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Full text of "Prinzipien der psychologischen Erkenntnis; Prolegomena zu einer Kritik der historischen Vernunft"

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I  , 


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Beiträge  zur  Philosophie 

s—  


PRINZIPIEN 

der  psychologischen  Erkenntnis 

Prolegomena 
zu  einer  Kritik  der  historischen  Vernunft 


von 


WALTER  STRICH 


Heidelberg   1914 
Carl  Winters   Universitätsbuchhandlung 

Verlags-Nr.  1098. 


Carl    Winters    Universitätsbuchhandlung    in    Heidelberg 

Früher  erschienen: 

Beiträge  zur  Philosophie 

1.  Schillers  Ästhetik  im  Verhältnis  zur  Kantischen  von  Dr.  phil. 
Willy  Rosalewski.     8°.  geh.  3  M.  60. 

2.  Zum  Streit  über  die  Grundlagen  der  Mathematik.  Eine  er- 
kenntnistheoretische Studie  von  Prof.  Dr.  Richard  Hönigswald, 
Breslau.     8°.  geh.  2  M.  60. 

3.  Die  wissenschaftliche  Idee.  Ein  Entwurf  über  ihre  Form  von 
Hellmuth  Plessner.     8°.  geh.  3  M.  80. 

4.  Philosophische  Kunstwissenschaft.  Von  Dr.  Erich  Bernheimer. 
8°.  geh.  8  M. 


Soeben  erschien: 

Das  Gefühl  und  die  Pädagogik.     Von  Dr.  Otto  von  der  Pfordten, 
Professor  an  der  Universität  Straßburg.     8°.  geh.  3  M  40. 

Vom  gleichen  Verfasser  sind  erschienen: 

Versuch  einer  Theorie  von  Urteil  und  Begriff     .     .     .  2  M. 

Vorfragen  der  Naturphilosophie 3  M.  80 

Konformismus.     Eine  Philosophie  der  normativen  Werke. 

I.  Theoretische  Grundlegung 4M. 

II.  Psychologie  des  Geistes 6  M. 

III.  Die  Grundurteile  der  Philosophie.    Eine  Ergän- 
zung zur  Geschichte  der  Philosophie.  1.  Hälfte. 

Griechenland 8  M.  20 


Beiträge  zur  Philosophie 

s—  — 


PRINZIPIEN 

der  psychologischen  Erkenntnis 

Prolegomena 
zu  einer  Kritik  der  historischen  Vernunft 


von 


WALTER  STRICH 


Heidelberg  1914 
Carl  Winters   Universitätsbuchhandlung 


•erlags-Nr.  1098. 


Dem  Andenken 
meines  Onkels  Alexander  Bernstein 


Vorwort. 

Die  Zusammengehörigkeit  von  Psychologie  und  Geistes- 
wissenschaft ist  wohl  selbstverständlich.  Betrachtet  man  aber 
unsere  heutige  wissenschaftliche  Psychologie,  so  bleibt  dieser 
Zusammenhang  nur  ein  Wort.  Es  gibt  keine  Brücke  von  ihr 
zu  den  Geisteswissenschaften.  Man  hat  dies  auch  gesehen 
und  eine  Trennung  innerhalb  der  Psychologie  befürwortet. 
Man  scheidet  die  Beschreibung  der  lebenden  Persönlich- 
keiten von  der  erklärenden  naturwissenschaftlichen  Psycho- 
logie. Ich  habe  mich  zu  zeigen  bemüht,  daß  diese  Trennung 
logisch  nicht  zu  Recht  besteht,  daß  eine  erklärende  Psycho- 
logie unmöglich  ist.  Es  kam  mir  auf  den  Nachweis  an,  daß 
unsere  empirisch-psychologische  Erkenntnis  stets  nur  Indi- 
vidualpsychologie  sein  kann.  Der  Gegensatz  sollte  aber 
nicht  lauten:  Beschreiben  und  Erklären,  sondern:  Ver- 
stehen und  Erklären.  Das  Verstehen  des  psychischen  Lebens 
bildet  zugleich  die  Grundlage  der  Geisteswissenschaft.  Ich 
behaupte  aber  nicht,  daß  diese  damit  erschöpft  ist.  Sie 
bestünde  vielmehr  in  einer  Lehre  von  dem  Bewußtsein  über- 
haupt, nicht  in  einer  Theorie  seiner  Gesetzmäßigkeit,  sondern 
in  dem  Verständnis  seiner  möglichen  Reaktionen  und 
Formungen,  denen  die  verschiedenen  Kultursysteme  ent- 
sprechen. Eine  solche  systematische  Transzendentalpsycho- 
logie bildet  dann  die  Grundlage  der  Geistesgeschichte.  In 
ihr  liegt  der  Beziehungspunkt  für  den  historischen  Vergleich. 
Eine  Kritik  der  historischen  Vernunft  hat  in  letzter  Linie 
die  Geistesgeschichte  zu  begründen.  ObwTohl  nun  von  diesem 
Problem  in  der  vorliegenden  Arbeit  gar  nicht  die  Rede  ist, 
habe  ich  doch  nicht  auf  den  Titel  „Prolegomena  zu  einer 
Kritik  der  historischen  Vernunft"  verzichtet.    Mir  kam  es 


VI 

auch  hier  auf  die  prinzipielle  Versöhnung  von  Psychologie 
und  Geschichte  an,  indem  ich  mich  zu  zeigen  bemühte,  daß 
die  Psychologie  nach  ihren  logischen  Grundlagen  schon 
historische  Erkenntnis  bedeutet.  Die  vermeintlich  natur- 
wissenschaftliche Psychologie  kann  niemals  eine  Geistes- 
geschichte begründen.  Die  oben  erwähnte  Trennung  inner- 
halb der  psychologischen  Erkenntnis  kann  aber  für  das 
kritische  Denken  keine  Lösung  des  Problems  bedeuten, 
sondern  verschärft  nur  den  Konflikt.  Bevor  man  an  eine 
Begründung  der  Transzendentalpsychologie  oder  der  Geistes- 
wissenschaften und  der  Geistesgeschichte  herangehen  kann, 
ist  es  notwendig,  erst  allgemein  die  Erkenntnis  des  Psychi- 
schen im  Gegensatz  zur  Naturwissenschaft  zu  begründen. 
Dieser  Vergleich  stößt  schon  auf  den  Gegensatz  des  histori- 
schen und  des  mechanistischen  Denkens.  Und  darum  be- 
deutet die  Analyse  der  psychologischen  Erkenntnis  wirk- 
lich eine  Vorarbeit  zu  einer  Kritik  der  historischen  Vernunft 
als  Grundlegung  der  Geschichte. 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Einleitung:    Psychologie  und  Philosophie 1 

Kapitel      I.   Der  Gegenstand  der  Psychologie.     Das  Bewußtsein 

und  der  Raum 6 

,,         II.   Der  inhaltliche  Zusammenhang  des  Bewußtseins  .  53 

„       III.   Der  Wille 92 

IV.   Das   Gedächtnis 247 

V.  Verstehen  und  Erklären 298 

Schluß:   Der  Monismus 354 


Einleitung: 

Psychologie  und  Philosophie. 

Es  ist  ein  seltsames  Mißverständnis  der  kritischen 
Philosophie,  wenn  man  die  neueren  Strömungen,  die  sich 
allerorten  bemerkbar  machen,  als  biologische  Modetendenzen 
herabsetzt.  Ich  will  damit  keine  Popularphilosophie  ver- 
teidigen, vielmehr  halte  ich  es  gerade  für  die  Pflicht  der 
kritischen  Philosophie,  sich  mit  derartigen  Problemen  zu 
beschäftigen.  Zweifellos  ist  auch  der  Psychologismus  ein 
Symptom  dieser  Strömung,  und  man  kann  gar  nicht  genug 
gegen  die  Verfälschung  der  Logik  durch  die  Psychologie 
kämpfen.  Völlig  verkehrt  ist  es  aber,  wenn  man  die  Psycho- 
logie überhaupt  für  die  Philosophie  ablehnt.  Es  wird  geradezu 
widersinnig,  wenn  man  vom  Idealismus  aus  die  Kultur  als 
Tat  des  Geistes  begreift.  Nun  ist  dieser  Kampf  gegen  die 
Psychologie  begreiflich,  wenn  man  sich  an  die  heutige  Wissen- 
schaft hält.  Setzt  man  voraus,  daß  sie  prinzipiell  in  ihrer 
Fragestellung  richtig  ist,  so  ist  es  leicht,  nachzuweisen,  daß 
sie  mit  Philosophie  schlechterdings  nichts  zu  tun  hat.  Daß 
die  Philosophie  identisch  ist  mit  Psychologie,  diese  Be- 
hauptung liegt  mir  ganz  fern.  Ebenso  wenig  wie  man  aber 
kritisch  Philosophie  ohne  Naturwissenschaft  treiben  kann, 
kann  man  es  ohne  Psychologie.  Man  kann  vielleicht  sagen, 
daß  die  kritische  Erkenntnistheorie  und  die  darauf  begrün- 
dete Metaphysik  nichts  anderes  ist  als  die  Auseinander- 
setzung der  psychologischen  mit  der  naturwissenschaft- 
lichen Erkenntnis.  Jedenfalls  scheint  es  mir  klar,  daß  die 
einseitige  Orientierung  an  der  Naturwissenschaft  zu  einer 
Metaphysik  führt,  die  dem  Problem  des  Lebens  und  der 
Geschichte    nicht    gerecht    werden    kann.     Und    schließlich 

Strich,  Prinzipien.  1 


—  2  — 

ist  unsere  heutige  falsche  Psychologie  auch  die  Schuld 
jener  Einseitigkeit.  Den  Hauptanteil  daran  trägt  —  Kant, 
insofern  er  nämlich  der  falschen  Psychologie  im  Prinzip 
eine  logische  Rechtfertigung  gab.  Man  muß  bei  der  Frage 
nach  der  Stellung  der  Psychologie  in  dem  Kantschen  System 
Zweierlei  auseinanderhalten.  Das  Positive,  nämlich  das 
spezifisch  Psychologische,  das  in  seiner  Erkenntnistheorie 
steckt,  lasse  ich  unerörtert;  viel  wichtiger  ist  das  Negative. 
Der  schwerwiegendste  Fehler  seines  Systems  scheint  mir 
nämlich  darin  zu  liegen,  daß  er  die  Psychologie  nicht  selbst 
mit  zum  Gegenstand  der  Erkenntnistheorie  gemacht  hat. 

An  sich  wäre  dieses  Unterlassen  noch  kein  Fehler.  Bei 
Kant  liegt  es  aber  so,  daß  seine  Erkenntnistheorie  der  Natur- 
wissenschaft die  Erkenntnistheorie  überhaupt  bedeutet,  die 
deswegen  auch  die  gesamte  Metaphysik  zu  vertreten  hat. 
Damit  ist  in  Wahrheit  gerade  vom  idealistischen  Standpunkt 
aus  eine  Gleichsetzung  von  Natur  und  Geist  vorausgesetzt, 
auf  die  sich  Kant  in  seiner  Ethik  auch  wirklich  stützt, 
um  sie  hinterher  dogmatisch  oder  unkritisch-metaphysisch  zu 
überwinden.  Gerade  von  diesem  Standpunkt  aus  aber, 
den  auch  ich  zu  vertreten  behaupte,  ist  es  nicht  angängig, 
die  Erkenntnistheorie  und  damit  die  kritische  Metaphysik 
allein  auf  die  Naturwissenschaft  zu  gründen.  Die  Geistes- 
wissenschaften oder,  wie  wir  noch  sehen  werden,  die  histori- 
schen Wissenschaften,  haben  zum  mindesten  das  gleiche 
Recht,  eher  aber  die  Priorität,  weil  auch  die  Naturwissen- 
schaft als  Tat  des  Geistes  begriffen  werden  muß.  Um  mich 
gegen  den  Vorwurf  des  Psychologismus  zu  verwahren,  möchte 
ich  noch  einmal  bemerken,  daß  man  von  der  bestehenden 
Psychologie  mit  all  ihren  Prinzipien  und  Fragestellungen 
zunächst  absehen  muß.  Sie  will  ich  nicht  verteidigen,  son- 
dern im  Gegenteil  widerlegen.  Ich  spreche  nur  von  dem 
Wissen  des  Psychischen.  Durch  seine  kritische  Grund- 
legung kann  allein  der  Streit  zwischen  Philosophie  und  Psycho- 
logie geschlichtet  werden. 


—  3  — 

Man  kann  das  Kantsche  System  einen  erkenntnis- 
theoretischen Monismus  nennen.  Dies  zeigt  sich  eben  darin, 
daß  die  naturwissenschaftliche  Erfahrung  als  „die  Erfahrung 
überhaupt"  hingestellt  wird.  Gerade  vom  Standpunkt  des 
Idealismus  aus  wäre  aber  damit  zugleich  ein  metaphysischer 
Monismus  behauptet.  Die  Identifizierung  von  Welt  und  Raum 
ist  ein  völlig  unkritisches  Dogma.  Nur  eine  Konsequenz  dieser 
Behauptung  ist  die  Forderung,  daß  die  letzten  Prinzipien 
der  mathematischen  Naturwissenschaft  auch  für  die  Er- 
kenntnis des  psychischen  und,  wie  ich  gleich  bemerken  will, 
des  biologischen  Geschehens  normativ  und  konstituierend 
sein  sollen.  Der  Streit  zwischen  Mechanismus  und  Vitalis- 
mus, Ursache  und  Zweck,  Monismus  und  Dualismus  kann 
einzig  und  allein  durch  die  Erkenntniskritik  im  Sinne  Kants, 
aber  im  Gegensatz  zu  seinem  eigenen  System  geschlichtet 
werden.  Gelangt  diese  zu  dem  Resultat,  daß  es  nur  eine  Art 
Erkenntnis  gibt,  so  ist  der  Monismus  im  Recht.  Verschie- 
dene Gegenstände  können  keinen  kritischen  Dualismus  be- 
gründen, wenn  ihre  Verschiedenheit  nicht  in  der  Art  der 
Erkenntnis  begründet  liegt. 

Ich  spreche  absichtlich  allgemein  von  Arten  der  Er- 
kenntnis, um  einem  Wortstreit  aus  dem  Wege  zu  gehen. 
Hält  man  an  dem  spezifischen  Sinn  fest,  den  Kant  dem 
Begriff  „Erfahrung"  gegeben  hat,  so  kann  man,  wie  wir 
noch  sehen  werden,  allerdings  keine  andere  Erfahrung  an- 
erkennen, als  die  Naturwissenschaft.  Der  erkenntniskritische 
Dualismus  ist  aber  gerade  darin  begründet,  daß  diese  Er- 
fahrung unsere  Erkenntnis  im  allgemeinen  nicht  erschöpft. 
Ich  brauche  wohl  kaum  zu  bemerken,  daß  es  dabei  nur  auf 
den  logisch-erkenntniskritischen  Begriff  der  Erfahrung  an- 
kommt. Daß  auch  jene  andere,  noch  nicht  bestimmte  Art 
der  Erkenntnis  auf  Erfahren  im  psychologischen  Sinne  be- 
ruht, soll  natürlich  nicht  bestritten  werden.  Lediglich  auf 
die  Verschiedenheit  der  Prinzipien  der  Erkenntnis  kommt  es 
an.   Von  diesem  Standpunkt  aus  ist  es  z.  B.  ein  unkritisches 

1* 


—  4  — 

Dogma,  daß  die  Handlung  des  Menschen  als  Teil  der  Natur 
kausal  bestimmt  sei,  wie  es  Kant  annimmt,  und  weshalb 
er  sich  in  seiner  Ethik  nur  mit  einem  anderen  unkritischen 
Dogma  aus  dem  Monismus  herausretten  kann.  Die  Über- 
tragung der  Kausalität  auf  das  Psychische  ist  ein  Verstoß 
gegen  die  transzendentale  Logik.  Erkenntniskritisch  be- 
deutet es  eine  ungerechtfertigte  Gleichsetzung  von  Natur- 
erfahrung und  psychologischer  Erkenntnis.  Denn  vom  idealisti- 
schen Standpunkt  aus  kann  ja  nur  die  Erkenntnis  die  spe- 
zifische Art  des  Seins  begründen. 

Das  Dogma  von  Kant  besteht  also  in  der  Identifizierung 
der  reinen  Vernunft  mit  der  erkennenden  Vernunft  über- 
haupt. Seine  Erkenntniskritik  muß  ergänzt  werden  durch 
eine  Kritik  der  historischen  Vernunft,  die  allerdings  keine 
Erfahrung  in  seinem  Sinne  begründen  kann.  Aber  darin 
steckt  eben  der  unvermeidliche  Dualismus  der  Vernunft 
oder  der  Welt  überhaupt. 

Nun  aber  das  Problem  der  Methode!  Bestünde  wirk- 
lich die  erkenntniskritische  Aufgabe  nur  in  der  Analyse 
einer  gegebenen  Wissenschaft,  wie  es  die  Newtonsche  Natur- 
wissenschaft ist,  so  wäre  uns  der  Weg  abgeschnitten.  Denn 
es  gibt  nicht  im  selben  Sinne  eine  Psychologie,  auf  die  eine 
solche  Analyse  anwendbar  wäre.  Diese  Spezialisierung  ist 
aber  für  die  Erkenntniskritik  auch  nicht  notwendig.  Kant 
hat  gar  nicht  an  die  Newtonsche  Naturwissenschaft  an- 
geknüpft, sondern  nur  an  die  formale  Möglichkeit,  aus  der 
Natur  im  Raum  ein  wissenschaftliches  System  zu  konstruieren, 
also  nur  an  den  Begriff  einer  Naturerkenntnis  überhaupt. 
Nur  soweit  kann  auch  die  Analyse  der  Urteile  reichen,  von 
der  Kant  doch  ausgeht.  Hätte  er  wirklich  ein  inhaltlich 
wissenschaftliches  System  seiner  Theorie  zugrunde  gelegt, 
so  wäre  der  Einwand  berechtigt,  daß  sie  philosophisch 
ephemär  und  zufällig  sei.  In  jener  Methode  aber  können 
wir  ihm  folgen.  Es  gibt  zweifellos  eine  psychologische  Er- 
kenntnis,  wenn   es   auch   meines    Erachtens   keine   richtige 


—  5  — 

Wissenschaft  „Psychologie"  gibt.  Und  diese  Erkenntnis, 
die  sich  im  Gegensatz  zu  der  Raumerkenntnis  als  historische 
herausstellen  wird,  gilt  es  auf  ihre  Prinzipien  hin  zu  analy- 
sieren. 

Ich  wiederhole:  Schon  der  Nachweis,  daß  es  keine 
Psychologie  als  Erfahrung  im  Sinne  Kants  geben  kann,  ist 
ein  Erfolg;  denn  damit  fällt  vom  Standpunkt  der  idealisti- 
schen Erkenntniskritik  sofort  das  Dogma  von  der  kausalen 
Bestimmtheit  der  Handlung  fort,  da  ja  diese  nur  als  Prinzip 
dieser  Erfahrung  logisch  begründet  ist.  Kant  hat  die  Prin- 
zipien der  Erkenntnis  der  Welt  im  Raum  begründet.  Es  gilt 
die  davon  unabhängige  Erkenntnis  der  historischen  Welt 
zu  begründen.  Der  Sinn  dieser  Gegenüberstellung  wird  noch 
deutlich  werden.  Kant  hat  die  Erkenntnis  nur  soweit  unter- 
sucht, wie  sie  an  den  Raum  gebunden  ist.  Daneben  aber 
gibt  es  eine  Erkenntnis,  die  gerade  durch  den  Mangel  des 
Raums  als  Methode  zu  charakterisieren  ist. 

Es  ist  bei  der  Art  unserer  Untersuchung  selbstverständ- 
lich, daß  wir  unsern  Ausgangspunkt  nicht  bei  dem  psychi- 
schen Moment  des  Erfahrens  nehmen.  Die  falsche  Theorie 
der  Selbstbeobachtung  oder  der  inneren  Wahrnehmung 
werden  wir  im  Laufe  der  Arbeit  allerdings  zu  kritisieren 
haben.  Ebenso  nichtssagend  ist  aber  für  uns  die  Gegenüber- 
stellung von  mittelbarer  und  unmittelbarer  Erfahrung,  die 
sich  zu  einem  Begriff  der  Erfahrung  ergänzen  sollen.  Für  uns 
kommt  es  gerade  darauf  an,  die  logischen  Verschieden- 
heiten festzustellen,  die  sich  durch  den  verschiedenen  Stand- 
punkt ergeben.  Sonst  bleibt  die  Gegenüberstellung  im 
Psychologismus  stecken. 

Allgemein  philosophisch  kann  man  sagen:  Der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  kam  es  darauf  an,  den  Skeptizismus  zu 
widerlegen  durch  die  Begründung  des  Kausalitätsgesetzes; 
der  Kritik  der  historischen  Vernunft  kommt  es  ebenfalls 
darauf  an,  einen  Skeptizismus  zu  widerlegen,  nämlich  durch 
die     Begründung    der     Nicht- Kausalität    im     Psychischen. 


—  6  — 

Denn  philosophisch  muß  das  Dogma  von  der  kausalen  Be- 
stimmtheit des  Psychischen  natürlich  einen  Skeptizismus 
begründen.  Daß  Kant  Platz  geschaffen  hat  für  die  Freiheit 
des  Willens,  kann  man  ihm  nicht  zugestehen.  Nur  durch 
den  Dualismus  der  reinen  und  der  historischen  Vernunft 
läßt  sich  diese  begründen. 


I.  Der  Gegenstand  der  Psychologie.    Das  Bewußt- 
sein und  der  Raum. 

Es  gilt  zunächst  ganz  allgemein  das  psychische  Objekt 
als  Gegenstand  der  Erkenntnis  zu  bestimmen.  Dies  ist  ein 
keineswegs  einfaches  Problem.  Vor  allem  muß  man  sich 
klar  machen,  daß  es  durch  den  Begriff  des  Bewußtseins 
ebenso  wenig  gelöst  ist,  wie  durch  den  der  Seele.  Wir  müssen 
vielmehr  sofort  auf  die  Erkenntnis  im  allgemeinen  zurück- 
greifen, um  in  ihrem  Rahmen  die  Wesenhaftigkeit  des 
Spezifisch-Psychischen  zu  bestimmen.  Dies  hängt  aufs 
Engste  mit  jenem  oben  behaupteten  Dualismus  zusammen. 
Das  Psychische  ist  kein  besonderer  Gegenstand  neben  dem 
Raum,  der  ebenso  wie  dieser  der  Erfahrung  im  allgemeinen 
zugänglich  wäre.  Dieser  naive  Dualismus  seitens  der  Gegen- 
stände, der  notwendigerweise  dem  kritischen  —  oder  in 
diesem  Falle  eben  unkritischen  —  Monismus  der  Erkenntnis 
entspricht,  trägt  die  Schuld  an  unserer  ganzen  widersinnigen 
Psychologie.  Man  reißt  die  Welt  an  einem  Punkte  auseinander 
und  wundert  sich  dann,  daß  man  sie  nicht  mehr  zusammen- 
fügen kann.  In  Wirklichkeit  ist  man  noch  nicht  über  jenen 
Standpunkt  hinweggekommen,  der  in  dem  Psychischen  ein 
Abbild,  in  den  Vorstellungen  reale  Bilder,  etSoXa,  der 
wirklichen  Dinge  sah.  Ob  man  diese  Bilder  durch  Röhrchen 
ins  Gehirn  wandern  läßt,  oder  sie  als  kausale  Wirkungen 
der  realen  Dinge  im  Räume  ansieht,  ist  völlig  gleichgültig. 


—  7  — 

Nur  darauf  kommt  es  an,  daß  man  von  einer  realen  Wesens- 
\  erschiedenheit  der  Vorstellung  und  des  wirklichen  Dinges 
ausgeht.  Es  ist  üblich  geworden,  die  Wellenbewegung  für 
die  Ursache  des  Tons  auszugeben.  Diese  Anschauung  ist 
aber  völlig  unkritisch.  In  Wahrheit  ist  die  Wellenbewegung 
eine  Umdenkung  des  Tons,  niemals  aber  seine  Ursache. 
Ebenso  wenig  ist  ein  Körper  im  Raum  die  Ursache  seiner 
Wahrnehmung,  sondern  er  ist  der  Gegenstand  der  Wahr- 
nehmung —  naturwissenschaftlich  gedacht.  Hier  zeigt  es  sich, 
ob  man  den  Gegensatz  von  mittelbarer  und  unmittelbarer 
Erfahrung  kritisch  oder  psychologisch  faßt.  Besteht  der 
Unterschied  wirklich  nur  in  dem  Standpunkt  oder,  wie  wir 
sagen,  in  den  logischen  Prinzipien  des  Denkens,  dann  ist  das 
Psychische  kein  an  sich  vom  Physischen  verschieden  gegebener 
Gegenstand.  Dann  aber  ist  auch  die  Rede  von  der  kausalen 
Folge  des  Psychischen  durch  das  Räumliche  unsinnig.  Ab- 
strahiert man  bei  einer  Vorstellung  von  der  Existenz  des 
Gegenstandes  im  Raum,  so  bleibt  nicht  ein  aus  psychischen 
Elementen  bestehendes  Ding  ,, Vorstellung"  zurück,  sondern 
diese  Abstraktion  bedeutet  in  Wahrheit  nur  einen  Unter- 
schied des  Denkens  oder  Auffassens.  Das  eine  Mal  wird 
das  Phänomen  gedacht  als  Teil  des  Raumsystems  ,, Natur", 
das  andere  Mal  als  Teil  des  Zeitsystems  „Subjekt".  Faßt 
man  den  Unterschied  von  mittelbarer  und  unmittelbarer 
Erfahrung  in  diesem  kritischen  Sinne  auf,  so  hat  es  keinen 
Sinn  mehr,  von  ,, einer"  Erfahrung  und  verschiedenen  Gegen- 
ständen zu  sprechen,  wodurch  die  Psychologie  logisch  auf 
eine  Stufe  mit  der  Naturwissenschaft  zu  stehen  käme.  Viel- 
mehr wird  die  Verschiedenheit  der  Gegenstände,  Psychisches 
und  Physisches,  gerade  durch  den  Unterschied  der  logischen 
Denkarten  begründet. 

Wir  stoßen  also  hier  schon  auf  den  Grundirrtum  der 
psychologischen  und  daraufhin  der  metaphysischen  An- 
schauung, den  man  auf  das  Primat  des  Raumdenkens  zu- 
rückführen oder  eine  Verfälschung  durch  dieses  nennen  kann. 


—  8  — 

Man  konstruiert  neben  dem  wirklichen,  sagen  wir :  dem  räum- 
lichen Raum,  einen  unräumlichen  psychischen,  den  man  für 
gewöhnlich  das  Bewußtsein  nennt.  Man  zerreißt  die  Welt 
in  zwei,  als  gegeben  angenommene  Räume,  von  denen  der 
eine  noch  dazu  die  kausale  Folge  des  andern  sein  soll.  Man 
sieht  nicht,  daß  die  Existenzform  des  Bewußtseins  nur  auf 
einem  spezifischen  Denken  beruht.  Viel  Schuld  an  diesem 
Irrtum  trägt  die  Sprache,  die  sich  an  dem  Raumdenken 
gebildet  hat;  allerdings  gilt  dies  größtenteils  nur  von  der 
scheinbar  wissenschaftlichen  Ausdrucksweise  der  reflek- 
tierenden Psychologie.  Es  ist  üblich  geworden,  von  der 
Anwesenheit  psychischer  Elemente,  Empfindungen,  Vor- 
stellungen, Gefühlen  usw.  „im"  Bewußtsein  zu  sprechen. 
Gar  zu  leicht  aber  vergißt  man,  daß  diese  dem  Raum  ent- 
lehnte Ausdrucksweise  nichts  mehr  als  ein  Bild  ist.  Man 
läßt  etwas  im  Bewußtsein  hervorgerufen  werden,  was  an 
sich  im  Raum  nicht  existiert,  ohne  zu  bedenken,  daß  man 
damit  das  Bewußtsein  selbst  schon  zu  einem  Raum  neben 
dem  wirklichen  Raum  gemacht  hat.  Zwar  leugnet  man, 
daß  man  sich  das  Bewußtsein  räumlich  vorstellt,  aber  wesent- 
lich ist  nur,  daß  man  es  als  Raum  denkt,  und  dies  tut  man 
schon  eben  dann,  wenn  man  eine  besondere  Art  Gegenstände 
neben  dem  Raum  als  unmittelbar  existierend  denkt. 

Dabei  kommt  es  uns  keineswegs  darauf  an,  ob  man  die 
Vorstellungen  für  mehr  oder  minder  konstante  Dinge  hält 
oder  nicht.  Man  dünkt  sich  weit  über  den  Standpunkt  Her- 
barts hinaus,  wenn  man  den  Vorstellungen  die  Dinglichkeit 
abspricht  und  sie  in  psychische  Elemente  auflöst.  Im  Prinzip 
aber  besteht  gar  kein  Unterschied.  Nur  ist  die  Elementar- 
theorie noch  gefährlicher,  weil  sie  nicht  ganz  so  leicht  zu 
durchschauen  ist.  Ich  komme  auf  die  Kritik  des  Element- 
begriffs in  der  Psychologie  noch  zu  sprechen.  An  dieser 
Stelle  handelt  es  sich  nur  darum,  daß  in  beiden  Fällen  eine 
Wesenhaftigkeit  des  Psychischen  konstruiert  wird,  die  der 
Art  nach  von  dem  Physischen  im  Raum  verschieden  sein 


—  9  — 

soll.  Dieser  naive  Dualismus  ist  der  Grundirrtum.  Man 
setzt  damit  irgend  ein  Medium  voraus,  in  dem  die  psychi- 
schen Elemente  existieren,  und  auf  Grund  dieser  Anschauung 
war  man  allerdings  genötigt,  theoretisch  jenen  widersinnigen 
Begriff  der  Selbstbeobachtung,  der  inneren  Wahrnehmung 
oder  des  inneren  Sinnes  zu  konstruieren.  Daß  es  sich  nur 
um  eine  Konstruktion  handelt,  dürfte  wohl  klar  sein.  Ob  ein 
Mensch  in  seiner  Eigenschaft  als  Physiker  oder  als  Psychologe 
das  beobachtet,  was  er  sieht,  ist  doch  ganz  gleichgültig. 
Ebenso  nichtssagend  ist  aber  auch  der  Unterschied  des 
optischen  Sinnesgebietes  von  irgend  einem  anderen.  Mein 
Körper  ist  genau  so  ein  Teil  der  Welt  im  Raum  wie  das 
Thermometer.  Beobachte  ich  meine  Bewegungsempfindungen, 
so  beobachte  ich  die  Welt  im  Raum  und  keine  psychischen 
Elemente.  Oder  aber  die  Welt  im  Raum  besteht  selbst  aus 
diesen  psychischen  Elementen.  Hält  man  wirklich  Töne  und 
Farben  für  psychische  Elemente,  so  bestände  der  Raum  aus 
Unräumlichem.  Dann  hätten  wir  aber  wieder  keine  Mög- 
lichkeit der  Trennung  von  Physischem  und  Psychischem. 
Von  unserem  Standpunkt  aus  ist  diese  Trennung  auf  Grund 
einer  gegebenen  Artverschiedenheit  auch  unmöglich.  Aber 
ich  würde  die  Farbe  oder  den  Ton  weder  ein  psychisches 
noch  ein  physisches  Element  nennen.  Ich  bezeichne  sie  zu- 
nächst einmal  ganz  allgemein  als  Weltbestimmtheiten,  und 
diese  allein  nehmen  wir  wahr.  Erst  damit  haben  wir  mit 
dem  Begriff  der  Aktualität  im  Gegensatz  zu  dem  des  Dinges 
Ernst  gemacht.  Nennt  man  die  Farbe  eine  Empfindung  und 
diese  ein  psychisches  Element,  so  hat  man  das  Psychische 
genau  so  verräumlicht,  wie  wenn  man  die  Vorstellung  eines 
Körpers  für  ein  Ding  hält.  Die  Ordnung  der  Farben  zu  einem 
System  ist  daher  für  uns  auch  gar  kein  psychologisches 
Problem,  sondern  viel  eher,  wie  man  gesagt  hat,  ein  Problem 
der  allgemeinen  Gegenstandstheorie.  Aus  diesen  Welt- 
bestimmtheiten, den  Kantschen  ,,Datis  der  Sinnlichkeit" 
oder  den  Phänomenen  konstruiert  das  Denken   einmal  die 


—  10  — 

Natur,  das  andere  Mal  das  Subjekt.  Von  der  psychischen 
Tätigkeit  des  Erfahrens  aus  ist  der  Einheitspunkt  das  Er- 
lebnis der  Weltbestimmtheiten.  Dies  gilt  sowohl  für  den 
Psychologen  wie  für  den  Physiker.  Beide  nehmen  keine 
psychischen  Elemente  wahr,  sondern  die  farbige  und  tönende 
Welt.  Der  Unterschied  zwischen  beiden  liegt  nicht  in  dem 
Akt  der  Wahrnehmung,  sondern  in  der  spezifischen  Form 
der  Erkenntnis,  die  sich  in  der  Form  ihrer  Urteile  ausdrückt. 
Die  Erkenntnis  des  Psychologen  vollzieht  sich  im  Wahr- 
nehmungsurteil, die  des  Physikers  im  Erfahrungsurteil, 
beide  Termini  im   Sinne  Kants  genommen. 

Man  muß  sich  also  vor  allem  von  dem  Vorurteil  frei- 
machen, daß  es  eine  Welt  im  Raum  und  daneben,  in  einem 
andern  Raum,  nämlich  dem  Bewußtsein,  noch  eine  andere, 
unausgedehnte  psychische  Welt  gibt.  Diese  Meinung  ist 
ebenso  verkehrt  wie  die,  daß  neben  der  Erscheinung  noch 
irgendwo  ein  Ding  an  sich  existiert.  Wir  erleben  unmittel- 
bar die  Welt  mit  allen  ihren  Bestimmtheiten  und  konstruieren 
daraus,  nämlich  in  der  Naturwissenschaft,  die  Natur  im 
Raum.  Diese  Konstruktion  ist  eine  Objektivierung  der  Kant- 
schen  Data.  Über  diese  gelangen  wir  nicht  hinaus.  Wir 
können  uns  die  Welt  nur  so  vorstellen,  wie  wir  sie  wahr- 
nehmen, d.  h.  mit  den  Bestimmtheiten,  die  wir  die  Data 
der  Sinnlichkeit  nennen.  Ganz  genau  dasselbe  meint  man 
damit,  daß  wir  die  Welt  immer  nur  in  Bezug  auf  ein  Bewußt- 
sein bestimmen  können.  Daß  hierbei,  bei  dem  Vorstellen, 
noch  nicht  von  dem  Kantschen  „Bewußtsein  überhaupt" 
die  Rede  ist,  brauche  ich  wohl  kaum  zu  bemerken.  Man  kann 
keine  Bestimmtheit  der  Welt  angeben  ohne  in  Bezug  auf 
ein  mögliches  Erlebnis.  Wo  man  über  sein  momentanes 
Bewußtsein  hinausgeht,  existiert  die  Welt  auch  weiterhin 
nur  so,  wie  sie  bewußt  werden  kann,  d.  h.  im  Moment  un- 
bewußt. So  existiert  für  mich  die  Palme  am  Nil  unbewußt, 
und  dies  ist  der  einzig  kritische  Begriff  des  Unbewußten. 

Neben  der  Farbe  als  Weltbestimmtheit  gibt  es  also  keine 


—  11  — 

Farbe  als  ein  wesensverschiedenes  psychisches  Element. 
Die  Farbe  ist  räumlich  ausgedehnt  und  existiert  entweder 
bewußt  oder  unbewußt.  Jedenfalls  aber  ist  die  Welt  bestimm- 
bar nur  als  Gegenstand  eines  möglichen  Bewußtseins.  Der 
Einheitspunkt  der  Erkenntnis  ist  also  das  Datum  der  Sinn- 
lichkeit oder  das  Erlebnis  der  Welt.  Was  man  fälschlicher- 
weise als  psychische  Elemente,  Empfindungen,  bezeichnet, 
sind,  wie  man  auch  sagen  kann,  qualitative  Bestimmtheiten 
des  Raumes.  Es  ist  daher  völlig  müßig,  darüber  zu  streiten, 
ob  die  Empfindung  im  Bewußtsein  oder  im  Raum  existiert. 
Sie  existiert  im  Bewußtsein  wie  der  Raum  selbst  im  Bewußt- 
sein existiert.  Sie  existiert  im  Raum  wie  der  Körper  im  Raum 
existiert.  Besser  sagte  man  aber  im  ersten  Falle  nicht  „im" 
Bewußtsein,  sondern  „für"  das  Bewußtsein.  Bevor  wir 
zu  dem  mathematischen  Raum  der  Naturwissenschaft  über- 
gehen, existiert  das  Räumliche  ja  auch  nur  als  Weltbestimmt- 
heit für  ein  Bewußtsein,  entweder  bewußt  oder  unbewußt. 
Nennt  man  „rot"  eine  Empfindung,  so  ist  das  Dreieck 
genau  so  eine  Empfindung.  Besser  aber  nennt  man  beides 
W7eltbestimmtheiten,  die  man  meinetwegen  als  inhaltliche 
und  formale  auseinanderhalten  kann.  An  sich  besteht 
nicht  der  geringste  Unterschied.  Eine  jede  qualitative 
Bestimmtheit  ist  irgendwo  und  jedes  Irgendwo  ist  quali- 
tativ bestimmt.  In  der  falschen  Sprache  unserer  Psycho- 
logie ausgedrückt  heißt  das:  jede  Empfindung  ist  räumlich 
bestimmt. 

Es  liegt  mir  ganz  fern,  hier  den  unfruchtbaren  Streit 
zwischen  Nativisten  und  Empiristen  aufrollen  zu  wollen. 
Der  Raum  ist  der  Gegenstand  unserer  Wahrnehmung.  Wie 
wir  dazu  kommen,  einen  Raum  wahrzunehmen,  ist  eine 
völlig  absurde  Frage,  ungefähr  gleichbedeutend  mit  der, 
wie  es  kommt,  daß  es  eine  Welt  gibt.  Nachdem  wir  nämlich 
den  Einheitspunkt  der  Erkenntnis  in  dem  Erlebnis  erkannt 
haben,  ist  die  Frage,  wie  das  Raumerlebnis  entsteht,  gleich- 
bedeutend mit  der,  wie  der  Raum  entsteht.    Der  Raum  ist 


—  12  — 

nichts  anderes  als  Gegenstand  des  Erlebens.  Mit  der  Be- 
hauptung, daß  er  angeboren  ist,  läßt  sich  überhaupt  kein 
vernünftiger  Sinn  verbinden.  Natürlich  wird  er  erfahren, 
insofern  er  wie  jede  andere  Weltbestimmtheit  erlebt  wird. 
Ich  erfahre,  daß  die  Welt  dort  dreieckig  und  außerdem 
schwarz  ist.  Noch  viel  weniger  kann  man  es  aber  verstehen, 
wenn  behauptet  wird,  daß  diese  Erfahrung  des  Räumlichen 
abgeleitet  werden  müsse  aus  der  Erfahrung  der  Qualitäten 
oder,  wie  man  fälschlicherweise  sagt,  aus  den  Empfindungs- 
elementen. Hier  zeigt  sich  ganz  deutlich  jenes  Zerreißen 
der  Welt,  jener  absurde  Dualismus,  jene  Verräumlichung  des 
Psychischen  selbst.  Man  nimmt  einen  Raum  an  und  außer- 
dem eine  Welt  von  psychischen  Elementen,  die  an  sich 
nichts  mit  dem  Raum  zu  tun  haben,  aus  deren  Qualitäten 
sich  erst  die  Raumwahrnehmung  bilden  soll.  Es  gibt  aber 
keinen  vernünftigen  Grund  dafür,  daß  die  psychischen  Ele- 
mente nur  qualitativ  bestimmt  sind,  und  der  Raum  kein 
solches  Element  ist.  Man  ist  sich  klar  darüber,  daß  Farbe 
und  Raumform  nur  durch  künstliche  Abstraktion  zu  trennen 
sind.  Warum  soll  dann  aber  die  Farbe  ein  psychisches  Element 
sein,  und  die  Raumform  nicht  ?  Es  ist  eben  die  Unsinnig- 
keit der  psychischen  Elemente,  die  an  der  ganzen  Ver- 
wirrung Schuld  hat.  Da  ist  das  Erlebnis  der  farbigen  Fläche. 
Weder  die  Farbe  noch  die  Fläche  ist  ein  psychisches  Element, 
sondern  beide  sind  Bestimmtheiten  der  Welt  als  Gegenstand 
des  Erlebens,  und  eine  andere  gibt  es  nicht.  Eine  ganz  andere 
Frage  ist  es  aber,  wie  wir  lernen,  uns  im  Räume  zu  orientie- 
tieren.  Hierbei  handelt  es  sich  nicht  mehr  um  unmittelbare 
Erlebnisse,  sondern  um  Meinungen.  Sie  berührt  unsere  Frage 
in  keiner  Beziehung.  Allerdings  ist  die  Auflösung  der  Raum- 
wahrnehmung in  die  unmittelbaren  Sinnesqualitäten  nur  die 
Konsequenz  der  heute  als  wissenschaftlich  geltenden  psycho- 
logischen Anschauung.  Geht  man  überhaupt  von  unräum- 
lichen, psychischen  Elementen  aus,  so  muß  man  auch  den 
Raum  in  solche  auflösen,  da  man  ihn  selbst  nicht  gut  als 


—  13  — 

ein  unräumliches  Element  bezeichnen  kann.  Meiner  Ansicht 
nach  beweist  diese  Konsequenz  nur  die  Falschheit  der  Prä- 
misse, nämlich  der  Bevorzugung  der  qualitativen  Bestimmt- 
heiten als  gegebener  psychischer  Elemente1. 

Auch  wenn  wir  das  Problem  von  der  entwicklungs- 
geschichtlichen Seite  betrachten,  so  muß  das  Raumerlebnis 
mindestens  ebenso  ursprünglich  sein  wie  das  Qualitäts- 
erlebnis. In  Wahrheit  ist  das  eine  ohne  das  andere  nicht 
denkbar.  Das  Gegenteil  aber  wäre  absolut  unverständlich. 
Die  Orientierung  im  Räume  ist  auf  der  primitivsten  Stufe 
des  Psychischen  so  absolut  notwendig,  daß  die  Qualitäten 
nur  als   Raumsignale  überhaupt  von  Nutzen  sein  können. 

Die  Psychologie  hat  es  also  nicht  mit  psychischen 
Elementen  zu  tun,  die  unabhängig  vom  Raum  existieren, 
sondern  nur  mit  den  Erlebnissen  der  Raumwelt,  und  das 
bedeutet  einen  gewaltigen  Unterschied.  Man  wird  hier 
vielleicht  einwenden,  daß  die  Vorstellung  im  Gegensatz  zur 
Wahrnehmung  doch  kein  Erlebnis  der  Raumwelt  ist,  da  ja 
ihr  Gegenstand  nicht  wirklich  existiert.  Aber  die  Wirklich- 
keit der  Welt  hat  hiermit  überhaupt  nichts  zu  tun.  Sie  ist 
ein  kritischer  Begriff  der  Naturwissenschaft.  Wir  denken 
gar  nicht  mehr  psychologisch,  wenn  wir  die  Gegenstände  als 
wirklich  und  unwirklich  unterscheiden.  Psychologisch  ist 
die  Halluzination  genau  so  ein  Erlebnis  der  Welt  wie  die 
Wahrnehmung,  und  wenn  wir  auch  nicht  an  die  Wirklich- 
keit der  erlebten  Welt  glauben,  so  erleben  wir  doch  die  Welt 
und  keine  psychischen  Elemente. 

Die  falsche  Psychologie  beruht  also  auf  einem  Fehler 
der  Metaphysik,  eben  jenem  geschilderten  Zerreissen  der 
Welt  in  physische  und  psychische  Elemente.    Nur  so  konnte 


1  Die  Auflösung  würde  übrigens  nie  gelingen,  wenn  man 
nicht  den  Raum  in  den  Bewegungsempfindungen  hineinschmuggeln 
würde.  Die  Empfindung  der  Bewegung  ist  eben  das  Raumerlebnis, 
und  Intensitätsunterschiede  dieser  Empfindungen  sind  in  Wahrheit 
nur  Größenunterschiede  des  erlebten   Inhalts. 


—  14  — 

überhaupt  das  Problem  von  der  Existenz  der  Außenwelt 
entstehen.  Von  welcher  Seite  man  auch  ausgeht,  immer 
muß  die  andere  problematisch  werden.  Es  ist  gar  nicht  wahr, 
daß  wir  zunächst  nur  von  psychischen  Elementen,  Empfin- 
dungen, wissen.  Unter  dieser  Voraussetzung  würde  aller- 
dings die  Welt  im  Raum  problematisch  werden.  Aber  selbst 
der  Solipsist  weiß  nichts  von  psychischen  Elementen,  son- 
dern nur  von  Welterlebnissen,  und  wäre  diese  angenommene 
Person  das  Genie  jcoct'  sxox^v,  so  bestünde  auch  für  sie 
trotz  ihres  Solipsismus  die  Außenwelt,  nämlich  als  Gegen- 
stand der  Naturwissenschaft,  die  in  diesem  Falle  eben  das 
Werk  eines  einzigen  Menschen  wäre.  Der  Unterschied  läge 
also  nur  darin,  daß  der  Solipsist  annimmt,  daß  er  als  Ein- 
ziger die  Welt  erlebt,  nicht  aber  darin,  daß  keine  Welt, 
sondern  nur  seine  psychischen  Elemente  existierten.  Ein 
Problem  liegt  nur  darin,  wie  man  dazu  kommt,  an  die  Exi- 
stenz psychischer  Elemente  zu  glauben,  nicht  aber  in  dem 
Glauben  an  eine  Außenwelt.  Existenz  der  Außenwelt  heißt 
terminologisch  nichts  anderes  als  Gegenstand  des  Bewußt- 
seins, wenn  man  zunächst  von  der  wissenschaftlichen  Kon- 
struktion der  Existenz  absieht.  Fragt  man  aber  nach  dem 
Recht  der  Existenz  unabhängig  von  dem  individuellen  Be- 
wußtsein, so  handelt  es  sich  da  gar  nicht  um  einen  psycho- 
logisch begreiflichen  Glauben,  sondern  um  die  Tat  der  Natur- 
wissenschaft, die  diese  Existenz  konstruiert,  nun  nicht  mehr 
als  Gegenstand  eines  individuellen  Bewußtseins,  sondern  als 
den  des  „Bewußtseins  überhaupt". 

Wir  behaupten  also,  daß  es  keine  psychischen  Elemente 
gibt,  die  der  Welt  im  Räume  wesensverschieden  gegenüber- 
stünden, sondern  die  im  Raum  gedachte  Welt  ist  aus  den- 
selben datis  der  Sinnlichkeit  konstruiert,  die  auch  der  un- 
mittelbare Gegenstand  der  Psychologie  sind.  Nur  der  Stand- 
punkt der  Erkenntnis  ist  verschieden.  Die  Hauptaufgabe 
ist  es,  diese  Verschiedenheit  logisch  und  nicht  nur  termino- 
logisch festzulegen. 


—  15  — 

Dieser  Unterschied  zeigt  sich  zunächst  darin,  daß  das 
naturwissenschaftliche  Denken  die  Weltbestimmtheiten  als 
Existenz  im  Raum  auffaßt,  das  psychologische  aber  als 
Existenz  in  der  Zeitreihe  „Subjekt".  Der  Körper  im  Raum 
bewirkt  keine  Summe  psychischer  Elemente  im  Bewußtsein, 
sondern  wir  denken  einmal  das  Phänomen  als  Teil  des 
Raums,  das  anderemal  als  Teil  der  Zeitreihe  „Bewußtsein". 
Der  Ausgangspunkt  für  Beides  ist  das  Phänomen  oder  das 
Datum  der  Sinnlichkeit.  Die  Erkenntnis  aber  ist  verschieden, 
nämlich  einmal  räumlich,  das  andere  mal  historisch.  Die  Wahr- 
nehmung des  Körpers  ist  nichts  anderes  als  das  Datum 
historisch  gedacht,  der  Körper  selbst  das  Datum  räumlich 
gedacht. 

Metaphysisch  kann  man  sagen,  daß  die  Welt  nichts 
anderes  ist,  als  die  unendlich  vielen  Reihen  der  Erlebnisse 
der  Subjekte.  Wenigstens  können  wir  die  W7elt,  auch  wo 
wir  historisch  noch  keine  Subjekte  annehmen,  doch  nur  als 
Gegenstand  möglicher  Erlebnisse  seitens  der  Subjekte  be- 
stimmen. Aber  es  genügt  nicht,  daß  man  das  Wesen  der 
Welt  lediglich  als  Reihe  der  Phänomene  bestimmt.  Das 
Wesentliche  des  kritischen  Phänomenalismus  liegt  vielmehr 
in  der  Monadenlehre  von  Leibniz  ausgesprochen.  Man  hat 
gegen  sie  eingewandt,  daß,  wenn  wirklich  jede  Monade  die 
ganze  Welt  vorstellt,  und  die  Welt  wieder  nur  aus  solchen 
Monaden  bestände,  die  Welt,  bildlich  ausgedrückt,  in  der 
Luft  schweben  würde.  Diese  Argumentation  ist  richtig, 
aber  kein  Einwand.  Allerdings  schränke  ich  den  Begriff 
der  Monade  auf  das  lebende  Subjekt  ein.  Dann  aber  ist  es 
unzweifelhaft  so,  daß  die  Welt  ursprünglich  in  der  Luft 
schwebt.  Besser  allerdings  würde  man  sagen,  daß  es  gar 
keine  Welt  gibt.  Das  scheinbar  Widersinnige,  was  in  dieser 
Behauptung  liegt,  schwindet,  wenn  man  den  Akzent  darauf 
verlegt,  daß  es  garnicht  „eine"  Welt  gibt.  Existieren  täten 
die  Monaden,  und  jede  Monade  stellte  die  Welt  vor.  Ebensogut 
aber  könnte  man  sagen,  daß  diese  Welt  gar  nichts  anderes 


—  16  — 

ist  als  diese  Monade.  D.  h.  die  Welt  ist  nichts  anderes  als 
die  Zeitexistenz  der  Monade,  die  Zeitreihe  ihrer  Phänomene, 
zu  denen  natürlich  auch  der  Raum  gehört.  Da  es  aber  eine 
unendliche  Anzahl  Monaden  gibt,  so  gibt  es  auch  eine  un- 
endliche Anzahl  von  Welten.  „Die"  Welt  existiert  nur  als 
Gegenstand  der  Naturwissenschaft.  Erst  diese  konstruiert 
sie  als  Gegenstand  für  die  Monade  überhaupt  aus  den  un- 
endlich vielen  Welten,  die  als  Inhalt  der  Monaden  existieren. 
Die  Monade  hat  aber  keine  Fenster.  Darin  liegt  der  Phä- 
nomenalismus ausgesprochen.  Die  Welt  ist  nichts  anderes 
als  die  Monade  selbst.  Erst  die  Naturwissenschaft  konstruiert 
„eine"  wirkliche  Welt,  nämlich  das  System  der  Natur. 
Und  nun  zeigt  sich  der  Gegensatz  von  Psychologie  und  Natur- 
wissenschaft. Die  Psychologie  konstruiert  keine  psychische 
WTelt,  die  logisch  dem  System  der  Natur  entsprechen  würde. 
Die  metaphysische  Konsequenz  aus  diesem  erkenntnis- 
kritischen Resultat  ist  dies:  Spinoza  hätte  Recht,  wenn  es 
keine  Monaden  gäbe.  Die  Substanz  im  Räume  ist  das  System 
der  Natur,  aber  eine  unausgedehnte,  psychische  Welt  gibt 
es  nicht.  Der  Schwerpunkt  liegt  auf  „eine".  Sie  könnte 
nur  existieren  als  System  der  Psychologie.  Eine  solche 
Wissenschaft  aber  gibt  es  nicht.  Das  soll  der  Zentralpunkt 
unserer  ganzen  Untersuchung  sein.  Statt  der  „einen" 
psychischen  Welt  gibt  es  die  unendliche  Anzahl  der  Monaden, 
von  denen  jede  als  Mikrokosmos  der  „einen"  Natur  als 
Makrokosmos  entspricht. 

Die  Monade,  das  Subjekt  oder  das  Bewußtsein  ist  das 
System,  das  die  psychologische  Erkenntnis  erzeugt.  Ver- 
gleichen wir  dieses  System  mit  der  Natur,  so  stoßen  wir 
auf  den  wichtigsten  Gegensatz,  den  es  für  die  Philosophie 
geben  kann.  Das  Bewußtsein  ist  die  historische  Ordnung  der 
Welt,  die  Natur  die  zeitlose,  das  System  der  platonischen 
Ideen.  Wir  sagen  wohl,  daß  die  Naturvorgänge  in  Raum 
und  Zeit  sich  abspielen,  das  hindert  aber  nicht,  daß  die 
Natur    als     Gegenstand     der    Naturwissenschaft    nicht    in 


—  17  — 

der  Zeit  existiert.  Natürlich  ist  aber  diese  zeitlose  Natur 
oder  die  Substanz  nur  das  Ziel  oder  eine  Idee  der  Wissen- 
schaft. 

Der  Ausgangspunkt  ist  das  Phänomen.  Als  Wahrnehmung 
existiert  es  rein  in  der  Zeit,  und  zwar  stets  für  ein  individuelles 
Bewußtsein.  Der  Raum  ist  dann  selbst  nur  Erlebnis.  So 
wie  er  zur  Existenzform  wird,  hat  das  Denken  sich  geändert. 
Jetzt  wird  gefragt,  was  im  Raum  existiert,  und  das  Streben 
der  Wissenschaft  muß  dahin  gehen,  diese  Bestimmung  mög- 
lichst rein,  d.  h.  mit  Ausschluß  alles  Zeitlichen  zu  vollziehen. 
Sie  will  feststellen,  was  dort  zeitlos  als  Teil  der  ewigen 
Substanz  existiert.  Diese  Substanz  aber  erregt  nicht  das 
Phänomen,  sondern  sie  ist  nur  eine  Existenzform  der  Welt, 
die  das  Denken  aus  der  ursprünglich  rein  historischen  Exi- 
stenz des  Phänomens  konstruiert.  Solange  die  Bestimmtheit 
als  Substanz  nicht  erreicht  ist,  ist  die  Bestimmung  noch 
historisch,  das  Erfahrungsurteil  aus  dem  Wahrnehmungs- 
urteil noch  nicht  gewonnen.  Wir  sagen  etwa:  ich  sehe  einen 
Tisch.  Dieses  Wahrnehmungsurteil  faßt  die  Welt  historisch 
auf.  Die  Phänomene,  die  man  auch  Empfindungen  nennt, 
denke  ich  als  Teil  einer  Zeitreihe :  Subjekt,  Bewußtsein  oder 
Ich.  Wenn  ich  nun  aber  auch  sage:  dort  steht  ein  Tisch,  so 
hat  sich  logisch  an  dem  Urteil  nichts  geändert.  Es  bleibt 
ein  Wahrnehmungsurteil,  nur  der  sprachliche  Ausdruck  ist 
anders.  Nur  scheinbar  haben  wir  ein  Erfahrungsurteil  über 
den  Raum  abgegeben.  In  Wirklichkeit  bleibt  es  ein  histori- 
sches Urteil.  Denn  der  Tisch  existiert  gar  nicht  im  Raum, 
sondern  nur  in  der  Zeit.  In  der  Welt  der  Naturwissenschaft 
gibt  es  keinen  Tisch  und  keinen  Stuhl,  aber  auch  keinen  Arm 
und  keinen  Kopf.  Existieren  tun  ausschließlich  jene  letzten 
Teile,  in  denen  der  Naturwissenschaftler  die  Substanz  im 
Raum  denkt.  Der  Tisch  existiert  nur  als  historisches  Objekt, 
von  einer  ganz  bestimmtem  Dauer,  nämlich  solange  er  als 
Tisch  zu  gebrauchen  ist.  Für  die  Naturwissenschaft  existiert 
aber  die  Raummasse,  die  wir  Tisch  nennen,  ewig,  d.  h.  zeit- 

Strich,  Prinzipien.  2 


—  18  — 

los.  Für  sie  existiert  im  Moment  nur  eine  besondere  Kon- 
stellation der  Substanz,  die  selbst  zeitlos  ist.  Nur  die  Form, 
die  die  Substanz  eingeht,  existiert  konstant  und  hat  eine 
bestimmte  Dauer.  An  sich  existieren  im  Raum  dort,  wo  wir 
den  konstanten  Körper  wahrnehmen,  stetige  Veränderungen, 
die  wir  letzten  Endes  als  Lageänderungen  zeitloser  Elemente 
erkennen  sollen.  In  dieser  Erkenntnis  der  ewigen  Verände- 
rung bestand  die  Weisheit  des  alten  Heraklit.  Von  der 
Naturwissenschaft  aus  existiert  allerdings  in  zwei  Momen- 
ten nicht  mehr  derselbe  Tisch.  Darum  aber  ist  unser 
Urteil  über  den  Tisch  nicht  falsch.  Es  ist  nur  kein  natur- 
wissenschaftliches, sondern  ein  historisches  Urteil.  Es  ist 
also  nicht  richtig,  wenn  man  sagt:  es  existiert  im  Raum 
der  Tisch  und  im  Bewußtsein  die  Vorstellung  von  ihm, 
als  ob  das  zwei  wesensverschiedene  Gegenstände  wären,  der 
eine  aus  physischen,  der  andere  aus  psychischen  Ele- 
menten. Vielmehr  denke  ich  die  Welt  einmal  historisch  als 
Teil  des  Zeitsystems  Subjekt,  das  andere  Mal  natur- 
wissenschaftlich als  Teil  des  einen  Systems  Natur.  Histo- 
risch aber  existiert  der  Tisch  gar  nicht  in  einer  Welt, 
sondern  nur  in  einer  der  unendlich  vielen  Zeitreihen,  die  wir 
Monade,  Bewußtsein,  Ich  oder  Subjekt  nennen.  Stelle  ich 
eine  andere  Monade,  eine  Amöbe  oder  auch  einen  anderen 
Menschen,  vor  denselben  Raumausschnitt,  so  wäre  es  ganz 
töricht,  eo  ipso  zu  behaupten,  daß  ein  Tisch  wahrgenommen 
würde.  Nehmen  wir  einmal  an,  der  Tisch  sei  defekt,  dann 
wird  er  nur  von  dem  als  Tisch  erlebt  werden,  der  ihn  noch 
als  solchen  anerkennt.  Ein  anderer  sieht  vielleicht  nur  einen 
Haufen  Bretter,  und  was  die  Amöbe  wahrnimmt,  hat  wohl 
schwerlich  etwas  mit  einem  Tisch  zu  tun.  Als  Raumausschnitt 
aus  der  Substanz  existiert  aber  für  alle  in  einem  Moment 
ganz  das  gleiche,  nämlich  das,  was  die  Naturwissenschaft 
dort  denkt. 

Wir  stellten  fest,  daß  es  widersinnig  ist,  von  einer  Exi- 
stenz psychischer    Elemente    zu    sprechen,    die    wesensver- 


—  19  — 

schieden  von  den  Raumteilen  als  Empfindungen  im  Bewußt- 
sein anwesend  wären.  Im  Bewußtsein  anwesend  ist  höchstens 
der  qualitativ  bestimmte  Raum,  der  auch  der  Gegenstand 
der  naturwissenschaftlichen  Bearbeitung  ist.  Nur  kann  schon 
diese  Ausdrucksweise  zu  Mißverständnissen  Anlaß  geben, 
denn  gar  zu  leicht  verfällt  man  in  das  Raumdenken,  als  ob 
das  Bewußtsein  ein  Raum  wäre,  in  den  etwas  hineingelangt 
und  aus  dem  es  wieder  verschwindet.  In  Wahrheit  denkt 
auch  unsere  Psychologie  so,  wenn  man  auch  im  ersten 
Paragraphen  behauptet,  daß  das  Psychische  unausgedehnt 
ist.  Sonst  wäre  man  nie  darauf  verfallen,  Psychologie  als 
Naturwissenschaft  auszugeben,  psychische  Elemente  zu  be- 
haupten, oder  gar  einen  psycho-physischen  Parallelismus 
als  notwendiges  Prinzip  aufzustellen.  Denn  alles  das  ist  nur 
möglich,  wenn  man  das  Raumdenken  auf  die  Psychologie  über- 
trägt. Es  gibt  keine  Welt,  die  ins  Bewußtsein  gelangt,  die 
Monade  hat  keine  Fenster,  sondern  die  Welt  ist  höchstens 
das  Bewußtsein  selbst.  Dieses  ist  eben  an  sich  gar  nicht  von 
seinem  Inhalt  zu  trennen,  und  die  Welt  ist  nichts  anderes 
als  Bewußtseinsinhalt.  Nur  muß  man  sich  das  Grundprinzip 
des  Idealismus  klarmachen,  daß  wir  nämlich  denkend  über 
das  Denken  nicht  hinauskommen.  Wenn  ich  sage:  die 
Welt  ist  nichts  anderes  als  Inhalt  eines  Bewußtseins,  so  denke 
ich  die  Welt,  und  zwar  historisch.  Sage  ich:  die  Welt  ist 
Substanz  in  Raum  und  Zeit,  so  denke  ich  sie  auch,  und  zwar 
naturwissenschaftlich.  Die  Welt  an  sich  ist  deshalb  wider- 
sinnig. Ich  kann  sie  nur  in  diesen  beiden  Formen  denken 
und  kann  sie  nicht  bestimmen,  ohne  zu  denken.  Dagegen 
ist  es  falsch,  die  Erkenntnis  der  Welt  an  sich  dadurch  zu 
widerlegen,  daß  wir  nur  durch  unsere  Sinne  wahrnehmen. 
Hinter  den  Sinnen  steht  gar  nichts,  sondern  die  „data" 
der  Sinnlichkeit  sind  der  Ausgangspunkt  unserer  Denk- 
konstruktion. Es  ist  aber  von  vornherein  auch  grund- 
falsch zu  sagen,  die  Welt  ist  der  Inhalt  „des"  Bewußt- 
seins.    Denn   vom  individuellen    Bewußtsein    aus    gibt   es 

2» 


—  20  — 

nur  meine,  deine  und  seine  Welt,  nicht  aber  „die"  Welt. 
„Die"  Welt  existiert  als  die  Natur,  als  Gegenstand  „des 
Bewußtseins  überhaupt".  Damit  denke  ich  nun  nicht  mehr 
historisch  oder  psychologisch.  Diese  Welt  wird  nicht  durch 
eine  Kausalwirkung  Inhalt  eines  individuellen  Bewußtseins, 
sondern  sie  entsteht  nur  durch  eine  andere  Auffassung  der 
zunächst  historisch  gedachten  Welt.  Behauptet  man  also 
psychische  Elemente,  so  besteht  die  Welt  im  Raum  aus  ihnen, 
nicht  aber  das  Bewußtsein.  Ich  fasse  die  Welt  entweder  als 
Inhalt  eines  individuellen  Bewußtseins  auf  —  dann  denke 
ich  psychologisch  oder  historisch;  oder  ich  fasse  sie  als  Inhalt 
des  Bewußtseins  überhaupt  auf  —  dann  denke  ich  sie  natur- 
wissenschaftlich. Welt  und  Bewußtsein  losgelöst  voneinander 
verlieren  jeden  Sinn.  Dieser  Dualismus,  der  für  eine  Er- 
fahrung zwei  Gegenstände  annimmt,  ist  unkritisch.  Der 
kritische  zeigt  sich  darin,  daß  die  Welt  nur  nach  zwei  Seiten 
hin  aufgefaßt  werden  kann.  Gehe  ich  aber  von  einer  gegebe- 
nen Welt  im  Raum  aus,  so  kann  ich  das  Psychische 
gar  nicht  anders  mehr  denken,  als  in  einem  Nebenraum, 
den  man  Bewußtsein  nennt.  Die  Welt  wird  bewußt, 
ohne  daß  sie  zu  psychischen  Elementen  wird  oder  gar 
solche  bewirkt. 

Von  hier  aus  können  wir  nun  die  übliche  Meinung  kriti- 
sieren, daß  der  Gegenstand  der  Psychologie  der  Bewußtseins- 
inhalt ist.  An  sich  ist  vielleicht  nichts  dagegen  einzuwenden, 
nur  ist  dieser  Inhalt  nichts  Psychisches,  sondern  seine 
Auffassungsweise  ist  psychologisch.  In  dieser  Gegenüber- 
stellung liegt  das  ganze  Wesen  der  psychologischen  Er- 
kenntnis ausgesprochen.  Der  Inhalt  des  Bewußtseins  ist 
auch  das  Objekt  der  Naturwissenschaft.  Erst  durch  die 
Auffassung  oder  die  Fragestellung  wird  er  Objekt  der  Psycho- 
logie. Analysiere  ich  also  als  Psychologe  meinen  Bewußt- 
seinsinhalt, so  erfahre  ich  Weltbestimmtheiten  oder  data  der 
Sinnlichkeit.  Ich  löse  aber  keinen  psychischen  Komplex 
in  Elemente  auf.   Dieser  ist  ein  Hirngespinst  unserer  Psycho- 


—  21  — 

logen,  eine  Konstruktion  auf  Grund  falscher  metaphysi- 
scher oder  erkenntniskritischer  Prämissen. 

Völlig  falsch  ist  es  nun,  den  qualitativen  Bewußtseins- 
inhalt als  den  alleinigen  Gegenstand  der  Psychologie  anzu- 
sehen. Man  muß  hier  einen  Unterschied  machen  zwischen 
einer  konsequenten  und  darum  leicht  widerlegbaren  Theorie, 
die  auf  einem  psycho-physischen  Parallelismus  aufgebaut 
ist,  und  einer  völlig  kritiklosen  Theorie,  die  auf  lauter  wider- 
spruchsvollen Prämissen  beruht. 

Trotz  der  Absurdität,  zu  der  sie  führt,  ist  die  erste  sympa- 
thischer, weil  sie  wenigstens  theoretisch  den  Versuch  macht, 
konsequent  zu  sein.  Dies  zeigt  sich  darin,  daß  sie  das  Wort 
„Bewußtseinsinhalt"  im  prägnanten  Sinne  nimmt.  Wir 
befinden  uns  terminologisch  völlig  im  Einklang  mit  ihr, 
insofern  wir  unter  dem  Bewußtseinsinhalt  die  Gesamtheit 
unserer  qualitativen  Empfindungsinhalte  verstehen.  Auch 
darin  stimme  ich  mit  jener  Theorie  völlig  überein,  daß  das 
psychische  Leben  der  wirklichen  Persönlichkeit  nicht  der 
Gegenstand  einer  erklärenden  kausalen  Psychologie  sein  kann. 
Aber  ich  bestreite,  daß  es  neben  dem  psychischen  Leben  der 
Persönlichkeit  noch  etwas  anderes  Psychisches  gibt,  das 
Gegenstand  der  psychologischen  Erkenntnis  sein  kann,  oder 
daß  dieses  Leben  unter  einem  speziellen  Gesichtspunkt 
kausal  erklärt  werden  kann.  Jene  Theorie  meint,  das  wirk- 
liche Leben  müsse  objektiviert  und  deshalb  als  Bewußtseins- 
inhalt dargestellt  werden.  Nun  stammt  aber  der  Begriff 
des  Bewußtseinsinhaltes  aus  der  unmittelbaren  Erfahrung 
des  wirklichen  psychischen  Lebens.  Was  in  dieser  Erfahrung 
nicht  Bewußtseinsinhalt  ist,  kann  auch  nicht  von  einem 
andern  Standpunkt  aus  dazu  werden.  Ganz  etwas  anderes 
ist  es,  wenn  etwa  die  Naturwissenschaft  in  ihrer  Theorie  auf 
dem  mathematischen  Raum  beruht,  der  nicht  Gegenstand 
des  Erlebens,  sondern  des  Denkens  ist.  Hier  kann  man  viel- 
leicht sagen,  daß  etwas  unter  einem  besonderen  Gesichts- 
punkt zur  mathematischen  Größe  wird,  was  es  an  sich  nicht 


—  22  — 

ist.  Von  einer  solchen  Denkkonstruktion  ist  aber  hier  gar 
nicht  die  Rede.  Das  Psychische  wird  nicht  unter  einem  be- 
sonderen Gesichtspunkt  zum  Bewußtseinsinhalt,  sondern  man 
berücksichtigt  von  vornherein  allein  diesen  Inhalt  und  läßt 
alle  anderen  psychischen  Realitäten,  die  sich  in  der  Erfah- 
rung des  wirklichen  Lebens  der  Persönlichkeit  neben  dem 
Inhalt  finden,  unberücksichtigt.  Ein  Denkprozeß  wird  nicht 
zu  einer  Reihe  von  Empfindungen,  sondern  man  berücksich- 
tigt nur  diese  Reihe,  die  zweifellos  bei  dem  Denkprozeß 
existiert.  Es  ist  eine  seltsame  Ansicht,  daß  dadurch  das 
subjektive  Leben  objektiviert  werden  soll.  Darunter  kann 
man  schlechterdings  nichts  anderes  verstehen,  als  die  Kon- 
struktion des  Erfahrungsurteils  aus  dem  Wahrnehmungs- 
urteil. Den  Bewußtseinsinhalt  kann  man  objektivieren, 
indem  man  eben  Naturwissenschaft  treibt.  Ihn  als  psychi- 
sches Phänomen  auffassen,  heißt  geradezu:  ihn  nicht  objekti- 
vieren, ihn  nicht  als  Teil  der  einen  objektiven  Welt  auf- 
fassen, sondern  als  Teil  einer  Monade.  Gewiß  kann  man 
den  optischen  Inhalt,  etwa  einen  durch  ein  Fernrohr  ge- 
sehenen Stern  erklären,  aber  durch  die  Gesetze  der  Optik 
und  Astronomie  und  nicht  durch  psychologische. 

Diese  Bevorzugung  des  Inhalts  stammt  natürlich  aus 
den  falschen  metaphysischen  Überzeugungen  des  psycho- 
physischen  Parallelismus.  Man  behauptet  allerdings  auch, 
daß  die  Selbstbeobachtung  einem  nichts  anderes  zeigt  als 
Empfindungsinhalte.  Diese  Selbstbeobachtung  ist  aber  schon 
eine  falsche  Konstruktion.  Ich  gebe  zu,  daß  man  nichts 
anderes  beobachten  kann  als  Empfindungsinhalte.  Ich  nenne 
das  aber  nicht  Selbstbeobachtung,  sondern  Weltbeobachtung 
und  kann  daraus  nicht  schließen,  daß  der  Empfindungsinhalt 
der  alleinige  Gegenstand  der  Psychologie  ist,  sondern  nur,  daß 
das  Beobachten  nicht  die  einzige  psychische  Tätigkeit  im 
Leben  ist. 

Etwas  paradox  kann  man  geradezu  behaupten,  daß  es 
der  Psychologie  auf  alles  andere  mehr  ankommt,  als  auf  den 


—  23  — 

Inhalt,  nämlich  auf  das,  was  das  Subjekt  mit  ihm  anfängt, 
oder  wie  es  auf  ihn  reagiert.  Zugegeben  die  Möglichkeit, 
daß  man  eine  Zeitreihe  von  Empfindungen  konstruieren 
kann,  so  kann  man  damit  psychologisch  schlechterdings  gar 
nichts  anfangen.  Es  ist  unmöglich,  einen  Zusammenhang 
der  Reihe  psychologisch  zu  konstruieren,  wenn  man  nur 
die  Qualität  des  Inhalts  berücksichtigt.  Die  Reihe,  die  neben 
dem  Denkprozesse  dahergeht,  läßt  sich  wissenschaftlich  nicht 
begründen,  ohne  daß  man  vom  Urteil,  von  der  Stellung- 
nahme des  Subjektes  ausgeht.  Nun  sagt  man  wohl,  daß  diese 
sich  in  Worten  als  Inhalt  ausdrückt.  Will  man  aber  nur  die 
Qualität  der  Empfindungen  berücksichtigen,  so  gibt  es  kein 
,, Sichausdrücken".  Das  ,, Nicht"  als  motorischer,  akusti- 
scher oder  optischer  Inhalt  hat  mit  Verneinung  nicht  das 
geringste  zu  tun.  Das  Bedeuten  setzt  eben  einen  Struktur- 
zusammenhang des  Bewußtseins  voraus,  der  über  das  Neben- 
einander der  inhaltlichen  Bestimmtheiten  hinausgeht. 

Nun  gibt  jene  Theorie  selber  zu,  daß  die  Lust  oder  die 
Annehmlichkeit  kein  qualitativer  Inhalt  des  Bewußtseins 
und  auch  nicht  einer  Raumstelle  im  Gehirn  zuzuordnen  ist. 
Das  aber  ist  ja  der  einzige  Vorteil,  den  die  Empfindungen 
—  scheinbar  —  besitzen.  Die  Konsequenz  wäre  also  die, 
daß  man  das  psychische  Leben  erklären  kann,  ohne  zu  be- 
rücksichtigen, ob  jemand  etwas  gern  hat  oder  nicht.  Wenn 
man  auch  wieder  sagen  kann,  daß  die  Unlust  sich  in  den  ab- 
wehrenden Bewegungen  ausdrückt,  so  dürfte  dieses  für  jene 
Psychologen  eben  nicht  existieren.  Gibt  man  zu,  daß  die 
Unlust  ein  im  Gehirn  nicht  lokalisierbares  Verhältnis  des 
Bewußtseins  zu  dem  Inhalt  ist,  so  ist  sie  selbst  kein  Inhalt 
und,  da  es  nur  diesen  allein  gibt,  so  muß  man  eben  erklären, 
ohne  auf  Lust  und  Unlust  Rücksicht  zu  nehmen. 

Man  findet  es  selbstverständlich,  daß  die  Reize,  die  mit 
der  Assoziationsreihe  „Ich",  bestehend  aus  unseren  Inter- 
essen und  Idealen  usw.,  verbunden  sind,  über  die  bloße 
Annehmlichkeit  siegen.    Hält  man  sich  aber  an  die  Empfin- 


—  24  — 

dungsinhalte,  die  diesen  Überzeugungen  entsprechen,  so 
finde  ich  es  nicht  nur  nicht  selbstverständlich,  sondern  so 
absolut  rätselhaft,  daß  hier  wirklich  das  Ignorabimus  am 
Platz  ist.  Will  diese  Theorie  etwas  erreichen,  so  kann  sie 
eben  nicht  konsequent  sein.  Nur  aus  dem  wirklichen  Leben 
ist  uns  der  Kampf  der  Motive  verständlich. 

Verband  jene  Theorie  mit  dem  Begriff  „Bewußtseins- 
inhalt" noch  einen  vernünftigen  Sinn,  so  liegt  der  Haupt- 
fehler der  zweiten,  die  ich  kurz  Elementarpsychologie  nenne, 
an  der  völlig  kritiklosen  Operation  mit  diesem  Wort.  Es  ist 
wirklich  lobenswert,  daß  die  erste  wenigstens  anerkannt  hat, 
daß  das  Urteilen,  Wollen,  Fühlen  kein  Bewußtseinsinhalt 
und  deshalb  von  der  Psychologie  auszuschließen  ist.  Nur  so 
kann  das  Wort  einen  bestimmten  Sinn  bekommen.  Termino- 
logische Fragen  sind  mir  an  sich  gleichgültig,  aber  hier  han- 
delt es  sich  in  Wahrheit  um  erkenntniskritische  Prinzipien. 
In  der  Art  der  Verwendung  dieses  Begriffs  „Inhalt"  steckt 
nämlich  der  Beweis,  daß  jene  Psychologie  auf  dem  Raum- 
denken, der  Verdinglichung  und  Substanzialisierung  des 
Psychischen  aufgebaut  ist.  Diese  liegt  nicht  in  der  Existenz 
von  Vorstellungen  als  Dingen,  sondern  in  dem  Begriff  des 
Elements.  Man  leugnet,  daß  es  eine  Seele  als  Substanz 
gibt,   aber  man  denkt  das  Psychische  logisch  als  Substanz. 

Man  beginnt  die  Psychologie  für  gewöhnlich  mit  der 
Behauptung,  daß  der  Bewußtseinsinhalt  durch  Analyse 
in  letzte  Einneiten  oder  Elemente  zu  zerlegen  ist.  Vorher 
aber  müßte  man  fragen,  ob  es  solch  einen  analysierbaren 
Gegenstand  überhaupt  gibt.  Diese  Voraussetzung  ist  nicht 
nur  nicht  selbstverständlich,  sondern  absolut  falsch.  Denn 
dieser  teilbare  Gegenstand  beruht  schon  auf  einer  Denk- 
konstruktion, und  zwar  auf  einer  kritiklosen  Übertragung 
des  Raumdenkens  in  die  Psychologie.  Gerade  darin  besteht 
ja  das  logische  Wesen  der  Naturwissenschaft,  das  man  als 
Abstraktion  von  den  unmittelbaren  Sinnesqualitäten  be- 
zeichnet.   Ein  Ton  und  eine  Farbe  lassen  sich  nicht  ver- 


—  25  — 

gleichen,  bevor  man  sie  nicht  in  Raumteile  umgedacht  hat. 
Dadurch  kommt  erst  die  Basis  zustande,  auf  der  die  wissen- 
schaftliche Bearbeitung  möglich  ist.  Der  Sinn  des  Element- 
begriffs liegt  nicht  so  sehr  in  der  Unauflösbarkeit  des  Teils, 
als  in  der  logischen  oder  formalen  Gleichheit,  die  damit  für 
die  Substanz  im  Raum  ausgesprochen  ist.  In  der  Behaup- 
tung jener  Theorie  steckt  also  das  zugrunde  gelegte  Prinzip: 
das  Psychische  ist  wie  der  Raum  ein  Gegenstand,  der  aus 
formal  oder  logisch  gleichwertigen  Teilen  besteht.  Für  die 
Naturwissenschaft  gilt  dies  deshalb,  weil  sie  einen  solchen 
Raum  als  Methode  zugrunde  legt.  Es  ist  ihr  Grundprinzip, 
daß  alles,  was  sie  als  verschieden  setzt,  darin  gleich  ist,  daß 
es  Teil  des  Raumes  ist.  Sie  kennt  also  eine  Verschiedenheit 
nur  nach  einer  Richtung  hin,  nämlich  der  Wesenhaftigkeit 
des  Raumteils.  Spricht  man  von  der  Analyse  des  Bewußt- 
seins in  Elemente,  so  hat  man  gleichfalls  dieses  Prinzip 
zugrunde  gelegt.  Man  denkt  das  Bewußtsein  als  Raum. 
Element  ohne  Raumordnung  ist  wie  Größe  ohne  Zahl. 

Man  sagt,  daß  im  Bewußtsein  zwei  Arten  von  Elementen, 
Gefühle  und  Empfindungen,  sind.  Wo  liegt  dann  aber  das 
Kriterium,  ob  etwas  ein  Gefühl  oder  eine  Empfindung  ist  ? 
An  sich  wäre  diese  Frage  völlig  gleichgültig,  wenn  es  nicht 
die  logischen  Prinzipien  der  Theorie  berühren  würde.  Was 
versteht  man  überhaupt  unter  dem  Wort  „Inhalt",  wenn 
er  aus  Elementen,  Gefühlen  und  Empfindungen  besteht. 
Wenn  die  Elemente  sich  nur  qualitativ  unterscheiden,  so 
wäre  der  Unterschied  zwischen  Gefühl  und  Empfindung 
nur  vergleichbar  mit  dem  des  optischen  und  des  akustischen 
Elements,  d.  h.  es  gibt  an  sich  keinen  Unterschied,  und  dies 
deshalb  nicht,  weil  man  von  einem  Ding  ausgeht,  das  aus 
Teilen  besteht.  Der  Unterschied  läßt  sich  überhaupt  nur 
anerkennen,  wenn  man  von  dem  eigentümlichen  Struktur- 
zusammenhang des  Bewußtseins  ausgeht,  der  logisch  als 
Methode  den  Raum  in  der  Psychologie  vertritt.  Zu  seiner 
formalen    Bestimmung   kann    man    dadurch    kommen,    daß 


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man  von  der  Form  des  für  die  Psychologie  charakteristischen 
Urteils  ausgeht,  nämlich  des  Wahrnehmungsurteils.  Der 
Fehler  der  Psychologie  liegt  schon  darin,  daß  sie  rein  sprach- 
lich immer  von  der  Form  des  Erfahrungsurteils  ausgehen 
will.  Die  Naturwissenschaft  konstatiert  letzten  Endes,  was 
in  ihrem  Raum  anwesend  ist.  Sie  bestimmt  seine  Teile.  Der 
Psychologe  aber  kann  bestimmen,  was  ich  erlebe,  und  er 
kann  dieses  Ich  bestimmen.  Der  Unterschied  deckt  sich  etwa 
mit  dem  der  Empfindung  und  des  Gefühls.  Man  hat  dies 
halb  und  halb  auch  zugegeben  dadurch,  daß  man  die  Gefühle 
durch  eine  größere  Subjektivität  charakterisiert.  Allein 
gerade  diese  Halbheit  ist  das  Verderbliche.  Es  läßt  sich 
nicht  von  groß  und  klein  sprechen.  Ein  Unterschied  ist  über- 
haupt nicht  anzuerkennen,  wenn  man  von  Elementen  im 
Bewußtsein  spricht.  Größere  Objektivität  heißt  nichts 
anderes  als  Bestimmtheit  des  Nicht-Psychischen,  nämlich 
der  Welt  sein. 

Man  kann  keinen  Willen  zugeben,  wenn  man  nur  an- 
geben will,  welche  Elemente  im  Bewußtsein  sind.  Es  ist 
genau  so  töricht,  ein  Willenselement  anzunehmen,  wie  ihn 
in  einen  Komplex  oder  eine  Reihe  von  Empfindungs-  und 
Gefühlselementen  aufzulösen.  Kann  eine  Farbe  im  Bewußt- 
sein anwesend  sein,  so  kann  sich  kein  Wille  in  ihm  befin- 
den, denn  beides  sind  nicht  Teile  eines  Raumgegenstandes. 
Der  Wille  ist  nichts  anderes  als  eine  bestimmte  Stellung- 
nahme des  Subjekts  zur  Welt.  Niemals  aber  ein  Teil  des 
Bewußtseins.  Selbstverständlich  ist  auch  der  Wille  gar  nicht 
der  Beobachtung  zugänglich.  Man  kann  alle  möglichen 
Momente  der  Handlung  beobachten,  aber  man  gibt  damit 
niemals  das  wieder,  was  man  unter  „Wollen"  versteht. 
Die  Fragestellung,  was  im  Bewußtsein  ist,  setzt  schon  vor- 
aus, daß  alle  Bestimmungen  über  das  Psychische  sich  auf 
Dinge  beziehen.  Daß  man  sie  Elemente  nennt,  ändert 
nichts.  Die  vorausgesetzte  Gleichheit  als  Teil  ist  der  Grund- 
irrtum   unserer    Psychologie.     Der    Psychologe   kann    nicht 


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damit  auskommen  festzustellen,  was  in  seinem  Bewußtsein 
ist.  Zweifellos  ist  es  eine  psychologische  Bestimmtheit,  ob 
ich  etwas  bejahe,  annehme,  verneine,  will  oder  verabscheue, 
ob  ich  traurig  oder  heiter  bin  usw.  Damit  konstatiere  ich 
aber  niemals  Elemente  in  meinem  Bewußtsein,  sondern 
ich  gebe  ein  Urteil  über  mich  ab  und  nicht  über  das,  was 
mir  von  der  Welt  inhaltlich  bewußt  ist.  Nur  um  eine  Gleich- 
heit mit  der  Naturwissenschaft  herzustellen,  geht  man  über 
die  populäre  Beschreibung  des  psychischen  Lebens  hinaus. 
Als  ein  absurdes  Beispiel  dieser  Umdenkung  möchte  ich  nur 
das  sogenannte  sinnliche  Gefühl  anführen. 

Nur  jene  falsche  Verdinglichung  konnte  überhaupt  den 
Begriff  Lust  erfinden.  Anders  kann  man  es  gar  nicht  nennen. 
Man  fordere  einmal  einen  naiven  Menschen  auf,  sein  Bewußt- 
sein daraufhin  zu  analysieren,  ob  in  ihm  ein  Element  Lust 
oder  Unlust  anwesend  ist.  Nur  ein  Psychologe  kann  das. 
Aber  dieses  Können  beruht  nicht  auf  einer  größeren  Fähig- 
keit zur  Selbstbeobachtung,  sondern  auf  einer  Verbildung 
des  Denkens.  Die  Konstruktion  des  Psychologen  ist  eben 
gänzlich  ungerechtfertigt,  weil  sie  das  Bewußtsein  als  Raum 
denkt.  Der  naive  Mensch  sagt  mit  Recht:  das  Essen  schmeckt 
gut.  Der  Psychologe  sagt:  im  Bewußtsein  ist  ein  Element 
Geschmack  und  ein  Element  Lust.  Da  aber  für  gewöhnlich 
die  Lust  als  kausale  Wirkung  einer  Empfindung  ausgegeben 
wird,  so  kann  man  den  Psychologen  fragen,  woher  er  über- 
haupt weiß,  daß  sie  durch  den  Geschmack  hervorgerufen 
wurde,  wo  doch  mehrere  Inhalte  im  Bewußtsein  sein  können. 
Es  gäbe  nur  eine  vernünftige  Antwort  darauf:  Durch  die 
wissenschaftliche  Erfahrung  oder  durch  Induktion.  Das  ist 
natürlich  absurd  und  beweist  die  Falschheit  der  Voraus- 
setzung, nämlich  daß  ein  Element  Lust  durch  ein  anderes 
kausal  bewirkt  wird.  Der  Psychologe  kann  hier  gar  nicht 
mehr  analysieren,  sondern  nur  seine  unmittelbaren  Er- 
lebnisse theoretisch  falsch  widergeben.  Tatsache  ist,  daß 
uns    Empfindungen    angenehm,    unangenehm    oder    gleich- 


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gültig  sind.  Die  wissenschaftliche  Psychologie  kann  dar- 
über nicht  hinaus.  Als  erklärende  Kausalwissenschaft  muß 
sie  freilich  ein  Ding  haben,  dessen  Existenz  an  einem  Ort, 
dem  Bewußtsein,  sie  erklären  kann,  und  so  konstruiert  sie 
neben  dem  Ding  „Empfindung",  ein  anderes  Ding  „Lust", 
und  belegt  sie  mit  dem  naturwissenschaftlich  klingenden 
Namen  „Element". 

Wir  haben  also  nachgewiesen,  daß  zunächst  der  Begriff 
des  psychischen  Elements  unsinnig  ist,  weil  es  neben  dem 
wirklichen  Raum  keinen  andern  psychischen  gibt.  Die 
Welt  im  Raum  ist  der  objektivierte  Bewußtseinsinhalt  der 
Monaden.  Die  Farbe  ist  kein  psychisches  Element,  das  durch 
ein  Raumgeschehen  bewirkt  würde.  Die  Farbe  ist  überhaupt 
nichts  Psychisches,  sondern  ein  erlebter  Inhalt,  den  die 
Naturwissenschaft  als  Raumgeschehen  objektiviert.  Sodann 
mußte  der  Elementbegriff  abgelehnt  werden,  weil  die  psycho- 
logischen Bestimmungsmöglichkeiten  sich  nicht  auf  Teile 
eines  Raumgegenstandes  beziehen.  Der  eigentümliche  Struk- 
turzusammenhang des  Bewußtseins  macht  die  Nebeneinander- 
ordnung von  Elementen  unmöglich.  Die  Freude  über  ein 
Ereignis  läßt  sich  nicht  darstellen  als  Vorstellung  plus 
Gefühl,  die  Auffassung  eines  Körpers  als  Tisch  nicht  als 
Empfindung  plus  Vorstellung.  In  der  Nebeneinanderordnung 
der  Elemente  liegt  die  Verdinglichung  des  psychischen 
Lebens. 

Von  der  Elementarpsychologie  aus  kann  nun  auch  gar 
kein  Unterschied  zwischen  Vorstellung  und  Wahrnehmung 
bestehen.  Freilich  kommt  man  aber  in  der  Praxis  nicht  ohne 
ihn  aus.  Man  führt  damit  aber  einen  Gesichtspunkt  ein, 
der  über  die  Bestimmung  der  Qualität  des  Daseienden  hin- 
ausgeht. Die  Frage  ist  interessant  für  die  Gefühle.  Man  hat 
die  Einfühlungstheorie  angegriffen,  weil  man  die  an  einem 
andern  erlebten  Gefühle  als  vorgestellt  annahm.  Von  der 
Eiemcntarpsychologie  aus  ist  aber  ein  vorgestelltes  Gefühl 
logisch  widersinnig.    Wird  das  Gefühl  erlebt  und  nicht  nur 


—  29  - 

als  Tatsache  im  Leben  des  andern  gewußt,  so  ist  es  eben  da. 
Ich  wüßte  nicht,  was  die  Vorstellung  des  Gefühls  überhaupt 
heißen  sollte.  Der  Unterschied  zwischen  Vorstellung  und 
Wahrnehmung  ist  eben  kein  Unterschied  in  den  psychischen 
Elementen,  sondern  in  dem  Erlebten.  Er  beruht  darauf, 
ob  dieses  in  dem  wirklichen,  objektiven  Raum  existiert  oder 
nicht.  Da  aber  die  Qualität  des  Gefühls  überhaupt  keine 
Beziehung  zu  dem  objektiven  Raum  hat,  so  ist  eine  Unter- 
scheidung von  diesem  Standpunkt  aus  unsinnig.  Nicht  das 
psychische  Erlebnis  wird  vorgestellt,  sondern  das  Erlebnis 
ist  das  Vorstellen  des  Nicht-Psychischen.  Das  Erlebnis  ist 
da  oder  nicht  da.  Folglich  wird  ein  Gefühl  erlebt  oder  nicht 
erlebt.  Ein  irreales  Gefühl  im  Sinne  eines  vorgestellten  ist 
ein  Nonsens.  Insofern  ist  die  Einfühlungstheorie  unangreif- 
bar. Von  unserm  Standpunkt  aus  aber  ist  der  Unterschied 
allerdings  zu  machen,  und  zwar  in  ganz  dem  gleichen  Sinne 
wie  bei  den  Empfindungen.  Die  Vorstellung  unterscheidet 
sich  von  der  Wahrnehmung  dadurch,  daß  ihr  Gegenstand 
nicht  durch  die  Wirklichkeit  begründbar  ist.  Der  gleiche 
Unterschied  existiert  für  das  Fühlen.  Ein  Gefühl,  das 
ebenso  real  existiert  wie  die  Vorstellung,  mag  auch  ihr  Gegen- 
stand nicht  real  existieren,  ist  vorgestellt,  wenn  sein  Grund 
nicht  in  der  psychischen  Wirklichkeit  des  Subjekts  selbst 
existiert,  wenn  von  dem  realen  Subjekt  aus  kein  „wirklicher" 
Grund  dafür  vorhanden  ist.  Von  der  Elementarpsychologie 
aus  ist  es  ganz  müßig,  darüber  zu  streiten,  ob  in  dem  Schau- 
spieler das  Gefühl  real  existiert  oder  nur  vorgestellt  ist. 
Beides  schließt  sich  nicht  aus.  Denn  bei  der  Vorstellung 
handelt  es  sich  nur  um  eine  Begründung  der  Realität.  Die 
Qualität  ist  da  oder  nicht  da.  Erst  die  Begründung  der  Wirk- 
lichkeit macht  einen  Unterschied.  Man  kann  nicht  fragen, 
ob  die  Empfindung  als  psychisches  Erlebnis  vorgestellt 
wird  oder  nicht,  sondern  nur,  ob  der  Raum,  das  Nicht-Psychi- 
sche vorgestellt  oder  wahrgenommen  wird.  Damit  fragt  man 
aber  nach  dem  Grund  des  Erlebten,  und  diese  Frage  ist  auch 


30  — 


bei  dem  Gefühl  berechtigt.  Es  wäre  in  diesem  Sinne  irreal, 
nur  vorgestellt,  wenn  es  nicht  mit  Notwendigkeit  aus  dem 
Leben  des  eigentlichen  Subjekts  folgte.  Der  Schauspieler 
würde  dann  nur  vorgestellte  Gefühle  erleben,  die  bei  ihm 
den  Charakter  der  Halluzination  annehmen  können.  Für 
den  Betrachter  bleibt  die  Halluzination  aber  eine  Vorstellung. 
Kompliziert  wird  der  Fall  aber  noch  dadurch,  daß  das  Ge- 
fühl von  dem  angenommenen  System  aus  wiederum  wahr 
oder  unwahr  sein  kann.  Von  dem  Schauspieler  als  Menschen 
aus  ist  aber  jedes  Gefühl  irreal,  was  nicht  aus  dem  eigent- 
lichen System  mit  Notwendigkeit  folgt.  Die  Halluzination 
ist  das  Bewußtsein  der  Wirklichkeit.  Der  Unterschied  zur 
Vorstellung  kann  für  eine  Psychologie,  die  nach  der  Quali- 
tät des  Bewußtseinsinhalts  fragt,  überhaupt  nicht  existieren. 
Er  ist  exakt  überhaupt  nur  dort  festzustellen  —  falls  es 
sich  nicht  um  das  eigne  Erlebnis  im  Selbstbewußtsein  han- 
delt — ,  wo  das  Handeln  durch  den  Inhalt  des  Erlebnisses 
bestimmt  ist.  Man  erlebt  das  Allermeiste,  ohne  sich  Rechen- 
schaft darüber  zu  geben,  ob  es  wirklich  oder  unwirklich  ist. 
Es  gibt  daher  gar  keine  Entscheidung,  ob  es  eine  Annahme, 
eine  Vorstellung,  eine  Halluzination  oder  eine  Wahrnehmung 
ist.  Man  sieht  dabei  von  der  Qualität  des  Inhalts  ganz  ab. 
Nur  durch  den  außerpsychologischen  Gesichtspunkt  der 
Wirklichkeit  ist  der  Unterschied  möglich.  Genau  so  wenig 
ist  es  unmittelbar  zu  entscheiden,  wie  ein  Gefühl  erlebt 
wird,  ob  das  Bewußtsein  der  Unwirklichkeit  in  dem  eigenen 
System  erlebt  wird  oder  nicht.  Wir  trennen  nur  in  der  Er- 
kenntnis das  Eigene  von  dem  Angenommenen,  aber  dies  ist 
eine  Beurteilung  und  kein  qualitativer  Unterschied  der 
Erlebnisse.  Andererseits  aber  muß  man  den  Unterschied 
auch  im  psychischen  Erleben  selbst  anerkennen.  Das  kann 
man  aber  nur,  wenn  man  von  dem  Strukturzusammenhang 
des  Bewußtseins  ausgeht  und  nicht  von  einer  Summe  der 
Teile.  Die  Art,  wie  ein  Inhalt  erlebt  wird,  ist  eine  neue  Be- 
stimmungsmöglichkeit neben  seiner  Qualität.    Das  Bewußt- 


—  31  — 

sein  seiner  Wirklichkeit  ist  kein  sprachliches  Urteil  neben 
der  Qualität,  sondern  eine  unmittelbare  Stellung  zu  dem 
Nicht-Psychischen.  Dieser  selbe  Unterschied  wiederholt  sich 
bei  den  Denkerlebnissen.  Derselbe  Gegenstand  kann  bejaht 
und  verneint  werden.  Die  Bejahung  ist  die  Realität,  die  mir 
psychologisch  den  Fortgang  des  Bewußtseins  verständlich 
machen  kann.  Sie  ist  aber  kein  Element  neben  der  ge- 
dachten Gegenständlichkeit.  Es  ist  leider  üblich  geworden, 
alles,  was  man  sonst  nicht  unterbringen  kann,  als  Gefühl 
zu  bezeichnen.  Die  exakte  Elementarpsychologie  über- 
bietet darin  noch  den  populären  Sprachgebrauch.  Sie  spricht 
von  Begriffsgefühl,  Wiedererkennungsgefühl  usw.  Auch  das 
Evidenzgefühl  gehört  hierher.  Wahrscheinlich  spricht  man 
in  unserm  Fall  von  Bejahungs-  und  Verneinungsgefühlen. 
Ich  will  nicht  auf  das  bequeme  Ausfluchtsmittel  der  inneren 
Wahrnehmung  zurückgreifen  und  dem  Dogma  die  sehr  un- 
interessante Tatsache  gegenüberstellen,  daß  ich  diese  Gefühle 
nicht  erlebe.  Die  innere  Wahrnehmung  kann  niemals  einen 
Streit  schlichten.  Hier  handelt  es  sich,  wie  übrigens  in  fast 
allen  Fällen,  wo  man  sich  auf  sie  beruft,  gar  nicht  um  die 
Beobachtung  einer  Tatsache,  sondern  um  die  theoretische  Dar- 
stellung eines  für  alle  gleichen  Erlebnisses.  Es  liegt  ein  ganz 
bestimmtes  Erlebnis  des  nichtpsychischen  Gegenstandes  vor. 
Eine  bestimmte  Stellung,  die  bei  dem  gleichen  Gegenstand 
variabel  sein  kann.  Diese  Gegenständlichkeit  kann  bejaht, 
verneint  oder  angenommen  werden.  Es  tritt  psychologisch 
dabei  kein  verschiedenes  Element  zu  einem  gleichbleibenden 
Komplex,  wie  dies  die  Meinung  mancher  Psychologen  zu 
sein  scheint,  die  das  Erlebnis  einer  Gegenständlichkeit  als 
„Annahme"  für  eine  Grundklasse  psychischer  Phänomene 
halten  und  das  Überzeugungsgefühl  dazutreten  lassen, 
wenn  es  sich  um  eine  bejahende  Behauptung  handelt.  Diese 
Theorie  scheint  mir  nur  ein  Beweis  zu  sein,  daß  man  mit 
der  Elementarpsychologie  nicht  auskommt.  Ihr  Fehler  liegt 
in  dem  Übersehen  des  Strukturzusammenhangs,  in  der  Be- 


-  32  — 

hauptung  des  Plus  oder  Nebeneinander  im  Bewußtsein. 
Freilich  ändert  sich  mit  der  veränderten  Stellungnahme  zu 
dem  Nicht-Psychischen  auch  der  Bewußtseinsinhalt.  Das 
Wesentliche  aber  ist,  daß  wir  diese  Änderung  ihrerseits 
gerade  aus  der  Stellungnahme  verstehen.  Es  ist  wenigstens 
theoretisch  konsequent,  wenn  man  die  Bejahung  überhaupt 
nicht  in  der  Psychologie  anerkennt.  Der  Inhalt  kann  die 
Empfindung  des  „Ja",  des  „Ist"  oder  auch  des  Kopfnickens 
sein.  Wenn  man  aber  dieses  Nicken  für  den  weiteren  Zu- 
sammenhang erkennend  ausnützt,  so  stützt  man  sich  ja 
doch  wieder  auf  den  „Sinn",  den  es  hat,  und  nicht  auf  die 
Qualität  des  Empfindungserlebnisses.  Man  irrt  sich  ge- 
waltig, wenn  man  meint,  durch  die  Lokalisation  der  Emp- 
findungen im  Gehirn  weiterzukommen.  Meines  Erachtens 
ist  eine  Lokalisation  überhaupt  nur  für  die  Bewegungs- 
zentren möglich,  soweit  es  sich  um  eine  spezifische  Be- 
stimmung und  nicht  nur  um  eine  Bestimmung  von  allgemeinen 
Funktionen  handelt.  Nur  der  Körperteil  kann  mit  dem  Körper- 
teil in  eine  bestimmte  Beziehung  gebracht  werden.  Vom 
Mechanismus  aus  wäre  aber  das  Gehirn  Teil  des  naturwissen- 
schaftlichen Raums.  Damit  kann  der  Psychologe  schlechter- 
dings nichts  anfangen.  Von  dem  Reiz  im  Raum  aus  müßte 
seine  Fortpflanzung  und  die  daraus  resultierende  Verände- 
rung weiterhin  nur  durch  Raumverhältnisse  bestimmt  sein. 
Tatsache  aber  ist,  daß  der  Raumteil  des  Gehirns  eine  indivi- 
duelle Bedeutung  im  Organismus  bekommt.  Gerade  auf  sie 
fußt  aber  die  psychologische  Erkenntnis.  Dem  Wort  ,, nicht" 
und  „not"  entsprechen  von  den  gleichen  Organismen  aus 
dieselben  Inervationszentren  im  Gehirn,  d.  h.  aber  jedem 
einzelnen  Wort  andere.  Die  Zentren  für  „nicht"  und  „not" 
sind  verschieden.  Infolgedessen  kann  man  vom  Raum  aus 
nicht  weiter  gelangen.  Den  Bewußtseinszusammenhang 
kann  man  nur  aus  dem  Sinn  verstehen,  der  in  den  Worten 
gleich  ist,  und  nicht  aus  den  Raumverhältnissen  der  Inerva- 
tionszentren zu  dem  übrigen  Raum.    Auch  wenn  man  vom 


—  33  — 

Gehirn  ausgeht,  legt  man  die  individuelle  Monade  zugrunde 
und  garnicht  den  Raum  der  Naturwissenschaft.  Darin 
liegt  der  letzte  Irrtum  des  psychophysischen  Parallelismus. 
Jedes  Verständnis  beruht  einzig  und  allein  auf  dem  Sinn. 
Auch  jene  Psychologie  erkennt  nach  ihm;  nur  wenn  sie  nach 
ihm  erkannt  hat,  leugnet  sie,  daß  er  für  sie  existiert.  Dieser 
Sinn  bedeutet  psychologisch  einen  Strukturzusammenhang 
des  Bewußtseins.  Die  Bejahung  ist  eine  Stellungnahme  des 
historischen  Subjekts  zu  dem  Nichtpsychischen.  Für  die 
Qualität  der  daseienden  psychischen  Elemente,  für  den 
Inhalt  des  Bewußtseins  existiert  sie  tatsächlich  nicht,  aber 
man  soll  versuchen,  ohne  sie  den  Fortgang  des  Bewußtseins 
zu  verstehen  oder  zu  erklären. 

Die  Bestimmung  der  Psychologie  als  die  Lehre  vom  Be- 
wußtseinsinhalt ist  also  nicht  ausreichend.  Sie  trifft  auch 
für  die  Naturwissenschaft  zu.  Vor  allem  aber  kommt  es 
darauf  an,  daß  die  Qualität  dieses  Inhalts  nicht  die  einzige 
Bestirnmungsmöglichkeit  ist.  Entscheidend  für  die  Psycho- 
logie ist  seine  subjektive  Bedeutung  in  dem  Zusammenhang 
des  System  der  Monade.  Das  psychologische  Objekt  ist 
die  phänomenale  Welt  als  subjektives  Erlebnis. 

Wie  ist  nun  die  spezielle  Bestimmung  des  Bewußtseins- 
inhaltes möglich  ?  Die  Elementarpsychologie  findet  hier 
kein  Problem,  weil  sie  von  der  Voraussetzung  objektiv  ge- 
gebener letzter  Einheiten  ausgeht.  Allein  dies  würde  heißen: 
eine  psychische  Substanz  aus  objektiven  Elementen  an- 
nehmen. Man  setzt  voraus,  daß  es  darauf  ankommt,  einen 
bestimmten  Ausschnitt  dieser  Substanz,  nämlich  das  Bewußt- 
sein  eines  bestimmten  Subjekts,  zu  bestimmen.  So  sehr  man 
auch  betont,  daß  man  sich  das  Psychische  nicht  als  Raum 
vorstellen  darf,  so  sehr  ist  man  selbst  im  Raumdenken  be- 
fangen. Man  benutzt  nicht  nur  Bilder  aus  der  Raumwelt, 
sondern  man  hängt  logisch  vom  Raumdenken  ab.  Will  man 
die  objektiven  letzten  Einheiten  im  Bewußtsein  bestimmen, 
so  setzt  man  voraus,  daß  es  eine  objektive,  psychische  Welt 

Strich,  Prinzipien.  3 


—  34  — 

gibt,  die  aus  solchen  Elementen  besteht.  Dies  aber  ist  die 
Auffassung  der  Natur  im  Raum,  und  von  diesem  gar  nicht 
zu  trennen.  Die  Theorie  ist  nicht  Psychologie  ohne  Seele, 
sondern  ohne  Bewußtsein.  Denn  dieses  ist  nur  der  Rahmen, 
in  dem  die  Elemente  anwesend  sind.  Man  stellt  sich  das 
Bewußtsein  ungefähr  so  vor  wie  das  Netzhautbild,  das  man 
in  einem  fremden  Auge  analysieren  kann.  Demgegenüber 
stellen  wir  fest,  daß  das  individuelle  Bewußtsein  kein  Raum- 
ausschnitt aus  einer  allgemeinen  Substanz  ist,  daß  man 
infolge  dessen  auch  nicht  sagen  kann,  welche  objektiven 
Elemente  in  ihm  sind.  Im  Bewußtsein  existiert  vielmehr  die 
Raumwelt,  deren  objektive  Bestimmung  die  Naturwissen- 
schaft durch  die  Konstruktion  der  Substanz  vornimmt.  Die 
psychologische  Bestimmung  kann  sich  also  nur  darauf  be- 
ziehen, was  dem  Individuum  subjektiv  von  dieser  Welt  be- 
wußt ist,  denn  es  gibt  gar  nicht  eine  psychische  Welt  wie  die 
objektive  Natur.  Letzte  Einheiten  existieren  also  für  die 
Psychologie  nicht  als  gegebene  Elemente,  sondern  im  Ver- 
gleich zu  der  gedachten  objektiven  Wirklichkeit  als  Formun- 
gen des  Bewußtseins.  Psychologisch  müssen  wir  nämlich  aus- 
gehen von  der  objektiven  Welt  als  Idee,  von  einem  ewig 
wechselnden  Raumgeschehen  oder  einer  stetigen  Verände- 
rung. Setze  ich  zwei  Menschen  vor  eine  farbige  Fläche,  so 
kann  ich  daraufhin  nicht  sagen,  was  im  Bewußtsein  ist. 
Der  eine  sieht  vielleicht  eine  farbige  Fläche,  der  andere 
aber  bemerkt  Nuancen  —  an  den  Rändern  ist  dies  nicht 
schwer  — ,  denen  nicht  einmal  unsere  Sprache  gewachsen 
ist.  Es  wäre  ganz  töricht  zu  sagen,  daß  in  dem  einen  Bewußt- 
sein nur  ein  Farbelement,  in  dem  anderen  mehrere  anwesend 
sind.  Tatsache  ist,  daß  der  eine  mehr  Bestimmtheiten  unter- 
scheidet als  der  andere.  Das  Ausgehen  von  dem  ungeformten 
Material,  wie  es  jede  Psychologie  tun  muß,  die  von  der 
Gehirnphysiologie  herkommt,  ist  unmöglich.  Es  gibt  keine 
daseienden  Elemente,  sondern  nur  das  Bemerken  von  Unter- 
schieden.   Es  ist  möglich,  daß  ein  genaueres  Hinsehen  die 


—  35  — 

ursprüngliche  Einheit  gleichfalls  auflöst.  In  diesem  Falle 
hat  man  aber  nicht  einen  konstanten,  psychischen  Gegen- 
stand „Bewußtseinsinhalt"  analysiert,  sondern  es  ist  jetzt 
ein  anderer  Inhalt  da,  während  die  Konstanz  in  dem  ge- 
dachten Gegenstande  liegt.  Man  hat  nicht  mehr  psychische 
Elemente  entdeckt,  die  schon  vorher  unbemerkt  da  waren; 
es  sind  auch  nicht  plötzlich  mehr  Elemente  in  das  Bewußt- 
sein gelangt,  sondern  man  hat  an  dem  als  konstant  ange- 
nommenen Gegenstande  mehr  Bestimmtheiten  wahrgenom- 
men. Diese  Prozedur  kann  man  sich  aber  ins  Unendliche 
fortgesetzt  denken.  Man  muß  sogar  annehmen,  daß  das 
Licht  an  zwei  beliebigen  Stellen  der  Fläche  niemals  mathema- 
tisch gleich  gebrochen  wird.  Das  genaueste  Auge  —  so  drücken 
wir  das  aus  — ,  kann  nicht  die  unzähligen  Farben  unter- 
scheiden, die  wirklich  da  sind.  Infolgedessen  ist  die  Einheit 
der  Farbe  abhängig  von  dem  nicht  bemerkten  Unterschied 
von  Flächen.  Dies  können  wir  gegenüber  der  objektiven  Ver- 
schiedenheit nur  ausdrücken  als  eine  Einheitsformung  des  Be- 
wußtseins. Es  gibt  also  keine  objektiv  letzten  Einheiten,  son- 
dern nur  solche,  die  auf  einer  subjektiven  Zusammenfassung 
beruhen.  Der  Wechsel  des  Bewußtseinsinhaltes  ist  ein 
Wechsel  dieser  Synthesen,  über  die  wir  nicht  hinauskommen. 
Der  Begriff  des  Elements  ist  von  dem  objektiven  Raum  gar 
nicht  zu  trennen.  Wenn  ich  ein  Löschpapier  ansehe,  be- 
findet sich  dann  in  meinem  Bewußtsein  ein  Element  „grün" 
und  mehrere  „schwarz"  oder  nur  ein  Element  „grün"  und 
eins  „schwarz"  ?  Wenn  man  diese  Frage  ablehnt,  so  zeigt 
sich  nur  darin  die  Sinnlosigkeit  des  Elementbegriffs.  Denn 
bei  den  Tönen  wird  jeder  behaupten,  daß  jedem  Ton  ein 
Element  entspricht.  Wo  aber  liegt  der  Unterschied  zwischen 
dem  Akustischen  und  dem  Optischen  ?  Behauptet  man  nun 
noch,  daß  die  Flächenvorstellung  eine  Verschmelzung  von 
Farbelementen  mit  anderen  ist,  so  muß  man  auch,  da  ich 
verschiedene  Flächen  als  Teile  einer  größeren  wahrnehmen 
kann,    behaupten,    daß    mehrere    Elemente   „schwarz"     im 

3* 


—  36  — 

Bewußtsein  sind.  Wie  kann  man  aber  dann  noch  behaupten, 
daß  man  das  Bewußtsein  nicht  als  Raum  denkt!  Alle  jene 
Absurditäten  liegen  nur  daran,  daß  man  von  den  psychi- 
schen Elementen  ausgeht.  Die  Analyse  stellt  nur  die  Ein- 
heiten fest,  die  das  Subjekt  an  der  Welt  formend  zustande 
bringt.  Der  optische  Inhalt  besteht  aus  verschiedenfarbigen 
Flächen,  die  wiederum  zu  neuen  Einheiten  vereinigt  werden 
können.  Nicht  in  jedem  Bewußtsein  besteht  ein  angeschlage- 
ner Dreiklang  aus  drei  Tönen  oder  mehr,  je  nachdem  wie  viel 
Obertöne  anwesend  sind.  Treibt  man  Selbstbeobachtung 
und  stellt  fest,  wieviel  Töne  da  sind,  so  beobachtet  man  die 
konstante  Welt  genauer,  nicht  das  Bewußtsein.  Hört  man 
nach  einiger  Zeit  einen  Oberton,  so  hat  sich  der  Bewußt- 
seinsinhalt geändert.  Ich  habe  eine  neue  Einheit  geformt, 
die  nun  neben  den  andern  bestehen  kann.  Eine  Bestimmt- 
heit wird  erst  dadurch  eine  qualitative  Einheit,  daß  das 
Bewußtsein  eine  Formung  vornimmt. 

Aber  nicht  nur  die  formale  Einheit,  sondern  auch  die 
Wesenhaftigkeit  des  Inhalts  entzieht  sich  der  objektiven 
Bestimmung.  Scheinbar  liegt  ja  diese  sehr  einfach.  Man 
bestimmt  eben  was  im  Bewußtsein  ist,  also  im  Sinne  der 
Elementarpsychologie  die  Qualität  der  Elemente.  Damit 
fußt  man  aber  absolut  auf  dem  Begriff  der  Substanz.  Man 
kann  niemals  sagen,  was  objektiv  in  einem  Bewußtsein 
existiert,  sondern  nur  was  ein  bestimmtes  Subjekt  erlebt. 
Dazwischen  besteht  ein  gewaltiger  Unterschied.  Die  Natur- 
wissenschaft stellt  fest,  was  objektiv  für  alle  gültig  im  Raum 
existiert.  Ihre  Bestimmung  beruht  auf  der  Gleichheit  der 
Teile  innerhalb  des  ,, einen''  Systems  der  Natur  oder  der 
Substanz.  Die  kritiklose  Konstatierung  der  im  Bewußtsein 
anwesenden  Qualitäten  setzt  genau  so  „ein"  System  oder 
„eine"  psychische  Substanz  voraus.  Diese  könnte  aber  nur 
als  Gegenstand  einer  Psychologie  existieren,  die  mit  der 
Naturwissenschaft  identisch  wäre.  Die  Konstruktion  der 
einen  Natur  ist  aber  nur  eine  logische  Notwendigkeit  wegen 


—  37  — 

der  unendlichen  Verschiedenheiten  der  Monaden.  Jede  von 
ihnen  bedeutet  ein  System,  das  der  „einen"  Natur  entspricht. 
Jede  Bestimmung  setzt  also  eine  Gleichheit  mit  etwas 
anderm  voraus,  was  innerhalb  desselben  Systems  existiert. 
Da  dieses  System  psychologisch  die  Zeitreihe  der  Monade 
ist,  so  kann  die  Bestimmung  nur  eine  historische  sein.  Es 
stehen  sich  also  gegenüber  Raum  und  Zeit,  Objektivität 
und  Subjektivität.  Die  erste  ist  vom  Raum  nicht  zu  trennen, 
weil  er  allein  ein  allgemeines  Medium  für  die  Erkenntnis 
bedeutet.  Diesem  „einen"  Raum  entsprechen  die  unzäh- 
ligen Zeitreihen  der  Monaden.  Weil  die  Bestimmung  der 
Psychologie  sich  nur  auf  die  Gleichheit  innerhalb  eines 
solchen  Systems  beziehen  kann,  deswegen  nennen  wir 
sie  subjektiv.  Aber  auch  diese  kann  als  psychologisches 
Urteil  richtig  oder  falsch  sein.  Man  muß  hier  scharf  unter- 
scheiden die  psychologische  Bestimmung  des  Inhalts  und  die 
Bestimmung  der  Welt  durch  das  Subjekt.  Wenn  ich  einen 
Farbenblinden  vor  eine  rote  Fläche  stelle,  so  nenne  ich 
seine  Bestimmung  der  Fläche  als  „grau"  falsch.  Bestimme 
ich  aber  den  Inhalt  seines  Erlebnisses  als  grau,  so  kann  diese 
Bestimmung  richtig  sein,  obwohl  sie  subjektiv  ist.  Dies 
heißt  nichts  anderes,  als  daß  ich  die  Bestimmung  nach  der 
Gleichheit  in  dem  „einen"  Zeitsystem  Subjekt  vornehme. 
An  dieser  verschiedenen  Bestimmungsmöglichkeit  scheitern 
alle  Versuche  des  Materialismus,  des  psycho-physischen 
Parallelismus  und  einer  jeden  erklärenden  Kausalpsycho- 
logie. 

Zunächst  kommt  es  darauf  an,  daß  die  Bestimmung  des 
Inhaltes  nur  auf  der  Gleichheit  beruhen  kann,  die  für  das 
Subjekt  existiert.  Man  sieht  also  schon  hier,  daß  die  Psycho- 
logie die  Erkenntnis  des  Subjekts  und  nicht  der  Gesetz- 
mäßigkeit der  Elemente  ist.  Sie  kann  nur  damit  beginnen, 
was  das  Subjekt  für  gleich  hält,  niemals  aber  damit,  was  für 
Elemente  objektiv  in  seinem  Bewußtsein  sind.  Nun  bin  ich 
auf  folgenden  Einwand  gefaßt:   Das   Gleichhalten  ist  eine 


—  38  — 

Denkfunktion,  die  wir  etwa  in  dem  primitiven  Bewußtseins- 
leben eines  Kindes  nicht  voraussetzen  dürfen.  Dieser  Ein- 
wand beruht  aber  auf  einem  Psychologismus. 

Wir  können  die  Eigenart  der  psychologischen  Erkenntnis 
nicht  erkennen,  wenn  wir  sie  nicht  als  Korrelat  zur  Natur- 
wissenschaft begreifen.  Wir  haben  durch  sie  das  Recht,  von 
einer  objektiven  Welt  auszugehen,  die  wir  subjektiv  er- 
leben. Das  gilt  für  die  Amöbe,  wie  für  den  Psychologen. 
Wenn  nun  der  Naturwissenschaftler  feststellt,  daß  bei  zwei 
Tönen  die  Anzahl  der  Schwingungen  um  eine  einzige  diffe- 
riert, so  existieren  objektiv  zwei  verschiedene  Töne.  Wenn 
aber  das  Subjekt  unmittelbar  keine  Verschiedenheit  der 
Töne  wahrnehmen  kann,  so  haben  wir  zweifellos  das  Recht, 
zu  behaupten:  in  dem  Bewußtsein  existiert  der  gleiche  Ton. 
Da  aber  unsere  Erkenntnis  davon  ausgeht,  daß  das  Subjekt 
die  objektive  Welt  erlebt,  so  können  wir  gar  nichts  anderes 
sagen,  als  daß  das  Subjekt  die  objektiv  verschiedenen  Töne 
für  gleich  hält.  Von  einer  Denkfunktion  als  psychologischem 
Phänomen  ist  dabei  gar  nicht  die  Rede.  Wir  sprechen  nicht 
von  im  Bewußtsein  anwesenden  Funktionen  neben  den 
Empfindungsinhalten,  sondern  nur  von  der  Bestimmung 
dieses  Inhaltes  selbst,  und  deshalb  ist  jener  Einwand  psycho- 
logistisch.  Der  Ausdruck:  ,,im"  Bewußtsein  existieren,  ist 
nur  ein  Raumbild  für  das,  was  „für"  das  Bewußtsein  existiert. 
Sonst  gäbe  es  eine  Psychologie  ohne  Bewußtsein.  Als  Teil 
der  objektiven  Welt  ist  ein  Inhalt,  so  kann  man  ruhig  sagen, 
niemals  einem  anderen  gleich.  Die  objektive  Gleichheit 
existiert  überhaupt  nur  als  Idee  der  Mathematik.  Ist  er  aber 
als  historischer  Teil  des  Bewußtseins  einem  andern  gleich, 
so  kann  man  nur  sagen,  daß  das  Subjekt  ihn  für  gleich  hält. 
Dies  ist  nur  ein  anderer  Ausdruck  für  seine  subjektive  Be- 
stimmung, über  die  wir  psychologisch  nicht  hinausgelangen. 
Von  einer  Denkfunktion  würde  ich  erst  dort  sprechen,  wo 
eine  Gleichheit  zum  Gegenstand  eines  Urteils  gemacht  wird. 
Wenn  man  sagt:  das  neugeborene  Kind  hält  zwei  Inhalte 


—  39  — 

für  gleich,  so  ist  gegen  den  Ausdruck  gar  nichts  einzuwenden. 
Ich  erkenne  und  bestimme  das  Subjekt  Kind  genau  so,  wie 
wenn  ich  sage:  das  Kind  will  trinken.  Denn  auch  damit 
bestimme  ich,  wie  wir  noch  sehen  werden,  durchaus  keine 
Reihe  von  psychischen  Elementen,  sondern  nur  das  histori- 
sche Subjekt.  Erst  damit  hätte  man  mit  der  Aktualitäts- 
theorie Ernst  gemacht.  Aktualität  und  psychisches  Element 
ist  ein  Widerspruch,  nämlich  der  Gegensatz  zweier  Katego- 
rien des  Denkens,  die  man  auch  als  Spontaneität  und  Ding 
bezeichnen  kann.  Weil  man  von  der  Idee  einer  objektiv 
bestimmbaren  Welt  ausgeht,  so  kann  man  das  Psychische 
nur  als  Aktualität  darstellen.  Man  hat  dagegen  ein- 
gewandt, daß  man  in  der  Selbstbeobachtung  nichts  von 
einer  Tätigkeit  des  Bewußtseins  wahrnehme.  Damit  bin 
ich  ganz  einverstanden.  Ich  nehme  aber  auch  im  Raum 
keine  Tätigkeit  wahr,  wie  wir  noch  zeigen  werden,  sondern 
ich  denke  etwas  als  Tätigkeit,  und  es  kommt  nur  darauf 
an,  ob  diese  Denkkategorie  logisch  notwendig  ist.  Sie  ist 
es  deshalb,  weil  man  den  Unterschied  anerkennen  muß,  der 
zwischen  der  Auffassung  des  Subjekts  und  dem  objektiven 
Sein  besteht.  Da  eben  der  Wahrnehmungsinhalt  von  uns 
als  Bestimmtheit  der  objektiven  Welt  gedacht  wird,  so 
können  wir  seine  Wesenhaftigkeit  als  Erlebnis  nicht  anders 
als  subjektive  Auffassung  nennen. 

Es  ist  bekannt,  daß  man  nach  mehrmaligem  Durch- 
einander den  Unterschied  von  Zucker  und  Salz  nicht  mehr 
bemerken  kann.  Will  man  dies  im  Sinne  der  Elementar- 
psychologie darstellen,  nämlich  die  Qualität  des  daseienden 
Elementes  bestimmen,  so  wüßte  ich  wirklich  nicht,  welches 
Element  man  konstatieren  will.  Es  wäre  ebenso  unsinnig, 
diese  Bestimmung  nach  dem  eventuell  falschen  Urteil  des 
Subjekts,  wie  nach  meinem  richtigen  Urteil  über  die  objek- 
tive Welt  vorzunehmen.  Hält  das  Subjekt  den  Zucker  für 
Salz,  so  wäre  es  eben  so  falsch,  zu  sagen:  in  seinem  Bewußt- 
sein ist  das  Element  ,, salzig",  wie:  dort  befindet  sich  das 


—  40  — 

Element  „süß".  Objektiv  kann  ich  nur  feststellen,  was  im 
Raum  existiert,  die  Gleichheit  des  Raumteils  mit  andern. 
Psychologisch  aber  kann  ich  nur  die  historische  Gleichheit 
eines  Inhaltes  mit  anderen  in  demselben  Individualsystem 
feststellen.  Es  ist  nur  ein  anderer  Ausdruck  für  diese  Idee 
des  Individualsystem,  wenn  ich  sage:  das  Subjekt  hält  zwei 
Inhalte  für  gleich.  Schon  hier  sieht  man  den  Unterschied 
zwischen  Beschreibung  und  Erklärung.  Die  Erklärung  kann 
nur  beruhen  auf  der  Konstatierung  dessen,  was  objektiv 
da  ist.  Denn  eben  dieses  Dasein  an  einem  Orte  gilt  es  zu  er- 
klären. Wenn  man  sagt,  daß  die  Psychologie  garnichts  zu 
erklären  hat,  so  bedeutet  das  keinen  Skeptizismus,  sondern 
nur  die  Ablehnung  einer  unlogischen  Fragestellung.  Es  ist 
nichts  objektiv  Darstellbares  da,  dessen  Dasein  man  er- 
klären könnte.  Die  psychische  Realität  besteht  in  unserm 
Fall  in  einer  Verwechslung.  Nun  ist  aber  jede  psychologische 
Gleichheit  objektiv  eine  solche  Verwechslung.  Eine  Gleich- 
heit von  Inhalten  gibt  es  ebenso  wenig  wie  den  mathemati- 
schen Punkt  als  Inhalt.  Eine  Gleichsetzung  läßt  sich  höch- 
stens verstehen.  Was  das  heißt,  werden  wir  noch  genauer 
darlegen  müssen.  Hier  genügt  der  Hinweis,  daß  ich  die 
Gleichsetzung  verstehe,  wenn  die  Inhalte  so  ähnlich  sind, 
daß  auch  ich  eine  Gleichsetzung  vornehmen  könnte.  Diese 
Ähnlichkeit  erklärt  aber  die  Gleichsetzung  nicht,  wenn 
man  das  Wort  im  Sinne  der  Naturwissenschaft  nimmt.  Ich 
kann  nur  das  Subjekt  beschreiben,  nämlich  daß  es  zwei 
Inhalte  für  gleich  hält,  ohne  daß  etwas  da  wäre,  was  objektiv 
zu  bestimmen  und  zu  erklären  wäre.  Schon  aus  diesem 
Grund  ist  der  psycho-physische  Parallelismus  unmöglich, 
wie  jeder  Versuch  das  Psychische  dem  Raum  einzuordnen. 
Denn  die  subjektive  Gleichsetzung  kann  man  nicht  in  einen 
Zusammenhang  mit  dem  objektiv  zu  konstruierenden  Raum- 
geschehen bringen.  Aus  dem  Raumgeschehen  müßte  ich 
unbedingt  auf  die  Objektivität  des  Bewußtseinsinhaltes 
schließen  können.    Die  Konsequenz  wäre  dann  die,  daß  es 


—  41  — 

keinen  Irrtum  gäbe.  Für  gewöhnlich  macht  man  geltend, 
daß  gerade  der  Irrtum  ein  kausal  zu  erklärender  Denk- 
prozeß sei.  Er  widerlegt  aber  gerade  die  Kausalität,  denn 
wenn  man  von  der  kausalen  Wirkung  der  objektiven  Welt 
ausgeht,  so  gäbe  es  im  Bewußtsein  auch  nur  objektive 
Gleichheiten,  d.  h.  richtige.  Da  sich  aber  der  Bewußtseins- 
inhalt gar  nicht  objektiv  bestimmen  läßt,  so  ist  er  auch  nicht 
erklärbar.  Wir  bestimmen  nicht  den  Bewußtseinsinhalt, 
sondern  das  Subjekt.  Aus  der  Außenwelt  können  wir  nie- 
mals auf  den  Bewußtseinsinhalt  schließen.  Das  heißt:  es  gibt 
keine  unmittelbare  Gegebenheit  des  Inhalts.  Gerade  weil 
es  vor  der  Konstruktion  der  Welt  in  der  Naturwissenschaft 
überhaupt  nicht  „die"  Welt,  sondern  nur  Subjekte  oder 
fensterlose  Monaden  gibt,  müssen  wir  die  Gegebenheit  der 
Welt  ablehnen.  Gehen  wir  von  der  Idee  einer  objektiv  be- 
stimmbaren Welt  aus,  so  ist  das  Problem  der  Erkenntnis 
dieser  Welt  die  Auseinandersetzung  von  ihr  mit  den  Welten 
der  Monaden.  Gerade  wenn  wir  von  einer  objektiven  Welt 
als  Idee  ausgehen,  dürfen  wir  psychologisch  nicht  eine  Ge- 
gebenheit ihrer  Bestimmtheiten  annehmen.  Wegen  der 
gegebenen  Subjektivität  in  dem  Erfahren  kann  die  Objek- 
tivität nicht  gegeben  sein.  Die  subjektive  Auffassung  der 
Welt  ist  freilich  gegeben  und  kann  daher  nur  Gegenstand 
der  Beschreibung  sein.  Nicht  die  Gleichheit  der  Welt- 
bestimmtheiten ist  gegeben,  sondern  die  Gleichsetzung  oder 
ihre  historische  Gleichheit  im  Individualsystem.  Dies  trifft 
für  alle  Denkbestimmungen  zu,  denn  jede  beruht  auf  einer 
Gleichheit.  Stelle  ich  ein  Subjekt  vor  10  rote  Kugeln,  so 
ist  es  zunächst  gänzlich  ungerechtfertigt  zu  sagen,  daß  das 
Subjekt  10  rote  Kugeln  sieht.  Meine  subjektive  Bestimmung 
der  Welt  ist  mir  gegeben,  aber  meine  subjektive  Welt  ist 
nicht  die  Welt  aller  anderen  Monaden.  Diese  wird  erst  von 
der  Naturwissenschaft  als  Gegenstand  des  „Bewußtseins 
überhaupt"  konstruiert,  und  es  ist  anzunehmen,  daß  meine 
subjektive  Auffassung  gleicher  Farben  durch  ihre  Methoden 


—  42  — 

jederzeit  als  falsch  bewiesen  werden  kann.  Das  Urteil  über 
den  Inhalt  ist  verifizierbar,  aber  die  Gleichsetzung  ist  das 
Gegebene. 

Es  klingt  sehr  naturwissenschaftlich:  Die  Empfindung 
wächst  proportional  dem  Logarithmus  des  Reizes.  In  Wahr- 
heit handelt  es  sich  auch  hier  nur  um  eine  Verwechslung  oder 
subjektive  Gleichsetzung.  Man  wundert  sich,  daß  das  „Ge- 
setz" nicht  auf  die  Sinnesqualitäten  anwendbar  ist.  Dies 
ist  aber  in  dem  Moment  selbstverständlich,  wo  man  einsieht, 
daß  die  sogenannte  Größe  der  Empfindung  nichts  anderes 
ist  als  das  Erleben  einer  Größe.  Kein  Mensch  wird  behaup- 
ten, daß  die  Empfindung  wächst,  wenn  ich  eine  Strecke  um 
10  Zentimeter  verlängere.  Genau  so  liegt  es  aber  in  den  Fällen, 
wo  das  vermeintliche  Gesetz  sich  bestätigt.  Bei  den  Sinnes- 
qualitäten erlebe  ich  keine  Größen,  wenn  auch  der  Natur- 
wissenschaftler sich  bemüht,  die  Qualitäten  in  Größen  um- 
zudenken. Das  Fechnersche  Gesetz  sagt  nur,  daß  allzu 
ähnliche  Größen  miteinander  verwechselt  werden.  Die 
Proportionalität  ist  uns  verständlich,  weil  der  Umkreis  des 
Ähnlichen  mit  der  Größe  des  Erlebten  wächst. 

Wir  können  also  bei  der  Wahrnehmung  nur  von  einer 
Formung  des  Bewußtseins  sprechen,  nicht  aber  von  gegebenen 
psychischen  Elementen.  Nur  dadurch  wird  überhaupt  die 
Wahrnehmung  oder  der  Bewußtseinsinhalt  zu  einem  psycho- 
logischen Problem.  Denn  abgesehen  davon  ist  er  nur  Gegen- 
stand der  Naturwissenschaft.  Diese  erklärt  die  Wahrneh- 
mung, nicht  aber  die  Psychologie.  Nur  insofern  ich  die 
Wahrnehmung  als  einen  historischen  Moment  aus  dem 
Leben  des  Individuums  auffasse,  existiert  eine  psychologische 
Fragestellung.  Jede  Bestimmung  ist  die  Einordnung  in  die 
subjektive  Erfahrung  des  Individuums.  Es  gibt  nicht  eine 
bestimmte  Anzahl  von  Farbelementen,  von  denen  eines  ins 
Bewußtsein  gelangt.  Bekanntlich  unterscheiden  gewisse 
Hirtenvölker  Farbennuancen,  die  wir  etwa  unter  dem  Be- 
griff „braun"  zusammenfassen.    Dies  liegt  aber  nicht  allein 


—  43  — 

an  der  Sprache.  Es  wäre  auch  töricht  anzunehmen,  daß 
diese  Völker  mehr  Farbenelemente  besitzen  als  wir.  Wir 
können  nur  sagen,  daß  wir  manches  für  gleich  halten,  wo 
ein  anderer  Unterschiede  sieht. 

Es  dürfte  klar  sein,  daß  mit  dieser  Bestimmung  der 
allgemeinen  Weltbestimmtheiten  das  Psychische  nicht  er- 
schöpft ist.  Für  gewöhnlich  stellt  man  es  so  dar,  als  ob  tat- 
sächlich nur  Empfindungselemente  da  sind,  die  andere  asso- 
ziativ hervorrufen.  Die  populäre  Erkenntnis  sagt  z.B.: 
Ich  nehme  einen  Tisch  wahr.  Der  Elementarpsychologe 
behauptet,  daß  nur  Empfindungselemente  da  sind,  die  die 
Vorstellung  ,, Tisch"  hervorrufen,  diese  selbst  aber  soll  wieder 
in  Empfindungselemente  analysierbar  sein.  Es  gibt  Fälle, 
in  denen  ich  durch  einen  Gegenstand  an  einen  anderen  er- 
innert werde,  wo  also  wirklich  ein  Nacheinander  von  Er- 
lebnissen da  ist.  Dies  trifft  aber  in  unserem  Fall  nicht  zu. 
Hier  handelt  es  sich  nicht  um  ein  Nacheinander,  sondern 
um  die  Bestimmung  dessen,  was  momentan  erlebt  wird. 
Dieses  Erlebte  kann  ich  nur  mit  der  Vergangenheit  des  Sub- 
jekts vergleichen.  Man  kann  wohl  von  einer  Gestaltqualität 
sprechen.  Man  hat  aber  damit  mit  dem  Begriff  des  Elements 
gebrochen.  Erlebt  wird  das  eigentümliche  Zusammensein 
von  Bestimmtheiten,  die  in  den  Augen  des  Subjekts  für  den 
Tisch  charakteristisch  sind.  Dieser  Komplex  ist  logisch 
ganz  der  Einheitsformung  zu  vergleichen,  wie  wir  sie  bei 
der  Einheit  der  Empfindung  nachgewiesen  haben,  und  be- 
ruht auf  dem  eigentümlichen  Strukturzusammenhang  des 
Bewußtseins. 

Der  Begriff  der  Gleichheit  kann  in  der  Psychologie 
keinen  andern  als  einen  historischen  Sinn  haben.  Infolge- 
dessen kann  man  jede  Empfindung  eine  Allgemeinempfin- 
dung nennen.  Das  Erlebte  kann  nur  als  eine  wiederholt 
erlebte  Bestimmtheit  der  Welt  bestimmt  werden.  Die 
Individualität  ist  als  objektive  Kategorie  nur  im  Raum  mög- 
lich,  nämlich  durch  den  Ort.     Infolgedessen  muß   die  Er- 


—  44  — 

klärung  der  Naturwissenschaft  die  Ortsveränderung  des 
individuellen  Teils  nachweisen.  Für  die  Psychologie  kann 
es  aber  ein  individuelles  Element  in  diesem  Sinne  nicht 
geben.  Ihre  Individualität  kommt  nur  durch  den  Zeit- 
moment zustande.  Erst  wenn  ich  den  Inhalt  nicht  psycho- 
logisch auffasse,  wird  er  als  Gegenstand  im  Raum  individuell. 
Will  ich  also  feststellen,  was  zu  einer  bestimmten  Zeit  im 
Bewußtsein  ist,  so  kann  ich  nur  die  historische  Gleichheit  von 
Weltbestimmtheiten  oder  deren  spezieller  Komplexe  namhaft 
machen.  Damit  ist  der  psychologische  Nominalismus  wider- 
legt. Das  Wort  hat  als  Bewußtseinsinhalt  nämlich  keine  Aus- 
nahmestellung. Die  Einheit  des  Worts  ist  vielmehr  ein  Kom- 
plex von  Bestimmtheiten,  wenn  man  will,  eine  spezielle  Ge- 
staltqualität, eine  akustische  Allgemeinvorstellung,  die  sich 
logisch  von  keiner  andern  irgendwie  unterscheidet.  Es  ist 
ganz  widersinnig,  wenn  die  Gleichheit  des  Wortes  die  Ver- 
schiedenheit der  gemeinten  Gegenstände  vertreten  soll, 
denn  das  Wort  ist  von  anderen  genau  so  verschieden  oder 
ihnen  genau  so  gleich,  wie  sich  die  optischen  Vorstellungen 
zueinander  verhalten.  Das  Wort  ,, Tisch"  ist  genau  so  als 
akustischer  Gegenstand  ein  allgemeiner  Gegenstand,  wie  der 
Tisch  selbst  als  optischer.  Seine  Einheit  ist  auch  nicht  auf- 
zulösen in  eine  Folge  objektiver  Elemente,  ebensowenig 
wie  es  im  Sinne  der  Elementarpsychologie  ein  einzelnes 
Element  ist.  Es  ist  nichts  anderes  als  eine  Einheitsformung 
des  Bewußtseins  gegenüber  einem  objektiven  Kontinuum. 
Höre  ich  eine  fremde  Sprache,  so  höre  ich  vielleicht  voll- 
kommen andere  Einheiten  als  einer,  der  sie  versteht.  Diese 
Verschiedenheit  ist  aber  nicht  erklärbar  aus  verschiedenen 
objektiven  Elementen.  Gerade  die  Elementarpsychologie 
schneidet  hier  die  Fragestellung  ab.  Es  gibt  nichts  zu  er- 
klären, sondern  nur  historisch  zu  verstehen.  Meine  Er- 
fahrung, mein  Wissen  beeinflußt  meine  akustischen  Synthesen. 
Der  Gegenstand  dieser  Einheitsformung,  das  Wort,  ist  genau 
so  ein  Gegenstand,  der  Bestimmtheiten  hat,  wie  der  Gegen- 


—  45  — 

stand  der  optischen  Synthese.  Das  Wort  kann  die  All- 
gemeinheit des  Gemeinten  nicht  erklären,  weil  es  selbst  eine 
solche  Allgemeinheit  ist.  Selbstverständlich  wird  auch  nichts 
geändert,  wenn  man  es  als  einen  optischen  oder  motorischen 
Inhalt  auffaßt.  Man  versuche  nur  einmal  die  objektiven 
Elemente  herauszufinden.  Es  ist  möglich,  daß  man  theore- 
tisch behauptet:  die  Elemente  der  motorischen  Empfindung 
entsprechen  der  Anzahl  der  unterscheidbaren  Muskeln.  Aber 
diese  Atomistik  entspricht  etwa  der  Behauptung,  daß  der 
Empfindungsinhalt  „grau"  beim  Sehen  der  bekannten  drei- 
farbigen Scheibe  aus  den  drei  verschiedenen  Elementen 
bestünde.  Über  die  Interpretation,  die  die  Bewegungs- 
empfindung als  Einheit  nur  in  einer  Zeitstrecke  sieht,  kommen 
wir  nicht  hinaus.  Sie  beruht  auf  einer  Synthese,  wo  die  Ana- 
lyse in  Objektivitäten  unmöglich  wird.  Das  Problem  der 
Allgemeinvorstellung  ist  nur  deswegen  unlösbar  geworden, 
weil  man  nicht  gesehen  hat,  daß  die  psychologische  Bestim- 
mung jederzeit  nur  eine  historische  und  keine  räumliche 
sein  kann. 

