodisch
verpflichtet, auch in ihm den allgemeinen Charakter, die
allgemein wertende Stellung des Subjekts zur Welt zu er-
kennen. Wie alle anderen Erfahrungen müssen wir auch die
sexuellen Erfahrungen heranziehen, um das Subjekt zu ver-
stehen. Nichts in der Welt aber kann beweisen, daß allein
die Sexualität das Leben verständlich macht. In ihr drückt
sich vielmehr der Charakter genau so aus wie in allem andern.
— 281 —
Man kann daher sagen, daß die beurteilende Stellung zu dem
andern Geschlecht nicht auf Erfahrung beruht, sondern nur auf
einem Zuendedenken von sich selbst. Wo man eine Hand-
lung von dem unbewußten sexuellen Willen bedingt sein läßt,
liegt es häufig nur so, daß in der Handlung sich derselbe
Charakter zeigt, wie in der spezifischen Sexualität des Sub-
jekts. Beide speziellen Willenstendenzen lösen sich für die
Erkenntnis in die allgemeinere auf. Auch die Sexualität
ist das, was wir zu verstehen suchen müssen, nicht aber die
Gegebenheit, die uns das andere verständlich macht. Dieses
Verständnis muß aber auf eine letzte Tendenz stoßen, die
unableitbar für uns als Grenzbegriff der psychologischen
Erkenntnis existiert. Wir haben auf die Sexualität zurück-
zugreifen, wenn wir die Handlung aus ihr verstehen. Es ist
aber falsch, daß wir prinzipiell auf sie zurückgreifen müssen.
Dies kann man nur dogmatisch metaphysisch rechtfertigen,
indem man sagt, daß der Organismus nur Geschlechtswille
ist. Man macht diese Voraussetzung, man kann sie aber
nicht empirisch beweisen. In der Erfahrung sind wir nur
methodisch verpflichtet, die Handlung vollständig zu ver-
stehen und letzten Endes alles auf die letzte wertende Stellung
des Subjekts, den Charakter, zurückzuführen, wovon die
Sexualität keine Ausnahme bildet. Gewiß ist es charakte-
ristisch für den Menschen, ob er beim Vortrag lieber mit
einem eckigen oder einem runden Bleistift spielt. Auch im
Denken gibt es eine Vorliebe für Ecken, für Distinktionen,
im Gegensatz zum Runden, dem Ausgleich. Jede Bewegung
ist charakteristisch. Es wäre die seltsamste Tatsache von
der Welt, wenn es die Schreibbewegungen nicht wären. Nur
ist hier in vielen Fällen die Bewegung nicht für das Subjekt
charakteristisch, das sie ja nicht gebildet hat, sondern für
den, der sie uns lehrte oder für die Tradition, genau so wie der
Parademarsch nicht für den einzelnen Soldaten, doch wohl
aber für „den" preußischen Soldaten charakteristisch ist.
Soweit man in der Sexualität einen Charakter entdecken
— 282 —
kann, muß man sich bemühen um eine Zusammenfassung
mit andern Handlungen. Die Sexualität erklärt sie aber
nicht, sondern sie wird selbst erst dadurch verständlich.
Es besteht ein Zusammenhang zwischen Denken und Sexu-
alität, aber beides ist aus dem Subjekt zu begreifen, nicht
aber das Denken mechanisch zu erklären durch Umgestaltung
eines Menschen im Menschen, des Sexualtriebs. Wenn jemand
etwas stiehlt, um es zu verkaufen, weil er faul ist oder jeden-
falls sich auf keine andere Weise Geld verschaffen kann oder
will, so verstehe ich seine Handlung ohne auf seine Sexualität
zurückgreifen zu müssen. Es ist nichts leichter, als die Welt
in konvexe und konkave Gegenstände einzuteilen und danach
in allen Operationen mit den Objekten sexuelle Wünsche zu
entdecken. Man hat damit nichts bewiesen, sondern nur durch
eine Konstruktion die dogmatische Voraussetzung be-
stätigt. Es gehört wenig Phantasie dazu, für das Ausweichen
vor dem Automobil eine Erklärung auf Grund sexueller
Beziehungen und Handlungen zu finden. Man entdeckt
aber nicht den negativen sexuellen Wunsch, sondern man
interpretiert nach ihm. Beweisen läßt sich eine Interpretation
überhaupt nicht. Die psychologische Erkenntnis ist darin der
naturwissenschaftlichen völlig gleich. Das Kopernikanische
System ist eine Theorie, deren Wert darin liegt, daß Er-
scheinungen damit erklärt werden, die sonst unerklärt
bleiben würden. Sonst könnten wir genau so gut annehmen,
daß die Sonne sich um die Erde dreht. Psychologisch ist
die Erkenntnis richtig, durch die ich am besten und ein-
fachsten die Handlung verstehe. Ich will damit nicht sagen,
daß alles einfach ist, was unmittelbar so scheint. Andererseits
aber ist es auch Pflicht, was ohne Komplikationen zu ver-
stehen ist, ohne sie zu interpretieren. Das Ausweichen vor
einem Auto ist solch ein Fall. Erst eine übertriebene, eine
unlogische oder unberechtigte Angst hätten wir aus
Erlebnissen zu verstehen, in denen die sexuellen eine große
Rolle spielen „können", und aus Willenstendenzen, die sich
— 283 —
auch in der Sexualität äußern können. Problematisch ist
mir das Unlogische, die verfehlte Anpassung an das Leben.
Damit kommen wir zu dem Zentralpunkt der Theorie,
dem Begriff des Symbols. Es wäre lächerlich, das Symbol
als Erlebnis zu leugnen. Wir können es aber nicht anders
< [»'linieren als einen eigentümlichen Strukturzusammenhang
des Bewußtseins. Etwas wird als etwas anderes erlebt.
Es ist völlig falsch, diesen Strukturzusammenhang in. einen
Raumzusammenhang, in ein Plus oder ein Nebeneinander,
in eine Assoziation auflösen zu wollen. Das Wesentliche
ist gerade die Bewußtseinsbeziehung, daß A von einem
Subjekt als B erlebt wird, daß A für das Bewußtsein B be-
deutet. Es ist dies ein ähnlicher Strukturzusammenhang
wie das sprachliche Meinen. Statt des optischen Inhalts
haben wir es hier mit einem akustischen zu tun. Außerdem
aber trennen wir die Allegorie vom Symbol. Bei der Allegorie
beruht der Strukturzusammenhang, so wie er da ist, auf einer
Konvention, einer Verabredung, einem Wissen, das man er-
werben muß. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die
Beziehung als Verabredung genetisch entstanden ist. Das
wäre kindliche Sprachgeschichte. Auch was als Symbol
entstanden ist, kann zur Allegorie werden. Eine Analogie
des Symbols ist das Onomatopoetische der Sprache, das wir
aber in manchen Fällen gar nicht mehr bemerken. Wir
nehmen es als Denkbeziehung oder als Allegorie. Das Symbol
beruht auf einer unmittelbaren Ähnlichkeit, auf dem intui-
tiven Erfassen der Verwandtschaft des Meinenden mit dem
Gemeinten. Sobald die Ähnlichkeit nicht mehr erlebt wird,
ist das Symbol zur Allegorie geworden. Wir wissen, was
gemeint ist, aber wir müssen es eben wissen und wir erleben
keine unmittelbare Beziehung mehr zwischen den Erlebnissen.
Das Wesentliche der Psychologie des Symbols, auf das unsere
ganze Kritik hinausläuft, ist dies: der höchste Grad des
Symbolerlebnisses ist die Illusion. Das Gemeinte oder
Symbolisierte ist ausschließlich Gegenstand des Erlebnisses
— 284 -
geworden, das Symbolisierende wird nicht mehr als solches
erlebt. Das Kind erlebt kein Handtuch mehr, sondern eine
Puppe. Wo aber nicht etwas gemeint ist, etwas qualitativ
anders als in Wirklichkeit erlebt wird, ist es sinnlos, von
Symbol zu sprechen. Das unmittelbar Erlebte kann niemals
Symbol genannt werden, wenn nicht etwas anderes dahinter
erlebt wird. Deswegen halte ich es für sinnlos zu sagen : das
Symbolisierende existiert bewußt, das Symbolisierte unbewußt.
Nur das Umgekehrte ist möglich, nämlich im Fall der absoluten
Illusion. Es gibt keine objektive Beziehung zwischen zwei
Vorstellungen, die man als Symbol bezeichnen kann. Es
wäre dies nicht Psychologie ohne Seele, sondern Psychologie
ohne Bewußtsein. Das Wesentliche ist der Beziehungspunkt
zu dem Subjekt, für das der Inhalt etwas bedeutet. Nicht
die Sprache meint etwas, sondern das sprechende Subjekt.
Jene Theorie löst in derselben verkehrten Weise wie die
Elementartheorie den Strukturzusammenhang des Bewußt-
seins in einen Raumzusammenhang auf. Sie kann die
Symbolbeziehung zweier Vorstellungen, wenn sie sie nicht auf
das erlebende Subjekt bezieht, nicht anders deutlich machen
als durch eine Verkleidung einer identischen Vorstellung
in einem andern Raum. Das Symbolisierte ins Unbewußte
zu verlegen, ist wissenschaftliche Unsauberkeit. Es ist
logisch ausgeschlossen, daß man einen Beweis dafür erbringt.
Denn es gibt keine Methode, die man bei dem Beweisen-
Wollen überhaupt benutzen könnte. Weiß das Subjekt von
den Symbolen, so existiert es eben bewußt, weiß es es nicht,
so hat es kein Symbol erlebt. Eine andere Möglichkeit ist
ausgeschlossen. Hat es kein Symbol erlebt, so hat es auch
gar keinen Sinn mehr zu sagen, daß etwas ein Symbol „ist".
Unter dem unbewußten Erleben eines Symbols kann man
sich nichts Vernünftiges mehr vorstellen, wenn man nicht
aus dem Raumbild des Ober- und Unterbewußtseins Wahr-
heit macht. Denke ich zwei Menschen in zwei verschiedenen
Räumen, so kann freilich der eine etwas anderes erleben
— 285 —
als der andere. Es ist unsinnig, daß etwas ein Symbol ist,
ohne daß es als solches erlebt wird. Diese Meinung ist der
Höhepunkt, bis zu dem es unsere materialistische oder mecha-
nistische Substanztheorie in der Psychologie gebracht hat.
Man vergißt ganz, daß das Bewußtsein gleichbedeutend
ist mit Erleben. Sie ist noch unsinniger als die Annahme
der Elementarpsychologie, daß gleiche Elemente im Bewußt-
seinsraum sind. Man beachtet dabei nicht, daß eine Gleich-
heit nur „für" ein Bewußtsein besteht. Ebenso besteht ein
Symbol nur „für" das Bewußtsein und nicht ,, im" Bewußtsein.
Das Bewußtsein wird zum Theaterraum, in dem Personen
verkleidet auftreten. Die Personen sind die Wünsche. Ab-
strahiert man aber von der Metapher, so bleibt schlechter-
dings gar nichts übrig. Man vergißt, daß das historische
Subjekt der notwendige Zentral- und Beziehungspunkt
aller Psychologie sein muß, daß infolgedesssen es sinnlos
ist, das Bewußtsein als Raum darzustellen, in dem eine Be-
ziehung da ist, die das Subjekt nicht erlebt. Das Bewußtsein
ist kein Raum, in den etwas gelangt, sondern es ist nur ein
anderer Name für das Erlebnis des Subjekts. Was nicht
erlebt wird, existiert unbewußt. Ein Wort kann nicht etwas
meinen, was das Subjekt nicht meint. Ein Ding bedeutet
nie etwas. Erst durch die Beziehung auf das Subjekt kommt
die Bedeutung zustande. Was nicht als Symbol erlebt wird,
ist auch kein Symbol. Denn dieses ist von dem Struktur-
zusammenhang nicht zu trennen. Wer in einer Kulthandlung
kein Symbol erlebt, für den ist sie kein Symbol, mag sie von
früheren Generationen auch als solches erlebt worden sein.
Gerade im Traum werden die „tollsten" Symbole erlebt, so toll,
daß wir sie wachend kaum für möglich halten. Es gibt im Traum
Vertretungen, wobei wir im Wachen gar nicht verstehen, wie
es möglich war, daß Dinge und Menschen einander vertreten
haben, die überhaupt gar keine unmittelbare Beziehung
haben. Diese Beziehung muß da sein. Das Charakteristische
der Vertretung im Traum ist aber das Erlebnis. Ein Er-
— 286 —
lebnis zieht sich nicht um und erscheint in anderer Gestalt,
sondern ich erlebe optisch etwa Herrn A und weiß, daß es
Herr B ist. Gerade weil solche Vertretungen im Traum eine
so große Rolle spielen, deswegen ist es nicht angängig, etwas
als Vertretung zu bezeichnen, was nicht als solche erlebt
wird. Ebenso kann im Traum etwas als Symbol entstehen
und später entweder das Symbolisierende oder das Sym-
bolisierte zurücktreten. Was aber nicht als Symbol von dem
Träumenden erlebt wird, hat aufgehört Symbol zu sein.
Ist es niemals von ihm als solches erlebt worden, so ist es
es auch niemals gewesen. Es ist aber sehr wohl möglich,
daß etwas als Symbol aufgetaucht ist, und diese Entstehung
vergessen wurde. Wir behalten ja nur ganz wenige Punkte
aus unseren Träumen. Unser Gedächtnis kann dem
Traum nur so weit nachkommen, wie eine Zentralisation,
Organisation, Kristallisierung, wie man es auch nennen
will, eingetreten ist, wenn der Traum keine Ideenflucht im
absoluten Sinne darstellt. Das Wesentliche der Traumarbeit
liegt in dieser Organisation. Sie ist der Arbeit des Geistes-
kranken zu vergleichen, der mit unheimlicher Logik alles,
was erlebt wird, in seiner fixen Idee zentralisiert, alles in
sie einordnet, um bei seinem Roman zu bleiben. Genau
dasselbe tut der Träumer. Das Merkwürdige des Traums
besteht darin, daß kein Unterschied zwischen Vorstellung und
Wahrnehmung gemacht wird. Der Traum ist eine dauernde
Halluzination, die deswegen nicht pathologisch ist, weil
die praktische Beziehung zur Wirklichkeit von selbst aus-
geschaltet ist. Was als Assoziation, als Vorstellung entstanden
ist, wird als eine Wahrnehmung aufgefaßt und durch phan-
tastische Kombination dem Roman eingeordnet, der einen
momentan beschäftigt. Es ist dies eine momentane Disso-
ziation des Bewußtseins, die durch das Dichten wieder
aufgehoben wird. Die Vorstellung entsteht durch eine be-
stimmte Assoziation. Diese Beziehung wird sofort vergessen
oder überhaupt nicht bewußt und die Vorstellung als eine von
— 287 —
außenher aufgezwungene Wahrnehmung behandelt, an der Be-
st immtheiten bewußt werden, die an sich mit den vorhergehen-
den Vorstellungen in keinem Zusammenhang stehen. Eine
sinnliche Wahrnehmung des Traums, bedingt durch physiolo-
gische Konstellationen, wird ebenso sofort in einen Zusammen-
hang gebracht mit den Vorstellungen, die einen im Moment
beschäftigen. Soweit dies nicht geschieht, besteht auch keine
Möglichkeit, sich später an den Traum zu erinnern. Eine
vollkommene desorganisierte Ideenflucht ist vielleicht auch
im sogenannten traumlosen Schlaf möglich. Aber eine
Erinnerung an sie ist unmöglich. Der Traum ist charakte-
risiert durch eine merkwürdige Organisation, zugleich aber auch
durch eine merkwürdige Desorganisation, ein momentanes
Aussetzen des Gedächtnisses. Nur so ist es möglich, daß
man das, was als Assoziation folgt, plötzlich von einer ganz
andern Seite auffaßt und nun wieder ganz neu in die Reihe
einordnet. Im Wachen nennen wir das eine freisteigende
Vorstellung. Unsere Phantasie ist auch im Traum innerlich
determiniert. Soweit es sich um eine Einheit in der Zeit
handelt, ist dies ein Gedächtnissymptom. Wir halten eine
Einheit fest und spinnen sie immer weiter aus. An irgend
einer Stelle setzt diese immanente Determination plötzlich
aus. Es wird gleichsam momentan ein anderer Weg ein-
geschlagen. Infolge irgend einer Assoziation entsteht eine
Vorstellung, die in die Einheit, mit der wir uns beschäftigen,
nicht hineinpaßt. Es entstehen dann zwei Möglichkeiten.
Entweder der neue Weg wird fortgesetzt, oder der Träumer
dichtet sofort die Situation um, so daß die neue Vorstellung
in dem alten System eine Berechtigung bekommt. Auf
diese Weise entsteht die Absurdität mancher Träume, über
die wir im Wachen nur den Kopf schütteln können. Was
wir vom Traum behalten, ist nur der Roman, den der Träumer
aus den unendlichen Mannigfaltigkeiten, die mehr oder minder
organisiert, als einheitlich dauernde Einheiten oder als
„Fransen" durch das Bewußtsein gehen, dichtet. Daß die
— 288 —
immanente Determinierung der Traumphantasie mit unsern
sonstigen Willensdeterminierungen zusammenhängt, ist für
den Psychologen eine Selbstverständlichkeit. Es ist aber sehr
oberflächlich, wenn man jede Phantasie einer gewünschten
Realität gleichsetzt. Das ist mit der immanenten Deter-
minierung nicht gesagt. Die Theorie macht es sich in der
Praxis recht bequem dadurch, daß sie, wenn die wirkliche
Vorstellung nicht paßt, schnell das Gegenteil annimmt,
das sich nur verkleidet hat. Hierin zeigt sich ganz deutlich,
daß es sich um gar keine beweisbare Wirklichkeit handelt,
sondern man nur interpretiert, wie es einem am bequemsten
ist. Das Gegenteil spielt insofern eine große Rolle, als das Vor-
gestellte grade nicht die gewünschte Realität zu sein braucht,
sondern der Mensch sich das Gegenteil vorstellen will, um
sich des Gegensatzes zu der gewünschten Realität um so
deutlicher bewußt zu werden.
Absolut falsch ist die Mechanisierung des Bewußtseins,
die Verkleidung der Wünsche und zum großen Teil die Aus-
deutung auf Grund einer Zentralisation, die gar nicht besteht.
Das Charakteristische des Traums liegt gerade in dem
plötzlichen Wechsel der Determination und dem künstlichen
Wiederzusammendichten. Bei der ersten Möglichkeit ent-
stehen jene Träume, in denen wir uns an zwei Romane er-
innern, ohne den geringsten Übergang entdecken zu können.
Auf einmal ist etwas ganz anderes da. Bisweilen existieren
aber Derivate aus dem ersten Roman als vollkommen bewußte
Vertretungen für etwas weiter, was nur in den neuen Roman
hineinpaßt. Diese Vertretung kann den ganzen Traum durch
dauern, kann aber auch zurücktreten, und das Vertretene
bleibt allein. Wir haben den Traum zu verstehen als Dichtung
mit plötzlichen freisteigenden Vorstellungen, die aber auf
einer Assoziation und plötzlichem Wechsel der immanenten
Determinierung beruhen. Es ist danach verständlich, wenn
plötzlich etwas als Symbol erlebt wird, daß dieses Symbol-
erlebnis weiter fortgesetzt wird, daß das Symbolisierte
— 289 —
oder das Symbolisierende wieder verschwindet, je nachdem
die immanente Deterrninierung den Weg fortsetzt. Es
ist auch verständlich, daß die Symbole durch die Aus-
schaltung des praktischen Handelns leichter als im Wachen
auf erotischen Determinierungen beruhen werden. Symbol
ist aber nur das, was als solches erlebt wird. Es ist möglich,
daß etwas rein als Assoziation auf Grund von Ähnlichkeiten
entsteht, ohne daß ein Symbolerlebnis vorliegt. Es ist aber
auch möglich, daß etwas mit dem Bewußtsein des Symbols
entsteht und als Realität fortgesetzt wird. Die Geistes-
geschichte bietet in ihrem Rahmen viele Belege dafür. Was
einer Generation Symbol war, braucht es für die folgende nicht
mehr zu sein. Der Zeitraum des Individualsystems ist nur
kleiner. In keinem Falle sehe ich einen Grund, von dem Un-
bewußten Gebrauch zu machen als einem Nebenraum des
Bewußtseins. Es gibt viel Ungewußtes in unserm Leben,
aber es gibt keinen Raum, das Unbewußte.
Genau so gibt es Symbolhandlungen. Die erotische
Gebärdensprache, wozu die erotischen Tänze der Natur-
völker gehören, gibt Beispiele genug. Das Charakteristische
ist auch hier, daß das Symbolisierte mehr erlebt wird als
das Symbolisierende, was bis zur vollständigen Illusion
gesteigert werden kann. Fehlt das Symbolisierte, so ist kein
Symbol da. Erlebe ich nicht das Onomatopoetische des
Worts, so ist es auch nicht onomatopoetisch. Wie es ent-
standen ist, darauf kommt es für die Individualpsychologie
nicht an. Seine Entstehung als historische Größe in dem
System Sprache ist eine ganz andere Frage. Genau so kann
der Mythos als Symbol entstanden sein. Wird er aber nicht
mehr bewußt als solches erlebt, so ist er auch kein Symbol
mehr, und es ist ein Verkennen der ganzen geschichtlichen
Entwicklung, wenn man sagen wollte, daß er im Unbe-
wußtsein oder im Unterbewußtsein noch als solches erlebt
wird. Ich will nicht leugnen, daß in dem Kindesalter Hand-
lungen und Spiele vorkommen, die in erotischen Willens-
strich, Prinzipien. 19
— 290 —
tendenzen wurzeln. Verlegt man die Zwecke in das Unter-
bewußtsein, so ist das nur eine versteckte Form des Ratio-
nalismus, genau so plump wie dieser selbst. Ich wüßte gar
nicht, was hier unbewußt existieren sollte. Der Wille, aus
dem wir die Handlung verstehen, existiert als Bestimmtheit
des Subjekts. Daß das Kind Sexualpsychologe ist, theoretisch
über die Sexualität Bescheid weiß, ist für das Verständnis
der Handlung nicht notwendig. Es ist ein Aufgeben der
psychologischen Prinzipien selbst, wenn man nun gar das
Unbewußte als die „eine" psychische Welt ansieht, die im
Bewußtsein handelt. Es ist absurd zu behaupten, daß all-
gemein A das Symbol für B ist. Es wäre dies genau so,
wie wenn man behaupten wollte, daß die Silbe ,,bar" in allen
Sprachen dasselbe bedeutet. Man verkennt damit absolut
das Historische an der Geschichte, den Begriff der Ent-
stehung und Entwicklung. In diesem Begriff des meta-
physischen Unbewußten vollzieht sich die metaphysisch-
dogmatische Rechtfertigung der psychischen Substanz-
theorie, die man empirisch für die Erkenntnis des Einzelnen
ausnutzt. Wir haben gezeigt, daß in ihr gerade die Negation
des Historischen liegt. Gerade die psycho-analytische
Theorie müßte konsequent historische Individualpsychologie
sein. Gerade sie beruht, soweit sie überhaupt eine wertvolle
Errungenschaft in der Psychologie ist, auf dem Satz, daß
alles historisch individuell zu verstehen ist. Darin liegt auch
ihre ursprüngliche psychiatrische Bedeutung. Losgelöst
vom Individuum verliert sie jeden Sinn und wird genau so
töricht wie jede andere Psychologie, die nach Gesetzen der
psychischen Welt suchen und nicht mehr das Individuum
erkennen will. Man verfällt in der Traumdeutung in den
Fehler des ägyptischen Traumbuchs. Wie Weiß und Schwarz
bei verschiedenen Völkern eine ganz verschiedene Gefühls-
bedeutung haben können, so müssen wir jede Vorstellung
im Traum aus dem persönlichen Leben des Individuums
verstehen. Allein diese persönlichen Erfahrungen sind das
— 291 —
Entscheidende und es ist unmöglich, dem Farbenreichtum
und den Nuancen des Lebens und der Phantasie gerecht zu
werden, wenn man von „der" Bedeutung des Vorgestellten
ausgeht, abgesehen davon, daß es zuweilen völlig wider-
sinnig wird. Es ist der Höhepunkt des mythologischen
Denkens, wenn man das Unbewußte als den Allgemein-
menschen ansieht, der sich seine Symbole bildet, für den das
individuelle Bewußtsein nur eine Bühne ist, wo die Wünsche
in allgemein gültiger Verkleidung auftreten.
