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Full text of "Prinzipien der Sprachgeschichte"

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PRINCIPIEN ,. ,. 


DER 


SPRACH6ESCIICHTE 


VON 


HERMANN PAUL, 


PBOFESSOB DER DKUTSCHKN SPRACHE UND LITERATUR 
AN DER UNIVERSITÄT PREIBURG. 


ZWEITE AUFLAGE. 


HALLE. 

MAX NIEMEYER 

1886 


800 

P32 


P 


l 


Inhalt. 

Seite 

Einleitung 1 

Notwendigkeit einer allgemeinen theoretischen Wissenschaft (prin- 
cipienlehre) neben der Sprachgeschichte wie neben jedem zweige der 
geschichts Wissenschaft 1 . Nähere bestimmung ihrer aufgäbe 1. Prin- 
cipienlehre zugleich grundlage für die mcthodenlehre 3. Ueber- 
tragung der in der naturwissenschaft üblichen betrachtungsweise auf 
die cultur Wissenschaft *i. Die Sprachwissenschaft unter den histo- 
rischen Wissenschaften der vollkommensten methode fähig 5. Zu- 
sammenwirken psychischer und physischer factoren in aller cultur- 
entwickelung 6. Culturwissenschaft immer gesellschafls Wissenschaft 7. 
Critik der Lazarus -Steinthalschen Völkerpsychologie 8. Wechsel- 
wirkung der Seelen auf einander nur indirect durch physische ver- » 
mittlung möglich 1 2. Verwandlung indirecter associationen in directe 
15. Eigentümlichkeiten der Sprachwissenschaft gegenüber andern 
Wissenschaften 16. Wissenschaftliche behandlung der spräche nur 
durch historische betrachtnng möglich 19. 

Cap« I« Allgemeines über das wesen der spraeitentwickelung .... 21 
Gegenstand der Sprachwissenschaft 20. Organismen von vorstel- 
lungsgruppen die grundlage aller Sprechtätigkeit 23. Die triigßt der 
geschichtlichen entwickelung 25. Erfordernisse für die b eschreibun g 
eines sprachzustajulfiß 26. Ur sach e für die veräuißrungen des usus 
die gewöhnliche Sprechtätigkeit 29. Entwickelungsstadien 30. Klassi- 
ficierung der Veränderungen 32. Grammatik und logik 33. 

Cap. II. Die sprachspaltung 35 

Analogieen aus der organischen natur 35. Fas^guag des zu lösen- 
den Problems 37. Veränderung und differenzierung 38. Verkehrsver- 
hältnisse' 38. Spontaneität und beeinfiussung 39. Unabhängigkeit 
der einzelnen differenzierungen von einander 40. Das bild einer 
Stammtafel unzutreflFend*40. AUmählige abstufung der dialectunter- 
schiede 42. Sprachtrenhung 43. Die lautverhältnisse das eigentlich 
charakteristische 44. Kunstsprache, dichtersprache 45. Unbegrenztes 
Wachstum der mundartlichen Verschiedenheiten 45. 

Cap. III. Der lautwandel 46 

Die bei der erzeugung der sprachlaute tätigen factoren, bewe- 

gungsgefÜhl und tonempfindung 46. Mangel eines bewusstseins von 

den dementen des wortes 47. Das wort eine continuierliche reihe von 

unendlich vielen lauten 48. Controlle des gesprochenen 50. Grenzen 


VI 

Seite 

des unterscbeidungsvermögens 50. Ablenkungen von der durch das 
böwegungsgoftihl angezeigten richtung unvermeidlich 51. Verschie- 
bung des bewegungsgefUhles 52. Ursachen der ablenkung 53. Be- 
quemlichkeit nebenursache, bewegungsgeftthlhauptursache*54. Con- 
trolle durch das lautbild 55. Verhältniss des einzelnen zu seinen 
verkehrsgenossen 56. Lautliche Veränderungen, die nicht auf Ver- 
schiebung des bewegungsgeföhles beruhen 59. Consequenz der laut- 
gesetze 60. 

Cap« IT. Wandel der Wortbedeutung 66 

Bedeutungswandel gleich erweiterung oder Verengung 66. Usuelle 
und occasionelle bedeutung 66. Abstracto und concreto bedeutung 
66. Mehr&che bedeutung 67. Mittel, welche abstracten Wörtern 
oocasionell concreto bedeutung geben 69. Mittel zur specialisierung 
der bedeutung 72. Abweichung der occasionellen bedeutung von der 
usuellen auch dadurch möglich, dass erstere nicht alle elemente der 
letzteren einschliesst 73. Uebertragung auf das räumlich, zeitlich oder 
causal mit der usuellen bedeutung verknüpfte 74. Veränderung des 
usus aus der occasionellen modification entwickelt 75. Arten des be- 
deutungswandels : specialisierung 77, beschränkung auf einen teil des 
ursprünglichen inhalts 80, Übertragung auf das räumlich, zeitlich oder 
causal mit der älteren bedeutung verknüpfte 80. Combination der 
verschiedenen arten 82. Bedeutungswandel in wortgruppen 82. Ab- 
hängigkeit des bedeutungsinhalts von der bildungsstufe des einzelnen 
83 und des ganzen volkes 84. 

Cap. y« Analogie S5 

Stoffliche und formale gruppen R5. Proportionengruppen: stoff- 
lich-formale 86, etymologisch -lautliche 87, syntaktische 87. Wirk- 
samkeit der proportionengruppen bei der Sprechtätigkeit (analogie- 
bildung) 88, auf syntaktischem gebiete 89, in Wortbildung und flexion 
91. Abweichung des analogisch gebildeten vom usus 92. Analogie- 
bildung auf dem gebiete des lautwechsels 95. 

Cap. VI. Die syntaktischen grundverhältnisse 99 

Satz zu definieren als sprachlicher ausdruck für die Verbindung 
mehrerer Vorstellungen 99. Mittel zur bezeichnung der Verbindung 99. 
Subject und prädicat, psychologisches und grammatisches 100. Mittel 
zur Unterscheidung beider: tonstärke, Wortstellung 101. Concreto 
und abstracto sätze 103. Scheinbar eingliedrige sätze 103. Verba 
Impersonalia 105. Negative sätze 107. Aussage- und aufforderungs- 
sätze 107. Fragesätze 109. Satzerweiterung 111. Doppeltes sub- 
ject 112. Object 113. Doppeltes prädicat und eutstehung der be- 
stimmung des subjects (objects) 113. Unterschiede in der function 
der bestimmung 116. Prädicatives attribut 116. Verhältniss mehrerer 
bestimmungen 117. Erweiterungen durch Verwendung eines satzes 
als subj. oder präd. 118. Vereinigung von Selbständigkeit und ab- 
hängigkeit 119. Indirecte rede 120. Satz als apposition zu einem 
nomen 120, nomen zu einem satz 121. Parataxis 121. Stufenweise 
annäherung an hypotaxis 123. Uebergang von aufforderung und 
frage in hypotaxis 124. 


Vorrede. 


Dchon ehe der druck der ersten aufläge vollendet war, konnte 
ich nicht darüber in zweifei sein, dass meine erörterungen der ergänzung 
dringend bedürftig seien, indem manche wichtige Seiten des sprach- 
lebens darin nur flüchtig berührt waren. Ich fasste daher sofort 
eine solche ergänzung ins äuge und war unablässig darauf bedacht 
alles zusammenzutragen, was mir dazu dienlich schien. Doch aber 
kam mir die aufforderung meines Verlegers zur herstellung einer zweiten 
aufläge zu rasch und unerwartet, als dass ich derselben sofort hätte 
folge leisten können. Auch jetzt hätte ich lieber noch gezögert, um 
manches besser ausreifen zu lassen. Ich musste aber schliesslich doch 
dem durch die reichliche nachfrage nach dem buche berechtigten 
drängen des Verlegers nachgeben. 

Auch diese zweite aufläge wird vor den äugen mancher fachge- 
nossen nicht mehr gnade finden als die erste. Die einen werden sie 
zu allgemein, die andern zu elementar finden. Manche werden etwas 
geistreicheres wünschen. Ich erkläre ein fttr alle mal, dass ich nur ftlr 
diejenigen schreibe, die mit mir der Überzeugung sind, dass die Wissen- 
schaft nicht vorwärts gebracht wird durch complicierte hypothesen, 
mögen sie auch mit noch so viel geist und Scharfsinn ausgeklügelt sein, 
sondern durch einfache grundgedanken, die an sich evident sind, die 
aber erst fruchtbar werden, wenn sie zu klarem bewusstsein gebracht 
und mit strenger consequenz durchgeführt werden. 

Ohne erhebliehe Veränderungen sind aus der ersten aufläge 
herübergenommen cap. 13 (= 8), 14 (= 7), 21 (= 13), 23 (= 14), 
auch 9 (= 10) abgesehen von der weglassung des letzten abschnittes, 
dessen gegenständ eine ausführlichere behandlung in cap. 6 gefunden 


IV 

hat. Etwas belangreichere Veränderungen oder zusätze haben erfahren 
die einleitung (= cap. 1), cap. 2 (= 12), 3 (= 3), noch mehr 19 
(= 9 von s. 160 an), 20 (= 11), 10 (= der hauptmasse von 5 und 6). 
Zum teil aus der ersten aufläge herttbergenommen, zum teil neu sind 
cap. 1 (= 2), 5 (= 4) und 11 (= stücken von 5 und 6). Ganz neu 
oder nur kurzen andeutungen der ersten aufläge entsprechend sind 
cap. 4, 6, 7, 8, 12, 15, 16, 17, 18 und 22. 

Es war anfänglich meine absieht noch ein methodologisches 
capitel anzufügen über die Scheidung des lautwandels von den durch 
rücksicht auf die function bedingten Umgestaltungen der lautform. Ich 
mochte indessen nicht gern das widerhölen, was ich schon in den 
Beiträgen z. gesch. d. deutschen spr. u. lit. VI, I flf. ausgeführt habe. 
Freilich sehe ich sowol aus der sprachwissenschaftlichen praxis als 
aus den theoretischen erörterungen der letzten jähre, dass die dort 
gegebenen auseinandersetzungen wenig beachtung gefunden haben. 
Sie sind namentlich von allen denjenigen ignoriert, welche geläugnet 
haben, dass in der methode der moi*phologischen Untersuchungen 
neuerdings ein erheblicher fortschritt gemacht sei. 

Freiburg i. B. Juni 1886. 

H. Paul. 


VH 

Seite 

Cap. TU« Bedeutnngswandel auf syntaktischem gebiet 125 

Vergleichung mit dem wandet der Wortbedeutung, unterschied 
zwischen allgemeiner syntaktischer beziehung und der beziehung zu 
einem bestimmten worte 125. Genitiv und regierendes subst. 126. 
Objectsaccusativ 126. Bection der präpositionen 128. Apposition 
und gen. partitivus 128. Subject zu verben 129. Substant. und ad- 
jectivisches präd. oder attribut 130. Conjunctionen 131. 

Cap. Till. Contamination 132 

Begriff 132. Contamination auf lautlichem gebiet 132, auf syn- 
taktischem 133 if. Momentane anomalieen 133, usuelle 133 £f. 
Pleonasmus. 137, auf dem gebiete der negation 138. 

"— "••-'. 140 

Bedingungen zur urschüpfimg noch jetzt vorhanden 140. Sie 
hat niemals ganz aufgehört 141. Anwendung der auf andern ge- 
bieten der Sprachlebens gewonnenen erfehrungen auf die urschöpfung 
142. Der junge sprachstoff hauptsächlich bezeichnungen für ge- 
räusche und bewegungen 143. Interjectionen 145. Ammensprachc 
146. Die ersten urschöpfungen ohne grammatische kategorie 147, 
bezeichnen ganze anschauungen 147, werden zunächst ohne absieht 
der mitteilung hervorgebracht 148. Unfähigkeit des Urmenschen zu 
willkürlicher hervorbringung von sprachlauten 149. Reproduction 
notwendig för den begriif der 'spräche 150. Unterschied der mensch- 
lichen und tierischen spräche 150. 

Cap« X« Isolierung und reaction dagegen .152 

Möglichkeit eines allgemeingültigen Systems der gruppierung für 
jede entwickelungsperiode 152. Wechsel in diesem system 152. 
Isolierung 152. Das system lediglich bedingt durch Übereinstimmung 
in lautgestalt und bedeutung 153. Ursachen der Isolierung 153. 
Zerstörung der etymologisch -lautlichen gruppen 153, der syntakti- 
schen 154, der formalen und stofflichen a) durch den bedentungs- 
wandel 157, b) durch den lautwandel 159. Reaction mit hülfe der 
ausgleichung 161. Beseitigung der durch die Stellung im satze ent- 
standenen doppelformigkeit 162. Ausgleichung zwischen lautlich 
differenzierten formen aus gleichem stamme oder Wörtern aus gleicher 
Wurzel (stoffliche ausgleichung im gegensatz zu der formalen) 164. 
Ungleichmässigkeiten im eintreten derselben in folge fördernder oder 
hemmender umstände 165: lautliche momente 166, grössere oder ge- 
ringere festigkeit des Zusammenhangs 168, Intensität der gedächt- 
nissmässigen einprägung 170, mitwirken der formalen gruppierung 
171. Verwandlung eines zufällig entstandenen bedeutungslosen Unter- 
schiedes in einen bedeutungsvollen 172. Verwandlung von dementen 
des wortstammes in fiexionsendungen 177. Unabsichtlichkeit aller 
lautlichen differenzierung 178. 

Cap« XI« Bildung nener gruppen 179 

Tilgung von unterschieden durch den lautwandel 179. Gänz- 
licher zusammenfair 179. Zusammentreten unverwandter Wörter zu 
stofflichen gruppen: einfachste art der Volksetymologie 180. Com- 
pliciertere art der Volksetymologie durch lautliche Umformung 182. 
Zusammenfall auf formalem gebiete und folgen dieses zusammen- 


vra 


falls a) bei functioneller gleichheit 183, b) bei functioneller Ver- 
schiedenheit 190. 


Seite 


€ap. XII. Einfluss der fanctionsTerändcrojig auf die analogiebildung 193 

Eintritt in eine andere gruppe verändert die richtung der analogie- 
bildung 193. Folgen der Verwandlung eines appellativums in einen 
eigennamen 193, eines casus in ein adverbium 193, der Verschmelzung 
einer syntaktischen Verbindung zu einer worteinheit 1 94. Erstarrung 
194. Einwirkung des bedeutungs wandeis auf die construction 196. 
Umdeutung einer construction unter dem einflusse einer syno- 
nymen 499, ' , 

Cap. XIII. Yerschiebangen in der gruppieraug der etymologisch zu- 
sammenhangenden Wörter 201 

Die gruppierung der etymologisch zusammenhängenden Wörter 
und formen in den seelcn einer späteren generation muss vielfach 
anders ausfallen, als es der ursprünglichen bildungsweisc entsprechen 
würde; die folge davon ist analogiebildung, die aus dem gleise der 
ursprünglichen bildungsgesetzc heraustritt 201. Beispiele 201. Ver- 
schmelzung zweier suffixe 203. Verschiebung der beziehungen in 
der composition 205. 

Cap. Xiy. Bedeutungsdifferenzierung 208 

Ursachen der entstehung eines Überflusses in der spräche 208. 
Tendenz zur beseitigung alles Überflusses 208 Blosse negative be- 
seitigung und positive nutzbarinachung 209. Lautdiflerenzierung zum 
zwecke der bedeutungsdiflferenzierung nur scheinbar 210. Arbeiten 
Über doppelwörter 210. Fälle scheinbarer diiferenzierung 211. Bei- 
spiele wirklicher diiferenzierung 212. Verwandte Vorgänge in folge 
partieller gleichheit der bedeutung 216. Syntaktische differen- 
zierung 218. 

Cap. Xy. Psychologische und graniniatischc kategorie 219 

Die anfängliche hamionie zwischen psychologischer und gram- 
matischer kategorie wird im laufe der zeit gestört und sucht sich 
dann wider herzustellen; die beobachtung dieser Vorgänge gibt be- 
lehrung über die ursprüngliche entstehung der grammatischen kate- 
gorieen 21 P. Die einzelnen kategorieen: geschlecht 219, numerus 
224, tempus 227, genus des verbums 232. . ^, J. » •^ 

Cap. XYI. Yerschiefonng der syntaktischen gltederung 234 

Widerstreit zwischen psychologischer und grammatischer gliede- 
rung 234. Zweigliedrigkeit und vielgliedrigkeit 234. Psychologisches 
prädicat 235, subject und bindeglieder 236. Satzglieder, die regel- 
mässig psychologisches subj. oder präd. sind 237. Umschreibungen 
zur Vermeidung des Widerstreits 2:^8. Ausgleichung des Wider- 
streits 238. Psychologisches verhältniss der adverbialen bestim- 
mungen 239. Seltenheit des Widerstreits in sprachen von geringer 
formaler ausbildung 240. Rollentausch zwischen dem bestimmten 
und der bestimmung 240. Auseinanderreissung des grammatisch 
eigentlich zusammengehörigen: adjectivum und abhängiger genitiv 
242, substantivum und genitiv 243, verbum und adverbium 244, 
Infinitiv und davon abhängiges glied 245. Enstehung der verbin- 


IX 

Seite 

dungswörter 245. Verwandlung von indirecter beziehung in directe 
24G. Ein glied, was zu zwei verbundenen gliedern gehört, wird zum 
ersten gezogen und zu der Verbindungspartikel in relation gesetzt 
247. Verschiebungen im zusammengesetzten satz 248 ff. Uebergang 
von abhängigkeit zur Selbständigkeit 249. Umkehnmg des Verhält- 
nisses von haupt- und nebensatz 250. Durchbrechung der grenzen 
zwischen haupt- und nebensatz 25€. 

Cap. XTII. Congmenz 255 

Congruenz ausgegangen von solchen fällen, in denen die Über- 
einstimmung des einen wortes mit dem andern ohne rücksichtnahme 
auf dasselbe sich ergeben hat , und von da analogisch auf andere 
fälle tibertragen 255. Fälle, in denen secundäre entstehung der con- 
gruenz historisch verfolgbar ist 255. Schwanken der congruenz 
zvnschen zwei Satzteilen 258, Erste grundlagen der congruenz 260. 

Cap« XYIII. Sparsamkeit im a usdrq ck 262 

Sparsamere oder reichlichere Verwendung der sprachlichen mittel 
vom bedürfhiss abhängig 262. Die ansetzung von ellipsen ist ent- 
weder auf ein minimum einzuschränken oder aber anzuerkennen, 
dass es zum wesen des sprachlichen ausdrucks gehört elliptisch zu 
sein 262. Ergänzung aus dem vorhergehenden oder folgenden 263. 
Fehlen von mittelgUedern 268. Ergänzung aus der Situation 271. 

Cap« XIX« Eü tsteh PBg der Wortbildung und flexion 274 

EntsteLungs weise der etymologischen gruppen 274. Normale 
entstehungsweise alles formellen in der spräche ist die composition 
274. Entstehung der composition aus den verschiedenartigsten wort- 
gruppen 275. Belativität des Unterschiedes zwischen compositum 
und Wortgruppe 277. l)ie Ursache, wodurch eine wortgruppe zum 
compositum wird, ist nicht engerer anschluss in der ausspräche oder 
accent, sondern eine Isolierung der Verbindung gegenüber ihren 
teilen 277. Entstehung von compositis aus copulativen Verbindungen 
279, aus der Verbindung eines substantivums mit einer bestimmung 
28t, eines verbums mit einem adverbium 287, mit einem objects- 
accusativ 289, mit einer präpositioneilen bestimmung 290. Complexe, 
die ohne zusammengeschrieben zu werden doch eigenschaften eines 
compositums zeigen 290. Coordination von compositionsglied und 
selbständigem wort 290. Lautveränderungen mit isolierender Wir- 
kung 291. Grenzen, innerhalb deren ein compositum noch als solches 
erscheint 292. Ursprung der ableitungs- und flexionssuffixe 294. 
Kritik der analyse indogermanischer grundformen 297. 

Cap« XX« Die Scheidung der rede teile 299 

Die Scheidung der redeteile beruht nicht auf streng durchge- 
führten logischen principien 299. Berücksichtigt sind dabei bedeu- 
tung an sich, function im Satzgefüge, verhalten in bezng auf flexion 
und Wortbildung 299. Kritik der üblichen einteilung 299. Zvnschen- 
stufen und Übergang zwischen den einzelnen redeteilen 302 fi. Subst 
und adj. 302. Nomen und verbum 307. Participium 307. Nomen 
agentis 309. Nomen actionis 310. Infinitiv 310. Adverbium und 
adjectivum 312. Präpositionen und conjunctionen 315. 


Seite 

Cap. XXI. Sprache und gchr ift 320 

Vorzüge und mäugel der schrift gegenüber der rede 320. Lei- 
stungsfähigkeit der üblichen alphabete 321. Yerdecknng der mund- 
artlichen Verschiedenheiten durch die schrift 326; Unfähigkeit der 
Schrift als controUe gegen lautveränderungen zu dienen 327. Yer- 
selbständigung der schrift gegen die ausspräche 327, im zusammen- 
hange mit der entwickelung zu grösserer constanz in der Schreibung 
329. Mittel zur erreichung dieser constanz 329. Analogieen zwischen 
der entwickelung der schrift und der spräche 330. Beseitigung des 
Schwankens zwischen gleichwertigen lautzeichen 330. Einwirkung 
der etymologie 332. Zurückbleiben der schrift hinter der ausspräche. 

€ap. XXII. S pracb j piftfttifin g 337 

Sprachmischung im weitem und engem sinne 337. Mischung 
verschiedener sprachen, mundarten, zeitstufen 337. Ausgang der 
mischung von den einzelnen individuen 337. Zweisprachigkeit 338. 
Zwei hauptarten der beeinflussung durch ein fremdes idiom 339. 
A) Aufnahme fremden sprachmaterials 399 if. Veranlassungen zur 
aufnähme fremder Wörter 339. Stufen der einbürgerung 340. Be- 
handlung des fremden lautmaterials 340. Assimiliemng der schon 
aufgenommenen Wörter 342. Mehrfache entlehnung des nämlichen 
Wortes 344. Widerangleichung eines lehnwortes an sein original 344. 
Concurrenz mehrerer sprachen bei der entlehnung 345. Pleonastische 
Verbindung eines einheimischen sufßxes mit einem fremden 345. Ent- 
lehnung von ableitungs- und flexionssuffixen 346. B) Beeinflussung 
der inneren sprachform 347 ff. Dialectmischung 348. Entlehnung 
aus einer älteren sprachstufe 349. 

Cap. XXIII. D ie ge m^inapraehe 350 

Die gemeinsprache nichts reales, sondem nur eine ideale norm 
350, bestimmt durch den usus eines engen kreises 351. Schriftsprache 
und Umgangssprache 351. Bühneusprache 352. Regelung der Schrift- 
sprache 353. Discrepanz zwischen schrift- und Umgangssprache 356. 
Natürliche und künstliche spräche 357. Verschiebungen in dem Ver- 
hältnisse der individuen zur gemeinsprache 357. Zwischenstufen 
zwischen gemeinsprache und mundart 362. Entstehung der gemein- 
sprache 363. 


Elnleltang. 




Die spräche ist otc jede« erzeuffniss menschlicher cnltnr eiiL 
gegfiXjstand der^ /geschichtlichen bem^liing; aber /pe jedem zwei^ 
der gesetnchTswissenschaft so moss aaeh der sprachgesc^hte ein^ 
wisVeiiÄ^chaft zur seite stehen, welche «ich mit den ay^meinen 
leDensVe^injg^upgen des geschichtlich »ich entwickelten ob- 
jectes beschäftigt, welche die in allem Wechsel sich srleich / , 
bleibenden facioren nach ihrer natnr und Wirksamkeit nnter- 
sncht. Es fehlt für diese wis8M)9chaft coue allgemein gültige und 
passende bezeichnnng. Unter sj^raehphilosöphie versteht man in der 
regel doch etwas anderes.^ Und anssefd^a dürfte es vi^leicht ans 
einem gründe geraten sein diesen ansOrnek lieber zu vermeiden. Unser 
unphilosophisches Zeitalter wittert duirwter leicht petaphysisch^^^pecu- 
lationen, voa denen die hi^storisehc^ «praofebrschung keiiie notiz zu 
nehmen brauche. In Wahrheit aber ist das , was wir, im sinne haben, 
nicht mehr und nicht m inder philogophic als etwa die physik odej die 
ph'K^iolo^e. Am allerwenigsten darf man diesem allgemeinen teile der 
8practiwissenschaft""3enhistorißehen als den empirischen gegenüber- ^h^ 
s tellen . Der eine ist gerade so em^Q^ch wie der andere. 

^Nur selten genügt es zum verst^ndniss der geschiehfficiieii ent^ 

^eßrenstandes die ^b^etsc einer einzelnen einfachen 

kennen; vielmehr liegt es in der natui 

aller gesc hichtli chen bewegung^ 2timal wo jef|,^jri^ um liegend 'gi&^n 
zweig menschlicher cultur handelt,* dftM dfihei sehr ' verschiedenartige' 
krafte, deren wesen zu ergründen die aufgäbe sehr verschiedener 
Wissenschaften ist, gleichzeitig in stätiger Wechselwirkung ihr spiel 
treiben. Es ist somit natürlich, dairs eine solche allgemeine Wissen- 
schaft, wie sie einer jeden historischen witseit^ßhaft als genaues pendant 
gegenübersteht, nicht ein derartig abgesehMssenes ganzes darstellen 
kann, wie die sogenannten exacten metunHssenschaften, die mathe- 
matik oder die psychologie. VielmeMf bildet sie ein conglomerat, das 
aus verschiedenen reinen gesetzwissenfleliafien oder in der regel aus 

Paul, Principien. II. Auflage. 1 


r 


Segmenten solcher wissenscihaAien zudammengesetst ist Man wird 
vielleicht bedenken tragen einer solchen zusammenstellang, die immer 
den Charakter des zufälligen an sich trägt, den namen einer Wissen- 
schaft beizulegen. Aber mag man darüber denken, wie man will, das 
geschichtliche Studium verlangt nun einmal die vereinigte besehäftigang 
mit so disparaten dementen als notwendiges httlfsmittel, wo nicht 
selbständige forschung, so doch aneignung der von andern gewonnenen 
resultate. Man würde aber auch sehr irren, wenn man meinte, dass 
mit der einfachen Zusammensetzung von stücken verschiedener Wissen- 
schaften schon diejenige art der Wissenschaft gegeben sei, die wir hier 
im äuge haben. Nein, es bleiben ihr noch aufgaben, um welche sich 
die gesetzeswissenschaften, die sie als hülfsmittel benutzt, nicht be- 
kümmern. Diese vergleichen ja die einzelnen Vorgänge unbekümmert 
um ihr zeitliches verhältniss zu einander lediglich aus dem gesichts- 
punkte die Übereinstimmungen und abweichungen aufzudecken und mit 
hülfe davon das in allem Wechsel der erscheinungen ewig sich gleich 
bleibende zu finden. Der begriff der entwickelung ist ihnen völlig 
fremd, ja er scheint mit ihren principien unvereinbar, und sie stehen 
daher in schroffem gegensatze zu den geschichtswissenschaften. Diesen 
g^ensatz zu vermitteln ist eine betraohtungsweise erforderlich, die 
mit mehr recht den namen einer geschichtsphilosophie verdienen würde, 
als das, was man gewöhnlich damit bezeichnet Wir wollen aber auch 
hier das wort philosophie lieber vermeiden und uns der bezeicluiung 
principienwissenschaft bedienen. Ihr ist das schwierige problem 
gestellt: wie ist unter der Voraussetzung constanter kräfte und Ver- 
hältnisse doch eine geschichtliche entwickelung möglich, ein fortgang 
von den einfachsten und primitivsten zu den compliciertesten gebilden? 
Ihr verfahren unterscheidet sich noch in einer andern hinsieht von 
dem der gesetzeswissenschaften, worauf ich schon oben hindeutete. 
Während diese naturgemäss immer die Wirkung jeder einzelnen kraft 
aus dem allgemeinen getriebe zu isolieren streben, um sie für sich in 
ihrer reinen natur zu erkennen, und dann durch aneinanderreihen des 
gleichartigen ein System aufbauen, so hat im gegenteil die geschichtliche 
principienlehre gerade di|# inriis^ndergreifen der einzelnen kräfte ins 
äuge zu fassen, zu unAersneheo, , wie auch die verschiedenai*tigsten, um 
deren verhältniss zu einander »oh die gesetzeswissenschaften so wenig 
als möglich kümmern, dnr^ sttttige Wechselwirkung einem gemein- 
samen ziele zusteuern können,. Selbstverständlich muss man, um das 
ineinandergreifen des inannigfal%en zu verstehen, möglichst klar da- 
rüber sein, welche einzelnen bäfte dabei tätig sind, und welches die 
natur ihrer Wirkungen ist pei^ zusammenfassen muss das isolieren 
vorausgegangen sein. Denn /la lange man noch mit unaufgelösten 

» 
/ 


eomplicationen rechnet, ist man noeb niebt en einer wissenschaftlichen 
Verarbeitung des Stoffes dnrchgedrangen. Es ist somit klar dass die 
principienwissenschaft in unserm sinne zwar anf der basis der experi- 
mentellen gesetzeswissenschaften (wezn ich naWrlich auch die Psycho- 
logie rechne) ruht, aber doch auch ein gewichtiges mehr enthält, was 
uns eben berechtigt ihr eine selbständig« stellaag neben jenen anzuweisen. 

Diese grosse Wissenschaft teilt mch in 00 viele zweige, als es 
zweige der speciellen geschichte gibt, gesehiehte hier im weitesten 
sinne genommen und nicht auf die entwi^elnng des menschenge- 
schlechtes beschränkt. Es ist von vornherein zu vermuten, dass es 
gewisse allgemeine grundbedingungen geben wird, welche für jede art 
der geschichtlichen entfaltung die notwendige unterläge bilden; noch 
sicherer aber ist, dass durch die besondere nstar eines jeden objectes 
seine entwickelnng in besonderer w^ee bedingt sein mnss. Wer es 
unternimmt die principien irgend einer einzelnen geschichtlichen dis- 
ciplin aufzustellen, der muss auf die ttbrigen, zumal die nächstver*- 
wandten zweige der geschichtswissentehaft bestllndige rttcksicht nehmen, 
um so die allgemeinsten leitenden getaehtspnnkte zu erfassen und nicht 
wider aus den äugen zu verlieren. Aber er mnss sich auf der andern 
Seite davor httten sich in blosse allgemeinheiten zu verirren und darüber 
die genaue anpassung an den specialen fall zu versäumen, oder die 
auf andern gebieten gewonnenen reenltate in bildlicher anwendung zu 
übertragen, wodurch die eigentlich zu ergründenden reellen Verhält- 
nisse nur verdeckt werden. 

Erst durch die begründung solche prineipienwissenschaften erhält 
die speeielle geschichtsforschung ihren rechten wert. Erst dadurch er- 
hebt sie sich über die aneinandeirafhang seheinbar zufälliger dnton 
und nähert sich in bezug auf die aUgemeingültige bedeutung ihrer 
resultate den gesetzeswissenschaften, die ihr gar zu gern die eben- 
btirtigkeit streitig machen möchten. Wenn so die principienwisienschaft 
als das höchste ziel erscheint, auf welches alle anstrengungen der 
Specialwissenschaft gerichtet sind, so ist anf der andern "seite wider 
die erstere die unentbehrliche leitdrin der letzteren, ohne welche sie 
mit Sicherheit keinen schritt tun kann, der tber das einfach gegebene 
hinausgeht , welches doch niemals anders vorliegt als einerseits frag- 
mentarisch, anderseits in verwickelten eoniplieationen, die erst gelöst 
werden müssen. Die aufhellung der bedingungen des ge- 
schichtlichen Werdens liefert neben der allgemeinen logik 
zugleich die grundlagefttr die methodenlehre, welche bei der 
feststellnng jedes einzelnen factnms zn befolgen ist. 

Man hat sich bisher keineswegs anf Mgr gebieten der historischen 
forschnng mit gleichem ernst und gleicher grilndlichkeit um die prin* 

1* 


eipienfragen bemüht Für die historischen zweige der naturwissen- 
schaft ist dies in viel höherem masse geschehen als i^r die cultur- 
ge schichte. Ursache ist einerseits, dass sich bei der letzteren viel 
grössere Schwierigkeiten in den weg stellen. Sie hat es im allgemeinen 
mit viel complicierteren factoren zu tun, deren gewirr, so lange es 
nicht aufgelöst ist, eine exacte erkenntniss des cansalzusammenhangs 
unmöglich macht. Dazu kommt, dass ihre wichtigste unterläge, die 
experimentelle psychologie eine Wissenschaft von sehr jungem datum 
ist, die man nur eben angefangen hat in beziehung zur geschichte zu 
setzen. Anderseits aber ist in dem selben masse, wie die Schwierigkeit 
eine grössere, das bedürfniss ein geringeres oder mindestens weniger 
fllhlbares gewesen. Für die geschichte des menschengeschlechts haben 
immer von gleichzeitigen zeugen herstammende, wenn auch vielleicht 
erst mannigfach vermittelte berichte über die tatsachen als eigentliche 
quelle gegolten und erst in zweiter linie denkmäler, producte der 
menschlichen cultur, die annähernd die gestalt bewahrt haben, 
welche ihnen dieselbe gegeben hat. Ja man spricht von einer histo- 
rischen und einer prähistorischen zeit, und bestimmt die grenze durch 
den beginn der historischen Überlieferung. Für die erste're ist daher 
das bild einer geschichtlichen entwickelung bereits gegeben, so entstellt 
es auch sein mag, und es ist leicht begreiflich, wenn die Wissenschaft 
mit einer kritischen reinigung dieses bildes sich genug getan zu haben 
glaubt und sogar geflisaentlich alle darüber hinaus gehende speculation 
von sich abweist. Ganz anders verhält es sich mit der prähistorischen 
Periode der menschlichen cultur und gar mit der entwickelnngsge- 
schichte der organischen und anorganischen natur, die in unendlich 
viel femer liegende zeiten zurückgreift. Hier ist auch kaum das ge- 
ringste geschichtliche element als solches gegeben. Alle versuche einer 
geschichtlichen erfassung bauen sich, abgesehen von dem wenigen, was 
von den beobachtungen früherer zeiten überliefert ist, lediglich aus 
rückschlüssen auf. Und es ist überhaupt gar kein resultat zu gewinnen 
ohne erledigung der principiellen fragen, ohne feststellung der allge- 
meinen bedingungen des geschichtlichen werdens. Diese principiellen 
fragen haben daher immer im mittelpunkte der Untersuchung gestanden, 
um sie hat sich immer der kämpf der meinungen gedreht. Gegen- 
wärtig ist es das gebiet der organischen natur, auf welchem er am 
lebhaftesten gefuhrt wird, und es muss anerkannt werden, dass hier 
die für das verständniss aller geschichtlichen entwickelung, auch der 
des menschengeschlechtes fruchtbarsten gedanken zuerst zu einer ge- 
wissen klarheit gediehen sind. 

Die tendenz der Wissenschaft geht jetzt augenscheinlich dabin 
diese speculative betrachtungsweise auch auf die culturgeschichte aus- 


zadehnen, und wir sind überzeugt, dass diese tendenz mehr und mehr 
durchdringen wird trotz allem activen und passiven widerstände, der 
dagegen geleistet wird. Dass eine solche behandlungsweise für die 
eulturwissenschaft nicht gleich unentbehrliches bedürfniss ist wie für 
die naturwissenschaft, und dass man von ihr für die erstere nicht 
gleich weit gehende erfolge erwarten darf wie für die letztere, haben 
wir ja bereitwillig zugegeben. Aber damit sind wir nicht der Ver- 
pflichtung enthoben genau zu prüfen, wie weit wir gelangen können, 
und selbst das eventuelle negative resultat dieser prüfung, die genaue 
fixierung der schranken unserer erkenntniss ist unter umständen von 
grossem werte. Wir haben aber auch noch gar keine Ursache daran 
zu verzweifeln, dass sich nicht wenigstens für gewisse gebiete auch 
bedeutende positive resultate gewinnen Hessen. Am wenigsten aber 
darf man den methodologischen gewinn geringschätzen, der aus 
einer klarlegung der principienfragen erwächst. Man befindet sich in 
einer Selbsttäuschung, wenn man meint das einfachste historische 
factum ohne eine zutat von speculation constatieren zu können. Man 
speculiert eben nur unbewusst und es ist einem glücklichen instincte 
J5U verdanken, wenn das richtige getroffen wird. Wir dürfen wol be- 
haupten, dass bisher auch die gangbaren methoden der historischen 
forsehung mehr durch instinct gefunden sind als durch eine auf das 
innerste wesen der dinge eingehende allseitige reflexion. Und die 
natürliche folge davon ist, dass eine menge willkürlichkeiten mit unter- 
laufen, woraus endloser streit der meinungen und schulen entsteht. 
Hieraus gibt es nur einen ausweg: man muss mit allem ernst die 
zurückführung dieser methoden auf die ersten grundprincipien in an- 
griff nehmen und alles daraus beseitigen, was sich nicht aus diesen 
ableiten lässt. Diese principien aber ergeben sich, soweit sie nicht 
rein logischer natur sind, eben aus der Untersuchung des wesens der 
historischen entwickelung. 

Es gibt keinen zweig der cultur, bei dem sich die bedingungen 
der entwickelung mit solcher exactheit erkennen lassen als bei der 
spräche, und daher keine eulturwissenschaft, deren methode zu solchem 
grade der Vollkommenheit gebracht werden kann wie die der Sprach- 
wissenschaft. Keine andere hat bisher so weit über die grenzen der 
Überlieferung hinausgreifen können, keine andere ist in dem masse 
speculativ und constructiv verfahren. Diese eigentümlichkeit ist es 
hauptsächlich, wodurch sie als nähere verwandte der historischen natur- 
wissenschaften erscheint, was zu der Verkehrtheit verleitet hat sie aus 
dem kreise der culturwissenschafken ausschliessen zu wollen. Trotz 
dieser Stellung, welche die Sprachwissenschaft schon seit ihrer be- 
gründung einnimmt, scheint noch viel daran zu fehlen, dass ihre me- 


6 

thode schon bis za demjenigen grade der Vollkommenheit ausgebildet 
wäre, dessen sie fähig ist Eben jetzt sucht sieh eine richtung bahn 
zu brechen, die auf eine tiefgreifende Umgestaltung der methode hin- 
drängt. Bei dem streite, der sich darüber entsponnen hat, ist deutlicl) 
zu tage getreten, wie gross noch bei vielen Sprachforschern die Unklar- 
heit ttber die demente ihrer Wissenschaft ist. Eben dieser streit ist 
auch die nächste veranlassung zur entstehnng dieser abhandlung. Sie 
will ihr möglichstes dazu beitragen eine klämng der anschauungen 
herbeizuführen und eine Verständigung wenigstens unter allen den- 
jenigen zu erzielen, welche einen offenen sinn ftir die Wahrheit mit- 
bringen. Es ist zu diesem zwecke erforderlich mögliehst allseitig die 
bedingungen des Sprachlebens darzulegen und somit überhaupt die 
grnndlinien ftir eine theorie der sprachentwickelung zu ziehen. 


Wir scheiden die historischen Wissenschaften im weiteren sinne 
in die beiden hauptgruppen : historische naturwissenschaften 
und culturwissenschaften. Als das charakteristische kennzeichen 
der cultur müssen wir die betätigung psychischer factoren bezeichnen. 
Dies scheint mir die einzig mögliche exacte abgrenzung des gebietes 
gegen die objecte der reinen naturwissenschaft; zu sein. Demnach 
müssen wir allerdings auch eine tierische cultur anerkennen, die ent- 
wickelungsgeschichte der kunsttriebe und der gesellschaftlichen Orga- 
nisation bei den tieren zu den culturwissenschaften rechnen. Für die 
richtige beurteilung dieser Verhältnisse dürfte das nur förderlich sein. 