Wir  sahen,  daß  der  Wechsel  des  Bewußtseinsinhaltes 
auf  einem  Wechsel  der  Einheitsformungen  des  Bewußtseins 
beruht.  Dies  erlaubt  eine  Kritik  der  Selbstbeobachtung. 
Es  gehört  für  mich  zu  den  Unklarheiten  der  Apperzeptions- 
theorie, daß  sie  den  Akt  der  inneren  Wahrnehmung  leugnet 
und  trotzdem  von  der  Analyse  des  Inhaltes  in  Elemente 
ausgeht.  Logisch  ist  dabei  doch  jener  Akt  vorausgesetzt. 
Man  setzt  nämlich  einen  relativ  konstanten  Gegenstand 
voraus,  der  analysiert  werden  kann.  Dies  nennt  man  aber 
innere  Wahrnehmung.  Es  kommt  mir  nicht  darauf  an, 
Unzulänglichkeiten  dieser  Beobachtung  festzustellen,  die 
mehr  oder  minder  beseitigt  werden  könnten,  sondern  nur 
auf  das  absolut  Unlogische,  das  diesem  ganzen  Begriffe 
zugrunde  liegt.  Es  gibt  keinen  Gegenstand  der  psycho- 
logisch betrachtet  werden  kann,  außer  dem  Raum.  Selbst- 
beobachtung ist  nichts  anderes  als  Beobachtung  des  Raumes, 


—  46  — 

wie  er  als  Inhalt  der  Monade  existiert.  Weil  aber  zugleich 
eine  objektive  Welt  gedacht  wird,  so  kann  man  auch  sagen, 
daß  eine  konstante  Raumkonstellation  beobachtet  wird, 
und  in  dieser  Voraussetzung  bekommt  die  Analyse  des  Be- 
wußtseinsinhaltes einen  ganz  anderen  Sinn.  So  wie  ich  etwas 
Neues  wahrnehme,  hat  mein  individueller  Bewußtseins- 
inhalt gewechselt.  Denkend  aber  beziehe  ich  das  Wahr- 
genommene auf  einen  konstanten  Gegenstand.  Im  Bewußt- 
sein befindet  sich  nur  das,  was  ich  unmittelbar  erlebe.  Diese 
Erlebnisse  kann  ich,  so  gut  es  geht,  namhaft  machen.  Habe 
ich  aber  Grund  anzunehmen,  daß  die  objektive  Welt  sich  nicht 
geändert  hat,  so  kann  ich  sagen:  ich  habe  die  Welt,  die  auch  im 
vorigen  Moment  dieselbe  war  wie  jetzt,  genauer  analysiert, 
nicht  aber  einen  momentanen  Bewußtseinsinhalt.  Diese  Auf- 
fassung ist  also  das  Korrelat  zu  der  Konstruktion  der  Kausa- 
lität, wie  sie  Kant  begründet  hat.  Wenn  nämlich  der  Wechsel 
des  Inhaltes  nicht  auf  einen  konstanten  Gegenstand  be- 
zogen werden  kann,  dann  ist  die  Folge  des  Wahrnehmungs- 
urteils  als  ,, wirkliche"  Veränderung  durch  die  Kausalität 
zu  objektivieren.  Wir  kommen  also  zu  dem  Resultat,  daß 
der  Psychologe  in  dem  momentanen  Bewußtsein  nicht  mehr 
finden  kann,  als  in  dem  gewöhnlichen  Sterblichen  da  ist. 
Auch  sein  Bewußtsein  ist  ein  ständiger  Wechsel  von  Ein- 
heitsformen. Man  erlebt  das,  was  man  erlebt.  Es  ist  aber 
möglich,  daß  etwas  als  Raumbestimmtheit  existiert,  was 
ich  nicht  erlebe.  Dies  nennen  wir  unbewußt.  Wenn  es  mir 
aber  bewußt  wird  und  ich  annehmen  muß,  daß  sich  die  Wirk- 
lichkeit in  dem  verflossenen  Zeitraum  nicht  geändert  hat, 
so  muß  ich  auch  annehmen,  daß  es  schon  vorher  existiert 
hat.  Das  Unbewußte  ist  aber  kein  Grad  des  Bewußtseins. 
Es  ist  richtig,  daß  die  Bewegung  unseres  Auges  uns  die 
Kenntnis  räumlicher  Verhältnisse  vermittelt,  weil  durch  die 
sukzessive  Reihe  der  optischen  Bilder  unsere  Raumsynthesen 
möglich  werden.  Diese  Bewegungen  des  Auges  lassen  sich 
bemerken.     Es  ist  aber  falsch  zu  behaupten,  daß  die  Be- 


—  47  - 

wegungsempfindungen  in  jedem  Bewußtsein  anwesend  sind 
und  nur  durch  eine  genaue  Selbstbeobachtung  bemerkt 
werden.  Damit  faßt  man  das  Bewußtsein  als  Raumgegen- 
stand auf.  Was  man  hierbei  Selbstbeobachtung  nennt,  ist 
wieder  nichts  anderes  als  die  genauere  Beobachtung  der 
Außenwelt.  Diese  allein  braucht  nicht  in  jedem  Bewußt- 
sein anwesend  zu  sein.  Was  im  Moment  da  ist,  ist  nicht 
mehr  oder  minder  bewußt,  sondern  es  ist  dem  Gegenstand 
im  Raum  gegenüber  mehr  oder  minder  bestimmt.  Durch 
die  Aufmerksamkeit  wird  die  Welt  in  dieser  Hinsicht  von 
dem  Psychologen  genauer  bestimmt  als  von  dem  praktisch 
handelnden  Menschen.  Von  einer  Auflösung  des  Bewußt- 
seinsinhaltes als  psychischen  Gegenstandes  läßt  sich  nicht 
sprechen.  Die  vermeintliche  Analyse  des  Bewußtseins  oder 
die  Selbstbeobachtung  deckt  sich  also  mit  dem  Begriff  der 
Apperzeption.  Es  gibt  keine  Grade  des  Bewußtseins,  son- 
dern nur  eine  genauere  Bestimmung  des  nicht-psychischen 
Gegenstandes.  Die  Randteile  der  Netzhaut  bewirken  keine 
perzipierten  Elemente.  Was  bewußt  ist,  ist  bewußt,  ohne 
daß  es  Grade  gäbe.  Richtig  aber  ist,  daß  sich  die  Gegenstände, 
die  nicht  ins  Sehzentrum  der  Netzhaut  fallen,  nicht  genau 
bestimmen  lassen.  Der  Unterschied  von  Apperzeption  und 
Perzeption  beruht  also  auf  einem  Vergleich  mit  dem  Gegen- 
stande, nicht  aber  auf  einem  Vergleich  der  Grade  des  Be- 
wußtseins. Ein  Geräusch  kann  plötzlich  bewußt  werden. 
Habe  ich  Grund  anzunehmen,  daß  es  auch  früher  da  war, 
so  hat  es  unbewußt  existiert.  Kann  ich  aber  feststellen,  daß 
es  auch  früher  in  irgend  einer  Weise  schon  bewußt  war, 
so  habe  ich  von  dem  Gegenstand  weniger  wahrgenommen 
als  jetzt.  Die  psychischen  Elemente  aber  haben  keine  Steige- 
rung erfahren.  Ich  nehme  jetzt  vielleicht  einen  Rhythmus, 
eine  Klangnuance  wahr,  ich  erkenne  vielleicht  ein  Musik- 
stück. Außerdem  gibt  es  aber  noch  eine  Möglichkeit,  näm- 
lich, daß  etwas  im  Bewußtsein  war,  was  vergessen  worden 
ist.    Natürlich  kann  man  das  nur  hypothetisch  annehmen. 


—  48  — 

Wo  aber  die  Tatsache  des  absoluten  Vergessens  existiert, 
können  wir  logischerweise  auch  davon  Gebrauch  machen, 
wenn  wir  damit  einer  unlogischen  Annahme  von  unbewußten 
Elementen  im  Bewußtsein  entgehen.  Ich  glaube,  wir  wissen 
das  Allerwenigste  von  dem,  was  wir  in  einem  Moment  er- 
leben. Das  praktische  Handeln  gestattet  uns  nur  die  Be- 
schäftigung mit  einem  kleinen  Teil.  Alles  Übrige  wird 
momentan  vergessen.  Das  verstehe  ich  unter  dem,  was  man 
die  Fransen  des  Bewußtseins,  „fringes",  genannt  hat.  Ebenso 
gibt  es  auch  Vorstellungsfransen.  Wir  besinnen  uns  auf 
einen  Namen,  wir  erleben  ihn  plötzlich,  aber  ehe  wir  ihn  aus- 
sprechen können,  ist  die  Vorstellung  schon  vergessen.  Was 
übrig  bleibt,  sind  vielleicht  noch  ganz  wenig  und  unbestimmte 
motorische  Empfindungen.  Wir  pflegen  zu  sagen:  der  Name 
schwebte  uns  auf  der  Zunge.  Die  Elementarpsychologie 
würde  hier  von  dem  dunklen  Hintergrund  des  Bewußtseins 
sprechen.  Ich  weiß  wohl,  daß  man  dies  nicht  wörtlich 
nehmen  darf.  Eine  Metapher  kann  aber  dem  Bewußtsein 
nur  etwas  verdeutlichen.  Hier  liegt  nun  die  ganze  Verdeut- 
lichung in  dem  Räumlichen  des  Bildes,  und  darum  ist  sie 
nicht  nur  nichtssagend,  sondern  auch  gefährlich.  Die  „fringes" 
haben  ihre  Eigentümlichkeit  nicht  wegen  der  Raumdimen- 
sionen des  Bewußtseins  und  nicht  wegen  der  Beleuchtung. 
Der  Sprachgebrauch  darf  sich  ähnliche  Metaphern  erlauben, 
die  wissenschaftliche  Terminologie  nicht.  Die  Kürze  der 
Zeit  ist  das  Entscheidende  und  vielleicht  daraufhin  die  ge- 
ringe Anzahl  von  Bestimmtheiten  gegenüber  der  Wirklich- 
keit. Hier  kann  die  psychologische  Aufmerksamkeit  korri- 
gieren, wenn  es  auch  ausgeschlossen  ist,  daß  die  Benennung 
und  Beschreibung  nur  annähernd  der  Unzahl  der  Erlebnisse 
nachkommen  kann.  Immerhin  kann  man  hier  durch  Übung 
etwas  erreichen.  Diese  besteht  aber  in  nichts  anderem  als 
der  Ausschaltung  der  ungleichmäßigen  Beschäftigung  mit 
dem  Erlebten,  wie  es  das  praktische  Handeln  verlangt. 
Es  gibt  Menschen,  denen  mehr  bewußt  war,  als  sie  im  folgen- 


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den  Moment  wissen,  weil  sie  vieles  vergessen  haben,  worauf 
sie  keinen  Wert  legten.  Es  wäre  aber  auch  falsch  zu  sagen, 
daß  wir  ein  Erinnerungsbild  genauer  analysieren  können. 
Auch  das  bedeutet  eine  Verdinglichung  des  Psychischen. 
Die  Vorstellung  unterscheidet  sich  hierin  nicht  von  der 
Wahrnehmung.  Es  gibt  nichts,  was  mir  momentan  bewußt 
ist,  ohne  daß  ich  es  weiß.  Aber  wohl  ist  es  möglich,  daß  mir 
etwas  bewußt  ist,  was  ich  im  nächsten  Moment  nicht  mehr 
weiß,  oder  etwas,  wodurch  ich  den  Gegenstand  nicht  genau 
erkenne.  Die  Tätigkeit  des  Psychologen  ist  Selbsterkenntnis 
oder  Selbstbewußtsein.  Jedes  Wissen  ist,  solange  es  nicht 
naturwissenschaftliche  Erkenntnis  ist,  psychologisch.  Wenn 
das  Kind  das  erste  Urteil  abgibt,  so  ist  das  ein  Beweis,  daß 
die  psychologische  Erkenntnis  in  ihm  erwacht  ist.  Es  ordnet 
das  Erlebte  seiner  subjektiven  Welt,  seiner  Erfahrung 
ein.  Mehr  tut  auch  der  Psychologe  nicht.  Aber  der  größte 
Teil  unseres  Bewußtseinslebens  läuft  ab,  ohne  daß  es  Gegen- 
stand urteilender  Erkenntnis  wird.  Hierfür  ist  leider  der 
Name  „unbewußt"  üblich  geworden.  Besser  wäre  schon, 
man  sagte:  „ungewußt".  Wir  wissen  nur  das  von  unseren 
Erlebnissen,  was  uns  im  Gedächtnis  bleibt.  Für  gewöhnlich 
bleibt  uns  aber  nur  das  im  Gedächtnis,  womit  wir  uns  er- 
kennend beschäftigt  haben.  Im  praktischen  Leben  geht  aber 
vieles  vorüber,  ohne  daß  es  nur  im  geringsten  von  uns  be- 
stimmt wurde.  Wir  haben  eben  mehr  zu  tun,  als  immer 
Psychologen  zu  sein.  Aber  auch  das,  was  wir  nicht  bestimmt 
haben,  kann  für  den  Fortgang  des  psychischen  Lebens  sehr 
wesentlich  sein.  Insofern  ist  wirklich  das  Ungewußte  viel 
wesentlicher  als  das,  was  wir  von  unserer  Geschichte  wissen. 
Ich  komme  später  nochmal  darauf  zurück. 

Wir  haben  damit  schon  ein  Problem  berührt,  das  die 
Elementarpsychologie,  soviel  ich  sehe,  überhaupt  über- 
gangen hat,  nämlich  das  Problem  der  Zeit  im  Verhältnis  zu 
der  Einheit  des  Erlebten.  Nur  bei  der  sogenannten  Enge 
des  Bewußtseins  wird  diese  Frage  gestreift.    Sollte  die  Er- 

Strich,  Prinzipien.  4 


—  50  - 

klärung  in  der  Psychologie  überhaupt  einen  Sinn  haben, 
so  müßte  es  möglich  sein,  eine  Folge  von  Elementen  anzu- 
geben, deren  Existenz  man  dann  erklären  kann.  Diese 
stillschweigende  Voraussetzung  ist  aber  falsch.  Unsere 
empirische  Zeitmessung  beruht  bekanntlich  auf  der  Konsta- 
tierung der  Gleichzeitigkeit  im  Raum,  wobei  der  eine  Gegen- 
stand für  gewöhnlich  die  Bewegung  des  Uhrzeigers  ist. 
Psychologisch  aber  gibt  es  auch  hier  keine  objektive  Konsta- 
tierung, sondern  nur  das  Bewußtsein  der  Gleichzeitigkeit. 
Dabei  muß  die  Psychologie  stehen  bleiben,  während  für  den 
Gegenstand  eine  objektive  Gleichzeitigkeit  zustande  kommt. 
Man  ist  sich  der  Gleichzeitigkeit  zweier  Einheiten  bewußt. 
Wo  es  aber  Synthesen  gibt,  die  selbst  mit  einem  zeitlichen 
Wechsel  des  Inhalts  verbunden  sind,  ist  eine  objektive  Zu- 
ordnung der  Elemente  zueinander  schlechterdings  eine  Un- 
möglichkeit. Ich  denke  z.  B.  etwas  und  bin  mir  der  optischen 
Eindrücke  und  der  motorischen  Empfindungen  gleichzeitig 
bewußt.  Der  Denkakt  ist  eine  Synthese  von  zeitlicher 
Dauer.  Nehmen  wir  aber  auch  an,  daß  diese  durch  eine 
Reihe  von  Elementen  darstellbar  ist,  so  käme  es  darauf  an, 
diese  Reihe  der  motorischen  und  akustischen  Elemente  etwa 
der  Reihe  der  optischen  Empfindungen  zuzuordnen,  d.  h. 
festzustellen,  welche  Elemente  während  des  Zeitverlaufs 
wirklich  gleichzeitig  zusammen  waren.  Das  würde  aber  ein 
Bewußtsein  über  dem  Bewußtsein  voraussetzen,  einen  inneren 
Sinn.  Daraus  erhellt  die  Zwecklosigkeit  der  Elementar- 
analyse. Man  will  die  zeitliche  Existenz  des  Psychischen  er- 
klären. Nun  haben  wir  gezeigt,  daß  die  Zeitanalyse  nicht 
weiter  gelangt  als  zu  der  Konstruktion  mehrerer  dauernder 
Synthesen.  Die  Zeit  ist  für  die  Psychologie  keine  objektivie- 
rende Methode  wie  für  die  Naturwissenschaft.  Man  darf 
freilich  nicht  objektiv  und  absolut  verwechseln.  Gerade 
die  neueste  Theorie  der  Relitivität  der  Zeit  ist  ein  Beweis 
für  die  Objektivität  der  Methode,  während  die  Absolutheit 
der  Zeit  in  der  Psychologie  nur  wegen  ihrer  Subjektivität 


—  51  — 

möglich  ist.  Sie  bedeutet  keine  stetige  Reihe,  kein  homogenes 
Medium,  sondern  eine  reale  Folge  absoluter  Momente.  Wir 
können  das  Psychische  nicht  mit  Hilfe  eines  relativen  Ko- 
ordinatensystems zeitlich  objektivieren.  Das  wäre  aber 
unbedingt  notwendig,  wenn  man  es  wirklich  als  eine  objek- 
tive Zeitreihe  von  Elementkonstellationen  darstellen  wollte. 
Statt  dessen  ist  die  Zeit  selbst  Erlebnis,  eine  formale  Quali- 
tät wie  der  Raum.  Das  Bewußtsein  unterscheidet  Einheiten 
von  Dauer  nach  den  Synthesen.  Wenn  wir  in  der  zeitlichen 
Darstellung  aber  nur  diese  Zeiteinheiten,  d.  h.  die  nach  der 
Einheit  der  Synthesen,  überhaupt  kennen,  so  ist  die  ver- 
langte Auflösung  in  Elemente  eine  nutzlose  Spielerei.  Ich 
sehe  etwa  Bewegungen  vor  einer  Fläche.  Diese  verlaufen 
in  der  Zeit.  Für  den  Psychologen  existiert  also  ein  dauernder 
Zeitteil,  der  durch  die  optische  Synthese  bestimmt  ist.  Eine 
Auflösung  in  Elemente  hätte  nur  einen  Zweck,  wenn  gleich- 
zeitig damit  eine  objektive  Konstruktion  ihrer  zeitlichen 
Folge  möglich  wäre.  Wir  können  nur  sagen,  was  wir  in 
einem  Moment  erlebt  haben,  aber  dieser  Moment  ist  eine 
absolute  Größe  von  bestimmter  Dauer,  „ein"  Moment  nur 
subjektiv  wegen  der  Einheit  der  Synthese.  Die  Gleich- 
zeitigkeit der  dauernden  Synthesen  ist  der  Gegenstand 
unseres  Erlebens.  Sie  allein  könnten  das  Objekt  der  Er- 
klärung sein,  während  die  Auflösung  in  Elemente  für  die  Zeit- 
erklärung gar  nicht  mitsprechen  kann.  _  Genau  so  wie  „der" 
Raum  psychologisch  nicht  existiert,  existiert  auch  nicht,, die" 
Zeit.  Nehmen  wir  eine  objektive  Zeit  an  und  einen  kleinsten 
denkbaren  Zeitteil,  so  müßte  es  für  die  Erklärung  ideal  mög- 
lich sein,  den  Bewußtseinsinhalt  mehrerer  Monaden  in  diesem 
Moment  zu  bestimmen.  Allein  dies  wäre  schon  als  Idee  un- 
logisch und  nicht  nur  praktisch  unmöglich.  Für  die  Monaden 
braucht  es  die  Einheit  des  Moments  nicht  zu  geben.  Für 
jede  existiert  nur  die  Folge  der  realen  dauernden  Momente. 
Gewiß  kann  man  auf  irgend  ein  Signal  hin  sein  Leben  unter- 
brechen und  erzählen,  was  man  in  dem  Moment  erlebt  hat. 

4* 


—  52  — 

Eine  unteilbare  Einheit  ist  aber  der  Moment  nur  für  den 
Betreffenden  selbst.  Werde  ich  in  einem  Denkprozeß  unter- 
brochen, so  wäre  es  eine  Absurdität,  den  letzten  Moment  in 
objektivem  Sinne  zu  bestimmen.  Was  von  meinem  Erlebnis 
aus  eine  Einheit  ist,  ist  auch  ein  Zeitteil  von  Dauer,  der 
ebenso  unteilbar  ist  wie  die  Qualität  „rot"  nicht  in  andere 
Qualitäten  teilbar  ist.  Infolgedessen  besteht  die  Zeit  psycho- 
logisch nicht  aus  gleichen  Teilen,  sondern  aus  absoluten, 
ungleichartigen,  nämlich  von  verschiedener  Dauer,  und  diese 
Teilung  hat  mit  den  Erlebnissen  einer  andern  Monade  nichts 
zu  tun.  Für  den  Psychologen  gibt  es  nicht  den  Raum  oder 
die  Zeit,  sondern  absolute  Momente  der  Monaden.  Erst  die 
Naturwissenschaft  konstruiert  durch  die  stetige  Zeit  in  einem 
relativen  Koordinatensystem  die  Objektivität. 

Dies  richtet  sich  mit  gegen  Kant.  Daß  er  die  Zeit  auch 
als  Form  des  ,, inneren  Sinnes"  angenommen  hat,  beweist 
eine  psychologistische  Auffassung  des  Formbegriffs.  Daß 
wir  das  Psychische  als  Zeitverlauf  wissen,  ist  selbstverständ- 
lich. Allein  gerade,  wenn  man  die  Zeit  als  Form  des  Bewußt- 
seins für  die  Natur  auffaßt,  als  eine  Methode,  um  sie  objektiv 
zu  konstruieren,  ist  es  falsch,  sie  auch  als  Form  für  das  Be- 
wußtsein selbst  auszugeben.  Denn  hier  ist  von  einer  Objek- 
tivierung durch  sie  eben  nicht  die  Rede.  Das  würde  auch  das 
Problem  des  psychischen  ,, Dinges  an  sich"  im  Sinne  Kants 
berühren.  Wie  sich,  die  Frage  auch  für  die  Natur  verhalten 
mag,  für  die  Psychologie  kann  sie  nur  psychologistisch  auf- 
gefaßt werden.  Der  innere  Sinn  ist  nichts  anderes  als  die 
innere  Wahrnehmung,  die  die  Erscheinungen  des  ,, Dinges 
an  sich"  in  der  Zeit  wahrnimmt,  und  diese  Ansicht  ist  im 
höchsten  Grade  unkritisch.  Die  Zeit  spielt  für  die  Psycho- 
logie nicht  dieselbe  logische  Rolle  wie  für  die  Naturwissen- 
schaft. 


—  53  — 
IL  Der  inhaltliche  Zusammenhang  des  Bewußtseins. 

Das  Interesse  einer  jeden  Wissenschaft  ist  nun  auf  den 
Zusammenhang  von  Phänomenen  gerichtet.  Zweifellos  ist 
jede  einzelne  Feststellung  eines  solchen  abhängig  von  den 
Erfahrungen,  die  wir  machen.  Immerhin  ist  das  letzte  Pro- 
blem auch  hier  ein  erkenntniskritisches,  das  seinen  Grund 
in  der  philosophischen  Erfahrung  hat.  Diese  unterscheidet 
sich  dadurch  von  der  empirischen,  daß  sie  nicht  eine  Samm- 
lung und  Ordnung  einzelner  Erkenntnisse  ist,  sondern  die 
Form  und  das  Wesen  dieser  Ordnung  selbst  feststellt.  Er- 
fahrung bleibt  sie,  weil  sie  an  eine  bestehende  Tatsächlich- 
keit der  Welt  gebunden  ist.  So  ist  die  Erkenntniskritik  der 
Naturwissenschaft  die  philosophische  Erfahrung  an  der  empi- 
rischen Naturerfahrung,  in  dem  sie  ihre  Wesenhaftigkeit 
herauszuanalysieren  hat.  Sie  hat  also  festzustellen,  auf 
welchem  logischen  Grund  sich  diese  Erfahrung  erhebt. 
Es  ist  aber,  wie  gesagt,  ein  unkritisches  Dogma,  daß  dieser 
logische  Grund  die  Erkenntnis  überhaupt  konstituiert. 
Dieser  erkenntniskritische  Monismus  führt  zu  dem  meta- 
physischen, aus  dem  man  sich  nur  durch  ein  anderes  un- 
kritisches Dogma,  das  des  Noumenon,  herausretten  kann. 
Der  Irrtum  steckt  schon  darin,  daß  man  eine  Erfahrung  des 
Psychischen  im  Sinne  der  Naturwissenschaft  als  Selbstver- 
ständlichkeit annimmt.  Daß  die  Psychologie  empirische 
Erkenntnis  ist,  wird  niemand  bestreiten.  Daß  sie  aber  Er- 
fahrung im  rein  erkenntniskritischen  Sinne  Kants  ist,  ist 
nicht  möglich.  Das  logische  Charakteristikum  dieser  Er- 
fahrung, das  Gegenstandsurteil,  trifft  für  sie  nicht  zu.  Trotz- 
dem gibt  es  eine  psychologische  Erkenntnis,  und  die  Kritik 
hat  ihre  logischen  Prinzipien  selbständig  herauszuanalysieren. 
Es  gibt  ein  Wissen  von  Zusammenhängen  in  der  Welt,  das 
auf  ganz  anderen  logischen  Voraussetzungen  beruht,  als  die 
mechanistische  Naturwissenschaft,  und  dieses  nennen  wir  das 
historische.    Es  muß  für  die  Erkenntniskritik  oder  die  kri- 


—  54  — 

tische  Metaphysik  genau  so  vorausgesetzt  werden  wie  die 
Naturwissenschaft.  Gerade  daß  dieses  Wissen  keine  Wissen- 
schaft im  Sinne  des  Mechanismus  bedeuten  kann,  ist  sein 
logisches  Charakteristikum.  Es  ist  ein  Irrtum,  daß  der 
Monismus  eine  logische  Forderung  der  Vernunft  sei.  Nur 
psychologisch  ließe  sich  das  Verlangen  darnach  rechtfertigen, 
nicht  aber  die  logische  Forderung  dadurch  begründen.  Weil 
aber  logisch  der  Dualismus  notwendig  ist,  darum  führt  die 
Kritik  der  Erkenntnis  notwendig  zu  Antinomien.  Die  Kant- 
schen  Antinomien  aber  sind  psychologistisch,  nicht  logisch 
begründet,  sondern  psychologisch  aus  Bedürfnissen  der  Ver- 
nunft. Die  logisch  notwendigen  können  sich  allein  aus  dem 
Dualismus  der  historischen  und  der  reinen  Vernunft  ergeben. 
Soweit  die  Kantschen  richtig  sind,  müssen  sie  auf  diesen 
zurückführbar  sein. 

Gegenüber  diesem  transzendentallogischen  Problem  muß 
der  Gegensatz  von  Beschreibung  und  Erklärung  ganz  zu- 
rücktreten, wenn  man  ihn  so  psychologistisch  nimmt,  wie  es 
üblich  geworden  ist.  Soweit  das  Denken  überhaupt  an  die 
Tatsächlichkeit  der  Welt  gebunden  ist,  ist  jede  Wissenschaft 
Beschreibung,  Logik  und  Mathematik  genau  so  wie  Psycho- 
logie und  Naturwissenschaft.  Es  fragt  sich  aber,  was  be- 
schrieben wird.  Und  von  diesem  Standpunkt  aus  bleibt,  wie 
wir  sehen  werden,  ein  Unterschied  bestehen,  den  man  ter- 
minologisch weiterhin  als  Beschreibung  und  Erklärung  be- 
zeichnen kann.  Der  eigentliche  Unterschied  aber  besteht 
zwischen  Erklären  und  Verstehen.  Diese  letzten  Formen 
unseres  Wissens,  wie  es  der  philosophischen  Erfahrung  ge- 
geben ist,  bedingen  unsere  Auffassung  von  der  Welt.  Die 
Natur  erklären  wir,  aber  sie  bleibt  uns  unverständlich.  Das 
Psychische  verstehen  wir,  aber  wir  können  es  nicht  er- 
klären. In  beiden  Fällen  bedeutet  dies  keinen  Skeptizis- 
mus, denn  dieser  beruht  immer  auf  unberechtigten  For- 
derungen, die  man  auf  Grund  der  Verwechslung  beider 
Gebiete  stellt. 


—  55  — 

Wir  berührten  schon  bei  der  Bestimmung  des  psychi- 
schen Objekts  als  Erlebnis  den  Unterschied  des  Indivi- 
dualsystems  und  der  einen  Natur.  Dies  ist  der  Gegensatz, 
der  für  die  ganze  Grundlegung  der  Psychologie  entscheidend 
ist.  Wir  zeigten  dort,  daß  der  Unterschied  zwischen  Wahr- 
nehmung und  Gegenstand  kein  Gegensatz  der  Qualität  von 
Teilelementen  ist,  nicht  der,  daß  das  eine  Ding  aus  psychi- 
schen, das  andere  aus  physischen  Elementen  besteht,  son- 
dern, daß  es  ein  Unterschied  in  der  Auffaussung  oder  dem 
Denken  der  ,,data  der  Sinnlichkeit"  ist.  Als  Wahrnehmung 
denke  ich  sie  innerhalb  des  historischen  Systems  des  Be- 
wußtseins, als  Gegenstand  innerhalb  des  Systems  der  Natur. 
Das  Denken  konstruiert  aus  dem  Phänomen  den  Gegenstand 
und  das  Subjekt. 

Der  ungeheure  Gegensatz,  auf  den  es  bei  der  Frage  nach 
dem  psychischen  Zusammenhang  ankommt,  ist  folgender: 
Die  Naturwissenschaft—  unter  diesem  Wort  verstehe*  ich 
immer  die  mechanistische  Naturwissenschaft  —  konstruiert 
das  eine  System  Natur,  die  psychologische  Erkenntnis  —  ich 
vermeide  zu  sagen:  die  Psychologie  —  erkennt  die  Indivi- 
dualsysteme.  Kant  konnte  Naturwissenschaft  und  Natur 
identifizieren,  wenn  er  nach  ihrer  Möglichkeit  fragte.  Es 
gibt  aber  keine  Psychologie  als  die  Wissenschaft  von  der 
psychischen  Welt,  sondern  nur  eine  Erkenntnis  der  Monaden. 
Die  geniale  Tat  von  Kant  besteht  gerade  darin,  das  logische 
Charakteristikum  der  Naturwissenschaft  in  der  einen  objek- 
tiven Welt  erkannt  zu  haben.  Sie  ist  möglich  durch  Raum 
und  Zeit  als  Methoden  der  Objektivierung.  Die  Natur- 
wissenschaft konstruiert  die  Substanz.  Dieser  Begriff  be- 
zeichnet gar  nicht  eine  neue  Wesenhaftigkeit  neben  den  Er- 
scheinungen, wie  man  oft  annimmt,  sondern  nur  den  In- 
begriff der  gesamten  Gegenständlichkeit.  Er  ist  ein  Aus- 
druck für  die  Tatsache  der ,, einen"  Welt.  Behauptet  man  nun, 
daß  es  eine  psychische  Welt  gibt,  deren  Gesetze  man  er- 
kennen will,  so  legt  man  von  vornherein  diesen  Substanz- 


—  56  — 

begriff  als  Idee  zugrunde.  Darum  behaupte  ich:  Gerade  die 
Elementarpsychologie,  die  den  Substanzbegriff  eliminieren 
will,  fußt  absolut  auf  ihm,  was  wir  noch  genauer  zu  beweisen 
haben  werden.  Nun  beruht  freilich  auch  die  kritische  Psycho- 
logie auf  einer  Substanz,  nicht  aber  auf  der  Idee  der  einen  all- 
gemeinen Gesamtsubstanz,  sondern  auf  der  Idee  der  Einzel- 
substanz. Diese  Unterscheidung  deckt  sich  vollkommen  mit 
der  des  Gesamtsystems  und  des  Individualsystems,  für  die 
sie  nur  ein  anderer  Ausdruck  ist.  Von  einer  metaphysischen 
Seelensubstanz  ist  nicht  die  Rede. 

Die  Unklarheiten,  die  dem  Substanzbegriff  bei  Aristoteles 
anhaften,  stammen  nur  aus  der  nicht  scharf  genug  voll- 
zogenen Trennung  der  historischen  und  der  reinen  Vernunft. 
Sie  schwinden,  sobald  man  erkannt  hat,  daß  das  Recht  der 
Einzelsubstanz  nur  in  der  Notwendigkeit  der  historischen 
Vernunft  begründet  ist.  Die  Naturwissenschaft  kennt  nur 
die  zeitlose  allgemeine  Substanz,  die  Geschichte  aber  nur  die 
Formen,  die  diese  in  der  Zeit  eingeht.  Für  den  Mechanismus 
kommt  es  nicht  darauf  an,  ob  etwas  ein  Tisch  oder  ein  Stuhl 
ist,  denn  was  er  als  existierend  setzt,  ist  nur  eine  momen- 
tane Konstellation  der  allgemeinen  Substanz,  die  selber 
zeitlos  ist.  Die  Form  aber  dauert.  Sie  begründet  das  histo- 
rische Subjekt.  Nur  die  Formen  oder  die  Einzelsubstanzen 
haben  eine  Geschichte  oder  besser  gesagt:  Nur  durch  die 
Geschichte  gibt  es  sie  überhaupt.  Zur  kritischen  Frage  wird 
aber  dieser  Gegensatz  erst  dann,  wenn  die  Geschichte  und 
der  Mechanismus  in  Konflikt  geraten.  Dieser  Fall  ist  dann 
gegeben,  wenn  die  eine  Auffassung  die  andere  unmöglich 
macht.  Hier  liegen  die  Antinomien  der  Vernunft  überhaupt, 
die  sich  alle  um  den  Begriff  des  Lebens  konzentrieren.  Der 
Begriff  der  Einzelsubstanz  ist  denknotwendig,  soweit  wir 
unserm  Denken  die  Gegensätze  zwischen  Leben  und  Tod 
zugrunde  legen. 

Es  handelt  sich  für  uns  darum,  daß  das  Leben  keinen 
Unterschied  unter  den  gleich  erfahrenen  Gegenständen  be- 


—  57  — 

deutet,  sondern  ein  Prinzip  des  Denkens  ist,  das  im  schärfsten 
Gegensatz  zu  dem  Mechanismus  steht.  Es  ist  falsch  zu  sagen, 
daß  das  Leben  überhaupt  ein  Gegenstand  der  Wahrnehmung 
ist.  Wir  nehmen  ebensowenig  Leben  wahr,  wie  wir  eine 
Tätigkeit  oder  einen  Willen  wahrnehmen.  Wir  denken 
Leben  und  Tod.  Das  Leben  ist  das  erkenntniskritische 
Prinzip  der  historischen  Erfahrung.  Erst  damit  wird  ein 
kritischer  Vitalismus  begründet.  Wir  gehen  gerade  nicht 
von  einer  Lebenskraft  im  Raum  neben  andern  aus,  auch 
nicht  von  einem  metaphysischen  Zweckbegriff.  Wir  sehen 
den  Unterschied  nur  in  dem  Prinzip  des  Denkens.  Den  toten 
Körper  denken  wir  als  Konstellation  der  einen  ewigen 
Substanz.  Den  lebenden  Organismus  dagegen  denken  wir 
als  historische  Einheit  in  der  Zeit.  Die  Frage,  ob  Vitalismus 
oder  Mechanismus,  spitzt  sich  auf  die  zu:  Ist  der  Begriff  des 
Lebens  eine  notwendige  Kategorie  unseres  Denkens.  Mit 
vollständigem  Recht  aber  können  wir  statt  Leben  Organis- 
mus setzen.  Denn  wir  verstehen  terminologisch  unter  dem 
Begriff  Leben  gar  nichts  anderes  als  den  Zusammenhang 
in  der  Zeit,  der  die  Einheit  des  historischen  Subjekts  be- 
gründet.   Davon  an  anderer  Stelle  mehr. 

Nichts  anderes  als  das  historische  Subjekt,  das  als 
Gegenstand  der  Biologie  sein  Recht  hat,  ist  das  Individual- 
system  als  Gegenstand  der  Psychologie.  Erst  damit  haben 
wir  ein  Recht,  von  einer  physiologischen  oder  biologischen 
Psychologie  zu  sprechen.  Es  ist  interessant,  wie  ohne  die 
kritische  Grundlage  die  widerspruchsvollsten  Begriffe  in 
einem  System  zusammengeschweißt  werden  müssen.  Gerade 
die  Psychologie  nennt  sich  heute  physiologisch,  die  am  wei- 
testen von  der  biologischen  Auffassung  entfernt  ist,  gerade 
die  bekämpft  die  Substanz,  die  durchaus  auf  ihr  begründet 
ist.  Man  lehnt  die  Ichpsychologie  als  ein  Derivat  spiritualisti- 
scher  Metaphysik  ab  und  sieht  nicht,  daß  das  Ich  gar  nichts 
anderes  ist,  als  ein  anderer  Name  für  die  Zeiteinheit  des 
Organismus.    Man  meint  vielleicht,   daß  auch  die  Biologie 


—  58  — 

ohne  den  Begriff  des  Organismus  auskommen  muß.  Zweifel- 
los ließe  sich  ein  Buch  denken,  das  dieses  Wort  nicht  er-* 
wähnt.  Die  kritische  Frage  lautet  aber:  Kann  die  Biologie 
Wissenschaft  sein,  ohne  einen  historischen  Zusammenhang 
der  Phänomene  anzunehmen.  Direkt  muß  man  sagen:  Die 
Biologie  ist  überhaupt,  wie  wir  noch  sehen  werden,  nur  da- 
durch als  Spezialwissenschaft  möglich,  daß  sie  von  der 
Idee  eines  historischen  Zusammenhangs  ausgeht. 

Wir  sagten,  daß  das  Ich  nur  ein  anderer  Name  für  die 
Idee  des  Organismus  oder  des  Subjekts  ist.  Im  Raum  exi- 
stiert nur  das,  was  die  mathematische  Naturwissenschaft 
dort  setzt:  die  von  ihr  konstruierte  Substanz,  deren  Kon- 
stellation einer  stetigen  Veränderung  unterworfen  ist.  Der 
Organismus  dagegen  existiert  nicht  in  diesem  Raum,  weil 
er  eine  Zeitform  der  Substanz  ist,  die  der  Mechanismus 
ebenso  wenig  kennt  wie  die  des  Stuhls  oder  des  Tisches. 
Er  ist  aber  ein  notwendiger  Denkbegriff,  weil  die  bestehende 
biologische  Erkenntnis  nicht  möglich  ist,  ohne  von  der 
Idee  des  historischen  Zusammenhangs  auszugehen.  Das- 
selbe aber  trifft  für  die  psychologische  Erkenntnis  zu. 

Wenn  wir  also  von  dem  Ich  als  dem  Grundbegriff  der 
psychologischen  Erkenntnis  ausgehen,  so  tun  wir  das  gerade, 
um  den  unkritischen  Substanzbegriff  aus  der  Psychologie 
zu  eliminieren,  auf  dem  die  sogenannte  physiologische  oder 
naturwissenschaftliche  oder  kausal-erklärende  Elementar- 
psychologie aufgebaut  ist.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  dabei 
religiös-metaphysische  Probleme  gar  nicht  in  Frage  kommen. 
Wenn  wir  auch  das  Ich  als  die  Einzelsubstanz  charakterisiert 
haben,  so  hat  dies  mit  einer  Unsterblichkeit  der  Seele 
schlechterdings  nichts  zu  tun.  Es  ist  wohl  klar,  daß  dieses 
Problem  wie  alle  anderen  philosophischen  im  abendländi- 
schen Denken  durch  das  Primat  des  Raumdenkens  ver- 
fälscht worden  ist.  Ich  sagte  „abendländisch",  weil  dem 
indischen  Denken  dieser  Fehler  vielleicht  nicht  vorgeworfen 
werden  kann.    Wir  sahen  ja  gerade,  daß  die  Einzelsubstanz 


—  59  — 

als  erkenntniskritischer  Begriff  gerade  an  die  Zeitform  ge- 
bunden ist.  Irgend  welche  Konsequenzen  von  einer  Fort- 
dauer der  Seele  im  Raum  lassen  sich  daraus  nicht  ziehen, 
weil  die  Seele  oder  das  Ich  überhaupt  nicht  im  Raum  existiert, 
sondern  nur  in  der  Zeit,  genau  so  wie  das  Leben,  für  dessen 
historische  Einheit  sie  in  Wahrheit  nur  ein  anderer  Aus- 
druck ist. 

Wir  bezeichnen  also  mit  dem  Ich  nichts  weiter  als  die 
Tatsache,  daß  die  biologisch-psychologische  Erkenntnis  im 
Gegensatz  zu  dem  Mechanismus  von  der  Idee  eines  histo- 
rischen Systems  ausgeht.  Die  Art  und  Weise,  wie  man 
diesen  Begriff  aus  der  Psychologie  eleminieren  wollte,  ist 
ein  trauriger  Beweis  für  den  Verfall  des  kritischen  Denkens. 
Man  behauptet,  daß  man  noch  nie  ein  Ich  wahrgenommen 
hat.  Damit  bin  ich  ganz  einverstanden.  Man  spricht  doch 
aber  auch  von  der  einen  gesetzmäßigen  Welt.  Meint  man, 
daß  man  diese  wahrnehmen  kann,  so  irrt  man  sich.  Wahr- 
nehmen tun  wir  qualitative  Weltbestimmtheiten  und  nichts 
weiter,  weder  „die"  Natur  noch  „den"  Raum,  weder  die 
Kausalität  noch  das  Leben,  weder  Kräfte  noch  Tätigkeiten. 
Alles  dies  sind  Denkbegriffe,  in  denen  wir  die  phänomenale 
Welt  erkennen.  Wir  nehmen  kein  Ich  und  keine  Welt  wahr, 
sondern  wir  konstruieren  denkend  aus  den  Phänomenen 
eine  Natur  im  Raum  und  die  unendliche  Anzahl  der  Monaden 
oder  Iche  in  der  Zeit.  Der  Idee  „Natur"  der  reinen  Vernunft 
entspricht  zunächst  die  Idee  des  Ich  in  der  historischen 
Vernunft.  Die  Natur  hat  ihren  Sinn  in  der  Einheit  des 
Systems,  genau  dasselbe  trifft  für  das  Ich  zu.  Existiert  aber 
dort  der  Zusammenhang  im  zeitlosen  Raum,  so  ist  es  hier 
der  Zusammenhang  in  der  realen  Zeit,  der  das  System 
konstituiert. 

Allerdings  gibt  es  auch  für  die  historische  Vernunft  die 
Idee  „einer"  Welt,  die  über  den  Monaden  oder  Individual- 
systemen  steht.  Diese  Welt  wäre  das  transzendente  Ich,  der 
objektive  Geist,  der  als  Korrelat  der  Kultur  begriffen  werden 


—  60  - 

muß.  Das  Problem  der  Geschichte  in  diesem  Sinne  ist  die 
transzendentale  Frage  nach  der  Möglichkeit  des  Geistes, 
und  dieses  System  wird  durch  die  wertende  Vernunft  kon- 
stituiert, die  der  historischen  und  der  naturwissenschaft- 
lichen an  die  Seite  tritt.  Die  empirisch-psychologische  Er- 
kenntnis im  Gegensatz  zur  transzendental-psychologischen 
kennt  aber  kein  anderes  System  als  das  individuelle  Ich. 
Man  versucht  diesen  Begriff  lächerlich  zu  machen  durch 
die  Peststellung,  daß  man  sein  eigenes  Bild  im  Spiegel 
nicht  zu  erkennen  braucht,  und  ist  sich  der  eigenen  Lächer- 
lichkeit nicht  bewußt,  die  darin  liegt,  daß  man  gerade  in 
diesem  Urteil  immer  das  Ich  zugrunde  legt.  Man  bildet  sich 
vielleicht  ein,  daß  das  nur  an  dem  sprachlichen  Ausdruck 
liegt.  Allein  die  Sprache  kann  nicht  anders,  als  dem  Denken 
folgen.  Ob  man  ein  Urteil  in  der  ersten  oder  dritten  Person 
aussagt,  ist  ganz  gleichgültig.  Wesentlich  ist  nur,  daß  man 
von  einem  historischen  Subjekt  ausgeht.  Am  absurdesten 
ist  auch  hier  die  Elementarpsychologie,  die  das  Ich  auf- 
löst in  ein  Gefühlselement,  in  einen  Bewußtseinsinhalt,  der 
dem  Wort  „Ich"  oder  dem  Eigennamen  entsprechen  soll, 
in  eine  Reihe  von  Inhalten,  die  neben  andern  schönen  Sachen 
auch  unsere  Ideale  umfassen  soll.  Selbstverständlich  ist 
gerade  diese  Auswahl  der  Inhalte  nicht  empirisch,  sondern 
ethisch  orientiert.  Alles  dies  sind  absurde  Konsequenzen  der 
theoretischen  Prinzipien.  Es  wäre  dies  nur  dem  zu  ver- 
gleichen, daß  man  die  Kausalität  als  einen  raumfüllenden 
Gegenstand  neben  der  Gesetzmäßigkeit  der  Welt  annehmen 
wollte.  Das  Ich  ist  weder  ein  Teil  des  Bewußtseinsinhaltes 
noch  überhaupt  ein  Gegenstand  des  Erlebnisses,  sondern  nur 
ein  Gegenstand  der  denkenden  Erkenntnis  oder  des  Wissens, 
das  man,  wenn  es  sich  auf  das  eigene  Subjekt  bezieht,  ,,Ich"- 
oder  Selbstbewußtsein  nennt.  Freilich  ist  dieses  Ich  mit  dem 
Ichbewußtsein  nicht  identisch.  Dieses  ist  nur  ein  anderer 
Ausdruck  für  psychologische  Erkenntnis.  Ist  das  Ichbewußt- 
sein da,  so  ist  subjektive  Erkenntnis  da,  aus  der  sich  die 


—  61  — 

objektive  entwickelt.  Es  taucht  nicht  plötzlich  im  Bewußt- 
sein das  Ich  auf,  sondern  das  Kind  beginnt  zu  erkennen,  und 
zwar  zunächst  subjektiv  seine  Welt,  wie  sie  als  Inhalt  dieser 
Monade  existiert.  Selbstverständlich  ist  auch  das  sogenannte 
Doppelbewußtsein  kein  Einwand  gegen  unsere  Darstellung, 
sondern  im  Gegenteil.  Vom  Standpunkt  der  mittelalter- 
lichen Dämonenlehre  allerdings  gibt  es  Fälle,  wo  in  einen 
Körper  ein  anderes  Ich  hineinwandert.  Über  dieses  Raum- 
denken ist  man  ja  Gott  sei  Dank  hinausgekommen.  Man 
geht  ja  gerade  davon  aus,  das  Doppelbewußtsein  aus  dem 
Leben  des  Individuums  zu  verstehen.  Dies  könnten  wir 
aber  niemals,  wenn  wir  nicht  von  der  Idee  eines  Ichs  als 
Systems  ausgehen,  innerhalb  dessen  wir  den  Zusammenhang 
suchen.  Das  Doppelbewußtsein  ist  in  den  Fällen,  wo  wirk- 
lich davon  gesprochen  werden  kann,  nichts  anderes  als  ein 
Irrtum  der  Selbsterkenntnis  oder  eine  Störung  des  Gedächt- 
nisses. Diese  falsche  historisch-psychologische  Erkenntnis 
des  Individuums  ist  für  den  erkennenden  Betrachter  Gegen- 
stand seiner  psychologischen  Erkenntnis,  ein  Phänomen  aus 
dem  System  des  andern  Ich.  Sonst  könnte  es  niemals 
Gegenstand  des  psychologischen  Verstehens  sein.  Denn 
dieses  bedeutet  nichts  anderes  als  die  historische  Ableitung 
aus  der  Vergangenheit.  Etwas  anderes  als  dieser  zugrunde 
gelegte  historische  Zusammenhang  ist  aber  mit  dem  Ich- 
begriff gar  nicht  gemeint. 

Unsere  psychologischen  Urteile  beziehen  sich  als  Wahr- 
nehmungsurteile immer  auf  dauernde  Zeitformen,  und  darin 
liegt  ihr  Gegensatz  zu  dem  Gegenstandsurteil  der  Natur- 
wissenschaft, das  sich  stets  auf  die  zeitlose  Substanz  bezieht. 
Schon  der  Ausdruck:  ,,im  Bewußtsein  befindet  sich  etwas", 
beruht  auf  einer  Übertragung  des  Raumdenkens.  In  dem 
Bewußtsein  liegt  schon  die  dauernde  reale  Zeitform.  Geht 
man  aber  von  einer  Gesetzmäßigkeit  der  Elemente  unter- 
einander aus,  so  denkt  man  das  Bewußtsein  nur  als  den  Ort 
für  die  Erscheinung  der  Gesetzmäßigkeit,  als  einen  relativen 


—  62  — 

vom  Denken  konstruierten  Ausschnitt  aus  der  gesamten 
psychischen  Substanz.  Tatsächlich  ist  dies  der  Grundirrtum 
der  erklärenden  Psychologie.  Der  Gegenstand  der  psycho- 
logischen Erkenntnis  kann  nur  das  System  des  historischen 
Subjektes  sein.  Ein  größerer  Gegensatz  zu  der  erklären- 
den Psychologie  läßt  sich  nicht  denken.  Diese  muß  not- 
wendigerweise von  der  Idee  einer  psychischen  Welt  aus- 
gehen, deren  Gesetze  sie  erkennen  will.  Dieses  ist  logisch 
unmöglich,  weil  Zeit  und  Raum  keine  Methoden  der  Objek- 
tivierung für  das  Psychische  sein  können.  Die  empirische 
Psychologie  kann  daher  nur  Individualpsychologie  sein, 
erkennende  Geschichte  der  Subjekte,  und  nicht  Wissenschaft 
von  den  elementaren  Gesetzen  einer  psychischen  Welt.  Der 
Zusammenhang,  durch  den  wir  ein  Phänomen  verstehen 
wollen,  kann  nur  ein  historischer  sein.  Wir  können  es  aus 
der  Vergangenheit  des  Subjekts  begreifen.  Darin  liegt  aber 
ein  unüberbrückbarer  Gegensatz  zu  jeder  erklärenden  Wissen- 
schaft. Man  muß  sich  hüten,  in  einen  Streit  um  Worte  zu 
verfallen.  Namen  sind  gleichgültig.  Das  logische  Wesen  der 
Naturwissenschaft  besteht  darin,  die  realen  historischen  Tat- 
sachen als  zeitlose  zu  beschreiben.  Und  diese  Beschreibung 
nennt  man  für  gewöhnlich  Erklärung.  Der  Gegensatz  zu 
der  historischen  Beschreibung  bleibt  jedenfalls  bestehen. 
Der  Gegenstand  der  Naturwissenschaft  als  Aufgabe  sind  die 
platonischen  Ideen,  die  zeitlosen  Gesetze,  die  am  indivi- 
duellen Ort  historisch  erscheinen.  Diese  Erscheinung  ist 
natürlich  rein  bildlich  zu  verstehen.  Für  die  Naturwissen- 
schaft machen  diese  zeitlosen  Gesetze  allein  das  Wesen 
der  einen  ewigen  Welt  oder  Substanz  aus.  Selbstverständ- 
lich ist  diese  Zeitlosigkeit  nur  eine  Idee  oder  ein  ideales  Ziel. 
Man  hat  in  neuerer  Zeit  diese  Zeitlosigkeit  der  Naturgesetze 
bestritten,  indem  man  von  ihrer  „contingence"  sprach.  Man 
hat  dabei  aber  Tatsache  und  Ideal  verwechselt.  Die  Natur- 
wissenschaft würde  sich  selbst  aufheben,  wenn  sie  nicht  von 
der  Idee  der  Zeitlosigkeit  ausginge.   Es  ist  nicht  nur  möglich, 


—  63  - 

sondern  sicher,  daß  unsere  Formel  des  Gravitationsgesetzes 
noch  immer  historisch  ist,  d.  h.  abhängig  von  einer  Welt- 
konstellation, die  für  die  Ewigkeit  nur  einen  Moment  be- 
deutet. Diese  ist  etwa  bedingt  durch  die  Zeit,  in  der  wir 
unser  Sonnensystem  wissenschaftlich  bearbeiten.  Die  Formel 
des  Gravitationsgesetzes  hängt  zweifellos  von  dieser  zeit- 
lichen Konstellation  des  Sonnensystems  ab.  Allein  schon 
dadurch,  daß  wir  diese  Abhängigkeit  konstatieren,  beweisen 
wir  nur,  daß  wir  von  der  Idee  der  Zeitlosigkeit  ausgehen. 
Sobald  man  nach  einem  Grund  der  Wandelbarkeit  sucht, 
erkennt  man  es  als  Aufgabe  der  Wissenschaft  an,  sie 
immer  mehr  ihrer  historischen  Komponenten  zu  entkleiden. 
Man  kann  den  Fortschritt  der  Wissenschaft  gar  nicht 
anders  bestimmen.  Stellt  man  fest,  was  für  eine  Wirkung 
zufällig  und  notwendig  ist,  so  scheidet  man  das  Histo- 
rische aus  und  beschreibt  nur  das  Zeitlose.  Diese  Art 
der  Beschreibung  nennt  man  Erklärung.  Verwahrt  man 
sich  gegen  dieses  Wort,  um  anzudeuten,  daß  man  sich  nicht 
einbilden  soll,  dem  Weltgeist  dadurch  näher  gekommen  zu 
sein,  so  halte  ich  das  vom  pragmatistischen  Standpunkt  aus 
für  unökonomisch,  weil  es  heute  nicht  mehr  notwendig  ist. 
Gerade  wenn  man  so  großen  Wert  auf  das  ,,Nur-Beschreiben" 
legt,  scheint  man  eine  Wesenhaftigkeit  hinter  den  Erschei- 
nungen anzunehmen,  die  man  nicht  erklären  kann.  Termino- 
logisch heißt  Erklären  nichts  anderes,  als  ein  historisches 
Phänomen  als  eine  Tatsache  darzustellen,  die  zeit-  und  raum- 
los für  alle  denkenden  Wesen  existiert.  Man  stellt  ein  indi- 
viduelles Erlebnis  als  Gegenstand  des  „Bewußtseins  über- 
haupt'' dar. 

Weil  diese  Art  wissenschaftlicher  Beschreibung  für  die 
Psychologie  unmöglich  ist,  kann  es  auch  keine  erklärende 
Psychologie  geben.  Es  gibt  für  das  Psychische  und,  was 
daraus  folgt,  für  die  Geschichte  kein  Bewußtsein  überhaupt, 
weil  das  subjektive  Bewußtsein  gerade  der  zu  erkennende 
Gegenstand  ist.    Nennt  man  mit  Malebranche  dieses  trän- 


-  64  — 

zendentale  Bewußtsein,  in  dem  wir  denken,  wenn  wir  wahr 
denken:  Gott,  so  existiert  wohl  die  Natur  in  Gott,  aber  nicht 
die  Geschichte.  Das  psychische  Phänomen  läßt  sich  be- 
schreiben nur  innerhalb  des  Individualsystems  und  nicht 
als  Gegenstand  dieses  Bewußtseins  oder,  was  dasselbe  be- 
sagt, nicht  als  eine  zeitlose  Gesetzmäßigkeit  innerhalb  einer 
allgemeinen  psychischen  Substanz.  Nur  dies  kann  man  unter 
Erklären  verstehen.  Weil  man  nicht  von  der  Idee  einer 
solchen  psychischen  Welt  ausgeht,  kann  man  sich  auch 
nicht  bemühen,  ein  psychisches  Phänomen  aus  allgemeinen 
elementaren  Gesetzen  zu  begreifen.  Spinoza  hätte  eben  nur 
dann  recht,  wenn  es  keine  Monaden  gäbe.  Zeitlose  Gesetz- 
mäßigkeit und  historischer  Zusammenhang  in  der  realen 
Zeit  ist  ein  Widerspruch. 

Die  Einheit  der  Natur  ist  begründet  durch  den  all- 
gemeinen Kausalzusammenhang.  Wenn  in  Amerika  ein 
Stein  fällt,  so  muß  dies  auch  in  Europa  seine  Wirkung 
haben.  Die  Größe  aber  entzieht  sich  jeder  Feststellung. 
Immerhin  würde  ein  Laie  sehr  überrascht  sein  beim  Anblick 
einer  modernen  chemischen  Wage,  die  meßbare  Abhängig- 
keiten berücksichtigt,  an  die  der  gewöhnliche  Sterbliche 
kaum  denkt.  Man  kann  aber  nicht  nach  elementaren  Kausal- 
gesetzen suchen,  ohne  von  dieser  Idee  der  allgemeinen 
Kausalität  auszugehen.  Will  man  das  Ich  aus  der  Psycho- 
logie eliminieren,  indem  man  es  für  ein  Gefühl  oder  einen 
Bewußtseinsinhalt  ausgibt,  so  heißt  das  eigentlich  nichts 
anderes,  als  daß  man  wirklich  „eine"  psychische  Welt  kon- 
struieren will.  Das  Bewußtsein  wäre  nur  der  Ort,  wo  ein 
psychisches  Element  sich  gerade  befindet.  Man  müßte  dann 
aber  auch  annehmen,  daß  ein  Wirkungszusammenhang 
zwischen  den  Elementen  verschiedener  Monaden  bestünde. 
Im  allgemeinen  aber  beschränkt  man  sich  von  vornherein 
auf  die  Elemente  des  einzelnen  Bewußtseins.  Sucht  man  nach 
allgemeinen  elementaren  Gesetzen,  so  ist  dies  gänzlich 
ungerechtfertigt,    und   man  beweist   damit   nur,    daß    man 


-  65  — 

nicht  von  der  Idee  ,, einer"  gesetzmäßigen  psychischen  Welt, 
sondern  von  der  des  Individualsystems  ausgeht.  Man  legt 
die  Idee  des  Mikrokosmus  zugrunde.  Man  treibt  Individual- 
psychologie. 

Der  Ichbegriff  ist  natürlich  nicht  auf  den  erwachsenen 
Menschen  zu  beschränken.  Er  ist  ein  notwendiger  Begriff 
der  psychologischen  Erkenntnis  und  kein  empirisches  Phä- 
nomen. Überall,  wo  wir  von  historischen  Zusammenhängen 
ausgehen,  denken  wir  ein  Ich.  Ob  wir  es  ,, diese"  Amöbe  oder 
das  Kind  nennen,  ist  ganz  gleichgültig.  Es  gibt  nur  die  beiden 
Möglichkeiten:  Ich  oder  Gegenstand,  Wahrnehmungsurteil 
oder  Erfahrungsurteil,  historisches  oder  naturwissenschaft- 
liches Urteil.  Den  Ichbegriff  eliminieren  heißt  das  Psychische 
verdinglichen. 

Sollte  der  Begriff  Element  überhaupt  einen  Sinn  haben, 
so  könnte  er  nur  darin  liegen,  daß  eine  Gesetzmäßigkeit 
zwischen  diesen  letzten  Teilen  besteht.  Eine  solche  ist  aber 
ohne  das  Medium  des  Raums  nicht  denkbar,  was  aber  nicht 
etwa  heißt,  daß  die  Tatsache  des  „Wirkens"  einen  Raum 
voraussetzt.  Schon  aus  der  fehlenden  objektiven  Bestim- 
mung des  psychischen  Elementes  folgt  die  Unmöglichkeit 
des  elementaren  Gesetzes.  Der  Gegenstand  der  Natur- 
wissenschaft ist  nichts  anderes  als  der  Inbegriff  gesetz- 
mäßiger Beziehungen.  Newton  hat  nicht  an  einem  an  sich 
bestehenden  Ding  ,, Masse"  die  Beziehung  entdeckt,  die  wir 
Gravitation  nennen,  sondern  er  hat  den  Begriff  Masse  kon- 
struiert. Diese  ist  nichts  anders  als  das,  wovon  das  Gravi- 
tationsgesetz gilt.  Von  den  subjektiven  Qualitäten  der  Welt 
abstrahieren,  heißt:  ihre  Wesenhaftigkeit  in  gesetzmäßige 
Beziehungen  auflösen.  Wenn  also  der  Naturwissenschaftler 
irgendwo  ein  Element  Radium  weiß,  so  sind  damit,  voraus- 
gesetzt, daß  die  Wissenschaft  am  Ziele  wäre,  auch  alle  nur 
möglichen  Veränderungen  mitgesetzt,  die  sich  dadurch  er- 
geben könnten.  ,,Das"  Radium  ist  nichts  anderes  als  die 
konstanten   Beziehungen   zu   anderen    Substanzteilen.     Von 

Strich,   Prinzipien.  5 


—  66  — 

einer    solchen    objektiven    Bestimmung   kann    aber   in    der 
Psychologie  keine  Rede  sein.    Wir  zeigten,  daß  die  Bestim- 
mung des  Erlebten  nur  darauf  gehen  kann,  was  das  Subjekt 
für  gleich  hält.    Selbst  wenn  aber  auch  eine  objektive  Be- 
stimmung in  diesem  Sinne  möglich  wäre,  so  würde  sich  dar- 
aus für  die  Erkenntnis  eines  Zusammenhanges  nichts  ergeben. 
Die  Bedeutung  der  Objektivität  liegt  ja  allein  darin,  daß 
—  sagen  wir  einmal:  gleichgültig,  wie  der  Gegenstand  aus- 
sieht —  seine  Wirkung  ein  für  allemal  festgelegt  ist.    Diese 
Gesetzmäßigkeit  ist  aber  in  der  Psychologie  nicht  etwa  noch 
nicht  erreicht,  sondern  kann  überhaupt  nicht  als  ihr  Ideal 
gelten.    Die  psychische  Wesenhaftigkeit  ist  ja  gerade  „wie 
die   Welt   aussieht",   gerade   das,   wovon   der   Naturwissen- 
schaftler abstrahiert,  um  zu  dem  Gesetz  zu  gelangen.    Es 
gibt  gar  nicht  eine  Welt,  in  der  das  Element  ,,rotu  durch  seine 
konstanten  Beziehungen  oder  Wirkungen  bestimmbar  wäre. 
Fänden  wir  auch  bei  einem  oder  tausend  Menschen  immer 
eine  und  dieselbe  Wirkung,  etwa  ein  bestimmtes  Gefühl  der 
Erregung,  so  hätten  wir  nach  einer  historischen  Begründung 
dieser  Wirkung  zu  suchen.    Psychologisch  ist  die  Wesenhaf- 
tigkeit der  Empfindung  mit  ihr  selbst  gegeben.   Was  ich  von 
ihr  aussage,  ist  eine  Beschreibung,  die  ihre  Wesenhaftigkeit 
nicht  berührt.  Ganz  anders  liegt  es  für  das  chemische  Element. 
Seine  Wesenhaftigkeit  sind  nur  seine  Beziehungen.   Aus  den 
Wirkungen  kann  man  daher  auf  seine   Qualität  schließen. 
Psychologisch  wäre  das  eine  Absurdität.    Die  Anwesenheit 
eines  Elements  im   Raum  erklärt  deshalb   die  Folge,  weil 
diese  eo  ipso  mitgesetzt  ist.    Die  Naturwissenschaft  braucht 
nur  zu  beschreiben,  was  das  ist.  Damit  sind  auch  die  Gesetze 
angegeben.    Psychologisch  kann  man  alles,  was  erlebt  wird, 
auf  das  Genaueste  beschreiben,  ohne  nur  im  Geringsten  da- 
mit etwas  erklären  zu  können,  weil  über  die  gesetzmäßigen 
Beziehungen  damit  nichts  gesagt  ist.    Die  Psychologie  kennt 
keinen  Gegenstandsbegriff,  der  nur  Gesetze  zum  Inhalt  hat, 
sondern  nur  die  unmittelbaren  Qualitäten.   Damit  fällt  jeder 


—  67  — 

Versuch  einer  Erklärung  schon  fort.  Denn  diese  besteht  in 
nichts  anderem,  als  daß  das  historische  Faktum  als  ein  zeit- 
loses nachgewiesen  wird.  Erklärt  ist  etwas  durch  seine 
Unterordnung  unter  einen  Gegenstand,  von  dem  die  Wirkung 
zeit-  und  raumlos  gilt,  während  vorher  eine  Unklarheit  be- 
steht, von  welchem  historischen  Faktor  die  Wirkung  ab- 
hängt. Die  Psychologie  ordnet  niemals  ein  Element  einem 
allgemeinen  Gegenstand  unter,  dessen  zeitloses  Wesen  seine 
gesetzmäßigen  Beziehungen  sind.  Ihre  Allgemeinheit  existiert 
nicht  in  einer  objektiven  Welt,  sondern  nur  in  dem  Indivi- 
dualsystem.  Sie  erkennt  eine  Gleichheit  des  Erlebten  an. 
Dadurch  aber,  daß  ich  eine  Farbe  unter  den  Begriff  „Rot" 
einordne,  habe  ich  sie  keinem  objektiven  Gegenstand  unter- 
geordnet, und  folglich  kann  die  Bestimmung  auch  nichts  er- 
klären. Die  absolute  Qualität  der  Empfindung  ist  tatsäch- 
lich für  die  Psychologie  gleichgültig.  Soll  hier  überhaupt 
etwas  durch  die  Erkenntnis  begründet  werden,  so  kann  es 
nur  das  subjektive  historische  Erfahren  sein.  Man  kann  aber 
nicht  gesetzmäßige  Beziehungen  zwischen  psychischen  Ele- 
menten suchen,  ohne  von  der  Idee  auszugehen,  daß  diese  Be- 
ziehungen zeitlos  und  überindividuell  mit  ihnen  verbunden 
sind.  Die  Überindividualität  ist  für  die  Psychologie  nur  eine 
Regel  mit  Ausnahmen  und  kein  Gesetz. 

Die  deskriptiv-historische  Psychologie  kann  aber  cum 
grano  salis  von  gesetzmäßigen  Zusammenhängen  sprechen. 
Gemeint  sind  damit  konstante  Beziehungen  von  quali- 
tativen Bestimmtheiten  innerhalb  eines  zeitlichen  Indivi- 
dualsystems.  Diese  konstante  Beziehung  liegt  aber  nur  in 
dem  Zusammensein  von  Phänomenen,  ohne  daß  eine  Theorie 
möglich  wäre,  die  dieses  Sein  durch  eine  vorsichgehende  Ver- 
änderung erklären  könnte,  was  von  dem  Begriff  des  Natur- 
gesetzes nicht  zu  trennen  ist. 

Das  Gesetz  ist  die  Zusammenfassung  zeitlich  und  räum- 
lich individueller  Fakta  unter  einen  Begriff.  Die  Wirkung 
des  Radiums  an  einer  Stelle  im  Raum  ist  nicht  rätselhaft, 

5* 


—  68  — 

weil  sie  von  allen  Radiumelementen  im  Raum  gilt.  Diesem 
Raum  entspricht  in  der  Psychologie  die  Zeit.  Der  Natur- 
wissenschaftler konstatiert  Allgemeinheiten  im  Raum,  Be- 
ziehungen, die  sich  in  ihm  wiederholen.  Sucht  der  Psycho- 
loge aber  nach  Allgemeinheiten  —  und  ohne  sie  wäre  ja  jede 
Erkenntnis  von  vornherein  unmöglich  — ,  so  kann  er  nur 
nach  Wiederholungen  in  der  Zeit  suchen.  Die  gesetzmäßigen 
Beziehungen  stellen  sich  also  dar  als  das  wiederholte  Zu- 
sammensein psychischer  Phänomene  in  einem  Teilmoment. 
Die  Erkenntnis  stellt  fest,  daß  in  diesem  Individualsystem 
allgemein  das  Erlebnis  a  mit  dem  Erlebnis  b  zusammen  ist. 
Das  konstante  Zusammensein  von  a  und  b  wäre  also  das 
Gesetz,  genau  so  wie  in  der  Natur  die  Allgemeinheit  in  der 
Wiederholung  im  Raum  begründet  ist.  Wir  drücken  die  Er- 
kenntnis aus,  daß  A,  wenn  er  a  erlebt,  immer  auch  b  erlebt. 
Dieses  Gesetz  entspräche  dem  Gesetz  von  dem  Verhalten 
der  Massen  im  Raum.  Ein  völlig  anderes  Gesetz  aber  wäre 
es  z.  B.,  daß  A,  wenn  er  c  erlebt,  immer  auch  d  erlebt.  Wir 
hätten  also  eine  Unzahl  von  Gesetzen,  d.  h.  eine  Wieder- 
holung des  Zusammenseins  von  Erlebnissen.  Da  nun  dies 
Zusammensein  als  Wahrnehmung  psychologisch  unerklärbar 
und  nur  naturwissenschaftlich  erklärbar  ist,  so  können  wir 
sagen,  jede  Erfahrung  kann  zu  einem  psychologischen  Gesetz 
werden,  zu  einem  konstanten  Zusammensein  verschiedener 
Phänomene.  Tatsächlich  gelangen  wir  bei  der  Berücksich- 
tigung des  Bewußtseinsinhaltes  nicht  weiter.  Andere  psycho- 
logische Gesetze  sind  von  diesem  Standpunkt  aus  schlechter- 
dings unmöglich.  Gerade  das  aber,  was  den  Wert  der  Ge- 
setze in  der  Natur  ausmacht,  nämlich  die  Überindividualität 
oder  die  Zeitlosigkeit,  fehlt  in  der  Psychologie. 

Wie  man  sieht,  wenden  wir  uns  damit  gegen  das  soge- 
nannte Assoziationsgesetz.  Es  ist  ein  Irrtum,  daß  dieses 
„Gesetz"  als  allgemeineres  die  unzähligen  anderen  Gesetze 
erklärt.  Man  hat  es  völlig  unlogisch  mit  dem  Gravitations- 
gesetz verglichen,  und  alle  Ausdrucksweisen  unserer  psycho- 


—  69  - 

logischen  Lehrbücher  begünstigen  dies.  Man  spricht  davon, 
daß  a  —  b  nach  sich  zieht,  wiedererweckt,  hervorruft.  Alles 
dies  sind  aber  aus  der  Raumsprache  entlehnte  Ausdrücke. 
Tatsächlich  sind  sie  aber  nicht  nur  bildlich  gemeint,  sondern 
sie  beruhen  alle  auf  der  Annahme  eines  räumlich  substan- 
ziellen  Zusammenhangs  des  Bewußtseins.  Sonst  wäre  man 
nie  darauf  verfallen,  die  Assoziation  als  ein  Gesetz,  geschweige 
als  eine  Erklärung  auszugeben. 

Dies  zeigt  sich  schon  in  der  Fragestellung,  nämlich  in 
dem  Verlangen,  die  Existenz  eines  Inhalts  im  Bewußtsein 
zu  erklären.  Diese  Erklärung  muß  schon  an  dem  einen  Um- 
stand scheitern,  daß  sie  auf  die  Wahrnehmung  schlechter- 
dings nicht  anwendbar  ist.  Sie  hätte  aber  nur  einen  Sinn, 
wenn  durch  sie  eine  gemeinschaftliche  Basis  für  das  Psychi- 
sche geschaffen  würde.  Die  Unterscheidung  von  Wahrneh- 
mung und  Vorstellung  setzt  einen  aüßerpsychologischen 
Gesichtspunkt  voraus,  nämlich  die  Wirklichkeit,  die  nur  als 
Kategorie  der  Naturwissenschaft  existieren  kann.  Nur  diese 
kann  eine  Wahrnehmung  erklären.  Denn  die  psychologische 
Fragestellung  wird  dadurch  abgeschnitten,  daß  der  Gegen- 
stand als  im  Raum  existierend  aufgefaßt  wird. 

Die  Erklärung  der  Naturwissenschaft  stützt  sich  auf 
den  Begriff  der  Veränderung.  Wir  sagen  wohl:  wir  sehen  die 
Bewegung  einer  Kugel,  aber  schon  das  ist  eigentlich  eine  Er- 
klärung eines  phänomenalen,  historischen  Faktums.  Das 
Ursprüngliche  wäre  nur  eine  Zeitreihe  von  gänzlich  un- 
bestimmten optischen  Eindrücken,  wie  sie  das  philosophische 
Denken  annehmen  kann.  Daß  eine  Kugel  jetzt  hier  und  vorhin 
dort  war,  das  sehen  wir  nicht,  sondern  das  denken  wir.  Dieses 
Denken  kann  auch  falsch  sein,  wie  jedes  Zauberkunststück 
beweist.  Wir  denken  eine  Identität  in  der  Zeit  bei  relativer 
Ortsbestimmung.  Dies  ist  die  Grundtheorie  oder  Grund- 
hypothese der  Naturwissenschaft.  Wir  gehen  von  einem 
Dasein  aus,  und  das  &au(i.a£eiv  kann  nur  beginnen  bei  einer 
Veränderung  dieses  Daseins.    Das  spätere  Erlebnis  der  Kugel 


-  70  — 

muß  erklärt  werden,  heißt  nichts  anderes,  als  daß  wir  wissen 
müssen,  wo  sie  herkommt.  Durch  ihre  Bewegung  erklären 
wir  uns  schon  die  Zeitreihe  unserer  Erlebnisse.  Die  Natur- 
wissenschaft besteht  letzten  Endes  in  der  Konstruktion 
ewiger,  zeitloser  Teile,  deren  Ortveränderung  in  der  Zeit  die 
Phänomene  erklärt.  Diese  Erklärung  setzt  also  die  dauernde 
Existenz  überhaupt  voraus.  Sie  ist  die  erste  denknotwendige 
Hypothese  für  die  Objektivierung  der  Phänomene.  Dieses 
Denken  hat  seine  Berechtigung  nur  dadurch,  daß  so  und  nicht 
anders  eine  objektive  Welt  ,, Natur"  aus  den  historischen 
Phänomenen  konstruiert  werden  kann.  Es  gibt  nicht  einen 
Glauben  an  die  Realität  der  Außenwelt,  sondern  den  Willen, 
sie  zu  schaffen,  d.  h.  objektiv  zu  denken.  Glauben  kann  man 
nur,  daß  die  Tat  gelungen  ist.  Die  historischen  Phänomene 
sind  aber  an  sich  nicht  erklärbar,  denn  das  würde  heißen,  die 
Existenz  der  Welt  erklären.  Die  Erklärung  kann  sich  dem 
Sinne  des  Begriffs  nach  nicht  auf  die  Existenz  überhaupt, 
sondern  nur  auf  einen  speziellen  Ort  beziehen.  Erklären  heißt 
die  objektive  Welt  konstruieren,  die  Wirklichkeit,  an  die  das 
subjektive  Bewußtsein  gebunden  ist.  Die  Zeitreihe  des  Be- 
wußtseins erklären,  hieße  nichts  anderes,  als  die  Welt  aus 
dem  Nichts  heraus  zu  erklären.  Nur  die  historische  Kon- 
stellation der  Substanz  ist  erklärbar.  Behauptet  man,  daß 
es  auch  der  Inhalt  des  individuellen  Bewußtseins  ist,  so 
könnte  dies  gar  nichts  anderes  besagen,  als  daß  man  einen 
Moment  als  eine  solche  historische  Konstellation  des  psy- 
chischen Raumes  auffaßt.  Tatsächlich  ist  dies  auch  die  Auf- 
fassung der  Elementarpsychologie.  Denn  einen  anderen 
Zweck  kann  die  objektive  Bestimmung  psychischer  Elemente 
gar  nicht  haben.  Ganz  deutlich  wird  dies  bei  der  Erklärung 
der  Vorstellung  durch  die  Assoziation. 

Gibt  man  den  Unterschied  von  Wahrnehmung  und  Vor- 
stellung als  einen  außerpsychologischen  zu,  bezeichnet  man 
beide  als  Komplexe  psychischer  Elemente,  so  muß  man 
fragen,  mit  welchem  Recht  man  dann  die  Erklärung  auf  eine 


—  71  — 

Gruppe  von  Elementen  einschränkt.  Behauptet  man,  daß 
im  Falle  der  Vorstellung  ein  Element  a  reproduziert  wird, 
so  müßte  man  folgerichtig  auch  behaupten,  daß  im  Falle 
der  Wahrnehmung  ein  Element  a  reproduziert  wird.  Wie  man 
sich  den  Unterschied  von  der  Gehirnphysiologie  aus  denkt, 
wäre  gleichgültig.  Ob  man  dort  einen  Unterschied  zwischen 
peripherer  und  zentraler  Erregung  denkt,  kommt  für  unser 
Problem  nicht  im  geringsten  in  Betracht.  Wenn  man  be- 
hauptet, daß  ein  Element  a  reproduziert  werden  kann,  und 
man  den  Unterschied  zwischen  Wahrnehmung  und  Vor- 
stellung ablehnt,  so  muß  man  immer,  wenn  das  Element  a 
im  Bewußtsein  anwesend  ist,  es  als  eine  Reproduktion  auf- 
fassen. Das  Wahrnehmungselement  müßte  genau  so  wieder- 
erweckt worden  sein,  wie  das  Vorstellungselement.  Nehme 
ich  heute  etwas  wahr,  was  ich  gestern  schon  wahrgenommen 
habe,  so  muß  die  Elementarpsychologie  behaupten,  daß  die 
gestrigen  Elemente  wiedererweckt  worden  sind.  Denn  für 
die  Bestimmung  der  psychischen  Elemente  ist  es  ganz  gleich- 
gültig, ob  der  Gegenstand  wirklich  existiert  oder  nicht.  Zu 
dieser  Behauptung  wird  man  sich  nicht  leicht  bekennen. 
Aber  meines  Erachtens  ist  die  Erklärung  der  Vorstellung 
durch  die  Reproduktion  genau  so  ungereimt,  und  dies  liegt 
schon  in  dem  Versuch  zu  erklären.  Es  gibt  eben  keine  ver- 
gangenen psychischen  Elemente,  sondern  nur  das  Wieder- 
erleben des  Früheren.  Darin  sind  Wahrnehmung  und  Vor- 
stellung tatsächlich  gleich.  Die  eine  läßt  sich  aber  psycho- 
logisch auch  ebensowenig  erklären  wie  die  andere.  In  beiden 
Fällen  gelangt  nicht  etwas  ins  Bewußtsein,  was  vorher 
anderswo  existiert  hat. 

Bei  einer  Wahrnehmung  verzichtet  man  auf  eine  psycho- 
logische Erklärung,  weil  der  Gegenstand  wirklich  im  Raum 
ist.  Alle  Gesetze  der  Optik,  alle  Tatsachen  der  Gehirn- 
anatomie sind  keine  psychologischen  Erklärungen.  Man  be- 
gnügt sich  mit  der  Konstatierung,  daß  a,  b,  c  wahrgenommen 
wird.    Man  beschreibt  also  das  Erlebnis  und  zwar  historisch. 


—  72  — 

Genau  so  muß  man  aber  auch  mit  der  Vorstellung  verfahren. 
Man  kann  nicht  mehr  tun,  als  daß  man  beschreibt,  was  vor- 
gestellt wird.  Hält  man  die  Wirklichkeit  des  Gegenstandes 
im  Raum  für  eine  Erklärung  der  Wahrnehmung,  so  gäbe  es 
auch  nur  eine  Erklärung  der  Vorstellung,  nämlich  durch  die 
momentane  Raumkonstellation,  zu  der  auch  das  Gehirn 
gehört.  Spricht  man  aber  davon,  daß  Elemente  reprodu- 
ziert werden,  so  müßte  das  für  beide  Fälle  zutreffen,  oder  es 
ist  im  einen  Fall  ebenso  töricht  wie  im  andern.  Wir  können 
bei  der  Vorstellung  nichts  anderes  tun,  als  bei  der  Wahr- 
nehmung, nämlich  beschreiben,  was  erlebt  wird.  In  beiden 
Fällen  handelt  es  sich  um  ein  Wiedererleben.  Hier  rächt  sich 
aber  die  Unsinnigkeit,  die  Sinnesdata  oder  Qualitäten  als 
psychische  Elemente  zu  bezeichnen.  Nicht  dasselbe  psychi- 
sche Element  wird  wieder  erlebt,  sondern  dieselbe  Raum- 
bestimmtheit. Damit  ist  alles  gesagt.  Nun  sind  die  Fälle 
für  die  Beschreibung  ganz  gleich.  Beidemal  wird  eine  Raum- 
bestimmtheit wieder  erlebt.  Meinetwegen  mag  man  auch 
sagen,  daß  dieselben  Bestimmtheiten  im  Bewußtsein  sind, 
man  kann  aber  nicht  die  Existenz  dieser  Bestimmtheiten 
durch  die  Bewegung  der  Elemente  erklären.  Kein  psychi- 
sches Element  taucht  wieder  auf,  sondern  dieselbe  Raum- 
bestimmtheit wird  wiedererlebt.  Ebenso  wenig  wie  bei  der 
Wahrnehmung  wird  bei  der  Vorstellung  ein  Element  repro- 
duziert. Es  wird  dasselbe  im  Raum  zeitlich  wiedererlebt. 
In  einem  Fall  ist  der  Inhalt  durch  die  Naturwissenschaft 
objektivierbar  —  der  Gegenstand  existiert  wirklich.  Im  andern 
Fall  ist  dies  nicht  möglich  —  der  Gegenstand  wird  nur  vor- 
gestellt. Für  die  Psychologie  ist  diese  Objektivität  ganz 
gleichgültig.  Nur  die  Ansicht  des  Subjekts  darüber  kommt  in 
Betracht,  ob  es  den  Gegenstand  für  wirklich  hält  oder  nicht. 
Es  liegt  dies  also  genau  so  wie  bei  der  Gleichheit.  Der  Ver- 
such, die  Vorstellung  zu  erklären,  setzt  eo  ipso  die  Idee  der 
psychischen  Substanz  voraus.  Nicht  in  der  Vorstellung, 
sondern  gerade  in  dem  Element  steckt  die  Versubstanziali- 


—  73  — 

sierung  oder  Verdinglichung  des  Psychischen.  Behauptet 
man,  daß  ein  psychisches  Element  reproduziert  wird,  so 
nimmt  man  an,  daß  nicht  eine  historisch-logische  Gleichheit, 
sondern  eine  reale  Identität  der  Elemente  existiert,  und  dies 
heißt:  eine  Substanz  voraussetzen. 

Die  Beschreibung  begnügt  sich  damit,  zu  konstatieren, 
was  erlebt  wird.  Wir  wiesen  oben  nach,  daß  diese  Bestim- 
mung immer  nur  eine  historische  Gleichheit  innerhalb  eines 
Individualsystems  feststellt.  Dies  trifft  für  die  Wahrneh- 
mung genau  so  zu  wie  für  die  Vorstellung.  Die  Konsequenz 
daraus  wäre  allerdings  die,  daß  wir  einen  ersten  Eindruck 
niemals  bestimmen  können.  Wenn  wir  einen  Blindgeborenen 
operieren,  so  können  wir  nicht  sagen,  was  er  als  ersten 
optischen  Eindruck  erlebt,  denn  unsere  Bestimmung  sagt 
für  sein  Bewußtsein  garnichts.  Pickt  aber  ein  neugeborenes 
Huhn  nach  dem  ersten  Korn,  so  können  wir  sein  Erlebnis 
bestimmen  innerhalb  eines  historischen  Systems,  der  Gattung. 
Würden  wir  etwa  bei  dem  operierten  Blinden  eine  spezifische 
Reaktion  wahrnehmen,  so  könnten  wir  auch  vielleicht  sofort 
den  optischen  Eindruck  auf  Grund  der  historischen  Gleich- 
heit innerhalb  des  Zeitsystems  ,,  Gattung"  bestimmen.  Auf 
die  absolute  Qualität  kommt  es  eben  der  Psychologie  nie- 
mals an.  Es  gibt  keine  objektive  Bestimmung,  sondern  nur 
eine  historisch-subjektive  in  einem  Zeitsystem.  Nehmen  wir 
einmal  ein  Urbewußtsein  an,  so  ließe  sich  der  erste  Eindruck 
nie  bestimmen.  Seine  Bestimmung  würde  schon  besagen, 
daß  das  Erlebte  einem  Früheren  gleich  ist.  Erst  den  zweiten 
Eindruck  könnten  wir  bestimmen,  nämlich  hypothetisch 
eine  Gleichheit  mit  dem  ersten  annehmen,  wenn  die  Reak- 
tion auf  die  Eindrücke  dieselbe  wäre.  Mit  viel  weniger  Sicher- 
Leit  könnten  wir  im  andern  Falle  behaupten,  daß  die  Er- 
lebnisse verschieden  waren.  Auf  diese  Hypothesen  sind  wir 
solange  angewiesen,  bis  wir  in  dem  eigenen  Urteil  des  Sub- 
jektes einen  sichern  Maßstab  der  Bestimmung  haben.  Auch 
die   Naturwissenschaft  stützt  sich  nur  auf  eine   Gleichheit 


—  74  — 

und  nicht  auf  eine  absolute  Bestimmung.  Nur  gilt  diese 
Gleichheit  in  dem  Raum,  der  für  alle  Individuen  gültig  ist, 
während  psychologisch  eben  der  Raum  durch  die  Zeitreihe 
des  Subjekts  ersetzt  ist.  Erlebt  dieses  etwas  absolut  Neues, 
so  käme  für  die  Psychologie  nur  diese  formale  Bestimmung 
„Neues"  in  Betracht,  woraus  wir  den  Fortgang  des  Bewußt- 
seins verstünden.  Das  Anderssein  hat  in  der  Psychologie 
ja  auch  keine  objektive  Bedeutung,  sondern  nur  eine  sub- 
jektive für  ein  individuelles  Bewußtsein.  Käme  aber  die 
Qualität  des  Inhalts  in  Betracht,  so  wäre  er  nicht  absolut 
neu,  sondern  tatsächlich  früheren  Erlebnissen  gleich.  Sieht 
jemand  zum  ersten  Male  ein  Automobil,  so  kann  trotzdem 
eine  Gleichheit  mit  früheren  Erlebnissen  bestehen.  Es  wird 
vielleicht  ein  großes  Tier  erlebt.  Es  wäre  aber  ein  absoluter 
Fehler,  wenn  man  sagen  wollte:  Die  Wahrnehmung  des 
Autos  ruft  die  Vorstellung  eines  Tieres  hervor.  Das  würde 
dem  entsprechen,  daß  bei  dem  Farbenblinden  die  Wahr- 
nehmung Rot  die  Vorstellung  Grau  hervorruft,  oder  daß 
überhaupt  jedes  psychische  Element  der  Wahrnehmung 
reproduziert  wird.  Das  Auto  existiert  für  mich  als  eine  Be- 
stimmung der  Welt,  aber  nicht  für  den  Betreffenden.  Genau 
so,  wie  eine  Bestimmtheit  Rot  einer  andern  gleich  ist,  ist 
hier  ein  Komplex  von  Bestimmtheiten  einem  andern  gleich. 
Die  Beschreibung  muß  also  dabei  stehen  bleiben,  welche 
historische  Gleichheit  zwischen  dem  Erlebten  besteht.  Die 
erklärende  Psychologie  will  die  Existenz  dieses  Inhalts  er- 
klären, indem  sie  ihn  allerdings  nur  im  Falle  der  Vorstellung, 
reproduziert  sein  läßt.  Das  Wesentliche  dabei  ist,  daß  man, 
wenn  man  dies  nicht  als  Beschreibung,  sondern  als  Erklärung 
auffaßt,  aus  der  subjektiven  Gleichheit  eine  reale  Identität 
macht.  Man  begnügt  sich  nicht  damit,  daß  das  gleiche  er- 
lebt wird,  wie  früher,  sondern  man  meint,  daß  dieselben 
Elemente  jetzt  wieder  im  Bewußtsein  sind,  dort  hinein- 
gezogen wurden.  Solche  Identität  der  Teile,  die  in  der  Zeit 
den  Ort  wechseln  können,  kann  es  nur  im   Raum  geben. 


—  75  — 

Man  kann  die  psychologische  Theorie  gar  nicht  anders  auf- 
fassen, als  daß  das  Element  in  einem  andern  Raum,  den 
man  Gedächtnis  nennt,  weiterexistiert  und  nun  wieder  in 
den  Bewußtseinsraum  gelangt.  Sieht  man  von  dem  Raum 
ab,  so  ist  die  ganze  Reproduktion  als  erklärende  Theorie 
sinnlos.  Erklärung  und  Substanz  sind  nicht  zu  trennen. 
Nur  das  Hier  oder  Da  läßt  sich  erklären.  Da  das  Bewußtsein 
aber  kein  Raumausschnitt  aus  einer  Substanz  ist,  so  kann 
ich  auch  die  Anwesenheit  eines  Elements  in  ihm  nicht  er- 
klären, denn  damit  würde  man  voraussetzen,  daß  es  als 
Teil  der  Substanz  zeitlos  existiert  und  das  Problem  nur  in 
dem  Ort  liegt. 

Daß  man  an  eine  Identität  der  Elemente  innerhalb  der 
Zeit  glaubt,  ergibt  sich  daraus,  daß  man  die  Ähnlichkeits- 
assoziation bekämpft.  Für  die  beschreibende  Psychologie 
liegt  der  Fall  so,  daß  ein  Erlebnis  dem  andern  folgt,  wenn 
das  erste  irgend  eine  Bestimmtheit  hat,  die  schon  einmal 
mit  einer  andern  des  zweiten  zusammen  erlebt  war.  Natür- 
lich bedeutet  dies  keine  Erklärung,  sondern  wir  beschreiben 
nur  den  logischen  Zusammenhang  des  Erlebten.  Wie  das 
Erlebnis  zustande  kommt,  entzieht  sich  jeder  vernünftigen 
Fragestellung.  Ich  weiß  nur,  daß  etwas  früher  schon  einmal 
erlebt  war,  und  zwar  zusammen  mit  einer  andern  Bestimmt- 
heit, die  jetzt  dem  Erlebnis  voranging.  Dabei  ist  es  nun  ganz 
gleichgültig,  ob  ich  eine  Ähnlichkeit  oder  Gleichheit  behaupte. 
Denn  da  es  nur  auf  die  subjektive  Gleichheit  ankommt,  so 
ist  der  Unterschied  überhaupt  nicht  zu  machen.  Es  ist 
doch  für  die  Gleichheit  bedeutungslos,  ob  die  Inhalte  gleich- 
zeitig im  Bewußtsein  sind  oder  nicht.  Behauptet  man,  daß 
in  der  Zeit  das  gleiche  Element  wiederkehrt,  so  müßte  man 
auch  annehmen,  daß,  wenn  ich  zwei  gleichzeitige  Farben 
für  gleich  halte,  das  gleiche  oder  „ein"  Farbenelement  im 
Bewußtsein  ist.  Vom  Standpunkt  der  Naturwissenschaft  aus 
gibt  es  nun  keine  Gleichheit  des  Erlebten.  Es  werden  sich 
niemals   im   Leben   die    Schwingungen   im   mathematischen 


—  76  — 

Sinne  als  gleich  wiederholen,  die  einem  Ton  entsprechen. 
Da  es  aber  gar  nicht  auf  eine  solche  objektive  Gleichheit 
ankommt,  so  ist  es  ganz  gleichgültig,  ob  ich  von  der  Gleich- 
heit der  Farben  spreche,  oder  ob  ich  mich  vorsichtig  ausdrücke 
und  nur  von  Ähnlichkeit  spreche.  Die  historische  Gleich- 
heit ist  eben  selbst  nur  ein  Grad  der  Ähnlichkeit,  da  sie  immer 
nur  subjektiv  ist.  Macht  man  überhaupt  einen  logischen 
Unterschied  zwischen  beiden  und  legt  man  so  großes  Gewicht 
darauf,  daß  ein  gleiches  Element  da  sein  muß,  oder  daß  die 
Vorstellungen  ein  Element  gemeinsam  haben,  so  beweist 
man  damit  nur,  daß  man  die  subjektive  Gleichheit  des  Er- 
lebten in  eine  reale  Identität  im  psychischen  Raum  um- 
gedacht hat.  Eine  andere  Möglichkeit  gibt  es  nicht.  Im 
Raum  gibt  es  eine  objektive  Gleichheit.  Ein  Element  Radium 
ist  objektiv  dem  andern  gleich,  ohne  mit  ihm  identisch  zu 
sein.  Man  kann  aber  nicht  behaupten,  daß  das  Element 
„Rot"  immer  mit  den  Elementen  a  oder  b  verbunden  ist. 
Von  „dem"  Radium  kann  ich  eine  Beziehung  behaupten, 
weil  es  nur  „eine"  Natur  gibt.  Die  Verbindung  mit  a  oder  b 
kommt  aber  nicht  „dem"  Rot  zu,  sondern  nur  dem  einen 
Erlebnis,  das  in  einer  bestimmten  Zeit  von  einem  bestimmten 
Individuum  gemacht  worden  ist.  Geht  man  also  von  den 
Elementen  aus,  so  ist  nur  dieses  individuelle  Element  „Rot" 
mit  a  oder  b  verbunden.  Eine  objektive  Gleichheit  mit 
einem  individuellen  Element  kann  aber  nichts  anderes 
heißen  als  dasselbe  Element.  Denn  um  eine  Unterordnung 
unter  den  Gegenstandsbegriff  „Rot"  in  der  psychischen  Welt 
kann  es  sich  nicht  handeln.  Man  erklärt  also  die  Vorstellung 
daraus,  daß  ein  und  dasselbe  Element  in  einem  Zeitpunkt 
M  und  M1  im  Bewußtsein  ist  und  dieselben  Elemente  hervor- 
ruft, mit  denen  es  damals  zusammen  war.  Es  kommt  mir 
vor  allem  darauf  an,  daß  dies  nicht  eine  bildliche  Ausdrucks- 
weise ist,  sondern  als  Tatsache  von  der  Psychologie  an- 
genommen wird.  Nur  so  kann  man  an  eine  Erklärung  des 
Vorgestellten  glauben.    Die   Gleichheit  existiert  eben  nicht 


—  77  — 

„im"  Bewußtsein,  sondern  „für"  das  Bewußtsein.  Die  All- 
gemeinheit, der  ich  das  einzelne  unterordne,  existiert  nur 
in  dem  Individualsystem.  Dafür  aber  ist  es  ganz  gleich- 
gültig, ob  eine  Gleichheit  oder  nur  Ähnlichkeit  besteht. 
Jemand  kann  etwas  für  gleich  halten,  wo  ein  anderer  nur 
eine  Ähnlichkeit  sieht.  Allerdings  kann  die  Ähnlichkeits- 
assoziation nichts  erklären;  aber  gerade,  daß  man  ihr  das 
als  Vorwurf  anrechnet,  beweist  eine  falsche  Auffassung  des 
Gleichen. 

Das  berühmte  Assoziationsgesetz  ist  so,  wie  es  die  Ele- 
mentarpsychologie auffaßt,  überhaupt  kein  psychologisches 
Gesetz.  Es  ist  nicht  der  Gravitation  zu  vergleichen,  sondern 
höchstens  der  Kausalität.  Das  Wort  Assoziation  hat  über- 
haupt nur  einen  Sinn,  wenn  man  darunter  den  eigentüm- 
lichen Strukturzusammenhang  des  Bewußtseins  versteht, 
der  sich  darin  zeigt,  daß  gewisse  erlebte  Inhalte  eine  Ver- 
bindung eingehen  und  andere  nicht.  Will  man  absolut  die 
Assoziation  mit  irgend  etwas  im  Raum  vergleichen,  so  kann 
es  nur  die  Cohäsion,  nicht  die  Gravitation  sein.  Dieser 
Strukturzusammenhang,  die  Assoziation,  hat  psychologisch 
die  Bedeutung  des  Gesetzes  in  der  Natur.  Daß  das  Element 
a  mit  b  oder  c  verbunden  ist,  wäre  das  Gesetz  in  dem  Indivi- 
dualsystem, das  etwa  dem  Raumgesetz  vergleichbar  wäre, 
daß  mit  A  immer  die  Wirkung  B  verbunden  ist.  Der  Fehler 
der  Assoziationstheorie  ist  der,  daß  sie  die  Konstanz  der  Be- 
ziehung selbst  erklären  will.  Dies  würde  aber  logisch  der 
Behauptung  entsprechen,  daß  die  Wiederholung  der  Gravi- 
tation im  Raum  durch  ein  besonderes  Gesetz  erklärt  werden 
müsse.  Man  müßte  etwa  denken,  daß  die  Masse  durch  eine 
spezielle  Kraft  die  Anziehungskraft  nach  sich  zöge.  Daß 
man  überhaupt  den  Versuch  macht  zu  erklären,  warum 
„jede"  Masse  im  Raum  anzieht,  wäre  die  Absurdität.  Genau 
so  unlogisch  aber  ist  die  Assoziationstheorie.  Sie  will  tat- 
sächlich nichts  anderes,  als  die  gleiche  Wirkung  des  Gleichen 
in  einem  System  erklären.    Woher  es  kommt,  daß  das  Er- 


—  78  — 

lebte  wiedererlebt  wird,  läßt  sich  nicht  erklären,  weil  der 
fragliche  Moment  keine  historische  Konstellation  einer  zeit- 
losen Substanz  ist,  weil  das  Bewußtsein  kein  Raumausschnitt 
ist.  Ein  Naturgesetz  kann  nur  die  Beziehungen  festlegen, 
die  im  zeitlosen  Raum  sich  wiederholen.  Diesem  Raum  aber 
entspricht  in  der  Psychologie  die  Zeit.  Das  Allgemeine 
kann  daher  nur  Wiederholungen  in  der  Zeit  zusammenfassen. 
Diese  erklären  wollen,  hieße  die  Identität  mit  sich  selbst 
oder  das  System-sein  erklären.  Weil  ein  Element  Radium 
im  Raum  ebenso  wirkt  wie  das  andere,  deswegen  können 
wir  sagen:  „das"  Radium  wirkt  so  und  so.  Weil  in  der  Zeit 
ein  Erlebnis  a  ebenso  wie  das  andere  mit  b  und  c  verbunden 
ist,  deswegen  können  wir  sagen:  a  ist  mit  b  und  c  eine  Ein- 
heit oder  Assoziation  eingegangen.  Die  Wiederholung  als 
ein  besonderes  Geschehen  entzieht  sich  aber  jeder  Erklärung. 
Sie  ist  ja  gerade  dadurch  begriffen,  daß  man  die  Beziehung 
von  einer  Allgemeinheit  aussagt.  Diese  Allgemeinheit  exi- 
stiert aber  für  die  Psychologie  nur  innerhalb  eines  zeitlichen 
Individualsystems. 

Damit  erlangt  allerdings  die  Zeit  in  der  Psychologie  eine 
ganz  andere  logische  Bedeutung  als  in  der  Naturwissenschaft. 
Für  die  historische  Erkenntnis  ist  die  Gegenwart  nur  ein 
Teil  des  Systems,  entsprechend  dem  individuellen  Raum- 
ausschnitt als  Teil  des  Raumsystems.  Damit  ist  gesagt, 
daß  sie  logisch  nicht  als  Folge  betrachtet  wird,  genau  so 
wenig,  wie  der  Raumteil  als  Folge  anderer  Teile  aufgefaßt  wird. 
7  OR  stellt  den  Raum  dar, 
OZ  die  Zeit.  Die  Naturwissen- 
schaft geht  auf  die  Erkenntnis 
oder  die  Konstruktion  von  OR. 
R            Sie   bestimmt,    wie    sich   die   ein- 


zelnen Punkte  zueinander  ver- 
halten. Dieses  Verhalten  ist  zeitlos.  Die  gleichen  Raum- 
teile werden  zu  Gegenstandsbegriffen  zusammengefaßt.  Diese 
Beziehung  der  Punkte  zueinander  ist  aber  an  sich  eine  Ver- 


—  79  — 

änderung  in  der  Zeit.  Es  ist  unmöglich,  eine  Beziehung 
eines  Punktes  zu  einem  andern  zu  erkennen  oder  —  sagen 
wir  einmal  —  wahrzunehmen,  ohne  daß  irgend  eine  Ver- 
änderung vor  sich  geht.  Diese  Veränderung  aber  ist  not- 
wendig an  die  Zeit  gebunden.  Infolgedessen  wird  der  Zeit- 
verlauf als  Folge  erklärbar  oder  erkannt.  Jede  Gegenwart 
in  der  Natur  ist  in  unserm  Koordinatensystem  darstellbar 
durch  eine  Projektion  auf  OR.  Die  Natur  ist  gleichsam  das 
Fortrücken  von  OR  auf  der  Ordinate  OZ.  Die  Naturwissen- 
schaft wäre  vollendet,  wenn  sie  alle  Unterschiede  der  Punkte 
und  alle  nur  möglichen  Beziehungen  zwischen  ihnen  erkannt 
hätte.  Ein  jeder  Zeitmoment  ist  abhängig  von  der  voran- 
gehenden Konstellation  der  zeitlosen  Punkte,  die  die  Natur- 
wissenschaft als  Teile  von  OR  konstruiert.  Gehen  wir  nicht 
von  dieser  Idee  aus,  so  gäbe  es  keine  allgemeingültige  Er- 
fahrung, sondern  nur  einen  historischen  Bericht  von  der 
Welt,  keine  Darstellung  in  den  zeitlosen  platonischen  Ideen. 
Wollen  wir  aber  OZ  erkennen,  so  ist  dies  eben  der  Gegenstand, 
der  logisch  vollkommen  OR  entspricht,  d.  h.  OZ  existiert 
für  uns  als  eine  Einheit.  Es  handelt  sich  etwa  um  die  psycho- 
logische Erkenntnis  von  Goethes  Leben;  eine  Erkenntnis 
ist  nur  möglich  durch  die  Aufzeigung  von  Allgemeinheiten. 
Diese  setzt  ein  begrenztes  System  voraus,  wenn  auch  die 
Grenze  nur  Ideal  ist.  Für  die  psychologische  Erkenntnis 
liegt  die  empirische  Grenzenlosigkeit  in  der  Vergangenheit 
über  0  als  Anfang  von  ,, Goethe",  hinaus.  Dieses  eine  System 
ist  Goethes  Leben.  In  ihm  habe  ich  nach  Allgemeinheiten 
zu  suchen,  nach  Wiederholungen  von  Zusammenhängen. 
Ich  fasse  also  die  Einzelerlebnisse  als  Teile  nebeneinander 
auf  und  stelle  Verschiedenheiten  und  Gleichheiten  fest. 
Damit  ist  aber  gesagt,  daß  ich  sie  nicht  als  Folge  betrachte. 
Das  Leben  Goethes  spielt  sich  nicht  ,,inu  der  Zeit  ab,  sondern 
es  ist  ein  Teil  der  Zeit  selbst.  In  der  Zeit  abspielen  kann  sich 
nur  die  zeitlose  Substanz  im  Raum.  Wenn  ich  etwas  er- 
kennen will,  so  muß  es  existieren.    Als  Folge  kann  ich  nur 


-  80  — 

das  erkennen,  was  als  Veränderung  einer  Existenz  existiert. 
Die  Lageänderung  der  Magnetnadel  kann  ich  als  Folge  er- 
kennen, ihre  momentane  Stellung  in  der  Zeit  als  Veränderung 
der  vorhergehenden.  Betrachte  ich  aber  die  Zeit  selbst, 
so  ist  der  eine  Moment  deshalb  keine  Folge  des  vorhergehenden, 
weil  nichts  da  ist,  was  ich  schon  vorher  kannte  und  was  sich 
jetzt  verändert  hat.  Es  ist  nur  ein  Teil  da,  dessen  Gleichheit 
mit  andern,  die  in  diesem  Falle  vorangegangen  sind,  ich  er- 
kennen kann.  Aus  dem  Moment  kann  man  also  auf  eine 
allgemeine  Beziehung  schließen,  die  in  dem  vorliegenden 
System  herrscht.  Die  wichtigste  Konsequenz  daraus  ist  die: 
Man  kann  alles,  was  psychisch  geschieht,  verstehen,  man  kann 
aber  niemals  mit  Sicherheit  sagen,  was  geschehen  wird.  Das 
letztere  ist  nur  dadurch  möglich,  daß  ich  den  zeitlosen  Raum 
kenne,  seine  momentane  Ordnung  und  die  Beziehungen,  die 
zwischen  ihr  und  der  späteren  maßgebend  sind.  Das  Psychi- 
sche aber  ist  nur  eine  Zeitreihe  mit  Wiederholungen.  Während 
für  die  Naturwissenschaft  die  wirkliche  Existenz  in  dem 
Raum  besteht,  gibt  es  für  die  Psychologie  keine  andere 
Existenz  als  die  Zeit.  Ich  muß  die  Realität,  die  ich  erkennen 
will,  als  existierend  denken.  Die  Gegenwart  ist  also  nur  ein 
Teil  des  Gegenstandes,  den  ich  erkennen  will,  während  sie 
naturwissenschaftlich  nur  eine  Erscheinungsform  des  Raumes 
ist,  den  man  als  wirklich  existierenden  Gegenstand  erkennen 
will.  Selbstverständlich  existiert  diese  Wirklichkeit  nur  als 
Gegenstand  der  Denkkonstruktion  zu  dem  Zweck,  xa  90UV0- 
(jieva  8i,aaco£e(JTou,  wie  es  Plato  ausgedrückt  hat. 

Jedes  Erlebnis  ist  ein  historisches  Faktum.  Genau  so 
wenig  wie  ich  psychologisch  die  Erfahrungen  des  Indivi- 
duums erklären  kann,  die  in  der  Außenwelt  ihren  Grund 
haben,  kann  ich  die  Erlebnisse  psychologisch  erklären, 
denen  keine  Realität  im  Raum  entspricht.  Ebenso  wie  aber 
die  Erfahrung  des  Individuums  niemals  restlos  durch  die 
Außenwelt  bestimmt  ist,  so  daß  tatsächlich  ein  psycho- 
logischer   Rest   zurückbleibt,    ebenso   bleibt   auch   bei   dem 


—  81  — 

Verständnis   der  Vorstellung  ein   psychologischer   Rest   be- 
stehen.   Darauf  komme  ich  gleich  zurück. 

Unsere  Erkenntnis  des  Bewußtseinsinhalts  stellt  Wieder- 
holungen von  Erlebnissen  fest.  Diese  erklären  wollen,  hieße  die 
Existenz  der  Welt  erklären.  Denn  diese  ist  nichts  anderes  als 
die  Zeitreihe  der  Monaden.  Unsere  naturwissenschaftliche  Er- 
klärung ist  deswegen  niemals  absolut,  weil  eine  historische  Kon- 
stellation zu  unseren  Gesetzen  immer  vorausgesetzt  ist. 
Die  Zeitreihe  des  Bewußtseins  erklären  wollen,  hieße  die  reale 
Geschichte  der  Welt  erklären.  Ob  sich  einige  Erlebnisse 
objektivieren  lassen,  spielt  keine  Rolle.  Psychologisch  kann 
ich  nur  die  subjektiv  logischen  Zusammenhänge  aufzeigen, 
die  zwischen  den  Erlebnissen  existieren.  Ich  kann  sagen: 
diese  Bestimmtheit  wurde  schon  einmal  oder  öfter  erlebt, 
oder:  was  ich  jetzt  erlebe,  habe  ich  früher  einmal  mit  einer 
andern  Bestimmtheit  zusammen  erlebt,  die  ich  im  vorher- 
gehenden Moment  wieder  erlebt  habe.  Ich  kann  dies  aber 
auch  so  ausdrücken:  es  hat  sich  in  meinem  Leben  eine 
Assoziation  mehrerer  Bestimmtheiten  wiederholt.  Cum  grano 
salis  kann  ich  diese  Assoziation  als  ein  allgemeines  Gesetz 
annehmen,  nur  handelt  es  sich  nicht  um  eine  objektive 
Folge,  weil  es  sich  gar  nicht  um  eine  objektive  Zeit  handelt. 
Ob  es  wirklich  ein  Moment  ist,  in  dem  ich  die  Bestimmtheiten 
a  und  b  zusammen  erlebt  habe  oder  ob  es  eine  Zeitfolge  war, 
ist  für  die  Assoziation  ganz  gleichgültig.  In  dieser  Unter- 
scheidung der  subjektiven  Folge  und  der  objektiven  besteht 
ja  gerade  der  Unterschied  zwischen  Kausalität  und  Asso- 
ziation, durch  den  Kant  Hume  widerlegt  und  die  Kausalität 
logisch  begründet  hat.  Es  gibt  eben  psychologisch  gar  keine 
objektive  Zeitbestimmung.  Der  „wirkliche"  Zeitverlauf  ist 
nur  möglich  durch  die  Objektivität  der  Folge,  wie  sie  die 
Naturwissenschaft  konstruiert.  Man  spricht  daher  von 
zeitlicher  Berührung  der  Bestimmtheiten.  Betrachte  ich 
einmal  diese  als  gegeben,  so  kann  ich  sagen,  eine  Folge  von 
Bestimmtheiten  hat  sich  wiederholt.     In  diesem   Sinne  ist 

Strich,  Prinzipien.  6 


—  82  — 

jede  Assoziation  ein  historisches  subjektives  Gesetz.  Handelt 
es  sich  um  eine  Folge  von  wahrgenommenen  Bestimmtheiten, 
so  kann  sie  durch  die  Theorie  der  Naturwissenschaft  erklär- 
bar sein,  wenn  die  Folge  nicht  nur  für  mein  Bewußtsein 
existiert,  sondern  für  jedes  Bewußtsein.  Die  subjektive 
Zeitfolge  wird  durch  das  zeitlose  Gesetz  objektiviert.  Für 
die  Psychologie  kommt  aber  nur  in  Betracht,  ob  das  Sub- 
jekt die  Folge  für  objektivierbar,  für  wirklich  hält  oder  nicht. 
Was  im  Bewußtsein  aber  Folge  ist,  braucht  objektiv  nicht 
Folge  zu  sein,  sondern  kann  objektiv  gleichzeitig  sein  und 
nur  nacheinander  bewußt  werden.  So  etwa,  wenn  ich  der 
Reihe  nach  verschiedene  Bestimmtheiten  eines  Körpers 
wahrnehme.  Man  kann  also  die  Assoziation  als  eine  histo- 
risch entstandene  Folge  bezeichnen,  die  sich  mit  dem  einen 
Glied  selbst  wiederholt.  Dem  Gesetz  fehlt  aber  einmal  die 
Zeitlosigkeit,  zweitens  die  Objektivität  der  Folge,  denn  wenn 
b  auf  a  folgte,  so  kann  umgekehrt  später  a  auf  b  folgen. 
Tatsache  ist,  daß  sich  ein  zeitliches  Zusammensein  —  wobei 
über  die  Folge  oder  Gleichzeitigkeit  nichts  ausgemacht  ist  — 
im  Individualsystem  wiederholt.  Die  Assoziation  ist  die 
allgemeine  Beziehung,  die  wir  in  dem  System  erkennen. 
Hält  man  irgend  etwas  durch  das  Assoziationsgesetz  für 
erklärt,  so  entspräche  das  dem,  daß  der  Physiker  mit  seinen 
Untersuchungen  aufhört  und  verkündet:  die  Natur  ist  durch 
das  Gesetz  der  Kausalität  erklärt.  In  Wahrheit  ist  dies 
absolut  der  Standpunkt  unserer  psychologischen  Lehr- 
bücher. Es  ist  unbegreiflich,  wie  man  eine  Psychologie  exakt 
nennen  kann,  die  ihre  vermeintlichen,  stets  nur  formalen 
Gesetze  wegen  der  Fruchtlosigkeit  dem  einzelnen  Fall 
gegenüber  mit  dem  Trägheitsgesetz  der  Naturwissenschaft 
vergleichen  kann.  Die  erste  Bedingung  von  Exaktheit  ist 
nicht  das  Hippsche  Chronoskop,  sondern  die  Logik.  Aller- 
dings läßt  sich  aus  dem  Gesetz  der  Trägheit  kein  einziges 
Geschehen  erklären,  aber  nur  deswegen  nicht,  weil  die  Träg- 
heit nur  eine  qualitative  Komponente  des  Geschehens  ist.  Um 


—  83  — 

das  Geschehen  darstellen  zu  können,  gehören  neben  diesem 
Gesetze  noch  andere.  Das  Assoziationsgesetz  ist  aber  keine 
Komponente  des  psychischen  Geschehens,  sondern  höchstens 
mit  der  Kausalität  in  der  Natur  überhaupt  zu  vergleichen. 
Das  Gravitationsgesetz  hat  Newton  entdeckt.  Vor  ihm  wußte 
man  nichts  davon.  Daß  aber  der  Mensch  durch  Dinge  an 
andere  erinnert  wird,  wußte  man  auch,  bevor  die  Psycho- 
logie das  Gesetz  entdeckte.  Unser  Wissen  ist  nicht  im 
geringsten  dadurch  bereichert  worden.  Denn  wir  verstehen 
keine  Erinnerung  dadurch  besser.  Glaubt  man  aber  dies, 
so  kann  das  nur  daran  liegen,  daß  man  die  Bildersprache  der 
Theorie  für  Wahrheit  nimmt.  Der  Psychologe  versteht 
durch  keine  Theorie  nur  irgend  ein  Phänomen  besser  als  der 
„Laie".  Verstehen  tue  ich  das  Vorstellungserlebnis  eines 
Individuums  nicht  durch  das  Assoziationsgesetz,  sondern 
durch  die  Kenntnis  seiner  Vergangenheit,  d.  h.  seiner  Ge- 
schichte. Wenn  man  sagt,  die  Vorstellung  sei  durch  Asso- 
ziation erklärt,  so  wiederholt  man  nur,  daß  es  sich  um  eine 
Vorstellung  und  nicht  um  eine  Wahrnehmung  handelt.  Ver- 
standen habe  ich  sie  dann,  wenn  ich  die  spezifische  Asso- 
ziation in  unserm  Sinne  herausgefunden  habe,  und  ihre 
historische  Entstehung  in  der  Geschichte  des  Individuums 
kenne.  Natürlich  bedeutet  diese  Erkenntnis  keine  Erklä- 
rung,   sondern  nur  eine  historische  Beschreibung. 

Dieser  Gegensatz  zeigt  sich  besonders  bei  dem  Problem  des 
Wiedererkennens.  Die  Sucht  nach  Verdinglichung  verfälscht 
auch  hier  schon  die  Stellung  des  Problems.  Man  fragt  dar- 
nach, was  im  Bewußtsein  anwesend  ist,  und  findet  oder 
besser,  man  konstruiert  neben  den  Empfindungselementen  ein 
Wiedererkennungsgefühl  oder  Bekanntheitsgefühl.  Dieses 
letztere  kann  als  Tatsache  nicht  geleugnet  werden.  Es  gibt 
Fälle,  wo  man  genau  weiß,  daß  man  etwa  eine  Person  kennt, 
aber  nicht  sagen  kann,  wer  sie  ist,  wo  und  wann  man  sie 
gesehen  hat.  Dieses  Bewußtsein  ist  mit  einem  charakteristi- 
schen Gefühl  verbunden,  das  man  Bekanntheitsgefühl  nennen 

6* 


—  84  — 

kann,  obwohl  eine  feinere  Psychologie  den  Zustand  viel 
differenzierter  beschreiben  kann.  Diese  Gefühle  aber 
meint  die  Elementarpsychologie  offenbar  nicht.  Für  sie 
sollen  sie  entweder  das  Wiedererkennen  erklären  oder 
selbst  das  Wiedererkennen  sein.  Darüber  ist  man  sich 
nämlich  selber  nicht  ganz  klar,  ebenso  wenig  darüber,  ob 
diese  Gefühle  bewirkt  sind  durch  die  Reste  der  früheren 
Vorstellung  im  Hintergrund  des  Bewußtseins,  oder  ob  sie 
selbst  diese  Reste  sind.  Mich  interessiert  es  noch  weniger, 
da  ich  die  ganze  Vorstellungsweise  als  eine  Verdinglichung 
des  Bewußtseins  ablehne.  Diese  liegt  darin,  daß  man  das 
historische  Faktum  des  Wiedererkennens  in  ein  Neben- 
einander von  Elementen,  die  in  einem  Zeitpunkt  existieren, 
auflösen  will.  Es  gibt  gar  kein  Phänomen  „Wiedererkennen4', 
wenn  man  von  dem  momentanen  Bewußtseinsinhalt  und  nicht 
von  dem  historischen  Ich  ausgeht. 

Wir  wiesen  oben  nach,  daß  jedes  Gleichsein  innerhalb 
des  zeitlichen  Individualsystems  im  Vergleich  zu  dem  Raum 
völlig  richtig  als  ein  Fürgleichhalten  seitens  des  Individuums 
dargestellt  werden  kann.  Wenn  ich  also  sage,  daß  ein  Ele- 
ment a  im  Bewußtsein  ist,  so  heißt  das  schon,  daß  das  Indivi- 
duum das  jetzt  Erlebte  einem  früheren  Erlebnis  für  gleich  hält. 
Von  Wiedererkennen  würde  ich  nur  dann  sprechen,  wenn 
eine  Identität  zum  Gegenstand  eines  Urteils  gemacht  wird. 
Man  kann  aber  leben,  ohne  urteilend  zu  erkennen.  Wären 
wir  in  jedem  Augenblick  Historiker  oder  Psychologen,  so 
kämen  wir  als  handelnde  Wesen  nicht  von  der  Stelle.  Dieses 
Fürgleichhalten  kann  aber  gar  kein  erklärbares  Problem 
sein,  sonst  müßte  man  auch  zu  erklären  versuchen,  warum 
ein  Element  Radium  dem  andern  gleich  ist.  Da  ist  der 
gleiche  Inhalt,  aber  kein  Phänomen  neben  ihm.  Die  psycho- 
logische Bestimmung  ist  eine  Bestimmung  des  historischen 
Subjekts  und  nicht  eines  Raumausschnitts  „Bewußtseins- 
inhalt". Nur  dann  gibt  es  ein  Wiedererkennen.  Wenn  ein 
primitiver   Organismus   auf  gleiche   Inhalte   gleich  reagiert, 


—  85  — 

so  nehme  ich  auch  an,  daß  er  gewisse  Inhalte  für  gleich  hält. 
Denn  objektiv  gibt  es  nicht  zwei  Reize,  die  gleich  sind. 
Nur  für  das  Subjekt  existiert  die  Gleichheit.  Seltsamerweise 
will  man  auch  das  Wiedererkennen  in  eine  Assoziation  auf- 
lösen, wo  es  doch  klar  ist,  daß  sie  selbst  auf  dem  Wieder- 
erkennen erst  beruht.  Wenn  ein  Wahrnehmungseindruck 
einem  früheren  gleich  ist,  so  kann  dieser  nicht  erst 
durch  Assoziation  wiedererweckt  worden  sein,  denn  er 
ist  ja  eben  schon  da.  Jede  Assoziation  setzt  aber  eine 
solche  Gleichheit  mit  der  Vergangenheit  voraus.  Ich 
wüßte  aber  auch  nicht,  was  das  Gefühl  uns  helfen  soll. 
Es  wäre  seltsam,  wenn  man  an  einem  qualitativen  Gefühl 
merken  sollte,  daß  ein  gleiches  Element  erlebt  wird.  Nur 
durch  den  Namen  „Wiedererkennungsgefühl"  täuscht  man 
sich  über  die  Unhaltbarkeit  der  Voraussetzungen  hinweg. 
Das  Gleichhalten  ist  überhaupt  die  Voraussetzung  für  den 
historischen  Zusammenhang,  da  es  nur  ein  anderer  Name  für 
die  subjektive  Gleichheit  ist.  Es  wäre  unmöglich,  eine  histo- 
rische Einheit  der  Welt  gegenüber  anzunehmen,  ohne  von 
dem  Gleichhalten  der  Inhalte  durch  das  historische  Subjekt 
auszugehen.  Bei  den  Elementen  tut  dies  auch  die  Elementar- 
psychologie, wenn  sie  die  Inhalte  einer  Allgemeinheit  unter- 
ordnet. Die  Bestimmung  einer  Empfindung  als  rot  ist  eine 
Bestimmung  des  Subjekts,  nämlich  dessen,  was  es  für  gleich 
hält.  Es  besteht  aber  gar  kein  Unterschied  zwischen  einer 
willkürlich  abstrahierten  Bestimmtheit  und  einem  Komplex 
von  solchen.  Hier  besteht  das  Problem  nur  in  der  Formung 
vieler  Bestimmtheiten  zu  einer  Einheit.  Diese  braucht  sich 
aber  keineswegs  mit  der  Einheitsformung  eines  andern  zu 
decken.  Schon  in  der  Beschreibung  des  Erlebten  steckt 
eine  psychologische  Erkenntnis.  Unsere  Psychologen  würden 
sagen:  das  Individuum  sieht  eine  Gabel,  erkennt  sie  aber 
nicht  wieder.  Das  kann  aber  ganz  falsch  sein.  Wenn  es  den 
Gegenstand  nicht  für  eine  Gabel  hält,  so  sieht  es  auch  keine 
Gabel.    Wenn  ich  jemandem  einen  Ton  zu  hören  gebe  und 


—  86  — 

gleich  darauf  einen  anderen,  der  um  wenige  Schwingungen 
differiert,  und  behaupte,  daß  das  Individuum  zwei  verschie- 
dene Töne  gehört  hat,  so  ist  diese  Beschreibung  absolut 
falsch,  wenn  das  Individuum  keinen  Unterschied  zwischen 
den  Tönen  bemerkt.  Genau  so  liegt  es  aber  im  ersten  Bei- 
spiel. Ich  halte  den  Gegenstand  für  eine  Gabel,  für  mich 
existiert  ein  Komplex  von  Bestimmtheiten,  der  unzähligen 
früher  erlebten  Komplexen  gleich  ist,  und  den  ich  Gabel 
nenne.  Zeige  ich  einem  Kinde  denselben  Raumgegenstand 
—  ich  vermeide  es,  von  den  pathologischen  Fällen  der 
Aphasie  usw.  zu  sprechen  — ,  so  erlebt  es  keine  Gabel,  weil 
dieser  Komplex  von  Bestimmtheiten  für  sein  Bewußtsein 
noch  nicht  existiert.  Daß  auf  der  Netzhaut  dasselbe  Bild 
entsteht,  ist  völlig  gleichgültig,  wie  es  gleichgültig  ist,  ob 
,, wirklich"  verschiedene  Schallwellen  das  Ohr  treffen.  Mit 
der  Konstatierung  der  qualitativen  Bestimmtheiten  der 
sogenannten  Elemente  beginnt  schon  das  Wiedererkennen 
oder  das  Gleichhalten,  denn  meine  Bestimmung  darf  nur 
die  Meinung  des  Subjekts  berücksichtigen.  Nur  das  absolute 
Befangensein  im  Raumdenken  kann  das  leugnen.  Für  was 
das  Subjekt  einen  Gegenstand  hält,  kann  ich  nicht  erklären, 
weil  sich  der  Gegenstand  gar  nicht  anders  bestimmen  läßt, 
als  wofür  ihn  das  Subjekt  hält.  Ich  kann  nicht  sagen,  was 
hier  etwas  bewirkt,  ohne  daß  ich  die  Meinung,  das  zu  Be- 
wirkende, als  Wirkendes  schon  voraussetze.  Man  übersieht 
das,  weil  man  seine  eigene  Bestimmung  als  die  richtige  vor- 
aussetzt. Man  stützt  sich  aber  dabei  nur  mit  gewissem  Recht 
auf  die  gleichen  Meinungen  der  Subjekte,  weil  schließlich 
die  Lebensbedingungen  ziemlich  gleich  sind.  Infolgedessen 
wird  uns  im  praktischen  Leben  eigentlich  nur  die  Abweichung 
von  dem,  was  „man"  sieht,  zum  Problem.  Tatsächlich 
beginnt  die  psychologische  Fragestellung  immer  erst  bei 
dem  Falschen.  Das  Richtige  muß  als  das  Außerpsycho- 
logische vorausgesetzt  werden.  So  setzt  etwa  die  Psy- 
chologie   des     binokularen    Sehens     die    Existenz     „eines" 


—  87  — 

Gegenstandes  im  Raum,  also  ein  Sehphänomen  als  richtig 
voraus. 

Die  Bestimmung  der  eigentlichen  Elemente  macht  aber 
gar  keine  Ausnahme.  Darum  kann  es  gar  kein  Spezial- 
phänomen  ,, Gleichhalten'4  geben,  das  man  erklären  kann. 
Denn  das  Erlebte  kann  gar  nicht  anders  bestimmt  werden 
als  durch  die  Gleichheit,  die  für  das  Subjekt  existiert.  Diese 
ist  die  einzige  Möglichkeit,  daß  überhaupt  ein  Zusammenhang 
im  Psychischen  besteht  und  ausgesagt  werden  kann.  Das 
Bewußtsein  ist  selbst  der  subjektive  Logos  als  historische 
Reihe. 

Dies  berührt  natürlich  auch  das  Problem  des  Begriffes. 
Es  ist  unlösbar  geworden,  da  man  es  als  Raumphänomen 
und  nicht  als  historisches  Phänomen  behandelt  hat.  Es  ist 
ganz  unmöglich,  von  dem  Begriff  zu  sprechen,  losgelöst  von 
dem  historischen  Subjekt.  Die  Elementarpsychologie  fragt 
danach,  was  im  Bewußtsein  ist.  Die  Antwort  kann  nur 
lauten :  eine  allgemeine  Weltbestimmtheit  oder  ein  allgemeiner 
Komplex  von  solchen.  Zum  Problem  aber  wird  der  Begriff 
nur  dadurch,  daß  man  antwortet:  psychische  Elemente. 
Dann  kann  man  freilich  nicht  umhin,  von  der  Indivi- 
dualität dieser  psychischen  Dinge  auszugehen.  Dann  wird 
das  Wiedererkennen  genau  so  problematisch  wie  der  Begriff, 
wie  aber  überhaupt  jeder  psychische  Zusammenhang.  Selbst- 
verständlich ist  das  Begriffsgefühl,  wie  so  oft  das  Gefühl 
überhaupt,  nur  ein  Lückenbüßer,  ein  asylum  ignorantiae. 
Nicht  die  Allgemeinvorstellung,  sondern  die  Individual- 
vorstellung  ist  ein  Nonsens,  denn  jede  Vorstellung  ist  Vor- 
stellung eines  Allgemeinen.  Wenn  man  behauptet,  daß  ein 
Element  „Rot"  im  Bewußtsein  ist,  so  behauptet  man  schon 
die  Existenz  einer  Allgemeinvorstellung,  und  eine  andere  ist 
auch  gar  nicht  möglich.  Nur  darf  man  sie  nicht  als  ein  Ding 
ansehen,  oder  die  erlebte  Weltbestimmtheit  als  ein  psychi- 
sches Element.  Denn  jedes  Ding  oder  Element  ist  individuell 
durch  den  Ort,  den  es  im  Raum  einnimmt.    Psychologisch 


—  88  — 

wird  aber  nicht  der  Teil  eines  Ortes,  sondern  der  einer  Zeit- 
reihe bestimmt,  nicht  was  in  einem  Raumausschnitt  existiert, 
sondern  was  das  historische  Subjekt  von  der  Welt  erlebt. 
In  einem  Zeitmoment  des  Bewußtseins  existiert  also  immer 
eine  Bestimmtheit,  die  allgemein  ist.  Mehr  aber  sagt  die 
Allgemeinvorstellung  nicht.  Auch  die  Vorstellung  eines 
individuellen  Menschens  ist  im  Bewußtsein  eine  Allgemein- 
vorstellung, ein  Komplex  von  Bestimmtheiten,  der  histo- 
risch anderen  früheren  gleich  ist.  Genau  so  ist  das  Wort 
als  akustisches  Erlebnis  eine  Allgemeinvorstellung,  ein 
historisch  wiederholbarer  Komplex  von  Bestimmtheiten. 
Wenn  man  behauptet,  daß  ein  Element  „Rot"  im 
Bewußtsein  ist,  so  ist  auch  ein  Element  „Dreieck"  im 
Bewußtsein.  Freilich  stelle  ich  mir  jederzeit  ein  Dreieck 
vor,  das  im  Raum  ein  bestimmtes  ist.  Ich  würde  aber 
auch  nicht  von  dem  Element  „Dreieck"  sprechen,  eben- 
so wenig  wie  von  dem  Element  „Rot".  Genau  so  wie 
ich  in  einem  Falle  von  der  Form  der  Fläche  abstrahiere, 
kann  ich  im  andern  von  der  Farbe  und  allem  andern  abstra- 
hieren und  nur  die  Weltbestimmtheit  „Dreieck"  herausheben. 
Das  Bild  auf  der  Netzhaut  ist  im  Raum  und  nicht  im  Be- 
wußtsein. Hier  sind  allein  jene  Bestimmtheiten,  die  ich  an 
einem  Raumgegenstand  wahrnehmen  und  unterscheiden 
kann,  und  dazu  gehört  in  logisch  gleicher  Weise  die  Farbe 
wie  die  Form.  Die  Bevorzugung  der  Qualitäten  als  Elemente 
ist  völlig  ungerechtfertigt,  wenn  auch  psychologisch  ver- 
ständlich. Denn  das  Dreieck  oder  das  Quadrat  als  psychi- 
sches Element  auszugeben,  wird  einem  allerdings  schwer 
fallen.  Wir  können  aber  das  Bewußtsein  überhaupt  nicht  aus 
individuellen  Elementen  bestehend  denken,  sondern  wir 
können  nur  die  wiederholt  erlebten  Bestimmtheiten  oder  Kom- 
plexe von  solchen  bezeichnen.  Damit  fällt  jede  Schwierig- 
keit für  den  Begriff  fort.  Er  ist  ja  kein  Ding,  das  im  Moment 
im  Bewußtsein  ist,  sondern  ich  beschreibe  mit  ihm  nur  den 
psychischen  Zusammenhang.   Wenn  ich  ein  Urteil  über  einen 


—  89  — 

Stuhl  abgebe  und  man  fragt  mich,  was  dabei  an  Inhalten  in 
meinem  Bewußtsein  war,  so  kann  ich  sagen:  neben  akusti- 
schen und  motorischen  Bestimmtheiten  auch  ein  Komplex 
von  optischen.  Man  wird  dann  sagen,  daß  immer  nur  ein 
individueller  Stuhl  in  meinem  Bewußtsein  sein  kann.  Wenn 
ich  ihn  als  Gegenstand  im  Raum  bestimme,  ist  er  freilich 
individuell,  aber  damit  bestimme  ich  eben  nichts  Psychi- 
sches. Will  ich  dies  bestimmen,  so  kann  ich  nur  allgemeine 
Bestimmtheiten  angeben.  Natürlich  ist  auch  die  bestimmte 
Größe  in  meinem  psychischen  Leben  eine  Allgemeinheit. 
Nun  wird  man  sagen,  daß  das  einfach  daran  liegt,  daß  ich, 
wenn  ich  überhaupt  beschreibe,  mich  nur  in  allgemeinen 
Begriffen  ausdrücken  kann,  daß  ich  also  die  sprachliche 
Benennung  mit  dem  wirklichen  Inhalt  des  Bewußtseins 
verwechsle.  Dies  beweist  aber  nur,  daß  man  das  Bewußtsein 
als  Raum  denkt.  Unsere  Erkenntnis  kann  nur  Bestimmt- 
heiten angeben,  die  wir  als  historische  Subjekte  erleben. 
Den  Stuhl  denken  wir  im  Raum  existierend.  Seine  Indivi- 
dualität existiert  für  das  denkende  Bewußtsein,  nicht  aber 
er  als  individueller  Gegenstand  im  Bewußtsein.  Im  Raum 
gibt  es  individuelle  Teile,  im  Bewußtsein  nicht.  Hier  gibt 
es  nur  Bestimmtheiten,  die  historisch  wiederholbar  sind, 
d.  h.  für  das  Bewußtsein  gleich  sind.  Nur  für  die  psycho- 
logische Erkenntnis  des  historischen  Bewußtseinszusammen- 
hanges existiert  der  Begriff  als  Gegenstand,  nicht  aber  als 
ein  Ding  an  sich.  Das  Denken  ist  an  sich  also  kein  Sonder- 
phänomen, keine  Vorstellung  plus  Begriffsgefühl.  Es  ist 
zwecklos,  darüber  zu  streiten,  ob  die  Ameise  oder  das  Pferd 
denkt  oder  nicht.  Denken  ist  nichts  weiter  als  der  logische 
Zusammenhang  des  individuellen  Bewußtseins,  daß  ich  näm- 
lich weder  von  dem.  Pferd  noch  von  dem  Menschen  etwas 
anderes  sagen  kann,  als  daß  die  gleichen  Bestimmtheiten  in 
der  Zeit  erlebt  werden.  Nur  aus  diesen  logischen  Zusammen- 
hängen heraus  kann  das  Psychische  verstanden  werden. 
Ein  Phänomen  „Denken"  gibt  es  von  diesem  Standpunkt  aus 


—  90  — 

noch  gar  nicht.  Erst  die  Erkenntnis,  die  Behauptung  einer 
spezifischen  Gegenständlichkeit  ist  etwas  Neues,  eine  Tat 
mit  einem  eigentümlichen  Strukturzusammenhang  des  Be- 
wußtseins, den  wir  „Meinen"  nennen.  Sie  ist  möglich  nur 
durch  die  an  sich  bestehenden  logischen  Zusammenhänge  des 
historischen  Bewußtseins,  durch  die  ich  sie  verstehe,  und  die 
zunächst  der  Gegenstand  der  Erkenntnis  sind.  Denn  zu- 
nächst erkennt  die  Monade  nur  ihre  Welt.  Sie  beurteilt 
nur  die  an  sich  bestehenden  logischen  Beziehungen  innerhalb 
ihres  Bewußtseins.  Sie  ist  Psychologe.  Ihre  Erkenntnis 
ist  subjektiv,  ihr  Gegenstand  ist  ihr  persönlicher  Bewußt- 
seinsinhalt oder  ihre  Welt.  Will  man  die  logischen  Bezie- 
hungen selber  erklären,  so  hört  jede  vernünftige  Frage- 
stellung auf.  Dies  würde  heißen:  erkennen  wollen,  ohne  zu 
erkennen.  Denn  die  logischen  Beziehungen  oder,  populär 
ausgedrückt,  die  Tatsache,  daß  ich  die  Gleichheit  zweier 
Dinge  bemerke,  ist  eine  Voraussetzung,  die  zur  Tat  der  Er- 
kenntnis wohl  erforderlich  ist.  Unsere  Erkenntnis  ist  Be- 
schreibung der  Welt,  und  das  Bewußtsein  ist  nun  einmal  der 
subjektive  Logos  selbst  und  kein  Raum.  Wäre  es  anders,  so 
könnten  wir  ebensowenig  den  Raum  wie  das  Bewußtsein 
erkennen;  denn  der  Logos  kann  nur  den  Raum  und  sich  selbst 
erkennen.  Die  Naturwissenschaft  beruht  auf  der  Erfahrung 
der  Subjekte.  Die  Psychologie  des  Bewußtseinsinhaltes  ist  die 
Selbsterkenntnis  der  erfahrenden  Subjekte.  Die  Erkenntnis 
erkennt  die  für  das  Bewußtsein  an  sich  bestehende  Gleichheit. 
Das  individuelle  Bewußtsein  ist  selbst  der  subjektive  Logos 
und  kein  Raum,  der  erst  durch  den  Logos  erkannt  wird. 
Die  Lehre  von  dem  Bewußtseinsinhalt  ist  also  die  Lehre 
von  dem  Erfahren  und  nicht  von  einem  Raum,  der  selbst 
erfahren  wird. 