Wir können psychologisch immer nur einen Grund der
Erscheinungen finden und niemals einen Moment als Resultat
des vorgehenden nachweisen. Dadurch, daß man den Grund
im Unbewußten findet, ist die Erscheinung nicht mehr dem
Zufall enthoben als sonst. Es kommt ja letzten Endes doch
nur darauf an, wie wir am besten das Phänomen verstehen.
Durch das Unbewußte gelangen wir doch niemals in eine Er-
klärung hinein. In dem Versuch der Mechanisierung, der doch
immer scheitern muß, liegt für mich der tiefste Fehler jener
Anschauung. Wie die Sprache von den Individuen geschaffen
worden ist, ohne daß wir freilich historisch diesen einzelnen Pro-
zessen nachkommen können, so ist es eine wissenschaftliche
Unsauberkeit, anzunehmen, daß das Unbewußte sich seine
Symbole schafft, ohne daß etwas für ein individuelles Be-
wußtsein Symbol ist. Damit schafft man den Zufall nicht
aus der Psychologie fort. Gewiß ist jenes berühmte Bild
des Mannes in der Höhle bei Plato kein Zufall. Für die
Erkenntnis wird dieser aber nicht dadurch aufgehoben, daß
ich annehme, das Unbewußte hat es in Plato geschaffen.
Nur von Plato selbst aus ist es kein Zufall. Von allgemeinen
Gesetzen ist in beiden Fällen keine Rede. Aber historisch
ist es nur ein asylum ignorantiae, wenn man das Unbewußte
sich verkleiden läßt. Diese Verkleidung wäre gerade der
Zufall.
Auf die spezielle Sexualtheorie und die speziell psycho-
logische Erkenntnis des Mythos, der Kunst und der Philoso-
19*
— 292 —
phie will ich hier nicht eingehen. Hier handelt es sich nur
um das Prinzip. Wir kämpfen gegen die Mechanisierung
und Verräumlichung des Seelenlebens. In der Auffassung
des Unbewußten zeigt sich für uns die allerstärkste Form
des Materialismus in der Psychologie. Es gibt nur eine
Aufgabe: die Gegenwart aus der Vergangenheit historisch zu
verstehen. Wo wir aber etwas an sich verstehen, haben
wir keinen Grund auf die ,, eigentliche" Ursache im Un-
bewußten zurückzugreifen, wie wir dies an dem Beispiel
des Ausweichens vor einem Automobil nachgewiesen haben.
Es ist, wie gesagt, nichts leichter, als in allen Dingen und allen
Handlungen Ähnlichkeiten mit sexuellen Objekten und Hand-
lungen herauszufinden. Man kann aber niemals beweisen,
daß ein unbewußter Wunsch die Gegenwart bestimmte,
wenn man nicht diesen Wunsch irgend einmal im Bewußt-
sein bewiesen hat. Es fehlt jede Methode, um eine solche
Hypothese zu verifizieren. Sie muß eine leere Behauptung
bleiben. Man frage sich nur, woher man weiß, daß „eigent-
lich" ein erotisches Motiv im Unbewußten zugrunde liegt.
Aus Erfahrung kann man es gar nicht wissen, wenn man den
Wunsch nicht „unverkappt" nachweisen kann. Es ist
schlechterdings unmöglich, hinter Verkleidungen die Wirk-
lichkeit zu erkennen, wenn man diese nicht irgendwo unver-
kleidet nachweisen kann. In einem Falle erkennen wir, daß
eine Willenstendenz, die wir an sich kennen, auch den vor-
liegenden Fall verständlich macht. Im andern aber kon-
struiert man eine Willenstendenz, die man sonst nirgendsher
kennt, und das ist unlogisch. Wenn ich die homosexuellen
Tendenzen in dem Leben jemandes kenne, so werde ich aus
ihnen vieles verstehen, was ich sonst nicht verstehe. Es ist
aber völlig unlogisch, aus irgend welchen Handlungen, die
mir auch ohnedies verständlich sind, durch kindliche Ähn-
lichkeiten eine homosexuelle Tendenz zu konstruieren, die
ich als direkte Tendenz niemals kennen lernen würde, und
sie nun einfach dem deus ex machina, dem Unterbewußtsein,
— 293 —
in die Schuhe zu schieben. Man kann das Unterbewußtsein
niemals erkennen, sondern nur konstruieren, um das Handeln
zu interpretieren. Ich erkenne die Gleichheit zweier Tenden-
zen, die ich an sich kenne. Jene Theorie behauptet aber nicht
die Gleichheit mit einer an sich bekannten Tendenz, sondern
sie konstruiert eine sonst völlig unbekannte Tendenz nur,
um den vorliegenden Fall zu verstehen. Das ist wissenschaft-
lich im höchsten Grade unberechtigt, weil es allen Prinzipien
der empirischen Erkenntnis überhaupt widerstreitet. Er-
kennen heißt Gleichheiten entdecken und nicht einen Grund
konstruieren, den man deswegen, weil man ihn sonst nicht
entdeckt, ins Unterbewußtsein verlegt. Man kann einen
verkappten Wunsch erkennen, wenn man ihn auch als
unverkappten kennen gelernt hat. Dann aber braucht man
nicht das Unterbewußtsein, sondern er existiert eben als Be-
stimmtheit des historischen Subjekts. Hat man ihn aber nicht
direkt kennen gelernt, so bleibt der Schluß auf eine Vertre-
tung eine leere Behauptung, die durch nichts zu beweisen ist,
aber auch nur zu widerlegen ist durch die unlogischen Prin-
zipien, von denen man ausgeht. Kann man den Willen wirk-
lich nachweisen, dann fehlt jeder Grund, vom Unterbewußt-
sein zu sprechen. Dann haben wir die Gegenwart eben aus
einer Willenstendenz zu verstehen, die wir aus der Geschichte
des Subjekts kennen. Diese Geschichte ist das Problem des
Psychologen. Hier aber sollte man vorsichtig sein und nur
zu Werke gehen als Historiker ohne Dogmen und sinnlose
Verallgemeinerungen. Man sollte sie empirisch feststellen in
jedem Einzelfall, soweit dies möglich ist. Erst dann könnte
man als Psychologe Schlüsse ziehen. Freilich kann man auch
als Psychologe historische Hypothesen aufstellen, aber sie
bleiben ewig Hypothesen, die erst durch die historische Er-
kenntnis verifiziert werden könnten. Das vergißt man allzu
leicht.
Ich bemühte mich, die Theorie rein vom logischen Stand-
punkt aus zu kritisieren. Man wird vielleicht denken, daß
— 294 —
dies von vornherein nicht angängig ist, und einwenden, daß
hier überhaupt keine logischen Probleme zur Diskussion
stehen, sondern daß es sich um Tatsachen handelt, die man
empirisch nachweisen oder widerlegen kann. Allein dieser
Einwand scheitert an der Wesenhaftigkeit der psychologi-
schen Erkenntnis. Dem Psychologen ist nämlich die eigent-
liche Demonstration, die das Wesen des empirischen Beweises
ausmacht, versagt. Er kann die Größen, mit denen er rechnet,
nicht dem unmittelbaren Erlebnis der Wahrnehmung oder
Anschauung zugänglich machen. Man versteht das psychische
oder man versteht es nicht. Man interpretiert das Leben,
man kann aber keine Ursachen im Bewußtsein ,, zeigen".
Daran wird auch nichts durch das Selbstbewußtsein
geändert. —
Ich wies oben darauf hin, daß selbst eine Heilung durch
psycho-analytische Behandlung, über deren Vorkommen ich
mir kein Urteil anmaße, kein Beweis für die Richtigkeit der
Theorie ist. Es handelt sich bei der Kritik um ein Problem,
das nur durch die Analyse der psychologischen Erkenntnis
überhaupt gelöst werden kann. Es gilt die Frage zu stellen,
woher man eigentlich von der symbolischen Bedeutung der
Erlebnisse weiß. Der große ursprüngliche Wert der Theorie
liegt allein in dem verpflichtenden Prinzip, die Gegenwart
aus der Geschichte des Individuums zu verstehen. Man muß
sich aber immer vor Augen halten, daß wir diese Gegenwart
nur interpretieren können. Wir müssen sie verstehen. Es
gibt kein anderes Kriterium der Beurteilung. Hält man nicht
an dem Postulat fest, daß das Unbewußte allein den gegen-
wärtigen Moment bestimmt, so liegt es eben so, daß man
diesen Moment möglichst vollständig zu verstehen hat. Ich
machte oben darauf aufmerksam, daß man das Zurückweichen
vor einem herannahenden Automobil verstehen kann. Die
Handlung ist für uns kein Zufall, weil sie aus dem Zweck
verständlich ist. Sowie man also eine Handlung als solche
versteht, muß die Frage auftauchen, woher man weiß, daß
— 295 —
sie eigentlich etwas anderes bedeutet. Demonstrieren kann
man diese Bedeutung niemals. Das Kriterium kann nur
darin liegen, daß die Handlung anders nicht verständlich
ist. Ist sie aber ohne Bedeutung verständlich, so kann man
nie beweisen, daß sie in Wirklichkeit anders zu verstehen ist.
Wenn ich etwas aus dem Menschen heraus verstehe, so wie
er sich mir unmittelbar darstellt, so brauche ich keinen Men-
schen zu konstruieren mit Eigenschaften und Tendenzen, von
denen der Betreffende selbst nichts weiß. Ich will nicht
leugnen, daß dies notwendig sein kann. Solche Fälle nennen
wir pathologisch. Und das Pathologische liegt eben in der
Unlogik der Gegenwart. Wir verstehen dann den Fall aus
der Unkenntnis des Subjekts über seine eigene Geschichte,
d. h. aus dem Vergessen. Die Gegenwart ist nicht mehr an
sich verständlich, weil sie unlogisch ist. Wir müssen sie inter-
pretieren auf dem Verbindungswege durch das momentan
Unbewußte.
Freilich gibt es keinen Zufall im Psychischen. Aber bei
jenen Psychologen fehlt die Klarheit über die logische Be-
deutung des Zufalls. Verstehen wir eine Handlung, so ist
der Zufall aufgehoben. Vom Mechanismus aus bestünde
allerdings weiterhin ein Zufall darin, daß die allgemeine
Kausalität in diesem Falle mit dem historischen Zweck zu-
sammentrifft. Dies ist das große Rätsel für jeden psycho-
physischen Monismus. Psychologisch ist nur das zufällig,
was man nicht versteht. Es geht jemand in Gedanken an
einem Haus vorüber, in das er eigentlich eintreten wollte.
Diesen Vorgang braucht man keineswegs auf das Unter-
bewußtsein zurückzuführen. Er ist ohne diese Hypothese
verständlich. Aber auch so ist kein Zufall im Spiel. Die Kon-
zentration macht mir auf der andern Seite die Vergeßlich-
keit verständlich. Man braucht keine andere Determinierung
im Unterbewußtsein anzunehmen, denn diese genügt schon.
Durch das Unterbewußtsein wird kein Zufall aufgehoben;
man interpretiert nur anders.
— 296 —
Ganz widersinnig und gefährlich scheint mir aber nun
die Art zu sein, mit der man die Psychoanalyse für die Geistes-
wissenschaften fruchtbar machen will. Um die eigentliche
Geistesgeschichte kümmert man sich überhaupt nicht. Man
bleibt im Psychologischen stecken. Man bemüht sich etwa,
Piatos Ideenlehre aus den verdrängten Wünschen, aus sei-
nem Unterbewußtsein, zu verstehen. Daß dies mit Geistes-
geschichte nichts zu tun hat, wird man den Anhängern jener
Theorie schwer begreiflich machen können. Ich will jene
Auffassungsweise aber auch von einem andern Standpunkt
aus kritisieren. Man hat behauptet, die erschütternde Wir-
kung jener Szene, wo der alte Lear den Leichnam der Cor-
delia auf die Bühne schleppt, sei völlig unverständlich. Erst
,,wenn man die Situation umkehrt, wird sie uns verständlich
und vertraut." Dies ein wörtliches Zitat (Imago II, S. 266).
Die erschütternde Wirkung stammt also daher, daß wir im
Unterbewußtsein erleben, wie Cordelia den toten Lear auf die
Bühne schleppt. Beweisen kann jene Theorie, wie gesagt, die
Behauptung nicht. Hier hört aber überhaupt jede Diskussion
auf. Sollen wir im Unterbewußtsein wissen, daß jene Szene
eigentlich den uralten Mythus bedeutet, wie der alternde
Held von der Walküre vom Schlachtfeld geführt wird, und
darum erschüttert sein ? Abgesehen von dieser seltsamen
Auffassung des Psychischen kann man hier die Frage stellen,
was erschütternder ist, wenn ein alter Held stirbt, oder wenn
die junge Cordelia von dem greisen Vater bejammert wird.
Mir fällt die Entscheidung nicht schwer. Neben dieser psy-
chologischen Erklärung der Wirkung will wohl jene Theorie
aber auch jene Szene als Werk genetisch erklären. Hierbei
zeigt sich wieder der Grundfehler darin, daß man von „der"
Bedeutung handelt, ohne zu sagen, für wen sie gilt. Man
kann nur fragen : soll die Szene das Umgekehrte bedeuten ?
Ist sie von Shakespeare so gemeint ? Zu dieser Annahme
fehlt jeder Grund. Man begnügt sich zu sagen, das Unbe-
wußte hat sie geschaffen. Aber dieses „eine" Unbewußte
— 297 —
ist gerade das Fehlerhafte, eine absolut transzendent meta-
physische Konstruktion. Wenn man von der Mythologie
herkommt, so scheint der Gedanke allerdings berechtigt.
Die schaffende Einheit hinter den Individuen ist dort am
Platz, wo wir kein Werk des einzelnen Individuums kennen.
Der Mythos ist geschaffen worden ; da wir aber kein einzelnes
Subjekt als Schöpfer dabei kennen, so haben wir ein Recht,
von einem Gesamtsubjekt auszugehen. Damit aber ist trotz-
dem das Unbewußte noch nicht gerechtfertigt. Man schafft
einen Deus ex machjna und verzichtet auf das Verständnis
des genetischen Prozesses. Die Einheit, das Unbewußte, ist
eine ganz kritiklose Konstruktion. Der Begriff hat eine Be-
rechtigung nur als Hypothese in der Individualpsychologie,
sonst verschärft er noch die Fehler, die mit jeder Substanziali-
sierung des Psychischen verbunden sind. Aber auch dort
bedeutet seine Anwendung für das Verständnis des geistigen
Schaffens eine grobe Verflachung, wenn man nach einem
allgemeinen Kodex nur immer nach „der" Bedeutung fragt.
Zu dieser Verallgemeinerung liegt kein Grund vor. Die
ganze Anschauungsweise bedeutet im Grunde einen groben
Mechanismus, der dem psychologischen Problem des schaf-
fenden Individuums nie gerecht werden kann. Sie be-
deutet von vornherein einen Verzicht auf die empirisch-
historische Erfahrung, eine völlig metaphysische Konstruk-
tion, die für die kritische Erkenntnis gar nichts besagt.
Ich weiß wohl, daß die Verteidiger der Theorie sich des
Bildhaften deutlich bewußt sind. Sie werden das Raum-
bild des Ober- und Unterbewußtsein nicht als Wahrheit ver-
teidigen wollen. Aber ich glaube nachgewiesen zu haben,
daß die Theorie in ganz wesentlichen Punkten auf diesem
Raumbild aufgebaut ist, daß man gar nicht mehr versteht,
was sie überhaupt meint, wenn man von der Bildersprache
absieht. Darum halte ich sie nicht nur für gefährlich, son-
dern für absolut irreführend.
298 —
V. Verstehen und Erklären.
Wir zeigten, daß es der psychologischen Erkenntnis
darauf ankommt, das psychische Leben zu ,, verstehen".
Man stellt der erklärenden Psychologie besser nicht die be-
schreibende, sondern die verstehende gegenüber. Den Gegen-
satz zwischen Verstehen und Erklären gilt es kritisch zu
fassen.
Es ist von vornherein selbstverständlich, daß die Psy-
chologie auf Erfahrung beruht. Allein damit wird nicht
widerlegt, daß die Psychologie keine Erfahrung im Sinne
Kants bedeutet. Handelt es sich in diesem Falle um die
logischen Prinzipien der Wissenschaft als System, so bedeutet
die andere Behauptung selbst schon eine psychologische
Tatsache, die des Kennen-Lernens, die als Fragestellung
natürlich auch berechtigt ist, ohne daß man von vornherein
von einem unkritischen Psychologismus sprechen darf. Es kann
gar kein Wissen geben, das nicht auf dem Erfahren der
Subjekte beruht. Davon macht auch die Logik keine Aus-
nahme. Der Unterschied liegt nur darin, was das Subjekt
erfährt. Das Subjekt lernt z. B. nicht die Tatsache kennen,
daß A gleich A ist, sondern die, daß ps als erkennendes
Wesen die Identität des Gegenstandes behauptet. Diese
seine Behauptung wird aber psychologisch nicht daraus er-
klärt, daß es die Identität des Gegenstandes sinnlich erfährt.
Erfahren läßt sich nur, daß man von diesem Prinzip in dem
Erkennen ausgeht, daß man nach dem Satz der Identität
denkt. Völlig unlogisch wäre die Behauptung, daß man des-
halb nach ihm denkt, weil man ihn erfahren hat. Nihil est
in intellectu quid non fuerit in sensu — nisi intellectus ipse.
Der Geist ist aber wieder kein Raum, in den das Denken
hineingerät. Wir machen unsere Erfahrungen durch Denken.
Die Frage nach dem Woher können wir nur bei dem Inhalt
des Denkens beantworten, nicht bei dem Denken selbst.
Wir erfahren als Psychologen oder, was dasselbe besagt,
— 299 —
im Selbstbewußtsein, daß wir erfahren, nämlich daß wir die
Identität von Gegenständen im Raum behaupten. Diese
Identität erfahren wir nicht als Tatsache im Raum, sondern
als Prinzip, die Welt zu denken. Wir erfahren nicht die Tat-
sache und richten uns im Denken nach ihr. Diese Behaup-
tung hat gar keinen vernünftigen Sinn. Der Fehler liegt auch
hier in dem psychologischen Raumdenken. Man stellt sich
das Bewußtsein als eine tabula rasa vor, als einen Raum,
in den etwas hineingelangt. Dann kann man freilich fragen,
wie gelangt der Satz der Identität in diesen Raum ? Es hat
aber hier überhaupt keinen Sinn, nach der Erklärung eines
zeitlichen Phänomens im Bewußtsein zu suchen. Nur für
den Logiker kann der Satz ein momentaner Bewußtseins-
inhalt sein. Als sprachliches Urteil ist er natürlich nicht
angeboren. Darunter könnte man sich überhaupt nichts
denken. Er wird erfahren aus einer Analyse des Denkens.
Man müßte fragen: wie gelangt das Denken in den Be-
wußtseinsraum, und diese Frage ist völlig unlogisch. Die
größten Schwierigkeiten liegen in dem Wörtchen „im",
weil dadurch sofort die Gefahr des Raumdenkens vorliegt.
Nicht „im" Bewußtsein existieren gleiche Inhalte, son-
dern „für" das Bewußtsein sind zwei Inhalte gleich. Genau
so ist es mit der Identität. Der Satz ist nicht von vornherein
im Bewußtsein, er gelangt auch nicht in das Bewußtsein,
sondern für das Bewußtsein existiert die Identität des Gegen-
standes, und durch das reflexive Denken wird mir dies be-
wußt. Ich erfahre, daß ich denke. Aber es wäre sinnlos,
die Existenz des Denkens durch das Denken als Tatsache
erklären zu wollen. Ich erfahre, daß zwei Strecken gleich sind.
Keine Gleichheit aber gelangt als psychische Wesenhaftig-
keit ins Bewußtsein. Geht man von dem Sensualismus als
einer philosophischen Abstraktion aus, so existierten zwei
optische Empfindungen. Diese Erfahrung deckt sich aber
nicht mit meinem Urteil über ihre Gleichheit. Man kann nicht
weiter als bis zu der Anerkennung kommen, daß für das Be-
— 300 —
wußtsein zwei Strecken gleich sind. Dieses Aisgleichdenken
kann man nicht vom Raum aus erklären. Die wahrgenommene
Gleichheit der Strecke ist ja sogar für das objektive
Denken, für den Mathematiker jederzeit ein Irrtum. Genau
so ist die Identität eines wahrnehmbaren Körpers, den ich
sinnlich erfahre, ein Irrtum. Mit der schärfsten Analyse
kann man also nicht weiter kommen, als daß für das Bewußt-
sein eine Identität des Gegenstandes existiert. Die Frage,
wie die Identität ins Bewußtsein gelangt, ist unlogisch, weil
es keinen Raum Bewußtsein gibt, und weil die Identität
nur als Gegenstand des denkenden Bewußtseins existiert.
Nennt man die Identifizierung eine Tat des Intellekts, so
wäre es auch töricht zu behaupten, daß der Intellekt ange-
boren ist, weil dem schon jene falsche Raumtheorie zugrunde
liegt, als ob das Bewußtsein etwas ist, worin sich der Intel-
lekt befindet. Nicht ein Evidenzgefühl sagt mir, daß A gleich
A ist, sondern das Selbstbewußtsein sagt mir, daß ich A
gleich A denke, und die Naturwissenschaft korrigiert mein
Denken inhaltlich, soweit ich nicht wirklich etwas Zeitloses als
Identität denke. Der Satz der Identität als Urteil stammt
also aus der Erfahrung, nämlich aus der Wissenschaft der
Logik, und es kann keine Wissenschaft geben, die nicht auf
Erfahrung beruht, mit Ausnahme der Ethik, im allerwei-
testen Sinne genommen. Erfahren kann ich nur, daß ich so
denke. Wo man darüber hinaus will, wird die Logik Ethik,
nämlich dort, wo man nach dem Recht seines Denkens fragt.
Dies kann man nur, wenn man ein richtiges Denken voraus-
setzt, und diesos ist eine ethische Idee. Im Vergleich mit
ihr kann ich jede Identifizierungstat prüfen. Dann gelangt
man zu dem Resultat, daß es kein richtiges Denken, keine
objektive Erkenntnis geben würde, wenn man an seinem
praktischen Denken festhalten würde, daß der Identifizie-
rung kein zeitloses Recht zukäme, wenn man nicht nur das
Zeitlose als Identität denken würde. Die ethische Idee liegt
also darin, daß das Zeitlose gedacht werden „soll". Daß der
— 301 —
Satz der Identität richtig ist, läßt sich nicht beweisen, weder
logisch noch psychologisch. Nur an eine bestimmte Identi-
fizierung kann die Frage nach der Richtigkeit gestellt werden.
Es kommt nur darauf an, was für eine Identität gedacht
wird.
Alle unsere Urteile, auch die philosophischen, beruhen auf
Erfahrung. Der Fehler des Empirismus, soweit er sich in
Gegensatz stellt zu dem Idealismus, beruht nur auf einer
ganz unhaltbaren Identifizierung von Erfahrung und Raum-
erfahrung, und dieses Dogma beruht letzten Endes auf der
falschen metaphysischen Orientierung, die das Bewußtsein
als Raum neben dem wirklichen Raum denkt, daß etwas
aus dem Raum ins Bewußtsein gelangt. Das Bewußtsein
ist nur eine Ordnung der data der Sinnlichkeit, und zwar
existiert eine unendliche Anzahl von diesen Ordnungen,
in denen der Raum selbst nur Gegenstand des Erlebnisses
ist. Erst der ethische Wille nach Objektivität, nach „einer"
Welt, erzeugt im Denken die „eine" Ordnung, für die der
Raum nicht mehr Gegenstand des subjektiven Erlebnisses
ist, sondern die Daseinsform „der Welt".