Das psychische dement ist der wesentlichste factor in 
aller culturbewegung, um den sich alles dreht, und die 
Psychologie ist daher die vornehmste basis aller in einem 
höheren sinne gefassten culturwissenschaft. Das psychische 
ist darum aber nicht der einzige factor; es gibt keine cultur 
auf rein psychischer unterläge, und es ist daher mindestens 
sehr ungenau die culturwissenschaften als geisteswissenschaffcen zu 
bezeichnen. In Wahrheit gibt es nur 6ine reine geisteswissenschaft, 
das ist die psychologie als gesetzwissenschaft. Sowie wir das gebiet 
der historischen entwickelung betreten, haben wir es neben den psy- 
chischen mit physischen kräften zu tun. Der menschliche geist 
muss immer mit dem menschlichen leibe und der umgebenden natur 
zusammenwirken um irgend ein culturproduct hervorzubringen, und 
die beschaffenheit desselben, die art, wie es zu stände kommt, hängt 
eben so wol von physischen als von psychischen bedingungen ab; die 
einen wie die andern zu kennen ist notwendig für ein vollkommenes 
verständniss des geschichtlichen Werdens. Es bedarf daher neben der 


Psychologie auch einer kenntniss der gesetze, nach denen sich die 
physischen factoren der cultur bewegen. Auch die naturwissenschaften 
und die mathematik sind eine notwendige basis der culturwissen- 
sehaffcen. Wenn uns das im allgemeinen nicht zum bewnsstsein kommt, 
so liegt das daran, dass wir uns gemeiniglich mit der unwissen- 
schaftlichen beobachtung des täglichen lebens begnügen und damit 
auch bei dem, was man gewöhnlich unter geschichte versteht, leidlich 
auskommen. Ist es doch dabei mit dem psychischen auch nicht anders 
und namentlich bis auf die neueste zeit nicht anders gewesen. Aber 
undenkbar ist es, dass man ohne eine summe von erfahrungen ttber 
die physische möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Vorganges irgend 
ein ereigniss der geschichte zu verstehen oder irgend welche art von 
historischer kritik zu üben im stände wäre. Es ergibt sich demnach 
als eine hauptaufgabe fttr die principienlehre der cultur- 
wisenschaft, die allgemeinen bedingungen darzulegen, unter 
denen die psychischen und physischen factoren, ihren 
eigenartigen gesetzen folgend, dazu gelangen zu einem 
gemeinsamen zwecke zusammenzuwirken. 

Etwas anders stellt sich die aufgäbe der principienlehre von 
folgendem gesichtspunkte aus dar. Die culturwissenschaft ist 
immer gesellschaftswissenschaft. Erst gesellschaft ermöglicht die 
cultur, erst gesellschaft macht den menschen zu einem geschichtlichen 
wesen. Gewiss hat auch eine ganz isolierte menschenseele ihre ent- 
wickelungsgeschichte, auch rücksichtlich des Verhältnisses zu ihrem 
leibe und ihrer Umgebung, aber selbst die begabteste vermöchte es 
nur zu einer sehr primitiven ausbildung zu bringen, die mit dem tode 
abgeschnitten wäre. Erst durch die Übertragung dessen, was ein 
individuum gewonnen hat, auf andere Individuen und durch das zu- 
summenwirken mehrerer Individuen zu dem gleichen zwecke wird ein 
Wachstum über diese engen schranken hinaus ermöglicht. Auf das 
princip der arbeitsteilung und arbeitsvereinigung ist nicht nur die 
wirtschaftliche, sondern jede art von cultur basiert. Die eigentüm- 
liebste aufgäbe, welche der culturwissenschaftlichen pnncipienlehre 
zufällt und wodurch sie ihre Selbständigkeit gegenüber den grund- 
legenden gesetzeswissenschaften behauptet, dürfte demnach daiin be- 
stehen, dass sie zu zeigen hat, wie die Wechselwirkung der Individuen 
auf einander vor sich geht, wie sich der einzelne zur gesammtheit 
verhält, empfangend und gebend, bestimmt und bestimmend, wie die 
jüngere generation die erbschaft der älteren antritt. 

Nach dieser seite hin kommt übrigens der culturgeschichte schon 
die entwickelungsgeschichte der organischen natur sehr nahe. Jeder 
höhere Organismus kommt durch association einer menge von zellen 


8 

zu Stande, die nach dem principe der arbeitsteilung zasammenwirken 
and diesem principe gemäss in ihrer configuration differenziert sind. 
Auch schon innerhalb der einzelzelle, des elementarsten organischen 
gebildes, ist dies prineip wirksam, und durch dasselbe erhaltung der 
form im Wechsel des Stoffes möglich. Jeder Organismus geht Mher 
oder später zu gründe, kann aber ablösungen aus seinem eigenen 
wesen hinterlassen, in denen das formative prineip, nach welchem er 
selbst gebildet war, lebendig fortwirkt, und dem jeder fortschritt, 
welcher ihm in seiner eigenen bildung gelungen ist, zu gute kommt, 
falls nicht störende einflüsse von aussen dazwischen treten. 

Es dürfte scheinen, als ob unsere principienlehre der gesellschafts- 
Wissenschaft ungefähr das gleiche sei wie das, was Lazarus und 
Steinthal Völkerpsychologie nennen und was sie in ihrer Zeit- 
schrift zu vertreten suchen. Indessen fehlt viel, dass beides sich deckte. 
Aus unsem bisherigen erörterungen geht schon hervor, dass unsere 
Wissenschaft sich sehr viel mit nichtpsychologischem zu befassen hat. 
Wir können die einwirkungen, welche der einzelne von der gesell- 
schafl; erfährt und die er seinerseits in Verbindung mit den andern 
ausübt, unter vier hauptkategorieen bringen. Erstens: es werdea in 
ihm psychische gebilde, vorstellungscomplexe erzeugt, zu denen er, 
ohne dass ihm von den andern vorgearbeitet wäre, niemals oder nur 
sehr viel langsamer gelangt wäre. Zweitens: er lernt mit den ver- 
schiedenen teilen seines leibes gewisse zweckmässige bewegnngen aus- 
führen, die eventuell zur bewegung von fremden körpern, Werkzeugen 
dienen; auch von diesen gilt, dass er sie ohne das Vorbild anderer 
vielleicht gar nicht, vielleicht langsamer gelernt hätte. Wir befinden 
uns also hier auf physiologischem gebiete, aber immer zugleich auf 
psychologischem. Die bewegung an sich ist physiologisch, aber die 
erlangung des Vermögens zu willkürlicher regelung der bewegung, 
worauf es hier eben ankommt, beruht auf der mitwirkung psychischer 
factoren. Drittens: es werden mit hülfe des menschlichen leibes 
bearbeitete oder auch nur von dem orte ihrer entstehung zu irgend 
einem dienste verrückte naturgegenstände, die dadurch zu Werkzeugen 
oder capitalien werden, von einem individu^m auf das andere, von 
der älteren generation auf die jüngere übertragen, und es findet eine 
gemeinsame beteiligung verschiedener individuen bei der bearbeitung 
oder verrückung dieser gegenstände statt Viertens: die individuen 
üben auf einander einen physischen zwang aus, der allerdings eben 
so wol zum nächteil wie zum vorteil des fortschrittes sein kann, aber 
vom wesen der cultur nicht zu trennen ist. 

Von diesen vier kategorieen ist es jedenfalls nur die erste, mit 
welcher sich die Völkerpsychologie im sinne von Lazarus -Steinthal 


beschäftigt. Es könnte sich also damit auch nur ungefähr derjenige 
teil unserer principienlehre decken, der sieh auf diese erste kategorie 
bezieht Aber abgesehen davon, dass dieselbe nicht bloss isoliert von 
den übrigen betrachtet werden darf, so bleibt auch ausserdem das, 
was ich im sinne habe, sehr verschieden von dem, was Lazarus und 
Steinthal in der einleitung zu ihrer Zeitschrift (Bd. I, s. 1 — 73) als die 
aufgäbe der Völkerpsychologie bezeichnen. 

So sehr ich das verdienst beider männer um die psychologie 
und speciell um die psychologische betrachtungsweise der geschichte 
anerkennen muss, so scheinen mir doch die in dieser einleitung auf- 
gestellten begriflfsbestimmungen nicht haltbar, zum teil verwinrend und 
die realen Verhältnisse verdeckend. Der grundgedanke, welcher sich 
durch das ganze hindurchzieht, ist der, dass die Völkerpsychologie 
sich gerade so teils zu den einzelnen Völkern, teils zu der mensch- 
heit als ganzes verhalte wie das, was man schlechthin psychologie 
nennt, zum einzelnen menschen. Eben dieser grundgedanke beruht 
meiner Überzeugung nach auf mehrfacher logischer Unterschiebung. 
Und die Ursache dieser Unterschiebung glaube ich darin sehen zu 
müssen, dass der fundamentale unterschied zwischen gesetzwissenschaft 
und geschichtswissenschaft nicht festgehalten^) wird, sondern beides 
immer unsicher in einander überschwankt. 


*) Angedeutet ist dieser unterschied aUerdings, s. 25ff., wo zwischen den 
^synthetischen, rationalen' und den 'beschreibenden' disciplinen der naturwissen- 
schaft unterschieden und eine entsprechende einteilung der Völkerpsychologie ver- 
sucht wird. Aber völlige Verwirrung herrscht z. b. s. 15 ff. Aus der tatsache, dass 
es nur zwei formen alles seins und Werdens gibt, natur und geist, folgern die Ver- 
fasser, dass es nur zwei klassen von realen Wissenschaften geben könne, eine, deren 
gegenständ die natur, und eine, deren gegenständ der geist sei. Dabei wird also 
nicht berücksichtigt, dass es auch Wissenschaften geben könne, die das ineinander- 
wirken von natur und geist zu betrachten haben. Noch bedenklicher ist es, wenn 
sie dann fortfahren: 'Demnach stehen sich gegenüber naturgeschichte und geschichte 
der menschheit' Hier muss zunächst geschichte in einem ganz andern sinne gefasst 
sein, als den man gewöhnlich mit dem worte verbindet, als Wissenschaft von dem 
geschehen, den Vorgängen. Wie kommt aber mit einem male 'mensch' an die 
stelle von 'geipt'. Beides ist doch weit entfernt sich zu decken. Weiter wird 
zwischen natur und geist der unterschied aufgestellt, dass die natur sich in ewigem 
•kreislauf ihrer gesetzmässigen processe bewege, wobei die verschiedenen laufe ver- 
einzelt, jeder fUr sich blieben, wobei immer nur das schon dagewesene widererzeugt 
würde und nichts neues entstünde, während der geist in einer reihe zusammen- 
hängender Schöpfungen lebe, einen fortschritt zeige. Diese Unterscheidung, in 
dieser allgemeinheit hingestellt, ist zweifellos unzutreffend. Auch die natur, die 
organische mindestens sicher, bewegt sich in einer reihe zusammenhängender 
Schöpfungen, auch in ihr gibt es einen fortschritt. Anderseits bewegt sich auch 
der geist (das ist doch auch die anschauung der Verfasser) in einem gesetzmässigen 
ablauf, in einer ewigen widerholung der gleichen grundprocesse. £s sind hier zwei 


10 

Der begriff der Völkerpsychologie selbst schwankt zwischen zwei 
wesentlich verschiedenen auffassnngen. Einerseits wird sie als die 
lehre von den allgemeinen bedingungen des geistigen lebens in der 
gesellschaft gefasst, anderseits als Charakteristik der geistigen eigen- 
ttimlichkeit der verschiedenen Völker und nntersnchnng der Ursachen, 
aus denen diese eigentttmlichkeit entsprungen ist. S. 25 ff. werden 
diese beiden verschiedenen auffassnngen der Wissenschaft als zwei 
teile der gesammtwissenschaft hingestellt, von denen der erste die 
synthetische gmndlage des zweiten bildet. Nach keiner von beiden 
auffassnngen steht die Völkerpsychologie in dem angenommenen ver- 
hältniss zur individualpsychologie. 

Halten wir uns zunächst an die zweite, so kann der Charak- 
teristik der verschiedenen Völker doch nur die Charakteristik ver- 
schiedener Individuen entsprechen. Dass nennt man aber nicht Psy- 
chologie. Die Psychologie hat es niemals mit der concreten gestaltung 
einer einzelnen menschenseele, sondern nur mit dem allgemeinen wesen 
der seelischen Vorgänge zu tun. Was berechtigt uns daher den namen 
dieser Wissenschaft ftlr die beschreibung einer concreten gestaltung der 
geistigen eigentttmlichkeit eines volkes zu gebrauchen? Was die verf. 
im sinne haben, ist nichts anderes als ein teil, und zwar der wich- 
tigste, aber eigentlich nicht isolierbare teil dessen, was man sonst 
culturgeschichte oder philologie genannt hat, nur auf psychologische 
gmndlage gestellt, wie sie heutzutage fttr alle culturgeschichtliche 
forschung verlangt werden muss. Es ist aber keine gesetz Wissenschaft 
wie die psychologie und keine principienlehre oder, um den ausdruck 
der verf. zu gebrauchen keine synthetische grundlage der cultur- 
geschichte. 

Die unrichtige parallelisierung hat noch zu weiteren bedenklichen 
consequenzen geführt. Es handelt sich nach den Verfassern in der 
Völkerpsychologie *um den geist der gesammtheit, der noch verschieden 
ist von allen zu derselben gehörenden einzelnen geistern, und der sie 
alle beherrscht' (s. 5). Weiter heisst es (s. 11): Die Verhältnisse, welche 
die Völkerpsychologie betrachtet, liegen teils im volksgeiste, als einer 


gegensätze confundiert, die völlig auseinander gehalten werden müssen, der zwischen« 
natur und geist einerseits und der zwischen gesetzmässigem process und geschicht- 
licher entwickelung anderseits. Nur von dieser confusion aus ist es zu begreifen, 
dass es die verf. überhaupt haben in frage ziehen können, ob die psychologie zu 
den natur- oder zu den geisteswissenschaften gehöre, und dass sie schliesslich dazu 
kommen ihr eine mittelstellung zwischen beiden anzuweisen. Diese confusion ist 
freilich die hergebrachte, von der man sich aber endlich losreissen sollte nach den 
fortschritten, welche die psychologie einerseits, die Wissenschaft von der organischen 
natur anderseits gemacht hat. 


11 

einheit gedacht, zwischen den elementen desselben (wie z. b. das ver- 
hältniss zwischen religion und kanst, zwischen Staat und Sittlichkeit, 
spräche und Intelligenz u. dgl. m.), teils zwischen den einzelgeistern, 
die das volk bilden. Es treten also hier die selben grundprocesse 
hervor, wie in der individuellen- psychologie, nur complicierter oder 
ausgedehnter'. Das heisst durch hypostasierung einer reihe von ab- 
stractionen das wahre wesen der Vorgänge verdecken. Alle psychischen 
processe vollziehen sich in den einzelgeistern und nirgends sonst 
Weder volksgeist noch elemente des volksgeistes wie kunst, religion etc. 
haben eine concrete existenz und folglich kann auch nichts in ihnen 
und zwischen ihnen vorgehen. Daher weg mit diesen abstractionen. 
Denn 'weg mit allen absti*actipnen' muss für uns das losungswort sein, 
wenn wir irgendwo die factoren des wirklichen geschehens zu be- 
stimmen versuchen wollen.^) Ich will den Verfassern keinen grossen 
Vorwurf machen wegen eines fehlers, dem man in der Wissenschaft 
noch auf schritt und tritt begegnet, und vor dem sich der umsichtigste 
und am tiefsten eindringende nicht immer bewahrt. Mancher forscher, 
der sich auf der höhe des neunzehnten Jahrhunderts fühlt, lächelt wol 
vornehm über den streit der mittelalterlichen nominalisten und realisten, 
und begreift nicht, wie man hat dazu kommen können, die abstractionen 
des menschlichen Verstandes für realiter existierende dinge zu erklären. 
Aber die unbewussten realisten sind bei uns noch lange nicht aus- 
gestorben, nicht einmal unter den naturforschern. Und vollends unter 
den culturforschern treiben sie ihr wesen recht munter fort, und darunter 
namentlich diejenige klasse, welche es allen übrigen zuvorzutun wähnt, 
wenn sie nur in Darwinistischen gleichnissen redet Doch ganz ab- 
gesehen von diesem unfug, die zeiten der Scholastik, ja sogar die der 
mythologie liegen noch lange nicht soweit hinter uns, als man wol 
meint, unser sinn ist noch gar zu sehr in den banden dieser beiden 
befangen, weil sie unsere spräche beherrschen, die gar nicht von ihnen 
loskommen kann. Wer nicht die nötige gedankenanstrengung an- 
wendet um sich von der herrschaft des Wortes zu befreien, wird sich 
niemals zu einer unbefangenen anschauung der dinge aufschwingen. 
Die Psychologie ward zur Wissenschaft in dem augenblicke, wo sie 

^) Misteli, Ztschr. f. Vülkerps. XIII, 385 hat mich merkwürdigerweise so miss- 
verstanden, dass er meint, ich wolle überhaupt keine abstractionen gemacht wissen, 
während ich natürlich nur meine, dass sich keine abstractionen störend zwischen 
das äuge 4es beobachters und die wirklichen dinge stellen sollen, die ihn hindern 
den causalzusammenhang unter den letzteren zu erfassen. Die belehrung, die er 
mir über den wert des abstrahierens erteilt, ist daher eben so überflüssig wie seine 
kritische bemerkung darüber, dass ich ja noch weiter gehendere abstractionen mache 
als andere. 


12 

die abstractionen der Seelenvermögen nicht mehr als etwas reelles 
anerkannte. So wird es vielleicht noch auf manchen gebieten gelingen 
bedeutendes zu gewinnen lediglich durch beseitigung der zu realitäten 
gestempelten abstractionen, die sich störend zwischen das äuge des 
beobachters und die concreten erscheinungen stellen. 

Diese bemerkungen bitte ich nicht als eine blosse abschweifung 
zu betrachten.*) Sie deuten auf das, was wir selbst im folgenden 
rücksichtlich der sprachentwickelung zu beobachten haben, was da- 
gegen die darstellung von Lazaiiis-Steinthal gar nicht als etwas zu 
leistendes erkennen lässt. Wir gelangen von hier aus auch zur kritik 
der ersten auffassung des begriflfs Völkerpsychologie. 

Da wir natürlich auch hier nicht mit einem gesammtgeiste und 
dementen dieses gesammtgeistes rechnen dürfen, so kann es sich in 
der * Völkerpsychologie' jedenfalls nur um Verhältnisse zwischen den 
einzelgeistern handeln. Aber auch für die Wechselwirkung dieser ist 
die behauptung, dass dabei die selben grundprocesse hervortreten wie 
in der individuellen psychologie, nur in einem ganz bestimmten ver- 
ständniss zulässig, worüber es einer näheren erklärung bedürfte. Jeden- 
falls verhält es sich nicht so, dass die Vorstellungen, wie sie innerhalb 
einer seele auf einander wirken, so auch über die schranken der 
einzelseele hinaus auf die Vorstellungen anderer seelen wirkten. Eben- 
sowenig wirken etwa die gesammten vorstellungseomplexe der einzelnen 
Seelen in eiijer analogen weise auf einander wie innerhalb der seele 
des Individuums die einzelnen Vorstellungen. Vielmehr ist es eine 
tatsache von fundamentaler bedeutung, die wir niemals aus 
dem äuge verlieren dürfen, dass alle rein psychische Wechsel- 
wirkung sich nur innerhalb der einzelseele vollzieht. Aller 

^) Trotz dieser ausdrücklichen bitte bemerkt L. Tobler, Lit.-Bl. f. germ. und 
rom. phil. 1881, sp. 122 über meine einleitung: „Alle diese einleitenden begriffsbe- 
. Stimmungen fallen mehr in den bereich einer philosophischen Zeitschrift und üben 
auf den weitem verlauf der darstellung keinen einfluss". Und Misteli, a. a. o. s. 400 
tritt ihm bei und meint, er hätte nur noch hinzufügen können: glücklicherweüse. 
Ich muss gesteben, es ist niederschlagend für mich, dass zwei gelehrte, die doch 
gerade interesse fUr allgemeine fragen bekunden, so wenig erkannt haben, was der 
eigentliche angelpunkt meines ganzen werkes ist. Alles dreht sich mir darum die 
sprachentwickelung aus der Wechselwirkung abzuleiten, welche die Individuen auf 
einander ausüben. Eine kritik der Lazams-Steinthalschen anschauungen, deren 
fehler eben in der nichtberücksichtigung dieser Wechselwirkung besteht, hängt 
daher auf das engste mit der gesammttendenz meines buches zusammen. Misteli 
ist überhaupt der ansiebt, dass meine allgemeinen theoretischen erörterungen von 
dem Sprachforscher nicht berücksichtigt zu werden brauchten, und dass dieser mit 
den herkömmlichen grammatischen kategorieen auskommen könnte. Damit wird 
der alte dualismus zwischen philosophie und Wissenschaft sanctioniert, den zu über- 
winden wir heutzutage mit aller macht streben sollten. 


13 

verkehr der Seelen unter einander ist nur ein indirecter, 
auf physischem wege vermittelter. Fassen wir daher die Psy- 
chologie im Herbartschen sinne als die Wissenschaft von dem verhalten 
der Vorstellungen zu einander , so kann es nur eine individuelle Psy- 
chologie geben, der man keine Völkerpsychologie oder wie man es 
sonst nennen mag gegenüber stellen darf. 

Man fügt nun aber wol in der darstellung der individuellen Psy- 
chologie diesem allgemeinen einen zweiten speciellen teil hinzu, wel- 
cher die entwicklungsgeschichte der complicierteren vorstellungsmassen 
behandelt, die wir erfahrungsmässig in uns selbst und den von uns zu 
beobachtenden Individuen in wesentlich übereinstimmender weise finden. 
Dagegen ist nichts einzuwenden, so lange man sich nur des funda- 
mentalen gegensatzes bewusst bleibt, der zwischen beiden teilen be- 
steht. Der zweite ist nicht mehr gesetzwissenschaft, sondern geschichte. 
Es ist leicht zu sehen, dass diese complicierteren gebilde nur dadurch 
haben entstehen können, dass das Individuum mit einer reihe von an- 
dern Individuen in gesellschaft lebt. Und um tiefer in das geheimniss 
ihrer entstehung einzudringen, muss man sich die verschiedenen Stadien, 
welche sie nach und nach in den früheren Individuen durchlaufen 
haben, zu veranschaulichen suchen. Von hier aus sind offenbar Lazarus 
und Steinthal zu dem begriff der Völkerpsychologie gelangt. Aber 
ebensowenig wie eine historische darstellung, welche schildert, wie 
diese entwicklung wirklich vor sich gegangen ist, mit recht Psycho- 
logie genannt wird, ebensowenig wird es die principienwissenschaft, 
welche zeigt, wie im allgemeinen eine derartige entwickelung zu stände 
kommen kann. Was an dieser entwickelung psychisch ist, vollzieht 
sich innerhalb der einzelseele nach den allgemeinen gesetzen der indi- 
viduellen Psychologie. Alles das aber, wodurch die Wirkung des einen 
individuums auf das andere ermöglicht wird, ist nicht psychisch. 

Wenn ich von den verschiedenen Stadien in der entwickelung 
der psychischen gebilde gesprochen habe^ so habe ich mich der ge- 
wöhnlichen bildlichen ansdrucksweise bedient. Nach unsem bisherigen 
auseinandersetzungen ist nicht daran zu denken, dass ein gebilde, wie 
es sich in der einen seele gestaltet hat, wirklich die reale unterläge 
sein kann, aus der ein gebilde der andern entspringt. Vielmehr muss 
jede seele ganz von vorn anfangen. Mann kann nichts schon gebil- 
detes in sie hineinlegen, sondern alles muss in ihr von den ersten 
anfangen an neu geschaffen werden, die primitiven Vorstellungen durch 
physiologische erregungen, die vorstellungscomplexe durch Verhältnisse, 
in welche die primitiven Vorstellungen innerhalb der seele selbst zu 
einander getreten sind. Um die einer in ihr selbst entsprungenen ent- 
sprechende Vorstellungsverbindung in einer anderen seele hervorzu- 


14 

rufen kann die seele nichts anderes tun, als vermittelst der motori- 
schen nerven ein physisches product erzeugen, welches seinerseits 
wider vermittelst erregung der sensitiven nerven des andern Indivi- 
duums in der seele desselben die entsprechenden Vorstellungen her- 
vorruft, und zwar entsprechend associiert. Die wichtigsten unter den 
diesem zwecke dienenden physischen producten sind eben die sprach- 
laute. Andere sind die sonstigen töne, femer mienen, gebährden. 
bilder etc. 

Was diese physischen producte befähigt als mittel zur Übertragung 
von Vorstellungen auf ein anderes Individuum zu dienen ist entweder 
eine innere, directe beziehung zu den betreffenden Vorstellungen 
(man denke z. b. an einen schmerzensschrei, eine gebährde der wut) 
oder eine durch ideenassociation vermittelte Verbindung, wobei 
also die in directer beziehung zu dem physischen Werkzeuge stehende 
Vorstellung das bindegUed zwischen diesem und der mitgeteilten Vor- 
stellung bildet; das ist der fall bei der spräche. 

Durch diese art der mitteilung kann kein vorstellungsinhalt in 
der seele neu geschaffen werden. Der Inhalt, um den es sich handelt, 
muss vielmehr schon vorher darin sein, durch physiologische erregungen 
hervorgerufen. Die Wirkung der mitteilung kann nur die sein, dass 
gewisse in der seele ruhende vorstellungsmassen dadurch erregt, even- 
tuell auf die schwelle des bewusstseins gehoben werden, wodurch 
unter umständen neue Verbindungen zwischen denselben geschaffen 
oder alte befestigt werden. 

Der vorstellungsinhalt selbst ist also unübertragbar. 
Alles, was wir von dem eines andern Individuums atu wissen 
glauben, beruht nur auf Schlüssen aus unserem eigenen. 
Wir setzen dabei voraus, dass die fremde seele in dem selben ver- 
hältniss zur aussenwelt steht wie die unsrige, dass die nämlichen 
physischen eindrücke in ihr die gleichen Vorstellungen erzeugen wie 
in der unsrigen, und dass diese Vorstellungen sich in der gleichen 
weise verbinden. .Ein gewisser grad von Übereinstimmung in der 
geistigen und körperlichen Organisation, in der umgebenden natur und 
den erlebnissen ist demnach die Vorbedingung für die möglichkeit 
einer Verständigung zwischen verschiedenen individuen. Je grösser 
die Übereinstimmung, desto leichter die Verständigung. Umgekehrt 
bedingt jede Verschiedenheit in dieser beziehung nicht nur die möglich- 
keit, sondern die notwendigkeit des niehtverstehens, des unvollkommenen 
Verständnisses oder des missverständnisses. 

Am weitesten reicht die Verständigung durch diejenigen physischen 
mittel, welche in directer beziehung zu den mitgeteilten Vorstellungen 
stehen; denn diese fliesst häufig schon aus dem allgemein überein- 


15 

Biimmenden in der menschlichen natnr. Dagegen, wo die beziehung 
eine indirecte ist, wird vorausgesetzt, dass in den verschiedenen seelen 
die gleiche association geknüpft ist, was übereinstimmende erfahmng 
voraussetzt. Man muss es demnach als selbstverständlich voraussetzen, 
dass alle mitteilung unter den menschen mit der ersteren art begonnen 
hat und erst von da zu der letzteren übergegangen ist Zugleich muss 
hervorgehoben werden, dass die mittel der ersten art bestimmt be- 
schränkte sind, während sich in bezug auf die der zweiten ein un- 
begrenzter Spielraum darbietet, weil bei willkürlicher association un- 
endlich viele combinationen möglich sind. 

Fragen wir nun, worauf es denn eigentlich beruht, dass das indi- 
viduum, trotzdem es sich seinen vorstellungskreis selbst schaffen muss, 
doch durch die gesellschaft eine bestimmte richtung seiner geistigen 
entwickelung erhält und eine weit höhere ausbildung, als es im sonder- 
leben zu erwerben vermöchte, so müssen wir als den wesentlichen 
punkt bezeichnen die Verwandlung indirecter associationen in 
directe. Diese Verwandlung vollzieht sich innerhalb der einzelseele, 
das gewonnene resultat aber wird auf andere seelen übertragen, natür- 
lich durch physische vermittelung in der geschilderten weise. Der 
gewinn besteht also darin, dass in diesen anderen seelen die vor- 
stellungsmassen nicht wider den gleichen umweg zu machen brauchen 
um an einander zu kommen wie in der ersten seele. Ein gewinn ist 
also das namentlich dann, wenn die vermittelnden Verbindungen im 
vergleich zu der schliesslich resultierenden Verbindung von unter- 
geordnetem werte sind. Durch solche erspamiss an arbeit und zeit, 
zu welcher ein Individuum dem andern verholfen hat, ist dieses widerum 
im Stande, das ersparte zur herstellung einer weiteren Verbindung zu 
verwenden, zu der das erste Individuum die zeit nicht mehr übrig hatte. 

Mit der Überlieferung einer aus einer indireeten in eine directe 
verwandelten Verbindung ist nicht auch die ideenbewegung überliefert, 
welche zuerst zur entstehung dieser Verbindung geführt hat. Wenn 
z. b. jemandem der Pythagoräische lehrsatz überlirfert wird, so weiss 
er dadurch nicht, auf welche weise derselbe zuerst gefunden ist Er 
kann dann einfach bei der ihm gegebenen directen Verbindung stehen 
bleiben, er kann auch durch eigene schöpferische combination den 
Satz mit andern ihm schon bekannten mathematischen Sätzen vermitteln, 
wobei er allerdings ein sehr viel leichteres spiel hat als der erste 
finder. Sind aber, wie es hier der fall ist, verschiedene vermittelungen 
möglieh, so braucht er nicht gerade auf die selbe zu verfallen wie 
der erste finder. 

Es erhellt also, dass bei diesem wichtigen proeess, indem der 
anfangs- und endpunkt einer vorstellungsreihe in directer Verknüpfung 


16 

überliefert werden, die mittelglieder, welche ursprünglich diese ver- 
knüpf ung herstellen halfen, zu einem grossen teile für die folgende 
generation verloren gehen müssen. Das ist in vielen fällen eine heil- 
same entlastung von unnützem bailast, wodurch der für eine höhere 
entwickelnng notwendige räum geschaffen wird. Aber die erkenntniss 
der genesis wird dadurch natürlich ausserordentlich erschwert. 

Nach diesen für alle culturentwickelung geltenden bemerkungen, 
deren specielle anwendung auf die Sprachgeschichte uns weiter unten 
zu beschäftigen hat, wollen wir jetzt versuchen, die wichtigsten eigen- 
tümlichkeiten hervorzuheben, wodurch sich die Sprachwissenschaft 
von andern culturwissenschaften unterscheidet Indem wir die factoren 
ins äuge fassen, mit denen sie zu rechnen hat, wird es uns schon 
hier gelingen unsere behauptung zu rechtfertigen, dass die Sprach- 
wissenschaft unter allen historischen Wissenschaften die sichersten und 
exactesten resultate zu liefern im stände ist. 

Jede^ erfahrungsmssenschaft erhebt sich zu um so grösserer 
exactheit, je mehr es ihr gelingt in den erscheinungen, mit denen 
sie zu schaffen hat, die Wirksamkeit der einzelnen factoren 
isoliert zu betrachten. Hierin liegt ja eigentlich der specifische 
unterschied der wissenschaftlichen betrachtungsweise von der popu- 
lären. Die Isolierung gelingt natürlich um so schwerer, je verschlungener 
die complieationen, in denen die erscheinungen an sich gegeben sind. 
Nach dieser seite hin sind wir bei der spräche besonders günstig 
gestellt. Das gilt allerdings nicht, wenn man den ganzen materiellen 
Inhalt ins äuge fasst, der in ihr niedergelegt ist. Da findet man 
allerdings, dass alles, was irgendwie die menschliche seele berührt 
hat, die leibliche Organisation, die umgebende natur, die gesammte 
cultur, alle erfahrungen und erlebnisse Wirkungen in der spräche 
hinterlassen haben, dass sie daher von diesem gesichtspunkte aus 
betrachtet, von den allermannigfachsten, von allen irgend denkbaren 
factoren abhängig ist. Aber diesen materiellen Inhalt zu betrachten 
ist nicht die eigentümliche aufgäbe der Sprachwissenschaft. Dazu kann 
sie nur in Verbindung mit allen übrigen culturwissenschaften beitragen. 
Sie hat für sich nur die Verhältnisse zu betrachten, in welche dieser 
Vorstellungsinhalt zu bestimmten lautgruppen tritt. So kommen von 
den oben s. 8 angegebenen vier kategorieen der gesellschaftlichen 
einwirkung für die spräche nur die ersten beiden in betracht. Man 
braucht auch vornehmlich nur zwei gesetzeswissenschaften als unter- 
läge der Sprachwissenschaft, die psychologie und die physiologie, und 
zwar von der letzteren nur gewisse teile. Was man gewöhnlich unter 
lautphysiologie oder phonetik versteht, begreift allerdings nicht alle 
physiologischen Vorgänge in sich, die zur Sprechtätigkeit gehören, 


17 

nämlich nicht die erregung der motorischen nerven, wodurch die 
Sprachorgane in bewegung gesetzt werden. Es würde ferner auch die 
akustik, sowol als teil der physik wie als teil der physiologie in 
betracht kommen. Die akustischen Vorgänge aber sind nicht unmittelbar 
von den psychischen beeinflusst, sondern nur mittelbar, durch die laut- 
physiologischen. Durch diese sind sie derartig bestimmt, dass nach 
dem einmal gegebenen anstosse ihr verlauf im allgemeinen keine ab- 
lenkungen mehr erföhrt, wenigstens keine solche, die ftlr das wesen 
der spräche von belang sind. Unter diesen umständen ist ein tieferes 
eindringen in diese Vorgänge ftlr das verständniss der sprachentwickelung 
jedenfalls nicht in dem masse erforderlich wie die erkenntniss der bewegung 
der Sprechorgane. Damit soll nicht behauptet werden, dass nicht vielleicht 
auch einmal aus der akustik manche aufschlttsse zu holen sein werden. 

Die verhältnissmässige einfachheit der sprachlichen Vorgänge tritt 
deutlich hervor, wenn wir etwa die wirtschaftlichen damit vergleichen. 
Hier handelt es sich um eine Wechselwirkung sämmtlicher physischen 
und psychischen factoren, zu denen der mensch in irgend eine be- 
ziehung tritt. Auch den ernstesten bemtthungen wird es niemals 
gelingen die rolle, welche jeder einzelne unter diesen factoren dabei 
spielt, vollständig klar zu legen. 

Ein weiterer punkt von belang ist folgender. Jede sprachliche 
Schöpfung ist stets nur das werk ^ines individunms. Es können 
mehrere das gleiche schaffen. Aber der akt des Schaffens ist darum 
kein anderer und das product kein anderes. Niemals schaffen mehrere 
Individuen etwas zusammen, mit vereinigten kräften, mit verteilten 
rollen. Ganz anders ist das wider auf wirtschaftlichem oder politischem 
gebiete. Wie es innerhalb der wirtschaftlichen und politischen ent- 
wickelung selbst immer schwieriger wird die Verhältnisse zu durch- 
schauen, je mehr Vereinigung der kräfte, je mehr Verteilung der rollen 
sich herausbildet, so sind auch die einfachsten Verhältnisse auf diesen 
gebieten schon weniger durchsichtig als die sprachlichen. Allerdings 
insofern, als eine sprachliche Schöpfung auf ein anderes individnum 
übertragen und von diesem umgeschaffen wird, als dieser process sich 
immer von neuem widerholt, findet allerdings auch hier eine arbeits- 
teilung und arbeitsvereinigung statt, ohne die ja, wie wir gesehen 
haben, überhaupt keine cultur zu denken ist. Und wo in unserer 
Überlieferung eine anzahl von Zwischenstufen fehlen, da ist auch der 
Sprachforscher in der läge verwickelte complieationen auflösen zu 
müssen, die nicht sowol durch das zusammenwirken als durch das 
nacheinanderwirken verschiedener Individuen entstanden sind. 

Es ist ferner auch nach dieser seite hin von grosser Wichtigkeit, 
dass die sprachlichen gebilde ohne absieht geschaffen werden, min- 

Paul, Principien. II. Auflage. 2 


18 

destens ohne die absieht etwas bleibendes festzusetzen, und ohne dass 
sich das individuum seiner schöpferischen tätigkeit bewusst wird. In 
dieser hinsieht unterscheidet sich die sprachbildnng namentlich von 
aller künstlerischen production. Die unabsichtlichkeit, wie wir sie hier 
als characteristicum hinstellen, ist freilich nicht so allgemein anerkannt 
und ist noch im einzelnen zu erweisen. Man muss aber dabei unter- 
scheiden zwischen der natürlichen entwickelung der spräche und der 
künstlichen, die durch ein bewusstes regelndes eingreifen zu stände 
kommt. Solche absichtlichen bemühungen beziehen sich fast aus- 
schliesslich auf die herstellung einer gemeinsprache in einem dialectisch 
gespaltenen gebiete. Wir müssen im folgenden zunächst gänzlich von 
denselben abstrahieren, um das reine walten der natürlichen entwicke- 
lung kennen zu lernen, und erst dann ihre Wirksamkeit in einem be- 
sondern abschnitte behandeln. Zu diesem verfahren sind wir nicht 
nur berechtigt, sondern auch verpflichtet Wir würden sonst ebenso 
handeln wie der zoologe oder der botaniker, der um die entstehung 
der heutigen tier- und pflanzen weit zu erklären, überall mit der an- 
nähme künstlicher Züchtung und Veredlung operierte. Der vergleich 
ist in der tat in hohem grade zutreffend. Wie der Viehzüchter oder 
der gärtner niemals etwas rein willkürlich aus nichts erschaffen können, 
sondern mit allen ihren versuchen auf eine nur innerhalb bestimmter 
schranken mögliche Umbildung des natürlich erwachsenen angewiesen 
sind, so entsteht auch eine künstliche spräche nur auf grundlage einer 
natürlichen. So wenig durch irgend welche Veredlung die Wirksam- 
keit derjenigen factoren aufgehoben werden kann, welche die natür- 
liche entwickelung bestimmen, so wenig kann das auf sprachlichem 
gebiete durch absichtliche regelung geschehen. Sie wirken trotz alles 
eingreifens ungestört weiter fort, und alles, was, auf künstlichem wege 
gebildet, in die spräche aufgenommen ist, verfUUt dem spiel ihi*er kräfte. 
Es wäre nun zu zeigen, inwiefern die absichtslosigkeit der sprach- 
lichen Vorgänge es erleichtert, ihr wesen zu durchschauen. Zunächst 
folgt daraus wider, dass dieselben verhältnissmässig einfach sein müssen. 
Bei jeder Veränderung kann nur ein kurzer schritt getan werden. Wie 
wäre das anders möglich, wenn sie ohne berechnung erfolgt und, wie 
es meistens der fall ist, ohne dass der sprechende eine ahnung davon 
hat, dass er etwas nicht schon vorher dagewesenes hervorbringt? 
Freilich kommt es dann aber auch darauf an die indicien, durch 
welche sich diese Vorgänge doeumentier^, möglichst schritt für schritt 
zu verfolgen. Aus der einfachheit der sprachlichen Vorgänge folgt nun 
aber auch, dass gich dabei die individuelle eigentümlichkeit nicht 
stark geltend machen kann. Die einfachsten psychischen processe 
sind ja bei allen Individuen die gleichen, ihre besonderheiten beruhen 


nur auf verschiedenartiger eombination dieser ei 
grosse gleichttiässigkeit aller sprachlich 
verschiedensten individuen ist die wes 
eine exact wissenschaftliche erkenntnis; 

So fällt denn auch die erlernung der spr» 
Wickelungsperiode, in welcher überhaupt bei . 
cessen.noch wenig absichtlichkeit und bewusst 
vidualität vorhanden ist Und ebenso verhält' 
Periode in der entwickelung des nienscheng^ 
spräche zuerst geschaffen hat. 