Betrachten  wir  das  Denken  als  ein  psychologisches 
Problem,  so  können  wir  nichts  weiter  tun,  als  daß  wir  die 
Gedankenkette  logisch  verstehen.  Die  Psychologie  kommt 
also   dabei   über  das  naive  Verständnis  nicht  hinaus.     Sie 


—  91  — 

„ findet"  den  Zusammenhang  auf  dieselbe  Weise  wie  der 
naive  Mensch.  Sie  kann  ihn  hinterher  nur  theoretisch  falsch 
„darstellen",  nämlich  als  substanziellen  Zusammenhang. 
Es  ist  selbstverständlich,  daß  die  Psychologie  die  Wahrheit 
oder  Falschheit  nichts  angeht,  aber  mit  der  Ausschaltung  der 
logischen  Beurteilung  wird  das  Denken  nicht  plötzlich 
kausal  erklärbar.  Es  bleibt  .weiterhin  Tat,  nur  wird  diese 
nicht  vorn  Standpunkt  der  Objektivität  aus  bewertet  oder 
verglichen.  Wir  haben  das  Denken  aus  dem  Wissen  und  aus 
der  Gleichsetzung  der  Subjekte  heraus  zu  verstehen.  Dieses 
W'issen  ist  aber  psychologisch  eine  Summe  wiederholbarer 
Assoziationen.  Jede  neue  Erkenntnis  ist  eine  neue  Asso- 
ziation. Sehen  wir  von  der  Bildung  der  Synthese  und  ihrer  Be- 
deutung für  die  Objektivität  ab,  so  ist  jedes  deduktive 
Schließen  eine  Erinnerung,  eine  Verwertung  des  Wissens. 
Für  die  Psychologie  des  individuellen  Bewußtseins  bedeutet 
die  Synthese  nur  eine  wiederholbare  Assoziation.  Rein 
psychologisch  bedeutet  es  keinen  Unterschied,  ob  mich  das 
Radium  an  seine  Wirkung  erinnert  oder  an  den  Ort,  wo  ich 
es  zum  erstenmal  sah.  Zum  Schluß  auf  die  Folge  wird  die 
Erinnerung  nur  durch  die  Beziehung  zur  objektiven  Welt. 
Es  ist  daher  ganz  müßig  darüber  zu  streiten,  ob  auch  das 
Tier  denkt  oder  schließt.  Das  Denken  ist  kein  Sonder- 
phänomen, das  im  Bewußtsein  anwesend  ist.  Wir  bezeichnen 
mit  ihm  nur  den  logisch-historischen  Zusammenhang  des 
Bewußtseins.  Das  Tier  kann  genau  so  an  die  Folge  erinnert 
werden  wie  wir.  Ob  diese  Assoziation  der  wirklichen  Folge 
entspricht,  ist  kein  psychologischer  Gesichtspunkt  mehr. 
In  diesem  Sinne  ist  der  Schluß  nicht  mehr  ein  bloßer  Bewußt- 
seinszusammenhang, sondern  er  setzt  den  Willen  voraus, 
die  Wirklichkeit  zu  „erkennen".  In  diesem  Falle  existiert 
ein  Kriterium  der  Richtigkeit,  nämlich  ob  die  Vorstellung 
zur  Wahrnehmung  werden  kann.  An  sich  ist  das  Denken  nur 
ein  logischer  Zusammenhang  des  Bewußtseins,  das  Schließen 
nur  eine  Erinnerung.    Der  Syllogismus  ist  deshalb  niemals 


—  92  — 

eine  Neuerwerbung  des  Wissens,  sondern  nur  eine  Verwertung 
des  Wissens  dadurch,  daß  im  Moment  etwas  an  dem  Objekt 
bewußt  wird,  was  mir  unmittelbar  nicht  bewußt  ist.  In 
einem  ganz  tiefen  Sinne  hat  Plato  Recht,  wenn  er  die  mathe- 
matische Erkenntnis  eine  Erinnerung  nennt.  Sie  erfährt 
nichts  Neues,  sondern  sie  macht  sich  den  Raum  nur  bewußt. 
Der  praktische  Wert  der  Assoziation  liegt  darin,  daß  die 
Wirklichkeit  bewußt  werden  kann,  ehe  sie  eintritt.  Ist  dies 
der  Zweck  des  Denkens,  so  muß  die  Gedankenfolge  selber 
eine  Auswahl  unter  den  möglichen  Assoziationen  darstellen. 
Dann  nützt  nur  die,  die  der  objektiven  Wirklichkeit  ent- 
spricht. Die  schöpferische  Tat  liegt  in  der  Synthese,  die  zur 
wiederholbaren  Assoziation  wird,  und  in  der  Auswahl  der  Asso- 
ziation selbst.  Damit  aber  sind  wir  schon  über  den  Zusammen- 
hang des  Inhalts  hinausgeschritten.  Wir  haben  eine  neue 
Kategorie  zugrunde  gelegt,  die  wir  erst  rechtfertigen  müssen: 
die  Tat. 

Von  der  Logik  der  Naturerkenntnis  war  hier  mit  keinem 
Wort  die  Rede.  Darum  kann  von  einer  Verwechslung  des 
logischen  mit  dem  psychologischen  Problem  nicht  gesprochen 
werden.  Die  logischen  Probleme  liegen  in  den  Prinzipien 
der  Objektivierung  oder  des  Erfahrungsurteils  im  Gegensatz 
zum  Wahrnehmungsurteil.  Hier  sollte  nur  nachgewiesen 
werden,  daß  das  Denken  durch  Wahrnehmungsurteile  psycho- 
logisch verstanden  werden  kann  und  nicht  durch  Erfahrungs- 
urteile umgedacht  und  erklärt  werden  kann.  Das  bewußte 
Denken  ist  nichts  weiter  als  eine  Auswahl  unter  möglichen 
Assoziationen,  eine  gewollte  Assoziation,  und  weiterhin  wieder 
eine  Auswahl  unter  diesen  gewollten  Assoziationen. 


III.  Der  Wille. 

Wir  kommen  nun  zu  dem  wichtigsten  Teil  unserer 
Untersuchung,  zu  den  Grenzen  der  Kausalität.  Das  Willens- 
problem kann  kein  ethisches,   sondern  nur  ein  erkenntnis- 


—  93  — 

kritisches  sein.  Wir  werden  zu  beweisen  haben,  daß  der  Wille 
eine  notwendige  Kategorie  oder  Methode  der  historischen 
Vernunft  ist.  Wir  nehmen  keinen  Willen  wahr,  sondern  wir 
denken  etwas  als  Tat.  Wir  nehmen  kein  Leben  wahr,  sondern 
wir  denken  etwas  in  einem  historischen  Zusammenhang. 
Und  wenn  wir  dies  tun,  so  denken  wir  nicht  mehr  in  den 
Kategorien  des  Mechanismus.  Infolgedessen  behaupte  ich, 
daß  nicht  der  Newton  geboren  werden  muß,  der  uns  das 
Entstehen  des  Grashalms  erklärt,  sondern  der  Kant  der 
Biologie. 

Wir  zeigten,  daß  das  Assoziationsgesetz  in  keiner  Weise 
eine  Erklärung  sein  kann,  weil  wir  im  Psychischen  nicht  von 
der  Idee  der  Substanz  ausgehen  dürfen.  Bei  der  Betrach- 
tung des  Inhalts  können  wir  nur  die  subjektiven  Gleich- 
heiten zwischen  den  einzelnen  Bestimmtheiten  und  ihre 
Assoziationen  konstatieren.  Damit  ist  aber  ihre  Existenz 
in  der  Zeit  nicht  erklärt.  Dies  ergibt  sich  schon  daraus, 
daß  die  einzelnen  Bestimmtheiten  in  unzähligen  Assozia- 
tionen vorkommen  können,  und  daß  jeder  Eindruck  mehrere 
Bestimmtheiten  besitzt.  Infolgedessen  ist  die  wirklich 
wiederholte  Assoziation  nur  eine  von  vielen  Möglichkeiten. 
Aus  den  logischen  Beziehungen  mit  der  Vergangenheit  können 
wir  die  Wirklichkeit  der  Inhalte  nie  begreifen.  Mehr  als 
diese  kann  sich  aber  aus  der  Betrachtung  des  Inhalts  nicht 
ergeben.  Infolgedessen  muß  der  Grund  für  die  Wirklichkeit, 
wenn  dieser  überhaupt  erkennbar  sein  soll,  anderswo  als 
im  Inhalt  liegen.  Wir  stoßen  damit  auf  Faktoren,  die  die 
Psychologie  des  Bewußtseinsinhaltes  überhaupt  nicht  kennen 
kann,  auf  die  eine  Analyse  von  ihm  auch  gar  nicht  stoßen 
kann.  Es  wäre  aber  ein  Irrtum,  wenn  man  meinte,  daß  man 
mit  ihnen  nur  eine  Komponente  neben  dem  Assoziations- 
gesetz gefunden  hätte,  etwa  wie  das  Trägheitsgesetz  keine 
Bewegung  alleine  erklären  kann.  Es  handelt  sich  vielmehr 
um  etwas  schlechterdings  anderes  als  um  die  logischen  Be- 
ziehungen in  dem  Zeitsystem.    Nicht  Komponenten,  in  die 


—  94  — 

wir  die  Wirklichkeit  zerlegen,  stehen  in  Frage,  sondern  jetzt 
erst  stellen  wir  überhaupt  die  Frage  nach  dem  Grund  der 
psychischen  oder  historischen  Wirklichkeit. 

Diese  Frage  ist  aber  nicht  allein  bei  der  Vorstellung  am 
Platz,  sondern  genau  so  gut  bei  der  Wahrnehmung.  Für  die 
Natur  ist  der  Grund  der  historischen  Wirklichkeit  die  zeit- 
lose Substanz.  Wir  gehen  von  der  Idee  aus,  daß  es  eine 
Welt  gibt,  aus  der  nichts  verschwindet,  und  zu  der  nichts 
hinzukommt.  Alles  Neue  müßte  irgendwoher  kommen  und 
alles  Verschwundene  müßte  irgendwohin  gekommen  sein. 
Das  ist  die  logische  Konsequenz  des  Raumes.  Wie  man 
dieses  letzte  Sein  theoretisch  denkt,  ist  gleichgültig.  Es  kann 
in  einem  Moment  nicht  etwas  wirklich  sein,  was  nicht  seit 
Ewigkeiten  schon  wirklich  war.  Die  Konstruktion  dieser 
ewigen  Wirklichkeit  ist  das  Ziel  der  Naturerkenntnis.  Die 
Psychologie  kann  aber  nicht  von  der  Idee  einer  solchen 
Wirklichkeit  ausgehen,  weil  sie  nicht  den  Raum  als  Medium 
der  Existenz  ihres  Gegenstandes,  sondern  nur  als  Gegen- 
stand des  Erlebens  kennt.  Die  Naturwissenschaft  trennt  die 
Halluzination  von  der  Wahrnehmung.  Ihr  Kriterium  ist 
nichts  weiter  als  die  Feststellung,  ob  das  Erlebte  auch  vorher 
wirklich  war,  und  dieses  ,, Vorher"  muß  in  der  Idee  der 
ewigen  Existenz  münden.  Darum  ist  ihr  letztes  Problem 
die  Bewegung.  Wir  nehmen  keine  Bewegung  wahr,  sondern 
wir  denken  sie.  Gehen  wir  zurück  auf  den  letzten  Punkt  in 
der  Entstehung  unserer  Urteile,  so  existiert  eine  Reihe  von 
optischen  Eindrücken,  die  wir  als  das  Gesichtsbild  des 
fallenden  Steins  bezeichnen.  Diese  Reihe  besteht  im  Kant- 
schen  Sinne  aus  den  „datis  der  Sinnlichkeit".  Wenn  wir 
urteilen,  daß  der  Stein  gefallen  ist,  so  haben  wir  schon  eine 
Denkkonstruktion  vorgenommen.  Aus  der  unmittelbaren 
Zeitreihe,  in  der  der  Raum  selbst  nur  ein  Datum  ist,  haben 
wir  eine  Identität  in  der  Zeit  konstruiert  dadurch,  daß  wir 
sie  im  Raum  denken,  nämlich  den  Stein.  Nur  weil  wir 
aber     diese    Identität    denken,    existiert    für   uns    die    Be- 


—  95  — 

wegung,  nämlich  als  Ortsveränderung  dieser  Identität  in 
der  Zeit. 

Der  Naturwissenschaftler  muß  die  Welt  als  Bewegung 
denken,  wTeil  er  eine  zeitlose  Wirklichkeit  denken  will.  Wenn 
ich  auch  nur  in  zwei  Momenten  einen  Stein  als  existierend 
denke,  so  muß  ich  überhaupt  eine  Identität  des  Seins  in  der 
Zeit  denken.  Folglich  ist  die  Natur  Bewegung  des  Räum- 
lichen in  der  Zeit.  In  der  Psychologie  ist  aber  die  Zeit  keine 
Existenzform,  sondern  der  reale  Gegenstand.  Ein  bestimmter 
Moment  oder  Teil  dieses  Gegenstandes  kann  deshalb  nie  er- 
klärt werden,  weil  die  Erklärung  die  Existenz  in  der  Zeit 
schon  voraussetzen  müßte,  seine  ewige  Existenz  im  Raum, 
wodurch  sein  Dasein  am  bestimmten  Ort  erklärbar  wäre. 
Naturwissenschaftlich  muß  die  Zeit  selbst  als  eine  Existenz- 
form oder  als  eine  Bestimmungskoordinate  der  Ewigkeit 
selbst  angesehen  werden,  genau  wie  der  individuelle  Ort. 
Die  Zeitbestimmung  wäre  die  vierte  Dimension  der  formalen 
Bestimmtheiten  der  Phänomene  überhaupt,  die  genau  so 
wie  die  räumlichen  nur  relativ  bestimmbar  wäre.  Das 
Psychische  aber  existiert  als  Zeit,  nicht  in  der  Zeit.  Infolge- 
dessen ist  der  Moment  nicht  als  Wirklichkeit  „erklärbar". 
Was  momentan  existiert,  können  wir  nicht  denken  als  Be- 
wegung dorthin. 

Da  wir  nun  aber  im  Fall  der  Wahrnehmung  annehmen, 
daß  der  Inhalt  unserer  Erlebnisse  objektiv  existiert,  so 
hätten  wir  keinen  Grund,  eine  psychologische  Frage  an  die 
Wahrnehmung  zu  richten,  wenn  nicht  gerade  vom  Stand- 
punkt der  objektiven  Welt  aus  die  Wahrnehmung  selbst  schon 
eine  Möglichkeit  unter  vielen  wäre.  Alle  physiologischen 
Untersuchungen  der  Wahrnehmung  berühren  nicht  die 
psychologische  Erkenntnis.  Sie  sind  nur  Auseinander- 
setzungen des  Raumes  mit  dem  Raum,  um  die  objektive 
Welt  zu  konstruieren.  Ich  beschreibe  etwa  mein  Erlebnis: 
Ich  sehe  zwei  Stöße  Papier.  Man  wird  behaupten,  daß  diese 
zwei  Stöße  meiner  Wahrnehmung  gegeben  sind.    Ich  könnte 


—  96  — 

darunter  nichts  anderes  verstehen,  als  daß  ich  nichts  dafür 
kann,  daß  zwei  Stöße  im  Raum  sind.  Meint  man  diese 
Gebundenheit  an  die  Objektivität,  so  finde  ich  den  Aus- 
druck „gegeben"  berechtigt.  Sicherlich  aber  existieren  noch 
unendliche  Möglichkeiten  der  Bestimmung  dieses  Raum- 
ausschnitts. Bei  der  gleichen  Stellung  meiner  Augen  zu  dem 
als  konstant  angenommenen  Raumteil,  hätte  ich  noch  vieles 
andere  sehen  können,  etwa  daß  der  eine  Stoß  höher  ist  als 
der  andere,  daß  das  erste  Blatt  des  einen  beschrieben  ist, 
das  des  andern  nicht  usw.  Infolgedessen  kann  ich  sagen,  daß 
meine  Wahrnehmung  an  eine  Objektivität  gebunden  ist. 
Ich  erschaffe  nicht  die  Welt,  aber  die  Wirklichkeit  des  psychi- 
schen Moments  ist  nicht  erklärt  durch  die  Objektivität. 
Ich  zähle  nicht  alle  Gegenstände,  wenn  sie  auch  alle  nach 
irgend  einem  Gesichtspunkt  zählbar  sind.  Wenn  zwei 
Äpfel  da  sind,  so  habe  ich  das  nicht  bewirkt.  Ich  kann  auch 
nicht  drei  aus  ihnen  machen,  aber  daß  ich  zwei  Äpfel  sehe, 
ist  auch  nicht  bestimmt  durch  die  Objektivität.  Genau  so 
aber  verhält  es  sich  mit  allen  wahrgenommenen  Bestimmt- 
heiten. Eine  jede  Fläche  besteht  aus  einer  Unmenge  klei- 
nerer, die  durch  die  Farbe  unter  sich  verschieden  sind.  Mit 
Hilfe  eines  Mikroskops  kann  man  diese  Unterscheidung  noch 
weiter  fortsetzen.  Jeder  neuentdeckte  Unterschied  ist  eine 
Änderung  in  der  Zeitreihe  meiner  Erlebnisse.  Nehme  ich 
an,  daß  die  Welt  objektiv  konstant  geblieben  ist,  so  kann 
diese  Zeitreihe  nicht  durch  sie  allein  bestimmt  sein.  Ich  kann 
in  ihr  nicht  den  Grund  für  die  Verschiedenheit  meiner  Er- 
lebnisse entdecken.  Will  ich  also  diese  psychische  Wirk- 
lichkeit erkennen,  so  kann  ich  den  Grund  nur  in  das  Be- 
wußtsein selbst  versetzen.  Eine  andere  Möglichkeit  gibt  es 
nicht.  Die  Welt  im  Raum  bedeutet  nur  den  Inbegriff  der 
Möglichkeiten,  an  die  ich  in  meinem  Erlebnis  gebunden  bin. 
Der  Grund,  warum  eine  davon  wirklich  wird,  kann  nicht  in 
ihnen  liegen,  sondern  nur  in  mir.  Dies  nennen  wir  termino- 
logisch:   Die   Wirklichkeit   der   Möglichkeit   ist   meine   Tat. 


—  97  — 

Die  kritische  Naturwissenschaft  kennt  in  diesem  Sinne  nicht 
den  Begriff  der  Möglichkeit.  Von  unserm  Denken  aus  ist 
vielmehr  alles  möglich.  Wir  lernen  die  Natur  erst  durch 
Erfahrung  kennen.  Die  Möglichkeiten  werden  also  dadurch 
beschränkt,  daß  die  Wissenschaft  die  Wirklichkeit  konstruiert. 
Nach  dieser  Konstruktion  besteht  keine  Möglichkeit  mehr. 
Denn  durch  die  Wirklichkeit  wird  jeder  Zufall  ausgeschlossen. 
Psychologisch  ist  es  ein  Zufall,  daß  ein  Ziegelstein  vom  Dach 
fällt,  aber  nicht  naturwissenschaftlich.  Jeder  objektive  Ein- 
griff in  die  Zeitreihe  des  Lebens,  d.  h.  jede  Bedingtheit  durch 
die  kausale  Objektivität  ist  Zufall,  weil  es  keine  Tat  ist. 
Jede  Wahrnehmung  ist  Zufall,  soweit  und  weil  sie  kausal 
bedingt  ist.  Gerade  die  Wirklichkeit  der  Naturwissenschaft 
ist  für  die  Psychologie  nur  Möglichkeit.  Von  ihr  aus  ist  die 
Wirklichkeit  nicht  durch  die  objektive  Kausalität  begründet, 
sondern  nur  durch  das  Bewußtsein  selbst,  durch  die  Tat. 

Jede  Erkenntnis  ist  die  Begründung  einer  Wirklichkeit. 
Die  Naturwissenschaft  tut  dies  dadurch,  daß  sie  erklärt, 
durch  welche  zeitlosen  Beziehungen  oder  Gesetze  ewig 
existierende  Teile  in  diesem  Moment  gerade  an  dieser  Stelle 
sind.  Auch  die  psychologische  Erkenntnis  muß  eine  Wirk- 
lichkeit begründen.  Der  Weg  der  Naturwissenschaft  ist  ihr 
verschlossen,  denn  es  existiert  keine  psychische  Substanz, 
deren  momentane  Konstellation  in  der  Zeit  erklärbar  wäre. 
Das  Psychische  ist  vielmehr  der  Ablauf  der  Zeit  selbst. 
Kann  ich  aber  die  Wirklichkeit  nicht  aus  einer  anderen 
Wirklichkeit  ableiten,  keinen  substanziellen  Zusammen- 
hang zwischen  ihnen  konstatieren,  so  bleibt  dem  Denken 
nichts  anderes  übrig,  als  diese  Wirklichkeit  als  Schöpfung 
aus  dem  Nichts  zu  denken:    als  Tat. 

Auch  die  Elementarpsychologie  hat  dies  wohl  gesehen. 
Man  wird  mir  einwenden,  daß  ich  ziemlich  umständlich  von 
einer  längst  bekannten  Tatsache  gehandelt  habe,  nämlich 
von  der  Aufmerksamkeit  oder  der  Apperzeption.  Es  war 
aber  notwendig,  um  die  Auffassung  der  Apperzeption  seitens 

Strich,  Prinzipien.  7 


—  98  — 

der  Elementarpsychologie  widerlegen  zu  können.  Ihr  Fehler 
steckt  nämlich  darin,  daß  sie  die  Aufmerksamkeit  als  ein 
Phänomen  behandelt,  wie  sie  dies  ja  auch  mit  dem  Willen  tut. 
Sie  muß  die  Tatsache  wohl  anerkennen,  wie  sie  auch  nicht 
ohne  den  Ichbegriff  auskommt;  was  sie  aber  der  Theorie 
zuliebe  daraus  macht,  ist  das  Falsche.  Es  gibt  kein  Phä- 
nomen „Aufmerksamkeit",  das  momentan  da  ist  und  ver- 
schwindet, das  ich  etwa  in  der  Selbstbeobachtung  fest- 
stellen könnte.  Es  ist  auch  kein  Phänomen,  das  sehr  häufig 
oder  vielleicht  sogar  immer  im  Bewußtsein  da  wäre.  Es  gibt 
überhaupt  keinen  unaufmerksamen  Menschen.  Schon  diese 
Tatsache,  die  man  wohl  auch  schon  gesehen  hat,  sollte  zu 
denken  geben.  Der  zerstreute  Professor  ist  in  Wahrheit 
genau  so  aufmerksam  wie  jeder  Andere.  Spricht  man  von 
Graden  der  Aufmerksamkeit,  so  ist  er  wohl  der  Aufmerk- 
samste, der  sich  denken  läßt.  Beachtet  der  Schuljunge  die 
Soldaten  und  nicht  die  lateinische  Grammatik,  so  ist  er 
empirisch-psychologisch  nicht  unaufmerksam,  sondern  höch- 
stens vom  ethisch-pädagogischen  Standpunkt  aus.  Ebenso- 
wenig wie  es  aber  eine  Unaufmerksamkeit  gibt,  kann  es  eine 
Aufmerksamkeit  als  Phänomen  im  Bewußtsein  geben.  Was 
auch  immer  in  einem  Moment  erlebt  wird,  ist  von  der  ob- 
jektiven Welt  aus  nur  eine  von  vielen  Möglichkeiten. 
Wollen  wir  aber  die  psychische  Wirklichkeit  erkennen,  d.  h. 
einsehen,  warum  gerade  diese  Möglichkeit  wirklich  wurde, 
so  können  wir  nur  die  Auswahl  als  eine  Tat  des  Subjekts 
denken.  Wir  machen  sie  abhängig  von  der  Aufmerksamkeit, 
heißt  nichts  anderes  als:  wir  machen  sie  abhängig  von  dem 
historischen  Subjekt.  Es  gibt  keine  besondere  Wesenheit  Auf- 
merksamkeit, die  sich  im  Bewußtsein  befindet,  bewirkt  wird 
oder  selbst  bewirkt,  sondern  ich  kann  die  psychische  Wirk- 
lichkeit nur  als  Auswahl  unter  Möglichkeiten  erkennen. 
Diese  nennen  wir  Aufmerksamkeit.  Für  den  zerstreuten 
Professor  existiert  die  Möglichkeit,  den  Schirm  zu  apperzi- 
pieren,  von  der  objektiven  Welt  aus  genau  so  gut  wie  für 


—  99  — 

den  soliden  Bürger.  Wenn  diese  Möglichkeit  nicht  wirk- 
lich wird,  so  liegt  der  Grund  dazu  nicht  in  dem  Schirm, 
sondern  in  dem  Professor.  Er  hat  nicht  auf  ihn,  sondern  auf 
etwas  anderes  geachtet.  Unaufmerksamkeit  ist  eine  Be- 
urteilung seiner  Aufmerksamkeit,  nämlich  als  nicht  auf  das 
gerichtet,  worauf  sie  sein  sollte,  folglich  eine,  wenn  auch 
etwas  primitive,  jedenfalls  aber  ethische  Beurteilung  seines 
Tuns. 

Man  wird  hier  vielleicht  einwenden,  daß  die  Apper- 
zeption doch  von  der  objektiven  Welt  abhängt,  etwa  von  der 
Intensität  der  Empfindung.  Ohne  mich  auf  eine  Kritik 
dieser  Intensität  einzulassen,  möchte  ich  sagen,  daß  wir  die 
Intensität  nach  der  Apperzeption  bestimmen,  nicht  aber 
umgekehrt.  Es  fehlt  ja  vollkommen  jeder  Maßstab,  um  etwa 
einen  akustischen  und  einen  optischen  Reiz  nach  der  Intensi- 
tät zu  vergleichen,  wenn  wir  nicht  von  der  Apperzeption 
ausgehen.  Wir  nennen  die  akustischen  Eindrücke  der  Militär- 
musik intensiver  als  die  optischen  der  lateinischen  Grammatik, 
weil  die  Aufmerksamkeit  auf  die  ersten  abgelenkt  wird.  Ein 
Vergleich  der  Empfindungen  an  sich  ist  schlechterdings  un- 
möglich. Wo  er  aber  auch  möglich  ist,  nämlich  in  dem  System 
eines  Empfindungsgebietes,  ist  trotzdem  eine  Erklärung  der 
Apperzeption  dadurch  ausgeschlossen.  Es  ist  gar  nicht  wahr, 
daß  der  intensivste  Reiz  bemerkt  wird.  Das  Laboratoriums- 
experiment muß  hier  irreführen.  Wir  werden  noch  sehen, 
daß  das  Erlebnis  im  Laboratorium  eine  Ausnahme  und 
kein  vereinfachtes  elementares  Geschehen  im  Vergleich  zur 
Wirklichkeit  des  Lebens  bedeutet.  Was  der  Psychologe 
Übung  in  der  Selbstbeobachtung  nennt,  ist  nach  dieser 
Seite  hin  nur  die  Möglichkeit,  rein  persönliche  Einstel- 
lungen, etwa  im  Geschmack  und  den  Interessen,  zu  negie- 
ren und  sich  möglichst  objektiv  einzustellen.  Diese  Ausnahme- 
einstellung würde  es  verständlich  machen,  daß  die  Aufmerk- 
samkeit sich  auf  den  objektiven  Intensitätsunterschied 
richtet,  weil  man  von  der  speziellen  Qualität  möglichst  ab- 

7* 


—  100  — 

sehen  will.  Die  Aufmerksamkeit  ist  nur  dann  von  der  Inten- 
sität bestimmt,  wenn  sie  es  sein  will.  Nun  glaubt  man  viel- 
leicht, die  Aufmerksamkeit  durch  die  Gefühlsbetonung  der 
Empfindung  determinieren  zu  können.  Allein  damit  hat  man 
sich  gerade  auf  unsern  Standpunkt  gestellt.  Denn  diese 
Betonung  ist  ja  gerade  von  dem  subjektiven  Moment  der 
Einstellung  abhängig.  Wenn  wir  die  Aufmerksamkeit  als 
Tat  des  Subjekts  hinstellen,  so  schließen  wir  ihre  Begründung 
nicht  aus,  sondern  im  Gegenteil.  Wir  sagen  damit  nur, 
daß  sie  nicht  aus  der  objektiven  Welt  verständlich  ist.  Nun 
ist  die  Gefühlsbetonung  zweifellos  eine  rein  subjektive 
Eigenschaft  der  Empfindung,  und  ebenso  sicher  ist  es,  daß 
sie  auf  eine  persönliche  Einstellung  des  Subjekts  hinausläuft. 
Die  Psychologie  kann  nicht  alle  Gefühlsbetonungen,  die  wir 
als  Annehmlichkeit  und  Unannehmlichkeit  bezeichnen,  histo- 
risch verstehen.  Macht  man  aber  allgemein  die  Aufmerksam- 
keit von  der  Gefühlsbetonung  abhängig,  so  kommt  es  in  vielen 
Fällen  eben  darauf  an,  die  Gefühlsbetonung  abhängig  zu 
machen  von  dem  Subjekt.  Es  ist  geradezu  Pflicht,  hier  wie 
überall  möglichst  wenig  auf  den  Charakter  als  die  letzte 
Tatsache  zu  schieben,  in  der  wir  den  Grenzbegriff  der  psycho- 
logischen Erkenntnis  sehen  werden,  und  möglichst  viel 
individuell  historisch  zu  verstehen.  Tun  wir  das,  so  stoßen 
wir  auf  eine  historisch  entstandene  und  verständliche  Ten- 
denz oder  Determiniertheit  des  Subjekts.  Wenn  die  Auf- 
merksamkeit allgemein  von  der  Gefühlsbetonung  der  Er- 
lebnisse abhängen  soll,  so  ist  sie  deswegen  nicht  durch  das 
Erlebte  determiniert,  sondern  umgekehrt  ist  die  Gefühls- 
betonung determiniert  durch  die  Tendenz  des  Subjekts. 
Wir  würden  also  auch  hier  in  einen  Zirkel  geraten.  Man 
schneidet  das  Problem  willkürlich  ab,  wenn  man  die 
Aufmerksamkeit  als  Folge  eines  Gefühlselementes  auffaßt, 
das  seinerseits  kausal  erregt  worden  ist.  Wir  haben  vielmehr 
die  Gefühlsbetonung  ebenso  aus  der  subjektiven  Einstellung 
zu    verstehen    wie   die  Aufmerksamkeit   selbst.     Es  ist  un- 


—  101  — 

möglich,  die  Aufmerksamkeit  durch  ein  objektives  Gesetz 
zu  beschränken.  Wir  verstehen  es  genau  so  gut,  wenn  sie 
sich  auf  das  Neue,  Ungewöhnliche,  Unerwartete  richtet,  wie 
auf  das  Bekannte.  Es  sprechen  sich  darin  Verschiedenheiten 
der  Individuen,  ihrer  Willenstendenzen  aus. 

Die  Aufmerksamkeit  kann  niemals  etwas  selbst  er- 
klären. Es  wäre  dies  wieder  so,  wie  wenn  der  Physiker  die 
Phänomene  durch  das  Kausalitätsgesetz  für  erklärt  hielte. 
Die  Apperzeption  ist  keine  Wesenhaftigkeit  im  Bewußtsein, 
die  etwas  bewirken  könnte.  Sie  ist  nur  ein  Prinzip,  durch 
das  man  jede  psychische  Wirklichkeit  bestimmen  muß,  denn 
sie  ist  eine  Idee  a  priori  der  psychologischen  Vernunft.  Das 
Problem  der  Psychologie  kann  nur  das  Spezielle  sein,  was 
die  Wirklichkeit  begreiflich  macht,  wie  das  spezielle  Natur- 
gesetz die  Natur  erklärt.  Und  dieses  Spezielle  kann,  wie  wir 
noch  sehen  werden,  nichts  anderes  sein  als  eine  bestimmte 
Willensrichtung  des  Individuums.  Sie  ist  die  historische 
Analogie  zu  dem  zeitlosen  Naturgesetz,  nicht  aber  ein  Phä- 
nomen, das  selbst  durch  ein  Gesetz  erklärbar  wäre. 

Unsere  Ausführungen  beziehen  sich  aber  genau  so  gut  auf 
die  Vorstellung.  Wie  die  Wahrnehmung  nicht  durch  die  objek- 
tive Welt  allein  bestimmbar  ist,  ist  die  Vorstellung,  wie  wir  ge- 
zeigt haben,  nicht  durch  die  Assoziation  erklärt.  Es  existieren 
eine  unendliche  Anzahl  von  Assoziationen,  und  zwar  im  glei- 
chen Sinne  unbewußt  wie  die  Palme  am  Nil  für  mich  in 
diesem  Moment.  Ein  jeder  Eindruck  hat  eine  Mehrheit  von 
Bestimmtheiten,  und  jede  dieser  Bestimmtheiten  ist  mit 
einer  Unzahl  von  anderen  zusammengewesen.  Die  beschrei- 
bende Erkenntnis  stellt  zunächst  fest,  an  welche  Bestimmt- 
heit angeknüpft  wurde,  oder  wie  man  zu  sagen  pflegt,  das 
reproduktive  Element,  sodann  die  mit  ihr  zusammenge- 
wesenen Bestimmtheiten  oder  die  reproduzierten  Elemente. 
Dann  aber  beginnt  erst  das  psychologische  Problem.  Bis 
jetzt  hat  man  nur  gesagt,  daß  sich  eine  Assoziation  wieder- 
holt hat.    Wer  das  für  eine  Erklärung  hält,  der  müßte  als 


—  102  — 

Physiker  das  Fallen  des  Steins  dadurch  für  erklärt  halten, 
daß  es  im  Raum  oft  vorkommt.  Gerade  den  wirklichen 
Moment  gilt  es  zu  begreifen.  Ist  er  in  der  Natur  bestimmt  als 
Bewegung,  so  kann  er  psychologisch  nur  als  Tat  bestimmbar 
sein,  denn  es  existiert  keine  psychische  Wirklichkeit,  keine 
Konstellation,  die  durch  Bewegung  in  eine  andere  übergeht. 
Das  Problem  lautet:  Warum  wurde  gerade  diese  Bestimmtheit 
zum  reproduktiven  Element,  und  warum  wurden  gerade  diese 
Bestimmtheiten  reproduziert  ?  Die  allgemeine  Antwort  lautet 
darauf:  Der  Grund  dazu  liegt  in  dem  Subjekt.  Die  Wirk- 
lichkeit ist  seine  Tat.  Damit  aber  ist  noch  nichts  erkannt, 
wie  durch  das  Gesetz,  daß  die  momentane  Wirklichkeit  der 
Natur  aus  einer  Bewegung  entstanden  ist,  noch  nichts  er- 
kannt ist.  Natürlich  handelt  es  sich  wieder  um  das  Prinzip 
der  Apperzeption,  der  diesmal  nicht  die  Aussenwelt  als  Mög- 
lichkeit gegenübersteht,  sondern  alle  möglichen  Asso- 
ziationen. Erst  als  Prinzip  des  Denkens  bekommt  also  die 
Aktualität  einen  Sinn,  nicht  aber  durch  die  bloße  Benennung 
des  psychischen  Objekts.  Eine  bestimmte  Wlllensrichtung 
macht  die  Wirklichkeit  verständlich,  diese  ist  das  Gesetz 
im  Individualsystem.  Allgemeine  inhaltliche  Gesetze  in  der 
psychischen  Welt  sind  logisch  unmöglich. 

Bevor  wir  aber  über  diesen  Willen  als  Prinzip  der  psycho- 
logischen Erkenntnis  handeln,  womit  schon  gesagt  ist,  daß 
wir  seine  Auflösung  in  Elemente  für  unmöglich  halten, 
müssen  wir  noch  die  Körperhandlung  logisch  analysieren. 
Dies  Problem  würde  letzten  Endes  zu  einer  Erkenntnis- 
kritik der  Biologie  führen,  die  ich  aber  im  Zusammenhang 
mit  einer  Kritik  des  Darwinismus  zum  Gegenstand  einer 
späteren  Spezialuntersuchung  zu  machen  gedenke,  und  von 
der  hier  nur  das  Allerwenigste  gesagt  werden  kann. 

Es  ist  von  vornherein  klar,  daß  unser  Problem  gleich- 
zeitig ein  biologisches  und  ein  psychologisches  ist.  Unsere 
Behauptung  ist  die,  daß  es  sich  beide  Male  um  dieselbe 
Betrachtungsweise  handelt,  nämlich  um  die  historische. 


—  103  — 

Es  wäre  eine  Torheit  der  Philosophie,  wenn  sie  der 
Biologie  Vorschriften  machen  würde,  etwa  die,  daß  sie  ihrer 
Erkenntnis  nicht  die  Prinzipien  des  Mechanismus  zugrunde 
legen  darf.  Dieses  Recht  steht  der  Philosophie  gar  nicht  zu, 
weil  es  sich  gar  nicht  begründen  läßt.  Die  Erkenntniskritik 
kann  vielmehr  nur  aufzeigen,  ob  die  Biologie  auf  dem  Mechanis- 
mus beruht  oder  nicht.  Die  Wissenschaft  muß  dabei  als  eine 
bestehende  Erkenntnis  vorausgesetzt  werden.  Ebensowenig 
aber  existiert  für  den  Philosophen  irgend  eine  logische  Not- 
wendigkeit, die  ihn  zu  der  Forderung  zwänge,  daß  die  Biologie 
mechanistisch  orientiert  sein  muß.  Allerdings  muß  die 
Raumwelt,  solange  es  geht,  mechanistisch  erklärt  werden. 
Daß  dieses  aber  restlos  möglich  ist,  wäre  ein  unhaltbares 
Dogma.  Die  Behauptung  der  Biologie,  daß  sie  mechanisti- 
sche Naturwissenschaft  ist,  daß  sie  nur  Ursachen  und  Ge- 
setze anerkennt,  ist  noch  kein  Beweis.  Die  Erkenntnis- 
kritik kennt  nur  die  Taten  des  Biologen  und  nichts  von  dem, 
wie  er  sie  auslegt.  Sie  hat  nur  die  logischen  Prinzipien  seiner 
tatsächlichen  Erkenntnis  zu  untersuchen.  Von  diesem 
Standpunkt  aus  kann  man  beweisen,  daß  die  Biologie  nicht 
überall  mechanistisch  denkt,  wenn  sie  es  auch  vielleicht  selbst 
glaubt.  Man  kann  sogar  sagen,  daß  es  kein  einziges  wirk- 
lich biologisches  Problem  gibt,  das  von  ihr  mechanistisch 
gedacht  wird.  Das  scheint  nun  freilich  auf  einen  Wort  streit 
hinauszulaufen,  was  ,, wirklich"  biologisch  ist  und  was  nicht. 
Allein  dies  läßt  -sich  erkenntniskritisch-logisch  feststellen. 

Es  ist  für  den  Chemiker  gleichgültig,  ob  ein  Verdauungs- 
prozeß sich  im  Magen  abspielt  oder  in  der  Retorte.  Beidemal 
handelt  es  sich  um  Chemie.  Es  ist  nun  vollkommen 
gleichgültig,  ob  man  den  Vorgang  dem  Worte  nach  zur 
Biologie  rechnet  oder  nicht.  Allein  man  kann  mit  gutem 
Recht  behaupten,  daß  man  logisch  keine  biologische,  sondern 
eine  chemische  Untersuchung  angestellt  hat.  Nun  sagt  man 
wohl,  daß  die  mechanistische  Biologie  nur  physikalische 
und  chemische  Prozesse  kennt.    In  Wahrheit  aber  behauptet 


—  104  — 

man  damit,  daß  es  keine  Sonderwissenschaft  „Biologie", 
sondern  nur  Chemie  und  Physik  gibt.  Nur  scheinbar  handelt 
es  sich  dabei  um  einen  bloßen  Wortstreit.  Von  hier  aus  ist 
vielmehr  eine  kritische  Auseinandersetzung  möglich. 

Daß  alle  wahrnehmbaren  Phänomene  im  Raum  Gegen- 
stand der  mechanistischen  Erkenntnis  sind,  nämlich  von 
Chemie  und  Physik,  läßt  sich  kritisieren.  Ob  sie  es  sein 
sollen,  oder  ob  sie  es  logisch  sein  müssen,  interessiert  uns 
nicht,  weil  das  eine  falsche  und  darum  unlösbare  Frage  ist. 
Ob  sie  es  sind,  darauf  allein  kommt  es  an,  ob  es  eine  Wissen- 
schaft gibt,  die  Erkenntnis  ist,  ohne  daß  sie  Chemie  oder 
Physik  ist.  Und  diese  Wissenschaft,  die  sich  als  tatsächlich 
existierende  beweisen  läßt,  ist  die  Biologie.  Darum  sage  ich: 
Nicht  die  Biologie  läßt  sich  in  Physik  und  Chemie  auflösen, 
sondern  physikalische  und  chemische  Probleme  sind  keine 
biologischen.  Ob  man  sie  dem  Namen  nach  dazu  rechnet, 
ist  gleichgültig.  Auf  den  logischen  Unterschied  kommt  es 
an.  Die  Frage  lautet  nur:  Gibt  es  eine  Wissenschaft  „Bio- 
logie" ?  Haben  wir  das  gezeigt,  so  ist  damit  gesagt,  daß  sie 
nicht  Chemie  oder  Physik  ist,  denn  sonst  wäre  sie  keine 
Spezialwissenschaft. 

Man  wird  mir  aber  vielleicht  einwenden:  Empirisch 
kennt  man  nur  Gegenstände  im  Raum,  folglich  kann  man 
niemals  beweisen,  daß  diese  Gegenstände  nicht  Gegenstände 
von  Chemie  oder  Physik  als  der  mechanistischen  Erkenntnis 
sind.  Dies  beruht  aber  auf  einem  Irrtum  der  empiristischen 
Erkenntnistheorie.  Es  läßt  sich  beweisen,  daß  der  Gegen- 
stand der  Biologie  nicht  im  Raum  existiert,  sondern  in  der 
Zeit.  Das  Paradoxe  schwindet,  wenn  man  sagt:  nicht  im 
Räume  des  Mechanismus.  Man  kann  es  aber  auch  anders 
ausdrücken:  Der  Gegenstand  der  Biologie  unterscheidet  sich 
von  dem  der  mechanistischen  Naturwissenschaft  nicht  durch 
einen  wahrnehmbaren  Unterschied  der  Körper  im  erlebten 
Raum,  sondern  nur  durch  das  Prinzip,  in  dem  er  gedacht 
wird.    Als  Empiriker  ist  man  gewohnt  zu  glauben,  daß  nur 


—  105  — 

der  wahrgenommene  Unterschied  existiert,  so  daß  es  schwer 
begreiflich  sein  wird,  wenn  ich  sage:  der  Unterschied  der 
Gegenstände  „Leben"  und  „Tod"  liegt  nur  in  dem  Denken. 
Man  hat  auch  Kant  eine  Absurdität  vorgeworfen,  als  er 
sagte,  daß  das  Denken  erst  die  Kausalität  in  der  Welt  hervor- 
bringt. Der  große  Fehler  von  ihm  ist  der  gewesen,  daß  er 
dies  für  das  Leben  nicht  im  selben  Sinne  nachgewiesen  hat. 
Vielleicht  wird  seine  Behauptung  an  Klarheit  gewinnen, 
wenn  man  die  Kausalität  gerade  als  Korrelat  zum  Leben 
begreift.  Auch  das  Wahrnehmungsurteil  ist  ein  Urteil,  und 
als  solches  Erkenntnis.  In  seinem  Unterschied  vom  Er- 
fahrungsurteil drückt  sich  der  Gegensatz  der  reinen  und 
der  historischen  Vernunft  aus,  der  bei  dem  Problem  von 
Leben  und  Tod  wiederkehrt. 

Ich  sagte:  Erst  durch  das  Denken  entsteht  der  Unter- 
schied von  Leben  und  Tod.  Jeder  Schuljunge  aber  wird  mir 
erwiedern,  daß  mein  Denken  keine  Leiche  zum  Leben  er- 
wecken kann.  Das  habe  ich  aber  auch  nicht  behauptet. 
Ich  weiß  auch  sehr  gut,  daß  ich  durch  meine  Wahrnehmung 
bemerke,  ob  etwas  lebendig  oder  tot  ist.  Ich  sage  nicht, 
daß  ich  Körper  lebendig  machen  kann  oder  ohne  Wahrneh- 
mung weiß,  ob  ein  Körper  lebendig  ist.  Meine  Wahrnehmung 
ist  aber  ein  Indizium  dafür,  wie  ich  zu  denken  habe.  Die 
Puppe  bei  E.  Th.  A.  Hofmann  muß  offenbar  genau  so  „aus- 
gesehen" haben,  daß  man  sie  für  lebendig  halten  konnte. 
Schließlich  „sah"  man  wohl,  daß  sie  nicht  lebendig,  sondern 
eine  Maschine  war;  man  „sah",  daß  man  falsch  „gedacht" 
hatte.  Wenn  ich  behaupte,  daß  ich  auf  ein  Leben  schließe, 
so  schließe  ich  nicht  mehr  auf  einen  wahrnehmbaren  Unter- 
schied der  Körper,  sondern  nur  auf  eine  Art,  die  Phänomene 
denken  zu  müssen.  Der  Unterschied  zwischen  Leben  und  Tod 
besteht  darin,  daß  ich  das  eine  Mal  den  Körper  als  Raumteil 
denke,  als  Teil  der  allgemeinen  Substanz,  das  andere  Mal 
aber  als  einen  Zeitteil,  als  etwas,  was  als  identische  Einheit 
in  der  Zeit  existiert,  als  Form,  die  die  allgemeine  Substanz 


—  106  — 

eingeht,  als  historische  Einzelsubstanz,  als  Subjekt,  d.  h. 
als  Organismus.  Man  kann  den  Begriff  des  Sterbens  nicht 
anders  fassen,  als  daß  eine  Zeitform  aufhört  und  der  Körper 
wieder  Substanz  wird.  Es  ist  aber  klar,  daß  dieser  Unter- 
schied in  nichts  anderm  liegt  als  in  der  Art  zu  denken. 
Faßt  man  den  Unterschied  so,  dann  sind  wir  es  gerade,  die 
den  ,, realen"  Gegensatz  zwischen  Leben  und  Tod  anerkennen. 
Denn  die  Behauptung  des  Mechanisten  ist  die,  daß  der 
Unterschied  nur  scheinbar  existiert,  daß  ihn  die  Wissen- 
schaft nicht  anerkennen  darf.  Nicht  das  Leben  ist 
mechanistisch  zu  erklären,  sondern  die  Wissenschaft  kennt 
dann  keinen  Unterschied  zwischen  Leben  und  Tod.  Er 
ist  nur  ein  Trug  der  Sinne.  Das  ist  seine  Behauptung. 
Es  gibt  nur  Chemie  und  Physik  und  keinen  Spezialgegenstand 
„Leben".  Das  naive  Denken  irrt  sich,  wenn  es  glaubt,  daß 
ein  Unterschied  besteht  zwischen  einer  Leiche  und  dem  leben- 
den Menschen.  Beides  sind  nur  Körper,  deren  Veränderungen 
chemisch  und  physikalisch  zu  erklären  sind. 

Die  Frage,  ob  das  Leben  chemisch  oder  physikalisch  zu 
erklären  ist,  ist  also  widersinnig.  Es  kommt  nur  darauf  an,  ob 
es  überhaupt  einen  realen  Gegensatz  zwischen  Leben  und 
Tod  gibt,  einen  Gegensatz,  den  das  Denken  anerkennen  muß, 
weil  er  real  existiert.  Aber  umgekehrt  existiert  nur  das 
real,  was  das  Denken  anerkennen  muß.  Ich  nehme  wahr 
und  halluziniere  nicht,  wenn  das  Denken  die  Wirklichkeit 
des  Gegenstandes  anerkennen  muß.  Braucht  mein  Denken 
keinen  Gegensatz  zwischen  Leben  und  Tod  anzuerkennen, 
kommt  es  aus,  wenn  beides,  der  Organismus  und  die  Leiche, 
nur  als  stetige  Veränderungen  der  Substanz  aufgefaßt  wer- 
den, die  durch  Chemie  und  Physik  erklärbar  sind,  dann 
existiert  für  die  Wissenschaft  kein  Gegensatz,  dann  ist  er 
ein  Irrtum  des  naiven  Menschen.  Logisch  wäre  diese  Ansicht 
nicht  zu  widerlegen.  Nicht  die  Logik,  sondern  die  Natur- 
wissenschaft entscheidet  darüber.  Der  naive  Mensch  irrt 
sich  über  so  vieles,  warum  sollte  er  sich  nicht  auch  darin 


—  107  — 

irren  ?  Die  Wahrheit  findet  die  Naturwissenschaft.  Findet 
sie,  daß  es  keinen  Unterschied  gibt,  so  haben  wir  uns  geirrt. 
Irren  wir  uns  aber  nicht,  so  kann  das  nur  heißen,  daß  die 
Wissenschaft  ihn  anerkennt.  Tut  sie  dies  aber,  so  leugnet 
sie,  daß  Chemie  und  Physik  alle  Erscheinungen  im  Raum 
erklären  können.  Nur  dadurch,  daß  wir  den  Unterschied 
in  dem  Denken  fassen,  ist  seine  Realität  verbürgt,  —  wenn 
nämlich  der  Unterschied  des  Denkens  notwendig  ist.  Not- 
wendig ist  er  aber  nur  dann,  wenn  wir  ohne  ihn  nicht  alle 
Erscheinungen  im  Raum  wissenschaftlich  erkennen  können. 
Man  kann  nicht  die  Realität  des  Unterschiedes  praktisch 
anerkennen  und  sie  in  der  Wissenschaft  leugnen.  Behaupte 
ich  aber,  daß  der  Mechanismus  die  Erscheinungen  im  Raum 
restlos  erklären  kann,  so  heißt  das  nichts  anderes,  als  daß  der 
Unterschied  zwischen  Leben  und  Tod  nicht  besteht,  oder 
—  und  dies  ist  die  letzte  Möglichkeit,  —  man  steht  auf  dem 
Standpunkt  des  unkritischen  Vitalismus.  Gibt  man  den 
Unterschied  zwischen  dem  lebendigen  Organismus  und  einer 
Leiche  als  realen  zu  und  behauptet  trotzdem,  daß  beide 
mechanistisch  erklärbar  sind,  so  gibt  es  keine  andere  Mög- 
lichkeit, als  daß  man  den  Unterschied  in  einem  Qualitäts- 
unterschied im  Raum  sieht,  daß  man  einen  Lebensstoff  im 
Raum  anerkennt.  Die  exakte  Biologie  tut  das  nicht,  wohl 
aber  unsere  exakten  Psychologen,  wenn  sie  von  der  Kausali- 
tät des  Willens  sprechen.  Dieser  Voluntarismus  steht  völlig 
auf  einer  Stufe  mit  dem  unkritischen  Vitalismus.  Der 
Mechanismus  kennt  keinen  andern  Unterschied  als  den  der 
Qualität  des  Stoffes.  Erkennt  er  also  den  realen  Unterschied 
zwischen  Leben  und  Tod  an,  so  ist  damit  eo  ipso  gesagt, 
daß  es  für  ihn  im  Raum  neben  andern  Stoffen  auch  einen 
Lebensstoff  gibt.  Gerade  dies  will  er  aber  bekämpfen,  und 
in  diesem  Kampfe  bin  ich  völlig  auf  seiner  Seite.  Besteht 
aber  überhaupt  ein  Unterschied,  so  kann  er  nur  in  den 
Prinzipien  des  Denkens  liegen.  Ob  eine  Erkenntnis  der  Welt 
ohne  die  Unterscheidung  möglich  ist,   haben  wir  nicht  zu 


—  108  — 

untersuchen.  Wir  können  nur  sagen,  daß  es  heute  eine 
Wissenschaft  gibt,  die  auf  ihm  beruht:  nämlich  die  Biologie, 
und  daraus  ergibt  sich  die  logische  Folgerung,  daß  die  Bio- 
logie nicht  mechanistisch  denkt,  falls  sie  nicht  unkritischer 
Vitalismus  ist.  Die  Biologie  hat  nur  dann  eine  Berechti- 
gung, wenn  sich  das  Leben  oder,  wie  wir  noch  sehen  werden, 
der  Wille  als  Prinzip  a  priori  der  Vernunft  nachweisen  läßt, 
und  zwar  als  notwendiges  Prinzip  der  historischen  Vernunft. 
Der  Unterschied  zwischen  Leben  und  Tod  ist  nur  real,  wenn 
sich  Wille  und  Kausalität  als  die  notwendigen  Prinzipien 
der  Vernunft  überhaupt  nachweisen  lassen,  wenn  wir  nicht 
vom  unkritischen  Monismus  ausgehen,  sondern  von  dem 
Dualismus  der  historischen  und  der  reinen  Vernunft.  Er 
allein  kann  den  Gegensatz  begründen,  nur  dadurch  aber  ist 
er  wirklich  und  kein  naiver  Irrtum.  Wir  werden  zu  beweisen 
haben,  daß  die  Wissenschaft,  die  mit  den  Begriffen  Organis- 
mus, Entwicklung,  Vererbung,  Anlage,  Spontaneität,  Reiz, 
Reaktion  usw.  arbeitet,  eo  ipso  nicht  mechanistisch  denkt, 
sondern  historisch.  Auf  diesen  Dualismus  kommt  alles  an. 
Der  Gegensatz  zwischen  Organismus  und  Körper  ist 
nicht  der  Wahrnehmung  gegeben,  sondern  er  bedeutet 
ein  anderes  Denken.  Behauptet  man,  daß  es  nur  „ein" 
Denken  gibt,  nämlich  die  reine  Vernunft,  so  gibt  es  keinen 
besonderen  Gegenstand  „Organismus",  sondern  Körper  ist 
Körper.  Ich  wüßte  nicht,  warum  die  Biologie  den  fallenden 
Stein  von  ihrer  Betrachtung  ausschlösse.  Nun  meint  man 
vielleicht,  daß  wir  Unterschiede  der  Körper  wahrnehmen, 
daß  wir  etwa  bei  einem  Teil  spontane  Bewegungen  und  Reak- 
tionen auf  Reize  bemerken.  Aber  dies  ist  ein  ungeheurer 
Irrtum.  Zur  spontanen  Bewegung  und  zur  Reaktion  wird 
etwas  nur  durch  das  Denken.  Eine  Spontaneität  kann  man 
nicht ,, sehen",  sondern  man  kann  nur  eine  Bewegung  als  spon- 
tan oder  —  ich  suche  vergebens  nach  einem  andern  Wort  — 
als  mechanistisch  denken.  Nur  durch  diesen  Gegensatz 
bekommt    die    Spontaneität    überhaupt    einen    Sinn.      An 


—  109  — 

sich,  d.  h.  von  der  Wahrnehmung  aus,  besteht  nicht  der 
geringste  Unterschied,  ob  eine  Fliege  vom  Windstoß  fort- 
getragen wird,  oder  ob  sie  selbst  fliegt.  Im  Raum  nehme  ich 
nur  relative  Ortsveränderungen  wahr.  Zur  spontanen  Be- 
wegung wird   diese  erst  durch  das  Prinzip  des  Denkens. 

Wir  sahen,  daß  auch  eine  Bewegung  im  Raum  nicht  wahr- 
genommen wird,  daß  auch  sie  erst  durch  das  Denken  zustande 
kommt.  Wenn  ich  sage:  ich  sehe  die  Bewegung  einer  Kugel, 
so  ist  der  Ausdruck  logisch  falsch.  Sehen  könnte  ich  höch- 
stens eine  Folge  von  verschiedenen  optischen  Inhalten; 
einige  Flächen  mögen  konstant  geblieben  sein,  die  Form  und 
auch  die  Farbe  anderer  hat  sich  im  Laufe  der  Zeit  verändert. 
Zum  Schluß  ist  etwa  der  optische  Inhalt,  der  vorher  links 
war,  verschwunden  und  rechts  ein  neuer  entstanden.  Dies 
habe  ich  gesehen.  (Das  ist  zwar  schon  nicht  ganz  richtig, 
aber  im  Moment  kommt  es  auf  eine  Korrektur  nicht  an.) 
Die  Bewegung  einer  Kugel  habe  ich  auf  keinen  Fall  gesehen, 
sondern  gedacht.  Dies  heißt  nicht  etwa,  daß  ich  die  Be- 
wegung nur  glaube;  ich  weiß  das  vielmehr  genau  so  gut 
wie  jeder  andere.  Ich  will  damit  nur  ausdrücken,  daß  ich 
sie  nicht  „sehe".  Ob  ich  nämlich  feststelle,  daß  eine  und 
dieselbe  Kugel  jetzt  hier  und  in  einem  andern  Zeitmoment 
dort  war,  ist  ein  Unterschied,  den  ich  in  dem  Gegenstand  der 
Wahrnehmungen,  nämlich  jener  Reihe  von  Farbflecken, 
nicht  finde.  Nun  kenne  ich  keine  anderen  Worte,  um  diesen 
Unterschied  auszudrücken,  als  Denken  und  Wahrnehmung. 
Ich  glaube  aber  auch  nicht,  daß  diese  Worte  in  der  Umgangs- 
sprache einen  andern  Sinn  haben.  Folglich  entsteht  erst 
durch  das  Denken  die  Bewegung,  nämlich  für  mich.  Damit 
will  ich  sagen,  daß  mein  Denken  die  Kugel  nicht  in  Bewegung 
setzt.  Aber  daß  ich,  wo  doch  bloß  jene  Veränderung  von 
Farbflecken  als  Bewußtseinsinhalt  existiert,  die  Bewegung 
einer  in  der  Zeit  identischen  Kugel  behaupte,  kann  nur  das 
Werk  meines  Denkens  sein.  Diese  Kugel  und  ihre  Bewegung 
sind  von  mir  konstruiert,  um  jene  Reihe  erklären  zu  können. 


—  110  — 

Die  Bewegung  ist  die  erste  Grundhypothese  des  Natur- 
denkens. Nur  jene  Reihe  ist  als  ,, Datum  der  Sinnlichkeit*' 
gegeben.  Würde  ich  sie  aber  als  Wahrnehmungen  im  Urteil 
„bestimmen",  so  wäre  dies  schon  wieder  mein  Werk.  Nun 
nehme  ich  an,  daß  ich  eine  Ameise  kriechen  sehe.  Was  ich 
dabei  sehe,  sind  wieder  nur  eine  Reihe  von  Farbflecken. 
Der  erste  Schluß  ist  also  der:  ich  denke  oder  konstruiere 
aus  jener  Reihe  einen  in  der  Zeit  identischen  Körper  —  dessen 
Raumform  zu  kompliziert  ist,  als  daß  ich  ihn  wie  die  Kugel 
durch  ein  Wort  benennen  kann  —  und  seine  Bewegung  in  der 
Zeit.  Zunächst  besteht  also  gar  kein  Unterschied  zwischen 
der  Kugel  und  der  Ameise.  Selbstverständlich  ist  dies  in 
allen  Fällen  so,  wo  ich  auf  Grund  von  Wahrnehmungen 
Bewegung  denke.  Woher  kommt  aber  dann  der  Biologe 
dazu  zu  sagen,  daß  die  Kugel  nicht  in  sein  Gebiet  fällt,  wohl 
aber  die  Ameise  ?  In  den  Wahrnehmungen  kann  der  Grund 
nicht  liegen.  Behauptet  man,  daß  man  einen  Unterschied 
bemerkt,  und  zwar  den,  daß  die  Ameise  sich  spontan  von  der 
Stelle  bewegt,  was  man  von  der  Kugel  nicht  behaupten  kann, 
so  ist  er  doch  nicht  in  dem  Wahrgenommenen  gefunden 
worden.  Die  Spontaneität  ist  kein  Farbfleck.  Wenn  man 
auch  zugeben  würde,  was  an  sich  völlig  falsch  wäre,  daß  wir 
Bewegungen  im  Raum  wahrnehmen,  so  könnte  man  sagen: 
wir  sehen  die  Bewegung  einer  Kugel  und  einer  Ameise. 
Einen  weiteren  Unterschied  zu  sehen  ist  schlechterdings 
unmöglich.  Ich  leugne  nicht  die  Spontaneität  als  Merkmal 
des  Lebens,  aber  sie  ist  eine  Kategorie,  in  der  ich  Phänomene 
denke,  nicht  aber  eine  wahrgenommene  Eigenschaft,  d.  h. 
ein  Prinzip  a  priori.  Was  ich  wahrnehme,  ist  in  beiden 
Fällen  absolut  dasselbe,  nämlich  Veränderungen  im  Raum. 
(Das  ist,  wie  gesagt,  schon  nicht  ganz  richtig,  aber  der  Be- 
quemlichkeit wegen  nehme  ich  es  einmal  als  richtig  an.) 
Der  Unterschied  zwischen  der  Bewegung  der  Kugel  und  der 
Ameise  entsteht  erst  dadurch,  daß  ich  die  data  der  Sinnlich- 
keit, die  Phänomene  zum  Gegenstand  der  Erkenntnis  mache, 


—  111  — 

denn  er  liegt  in  nichts  anderem  als  in  der  Verschiedenheit, 
mit  der  ich  die  Raumveränderungen  denkend  begründe. 
Ich  behaupte  gar  nicht,  daß  die  Kugel  auch  ein  Gegenstand 
der  Biologie  ist,  aber  ich  möchte  wissen,  woher  das  Recht 
stammt,  die  Ameise  als  einen  Sonderkörper  zu  behandeln. 
Würde  die  Biologie  Mechanismus  sein,  so  würde  dies  Recht 
auch  nicht  bestehen.  Monismus  kann  nichts  anderes  heißen, 
als  daß  zwischen  Kugel  und  Ameise  kein  Unterschied  be- 
steht, daß  diese  also  wie  jene  Gegenstand  der  Physik  ist. 
Daß  aber  die  Biologie  den  Unterschied  anerkennt,  ist  Tat- 
sache. Das  Recht  dazu  liegt,  wie  man  sagen  wird,  darin, 
daß  die  Ameise  ein  lebender  Organismus  ist.  Die  kritische 
Frage  aber  lautet:  Was  ist  ein  lebender  Organismus?  Die 
Antwort  kann  nur  die  sein:  Der  Organismus  beruht  auf  der 
Idee  einer  historischen  Einheit,  einer  Identität  in  der  Zeit, 
die  ich  ebenso  wenig  wahrnehme,  wie  die  Identität  der 
Kugel.  Damit  ist  scheinbar  wieder  der  Unterschied  ver- 
wischt worden.  Diese  Schwierigkeit  aber  löst  sich  sofort. 
Der  Naturwissenschaftler  zeigt  mir  nämlich,  daß  mein 
naives  Denken  in  einem  Falle  völlig  falsch  ist.  Ich  habe 
mich  gründlich  geirrt,  als  ich  die  Identität  der  Kugel  in  der 
Zeit  annahm,  und  zwar  deswegen,  weil  ich  mit  dieser  An- 
nahme niemals  zu  einer  Erkenntnis  der  Phänomene  kommen 
würde.  Schon  darin  zeigt  sich,  daß  ich  die  Identität  nicht 
gesehen  haben  kann,  denn  auf  die  Wahrnehmung  kann  man 
weder  wahr  noch  falsch  anwenden.  Nur  die  denkende  Be- 
stimmung des  Wahrgenommenen  kann  falsch  sein.  Der  alte 
Heraklit  spricht  von  dem  Trug  der  Sinne.  Wir  sagen:  Das 
naive  Denken  ist  falsch.  Es  ist  tauglich,  mir  den  unmittel- 
baren Moment  zu  erklären,  aber  vor  der  Kritik  kann  es  nicht 
bestehen  In  Wirklichkeit  existiert  gar  keine  Identität  der 
Kugel  in  der  Zeit.  Das  heißt:  Um  die  Phänomene  im  Raum 
als  ein  System  zu  erkennen,  dürfen  wir  nicht  die  Identität  der 
Kugel  in  der  Zeit  denken.  Nehmen  wir  an,  es  handelt  sich 
um  eine  Kugel  aus  Eisen,  so  würden  wir  bei  dieser  Annahme 


—  112  — 

die  Erscheinung  des  Röstens  nie  erkennen,  nie  begründen 
können.  Schon  das  naive  Denken  kann  sich  leicht  selbst 
korrigieren.  Denn  da  die  Kugel  sich  doch  zweifellos  ver- 
ändert, so  müßte  auch  irgend  wann  ihre  Identität  aufhören. 
Die  Wissenschaft  verlangt  von  mir  nun  nichts  anderes,  als  daß 
ich,  wenn  ich  denke,  logisch  denke,  d.  h.  daß  das,  was  ich 
jetzt  behaupte,  auch  noch  nach  zwei  Sekunden,  zwei  Stunden, 
zwei  Jahren  richtig  ist.  Logisch  denken  heißt  nur  behaupten, 
was  zeitlos  ist.  Wenn  ich  aber  nach  zwei  Jahren  nicht  mehr 
behaupten  kann,  daß  es  dieselbe  Kugel  ist,  so  kann  ich  es 
auch  nicht  nach  0,000  .  1  Sekunden.  Das  Denken  will  er- 
kennen, was  da  ist,  und  diese  Konstatierung  kann  nur  dann 
richtig  sein,  wenn  es  konstatiert,  was  selber  zeitlos,  ewig 
unverändert  existiert.  Es  ist  nicht  gesagt,  daß  es  jemals 
zu  diesem  Ziel  gelangt.  Aber  als  Ideal  existiert  dieses  Ziel 
zweifellos.  Folglich  war  mein  Urteil,  daß  sich  eine  Kugel 
von  A  nach  B  bewegt  hat,  falsch.  Die  Kugel  ist  eine  „sterb- 
liche" Identität,  die  die  Naturwissenschaft  nicht  etwa  nicht 
anzuerkennen  braucht,  sondern  die  sie  nicht  anerkennen  darf. 
Das  Urteil  über  die  Ameise  aber  war  richtig,  jedoch  nur  des- 
wegen, weil  man  ohne  die  Annahme  der  Identität  in  der 
Zeit  viele  Phänomene  nicht  erkennen  könnte,  weil  also  die 
Biologie  in  ihrer  Erkenntnis  die  Identität  a  priori,  voraus- 
setzen muß.    Das  werden  wir  noch  zu  beweisen  haben. 

Man  wird  den  Unterschied  des  Kantschen  Erfahrungs- 
und Wahrnehmungsurteils  am  besten  verstehen,  wenn  man 
ihn  als  Gegensatz  des  zeitlosen  und  des  historischen  Urteils 
auffaßt.  Allgemeingültig  kann  auch  das  Historische  sein. 
Seine  Wahrheit  ist  psychologisch  noch  viel  gewisser.  Darauf 
stützt  sich  bekanntlich  Descartes.  Daß  jemand  etwas  für 
gleich  hält,  ist  als  Urteil  niemals  zu  bestreiten.  Aber  das 
behauptete  Gleichsein  ist  eine  andere  Frage.  Das  ganzeSystem 
von  Kant  wird  in  dem  Moment  klar  werden,  wenn  man  von 
dem  Dualismus  der  historischen  und  der  reinen  Vernunft 
ausgeht.    Damit  sind  alle  psychologistischen  Zänkereien  ein 


—  113  — 

für  allemal  unmöglich.  Damit  fällt  aber  auch  der  unkritische 
Pragmatismus  in  Nichts  zusammen.  Die  mechanistische 
Naturwissenschaft  ist  weiter  nichts  als  die  Konstruktion  des 
zeitlos  Existierenden,  weil  sie  ein  Erfahrungsurteil  abgeben 
will,  d.  h.  ein  zeitlos  gültiges.  Man  mag  dies  Beschreibung 
nennen  oder  nicht,  es  kommt  nur  darauf  an,  was  beschrieben 
wird.  Der  unmittelbare  Gegenstand  des  historischen  und  des 
zeitlosen  Urteils  als  Anlaß  ist  derselbe,  nämlich  irgend  ein 
Phänomen.  Der  Naturwissenschaftler  aber  will  ein  zeit- 
loses Urteil  abgeben,  infolgedessen  muß  er  auch  beschreiben, 
was  zeitlos  im  Raum  existiert.  Erst  die  Definition  der  All- 
gemeingültigkeit durch  die  Zeitlosigkeit  macht  das  Charakte- 
ristikum des  Erfahrungsurteils  klar.  Das  historische  Urteil 
will  gar  keine  Zeitlosigkeit  behaupten.  Ich  sage  etwa:  hier 
existiert  ein  Tisch.  Das  Urteil  ist  unbedingt  richtig,  aber  nur 
historisch  und  nur  für  den,  der  ihn  als  solchen  anerkennt. 
Daß  ich  ihn  aber  sehe,  ist  unbedingt  wahr  und  allgemein- 
gültig. Ich  nehme  eine  Identität  in  der  Zeit  an.  Will  ich  aber 
ein  Erfahrungsurteil  abgeben,  d.  h.  ein  zeitloses,  so  muß  ich 
auch  sagen,  was  zeitlos  dort  existiert.  Dann  wäre  es  eine 
Torheit  zu  behaupten,  daß  ein  Tisch  existiert,  denn  er 
existiert  ja  nur  eine  geraume  Zeit,  und  wären  es  tausend 
Jahre.  In  Wahrheit  existiert  derselbe  Tisch  aber  nicht  ein- 
mal in  zwei  Sekunden.  Der  Naturwissenschaftler  kennt  also 
nicht  die  Einzelsubstanz  ,, Tisch",  denn  sie  hat  nur  eine 
Dauer,  existiert  also  nicht  zeitlos.  Er  kennt  nur  die  all- 
gemeine Substanz,  d.  h.  nichts  anderes  als  das,  was  ewig 
existiert.  Er  löst  also  die  zeitliche  Form  „Kugel"  oder 
„Tisch"  in  ihr  Material  auf,  in  Materie.  Wo  wir  eine  Kugel 
denken,  denkt  er  Prozesse.  Nicht  derselbe  Ausschnitt  der 
Materie  ist  jetzt  an  einer  anderen  Stelle,  sondern  Elemente 
sind  hinzugekommen  und  andere  anderswohin  gewandert. 
Will  ich  aber  bei  dieser  in  Bezug  auf  die  Bewegung  noch 
immer  historischen  Beschreibung  nicht  stehen  bleiben,  so 
muß  ich  auch  sie  als  eine  zeitlose  darstellen.    Ich  muß  das 

Strich,  Prinzipien.  8 


—  114  — 

finden,  was  immer  geschieht,  d.  h.  das  Gesetz.  Dies  ist  nichts 
anderes  als  ein  zeitloser  Zusammenhang,  wenn  auch  die  Zeit- 
losigkeit  nur  ein  Ideal  ist,  nach  dem  die  Wissenschaft  strebt. 
Erfahren  wir  eine  Verwandlung  eines  Teils,  den  wir  als 
unauflösbaren  angesehen  haben,  in  einen  andern,  so  war 
entweder  unser  Denken  falsch,  oder  wir  haben  es  mit  einer 
historischen  Tatsache  zu  tun,  die  jeder  Erklärung  spottet. 
Wir  müßten  die  Verwandlung  anerkennen,  könnten  sie  aber 
nicht  erkennen.  Daß  das  Gravitationsgesetz  keine  reine 
Zeitlosigkeit  darstellt,  können  wir  mit  Bestimmtheit  an- 
nehmen. Damit  ist  aber  nur  gesagt,  daß  die  Erkenntnis 
nicht  am  Ende  angelangt  ist.  Der  Fortschritt  beruht  in  der 
immer  weitergehenden  Aussonderung  historischer  Bedin- 
gungen, die  an  sich  dem  idealen  Gesetz  gegenüber  zufällig 
sind.  Das  allgemeinere  Gesetz  ist  nichts  anderes  als  das 
Gesetz  mit  weniger  historischen  Bedingungen.  Nichts  hindert 
uns,  die  naturwissenschaftliche  Darstellung  eine  Beschrei- 
bung zu  nennen.  Nur  beschreiben  wir  keine  historischen 
Phänomene,  sondern  zeitlose.  Wir  bestimmen  die  pla- 
tonische Idee,  die  hier  und  jetzt  erscheint.  Ich  brauche 
wohl  kaum  zu  bemerken,  daß  diese  Idee  nirgends  anders 
existiert  als  in  dem  Denken,  als  Gegenstand  der  Wissenschaft. 
Mein  Urteil:  hier  fällt  ein  Stein,  ist  historisch  eine  richtige 
Beschreibung.  Den  Naturwissenschaftler  aber  interessiert 
sie  gar  nicht;  er  will  die  Idee  bestimmen,  die  hier  erscheint. 
Er  will  das  historische  Geschehen  als  ein  zeitloses  beschrei- 
ben. Dies  nennen  wir  „Erklären".  Der  Mechanismus  ist 
die  Negation  der  Zeit;  sie  ist  für  ihn  nichts  weiter  als  eine 
Bestimmungsmöglichkeit  der  Individualität,  die  genau  so 
relativ  ist,  wie  die  des  Raumes.  Sein  Gegenstand  ist  die 
zeitlose  Substanz  und  die  Zeit  nur  die  Folge  ihrer  formalen 
Konstellationen,  die  sich  nach  zeitlosen  Gesetzen  verändern. 
Will  die  Biologie  mechanistisch  sein,  so  heißt  das  nichts 
anders,  als  daß  sie  die  Phänomene  im  wahrgenommenen 
oder  erlebten    Raum,   im   Raum   des  Mechanismus  denken 


—  115  — 

will,  als  Konstellation  der  zeitlosen  Substanz,  die  durch 
zeitlose  Gesetze  aus  der  vorangehenden  erklärbar  ist.  Sie 
leugnet  damit  einen  Unterschied  der  Phänomene.  Es  gäbe 
nur  Physik  und  Chemie.  Geht  sie  aber  von  einem  Organismus 
aus,  so  sagt  sie  damit,  daß  sie  nicht  mechanistisch  denken 
will.  Denn  in  dem  Raum  existieren  keine  Organismen,  sondern 
nur  jene  ewigen  Substanzteile.  Zweifellos  besteht  auch  die 
Ameise  aus  solchen.  Wenn  man  sie  aber  so  denkt,  so  existiert 
die  Ameise  ebensowenig  wie  der  Tisch,  denn  das  sind 
Formen  der  Substanz  von  bestimmter  Dauer,  die  für  das 
mechanistische  Denken  nicht  existieren.  Tatsächlich  denkt 
der  Chemiker  die  Ameise  als  Teil  der  zeitlosen  Substanz. 
Er  kann  nachweisen,  daß  die  individuellen  Teile,  die  die  Raum- 
form „Ameise"  in  einem  bestimmten  Moment  ausmachen, 
zu  einer  andern  Zeit  nicht  mehr  dort  anwesend  sind,  daß 
jetzt  neue  Teile  die  Raumform  konstituieren,  die  wir  noch 
immer  für  dieselbe  Ameise  halten.  Für  den  mechanistischen 
Naturforscher  ist  dieser  Glaube  also  ein  widerlegbarer 
Irrtum.  Die  absolute  Änderung  aller  Teile  dauert,  glaube 
ich,  beim  Menschen  ungefähr  neun  Jahre.  Der  Chemiker 
ist  völlig  im  Recht,  wenn  es  für  ihn  kein  Leben  gibt.  Die 
Frage  lautet  nur,  ob  der  Biologe  nicht  die  Identität  der  Zeit- 
form seinem  Denken  zugrunde  legt.  Dasselbe  trifft  auch  für 
die  Erkenntnis  des  Tisches  zu.  Gewiß  existiert  er  für  den 
Mechanismus  nicht.  Es  ist  aber  fraglich,  ob  das  Zusammen- 
sein von  Substanzteilen,  als  das  er  den  Tisch  denkt,  aus  zeit- 
losen Gesetzen  erklärbar  ist.  Das  eine  ist  aber  nicht  fraglich, 
daß  nämlich  noch  niemals  jemand  den  Versuch  gemacht  hat, 
dieses  zu  erklären.  Aus  diesem  Grunde  finde  ich  den  Monis- 
mus unmoralisch.  Das  ist  die  letzte  und  tiefste  Widerlegung, 
bis  zu  der  die  Erkenntniskritik  gelangen  kann.  Ich  finde  es 
unmoralisch  zu  behaupten,  daß  die  Welt  durchgängig 
mechanistisch  erklärbar  ist  und  nicht  den  Versuch  zu  machen, 
diese  Forderung  in  Tat  umzusetzen.  Du  kannst,  denn  du 
sollst.     Das  ist  die  letzte  ethische  Weisheit.     Nur  durch  die 

8* 


—  116  — 

Tat  läßt  sich  die  Möglichkeit  einer  Forderung  beweisen.  Ich 
sage  garnicht,  daß  sich  die  Existenz  einer  Maschine  nicht 
mechanistisch  erklären  läßt;  als  Philosoph  habe  ich  zu  der 
Behauptung  kein  Recht.  Ich  kann  aber  das  Gegenteil  nur 
dann  für  richtig  halten,  wenn  die  erste  Tat  geschehen  ist, 
die  mir  diese  Möglichkeit  beweist.  Ich  weiß  nur,  daß  die 
Menschheit  bis  jetzt  das  Problem  immer  anders  aufgefaßt 
hat,  nämlich  daß  sie  sich  bemüht  hat,  die  Existenz  der 
Maschine  oder  des  Tisches  historisch  zu  verstehen.  Beides 
aber  schließt  sich  gegenseitig  absolut  aus.  Das  läßt  sich 
beweisen.  Im  einen  Falle  existiert  gar  kein  Tisch,  sondern 
nur  eine  Konstellation  der  zeitlosen  Substanz,  bestehend  aus 
jenen  letzten  Teilen  bis  zu  denen  der  Naturwissenschaftler  in 
seiner  Erkenntnis  momentan  durchgedrungen  ist.  Das  Pro- 
blem lautet:  Nach  welchen  zeitlosen  Gesetzen  ist  diese  Kon- 
stellation entstanden  ?  Auf  diese  Weise  stellt  z.  B.  der  Geo- 
loge das  Problem,  wenn  er  die  Raumforrn  ,,Erde"  zum  Gegen- 
stand seiner  Untersuchung  macht.  Gerade  wegen  dieser 
Problemstellung  ist  die  Geologie  aber  keine  historische 
Wissenschaft.  Man  wird  dies  vielleicht  im  besten  Falle  für 
Wortklauberei  halten.  Es  ist  aber  in  Wahrheit  derselbe 
Irrtum,  wenn  man  meint,  daß  die  Astronomie  deswegen 
historisch  geworden  ist,  weil  sie  die  Entstehung  des  Sonnen- 
systems zum  Problem  gemacht  hat.  Die  logische  Konsequenz 
solcher  Behauptungen  wäre  die,  daß  auch  die  Physik  eine 
historische  Disziplin  ist.  Man  hat  dies  auch  behauptet. 
Allein  diese  Konsequenz  wird,  glaube  ich,  eher  die  Falsch- 
heit der  anderen  Behauptungen  deutlich  machen,  die  logisch 
mit  ihr  stehen  oder  fallen. 

Nicht  die  Astronomie  denkt  historisch,  sondern  die 
mosaische  Schöpfungslehre,  nicht  die  Physik,  sondern  die 
Mythologie.  Daß  alles,  was  real  existiert,  zunächst  histo- 
risch, d.  h.  in  der  Zeit  existiert,  ist  selbstverständlich.  Dar- 
aus folgt  aber  nicht,  daß  jede  Wissenschaft  Geschichte  ist. 
Tatsächlich  besteht  gar  kein  logischer  Unterschied  zwischen 


—  117  — 

der  Ablenkung  der  Magnetnadel  und  der  Entstehung  unseres 
Sonnensystems.  Daß  das  eine  innerhalb  von  Sekunden- 
teilen vor  sich  geht,  das  andere  innerhalb  eines  größeren 
Zeitraums  ist  für  die  Wissenschaft  ganz  gleichgültig.  Wenn 
das  eine  durch  die  Geschichte  begriffen  wird,  so  ist  auch  das 
andere  nur  historisch  zu  begreifen.  Wir  haben  gezeigt,  daß 
der  Mechanismus,  oder  in  unserem  Falle  die  Physik,  gerade 
die  Negation  des  Historischen  ist.  Wenn  der  Grieche  sagt: 
Zeus  blitzt,  so  denkt  er  historisch.  Es  ist  ein  platter  Psycho- 
logismus, wenn  man  das  Wesen  der  Mythologie  in  der  Anthro- 
pomorphisation,  der  Einfühlung,  der  Projektion  oder  Über- 
tragung des  Ich  auf  die  Natur  sieht.  Man  sollte  sich  einmal 
fragen,  was  von  der  Projektion  übrig  bleibt,  wenn  man  von 
dem  räumlichen  Bild  —  denn  das  ist  es  doch  zweifellos  — 
absieht.  Schlechterdings  nichts,  als  daß  die  Natur  ebenso 
gedacht  wird  wie  das  Menschenleben.  Weiter  als  bis  zu  dieser 
logischen  Tatsache  können  wir  auch  nicht  kommen.  Es  ist 
Frivolität,  wenn  man  meint,  sie  als  historisches  Ereignis 
durch  jenes  Raumbild  der  Übertragung  erklären  zu  können. 
Ein  Denken  können  wir  nie  erklären.  Tatsächlich  ist  die 
Mythologie  aber  nichts  anderes  als  Erkenntnis,  und  zwar  das 
absolute  Gegenstück  zum  materialistischen  Monismus.  Im 
einen  Falle  stellt  man  die  mathematische  Naturwissenschaft 
als  „die"  Erkenntnis  hin,  das  andere  Mal  die  Geschichte. 
Damit  will  ich  nicht  sagen,  daß  eine  spezielle  mythologische 
Ansicht  nicht  psychologisch  verstanden  sein  will.  Sie  kann 
es  aber  nur  unter  der  Voraussetzung,  daß  ein  Phänomen 
historisch  als  Lebenserscheinung  begriffen  werden  soll. 
Dieses  Denken  können  wir  nicht  erklären.  Den  Inhalt  der 
mythologischen  Erkenntnis  betrachten  wir  mit  Recht  als 
Phantasie.  Ebenso  aber  müßte  der  materialistische  Monis- 
mus auch  die  Geschichte  des  Lebens  als  psychologisch  zu 
verstehende  Phantasie  betrachten.  Wir  wiesen  nach,  daß 
von  ihm  aus  der  lebendige  Organismus  eine  Phantasie  des 
naiven  Menschen  wäre.    Es  ist  nicht  viel  gesagt  damit,  daß 


—  118  — 

man  den  Glauben  an  die  Existenz  eines  andern  Menschen 
auf  eine  Übertragung  des  eigenen  Ich  zurückführt.  Ein 
Unterschied  liegt  aber  nur  darin,  daß  man  dieses  Denken 
für  berechtigt  hält,  das  mythologische  aber  nicht.  Wir  können 
beide  Auffassungen  nicht  psychologisch  erklären,  sondern  nur 
logisch  kritisieren.  Die  Mythologie  ist  als  monistische  Er- 
kenntnis ebenso  unberechtigt  wie  der  Materialismus,  in 
welcher  monistischen  Form  er  auch  auftritt.  Es  ist  falsch, 
daß  das  Ich  in  innerer  oder,  was  noch  wissenschaftlicher 
klingt,  endopsychischer  Wahrnehmung  erfahren  und  nun  auf 
andere  Objekte  übertragen  wird.  Die  falsche  metaphysische 
Orientierung  hat  das  psychologische  Problem  hier  verdreht. 
Die  unmythologische  Erkenntnis  ist  bei  weitem  problema- 
tischer als  die  mythologische,  wenn  man  vom  Entwicklungs- 
geschichtlich-Psychologischen ausgeht.  Der  Fehler  liegt  auch 
hier  in  dem  Primat  der  inneren  Erfahrung  als  eines  besonderen 
psychischen  Wahrnehmungsaktes,  der  ja  auch  die  Existenz 
der  Außenwelt  überhaupt  problematisch  macht.  Daß  wir 
zunächst  uns  selbst  wahrnehmen,  ist  insofern  richtig/  als  wir 
zunächst  die  Welt  nur  subjektiv  erkennen,  nur  insoweit  als 
sie  der  Inhalt  unserer  Monade  ist.  Ein  Problem  der  Außen- 
welt existiert  psychologisch  überhaupt  nicht.  Denn  sie  ist 
das  Werk  der  Naturwissenschaft  als  Gegenstand  des  Be- 
wußtseins überhaupt.  Diese  Konstruktion  ist  allein  durch 
die  objektive  Kausalität  möglich.  Die  Naturwissenschaft 
setzt  den  Willen  nach  Objektivität  und  den  Glauben  an  das 
Gelingen  als  logisches  Gewissen  voraus.  Vor  dieser  Kon- 
struktion aber  ist  es  selbstverständlich,  daß  die  Welt  mytho- 
logisch oder  historisch  gedacht  wird.  Die  Naturwissenschaft 
ist  ein  Problem,  nicht  die  Mythologie.  Es  wird  nichts  über- 
tragen in  die  Natur,  was  man  anderswo  wahrnehmend  ent- 
deckt hat,  sondern  die  Tatsache  liegt  darin,  daß  man  die  Natur 
ebenso  wie  alles  andere  als  historische  Phänomene  begründet. 
Weil  diese  Begründung  nur  eine  psychologische  sein  kann, 
deswegen  verlangt  jede  spezielle  Begründung  ihrerseits  eine 


—  119  — 

psychologische  Begründung.  Nur  aus  der  psychischen  Wir- 
kung des  Blitzes  kann  man  es  verstehen,  daß  man  ihn  auf 
die  schlechte  Laune  von  Zeus  zurückgeführt  hat.  Die  Natur- 
wissenschaft kennt  keine  psychologische  Begründung  ihrer 
Erkenntnis,  weil  sie  ja  gerade  von  der  Subjektivität  abstra- 
hieren und  sich  an  das  objektive  Erlebnis  halten  will,  das, 
soweit  es  Wahrnehmung  ist,  kein  psychologisches  Problem 
ist.  Nur  in  diesem  Sinne  ist  also  der  einzelne  Mythos  ein 
psychologisches  Problem,  als  Schöpfung  der  Phantasie, 
während  die  Naturwissenschaft  nur  eine  Beschreibung  der 
Realität  ist,  soweit  sie  nur  an  diese  gebunden  ist.  Das  Prinzip 
der  Mythologie  aber,  die  historische  Auffassung  der  Welt, 
läßt  sich  psychologisch  nicht  erklären,  sondern  nur  als 
falsches  Denken  kritisieren,  und  auch  dieses  nur  unter  der 
Voraussetzung,  daß  eine  objektive  Welt  gestaltet  werden 
„soll".  Psychologisch  ist  die  Mythologie  verständlich  aus  dem 
allgemeinen  Begründenwollen  der  Phänomene.  Woher  dieser 
Wille  stammt,  kann  uns  hier  nicht  beschäftigen.  Daß  die  Be- 
gründung historisch  war,  läßt  sich  nicht  erklären.  Sie  war  der 
Realität  nach  nicht  nur  möglich,  sondern  selbstverständlich. 
Die  Psychologie  hat  auch  hier  den  Fehler  begangen,  das, 
was  in  der  logischen  Analyse  das  Elementare  zu  sein  scheint, 
als  das  psychologisch  Elementare  anzusehen,  wie  man  etwa 
zu  glauben  geneigt  ist,  daß  der  Begriff  der  Eins  in  der  Psycho- 
logie des  Zählens  oder  der  Begriff  der  Individualität  in  der 
Psychologie  des  Denkens  das  Elementare  und  das  historisch 
Ursprüngliche  darstellt.  Man  findet  die  Mythologie  proble- 
matisch, weil  man  die  Naturwissenschaft  als  das  Richtige 
für  das  Gegebene  hält  und  sucht  sie  durch  eine  Übertragung 
des  Ich  zu  erklären.  Mit  gutem  Recht  kann  man  aber  um- 
gekehrt die  Mythologie  für  das  Gegebene  halten.  Nicht  das 
Ich  wird  in  einen  Körper  projiziert,  sondern  alle  Phänomene 
werden  in  gleicher  Weise  erkannt  wie  das  eigne  soziale 
Leben.  Wir  halten  die  Gleichsetzung  für  ungerechtfertigt. 
Als  Ergebnis  der  logischen  Analyse  ist  der  Begriff  der  Anthro- 


—  120  — 


pomorphisation  berechtigt.  Logisch  bedeutet  die  Mytho- 
logie eine  Verlebendigung  der  toten  Natur,  wie  der  Materialis- 
mus logisch  eine  Tötung  der  lebendigen  Natur  bedeutet. 
Diese  logische  Bedeutung  ist  aber  keine  psychologische  Auf- 
klärung; sie  bedeutet  keine  psychische  Tätigkeit.  Es  kommt 
darauf  an,  daß  nichts  verlebendigt  wird,  was  an  sich  als  tot 
wahrgenommen  wird.  Wir  sind  immer  geneigt,  unsere  An- 
schauung auch  als  die  gegebene  Anschauung  des  primitiven 
Menschen  anzunehmen,  wir  können  uns  schwer  vorstellen, 
daß  man  an  die  Mythologie  glaubt,  weil  wir  sie  für  Phantasie- 
gebilde halten.  Dazu  wird  sie  aber  erst  dadurch,  daß  wir  sie 
als  Erkenntnis  für  falsch  halten.  Für  den  primitiven  Menschen 
bedeutet  sie  aber  die  einzige  Wahrheit,  wie  sich  jeder  naive 
Mensch  schwer  entschließen  wird,  die  Bewegungen  des  andern 
Menschen  als  Bewegung  der  toten  Natur  anzusehen.  Es  ist 
ein  psychologischer  Fehler,  in  diesem  Falle  nicht  von  einer 
Verlebendigung  zu  sprechen,  weil  der  andere  Mensch  „wirk- 
lich" lebendig  ist.  Vom  Standpunkt  des  primitiven  Menschen 
ist  die  Natur  auch  „wirklich"  lebendig.  Er  verlebendigt  sie 
nicht  erst,  sondern  er  denkt  sie  von  vornherein  als  lebendig. 
Er  kennt  nur  die  historische  Vernunft.  Es  gibt  für  ihn  gar 
keine  Möglichkeit,  die  Phänomene  anders  zu  begründen.  Leben 
und  Tod  sind  die  letzten  Kategorien,  mit  denen  man  historisch 
oder  naturwissenschaftlich  denkt.  Das  historische  Denken,  die 
subjektiv  psychologische  Erkenntnis  ist  das  Frühere.  Von 
einer  Übertragung  ist  daher  ebensowenig  die  Rede,  wie  der 
Glaube  an  das  Leben  des  andern  Menschen  auf  einer  Über- 
tragung des  Ich  als  Tätigkeit  beruht.  Wir  stoßen  auf  die 
letzte  Tatsache  der  Analyse,  daß  wir  uns  selbst  wie  andere 
Wesen  als  historische  Subjekte  erkennen.  Wir  nehmen  unser 
Ich  nicht  wahr,  sondern  wir  erkennen  uns  als  Ich.  Hinter 
diese  Erkenntnis  können  wir  psychologisch  auch  nicht  ge- 
langen, weil  sie  selbst  bei  aller  Erkenntnis  vorausgesetzt  ist. 
Eine  Anthropomorphisation  als  psychische  Tätigkeit  gibt  es 
bei   primitiven  Völkern   überhaupt   nicht,   sondern   nur  bei 


—  121  — 

schlechten  Dichtern,  deren  ,, Urteile"  nicht  auf  Anschauung 
beruhen.  Der  primitive  Mensch  denkt  wie  das  Kind  histo- 
risch; er  belebt  nicht  die  Sonne  —  wenigstens  ist  dies  nicht 
notwendig  —  sondern  er  faßt  den  Aufgang  der  Sonne  als 
ein  historisches  Ereignis  auf,  etwa  als  das  Fahren  eines  Wagens. 
Er  denkt  allerdings  historische  Subjekte,  mögen  es  auch  die 
ewigen  Götter  sein,  denn  ohne  diese  ist  eine  historische  Be- 
gründung unmöglich.  Mit  ihnen  ist  aber  auch  die  Geschichte 
unumgänglich.  Das  beweist  die  Mythologie.  Der  primitive 
Mensch  ist  glücklicher  als  wir,  denn  er  versteht,  wo  wir  nichts 
verstehen.  Daß  Zeus  blitzt,  wenn  er  sich  ärgert,  könnten  wir 
verstehen;  daß  aber  eine  elektrische  Entladung  vor  sich  geht, 
kann  man  vielleicht  als  zeitloses  Geschehen  beschreiben, 
d.  h.  durch  Gesetze  erklären,  aber  verstehen  kann  es  nie- 
mand. Jede  Mythologie  ist  historische  Erkenntnis.  Das,  was 
geschieh^  wird  als  ein  Moment  aus  der  wirklichen  Zeit  ge- 
dacht. Der  Unterschied  zur  Physik  ist  gar  nicht  anders  zu 
definieren,  als  daß  der  Physiker  die  Phänomene  nicht  histo- 
risch denkt,  nicht  als  einen  Moment  aus  der  wirklichen  Zeit, 
sondern  als  ein  zeitloses  Geschehen.  Er  denkt  die  Idee  des 
Ereignisses,  nämlich  durch  welche  zeitlosen  Gesetze  jene 
Konstellation  der  zeitlosen  Materie  zustande  kam.  Die  Bibel 
denkt  die  Entstehung  des  Sonnensystems  historisch,  der 
Astronom  ist  nur  deswegen  Naturwissenschaftler,  weil  er 
nicht  historisch  denkt,  weil  er  das,  was  da  ist,  nur  als  eine 
besondere  Konstellation  des  zeitlos  Existierenden  denkt. 
Genau  dasselbe  tut  die  Geologie.  Nicht  durch  den  Gegen- 
stand, wo  wir  erkennend  einsetzen,  nicht  durch  die  Wahr- 
nehmung, die  immer  einen  zeitlichen  Gegenstand  hat,  ist 
die  Geschichte  logisch  charakterisiert.  Sonst  gäbe  es  wirk- 
lich nur  Geschichte  und  nichts  anderes.  Denn  ich  erlebe 
empirisch  nur  zeitliche  Vorgänge.  Nur  durch  das  Prinzip 
des  Denkens  wird  die  Geschichte  Spezialwissenschaft.  Eine 
Wissenschaft,  die  gerade  ihren  Sinn  darin  hat,  daß  sie  ein 
Phänomen  oder  eine  Reihe  von  Phänomenen,  die  sich  über 


—  122  — 

Milliarden  von  Jahren  erstrecken  kann,  als  Veränderung  des 
an  sich  Zeitlosen  nach  zeitlosen  Gesetzen  erklärt,  denkt  die 
Phänomene  eben  nicht  historisch  und  ist  deswegen  nicht 
Geschichte.  Dieser  Begriff  würde  seinen  Sinn  verlieren,  wenn 
wir  die  Geologie  und,  was  nur  die  logische  Konsequenz 
daraus  wäre,  die  Physik  Geschichte  nennen  würden. 

Die  Geschichte  hat  also  nur  Sinn  als  Gegensatz  zum 
Mechanismus.  Ihr  Gegenstand  ist  die  reale  Zeit,  der  des 
Mechanismus  das  zeitlose  Reich  der  platonischen  Ideen.  Das 
unmittelbar  Erlebte  ist  gleichgültig,  nur  auf  das  Denken 
kommt  es  an.  Ich  kann  den  Tisch  als  Konstellation  der  zeit- 
losen Substanz  mechanistisch  denken.  Dies  tue  ich,  wenn 
ich  die  Veränderungen  erkläre,  die  mit  ihm  vorgehen.  Daß 
aber  die  Raumform  auch  als  Veränderung  der  Substanz  nach 
zeitlosen  Gesetzen  erklärbar  sei,  ist  solange  dogmatisch,  bis 
man  nicht  den  Versuch  gemacht  hat.  Bis  jetzt  hat  man 
seine  Existenz  nur  historisch  verstanden,  als  Gegenstand 
einer  Handlung,  die  nur  aus  den  historischen  Zusammen- 
hängen zu  verstehen  ist,  als  Werk  eines  historischen  Sub- 
jekts, das  zunächst  aus  seinem  Leben  heraus  verstanden 
werden  muß.  Dieses  wieder  ist  aber  nicht  zu  verstehen,  ohne 
sein  Leben  wieder  als  Teil  der  Zeit  selbst  zu  begreifen,  aus 
dem,  was  ihm  als  reales  Geschehen  vorangegangen  ist.  Erst 
durch  das  historische  Denken  entsteht  der  Gegenstand  ,,Tischu. 
Nur  als  solcher  hat  er  eine  Geschichte.  Die  Maschine  ver- 
stehen wir  aus  der  Geschichte  der  Technik  und  nicht  aus  dem 
Mechanismus.  Erst  durch  die  reine  Vernunft  entsteht  der 
Gegenstand  „Substanz",  wird  die  historische  Form  „Ma- 
schine" zum  Teil  des  zeitlosen  Raumes. 

Ganz  das  gleiche  gilt  für  die  Biologie.  Sie  ist  nur  des- 
wegen eine  Sonderwissenschaft,  weil  sie  historisch  und  nicht 
mechanistisch  ist.  Darum  ist  es  töricht  zu  fragen,  ob  sie 
mechanistisch  sein  muß.  Man  kann  vernünftig  nur  fragen, 
ob  sie  die  Phänomene  historisch  denkt  oder  nicht.  Der 
Beweis  ist  damit  erbracht,  daß  sie  vom  Organismus  ausgeht. 


—  123  — 

Andererseits  ist  man  damit  aber  erst  Biologe,  sonst  ist  man 
Chemiker  oder  Physiker. 

Vom  Organismus  aber  geht  man  aus,  wenn  man  von 
Entwicklung,  Vererbung,  Anlage,  Spontaneität,  Funktion, 
Reiz,  Reaktion  usw.  spricht.  Unsere  Aufgabe  kann  es  nicht 
sein,  diese  Begriffe  auf  ihr  Recht  oder  Unrecht  hin  zu  prüfen. 
Wir  können  nur  beweisen,  daß  sie  alle  die  historische  Ver- 
nunft voraussetzen,  daß  man  mit  ihnen  nicht  mechanistisch 
denkt.  Gewiß  kann  man  das  Hühnerei  als  Chemiker  denken, 
aber  man  denkt  dann  kein  Hühnerei  mehr.  Will  man  ein 
Erfahrungsurteil  abgeben,  d.  h.  ein  zeitloses,  so  muß  man  auch 
sagen,  was  dort  zeitlos  existiert,  nämlich  die  chemischen 
Elemente  bestimmen.  Damit  würde  man  wirklich  mecha- 
nistisch und  nicht  biologisch  denken.  Man  kann  auch  ver- 
suchen, die  Entstehung,  d.  h.  das  Zusammensein  dieser 
Elemente  zu  erklären,  nämlich  als  Veränderung  der  zeit- 
losen Substanz  nach  zeitlosen  Gesetzen,  bis  diese  Raum- 
form entsteht.  Man  kann  weiter  versuchen,  die  Veränderung 
dieser  Raumform  als  eine  gesetzmäßige  Veränderung  des  all- 
gemeinen Raums  zu  erklären,  also  das  Dasein  der  Elemente, 
die  das  spätere  Huhn  ausmachen.  Nur  müßte  man  es  ver- 
suchen. Berücksichtigt  man  aber,  daß  es  sich  um  ein  Hühnerei 
handelt,  dann  hat  man  den  Versuch  von  vornherein  auf- 
gegeben. Weder  der  Chemiker,  noch  der  Physiker  kennt 
den  Begriff  „Huhn".  In  seinem  Raum  existieren  Elemente, 
Atome,  Elektrone,  was  man  auch  immer  für  eine  Theorie 
der  Substanz  anerkennt.  Ein  Huhn  existiert  nicht  in  seinem 
Raum.  Da  wir  aber  seine  Erkenntnis  für  richtig  halten,  so 
können  wir  sagen:  ein  Huhn  existiert  überhaupt  nicht  im 
Raum.  Freilich  besteht  es  aus  Raumelementen,  und  zwar 
am  Ende  seines  Lebens  aus  gänzlich  anderen  wie  am  Anfang. 
Das  Huhn  aber  existiert  nur  in  der  Zeit  als  Form,  die  die 
Substanz  eingeht,  und  die  sich  auflöst,  wenn  es  stirbt.  Genau 
so  existiert  auch  nicht  der  Tisch  im  Raum,  sondern  nur  eine 
Ansammlung  von  Elementen,  die  sich  stetig  ändert.    Diese 


—  124  — 

existieren  zeitlos.  Der  Tisch  hat  aber  eine  beschränkte  Dauer, 
er  ist  eine  Form,  die  nur  für  den  existiert,  der  lebt  und  ihn 
als  solchen  anerkennt.  Die  Form  hat  sich  aufgelöst,  wenn  er 
nicht  mehr  als  Tisch  zu  gebrauchen  ist.  Ist  das  Huhn  tot, 
so  ist  es  nunmehr  alleiniger  Gegenstand  der  Chemie  und 
nicht  mehr  der  Biologie.  Denn  jetzt  existiert  kein  Huhn  mehr, 
sondern  nur  ein  Raumteil  der  zeitlosen  Substanz.  Nur  dieser 
ist  mechanistisch  erklärbar.  Denke  ich  aber  ein  Huhn,  so 
verzichte  ich  auf  eine  zeitlose  Erklärung. 

Der  Mechanismus  kennt  nur  zeitlose  Gesetze  und  die 
zeitlos  existierende  Substanz.  Nehmen  wir  einmal  an,  es 
gäbe  wirklich  Gesetze,  die  zeitlos  und  nicht  nur  für  uns 
eine  Annäherung  an  das  Ideal  sein  würden,  so  geht  es 
den  Physiker  gar  nichts  mehr  an,  was  vorher  schon  in  der 
Welt  geschehen  ist,  dann  brauche  ich  nicht  zu  wissen,  wie 
unser  Sonnensystem  entstanden  ist,  und  kann  doch  das  Fallen 
des  Steins  absolut  erklären,  wenn  ich  eine  historische 
Konstellation  der  Substanz  als  gegeben  voraussetze.  Denn 
das  muß  ich  immer.  Aus  dem  Nichts  heraus  läßt  sich  nichts 
erklären;  nur  eine  Veränderung  der  Wirklichkeit  kann  zum 
Problem  werden.  Angenommen,  die  Naturwissenschaft  wäre 
vollendet,  so  brauchte  man  nur  zu  wissen,  was  in  einem 
Moment  da  ist,  und  die  Folge  wäre  erklärt.  Die  Biologie  aber 
denkt  gar  nicht  so.  Nicht  einmal  als  Ideal  gilt  das  für  sie. 
Sie  berücksichtigt  nämlich  nicht,  was  an  Zeitlosem  da  ist, 
sondern  was  geschehen  ist.  Der  Chemiker  denkt  das  Ei  nur 
als  das,  was  da  ist,  als  Ausschnitt  aus  der  Substanz.  Der 
Biologe  aber  berücksichtigt  bei  seiner  Bestimmung,  daß  ein 
Huhn  das  Ei  geboren  hat.  Für  den  Naturwissenschaftler 
existiert  nur  eine  momentane  Konstellation  der  Substanz. 
Wo  sie  herkommt  ist  ihm  ganz  gleichgültig.  Die  Substanz 
selbst  ist  zeitlos.  Die  Konstellation  ist  nach  denselben  zeit- 
losen Gesetzen  entstanden,  wie  die  nächste,  die  er  erklären 
will.  Berücksichtigt  man  aber,  daß  ein  Hühnerei  da  ist, 
so  bestimmt  man  nicht  mehr  das  Zeitlose,  sondern  die  Be- 


—  125  — 

Stimmung  ist  historisch.  Man  berücksichtigt  eine  Zeitform 
„Ei"  als  Identität  in  der  Zeit  über  die  Identität  der  Substanz 
hinaus  und  bestimmt  diese  nach  dem  Organismus,  aus  dem  sie 
entstanden  ist.  Einer  mechanistischen  Biologie  müßte  es  an  sich 
ebenso  rätselhaft  oder  erklärlich  sein,  wenn  aus  einem  Hühnerei 
ein  Huhn  entsteht,  wie  wenn  ein  Wolf  daraus  entstünde. 
Beide  Möglichkeiten  sind  für  den  Mechanismus  gleich  groß. 
Denn  wenn  ich  nur  berücksichtigen  will,  was  zeitlos  da  ist, 
wenn  ich  ein  mechanistisches  Urteil  abgeben  will,  so  gibt  es 
weder  Huhn  noch  Wolf,  so  sind  diese  Begriffe  irrtümlich, 
wenn  auch  praktisch  zur  Orientierung.  Räume  ich  aber  der 
historischen  Tatsache,  daß  ein  Huhn  das  Ei  gelegt  hat,  einen 
Einfluß  auf  die  Zukunft  ein,  so  denke  ich  nicht  mehr  mecha- 
nistisch. Denn  der  Mechanismus  kennt  nicht  die  Beein- 
flussung der  Gegenwart  durch  ein  historisches  Geschehen, 
sondern  nur  die  gesetzmäßige  Veränderung  von  dem,  was 
zeitlos  da  ist. 

Der  Biologe  erkennt  als  Grundsatz  an,  daß  Leben  nur 
aus  Leben  entsteht.  Es  ist  eine  der  merkwürdigsten  Ver- 
drehungen der  Geistesgeschichte,  daß  man  meinte,  dadurch 
den  Mechanismus  gegen  das  Wunder  zu  verteidigen.  In 
Wahrheit  behauptet  man  ja  in  dem  Satz  nur,  daß  man  von 
der  logischen  Idee  ausgeht,  das  Leben  sei  kein  Gegenstand 
mechanistischer  Erkenntnis.  Diese  behauptet  ja  gerade  nur 
„ein"  gesetzmäßiges  Geschehen,  keinen  Unterschied  zwischen 
Leben  und  Tod,  denn  sonst  müßte  man  einen  Lebensstoff 
im  Raum  annehmen.  Wenn  aber  alles  Geschehen  aus  den 
Konstellationen  der  Substanz  als  stetige  Veränderung  er- 
klärt werden  kann,  was  geht  es  dann  die  Wissenschaft  noch 
an,  daß  das  naive  Denken  ein  Leben  annimmt  ?  Geben  wir 
aber  einmal  zu,  daß  der  Begriff  „Leben"  mit  dem  Mechanis- 
mus vereinbar  sei,  so  würde  der  Grundsatz  der  Biologie 
trotzdem  sinnlos  sein.  Wenn  das  Leben  mechanistisch  er- 
klärt werden  soll,  muß  man  von  einer  zeitlosen  Gesetz- 
mäßigkeit ausgehen.  Man  könnte  nur  untersuchen,  aus  welcher 


—  126  — 

Substanzkonstellation  als  Folge  Leben  entsteht.  Wenn  diese 
Konstellation  sich  wiederholt,  so  ist  es  selbstverständlich, 
daß  wieder  Leben  entsteht.  Man  muß  also  von  der  Idee  aus- 
gehen, daß  jeden  Moment  Leben  entstehen  kann.  Denn  jeden 
Moment  könnte  sich  die  Substanzkonstellation  wiederholen. 
Daß  also  ein  lebender  Organismus  entsteht,  wäre  genau  so 
wenig  wunderbar,  wie  daß  ein  Stein  fällt.  Jener  Grundsatz 
ist  freilich  richtig,  aber  er  besagt  nichts  anderes,  als  daß  der 
Organismus  nicht  mechanistisch  als  Teil  der  Substanz  im 
Raum  gedacht  werden  darf,  sondern  nur  als  Teil  der  histori- 
schen Lebensreihe.  Man  behauptet,  daß  er  nicht  mecha- 
nistisch gedacht  werden  darf,  und  einen  Moment  später,  daß 
er  so  gedacht  werden  soll.  In  seinen  Taten  aber  entscheidet 
man  sich  für  das  Erste.  Das  ist  die  Unlogik  unseres  Monis- 
mus, unserer  vorgeblich  mechanistischen  Biologie. 

Am  merkwürdigsten  wird  die  Zusammenstellung  von 
Entwicklung  und  Mechanismus;  denn  hier  ist  es  ja  ganz 
deutlich,  daß  man  die  Idee  der  Zeitform  zugrunde  legt,  die 
gerade  Chemie  und  Physik  als  irrtümlich  aufheben 
wollen.  Durch  die  Stellung  des  Problems  schneidet  man  den 
Mechanismus  ab.  Dieser  kann  überhaupt  den  Begriff  „Ent- 
wicklung" gar  nicht  kennen,  sondern  nur  den  der  Verände- 
rung. Er  gäbe  sich  sonst  selber  vollständig  auf.  Man  hat 
gemeint,  daß  die  Geschichte  nur  deswegen  von  Entwick- 
lung sprechen  darf,  weil  sie  einen  Wert  annimmt,  die 
Naturwissenschaft  nicht,  weil  sie  keine  Bewertung  an  die 
Welt  anlegen  darf.  Dies  ist  aber  eine  völlig  dogmatische 
Konstatierung  des  Wertes  als  einer  notwendigen  Idee  der 
Geschichte.  Sie  ist  schon  deswegen  falsch,  weil  auch  das 
Unwertvolle  wie  alles  im  Leben  historisch  begriffen  werden 
kann.  Die  Entwicklung  ist  logisch  auch  gar  nicht  durch 
ein  wertvolles  Ende  charakterisiert.  Allerdings  kennt  der 
Mechanismus  keinen  Wert,  die  Geschichte  an  sich  aber 
auch  nicht.  Es  ist  ganz  gleichgültig,  ob  man  unter  Zu- 
grundelegung   irgend  eines    Wertmaßstabes   den   Menschen 


—  127  — 

für  höher  entwickelt  hält  als  die  Amöbe.  Hoch  und  niedrig 
kommt  für  die  Biologie  gar  nicht  in  Betracht.  Ihr  logisches 
Charakteristikum  ist  nur  die  Idee  der  zeitlichen  Identität, 
was  sie  absolut  von  der  Veränderung  des  Mechanismus 
trennt.  Da  im  Raum  kein  Huhn  existiert,  kann  dort 
auch  keine  Entwicklung  des  Huhns  stattfinden.  Im  Raum 
ist  es  nur  die  Substanz,  die  sich  verändert.  Der  Begriff  des 
,, Neuen'*  existiert  für  den  Mechanismus  nur  insofern,  als  die 
Konstellation  der  Substanz  neu  ist.  Es  gibt  keine  Geburt 
und  keinen  Tod,  sondern  nur  Ewigkeit.  Deswegen  kann 
es  auch  keine  Entwicklung  geben.  Es  wäre  wieder  ganz 
töricht  zu  fragen,  ob  die  Entwicklung  mechanistisch 
erklärbar  ist  oder  nicht.  Man  kann  nur  fragen,  ob  eine 
Entwicklung  gedacht  werden  muß.  Denn  damit  ist  schon 
gesagt,  daß  man  nicht  mehr  mechanistisch  denkt.  Sowie 
man  eine  Identität  in  der  Zeit  annimmt,  die  sich  entwickelt, 
hat  man  den  Boden  des  Mechanismus  verlassen,  der  die 
Identität  nur  auf  die  Elemente  der  Substanz  beziehen,  das 
Geschehen  nur  als  Veränderung  ihrer  Konstellation  er- 
klären kann. 

Für  den  Monismus  besteht  das  Hauptdogma  darin,  daß 
wir  keinen  Zweck  zur  Erklärung  der  Erscheinung  annehmen 
dürfen.  Es  läßt  sich  aber  zeigen,  daß  die  heute  bestehende 
Biologie  absolut  von  dieser  Idee  ausgeht. 

Aristoteles  hatte  Recht,  als  er  die  Form  oder  die  Einzel- 
substanz mit  dem  Zweck  in  Zusammenhang  brachte.  Ich 
zeigte  oben,  wie  die  Existenz  des  Tisches  bis  heute  nicht  als 
Substanzkonstellation  erklärt  worden  ist,  daß  man  ihn  viel- 
mehr als  Zeitform  historisch  verstanden  hat.  Man  faßt  ihn 
nämlich  als  das  Werk  einer  Handlung  auf,  die  eine  frühere 
wiederholt.  Man  würde  es  nicht  begreifen,  wenn  die  Hand- 
lung nicht  die  Wiederexistenz  der  früheren  Form  zum  Zweck 
hätte.  Natürlich  gibt  es  im  Raum  des  Mechanismus  keine 
Wiederexistenz  einer  Zeitform.  Denn  alles  was  existiert, 
existiert  ewig.    Der  Tisch  existiert  überhaupt  nur  als  Zweck- 


—  128  — 

gegenständ.  Wenn  er  nicht  mehr  als  Tisch  zu  gebrauchen  ist, 
sondern  nur  ein  Haufen  Bretter  und  Nägel  ist,  ist  er  eben  kein 
Tisch  mehr.  Die  Betrachtung  wiederholt  sich  aber.  Der  Nagel 
ist  eine  Form,  die  als  Zweck  existiert  und  mit  ihm  aufhört. 
Aristoteles  war  mit  dem  Aufbau  der  Formen  völlig  im 
Recht.  Nur  sah  er  leider  nicht  klar  genug  den  Gegensatz  der 
historischen  und  der  naturwissenschaftlichen  Vernunft.  Er 
konnte  es  deshalb  nicht,  weil  er  von  dem  „sprachlichen" 
Urteil  ausging.  In  ihm  aber  drücken  sich  beide  Erkenntnis- 
weisen aus.  Sprachlich  ist  es  kein  Unterschied,  ob  ich  sage : 
hier  existiert  ein  Tisch,  oder  ob  ich  sage:  hier  existieren 
Radiumelemente.  Logisch  aber  besteht  ein  ungeheurer 
Unterschied.  Das  einemal  konstatiert  man  nämlich  die 
Existenz  eines  historischen  Objekts  von  bestimmter  Dauer, 
das  anderemal  die  Existenz  von  zeitlosen  Elementen.  Wenig- 
stens muß  die  Naturwissenschaft  von  dieser  Idee  ausgehen. 
Daß  das  Radium  solch  ein  zeitloses  Element  ist,  ist  damit 
nicht  gesagt.  Die  Unterscheidung  der  Einzelsubstanz  und 
der  allgemeinen  Substanz  läßt  sich  nur  rechtfertigen  durch 
den  Dualismus  des  historischen  und  des  naturwissenschaft- 
lichen Denkens.  In  der  Form  liegt  aber  schon  der  Zweck- 
begriff, und  dies  gilt  auch  für  die  Biologie. 

Wenn  man  es  nämlich  natürlicher  findet,  daß  aus  einem 
Hühnerei  ein  Huhn  und  kein  Wolf  entsteht,  so  ist  das  nur 
deshalb  möglich,  weil  man  die  Zukunft  des  Eies  vorher 
determiniert.  Man  hat  dafür  auch  ein  Wort,  nämlich  Anlage, 
Disposition,  Id  oder  wie  man  es  immer  nennt.  Für  die 
Biologie,  die  behauptet,  mechanistische  Wissenschaft  zu 
sein,  ist  es  leider  nur  ein  Wort  geblieben,  wo  die  Begriffe 
fehlen.  Wenn  man  sich  den  Sinn  des  Wortes  vergegen- 
wärtigt, so  ist  es  nicht  möglich  zu  behaupten,  daß  man 
keinen  Zweck  zugrunde  legt.  Sein  logisches  Charakteristi- 
kum besteht  nicht  darin,  daß  etwas  gut  ist;  denn  das  setzt 
selber  schon  wieder  einen  andern  Zweck  voraus,  nämlich  in 
dem,  wozu  es  gut  ist.    Kritisch  kann  man  den  Zweckbegriff 


—  129  — 

nur  als  ein  Prinzip  des  Denkens  fassen,  und  zwar  nur  durch 
seinen  Gegensatz  zur  Ursache.  Zweck  und  Ursache  ent- 
sprechen der  historischen  und  der  reinen  Vernunft.  Man  kann 
nicht  nach  dem  Wesen  der  Ursache  fragen,  ohne  sie  als  Prin- 
zip der  Erkenntnis  zu  bestimmen.  Erst  durch  diese  wird 
etwas  zur  Ursache.  Ganz  dasselbe  trifft  für  den  Zweck  zu. 
Das  Wesen  der  Ursache  besteht  darin,  daß  das  Geschehen 
rein  aus  der  Gegenwart  allein  bestimmbar  ist.  Das  Wesen 
des  Zwecks  ist  nicht  anders  zu  bestimmen,  als  daß  eine  Ver- 
änderung durch  die  Zukunft  bestimmt  wird,  durch  das,  was 
eintreten  wird.  Einen  größeren  Gegensatz  als  zwischen 
Zweck  und  Ursache  kann  es  nicht  geben.  Wenn  die  Biologie 
überhaupt  die  Existenz  der  Zeitform  Organismus  annimmt, 
dann  denkt  sie  auch  nach  dem  Prinzip  des  Zwecks,  nämlich 
ein  Geschehen,  das  nicht  durch  Ursachen  bestimmt  wird, 
sondern  als  Werden  durch  Zwecke.  In  der  Problemstellung 
liegt  schon  der  Zweck  als  Idee  a  priori.  Wenn  ich  die  Ent- 
wicklung des  Eies  zum  Huhn  zum  Gegenstand  der  Betrach- 
tung mache,  so  bestimme  ich  das  Geschehen  mit  dem  Ei 
darnach,  daß  es  ein  Huhn  wird.  Lege  ich  eine  Einheit  in 
der  Zeit  zugrunde,  die  ihre  bestimmte  Dauer  hat,  nämlich 
die  Entwicklung  des  Eies,  so  determiniere  ich  schon  das 
Geschehen  nach  dem,  was  sein  wird,  d.  h.  nach  dem  Zweck. 
Dieses  Werden  ist  selbstverständlich  durch  mechanistische 
Ursachen  beeinflußbar.  Eine  Blume  kann  durch  Ursachen 
in  eine  spezifische  Raumform  gezwungen  werden.  Ein  Kind 
kann  durch  mechanische  Ursachen  verkrüppelt  zur  Welt 
kommen.  Trotzdem  widerlegt  dies  nicht,  daß  man  von 
einem  Zweck  ausgeht.  Dieser  liegt  in  der  historischen  Be- 
stimmung „Hühnerei".  Man  determiniert  das  Geschehen 
durch  einen  Zweck  uud  erklärt  es  nicht  durch  die  mit 
dem  Ei  gleichzeitig  existierenden  Ursachen.  Mit  dem 
Namen  Anlage  hat  man  das  Prinzip  nicht  geändert.  Sie 
beruht  selbst  auf  der  historischen  Bestimmung  nach  dem, 
was  sein  wird.   Die  moderne  Naturgeschichte  ist  nur  insofern 

Strich,  Prinzipien.  9 


—  130  — 

kritisch  geworden,  als  sie  eben  Geschichte  ist.  Sie  will  im 
Prinzip  keinen  Zweck  anerkennen,  der  nicht  schon  einmal 
wirklich  war.  Sie  muß  die  für  das  Werden  maßgebende 
Form  als  Wiederholung  einer  früher  schon  realisierten  nach- 
weisen. Der  Unterschied  zur  Ursache  läßt  sich  also  genau 
so  gut  durch  die  verschiedene  Stellung  zur  Vergangenheit 
charakterisieren.  Der  Mechanismus  kennt  keine  Wieder- 
holung des  Werdens  einer  Form,  die  als  Erklärung  dienen 
kann,  weil  beide  Vorgänge  durch  die  zeitlosen  Gesetze  er- 
klärt werden  müßten.  Wir  werden  sehen,  daß  die  Biologie 
analog  der  Psychologie  jedes  „Neue"  nicht  erklären  kann, 
daß  in  dem  Begriff  der  Variation  jeder  Versuch  der  Erklä- 
rung ausgeschaltet  ist.  Die  Biologie  nimmt  eine  Beein- 
flussung der  Gegenwart  durch  die  Vergangenheit  an.  Für 
den  Mechanismus  aber  ist  die  Vergangenheit  nach  denselben 
Gesetzen  erklärbar  wie  die  Gegenwart.  Diese  Beeinflussung 
ist  aber  nur  dadurch  möglich,  daß  die  Vergangenheit  als  der 
Zweck  des  gegenwärtigen  Werdens  gedacht  wird.  Das  Ende, 
das  jetzt  eingetreten  ist,  wird  als  Wiederholung  einer  früheren 
Form  aufgefaßt.  Man  denkt  also  das  Werden  danach,  daß  das 
Vergangene  wieder  wirklich  werden  soll,  und  nicht  mehr  als 
ein  Geschehen,  das  nur  durch  die  Gegenwart  allein  bestimmbar 
wäre.  Dieses  würde  voraussetzen,  daß  man  nur  die  Kon- 
stellation des  Zeitlosen  als  existierend  annimmt.  Der  Begriff 
der  Anlage  aber  durchbricht  diese  naturwissenschaftliche  Be- 
stimmung zugunsten  der  historischen.  Er  bezeichnet  gerade 
die  Tatsache  des  Zwecks  und  beseitigt  ihn  nicht  etwa.  Er  hat 
seinen  Sinn  nur  durch  die  Beziehung  der  Gegenwart  zur 
Zukunft  oder  zur  Vergangenheit.  Die  Geschichte  betrachtet  es 
als  ihre  Aufgabe,  die  Form,  der  das  Werden  des  Tisches  seinen 
Ursprung  verdankt,  schon  als  dagewesen  zu  entdecken.  Da  er 
nur  in  der  Zeit  existiert,  so  gäbe  es  keine  Erkenntnis  seiner 
Existenz,  wenn  wir  nicht  die  Form  schon  in  der  Vorzeit  als 
existierend  annehmen.  Wir  müssen  also  die  materielle  Kultur 
als  Entwicklung  verstehen,   als  Wiederholung  in  der  Zeit, 


—  131  — 

aber  nicht   ah  Wii  Kind  immer  Kopie 

des   Vaters,    würde    es  wohl  auch  ke:r.~   Verändern:. 
UrzeLle  gegeben  haben.    Wir  er  nur  in  einem 

Fa.  .  in  Wahrheit  kömmt  -  auf 

heraus.    Dieser  Begriff  meint  nur.  daß  das.  was  da  war.  als 

ziichkeit  besteht,  zu  werden       In  daß  das.  w^  ien 

soll   in  demseLbri.   Z  imal  da  war. 

.     -seitigt  also  durchaus  nicht  c --:.  Zweck,  sonc 
sie  bringt  ihn  nur  in  einen  historischen  Zusammenhang  mit 
de:  -cügenheit.    V  _  nd- 

Hcher  ist,  daß  ein  Huhn  aus  einem  Huhne:  -teht  und 

kein  V  beruht  :auf.  daß  Ei  ah  7 

Zeit  auffaßt  und  seine  Vi  rh clung  eines 

>chehens  in  diesem  3  Biologie  hat  nc 

weisen  können,  daß  es  im  großen  und  ganzen  sich  jedesmal 

um    eine    W  _         -    ganzer.    Zeitsystems    hanc 

Man  nennt    ;         Tataa         las  L    .  Grundges 

allgemeinerung   ist    aber   noch   nicht    ein    Ges 

ses  ist  von  den.  Begriff  ;  .nabtrennbar.    Daß 

die  Tatsache  richtig  will  ich  nicht  besti  aber  man 

hat  kein  Geschehen  aus  einer  T.  nur 

allgemeinste  Tatsache  itoriseh-bü  nt- 

nis  bescL:  Ifif  dieser  log  Kritik  soll  selbst 

ständlich    die    Entdecku:.^     lieser    Tatsache    nicht    herab- 
ges  er  ich  behaupte,  daß  das  logische  I 

auch  allein  auf  das  Ges  müßte.  Dies  kl: 

töricht,  nachdem  man  es  empirisch  gefunden  hat.  Ich  m- 
nur  Folgendes:  Hätte  man  erkannt,  daß  wir  jede  Entw. 
hing  nur  verstehen  als  W  .  in  dem  Zollsystem 

:3  man  sich  sagen,  dal  -.usschnitt. 

der  wiederholt  wird,  ganz  zufällig  sein  mu£      5  .em 

Zeitpunkt  besteht  überhaupt  das  Huhn,  wo  man  doch  an- 
nimmt,  daß  es  selbst  1-dung  der  Urzelle  nur 

ein  Teil  ist  ?    Es  kann  kein  absoluter  Abschnitt  aus  diesem 

enssystem    ~  .oh    i  g jar    kein    solcher 


—  132  — 

existiert,  denn  das  hypothetisch  erste  Huhn  stammt  doch 
von  etwas,  was  noch  nicht  Huhn  gewesen  ist.  Was  hat  aber 
dieses  wiederholt  ?  Und  so  fort.  Nimmt  man  also  eine 
Entwicklung  an  und  weiß  man,  daß  sich  jedes  Werden  eines 
Organismus  nur  als  Wiederholung  des  Vergangenen  erkennen 
läßt,  so  ist  es  nur  eine  logische  Konsequenz,  wenn  man  an- 
nimmt, daß  die  ganze  Vergangenheit  sich  wiederholt.  Das 
Gesetz  hätte  also  entdeckt  werden  können  als  eine  Tatsache, 
von  der  wir  ausgehen  müssen,  wenn  wir  nicht  unlogisch  sein 
wollen.  Nur  dann  aber  wird  es  zur  logischen  Konsequenz,  wenn 
man  sich  die  Prinzipien  unserer  tatsächlichen  historisch-biologi- 
schen Erkenntnis  klar  gemacht  hat.  Gerade  das  biogenetische 
Grundgesetz  ist  ein  Beweis  gegen  den  Monismus  und  die 
mechanistische  Biologie.  Denn  man  beweist  damit,  daß  die 
Veränderung  des  Eies  nicht  als  Veränderung  der  Substanz 
nach  zeitlosen  Gesetzen  aufgefaßt  werden  darf,  nicht  als 
Veränderung  durch  Ursachen,  sondern  daß  jeder  Organis- 
mus in  seinem  Werden  bestimmt  ist  durch  das,  was  sein 
wird,  durch  einen  Zweck.  Denn  jeder  Organismus  ist  als 
Ur-  oder  Einzelle  determiniert,  das  zu  werden,  was  seine 
Eltern  waren.  Diese  Determination  durch  den  Zweck  nehmen 
wir  eo  ipso  an,  wenn  wir  von  einer  Entwicklung  zum  Huhn 
oder  Menschen  sprechen. 

Man  wird  nun  vielleicht  einwenden,  daß  der  Begriff 
„Determination"  ja  schon  ein  mechanisches  Geschehen  be- 
deutet. Das  ist  aber  ein  grober  psychologistischer  Irrtum. 
Man  kann  ein  Geschehen  durch  einen  Zweck  determinieren 
und  durch  eine  Ursache.  Determinieren  heißt  nur  ein  Ge- 
schehen erkennen,  von  etwas  abhängig  machen.  Der  Mecha- 
nismus ist  aber  von  der  Ursache  und  dem  zeitlosen  Gesetz 
gar  nicht  zu  trennen.  Hier  aber  erkennt  man  kein  Geschehen 
aus  einem  zeitlosen  Gesetz,  keine  Ursache,  die  eine  Ver- 
änderung bewirkt,  sondern  man  erkennt  ein  Geschehen  als 
Entwicklung  zu  dem,  was  sein  soll.  Es  gibt  hier  also  keine 
Ursache  und  keine  Wirkung.    Damit  kann  aber  auch  von 


—  133  — 

Mechanismus  nicht  die  Rede  sein.  Nur  der  Name  „Gesetz" 
stellt  eine  Gleichheit  her,  die  den  tiefen  logischen  Unter- 
schied verdeckt.  Weil  es  „immer"  geschieht,  ist  es  logisch 
noch  kein  Naturgesetz.  Das  ist  der  Psychologismus  in  dem 
Einwand.  Man  lehnt  es  sofort  ab,  nach  Ursache  und  Wirkung 
zu  forschen,  wenn  man  die  Idee  der  Entwicklung  zugrunde 
legt. 

Der  geniale  Gedanke  von  Kant  war  der,  daß  das  Gesetz 
der  Kausalität  gültig  ist,  weil  sonst  keine  Objektivierung  des 
Zeitgeschehens,  keine  Naturerkenntnis  möglich  wäre.  Die 
objektive  Folge  ist  eine  Synthese  zweier  Phänomene  in  der 
Zeit.  Der  nächste  Moment  ist  aber  nur  dann  objektiv  eine 
Folge,  wenn  er  durch  das  Gesetz  synthetisch  mit  dem  vorher- 
gehenden Moment  verbunden  ist.  Zwei  verschiedene  Zeit- 
momente sind  nur  dann  Folge  im  objektiven  Sinne,  wenn  der 
eine  als  Ursache  des  andern  gedacht  werden  kann.  Sonst 
wäre  die  Zeitfolge  nur  ein  Zufall  der  Wahrnehmung;  sie 
ließe  sich  auch  umgekehrt  denken.  Der  subjektiv  folgende 
Moment  wird  erst  durch  die  Kausalität  zur  objektiven  oder 
wirklichen  Folge.  Die  Idee  der  Entwicklung  aber  geht  nicht 
davon  aus,  die  objektive  Folge  zweier  Momente  zu  erkennen, 
sondern  sie  behauptet  gerade  eine  Einheit,  die  mehrere 
Momente,  mehrere  Stunden  oder  Jahre  dauert.  Ihre  Phä- 
nomene sind  reale  Zeitteile  von  Dauer.  Wenn  sie  eine  Ein- 
heit des  Organismus  in  der  Zeit  und  sein  Werden  annimmt, 
so  faßt  sie  die  Welt  nicht  mehr  als  eine  Folge  von  Momenten 
auf,  die  nur  durch  das  Gesetz  der  Kausalität  erkennbar  wäre, 
zwischen  denen  erst  die  Erkenntnis  eine  Synthesis  nach 
Ursache  und  Wirkung  konstruieren  muß.  Sie  geht  vielmehr 
a  priori  von  der  Synthesis  in  der  Zeit  aus,  von  der  Einheit 
des  Werdens,  das  einige  Zeit  dauert.  Sie  kann  nicht  nach 
den  Ursachbeziehungen  suchen,  die  den  folgenden  Moment 
bestimmen,  weil  sie  ja  von  der  Einheit  der  Zeitspanne  selbst 
ausgeht.  Der  nächste  Moment  ist  für  sie  nichts  Neues,  was 
erklärt  werden  müsse,  sondern  er  ist  von  vornherein  schon 


—  134  — 

da  als  Teil  der  Entwicklung,  die  in  der  Zeit  vor  sich  geht. 
Die  Zeit  selbst  ist  ihre  Realität.  Die  Momente  der  Entwick- 
lung existieren  für  das  Denken  alle  auf  einmal,  wie  die  Teile 
des  Raums  alle  zugleich  da  sind.  Das  Ende  der  Entwicklung 
existiert  schon  mit  dem  Anfang.  Die  Realität  ist  das  Werden 
selbst,  das  eine  Dauer  hat.  Der  Naturwissenschaftler  aber 
denkt  nur  den  Raum  in  der  Zeit.  Für  ihn  existiert  der  nächste 
Moment  nicht,  sondern  nur  die  Gegenwart.  Infolgedessen 
muß  er  ihn  erklären,  wenn  er  ihn  erkennen  will.  Er  muß 
ihn  als  Wirkung  einer  Ursache  auffassen  und  nicht  als  spä- 
teren Teil  —  man  erlaube  mir  das  Paradox  —  eines  gleich- 
zeitigen Moments.  Für  den  Biologen  ist  der  Moment  schon 
da.  Der  Naturwissenschaftler  muß  ihn  erst  beweisen.  Die  Folge 
ist  schon  objektiv,  weil  sie  als  die  zugrundegelegte  dauernde 
Einheit  existiert;  sie  ist  in  diesem  Sinne  gegeben,  während 
der  Naturwissenschaftler  die  „wirkliche"  Folge  erst  durch 
die  Kausalität  konstruieren  muß.  Darum  ist  die  Biologie 
beschreibende  Geschichte  und  nicht  erklärende  Naturwissen- 
schaft. Das  biogenetische  Grundgesetz  ist  kein  Naturgesetz, 
weil  es  gar  nicht  die  Synthese  der  Zeit  durch  Ursache  und 
Wirkung  darstellt,  sondern  nur  die  Erzählung  von  einer  sich 
immer  wiederholenden  Geschichte  bedeutet.  Es  besteht  eben 
doch  ein  Unterschied  zwischen  Tatsache  und  Gesetz.  Daß 
die  Planeten  sich  um  die  Sonne  bewegen,  ist  kein  Gesetz, 
obwohl  es  immer  geschieht.  Ein  Gesetz  ist  logisch  nur  mög- 
lich durch  eine  Theorie,  durch  die  Konstruktion  der  Ab- 
hängigkeit. Daß  ein  Geschehen  ,, immer"  eintritt,  ist  noch 
kein  Beweis  für  den  Mechanismus,  wenn  man  nicht  eine 
zeitlose  Bedingung  hat,  die  dem  Geschehen  vorangeht. 
Das  ,, Immer"  muß  nicht  nur  psychologisch,  sondern  logisch 
ein  ,, Immer"  sein:  es  muß  den  Sinn  von  Ewigkeit  und  Zeit- 
losigkeit  haben.  Dies  kann  für  das  biogenetische  Grund- 
gesetz schon  deswegen  nicht  zutreffen,  weil  das  Leben  in 
seiner  Entwicklung  nur  einen  Ausschnitt  aus  der  Ewigkeit 
bedeutet.    Das  Gesetz  gilt  als  Idee  für  die  Ewigkeit.    Das 


—  135  — 

biogenetische  Grundgesetz  aber  bezeichnet  der  Ewigkeit 
gegenüber  nur  ein  öfteres  Geschehen,  das  erst  durch  ein 
mechanistisches  Naturgesetz  zum  zeitlosen  gemacht  werden 
könnte,  durch  ein  Gesetz,  das  in  der  Welt  schon  herrschte, 
bevor  es  ein  Leben  in  ihr  gab.  Findet  man  das  absurd,  so 
beweist  man  nur  den  diametralen  Gegensatz  zwischen  Leben 
und  Mechanismus. 

Von  einer  Determinierung  der  Zukunft  kann  nur  dann 
gesprochen  werden,  wenn  man  ein  Geschehen  aus  dem 
Zweck  oder  Ziel  erkennt.  Der  Mechanismus  kennt  in  Wahr- 
heit, wie  wir  noch  sehen  werden,  nur  „eine"  Determinierung 
des  Geschehens,  nämlich  in  dem  Begriff  der  Bewegung. 
Diese  Determination  wird  durch  das  Prinzip  des  Trägheits- 
gesetzes inhaltlich  wieder  aufgehoben.  Eine  Ursache  be- 
stimmt das  Geschehen  nur  insoweit,  als  durch  sie  eine  Be- 
wegung bestimmt  wird.  Diese  Bewegung  aber  ist  noch  kein 
inhaltliches  Geschehen.  Wenn  eine  Kugel  aus  der  Kanone 
fliegt,  so  ist  dadurch  das  Geschehen  nicht  determiniert, 
auch  wenn  ich  die  Kraft  genau  kenne,  die  sich  hier  in  Be- 
wegung umsetzt.  Das  Phänomen  besteht  vielmehr  in  der 
Kurve  des  Weges,  den  die  Kugel  durchmißt.  Diese  aber  ist 
bestimmt  durch  Faktoren,  die  auch  außerhalb  der  Bewegung 
selbst  liegen.  Gerade  das  ist  der  wesentliche  Unterschied 
des  Mechanismus  und  der  Biologie.  Das  Ei  ist  determiniert, 
ein  Huhn  zu  werden,  wenn  auch  dieses  Werden  mecha- 
nisch beeinflußbar  ist.  Der  Embryologe  kann  das  Werden 
des  Menschen  nicht  erklären,  weil  er  seine  Existenz  schon 
in  den  Keim  verlegt.  Er  kann  auch  kein  einzelnes  Glied  er- 
klären, und  seine  Fragestellung  geht  auch  gar  nicht  darauf. 
Er  forscht  nur  danach,  wo  heraus  sich  das  Glied  entwickelt 
hat.  Die  Biologie  hat  besonders  bei  niederen  Tieren  hoch- 
interessante Entdeckungen  gemacht.  Man  kann  etwa  durch 
Beseitigung  eines  winzigen  Teils  des  Eies  die  Entwicklung 
eines  Gliedes  inhibieren.  Es  ist  nicht  wunderbar,  daß  das 
bei  den  niederen  Tieren  besser  geht  als  bei  den  höheren. 