Betrachtet man die Raumerfahrung als „das" Erfahren,
so ist die Psychologie keine empirische Wissenschaft. Es
kommt hier aber nicht auf den Gegensatz von Raum- und
Selbstbeobachtung an. Das Charakteristikum der Raum-
erfahrung als Geistestätigkeit ist die Induktion. Die psy-
chologische Erkenntnis ist nicht induktiv, sondern intuitiv.
Das ist der entscheidende Gegensatz.
Unsere Erkenntnis des Vorstellungslebens beruht auf
der subjektiven Gleichheit des Erlebten. Man kann keine
Wiederholung einer Assoziation erkennen, ohne die Gleich-
heit zweier Bestimmtheiten einzusehen. Zweifellos lerne ich
die Gleichheit zweier Inhalte erfahrend kennen, aber nicht
„durch" Erfahrung. Ich erfahre, daß hier zwei Äpfel liegen,
aber ich erfahre diese Tatsache nicht durch induktive Er-
fahrung. Weil diese Erkenntnis nicht auf Induktion beruht,
— 302 —
deshalb hat man wohl gesagt: sie ist gegeben. Aber dieses
Wort ist gefährlich. Versteht man darunter nur den Gegen-
satz zur Induktion, so wäre dagegen nichts einzuwenden.
Nimmt man aber die Gegebenheit wörtlich, so muß man
auch fragen, wem etwas gegeben ist. Fälschlicherweise denkt
man hier räumlich. Man denkt nämlich die Zweiheit im
Bewußtseinsraum gegeben. Tatsache ist, daß sie für das
Bewußtsein existiert. Es besteht die Zusammenfassung der
Äpfel zur Zweiheit. Die Tatsache ist gegeben, weil sie als Er-
kenntnis nicht erst durch Induktion konstruiert worden ist.
Sie ist unmittelbar erkannt. Auch hier hat das Bewußtsein
die Welt geformt, aber nicht mittelbar durch Induktion,
sondern unmittelbar, und diese Erfahrung nennen wir in-
tuitiv. Falsch wird die Gegebenheit, wenn man von der Tat
des Bewußtseins absieht, als ob die Zweiheit irgendwo exi-
stiert und vorgefunden wird. Sie entsteht erst durch das
formende Bewußtsein. Erst für dieses existiert sie. Sie ist
nicht im Bewußtsein gegeben. Richtig aber ist dieser Aus-
druck als Gegensatz zu der Konstruktion der induktiven
Erfahrung.
In diesem Sinne ist tatsächlich der psychologische Zu-
sammenhang der Phänomene der Erfahrung gegeben und
nicht von ihr konstruiert. Eine Erinnerung eines andern In-
dividuums ist mir so lange rätselhaft, bis ich nicht die Gleich-
heit oder Ähnlichkeit selbst erlebe. Ich lerne sie erfahrend
kennen, aber intuitiv, nicht durch induktive Erfahrung.
In diesem Sinne beruht das Urteil nicht auf einer Konstruk-
tion, sondern die Gleichheit ist gegeben. Sie existiert aber
nicht unabhängig von jedem Bewußtsein, sondern für das
Bewußtsein, und psychologisch kommt nicht die Wahrheit
der Gleichheit in Betracht, nicht ihre Existenz für jedes
Bewußtsein oder das Bewußtsein überhaupt, sondern nur
für das individuelle Bewußtsein, für das Individuum und für
den, der es versteht. Sie existiert als Formung des Bewußt-
seins. Ohne diesen Beziehungspunkt verliert das Gleichsein
— 303 —
jeden Sinn. Die Erkenntnis ist aber intuitiv, und darin liegt
der Gegensatz des Verstehens zum Erklären, zur Induktion.
Was nicht intuitiv erlebt werden kann, kann psychologisch
auch nicht erkannt werden. Ich muß das Zahlenurteil des
andern erkennen, dadurch daß ich die Möglichkeit der Zu-
sammenfassung erlebe. Diese ist psychologisch immer will-
kürlich, sie setzt irgend eine Gleichheit voraus. Wenn ein
Kind auf die Wand zeigt und Fünf sagt, so kann ich das nicht
erklären, sondern ich kann es nur verstehen, wenn ich selbst
intuitiv dort fünf Gleichheiten erfasse, was durchaus nicht
immer leicht oder selbstverständlich ist. Zählen kann man
alles in der Welt, aber der Gesichtspunkt, unter dem man
fünf Gegenstände für gleich hält, kann mir an sich ganz
fremd sein. So ist es auch bei jeder Assoziation. Jemand
behauptet eine Ähnlichkeit zwischen zwei Menschen. Kann
ich sie beim besten Willen nicht sehen, so sage ich mit Recht:
ich verstehe es nicht, wie man die beiden Menschen für ähn-
lich halten kann. Kein psychologisches Gesetz kann mir aber
weiter helfen. Es gibt nichts, was hier erklärt werden kann.
Man sagt wohl, daß ein gleiches Element da sein ,,muß",
aber dies wäre nur ein theoretisch schlechter Ausdruck für
die Tatsache, daß das Individuum das Erlebte für ähnlich
hält. Durch diesen schlechten Ausdruck wird sie selbst
nicht erklärt. Ich kann nur beschreibend konstatieren, daß
für dieses Individuum zwei Gegenstände gleich oder ähnlich
sind. Dazwischen besteht nur ein Gradunterschied. Denn
von einer objektiven Gleichheit ist niemals die Rede. Es
existiert kein Phänomen, das auf ein induktiv gewonnenes,
allgemeines Gesetz zurückgeführt werden kann. Entweder
ich erlebe selbst die Ähnlichkeit oder ich erlebe sie nicht.
Im ersten Fall verstehe ich den andern Menschen, im zweiten
nicht. Das Assoziationsgesetz erklärt mir gar nichts, sondern
die Erlebnisse des Subjekts und seine Gleichsetzungen gilt
es zu verstehen. Dasselbe gilt für die Willenstendenzen. Wir
zeigten, daß es darauf ankommt, die einzelnen Tendenzen
— 304 —
in ihrer Verwandtschaft, wozu auch der Kontrast gehört,
mit andern zu begreifen. Diese Zusammengehörigkeit kann
aber nur intuitiv erfaßt werden. Auch hier muß ich es selbst
nacherleben können, genau so wie die Gleichheit der In-
halte. Weiter als bis zu diesem Nacherleben, bis zu dem
Verstehen des andern Menschen, kann es keine Psychologie
bringen. Sie kann nur hinterher theoretisch den so gefun-
denen Zusammenhang falsch darstellen.
Gewiß beruht auch die Arbeit des Naturwissenschaftlers
auf der Intuition, auf der unmittelbaren Erkenntnis, allein
erst dann beginnt seine eigentliche Arbeit. Diese intuitive
Erkenntnis macht mir psychologisch seine Tätigkeit ver-
ständlich, aber die Bedeutung seines Werks liegt in der
Beziehung zur Realität. Diese versteht er nicht intuitiv.
Durch Induktion gelangt er zu dem Gesetz der Erscheinun-
gen. Seine Tätigkeit wird durch die Intuition verstanden.
Er versteht aber die Natur nicht, er kann sie nur erklären,
das heißt terminologisch nichts anderes, als daß er die Er-
scheinungen in zeitlosen Allgemeinheiten beschreiben kann.
Wenn die Beziehung der chemischen Elemente wirklich Ver-
wandtschaft und Liebe wäre, dann" wäre der Einzelfall auch
verständlich, das Geschehen wäre als Handlung nachzuer-
leben, wie dies für die Mythologie der Fall ist. Da dies für
unsere heutige Erkenntnis nicht mehr gilt, so kann man nur
feststellen, was im logischen Sinne ,, immer" geschieht,
ohne daß man es versteht. Die moderne Naturwissenschaft
dünkt sich wunder wie kritisch, wenn sie den Begriff der
Erklärung durch den der Beschreibung ersetzt. Es ist viel-
leicht dies für die Naturwissenschaftler selbst sehr zweck-
mäßig, die geglaubt haben, durch die Wissenschaft hinter
die Erscheinung zu gelangen. Es ist auch in dem Sinne zweck-
mäßig, als dadurch die Meinung aufgegeben wird, daß der
Mensch Wahrheit findet. Es gibt philosophisch nicht das
Finden, sondern nur das Tun, den Willen. Der Mensch
schafft die Wahrheit. Sie existiert als Gegenstand seines
— 305 —
ethischen Wollens, und nur als solche hat sie ihren Wert, nicht
aber als vermeintliches Abbild der Realität. Die Wissenschaft
bildet nicht die Realität ab, sondern sie konstruiert sie. Von
diesem Standpunkt aus ist der Begriff der Beschreibung
gerade falsch. Denn er hält in irgend einer Form noch die
Meinung aufrecht, daß wir in der Naturwissenschaft die Wirk-
lichkeit „abbilden". Man glaubt als Skeptiker nicht an die
Wahrheit der Naturwissenschaften und drückt dies in dem
,,Nur Beschreiben" aus, weil man selbst von einem falschen
Begriff der Wahrheit ausgeht. Jeder Skeptizismus beruht
letzten Endes darauf, daß man willkürlich ein Ziel annimmt
und hinterher beweist, daß man es nicht erreichen kann.
In diesen Fehler ist vor allem die Sprachkritik verfallen. Es
gibt keine Wahrheit, die existiert, und die wir nicht erreichen
können, sondern es gibt nur den Willen, die Wahrheit zu
schaffen. Die Trennung zwischen Beschreibung und Erklä-
rung bleibt bestehen, weil ein Gegensatz der historischen
und der naturwissenschaftlichen Aussage bestehen bleibt.
Die Handlung kann man durch den Willen unmittelbar be-
schreiben, aber man kann sie nicht erklären, nicht mittelbar
beschreiben als ein zeitloses Geschehen. Man kann beschrei-
bend sagen, daß ein Individuum eine Gleichheit oder Ähn-
lichkeit sieht. Man kann aber hier nichts als allgemeine
zeitlose Gesetzmäßigkeit beschreiben. Soweit etwas ein Urteil
ist, ist es Beschreibung, der Gegensatz des Wahrnehmungs-
und des Erfahrungsurteils bleibt aber bestehen. Das erste
ist die psychologisch-historische Erkenntnis, aus der sich
die objektive Naturwissenschaft herausbildet. Mit der Be-
schreibung als zeitlose Tatsache ist ein Phänomen erklärt,
wenn auch diese Zeitlosigkeit nur der Gegenstand unserer
Konstruktion ist. Das psychische Phänomen, das ich be-
schreiben kann, wird verstanden, wenn der Betrachter selbst
die Tat des andern Subjekts nacherleben kann. Aber nur
dann kann er überhaupt die Tat als Willen beschreiben.
Er sieht ihn nicht als die vorangehende Ursache, sondern er
Strich, Prinzipien. 20
— 306 —
erlebt intuitiv die Beziehung. Das historische Faktum ver-
stehe ich, oder ich verstehe es nicht. Das zeitlose Faktum
kann man nie verstehen, aber es kann den Einzelfall er-
klären.
Der Psychologe entdeckt intuitiv eine Gleichheit oder
Ähnlichkeit. Der Naturwissenschaftler muß aber den Zu-
sammenhang erst durch die isolierende induktive Erfahrung
konstruieren. Die Gesetze der Naturwissenschaft sind auch
Beschreibungen, aber trotzdem Lösungen eines Problems.
Sie entdecken durch Forschung einen an sich unbekannten
Zusammenhang. Für den Psychologen trifft dies in demselben
Sinne nicht zu. Auch hier gibt es Problemlösungen, aber den
Ausschlag gibt allein die Intuition und nicht die Beob-
achtung der "Welt. Ganz primitiv und typisch liegt es so,
daß man einen Gegenstand sehr genau kennen muß, um alle
möglichen Bestimmtheiten zu wissen, die für ein Individuum
maßgebend sein können. Ich kann eine Zusammengehörig-
keit von Tendenzen mit Zwecken intuitiv entdecken, auf
die ein anderer nicht nur nicht gekommen wäre, sondern
die er vielleicht auch jetzt noch nicht zugibt, weil er die Welt
nicht so vielseitig erleben kann. Der Unterschied zur Natur-
wissenschaft liegt darin, daß mir die Natur gezwungen den
Zusammenhang der Phänomene offenbart, nämlich durch
die Isolierung der Erscheinungen, deren Typus das Experi-
ment ist. Diese Erfahrung ist in der Psychologie ausgeschlos-
sen, weil sie nicht von der Idee der allgemeinen Kausalität
der Substanz oder des Raums ausgehen kann. Eine Asso-
ziation ist mir entweder intuitiv verständlich oder nicht.
Entweder ich erlebe den Zusammenhang in der Gleichheit
oder nicht. Der Naturwissenschaftler aber müßte erst den
Zusammenhang konstruieren, und zwar deswegen, weil er
von der Idee der Kausalität ausgeht. Für ihn ist alles, was
in einem Moment da ist, Ursache für den folgenden oder
umgekehrt: jeder Moment ist die Resultante des vorher-
gehenden. Seine Aufgabe ist es, die Resultante in die Kom-
— 307 —
ponenten zu zerlegen, die Wirkungen im Raum zu isolieren
und die Abhängigkeit des Geschehens von den einzelnen Fak-
toren festzulegen. Für die Psychologie ist dies unmöglich.
Eine Bestimmtheit des Gegenstandes bedingt die Asso-
ziation; andere können vorübergehen, ohne in den Zusammen-
hang einzugreifen. Das Psychische ist keine gesetzmäßige
Veränderung einer Substanz im Raum, sondern ein intuitiv
nacherlebbarer historischer Teilzusammenhang. Man kann
keinen Moment als Resultante des vorhergehenden auffassen,
nur dann aber würde eine Kausalität bestehen, nur dann wäre
es notwendig, den Zusammenhang durch Isolation zu ent-
decken. Nur wenn mehrere Ursachen in die Gesamtfolge ein-
gehen, muß die spezielle Abhängigkeit durch induktive Erfah-
rung konstruiert werden. Psychologisch aber ist die isolierende
Erfahrung nicht nur unnotwendig, sondern ohne die Intui-
tion ist eine Erkenntnis unmöglich, wie mein Naturerfahren
nicht ohne meine intuitive Erkenntnis möglich ist. Die Gravi-
tation im Raum bewirkt nicht, daß sie erkannt wird. Keine
Wahrnehmung bewirkt eine Erkenntnis. Das Erfahren des
Raums ist nur durch die Intuition psychologisch möglich.
Das Leben des andern Menschen ist aber auch ein Erfahren
seiner Welt. Will ich also sein Erfahren psychologisch ver-
stehen, so muß ich auch seine intuitive Erkenntnis wissen.
Wenn ich den andern Menschen verstehen will, muß ich die
Welt intuitiv so erkennen, wie er es tut. Ein Verstehen seiner
Assoziation bedeutet ja gar nichts anderes als eine besondere
intuitive Erkenntnis der gemeinsamen Welt. Die psycholo-
gische Erkenntnis ist subjektive Welterkenntnis. Ich muß die
Welt als Inhalt der andern Monade intuitiv erkennen, wie ich
sie als meinen Inhalt intuitiv erkenne. Ich muß sein Erfahren
nacherleben können.
Psychologisch kann der Zusammenhang nur intuitiv
entdeckt werden, weil es keine Komponenten oder keine
elementaren Prozesse gibt. Es ist eine Frivolität, wenn die
exakten Psychologen sich mit den Physiologen vergleichen
20*
— 308 —
und behaupten, daß sie zunächst die elementaren Pro-
zesse studieren, um später daraus die komplizierten zu er-
klären. Es kann gar keinen elementaren Prozeß in der Psy-
chologie geben. Diese Annahme besteht nur dort zu Recht,
wo ein Phänomen als Resultat des ganzen vorhergehenden
Moments, der vorhergehenden Substanzkonstellation auf-
gefaßt wird. Wie der Naturwissenschaftler denkend die Be-
wegung der Kanonenkugel zerlegt, um die ungefähre Parabel
als Resultante zu bestimmen, so zerlegt er auch denkend
jedes Geschehen in elementare Prozesse. Er bestimmt den
Einfluß der einzelnen Faktoren als durch sie hervorgerufene
Veränderungen, was also ohne den Faktor sein würde, und
wie die Komplikation durch ihn zustande kommt. In der
Psychologie hat aber das Komplizierte entweder nur einen
historischen Sinn oder den des von der Norm Abweichenden.
Es steht nicht im Gegensatz zum Elementaren, sondern
zum Primitiven. Bekanntlich ist man hier oft argen Irrtü-
mern ausgesetzt. Was in der logischen Analyse das Primi-
tive zu sein scheint, kann historisch, und man kann sagen:
ist meistens das Sekundäre. Wir zeigten, daß das Erlebnis
der Individualität sich aus dem des Allgemeinen erst heraus-
entwickelt. Ebenso möchte man vermuten, daß der Begriff
der Einheit der ursprüngliche ist, oder daß das Zählen an-
fängt mit einer Abstraktion von der Qualität des gezählten
Gegenstandes. In Wahrheit liegt dies aber umgekehrt. Es
ist anzunehmen, daß etwa 5 Schafe ursprünglich vielleicht
2 Kühen gleichgesetzt werden, während es dem primitiven
Menschen wohl gänzlich unverständlich sein würde, daß
5 Schafe und 5 Kühe nur irgend eine Gleichheit haben sollten.
Von Elementarprozessen, die ein Geschehen aufbauen, kann
in der Psychologie gar keine Rede sein, weil der Begriff der
Veränderung durch eine Ursache fehlt. Veränderung ist
nur im Raum möglich, wo eine Konstellation als gegeben
angenommen und nun die Veränderung durch Ursachen be-
gründet wird. Der neue Moment in der Psychologie ist aber
— 309 —
ein neuer Teil der Realität und keine Veränderung einer da-
seienden Wirklichkeit.
Die Psychologie untersucht z. B. das Gedächtnis. Sie stellt
fest, wie das Behalten erfahrener Inhalte variiert nach der
Zahl der Wiederholungen im Zeitzwischenraum, nach der Art
der Inhalte, je nachdem ob es sinnvolle Silben oder sinnlose,
unrhythmische oder rhythmische Reihen usw. sind. Hierbei
handelt es sich um eine Beschreibung von Abhängigkeiten,
aber um keine Konstruktion oder Zerlegung in Ursachen, um
keine Erklärung. Gerade darin aber liegt die Aufgabe der
Naturwissenschaft durch isolierende Erfahrung. Die Ab-
hängigkeiten, die der Psychologe beschreibt, bedeuten keine
Komponenten eines komplizierten Vorgangs. Der Psycho-
loge kann gar nicht erfahren wollen, was ein spezielles Phä-
nomen für einen Vorgang bedeutet. Er beschreibt, daß das
rhythmisch Gelernte besser behalten wird als das Unrhyth-
mische. Dies ist die Beschreibung zweier verschiedener Vor-
gänge, die man unmittelbar kennen gelernt hat. Es sind
ihrem Sinne nach zwei verschiedene Wahrnehmungsurteile.
Zu dieser Feststellung gehört genau so wenig eine natur-
wissenschaftliche isolierende Erfahrung wie dazu, daß ich
jetzt einen grauen Gegenstand sehe und jetzt einen roten.
Ich beschreibe beide Male Erlebnisse. Ich habe diese Silben
behalten und diese nicht. Der Naturwissenschaftler würde
etwa so erfahren: auf A tritt B ein, auf G, D. Abgesehen da-
von, daß diese Abhängigkeiten schon erfahren worden sein
müssen, stünden die beiden Tatsachen vollkommen zusam-
menhangslos nebeneinander, wenn man nicht A und G als
einen Komplex von Bedingungen auffassen würde, aus
deren speziellen Einflüssen B und D als Resultate sich er-
geben. Man hätte also nachzuweisen, daß C ein Komplex
wäre aus A und E. Geht man nun davon aus, daß A immer
B und nicht D zur Folge hat, so wird der Grund, daß auf G
nicht B, sondern D erfolgt, eben in E zu suchen sein. Dieses
Schema der empirisch-naturwissenschaftlichen Erfahrung be-
— 310 —
steht nun in der Psychologie niemals, und dies liegt daran,
daß es sich niemals um einen Komplex von Bedingungen,
sondern nur um ,, andre" Bedingungen handelt. Erst der
Komplex macht aber die naturwissenschaftliche Erfahrung
möglich oder notwendig. Sie besteht in nichts anderm als
in der Auflösung der Komplexe, deren idealster Fall die ganze
momentane Konstellation der Welt ist. Die psychologische
Erfahrung wäre in unserm Fall etwa naturwissenschaftlich,
wenn man die rhythmische Reihe als Komplex von Silben
und Rhythmus kennen lernen würde und davon ausginge,
daß das eine Element die Veränderung der sonst kennen ge-
lernten Phänomene bedinge. Unser Beispiel liegt aber in
Wirklichkeit gar nicht anders, als wenn ich konstatieren würde,
daß ich jetzt einen roten und vorhin einen grauen Gegen-
stand gesehen habe. Die Bestimmtheit ,,grau" ist keine Ur-
sache, die das Erlebnis des Roten verändert, es ist nur ein
anderes Erlebnis. Zu dieser Feststellung gehört keine Er-
fahrung im Sinne der Naturwissenschaft, keine Isolierung und
Entdeckung eines Zusammenhangs. Man analysiert keinen
Komplex von Bedingungen. Genau so bestimmt man eine
Reihe unmittelbar als rhythmisch, die andere als unrhyth-
misch und stellt fest, was man von ihnen behalten hat. Die
rhythmische Reihe ist ein anderer Inhalt, aber kein Komplex
aus der unrhythmischen Reihe und dem Rhythmus. Ebenso-
wenig ist es eine Bestimmtheit, die sich etwa der Größe der
Masse vergleichen ließe. Auch diese ist nicht von der Masse
zu isolieren. Trotzdem gehört die konstruktive Erfahrung
dazu, um die Abhängigkeit der Anziehung von ihr festzu-
stellen. Diese Abhängigkeit ist eine Entdeckung, das Werk
einer Tat. Wie das Gedächtnis nach den Inhalten variiert,
ist demgegenüber eine Erzählung, eine Geschichte des Sub-
jekts oder die von den Erlebnissen mehrerer Subjekte. Denn
auch bei der Gravitation handelt es sich um die Auflösung
eines Komplexes in das qualitative Phänomen und die Größe.
Es muß erst der Faktor gefunden werden, zwischen dem die
— 311 —
Abhängigkeit besteht, während der Rhythmus als Bestimmt-
heit genau so gegeben ist wie Farbe oder Ton. Von dem Sinn
der Gegebenheit war oben die Rede. Es ist auch möglich,
daß ein Betrachter die Verschiedenheit der beiden Reihen
nicht bemerkt. Der Rhythmus erklärt mir kein Phänomen.
Man kann nur beschreiben, wie die Erlebnisse behalten oder
vergessen werden.
Die naturwissenschaftliche Beschreibung ist deswegen
dem Einzelfall gegenüber eine Erklärung, weil die an sich
unbekannten Abhängigkeiten dadurch aufgedeckt werden.