Wäre die spräche nicht so sehr auf grunc ^ 

in der menschlichen natur aufgebaut, so wäre ^^ /O^ t^v 
eignete Werkzeug für den allgemeinen verkehr, ^^^^^^^^^^^l^h u. < 
als solches dient, hat zur notwendigen conseque/len g eschichtsforscher , 
individuelle, was sich ihr doch etwa aufzudrär^des genau klar macht, 
stösst, dass sie nichts aufnimmt und bewahrt, sMslh iiält das leicht für 
einstimmung einer anzahl mit einander in verbiijlche. man gar nicht irre 
viduen sanctioniert wird. »pnnkt, in welchem die 

Unser satz, dass die unabsichtlichkeit der ^icn eben erst anfängt 
wissenschafÜiche erkenntniss begünstige, ist leic 

der übrigen culturzweige zu bestätigen. Die ent' älteren bloss des er ip- 
verhältnisse, des rechts, der religion, der poe^t noch sehr vieles, von 
künste zeigt um so mehr gleichfl^rmigkeit, machf ammenfassenden dar:i 
druck der natumotwendigkeit, je primitiver die uxt. Sie Iwtt nur eine ^ /vc\.c 
sich befindet. Während sich auf diesen gebieter ei nand er geftij^ Das 
lichkeit, immer mehr individualismus geltend ^g ist zunächst als das 
spräche nach dieser seite hin viel mehr bei dcphafi; au fgeftfes t. Man 
Stande st<^hen geblieben. Sie erweist sich auch di mit dem gegen seitig en ^^*^ 
aller höheren geistigen entwickelung im einzeligt, deren gemeinsame ' 
ganzen geschlecht. jegensatz zu der histo- ''^' ^ 

tfemng f > [egebenen aus- 
Und noch immer liegt 

Ich halbe es noch kurz zu rechtfertigen, dslanke sehr fern, dass 
cipien der Sprachgeschichte gewählt habe. Es» der gleichen aufgäbe, 
es noch eine andere wissenschaftliche betrachtds zvn&ohff^ ^eu^ ^nreh 
als die geschichtliche.*) Ich muss das in abre^ n täti gkeit' sich ver- 
für eine nichtgeschtliche und doch Wissenschaft der hist<$rischen gram- 
sprache erklärt, ist im gründe nichts als eine unirt des verg leichens an- 
liehe, unvollkommen teils durch schuld des beschiedener p^erioden an 
schnld des beobachtungsmaterials. Sobald manie bedürfniss, welches 
rfahren gefordert hat 

1) Vgl. Misteli a. a. o. s. 382 flf. crn wird. Es ist aber 

auung von der sprach- 


18 

destens ohne die absiclten hinausgeht, sobald man versucht den zu- 
sich das individuum sCen, die erseheinungen zu begreifen, so betritt 
dieser hinsieht unterscljtUchen boden, wenn auch^elleicht ohne sich 
aller künstlerischen proAUerdings ist eine wissenschaftliche behandlung 
als charactensticum hin^ möglich, wo uns verschiedene entwickelungs- 
und ist noch im einzelg^^»}}^ vorliegen, sondern auch bei einem neben- 
scheiden zwischen der geböte stehenden materials. Am günstigsten 
künstlichen , die durch .jjjj ung mehrere verwandte sprachen oder mund- 
kommt. Solche absic^nn jgt es aufgäbe der Wissenschaft, nicht bloss 
schliesslich auf die hery^jj Jq (je^ verschiedenen sprachen oder mund- 
gespaltenen gebiete. V^^eiit, sondern aus dem überlieferten die nicht 
denselben abstrahieren,^en und grundbedeutungen nach möglichkeit zu 
lung kennen zu lernen, ^ber verwandelt sich augenscheinlich die ver- 
iaondern abschnitte bei i^ eine geschichtiche. Aber auch, wo uns nur 
nur berechtigt, sonder. j;^elungsstufe einer einzelnen mundart vorliegt, 
handeln wie der zool^ehe betrachtung bis zu einem gewissen grade 
der heutigen tier- un<? Vergleicht man z. b. die verschiedenen be- 
nahme künstlicher züj^g unter einander, so sucht man festzusetzen, 
ist in der tat in holr^^bedeutung ist, oder auf welche untergegangene 
der gärtner niemals etjj,j^eisen. Bestimmt man aber eine grundbe- 
sondem mit allen ihr^e abgeleitet sind, so constatiert man ein histo- 
sehranken mögliche ui m^u vergleicht die verwandten formen unter 
sind, so entsteht auch {e aus einer gemeinsamen grundform ab. Dann 
natürlichen. So weni-um ein historisches factum. Ja man darf über- 
keit derjenigen factor<eiiaupten, dass verwandte formen aus einer ge- 
liche entwickelung bCj^jjgeieitet sind, wenn man nicht historisch wer- 
gebiete durch absichtL'j constatiert zwischen verwandten formen und 
eingreifens ungestört \^qI ^yi j^an sich denselben erklären, so wird 
gebildet, in die sprachejf geführt, dass derselbe die nachwirkung eines 
Es wäre nun zugg historischen processes ist. Versucht man die 
liehen Vorgänge es erVaehform im sinne Humboldts und Steinthals zu 
folgt daraus wider, dasiann man das nur, indem man auf den Ursprung 
Bei jeder Veränderung ^nd ihre grundbedeutung zurückgebt. Und so 
wäre das anders mögl ^i^ht, wie man mit erfolg über eine spräche 
es meistens der fall i^jj^^ ^^gg m^n etwas darüber ermittelt, wie sie 
hat, dass er etwas jj jg^ p^s einzige, was nun etwa noch von nicht- 
Freilich kommt es d^^u^g übrig bUebe, wären allgemeine reflexionen 
weicne sicn diese vor| ^n^endung der spräche, über das verhalten des 
zu verfolgen. Aus dei^ij^^jj gprachusus. Dass aber gerade diese re- 
aber auch, dass aict ^j^ ^er betrachtung der geschichtlichen ent- 
stark geltend macheign sind, wird sich im folgenden zeigen, 
sind ja bei allen indi 


AU&remeii 


;'/ i-^'" 


Cap. I. . 0, ^ 

über das wesen der s prach entwickelnng. . . 

Es ist von, fiindamentaler b edeutun gflir den g esehiehtsforscher , 
dass er sic^ nimang und natur^des gegenständes genau klar macht 
dessen entwiefcelung er zu untersuchen hat Man tält das leicht fllr 
eine selbstverständliche Sache, in bezug auf welche, man gar nicht irre 
gehen könne. Und doch liegt gerade hier der punkt, in welchem die 
Sprachwissenschaft die versäumniss von decennien eben erst anfängt 
nachzuholen. 

Die historische grammatik ist aus der älteren bloss des er ip- 
tiven grammatik hervorgegangen*. . und sie hat noch sehr vieles, von 
derselben beibenalten. Wenigstens in der , zusammenfassenden dar- 
steljung hat sie durchj jija die alte form b^ ahrt. Sie Wt nur eine ^ /vc^vc 
reihe von descriptiven grammatiken parallel an einander geffl^ Das 
ve rgleic hen, nicht die d arlegung der entwickelung ist zunächst als das 
eigeptYJSfie ^harakteristiqum der neuen Wissenschaft auf geftfes t Man 
' at. diel v^^lei^J ende grammatik, die sich mit dem gege nseitig en ^^^^^ 
ämältoiss verwanJ^^p Sp rachfamilie n beschäftigt, deren gemeinsame 


p i ' }, 


,**'>• 


hat 

ver ^ ^ __^ 

quelle für uns verlofen gegangen ist sogar in gegensatz zu der histo- *'^' ^'' 
rischen geggfet die von einem durch die li bgrliefftrung gegebenen aus- 
gangspunkte die weiterentwickelung verfolgt Und noch immer liegt 
vielen sprachforschem und philologen der gedanke sehr^fern, dass 
beides nur einunddieselbe wisje^fißliaft ist, mit der gleichen aufgäbe, 
der gleichen 
überlfeierung j 

schieden gestaltet Aber auch auf dem gebiete der historischen gram- 
matik im engeren sinne hat man die selbe art des verg leiehens an- 
gewapdt: man hat descriptive grammatiken verschiedener jgeriqden an 
einander gerecht. Zum. teil ^st es das praktische bedtiffniss, welches 
für sys^Safech e dar Stellu ng ein solches verfahren gefordert ha t 
und bis zu einem gewissen grade immer fordern wird. Es ist aber 
nicht zu l äugne n, dass auch die ganze anschauung von der sprach- 



22 

entwickelnng unter dem banne dieser darstellongsweise gestanden hat 
und zum teil noch steht. "'^^ 

Die descriptive grammatik verzeichnet, was von grammatischen 
formen und Ver hältnis sen innerhalb einer Sprachgen o ssenschaft z u einer 
gewissen zeit üClich ist, was von einem jeden gebraucht werden kann, 
ohne vom andern missverstanden zu werden/ und ohne ihn fremdartig 
zu berühren. Ihr i nhalt sind nicht taisachen, sondern nur eine ab- 
straction aus den beobachteten tatsachen. Macht man solche abstrac- 
tionen innerhalb der selben Sprachgenossenschaft zu verschiedenen 
Zeiten, so werden sie verschieden ausfallen. Man erhält durch ver- 
gleichung die gewissheit, dass sich Umwälzungen vollzogen haben, man 
entdeckt wol auch eine gewisse regelmässigkeit in dem gegenseitigen 
verhältniss, aber über das eigentliche wesen der vollzogenen Umwälzung 
wird man auf diese weise nicht aufgeklärt. Der causalzusammenhang 
bleibt verschlossen, so lange man nur mit diesen abstractionen rechnet, 
als wäre die eine wirklich aus der andern entstanden. Denn zwi- 
schen abstractionen gibt es überhaupt keinen causalnexus, 
sondern nur zwischen realen objecten und tatsachen. So 
lange man sich mit der descriptiven grammatik bei den ersteren be- 
ruhigt, ist man noch sehr weit entfernt von einer wissenschaftlichen 
erfassung des Sprachlebens. 

Das wahre object für den Sprachforscher sind vielmehr 
sämmtliche äusserungen der Sprechtätigkeit an sämmtlichen 
individuen in ihrer Wechselwirkung auf einander. Alle laut- 
complexe, die irgend ein einzelner je gesprochen, gehört oder vor- 
gestellt hat mit den damit associierten Vorstellungen, deren Symbole 
sie gewesen sind, alle die mannigfachen beziehungen, welche die sprach- 
elemente in den seelen der einzelnen eingegangen sind, fallen in die 
Sprachgeschichte, müssten eigentlich alle bekannt sein, um ein voll- 
ständiges verständniss der entwickelnng zu ermöglichen. Man halte 
mir nicht entgegen, dass es unnütz sei eine aufgäbe hinzustellen, deren 
unlösbarkeit auf der band liegt. Es ist schon deshalb von wert sich 
das idealbild einer Wissenschaft in seiner ganzen reinheit zu vergegen- 
wärtigen, weil wir uns dadurch des abstandes bewusst werden, in 
welchem unser können dazu steht, weil wir daraus lernen, dass unfl 
warum wir uns in so vielen fragen bescheiden müssen, weil da- 
durch die superklugkeit gedemtitigt wird, die mit einigen geistreichen 
gesichtspunkten die compliciertesten historischen entwickelungen be- 
griffen zu haben meint. Eine unvermeidliche notwendigkeit aber ist 
es für uns, uns eine allgemeine Vorstellung von dem spiel der kräfte 
in diesem ganzen massenhaften getriebe zu machen^ die wir beständig 
vor äugen haben müssen, wenn wir die wenigen dürftigen fragmente, 


23 

die uns daraus wirklich gegeben sind, richtig einzuordnen versuchen 
wollen. 

Nur ein teil dieser wirkenden kräfte tritt in die erscheinung. 
Nicht bloss das sprechen und hören sind sprachgeschichtliche Vor- 
gänge, auch nicht bloss weiterhin die dabei erregten Vorstellungen und 
die beim leisen denken durch das bewusstsein ziehenden Sprachgebilde. 
Vielleicht der bedeutendste fortschritt, den die neuere psychologie ge- 
macht hat, besteht in der erkenntniss, dass eine grosse menge 
von psychischen Vorgängen sich unbewusst vollziehen, und 
dass alles, was je im bewusstsein gewesen ist, als ein wirk- 
sames moment im unbewussten bleibt. Diese erkenntniss ist auch 
für die Sprachwissenschaft von der grössten tragweite und ist von 
Steinthal in ausgedehntem masse für dieselbe verwertet worden. Alle 
äusserungen der Sprechtätigkeit fliessen aus diesem dunkeln räume 
des unbewussten in der seele. In ihm liegt alles, was der einzelne 
von sprachlichen mittein zur vei*fdgung hat, und wir dürfen sagen 
sogar etwas mehr, als worüber er unter gewöhnlichen umständen ver- 
fügen kann, als ein höchst compliciertes psychisches gebilde, welches 
aus mannigfach unter einander verschlungenen vorstellungsgruppen be- 
steht. Wir haben hier nicht die allgemeinen gesetze zu betrachten, 
nach welchen diese gruppen sich bilden. Ich verweise dafür auf 
Steinthals Einleitung in die psychologie und Sprachwissenschaft. Es 
kommt hier nur darauf an uns ihren Inhalt und ihre Wirksamkeit zu 
veranschaulichen. 

Sie sind ein product aus alledem, was früher einmal durch hören 
anderer, durch eigenes sprechen und durch denken in den formen der 
spräche in das bewusstsein getreten ist. Durch sie ist die möglichkeit 
gegeben, dass das, was früher einmal im bewusstsein war, unter gün- 
stigen bedingungen wider in dasselbe zurücktreten kann, also auch, 
dass das, was früher einmal verstanden oder gesprochen ist, wider 
verstanden oder gesprochen werden kann. Man muss nach dem schon 
erwähnten allgemeinen gesetze daran festhalten, dass schlechthin 
keine durch die Sprechtätigkeit in das bewusstsein eingeführte Vor- 
stellung spurlos verloren geht, mag die spur auch häufig so schwach 
sein, dass ganz besondere umstände, wie sie vielleicht nie eintreten, 
erforderlich sind, um ihr die fähigkeit zu geben wider bewusst zu wer- 
den. Die Vorstellungen werden gruppenweise ins bewusstsein einge- 
führt und bleiben daher als gruppen im unbewussten. Es associieren 
sich die Vorstellungen auf einander folgender klänge, nach einander 
ausgeführter bewegungen der Sprechorgane zu einer reihe. Die klang- 
reihen und die b^egungsreihen associieren sich unter einander. Mit 
beiden associieren sieh- die Vorstellungen, für die sie als Symbole 


24 

dienen, nicht bloss die Vorstellungen von Wortbedeutungen, sondern 
auch die Vorstellungen von syntaktischen Verhältnissen. Und nicht 
bloss die einzelnen Wörter, sondern grössere lautreihen, ganze sätze 
assocciieren sich unmittelbar mit dem gedankeninhalt, der in sie ge- 
legt worden ist. Diese wenigstens ursprünglich durch die aussenwelt 
gegebenen gruppen organisieren sich nun in der seele jedes Indivi- 
duums zu weit reicheren und verwiekelteren Verbindungen, die sich 
nur zum kleinsten teile bewusst vollziehen und dann auch unbewusst 
weiter wirken, zum bei weitem grösseren teile niemals wenigstens zu 
klarem bewusstsein gelangen und nichtsdestoweniger wirksam sind. So 
associieren sich die verschiedenen gebrauchs weisen, in denen man ein 
wort, eine redensart kennen gelernt hat, unter einander. So asso- 
ciieren sich die verschiedenen casus des gleichen nomens, die ver- 
schiedenen tempora, modi, personen des gleichen verbums, die ver- 
schiedenen ableitungen aus der gleichen wurzel vermöge der Verwandt- 
schaft des klanges und der bedeutung: femer alle Wörter von gleicher 
function, z. b. alle substantiva, alle adjectiva, alle verba; ferner die 
mit gleichen Suffixen gebildeten ableitungen aus verschiedenen wurzeln; 
ferner die ihrer function nach gleichen formen verschiedener Wörter, 
also z. b. alle plurale, alle genitive, alle passiva, alle perfecta, alle 
conjunctive, alle ersten personen; ferner die Wörter von gleicher flexions- 
weise, z. b. im nhd. alle schwachen verba im gegensatz zu den starken, 
alle masculina, die den plural mit umlaut bilden im gegensatz zu den 
nicht umlautenden; auch Wörter von nur partiell gleicher flexionsweise 
können sich im gegensatz zu stärker abweichenden zu gruppen zn- 
sammenschliessen; ferner associieren sich in form oder function gleiche 
satzformen. Und so gibt es noch eine menge arten von' zum teil 
mehrfach vermittelten associationen, die eine grössere oder geringere 
bedeutung für das sprachleben haben. Alle diese associationen können 
ohne bewusstsein zu stände kommen und sich wirksam erweisen, und 
sie sind durchaus nicht mit den kategorieen zu verwechseln, die durch 
die grammatische reflexion abstrahiert werden, wenn sie sich auch ge- 
wöhnlich mit diesen decken. 

Es ist ebenso bedeutsam als selbstverständlich, dass dieser Orga- 
nismus von Vorstellungsgruppen sich bei jedem individuum in stetiger 
Veränderung befindet. Erstlich verliert jedes einzelne moment, welches 
keine kräftigung durch emeuerung des eindruckes oder durch wider- 
einführung in das bevmsstsein empfängt, fort und fort an stärke. 
Zweitens wird durch jede tätigkeit des Sprechens, hörens oder denkens 
etwas neues hinzugefügt. Selbst bei genauer widerholung einer früheren 
tätigkeit erhalten wenigstens bestimmte momente des schon bestehenden 
Organismus eine kräftigung. Und selbst, wenn jemand schon eine 


25 

reiche betätigung hinter sich hat, so ist doch immer noch gelegenheit 
genug zu etwas neuem geboten, ganz abgesehen davon, dass etwas 
bisher in der spräche nicht übliches eintritt, mindestens zu neuen 
Variationen der alten demente. Drittens werden sowol durch die ab- 
schwäehung als durch die Verstärkung der alten demente als endlich 
durch den hinzutritt neuer die associationsverhältnisse innerhalb des 
Organismus allemal verschoben. Wenn daher auch der Organismus 
bei dem erwachsenen im gegensatz zu dem entwickdungsstadium der 
frühesten kindheit eine gewisse Stabilität hat, so bleibt er doch immer 
noch mannigfaltigen Schwankungen ausgesetzt. 

Ein anderer gleich selbstverständlicher, aber auch gleich wichtiger 
punkt, auf den ich hier hinweisen muss, ist folgender : der Organismus 
der auf die spräche bezüglichen vorstdlungsgruppen entwickelt sich 
bei jedem Individuum auf eigentümliche weise, gewinnt daher auch 
bei jedem eine eigentümliche gestalt. Selbst wenn er sich bei ver- 
schiedenen ganz aus den gleichen dementen zusammensetzen sollte, 
SO werden doch diese demente in verschiedener reihenfolge in ver- 
schiedener gruppierung, mit verschiedener intensität, dort zu häufigeren, 
dort zu selteneren malen in die sede eingeflihii; sein, und wird sich 
danach ihr gegenseitiges machtverhältniss und damit ihre gruppierungs- 
weise verschieden gestalten, selbst wenn wir die Verschiedenheit in 
den allgemeinen und besondern fähigkeiten der einzelnen gar nicht 
berücksichtigen. 

Schon bloss aus der beachtung der unendlichen Veränderlichkeit 

und der eigentümlichen gestaltung eines jeden einzelnen Organismus 

ergibt sich die notweudigkeit einer unendlichen Veränderlichkeit der 

'spräche im ganzen und eines ebenso unendlichen Wachstums der dia- 

lectischen Verschiedenheiten. 

Die geschilderten psychischen Organismen sind die 
eigentlichen träger der historischen entwickelung. Das 
wirklieh gesprochene hat gar keine entwickelung. Es ist eine 
irreführende ausdrucksweise, wenn man sagt, dass ein wort aus einem 
in einer früheren zeit gesprochenen worte entstanden sei. Als physio- 
logisch-physikalisches product geht das wort spurlos unter, nachdem 
die dabei in bewegung gesetzten körper wider zur ruhe gekommen 
sind. Und ebenso vergeht der physische eindruck auf den hörenden. 
Wenn ich die selben bewegungen der spreehorgane, die ich das erste 
mal gemacht habe, ein zweites, drittes, viertes mal widerhole, so be- 
steht zwischen diesen vier gleichen bewegungen keinerlei physischer 
causalnexns, sondern sie sind unter einander nur durch den psychischen 
Organismus vermittelt. Nur in diesem bleibt die spur alles geschehenen, 


26 

wodurch weiteres geschehen veranlasst werden kann, nur in diesem 
sind die bedingungen geschichtlicher entwickelung gegeben. 

Das physische dement der spräche hat lediglich die funktion 
die einwirkung der einzelnen psychischen Organismen auf einander zu 
vermitteln, ist aber für diesen zweck unentbehrlich, weil es, wie schon 
in der einleitung nachdrücklich hervorgehoben ist, keine directe ein- 
wirkung einer seele auf die andere gibt. Wiewohl an sich nur rasch 
vorüberrauschende erscheinung, verhilfi; es doch durch sein zusammen- 
wirken mit den psychischen Organismen diesen zu der möglichkeit 
auch nach ihrem untergange Wirkungen zu hinterlassen. Da ihre 
Wirkung mit dem tode des individuums aufhört, so würde die ent- 
wickelung einer spräche auf die dauer einer generation beschränkt 
sein, wenn nicht nach und nach immer neue Individuen dazu träten, 
in denen sich unter der einwirkung der schon bestehenden neue sprach- 
organismen erzeugten. Dass die träger der historischen entwickelung 
einer spräche stets nach ablauf eines verhältnissmässig: kurzen Zeit- 
raumes sämmtlich untergegangen und durch neue ersetzt sind, ist vnder 
eine höchst einfache, aber darum nicht minder beherzigenswerte und 
nicht minder häufig übersehene Wahrheit. 

Sehen wir nun, wie sich bei dieser natur des objects die auf- 
gäbe des geschichtschreibers stellt. Der beschreibung von 
zuständen wird er nicht entraten können, da er es mit grossen 
complexen von gleichzeitig neben einander liegenden dementen zu 
tun hat. Soll aber diese beschreibung eine wirklich brauchbare unter- 
lagt für die historische betrachtung werden, so muss sie sich an die 
realen objecto halten, d. h. an die eben geschilderten psychischen 
Organismen. Sie muss ein möglichst getreues bild derselben liefeni, 
sie muss nicht bloss die demente, aus denen sie bestehen, vollständig 
aufzählen, sondern ^auch das verhältniss derselben zu einander ver- 
anschaulichen, ihre relative stärke, die mannigfachen Verbindungen, 
die sie unter einander eingegangen sind, den grad der enge und 
festigkeit dieser Verbindungen; sie muss, wollen wir es populärer aus- 
drücken, uns zeigen, wie sich das sprachgeflihl verhält. Um den 
zustand einer spräche vollkommen zu beschreiben, wäre es eigentlich 
erforderlich , an jedem einzelnen der sprachgenossenschaffc angehörigen 
individuum das verhalten der auf die spräche bezüglichen vorstellungs- 
massen vollständig zu beobachten und die an den einzelnen gewonnenen 
resultate unter einander zu vergleichen. In Wirklichkeit müssen wir 
uns mit etwas viel unvollkommenerem begnügen, was mehr oder 
weniger, immer aber sehr beträchtlich hinter dem ideal zurückbleibt. 

Wir sind häufig auf die beobachtung einiger wenigen individuen, 
ja eines einzelnen beschränkt und vermögen auch den Sprachorganismus 


27 

dieser wenigen oder dieses einzelnen nur partiell zu erkennen. Aus 
der vergleichung der einzelnen Sprachorganismen lässt sieh ein gewisser 
durchschnitt gewinnen , wonach das eigentlich normale in der spräche, 
der sprachusus bestimmt wird. Dieser durchschnitt kann natürlich 
um so sicherer festgestellt werden, je mehr individuen und je voll- 
ständiger jedes einzelne beobachtet werden kann. Je unvollständiger 
die beobachtung ist, um so mehr zweifei bleiben zurück, was indi- 
viduelle eigenttimlichkeit und was allen oder den meisten gemein ist. 
Immer beherrscht der usus, auf dessen darstellung die bestrebungen 
des grammatikers fast allein gerichtet zu sein pflegen, die spräche 
der einzelnen nur bis zu einem gewissen grade, daneben steht immer 
vieles, was nicht durch den usus bestimmt ist, ja ihm direct wider- 
spricht. 

Der beobachtung eines Sprachorganismus stellen sich auch im 
günstigsten falle die grössten Schwierigkeiten in den weg. Direct ist 
er überhaupt nicht zu beobachten. Denn er ist ja etwas unbewusst 
in der seele ruhendes. Er ist immer nur zu erkennen an seinen Wir- 
kungen, den einzelnen acten der Sprechtätigkeit. Erst mit hülfe von 
vielen Schlüssen kann aus diesem ein bild von den im unbewussten 
lagernden vorstellungsmassen gewonnen werden. 

Von den physischen erscheinungen der Sprechtätigkeit sind die 
akustischen der beobachtung am leichtesten zugänglich. Freilich aber 
sind die resultate unserer gehörswahrnehmung grösstenteils schwer genau 
zu messen und zu definieren, und noch schwerer lässt sich von ihnen 
eine Vorstellung geben ausser wider durch directe mitteilung fttr das 
gehör. Weniger unmittelbar der beobachtung zugänglich, aber einer 
genaueren bestimmung und beschreibung fähig sind die bewegungen 
der Sprechorgane. Dass es keine andere exacte darstellung der laute 
einer spräche gibt, als diejenige, die uns lehrt, welche Organbewegungen 
erforderlich sind um sie hervorzubringen, das bedarf heutzutage keines 
beweises mehr. Das ideal einer solchen darstellungsweise ist nur da 
annähernd zu erreichen, wo wir in der läge sind, beobachtungen an 
lebendigen individuen zu machen. Wo wir nicht so glücklich sind, 
muss uns dies ideal wenigstens immer vor äugen schweben, müssen 
wir uns bestreben, ihm so nahe als möglich zu kommen, aus dem 
Surrogate der buchstabenschrift die lebendige erscheinung, so gut es 
gehen will, herzustellen. Dies bestreben kann aber nur demjenigen 
glücken, der einigermassen lautphysiologisch geschult ist, der bereits 
beobachtungen an lebenden sprachen gemacht hat, die er auf die 
toten überti'agen kann, der sich ausserdem eine richtige Vorstellung 
über das verhältniss V09 spräche und schrift gebildet hat Es eröflfnet 
sich also schon hier ein Weites feld fttr die combination, schon hier 


28 

zeigt sich Vertrautheit mit den lebensbedingungen des objeets als not- 
wendiges erfordemiss. 

Die psychische seite der Sprechtätigkeit ist wie alles psychische 
überhaupt unmittelbar nur durch Selbstbeobachtung zu erkennen. x\lle 
beobachtung an anderen individuen gibt uns zunächst nur physische 
tatsachen. Diese auf psychische zurückzuführen gelingt nur mit hülfe 
von analogieschlüssen auf grundlage dessen, wass wir an der eigenen 
seele beobachtet haben. Immer von neuem angestellte exacte Selbst- 
beobachtung, sorgfältige analyse des eigenen Sprachgefühls ist daher 
unentbehrlich für die Schulung des Sprachforschers. Die analogie- 
schlüsse sind dann natürlich am leichtesten bei solchen objecten, die 
dem eigenen ich am ähnlichsten sind. An der muttersprache lässt 
sich daher das wesen der Sprechtätigkeit leichter erfassen als an irgend 
einer anderen. Ferner ist man natürlich wider viel besser daran, 
wo man beobachtungen am lebenden individuum anstellen kann, als 
wo man auf die zufälligen reste der Vergangenheit angewiesen ist. 
Denn nur am lebenden individuum kann man resultate gewinnen, die 
von jedem verdachte der fälschung frei sind, nur hier kann man 
seine beobachtungen beliebig vervollständigen und methodische ex- 
perimente machen. 

Eine solche beschreibung eines sprachzustandes zu liefern, die 
im Stande ist eine durchaus brauchbare unterläge für die geschicht- 
liche forschung zu liefern 9, ist daher keine leichte, unter umständen 
eine höchst schwierige aufgäbe, zu deren lösung bereits klarheit über 
das wesen des sprachlebens gehöii;, und zwar in um so höherem 
grade, je unvollständiger und unzuverlässiger das zu geböte stehende 
material ist, und je verschiedener die darzustellende spräche von der 
muttersprache des darstellers ist. Es ist daher nicht zu verwundern, 
wenn die gewöhnlichen grammatiken weit hinter unsern ansprächen 
zurückbleiben. Unsere herkömmlichen grammatischen kategorieen sind 
ein sehr ungenügendes mittel die gruppierungsweise der Sprachelemente 
zu veranschauliclien. Unser grammatisches System ist lange nicht 
fein genug gegliedert, um der gliedernng der psychologischen gruppen 
adäquat sein zu können. Wir werden noch vielfach veranlassung haben 
die unzuglänglichkeit desselben im einzelnen nachzuweisen. Es ver- 
führt ausserdem dazu das, was aus einer spräche abstrahiert ist, in 
ungehöriger weise auf eine andere zu übertragen. Selbst wenn man 
sich im kreise des indogermanischen hält, erzeugt die anwendung der 

T üebrigens muss das, was wir hier von der wissenschaftlichen grammatik 
verlangen, auch von der praktischen gefordert werden, nur mit den einschrUnkungen, 
welche die fassungskraft der schüler notwendig macht. Denn das ziel der praktischen 
grammatik ist ja doch die cinführung in das fremde Sprachgefühl. 


29 

gleichen grammatisehen Schablone viele Verkehrtheiten. Sehr leicht 
wird das~ bild eines bestimmten sprachzustandes getrübt, wenn dem 
betrachter eine nahe verwandte spräche oder eine ältere oder jüngere 
entwickelnngsstufe bekannt ist. Da ist die grösste Sorgfalt erforderlich, 
dass sich nichts fremdartiges einmische. Nach dieser seite hin hat 
gerade die historische Sprachforschung viel gesündigt, indem sie das, 
was sie aas der erforschung des älteren sprachznstandes abstrahiert 
hat, einfach anf den jüngeren übertragen hat. So ist etwa die bedea- 
tung eines wortes nach seiner etymologie bestimmt, während doch 
jedes bewusstsein von dieser etymologie bereits geschwunden und eine 
selbständige entwickelung der bedeutung eingetreten ist. So sind in 
der flexionslehre die rubriken der ältesten periode durch alle folgende 
Zeiten beibehalten worden, ein verfahren, wobei zwar die nachwirkungen 
der ursprünglichen Verhältnisse zu tage treten, aber nicht die neue 
psychische Organisation der gruppen. 

Ist die beschreibung verschiedener epochen einer spräche nach 
unseren forderungen eingerichtet, so ist damit eine bedingung erfüllt, wo- 
durch es möglich wird sich aus der vergleichung der verschiedenen 
beschreibungen eine Vorstellung von den stattgehabten Vorgängen zu 
bilden. Dies wird natürlich um so besser gelingen, je näher sich die 
mit einander verglichenen zustände stehen. Doch selbst die leichteste 
Veränderung des usus pflegt bereits die folge des Zusammenwirkens 
einer reihe von einzelvorgängen zu sein, die sich zum grossen teile 
oder sämmtlich unserer beobachtung entziehen. 

Suchen wir zunächst ganz im allgemeinen festzustellen: was ist 
die eigentliche Ursache für die Veränderungen des sprachusus? Ver- 
änderungen, welche durch die bewusste absieht einzelner Individuen 
zu Stande kommen sind nicht absolut ausgeschlossen. Grammatiker 
haben an der fixierung der Schriftsprachen gearbeitet. Die terminologie 
der Wissenschaften, künste und gewerbe ist durch lehrmeister, forscher 
und entdecker geregelt und bereichert. In einem despotischen reiche 
mag die laune des monarchen hie und da in einem punkte eingegriffen 
haben. Ueberwiegend aber hat es sich dabei nicht um die Schöpfung 
von etwas ganz neuem gehandelt, sondern nur um die regelung eines 
punktes, in welchem der gebrauch noch schwankte, und die bedeutung 
dieser willkührlichen festsetzungen ist verschwindend gegenüber den 
langsamen, ungewollten und unbewussten Veränderungen, denen der 
sprachusus fortwährend ausgesetzt ist. Die eigentliche Ursache 
für die Veränderung des usus ist nichts anderes als die ge- 
wöhnliche Sprechtätigkeit. Bei dieser ist jede absichtliche ein- 
wirkung auf den usus ausgeschlossen. Es wirkt dabei keine andere 
absiebt als die auf das augenblickliche bedür&iss gerichtete, die ab- 


30 

sieht seine wünsehe und gedanken anderen verständlieh za machen. 
Im übrigen spielt der zweck bei der entwickelung des sprachnsus 
keine andere rolle als diejenige, welche ihm Darwin in der entwicke- 
lung der organischen natur angewiesen hat: die grössere oder geringere 
Zweckmässigkeit der entstandenen gebilde ist bestimmend flir erhaltung 
oder Untergang derselben. 

Wenn durch die Sprechtätigkeit der usus verschoben wird, ohne 
dass dies von irgend jemand gewollt ist, so beruht das natürlich 
darauf, dass der usus die Sprechtätigkeit nicht vollkommen beherrscht, 
sondern immer ein bestimmtes mass individueller freiheit übrig lässt. 
Die betätigung dieser individuellen freiheit wirkt zurück auf den 
psychischen Organismus des sprechenden, wirkt aber zugleich auch 
auf den Organismus der hörenden. Durch die summierung einer reihe 
solcher Verschiebungen in den einzelnen Organismen, wenn sie sich in 
der gleichen richtung bewegen, ergiebt sich dann als gesammtresultat 
eine Verschiebung des usus. Aus dem anfänglich nur individuellen 
bildet sieh ein neuer usus heraus, der eventuell den alten verdrängt. 
Daneben gibt es eine menge gleichartiger Verschiebungen in den 
einzelnen Organismen, die, weil sie sich nicht gegenseitig stützen, keinen 
solchen durchschlagenden erfolg haben. 

Es ergibt sich demnach, dass sich die ganze principienlehre der 
Sprachgeschichte um die frage concentriert: wie verhält sich der 
sprachusus zur individuellen Sprechtätigkeit? wie wird diese 
durch jenen bestimmt und wie wirkt sie umgekehrt auf ihn zurück ?0 

Es handelt sich darum, die verschiedenen Veränderungen des 
usus, wie sie bei der sprachentwickelung vorkommen, unter allgemeine 
kategorieen zu bringen und jede einzelne kategorie nach ihrem werden 
und ihren verschiedenen entwickeluxigsstadien zu untersuchen. Um 
hierbei zum ziele zu gelangen, müssen wir uns an solche fälle halten, 
in denen diese einzelnen entwickelungsstadien möglichst vollständig 
und klar vorliegen. Deshalb liefern uns im allgemeinen die modernen 


^) Hieraus erheUt auch, dass phUologie und Sprachwissenschaft ihr gebiet nicht 
so gegen einander abgrenzen dürfen, dass die eine immer nur die fertigen resultate 
der andern zu benutzen brauchte. Man könnte den unterschied zwischen der 
Sprachwissenschaft und der phUologischen behandlung der spräche nur so bestimmen, 
dass die erstere sich mit den allgemeinen usuell feststehenden Verhältnissen der 
spräche beschäftigt, die letztere mit ihrer individuellen anwendung. Nun kann 
aber die leistung eines Schriftstellers nicht gehörig gewürdigt werden ohne richtige 
Vorstellungen über das verhältniss seiner producte zu der gesammtorganisation 
seiner sprachvorsteUungen und über das verhältniss dieser gesammtorganisation 
zum allgemeinen usus. Umgekehrt kann die Umgestaltung des usus nicht begriffen 
werden ohne ein Studium der individuellen Sprechtätigkeit. Im übrigen verweise 
ich auf Brugmann, Zum heutigen stand der Sprachwissenschaft, s. 1 ff. 


31 

epochen das brauchbarste material. Doch auch die geringste Ver- 
änderung des usus ist bereits ein complicierter process, den wir nicht 
begreifen ohne berücksichtigung der individuellen modificationen des 
usus. Da, wo die gewöhnliehe grammatik zu sondern und grenzlinien 
zu ziehen pflegt, müssen wir uns bemühen alle möglichen Zwischen- 
stufen und vermittelungen aufzufinden. 

Auf allen gebieten des sprachlebens ist eine allmählig abgestufte 
entwickelung möglich. Diese sanfte abstufung zeigt sich einerseits in 
den modificationen, welche die individualsprachen erfahren, anderseits 
in dem verhalten der individualsprachen zu einander. Dies im einzelnen 
zu zeigen ist die aufgäbe meines ganzen werkes. Hier sei zunächst 
nur noch darauf hingewiesen, dass der einzelne zu dem sprachmateriale 
seiner genossenschaft teils ein actives, teils ein nur passives verhältniss 
haben kann, d. h. nicht alles, was er hört und versteht, wendet er 
auch selbst an. Dazu kommt, dass von dem sprachmateriale, welches 
viele individudn übereinstimmend anwenden, doch der eine dieses, der 
andere jenes bevorzugt. Hierauf beruht ganz besonders die abweichung 
auch zwischen den einander am nächsten stehenden individualsprachen 
und die möglichkeit einer allmähligen Verschiebung des usus. 

Die Sprachveränderungen vollziehen sich an dem Individuum teils 
durch seine spontane tätigkeit, durch sprechen und denken in den 
formen der spräche, teils durch die beeinflussung, die es von andern 
Individuen erleidet. Eine Veränderung des usus kann nieht wol zu 
stände kommen, ohne dass beides zusammenwirkt. Der beeinflussung 
durch andere bleibt das individuum immer ausgesetzt, auch wenn es 
schon das sprachübliche vollständig in sich aufgenommen hat. Aber 
die hauptperiode der beeinflussung ist doch die zeit der ersten auf- 
nähme, der Spracherlernung. Diese ist principiell von der sonstigen 
beeinflussung nicht zu sondern, erfolgt auch im allgemeinen auf die 
gleiche weise; es lässt sich auch im leben des einzelnen nieht wol ein 
bestimmter punkt angeben, von dem man sagen könnte, dass jetzt die 
spracherlemung abgeschlossen sei. Aber der graduelle unterschied ist 
doch ein enormer. Es liegt auf der band, dass die Vorgänge bei der 
spracherlemung von der allerhöchsten Wichtigkeit für die erklärung 
der Veränderungen des sprachusus sind, dass sie die wichtigste Ursache 
für diese Veränderungen abgeben. Wenn wir, zwei durch einen längeren 
Zwischenraum von einander getrennte epochen vergleichend, sagen, die 
spräche habe sich in den und den punkten verändert, so geben wir 
ja damit nicht den wirklichen tatbestand an, sondern es verhält sich 
vielmehr so: die spräche hat sich ganz neu erzeugt und diese ueu- 
Schöpfung ist nicht völlig übereinstimmend mit dem früheren, jetzt 
untergegangenen ausgefallen. 


32 

Bei der klassificierung der yerändernngen des sprach- 
usus können wir nach verschiedenen gesiehtspunkten verfahren. Ich 
möchte zunächst einen wichtigen unterschied allgemeinster art her- 
vorheben. Die Vorgänge können entweder positiv oder negativ 
sein, d. h. sie bestehen entweder in der Schöpfung von etwas neuem 
oder in dem Untergang von etwas altem, oder endlich drittens sie be- 
stehen in einer Unterschiebung, d. h. der Untergang des alten und 
das auftreten des neuen erfolgt durch den selben act. Das letztere 
ist ausschliesslich der fall bei dem lautwandel. Scheinbar zeigt sieh 
die Unterschiebung auch auf andern gebieten. Dieser schein wird 
dadurch hervorgerufen, dass man die Zwischenstufen nicht beachtet, 
aus denen sich ergibt, dass in Wahrheit ein nacheinander von positiven 
und negativen vergangen vorliegt. Die negativen Vorgänge beruhen 
immer darauf, dass in der spräche der jüngeren generation etwas 
nicht neu erzeugt wird, was in der spräche der altern vorhanden war; 
wir haben es also, genau genommen, nicht mit negativen Vorgängen, 
sondern mit dem nichteintreten von Vorgängen zu tun. Vorbereitet 
aber muss das nichteintreten dadurch sein, dass das später unter- 
gehende auch, schon bei der älteren generation selten geworden ist. 
Eine generation, die ein bloss passives. verhältniss dazu hat, schiebt 
sich zwischen eine mit noch activem und eine mit gar keinem ver- 
hältniss. 

Anderseits könnte man die Veränderungen des usus danach ein- 
teilen, ob davon die lautliche seite oder die bedeutung betroffen 
wird. Wir erhalten danach zunächst Vorgänge, welche die laute treffen, 
ohne dass die bedeutung dabei in betracht kommt, und solche, welche 
die bedeutung treffen, ohne dass die laute in mitleidenschaft gezogen 
werden, d. h. also die beiden kategorieen des lautwandels und des be- 
deutungswandels. Jeder bedeutungswandel setzt voraus, dass die auf 
die lautgestalt bezügliche vorstellungsgruppe noch als die gleiche 
empfunden wird, und ebenso jeder lautwandel, dass die bedeutung 
unverändert geblieben ist. Das schliesst natürlich nicht aus, dass sich 
mit der zeit sowol der laut als die bedeutung ändern kann. Aber 
beide Vorgänge stehen dann in keinem causalzusammenhange mit ein- 
ander; es ist nicht etwa der eine durch den andern veranlasst oder 
beide durch die gleiche Ursache. Für andere Veränderungen kommen 
von vornherein lautgestalt und bedeutung zugleich in frage. Hierher 
gehört zunächst die uranfängliche zusammenknüpfung von laut und 
bedeutung, die wir als urschöpfung bezeichnen können. Mit dieser 
hat natürlich die sprachentwickelung begonnen, und alle anderen Vor- 
gänge sind erst möglich geworden auf grund dessen, was die urschöpfung 
hervorgebracht hat. Ferner aber gehören hierher verschiedene vor- 


33 

gänge, die das mit einander gemein haben, dasB die schon bestehen- 
den lautlichen elemente der spräche neue cembinationen eingehen auf 
grnnd der ihnen zukommenden bedeutnng. Der wichtigste factor dabei 
ist die analogie, welche allerdings auch auf rein lautlichem gebiete 
eine rolle spielt, aber doch ihre hanptwfrksamkeit da hat, wo zu gleicher 
zeit die bedeutung mitwirkt. 