—  136  — 

Da  die  Metamorphose  bei  ihnen  nicht  so  viel  Stadien  durch- 
laufen muß,  so  ist  die  Ähnlichkeit  zwischen  dem  Ei  und  dem 
fertigen  Organismus  eine  viel  größere  als  beim  Menschen,  wo 
erst  in  einem  späteren  Zeitpunkt  etwas  Menschenähnliches 
entsteht.  Bei  derartigen  anatomischen  Eingriffen  tut  man  also 
nichts  weiter,  als  daß  man  einem  Tier  ein  Glied  entfernt.  Wir 
haben  vorläufig  noch  keine  Ähnlichkeit  entdeckt  zwischen  dem, 
was  man  entfernt,  und  dem  später  fehlenden  Gliede.  Allein 
was  ist  Ähnlichkeit  ?  Tatsächlich  müssen  wir  behaupten,  daß 
wir  dieses  Glied  entfernt  haben.  Entwicklung  heißt  nichts 
anderes,  als  daß  aus  diesem  Teil  ein  Bein  wird.  Von  welchem 
Zeitpunkt  ab  man  es  ein  Bein  nennt,  ist  ganz  vage.  Eine 
logische  Grenze  läßt  sich  nicht  ziehen.  Das  Bein  „wird", 
es  beginnt  schon  im  Ei.  Seine  Existenz  ist  schon  mitgesetzt, 
wie  das  fertige  Huhn  in  der  Bestimmung  „Hühnerei"  mit- 
gesetzt ist.  Deshalb  kann  sie  auch  nicht  erklärt  werden. 
Wenn  ich  einem  Kind  ein  Bein  amputiere,  ist  es  nicht  wunder- 
bar, daß  es  als  erwachsener  Mensch  kein  Bein  mehr  hat. 
Ganz  das  gleiche  ist  der  Fall,  wenn  ich  einem  Ei  etwas  ab- 
schneide. Wunderbar  ist  eigentlich  nur  das  Gegenteil,  näm- 
lich die  Regeneration.  Es  ist  bekannt,  daß  man  mechanisch 
die  Entwicklung  beeinflussen  kann.  Damit  kann  man  alles 
erklären  —  nur  nicht  die  Entwicklung.  Die  Erklärung  stützt 
sich  nämlich  auf  zwei  Komponenten,  auf  die  Determination 
eines  Teils,  etwas  Bestimmtes  zu  werden,  und  die  Ursache, 
die  dieses  Werden  beeinflußt.  Die  mechanischen  Ursachen 
liegen  also  außerhalb  der  Determination.  Der  Mechanismus 
bedeutet  deswegen  gerade  einen  Gegensatz  zur  Determination, 
weil  er  im  Prinzip  nichts  auf  Zwecke,  sondern  alles  auf 
Ursachen  zurückführt.  Oder  man  teile  das  „Wort"  und 
spreche  von  immanenter  und  äußerer  Determination.  Imma- 
nent heißt  die  Bestimmung  nach  dem  Ziel.  Ein  Körper  ist 
bestimmt,  etwas  zu  werden.  Der  Mechanismus  kann  dieses 
Werden  nicht  anerkennen,  weil  sein  Prinzip  darin  besteht, 
ein   Geschehen  durch  die  Ursache  zu  erklären,  durch  das, 


—  137  — 

was  außerhalb  von  ihm  liegt.  Nur  das  kann  eine  Ursache  sein. 
In  der  Biologie  aber  ist  dies  Geschehen  immanent  deter- 
miniert, weil  das  Ende  schon  am  Anfang  angenommen  wird 
und  nicht  erst  synthetisch  durch  Ursachen  mit  der  Zeitreihe 
verbunden  werden  muß. 

In  einem  Falle  aber  geht  auch  der  Mechanismus  von 
einer  immanenten  Determination  aus,  und  dies  ist  deswegen 
so  bedeutsam,  weil  dadurch  bewiesen  wird,  daß  mit  der 
Anerkennung  der  Zeit  als  Realität  auch  der  Begriff  des 
Zwecks  zugrunde  gelegt  wird.  Die  Naturwissenschaft  stellt 
die  Welt  als  eine  Konstellation  von  Elementen  dar.  Wenn 
aber  alles  als  durchgängige  Kausalität,  als  Wirkung  der 
vorhergehenden  Konstellation  dargestellt  werden  kann,  so 
würde  die  Zeit  auflösbar  sein  in  ein  „Nebeneinander" 
solcher  Konstellationen,  d.  h.  die  Zeit  selbst  wird  als 
Realität  negiert.  „Wirklich"  ist  nur  die  Konstellation  im 
Raum.  Diese  Anschauung  aber  führt  zu  unlösbaren  Wider- 
sprüchen: zu  den  eleatischen  Trugschlüssen.  Existiert  die 
Zeit  nur  als  das  Nebeneinander  von  Raumkonstellationen 
oder  der  Raum  nur  in  der  Zeit,  diese  selbst  aber  nicht  als 
Realität,  so  kann  Achilles  die  Schildkröte  nicht  einholen, 
wenn  sie  nur  einen  kleinen  Vorsprung  hat.  ,,Er  kann  es  nicht," 
heißt:  wir  könnten  das  Phänomen  denkend  nicht  darstellen. 
Keine  Integral- und  Differentialrechnungkann  den  Widerspruch 
lösen.  Der  Trugschluß  der  Eleaten  liegt  vielmehr  darin  be- 
gründet, daß  sie  nur  den  Raum  als  Realität  annehmen.  Von  dem 
mechanistischen  Ursachdenken,  von  der  reinen  Vernunft  aus, 
sind  sie  aber  vollständig  im  Recht.  Sie  konstruiert  wirklich 
die  zeitlose  Substanz  und  das  zeitlose  Reich  der  platonischen 
Ideen  oder  Gesetze.  Ursache  ist  für  sie  das,  was  da  ist. 
Geht  man  aber  von  dem  Zeitlosen  aus,  so  kann  man  selbst- 
verständlich die  Zeit  selbst  nicht  erklären.  Der  Trugschluß 
liegt  darin,  daß  man  die  Existenz  der  Zeit  nicht  erklären 
kann,  wenn  man  nicht  die  Zeit  von  vornherein  als  Realität 
annimmt.    Die  Eleaten  haben  nicht  bewiesen,  daß  es  keine 


—  138  — 

Bewegung  geben  kann,  sondern  sie  haben  angenommen, 
daß  es  keine  Bewegung  gibt.  Und  diese  Annahme  liegt  darin, 
daß  sie  die  Realität  der  Welt  nur  im  Raum  sahen,  daß  sie 
die  Zeit  nur  als  eine  Anordnung  verschiedener  Raumkonstel- 
lationen betrachteten.  Es  läßt  sich  keine  Bewegung  erklären, 
wenn  man  nicht  die  Realität  der  Bewegung  von  vornherein 
annimmt.  Man  kann  nicht  die  Existenz  des  Raums 
erklären,  sondern  nur  das  ,, Dortsein".  Der  Trugschluß 
ist  also  eine  petitio  prinzipii.  Wenn  ich  keine  Realität 
der  Bewegung  denke,  dann  kann  ich  keine  Realität  der  Be- 
wegung denken.  Die  Eleaten  hätten  aus  ihrem  Beispiel 
ebensogut  den  Schluß  ziehen  können:  es  gibt  nur  den  Raum 
und  keine  Zeit.  Die  Anerkennung  der  Realität  der  Bewegung 
ist  die  Anerkennung  der  Realität  der  Zeit  und  nicht  mehr 
die  des  Raums  in  der  Zeit.  Wenn  ich  nämlich  die  Bewegung 
des  Achilles  als  eine  Reihe  von  Raumkonstellationen  denke, 
so  denke  ich  nicht  mehr  eine  Bewegung.  Wenn  ich  den  Tisch 
als  Ausschnitt  der  Substanz  denke,  als  die  Raumanordnung 
ihrer  Elemente,  dann  denke  ich  nicht  mehr  den  Tisch.  Es 
kommt  aber  vor  allem  darauf  an,  daß  man  die  Realität 
erkenntniskritisch  zugrundelegt.  Die  Realität  des  Tisches 
liegt  in  dem  Denken  einer  dauernden  Identität,  ohne  daß 
diese  ein  zeitloses  Element  im  Raum  der  Naturwissenschaft 
wäre.  Wenn  in  zwei  Momenten  aber  dasselbe  existiert,  ohne 
daß  es  selbst  zeitloser  Raumteil  ist,  so  kann  ich  sagen,  daß 
der  Moment  mit  dem  folgenden  gleichzeitig  existiert,  denn 
er  ist  nur  eine  Eigenschaft  des  dauernd  Existierenden.  Es 
ist  zwar  völlig  unlogisch,  daß  das,  was  als  Folge  in  der  Zeit 
existiert,  gleichzeitig  da  sein  soll.  Aber  ich  behaupte  ja 
auch  gerade,  daß  die  metaphysisch  „eine"  Welt  nicht 
logisch  zu  Ende  gedacht  werden  kann.  Wenn  ich  den 
Monismus  bekämpfe,  so  stütze  ich  mich  nicht  auf 
religiöse  Dogmen,  sondern  nur  auf  die  Unmöglichkeit, 
die  Welt  restlos  logisch,  nämlich  nach  einem  Prinzip, 
denken   zu   können.      Das   Unlogische   ist   kein  Fehler   des 


—  139  — 

Denkens,  sondern  es  beweist  nur  die  Unmöglichkeit,  „ein" 
Denken  anzunehmen.  Raum  und  Zeit  lassen  sich  nicht 
in  einem  logischen  Denken  verbinden,  weil  von  vornherein 
zwei  verschiedene  logische  Prinzipien  zugrunde  gelegt  werden. 
Da  aber  die  Welt  in  Raum  und  Zeit  existiert,  so  kann  alles 
nach  beiden  Prinzipien  gedacht  werden.  Infolgedessen  muß 
es  zu  Widersprüchen  kommen,  zu  Antinomien  der  Vernunft, 
die  allein  den  Dualismus  begründen  können,  sonst  wäre  er 
ein  Irrtum,  oder  umgekehrt:  eine  wirkliche  Antinomie  der 
Vernunft  kann  nicht  psychologisch  durch  ein  Bedürfnis 
begründet  werden,  sondern  nur  durch  einen  der  Vernunft 
immanenten  Dualismus. 

Wir  behaupten  in  einem  Urteil  eine  Existenz.  Wir 
sagen:  hier  existiert  ein  Körper  aus  den  und  den  Elementen. 
Der  Naturwissenschaftler  kennt  als  Ziel  nur  die  Behauptung 
zeitlos  existierender  Elemente.  Damit  leugnet  sein  Denken 
die  Realität  der  Zeit.  Zum  mindesten  berücksichtigt  er  sie 
nicht,  wenn  er  auch  als  Mensch  nicht  leugnen  wird,  daß  die 
Welt  zeitlich  abläuft.  Es  kommt  allein  auf  die  Analyse 
seines  Denkens  an.  Wenn  er  aber  die  Wirklichkeit  nur  nach 
dem  konstruiert,  wras  im  Raum  existiert,  so  erkennt  er  die 
Zeit  als  Realität  nicht  an.  Denn  die  Zeit  ist  kein  Substanz- 
element. Jeder  Moment  ist  nur  die  Gleichzeitigkeit  mehrerer 
Elemente.  Die  Zeit  wäre  nur  das  Nebeneinander  der  gleich- 
zeitigen Ordnungen.  Wenn  aber  die  Realität  der  Bewegung 
behauptet  wird,  so  kann  damit  auch  nur  eine  Existenz  be- 
hauptet werden.  Wenn  ich  sage:  in  diesem  Moment  existiert 
eine  Bewegung,  so  behaupte  ich  nicht  mehr  die  Gleich- 
zeitigkeit von  Elementen.  Damit  würde  ich  ja  gerade  keine 
Bewegung,  sondern  nur  eine  Konstellation  der  Substanz 
denken.  Bewegung  denke  ich  nur  dann,  wenn  ich  den  nächsten 
Moment  auch  schon  als  existierend  denke.  Da  mein  Urteil 
,,eine"  Existenz  behauptet,  so  behaupte  ich  also  eine  Existenz 
von  zwei  Momenten.  Wenn  ich  also  sage:  in  diesem  Moment 
existiert  eine  Bewegung,  so  behaupte  ich:  in  diesem  Moment 


—  140  — 

existieren  mehrere  Momente.  Und  dies  behaupte  ich  immer 
dann,  wenn  ich  nicht  nur  die  Realität  des  Raumes,  sondern 
auch  die  der  Zeit  anerkenne.  Denke  ich  die  Substanz,  so 
behaupte  ich  ausschließlich  die  Realität  des  Raumes.  Denke 
ich  aber  die  Zeit  als  Realität,  so  behaupte  ich,  daß  ,, jetzt" 
etwas  existiert,  was  als  Zeitfolge,  was  später  erst  existiert. 
Diese  Folge  existiert  in  einem  Moment,  oder  es  existiert 
etwas,  was  die  Eigenschaft  hat,  eine  Zeitlang  zu  dauern. 
Diese  Eigenschaft  existiert  aber  solange,  als  das  existiert, 
wovon  sie  gilt.  Folglich  existiert  die  Dauer  in  jedem  Moment, 
in  dem  der  Gegenstand  existiert.  Diese  Eigenschaft  ist  aber 
nichts  anderes  als  seine  Existenz  in  späteren  Momenten. 
Folglich  existiert  in  jedem  Moment  seine  Existenz  im  spä- 
teren, oder  die  spätere  Zeit  existiert  schon  jetzt.  Aus  diesen 
Widersprüchen  kommen  wir  nicht  heraus,  weil  wir  immer 
aussagen  müssen,  was  in  der  Zeit  existiert.  Wenn  wir  also 
eine  Realität  der  Zeit  behaupten,  so  behaupten  wir  die  Exi- 
stenz der  Zeit  in  der  Zeit.  Darin  liegt  das  Unlogische,  näm- 
lich daß  das,  was  selbst  Zeit  ist,  in  der  Zeit  existiert.  Für  den 
Raum  liegt  darin  keine  Unlogik.  Denn  einen  Raum  kann  ich 
als  Teil  eines  Raumes  denken.  Einen  realen  Zeitteil,  der 
selbst  Folge  ist,  kann  ich  aber  nicht  widerspruchslos  in  einer 
bestimmten  Zeit  als  existierend  denken. 

Interessant  wird  das  Problem  aber  erst  vom  Standpunkt 
der  idealistischen  Erkenntniskritik  aus.  Im  Moment,  wo 
wir  die  Realität  der  Bewegung  denken,  also  die  Realität  der 
Zeit,  denken  wir  auch  nach  dem  Prinzip  der  historischen 
Vernunft,  nach  dem  Zweck.  Solange  der  Mechanismus  aber 
dies  nicht  tut,  solange  kann  auch  Achilles  die  Schildkröte 
nicht  einholen.  Solange  kann  er  überhaupt  keine  Bewegung 
erklären.  Nach  Kant  kommt  die  Folge  nur  dadurch  zustande, 
daß  die  Momente  der  Zeit  voneinander  in  Ursache  und  Wir- 
kung abhängen.  Das  Denken  hat  erst  diese  Synthese  zu  kon- 
struieren. Dann  holt  Achilles  die  Schildkröte  nicht  ein,  dann 
existiert  nicht  die  Zeit,  sondern  nur  der  Raum.    Nur  wenn 


-   141  — 

ich  die  Realität  der  Zeit  in  irgend  einer  Form  selbst  denke, 
ist  dies  möglich.  Nur  wenn  ich  ein  dauerndes  Etwas  a  priori 
setze,  wenn  ich  nicht  mehr  die  Folge  als  Synthese  konstruiere, 
sondern  sie  selbst  für  das  Denken  schon  als  existierend  denke, 
kann  der  Pfeil  fliegen  oder  Achilles  die  Schildkröte  einholen. 
Nur  dann,  wenn  ich  mich  nicht  mehr  bemühe,  die  Zeit  zu 
erklären,  sondern  wenn  ich  ihre  Existenz  als  Realität  vor- 
aussetze, ist  dies  möglich.  Erkenne  ich  aber  die  Realität  der 
Zeit  an,  so  heißt  das,  daß  ich  einen  Moment  nicht  als  Folge 
des  vorhergehenden  erkläre,  sondern  schon  mit  ihm  als 
existierend  denke.  Dies  tut  der  Naturwissenschaftler  in  dem 
Begriff  der  Bewegung. 

Denke  ich  Bewegung  als  Realität  und  nicht  als  Neben- 
einander von  Raumkonstellationen,  so  denke  ich  die  Zu- 
kunft schon  in  der  Gegenwart  oder,  was  dasselbe  besagt, 
die  Zukunft  immanent  determiniert,  nicht  bestimmt  durch 
eine  äußere  Ursache,  sondern  durch  einen  Zweck,  durch  das 
was  werden  soll.  Würde  ich  den  Endpunkt  der  Bewegung 
des  Achilles  nicht  schon  am  Anfang  der  Bewegung  deter- 
miniert denken,  dann  könnte  Achilles  die  Schildkröte  nicht 
überholen,  d.  h.  ich  könnte  den  Endpunkt  niemals  logisch 
erklären.  Diese  Determination  denkt  der  Naturwissenschaft- 
ler darin,  daß  er  eine  Schnelligkeit  und  eine  Richtung  der 
Bewegung  denkt.  Diese  Bestimmungen  sind  Zweck-  oder 
Zukunftsbestimmungen  und  beruhen  als  solche  auf  der  histo- 
rischen Vernunft.  Nur  weil  die  Endpunkte  der  Bewegung 
der  Schildkröte  und  des  Achilles  von  vornherein  durch  die 
verschiedenen  Schnelligkeiten  und  Richtungen  im  Anfang 
determiniert  sind,  kann  vor  dem  logischen  Denken  die  Tat- 
sache zurecht  bestehen,  daß  Achilles  die  Schildkröte  über- 
holt. Denke  ich  die  Momente  nur  als  die  Folgen  von  Ursachen, 
so  wäre  dies  nicht  möglich.  Denkt  der  Naturwissenschaftler 
die  Ereignisse  nur  als  Nebeneinander  von  Raumkonstella- 
tionen, von  denen  jede  als  Folge  von  Ursachen  entsteht,  so 
kommt  er  nicht  weiter  als  bis  zu  dem  Schluß,  daß  Achilles 


—  142  — 

die  Schildkröte  nicht  einholen  kann.  Das  Denken  könnte  das 
real  Erlebte  nicht  logisch  denken.  Das  haben  die  Eleaten 
bewiesen.  Er  muß  also  eine  Bewegung  als  selbständige 
Realität  denken.  Dies  heißt  aber  nichts  anderes,  als  daß  er 
den  zweiten  Moment  nicht  als  Folge  einer  Ursache  denkt, 
sondern  mit  dem  ersten  in  einer  unmittelbaren  Einheit,  die 
die  Erfahrung  nicht  erst  als  Folge  konstruiert,  sondern  die 
von  vornherein  als  Folge  angenommen  wird.  Ein  Moment  in 
der  dauernden  Bewegung  ist  nicht  die  Folge  des  ersten, 
sondern  er  existiert  schon  zusammen  mit  ihm.  Da  er  aber 
doch  später  eintritt,  so  müssen  wir  sagen,  daß  er  für  das 
Denken  schon  durch  den  ersten  Moment  determiniert  ist. 
Nur  wegen  dieses  Denkens  ist  er  Teil  der  Bewegung.  Wir 
haben  also  für  ihn  nach  keiner  Ursache  zu  fragen;  aber  nur 
deswegen  nicht,  weil  wir  die  Gegenwart  durch  den  Zweck 
bestimmen.  Die  Richtung  der  Bewegung  ist  nichts  anderes 
als  eine  Bestimmung  der  Gegenwart  durch  die  Zukunft, 
analog  dem  biologischen  Begriff  der  Anlage.  Erst  durch 
diese  erhält  die  Richtung  überhaupt  einen  Sinn.  Dasselbe 
läßt  sich  für  die  Schnelligkeit  nachweisen.  Die  Bestimmung 
durch  die  Zukunft  haben  wir  aber  als  das  logische  Charakte- 
ristikum des  Zweckes  kennen  gelernt.  Mythologisch  oder 
populär  ausgedrückt  heißt  das:  Behauptet  man  die  Be- 
wegung eines  Körpers,  so  behauptet  man,  daß  er  in  einem 
bestimmten  Zeitraum  an  einem  Punkte  sein  „will".  Ein 
Problem  entsteht  erst,  wenn  in  der  Zeit  dieser  Wille  nicht 
mehr  durchgesetzt  wird.  Dann  hat  man  nach  Ursachen  der 
Hemmung  zu  suchen.  Für  uns  kommt  es  nur  darauf  an, 
daß  die  Determinierung  der  Bewegung  nach  Richtung  und 
Schnelligkeit  auch  ohne  Mythologie  auf  dem  Prinzip  des  Zwecks 
beruht.  Man  hat  es  nicht  nötig,  die  Zeitpunkte  synthetisch 
als  Folgen  zu  erklären,  weil  sie  schon  am  Anfang  der  Be- 
wegung mitgedacht  werden.  Sie  ergeben  sich  durch  ein  analy- 
tisches Urteil  und  verlangen  keine  Synthesis  in  der  Erfah- 
rung.   Die  Gegenwart  wird  durch  die  Zukunft,  durch  den 


—  143  — 

Zweck  bestimmt.  Da  die  Naturwissenschaft  von  der  Reali- 
tät der  Bewegung  ausgehen  muß,  so  muß  sie  auch  von  dem 
Begriff  der  immanenten  Determinierung  oder  dem  Zweck 
ausgehen.  Die  Ursache  kann  nur  in  die  Bewegung  eingreifen. 
Diese  selbst  ist  eine  unmittelbare  Synthese  und  keine  Folge 
von  Ursache  und  Wirkung.  Nur  Veränderungen  dieser  un- 
mittelbaren Determination  lassen  sich  erklären,  nur  diese 
können  überhaupt  zum  Problem  gemacht  werden.  Nur  weil 
die  Zukunft  als  Ziel  schon  determiniert  ist,  deshalb  ist  der 
folgende  Moment  die  logische  Folge  des  ersten  und  kann 
nicht  als  objektive  Folge  durch  die  Kausalität  erklärt  werden. 
Es  wäre  ein  Irrtum  zu  glauben,  daß  die  Bewegung  als 
solche  durch  das  empirische  Gesetz  der  Trägheit  oder  der 
Erhaltung  der  Bewegung  erklärt  wird.  In  Wahrheit  handelt 
es  sich  dabei  nicht  um  ein  erklärendes  Naturgesetz,  sondern 
nur  um  ein  Prinzip  des  Denkens,  das  die  Erfahrung  oder  das 
Naturgesetz  erst  möglich  macht.  Es  besagt  nämlich  nur  das, 
was  wir  eben  dargestellt  haben:  daß  die  Dauer  einer  Be- 
wegung nicht  erklärt  werden  kann  als  Folge  von  Ursachen, 
sondern  logisch  schon  zu  ihr  gehört.  Da  aber  diese  Annahme 
der  Realität  der  Bewegung  notwendig  ist,  um  überhaupt  zu 
erkennen,  so  handelt  es  sich  eben  um  ein  Prinzip  a  priori. 
Wenn  in  ihr  ein  Geschehen  vorliegt,  das  nur  durch  sich  selbst 
und  durch  keine  äußeren  Ursachen  bestimmt  ist,  so  folgt 
aus  dem  Satz  der  Identität,  daß  die  Bewegung  ewig  weiter- 
geht. Der  Naturwissenschaftler  setzt  dies  a  priori  voraus, 
weil  er  nur  eine  Veränderung  erkennen  kann.  Das  Träg- 
heitsgesetz sagt  nur:  die  Bewegung  selbst  ist  kein  Problem 
der  Erklärung,  sondern  nur  eine  Veränderung  der  Bewegung. 
Nun  kennen  wir  aber  gar  nichts  anderes  als  Bewegung. 
Was  wir  Ruhe  nennen,  gilt  nur  relativ  innerhalb  eines  ge- 
schlossenen Systems.  Die  Beziehungen  in  ihm  können 
konstant  bleiben,  aber  das  System  selbst  kann  in  Bewegung 
sein.  Wir  müssen  dies  annehmen,  weil  sonst  die  Bewegung 
in  der  Welt  ein  unlösbares  Problem  bliebe.    Die  Frage,  wie 


—  144  — 

sie  entstanden  ist,  wäre  von  diesem  Standpunkt  aus  genau  so 
unsinnig  wie  die  nach  der  Entstehung  der  Welt.  Die  Bewe- 
gung ist  die  Realität,  und  diese  können  wir  nicht  erklären. 
Was  für  uns  Anfang  der  Bewegung  einer  Kugel  heißt,  ist  in 
Wahrheit  nur  Beschleunigung,  die  wir  durch  die  relativen 
Beziehungen  innerhalb  eines  Systems  feststellen.  Die  Kugel 
selbst  müssen  wir  aber  an  sich  schon  in  Bewegung  denken. 
Die  Naturwissenschaft  kann  immer  nur  eine  Veränderung 
der  Bewegung  zum  Problem  machen.  Weil  aber  diese  Be- 
wegung zu  der  Realität  selbst  gehört,  so  müssen  wir  sie 
ursachlos,  d.  h.  immanent  determiniert  denken.  Die  Ursache 
entsteht  erst  in  der  Veränderung  der  immanenten  Bewegung 
durch  außerhalb  liegende  Faktoren. 

Hierin  liegt  ein  mythologischer  Rest  des  Mechanismus, 
der  nicht  beseitigt  werden  kann,  der  sich  vielmehr  aus  dem 
Nebeneinander  der  historischen  und  der  reinen  Vernunft  als 
notwendig  ergibt.  Es  ist  ein  unzweckmäßiger  Ausdruck,  daß 
die  Planeten  beseelt  sind.  Es  ist  aber  nicht  zu  leugnen,  daß 
wir  uns  eine  immanent  determinierte  Bewegung  gar  nicht 
anders  denken  können,  als  daß  das,  was  sich  bewegt,  in  Zu- 
kunft an  einer  anderen  Stelle  sein  „will".  Wir  werden  zu 
zeigen  haben,  daß  der  Wille  nichts  anderes  ist  als  das  der 
Kausalität  entsprechende  Prinzip  der  historischen  Vernunft. 
Die  Planeten  bilden  aber  keine  Ausnahme.  Wir  müssen  alles 
in  Bewegung  denken.  Nehmen  wir  die  Bewegung  nicht  als 
eine  absolute  Bestimmung  der  Realität  an,  so  könnten  wir 
niemals  eine  Veränderung  erkennen.  In  dem  Moment,  wo 
die  reine  Vernunft  historisch  wird,  kommen  wir  nicht  mehr 
ohne  den  Willen  aus.  Gibt  der  Naturwissenschaftler  zu,  daß 
es  Bewegung  und  nicht  nur  ein  Sein  gibt,  so  gibt  er  zu,  daß 
die  Zukunft  nicht  allein  durch  Ursachen  bestimmt  ist. 
Dies  besagt  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Bewegung. 
Erst  daß  es  nicht  so  kommt,  wie  wir  die  Zukunft  in  der  Be- 
wegung determinieren,  kann  durch  Ursachen  erklärt  werden. 
Diese  immanente  Determinierung  ohne  Ursachen  nennen  wir 


—  145  — 

aber  „Wille".  Hier  sind  wir  am  Ende  unserer  Weisheit. 
Natürlich  steht  diese  Analyse  in  gar  keinem  Zusammenhang 
mit  Schopenhauers  Metaphysik.  Ich  will  überhaupt  keine 
metaphysische  Konsequenz  ziehen.  Für  uns  handelt  es  sich 
nur  um  eine  Form  der  Antinomie  der  Vernunft,  daß  wir 
nämlich  etwas  als  Wille  denken  müssen,  was  wir  nicht  als 
Wille  denken  dürfen,  weil  wir  die  Natur  nicht  rein  histo- 
risch, nicht  als  Subjekt  denken  können.  Es  ist  wieder  ein 
platter  Psychologismus,  wenn  man  das  Mythologische  der 
Naturwissenschaft  in  der  Übertragung  des  Kraftbegriffs  aus 
der  inneren  Erfahrung  auf  die  äußere  sieht.  Von  einer  Über- 
tragung als  psychischer  Tätigkeit  dürfen  wir  auch  hier  nicht 
sprechen.  Der  Kraftbegriff  selbst  läßt  sich  auch  in  der  Natur- 
wissenschaft durch  die  Zahl  kritisch  fassen.  Das  Mytho- 
logische läge  nur  in  dem  Denken  einer  ,, Handlung".  Wenn 
jemand  „versteht",  daß  der  Stein  fällt,  dann  beweist  er, 
daß  er  mythologisch  denkt,  daß  er  die  Anziehung  als  Hand- 
lung eines  Subjekts  auffaßt.  Für  die  Naturwissenschaft  aber 
existiert  dabei  nur  eine  Bewegungsbeziehung.  Soweit  aber 
die  Bewegung  eine  immanente  Determinierung  des  späteren 
Moments  voraussetzt,  beruht  sie  logisch  auf  dem  Prinzip  der 
Mythologie,  der  Erkenntnis  der  Lebensgeschichte.  Dieses 
Prinzip  aber  besagt  hier  garnichts,  weil  seine  sinngemäße 
Anwendung  den  Begriff  des  historischen  Subjekts  voraus- 
setzen würde,  und  dieser  in  der  reinen  Vernunft,  die  die  all- 
gemeine Substanz  konstruieren  will,  unmöglich  ist. 

Wir  halten  nun  die  Behauptung  zwar  aufrecht,  daß 
der  Naturwissenschaftler  die  Bewegung  in  dem  Begriff  der 
Richtung  und  Schnelligkeit,  die  unabtrennbar  von  ihr  sind, 
durch  den  Zweck  bestimmt.  Nichtsdestoweniger  aber  bleibt 
der  Gegensatz  zur  Biologie  bestehen.  Man  kann  ihn  nicht 
anders  ausdrücken  als  durch  den  des  formalen  oder  räum- 
lichen und  des  inhaltlichen  oder  historischen  Zwecks. 

Wenn  die  Bewegung  durch  die  Richtung  bestimmt  ist, 
so  ist  die  Zukunft  des   Körpers  nur  formal  und  räumlich 

Strich,  Prinzipien.  10 


—  146  — 

determiniert.  Das  liegt  in  dem  Prinzip  der  Trägheit  aus- 
gesprochen. Ich  determiniere  nämlich  eine  unendliche  An- 
zahl von  Punkten,  die  der  Körper  durchlaufen  muß.  Die 
Punkte  folgen  logisch  aus  der  Bestimmung  des  ersten  Mo- 
ments. Das  Ende  oder  der  historische  Endpunkt  wird  nicht 
determiniert.  Gerade  er  ist  vielmehr  das  Problem  der  reinen 
Vernunft,  des  Mechanismus.  Der  Naturwissenschaftler  zer- 
legt deshalb  das  Geschehen  in  eine  immanent  determinierte 
Richtung  von  ewiger  Fortsetzung  und  in  Ursachen,  durch  die 
wir  erklären,  wenn  es  anders  kommt.  Die  wirkliche  Kurve 
der  Kanonenkugel  ist  aus  Ursachen  erklärbar  nur  unter  der 
Voraussetzung  einer  bestimmten  Bewegung  selbst,  die 
immanent  determiniert  ist.  Die  Determination  bezieht  sich 
also  nur  auf  die  Möglichkeit  einer  unendlichen  Anzahl  von 
Raumpunkten.  Die  Abweichung  oder  der  scheinbare,  d.  h. 
relative  Endpunkt  ist  der  Gegenstand  des  Mechanismus, 
nicht  aber  die  Bewegung.  Nach  dem  Trägheitsgesetz  ist  das 
historische  Ende  ein  Zufall,  der  durch  den  Mechanismus 
aufgehoben  wird. 

Von  dem  Mechanismus  aus  haben  wir  aber  die  Pflicht, 
die  immanente  Determinierung  möglichst  einzuschränken 
und  die  spezifische  Bewegung  möglichst  von  Bedingungen  ab- 
hängig zu  machen.  Wir  müssen  dann  von  der  Idee  ausgehen, 
daß  die  rein  immanent  determinierte  Richtung  nur  gerade,  die 
des  Lichtes,  sein  kann.  In  dieser  ist  die  immanente  Bestim- 
mung auf  ein  Minimum  reduziert.  Der  Ausgangspunkt  an- 
genommen, so  ist  nur  noch  ein  zu  erreichender  Punkt  not- 
wendig, um  die  andern  Punkte  in  gleicher  Weise  durch  ihre 
Beziehungen  zu  bestimmen.  Ohne  die  euklidsche  Geometrie 
zugrunde  zu  legen,  können  wir  dadurch  nicht  die  Grade 
definieren.  Im  nicht-euklidschen  Raum  wäre  sie  immer 
noch  eine  Auswahl  von  Punkten,  die  durch  die  Beziehung  zu 
zwei  Punkten  in  gleicher  Weise  bestimmbar  wären.  Wir 
können  nur  soviel  sagen,  daß  die  Punkte  der  Fortpflanzung 
des  Lichtes  die  Bedingung  erfüllen,  alle  in  gleicher  Weise 


—  147  — 

durch  die  Beziehung  zu  zwei  Punkten  innerhalb  der  Bewegung 
selbst  bestimmbar  zu  sein.  Welches  Raumsystem  wir  aber 
auch  zugrunde  legen,  immer  müssen  wir  die  minimalste  Be- 
stimmung der  Richtung  als  die  immanent  determinierte  an- 
nehmen. Das  Wesen  der  immanenten  Determinierung  be- 
steht darin,  daß  sich  die  Punkte  analytisch  aus  der  Bestim- 
mung ergeben.  Nur  das  Minimum  der  Bestimmung  dürfen 
wir  als  immanent  ansehen,  jede  weitere  muß  einen  Grund 
haben.  Legen  wir  den  euklidischen  Raum  zugrunde,  so 
folgt  daraus,  daß  wir  jede  Kurve  der  Idee  nach  als  Abweichung 
von  der  Graden  zu  erklären  haben;  denn  jede  Kurve  setzt 
zu  ihrer  eindeutigen  Bestimmung  mindestens  einen  Punkt 
außerhalb  des  eigenen  Systems  voraus.  Der  nächste 
!  Moment  der  Bewegung  bestimmt  einen  Punkt.  Den 
Weg  dorthin  müssen  wir  uns  denken  als  bestimmt  nur 
durch  den  Anfang  und  den  Endpunkt,  ohne  daß  ein 
Wechsel  der  Bestimmung  eintritt.  Denn  dieser  müßte 
problematisch  sein.  Im  euklidschen  Raum  ist  nur  die  gerade 
Linie  durch  diese  Punkte  eindeutig  bestimmt.  Jede  Kurve 
würde  noch  einen  dritten  Punkt  zur  Bestimmung  voraus- 
setzen. Wir  müssen  alle  Bewegungen  immanent  in  grader 
Richtung  determiniert  denken,  sobald  wir  überhaupt  nach 
einer  Erklärung  der  Bewegung  suchen.  Diese  Forderung 
kann  aber  nicht  auf  dem  Dogma  beruhen,  daß  die  Natur 
immer  den  kürzesten  Weg  geht.  Die  Forderung  ist  vielmehr 
eine  Forderung  des  Geistes.  Wenn  wir  nach  Gründen  der 
realen  Kurve  fragen,  so  müssen  wir  eine  Bestimmtheit  der 
Bewegung  voraussetzen.  Nur  die  Veränderung  der  Identität 
kann  zum  Gegenstand  der  Kausalität  werden.  Diese  Identität 
dürfen  wir  nur  durch  einen  Punkt  bestimmen,  der  in  der  Be- 
wegung selbst  liegt.  Jeder  andere  Punkt  wäre  von  der  Be- 
wegung aus  schon  zufällig,  er  müßte  einen  Grund  haben. 
Die  Erklärung  setzt  also  die  immanente  Determinierung 
voraus.  Sie  kann  sich  nur  auf  die  Abweichung  von  der 
Graden  und  das  Ende  der  Bewegung  beziehen. 

10* 


—  148  — 

Ich  wollte  zeigen,  daß  die  Physik  in  dem  Begriff  der 
Bewegung  die  immanente  Determination  voraussetzt.  Sie 
hebt  aber  das  historische  Prinzip  durch  das  Trägheitsgesetz 
sofort  wieder  auf.  Dies  besagt,  daß  das  historische  Ende  der 
Bewegung  nicht  immanent  determiniert  ist,  sondern  nur  eine 
unendliche  Anzahl  von  Möglichkeiten,  nämlich  die  Punkte, 
die  logisch  aus  der  Bewegung  selbst  folgen.  Der  Biologe  aber 
setzt  in  dem  Begriff  der  Entwicklung  voraus,  daß  nicht  die 
unendliche  Bewegung  in  einem  Zeitpunkt  beginnt,  sondern 
eine  bestimmte  Form,  die  dem  bloß  formalen  Zweck  der 
Richtung  und  Schnelligkeit  gegenüber  inhaltlich  genannt 
werden  muß.  Für  ihn  beginnt  der  Organismus,  ein  histo- 
rischer Endpunkt,  nämlich  der  Tod.  Seine  Erklärung  be- 
zieht sich  nur  auf  die  Ursachen,  die  diese  historische  Reihe 
beeinflussen.  Selbstverständlich  kann  auch  der  Tod  mecha- 
nisch bedingt  sein.  Indessen  denken  wir  das  abgeschlossene 
Leben  als  eine  Entwicklung  bis  zu  diesem  Zeitpunkt;  der 
Keim  ist  immanent  determiniert,  etwas  Bestimmtes  zu  wer- 
den. Nur  dieses  Werden  ist  beeinflußbar,  aber  nicht  selbst 
erklärbar  durch  Ursachen,  durch  den  Mechanismus. 

Der  wesentlichste  Unterschied  zwischen  äußerer  und 
innerer  Determination  besteht  in  Folgendem.  Die  Verschie- 
denheit der  Phänomene  ist  das  Problem  der  Erklärung. 
Dies  kann  man  aber  von  der  historischen  Vernunft  nicht  be- 
haupten, weil  von  ihr  aus  in  gar  keiner  Weise  eine  Gleichheit 
vorausgesetzt  oder  erwartet  werden  kann.  Die  historische 
Vernunft  macht  durchaus  nicht  die  Verschiedenheit  zum 
Problem,  sondern  die  Erscheinung  an  sich.  Der  Natur- 
wissenschaftler will  z.  B.  die  bestimmte  Richtung  eines  be- 
wegten Körpers  erklären.  Für  das  extrem-mythologische 
Denken  bestünde  hier  auch  ein  Problem.  Aber  die  Bewegung 
würde  begründet  werden  allein  von  dem  Körper  selbst  aus. 
Damit  würde  jede  naturwissenschaftliche  Problemstellung 
aufgehoben  werden.  Der  Grund  der  Bewegung  würde  immer 
nur   für   den   Körper  selbst   existieren   und  nicht  in  einem 


—  149  — 

objektiven  System.  Für  das  mythologische  Denken  ist  jedes 
Phänomen  absolut,  weil  es  völlig  subjektiv  bleibt.  Die  reine 
Vernunft  kennt  nichts  Absolutes,  weil  sie  objektiv  sein  will. 
Sie  macht  nicht  die  Schnelligkeit  als  absolutes  Phänomen  zum 
Problem,  sondern  sie  begründet  die  Verschiedenheit  zu  andern 
Schnelligkeiten.  Der  historischen  Vernunft  sind  aber  diese 
völlig  gleichgültig.  Sie  versteht  ein  Phänomen  von  den 
Individualsystemen  aus  oder  nicht.  Sie  kennt  gar  nicht  die 
Fragestellung  der  reinen  Vernunft,  wTeil  sie  nicht  von  der 
Kausalität  oder  der  ihr  zugrunde  liegenden  Identität  aus- 
geht. Für  die  Naturwissenschaft  existiert  ein  Grund  der 
Verschiedenheit,  weil  ohne  ihn  Gleichheit  bestehen  würde. 
Dies  klingt  selbstverständlich,  ist  es  aber  durchaus  nicht. 
Der  Satz  der  Identität  hat  einen  positiven  Sinn  nur  als 
Idee  des  objektiven  Systems.  Er  besagt,  daß  eigentlich  jeder 
Raumteil  als  solcher  gleich  ist.  Damit  ist  zugleich  gesagt, 
daß  jede  Ungleichheit  einen  Grund  hat,  der  aber  wiederum 
auf  eine  Gleichheit,  d.  h.  ein  Gesetz  zurückgeführt 
werden  muß.  Es  kommt  hier  aber  nicht  darauf  an,  daß  die 
Verschiedenheit  auf  eine  Wirkung  im  Raum  zurückgeführt 
wird.  Es  handelt  sich  vielmehr  um  eine  rein  logische  Er- 
wägung. Die  letzte  Methode  der  Naturwissenschaft  ist  der 
Vergleich;  daraufhin  ist  ihr  Gegenstand  die  Zahl.  Ihr  Pro- 
blem ist  die  größere  Schnelligkeit,  die  größere  Schwere  oder 
was  es  ist.  Die  äußere  Determination  besteht  darin,  daß  die 
Erscheinung  in  ihrem  Wesen  zurückgeführt  wird  auf  einen 
Vergleich  mit  anderen,  während  die  innere  Determination 
das  Phänomen  als  absolutes  nimmt.  Wo  die  Naturwissen- 
schaft etwa  auf  eine  Verschiedenheit  von  Elementen  stößt, 
die  absolut  existiert,  ist  die  reine  Vernunft  an  einer  Grenze 
angelangt,  denn  sie  begründet  die  Erscheinung  nicht  mehr 
durch  Relationen  innerhalb  eines  Systems.  Sie  würde  eine 
grundlose  Verschiedenheit  behaupten.  Deswegen  muß  sie 
der  Idee  nach  die  Materie  durch  die  Zahl  konstruieren.  Sie 
muß  die  Verschiedenheit  der  Folgeerscheinungen  begründen 


—  150  — 

durch  die  relative  Vielfältigkeit  einer  durchgängigen  all- 
gemeinen Gleichheit.  Für  die  neue  Atomistik  existiert  eine 
solche  in  dem  Elektrizitätsquantum.  Das  Charakteristische 
der  äußeren  Determination  besteht  also  in  der  Bestimmung 
durch  Relationen  innerhalb  eines  Systems,  in  dem  das  Ob- 
jekt nur  Teil  ist.  Für  die  immanente  Determination  existiert 
aber  kein  solches  System.  Die  Erscheinung  ist  als  solche 
absolut,  d.  h.  sie  wird  als  Problem  nicht  bestimmt  durch 
Relationen  zu  Objekten,  die  ganz  außerhalb  des  Individual- 
systems  liegen.  Erst  durch  die  Zahlrelation  entsteht  über- 
haupt das  „eine"  System.  Wegen  der  Absolutheit  existiert 
auf  der  andern  Seite  das  Individualsystem.  Der  Sinn  der 
objektiven  Kausalität  liegt  also  darin,  daß  eine  Erscheinung 
in  dem  System  ,, Natur"  als  Verschiedenheit  begründet  wird, 
d.  h.  als  Zahlverschiedenheit  der  Teile.  Damit  hat  jede  Ver- 
schiedenheit einen  Grund,  weil  der  Teil  als  Teil  gleich  sein 
müßte.  Die  reine  Vernunft  muß  jede  Verschiedenheit  des 
Verhaltens  auf  eine  Verschiedenheit  des  Seins  durch  Rela- 
tionen zurückführen.  Die  historische  Vernunft  aber  nicht. 
Für  sie  existiert  eine  Erscheinung  nur  von  einem  Subjekt 
aus  und  nicht  als  Teil  eines  objektiven  Systems. 

Geht  der  Biologe  etwa  von  einer  Entwicklung  aus,  so 
bedeutet  das,  wie  wir  gesehen  haben,  eine  logische  Idee, 
eine  Synthese  von  Zeiterscheinungen.  Damit  negiert  er  die 
Wesenhaftigkeit  der  Teile  als  Raumteile.  Die  Raumform  der 
Körper  ist  bei  ihm  eine  Zeiterscheinung,  eine  absolute  Form. 
Entscheidend  ist,  woher  die  Form  stammt,  und  nicht  die 
Zahlrelation  des  Stoffes  als  Teils  eines  Gesamtsystems.  Damit 
begründet  er  durch  die  immanente  Determination.  Als  Ei 
ist  die  Zelle  absolut  historisch  bestimmt  und  nicht  mehr 
räumlich  als  Teil  durch  Relationen  zu  andern  Teilen.  Durch 
diese  Absolutheit  ist  die  Identität,  das  „eine"  System 
als  real-logische  Idee  negiert.  Sie  kann  nur  besagen,  daß  der 
Teil  Teil  eines  Gesamtsystems  ist.  Das  ist  die  transzen- 
dentallogische   Bedeutung   des    Identitätsgesetzes.      Sie    be- 


—  151  — 

gründet  ihrerseits  die  Kausalität  als  notwendige  Idee.  Die 
Verschiedenheit  der  Teile  muß  einen  Raumgrund  haben, 
die  Verschiedenheit  des  historischen  Verhaltens  einen  ob- 
jektiven Grund  im  Sein.  Die  absolute  Bestimmung  be- 
gründet umgekehrt  keine  Kausalität,  sondern  ermöglicht 
eine  Begründung  innerhalb  des  Systems  der  Monade. 

Genau  so  existiert  für  die  Biologie  nur  eine  absolute 
Bewegung  und  keine  relative.  Die  Veränderung  des  Raums 
wird  nicht  bestimmt  durch  die  veränderten  Relationen  der 
Teile;  die  Richtung  der  Bewegung  ist  ein  Phänomen  des 
Subjekts  und  keine  Beziehung  im  mathematischen  Raum. 

Es  kommt  uns  hier  aber  vor  allem  auf  die  Bewegung  des 
Organismus  an.  Man  kann  nicht  fragen,  ob  sie  kausal  ge- 
dacht werden  muß  oder  nicht,  sondern  nur,  wie  die  be- 
stehende Biologie  sie  denkt.  Ich  untersuche  nicht,  ob  die 
Bewegung  der  Pflanze  zum  Licht,  die  Bewegung  der  Infu- 
sorien zum  elektrischen  Pol,  die  Bewegung  des  Frosch- 
schenkels beim  galvanischen  Experiment  Beweise  für  den 
Mechanismus  sind.  Sind  sie  mechanistisch  denkbar,  so  ent- 
spräche dies  der  Fortbewegung  des  Menschen  in  der  elek- 
trischen Straßenbahn  oder  der  Fortbewegung  der  Fliege 
durch  einen  Windstoß.  Wir  hätten  es  tatsächlich  nur  mit 
einer  Veränderung  der  Substanzkonstellation  zu  tun,  die 
durch  zeitlose  Naturgesetze  bestimmt  wird.  Aber  eins  ist 
sicher:  Wir  dürften  die  Bewegung  ebensowenig  „spontan" 
wie  ,, Reaktion  auf  einen  Reiz"  nennen.  Namen  tun  zwar 
nichts  zur  Sache,  aber  jene  Begriffe  würden  ihren  ganzen 
Sinn  verlieren.  Wir  müßten  dann  nämlich  auch  die  Bewegung 
der  Magnetnadel  „Reaktion  auf  einen  Reiz"  nennen.  Und 
damit  wäre  entweder  alles  Reizreaktion  oder  garnichts. 
Wenn  die  Biologie  spontane  oder  reaktive  Bewegungen  be- 
hauptet, so  denkt  sie  sie  nicht  mechanisch,  nämlich  nicht 
zeitlos,  sondern  historisch  bedingte.  Wir  zeigten,  daß  die  Spon- 
taneität kein  wahrnehmbares  Merkmal  ist,  sondern  nur  eine 
Kategorie   des  Denkens.     Der   Unterschied   zum  Mechanis- 


—  152  — 

mus  liegt  darin,  daß  die  Biologie  die  Bewegung  rein  histo- 
risch denkt,  jener  aber  die  historische  Bestimmung  nur 
formal  denkt.  Wir  sagen  wohl:  der  Pfeil  ist  von  A  nach  B 
geflogen.  B  ist  aber  nicht  immanent  determiniert,  sondern 
im  Gegenteil  von  der  Bewegung  aus  zufällig,  nämlich 
bestimmt  durch  die  Gravitation.  Die  Bewegung  A-B 
ist  also  keine  real  existierend  angenommene  Einheit,  sondern 
die  Kurve  muß  erst  durch  das  Ursachdenken  zur  synthe- 
tischen Einheit  konstruiert  werden.  Denkt  man  aber  eine 
Bewegung  als  spontan,  so  heißt  das:  sie  ist  als  solche  rein 
immanent  determiniert.  Das  Phänomen  ist  da  als  Folge 
in  der  Zeit,  als  unmittelbare  Einheit,  wie  die  Teile  eines 
Körpers  zusammen  da  sind.  Ein  Teil  der  realen  Zeit  existiert, 
ohne  daß  ein  späterer  Moment  als  Folge  erklärt  werden  muß. 
Die  Bewegung  des  Pfeils  ist  eine  objektivierte  Folge  von 
Momenten,  insofern  der  momentane  Ort  in  seiner  Abweichung 
von  der  immanenten  Determination  als  Folge  einer  Ursache 
angesehen  wird.  Die  spontane  Bewegung  ist  durch  den 
Raum  nicht  objektiviert.  Sie  existiert  als  unmittelbare 
Synthese.  Die  Bewegung  nach  B  hin  beginnt  und  hört 
auf.  Das  Ende  ist  kein  Zufall,  der  erklärt  werden  muß, 
sondern  es  ist  selbst  immanent  determiniert.  Nicht  eine 
nach  dem  Trägheitsgesetz  unendliche  Bewegung  fängt  an, 
deren  Abweichung  von  der  immanenten  Richtung,  Be- 
schleunigung, Verlangsamung,  Ende  durch  Ursachen  er- 
klärt werden  muß  und  kann,  sondern  die  Bewegung  von  A 
nach  B  ist  das  „eine"  Phänomen,  das  erkannt  werden  will. 
Sie  existiert  also  nicht  im  Raum  des  Mechanismus,  sondern 
als  Teil  der  Zeit  oder  des  Lebens.  Die  spontane  Bewegung 
ist  eine  Bestimmtheit  des  historischen  Subjekts  und  nicht 
eines  Raumausschnittes  der  Substanz.  Das  Urteil  ist  ein 
historisches.  Man  denkt  die  Bewegung  als  Handlung.  Das 
Phänomen  ist  nicht  durch  die  objektive  Welt  des  Mechanis- 
mus determiniert,  sondern  subjektiv.  Das  haben  wir  als 
Charakteristikum  der  Kategorie  der  Tat  erkannt.    Denke  ich 


—  153  — 

nicht  so,  dann  habe  ich  auch  kein    Recht,  die  Bewegung 
„spontan"  oder  den  Körper  „lebendig"  zu  nennen. 

Daß  die  lebendige  Bewegung  als  historisches  Phänomen 
gedacht  wird,  ergibt  sich  schon  daraus,  daß  sie  nur  im  histo- 
rischen Zusammenhang  verstanden  sein  will.  Aus  diesem 
Grunde  sind  wir  auch  wahrscheinlich  berechtigt,  die  Bewegung 
des  Froschschenkels  bei  dem  galvanischen  Experiment  als  eine 
Reizreaktion  aufzufassen.  Nur  so  kann  die  Problemstellung 
lauten.  Die  Frage,  ob  die  Reaktion  mechanisch  erfolgt,  ist 
unlogisch.  Durch  welche  chemischen  Unterschiede  wir  auch 
den  Unterschied  des  lebendigen  und  des  toten  Nerven  be- 
stimmen können,  dadurch  kämen  wir  dem  Problem  nur 
indirekt  näher;  wir  kämen  nicht  zu  dem  eigentlichen  Kern. 
Die  Frage  lautet:  ob  wir  die  Bewegung  im  Raum  erklären 
können  aus  den  zeitlosen  Gesetzen  der  Elektrizität,  oder  ob 
wir  annehmen  müssen,  daß  der  Froschschenkel  schon  einmal 
die  Bewegung  ausgeführt  hat,  ob  eine  Tendenz,  eine  Anlage 
zu  dieser  Bewegung  besteht,  die  jetzt  aktuell  wird.  Damit 
würden  wir  eine  immanente  Determination  „inhaltlich"  und 
„historisch"  voraussetzen.  Dann  hätten  wir  erst  Recht, 
eine  Reaktion  zu  denken,  die  nur  scheinbar  oder  psycho- 
logistisch  mechanisch  abliefe.  Wenn  sich  ein  Samenfädchen 
bewegt,  oder  besser  gesagt :  wenn  es  bewegt  würde,  so  hätte 
der  Mechanismus  zu  erklären,  warum  aus  der  unmittelbaren 
Konstellation  der  Substanzteile  eine  Veränderung  der  Kon- 
stellation erfolgt.  Dies  tut  der  Biologe  aber  nicht,  indem  er 
die  Bewegung  für  eine  Eigenschaft  eines  Organismus  hält, 
der  gar  nicht  im  Raum  des  Mechanismus  existiert.  Stellt 
man  ein  Gesetz  auf,  daß  das  Infusorium  sich  nach  dem  be- 
stimmten elektrischen  Pol  hinbewegt,  so  hat  man  sicherlich 
kein  Naturgesetz  aufgestellt,  nämlich  kein  zeitloses.  Denn 
das  Infusorium  existiert  selbst  nicht  zeitlos.  Man  wird  viel- 
leicht einwenden,  daß  es  dann  überhaupt  kein  zeitloses 
Gesetz  gibt.  Das  behaupte  ich  auch  nicht.  Aber  sicher  ist, 
daß   der  Naturwissenschaftler  ewig  bemüht  sein  wird,   ein 


—  154  — 

zeitloses  Gesetz  zu  finden.  Der  Mechanismus  müßte  die 
historische  Tatsache  der  Bewegung  der  Infusorien  aus  Ge- 
setzen zu  erklären  versuchen,  die  ewig  existierten,  bevor  es 
überhaupt  ein  Infusorium  gab,  die  so  ewig  sind,  wie  die  Teile, 
die  im  Moment  seinen  Körper  ausmachen,  ewig  sind  und  schon 
existiert  haben,  bevor  es  in  der  Welt  ein  Infusorium  gab. 
Natürlich  ist  eine  chemische  Verbindung,  die  auch  etwas 
„Neues"  gegenüber  den  Elementen  darstellt,  nicht  mit  dieser 
absoluten  Zeitform  zu  vergleichen.  Solange  man  nicht  diese 
Gesetze  gefunden  hat,  ist  es  eine  historische  Tatsache  in  der 
Welt,  wie  etwa  die,  daß  das  Mammut  sich  von  Pflanzenkost 
nährt  oder  genährt  hat.  Das  vermeintliche  Gesetz  gehört 
nur  in  die  beschreibende  Naturgeschichte.  Deswegen  ist  es 
aber  logisch  eben  kein  Gesetz  zu  nennen.  Hält  man  wirk- 
lich den  einzelnen  Fall  durch  das  Allgemeine  hierbei  erklärt, 
so  hat  man  verzichtet,  ihn  mechanistisch  zu  erklären.  Man 
hält  nämlich  die  Bewegung  für  eine  Bestimmtheit  histori- 
scher Subjekte  und  erklärt  sie  nicht  aus  den  Gesetzen  der 
Substanz.  Daß  der  Fall  für  uns  immer  eintritt,  ist  kein 
Grund,  von  einem  Gesetz  zu  sprechen,  denn  dieses  „immer" 
hat  keine  rein  logische  Bedeutung  von  Ewigkeit.  Der  Gegen- 
satz zu  der  relativ  historischen  Größe  der  chemischen  Ver- 
bindung dürfte  wohl  klar  sein.  Der  Unterschied  der  histo- 
rischen Tatsache  und  der  „contingence"  der  Naturgesetze 
bleibt  bestehen.  Hält  man  die  Schleuderbewegung  des 
Samenfädchens  für  eine  Eigentümlichkeit  dieses  Organis- 
mus, so  denkt  man  den  Einzelfall  nicht  durch  zeitlose  Gesetze 
bestimmt,  sondern  immanent  determiniert  durch  das  Sub- 
jekt. Man  beschreibt  und  erklärt  nicht.  Die  allgemeine  Tat- 
sache lautet:  das  Samenfädchen  tut  das,  der  Vogel  fliegt, 
der  Mensch  geht.  Man  kann  die  mechanistische  Abhängig- 
keit bis  ins  letzte  aufklären:  das  Lebendige  durch  das  Tote 
kann  man  nie  erklären.  Das  Leben,  das  Subjekt,  die  An- 
lage usw.   setzt  man  immer  voraus. 

Ebensowenig  ist  die  Bewegung  als  Reaktion  auf  einen 


—  155  — 

Reiz  mechanisch  bedingt.  Man  kommt  damit  nämlich  nicht 
aus  der  Zeit  heraus,  sondern  im  Gegenteil.  Nennt  man  die 
Verbindung  von  Reiz  und  Reaktion  ,, Ursache"  und  „Wir- 
kung", so  muß  man  auch  die  Bewegung  der  Magnetnadel 
Reaktion  auf  den  Reiz  des  elektrischen  Stromes  nennen. 
Terminologisch  wäre  dagegen  gar  nichts  zu  sagen.  Aber  der 
logische  Unterschied  wird  dadurch  nicht  beseitigt.  Der 
Physiker  ,, sieht"  an  der  Stelle  ein  historisches  Phänomen, 
aber  er  ,, denkt"  ein  zeitloses  Geschehen.  Er  denkt  etwas,  was 
schon  immer  da  war,  ob  es  Elektronen,  Atome,  Energien 
sind,  ist  gleichgültig.  Außerdem  bemüht  er  sich,  das  Ge- 
schehen zu  sondern  in  zufällige  Faktoren,  die  nur  historisch 
,,auch"  da  sind,  und  in  solche  die  notwendig  sind,  d.  h. 
er  bemüht  sich,  das  Gesetz  zu  finden,  die  zeitlose  Beziehung, 
die  ewig  in  der  ewigen  Welt  herrscht.  Denkt  man  aber  etwas 
als  Reiz,  so  denkt  man  nicht  das  Zeitlose,  was  da  existiert, 
denkt  man  eine  Reaktion,  so  denkt  man  keine  zeitlose  Be- 
ziehung. Erfolgt  eine  Reaktion  auf  einen  Lichtreiz,  so  exi- 
stiert nur  scheinbar  das  Licht  als  derselbe  Gegenstand, 
den  der  mechanistische  Physiker  untersucht.  Wir  stoßen 
damit  auf  den  Gegensatz,  mit  dem  wir  die  ganze  Arbeit  be- 
gonnen haben,  nämlich  den  von  Wahrnehmung  und  Gegen- 
stand. Wir  zeigten  dort,  daß  beides  keine  wesensverschiedenen 
Dinge  sind,  daß  der  Unterschied  nicht  in  der  Art  der  Elemente 
liegt,  sondern  nur  in  verschiedenen  Denkweisen  der  „data  der 
Sinnlichkeit",  der  Phänomene.  Als  Wahrnehmung  wird  das 
datum  der  Sinnlichkeit  historisch,  als  Inhalt  einer  Monade 
gedacht,  als  Gegenstand  —  im  Räume  der  mathematischen 
Naturwissenschaft.  Der  gleiche  Unterschied  besteht  zwischen 
Reiz  und  Gegenstand.  Die  Konsequenz  daraus  ist,  daß  jeder 
Reiz  eine  Wahrnehmung  ist.  Da  aber  Wahrnehmung,  wie 
man  sagen  wird,  nicht  ohne  Bewußtsein  möglich  ist,  so  müßte 
die  Amöbe  und  auch  die  Pflanze,  wenn  man  bei  ihnen  Reak- 
tionen anzunehmen  gezwungen  ist,  Bewußtsein  haben. 
Davon  wissen  wir  aber  nichts,  wird  man  uns  einwenden. 


—  156  — 

Ich  würde  mich  allerdings  getrauen  zu  sagen:  Wo  auch  immer 
wir  Reiz  und  Reaktion  denken,  denken  wir  auch  eine  Seele, 
wenn  nicht  das  Raumdenken  diesen  Begriff  so  verfälscht 
hätte,  daß  man  nichts  mehr  mit  ihm  anfangen  kann.  Kritisch 
ist  die  Seele  nichts,  was  im  Raum  existiert,  ebensowenig  wie 
der  Organismus.  Sie  ist  nichts  weiter  als  ein  notwendiges 
Prinzip  der  historischen  Erkenntnis,  wie  das  Ich,  das  Subjekt 
oder  die  aristotelische  Einzelsubstanz.  Ist  die  historische 
Erkenntnis  selbst  notwendig,  so  ist  damit  ihre  Realität  ver- 
bürgt, aber  deswegen  nicht  die  im  Raum.  Die  Frage  lautet 
nur:  Kommen  wir  ohne  historische  Erkenntnis,  ohne  Biologie 
und  Psychologie  aus  ?  Ist  unsere  ganze  biologische  und  psycho- 
logische Erkenntnis  ein  Irrtum  des  naiven  Denkens  ?  Dann 
ist  die  Seele  genau  so  ein  Irrtum  wie  das  Leben.  Ist  sie  es 
nicht,  so  existiert  sie  genau  so  real  wie  das  Leben,  für  dessen 
Einheit  in  der  Zeit  sie  nur  ein  anderer  Name  ist.  Kommen  wir 
erkennend  aus  ohne  die  Idee  eines  historischen  Zusammen- 
hangs der  Phänomene,  den  der  Mechanismus  ja  in  einen 
räumlichen  umdenkt  ?  Kommen  wir  aus  ohne  die  Idee  des 
historischen  Individualsystems,  ohne  daß  wir  die  Identität 
einer  Form  in  der  Zeit  annehmen,  die  über  der  Ewigkeit 
der  Substanzelemente  existiert?  (Die  chemische  Zeitform, 
die  über  den  Elementen  existiert,  ist  kein  Individualsystem.) 
Kommen  wir  aus,  ohne  daß  wir  ein  Phänomen  nach  seiner 
Gleichheit  mit  andern  in  demselben  Zeitsystem  bestimmen, 
ohne  daß  die  Gleichheit  objektiv  im  Raumsystem  existiert  ? 
Aus  dem  letzten  folgt  schon  die  Absurdität  der  Annahme. 
Denn  ohne  daß  ich  eine  historische  Gleichheit  bemerke,  ohne 
daß  also  zwei  Phänomene  in  meinem  Individualsystem  histo- 
risch gleich  sind,  könnte  ich  ja  niemals  empirisch  eine  Gleich- 
heit im  Raum  behaupten.  Die  Tatsache,  daß  ein  historischer 
Zusammenhang  da  ist,  daß  das  Individualsystem  ein  sub- 
jektiver Logos  ist,  ermöglicht  ja  erst  die  Erkenntnis  des 
mechanischen  Zusammenhangs.  Das  Ich  ist  die  Voraus- 
setzung jeder  Behauptung  über  den  Raum. 


—  157  — 

Die  Seele  existiert  genau  so  wenig  im  Körper,  wie  das 
Bewußtsein  in  ihm  existiert.  Darum  ist  es  schon  falsch  aus- 
gedrückt, daß  die  Wahrnehmung  ein  Bewußtsein  voraus- 
setzt. Das  Bewußtsein  ist  keine  voraussetzbare  selbständige 
Größe.  Ein  Phänomen  als  Wahrnehmung  denken,  heißt:  es 
als  existierend  in  einem  Individualsystem  denken.  Das  datum 
der  Sinnlichkeit,  das  für  die  philosophische  Abstraktion  die 
unmittelbare  Realität  allein  ausmacht,  wird  in  diesem  Falle 
als  Inhalt  eines  individuellen  historischen  Bewußtseins  ge- 
dacht, während  der  Naturwissenschaftler  dort  einen  Gegen- 
stand des  Bewußtseins  überhaupt  denkt.  Die  Bestimmung 
der  philosophisch  unmittelbaren  Realität,  die  nur  auf  einer 
kühnen  Abstraktion  beruht,  kann  nur  erfolgen  durch  das 
vorausgesetzte  Denken.  Zur  Existenz  ist  also  immer  ein  Be- 
wußtsein vorausgesetzt.  Das  individuelle  Bewußtsein  ist 
nichts  anderes  als  die  individuell  historische  Ordnung  der 
Phänomene.  Wenn  sich  also  nachweisen  läßt,  daß  wir  in 
dem  Begriff  des  Reizes  historisch  denken,  so  ist  damit  ge- 
sagt, daß  wir  ein  Individualsystem  in  der  Zeit  annehmen, 
in  dem  er  existiert,  damit  aber  auch,  daß  wir  das  datum  der 
Sinnlichkeit  als  Inhalt  einer  Monade  oder  eines  individuellen 
Bewußtseins  denken.  Dies  ist  die  logische  Darstellung  des 
mehr  geistreichen  Ausdrucks,  daß  das  Gehirn  eine  Telephon- 
zentrale ist.  Das  Bewußtsein  ist  an  sich  gar  nichts.  Es 
existiert  nur  als  Kategorie  des  Denkens.  Etwas  gelangt  in 
die  Telephonzentrale  nur  dadurch,  daß  es  als  Inhalt  eines 
Individualsystems  aufgefaßt  wird.  Sonst  gäbe  es  kein 
Telephon.  Denkt  man  aber  mechanistisch,  so  bedarf  es  keiner 
Telephonzentrale,  weil  es  keines  historischen  Zusammen- 
hanges bedarf.  Ist  aber  dieser  zur  Erkenntnis  notwendig, 
so  muß  der  Reiz  auch  in  dem  System  existieren,  in  dem  die 
Reaktion  existiert,  d.  h.  in  dem  Individualsystem  und  nicht 
im  Raumsystem  des  Mechanismus. 

Wenn  wir  von  Reiz  sprechen,  so  denken  freilich  die  Psy- 
chologen an  Wellenbewegung  oder  etwas  Ähnliches.    Gerade 


—  158  — 

dies  ist  falsch.  Der  Reiz  ist  die  Empfindung,  die  akustische 
Wellenbewegung  ist  nur  der  als  Gegenstand  gedachte  Reiz. 
Ursprünglich  ist  die  Wahrnehmung  gar  nichts  anderes  als  ein 
Reiz  für  eine  Reaktion.  Bei  der  optischen  Wahrnehmung 
wird  dies  ganz  klar.  Der  Reiz  existiert  nicht  im  Raum, 
sondern  der  Raum  selbst  ist  ja  nur  Phänomen,  Gegenstand 
des  Erlebens.  Wenn  eine  Reaktion  erst  auf  eine  bestimmte 
Entfernung  hin  erfolgt,  so  bedeutet  das  keine  gradweise 
Steigerung  der  Wirkung,  wie  etwa  bei  der  Gravitation, 
sondern  erst  das  bestimmte  Raumerlebnis  ruft  die  Reaktion 
hervor.  Sie  tritt  nicht  ein  wegen  der  relativen  Ortsverände- 
rung im  mechanistischen  Raum,  sondern  auf  Grund  des 
absoluten  Raumerlebnisses.  Das  ergibt  sich  schon  aus  der 
einen  Tatsache,  daß  die  Halluzination  genau  so  als  Reiz 
wirken  kann  wie  die  Wahrnehmung. 

Der  Gegensatz  zur  Kausalität  liegt  nun  darin,  daß  die 
Verbindung  zwischen  Reiz  und  Reaktion  als  wiederholbare 
Assoziation  gedacht  wird.  Wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  hat  man 
auch  kein  Recht,  von  Reiz  und  Reaktion  zu  sprechen.  Kann 
man  die  Bewegung  der  Sonnenblume  zum  Licht  hin  erklären 
als  eine  physikalisch  bewirkte  Änderung  der  Substanz- 
konstellation, so  existiert  kein  Reiz,  sondern  eine  Ursache 
der  Bewegung.  Man  denkt  kein  historisches  Individual- 
system.  Hält  man  es  aber  für  eine  Eigenschaft  der  Mimose, 
auf  einen  Tastreiz  zu  reagieren,  so  heißt  das,  daß  man  ein 
Urteil  über  die  Einzelsubstanz  abgibt.  Das  einzelne  Phä- 
nomen wird  aus  einer  allgemeinen  Tatsache  begriffen;  aber 
diese  Allgemeinheit  bezieht  sich  nur  auf  die  zeitlich  wieder- 
holten Bewegungen  in  dem  Zeitsystem  der  individuellen 
Mimose  und  nicht  auf  Wiederholungen  in  dem  zeitlosen 
Raum.  Erkläre  ich  das  eine  Mal  etwas  in  der  Zeit  durch  ein 
allgemeines  Gesetz,  das  in  dem  zeitlosen  Raum  gilt,  so  be- 
schreibe ich  das  andere  Mal  nur  eine  Wiederholung  in  der 
Zeit.  Mechanistisch  wäre  die  Bewegung  der  Mimose  nur  dann 
bestimmbar,  wenn  ich  gar  keine  Rücksicht  darauf  nehme, 


—  159  — 

ob  diese  Bewegung  schon  einmal  mit  der  Mimose  vor  sich 
gegangen  ist.  Werden  die  Blätter  durch  äußere  Ursachen 
zusammengedrückt,  so  erkläre  ich  dies  Geschehen  mecha- 
nistisch, nämlich  völlig  ohne  Rücksicht  auf  das  Individual- 
system  Mimose.  Ebenso  wird  die  Bewegung  der  Fliege  durch 
den  Windstoß  erklärt.  Wir  haben  es  nur  mit  Ursachen  und 
nicht  mit  Reizen  zu  tun.  Berücksichtigt  man  aber,  daß 
die  Bewegung  der  Mimose  im  Leben  schon  einmal  dagewesen 
ist,  so  denkt  man  das  ganze  Phänomen  in  einem  Individual- 
system.  Man  denkt  die  Bewegung  als  Bestimmtheit  der 
Mimose,  als  Handlung  in  der  Zeit,  als  spontan.  Man  denkt 
keine  Raumursache,  sondern  historische  Reize,  das  Phä- 
nomen nicht  im  Raum  des  Mechanismus,  sondern  als  Inhalt 
einer  Monade,  und  man  versteht  die  gleiche  Handlung  aus 
der  historischen  Gleichheit  der  Reize.  Erst  durch  das  histo- 
rische Denken  wird  also  etwas  zum  Reiz  und  zur  Reaktion. 
Wegen  des  mechanistischen  Denkens  ist  die  Ablenkung  der 
Magnetnadel  keine  Reaktion,  der  elektrische  Strom  kein 
Reiz.  Wegen  des  historischen  Denkens  ist  aber  auch  die 
Reaktion  eine  spontane  Bewegung,  eine  subjektiv  bestimmte 
oder  immanent  determinierte.  Gerade  weil  sie  abhängig  ist 
vom  Reiz,  deswegen  ist  sie  subjektiv  oder  immanent  deter- 
miniert; denn  der  Reiz  existiert  schon  subjektiv,  weil  er 
keine  zeitlose  Ursache  ist. 

Man  wird  mir  einwenden,  daß  damit  die  ganze  Biologie  in 
ihrem  Prinzip  in  Psychologie  aufgelöst  wird.  Dies  ist  aber  kein 
Einwand.  Um  ihm  zu  begegnen,  mußte  ich  den  ganzen  Umweg 
über  die  Erkenntniskritik  der  Biologie  antreten.  Es  ist  nämlich 
absolut  unverständlich,  warum  unsere  psychologischen  Lehr- 
bücher, die  doch  von  den  psychischen  Elementen  ausgehen, 
überhaupt  von  einer  Willenshandlung  sprechen,  warum  man 
eine  Bewegung  des  Körpers  überhaupt  in  einem  psychologi- 
schen Lehrbuch  behandelt.  Wenn  man  die  Wesenhaftigkeit 
des  Psychischen  in  den  psychischen  Elementen  sieht,  so  ist 
eine  Bewegung  des  Körpers  überhaupt  kein  Gegenstand  der 


—  160  — 

Psychologie.  Denn  eine  Bewegung  im  Raum  ist  kein  psychi- 
sches Element.  Wenn  wir  aber  in  der  Tierreihe  hinabsteigen, 
wo  wird  dann  plötzlich  eine  Bewegung  Gegenstand  der 
Psychologie  ?  Entweder  nie  oder  alle  Bewegungen  der 
Organismen  sind  Gegenstände  der  Psychologie.  Man  müßte 
gerade  behaupten,  daß  im  Menschen  allein  ein  metaphysi- 
sches Ding  ,, Seele"  wohnt;  man  müßte  ferner  die  Voraus- 
setzung machen,  daß  dieses  Raumding  den  Körper  beein- 
flußt. Dies  wird  die  kritische  Psychologie  wohl  ablehnen. 
Wenn  man  aber  die  Bewegung  des  Menschen  in  Zusammen- 
hang bringt  mit  psychischen  Phänomenen,  so  gibt  es  gar 
keinen  Grund,  vor  der  Amöbe  Halt  zu  machen.  Von  hier 
aus  gibt  es  tatsächlich  keine  Grenze  von  Psychologie  und 
Biologie.  Entweder  man  nimmt  an  einer  willkürlichen  Stelle 
der  historischen  Reihe  des  Lebens  auf  einmal  eine  Seele  an, 
oder  jeder  Organismus  ist  logisch  gleich.  Dann  aber  gibt  es 
keine  Unterscheidung,  wann  etwas  ein  biologisches  oder 
psychologisches,  sondern  nur,  wann  etwas  ein  historisches 
oder  mechanistisches  Problem  ist.  Geht  man  allerdings 
von  psychischen  Elementen  im  menschlichen  Bewußtsein 
aus,  dann  klingt  es  absurd,  von  dem  Seelenleben  der 
Amöbe  zu  sprechen.  Aber  ich  glaube  nachgewiesen  zu  haben, 
daß  im  Gegenteil  die  Absurdität  eher  in  den  psychischen 
Elementen  des  menschlichen  Bewußtseins  besteht.  Die 
Psychologie  ist  eine  besondere  Auffassung  der  Welt.  Ich 
glaube  wohl,  daß  manche  Psychologen  die  vorliegende  Arbeit 
zu  der  spiritualistischen  Psychologie  rechnen  werden.  In 
Wahrheit  aber  geht  gerade  sie  vom  Leibe  aus,  nämlich  vom 
Organismus.  Wir  nehmen  nicht  willkürlich  in  der  Amöbe 
eine  Seele  an,  sondern  stützen  uns  nur  auf  das  notwendige 
Prinzip  der  Erkenntnis,  das  in  dem  Begriff  Organismus 
steckt.  Es  ist  nur  eine  logische  Konsequenz,  daß  diese 
Prinzipien  auch  für  die  Erkenntnis  des  Menschen  zutreffen. 
Ich  schließe  nicht  von  dem  Menschen  auf  die  Mimose,  son- 
dern eher  umgekehrt,  von  der  Mimose  auf  den  Menschen. 


—  161  — 

Denn  dieser  ist  auch  nur  ein  Organismus.  Es  gibt  keine 
Grenze  in  dieser  Hinsicht  zwischen  Biologie  und  Psychologie, 
sondern  beide  sind  eins  als  die  historische  Erkenntnis  des 
Lebens.  Das  Wort  Seele  ist  nur  ein  anderer  Name  für  die 
Einheit  des  Lebens.  Jede  Bewegung  des  Menschen,  die 
spontan  oder  reaktiv  gedacht  wird,  ist  ein  biologisches 
Problem,  weil  es  ein  historisches  ist.  Natürlich  kann  man  sie 
auch  ein  psychologisches  Problem  nennen.  Dann  ist  aber 
auch  die  Bewegung  der  Amöbe  ein  psychologisches  Problem, 
denn  ein  Unterschied  zwischen  beiden  existiert  nicht. 

Wie  das  datum  der  Sinnlichkeit,  das  wir  Weltbestimmt- 
heit nennen,  dadurch  zum  psychologischen  Faktor  wird, 
daß  es  in  einem  Individualsystem  gedacht  wird,  auf  dieselbe 
Weise  wird  die  Bewegung  im  Raum  zum  psychischen  Faktor. 
Man  faßt  beides  als  Erlebnis  auf,  das  eine  als  Wahrnehmung, 
das  andere  als  Handlung.  Eine  Bewegung  kann  niemals 
Gegenstand  der  Psychologie  sein,  wenn  sie  im  naturwissen- 
schaftlichen Raum  gedacht  wird,  wie  der  Körper  niemals 
Gegenstand  der  Psychologie  ist,  wenn  er  als  Raumausschnitt 
der  Substanz  gedacht  wird.  Die  Psychologie  entsteht  nur 
durch  ein  bestimmtes  Denken  der  Welt,  nicht  durch  einen 
besonderen  gegebenen  Gegenstand.  Anders  könnte  eine 
Bewegung  im  Raum  niemals  Gegenstand  der  Psychologie 
sein.  Bei  dem  Raumgegenstand  hat  man  dies  durch  eine 
unlogische  Theorie  möglich  zu  machen  versucht,  nämlich 
durch  das  psychische  „Bild"  des  Gegenstandes,  durch  die 
Konstruktion  psychischer  Elemente.  Analog  müßte  man 
sagen,  daß  die  Bewegung  als  Summe  psychischer  Elemente 
im  Bewußtsein  abgebildet  wird.  Tatsächlich  tut  man  auch 
etwas  Ähnliches,  wenn  man  die  Bewegung  in  Körperverände- 
rung und  Bewegungsimpuls  zerlegt.  Die  Vorstellung  ist,  wie 
wir  nachgewiesen  haben  ,nur  eine  Kategorie,  in  der  die  data 
der  Sinnlichkeit  historisch  gedacht  werden.  Es  tritt  nicht 
etwas  Neues  neben  den  Raum,  nämlich  das  Psychische, 
sondern  man  denkt  jetzt  nicht  mehr  eine  Existenz  im  Raum, 

Strich,  Prinzipien.  11 


—  162  — 

sondern  nur  in  der  Zeit,  und  zwar  in  einem  Individualsystem. 
Genau  so  wird  eine  Reihe  von  Phänomenen  nicht  mehr  als 
Bewegung  im  zeitlosen  Raum  gedacht,  sondern  als  Handlung. 
Nur  durch  das  Denken  entsteht  der  Gegensatz  von  Gegen- 
stand und  Bewegung,  Vorstellung  und  Handlung.  Wie  es 
aber  sinnlos  sein  würde,  die  Existenz  der  chemischen  Ele- 
mente, aus  denen  der  im  Raum  gedachte  Körper  besteht, 
psychologisch  zu  erklären,  so  kann  man  auch  die  Bewegung 
der  Elemente  im  Raum  nicht  psychologisch  erklären.  Als 
Bewegung  im  Raum  existiert  sie  gar  nicht  mehr  psychologisch, 
nicht  als  Phänomen  des  Lebens,  sondern  als  Raum-Änderung 
der  Raum-Konstellation,  hat  also  gar  nichts  mehr  mit  Psy- 
chologie zu  tun.  Wie  die  chemischen  Elemente,  die  meine 
Hand  ausmachen,  eine  Beschleunigung  erlangen  und  nach 
einer  anderen  Stelle  im  mathematischen  Raum  gelangen, 
ist  kein  psychologisches  und  kein  biologisches  Problem. 
Nur  als  Handlung  existiert  hier  ein  psychologisches  Phä- 
nomen. Als  Zeitphänomen,  als  Teil  des  Lebens  oder  des 
Individualsystems  kann  ich  sie  psychologisch  begreifen. 

Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung  läßt  sich  psycho- 
logisch nicht  erklären,  sondern  nur  naturwissenschaftlich. 
Umgekehrt  ist  die  Handlung  nicht  naturwissenschaftlich  zu 
begreifen.  Es  ist  logisch  unmöglich,  daß  wir  eine  Wahrneh- 
mung als  psychisches  Phänomen  aus  Raumbewegungen  er- 
klären können  und  Raumbewegungen  aus  Wahrnehmungen. 
Die  historische  Vernunft  und  die  reine  Vernunft  lassen  sich 
nicht  monistisch  vereinigen.  Der  Mechanismus  ist  logisch 
begründbar  nur  durch  den  Gegensatz  dieser  Denkprinzipien. 
Man  hat  also  das  Problem  von  Leib  und  Seele  schon  falsch 
gestellt.  Es  kann  gar  nicht  ,,ein"  Problem  geben,  weil  es 
nicht  „eine"  Welt  gibt,  die  aus  physischen  und  psychischen 
Elementen  besteht.  Es  gibt  philosophisch  nur  ein  Chaos, 
d.  h.  die  in  der  Abstraktion  vollständig  unbestimmt  an- 
genommenen data  der  Sinnlichkeit.  Jede  Bestimmung  des 
Chaos,   die  wir  urteilend   aussagen,   hat   sich  a  priori  ent- 


—  163  — 

schieden,  als  welche  Welt  das  Chaos  gedacht  sein  soll.  Be- 
stimmt man  das  datum  als  grün,  denkt  man  historisch.  Denn 
die  Bestimmung  stützt  sich  auf  eine  Gleichheit  mit  einem 
vergangenen  Erlebnis.  Bestimmt  man  das  Chaos  als  Radium, 
denkt  man  es  als  Raum.  Es  ist  völlig  widersinnig  zu  fragen, 
wie  aus  einer  Schallwelle  ein  Ton  entsteht,  weil  die  Voraus- 
setzung, daß  er  aus  ihr  entsteht,  schon  widersinnig  ist.  Man 
denkt  das  eine  Mal  den  Ton  als  Wahrnehmung,  das  andere  Mal 
als  Raumgegenstand.  Ebenso  widersinnig  ist  es  zu  fragen, 
wie  durch  Wahrnehmungen  eine  Bewegung  im  Raum  ent- 
steht. Entweder  denkt  man  historisch  oder  räumlich.  Hand- 
lung und  Bewegung  entsprechen  vollkommen  dem  Ton  und 
der  Schallwelle.  Sobald  eine  Reihe  als  Handlung  gedacht 
wird,  existiert  sie  nicht  mehr  im  Raum  des  Mechanismus, 
kann  folglich  auch  nicht  mehr  dort  erklärt  werden.  Der 
Dualismus  der  historischen  und  der  reinen  Vernunft  macht 
diese  Erklärung  von  vornherein  logisch  unmöglich.  Beides 
sind  unmittelbare  Realitäten,  das  handelnde  Leben  und  die 
Bewegung  der  toten  Substanz.  Eins  ist  nicht  aus  dem  andern 
zu  erklären,  weil  damit  die  Realität  des  Gegensatzes  eben 
aufhören  würde.  Das  handelnde  Leben  wäre  ein  Irrtum  des 
naiven  Denkens  —  das  ist  der  Standpunkt  des  Monismus  — , 
oder  die  Bewegung  der  toten  Substanz  wäre  ein  Irrtum  des 
naiven  Denkens  —  das  ist  der  Standpunkt  der  Mythologie. 
Leben  und  Tod  als  wirklichen  Gegensatz  denken,  heißt  nichts 
anderes  als  logisch  die  Unmöglichkeit  zugeben,  beides  in  einer 
Erkenntnis  zu  vereinigen.  Sonst  wäre  es  ein  irrtümlicher  Gegen- 
satz. Nur  dadurch,  daß  der  Unterschied  als  in  dem  Denken  selbst 
gelegen  nachgewiesen  wird,  existiert  er  als  Realität,  also  nur 
wegen  des  Dualismus  der  historischen  und  der  reinen  Vernunft. 
Wenn  ich  aber  sage,  daß  die  Bewegung  historisch  ge- 
dacht zur  Handlung  wird,  so  scheint  hier  ein  Widerspruch  vor- 
zuliegen. Wenn  nämlich  der  Gegenstand  durch  das  psychologi- 
sche Denken  zur  Wahrnehmung  wird,  so  müßte  jede  Bewe- 
gung psychologisch  werden  als  Wahrnehmung  der  Bewegung. 

11* 


—  164  — 

Der  Widerspruch  löst  sich,  wenn  man  sich  an  die  Verschieden- 
heit der  Monaden  und  an  den  Unterschied  von  Denken  und 
Wahrnehmung  hält.  Wenn  man  nämlich  Bewegung  denkt, 
so  denkt  man  nicht  mehr  historisch,  sondern  räumlich. 
Eine  „Wahrnehmung"  der  Bewegung  existiert  also  gar 
nicht,  sondern  nur  das  Denken  einer  Reihe  als  Bewegung. 
In  meiner  Welt  gibt  es  zunächst  nur  ,,eine"  Bewegung,  die 
psychologisch  gedacht  werden  kann,  nämlich  meine  Hand- 
lung. Alles  andere  wird  an  sich  im  Raum  gedacht.  Der 
andere  Mensch  ist  zunächst  „Gegenstand",  seine  Hand- 
lungen Bewegungen  im  Raum.  Von  diesem  Standpunkt  aus 
gibt  es  keinen  Unterschied,  ob  ein  Ziegelstein  mir  auf  den 
Kopf  fällt,  oder  ob  er  geworfen  wird.  Der  Arm,  der  ihn 
schleudert,  ist  für  mich  nichts  weiter  als  ein  Hebel.  In  meiner 
Welt  ist  das  Historische  nur  das,  was  ich  erfahre  und  tue. 
Aber  meine  Welt  ist  auch  nicht  die  Welt  des  Anderen.  Zur 
Handlung  wird  die  Bewegung  erst  dann,  wenn  ich  sie  als 
historisches  Phänomen  seiner  Welt  denke.  Wer  mir  den  Ziegel- 
stein auf  den  Kopf  wirft,  will  mich  vielleicht  morden,  weil 
ich  ihm  ein  unsympathischer  Gegenstand  bin.  In  meiner 
Welt  bin  ich  aber  weder  unsympathisch  noch  Gegenstand. 
Hier  existiert  auch  empirisch  zunächst  gar  nicht  sein  Wille, 
sondern  alles,  was  nicht  mein  Wille  ist,  ist  dira  necessitas, 
blinder  Zwang,  als  Wahrnehmung  mir  aufgezwungen,  ebenso- 
wenig psychologisch  zu  erklären,  wie  alle  anderen  Bewe- 
gungen, die  ich  wahrnehme.  Abgesehen  von  dem  ethischen 
Problem,  das  hier  vorliegt,  kommt  aber  meine  Erkenntnis 
damit  nicht  aus.  Ich  weiß  wohl,  daß  die  Bewegungen  nur 
Hebelbewegungen  im  Raum  sind;  ich  kann  aber  ihre  Existenz 
aus  dem  Raum  nicht  begreifen.  Denke  ich  sie  aber  psycho- 
logisch, so  wird  die  Bewegung  zur  Handlung,  weil  ich  sie 
jetzt  in  seiner  Welt  denke,  in  der  ich  z.  B.  unsympathisch 
bin.  Es  berührt  sich  dies  mit  der  sogenannten  Einfühlung. 
Man  muß  aber  auch  ein  ,, Eindenken"  und  „Einempfinden" 
zugeben.    Selbstverständlich  existieren  diese  Phänomene  nur 


—  165  — 

für  die  beschreibende  Psychologie.  Das  Beziehen  auf 
einen  andern  ist  wieder  ein  eigentümlicher  Struktur- 
zusammenhang des  Bewußtseins,  der  sich  nur  durch  eine 
Beschreibung  des  Subjekts  nicht  aber  durch  eine  Aufzählung 
der  anwesenden  Elemente  wiedergeben  läßt.  Psychologisch 
denken  heißt  die  Welt  subjektiv  denken,  nicht  als  Gegenstand 
des  Bewußtseins  überhaupt,  sondern  als  Inhalt  des  indivi- 
duellen Bewußtseins.  Darum  muß  ich  sie  aber  auch  als 
Inhalt  eines  andern  Bewußtseins  denken  können. 

Die  Kategorie  der  Handlung  trifft  aber  genau  ebenso  auf 
das  Vorstellungserlebnis  zu.  Man  kann  sagen,  daß  gewisse 
Assoziationen  sich  dem  Bewußtsein  aufdrängen,  und  auf 
Grund  dieser  psychologischen  Tatsache  spricht  man  viel- 
leicht von  einem  Mechanismus  der  Vorstellung.  Dies  wäre 
aber  wieder  ein  Psychologismus.  Erkenntniskritisch  haben  wir 
zu  fragen,  ob  die  Art  des  Zusammenhanges,  auf  Grund  dessen 
wir  das  Auftreten  der  Vorstellung  verstehen,  identisch  ist 
mit  dem  mechanischen,  auf  Grund  dessen  wir  ein  Phänomen 
der  Natur  erklären.  Der  psychologische  Zwang  als  Erlebnis 
begründet  keine  logische  Verwandtschaft.  Es  ist  ja  von 
vornherein  klar,  daß  die  Psychologie  hier  keine  Reihe  von 
Ursache  und  Wirkung  konstruieren  kann.  Wir  geben  ohne 
weiteres  die  selbstverständliche  Tatsache  zu,  daß  ein  sprach- 
liches Urteil  stets  mit  einer  Reihe  von  Empfindungen  ver- 
bunden ist.  Diese  Verbindung  stellt  sich  aber  als  ein  eigen- 
tümlicher Strukturzusammenhang  des  Bewußtseins  dar,  den 
wir  ,, Meinen"  nennen,  und  nicht  als  ein  bloßes  Plus  oder 
Nebeneinander  im  Bewußtseinsraum,  wie  ihn  das  Raum- 
denken der  Elementarpsychologie  für  gewöhnlich  auffaßt. 
Will  man  diese  Reihe  kausal  erklären,  so  könnte  das  nur 
heißen,  daß  ein  Zeitmoment  die  Folge  des  vorhergehenden 
ist,  von  ihm  bewirkt  wird.  Wird  aber  vielleicht  das  erste 
Wort  der  Reihe  von  dem  vorhergehenden  Satz  bewirkt,  ruft 
vielleicht  das  „der"  die  Elemente  „Baum"  ins  Bewußtsein 
und  diese  wieder  „ist"  usw.?     Nun  ist  das   Hören,   Lesen, 


—  166  — 

Sprechen  von  „der"  ja  selbst  schon  eine  Zeitreihe.  Der 
Elementarpsychologe  müßte  also  das  Wort  in  Elemente 
auflösen,  die  sich  zeitlich  folgen.  Notwendigerweise  müßte 
er  aber  auch  hier  einen  Kausalitätszusammenhang  kon- 
struieren. Denn  es  wäre  ganz  unsinnig  anzunehmen,  daß  die 
Kausalität  in  der  Welt  eine  Zeitlang  unterbrochen  würde. 
So  wie  der  Psychologe  eine  Einheit  von  Dauer  zugibt,  hat 
er  von  vornherein  auf  Kausalität  verzichtet.  Diese  kann  gar 
nichts  anderes  heißen,  als  daß  die  Reihe  der  Zeit  durch  Ur- 
sache und  Wirkung  konstruiert  werden  muß.  Nehme  ich 
aber  das  Wort  als  Einheit  an,  so  kann  ich  mit  demselben 
Recht  auch  das  Urteil  als  Einheit  annehmen,  das  beginnt  und 
aufhört.  Die  Zeiteinheit  hat  nur  eine  größere  Dauer.  Da- 
durch wird  die  Reihe  nicht  mehr  problematisch.  Es  kann 
nicht  ein  Moment  die  Folge  des  andern  sein,  weil  beide  ja 
nur  Teile  einer  existierenden  Einheit  sind.  Obwohl  sie  sich 
zeitlich  folgen,  existieren  sie  logisch  nicht  als  objektive  Folge. 
Das  Wahrnehmungsurteil  läßt  sich  nicht  in  ein  Erfahrungs- 
urteil umdenken.  Das  psychologische  Urteil  ist  eben  ein 
historisches  oder  ein  Wahrnehmungsurteil,  d.  h.  das  Urteil  ist 
eine  Handlung.  Trotzdem  es  eine  Zeitreihe  ist,  ist  es  doch 
„ein"  Phänomen:  es  wird  auf  die  Objektivierung  der  Zeit 
durch  die  Kausalität  verzichtet.  So  wie  der  Psychologe 
überhaupt  zwei  Verschiedenheiten  als  Bestimmtheiten  einer 
wenn  auch  nur  kurz  dauernden  Einheit  annimmt,  verzichtet 
er  darauf,  die  Verschiedenheiten  als  Folge  aufzufassen.  Dies 
trifft  aber  nicht  nur  für  die  akustische  Folge  des  Wortes  zu, 
sondern  ebenso  für  die  optische  Vorstellung.  Gerade  durch 
diesen  Unterschied  hat  ja  Kant  die  Objektivität  der  Kausa- 
lität bewiesen.  Diese  objektiviert  durch  den  Raum  als  Form 
des  „Bewußtseins  überhaupt"  die  subjektive  Folge  des 
Psychischen.  Diese  selbst  ist  aber  nur  die  Folge  von  dauern- 
den Einheiten.  Von  der  erklärenden  Psychologie  aus  ist  es 
Frivolität,  wenn  man  diese  dauernden  Einheiten  oder  die 
mehr  oder  minder  großen  Zeitteile  als  die  Momente  selbst 


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ansieht,  die  man  kausal  erklären  will.  Das  Prädikat  soll 
womöglich  im  Satz  kausal  erregt  worden  sein,  aber  die  ganze 
Reihe  der  Empfindungselemente  nicht.  Auch  die  Fieber- 
phantasien lassen  sich  nicht  als  kausale  Reihe  von  psychischen 
Elementen  darstellen,  schon  weil  man  im  Wahrnehmungsgebiet 
überhaupt  die  „wirkliche"  Folge  der  Elemente  garnicht  wissen 
kann.  Dies  wird  durch  den  Strukturzusammenhang  des 
Bewußtseins  unmöglich  gemacht,  durch  den  die  sogenannten 
Elemente  Bestimmtheiten  einer  erlebten  dauernden  Einheit 
werden.  Sagt  man:  das  Subjekt  stellt  sich  einen  laufenden 
Mann  vor,  so  hat  man  keine  kausale  Reihe  von  Elementen, 
sondern  eine  unmittelbare  Synthese  in  der  Zeit.  Es  ist 
absolut  unlogisch,  eine  Auswahl  zu  treffen,  was  Folge  des 
vorhergehenden  Momentes  ist  und  was  Teil  eines  dauernden 
Momentes  ist.  Eine  kausale  Wissenschaft  ist  unmöglich  ohne 
die  Zeit  als  Methode  der  Objektivierung  stetiger  Verände- 
rungen anzunehmen.  Die  Psychologie  kennt  aber  die  Zeit 
nur  als  Realität.  Sie  muß  daher  beim  Wrahrnehmungsurteil 
stehen  bleiben  und  kann  kein  Erfahrungsurteil  konstruieren. 
Keiner  Psychologie  kommt  es  in  der  Praxis  auch  darauf  an,  ein 
Geschehen  in  der  Zeit  kausal  zu  erklären.  Sie  kann  nur  das 
Leben  beschreiben  als  eine  subjektive  Folge  von  größeren 
oder  kleineren  realen  Momenten,  die  historisch-logisch  zu- 
sammenhängen. Keine  Theorie  von  Assimilation  oder  Ver- 
schmelzung hilft  darüber  hinweg,  daß  man  die  Zeitreihe  der 
Elemente  nicht  erst  durch  die  Kausalität  bestimmt  sein 
läßt,  sondern  durch  die  unmittelbare  Zeitsynthese,  durch 
die  das  Ende  für  den  Anfang  bestimmt  ist,  insofern  es  an- 
fängt. Man  kann  diese  Einheit  eine  Gestaltsqualität  nennen. 
Das  Wichtige  aber  ist,  daß  es  die  Psychologie  ausschließlich 
mit  solchen  Gestaltqualitäten  zu  tun  hat.  Das  Wort  ist  für 
den  Psychologen  genau  so  ein  akustischer  Gegenstand  wie 
der  Tisch  oder  der  Stuhl,  den  ich  sehe,  ein  optischer.  Seine 
Bestimmtheiten  werden  mir  nacheinander  bewußt.  Natür- 
lich ist  das  Versprechen  oder  Verlesen  kein  Einwand  gegen 


—  168  — 

uns.  Niemals  ruft  das  letzte  Element  der  Wahrnehmung  ein 
vorgestelltes  Element  hervor,  sondern  eine  vorangegangene 
Einheit,  die  zeitlich  aus  verschiedenen  Elementen  bestehen 
würde,  wenn  dieser  Begriff  hier  überhaupt  einen  Sinn  hätte. 
Die  Psychologie  kennt  nicht  die  Auflösung  der  Zeit  in  ein  ewiges 
Nacheinander  von  Ursache  und  Wirkung.  Das  Wort  als  Einheit 
wäre  eine  ganz  willkürliche  Unterbrechung  der  Stetigkeit, 
da  es  einen  dauernden  Moment  als  Einheit  nimmt,  ohne  in 
diesem  Fall  die  Elemente  als  Ursache  und  Wirkung  aufzufassen. 
Natürlich  stammt  auch  diese  Einheit  aus  dem  ,, Meinen" 
als  Handeln.  Es  ist  eine  grobe  Fahrlässigkeit  des  psycho- 
logischen Nominalismus,  das  Wort  als  eine  gegebene  psycho- 
logische Einheit  anzunehmen.  Seine  Einheit  als  Formung 
der  akustischen  Eindrücke  empfängt  es  erst  durch  die  dahinter- 
liegende  Handlung  des  Meinens  seitens  der  Subjekte.  Dieses 
Gemeinte  wird  nicht  assoziativ  von  der  Empfindung  reprodu- 
ziert, sondern  durch  das  Gemeinte  entsteht  erst  die  Einheits- 
form der  Empfindung.  Genau  so  entsteht  durch  die  Hand- 
lung aus  den  Einheiten  der  Worte  die  Einheit  des  Satzteils 
und  des  Satzes.  Für  die  deskriptive  Psychologie  allein 
existiert  diese  Einheit,  nämlich  als  Handlung,  die  Teilhandlung 
sein  kann,  wie  die  Körperhandlung  aus  Teilhandlungen  be- 
steht, wobei  allerdings  psychologisch  der  Teil  wieder  auf  den 
Strukturzusammenhang  des  Bewußtseins,  die  ,, Fundierung", 
zurückführt.  Keine  Psychologie  kann  etwas  anderes  tun,  als 
das  Urteil  als  synthetische  Einheit  zum  Gegenstand  der  Er- 
kenntnis zu  machen.  Es  ist  eine  leere,  nichtssagende  Be- 
hauptung hinterher,  daß  man  eine  Reihe  von  Elementen, 
Empfindungen,  in  kausaler  Folge  denkt. 

Wir  sagten,  daß  die  Körperhandlung  eine  immanent 
determinierte  Bewegung  bedeutet.  Die  Handlung  wird  da- 
durch zum  historischen  Phänomen.  Sie  ist  eine  dauernde 
Zeitgröße,  weil  ihr  Ende  anfängt  und  kein  Zufall  ist,  der 
durch  äußere  Ursachen  erklärt  werden  muß.  Damit  ist  aber 
zugleich  gesagt,  daß  der  Anfang  durch  das  Ende  begriffen 


—  169  — 

ist.  Nehme  ich  eine  unmittelbare  Einheit  als  zu  begreifendes 
Phänomen  an,  so  folgt  daraus,  daß  der  Anfang  aus  dem  Ende 
und  das  Ende  aus  dem  Anfang  verstanden  werden  muß. 
Dadurch  aber,  daß  etwas  als  Handlung  oder  Tat  gedacht 
wird,  ist  eine  Abhängigkeit  von  dem  lebenden  Subjekt  und 
nicht  von  den  zeitlosen  Gesetzen  der  Substanz  behauptet. 
Ich  begreife  die  Tat,  wenn  ich  erkenne,  was  gewollt  ist. 

Bestimme  ich  eine  Handlung  als  den  Anfang  vom  Ende, 
so  bestimme  ich  den  Anfang  aus  dem  Seinsollen  des  Endes, 
wie  ich  in  der  Richtung  der  Bewegung  ein  Seinsollen  der 
Zukunft  bestimme.  Hier  aber  handelt  es  sich  um  ein  inhalt- 
liches Ende,  das  sein  soll  und  ferner  um  die  Bestimmung 
des  Endes  als  Zeit-  und  nicht  als  Raumphänomen.  Das  Ende 
existiert  für  die  erkennende  Bestimmung  der  Handlung,  aber  es 
existiert  noch  nicht  real.  Es  wird  oder  fängt  an.  Von  dem  Subj  ekt 
aus,  von  dem  wir  die  Handlung  oder  Tat  abhängig  machen, 
existiert  das  Ende  als  Seinsollen.  Das  Sollen  ist  eine  Kategorie 
der  historischen  Vernunft.  Man  darf  sie  aber  von  vornherein 
nicht  als  ethische  Kategorie  auffassen;  genau  so  wenig,  wie 
es  psychologisch  darauf  ankommt,  ob  das  Wissen  des  Sub- 
jekts Wahrheit  ist,  ob  das  von  ihm  anerkannte  Sein  das 
wirkliche  Sein  ist,  braucht  auch  das  Sollen  „wahres"  Sollen 
zu  sein.  Psychologisch  interessiert  nur,  daß  etwas  von  dem 
Subjekt  aus  sein  soll,  daß  es  etwas  will.  Die  Geschichte  aber 
kommt  ebenso  wie  der  Mechanismus  aus,  ohne  die  Tat  oder 
die  Wertung  des  Subjekts  zu  bewerten,  aber  nicht  ohne  die 
Bewertung  seitens  der  Subjekte,  ohne  Willen.  Wenn  man  das 
Ende  anfangen  läßt,  so  heißt  das,  daß  das  Ende  für  den, 
der  anfängt,  für  das  Subjekt  sein  soll.  Nur  durch  seine 
Wertbedeutung  ist  der  Anfang  begründet,  während  die  reine 
Vernunft  nur  die  Veränderung  des  Seienden  begründet. 

Wir  stoßen  damit  auf  den  tiefsten  Gegensatz  in  der 
Auffassung  der  Realität.  Die  reine  Vernunft  kennt  nur  das, 
was  ist,  die  historische  das,  was  sein  soll.  Dieses  Sollen  aber 
hat  für  die  empirische  Erkenntnis  der  Monaden  nicht  die  Be- 


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deutung  einer  objektiven  Kategorie,  nicht  die  einer  Kategorie 
des  Bewußtseins  überhaupt.  Entscheidend  für  die  Erkenntnis 
ist  das,  was  von  dem  Subjekt  aus  sein  soll.  Die  Bewertung 
der  Tat  vom  Standpunkt  der  Objektivität  aus  liegt  außer- 
halb der  empirisch-psychologischen  Erkenntnis.  Die  Natur- 
wissenschaft baut  den  historischen  Moment  auf  aus  der  zu 
konstruierenden  zeitlosen  Wirklichkeit.  Das  ist  der  Sinn 
des  Raumes  und  der  Elemente.  Die  Psychologie  kennt  keine 
Wirklichkeit,  die  sich  verändert.  Jeder  Moment  ist  ein  neuer 
Teil  der  Realität,  wie  jeder  Raumteil  ein  neuer  Teil  des 
Raumes  ist.  Daneben  bleibt  freilich  die  Zeit  „Folge".  Diese 
ist  aber  niemals  erklärt  aus  dem  gesetzmäßigen  Dasein  einer 
früheren  Wirklichkeit.  Man  gibt  auch  zu,  daß  etwas  Neues 
möglich  ist,  das  durch  die  Elemente  der  Vergangenheit  nicht 
allein  darstellbar  ist.  Dieses  Neue  existiert  auch  für  den 
Chemiker.  Das  logische  Prinzip  an  der  schöpferischen  Synthese 
im  Psychischen  liegt  darin,  daß  die  Erkenntnis  die  historische 
Wertbedeutung  des  Moments  berücksichtigen  muß  und  nicht 
allein  das,  woraus  er  besteht,  nämlich  die  vermeintlichen 
Elemente.  Die  Wirklichkeit  des  historischen  Moments  ist  nicht 
begründeten  der  vorhergehenden  Wirklichkeit,  deren  Ver- 
änderung sie  nur  wäre,  sondern  allein  in  der  Wirklichkeit  des 
historischen  Subjekts.  Als  seine  Tat  oder  Schöpfung  existiert 
sie.  Die  reale  Zeit  ist  eine  ewige  Schöpfung  aus  dem  Nichts. 
Denn  es  existiert  für  sie  kein  psychischer  Raum,  der  schon 
vorher  da  wa*\  Aber  es  gilt,  diese  Tat  erkennend  zu  begrün- 
den, und  dies  ist  nur  möglich  durch  die  Bedeutung,  die  der 
neue  Moment  in  dem  Leben  hat,  durch  seinen  subjektiven 
Wert.  Wir  müssen  wissen,  ,, warum"  der  Moment  sein  soll, 
und  nicht,  nach  welchen  Gesetzen  sich  die  Wirklichkeit 
verändert  hat.  Es  kommt  alles  auf  die  Einsicht  an,  daß 
man  hier  zwei  ganz  verschiedene  Prinzipien  der  Welterkennt- 
nis vor  sich  hat,  zwei  ganz  verschiedene  Weltauffassungen. 
Was  nützt  es,  wenn  man  das  Motiv  Ursache  nennt,  wenn  man 
die  Lust  als  kausalen  Faktor  des  Geschehens  ausgibt!    Nur 


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Wort  und  Name  verdecken  den  unüberbrückbaren  Gegen- 
satz. Die  Lust  ist  keine  selbständige  Größe,  kein  Gegenstand, 
kein  Element,  keine  Ursache,  die  in  der  Welt  etwas  bewirkt. 
Es  ist  „verständlich",  daß  die  Bewegung  geschieht,  die  eine 
Lustbereicherung  für  das  Subjekt  bedeutet.  Gerade  aus  der 
Verständlichkeit  aber  folgt,  daß  die  Lust  keine  Ursache  ist. 
Denn  die  Wirkung  einer  Ursache  ist  niemals  an  sich  ver- 
ständlich, sondern  muß  erst  durch  die  mühselige  Arbeit  des 
induktiven  Forschens  festgestellt  werden.  Die  Lust  wäre 
bestenfalls  der  allgemeinste  Zweckgegenstand,  den  das 
Subjekt  verwirklichen  will.  Da  aber  der  Mechanismus  völlig 
damit  im  Recht  ist,  daß  er  den  Zweck  nicht  anerkennt,  so 
kann  man  auch  in  der  Psychologie  ihn  nicht  als  Ursache  an- 
setzen. Es  besteht  ein  diametraler  Gegensatz  zwischen  er- 
klärender Ursache  und  verständlichem  Zweck.  In  einer 
Psychologie,  die  nach  den  kausalen  Zusammenhängen  der 
Phänomene  sucht,  hat  der  Begriff  der  Lust  überhaupt  keinen 
Platz.  Man  erkennt  die  Wirklichkeit  eben  nicht  mehr  aus 
einem  gesetzmäßigen  Geschehen,  sondern  aus  dem  Interesse 
des  Subjekts.  Dieses  ist  der  Schöpfer  der  neuen  Zeit.  Sie 
„mußte"  nicht  kommen,'  weil  die  Gesetze  das  Geschehen 
beherrschen,  sondern  sie  „sollte"  kommen,  weil  sie  in  dem 
realen  Leben  eine  Wertbedeutung  für  das  Subjekt  hat. 
Aus  ihr  erkennen  wir  die  Wirklichkeit.  Wir  erkennnen  die 
Tat,  wenn  wir  wissen,  was  das  Subjekt  an  der  eintretenden 
Wirklichkeit  gewollt  hat.  Kein  Wertgefühl  als  ein  Phä- 
nomen unter  vielen  anderen  erklärt  uns  etwas  wegen  seiner 
spezifischen  Qualität,  sondern  wir  denken  historisch  die  Welt 
unter  der  Kategorie  des  Sollens.  Die  Naturwissenschaft  kann 
diese  gar  nicht  kennen.  Es  wäre  sinnlos,  wenn  sie  von  Sein- 
sollen spräche,  wo  es  für  sie  nur  ein  Sein  und  ein  Müssen 
gibt.  Wie  dieses  Müssen  durch  die  Kategorie  der  Kausalität 
begründet  wird,  so  ist  es  der  Wille,  der  das  Sollen  begründet. 
Die  historische  Wirklichkeit  läßt  sich  nicht  durch  ein  Müssen 
begründen,  sondern  nur  durch  das  Sollen,  die  Wertbedeutung 


—  172  — 

oder  den  Willen  des  Subjekts.  Hierin  liegt  der  tiefste  Gegen- 
satz zu  der  Elementarpsychologie.  Die  Theorie  der  psychi- 
schen Elemente  beruht  schon  dem  Begriff  nach  auf  dem 
voreiligen  Dogma,  daß  der  psychischen  Wirklichkeit  ein 
Sein  zugrunde  liegt,  das  aus  existierenden  Teilen  aufzubauen 
ist.  Darin  liegt  ein  völliges  Verkennen  der  erkenntniskriti- 
schen Bedeutung  der  Zeit  und  des  Historischen.  Darin,  daß 
man  in  dem  Willen  den  wichtigsten  Komplex  psychischer 
Elemente  sieht,  sehe  ich  keinen  Grund,  das  System  einen 
Voluntarismus  zu  nennen.  Es  kommt  darauf  an,  daß  der 
Wille  eine  ganz  andere  Betrachtungsweise  der  Wirklichkeit 
bedingt.  Für  die  Erkenntnis  ist  es  dann  gleichgültig,  was  da 
ist.  Was  da  sein  „soll",  ist  das  Wesentliche.  Das  Problem 
der  Psychologie  ist  das  Wirklichwerden,  das  der  Naturwissen- 
schaft das  Wirklichsein,  das  sich  nur  verändert.  Sie  will  den 
Moment  erklären  unter  der  Voraussetzung,  daß  nichts  Neues 
entstehen  kann,  daß  nur  eine  Lageänderung  vor  sich  ge- 
gangen ist.  Der  historische  Moment  aber  ist  immer  das  Neue, 
das  erst  wirklich  geworden  ist.  Er  kann  logisch  eine  Wieder- 
holung sein,  aber  das  Frühere  ist  nicht  an  einen  andern  Ort 
gewandert.  Das  Neue  ist  eine  Schöpfung  aus  dem  Nichts, 
auch  als  Wiederholung  ist  es  von  dem  Subjekt  getan  worden, 
und  seine  historische  Wirklichkeit  —  nur  eine  solche  kennt 
die  Psychologie  —  ist  einzig  und  allein  aus  dem  Willen  des 
Subjekts  zu  begreifen. 

Damit  aber  beginnt  erst  das  psychologische  Problem. 
Wollten  wir  uns  nämlich  schon  damit  begnügen,  daß  der 
Wille  die  Wirklichkeit  begründet,  so  würde  das  dem  ent- 
sprechen, daß  der  Physiker  seine  Arbeit  für  getan  hält, 
wenn  er  ein  Geschehen  auf  die  Kausalität  zurückführt.  Der 
Wille  ist  an  sich  gar  nichts.  Er  ist  nur  ein  Prinzip  der  Erkennt- 
nis wie  die  Kausalität.  Erst  die  spezielle  Willenstendenz  be- 
deutet Erkenntnis ;  sie  ist  die  Analogie  zu  den  Naturgesetzen, 
das  historische  Gesetz  innerhalb  des  Individualsystems. 
Man  kann  von  allem  Psychischen  sagen,  daß  seine  Wirklich- 


—   173  — 

keit  auf  dem  Willen  des  Subjekts  beruht.  Auch  die  Wahr- 
nehmung bildet  davon  keine  Ausnahme,  soweit  sie  Formung 
und  Auswahl  ist.  Damit  ist  aber  noch  nichts  erkannt. 
Allerdings  ist  aber  auch  nicht  gesagt,  daß  alles  erkennbar 
ist.  Wenn  jemand  zwischen  zwei  völlig  gleichgültigen  Hand- 
lungen wählt,  so  sehe  ich  wohl  die  Entscheidung.  Es  ist  auch 
sein  Wille  gewesen,  der  die  Wirklichkeit  begründet.  Sobald 
ich  aber  nicht  das  ausschlaggebende  Moment  kenne,  nicht 
das  Interesse  an  der  einen  Handlung,  so  geringfügig  es  auch 
sein  mag,  habe  ich  sie  nicht  erkannt.  So  geht  im  Leben 
wohl  vieles  vorüber,  was  man  als  Tatsache  hinnehmen  muß 
und  nicht  erkennen  kann.  Das  Gesetz,  das  den  Fall  bestimmt, 
kann  die  Psychologie  durch  weitere  Vervollkommnung  der 
Erkenntnis  nicht  finden.  Es  ist  der  Wille  des  Subjekts,  den 
man  kennen  muß.  Erst  die  spezifische  Willenstendenz  ist 
das  Problem  der  Psychologie,  der  Erkenntnis  des  Indivi- 
duums. Die  Handlung  ist  nicht  bestimmt  durch  ein  Gesetz 
der  psychischen  Welt,  die  der  Gegenstand  der  Psychologie 
wäre,  sondern  durch  das  Gesetz  innerhalb  des  Mikrokosmos, 
der  der  Gegenstand  der  psychologischen  Erkenntnis  ist.    . 

Das  Ende  der  Handlung  ist  selbst  ein  absoluter  histo- 
rischer Moment  aus  dem  Leben,  während  das  Ende  einer  Be- 
wegung nur  eine  Raumrelation  bedeutet,  deren  absolute  zeit- 
liche Bestimmung  für  die  mechanische  Naturwissenschaft 
gleichgültig  sein  muß.  Darum  ist  der  Zweck,  der,  wie  wir 
gesehen  haben,  auch  dem  Begriff  der  Bewegung  zugrunde 
liegt,  erst  in  der  Psychologie  wirklich  historisch,  im  Mecha- 
nismus nur  räumlich.  Ich  brauche  das  Ende  nicht  mehr 
zu  erleben.  Ich  kann  es  ja  durch  meinen  Tod  erkaufen. 
Aber  es  muß  dann  für  Andere  als  realer  Zeitmoment  existieren. 
Gewiß  zeigt  mir  die  Naturwissenschaft,  daß  es  sich  überall 
nur  um  eine  relative  Raumveränderung  handeln  kann.  Aber 
der  Historiker  denkt  eben  nicht  naturwissenschaftlich. 
Esse  ich  das  Brot,  so  fasse  ich  ein  Geschehen  als  Zeit  und 
nicht  im  Raum  auf.   Es  schwindet  ein  historischer  Moment, 


—  174  — 

der  Hunger,  und  ein  neuer  tritt  ein,  die  Sättigung.  Durch 
meine  Tat  ist  das  Brot  aus  d^r  Welt  verschwunden,  mag  der 
Naturwissenschaftler  mir  auch  beweisen,  daß  das  nicht  wahr 
ist,  daß  es  ewig  existiert  hat  und  ewig  weiter  existiert.  Als 
historisches  Urteil  ist  es  doch  wahr.  Der  Bäcker  hat  das 
Brot  gemacht,  und  ich  habe  es  zum  Verschwinden  gebracht. 
Wehrt  eine  Reaktion  einen  Reiz  ab,  so  existiert  im  Raum 
eine  relative  Ortsveränderung  der  Elemente.  Historisch  aber 
existiert  etwas  absolut  Neues,  nämlich  daß  der  Reiz  nicht 
mehr  stört.  Nur  aus  dem  historischen  Moment  im  absoluten 
Sinne,  nur  durch  den  Vergleich  der  Zeiten  ist  die  Realität 
der  Zeit  verständlich.  Die  Determination  des  Historikers 
bestimmt  nicht  eine  Veränderung  im  Raum,  nicht  daß 
A  in  ihm  nach  B  gekommen  ist,  sondern  sie  denkt 
das  Ende  genau  so  wie  den  Reiz  und  die  Bewegung 
psychologisch  als  Erlebnis,  als  einen  neuen  historischen 
Moment  im  Leben  einer  oder  vieler  Monaden.  Wenn  man  eine 
Bewegung  überhaupt  als  historische  Größe  denkt,  so  kann 
man  sie  auch  nur  historisch  determinieren,  nur  durch  das, 
was  aufhört  zu  existieren,  und  was  anfängt.  Diese  Determi- 
nation nennen  wir  Motiv  und  Zweck.  Natürlich  kann  der 
Mechanismus  sie  nicht  anerkennen,  weil  der  Zweck  nur  als 
historische  Realität  existieren  kann,  der  Mechanismus  •  aber 
nur  eine  stetige  Veränderung  kennt.  Solange  kein  Leben  da 
ist,  kann  auch  kein  Zweck  da  sein.  So  wie  aber  eine  Einheit 
besteht,  die  eine  historische  Größe  ist,  eine  Einheit  in  der 
Zeit  von  realer  Dauer,  dann  wird  die  Welt  zum  Reiz,  zum 
Motiv,  dann  wird  auch  sie  historisch.  Dann  hört  die  Emp- 
findung auf,  während  der  Gegenstand  bleibt.  Dann  ver- 
stehen wir  die  Bewegung  nicht  aus  zeitlosen  Ursachen, 
sondern  aus  historischen  Momenten,  nicht  daraus,  daß  ewig 
derselbe  Raum  existiert,  sondern  daraus,  daß  etwas  ver- 
schwindet und  ein  Neues  eintritt  was  vorher  nicht  da  war. 
Die  Geschichte  steht  also  im  absoluten  Gegensatz  zur  Natur- 
wissenschaft.  Sie  kennt  keinen  Aufbau  aus  dem  Bestehenden, 


—  175  — 

sondern  das  Neue  als  Werk  der  Tat,  als  Schöpfung.  Jede 
Bewegung  können  wir  aber  jetzt  auch  nur  noch  aus  dem 
Individualsystem verstehen,  indem  sie  stattfindet.  Sie  findet 
nicht  mehr  im  allgemeinen  Raum  statt,  sondern  in  dem 
Zeitsystem  „Subjekt'*,  mag  dieses  ein  namenloses  Infusorium 
oder  Shakespeare  sein.  Die  Bewegung  ist  nicht  mehr  erklär- 
bar aus  zeitlosen  Gesetzen  im  Raum,  sondern  verständlich 
aus  den  vergangenen  Erfahrungen  und  der  gewollten  Zu- 
kunft des  Subjekts. 

Gewiß  haben  wir  die  Zweckhandlung  des  Tieres  dar- 
winistisch  zu  verstehen.  Allein  es  geht  dies  nicht  ohne  die 
Voraussetzung  des  Wollens.  Wäre  die  erste  Reaktion  mecha- 
nistisch entstanden,  so  müßten  wir  dies  auch  bei  allen  anderen 
späteren  annehmen.  Dann  gilt  es  aber,  eben  das  zeitlose 
Gesetz  für  alle  diese  Fälle  zu  finden.  Sowie  man  die  spätere 
Reaktion  als  Wiederholung  der  ersten  versteht,  dann  hat  es 
auch  keinen  Sinn  mehr,  diese  als  mechanische  Bewegung 
zu  erklären.  Gewiß  entsteht  vieles  aus  Zufall,  was  nachher 
Zweck  wird.  Jedenfalls  aber  bestimmen  wir  die  Bewegung 
auch  als  Spiel  schon  als  spontan  oder  gewollt.  Eine  unend- 
liche Anzahl  von  Bewegungen  in  unserem  Leben  ist  Spiel, 
trotzdem  sind  sie  gewollt,  wenn  auch  keine  Umgestaltung 
der  Welt  als  Zweck  namhaft  gemacht  werden  kann.  Fassen 
wir  aber  jede  spätere  Bewegung  weiterhin  als  Spiel  des 
Organismus  auf,  so  verzichten  wir  damit  auf  eine  Erkenntnis. 
Wenn  eine  Nahrungsaufnahme  durch  die  Bewegung  erreicht 
wird,  so  haben  wir  uns  die  Assoziation  von  Reiz  und  Be- 
wegung zunächst  vielleicht  als  zufällig  entstanden  zu  denken 
wie  die  Wahrnehmungsassociation.  Ihre  Wiederholung  aber 
können  wir,  wenn  wir  sie  überhaupt  erkennen  wollen,  nicht 
wieder  als  psychologischen  Zufall  auffassen.  Das  würde 
nur  heißen:  Wir  wollen  sie  nicht  erkennen.  Diesen  Zufall, 
der  dem  in  diesem  Sinne  zwecklosen  Spiel  entspricht,  können 
wir  nur  dadurch  aufheben,  daß  wir  die  Bewegung  aus  dem 
Wollen  des  in  der  Welt  Erreichten  bestimmen.    Es  gibt  nur 


—  176  — 

zwei  Möglichkeiten,  den  Zufall  zu  negieren  oder,  was  das- 
selbe besagt,  zu  erkennen:  das  zeitlose  Gesetz  und  den  Willen. 
Man  kann  nichts  dagegen  haben,  Goethes  Schreib- 
bewegungen als  Raumveränderungen  der  Substanz  zu  erklären. 
Eins  aber  muß  man  dann  verlangen,  man  darf  Goethe  nicht  als 
historische  Einheit  betrachten,  man  hat  nur  ein  Konglomerat 
von  Substanzteilen  zu  denken.  Man  hat  die  Bewegungen 
zu  erklären  als  Veränderung  der  zeitlosen  Substanz  nach 
zeitlosen  Gesetzen.  Man  muß  also  sehr  wohl  von  der  Ein- 
wirkung von  Strahlen  auf  die  Netzhaut,  Nerven,  Gehirn  etc. 
ausgehen.  Man  hat  diese  Teile  aber  nur  chemisch  als  Sub- 
stanzteile zu  denken  ohne  Verbindung  mit  einer  historischen 
Größe  ,, Subjekt".  Man  darf  schon  nicht  davon  ausgehen, 
daß  eine  Empfindung  da  war,  denn  im  Raum,  wo  es  Elek- 
tronen gibt,  gibt  es  keine  Empfindung,  was  schon  daraus 
zu  ersehen  ist,  daß  die  Empfindung  auftaucht  und  ver- 
schwindet, das  Elektron  aber  in  irgend  einer  Form  ewig 
ist.  Ganz  widersinnig  wäre  es,  wenn  man  auf  eine  Gleichheit 
der  Empfindung  mit  früheren  sich  berufen  würde.  Das 
würde  ja  voraussetzen,  daß  ein  historisches  Subjekt  da  ist, 
was  auch  schon  früher  da  war,  geboren  wurde  und  starb. 
Das  muß  für  eine  Wissenschaft  gleichgültig  sein,  die  alles 
aus  zeitlosen  Naturgesetzen  erklären  will.  Ein  Naturgesetz 
ohne  Zeitlosigkeit  würde  sich  aber  selber  aufheben.  Im  Raum 
gibt  es  nur  die  ewig  sich  verändernde  Konstellation  der  Sub- 
stanz. Gleiche  Reize  gibt  es  nur  insofern,  als  ein  Element 
Radium  so  wirkt  wie  das  andere,  also  nur  Gleichheit  im 
Raum.  Man  brauchte  nur  zu  sagen,  was  im  Moment  auf 
einen  Substanzausschnitt  wirkt,  und  die  Folge  wäre  gegeben, 
denn  die  Beziehung  ist  selber  zeitlos.  Es  wäre  ganz  absurd, 
wenn  man  die  jetzige  Bewegung  im  Raum  damit  erklären 
würde,  daß  früher  schon  einmal  derselbe  Reiz  die  Bewegung 
des  Substanzausschnitts  hervorgerufen  hätte.  Jetzt  sind 
ja  ganz  andere  Substanzteile  dort  anwesend.  Man  müßte  die 
Bewegungen  also  von  der  Qualität  der  Substanzelemente  ab- 


—   177  — 

hängig  machen,  dann  wäre  es  aber  ganz  gleichgültig,  ob  schon 
einmal  die  Bewegung  auf  den  Reiz  folgte,  wenn  ich  nicht  eben 
das  zeitlose  Gesetz  gefunden  habe,  nach  dem  die  Bewegung 
damals  und  jetzt  eingetreten  ist.  Habe  ich  dieses  gefunden, 
so  ist  es  ganz  gleichgültig,  ob  es  sich  schon  einmal  an  dieser 
Stelle  ereignet  hat  oder  an  Milliarden  von  anderen,  die 
keinen  Teil  mit  unserm  Substanzausschnitt  gemeinsam  haben. 
Die  frühere  Bewegung  kann  die  jetzige  nicht  erklären,  weil 
beide  erst  aus  dem  zeitlosen  Gesetz  erklärt  werden  müssen. 
Ganz  lächerlich  wäre  es,  wenn  ich  berücksichtigen  würde, 
was  bei  der  Bewegung  herauskam.  Nehmen  wir  an,  Goethe 
schrieb  einmal  auf  ein  Blatt  Papier:  „Faust".  Von  jenem 
Standpunkt  aus  wäre  das  nach  —  zeitlosen  Gesetzen  not- 
wendig gewesen.  Ich  will  es  nicht  leugnen,  ich  analysiere 
die  Behauptung  nur.  Wir  haben  die  Schreibbewegung  als 
Veränderung  der  Substanz  im  Raum  aufzufassen,  folglich: 
als  Zufall.  Denn  da  ich  nur  immer  eine  Konstellation  aus 
der  andern  als  notwendig  erklären  kann,  so  muß  ich  bei 
der  vollendeten  Erkenntnis  bei  einer  Halt  machen.  Da 
diese  aber  für  mich  ganz  zufällig  wäre,  so  wären  es  auch 
alle  andern.  Zum  mindesten  wäre  die  Bewegung  im 
gleichen  Sinne  Zufall  wie  die  Tatsache,  daß  ein  Mensch  durch 
einen  fallenden  Stein  erschlagen  wird.  Unter  Zufall  ver- 
stehen wir  jede  historische  Existenz,  die  die  Folge  einer 
Raumexistenz  ist,  aber  nicht  selbst  psychologisch  erklärt 
werden  kann.  Gerade  die  Kausalität  ist  für  die  Psychologie 
der  Zufall  und  umgekehrt  der  Wille  Zufall  für  die  Natur- 
wissenschaft. Irgend  wem  müßte  man  schon  dankbar  sein, 
daß  die  blinden  Naturgesetze  es  dahin  brachten,  daß  in  einer 
bestimmten  Zeit  Bewegungen  geschahen,  durch  die  das 
Gravitationsgesetz  auf  dem  Papier  stand.  Nur  gibt  es  von 
diesem  Standpunkt  aus  wohl  die  Gravitation,  aber  nicht 
das  Gesetz  als  Erkenntnis,  als  vererbbare  logische  Tatsache. 
Ganz  das  gleiche  wäre  mit  Faust  der  Fall.  Das,  was  nämlich 
durch   die   Bewegung  der   Substanz   entsteht,   wäre  wieder 

Strich,  Prinzipien.  12 


—  178  — 

nur  eine  stetig  sich  verändernde  Substanzkonstellation. 
Das  Papier  vergilbt,  die  Tinte  verblaßt.  Alles  dies  geschieht 
gesetzmäßig.  Schließlich  sind  alle  Elemente  wohl  noch  da, 
aber  Gott  weiß  wo.  Wäre  unsere  Naturwissenschaft  an 
ihrem  Ideal  angelangt,  so  würde  sie  es  auch  wissen  können, 
wenn  sie  sich  darum  bemühte.  Wir  erkennen  die  Wahrheit, 
wenn  wir  in  dem  Bewußtsein  überhaupt  denken.  Die  Schrift 
,, Faust"  existiert  genau  so,  wie  eine  bestimmte  Sandfor- 
mation in  der  Sahara  momentan  oder  etwas  länger  existiert, 
wenn  ein  Windstoß  über  sie  hinfährt.  Das  könnte  man  ja 
denken.  Aber  man  darf  dann  eben  nicht  berücksichtigen, 
daß  die  Absicht  vorlag,  das  Wort  ,, Faust"  zu  schreiben. 
Man  muß  annehmen,  daß  es  an  einer  momentanen  Kon- 
stellation der  Substanz  lag,  daß  jene  Anhäufung  chemischer 
Elemente,  die  wir  beschriebenes  Papier  nennen,  herauskam 
und  verschwindet.  Man  darf  nicht  annehmen,  daß  Goethe 
existiert,  schreiben  gelernt  hat,  daß  das  Wort  ,, Faust"  exi- 
stiert hat,  daß  er  es  gelesen  hat  und  jetzt  schreiben  wollte, 
damit  andere  Menschen  es  auch  lesen  können.  Alles  dies 
wäre  ein  Irrtum.  Vom  Monismus  aus  kann  es  nur  die  eine 
sich  gesetzmäßig  verändernde  Substanz  geben,  keinen  Goethe, 
keinen  Faust,  kein  Schreiben,  kein  Lesen  und  kein  Lernen, 
keinen  Willen  und  keine  andern  Menschen.  Erkennt  man 
nur  einen  jener  Begriffe  an,  so  hat  man  das  Spiel  verloren. 
Will  man  eine  Substanzkonstellation  gesetzmäßig  aus  der 
vorhergehenden  erklären,  so  gibt  es  alles  dies  nicht. 

Man  wird  mir  einwenden,  daß,  so  wie  ich  den  Monismus 
dargestellt  habe,  kein  Mensch  daran  glaubt.  Indessen  würde 
das  gerade  nur  beweisen,  daß  man  ihn  noch  nicht  logisch 
zu  Ende  gedacht  hat.  Was  ich  darstellte,  ist  nur  die 
logische  Konsequenz  der  Annahme,  daß  die  reine  Ver- 
nunft, die  Erkenntnis  der  Naturgesetze,  alle  Phänomene 
prinzipiell  erklären  kann.  Wenn  man  das  Geschichtliche 
als  Erkenntnis  anerkennt  und  trotzdem  einen  Monismus 
behauptet,  so  ist  das  ein  Widerspruch  in  sich  selbst.    Denn 


—   179  — 

die  historische  Erkenntnis  läßt  sich  mit  der  Raumerkenntnis 
nicht  zu  einer  Erkenntnis  vereinigen,  nur  diese  aber  könnte 
einen  Monismus  begründen.  Mit  einem  unkritischen  Monis- 
mus, der  selbst  nicht  weiß,  was  er  will,  für  den  die  Einheit 
nur  ein  Wort  ist,  wo  die  Begriffe  fehlen,  ist  eine  Auseinander- 
setzung unmöglich.  Wenn  ich  den  Monismus  bekämpfe, 
so  kann  ich  dabei  nur  eine  kritische  Form  zugrunde  legen, 
nämlich  das  Dogma,  daß  die  reine  Vernunft  die  Welt- 
erkenntnis bedeutet.  Von  diesem  Standpunkt  aus  war 
unsere  Darstellung  nur  konsequent.  Der  Monismus  müßte 
so  denken,  wenn  er  logisch  denken  würde.  Eine  Behauptung 
über  das  Sein  ohne  die  Begründung  durch  die  Erkenntnis 
ist  jederzeit  haltlos  metaphysisch  und  infolgedessen  un- 
diskutierbar. 

Mit  der  ersten  historischen  Bestimmung  hat  man  schon 
die  Kette  der  Kausalität  zerrissen.  Im  Raum  existieren 
Elemente,  aber  nicht  die  Tatsache,  daß  jemand  etwas  schreibt 
und  ein  anderer  es  liest.  Die  schlimmste  Verirrung  des 
Denkens  ist  gerade  die  kausale  Psychologie.  Besser  wäre 
noch  der  reine  Materialismus.  Das  Willens-,  Färb- oder  Lust- 
element etc.  sind  alles  Ausgeburten  gelehrter  Phantasie. 
Unsere  Psychologie  hat  das  Raumdenken  zum  Prinzip  er- 
hoben. Es  ist  eine  unselige  Verblendung,  daß  durch  die 
Konstruktion  des  psychischen  Bewußtseinsraums  an  jenem 
Beispiel  von  Goethe  nur  das  Geringste  verändert  wird.  Es 
wird  dadurch  viel  unsinniger,  wenn  man  dann  noch  von 
Kausalität  spricht.  Es  gibt  gar  nichts  Psychisches,  was  wirkt 
und  bewirkt  wird.  Alles  dies  sind  unkritische  metaphysische 
Konstruktionen.  Zu  allem  übrigen  müßte  dann  noch  die 
zur  Verzweiflung  treibende  Frage  auftauchen,  warum  es 
überhaupt  ein  Bewußtsein,  Lust  und  Leid  in  der  Welt  gibt. 
Wenn  alles  durch  die  Gesetze  der  Substanz  bewirkt  wird,  so 
wäre  dies  ein  unerhörter  und  wohl  auch  frivoler  Luxus  der 
Natur.  Vom  Standpunkt  der  sogenannt  exakten  Psychologie, 
die    ja    immer    mit    dem    psychophysischen    Parallelismus 

12* 


—  180  — 

kokettiert,  gäbe  es  darauf  nur  eine,  aber  sehr  merkwürdige 
Antwort.  Man  räumt  nämlich  der  Psychologie  das  vor- 
läufige Recht  ein,  den  Zusammenhang  in  dem  Bewußtsein 
zu  suchen,  da  der  im  Raum,  im  Gehirn,  noch  immer  zu  wenig 
bekannt  ist.  Das  Bewußtsein  hätte  also  dann  eine  Existenz- 
berechtigung dadurch,  daß  die  Phänomene  so  „leichter" 
erkennbar  sind  als  durch  den  Raum.  Eine  andere  Antwort 
läßt  sich  nicht  finden.  Daß  man  aber  das  Bewußtsein  selbst 
in  den  Kausalzusammenhang  der  Welt  hineinbeziehen  will, 
ist  die  frivolste  und  unkritischste  Behauptung,  die  sich 
denken  läßt.  Das  Bewußtsein  hat  mit  dem  Raum  nur  den 
einen  Berührungspunkt,  daß  der  erlebte  Raum  eben  Inhalt 
des  Bewußtseins  ist.  Es  ist  aber  keine  Existenz  neben  dem 
Raum.  Es  gibt  keine  psychische  Wesenhaftigkeit,  die  in 
Beziehung  zum  Raum  treten  könnte.  Das  Psychische  be- 
deutet ein  anderes  Denken  der  Welt.  Mit  ihm  beginnt  die 
Geschichte.  Es  ist  nur  dadurch  charakterisierbar,  daß  es 
kein  kausales  Denken  der  Phänomene  bedeutet.  Der  histo- 
rische Zusammenhang  des  individuellen  Bewußtseins  läßt 
sich  mit  der  allgemeinen  Kausalität  überhaupt  nicht  ver- 
gleichen. Jede  Gehirnlokalisation  übersieht,  daß  sie  das 
Gehirn  gar  nicht  mehr  als  Teil  des  einen  objektiven  Raums 
denkt;  sie  sieht  nicht,  daß  der  Teil  eine  individuelle  historische 
Bedeutung  im  Organismus  empfängt.  Abgesehen  von  der 
Verbindung  des  Gehirns  mit  dem  übrigen  Körper,  wird  es 
die  Lokalisaüonstheorie  niemals  weiter  bringen,  als  bis  zu 
der  Zuordnung  historischer  Funktionen  zu  bestimmten 
Raumsphären.  Man  kann  das  Sehen  lokalisieren,  aber 
nicht  das  Gesehene.  Jede  Kritik  des  Monismus  muß 
bei  dem  Worte  enden:  Spinoza  hätte  Recht,  wenn 
es  keine  Monaden  gäbe.  Aber  die  Existenz  der  Monade 
wäre  viel  gewisser  als  die  Existenz  des  mathematischen 
Raums,  wenn  dieser  Vergleich  überhaupt  einen  Sinn  hätte. 
Die  Natur  ist  das  Werk  der  Monaden,  das  Erzeugnis  des 
Willens  nach  Objektivität.    Es  ist  von  der  empirischen  Er- 


—  181  — 

fahrung  aus  gar  nicht  einzusehen,  warum  der  psychophysische 
Parallelismus,  die  kausale  Psychologie  oder  die  mechanistische 
Biologie  eine  Denkforderung  der  Vernunft  sein  soll.  Wir 
haben  uns  erkennend  mit  der  Welt  abzufinden,  wie  sie  ist. 
Daß  ein  Mensch  handelt,  um  einer  Unlust  zu  entgehen, 
ist  eine  Tatsache,  die  mit  der  Kausalität  im  Raum  nichts  zu 
tun  hat.  Weder  ist  seine  Bewegung  erklärbar  ohne  sein  Be- 
wußtsein, noch  ist  sie  durch  die  Unlust  kausal  im  Raum  er- 
klärbar. Kein  Naturgesetz  wird  dadurch  im  Raum  auf- 
gehoben, keinem  Prinzip  der  Naturwissenschaft  wider- 
sprochen. Der  Wille  ist  keine  neue  Energie  im  Raum,  sondern 
ein  Prinzip,  die  Phänomene  zu  begründen.  Darum  bleibt 
das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Energie  auch  von  dem  kri- 
tischen oder  historischen  Vitalismus  aus  unangetastet. 
Es  wird  nur  die  Tatsache  ausgesprochen,  daß  die  Gesetze 
der  toten  Natur  das  Leben  nicht  erklären  können.  Keine 
Logik  kann  beweisen,  daß  sie  es  tun  müssen. 