Der Psychologe aber kann nur unmittelbar erlebte Abhängig-
keiten konstatieren, die jeder nacherleben kann oder muß,
wenn er sie verstehen will. Er kann nicht durch die isolie-
rende Erfahrung den Einfluß eines speziellen Faktors auf
die Veränderung bestimmen. Er zerlegt nicht das Geschehen,
sondern er kann nur den unmittelbaren Zusammenhang be-
schreiben. Sein Gesetz kann niemals etwas an sich Unbe-
kanntes erklären, weil er gar nicht die Möglichkeit hat, durch
die isolierende Erfahrung eine unbekannte Ursache als Tat-
sache nachzuweisen. Für ihn gibt es kein Plus, sondern nur
ein Anderssein des Erlebten. Darum sind alle seine Gesetze
nur Beschreibungen und keine Erklärungen. Man kann die
optischen Täuschungen nicht erklären, man kann keine Fak-
toren nachweisen, die etwas bewirken, sondern man kann
auch sie nur intuitiv verstehen. Man interpretiert das Den-
ken. Man behauptet z. B. — ich lasse die Richtigkeit der
Meinung dahingestellt — , daß wir uns durch die erschwerte
oder erleichterte Bewegung des Auges über die eigentlich mit
dem Auge durchlaufene Strecke täuschen lassen. Diese Er-
klärung gründet sich also auf die nacherlebbare Tatsache,
daß wir die Welt beurteilen nach der Anstrengung, die zum
Erfahren nötig ist. In keinem Fall aber hat man etwas
naturwissenschaftlich erklärt. Man hat intuitiv eine Bezie-
hung erfaßt, die uns das Phänomen verständlich macht,
weil wir sie nacherleben können. Man hat keine Ursache ent-
— 312 —
deckt, die für uns völlig unverständlich etwas bewirkt. Nicht
eine Tatsache jenseits von Sinn und Unsinn wird entdeckt
und erklärt den Zusammenhang, sondern wo auch immer
ein solcher aufgewiesen wird, wird er intuitiv verstanden.
Der Psychologe entdeckt nie verborgene Ursachen, sondern
er muß suchen, den Zusammenhang der Phänomene intuitiv
zu erfassen oder zu interpretieren.
Darum kann der Psychologe auch bei dem Wahrneh-
mungsurteil stehenbleiben. Jede individuelle Erfahrung ist
als solche intuitiv. Eine Konstruktion des allgemeinen Er-
fahrungsurteils ist für den Psychologen unmöglich, aber auch
unnotwendig, weil er den Einzelfall intuitiv versteht und ihn
nicht nur als eine allgemeine, aber unverständliche Tatsache
nachzuweisen braucht. Der Naturwissenschaftler stößt nie
auf einen Grund der Erscheinung, sondern nur auf die all-
gemeine Tatsache. Der Psychologe aber sucht nur nach
Gründen. Jene Erschwerung der Bewegung ist ein Grund
des Urteils, aber keine Ursache für eine Erscheinung. Der
Psychologe versteht alles als begründete Taten des Subjekts,
soweit er überhaupt den Zusammenhang erkennt und nicht
nur individuelle Tatsachen berichtet. Der Naturwissenschaft-
ler konstruiert nur Gleichheiten des Geschehens. Gewiß gibt
es auf dem Gebiet der Sinnesempfindung auch sinnlose
Zusammenhänge. Dahin gehört etwa die Erscheinung des
optischen Nachbildes. Hier hört aber auch das psychologische
Begreifen auf. Der Psychologe führt den Einzelfall nicht auf
ein Geschehen zurück, das in der allgemeinen Substanz
immer vorkommt, sondern das Phänomen existiert für die
Erkenntnis überhaupt nur in dem Individualsystem, und
folglich auch der Zusammenhang. Es ist darum für das Ver-
ständnis völlig gleichgültig, ob dieser Zusammenhang in
einem, in zwei oder in tausend Individuen vorkommt. Weil
er in tausend Individuen vorkommt, deswegen ist er in
einem System noch nicht erklärt. Es ist logisch verständlich,
daß ein Element Radium so wirkt wie das andere, weil
— 313 —
die Natur „ein" System ist. Auf dieselbe Weise ist die
Wiederholung einer Assoziation verständlich, weil das Gleiche
in demselben System die gleiche Folge hat. Aber deswegen
ist doch nicht von einer „objektiven" Kausalität zu sprechen,
weil die Gleichheit nur in dem Individualsystem existiert und
die Folge immer eine Auswahl unter Möglichkeiten bedeutet.
Wir erkennen das Individuum und nicht eine psychische
Welt, die empirisch überhaupt nicht existiert. Das Asso-
ziationsgesetz ist kein Naturgesetz, das unter den logischen
Begriff der Kausalität fällt, sondern es ist höchstens eine Form
des Kausalitätsprinzips selbst. Es sagt nur, daß das Gleiche
in demselben System mit dem Gleichen verbunden ist. Man
muß erst wissen, was das Individuum gleichsetzt, um dann
seine Taten zu verstehen. Das Assoziationsgesetz erklärt ein
Phänomen genau so wenig wie das Kausalitätsgesetz. Es
schreibt nur vor, nach den Gleichsetzungen des Subjekts
und nach den Assoziationen zu suchen, die sich in seiner
Geschichte herausgebildet haben. Diese Gleichheiten muß
man intuitiv erfassen, die Geschichte muß man kennen. Der
Psychologe erkennt das Individuum, der Naturforscher die
Natur. Das Psychische ist die subjektive Erfahrung und seine
Verwertung. Gerade in der Loslösung von diesen vielen
subjektiven Welten besteht der Sinn der Naturwissenschaft,
die Konstruktion der „einen" Natur. Darum ist der Gedanke
des psychologischen allgemeinen Gesetzes unlogisch. Das Vor-
kommen der optischen Täuschung bei allen Individuen erklärt
nicht im mindesten die Meinung des einzelnen. Diese kann
nicht aus einem allgemeinen Gesetz der psychischen Welt
erklärt werden, sondern kann nur aus den Erfahrungen
jedes einzelnen Individuums verstanden werden. Genau so
liegt es etwa bei dem Fechnerschen Gesetz. Die Tatsache,
daß das Allzuähnliche miteinander verwechselt wird, kann
man nicht erklären. Jede Gleichsetzung ist eine Tat des
Individuums, die ich von mir aus selbst verstehen kann
oder nicht. Eine abnorme Unterscheidungsfähigkeit ist
— 314 —
ebenso unverständlich wie der abnorme Mangel dieser Mög-
lichkeit. Die Erkenntnis des Zusammenhangs aber beruht
erst auf der Annahme einer solchen subjektiven Gleichheit.
Die Tatsache, daß bei der Wahrnehmung von Größen der
Umkreis des Ähnlichen mit der Größe selbst wächst, kann
ebenso nur intuitiv erkannt werden. Mehr aber sagt das
Fechnersche Gesetz nicht. Daß das bei allen Individuen
vorkommt, erklärt nicht das Urteil des einzelnen.
Bevor man nach einem Zusammenhang sucht, muß man
wissen, was erlebt wird. Aber diese Bestimmung ist selbst
schon die Konstatierung eines historischen Zusammenhangs
des Individualsystems. Es ist gleichgültig, ob sich dabei
die Bestimmung auf eine qualitative Bestimmtheit, ein soge-
nanntes Element bezieht, oder auf einen bestimmten Komplex
von solchen. Das Psychische läßt sich nicht bestimmen als
Ausschnitt einer Substanz, sondern nur als historische Reihe.
Das Problem des Allgemeinen ist unlösbar, weil man den
Moment als Raum bestimmen will und nicht als Teil des
Zeitsystems. Ich kann nicht von meiner Bestimmung der
Welt dabei ausgehen. Ich kann nicht das Empfindungs-
element als unmittelbar gegeben ansehen und alles andere
durch Assoziation entstehen lassen. Wenn jemand einen
Tisch sieht, so bestimme ich einen spezifischen Komplex
von Bestimmtheiten als gleich mit vergangenen Komplexen.
Der Tisch ist keine Vorstellung, die durch objektiv gegebene
Elemente reproduziert wird. Wenn das Kind den Stuhl
als Tisch bezeichnet, so ist es falsch zu sagen, daß die Wahr-
nehmung des Stuhls die Vorstellung Tisch reproduziert hat.
Denn der Stuhl braucht eben nicht erlebt worden zu sein.
Es kann unmittelbar für das Bewußtsein ein Komplex
existieren, der eben vielen vergangenen gleich ist, ohne daß
er sie reproduktiv erweckt, genau so wie ein Lichtreiz nicht
eine Farbe reproduziert, sondern eine Farbe bedingt, die einer
vergangenen gleich ist. Erst durch diese Gleichheit der
Komplexe wird mir eine mögliche Assoziation verständlich.
— 315 —
Auf dieser Gleichheit, die sich nur intuitiv erfassen läßt,
beruht das Verständnis des Psychischen. Die Verallgemei-
nerung bezieht sich zunächst nur auf das Individualsystem.
Jede Vorstellung, mag auch ihr Inhalt eine einzelne Farbe
sein, läßt sich bestimmen nur als Vorstellung eines Allge-
meinen und nicht als individuelles Element. Genau so wenig
gibt es individuelle Willenselemente. Die Anlage, die Dis-
position, der Trieb, die Tendenz, alles dies entspricht dem
Begriff, der im Individualsystem als Erlebnis des Allgemeinen
existiert, bevor es Worte gibt. Wir können die Erlebnisse
nur wegen ihrer Gleichheit in dem Individualsystem zusam-
menfassen. Dasselbe trifft für den Willen zu. Es ist seltsam,
daß man die Möglichkeit einer Allgemein-Vorstellung leugnet
und die Anlage oder Disposition für korrekt hält. Das Denken
läßt sich nicht erklären, weil die historische Gleichheit der
Inhalte nicht erklärt werden kann, weil das Bewußtsein
kein Raum ist. Es gibt nur Allgemeinvorstellungen, näm-
lich Wiederholungen in dem Zeit System. Es gibt aber kein
Ding Allgemeinvorstellung neben andern Vorstellungen, das
sich womöglich erst später bildet. Das individuelle Element
ist ein Nonsens. Auch hier bedeutet das logisch Primitive
historisch das Sekundäre. Der Komplex von Bestimmt-
heiten ist das Primäre. Die Elemente verschmelzen nicht zu
Vorstellungen, sondern die Vorstellung wird höchstens in
Elemente zerlegt. Die Sonderung in einzelne Bestimmt-
heiten ist das Sekundäre. Die Vorstellung als sinnliches
Erlebnis ist jederzeit Allgemeinvorstellung. Erst das Denken
konstituiert die Individualität. Es liegt also gerade umge-
kehrt, wie es die Elementarpsychologie oder der Nominalis-
mus darstellt. Es läßt sich eben nur das historische Subjekt
beschreiben, das sinnlich immer etwas Allgemeines erlebt,
und nicht der Inhalt des momentanen Bewußtseins als Teil
eines in der Zeit existierenden Raums. Nur weil das Er-
lebnis in dem System etwas Allgemeines ist, läßt sich die
Assoziation verstehen. Dieses Allgemeine erklären wollen,
— 316 -
wäre gleichbedeutend damit, daß man die Gleichheit der
Masse erklären wollte. Die Naturwissenschaft gründet sich
auf die Gleichheit des Raumteils, die Psychologie auf die des
Zeitteils. Darum gibt es kein Problem der Allgemeinvorstel-
lung als eines ableitbaren Phänomens.
Genau so lassen sich die Handlungen nur aus allgemeinen
Tendenzen verstehen, die auch nicht Dinge im Bewußtsein sind.
Der Begriff und der Wille haben nur Sinn, wenn man von dem
historischen Subjekt ausgeht und nicht von dem momentanen
Inhalt des Bewußtseins. Ohne diesen Ausgangspunkt ist aber
überhaupt keine psychologische Erkenntnis möglich. Daß
dieser Mensch sich über Tierquälerei ärgert, ist ein Gesetz
dieses Systems, das uns die einzelnen Handlungen verständlich
macht. Es kann durch ein allgemeineres vielleicht begründet
werden, bis man zu dem letzten gelangt, das man den Charak-
ter des Individuums nennt. Diese Begründung ist nur als
Intuition möglich. Die Willenstendenzen verstehe ich ent-
weder von mir aus oder ich verstehe sie nicht. Ein Lustmord
ist vielleicht den meisten Individuen unverständlich. Der
Psychologe aber hat auf Grund seiner vermeintlichen Gesetze
nichts vor ihnen voraus. Er kann den Fall nicht aus psy-
chischen Gesetzen erklären. Der bessere Psychologe kann
aber vielleicht Beziehungen entdecken, die auch dem andern
verständlich sind, wenn er auf sie hingewiesen wird. Immer
aber kommt es auf das Individualsystem an. Nur dieses
kann ich erkennen. Gesetze der psychischen Welt sind
unlogisch, weil es gar keine solche Welt gibt. Erst die
wertende Vernunft konstituiert den objektiven Geist, eine
psychische Welt, deren Gegenstand die Kultur ist.
Der bessere Psychologe ist der differenziertere Mensch.
Die Differenzierung besteht in der Freiheit von den
eigenen Auffassungen der Welt, die sich in den meisten
Fällen des normalen Lebens mit den üblichen oder allge-
meinen decken werden. Das Gefühl der Angst ist in
vielen Fällen selbstverständlich, weil es normal oder ein
- 317 —
Symptom des eigenen Lebens ist. Dies können wir aber nicht
in allen Fällen behaupten. Das Seelenleben des Kindes ist
häufig so schwer verständlich, weil es noch nicht normal ist.
Wir haben die Welt der andern Monade zu verstehen. Im
praktischen Leben aber entwickelt sich schon eine gewisse
Gleichheit der Menschen wegen der gleichen Lebensbedingun-
gen und des notwendigen sozialen Verkehrs. Diese Gleich-
heit drückt sich vor allem in der Sprache aus. Wir wundern
uns nicht, wenn jemand den Gegenstand als Tisch erlebt
oder bezeichnet, den wir selbst so erleben. Das Kind aber
lernt erst die soziale Einstellung, die Anpassung seiner Welt
an die anderen, die sich selbst durch die Praxis entwickelt
haben. Ursprünglich kann es wohl die Worte der Sprache
benützen, aber sie können einen spezifischen Sinn haben,
der zunächst nur für das Kind gilt. In diesen Fällen kommt
man mit der eigenen Stellung zu der gemeinsamen objektiven
Welt nicht mehr aus. Man muß sich also von der eigenen Auf-
fassung, die für gewöhnlich die allgemeine ist, freimachen,
weil das Kind noch anormal ist. Natürlich ist das Normale
aber ein ganz schwankender Begriff. Man kann sagen, daß
einem jeden psychologisch nur das problematisch ist, was
von ihm aus anormal ist, was sich mit seiner Welt, mit
seinem Leben nicht deckt. Ein Mensch, der sich von seinen
eigenen Anschauungen nicht freimachen kann, muß des-
wegen ein schlechter Psychologe sein. Man muß einsehen,
daß die eigene Welt nur subjektiv ist, solange es sich nicht
um eine objektive Erkenntnis der Welt handelt, daß jede
Einheitsformung im praktischen Leben nicht auf Wahrheit
beruht, sondern nur eine subjektive Tat ist. Soweit sie wirk-
lich praktisch ist, wird sie das Normale sein, weil das Leben
Anpassung ist. Umgekehrt kann man von dem Normalen auf
eine Zweckmäßigkeit unter irgend einem Gesichtspunkt
schließen, wenn es auch von einem andern Standpunkt
aus unzweckmäßig sein kann. Für den Psychologen kommt
es nur darauf an, den andern zu verstehen. Decken sich
— 318 —
die Anschauungen, so ist dies nicht schwer. Im andern Fall
wird uns das Leben problematisch. Selbstverständlich muß
hierbei die ethische Bewertung vollkommen ausgeschaltet
werden. Es soll hier auch keineswegs der Satz verteidigt
werden: Alles verstehen, heißt alles verzeihen. Er bedeutet
gerade die Negation einer ethischen Bewertung. Die psycho-
logische Erkenntnis aber kann nicht weiter kommen, als
alles zu verstehen. Von dem normalen Menschen aus bedeutet
das eine Freiheit von dem Allgemeinen, soweit er nämlich
mit ihm übereinstimmt. Vermag man nicht die Dinge von
einem andern Standpunkt aus zu sehen, kann man auch nicht
den andern verstehen. Man muß die Vielseitigkeit der Gegen-
stände und ihre darauf begründete Verwandtschaft intuitiv
erfassen können, auch ohne daß sie für das eigene Handeln
maßgebend ist. Darin besteht die Differenzierung der eigenen
Persönlichkeit. Diese setzt immer ein Allgemeines voraus,
das sich differenziert. Man muß hier aber unterscheiden.
Wir sprechen etwa von einem differenzierten Farbensinn.
Damit ist eine Unabhängigkeit von einer allgemeinen Ein-
heitsform gemeint, die sich auf das rein optische Unterschei-
den und auf die Gefühlswirkung beziehen kann. Ein undiffe-
renzierter Farbensinn hat etwa eine allgemeine Stellung zu
einer bestimmten Qualität. Ein differenzierter Geschmack
kennt nicht die bestimmte Farbe. Daraus folgt übrigens schon
die Unfruchtbarkeit der meisten ästhetisch-experimentellen
Untersuchungen. Es ist ganz zwecklos, Urteile über eine Farbe
zu registrieren. Eine Farbe eignet sich vielleicht für eine
Krawatte und ist für eine Tapete höchst ungeeignet. Als
Krawatte kann sie zu einem Anzug passen, zu dem andern
nicht. Dem einen Menschen steht sie, dem andern nicht.
Aber auch das reine Proportionsverhältnis der Flächen macht
hiervon keine Ausnahme. Es bedingt einen gewaltigen Unter-
schied, wo und wie ich den Körper sehe. Ein seinem eigenen
Sinn nach aufrecht stehender Gegenstand ist etwas anderes
als ein liegender usw. Schon im rein persönlichen Leben
■ )
19
kann also eine Differenzierung von dem Allgemeinen als dem
erlebten Gegenstand eintreten, die auf eine immer weiter-
gehende Individualisierung der Momente drängt. Diese Dif-
ferenzierung kann nun ihrerseits ein Abweichen von dem
Allgemeinen im Sinne des Normalen bedeuten. Die Differen-
zierung, die für den Psychologen notwendig ist, bedeutet
aber nur die Möglichkeit, die Welt überhaupt anders zu sehen,
als sie für das eigene Ich existiert. Die gemeinsame Welt
ist nur die gedachte Wirklichkeit, die erlebte ist unmittelbar
verschieden. Ein Gegenstand ist für mich etwas ganz Be-
stimmtes; er ist in meinem System sofort einer Allgemein-
heit untergeordnet. Diese existiert zunächst nur für mich,
wenn sie auch für Millionen von andern existieren kann.
Sie braucht aber für ein Individuum nicht zu existieren.
Die Folge der Erlebnisse in ihm kann ich, so wie ich den Ge-
genstand sehe, nicht verstehen. Ich muß vielmehr den Gegen-
stand — der natürlich kein Körper im Raum zu sein braucht,
sondern irgend eine Tatsächlichkeit der Welt sein kann —
so erleben können wie das betreffende Individuum. Dies
bedeutet eine mögliche Differenzierung der Persönlichkeit.
Sie gilt natürlich sowohl für den Intellekt wie für den Willen.
Man kann die anormale Sexualität nicht verstehen durch
eine Sammlung beobachteter Tatsachen. Fragt man nach
einem Zusammenhang, so verläßt man sich entweder auf das
Selbstbewußtsein, die Aussage des Individuums oder auf
seine eigene Intuition. Auch hier läuft es darauf hinaus, daß
dem guten Psychologen mehr von der Welt im Allgemeinen
bewußt werden kann als dem schlechten. Dem Psychologen
darf nichts Menschliches fremd sein. Aber er erfährt dieses
Menschliche nur in seiner Welt. Den andern „sehe" ich
wohl, aber ich kann ihn nur durch meine Welt verstehen.
Ich sehe seine Bewegungen, seine Werke, aber nicht seine
Motive. Ich höre seine Worte, aber nicht die Gleichheiten
oder die Formen, in denen er seine subjektive Welt ordnet.
Ich kann ihn nur verstehen, wenn ich als Monade in meiner
— 320 —
Welt die Möglichkeit seiner Welt erlebe. Ich kann aus einem
Lehrbuch erfahren, daß ein Fall häufig vorkommt. Da-
mit würde ich ihn aber noch nicht verstehen. Er bliebe
mir völlig rätselhaft. Die Tatsache, daß ein Lustmord oft
vorkommt, erklärt den einzelnen Fall in keiner Weise. Frei-
lich ist damit nicht gesagt, daß man selbst zum Lustmord
neigen muß. Aber die psychologische Erkenntnis beruht auf
der Idee einer Gleichheit der Monade. Der Standpunkt des
Solipsismus ist für die Psychologie völlig berechtigt. Die
Monade hat keine Fenster. Dies gilt auch für die Erfahrung
des andern Menschen. Jede Erkenntnis des andern beruht
auf einer Gleichheit mit mir. Dies besagt die alte Weisheit
des Empedokles, daß das Gleiche nur vom Gleichen erkannt
wird. In Wahrheit sind aber die Monaden verschieden. Ist
diese Verschiedenheit absolut, so ist eine Erkenntnis ein für
allemal ausgeschlossen. Darin kann die Unmöglichkeit
liegen, den Instinkt der niedern Tiere nachzuerleben. Wir
brauchen nicht einmal die Qualitäten zu kennen, in denen
ihnen die gemeinsame Wirklichkeit bewußt wird. Würden
wir die historische Welt der Wespe kennen, d. h. würden wir
selbst eine Wespe sein können, so würden wir vielleicht
ihre Handlung verstehen oder miterleben können. Kein
Lehrbuch der Psychologie kann mir etwas erklären, was
ich nicht verstehe, sowie ich es aber verstehe, ist die Gleich-
heit hergestellt. Ich entdecke in meiner Welt den unmittel-
baren Zusammenhang. Nur soweit eine Gleichheit besteht,
existiert eine Brücke zwischen den Monaden. Es ist eine
Forderung für den Psychologen, nicht auf dem solipsistischen
Standpunkt stehenzubleiben, nicht seine Welt für die Welt
zu halten. Seine Welt existiert nur als sein formendes Er-
lebnis, als sein Wille. Er muß aber aus dem gegebenen Chaos
auch die Möglichkeit anderer Formungen, anderer Reaktionen,
anderer Tendenzen einsehen.
Ich bin daraufgefaßt, daß man dies alles für die Menschen-
kenntnis zugeben wird, der Psychologie als Wissenschaft
— 321 —
aber ganz andere Probleme zuweist. Unsere ganze Unter-
suchung aber hat gar keinen andern Zweck, als diesem Ein-
wand zu begegnen, d. h. die Möglichkeit einer andern psycho-
logischen Erkenntnis, als es die Menschenkenntnis ist, zu
widerlegen. Es kann hier nur ein Entweder-Oder geben.