Wenn unsere betrachtungsweise rielttig dwchgeftihrt wird, so 
müssen die allgemeinen ergebnisse derselben auf alle sprachen und 
auf alle entwickelungsstufen derselben anwradbar sein, auch auf die 
anfange der spräche überhaupt. Die fl'age nach dem Ursprünge 
der spräche kann nur auf grundlage der prineipienlehre beantwortet 
werden. Andere httlfsmittel zur beantworhing gibt es nicht. Wir 
können nicht auf grund der ttberliefemng eine historische Schilderung 
von den anfangen der spräche entwerfen* Die frage, die sich beant- 
worten lässt, ist überhaupt nur: wie war die entstehung der 'spräche 
möglich. Diese frage ist befriedigend geUtot, wenn es uns gelingt die 
entstehung der spräche lediglich aus der Wirksamkeit derjenigen fac- 
toren abzuleiten, die wir auch jetzt fioch bei der weiterentwickelung 
der spräche immerfort wirksam sehen. Uebrigeas lässt sich ein gegen- 
Satz zwischen anfänglicher Schöpfung der spräche und blosser Weiter- 
entwicklung gar nicht durchfuhren. Sobald einmal die ersten ausätze 
gemacht sind, ist spräche vorhanden und weiterentwickelung. Es 
existieren nur graduelle unterschiede zwischen äen ersten anfangen 
der spräche und den späteren epochen. 

Noch auf einen punkt muss ich hier kurs hinweisen. In der 
Opposition gegen eine früher übliche behandlnngsweise der spräche, 
wonach alle grammatischen Verhältnisse einfach aus den logischen 
abgeleitet wurden, ist man soweit gegangen, dass man eine rücksicht- 
nahme auf die logischen Verhältnisse, welche in der grammatischen 
form nicht zum ausdruck kommen, von der sprachbetrachtung ganz 
ausgeschlossen wissen will. Das ist nicht zu billigen. So notwendig 
es ist einen unterschied zwischen logischen and grammatischen kate- 
gorieen zu machen, so notwendig ist es auf der andern seite sich das 
verhältniss beider zu einander klar zu machen. Grammatik und logik 
treffen zunächst deshalb nicht zusammen, weil die ausbildung und an- 
wendong der spräche nicht durch streng logisches denken vor sich 
geht, sondern durch die natürliche, «ngeschulte bewegung der vor- 
stellungsmassen, die je nach begabung und amsbüdnng mehr oder 
weniger logischen gesetzen folgt oder nicht folgt. Aber auch der 
wirklichen bewegung der vorstellungsmassen mit ihrer bald grösseren 
bald geringeren logischen consequenz ist die sprachliche form des aus- 
drucks nicht immer eongruent. Auch psyehologiaehe und grammatische 

Faul, Principien. n. Auflage. 3 


u 

kategorie deeken sich nicht. Daraog folgt, dass der sprachforseher 
beides auseinander halten muss, aber nicht, dass er bei der analyse 
der menschlichen rede auf psychische Vorgänge, die sich beim sprechen 
und hören vollziehen, ohne doch im sprachliehen ansdruck zur er- 
scheinnng zu gelangen, keine rtt(^icht zu nehmen brauchte. Gerade 
erst durch eine allseitige berttcksichtigung dessen, was in den elementen, 
aus denen sich die individuelle rede zusammensetzt, an sich noch nicht 
Hegt, was aber doch dem redenden vorschwebt, und vom hörenden 
verstanden wird, gelangt der Sprachforscher zur erkenntniss des Ur- 
sprungs und der Umwandlungen der sprachlichen ausdrucksförmen 
Wer die grammatischen formen immer nur isoliert betrachtet ohne ihr 
verhältniss zu der individuellen seelentätigkeit, gelangt nie zu einem 
verständniss der spracheatwickelung. 


Cap.ll. .^^i,,.,.'-^'-- 

Die sprachspaltung. 

Es ist eine durch die verg^leiehende sprac hfoTscbung zweifellos 
sicher gestellte t^taadiß. d^SySieh v ielfach aus einer im wesentlichen 
einheit liehen spräche meSrerev ersehieden e sprachen en twicke lt haben, 
dieTErerseits auch nicht einh eitlic h ge blieb en sind, sondern sich in 
eine mjß von flia1ftctf>n geSpalten haben. Man sollte er warte n, dass 
sieh bei der betrachtu ng dieses processes mehr als irgpend wo a.nf!ftra 
die analogieen aus ^^T f ntw^^^filiiy^g .^*^^' o rganisc l^PTi na-tny 
aufdräng en müssten. Es ist zu verwundern, dass die Darwinisten unter 
den Sprachforschern sich nicht vorzugsweise auf diese seite geworfen 
haben. Hier in der tat ist die parallele innerhalb g ewisser grenzen 
eine berechtigt e und lehrreich e. Wollen wir diese parallele ein wenig 
verfolgen, so kann es nur in der weise geschehen , dass wir die spräche 
des einzelnen , also^die gesammlj^ejt^der Sprachmitt el über die er ver- 
jttgt, dem ti^nschen^ oder pfla nzlkben indi^duum gleich setafiji, die 
dialeete , s prachen , s praehfamilien ete. den artfiu, gattungen, klassen 
des tier- und pflanzenreichs^ <>fccuj J^TTT^^ . 

Es gilt zunäqh^j;, in einem wichtigen, fftgkte die vollständige 
gleichheit des ve mältnis ses anzuerkennen. Der grosse Umschwung, 
welchen die Zoologie in der neuesten zeit durchgemacht hat, beruht 
zum guten teile auf der erkenntniss, dass nichts reale existenz hat als 
die einzelnen Individuen, dass die arten, gattungen, klassen nichts sind 
als Zusammenfassungen und sonderungen des menschlichen Verstandes, 
die je nach willktthr verschieden ausfallen können, dass artunterschiede 
und individuelle unterschiede nicht dem wesen, sondern nur dem grade 
nach verschieden sind. Auf eine entsprechende grundlage müssen wir 
uns auch bei der beurteilung der dialectunterschiede stellen. Wir 
mfl^sen eigentlich so viele sprachen unterscheiden al& es Individuen 
gibt. Wenn wir die sprachen einer bestimmten anzahl von individuen 
zu einer gruppe zusammenfassen und die anderer individuen dieser 
gruppe gegenüber ausschliessen, so abstrahieren wir dabei immer von 

3* 


36 

gewissen yersehiedenheiten, während wir auf andere wert legen. Es 
ist also der willktthr ein ziemlicher Spielraum gelassen. Dass sieh 
überhaupt die individuellen sprachen unter ein klassensystem bringen 
lassen mlissten, ist von vornherein nicht vorauszusetzen. Man muss 
darauf gefasst sein, so viele gruppen man auch unterscheiden mag, 
eine anzahl von Individuen zu finden, bei denen man zweifelhaft bleibt, 
ob man sie dieser oder jener unter zwei naheverwandten gruppen zu- 
zählen soll. Und in das selbe dilemma gerät man erst recht, wenn 
man die kleineren gruppen in grössere zusammenzuordnen und diese 
gegen einander abzuschliessen versucht. Eine scharfe sonderung wird 
erst da möglich, wo mehrere generationen hindurch die Verkehrsge- 
meinschaft abgebrochen gewesen ist. 

Wenn man daher von der Spaltung einer früher einheiflichen 
Sprache in verschiedene dialecte spricht, so ist damit das eigentliche 
wesen des Vorganges sehr schlecht ausgedrückt. In Wirklichkeit wer- 
den in jedem augenblicke innerhalb einer Volksgemeinschaft so viele 
dialecte geredet als redende individuen vorhanden sind, und zwar 
dialecte, von denen jeder einzelne eine geschichtliche entwickelung 
hat und in stätiger Veränderung begriffen ist. Dialectspaltung be- 
deutet nichts anderes als das hinauswachsen der individuel- 
len Verschiedenheiten über ein gewisses mass. 

Ein anderer punkt, in dem wir uns eine parallele gestatten dürfen, 
ist folgender. Die entwickelung eines tierischen individuums hängt 
von zwei factoren ab. Auf der einen seite ist sie durch die natur der 
eitern bedingt, wodurch ihr ursprünglich auf dem wege der Vererbung 
eine bestimmte bewegungsrichtung mitgeteilt wird. Auf der andern 
Seite stehen alle die zufälligen einwirkungen des klimas, der nahrung, 
der lebensweise etc., denen das Individuum in seinem speciellen dasein 
ausgesetzt ist. Durch den einen ist die wesentliche gleichheit mit den 
eitern bedingt, durch den andern eine abweichung von denselben inner- 
halb gewisser grenzen ermöglicht. So gestaltet sich die spräche jedes 
Individuums einerseits nach den einwirkungen der sprachen seiner 
verkehrsgenossen, die wir von unserm gesichtspunkte aus als die er- 
zeugerinnen seiner eignen betrachten können, anderseits nach den 
davon unabhängigen eigenheiten und eigentümlichen erregungen seiner 
geistigen und leiblichen natur. Auch darin besteht Übereinstimmung, 
dass der erstere factor stets der bei weitem mächtigere ist. Erst da- 
durch, dass jede modification der natur des individuums, die von der 
anfänglich mitgeteilten bewegungsrichtung ablenkt, mitbestimmend fiir 
die bewegungsrichtung einer folgenden generation wird, ergibt sich mit 
der zeit eine stärkere Veränderung des typus. So auch in der Sprach- 
geschichte. Wir dürfen ferner von der spräche wie von dem tierischen 


37 

Organismus behaupten: je niedriger die entwickelungsstufe , desto 
stärker der zweite factor im verhältniss zum ersten. 

Auf der andern seite dürfen wir aber die grossen Verschieden- 
heiten nicht übersehen, die zwischen der sprachlichen und der orga- 
nischen Zeugung bestehen. Bei der letzteren hört die directe einwirkung 
der erzeuger bei einem bestimmten punkte auf, und es wirkt nur die 
bis dahin mitgeteilte bewegungsrichtung nach. An der erzeugung der 
Sprache eines individuums behalten die umgebenden sprachen ihren 
anteil bis zu seinem ende, wenn auch ihre einwirkungen in der frühesten 
kindheit der betreffenden spräche am mächtigsten sind und um so 
schwächer werden, je mehr diese wächst und erstarkt. Die erzeugung 
eines tierischen Organismus geschieht durch ein Individuum oder durch 
ein paar. An der erzeugung der spräche eines individuums beteiligen 
sieh die sprachen einer grossen menge anderer Individuen, aller, mit 
denen es überhaupt während seines lebens in sprachlichen verkehr 
tritt, wenn auch in sehr verschiedenem grade. Und, was die sache 
noch viel eomplicierter macht, die verschiedenen individuellen sprachen 
können bei diesem zeugungsprocess im verhältniss zu einander zugleich 
activ und passiv, die eitern können kinder ihrer eigenen kinder sein. 
Endlich ist zu berücksichtigen, dass, auch wenn wir von der spräche 
eines einzelnen individuums reden, wir es nicht mit einem concreten 
wesen, sondern mit einer abstraction zu tun haben, ausser, wenn wir 
darunter die gesammtheit der in der seele an einander geschlossenen 
auf die Sprechtätigkeit bezüglichen vorstellungsgruppen mit ihren 
mannigfach verschlungenen beziehungen verstehen. 

Der verkehr ist es allein, wodurch die spräche des individuums 
erzeugt wird. Die abstammung kommt nur insoweit in betracht, als 
sie die physische und geistige beschaffenheit des einzelnen beeinflusst, 
die," wie bemerkt, allerdings ein factor in der Sprachgestaltung ist, aber 
im verhältniss zu den einflüsseu des Verkehrs ein sehr untergeordneter. 

Gehen wir von dem unbestreitbar richtigen satze aus, dass jedes 
individuum seine eigene spräche und jede dieser sprachen ihre eigene 
geschichte hat, so besteht das problem, das zu lösen uns durch die 
tatsache der dialectbildung auferlegt wird, nicht sowol in der frage, 
wie es kommt, dass aus einer wesentlich gleichmässigen spräche ver- 
schiedene dialecte entspringen; die entstehung der Verschiedenheit 
scheint ja danach selbstverständKch. Die frage, die wir zu beantworten 
haben, ist vielmehr die: wie kommt es, dass, indem die spräche 
eines jedes einzelnen ihre besondere geschichte hat, sich 
gerade dieser grössere oder geringere grad von Überein- 
stimmung innerhalb dieser so und so zusammengesetzten 
grnppe von Individuen erhält? 


38 

Alles anwaeh^en der dialectiscben verschiedenkeit berahi natür- 
lich auf der yeränderang des spraebusus. Um so stärker die Ver- 
änderung, um so mehr gelegenheit ist zum Wachstum der Verschieden- 
heit gegeben. Aber der grad dieses Wachstums ist nicht durch die stärke 
der Veränderung allein bedingt, denn keine Veränderung sehliesst not- 
wendig eine bleibende differenzierung ein, und die umstände, welche 
auf die erhaltung der Übereinstimmung oder auf die baldige wider- 
herstellung derselben wirken, können in sehr verschiedenem masse 
vorhanden sein. 

Ohne fortwährende differenzierung kann das leben einer spräche 
gar nicht gedacht werden. Wäre es denkbar, dass auf einem Sprach- 
gebiete einmal alle individualsprachen einander vollständig gleich 
wären, so würde doch im nächsten augenblicke der ansatz zur heraus- 
bildung von Verschiedenheiten unter ihnen gemacht werden. Die spon- 
tane entwickelung einer jeden einzelnen muss nach den besonderheiten 
in der anläge und den erlebnissen ihres trägers eine besondere richtung 
einschlagen. Der einfluss, den der einzelne übt oder erleidet, erstreckt 
sich immer nur auf einen bruchteil der gesammtheit, und innerhalb 
dieses bruchteils finden bedeutende gradverschiedenheiten statt. Dem- 
gemäss findet zwar auch eine immerwährende ausgleichung der ein- 
getretenen differenzierungen statt, die darin besteht, dass abweichungen 
von dem bisherigen usus entweder wider zurückgedrängt werden oder 
auf Individuen übertragen, die sie spontan nicht entwickelt haben. 
Diese ausgleichung wird aber nie eine vollständige. Eine annähernde 
wird sie immer nur innerhalb eines kreises, in dem ein anhaltender 
f regen verkehr stattfindet. Je weniger intensiv der verkehr ist, um so 
mehr differenzen können sich bilden und erhalten. Noch weiter geht 
die möglichkeit zur differenzierung, wenn gar kein directer verkehr 
mehr besteht, sondern nur eine indirecte Verbindung durch mittel- 
glieder. 

Wäre die Verkehrsintensität auf allen punkten eines Sprachgebietes 
eine gleichmässige, so würden wir lauter individualsprachen haben, 
von denen diejenigen, die in enger Verbindung unter einander stünden, 
immer nur wenig von einander differieren würden, während zwischen 
den entgegengesetzten enden doch starke Verschiedenheiten entstanden 
sein könnten. Es würde dann nicht möglich sein eine anzahl von in- 
dividualsprachen zu einer gruppe zusammenzufassen, die man einer 
anderen solchen Zusammenfassung als ein geschlossenes ganzes gegen- 
überstellen könnte. Jede individualsprache würde als eine Zwischen- 
stufe zwischen mehreren andern aufgefasst werden können. Ein solches 
verhältniss aber besteht nirgends und hat niemals bestanden. Es wäre 
nur denkbar, wenn keine natürlichen gi*enzen existierten, keine poli- 


39 

tischen und religiösen verbände, wenn etwa das ganze folk in einer 
ebene ohne grösseren flnss wohnte in lauter einzelgehöften in ungefähr 
gleich weitem abstände von einander ohne gemeinsame versammlungs- 
örter. Auch dann wtirde wenigstens die gruppierung zu familien- 
sprachen stattfinden. In Wirklichkeit aber finden wir entweder ein 
znsammenwohnen in* städten und dörfem, respective bei nomadischen 
Völkerschaften in horden, oder, wo das System der einzelfaöfe besteht, 
doch wenigstens kleinere und grössere poMscbe und religiöse verbände 
mit Versammlungsorten!. In den gebirgsgegenden sind die einzelnen 
täler mehr oder weniger gegen einander abgeschlossen. Das meer 
trennt inseln ab. Selbst wo keine solche hemmungen bestehen, liegen 
oft uncultivierte landstrecken, wald, haide, moor etc. zwischen den 
einzelnen ansiedelungen. Es ist demnach notwendig, dass sieh den 
natürlichen wie den politischen und religiösen Verkehrsverhältnissen 
entsprechend die individualsprachen zu gruppen zusammenschliessen, 
die verhältnissmässig einheitlich und nach aussen abgeschlossen sind. 
Solche gruppen werden also zunächst von den kleinsten verbänden, 
den einzelnen Ortschaften gebildet. Wo ein zusammenwohnen der 
Ortsangehörigen stattfindet, da wird jeder einzelne dem andern näher 
stehen als dem angehörigen eines anderen ortes. Es kann sich also 
hier eine wirkliche grenze herausbilden, die nicht durch Zwischenstufen 
verdeckt ist. Hier zuerst können deutlich merkbare und zugleich 
bleibende Verschiedenheiten entstehen, wie sie zwischen den ange- 
hörigen des gleichen ortes mindestens auf die dauer sich nicht halten 
können. So lange aber nachbarorte einen regen verkehr unter ein- 
ander unterhalten, kann es auch sein, dass sich zwischen ihnen noch 
gar kein deutlieh hervorstechender und bleibender unterschied bildet, 
jedenfalls werden die unterschiede unerheblich bleiben. Versucht man 
nun aber um jeden ortsdialect diejenigen benachbarten zu gruppieren, 
die mit demselben in einem regelmässigen verkehr stehen, so wird 
man eine menge sich gegenseitig durchschneidende gruppen bekommen. 
Es kann für jeden einzelnen ort die gruppierung ein wenig anders 
ausfallen. Es können orte hinzutreten oder wegfallen, und auch zu 
denjenigen, welche bleiben, kann das verkehrsverhältniss sich etwas 
modificieren. 

Jede Veränderung des sprachusus ist ein product aus den spon- 
tanen trieben der einzelnen individuen einerseits und den geschilderten 
Verkehrsverhältnissen anderseits. Ist ein spontaner trieb gleichmässig 
über efn ganzes Sprachgebiet bei der majorität verbreitet, so wird er 
sich auch rasch allgemein durchsetzen. Es kann aber sein, dass er 
in den verschiedenen bezirken sehr verschieden stark verteilt ist. 
Unter solchen umständen muss in den von einander abgelegenen be- 


40 

zirken, die in keinem verkehr mit einander stehn, die ausgleichnng, 
soweit sie nötig ist, zu versehiedenem resnltate führen. Dazwischen 
wird dann der kämpf fortdauern and deshalb nicht leicht zur ejQt- 
Scheidung kommen, weil auf diesen teil die eine, auf jenen die andere 
Seite stärker einwirkt. Dieses zwischengebiet bildet einen grenzwall, 
durch welchen die einflUsse von der einen auf die andere seite nicht 
durchdringen können, oder nur in solcher abschwächung, dass sie so 
gut wie wirkungslos bleiben. Ein solches zwischengebiet könnte 
nirgends fehlen, wenn die continuität des Verkehres durch das ganze 
Sprachgebiet hindurch eine gleichmässige wäre, wenn nirgends durch 
räumliche abstände, natürliche hindemisse oder politische grenzen 
Verkehrshemmungen verursacht würden. Indem die gegenseitige beein- 
flussung der durch solche hemmungen getrennten gebiete auf ein 
geringes mass herabgesetzt wird, können sich auch deutliche grenzen 
für dialectische eigentümlichkeiten herausbilden. Ein völliges abbrechen 
des Verkehres ist dazu nicht nötig. Er braucht nur so schwach zu 
werden, dass er ohne einen gewissen grad spontanen entgegenkommens 
wirkungslos bleibt. So kann auch eine zeitweilig bestehende dialect- 
grenze allmählig wider aufgehoben werden, wenn sich das anfangs 
fehlende spontane entgegenkommen späterhin einstellt, oder wenn die 
gleichen einfiüsse von verschiedenen selten her kommen. 

Jede sprachliche Veränderung und mithin auch die entstehung 
jeder dialectischen eigentümlichkeit hat ihre besondere geschiehte. 
Die grenze, bis zu welcher sich die eine erstreckt, ist nicht mass- 
gebend für die grenze der andern. Wäre allein das intensitätsverhältniss 
des Verkehres massgebend, so müssten allerdings wol die grenzen der 
verschiedenen dialecteigenheiten durchaus zusammenfallen. Aber die 
spontanen tendenzen zur Veränderung können sich in wesentlich anderer 
weise verteilen, und danach muss sich das resultat der gegenseitigen 
beeinflussung bestimmen. Wenn sich z. b. ein Sprachgebiet nach einem 
dialectischen unterschiede in die gruppen a und b sondert, so kann 
es sein und wird häufig vorkommen, dass die sonderung nach einer 
andern eigentümlichkeit damit zusammenfällt, es kann aber auch sein, 
dass ein teil von a sich an b anschliesst, oder umgekehrt, es kann 
sich sogar ein teil von a und von b einem andern teile von a und 
von b gegenüberstellen. 

Ziehen wir daher in einem zusammenhängenden Sprachgebiete 
die grenzen für alle vorkommenden dialectischen eigentümlichkeiten, so 
erhalten wir ein sehr compliciertes System mannigfach sich kreuzender 
linien. Eine reinliche sonderung in hauptgruppen , die man wider in 
so und so viele Untergruppen teilt u. s. f , ist nicht möglich. Das bild 
einer Stammtafel, unter dem man sich gewöhnlieh die Verhältnisse zu 


41 

veranschaulichen sacht, ist stets ungenau. Man bringt es nur zu 
Stande, indem man willktthrlich einige unterschiede als wesentlich 
herausgreift und über andere hinwegsieht. Sind wirklich die hervor- 
stechendsten merkmale gewählt, so kann man vielleicht einer solchen 
Stammtafel nicht allen praktischen wert für die veranschaulichung 
absprechen, nur darf man sich nicht einbilden, dass damit eine wirklich 
erachöpfende , genaue darstellung der Verhältnisse gegeben sei. 

Noch mehr gerät man mit der genealo^sohen veranschauliehung 
ins gedränge, wenn man sich bemüht dabei auch die Chronologie der 
entwickelung zu berücksichtigen, wie es doch für eine genealogie 
erforderlich ist. 

Da durch die entstehung einiger unterschiede der verkehr und 
die gegenseitige beeinflussung zwischen benachbarten bezirken noch 
nicht aufgehoben -ist, so kann bei später eintretenden Veränderungen 
die entwickelung immer noch eine gemeinschaftliche sein. So können 
Veränderungen noch in einem ganzen Sprachgebiete durchdringen, 
nachdem dasselbe schon vorher mannigfach differenziert ist, oder 
zugleich in mehreren schon besonders gestalteten teilen. So ist z. b. 
die dehnung der kurzen wurzelvokale (vgl. mhd. lesen, geben, reden etc.) 
in den nieder- und mitteldeutschen mundarten wesentlich gleichmässig 
vollzogen, während viele ältere Veränderungen eine bei weitem geringere 
ausdehnung erlangt haben. Wir müssen uns das auch bei der beur- 
teilung der älteren Sprachperioden gegenwärtig halten, für die wir auf 
rückschlttsee angewiesen sind. Man ist zu sehr gewohnt alle Ver- 
änderungen des ursprünglichen sprachzustandes, die durch ein ganzes 
gebiet hindurch gehen, dann ohne weiteres für älter zu halten als 
diejenigen, die auf einzelne teile dieses gebietes beschränkt sind, und 
man setzt von diesem gesichtspunkte aus etwa eine gemeinenropäische, 
eine slavogermanische, slavolettische , urgermanische, ost- und west- 
germanische grundsprache oder entwickelungsperiode an. Es ist zwar 
gar nicht zu läugnen, dass im allgemeinen die grössere ausdehnung 
einer sprachlichen eigentümlichkeit einen Wahrscheinlichkeitsgrund für 
ihr höheres alter abgibt, aber ein sicherer anhält wird damit keines- 
wegs gewährt. Es wird auch ausser den fällen, bei denen man es 
positiv nachweisen kann, verschiedene solche geben, in denen die 
weiter ausgedehnte Veränderung jünger ist, als die auf einen engeren 
räum beschränkte. 

Es sind auch nicht immer die am meisten hervortretenden eigen- 
tümlichkeiten die ältesten. Die jetzt übliche hauptteilnng des deutschen 
in ober- mittel- und niederdeutsch beruht auf dem stände der laut- 
verschiebung. Diese hat wahrscheinlich nicht vor dem siebenten 
Jahrhundert begonnen und erstreckt sich bis ins neunte, ja in einigen 


42 

punkten sogar noch weiter. Schon vorher aber gab es erheWiche 
unterschiede, die bei der jetzigen einteilnng in den hindergrund ge- 
drängt sind. Unter niederdentsch z. b. sind drei von alters her nicht 
unwesentlich verschiedene .gruppen zusammengefasst, das friesische, 
sächsische und ein teil des Mnkischen; das fränkische ist unter nieder- 
und mitteldeutsch verteilt. 

Man kann es auch gar nicht als einen allgemeingültigen satz 
hinstellen, dass die gruppen, die am frühesten angefangen haben sich 
gegen einander zu differenzieren, auch am stärksten differenziert sein 
mttssten, oder umgekehrt, dass bei den am stärksten differenzierten 
gruppen die differenzierung am frühesten begonnen haben müsste. 
Die intensität des Verkehres kann sich etwas verändern. Die geo- 
graphische lagerung der gruppen zu einander kann sich verschieben. 
Auch ohne das kann spontanes entgegenkommen * die Veranlassung 
werden, dass neue Veränderungen über ältere grenzen hinwegschreiten, 
während sie selbst vielleicht da eine grenze finden, wo früher keine 
grenze war. Oder es kann ein bezirk, der längere zeit mit einem 
benachbarten wesentlich gleiche, dagegen von den übrigen abweichende 
entwicklung gehabt hat, von besonderen starken Veränderungen ergriffen 
werden, während der bisher mit ihm die gleichen bahnen wandelnde 
bezirk mit den übrigen auf der älteren stufe zurückbleibt. 

Da es die ausgleichende Wirkung des Verkehrs nicht zulässt, dass 
zwischen nahe benachbarten bezirken, die einen regelmässigen verkehr 
unterhalten, zu schroffe Verschiedenheiten entstehen, so stellt beinahe 
jede kleine gruppe eine Übergangsstufe zwischen den nach den ver- 
schiedenen Seiten hin benachbarten gruppen dar. Es ist eine ganz 
falsche Vorstellung, die immer noch vielfach verbreitet ist, dass Über- 
gangsstufen immer erst durch secundäre berührung zweier vorher ab- 
geschlossener dialecte entstünden. Natürlich will ich nicht behaupten, 
dass sie niemals so entstünden. Ein Übergang kann durch eine gruppe 
gebildet werden entweder dadurch, dass sie die wirkliche Zwischen- 
stufe zwischen zwei in den benachbarten gruppen vorliegenden ab- 
weichenden gestaltungen^ darbietet oder beide nebeneinander, oder da- 
durch, dass sie einige dialectische eigentttmlichkeiten mit dieser, andere 
mit jener gruppe gemein hat. Bei dieser gesfaltung der dialectverhält- 
nisse braucht das verständniss zwischen benachbarten bezirken nirgends 
behindert zu sein, weil die abweichungen zu geringfügig sind und man 
sich ausserdem beiderseitig an dieselben gewöhnt, und es können darum 
doch zwischen den fernerliegenden differenzen bestehen, die eine Ver- 
ständigung unmöglich machen. 

Dies verhältniss lässt sich an den verschiedensten sprachen be- 
obachten. Becht deutlich an der deutschen. Einem Schweizer ist es 
unmöglich einen Holsteiner, selbst nur einen Hessen oder einen Baiem 


13 

'£XL verstebeB, ttnd doch ist er mit diesen indirect durch uü^bemmte 
Btrömuiigeii des Verkehres verbanden. Die allmählige abstufnng der 
deutschen dialecte im grossen lägst sich vortrefiTlieh an dem verhalten 
zn der Bogenannten hochdeutschen lantverschiebung ^ beobachten. Die 
selbe abstufnng im kleinen kann man schon bei einer iüchtigen durch- 
musterung von Firmenich, Germaniens Völkerstimmen gewahr werden. 
Ein noch viel deutlieheres bild von der ansserordentiiehen man&ig- 
faltigkeit der abstufnng wird der von G. Wenker vorbereitete Sprach- 
atlas geben. Ebenso verhält es sich nicht bloss innerhalb der ^nzelnen 
romanischen sprachen, sondern sogar innerhalb des ganzen romanischen 
Sprachgebietes. Die grenzen der einzelnen nationen sind nur nach 
den schrifteprachen , nicht nach den mundarten mit einiger Sicherheit 
zu bestimmen. So teilen z. b. norditalienische dialecte wichtige eigen- 
tümlichkeiten mit dem französischen, und stehen den benachbarten 
dialecten Frankreichs näher als der italienischen Schriftsprache oder 
der mundart von Toscana. Das Gascognesche bildet in mehreren 
binsichten den Übergang vom provenzalischen (südfranzösisehen) zum 
spanischen, das sardinische den Übergang vom italienischen zum spa- 
nischen, etc. 

Bei dieser Schilderung der entwickelang ist sesshaftigkeit der 
individuen vorausgesetzt. Jede Wandlung von einzelnen oder gar von 
massen bringt modificationen hervor, die wir als mischungen in cap. 22 
zn behandeln haben. Ebenso modificierend wirkt das Vorhandensein 
einer Schriftsprache, worüber in cap. 23 zu handeln sein wird. 

Es kann natürlich auch der fall eintreten, dass der verkehr 
zwischen mehreren teilen einer Sprachgenossenschaft vollständig unter- 
brochen wird durch starke natürliche oder politische grenzen, durch 
auswanderung des einen teiles, durch dazwischenschiebung eines frem- 
den Volkes und deigl. Von diesem augenblicke an entwickelt sich 
anch die spräche jedes einzelnen teiles selbständig, und es bilden sich 
mit der zeit schroffe gegensätze heraus ohne vermittelnde Übergänge. 
So entstehen mehrere selbständige sprachen aus einer, und dieser 
process kann sich zu mehrem malen widerholen. 

Es ist kaum denkbar, dass je bis zu dem augenblicke, wo eine 
solche teilung einer spräche in mehrere stattgefunden hat, durch das 
ganze gebiet hindurch keine merklichen Verschiedenheiten bestanden 
haben sollten. Ohne mundartliche unterschiede ist eine spräche, die 
sich über ein einigermassen umfängliches gebiet erstreckt und eine 
längere entwickelung hinter sich hat, gar nicht zu denken. Man wird 
daher in der regel die selbständigen sprachen, die sich aus einer 

*) Ygl. Braune, Beiträge zur gescb. d. deutschen spr. 1, 1 ff. und Nörrenberg, 
ib. IX, 371 ff. 


\ 


44 

gemeinsamen nrsprache entwickelt haben, als fortsetznngen der dia- 
lecte der nrsprache zu betrachten haben, und kann annehmen, dass 
ein teil der zwischen ihnen bestehenden unterschiede schon aus der 
periode ihres continuierlichen Zusammenhanges herstammt Von diesem 
teile würde dann das selbe gelten, was überhaupt von mundartlichen 
unterschieden eines zusammenhängenden Sprachgebietes gilt. Es könnte 
also, wenn wir die zu selbständigen sprachen entwid^elten dialecte 
mit den buchstaben des alphabetes bezeichnen, a einiges mit b gemein 
haben im gegensatz zu c und d, anders mit e im gegensatz zu b und 
d, noch anderes mit d im gegensatz zu b und c u. 's. f., und diese 
Übereinstimmungen könnten auf einem wirklichen eausalzusammenhange 
beruhen. Von diesem gesichtspunkte aus müssen z. b. die yerhältnisse 
der indogermanischen sprachfamilien zu einander beurteilt werden. 
Im einzelnen falle aber ist es schwer zu entscheiden, ob zu der Über- 
einstimmung in der entwickelung wirklich gegenseitige beeinfiussang 
beigetragen hat Die Unmöglichkeit, eines Zusammentreffens auch bei 
ganz selbständiger entwickelung lässt sich kaum je dartun. 

Die trennung braucht auch nicht immer mit alten dialectgrenzen 
zusammenzufallen, namentlich dann nicht, wenn sie durch Wanderungen 
veranlasst wird. Es kann sich ein teil einer in den wesentlichsten 
punkten übereinstimmenden gruppe absondern, während der andere 
mit den übrigen ihm femer stehenden igruppen in Verbindung bleibt 
Es können sich auch teile verschiedener gruppen zusammen loslösen. 
So ist z. b. das angelsächsische ursprünglich mit dem friesischen aufs 
engste verwandt, ja es hat wahrscheinlich auf dem continent niemals 
als besonderer dialect existiert, sondern ist erst entstanden, als friesische 
schaaren sich von der heimat loslösten und einige bestandteile aus 
andern germanischen stammen mit sich vereinigten. Das angelsäch- 
sische hat dann aber seine sonderentwickelung gehabt, während das 
friesische im zusammenhange mit den übrigen deutschen mundarten 
geblieben ist Zwischen englisch und deutsch gibt es eine scharfe 
grenze, zwischen friesisch und niedersächsisch nicht. 

Das eigentlich charakteristische moment in der dialectischen 
gliederung eines zusammenhängenden gebietes bleiben immer die laut- 
Verhältnisse. Ursache ist, dass bei der gestaltung derselben alles auf 
den directen einfluss durch unmittelbaren persönlichen verkehr ankommt 
Im Wortschatz und in der Wortbedeutung, im formellen und im syn- 
taktischen macht die mittelbare Übertragung keine Schwierigkeiten. 
Was hier neues entstanden ist, kann, wenn es sonst anklang findet, 
ohne wesentliche alterierung, weithin wandern. Aber der laut wird 
wie wir im folgenden capitel sehen werden, niemals genau in der 
gestalt weitergegeben, wie er empfangen ist. Wo schon ein klaffender 
riss besteht, da hört überhaupt die beeinfiussung auf lautlichem gebiete 


45 

auf. So entwickeln sieh denn hier viel stärkere differenzen als im 
Wortschatz, in der formenbildung und syntax, nnd jene diflferenzen 
gehen gleichmässiger durch lange Zeiten hindurch als diese. Dagegen, 
wenn eine wirkliche Sprachtrennung eingetreten ist, können sich die 
unterschiede zwischen den verschiedenen sprachen auf andern gebieten 
eben so charakteristisch geltend machen als auf dem lautlichen. 

Am wenigsten ist der Wortschatz und seine Verwendung charak- 
teristisch. Hier finden am meisten Übertragungen ans einer mundart 
in die andere wie aus einer spräche in die andere statt. Hier gibt es 
mehr individuelle Verschiedenheiten als in irgend einer andern hin- 
sieht. Hier kann es auch unterschiede geben, die mit den mundart- 
lichen gar nichts zu tun haben und diese durchkreuzen. Auf. jeder 
höheren culturstufe entstehen technische ausdrücke für die verschiedetjen 
gewerbe, künste und Wissenschaften, die vorwiegend oder ausschliess- 
lich von einer bestimmten berufsklasse gebraucht und von den übrigen 
zum teil gar nicht verstanden werden. Bei der ausbildung solcher 
kunstsprachen kommen übrigens ganz ähnliehe Verhältnisse in betracht 
wie bei der entstehung der mundarten. Eben dahin gehört auch der 
unterschied von poetischer und prosaischer spräche, der sich auch auf 
formelles und syntaktisches erstreckt. Eigenartige Verhältnisse haben 
im alten Griechenland auch zu absichtlich kunstvoller Verwendung 
lautlicher unterschiede geflihrt. Es kann aber auch eine poetische 
spräche geben (und das ist das gewöhnliche), die in den Verschieden- 
sten dialectischen lautgestaltungen sich doch immer gleichmässig gegen 
die prosaische rede abhebt. 

Alle natürliche sprachentwickelung flihrt zu einem stetigen, un- 
begrenzten anwachsen der mundartlichen Verschiedenheiten. Die Ur- 
sachen, welche dazu treiben, sind mit den allgemeinen bedingungen 
des Sprachlebens gegeben und davon ganz unzertrennlich. Es ist eine 
falsche Vorstellung, der man leider noch in sprachwissenschaftlichen 
werken begegnet, die ein grosses ansehen gemessen, dass die frühere 
centrifugale bewegung, durch welche die mundarten entstanden seien, 
auf höherer culturstufe, bei reger entwickeltem verkehre durch eine 
rückläufige, centripetale abgelöst werde. Diese Vorstellung beruht auf 
ungenauer beobachtung. Die bildung einer gemeinsprache, die man 
dabei im äuge hat, vollzieht sich nicht durch eine allmählige an- 
gleichung der mundarten aneinander. Die gemeinsprache entspringt 
nicht aas den einzelnen mundarten durch den selben process, durch 
welchen eine jüngere form der mundart aus einer älteren entsprungen 
ist. Sie ist vielmehr ein fremdes idiom, dem die mundart aufgeopfert 
wird. Darüber in capitel 23. 


Cap. in. c^s^j^L cU^c 

Der lairtwandeL 

Um die erscheinung zu begreifen, die man als lantwandel zu 
bezeichnen pflegt, mnss man sich die physischen und psychischen 
processe klar machen, welche immerfort bei der hervorbringung der 
lautcomplexe stattfinden. Sehen wir, wie wir hier dürfen und müssen, 
von der function ab, welcher dieselben dienen, so ist es folgendes, 
was in betracht kommt: erstens die bewegungen der Sprechorgane, 
wie sie vermittelst erregung der motorischen nerven und der dadurch 
hervorgerufenen muskeltätigkeit zu stände kommen; zweitens die reihe 
von empfindungen, von welchen diese bewegungen notwendigerweise 
begleitet sind, das bewegungsgefühl, wie esLotze^) und nach ihm 
Steinthal genannt haben; drittens die in den hörera, wozu unter nor- 
malen Verhältnissen allemal auch der sprechende selbst gehört, er- 
zeugten tonemp findungen. Diese empfindungen sind natürlich nicht 
bloss physiologische, sondern auch psychologische processe. Auch 
nachdem die physische erregung geschwunden ist, hinterlassen sie eine 
bleibende psychische Wirkung, erinnerungsbilder, die von der 
höchsten Wichtigkeit ftir den lautwandel sind. Denn sie allein sind 
es, welche die an sich vereinzelten physiologischen Vorgänge unter 
einander verbinden, einen causalzusammenhang zwischen der Mhern 
und spätem production des gleichen lautcomplexes herstellen. Das 
erinnerungsbild, welches die empfindung der früher ausgeführten be- 
wegungen hinterlassen hat, ist es, vermittelst dessen die reproduction 
der gleichen bewegungen möglich ist. Bewegungsgefühl und ton- 
empfindung brauchen in keinem Innern zusammenhange unter einander 
zu stehen. Beide gehen aber eine äusserliche association ein, indem 
der sprechende zugleich sich selbst reden hört Durch das blosse an- 


*) Vgl dessen Medicinische Psychologie (1852) § 26, s. 304; auch Metaphysik II, 
s. 586 ff. Vgl. noch über das bewegungsgefühl G. E. Müller, Zur grundlegung der 
psychophysik , § 110. 111, und A.Strümpell, Archiv für klinische Medicin XXII, 
s. 321 ff. Wundt gebraucht dafür den ausdnick Innervation. 


47 

hören anderer ^wird das bewegungsgefUhl nicht gegeben, und somit 
aneh nicht die ßlhigkeit den gehörten lantcomplex zu reprodueieren, 
weshalb es denn immer erst eines snchens, einer einttbung bedarf, um 
im stände zu sein einen laut, den man bis dahin nicht zu sprechen 
gewohnt ist, nachzusprechen. 