Es  gibt  in  unserm  Fall  nur  eine  Möglichkeit.  Man 
entscheidet  sich,  ob  Goethe  existiert  hat  oder  nicht.  Wenn 
ja,  dann  kann  man  seine  Schreibbewegungen  auch  nur 
historisch  begründen  durch  seine  Erlebnisse  und  seine  Zwecke. 
Wenn  nicht,  dann  muß  man  nach  zeitlosen  Ursachen  suchen, 
die  es  dahin  gebracht  haben,  daß  aus  der  Substanzkonstel- 
lation zu  Adams  Zeiten  sich  das  herausgebildet  hat,  was 
wir  beschriebenes  Papier  nennen. 

Was  Goethe  recht  ist,  ist  aber  der  Amöbe  billig.  Oder 
man  muß  beweisen,  daß  man  verpflichtet  ist,  in  einem 
Moment  die  Reihe  des  Lebens  zu  unterbrechen.  Bei  Goethe 
hört  die  Kausalität  nicht  auf,  sondern  bei  dem  ersten  Or- 
ganismus, dessen  Bewegung  man  spontan  nennt.  Denn 
damit  ist  gesagt,  daß  sie  nicht  anders  als  historisch  ver- 
standen werden  kann. 

Das  Fallen  des  Steins  ist  abhängig  von  der  Masse. 
Wäre  das  Gravitationsgesetz  kein  zeitloses,  so  müßte 
man   annehmen,    daß   es    selbst   wieder  durch  ein  anderes 


—  182  — 

erklärbar  ist.  Angenommen,  die  Naturwissenschaft  wäre 
heute  noch  nicht  über  das  Gesetz  hinausgelangt,  so  ist  es 
für  sie  das  zeitlose.  Die  größere  Masse  ist  die  zeitlose  Ursache 
der  Bewegung  des  Steins.  Wenn  ich  aber  sehe,  daß  ein 
Mensch  um  ein  brennendes  Feuer  einen  Umweg  macht, 
und  ich  sage,  daß  dies  erklärt  ist  aus  dem,  daß  er  früher 
gehen  gelernt  hat,  daß  er  das  Feuer  kennt,  etc.,  so  habe  ich 
seine  Bewegung,  damit  auch  die  Bewegung  der  Masse  nicht 
abhängig  gemacht  von  zeitlosen  Ursachen,  sondern  von 
ganz  bestimmten  historischen  Ereignissen.  Es  besteht, 
keine  Abhängigkeit  von  dem,  was  der  Naturwissenschaftler 
im  Raum  annimmt,  wie  er  auch  immer  die  Wärme  theo- 
retisch denkt,  sondern  von  der  Wärme  als  historischer 
Realität,  die  auch  nicht  die  Folge  jener  Wärme  im  Raum 
etwa  wäre,  sondern  nur  dasselbe  datum,  aber  in  einem 
andern  System,  nicht  in  der  Natur,  sondern  im  Leben. 
Wenn  man  das  zugibt,  dann  gibt  es  keine  kausale  Psycho- 
logie und  —  keine  Kausalität  des  Willens. 

Bevor  ich  darauf  eingehe,  möchte  ich  kurz  den  Dar- 
winismus berühren.  Das  19.  Jahrhundert  hat  sich  dem 
Fluch  der  Lächerlichkeit  ausgesetzt,  daß  es  in  ihm  Menschen 
gegeben  hat,  die  geglaubt  haben,  Darwinismus  und  Mechanis- 
mus seien  miteinander  vereinbar,  oder  der  Darwinismus 
sei  ein  Beweis  für  den  Mechanismus,  oder  Darwin  erkläre  die 
Entwicklung  mechanisch,  oder  der  Darwinismus  habe  aus 
der  beschreibenden  Naturgeschichte  eine  erklärende  gemacht, 
oder  Darwin  habe  den  Zweck  durch  die  Ursache  ersetzt. 
Ich  will  aber  nicht  den  Grundgedanken  des  Darwinismus 
etwa  angreifen,  sondern  im  Gegenteil  nur  zeigen,  daß  er 
mit  dem  Mechanismus  der  Naturwissenschaft  oder  mit 
dem  Monismus  nicht  zu  vereinbaren  ist.  Dieser  Glaube 
ist  schon  psychologisch  merkwürdig.  Denn  wo  liegt  der 
Unterschied  zwischen  dem,  was  uns  Darwin  erzählt  und 
dem,  was  unsere  Geschichtsbücher  und  Zeitungen  erzählen  ? 
Man    wird    vielleicht    sagen,    daß    auch    unsere  Menschen- 


—  183  — 

geschichte  mechanistisch  erklärbar  sei.  Ich  will  das  nicht 
bestreiten.  Eins  aber  ist  sicher,  man  wird  etwa  Mommsens 
Römische  Geschichte  kaum  für  eine  mechanistische  Erklärung 
halten  können.  Wir  hören  in  unserer  bestehenden  Geschichts- 
wissenschaft von  Kriegen,  von  dem  Untergang  alter  Völker, 
von  der  Liebe  und  dem  Haß  einzelner  Männer  und  Frauen. 
Dasselbe  hören  wir  bei  Darwin.  Nur  ist  dort  von  Tieren 
die  Rede.  Wir  hören  von  der  Liebe  der  Tiere,  von  dem  Haß, 
von  Kriegen,  die  nicht  so  gut  organisiert  waren,  deshalb 
auch  länger  dauerten,  aber  auch  mit  dem  Untergang  von 
Völkern  endeten.  Darwin  kann  uns  leider  auch  nur  erzählen, 
daß  es  passiert  ist.  Was  geschehen  ist,  kann  er  auch  nicht 
sagen.  Besäßen  wir  die  Geschichte  sämtlicher  Organismen, 
die  je  gelebt  haben,  so  würden  wir  vielleicht  die  Gestalt  der 
heute  lebenden  Bienen  historisch  begreifen.  Aber  diese  Ge- 
schichte ist  praktisch  ein  Ding  der  Unmöglichkeit.  Man  muß 
bedenken,  daß  die  Körperformen  ebenso  historisch  zu  ver- 
stehen oder  nicht  zu  verstehen  sind  wie  das  Tun  der  Organis- 
men. Es  wäre  von  vornherein  absurd,  den  Bienenstaat  natur- 
gesetzlich erklären  zu  wollen,  und  zwar  gerade  vom  Stand- 
punkt Darwins  aus.  Prinzipiell  hätten  wir  es  mit  einem  geistes- 
geschichtlichen Problem  zu  tun,  wenn  es  überhaupt  eine 
Geistesgeschichte  über  den  Menschen  hinaus  gäbe.  Ich  werde 
weiter  unten  mich  zu  zeigen  bemühen,  daß  eine  solche  Ge- 
schichte für  uns  unmöglich  ist.  Daraus  folgt,  daß  wir 
den  Bienenstaat  nie  begreifen  werden.  Es  wäre  dies  aber 
nur  möglich,  indem  wir  ihn  historisch  zurückverfolgen, 
genau  so,  wie  wir  den  Körper  der  Biene  nur  begreifen  könn- 
ten, wenn  wir  die  ganze  Geschichte  der  Ahnen  der  heute 
lebenden  Bienen  zurückverfolgen  könnten.  Die  mechanische 
Naturwissenschaft  könnte  uns  hierbei  ebensowenig  nützen 
wie  etwa  bei  der  Aufhellung  der  ägyptischen  Geschichte. 
In  beiden  Fällen  handelte  es  sich  darum,  die  Geschichte 
zu  finden,  nicht  aber  Gesetze  zu  entdecken,  die  ein  Geschehen 
erklärten.       Weil     das    Leben     der    Bienen     stabiler    ist 


—  184  — 

als  das  der  Europäer,  deswegen  vergißt  man  allzu  leicht, 
daß  es  sich  doch  nur  um  historische  Phänomene  handelt, 
die  logisch  nur  einer  Epoche  der  Menschheitsgeschichte 
vergleichbar  sind.  Man  vergißt  überhaupt,  daß  der  Dar- 
winismus gleichbedeutend  ist  mit  Natur-,,  Geschichte".  Im 
allgemeinen  kann  man  sagen,  daß  man  heute  die  eigentliche 
Geschichtswissenschaft  erst  bei  der  Kultur  beginnen  läßt 
und  die  Geschichte  der  Bienen  und  noch  die  der  Busch- 
männer zur  Naturwissenschaft  rechnet.  Die  Namen  tun 
nichts  zur  Sache.  Man  muß  nur  bedenken,  daß  logisch 
kein  Unterschied  innerhalb  der  Geschichte  existiert,  daß 
ein  prinzipieller  Gegensatz  vielmehr  nur  zwischen  Ge- 
schichte und  Naturwissenschaft  im  Sinne  des  Mechanis- 
mus besteht. 

Darwin  hat  eigentlich  das  große  Verdienst,  dies  erkannt 
zu  haben.  Er  hat  einen  unkritischen  Zweckbegriff  aus  der 
Geschichte  entfernt,  den  man  nicht  nur  in  der  Tier-,  sondern 
auch  in  der  Menschengeschichte  angenommen  hat.  Wir 
betrachten  heute  Napoleon  nicht  mehr  als  eine  von  Gott 
gesandte  Geißel  der  Völker.  Aber  den  Zweck  hat  er  deshalb 
aus  der  Geschichte  als  Wissenschaft  nicht  entfernt.  Er 
hat  ihn,  den  man  von  einem  metaphysischen  Willen  abhängig 
machte,  so  weit  es  geht,  zum  Gegenstand  des  Willens 
der  Organismen  selbst  zu  machen  versucht  oder  die  zu- 
fällig entstandene,  d.  h.  genetisch  unerkannte  Zweckmäßig- 
keit für  die  historische  Erkenntnis  ausgenutzt.  Er  hat 
versucht,  soweit  wie  möglich  die  Kausalität  auszuschalten 
und  die  Geschichte  als  „Tat"  der  Organismen  und  der 
Natur  zu  beweisen.  Ein  außerweltlicher  Wille  wäre  ein 
mechanischer  Eingriff  in  die  Geschichte,  wie  es  in  die 
Welt  des  einzelnen  ein  mechanischer  Eingriff  ist,  gleich- 
gültig, ob  ein  Stein  auf  den  Kopf  fällt  oder  geworfen 
wird.  Darwin  hat  versucht,  den  Mechanismus  aufzu- 
heben, indem  er  das  Geschehen  in  das  Leben  und  den 
Willen   selbst   verlegte.    Damit   hat   er   die  Geschichte   des 


—  185  — 

Lebens  begründet,  von  der  die  menschliche  der  kleinste,  aber 
einzig  sicher  feststellbare  Teil  ist. 

Anders  kann  man  den  Kampf  ums  Dasein  und  die 
natürliche  Zuchtwahl  gar  nicht  auffassen.  Darwin  sagt 
damit:  die  Zweckmäßigkeit  ist  kein  mechanischer  Zufall, 
sondern  das  Resultat  heißen  Bemühens.  Er  läßt  etwas 
nicht  als  Zweckmäßigkeit  entstehen,  aber  er  läßt  es  als 
Zweckmäßigkeit  fortbestehen.  Das  Rätsel  der  Entstehung 
aber  hat  er  überhaupt  nicht  berührt,  geschweige  erklärt, 
nur  benannt  hat  er  es,  nämlich  mit  dem  Namen  ,, Variation". 
Die  Organismen  kämpfen  um  ihr  Dasein.  Man  spricht  immer 
von  dem  Auftauchen  des  darwinistischen  Gedankens  bei 
Empedokles.  Der  Unterschied  aber  ist  doch  vielleicht 
bedeutender.  Was  Empedokles  als  mechanistischen 
Zufall  auffaßte,  hat  Darwin  historisch  verständlich  gemacht. 
Gerade  das  Nichtmechanistische  ist  bei  Darwin  die  Haupt- 
sache. 

Darwin  hat  kein  Naturgesetz  entdeckt,  das  die  Ent- 
wicklung beherrscht,  sondern  er  hat  die  Entwicklung 
entdeckt.  Er  hat  nicht  die  Zweckmäßigkeit  aus  Ursachen 
erklärt,  sondern  er  hat  sie  nur  zum  Verständnis  der  Geschichte 
ausgenutzt.  Ihm  ist  die  historische  Tatsache  aufgefallen,  daß 
Organismen  entstehen,  die  unfähig  sind  zum  Leben.  Damit  hat 
er  aber  nicht  die  Existenz  des  Zweckmäßigen  durch  Ursachen 
erklärt.  Nehmen  wir  an,  daß  die  Variabilität  mechanisch  be- 
dingt ist,  so  gibt  es  nicht  ,,ein"  Gesetz,  das  sie  erklärt,  sondern 
jeder  Fall  ist  von  den  speziellen  Naturgesetzen  abhängig. 
Darwin  hat  die  so  entstandene  historisch  zufällige  Form 
durch  ihre  Zweckbedeutung  ausgenutzt.  Es  gibt  Eigen- 
schaften, die  für  das  Leben  zweckmäßig  sind,  und  andere, 
die  unzweckmäßig  sind.  Die  einen  Organismen  bleiben 
leben,  die  andern  nicht.  Dies  ist  der  Bericht  von  einer 
historischen  Tatsache,  aber  keine  naturgesetzliche  Erklärung. 
Darwin  hat  mit  dem  metaphysischen  Zweckbegriff  gebrochen. 
Er  hat  die  Entstehung  des  Zweckmäßigen  nicht  auf  einen 


—  186  — 

außerweltlichen  Willen  zurückgeführt,  sondern  auf  den 
Willen  des  Lebens.  Der  Begriff  der  Variation  nämlich  steht 
im  Gegensatz  zum  Mechanismus.  Für  den  Mechanismus 
gäbe  es  nur  mechanisch  bedingte  Substanzbildungen.  Daß 
man  sie  als  Variationen  einer  Art  denkt,  bedeutet  schon  das 
Verlassen  des  mechanistischen  Prinzips.  Man  geht  nämlich 
dabei  von  der  Idee  der  immanenten  Determinierung  und 
des  historischen  Zufalls  aus.  Man  täuscht  sich,  wenn 
man  glaubt,  im  Rahmen  des  Mechanismus  die  Varietät 
erklären  zu  können.  Es  wäre  wirklich  höchst  wunderbar, 
wenn  eine  mechanisch  bedingte  Abweichung  der  immanenten 
Determination  vererbt  werden  könnte.  Zweifellos  gibt  es 
solche  mechanistische  Beeinflussung.  Man  denke  an  gewisse 
Verkrüpplungen  durch  mechanische  Ursachen  während  des 
embryonalen  Lebens.  Allein  solch  ein  Eingriff  in  die  lebende 
Einzelsubstanz  ist  noch  nicht  als  vererbbar  nachgewiesen 
worden  und  kann  es  meines  Erachtens  logisch  auch  nicht 
sein.  Das  Prinzip  der  Vererbung  ist  nichts  anderes  als  die 
Erkenntnis  der  Wiederholung  innerhalb  eines  Zeitsystems. 
Eine  mechanistische  Umgestaltung  der  Raumsubstanz,  etwa 
wenn  man  einer  Maus  den  Schwanz  abschneidet,  ist  aber 
kein  Phänomen  innerhalb  des  Zeitsystems.  Der  Gegensatz 
wird  nur  klar  durch  den  Gegensatz  der  historischen  und  der 
räumlichen  Determinierung.  Vererbung  ist  eine  Wieder- 
holung der  historischen  Determination.  Wir  nennen  das 
Entwicklung  der  Anlage.  Das  Wesentliche  ist  dies,  daß 
die  Variabilität  selbst  als  eine  Bestimmtheit  des  Lebens 
aufgefaßt  wird  und  nicht  als  ein  mechanischer  Eingriff  in 
die  historische  Determinierung,  nicht  als  eine  Abänderung 
durch  den  Raum,  sondern  selbst  als  eine  immanente  Deter- 
minierung. Der  Biologe  behauptet  zwar  vielleicht,  daß  es 
Raumursachen  gibt,  die  eine  Variation  bedingen.  Allein 
bis  jetzt  ist  dies  nur  eine  Behauptung.  Bisweilen  allerdings 
spricht  man  auch  von  einem  Spiel  der  Natur  und  von  Spiel- 
formen.    Dabei  würde  es  sich  aber  um  die  allerschärfsten 


—   187  — 

logischen  Gegensätze  handeln.  Die  Maus  ohne  Schwanz 
wird  als  keine  Spielform  der  Natur  aufgefaßt,  sondern  als 
eine  künstlich  bewirkte.  Es  kommt  dabei  nicht  darauf  an, 
daß  wir  das  Messer  zur  Hand  nehmen,  das  ist  vom  mecha- 
nistischen Standpunkt  aus  ganz  gleichgültig.  Nur  darauf 
kommt  es  an,  daß  hier  ein  Organismus  von  ihm  aus  mecha- 
nistisch umgestaltet  ist.  Die  Spielform  der  Natur  aber 
ist  entstanden  rein  als  historische  Determination.  Wir  können 
keine  Ursache  für  sie  finden.  Wir  stoßen  vielmehr  auf  die 
Tatsache,  daß  aus  einem  Elternpaar  abweichende  Organismen 
entstehen.  Wir  denken  die  Variation  als  eine  Eigenschaft 
des  Lebens  und  nicht  als  gesetzmäßig  entstandene  Substanz- 
konstellation, wie  es  allerdings  bei  der  Maus  der  Fall  wäre. 
Wir  fassen  damit  den  Gegensatz  von  historischer  und  reiner 
Vernunft.  Wir  sprechen  sehr  berechtigter  Weise  von  einem  Spiel 
der  Natur.  Die  tote  Natur  spielt  nicht.  In  ihr  gibt  es  nur 
Gesetze.  Das  Leben  erzeugt  Variationen.  Dies  ist  eine  histo- 
rische Tatsache,  die  wir  nicht  als  mechanische  Entstehung 
der  Raumkonstellation  ansehen.  In  dem  Begriff  der 
Variation  liegt  schon  der  Gegensatz  zum  Mechanismus. 
Wir  denken  etwas  als  Variation  einer  Art  oder  als  eine  mecha- 
nische Beeinflussung  eines  einzelnen  Organismus.  Es  ist 
derselbe  Gegensatz  wie  zwischen  spontaner  und  mechanischer 
Bewegung.  Erst  das  Denken  macht  etwas  zu  einer  Variation. 
Keinem  wird  es  einfallen,  einen  Menschen,  dem  man  den 
Blinddarm  herausgenommen  hat,  für  eine  Variation  der 
Rasse  „Mensch"  zu  halten.  Aber  eine  angeborene  abnorme 
Verkümmerung  des  Blinddarms  könnte  eine  Variation  be- 
gründen. Der  logische  Unterschied  besteht  in  nichts  anderm, 
als  daß  wir  das  eine  Mal  eine  Veränderung  des  Organismus 
auf  einen  mechanischen  Eingriff  zurückführen,  das  andere 
Mal  auf  ein  Werk  der  Natur.  Werk  der  Natur  heißt  aber 
nichts  anderes,  als  daß  wir  die  Variation  auf  eine  imma- 
nente Determinierung  und  nicht  auf  eine  Ursache  zurück- 
führen. 


—  188  — 

Daran  wird  auch  nichts  geändert,  wenn  wir  die  Vari- 
ationen aus  den  Vorgängen  im   Keimplasma  zu  verstehen 
suchen.   Der  Begriff  der  Anlage  steht  im  schärfsten  Gegensatz 
zum  Mechanismus.    Man  schaltet  den  Willen  des  Lebens  nur 
sprachlich  aus.    Man  erwähnt  ihn  nicht.    Allein  er  liegt  der 
ganzen  Darstellung  zugrunde.  Die  Anlage  ist  nur  die  momen- 
tane Hypostasierung  der  zukünftigen  Form.    Dadurch,  daß 
man  eine   solche   annimmt,   gibt  man  die  Problemstellung 
des  Mechanismus  auf.     Man  betrügt  sich  selbst,  wenn  man 
dann  noch  von  Mechanismus  spricht.    Es  käme  ja  gerade 
darauf  an,  die  Anlage  zu  erklären.    Soweit  diese  aber  nicht 
vererbt  ist,  d.  h.  historisch  zurückgeführt  wird,  mit  andern 
Worten,  soweit  sie  eine  Variation  bedeutet,  kann  man  sie 
nicht  erklären    als  schon  in  der  Vergangenheit  existierend. 
Sie  ist  auf  alle  Fälle  eine  Schöpfung  aus  dem  Nichts,  mag 
man    sie    als    sinnvolle    oder    zufällige    Schöpfung   ansehen. 
Daran  wird  auch  nichts  geändert,  wenn  man  an  sich  Tausende 
oder  Millionen  von  Anlagen  annimmt  und  nur  eine  durch 
mechanische    Ursachen     zur    Entwicklung    kommen    läßt. 
Daß  die  Anlagen  da  sind,  wäre  wieder  Wille  des  Lebens  oder 
der  lebendigen  Natur.    Erklären  kann  man  die  Abweichung 
niemals,  weil  sie  nur  eine  „andere"  immanente  Determination 
voraussetzt,  nicht  aber  einen  mechanischen  Eingriff  in  die 
identische  immanente  Determination  bedeutet.    Ein  mecha- 
nischer Eingriff  in  das  Keimplasma  hat  die  gleiche  logische 
Bedeutung    wie   bei   dem   schon   etwas   mehr   entwickelten 
Organismus.     Der  Kampf  gegen  die  Vererbung  erworbener 
Eigenschaften  ist,  soweit  er  berechtigt  ist,  ein  Kampf  gegen 
den  Mechanismus  in  der  Biologie.     Sonst  wäre  es  auch  gar 
nicht  möglich,   „logische"  Einwände  gegen  sie  zu  erheben. 
Mechanische  Umgestaltungen  sind  nicht  vererbbar,  sondern 
nur  immanente  Determinierungen. 

In  dem  Begriff  der  Variation  steckt  schon  das  Aufgeben 
des  mechanistischen  Prinzips.  Jede  Variation  ist  eine  histo- 
rische Tat  und  kein  mechanisches   Geschehen.      Deswegen 


—  189  — 

müssen  wir  von  der  Tat  des  Lebenswillens  ausgehen.  Ich 
behaupte  nicht,  daß  damit  etwas  erklärt  ist,  sondern  gerade 
das  Gegenteil.  Es  gäbe  aber  eben  überhaupt  nur  etwas  zu 
erklären,  wenn  wir  von  der  Kausalität  ausgehen  würden 
und  nicht  von  der  historischen  Vernunft.  Weil  die  Variation 
eine  historische  Tatsache  ist,  deswegen  können  wir  das 
Spätere  als  Wiederholung  erkennen,  wodurch  wir  wieder 
einen  Gegensatz  zum  Mechanismus  behaupten.  Die  Ver- 
erbung leugnet  gerade  das  mechanistische  Prinzip.  Wir 
verstehen  etwas  als  Wiederholung  in  dem  Zeitsystem  ,, Leben" 
und  erklären  es  nicht  durch  eine  Wiederholung  im  zeitlosen 
Raum,  durch  ein  Naturgesetz.  Die  Tatsache  der  Vererbung 
selbst  aber  als  ein  Naturgesetz  anzusehen,  hat  überhaupt 
keinen  Sinn.  Nur  das  völlig  kritiklose  Denken  kann  hier 
ein  dem  Gravitationsgesetz  logisch  entsprechendes,  entdecktes 
Naturgesetz  behaupten.  Es  ist  dies  nur  dem  zu  vergleichen, 
daß  man  das  Assoziationsgesetz  als  ein  Naturgesetz  an- 
gesehen hat.  Man  hat  überhaupt  kein  Gesetz  entdeckt. 
Daß  Menschen  aus  Menschen  entstehen,  wußte  man  auch 
schon  vor  Darwin.  Diesen  Vorgang  hat  man  durch  kein 
Gesetz  erklärt.  Man  hat  keine  Ursachen  gefunden,  sondern 
ihm  nur  einen  Namen  gegeben:  Vererbung.  Es  ist  überhaupt 
nicht  ersichtlich,  was  man  eigentlich  unter  dem  „Gesetz" 
der  Vererbung  versteht.  Tatsächlich  hat  die  Vererbung 
nur  einen  methodischen  Sinn,  nämlich  den,  daß  die  moni- 
stische oder  mechanistische  Problemstellung  von  vornherein 
ausgeschaltet  wird.  Man  hält  das  Geschehen  nicht  für  bedingt 
durch  die  zeitlosen  Naturgesetze,  die  für  jede  verschiedene 
Bildung  übrigens  verschieden  sein  müßten,  sondern  nur 
für  bestimmt  als  historische  Wiederholung.  Die  Anpassung 
ist  uns  als  Geschichte  verständlich.  Die  Variation,  die  das 
Leben,  nicht  der  Mechanismus  zustande  gebracht  hat,  lebt 
weiter  und  pflanzt  sich  fort.  Kein  mechanistischer  Einfluß 
kommt  für  die  Entwicklungstheorie  in  Betracht,  vielmehr 
nur  die  immanente  Determinierung.     Aus  dem  Experiment 


—  190  — 

mit  der  Maus  hätte  man  schließen  müssen  auf  den  Gegensatz 
von  Leben  und  Mechanismus.  Dies  Problem  versteckt  sich 
in  der  Frage  nach  der  Vererbung  erworbener  Eigenschaften. 
Was  in  seiner  jetzigen  Existenz  nur  historisch,  als  Vererbung, 
begründbar  ist,  kann  auch  in  seinem  Ursprung  nur  historisch, 
immanent  oder  spontan,  und  nicht  mechanistisch  begründet 
werden,  denn  es  existiert  für  das  Denken  überhaupt  nicht 
mehr  im  Raum  des  Mechanismus.  Darwins  große  Tat  ist  es 
gewesen,  daß  er  den  Willen  zum  Leben  zum  Prinzip  der 
Geschichte  erhob.  Aber  schon  der  „Wille"  hätte  genügt. 
Der  Wille  zum  Leben  ist  ein  Pleonasmus.  Wer  nicht  gut  aus- 
gerüstet ist  zum  Kampf,  unterliegt  und  stirbt,  ohne  Nachkom- 
men zu  hinterlassen,  weil  er  nicht  zur  Fortpflanzung  kam.  Das 
letztere  berührt  die  Psychologie  der  Liebe.  Darwin  hat  in  dieser 
Hinsicht  die  Geschichte  verständlich  gemacht  aus  einer  unend- 
lichen Anzahl  von  Geschichten,  von  Liebesromanen,  die  sich 
ungefähr  so  gleich  sind  wie  ein  Liebesroman  in  der  modernen 
Literatur  dem  andern,  durch  glückliche  und  unglückliche 
Liebe,  Vergewaltigung,  Duelle,  Tod  etc.  Von  Ursachen  ist 
im  Darwinismus  nichts  zu  sehen.  Sein  Prinzip  ist,  daß  „die 
Geschichte"  zu  verstehen  ist  aus  den  Geschichten,  die  passiert 
sind.  Diese  selbst  kann  er  so  wenig  erklären  wie  ein  anderer. 
Sonst  wären  es  keine  Geschichten,  sondern  zeitlose  Vorgänge 
wie  die  Gravitation.  Vielleicht  ist  es  öfter  vorgekommen, 
daß  der  geschlechtliche  Akt  eine  Vergewaltigung  war,  viel- 
leicht auch  öfter,  daß  das  Weibchen  sich  selbst  nach  dem 
Männchen  sehnte,  das  Heldentaten  verrichtet  hatte.  Immer 
handelt  es  sich  um  historische  Tatsachen,  die  durch  kein 
zeitloses  Gesetz  erklärt  werden  können.  Darwins  Geschichte 
beruht  genau  so  auf  Zweckhandlungen  und  Wille  wie  jede 
Geschichte.  Sein  Verdienst  ist  gerade,  daß  er  die  eigene  Tat  des 
Individuums  entscheiden  läßt  und  sie  weder  durch  einen 
außerhalb  liegenden  Zweck  noch  durch  eine  außerhalb 
liegende  Ursache  mechanistisch  erklären  will.  Er  fußt 
absolut  auf  dem  Dualismus   des  Lebens  und  des  Todes,  von 


—   191  — 

Zweck  und  Ursache,  Geschichte  und  Mechanismus,  wenn 
man  sagen  will  —  Geist  und  Materie.  Denn  das  Wort  Geist 
kann  empirisch  nur  eine  andere  Bezeichnung  für  den  han- 
delnden Organismus  sein. 

Wenn  der  Monist  sich  auf  Darwin  beruft,  so  weiß  er  nicht, 
was  er  tut.  Als  Naturforscher  ist  das  auch  nicht  seine  Pflicht. 
Die  Philosophie  aber  ist  nur  die  Erkenntnis  dessen,  was  man 
tut.  Die  Fragen  nach  Monismus  und  Dualismus  sind  philo- 
sophische Probleme,  zu  denen  man  nur  Stellung  nehmen 
sollte,  wenn  man  überhaupt  weiß,  was  Philosophie  ist.  Der 
Philosoph  weist  nach,  daß  die  Erkenntnis  zweierlei  „tut", 
nämlich  historisch  und  mechanistisch  die  Welt  formt  oder 
erkennt,  daß  beides  unüberbrückbare  Gegensätze  sind.  Daraus 
folgt,  daß  es  zwei  Realitäten  gibt  —  die  Entwicklung  des 
einen  Lebens  in  der  Zeit  und  die  Veränderung  der  einen 
zeitlosen  Substanz.  Nach  dieser  Trennung  kann  man  mit 
dem  Monismus  keinen  vernünftigen  Sinn  mehr  verbinden 
außer  dem,  daß  alles  in  Zeit  und  Raum  sich  abspielt,  so  daß 
es  möglich  ist,  alles  entweder  im  Raum  zu  denken,  wobei 
man  das  Leben  nicht  erkennt,  oder  alles  in  der  Zeit,  wobei 
man  die  Mythologie  an  die  Stelle  der  Naturwissenschaft 
setzt.  Ein  religiöses  Dogma  kann  das  philosophische  Problem 
des  Monismus  überhaupt  nicht  berühren.  Ebensowenig 
war  von  einem  Wertdualismus  die  Rede.  Es  ist  eine  müßige 
Frage,  ob  man  den  Organismus,  den  Geist,  höher  zu  bewerten 
hat  als  die  Materie,  denn  eine  kritische  Bewertung  kann  sich 
nur  auf  die  Taten  des  Geistes  beziehen. 

Wir  bestimmen  die  Tat  durch  das,  was  im  erlebten 
Raum  und  nicht  im  Raum  der  Naturwissenschaft  eintritt. 
Wir  bemühen  uns  die  Veränderung  historisch  zu  begreifen. 
Dies  gelingt  uns  aber  nicht,  wenn  wir  die  Zukunft  denken 
als  das,  was  von  der  Wirklichkeit  aus  nach  der  Kausalität 
sein  muß,  sondern  nur,  wenn  wir  sie  als  das  denken,  was  sein 
soll.  Nur  durch  die  Kategorie  des  Sollens  wird  die  Zeit  historisch 
erkennbar.  Wir  suchen  nach  einem  Zusammenhang  der  Lebens- 


—  192  — 

phänomene.  Wir  kennen  aber  keine  Realität,  die  sich  nach  zeit- 
losen Gesetzen  verändert,  so  daß  die  Zeit  erklärt  ist  durch  das, 
was  sein  muss,  weil  es  ist.  Historisch  geschieht  etwas,  aber 
da  wir  nichts  haben,  woraus  es  als  notwendig  folgt,  müssen 
wir  den  Grund  des  Geschehens,  wenn  wir  ihn  überhaupt  er- 
kennen wollen,  in  ihm  selbst  sehen.  Wir  verstehen  die  Reali- 
tät der  Zeit  dadurch,  daß  der  historische  Moment  sein  soll. 
Eine  andere  Möglichkeit  ist  ausgeschlossen.  Diese  Determinie- 
rung nennen  wir  Wille.  Jeder  historische  Moment  ist  in  Wahr- 
heit ,, causa  suiu  und  nicht  Folge  von  Ursachen.  Dies  kann 
gar  nicht  anders  sein,  wenn  wir  die  Zeit  als  Realität  annehmen. 
Auch  der  Naturwissenschaftler  nimmt  eine  ,, causa  sui" 
an,  nämlich  in  dem  letzten  Gesetz,  das  er  findet,  und  in  dem 
Begriff  der  Bewegung.  Nehmen  wir  einmal  an,  daß  das 
Gravitationsgesetz  das  allerletzte,  also  zeitlose  Gesetz  ist, 
das  die  Wirklichkeit  ausmacht.  Wir  erkennen  damit  die 
Realität,  aber  wir  können  sie  selbst  nicht  erklären.  Wir 
erklären  vielmehr  die  historische  Veränderung  innerhalb 
der  Zeit.  Die  Realität  selbst  erklären,  hieße  die  Welt  aus 
dem  Nichts  erklären.  Nun  ist  die  Realität  des  Psychologen 
nur  die  Zeit  und  nicht  der  Raum.  Betrachten  wir  das  Leben 
Goethes,  so  ist  dieses  System  der  reale  Gegenstand,  den 
wir  erkennen  wollen.  Wir  können  nur  Gleichheiten  innerhalb 
dieses  Systems  feststellen,  wie  der  Naturwissenschaftler 
solche  im  Raum  feststellt.  Wie  aber  der  Naturwissenschaftler 
nicht  die  Realität  der  Substanz  erklären,  sondern  nur  erkennen 
kann,  so  kann  auch  der  Psychologe  die  Realität  wohl  durch 
Allgemeinheiten  erkennen,  aber  nicht  aus  dem  Nichts  heraus 
erklären.  Das  ganze  Leben  von  Goethe  existiert  in  diesem 
Sinne  als  gegebener  Gegenstand,  wie  der  Raum  oder  die 
Wirklichkeit  gegeben  ist.  Andererseits  aber  ist  das  Leben 
eine  Folge  von  Momenten  und  nicht  ein  jeden  Moment 
existierender  Gegenstand  wie  der  Raum.  Da  beide  Auf- 
fassungsweisen berechtigt  sind,  so  entsteht  ein  Dilemma, 
aus  dem  es  keinen  Ausweg  gibt,  wenn  man  die  Zeit  nicht 


—  193  — 

als  eine  causa  sui  ansieht  oder,  was  dasselbe  besagt,  nicht 
durch  den  Willen  bestimmt. 

Es  ist  schlechterdings  unmöglich,  nach  einer  Ursache 
der  Gravitation  zu  fragen,  falls  sie  wirklich  das  letzte  Gesetz 
ist,  bis  zu  dem  die  Erkenntnis  gedrungen  ist.  Die  Realität  ist 
immer  der  Grenzbegriff  unserer  Erfahrung.  Irgendwo  hört  die 
Frage  nach  dem  Grund  auf,  nämlich  da,  wo  die  Realität 
anfängt.  Wir  können  nur  die  Welt  erkennen  und  nicht  aus 
dem  Nichts  heraus  begreifen.  Infolgedessen  müssen  wir 
sagen,  daß  die  Welt  selbst  für  unser  Denken  causa  sui  ist. 
Wir  lösen  damit  nicht  das  Rätsel,  wir  sagen  nur,  daß 
die  Grenze  unserer  Erfahrung  immer  ein  Rätsel  ist.  Ist 
die  Gravitation  eine  momentane  Grenze  unserer  Erfahrung, 
so  können  wir  keinen  Grund  für  sie  erkennen.  Sie  ist 
also  causa  sui.  Wollen  wir  diese  letzte  Tatsache  aber 
subjektiv  noch  erkennen,  so  können  wir  dies  interessanterweise 
nicht  anders  als  durch  den  Willen.  Es  ist  dies  keine  natur- 
wissenschaftliche Erkenntnis  mehr.  Wir  können  aber  die 
Grenze  der  Realität  nicht  mehr  anders  bestimmen,  als 
daß  wir  uns  sagen:  die  Masse  „will"  anziehen,  das  „soll" 
so  sein.  Damit  freilich  ist  das  Problem  erledigt,  aber  weder 
naturwissenschaftlich  noch  psychologisch  gelöst. 

Wenn  aber  der  Historiker  die  Zeit  als  Realität  auffaßt, 
so  muß  sich  bei  ihm  ganz  das  gleiche  zeigen.  Jede  Realität 
ist  causa  sui.  Für  den  Naturwissenschaftler  ist  diese  Realität 
der  Raum.  Darum  kann  er  durch  seine  Theorie  den  Zeit- 
moment erklären.  Für  ihn  ist  die  Wiederholung  in  der 
Zeit  erklärt,  weil  er  sie  als  Wiederholung  im  zeit- 
losen Raum  denkt.  Hätte  er  aber  gefunden,  was  sich  dort 
überall  abspielt,  d.  h.  eine  Theorie,  die  alles  erklärt,  so  ist 
diese  seine  Realität,  seine  causa  sui.  Für  den  Psychologen 
existiert  aber  kein  Raum,  durch  den  er  die  Wiederholung 
in  der  Zeit  erklären  könnte.  Er  kann  nur  sagen,  was  sich 
wiederholt.  Da  wir  aber  dazu  gedrängt  werden,  diese 
Wiederholung  der  Zeit  selbst   zu  erklären,   so  können  wir 

Strich,  Prinzipien.  13 


—  194  — 

nur  dasselbe  tun  wie  der  Naturwissenschaftler,  nämlich  die 
Realität  als  causa  sui  ansehen,  als  bestimmt  durch  das  Sein- 
sollen, wo  wir  es  nicht  mehr  auf  ein  anderes  Sein  zurück- 
führen können,  oder,  was  dasselbe  besagt,  bestimmt  durch 
den  Willen. 

Zu  Ende  gedacht  ergibt  das  folgendes  metaphysisches 
Resultat:  Die  Welt,  historisch  gedacht,  können  wir  nicht 
anders  bestimmen  als  durch  die  Tat  des  Ich.  Dies  ist  nur 
der  Ausdruck  dafür,  daß  wir  die  Existenz  der  Welt  nicht 
erklären  können.  Es  ginge,  wenn  wir  die  historische  Folge  des 
Bewußtseins  erklären  könnten,  denn  diese  ist  nichts  weiter 
als  die  historische  Reihe  der  data  der  Sinnlichkeit,  die  Zeit- 
folge der  Empfindungen  oder  Weltbestimmtheiten.  Der 
Naturwissenschaftler  erklärt  die  historische  Reihe  dadurch, 
daß  er  sie  nicht  historisch,  sondern  im  Raum  denkt.  Aber 
er  stößt  dabei  auch  auf  eine  Grenze.  Könnte  er  sie  erklären, 
so  hätte  er  die  Welt  erklärt,  dadurch  aber  auch  die  historische 
Reihe  des  Bewußtseins.  Diese  Annahme  ist  aber  auch  von 
ihm  aus  eine  Absurdität.  Auch  er  endet  mit  der  Weisheit, 
daß  die  Masse  anzieht  —  vorausgesetzt,  daß  dies  die 
Grenze  seiner  Erfahrung  wäre  — ,  daß  das  Geschehen  eine 
causa  sui  ist.  Er  konstruiert  eine  farblose,  tonlose  Welt, 
um  die  farbige  und  tönende  zu  erklären.  Diese  farbige  Welt 
ist  nichts  anderes  als  die  historische,  die  Reihe  der  Bewußt- 
seinsinhalte. Er  endet  bei  der  Erklärung  der  Zeitreihe,  in 
der  der  Raum  selbst  etwas  Erlebtes  und  kein  mathematisches 
Medium  ist,  genau  so  bei  der  Tat  der  Masse,  wie  der  Philosoph, 
wenn  er  die  farbige  und  tönende  Welt  denkt,  bei  der  Tat 
des  Ich  landet.  Der  eine  nimmt  den  Raum  als  Realität, 
der  andere  die  Zeit.  Beide  können  die  Existenz  nicht  erklären, 
sondern  sie  nur  in  der  Kategorie  denken,  die  als  letzte  des 
Denkens  existiert  —  als  Tat.  Ob  ich  die  Welt  als  Zeit  oder 
Raum  denken  will,  steht  mir  frei.  Beide  Male  kann  ich  ihre 
Existenz  nicht  erklären.  Wirklich  „metaphysisch"  dabei 
ist  aber  nur  jenes  „eine"  Ich,  als  dessen  Inhalt  ich  die  Welt 


—  195  — 

historisch  denke.  Denn  empirisch  gibt  es  nur  die  Iche,  die 
Organismen  oder  Monaden.  Dies  „eine"  Ich  ist  die  Idee  der 
„einen"  historischen  Welt,  die  das  Korrelat  zu  dem  „einen" 
Raum  bildet,  den  der  Naturwissenschaftler  konstruiert.  Wie  er 
die  eine  Welt  als  Gegenstand  des  „Ich  überhaupt"  denkt, 
so  können  wir  diese  eine  Welt  historich  auch  nicht  anders 
denken  als  durch  die  Beziehung  zu  diesem  einen  Ich.  Nun 
wird  die  Verbindung  von  Raum  und  Zeit  in  dem  Problem 
der  Wahrnehmung  klar.  Rein  historisch  ist  die  Welt  die 
Tat  jenes  metaphysischen  transzendenten  „einen"  Ich. 
Den  Inhalt  der  einzelnen  Monade  aber  erkenne  ich  nicht 
mehr  als  ihre  Tat,  wenn  sie  als  die  Tat  „des  Ich"  erkannt 
worden  ist.  Dies  wird  sie,  wenn  sie  der  Naturwissenschaftler 
in  dem  „einen"  Raum  erklärt  hat,  der  das  Korrelat  dieses 
Ich  ist.  Dann  nenne  ich  den  Inhalt  eine  Wahrnehmung. 
Alles  das,  was  nicht  in  diesem  einen  Räume  denkbar  ist, 
ist  nicht  die  Tat  jenes  transzendenten  Ichs,  sondern  die  Tat 
der  individuellen  Monade,  die  an  sich  ebenso  unerklärbar  ist 
wie  die  Welt  überhaupt,  denke  ich  sie  als  Zeit  oder  Raum. 
Historisch  ist  die  Welt  eine  Reihe  von  Taten  und  räumlich 
gleichfalls.  Wo  die  historische  Welt  mit  der  Raumwelt 
zusammentrifft,  da  sprechen  wir  von  „Wahr"nehmung,  nicht 
mehr  von  meiner  Tat,  sondern  von  Wahrheit  und  Wirklichkeit. 
Tat  aber  bleibt  es,  nämlich  entweder  Tat  jenes  trans- 
zendenten Ich,  als  die  ich  die  Welt  historisch  denke,  oder 
Tat  der  Masse,  als  die  ich  die  Welt  räumlich  denke.  Alles 
ist  nur  ein  Ausdruck  dafür,  daß  sich  die  Welt  nicht  aus  dem 
Nichts  heraus  erklären  läßt.  Sie  selbst  kann  nicht  anders 
als  als  causa  sui,  als  Tat  oder  als  Sollen  gedacht  werden. 
Tat  ist  ein  Synonym  für  unerklärbare  Existenz.  Nur  psycho- 
logisch wäre  sie  zu  begreifen.  Wüßte  ich,  was  die  Masse 
will  oder  bezweckt,  wenn  sie  sich  bewegt,  so  würde  ich  die 
Welt  begreifen,  wenn  auch  nicht  erklären.  Wüßte  ich,  was 
das  transzendente  Ich  will,  würde  ich  sie  von  der  andern 
Seite  her  begreifen.     In  beiden  Fällen  würde  die  Philosophie 

13* 


—  196  — 

mythologisch.  Hier  hört  Fichte  auf  kontrollierbar  zu  sein, 
wenn  er  die  historische  Welt  auch  nur  formal  bestimmt 
durch  den  Willen  des  Ich  nach  eigner  Beschränkung.  Es  ist 
weder  wahr  noch  falsch,  nur  unkontrollierbar  für  die  empi- 
rische Erkenntnis.  Von  dem  einzelnen  historischen  begrenzten 
Subjekt  aus  ist  aber  die  Tat  durch  den  Willen  erkennbar, 
wenn  auch  nicht  im  Raum  erklärbar.  Sie  bleibt  causa  sui. 
Aber  hier  erkenne  ich  die  causa  als  Zweck  für  das  Subjekt. 
Wir  setzen  ein  begrenztes  Subjekt  voraus,  eine  Individualität. 
Ihr  Wille  ist  der  Grenzbegriff  der  psychologischen  Er- 
kenntnis. Durch  das,  was  gewollt  ist,  ist  die  Tat  verstanden, 
aber  ihre  Existenz  nicht  erklärt.  Sonst  wäre  sie  keine  Tat. 
Es  kommt  hier  alles  auf  die  eine  Erkenntnis  an,  daß 
der  Begriff  des  Willens  nur  mit  dem  der  Kausalität  selbst 
vergleichbar  ist.  Darin  liegt  die  Lösung  des  psychischen 
Kausalitätsproblems  eingeschlossen  wie  die  Kritik  an  allen 
mythologisierenden  und  verräumlichenden  Theorien  des 
Willens.  Der  Sexualtrieb  ist  nichts,  was  im  Bewußtsein  oder 
im  Unterbewußtsein  existiert,  sondern  wir  erkennen  aus  der 
allgemeinen  Beziehung  die  einzelne  Handlung.  Diese  Be- 
ziehung ist  mit  dem  Naturgesetz  vergleichbar.  Die  spezielle 
Willenstendenz  ist  das  Gesetz  in  dem  Individualsystem. 
Der  Sexualtrieb  ist  genau  so  wenig  ein  Element,  wie  das 
Gravitationsgesetz  ein  Element  ist.  Das  Geschehen  im  Raum 
erkennen  wir  durch  die  Kausalität.  Diese  aber  ist  nicht 
selbst  ein  Geschehen  im  Raum.  Sie  zwingt  auch  nicht  das 
Gravitationsgesetz  jetzt  wirksam  zu  sein.  Ebensowenig 
ist  das  Gravitationsgesetz  etwas,  was  im  Raum  existiert 
und  die  Masse  zwingt  anzuziehen.  Die  ganze  Verworrenheit 
unserer  Psychologie  stammt  nur  daher,  daß  man  niemals 
das  Problem  des  Willens  erkenntniskritisch  faßt.  Was 
jeder  vernünftige  Mensch  in  der  Naturwissenschaft  für 
lächerlichen  Unsinn  halten  würde,  nämlich  daß  die  Kausalität 
oder  das  Gravitationsgesetz  neben  der  Masse  im  Raum  sitzt 
und  das  Geschehen  lenkt,  das  hält  man  in  der  Psychologie 


—  197  — 

für  selbstverständlich.  Man  muß  aber  noch  geistige  Beweg- 
lichkeit haben,  um  aus  dem  Netz  des  Raumdenkens  in  der 
Psychologie  herauskommen  zu  können. 

Der  tragischste  Fehler  unserer  Psychologie  ist  es  ge- 
wesen, daß  sie  bei  ihrer  Auflösung  des  Bewußtseins  in  Ele- 
mente noch  eine  Realität  des  Willens  angenommen  hat. 
Die  theoretisch  konsequente  kausale  Psychologie  hat  dies 
wenigstens  eingesehen,  sich  aber  damit  in  praxi  ein  für 
allemal  die  Möglichkeit  genommen,  konsequent  zu  sein. 
Wenn  man  eine  erklärende  kausale  Psychologie  annimmt, 
so  kann  es  in  ihr  unmöglich  einen  Willen  geben.  Es  ist  der 
plumpste  Fehler,  wenn  man  nach  einer  Existenz  des  Willens 
,,im"  Bewußtsein  sucht,  womöglich  durch  Selbstbeob- 
achtung. Es  läßt  sich  das  überhaupt  nur  dem  vergleichen, 
daß  ein  besonders  empiristischer  Naturforscher  durch  ein 
ganz  vervollkommnetes  Mikroskop  die  Anwesenheit 
oder  Abwesenheit  der  Kausalität  im  Raum  entdecken  und 
sehen  wollte.  Beides  ist  logisch  absolut  gleichbedeutend. 
Der  Wille  ist  weder  ein  Element  noch  3  oder  20,  weder 
ein  momentanes  noch  ein  dauerndes  Element,  weder  ein 
momentaner  Komplex  noch  eine  Zeitreihe  von  Elementen. 
Der  Wille  existiert  überhaupt  nicht  „im"  Bewußtsein, 
genau  so  wenig,  wie  die  Kausalität  neben  der  Masse  im  Raum 
existiert.  Es  wäre  von  der  kausalen  Psychologie  ebenso 
sinnvoll  zu  behaupten,  daß  die  Kausalität  im  Bewußtsein 
neben  andern  Elementen  sitzt  und  die  Folge  bewirkt,  wie  daß 
der  Wille  im  Bewußtsein  sitzt.  Am  allerwenigsten  aber  ist  der 
Wille  ein  Mensch  im  Menschen,  der  in  einen  anderen  Raum 
gestoßen  wird  und  womöglich  verkleidet  wieder  erscheint. 
Auf  diese  neueste  Errungenschaft  des  psychologischen 
Raumdenkens  komme  ich  noch  zurück.  Die  ganze  Theorie 
des  Unbewußten,  des  Symbols  etc.  stürzt  zusammen,  wenn 
man  die  Raumbilder  nicht  mehr  als  Bilder  nimmt,  sondern 
nach  einer  Wesenhaftigkeit  sucht,  die  hinter  dem  Worte 
liegt.      Daß    ein    Wille    in    verkappter    Gestalt    aus    dem 


—  198  — 

Unterbewußtsein  ins  Oberbewußtsein  tritt,  wird  man 
wohl  selbst  nur  als  Bild  der  Sprache  ansehen.  Es  ist 
ganz  charakteristisch  für  unsere  Psychologie,  daß  man 
sich  darüber  streitet,  ob  es  ein  besonderes  Element  Nicht- 
wollen oder  nur  ein  Wollen  des  Nichtseins  gibt.  Von 
der  Elementarspychologie  und  der  Selbstbeobachtung  aus 
wäre  dies  nicht  zu  entscheiden.  Geht  man  aber  davon  aus, 
daß  man  überhaupt  nicht  die  objektive  Existenz  quali- 
tativer Elemente  im  Bewußtseinsraum  feststellen  kann, 
sondern  nur  das  Subjekt  in  seinem  Verhältnis  zur  Umwelt 
beschreiben  kann,  so  gibt  es  keinen  Streit.  Wie  ich  nämlich 
sprachlich  die  Stellung  schildere,  ist  ganz  belanglos.  Die 
subjektive  Stellung  des  Subjekts  zur  Umwelt  allein  ist  das 
Wesentliche,  was  mir  die  Handlung  verständlich  macht. 
Wollen  ist  das,  was  der  naive,  von  keiner  Theorie  angekrän- 
kelte Mensch  darunter  versteht,  nämlich  eine  mehr  oder 
minder  konstante  wertende  Stellung  des  handelnden  Subjekts 
zu  der  Welt.  In  einem  Trinker  existiert  der  Wille  zu  trinken 
genau  so,  wie  in  der  Masse  die  Gravitation  sitzt.  Existieren 
tun  alle  seine  Bewegungen,  die  ich  als  Handlungen  in  der 
Zeit  auffasse,  und  deren  Existenz  ich  allein  dadurch  erkenne, 
daß  ich  den  historischen  Moment  des  Endes  als  Zweck  des 
Individuums  auffasse.  Genau  so  existieren  im  Raum  Be- 
wegungen, die  ich  nicht  objektiv  erkennen  könnte,  wenn  ich 
sie  nicht  als  Folge  der  unmittelbaren  Vergangenheit  auf- 
fassen würde.  Der  Kausalität  im  Raum  entspricht  der  Wille 
des  Subjekts  in  der  Zeit.  Wollte  man  sich  begnügen,  eine 
Handlung  durch  den  Willen  zu  erklären,  so  würde  das  nicht 
viel  mehr  heißen,  als  mit  den  physikalischen  Untersuchungen 
aufzuhören,  weil  sie  durch  die  Kausalität  erklärt  werden 
können.  Der  Wille  ist  nur  das  Prinzip  der  Erkenntnis. 
Welcher  Wille  oder  welches  Gesetz  den  Einzelfall,  die  Hand- 
lung oder  das  Geschehen  verständlich  macht,  das  ist  die 
Frage.  Mit  dem  speziellen  Willen  gibt  man  aber  keine  exi- 
stierenden Ursachen  an,  sondern  höchstens  ein  Gesetz  des 


—  199  — 

Individualsystems,  wenn  man  dieses  Wort  anwenden  will. 
Den  Willen  selbst  in  die  Kette  der  Kausalität  einzuschalten, 
hat  genau  so  viel  Sinn,  wie  das  Gravitationsgesetz  als  Faktor 
des  Geschehens  anzusehen.  In  dem  Schwimmer  existiert 
keine  Ursache:  ,, Wille  über  Wasser  zu  bleiben",  die  seine 
Bewegungen  im  Raum  bestimmt.  Dieser  Wille  existiert 
für  ihn  genau  so  wie  der,  seine  Schularbeiten  zu  machen, 
sein  Examen  zu  bestehen,  ein  anständiger  Mensch  zu  bleiben 
etc.  etc.  Er  existiert  als  eine  Bestimmtheit  des  historischen 
Subjekts,  das  in  der  Zeit  existiert.  Ein  chemisches  Element 
Ahat  zu  dem  Element  B  eine  bestimmte  Beziehung  und  zuC 
eine  andere.  Wenn  es  mit  B  in  Berührung  gelangt,  so  kann  ich 
das  eintretende  Faktum  nicht  aus  seiner  Beziehung  zu  C  er- 
klären. Solange  A  existiert,  existiert  aber  auch  diese  Beziehung. 
Genau  so  ist  es  mit  dem  Willen.  Ein  Wille  taucht  nicht  im 
Bewußtsein  auf,  ebensowenig  wie  die  Schwerkraft  in  der  Masse 
auftaucht.  Er  existiert  als  Bestimmtheit  des  Subjekts,  wenn 
ich  die  momentane  Handlung  aus  ihm  verstehe,  genau  so  wie 
die  andern  Tendenzen,  die  für  die  momentane  Handlung 
nicht  in  Betracht  kommen.  Es  wäre  plumpes  Raumdenken, 
wenn  man  den  einen  Willen  im  Bewußtsein,  die  andern 
im  Unbewußtsein  existierend  annehmen  wollte.  Das  Un- 
bewußte ist  in  diesem  Sinne  in  Wahrheit  nur  eine  Übertragung 
des  Raumdenkens  auf  die  Psychologie,  eine  völlig  materiali- 
stische Theorie,  eine  plumpe  Erklärung,  die  gerade  nicht  zu 
den  Tiefen  des  Lebens  gelangt. 

Mit  dieser  Verräumlichung  des  Bewußtseins  hängt 
aufs  engste  der  rationalistische  Fehler  der  Willenspsycho- 
logie zusammen,  daß  nämlich  nur  die  „Vornahme"  als 
Wille  angesehen  wird  oder  erklärbar  erscheint.  Man  darf 
nicht  das  Psychische  in  zwei  Räume  teilen,  das  Bewußtsein 
und  das  Unbewußte  oder  Ober-  und  Unterbewußtsein,  aber 
man  muß  beschreibend  das  Gewußte  von  dem  Ungewußten 
trennen.  Dieser  Unterschied  ist  aber  nur  anzuerkennen, 
wenn  man  das  alte  Märchen  von  dem  Bewußtseinsraum, 


—  200  — 

den  psychischen  Elementen  oder  Dingen,  zu  denen  auch  der 
Wille  gehört,  der  Selbstbeobachtung  oder  endopsychischen 
Wahrnehmung  aufgibt,  kurz  alle  Raumtheorien  zur  Erklärung 
von  etwas,  was  nur  dadurch  überhaupt  etwas  ist,  daß  es 
nicht  räumlich  gedacht  werden  kann.  Wogegen  ich  kämpfe, 
das  ist  der  Rationalismus  als  psychologische  Theorie,  und 
diese  Theorie  des  Unbewußten  ist  nur  eine  versteckte,  viel- 
leicht aber  auch  verstärkte  Form  des  Rationalismus. 

Dadurch,  daß  man  den  Willen  als  einen  psychischen 
Gegenstand  und  nicht  als  eine  Beziehung  oder  ein  Gesetz 
des  Subjekts  auffaßt,  ist  man  gezwungen,  auch  den  Gegen- 
stand des  Willens  im  Bewußtsein  existieren  zu  lassen.  Dann 
wird  allerdings  das  unbewußte  Handeln  zu  einer  Unmöglich- 
keit, zu  einem  psychologischen  Nonsens.  Wir  sind  gewohnt, 
wir  sind  aber  auch  gezwungen,  jedes  Handeln  durch  einen 
Willen  zu  interpretieren.  Dies  ist  die  einzige  Möglichkeit, 
die  historische  Wirklichkeit  zu  begreifen  oder  zu  verstehen. 
Es  ist  aber  ganz  unmöglich,  die  Wirklichkeit  zu  erklären, 
dadurch  daß  man  irgendwo  eine  existierende  Ursache,  Willen, 
annimmt,  die  der  Handlung  vorhergeht  und  sie  bewirkt. 
Wir  bezeichnen  mit  dem  Willen  die  Beziehung  des  Subjekts 
zur  Welt  und  gar  nicht  einen  Moment,  in  dem  der  Bezie- 
hungsgegenstand im  Bewußtsein  in  irgend  einer  Form  erlebt 
wird.  Es  ist  plumpes  Raumdenken,  wenn  man  meint,  daß 
ein  solcher  Wille  im  Bewußtsein  existiert.  Bewußtsein  kann 
kritisch  oder  berechtigt  hier  nur  besagen,  daß  das  Subjekt  den 
Willen  weiß.  Dieses  Wissen  oder  dieses  Bewußtsein  von  sich 
selbst  ist  aber  für  uns  keine  notwendige  Bedingung,  um  die 
Handlung  zu  verstehen.  Die  Handlung  kann  auch  unbewußt 
geschehen  oder,  wie  man  vielleicht  besser  sagen  würde: 
ungewußt.  Nicht  alles,  was  geschieht,  brauchen  wir  zu 
erkennen.  Hier  haben  wir  es  mit  dem  Spezialfall  zu  tun, 
daß  historisch  an  uns  selbst  etwas  geschieht,  was  wir  nicht 
wissen.  Unsere  rationalistische  Psychologie  kann  das  nicht 
zugeben,  weil  sie  das  Psychische  für  einen  Raum  hält,  in  dem 


—  201  — 

etwas  da  ist  oder  nicht  da  ist.  Im  Bewußtsein  ist  aber  als  In- 
halt nur  die  Raumwelt  und  nichts  anderes,  bei  einer  Handlung 
also  etwa  die  Körperempfindungen,  die  unmittelbar  wieder 
vergessen  wrerden  können,  so  daß  sie  im  nächsten  Moment 
schon  nicht  mehr  bewußt  sind.  Darauf  komme  ich  bei  der 
Erörterung  des  Gedächtnisses  zurück.  Wir  verstehen  die 
Handlung  aus  dem  Wollen  eines  Ziels.  Wir  haben  aber 
damit  keine  im  psychischen  Raum  existiernde  Ursache 
entdeckt,  die  eine  Bewegung  im  „räumlichen"  Raum  ins 
Werk  setzt.  Es  kommt  nicht  darauf  an,  ob  man  sich  das 
Bewußtsein  als  Raum  vorstellt,  was  wohl  niemand  tun  wird, 
sondern  ob  man  es  wissenschaftlich  als  Raum  denkt.  Das 
tut  heute  die  gesamte  Psychologie,  und  dadurch  ist  der 
Rationalismus  unvermeidlich.  Da  das  Bewußtsein  ein 
Wissen  ist,  so  wäre  die  Konsequenz  die :  Wenn  eine  Handlung 
nur  dann  von  dem  Willen  bestimmt  ist,  wenn  er  im  Bewußtsein 
existiert,  so  ist  eine  Handlung  nur  möglich,  wenn  das  Subjekt 
das  Gewollte  weiß.  Es  gibt  nur  durch  das  Wissen  bedingte 
Zweckhandlungen.  Diesem  Widersinn  des  Rationalismus 
entgeht  man  aber  nicht  dadurch,  daß  man  den  Willen  ins 
Unterbewußtsein  verlegt.  Diese  Theorie  ist  nur  eine  versteckte 
Form  des  Rationalismus.  Sie  beruht  nur  auf  einem  andern 
Namen.  Im  Prinzip  hat  sich  gar  nichts  geändert.  Man  hat 
das  Raumdenken  nur  noch  mehr  betont,  und  in  ihm  steckt 
allein  der  ganze  Fehler.  Ob  man  den  Willen  im  Ober-  oder 
Unterbewußtsein  als  existierende  Ursache  annimmt,  ist 
gleichgültig.  Daß  man  ihn  überhaupt  als  psychischen  Gegen- 
stand ansieht,  ist  das  Verkehrte ;  daß  man  die  Beziehung  des 
Wissens  und  Nichtwissens  als  eine  Raumbeziehung  auffaßt, 
ist  das  absurde.  Das  Nichtgewußte  existiert  nicht  in  einem 
Nebenraum  des  Gewußten  oder  des  Bewußtseins.  Daß  man 
das  Wollen  des  Ziels  als  Gegenstand  im  psychischen  Raum 
ansieht,  das  ist  der  Fehler  des  Rationalismus.  Wie  man 
den  Raum  nennt,  ob  man  ihn  in  zwei  Räume  teilt,  tut  nichts 
zur  Sache.    Der  Organismus  handelt,  auch  ohne  daß  er  sein 


—  202  — 

Wollen  und  das  Ziel  weiß,  ohne  daß  sie  ihm  bewußt  sind. 
Sein  Wollen  ist  von  ihm  ungewußt  oder  unbewußt.  Darum 
existiert  es  aber  trotzdem  als  Bestimmtheit,  die  wir  als 
Betrachter  erkennen,  die  er  aber  nicht  zu  wissen  braucht. 
Wenn  das,  was  wirklich  werden  soll,  schon  vorher  im  Be- 
wußtsein als  Vorstellung  existieren  muß,  so  wüßte  ich  nicht, 
wie  man  etwa  die  Frage  als  Willenshandlung  kann  gelten 
lassen.  Wenn  ich  etwas  wissen  will,  so  kann  ich  es  eben  nicht 
jetzt  schon  als  Vorstellung  erleben,  sonst  würde  ich  kaum  noch 
fragen.  Trotzdem  wird  wohl  jeder  zugeben,  daß  man  die 
Frage  als  Willen  verstehen  muß.  Vielleicht  nimmt  man 
einen  Wissenswillen,  einen  Erkenntnistrieb  im  Bewußtsein 
dabei  an.  Gewiß  verstehe  ich  die  einzelne  Frage  aus  dieser 
allgemeinen  Willenstendenz.  Aber  man  stellt  doch  damit 
nicht  fest,  was  im  Bewußtsein  ist,  man  charakterisiert  nur 
das  Subjekt.  In  jedem  Moment  existiert  der  Selbsterhaltungs- 
trieb als  Bestimmtheit.  Allein,  wenn  man  eine  Handlung 
psychologisch  dadurch  erklärt,  daß  der  Wille  und  das 
Ziel  im  Bewußtsein  ist,  so  muß  man  doch  etwas  anderes 
darunter  verstehen  als  diesen  Trieb.  Man  wird  doch  nicht 
behaupten  wollen,  daß  in  dem  Schwimmer  neben  dem 
Willen,  über  Wasser  zu  bleiben,  noch  der  Selbsterhaltungs- 
trieb existiert  und  außerdem  noch  der  Wille  zu  den  einzelnen 
Bewegungen.  Wir  verstehen  die  Bewegungen  aus  dem  Willen 
über  Wasser  zu  bleiben,  und  diesen  Willen  wieder  aus  dem 
allgemeinen  Lebenswillen.  Diese  Beziehungen  existieren 
für  unsere  Erkenntnis.  Sie  sind  aber  nicht  in  ein  Raum- 
verhältnis umzudeuten,  etwa  daß  der  Selbsterhaltungs- 
trieb in  einer  speziellen  Gestalt  erscheint,  wenn  man  dabei 
aus  dem  Bild  Wahrheit  macht.  Ich  behaupte,  daß 
kein  Wille  in  einer  andern  Form  existiert  als  der  Selbst- 
erhaltungstrieb, nämlich  nur  als  eine  Bestimmtheit,  aus 
der  wir  die  Handlung  verstehen.  Dieser  Wille  existiert 
nicht  im  Bewußtsein.  Es  kann  uns  aber  bewußt  werden,  daß  wir 
um  unser  Leben  kämpfen.    Es  ist  ein  Irrtum  des  Rationalis- 


—  203  — 

mus,  daß  das,  was  wir  wollen,  immer  im  Ober-  oder  im  Unter- 
bewußtsein als  Vorstellung  existieren  muß,  als  ob  die  Hand- 
lung als  Geschehen  dadurch  allein  erklärbar  ist.  Wir  ver- 
stehen sie  aus  dem  Willen,  ob  sie  gewußt  oder  ungewußt 
geschieht.  Geschieht  sie  gewußt,  so  heißt  das  nur,  daß 
sich  das  Subjekt  selbst  erkennt  oder  weiß.  Diese  Erkenntnis 
aber  erklärt  uns  das  Geschehen  nicht.  Weiß  das  Subjekt 
sein  Wollen  und  sein  Ziel,  so  sprechen  wir  von  ,, Vornahme* '. 
Nur  deshalb,  weil  man  die  Handlung  in  diesem  Falle  nicht  für 
rätselhaft,  sondern  für  erklärt  hält,  wird  der  Instinkt  absolut 
rätselhaft.  Die  vorgenommene  Handlung  ist  aber  als  Vorgang 
oder  Geschehen  im  Raum  nicht  im  mindesten  verständlicher 
als  der  Instinkt  oder  Trieb.  Der  Unterschied  liegt  nur  darin, 
daß  sie  von  dem  Subjekt  selbst  erkannt  wird.  Das  Leben 
aber  läuft  zum  allergrößten  Teil  eben  unerkannt  oder  un- 
gewußt ab.  Deshalb  wird  es  aber  noch  nicht  mechanisch 
bedingt.  Es  bleibt  durch  den  WTillen  bestimmt,  d.  b.  durch 
ihn  verständlich  und  nicht  durch  zeitlose  Gesetze  erklärbar. 
Es  ist  selbstverständlich,  daß  die  Erkenntnis  das  Handeln  be- 
einflußt. Das  Willensleben  selber  ist  uns  oft  nur  aus  dem 
eigenen  Bewußtsein  verständlich.  Durch  das  Wissen  ist 
erst  eine  bewußte  Auswahl  möglich.  In  diesem  Sinne  gibt 
es  mehr  oder  minder  bewTußte  Menschen,  wie  es  mehr  oder 
minder  lebendige  Menschen  gibt.  Damit  ist  aber  sofort 
gesagt,  daß  dieses  Bewußtsein  etwas  ganz  anderes  bedeutet 
als  der  vermeintliche  Gegenstand  der  Psychologie.  Die 
Biologie  kennt  auch  keine  Grade  des  Lebens.  Dieses  Bewußt- 
sein verändert  nicht  das  Prinzip  des  Willens.  Es  klingt 
nur  rationalistisch,  wenn  ich  sage,  daß  der  Wille  immer 
nur  als  Gegenstand  der  Erkenntnis  existiert.  Es  soll  damit 
nur  betont  werden,  daß  er  kein  Gegenstand  im  psychischen 
Raum  ist.  Das  Gravitationsgesetz  existiert  wohl  in  der 
Welt.  Aber  wenn  wir  die  Masse  im  Raum  denken,  so  exi- 
stiert das  Gesetz  nicht  im  Raum.  Wir  können  auch  hier 
nur    von    einer    Existenz    als    Gegenstand    der    Erkenntnis 


—  204  — 

sprechen.  Wenn  ein  Kind  Schornsteinfeger  oder  Konditor 
werden  will,  so  können  wir  nicht  anders  sagen,  als  daß 
das  Selbstbewußtsein  sich  erkennend  bestimmt.  Wir  werden 
vielleicht  sagen,  daß  der  Wille  nur  vorgestellt  ist,  wenn  seine 
Wirklichkeit  zum  Verständnis  der  Handlung  nicht  unbedingt 
notwendig  ist.  Das  Selbstbewußtsein  ist  nichts  anderes 
als  die  psychologische  Erkenntnis  des  eigenen  Subjekts. 
Wenn  ein  Trinker  versichert,  daß  er  nicht  mehr  trinken  will, 
so  ist  das  ein  psychologisches  oder  historisches  Urteil.  Im 
Moment,  wo  er  es  doch  tut,  hat  es  seine  Gültigkeit  verloren. 
Er  wollte  doch  trinken.  Seine  Selbsterkenntnis  war  falsch, 
er  hat  sich  über  seine  eigene  Geschichte  geirrt.  Das  Leben 
ist  ein  ewiger  Wechsel  von  Bewußtseinsinhalten,  Gefühlen 
und  Handlungen;  wir  können  dieses  Leben  nur  durch  die 
Willenstendenzen  interpretieren.  Sie  sind  die  historischen 
Gesetze,  durch  die  wir  das  Leben  verstehen.  Es  ist  nicht 
ganz  richtig  zu  sagen,  daß  wir  einen  Willen  „erleben".  Wir 
„wissen"  ihn,  wie  wir  unser  Ich  wissen.  Der  Psychologe 
muß  hier  terminologisch  wieder  genauer  sein  als  der  Sprach- 
gebrauch. Was  wir  an  Qualitäten  erleben,  sind  bestimmte 
Empfindungen  und  Gefühle.  Das  Subjekt  braucht  sich 
nicht  selbst  zu  erkennen.  Sein  Wille  ist  ihm  nicht 
bewußt,  aber  er  existiert  nicht  im  Unterbewußtsein.  Das 
Gravitationsgesetz  existierte  auch  vor  Newton,  aber  es 
war  nicht  gewußt.  Der  Sexualtrieb  existiert  nicht  im 
Unterbewußtsein,  sondern  er  braucht  nicht  gewußt  zu 
werden.  Wir  verstehen  als  Psychologen  die  Handlung 
aus  ihm.  Aber  das  Subjekt  handelt  nur,  es  braucht  kein 
Sexualpsychologe  zu  sein.  Der  Sexual-  oder  Selbsterhaltungs- 
trieb sind  Gesetze  des  Individualsystems  und  keine 
psychischen  Gegenstände.  Als  solche  existieren  sie  im 
Menschen  wie  im  Tiere.  Die  Handlung  des  Tieres  können 
wir  auch  nur  durch  den  Willen  verstehen.  Wir  nennen  ihn  im 
Gegensatz  zu  dem  gewußten  oder  bewußten  Willen  „Instinkt". 
Das   Tier    ist    eine    Monade    ohne    Selbstbewußtsein    oder 


—  205  — 

Selbsterkenntnis.  Psychologisch  ist  der  Instinkt  merkwürdiger 
als  der  Wille,  weil  wir  seine  Geschichte  nicht  kennen,  woher 
dem  Subjekt  das  Ziel  bekannt  ist,  und  woher  es  weiß,  durch 
welche  Mittel  es  erreicht  wird.  Aber  der  eigentliche  Wille  als 
Erkenntnisprinzip  wird  dadurch  nicht  berührt.  Die  Handlung 
als  Geschehen  wird  durch  das  vorgestellte  Ziel  auch  nicht 
erklärt.  Wir  interpretieren  durch  das  Ziel  die  Handlung. 
Das  müssen  wir  auch  bei  dem  Instinkt  tun.  Wenn  wir  aber 
historisch  den  Willen  verstehen  wollen,  so  müssen  wir  aus 
der  Erfahrung  das  Ziel  verstehen.  Wenn  wir  den  Instinkt 
von  dem  Willen  abtrennen,  so  drücken  wir  damit  nur  aus, 
daß  wir  das  Ziel  in  vielen  Fällen  nicht  aus  den  persönlichen 
Erfahrungen  des  Individuums  verstehen.  Damit  berühren 
wir  aber  nur  denselben  Unterschied,  der  auch  bei  dem  Ver- 
ständnis der  Körperformen  des  Organismus  besteht.  Wir 
müssen  dort  unterscheiden  zwischen  der  selbsterworbenen 
Gestalt  und  der  vererbten.  Die  Hand  des  Individuums 
ist  mitgestaltet  durch  die  persönliche  Beschäftigung.  Wir 
verstehen  die  Verschiedenheiten  aus  der  Verschiedenheit 
der  persönlichen  Geschichte.  Aber  die  Hand  selbst  verstehen 
wir  nicht  aus  der  persönlichen  Geschichte,  sondern  aus 
der  erweiterten  Ahnen-  oder  Gattungsgeschichte.  Soweit 
man  überhaupt  eine  Frage  an  den  Instinkt  stellen  kann, 
muß  dies  auch  für  ihn  zutreffen.  Es  kann  keine  andere 
Problemstellung  geben,  sonst  müssen  wir  uns  einfach  mit 
der  Tat  oder  dem  Willen  der  Natur  begnügen.  Suchen  wir 
aber  überhaupt  nach  einer  Begründung,  so  kann  sie  nur 
in  der  Geschichte  liegen. 

Freilich  ist  es  völlig  falsch,  von  einem  Gesetz  der 
Vererbung  zu  sprechen,  das  uns  ein  Phänomen  erklärt. 
Im  Gegenteil  sagen  wir  mit  diesem  Begriff  nur,  daß 
wir  ein  Phänomen  nicht  erklären  können.  Wir  bemerken 
nur,  daß  es  in  der  Vergangenheit  schon  einmal  da 
war.  Damit  aber,  daß  wir  auf  die  Wiederholung  in  der  Zeit 
unsere  Erkenntnis   stützen,   haben  wir  ihr  die  Idee  ,, eines" 


—  206  — 

Systems  zugrunde  gelegt,  das  „des"  Lebens  oder  der  „einen 
Zeit  überhaupt".  Auch  das,  was  wir  unbewußtes  Handeln 
oder  Gewohnheit  in  unserm  eigenen  Individualsystem  nennen, 
ist  Vererbung  in  der  Zeit.  Wir  erweitern  aber  die  Zeitreihe 
über  die  Ahnen  hinaus.  Solange  nicht  eine  eigene  persönliche 
Anpassung  nötig  ist,  kann  das  eigene  Wissen  oder  die 
persönliche  Erfahrung  dem  Individuum  nichts  nützen, 
sondern  im  Gegenteil  dem  Handeln  nur  im  Wege  stehen. 
Nur  bei  ausgesprochen  individuellen  Handlungen  müssen 
wir  die  individuelle  Geschichte  des  Subjekts  zu  Rate  ziehen. 
Dasselbe  wiederholt  sich  in  der  eigenen  Geschichte.  Wenn 
wir  etwas  als  Gewohnheit  verstehen,  so  ist  damit  gesagt, 
daß  die  Handlung  historisch  nicht  aus  einem  individuellen 
Moment  heraus  zu  verstehen  ist.  Die  Handlung  ist  in  diesem 
Sinne  nicht  individuell.  Die  Instinkthandlung  ist  nichts 
anderes  als  eine  unindividuelle  Handlung,  die  als  Gewohnheit 
des  Individuums  oder  der  Gattung  und  nicht  als  persönlich 
momentane  Anpassung  zu  verstehen  ist.  Als  solche  ist  sie 
historisch-darwinistisch  zu  begreifen  oder  nicht  zu  begreifen, 
genau  wie  die  Bildung  der  Körperformen.  Auch  hier  gibt 
es  individuelle  Anpassungen,  die  nicht  durch  Vererbung  zu 
verstehen  sind.  Wie  die  Biene  aber  überhaupt  als  Körper 
entstanden  ist,  wissen  wir  auch  nicht.  Man  begnügt  sich 
vielleicht  damit  zu  sagen,  daß  diese  Form  darwinistisch  zu 
erklären  ist.  Man  bedenkt  aber  dabei  nicht,  daß  dies  genau 
so  viel  besagt,  wie  wenn  wir  uns  mit  der  Behauptung  oder 
Erkenntnis  begnügen  würden,  daß  die  Natur  durch  die 
Kausalität  erklärt  ist.  Man  vergißt,  daß  der  Darwinismus 
nur  das  Prinzip  angibt,  nach  dem  die  Erklärung  erfolgen 
könnte.  Er  sagt  nicht  mehr,  als  daß  die  Biene  historisch  und 
nicht  mechanistisch  begriffen  werden  muß.  Wie  sie  ent- 
standen ist,  ist  aber  die  —  praktisch  wohl  unlösbare  — 
Frage  der  Geschichte.  Ebenso  unlösbar  ist  die  psycho- 
logisch-historische Frage  nach  der  Entstehung  ihrer  In- 
stinkte. 


—  207  — 

Jede  Handlung  des  Lebendigen  ist  nur  durch  den 
Willen  zu  interpretieren.  Bei  dem  Instinkt  aber  stoßen 
wir  auf  die  Unmöglichkeit,  das  psychologische  Ziel  des 
Willens  zu  erkennen.  Das  übersieht  man  häufig.  Wir 
wissen  oft  nicht,  was  der  Organismus  an  der  erreichten 
Wirklichkeit  will.  Es  wäre  nur  natürlich,  daß  für  einen 
vollkommeneren  Geist  unsere  ganzen  Handlungen,  die 
eine  Nahrungsaufnahme  bezwecken,  rätselhafte  Instinkt- 
handlungen bedeuten  würden.  Er  würde  die  Handlung 
etwa  beschreiben  darnach,  daß  eine  notwendige  Menge 
Kalorien  aufgenommen  werden.  Dieser  Zweck  existiert 
für  das  Individuum  niemals.  Wir  können  den  Willen  nach- 
erleben, weil  wir  die  Empfindung  kennen,  die  für  das  Indi- 
viduum das  unmittelbare  Ziel  seiner  Handlung  ist.  Bei  der 
Instinkthandlung  der  Organismen  brauchen  wir  dies  nicht  zu 
wissen.  Ich  glaube  auch  nicht,  daß  die  Intuition  uns  das 
jemals  wird  verraten  können.  Es  ist  nicht  gesagt,  daß  unser 
Empfindungsleben  eine  Gleichheit  besitzt  mit  dem  der 
Wespe.  Wenn  sie  ihr  Opfer  lähmt  und  nicht  tötet,  so  müssen 
wir  dies  prinzipiell  durch  ihren  Willen  begreif en.  Daß  sie  aber 
das  will,  was  wir  eben  angegeben  haben,  würde  auf  einer 
Stufe  stehen  damit,  daß  jemand  behauptet,  wir  wollen  mit 
der  Atmungsbewegung  dem  Blute  neuen  Sauerstoff  zuführen. 
Eine  Anpassung  bedeutet  die  Handlung  der  Wespe  zweifellos. 
Durch  welche  psychologischen  Momente  sie  bedingt  ist, 
werden  wir  in  diesem  Falle  niemals  sagen  können,  weil  die 
Welt  dieser  Monade  eine  ganz  andere  sein  kann  als  die 
unsrige. 

Wie  gesagt,  können  wir  uns  nur  deswegen  so  schwer 
entschließen,  den  Instinkt  absolut  als  Willen  anzusehen, 
weil  wir  gewohnt  sind,  die  bewußte  Vornahme  allein  für 
den  Willen  anzusehen.  Aber  das  denkende  Bewußtsein 
ist  keine  Bedingung  des  Wollens.  Es  liegt  hier  ebenso  wie 
mit  dem  Wiedererkennen.  Die  gleiche  Reaktion  folgt  auf 
die  subjektiv  gleichen  Reize.    Gegenüber  der  kausalen  Objek- 


-  208  - 

tivität  der  Natur,  in  der  das  Salz  niemals  Zucker  sein  kann, 
wenn  es  ihm  auch  noch  so  ähnlich  ist,  müssen  wir  dies  als 
ein  Gleichhalten  der  Subjekte  bezeichnen.  Trotzdem  aber 
wissen  wir,  daß  die  Gleichheit  nicht  erkannt  ist,  nicht  im 
Urteil  als  Gegenstand  gesetzt  ist  oder  gesetzt  zu  sein  braucht. 
Das  erkennende  Bewußtsein,  das  als  subjektive  Erkenntnis 
eben  Selbstbewußtsein  der  Monade  ist,  erkennt  nicht  die 
Gleichheit,  die  für  das  Subjekt  beim  Handeln  existiert. 
Genau  so  erkennt  die  Monade  nicht  den  Zweck,  aber  sie 
handelt  nach  ihm.  Das  Erkennen  ist  nur  dann  eine  not- 
wendige Bedingung,  wenn  es  sich  um  eine  auch  im  Leben 
des  Individuums  selbst  momentan  individuelle  Anpassung 
handelt,  wo  uns  keine  Gattungserfahrung,  keine  Gewohnheit 
etwas  helfen  kann.  Sie  ist  dann  eine  selbsterworbene  Hand- 
lung, wo  wir  den  Zweck  als  Erlebnis  mit  der  persönlichen 
Vergangenheit  des  Subjekts  in  einen  historischen  Zusammen- 
hang bringen  müssen.  Daß  er  im  Moment  der  Handlung 
als  Vorstellung  im  Bewußtsein  ist,  daraus  wird  die  Handlung 
als  eintretendes  Geschehen  im  Raum  nicht  besser  verständlich. 
Aber  im  ganz  individuellen  Fall  verstehen  wir  nichts  ohne  die 
Annahme,  daß  das  persönliche  Individuum  denkend  weiß, 
was  entstehen  wird.  Wir  verstehen  dann  die  Entstehung  des 
Zweckes,  aber  die  Handlung  selbst  nicht  besser  als  vorher. 
Das  allermeiste  in  unserm  Leben  ist  aber  Gewohnheit. 
Die  allerwenigsten  Handlungen  sind  von  uns  gewußt, 
die  allerwenigsten  Zwecke  durch  Kombinationen  persönlicher 
Erfahrungen  entstanden. 

Man  würde  mich  mißverstehen,  wenn  man  glaubte, 
daß  ich  das  Gesagte  für  eine  „Erklärung"  der  Instinkt- 
handlung ansehe.  In  Wahrheit  ist  sie  genau  so  uner- 
klärbar wie  die  Entstehung  irgend  eines  Organismus. 
Wir  können  in  vielen  Fällen  die  Zweckmäßigkeit  einer 
Körperform  erkennen.  Wir  haben  mit  Darwin  anzunehmen, 
daß  in  ihr  der  Grund  jedenfalls  für  die  ,, heutige''  Existenz 
liegt.      Dasselbe   können   wir   bei   den    Instinkthandlungen 


-  209  - 

erkennen.  Beide  Male  ist  damit  nur  das  Prinzip  der  Er- 
kenntnis angegeben.  Die  Geschichte  von  der  Amöbe  bis 
zur  Biene  kennen  wir  nicht,  selbst  wenn  wir  Milliarden  von 
Zwischenformen  kennen  würden.  Wenn  wir  die  Biene  nach 
Körper  und  Geist  begreifen  wollen,  müßten  wir  aber  die 
Geschichte  aller  Ahnen  kennen,  d.  h.  aller  Organismen, 
die  die  Ahnenreihe  der  heutigen  Biene  bis  zur  Amöbe  herauf 
bilden.  Es  ist  dies  aber  auch  schon  deswegen  eine  Unmöglich- 
keit, weil  wir  gar  nicht  die  Welt  kennen,  die  die  Biene  erlebt. 
Wir  kennen  nicht  die  Qualitäten,  die  subjektiven  Welt- 
bestimmtheiten, die  ihre  historischen  Erfahrungen  aus- 
machen. Aber  die  Geschichte  wäre  die  einzige  Möglichkeit, 
den  Bienenstaat  zu  verstehen.  Der  Wille  ist  die  einzige 
Möglichkeit  der  Erkenntnis,  wenn  wir  die  Bewegungen 
nicht  als  Veränderungen  der  zeitlosen  Substanz  auffassen.  Wo 
wir  aber  die  Geschichte  nicht  kennen,  können  wir  auch  den 
spezifischen  Willen  nicht  begreifen.  Nur  soweit  eine  Gleich- 
heit der  Welten  der  Monaden  existiert,  und  soweit  wir  die 
Geschichte  der  einzelnen  Individuen  kennen,  ist  eine  solche 
Erkenntnis  möglich.  Den  Vorgang  der  Handlung  im  Raum 
aber  verstehen  wir  dadurch,  daß  der  Zweck  vorher  als  Vor- 
stellung erlebt  wird,  nicht  besser.  Das  ist  der  Irrtum  der 
rationalistischen  Elementarpsychologie.  Wir  interpretieren, 
geben  aber  damit  keine  Reihe  von  Ursache  und  Wirkung  wieder. 
Nur  müssen  wir  manche  Handlungen  aus  der  Geschichte 
der  persönlichen  Erfahrungen,  dem  persönlichen  Wissen 
verstehen.  Das  Allgemeine  aber  hat  nicht  die  Bedeutung 
einer  allgemeinen  zeitlosen  Gesetzmäßigkeit,  sondern  es 
ist  begründet  in  der  historischen  Reihe  des  Lebens  überhaupt. 
In  dieser  Erkenntnis  liegt  die  Bedeutung  des  Darwinismus. 
Er  hat  im  Gegensatz  zu  „der"  Natur  das  „eine"  System  des 
Lebens  begründet. 

Was  wir  Vornahme  nennen,  ist  nur  psychologische  Er- 
kenntnis, deren  Gegenstand  wir  selbst  sind.  Als  Historiker 
erkennen  wir,  was  wir  wollen.    Aber  diese  Selbsterkenntnis 

Strich,  Prinzipien.  14 


-  210  - 

—  etwas  anderes  kann  die  Psychologie  nicht  sein  — 
oder  dieses  Selbstbewußtsein  —  denn  dieses  ist  ja  nur  ein 
anderer  Name  für  die  unmittelbare  historisch-psychologische 
Erkenntnis  —  macht  uns  den  Vorgang  der  Tat  nicht  im 
mindesten  verständlicher.  Selbst  wenn  ich  eine  deutliche  Vor- 
stellung habe  von  dem,  was  ich  heute  abend  tun  werde,  bleibt 
die  Bewegung  im  Raum  genau  so  unerklärbar.  Als  Psychologe 
oder  als  Historiker  weiß  ich,  was  ich  tun  werde.  Das  neu- 
geborene Kind  ist  noch  kein  Psychologe.  Es  weiß  daher  nicht, 
was  es  tut,  sondern  es  tut  nur.  Der  Mensch  unterscheidet 
sich  von  anderen  Wesen  zunächst  nur  durch  die  Erkenntnis. 
Der  Psychologe  hat  eben  einen  völlig  falschen  Begriff  vom 
Bewußtsein.  Das  Leben  des  Organismus  läuft  ab.  Der  Mensch 
ist  aber  selbst  auch  nur  ein  Organismus  wie  die  Amöbe. 
Was  der  Psychologe  Bewußtsein  nennt,  ist  nicht  der  Gegen- 
stand der  psychologischen  Beobachtung,  sondern  ist  schon 
psychologische  Erkenntnis.  Das  erste  Urteil  des  Kindes, 
das  erste  Meinen,  worauf  wir  auf  die  bemerkte  Gleichheit 
zweier  Eindrücke  schließen,  ist  historische  Erkenntnis. 
Das  Kind  ist  Psychologe  geworden.  Die  Monade  hat  begonnen, 
ihre  individuelle  historische  Welt  zu  erkennen.  Diese  Welt 
existiert  aber  auch  so.  Man  kann  wenigstens  annehmen, 
daß  die  Amöbe  lebt,  ohne  dazu  verdammt  zu  sein,  Psychologe 
zu  werden.  Ebenso  leben  unsere  Psychologen,  ohne  immer 
Psychologen  zu  sein.  Sonst  würden  sie  wohl  bald  aussterben. 
Auch  ihr  Leben  läuft  wie  das  der  Amöbe  zum  großen  Teil 
ungewußt  oder  unerkannt  ab.  Der  Fehler  des  Rationalismus 
besteht  darin,  daß  er  das  Unerkannte  verwechselt  mit  dem 
Nichtdaseienden.  Noch  viel  unkritischer  ist  es  aber,  wenn  man 
das  Ungewußte  in  einen  neuen  Raum  unter  dem  Bewußtsein 
verlegt,  in  das  Unbewußte.  Das  sogenannte  Oberbewußtsein 
ist  nichts  anderes  als  das  Erkennen  von  sich  selbst,  seinen 
Wahrnehmungen  und  seinem  Wollen,  das  dem  Irrtum  aus- 
gesetzt sein  kann.  Es  ist  eine  falsche  Annahme  des  Rationalis- 
mus, daß  meine  Handlung  für  den  Betrachter  erst  dadurch 


-  211    - 

erkennbar  sein  soll,  daß  ich  sie  selbst  erkenne,  selbst 
zum  Gegenstand  des  erkennenden  Urteils  gemacht  habe. 
Nichts  anderes  aber  heißt  es,  wenn  man  die  Vornahme 
einer  Handlung  für  ihre  Erklärung  ansieht.  Der  Unterschied 
zwischen  dem  Tier  und  dem  erwachsenen  Menschen  besteht 
nur  darin,  daß  er  erkennt.  Wir  erkennen  das  Tier  und  uns 
selbst.  Wir  erkennen  unsere  eigene  Gleichsetzung  und  unsere 
Handlung.  Aber  die  Erkenntnis  der  Handlung  erklärt  nicht 
ihre  Existenz.  Sie  kann  genau  so  existieren,  ohne  daß  ich 
sie  erkenne,  oder  daß  sie  überhaupt  jemand  erkennt.  Die 
Handlung  bleibt  Handlung,  ob  ich  sie  selbst  oder  ein  anderer 
zum  Gegenstand  des  Wissens  mache,  d.  h.  die  Handlung 
ist  auch  Handlung,  wenn  sie  ungewußt  ist.  Zweifellos  haben 
wir  aber  im  Leben  mehr  zu  tun,  als  uns  in  jedem 
Moment  zu  erkennen.  Infolgedessen  ist  wohl  das  Aller- 
meiste, was  im  Leben  geschieht,  ungewußt.  Jede  Vornahme 
ist  ein  voreiliges  psychologisches  Urteil  über  sich  selbst, 
das  erst  die  Zukunft  bestätigen  kann.  Ebensowenig  dürfen 
wir  von  vornherein  annehmen,  daß  jeder  sich  selbst  am 
besten  erkennt.  Der  Betrachter  der  Handlung  kann  und 
muß  sie  so  interpretieren,  wie  sie  ihm  am  verständlichsten 
ist.  Dabei  kann  es  zu  Konflikten  zwischen  dem  Urteil  des 
Handelnden  und  meinem  Urteil  über  ihn  kommen.  Der 
Handelnde  selbst  kann  nicht  durch  innere  Wahrnehmung 
etwas  sehen,  was  ein  anderer  nur  hypothetisch  annehmen 
kann.  Der  Wille  existiert  aber  deswegen  nicht  im  Unter- 
bewußtsein ;  er  hat  genau  so  wenig  oder  genau  so  gut  existiert, 
wie  das  Gravitationsgesetz  existiert  hat,  bevor  es  Newton 
entdeckte.  Niemand  aber  wird  behaupten,  daß  es  im  Raum 
neben  der  Masse  existierte  und  sie  in  Bewegung  setzte.  Eben- 
sowenig hat  mein  Wille  im  Ober-  oder  Unterbewußtsein 
existiert,  sondern  nur  als  Prinzip  der  psychologischen  Er- 
kenntnis. Der  Wille  ist  genau  so  eine  Realität  wie  die  Kau- 
salität. Aber  diese  Realität  ist  erst  darin  begründet,  daß 
beide   notwendige    Prinzipien    des    Denkens    sind.      Wahr- 

14* 


-   212  - 

genommen  hat  noch  niemand  die  Kausalität.  Darin  gab 
Kant  seinem  Gegner  Hume  völlig  recht.  Leider  sind  unsere 
Psychologen  keine  Skeptiker,  sondern  unklare  Dogmatiker, 
die  gerade  behaupten,  daß  man  den  Willen  wahrnehmen 
kann.  In  Wirklichkeit  kann  man  nichts  anderes  wahrnehmen 
als  die  data  der  Sinnlichkeit.  Aber  man  erkennt  die  Welt 
durch  die  Kausalität  und  durch  den  Willen.  Dadurch  ist 
erst  die  Realität  begründbar.  In  dem  Begriff  der  Bewegung 
und  dem  letzten  Gesetz  der  Naturwissenschaft  hört  die 
Kausalität  auch  für  den  Physiker  auf.  Aber  es  hat  keinen 
Sinn  mehr,  dort  von  Willen  zu  sprechen,  wo  es  keine  histo- 
rischen Subjekte  von  Dauer,  keine  Zukunft,  sondern  nur 
Ewigkeit  gibt,  wo  wir  nicht  erkennen  können,  was  als 
historische  Wirklichkeit  erreicht  werden  soll. 

Der  Satz,  daß  jede  Handlung  durch  einen  Willen  ver- 
standen werden  muß,  ist  so  viel  oder  nichtssagend  wie 
der,  daß  jedes  Naturgeschehen  als  Kausalität  erklärt  werden 
muß.  Das  Problem  liegt  nur  in  dem  spezifischen  Willen. 
Aber  ich  bezweifle,  daß  unsere  Erkenntnis  immer  zum  Ziel 
gelangen  muß.  Man  kann  sagen,  die  Natur  handelt,  aber 
wir  können  sie  nicht  immer  erkennen,  wie  die  Variation 
der  Art  schon  eine  Tat  des  Lebens  ist,  die  wir  als  Tatsache 
wissen,  ohne  sie  begründen  zu  können.  Man  irrt  sich,  wenn 
man  meint,  sie  dadurch  erklären  zu  können,  daß  man  die 
unendliche  Anzahl  von  Möglichkeiten  hypothetisch  in  die 
Raumteile  verlegt.  Die  psychologische  Erkenntnis  muß 
schon  deswegen  nicht  zum  Ziel  gelangen,  weil  eine  historische 
Vervollkommnung  einer  Wissenschaft  hier  unmöglich  ist. 
Man  versteht  den  einzelnen  Fall  oder  man  versteht  ihn  nicht. 
Es  ist  undenkbar,  daß  eine  spätere  Zeit  ein  Gesetz  entdecken 
wird,  das  mir  den  Fall  verständlicher  macht,  als  er  jetzt  ist. 
In  den  Fällen,  wo  wir  uns,  wie  man  sagt,  frei  dünken,  ohne 
es  zu  sein,  wo  wir  eine  von  zwei  Handlungen  ausführen, 
ohne  irgend  einen  Grund  für  die  Entscheidung  zu  haben, 
liegt  von   unserm  Standpunkt   aus  nur  eine  Unmöglichkeit 


-  213  - 

der  Erkenntnis  vor.  Notwendig  ist  die  Handlung  nur  durch 
den  Willen.  Wir  wollen  dieses  Resultat,  aber  wir  erkennen 
oft  den  Willen  nicht,  weil  wir  nicht  erkennen,  warum  dieses 
Resultat  mehr  bedeutet  als  das  andere.  Der  psychologische 
Scharfblick  kann  aber  oft  noch  weiter  kommen  als  der 
Laie.  Er  kann  eine  allgemeinere  Willenstendenz  entdecken,  in 
die  der  einzelne  Fall  untergeordnet  werden  kann,  wie  der  Natur- 
wissenschaftler ein  Gesetz  durch  ein  allgemeineres  erklärt. 
Darin  besteht  die  psychologische  Erkenntnis.  Wir  zeigten,  daß 
die  Bestimmung  des  Erlebten  schon  psychologisch-histo- 
rische Erkenntnis  ist.  Denn  man  kann  nur  die  Gleichheit 
zweier  Erlebnisse  in  der  Zeit  bestimmen  und  keine  ob- 
jektiven psychischen  Wesenhaftigkeiten,  keine  objektiven 
psychischen  Elemente.  Ganz  das  Gleiche  zeigt  sich  bei  der 
Bestimmung  des  Gewollten.  Verstanden  haben  wir  die  Hand- 
lung durch  die  Erkenntnis  des  Zieles.  Dieses  Ziel  ist  aber 
nicht  durch  die  Wahrnehmung  gegeben,  wenn  wir  auch 
einen  Menschen  handeln  ,, sehen".  Wir  müssen  erkennen, 
was  an  der  Wirklichkeit  gewollt  ist.  Wir  sehen,  daß  jemand 
einen  Tisch  kauft.  Wir  sagen  vielleicht,  daß  er  einen  Tisch 
kaufen  wollte.  Dieses  Urteil  kann  genau  so  falsch  sein,  wie 
wenn  ich  daraufhin,  daß  ich  zwei  Töne  unterscheide,  be- 
haupte, daß  ein  anderer  zwei  verschiedene  Töne  hört.  Viel- 
leicht wollte  der  Betreffende  nur  Holz  kaufen.  Wir  müssen 
das  Gewollte  einer  Allgemeinheit  unterordnen,  die  in  dem 
Individualsystem  existiert.  Was  wTir  Anlage,  Disposition, 
Tendenz  nennen,  entspricht  also  völlig  dem  Begriff.  Es 
gibt  ebensowenig  einen  Individualwillen  für  unsere  Erkennt- 
nis, wie  es  eine  Individualvorstellung  gibt.  Das  Problem 
des  Allgemeinen  ist  für  die  Psychologie  nur  darum  unlösbar 
geworden,  weil  sie  nicht  von  dem  historischen  System, 
sondern  von  einem  Raumsystem  ausgeht.  Das  vermeintliche 
Element  „Rot"  oder,, Grau"  ist  genau  so  gut  eine  Allgemein- 
vorstellung in  dem  Individualsystem  wie  alles  andere.  Die 
Aufgabe  des  Psychologen  ist  es,  die  Allgemeinheit  zu  erkennen, 


-  214  - 

die  gewollt  wird.  Erst  durch  sie  ist  eine  historische  Erkenntnis 
möglich.  Jede  Bestimmung  des  Gewollten  ist  aber  auch 
schon  Erkenntnis  des  historischen  Zusammenhangs,  falls 
sie  richtig  ist.  Denn  es  wird  schon  dadurch  eine  Gleichheit 
in  dem  Zeitsystem  bestimmt.  Aber  dieses  muß  zugrunde 
gelegt  werden,  nicht  das  System  des  Betrachters,  d.  h.  nicht 
seine  Meinung  über  die  Welt.  Der  Psychologe  muß  aber 
weiterhin  die  Zielallgemeinheit  mit  andern  in  Zusammenhang 
zu  bringen  suchen,  indem  er  sie  wiederum,  natürlich  von 
Seiten  des  Subjekts  selbst,  unter  größere  Allgemeinheiten 
zusammenfaßt  oder  mindestens  ihre  Verwandtschaft  erkennt. 
Dies  ist  in  Wahrheit  eine  Aufgabe,  und  es  gibt  gute  und 
schlechte,  viel  und  wenig  wissende  Psychologen.  Diese 
von  der  exakten  Psychologie  als  unwissenschaftlich  ab- 
gelehnte Fragestellung  ist  die  einzige,  die  zu  Recht  besteht, 
wenn  man  überhaupt  den  Willen  für  die  wissenschaftliche 
Betrachtungsweise  zugibt.  Er  kann  ebenso  wie  das  Asso- 
ziationsgesetz nur  ein  Prinzip  sein,  nach  dem  die  Erkenntnis 
erfolgt.  Der  Wille  selbst  ist  nichts,  was  irgend  etwas  er- 
klärt. Es  muß  erkannt  werden,  „was"  gewollt  ist,  und  der 
Zusammenhang  zwischen  diesen  Zielen.  Die  Wissenschaft 
kann  hier  nicht  die  Erkenntnis  der  einen  psychischen  Welt 
vervollkommnen.  Kein  Lehrbuch  der  Psychologie  kann 
etwas  helfen.  Nicht  jeder  sieht  in  zwei  äußerlich  verschie- 
denen Handlungen  die  innere  Gleichheit,  nämlich  die  der 
Willenstendenz.  Nicht  jeder  sieht,  wie  sich  in  verschiedenen 
Handlungen  des  einen  Individuums  der  gleiche  Charakter 
zeigt  oder  die  Willenstendenz,  die  wir  Zeitstil  nennen, 
als  gleich  in  den  Taten  und  Werken  der  einzelnen  Individuen. 
Nicht  der  Wille  ist  das  Gesetz,  sondern  die  spezielle  Willens- 
tendenz. Der  bestimmte  Stil  ist  das  historische  Gesetz  der 
Zeit.  Der  Psychologe  hat  die  Aufgabe,  die  verschiedenen 
Tendenzen  zu  vereinigen,  ihre  Verwandtschaft  zu  erkennen, 
bis  er  zu  der  Grenze  kommt,  die  wir  den  individuellen  Cha- 
rakter nennen.    Er  ist  als  das  letzte  und  allgemeinste  Gesetz 


-  215  - 

der  Grenzbegriff  der  psychologischen  Erkenntnis.  Auch 
der  Kontrast  ist  eine  psychologische  Verwandtschaft.  Wir 
verstehen  durch  ihn  das  Nebeneinander  zweier  Willens- 
tendenzen in  einem  Individualsystem.  Aber  daß  das  Subjekt 
gleichsam  ein  Äquivalent  für  die  eine  Richtung  sucht,  ist  für 
dieses  charakteristisch.  Man  darf  hierbei  nicht  das  Empi- 
rische mit  dem  Ethischen  verwechseln.  Es  ist  vielleicht 
eine  ethische  Forderung,  daß  das  Individualsystem  logisch 
sein  soll.  Dies  ist  es  subjektiv  dann,  wenn  seine  Willens- 
tendenzen alle  in  einer  allgemeinen  Tendenz  wurzeln,  die 
wir  Individualität  nennen,  wenn  keine  da  ist,  die  mit  seiner 
Natur  nicht  übereinstimmt,  etwa  nur  durch  Nachahmung 
entstanden  ist.  Eine  solche  Betrachtungsweise  ist  nicht 
mehr  empirisch.  Das  Unethische  ist  die  Laune,  die  Abhängig- 
keit von  außen  und  nicht  von  sich  selbst.  Sie  ist  die  Lüge 
im  Gegensatz  zu  der  wahren  Natur  des  Individuums,  der 
diametrale  Gegensatz  zur  ethischen  Freiheit.  Empirisch 
aber  ist  auch  die  Laune  ein  Charakterzug,  ein  allgemeines 
Gesetz  des  Individualsystems.  Näher  kann  ich  auf  den 
Unterschied  der  Betrachtungsweisen  hier  nicht  eingehen. 

Es  ist  klar,  daß  wir  auch  das  Spezifisch-Historische 
der  Entwicklung  nicht  anders  verstehen  können.  Durch 
alle  wahrnehmenden  Erfahrungen  zusammen  kann  die 
Tat  nicht  begriffen  werden.  Denn  immer  bleibt  der  sub- 
jektive Rest,  durch  den  die  Tat  erst  Tat  wird.  An  sich 
besteht  dieselbe  Möglichkeit,  daß  aus  einem  Verbrecher- 
milieu ein  Verbrecher  entsteht  wie  das  Gegenteil.  Erklären 
kann  man  nichts,  verstehen  kann  man  beides.  Die  psycho- 
logische Erkenntnis  erkennt  ja  nur  den  Mikrokosmus,  den 
individuellen  Menschen,  wie  der  Naturwissenschaftler  den 
Makrokosmus  erkennt.  Beide  Male  lassen  sich  die  Wieder- 
holungen nur  zu  einer  Realität  vereinigen.  Ist  sie  für  den 
Naturwissenschaftler  etwa  das  Gravitationsgesetz,  so  ist 
sie  für  den  Psychologen  das,  was  wir  Charakter  nennen, 
im  idealen  Falle  eine  Willenstendenz,  die  in    allen   Hand- 


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hingen  wiederkehrt.  Wir  können  nicht  erkennen,  warum 
dieser  körperliche  Organismus  zum  Verbrecher  wurde, 
sondern  wir  erkennen  diesen  Menschen,  der  für  uns  eine 
Realität,  eine  unerklärbare  Existenz  ist.  Es  wäre  nicht 
richtig  zu  sagen,  daß  wir  dieselbe  Erfahrung  und  doch  andere 
Taten  voraussetzen  können,  denn  schon  die  Erfahrungen 
sind  als  Taten  durch  den  Charakter  bestimmt.  Wir  können 
nur  dieselbe  objektive  Welt  und  andere  Taten  voraussetzen. 
Keine  Wahrnehmung  ist  die  mechanistische  Folge  der 
objektiven  Welt,  sondern  jede  Wahrnehmung  ist  zugleich 
Tat,  Auswahl  und  Formung.  Alles  andere  an  ihr  ist  kein 
psychologisches  Problem.  Das  Leben  der  Menschen  ist  die 
unerklärbare  Realität,  die  wir  als  Tat  und  Wille  psychologisch 
begreifen.  Wir  können  die  historische  Realität  ,,  Goethe" 
vielleicht  erkennen,  aber  wir  können  die  Realität  nicht  selbst 
erklären.  Wir  können  den  Verbrecher  begreifen,  nämlich 
warum  ,,er"  gerade  zum  Verbrecher  wurde.  Wir  können 
aber  nicht  erkennen,  warum  er  ,,eru  wurde.  Wir  können 
nur  bis  zu  ihm  als  etwas  Bestimmtem  durchdringen.  Wir 
können  aber  nicht  erkennen,  wie  das  angenommene  unbe- 
stimmte Chaos,  eine  tabula  rasa,  die  Bestimmtheit  erlangte. 
Wir  erkennen  nur  ihn  als  eine  Realität,  sein  Leben  aus 
seinen  Willenstendenzen  und  seinen  Erfahrungen.  Könnten 
wir  in  diesem  Sinne  erklären,  warum  er  zum  Verbrecher 
wurde,  so  hätten  wir  die  Welt  an  diesem  Punkte  aus  dem 
Nichts  heraus  erklärt.  Es  wäre  dies  gleichbedeutend  damit, 
daß  der  Naturwissenschaftler  erklären  würde,  wie  aus  dem 
Nichts  diese  individuelle  Welt  entstand,  in  der  die  Massen 
sich  nach  der  Formel  des  Gravitationsgesetzes  anziehen. 
Solange  das  Leben  noch  nicht  abgeschlossen  ist,  ,, kennt" 
man  noch  nicht  die  Realität,  die  man  „erkennen"  will. 
Das  ist  das  Tragische  der  Zeit.  Die  Naturwissenschaft 
würde  sich  selbst  aufheben,  wenn  sie  nicht  das  ewige  Dasein 
des  Raums  voraussetzen  würde.  Nur  dadurch  ist  es  ihr 
möglich,  die  Zeit  vorauszusagen,  nämlich  dadurch,  daß  der 


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erkannte  Raum  auch  in  der  Zukunft  derselbe  ist.  Für  den 
Historiker  existiert  aber  nur  die  Zeit  selbst.  Sie  muß  da 
sein,  wenn  ich  sie  erkennen  will.  Würde  es  möglich  sein, 
die  Zeit  psychologisch  vorherzusagen,  so  brauchten  wir 
keine  Naturwissenschaft,  so  könnten  wir  psychologisch  alle 
Gesetze,  die  der  Naturwissenschaftler  durch  Erfahrung  erst 
findet,  als  Gedanken  voraussagen.  Gäbe  es  eine  kausale  Psycho- 
logie, so  müßten  wir  annehmen,  daß  das  Newtonsche  Gravi- 
tationsgesetz als  Bewußtseinsinhalt  auch  psychologisch  zu 
finden  gewesen  wäre.  Dieses  Ideal  der  Wissenschaft  Psycho- 
logie wäre  schon  eine  Absurdität.  Es  wäre  aber  gar  nicht  von 
der  Idee  der  Kausalität  zu  trennen.  Jede  Tat  läßt  sich  aus  der 
Vergangenheit  verstehen,  wenigstens  existiert  dies  als  Ideal. 
Aber  die  Zeit  läßt  sich  nicht  als  eine  Veränderung  der  an 
sich  bestimmten  Wirklichkeit  erkennen.  Man  hat  die  Tat 
verstanden,  wenn  der  Wille  als  Wiederholung  eines  früheren 
bekannten  Willens  erkannt  worden  ist.  Nur  scheinbar  ist 
damit  eine  Willensänderung  logisch  unmöglich.  Aber  jede 
Änderung  des  Willens  müssen  wir  aus  dem  Menschen  heraus 
verstehen.  Damit  ist  schon  gesagt,  daß  wir  in  der  Vergangen- 
heit nach  Tendenzen  suchen  müssen,  die  jetzt  die  Umkehr 
verständlich  machen,  sonst  bliebe  sie  wirklich  ein  Rätsel, 
unerkennbar.  Gewiß  kann  ein  Mensch  plötzlich  sein  Ziel 
ändern,  aber  entweder  hat  sich  dies  neue  Ziel  aus  der  Ver- 
gangenheit herausentwickelt,  so  daß  die  Änderung  nur  für 
uns,  nur  scheinbar  existiert,  oder  wir  müssen  auch  diese 
Tat  aus  einer  allgemeinen  Willenstendenz  verstehen.  Diese 
kann  etwa  auch  darin  liegen,  der  Mode  nachzulaufen, 
dann  wäre  dies  das  Ziel  und  gar  nicht  das  inhaltlich  be- 
stimmte. Es  gibt  keine  andere  Möglichkeit,  als  eine  Tat 
als  Wiederholung  eines  Willens  zu  erkennen,  der  als  Bestimmt- 
heit des  Subjekts  schon  existierte.  Erfahrungen  können  einen 
Menschen  ändern.  Soweit  aber  eine  Erkenntnis  der  Ände- 
rung möglich  ist,  wird  dabei  immer  eine  Willenstendenz 
vorausgesetzt,  die  konstant  geblieben  ist.    Der  Schluß,  den 


-  218  - 

ein  Mensch  aus  der  Erfahrung  zieht,  ist  nicht  in  ihr  gegeben^ 
sondern  in  ihm.  Die  Reaktion  auf  die  objektive  Welt  ist 
das  Wesentliche,  und  sie  läßt  sich  nur  begreifen  aus  dem, 
was  schon  vorher  da  war,  als  Wiederholung.  Jede  Erziehung 
kann  nur  in  der  Ausnutzung  einer  bestimmten  Willens- 
tendenz liegen.  Jede  Strafe  benutzt  etwa  den  Willen,  un- 
angenehme Eingriffe  zu  vermeiden.  Bekanntlich  können 
wir  uns  dabei  aber  auch  irren.  Der  Wille  braucht  nicht  da 
zu  sein.  Keine  Wahrnehmung  allein  kann  eine  Tat  begreif- 
lich machen.  Wenn  ich  auch  weiß,  wann  Goethe  das  alte 
Faustbuch  gelesen  hat,  so  sagt  dies  für  seinen  Faust  noch 
gar  nichts.  Seine  Tat  habe  ich  aus  ihm  heraus  zu  verstehen. 
Nur  scheinbar  wird  das  Leben  dadurch  in  eine  lang- 
weilige Wiederholung  aufgelöst.  Jede  Tat  ist  vielmehr  die 
Schöpfung  eines  neuen  Moments,  die  so  noch  nie  da  war, 
wenn  man  nicht  gerade  an  die  Lehre  der  ewigen  Wiederkunft 
glaubt.  Keine  Geburt  ist  eine  Wiederholung  der  Eltern. 
Alles  aber,  was  nicht  Wiederholung  ist,  ist  auch  unerkennbar. 
Die  Variation  in  der  Natur  ist  Tatsache,  aber  nicht  erklärbar. 
Erkennen  kann  nichts  anderes  bedeuten,  als  ein  Phänomen 
auf  eine  Gleichheit  in  einem  System  zurückzuführen.  Keine 
Psychologie  wird  als  eine  zu  vervollkommnende  Wissen- 
schaft die  Existenz  des  Faust  als  Tat  jemals  erkennen. 
Der  tiefere  Psychologe  sieht  nur  tiefer  als  der  oberflächliche. 
Was  wir  können,  ist  schematisch  nur  dies:  Der  Faust  ist  da, 
jetzt  können  wir  in  ihm  Meinungen  und  Taten  oder  Willens- 
tendenzen seines  Schöpfers  entdecken,  die  wir  auch  in  andern 
Werken  oder  Taten  entdecken.  Verstehen  tun  wir  nur  das, 
was  Wiederholung  ist.  Das  spezifisch  Neue  entzieht  sich 
jeder  Erkenntnis.  Alles  ist  Wille  oder  Tat  des  Subjekts, 
was  über  das  unbestimmte  Datum  der  Sinnlichkeit  in  der 
Wahrnehmung  hinausgeht.  Es  wäre  ja  von  vornherein  eine 
Lächerlichkeit,  hier  ein  kausales  Problem  zu  stellen.  Es 
ist  hier  gar  keine  Zeitreihe  kausal  zu  konstuieren.  Lautete 
das  Problem  aber  wirklich  so,  so  wäre  eine  Lösung  ein  für 


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allemal  ausgeschlossen.  Denn  wie  sollte  es  möglich  sein, 
die  Lebensreihe  Goethes  zu  konstruieren,  in  der  jeder  Moment 
die  Folge  des  vorhergehenden  wäre  ?  Tatsächlich  aber  könnte 
die  kausale  Psychologie  kein  anderes  Problem  stellen.  Man 
vergleiche  auch  nicht  den  Fall  etwa  mit  der  Geologie.  Natür- 
lich ist  es  ganz  unmöglich,  die  Zeitreihe  zu  konstruieren, 
die  der  Entstehung  der  Erdoberfläche  entspricht.  Dadurch 
wird  es  uns  aber  auch  allerdings  unmöglich,  diese  Fläche 
in  den  Einzelheiten  zu  erkennen.  Wir  können  nur  die  all- 
gemeinsten Gestaltungen  ableiten.  In  der  Psychologie 
aber  liegt  das  Problem  ganz  anders.  Dort  gilt  es  allgemeine 
Naturgesetze  zu  finden,  die  uns  im  Prinzip  die  Gestaltung 
der  Erdrinde  erklären,  ohne  die  einzelne  Form  als  Substanz- 
konstellation begreiflich  zu  machen.  Hier  aber  gilt  es  kein 
allgemeines  Gesetz  einer  Welt  zu  finden,  das  den  Faust  erklärt 
und  sich  auch  sonst  in  der  psychischen  Welt  zeigt,  sondern  aus 
Goethes  Leben  und  dem  seiner  Zeit  heraus  ist  er  zu  verstehen. 
Die  Erdrinde  ist  entstanden  als  eine  gesetzmäßige  Verände- 
rung der  zeitlosen  Substanz.  Ein  Vergleich  mit  dem  Faust 
ist  sinnlos,  weil  nichts  dabei  als  gesetzmäßige  Veränderung  ent- 
standen ist.  Er  ist,  wie  er  da  ist,  gar  nicht  als  Zeitreihe 
darzustellen,  geschweige  denn  kausal  zu  erklären.  Das 
erste  aber  wäre  die  unbedingte  Voraussetzung.  Gewiß  gibt 
es  das  Problem  der  zeitlichen  Entstehung  seiner  Teile.  Aber 
dieses  bedeutet  niemals  die  Einordnung  von  Momenten 
in  die  eine  Lebensreihe.  Das  historische  Problem  setzt 
vielmehr  nur  verschiedene  Epochen  des  einen  Subjekts 
voraus,  niemals  aber  eine  Zeitreihe  von  psychischen  Element- 
konstellationen. Was  existiert,  ist  Goethe  und  nicht  eine 
Folge  momentaner  Bewußtseinsinhalte,  von  denen  einer 
aus  dem  andern  kausal  folgte.  Keine  Psychologie  hat  noch 
jemals  überhaupt  in  Praxis  ein  kausales  Problem  gestellt. 
Die  Beschreibung  des  sinngemäßen  Zusammenhangs  ist 
das  einzige  Ziel,  das  sie  kennt.  Was  vom  Faust  da  ist, 
muß   als  gewollte  Tat  des  historischen   Subjekts  begriffen 


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werden.  Daß  dieser  Wille  nicht  mit  der  Vornahme  identisch 
ist,  davon  war  oben  die  Rede.  Wir  können  aber  nicht  weiter 
gelangen,  als  die  Tat  aus  dem  existierenden  Subjekt  zu 
verstehen,  d.  h.  wir  können  nur  das  an  ihr  verstehen,  was 
Wiederholung  in  dem  Zeitsystem  ist,  was  mit  einer  auch 
sonst  bekannten  Tendenz  übereinstimmt. 

Der  Faust  bildet  aber  keine  Ausnahme.  Es  ist  in  jedem 
Falle  sinnlos,  nach  allgemeinen  elementaren  Gesetzen  der 
psychischen  Welt  zu  suchen,  weil  es  gar  keine  solche 
Welt  gibt.  Jede  Vorstellung  ist  aus  dem  Subjekt  zu  begreifen. 
Auch  die  Synthesen,  Meinungen  und  Handlungen  des  Geistes- 
kranken sind  aus  seinem  Willen  heraus  zu  verstehen.  Das 
empirische  Phänomen  der  Zwangsvorstellung  widerlegt  nicht 
das  Prinzip.  Sie  ist  ein  besonderes  Erlebnis,  das  Charakte- 
ristische liegt  in  einem  besonderen  Gefühl  oder  in  einem 
Mangel  der  Selbsterkenntnis.  Sie  ist  aber  nicht  anders 
entstanden  als  die  andern  Vorstellungen.  Es  ist  das  Verdienst 
der  neueren  Psychiatrie,  auch  hier  den  Willen  zu  suchen, 
wenn  auch  ihre  Behauptungen  und  Interpretationen  inhalt- 
lich nicht  richtig  zu  sein  brauchen.  Es  liegt  dabei  ebenso 
wie  bei  der  Wahrnehmung.  Wenn  unsere  Aufmerksamkeit 
sich  auf  einen  höchst  unangenehmen  Reiz  richtet,  so  pflegen 
wir  das  mit  Recht  auf  den  Reiz  zu  schieben.  Mit  demselben 
Recht  müssen  wir  es  aber  auch  auf  unsern  Willen  schieben. 
Der  Wille  ist  nicht  etwas,  was  hinzukommen  und  wegbleiben 
kann.  Wenn  wir  das  eine  Mal  von  Willen  sprechen,  so  nehmen 
wir  ein  grundlegendes  Prinzip  an,  das  für  alle  Fälle  gilt. 
Genau  so  wie  der  Naturwissenschaftler  nicht  bei  einem 
Phänomen  eine  Kausalität  annehmen  und  bei  dem  andern 
leugnen  kann,  so  sind  wir  verpflichtet,  in  allen  Fällen  auch 
das  Prinzip  des  Willens  zugrunde  zu  legen.  Der  unangenehme 
Reiz  ist  eine  Auswahl  unter  vielen  möglichen.  Es  ist  ja  auch 
denkbar,  daß  einer  unter  Hunderten  ihn  nicht  bemerkt. 
Ebenso  ist  die  Erinnerung  an  das  Unangenehme  Tat  des 
Willens.    Wenn  wir  überhaupt  in  der  Gefühlsbetonung  den 


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Grund  der  Existenz  sehen,  so  ist  damit  gesagt,  daß  wir  die 
Existenz  von  dem  Willen  und  nicht  von  der  Kausalität  ab- 
hängig machen.  Wir  sagen:  jemand  wühlt  in  seinem  Schmerz. 
Wir  nennen  seine  Tat  charakteristisch  für  ihn.  Wir  bringen 
seinen  jetzigen  Willen  in  Zusammenhang  mit  andern  Willens- 
tendenzen. Was  wir  Charakter  oder  Persönlichkeit  nennen,  ist 
nichts  anderes  als  die  allgemeinste  Tendenz  oder  das  letzte 
Gesetz,  das  sich  im  Leben  des  Individuums  zeigt.  Gewiß  kann 
man  die  Entstehung  von  Goethes  Faust  mit  dem  Assoziations- 
gesetz abtun.  Zweifellos  ist  er  auf  Assoziationen  zurück- 
zuführen. Kein  allgemeines  Gesetz  kann  mir  aber  den  Faust 
erklären,  wenn  ich  die  Persönlichkeit  oder  den  Willen  Goethes 
nicht  dabei  berücksichtige.  Das  Assoziationsgesetz  erklärt 
ebensowenig  etwas  wie  die  Behauptung,  daß  Goethe  den 
Faust  schreiben  wollte,  oder  wie  das  berüchtigte  Willens- 
gesetz, daß  der  Mensch  nach  Lust  strebt,  auf  das  ich  gleich 
zurückkomme.  Tatsächlich  wäre  dies  die  Konsequenz 
unserer  psychologischen  Lehrbücher.  Durch  das  Gesetz 
der  schöpferischen  Synthese  erklärt  man  nichts,  sondern 
man  sagt  nur,  daß  man  etwas  nicht  erklären  kann.  Es  ist 
unverständlich,  wie  man  dieses  Gesetz  etwa  dem  Trägheits- 
gesetz vergleichen  kann,  weil  es  als  abstraktes  Gesetz  zum 
mindesten  minderwertig  erscheint  und  seine  Bedeutung 
erst  durch  die  Fülle  der  Anwendung  findet.  Das  Trägheits- 
gesetz ist  aber  gar  nicht  minderwertig.  Es  bezieht  sich  von 
vornherein  nur  auf  eine  Komponente  der  Wirklichkeit,  die 
niemals  allein  etwas  erklären  kann.  Das  trifft  für  jedes 
Naturgesetz  zu.  Zwischen  ihm  und  dem  Gesetz  der  schöp- 
ferischen Synthese  besteht  überhaupt  gar  kein  Beziehungs- 
punkt. Es  ist  unmöglich,  in  ihm  eine  Komponente  der  psy- 
chischen Wirklichkeit  zu  sehen,  die  neben  andern  das  indi- 
viduelle Phänomen  begreiflich  macht.  Es  ist  kein  Gesetz,  das 
nur  irgend  etwas  an  der  Wirklichkeit  erklärt.  Es  sagt  nur, 
daß  das  Bestehende  nicht  absolut  als  Wiederholung  der 
Vergangenheit  anzusehen  ist.    Was  aber  besteht,  kann  man 


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durch  das  Gesetz  nicht  erklären,  sondern  man  sagt  nur, 
daß  man  es  nicht  erklären  kann.  Nur  in  der  Existenz 
des  Bestehenden  aber  kann  das  psychologische  Problem 
liegen.  Das  Gesetz  sagt  etwa  in  unserem  Falle,  was 
jedes  Kind  weiß,  daß  Goethe  der  Schöpfer  eines  neuen 
Werkes  ist.  Diese  Schöpfung  läßt  sich  überhaupt  nicht 
durch  ein  Gesetz  bestimmen,  sonst  wäre  es  keine  Schöpfung, 
sondern  nur  die  Wiederholung  des  Ewigen  in  der  Zeit.  Was 
ich  daran  begreife,  begreife  ich  aus  dem  Leben,  den  Erfah- 
rungen und  Taten  des  Subjekts.  Kein  Assoziationsgesetz, 
kein  Willensgesetz,  kein  Lehrbuch  der  Psychologie  kann 
mir  dabei  das  Geringste  nützen.  Man  irrt  sich  aber,  wenn 
man  annimmt,  daß  wir  es  hierbei  mit  einem  Ausnahmefall 
zu  tun  haben.  Die  Psychologie  kennt  ebensowenig  prin- 
zipielle Ausnahmen  wie  die  Naturwissenschaft.  Die  kausale 
Psychologie  ist  in  jedem  Falle  ein  Hirngespinst.  Goethes 
Faust  ist  nach  denselben  Prinzipien  zu  verstehen  wie  jeder 
Reaktionsversuch  im  psychologischen  Laboratorium.  Nicht 
im  Laboratorium  finde  ich  Gesetze,  die  mir  den  Faust  er- 
klären, sondern  das  Experiment  ist  auch  nur  zu  ,, verstehen" 
und  nicht  gesetzmäßig  zu  erklären  wie  der  Faust.  Die  Er- 
fahrungen, die  Einstellungen  oder  immanenten  Deter- 
minationen machen  mir  das  Phänomen  verständlich.  Auch 
hier  kann  ich  nur  den  Menschen  verstehen  und  nicht  Gesetze 
der  psychischen  Welt  entdecken.  Jede  Tat  ist  ein  Teil  der 
Realität,  den  ich  mit  andern  Teilen  in  Zusammenhang 
bringen  kann.  Man  kann  erkennen,  was  gewollt  ist,  und 
keine  Psychologie  wird  jemals  weiter  gelangen  können. 

Wir  sagen  mit  Recht:  honny  soit  qui  mal  y  pense,  d.  h. 
wir  führen  einen  Einfall  auf  eine  immanente  Determinierung 
oder  Willenstendenz  zurück.  Andererseits  stellen  wir  mit 
Recht  den  Einfall  in  Gegensatz  zu  dem  Willen.  Wir  sprechen 
im  praktischen  Leben  in  solchen  Fällen  von  ,, Fühlen". 
Der  Psychologe  muß  hier  terminologisch  genauer  sein  als 
der   populäre   Sprachgebrauch.     Es   gibt  kein    Gefühl   von 


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einer  Meinung.  Es  soll  damit  nur  gesagt  werden,  daß  der 
Einfall  nicht  die  Beantwortung  einer  gestellten  Frage  ist. 
Wir  bezeichnen  also  nur  ein  Meinen,  das  nicht  das  Resultat 
einer  gewollten  logischen  Diskursion  ist.  Der  Rationalismus 
scheint  mir  gerade  darin  zu  liegen,  daß  man  den  Unterschied 
als  einen  absoluten  ansieht,  das  logische  Zweckdenken  als 
etwas  absolut  anderes  als  den  Einfall.  Nicht  das  erste  ist 
das  Vorbild  für  das  zweite.  Beides  wird  uns  nur  verständlich 
aus  immanenten  Determinierungen.  Das  eine  ist  von  der 
Psychologie  aus  genau  so  Denken  wie  das  andere.  Es  ist 
aber  möglich,  daß  wir  ein  Gefühl  durch  einen  Gedanken 
begründen  oder  interpretieren.  Das  Gefühl  bleibt  aber  eine 
charakteristische  Qualität.  Es  gibt  kein  Fühlen  einer  Gegen- 
ständlichkeit, wie  wir  sie  denken.  Wir  geben  uns  oft  keine 
Rechenschaft  über  die  logischen  Gründe  unserer  Meinung. 
Weil  die  Überzeugung  in  diesem  Falle  nicht  auf  einem  dis- 
kursiven Denken  beruht,  deshalb  nennen  wir  sie  ,, Fühlen", 
besonders  dann,  wenn  das  Urteil  nicht  nur  eine  beliebige 
konstatierte  Tatsache  bedeutet,  sondern  selbst  mit  der 
ganzen  wollenden  und  fühlenden  Persönlichkeit  zusammen- 
hängt, was  man  gewiß  nicht  von  allen  unsern  Urteilen  sagen 
kann.  Die  Überzeugung  braucht  nicht  entstanden  zu  sein 
dadurch,  daß  man  der  Objektivität  nachgeht.  Das  Gefühl 
ist  aber  tatsächlich  hier  nur  ein  Wort.  Das  logische  Denken 
ist  uns  als  Determinierung  bewußt,  es  ist  Vornahme;  aber 
diese  ist  nicht  gleichbedeutend  mit  dem  Prinzip  der  im- 
manenten Determination. 

Die  psychologische  Erkenntnis  ist  damit  gegeben:  Sage 
mir,  was  du  denkst  und  was  du  tust,  und  ich  will  dir  sagen, 
wer  du  bist.  Das  „Wer"  ist  der  zu  konstruierende 
Gegenstand  der  Psychologie.  Jede  Verwertung  oder  Wirkung 
einer  Erfahrung  vom  ersten  Moment  des  Lebens  bis  zum 
letzten  ist  bestimmt  von  diesem  „Wer".  Jede  Sinnesänderung 
ist  die  Fortführung  einer  Bestimmtheit  dieses  „Wer".  Man 
nennt  es  Charakter.     Es  ist  die  letzte  Willenstendenz  oder 


-  224  - 

wertende  Stellung  des  Subjekts  zur  Welt,  das  letzte  Gesetz 
des  Individualsystems  oder  der  Grenzbegriff  der  psycho- 
logischen Erfahrung.  Umgekehrt  kann  man  sagen:  Weiß 
ich,  wer  du  bist,  so  weiß  ich  auch  was  du  denken  oder  tun 
wirst.  Falsch  aber  ist  es  zu  sagen:  Kennt  man  die  psycho- 
logischen Gesetze,  so  wird  man  auch  sagen  können,  was 
du  denken  oder  tun  wirst. 

Wir  zeigten,  daß  man  nicht  fragen  kann,  ob  das  Leben 
auch  ein  Gegenstand  der  mechanistischen  Erkenntnis  ist, 
sondern  nur,  ob  der  Begriff  des  Lebens  ein  notwendiger 
Begriff  der  Erkenntnis  überhaupt  ist.  Ist  er  dies,  so  gibt  es 
neben  der  Erkenntnis  der  toten  Natur  eine  andere,  nämlich 
die  Geschichte  des  Lebens.  Genau  das  gleiche  trifft  für  den 
Begriff  des  Willens  zu.  Es  hat  keinen  Sinn  zu  fragen,  ob  der 
Wille  mechanistisch  bestimmt  ist.  Die  Frage  kann  nur 
lauten,  ob  der  Wille  ein  notwendiger  Begriff  der  Erkenntnis 
überhaupt  ist,  und  mit  der  Anerkennung  der  Geschichte 
ist  auch  diese  Frage  positiv  beantwortet. 

Es  war  der  größte  Irrtum  von  Kant,  als  er  annahm, 
daß  der  Mensch  überhaupt  in  irgend  einer  Weise  ein  Teil 
der  Natur  sei,  die  er  in  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft 
begründet  hat.  Losgelöst  von  der  mathematischen  Natur- 
wissenschaft verliert  die  Kausalität  ihren  logischen  Sinn. 
Es  wäre  haltlose  Metaphysik,  wenn  man  eine  Kausalität 
behaupten  wollte,  ohne  daß  sie  die  Erkenntnis  spezieller 
räum-  und  zeitloser  Gesetze  begründet.  Kants  Tat  gegen- 
über Hume  besteht  ja  gerade  darin,  daß  er  die  Kausalität 
nicht  als  erfahrenes  Gesetz,  sondern  als  Prinzip  der  Erfahrung 
bewies.  Losgelöst  von  der  Erkenntnis  verliert  der  Satz, 
daß  alles  in  der  Welt  Wirkung  und  Ursache  ist,  jeden  Sinn. 
Die  Erkenntnis  sucht  nach  einem  Zusammenhang.  Der 
von  Ursache  und  Wirkung  ist  aber  ein  ganz  spezieller,  näm- 
lich der  zeitlose  in  dem  System  Natur.  Die  Psychologie 
kann  nicht  nach  Ursache  und  Wirkung  suchen,  weil  sie 
nicht  im  Raum  objektivieren  kann.     Es  hat  keinen  Sinn, 


-   225  - 

das  Motiv  einfach  Ursache  zu  „nennen".  Der  Sinn  des 
Motivs  liegt  nur  darin,  daß  etwas  nicht  als  Gegenstand 
einer  objektiven  Welt  aufgefaßt  wird,  die  durch  ihre  Gesetze 
beherrscht  ist,  sondern  daß  es  subjektiv  in  dem  historischen 
Individualsystem  gedacht  wird.  Die  Psychologie  sucht  nach 
historischen  Zusammenhängen  innerhalb  einer  Monade,  eines 
Bewußtseins,  der  Naturwissenschaftler  aber  nach  zeitlosen 
in  dem  einen  System  der  Natur.  Will  er  die  Wirklichkeit 
erkennen,  so  will  er  die  Welt  erkennen,  wie  sie  zeitlos  existiert. 
Kausalität  und  zeitloses  Gesetz  im  Raum  sind  unauflöslich 
verbunden.  Durch  die  Kausalität  wird  ein  historisches 
Ereignis  zu  einem  zeitlosen.  Die  Psychologie  aber  sucht 
gerade  nach  den  tatsächlichen  historischen  Vorgängen  inner- 
halb eines  Individualsystems,  die  das  Phänomen  begreiflich 
machen.  Nicht  das  Assoziationsgesetz  macht  eine  Vorstellung 
begreiflich,  sondern  die  persönliche  Erfahrung,  die  das 
bestimmte  Individuum  in  einem  Zeitmoment  gemacht  hat. 
Denkt  man  ein  historisches  Subjekt  oder  einen  Organismus, 
so  hat  man  schon  das  Suchen  nach  Kausalität  aufgegeben. 
Man  denkt  nicht  mehr  zeitlose  Existenz,  die  sich  nach  zeit- 
losen Gesetzen  verändert,  sondern  einen  bestimmten  Teil  der 
Zeit,  etwas,  das  lebt,  stirbt  und  handelt.  Es  ist  ein  Mißbrauch 
der  Sprache,  wenn  man  den  Willen  in  den  Zusammenhang 
von  Ursache  und  Wirkung  einbezieht.  Wenn  man  aber  eine 
Kausalität  behauptet  und  den  Willen  nicht  als  Faktor 
in  den  Zusammenhang  aufnimmt,  so  wüßte  ich  nicht,  warum 
man  ihn  überhaupt  als  eine  Realität  in  der  Psychologie 
zugibt.  Ursache  und  Wirkung  reichen  so  weit,  wie  die  reine 
Vernunft  reicht.  Auch  die  historische  Vernunft  begründet 
Phänomene,  aber  nicht  durch  die  Kausalität,  nicht  durch 
allgemein  gültige,  zeitlose  Naturgesetze,  sondern  durch  das 
zeitliche  Subjekt,  durch  seine  persönliche  Erfahrung  und  seine 
Willenstendenzen.  Der  Wille  ist  die  einzige  Möglichkeit, 
die  Wirklichkeit  historischer  Phänomene  zu  begreifen,  neben 
der  Kausalität,  die  die  einzige  Möglichkeit  ist,  die  Wirklich- 
strich, Prinzipien.  15 


-  226  - 

keit  der  Natur  zu  erkennen.  Wo  immer  man  Handlung 
denkt,  denkt  man  das  Geschehen  historisch  bedingt  und 
nicht  zeitlos,  nicht  durch  vorhergehende  Ursachen,  sondern 
durch  den  Zweck,  der  wirklich  werden  soll.  Von  der  Kau- 
salität aus  ist  alles  auf  einmal  wirklich.  Die  Änderung  der 
Raumkonstellation  wäre  nichts  Neues,  wenn  nicht  der 
historische  Moment  für  das  Leben  in  Betracht  käme.  Sie 
ist  neu  nur  wegen  ihrer  Wertbedeutung. 