Ich sehe keine Möglichkeit, das Verständnis der lebenden
Persönlichkeit als Erkenntnis bestehen zu lassen und da-
neben eine andere Möglichkeit der Erklärung des Psychischen
zu behaupten. Meinetwegen mag man dies Verstehen als
„unwissenschaftlich" bezeichnen. Dann gibt es dem Namen
nach überhaupt keine wissenschaftliche Psychologie. Jede
Geschichte, die nach Motiven sucht, die das Wollen einer
Zeit verstehen will, ist dann unwissenschaftlich. Absolut
leugne ich aber, daß eine andere Fragestellung überhaupt
möglich ist. Ich leugne, daß das Leben in einen Gegenstand
umzudenken ist, der nun plötzlich nicht mehr zu verstehen,
sondern zu erklären ist. Ich vermag nicht einzusehen, wie
die Phänomene, die man versteht, unter einem andern Ge-
sichtspunkt später aus elementaren Gesetzen zu erklären sein
sollen. Ich wüßte aber auch nicht, warum wir sie denn zu
etwas Unverständlichem umbilden sollten. Jede Erklärung
gehorcht dem Zwang der Tatsache, aber sie versteht nichts
mehr. Die allerexakteste Psychologie kann gar nichts anders
tun, sie kann verstehen oder nicht verstehen. Die so gewon-
nenen Erkenntnisse kann sie aber theoretisch falsch darstellen,
weil sie metaphysisch falsch orientiert ist und deswegen ein
falsches Ziel vor Augen hat. Es kann sich nur um ein Ent-
weder-Oder handeln, weil es keine Ausnahmefälle geben kann,
nicht einen Teil der Erlebnisse, der zu verstehen ist, und einen
andern, der zu erklären ist. Sobald die experimentelle
Psychologie nicht einfach Statistik ist, sobald sie überhaupt
nach Zusammenhängen sucht, muß sie verstehen, muß sie
Menschenkenntnis sein. Es besteht logisch kein Unterschied,
ob ich ein Phänomen aus Goethes Leben verstehe oder ein
Phänomen aus dem Leben irgend eines beliebigen Menschen,
S tr ich . Prinzipien. 21
— 322 —
der vor mir im Laboratorium sitzt. Der Unterschied besteht
nur darin, daß Goethe ein Ausnahmemensch ist, oder daß
ich im Laboratorium Phänomene untersuche, die für das
Leben einer größeren Anzahl von Monaden zutreffen. Die psy-
chische Welt kann ich auch dort nicht untersuchen. Es kann
kein Gegensatz innerhalb der Psychologie bestehen. Aber die
historisch deskriptive Psychologie ist die alleinige psycholo-
gische Erkenntnis und nicht die erklärende Elementar-
psychologie. Man vergißt über der Sammlung von mehr
oder minder interessanten Tatsachen die Begründung. Ich
kann alles mögliche lernen und nachher prüfen, was ich be-
halten habe. Das wäre aber nichts weiter als meine Bio-
graphie, über deren Wert und Interesse für andere man
streiten kann. Damit hat man aber kein Phänomen, keinen
Zusammenhang begründet. Die Erinnerung im Moment
kann man aber begründen nur aus der Geschichte dieses
Individuums. Es gibt kein Phänomen, das man anders be-
gründen könnte, man mag es auf der Straße, aus der Zeitung
oder im Laboratorium als Tatsache erfahren. Der Unterschied
besteht nur in der Art der Phänomene, die man untersucht
oder registriert. Ein Unterschied der psychologischen Wissen-
schaft und der allgemeinen Menschenkenntnis kann logisch
nicht existieren.
Psychologisch erklären heißt die Geschichte des Sub-
jekts verstehen aus seinen Erfahrungen und seinem Willen,
letzten Endes aus seinem Charakter, der letzten wertenden
Stellung des Individuums, die den Grenzbegriff der psycho-
logischen Erkenntnis bedeutet. Wie wir aber biologisch
Individuen zu Arten zusammenfassen können, so können wir
dies auch psychologisch. Man muß sich aber immer vor Augen
halten, daß wir durch die Gleichheit der Individualsysteme
das Leben des einzelnen nicht erklären; den Zusammen-
hang erkennt man auch weiterhin nur in dem Individual-
system. Die Systeme hängen nur in der Zeit zusammen
und nicht im Raum. Darin liegt die logische Rechtfertigung
— 323 —
des Darwinismus. Soweit aber die Bedingungen der Systeme
gleich sind, ist eine historisch deskriptive Verallgemeinerung
möglich. Durch das Allgemeine wird der Einzelfall hier nicht
erklärt, sondern im Gegenteil das Allgemeine verstanden aus
dem unmittelbaren Verstehen des Einzelfalls. Es gibt eine
Psychologie des Menschen und des Tieres, des Mannes und
der Frau, des Greises und des Kindes, des Handwerkers
und des Künstlers, des Großstädters und des Bauern, des
Deutschen und des Franzosen, des Ariers und des Semiten,
des Menschen des 16. und des 17. Jahrhunderts, des Melan-
cholikers und des Cholerikers usw. usw.
Man hat gemeint, daß die Völkerpsychologie mit genau
dem gleichen Recht von einer Volksseele spreche wie die
sonstige Psychologie von einem Ich. Beide Male würde nur
den Aktualitätserscheinungen ein Substrat untergelegt. Diese
Meinung ist nicht im geringsten erkenntniskritisch orientiert.
Wir haben nachgewiesen, daß das Ich der Psychologie nur
der Ausdruck für das System ist, innerhalb dessen wir die
Erscheinungen erkennen, also der Gegenstand der Psycho-
logie, wie die Natur der Gegenstand der Naturwissenschaft
ist. Von dieser logischen Bedeutung der Volksseele kann
keine Rede sein. Es kommt nicht darauf an, daß das Ich
als Substrat der Aktualität zugrunde gelegt wird, sondern
daß die Erkenntnis die Phänomene nur innerhalb eines
Individualsystems erkennt. Die Volksseele ist aber kein Sy-
stem, innerhalb dessen wir eine Erscheinung erkennen. Die
Natur oder das Ich sind Systeme, weil wir die Erscheinungen
in ihnen zu Einheiten zusammenfassen, Gleichheiten fest-
stellen und die Wiederholung konstanter Beziehungen nach-
weisen. Erkenntniskritisch ist es völlig ungerechtfertigt,
diesem System die Zusammenfassung der Gruppe zu ver-
gleichen. Der Zusammenhang, auf den es der Erkenntnis
ankommt, existiert weiterhin nur in dem Individualsystem.
Nur in ihm verstehe ich die zeitliche Existenz der Phänomene.
Ob der Zusammenhang sich noch in einem Individualsystem
21*
— 324 —
wiederholt, ist für die Erkenntnis ganz gleichgültig. Nur
auf die Wiederholung in dem Individualsystem selbst kommt
es an. Die Gruppe aber ist kein Gegenstand oder System der
Erkenntnis. Daß alle Menschen an Sublimatvergiftung
sterben, ist keine Erklärung für die Wirkung des Sublimats.
Der Begriff der Einheit des Individuums entspricht der Ein-
heit der Natur und ist logisch etwas völlig anderes als die Ein-
heit der Gruppe. Das eine ist eine transzendentale Idee der Er-
kenntnis, das andere eine historische Verallgemeinerung.
Nur deswegen, weil wir historisch der Entstehung der Sprache
niemals auch nur annähernd nachkommen können, weil
Millionen von Individualsystemen dabei beteiligt sind, ist
die Verallgemeinerung ,,die Sprache" oder ,,das Volk"
praktisch wertvoll und berechtigt. Auch hier ist aber die
Geschichte selbst als Geschehen nur aus den Zusammenhän-
gen im einzelnen System verständlich. Das Ich ist eine notwen-
dige Idee, die Volksseele eine Erleichterung der Geschichte.
Die Wiederholung eines Phänomens in mehreren Indi-
vidualsystemen beweist die Gleichheit der Systeme unter
einem bestimmten Gesichtspunkt. Verstehen tut man es
weiterhin aus dem Individuum. Soweit aber die Erfahrungen
und Willenstendenzen in den einzelnen Individuen gleich
sind, kann man die Erkenntnis verallgemeinern. Man stellt
z. B. fest, daß in wirtschaftlich schlechten Zeiten sich die
Eigentumsdelikte mehren. Diese Statistik führt aber zu
keinem Gesetz, das nun das einzelne Eigentumsdelikt erklärt.
Naturwissenschaftlich läuft allerdings die Erklärung nur
darauf hinaus, festzustellen, was „immer" vorkommt. So
erklärt das Gravitationsgesetz das Fallen des Steins, aber es
macht es nicht verständlich. Wollte man die Statistik für
eine Erklärung halten, so würde man völlig ungerechtfertigt
die psychologische Erkenntnis an einem Punkte abbrechen.
Die Statistik kann und muß verstanden werden, und dies ist
nur möglich durch die Erkenntnis des einzelnen Individuums.
Ich verstehe es, daß ein Mensch stiehlt, der Hunger, aber
— 325 —
kein Geld hat. Ich verstehe es auch, wenn ein Mensch eher
verhungert als stiehlt. Die Statistik beweist mir vielleicht,
daß die ersten sich in überwiegender Mehrheit finden. Ver-
stehen aber tue ich beides nur als Individualpsychologe.
Wenn aber die Menschen als Charaktere gleich sind, und die
Bedingungen oder Erfahrungen, denen ihr Leben ausgesetzt
ist, gleich sind, so ist es nicht wunderbar, daß eine Verall-
gemeinerung möglich ist. Sobald das Phänomen nicht histo-
risch aus dem Leben des Individuums verstanden ist, hat man
gar nichts verstanden. Die Gruppenbildung der Psychologie
ist also nur eine beschreibende Zusammenfassung. Diesen
logischen Wert haben alle psychologischen Gesetze, die aus
einer Untersuchung mehrerer Personen entstanden sind,
d. h. logisch sind sie keine Gesetze, sonst müßte man es auch
ein Gesetz nennen, daß der Maikäfer fliegt oder der Löwe
Fleisch frißt. Man stellt nur fest, daß mehrere Menschen
sich so und so verhalten. Den Grund hat man erst dann,
wenn man dieses Verhalten historisch im einzelnen Individual-
system verstanden hat. Die Erfahrungen der Individuen
können aber gleich sein. Sie sind abhängig von der Zeit,
dem Ort, dem Milieu, dem Beruf, dem Körper usw. usw.,
also von Bedingungen, die für mehrere Individuen gleich
sein können. Wegen dieser gleichen Bedingungen wird auch
das psychische Leben gleichförmig sein. Niemals aber
handelt es sich um „eine" psychische Welt, deren Gesetze
erkennbar sind. Die Psychologie der Gruppe ist der beschrei-
benden Naturgeschichte, der Zoologie und Botanik zu ver-
gleichen, nicht aber einer erklärenden Naturwissenschaft
wie der Physik oder Chemie. Die Psychologie des Menschen
entspricht logisch der Psychologie des Großstädters. Im
ersten Fall umfaßt die Gruppe nur eine größere Anzahl von
Individuen als im zweiten. Mit der zunehmenden Größe
des Gegenstandes nimmt aber auch seine genaue Bestimmt-
heit ab. Die Differenzen werden immer deutlicher. Es ist
Geschmacksache, ob man sich schon bei einer gewissen Regel-
— 326 —
mäßigkeit begnügt oder nicht. Meiner Ansicht nach achtet
die heutige Laboratoriumspsychologie viel zu sehr auf die
plumpen Ähnlichkeiten der Individuen als auf ihre Verschie-
denheiten. Die Abweichungen sind ein viel interessanteres
Problem als die Übereinstimmung. Die Psychologie des
Menschen kann sich nur auf die allgemeinsten Gleichheiten
der Bedingungen beziehen, die etwa durch die Gleichheit
des Körperbaues und der allgemeinsten Lebensbedürfnisse
zustande kommt. Die Psychologie ist auf diese Weise ein
Abstieg von dem allgemeinen Begriff Organismus, Lebe-
wesen, Monade bis zur Geschichte des einzelnen Individuums
oder besser umgekehrt — ein Aufstieg, denn das einzelne Indivi-
duum ist das System, das erkannt wird. Die allgemeinste Gleich-
heit des Lebens ist nur noch als Lebenswille zu begreifen.
Die einzige Berechtigung, die der Begriff des Elements
in der Psychologie haben kann, kommt dem Individuum als
Teil der psychischen Welt zu. Während aber in der Natur
das Element auf einer nicht weiter begründbaren Verschieden-
heit beruhen würde, verstehen wir hier die Verschiedenheit
und die Gleichheit aus der Gleichheit der äußeren Bedin-
gungen, in die das Individuum gestellt ist. Die Psychologie
ist die Erkenntnis der unzähligen Welten der Monaden. Die
Gleichheit zwischen ihnen beruht nicht auf allgemeinen Ge-
setzen, sondern auf der historischen Tatsache, daß die indi-
viduellen Erfahrungen, aus denen wir die einzelne Welt ver-
stehen, sich in andern Welten wiederholen. Die gleichen
Bedingungen sind logisch doch immer individuelle, historische
Bedingungen und keine räum- und zeitlosen. Es ist uns histo-
risch verständlich, daß in den Individualsystemen sich die
gleichen Beziehungen herausbilden, daß etwa eine Palme
für den Eskimo eine Bedeutung hat und für den Wüsten-
bewohner eine andere. In der Natur gehen wir davon aus,
daß die chemischen Gesetze in Amerika und Europa dieselben
sind, weil es eine Welt ist. Nun können wir die Psychologie
des Amerikaners und Europäers beschreiben. Wir finden
— 327 —
dabei nur insofern gleiche Gesetze, als wir die gleiche Ge-
schichte finden, nicht aber, daß die Geschichte nach den
gleichen Gesetzen ablaufen muß. Genau so ist es bei dem
Menschen. Wir finden, daß die Gruppe in gewisser Weise
dieselbe Geschichte hat, und daraus verstehen wir die Gleich-
heit, die eine Gruppenpsychologie ermöglicht. Wenn wir
finden, daß eine Ursache psychologisch in mehreren Systemen
dieselbe Wirkung hat, so haben wir damit nicht ein Gesetz
der psychischen Welt gefunden, sondern wir können daraus
sehließen, daß die Geschichte der Individuen ähnlich ist.
Wir finden die Assoziation als individuelles Gesetz, als histo-
rische Tatsache bei mehreren Individuen. Wir verstehen
jeden aus seiner Geschichte und finden, daß die Geschichte,
soweit sie von außerpsychologischen Faktoren beeinflußt ist,
übereinstimmt. Die Gleichheit der individuellen Geschichte
stammt nicht aus allgemeinen elementaren psychischen Natur-
gesetzen, sondern daher, daß den Individuen durch die ob-
jektive Welt die gleichen Erlebnisse gegeben sind. Die Psycho-
logie macht also nicht die logische Voraussetzung, daß in der
psychischen Welt allgemeine Gesetze herrschen, sondern sie
findet empirisch in den verschiedenen Systemen gleiche Ge-
setze und versteht die Gleichheit als historische Tatsache
aus der Gleichheit der äußeren Welt. Nur so ist eine Gruppen-
psychologie möglich. Wir haben uns nur die Umstände zu
vergegenwärtigen, denen ein Individuum als Proletarier aus-
gesetzt ist, um aus ihnen die Psychologie des Proletariers zu
gewinnen. Wir können als Forscher wohl eine Tatsache ent-
decken durch ihr ,, Oftvorkommen", wir werden dadurch erst
auf sie aufmerksam. Wir gewinnen aber daraus nicht durch
Induktion ein Gesetz, sondern durch Intuition verstehen wir
sie in einem Individualsystem. Eine Gruppenpsychologie
ist also möglich nach allen Gesichtspunkten, unter denen
überhaupt eine Einteilung der Lebewesen möglich ist. Die
Individuen sind deshalb nicht den Raumteilen zu vergleichen,
wo überall die gleichen Gesetze stattfinden. Psychologische
— 328 —
Elementargesetze sind deswegen unmöglich, weil das Psychi-
sche nicht in sich selbst allein seinen Grund hat, sondern
in den Bedingungen der Welt, wie wir sie unabhängig vom
Bewußtsein denken. Eine jede Wahrnehmung ist ein psy-
chisches Phänomen, das keinen psychologischen Grund hat,
sondern dem Individualsystem aufgezwungen wird. Diese
außerpsychologischen Momente bestimmen aber den Fort-
gang des Bewußtseins. Infolgedessen müssen wir diese dem
Bewußtsein durch die Welt aufgedrungene Geschichte vor-
aussetzen. Es wäre falsch, die Gesetzmäßigkeit der psychi-
schen Welt darin sehen zu wollen, daß dieselbe Ursache an
zwei verschiedenen Orten dieselbe Wirkung hat. Der Psycho-
loge darf nicht von der Idee ausgehen, daß dieselbe Ursache
in einem andern System dieselbe Wirkung hat. Trifft es zu,
so ist es ein Beweis, daß dasselbe Gesetz in ihm herrscht,
was aus der gleichen Geschichte verständlich ist. Der Natur-
wissenschaftler geht aber davon aus, daß die Natur an jedem
Ort und zu jeder Zeit durch dieselben Gesetze bestimmt ist.
Daß eine Palme auf den einen so und auf den andern anders
wirkt, ist zu verstehen aus den verschiedenen inhaltlichen
Gesetzen oder Assoziationen. Es wäre töricht zu behaupten,
daß beide Fälle durch dasselbe Gesetz der Assoziation zu
erklären sind. Das hieße die Wirkung des Zuckers und des
Salzes in der Natur nach einem Gesetz, nämlich dem Kausa-
litätsgesetz, erklären.
Die Gruppenpsychologie verallgemeinert also die indi-
viduellen Assoziationen oder Gesetze auf Grund ihrer Wieder-
holung innerhalb des Individualsystems. Sie konstruiert die
Geschichte irgendwie gleichbedingter Individuen und ver-
steht ihren Zusammenhang durch die speziellen Assozia-
tionen, die sich in dieser Gruppe typisch herausbilden, die
inhaltlichen wie die emotionellen. Eine allgemeine gesetz-
mäßige Psychologie würde absolut gegen den Grundsatz
des Empirismus verstoßen. Sie würde eine angeborene Gleich-
heit voraussetzen und nicht mehr den Menschen aus seinen
— 329 —
Erfahrungen begreifen. Eine Untersuchung mehrerer Indi-
viduen, die die Verschiedenheit in ein Mittel auflöst, hat
wenig Wert. Gerade das ist der Typus der Inexaktheit.
Die Verschiedenheiten müssen aus den verschiedenen Indi-
viduen verstanden werden, aus ihrer Zugehörigkeit zu ver-
schiedenen Gruppen, ihren verschiedenen Geschichten. Diese
allgemeine Gruppe hat aber nicht denselben logischen Wert
wie die Gegenstandsbegriffe der Natur. Ein Individuum ist
durch seine Zugehörigkeit zu ihr für die Erkenntnis noch
lange nicht bestimmt. Die Gruppe erklärt also nicht durch
einen Analogieschluß das Verhalten des einzelnen. Eine reine
Wissenschaft kennt weder den Begriff des Normalen noch
den der Regel, wenn sich diese nicht durch die Wahrscheinlich-
keitsrechnung objektiv gestalten läßt. Die Gruppe Mensch
ist ein Gegenstand, der das Individuum am allerwenigsten
für die Erkenntnis bestimmt. Gewiß ist die Geschichte des
Menschen in gewissen Beziehungen gleich. Dies liegt aber
nicht an den psychologisch gleichen Gesetzen, sondern an
der einen gegenüberstehenden Natur. Wir richten uns fast
alle bei der Raumbestimmung nach denselben Indizien, so-
weit die Bedingungen des Körpers gleich sind, soweit wir
nämlich nicht blind sind. Es lassen sich also gewisse Regeln
aussprechen für die Gruppe Mensch, aber keine Gesetze
innerhalb des Psychischen. Weiter als bis zur Beschreibung
kann es keine Psychologie bringen. Jedes Individuum ist
zunächst durch eine unendliche Anzahl von Gruppen bestimm-
bar, die wohl vor allem, aber nicht ausschließlich den sozia-
len Differenzierungen entsprechen. Mit der vollendetsten
Gruppenpsychologie hätten wir dem Einzelfall gegenüber
doch nicht das Letzte erreicht. Das Individualsystem, das
wir allein erkennen können, ist immer eine ganz individuelle
Mischung gemeinsamer Geschichten. Natürlich bedeutet auch
die Psychologie irgend eines bestimmten Erlebnisses oder
Verhaltens Gruppenpsychologie. Die Psychologie des Ehr-
geizes ist eine Psychologie der Ehrgeizigen.
— 330 —
Eine andere Art Gruppenbildung wäre die Charaktero-
logie. Im Prinzip haben wir es dabei mit der gleichen Verall-
gemeinerung zu tun, nur daß die Bedingungen nicht in der
gemeinsamen äußeren Welt liegen, sondern in den Subjekten
selbst, nicht in der Gegebenheit der Erfahrungen, sondern
in der Art der Aufnahme und Verwertung. Gewiß ist diese
auch von den aufgezwungenen Erfahrungen beeinflußt.
Immer aber müssen wir auf einen Rest stoßen, der durch sie
nicht verstanden werden kann, sondern als letzte Tatsache
als Charakter vorausgesetzt wird.
Man darf diese Gruppenpsychologie nicht mit der Psy-
chologie der Gruppe verwechseln. Psychologie der Masse ist
in Wahrheit Individualpsychologie. Sie entdeckt keine be-
sonderen Gesetze eines Gegenstandes „Masse", sondern Ver-
änderungen des Individuums, wenn es in einer Masse handelt.
Psychologisch ist die Masse nur eine besondere Bedingung für
das Individuum. Es gibt daher keine besonderen Gesetze
der Massenpsychologie. Das Individuum wird nur ungefähr
so durch die Masse verändert, wie der Mensch ein anderer
ist zu Hause, im Büro oder im Cafe. Von einer besonderen
Kausalität innerhalb der Masse darf man daher nicht
sprechen.
Die Psychologie ist also als eine Sammlung von Wahr-
nehmungsurteilen, nur Beschreibung im Gegensatz zu der
Erklärung der Naturwissenschaft durch das Erfahrungs-
urteil. Es ist von vornherein klar, daß nur in der deskrip-
tiven Psychologie Begriffe wie Fähigkeit, Können, Vergessen,
Ermüdung, Hemmung, Unterlassen usw. Platz haben. Wenn
es nur gälte, das Daseiende zu erklären, so gibt es keine Er-
müdung. Denn neben der spezifischen Empfindung beruht
diese nur auf einem historischen Vergleich, auf einem Nicht-
dasein wie das Vergessen. Einen historischen Vergleich kann
aber nur die beschreibende Psychologie anerkennen. Wo sie
über die Beschreibung hinauszugehen scheint, da versteht
sie den Zusammenhang intuitiv, ohne ihn durch eine isolie-
— 331 —
rende Erfahrung zu entdecken und ihn durch ein induktives
Gesetz zu erklären.
Unsere Einwände richten sich gegen die logische Theorie
der vermeintlich naturwissenschaftlichen oder exakten Psy-
chologie. Von einer Kritik des Experiments war dabei nicht
die Rede. Es wäre auch falsch, gegen das Experiment Ein-
wände zu erheben. Denn wir machen ja im praktischen
Leben immerfort Experimente mit unsern Mitmenschen.
Wir stellen sie auf die Probe, wir bemühen uns, ihren Ge-
schmack kennen zu lernen, ohne daß wir sie direkt befragen
usw. Wogegen wir uns wenden, ist nur der logische Wert,
den man theoretisch dem Experiment beilegt. Durch das
Experiment im Laboratorium werden die Prinzipien der psy-
chologischen Erkenntnis nicht verändert. Auch in der Natur-
wissenschaft ist das Experiment nur eine Steigerung der popu-
lären Erfahrung. Das psychologische Experiment kann weder
einen bestehenden Teilausschnitt durch künstliche Mittel
genauer bestimmen, noch einen Komplex von Bedingungen
analysieren. Gerade darin aber besteht der logische Wert
des naturwissenschaftlichen Experiments.
Gehen wir von der phänomenalen Welt aus, so spielt
das Unbewußte in der Naturwissenschaft eine größere Rolle
als in der Psychologie. Die Naturwissenschaft macht erst
durch Kunst vieles im Raum bewußt, was auch vorher exi-
stiert hat, aber unbewußt. Nichts anderes bedeutet etwa
die Entdeckung eines neuen Bazillus. Die Psychologie ver-
fügt aber über keine künstlichen Mittel, wodurch sie etwas
bewußt machen oder demonstrieren könnte, was sonst nicht
wahrnehmbar wäre. Die Aufmerksamkeit ist gerade für die
Psychologie kein solches Mittel. Das Experiment ist auch
keine Steigerung der Aufmerksamkeit, sondern es bedeutet
nur eine „andere" Richtung oder Einstellung, die dem prak-
tischen Leben gegenüber anormal ist. Es wird dadurch viel-
leicht mehr von dem Raum wahrgenommen, aber nicht mehr
psychische Elemente; denn auch die Körperempfindungen
— 332 —
sind Raumwahrnehmungen. Im praktischen Leben besteht
fortwährend eine immanente Determination, die uns nicht
erlaubt, uns mit allem zu beschäftigen, was momentan von
uns erlebt wird. Von diesen momentanen Erlebnissen, den
Fransen des Bewußtseins, war oben die Rede. Im Labora-
torium hat man freilich Zeit dazu, weil man sonst nichts zu
tun hat. Wenn ich hier sitze und schreibe, bin ich in einer
bestimmten Richtung so beschäftigt, daß es mir unmöglich
ist, alle meine Erlebnisse denkend zu bestimmen. Meinet-
wegen mag man behaupten, daß in meinem Bewußtsein
Bewegungsempfindungen sind. Ich habe keine Zeit, auf sie
zu achten und mir denkend von ihnen Rechenschaft zu geben.