Es fragt sich, welchen inhalt das bewegungsgefUhl und die ton- 
empiSndung haben, und bis zu welchem grade die einzelnen momente 
dieses inhalts bewasst werden. Vielleieht hat nichts so sehr die 
richtige einsieht in die natur des lautwandels verhindert, als dass 
man in dieser hinsieht die weite und die deutlichkeit des bewusstseins 
überschätzt hat Es ist ein grosser Irrtum, w^in man meint, dass um 
den klang eines wertes in seiner eigenttlmlichkeit zu erfassen, so dass 
eine erregung der damit associierten Vorstellungen möglich wird, die 
einzelnen laute, aus denen das wort sich zusammensetzt, zum bewusst- 
sein gelangen mUssten. Es ist sogar, um einen ganzen satz zu ver- 
stehen, nicht immer nötig, dass die einzelnen Wörter ihrem klänge 
und ihrer bedeutung nach zum bewusstsein kommen. Die Selbst- 
täuschung, in der sich die grammatiker bewegen, rührt daher, dass 
sie das wort nicht als einen teil der kbendigen, rasch vorttberrauschen- 
den rede betrachten, sondern als etwas selbständiges, über das sie mit 
müsse nachdenken, so dass sie zeit hüben es zu zergliedern. Dazu 
kommt, dass nicht vom gesprochenen, sondern vom gesehriebenen 
Worte ausgegangen wird. In der schrift scheint allerdings das wort 
in seine demente zerlegt, und es scheint erforderlich, dass jeder, der 
sehreibt, diese zerl^ui^ vornimmt In Wahrheit verhält es sich aber 
doch etwas anders. Gewiss mnss bei der erfindung der buebstaben^ 
schrift; und bei jeder neuen anwendung derselben auf eine bisher nicht 
darin aufgezeichnete spräche eme derartige Zerlegung vorgenommen 
sein. Aueh muss fortwährend mit jeder erlemung der schrift eine 
Übung im buchstabieren gesprochener Wörter band in band gehen. 
Aber nachdem eine gewisse fertigkeit erlangt ist, ist der process beim 
sdireiben nicht gerade der, dass jedes wort zunächst in die einzelnen 
laute zerlegt würde und dann fbr jeden eiuzefaien laut der betreffende 
buchstabe eingesetzt Schon die Schnelligkeit, mit der sich der Vor- 
gang volkieht, schliesst die mögliehkeit aus, dass seine einzeltien 
momente zu klarem bewusstsein gelangen, und zeigt zugleich, dass 
das zu einem regelmässigen ablauf nicht nötig ist Es tritt aber auch 
ein wirkBeh abgekürztes verfahren ein, wodurch die schrift sich bis 
zu einem gewissen grade von der spräche emancipiert, ein Vorgang, 
den wir später noch näher zu betrachten haben werden. Und sehen 
wir nan gar ein wenig genauer zu, wie es mit dieser zergliedevungs- 
kunst des sehriftkundigen steht, so wird uns gerade daraus recht 


48 

deutlich entgegentreten, wie Übel es mit dem bewusstsein von den 
elementen des Wortlautes bestellt ist. Wir können täglich die er- 
fahrnng machen, dass die vielfachen discrepanzen zwischen schriffc und 
ausspräche von den angehörigen der betreffenden Sprachgemeinschaft 
zum grossen teil unbemerkt bleiben und erst dem fremden auffallen, 
ohne dass auch er in der regel sich rechenschaft zu geben vermag, 
worauf sie beruhen. So ist ein jeder nicht lautphysiologisch geschulte 
Deutsche der Überzeugung, dass er schreibt, vne er spricht. Wenn er 
aber auch dem Engländer und Franzosen gegenüber eine gewisse be- 
rechtigung zu dieser Überzeugung hat, so fehlt es doch, von feinheiten 
abgesehen, nicht an fällen, in denen die ausspräche ziemlich stark you 
der Schreibung abweicht. Dass der schlussconsonant in tag, feld, lieh 
ein anderer laut ist als der, welcher in iages, feldes, liebes gesprochen 
wird, dass das n in anger einen wesentlich andern laut bezeichent als 
in land, ist wenigen eingefallen. Dass man im allgemeinen in ungnade 
gutturalen, in unbUlich labialen nasal spricht, daran denkt niemand. 
Vollends wird man erstaunt angesehen, wenn man ausspricht, dass in 
lange kein ^, in der zweiten silbe von legen, reden, ritter, schütteln 
kein e gesprochen werde, dass der schlussconsonant von leben nach 
der verbreiteten ausspräche kein n, sondern ein m gleichfalls ohne 
vorhergehendes e sei. Ja man kann darauf rechnen, dass die meisten 
diese tatsachen bestreiten werden, auch nachdem sie darauf aufmerk- 
sam gemacht worden sind. Wenigstens habe ich diese erfahrung viel- 
fach gemacht, auch an philologen. Wir sehen daraus, wie sehr die 
analyse des wortes etwas bloss mit der schriffc angelerntes ist, und 
wie gering das geflihl fttr die wirklichen demente des gesprochenen 
Wortes ist. 

Eine wirkliche Zerlegung des wortes in seine elemente ist nicht 
bloss sehr schwierig, sie ist geradezu unmöglich Das wort ist nicht 
eine aneinandersetzung einer bestimmten anzahl selbständiger laute, 
von denen jeder durch ein zeichen des alphabetes ausgedrückt werden 
könnte, sondern es ist im gründe immer eine continuierliche reihe 
von unendlich vielen lauten, und durch die buchstaben werden 
immer nur einzelne charakteristische punkte dieser reihe in unvoll- 
kommener weise angedeutet. Das übrige, was unbezeichnet bleibt, 
ergibt sich allerdings aus der bestimmung dieser punkte bis zu einem 
gewissen grade mit notwendigkeit, aber auch nur bis zu einem gewissen 
grade. Am deutlichsten lässt sich diese continuität an den sogenannten 
diphthongen erkennen, die eine solche reihe von unendlich vielen 
elementen darstellen, vgl. Sievers Phonetik ^ §19, 1 a. Durch Sievers 
ist überhaupt zuerst die bedeutung der übergangslaute nachdrücklich 
hervorgehoben. Aus dieser continuität des wortes aber folgt, dass 


49 

eine Vorstellung von den einzelnen teilen nieht etwas von selbst 
gegebenes sein kann, sondern erst die frucht eines, wenn aneh noeh 
so primitiven, wissenschafkliehen nachdenkens, wozu zuerst das prak- 
tische bedürfniss der lautschrift geführt hat. 

Was von dem lautbilde gilt, das gilt natürlich auch von dem 
bewegungsgeflihle. Ja wir müssen hier noch weiter gehen. Es kann 
gar keine rede davon sein, dass der einzelne eine Vorstellung von 
den verschiedenen bewegungen hätte, die seine organe beim sprechen 
machen. Man weiss ja, dass dieselben erst durch die sorgfältigste 
wissenschaftliche beobachtung ermittelt werden können, und dass über 
viele punkte auch unter den forschem controversen bestehen. Selbst 
die oberflächlichsten und gröbsten anschauungen von diesen bewegungen 
kommen erst durch eine mit absieht darauf gelenkte aufmerksamkeit 
zu stände. Sie sind auch ganz überflüssig um mit aller exactheit laute 
und lautgruppen hervorzubringen, auf die man einmal eingeübt ist. 
Der hergang scheint folgender zu sein. Jede bewegung erregt in 
bestimmter weise gewisse sensitive nerven und ruft so eine empfindung 
hervor, welche sich mit der leitung der bewegung von ihrem centrum 
durch die motorischen nerven associiert Ist diese association hin- 
länglich fest geworden und das von der empfindung hinterlassene 
erinnerungsbild hinlänglich stark, was in der regel erst durch einübung 
erreicht wird (d. h. durch mehrfache widerholung der gleichen bewegung, 
vielleicht mit vielen missglückten versuchen untermischt), dann vermag 
das erinnerungsbild der empfindung die damit associierte bewegung 
als reflex zu reproducieren , und wenn die dabei erregte empfindung 
zu dem erinnerungsbilde stimmt, dann hat man auch die Versicherung, 
dass man die nämliche bewegung wie früher ausgeführt hat 

Man könnte aber immerhin einräumen, dass der grad der bewusst- 
heit, welchen die einzelnen momente des lautbildes und des bewegungs- 
geftthles durch erlemung der schrift und sonst durch reflexion erlangen, 
ein viel grösserer wäre, als er wirklich ist; man könnte einräumen, 
dass zur erlemung der muttersprache sowol wie jeder fremden ein 
ganz klares bewusstsein dieser demente erforderlich wäre, wie denn 
unzweifelhaft ein höherer grad von klarheit erforderlich ist als bei der 
an^vendung des eingeübten: daraus würde aber nicht folgen, dass es 
nun aneh immerfort wider in der täglichen rede zu dem selben grade 
der klarheit kommen müsste. Vielmehr liegt es in der natur des 
psychischen Organismus, dass alle anfangs nur bewusst wirkenden Vor- 
stellungen durch Übung die fähigkeit erlangen auch unbewusst zu 
wirken, und dass erst eine solche unbewusste Wirkung einen so raschen 
ablauf der Vorstellungen möglich macht, wie er in allen lagen des 
täglichen lebens und auch beim sprechen erfordert wird. Selbst der 

Paul, Principicn. Tl. Auflage. 4 


50 

laatphysiologe yon beruf wird sehr vieles sprechen nnd hören, ohne 
dass bei ihm ein einziger lant zu klarem bewnsstsein gelangt. 

Fttr die benrteilung des natürlichen, durch keine art von schul- 
meisterei geregelten sprachlebens muss daher durchaus an dem grund- 
Satze festgehalten werden, dass die laute ohne klares bewusstsein erzeugt 
und pereipiert werden. Hiermit fallen alle erklärungstheorieen , welche 
in den seelen der individuen eine Vorstellung von dem lautsystem der 
Sprache voraussetzen, wohin z. b. mehrere hypothesen über die germa- 
nische lautverschiebung gehören. 

Anderseits aber schliesst die unbewusstheit der demente nicht 
eine genaue controlle aus. Mann kann unzählige male eine gewohnte 
lautgruppe sprechen oder hören, ohne jemals daran zu denken, dass 
es eben diese, so und so zusammengesetzte gruppe ist: sobald aber 
in einem demente eine abweichung * von dem gewohnten eintritt, die 
nur sehr geringfügig zu sein braucht, wird sie bemerkt, wofern keine 
besondem hemmungen entgegenstehen, wie überhaupt jede abweiehung 
von dem gewohnten unbewussten verlauf der Vorstellungen zum be- 
wusstsein zu gelangen pflegt. Natürlich ist mit dem bewusstsein der 
abweiehung nicht auch schon das bewusstsein der natür und Ursache 
der abweiehung gegeben. 

Die möglichkeit der controlle reicht soweit wie das unterschei- 
dungsvermögen. Dieses aber gebt nicht bis ins unendliche, während 
die möglichkeit der abstufung in den bewegungen der Sprechorgane 
und natürlich auch in den dadurch erzeugten lauten allerdings eine 
unendliche ist. So liegt zwischen a und t sowol wie zwischen a und 
u eine unbegränzte zahl möglicher stufen des vocalklanges. Ebenso 
lassen sich die articnlationsstellen sämmtlicher zungen-gaumenlaute 
in dem bilde einer continuierten linie darstellen, auf welcher jeder punkt 
der bevorzugte sein kann. Zwischen ihnen und den lippenlauten ist 
allerdings kein so unmerklicher Übergang möglich; doch stehen die 
denti- labialen in naber beziehung zu den denti -lingualen (th—fj. 
Ebenso ist auch der Übergang von verschlusslaut zu reibdaut und 
umgekehrt allmählig zu bewerkstelligen; denn vollständiger verschluss 
und möglichste Verengung liegen unmittelbar beisammen. Vollends 
alle unterschiede der Quantität, der tonhöhe, der energie in der arti- 
culation oder in der expiration sind in unendlich vielen abstofiingen 
denkbar. Und so noch vieles andere. Dieser umstand ist es vor allem, 
durch welchen der lautwandel begreiflich wird. 

Bedenkt man nun, dass es nicht bloss auf die unterschiede in 
denjenigen lauten ankommt, in die man gewöhnlich ungenauer weise 
das wort zerlegt, sondern auch auf die unterschiede in den Übergangs- 


51 

lauten, im accent, im tempo etc., bedenkt man ferner, dass immer 
ungleiche teilchen je mit einer reihe von gleichen teilchen zusammen- 
gesetzt sein können, so erhellt, dass eine ausserordentlich grosse 
mannigfaltigkeit der lautgruppen möglich ist, auch bei verhältnissmässig 
geringer differenz. Deshalb können auch recht merklich verschiedene 
gruppen wegen ihrer ttberwiegenden ähnlichkeit immer noch als wesent- 
lich identisch empfunden werden, und dadurch ist das verständniss 
zwischen angehörigen verschiedener dialecte möglich, so lange die 
Verschiedenheiten nicht ttber einen gewissen grad hinausgehen. Des- 
halb kann es aber auch eine anzahl von Variationen geben, deren 
Verschiedenheit man entweder gar nicht oder nur bei besonders darauf 
gerichteter aufmerksamkeit wahrzunehmen im stände ist. 

Die frtthe kindheit ist ftlr jeden einzelnen ein Stadium des ex- 
perimentierens, in welchem er durch mannigfache bemtthungen allmählig 
lernt, das ihm von seiner Umgebung vorgesprochene nachzusprechen. 
Ist dies erst in möglichster Vollkommenheit gelungen, so tritt ein ver- 
hältnissmässiger stillstand ein. Die früheren bedeutenden Schwankungen 
hören auf, und es besteht fortan eine grosse gleichmässigkeit in der 
ausspräche, sofern nicht durch starke einwirkungen fremder dialecte 
oder einer Schriftsprache Störungen eintreten. Die gleichmässigkeit 
kann aber niemals eine absolute werden. Geringe Schwankungen 
in der ausspräche des gleichen wertes an der gleichen satzstelle sind 
unausbleiblich. Denn überhaupt bei jeder bewegung des körpers, mag 
sie auch noch so eingeübt, mag das bewegungsgefühl auch noch so 
vollkommen entwickelt sein, bleibt doch noch etwas Unsicherheit 
übrig, bleibt es doch noch bis zu einem gewissen, wenn 'auch noch 
so geringen grade dem zufall überlassen, ob sie mit absoluter exactheit 
ausgeführt wird, oder ob eine kleine ablenkung von dem regelrechten 
wege nach der einen oder andern seite eintritt. Auch der geübteste 
schütze verfehlt zuweilen das ziel und würde es in den meisten fällen 
verfehlen, wenn dasselbe nur ein wirklicher punkt ohne alle aus- 
dehnung wäre, und wenn es an seinem geschosse auch nur einen 
einzigen punkt gäbe, der das ziel berühren könnte. Mag jemand auch 
eine noch so ausgeprägte handschrift haben, deren durchstehende 
eigentttmlichkeiten sofort zu erkennen sind, so wird er doch nicht die 
gleichen buchstaben und buchstabengruppen jedesmal in völlig gleicher 
weise producieren. Nicht anders kann es sich mit den bewegungen 
verhalten, durch welche die laute erzeugt werden. Diese Variabilität 
.der ausspräche, die wegen der engen grenzen, in denen sie sich 
bewegt, unbeachtet bleibt, enthält den Schlüssel zum verständniss der 
sonst unbegreiflichen tatsache, dass sich allmählig eine Veränderung 
des usus, in bezug auf die lautliche seite der spräche vollzieht, ohne 

4* 


52 

dass diejenigen, an welchen die yerändernng vor sich geht, die 
geringste ahnung davon haben. 

Wttrde das bewegnngsgefühl als erinnernngsbild immer nnver- 
ändert bleiben, so würden sich die kleinen Schwankungen immer um 
den selben punkt mit dem selben maximum des abstandes bewegen. 
Nun aber ist dies geftthl das product aus sämmtlichen frttberen bei 
ausfbhrung der betreffenden bewegung empfangenen eindrücken, und 
zwar verschmelzen nach allgemeinem gesetze nicht nur die völlig iden- 
tischen, sondern auch die unmerklich von einander verschiedenen ein- 
drücke mit einander. Ihrer Verschiedenheit entsprechend muss sieh 
auch das bewegungsgefühl mit jedem neuen eindruck etwas umgestalten, 
wenn auch noch so unbedeutend. Es ist dabei noch von Wichtigkeit, 
dass immer die späteren eindrücke stärker nachwirken als die früheren. 
Man kann daher das bewegungsgeftthl nicht etwa dem durchschnitt 
aller während des ganzen lebens empfangenen eindrücke gleichsetzen, 
sondern die an zahl geringeren können das gewicht der häufigeren 
durch ihre frische übertragen. Mit jeder Verschiebung des bewegnngs- 
gefühls ist aber auch, vorausgesetzt, dass die weite der möglichen 
divergenz die gleiche bleibt, eine Verschiebung der grenzpunkte dieser 
divergenz gegeben. 

Denken. wir uns nun eine linie, in der jeder punkt genau fixiert 
ist, als den eigentlich normalen weg der bewegung, auf den das be- 
wegungsgefUhl hinführt, so ist natürlich der abstand von jedem punkte, 
der als maximum bei der wirklich ausgeführten bewegung ohne Wider- 
spruch mit dem bewegungsgefühl statthaft ist, im allgemeinen nach 
der einen seite gerade so gross als nach der entgegengesetzten. Da- 
raus folgt aber nicht, dass die wirklich eintretenden abweichnngen 
sich nach zahl und grosse auf beide selten gleichmässig verteilen 
müssen. Diese abweichnngen, die durch das bewegungsgefühl nicht 
bestimmt sind, haben natürlich auch ihre Ursachen, und zwar Ursachen, 
die vom bewegungsgefühle ganz unabhängig sind. Treiben solche Ur- 
sachen genau gleichzeitig mit genau gleicher stärke nach entgegen- 
gesetzten richtungen hin, so heben sich ihre Wirkungen gegenseitig 
auf, und die bewegung wird mit voller exactheit ausgeführt. Dieser 
fall wird nur äusserst selten eintreten. Bei weitem in den meisten 
fällen wird sich das Übergewicht nach der einen oder der andern seite 
neigen. Es kann aber das verhältniss der kräfte nach umständen 
mannigfach wechseln. Ist dieser Wechsel für die eine seite so günstig 
wie für die andere, wechselt im durchschnitt eine Schwankung nach, 
der einen seite immer mit einer entsprechenden nach der andern, so 
werden auch die minimalen Verschiebungen des bewegungsgefllhls 
immer alsbald wider paralysiert. Ganz anders aber gestalten sich die 


. 53 

diDge, wenn die Ursachen, die nach der einen seite drängen, das über- 
gewicht ttber die entgegengesetzt wirkenden haben, sei es in jedem 
einzelnen falle, sei es auch nnr in den meisten. Mag die anfängliche 
abweichnng auch noch so gering sein, indem sich dabei auch das be- 
wegnngsgefühl um ein minimum verschiebt, so wird das nächste mal 
schon eine etwas grössere abweichnng von dem ursprünglichen mög- 
lich und damit wider eine Verschiebung des bewegungsgeftthls , und 
so entsteht durch eine summierung von Verschiebungen, die man sich 
kaum klein genug vorstellen kann, allmählig eine merkliche differenz, 
sei es, dass die bewegung stetig in einer bestimmten richtung fort- 
schreitet, sei es, dass der fortschritt immer wider durch rückschritte 
unterbrochen wird, falls nur die letzteren seltener und kleiner sind als 
die ersteren. 

Die Ursache, warum die neigung zur abweichnng nach der einen 
Seite hin grösser ist als nach der andern, kann kaum anders worin 
gesucht werden, als dass die abweichnng nach der ersteren den 
Organen des sprechenden in irgend welcher hinsieht bequemer ist. 
Das wesen dieser grösseren oder geringeren bequemlichkeit zu unter- 
suchen ist eine rein physiologische aufgäbe. Damit soll nicht gesagt 
sein, dass sie nicht auch psychologisch bedingt ist. Accent und tempo, 
die dabei von so entscheidender bedeutung sind, auch die energie der 
muskeltätigkeit sind wesentlich von psychischen bedingungen abhängig, 
aber ihre Wirkung auf die lautverhältnisse ist doch etwas physio- 
logisches. Bei der progressiven assimilation kann es nur die Vor- 
stellung des noch zu sprechenden lautes sein, was auf den vorher- 
gehenden einwirkt; aber das ist ein gleichmässig durchgehendes psy- 
chisches verhältniss von sehr einfacher art, während alle specielle 
bestimmung des assimilationsprocesses auf einer Untersuchung ttber 
die physische erzeugung der betreffenden laute basiert werden muss. 

Für die aufgäbe, die wir uns hier gestellt haben, genügt es auf 
einige allgemeine gesichtspunkte hinzuweisen. Es gibt eine grosse 
zahl von fällen, in denen sich schlechthin sagen lässt: diese lautgruppe 
ist bequemer als jene. So sind ital. otto, cattivo zweifellos bequemer 
zu sprechen als lat. octo, nhd. empfangen, als ein nicht von aus- 
gleichung betroffenes ^entfangen sein würde. Vollständige und par- 
tielle assimilation ist eine in allen sprachen widerkehrende erscheinung. 
Wenn es sich dagegen um den einzellaut handelt, so lassen sich kaum 
irgend welche allgemeine grundsätze über grössere oder geringere be- 
quemlichkeit des einen oder andern aufstellen, und alle aus beschränkten 
gebieten abstrahierten theorieen darüber zeigen sich in ihrer nichtig- 
keit einer reicheren erfahrung gegenüber. Und auch für die com- 
bination mehrerer laute lassen sich keineswegs durchweg allgemeine 


bestimmungen geben. Zunächst hängt die bequemlichkeit ^u einem 
guten teile von den quantitätsverhältnissen und von der aecentuation, 
der exspiratorisehen wie der musikalischen ab. Für die lange silbe 
ist etwas anderes bequem als für die kurze, für die betonte etwas 
anderes als für die unbetonte, für den circumfiex etwas anderes als 
für den gravis oder acut. Weiter aber richtet sich die bequemlichkeit 
nach einer menge von Verhältnissen, die für jedes Individuum ver- 
schieden sein, aber auch grösseren gruppen in gleicher oder ähnlicher 
weise zukommen können, ohne von andern geteilt zu werden. Ins- 
besondere wird dabei ein punkt zu betonen sein. Es besteht in allen 
sprachen eine gewisse harmonie des lautsystems. Man sieht daraus, 
dass die richtung, nach welcher ein laut ablenkt, mitbedingt sein 
muss durch die richtung der übrigen laute. Wie Sievers hervorgehoben 
hat, kommt dabei sehr viel auf die sogenannte indifferenzlage der 
Organe an. Jede Verschiedenheit derselben bedingt natürlich auch eine 
Verschiedenheit in bezug auf die bequemlichkeit der einzelnen laute. 
Eine allmählige Verschiebung der indifferenzlage wird ganz nach 
analogie dessen, was wir oben über die des bewegungsgefühls gesagt 
haben, zu beurteilen sein. 

Es ist von grosser Wichtigkeit sich stets gegenwärtig zu halten, 
dass die bequemlichkeit bei jeder einzelnen lautproduction immer nur 
eine sehr untergeordnete nebenursache abgibt, während das bewegangs- 
gefühl immer das eigentlich bestimmende bleibt. Einer der gewöhn- 
lichsten Irrtümer, dem man immer wider begegnet, besteht darin, dass 
eine in einem langen Zeiträume durch massenhafte kleine Verschie- 
bungen entstandene Veränderung auf einen einzigen akt des bequem- 
lichkeitsstrebens zurückgeführt wird. Dieser Irrtum hängt zum teil mit 
der art zusammen, wie lautregeln in der praktischen grammatik und 
danach auch vielfach in grammatiken, die den anspruch auf wissen- 
schaffclichkeit erheben, gefasst werden. Man sagt z. b. : wenn ein tönen- 
der consonant in den auslaut tritt, so wird er in dieser spräche zu 
dem entsprechenden tonlosen (vgl, mhd. mde — meit, ribe — reip\ als 
ob man es mit einer jedesmal von neuem eintretenden Veränderung 
zu tun hätte, die dadurch veranlasst wäre, dass dem auslaut der ton- 
lose laut bequemer liegt. In Wahrheit aber ist es dann das durch 
die Überlieferung ausgebildete bewegungsgefühl, welches den tonlosen 
laut erzeugt, während die allmählige reducierung des stimmtons bis 
zu gänzlicher Vernichtung und die etwa damit verbundene Verstärkung 
des exspirationsdruckes einer vielleicht schon längst vergangenen zeit 
angehören. Ganz verkehrt ist es auch, das eintreten eines lautwandels 
immer auf eine besondere trägheit, lässigkeit oder Unachtsamkeit zu- 
rückzuführen und das unterbleiben desselben anderswo einer besondem 


/ 


55 

Sorgfalt und aufmerksamkeit zuzuschreiben. Wol mag es sein, dass 
das bewegungsgeflihl nicht überall zu der gleichen Sicherheit aus- 
gebildet ist. Aber irgend welche, anstrengung zur Verhütung eines 
lantwandels gibt es nirgends. Denn die betreffenden haben gar keine 
ahnung davon, dass es etwas derartiges zu verhüten gibt, sondern 
leben immer in den. guten glauben, dass sie heute so sprechen, wie Mw 
sie vor jähren gesprochen haben, und dass sie bis an ihr ende so 
weiter sprechen werden. Würde jemand im stände sein die organ^ 
bewegungen, die er vor vielen jahre^ zur hervorbringung eines Wortes (h^ 
gemacht hat, mit den gegenwärtigen zu vergleichen, so würde ihm 
vielleicht ein unterschied auffallen. Dazu gibt es aber keine möglich- 
keit Der einzige massstab, mit dem er messen kann, ist immer das 
bewegungsgefUhl, und dieses ist entsprechend modificiert, ist so, wie 
es zu jener zeit gewesen ist, nicht mehr in der seele. 

Eine controlle aber gibt es dennoch, wodurch der eben ge- 
schilderten entwickelung des einzelnen individuums eine mächtige 
hemmung entgegengesetzt wird: das ist das lautbild. Während sich 
das bewegungsgefUhl nur nach den eigenen bewegungen bildet, gestaltet 
sich das lautbild ausser aus dem selbstgesprochenen auch aus allem 
dem, was man von denjenigen hört, mit denen man in verkehrsgemein- 
schaft steht. Träte nun eine merkliche Verschiebung des bewegungs- 
gefühles ein, der keine entsprechende Verschiebung des lautbildes zur 
Seite stünde, so würde sich eine discrepanz ergeben zwischen dem 
durch ersteres erzeugten laute und dem aus den früheren empfindungen 
gewonnenen lautbilde. Eine solche discrepanz wird vermieden, indem 
sieh das bewegungsgefUhl nach dem lautbilde corrigiert. Dies ge- 
schieht in der selben weise, wie sich zuerst in der kindheit das be- 
wegungsgeftlhl nach dem lautbilde regelt, Es gehört eben zum eigen- 
sten wesen der spräche als eines Verkehrsmittels, dass der einzelne 
sieh in steter Übereinstimmung mit seinen verkehrsgenossen fühlt. 
Natürlich besteht kein bewusstes streben danach, sondern die forderung 
solcher Übereinstimmung bleibt als etwas selbstverständliches unbewusst. 
Dieser forderung kann auch nicht mit absoluter exactheit nachge- 
kommen werden. Wenn schon das bewegungsgefUhl des einzelnen 
seine bewegungen nicht völlig beherrschen kann und selbst kleinen 
Schwankungen ausgesetzt ist, so muss der freie Spielraum fär die 
bewegung, der innerhalb einer gruppe von Individuen besteht, natür- 
lich noch grösser sein, indem es dem bewegungsgefühle jedes einzelnen 
doch niemals gelingen wird dem lautbilde, das ihm vorschwebt, voll- 
ständig genüge zu leisten. Und dazu kommt noch, dass auch dies 
lautbild wegen der bestehenden differenzen in den lautempfindungen 
sich bei jedem einzelnen etwas anders gestalten muss und gleichfalls 


56 

beständigeii schwankangen unterworfen ist. Aber ttber ziemlich enge 
grenzen hinans können aneh diese Schwankungen innerhalb einer 
durch intensiven verkehr verknttpften gruppe nicht gehen. Sie werden 
auch hier unmerkUeh oder, wenn auch bei genauerer beobachtung be- 
merkbar, so doch kaum definierbar oder gar, selbst mit den mittein 
des vollkommensten alphabetes, bezeichenbar sein. Wir können das 
nicht nur a priori vermuten, sondern an den lebenden mundarten tat- 
sächlich beobachten, natürlich nicht an solchen, die einen abgestuften 
einfluss der Schriftsprache zeigen. Finden sich auch hie und da bei 
einem einzelnen , z. b. in folge eines organischen fehlers stärkere ab- 
weichungen, so macht das für das ganze wenig aus. 

So lange also der einzelne mit seiner tendenz zur abweichung 
für sich allein den verkehrsgenossen gegenüber steht, kann er dieser 
tendenz nur in verschwindend geringem masse nachgeben, da ihre 
Wirkungen immer wider durch regulierende gegenwirkungen paralysiert 
werden. Eine bedeutendere Verschiebung kann nur eintreten, wenn 
sie bei sämmtlichen individuen einer gruppe durchdringt, die wenigstens 
im verhältniss zu der Intensität des Verkehrs im innern, nach aussen 
hin einen gewissen grad von abgeschlossenheit hat. Die möglichkeit 
eines solchen Vorganges liegt in denjenigen fällen klar auf der band, 
wo die abweichung allen oder so gut wie allen Sprechorganen be- 
quemer liegt als die genaue innehaltung der richtung des bewegangs- 
gefühls. Sehr kommt dabei mit in betracht, dass die schon vorhandene 
Übereinstimmung in accent, tempo etc. in die gleichen bahnen treibt. 
Das selbe gilt von der Übereinstimmung in der indifferenzlage. Aber 
das reicht zur erklärung bei weitem nicht aus. Wir sehen ja, dass 
von dem selben ausgangspunkte aus sehr verschiedenartige entwicke- 
lungen eintreten, und zwar ohne immer durch accentveränderangen 
oder sonst irgend etwas bedingt zu sein, was seinerseits psychologische 
veranlassung hat. Und wir müssen immer wider fragen: wie kommt 
es, dass gerade die individuen dieser gruppe die und die Veränderung 
gemeinsam durchmachen. Man hat zur erklämng die Übereinstimmung 
in klima, bodenbeschaffenheit und lebensweise herbeigezogen. Es ist 
aber davon zu sagen, dass bisher auch nicht einmal der anfang zu 
einer methodischen materialiensammlung gemacht ist, aus der sich die 
abhängigkeit der sprachentwickelung von derartigen einflüssen wahr- 
scheinlich machen liesse. Was im einzelnen in dieser hinsieht be- 
hauptet ist, lässt sich meist sehr leicht ad absurdum führen. Kaum 
zu bezweifeln ist es, dass eigentümlichkeiten der Sprechorgane sich 
vererben, und nähere oder weitere Verwandtschaft ist daher gewiss 
mit zu den umständen zu rechnen, die eine grössere oder geringere 
Übereinstimmung im bau der organe bedingen. Aber sie ist es nicht 


57 

allein, wovon der letztere abhängt Und ebensowenig hängt die sprach- 
entwickelang allein vom bau der organe ab. Ueberdies aber tritt die 
dialectisehe Scheidung nnd znsammenschliessnng sehr vielfach mit der 
leibUehen verwandtschaff; in widersprach. Man wird sich demnach 
immer vergeblich abmühen, wenn man versacht das zusammentreffen 
aller individuen einer gruppe lediglich als etwas spontanes zu erklären, 
nnd dabei den andern neben der Spontaneität wirkenden factor über- 
sieht, den zwang der Verkehrsgemeinschaft. 

Gehen wir davon ans, dass jedes individuum besonders veranlagt 
nnd in besonderer weise entwickelt ist, so ist damit zwar die möglich- 
keit ausserordentlich vieler Variationen gegeben, nimmt man aber jedes 
einzelne moment, was dabei in betracht kommt, isoliert, so ist die zähl 
der möglichen Variationen doch nur eine geringe. Betrachten wir die 
Veränderungen jedes einzelnen lautes für sich, und unterscheiden wir 
an diesem wider Verschiebung, der articulationsstelle , Übergang von 
verschluss zu engenbildang und umgekehrt, Verstärkung oder Schwächung 
des exspirationsdruckes u. s. f., so werden wir häufig in der läge sein 
nur zwei möglichkeiten der abweichung zu erhalten. So kann z. b. 
das a sich zwar nach und nach in alle möglichen vocale wandeln, 
aber die richtung in der es sich bewegt, kann zunächst doch nur ent- 
weder die auf t oder die auf u sein. Nun kann es zwar leicht sein, 
dass sich die zwei oder drei möglichen richtungen in einem grossen 
Sprachgebiete, alles zusammengefasst, ungefähr die wage halten. Es 
ist aber sehr unwahrscheinlich, dass das an allen verschiedenen punkten 
zu jeder zeit der fall sein sollte. Der fall, dass in einem durch be- 
sonders intensiven verkehr zusammengehaltenen gebiete die eine ten- 
denz das Übergewicht erlangt, kann sehr leicht eintreten lediglich durch 
das spiel des zafalls, d. h. auch wenn die Übereinstimmung der mehr- 
heit nicht durch einen nähern innem Zusammenhang gegenüber den 
ausserhalb der gruppe stehenden individuen bedingt ist, und wenn die 
nrsachen, die nach dieser bestimmten richtung treiben, bei den einzelnen 
vielleicht ganz verschiedene sind. Das Übergewicht einer tendenz in 
einem solchen beschränkten kreise genügt um die entgegenstehenden 
hemmungen zu überwinden. Es wird die veranlassung, dass sich der 
Verschiebung des bewegungsgefühles, wozu die majorität neigt, eine 
Verschiebung des lautbildes nach der entsprechenden richtung zur seite 
stellt Der einzelne ist ja in bezug auf gestaltung seiner lautvor- 
stellungen nicht von allen mitgliedern der ganzen Sprachgenossenschaft 
abhängig, sondern immer nur von denen, mit welchen er in sprach- 
lichen verkehr tritt, und widerum von diesen nicht in gleicher weise, 
sondern in sehr verschiedenem masse je nach der häufigkeit des Ver- 
kehres und nach dem grade, in welchem sich ein jeder dabei betätigt 


58 

Es kommt nicht darauf an, von wie vielen menschen er diese oder 
jene eigentUmliehkeit der ausspräche hört, sondern lediglieh darauf, 
wie oft er sie hört Dabei ist noch zu berücksichtigen, das dasjenige, 
was von der gewöhnlich vernommenen art abweicht, wider unter sieli 
verschieden sein kann, und dass dadurch die von ihm ausgeübten 
Wirkungen sieh gegenseitig stören. Ist nun aber durch beseitignng 
der vermittelst des Verkehres geübten hemmung eine definitive Ver- 
schiebung des bewegungsgefühles eingetreten, so ist bei fortwirken der 
tendenz eine weitere kleine abweichung nach der gleichen seite er- 
möglicht. Mittlerweile wird aber auch die minorität von der bewegang 
mit fortgerissen. Genau dieselben gründe, welche der minderheit nicht 
gei^tatten in fortschrittlicher bewegung sieh zu weit vom allgemeinen 
usus zu entfernen, gestatten ihr auch nicht hinter dem fortschritt der 
mehrheit erheblich zurückzubleiben. Denn die überwiegende häufigkeit 
einer ausspräche ist der einzige masstab für ihre correctheit and 
mustergültigkeit. Die bewegung geht also in der weise vor sieh, dass 
immer ein teil etwas vor dem durchschnitt voraus, ein anderer etwas 
hinter demselben zurück ist, alles aber in so geringem abstände von 
einander dass niemals zwischen Individuen, die in gleich engem ver- 
kehr unter einander stehn, ein klaffender gegensatz hervortritt. 

Innerhalb der nämlichen generation werden auf diese weise immer 
nur sehr geringfügige Verschiebungen zu stände kommen. Merklichere 
Verschiebungen erfolgen erst, wenn eine ältere generation durch eine 
neu heranwachsende verdrängt ist. Zunächst, wenn eine Verschiebung 
schon bei der majorität durchgedrungen ist, während ihr eine minorität 
noch widersteht^ so wird sich das heranwachsende geschlecht natur- 
gemäss nach der majorität richten, zumal wenn die ausspräche der- 
selben die bequemere ist. Mag nun die minorität auch bei der älteren 
gewohnheit verharren, sie stirbt allmählig aus. Weiterhin aber kann 
es sein, dass sich das bewegungsgefühl der jungem generation von 
anfang an nach einer bestimmten richtung hin abweichend von dem 
der älteren gestaltet. Die selben grüiide, welche bei der älteren 
generation zu einer bestimmten art der abweichung von dem schon 
ausgebildeten bewegungsgefühl treiben, müssen bei der jüngeren auf 
die anfängliche gestaltung desselben wirken. Man wird also wol sagen 
können, dass die hauptveranlassung zum lautwandel in der 
Übertragung der läute auf neue Individuen liegt. Für diesen 
Vorgang ist also der ausdruck wandel, wenn man sich an das wirk- 
lich tatsächliche hält, gar nicht zutreffend, es ist vielmehr eine ab- 
weichende neuerzeugung. 

Bei der erlernung der spräche werden nur die laute überliefert, 
nicht die bewegungsgeflihle. Die Übereinstimmung der selbsterzeugten 


59 

mit den von anderen gehörten lauten gibt dem einzelnen die gewähr 
dafür, dass er richtig spricht. Dass dann aach das bewegnngsgefbhl 
sich in annähernd gleicher weise gebildet hat, kann nnr unter der 
Voraussetzung angenommen werden, dass annähernd gleiche laute nur 
durch annähernd gleiche bewegungen der spreehorgane erzeugt werden 
können. Ist es möglieh, durch verschiedene bewegungen einen an- 
nähernd gleichen laut zu erzeugen, so muss es auch möglich sein, 
dass sich das bewegungsgeftihl desjenigen , der die spräche erlernt, 
anders gestaltet als dasjenige der personen, von denen er sie lernt. 
Für einige wenige fälle wird wol eine solche abweichende gestaltung 
des bewegungsgeflihles als möglich zugegeben werden müssen. So 
sind z. b. die dorsalen t- und ^-laute im klänge nicht sehr von den 
alveolaren verschieden, trotzdem die articulation wesentlich verschieden 
ist. Linguales und uvulares r sind zwar noch ziemlich leicht zu unter- 
scheiden, und es pflegt auch, so viel mir bekannt ist, in den ver- 
schiedenen mundarten entweder das eine oder das andere durch- 
zugehen ; aber der Übergang des einen in das andere ist doch wol kaum 
anders zu erklären, als dass abweichende hervorbringungen nicht corri- 
gieii; wurden, weil die abweichungen des klanges nicht genug auffielen. 

Es gibt nun noch andere lautliche Veränderungen, die nicht auf 
einer Verschiebung oder abweichenden gestaltung des bewegungsgefühls 
beruhen, die man also von dem bisher geschilderten lautwandel im 
engeren sinne zu scheiden hat, die aber das mit ihm gemein haben, 
dass sie ohne rücksicht auf die function des Wortes vor sich gehen. 
£s handelt sich hierbei nicht um eine Veränderung der demente, aus 
denen sich die rede zusammensetzt, durch Unterschiebung, sondern nur 
am eine vertauschung dieser demente in bestimmten einzelnen fällen, i) 

Es gehört hierher zunächst die erscheinung der metathesis. 
Es sind zwei hauptarten zu unterscheiden. Erstens: zwei unmittelbar 
auf dnander folgende laute werden umgestellt, vgl. angelsächsisch 
fix = ahd. fisc, first = fr ist, iman == rinnan. Zweitens: zwei nicht 
auf einander folgende laute vertauschen ihre stellen, vgl. ahd. erila 
neben elira = nhd. erle — eller, ags. weleras lippen gegen got. wairilos, 
ahd. ezzih, welches vor der lautverschiebung ^etik gelautet haben 
muss, = lat. acetum\ it. dialectisch grolioso = glorioso, crompare = 
comprare; mhd. kokodriüe == lat crocodilus. 

Ferner gehören hierher assimilationen zwischen zwei nicht- 
benachbarten lauten wie lat. quinque aus *pinque, urgermanisch *finfi 
(fünf) = *finhrvi u. dergl. 

Häufiger sind dissimilationen zwischen zwei nicht aneinander 
angrenzenden ähnlichen lauten, vgl. ahd. turtiltüba aus lat. turtur, 

1) Vgl. Brugmann, Zum heutigen stand der Sprachwissenschaft s. 50. 


60 

marmul ans lat. marmor, mhd. martel neben marter ans martyrium, 
priol neben prior, umgekehrt mhd. pheller neben phellel aas lat pal- 
lioium; ahd. fluobra (trost) gegen asächs. /rd/ra und ags. frdfor, mhd. 
kaladrius neben karadriusy mittellat. pelegrinus aus peregrinus, ^ 

Als dissimilation kann auch der ausfall eines lautes betrachtet 
werden, wenn er dadurch veranlasst ist, dass der gleiche laut in der 
nähe steht, vgl. griech. ÖQvgxxxrog (hölzerner verschlag) aus ^Qaoam 
abgeleitet, Ix^ra/Ao^ aus jtXijooco. Ebenso der ausfall einer ganzen 
Silbe neben einer ähnlichen , mit dem gleichen consonanten anlautenden, 
vgl. rjiiidinvov neben tjfiifieöifivoVy ajitpoQhvq neben ang>iq)OQBvq^\ 
x6Xaiv6q>i]g statt *x€Xaivoveg)^g\ lat. semestris statt *semim€siris. 