Der  Naturwissenschaftler  erklärt  ein  Phänomen  als 
Folge  der  unmittelbar  vorangehenden  Substanzkonstellation. 
Eine  kausale  Wissenschaft  würde  sich  selbst  aufheben,  wenn 
sie  annehmen  würde,  daß  nicht  alles  wirkt,  was  da  ist.  Die 
Kausalität  als  Prinzip  wäre  sinnlos,  wenn  nicht  alles,  was 
im  Moment  da  ist,  den  folgenden  mitbestimmt.  Freilich 
können  wir  nicht  alle  Zusammenhänge  berücksichtigen. 
Aber  der  Physiker  berücksichtigt  wohl  viel  mehr,  als  der 
naive  Mensch  vermutet,  der  beim  Anblick  einer  chemischen 
Wage  wohl  sehr  überrascht  sein  würde,  weil  dabei  Faktoren 
berücksichtigt  sind,  denen  er  niemals  eine  Einwirkung  auf 
die  Wägung  einräumen  würde.  Der  Naturwissenschaftler 
lenkt  die  Wirkung  vieler  Teile  ab,  indem  er  sie  „wo  anders" 
hinbringt.  Wir  brauchen  die  Existenz  des  Uranos  nicht  in  Be- 
tracht zu  ziehen,  wenn  wir  die  Bewegung  des  fallenden  Steins 
bestimmen.  Aber  für  die  ideale  Erkenntnis  existiert  eine  Ein- 
wirkung. Spricht  die  Psychologie  von  Kausalität,  so  hätte  das 
nur  einen  Sinn,  wenn  auch  sie  von  der  Idee  ausginge,  daß  alles, 
was  da  ist,  den  folgenden  Moment  bestimmt.  Das  momentan 
vorangehende  Dasein  ist  aber  nichts  anderes  als  die  reale 
verflossene  Zeit,  von  der  Urzelle  an  bis  zum  letzten  Moment, 
die  Ahnenreihe  des  Individuums,  und  nicht  eine  bestimmte 
Anordnung  von  etwas,  was  ,,in"  der  Zeit  existiert.  Sucht 
man  in  ihr  nach  Ursachen,  so  kann  man  das  nur,  wenn  man 
diese  verflossene  Zeit  als  einen  Nebenraum  des  Raums 
denkt.  Die  Schwierigkeit  der  Naturwissenschaft  liegt  darin, 
die   Spezialwirkung  der  einzelnen  Teile  zu  bestimmen,  die 


-   227  - 

mit  allen  andern  zusammen  da  sind.  Behauptet  man  etwa, 
daß  der  momentane  Inhalt  des  Bewußtseins  das  Dasein 
wäre,  aus  dem  der  folgende  Moment  zu  erklären  sei,  so  muß 
man  annehmen,  daß  alles,  was  da  ist,  Ursache  für  den  nächsten 
Moment  sei.  Von  dieser  Idee  der  allgemeinen  Kausalität 
geht  die  Psychologie  in  Wahrheit  nie  aus.  Sie  behauptet 
etwa,  daß  eine  Vorstellung  aus  Elementen  besteht,  und  daß 
ein  Element  die  nächste  Vorstellung  bewirkt.  Dann  hätte 
nur  ein  Element  andere  kausal  nach  sich  gezogen.  Diese 
Idee  wäre  in  der  Naturwissenschaft  unsinnig.  Wenn  etwas 
Ursache  ist,  so  muß  alles  Ursache  sein.  Es  ist  unmöglich,  daß 
nur  ein  Teil  von  dem,  was  gleichzeitig  da  ist,  in  kausalem 
Zusammenhang  mit  dem  nächsten  Moment  steht  und  das 
Übrige  nicht.  Von  dem  Inhalt  des  Bewußtseins  geht  aber 
das  Allerwenigste  als  Komponente  in  die  Bewirkung  des 
folgenden  Moments  ein.  Nun  hält  man  den  Moment  auch 
kausal  bestimmt  durch  den  Willen.  Man  behauptet,  daß 
er  im  Bewußtsein  da  ist  und  wirkt.  Man  hat  aber  damit 
selbst  ein  Ding  hineinkonstruiert,  um  eine  Ursache  zu  haben. 
Daß  der  Wille  anwesend  ist,  schließt  man  aus  der  Handlung. 
Niemals  aber  könnte  man  ihn  einen  Moment  vorher  in  einem 
Bewußtsein  entdecken  und  daraus  den  folgenden  Moment 
erklären.  Ursache  und  Wirkung  ist  nur  dadurch  möglich, 
daß  eine  bestimmte  Raumanordnung  bestimmter  Elemente 
in  einem  Moment  angenommen  wird.  Da  es  eine  solche 
psychologisch  nicht  gibt,  gibt  es  auch  keine  Kausalität. 
Die  Raumtheorie  selbst  entstammt  als  letzte  Grundidee 
erst  dem  Zweck,  die  Inhalte  des  Bewußtseins  zu  erklären. 
Was  an  sich  historische  Folge  im  Wahrnehmungsurteil  ist, 
wird  durch  die  Kausalität  im  Raum  objektiviert.  Psycho- 
logisch aber  bleibt  die  Erkenntnis  bei  der  Beschreibung 
der  historischen  Folge  stehen.  Sie  konstruiert  keine  Substanz, 
die  die  Wirklichkeit  ausmacht  und  die  nur  ,,in"  der  Zeit 
erscheint.  Nur  dann  aber  wäre  eine  Erkenntnis  nach  Ursache 
und  Wirkung  möglich.     So  aber  existiert  nur  die  Zeitfolge. 

15* 


-  228  - 

Kein  Element  bewirkt  eine  objektive  Folge.  Nicht  eine 
Raumkonstellation  geht  dem  zu  erklärenden  Moment  voran, 
sondern  die  ganze  Zeit.  Wir  erkennen  zunächst  einen  Moment 
als  Teil  dieses  Zeitsystems  durch  seine  historische  Gleichheit 
mit  der  Vergangenheit.  Das  gilt  sowohl  für  den  erlebten 
Inhalt  wie  für  die  Folge.  Wir  fassen  beides  zu  Allgemein- 
heiten zusammen,  die  aber  nur  in  dem  Individualsystem 
existieren.  Wir  bestimmen  das  Erlebte  als  Rot,  als  Tisch  etc. 
WTir  bestimmen  damit  den  Inhalt  als  Teil  der  Zeit.  Wir 
zeigten  aber  deutlich,  daß  schon  bei  der  Wahrnehmung 
ein  psychologisches  Problem  auftritt,  während  sie  ja  sonst 
gerade  durch  die  Naturwissenschaft  erklärt  wird.  Da  sie 
jederzeit  nur  eine  Auswahl  von  Möglichkeiten  ist,  so  gilt 
es,  diese  Beschränkung  der  Wirklichkeit  zu  verstehen.  Wenn 
wir  in  der  Objektivität,  in  der  Welt  der  Naturwissenschaften, 
in  dem  mathematischen  Raum  keine  Ursache  dafür  finden 
können,  so  gibt  es  nur  eine  Möglichkeit:  die  immanente 
Determinierung;  die  Auswahl  ist  die  Tat  des  Subjekts. 
Wir  verstehen  sie  durch  ihre  historische  Gleichheit  innerhalb 
des  Individualsystems  genau  so  wie  den  Inhalt  selbst  als 
Wiederholung  eines  früheren  Teils.  Wir  verstehen  die 
Aufmerksamkeit  durch  die  historische  Gleichheit  der  Aus- 
wahl. Wir  verstehen,  wenn  ein  Schuljunge  auf  die  Soldaten 
Acht  gibt,  weil  er  sich  „immer"  für  ähnliche  Gegenstände 
interessiert.  Seine  jetzige  Tat  ist  nur  die  Wiederholung 
vieler  vergangener  Taten.  Genau  so  verstehen  wir  die  Asso- 
ziation als  eine  Tatauswahl  unter  unendlichen  Möglichkeiten. 
Jede  Bestimmtheit  kann  reproduktiv  sein,  jede  ist  mit  tausend 
andern  schon  zusammen  da  gewesen.  Das,  was  wirklich 
da  ist,  verstehen  wir  als  Tat,  die  selber  wieder  eine  Wieder- 
holung der  Vergangenheit  ist.  Nur  von  diesem  Standpunkt 
aus  haben  die  Reaktionsversuche  überhaupt  einen  Sinn. 
Unsere  psychologische  Erkenntnis  kann  auch  im  Laborato- 
rium nur  historische  Individualpsychologie  sein,  wenn  man 
sich  nicht  auf  nebensächliche  Beschreibungen  einläßt,  indem 


-  229  - 

man  vergißt,  daß  das  Ziel  jeder  Wissenschaft  die  Erkenntnis 
von  den  Zusammenhängen  in  der  Zeit  ist.  Nur  aus  der  Ge- 
schichte, aus  den  Erfahrungen  und  den  Willenstendenzen 
des  Subjekts  kann  man  eine  Assoziation  verstehen.  Auch 
sie  ist  eine  Auswahl  der  Aufmerksamkeit  oder  der  Ein- 
stellung. Durch  die  Reaktion  wird  das  Individuum  erkannt, 
nicht  sie  aber  durch  allgemeine  Gesetze. 

Die  Aufmerksamkeit  ist  aber  keine  spezielle  Form  des 
Willens.  Es  kommt  uns  nicht  auf  die  triviale  Tatsache  an, 
daß  im  psychischen  Leben  Wille,  Gefühl  und  Vorstellung  in 
jedem  Moment  zu  einem  Ganzen  verbunden  da  wären  und 
nur  durch  die  wissenschaftliche  Abstraktion  zu  trennen  sind. 
Bei  diesem  „Ganzen"  liegt  doch  schon  das  Raumdenken 
zugrunde.  Es  ist  nicht  unsere  Ansicht,  daß  ,, immer"  der 
Wille  da  ist,  sondern  wir  können  eher  behaupten,  daß  er 
niemals  ,,da  ist".  Die  psychische  Wirklichkeit  läßt  sich  nur 
nicht  anders  begreifen  als  durch  den  Willen,  wie  keine  Raum- 
erfahrung möglich  ist  ohne  die  Kausalität.  Man  kann  aber 
nur  nach  speziellen  Naturgesetzen  oder  nach  speziellen  Willens- 
tendenzen suchen.  Der  Wille  existiert  nicht  neben  dem  Inhalt 
im  Bewußtsein,  sondern  er  macht  mir  die  Existenz  des 
Inhalts  begreiflich,  wie  das  Gravitationsgesetz  nicht  neben 
der  Masse  existiert,  sondern  nur  Bewegungen  im  Raum  erklärt. 
Der  Wille  ist  ein  notwendiges  Prinzip  der  Erkenntnis,  weil 
man  durch  die  Konstruktion  der  kausalen  objektiven  Welt 
die  Phänomene  der  historischen  nicht  verstehen  kann.  Wohl 
wird  die  Wahrnehmung  erklärt,  aber  nicht  die  Tatsache, 
warum  ich  gerade  das  wahrnehme,  wo  auch  die  Möglichkeit 
zu  anderen  Wahrnehmungen  besteht.  Der  vorgestellte 
Inhalt  kann  aber  überhaupt  nicht  durch  die  Objektivität 
erklärt  werden.  Er  existiert  nur  als  Willensauswahl  unter 
den  möglichen  Assoziationen. 

Genau  so  ist  es  mit  der  Körperhandlung.  Eine  Be- 
wegung im  Raum  der  Naturwissenschaft  ist  bedingt  durch 
die  zeitlosen   Naturgesetze.      Sie  wird  aber  überhaupt  nur 


-  230  - 

dadurch  zum  psychologischen  Problem,  daß  ich  sie  nicht 
in  diesem  Raum  denke.  Sie  ist  dann  keine  relative  Orts- 
änderung letzter  Teile  im  zeitlosen  Raum,  sondern  ein 
historisches  Phänomen,  ein  Teil  aus  dem  Leben  der  Zeitreihe 
des  Individualsystems.  Von  der  Einheit  dieses  Systems 
ist  sie  abhängig,  von  einem  bestimmten  Willen.  Der  Wille 
setzt  nichts  im  mathematischen  Raum  in  Bewegung.  Er  ist 
keine  Kraft  neben  der  Anziehungskraft.  Denn  durch  ihn  er- 
kläre ich  nicht  die  Reihe  der  Phänomene,  wie  sie  die  Theorie 
der  Naturwissenschaft  denkt.  Nur  die  historische  Wirklich- 
keit wird  durch  ihn  verstanden,  nicht  die  im  Raum  erklärt. 
Die  Handlung  ist  die  Realität  selbst,  die  ich  historisch  be- 
greifen kann  durch  ihre  Gleichheit  in  dem  System,  wo  sie 
existiert.  Der  Naturwissenschaftler  kann  auch  nicht  die 
Welt  aus  dem  Nichts  erklären.  Er  konstruiert  seine  Realität. 
Sie  kann  er  nicht  erklären,  nur  Gleichheiten  des  Geschehens 
kann  er  namhaft  machen,  die  in  seinem  unerklärbaren 
System  stattfinden.  Die  Wirkung  des  Radiums  muß  er 
erkennen  als  ein  Geschehen,  das  sich  im  Raum  wiederholt. 
Die  Realität  des  Psychologen  aber  ist  nicht  der  Raum, 
sondern  die  Zeit.  Für  den  Naturwissenschaftler  ist  der 
Zeitmoment  erklärbar,  weil  seine  unerklärbare  Realität 
der  Raum  ist.  Eine  solche  Umdenkung  ist  für  den  Psycho- 
logen unmöglich.  Es  gibt  für  ihn  keine  andere  Realität  als 
die  Zeit  oder  das  Leben,  das  begonnen  hat  und  endet.  Er 
kann  nicht  nach  Kausalitäten  suchen,  weil  er  keinen  Raum 
annimmt.  Nur  weil  dieser  zu  allen  Zeiten  derselbe  bleibt, 
ist  eine  Wiederholung  in  der  Natur  damit  erklärt,  daß  sie 
als  Wiederholung  im  Raum  dargestellt  wird.  Eine  Kausalität 
könnte  man  nur  dann  behaupten,  wenn  das  Leben  ein  irrtüm- 
licher Begriff  wäre,  wenn  es  in  Wirklichkeit  keinen  Unter- 
schied gäbe  zwischen  Leben  und  Tod.  Denn  es  kann  keinen 
andern  Unterschied  zwischen  beiden  geben  als  den  des 
zeitlosen  und  des  historischen  Zusammenhangs.  Infolge- 
dessen gibt  es  auch  keine  Kausalität  des  Willens,  sondern 


-  231   - 


nur  die  Erkenntnis  der  Phänomene  durch  den  Willen.  Wäre 
er  kausal  determiniert,  so  müßte  er  im  Raum  der  mathe- 
matischen Naturwissenschaft  existieren.  Dann  wäre  auch 
die  Kausalität  durch  die  Kausalität  determiniert  und  so  fort. 
Mehr  Sinn  hat  die  Frage,  ob  der  Wille  determiniert  ist, 
wirklich  nicht.  Man  könnte  auch  fragen,  ob  die  tote  Natur 
kausal  ablaufen  muß,  oder  warum  sie  es  tun  muß.  Ihre 
Kausalität  ist  die  notwendige  Idee,  wenn  ich  sie  überhaupt 
erkennen  will.  Ebenso  ist  der  Wille  die  notwendige  Idee, 
um  zu  erkennen.  Er  ist  ein  Prinzip,  durch  das  ich  er- 
kenne. Ihn  selbst  erkennen  wollen,  wäre  gleichbedeutend 
mit  der  Frage,  warum  in  der  toten  Natur  die  Kausa- 
lität herrscht.  Nicht  der  Mensch  hat  einen  Willen, 
sondern  das  Leben  kann  nur  durch  ihn  erkannt 
werden.  In  dieser  Hinsicht  besteht  kein  Unterschied 
zwischen  der  Amöbe  und  Goethe.  Die  Frage,  ob  der  Wille 
frei  oder  unfrei  ist,  ist  gleichbedeutend  mit  der,  ob  die  Kau- 
salität frei  oder  unfrei  ist.  Meint  man,  daß  Kausalität  gleich- 
bedeutend ist  mit  Unfreiheit,  so  ist  Wille  gleichbedeutend 
mit  Freiheit.  Beides  sind  korrelative  Begriffe,  die  sich 
gegenseitig  erst  ihren  Sinn  geben.  Zum  Schluß  läuft  beides 
auf  die  Frage  hinaus,  ob  die  Welt  notwendig  da  ist  oder 
freiwillig.  Darüber  kann  die  Erkenntniskritik  nichts  mehr 
sagen.  Wir  können  durch  den  Willen  und  die  Kausalität 
die  Welt  erkennen.  Ob  sie  beide  oder  unsre  Welt  da  sein 
„muß",  ist  keine  Frage  der  Logik. 

Praktisch  scheint  die  Frage  für  den  Willen  allerdings 
wichtig  zu  sein,  nämlich  in  dem  Problem  der  Verantwort- 
lichkeit. Allein  dies  Problem  beruht  auf  einer  Unklarheit 
des  Denkens  im  Zusammenhang  einer  unkritischen  Meta- 
physik. Man  fragt  wohl,  ob  ein  Mensch  für  seinen  Willen 
etwas  kann  oder  nicht.  Die  Frage  ist  aber  ganz  unlogisch, 
weil  dieser  Mensch  gar  nichts  anderes  ist  als  dieser  Wille. 
Sie  beruht  auf  der  falschen  Annahme,  daß  die  Seele  etwas 
ist,  was  im  Körper  wohnt.   Schon  Aristoteles  hat  uns  gelehrt, 


-  232  - 

daß  die  Seele  nur  die  Form  des  Subjekts  ist,  die  historische 
Einheit.  Sie  ist  aber  nichts,  was  den  Willen  wählt  oder  auf- 
gezwungen erhält.  Die  Frage  entspricht  der:  kann  das 
Element  Gold  etwas  dafür,  daß  es  nicht  Silber  ist,  oder: 
muß  die  Masse  anziehen  oder  tut  sie  es  freiwillig  ?  Es  gibt 
keine  wählende  Seele  neben  der  wählenden  Seele,  wie  es 
neben  dem  Element  kein  Element  gibt,  das  sich  seine  Quali- 
tät wählen  kann.  Der  Mensch  ist  nichts  anderes  als  sein  Er- 
fahren und  sein  Wollen.  Ob  dieser  Mensch  auch  hätte  anders 
wollen  können,  heißt  nichts  mehr  und  nichts  weniger  als, 
ob  die  Welt  hätte  anders  sein  können,  als  sie  ist.  Diese  Frage 
bleibt  auch  für  den  Naturwissenschaftler  trotz  der  Kausalität 
offen.  Daß  dieses  Element  Gold  ist,  läßt  sich  durch  die  Kau- 
salität, selbst  wenn  man  seine  historische  Entstehung  an- 
nimmt —  womit  gesagt  ist,  daß  man  es  nicht  für  ein  Element 
hält  — ,  nicht  restlos  begründen.  Die  Frage  entzieht  sich 
jeder  Entscheidung,  sowohl  für  den  Historiker  wie  für  den 
Naturwissenschaftler,  denn  beide  setzen  die  Realität  der 
Welt  voraus.  Aber  unsere  Ansicht  ist  natürlich  das  gerade 
Gegenteil  des  Fatalismus.  Ich  weiß  nicht,  was  ich  im  nächsten 
Moment  tun  werde,  denn  ich  kenne  die  Realität  noch  nicht. 
Was  ich  aber  auch  tue,  so  ist  es  mein  Wille,  der  es  bestimmt. 
Führe  ich  eine  vorgenommene  Absicht  aus,  so  habe  ich  mit 
meiner  Selbsterkenntnis  recht  gehabt.  Der  Mensch  ist  verant- 
wortlich, heißt  nur,  daß  er  etwas  getan  hat.  Ob  ein  anderer 
Wille  hätte  da  sein  können,  ist  müßig  zu  fragen.  Wir  können 
hier  den  tatsächlichen  Willen  als  die  Realität  erkennen, 
aber  diese  selbst  nicht  begründen.  Eines  aber  ist  sicher: 
Was  wir  tun  werden,  ist  nicht  durch  ein  zeitloses  Gesetz 
bestimmt,  sondern  rein  durch  unseren  Willen.  Er  allein 
ist  die  Realität  und  wenn  das  Leben  zu  Ende  ist,  werden 
wir  sie  erkennen.  Er  ist  selbst  das  Gesetz  und  nicht  ein 
Gegenstand,  der  dem  Gesetz  unterworfen  ist. 

Praktisch   aber   ist   das   Problem   komplizierter.      Wir 
handelten  bis  jetzt  von  dem  Verhältnis  des  Menschen  zu 


-  233  - 

seinem  Willen.  Man  kann  aber  augh  nach  dem  Grund  fragen, 
warum  eine  von  den  vielen  Willensbestimmtheiten  des  ganzen 
historischen  Subjekts  die  Tat  bestimmt.  Die  Psychologie 
spricht  gewöhnlich  von  einem  Kampf  der  Motive.  Wenn 
man  aber  darin  mehr  als  ein  Wort,  nämlich  eine  Erklärung 
sieht,  so  beweist  das  wieder  nur  ein  unkritisches  Raum- 
denken. Wir  dürfen  uns  keinen  Kampf  von  Kräften  vor- 
stellen. Jede  Erklärung  muß  daran  scheitern,  daß  die 
Tat  nicht  das  Resultat  von  Komponenten  in  naturwissen- 
schaftlichem Sinne  ist.  Die  verschiedenen  Willenstendenzen 
bilden  keine  Raumordnung,  durch  die  ihre  Wirksamkeit 
bestimmt  wäre.  Nicht  jede  Willenstendenz  liefert  einen 
Beitrag  für  die  Folge;  sondern  aus  einer  heraus  haben  wir 
die  Tat  zu  verstehen.  Die  andern  sind  unwirksam  geblieben. 
Die  Erkenntnis  einer  Notwendigkeit  ist  hier  ausgeschlossen. 
Es  kommt  aber  alles  darauf  an,  daß  darin  nicht  die  Freiheit 
liegt,  sondern  in  dem  Begriff  des  Willens  selbst  als  dem 
Prinzip  der  historischen  Erkenntnis.  In  dem  Gegensatz 
zu  der  Kausalität  besteht  sie,  in  der  subjektiven  Willens- 
bestimmung überhaupt,  in  dem  Nichtbedingtsein  von  den 
zeitlosen  Naturgesetzen  im  Raum.  Daß  überhaupt  die 
Handlung  aus  einer  Willenstendenz  zu  verstehen  ist,  darin 
liegt  die  Freiheit,  nicht  aber  in  einer  vermeintlichen  Aus- 
wahl unter  den  Willenstendenzen,  die  wieder  ein  meta- 
physisches Subjekt  über  dem  wirklichen  voraussetzen  und 
die  Frage  wieder  in  einen  regressus  ad  infinitum  auflösen 
würde.  Wir  glauben  allerdings,  die  Auswahl  empirisch  in 
der  bewußten  Überlegung  fassen  zu  können.  Allein  wir 
fassen  damit  wieder  nur  das  Selbstbewußtsein  oder  die 
Selbsterkenntnis.  Wir  lernen  in  ihm  kennen,  welche  Willens- 
tendenzen für  uns  maßgebend  sind,  und  welche  nicht.  In 
diesem  Bewußtsein  kann  die  Freiheit  empirisch  nicht  liegen, 
sonst  müßten  wir  dem  Menschen  eine  Ausnahmestellung 
unter  den  Organismen  einräumen.  Wir  könnten  dann  nie 
den  Willen  als  ein  Prinzip  der  Erkenntnis  überhaupt  nach- 


-  234  - 

weisen.  Denn  er  wäre  ein  besonderes  Phänomen  des  besonde- 
ren Gegenstandes  „Mensch".  Für  die  empirische  Erkenntnis 
ist  die  Tat,  die  nicht  überlegt  geschieht,  genau  so  frei  wie 
die  überlegte,  nämlich  bestimmt  durch  den  subjektiven 
Willen.  Glaubt  man  an  eine  kausale  Bedingtheit  der  Tier- 
handlung, so  würde  allerdings  die  menschliche  Willens- 
freiheit nur  metaphysisch  gerechtfertigt  werden  können. 
Nennt  man  nur  die  überlegte  Tat  frei,  so  bedeutet  das  einen 
ganz  andern  Standpunkt.  Man  fragt  da  nämlich  nicht 
mehr  allein  nach  der  Erkenntnis  der  historischen  Wirklich- 
keit. Will  man  begründen,  was  da  ist,  so  kann  man  die  Tat 
des  Geisteskranken  oder  die  im  Dämmerzustand  auch  nicht 
anders  begründen  als  durch  den  Willen,  d.  h.  sie  ist  nicht 
bedingt  durch  die  objektive  Kausalität.  Die  Tat  ist  frei, 
ob  der  Wille  frei  ist,  ist  eine  müßige  Frage  für  die  Erkenntnis. 
Da  aber  der  bestimmte  Wille  selbst  eine  Möglichkeit  unter 
anderen  ist,  so  bleibt  hier  eine  offene  Frage,  die  die  Erkenntnis 
nicht  mehr  entscheiden  kann.  Sie  kann  die  Auswahl  des 
Willens  nicht  mehr  als  gewollte  Tat  begründen.  Nur  in  einem 
Punkte  kann  sie  noch  weiter  gelangen,  wenn  auch  nur  negativ. 
Der  bestimmende  Wille  ist  eine  von  vielen  Möglichkeiten. 
Wir  können  nur  die  Wirklichkeit  erkennen.  Empirisch 
kommt  es  aber  darauf  an,  ob  tatsächlich  die  Möglichkeit  der 
andern  Willenstendenzen  überhaupt  gegeben  ist.  In  diesem 
Sinne  gibt  es  auch,  wenn  man  so  sagen  will,  eine  gradweise 
Willensunfreiheit.  Sie  besteht  in  der  Unmöglichkeit,  daß 
andere  Willenstendenzen  als  die  wirklichen  maßgebend  sein 
können.  Auf  keinen  Fall  aber  bedeutet  dieser  sogenannte 
Ausschluß  des  freien  Willens  eine  kausale  Bedingtheit. 
Wir  erkennen  die  Tat  des  Geisteskranken  als  bestimmt 
durch  seinen  Willen.  Sie  ist  genau  so  frei  wie  jede 
andere.  Neben  dieser  Erkenntnis  aber  können  wir  die 
Frage  stellen,  ob  nicht  andere  Willenstendenzen  hätten 
maßgebend  sein  können.  Damit  erkennen  wir  nicht 
mehr   empirisch   nur   die   Wirklichkeit.     Wir  können  auch 


-  235 


nur  das  Negative  der  Frage  entscheiden,  daß  nämlich  in 
einigen  Fällen,  die  wir  pathologisch  nennen,  die  Möglichkeit 
anderer  Tendenzen  ausgeschlossen  ist.  Wo  diese  Möglichkeit 
aber  besteht,  können  wir  eine  Notwendigkeit  der  tatsäch- 
lichen Wirklichkeit  nicht  mehr  erkennen,  den  Willen  nicht 
als  Auswahl  unter  den  einzelnen  Willen  begründen,  sondern 
die  Tat  nur  durch  den  speziellen  Willen  selbst.  Wir 
machen  bei  der  ethischen  Bewertung  die  Voraussetzung, 
daß  auch  andere  Willenstendenzen  bei  der  Tat  hätten 
mitbestimmend  sein  können.  Diese  Voraussetzung  trifft 
in  den  pathologischen  Fällen  nicht  zu.  Trotzdem  aber 
bleibt  die  Tat  durch  den  Willen  bestimmt  und  nicht  durch 
die  Kausalität.  Nur  würde  eine  Bestrafung  natürlich  sinn- 
los sein.  Abgesehen  von  den  Fällen,  wo  es  uns  von  vorn- 
herein unmöglich  ist,  dem  Individuum  gewisse  Willens- 
tendenzen anzuzüchten,  kann  die  pathologische  Tat  auf 
einer  Gedächtnisstörung  beruhen,  die  akut  sein  oder  chro- 
nisch werden  kann.  Wenn  wir  den  speziellen  Willen  als  eine 
Möglichkeit  unter  andern  Bestimmtheiten  ansehen,  so  hat 
das  nur  Sinn,  wenn  wir  das  ganze  historische  Subjekt  als 
existierend  betrachten.  Im  pathologischen  Fall  existiert 
aber  nicht  mehr  das  ganze  Subjekt.  Der  Zusammen- 
hang in  der  Zeit  ist  aufgehoben.  Das  bezeichnen  wir 
als  Gedächtnisstörung.  Der  Geisteskranke  kann  unter 
Umständen  mit  unheimlicher  Logik  seine  fixe  Idee  ver- 
teidigen. Aber  die  früheren  Erfahrungen  können*  seine 
Meinung  nicht  mehr  korrigieren,  weil  sie  nicht  mehr  für 
ihn  existieren.  Das  ganze  wissende  Subjekt  ist  also  auf- 
gehoben. Dasselbe  trifft  für  den  Willen  zu.  Wo  wir  eine 
absolute  Störung  des  Gedächtnisses  annehmen  können, 
müssen  wir  auch  annehmen,  daß  die  andern  Willenstendenzen, 
die  wir  erwarten  würden,  nicht  wirksam  sein  können,  weil 
das  eine  historische  Subjekt  in  der  Zeit  in  dem  eigenen 
Bewußtsein  aufgehoben  ist.  Für  uns  als  Historiker  existiert 
es  freilich  weiter.     Für  unsere  historische  Erkenntnis  aber 


-  236  - 

kommt  es  auch  gar  nicht  in  Betracht,  ob  der  Mensch  in  diesem 
Sinne  frei  oder  unfrei  war.  Wir  haben  die  Wirklichkeit, 
soweit  es  geht,  zu  verstehen.  Sind  wir  damit  fertig,  so  kann 
uns  die  Frage,  ob  die  Wirklichkeit  anders  hätte  sein  können, 
nicht  mehr  interessieren.  Nur  für  die  Bewertung  der  Wirk- 
lichkeit kommt  sie  in  Betracht,  ob  wir  den  Menschen  ent- 
schuldigen oder  verdammen.  Bekanntlich  ist  es  sehr  schwierig 
zu  entscheiden,  ob  eine  Unmöglichkeit  hemmender  Tendenzen, 
eine  absolute  Gedächtnisstörung  bestanden  hat  oder  nicht. 
Man  sollte  aber  nicht  vom  Ausschluß  des  freien  Willens 
sprechen.  Denn  die  Freiheit  der  Tat  liegt  schon  in  dem  Be- 
griff des  Willens.  Von  jenem  Standpunkt  aus  aber  fragen 
wir  gar  nicht  nach  dem  Grund  der  Wirklichkeit,  sondern 
nach  dem  Grund  der  Nichtwirklichkeit  von  etwas,  was  wir 
als  berechtigt  erwarten  zu  dürfen  glauben.  Daraus  ist  er- 
sichtlich, daß  wir  die  Tat,  selbst  wenn  wir  einen  absolut 
pathologischen  Fall  annehmen,  doch  nicht  als  kausal  be- 
stimmt annehmen.  Das  würde  auch  einen  Bruch  des  Prinzips 
der  Erkenntnis  bedeuten  oder  auch  im  anderen  Fall  das 
Prinzip  als  gültig  aufheben.  Die  Handlung  wird  nicht 
plötzlich  kausal  bestimmt.  Sie  bleibt  weiter  von  dem  Willen 
des  Subjekts  abhängig,  aber  der  Wille  ist  insofern  unfrei 
geworden,  als  die  hemmenden  Tendenzen  nicht  mehr  be- 
stimmend sein  ^können,  weil  sie  im  Moment  nicht  mehr 
existieren.  Der  historische  Zusammenhang  ist  zerrissen,  und 
dieser -Zustand  kann  chronisch  oder  akut  sein. 

In  diesem  Sinne  gibt  es  freilich  Grade  der  Freiheit.  Der 
eine  extreme  Fall  ist  die  Überlegung,  das  Abwägen  aller 
Motive,  der  andere  die  absolute  Zerstörung  des  Gedächt- 
nisses. Schon  die  Laune  ist  eine  Unfreiheit,  da  die  Tat  nicht 
mehr  von  den  dauernden  Überzeugungen  abhängt.  Für 
die  Erkenntnis  ist  aber  keine  Tat  durch  die  Kausalität  be- 
stimmt, gleichgültig,  ob  das  ganze  dauernde  Subjekt  ihr 
zugrunde  liegt  oder  nicht.  Freiheit  besagt  hier  nur:  be- 
stimmt durch  den  eigenen  Willen  und  nicht  durch  zeitlose 


-   237   - 

Naturgesetze.  Inwieweit  eine  Tat  aus  Überlegung  mit  Be- 
wußtsein geschehen  ist,  läßt  sich  niemals  entscheiden.  Diese 
Entscheidung  ist  für  die  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  auch 
gar  nicht  nötig.  Die  Möglichkeit  besteht  für  das  normale 
selbstbewußte  Subjekt  immer.  Nur  im  pathologischen  Fall  ist 
sie  aufgehoben.  Jener  andere  Freiheitsbegriff  setzt  einen 
ethischen  Gesichtspunkt  voraus,  nämlich  unsere  wertende 
Stellung  zu  der  Realität.  Wenn  wir  den  realen  Willen  be- 
werten, so  muß  die  Möglichkeit  anderer  Willenstendenzen 
bestehen.  Solange  das  eine  Subjekt  als  Ganzes  in  der  Zeit 
besteht,  existiert  sie.  Im  andern  Fall  ist  die  Tat  wohl  frei, 
aber  das  Subjekt  nicht  verantwortlich  für  sie.  Wenn  nicht 
mehr  der  historische  Zusammenhang  im  eigenen  Bewußtsein 
besteht,  so  hat  es  auch  keinen  Sinn  mehr,  ein  Subjekt  ver- 
antwortlich zu  machen,  das  eben  gar  nicht  existiert.  Die 
Tat  ist  dann  kein  Teil  mehr  des  Subjekts,  das  wir  etwa 
bestrafen  würden.  Für  unsere  Erkenntnis  existiert  das  eine 
Individualsystem  in  der  Zeit.  Aber  wir  erkennen  weiter,  daß 
für  das  Bewußtsein  selbst  das  Systemsein  aufgehört  hat. 
Von  dem  ganzen  Subjekt  aus  ist  uns  darum  die  Tat  in  diesem 
Falle  absolut  unbegreiflich.  Sie  ist  uns  nur  verständlich, 
wenn  wir  nicht  mehr  das  ganze  Subjekt  als  existierend  an- 
nehmen. An  sich  freilich  verstehen  wir  auch  die  normale 
Tat  nur  aus  einem  Teil,  einer  bestimmten  Willenstendenz. 
Erst  für  die  ethische  Beurteilung  müssen  wir  jedenfalls 
die  Existenz  des  ganzen  Subjekts  voraussetzen.  Inwieweit 
diese  ganze  Einheit  an  der  Tat  beteiligt  ist,  entzieht  sich 
der  Erkenntnis.  Nur  daß  sie  in  einigen  Fällen  nicht  beteiligt 
sein  kann,  wissen  wir.  Dies  interessiert  aber  nur  die  ethische 
Beurteilung,  nicht  die  Erkenntnis  der  Wirklichkeit.  Somit 
wird  die  Freiheit  als  Prinzip  der  Erkenntnis  niemals  auf- 
gehoben, denn  sie  liegt  schon  in  dem  Begriff  des  Willens. 
Im  pathologischen  Fall  ist  die  Tat  frei  von  der  Kausalität, 
aber  nicht  mehr  frei  von  dem  ganzen  Subjekt  aus,  das  auf- 
gehört hat  zu  existieren.    Nur  an  dieses  kann  sich  aber  die 


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ethische  Bewertung  richten.  Der  ethische  Begriff  der  Freiheit 
setzt  die  absolute  Ganzheit  des  Subjekts  voraus,  die  empi- 
risch nicht  zu  bestehen  braucht,  der  empirische  aber  nur 
den  Willen  überhaupt  als  das  Prinzip  der  Erkenntnis.  Mit 
der  Bestimmung  der  maßgebenden  Tendenz  sind  wir  mit 
unserer  Erkenntnis  zu  Ende.  Wir  können  nur  in  einigen 
Fällen  sagen,  daß  andere  Tendenzen  nicht  beteiligt  sein  konn- 
ten. Damit  ist  die  empirische  Freiheit  mit  der  ethischen 
Unverantwortlichkeit  versöhnt.  Die  Überlegung  ist  keine 
empirische  Bedingung  der  Willenshandlung,  sondern  ihre 
Möglichkeit  nur  die  Voraussetzung  für  die  ethische  Be- 
wertung. 

Daß  die  Nichtkausalität  des  Willens  logisch  eine  Ein- 
wirkung ausschließt,  ist  ein  frivoles  Märchen  mancher  mo- 
dernen Straf rechtstheorie.  Im  Gegenteil  wäre  unter  Voraus- 
setzung der  Kausalität  der  leiseste  Eingriff  in  das  Leben  des 
andern  die  furchtbarste  Barbarei,  von  welcher  Theorie  der 
Strafe  man  auch  ausgeht.  Denn  Kausalität  kann  nichts 
anderes  heißen,  als  daß  es  beim  Anfang  der  Welt  schon 
bestimmt  war,  daß  an  dem  und  dem  Tag  an  der  und  der 
Stelle  ein  Mord  passierte.  Alle  Versuche,  Kausalität  und 
Fatalismus  zu  trennen,  können  nur  Spiegelfechtereien  sein. 
Wenn  man  aber  weiß,  daß  die  Tat  des  Menschen  durch  seine 
persönlichen  Erfahrungen  und  Willenstendenzen  bestimmt 
ist,  so  ist  es  nur  selbstverständlich,  wenn  man  in  sein 
Leben  künstlich  Erfahrungen  einführt.  Allerdings  kann 
niemand  mit  Bestimmtheit  sagen,  daß  sie  nützen  werden. 
Denn  die  objektive  Welt  kann  das  psychische  Leben  nie 
vollständig  erklären.  Ein  subjektiver  Rest  ist  immer  voraus- 
gesetzt, die  Art,  die  Wahrnehmung  aufzunehmen  und  zu 
verwerten.  Die  Zukunft  können  wir  psychologisch  nie  mit 
Sicherheit  erkennen,  da  wir  die  Realität  nicht  kennen,  sondern 
nur  vermuten.  Erkennen  können  wir  das  Leben  nur,  wenn 
es  zu  Ende  ist,  wenn  der  Teil  der  Zeit  da  ist,  den  wir  in 
seinem  System  erkennen  wollen. 


-  239  - 

Daß  uns  die  Taten  der  niederen  Tiere  unfrei  vor- 
kommen, die  der  höheren  immer  freier,  ist  psychologisch 
verständlich  wegen  der  allmählichen  Differenzierung  oder 
Individualisierung.  Wegen  der  großen  Gleichförmigkeit 
kann  man  leicht  zu  allgemeinen  historischen  Tatsachen 
kommen.  Damit  sind  sie  aber  keine  Naturgesetze  im 
Sinne  des  Mechanismus  geworden.  Der  Mensch  ist  keine 
Ausnahme.  Nur  gibt  es  so  viele  verschiedene  Menschen, 
daß  eine  beschreibende  Erkenntnis  „des"  Menschen 
eine  Unmöglichkeit  ist.  Ich  möchte  hier  aber  darauf 
aufmerksam  machen,  daß  unsere  Grundlegung  der  Indivi- 
dualspychologie  nicht  auf  dieser  Verschiedenheit  der 
Individuen  beruht.  Damit  hätte  man  das  Prinzip  völlig 
verkannt.  Ob  es  unter  den  Infusorien  verschiedene  Indi- 
vidualsysteme  gibt  oder  nicht,  tut  nichts  zur  Sache.  Auch 
bei  ihnen  verstehen  wir  die  Bewegung  historisch  und  nicht 
räumlich.  Die  Zeit  begründet  aber  nicht  „ein"  System  wie 
der  Raum.  Die  Bewegung  wird  also  nur  innerhalb  des 
Individualsystems  verstanden,  innerhalb  der  historischen 
Monade  und  nicht  in  einem  allgemeinen  System:  „psychische 
Natur''.  Ob  viele  Monaden  gleich  sind,  geht  die  Erkenntnis 
der  einen  Bewegung  nichts  an. 

Nun  glaubt  die  Psychologie  ein  Gesetz  gefunden  zu 
haben,  das  den  Willen  selbst  determiniert:  Der  Wille  strebt 
nach  Lust.  Soweit  dies  aber  überhaupt  einen  Sinn  hat, 
ist  es  ein  analytischer  Satz  oder  eine  Tautologie.  In  Wahrheit 
sagt  man  nur:  Wenn  man  etwas  will,  dann  will  man  das, 
was  man  will. 

Daß  der  Satz  kein  empirisches  Gesetz  bedeutet,  zeigt 
sich  schon  darin,  daß  er  nicht  durch  die  Erfahrung  wider- 
legbar ist.  Das  Gravitationsgesetz  ist  aus  Erfahrung  ge- 
wonnen. An  sich  wäre  es  logisch  denkbar,  daß  die  Masse 
sich  nicht  so  verhält,  wie  das  Gesetz  es  sagt.  Die  Erfahrung 
hat  entdeckt,  daß  es  so  ist.  Sie  hat  eine  Synthese  a  posteriori 
konstruiert,  die  nicht  a  priori  selbstverständlich  ist.     Für 


-  240  - 

das  Lustgesetz  trifft  dies  nicht  zu.  Ein  Gesetz  hat  nur  Sinn, 
wenn  eine  von  unendlichen  Möglichkeiten  dadurch  als  Tat- 
sache festgelegt  wird.  Unser  Gesetz  hätte  also  nur  Sinn, 
wenn  auch  das  Gegenteil  logisch  denkbar  wäre,  durch  die 
Erfahrung  aber  nicht  als  zutreffend  nachgewiesen  werden 
könnte.  Es  müßte  also  auch  logisch  denkbar  sein,  daß  der 
Wille  nach  Unlust  strebt,  und  erst  die  Erfahrung  würde 
lehren,  daß  dies  in  Wahrheit  nicht  zutrifft.  Nun  gibt  man 
wohl  notgedrungen  zu,  daß  ein  solches  Streben  nach  Unlust 
vorkommt,  etwa  bei  einem  Fakir,  aber  man  brauchte  wohl 
nicht  erst  so  weit  zu  schweifen.  In  dem  Leben  fast  aller 
Menschen  finden  sich  derartige  Phänomene.  Trotzdem 
behält  das  Gesetz  für  den  Psychologen  seine  Gültigkeit. 
Denn  die  Unlust  ist  es  in  diesem  Falle,  die  Lust  bereitet. 
Wir  stoßen  also  auf  die  merkwürdige  Tatsache,  daß  das 
Gegenteil  des  Gesetzes  logisch  undenkbar  ist,  weil  immer 
die  „Ausrede"  da  sein  kann,  daß  die  Unlust  Lust  bereitet. 
Infolgedessen  ist  es  zum  mindesten  keine  Bereicherung 
meiner  Erfahrung,  ich  erfahre  dadurch  nicht,  daß  einer  von 
vielen  Gegenständen  immer  der  Gegenstand  des  Willens 
ist,  denn  es  wird  durch  das  Gesetz  kein  Gegenstand  des 
Willens  ausgeschlossen.  Infolgedessen  bin  ich  genau  so 
klug  wie  zuvor.  Ich  wollte  wissen,  wonach  der  Wille 
strebt,  und  ich  höre,  daß  er  nach  allem,  auch  nach  Unlust 
streben  kann.  Wrir  haben  es  also  gar  nicht  mit  einem  empi- 
rischen Gesetz  zu  tun,  das  man  aus  der  Erfahrung  kon- 
struiert hat,  sondern  man  geht  von  vornherein  von  einer 
Idee  aus,  die  auf  jede  Erfahrung  anwendbar  ist.  Man  kann 
aus  jedem  Willen  schließen,  daß  das  Ziel  dem  Subjekt  Lust 
bereitet,  aber  man  kann  niemals  aus  dem  Gesetz  auf  den 
Gegenstand  des  Willens  schließen.  Wäre  der  Satz  keine 
Tautologie,  so  hätten  wir  ohne  Erfahrung  ein  Naturgesetz 
gefunden.  Denn  wenn  das  Gegenteil  „logisch"  unmöglich 
ist,  so  kann  dasGesetz  auch  nicht  aus  der  Erfahrung  stammen. 
Es  bliebe  also  nur  die  Möglichkeit,  daß  wir  es  mit  einem 


-  241   - 

synthetischen  Satz  a  priori  im  Sinne  Kants  zu  tun  haben, 
entsprechend  dem  Satz  der  Kausalität.  Dies  ist  insofern 
wirklich  richtig,  als  damit  gesagt  ist,  daß  der  Wille  das 
notwendige  Prinzip  der  psychologischen  Erfahrung  ist. 
Die  inhaltliche  Determination  dieses  Willens  selbst  beruht 
aber  auf  einer  Tautologie. 

Faßt  man  das  Gesetz  so  allgemein,  daß  wirklich  keine 
Erfahrung  es  widerlegen  kann,  so  würde  ich  lieber  sagen, 
das  Subjekt  strebt  nach  Befriedigung.  Was  auch  immer 
getan  wird,  man  kann  immer  daraus  schließen,  daß  das 
Subjekt  glaubt,  durch  die  Erreichung  des  Ziels  befriedigt 
zu  sein.  Würde  man  aber  den  Grund  dieses  Strebens 
nach  Befriedigung  zum  Problem  machen,  so  gerät 
man  in  denselben  regressus  ad  infinitum  wie  bei  der 
Selbstbeobachtung.  Wenn  man  einen  psychischen  Akt 
annimmt,  der  ein  Element  Lust  wahrnimmt,  so  müßte 
man  auch  weitergehen  und  diese  Wahrnehmung  auf 
eine  Beobachtung  der  Beobachtung  zurückführen  und 
so  fort.  Genau  so  wäre  es  beim  Wollen.  Ich  würde 
die  Befriedigung  wollen,  weil  die  Befriedigung  befriedigt 
und  so  fort.  Diesem  regressus  entgehen  wir  nur,  wenn  wir 
nicht  die  Befriedigung  zum  Gegenstand  des  Wollens,  sondern 
zum  Grund  des  Gegenstandswollens  machen.  Wir  begründen 
damit  das  Wollen.  Ich  wüßte  nicht,  warum  wir  nach  Be- 
friedigung streben  sollten,  denn  dieses  Erlebnis  ist  an  sich 
gar  nicht  angenehmer  als  die  Unzufriedenheit.  Hinter  dem 
Element  ,,Lust"  verbergen  sich  zwei  ganz  verschiedene 
Tatbestände.  Das  eine  Mal  bezeichnet  man  damit  die  ganz  be- 
stimmte Eigenschaft  eines  qualitativen  Erlebnisses,  die  An- 
nehmlichkeit, das  andere  Mal  einen  bestimmten  Gefühls- 
zustand, der  an  sich  weder  angenehm  noch  unangenehm  ist. 
Es  läßt  sich  kaum  etwas  Unsinnigeres  denken,  als  daß  der 
Psychologe  durch  Selbstbeobachtung  feststellt,  ob  ein  Ele- 
ment Lust  oder  Unlust  in  seinem  Bewußtsein  ist.  Es  gehört 
keine  Übung  der  Selbstbeobachtung  dazu,  sondern  die  ganze 

Strich,  Prinzipien.  16 


-  242  - 

theoretische  Verbildung  eines  Psychologen,  um  überhaupt 
so  etwas  zu  behaupten.  Man  müßte  konsequent  auch  sagen, 
daß  ich  jedesmal,  wenn  ich  ein  Urteil  über  das  Essen  abgebe, 
zunächst  Selbstbeobachtung  treibe,  ob  ich  nämlich  ein  Element 
Lust  oder  Unlust  in  meinem  Bewußtsein  entdecke.  Aber 
auch  wenn  ich  kein  Urteil  abgebe,  sondern  nur  darnach 
handle,  so  müßte  auch  das  Element  durch  innereWahrnehmung 
entdeckt  worden  sein.  Ist  die  Selbstbeobachtung  im  Recht, 
so  wäre  jeder  Mensch  zunächst  in  einem  argen  Dilemma. 
Man  entdeckt  mehrere  Inhalte  und  ein  Element  Unlust. 
Woher  sollte  man  dann  wissen,  durch  welches  Empfindungs- 
element das  Gefühlselement  erregt  worden  ist  ?  Es  gäbe 
nur  eine  vernünftige  Antwort:  durch  induktive  Erfahrung, 
die  einen  Kausalzusammenhang  feststellt.  Jeder  unver- 
bildete Mensch  wird  sagen,  daß  ein  Geschmack  unangenehm 
ist.  Von  einem  Element  neben  dem  Inhalt  kann  keiner 
etwas  entdecken.  Weiter  kann  aber  auch  der  Psychologe 
nicht  kommen,  selbst  wenn  er  im  Laboratorium  Chinin  ißt 
und  dazu  das  Hippsche  Chronoskop  aufzieht.  Sein  Fehler 
ist  aber  nicht  ein  ungeschickter  sprachlicher  Ausdruck, 
sondern  jene  Raumtheorie,  durch  die  er  das  Bewußtsein  als 
einen  Rahmen  voll  psychischer  Dinge  denkt,  wozu  er  dann 
ein  inneres  Auge  braucht,  um  diese  Dinge  wahrzunehmen. 
Alles  dies  ist  deswegen  verkehrt,  weil  das  Bewußtsein  kein 
Raum  neben  dem  wirklichen  Raum  ist.  Das  Subjekt  urteilt 
nicht  nur,  was  es  erlebt,  sondern  es  beurteilt  auch  das  Er- 
lebnis als  angenehm,  unangenehm  oder  gleichgültig.  Es  tritt 
aber  kein  Gefühlselement  neben  ein  Empfindungselement. 
Es  ist  auch  nicht  immer  ein  Gefühlselement  da,  das  bisweilen 
nur  so  schwach  ist,  daß  wir  es  nicht  merken.  Seltsamerweise 
hat  man  gesagt:  Daß  Schmerzen  weh  tun,  ist  ebenso  sinnvoll, 
wie  daß  Gerüche  riechen.  Indessen  gibt  es  keinen  Geruch, 
der  riecht,  sondern  es  gibt  das  Erlebnis  des  Geruches,  und 
dieses  kann  unangenehm  sein.  Ebenso  gibt  es  bestimmte 
Inhalte,   die  wir  sprachlich,   ob   mit   Recht  oder  Unrecht, 


-  243  - 

als  Schmerzempfindungen  bezeichnen,  deren  Erlebnis 
unangenehm  sein  kann.  Es  gibt  aber  auch  Schmerz- 
empfindungen, die  oft  künstlich  wiederholt  werden,  weil 
sie  angenehm  sind.  Dahin  gehört  etwa  das  Drücken  auf 
einen  ,, blauen  Fleck",  das  man  bei  fast  allen  Menschen 
beobachten  kann.  Man  mag  dies  als  Perversität  bezeichnen. 
Es  wäre  dies  aber  genau  so  wie  mit  dem  Hautgout  des 
Wildes  als  Geschmack.  Soweit  ein  erlebter  Inhalt  be- 
zeichnet wird,  ist  der  Schmerz  eine  Empfindung. 
Schränkt  man  aber  das  Wort  ,, Schmerz"  nur  auf  die 
unangenehmen  Empfindungen  ein,  so  bestimmt  man 
nicht  mehr  allein  nach  dem  Inhalt.  Mit  der  Gefühls- 
betonung des  erlebten  Inhalts  oder  der  erlebten  Bestimmt- 
heit ist  etwas  ganz  anderes  gemeint.  Der  Psychologe 
muß  auch  hier  terminologisch  genauer  sein  als  der  naive 
Sprachgebrauch.  Er  muß  den  Inhalt  des  Erlebten  trennen 
von  der  Stellungnahme  des  Subjekts,  durch  die  wir  sein 
Handeln  verstehen.  Keine  logische  Überlegung  kann  den 
naiven  Menschen  widerlegen,  der  seine  Empfindungserlebnisse 
angenehm  oder  unangenehm  nennt,  ihnen  also  eine  sub- 
jektive Eigenschaft  beilegt.  Daß  diese  Eigenschaft  des 
Erlebens  von  einer  andern  Eigenschaft  des  Erlebten, 
der  Intensität,  abhängt,  widerlegt  nicht  das  Recht,  von  einer 
Eigenschaft  zu  sprechen.  Die  Intensität  begründet  ein 
qualitativ  neues  Erlebnis,  wenn  auch  das  Denken  eine  Gleich- 
heit zwischen  zwei  Inhalten  feststellt.  Die  Annehmlichkeit 
ist  keine  Eigenschaft  des  erlebten  Inhalts,  sondern  des 
Erlebnisses.  Diese  Erlebnisse  können  den  Grund  abgeben 
für  Befriedigung  und  Unbefriedigung.  Aber  es  wäre  absolut 
falsch,  zu  behaupten,  daß  sie  allein  den  Grund  abgeben 
müssen.  Ein  guter  Teil  der  persönlichen  Kultur  beruht 
gerade  in  der  Unabhängigkeit  des  Gefühls  von  der  Annehm- 
lichkeit oder  Unannehmlichkeit  der  Empfindung.  Mit  dem 
Gefühl  aber  bezeichnen  wir  an  sich  kein  unangenehmes 
oder  angenehmes  Erlebnis.     Vielmehr  ist  das   Gefühl  das 

16* 


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Symptom,  daß  mir  irgend  etwas  in  der  Welt  nicht  angenehm 
ist.  Weder  das  Lesen  des  Unglückstelegramms  noch  das 
Gefühl  der  Trauer  ist  unangenehm,  sondern  das  Ereignis, 
das  mitgeteilt  wird.  An  meinem  Gefühl  liegt  mir  dabei 
gar  nichts.  Nur  die  Tatsache  ist  etwas,  was  ich  nicht  will. 
Es  wäre  ganz  töricht  zu  sagen:  ich  will  sie  deshalb  nicht, 
weil  sie  mich  traurig  macht.  Ich  wüßte  nichts,  was  ich  gegen 
die  Trauer  als  Erlebnis  haben  sollte.  Darum  ist  überhaupt 
jenes  ganze  Unlustgefühl  eine  Torheit.  Ist  vielleicht  der 
Ernst  ein  Unlustgefühl,  das  man  stets  beseitigen  möchte, 
ist  ein  ernster  Mensch  ein  unglücklicher  Mensch  ?  In  dem 
Gefühl  drückt  sich  eine  Reaktion  auf  die  Welt  aus,  die  von 
der  Annehmlichkeit  der  persönlichen  Empfindungserlebnisse 
ganz  unabhängig  sein  kann.  Nach  dieser  Reaktion  als  Er- 
lebnis zu  streben,  haben  wir  gar  keinen  Grund.  Wir  sind 
unzufrieden,  wenn  wir  etwas  anders  wollen,  als  es  ist.  Wir 
sind  zufrieden,  wenn  es  so  ist,  wie  wir  es  wollen.  Das  be- 
rühmte Lustgesetz  sagt  also  nichts  mehr,  als  daß  wir  die 
Welt  so  wollen,  wie  wir  sie  wollen.  Dann  sind  wir  zufrieden. 
Wenn  man  aber  sagt,  wir  streben  nach  Zufriedenheit,  so 
ist  das  eine  Tautologie.  Das  Gegenteil  ist  deswegen  logisch 
unmöglich,  weil  es  heißen  würde,  wir  wollen  die  Welt  so,  wie 
wir  sie  nicht  wollen.  Fassen  wir  es  nicht  als  Tautologie  auf, 
so  wird  es  empirisch  falsch.  Dann  gibt  es  z.  B.  Menschen, 
denen  nicht  eher  wohl  ist,  als  bis  sie  etwas  haben,  womit 
sie  unzufriedan  sein  können.  Sagen  wir  aber,  daß  diese 
Menschen  nur  durch  ihre  Unzufriedenheit  zufrieden  sind, 
so  sagen  wir  nicht  mehr,  als  daß  sie  unzufrieden  sein  wollen. 
Sagt  man,  sie  streben  nach  Zufriedenheit  durch  Unzufrieden- 
heit, so  ist  das  richtig,  weil  es  eine  Tautologie  ist.  Sie  wollen 
das,  was  sie  wollen.  Nimmt  man  also  das  Gefühl  als  einen 
qualitativen  Gegenstand  des  Wollens,  so  ist  es  nicht  wahr, 
daß  wir  alle  in  jedem  Moment  nach  Zufriedenheit  streben. 
Dies  ist  nur  dann  richtig,  wenn  wir  unter  dem  Gefühl  nur 
die  formale  Beziehung  des  Subjekts  zu  der  Verwirklichung 


-   245  - 

des  Gegenstandes  des  Wollens  verstehen  und  nicht 
diesen  Gegenstand  selbst.  Folglich  ist  das  berühmte  Gesetz 
nur  ein  Ausdruck  dafür,  daß  wir  überhaupt  etwas  wollen. 
Das  Streben  nach  Lust  wäre  etwa  gleichbedeutend  damit, 
daß  die  Erkenntnis  nach  Bejahung  strebt.  Die  Fälle  sind 
darin  gleich,  daß  man  die  Negation  als  eine  Bejahung  des 
Negativen  auffassen  kann,  wie  man  die  Unlust  auch  als 
Lust  an  der  Unlust  auffassen  kann.  Dann  aber  wäre  jenes 
Erkenntnisziel  auch  nur  eine  Tautologie,  nämlich,  daß  die 
Erkenntnis  erkennen  will.  Genau  so  wenig  wie  die  Be- 
jahung in  diesem  Sinne  ein  selbständiger  Faktor  ist,  ist 
es  auch  die  Lust.  Wie  aber  die  Geistestätigkeit  eines  Menschen 
dahin  charakterisiert  werden  kann,  daß  er  stets  nur  negieren 
will,  so  kann  auch  das  Wollen  eines  Menschen  charakterisiert 
werden  dadurch,  daß  er  als  Selbstquäler  Unlust  will.  Dann 
erst  ist  der  Gegenstand  seines  Wollens  eine  positive  Wirk- 
lichkeit. Als  allgemeines  Gesetz  ist  der  Satz  also  ganz  nichts- 
sagend, weil  die  Lust  gar  kein  objektiver  Faktor  in  der  Welt  ist, 
sondern  wieder  auf  den  Willen  oder  die  persönliche  Stellung 
zur  objektiven  Welt  zurückführt.  Eine  konsequente  Psycho- 
logie, die  eine  objektive  Kausalität  des  Bewußtseinsinhalts 
darstellen  will,  darf  deshalb  die  Lust  überhaupt  nicht  als 
einen  erklärenden  Faktor  gelten  lassen.  Die  Lust  bewirkt 
nicht  die  Handlung  als  Geschehen,  sondern  aus  der  Be- 
friedigung, die  erreicht  wird,  verstehe  ich  die  historische 
Wirklichkeit  der  Handlung.  In  diesem  allgemeinen  Sinne  ist 
sie  nur  ein  Symptom  der  Willenstendenz. 

Jede  Handlung  ist  determiniert  durch  den  Willen, 
heißt  nichts  anderes  als:  sie  ist  nicht  determiniert  durch 
zeitlose  Naturgesetze.  Nur  wenn  man  diesen  Vergleich 
zieht,  kann  man  ein  Urteil  über  die  Freiheit  abgeben. 
Die  Tat  ist  frei,  weil  sie  vom  Willen  abhängt.  Unfreie  Tat 
ist  ein  Widerspruch  in  sich  selbst.  Freier  Wille  aber  hat 
nicht  mehr  Sinn  als  unfreie  Kausalität.  Diese  Freiheit  allein 
ermöglicht  die  mutmaßende  Voraussage  der  Handlung,   auf 


-  246  - 

der  unser  ganzes  soziales  Leben  beruht.  Keine  wissenschaft- 
liche Psychologie  wird  jemals  hier  mehr  erreichen  können 
als  die  „Menschenkenntnis".  Wir  haben  bewiesen,  daß  die 
psychologische  Erkenntnis  nicht  eine  gesetzmäßige  psychische 
Welt  konstruiert,  sondern  nur  die  einzelnen  Monaden.  Wir 
erkennen  den  realen  Menschen  als  historisches  Subjekt,  und 
keine  psychische  Natur.  Diese  Erkenntnis  der  Erfahrungen 
und  Willenstendenzen  ermöglicht  uns  eine  Berechnung 
der  Handlungen.  Wir  gehen  von  der  Voraussetzung  aus, 
daß  ein  bestimmter  Mensch  mit  einer  bestimmten  Willens- 
tendenz auf  ein  Ereignis  reagieren  wird.  Würden  wir  aber 
auf  eine  Kausalität  der  Handlungen  rechnen,  so  könnten  wir 
praktisch  niemals  zu  einer  Voraussage  kommen.  Durch  die 
Kausalität  würde  jede  Handlung  für  uns  psychologisch  zu- 
fällig werden.  Wir  dürften  nicht  den  Menschen  voraussetzen, 
sondern  nur  die  bestimmte  Konstellation  der  Welt,  die  der 
Handlung  als  Bewegung  vorhergeht.  Es  gibt  keine  andere 
Möglichkeit,  die  Zukunft  vorauszusagen,  als  das  Vertrauen 
auf  die  richtige  Erkenntnis  der  historischen  Realität  des 
Individuums,  seiner  Willenstendenzen,  d.  h.  der  Freiheit 
von  den  zeitlosen  Naturgesetzen.  Wie  die  Voraussage  des 
Naturwissenschaftlers  auf  der  Identität  des  Raums  beruht, 
so  beruht  die  des  Psychologen  auf  der  Identität  des  Indi- 
viduums, das  wir  kennen  gelernt  haben.  Die  Assoziationen 
und  die  Willenstendenzen  sind  die  Gesetze,  die  in  dem  Indi- 
vidualsystem  gelten.  Eine  unbedingte  Voraussage  auf  Grund 
zeitloser  Gesetze  kann  daher  nicht  einmal  das  Ideal  der 
Psychologie  sein.  Sie  muß  immer  ein  bestimmtes  historisches 
Subjekt  voraussetzen,  und  in  dieser  Voraussetzung  liegt 
die  kritische  Freiheit  des  Willens.  Es  gibt  keine  allge- 
meinen psychologischen  Gesetze,  weil  es  nicht  „ein"  System 
„Psyche"  gibt,  wie  es  eine  Natur  gibt,  sondern  nur  Indi- 
vidualsysteme  oder  Monaden.  Spinoza  hätte  Recht,  wenn 
es  keine  Monaden  gäbe.  Ein  Wissen  der  Zukunft  im  natur- 
wissenschaftlichen Sinne  ist  hier  logisch  ausgeschlossen,  weil 


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eine  Vervollkommnung  der  Menschenkenntnis  durch  die 
Wissenschaft  ausgeschlossen  ist.  Selbst  wenn  wir  uns  ganz 
fest  auf  einen  Menschen  verlassen,  weil  wir  ihn  kennen, 
so  bleibt  dies  logisch  doch  nur  ein  Glaube. 


IV.  Das  Gedächtnis. 

Ich  habe  während  unserer  Untersuchung  noch  nicht 
das  Wort  ,, Gedächtnis"  erwähnt,  teils  absichtlich,  teils  weil 
es  nicht  notwendig  war.  Man  kann  dies  aber  leicht  korri- 
gieren, indem  man  überall  dort,  wo  vom  historischen  Zu- 
sammenhang die  Rede  ist,  das  Wort  Gedächtnis  einsetzt. 
Tatsächlich  bezeichnet  es  gar  nichts  anderes.  Auch  hier  hat 
das  Raumdenken  den  Begriff  verfälscht.  Hätte  man  nicht 
das  Gedächtnis  nicht  nur  bildlich,  sondern  in  Wirklichkeit 
als  einen  Kasten  betrachtet,  den  das  Bewußtsein  mit  sich 
schleppt,  so  hätte  man  nie  das  Assoziationsgesetz  für  eine 
Erklärung  des  Geschehens  halten  können.  Das  ganze  Denken 
der  Elementarpsychologie  beruht  darauf,  daß  man  Gedächt- 
nis und  Bewußtsein  als  ein  Raumverhältnis  denkt.  Tat- 
sächlich aber  ist  das  Gedächtnis  nichts  weiter  als  das  ver- 
gangene Bewußtsein,  die  verflossene  Zeitreihe  des  Indi- 
vidualsystems,  die  auch  in  der  Gegenwart  existiert,  weil 
das  System  oder  das  Subjekt  als  ganzes  existiert.  Wie  der 
ganze  Raum  existiert,  so  besteht  für  den  Psychologen  die 
ganze  Zeit  als  Realität.  Wir  erkennen  ein  Erlebnis  als  Wieder- 
holung innerhalb  des  Zeitsystems,  wir  können  aber  diese 
Wiederholungen  nicht  durch  das  Gedächtnis  erklären,  denn 
dieses  würde  schon  heißen,  daß  wir  die  Zeit  als  Raum  denken, 
das  Psychische  als  Substanz.  Wir  benennen  diesen  historischen 
Zusammenhang  der  Phänomene  mit  dem  Wort  Gedächtnis. 
Wir  verstehen  die  Gegenwart  als  Gedächtnis  heißt:  wir 
verstehen  sie  als  Wiederholung  in  dem  einen  System,  wie 
wir  eine  Erscheinung  im  Raum  begreifen  als  Wiederholung 


-  248  - 

in  dem  einen  Raumsystem.  Was  sich  im  Raum  wiederholt, 
ist  eine  konstante  elementare  Beziehung,  in  der  Psychologie 
eine  Assoziation  von  Inhalten  oder  Inhalten  mit  Handlungen. 
Daraus  folgt,  daß  wir  überall  dort,  wo  wir  Phänomene 
als  historische  Wiederholungen  und  nicht  als  Raumwieder- 
holungen begreifen,  auch  Gedächtnis  denken.  Denn  es  ist 
nur  ein  anderer  Name  für  dasselbe  logische  Prinzip.  Wenn 
sich  aber  heute  die  Biologie  mit  dem  Gedanken  vertraut 
macht,  das  Gedächtnis  für  eine  Eigenschaft  der  Materie 
zu  halten,  so  ist  das  —  soweit  es  richtig  ist  —  nur  die  kritische 
Entdeckung  einer  Tatsache,  die  man  schon  lange  der  Forschung 
als  Idee  zugrunde  gelegt  hat.  Falsch  aber  ist  die  Bezeichnung 
des  Gedächtnisses  als  Eigenschaft  der  Materie  überhaupt. 
Wir  haben  gezeigt,  daß  die  Biologie  gar  nicht  Materie  denkt, 
sondern  die  Zeitform,  die  die  Materie  eingeht,  nämlich  den 
Organismus.  Daß  der  Biologe  von  dieser  Form,  von  dem 
Individualsystem  in  der  Zeit  ausgeht,  heißt  nichts  anderes, 
als  daß  er  Gedächtnis  denkt.  Dieses  ist  kein  Phänomen, 
das  der  Naturforscher  als  Eigenschaft  des  Organismus  ent- 
deckt, ebensowenig  wie  er  die  Spontaneität  der  Bewegungen 
„wahrnehmen"  kann.  Man  kann  nicht  durch  Erfahrung 
feststellen,  ob  der  Organismus  Gedächtnis  besitzt,  man 
kann  auch  keine  diesbezügliche  Hypothese  aufstellen. 
Eine  solche  läge  höchstens  in  dem  Begriff  des  Organismus, 
aber  als  eine  notwendige  Grundhypothese,  die  überhaupt 
erst  die  biologische  Erkenntnis  konstituiert.  Man  kann  nicht 
,, sehen",  ob  das  Infusorium  reagiert,  ob  seine  Bewegung 
eine  Gedächtniserscheinung  ist,  sondern  man  kann  nur 
fragen,  ob  das  Phänomen  als  Substanzveränderung  zu  er- 
klären ist  oder  von  dem  historischen  Subjekt  abhängt. 
Erkennt  man  ein  Phänomen  als  Wiederholung  in  dem  Zeit- 
system, so  erkennt  man  es  als  Gedächtniserscheinung.  Dieses 
Wort  kann  die  Wiederholung  nicht  erklären.  Genau  so 
töricht  wäre  es,  wenn  der  Chemiker  sich  bemühte  zu  er- 
klären, warum  die  Wirkung  des   Radiums  sich  bei  jedem 


-  249  - 

Element  wiederholt,  nachdem  er  einmal  von  der  Idee  des 
einen  Systems  ,, Natur"  ausgegangen  ist.  Wir  verstehen 
etwas  als  Gedächtniserscheinung,  aber  wir  können  die 
Erscheinung  nicht  durch  das  Gedächtnis  erklären.  Die 
biologischen  Phänomene  sind  als  Zentralisation  und  De- 
zentralisation, als  Organisation  und  Differenzierung  des 
Gedächtnisses  aufzufassen. 

Überall,  wo  man  eine  Reaktion  von  einem  Reiz  abhängen 
läßt,  legt  man  die  Idee  des  Gedächtnisses  zugrunde,  indem 
man  in  dem  Individualsystem  die  Wiederholung  einer  Asso- 
ziation annimmt.  Ob  ich  die  Hand  von  dem  brennenden 
Ofen  zurückziehe,  oder  die  Mimose  die  Blätter  schließt, 
wenn  sie  berührt  wird,  ist  logisch  völlig  gleich.  Beides  sind 
Gedächtniserscheinungen,  beides  wird  begriffen  als  die 
Wiederholung  einer  oder  vieler  historischer  Momente  aus 
der  Vergangenheit.  Nur  ob  eine  Reaktion  oder  eine  mecha- 
nische Raumveränderung  vorliegt,  kann  man  fragen.  Von 
diesem  Standpunkt  aus  ist  auch  die  Vererbung  eine  Ge- 
dächtniserscheinung. Ich  betone  immer  wieder,  daß  das 
Gedächtnis  die  Vererbung  nicht  erklärt,  sondern  nur  benennt. 
Diese  Benennung  hat  aber  den  einen  Vorteil,  daß  man  sofort 
die  mechanistische  Unerklärbarkeit  der  Vererbung  einsieht. 
Der  Mechanismus  stößt  hier  nicht  auf  ein  Problem,  das 
er  nicht  lösen  kann,  sondern  das  Denken  stellt  ein  Problem, 
das  der  Mechanismus  nicht  denken  kann.  Es  ist  ein  Beweis 
für  das  völlig  kritiklose  Denken,  wenn  man  von  einem  „Ver- 
erbungsgesetz" neben  dem  Gravitationsgesetz  spricht.  Es 
gibt  kein  empirisches  Gesetz  der  Vererbung,  sondern  die 
Vererbung  ist  eine  Idee  a  priori  der  Biologie.  Versteht  man 
etwas  als  Vererbung,  so  heißt  das,  daß  man  nicht  nach 
mechanischen  Ursachen  der  Erscheinung  sucht.  Beides 
widerspricht  sich  absolut.  Entweder  man  begründet  etwas 
durch  zeitlose  Ursachen,  durch  Wiederholung  konstanter 
Beziehungen  im  zeitlosen  Raum,  durch  Naturgesetze,  oder 
man  begründet  etwas  als  Wiederholung  in  der  realen  Zeit 


-  250  - 

in  dem  Zeitsystem  ,, Leben".  Das  eine  Mal  denkt  man  mecha- 
nistisch, das  andere  Mal  historisch.  Eine  Vermengung  beider 
Prinzipien,  ein  Mechanismus  der  Vererbung  oder  ein  Gesetz 
der  Vererbung  selbst  ist  ein  logischer  Nonsens.  Hält  man 
die  Entstehung  der  Organismen  für  mechanisch  bedingt, 
so  gibt  es  überhaupt  nicht  ,,ein"  Gesetz  ihrer  Erklärung, 
sondern  jede  Raumform  ist  durch  die  speziellen  Naturgesetze 
zu  erklären.  Für  den  Mechanismus  muß  es  gleichgültig  sein, 
ob  ein  Phänomen  im  Leben  schon  einmal  da  gewesen  ist. 
Er  darf  nur  ewige  Gesetzmäßigkeiten  anerkennen,  die  sich 
im  Raum  wiederholen.  Daß  schon  einmal  ein  Körper  da 
war,  der  gewisse  Ähnlichkeiten  mit  einem  jetzt  entstandenen 
Huhn  hatte,  geht  den  Mechanismus  schlechterdings  nichts 
an.  Er  hat  diesen  Raumkörper  durch  zeitlose  Naturgesetze 
zu  erklären.  Der  Biologe  aber  begründet  ein  Phänomen  gerade 
dadurch,  daß  es  schon  einmal  oder  tausendmal  in  der  Ver- 
gangenheit vorgekommen  ist,  er  denkt  es  als  Vererbung 
oder  Gedächtnis.  Beides  kommt  logisch  auf  dasselbe  Prinzip 
heraus,  nämlich  auf  das  des  historischen  Zusammenhangs. 
Wir  stoßen  damit  aber  nicht  auf  eine  empirisch  wahrge- 
nommene Erfahrung,  sondern  auf  das  Denkprinzip  der 
Biologie  als  Wissenschaft.  Das  Seltsame,  was  diese  Zusammen- 
stellung heute  für  uns  hat,  liegt  nur  daran,  daß  unser  ganzes 
Denken  von  dem  Raumdenken  aus  metaphysisch  falsch  orien- 
tiert ist.  Der  Begriff  ,, Geist"  hat  einen  falschen  Sinn  be- 
kommen, weil  man  ihn  nicht  erkenntniskritisch  begründet. 
Unsere  sogenannte  physiologische  Psychologie  ist  in  Wahrheit 
das  Gegenteil  einer  physiologischen  oder  biologischen  Psycho- 
logie, weil  gerade  sie  von  der  Wesenhaftigkeit  des  Psychischen 
ausgeht  ohne  seine  Beziehung  zum  lebenden  Organismus. 
Nicht  durch  das  Gehirn  als  Raumteil  läßt  sich  dieser  Zu- 
sammenhang herstellen,  sondern  nur  durch  das  gleiche 
Prinzip  der  Erkenntnis.  Der  Geist  oder  das  Psychische 
überhaupt  ist  kein  Gegenstand  neben  der  Materie, 
sondern  ihre  Form,  wie  dies  Aristoteles  schon  erkannt  hat. 


-  251  - 

Diese  Form  aber  liegt  schon  in  dem  Begriff  des  lebenden 
Organismus  als  einer  historischen  Größe.  Das  logische  Prinzip 
von  Vererbung  und  Gedächtnis  ist  gleich.  Nur  die  Aus- 
dehnung des  Zeitsystems,  in  dem  wir  es  zugrunde  legen, 
ist  verschieden.  Der  Biologe  begründet  die  Zeit  als  ,,ein" 
System  des  Lebens,  von  dem  das  Individualsystem  nur  ein 
Teil  ist.  Weil  sein  System  nur  als  Zeit  und  nicht  als  Raum 
existiert,  ist  die  Deszendenztheorie  eine  logische  Forderung, 
wenn  es  eben  überhaupt  ,,ein"  System  geben  soll.  Auf  den 
Raum  bezogen  ist  ja  unser  individuelles  Gedächtnis  auch  nichts 
anderes  als  Vererbung.  Wir  wissen,  daß  die  Substanzteile 
des  Gehirns  im  Laufe  der  Zeit  ganz  andere  sind  als  im  Anfang. 
Folglich  ist  auch  im  Individualsystem  selbst  das  Gedächtnis 
eine  Vererbung  der  Anlagen  von  früheren  Substanzen  auf 
die  jetzige.  Hierin  liegt  die  Unmöglichkeit,  von  der  Gehirn- 
physiologie als  Raumwissenschaft  aus  das  Psychische  zu 
begreifen.  Es  ist  unlogisch,  die  Beziehung  von  Körper  und 
Geist  ergründen  zu  wollen,  wenn  man  darin  ein  empi- 
risch lösbares  und  kein  logisches  Problem  sieht.  Unlogisch 
daran  ist  die  stillschweigende  Voraussetzung,  daß  es  ,,ein" 
solches  Problem  überhaupt  gibt,  oder,  was  dasselbe  besagt, 
daß  es  ,,eine"  Erkenntnis  gibt.  Wir  können  die  Raumerkennt- 
nis bis  zum  äußersten  vervollkommnen,  wir  werden  nie 
Körper  und  Geist  in  „einer"  Erkenntnis  vereinigen  können. 
Denn  der  Geist  ist  kein  Gegenstand  neben  dem  Körper, 
deren  Beziehungen  sich  erklären  lassen.  Es  gibt  keine  Er- 
kenntnis, die  die  Welt  als  ,, einen"  Gegenstand  konstruiert. 
Kritisch  gefaßt  lautet  der  Gegensatz  nicht :  Geist  und  Materie, 
sondern:  Raum  und  Zeit.  Wir  fassen  die  psychische  Gegen- 
wart auf  als  Teil  des  realen  Zeitsystems,  zugleich  aber  wissen 
wir  ihre  Abhängigkeit  von  dem  zeitlosen  Raumsystem. 
Darin  liegt  eine  Antinomie  der  Vernunft  überhaupt.  Der 
Begriff  der  Disposition,  der  Anlage  oder,  wie  man  es  auch 
nennt,  ist  wohl  brauchbar,  aber  nur  als  Bezeichnung  für 
die  Spezialorganisation  der  Materie.    Das  Problem  von  Zeit 


-  252  - 

und  Raum  wird  dadurch  nicht  gelöst,  die  Vererbung  nicht 
erklärt,  der  historische  Zusammenhang  nicht  in  einen  Raum- 
zusammenhang aufgelöst.  Eine  Anlage  existiert  nicht  im 
Raum  des  Mechanismus,  weil  sie  ein  rein  historischer  Begriff 
ist.  Man  sagt  damit  nur,  daß  man  etwas  nicht  als  Raum- 
geschehen auffaßt.  Weder  das  Gedächtnis  noch  die  Ver- 
erbung wird  durch  die  Disposition  erklärt.  Aber  es  gibt 
eben  auch  hier  gar  nichts  „Erklärbares",  weil  der  Monismus 
als  logische  Voraussetzung  falsch  ist.  In  der  zurückschauenden 
Betrachtung  ist  die  Disposition  weiter  nichts  als  das  Ge- 
dächtnis, die  Kristallisation  der  Vergangenheit  in  dem 
Moment  der  Gegenwart.  Man  kann  aber  auch  die  Disposition 
in  bezug  auf  die  Zukunft  betrachten,  und  dann  ist  sie  weiter 
nichts  als  der  Zweckgedanke.  Man  kristallisiert  die  Zukunft 
als  Realität  in  der  Gegenwart:  als  solche  ist  die  Disposition 
Wille.  Wenn  man  die  Realität  aus  einer  Disposition  ver- 
steht, so  gründet  man  das  darauf,  daß  etwas  wirklich  werden 
will,  was  schon  einmal  wirklich  war.  Im  andern  Fall  ist  die 
Disposition  absolutes  Rätsel.  Wir  kommen  nicht  weiter 
als  bis  zur  Konstatierung  des  Angebornen,  während  wir 
dieses  im  andern  Falle  als  Wiederholung  in  einem  größeren 
System,  als  vererbt  verstehen.  Wichtig  ist  dies  für  die  Auf- 
fassung der  Variationen.  Verlegt  man  alles  Neue,  was  wirk- 
lich eintritt,  als  Anlage  in  den  Keim,  so  gibt  man  von  vorn- 
herein zu,  daß  man  weder  etwas  erklären  noch  etwas  verstehen 
will.  Aus  der  Anlage  kann  man  etwas  verstehen,  aber  nicht 
die  Gründe  der  Anlage  selbst.  Man  kann  nichts  erkennen, 
ohne  daß  man  es  als  Wiederholung  in  irgend  einem  System 
nachweist.  Mit  der  Keimanlage,  der  das  „Neue"  entspringt, 
beschreibt  man  also  nur  eine  Tatsache,  eine  Tat  der  Natur, 
eine  absolute  Schöpfung,  die  ebenso  sich  der  Erkenntnis 
entzieht,  wie  eine  angenommene  Schöpfung  in  der  Welt. 
Man  könnte  die  Tat  nur  dadurch  erkennen,  daß  man 
einen  Naturwillen  annimmt,  der  etwas  bezweckt.  Die 
schöpferische    oder    wollende    Natur    kann    keinen    Wider- 


-  253  - 

spruch  bilden  zu  dem  Mechanismus,  weil  sie  eine  Idee  der 
Biologie  als  historischer  Erkenntnis  wäre.  Zweck  und 
Ursache  widerstreiten  sich  nur  insofern,  als  der  Monismus 
eine  falsche  metaphysische  Annahme  ist. 

Die  Psychologie  glaubt,  daß  das  Gedächtnis  ein  erklär- 
bares Sonderphänomen  ist.  Wir  wissen  aber  gar  nichts 
weiter  von  ihm,  als  daß  die  Vergangenheit  sich  wieder- 
holt. Das  aber  ist  auch  das  Charakteristische  der  Vererbung. 
Wir  sind  nicht  daran  gewöhnt,  das  Gedächtnis  als  Vererbung 
und  umgekehrt  die  Vererbung  als  Gedächtnis  zu  denken, 
weil  wir  von  der  Identität  des  Organismus  im  Raum  aus- 
gehen. Diese  Identität  aber  bedeutet  in  Wahrheit  nur,  daß 
wir  in  der  Erkenntnis  von  dem  Zeitsystem  ausgehen.  Der 
Biologe  aber  tut  nichts  anderes,  als  daß  er  von  einem  größeren 
Zeitsystem  ausgeht,  das,  völlig  zu  Ende  gedacht,  die  ganze 
Ahnenreihe,  die  Entwicklung  von  der  Urzelle  bis  zum  Tode 
eines  jeden  Individuums  umfaßt. 

Als  ein  Sonderphänomen  könnte  man  nur  die  bewußte 
Erinnerung  bezeichnen.  Es  wiederholt  sich  hier  der  gleiche 
Fall  wie  bei  dem  Willen  oder  dem  Wiedererkennen.  Wir 
verstehen  eine  Handlung  aus  dem  Willen,  auch  ohne  daß  eine 
bewußte  Vornahme  besteht.  Wir  verstehen  sie  aus  einer  Gleich- 
heit der  Reize,  auch  ohne  daß  diese  von  dem  erkennenden 
Subjekt  gewußt  oder  zum  Gegenstand  des  Urteils  gemacht 
wird.  Ebenso  müssen  wir  die  Halluzination  als  eine  Gedächt- 
niserscheinung verstehen,  deren  Wesen  gerade  darin  liegt, 
daß  sie  nicht  als  solche  gewußt  ist.  Dasselbe  trifft  für  den 
Traum  zu.  Für  eine  Psychologie  des  Bewußtseinsinhalts 
gibt  es  überhaupt  keinen  Unterschied  zwischen  Vorstellung 
und  Wahrnehmung.  Das  Phänomenale  liegt  nur  in  dem, 
was  erlebt  wird.  Ob  etwas  eine  Erinnerung  oder  eine  Wahr- 
nehmung ist,  liegt  nicht  in  dem  qualitativen  Bewußtseins- 
inhalt, selbst  wenn  stets  ein  Intensitätsunterschied  des  Er- 
lebten vorhanden  wäre.  Es  handelt  sich  dabei  nicht  um 
einen  Unterschied   der   daseienden   Elemente,    sondern    um 


—  254  — 

eine  Beurteilung  des  Erlebten.  Für  eine  Psychologie,  die 
den  Bewußtseinsinhalt  als  Reihe  kausal  erklären  will,  kann 
es  weder  ein  Vorstellen  noch  ein  Behalten  oder  Vergessen 
geben.  Ihre  Erklärung  kann  sich  nur  auf  das  beziehen,  was 
da  ist.  Das  Vergessen  beruht  aber  immer  auf  dem  Vergleich, 
was  möglich  ist  und  nicht  da  ist.  Dieser  historische  Ver- 
gleich liegt  aber  ganz  außerhalb  einer  Wissenschaft,  die  das 
Daseiende  erklären  will.  In  denselben  logischen  Fehler 
verfällt  die  vermeintlich  mechanistische  Biologie,  wenn  sie 
ein  Glied  als  rudimentär  erklärt.  Für  sie  käme  es  nur 
darauf  an,  die  Gesetze  zu  finden,  durch  die  die  momentane 
Raumform  der  Substanz  zustande  gekommen  ist.  Dafür 
aber  ist  die  Erkenntnis,  daß  das  „entsprechende"  Glied 
früher  anders  ausgesehen  hat,  ganz  gleichgültig.  Mit  der 
Bestimmung  als  Rudiment  begreift  man  nicht  das  Dasein, 
sondern  das  Nicht-Dasein.  Dieser  Gegensatz  der  Vergangen- 
heit und  der  Gegenwart  kann  nur  für  die  historische  Be- 
schreibung existieren,  aber  nicht  für  die  Erklärung  dessen, 
was  momentan  da  ist.  Genau  so  hat  Erinnern  und  Vergessen 
nur  in  der  deskriptiven  Psychologie  des  historischen  Subjekts 
einen  Platz.  Unser  Denken  stellt  fest,  ob  das  Erlebte  wirklich 
ist.  Mit  unserer  Beurteilung  kommen  wir  aber  dem  Phänomen 
gegenüber  unter  Umständen  nicht  aus.  Unser  Denken  genügt 
nicht.  Wir  können  die  Handlungen  nicht  verstehen,  wenn  wir 
nicht  das  Denken  des  Subjekts  selbst  zugrunde  legen.  Wir 
verstehen  im  Falle  der  Halluzination  das  Handeln  nicht, 
wenn  wir  von  unserm  Denken  ausgehen  und  das  Erlebte 
als  Vorstellung  oder  Erinnerung  auffassen.  Für  das 
Subjekt  ist  es  eine  Wahrnehmung,  und  nur  von  ihm 
aus  verstehen  wir  seine  Handlung,  genau  so,  wie  meine 
Bestimmung  des  Gegenstandes  für  das  andere  Subjekt 
ganz  gleichgültig  sein  kann.  Auf  eine  objektive  Wahr- 
heit kommt  es  der  Psychologie  bei  der  Bestimmung  des 
Raums  nicht  an.  Die  subjektive  Meinung  allein  ist  das 
Phänomen. 


—  255  — 

Wir  verstehen  alles,  was  nicht  unmittelbare  Wahr- 
nehmung ist,  als  Gedächtniserscheinung,  als  Wiederholung 
der  Vergangenheit.  Für  uns  ist  auch  die  Halluzination  eine 
Vorstellung.  Für  das  Subjekt  selbst  gibt  es  aber  noch  einen 
andern  Begriff  des  Gedächtnisses,  nämlich  als  eines  Wissens. 
Für  uns  als  Betrachter  existiert  das  Subjekt  als  ein  System, 
als  eine  Zeitreihe  von  Erlebnissen  und  Handlungen.  Dieses 
Subjekt  existiert  in  jedem  Augenblick  des  Lebens.  Wir 
zeigten  aber,  daß  in  den  pathologischen  Fällen  dies  Subjekt 
in  Wirklichkeit  nicht  als  Ganzes  existiert.  Für  unsere  Er- 
kenntnis existiert  die  Tatsache  des  früheren  Erlebnisses, 
das  Subjekt  aber  hat  es  vergessen.  Das  Erlebnis  ist  nicht 
mehr  wiederholbar.  Wir  müssen  also  das  Gedächtnis  auf  die 
wiederholbare  Vergangenheit  beschränken,  soweit  ein  Gegen- 
satz zwischen  der  Erinnerung  und  dem  Vergessen  besteht. 
Trotzdem  aber  kann  der  Fall  eintreten,  daß  wir  die  Gegenwart 
nur  aus  einem  vergangenen  Erlebnis  heraus  verstehen  können, 
selbst  wenn  dieses  von  dem  Subjekt  selbst  vergessen  worden 
ist.  Wir  verstehen  etwas  als  Gedächtniserscheinung,  obwohl 
die  Erinnerung  daran  nicht  vorhanden  ist.  Wir  stoßen  damit 
wieder  auf  den  Gegensatz  von  Wissen  und  Bewußtsein. 
Der  Gegenstand  der  psychologischen  Erkenntnis  ist  die 
Zeitreihe  des  Bewußtseins,  von  der  die  Gegenwart  nur  ein 
Teil  ist.  In  diesem  System  kann  sich  eine  Assoziation  wieder- 
holen, an  deren  Entstehung  sich  das  Subjekt  selbst  nicht 
mehr  zu  erinnern  braucht.  Diese  Erinnerung  ist  also  das 
Wissen  von  der  eigenen  vergangenen  Geschichte  des  selbst- 
bewußten Subjekts.  Dieses  wissende  Gedächtnis  ist  aber 
für  den  Ablauf  des  Lebens  nicht  unbedingt  vorausgesetzt. 
Die  Monade  braucht  weder  Psychologe  noch  Historiker  ihrer 
eigener.  Geschichte  zu  sein.  Prüfen  wir  das  Gedächtnis,  so 
prüfen  wir  das  Wissen.  Der  historische  Zusammenhang 
aber  kann  auch  da  sein  ohne  ein  wissendes  Gedächnis.  Er 
existiert  auch  in  der  Mimose,  wahrscheinlich  ohne  daß  sie 
ihn  weiß.     Eine  Bewegung  kann  als  Gedächtniserscheinung 


—  256  — 

aufgefaßt  werden,  ohne  daß  ein  wissendes  Gedächtnis  vorliegt. 
Das  wissende  Gedächtnis  ist  als  aktueller  Moment,  als  momen- 
tanes Phänomen  auch  nur  eine  Wiederholung  der  Vergangen- 
heit, aber  nicht  ohne  das  Bewußtsein  der  Indentität  des  früher 
und  jetzt  Erlebten.  Es  ist  also  genau  derselbe  Unterschied 
wie  zwischen  dem  Gleichsein  der  Reize  und  der  gewußten 
Gleichheit,  zwischen  dem  Gleichhalten  und  dem  Wieder- 
erkennen. Eine  Assoziation  wiederholt  sich  bei  einer  Be- 
stimmtheit. Das  Subjekt  aber  identifiziert  nicht  die  Bestimmt- 
heit mit  einer  früher  erlebten,  sie  erinnert  sich  nicht  mehr  an 
das  erste  Erlebnis.  Trotzdem  liegt  in  der  Wiederholung  des  sub- 
jektiv Gleichen  der  Grund  für  die  Wiederholung  der  Asso- 
ziation. Die  Mimose  braucht  sich  an  den  früheren  Reiz  nicht 
zu  erinnern.  Sie  braucht  auch  nicht  die  Gleichheit  der  Reize 
zu  erkennen;  sie  braucht  sich  auch  nicht  die  Bewegung 
vorzunehmen;  trotzdem  verstehen  wir  die  Handlung  nur 
als  Gedächtnis,  als  Gleichhalten  —  denn  die  Gleichheit 
besteht  nur  historisch  subjektiv  — ,  als  Wollen.  Die  Erinne- 
rung ist  phänomenologisch  auch  nur  eine  Wiederholung  der 
Vergangenheit,  aber  mit  der  logischen  Bedeutung  des  Wissens 
von  sich  selbst,  seiner  eigenen  Geschichte,  wie  das  Wieder- 
erkennen ein  Wissen  um  die  Gleichheit  in  dem  eigenen  sub- 
jektiven System,  wie  die  Vornahme  ein  Wissen  um  das  eigene 
Wollen  ist.  Für  den  erkennenden  Betrachter  ist  das  Ge- 
dächtnis die  Vergangenheit  des  Subjekts.  Soweit  aber  das 
Subjekt  selbst  erkennt,  ist  sein  Gedächtnis  nur  eine  Auswahl 
der  Vergangenheit,  nämlich  das,  was  das  Subjekt  noch  von 
ihr  weiß.  In  diesem  Sinne  ist  es  also  das  historische  Wissen 
der  eigenen  Geschichte,  das  wir  im  speziellen  Fall  als  eine  Ge- 
dächtniserscheinung im  ursprünglichen  Sinn  auffassen  müssen, 
als  eine  Wiederholung  der  Vergangenheit  mit  dem  Bewußtsein, 
das  Frühere  wieder  zu  erleben.  Dieses  Wissen  dürfen  wir 
nicht  in  allen  Monaden  voraussetzen.  Es  erklärt  uns  auch 
nichts,  wie  das  Wiedererkennen  nichts  erklärt.  Die  bestehende 
Tatsache  liegt  in  der  subjektiven  Gleichheit  zweier  Inhalte, 


—  257  — 

in  der  Gleichheit  innerhalb  eines  lndividualsystems  oder 
für  ein  Bewußtsein.  Nur  ein  anderer  Name  dafür  ist  das 
Gleichhalten  seitens  des  historischen  Subjekts.  Das  Wieder- 
erkennen ist  nur  das  Wissen  um  diese  Gleichheit.  Wenn  man 
sagt,  etwas  existiert  im  Gedächtnis,  so  ist  der  Ausdruck 
ebenso  mißdeutbar  wie  die  Existenz  im  Bewußtsein.  Für  den 
Historiker  existiert  die  Vergangenheit  als  Geschichte.  Aber  für 
das  wissende  Subjekt  selbst  braucht  nicht  mehr  die  ganze 
Vergangenheit  zu  existieren.  Für  dieses  existiert  nur  ein 
Teil,  und  diesen  nennen  wir  Gedächtnis.  Er  bedeutet  aber 
wirklich  nur  einen  Teil  der  Vergangenheit,  die  der  Psychologe 
weiter  voraussetzen  muß,  selbst  wenn  sich  das  Subjekt  nicht 
mehr  an  sie  erinnert.  Die  Zeit  ist  für  ihn  die  Realität,  der 
historische  Zusammenhang  das  Problem.  Sein  Gegenstand 
ist  der  subjektive  Logos  selbst,  der  als  Gegenstand  der  Selbst- 
erkenntnis gewußt  wird,  aber  auch  Logos  bleibt,  wenn  er 
nicht  gewußt  wird.  Darin,  daß  das  Bewußtsein  Gegen- 
stand des  Wissens  wird,  ohne  eine  dem  Bewußtsein  selbst 
gegenüberstehende  Welt  zu  sein,  darin  daß  der  Logos  sich 
selbst  erkennt,  liegt  die  ungeheure  Schwierigkeit  der  Darstel- 
lung. Die  Elementarpsychologie  verwickelt  sich  in  unlösbare 
Widersprüche,  weil  sie  das  eigentliche  Bewußtsein,  was 
seinerseits  bewußt  werden  kann,  als  einen  der  Beobachtung 
zugänglichen  Raum  darstellt.  Wir  müssen  unterscheiden 
zwischen  dem  Gedächtnis  als  der  Bestimmung  des  gegen- 
wärtigen Bewußtseins  als  Wiederholung  und  dem  Gedächtnis 
als  Phänomen  des  Selbstbewußtseins  oder  Wissens.  Wir 
können  terminologisch  das  gewußte  und  das  ungewußte 
Gedächtnis  unterscheiden. 

Das  führt  uns  zu  dem  Begriff  des  Unbewußten,  der 
auch  nur  durch  das  Raumdenken  unkritisch  geworden 
ist.  Die  Bewußtseinserlebnisse  existieren  nicht  in  einem 
Nebenraum  des  Bewußtseins,  dem  Gedächtnis,  weiter  und 
gelangen  von  hier  in  den  Hauptraum  zurück.  Die  Vergangen- 
heit   existiert    für    den    Psychologen    gleichzeitig    mit    der 

Strich,  Prinzipien.  17 


—  258  — 

Gegenwart,  denn  die  Zeit  selbst  ist  die  Realität,  die  dem 
Raum  entspricht.  Dafür  ist  es  zunächst  gleichgültig,  ob  das 
Selbstbewußtsein  sich  der  Vergangenheit  erinnert  oder 
nicht.  Psychologisch  existieren  tut  sie  auch  ohne  das.  Wie 
es  kein  Bewußtsein  gibt,  in  das  etwas  hineingelangt,  sondern 
wie  wir  nur  sagen  können,  daß  etwas  im  Raum  bewußt 
ist,  so  gibt  es  auch  kein  Unbewußtes,  in  dem  sich  etwas 
befindet,  sondern  nur  etwas,  was  unbewußt  existiert.  Dazu 
gehört  etwa  im  Moment  die  Palme  am  Nil,  ebenso  wie  alle 
meine  Erlebnisse,  an  die  ich  mich  im  Moment  nicht  erinnere. 
Für  den  Naturwissenschaftler  existiert  die  Palme,  für  den 
Psychologen  meine  eigene  Vergangenheit.  Soweit  nicht  die 
Aufmerksamkeit  eine  Auswahl  unter  dem  Unbewußten  im 
Raum  ist,  kommt  für  den  Psychologen  nur  die  Vergangenheit 
als  unbewußte  Existenz  in  Betracht.  Soweit  die  Psychologie 
Geschichte  des  Individuums  ist,  soweit  rechnet  sie  also  mit 
dem  Unbewußten,  nämlich  mit  der  Vergangenheit.  Von  diesem 
Unbewußten  muß  man  scharf  trennen  das  Ungewußte. 
In  einem  bestimmten  Moment  existiert  das  Unbewußte 
nur  als  Vergangenheit.  Wir  wiesen  aber  schon  öfters  darauf 
hin,  daß  das  Leben  keineswegs  ein  immerwährendes  Wissen 
von  sich  selbst  verlangt.  Von  diesem  Standpunkt  aus 
existiert  vieles,  was  wir  nur  von  dem  Bewußtsein  aus  dar- 
stellen können,  was  aber  von  dem  Subjekt  selbst  nicht  ge- 
wußt wird. 

Die  unkritischste  Formulierung  des  Problems  des  Unbe- 
wußten, mit  der  eine  heutige  Richtung  der  Psychologie,' 
die  Psychoanalyse,  arbeitet,  ist  das  Unterbewußtsein. 
Hier  stützt  sich  die  ganze  Theorie  darauf,  daß  aus  einem 
Raumbild  eine  Wirklichkeit  gemacht  worden  ist.  Soweit 
man  ein  momentanes  gegenwärtiges  Erlebnis  aus  der  Ver- 
gangenheit des  Subjekts  begreift,  begreift  man  es  aus 
dem  Unbewußten.  Der  Irrtum  der  rationalistischen  Psycho- 
logie liegt  darin,  daß  sie  das  Selbstbewußtsein  oder  die 
Selbsterkenntnis  mit  Bewußtsein  verwechselt,  daß  sie  näm- 


—  259  — 

lieh  eine  Beeinflussung  der  Gegenwart  durch  die  Ver- 
gangenheit nur  dann  für  möglich  hält,  wenn  das  Individuum 
selbst  den  Zusammenhang  erkennt.  Gegen  diesen  verhängnis- 
vollen Irrtum  kämpft  jene  Psychologie  des  Unbewußten,  die 
Psychoanalyse,  mit  Recht,  leider  aber  selbst,  mit  untauglichen 
Mitteln.  Das  Wissen  ist  nicht  die  notwendige  psychologische 
Bedingung  des  Lebens,  sondern  der  historische  Zusammenhang 
des  Bewußtseins,  also  der  Zusammenhang  des  Unbewußten 
mit  dem  Bewußten,  der  Vergangenheit  mit  der  Gegenwart, 
der  auch  da  sein  kann,  ohne  daß  das  Subjekt  ihn  weiß.  Will 
aber  das  Subjekt  als  Psychologe  sein  eigenes  gegenwärtiges 
Bewußtsein  verstehen,  dann  muß  es  den  Zusammenhang 
mit  der  Vergangenheit  erkennen.  Dafür  ist  natürlich  not- 
wendig, daß  es  als  Historiker  seine  eigene  Geschichte  kennt 
und  nicht  vergessen  hat.  Es  ist  aber  völlig  unlogisch,  die 
Beziehung  des  Gewußten  und  des  Ungewußten  als  Raum- 
verhältnis darzustellen,  das  Bewußtsein  in  Ober-  und  Unter- 
bewußtsein zu  zerlegen.  Es  ist  dies  eine  Verräumlichung 
und  Mythologisierung  des  Psychischen,  die  alles  überbietet,  was 
die  Elementartheorie  unserer  psychologischen  Lehrbücher 
geleistet  hat.  Es  ist  das  plumpste  materialistischste  Denken, 
bis  zu  dem  es  die  Psychologie  überhaupt  gebracht  hat.  Der 
Anklang,  dessen  sich  diese  Richtung  ja  leider  heute  erfreut, 
beruht  neben  dem  stofflich  Interessierenden,  mit  dem  die 
Theorie  ausgestattet  ist,  nur  darauf,  daß  das  Wort  „unbewußt" 
so  romantisch,  so  mystisch  und  rätselhaft  klingt.  In  Wahr- 
heit ist  sie  aber  eine  versteckte  und  verstärkte  Form  des 
Rationalismus. 

Es  ist  ganz  müßig  darüber  zu  streiten,  ob  es  das  Un- 
bewußte gibt  oder  nicht.  Gewiß  existiert  im  gegenwärtigen 
Moment  nur  das,  was  bewußt  ist,  und  es  gibt  keinen  Neben- 
raum, in  dem  sich  andere  psychische  Wesenhaftigkeiten 
befinden.  Die  Psychologie  aber  ist  historische  Erkenntnis. 
Man  kann  die  Gegenwart  nur  erkennen  als  Teil  der  ganzen 
Zeit.     Diese  Zeit  existiert  auch  in  der  Gegenwart,  aber  da 

17* 


—  260  — 

sie  nicht  bewußt  ist,  so  nennen  wir  sie  mit  Recht  unbewußt. 
Das  Unbewußte  existiert  also  im  gegenwärtigen  Moment 
nur  in  dem  Sinne,  wie  die  vergangene  Zeit  für  den 
Historiker  momentan  existiert.  Man  kann  also  sagen, 
daß  wir  die  Gegenwart  allein  aus  dem  Unbewußten  ver- 
stehen. Dazu  ist  es  nötig,  daß  man  die  Geschichte  des 
Subjekts  kennt.  Dies  gilt  aber  nicht  nur  für  den  Be- 
trachter, sondern  auch  für  das  Subjekt  selbst,  wenn  es  als 
Psychologe  seine  eigene  Gegenwart  verstehen  will.  Diese 
Kenntnis  ist  nun  keineswegs  immer  vorhanden,  besonders 
selten,  wenn  es  sich  um  die  erste  Kindheit  handelt.  Daneben 
gibt  es  aber  auch  ganz  abnorme  Fälle  von  Vergeßlichkeit,  die 
schon  in  das  Gebiet  der  Pathologie  gehören.  Diese  vergessenen 
Erlebnisse  können  aber  trotzdem  für  das  Verständnis  der 
Gegenwart  sehr  wesentlich  sein.  Das  Vergessen  des  erken- 
nenden Wesens  ist  kein  Grund  dafür,  daß  die  Vergangenheit 
die  Gegenwart  nicht  beeinflussen  kann.  Ob  das  Subjekt 
sie  selbst  weiß,  oder  ob  das  Unbewußte  auch  ungewußt 
existiert,  ist  ganz  gleichgültig.  Das  Unlogische  liegt  aber 
darin,  daß  man  diese  Beziehung  des  Wissens  in  ein  Raum- 
verhältnis umdenkt.  Man  sagt,  daß  etwas  „im"  Unter- 
bewußtsein weiter  existiert  und  in  verkleideter  Gestalt 
im  Oberbewußtsein  auftauchen  kann.  Dies  kann  man  zu- 
nächst nur  als  Metapher  oder  als  Bild  verstehen.  Wir  kennen 
das  Bewußtsein  nicht  als  Raum  und  Nebenraum,  wir  kennen 
auch  nicht  einen  Willen  oder  ein  Erlebnis  als  einen  handelnden 
Menschen  im  Bewußtsein,  der  sich  umziehen  und  in  ver- 
kappter Gestalt  an  einem  andern  Ort  wieder  erscheinen 
kann.  Entkleidet  man  aber  die  Theorie  ihrer  Bildhaftigkeit, 
so  bleibt  absolut  gar  nichts  übrig,  was  man  zum  Verständnis 
heranziehen  könnte.  Es  ist  die  allerplumpste  Mythologie, 
die  überhaupt  denkbar  ist,  wenn  man  meint,  dadurch  in 
die  Tiefen  des  Seelenlebens  zu  kommen.  Daß  man  aus  dem 
Raumbild  eine  Wirklichkeit  macht,  zeigt  sich,  wie  wir  sehen 
werden,  in  den  Konsequenzen,  die  man  aus  der  Anschauung 


—  261  — 

zieht,  nämlich  in'  der  Auffassung  des  psychischen  Lebens 
als  einer  Maschine,  die  in  Unordnung  geraten  und  wieder 
in  Ordnung  gebracht  werden  kann. 

Es  gibt  etwa  Fälle,  wo  wir  bei  einem  Individuum  auf 
eine  völlig  unlogische  Angst  vor  gewissen  Objekten  stoßen. 
Durch  das  Unlogische  wird  sie  zum  Spezialproblem.  Wenn 
jemand  vor  einer  Klapperschlange  Angst  hat,  oder  wenn 
jemand  über  den  Straßendamm  geht  und  vor  einem  heran- 
nahenden Automobil  zurückspringt,  so  finden  wir  das  nicht 
rätselhaft.  Natürlich  müssen  wir  auch  diese  Erscheinungen 
aus  den  Erfahrungen,  also  aus  der  Vergangenheit,  aus  dem 
momentan  Unbewußten  verstehen.  Nun  gibt  es  aber  Fällp  — 
wir  nennen  sie  pathologisch,  weil  sie  unlogisch  sind  — ,  wo 
wir  auf  eine  Angst  vor  Objekten  stoßen,  die  wir  für  nicht 
berechtigt  halten,  die  das  Subjekt  selbst  auch  nicht 
rechtfertigen  kann,  die  es  aber  später  sich  möglicher  Weise 
durch  weitere  Denkumgestaltungen  begreiflich  macht,  wo- 
durch es  immer  weiter  ins  Unlogische  gerät.  Wir  halten 
diese  Denkgestaltungen  nicht  für  objektive  Erkenntnis, 
sondern  für  Phantastereien  oder  fixe  Ideen.  Als  Psy- 
chologen haben  wir  aber  die  Pflicht,  jene  Angst  genau 
so  aus  der  Geschichte  des  Subjekts  zu  verstehen  wie 
die  Angst  vor  der  Klapperschlange.  Hier  nehmen  wir 
etwa  an,  daß  ein  W7ille  zum  Leben  da  ist,  daß  wir  gehört 
haben,  die  Klapperschlange  sei  sehr  giftig  etc.  Infolge- 
dessen verstehen  wir  die  Angst.  Wir  finden  aber  etwa 
die  Angst  eines  Kindes  vor  einer  Ringelnatter  oder  einer 
Blindschleiche  auch  berechtigt,  d.  h.  verständlich.  Wir 
wissen,  daß  sie  unberechtigt  ist,  denn  wir  wissen,  daß 
jene  Tiere  nicht  schädlich  sind.  Aber  die  Ähnlichkeit  mit 
einer  giftigen  Schlange  ist  zu  groß,  und  schließlich  können 
wir  es  keinem  Kind  übelnehmen,  wenn  es  nicht  allzusehr 
den  Versicherungen  der  erwachsenen  Menschen  Glauben 
schenkt.  Der  Glaube  an  die  Wahrheit  des  Mitgeteilten  ver- 
langt schon  eine  gewisse  logische  und  ethische  Entwicklung. 


—  262  — 

Mit  diesem  Beispiel  kommen  wir  der  Pathologie  näher. 
Wir  verstehen  die  Angst  vor  einem  Objekt  nicht  selbst. 
Wir  können  sie  unmittelbar  nicht  nachfühlen  wie  die  Angst 
vor  der  Klapperschlange,  aber  wir  verstehen  sie  aus  der 
Ähnlichkeit  des  Objekts  mit  andern,  vor  denen  die  Angst 
berechtigt  und  unmittelbar  nachfühlbar  ist.  Nach  dieser 
Methode  haben  wir  die  pathologische  Angst  zu  verstehen, 
die  auch  nichts  anderes  als  ein  unzweckmäßiges,  d.  h.  in 
diesem  Falle  ein  unlogisches  oder  unberechtigtes  Gefühl  ist. 
Denn  historisch,  nicht  naturwissenschaftlich,  ist  das  Un- 
logische das  Unzweckmäßige.  Wenn  jemand  behauptet, 
daß  etwas  ein  Stuhl  ist,  so  ist  das  gar  nicht  anders  zu  be- 
weisen oder  zu  widerlegen,  als  daß  man  ihn  als  Stuhl  benutzt. 
Taugt  er  zu  dem  verlangten  Zweck,  so  ist  er  ein  Stuhl.  Logisch 
ist  die  Angst,  wenn  sie  zweckmäßig  ist,  wenn  sie  zur  even- 
tuellen Erhaltung  des  Lebens  beitragen  kann.  Ist  sie  unzweck- 
mäßig, so  ist  sie  pathologisch.  Sie  muß  aber  genau  so  einen 
psychologischen  Grund  haben  wie  die  normale,  sie  muß 
aus  der  Geschichte  des  Subjekts  verständlich  sein.  Sie 
wird  uns  nach  derselben  Methode  verständlich  wie  jene 
Angst  des  Kindes  vor  der  Blindschleiche.  Es  muß  ein  sub- 
jektiv logischer  Zusammenhang  zwischen  dem  Objekt  und 
einem  andern  da  sein,  vor  dem  die  negative  Gefühlsbetonung 
berechtigt  war.  Wir  können  sie  nur  aus  den  vergangenen 
Erlebnissen  verstehen,  vorausgesetzt,  daß  wir  sie  überhaupt 
verstehen  können. 

Wir  wiesen  oben  nach,  daß  die  sogenannten  Asso- 
ziationen auf  einer  Einheitsformung,  einem  Fürgleichhalten 
seitens  des  Subjekts  beruhen,  Wir  bemerken  dies  am  leich- 
testen bei  der  Entwicklung  des  kindlichen  Denkens.  Wir 
finden  hier  gleiche  Benennungen  für  Gegenstände,  die  uns 
so  lange  ganz  rätselhaft  erscheinen,  bis  wir  die  Einheits- 
formung des  Kindes  entdecken  oder  vom  Objekt  aus  die 
Ähnlichkeit,  die  das  Kind  zu  dieser  Gleichsetzung  veranlaßte. 
Auch  hier  müssen  wir  das  Kind  nacherleben  können,  wenn 


—  263  — 

wir  es  verstehen  wollen.  Der  erwachsene  Mensch  kennt  in 
der  historisch-praktischen  Erkenntnis  nur  die  Zweckmäßig- 
keit. Wir  fassen  viele  Gegenstände,  die  an  sich  gar  nichts 
miteinander  zu  tun  haben,  zu  dem  Begriff  „Tisch"  zusammen, 
weil  sie  alle  den  gleichen  Zweck  erfüllen.  Diese  praktische 
Orientierung  kennt  das  Kind  nicht.  Es  denkt  nur  nach 
den  Gleichheiten,  die  ihm  auffallen.  Es  bezeichnet  mit 
einem  Wort  eine  Bestimmtheit  an  den  wahrgenommenen 
Gegenständen,  die  für  uns  völlig  gleichgültig  ist,  auf  die 
hin  wir  niemals  die  Gegenstände  zu  einem  Begriff  zusammen- 
fassen würden.  Solange  wir  aber  von  der  historischen  Er- 
kenntnis ausgehen,  ist  das  eine  so  logisch  wie  das  andere. 
Nur  ist  das  eine  unzweckmäßiger  als  das  andere.  Der  bio- 
logische Wert  des  ursprünglichen  Bewußtseins  ist  kein  anderer, 
als  daß  wir  von  den  gleichen  Objekten  das  Gleiche  erwarten. 
Hat  sich  bei  dem  Kinde  irgend  eine  Einheitsformung  heraus- 
gebildet, hält  es  Objekte  wegen  spezifischer  Bestimmtheiten 
für  gleich,  so  ist  es  auch  selbstverständlich,  daß  es  von 
ihnen  das  Gleiche  erwartet.  Ich  nehme  irgend  ein  mögliches 
Beispiel,  gleichgültig,  ob  es  schon  einmal  vorgekommen  ist. 
Das  Kind  hat  alle  vierbeinigen  Gegenstände  zu  einer  Einheits- 
form zusammengefaßt.  Die  Vierbeinigkeit  ist  für  das  Kind 
eine  Wesenhaftigkeit,  ein  wiederholbares  Erlebnis  wie  die 
schwarze  Farbe.  Jetzt  macht  das  Kind  an  einer  Vierbeinig- 
keit eine  unangenehme  Erfahrung.  Es  erschrickt  vor  einem 
durchgehenden  Pferd.  Wir  finden  das  durchaus  verständlich. 
Wir  finden  es  auch  weiter  verständlich,  wenn  eine  Angst 
vor  einem  Pferd  zurückbleibt.  Das  Kind  ist  klug  und  ver- 
läßt sich  nicht  darauf,  daß  es  sich  nur  um  ein  individuelles 
Pferd,  also  um  eine  Ausnahme  gehandelt  hat.  Die  Indivi- 
dualität ist  der  letzte  und  nicht  der  erste  Denkgegenstand, 
wie  die  Psychologie,  besonders  der  Nominalismus,  ott  irrtüm- 
lich annimmt.  Ebensowenig  aber  dürfte  es  uns  wundern,  wenn 
die  Gefühlsbetonung  sich  auf  alle  Vierbeinigkeiten  erstreckt, 
z.  B.  auf  einen  Tisch.    Wir  haben  es  dann  mit  einer  für  uns 


—  264  — 

unberechtigten  Angst  zu  tun,  die  man  pathologisch  nennen 
kann.  Meinetwegen  mag  man  auch  zunächst  hypothetisch 
das  Erlebnis  mit  dem  Pferd  als  Vorstellung  dazwischen 
schieben  und  nachher  verschwinden  lassen.  Damit  ist  nicht 
mehr  erklärt.  Die  Vorstellung  würde  auch  nur  die  Ein- 
heitsformung, das  Gleichhalten  von  Bestimmtheiten  beweisen. 
Jedenfalls  ist  es  denkbar,  daß  das  Gefühlserlebnis  un- 
mittelbar der  wiedererlebten  Bestimmtheit  folgt.  Ich  weiß 
sehr  wohl,  daß  viele  Fälle  bei  weitem  komplizierter  liegen. 
Ich  will  auch  nicht  leugnen,  daß  die  Sexualität  schon  im 
Kindesalter  eine  ungeheure  Rolle  im  Gefühls-  und  Willens- 
leben spielt.  Es  kommt  mir  nur  darauf  an,  daß  wir  nirgends 
den  absurden  Begriff  des  Unterbewußtseins  brauchen,  und 
daß  wir  nicht  logisch  gezwungen  sind,  auf  die  Sexualität 
zurückzugreifen,  wenn  wir  ein  Phänomen  aus  andern  Willens- 
tendenzen verstehen.  Ich  würde  es  für  lächerlich  halten, 
wenn  man  das  Ausweichen  vor  dem  Automobil  auf  eine  Angst 
zurückführen  würde,  die  sich  aus  der  spezifischen  Sexualität 
heraus  entwickelt  hätte.  Es  wäre  dies  eine  willkürliche 
Hypothese,  die  absolut  eine  Komplikation  und  nicht  eine 
Vereinfachung  darstellen  würde.  Es  ist  aus  dem  Lebenswillen 
allein  verständlich,  daß  ich  jeder  Bedrohung  des  Lebens 
ausweiche.  Für  das  Kind  ist  der  Schreck  vor  einem  fallenden 
Pferde  schon  ein  Symptom  der  Bedrohung  des  Lebens. 
Der  Schreck  und  die  Gefühlsbetonung  ist  aus  dem  unmittel- 
baren Erlebnis  verständlich.  Jene  pathologische  Gefühls- 
betonung vor  dem  Tisch  ist  uns  aber  aus  dem  unmittelbaren 
Erlebnis  nicht  verständlich,  nur  deswegen  nennen  wir  sie 
pathologisch.  Wie  wir  das  Objekt  sehen,  können  wir  keinen 
Grund  des  Gefühls  einsehen.  Aus  der  Geschichte  des  Kindes 
aber  wird  sie  uns  verständlich.  Wir  entdecken,  daß  sich  eine 
Assoziation  zwischen  Gefühl  und  Weltbestimmtheit  heraus- 
gebildet hat,  die  wir  als  unlogisch  oder  unzweckmäßig  be- 
zeichnen. Wir  sehen  keinen  Grund,  die  Objekte  nach  ihrer 
Vierbeinigkeit    zusammenzufassen   und    von   jedem    Objekt 


—  265  — 

mit  dieser  Bestimmtheit  das  Gleiche  zu  erwarten.  Die  Er- 
ziehung kann  jene  Assoziation,  die  sich  bei  dem  Erleben 
der  gleichen  Bestimmtheit  wiederholt,  korrigieren  wie  alle 
falschen  Einheitsbildungen  des  Kindes,  die  sich  keineswegs 
alle  sprachlich  formuliert  zu  haben  brauchen.  Es  lernt  die 
Welt  zu  Einheiten  zusammenzufassen,  die  sich  im  Leben 
als  zweckmäßig  herausgestellt  haben.  Es  lernt  die  Sprache 
richtig  gebrauchen.  Dies  ist  ein  Symptom  dafür,  daß  es  sich  in 
seinen  Einheitsformungen  dem  Leben  anpaßt.  Die  Erziehung 
zerstört  in  unserm  Fall  die  Einheitsformung  ,, Vierbeinigkeit", 
die  an  sich  logisch  völlig  berechtigt  ist  wie  jede  andere; 
aber  sie  ist  unzweckmäßig  wegen  der  ungeheuren  Verschieden- 
heit der  Bedeutung,  die  die  vierbeinigen  Gegenstände  im 
Leben  haben.  Ebenso  könnte  das  Kind  lernen,  daß  das 
Schwarzsein  für  die  Praxis  des  Lebens  sehr  wenig  besagt, 
und  daß  deswegen  kein  Grund  vorliegt,  alle  schwarzen 
Gegenstände  in  einer  Einheitsform  zusammenzufassen, 
d.  h.  alle  für  gleich  zu  halten.  Dieses  Gleichhalten  ist  für 
uns,  wie  schon  oft  gesagt,  nur  ein  anderer  sprachlicher  Aus- 
druck für  die  subjektive  Gleichheit  in  dem  Individualsystem, 
nicht  aber  für  eine  urteilsmäßige  Meinung  des  Subjekts. 
Jene  Assoziation  ist  aber  zunächst  da  und  wiederholt  sich. 
Das  Kind  ist  geheilt  von  der  Angst,  wenn  die  Asso- 
ziation zerstört  ist,  wenn  das  Kind  die  Unberechtigung 
einsieht.  Dies  ist  aber  nur  dadurch  erreichbar,  daß  man 
dem  Kind  die  Angst,  die  als  Tatsache  einmal  da  ist,  er- 
klärt, ihm  zeigt,  woher  sie  kommt.  Man  greift  also  zu- 
rück auf  das  Erlebnis,  wo  die  Angst  ganz  berechtigt  war. 
Man  zeigt  ihm  aber  zugleich  die  Individualität  des  Falles, 
daß  nicht  alle  Pferde  gleich  sind,  und  daß  vor  allem  ein 
Pferd  und  ein  Tisch  doch  eigentlich  nur  eine  ganz  vage 
Ähnlichkeit  besitzen.  Man  würde  es  darauf  aufmerksam 
machen,  daß  es  vor  einem  durchgehenden  Pferd  ruhig  weiter 
Angst  haben  kann,  denn  das  ist  für  das  Kind  durchaus  zweck- 
mäßig, daß  aber  nicht  jedes  Pferd  durchgeht,  und  daß  ein 


—  266  — 

Tisch  kein  Pferd  ist.  Sieht  das  Kind  unsere  Argumentation 
ein,  so  wird  es  die  auftauchende  Angst  korrigieren  können, 
und  sie  kann  verschwinden.  Die  psycho-analytische  Theorie 
wiederholt  in  diesem  Sinne  nur  die  Lehre  Spinozas,  daß  die 
klare  Erkenntnis  der  Affekte  den  Menschen  von  ihrer  Ge- 
walt befreit,  indem  sie  sie  auf  das  Falsche,  das  Pathologische, 
anwendet. 

Will  man  in  diese  Darstellung  absolut  das  Wort  „un- 
bewußt" aufnehmen,  so  braucht  man  nur  die  Vergangenheit 
oder  jenes  erste  Erlebnis  unbewußt  zu  nennen  im  Vergleich 
mit  der  Gegenwart,  dem  gegenwärtigen  Inhalt  und  Gefühl. 
Da  diese  Vergangenheit  als  Realität  für  den  Psychologen 
genau  so  existiert  wie  die  Gegenwart,  so  existiert  sie,  wenn 
sie  im  Moment  nicht  bewußt  ist,  eben  unbewußt.  Sie  kann 
aber  auch  für  das  Kind  ungewußt  existieren.  Das  Kind 
braucht  sich  an  das  Erlebnis  nicht  mehr  zu  erinnern.  Trotz- 
dem verstehen  wir  die  Gegenwart  als  Gedächtnis.  Wir  wissen 
die  Geschichte  des  Kindes,  aber  das  Kind  selbst  kann  das 
Erlebnis  vielleicht  vergessen  haben.  Es  ist  vorläufig  ein 
schlechter  Historiker.  Trotzdem  existiert  das  Erlebnis 
in  dem  System,  das  wir  erkennen  wollen,  und  das  das  Kind 
selbst  als  historischer  Psychologe  erkennen  muß,  wenn  es 
die  Unlogik  seiner  Angst  begreifen  will.  Von  einer  Existenz 
im  Unterbewußtsein  oder  im  Unbewußten  kann  hier  ebenso- 
wenig die  Rede  sein,  wie  etwas  im  Oberbewußtsein  oder  im 
Bewußtsein  existiert.  Die  Gegenwart  ist  das  Bewußte,  die 
Vergangenheit  das  Unbewußte,  die,  falls  sie  vergessen  ist, 
auch  ungewußt  ist.  Auf  diese  Weise  ist  jede  pathologische 
Phobie  zu  begründen,  soweit  sie  eben  überhaupt  zu  verstehen 
ist.  Eine  andere  Möglichkeit  existiert  für  den  Psychologen 
nicht.  Das  Ungewußte  existiert  gleichzeitig  mit  dem  Bewußt- 
sein, soweit  die  Zeit  analog  dem  Raum  als  Realität  auf- 
gefaßt wird.  Niemals  aber  wird  die  Vergangenheit  ein  Neben- 
raum des  Bewußtseins.  Was  wir  bei  dem  Kinde  leicht  ver- 
stehen, ist  uns  bei  dem  Erwachsenen  nur  schwer  verständlich. 


—  267  — 

Aber  im  Prinzip  bleibt  es  dasselbe.  Der  Psychologe  kann  die 
unberechtigte  Gefühlsbetonung  gewisser  Objekte  nur  historisch 
verstehen;  er  muß  herausbekommen,  welchen  vergangenen 
Objekten  die  gegenwärtigen  subjektiv  gleich  sind,  und  welches 
berechtigte,  an  sich  verständliche,  Gefühlserlebnis  vor 
jenen  Objekten  stattgefunden  hat.  Wir  finden  es  merk- 
würdig, daß  sich  eine  Assoziation  zwischen  einem  Ge- 
fühl und  einem  Objekt  herausbildet,  das  an  sich  völlig 
nebensächlich  ist,  das  nur  miterlebt  wurde  mit  den  Momen- 
ten, die  das  Gefühl  begründeten.  Es  ist  aber  ganz  das 
gleiche  wie  bei  dem  Kinde,  wenn  es  das  Wesentliche,  das 
Charakteristische  des  Pferdes  nicht  erkennt.  Wir  können 
es  bei  dem  Erwachsenen  gar  nicht  anders  verstehen,  als 
daß  er  sofort  mit  der  Assoziation  das  Erlebnis  vergißt. 
Wir  verstehen  ihre  Wiederholung.  Sie  war  im  Moment 
des  Erlebnisses  da.  Der  normale  Mensch  würde  sofort 
das  Zufällige  von  dem  Wesentlichen  trennen  können. 
Auch  bei  ihm  ist  es  möglich,  daß  sich  die  Gefühlsbetonung 
auf  Gegenstände  erstreckt,  die  nur  zufällig  miterlebt  wurden. 
Aber  dies  Gefühl  nennen  wir  nicht  pathologisch,  weil  es  nicht 
unzweckmäßig  ist.  Wir  finden  es  nicht  krankhaft,  wenn  wir 
uns  als  Erinnerung  an  einen  Menschen  etwas  aufheben,  was 
in  irgend  einer  Beziehung  zu  ihm  gestanden  hat.  Sehr  viele 
Objekte  behalten  eine  Gefühlsbetonung  nur,  weil  sie 
zufällig  zu  einem  Gesamtkomplex  von  Eindrücken  gehören, 
der  als  Ganzes  stark  gefühlsbetont  war.  Pathologisch  wird 
diese  Erinnerung  nur  dann,  wenn  sie  uns  im  Handeln  hindert, 
wenn  wir  den  Grund  des  momentanen  Gefühls  nicht  mehr 
wissen,  wodurch  dann  das  Subjekt  in  ganz  abnormen  Fällen 
gezwungen  wird,  sich  selbst  einen  Roman  zu  konstruieren, 
der  dem  Gefühl  Recht  gibt.  Das  Anormale  liegt  in  der 
festen  Assoziation  zwischen  Gefühl  und  Objekt,  ohne  daß 
das  Subjekt  den  eigentlichen  Grund  des  Gefühls  kennt. 
Nehmen  wir  bei  dem  Kinde  an,  daß  der  eigentliche  Grund 
bei  der  mangelhaften  Erfahrung  noch  nicht  herausgefunden 


—  268  — 

werden  konnte,  so  können  wir  uns  bei  dem  Erwachsenen  den 
Fall  nur  dadurch  erklären,  daß  er  total  vergessen  worden  ist. 
Er  existiert  als  Erlebnis  nicht  nur  unbewußt  wie  die  ganze 
Vergangenheit  des  Subjekts,  sondern  er  existiert  ungewußt. 
Das  Subjekt  hat  als  Historiker  seine  eigene  Geschichte  ver- 
gessen und  kann  sich  daher  als  Psychologe  selbstverständlich 
nicht  mehr  verstehen.  Auch  hier  sehe  ich  keinen  Grund 
ein,  das  Unbewußte  oder  das  Unterbewußtsein  als  einen 
Nebenraum  des  Bewußtseins  einzuführen.  Das  Erlebnis 
existiert  wie  alle  andern  in  keinem  andern  Raum  weiter. 
Das  erkennende  Subjekt  oder  das  selbstbewußte  hat  es  nicht 
seinen  Erfahrungen  eingeordnet.  Es  ist  nur  Bildersprache, 
wenn  man  sagt,  daß  es  ins  Unbewußte  verdrängt  worden  ist. 
Das  Erlebnis  existiert,  weil  die  ganze  Vergangenheit  für  den 
Psychologen  gleichzeitig  mit  dem  Subjekt  existiert,  aber 
dieses  selbst  hat  es  vergessen.  Wir  dürfen  dieses  Vergessen, 
das  jedermann  kennt,  nicht  räumlich  umdenken,  weil  wir 
damit  unlogisch  werden.  Ein  Bild  mag  etwas  anschaulich 
machen,  was  man  sich  sonst  nicht  vorstellen  kann,  allein 
es  ist  der  größte  Fehler,  wenn  man  das  Bild  für  Wahrheit 
hält  und  darauf  eine  Theorie  aufbaut.  Jedes  Raumbild 
kann  in  der  Psychologie  nur  schaden.  Um  das  Vergessen 
zu  verdeutlichen,  ist  aber  auch  gar  kein  Bild  notwendig. 
Ein  jedes  Vergessen  hat  seinen  Grund  in  der  Wert- 
bedeutung des  Erlebten.  Es  ist  die  einzige  Methode,  nach  der 
wir  überhaupt  erkennen  können.  Wir  entdecken  das  nicht 
empirisch,  sondern  es  gibt  von  vornherein  keine  andere 
Möglichkeit,  als  die  psychischen  Erscheinungen  aus  den 
immanenten  Determinierungen  heraus  zu  verstehen.  Wir 
zeigten  oben,  daß  auch  die  Intensität  auf  die  Wertbedeutung 
zurückführt.  Daß  der  Pythagoreische  Lehrsatz  so  leicht  ver- 
gessen wird,  liegt  in  seiner  geringen  Wertbedeutung  für  die 
immanenten  Determinierungen  der  meisten  Individuen.  Wir 
stoßen  auf  eine  Steigerung  der  geringen  Bedeutung  zur  nega- 
tiven. Es  ist  aber  sofort  für  das  Individuum  charakteristisch, 


—  269  — 

d.  h.  aus  seinen  Determinierungen  verständlich,  wenn  das  nega- 
tiv Gefühlsbetonte  leichter  vergessen  wird  als  das  Positive. 
Wir  haben  damit  das  Vergessen  nicht  erklärt.  Man  kann 
ruhig  sagen:  das  Individuum  wollte  das  Erlebnis  vergessen. 
Tatsache  ist  und  bleibt,  daß  das  Vergessen  einen  Grund 
hat,  und  zwar  keinen  mechanischen,  sondern  einen  inneren, 
daß  die  Beziehungen  zur  immanenten  oder  Willensdeter- 
minierung  das  Ausschlaggebende  sind.  Wie  man  dies  sprach- 
lich ausdrückt,  ist  gleichgültig.  Allerdings  hat  in  vielen 
Fällen  schon  die  starke  Gefühlsbetonung  und  fernerhin  das 
Vergessen  einen  somatischen  Grund,  der  wahrscheinlich  auf 
Erkrankungen  gewisser  Drüsensekretionen  zurückgeht.  Man 
muß  sich  dabei  aber  immer  vor  Augen  halten,  daß  wir  damit 
nicht  mehr  die  psychische  Reihe  erkennen.  Wir  kommen 
nicht  weiter,  als  in  diesen  Raumvorgängen  die  allgemeine, 
aber  eben  psychologisch  völlig  rätselhafte  Bedingung  für  das 
Psycho-Pathologische  zu  erkennen,  was  wir  mit  dem  Begriff 
der  psychopathischen  Konstitution  bezeichnen.  Die  psycho- 
logische Erkenntnis  bricht  damit  völlig  ab.  In  der  Mischung, 
nicht  in  der  Einheit  beider  Erkenntnisweisen  besteht  die 
Eigenart  der  Begründung  des   Psycho-Pathologischen. 

Das  Vergessen  ist  also  ein  Mangel  des  Wissens  und  nicht 
eine  Ortsänderung  des  Erlebnisses,  nicht  eine  Wanderung 
in  einen  Nebenraum.  Wir  verstehen  die  Gegenwrart  aus  der 
Vergangenheit,  aber  nicht  aus  einer  Raumbeziehung  zwischen 
Ungewußtem  und  Bewußtsein.  Gelingt  es  uns,  dem  Subjekt 
zur  Kenntnis  seiner  eigenen  Geschichte  zu  verhelfen,  so 
würde  es  die  Gegenwart  genau  so  verstehen  wie  wir  und 
das  Unlogische  des  Gefühls,  seine  Unberechtigung,  genau  so 
einsehen  wie  wir.  Der  Mensch  wäre  von  dem  pathologischen 
Gefühl  geheilt.  Wir  bringen  aber  nicht  die  Raummaschine 
wieder  in  Ordnung,  dadurch  daß  wir  einen  Teil  wieder  ein- 
fügen, der  herausgesprengt  war.  Das  ist  plumpes  Raumdenken, 
eine  absolute  Mechanisierung  des  Psychischen.  Wir  rechnen 
mit  der  Erkenntnis  des  Subjekts,  wie  wir  damit  rechnen, 


—  270  — 

daß  ein  Mensch  sich  nicht  mehr  vor  einer  Blindschleiche 
fürchtet,  wenn  er  weiß,  daß  sie  nicht  giftig,  überhaupt  keine 
Schlange  usw.  ist.  Wir  fügen  damit  keine  mechanische 
Ursache  ein,  die  die  Angst  aus  dem  Bewußtsein  herausstößt. 
Wir  rechnen  nur  damit,  daß,  wenn  dem  Individuum  der 
Grund  zu  dem  Gefühl  schwindet,  auch  dieses  selbst  schwinden 
wird.  Genau  so  liegt  es  in  der  Pathologie.  Wir  nehmen  an: 
wenn  das  Individuum  weiß,  woher  das  Gefühl  stammt,  so 
wird  ihm  jetzt,  wo  es  den  eigentlichen  Grund  kennt,  der 
falsche  Grund  oder  die  absolute  Rätselhaftigkeit  schwinden 
und  damit  auch  das  Gefühl  vor  den  Objekten,  die  nur  zufällig 
mit  dem  eigentlichen  Grund  verbunden  waren.  Darin  liegt 
die  Wahrheit  der  psycho-analytischen  Behandlung.  Auf 
die  seltsame  Methode,  die  Geschichte  des  Individuums  — 
nichts  anders  ist  das  Unbewußte  —  zu  entdecken,  gehe  ich 
nicht  ein1.  Nur  auf  eines  möchte  ich  hinweisen.  Es  folgt 
nämlich  unmittelbar  aus  unseren  Erörterungen,  daß  eine 
eventuelle  Heilung  kein  Beweis  dafür  ist,  daß  wir  den  wahren 
Grund  des  pathologischen  Gefühls  gefunden  haben.  Die 
Heilung  besteht  nicht  in  einer  objektiven  Umgestaltung 
des  psychischen  Raums.  Es  wird  keine  Maschine  wieder 
in  Ordnung  gebracht,  sondern  das  Subjekt  korrigiert  sich, 
es  gibt  auf,  was  es  als  unlogisch  und  nur  zufällig  ent- 
standen eingesehen  hat.  Es  kommt  daher  auf  nichts 
anderes  an  als  auf  den  „Glauben"  des  Subjekts  selbst 
und  nicht  auf  die  objektive  Wirklichkeit.  Es  braucht  nur 
die  Unberechtigtheit  des  Gefühls  einsehen.  Da  dieses  aber 
als  Tatsache  da  ist,  so  wird  es  diese  nur  einsehen,  wenn  ihm 
das  Gefühl  in  seiner  logisch  zufälligen,  historischen  Ent- 
stehung verständlich  ist.  Hat  es  einen  plausiblen  Grund 
dafür,  so  ist  es  gut.  Nur  seine  Meinung  ist  das  Entscheidende. 

1  Die  Psychiatrie  kommt  wohl  wieder  auf  die  Methode  zurück, 
mit  der  die  Theorie  begonnen  und  die  sie  leider  später  aufgegeben 
hat,  nämlich  durch  das  in  der  Hypnose  gesteigerte  historische  Be- 
wußtsein die  Vergangenheit  zu  eruieren. 


—  271  — 

Ob  sie  objektiv  wahr  ist,  tut  nichts  zur  Sache.  So  können 
religiöse  Vorstellungen  positiv  in  das  Leben  des  Subjekts  ein- 
greifen, allein  damit  ist  ihre  Wahrheit  nicht  erwiesen.  Nur 
der  Glaube  an  die  Wahrheit  ist  das  psychologisch  Entschei- 
dende. Genau  so  liegt  es  bei  jenen  Heilungen.  Der  Glaube 
heilt,  nicht  die  objektive  Umgestaltung  des  Bewußtseins- 
raums. Wo  allerdings  das  Pathologische  auf  das  Somatische 
übergreift  —  und  solche  Fälle  scheinen  erwiesen  zu  sein  — , 
wird  wohl  eine  dauernde  Heilung  nur  möglich  sein,  wo  der 
„wirkliche"  Grund  entdeckt  worden  ist.  Eine  Suggestion 
wird  hier  keinen  dauernden  Erfolg  haben.  Trotzdem  ist 
aber  damit  nichts  für  die  Mechanisierung  des  Psychischen 
bewiesen.  So  lange  wir  im  Psychologischen  bleiben,  „ver- 
stehen" wir  die  Erscheinungen,  ohne  sie  objektiv  erklären 
zu  können,  und  von  einer  Zuordnung  der  somatischen  und 
der  psychischen  Reihe  als  Erklärung  kann  niemals  die 
Rede  sein. 