Der Psychologe findet durch das Experiment nicht mehr im
Bewußtsein, als auch sonst darin ist. Seine Einstellung ist
nur eine andere. Sind mir im Moment meine Bewegungs-
empfindungen bewußt, so ist das keine genauere Beobach-
tung eines Zustandes, der auch vorher da war, sondern es
ist ein ganz anderer Moment. Im Laboratorium nehme ich
mir vor, auf alles Erlebte zu achten, alles denkend zu bestim-
men und einzuordnen. Im praktischen Leben besteht diese
Einstellung nicht. Der Psychologe entdeckt nicht mehr
psychische Elemente, sondern mehr Weltbestimmtheiten.
Ihm ist mehr von der Welt bewußt als dem handelnden Men-
schen. Das Bewußtsein ist kein Topf, in dem sich Dinge be-
finden, von denen ich je nach der Schärfe der Selbstbeobach-
tung mehr oder weniger wahrnehme. Der Psychologe kann
nichts weiter tun, als sieb mit dem Erlebten länger zu be-
schäftigen, wozu wir im praktischen Leben keine Zeit haben.
Wenn mir wirklich die Bewegungsempfindungen die ganze Zeit
bewußt waren, so bedeutet das keinen Gradunterschied des
Bewußtseins. Sie waren momentan da und wurden sofort
vergessen. Es waren Fransen. Würden wir uns im Leben mit
unsern Geh-Empfindungsbewegungen beschäftigen, so würde
es uns gehen wie dem Tausendfuß, der sich überlegen wollte,
wie sein Gehen zustande kommt, und der fortan überhaupt
— 333 —
nicht mehr gehen konnte. Das Experiment bedeutet daher
keine Verschärfung der Sinne, wodurch mehr entdeckt wer-
den kann, als was sonst im Bewußtsein ist. Ich erinnere
mich folgenden Falls: Man stellte fest, daß die Versuchs-
personen bei dem Reaktionsversuch auf einen bestimmten
Reiz angaben, daß sie in der Zeit vorher gedacht hätten:
jetzt würde gleich der Reiz kommen. Sie konnten aber nicht
sagen, daß dieser Gedanke durch irgend welche Empfindun-
gen repräsentiert worden wäre. Der Herr Dozent hatte für
solch einen Gedanken den Namen „Bewußtheit" gewählt
und bemerkte folgendes: Professor L. in M. arbeitet schon
längere Zeit mit diesem Begriff. Aber für uns existiert er natür-
lich erst jetzt, wo wir ihn experimentell nachgewiesen haben.
Und eiferte gegen die Psychologie am Schreibtisch. (Beiläufig
halte ich es für richtiger, gerade hier nicht von einer neuen
Klasse psychischer Erlebnisse zu sprechen, sondern von einer
Interpretation eines Gefühls durch das Selbstbewußtsein).
Man überlege sich aber einmal, was es heißt, daß man die
Bewußtheit experimentell nachgewiesen hat. Man kann im
Raum etwas demonstrieren, d. h. der Wahrnehmung zu-
gänglich machen, was ohne die Hilfsmittel des Laboratoriums
nicht wahrgenommen würde. Hier aber handelt es sich nur
darum, daß sich jemand bei Gelegenheit des Experiments
über ein Erlebnis Rechenschaft gibt, während ein anderer das
am Schreibtisch oder auf dem Spaziergang tut. Das psycho-
logische Experiment kann der Wahrnehmung niemals etwas
geben, was sonst nicht wahrgenommen werden würde, was
das naturwissenschaftliche Experiment gerade tut.
Davon, daß eine Analyse des Bedingungskomplexes in
der Psychologie unmöglich ist, war schon die Rede. Auch
das Experiment kommt über diese logische Unmöglichkeit
nicht hinweg. Wenn jemand im Laboratorium ein Unlust-
gefühl erlebt, so kann kein Experiment ihm nachweisen,
woran das liegt. Nur durch sein Selbstbewußtsein weiß er,
worüber er sich geärgert hat. Der Naturwissenschaftler
— 334 —
müßte durch die isolierende Erfahrung und durch den Ver-
gleich vieler Erfahrungen, d. h. induktiv, die Ursache heraus-
finden. Der Psychologe findet „den" Grund, aber er ent-
deckt nicht die Besonderheit aller einzelnen ursächlichen
Faktoren. Er findet also höchstens etwas als Ursache, aber
er geht nicht davon aus, daß alles Ursache ist. Das Experi-
ment macht keine bloße Folge, die als Tatsache jenseits von
Sinn und Unsinn existiert, der Beobachtung zugänglich.
Sowie man über die unmittelbare Beschreibung seiner Er-
lebnisse hinausgeht und ein Phänomen durch das andere be-
gründet, tut man dies auf Grund des unmittelbaren Bewußt-
seinszusammenhangs. Man begründet es durch die eigene
Erfahrung. Freilich variiert das Experiment die Bedingung
im Raum, aber in dem Sinne, daß eben eine blaue Fläche
eine andere ist als eine rote. Wenn ich eine Kugel zu einer
andern tue, so existiert für den Naturwissenschaftler ein
Plus, d. h. das Frühere existiert — und das Neue. Als
Gegenstand der Wahrnehmung, also für den Psychologen,
existiert aber kein Plus, d. h. es existiert nur ein „anderes"
neues Erlebnis. Das scheint spitzfindig, ist aber in Wahrheit
nur exakt und von großer logischer Bedeutung. Der Psychologe
isoliert nicht Ursachen, er stellt nicht fest, welche Veränderung
des sonstigen Geschehens bedingt würde, sondern er stellt fest,
daß etwa andere Erfahrungen anders ausgedeutet werden.
Man beweist etwa experimentell, daß ein Blinder durch eine
Art Druckempfindung an der Stirn die Nähe der Wand be-
merkt. Zu diesem Zweck bindet man ihm etwa ein Tuch um
die Stirn und stellt fest, daß er sie jetzt nicht mehr bemerkt.
Die Beweisführung steht logisch auf einer Stufe damit, daß
ich experimentell beweise: wenn ich jemandem die Augen
zubinde, kann er nicht mehr sehen. Von einer Isolation,
einer Analyse, einer Entdeckung einer unbekannten Ursache
kann also gar keine Rede sein. Man entdeckt vor allem
keine elementaren Prozesse, deren Ineinandergreifen das
wirkliche Geschehen erklärten. Das scheinbar Elementare
— 335 —
Jiegt in der Vereinfachung der Umstände. Das muß man
aber scharf trennen von dem Begriff des Elementaren in
der Naturwissenschaft. Eine experimentelle Untersuchung
der Raumwahrnehmung entdeckt nicht elementare Prozesse,
die auch im praktischen Leben, aber dort in Komplikationen
vorkommen. Was man versteht, sind Spezialfälle des Lebens,
die man von einem andern, genau so berechtigten Stand-
punkt aus gerade nicht Vereinfachung, sondern Kompli-
kation der Umstände nennen kann. Es werden Bedingungen
eingeschaltet und nicht ausgeschaltet. Man untersucht etwa
nur einfache Fälle der Raumbeobachtung, und die Raum-
beobachtung selbst ist wieder ein einfacher Fall des Lebens,
der sich leichter als andere für die verschiedenen Individuen
verallgemeinern läßt. Diese Einfachheit des Falles darf
man aber nicht verwechseln mit dem Aufbauen des wirk-
lichen Geschehens aus elementaren Prozessen. Durch das
Experiment wird die Psychologie noch lange nicht Natur-
wissenschaft. Auch im Laboratorium kann man nur Indi-
vidual- oder Gruppenpsychologie treiben und keine elemen-
taren Gesetze von überindividueller und zeitloser Geltung
entdecken. Darin, daß man dies nicht sofort als Aufgabe des
Experiments stellt, liegt die ungeheure Unfruchtbarkeit der
psychologischen Laboratorien, wo man spielerische Statisti-
ken aufstellt und den Wert mehr in dem vermittelnden Aus-
gleich, als in einer Aufstellung und Begründung der Verschie-
denheiten sieht. Der Psychologe kann interessante und un-
interessante Fälle beschreiben, aber er kann kein Gesetz
entdecken, das mir einen Fall erklärt. Er könnte mir nur
sagen, daß dieser Fall bei vielen Individuen vorkommt,
meinetwegen bei allen. Er kann aber keine Theorie des Falles
konstruieren. Als Phänomen kann er ihn in einem Indivi-
dualsystem verständlich machen oder nicht. Wenn ich eine
Gedankenreihe logisch verstehe, was gar nichts damit zu
tun hat, ob ich sie richtig finde, so habe ich auch das Denken
als psychologisches Phänomen verstanden, ohne durch all-
— 336 —
gemein psychologische Gestze noch etwas weiter erklären
zu können.
Zur Psychologie ist nur Welterfahrung und Differen-
zierung nötig. Bei den Spezialfällen, die man im Labora-
torium zu verstehen sucht, kommt dies allerdings nicht sehr
in Betracht, aber nur deswegen nicht, weil diese Spezial-
fälle möglichst von der Individualität abschen. Übung in
Selbstbeobachtung heißt oft nur möglichst objektive Ein-
stellung, Absehen von seiner Individualität. Psychologisch
ist das nur ein anormaler Fall. Man darf das nicht mit dem
verwechseln, daß durch die objektive Einstellung die Natur
im Raum besser erkannt wird. Man untersucht das Sehen,
aber auch für gewöhnlich nur insoweit, als die Menschen da-
bei den gleichen Bedingungen ausgesetzt sind. Infolgedessen
vergißt man leicht, daß man trotzdem nur die Phänomene
im Individualsystem versteht. Wir haben das Ich als not-
wendigen Begriff nicht daraus bewiesen, daß es verschiedene
Menschen gibt, sondern daraus, daß nur durch diese Ein-
heit eine Erkenntnis des Zusammenhangs möglich ist. Auch
für die Art> die nicht so viel differenzierte Individuen kennt,
trifft dies zu. Man mag ein normales Sehen konstruieren,
aber man hat damit nicht ein Gesetz gefunden, das das
Sehen erklärt. Es besteht kein logischer Unterschied zwischen
dem Verstehen des im Laboratorium Erlebten und dem son-
stigen Leben. Nicht daß das komplizierte Leben aus den
dort gefundenen Gesetzen erklärt werden könnte, sondern
die Versuche im Laboratorium sind auch nur individual-
psychologisch zu verstehen. Man wählt sich nur Phäno-
mene, die den Bedingungen nach in jedem Leben vorkommen
können, und man bittet höflichst, sich nicht seiner Individua-
lität zu überlassen. Ganz ist diese aber auch nicht im Labora-
torium zu unterdrücken. Das Sehen ist gewiß gleichförmiger
bei den Individuen. Es ist weniger dem individuellen Willen
unterworfen als den Bedingungen des Auges, namentlich wenn
man im Laboratorium diesen persönlichen Willen möglichst
— 337 —
ausscheidet. Es bedeutet aber logisch nur einen Grad der
Allgemeinheit. Auch das optische Phänomen, die Raum-
Meinung, wird, soweit es ein psychologisches Problem ist,
verstanden wie alle andern Taten des Individuums. Es sind
nur weniger individuelle Taten, die ich untersuche. Die
Gesetze, die man hier zu finden meint, sind nur allgemeine
Beschreibungen. Man mag dies immerhin auch von den
Naturgesetzen behaupten. Der Unterschied bliebe doch be-
stehen. Denn in der Psychologie fehlt die Theorie, durch die
erst die Gleichheit und die Allgemeinheit hergestellt wird.
Ich erinnere mich folgenden Falles: Im Kunsthistorischen
Seminar stellte der Referent fest, daß der Innenraum einer
Kirche als eine große Einheit wirkte. Er führte das unter
anderm auf den Eindruck der Weite zurück, den die Decke
machte, obwohl sie in einzelne Felder eingeteilt war. Diese
Wirkung wiederum führte er auf die Dunkelheit zurück,
die durch die Lichtzufuhr für die Decke entstand. Zur all-
gemeinen Freude erklärte darauf ein Psychologe den Fall aus
dem allgemeinen Gesetz, daß das Dunkle größer wirke als das
Helle. Sieht man aber genauer zu, so hat der Psychologe
nicht das Geringste mehr über den Fall gesagt als der Kunst-
historiker. Er hat weiter nichts verkündet, als daß der Fall
oft vorkommt, daß er ,, sogar" im Laboratorium zu konsta-
tieren ist. Er hat keine Theorie angegeben, durch die das
individuelle Phänomen erklärt würde, insofern die allgemeine
Abhängigkeit dadurch bezeichnet würde, die auch in ihm
sich zeigt. Die Abhängigkeit der Wirkung von der Dunkel-
heit hat der Kunsthistoriker im unmittelbaren Erleben ge-
funden. Der Psychologe hat nur dazu noch bemerkt, daß man
auch im psychologischen Laboratorium das Gleiche erlebt,
wenn man, oder man könnte eher sagen, ,, trotzdem" man das
Hippsche Chronoskop dazu aufzieht. Er hat aber die Abhängig-
keit nicht durch das Experiment gefunden und kann jetzt etwa
das sonst Rätselhafte danach erklären. Er hat kein Gesetz
angegeben, das den Fall erklärt, sondern er hat nur wieder-
strich, Prinzipien 22
— 338 —
holt, was der Referent gesagt hatte. Die Psychologie kann
überhaupt keine neuen Gesetze finden, sie kann die Erkennt-
nis nicht durch Gesetze vervollkommnen. Durch die for-
malen Prinzipien sind alle Möglichkeiten der Erkenntnis
gegeben. Wir können keine neuen Gesetze erwarten, sondern
nur Interpretationen von Einzelfällen auf Grund dieser
Prinzipien. Davon daß das ,, Gesetz der schöpferischen Syn-
these" logisch überhaupt kein Gesetz ist, das die Erklärung
des Einzelfalls nur im mindesten fördert, war oben die Rede.
Aus dieser Erörterung folgt das Unlogische jeder materia-
listischen Geschichtsauffassung, in welchem Sinne sie auch
immer eine Kausalität der Geschichte behauptet. Die Ge-
schichte braucht nicht auf eine Psychologie zu warten, die
sie erst begründen soll. Psychologie ist selbst Geschichte,
und Geschichte ist psychologische Erkenntnis, wenn es ihr
auch nicht mehr darauf ankommt, die Zeitreihe des einzelnen
Lebens zu verstehen. Weil es keine Erkenntnis der einen
psychischen Welt gibt, gibt es auch keine Kausalität der
Geschichte. Was wir im Gegensatz zur Psychologie Ge-
schichte nennen, beruht nur auf einer Verallgemeinerung
der Individuen. Es gibt kein Gesetz, das ein historisches
Ereignis erklärt, sonst wäre es kein historisches Ereignis.
Gewiß kann man das Erdbeben von Messina so nennen.
Will man es aber erklären, so faßt man es nicht mehr als
Ereignis in der Zeit auf, sondern im zeitlosen Raum. Die
Naturwissenschaft ist die Erklärung des Historischen durch
die Idee des Raums. Die Geschichte könnte man erklären,
wenn der Monismus recht hätte, wenn es nur die gesetz-
mäßig sich verändernde Substanz gäbe. Dann gäbe es nur
Naturwissenschaft und nicht Geschichte. Denn kausale
Geschichte ist die Naturwissenschaft. Der Gegensatz ist
nur erkenntniskritisch darin zu fassen, daß die Geschichte
keine zeitlosen Gesetze, kein zeitloses System konstruiert
wie die Naturwissenschaft in der Substanz im Raum. Für sie
ist die Zeit die Realität. Sie kennt keinen Raum, durch den
— 339 —
die Naturwissenschaft den historischen Moment als die Kon-
stellation der zeitlosen Wirklichkeit erklärt. Der Historiker
kann die Taten nur als Psychologe verstehen und sie nicht
erklären. Gewiß kann er auch verallgemeinern. Wenn die
gleichen Bedingungen da sind, so wird auch dasselbe Ereignis
eintreten. Das sagt aber nur, daß sich die Geschichte wieder-
holt. Der Naturwissenschaftler konstruiert aus den Wieder-
holungen im Raum das Gesetz. Weiter kann er nicht gelan-
gen. Das Phänomen ist erklärt, wenn es unter einen solchen
allgemeinen Fall subsumiert ist. Nur der Grad der All-
gemeinheit läßt sich vervollkommnen. Psychologisch oder
historisch ist aber die Wiederholung nicht das Erklärende.
Wenn ein Mensch in Lebensgefahr kommt und sich zu retten
versucht, so verstehe ich das. Wenn nach einem Jahr sich
der Fall wiederholt, so verstehe ich ihn auch. Wenn tausend
Leute in Lebensgefahr sind, verstehe ich, daß sie sich zu retten
suchen. Aber aus dieser Wiederholung gewinne ich kein
Naturgesetz, durch das der Einzelfall begriffen würde. Es
kann keine Theorie des Falles geben. Jeden Fall verstehe
ich für sich, ob er sich noch einmal wiederholt oder nicht.
In einem Fall ist das Gesetz erst die Erkenntnis des an sich
unerkannten Geschehens. Im andern Fall sage ich nur, daß
sich etwas wiederholt hat, was ich an sich schon erkannt
habe. Das Gesetz ist logisch das Mittel für die Erklärung des
Einzelgeschehens dadurch, daß dieses als zeitloses dargestellt
wird. Das Allgemeine in der Geschichte hat aber nur beschrei-
benden und keinen erklärenden Wert. Auch hier ist es gleich-
gültig, ob sich die Erscheinung der Revolution einmal oder
hundertmal in der Geschichte zeigt. Darum gibt es keine
historischen Gesetze. Nach meiner Kenntnis gibt es überhaupt
nur einen Fall, wo man wirklich nach einem Gesetz der Ge-
schichte „gesucht" hat. Es wäre das einzige gewesen, das
nicht auf psychologisch verständlichen Zusammenhängen
beruht hätte. Dieser Ruhm gebührt Marx, auch wenn sein
Gesetz ein Irrtum ist. Was man sonst historisches Gesetz
22*
— 340 —
nennt, sind Wiederholungen von psychologisch verständ-
lichen Taten. Auch das Hegeische Gesetz als empirisches
Faktum der Geschichte bildet hierin keine Ausnahme. Da-
rum kann es keine andere Voraussage der Geschichte geben
als das Voraussehen der Taten. Erkennen aber läßt sich nur
das Geschehen. Es kann kein Gesetz geben, das die Zukunft
bestimmt, weil die Tat und der Wille das Entscheidende
sind. Historisches Gesetz ist ein Widerspruch in sich selbst,
denn das Gesetz bezeichnet eine zeitlose Tatsache. Die Ge-
schichte existiert nicht in Gott, wenn wir dieses Wort im
Sinne Malebranches für das Bewußtsein überhaupt gebrau-
chen, sondern in dem Willen des Lebens. Die Geschichte be-
greift ein Geschehen nur in seinem wirklichen Zeitpunkt.
Für sie ist die Zeit nicht eine relative Bestimmung zur Indi-
vidualisierung einer zeitlosen Idee. Sie ist nicht der Gegen-
stand eines Bewußtseins überhaupt, weil sie als Tat des
Lebens existiert. Die Funktion der Maschine ist naturgesetz-
lich zu erklären, ihre Existenz aber nur historisch als Werk
der Tat zu begreifen. Die Naturwissenschaft konstruiert
mit andern Worten die Ideen, die das Sein bedeuten, und
deren Erscheinungen wir in Zeit und Raum wahrnehmen.
Zur Erscheinung werden sie erst durch das lebendige Bewußt-
sein. Die Geschichte aber kennt keine andere Realität als
dies unmittelbare Leben. Deshalb kennt sie auch kein zeit-
loses Geschehen oder, was dasselbe besagt, keine zeitlosen
Gesetze. Sie erkennt nicht die Wesenhaftigkeit des Ereig-
nisses, wie es zeitlos existiert, sondern sie erkennt das Er-
eignis nur aus der tatsächlich abgelaufenen Zeit. Kein zeit-
loses Gesetz, sondern die tatsächliche Vergangenheit ist die
Bedingung ihrer Erkenntnis. Für die Naturwissenschaft
existiert keine Zeit, sondern nur das Gesetz; für die Ge-
schichte nur die eine Zeit und darum kein Gesetz. Die Natur-
wissenschaft begreift das Ereignis als ein Geschehen im Raum,
wobei die abgelaufene Zeit ausgeschaltet werden soll. Es
soll die Wesenhaftigkeit an sich, die Idee losgelöst von der
— 341 —
historischen Zufälligkeit erkannt werden. Für die Geschichte
existiert ein Ereignis nur als Teil der Zeit, der aus der Ver-
gangenheit herauswächst. Die Naturwissenschaft kennt nur
eine relative Veränderung der Welt in der ewigen Zeit. Die
Geschichte die absolute Veränderung des einen Systems
„Leben". Die „Welt überhaupt" metaphysisch kausal den-
ken, heißt das Leben nicht als Leben, die Zeit nicht als Zeit
denken.
Ich bemühte mich zu zeigen, daß die historische Ver-
nunft an der Psychologie orientiert ist, daß diese schon
Geschichte ist und daß sie ihrerseits nur Individualpsycholo-
gie sein kann. Dadurch wird scheinbar die sogenannte Geistes-
geschichte problematisch. Es entsteht das Problem des Ver-
hältnisses des Individuellen zum Allgemeinen. Scheinbar ver-
langt unsere Auffassung die Ablehnung der Geschichte des
Geistes. In Wahrheit aber legt sie erst den Grund für sie.
Es kommt alles auf den einen Gegensatz an, der allgemeinen
psychischen Welt und des Individualsystems. Wäre die
Elementarpsychologie im Recht, so würde im idealen Fall
eine Geschichte als Wissenschaft überflüssig sein; eine Ge-
setzeswissenschaft hebt das Historische der Idee nach auf.
Legt sie den Grund für die historischen Geisteswissenschaften,
so würde das heißen: das Historische soll negiert wrerden.
Sie kann daher nicht den Grund legen für die Geschichte,
wreil sie sie als Realität negiert oder ersetzen will. Begründet
die Physik eine Geologie, so heißt das, daß sie die Geschichte
der Erde ersetzt durch die Naturwissenschaft. Das Ziel wäre
die Gesetze nachzuweisen, die dieselben geblieben sind, das
Gestern und Heute als die Formen derselben Wirklichkeit dar-
zustellen, das heißt logisch die Geschichte als Realität leugnen.
Die Voraussetzung der Geistesgeschichte kann nur die ver-
stehende Individualpsychologie sein. Sie kann nur eine Spezia-
lisierung der historischen Vernunft sein, die auch schon der
Individualpsychologie zugrunde liegt und nicht erst jene be-
gründet. Das Problem liegt aber in dem Geist als einem Gegen-
— 342 —
stand, der eine Geschichte hat. Das Wichtigste ist, daß man
überhaupt hier ein Problem sieht. Von der Individual-
psychologie aus existieren vorläufig nur die Geschichten der
Monaden als psychologische Gegenstände. Die Geschichte
des Geistes ist etwas darüber Hinausliegendes.
Interessant ist das analoge Problem der Biologie. An sich
besteht hier nur das Problem des einzelnen Organismus. Damit
ist der Gegensatz gemeint des Mikrokosmos zu dem Makrokos-
mos, der toten Natur, der schärf ste, der sich überhaupt denken
läßt. Es stehen sich diametral gegenüber das eine System
Natur und das Nebeneinander der Organismen. Damit
haben wir aber noch keine Naturgeschichte. Diese Natur,
die gerade nichts mit dem Kantschen Begriff der Natur zu
tun hat, ist eine neue Idee. Gerade auf diesen Gegensatz
kommt es an. Wir sagen: Die Natur schafft die Variationen.