Für diese Vorgänge weiss ich keine andere erklärung, als dass 
sie auf widerholtem versprechen beruhen, worin ein bedeutender teil 
der sprachgenossen spontan zusammengetroffen ist. Dass sich beim 
sprechen häufig die reihenfolge der Wörter, silben oder einzellante 
verschiebt, indem ein dement sich zu früh ins bewusstsein drängt, ist 
eine bekannte tatsache; ebenso, dass von zwei ähnlichen dementen 
leicht das eine ausgelassen wird. Es ist ferner bekannt, dass es be- 
sondere Schwierigkeiten macht ähnliche und doch verschiedene laute 
rasch hintereinander correct auszusprechen. Hierauf beruht ja der 
scherz mit sprechkunststüeken wie der kutscher putzt den posi- 
kutschkasten u. dgl. Dass es flir gewisse Versprechungen begün- 
stigende bedingungen gibt, dass sie daher bei verschiedenen personen 
und widerholt auftreten, wird auch nicht zu läugnen sein. Znr 
normalen form können dann die Versprechungen durch die ttberlieferung 
auf die jttngere generation werden. Am leichtesten begreifen sich 
diese Vorgänge, wenn sie fremdwörter betreffen, die dem eigenen idiom 
nicht geläufige lautfolgen enthalten. Bei diesen kommt ungenaue per- 
ception und mangelhafte einprägung hinzu. Die erscheinungen sind 
daher auch nicht immer leicht von denjenigen zu trennen, die wir in 
cap. 22 als lautsubstitution kennen lernen werden. Ebenso bedarf es 
in manchen fällen der erwägung, ob nicht Volksetymologie im spiele 
ist. Vollständig begreiflich ist mir in diesen dingen noch nicht alles. 

Es bleibt uns jetzt noch die wichtige frage zu beantworten , um 
die neuerdings so viel gestritten ist: wie steht es um die consequenz 
der lautgesetze? Zunächst müssen wir uns klar machen, was wir 
denn überhaupt unter einem lautgesetze verstehen. Das wort 'gesetz' 
wird in sehr verschiedenem sinne angewendet, wodurch leicht verwir- 

*) Reiches material bei Bechtel, lieber gegenseitige assimilation und dissimi- 
lation der beiden zitterlaute, GOttingen 1876. Doch möchte ich nicht alles von 
Bechtel beigebrachte als sicher hierher gehörig betrachten. 

^) Vgl. Delbrück. Die neueste Sprachforschung, s. 18 


61 

rang eatsteht.^ In dem sinne, wie wir in der physik oder chemie 
von gesetzen reden, in dem sinne, den ich im äuge gehabt habe, als 
ich die gesetzeswissenschaften den geschichtswissenschaffcen gegenüber 
stellte, ist der begriff ^lantgesetz' nicht zu verstehen. Das lautgesetz 
sagt nicht aus, was unter gewissen allgemeinen bedingungen immer 
wider eintreten muss, sondern es constatiert nur die gleichmässigkeit 
iDuerhalb einer gruppe bestimmter historischer erscheinungen. 

Bei der aufstellung von lautgesetzen ist man immer von einer 
vergleichnng ausgegangen. Man hat die Verhältnisse eines dialectes 
mit denen eines andern, einer älteren entwickelungsstufe mit denen 
einer jttngeren verglichen. Man hat auch aus der vergleichnng der 
verschiedenen Verhältnisse innerhalb des selben dialectes und der selben 
zeit lautgesetze abstrahiert. Von der letzteren art sind die regeln, die 
man auch in die praktische grammatik aufzunehmen pflegt. So ein 
satz, den ich wörtlich Krügers griechischer grammatik entlehne: ein t- 
lant vor einem andern geht regelmässig in a über; beispiele: awad^vai 
von avirto)^ sQsiöd^vac von e^dtöcoy neiöd-rjvai von jticd'co. Ich habe 
schon oben s. 54 hervorgehoben, dass man sich durch derartige regeln 
nicht zu der anschauung verführen lassen darf, dass die betreffenden 
lantttbergänge sieh immer von neuem vollziehen, indem man die eine 
form aus der andern bildet. Die betreffenden formen, die in einem 
derartigen verhältniss zu einander stehen, sind entweder beide gedächt- 
nissmässig aufgenommen, oder die eine ist aus der andern nach 
analogie gebildet, worüber in cap. 5. Ich bezeichne dies verhältniss 
im folgenden auch nicht als lautwandel, sondern als lautwechsel. 
Der lautwechsel ist nicht mit dem lautwandel identisch, sondern er 
ist nur eine nachwirkung desselben. Demgemäss dürfen wir auch den 
ansdruck lautgesetz nie auf den lautwechsel beziehen, sondern nur auf 
den lautwandel. Ein lautgesetz kann sich zwar durch die hinter- 
lassenen Wirkungen in den neben einander bestehenden Verhältnissen 
einer spräche refiectieren, aber als lautgesetz bezieht es sich niemals 
auf diese, sondern immer nur auf eine in einer ganz bestimmten periode 
vollzogene historische entwickelung. 

Wenn wir daher von consequenter Wirkung der lautgesetze reden, 
so kann das nur heissen, dass bei dem lautwandel innerhalb des selben 
dialectes alle einzelnen fälle, in denen die gleichen lautlichen be- 
dingungen vorli^en, gleichmässig behandelt werden. Entweder muss 
also, wo früher einmal der gleiche laut bestand, auch auf den späteren 
entwickelungsstufen immer der gleiche laut bleiben, oder, wo einq 
Spaltung in verschiedene laute eingetreten ist, da muss eine bestimmte 

*) Vgl. darüber besonders L. Tobler, lieber die anwendung des begriffs von 
gesetzen auf die spräche, Vierteljahrschrift f. wissenschaftl. Philosophie III, s. .32ff. 


62 

Ursache, nnd zwar eine Ursache rein lautlicher natnr wie einwirkung 
umgebender laute, accent, silbenstellnng u. dgl. anzugeben sein, warum 
in dem einen falle dieser, in dem andern jener laut entstanden ist 
Man muss dabei natttrlich sämmtliche momente der lauterzeugung in 
betracht ziehen. Namenth'ch muss man auch das wort nicht isoliert, 
sondern nach seiner Stellung innerhalb des satzgeftiges betrachten. Erst 
dann ist es möglich die consequenz in den lautveränderungen zu erkennen. 

Es ist nach den vorangegangenen erörterungen nicht schwer, die 
notwendigkeit dieser consequenz darzutun, soweit es sich um den 
eigentlichen lautwandel handelt, der auf einer allmähligen Verschiebung 
des bewegungsgeftlhles beruht; genauer genommen, mttssten wir aller- 
dings sagen die einschränkung der abweichungen von solcher con- 
sequenz auf so enge grenzen, dass unser unterscheidungungsvermögen 
nicht mehr ausreicht. 

Dass zunächst an dem einzelnen Individuum die entwickelnng 
sich consequent vollzieht, muss ftlr jeden selbstverständlich sein, der 
überhaupt das walten allgemeiner gesetze in allem geschehen an- 
erkennt Das bewegungsgefUhl bildet sich ja nicht ftlr jedes einzelne 
wort besonders, sondern ttberall, wo in der rede die gleichen demente 
widerkehren, wird ihre erzeugung auch durch das gleiche bewegungs- 
geftthl geregelt. Verschiebt sich daher das bewegungsgefUhl dnreh 
das aussprechen eines dementes in irgend einem werte, so ist diese 
Verschiebung auch massgebend für das nämliche dement in einem 
anderen werte. Die ausspräche dieses dementes in den verschiedenen 
Wörtern schwankt daher grade nur so wie die in dem nämlichen 
Worte iiinerhalb der selben engen grenzen. Schwankungen der aus- 
spräche, die durch schnelletes oder langsameres, lauteres oder leiseres, 
sorgfältigeres oder nachlässigeres sprechen veranlasst sind, werden 
immer das selbe dement in gleicher weise treffen, in was für einem 
Worte es auch vorkommen mag, und sie müssen sich immer in ent- 
sprechenden abständen vom normalen bewegen. 

Soweit es sich um die entwickelnng an dem einzelnen individunm 
handelt, ist es hauptsächlich ein einwand, der immer gegen die con- 
sequenz der lautgesetze vorgebracht wird. Man behauptet, dass das 
etymologische bewusstsein, die rücksicht auf die verwandten formen 
die Wirkung eines lautgesetzes verhindere. Wer das behauptet, mnss 
sich zunächst klar machen, dass damit die Wirksamkeit desjenigen 
factors, der zum lautwandel treibt, nicht verneint werden kann, nnr 
dass ein factor ganz anderer natur gesetzt wird, der diesem entgegen- 
wirkt Es ist durchaus nicht gleichgültig, ob man annimmt, dass ein 
factor bald wiikt, bald nicht wirkt, oder ob man annimmt, dass er 
unter allen umständen wirksam ist und seine Wirkung nur durch einen 


63 

andern factor paralysiert wird. Wie lässt sich nnn aber das chrono- 
logische verhältniss in der Wirkung dieser factoren denken? Wirken 
sie beide gleichzeitig, so dass es zn gar keiner Veränderung kommt, 
oder wirkt der eine nach dem andern, so dass die Wirkung des 
letzteren immer wider aufgehoben wird? Das erstere wäre nur unter 
der Voraussetzung denkbar, dass der sprechende etwas von der drohen- 
den Veränderung wttsste und sich im voraus davor zu httten suchte. 
Dass davon keine rede sein kann, glaube ich zur genttge auseinander- 
gesetzt zu haben. Gesteht man aber zu, dass die Wirkung des laut- 
lichen factors zuerst sich geltend macht, dann aber durch den andern 
factor wider aufgehoben wird, den wir als analogie im folgenden 
noch näher zu charakterisieren haben werden, so ist damit eben die 
consequenz der lautgesetze zugegeben. Man kann vernttnftigerweise 
höchstens noch darüber streiten, ob es die regel ist, dass sich die 
analogie schon nach dem eintritt einer ganz geringen differenz zwischen 
den etymologisch zusammenhängenden formen geltend macht, oder ob 
sie sich erst wirksam zu zeigen pflegt, wenn der riss schon klaffend 
geworden ist. Im princip ist das kein unterschied. Dass jedenfalls 
das letztere sehr häufig ist, lässt sich aus der erfahrung erweisen, wo- 
rttber weiter unten. Es liegt aber auch in der natur der sache, dass 
differenzen, die noch nicht als solche empfunden werden, auch das 
geflihl für die etymologie nicht beeinträchtigen und von diesem nicht 
beeinträchtigt werden. 

Ebenso zurückzuweisen ist die annähme, dass rttcksichten auf 
die klarheit und Verständlichkeit einer form einen lautttbergang ver- 
hinderten. Man stösst zuweilen auf Verhältnisse, die eine solche rück- 
sicht zu beweisen scheinen. So ist z. b. im nhd. das mittlere e der 
schwachen praeterita und participia nach t und ä erhalten {redete, 
rettete)^ während es sonst ausgestossen ist. Geht man aber in das 
sechszehnte Jahrhundert zurück, so findet man, dass bei allen verben 
doppelformigkeit besteht, einerseits zeigele neben zeigte, anderseits 
redte neben redete. Der lautwandel ist also ohne rücksicht auf Zweck- 
mässigkeit eingetreten, und nur für die erhaltung der formen ist ihre 
grössere Zweckmässigkeit massgebend gewesen. 

Somit kann also nur noch die frage sein, ob der verkehr der 
verschiedenen Individuen unter einander die veranlassung zu incon 
Sequenzen geben kann. Denkbar wäre das nur so, dass der einzelne 
gleichzeitig unter dem einflusse von mehreren gruppen von personeu 
stünde, die sich durch verschiedene lautentwickelung deutlich von ein- 
ander gesondert hätten, und dass er nun einige Wörter von dieser, 
andere von jener gruppö erlernte. Das setzt aber ein durchaus excep- 
tionelles verhältniss voraus. Normaler weise gibt es innerhalb der- 


64 

jenigen yerkehrsgenossenschaft, innerhalb deren der einzelne aafwäehst, 
mit der er in sehr viel innigerem verbände steht als mit der weiteren 
Umgebung, keine derartige dififerenzen. Wo nicht in folge besonderer 
geschichtlicher Veranlassungen grössere gruppen von ihrem ursprüng- 
lichen Wohnsitze losgelöst und mit andern zusammengewürfelt werden, 
wo die bevölkerung höchstens durch geringe ab- und zuzüge modi- 
ficiert, aber der hauptmasse nach constant bleibt, da können sich ja 
keine differenzen entwickeln, die als solche percipiert werden. Spricht 
A auch einen etwas anderen laut als B an der entsprechenden stelle, 
so verschmilzt doch die perception des einen lautes ebensowol wie 
die des anderen mit dem lautbilde, welches der hörende schon in 
seiner seele trägt, und es kann denselben daher auch nur das gleiche 
bewegungsgeftihl correspondieren. Es ist gar nicht möglich, dass sieh 
für zwei so geringe differenzen zwei verschiedene bewegungsgeftihle 
bei dem gleichen Individuum herausbilden. Es würde in der regel 
selbst dann nicht möglich sein, wenn die äussersten extreme, die inner- 
halb eines kleinen Verkehrsgebietes vorkommen, das einzig existierende 
wären. Würde aber auch der hörende im stände sein den unterschied 
zwischen diesen beiden zu erfassen, so würde doch die reihe von feinen 
vermittelungsstufen , die er immer fort daneben hört, es ihm unmög- 
lich machen eine grenzlinie aufrecht zu erhalten. Mag er also auch 
immerhin das eine wort häufiger und früher von leuten hören, die 
nach diesem extreme zuneigen, das andere häufiger und früher von 
solchen, die nach jenem extreme zuneigen, so kann das niemals ftlr 
ihn die veranlassung werden, dass sich ihm beim nachsprechen 
die erzeugung eines lautes in dem einen werte nach einem andern 
bewegungsgeftlhl regelt, als die erzeugung eines lautes in dem andern 
Worte, wenn das gleiche Individuum an beiden stellen einen identischen 
laut setzen würde. 

Innerhalb des gleichen dialects entwickelt sich also niemals eine 
inconsequenz, sondern nur in folge einer dialectmischung oder, wie wir 
genauer zu sagen haben werden, in folge der entlehnung eines Wortes 
aus einem fremden dialecte. In welcher ausdehnung und unter welchen 
bedingungen eine solche eintritt, werden wir später zu untersuchen 
haben. Bei der aufstellung der lautgesetze haben wir natürlich mit 
dergleichen scheinbaren inconsequenzen nicht zu rechnen. 

Kaum der erwähnung wert sind die versuche, die man gemacht 
hat, den lautwandel aus willkürlichen launen oder aus einem verhören 
zu erklären. Ein vereinzeltes verhören kann unmöglich bleibende 
folgen für die Sprachgeschichte haben. Wenn ich ein wort von jemand, 
der den gleichen dialect spricht wie ich, oder einen andern, der mir 
vollständig geläufig ist, nicht deutlich percipiere, aber aus dem sonstigen 


65 

znsammenhange errate, was er sagen will, so ergänze ieh mir das be- 
treffende wort nach dem erinnerangsbilde, das ieh davon in meiner 
seele habe. Ist der Zusammenhang nicht ausreichend aufklärend, so 
werde ich vielleicht ein falsches ergänzen, oder ich werde nichts er- 
gänzen und mich beim nichtverstehen begnügen oder noch einmal 
fragen. Aber wie ich dazu kommen sollte zu meinen ein wort von 
abweichendem klänge gehört zu haben und mir doch dieses wort an 
stelle des wolbekannten unterschieben zu lassen, ist mir gänzlich un- 
erfindlich. Einem kinde allerdings, welches ein wort noch niemals 
gehört hat, wird es leichter begegnen, dass es dasselbe mangelhaft 
auffasst und dann auch mangelhaft widergibt. Es wird aber auch das 
richtiger aufgefasste vielfach mangelhaft widergeben, weil das be- 
wegungdgeftlhl noch nicht gehörig ausgebildet ist. Seine auffassung 
wie seine widergabe wird sich rectificieren, wenn es das wort immer 
wider von neuem hört, wo nicht, so wird es dasselbe vergessen. Das 
verhören hat sonst mit einer gewissen regelmässigkeit nur da statt, 
wo sich leute mit einander unterhalten, die verschiedenen dialeet- 
gebieten oder verschiedenen sprachen angehören, und die gestalt, in 
welcher fremdwörter aufgenommen werden, ist allerdings vielfach da- 
durch beeinflusst, mehr aber gewiss durch den mangel eines bewegungs- 
geflihls für die dem eigenen dialecte fehlenden laute. 

Es bleiben nun allerdings einige arten von lautlichen verände- 
rangen übrig, ftlr die sich consequente durchftlhrung theoretisch nicht 
als notwendig erweisen lässt. Diese bilden aber einen Verhältnisse 
massig geringen teil der gesammten lautveränderungen, und sie lassen 
sieh genau abgrenzen. Einerseits also gehören hierher die fälle, in 
denen ein laut vermittelst einer abweichenden articulation nachgeahmt 
wird, anderseits die s. 59 f. besprochenen metathesen, assimilationen und 
dissimulationen. Uebrigens hat tatsächlich auch hier zum teil voll- 
ständige consequenz statt, so namentlich bei der metathesis unmittelbar 
auf einander folgender laute, femer z. b. bei der dissimulation der 
aspiraten im griechischen (xixvxa, :xiq)Bvya) und sonst. 

Ans dem vorliegenden Sprachmaterial lässt sich die frage, wie- 
weit die lautgesetze als ausnahmslos zu betrachten sind, nicht unmittel- 
bar entscheiden, weil es Sprachveränderungen gibt, die, wiewol ihrer 
natar naeh vom lautwandel gänzlich verschieden, doch entsprechende 
resultate hervorbringen wie dieser. Daher ist unsere frage aufs engste 
verknüpft mit der zweiten frage: wieweit geht die Wirksamkeit dieser 
andern Veränderungen und wie sind sie vom lautwandel zu sondern? 
Darüber weiter unten. 


Paul, Principien. 11. Auflage. 




Wandel der Wortbedeutung. 

Während der lantwandel durch eine widerholte Unterschiebung 
von etwas unmerHich verschiedenem zu stände kommt, wobei also 
das alte untergeht zugleich mit der entstehung des neuen, ist beim 
bedentungswandel die erhaltung des alten durch die entstehung des 
neuen nicht ausgeschlossen. Er besteht immer in einer erweiterung 
oder einer Verengung des umfangs der bedeutung, denen 
eine Verarmung oder bereicherung des inhalts entspricht. Erst 
durch die aufeinanderfolge von erweiterung und Verengung kann eine 
von der ursprünglichen völlig verschiedene bedeutung sich bilden. 

Darin aber verhält sich der bedentungswandel genau wie der lant- 
wandel, dass er zu stände kommt durch eine abweichung in der. in- 
dividuellen anwendung von dem usuellen, die allmählig usuell wird. 
Die möglichkeit, wir müssen auch sagen die notwendigkeit des be- 
deutungswandels hat ihren grund darin , dass die bedeutung, welche 
ein wort bei der jedesmaligen anwendung hat, sich mit derjenigen 
nicht zu decken braucht, die ihm an und für sich dem usus nach zu- 
kommt. Da es wünschenswert ist für diese discrepanz bestimmte be- 
zeichnungen zu haben, so wollen wir uns der ausdrücke usuelle und 
occasionelle bedeutung bedienen. Man könnte dafür vielleicht auch 
sagen generelle und individuelle. Wir verstehen also unter usu- 
eller bedeutung den gesammten vorstellungsinhalt, der sich für den 
angehörigen einer Sprachgenossenschaft mit einem werte verbindet, 
unter occasioneller bedeutung denjenigen vorstellungsinhalt, welchen 
der redende, indem er das wort ausspricht, damit verbindet nnd von 
welchem er erwartet, dass ihn auch der hörende damit verbinde. 

Die occasionelle bedeutung ist sehr gewöhnlich an Inhalt reicher, 
an umfang enger als die usueUe. Zunächst ist hervorzuheben, dass 
das wort oecasionell etwas concretes bezeichnen kann, während es 
usuell nur etwas abstractes bezeichnet, einen allgemeinen begriff, 
unter welchen sich verschiedene concreta unterbringen lassen. Ich 
verstehe hier und im folgenden unter einem concretnm immer etwas, 


67 

was als real existierend gesetzt wird, an bestimmte sehranken des 
raumes und der zeit gebunden; unter einem abstractnm einen allge- 
meinen begriff, blossen vorstellungsinhalt an sieh, losgelöst von räum- 
licher und zeitlicher begrenzung. Diese Unterscheidung hat demnach 
gar nichts zu schaffen mit der beliebten einteilung der substantiva in 
conereta und abstracta. Die Substanzbezeichnungen, denen man den 
Damen conereta beilegt, bezeichnen an sich gerade so einen allgemeinen 
begriff wie die sogenannten abstracta, und umgekehrt können die 
letzteren bei occasionellem gebrauche in dem eben angegebenen sinne 
concret werden, indem sie eine einzelne räumlich und zeitlich be- 
stiminte eigenschaft oder tätigkeit ausdrücken. 

Bei weitem die meisten Wörter können in occasioneller Verwen- 
dung sowol abstracto wie eoncrete bedeutung haben. Einige gibt es, 
die ihrem wesen nach dazu bestimmt sind etwas concretes zu bezeichnen, 
denen . aber nichtsdestoweniger die beziehung auf etwas bestimmtes 
concretes an sieh noch nicht anhaftet, sondern erst durch die indivi- 
duelle Verwendung gegeben werden muss. Hierher gehören die pro- 
nomina personalia, possessiva, demonstrativa und die adverbia demon- 
strativa, auch Wörter wie Jetzt, heute, gestern. Ein ich, ein dieser, ein 
hier dienen zu keinem andern zwecke als zur Orientierung in der con^ 
creten welt^), aber an sich sind sie ohne bestimmten Inhalt, und es 
müssen erst individualisierende momente hinzukommen ihnen einen 
solchen zu geben. Ferner die eigennamen. Diese bezeichnen zwAr 
ein einzelwesen, indem aber der gleiche name verschiedenen personen 
oder örtlichkeiten anhaften kann, bleibt doch noch eine Verschieden- 
heit zwischen occasioneller und usueller bedeutung. Endlich kommt 
eine kleine zahl von Wörtern in betracht, bei denen das, was sie aus- 
drücken, als nur einmal existierend gedacht wird, wie gott, teufet^ 
weit, erde, sonne. Diese sind zugleich gattungs- und eigennamen, aber 
nur in gewissem verstände und von bestimmter, nicht allgemeiner an- 
schauung aus. Umgekehrt gibt es Wörter, die ihrer natur nach nur 
auf das allgemeine, nicht auf das concreto gehen, wie die adverbia 
und pronomina je, irgend; mhd. teman, dehein; lat. quisquam, tdlus, un- 
quam, uspiam; aber auch deren allgemeinheit erleidet in der occasio- 
nellen anwendung gewisse beschränkungen; vgl. z. b. wenn er es Je 
getan hat — wenn er es Je tun wird. 

Ein weiterer wichtiger unterschied zwischen usueller und occa-r 
sioneller bedeutung ist der folgende. Usuell kann die bedeutung eines 


*) Uebrigens können unsere demonstrativpronomina (auch das pron. er) auch 
auf abstracte begriffe bezogen werden, vgl. der wall fisch gehört unter die klasse 
der Säugetiere; er bringt lebendige junge zur well, 

5* 


68 

Wortes mehrfach sein, oecasionell ist sie immer einfach, abgesehen 
von den fällen, wo eine Zweideutigkeit beabsichtigt ist, sei es um zu 
teusehen, sei es des witzes wegen. Zwar hat Steinthal, Zschr. f. 
völkerpsych. I, 426 die ansieht verfochten, dass es überhaupt keine 
Wörter mit mehrfacher bedeutung gäbe, jedoch, wie ich glaube mit 
unrecht. Zunächst gehören hierher alle die fälle, in denen die laut- 
liche Übereinstimmung bei Verschiedenheit der bedeutung nur auf zufall 
beruht, wie bei nhd. acht == diligentia — proscriptio — octo. Diese fälle 
sebliesst natürlich Steinthal aus, indem er voraussetzt, dass man hier 
nicht das gleiche wort, sondern mehrere Wörter anerkenne. Aber 
lautlich besteht doch Identität, und derjenige, welcher einen solchen 
lautcomplex ausser Zusammenhang aussprechen hört, hat kein mittel 
zu erkennen, welche von den verschiedenen damit verknüpften be- 
deutungen der sprechende im sinne hat. Wir haben also, wenn wir 
uns an den wirklichen tatbestand halten und nichts ungehörigerweise 
hinzutun, ein wort, dem usuell mehrfache bedeutung zukommt. Wirk- 
liehe mehrheit der bedeutungen muss man aber auch in sehr vielen 
fällen anerkennen, wo nicht bloss lautliche, sondern auch etymologische 
Identität besteht Man vergleiche z. b. nhd. fuchs vulpes — pferd von 
fuchsiger färbe — rothaariger mensch — schlauer mensch — gold- 
stück — Student im ersten semester, hoc hircus — bock der kutsche 
— fehler, futter pabulum — Überzug oder unterzug, mal fleck — 
zeichen — Zeitpunkt, messe kirchlicher act — Jahrmarkt, ort locus — 
schuhmacherwerkzeug, rappe schwarzes ross — münze, stein lapis — 
bestimmtes gewicht — krankheit, geschieh fatum — soUertia, geschickt 
missus — sollers, steuern ein schiff lenken — abgaben zahlen — ein- 
hält tun; mhd. beizen beizen — mit dem falken jagen — erheizen 
vom pferde steigen, weide weide — jagd — fischerei -r- mal {ander- 
weide zum zweiten mal); lai. examen schwärm — prüfung. Steinthal 
will immer nur die grundbedeutung als die einzige anerkennen, während 
er den geschichtlich daraus abgeleiteten die Selbständigkeit abspricht 
Seine ansieht passt aber nur auf den zustand, der zu der zeit besteht, 
wo die abgeleitete bedeutung zuerst aus der grundbedeutung ent- 
springt. Dieser zustand dauert nicht fort In den meisten der ange- 
fahrten fälle ist es ohne geschichtliche Studien überhaupt nicht möglich 
den ursprünglichen Zusammenhang zwischen den einzelnen bedeutungen 
zu erkennen, und dieselben verhalten sich dann gar nicht anders zn 
einander, als wenn die lautliche Identität nur zufällig wäre. Das ist 
namentlich dann der fall, wenn die grundbedeutung untergegangen ist 
Aber auch in vielen solchen filllen, wo die beziehung der abgeleiteten 
zur grundbedeutung noch erkennbar ist, werden wir die Selbständig- 
keit der ersteren anerkennen müssen, nämlich überall da, wo sie wirk- 


69 

lieh usuell geworden ist Dafür gibt es ein sicheres kriterinm, nämlich 
dass ein wort occasionell gebraucht in dem betreffenden abgeleiteten 
sinne verstanden werden kann ohne zuhülfenahme der grundbedeutung, 
d. h. ohne dass dem sprechenden oder hörenden dabei die grundbe- 
deutung zum bewusstsein kommt. Es lassen sieh femer zwei negative 
kriterien aufstellen, woran man erkennt, dass ein wort nicht einfache, 
sondern mehrfache bedeutung hat, nämlich erstens, dass sich keine 
einfache definition aufstellen lässt, wodurch der ganze umfang der be- 
deutung, nicht mehr und nicht weniger, eingeschlossen ist, und zweitens, 
dass das wort occasionell nicht in dem ganzen umfange der bedeutung 
gebraucht werden kann. Man mache die probe mit den angeführten 
beispielen. 

Auch da, wo sich die usuelle bedeutung als eine einfache be- 
trachten lässt, kann die individuelle ohne concret zu werden, davon 
abweichen, indem sie nur auf eine von den verschiedenen «arten geht, 
die in dem generellen begriffe enthalten sind. Das einfache wort 
nadel z. b. kann im einzelnen falle als Stecknadel, nähnadel, Stopfnadel, 
Stricknadel, häkelnadel etc. verstanden werden. 

Alles verständniss zwischen verschiedenen Individuen beruht auf 
der Übereinstimmung in deren psychischem verhalten.^) Zum ver- 
ständniss der usuellen bedeutung ist nicht mehr Übereinstimmung er- 
forderlich, als zwischen allen angehörigen der gleichen sprachgenossen- 
schaft besteht, soweit sie bereits der spräche völlig mächtig sind. 
Wenn aber im oceasionellen gebrauch die bedeutung specialisiert ist 
und doch verstanden werden soll, so ist das nur auf grund einer noch 
engeren Übereinstimmung zwischen den sich unterhaltenden möglich. 
Es können die gleichen werte entweder vollkommen verständlich sein 
oder unverständlich, respective missverständnissen ausgesetzt je nach 
der disposition der angeredeten personen und der beschaffenheit der 
sonstigen umstände, je nachdem gewisse zum verständniss mitwirkende 
momente vorhanden sind oder nicht. Diese momente brauchen an sich 
gar nicht sprachlicher natur zu sein. Wir müssen uns dieselben im 
einzelnen vergegenwärtigen. 

Um Wörtern , die an sich eine abstracte bedeutung haben , be- 
ziehung auf etwas concretes zu geben, dient die Verknüpfung mit den 
oben s. 67 bezeichenten Wortarten, deren function es ist das concrete 
auszudrücken, insbesondere die mit dem artikel, wo ein solcher ent- 
wickelt ist. Indessen hat sich gerade der gebrauch des letzteren 


1) Die folgenden auseinandersetzungen berühren sich sehr nahe mit den aus- 
fühningen Wegeners in seinem buche Aus dem leben der spräche, nach einer be- 
stimmten richtung hin auch mit Br6al, Les id^es latentes du language, Paris 1868. 


70 

meist go entwickelt, dass er nicht anf die function des individoalisiereng 
beschränkt ist, sondern dem nomen auch da beigesetzt wird, wo es 
den gattnngsbegriff ansdrttckt Sprachen, die keinen artikel entwickelt 
haben, verwenden die abstraeten Wörter anch ohne besonderes sprach- 
liches kennzeichen znr bezeichnnng von etwas concretem. 

Mag nnn die beziehnng anf das concreto an sich ausgedrückt 
sein oder nicht, zur näheren bestimmung desselben müssen andere 
mittel hinzukommen. Ein solches bildet erstens die dem sprechenden 
und hörenden gemeinsame anschanung. Der letztere erkennt, dass 
der erstere mit dem werte bawn oder türm einen bestimmten einzelnen 
bäum oder türm meint, wenn sie den betreffenden gegenständ eben 
beide vor äugen haben. Die anschanung kann unterstützt und näher 
bestimmt werden durch deuten mit den äugen oder bänden und 
sonstige gebährden. Hierdurch kann auch auf solche gegenstände 
hingewiesen werden, die man nicht unmittelbar sinnlich wahrnimmt, 
von denen man aber weiss, nach welcher richtung hin sie sich be- 
finden. 

Ein zweites mittel, wodurch das wort beziehnng auf etwas be- 
stimmtes concretes erhält, bildet das im gespräch, respective in der 
einseitigen auseinandersetzung des redenden vorangegangene. Ist 
der sinn eines wertes einmal concret bestimmt, so kann diese be- 
stimmung im weiteren verlaufe der Unterhaltung andauern; die er- 
innerung an das vorher ausgesprochene vertritt die stelle der unmittel- 
baren anschanung. Diese rückbeziehung kann wider unterstützt werden 
durch die demonstrativ-pronomina und adverbia. Mit der Übertragung 
derselben von der anschanung, wofür sie ursprünglich allein verwendet 
worden sind, auf das in der rede vorangegangene, ist daher ein treff- 
liches mittel gewonnen, die von dem sprechenden beabsichtigte indi- 
vidualisiemng der bedeutung dem hörenden verständlich zu machen. 

Drittens kommt in betracht die besondere macht, welche die 
Vorstellung von etwas concretem auch ohne die hülfe der anschanung 
oder vorangegangener erwähnung übereinstimmend in der seele der sich 
unterredenden haben kann. Die Übereinstimmung in dieser hinsieht 
wird erzeugt durch gemeinsamkeit des aufenthaltsortes, der lebenszeit, 
der Stellung und beschäftigung, überhaupt mannigfacher erfahrungen. 
Hierher gehört, was man gewöhnlich den gebrauch xaz i^ox^p^ nennt. 
So wird das wort stadt ohne nähere bestimmung von den landlenten 
einer bestimmten gegend auf die ihnen zunächstliegende stadt bezogen, 
Wörter wie rathaus^ markt von den einwohnern des gleichen ortes auf 
rathaus, markt eben dieses ortes. Wörter wie küche, Speisezimmer von 
den hausgenossen auf küche, Speisezimmer des von ihnen bewohnten 
hauses etc. So verstehen wir unter sonnlag den uns zunächst liegen- 


71 

den Sonntag, und es braucht dann nur noch angedeutet zu sein, ob 
von Zukunft oder Vergangenheit die rede ist, um zu wissen welcher 
Sonntag gemeint ist. Wörter, welche das verhältniss einer person zu 
einer andern bezeichnen, werden ohne weiteres auf personen bezogen, 
welche sowol zum hörenden wie zum sprechenden in dem betreifenden 
Verhältnisse stehn, und zwar ist auch der singular vollkommen deut- 
lich, sobald es nur eine person der art gibt. So ist für den verkehr 
von geschwistern untereinander die concreto beziehung der Wörter 
vater und mutier, fllr den verkehr von angehörigen des gleichen landes 
die von kaiser, könig etc. selbstverständlich. Auch wo das verhältniss 
nur einseitig entweder zu dem sprechenden oder zu dem hörenden 
besteht, kann doch, durch nebenumstände unterstützt, die beziehung 
zweifellos werden, so dass z. b. der vater ebenso viel besagt wie mein 
vater oder dein, euer vater. Ist ein concreter gegenständ früher ein- 
mal gleichzeitig dem sprechenden und dem hörenden irgendwie be- 
deutsam geworden, so kann er durch das auf ihn passende wort in 
das bewusstsein gerufen werden, besonders wenn die erinnerung daran 
noch frisch ist, oder wenn man sich wider in einer ähnlichen Situation 
befindet wie diejenige, in welcher er früher die aufmerksamkeit an 
sich gezogen hat. Es sind z. b. zwei freunde mehrmals auf einem be- 
stimmten Spaziergange einer ihnen sonst unbekannten dame begegnet, 
über die sie einige werte gewechselt haben, und sie machen nun 
wider den gleichen gang: so wird die frage des einen „wird uns 
heute wider die dame begegnen?" von dem andern richtig bezogen 
werden. 

Viertens kann eine nähere bestimmung zu hülfe genommen 
werden. Eine solche bestimmung bringt aber in der regel an sich 
keinen concreten sinn hervor, sondern nur durch zusammenwirken mit 
den andern schon besprochenen factoren. Es muss durch diese ent- 
weder dem Worte, welchem die bestimmung beigeftigt wird, schon eine 
beziehnng auf eine gruppe concreter dinge gegeben sein, aus denen 
durch die bestimmung eine weitere aussonderung gemacht wird; oder 
es muss durch sie dem bestimmenden worte schon concreto beziehung 
gegeben sein. Beides kann zusammentreffen. So erhält das wort gräf 
durch das epitheton att an sich keinen concreten sinn. Ist aber durch 
die Situation bereits die beziehung auf eine bestimmte gräfliche familie 
gegeben, so wird damit die persönlichkeit genau bestimmt. Das wort 
schloss erhält durch das epitheton königlich oder den gen. {des) königs 
nur dann einen concreten sinn, wenn dem worte könig schon durch 
die Situation eine concreto beziehung gegeben ist. Eindeutig aber ist 
die bezeichnung das schloss des königs erst dann, wenn entweder vor- 
ausgesetzt werden kann, dass überhaupt nur ein schloss des betreffen- 


72 

den königfii existiert, oder wenn in der Situation noch sonst etwas indi- 
vidualisierendes liegt, wenn man z. b. schon auf einen bestimmten ort 
hingewiesen ist, in dem man sich das in frage stehende schloss liegend 
denken muss. 

Der conerete sinn überträgt sich endlich von einem worte auf 
andere dazu in beziehung gesetzte. In Sätzen wie Karl zog den rock 
aus, ich berührte ihn mit der hand, ich fassie ihn beim köpfe, du klopftest 
mir auf die schütter erhalten die Wörter rock und hand eine conerete 
beziehung durch das snbject, das wort köpf durch das object, schuller 
durch den dat. mir. 

Auf die selbe weise, wie gattungsnamen eine bestimmte conerete 
beziehung erhalten, werden auch eigennamendie verschiedenen indi- 
viduen zukommen, eindeutig. Der blosse name Karl genügt, wenn 
der, den wir meinen, vor uns steht, wenn wir eben von ihm gesprochen 
haben, auch ohne das innerhalb einer familie oder eines engeren be- 
kanntenkreises, dem dieser Karl und zwar nur dieser angehört. Sonst 
bestimmen wir ihn näher, z. b. könig Karl VI, von Frankreich. Ebenso 
genügt ein ortsname, der in verschiedenen gegenden vorkommt, ohne 
weiteres ftir die nähere Umgebung, auch fttr weitere kreise, wenn der 
gemeinte bei weitem der bedeutendste unter den gleichnamigen orten 
ist (vgl Sirassburg); sonst hilft man sich mit einer näheren be- 
stimmung. 

Die selben momente, durch welche ein wort concreto beziehnng 
erhält, dienen auch zur specialiserung der bedeutung. Ohne 
mitwirkung besonderer umstände wird man, wenn man ein wort hört, 
zunächst an die gewöhnlichste unter den verschiedenen bedeutungen 
desselben oder an die grundbedeutung denken. Beides fallt hänfig 
zusammen. Wo aber mehrere ungefähr gleich häufige bedeutungen 
neben einander stehen, da wird nach einem allgemeinen psycho- 
logischen gesetze die grundbedeutung eher in das bewusstsein treten 
als eine abgeleitete, ja dies wird selbst ofl; der fall sein, wo eine ab- 
geleitete gewöhnlicher ist. Anders aber stellt sich die sache, sobald 
in der seele des hörenden gewisse vorstellungsmassen schon vor dem 
aussprechen des wertes erregt sind oder gleichzeitig mit demselben 
erregt werden, die eine nähere Verwandtschaft mit einer abgeleiteten 
oder selteneren bedeutung haben. Es macht einen grossen unterschied, 
ob ich das wort blatt bei einem Spaziergang im walde höre oder in 
einer knnsthandlung, wo ich mir stiche oder Photographien besehe, 
oder in einem Caföhause, wo über zeitungen gesprochen wird; ebenso 
ob ich das wort band in einem posamentiei^schäft höre oder in einer 
böttcherei oder in einer bibliothek. Unterhalten sieh tischler, Jäger, 
ärzte oder sonst leute von einerlei beruf unter einander, so sind sie 


73 

dazu disponiert alle Wörter von derjenigen seite her aufzufassen, die 
ihnen dieser beruf nahe legt Von grosser bedeutung ist die Ver- 
bindung, in der ein wort auftritt. Durch sie können die verschiedenen 
möglichkeiten der auffassung eines Wortes auf eine einzige beschränkt 
werden. Vgl. ein schwarzes mal — ein zweites mal — ein reichliches 
maly ein wolgemeinier rat — ein neitemannter rat; gericM der ge- 
schwornen — gericht fische^ fuss des tisches — des berges etc.; zunge 
der wage; stürm auf der nordsee — stürm auf eine festung — stürm 
in meinem herzen; ein ball, zu dem hundert personen geladen sind; ein 
kränzchen, welches sich wöchentlich versammelt; land und leuie — wasser 
und land — Stadt und land, feder und dinte, ein fuchs und ein schimmel; 
er reitet einen fuchs, er schraubt den hahn auf, er spielt den könig 
aus, es kostet zwei krönen, drei adler wurden erbeutet, der zug setzt 
sich in bewegung — es kommt ein unangenehmer zug durch das fenster; 
eine helle stimme — heller Sonnenschein, reine wasche — reines herz; 
Fritz ist ein esel; der mann geht — die mühle geht — es geht ihm gut 

— das geht nicht, Karl steht auf einem beine — es steht in der zeitung 

— die uhr steht — es steht dir frei etc. 