Auch  als  Psychologen  haben  wir  die  Pflicht,  das  Patho- 
logische als  einen  Spezialfall  des  Normalen  anzusehen,  genau 
so  wie  das  Pathologische  des  körperlichen  Organismus. 
Es  gibt  keinen  spezifischen  Krankheitsstoff,  sondern  ein 
vom  normalen  abweichendes  Verhalten  des  Organismus. 
Soweit  diese  Abweichung  nicht  von  einem  Eingriff  von 
außen  her  abhängt,  der  die  immanente  Determination  be- 
einflußt, handelt  es  sich  bei  dem  Pathologischen  stets  um 
eine  Desorganisation.  Das  psychische  Leben  ist  eine  Or- 
ganisation der  Erfahrung,  eine  Anpassung  an  die  Realität. 
In  diesem  Sinne  ist  auch  die  Wissenschaft  nur  Organisation. 
Das  Lebensproblem  des  Individuums  ist  die  Ordnung  seiner 
Erfahrungen  zu  einem  widerspruchslosen  System.  Jede 
Geisteskrankheit,  soweit  sie  sich  in  unlogischen  Ideen  äußert, 
bedeutet  eine  Dezentralisation.  Soweit  die  Ordnung  Sache 
des  Wissens  ist,  ist  sie  eine  Störung  des  Gedächtnisses,  denn 
von  der  subjektiven  Erkenntnis  aus  ist  das  ordnende  Wissen 
nur  die  Ordnung  der  eigenen  Erlebnisse  in  der  Zeit,  also  des 


—  272  — 

Gedächtnisses.  Wir  finden,  daß  der  Kranke  mit  unheimlicher 
Logik  jede  neue  Erfahrung  sofort  seiner  fixen  Idee  einordnet. 
Diese  Spezialorganisation  ist  aber  in  dem  Zusammenhang 
des  ganzen  Lebens  eine  Desorganisation.  Sie  ist  unlogisch,  weil 
sie  in  keinem  organischen  Zusammenhang  mit  den  früheren 
Erfahrungen  steht.  Organisch  heißt  aber  nichts  anderes, 
als  daß  eine  zentralistische  Einheit  besteht.  Wir  können 
jede  Geisteskrankheit  als  eine  Gedächtnisstörung  auffassen, 
aber  wir  dürfen  dies  nicht  mechanistisch  ausdeuten.  Der 
historische  Zusammenhang  ist  auch  weiter  da,  aber  nur 
für  unsere  betrachtende  Erkenntnis.  Wir  müssen  uns  be- 
mühen, den  jetzigen  Zustand  aus  der  Vergangenheit  des 
Subjekts  heraus  zu  verstehen.  Die  Anschauung  des  Mittel- 
alters, daß  ein  anderer  Dämon  im  Körper  sitzt,  ist  genau 
so  unlogisch  wie  die  alte  Pathologie,  die  eine  Krankheit 
als  Spezialwesen  im  Organismus  annahm.  Was  wir  „ver- 
gessen" nennen,  ist  nicht  umdenkbar  als  ein  Dasein  im  andern 
Raum  oder  ein  Nichtmehrdasein  von  psychischen  Elementen 
im  psychischen  Raum  überhaupt,  sondern  es  ist  nur  der 
Ausdruck  für  die  Desorganisation.  Durch  das  Absperren  oder 
die  Absplitterung  eines  Erlebnisses  kann  man  die  Folge 
nicht  erklären,  damit  würde  man  aus  dem  Raumbild  Wahr- 
heit machen.  Man  benennt  nur  die  Desorganisation.  Man 
hat  nur  einen  andern  Ausdruck  dafür,  daß  ein  Erlebnis 
in  den  psychischen  Organismus  nicht  aufgenommen  ist.  Das 
Subjekt  weiß  es  nicht  mehr,  heißt:  es  hat  es  nicht  seinen 
Erfahrungen  eingegliedert.  Pathologisch  ist  dieses  Vergessen 
oder  diese  Desorganisation,  wenn  die  Lebensmöglichkeit  da- 
durch unterbunden  wird.  Wir  können  uns  nur  an  das  erinnern, 
was  wir  organisiert  haben.  Dies  führt  uns  noch  einmal  zu  der 
Theorie  der  Apperzeption.  Apperzeption  und  Perzeption 
vergleichen  nicht  psychische  Elemente  nach  dem  Grade 
des  Bewußtseins,  sondern  das  Erlebte  mit  der  gedachten 
Wirklichkeit  im  Raum.  Was  erlebt  wird,  hat  keine  Grade. 
Es  ist  da.   Aber  im  Vergleich  zu  dem  wirklichen  Gegenstande 


—  273  — 

kann  es  ,, wenig"  sein.  Der  Gegenstand  wird  nicht  apper- 
zipiert,  weil  ich  zu  wenig  E^estimmtheiten  an  ihm  erlebe. 
Die  Apperzeption  des  Gegenstandes  ist  aber  schon  eine 
Organisation,  ein  Symptom  des  Gedächtnisses.  Sie  be- 
deutet das  Festhalten  einer  Einheit,  eines  Zentralpunktes 
im  Wechsel  der  Erlebnisse  dadurch,  daß  sie  die  zeitliche  Folge 
auf  ,, einen"  Gegenstand  bezieht.  Wenn  ich  nicht  künstlich 
meine  Aufmerksamkeit  einstelle,  wird  deshalb  auch  jedes 
Erlebnis  momentan  vergessen,  das  nicht  irgendwie  organisiert 
ist,  nicht  als  Bestimmtheit  einer  wenn  auch  noch  so  kurz 
dauernden  Einheit  aufgefaßt  wird.  Diese  Erlebnisse  hat 
man  die  Fransen  „fringes"  des  Bewußtseins  genannt.  Sie 
sind  da,  werden  aber  sofort  vergessen.  Das  heißt  nichts 
anderes,  als  daß  sie  mit  dem  nächsten  Moment  keine  Einheit 
eingehen,  daß  sie  nicht  auf  eine  dauernde  Größe  bezogen 
werden.  Wir  vergessen  das,  womit  wir  uns  nicht  mindestens 
zwei  Momente  beschäftigen.  Der  Moment  ist  ja  psychologisch 
eine  reale  dauernde  Zeitgröße,  das  Erlebnis  einer  Einheit 
ohne  den  geringsten  Wechsel,  denn  jeder  Wechsel  bedeutet 
einen  neuen  Moment.  Das  Festhalten  einer  Einheit  trotz  des 
Wechsels  ist  also  ein  Symptom  des  Gedächtnisses.  Das  Be- 
wußtsein ist  keine  Folge  von  a,  b,  c,  d ,  sondern 

eine  Organisation.  A  existiert  auch  noch  im  Moment,  wo 
b  erlebt  wird,  falls  es  nicht  nur  eine  Franse  des  Bewußtseins 
war.  Ideenflucht  im  absoluten  Sinne  heißt  Bewußtsein 
ohne  Gedächtnis,  ohne  Organisation,  ohne  Beschäftigung 
mit  dem  Gegenstand.  Wir  erleben  also  wahrscheinlich 
viel  mehr,  als  wir  wissen.  Aber  es  kommt  darauf  an,  daß  wir 
es  ,,im  nächsten  Moment"  nicht  mehr  wissen.  Im  Moment 
des  Erlebens  war  es  da  wie  alles  andere,  nur  ist  dieser  Moment 
kein  Teil  eines  größeren  Moments  geworden.  Es  fehlt  die 
Organisation  der  Zeit  oder  das  Gedächtnis.  Es  wurde  nichts 
im  Unbewußten  erlebt,  sondern  es  wird  etwas  als  Erlebnis  im 
nächsten  Moment  nicht  mehr  gewußt.  Natürlich  steht  es 
dem    praktischen    Menschen    völlig    frei,    das    Unbewußte 

Strich,  Prinzipien.  18 


—  274  — 

oder  das  Unterbewußtsein  sprachlich  anzuwenden,  genau  so 
wie  er  keine  Trennung  zwischen  Gefühl  und  Empfindung 
macht.  Die  Wissenschaft  aber  muß  in  ihrer  Terminologie 
reinlich  sein.  Wir  wissen,  daß  die  Apperzeption  von  der 
immanenten  Determinierung  abhängt.  Die  Fransen  gehen 
spurlos  vorüber,  weil  sie  für  die  momentanen  Determinie- 
rungen gleichgültig  sind.  Das  Vergessen  ist  dann  pathologisch, 
wenn  das  Erlebnis  für  den  weiteren  Zusammenhang  durch- 
aus nicht  gleichgültig  sein  dürfte.  Das  Vergessen  eines  Er- 
eignisses bedeutet  prinzipiell  nichts  anderes  als  den  Gegen- 
satz von  Perzeption  und  Apperzeption.  Nur  die  Zeitspanne 
ist  größer  geworden.  Das  Erlebnis  ist  nicht  organisiert 
worden  zu  einer  größeren  Einheit.  Die  Geisteskrankheit 
ist  ein  Bruch  mit  der  Vergangenheit,  eine  Gedächtnisstörung, 
eine  Dezentralisierung  der  Erfahrungen.  Diese  Desorgani- 
sation können  wir  aber  nicht  räumlich  dadurch  begreifen, 
daß  wir  die  vergessenen  Erlebnisse  an  einem  andern  Ort 
denken.  Damit  verlieren  wir  den  notwendigen  Beziehungs- 
punkt des  zeitlichen  Subjekts.  Wir  würden  eine  Psychologie 
ohne  Bewußtsein  bekommen.  Selbstverständlich  sind  auch 
die  Willenstendenzen  das  Problem  einer  solchen  Organisation. 
Ich  betrachte  sie  hier  nicht  vom  ethischen  Standpunkt, 
sondern  rein  vom  biologisch-psychologischen.  Der  Kampf  der 
Motive  ist  eine  Organisation  der  Tendenzen.  Im  Moment,  wo 
eine  Willenstendenz  alleinherrschend  wird,  können  wir  auch 
von  einer  Gedächtnisstörung  sprechen.  Wir  bezeichnen 
aber  damit  wieder  nur  eine  Desorganisation.  Wir  können 
sie  nicht  durch  eine  mythologische  Deutung  erklären,  dadurch 
daß  das  Oberbewußtsein  als  Mensch  im  Menschen  vorgestellt 
wird,  daß  es  als  Wärter  abgesetzt  werden  kann.  Das  Doppel- 
bewußtsein oder  den  Dämmerzustand  können  wir  nicht 
durch  ein  Raumverhältnis  erklären. 

Wir  kommen  in  diesen  und  allen  andern  Fällen  mit 
den  Prinzipien  der  gewöhnlichen  psychologischen  Erkenntnis 
aus,  ohne  eine  Raumtheorie  des  Bewußtseins  nötig  zu  haben. 


—  275  — 

Selbstverständlich  ist  damit  gesagt,  daß  es  nicht  Fälle  gibt, 
die  dem  Laien  völlig  rätselhaft  sind.  Aber  die  Prinzipien 
des  Verständnisses  sind  in  allen  Fällen  die  gleichen;  wir 
verstehen  die  Gegenwart  aus  der  Vergangenheit,  die  von 
dem  Subjekt  selbst  vergessen  sein  kann.  Wir  stoßen  etwa 
auf  einen  eigentümlichen  Zustand,  der  uns  deswegen  ver- 
wundert, weil  sich  ein  völlig  anderer  Charakter  in  dem 
Individuum  zeigt,  als  wir  sonst  bei  ihm  kennen.  Der  Psycho- 
loge hat  auch  ihn  historisch  zu  verstehen.  Wir  zeigten,  daß 
der  Charakter  nur  in  spezifischen  Willenstendenzen  besteht. 
Wollen  wir  die  Gegenwart  verstehen,  so  können  wir  gar  nichts 
anderes  tun,  als  sie  als  Wiederholung  der  Vergangenheit 
begreifen.  Wir  sind  methodisch  zu  der  Annahme  gezwungen, 
daß  die  sich  jetzt  zeigenden  Willenstendenzen  auch  früher 
schon  einmal  da  waren.  Gewiß  kann  man  sagen,  daß  das 
Unbewußte  auftaucht.  Aber  dies  ist  in  keinem  andern  Sinn  zu 
nehmen,  als  wenn  irgend  eine  Vorstellung  auftaucht.  Auch 
diese  ist  ein  Aktuellwerden  des  Unbewußten,  nämlich  der 
Vergangenheit.  Ich  will  hier  kein  Phänomen  leugnen,  sondern 
nur  die  theoretische  Darstellung,  mit  der  man  es  erklären 
zu  können  glaubt.  Wir  können  eine  gegenwärtige  Handlung 
nur  verstehen  aus  einer  Willenstendenz  des  zeitlich  dauernden 
Subjekts.  Wir  können  ebenso  eine  Vorstellung  nur  aus 
den  persönlichen  Erfahrungen  dieses  Subjekts  begreifen. 
Zum  pathologischen  Problem  wird  uns  die  Gegenwart  erst 
dann,  wenn  sie  uns  unlogisch  erscheint,  wenn  wir  sie  nicht 
zentral  verstehen  können.  Wir  müssen  sie  jetzt  aus  einer 
Willenstendenz  begreifen,  die  wir  für  gewöhnlich  nicht 
zum  Verständnis  heranzuziehen  brauchten.  Dieselbe  Handlung 
braucht  bei  einem  andern  Subjekt  nicht  pathologisch  zu 
sein,  weil  sich  der  diesbezügliche  Wille  immer  gezeigt  hat. 
Man  braucht  aber  nicht  auf  jene  absurde  Raumtheorie  zurück- 
zugreifen. Wir  kennen  alle  die  Bekämpfung  des  eigenen 
Willens,  das  Zurückdrängen  eines  Wunsches  zugunsten 
eines  andern.    Wir  dürfen   aus  dem  Wort,  dem  Raumbild, 

18* 


—  276  — 

aber  keine  Wahrheit  machen.  Wir  stoßen  den  Willen  nicht 
in  einen  Nebenraum,  aus  dem  er  wieder  in  den  Hauptraum 
gelangt.  Für  den  Psychologen  existiert  nur  die  Tatsache, 
daß  wir  eine  Handlung  aus  dieser  oder  jener  Willenstendenz 
zu  verstehen  haben.  Beides  sind  keine  psychischen  Dinge. 
Tatsache  ist,  daß  für  das  Verständnis  plötzlich  eine  Willens- 
tendenz maßgebend  ist,  die  wir  bis  jetzt  für  die  Körper- 
handlungen nicht  heranzuziehen  brauchten,  vielleicht  aber 
für  das  Verständnis  des  Vorstellungslebens.  Wir  können 
auch  sagen,  daß  jetzt  die  Tendenzen  vergessen  werden,  die 
als  Hemmungen  ihr  entgegenstanden.  Es  geschieht  aber  gar 
nichts  unbewußt.  Was  geschieht,  geschieht.  Aber  wir  machen 
die  Beobachtung,  daß  das  Subjekt  selbst  später  nichts  mehr 
davon  weiß.  Ein  Zeitabschnitt  existiert  also  von  dem  späteren 
Subjekt  aus  ungewußt,  er  ist  nicht  organisiert.  Gewiß  ist 
dies  merkwürdig,  aber  ich  sehe  keinen  Grund  zu  jener 
mythologischen  Darstellung,  daß  ein  Wächter,  der  an  der 
Klappe  im  Oberbewußtsein  sitzt,  von  dem  andrängenden 
Willen  aus  dem  Nebenraum  überrumpelt  wird.  Diese  Mytho- 
logie kann  wissenschaftlich  nicht  die  geringste  Bedeutung 
haben.  Für  den  historischen  Psychologen  existiert  das 
ganze  Leben,  von  dem  die  Gegenwart  nur  ein  Teil  ist.  Des- 
wegen weil  das  Subjekt  dieses  Leben  nicht  weiß,  existiert 
es  nicht  in  einem  andern  Raum.  Wir  haben  den  Moment 
auch  nicht  durch  das  Geschehen  in  einem  andern  Raum  zu 
erklären.  Di-e  Absurdität  steckt  wirklich  nur  darin,  daß 
man  die  Vergangenheit  als  Ding  im  Raum  denkt.  Es  ist 
gar  nichts  dagegen  zu  sagen,  wenn  jemand  behauptet:  das 
Psychische  ist  nur  das  Bewußtsein,  und  ein  Unbewußtes 
gibt  es  überhaupt  nicht.  Das  ist  vollständig  richtig,  wenn 
man  unter  der  Existenz  nur  die  unmittelbare  Gegenwart 
versteht.  Bewußtsein  und  Gegenwart  ist  dasselbe.  Aber 
für  die  Psychologie  ist  diese  Gegenwart  nur  ein  Teil  der 
ganzen  Zeitreihe.  Diese  ist  im  Vergleich  zu  dem  Bewußtsein 
das  Unbewußte.    Was  gegenwärtig  da  ist,  existiert  bewußt; 


—  277  — 

nur  soweit  es  eine  Wiederholung  der  Vergangenheit  ist,  nur 
soweit  die  Handlung  uns  aus  den  vergangenen  Erlebnissen 
und  vergangenen  Willenstendenzen  verständlich  wird,  exi- 
stiert auch  das  Unbewußte.  Es  existiert  in  der  Gegenwart, 
weil  die  Zeit  die  Realität  ist,  wie  die  Teile  des  Raums  alle 
zusammen  existieren.  Ganz  falsch  ist  es  aber  zu  sagen,  daß 
das  Unbewußte  im  Bewußtsein  oder  unter  dem  Bewußtsein 
existiert  und  wirkt.  Der  Wille  ist  kein  Ding,  das  etwas  in 
Bewegung  setzt.  Die  Willenstendenzen  sind  da,  weil  die 
Vergangenheit  da  ist,  als  Bestimmtheiten  des  historischen 
Subjekts.  Sie  existieren  als  Grund  der  Erkenntnis,  weil 
diese  nur  Gleichheiten  in  einem  System  zusammenfassen 
kann,  das  in  diesem  Falle  kein  Raum-,  sondern  ein  Zeitsystem 
ist.  Auch  jene  Willensbestimmtheiten  des  Subjekts  existieren, 
aus  denen  ich  die  momentane  Handlung  nicht  verstehe.  Wir 
sind  allzusehr  gewohnt,  räumlich  zu  denken.  Die  Willens- 
tendenz ist  kein  Ding,  sondern  eine  mehr  oder  minder  kon- 
stante Beziehung  des  Subjekts  zur  Welt.  Man  fragt  bei  der 
Handlung  nicht  nach  dem  daseienden  Faktor,  der  Ursache 
ist,  sondern  nach  dem  Gesetz,  aus  dem  sie  zu  verstehen  ist. 
Dieses  Gesetz,  den  Willen,  braucht  das  Subjekt  nicht  zu  wissen. 
Damit  aber,  daß  man  den  Willen  als  Ursache  ins  Unbewußte 
verlegt,  ist  gar  nichts  gesagt.  Kein  Wille  existiert  im  Be- 
wußtsein, weder  im  Ober-  noch  im  Unterbewußtsein,  sondern 
die  Willenstendenz,  aus  der  man  die  momentane  Handlung 
versteht,  existiert  als  Bestimmtheit  des  historischen  Subjekts 
wie  alle  andern.  Das  Dasein,  von  dem  die  Zukunft  abhängt, 
ist  das  Subjekt  mit  seiner  ganzen  Vergangenheit  und  kein 
momentaner  Raumausschnitt  des  Bewußtseins.  Es  wäre 
falsch  zu  behaupten,  daß  wir  ständig  bewußt  handeln,  wenn 
man  darunter  das  Wissen  um  sein  Tun  versteht.  Es  ist  aber 
genau  so  rationalistisch,  wenn  man  dieses  Wissen  im  Ober- 
bewußtsein annimmt,  wie  wenn  man  es  ins  Unterbewußtsein 
verlegt.  Es  wäre  freilich  höchst  bequem,  wenn  wir  die  kom- 
plizierten Instinkte  der  Tiere  alle  uns  dadurch  klarmachen 


—  278  — 

könnten,  daß  wir  das  Wissen  der  Zwecke  in  ihr  Unter- 
bewußtsein verlegten.  Man  kann  es  als  selbstverständlich 
ansehen,  daß  der  Mensch  auch  ohne  intellektuelle  Aufklärung 
zu  sexuellen  Handlungen  kommen  würde.  Wir  können  aber 
auch  in  dem  unreifen  Individuum  viele  Handlungen  nur 
aus  dem  Sexualtrieb  heraus  verstehen.  Soweit  die  Hand- 
lungen da  sind,  ist  auch  der  Trieb  da,  aber  weder  im  Ober- 
noch  im  Unterbewußtsein,  sondern  als  Bestimmtheit  des 
Subjekts.  Nennt  man  ihn  unbewußt,  so  kann  ich  darunter 
nur  die  zweifellos  richtige  Tatsache  verstehen,  daß  das  Kind 
,, theoretisch"  noch  nichts  von  der  Sexualität  weiß.  Man 
kann  also  sagen,  daß  das  Kind  noch  nicht  weiß,  was  es  tut. 
Der  Trieb  existiert  nicht  als  Sache  im  Unbewußten,  sondern 
er  existiert  ungewußt  als  psychologisches  Gesetz.  Das  Kind 
ist  noch  nicht  Sexualpsychologe.  Ebenso  glaube  ich  auch 
nicht,  daß  ein  junges  Huhn,  wenn  es  nach  einem  Korn  pickt, 
weiß,  daß  alle  Hühner  nach  Körnern  picken.  Darauf  würde 
es  aber  auch  in  unserm  Fall  hinauslaufen.  Ich  will  nicht 
darüber  streiten,  ob  man  die  Zärtlichkeit  des  kleinen  Kindes 
zur  Mutter  als  Sexualität  auffassen  muß.  Darauf  kommt 
es  mir  hier  nicht  an.  Ganz  belanglos  aber  ist  die  Behauptung, 
daß  das  Kind  „eigentlich"  etwas  anderes  will,  als  es  tut,  oder 
daß  der  Sexualtrieb  im  Unbewußten  existiert.  Soweit  eine 
Ähnlichkeit  des  Verhaltens  da  ist,  führen  wir  sie  auf  die 
gleiche  Willenstendenz  zurück.  Das,  was  das  Kind  tut, 
will  es  tun.  Daß  es  eigentlich  etwas  anderes  tun  will,  ist 
nicht  nur  vollständig  unverifizierbar,  sondern  es  ist  prinzipiell 
unlogisch.  Ich  finde  es  auch  falsch  zu  sagen,  daß  die  alte 
Jungfer,  die  ihr  Liebesbedürfnis  an  Hunden  und  Katzen 
auslebt,  „eigentlich"  etwas  anderes  will,  daß  der  unbewußte 
Trieb  im  Bewußtsein  eine  andere  Gestalt  angenommen  hat. 
Das  ist  alles  plumpes  Raumdenken.  Existieren  tun  ihre 
Taten,  und  als  Psychologe  ist  man  verpflichtet,  die  den  Taten 
zugrunde  liegenden  Willenstendenzen  in  logische  Beziehungen 
zu  setzen.    Wir  schließen  auch  hier  aus  der  Ähnlichkeit  des 


—  279  — 

Verhaltens  auf  die  gleiche  Willenstendenz.  Von  einem  Unter- 
bewußtsein, einer  Verkleidung  des  Willens  zu  sprechen,  halte 
ich  für  gefährlich  und  unnotwendig.  Kein  Mensch  kann  be- 
weisen, daß  der  Erkenntnistrieb  ein  sublimierter  Geschlechts- 
trieb ist.  Man  kann  keine  Identität  einer  im  psychischen 
Raum  existierenden  Größe  nachweisen.  Man  mag  sagen, 
daß  die  gleichen  Energien  auf  verschiedene  Weise  ausgelebt 
werden.  Man  stützt  sich  aber  dabei  gerade  auf  eine  Verschieden- 
heit des  Wollens.  Nicht  der  Geschlechtstrieb  wird  in  andere 
Bahnen  gelenkt,  sondern  höchstens  die  allgemeine  Energie, 
die  sich  eben  in  verschiedenen  Willenstendenzen  und  Tätig- 
keiten äußern  kann.  Man  postuliert  überhaupt  von  vorn- 
herein eine  Gleichheit  aller  Lust  mit  sexueller  Befriedigung, 
ohne  den  geringsten  Grund  dafür  zu  haben,  und  ohne  es  jemals 
beweisen  zu  können.  Gewiß  muß  das  Lutschen  am  Zeh  dem 
Kinde  Lust  bereiten.  Warum  muß  es  aber  eine  sexuelle  Lust 
oder  die  Handlung  eine  sexuelle  Betätigung  sein  ?  Wir  können 
letzten  Endes  den  Erkenntnis-  und  den  Sexualtrieb  vielleicht 
auf  einen  noch  allgemeineren  Trieb  zurückführen,  beide  der 
umfaßt,  etwa  auf  den  Willen  zur  Macht,  wie  ihn  Nietzsche 
genannt  hat.  Wir  können  von  einer  anderen  Seite  her  den 
Drang  nach  der  Wahrheit  mit  der  Liebe  in  dem  platonischen 
Begriff  des  zpac,  zusammenfassen.  Dies  interessiert  uns 
nicht  an  dieser  Stelle.  Hier  kommt  es  nur  darauf  an,  daß 
wir  alle  Betätigung  auf  allgemeinere  Tendenzen  zurückführen 
müssen,  die  je  allgemeiner,  desto  inhaltsarmer  werden.  Wir 
haben  den  Menschen  zu  verstehen.  Wir  können  dabei  viel- 
leicht psychologisch  von  einer  allgemeinen  Energie  ausgehen, 
die  sich  ausleben  will.  Die  Sexualität  wäre  dann  eine  Bahn 
neben  andern,  die  allein  die  ganze  Energie  oder  auch 
gar  keine  beanspruchen  könnte.  Ganz  willkürlich  aber  ist 
die  Identifizierung  von  Energie  und  Sexualität,  als  ob  alle 
Betätigungen  als  Sexualität  zu  verstehen  sind.  Der  empi- 
rische Ausgangspunkt  ist  jedenfalls  gerade  das  Gegenteil, 
nämlich  die  Verschiedenheit.    Beweisen  läßt  sich  die  Identität 


—  280  — 

niemals.  Sie  ist  ein  metaphysisches  Dogma.  Zwei  verschie- 
dene Tätigkeiten  lassen  sich  höchstens  durch  dieselbe  Willens- 
tendenz begründen.  Davon  ist  man  aber  in  jener  allgemeinen 
Identifizierung  weit  entfernt.  Man  behauptet  nur,  daß  alle 
Tätigkeit  auf  dem  Willen  beruht  und  daß  es  nur  einen  Willen, 
den  sexuellen,  gibt.  Soweit  wir  eine  Ähnlichkeit  der  Ziele 
entdecken,  sind  wir  berechtigt,  von  der  gleichen  Willens- 
tendenz zu  sprechen.  Wir  würden  also  mit  dem  Willen  zur 
Macht  noch  hinter  die  Sexualität  gelangen  und  könnten 
sie  dadurch  mit  dem  Erkenntnistrieb  aus  einem  allgemeineren 
Gesetz  verstehen.  Ob  das  eine  fruchtbare  inhaltsreiche 
Erkenntnis  wäre,  will  ich  hier  nicht  erörtern.  Ebenso  können 
wir  die  Beschäftigung  der  alten  Jungfer  verstehen  aus  dem 
allgemeinen  Bedürfnis  nach  Liebe.  Diese  allgemeine  Tendenz 
ist  aber  kein  Ding  im  Unterbewußtsein,  das  im  Oberbewußt- 
sein eine  besondere  Gestalt  angenommen  hat.  Dieses  Unter- 
bewußtsein ist  überhaupt  von  der  historischen  Psychologie 
aus  in  keinem  Falle  nötig.  Dieses  ,, Eigentlich  etwas  Anders- 
sein" ist  der  Grundirrtum  jener  Anschauung,  ist  kindliche 
Mythologie.  Wir  zeigten,  daß  die  psychologische  Erkenntnis 
danach  trachten  muß,  die  verschiedenen  Willenstendenzen 
in  allgemeinere  zusammenzufassen,  bis  wir  einschließlich  die 
allgemeinste  Beziehung  gefunden  haben,  die  sich  in  Allem 
zeigt.  Dieses  allgemeinste  Gesetz  innerhalb  des  Individual- 
systems,  diesen  Grenzbegriff  der  psychologischen  Erkenntnis 
nennen  wir  den  Charakter.  Wir  müssen  danach  versuchen, 
das  sexuelle  Leben  des  Subjekts  mit  seinen  sonstigen  Ten- 
denzen in  Zusammenhang  zu  bringen.  Wir  sind  methodisch 
verpflichtet,  auch  in  ihm  den  allgemeinen  Charakter,  die 
allgemein  wertende  Stellung  des  Subjekts  zur  Welt  zu  er- 
kennen. Wie  alle  anderen  Erfahrungen  müssen  wir  auch  die 
sexuellen  Erfahrungen  heranziehen,  um  das  Subjekt  zu  ver- 
stehen. Nichts  in  der  Welt  aber  kann  beweisen,  daß  allein 
die  Sexualität  das  Leben  verständlich  macht.  In  ihr  drückt 
sich  vielmehr  der  Charakter  genau  so  aus  wie  in  allem  andern. 


—  281  — 

Man  kann  daher  sagen,  daß  die  beurteilende  Stellung  zu  dem 
andern  Geschlecht  nicht  auf  Erfahrung  beruht,  sondern  nur  auf 
einem  Zuendedenken  von  sich  selbst.  Wo  man  eine  Hand- 
lung von  dem  unbewußten  sexuellen  Willen  bedingt  sein  läßt, 
liegt  es  häufig  nur  so,  daß  in  der  Handlung  sich  derselbe 
Charakter  zeigt,  wie  in  der  spezifischen  Sexualität  des  Sub- 
jekts. Beide  speziellen  Willenstendenzen  lösen  sich  für  die 
Erkenntnis  in  die  allgemeinere  auf.  Auch  die  Sexualität 
ist  das,  was  wir  zu  verstehen  suchen  müssen,  nicht  aber  die 
Gegebenheit,  die  uns  das  andere  verständlich  macht.  Dieses 
Verständnis  muß  aber  auf  eine  letzte  Tendenz  stoßen,  die 
unableitbar  für  uns  als  Grenzbegriff  der  psychologischen 
Erkenntnis  existiert.  Wir  haben  auf  die  Sexualität  zurück- 
zugreifen, wenn  wir  die  Handlung  aus  ihr  verstehen.  Es  ist 
aber  falsch,  daß  wir  prinzipiell  auf  sie  zurückgreifen  müssen. 
Dies  kann  man  nur  dogmatisch  metaphysisch  rechtfertigen, 
indem  man  sagt,  daß  der  Organismus  nur  Geschlechtswille 
ist.  Man  macht  diese  Voraussetzung,  man  kann  sie  aber 
nicht  empirisch  beweisen.  In  der  Erfahrung  sind  wir  nur 
methodisch  verpflichtet,  die  Handlung  vollständig  zu  ver- 
stehen und  letzten  Endes  alles  auf  die  letzte  wertende  Stellung 
des  Subjekts,  den  Charakter,  zurückzuführen,  wovon  die 
Sexualität  keine  Ausnahme  bildet.  Gewiß  ist  es  charakte- 
ristisch für  den  Menschen,  ob  er  beim  Vortrag  lieber  mit 
einem  eckigen  oder  einem  runden  Bleistift  spielt.  Auch  im 
Denken  gibt  es  eine  Vorliebe  für  Ecken,  für  Distinktionen, 
im  Gegensatz  zum  Runden,  dem  Ausgleich.  Jede  Bewegung 
ist  charakteristisch.  Es  wäre  die  seltsamste  Tatsache  von 
der  Welt,  wenn  es  die  Schreibbewegungen  nicht  wären.  Nur 
ist  hier  in  vielen  Fällen  die  Bewegung  nicht  für  das  Subjekt 
charakteristisch,  das  sie  ja  nicht  gebildet  hat,  sondern  für 
den,  der  sie  uns  lehrte  oder  für  die  Tradition,  genau  so  wie  der 
Parademarsch  nicht  für  den  einzelnen  Soldaten,  doch  wohl 
aber  für  „den"  preußischen  Soldaten  charakteristisch  ist. 
Soweit  man  in  der   Sexualität  einen  Charakter  entdecken 


—  282  — 

kann,  muß  man  sich  bemühen  um  eine  Zusammenfassung 
mit  andern  Handlungen.  Die  Sexualität  erklärt  sie  aber 
nicht,  sondern  sie  wird  selbst  erst  dadurch  verständlich. 
Es  besteht  ein  Zusammenhang  zwischen  Denken  und  Sexu- 
alität, aber  beides  ist  aus  dem  Subjekt  zu  begreifen,  nicht 
aber  das  Denken  mechanisch  zu  erklären  durch  Umgestaltung 
eines  Menschen  im  Menschen,  des  Sexualtriebs.  Wenn  jemand 
etwas  stiehlt,  um  es  zu  verkaufen,  weil  er  faul  ist  oder  jeden- 
falls sich  auf  keine  andere  Weise  Geld  verschaffen  kann  oder 
will,  so  verstehe  ich  seine  Handlung  ohne  auf  seine  Sexualität 
zurückgreifen  zu  müssen.  Es  ist  nichts  leichter,  als  die  Welt 
in  konvexe  und  konkave  Gegenstände  einzuteilen  und  danach 
in  allen  Operationen  mit  den  Objekten  sexuelle  Wünsche  zu 
entdecken.  Man  hat  damit  nichts  bewiesen,  sondern  nur  durch 
eine  Konstruktion  die  dogmatische  Voraussetzung  be- 
stätigt. Es  gehört  wenig  Phantasie  dazu,  für  das  Ausweichen 
vor  dem  Automobil  eine  Erklärung  auf  Grund  sexueller 
Beziehungen  und  Handlungen  zu  finden.  Man  entdeckt 
aber  nicht  den  negativen  sexuellen  Wunsch,  sondern  man 
interpretiert  nach  ihm.  Beweisen  läßt  sich  eine  Interpretation 
überhaupt  nicht.  Die  psychologische  Erkenntnis  ist  darin  der 
naturwissenschaftlichen  völlig  gleich.  Das  Kopernikanische 
System  ist  eine  Theorie,  deren  Wert  darin  liegt,  daß  Er- 
scheinungen damit  erklärt  werden,  die  sonst  unerklärt 
bleiben  würden.  Sonst  könnten  wir  genau  so  gut  annehmen, 
daß  die  Sonne  sich  um  die  Erde  dreht.  Psychologisch  ist 
die  Erkenntnis  richtig,  durch  die  ich  am  besten  und  ein- 
fachsten die  Handlung  verstehe.  Ich  will  damit  nicht  sagen, 
daß  alles  einfach  ist,  was  unmittelbar  so  scheint.  Andererseits 
aber  ist  es  auch  Pflicht,  was  ohne  Komplikationen  zu  ver- 
stehen ist,  ohne  sie  zu  interpretieren.  Das  Ausweichen  vor 
einem  Auto  ist  solch  ein  Fall.  Erst  eine  übertriebene,  eine 
unlogische  oder  unberechtigte  Angst  hätten  wir  aus 
Erlebnissen  zu  verstehen,  in  denen  die  sexuellen  eine  große 
Rolle  spielen  „können",  und  aus  Willenstendenzen,  die  sich 


—  283  — 

auch  in  der  Sexualität  äußern  können.  Problematisch  ist 
mir  das  Unlogische,  die  verfehlte  Anpassung  an  das  Leben. 
Damit  kommen  wir  zu  dem  Zentralpunkt  der  Theorie, 
dem  Begriff  des  Symbols.  Es  wäre  lächerlich,  das  Symbol 
als  Erlebnis  zu  leugnen.  Wir  können  es  aber  nicht  anders 
< [»'linieren  als  einen  eigentümlichen  Strukturzusammenhang 
des  Bewußtseins.  Etwas  wird  als  etwas  anderes  erlebt. 
Es  ist  völlig  falsch,  diesen  Strukturzusammenhang  in.  einen 
Raumzusammenhang,  in  ein  Plus  oder  ein  Nebeneinander, 
in  eine  Assoziation  auflösen  zu  wollen.  Das  Wesentliche 
ist  gerade  die  Bewußtseinsbeziehung,  daß  A  von  einem 
Subjekt  als  B  erlebt  wird,  daß  A  für  das  Bewußtsein  B  be- 
deutet. Es  ist  dies  ein  ähnlicher  Strukturzusammenhang 
wie  das  sprachliche  Meinen.  Statt  des  optischen  Inhalts 
haben  wir  es  hier  mit  einem  akustischen  zu  tun.  Außerdem 
aber  trennen  wir  die  Allegorie  vom  Symbol.  Bei  der  Allegorie 
beruht  der  Strukturzusammenhang,  so  wie  er  da  ist,  auf  einer 
Konvention,  einer  Verabredung,  einem  Wissen,  das  man  er- 
werben muß.  Damit  soll  keineswegs  gesagt  sein,  daß  die 
Beziehung  als  Verabredung  genetisch  entstanden  ist.  Das 
wäre  kindliche  Sprachgeschichte.  Auch  was  als  Symbol 
entstanden  ist,  kann  zur  Allegorie  werden.  Eine  Analogie 
des  Symbols  ist  das  Onomatopoetische  der  Sprache,  das  wir 
aber  in  manchen  Fällen  gar  nicht  mehr  bemerken.  Wir 
nehmen  es  als  Denkbeziehung  oder  als  Allegorie.  Das  Symbol 
beruht  auf  einer  unmittelbaren  Ähnlichkeit,  auf  dem  intui- 
tiven Erfassen  der  Verwandtschaft  des  Meinenden  mit  dem 
Gemeinten.  Sobald  die  Ähnlichkeit  nicht  mehr  erlebt  wird, 
ist  das  Symbol  zur  Allegorie  geworden.  Wir  wissen,  was 
gemeint  ist,  aber  wir  müssen  es  eben  wissen  und  wir  erleben 
keine  unmittelbare  Beziehung  mehr  zwischen  den  Erlebnissen. 
Das  Wesentliche  der  Psychologie  des  Symbols,  auf  das  unsere 
ganze  Kritik  hinausläuft,  ist  dies:  der  höchste  Grad  des 
Symbolerlebnisses  ist  die  Illusion.  Das  Gemeinte  oder 
Symbolisierte  ist  ausschließlich  Gegenstand  des  Erlebnisses 


—  284  - 

geworden,  das  Symbolisierende  wird  nicht  mehr  als  solches 
erlebt.  Das  Kind  erlebt  kein  Handtuch  mehr,  sondern  eine 
Puppe.  Wo  aber  nicht  etwas  gemeint  ist,  etwas  qualitativ 
anders  als  in  Wirklichkeit  erlebt  wird,  ist  es  sinnlos,  von 
Symbol  zu  sprechen.  Das  unmittelbar  Erlebte  kann  niemals 
Symbol  genannt  werden,  wenn  nicht  etwas  anderes  dahinter 
erlebt  wird.  Deswegen  halte  ich  es  für  sinnlos  zu  sagen :  das 
Symbolisierende  existiert  bewußt,  das  Symbolisierte  unbewußt. 
Nur  das  Umgekehrte  ist  möglich,  nämlich  im  Fall  der  absoluten 
Illusion.  Es  gibt  keine  objektive  Beziehung  zwischen  zwei 
Vorstellungen,  die  man  als  Symbol  bezeichnen  kann.  Es 
wäre  dies  nicht  Psychologie  ohne  Seele,  sondern  Psychologie 
ohne  Bewußtsein.  Das  Wesentliche  ist  der  Beziehungspunkt 
zu  dem  Subjekt,  für  das  der  Inhalt  etwas  bedeutet.  Nicht 
die  Sprache  meint  etwas,  sondern  das  sprechende  Subjekt. 
Jene  Theorie  löst  in  derselben  verkehrten  Weise  wie  die 
Elementartheorie  den  Strukturzusammenhang  des  Bewußt- 
seins in  einen  Raumzusammenhang  auf.  Sie  kann  die 
Symbolbeziehung  zweier  Vorstellungen,  wenn  sie  sie  nicht  auf 
das  erlebende  Subjekt  bezieht,  nicht  anders  deutlich  machen 
als  durch  eine  Verkleidung  einer  identischen  Vorstellung 
in  einem  andern  Raum.  Das  Symbolisierte  ins  Unbewußte 
zu  verlegen,  ist  wissenschaftliche  Unsauberkeit.  Es  ist 
logisch  ausgeschlossen,  daß  man  einen  Beweis  dafür  erbringt. 
Denn  es  gibt  keine  Methode,  die  man  bei  dem  Beweisen- 
Wollen  überhaupt  benutzen  könnte.  Weiß  das  Subjekt  von 
den  Symbolen,  so  existiert  es  eben  bewußt,  weiß  es  es  nicht, 
so  hat  es  kein  Symbol  erlebt.  Eine  andere  Möglichkeit  ist 
ausgeschlossen.  Hat  es  kein  Symbol  erlebt,  so  hat  es  auch 
gar  keinen  Sinn  mehr  zu  sagen,  daß  etwas  ein  Symbol  „ist". 
Unter  dem  unbewußten  Erleben  eines  Symbols  kann  man 
sich  nichts  Vernünftiges  mehr  vorstellen,  wenn  man  nicht 
aus  dem  Raumbild  des  Ober-  und  Unterbewußtseins  Wahr- 
heit macht.  Denke  ich  zwei  Menschen  in  zwei  verschiedenen 
Räumen,  so  kann  freilich  der  eine  etwas    anderes    erleben 


—  285  — 

als  der  andere.  Es  ist  unsinnig,  daß  etwas  ein  Symbol  ist, 
ohne  daß  es  als  solches  erlebt  wird.  Diese  Meinung  ist  der 
Höhepunkt,  bis  zu  dem  es  unsere  materialistische  oder  mecha- 
nistische Substanztheorie  in  der  Psychologie  gebracht  hat. 
Man  vergißt  ganz,  daß  das  Bewußtsein  gleichbedeutend 
ist  mit  Erleben.  Sie  ist  noch  unsinniger  als  die  Annahme 
der  Elementarpsychologie,  daß  gleiche  Elemente  im  Bewußt- 
seinsraum sind.  Man  beachtet  dabei  nicht,  daß  eine  Gleich- 
heit nur  „für"  ein  Bewußtsein  besteht.  Ebenso  besteht  ein 
Symbol  nur  „für"  das  Bewußtsein  und  nicht ,, im"  Bewußtsein. 
Das  Bewußtsein  wird  zum  Theaterraum,  in  dem  Personen 
verkleidet  auftreten.  Die  Personen  sind  die  Wünsche.  Ab- 
strahiert man  aber  von  der  Metapher,  so  bleibt  schlechter- 
dings gar  nichts  übrig.  Man  vergißt,  daß  das  historische 
Subjekt  der  notwendige  Zentral-  und  Beziehungspunkt 
aller  Psychologie  sein  muß,  daß  infolgedesssen  es  sinnlos 
ist,  das  Bewußtsein  als  Raum  darzustellen,  in  dem  eine  Be- 
ziehung da  ist,  die  das  Subjekt  nicht  erlebt.  Das  Bewußtsein 
ist  kein  Raum,  in  den  etwas  gelangt,  sondern  es  ist  nur  ein 
anderer  Name  für  das  Erlebnis  des  Subjekts.  Was  nicht 
erlebt  wird,  existiert  unbewußt.  Ein  Wort  kann  nicht  etwas 
meinen,  was  das  Subjekt  nicht  meint.  Ein  Ding  bedeutet 
nie  etwas.  Erst  durch  die  Beziehung  auf  das  Subjekt  kommt 
die  Bedeutung  zustande.  Was  nicht  als  Symbol  erlebt  wird, 
ist  auch  kein  Symbol.  Denn  dieses  ist  von  dem  Struktur- 
zusammenhang nicht  zu  trennen.  Wer  in  einer  Kulthandlung 
kein  Symbol  erlebt,  für  den  ist  sie  kein  Symbol,  mag  sie  von 
früheren  Generationen  auch  als  solches  erlebt  worden  sein. 
Gerade  im  Traum  werden  die  „tollsten"  Symbole  erlebt,  so  toll, 
daß  wir  sie  wachend  kaum  für  möglich  halten.  Es  gibt  im  Traum 
Vertretungen,  wobei  wir  im  Wachen  gar  nicht  verstehen,  wie 
es  möglich  war,  daß  Dinge  und  Menschen  einander  vertreten 
haben,  die  überhaupt  gar  keine  unmittelbare  Beziehung 
haben.  Diese  Beziehung  muß  da  sein.  Das  Charakteristische 
der  Vertretung  im  Traum  ist  aber  das  Erlebnis.     Ein  Er- 


—  286  — 

lebnis  zieht  sich  nicht  um  und  erscheint  in  anderer  Gestalt, 
sondern  ich  erlebe  optisch  etwa  Herrn  A  und  weiß,  daß  es 
Herr  B  ist.  Gerade  weil  solche  Vertretungen  im  Traum  eine 
so  große  Rolle  spielen,  deswegen  ist  es  nicht  angängig,  etwas 
als  Vertretung  zu  bezeichnen,  was  nicht  als  solche  erlebt 
wird.  Ebenso  kann  im  Traum  etwas  als  Symbol  entstehen 
und  später  entweder  das  Symbolisierende  oder  das  Sym- 
bolisierte zurücktreten.  Was  aber  nicht  als  Symbol  von  dem 
Träumenden  erlebt  wird,  hat  aufgehört  Symbol  zu  sein. 
Ist  es  niemals  von  ihm  als  solches  erlebt  worden,  so  ist  es 
es  auch  niemals  gewesen.  Es  ist  aber  sehr  wohl  möglich, 
daß  etwas  als  Symbol  aufgetaucht  ist,  und  diese  Entstehung 
vergessen  wurde.  Wir  behalten  ja  nur  ganz  wenige  Punkte 
aus  unseren  Träumen.  Unser  Gedächtnis  kann  dem 
Traum  nur  so  weit  nachkommen,  wie  eine  Zentralisation, 
Organisation,  Kristallisierung,  wie  man  es  auch  nennen 
will,  eingetreten  ist,  wenn  der  Traum  keine  Ideenflucht  im 
absoluten  Sinne  darstellt.  Das  Wesentliche  der  Traumarbeit 
liegt  in  dieser  Organisation.  Sie  ist  der  Arbeit  des  Geistes- 
kranken zu  vergleichen,  der  mit  unheimlicher  Logik  alles, 
was  erlebt  wird,  in  seiner  fixen  Idee  zentralisiert,  alles  in 
sie  einordnet,  um  bei  seinem  Roman  zu  bleiben.  Genau 
dasselbe  tut  der  Träumer.  Das  Merkwürdige  des  Traums 
besteht  darin,  daß  kein  Unterschied  zwischen  Vorstellung  und 
Wahrnehmung  gemacht  wird.  Der  Traum  ist  eine  dauernde 
Halluzination,  die  deswegen  nicht  pathologisch  ist,  weil 
die  praktische  Beziehung  zur  Wirklichkeit  von  selbst  aus- 
geschaltet ist.  Was  als  Assoziation,  als  Vorstellung  entstanden 
ist,  wird  als  eine  Wahrnehmung  aufgefaßt  und  durch  phan- 
tastische Kombination  dem  Roman  eingeordnet,  der  einen 
momentan  beschäftigt.  Es  ist  dies  eine  momentane  Disso- 
ziation des  Bewußtseins,  die  durch  das  Dichten  wieder 
aufgehoben  wird.  Die  Vorstellung  entsteht  durch  eine  be- 
stimmte Assoziation.  Diese  Beziehung  wird  sofort  vergessen 
oder  überhaupt  nicht  bewußt  und  die  Vorstellung  als  eine  von 


—  287  — 

außenher  aufgezwungene  Wahrnehmung  behandelt,  an  der  Be- 
st immtheiten  bewußt  werden,  die  an  sich  mit  den  vorhergehen- 
den  Vorstellungen  in  keinem  Zusammenhang  stehen.  Eine 
sinnliche  Wahrnehmung  des  Traums,  bedingt  durch  physiolo- 
gische Konstellationen,  wird  ebenso  sofort  in  einen  Zusammen- 
hang gebracht  mit  den  Vorstellungen,  die  einen  im  Moment 
beschäftigen.  Soweit  dies  nicht  geschieht,  besteht  auch  keine 
Möglichkeit,  sich  später  an  den  Traum  zu  erinnern.  Eine 
vollkommene  desorganisierte  Ideenflucht  ist  vielleicht  auch 
im  sogenannten  traumlosen  Schlaf  möglich.  Aber  eine 
Erinnerung  an  sie  ist  unmöglich.  Der  Traum  ist  charakte- 
risiert durch  eine  merkwürdige  Organisation,  zugleich  aber  auch 
durch  eine  merkwürdige  Desorganisation,  ein  momentanes 
Aussetzen  des  Gedächtnisses.  Nur  so  ist  es  möglich,  daß 
man  das,  was  als  Assoziation  folgt,  plötzlich  von  einer  ganz 
andern  Seite  auffaßt  und  nun  wieder  ganz  neu  in  die  Reihe 
einordnet.  Im  Wachen  nennen  wir  das  eine  freisteigende 
Vorstellung.  Unsere  Phantasie  ist  auch  im  Traum  innerlich 
determiniert.  Soweit  es  sich  um  eine  Einheit  in  der  Zeit 
handelt,  ist  dies  ein  Gedächtnissymptom.  Wir  halten  eine 
Einheit  fest  und  spinnen  sie  immer  weiter  aus.  An  irgend 
einer  Stelle  setzt  diese  immanente  Determination  plötzlich 
aus.  Es  wird  gleichsam  momentan  ein  anderer  Weg  ein- 
geschlagen. Infolge  irgend  einer  Assoziation  entsteht  eine 
Vorstellung,  die  in  die  Einheit,  mit  der  wir  uns  beschäftigen, 
nicht  hineinpaßt.  Es  entstehen  dann  zwei  Möglichkeiten. 
Entweder  der  neue  Weg  wird  fortgesetzt,  oder  der  Träumer 
dichtet  sofort  die  Situation  um,  so  daß  die  neue  Vorstellung 
in  dem  alten  System  eine  Berechtigung  bekommt.  Auf 
diese  Weise  entsteht  die  Absurdität  mancher  Träume,  über 
die  wir  im  Wachen  nur  den  Kopf  schütteln  können.  Was 
wir  vom  Traum  behalten,  ist  nur  der  Roman,  den  der  Träumer 
aus  den  unendlichen  Mannigfaltigkeiten,  die  mehr  oder  minder 
organisiert,  als  einheitlich  dauernde  Einheiten  oder  als 
„Fransen"  durch  das  Bewußtsein  gehen,  dichtet.     Daß  die 


—  288  — 

immanente  Determinierung  der  Traumphantasie  mit  unsern 
sonstigen  Willensdeterminierungen  zusammenhängt,  ist  für 
den  Psychologen  eine  Selbstverständlichkeit.  Es  ist  aber  sehr 
oberflächlich,  wenn  man  jede  Phantasie  einer  gewünschten 
Realität  gleichsetzt.  Das  ist  mit  der  immanenten  Deter- 
minierung nicht  gesagt.  Die  Theorie  macht  es  sich  in  der 
Praxis  recht  bequem  dadurch,  daß  sie,  wenn  die  wirkliche 
Vorstellung  nicht  paßt,  schnell  das  Gegenteil  annimmt, 
das  sich  nur  verkleidet  hat.  Hierin  zeigt  sich  ganz  deutlich, 
daß  es  sich  um  gar  keine  beweisbare  Wirklichkeit  handelt, 
sondern  man  nur  interpretiert,  wie  es  einem  am  bequemsten 
ist.  Das  Gegenteil  spielt  insofern  eine  große  Rolle,  als  das  Vor- 
gestellte grade  nicht  die  gewünschte  Realität  zu  sein  braucht, 
sondern  der  Mensch  sich  das  Gegenteil  vorstellen  will,  um 
sich  des  Gegensatzes  zu  der  gewünschten  Realität  um  so 
deutlicher  bewußt  zu  werden. 

Absolut  falsch  ist  die  Mechanisierung  des  Bewußtseins, 
die  Verkleidung  der  Wünsche  und  zum  großen  Teil  die  Aus- 
deutung auf  Grund  einer  Zentralisation,  die  gar  nicht  besteht. 
Das  Charakteristische  des  Traums  liegt  gerade  in  dem 
plötzlichen  Wechsel  der  Determination  und  dem  künstlichen 
Wiederzusammendichten.  Bei  der  ersten  Möglichkeit  ent- 
stehen jene  Träume,  in  denen  wir  uns  an  zwei  Romane  er- 
innern, ohne  den  geringsten  Übergang  entdecken  zu  können. 
Auf  einmal  ist  etwas  ganz  anderes  da.  Bisweilen  existieren 
aber  Derivate  aus  dem  ersten  Roman  als  vollkommen  bewußte 
Vertretungen  für  etwas  weiter,  was  nur  in  den  neuen  Roman 
hineinpaßt.  Diese  Vertretung  kann  den  ganzen  Traum  durch 
dauern,  kann  aber  auch  zurücktreten,  und  das  Vertretene 
bleibt  allein.  Wir  haben  den  Traum  zu  verstehen  als  Dichtung 
mit  plötzlichen  freisteigenden  Vorstellungen,  die  aber  auf 
einer  Assoziation  und  plötzlichem  Wechsel  der  immanenten 
Determinierung  beruhen.  Es  ist  danach  verständlich,  wenn 
plötzlich  etwas  als  Symbol  erlebt  wird,  daß  dieses  Symbol- 
erlebnis   weiter    fortgesetzt    wird,     daß    das    Symbolisierte 


—  289  — 

oder  das  Symbolisierende  wieder  verschwindet,  je  nachdem 
die  immanente  Deterrninierung  den  Weg  fortsetzt.  Es 
ist  auch  verständlich,  daß  die  Symbole  durch  die  Aus- 
schaltung des  praktischen  Handelns  leichter  als  im  Wachen 
auf  erotischen  Determinierungen  beruhen  werden.  Symbol 
ist  aber  nur  das,  was  als  solches  erlebt  wird.  Es  ist  möglich, 
daß  etwas  rein  als  Assoziation  auf  Grund  von  Ähnlichkeiten 
entsteht,  ohne  daß  ein  Symbolerlebnis  vorliegt.  Es  ist  aber 
auch  möglich,  daß  etwas  mit  dem  Bewußtsein  des  Symbols 
entsteht  und  als  Realität  fortgesetzt  wird.  Die  Geistes- 
geschichte bietet  in  ihrem  Rahmen  viele  Belege  dafür.  Was 
einer  Generation  Symbol  war,  braucht  es  für  die  folgende  nicht 
mehr  zu  sein.  Der  Zeitraum  des  Individualsystems  ist  nur 
kleiner.  In  keinem  Falle  sehe  ich  einen  Grund,  von  dem  Un- 
bewußten Gebrauch  zu  machen  als  einem  Nebenraum  des 
Bewußtseins.  Es  gibt  viel  Ungewußtes  in  unserm  Leben, 
aber  es  gibt  keinen  Raum,  das  Unbewußte. 

Genau  so  gibt  es  Symbolhandlungen.  Die  erotische 
Gebärdensprache,  wozu  die  erotischen  Tänze  der  Natur- 
völker gehören,  gibt  Beispiele  genug.  Das  Charakteristische 
ist  auch  hier,  daß  das  Symbolisierte  mehr  erlebt  wird  als 
das  Symbolisierende,  was  bis  zur  vollständigen  Illusion 
gesteigert  werden  kann.  Fehlt  das  Symbolisierte,  so  ist  kein 
Symbol  da.  Erlebe  ich  nicht  das  Onomatopoetische  des 
Worts,  so  ist  es  auch  nicht  onomatopoetisch.  Wie  es  ent- 
standen ist,  darauf  kommt  es  für  die  Individualpsychologie 
nicht  an.  Seine  Entstehung  als  historische  Größe  in  dem 
System  Sprache  ist  eine  ganz  andere  Frage.  Genau  so  kann 
der  Mythos  als  Symbol  entstanden  sein.  Wird  er  aber  nicht 
mehr  bewußt  als  solches  erlebt,  so  ist  er  auch  kein  Symbol 
mehr,  und  es  ist  ein  Verkennen  der  ganzen  geschichtlichen 
Entwicklung,  wenn  man  sagen  wollte,  daß  er  im  Unbe- 
wußtsein  oder  im  Unterbewußtsein  noch  als  solches  erlebt 
wird.  Ich  will  nicht  leugnen,  daß  in  dem  Kindesalter  Hand- 
lungen und  Spiele  vorkommen,  die  in  erotischen  Willens- 
strich, Prinzipien.  19 


—  290  — 

tendenzen  wurzeln.  Verlegt  man  die  Zwecke  in  das  Unter- 
bewußtsein, so  ist  das  nur  eine  versteckte  Form  des  Ratio- 
nalismus, genau  so  plump  wie  dieser  selbst.  Ich  wüßte  gar 
nicht,  was  hier  unbewußt  existieren  sollte.  Der  Wille,  aus 
dem  wir  die  Handlung  verstehen,  existiert  als  Bestimmtheit 
des  Subjekts.  Daß  das  Kind  Sexualpsychologe  ist,  theoretisch 
über  die  Sexualität  Bescheid  weiß,  ist  für  das  Verständnis 
der  Handlung  nicht  notwendig.  Es  ist  ein  Aufgeben  der 
psychologischen  Prinzipien  selbst,  wenn  man  nun  gar  das 
Unbewußte  als  die  „eine"  psychische  Welt  ansieht,  die  im 
Bewußtsein  handelt.  Es  ist  absurd  zu  behaupten,  daß  all- 
gemein A  das  Symbol  für  B  ist.  Es  wäre  dies  genau  so, 
wie  wenn  man  behaupten  wollte,  daß  die  Silbe  ,,bar"  in  allen 
Sprachen  dasselbe  bedeutet.  Man  verkennt  damit  absolut 
das  Historische  an  der  Geschichte,  den  Begriff  der  Ent- 
stehung und  Entwicklung.  In  diesem  Begriff  des  meta- 
physischen Unbewußten  vollzieht  sich  die  metaphysisch- 
dogmatische Rechtfertigung  der  psychischen  Substanz- 
theorie, die  man  empirisch  für  die  Erkenntnis  des  Einzelnen 
ausnutzt.  Wir  haben  gezeigt,  daß  in  ihr  gerade  die  Negation 
des  Historischen  liegt.  Gerade  die  psycho-analytische 
Theorie  müßte  konsequent  historische  Individualpsychologie 
sein.  Gerade  sie  beruht,  soweit  sie  überhaupt  eine  wertvolle 
Errungenschaft  in  der  Psychologie  ist,  auf  dem  Satz,  daß 
alles  historisch  individuell  zu  verstehen  ist.  Darin  liegt  auch 
ihre  ursprüngliche  psychiatrische  Bedeutung.  Losgelöst 
vom  Individuum  verliert  sie  jeden  Sinn  und  wird  genau  so 
töricht  wie  jede  andere  Psychologie,  die  nach  Gesetzen  der 
psychischen  Welt  suchen  und  nicht  mehr  das  Individuum 
erkennen  will.  Man  verfällt  in  der  Traumdeutung  in  den 
Fehler  des  ägyptischen  Traumbuchs.  Wie  Weiß  und  Schwarz 
bei  verschiedenen  Völkern  eine  ganz  verschiedene  Gefühls- 
bedeutung haben  können,  so  müssen  wir  jede  Vorstellung 
im  Traum  aus  dem  persönlichen  Leben  des  Individuums 
verstehen.   Allein   diese  persönlichen  Erfahrungen   sind  das 


—  291  — 

Entscheidende  und  es  ist  unmöglich,  dem  Farbenreichtum 
und  den  Nuancen  des  Lebens  und  der  Phantasie  gerecht  zu 
werden,  wenn  man  von  „der"  Bedeutung  des  Vorgestellten 
ausgeht,  abgesehen  davon,  daß  es  zuweilen  völlig  wider- 
sinnig wird.  Es  ist  der  Höhepunkt  des  mythologischen 
Denkens,  wenn  man  das  Unbewußte  als  den  Allgemein- 
menschen ansieht,  der  sich  seine  Symbole  bildet,  für  den  das 
individuelle  Bewußtsein  nur  eine  Bühne  ist,  wo  die  Wünsche 
in  allgemein  gültiger  Verkleidung  auftreten. 

Wir  können  psychologisch  immer  nur  einen  Grund  der 
Erscheinungen  finden  und  niemals  einen  Moment  als  Resultat 
des  vorgehenden  nachweisen.  Dadurch,  daß  man  den  Grund 
im  Unbewußten  findet,  ist  die  Erscheinung  nicht  mehr  dem 
Zufall  enthoben  als  sonst.  Es  kommt  ja  letzten  Endes  doch 
nur  darauf  an,  wie  wir  am  besten  das  Phänomen  verstehen. 
Durch  das  Unbewußte  gelangen  wir  doch  niemals  in  eine  Er- 
klärung hinein.  In  dem  Versuch  der  Mechanisierung,  der  doch 
immer  scheitern  muß,  liegt  für  mich  der  tiefste  Fehler  jener 
Anschauung.  Wie  die  Sprache  von  den  Individuen  geschaffen 
worden  ist,  ohne  daß  wir  freilich  historisch  diesen  einzelnen  Pro- 
zessen nachkommen  können,  so  ist  es  eine  wissenschaftliche 
Unsauberkeit,  anzunehmen,  daß  das  Unbewußte  sich  seine 
Symbole  schafft,  ohne  daß  etwas  für  ein  individuelles  Be- 
wußtsein Symbol  ist.  Damit  schafft  man  den  Zufall  nicht 
aus  der  Psychologie  fort.  Gewiß  ist  jenes  berühmte  Bild 
des  Mannes  in  der  Höhle  bei  Plato  kein  Zufall.  Für  die 
Erkenntnis  wird  dieser  aber  nicht  dadurch  aufgehoben,  daß 
ich  annehme,  das  Unbewußte  hat  es  in  Plato  geschaffen. 
Nur  von  Plato  selbst  aus  ist  es  kein  Zufall.  Von  allgemeinen 
Gesetzen  ist  in  beiden  Fällen  keine  Rede.  Aber  historisch 
ist  es  nur  ein  asylum  ignorantiae,  wenn  man  das  Unbewußte 
sich  verkleiden  läßt.  Diese  Verkleidung  wäre  gerade  der 
Zufall. 

Auf  die  spezielle  Sexualtheorie  und  die  speziell  psycho- 
logische Erkenntnis  des  Mythos,  der  Kunst  und  der  Philoso- 

19* 


—  292  — 

phie  will  ich  hier  nicht  eingehen.  Hier  handelt  es  sich  nur 
um  das  Prinzip.  Wir  kämpfen  gegen  die  Mechanisierung 
und  Verräumlichung  des  Seelenlebens.  In  der  Auffassung 
des  Unbewußten  zeigt  sich  für  uns  die  allerstärkste  Form 
des  Materialismus  in  der  Psychologie.  Es  gibt  nur  eine 
Aufgabe:  die  Gegenwart  aus  der  Vergangenheit  historisch  zu 
verstehen.  Wo  wir  aber  etwas  an  sich  verstehen,  haben 
wir  keinen  Grund  auf  die  ,, eigentliche"  Ursache  im  Un- 
bewußten zurückzugreifen,  wie  wir  dies  an  dem  Beispiel 
des  Ausweichens  vor  einem  Automobil  nachgewiesen  haben. 
Es  ist,  wie  gesagt,  nichts  leichter,  als  in  allen  Dingen  und  allen 
Handlungen  Ähnlichkeiten  mit  sexuellen  Objekten  und  Hand- 
lungen herauszufinden.  Man  kann  aber  niemals  beweisen, 
daß  ein  unbewußter  Wunsch  die  Gegenwart  bestimmte, 
wenn  man  nicht  diesen  Wunsch  irgend  einmal  im  Bewußt- 
sein bewiesen  hat.  Es  fehlt  jede  Methode,  um  eine  solche 
Hypothese  zu  verifizieren.  Sie  muß  eine  leere  Behauptung 
bleiben.  Man  frage  sich  nur,  woher  man  weiß,  daß  „eigent- 
lich" ein  erotisches  Motiv  im  Unbewußten  zugrunde  liegt. 
Aus  Erfahrung  kann  man  es  gar  nicht  wissen,  wenn  man  den 
Wunsch  nicht  „unverkappt"  nachweisen  kann.  Es  ist 
schlechterdings  unmöglich,  hinter  Verkleidungen  die  Wirk- 
lichkeit zu  erkennen,  wenn  man  diese  nicht  irgendwo  unver- 
kleidet  nachweisen  kann.  In  einem  Falle  erkennen  wir,  daß 
eine  Willenstendenz,  die  wir  an  sich  kennen,  auch  den  vor- 
liegenden Fall  verständlich  macht.  Im  andern  aber  kon- 
struiert man  eine  Willenstendenz,  die  man  sonst  nirgendsher 
kennt,  und  das  ist  unlogisch.  Wenn  ich  die  homosexuellen 
Tendenzen  in  dem  Leben  jemandes  kenne,  so  werde  ich  aus 
ihnen  vieles  verstehen,  was  ich  sonst  nicht  verstehe.  Es  ist 
aber  völlig  unlogisch,  aus  irgend  welchen  Handlungen,  die 
mir  auch  ohnedies  verständlich  sind,  durch  kindliche  Ähn- 
lichkeiten eine  homosexuelle  Tendenz  zu  konstruieren,  die 
ich  als  direkte  Tendenz  niemals  kennen  lernen  würde,  und 
sie  nun  einfach  dem  deus  ex  machina,  dem  Unterbewußtsein, 


—  293  — 

in  die  Schuhe  zu  schieben.  Man  kann  das  Unterbewußtsein 
niemals  erkennen,  sondern  nur  konstruieren,  um  das  Handeln 
zu  interpretieren.  Ich  erkenne  die  Gleichheit  zweier  Tenden- 
zen, die  ich  an  sich  kenne.  Jene  Theorie  behauptet  aber  nicht 
die  Gleichheit  mit  einer  an  sich  bekannten  Tendenz,  sondern 
sie  konstruiert  eine  sonst  völlig  unbekannte  Tendenz  nur, 
um  den  vorliegenden  Fall  zu  verstehen.  Das  ist  wissenschaft- 
lich im  höchsten  Grade  unberechtigt,  weil  es  allen  Prinzipien 
der  empirischen  Erkenntnis  überhaupt  widerstreitet.  Er- 
kennen heißt  Gleichheiten  entdecken  und  nicht  einen  Grund 
konstruieren,  den  man  deswegen,  weil  man  ihn  sonst  nicht 
entdeckt,  ins  Unterbewußtsein  verlegt.  Man  kann  einen 
verkappten  Wunsch  erkennen,  wenn  man  ihn  auch  als 
unverkappten  kennen  gelernt  hat.  Dann  aber  braucht  man 
nicht  das  Unterbewußtsein,  sondern  er  existiert  eben  als  Be- 
stimmtheit des  historischen  Subjekts.  Hat  man  ihn  aber  nicht 
direkt  kennen  gelernt,  so  bleibt  der  Schluß  auf  eine  Vertre- 
tung eine  leere  Behauptung,  die  durch  nichts  zu  beweisen  ist, 
aber  auch  nur  zu  widerlegen  ist  durch  die  unlogischen  Prin- 
zipien, von  denen  man  ausgeht.  Kann  man  den  Willen  wirk- 
lich nachweisen,  dann  fehlt  jeder  Grund,  vom  Unterbewußt- 
sein zu  sprechen.  Dann  haben  wir  die  Gegenwart  eben  aus 
einer  Willenstendenz  zu  verstehen,  die  wir  aus  der  Geschichte 
des  Subjekts  kennen.  Diese  Geschichte  ist  das  Problem  des 
Psychologen.  Hier  aber  sollte  man  vorsichtig  sein  und  nur 
zu  Werke  gehen  als  Historiker  ohne  Dogmen  und  sinnlose 
Verallgemeinerungen.  Man  sollte  sie  empirisch  feststellen  in 
jedem  Einzelfall,  soweit  dies  möglich  ist.  Erst  dann  könnte 
man  als  Psychologe  Schlüsse  ziehen.  Freilich  kann  man  auch 
als  Psychologe  historische  Hypothesen  aufstellen,  aber  sie 
bleiben  ewig  Hypothesen,  die  erst  durch  die  historische  Er- 
kenntnis verifiziert  werden  könnten.  Das  vergißt  man  allzu 
leicht. 

Ich  bemühte  mich,  die  Theorie  rein  vom  logischen  Stand- 
punkt aus  zu  kritisieren.    Man  wird  vielleicht  denken,  daß 


—  294  — 

dies  von  vornherein  nicht  angängig  ist,  und  einwenden,  daß 
hier  überhaupt  keine  logischen  Probleme  zur  Diskussion 
stehen,  sondern  daß  es  sich  um  Tatsachen  handelt,  die  man 
empirisch  nachweisen  oder  widerlegen  kann.  Allein  dieser 
Einwand  scheitert  an  der  Wesenhaftigkeit  der  psychologi- 
schen Erkenntnis.  Dem  Psychologen  ist  nämlich  die  eigent- 
liche Demonstration,  die  das  Wesen  des  empirischen  Beweises 
ausmacht,  versagt.  Er  kann  die  Größen,  mit  denen  er  rechnet, 
nicht  dem  unmittelbaren  Erlebnis  der  Wahrnehmung  oder 
Anschauung  zugänglich  machen.  Man  versteht  das  psychische 
oder  man  versteht  es  nicht.  Man  interpretiert  das  Leben, 
man  kann  aber  keine  Ursachen  im  Bewußtsein  ,, zeigen". 
Daran  wird  auch  nichts  durch  das  Selbstbewußtsein 
geändert.  — 

Ich  wies  oben  darauf  hin,  daß  selbst  eine  Heilung  durch 
psycho-analytische  Behandlung,  über  deren  Vorkommen  ich 
mir  kein  Urteil  anmaße,  kein  Beweis  für  die  Richtigkeit  der 
Theorie  ist.  Es  handelt  sich  bei  der  Kritik  um  ein  Problem, 
das  nur  durch  die  Analyse  der  psychologischen  Erkenntnis 
überhaupt  gelöst  werden  kann.  Es  gilt  die  Frage  zu  stellen, 
woher  man  eigentlich  von  der  symbolischen  Bedeutung  der 
Erlebnisse  weiß.  Der  große  ursprüngliche  Wert  der  Theorie 
liegt  allein  in  dem  verpflichtenden  Prinzip,  die  Gegenwart 
aus  der  Geschichte  des  Individuums  zu  verstehen.  Man  muß 
sich  aber  immer  vor  Augen  halten,  daß  wir  diese  Gegenwart 
nur  interpretieren  können.  Wir  müssen  sie  verstehen.  Es 
gibt  kein  anderes  Kriterium  der  Beurteilung.  Hält  man  nicht 
an  dem  Postulat  fest,  daß  das  Unbewußte  allein  den  gegen- 
wärtigen Moment  bestimmt,  so  liegt  es  eben  so,  daß  man 
diesen  Moment  möglichst  vollständig  zu  verstehen  hat.  Ich 
machte  oben  darauf  aufmerksam,  daß  man  das  Zurückweichen 
vor  einem  herannahenden  Automobil  verstehen  kann.  Die 
Handlung  ist  für  uns  kein  Zufall,  weil  sie  aus  dem  Zweck 
verständlich  ist.  Sowie  man  also  eine  Handlung  als  solche 
versteht,  muß  die  Frage  auftauchen,  woher  man  weiß,  daß 


—  295  — 

sie  eigentlich  etwas  anderes  bedeutet.  Demonstrieren  kann 
man  diese  Bedeutung  niemals.  Das  Kriterium  kann  nur 
darin  liegen,  daß  die  Handlung  anders  nicht  verständlich 
ist.  Ist  sie  aber  ohne  Bedeutung  verständlich,  so  kann  man 
nie  beweisen,  daß  sie  in  Wirklichkeit  anders  zu  verstehen  ist. 
Wenn  ich  etwas  aus  dem  Menschen  heraus  verstehe,  so  wie 
er  sich  mir  unmittelbar  darstellt,  so  brauche  ich  keinen  Men- 
schen zu  konstruieren  mit  Eigenschaften  und  Tendenzen,  von 
denen  der  Betreffende  selbst  nichts  weiß.  Ich  will  nicht 
leugnen,  daß  dies  notwendig  sein  kann.  Solche  Fälle  nennen 
wir  pathologisch.  Und  das  Pathologische  liegt  eben  in  der 
Unlogik  der  Gegenwart.  Wir  verstehen  dann  den  Fall  aus 
der  Unkenntnis  des  Subjekts  über  seine  eigene  Geschichte, 
d.  h.  aus  dem  Vergessen.  Die  Gegenwart  ist  nicht  mehr  an 
sich  verständlich,  weil  sie  unlogisch  ist.  Wir  müssen  sie  inter- 
pretieren auf  dem  Verbindungswege  durch  das  momentan 
Unbewußte. 

Freilich  gibt  es  keinen  Zufall  im  Psychischen.  Aber  bei 
jenen  Psychologen  fehlt  die  Klarheit  über  die  logische  Be- 
deutung des  Zufalls.  Verstehen  wir  eine  Handlung,  so  ist 
der  Zufall  aufgehoben.  Vom  Mechanismus  aus  bestünde 
allerdings  weiterhin  ein  Zufall  darin,  daß  die  allgemeine 
Kausalität  in  diesem  Falle  mit  dem  historischen  Zweck  zu- 
sammentrifft. Dies  ist  das  große  Rätsel  für  jeden  psycho- 
physischen  Monismus.  Psychologisch  ist  nur  das  zufällig, 
was  man  nicht  versteht.  Es  geht  jemand  in  Gedanken  an 
einem  Haus  vorüber,  in  das  er  eigentlich  eintreten  wollte. 
Diesen  Vorgang  braucht  man  keineswegs  auf  das  Unter- 
bewußtsein zurückzuführen.  Er  ist  ohne  diese  Hypothese 
verständlich.  Aber  auch  so  ist  kein  Zufall  im  Spiel.  Die  Kon- 
zentration macht  mir  auf  der  andern  Seite  die  Vergeßlich- 
keit verständlich.  Man  braucht  keine  andere  Determinierung 
im  Unterbewußtsein  anzunehmen,  denn  diese  genügt  schon. 
Durch  das  Unterbewußtsein  wird  kein  Zufall  aufgehoben; 
man  interpretiert  nur  anders. 


—  296  — 

Ganz  widersinnig  und  gefährlich  scheint  mir  aber  nun 
die  Art  zu  sein,  mit  der  man  die  Psychoanalyse  für  die  Geistes- 
wissenschaften fruchtbar  machen  will.  Um  die  eigentliche 
Geistesgeschichte  kümmert  man  sich  überhaupt  nicht.  Man 
bleibt  im  Psychologischen  stecken.  Man  bemüht  sich  etwa, 
Piatos  Ideenlehre  aus  den  verdrängten  Wünschen,  aus  sei- 
nem Unterbewußtsein,  zu  verstehen.  Daß  dies  mit  Geistes- 
geschichte nichts  zu  tun  hat,  wird  man  den  Anhängern  jener 
Theorie  schwer  begreiflich  machen  können.  Ich  will  jene 
Auffassungsweise  aber  auch  von  einem  andern  Standpunkt 
aus  kritisieren.  Man  hat  behauptet,  die  erschütternde  Wir- 
kung jener  Szene,  wo  der  alte  Lear  den  Leichnam  der  Cor- 
delia auf  die  Bühne  schleppt,  sei  völlig  unverständlich.  Erst 
,,wenn  man  die  Situation  umkehrt,  wird  sie  uns  verständlich 
und  vertraut."  Dies  ein  wörtliches  Zitat  (Imago  II,  S.  266). 
Die  erschütternde  Wirkung  stammt  also  daher,  daß  wir  im 
Unterbewußtsein  erleben,  wie  Cordelia  den  toten  Lear  auf  die 
Bühne  schleppt.  Beweisen  kann  jene  Theorie,  wie  gesagt,  die 
Behauptung  nicht.  Hier  hört  aber  überhaupt  jede  Diskussion 
auf.  Sollen  wir  im  Unterbewußtsein  wissen,  daß  jene  Szene 
eigentlich  den  uralten  Mythus  bedeutet,  wie  der  alternde 
Held  von  der  Walküre  vom  Schlachtfeld  geführt  wird,  und 
darum  erschüttert  sein  ?  Abgesehen  von  dieser  seltsamen 
Auffassung  des  Psychischen  kann  man  hier  die  Frage  stellen, 
was  erschütternder  ist,  wenn  ein  alter  Held  stirbt,  oder  wenn 
die  junge  Cordelia  von  dem  greisen  Vater  bejammert  wird. 
Mir  fällt  die  Entscheidung  nicht  schwer.  Neben  dieser  psy- 
chologischen Erklärung  der  Wirkung  will  wohl  jene  Theorie 
aber  auch  jene  Szene  als  Werk  genetisch  erklären.  Hierbei 
zeigt  sich  wieder  der  Grundfehler  darin,  daß  man  von  „der" 
Bedeutung  handelt,  ohne  zu  sagen,  für  wen  sie  gilt.  Man 
kann  nur  fragen :  soll  die  Szene  das  Umgekehrte  bedeuten  ? 
Ist  sie  von  Shakespeare  so  gemeint  ?  Zu  dieser  Annahme 
fehlt  jeder  Grund.  Man  begnügt  sich  zu  sagen,  das  Unbe- 
wußte hat  sie  geschaffen.    Aber  dieses  „eine"  Unbewußte 


—  297  — 

ist  gerade  das  Fehlerhafte,  eine  absolut  transzendent  meta- 
physische Konstruktion.  Wenn  man  von  der  Mythologie 
herkommt,  so  scheint  der  Gedanke  allerdings  berechtigt. 
Die  schaffende  Einheit  hinter  den  Individuen  ist  dort  am 
Platz,  wo  wir  kein  Werk  des  einzelnen  Individuums  kennen. 
Der  Mythos  ist  geschaffen  worden ;  da  wir  aber  kein  einzelnes 
Subjekt  als  Schöpfer  dabei  kennen,  so  haben  wir  ein  Recht, 
von  einem  Gesamtsubjekt  auszugehen.  Damit  aber  ist  trotz- 
dem das  Unbewußte  noch  nicht  gerechtfertigt.  Man  schafft 
einen  Deus  ex  machjna  und  verzichtet  auf  das  Verständnis 
des  genetischen  Prozesses.  Die  Einheit,  das  Unbewußte,  ist 
eine  ganz  kritiklose  Konstruktion.  Der  Begriff  hat  eine  Be- 
rechtigung nur  als  Hypothese  in  der  Individualpsychologie, 
sonst  verschärft  er  noch  die  Fehler,  die  mit  jeder  Substanziali- 
sierung  des  Psychischen  verbunden  sind.  Aber  auch  dort 
bedeutet  seine  Anwendung  für  das  Verständnis  des  geistigen 
Schaffens  eine  grobe  Verflachung,  wenn  man  nach  einem 
allgemeinen  Kodex  nur  immer  nach  „der"  Bedeutung  fragt. 
Zu  dieser  Verallgemeinerung  liegt  kein  Grund  vor.  Die 
ganze  Anschauungsweise  bedeutet  im  Grunde  einen  groben 
Mechanismus,  der  dem  psychologischen  Problem  des  schaf- 
fenden Individuums  nie  gerecht  werden  kann.  Sie  be- 
deutet von  vornherein  einen  Verzicht  auf  die  empirisch- 
historische Erfahrung,  eine  völlig  metaphysische  Konstruk- 
tion, die  für  die  kritische  Erkenntnis  gar  nichts  besagt. 
Ich  weiß  wohl,  daß  die  Verteidiger  der  Theorie  sich  des 
Bildhaften  deutlich  bewußt  sind.  Sie  werden  das  Raum- 
bild des  Ober-  und  Unterbewußtsein  nicht  als  Wahrheit  ver- 
teidigen wollen.  Aber  ich  glaube  nachgewiesen  zu  haben, 
daß  die  Theorie  in  ganz  wesentlichen  Punkten  auf  diesem 
Raumbild  aufgebaut  ist,  daß  man  gar  nicht  mehr  versteht, 
was  sie  überhaupt  meint,  wenn  man  von  der  Bildersprache 
absieht.  Darum  halte  ich  sie  nicht  nur  für  gefährlich,  son- 
dern für  absolut  irreführend. 


298  — 


V.  Verstehen  und  Erklären. 

Wir  zeigten,  daß  es  der  psychologischen  Erkenntnis 
darauf  ankommt,  das  psychische  Leben  zu  ,, verstehen". 
Man  stellt  der  erklärenden  Psychologie  besser  nicht  die  be- 
schreibende, sondern  die  verstehende  gegenüber.  Den  Gegen- 
satz zwischen  Verstehen  und  Erklären  gilt  es  kritisch  zu 
fassen. 

Es  ist  von  vornherein  selbstverständlich,  daß  die  Psy- 
chologie auf  Erfahrung  beruht.  Allein  damit  wird  nicht 
widerlegt,  daß  die  Psychologie  keine  Erfahrung  im  Sinne 
Kants  bedeutet.  Handelt  es  sich  in  diesem  Falle  um  die 
logischen  Prinzipien  der  Wissenschaft  als  System,  so  bedeutet 
die  andere  Behauptung  selbst  schon  eine  psychologische 
Tatsache,  die  des  Kennen-Lernens,  die  als  Fragestellung 
natürlich  auch  berechtigt  ist,  ohne  daß  man  von  vornherein 
von  einem  unkritischen  Psychologismus  sprechen  darf.  Es  kann 
gar  kein  Wissen  geben,  das  nicht  auf  dem  Erfahren  der 
Subjekte  beruht.  Davon  macht  auch  die  Logik  keine  Aus- 
nahme. Der  Unterschied  liegt  nur  darin,  was  das  Subjekt 
erfährt.  Das  Subjekt  lernt  z.  B.  nicht  die  Tatsache  kennen, 
daß  A  gleich  A  ist,  sondern  die,  daß  ps  als  erkennendes 
Wesen  die  Identität  des  Gegenstandes  behauptet.  Diese 
seine  Behauptung  wird  aber  psychologisch  nicht  daraus  er- 
klärt, daß  es  die  Identität  des  Gegenstandes  sinnlich  erfährt. 
Erfahren  läßt  sich  nur,  daß  man  von  diesem  Prinzip  in  dem 
Erkennen  ausgeht,  daß  man  nach  dem  Satz  der  Identität 
denkt.  Völlig  unlogisch  wäre  die  Behauptung,  daß  man  des- 
halb nach  ihm  denkt,  weil  man  ihn  erfahren  hat.  Nihil  est 
in  intellectu  quid  non  fuerit  in  sensu  —  nisi  intellectus  ipse. 
Der  Geist  ist  aber  wieder  kein  Raum,  in  den  das  Denken 
hineingerät.  Wir  machen  unsere  Erfahrungen  durch  Denken. 
Die  Frage  nach  dem  Woher  können  wir  nur  bei  dem  Inhalt 
des  Denkens  beantworten,  nicht  bei  dem  Denken  selbst. 
Wir   erfahren   als   Psychologen   oder,   was   dasselbe   besagt, 


—  299  — 

im  Selbstbewußtsein,  daß  wir  erfahren,  nämlich  daß  wir  die 
Identität  von  Gegenständen  im  Raum  behaupten.  Diese 
Identität  erfahren  wir  nicht  als  Tatsache  im  Raum,  sondern 
als  Prinzip,  die  Welt  zu  denken.  Wir  erfahren  nicht  die  Tat- 
sache und  richten  uns  im  Denken  nach  ihr.  Diese  Behaup- 
tung hat  gar  keinen  vernünftigen  Sinn.  Der  Fehler  liegt  auch 
hier  in  dem  psychologischen  Raumdenken.  Man  stellt  sich 
das  Bewußtsein  als  eine  tabula  rasa  vor,  als  einen  Raum, 
in  den  etwas  hineingelangt.  Dann  kann  man  freilich  fragen, 
wie  gelangt  der  Satz  der  Identität  in  diesen  Raum  ?  Es  hat 
aber  hier  überhaupt  keinen  Sinn,  nach  der  Erklärung  eines 
zeitlichen  Phänomens  im  Bewußtsein  zu  suchen.  Nur  für 
den  Logiker  kann  der  Satz  ein  momentaner  Bewußtseins- 
inhalt sein.  Als  sprachliches  Urteil  ist  er  natürlich  nicht 
angeboren.  Darunter  könnte  man  sich  überhaupt  nichts 
denken.  Er  wird  erfahren  aus  einer  Analyse  des  Denkens. 
Man  müßte  fragen:  wie  gelangt  das  Denken  in  den  Be- 
wußtseinsraum,  und  diese  Frage  ist  völlig  unlogisch.  Die 
größten  Schwierigkeiten  liegen  in  dem  Wörtchen  „im", 
weil  dadurch  sofort  die  Gefahr  des  Raumdenkens  vorliegt. 
Nicht  „im"  Bewußtsein  existieren  gleiche  Inhalte,  son- 
dern „für"  das  Bewußtsein  sind  zwei  Inhalte  gleich.  Genau 
so  ist  es  mit  der  Identität.  Der  Satz  ist  nicht  von  vornherein 
im  Bewußtsein,  er  gelangt  auch  nicht  in  das  Bewußtsein, 
sondern  für  das  Bewußtsein  existiert  die  Identität  des  Gegen- 
standes, und  durch  das  reflexive  Denken  wird  mir  dies  be- 
wußt. Ich  erfahre,  daß  ich  denke.  Aber  es  wäre  sinnlos, 
die  Existenz  des  Denkens  durch  das  Denken  als  Tatsache 
erklären  zu  wollen.  Ich  erfahre,  daß  zwei  Strecken  gleich  sind. 
Keine  Gleichheit  aber  gelangt  als  psychische  Wesenhaftig- 
keit  ins  Bewußtsein.  Geht  man  von  dem  Sensualismus  als 
einer  philosophischen  Abstraktion  aus,  so  existierten  zwei 
optische  Empfindungen.  Diese  Erfahrung  deckt  sich  aber 
nicht  mit  meinem  Urteil  über  ihre  Gleichheit.  Man  kann  nicht 
weiter  als  bis  zu  der  Anerkennung  kommen,  daß  für  das  Be- 


—  300  — 

wußtsein  zwei  Strecken  gleich  sind.  Dieses  Aisgleichdenken 
kann  man  nicht  vom  Raum  aus  erklären.  Die  wahrgenommene 
Gleichheit  der  Strecke  ist  ja  sogar  für  das  objektive 
Denken,  für  den  Mathematiker  jederzeit  ein  Irrtum.  Genau 
so  ist  die  Identität  eines  wahrnehmbaren  Körpers,  den  ich 
sinnlich  erfahre,  ein  Irrtum.  Mit  der  schärfsten  Analyse 
kann  man  also  nicht  weiter  kommen,  als  daß  für  das  Bewußt- 
sein eine  Identität  des  Gegenstandes  existiert.  Die  Frage, 
wie  die  Identität  ins  Bewußtsein  gelangt,  ist  unlogisch,  weil 
es  keinen  Raum  Bewußtsein  gibt,  und  weil  die  Identität 
nur  als  Gegenstand  des  denkenden  Bewußtseins  existiert. 
Nennt  man  die  Identifizierung  eine  Tat  des  Intellekts,  so 
wäre  es  auch  töricht  zu  behaupten,  daß  der  Intellekt  ange- 
boren ist,  weil  dem  schon  jene  falsche  Raumtheorie  zugrunde 
liegt,  als  ob  das  Bewußtsein  etwas  ist,  worin  sich  der  Intel- 
lekt befindet.  Nicht  ein  Evidenzgefühl  sagt  mir,  daß  A  gleich 
A  ist,  sondern  das  Selbstbewußtsein  sagt  mir,  daß  ich  A 
gleich  A  denke,  und  die  Naturwissenschaft  korrigiert  mein 
Denken  inhaltlich,  soweit  ich  nicht  wirklich  etwas  Zeitloses  als 
Identität  denke.  Der  Satz  der  Identität  als  Urteil  stammt 
also  aus  der  Erfahrung,  nämlich  aus  der  Wissenschaft  der 
Logik,  und  es  kann  keine  Wissenschaft  geben,  die  nicht  auf 
Erfahrung  beruht,  mit  Ausnahme  der  Ethik,  im  allerwei- 
testen  Sinne  genommen.  Erfahren  kann  ich  nur,  daß  ich  so 
denke.  Wo  man  darüber  hinaus  will,  wird  die  Logik  Ethik, 
nämlich  dort,  wo  man  nach  dem  Recht  seines  Denkens  fragt. 
Dies  kann  man  nur,  wenn  man  ein  richtiges  Denken  voraus- 
setzt, und  diesos  ist  eine  ethische  Idee.  Im  Vergleich  mit 
ihr  kann  ich  jede  Identifizierungstat  prüfen.  Dann  gelangt 
man  zu  dem  Resultat,  daß  es  kein  richtiges  Denken,  keine 
objektive  Erkenntnis  geben  würde,  wenn  man  an  seinem 
praktischen  Denken  festhalten  würde,  daß  der  Identifizie- 
rung kein  zeitloses  Recht  zukäme,  wenn  man  nicht  nur  das 
Zeitlose  als  Identität  denken  würde.  Die  ethische  Idee  liegt 
also  darin,  daß  das  Zeitlose  gedacht  werden  „soll".    Daß  der 


—  301  — 

Satz  der  Identität  richtig  ist,  läßt  sich  nicht  beweisen,  weder 
logisch  noch  psychologisch.  Nur  an  eine  bestimmte  Identi- 
fizierung kann  die  Frage  nach  der  Richtigkeit  gestellt  werden. 
Es  kommt  nur  darauf  an,  was  für  eine  Identität  gedacht 
wird. 

Alle  unsere  Urteile,  auch  die  philosophischen,  beruhen  auf 
Erfahrung.  Der  Fehler  des  Empirismus,  soweit  er  sich  in 
Gegensatz  stellt  zu  dem  Idealismus,  beruht  nur  auf  einer 
ganz  unhaltbaren  Identifizierung  von  Erfahrung  und  Raum- 
erfahrung, und  dieses  Dogma  beruht  letzten  Endes  auf  der 
falschen  metaphysischen  Orientierung,  die  das  Bewußtsein 
als  Raum  neben  dem  wirklichen  Raum  denkt,  daß  etwas 
aus  dem  Raum  ins  Bewußtsein  gelangt.  Das  Bewußtsein 
ist  nur  eine  Ordnung  der  data  der  Sinnlichkeit,  und  zwar 
existiert  eine  unendliche  Anzahl  von  diesen  Ordnungen, 
in  denen  der  Raum  selbst  nur  Gegenstand  des  Erlebnisses 
ist.  Erst  der  ethische  Wille  nach  Objektivität,  nach  „einer" 
Welt,  erzeugt  im  Denken  die  „eine"  Ordnung,  für  die  der 
Raum  nicht  mehr  Gegenstand  des  subjektiven  Erlebnisses 
ist,  sondern  die  Daseinsform  „der  Welt". 

Betrachtet  man  die  Raumerfahrung  als  „das"  Erfahren, 
so  ist  die  Psychologie  keine  empirische  Wissenschaft.  Es 
kommt  hier  aber  nicht  auf  den  Gegensatz  von  Raum-  und 
Selbstbeobachtung  an.  Das  Charakteristikum  der  Raum- 
erfahrung als  Geistestätigkeit  ist  die  Induktion.  Die  psy- 
chologische Erkenntnis  ist  nicht  induktiv,  sondern  intuitiv. 
Das  ist  der  entscheidende  Gegensatz. 

Unsere  Erkenntnis  des  Vorstellungslebens  beruht  auf 
der  subjektiven  Gleichheit  des  Erlebten.  Man  kann  keine 
Wiederholung  einer  Assoziation  erkennen,  ohne  die  Gleich- 
heit zweier  Bestimmtheiten  einzusehen.  Zweifellos  lerne  ich 
die  Gleichheit  zweier  Inhalte  erfahrend  kennen,  aber  nicht 
„durch"  Erfahrung.  Ich  erfahre,  daß  hier  zwei  Äpfel  liegen, 
aber  ich  erfahre  diese  Tatsache  nicht  durch  induktive  Er- 
fahrung.  Weil  diese  Erkenntnis  nicht  auf  Induktion  beruht, 


—  302  — 

deshalb  hat  man  wohl  gesagt:  sie  ist  gegeben.  Aber  dieses 
Wort  ist  gefährlich.  Versteht  man  darunter  nur  den  Gegen- 
satz zur  Induktion,  so  wäre  dagegen  nichts  einzuwenden. 
Nimmt  man  aber  die  Gegebenheit  wörtlich,  so  muß  man 
auch  fragen,  wem  etwas  gegeben  ist.  Fälschlicherweise  denkt 
man  hier  räumlich.  Man  denkt  nämlich  die  Zweiheit  im 
Bewußtseinsraum  gegeben.  Tatsache  ist,  daß  sie  für  das 
Bewußtsein  existiert.  Es  besteht  die  Zusammenfassung  der 
Äpfel  zur  Zweiheit.  Die  Tatsache  ist  gegeben,  weil  sie  als  Er- 
kenntnis nicht  erst  durch  Induktion  konstruiert  worden  ist. 
Sie  ist  unmittelbar  erkannt.  Auch  hier  hat  das  Bewußtsein 
die  Welt  geformt,  aber  nicht  mittelbar  durch  Induktion, 
sondern  unmittelbar,  und  diese  Erfahrung  nennen  wir  in- 
tuitiv. Falsch  wird  die  Gegebenheit,  wenn  man  von  der  Tat 
des  Bewußtseins  absieht,  als  ob  die  Zweiheit  irgendwo  exi- 
stiert und  vorgefunden  wird.  Sie  entsteht  erst  durch  das 
formende  Bewußtsein.  Erst  für  dieses  existiert  sie.  Sie  ist 
nicht  im  Bewußtsein  gegeben.  Richtig  aber  ist  dieser  Aus- 
druck als  Gegensatz  zu  der  Konstruktion  der  induktiven 
Erfahrung. 

In  diesem  Sinne  ist  tatsächlich  der  psychologische  Zu- 
sammenhang der  Phänomene  der  Erfahrung  gegeben  und 
nicht  von  ihr  konstruiert.  Eine  Erinnerung  eines  andern  In- 
dividuums ist  mir  so  lange  rätselhaft,  bis  ich  nicht  die  Gleich- 
heit oder  Ähnlichkeit  selbst  erlebe.  Ich  lerne  sie  erfahrend 
kennen,  aber  intuitiv,  nicht  durch  induktive  Erfahrung. 
In  diesem  Sinne  beruht  das  Urteil  nicht  auf  einer  Konstruk- 
tion, sondern  die  Gleichheit  ist  gegeben.  Sie  existiert  aber 
nicht  unabhängig  von  jedem  Bewußtsein,  sondern  für  das 
Bewußtsein,  und  psychologisch  kommt  nicht  die  Wahrheit 
der  Gleichheit  in  Betracht,  nicht  ihre  Existenz  für  jedes 
Bewußtsein  oder  das  Bewußtsein  überhaupt,  sondern  nur 
für  das  individuelle  Bewußtsein,  für  das  Individuum  und  für 
den,  der  es  versteht.  Sie  existiert  als  Formung  des  Bewußt- 
seins.   Ohne  diesen  Beziehungspunkt  verliert  das  Gleichsein 


—  303  — 

jeden  Sinn.  Die  Erkenntnis  ist  aber  intuitiv,  und  darin  liegt 
der  Gegensatz  des  Verstehens  zum  Erklären,  zur  Induktion. 
Was  nicht  intuitiv  erlebt  werden  kann,  kann  psychologisch 
auch  nicht  erkannt  werden.  Ich  muß  das  Zahlenurteil  des 
andern  erkennen,  dadurch  daß  ich  die  Möglichkeit  der  Zu- 
sammenfassung erlebe.  Diese  ist  psychologisch  immer  will- 
kürlich, sie  setzt  irgend  eine  Gleichheit  voraus.  Wenn  ein 
Kind  auf  die  Wand  zeigt  und  Fünf  sagt,  so  kann  ich  das  nicht 
erklären,  sondern  ich  kann  es  nur  verstehen,  wenn  ich  selbst 
intuitiv  dort  fünf  Gleichheiten  erfasse,  was  durchaus  nicht 
immer  leicht  oder  selbstverständlich  ist.  Zählen  kann  man 
alles  in  der  Welt,  aber  der  Gesichtspunkt,  unter  dem  man 
fünf  Gegenstände  für  gleich  hält,  kann  mir  an  sich  ganz 
fremd  sein.  So  ist  es  auch  bei  jeder  Assoziation.  Jemand 
behauptet  eine  Ähnlichkeit  zwischen  zwei  Menschen.  Kann 
ich  sie  beim  besten  Willen  nicht  sehen,  so  sage  ich  mit  Recht: 
ich  verstehe  es  nicht,  wie  man  die  beiden  Menschen  für  ähn- 
lich halten  kann.  Kein  psychologisches  Gesetz  kann  mir  aber 
weiter  helfen.  Es  gibt  nichts,  was  hier  erklärt  werden  kann. 
Man  sagt  wohl,  daß  ein  gleiches  Element  da  sein  ,,muß", 
aber  dies  wäre  nur  ein  theoretisch  schlechter  Ausdruck  für 
die  Tatsache,  daß  das  Individuum  das  Erlebte  für  ähnlich 
hält.  Durch  diesen  schlechten  Ausdruck  wird  sie  selbst 
nicht  erklärt.  Ich  kann  nur  beschreibend  konstatieren,  daß 
für  dieses  Individuum  zwei  Gegenstände  gleich  oder  ähnlich 
sind.  Dazwischen  besteht  nur  ein  Gradunterschied.  Denn 
von  einer  objektiven  Gleichheit  ist  niemals  die  Rede.  Es 
existiert  kein  Phänomen,  das  auf  ein  induktiv  gewonnenes, 
allgemeines  Gesetz  zurückgeführt  werden  kann.  Entweder 
ich  erlebe  selbst  die  Ähnlichkeit  oder  ich  erlebe  sie  nicht. 
Im  ersten  Fall  verstehe  ich  den  andern  Menschen,  im  zweiten 
nicht.  Das  Assoziationsgesetz  erklärt  mir  gar  nichts,  sondern 
die  Erlebnisse  des  Subjekts  und  seine  Gleichsetzungen  gilt 
es  zu  verstehen.  Dasselbe  gilt  für  die  Willenstendenzen.  Wir 
zeigten,  daß  es  darauf  ankommt,  die  einzelnen  Tendenzen 


—  304  — 

in  ihrer  Verwandtschaft,  wozu  auch  der  Kontrast  gehört, 
mit  andern  zu  begreifen.  Diese  Zusammengehörigkeit  kann 
aber  nur  intuitiv  erfaßt  werden.  Auch  hier  muß  ich  es  selbst 
nacherleben  können,  genau  so  wie  die  Gleichheit  der  In- 
halte. Weiter  als  bis  zu  diesem  Nacherleben,  bis  zu  dem 
Verstehen  des  andern  Menschen,  kann  es  keine  Psychologie 
bringen.  Sie  kann  nur  hinterher  theoretisch  den  so  gefun- 
denen Zusammenhang  falsch  darstellen. 

Gewiß  beruht  auch  die  Arbeit  des  Naturwissenschaftlers 
auf  der  Intuition,  auf  der  unmittelbaren  Erkenntnis,  allein 
erst  dann  beginnt  seine  eigentliche  Arbeit.  Diese  intuitive 
Erkenntnis  macht  mir  psychologisch  seine  Tätigkeit  ver- 
ständlich, aber  die  Bedeutung  seines  Werks  liegt  in  der 
Beziehung  zur  Realität.  Diese  versteht  er  nicht  intuitiv. 
Durch  Induktion  gelangt  er  zu  dem  Gesetz  der  Erscheinun- 
gen. Seine  Tätigkeit  wird  durch  die  Intuition  verstanden. 
Er  versteht  aber  die  Natur  nicht,  er  kann  sie  nur  erklären, 
das  heißt  terminologisch  nichts  anderes,  als  daß  er  die  Er- 
scheinungen in  zeitlosen  Allgemeinheiten  beschreiben  kann. 
Wenn  die  Beziehung  der  chemischen  Elemente  wirklich  Ver- 
wandtschaft und  Liebe  wäre,  dann"  wäre  der  Einzelfall  auch 
verständlich,  das  Geschehen  wäre  als  Handlung  nachzuer- 
leben, wie  dies  für  die  Mythologie  der  Fall  ist.  Da  dies  für 
unsere  heutige  Erkenntnis  nicht  mehr  gilt,  so  kann  man  nur 
feststellen,  was  im  logischen  Sinne  ,, immer"  geschieht, 
ohne  daß  man  es  versteht.  Die  moderne  Naturwissenschaft 
dünkt  sich  wunder  wie  kritisch,  wenn  sie  den  Begriff  der 
Erklärung  durch  den  der  Beschreibung  ersetzt.  Es  ist  viel- 
leicht dies  für  die  Naturwissenschaftler  selbst  sehr  zweck- 
mäßig, die  geglaubt  haben,  durch  die  Wissenschaft  hinter 
die  Erscheinung  zu  gelangen.  Es  ist  auch  in  dem  Sinne  zweck- 
mäßig, als  dadurch  die  Meinung  aufgegeben  wird,  daß  der 
Mensch  Wahrheit  findet.  Es  gibt  philosophisch  nicht  das 
Finden,  sondern  nur  das  Tun,  den  Willen.  Der  Mensch 
schafft  die  Wahrheit.     Sie  existiert  als   Gegenstand  seines 


—  305  — 

ethischen  Wollens,  und  nur  als  solche  hat  sie  ihren  Wert,  nicht 
aber  als  vermeintliches  Abbild  der  Realität.  Die  Wissenschaft 
bildet  nicht  die  Realität  ab,  sondern  sie  konstruiert  sie.  Von 
diesem  Standpunkt  aus  ist  der  Begriff  der  Beschreibung 
gerade  falsch.  Denn  er  hält  in  irgend  einer  Form  noch  die 
Meinung  aufrecht,  daß  wir  in  der  Naturwissenschaft  die  Wirk- 
lichkeit „abbilden".  Man  glaubt  als  Skeptiker  nicht  an  die 
Wahrheit  der  Naturwissenschaften  und  drückt  dies  in  dem 
,,Nur  Beschreiben"  aus,  weil  man  selbst  von  einem  falschen 
Begriff  der  Wahrheit  ausgeht.  Jeder  Skeptizismus  beruht 
letzten  Endes  darauf,  daß  man  willkürlich  ein  Ziel  annimmt 
und  hinterher  beweist,  daß  man  es  nicht  erreichen  kann. 
In  diesen  Fehler  ist  vor  allem  die  Sprachkritik  verfallen.  Es 
gibt  keine  Wahrheit,  die  existiert,  und  die  wir  nicht  erreichen 
können,  sondern  es  gibt  nur  den  Willen,  die  Wahrheit  zu 
schaffen.  Die  Trennung  zwischen  Beschreibung  und  Erklä- 
rung bleibt  bestehen,  weil  ein  Gegensatz  der  historischen 
und  der  naturwissenschaftlichen  Aussage  bestehen  bleibt. 
Die  Handlung  kann  man  durch  den  Willen  unmittelbar  be- 
schreiben, aber  man  kann  sie  nicht  erklären,  nicht  mittelbar 
beschreiben  als  ein  zeitloses  Geschehen.  Man  kann  beschrei- 
bend sagen,  daß  ein  Individuum  eine  Gleichheit  oder  Ähn- 
lichkeit sieht.  Man  kann  aber  hier  nichts  als  allgemeine 
zeitlose  Gesetzmäßigkeit  beschreiben.  Soweit  etwas  ein  Urteil 
ist,  ist  es  Beschreibung,  der  Gegensatz  des  Wahrnehmungs- 
und des  Erfahrungsurteils  bleibt  aber  bestehen.  Das  erste 
ist  die  psychologisch-historische  Erkenntnis,  aus  der  sich 
die  objektive  Naturwissenschaft  herausbildet.  Mit  der  Be- 
schreibung als  zeitlose  Tatsache  ist  ein  Phänomen  erklärt, 
wenn  auch  diese  Zeitlosigkeit  nur  der  Gegenstand  unserer 
Konstruktion  ist.  Das  psychische  Phänomen,  das  ich  be- 
schreiben kann,  wird  verstanden,  wenn  der  Betrachter  selbst 
die  Tat  des  andern  Subjekts  nacherleben  kann.  Aber  nur 
dann  kann  er  überhaupt  die  Tat  als  Willen  beschreiben. 
Er  sieht  ihn  nicht  als  die  vorangehende  Ursache,  sondern  er 

Strich,  Prinzipien.  20 


—  306  — 

erlebt  intuitiv  die  Beziehung.  Das  historische  Faktum  ver- 
stehe ich,  oder  ich  verstehe  es  nicht.  Das  zeitlose  Faktum 
kann  man  nie  verstehen,  aber  es  kann  den  Einzelfall  er- 
klären. 

Der  Psychologe  entdeckt  intuitiv  eine  Gleichheit  oder 
Ähnlichkeit.  Der  Naturwissenschaftler  muß  aber  den  Zu- 
sammenhang erst  durch  die  isolierende  induktive  Erfahrung 
konstruieren.  Die  Gesetze  der  Naturwissenschaft  sind  auch 
Beschreibungen,  aber  trotzdem  Lösungen  eines  Problems. 
Sie  entdecken  durch  Forschung  einen  an  sich  unbekannten 
Zusammenhang.  Für  den  Psychologen  trifft  dies  in  demselben 
Sinne  nicht  zu.  Auch  hier  gibt  es  Problemlösungen,  aber  den 
Ausschlag  gibt  allein  die  Intuition  und  nicht  die  Beob- 
achtung der  "Welt.  Ganz  primitiv  und  typisch  liegt  es  so, 
daß  man  einen  Gegenstand  sehr  genau  kennen  muß,  um  alle 
möglichen  Bestimmtheiten  zu  wissen,  die  für  ein  Individuum 
maßgebend  sein  können.  Ich  kann  eine  Zusammengehörig- 
keit von  Tendenzen  mit  Zwecken  intuitiv  entdecken,  auf 
die  ein  anderer  nicht  nur  nicht  gekommen  wäre,  sondern 
die  er  vielleicht  auch  jetzt  noch  nicht  zugibt,  weil  er  die  Welt 
nicht  so  vielseitig  erleben  kann.  Der  Unterschied  zur  Natur- 
wissenschaft liegt  darin,  daß  mir  die  Natur  gezwungen  den 
Zusammenhang  der  Phänomene  offenbart,  nämlich  durch 
die  Isolierung  der  Erscheinungen,  deren  Typus  das  Experi- 
ment ist.  Diese  Erfahrung  ist  in  der  Psychologie  ausgeschlos- 
sen, weil  sie  nicht  von  der  Idee  der  allgemeinen  Kausalität 
der  Substanz  oder  des  Raums  ausgehen  kann.  Eine  Asso- 
ziation ist  mir  entweder  intuitiv  verständlich  oder  nicht. 
Entweder  ich  erlebe  den  Zusammenhang  in  der  Gleichheit 
oder  nicht.  Der  Naturwissenschaftler  aber  müßte  erst  den 
Zusammenhang  konstruieren,  und  zwar  deswegen,  weil  er 
von  der  Idee  der  Kausalität  ausgeht.  Für  ihn  ist  alles,  was 
in  einem  Moment  da  ist,  Ursache  für  den  folgenden  oder 
umgekehrt:  jeder  Moment  ist  die  Resultante  des  vorher- 
gehenden.   Seine  Aufgabe  ist  es,  die  Resultante  in  die  Kom- 


—  307  — 

ponenten  zu  zerlegen,  die  Wirkungen  im  Raum  zu  isolieren 
und  die  Abhängigkeit  des  Geschehens  von  den  einzelnen  Fak- 
toren festzulegen.  Für  die  Psychologie  ist  dies  unmöglich. 
Eine  Bestimmtheit  des  Gegenstandes  bedingt  die  Asso- 
ziation; andere  können  vorübergehen,  ohne  in  den  Zusammen- 
hang einzugreifen.  Das  Psychische  ist  keine  gesetzmäßige 
Veränderung  einer  Substanz  im  Raum,  sondern  ein  intuitiv 
nacherlebbarer  historischer  Teilzusammenhang.  Man  kann 
keinen  Moment  als  Resultante  des  vorhergehenden  auffassen, 
nur  dann  aber  würde  eine  Kausalität  bestehen,  nur  dann  wäre 
es  notwendig,  den  Zusammenhang  durch  Isolation  zu  ent- 
decken. Nur  wenn  mehrere  Ursachen  in  die  Gesamtfolge  ein- 
gehen, muß  die  spezielle  Abhängigkeit  durch  induktive  Erfah- 
rung konstruiert  werden.  Psychologisch  aber  ist  die  isolierende 
Erfahrung  nicht  nur  unnotwendig,  sondern  ohne  die  Intui- 
tion ist  eine  Erkenntnis  unmöglich,  wie  mein  Naturerfahren 
nicht  ohne  meine  intuitive  Erkenntnis  möglich  ist.  Die  Gravi- 
tation im  Raum  bewirkt  nicht,  daß  sie  erkannt  wird.  Keine 
Wahrnehmung  bewirkt  eine  Erkenntnis.  Das  Erfahren  des 
Raums  ist  nur  durch  die  Intuition  psychologisch  möglich. 
Das  Leben  des  andern  Menschen  ist  aber  auch  ein  Erfahren 
seiner  Welt.  Will  ich  also  sein  Erfahren  psychologisch  ver- 
stehen, so  muß  ich  auch  seine  intuitive  Erkenntnis  wissen. 
Wenn  ich  den  andern  Menschen  verstehen  will,  muß  ich  die 
Welt  intuitiv  so  erkennen,  wie  er  es  tut.  Ein  Verstehen  seiner 
Assoziation  bedeutet  ja  gar  nichts  anderes  als  eine  besondere 
intuitive  Erkenntnis  der  gemeinsamen  Welt.  Die  psycholo- 
gische Erkenntnis  ist  subjektive  Welterkenntnis.  Ich  muß  die 
Welt  als  Inhalt  der  andern  Monade  intuitiv  erkennen,  wie  ich 
sie  als  meinen  Inhalt  intuitiv  erkenne.  Ich  muß  sein  Erfahren 
nacherleben  können. 

Psychologisch  kann  der  Zusammenhang  nur  intuitiv 
entdeckt  werden,  weil  es  keine  Komponenten  oder  keine 
elementaren  Prozesse  gibt.  Es  ist  eine  Frivolität,  wenn  die 
exakten  Psychologen   sich  mit  den  Physiologen  vergleichen 

20* 


—  308  — 

und  behaupten,  daß  sie  zunächst  die  elementaren  Pro- 
zesse studieren,  um  später  daraus  die  komplizierten  zu  er- 
klären. Es  kann  gar  keinen  elementaren  Prozeß  in  der  Psy- 
chologie geben.  Diese  Annahme  besteht  nur  dort  zu  Recht, 
wo  ein  Phänomen  als  Resultat  des  ganzen  vorhergehenden 
Moments,  der  vorhergehenden  Substanzkonstellation  auf- 
gefaßt wird.  Wie  der  Naturwissenschaftler  denkend  die  Be- 
wegung der  Kanonenkugel  zerlegt,  um  die  ungefähre  Parabel 
als  Resultante  zu  bestimmen,  so  zerlegt  er  auch  denkend 
jedes  Geschehen  in  elementare  Prozesse.  Er  bestimmt  den 
Einfluß  der  einzelnen  Faktoren  als  durch  sie  hervorgerufene 
Veränderungen,  was  also  ohne  den  Faktor  sein  würde,  und 
wie  die  Komplikation  durch  ihn  zustande  kommt.  In  der 
Psychologie  hat  aber  das  Komplizierte  entweder  nur  einen 
historischen  Sinn  oder  den  des  von  der  Norm  Abweichenden. 
Es  steht  nicht  im  Gegensatz  zum  Elementaren,  sondern 
zum  Primitiven.  Bekanntlich  ist  man  hier  oft  argen  Irrtü- 
mern ausgesetzt.  Was  in  der  logischen  Analyse  das  Primi- 
tive zu  sein  scheint,  kann  historisch,  und  man  kann  sagen: 
ist  meistens  das  Sekundäre.  Wir  zeigten,  daß  das  Erlebnis 
der  Individualität  sich  aus  dem  des  Allgemeinen  erst  heraus- 
entwickelt. Ebenso  möchte  man  vermuten,  daß  der  Begriff 
der  Einheit  der  ursprüngliche  ist,  oder  daß  das  Zählen  an- 
fängt mit  einer  Abstraktion  von  der  Qualität  des  gezählten 
Gegenstandes.  In  Wahrheit  liegt  dies  aber  umgekehrt.  Es 
ist  anzunehmen,  daß  etwa  5  Schafe  ursprünglich  vielleicht 
2  Kühen  gleichgesetzt  werden,  während  es  dem  primitiven 
Menschen  wohl  gänzlich  unverständlich  sein  würde,  daß 
5  Schafe  und  5  Kühe  nur  irgend  eine  Gleichheit  haben  sollten. 
Von  Elementarprozessen,  die  ein  Geschehen  aufbauen,  kann 
in  der  Psychologie  gar  keine  Rede  sein,  weil  der  Begriff  der 
Veränderung  durch  eine  Ursache  fehlt.  Veränderung  ist 
nur  im  Raum  möglich,  wo  eine  Konstellation  als  gegeben 
angenommen  und  nun  die  Veränderung  durch  Ursachen  be- 
gründet wird.    Der  neue  Moment  in  der  Psychologie  ist  aber 


—  309  — 

ein  neuer  Teil  der  Realität  und  keine  Veränderung  einer  da- 
seienden Wirklichkeit. 

Die  Psychologie  untersucht  z.  B.  das  Gedächtnis.  Sie  stellt 
fest,  wie  das  Behalten  erfahrener  Inhalte  variiert  nach  der 
Zahl  der  Wiederholungen  im  Zeitzwischenraum,  nach  der  Art 
der  Inhalte,  je  nachdem  ob  es  sinnvolle  Silben  oder  sinnlose, 
unrhythmische  oder  rhythmische  Reihen  usw.  sind.  Hierbei 
handelt  es  sich  um  eine  Beschreibung  von  Abhängigkeiten, 
aber  um  keine  Konstruktion  oder  Zerlegung  in  Ursachen,  um 
keine  Erklärung.  Gerade  darin  aber  liegt  die  Aufgabe  der 
Naturwissenschaft  durch  isolierende  Erfahrung.  Die  Ab- 
hängigkeiten, die  der  Psychologe  beschreibt,  bedeuten  keine 
Komponenten  eines  komplizierten  Vorgangs.  Der  Psycho- 
loge kann  gar  nicht  erfahren  wollen,  was  ein  spezielles  Phä- 
nomen für  einen  Vorgang  bedeutet.  Er  beschreibt,  daß  das 
rhythmisch  Gelernte  besser  behalten  wird  als  das  Unrhyth- 
mische. Dies  ist  die  Beschreibung  zweier  verschiedener  Vor- 
gänge, die  man  unmittelbar  kennen  gelernt  hat.  Es  sind 
ihrem  Sinne  nach  zwei  verschiedene  Wahrnehmungsurteile. 
Zu  dieser  Feststellung  gehört  genau  so  wenig  eine  natur- 
wissenschaftliche isolierende  Erfahrung  wie  dazu,  daß  ich 
jetzt  einen  grauen  Gegenstand  sehe  und  jetzt  einen  roten. 
Ich  beschreibe  beide  Male  Erlebnisse.  Ich  habe  diese  Silben 
behalten  und  diese  nicht.  Der  Naturwissenschaftler  würde 
etwa  so  erfahren:  auf  A  tritt  B  ein,  auf  G,  D.  Abgesehen  da- 
von, daß  diese  Abhängigkeiten  schon  erfahren  worden  sein 
müssen,  stünden  die  beiden  Tatsachen  vollkommen  zusam- 
menhangslos nebeneinander,  wenn  man  nicht  A  und  G  als 
einen  Komplex  von  Bedingungen  auffassen  würde,  aus 
deren  speziellen  Einflüssen  B  und  D  als  Resultate  sich  er- 
geben. Man  hätte  also  nachzuweisen,  daß  C  ein  Komplex 
wäre  aus  A  und  E.  Geht  man  nun  davon  aus,  daß  A  immer 
B  und  nicht  D  zur  Folge  hat,  so  wird  der  Grund,  daß  auf  G 
nicht  B,  sondern  D  erfolgt,  eben  in  E  zu  suchen  sein.  Dieses 
Schema  der  empirisch-naturwissenschaftlichen  Erfahrung  be- 


—  310  — 

steht  nun  in  der  Psychologie  niemals,  und  dies  liegt  daran, 
daß  es  sich  niemals  um  einen  Komplex  von  Bedingungen, 
sondern  nur  um  ,, andre"  Bedingungen  handelt.  Erst  der 
Komplex  macht  aber  die  naturwissenschaftliche  Erfahrung 
möglich  oder  notwendig.  Sie  besteht  in  nichts  anderm  als 
in  der  Auflösung  der  Komplexe,  deren  idealster  Fall  die  ganze 
momentane  Konstellation  der  Welt  ist.  Die  psychologische 
Erfahrung  wäre  in  unserm  Fall  etwa  naturwissenschaftlich, 
wenn  man  die  rhythmische  Reihe  als  Komplex  von  Silben 
und  Rhythmus  kennen  lernen  würde  und  davon  ausginge, 
daß  das  eine  Element  die  Veränderung  der  sonst  kennen  ge- 
lernten Phänomene  bedinge.  Unser  Beispiel  liegt  aber  in 
Wirklichkeit  gar  nicht  anders,  als  wenn  ich  konstatieren  würde, 
daß  ich  jetzt  einen  roten  und  vorhin  einen  grauen  Gegen- 
stand gesehen  habe.  Die  Bestimmtheit  ,,grau"  ist  keine  Ur- 
sache, die  das  Erlebnis  des  Roten  verändert,  es  ist  nur  ein 
anderes  Erlebnis.  Zu  dieser  Feststellung  gehört  keine  Er- 
fahrung im  Sinne  der  Naturwissenschaft,  keine  Isolierung  und 
Entdeckung  eines  Zusammenhangs.  Man  analysiert  keinen 
Komplex  von  Bedingungen.  Genau  so  bestimmt  man  eine 
Reihe  unmittelbar  als  rhythmisch,  die  andere  als  unrhyth- 
misch und  stellt  fest,  was  man  von  ihnen  behalten  hat.  Die 
rhythmische  Reihe  ist  ein  anderer  Inhalt,  aber  kein  Komplex 
aus  der  unrhythmischen  Reihe  und  dem  Rhythmus.  Ebenso- 
wenig ist  es  eine  Bestimmtheit,  die  sich  etwa  der  Größe  der 
Masse  vergleichen  ließe.  Auch  diese  ist  nicht  von  der  Masse 
zu  isolieren.  Trotzdem  gehört  die  konstruktive  Erfahrung 
dazu,  um  die  Abhängigkeit  der  Anziehung  von  ihr  festzu- 
stellen. Diese  Abhängigkeit  ist  eine  Entdeckung,  das  Werk 
einer  Tat.  Wie  das  Gedächtnis  nach  den  Inhalten  variiert, 
ist  demgegenüber  eine  Erzählung,  eine  Geschichte  des  Sub- 
jekts oder  die  von  den  Erlebnissen  mehrerer  Subjekte.  Denn 
auch  bei  der  Gravitation  handelt  es  sich  um  die  Auflösung 
eines  Komplexes  in  das  qualitative  Phänomen  und  die  Größe. 
Es  muß  erst  der  Faktor  gefunden  werden,  zwischen  dem  die 


—  311  — 

Abhängigkeit  besteht,  während  der  Rhythmus  als  Bestimmt- 
heit genau  so  gegeben  ist  wie  Farbe  oder  Ton.  Von  dem  Sinn 
der  Gegebenheit  war  oben  die  Rede.  Es  ist  auch  möglich, 
daß  ein  Betrachter  die  Verschiedenheit  der  beiden  Reihen 
nicht  bemerkt.  Der  Rhythmus  erklärt  mir  kein  Phänomen. 
Man  kann  nur  beschreiben,  wie  die  Erlebnisse  behalten  oder 
vergessen  werden. 

Die  naturwissenschaftliche  Beschreibung  ist  deswegen 
dem  Einzelfall  gegenüber  eine  Erklärung,  weil  die  an  sich 
unbekannten  Abhängigkeiten  dadurch  aufgedeckt  werden. 
Der  Psychologe  aber  kann  nur  unmittelbar  erlebte  Abhängig- 
keiten konstatieren,  die  jeder  nacherleben  kann  oder  muß, 
wenn  er  sie  verstehen  will.  Er  kann  nicht  durch  die  isolie- 
rende Erfahrung  den  Einfluß  eines  speziellen  Faktors  auf 
die  Veränderung  bestimmen.  Er  zerlegt  nicht  das  Geschehen, 
sondern  er  kann  nur  den  unmittelbaren  Zusammenhang  be- 
schreiben. Sein  Gesetz  kann  niemals  etwas  an  sich  Unbe- 
kanntes erklären,  weil  er  gar  nicht  die  Möglichkeit  hat,  durch 
die  isolierende  Erfahrung  eine  unbekannte  Ursache  als  Tat- 
sache nachzuweisen.  Für  ihn  gibt  es  kein  Plus,  sondern  nur 
ein  Anderssein  des  Erlebten.  Darum  sind  alle  seine  Gesetze 
nur  Beschreibungen  und  keine  Erklärungen.  Man  kann  die 
optischen  Täuschungen  nicht  erklären,  man  kann  keine  Fak- 
toren nachweisen,  die  etwas  bewirken,  sondern  man  kann 
auch  sie  nur  intuitiv  verstehen.  Man  interpretiert  das  Den- 
ken. Man  behauptet  z.  B.  —  ich  lasse  die  Richtigkeit  der 
Meinung  dahingestellt  — ,  daß  wir  uns  durch  die  erschwerte 
oder  erleichterte  Bewegung  des  Auges  über  die  eigentlich  mit 
dem  Auge  durchlaufene  Strecke  täuschen  lassen.  Diese  Er- 
klärung gründet  sich  also  auf  die  nacherlebbare  Tatsache, 
daß  wir  die  Welt  beurteilen  nach  der  Anstrengung,  die  zum 
Erfahren  nötig  ist.  In  keinem  Fall  aber  hat  man  etwas 
naturwissenschaftlich  erklärt.  Man  hat  intuitiv  eine  Bezie- 
hung erfaßt,  die  uns  das  Phänomen  verständlich  macht, 
weil  wir  sie  nacherleben  können.   Man  hat  keine  Ursache  ent- 


—  312  — 

deckt,  die  für  uns  völlig  unverständlich  etwas  bewirkt.  Nicht 
eine  Tatsache  jenseits  von  Sinn  und  Unsinn  wird  entdeckt 
und  erklärt  den  Zusammenhang,  sondern  wo  auch  immer 
ein  solcher  aufgewiesen  wird,  wird  er  intuitiv  verstanden. 
Der  Psychologe  entdeckt  nie  verborgene  Ursachen,  sondern 
er  muß  suchen,  den  Zusammenhang  der  Phänomene  intuitiv 
zu  erfassen  oder  zu  interpretieren. 

Darum  kann  der  Psychologe  auch  bei  dem  Wahrneh- 
mungsurteil stehenbleiben.  Jede  individuelle  Erfahrung  ist 
als  solche  intuitiv.  Eine  Konstruktion  des  allgemeinen  Er- 
fahrungsurteils ist  für  den  Psychologen  unmöglich,  aber  auch 
unnotwendig,  weil  er  den  Einzelfall  intuitiv  versteht  und  ihn 
nicht  nur  als  eine  allgemeine,  aber  unverständliche  Tatsache 
nachzuweisen  braucht.  Der  Naturwissenschaftler  stößt  nie 
auf  einen  Grund  der  Erscheinung,  sondern  nur  auf  die  all- 
gemeine Tatsache.  Der  Psychologe  aber  sucht  nur  nach 
Gründen.  Jene  Erschwerung  der  Bewegung  ist  ein  Grund 
des  Urteils,  aber  keine  Ursache  für  eine  Erscheinung.  Der 
Psychologe  versteht  alles  als  begründete  Taten  des  Subjekts, 
soweit  er  überhaupt  den  Zusammenhang  erkennt  und  nicht 
nur  individuelle  Tatsachen  berichtet.  Der  Naturwissenschaft- 
ler konstruiert  nur  Gleichheiten  des  Geschehens.  Gewiß  gibt 
es  auf  dem  Gebiet  der  Sinnesempfindung  auch  sinnlose 
Zusammenhänge.  Dahin  gehört  etwa  die  Erscheinung  des 
optischen  Nachbildes.  Hier  hört  aber  auch  das  psychologische 
Begreifen  auf.  Der  Psychologe  führt  den  Einzelfall  nicht  auf 
ein  Geschehen  zurück,  das  in  der  allgemeinen  Substanz 
immer  vorkommt,  sondern  das  Phänomen  existiert  für  die 
Erkenntnis  überhaupt  nur  in  dem  Individualsystem,  und 
folglich  auch  der  Zusammenhang.  Es  ist  darum  für  das  Ver- 
ständnis völlig  gleichgültig,  ob  dieser  Zusammenhang  in 
einem,  in  zwei  oder  in  tausend  Individuen  vorkommt.  Weil 
er  in  tausend  Individuen  vorkommt,  deswegen  ist  er  in 
einem  System  noch  nicht  erklärt.  Es  ist  logisch  verständlich, 
daß   ein   Element   Radium    so   wirkt   wie  das  andere,    weil 


—  313  — 

die  Natur  „ein"  System  ist.  Auf  dieselbe  Weise  ist  die 
Wiederholung  einer  Assoziation  verständlich,  weil  das  Gleiche 
in  demselben  System  die  gleiche  Folge  hat.  Aber  deswegen 
ist  doch  nicht  von  einer  „objektiven"  Kausalität  zu  sprechen, 
weil  die  Gleichheit  nur  in  dem  Individualsystem  existiert  und 
die  Folge  immer  eine  Auswahl  unter  Möglichkeiten  bedeutet. 
Wir  erkennen  das  Individuum  und  nicht  eine  psychische 
Welt,  die  empirisch  überhaupt  nicht  existiert.  Das  Asso- 
ziationsgesetz ist  kein  Naturgesetz,  das  unter  den  logischen 
Begriff  der  Kausalität  fällt,  sondern  es  ist  höchstens  eine  Form 
des  Kausalitätsprinzips  selbst.  Es  sagt  nur,  daß  das  Gleiche 
in  demselben  System  mit  dem  Gleichen  verbunden  ist.  Man 
muß  erst  wissen,  was  das  Individuum  gleichsetzt,  um  dann 
seine  Taten  zu  verstehen.  Das  Assoziationsgesetz  erklärt  ein 
Phänomen  genau  so  wenig  wie  das  Kausalitätsgesetz.  Es 
schreibt  nur  vor,  nach  den  Gleichsetzungen  des  Subjekts 
und  nach  den  Assoziationen  zu  suchen,  die  sich  in  seiner 
Geschichte  herausgebildet  haben.  Diese  Gleichheiten  muß 
man  intuitiv  erfassen,  die  Geschichte  muß  man  kennen.  Der 
Psychologe  erkennt  das  Individuum,  der  Naturforscher  die 
Natur.  Das  Psychische  ist  die  subjektive  Erfahrung  und  seine 
Verwertung.  Gerade  in  der  Loslösung  von  diesen  vielen 
subjektiven  Welten  besteht  der  Sinn  der  Naturwissenschaft, 
die  Konstruktion  der  „einen"  Natur.  Darum  ist  der  Gedanke 
des  psychologischen  allgemeinen  Gesetzes  unlogisch.  Das  Vor- 
kommen der  optischen  Täuschung  bei  allen  Individuen  erklärt 
nicht  im  mindesten  die  Meinung  des  einzelnen.  Diese  kann 
nicht  aus  einem  allgemeinen  Gesetz  der  psychischen  Welt 
erklärt  werden,  sondern  kann  nur  aus  den  Erfahrungen 
jedes  einzelnen  Individuums  verstanden  werden.  Genau  so 
liegt  es  etwa  bei  dem  Fechnerschen  Gesetz.  Die  Tatsache, 
daß  das  Allzuähnliche  miteinander  verwechselt  wird,  kann 
man  nicht  erklären.  Jede  Gleichsetzung  ist  eine  Tat  des 
Individuums,  die  ich  von  mir  aus  selbst  verstehen  kann 
oder    nicht.     Eine    abnorme    Unterscheidungsfähigkeit    ist 


—  314  — 

ebenso  unverständlich  wie  der  abnorme  Mangel  dieser  Mög- 
lichkeit. Die  Erkenntnis  des  Zusammenhangs  aber  beruht 
erst  auf  der  Annahme  einer  solchen  subjektiven  Gleichheit. 
Die  Tatsache,  daß  bei  der  Wahrnehmung  von  Größen  der 
Umkreis  des  Ähnlichen  mit  der  Größe  selbst  wächst,  kann 
ebenso  nur  intuitiv  erkannt  werden.  Mehr  aber  sagt  das 
Fechnersche  Gesetz  nicht.  Daß  das  bei  allen  Individuen 
vorkommt,  erklärt  nicht  das  Urteil  des  einzelnen. 

Bevor  man  nach  einem  Zusammenhang  sucht,  muß  man 
wissen,  was  erlebt  wird.  Aber  diese  Bestimmung  ist  selbst 
schon  die  Konstatierung  eines  historischen  Zusammenhangs 
des  Individualsystems.  Es  ist  gleichgültig,  ob  sich  dabei 
die  Bestimmung  auf  eine  qualitative  Bestimmtheit,  ein  soge- 
nanntes Element  bezieht,  oder  auf  einen  bestimmten  Komplex 
von  solchen.  Das  Psychische  läßt  sich  nicht  bestimmen  als 
Ausschnitt  einer  Substanz,  sondern  nur  als  historische  Reihe. 
Das  Problem  des  Allgemeinen  ist  unlösbar,  weil  man  den 
Moment  als  Raum  bestimmen  will  und  nicht  als  Teil  des 
Zeitsystems.  Ich  kann  nicht  von  meiner  Bestimmung  der 
Welt  dabei  ausgehen.  Ich  kann  nicht  das  Empfindungs- 
element als  unmittelbar  gegeben  ansehen  und  alles  andere 
durch  Assoziation  entstehen  lassen.  Wenn  jemand  einen 
Tisch  sieht,  so  bestimme  ich  einen  spezifischen  Komplex 
von  Bestimmtheiten  als  gleich  mit  vergangenen  Komplexen. 
Der  Tisch  ist  keine  Vorstellung,  die  durch  objektiv  gegebene 
Elemente  reproduziert  wird.  Wenn  das  Kind  den  Stuhl 
als  Tisch  bezeichnet,  so  ist  es  falsch  zu  sagen,  daß  die  Wahr- 
nehmung des  Stuhls  die  Vorstellung  Tisch  reproduziert  hat. 
Denn  der  Stuhl  braucht  eben  nicht  erlebt  worden  zu  sein. 
Es  kann  unmittelbar  für  das  Bewußtsein  ein  Komplex 
existieren,  der  eben  vielen  vergangenen  gleich  ist,  ohne  daß 
er  sie  reproduktiv  erweckt,  genau  so  wie  ein  Lichtreiz  nicht 
eine  Farbe  reproduziert,  sondern  eine  Farbe  bedingt,  die  einer 
vergangenen  gleich  ist.  Erst  durch  diese  Gleichheit  der 
Komplexe  wird  mir  eine  mögliche  Assoziation  verständlich. 


—  315  — 

Auf  dieser  Gleichheit,  die  sich  nur  intuitiv  erfassen  läßt, 
beruht  das  Verständnis  des  Psychischen.  Die  Verallgemei- 
nerung bezieht  sich  zunächst  nur  auf  das  Individualsystem. 
Jede  Vorstellung,  mag  auch  ihr  Inhalt  eine  einzelne  Farbe 
sein,  läßt  sich  bestimmen  nur  als  Vorstellung  eines  Allge- 
meinen und  nicht  als  individuelles  Element.  Genau  so  wenig 
gibt  es  individuelle  Willenselemente.  Die  Anlage,  die  Dis- 
position, der  Trieb,  die  Tendenz,  alles  dies  entspricht  dem 
Begriff,  der  im  Individualsystem  als  Erlebnis  des  Allgemeinen 
existiert,  bevor  es  Worte  gibt.  Wir  können  die  Erlebnisse 
nur  wegen  ihrer  Gleichheit  in  dem  Individualsystem  zusam- 
menfassen. Dasselbe  trifft  für  den  Willen  zu.  Es  ist  seltsam, 
daß  man  die  Möglichkeit  einer  Allgemein-Vorstellung  leugnet 
und  die  Anlage  oder  Disposition  für  korrekt  hält.  Das  Denken 
läßt  sich  nicht  erklären,  weil  die  historische  Gleichheit  der 
Inhalte  nicht  erklärt  werden  kann,  weil  das  Bewußtsein 
kein  Raum  ist.  Es  gibt  nur  Allgemeinvorstellungen,  näm- 
lich Wiederholungen  in  dem  Zeit  System.  Es  gibt  aber  kein 
Ding  Allgemeinvorstellung  neben  andern  Vorstellungen,  das 
sich  womöglich  erst  später  bildet.  Das  individuelle  Element 
ist  ein  Nonsens.  Auch  hier  bedeutet  das  logisch  Primitive 
historisch  das  Sekundäre.  Der  Komplex  von  Bestimmt- 
heiten ist  das  Primäre.  Die  Elemente  verschmelzen  nicht  zu 
Vorstellungen,  sondern  die  Vorstellung  wird  höchstens  in 
Elemente  zerlegt.  Die  Sonderung  in  einzelne  Bestimmt- 
heiten ist  das  Sekundäre.  Die  Vorstellung  als  sinnliches 
Erlebnis  ist  jederzeit  Allgemeinvorstellung.  Erst  das  Denken 
konstituiert  die  Individualität.  Es  liegt  also  gerade  umge- 
kehrt, wie  es  die  Elementarpsychologie  oder  der  Nominalis- 
mus darstellt.  Es  läßt  sich  eben  nur  das  historische  Subjekt 
beschreiben,  das  sinnlich  immer  etwas  Allgemeines  erlebt, 
und  nicht  der  Inhalt  des  momentanen  Bewußtseins  als  Teil 
eines  in  der  Zeit  existierenden  Raums.  Nur  weil  das  Er- 
lebnis in  dem  System  etwas  Allgemeines  ist,  läßt  sich  die 
Assoziation  verstehen.     Dieses  Allgemeine  erklären  wollen, 


—  316  - 

wäre  gleichbedeutend  damit,  daß  man  die  Gleichheit  der 
Masse  erklären  wollte.  Die  Naturwissenschaft  gründet  sich 
auf  die  Gleichheit  des  Raumteils,  die  Psychologie  auf  die  des 
Zeitteils.  Darum  gibt  es  kein  Problem  der  Allgemeinvorstel- 
lung als  eines  ableitbaren  Phänomens. 

Genau  so  lassen  sich  die  Handlungen  nur  aus  allgemeinen 
Tendenzen  verstehen,  die  auch  nicht  Dinge  im  Bewußtsein  sind. 
Der  Begriff  und  der  Wille  haben  nur  Sinn,  wenn  man  von  dem 
historischen  Subjekt  ausgeht  und  nicht  von  dem  momentanen 
Inhalt  des  Bewußtseins.  Ohne  diesen  Ausgangspunkt  ist  aber 
überhaupt  keine  psychologische  Erkenntnis  möglich.  Daß 
dieser  Mensch  sich  über  Tierquälerei  ärgert,  ist  ein  Gesetz 
dieses  Systems,  das  uns  die  einzelnen  Handlungen  verständlich 
macht.  Es  kann  durch  ein  allgemeineres  vielleicht  begründet 
werden,  bis  man  zu  dem  letzten  gelangt,  das  man  den  Charak- 
ter des  Individuums  nennt.  Diese  Begründung  ist  nur  als 
Intuition  möglich.  Die  Willenstendenzen  verstehe  ich  ent- 
weder von  mir  aus  oder  ich  verstehe  sie  nicht.  Ein  Lustmord 
ist  vielleicht  den  meisten  Individuen  unverständlich.  Der 
Psychologe  aber  hat  auf  Grund  seiner  vermeintlichen  Gesetze 
nichts  vor  ihnen  voraus.  Er  kann  den  Fall  nicht  aus  psy- 
chischen Gesetzen  erklären.  Der  bessere  Psychologe  kann 
aber  vielleicht  Beziehungen  entdecken,  die  auch  dem  andern 
verständlich  sind,  wenn  er  auf  sie  hingewiesen  wird.  Immer 
aber  kommt  es  auf  das  Individualsystem  an.  Nur  dieses 
kann  ich  erkennen.  Gesetze  der  psychischen  Welt  sind 
unlogisch,  weil  es  gar  keine  solche  Welt  gibt.  Erst  die 
wertende  Vernunft  konstituiert  den  objektiven  Geist,  eine 
psychische  Welt,   deren    Gegenstand  die  Kultur  ist. 