Aber diese Natur ist etwas ganz anderes als diejenige, nach
deren Möglichkeit Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft
fragte. Lag dort die Antwort darin, daß der Tod durch die
Kausalität „ein" System ist, so stoßen wir auf der Gegenseite
zunächst nur auf die lebendigen Monaden, aber nicht auf
„das" Leben. In dem Moment aber, wo wir die tausend-
fachen Erscheinungen als Variationen einheitlich zusammen-
fassen, legen wir denkend der Biologie die Idee der „einen"
lebendigen Natur zugrunde. Wer diese Einheit der Varia-
tionen für eine gegebene Erfahrung ansieht, der hat das Pro-
blem nicht gesehen, weil er nicht von der Erkenntniskritik
ausgeht. An sich bestehen nur die Geschichten von Eltern
und Kindern. Daß man die Abweichung in dem einen indivi-
duellen Fall ebenso begründet wie in dem andern, nämlich in
ihnen als Variationen überall das Gleiche sieht, ist eine Denktat.
Ihre Analyse zeigt, daß man dadurch die Idee der lebendigen
Natur kritisch-metaphysisch zugrunde legt, daß das Schaffen
der Natur kein bloßes Wort ist, sondern, daß man realiter
davon ausgeht. Erst dadurch entsteht die Geschichte,, der"
Natur oder „des" Lebens.
- 343 —
Von hier gelangen wir weiter zu der Begründung des
Geistes. Ich behaupte: Die Natur hat eine Geschichte,
aber nicht die Wespe und nicht der Affe. Der Mensch aber
hat wieder eine Geschichte, und dies ist die Geistesgeschichte.
Weil die Natur nur Geschichte hat, deswegen werden wir
niemals die Wespe begreifen. Wir können ihr Leben nur
durch den Willen „des" Lebens begründen. Aber wir er-
kennen nicht mehr die Geschichte der Wespe. Wo aber die
lebendige Natur oder der Logos — denn als solchen lernen
wir auch die Natur kennen, sobald wir überhaupt historisch
denken — sich selbst bewußt ist, erkennen wir die Geschichte.
Mit andern Worten: Die Natur ,, macht" die Geschichte,
nicht die Wespe. Aber der Mensch wiederum ,, macht" Ge-
schichte. Während aber die Natur eine metaphysische Idee
ist, die zwar notwendig ist zum Erkennen, ist der Mensch
oder der bewußte Logos die Realität. Ich verwahre mich
dagegen, daß dieses transzendente Metaphysik bedeutet. Ich
analysiere nur die bestehende Erkenntnis auf ihre logische
Grundlage hin. Wir greifen den Gegensatz unmittelbar
empirisch in der Realität, und zwar in der Kategorie des
Werks.
Der Gegensatz wird vielleicht am deutlichsten in fol-
gender Form: In der Wespe vererbt die Natur, der Mensch
aber vererbt selbst, und zwar durch das Werk. Wüßten wir
ein Werk der Wespe, die Schaffung einer Form, die für die
folgende Generation Gegenstand des Erlebnisses sein kann,
so würden wir den Instinkt verstehen, oder, besser gesagt,
er würde aufhören, Instinkt zu sein. Er ist Instinkt, er ist
rätselhaft, weil die Natur vererbt und nicht die Wespe. Wir
kommen in das Leben nur mit dem Geist hinein, aber die
Lebensgeschichte macht nicht der bewußte Geist, sondern
die Natur oder das Leben. Die Geistesgeschichte aber macht
der Geist. Wir erkennen den Zusammenhang durch das, was
er schafft. Die wirklich erkennbare Geschichte beginnt mit der
Vererbung des Werks. Die andere Vererbung werden wir nie
— 344 —
begreifen. Dort beginnt erst gleichsam der sichtbare Zu-
sammenhang. Die Geschichte des Menschen ist darum, wie
es seit jeher gewesen ist, Geschichte seiner Werke, d. h. Kultur-
geschichte.
In dem Begriff des Werks liegt der Ausgleich zwischen
dem Individuum und dem Allgemeinen. Erst durch das
Werk entsteht die Geschichte aus den Geschichten. Rein
empirisch stammt jedes Werk aus der Tat eines Individuums.
Aber es richtet sich an das Allgemeine, wenn zunächst auch
nicht im bewertenden Sinne. Es soll mit für andere existie-
ren, und vor allem, es ist selbst erst durch die Werke anderer
möglich. Nur dort ist wirkliche Geschichte, wo der Zusammen-
hang auf Grund der Werke besteht. Erst durch das Werk
oder die Kultur entsteht der Geist als Einheit aus den Gei-
stern, vorläufig aber nur als der eine subjektive Geist, d. h.
ohne Bewertung. Der empirische Zusammenhang der Ge-
schichte liegt in der Monade. Dadurch wird die Geschichte
individual-psychologisch erkennbar. Aber das Individual-
psychologische ist seinerseits verständlich nur durch das Werk
als Gegebenheit der Erfahrung. Der Instinkt ist rätselhaft,
weil wir diesen Zusammenhang nicht besitzen, weil er die
Tat der Natur und nicht der Monaden ist, so wie die Natur
und nicht die Monade die Variation schafft. Der Mensch
hat Geschichte, weil er sie selber schafft, weil er sie selbst
will, weil er vererbt. Er denkt nicht nur, sondern er vererbt
seine Gedanken. Der Gedanke wird Werk, d. h. eine selb-
ständige Zeitgröße, die unabhängig von dem individuellen
historischen Subjekt in der Zeit existiert. Das ist der Sinn
der Aristotelischen Form. Die Naturwissenschaft kennt keine
Axt und kein Beil. Erst als dauernde Formen, als Gegen-
stände des Lebens existieren sie, als vererbbare Größen. Wo
der Sinn der Form verloren gegangen ist, wo man nicht mehr
weiß, wozu sie da ist, ist der Zusammenhang zerrissen, mag
auch die Raumform noch bestehen. Die Geschichte beginnt
mit der Formung der Welt oder der Schöpfung von dauern-
— 345 —
den Formen, die über das Leben des einzelnen hinausreichen.
Der Bienenstaat ist keine geschichtliche Größe. Erst das
Recht als dauernde und vererbbare Form, als Werk bedingt
den Zusammenhang. Natürlich ist damit nicht gesagt, daß
das Recht schon , aufgeschrieben" sein muß. Auch die Tra-
dition ist Vererbung. Das wichtigste Werk des Menschen ist
die Sprache. Sprachgeschichte ist Geistesgeschichte, weil die
Sprache als vererbbare Form aufgefaßt wird, die den Zu-
sammenhang der Monaden in der Zeit herstellt. Ob die Ameise
eine Sprache hat oder nicht, ist eine ganz müßige Frage.
Es wäre etwas völlig anderes damit gemeint. Es bestünde
derselbe Unterschied wie zwischen dem Bienenstaat und
unserm Staatsbegriff. Der Staat der Bienen ist keine Form,
die selber eine Geschichte hat. Warum sollte es nicht eine
instinktive Verständigung unter den Ameisen geben ? Sie
wäre aber für uns immer nur ein Moment des individuellen
Lebens. Wir haben keinen Grund, eine Geschichte der Sprache
als vererbbare Form, als Werk und Werkzeug anzunehmen.
Geistesgeschichte ist die Geschichte der Formen oder der
Werke, denn nur sie begründen den erkennbaren historischen
Zusammenhang der ,, einen" Zeit, wie der Zusammenhang
der Organismen als eine Zeitreihe durch die Idee der leben-
digen Natur begründet ist.
Das historische Problem deckt sich darum nicht mit
dem individualpsychologischen. Es beruht aber als empi-
rische Forschung zunächst auf nichts anderem als der
Gruppenpsychologie, einer Verallgemeinerung der Monaden
auf Grund bestehender Gleichheiten. Wir stoßen auf diese
Gleichheit in der Beziehung zu den Formen oder Werken.
Die Verallgemeinerung ist aber keineswegs die empirische
Majorität. Der Renaissancemensch ist nicht derjenige,
der die damalige Mehrzahl gebildet hat. Der moderne
Mensch ist nicht der normale der Zahl nach. Wenn wir heute
die Psychologie des modernen Menschen schreiben wollten,
so müßten wir den Menschen beschreiben, den die Geschichte
— 346 —
als Typus der heutigen Zeit später erkennen will. Es kommt
hier aber nicht auf die triviale Tatsache an, daß ein Abstand
des Erkennenden und des Erkannten da sein muß, sondern
auf das logische Prinzip. Der Mensch ist modern, dessen
Werke den Zusammenhang mit der Zukunft begründen,
dessen Ziele in der Zukunft leben werden. Der moderne
Mensch ist der Schnittpunkt der Entwicklungslinie von der
Vergangenheit zur Zukunft mit dem Chaos der Gegenwart.
Die Geistesgeschichte kennt als Entwicklung des Geistes
nur die Auswahl der Monaden und der Werke, die den Zu-
sammenhang tragen. Was daneben liegt, mag charakteristisch
sein für die Zeit als dem empirischen Begriff unmittelbarer
Gegenwart, aber nicht mehr für die Zeit als Durchgangs-
stadium oder Erscheinung „des" Geistes. Die Geistes-
geschichte erkennt nicht die Gegenwart als das Gegebene,
sondern sie bestimmt erst die Gegenwart durch das Spätere.
Nur was die Zukunft begründet, ist für sie die Realität
einer Zeit. Es wiederholt sich hier der Gedanke der Indivi-
dualpsychologie, daß nicht alles, was da ist, den nächsten
Moment bestimmt.
Von diesem Standpunkt aus ist die Individualität das
Nebensächliche. Gewiß ist der Barok, wie er da ist, ohne
Michelangelo nicht zu begreifen. Wir können uns nicht den-
ken, wie die Zeit etwa ohne ihn geworden wäre. Gewiß sind
seine Werke nur von ihm aus zu verstehen und von nichts
anderem. Das gilt für seine Werke wie für die eines belie-
bigen Menschen. Die Geistesgeschichte aber interessiert
Michelangelo als Individualität nicht. Sie leugnet sie nicht,
sie kann nicht in Abrede stellen, daß die Wirklichkeit von
den individuellen Monaden geschaffen wird. Es wäre un-
kritische Metaphysik, wenn sie behaupten würde, daß der
Zeitgeist schafft, daß die Zeit Napoleon geboren hat und nicht
Napoleon die Zeit. Es kommt nur darauf an, daß die Geistes-
geschichte sich ein anderes Problem stellt. Sie geht nicht
davon aus, daß in Michelangelo der Zeitgeist erscheint,
— 347 —
sondern sie findet es, und das ist ein Unterschied. Sie findet,
daß Michelangelo in seinem Wollen zu jener Gruppe gehört,
die den damaligen modernen Menschen ausmachte, mag er auch
von der Majorität der Unmodernen verlästert worden sein.
Die Geschichte der späteren Zeit lehrt, daß sie den Zusammen-
hang der einen Zeit getragen haben. Damit ist ihr Wille der
Zeitstil oder die Erscheinung des Geistes. Die Geistes-
geschichte verleugnet nicht die Individualität, aber sie interes-
siert sie nicht. Sie will die Individualität nicht erkennen,
wenn sie sie auch anerkennen muß. Sie sucht nach dem
Zusammenhang der Zeiten. Biographie ist nicht Geistes-
geschichte. Ihr Recht liegt in der Philosophie des Sozialen
im allertiefsten Sinne genommen. Dies Problem ist nicht
mit der belanglosen Phrase abgetan, daß der Mensch ein
homo socialis ist. Dies sagt gar nichts. Der Grund des Sozia-
len liegt in dem Willen zum Werk oder, was dasselbe besagt,
zur Geschichte. Ob die Rehe oder Affen in Rudeln leben,
ist ganz belanglos für das, was philosophisch Gesellschaft
bedeutet. Ihr Sinn liegt darin, daß in dem Werk eine Ver-
einigung stattfindet und nicht, daß man zusammen lebt
und wandert. Der Sinn des Werks liegt in seiner sozialen,
überindividuellen Existenz. Ich betone wieder, daß diese
Überindividualität vorläufig nur empirisch zu verstehen
ist und nicht bewertend. Wir haben es vorläufig mit der
Grundlegung des subjektiven Geistes zu tun. Das Werk
ist für die Monaden bestimmt. Das Leben Goethes existiert
für die Geistesgeschichte nicht. Will sie seinen Faust begreifen,
so muß sie ihn freilich aus ihm heraus begreifen. Aber sie
stellt sich eben nicht dies Problem. Sie will erkennen, inwiefern
Goethe ein Phänomen der einen Zeit war, welche Bedeutung
seine Tat als Werk hatte. Es läuft dies praktisch auf eine histo-
rische Gruppenpsychologie hinaus. Es gilt die Allgemeinheit
festzustellen, zu der Goethe gehörte, den historischen Stil.
Es kommt mir aber darauf an, daß die Allgemeinheit
Goethe nicht verständlich macht. Dies ist ein häufiger
— 348 —
Irrtum der Geschichte. Dadurch, daß die Zeit so war, ist
er nicht erklärt. Denn er und die andern sind selbst diese
Zeit. Wir finden nur die Tatsache, daß mehrere Individuen
von dem gleichen Willen erfüllt sind, auf die gegebene Er-
fahrung gleich reagierten. Stil als historischer Begriff ist
nichts anderes als Charakter, und der Charakter ist nichts
anderes als der Grenzbegriff der historisch-psychologischen
Erkenntnis, die letzte Willenstendenz, die als Gesetz die
Taten beherrscht. Stil ist eine gemeinsame Willenstendenz
der Zeit, aus der ihre Werke, ihre Formungen zu verstehen
sind. Es ist meines Erachtens z. B. falsch, von einer Ent-
wicklung des Sehens zu sprechen. Es ist lehrreich, das rein
Optische von dem Ausdruck zu trennen. Aber das Sehen
ist letzten Endes eine unberechtigte Abstraktion. Das Auge
wandelt sich, aber es ist der Geist, der den Körper baut.
Wir können kein psychisches Phänomen erkennen, ohne
auf diesen subjektiven Rest zu stoßen. Auch das Sehen
ist Tat. Es ist bedingt weder durch die Realität noch durch
das Auge. Wir können beides bis zum letzten verfolgen.
Der Rest ist erst das Wesentliche. Phänomenologisch gibt
es keine sichtbare Realität. Die Realität ist das Werk, die
Konstruktion der Naturwissenschaft. Die farbige Welt ist
bedingt durch das Sehen und nicht umgekehrt. Aber das
Sehen ist bedingt von dem Individuum. Man darf die Kette
der Begründung vorher noch nicht abbrechen. Es ist erst
dann verstanden, wenn es selbst in Zusammenhang gebracht
ist mit den andern Taten, d. h. mit dem Willen. Der Dar-
stellungsmodus ist darum letzten Endes doch ein Ausdrucks-
modus. Aber ich betone: letzten Endes. Praktisch halte
ich die Trennung bei der heutigen Verworrenheit der Be-
griffe für durchaus wertvoll.
Das letzte Problem der Geistesgeschichte liegt nur
scheinbar in der „Ableitung" des Stils. Denn nach dem, was
wir sagten, ist dieses Problem unlösbar. Das liegt daran,
daß der Charakter eben der Grenzbegriff der psychologischen
— 349 —
Erkenntnis ist. Von der Individualpsychologie aus ver-
stehen wir auch dies für die Geistesgeschichte. Die Wirk-
lichkeit sind die Individuen oder Monaden. Eine jede Gene-
ration findet eine Formung der Welt als Gegebenheit der
Erfahrung vor. Keine Gegebenheit macht aber die Taten
des Individuums verständlich. Ich wies oben darauf hin,
daß für die Erkenntnis der Verbrecher nicht durch das
Milieu bestimmt ist. Schon das Erlebnis setzt neben dem
Gegebenen das Subjekt voraus. Die Folge ist aus dem Ge-
gebenen nicht verständlich, sondern erst aus der Art, wie
das zu Erlebende erlebt und verwertet wird. Wir können
den Menschen aus den Gegebenheiten nicht erkennen,
sondern wir können nur den Menschen erkennen. Sein Wille,
seine Wertung, seine Stellung zu dem Erlebten ist die letzte
Realität. Man übersieht das leicht, weil es „leichter" ver-
ständlich ist, wenn aus einem Verbrechermilieu ein Ver-
brecher entsteht. Aber das Gegenteil ist auch verständlich.
Wir suchen vielleicht nach Gründen dafür, wir finden
auch irgend welche andern Einflüsse, aber wir kommen
auch dann nicht um die Individualität herum. Verstehen
läßt sich das Leben nur unter der Voraussetzung einer
spezifischen Tendenz, einer Art der Reaktion auf die
gegebene Welt. Sie ist als Tatsache nacherlebbar und
darum allein verständlich. Allein sie ist nicht als Not-
wendigkeit begründbar. Ganz das Gleiche wiederholt sich
bei der Zeitpsychologie. Wir verstehen die Reaktion des
französischen Volks auf den Absolutismus, aber nur unter
der Voraussetzung eines bestimmten Charakters, eines be-
stimmten Wollens. Ich meine damit natürlich nicht den
Volks-, sondern den Zeitcharakter. Wir verstehen den Sturm
und Drang, aber nur aus der vorausgesetzten Art, auf die
Welt zu reagieren. Wo sich zwei Stile zeitlich folgen, lernen
wir als letztes zwei verschiedene Willenstendenzen kennen.
Wir stoßen auf eine Unzufriedenheit mit den gegebenen
Formungen, wir können dies nacherleben, aber wir lernen
— 350 —
dabei als Letztes eben einen spezifischen Willen kennen.
Er ist die Realität, die wir nicht weiter begründen können.
Ebensowenig kann man metaphysisch eine Notwendigkeit
der letzten Theorie der Naturwissenschaft behaupten. Wäre
dies kritische Erkenntnis, so wäre die Theorie nicht die letzte.
Sie wäre kein Grenzbegriff der Erfahrung. Grenze kann
nur heißen: die Notwendigkeit der Tatsache nicht mehr
erkennen. Erst durch die Theorie erlangen die andern
Tatsachen eine Notwendigkeit. Sie selbst ist nur Tatsache.
Für die Geschichte liegt dieser Grenzbegriff in dem Willen.
Er ist die Realität, die wir als Tatsache erkennen. Aus ihm
heraus können wir die Notwendigkeit der Taten erkennen,
aber wir können nicht seine Notwendigkeit erkennen. Der
Begriff der notwendigen Entwicklung setzt kritisch eine
erkennbare Notwendigkeit der Wandlung des Willens voraus.
Dann wäre der Wille nicht der Grenzbegriff der Erfahrung.
Auch in dieser letzten Verfeinerung leugne ich eine Kausalität
der Geschichte. Nur eine transzendente Metaphysik, eine
religiöse Anschauung kann die Notwendigkeit begründen.
Der genialste Versuch, die Entwicklung des Geistes zu er-
kennen, ist das Hegeische Gesetz. Ich behaupte aber, daß
auch dieses nur eine verständliche psychische Erscheinung
wiedergibt, die wir wie alle andern nur aus dem spezifischen
Willen heraus verstehen. Es ist nacherlebbar, daß eine Ziel-
richtung am Ende in ihr Gegenteil umschlägt. Es ist nach-
erlebbar, daß die Spannung der Gegensätze ausgesöhnt wird.
Aber der spezifische Wille als Reaktion auf die Hochspannung
ist auch dabei vorausgesetzt. Darum läßt sich das Gesetz
nur durch eine Konstruktion der Geschichte beweisen.
Es ,,kann" nur eintreten, aber es ,,muß" nicht. Denn der
vorausgesetzte Wille braucht nicht da zu sein. Wir können
es verstehen, wenn zu dem Extrem endlich ,, Nein" gesagt
wird. Aber es liegt logisch keine Notwendigkeit dazu vor.
Wir setzen einen Charakter voraus, der auf das Extreme
reagiert. Die Geschichte des Geistes ist die Geschichte des
— 351 —
Willens. Er ist die Realität, die wir als Zeit hinnehmen
müssen, und keine Realität können wir erkennend begründen,
6onst würden wir die Welt aus dem Nichts heraus begreifen.
Die Erkenntnis kann dies jedenfalls nicht.
Man mag das Leben gesetzmäßig bedingt nennen. InWahr-
heit wäre dies nur eine Wort. Denn mit der Kausalität der
Natur ließe sich dies nicht vergleichen. Der Sinn der
Kausalität ist die Überindividualität der Gesetze. Die
psychologische Erkenntnis aber erkennt gerade die Indivi-
dualität, oder sie findet empirisch Gleichheiten unter ihnen.
Von Kausalität dürfte man nur sprechen, wenn es nicht
historische Monaden, sondern eine zeitlose psychische
Substanz gäbe. Losgelöst von der möglichen Erkenntnis
verliert der Begriff der Kausalität jeden Sinn. Ob es auf
ein transzendentes Weltgesetz zurückführbar ist, wenn ein
Individuum zwei Dinge für gleich hält, das können wir
niemals wissen. Denn weiter als bis zur Erkenntnis seiner
Tat kann unser Wissen nicht gelangen. Psychologische
Erkenntnis ist Selbsterkenntnis der Monade, soweit sie sich
auf das eigene Leben bezieht. Umgekehrt ist jede Selbst-
erkenntnis psychologische Erkenntnis. Jedes Wahrnehmungs-
urteil ist aber wiederum Selbsterkenntnis. Jede Apper-
zeption, die sich im Wahrnehmungsurteil ausspricht, ist
psychologisch-historische Erkenntnis. Denn die wahrge-
nommene Welt ist als solche nichts anderes als das Selbst,
der Inhalt der fensterlosen Monade. Ob ich als Physiker oder
als Psychologe im Laboratorium sitze, ist gleichgültig. Jedes
Wahrnehmungsurteil ist die Konstatierung einer Gleich-
heit in meinem Individualsystem, um welches Empfindungs-
gebiet es sich auch handelt. Eine solche Gleichheit existiert
aber auch im Leben der Tiere für das Bewußtsein, aber
ungewußt oder unerkannt, ebenso wie wir selbst nicht in
jedem Moment des Lebens Psychologen sind und alles be-
urteilen, was für das Bewußtsein existiert. Das Handeln
interessiert jederzeit nur ein kleiner Teil der perzipierten
— 352 —
Bewußtseinsinhalte. Unbewußt existieren die Elemente der
Luft, die ich nicht optisch erlebe, sondern denkend als exi-
stierend setze. Weil aber nur ein Teil der bewußten Inhalte
das handelnde Wesen interessiert, so wird auch dieser nur
erkannt, während die andern unbestimmt oder ungewußt
bleiben. Der Psychologe aber verleugnet das unmittelbare
Interesse, bemüht sich, den ganzen Umkreis der momentan
erlebten Welt zu bestimmen und korrigiert so seine Selbst-
oder subjektive Welterkenntnis, denn Beides ist dasselbe.
Das Subjekt braucht den eigenen Bewußtseinszusammen-
hang nicht zu wissen, auch wenn wir als Betrachter ihn nur
als logischen Zusammenhang darstellen können. Das Gegen-
teil würde heißen, daß der Organismus nur aus bewußter
Erkenntnis heraus handeln kann. Die Psychologie vergißt
über dem Raumdenken, daß ihr Gegenstand eben selbst
der Logos oder vielmehr die Logoi sind. Der subjektiv
logische Zusammenhang existiert für das Bewußtsein genau
so wie die Einheit des Ich selbst, bevor es gewußt wird. Nur
die Verräumlichung des Bewußtseins ist schuld an den
Unklarheiten über Wissen und Bewußtsein, woraus auch der
unkritische Begriff des Unbewußten entspringt. Was nicht
gewußt wird, existiert noch nicht im Raum des Unbewußten.
Das Selbstbewußtsein der Monade ist gleichsam nur der
Zuschauer dessen, was für das Bewußtsein existiert. Daß
dies nichts mit der unlogischen Raumtheorie der Selbst-
beobachtung zu tun hat, brauche ich nicht mehr zu erwähnen.