In den bisher besprochenen fällen bestand die abweichung der 
oecasionellen bedeutung von der usuellen darin, dass die erstere alle 
elemente der letzteren in sich enthielt, aber zugleich noch etwas mehr. 
Es gibt aber auch eine abweichung von der art, dass die occasionelle 
bedeutung nicht alle elemente der usuellen einschliesst, wo- 
bei sie aber doch zugleich wider etwas zu der letzteren nicht gehöriges 
enthalten kann. Die allgemeine grundbedingung für die möglichkeit 
einer solchen bloss partiellen benutzung der usuellen bedeutung eines 
Wortes ist dadurch gegeben, dass sich diese bei weitem in den meisten 
fällen aus mehreren dementen zusammensetzt, die sich von einander 
sondern lassen. Jede Vorstellung von einer Substanz enthält not« 
wendigerweise die Vorstellung mehrerer eigenschaften. Aber auch viele 
Vorstellungen von eigenschaften und tätigkeiten, die wir mit einem 
einzigen werte bezeichnen können, sind zusammengesetzt Ganz ein- 
fache qualitäten (natürlich vom psychologischen Standpunkte aus) be- 
zeichnen z. b. die benennungen der färben: blau, rot, gelb, weiss, 
schwarz. Und selbst bei diesen ist es möglich, dass sie für qualitäten 
verwendet werden, die ihrer eigentlichen bedeutung nach nicht voll- 
kommen adaequat sind. Da nämlich jede färbe mit jeder anderen in 
beliebigem verhältniss gemischt werden kann, so gibt es unendlich 
viele ttbergangsstufen, die unmöglich jede ihre besondere bezeichnung 
haben können. Und so ergibt es sich, dass man bei der bezeichnung 
beimischungen in geringerem grade unberücksichtigt lässt, so dass die 
grenze, innerhalb deren eine farbenbenennung anwendbar ist, unsicher 


74 

und verschiebbar wird. Einen viel weiteren Spielraum aber für nicht 
adaeqnate Verwendung bieten die Wörter deren bedeutnng ein vor- 
stellnngscomplex ist. 

Hierher gehört alles, was man als bildlichen ausdruck be- 
zeichnet Man pflegt zu sagen, zur vergleichung gehöre ausser den 
beiden mit einander verglichenen gegenständen ein tertium compara- 
tionis. Dieses tertium ist aber nicht etwas neues, was noch daza 
käme, sondern es ist derjenige teil von dem Inhalt der beiden mit 
einander verglichenen vorstellungscomplexe, den sie mit einander ge* 
mein habeb. Sagen wir von einem menschen er ist einem schweine 
gleich oder er ist einem schweine zu vergleichen, so ist das keine iden- 
tificierung wie bei einer mathematischen gleichung, sondern es soll 
damit nur gesagt sein, dass eine von den charakteristischen eigen- 
Schäften, aus denen sich der begriff schwein zusammensetzt, auch in 
der Vorstellung inbegriffen ist, die wir uns von diesem menschen 
machen, d. h. in der regel die unvlätigkeit. Wir können daher genauer 
sagen, indem auch das tertium zum ausdruck kommt: er ist unvlälig 
wie ein schwein. Anderseits aber kann man noch einfacher sagen er 
ist schweinisch, wobei das adj. widerum nicht den vollen Inbegriff 
aller eigenschaften eines Schweines bezeichent, sondern nur eine aus- 
wahl daraus, und endlich am einfachsten er ist ein schwein. 

Noch eine andere möglichkeit gibt es, wodurch ein wort über 
die schranken seiner eigentlichen bedeutung hinausgreifen kann, widerum 
natürlich zunächst nur occasionell. Diese besteht darin, däss etwas, 
was mit dem usuellen bedeutungsinhalt nach allgemeiner erfahmog 
räumlich oder zeitlich oder causal verknüpft ist, "unter dem 
Worte mitverstanden oder auch allein darunter verstanden wird. Hier- 
her gehört die aus der lateinischen Stilistik als pars pro toto be- 
kannte figur, sowie manches andere, was noch im folgenden zu be- 
handeln sein wird. 

Bei jedem hinausgreifen des wertes über die schranken seiner 
usuellen bedeutung muss noch ein bestimmendes moment hinzukommen, 
wenn die beziehung richtig verstanden werden soll. Ein solches ist 
hier noch viel notwendiger als da, wo es sich nur darum handelt zu 
erkennen, welche von mehreren schon usuellen bedeutungen gemeint 
ist, vgl. oben s. 72. Wir fühlen uns überhaupt nie veranlasst ein wort 
in einem sinne zu veratehen, welcher nicht alle demente der usuellen 
bedeutung in sich schliesst, so lange wir nicht durch irgend etwas 
darauf hingewiesen werden, dass das unmöglich ist, und zum wirk- 
lichen erfassen des wahren sinnes gehört dann noch, dass dieser hin- 
weis unseren gedanken auch eine positive richtung gibt. In dem 
Sprüchworte eigenlob stinkt, freundes lob hinkt würden wir die prädi- 


75 

cate nicht in bildlichem sinne verstehen, wenn sie in eigentlichem mit 
den sabjecten vereinbar wären. Wenn Schiller sagt zu Achen sass 
könig Rudolfs heilige macht oder Wolfram von Eschenbach dar nach 
m snelheit verre spränc erkennen wir an den prädicaten, dass die 
sabjeote Umschreibungen für die personen sein sollen. 

In allen diesen besprochenen abweichungen der oecasionellen be* 
dentnng von der usuellen liegen ausätze zu wirklichem bedentungs- 
Wandel. Sobald sie sich mit einer gewissen regelmässigkeit wider- 
holen, wird das individuelle und momentane alimählig generell und 
und usuell. Die grenzlinie zwischen dem, was bloss zur oecasionellen, 
und dem, was auch zur usuellen bedeutung eines Wortes gehört, ist 
eine fliessende. Für das Individuum ist der anfang zum Übergang 
einer oecasionellen bedeutung in das usuelle gemacht, wenn bei dem 
anwenden oder verstehen derselben die erinnerung an ein früheres 
anwenden oder verstehen mitwirkend wird; der vollständige abschluss 
des Überganges ist erreicht, wenn nur diese erinnerung wirkt, wenn 
anwendung und verständniss ohne jede beziehung auf die sonstige 
usuelle bedeutung des wertes erfolgt. Dazwischen ist eine mannig- 
fache abstufung möglich. Innerhalb der engeren oder weiteren ver- 
kehrsgenossenschaften können sich dann wider die verschiedenen Indi- 
viduen auf verschiedenen stufen des übergangsprocesses befinden. Es 
ist aber gar nicht möglich, dass der process sich an einem Individuum 
vollziehen könnte, während dessen verkehrsgenossen vollständig unbe- 
rührt davon blieben. Denn zum wesen des processes gehört es ja 
eben, dass er durch widerholte gleichmässige anwendung der anfäng- 
lich nur oecasionellen bedeutung zu stände kommt, und dieser muss 
ein verstehen wenigsten^ von selten eines teiles der verkehrsgenossen ^0 
entsprechen, und das verstehen ist für diese wider um mindestens ein 
anfang des processes. Es wird aber auch nicht leicht an einem 
einzelnen Individuum der process vollkommen durchgeführt werden, 
wenn die beeinflussung, welche es auf die verkehrsgenossen ausübt, 
nicht von diesen zurückgegeben wird. Ein solches zurückgeben wird 
natürlich da am leichtesten sich einstellen, wo nicht bloss beein- 
flussung von aussen wirkt, sondern ein spontaner innerer trieb zu der 
nämlichen oecasionellen Verwendung des wertes, wie er sich natur- 
gemäss aus der Übereinstimmung ergibt, die zwischen den Individuen 
rücksichtlich ihrer Verhältnisse besteht. 

Ganz besonders wirksam aber für die Verwandlung der oecasio- 
nellen bedeutung in eine usuelle ist die erste Überlieferung an die 
nachwachsende generation. Die erlernung der Wortbedeutung 
erfolgt im allgemeinen nicht mit hülfe einer definition, durch welche 
die usuelle bedeutung nach Inhalt und umfang bestimmt würde. Eine 


76 

solche wird überhaupt erst fUr eine schon ziemlich fortgeschrittene 
stnfe der sprachkenntniss möglich und bleibt auch auf dieser aus- 
nähme. Das kind lernt nur occasionelle verwendungsweisen des wertes 
kennen, und zwar zunächst nur beziehungen desselben auf ein durch 
die anschaunng gegebenes coneretes. Nichtsdestoweniger verallge- 
meinert es diese beziehung sofort, wenn es dieselbe überhaupt erfasst 
hat. Ganz natürlich. Die beziehung auf das einzelne concretum kann 
überhaupt nicht festgehalten werden. Denn in dem erinnerungsbilde, 
welches dasselbe hinterlässt, liegt an sich gar nichts, woran bei einer 
neuen auschauung die reale identität oder nichtidentität mit dem 
früher angeschauten erkannt werden könnte. Die richtige erkenntniss 
davon beruht immer erst auf einer schlusskette und ist sehr häufig 
überhaupt nicht zu gewinnen. Für das naive bewusstsein genügt 
Übereinstimmung des vorstellungsinhalts um die Identification yorzn- 
nehmen, mag reale identität bestehen oder nicht Es genügt auch 
eine partielle, unter umständen eine sehr geringfügige Übereinstimmung, 
solange das erinnerungsbild noch sehr unbestimmt und verworren ist 
So bildet sich vom beginn der spracherlemung an die gewohnheit 
nicht bloss einen, sondern mehrere gegenstände, nicht bloss gleiche, 
sondern auch nur irgendwie ähnliche gegenstände mit dem gleichen 
werte zu bezeichnen, und diese gewohnheit bleibt, auch wenn anfangs 
übersehene unterschiede später bemerkt werden, da sie fortwährend 
durch den Vorgang der erwachsenen unterstützt wird. Es ist aber gar 
nicht anders möglich, als dass zunächst keine klare Vorstellung über 
inhalt und umfang der usuellen Wortbedeutung besteht. Das kind 
macht eine menge fehler, indem es mit dem werte bald einen zu 
reichen, bald einen zu armen begriff verbindet und ihm 'lemgemäss 
bald eine zu enge, bald eine zu weite Verwendung erteilt. Das letztere 
dürfte das häufigere sein, um so häufiger, je geringer der zu geböte 
stehende wortvorrat ist. So weiss ich z. b., dass ein kleines kind 
unter stuhl ein sopha mit einbegriff, unter stock einen regensehirm, 
unter hut eine haube und andere kopfbedeckungen, und zwar nicht 
bloss einmal, sondern widerholt. Eine andere veranlassung zu un- 
genauer auffassung der bedeutung ergibt sich dadurch, dass die be- 
zeichenten gegenstände vielfach teile eines grösseren ganzen sind oder 
mit anderen gegenständen in der auschauung unzertrennlich verbunden. 
Hier wird das kind vielfach unsicher sein, wie der ausschnitt aus der 
ganzen auschauung, den das wort bezeichnen soll, zu begrenzen ist. 
Es "wird die grenzen bald weiter, bald enger ziehen, als es der usus 
verlangt, mitunter zugleich etwas hineingehöriges herauslassen und 
etwas nicht hineingehöriges einbegreifen. Uebrigens ist das erlernen 
neuer Wörter und neuer verwendungsweisen der alten keineswegs auf 


77 

die frühe kindheit eingeschränkt. Ausdrücke, die seltener vorkommen, 
compliciertere vorstellnngscomplexe bezeichnen, eine höhere blldung 
oder speelfische kenntniss voraussetzen hat auch der erwachsene noch 
immer zu erlernen, und erlernt er sie nur auf grund der oceasionellen 
Verwendung, so ist er den selben fehlgriffen ausgesetzt wie das kind. 
Alle diese ungenauigkeiten in erfassung der usuellen bedeutung sind 
vereinzelt von keinem belang und werden in der regel mit der zeit 
corrigiert Doch kann es nicht ausblMben, dass in einzelnen fällen 
das zusammentreffen einer grösseren anzahl von Individuen Jn dem 
gleichen miss Verständnisse dauernde spuren hinterlässt. Wir werden 
also eine art des bedeutungswandels anzuerkennen haben, die darauf 
beruht, dass der für die ältere generation usuellen bedeutung von der 
jüngeren eine nur partiell damit übereinstimmende untergeschoben 
wird. Das gebiet dieser art des wandeis werden wir aber auf die 
selteneren und nicht leicht klar zu fixierenden begriffe einzuschränken 
haben, da bei anderen die allmählige correctur nach dem bestehenden 
usus nicht ausbleiben kann. 

In den meisten fällen geht der anstoss zur bedeutungsverände- 
rang von der älteren generation aus, die den usus schon vollkommen 
beherrscht; die jüngere hat aber an der weiterentwickelung einen be- 
sonderen anteil. Dieser besteht darin, dass sich die verschiedenen 
verwendungsweisen eines Wortes von anfang an etwas anders grup- 
pieren als bei der älteren generation. Jede anwendungsweise kann, 
weil sie zunächst am einzelnen falle erfasst wird, für sich ohne rück- 
sieht auf die übrigen erlernt werden und daher eine grössere Selb- 
ständigkeit erhalten als sie in den seelen der älteren generation hatte. 
Für die verselbständigung der abgeleiteten gegenüber der grund- 
bedeutung kommt noch besonders in betracht, dass die letztere nicht 
selten früher erlernt wird als die erstere. Es wird sich z. b. leicht 
treffen, dass ein kind mit fuchs zuerst ein pferd, mit kamel zuerst 
einen einfaltigen menschen bezeichnen hört Dann wird die grund- 
bedeutung von anfang an nicht als vermittlerinn herbeigezogen. So 
lange ein Individuum den usus noch nicht vollständig beherrscht, ver- 
mag es auch vielfach nicht zu unterscheiden, ob eine verwendungs- 
weise, die ihm vorkommt, bereits usuell oder nur rein occasionell ist, 
und es kann daher die occasionelle, wenn sie sich ihm nur in folge 
begünstigender umstände stark eingeprägt hat, eben so unbefangen 
nachahmen wie die usuelle. 

Da der wandel der usuellen bedeutung aus den modificationen 
in der oceasionellen anwendung entspringt, so finden wir auch hier 
wie dort die nämlichen arten. Die erste hauptart ist demnach spe- 
eiallsierung der bedeutung durch Verengung des umfangs und 


78 

bereicheruDg des inhalts. Als ein instruetives beispiel für den nnter- 
sehied zwischen bloss oeeasioneller und nsaeller specialisiernng kann 
das wort schirm dienen. Wir können das wort ftlr jeden schirmenden 
gegenständ gebrauchen. Im oecasionellen gebrauche kann damit ein 
Ofenschirm, lampenschirm, augenschirm, regenschirm, Sonnenschirm u. a. 
gemeint sein. Aber während wir das wort als Ofenschirm oder lampen- 
schirm zu verstehen nur durch eine ganz bestimmte Situation ver- 
anlasst werden, liegt es uns auch ohne solche' nahe es als regen- 
oder Sonnenschirm zu fassen, und wir denken dann kaum mehr so 
sehr an die allgemeine funetion des schirmens wie an einen gegen- 
ständ von bestimmter gestalt' und construction. Wir müssen daher 
anerkennen, dass sich diese bedeutung als eine eigene, selbständige 
von der allgemeineren abgezweigt hat, gleichviel ob sie sich noch 
logisch unter dieselbe unterordnen lässt. Denn diese logische Unter- 
ordnung ist nur möglich, wenn man von momenten absieht, die f&r 
die bedeutung mindestens eben so wesentlich sind als dasjenige, was man 
allein berücksichtigt. Weitere beispiele sind: frucht im süddeutschen 
gebrauche = getreide, fruchte auf Speisekarten = obst; kraut süddeutsch 
speciell = kohl; kom, welches einerseits allgemeine bezeichnung für 
getreide überhaupt ist, anderseits specielle für die gewöhnlichste, haupt- 
sächlich zur brodbereitung verwendete getreideart, in Norddeutschland 
für roggen, in einigen landschaften für dinkel oder weizen oder faafer; 
dach wurde im mhd. für jede art von bedeckung gebraucht, jetzt denkt 
man nur an dach des hauses. Eine besondere hierher gehörige art 
ist die Verwendung von stofiTbezeichnungen fllr producte aus dem stoff, 
vgl. glas, harn, feder, gold — Silber — kupfer — papier (als geld- 
' Sorten) ete. Der lexicograph muss sich bemühen bei der aufzählung 
der speciellen Verwendungen eines wertes zu scheiden zwischen 
solchen, die usuell geworden, und solchen, die rein occasionell sind, 
eine Scheidung, die ganz gewöhnlich versäumt wird. 

Durch Verwandlung der oecasionellen concreten bedeutung ge- 
wisser Wörter in usuelle entspringen die eigennamen. Alle personen- 
und Ortsnamen sind erst aus gattnngsbezeichnungen entstanden, und 
den ausgangspunkt dafür bildet der gebrauch Ttar i^oxrjv. Wir können 
den process deutlich verfolgen bei sehr vielen Ortsnamen. In dieser 
beziehung sind besonders so allgemeine überall widerkehrende be- 
zeichnungen lehrreich wie Aue, Berg, Brück, Brühi, Brunn, Burg, Haag, 
Hof, Kappeln Gmünd, Münster, Rted, Stein, Weiler, Zell, Altstadt, Neu- 
stadt {Villeneuve, Newtown), Neuburg {Neuchatel, Newcastle), HochbiCtg, 
Neukirch^ Mühlberg etc. Solche bezeichnungen haben ursprünglich nur 
den nächsten umwohnem der betreffenden örtlichkeit gedient, für 
welche sie ausreichten um diese von andern in der nähe gelegenen 


79 

örtliehkeiten za unterscheiden. Zu zweifelloBen eigennamen wurden 
sie in dem augenblicke, wo sie auch von ferner stehen den mit diesem 
conereten sinne übernommen, oder wo sie durch den zutritt weiterer 
isolierender momente schärfer von den ursprünglich identischen gsattungs- 
bezeichnungen gesondert wurden. Daneben gibt es freilich eine grosse 
klasse von Ortsnamen, die von anfang an der natur wahrer eigennamen 
sehr nahe kommen, weil sie aus personennamen abgeleitet oder durch 
Personennamen bestimmt sind. 

Es gibt auch eine art von specialisierung, die gleich ihren anfang 
nimmt, sobald das wort überhaupt gebraucht wird. Diese findet sich 
bei Wörtern, die aus anderen üblichen Wörtern nach den bildungs- 
gesetzen der spräche beliebig abgeleitet werden können, aber doch 
nur dann wirklich zur Verwendung kommen, wenn ein besonderes be- 
dürfniss dazu treibt. Solche Wörter sind vielfach von anfang an nur 
mit einer specielleren beziehung zum grundwort nachzuweisen als sie 
die ableitung an sich ausdrückt. Die von Substantiven abgeleiteten 
bildungen auf -er, mhd. -cere bezeichnen an sich eine person, die zu 
dem begriflf des grundwoi-tes in irgend einer beziehung steht, welcher 
art diese beziehung auch sein mag, aber an den einzelnen Wörtern 
zeigen sich die verschiedenartigsten specialisierungen. Mhd. cehtcere 
von ähte (acht, Verfolgung) bedeutet sowol Verfolger wie verfolgter; 
bei der individuellen anwendung kann jedenfalls niemals beides zu- 
gleich darunter verstanden sein. Unter schüler hätte an sich auch 
der Schulmeister begriffen sein können, 6S liegt aber keine spur davon 
vor, dass es jemals anders als im neuhochdeutschen sinne gebraucht 
wäre. So ist ferner schrelner nie anders gebraucht als flir den ver- 
fertiger von Schreinen, sehäfer nie anders als fttr den hüter von schafen, 
hurger nie anders als flir den bewohner einer bürg oder Stadt, falkner 
nie anders als für einen, der mit falken jagt; vogeler ist Vogelsteller, 
daneben geflügelhändler. Aehnlich verhält es sich mit verben wie 
bechern^ buttern, haaren, hausen, herzen, kernen, karren, köpfen, mauern, 
stunden, tafeln u. a. Bei vielen Wörtern sind wir ausser stände zu ent- 
scheiden, ob eine Verwendung in einem allgemeineren sinne voran- 
gegangen ist oder nicht. Auch diese uranfängliche specialisierung ist 
natürlich zunächst nur eine occasionelle, indem das wort an sich nur 
auf den allgemeinen begriff weist, der sich aus der oombination des 
grundwortes mit dem ableitungssuffix ergibt, und erst die dem sprechen- 
den und -hörenden gemeinsame Situation ein mehr von Inhalt hinzu- 
bringt. Der usus kann auch hier erst allmählig nach den allgemeinen 
grundbedingungen geschaffen werden. 

Ueberall, wo sich das bedürfniss nach bezeichnung eines bisher 
unbezeichenten begriffes geltend macht, ist es eins der bequemsten 


80 

httlfsmittel ein leicht bildbares wort zu wählen, welches einen wich- 
tigen teil von dem inhalte des begriffes ausdrückt, also ein hervor- 
stechendes merkmaL Die etymologie lehrt, dass sehr viele substanz- 
bezeichnungen so aus bezeichnungen von einfacheren Qualitäten her- 
vorgegangen sind. Doch ist jedenfalls der schluss nicht berechtigt, 
dass alle Substanzbezeichnungen auf diese weise entstanden, etwa alle 
aus Verben abgeleitet sein mttssten. 

Die zweite der ersten entgegengesetzte hauptart des bedeutungs- 
wandels ist die beschränkung auf einen teil des ursprüng- 
lichen inhaltes, womit sich aber zugleich in der regel bereicherung 
nach einer andern seite hin verbindet Es ist kaum möglich die grosse 
masse der hierher gehörigen erscheinungen unter rubriken zu bringen. 
Ich hebe nur einige besonders häufig vorkommende hervor. Sehr ge- 
wöhnlich ist die äussere gestalt das massgebende für die benennuug, 
vgl. äuge (z. b. äuge einer kartoffel), nase, köpf (von kohl oder salat), 
arm (eines flusses), kelch (einer blume), kessel, rmrfel etc. Eine statue. 
ein bild bezeichnet man direkt durch das, was sie vorstellen: e'm 
Apollo, Laokoon^ die anbetung der hirten. Man bezeichnet den teil 
eines gegenständes nach dem hinsichtlich seiner läge entsprechenden 
teile eines andern gegenständes, z. b. hals oder hauch einer flasche, 
fuss eines berges, schwänz eines gewandes, eines papierdrachen; ein 
mass nach einem gegenstände, der die betreffende grosse, länge oder 
breite hat, vgl. ftiss, eile. Die Übereinstimmung der function ist mass- 
gebend bei feder = Stahlfeder. Die analogie zwischen räum und zeit 
macht die Übertragung der für räumliche anschauungen geschaffenen 
ausdrücke auf die zeitlichen möglich, vgl. lang, kurz; vor, nach, hinler 
und viele andere adverbien und präpositionen. Die analogie zwischen 
den verschiedenen Sinneswahrnehmungen ermöglicht die Übertragung 
von dem eindrucke eines sinnes auf den eines andern, vgl. süss, schön, 
hell (ursprünglich nur auf das gehör bezüglich), lat. clarus (ursprüng- 
lich nur auf das gesiebt bezüglich). Die bezeichnungen für sinnliche 
Wahrnehmungen und zustände werden auf geistige übertragen, vgl. 
fühlen, sehen, süss^ bitter, schön, geschmack, rein^ schmutzig, gross, klein, 
erhaben, niedrig, warm, feuer, brennen, ergreifen etc. Wörter, die eine 
einzelne art bezeichnen, werden zu weiteren gattungsbegriffen gemacht, 
vgl. katze, karpfen, krebs, (^pßl, rose. Indem man sich an eine her- 
vorragende eigenschaft hält, können auch eigennamen zu appellativen 
werden, vgl. den Übergang in wendungön wie er ist ein Cicero, ein 
Catö und die weiterentwickelung in Kannibal, Vandale; Hans, Peter, 
Stoffel, Hinz und Kunz, Trine, Metze (= Mechtild). Vgl. dazu auch 
adjectiva wie gotisch, altfränkisch, romantisch. 

Wir kommen zu der dritten hauptart des bedeutungswandels, 


81 

der Übertragung auf das räumlich, zeitlich oder causal mit 
dem grundbegriff verknttpfte. Die einfachste unterart ist pars 
pro toto. Der teil ist dabei immer ein charakteristische merkmal und 
nur als solches wird er fähig das ganze anzudeuten. Vgl. bogen ^^ 
armbrust; klmge «= sehwert oder messer; mhd. ront = schild (aller- 
dings auf die epische spräche beschränkt). Besonders gewöhnlich 
sind bezeichnungen von personen oder tieren nach charakterisierten 
teilen des körpers und geistes, vgl. bemoostes haupi; lockenkopf, grau- 
köpf, kahlkopf, kramkopf, dummkopf^ dickkopf, trotzkopf, fettwanst, link- 
hand^ hasenherz, lügenmaul, grossmatd, gelbschnabe% graubar t; rotkehl- 
chen, rotschwanzy stumpfschwanz, blaufuss; starker geist, schöne seele; 
franz. blanc-bec, grosse-iSte, rauge-gorge^ rouge-queue, pied-plai, gorge- 
blanche, miüe-pieds; esprit fort, bei esprit. Im gründe von pars pro 
toto nicht verschieden ist die Verwendung von bezeichnungen fttr an- 
haftende gegenstände statt der gegenstände, denen sie anhaften. Den 
bezeichnungen nach körperteilen am nächsten stehen die nach der 
bekleidung: schwarzrock, rundkut, bUmsttiimpf^ rotkäppchen, grüner 
domino, maske. Andere bezeichnungen, welche von einem gegenstände 
auf das durch ihn eingeschlossene, in ihm enthaltene übertragen sind, 
sind z. b. stadt, haus, kammer, cabinet, kirche^ hof, frauenzimmer. Um* 
gekehrt findet auch eine Übertragung auf die Umgebung statt, vgl. 
tavelrunde, liedertafel, däumling, kragen (ursprünglich hals), mhd. vinger- 
Sn (fingerring), spiz (spiessbraten). Sehr gewöhnlich geht eine eigen- 
sehaftsbezeichnung über in die bezeichnung dessen, dem die eigen- 
sehaft anhaftet; vgl. alter, Jugend; menge, fülle, enge, fläche, ebene, 
wüste, säure; maamschaft, knappschaft, gesellschafi, bwrgerschaft, vet^ 
fvandtschaft, gesändischaft und viele andere auf -schaft, welches ur- 
sprünglich beschaffenheit bedeutet; ebenso viele auf -heit {-keit\ welches 
ursprünglich eigenschafi;, zustand bedeutet, wie Christenheit, Vielheit, 
mehrheit, gottheit, Schönheit^ Vergangenheit^ gelegenheit, eigenheit, kleinig- 
keit, süssigkeit, neuigkeit, Sonderbarkeit, gefälligkeit; hierher gehören 
auch titel wie majestät, hoheit, exellenz etc. Wie die beispiele zeigen, 
entstehen auf diese weise sowol coUectivbenennungen als benennungen 
für einzelne personen und dinge, nicht immer aber werden die be- 
treffenden Wörter zu Substanzbezeichnungen. Das selbe wie von den 
eigenscbaftsbezeichnungen gilt ' von den sogenannten nomina actionis, 
den tätigkeits- und zustandsbezeichnungen, die aus verben abgeleitet 
sind, vgl, rat, ftuss, zug, abhang, Vorhang, Umhang^ vortrab, zukunft, ein- 
kommen, regiervng^ Vorsehung, Verzierung. In diesen fällen ist die be- 
zeichnung der handlung auf ihr subject übergegangen, sie kann aber 
auch auf das object übergeheU) object im allerweitesten sinne genommen; 
so auf das innere object, wodurch eine bezeichnung des resultates ent- 

Paul, Principien. H. Auflage. 6 


82 

stellt: ris8, brück, fprmg, wuchs, Zuwachs, erhölnmg, Vertiefung, dbhand- 
hmg, versammhmg, vereinigimg, hü düng; auf dass äussere objeet, welches 
iigendwie rem d^r tibtigkeit berührt wird: saai, ernte, spruch, spräche, 
gang, durchgang, Übergang, einfahrt, Zuflucht, ausflucht, wohnung, klei- 
dung; so entsteheD also auch bezeiehnungen für den ort, wo etwas 
geselueht, fttr das mittel, wodurch etwas bewerkstelligt wird, U; dergl. 
Hierher geh&rt es aseb, wenn man Schriften durch den namen des 
x^ f Verfassers bezeichent (ein Goethe, Schüler), oder werke der bildenden 
kunst durch den namen des kttnstlers (ein Raphaei); ferner wenn man 
jemandem eine liebUngswendung, die er zu gebrauehen pflegt, als 
spifanamen beilegt, vgl. Heinrich Jasomirgott; oder wenn der hnnd in 
der amnoenspraehe wauwau genannt wird u. dergl.; entsprechend sind 
auch pflanzennamen wie nolimetangere, vergissmeinnichi zu beurteilen. 

Die verschiedenen arten des bedeutungswandels können natSr- 
lich auf einander fo%en und so sich eombinieren. So hat abendmal 
einersdts an bedeutungsinhalt gewonnen, indem es auf das bestimmte 
abendmal Christi und die in nachahmung desselben stattfindende feier 
beseluräBkt ist, es hat aber anderseits auch etwas von dem, was eigent- 
lieh in dem werte liegt, eingebttsst, indem es auch von einer nieht 
am abend stattfindenden feierlichkeit gebraucht wird. Rosenkranz wird 
9Mvr' ^§0x1^1^ von &nem kränze gebraucht, der einem bestimmten zweeke 
dient, aber aueh von einem kränze, der gar nicht ans rosen besteht 
Ihm ist dn aus einem home verfertigtes Masinstrsment, dann aber 
auch ein solches von ähnlicher form aus anderem Stoffe. Feder be- 
deutet eine zum schreiben zugeschnittene feder, dann aber auch ein 
Werkzeug von der nämÜehen funetion aus anderem stoffs. Es ist 
überhaapI sehr häufig, dass etwas, was rigentiich nicht zur bedeutnng 
eine» wertes geh(^rt, sondern nur aeeidenttell damit verknttpft sein 
kann, aUmählig in die bedeutung mit aufgenommen wird und dann 
aueh selbständig als die wahre bedeutnng empfunden wird, ohne dass 
an die gruadbedeutung noch gedacht wird. So. werden namentlieh 
bezeiehnungen fbr räumliche und zeitliche Verhältnisse zu bezeichnnngen 
fttr eausalverhältnisse, vgl. folge, zweck, ende (in zu dem ende\ grund, 
mittel, weg. 

Da sieh alle spreehtätigkeit in Sätzen bewegt, so ist es ganz 
natilrlieh, dass der bedeutungswandel nieht bloss die einzekien Wörter 
trifft, sondern auch wortgruppen und ganze sätze. Diese können 
natürlich anch zunächst occasionell, dann durch widerholung usuell 
eine bedeutung annehmen, die sich nicht mehr mit derjenigen deckt, 
welche man erhält, wenn man die bedeutungen der Wörter^ ans denen 
die gruppe besteht, zusammenftt^. Wenige beispiele mög^ii vorläufig 
genügen, da wir auf diese erseheinung in cap. 19 mvückkommes 


83 

mttssen. Es gibt eine menge Verbindungen mit hartd, bei denen wir 
an die eigentliche bedentnng dieses Wortes nicht mehr denken, ansser 
wenn unsere aufmerksamkeit ansdrttcklieh daranf gelenkt wird, wenn 
wir etwa über den Ursprung einer solchen Wendung refleetieren, z. b, 
mif der hand {flacher^ platter ä.) liegen, an die hand geben, gehen, an 
der Hand haben, an der hand des buches ete., bei der hand sein, haben^ 
zur hand sem, haben^ nehmen^ unter der hand, unter händen haben, van 
der hand weisen, vor der hand. Man kann nicht sagen, dass hier 
eigentümliche bedeutungen des einzelnen Wortes hand entwiekelt sind, 
vielmehr ist die Verdunkelung der grundbedeutung erst innerhalb der 
betreffenden Verbindungen eingetreten. Unsere spräche ist roll von 
derartigen Wendungen. Bei manchen kann der sinn nur mit hülfe 
historischer sprachkenntniss aus der bedeutung der einzelnen Wörter 
abgeleitet werden, vgl. z. b. das bad austragen, einem ein bad zurichten, 
einem das bad gesegnen, einen baren anbinden, einem einen bart machen, 
e'men bock schiessen, einen ins bockshorn jagen, er hat bohnen gegessen, 
einen fleischergang tun, weder hand noch fuss haben, auf dem hohwege 
sein, einem einen korb geben, matUaffen feil halten, einem etwas auf 
die nase binden, einem den pelz waschen, einem ein x fUr ein u 
machen ete. 

Die ganze masse von Vorstellungen, die in der seele des menschen 
vorhanden ist, sucht sich nach mögliehkeit an den Wortschatz der 
Sprache anzuheften. Da nun die vorstellungskreise der einzelnen Indi- 
viduen in der gleichen Sprachgenossenschaft stark unter einander ab- 
weichen und auch der vorstellungskreis des einzelnen immerfort be- 
deutenden Veränderungen unterliegt, so mttssen sich notwendigerweise 
in den an den wertschätz angehefteten Vorstellungen eine menge von 
individuellen besonderheiten finden, die bei der gewöhnlichen bestim- 
mung der bedeutung für die einzelnen Wörter und wortgruppen gar 
keine berücksichtigung finden. Es ist z. b. die bedeutung des wertes 
Pferd insofern für alle Individuen gleich, als sie es alle auf den näm- 
lichen gegenständ beziehen; aber es ist doch nicht zu läugnen, dass 
ein reiter, ein kutscher, ein zoologe, jeder in seiner art, einen reicheren 
Vorstellungsinhalt damit verbinden als jeder beliebige andere, der 
nichts besonderes mit pferden zu schaffen hat. Die voratellung von 
dem verhalten eines vaters zu seinem kinde setzt sich aus einer reihe 
von momenten zusammen, die nicht immer beisammen sind, wo das 
wort vater angewendet wird. Man kann eine definition des wertes 
aufstellen, die physisch und juristisch vollkommen ausreicht, aber gerade 
das, was nach dieser definition das wesen der Vaterschaft ausmacht, 
ist in dem vorstellungscomplexe, den ein kleines kind damit verbindet, 
gar nicht enthalten. Am merkbarsten sind die unterschiede auf dem 

6* 


84 

gebiete der empfindang and des ethischen urteils. Was die einzelnen 
unter schön und hässiich, unter gut und scfüecht^ unter iugend und 
lasier verstehen, lässt sieh nicht so ohne weiteres auf einen allgemein- 
gültigen begriff bringen, über den niemand mit dem andern streiten 
könnte. 

Indem der vorstellungskreis eines jeden einzelnen sieh an die 
zu geböte stehenden Wörter anheftet, so muss sich auch die bedeutung 
des gesammten Wortschatzes einer spräche nach der gesammtheit der 
in dem yolke vorhandenen Vorstellungen richten und sich mit diesen 
verschieben. Die Wortbedeutung bequemt sich immer der jeweiligen 
culturstufe an« Dies geschieht nicht bloss so, dass für neue gegen- 
stände und Verhältnisse neue Wörter geschaffen oder dass auf sie alte 
Wörter von nur ähnlichen, aber doch deutlich verschiedenen gegen- 
ständen und Verhältnissen übertragen werden, wie z. b. {stahl) feder^ 
sondern es gibt hier eine menge unmerklicher Verschiebungen, die zu- 
nächst gar nicht als bedeutungswandel beachtet zu werden pflegen 
und die eine unmittelbare folge des wandeis in den culturverhältnissen 
sind. So kann z. b. eine bezeichnung fUr schiff entstanden sein zu 
einer zeit, wo es nur erst die allerprimitivste art von schiffen gab, 
und dann geblieben sein, auch nachdem man bis zu den grössten und 
compliciertesten fahrzeugen fortgeschritten war. Wir setzen in einem 
solchen falle keinen bedeutungswandel an, aber doch ist es keine 
frage, dass die an das wort schiff angeknüpften Vorstellungen andere 
geworden sind. Und so verhält es sich mit allen producten der 
cultur, mögen es sinnlich wahrnehmbare gegenstände oder rein seeUsehe 
gebilde sein. . 


Cap. V. 

Analogie. 

Wie schon in cap. 1 hervorgehoben worden ist attrahieren sich 
die ein zelnen Wörter in der seele, und es e msrene n dadurch eine 
menge grösserer oder kleinerer gmppen. Die gegenseitige attraction 
b ergbl immer auf einer partiellen ttberein stimmnn g des lantes ^ ^der 
der bedentnng oder des la ntej und derjbfidfintang zu gleich . Die 
einzelnen gmppen l aufen nicht alle gesondert neben einander her, 
sondern es gibt grössere gruppen, die mehrex e kleinere in sich s chliessen , 

der gruppen statt. Wir 
ffliche und formale 


und eS/findet eine ge gensc ^ge^ durchkreuzung c 
nnterscaei&en^ zwei hauplarlen, die wir als sto 


gruppen bezeichnen wollen. lliß'- ^ 

Eine stoffliche gruppe bilden z. b. die ver sdhiede nen casus eines 
substantivums. Diese gruppe lässt sich dann noch wider nach zwei 
verschiedenen principien in kleinere gruppen zedegenj entweder casus 
des sing. — des plur. (-^ des du.), oder nominativformen (des sing., pl. 
du.) ^^ genii^vfc^men etc.; und diese beiden gruppierungen durch- 
kreuzen e mtfflj er. Cin viel mannigfaltigeres System von einander 
über- und untergeordneten und sich dnrchklfinzenden gruppen g^ben 
die formen eines verbums, zumal eines griechischen. XJrössere stoff- 
liche gruppen mit loseren zusammenhängen entstehen dann aus der 
Verbindung aller Wörter, die einander in ihrer bedeutung correspon- 
dieren. In der regel steht der partiellen Übereinstimmung in der be- 
deutung eine partielle Übereinstimmung in der lantg estalt ung zur seite, 
welche ih rerseit s auf etymologischem zusa mmenha nge zu beruhen pflegt. 
Doch gibt es auch stoffliche gruppen, die lediglich auf die bedeutung 
und nicht auf den laut basiert sind, vgl. sein — werden^ hier — rf«, 
gut — besser^ bin — ist — rvar^ bgcco — elöov — otpofiai. 

Als formale gruppen bezeichne ich z. b. die . summe aller nomina 
aetionis, aller comparative, aller nominative, aller ersten personen des 
verbnms etc. Es gibt auch hier grössere gruppen, die kleinere in sich 
schliessen ; so enthält z. b. die letztgenannte 1 sg. ind. praes., 1 sg. conj. 


r)i^'^ 


86 

praes. etc. Mithin ist auch eine festere oder lofitßre Verbindung zu 
unterscheiden. Die v erbindi mg der functionellen Übereinstimmung mit 
einer lautlichen ist bei den formalen gruppen bei weitem nicht so 
regel wie bei den s toflflichen . Gewöhnlich zerfallen die formalen 
gruppen in mehrere kleinere, von denen jede einzelne auch durch 
lautliche ttbereinstimmung zusammengehalten wird, während sie unter 
sich differieren, vgl. die dative libro, anno — mensae^ rosae — paci^ 
lud etc. Nach dem grösseren oder geringeren grade' der lautlichen 
ttbereinstimmung entsteht dann wider eine Mteroronun^'kleinerer grup- 
pen unter grössere, vgl. gdb^ nahm — bot^ log — T>riely riet etc., unter 
einander immer noch ttbereinstimmend gegen sa/jte^ lieble etc. 