Der  bessere  Psychologe  ist  der  differenziertere  Mensch. 
Die  Differenzierung  besteht  in  der  Freiheit  von  den 
eigenen  Auffassungen  der  Welt,  die  sich  in  den  meisten 
Fällen  des  normalen  Lebens  mit  den  üblichen  oder  allge- 
meinen decken  werden.  Das  Gefühl  der  Angst  ist  in 
vielen  Fällen  selbstverständlich,    weil    es    normal    oder    ein 


-  317  — 

Symptom  des  eigenen  Lebens  ist.  Dies  können  wir  aber  nicht 
in  allen  Fällen  behaupten.  Das  Seelenleben  des  Kindes  ist 
häufig  so  schwer  verständlich,  weil  es  noch  nicht  normal  ist. 
Wir  haben  die  Welt  der  andern  Monade  zu  verstehen.  Im 
praktischen  Leben  aber  entwickelt  sich  schon  eine  gewisse 
Gleichheit  der  Menschen  wegen  der  gleichen  Lebensbedingun- 
gen und  des  notwendigen  sozialen  Verkehrs.  Diese  Gleich- 
heit drückt  sich  vor  allem  in  der  Sprache  aus.  Wir  wundern 
uns  nicht,  wenn  jemand  den  Gegenstand  als  Tisch  erlebt 
oder  bezeichnet,  den  wir  selbst  so  erleben.  Das  Kind  aber 
lernt  erst  die  soziale  Einstellung,  die  Anpassung  seiner  Welt 
an  die  anderen,  die  sich  selbst  durch  die  Praxis  entwickelt 
haben.  Ursprünglich  kann  es  wohl  die  Worte  der  Sprache 
benützen,  aber  sie  können  einen  spezifischen  Sinn  haben, 
der  zunächst  nur  für  das  Kind  gilt.  In  diesen  Fällen  kommt 
man  mit  der  eigenen  Stellung  zu  der  gemeinsamen  objektiven 
Welt  nicht  mehr  aus.  Man  muß  sich  also  von  der  eigenen  Auf- 
fassung, die  für  gewöhnlich  die  allgemeine  ist,  freimachen, 
weil  das  Kind  noch  anormal  ist.  Natürlich  ist  das  Normale 
aber  ein  ganz  schwankender  Begriff.  Man  kann  sagen,  daß 
einem  jeden  psychologisch  nur  das  problematisch  ist,  was 
von  ihm  aus  anormal  ist,  was  sich  mit  seiner  Welt,  mit 
seinem  Leben  nicht  deckt.  Ein  Mensch,  der  sich  von  seinen 
eigenen  Anschauungen  nicht  freimachen  kann,  muß  des- 
wegen ein  schlechter  Psychologe  sein.  Man  muß  einsehen, 
daß  die  eigene  Welt  nur  subjektiv  ist,  solange  es  sich  nicht 
um  eine  objektive  Erkenntnis  der  Welt  handelt,  daß  jede 
Einheitsformung  im  praktischen  Leben  nicht  auf  Wahrheit 
beruht,  sondern  nur  eine  subjektive  Tat  ist.  Soweit  sie  wirk- 
lich praktisch  ist,  wird  sie  das  Normale  sein,  weil  das  Leben 
Anpassung  ist.  Umgekehrt  kann  man  von  dem  Normalen  auf 
eine  Zweckmäßigkeit  unter  irgend  einem  Gesichtspunkt 
schließen,  wenn  es  auch  von  einem  andern  Standpunkt 
aus  unzweckmäßig  sein  kann.  Für  den  Psychologen  kommt 
es  nur  darauf  an,  den  andern  zu  verstehen.    Decken  sich 


—  318  — 

die  Anschauungen,  so  ist  dies  nicht  schwer.  Im  andern  Fall 
wird  uns  das  Leben  problematisch.  Selbstverständlich  muß 
hierbei  die  ethische  Bewertung  vollkommen  ausgeschaltet 
werden.  Es  soll  hier  auch  keineswegs  der  Satz  verteidigt 
werden:  Alles  verstehen,  heißt  alles  verzeihen.  Er  bedeutet 
gerade  die  Negation  einer  ethischen  Bewertung.  Die  psycho- 
logische Erkenntnis  aber  kann  nicht  weiter  kommen,  als 
alles  zu  verstehen.  Von  dem  normalen  Menschen  aus  bedeutet 
das  eine  Freiheit  von  dem  Allgemeinen,  soweit  er  nämlich 
mit  ihm  übereinstimmt.  Vermag  man  nicht  die  Dinge  von 
einem  andern  Standpunkt  aus  zu  sehen,  kann  man  auch  nicht 
den  andern  verstehen.  Man  muß  die  Vielseitigkeit  der  Gegen- 
stände und  ihre  darauf  begründete  Verwandtschaft  intuitiv 
erfassen  können,  auch  ohne  daß  sie  für  das  eigene  Handeln 
maßgebend  ist.  Darin  besteht  die  Differenzierung  der  eigenen 
Persönlichkeit.  Diese  setzt  immer  ein  Allgemeines  voraus, 
das  sich  differenziert.  Man  muß  hier  aber  unterscheiden. 
Wir  sprechen  etwa  von  einem  differenzierten  Farbensinn. 
Damit  ist  eine  Unabhängigkeit  von  einer  allgemeinen  Ein- 
heitsform gemeint,  die  sich  auf  das  rein  optische  Unterschei- 
den und  auf  die  Gefühlswirkung  beziehen  kann.  Ein  undiffe- 
renzierter Farbensinn  hat  etwa  eine  allgemeine  Stellung  zu 
einer  bestimmten  Qualität.  Ein  differenzierter  Geschmack 
kennt  nicht  die  bestimmte  Farbe.  Daraus  folgt  übrigens  schon 
die  Unfruchtbarkeit  der  meisten  ästhetisch-experimentellen 
Untersuchungen.  Es  ist  ganz  zwecklos,  Urteile  über  eine  Farbe 
zu  registrieren.  Eine  Farbe  eignet  sich  vielleicht  für  eine 
Krawatte  und  ist  für  eine  Tapete  höchst  ungeeignet.  Als 
Krawatte  kann  sie  zu  einem  Anzug  passen,  zu  dem  andern 
nicht.  Dem  einen  Menschen  steht  sie,  dem  andern  nicht. 
Aber  auch  das  reine  Proportionsverhältnis  der  Flächen  macht 
hiervon  keine  Ausnahme.  Es  bedingt  einen  gewaltigen  Unter- 
schied, wo  und  wie  ich  den  Körper  sehe.  Ein  seinem  eigenen 
Sinn  nach  aufrecht  stehender  Gegenstand  ist  etwas  anderes 
als  ein  liegender  usw.     Schon  im  rein  persönlichen  Leben 


■ ) 


19 


kann  also  eine  Differenzierung  von  dem  Allgemeinen  als  dem 
erlebten  Gegenstand  eintreten,  die  auf  eine  immer  weiter- 
gehende Individualisierung  der  Momente  drängt.  Diese  Dif- 
ferenzierung kann  nun  ihrerseits  ein  Abweichen  von  dem 
Allgemeinen  im  Sinne  des  Normalen  bedeuten.  Die  Differen- 
zierung, die  für  den  Psychologen  notwendig  ist,  bedeutet 
aber  nur  die  Möglichkeit,  die  Welt  überhaupt  anders  zu  sehen, 
als  sie  für  das  eigene  Ich  existiert.  Die  gemeinsame  Welt 
ist  nur  die  gedachte  Wirklichkeit,  die  erlebte  ist  unmittelbar 
verschieden.  Ein  Gegenstand  ist  für  mich  etwas  ganz  Be- 
stimmtes; er  ist  in  meinem  System  sofort  einer  Allgemein- 
heit untergeordnet.  Diese  existiert  zunächst  nur  für  mich, 
wenn  sie  auch  für  Millionen  von  andern  existieren  kann. 
Sie  braucht  aber  für  ein  Individuum  nicht  zu  existieren. 
Die  Folge  der  Erlebnisse  in  ihm  kann  ich,  so  wie  ich  den  Ge- 
genstand sehe,  nicht  verstehen.  Ich  muß  vielmehr  den  Gegen- 
stand —  der  natürlich  kein  Körper  im  Raum  zu  sein  braucht, 
sondern  irgend  eine  Tatsächlichkeit  der  Welt  sein  kann  — 
so  erleben  können  wie  das  betreffende  Individuum.  Dies 
bedeutet  eine  mögliche  Differenzierung  der  Persönlichkeit. 
Sie  gilt  natürlich  sowohl  für  den  Intellekt  wie  für  den  Willen. 
Man  kann  die  anormale  Sexualität  nicht  verstehen  durch 
eine  Sammlung  beobachteter  Tatsachen.  Fragt  man  nach 
einem  Zusammenhang,  so  verläßt  man  sich  entweder  auf  das 
Selbstbewußtsein,  die  Aussage  des  Individuums  oder  auf 
seine  eigene  Intuition.  Auch  hier  läuft  es  darauf  hinaus,  daß 
dem  guten  Psychologen  mehr  von  der  Welt  im  Allgemeinen 
bewußt  werden  kann  als  dem  schlechten.  Dem  Psychologen 
darf  nichts  Menschliches  fremd  sein.  Aber  er  erfährt  dieses 
Menschliche  nur  in  seiner  Welt.  Den  andern  „sehe"  ich 
wohl,  aber  ich  kann  ihn  nur  durch  meine  Welt  verstehen. 
Ich  sehe  seine  Bewegungen,  seine  Werke,  aber  nicht  seine 
Motive.  Ich  höre  seine  Worte,  aber  nicht  die  Gleichheiten 
oder  die  Formen,  in  denen  er  seine  subjektive  Welt  ordnet. 
Ich  kann  ihn  nur  verstehen,  wenn  ich  als  Monade  in  meiner 


—  320  — 

Welt  die  Möglichkeit  seiner  Welt  erlebe.  Ich  kann  aus  einem 
Lehrbuch  erfahren,  daß  ein  Fall  häufig  vorkommt.  Da- 
mit würde  ich  ihn  aber  noch  nicht  verstehen.  Er  bliebe 
mir  völlig  rätselhaft.  Die  Tatsache,  daß  ein  Lustmord  oft 
vorkommt,  erklärt  den  einzelnen  Fall  in  keiner  Weise.  Frei- 
lich ist  damit  nicht  gesagt,  daß  man  selbst  zum  Lustmord 
neigen  muß.  Aber  die  psychologische  Erkenntnis  beruht  auf 
der  Idee  einer  Gleichheit  der  Monade.  Der  Standpunkt  des 
Solipsismus  ist  für  die  Psychologie  völlig  berechtigt.  Die 
Monade  hat  keine  Fenster.  Dies  gilt  auch  für  die  Erfahrung 
des  andern  Menschen.  Jede  Erkenntnis  des  andern  beruht 
auf  einer  Gleichheit  mit  mir.  Dies  besagt  die  alte  Weisheit 
des  Empedokles,  daß  das  Gleiche  nur  vom  Gleichen  erkannt 
wird.  In  Wahrheit  sind  aber  die  Monaden  verschieden.  Ist 
diese  Verschiedenheit  absolut,  so  ist  eine  Erkenntnis  ein  für 
allemal  ausgeschlossen.  Darin  kann  die  Unmöglichkeit 
liegen,  den  Instinkt  der  niedern  Tiere  nachzuerleben.  Wir 
brauchen  nicht  einmal  die  Qualitäten  zu  kennen,  in  denen 
ihnen  die  gemeinsame  Wirklichkeit  bewußt  wird.  Würden 
wir  die  historische  Welt  der  Wespe  kennen,  d.  h.  würden  wir 
selbst  eine  Wespe  sein  können,  so  würden  wir  vielleicht 
ihre  Handlung  verstehen  oder  miterleben  können.  Kein 
Lehrbuch  der  Psychologie  kann  mir  etwas  erklären,  was 
ich  nicht  verstehe,  sowie  ich  es  aber  verstehe,  ist  die  Gleich- 
heit hergestellt.  Ich  entdecke  in  meiner  Welt  den  unmittel- 
baren Zusammenhang.  Nur  soweit  eine  Gleichheit  besteht, 
existiert  eine  Brücke  zwischen  den  Monaden.  Es  ist  eine 
Forderung  für  den  Psychologen,  nicht  auf  dem  solipsistischen 
Standpunkt  stehenzubleiben,  nicht  seine  Welt  für  die  Welt 
zu  halten.  Seine  Welt  existiert  nur  als  sein  formendes  Er- 
lebnis, als  sein  Wille.  Er  muß  aber  aus  dem  gegebenen  Chaos 
auch  die  Möglichkeit  anderer  Formungen,  anderer  Reaktionen, 
anderer  Tendenzen  einsehen. 

Ich  bin  daraufgefaßt,  daß  man  dies  alles  für  die  Menschen- 
kenntnis  zugeben   wird,    der   Psychologie   als   Wissenschaft 


—  321  — 

aber  ganz  andere  Probleme  zuweist.  Unsere  ganze  Unter- 
suchung aber  hat  gar  keinen  andern  Zweck,  als  diesem  Ein- 
wand zu  begegnen,  d.  h.  die  Möglichkeit  einer  andern  psycho- 
logischen Erkenntnis,  als  es  die  Menschenkenntnis  ist,  zu 
widerlegen.  Es  kann  hier  nur  ein  Entweder-Oder  geben. 
Ich  sehe  keine  Möglichkeit,  das  Verständnis  der  lebenden 
Persönlichkeit  als  Erkenntnis  bestehen  zu  lassen  und  da- 
neben eine  andere  Möglichkeit  der  Erklärung  des  Psychischen 
zu  behaupten.  Meinetwegen  mag  man  dies  Verstehen  als 
„unwissenschaftlich"  bezeichnen.  Dann  gibt  es  dem  Namen 
nach  überhaupt  keine  wissenschaftliche  Psychologie.  Jede 
Geschichte,  die  nach  Motiven  sucht,  die  das  Wollen  einer 
Zeit  verstehen  will,  ist  dann  unwissenschaftlich.  Absolut 
leugne  ich  aber,  daß  eine  andere  Fragestellung  überhaupt 
möglich  ist.  Ich  leugne,  daß  das  Leben  in  einen  Gegenstand 
umzudenken  ist,  der  nun  plötzlich  nicht  mehr  zu  verstehen, 
sondern  zu  erklären  ist.  Ich  vermag  nicht  einzusehen,  wie 
die  Phänomene,  die  man  versteht,  unter  einem  andern  Ge- 
sichtspunkt später  aus  elementaren  Gesetzen  zu  erklären  sein 
sollen.  Ich  wüßte  aber  auch  nicht,  warum  wir  sie  denn  zu 
etwas  Unverständlichem  umbilden  sollten.  Jede  Erklärung 
gehorcht  dem  Zwang  der  Tatsache,  aber  sie  versteht  nichts 
mehr.  Die  allerexakteste  Psychologie  kann  gar  nichts  anders 
tun,  sie  kann  verstehen  oder  nicht  verstehen.  Die  so  gewon- 
nenen Erkenntnisse  kann  sie  aber  theoretisch  falsch  darstellen, 
weil  sie  metaphysisch  falsch  orientiert  ist  und  deswegen  ein 
falsches  Ziel  vor  Augen  hat.  Es  kann  sich  nur  um  ein  Ent- 
weder-Oder handeln,  weil  es  keine  Ausnahmefälle  geben  kann, 
nicht  einen  Teil  der  Erlebnisse,  der  zu  verstehen  ist,  und  einen 
andern,  der  zu  erklären  ist.  Sobald  die  experimentelle 
Psychologie  nicht  einfach  Statistik  ist,  sobald  sie  überhaupt 
nach  Zusammenhängen  sucht,  muß  sie  verstehen,  muß  sie 
Menschenkenntnis  sein.  Es  besteht  logisch  kein  Unterschied, 
ob  ich  ein  Phänomen  aus  Goethes  Leben  verstehe  oder  ein 
Phänomen  aus  dem  Leben  irgend  eines  beliebigen  Menschen, 

S  tr  ich  .  Prinzipien.  21 


—  322  — 

der  vor  mir  im  Laboratorium  sitzt.  Der  Unterschied  besteht 
nur  darin,  daß  Goethe  ein  Ausnahmemensch  ist,  oder  daß 
ich  im  Laboratorium  Phänomene  untersuche,  die  für  das 
Leben  einer  größeren  Anzahl  von  Monaden  zutreffen.  Die  psy- 
chische Welt  kann  ich  auch  dort  nicht  untersuchen.  Es  kann 
kein  Gegensatz  innerhalb  der  Psychologie  bestehen.  Aber  die 
historisch  deskriptive  Psychologie  ist  die  alleinige  psycholo- 
gische Erkenntnis  und  nicht  die  erklärende  Elementar- 
psychologie. Man  vergißt  über  der  Sammlung  von  mehr 
oder  minder  interessanten  Tatsachen  die  Begründung.  Ich 
kann  alles  mögliche  lernen  und  nachher  prüfen,  was  ich  be- 
halten habe.  Das  wäre  aber  nichts  weiter  als  meine  Bio- 
graphie, über  deren  Wert  und  Interesse  für  andere  man 
streiten  kann.  Damit  hat  man  aber  kein  Phänomen,  keinen 
Zusammenhang  begründet.  Die  Erinnerung  im  Moment 
kann  man  aber  begründen  nur  aus  der  Geschichte  dieses 
Individuums.  Es  gibt  kein  Phänomen,  das  man  anders  be- 
gründen könnte,  man  mag  es  auf  der  Straße,  aus  der  Zeitung 
oder  im  Laboratorium  als  Tatsache  erfahren.  Der  Unterschied 
besteht  nur  in  der  Art  der  Phänomene,  die  man  untersucht 
oder  registriert.  Ein  Unterschied  der  psychologischen  Wissen- 
schaft und  der  allgemeinen  Menschenkenntnis  kann  logisch 
nicht  existieren. 

Psychologisch  erklären  heißt  die  Geschichte  des  Sub- 
jekts verstehen  aus  seinen  Erfahrungen  und  seinem  Willen, 
letzten  Endes  aus  seinem  Charakter,  der  letzten  wertenden 
Stellung  des  Individuums,  die  den  Grenzbegriff  der  psycho- 
logischen Erkenntnis  bedeutet.  Wie  wir  aber  biologisch 
Individuen  zu  Arten  zusammenfassen  können,  so  können  wir 
dies  auch  psychologisch.  Man  muß  sich  aber  immer  vor  Augen 
halten,  daß  wir  durch  die  Gleichheit  der  Individualsysteme 
das  Leben  des  einzelnen  nicht  erklären;  den  Zusammen- 
hang erkennt  man  auch  weiterhin  nur  in  dem  Individual- 
system.  Die  Systeme  hängen  nur  in  der  Zeit  zusammen 
und  nicht  im  Raum.    Darin  liegt  die  logische  Rechtfertigung 


—  323  — 

des  Darwinismus.  Soweit  aber  die  Bedingungen  der  Systeme 
gleich  sind,  ist  eine  historisch  deskriptive  Verallgemeinerung 
möglich.  Durch  das  Allgemeine  wird  der  Einzelfall  hier  nicht 
erklärt,  sondern  im  Gegenteil  das  Allgemeine  verstanden  aus 
dem  unmittelbaren  Verstehen  des  Einzelfalls.  Es  gibt  eine 
Psychologie  des  Menschen  und  des  Tieres,  des  Mannes  und 
der  Frau,  des  Greises  und  des  Kindes,  des  Handwerkers 
und  des  Künstlers,  des  Großstädters  und  des  Bauern,  des 
Deutschen  und  des  Franzosen,  des  Ariers  und  des  Semiten, 
des  Menschen  des  16.  und  des  17.  Jahrhunderts,  des  Melan- 
cholikers und  des  Cholerikers  usw.  usw. 

Man  hat  gemeint,  daß  die  Völkerpsychologie  mit  genau 
dem  gleichen  Recht  von  einer  Volksseele  spreche  wie  die 
sonstige  Psychologie  von  einem  Ich.  Beide  Male  würde  nur 
den  Aktualitätserscheinungen  ein  Substrat  untergelegt.  Diese 
Meinung  ist  nicht  im  geringsten  erkenntniskritisch  orientiert. 
Wir  haben  nachgewiesen,  daß  das  Ich  der  Psychologie  nur 
der  Ausdruck  für  das  System  ist,  innerhalb  dessen  wir  die 
Erscheinungen  erkennen,  also  der  Gegenstand  der  Psycho- 
logie, wie  die  Natur  der  Gegenstand  der  Naturwissenschaft 
ist.  Von  dieser  logischen  Bedeutung  der  Volksseele  kann 
keine  Rede  sein.  Es  kommt  nicht  darauf  an,  daß  das  Ich 
als  Substrat  der  Aktualität  zugrunde  gelegt  wird,  sondern 
daß  die  Erkenntnis  die  Phänomene  nur  innerhalb  eines 
Individualsystems  erkennt.  Die  Volksseele  ist  aber  kein  Sy- 
stem, innerhalb  dessen  wir  eine  Erscheinung  erkennen.  Die 
Natur  oder  das  Ich  sind  Systeme,  weil  wir  die  Erscheinungen 
in  ihnen  zu  Einheiten  zusammenfassen,  Gleichheiten  fest- 
stellen und  die  Wiederholung  konstanter  Beziehungen  nach- 
weisen. Erkenntniskritisch  ist  es  völlig  ungerechtfertigt, 
diesem  System  die  Zusammenfassung  der  Gruppe  zu  ver- 
gleichen. Der  Zusammenhang,  auf  den  es  der  Erkenntnis 
ankommt,  existiert  weiterhin  nur  in  dem  Individualsystem. 
Nur  in  ihm  verstehe  ich  die  zeitliche  Existenz  der  Phänomene. 
Ob  der  Zusammenhang  sich  noch  in  einem  Individualsystem 

21* 


—  324  — 

wiederholt,  ist  für  die  Erkenntnis  ganz  gleichgültig.  Nur 
auf  die  Wiederholung  in  dem  Individualsystem  selbst  kommt 
es  an.  Die  Gruppe  aber  ist  kein  Gegenstand  oder  System  der 
Erkenntnis.  Daß  alle  Menschen  an  Sublimatvergiftung 
sterben,  ist  keine  Erklärung  für  die  Wirkung  des  Sublimats. 
Der  Begriff  der  Einheit  des  Individuums  entspricht  der  Ein- 
heit der  Natur  und  ist  logisch  etwas  völlig  anderes  als  die  Ein- 
heit der  Gruppe.  Das  eine  ist  eine  transzendentale  Idee  der  Er- 
kenntnis, das  andere  eine  historische  Verallgemeinerung. 
Nur  deswegen,  weil  wir  historisch  der  Entstehung  der  Sprache 
niemals  auch  nur  annähernd  nachkommen  können,  weil 
Millionen  von  Individualsystemen  dabei  beteiligt  sind,  ist 
die  Verallgemeinerung  ,,die  Sprache"  oder  ,,das  Volk" 
praktisch  wertvoll  und  berechtigt.  Auch  hier  ist  aber  die 
Geschichte  selbst  als  Geschehen  nur  aus  den  Zusammenhän- 
gen im  einzelnen  System  verständlich.  Das  Ich  ist  eine  notwen- 
dige Idee,  die  Volksseele  eine  Erleichterung  der  Geschichte. 
Die  Wiederholung  eines  Phänomens  in  mehreren  Indi- 
vidualsystemen beweist  die  Gleichheit  der  Systeme  unter 
einem  bestimmten  Gesichtspunkt.  Verstehen  tut  man  es 
weiterhin  aus  dem  Individuum.  Soweit  aber  die  Erfahrungen 
und  Willenstendenzen  in  den  einzelnen  Individuen  gleich 
sind,  kann  man  die  Erkenntnis  verallgemeinern.  Man  stellt 
z.  B.  fest,  daß  in  wirtschaftlich  schlechten  Zeiten  sich  die 
Eigentumsdelikte  mehren.  Diese  Statistik  führt  aber  zu 
keinem  Gesetz,  das  nun  das  einzelne  Eigentumsdelikt  erklärt. 
Naturwissenschaftlich  läuft  allerdings  die  Erklärung  nur 
darauf  hinaus,  festzustellen,  was  „immer"  vorkommt.  So 
erklärt  das  Gravitationsgesetz  das  Fallen  des  Steins,  aber  es 
macht  es  nicht  verständlich.  Wollte  man  die  Statistik  für 
eine  Erklärung  halten,  so  würde  man  völlig  ungerechtfertigt 
die  psychologische  Erkenntnis  an  einem  Punkte  abbrechen. 
Die  Statistik  kann  und  muß  verstanden  werden,  und  dies  ist 
nur  möglich  durch  die  Erkenntnis  des  einzelnen  Individuums. 
Ich  verstehe  es,    daß  ein  Mensch  stiehlt,  der  Hunger,  aber 


—  325  — 

kein  Geld  hat.  Ich  verstehe  es  auch,  wenn  ein  Mensch  eher 
verhungert  als  stiehlt.  Die  Statistik  beweist  mir  vielleicht, 
daß  die  ersten  sich  in  überwiegender  Mehrheit  finden.  Ver- 
stehen aber  tue  ich  beides  nur  als  Individualpsychologe. 
Wenn  aber  die  Menschen  als  Charaktere  gleich  sind,  und  die 
Bedingungen  oder  Erfahrungen,  denen  ihr  Leben  ausgesetzt 
ist,  gleich  sind,  so  ist  es  nicht  wunderbar,  daß  eine  Verall- 
gemeinerung möglich  ist.  Sobald  das  Phänomen  nicht  histo- 
risch aus  dem  Leben  des  Individuums  verstanden  ist,  hat  man 
gar  nichts  verstanden.  Die  Gruppenbildung  der  Psychologie 
ist  also  nur  eine  beschreibende  Zusammenfassung.  Diesen 
logischen  Wert  haben  alle  psychologischen  Gesetze,  die  aus 
einer  Untersuchung  mehrerer  Personen  entstanden  sind, 
d.  h.  logisch  sind  sie  keine  Gesetze,  sonst  müßte  man  es  auch 
ein  Gesetz  nennen,  daß  der  Maikäfer  fliegt  oder  der  Löwe 
Fleisch  frißt.  Man  stellt  nur  fest,  daß  mehrere  Menschen 
sich  so  und  so  verhalten.  Den  Grund  hat  man  erst  dann, 
wenn  man  dieses  Verhalten  historisch  im  einzelnen  Individual- 
system  verstanden  hat.  Die  Erfahrungen  der  Individuen 
können  aber  gleich  sein.  Sie  sind  abhängig  von  der  Zeit, 
dem  Ort,  dem  Milieu,  dem  Beruf,  dem  Körper  usw.  usw., 
also  von  Bedingungen,  die  für  mehrere  Individuen  gleich 
sein  können.  Wegen  dieser  gleichen  Bedingungen  wird  auch 
das  psychische  Leben  gleichförmig  sein.  Niemals  aber 
handelt  es  sich  um  „eine"  psychische  Welt,  deren  Gesetze 
erkennbar  sind.  Die  Psychologie  der  Gruppe  ist  der  beschrei- 
benden Naturgeschichte,  der  Zoologie  und  Botanik  zu  ver- 
gleichen, nicht  aber  einer  erklärenden  Naturwissenschaft 
wie  der  Physik  oder  Chemie.  Die  Psychologie  des  Menschen 
entspricht  logisch  der  Psychologie  des  Großstädters.  Im 
ersten  Fall  umfaßt  die  Gruppe  nur  eine  größere  Anzahl  von 
Individuen  als  im  zweiten.  Mit  der  zunehmenden  Größe 
des  Gegenstandes  nimmt  aber  auch  seine  genaue  Bestimmt- 
heit ab.  Die  Differenzen  werden  immer  deutlicher.  Es  ist 
Geschmacksache,  ob  man  sich  schon  bei  einer  gewissen  Regel- 


—  326  — 

mäßigkeit  begnügt  oder  nicht.  Meiner  Ansicht  nach  achtet 
die  heutige  Laboratoriumspsychologie  viel  zu  sehr  auf  die 
plumpen  Ähnlichkeiten  der  Individuen  als  auf  ihre  Verschie- 
denheiten. Die  Abweichungen  sind  ein  viel  interessanteres 
Problem  als  die  Übereinstimmung.  Die  Psychologie  des 
Menschen  kann  sich  nur  auf  die  allgemeinsten  Gleichheiten 
der  Bedingungen  beziehen,  die  etwa  durch  die  Gleichheit 
des  Körperbaues  und  der  allgemeinsten  Lebensbedürfnisse 
zustande  kommt.  Die  Psychologie  ist  auf  diese  Weise  ein 
Abstieg  von  dem  allgemeinen  Begriff  Organismus,  Lebe- 
wesen, Monade  bis  zur  Geschichte  des  einzelnen  Individuums 
oder  besser  umgekehrt  —  ein  Aufstieg,  denn  das  einzelne  Indivi- 
duum ist  das  System,  das  erkannt  wird.  Die  allgemeinste  Gleich- 
heit des  Lebens  ist  nur  noch  als  Lebenswille  zu  begreifen. 
Die  einzige  Berechtigung,  die  der  Begriff  des  Elements 
in  der  Psychologie  haben  kann,  kommt  dem  Individuum  als 
Teil  der  psychischen  Welt  zu.  Während  aber  in  der  Natur 
das  Element  auf  einer  nicht  weiter  begründbaren  Verschieden- 
heit beruhen  würde,  verstehen  wir  hier  die  Verschiedenheit 
und  die  Gleichheit  aus  der  Gleichheit  der  äußeren  Bedin- 
gungen, in  die  das  Individuum  gestellt  ist.  Die  Psychologie 
ist  die  Erkenntnis  der  unzähligen  Welten  der  Monaden.  Die 
Gleichheit  zwischen  ihnen  beruht  nicht  auf  allgemeinen  Ge- 
setzen, sondern  auf  der  historischen  Tatsache,  daß  die  indi- 
viduellen Erfahrungen,  aus  denen  wir  die  einzelne  Welt  ver- 
stehen, sich  in  andern  Welten  wiederholen.  Die  gleichen 
Bedingungen  sind  logisch  doch  immer  individuelle,  historische 
Bedingungen  und  keine  räum-  und  zeitlosen.  Es  ist  uns  histo- 
risch verständlich,  daß  in  den  Individualsystemen  sich  die 
gleichen  Beziehungen  herausbilden,  daß  etwa  eine  Palme 
für  den  Eskimo  eine  Bedeutung  hat  und  für  den  Wüsten- 
bewohner eine  andere.  In  der  Natur  gehen  wir  davon  aus, 
daß  die  chemischen  Gesetze  in  Amerika  und  Europa  dieselben 
sind,  weil  es  eine  Welt  ist.  Nun  können  wir  die  Psychologie 
des  Amerikaners  und   Europäers   beschreiben.     Wir  finden 


—  327  — 

dabei  nur  insofern  gleiche  Gesetze,  als  wir  die  gleiche  Ge- 
schichte finden,  nicht  aber,  daß  die  Geschichte  nach  den 
gleichen  Gesetzen  ablaufen  muß.  Genau  so  ist  es  bei  dem 
Menschen.  Wir  finden,  daß  die  Gruppe  in  gewisser  Weise 
dieselbe  Geschichte  hat,  und  daraus  verstehen  wir  die  Gleich- 
heit, die  eine  Gruppenpsychologie  ermöglicht.  Wenn  wir 
finden,  daß  eine  Ursache  psychologisch  in  mehreren  Systemen 
dieselbe  Wirkung  hat,  so  haben  wir  damit  nicht  ein  Gesetz 
der  psychischen  Welt  gefunden,  sondern  wir  können  daraus 
sehließen,  daß  die  Geschichte  der  Individuen  ähnlich  ist. 
Wir  finden  die  Assoziation  als  individuelles  Gesetz,  als  histo- 
rische Tatsache  bei  mehreren  Individuen.  Wir  verstehen 
jeden  aus  seiner  Geschichte  und  finden,  daß  die  Geschichte, 
soweit  sie  von  außerpsychologischen  Faktoren  beeinflußt  ist, 
übereinstimmt.  Die  Gleichheit  der  individuellen  Geschichte 
stammt  nicht  aus  allgemeinen  elementaren  psychischen  Natur- 
gesetzen, sondern  daher,  daß  den  Individuen  durch  die  ob- 
jektive Welt  die  gleichen  Erlebnisse  gegeben  sind.  Die  Psycho- 
logie macht  also  nicht  die  logische  Voraussetzung,  daß  in  der 
psychischen  Welt  allgemeine  Gesetze  herrschen,  sondern  sie 
findet  empirisch  in  den  verschiedenen  Systemen  gleiche  Ge- 
setze und  versteht  die  Gleichheit  als  historische  Tatsache 
aus  der  Gleichheit  der  äußeren  Welt.  Nur  so  ist  eine  Gruppen- 
psychologie möglich.  Wir  haben  uns  nur  die  Umstände  zu 
vergegenwärtigen,  denen  ein  Individuum  als  Proletarier  aus- 
gesetzt ist,  um  aus  ihnen  die  Psychologie  des  Proletariers  zu 
gewinnen.  Wir  können  als  Forscher  wohl  eine  Tatsache  ent- 
decken durch  ihr  ,, Oftvorkommen",  wir  werden  dadurch  erst 
auf  sie  aufmerksam.  Wir  gewinnen  aber  daraus  nicht  durch 
Induktion  ein  Gesetz,  sondern  durch  Intuition  verstehen  wir 
sie  in  einem  Individualsystem.  Eine  Gruppenpsychologie 
ist  also  möglich  nach  allen  Gesichtspunkten,  unter  denen 
überhaupt  eine  Einteilung  der  Lebewesen  möglich  ist.  Die 
Individuen  sind  deshalb  nicht  den  Raumteilen  zu  vergleichen, 
wo  überall  die  gleichen  Gesetze  stattfinden.    Psychologische 


—  328  — 

Elementargesetze  sind  deswegen  unmöglich,  weil  das  Psychi- 
sche nicht  in  sich  selbst  allein  seinen  Grund  hat,  sondern 
in  den  Bedingungen  der  Welt,  wie  wir  sie  unabhängig  vom 
Bewußtsein  denken.  Eine  jede  Wahrnehmung  ist  ein  psy- 
chisches Phänomen,  das  keinen  psychologischen  Grund  hat, 
sondern  dem  Individualsystem  aufgezwungen  wird.  Diese 
außerpsychologischen  Momente  bestimmen  aber  den  Fort- 
gang des  Bewußtseins.  Infolgedessen  müssen  wir  diese  dem 
Bewußtsein  durch  die  Welt  aufgedrungene  Geschichte  vor- 
aussetzen. Es  wäre  falsch,  die  Gesetzmäßigkeit  der  psychi- 
schen Welt  darin  sehen  zu  wollen,  daß  dieselbe  Ursache  an 
zwei  verschiedenen  Orten  dieselbe  Wirkung  hat.  Der  Psycho- 
loge darf  nicht  von  der  Idee  ausgehen,  daß  dieselbe  Ursache 
in  einem  andern  System  dieselbe  Wirkung  hat.  Trifft  es  zu, 
so  ist  es  ein  Beweis,  daß  dasselbe  Gesetz  in  ihm  herrscht, 
was  aus  der  gleichen  Geschichte  verständlich  ist.  Der  Natur- 
wissenschaftler geht  aber  davon  aus,  daß  die  Natur  an  jedem 
Ort  und  zu  jeder  Zeit  durch  dieselben  Gesetze  bestimmt  ist. 
Daß  eine  Palme  auf  den  einen  so  und  auf  den  andern  anders 
wirkt,  ist  zu  verstehen  aus  den  verschiedenen  inhaltlichen 
Gesetzen  oder  Assoziationen.  Es  wäre  töricht  zu  behaupten, 
daß  beide  Fälle  durch  dasselbe  Gesetz  der  Assoziation  zu 
erklären  sind.  Das  hieße  die  Wirkung  des  Zuckers  und  des 
Salzes  in  der  Natur  nach  einem  Gesetz,  nämlich  dem  Kausa- 
litätsgesetz, erklären. 

Die  Gruppenpsychologie  verallgemeinert  also  die  indi- 
viduellen Assoziationen  oder  Gesetze  auf  Grund  ihrer  Wieder- 
holung innerhalb  des  Individualsystems.  Sie  konstruiert  die 
Geschichte  irgendwie  gleichbedingter  Individuen  und  ver- 
steht ihren  Zusammenhang  durch  die  speziellen  Assozia- 
tionen, die  sich  in  dieser  Gruppe  typisch  herausbilden,  die 
inhaltlichen  wie  die  emotionellen.  Eine  allgemeine  gesetz- 
mäßige Psychologie  würde  absolut  gegen  den  Grundsatz 
des  Empirismus  verstoßen.  Sie  würde  eine  angeborene  Gleich- 
heit voraussetzen  und  nicht  mehr  den  Menschen  aus  seinen 


—  329  — 

Erfahrungen  begreifen.  Eine  Untersuchung  mehrerer  Indi- 
viduen, die  die  Verschiedenheit  in  ein  Mittel  auflöst,  hat 
wenig  Wert.  Gerade  das  ist  der  Typus  der  Inexaktheit. 
Die  Verschiedenheiten  müssen  aus  den  verschiedenen  Indi- 
viduen verstanden  werden,  aus  ihrer  Zugehörigkeit  zu  ver- 
schiedenen Gruppen,  ihren  verschiedenen  Geschichten.  Diese 
allgemeine  Gruppe  hat  aber  nicht  denselben  logischen  Wert 
wie  die  Gegenstandsbegriffe  der  Natur.  Ein  Individuum  ist 
durch  seine  Zugehörigkeit  zu  ihr  für  die  Erkenntnis  noch 
lange  nicht  bestimmt.  Die  Gruppe  erklärt  also  nicht  durch 
einen  Analogieschluß  das  Verhalten  des  einzelnen.  Eine  reine 
Wissenschaft  kennt  weder  den  Begriff  des  Normalen  noch 
den  der  Regel,  wenn  sich  diese  nicht  durch  die  Wahrscheinlich- 
keitsrechnung objektiv  gestalten  läßt.  Die  Gruppe  Mensch 
ist  ein  Gegenstand,  der  das  Individuum  am  allerwenigsten 
für  die  Erkenntnis  bestimmt.  Gewiß  ist  die  Geschichte  des 
Menschen  in  gewissen  Beziehungen  gleich.  Dies  liegt  aber 
nicht  an  den  psychologisch  gleichen  Gesetzen,  sondern  an 
der  einen  gegenüberstehenden  Natur.  Wir  richten  uns  fast 
alle  bei  der  Raumbestimmung  nach  denselben  Indizien,  so- 
weit die  Bedingungen  des  Körpers  gleich  sind,  soweit  wir 
nämlich  nicht  blind  sind.  Es  lassen  sich  also  gewisse  Regeln 
aussprechen  für  die  Gruppe  Mensch,  aber  keine  Gesetze 
innerhalb  des  Psychischen.  Weiter  als  bis  zur  Beschreibung 
kann  es  keine  Psychologie  bringen.  Jedes  Individuum  ist 
zunächst  durch  eine  unendliche  Anzahl  von  Gruppen  bestimm- 
bar, die  wohl  vor  allem,  aber  nicht  ausschließlich  den  sozia- 
len Differenzierungen  entsprechen.  Mit  der  vollendetsten 
Gruppenpsychologie  hätten  wir  dem  Einzelfall  gegenüber 
doch  nicht  das  Letzte  erreicht.  Das  Individualsystem,  das 
wir  allein  erkennen  können,  ist  immer  eine  ganz  individuelle 
Mischung  gemeinsamer  Geschichten.  Natürlich  bedeutet  auch 
die  Psychologie  irgend  eines  bestimmten  Erlebnisses  oder 
Verhaltens  Gruppenpsychologie.  Die  Psychologie  des  Ehr- 
geizes ist  eine  Psychologie  der  Ehrgeizigen. 


—  330  — 

Eine  andere  Art  Gruppenbildung  wäre  die  Charaktero- 
logie. Im  Prinzip  haben  wir  es  dabei  mit  der  gleichen  Verall- 
gemeinerung zu  tun,  nur  daß  die  Bedingungen  nicht  in  der 
gemeinsamen  äußeren  Welt  liegen,  sondern  in  den  Subjekten 
selbst,  nicht  in  der  Gegebenheit  der  Erfahrungen,  sondern 
in  der  Art  der  Aufnahme  und  Verwertung.  Gewiß  ist  diese 
auch  von  den  aufgezwungenen  Erfahrungen  beeinflußt. 
Immer  aber  müssen  wir  auf  einen  Rest  stoßen,  der  durch  sie 
nicht  verstanden  werden  kann,  sondern  als  letzte  Tatsache 
als  Charakter  vorausgesetzt  wird. 

Man  darf  diese  Gruppenpsychologie  nicht  mit  der  Psy- 
chologie der  Gruppe  verwechseln.  Psychologie  der  Masse  ist 
in  Wahrheit  Individualpsychologie.  Sie  entdeckt  keine  be- 
sonderen Gesetze  eines  Gegenstandes  „Masse",  sondern  Ver- 
änderungen des  Individuums,  wenn  es  in  einer  Masse  handelt. 
Psychologisch  ist  die  Masse  nur  eine  besondere  Bedingung  für 
das  Individuum.  Es  gibt  daher  keine  besonderen  Gesetze 
der  Massenpsychologie.  Das  Individuum  wird  nur  ungefähr 
so  durch  die  Masse  verändert,  wie  der  Mensch  ein  anderer 
ist  zu  Hause,  im  Büro  oder  im  Cafe.  Von  einer  besonderen 
Kausalität  innerhalb  der  Masse  darf  man  daher  nicht 
sprechen. 

Die  Psychologie  ist  also  als  eine  Sammlung  von  Wahr- 
nehmungsurteilen, nur  Beschreibung  im  Gegensatz  zu  der 
Erklärung  der  Naturwissenschaft  durch  das  Erfahrungs- 
urteil. Es  ist  von  vornherein  klar,  daß  nur  in  der  deskrip- 
tiven Psychologie  Begriffe  wie  Fähigkeit,  Können,  Vergessen, 
Ermüdung,  Hemmung,  Unterlassen  usw.  Platz  haben.  Wenn 
es  nur  gälte,  das  Daseiende  zu  erklären,  so  gibt  es  keine  Er- 
müdung. Denn  neben  der  spezifischen  Empfindung  beruht 
diese  nur  auf  einem  historischen  Vergleich,  auf  einem  Nicht- 
dasein  wie  das  Vergessen.  Einen  historischen  Vergleich  kann 
aber  nur  die  beschreibende  Psychologie  anerkennen.  Wo  sie 
über  die  Beschreibung  hinauszugehen  scheint,  da  versteht 
sie  den  Zusammenhang  intuitiv,  ohne  ihn  durch  eine  isolie- 


—  331  — 

rende  Erfahrung  zu  entdecken  und  ihn  durch  ein  induktives 
Gesetz  zu  erklären. 

Unsere  Einwände  richten  sich  gegen  die  logische  Theorie 
der  vermeintlich  naturwissenschaftlichen  oder  exakten  Psy- 
chologie. Von  einer  Kritik  des  Experiments  war  dabei  nicht 
die  Rede.  Es  wäre  auch  falsch,  gegen  das  Experiment  Ein- 
wände zu  erheben.  Denn  wir  machen  ja  im  praktischen 
Leben  immerfort  Experimente  mit  unsern  Mitmenschen. 
Wir  stellen  sie  auf  die  Probe,  wir  bemühen  uns,  ihren  Ge- 
schmack kennen  zu  lernen,  ohne  daß  wir  sie  direkt  befragen 
usw.  Wogegen  wir  uns  wenden,  ist  nur  der  logische  Wert, 
den  man  theoretisch  dem  Experiment  beilegt.  Durch  das 
Experiment  im  Laboratorium  werden  die  Prinzipien  der  psy- 
chologischen Erkenntnis  nicht  verändert.  Auch  in  der  Natur- 
wissenschaft ist  das  Experiment  nur  eine  Steigerung  der  popu- 
lären Erfahrung.  Das  psychologische  Experiment  kann  weder 
einen  bestehenden  Teilausschnitt  durch  künstliche  Mittel 
genauer  bestimmen,  noch  einen  Komplex  von  Bedingungen 
analysieren.  Gerade  darin  aber  besteht  der  logische  Wert 
des  naturwissenschaftlichen  Experiments. 

Gehen  wir  von  der  phänomenalen  Welt  aus,  so  spielt 
das  Unbewußte  in  der  Naturwissenschaft  eine  größere  Rolle 
als  in  der  Psychologie.  Die  Naturwissenschaft  macht  erst 
durch  Kunst  vieles  im  Raum  bewußt,  was  auch  vorher  exi- 
stiert hat,  aber  unbewußt.  Nichts  anderes  bedeutet  etwa 
die  Entdeckung  eines  neuen  Bazillus.  Die  Psychologie  ver- 
fügt aber  über  keine  künstlichen  Mittel,  wodurch  sie  etwas 
bewußt  machen  oder  demonstrieren  könnte,  was  sonst  nicht 
wahrnehmbar  wäre.  Die  Aufmerksamkeit  ist  gerade  für  die 
Psychologie  kein  solches  Mittel.  Das  Experiment  ist  auch 
keine  Steigerung  der  Aufmerksamkeit,  sondern  es  bedeutet 
nur  eine  „andere"  Richtung  oder  Einstellung,  die  dem  prak- 
tischen Leben  gegenüber  anormal  ist.  Es  wird  dadurch  viel- 
leicht mehr  von  dem  Raum  wahrgenommen,  aber  nicht  mehr 
psychische  Elemente;   denn   auch  die  Körperempfindungen 


—  332  — 

sind  Raumwahrnehmungen.  Im  praktischen  Leben  besteht 
fortwährend  eine  immanente  Determination,  die  uns  nicht 
erlaubt,  uns  mit  allem  zu  beschäftigen,  was  momentan  von 
uns  erlebt  wird.  Von  diesen  momentanen  Erlebnissen,  den 
Fransen  des  Bewußtseins,  war  oben  die  Rede.  Im  Labora- 
torium hat  man  freilich  Zeit  dazu,  weil  man  sonst  nichts  zu 
tun  hat.  Wenn  ich  hier  sitze  und  schreibe,  bin  ich  in  einer 
bestimmten  Richtung  so  beschäftigt,  daß  es  mir  unmöglich 
ist,  alle  meine  Erlebnisse  denkend  zu  bestimmen.  Meinet- 
wegen mag  man  behaupten,  daß  in  meinem  Bewußtsein 
Bewegungsempfindungen  sind.  Ich  habe  keine  Zeit,  auf  sie 
zu  achten  und  mir  denkend  von  ihnen  Rechenschaft  zu  geben. 
Der  Psychologe  findet  durch  das  Experiment  nicht  mehr  im 
Bewußtsein,  als  auch  sonst  darin  ist.  Seine  Einstellung  ist 
nur  eine  andere.  Sind  mir  im  Moment  meine  Bewegungs- 
empfindungen bewußt,  so  ist  das  keine  genauere  Beobach- 
tung eines  Zustandes,  der  auch  vorher  da  war,  sondern  es 
ist  ein  ganz  anderer  Moment.  Im  Laboratorium  nehme  ich 
mir  vor,  auf  alles  Erlebte  zu  achten,  alles  denkend  zu  bestim- 
men und  einzuordnen.  Im  praktischen  Leben  besteht  diese 
Einstellung  nicht.  Der  Psychologe  entdeckt  nicht  mehr 
psychische  Elemente,  sondern  mehr  Weltbestimmtheiten. 
Ihm  ist  mehr  von  der  Welt  bewußt  als  dem  handelnden  Men- 
schen. Das  Bewußtsein  ist  kein  Topf,  in  dem  sich  Dinge  be- 
finden, von  denen  ich  je  nach  der  Schärfe  der  Selbstbeobach- 
tung mehr  oder  weniger  wahrnehme.  Der  Psychologe  kann 
nichts  weiter  tun,  als  sieb  mit  dem  Erlebten  länger  zu  be- 
schäftigen, wozu  wir  im  praktischen  Leben  keine  Zeit  haben. 
Wenn  mir  wirklich  die  Bewegungsempfindungen  die  ganze  Zeit 
bewußt  waren,  so  bedeutet  das  keinen  Gradunterschied  des 
Bewußtseins.  Sie  waren  momentan  da  und  wurden  sofort 
vergessen.  Es  waren  Fransen.  Würden  wir  uns  im  Leben  mit 
unsern  Geh-Empfindungsbewegungen  beschäftigen,  so  würde 
es  uns  gehen  wie  dem  Tausendfuß,  der  sich  überlegen  wollte, 
wie  sein  Gehen  zustande  kommt,  und  der  fortan  überhaupt 


—  333  — 

nicht  mehr  gehen  konnte.  Das  Experiment  bedeutet  daher 
keine  Verschärfung  der  Sinne,  wodurch  mehr  entdeckt  wer- 
den kann,  als  was  sonst  im  Bewußtsein  ist.  Ich  erinnere 
mich  folgenden  Falls:  Man  stellte  fest,  daß  die  Versuchs- 
personen bei  dem  Reaktionsversuch  auf  einen  bestimmten 
Reiz  angaben,  daß  sie  in  der  Zeit  vorher  gedacht  hätten: 
jetzt  würde  gleich  der  Reiz  kommen.  Sie  konnten  aber  nicht 
sagen,  daß  dieser  Gedanke  durch  irgend  welche  Empfindun- 
gen repräsentiert  worden  wäre.  Der  Herr  Dozent  hatte  für 
solch  einen  Gedanken  den  Namen  „Bewußtheit"  gewählt 
und  bemerkte  folgendes:  Professor  L.  in  M.  arbeitet  schon 
längere  Zeit  mit  diesem  Begriff.  Aber  für  uns  existiert  er  natür- 
lich erst  jetzt,  wo  wir  ihn  experimentell  nachgewiesen  haben. 
Und  eiferte  gegen  die  Psychologie  am  Schreibtisch.  (Beiläufig 
halte  ich  es  für  richtiger,  gerade  hier  nicht  von  einer  neuen 
Klasse  psychischer  Erlebnisse  zu  sprechen,  sondern  von  einer 
Interpretation  eines  Gefühls  durch  das  Selbstbewußtsein). 
Man  überlege  sich  aber  einmal,  was  es  heißt,  daß  man  die 
Bewußtheit  experimentell  nachgewiesen  hat.  Man  kann  im 
Raum  etwas  demonstrieren,  d.  h.  der  Wahrnehmung  zu- 
gänglich machen,  was  ohne  die  Hilfsmittel  des  Laboratoriums 
nicht  wahrgenommen  würde.  Hier  aber  handelt  es  sich  nur 
darum,  daß  sich  jemand  bei  Gelegenheit  des  Experiments 
über  ein  Erlebnis  Rechenschaft  gibt,  während  ein  anderer  das 
am  Schreibtisch  oder  auf  dem  Spaziergang  tut.  Das  psycho- 
logische Experiment  kann  der  Wahrnehmung  niemals  etwas 
geben,  was  sonst  nicht  wahrgenommen  werden  würde,  was 
das  naturwissenschaftliche  Experiment  gerade  tut. 

Davon,  daß  eine  Analyse  des  Bedingungskomplexes  in 
der  Psychologie  unmöglich  ist,  war  schon  die  Rede.  Auch 
das  Experiment  kommt  über  diese  logische  Unmöglichkeit 
nicht  hinweg.  Wenn  jemand  im  Laboratorium  ein  Unlust- 
gefühl  erlebt,  so  kann  kein  Experiment  ihm  nachweisen, 
woran  das  liegt.  Nur  durch  sein  Selbstbewußtsein  weiß  er, 
worüber   er    sich   geärgert     hat.     Der    Naturwissenschaftler 


—  334  — 

müßte  durch  die  isolierende  Erfahrung  und  durch  den  Ver- 
gleich vieler  Erfahrungen,  d.  h.  induktiv,  die  Ursache  heraus- 
finden. Der  Psychologe  findet  „den"  Grund,  aber  er  ent- 
deckt nicht  die  Besonderheit  aller  einzelnen  ursächlichen 
Faktoren.  Er  findet  also  höchstens  etwas  als  Ursache,  aber 
er  geht  nicht  davon  aus,  daß  alles  Ursache  ist.  Das  Experi- 
ment macht  keine  bloße  Folge,  die  als  Tatsache  jenseits  von 
Sinn  und  Unsinn  existiert,  der  Beobachtung  zugänglich. 
Sowie  man  über  die  unmittelbare  Beschreibung  seiner  Er- 
lebnisse hinausgeht  und  ein  Phänomen  durch  das  andere  be- 
gründet, tut  man  dies  auf  Grund  des  unmittelbaren  Bewußt- 
seinszusammenhangs. Man  begründet  es  durch  die  eigene 
Erfahrung.  Freilich  variiert  das  Experiment  die  Bedingung 
im  Raum,  aber  in  dem  Sinne,  daß  eben  eine  blaue  Fläche 
eine  andere  ist  als  eine  rote.  Wenn  ich  eine  Kugel  zu  einer 
andern  tue,  so  existiert  für  den  Naturwissenschaftler  ein 
Plus,  d.  h.  das  Frühere  existiert  —  und  das  Neue.  Als 
Gegenstand  der  Wahrnehmung,  also  für  den  Psychologen, 
existiert  aber  kein  Plus,  d.  h.  es  existiert  nur  ein  „anderes" 
neues  Erlebnis.  Das  scheint  spitzfindig,  ist  aber  in  Wahrheit 
nur  exakt  und  von  großer  logischer  Bedeutung.  Der  Psychologe 
isoliert  nicht  Ursachen,  er  stellt  nicht  fest,  welche  Veränderung 
des  sonstigen  Geschehens  bedingt  würde,  sondern  er  stellt  fest, 
daß  etwa  andere  Erfahrungen  anders  ausgedeutet  werden. 
Man  beweist  etwa  experimentell,  daß  ein  Blinder  durch  eine 
Art  Druckempfindung  an  der  Stirn  die  Nähe  der  Wand  be- 
merkt. Zu  diesem  Zweck  bindet  man  ihm  etwa  ein  Tuch  um 
die  Stirn  und  stellt  fest,  daß  er  sie  jetzt  nicht  mehr  bemerkt. 
Die  Beweisführung  steht  logisch  auf  einer  Stufe  damit,  daß 
ich  experimentell  beweise:  wenn  ich  jemandem  die  Augen 
zubinde,  kann  er  nicht  mehr  sehen.  Von  einer  Isolation, 
einer  Analyse,  einer  Entdeckung  einer  unbekannten  Ursache 
kann  also  gar  keine  Rede  sein.  Man  entdeckt  vor  allem 
keine  elementaren  Prozesse,  deren  Ineinandergreifen  das 
wirkliche   Geschehen  erklärten.    Das  scheinbar  Elementare 


—  335  — 

Jiegt  in  der  Vereinfachung  der  Umstände.  Das  muß  man 
aber  scharf  trennen  von  dem  Begriff  des  Elementaren  in 
der  Naturwissenschaft.  Eine  experimentelle  Untersuchung 
der  Raumwahrnehmung  entdeckt  nicht  elementare  Prozesse, 
die  auch  im  praktischen  Leben,  aber  dort  in  Komplikationen 
vorkommen.  Was  man  versteht,  sind  Spezialfälle  des  Lebens, 
die  man  von  einem  andern,  genau  so  berechtigten  Stand- 
punkt aus  gerade  nicht  Vereinfachung,  sondern  Kompli- 
kation der  Umstände  nennen  kann.  Es  werden  Bedingungen 
eingeschaltet  und  nicht  ausgeschaltet.  Man  untersucht  etwa 
nur  einfache  Fälle  der  Raumbeobachtung,  und  die  Raum- 
beobachtung selbst  ist  wieder  ein  einfacher  Fall  des  Lebens, 
der  sich  leichter  als  andere  für  die  verschiedenen  Individuen 
verallgemeinern  läßt.  Diese  Einfachheit  des  Falles  darf 
man  aber  nicht  verwechseln  mit  dem  Aufbauen  des  wirk- 
lichen Geschehens  aus  elementaren  Prozessen.  Durch  das 
Experiment  wird  die  Psychologie  noch  lange  nicht  Natur- 
wissenschaft. Auch  im  Laboratorium  kann  man  nur  Indi- 
vidual-  oder  Gruppenpsychologie  treiben  und  keine  elemen- 
taren Gesetze  von  überindividueller  und  zeitloser  Geltung 
entdecken.  Darin,  daß  man  dies  nicht  sofort  als  Aufgabe  des 
Experiments  stellt,  liegt  die  ungeheure  Unfruchtbarkeit  der 
psychologischen  Laboratorien,  wo  man  spielerische  Statisti- 
ken aufstellt  und  den  Wert  mehr  in  dem  vermittelnden  Aus- 
gleich, als  in  einer  Aufstellung  und  Begründung  der  Verschie- 
denheiten sieht.  Der  Psychologe  kann  interessante  und  un- 
interessante Fälle  beschreiben,  aber  er  kann  kein  Gesetz 
entdecken,  das  mir  einen  Fall  erklärt.  Er  könnte  mir  nur 
sagen,  daß  dieser  Fall  bei  vielen  Individuen  vorkommt, 
meinetwegen  bei  allen.  Er  kann  aber  keine  Theorie  des  Falles 
konstruieren.  Als  Phänomen  kann  er  ihn  in  einem  Indivi- 
dualsystem  verständlich  machen  oder  nicht.  Wenn  ich  eine 
Gedankenreihe  logisch  verstehe,  was  gar  nichts  damit  zu 
tun  hat,  ob  ich  sie  richtig  finde,  so  habe  ich  auch  das  Denken 
als  psychologisches  Phänomen  verstanden,  ohne  durch  all- 


—  336  — 

gemein  psychologische    Gestze   noch   etwas  weiter  erklären 
zu   können. 

Zur  Psychologie  ist  nur  Welterfahrung  und  Differen- 
zierung nötig.  Bei  den  Spezialfällen,  die  man  im  Labora- 
torium zu  verstehen  sucht,  kommt  dies  allerdings  nicht  sehr 
in  Betracht,  aber  nur  deswegen  nicht,  weil  diese  Spezial- 
fälle möglichst  von  der  Individualität  abschen.  Übung  in 
Selbstbeobachtung  heißt  oft  nur  möglichst  objektive  Ein- 
stellung, Absehen  von  seiner  Individualität.  Psychologisch 
ist  das  nur  ein  anormaler  Fall.  Man  darf  das  nicht  mit  dem 
verwechseln,  daß  durch  die  objektive  Einstellung  die  Natur 
im  Raum  besser  erkannt  wird.  Man  untersucht  das  Sehen, 
aber  auch  für  gewöhnlich  nur  insoweit,  als  die  Menschen  da- 
bei den  gleichen  Bedingungen  ausgesetzt  sind.  Infolgedessen 
vergißt  man  leicht,  daß  man  trotzdem  nur  die  Phänomene 
im  Individualsystem  versteht.  Wir  haben  das  Ich  als  not- 
wendigen Begriff  nicht  daraus  bewiesen,  daß  es  verschiedene 
Menschen  gibt,  sondern  daraus,  daß  nur  durch  diese  Ein- 
heit eine  Erkenntnis  des  Zusammenhangs  möglich  ist.  Auch 
für  die  Art>  die  nicht  so  viel  differenzierte  Individuen  kennt, 
trifft  dies  zu.  Man  mag  ein  normales  Sehen  konstruieren, 
aber  man  hat  damit  nicht  ein  Gesetz  gefunden,  das  das 
Sehen  erklärt.  Es  besteht  kein  logischer  Unterschied  zwischen 
dem  Verstehen  des  im  Laboratorium  Erlebten  und  dem  son- 
stigen Leben.  Nicht  daß  das  komplizierte  Leben  aus  den 
dort  gefundenen  Gesetzen  erklärt  werden  könnte,  sondern 
die  Versuche  im  Laboratorium  sind  auch  nur  individual- 
psychologisch zu  verstehen.  Man  wählt  sich  nur  Phäno- 
mene, die  den  Bedingungen  nach  in  jedem  Leben  vorkommen 
können,  und  man  bittet  höflichst,  sich  nicht  seiner  Individua- 
lität zu  überlassen.  Ganz  ist  diese  aber  auch  nicht  im  Labora- 
torium zu  unterdrücken.  Das  Sehen  ist  gewiß  gleichförmiger 
bei  den  Individuen.  Es  ist  weniger  dem  individuellen  Willen 
unterworfen  als  den  Bedingungen  des  Auges,  namentlich  wenn 
man  im  Laboratorium  diesen  persönlichen  Willen  möglichst 


—  337  — 

ausscheidet.  Es  bedeutet  aber  logisch  nur  einen  Grad  der 
Allgemeinheit.  Auch  das  optische  Phänomen,  die  Raum- 
Meinung,  wird,  soweit  es  ein  psychologisches  Problem  ist, 
verstanden  wie  alle  andern  Taten  des  Individuums.  Es  sind 
nur  weniger  individuelle  Taten,  die  ich  untersuche.  Die 
Gesetze,  die  man  hier  zu  finden  meint,  sind  nur  allgemeine 
Beschreibungen.  Man  mag  dies  immerhin  auch  von  den 
Naturgesetzen  behaupten.  Der  Unterschied  bliebe  doch  be- 
stehen. Denn  in  der  Psychologie  fehlt  die  Theorie,  durch  die 
erst  die  Gleichheit  und  die  Allgemeinheit  hergestellt  wird. 
Ich  erinnere  mich  folgenden  Falles:  Im  Kunsthistorischen 
Seminar  stellte  der  Referent  fest,  daß  der  Innenraum  einer 
Kirche  als  eine  große  Einheit  wirkte.  Er  führte  das  unter 
anderm  auf  den  Eindruck  der  Weite  zurück,  den  die  Decke 
machte,  obwohl  sie  in  einzelne  Felder  eingeteilt  war.  Diese 
Wirkung  wiederum  führte  er  auf  die  Dunkelheit  zurück, 
die  durch  die  Lichtzufuhr  für  die  Decke  entstand.  Zur  all- 
gemeinen Freude  erklärte  darauf  ein  Psychologe  den  Fall  aus 
dem  allgemeinen  Gesetz,  daß  das  Dunkle  größer  wirke  als  das 
Helle.  Sieht  man  aber  genauer  zu,  so  hat  der  Psychologe 
nicht  das  Geringste  mehr  über  den  Fall  gesagt  als  der  Kunst- 
historiker. Er  hat  weiter  nichts  verkündet,  als  daß  der  Fall 
oft  vorkommt,  daß  er  ,, sogar"  im  Laboratorium  zu  konsta- 
tieren ist.  Er  hat  keine  Theorie  angegeben,  durch  die  das 
individuelle  Phänomen  erklärt  würde,  insofern  die  allgemeine 
Abhängigkeit  dadurch  bezeichnet  würde,  die  auch  in  ihm 
sich  zeigt.  Die  Abhängigkeit  der  Wirkung  von  der  Dunkel- 
heit hat  der  Kunsthistoriker  im  unmittelbaren  Erleben  ge- 
funden. Der  Psychologe  hat  nur  dazu  noch  bemerkt,  daß  man 
auch  im  psychologischen  Laboratorium  das  Gleiche  erlebt, 
wenn  man,  oder  man  könnte  eher  sagen,  ,, trotzdem"  man  das 
Hippsche  Chronoskop  dazu  aufzieht.  Er  hat  aber  die  Abhängig- 
keit nicht  durch  das  Experiment  gefunden  und  kann  jetzt  etwa 
das  sonst  Rätselhafte  danach  erklären.  Er  hat  kein  Gesetz 
angegeben,  das  den  Fall  erklärt,  sondern  er  hat  nur  wieder- 
strich, Prinzipien  22 


—  338  — 

holt,  was  der  Referent  gesagt  hatte.  Die  Psychologie  kann 
überhaupt  keine  neuen  Gesetze  finden,  sie  kann  die  Erkennt- 
nis nicht  durch  Gesetze  vervollkommnen.  Durch  die  for- 
malen Prinzipien  sind  alle  Möglichkeiten  der  Erkenntnis 
gegeben.  Wir  können  keine  neuen  Gesetze  erwarten,  sondern 
nur  Interpretationen  von  Einzelfällen  auf  Grund  dieser 
Prinzipien.  Davon  daß  das  ,,  Gesetz  der  schöpferischen  Syn- 
these" logisch  überhaupt  kein  Gesetz  ist,  das  die  Erklärung 
des  Einzelfalls  nur  im  mindesten  fördert,  war  oben  die  Rede. 
Aus  dieser  Erörterung  folgt  das  Unlogische  jeder  materia- 
listischen Geschichtsauffassung,  in  welchem  Sinne  sie  auch 
immer  eine  Kausalität  der  Geschichte  behauptet.  Die  Ge- 
schichte braucht  nicht  auf  eine  Psychologie  zu  warten,  die 
sie  erst  begründen  soll.  Psychologie  ist  selbst  Geschichte, 
und  Geschichte  ist  psychologische  Erkenntnis,  wenn  es  ihr 
auch  nicht  mehr  darauf  ankommt,  die  Zeitreihe  des  einzelnen 
Lebens  zu  verstehen.  Weil  es  keine  Erkenntnis  der  einen 
psychischen  Welt  gibt,  gibt  es  auch  keine  Kausalität  der 
Geschichte.  Was  wir  im  Gegensatz  zur  Psychologie  Ge- 
schichte nennen,  beruht  nur  auf  einer  Verallgemeinerung 
der  Individuen.  Es  gibt  kein  Gesetz,  das  ein  historisches 
Ereignis  erklärt,  sonst  wäre  es  kein  historisches  Ereignis. 
Gewiß  kann  man  das  Erdbeben  von  Messina  so  nennen. 
Will  man  es  aber  erklären,  so  faßt  man  es  nicht  mehr  als 
Ereignis  in  der  Zeit  auf,  sondern  im  zeitlosen  Raum.  Die 
Naturwissenschaft  ist  die  Erklärung  des  Historischen  durch 
die  Idee  des  Raums.  Die  Geschichte  könnte  man  erklären, 
wenn  der  Monismus  recht  hätte,  wenn  es  nur  die  gesetz- 
mäßig sich  verändernde  Substanz  gäbe.  Dann  gäbe  es  nur 
Naturwissenschaft  und  nicht  Geschichte.  Denn  kausale 
Geschichte  ist  die  Naturwissenschaft.  Der  Gegensatz  ist 
nur  erkenntniskritisch  darin  zu  fassen,  daß  die  Geschichte 
keine  zeitlosen  Gesetze,  kein  zeitloses  System  konstruiert 
wie  die  Naturwissenschaft  in  der  Substanz  im  Raum.  Für  sie 
ist  die  Zeit  die  Realität.    Sie  kennt  keinen  Raum,  durch  den 


—  339  — 

die  Naturwissenschaft  den  historischen  Moment  als  die  Kon- 
stellation der  zeitlosen  Wirklichkeit  erklärt.  Der  Historiker 
kann  die  Taten  nur  als  Psychologe  verstehen  und  sie  nicht 
erklären.  Gewiß  kann  er  auch  verallgemeinern.  Wenn  die 
gleichen  Bedingungen  da  sind,  so  wird  auch  dasselbe  Ereignis 
eintreten.  Das  sagt  aber  nur,  daß  sich  die  Geschichte  wieder- 
holt. Der  Naturwissenschaftler  konstruiert  aus  den  Wieder- 
holungen im  Raum  das  Gesetz.  Weiter  kann  er  nicht  gelan- 
gen. Das  Phänomen  ist  erklärt,  wenn  es  unter  einen  solchen 
allgemeinen  Fall  subsumiert  ist.  Nur  der  Grad  der  All- 
gemeinheit läßt  sich  vervollkommnen.  Psychologisch  oder 
historisch  ist  aber  die  Wiederholung  nicht  das  Erklärende. 
Wenn  ein  Mensch  in  Lebensgefahr  kommt  und  sich  zu  retten 
versucht,  so  verstehe  ich  das.  Wenn  nach  einem  Jahr  sich 
der  Fall  wiederholt,  so  verstehe  ich  ihn  auch.  Wenn  tausend 
Leute  in  Lebensgefahr  sind,  verstehe  ich,  daß  sie  sich  zu  retten 
suchen.  Aber  aus  dieser  Wiederholung  gewinne  ich  kein 
Naturgesetz,  durch  das  der  Einzelfall  begriffen  würde.  Es 
kann  keine  Theorie  des  Falles  geben.  Jeden  Fall  verstehe 
ich  für  sich,  ob  er  sich  noch  einmal  wiederholt  oder  nicht. 
In  einem  Fall  ist  das  Gesetz  erst  die  Erkenntnis  des  an  sich 
unerkannten  Geschehens.  Im  andern  Fall  sage  ich  nur,  daß 
sich  etwas  wiederholt  hat,  was  ich  an  sich  schon  erkannt 
habe.  Das  Gesetz  ist  logisch  das  Mittel  für  die  Erklärung  des 
Einzelgeschehens  dadurch,  daß  dieses  als  zeitloses  dargestellt 
wird.  Das  Allgemeine  in  der  Geschichte  hat  aber  nur  beschrei- 
benden und  keinen  erklärenden  Wert.  Auch  hier  ist  es  gleich- 
gültig, ob  sich  die  Erscheinung  der  Revolution  einmal  oder 
hundertmal  in  der  Geschichte  zeigt.  Darum  gibt  es  keine 
historischen  Gesetze.  Nach  meiner  Kenntnis  gibt  es  überhaupt 
nur  einen  Fall,  wo  man  wirklich  nach  einem  Gesetz  der  Ge- 
schichte „gesucht"  hat.  Es  wäre  das  einzige  gewesen,  das 
nicht  auf  psychologisch  verständlichen  Zusammenhängen 
beruht  hätte.  Dieser  Ruhm  gebührt  Marx,  auch  wenn  sein 
Gesetz  ein  Irrtum  ist.    Was  man  sonst  historisches  Gesetz 

22* 


—  340  — 

nennt,  sind  Wiederholungen  von  psychologisch  verständ- 
lichen Taten.  Auch  das  Hegeische  Gesetz  als  empirisches 
Faktum  der  Geschichte  bildet  hierin  keine  Ausnahme.  Da- 
rum kann  es  keine  andere  Voraussage  der  Geschichte  geben 
als  das  Voraussehen  der  Taten.  Erkennen  aber  läßt  sich  nur 
das  Geschehen.  Es  kann  kein  Gesetz  geben,  das  die  Zukunft 
bestimmt,  weil  die  Tat  und  der  Wille  das  Entscheidende 
sind.  Historisches  Gesetz  ist  ein  Widerspruch  in  sich  selbst, 
denn  das  Gesetz  bezeichnet  eine  zeitlose  Tatsache.  Die  Ge- 
schichte existiert  nicht  in  Gott,  wenn  wir  dieses  Wort  im 
Sinne  Malebranches  für  das  Bewußtsein  überhaupt  gebrau- 
chen, sondern  in  dem  Willen  des  Lebens.  Die  Geschichte  be- 
greift ein  Geschehen  nur  in  seinem  wirklichen  Zeitpunkt. 
Für  sie  ist  die  Zeit  nicht  eine  relative  Bestimmung  zur  Indi- 
vidualisierung einer  zeitlosen  Idee.  Sie  ist  nicht  der  Gegen- 
stand eines  Bewußtseins  überhaupt,  weil  sie  als  Tat  des 
Lebens  existiert.  Die  Funktion  der  Maschine  ist  naturgesetz- 
lich zu  erklären,  ihre  Existenz  aber  nur  historisch  als  Werk 
der  Tat  zu  begreifen.  Die  Naturwissenschaft  konstruiert 
mit  andern  Worten  die  Ideen,  die  das  Sein  bedeuten,  und 
deren  Erscheinungen  wir  in  Zeit  und  Raum  wahrnehmen. 
Zur  Erscheinung  werden  sie  erst  durch  das  lebendige  Bewußt- 
sein. Die  Geschichte  aber  kennt  keine  andere  Realität  als 
dies  unmittelbare  Leben.  Deshalb  kennt  sie  auch  kein  zeit- 
loses Geschehen  oder,  was  dasselbe  besagt,  keine  zeitlosen 
Gesetze.  Sie  erkennt  nicht  die  Wesenhaftigkeit  des  Ereig- 
nisses, wie  es  zeitlos  existiert,  sondern  sie  erkennt  das  Er- 
eignis nur  aus  der  tatsächlich  abgelaufenen  Zeit.  Kein  zeit- 
loses Gesetz,  sondern  die  tatsächliche  Vergangenheit  ist  die 
Bedingung  ihrer  Erkenntnis.  Für  die  Naturwissenschaft 
existiert  keine  Zeit,  sondern  nur  das  Gesetz;  für  die  Ge- 
schichte nur  die  eine  Zeit  und  darum  kein  Gesetz.  Die  Natur- 
wissenschaft begreift  das  Ereignis  als  ein  Geschehen  im  Raum, 
wobei  die  abgelaufene  Zeit  ausgeschaltet  werden  soll.  Es 
soll  die  Wesenhaftigkeit  an  sich,  die  Idee  losgelöst  von  der 


—  341  — 

historischen  Zufälligkeit  erkannt  werden.  Für  die  Geschichte 
existiert  ein  Ereignis  nur  als  Teil  der  Zeit,  der  aus  der  Ver- 
gangenheit herauswächst.  Die  Naturwissenschaft  kennt  nur 
eine  relative  Veränderung  der  Welt  in  der  ewigen  Zeit.  Die 
Geschichte  die  absolute  Veränderung  des  einen  Systems 
„Leben".  Die  „Welt  überhaupt"  metaphysisch  kausal  den- 
ken, heißt  das  Leben  nicht  als  Leben,  die  Zeit  nicht  als  Zeit 
denken. 

Ich  bemühte  mich  zu  zeigen,  daß  die  historische  Ver- 
nunft an  der  Psychologie  orientiert  ist,  daß  diese  schon 
Geschichte  ist  und  daß  sie  ihrerseits  nur  Individualpsycholo- 
gie  sein  kann.  Dadurch  wird  scheinbar  die  sogenannte  Geistes- 
geschichte problematisch.  Es  entsteht  das  Problem  des  Ver- 
hältnisses des  Individuellen  zum  Allgemeinen.  Scheinbar  ver- 
langt unsere  Auffassung  die  Ablehnung  der  Geschichte  des 
Geistes.  In  Wahrheit  aber  legt  sie  erst  den  Grund  für  sie. 
Es  kommt  alles  auf  den  einen  Gegensatz  an,  der  allgemeinen 
psychischen  Welt  und  des  Individualsystems.  Wäre  die 
Elementarpsychologie  im  Recht,  so  würde  im  idealen  Fall 
eine  Geschichte  als  Wissenschaft  überflüssig  sein;  eine  Ge- 
setzeswissenschaft hebt  das  Historische  der  Idee  nach  auf. 
Legt  sie  den  Grund  für  die  historischen  Geisteswissenschaften, 
so  würde  das  heißen:  das  Historische  soll  negiert  wrerden. 
Sie  kann  daher  nicht  den  Grund  legen  für  die  Geschichte, 
wreil  sie  sie  als  Realität  negiert  oder  ersetzen  will.  Begründet 
die  Physik  eine  Geologie,  so  heißt  das,  daß  sie  die  Geschichte 
der  Erde  ersetzt  durch  die  Naturwissenschaft.  Das  Ziel  wäre 
die  Gesetze  nachzuweisen,  die  dieselben  geblieben  sind,  das 
Gestern  und  Heute  als  die  Formen  derselben  Wirklichkeit  dar- 
zustellen, das  heißt  logisch  die  Geschichte  als  Realität  leugnen. 
Die  Voraussetzung  der  Geistesgeschichte  kann  nur  die  ver- 
stehende Individualpsychologie  sein.  Sie  kann  nur  eine  Spezia- 
lisierung der  historischen  Vernunft  sein,  die  auch  schon  der 
Individualpsychologie  zugrunde  liegt  und  nicht  erst  jene  be- 
gründet. Das  Problem  liegt  aber  in  dem  Geist  als  einem  Gegen- 


—  342  — 

stand,  der  eine  Geschichte  hat.  Das  Wichtigste  ist,  daß  man 
überhaupt  hier  ein  Problem  sieht.  Von  der  Individual- 
psychologie  aus  existieren  vorläufig  nur  die  Geschichten  der 
Monaden  als  psychologische  Gegenstände.  Die  Geschichte 
des  Geistes  ist  etwas  darüber  Hinausliegendes. 

Interessant  ist  das  analoge  Problem  der  Biologie.  An  sich 
besteht  hier  nur  das  Problem  des  einzelnen  Organismus.  Damit 
ist  der  Gegensatz  gemeint  des  Mikrokosmos  zu  dem  Makrokos- 
mos, der  toten  Natur,  der  schärf  ste,  der  sich  überhaupt  denken 
läßt.  Es  stehen  sich  diametral  gegenüber  das  eine  System 
Natur  und  das  Nebeneinander  der  Organismen.  Damit 
haben  wir  aber  noch  keine  Naturgeschichte.  Diese  Natur, 
die  gerade  nichts  mit  dem  Kantschen  Begriff  der  Natur  zu 
tun  hat,  ist  eine  neue  Idee.  Gerade  auf  diesen  Gegensatz 
kommt  es  an.  Wir  sagen:  Die  Natur  schafft  die  Variationen. 
Aber  diese  Natur  ist  etwas  ganz  anderes  als  diejenige,  nach 
deren  Möglichkeit  Kant  in  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft 
fragte.  Lag  dort  die  Antwort  darin,  daß  der  Tod  durch  die 
Kausalität  „ein"  System  ist,  so  stoßen  wir  auf  der  Gegenseite 
zunächst  nur  auf  die  lebendigen  Monaden,  aber  nicht  auf 
„das"  Leben.  In  dem  Moment  aber,  wo  wir  die  tausend- 
fachen Erscheinungen  als  Variationen  einheitlich  zusammen- 
fassen, legen  wir  denkend  der  Biologie  die  Idee  der  „einen" 
lebendigen  Natur  zugrunde.  Wer  diese  Einheit  der  Varia- 
tionen für  eine  gegebene  Erfahrung  ansieht,  der  hat  das  Pro- 
blem nicht  gesehen,  weil  er  nicht  von  der  Erkenntniskritik 
ausgeht.  An  sich  bestehen  nur  die  Geschichten  von  Eltern 
und  Kindern.  Daß  man  die  Abweichung  in  dem  einen  indivi- 
duellen Fall  ebenso  begründet  wie  in  dem  andern,  nämlich  in 
ihnen  als  Variationen  überall  das  Gleiche  sieht,  ist  eine  Denktat. 
Ihre  Analyse  zeigt,  daß  man  dadurch  die  Idee  der  lebendigen 
Natur  kritisch-metaphysisch  zugrunde  legt,  daß  das  Schaffen 
der  Natur  kein  bloßes  Wort  ist,  sondern,  daß  man  realiter 
davon  ausgeht.  Erst  dadurch  entsteht  die  Geschichte,, der" 
Natur  oder  „des"  Lebens. 


-  343  — 

Von  hier  gelangen  wir  weiter  zu  der  Begründung  des 
Geistes.  Ich  behaupte:  Die  Natur  hat  eine  Geschichte, 
aber  nicht  die  Wespe  und  nicht  der  Affe.  Der  Mensch  aber 
hat  wieder  eine  Geschichte,  und  dies  ist  die  Geistesgeschichte. 
Weil  die  Natur  nur  Geschichte  hat,  deswegen  werden  wir 
niemals  die  Wespe  begreifen.  Wir  können  ihr  Leben  nur 
durch  den  Willen  „des"  Lebens  begründen.  Aber  wir  er- 
kennen nicht  mehr  die  Geschichte  der  Wespe.  Wo  aber  die 
lebendige  Natur  oder  der  Logos  —  denn  als  solchen  lernen 
wir  auch  die  Natur  kennen,  sobald  wir  überhaupt  historisch 
denken  —  sich  selbst  bewußt  ist,  erkennen  wir  die  Geschichte. 
Mit  andern  Worten:  Die  Natur  ,, macht"  die  Geschichte, 
nicht  die  Wespe.  Aber  der  Mensch  wiederum  ,, macht"  Ge- 
schichte. Während  aber  die  Natur  eine  metaphysische  Idee 
ist,  die  zwar  notwendig  ist  zum  Erkennen,  ist  der  Mensch 
oder  der  bewußte  Logos  die  Realität.  Ich  verwahre  mich 
dagegen,  daß  dieses  transzendente  Metaphysik  bedeutet.  Ich 
analysiere  nur  die  bestehende  Erkenntnis  auf  ihre  logische 
Grundlage  hin.  Wir  greifen  den  Gegensatz  unmittelbar 
empirisch  in  der  Realität,  und  zwar  in  der  Kategorie  des 
Werks. 

Der  Gegensatz  wird  vielleicht  am  deutlichsten  in  fol- 
gender Form:  In  der  Wespe  vererbt  die  Natur,  der  Mensch 
aber  vererbt  selbst,  und  zwar  durch  das  Werk.  Wüßten  wir 
ein  Werk  der  Wespe,  die  Schaffung  einer  Form,  die  für  die 
folgende  Generation  Gegenstand  des  Erlebnisses  sein  kann, 
so  würden  wir  den  Instinkt  verstehen,  oder,  besser  gesagt, 
er  würde  aufhören,  Instinkt  zu  sein.  Er  ist  Instinkt,  er  ist 
rätselhaft,  weil  die  Natur  vererbt  und  nicht  die  Wespe.  Wir 
kommen  in  das  Leben  nur  mit  dem  Geist  hinein,  aber  die 
Lebensgeschichte  macht  nicht  der  bewußte  Geist,  sondern 
die  Natur  oder  das  Leben.  Die  Geistesgeschichte  aber  macht 
der  Geist.  Wir  erkennen  den  Zusammenhang  durch  das,  was 
er  schafft.  Die  wirklich  erkennbare  Geschichte  beginnt  mit  der 
Vererbung  des  Werks.  Die  andere  Vererbung  werden  wir  nie 


—  344  — 

begreifen.  Dort  beginnt  erst  gleichsam  der  sichtbare  Zu- 
sammenhang. Die  Geschichte  des  Menschen  ist  darum,  wie 
es  seit  jeher  gewesen  ist,  Geschichte  seiner  Werke,  d.  h.  Kultur- 
geschichte. 

In  dem  Begriff  des  Werks  liegt  der  Ausgleich  zwischen 
dem  Individuum  und  dem  Allgemeinen.  Erst  durch  das 
Werk  entsteht  die  Geschichte  aus  den  Geschichten.  Rein 
empirisch  stammt  jedes  Werk  aus  der  Tat  eines  Individuums. 
Aber  es  richtet  sich  an  das  Allgemeine,  wenn  zunächst  auch 
nicht  im  bewertenden  Sinne.  Es  soll  mit  für  andere  existie- 
ren, und  vor  allem,  es  ist  selbst  erst  durch  die  Werke  anderer 
möglich.  Nur  dort  ist  wirkliche  Geschichte,  wo  der  Zusammen- 
hang auf  Grund  der  Werke  besteht.  Erst  durch  das  Werk 
oder  die  Kultur  entsteht  der  Geist  als  Einheit  aus  den  Gei- 
stern, vorläufig  aber  nur  als  der  eine  subjektive  Geist,  d.  h. 
ohne  Bewertung.  Der  empirische  Zusammenhang  der  Ge- 
schichte liegt  in  der  Monade.  Dadurch  wird  die  Geschichte 
individual-psychologisch  erkennbar.  Aber  das  Individual- 
psychologische ist  seinerseits  verständlich  nur  durch  das  Werk 
als  Gegebenheit  der  Erfahrung.  Der  Instinkt  ist  rätselhaft, 
weil  wir  diesen  Zusammenhang  nicht  besitzen,  weil  er  die 
Tat  der  Natur  und  nicht  der  Monaden  ist,  so  wie  die  Natur 
und  nicht  die  Monade  die  Variation  schafft.  Der  Mensch 
hat  Geschichte,  weil  er  sie  selber  schafft,  weil  er  sie  selbst 
will,  weil  er  vererbt.  Er  denkt  nicht  nur,  sondern  er  vererbt 
seine  Gedanken.  Der  Gedanke  wird  Werk,  d.  h.  eine  selb- 
ständige Zeitgröße,  die  unabhängig  von  dem  individuellen 
historischen  Subjekt  in  der  Zeit  existiert.  Das  ist  der  Sinn 
der  Aristotelischen  Form.  Die  Naturwissenschaft  kennt  keine 
Axt  und  kein  Beil.  Erst  als  dauernde  Formen,  als  Gegen- 
stände des  Lebens  existieren  sie,  als  vererbbare  Größen.  Wo 
der  Sinn  der  Form  verloren  gegangen  ist,  wo  man  nicht  mehr 
weiß,  wozu  sie  da  ist,  ist  der  Zusammenhang  zerrissen,  mag 
auch  die  Raumform  noch  bestehen.  Die  Geschichte  beginnt 
mit  der  Formung  der  Welt  oder  der  Schöpfung  von  dauern- 


—  345  — 

den  Formen,  die  über  das  Leben  des  einzelnen  hinausreichen. 
Der  Bienenstaat  ist  keine  geschichtliche  Größe.  Erst  das 
Recht  als  dauernde  und  vererbbare  Form,  als  Werk  bedingt 
den  Zusammenhang.  Natürlich  ist  damit  nicht  gesagt,  daß 
das  Recht  schon  , aufgeschrieben"  sein  muß.  Auch  die  Tra- 
dition ist  Vererbung.  Das  wichtigste  Werk  des  Menschen  ist 
die  Sprache.  Sprachgeschichte  ist  Geistesgeschichte,  weil  die 
Sprache  als  vererbbare  Form  aufgefaßt  wird,  die  den  Zu- 
sammenhang der  Monaden  in  der  Zeit  herstellt.  Ob  die  Ameise 
eine  Sprache  hat  oder  nicht,  ist  eine  ganz  müßige  Frage. 
Es  wäre  etwas  völlig  anderes  damit  gemeint.  Es  bestünde 
derselbe  Unterschied  wie  zwischen  dem  Bienenstaat  und 
unserm  Staatsbegriff.  Der  Staat  der  Bienen  ist  keine  Form, 
die  selber  eine  Geschichte  hat.  Warum  sollte  es  nicht  eine 
instinktive  Verständigung  unter  den  Ameisen  geben  ?  Sie 
wäre  aber  für  uns  immer  nur  ein  Moment  des  individuellen 
Lebens.  Wir  haben  keinen  Grund,  eine  Geschichte  der  Sprache 
als  vererbbare  Form,  als  Werk  und  Werkzeug  anzunehmen. 
Geistesgeschichte  ist  die  Geschichte  der  Formen  oder  der 
Werke,  denn  nur  sie  begründen  den  erkennbaren  historischen 
Zusammenhang  der  ,, einen"  Zeit,  wie  der  Zusammenhang 
der  Organismen  als  eine  Zeitreihe  durch  die  Idee  der  leben- 
digen Natur  begründet  ist. 

Das  historische  Problem  deckt  sich  darum  nicht  mit 
dem  individualpsychologischen.  Es  beruht  aber  als  empi- 
rische Forschung  zunächst  auf  nichts  anderem  als  der 
Gruppenpsychologie,  einer  Verallgemeinerung  der  Monaden 
auf  Grund  bestehender  Gleichheiten.  Wir  stoßen  auf  diese 
Gleichheit  in  der  Beziehung  zu  den  Formen  oder  Werken. 
Die  Verallgemeinerung  ist  aber  keineswegs  die  empirische 
Majorität.  Der  Renaissancemensch  ist  nicht  derjenige, 
der  die  damalige  Mehrzahl  gebildet  hat.  Der  moderne 
Mensch  ist  nicht  der  normale  der  Zahl  nach.  Wenn  wir  heute 
die  Psychologie  des  modernen  Menschen  schreiben  wollten, 
so  müßten  wir  den  Menschen  beschreiben,  den  die  Geschichte 


—  346  — 

als  Typus  der  heutigen  Zeit  später  erkennen  will.  Es  kommt 
hier  aber  nicht  auf  die  triviale  Tatsache  an,  daß  ein  Abstand 
des  Erkennenden  und  des  Erkannten  da  sein  muß,  sondern 
auf  das  logische  Prinzip.  Der  Mensch  ist  modern,  dessen 
Werke  den  Zusammenhang  mit  der  Zukunft  begründen, 
dessen  Ziele  in  der  Zukunft  leben  werden.  Der  moderne 
Mensch  ist  der  Schnittpunkt  der  Entwicklungslinie  von  der 
Vergangenheit  zur  Zukunft  mit  dem  Chaos  der  Gegenwart. 
Die  Geistesgeschichte  kennt  als  Entwicklung  des  Geistes 
nur  die  Auswahl  der  Monaden  und  der  Werke,  die  den  Zu- 
sammenhang tragen.  Was  daneben  liegt,  mag  charakteristisch 
sein  für  die  Zeit  als  dem  empirischen  Begriff  unmittelbarer 
Gegenwart,  aber  nicht  mehr  für  die  Zeit  als  Durchgangs- 
stadium oder  Erscheinung  „des"  Geistes.  Die  Geistes- 
geschichte erkennt  nicht  die  Gegenwart  als  das  Gegebene, 
sondern  sie  bestimmt  erst  die  Gegenwart  durch  das  Spätere. 
Nur  was  die  Zukunft  begründet,  ist  für  sie  die  Realität 
einer  Zeit.  Es  wiederholt  sich  hier  der  Gedanke  der  Indivi- 
dualpsychologie,  daß  nicht  alles,  was  da  ist,  den  nächsten 
Moment  bestimmt. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  ist  die  Individualität  das 
Nebensächliche.  Gewiß  ist  der  Barok,  wie  er  da  ist,  ohne 
Michelangelo  nicht  zu  begreifen.  Wir  können  uns  nicht  den- 
ken, wie  die  Zeit  etwa  ohne  ihn  geworden  wäre.  Gewiß  sind 
seine  Werke  nur  von  ihm  aus  zu  verstehen  und  von  nichts 
anderem.  Das  gilt  für  seine  Werke  wie  für  die  eines  belie- 
bigen Menschen.  Die  Geistesgeschichte  aber  interessiert 
Michelangelo  als  Individualität  nicht.  Sie  leugnet  sie  nicht, 
sie  kann  nicht  in  Abrede  stellen,  daß  die  Wirklichkeit  von 
den  individuellen  Monaden  geschaffen  wird.  Es  wäre  un- 
kritische Metaphysik,  wenn  sie  behaupten  würde,  daß  der 
Zeitgeist  schafft,  daß  die  Zeit  Napoleon  geboren  hat  und  nicht 
Napoleon  die  Zeit.  Es  kommt  nur  darauf  an,  daß  die  Geistes- 
geschichte sich  ein  anderes  Problem  stellt.  Sie  geht  nicht 
davon    aus,    daß    in    Michelangelo    der    Zeitgeist    erscheint, 


—  347  — 

sondern  sie  findet  es,  und  das  ist  ein  Unterschied.  Sie  findet, 
daß  Michelangelo  in  seinem  Wollen  zu  jener  Gruppe  gehört, 
die  den  damaligen  modernen  Menschen  ausmachte,  mag  er  auch 
von  der  Majorität  der  Unmodernen  verlästert  worden  sein. 
Die  Geschichte  der  späteren  Zeit  lehrt,  daß  sie  den  Zusammen- 
hang der  einen  Zeit  getragen  haben.  Damit  ist  ihr  Wille  der 
Zeitstil  oder  die  Erscheinung  des  Geistes.  Die  Geistes- 
geschichte verleugnet  nicht  die  Individualität,  aber  sie  interes- 
siert sie  nicht.  Sie  will  die  Individualität  nicht  erkennen, 
wenn  sie  sie  auch  anerkennen  muß.  Sie  sucht  nach  dem 
Zusammenhang  der  Zeiten.  Biographie  ist  nicht  Geistes- 
geschichte. Ihr  Recht  liegt  in  der  Philosophie  des  Sozialen 
im  allertiefsten  Sinne  genommen.  Dies  Problem  ist  nicht 
mit  der  belanglosen  Phrase  abgetan,  daß  der  Mensch  ein 
homo  socialis  ist.  Dies  sagt  gar  nichts.  Der  Grund  des  Sozia- 
len liegt  in  dem  Willen  zum  Werk  oder,  was  dasselbe  besagt, 
zur  Geschichte.  Ob  die  Rehe  oder  Affen  in  Rudeln  leben, 
ist  ganz  belanglos  für  das,  was  philosophisch  Gesellschaft 
bedeutet.  Ihr  Sinn  liegt  darin,  daß  in  dem  Werk  eine  Ver- 
einigung stattfindet  und  nicht,  daß  man  zusammen  lebt 
und  wandert.  Der  Sinn  des  Werks  liegt  in  seiner  sozialen, 
überindividuellen  Existenz.  Ich  betone  wieder,  daß  diese 
Überindividualität  vorläufig  nur  empirisch  zu  verstehen 
ist  und  nicht  bewertend.  Wir  haben  es  vorläufig  mit  der 
Grundlegung  des  subjektiven  Geistes  zu  tun.  Das  Werk 
ist  für  die  Monaden  bestimmt.  Das  Leben  Goethes  existiert 
für  die  Geistesgeschichte  nicht.  Will  sie  seinen  Faust  begreifen, 
so  muß  sie  ihn  freilich  aus  ihm  heraus  begreifen.  Aber  sie 
stellt  sich  eben  nicht  dies  Problem.  Sie  will  erkennen,  inwiefern 
Goethe  ein  Phänomen  der  einen  Zeit  war,  welche  Bedeutung 
seine  Tat  als  Werk  hatte.  Es  läuft  dies  praktisch  auf  eine  histo- 
rische Gruppenpsychologie  hinaus.  Es  gilt  die  Allgemeinheit 
festzustellen,  zu  der  Goethe  gehörte,  den  historischen  Stil. 
Es  kommt  mir  aber  darauf  an,  daß  die  Allgemeinheit 
Goethe   nicht   verständlich   macht.      Dies   ist   ein   häufiger 


—  348  — 

Irrtum  der  Geschichte.  Dadurch,  daß  die  Zeit  so  war,  ist 
er  nicht  erklärt.  Denn  er  und  die  andern  sind  selbst  diese 
Zeit.  Wir  finden  nur  die  Tatsache,  daß  mehrere  Individuen 
von  dem  gleichen  Willen  erfüllt  sind,  auf  die  gegebene  Er- 
fahrung gleich  reagierten.  Stil  als  historischer  Begriff  ist 
nichts  anderes  als  Charakter,  und  der  Charakter  ist  nichts 
anderes  als  der  Grenzbegriff  der  historisch-psychologischen 
Erkenntnis,  die  letzte  Willenstendenz,  die  als  Gesetz  die 
Taten  beherrscht.  Stil  ist  eine  gemeinsame  Willenstendenz 
der  Zeit,  aus  der  ihre  Werke,  ihre  Formungen  zu  verstehen 
sind.  Es  ist  meines  Erachtens  z.  B.  falsch,  von  einer  Ent- 
wicklung des  Sehens  zu  sprechen.  Es  ist  lehrreich,  das  rein 
Optische  von  dem  Ausdruck  zu  trennen.  Aber  das  Sehen 
ist  letzten  Endes  eine  unberechtigte  Abstraktion.  Das  Auge 
wandelt  sich,  aber  es  ist  der  Geist,  der  den  Körper  baut. 
Wir  können  kein  psychisches  Phänomen  erkennen,  ohne 
auf  diesen  subjektiven  Rest  zu  stoßen.  Auch  das  Sehen 
ist  Tat.  Es  ist  bedingt  weder  durch  die  Realität  noch  durch 
das  Auge.  Wir  können  beides  bis  zum  letzten  verfolgen. 
Der  Rest  ist  erst  das  Wesentliche.  Phänomenologisch  gibt 
es  keine  sichtbare  Realität.  Die  Realität  ist  das  Werk,  die 
Konstruktion  der  Naturwissenschaft.  Die  farbige  Welt  ist 
bedingt  durch  das  Sehen  und  nicht  umgekehrt.  Aber  das 
Sehen  ist  bedingt  von  dem  Individuum.  Man  darf  die  Kette 
der  Begründung  vorher  noch  nicht  abbrechen.  Es  ist  erst 
dann  verstanden,  wenn  es  selbst  in  Zusammenhang  gebracht 
ist  mit  den  andern  Taten,  d.  h.  mit  dem  Willen.  Der  Dar- 
stellungsmodus ist  darum  letzten  Endes  doch  ein  Ausdrucks- 
modus. Aber  ich  betone:  letzten  Endes.  Praktisch  halte 
ich  die  Trennung  bei  der  heutigen  Verworrenheit  der  Be- 
griffe für  durchaus  wertvoll. 

Das  letzte  Problem  der  Geistesgeschichte  liegt  nur 
scheinbar  in  der  „Ableitung"  des  Stils.  Denn  nach  dem,  was 
wir  sagten,  ist  dieses  Problem  unlösbar.  Das  liegt  daran, 
daß  der  Charakter  eben  der  Grenzbegriff  der  psychologischen 


—  349  — 

Erkenntnis  ist.  Von  der  Individualpsychologie  aus  ver- 
stehen wir  auch  dies  für  die  Geistesgeschichte.  Die  Wirk- 
lichkeit sind  die  Individuen  oder  Monaden.  Eine  jede  Gene- 
ration findet  eine  Formung  der  Welt  als  Gegebenheit  der 
Erfahrung  vor.  Keine  Gegebenheit  macht  aber  die  Taten 
des  Individuums  verständlich.  Ich  wies  oben  darauf  hin, 
daß  für  die  Erkenntnis  der  Verbrecher  nicht  durch  das 
Milieu  bestimmt  ist.  Schon  das  Erlebnis  setzt  neben  dem 
Gegebenen  das  Subjekt  voraus.  Die  Folge  ist  aus  dem  Ge- 
gebenen nicht  verständlich,  sondern  erst  aus  der  Art,  wie 
das  zu  Erlebende  erlebt  und  verwertet  wird.  Wir  können 
den  Menschen  aus  den  Gegebenheiten  nicht  erkennen, 
sondern  wir  können  nur  den  Menschen  erkennen.  Sein  Wille, 
seine  Wertung,  seine  Stellung  zu  dem  Erlebten  ist  die  letzte 
Realität.  Man  übersieht  das  leicht,  weil  es  „leichter"  ver- 
ständlich ist,  wenn  aus  einem  Verbrechermilieu  ein  Ver- 
brecher entsteht.  Aber  das  Gegenteil  ist  auch  verständlich. 
Wir  suchen  vielleicht  nach  Gründen  dafür,  wir  finden 
auch  irgend  welche  andern  Einflüsse,  aber  wir  kommen 
auch  dann  nicht  um  die  Individualität  herum.  Verstehen 
läßt  sich  das  Leben  nur  unter  der  Voraussetzung  einer 
spezifischen  Tendenz,  einer  Art  der  Reaktion  auf  die 
gegebene  Welt.  Sie  ist  als  Tatsache  nacherlebbar  und 
darum  allein  verständlich.  Allein  sie  ist  nicht  als  Not- 
wendigkeit begründbar.  Ganz  das  Gleiche  wiederholt  sich 
bei  der  Zeitpsychologie.  Wir  verstehen  die  Reaktion  des 
französischen  Volks  auf  den  Absolutismus,  aber  nur  unter 
der  Voraussetzung  eines  bestimmten  Charakters,  eines  be- 
stimmten Wollens.  Ich  meine  damit  natürlich  nicht  den 
Volks-,  sondern  den  Zeitcharakter.  Wir  verstehen  den  Sturm 
und  Drang,  aber  nur  aus  der  vorausgesetzten  Art,  auf  die 
Welt  zu  reagieren.  Wo  sich  zwei  Stile  zeitlich  folgen,  lernen 
wir  als  letztes  zwei  verschiedene  Willenstendenzen  kennen. 
Wir  stoßen  auf  eine  Unzufriedenheit  mit  den  gegebenen 
Formungen,  wir  können  dies  nacherleben,  aber  wir  lernen 


—  350  — 

dabei  als  Letztes  eben  einen  spezifischen  Willen  kennen. 
Er  ist  die  Realität,  die  wir  nicht  weiter  begründen  können. 
Ebensowenig  kann  man  metaphysisch  eine  Notwendigkeit 
der  letzten  Theorie  der  Naturwissenschaft  behaupten.  Wäre 
dies  kritische  Erkenntnis,  so  wäre  die  Theorie  nicht  die  letzte. 
Sie  wäre  kein  Grenzbegriff  der  Erfahrung.  Grenze  kann 
nur  heißen:  die  Notwendigkeit  der  Tatsache  nicht  mehr 
erkennen.  Erst  durch  die  Theorie  erlangen  die  andern 
Tatsachen  eine  Notwendigkeit.  Sie  selbst  ist  nur  Tatsache. 
Für  die  Geschichte  liegt  dieser  Grenzbegriff  in  dem  Willen. 
Er  ist  die  Realität,  die  wir  als  Tatsache  erkennen.  Aus  ihm 
heraus  können  wir  die  Notwendigkeit  der  Taten  erkennen, 
aber  wir  können  nicht  seine  Notwendigkeit  erkennen.  Der 
Begriff  der  notwendigen  Entwicklung  setzt  kritisch  eine 
erkennbare  Notwendigkeit  der  Wandlung  des  Willens  voraus. 
Dann  wäre  der  Wille  nicht  der  Grenzbegriff  der  Erfahrung. 
Auch  in  dieser  letzten  Verfeinerung  leugne  ich  eine  Kausalität 
der  Geschichte.  Nur  eine  transzendente  Metaphysik,  eine 
religiöse  Anschauung  kann  die  Notwendigkeit  begründen. 
Der  genialste  Versuch,  die  Entwicklung  des  Geistes  zu  er- 
kennen, ist  das  Hegeische  Gesetz.  Ich  behaupte  aber,  daß 
auch  dieses  nur  eine  verständliche  psychische  Erscheinung 
wiedergibt,  die  wir  wie  alle  andern  nur  aus  dem  spezifischen 
Willen  heraus  verstehen.  Es  ist  nacherlebbar,  daß  eine  Ziel- 
richtung am  Ende  in  ihr  Gegenteil  umschlägt.  Es  ist  nach- 
erlebbar, daß  die  Spannung  der  Gegensätze  ausgesöhnt  wird. 
Aber  der  spezifische  Wille  als  Reaktion  auf  die  Hochspannung 
ist  auch  dabei  vorausgesetzt.  Darum  läßt  sich  das  Gesetz 
nur  durch  eine  Konstruktion  der  Geschichte  beweisen. 
Es  ,,kann"  nur  eintreten,  aber  es  ,,muß"  nicht.  Denn  der 
vorausgesetzte  Wille  braucht  nicht  da  zu  sein.  Wir  können 
es  verstehen,  wenn  zu  dem  Extrem  endlich  ,, Nein"  gesagt 
wird.  Aber  es  liegt  logisch  keine  Notwendigkeit  dazu  vor. 
Wir  setzen  einen  Charakter  voraus,  der  auf  das  Extreme 
reagiert.    Die  Geschichte  des  Geistes  ist  die  Geschichte  des 


—  351  — 

Willens.  Er  ist  die  Realität,  die  wir  als  Zeit  hinnehmen 
müssen,  und  keine  Realität  können  wir  erkennend  begründen, 
6onst  würden  wir  die  Welt  aus  dem  Nichts  heraus  begreifen. 
Die  Erkenntnis  kann  dies  jedenfalls  nicht. 

Man  mag  das  Leben  gesetzmäßig  bedingt  nennen.  InWahr- 
heit wäre  dies  nur  eine  Wort.  Denn  mit  der  Kausalität  der 
Natur  ließe  sich  dies  nicht  vergleichen.  Der  Sinn  der 
Kausalität  ist  die  Überindividualität  der  Gesetze.  Die 
psychologische  Erkenntnis  aber  erkennt  gerade  die  Indivi- 
dualität, oder  sie  findet  empirisch  Gleichheiten  unter  ihnen. 
Von  Kausalität  dürfte  man  nur  sprechen,  wenn  es  nicht 
historische  Monaden,  sondern  eine  zeitlose  psychische 
Substanz  gäbe.  Losgelöst  von  der  möglichen  Erkenntnis 
verliert  der  Begriff  der  Kausalität  jeden  Sinn.  Ob  es  auf 
ein  transzendentes  Weltgesetz  zurückführbar  ist,  wenn  ein 
Individuum  zwei  Dinge  für  gleich  hält,  das  können  wir 
niemals  wissen.  Denn  weiter  als  bis  zur  Erkenntnis  seiner 
Tat  kann  unser  Wissen  nicht  gelangen.  Psychologische 
Erkenntnis  ist  Selbsterkenntnis  der  Monade,  soweit  sie  sich 
auf  das  eigene  Leben  bezieht.  Umgekehrt  ist  jede  Selbst- 
erkenntnis psychologische  Erkenntnis.  Jedes  Wahrnehmungs- 
urteil ist  aber  wiederum  Selbsterkenntnis.  Jede  Apper- 
zeption, die  sich  im  Wahrnehmungsurteil  ausspricht,  ist 
psychologisch-historische  Erkenntnis.  Denn  die  wahrge- 
nommene Welt  ist  als  solche  nichts  anderes  als  das  Selbst, 
der  Inhalt  der  fensterlosen  Monade.  Ob  ich  als  Physiker  oder 
als  Psychologe  im  Laboratorium  sitze,  ist  gleichgültig.  Jedes 
Wahrnehmungsurteil  ist  die  Konstatierung  einer  Gleich- 
heit in  meinem  Individualsystem,  um  welches  Empfindungs- 
gebiet es  sich  auch  handelt.  Eine  solche  Gleichheit  existiert 
aber  auch  im  Leben  der  Tiere  für  das  Bewußtsein,  aber 
ungewußt  oder  unerkannt,  ebenso  wie  wir  selbst  nicht  in 
jedem  Moment  des  Lebens  Psychologen  sind  und  alles  be- 
urteilen, was  für  das  Bewußtsein  existiert.  Das  Handeln 
interessiert  jederzeit  nur  ein  kleiner  Teil  der  perzipierten 


—  352  — 

Bewußtseinsinhalte.  Unbewußt  existieren  die  Elemente  der 
Luft,  die  ich  nicht  optisch  erlebe,  sondern  denkend  als  exi- 
stierend setze.  Weil  aber  nur  ein  Teil  der  bewußten  Inhalte 
das  handelnde  Wesen  interessiert,  so  wird  auch  dieser  nur 
erkannt,  während  die  andern  unbestimmt  oder  ungewußt 
bleiben.  Der  Psychologe  aber  verleugnet  das  unmittelbare 
Interesse,  bemüht  sich,  den  ganzen  Umkreis  der  momentan 
erlebten  Welt  zu  bestimmen  und  korrigiert  so  seine  Selbst- 
oder subjektive  Welterkenntnis,  denn  Beides  ist  dasselbe. 
Das  Subjekt  braucht  den  eigenen  Bewußtseinszusammen- 
hang nicht  zu  wissen,  auch  wenn  wir  als  Betrachter  ihn  nur 
als  logischen  Zusammenhang  darstellen  können.  Das  Gegen- 
teil würde  heißen,  daß  der  Organismus  nur  aus  bewußter 
Erkenntnis  heraus  handeln  kann.  Die  Psychologie  vergißt 
über  dem  Raumdenken,  daß  ihr  Gegenstand  eben  selbst 
der  Logos  oder  vielmehr  die  Logoi  sind.  Der  subjektiv 
logische  Zusammenhang  existiert  für  das  Bewußtsein  genau 
so  wie  die  Einheit  des  Ich  selbst,  bevor  es  gewußt  wird.  Nur 
die  Verräumlichung  des  Bewußtseins  ist  schuld  an  den 
Unklarheiten  über  Wissen  und  Bewußtsein,  woraus  auch  der 
unkritische  Begriff  des  Unbewußten  entspringt.  Was  nicht 
gewußt  wird,  existiert  noch  nicht  im  Raum  des  Unbewußten. 
Das  Selbstbewußtsein  der  Monade  ist  gleichsam  nur  der 
Zuschauer  dessen,  was  für  das  Bewußtsein  existiert.  Daß 
dies  nichts  mit  der  unlogischen  Raumtheorie  der  Selbst- 
beobachtung zu  tun  hat,  brauche  ich  nicht  mehr  zu  erwähnen. 
In  dieser  Selbsterkenntnis,  in  dem  Wissend-Werden 
liegt  der  Ausgangspunkt  für  die  wertende  Vernunft.  Die 
Geschichte  an  sich,  auch  die  Kulturgeschichte,  kennt  genau 
so  wenig  wie  die  Psychologie  den  Gedanken  der  objektiven 
Wirklichkeit.  Ihr  ,, einer"  Geist  ist  nur  subjektiv,  weil  er 
nur  eine  empirische  Verallgemeinerung  in  der  historischen 
Wirklichkeit  bedeutet.  Sie  ist  nicht  mehr  allgemeine  Kultur- 
geschichte, wenn  sie  allein  den  objektiven  Geist  zum 
Gegenstand  macht.   Alles,  was  da  ist,  ist  wirklich.    Erst  der 


353 


ethische  Wille  verlangt  eine  Objektivität,  verlangt  den 
objektiven  Geist.  Er  will,  daß  die  Taten  sich  an  ,, einen4' 
Geist  richten,  daß  die  Subjektivität  des  schaffenden  Willens 
ausgeschaltet  wird.  Dieser  Wille  setzt  aber  seinerseits  den 
,, einen"  Geist  als  einen  überpersönlichen  Willen  voraus,  an 
den  die  Taten  sich  richten  sollen,  einen  Willen,  der  nicht 
von  dem  Lebensschicksal  des  einzelnen  bedingt  ist,  sondern 
der  ebenso  notwendig  mit  dem  Ich  gesetzt  ist  wie  dieses 
selbst.  Das  Selbstbewußtsein  oder  das  Wissend-Werden 
ist  das  allgemeine  Schicksal,  die  Tragik  des  Menschen.  Aus 
ihm  allein  folgt  der  transzendentale  Wille.  Wissen  heißt 
die  Tatsache  kennen  und  sie  doch  anders  denken  können. 
Diesem  Zwang  des  Zufalls  müssen  wir  entgehen.  Erst  die 
Notwendigkeit  gibt  uns  die  Freiheit,  weil  uns  nicht  mehr 
der  Zufall  zwingt.  Der  transzendentale  Wille  ist  der  Wille 
nach  Notwendigkeit  oder  Form.  Die  Welt  muß  gestaltet 
werden,  daß  sie  als  notwendig  und  nicht  als  Zufall  erlebt 
wird.  Was  diesen  reinen  Willen  befriedigt,  ist  das  objektiv 
Wertvolle.  Dieser  Wille  ist  für  die  Psychologie  empirisch 
da  als  das  gemeinsame  Gesetz  der  selbstbewußten  Monaden. 
Er  allein  ist  aber  auch  transzendental  notwendig,  weil  er 
nur  das  Selbstbewußtsein  als  Schicksal  überhaupt  voraus- 
setzt, nicht  empirisch  durch  eine  Verallgemeinerung  gewon- 
nen ist.  Was  den  Willen  nach  Notwendigkeit  oder  Form 
befriedigt,  ist  selbst  notwendig.  Was  für  ihn  geschaffen 
wird,  existiert  in  der  Welt  des  Geistes  nicht  nur  subjektiv. 
Damit  gelangt  auch  die  Geschichte  zu  einer  objektiven 
Wirklichkeit.  Der  Geist,  der  für  den  reinen  Willen  schafft, 
ist  der  objektive  Geist.  Nur  seine  Taten  sind  wirklich, 
sind  zeitlos,  weil  der  Wille  zeitlos  und  überindividuell  ist. 
Diesen  einen  zeitlosen  Geist,  die  objektive  psychische  Wirk- 
lichkeit kann  allein  die  wertende  Vernunft  durch  eine  Ana- 
lyse der  Gestaltungen  des  reinen  Wollens  konstituieren. 


Strich,  Prinzipien.  23 


—  354  — 
Schluß;  Der  Monismus. 

Unsere  Untersuchung  hat  den  Nachweis  erbracht,  daß 
wir  die  Welt  als  Zeit  und  Raum  denken.  Das  Problem  der 
Wissenschaft  ist  die  Verbindung  der  Zeitmomente.  Der 
Mechanismus  denkt  die  Verbindung  durch  den  Raum,  weil 
er  in  der  Zeit  existiert.  Die  Geschichte  denkt  das  Geschehen 
als  die  Zeit.  Für  sie  gibt  es  nichts,  was  „in"  der  Zeit  existiert. 
Wenn  ich  gegen  den  Monismus  überhaupt  kämpfe,  so  ist 
damit  nicht  gesagt,  daß  ich  einen  Dualismus  der  Welt  und  des 
Außerweltlichen  verteidigen  will.  Dieser  ist  als  erkenntnis- 
kritisches Problem  überhaupt  nicht  zu  diskutieren.  Die 
Erkenntniskritik  kann  nur  einen  Dualismus  des  Denkens 
der  Welt  begründen.  Das  Außerweltliche  ist  eine  Aus- 
deutung, die  keine  logischen  Motive  heranziehen  kann. 
Man  kann  —  und  man  hat  es  getan  —  rein  logisch  die  beiden 
Formen  der  Welt  mit  dem  Göttlichen  identifizieren.  Spinoza 
sah  in  der  Zeitlosigkeit,  der  absoluten  Gesetzmäßigkeit  das 
Göttliche.  Ihm  gegenüber  steht  die  Reihe  jener  andern 
Denker,  in  denen  der  uralte  Gedanke  fortlebt,  daß  die  Materie, 
die  blinde  Notwendigkeit,  das  Gottfeindliche  ist.  Der  Geist 
aber  ist  kritisch  nichts  anderes  als  das  Leben.  Von  diesem 
Standpunkt  aus  ist  es  eine  subjektive  Entscheidung,  ob 
man  die  schöpferische  Tat  oder  die  Notwendigkeit  an  sich 
als  das  Wertvolle  ansehen  will.  Das  Außerweltliche  beruht 
nicht  mehr  auf  einem  Unterschied  des  Seins,  sondern  auf 
dem  des  Wertes. 

Von  hier  aus  ist  eine  Unterscheidung  von  Religion  als 
einem  System  des  Seins  und  dem  religiösen  Erlebnis 
möglich.  Die  Religion  bedeutet  ein  historisches  Denken 
der  Welt.  Die  Welt  ist  die  Zeit.  Ein  bestimmter  Moment: 
die  Offenbarung,  der  Bund  mit  Gott  oder  der  Abfall  von 
ihm,  die  Erscheinung  des  Messias,  oder  was  es  auch  immer 
sei,  bestimmt  den  Fortgang  bis  zu  dem  neuen  Moment, 
der  als  einmalige  Zeit  bestimmt  ist.  Was  man  gewöhnlich 
Glaube  nennt,  ist  die  Überzeugung  von  der  Wahrheit  dieser 


—  355  — 

Weltgeschichte.  Seit  alters  her  aber  besteht  ein  Kampf 
gegen  diesen  Glauben.  Der  Unglaube  sträubt  sich  gegen 
die  historische  Auffassung  der  Welt,  in  der  er  mit  vollständigem 
Recht  ein  Weitergehen  der  Mythologie  sieht.  Das  Denken 
selbst  ist  sich  gleich  geblieben,  die  eigene  Mythologie  wird  nur 
allein  für  wahr  gehalten.  Das  historische  oder  mythologische 
Moment  aber  braucht  nicht  das  Wesen  der  Religion  zu  sein. 
Freilich  muß  man  sich  letzten  Endes  über  das  Wort  Religion 
einigen.  Der  Glaube  an  die  Wahrheit  einer  Geschichte  ist 
meiner  Ansicht  nach  nicht  das  Wesen  der  Religion  über- 
haupt. Der  Unglaube  kämpft  nicht  gegen  die  Religion, 
sondern  gegen  das  Mythologische  der  Weltauffassung.  Ab- 
solut mythologisch  ist  der  Erlösungstod  Christi.  Ich  unter- 
suche hier  nicht  die  „Wahrheit"  der  Geschichte.  Ich  setze 
auch  nicht  von  vornherein  Mythologie  und  Unwahrheit  gleich. 
Ich  stelle  die  Frage  nach  WTahrheit  überhaupt  nicht.  Der 
Sinn  der  Mythologie  liegt  nicht  darin,  daß  man  ihren  Inhalt 
als  unwahr  bezeichnet,  sondern  im  Prinzip  ihres  Denkens, 
nämlich  in  dem  Historischen.  Erst  von  dieser  Auffassung 
aus  ist  eine  logische  Entscheidung  möglich.  Das  absolut 
Mythologische  des  Christentums  liegt  darin,  daß  der  eine 
Moment  des  Todes  Christi  für  die  Welt  entscheidend  sein 
soll.  Das  Schicksal  der  Zeit  vorher  ist  bestimmt  dadurch, 
daß  Christus  damals  nicht  den  Kreuzestod  erlitten  hat, 
das  Schicksal  der  Folgezeit  durch  ihn.  Für  den  reinen  Bud- 
dhismus existiert  ein  solch  historischer  Moment  nicht,  für 
seine  Auffassung  der  Welt  ist  es  gleichgültig,  wann  Buddha 
gelebt  hat.  Die  Zeit  vor  ihm  hat  deswegen  ebensowenig 
ein  anderes  Schicksal  wie  die  Zeit  nach  ihm.  Der  sogenannte 
Atheismus  des  Buddhismus  wurzelt  in  der  unhistorischen 
Auffassung  der  Welt.  Die  Mystik  liegt  im  Kampfe  mit  dem 
Dogma,  weil  sie  die  Bedeutung  eines  historischen 
Moments  für  die  WTelt  nicht  als  das  Entscheidende  ansehen 
will.  Sie  wendet  sich  gegen  das  konkret  Historische.  Damit 
betone   ich    einen    Unterschied   innerhalb    des    Historischen 

23* 


—  356  — 

selbst.  Mir  scheint  die  tiefste  Wurzel  der  Religiosität  allerdings 
in  dem  Bewußtsein  der  historischen  Vernunft  zu  liegen,  in 
dem  Bewußtsein  des  Gegensatzes  zwischen  notwendigem  Sein 
und  dem  Werden  der  Tat.  Der  Geist  verlangt  eine  Not- 
wendigkeit der  Zeit,  die  die  Erkenntnis  nicht  bietet.  Hier 
kann  nur  der  Glaube  entscheiden.  Aber  in  einem  andern 
Sinn,  als  wir  es  eben  fanden.  Der  Glaube  hat  kein  Sein  zum 
Gegenstand  mehr,  sondern  den  Wert.  Wir  glauben  an  den 
Wert  unserer  Taten;  dies  nennen  wir  Gewissen.  Die  Folge 
jenes  Bewußtseins  des  Wertes  des  Selbstgeschaffenen  ist 
das  Gefühl  der  eigenen  Notwendigkeit,  der  eigenen  Recht- 
fertigung. Der  tätige  Geist  ist  notwendig,  nicht  weil  er  ist, 
sondern  weil  sein  Werk  sein  soll.  Der  Glaube  an  das  Sollen 
als  den  überpersönlichen  Willen,  für  den  man  schafft,  und 
an  das  Gelingen  der  Tat  ist  Religion.  Der  Glaube  an  das 
Sollen  und  an  das  Sein  unterscheidet  Mythologie  und  Religion 
oder  mit  anderer  Namensnennung:  Religion  und  Mystik. 
Man  kann  auch  sagen,  daß  in  der  Religion  das  Psychologische 
nicht  ausgeschaltet  werden  kann.  Es  gilt  hier  kein  objektives 
Sein  zu  konstruieren,  sondern  das  Psychologische,  das  Ge- 
wissen ist  dem  Wissen  gegenüber  das  Entscheidende.  Es 
ist  der  Triumph  des  Intellekts  über  den  Willen,  wenn  man 
das  Sollen  noch  durch  ein  Sein  verteidigen  muß.  Du  kannst, 
denn  Du  sollst,  ist  eine  Synthese  a  priori,  die  nicht  a  poste- 
riori —  wäre  es  auch  eine  Offenbarung  —  bewiesen  werden 
muß.  Vielleicht  triumphiert  in  uns  allen  der  Intellekt  über 
den  Willen.  Nur  die  persönliche  transzendente  Metaphysik 
als  letzte  persönliche  Überzeugung  kann  uns  dann  retten, 
keine  gegebene  Wahrheit.  Es  gibt  eine  Religion  des  Willens 
und  eine  Religion  des  Intellekts.  Irreligiös  ist  nur  der  an 
keiner  Objektivität  orientierte  Egoismus  und  der  ziellose 
Nihilismus.  Das  Wesen  der  Religion  liegt  in  dem  Erleben  des 
Sollens  um  des  Sollens  willen,  der  Einheit  des  empirischen 
Ich  mit  seinem  transzendenten,  d.  h.  des  Gelingens  des 
reinen  Wollens.     Aber  selbstverständlich  ist  das  Wesen  der 


—  357  — 

Religion  mit  diesen  kurzen  Bemerkungen  nicht  erschöpft. 
Nun  glaube  ich,  daß  alle  Wurzeln  des  religiösen  Erlebnisses 
in  dem    Kontrast   von   Freiheit  und  Notwendigkeit    enden. 

Für  die  Philosophie  ist  das  kritische  Resultat  nur,  daß  die 
Welt  nicht  monistisch  gedacht  werden  kann.  Meines  Erachtens 
gibt  es  überhaupt  nur  einen  Versuch  des  kritischen  Denkens, 
einen  Monismus  zu  konstruieren:  das  Bergsonsche  System. 
Wohl  gibt  es  historische  Vorläufer,  von  der  Emanationstheorie 
aus  bis  zu  Schelling  und  auch  Hegel.  Das  Neue  an  Bergson 
ist  der  Versuch  eines  empirischen  Monismus  trotz  der  alier- 
schärfsten  Kontrastierung  des  Lebens  und  des  Mechanismus. 
Ich  zeigte,  daß  es  nur  zwei  Möglichkeiten  für  den  Monismus 
gibt.  Entweder  der  Begriff  des  Lebens  ist  ein  Irrtum,  die 
Konsequenz,  zu  der  der  Spinozismus  führen  muß,  oder  der 
Mechanismus  ist  ein  Irrtum,  der  Standpunkt  jeder  Mythologie. 
Bergson  entscheidet  sich  für  das  zweite.  Das  mechanistische 
Denken  ist  an  der  Wahrheit  gemessen  ein  Irrtum.  Es  ist 
nur  praktisch  notwendig  zum  Handeln.  Interessant  ist  hier 
der  Vergleich  mit  Kant,  der  prinzipell  etwas  Ähnliches, 
inhaltlich  aber  gerade  das  Gegenteil  behauptet.  Wie  für 
ihn  zwar  die  Erkenntnis  durch  den  Zweck  für  die  lebendige 
Natur  notwendig,  aber  doch  kein  konstitutives  sondern 
nur  ein  regulatives  Prinzip  der  Erkenntnis  ist,  so  kann  man 
umgekehrt  von  Bergson  sagen,  daß  er  den  Mechanismus 
für  kein  konstitutives  sondern  nur  für  ein  regulatives  Prinzip  der 
Erkenntnis  hält.  Für  ihn  ist  die  Wirklichkeit  das  Leben, 
das  in  der  Materie  nur  faul  wird  und  nicht  mehr  schöpferisch 
ist.  Darum  ist  es  für  uns  berechenbar.  Wir  brauchen  nur 
von  der  Tatkraft  Überraschungen  zu  fürchten.  Aber  dieser 
grandiose  Gedanke  ist  doch  keine  kritische  Lösung  des 
Problems. 

Ich  versuchte  das  Denken  bis  zu  seinem  letzten  Grund 
zu  analysieren  und  erreichte  ihn,  wenn  man  es  so  nennen 
will,  in  einem  formalen  Monismus,  in  dem  Begriff  oder  der 
Kategorie  der  Tat.    Gerade  weil  wir  aber  über  das  Formale  in 


—  358  — 

dem  Denken  nicht  mehr  hinauskommen  können,  deshalb  exi- 
stiert für  unser  inhaltliches  Denken  das  Ende  als  Dualismus. 
Die  Kategorie  der  Tat,  in  der  wir  auch  das  Tote  denken  müssen, 
weil  wir  es  als  Bewegung  und  nicht  als  Sein  denken,  erkennt 
nicht.  Erst  der  Wille,  das  Ziel,  der  Zweck  bedeutet  die  Er- 
kenntnis der  Tat.  Diesen  Willen  als  Prinzip  der  Erkenntnis 
können  wir  aber  nur  da  zugrunde  legen,  wo  eine  Einheit  als 
Zeitgröße  existiert,  wo  die  Zukunft  noch  dasselbe  vorfindet, 
was  früher  existierte,  wo  der  spätere  Moment  ein  Moment 
des  Lebens  ist.  Wir  würden  die  Welt  verstehen,  wenn  wir 
erkennen  könnten,  was  durch  die  Gravitation  für  die  Zeit,  für 
das  Leben  der  Masse  erreicht  wird,  was  an  ihr  gewollt  ist. 
Wenn  wir  aber  auch  das  Tote  als  eine  Ermattung  des  Lebens- 
schwunges auffassen,  so  wird  das  Leben  ein  leeres  Wort.  Es  ist 
nicht  praktisch  notwendig,  dieses  Leben  mechanistisch  zu 
denken,  sondern  wir  können  es  nicht  als  Leben  denken.  Das 
Aufgeben  der  Mythologie  ist  nicht  allein  aus  den  gesteigerten 
Lebensansprüchen  zu  verstehen,  sondern  aus  dem  ethischen 
Wollen,  das  sich  selbst  damit  eine  Tragik  schuf,  selbst  wenn  die 
Errungenschaften  der  Kultur  erst  dadurch  möglich  wurden. 
Wir  müssen  das  Tote  als  Tat  denken,  aber  können  es  nicht 
als  Wille  denken,  nicht  als  Phänomen  von  einer  historischen 
Größe  aus,  und  darum  nicht  als  Leben.  In  dem  Moment, 
wo  wir  das  Tote  lebendig  denken,  ist  der  Begriff  des  Lebens 
transzendent  und  nicht  mehr  transzendental.  Der  Monismus 
ist  behauptet,  aber  es  ist  zugleich  gesagt,  daß  das  Dogma  nie 
erkannt  werden  kann.  Die  zwei  Richtungen  sind  die  erkenn- 
bare Realität,  die  eine  zugrunde  liegende  Kraft  ein  trans- 
zendentes Dogma.  Dieser  Monismus  muß  jenseits  der  Er- 
fahrung liegen,  weil  die  Trennung  in  dem  Denken  eine  absolute 
ist.  Ist  es  nur  praktisch  notwendig,  das  in  Wirklichkeit 
Lebendige  mechanistisch  zu  denken,  warum  gibt  es  dann 
eine  absolute  Grenze  dieser  Möglichkeit?  Zugegeben:  der 
Mechanismus  ist  ein  Irrtum.  Warum  hat  dieser  Irrtum  eine 
absolute   Grenze,  warum  ist   er  dort  nicht  mehr  möglich, 


—  359  — 

wo  das  Leben  anfängt  ?  Wir  kennen  keine  Grade  des  Lebens, 
sondern  nur  den  absoluten  Gegensatz.  Zugegeben  die  Idee 
des  Lebensschwunges  in  dem  Leben  selbst.  Der  Weg  des 
Toten  zu  dem  Lebendigen  ist  —  ganz  abgesehen  von  dem 
historischen  Weg  —  denkend  nicht  zu  fassen.  Die 
Metaphysik  kann  eben  niemals  die  Fortsetzung  einer 
Seite  der  Realität  sein.  Sie  kann  die  Realität  nur  durch 
etwas  ganz  Neues  rechtfertigen.  Die  kosmologische  Hypo- 
these Bergsons  hätte  nur  dann  Sinn,  wenn  wir  den 
geringsten  Anhaltspunkt  im  Denken  hätten,  einen  Grad 
des  Lebens  zu  erfassen.  Hier  stoßen  wir  meines  Erachtens 
auf  einen  Irrtum  in  seinem  Denken.  Er  hat  nicht  gesehen, 
daß  jeder  Mechanismus  des  Lebens  nur  ein  Schein  ist.  Sein 
letzter  Fehler  ist  der  empirische  Ausgangspunkt,  das  Absehen 
von  der  Erkenntniskritik.  Es  ist  ein  psychologistischer 
Schein,  wenn  man  das  Leben  auch  für  mechanistisch  bedingt 
hält,  wenn  man  Grade  der  Freiheit  anerkennt.  Die  Gewohn- 
heit „wirkt"  mechanisch,  die  Reaktion  auf  den  elektrischen 
Strom  ,, sieht"  mechanisch  aus,  eine  Zwangsvorstellung 
scheint  dem  Gefühl  nach  mechanisch  entstanden  zu  sein. 
Dieses  Aussehen  aber  ist  kein  Grund  für  die  kritische  Meta- 
physik. Es  gibt  eine  absolute  Entscheidung.  Führen  wir 
etwas  auf  ein  früheres  Ereignis  zurück,  oder  suchen  wir  sie 
alle  aus  dem  Zeitlosen  zu  begreifen.  Denken  wir  historisch 
oder  nicht.  Ich  will  damit  nicht  sagen,  daß  die  Praxis  heute 
dies  in  allen  Fällen  entscheiden  kann.  Ich  weiß  nicht,  wie 
der  Stand  der  heutigen  Wissenschaft  ist,  ob  man  sich  begnügt, 
die  Bewegung  des  Infusoriums  zum  elektrischen  Pol  als 
eine  Reaktion  aufzufassen  oder  als  Wirkung  des  elektrischen 
Stroms  auf  die  Materie.  Eine  von  beiden  Möglichkeiten 
aber  nur  kann  richtig  sein.  Es  gibt  eine  mechanische  Beein- 
flussung des  Lebens,  aber  sie  beruht  gerade  darauf,  daß 
wir  eine  absolute  Trennung  machen  können,  was  Leben  und 
was  Mechanismus  ist.  Es  ist  ebenso  unmöglich,  das  Leben 
aus  dem  Toten  zu  entwickeln  wie  das  Tote  aus  dem  Leben- 


—  360  — 

digen.  Leben  und  Tod  sind  korrelative  Begriffe.  Der  Lebens- 
schwung verliert  seinen  Sinn,  wenn  man  ihn  nicht  aus- 
schließlich auf  das  Leben  bezieht,  auf  die  Zeit,  die  in  der 
Ewigkeit  anfängt. 

Der  kritische  Dualismus  beruht  auf  dem  verschiedenen 
Prinzip  des  Lebens  und  der  toten  Natur.  Es  bedeutet  schon 
eine  falsche  metaphysische  Orientierung,  wenn  man  das  Ursach- 
denken als  eine  logische  Forderung  der  Vernunft  überhaupt 
ansieht.  Nur  als  Methode  hat  es  eine  Berechtigung,  aber  man 
darf  nicht  von  der  metaphysischen  Voraussetzung  ausgehen, 
daß  diese  Forderung  im  Umkreis  des  Wissens  erfüllbar  sein 
muß.  Man  darf  der  Wissenschaft  vorschreiben,  das  Ursach- 
denken möglichst  weit  auszudehnen,  aber  man  darf  nicht 
behaupten,  daß  dieses  Denken  mit  Erkenntnis  identisch 
ist.  Man  würde  damit  einen  unkritischen  metaphysischen 
Monismus  voraussetzen.  Allerdings  wäre  es  eine  Torheit, 
im  System  des  Mechanismus  selbst  einen  Zweck  als  Ursache 
anzunehmen.  In  der  Konstruktion  einer  gesetzmäßigen 
Welt  kann  dem  Zweck  kein  Einfluß  auf  das  Geschehen 
eingeräumt  werden.  Aber  gerade  die  eine  gesetzmäßige 
Welt  ist  die  falsche  Voraussetzung.  Das  Dogma  des 
Monismus  liegt  in  der  Annahme,  daß  das  Denken  nicht 
nur  die  Geschichte  des  Toten,  sondern  auch  die  des  Lebens 
negieren  kann. 

Der  Monismus  kann  kritisch  nur  richtig  sein,  wenn  er 
sich  damit  begnügt,  daß  die  Welt  die  Zeit  ist.  Innerhalb 
der  Erkenntnis  aber  besteht  ein  diametraler  Gegensatz:  der 
Versuch,  die  Zeit  als  Realität  zu  negieren  und  den  Raum 
zu   konstruieren1,    und   die  Unmöglichkeit    dieses   Versuchs 


1  Von  der  „contingence",  dem  Historischen  der  Naturgesetze 
war  im  Verlauf  der  Arbeit  selbst  die  Rede.  Selbst  wenn  die  Natur- 
wissenschaft durch  die  Erscheinung  der  Entropie  einen  einmaligen 
Ablauf  des  irdischen  Geschehens  nachweisen  kann,  wird  dadurch 
doch  nichts  an  der  Zeitlosigkeit  als  dem  Sinn  der  naturwissenschaft- 
lichen  Gesetze  geändert. 


—  361  — 

für  das  Leben.  Aus  diesem  läßt  sich  von  vornherein  kein 
Sein  konstruieren.  Es  läßt  sich  nicht  erklären,  es  ist  nur 
Geschichte  und  als  solche  nacherlebbar  oder  nicht.  Die 
mechanistische  Biologie  hätte  einen  Sinn  —  wenn  sie  nicht 
selbst  eine  contradictio  in  adjecto  wäre,  wenn  sie  die  Zeit 
für  das  Leben  negieren  könnte,  wenn  sie  das  Leben  als 
Irrtum  nachweisen  könnte,  wenn  sie  Mechanismus  und  nicht 
Biologie  wäre.  Sobald  man  sich  von  diesem  Gegensatz 
überzeugt  hat,  gibt  es  keinen  Grund  gegen  den  Zweck  in  der 
Natur.  Den  Zweck  anerkennen  heißt  von  der  Unmöglichkeit 
überzeugt  sein,  das  Leben  anders  denn  als  Geschichte  denken 
zu  können.  Sobald  man  erkannt  hat,  daß  es  unmöglich 
ist,  das  Leben  als  ein  gesetzmäßiges  Sein  zu  erklären,  hat 
man  erkannt,  daß  es  unerklärbare  Schöpfung  und  Tat  ist. 
Dann  fehlt  jeder  logische  Grund,  den  Zweck  nicht  als  das 
Bestimmende  in  der  lebendigen  Natur  anzusehen.  Dieser 
kritische  Vitalismus  ist  nicht  dadurch  zu  widerlegen,  daß 
es  unlogisch  wäre,  eine  neue  Kraft  im  Raum  anzunehmen, 
denn  er  beruht  ja  gerade  darauf,  daß  das  Leben  nicht  als 
Raum  existiert. 

Mit  dem  Dualismus  ist  allerdings  gesagt,  daß  das  psycho- 
physische  Problem  logisch  unlösbar  ist.  Andernfalls  be- 
stünde kein  Dualismus  innerhalb  der  Vernunft.  Wohl  aber 
lassen  sich  wenigstens  die  Irrtümer  beseitigen,  durch  die 
die  Elementarpsychologie  das  Problem  verwirrt  hat.  Gerade 
die  Erfahrungen  der  Psychiatrie,  auf  die  sich  der  psycho- 
physische  Parallelismus  so  gern  stützen  möchte,  beweisen 
die  Unmöglichkeit  der  Lösung  des  Problems.  Es  besteht 
eine  absolute  Kluft  zwischen  dem  Verstehen  des  psychischen 
Lebens  und  dem  Aufzeigen  von  Raumzusammenhängen  im 
Körper.  Wie  die  Lokalisationstheorie  es,  abgesehen  von  den 
Bewegungen  der  Muskeln,  wobei  man  eben  Raum  mit  Raum 
verbindet,  nicht  weiter  gebracht  hat,  als  die  Funktion,  das 
Sehen  aber  nicht  das  Gesehene,  zu  lokalisieren,  so  gelangt 
auch  die   somatische   Pathologie  nicht  weiter,    als   die  all- 


—  362  — 

gemeine  Möglichkeit  des  Psycho-Pathologischen,  die  psycho- 
pathische Konstitution  durch  Drüsenerkrankungen  usw.  zu 
begründen.  Es  ist  anzunehmen,  daß  die  Psychiatrie  durch 
diese  Entdeckungen  noch  viel  weiter  kommen  wird.  Eine 
Brücke  zu  dem  Verständnis  des  geistigen  Inhalts  gibt  es 
aber  auch  von  hier  aus  nicht. 

Die  Eigenart  der  Geschichte  besteht  in  dem  Neben- 
einander der  beiden  Denkprinzipien.  Die  Zeit  ist  freilich  auch 
bedingt  durch  die  Kausalität.  In  der  allgemeinen  Geschichte 
wiederholt  sich  damit  nur  das,  was  wir  auch  im  Leben  des 
Einzelnen  feststellen.  Die  Wahrnehmung  ist  nicht  psycho- 
logisch zu  begreifen,  sie  bedeutet  die  aufgezwungene  Wirk- 
lichkeit. Genau  so  ist  eine  Hungersnot  oder  alles  das, 
was  von  materiellen  Konstellationen  abhängt,  für  die  Ge- 
schichte dira  recessitas.  Damit  wird  aber  logisch  noch  keine 
materialistische  Geschichtsauffassung  oder  keine  kausale 
Psychologie  begründet.  Die  Geschichte  des  Lebens  ist  gebunden 
an  die  gesetzmäßige  Veränderung  des  Toten.  Diese  bestimmt 
den  Gegenstand  des  zeitlichen  Erlebens.  Aber  die  Zu- 
sammenhänge des  Lebens  und  der  Geschichte  selbst  sind 
nicht  mehr  durch  ihre  Gesetzmäßigkeit  zu  begreifen.  Wir 
verstehen  die  Geschichte,  in  dem  wir  alles  das,  was  Gegen- 
stand der  Erklärung  sein  kann,  ein  für  allemal  als  die 
gegebene  Voraussetzung  hinnehmen.  Für  das  Leben  des 
Einzelnen  aber,  für  seine  Welt  ist  alles  dira  recessitas, 
was  nicht  aus  seiner  Spontaneität  quillt.  Für  die  Erkennt- 
nis ist  auch  der  Andere  nur  Gegenstand  in  meiner  Welt. 
Wir  behaupten  also  nicht,  daß  das  Leben  ohne  Zusam- 
menhang mit  der  Kausalität  abläuft.  In  dem  Zusammen- 
hang liegt  die  Wurzel  zu  der  Idee  des  empirischen  Schick- 
sals im  Gegensatz  zum  ethischen.  Das  erlebende  Ich  ist 
gebunden  an  das  zu  erlebende  Nicht-Ich.  Aber  die  Ge- 
setze des  Nicht-Ichbestimmen  nicht  die  Art  der  Erlebnisse,  ihre 
Verwendung  oder  ihre  Zusammenhänge.  Unsere  Lebens- 
Realität,    die    Weltgeschichte,   läßt   sich    weder  allein  vom 


—  363  — 

Ich  noch  vom  Nicht-Ich  aus  begreifen.  Das  heißt:  Der 
Monismus  ist  ein  falsches  Dogma  wegen  des  Dualis- 
mus von  Zeit  und  Raum,  Wille  und  Kausalität,  Leben 
und  Tod,  Zweck  und  Ursache,  Geschichte  und  Natur- 
wissenschaft —  von  historischer  und  reiner  Vernunft. 


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geh.  6  M.,  geb.  7  M. 

Carl  Winters  Universitätsbuchhandlung,  Abteilung  Druckerei,  Heidelberg. 


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MAY  1     1Q75 


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BF       Strich,  Walter 

441        Prinzipien  der  psycholo- 

S8       gischen  Erkenntnis 


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