In dieser Selbsterkenntnis, in dem Wissend-Werden
liegt der Ausgangspunkt für die wertende Vernunft. Die
Geschichte an sich, auch die Kulturgeschichte, kennt genau
so wenig wie die Psychologie den Gedanken der objektiven
Wirklichkeit. Ihr ,, einer" Geist ist nur subjektiv, weil er
nur eine empirische Verallgemeinerung in der historischen
Wirklichkeit bedeutet. Sie ist nicht mehr allgemeine Kultur-
geschichte, wenn sie allein den objektiven Geist zum
Gegenstand macht. Alles, was da ist, ist wirklich. Erst der
353
ethische Wille verlangt eine Objektivität, verlangt den
objektiven Geist. Er will, daß die Taten sich an ,, einen4'
Geist richten, daß die Subjektivität des schaffenden Willens
ausgeschaltet wird. Dieser Wille setzt aber seinerseits den
,, einen" Geist als einen überpersönlichen Willen voraus, an
den die Taten sich richten sollen, einen Willen, der nicht
von dem Lebensschicksal des einzelnen bedingt ist, sondern
der ebenso notwendig mit dem Ich gesetzt ist wie dieses
selbst. Das Selbstbewußtsein oder das Wissend-Werden
ist das allgemeine Schicksal, die Tragik des Menschen. Aus
ihm allein folgt der transzendentale Wille. Wissen heißt
die Tatsache kennen und sie doch anders denken können.
Diesem Zwang des Zufalls müssen wir entgehen. Erst die
Notwendigkeit gibt uns die Freiheit, weil uns nicht mehr
der Zufall zwingt. Der transzendentale Wille ist der Wille
nach Notwendigkeit oder Form. Die Welt muß gestaltet
werden, daß sie als notwendig und nicht als Zufall erlebt
wird. Was diesen reinen Willen befriedigt, ist das objektiv
Wertvolle. Dieser Wille ist für die Psychologie empirisch
da als das gemeinsame Gesetz der selbstbewußten Monaden.
Er allein ist aber auch transzendental notwendig, weil er
nur das Selbstbewußtsein als Schicksal überhaupt voraus-
setzt, nicht empirisch durch eine Verallgemeinerung gewon-
nen ist. Was den Willen nach Notwendigkeit oder Form
befriedigt, ist selbst notwendig. Was für ihn geschaffen
wird, existiert in der Welt des Geistes nicht nur subjektiv.
Damit gelangt auch die Geschichte zu einer objektiven
Wirklichkeit. Der Geist, der für den reinen Willen schafft,
ist der objektive Geist. Nur seine Taten sind wirklich,
sind zeitlos, weil der Wille zeitlos und überindividuell ist.
Diesen einen zeitlosen Geist, die objektive psychische Wirk-
lichkeit kann allein die wertende Vernunft durch eine Ana-
lyse der Gestaltungen des reinen Wollens konstituieren.
Strich, Prinzipien. 23
— 354 —
Schluß; Der Monismus.
Unsere Untersuchung hat den Nachweis erbracht, daß
wir die Welt als Zeit und Raum denken. Das Problem der
Wissenschaft ist die Verbindung der Zeitmomente. Der
Mechanismus denkt die Verbindung durch den Raum, weil
er in der Zeit existiert. Die Geschichte denkt das Geschehen
als die Zeit. Für sie gibt es nichts, was „in" der Zeit existiert.
Wenn ich gegen den Monismus überhaupt kämpfe, so ist
damit nicht gesagt, daß ich einen Dualismus der Welt und des
Außerweltlichen verteidigen will. Dieser ist als erkenntnis-
kritisches Problem überhaupt nicht zu diskutieren. Die
Erkenntniskritik kann nur einen Dualismus des Denkens
der Welt begründen. Das Außerweltliche ist eine Aus-
deutung, die keine logischen Motive heranziehen kann.
Man kann — und man hat es getan — rein logisch die beiden
Formen der Welt mit dem Göttlichen identifizieren. Spinoza
sah in der Zeitlosigkeit, der absoluten Gesetzmäßigkeit das
Göttliche. Ihm gegenüber steht die Reihe jener andern
Denker, in denen der uralte Gedanke fortlebt, daß die Materie,
die blinde Notwendigkeit, das Gottfeindliche ist. Der Geist
aber ist kritisch nichts anderes als das Leben. Von diesem
Standpunkt aus ist es eine subjektive Entscheidung, ob
man die schöpferische Tat oder die Notwendigkeit an sich
als das Wertvolle ansehen will. Das Außerweltliche beruht
nicht mehr auf einem Unterschied des Seins, sondern auf
dem des Wertes.
Von hier aus ist eine Unterscheidung von Religion als
einem System des Seins und dem religiösen Erlebnis
möglich. Die Religion bedeutet ein historisches Denken
der Welt. Die Welt ist die Zeit. Ein bestimmter Moment:
die Offenbarung, der Bund mit Gott oder der Abfall von
ihm, die Erscheinung des Messias, oder was es auch immer
sei, bestimmt den Fortgang bis zu dem neuen Moment,
der als einmalige Zeit bestimmt ist. Was man gewöhnlich
Glaube nennt, ist die Überzeugung von der Wahrheit dieser
— 355 —
Weltgeschichte. Seit alters her aber besteht ein Kampf
gegen diesen Glauben. Der Unglaube sträubt sich gegen
die historische Auffassung der Welt, in der er mit vollständigem
Recht ein Weitergehen der Mythologie sieht. Das Denken
selbst ist sich gleich geblieben, die eigene Mythologie wird nur
allein für wahr gehalten. Das historische oder mythologische
Moment aber braucht nicht das Wesen der Religion zu sein.
Freilich muß man sich letzten Endes über das Wort Religion
einigen. Der Glaube an die Wahrheit einer Geschichte ist
meiner Ansicht nach nicht das Wesen der Religion über-
haupt. Der Unglaube kämpft nicht gegen die Religion,
sondern gegen das Mythologische der Weltauffassung. Ab-
solut mythologisch ist der Erlösungstod Christi. Ich unter-
suche hier nicht die „Wahrheit" der Geschichte. Ich setze
auch nicht von vornherein Mythologie und Unwahrheit gleich.
Ich stelle die Frage nach WTahrheit überhaupt nicht. Der
Sinn der Mythologie liegt nicht darin, daß man ihren Inhalt
als unwahr bezeichnet, sondern im Prinzip ihres Denkens,
nämlich in dem Historischen. Erst von dieser Auffassung
aus ist eine logische Entscheidung möglich. Das absolut
Mythologische des Christentums liegt darin, daß der eine
Moment des Todes Christi für die Welt entscheidend sein
soll. Das Schicksal der Zeit vorher ist bestimmt dadurch,
daß Christus damals nicht den Kreuzestod erlitten hat,
das Schicksal der Folgezeit durch ihn. Für den reinen Bud-
dhismus existiert ein solch historischer Moment nicht, für
seine Auffassung der Welt ist es gleichgültig, wann Buddha
gelebt hat. Die Zeit vor ihm hat deswegen ebensowenig
ein anderes Schicksal wie die Zeit nach ihm. Der sogenannte
Atheismus des Buddhismus wurzelt in der unhistorischen
Auffassung der Welt. Die Mystik liegt im Kampfe mit dem
Dogma, weil sie die Bedeutung eines historischen
Moments für die WTelt nicht als das Entscheidende ansehen
will. Sie wendet sich gegen das konkret Historische. Damit
betone ich einen Unterschied innerhalb des Historischen
23*
— 356 —
selbst. Mir scheint die tiefste Wurzel der Religiosität allerdings
in dem Bewußtsein der historischen Vernunft zu liegen, in
dem Bewußtsein des Gegensatzes zwischen notwendigem Sein
und dem Werden der Tat. Der Geist verlangt eine Not-
wendigkeit der Zeit, die die Erkenntnis nicht bietet. Hier
kann nur der Glaube entscheiden. Aber in einem andern
Sinn, als wir es eben fanden. Der Glaube hat kein Sein zum
Gegenstand mehr, sondern den Wert. Wir glauben an den
Wert unserer Taten; dies nennen wir Gewissen. Die Folge
jenes Bewußtseins des Wertes des Selbstgeschaffenen ist
das Gefühl der eigenen Notwendigkeit, der eigenen Recht-
fertigung. Der tätige Geist ist notwendig, nicht weil er ist,
sondern weil sein Werk sein soll. Der Glaube an das Sollen
als den überpersönlichen Willen, für den man schafft, und
an das Gelingen der Tat ist Religion. Der Glaube an das
Sollen und an das Sein unterscheidet Mythologie und Religion
oder mit anderer Namensnennung: Religion und Mystik.
Man kann auch sagen, daß in der Religion das Psychologische
nicht ausgeschaltet werden kann. Es gilt hier kein objektives
Sein zu konstruieren, sondern das Psychologische, das Ge-
wissen ist dem Wissen gegenüber das Entscheidende. Es
ist der Triumph des Intellekts über den Willen, wenn man
das Sollen noch durch ein Sein verteidigen muß. Du kannst,
denn Du sollst, ist eine Synthese a priori, die nicht a poste-
riori — wäre es auch eine Offenbarung — bewiesen werden
muß. Vielleicht triumphiert in uns allen der Intellekt über
den Willen. Nur die persönliche transzendente Metaphysik
als letzte persönliche Überzeugung kann uns dann retten,
keine gegebene Wahrheit. Es gibt eine Religion des Willens
und eine Religion des Intellekts. Irreligiös ist nur der an
keiner Objektivität orientierte Egoismus und der ziellose
Nihilismus. Das Wesen der Religion liegt in dem Erleben des
Sollens um des Sollens willen, der Einheit des empirischen
Ich mit seinem transzendenten, d. h. des Gelingens des
reinen Wollens. Aber selbstverständlich ist das Wesen der
— 357 —
Religion mit diesen kurzen Bemerkungen nicht erschöpft.
Nun glaube ich, daß alle Wurzeln des religiösen Erlebnisses
in dem Kontrast von Freiheit und Notwendigkeit enden.
Für die Philosophie ist das kritische Resultat nur, daß die
Welt nicht monistisch gedacht werden kann. Meines Erachtens
gibt es überhaupt nur einen Versuch des kritischen Denkens,
einen Monismus zu konstruieren: das Bergsonsche System.
Wohl gibt es historische Vorläufer, von der Emanationstheorie
aus bis zu Schelling und auch Hegel. Das Neue an Bergson
ist der Versuch eines empirischen Monismus trotz der alier-
schärfsten Kontrastierung des Lebens und des Mechanismus.
Ich zeigte, daß es nur zwei Möglichkeiten für den Monismus
gibt. Entweder der Begriff des Lebens ist ein Irrtum, die
Konsequenz, zu der der Spinozismus führen muß, oder der
Mechanismus ist ein Irrtum, der Standpunkt jeder Mythologie.
Bergson entscheidet sich für das zweite. Das mechanistische
Denken ist an der Wahrheit gemessen ein Irrtum. Es ist
nur praktisch notwendig zum Handeln. Interessant ist hier
der Vergleich mit Kant, der prinzipell etwas Ähnliches,
inhaltlich aber gerade das Gegenteil behauptet. Wie für
ihn zwar die Erkenntnis durch den Zweck für die lebendige
Natur notwendig, aber doch kein konstitutives sondern
nur ein regulatives Prinzip der Erkenntnis ist, so kann man
umgekehrt von Bergson sagen, daß er den Mechanismus
für kein konstitutives sondern nur für ein regulatives Prinzip der
Erkenntnis hält. Für ihn ist die Wirklichkeit das Leben,
das in der Materie nur faul wird und nicht mehr schöpferisch
ist. Darum ist es für uns berechenbar. Wir brauchen nur
von der Tatkraft Überraschungen zu fürchten. Aber dieser
grandiose Gedanke ist doch keine kritische Lösung des
Problems.
Ich versuchte das Denken bis zu seinem letzten Grund
zu analysieren und erreichte ihn, wenn man es so nennen
will, in einem formalen Monismus, in dem Begriff oder der
Kategorie der Tat. Gerade weil wir aber über das Formale in
— 358 —
dem Denken nicht mehr hinauskommen können, deshalb exi-
stiert für unser inhaltliches Denken das Ende als Dualismus.
Die Kategorie der Tat, in der wir auch das Tote denken müssen,
weil wir es als Bewegung und nicht als Sein denken, erkennt
nicht. Erst der Wille, das Ziel, der Zweck bedeutet die Er-
kenntnis der Tat. Diesen Willen als Prinzip der Erkenntnis
können wir aber nur da zugrunde legen, wo eine Einheit als
Zeitgröße existiert, wo die Zukunft noch dasselbe vorfindet,
was früher existierte, wo der spätere Moment ein Moment
des Lebens ist. Wir würden die Welt verstehen, wenn wir
erkennen könnten, was durch die Gravitation für die Zeit, für
das Leben der Masse erreicht wird, was an ihr gewollt ist.
Wenn wir aber auch das Tote als eine Ermattung des Lebens-
schwunges auffassen, so wird das Leben ein leeres Wort. Es ist
nicht praktisch notwendig, dieses Leben mechanistisch zu
denken, sondern wir können es nicht als Leben denken. Das
Aufgeben der Mythologie ist nicht allein aus den gesteigerten
Lebensansprüchen zu verstehen, sondern aus dem ethischen
Wollen, das sich selbst damit eine Tragik schuf, selbst wenn die
Errungenschaften der Kultur erst dadurch möglich wurden.
Wir müssen das Tote als Tat denken, aber können es nicht
als Wille denken, nicht als Phänomen von einer historischen
Größe aus, und darum nicht als Leben. In dem Moment,
wo wir das Tote lebendig denken, ist der Begriff des Lebens
transzendent und nicht mehr transzendental. Der Monismus
ist behauptet, aber es ist zugleich gesagt, daß das Dogma nie
erkannt werden kann. Die zwei Richtungen sind die erkenn-
bare Realität, die eine zugrunde liegende Kraft ein trans-
zendentes Dogma. Dieser Monismus muß jenseits der Er-
fahrung liegen, weil die Trennung in dem Denken eine absolute
ist. Ist es nur praktisch notwendig, das in Wirklichkeit
Lebendige mechanistisch zu denken, warum gibt es dann
eine absolute Grenze dieser Möglichkeit? Zugegeben: der
Mechanismus ist ein Irrtum. Warum hat dieser Irrtum eine
absolute Grenze, warum ist er dort nicht mehr möglich,
— 359 —
wo das Leben anfängt ? Wir kennen keine Grade des Lebens,
sondern nur den absoluten Gegensatz. Zugegeben die Idee
des Lebensschwunges in dem Leben selbst. Der Weg des
Toten zu dem Lebendigen ist — ganz abgesehen von dem
historischen Weg — denkend nicht zu fassen. Die
Metaphysik kann eben niemals die Fortsetzung einer
Seite der Realität sein. Sie kann die Realität nur durch
etwas ganz Neues rechtfertigen. Die kosmologische Hypo-
these Bergsons hätte nur dann Sinn, wenn wir den
geringsten Anhaltspunkt im Denken hätten, einen Grad
des Lebens zu erfassen. Hier stoßen wir meines Erachtens
auf einen Irrtum in seinem Denken. Er hat nicht gesehen,
daß jeder Mechanismus des Lebens nur ein Schein ist. Sein
letzter Fehler ist der empirische Ausgangspunkt, das Absehen
von der Erkenntniskritik. Es ist ein psychologistischer
Schein, wenn man das Leben auch für mechanistisch bedingt
hält, wenn man Grade der Freiheit anerkennt. Die Gewohn-
heit „wirkt" mechanisch, die Reaktion auf den elektrischen
Strom ,, sieht" mechanisch aus, eine Zwangsvorstellung
scheint dem Gefühl nach mechanisch entstanden zu sein.
Dieses Aussehen aber ist kein Grund für die kritische Meta-
physik. Es gibt eine absolute Entscheidung. Führen wir
etwas auf ein früheres Ereignis zurück, oder suchen wir sie
alle aus dem Zeitlosen zu begreifen. Denken wir historisch
oder nicht. Ich will damit nicht sagen, daß die Praxis heute
dies in allen Fällen entscheiden kann. Ich weiß nicht, wie
der Stand der heutigen Wissenschaft ist, ob man sich begnügt,
die Bewegung des Infusoriums zum elektrischen Pol als
eine Reaktion aufzufassen oder als Wirkung des elektrischen
Stroms auf die Materie. Eine von beiden Möglichkeiten
aber nur kann richtig sein. Es gibt eine mechanische Beein-
flussung des Lebens, aber sie beruht gerade darauf, daß
wir eine absolute Trennung machen können, was Leben und
was Mechanismus ist. Es ist ebenso unmöglich, das Leben
aus dem Toten zu entwickeln wie das Tote aus dem Leben-
— 360 —
digen. Leben und Tod sind korrelative Begriffe. Der Lebens-
schwung verliert seinen Sinn, wenn man ihn nicht aus-
schließlich auf das Leben bezieht, auf die Zeit, die in der
Ewigkeit anfängt.
Der kritische Dualismus beruht auf dem verschiedenen
Prinzip des Lebens und der toten Natur. Es bedeutet schon
eine falsche metaphysische Orientierung, wenn man das Ursach-
denken als eine logische Forderung der Vernunft überhaupt
ansieht. Nur als Methode hat es eine Berechtigung, aber man
darf nicht von der metaphysischen Voraussetzung ausgehen,
daß diese Forderung im Umkreis des Wissens erfüllbar sein
muß. Man darf der Wissenschaft vorschreiben, das Ursach-
denken möglichst weit auszudehnen, aber man darf nicht
behaupten, daß dieses Denken mit Erkenntnis identisch
ist. Man würde damit einen unkritischen metaphysischen
Monismus voraussetzen. Allerdings wäre es eine Torheit,
im System des Mechanismus selbst einen Zweck als Ursache
anzunehmen. In der Konstruktion einer gesetzmäßigen
Welt kann dem Zweck kein Einfluß auf das Geschehen
eingeräumt werden. Aber gerade die eine gesetzmäßige
Welt ist die falsche Voraussetzung. Das Dogma des
Monismus liegt in der Annahme, daß das Denken nicht
nur die Geschichte des Toten, sondern auch die des Lebens
negieren kann.
Der Monismus kann kritisch nur richtig sein, wenn er
sich damit begnügt, daß die Welt die Zeit ist. Innerhalb
der Erkenntnis aber besteht ein diametraler Gegensatz: der
Versuch, die Zeit als Realität zu negieren und den Raum
zu konstruieren1, und die Unmöglichkeit dieses Versuchs
1 Von der „contingence", dem Historischen der Naturgesetze
war im Verlauf der Arbeit selbst die Rede. Selbst wenn die Natur-
wissenschaft durch die Erscheinung der Entropie einen einmaligen
Ablauf des irdischen Geschehens nachweisen kann, wird dadurch
doch nichts an der Zeitlosigkeit als dem Sinn der naturwissenschaft-
lichen Gesetze geändert.
— 361 —
für das Leben. Aus diesem läßt sich von vornherein kein
Sein konstruieren. Es läßt sich nicht erklären, es ist nur
Geschichte und als solche nacherlebbar oder nicht. Die
mechanistische Biologie hätte einen Sinn — wenn sie nicht
selbst eine contradictio in adjecto wäre, wenn sie die Zeit
für das Leben negieren könnte, wenn sie das Leben als
Irrtum nachweisen könnte, wenn sie Mechanismus und nicht
Biologie wäre. Sobald man sich von diesem Gegensatz
überzeugt hat, gibt es keinen Grund gegen den Zweck in der
Natur. Den Zweck anerkennen heißt von der Unmöglichkeit
überzeugt sein, das Leben anders denn als Geschichte denken
zu können. Sobald man erkannt hat, daß es unmöglich
ist, das Leben als ein gesetzmäßiges Sein zu erklären, hat
man erkannt, daß es unerklärbare Schöpfung und Tat ist.
Dann fehlt jeder logische Grund, den Zweck nicht als das
Bestimmende in der lebendigen Natur anzusehen. Dieser
kritische Vitalismus ist nicht dadurch zu widerlegen, daß
es unlogisch wäre, eine neue Kraft im Raum anzunehmen,
denn er beruht ja gerade darauf, daß das Leben nicht als
Raum existiert.
Mit dem Dualismus ist allerdings gesagt, daß das psycho-
physische Problem logisch unlösbar ist. Andernfalls be-
stünde kein Dualismus innerhalb der Vernunft. Wohl aber
lassen sich wenigstens die Irrtümer beseitigen, durch die
die Elementarpsychologie das Problem verwirrt hat. Gerade
die Erfahrungen der Psychiatrie, auf die sich der psycho-
physische Parallelismus so gern stützen möchte, beweisen
die Unmöglichkeit der Lösung des Problems. Es besteht
eine absolute Kluft zwischen dem Verstehen des psychischen
Lebens und dem Aufzeigen von Raumzusammenhängen im
Körper. Wie die Lokalisationstheorie es, abgesehen von den
Bewegungen der Muskeln, wobei man eben Raum mit Raum
verbindet, nicht weiter gebracht hat, als die Funktion, das
Sehen aber nicht das Gesehene, zu lokalisieren, so gelangt
auch die somatische Pathologie nicht weiter, als die all-
— 362 —
gemeine Möglichkeit des Psycho-Pathologischen, die psycho-
pathische Konstitution durch Drüsenerkrankungen usw. zu
begründen. Es ist anzunehmen, daß die Psychiatrie durch
diese Entdeckungen noch viel weiter kommen wird. Eine
Brücke zu dem Verständnis des geistigen Inhalts gibt es
aber auch von hier aus nicht.
Die Eigenart der Geschichte besteht in dem Neben-
einander der beiden Denkprinzipien. Die Zeit ist freilich auch
bedingt durch die Kausalität. In der allgemeinen Geschichte
wiederholt sich damit nur das, was wir auch im Leben des
Einzelnen feststellen. Die Wahrnehmung ist nicht psycho-
logisch zu begreifen, sie bedeutet die aufgezwungene Wirk-
lichkeit. Genau so ist eine Hungersnot oder alles das,
was von materiellen Konstellationen abhängt, für die Ge-
schichte dira recessitas. Damit wird aber logisch noch keine
materialistische Geschichtsauffassung oder keine kausale
Psychologie begründet. Die Geschichte des Lebens ist gebunden
an die gesetzmäßige Veränderung des Toten. Diese bestimmt
den Gegenstand des zeitlichen Erlebens. Aber die Zu-
sammenhänge des Lebens und der Geschichte selbst sind
nicht mehr durch ihre Gesetzmäßigkeit zu begreifen. Wir
verstehen die Geschichte, in dem wir alles das, was Gegen-
stand der Erklärung sein kann, ein für allemal als die
gegebene Voraussetzung hinnehmen. Für das Leben des
Einzelnen aber, für seine Welt ist alles dira recessitas,
was nicht aus seiner Spontaneität quillt. Für die Erkennt-
nis ist auch der Andere nur Gegenstand in meiner Welt.
Wir behaupten also nicht, daß das Leben ohne Zusam-
menhang mit der Kausalität abläuft. In dem Zusammen-
hang liegt die Wurzel zu der Idee des empirischen Schick-
sals im Gegensatz zum ethischen. Das erlebende Ich ist
gebunden an das zu erlebende Nicht-Ich. Aber die Ge-
setze des Nicht-Ichbestimmen nicht die Art der Erlebnisse, ihre
Verwendung oder ihre Zusammenhänge. Unsere Lebens-
Realität, die Weltgeschichte, läßt sich weder allein vom
— 363 —
Ich noch vom Nicht-Ich aus begreifen. Das heißt: Der
Monismus ist ein falsches Dogma wegen des Dualis-
mus von Zeit und Raum, Wille und Kausalität, Leben
und Tod, Zweck und Ursache, Geschichte und Natur-
wissenschaft — von historischer und reiner Vernunft.
Carl Winters Universitätsbuchhandlung, Heidelberg
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Artur Diu \vs, a. o. Professor an der Technischen Hochschule
in Karlsruhe. Mit biographischer Einleitung und dem Bilde
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rischen Stellung von M. Kronenberg. 8°. geh. 3 M. 20.
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