Die stofflichen gruppen werden von den formalen durchgängig 
durchkreuzt 

Nicht bloss einzelne Wörter schliessen sich zu gruppen zusammen, 
sondern auch analoge Proportionen zwischen verschiedenen Wörtern. 
Veranlassung zur entstehnng solcher proportionengruppen, die zu 
gleicher zeit eine proportionengleichung bilden, gibt zunächt die 
eben bertthrte durehkreuzung zwischen stofflichen und formalen gruppen. 
Die basis fttr die gleichung ist dabei die Übereinstimmung in der be- 
dentung des stofflichen demente nach der einen und des formalen 
Clements nach der andern richtung, weshalb wir diese art als stoff- 
lich-formale proportionengruppen bezeichnen wollen. Es kann 
dazu auch eine lautliche ttbereinstimmung nach beiden richtnngen 
treten, vgl. tag : iages : ia{/e = arm : armes : arme = fisch : fisches : 
fische; führen : ßthrer : ßthrung = erziehen : er zieher : er Ziehung etc. oder 
mit der bei allen proporfionen möglichen vertauschung der Zwischen- 
glieder tag : arm : fisch = iages : armes : fisches etc. Die lautliche ttber- 
einstimmung kann sich aber auch auf das stoffliche dement be- 
schränken, vgl. gebe : gab = sage : sagte = kmin : konnte; lat. mensa : 
mensam : mensae = hortus : hör tum : horti = nox : noctem : noctis etc.; 
rauben : raub = ernten : emfe = säen : sat = gewinnen : gewinst; respec- 
tive gebe : sage : kann == gab : sagte : konnte etc. Von viel geringerer 
bedeutung sind gldchungen, bei denen die lautliche ttbereinstimmung 
auf das formale dement eingeschränkt ist, wie gut : besser = schon : 
schöner, oder bei denen ttberhaupt gar keine lautliche ttbereinstim- 
mung stattfindet, wie bin : war = lebe : lebte, oqcud : elöov = tvjcto) : 

Auch .innerhalb der zu einer stofflichen gruppe gehörigen formen 
können sich proportionsgruppen bilden, sobald eine gliedei*ung der- 
selben nach verschiedenen gesichtspunkten möglich ist. So können 
beim nomen die casus des sg. mit denen des pl. in proportion gesetzt 
werden: hortus : horti : horto = horti : hör forum : hortibus. Viel mannig- 


87 

faltigere propoi*tioiieii ergibt ein verbsUsystem. Man kann z. b. gleich* 
ongen aufstellen wie amo : amas »= amtwi : amenvisti =s amabom : amabas 
etc. Es besteht hier also keine Verschiedenheit des stofflichen elementes 
in den coiTespondierenden gliedern wie bei den stofflich-formalen pro* 
poi-tionsgrappen, sondern an deren stelle eine teilweise venichiedenheit 
in der fanetion des formalen elementes neben der teilweisen Über- 
einstimmung. Zu der Übereinstimmung in der function kann auch 
hier eine lautliche treten, vgl. amabom : amabas «» ama»eram : amaveras. 

Eine andere art von proportionengleichungen beruht auf dem 
laatweehsel, vgl klanges (phonetisch Mannes) : klang (phon. kiank) »> 
siiige : sang = hänge : hängte etc. oder spruch : Sprüche «« tiu:h : tück^r 
= buch : büchlein etc. (wechsel zwischen gutturalem und palatalem chy 
Die glieder einer jeden proportion bestehen hier aus Wörtern, die in 
etymologischem zusammenhange stehen, die daher in ihrem stofflichen 
demente Übereinstimmung hinsichtlich der bedeutung und lautgestaltung 
zeigen, daneben aber eine lautliche Verschiedenheit, die sich in allen 
übrigen proportionen entsprech-^nd widerholt. Die bedeutung der for- 
malen elemente bleibt dabei ganz aus dem spiel So lange wir nur 
fälle in betracht ziehen wie klofiges : klang = sanjes : sang «« dranges : 
drang, lässt sich nicht entscheiden, ob wir es nicht vielmehr mit einer 
stofflich-formalen proportionengleichung zu tun haben. Der lautwechsel 
muss, wenn er hierher gezogen werden soll, sich in fällen zeigen, die 
hinsichtlich des functionsverhältnisses nichts mit einander zu tun haben, 
nnd sich dadurch als unabhängig von der bedeutung erweisen. Wir 
bezeichnen diese art von proportionengruppen als die stofflich-laut- 
lichen oder etymologisch-lautlichen. 

Eine weitere art entsteht aus den syntaktischen Verbindungen. 
Diese unterscheidet sich von den bisher besprochenen dadurch, dass 
die Verbindung der glieder, ans denen sich die einzelnen proportionen 
zusammensetzen, schon von aussen her in die seele eingeführt wird. 
Die Verbindung der analogen proportionen unter einander muss gleich- 
falls erst durch attraction im Innern der seele geschaffen werden. Es 
associieren sich z. b. sätze wie spricht Karl, schreibt Fritz etc. (mit 
Voranstellung des prädicats) oder Verbindungen wie pater mortuus, 
filia pulchra, caput magnum (mit congruenz in genus, numerus, casus), 
und es werden dabei die gleichungen gebildet spricht : JCarl = schreibt : 
Fritz und pater : mortuus = fiäa ipulchra = caput : magnum. Mit der 
äusseren form der syntactischen zusammenftigung associiert sich das 
geftthl für eine bestimmte function, und diese function bildet dann in 
gemeinschaft mit der äusseren form das band, welches die proportionen 
zusammenhält. Alle syntaktischen functionen lassen sich nur aus 
solchen proportionen abstrahieren. Daher sind die syntaktischen pro- 


88 

portionengrappen zam teil auch die notwendige Vorbedingung für die 
entstehung der formalen grnppen und der stofflich-formalen verhält- 
nissgruppen. Es können sich z. b. die genitive nicht znsammengrnp- 
pieren, wenn es nicht Verbindungen wie das haus des valer^ der bruder 
Karls etc. tun. 

Es gibt kaum ein wort in irgend einer spräche, welches völlig 
ausserhalb der geschilderten gruppen stände. Es finden sich immer 
andere in irgend einer hinsieht gleichartige, an die es sich anlehnen 
kann. Aber in bezug auf die grössere oder geringere mannigfaltigkeit 
der Verbindungen, die ein wort eingeht, und in bezug auf die Innig- 
keit des Verbandes bestehen bedeutende unterschiede. Die gruppierung 
vollzieht sieh um so leichter und wird um so fester einerseits, je 
grösser die Übereinstimmung in bedeutung und lautgestalt ist, ander- 
seits, je intensiver die demente eingeprägt sind, die zur gruppen- 
bildung befähigt sind. In letzterer hinsieht kommt fttr die proportionen- 
gruppen einerseits die bäufigkeit der einzelnen Wörter, anderseits die 
anzahl der möglichen analogen proportionen in betracht. Wo die 
einzelnen demente zu wenig intensiv sind oder ihre Übereinstimmung 
unter einander zu schwach, da verbinden sie sich entweder gar nicht 
oder der verband bleibt ein lockerer. Es sind dabei wider mannig- 
fache abstufungen möglich. 

Diejenigen proportionengruppen, welche einen gewissen grad von 
festigkeit gewonnen haben, sind für alle Sprechtätigkeit und ftlr alle 
entwickdung der spräche von eminenter bedeutung. Man wird diesem 
faetor des Sprachlebens nicht gerecht, wenn man ihn erst da zu be- 
achten anfängt, wo er eine Veränderung im sprachusus hervorruft. 
Es war ein grundirrtum der älteren Sprachwissenschaft, dass sie alles 
gesprochene, so lange es von dem bestehenden usus nicht abweicht, 
als etwas bloss gedächtnissmässig reproduciertes behandelt hat, und 
die folge davon ist gewesen, dass man sich auch von dem anteil der 
proportionengruppen an der Umgestaltung der spracht keine rechte 
Vorstellung hat machen können. Zwar hat schon W. v. Humboldt 
nachdrücklich betont, dass das sprechen ein immerwährendes schaffen 
ist. Aber noch heute stösst nian auf lebhaften und oft recht unver- 
ständigen Widerspruch, wenn man die consequenzen dieser anschanungs- 
weise zu ziehen sucht. 

Die Wörter und wortgruppen, die wir in der rede verwenden, 
erzeugen sich nur zum teil durch blosse gedächtnissmässige reproduc- 
tion des früher aufgenommenen. Ungefähr eben so viel anteil daran 
hat eine combinatorische tätigkeit, welche auf der existenz der 
proportionengruppen basiert ist. Die combination besteht dabei 
gewissermasseU) in der auflösung einer proportionengleichung, 


89 

indem nach dem muster von schon geläufig gewordenen analogen Pro- 
portionen zu einem gleichfalls geläufigen worte ein zweites proportions- 
glied frei geschaffen wird. Diesen Vorgang nennen wir analogie- 
bildnng. Es ist eine nicht zu bezweifelnde tatsaehe, dass eine menge 
wortformen und syntaktische Verbindungen, die niemals von aussen 
in die seele eingeführt sind, mit hülfe der proportionengrnppen nicht 
bloss erzeugt werden können, sondern auch immerfort zuversichtlich 
erzeugt werden, ohne dass der sprechende ein gefühl dafür hat, dass 
er den festen boden des erlernten verlässt. Es ist für die natur dieses 
Vorganges ganz gleichgültig, ob dabei etwas herauskommt, was schon 
früher in der spräche üblich gewesen ist, oder etwas vorher nicht da- 
gewesenes. Es macht auch an und für sich nichts aus, ob das neue 
mit dem bisher üblichen in widersprach steht; es genügt, dass das 
betreffende Individuum keinen widersprach mit dem bisher erleraten 
empfindet. In andern fällen hat zwar eine aufnähme von aussen 
stattgefunden, die nachwirknng derselben würde aber zu schwach sein, 
als dass das aufgenommene wider in das bewusstsein gerufen werden 
könnte, wenn ihm nicht die proportionengruppe, in die es eingereiht 
ist, zu hülfe käme. 

Ohne weiteres wird zugegeben werden, dass die wenigsten Sätze, 
die wir aussprechen, als solche auswendig gelernt sind, dass vielmehr 
die meisten erst im augenblicke zusammengesetzt werden. Wenn wir 
eine fremde spräche methodisch erleraen, so werden uns regeln ge- 
geben, nach denen wir die einzelnen Wörter zu Sätzen zusammenfügen. 
Kein lehrer aber, der nicht ganz unpädagogisch verfährt, wird es ver- 
säumen zugleich beispiele für die regel, d. h. mit rücksicht auf die 
selbständig zu bildenden sätze muster zu geben. Regel und muster 
ergänzen sich gegenseitig in ihrer Wirksamkeit, und man sieht aus 
diesem pädagogischen verfahren, dass dem concreten muster gewisse 
Vorzüge zukommen müssen, die der abstracten regel abgehen. Bei 
dem natürlichen erlernen der muttersprache wird die regel als solche 
nicht gegeben, sondern nur eine anzahl von mustern. Wir hören nach 
nnd nach eine anzahl von Sätzen, die auf die selbe art zusammen- 
gefügt sind und sich deshalb zu einer grappe zusammenschliessen. 
Die erinnerang an den speciellen Inhalt der einzelnen sätze mag dabei 
immer mehr verblassen, das gemeinsame dement wird durch die 
widerholung immer von neuem verstärkt, und so wird die regel unbe- 
wusst aus den mustern abstrahiert. Eben, weil keine regel von aussen 
gegeben wird, genügt nicht ein einzelnes muster, sondern nur eine 
grappe von mustern, deren specieller Inhalt gleichgültig erscheint. 
Denn nur dadurch entwickelt sich die Vorstellung einer allgemein- 
gültigkeit der muster, welche dem einzelnen das gefÜhl der berechti- 


90 

guiig za eignen zuaammenfttgaiigen gibt Wenn man eine aaswendig 
gelernte regel häufig genug ai^ewendet hat, so erreicht man es, dase 
dieselbe auch unbewusst wirken kann. Man braucht sich weder 
die regel noch ein bestimmtes muster ins bewusstsein zu rufen, 
und man wird doch ganz oorrecte Sätze bilden. Man ist somit, 
wenigstens was das gewöhnliche verfahren bei' der praktischen aus- 
Übung betrifft, auf einem abweichenden wege eben dahin gelangt^ 
wo derjenige sich befindet, der keinen grammatischen Unterricht ge- 
nossen hat 

Ein hauptnaehteil desjenigen, dem bloss muster überliefert sind, 
gegenüber demjenigen, der regel und muster zugleich überliefert be- 
kommen hat, besteht darin, dass er nicht wie dieser von vornherein 
über den umfang der gültigkeit seiner muster unterrichtet ist Wer 
z. b. die Präposition in zunächst widerholt mit dem ace. verbunden 
hört, wird dies leicht als die allgemeine verbindungsweise von in auf- 
fassen, und wer es auch bald mit dem acc., bald mit dem dat ver- 
bunden hört, wird mindestens einige zeit brauchen, bis er den unter- 
schied richtig herausgefunden hat, und mittlerweile vielleicht beides 
permiseue gebrauchen. Hier kommt man mit hülfe der regel viel 
schneller zum ziele. Eine solche zusammenwerfung zweier gruppen, 
die nach dem usus auseinandergehalten werden sollen, ist um so eher 
möglich, je feiner die logische Unterscheidung ist, die dazu erfordert 
wird, und je grösserer Spielraum dabei der subjectiven auffassung ge- 
lassen ist Vor allem aber ist eine gruppe dann leicht im stände ihr 
muster über das gebiet einer verwanten gruppe auszudehnen, wenn sie 
diese in bezug auf die häufigkeit der vorkommenden fälle bedeutend 
überragt Und nun gibt es vollends vieles im Sprachgebrauch, was 
überhaupt vereinzelt da steht, was sich weder unter eine mit bewusst- 
sein abstrahierte regel noch unter eine unbewusst entstandene gruppe 
einfügt. Alles dasjenige aber, was die stütze durch eine gruppe ent- 
behrt oder nur in geringem masse geniesst, ist, wenn es nicht durch 
häufige widerholung besonders intensiv dem gedächtnisse eingeprägt 
wird, nicht widerstandsfähig genug gegen die macht der grösseren 
gruppen. So, um ein beispiel anzuführen, ist es im deutschen wie in 
andern indogermanischen sprachen die regel, dass, wo zwei objeete 
von einem verbum abhangen, das eine im ^c, das andere im dat 
steht Es gibt aber daneben einige fälle, und gab früher noch mehr, 
in denen ein doppelter ace. steht. Diese fälle müssen und mnssten 
besonders erlernt werden. In folge des Widerspruchs mit der all- 
gemeinen regel wird das Sprachgefühl unsicher, und das kann schliess- 
lich zum Untergang der vereinzelten construction führen. Man hört 
heutzutage fast eben so häufig er lehrt mir die kunsl als er lehrt mich 


91 

die kunsl^ und niemand sagt mehr ich verhehle dich die sache nach 
mittelhochdentscher weise, sondern nar ich verhehle dir. 

Sehr bedeutend ist die schöpferische tätigkeit des individaums 
aber auch auf dem gebiete der Wortbildung und noch mehr auf 
dem der flexion. Bei den wenigsten nominal- und verbalformen, die 
wir aussprechen, findet eine rein gedächtnissmässige reproduction statt, 
manche hab^n wir nie vorher gesprochen oder gehört, andere so selten, 
dass wir sie ohne hülfe der gruppen, an die sie sich angeschlossen 
haben, niemals wieder in das bewusstsein würden zurückrufen können. 
Das gewöhnliche ist jedenfalls, dass production und reproduction zu- 
gammenwirken, und zwar in sehr verschiedenem verhältniss zu einander. 
Besonders klar sehen wir die Wirkungen der analogie bei der 
grammatischen aneignung der flexionsformen einer fremden spräche. 
Man lernt eine anzahl von paradigmen auswendig und prägt sich dann 
von den einzelnen Wörtern nur so viel formen ein, als erforderlich sind, 
' um die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem paradigma zu erkennen. 
Mitunter genügt dazu eine einzige. Die übrigen formen bildet man in 
dem augenblicke, wo man ihrer bedarf, nach dem paradigma, d.h. nach 
analogie. Im anfang wird man dabei immer das erlernte paradigma 
vor äugen haben. Nachdem man aber erst eine grössere anzahl von 
formen danach gebildet hat und auch diese spuren in der seele hinter- 
lassen haben, erfolgt die bildung, auch ohne dass das wort, welches 
als paradigma gedient hat, in das bewusstsein tritt. Die aus andern 
wöi-tem früher gebildeten formen wirken jetzt mit, und die folge davon 
ist, dass nur das allen gemeinsame formelle dement zum bewusstsein 
kommt, während die verschiedenen stofflichen sich gegenseitig hemmen. 
Nunmehr ist das verhältniss des sprechenden zu den flexionsformen 
im augenblicke der anwendung ungefähr das nämliche wie dasjenige, 
welches bei der natürlichen erlemung der muttersprache gewonnen 
wird. Diese natürliche erlemung führt auf einem weniger directen, 
schliesslich aber eben so sicheren wege zu dem gleichen ziele. Hier- 
bei findet von anfang an kein vorzugsweises haften der formalen de- 
mente an ein bestimmtes einzelnes stoffliche statt, und die gesammt- 
hcit der möglichen formen ordnet sich niemals in bestimmter folge zu 
einer reihe zusammen. Es wird nicht gdehi-t, dass sich dieses wort 
nach jenem zu richten habe. Der umstand, dass eine anzahl von 
formen verschiedener Wörter sich gleiehmässig verhalten, genügt das 
geflihl zu erzeugen , dass man berechtigt ist diese gleichmässigkeit 
weiter durchzufahren. Nachdem einmal von einer anzahl Wörtern die 
sämmtlichen formen eingeprägt sind und sich zu gruppen zusammen- 
geschlossen haben, wird es vom Sprachgefühl als selbstverständlich be- 
trachtet, dass auch die formen anderer Wörter solchen gruppen an^ 


92 

gehören, dass also z. b. zn dem nom. oder gen. eines sabstantivams 
die übrigen casus als notwendiges complement gehören. Daher kommt 
es ja auch, dass wir nicht jeden casus und jede verbalform als ein 
besonderes wort auffassen, sondern unter die ttbliche nennform eines 
substantivurns oder verbums (nom., inf.) gleich den ganzen formen- 
complex einbegreifen. 

Auf dem gebiete der Wortbildung sind die Verhältnisse nur znm 
teil ähnlich wie auf dem der flexion. Manche bildungsweisen aller- 
dings erzeugen sich analogisch eben so leicht und unbefangen wie 
die flexionsformen, vergleiche namentlich comparativ und Superlativ ans 
positiv. Bei andern rufen die ttberlieferten Wörter nur in beschränktem 
masse analogiebildungen hervor, wider bei andern gar keine. Dieses 
verschiedene verhalten ist einfach bedingt durch die verschiedene fähig- 
keit des ttberlieferten Stoffes zur gruppenbildung. 

Da die meisten der in der spräche üblichen formen sich in ver- 
hältnissgruppen unterbringen lassen, so ist es ganz natürlich, dass mit' 
hülfe der proportionen häufig formen geschaffen werden müssen, die 
schon vorher in der spräche üblich waren. Wenn das aber immer der 
fall sein sollte, so müssten einerseits alle nach proportion bildbaren 
formen schon einmal gebildet sein, anderseits müsste eine so voll- 
kommene harmonie des formensystems bestehen, wie sie nirgends an- 
zutreffen ist, oder es dürften wenigstens, wo verschiedene bildungs- 
weisen neben einander bestehen, verschiedene dedinations- oder eonjn- 
gationsklassen, verschiedene arten ein nomen agentis aus einem verbnm 
zu bilden etc., niemals die entsprechenden formen aus verschiedenen 
klassen eine analoge gestalt haben; es müsste aus jeder einzelnen form 
zweifellos hervorgehen, in welche der vorhandenen klassen das be- 
treffende wort gehört. Sobald eine form ihrer gestalt nach mehreren 
klassen angehören kann, so ist es auch möglich von ihr aus die andern 
zugehörigen formen nach verschiedenen proportionen zu bilden. Welche 
von den verschiedenen anwendbaren proportionen dann sich geltend 
macht, hängt durchaus nur von dem machtverhältniss ab, in welchem 
sie zu einander stehen. 

Eine proportionsbildung findet gar keine hemmung in der seele, 
wenn für die function, für welche sie geschaffen wird, bisher über- 
haupt noch kein ausdruck vorhanden gewesen ist Aber auch dann 
nicht, wenn zwar ein abweichender ausdruck bereits üblich, aber dem 
betreffenden Individuum niemals überliefert worden ist, was bei etwas 
selteneren Wörtern häufig genug der fall ist. Ist aber die übliche form 
einmal gedächtnissmässig aufgenommen, so ist es elä%machtfrage, ob 
in dem augenblicke, wo eine bestimmte function ausgelmt^werden soll, 
zu diesem zwecke eine form durch einfache reproduction ii|J)ewosst- 


93 

sein gehoben wird oder mit hülfe einer proportion. Es kann dabei 
der fall eintreten, dass die proportion sieh zunächst geltend macht, 
dass aber die Mher geknüpfte Verbindung mit dem erinnerungsbilde 
der Üblichen form noch stark genug ist, um hinterher den Widerspruch 
der neubildung mit diesem erinnerungsbilde bemerklich zu machen. 
Man besinnt sich dann, dass man etwas falsches hat sagen wollen 
oder schon gesagt hat. Es ist das also eine von den verschiedenen 
arten, wie man sich versprechen kann. Wir werden auch da noch 
ein versprechen anerkennen müssen, wo der sprechende auch hinterher 
den Widerspruch mit dem erinnerungsbilde nicht von selbst gewahr 
wird, aber denselben sofort erkennt, wenn er durch eine leise hindeu- 
tung darauf aufmerksam gemacht wird. Die macht des erinnerungs- 
bildes kann aber auch so gering sein, dass es gar nicht gegen die 
proportionsbildung aufzukommen vermag und diese ungestört zur gel- 
tnng gelangt. 

Durch die Wirksamkeit der gruppen ist also jedem ein- 
zelnen die möglichkeit und die veranlassung über das be- 
reits in der spräche übliche hinauszugehen in reichlichem 
masse gegeben. Man muss nun beachten, dass alles, was auf diese 
weise geschaffen wird, eine bleibende Wirkung hinterlässt. Wenn diese 
auch nicht von anfang an stark und nachhaltig genug ist, um eine 
unmittelbare reproduction zu ermöglichen, so erleichtert sie doch eine 
künftige widerholung des nämlichen schöpfungsprocesses, und trägt 
dazu bei die etwa entgegenstehenden hemmungen noch mehr zurück- 
zudrängen. Durch solche widerholungen kann dann hinzugefügt werden, 
was dem neugeschaffenen etwa noch an macht fehlte um unmittelbar 
reproduciert zu werden. 

Aber jede solche Überschreitung des usus erscheint, auf ein Indi- 
viduum beschränkt, wo sie zu dem üblichen ein mehr hinzufügt, ohne 
sich mit demselben in Widerspruch zu setzen, als eine gewisse kühn- 
heit, wo sie aber das letztere tut, geradezu als fehler. Ein solcher 
fehler kann vereinzelt bleiben, ohne zur gewohnheit zu werden, kann 
auch, wenn er zur gewohnheit geworden ist, wider abgelegt werden, 
indem man sich durch den verkehr das übliche aneignet, sei es zum 
ersten male, oder sei es von neuem. Wenn er aber auch nicht wider 
abgelegt wird, so geht er in der regel mit dem Individuum zu gründe, 
wird nicht leicht auf ein anderes übertragen. Viel leichter überträgt 
sich eine schöpfting, die mit keiner früher bestehenden in conflict 
kommt, hier kann viel eher ein einzelner den anstoss geben. Da- 
gegen mit der ersetzung des bisher üblichen durch etwas neues ver- 
hält es sich gerade wie mit dem laut- und bedeutungswandeL Nur wenn 
sieb innerhalb eines engeren verkehrskreises an einer grösseren anzahl 


< 


04 

voD individuell spontan die gleiche nenschOpfirag voDziebt, kann sieb 
eine yeränderung des nsns herausbilden. Die m(>glichkeit eines solchen 
spontanen Zusammentreffens Tieler indiyidnen beruht auf der über- 
wiegenden ttbereinstimmung in der Organisation der auf die spräche 
bezüglichen yorsteUungsgruppen. Je grösser die zahl derjenigen, bei 
denen die neubildung aufkritt, um so leichter wird die ttbertragiiBg 
auf andere, je mehr gewinnt das, was anfangs als fehler erschien, an 
autorität. 

Wie hinsichtlich der lautyerhältnisse und hinsichtlich der beden- 
tnng, die den Wörtern beigelegt wird, so zeigen sich auch hinsiehtM 
der analogischen neubildung die stärksten abweichungen yom usus in 
der kindersprache. Je unvollständiger und je schwächer noch die ein- 
prägung der einzelnen Wörter und formen ist, um so weniger hemmBng 
findet die neubildung, um so freieren Spielraum hat sie. So haben alle 
kinder die neigung anstatt der unregelmässigen und seltenen bildun^ 
weisen, die noch nicht in ihrem, gedächtniss haften, die regehnässigen 
und gewöhnlichen zu gebrauchen, im nhd. z. b. alle verba schwach zu 
bilden. Wenn bei zunehmender entwickelung des Individuums die nen- 
bildung mehr und mehr abnimmt, so ist das natürlich nicht die folge 
davon, dass ein anfangs vorhandenes vermögen schwindet, sondern 
davon, dass das bedttrfniss abnimmt, indem sich für den zweck, für 
den firtther die neubildungen geschaffen wurden, immer mehr gedäeht- 
nissmäsdg aufgenommene formen zur vei^gung stellen. Im aügemeinen 
lassen auch auf diesem gebiete die abweichungen der kindersprache 
keine eonsequenzen für die allgemeine Weiterentwicklung der spräche 
zurück; aber hie und da bleiben doch spuren zurttck. Insbesondere 
wird in solchen fällen, wo schon die erwachsenen zu neubildungen 
neigen, die entsprechende neigung bei den kindern noch stärker her- 
vortreten, und sie werden sich dieser neigung frei überlassen, sobald 
die nötige hemmung durch die spräche der erwachsenen fehlt. 

Durch eine analogische neubildung wird eine früher bestehende 
gleicfabedeutende form nicht mit einem schlage verdrängt. Es ist nicht 
wol denkbar, dass das bild der letzteren gleichzeitig bei allen indi- 
yidnen so verblassen sollte, dass die analogiebildung ohne hemmnng 
vor sich gehen könnte. Vielmehr bewahren immer einige Individuen 
die alte form, während andere sich schon der neubildung bedienen. 
So lange aber zwischen diesen und jenen ein ununterbrochener ver- 
kehr unterhalten wird, muss auch eine ausgleichung stattfinden. E8 
müssen daher einer kleineren oder grösseren anzahl von individuen 
beide formen geläufig werden. Erst nach einem längeren kämpfe 
zwischen beiden foi*men kann die neubildung zur alleinherrschaft ge- 
langen. 


95 

Da die analogkebe neaschöpfnng die anflösnng einer proportions- 
gleichnng ist, so mOssen natttrlieh Bchon mindesteDB drei glieder 
TorhaDden sein, die sieh zum ansatz einer solchen glelehung eignen. 
Es mnss jedes mit dem andern irgendwie vergldehbar sein , d. h. in 
diegem falle, es mnss mit dem einen im staff liehen, mit dem andern 
im formalen elemente eine Übereinstimmung zeigen. So lässt sieh z. b. 
im lai eine gleiehnng ansetzen animm : animt «=» senatus : x, aber nicht 
ammus : animi = mensa : x. Es kann daher ein wort in einer flexion 
von anderes nur dann analogische beeinflussnng erfahren, wenn es 
mit diesen in der bildnng einer oder mehrerer formen ttbereinstimmt 
Es kommt allerdings zuweilen eine beeinflussung ohne solche ttberein- 
stimmmg vor, die man dann aber nicht mit recht als analogiebildung 
bezeichnet Es kann eine flexionsendung wegen ihrer besonderen 
bänfigkeit als die eigentHehe normalendung f&r eine fiexionsform 
empfunden werden. Dann überträgt sie sich wol auf andere Wörter 
aueh ohne die Unterstützung gleichgebildeter Wörter. Von dieser art 
ist z. b. im attiseben die Übertragung der genitirendung ov aus der 
aweitea deelination auf die masculina der ersten: otoXlrov statt xoXl- 
TSiü, wie es Homerischem -ao, dorischem -a entsprechen müsste; die 
Übereinstimmung beider klassen im gesebleeht bat hier genügt die be- 
einflussung zu bewirken. Der gen. du. der griechischen dritten deeli- 
nation hat seine endung von der zweiten enüehnt: jtodolv nach tjtjtotv. 
Im deutschen ist die genitivendung s auf die weiblichen eigennamen 
mit der endvng a übertragen: Berthas, Claras. 

Neuseh^pfungen finden natürUob auch auf grundlage der oben 
s. 86 besprochenen proportionsgruppen statt, die sich aus formen der 
gleichen stoffliehen gruppe zusammensetzen. Im mhd. lauten die 
dritten personen pl.: ind. präs. gehent, conj. gebeny ind. prät. gäben, 
conj. geeben. Im nhd. ist nach analogie der drei anderen formen aueh 
im ind. praes. g^en eingetreten ; im spätmhd. ist auch umgekehrt ent 
in die übrigen formen eingedrungen. Die 2. sg. ind. prät. des starken 
verbums, die im mhd. eigentümlich gebildet war (du gcebe, wmre\ ist 
nach der analogie der andern zweiten personen umgestaltet. 

Dass eine schöpferische Wirkung der analogie auch auf dem 
gebiete des lautweebsels statt hat^ ist, soviel ich sehe, bis jetzt 
noch wenig beachtet. Der lautwechsel ist zunächst, wie wir gesehen 
haben, eine Wirkung des lautwandds, die dann eintritt, wenn der 
gleiche laut oder die gleiche lautgruppe sich in folge verschiedener 
lautlieher bedingungen in mehrere gespalten hat. So lange diese be- 
dingangen fortdauern und ausserdem keine Störung der Wirkungen des 
Jautwattdels durch andere einflttsse eintritt, ist es möglich, dass die 
dureb den lautwandel entstandenen formen sieh zu proportionsgruppen 


96 

ordnen, vgl. die beispiele oben s. 87. Wir können dann den laut- 
Wechsel als einen lebendigen bezeichnen. Fallen dagegen die be- 
dingungen fort, welche die Ursache der verschiedenen behandlang des 
lautes gebildet haben, so lassen sich keine etymologisch -lauüiehen 
Proportionen mehr bilden, der lautwechsel ist erstarrt. So ist z. b. 
der Wechsel zwischen h und g in zieJien — zug, gedeihen — gediegen 
nicht mehr durch Verhältnisse in der gegenwärtigen spräche bedingt; 
die Ursache, durch welche dieser lautwechsel ursprünglich hervorge- 
rufen ist, der wechselnde indogermanische accent, ist längst beseitigt 
Der Wechsel zwischen hoher — hoch, sehen — gesicht, geschehen — 
geschichte trifft zwar zusammen mit einem Wechsel der Stellung inner- 
halb der silbe; da aber in den meisten fällen bei ganz analogem 
Stellungswechsel kein lautwechsel mehr statt hat (vgl. rauher — rauh, 
seilen — sah und sieht, geschehen — geschah und geschieht), so ist 
auch dieser Wechsel ein toter. Anders im mhd., wo es eine durch- 
greifende regel ist, dass einem h im silbenanlaut in der Stellung naeh 
dem sonanten der silbe der laut unseres ch entspricht, also rüher — 
rüch, sehen — sach, geschehen — geschach, vor s und / im älteren 
mhd. allerdings auch h geschrieben {sihst, siht\ im späteren aber gleich- 
falls durch ch bezeichnet (siehst, sieht). 

Die stofflich-lautlichen proportionsgruppen sind nun in entspre- 
chender weise productiv wie die stofflich-formalen. Es ist z. b. nicht 
wol denkbar, dass die beiden verschiedenen aussprachen unseres ch 
von jedermann für jeden einzelnen fall besonders erlernt sind, viel- 
mehr wirken auch hier gedächtnissmässige einprägung und analogie- 
schöpfung zusammen, und ohne mitwirkung der letzteren könnte nicht 
die Sicherheit in dem Wechsel zwischen beiden gewonnen werden, wie 
sie wirklich vorhanden ist Besonders zweifellos ist die mitwirkung 
der analogie bei den sand.hi-erscheinungen. Wie sollte man es sich 
z. b. sonst erklären, dass im franz. die anlautenden consonanten «, z, 
ty n consequent verschieden behandelt werden, je nachdem das 4sicb 
anschliessende wort mit consonant oder mit vokiüi beginnt? Es ist 
zwar möglich, dass sich eine anzahl solcher Verbindungen wie nous 
vendons — nous aimons, un fils — un ami seit der zeit, wo sie durch 
den lautwandel entstanden sind, von generation zu generation gedächt- 
nissmässig fortgepflanzt haben, aber sicher sind es bei weitem nicht 
alle, die jetzt zm* anwendnng kommen und früher gekommen sind. 
Nichtsdestoweniger wird der Wechsel genau beobachtet, auch von dem 
grammatisch ungeschulten und bei jeder beliebigen neuen combination. 
Durch die Wirksamkeit der etymologisch -lautlichen verhältniss- 
gruppen werden im allgemeinen solche formen erzeugt, wie sie auch 
durch den zu gründe liegenden lautwandel hervorgebracht sein würden. 


97 

Doeh geschieht es auch zuweilen, dass neue fonnen erzengt werden, 
die lantgesetzlich nicht möglich wären. Ursache ist entweder eine 
eigentlich nicht berechtigte nmkehrung der Proportionen oder eine Ver- 
schiebung der Verhältnisse durch jttngem lautwandel. 

Fttr viele ober- und mitteldeutsche mundarten gilt das lautgesetz, 
dass n im silbenauslaut geschwunden ist^ sich aber auch im wortende 
gehalten hat, wenn es bei vokalischem anlaut des folgenden wortes 
zu diesem hinttbergezogen ist, also z. b. im schwäbischen g ros (ein 
ross) — e-n 6bgt (ein abend), i dug == mhd. ich tuon) — dug-n-i. 
Man ist also daran gewöhnt, dass in vielen fällen zwischen vokalischem 
auslaut und vokalisehem anlaut sich ein n scheinbar einschiebt, und 
in folge davon überträgt sich das n auf fälle, wo in der älteren zeit 
kein n bestanden hat. So finden sich in der Schweiz^) Verbindungen 
wie wo-ii'i wo ich, sf-n-iss so ist es, wif-n-f wie ein, so-n-f so ein, 
bt-n-fm bei ihm, isüf-n-ftn zu ihm. Die selbe erscheinung findet sich 
in Schwaben, z. b. in der mundart der gegend von Horb 2): bei-n-ftn 
bei ihnen, zuf-n-mf zu ihnen, dt mä-n-i dich mag ich, Id-n-f/ns 
lass es ihm, gei-n-fms gib es ihm ; entsprechend im bairischen Sehwaben 
und in einem angrenzenden teile des eigentlich bairischen gebietest): 
si-n-ist sie ist, rvie-n-i wie ich etc. Auch im kämtischen heisst es 
hä-n-enk bei euch.*) Im altprovenzalischen ist die nebenfomi fon 
zu fo {fuit) nach analogie von b(m — bo etc. gebildet^) Hierher 
gehört auch das v eg)skxt)CTix6v, soweit es nicht etymologisch be- 
rechtigt ist. 

Das nämliche gesetz, das im alemannischen und schwäbischen 
für n gilt, gilt im bairischen fttr r. Es heisst daher der arm, aber de 
jung, fr is, aber p hat, mel bricfdfr od fr i, aber i odf mei brtifdf.^) 
In folge davon entstehen auch Verbindungen wie wif-r-i wie ich, 
ge-r-f gehe er, da sif-r-i da sehe ich, käf-r-i kann ich, eif-r-t 
abhin = hinab. ^) Entsprechend wird mhd. y^rd, nürä aus jä, nü+ä 
zu erklären sein nach analogie des Verhältnisses da (aus älterem dar) 
zu därane, wä zu rvärane, hie zu hierane, sä zu särie. 

Die satzphonetische doppelformigkeit ist wol dasjenige gebiet, 
auf dem diese art von analogiebildung am häufigsten erscheint. Doch 


*) Vgl. Winteler, Kerenzer mundart s. 73. 140. 

^) Nach mitteiluDg meines zuhOrers Friedrich Eauffmann. 

3) Vgl. Schmeller, Mundarten Bayerns s. 134. 

*) Vgl. Lexer, Kärntisches Wörterbuch s. XIII. 

») Vgl. Neumann, Zschr. f. rom. phil. VIII, 257. 

«) Vgl. Schmeller, s. 141. 

■') Vgl. ib. s. 142 und Lexer a. a. o. s. XII. 

Paul, Principien. U. Auflage. 


98 

ist sie nicht darauf beschränkt. Wenn im spätmittelhochdentsclien 
nach abwerfang des auslautenden e aus zcdhe, geschcehe, hcshe etc. 
zeech, geschcech, haech entsteht, so liegt wol schwerlich ein lautlicher 
ttbergang des h in ch vor; die formen haben sich vielmehr der ana- 
logie des bereits vorher bestehenden wechseis hoch — hohes, geschehen 
— geschach etc. gefügt. Ebenso wird es sich verhalten bei sieht, ge- 
schieht (in älterer zeit noch sihi, geschiht geschrieben) aus sihet, ge- 
schihet. 


Cap. VI. 

Die syntaktischen grundverhältnisse. 

Alle s preehtätigke it besteht in der bildnng von Sätzen . Der 
satz ist der sp raehli che ausdruck, das symbol dafür, dass 
sich die Verbindung mehrerer Vorstellungen oder vorstel- 
lungsgruppen in der seele des sprechenden v ollzoge n hat, 
und das mittel dazu, die nämliche Verbindung der nämlichen 
Vorstellungen in der seelfi.des hörenden zu erzeugen. Jede 
engere definition des begriffes satz muss als unzulänglich zurttckgewiesen 
werden. Zu den verbreiteten irrtttmem ttber das wesen des Satzes 
gehört es z. b., dass derselbe ein verb. fin. enthalten mttsse. Ver- 
bindungen wie Omnia praeclara rara, Summum jus summa injuria, 
Träume schäume, Ich ein lügner? Ich dir danken? sind gerade so gut 
Sätze wie Der mann lebt, Er ist tot. 

Zum sprachlichen ausdruck der Verbindung von Vorstellungen 
gibt es folgende mitte l: 1) die nebenein anderstellung der den Vor- 
stellungen entsprechenden Wörter an sich; 2) die • r eihenfolge dieser 
Wörter; 3) die a bstufun g zwischen denselben in bezug auf die energi^ 
der hervorbringung, die stärkere oder schwächere betonung (vgl. Karl 
kommt nicht ^ — Karl kommt nicht) \ 4) die modulation der tonhöhe 
(vgl. Karl kommt als behauptungssatz und Karl kommt? als fragesatz); 
5) das tempo, welches mit der energie und der tonhöhe in engem 
zusammenhange zu stehen pfleg t; 6) Verbindungswörter wie präpo- 
sitionen, conjunctionen, htilfszeitwörter; 7) die flexivische abwandlung 
der Wörter, und zwar a) indem durch die flexionsformen an sich die 
art der Verbindung genauer bestimmt wird {patri librum dat\ b) indem 
durch die formelle ttbereinstimmung (congruenz) die Zusammengehörig- 
keit angedeutet wird (anima Candida), Es ist selbstverständlich, dass 
die beiden letztgenannten mittel sich erst allmählig durch längere 
geschichtliche entwickelung haben bilden können, während die fünf 
erstgenannten von anfang an dem sprechenden zur Verfügung stehen. 
Aber auch 2 — 5 bestimmen sich nicht immer bloss unmittelbar nach 

7* . 


100 

dem natttrlichen ablanf der vorstellnngen und empfindangen, sondern 
sind einer traditionellen ausbildnng fähig. 

Je nach der menge und bestimmtheit der angewendeten mittel 
ist die art nnd weise, wie die Vorstellungen mit einander zu verbinden 
sind , genauer oder ungenauer bezeichnet Es verhält sich in bezog 
auf die verbindnngsweise gerade so wie in bezug auf die einzelne 
Vorstellung. Der sprachliehe ausdruek dafür braucht durchaus nicht 
dem psychischen Verhältnisse, wie es in der seele des sprechenden 
besteht und in der seele des hörenden erzeugt werden soll, adäquat 
zu sein. Er kann viel unbestimmter sein. 

Jeder satz besteht demnach aus mindestens zwei dementen. 
Diese demente verhalten sich zu einander nicht gleich, sondern sind 
ihrer function nach differenziert. Man bezeichnet sie als subjeet 
und prädicat Diese grammatischen kategorieen beruhen auf einem 
psychologischen, einem logischen verhältniss. Zwar müssen wir unter- 
scheiden zwischen psychologischem und grammatischem snb- 
ject, respective prädicat, da beides nicht immer zusammenfällt, 
wie wir noch im einzelnen sehen werden. Aber darum ist doch das 
grammatische verhältniss nur auf grundlage des psychologischen aaf- 
erbaut 

Das psychologische subjeet ist die zuerst in dem bewusstsein des 
sprechenden, denkenden vorhandene vorstellungsmasse , an die sich 
eine zweite, das psychologische prädicat anschliesst. Das subjeet ist, 
mit Steinthal zu reden, das appercipierende, das prädicat das apper- 
cipierte. Richtig bezeichent v. d. Gabelentz (Zschr. f. Völkerpsychologie 
6, 378) die beiden demente vom Standpunkte des hörenden aus. Das 
psychologische subjeet ist nach ihm das, worüber der sprechende den 
hörenden denken lassen, worauf er seine aufmerksamkeit hinleiten 
will, das psychologische prädicat dasjenige, was er darüber denken 
soll. Doch kann diese art der bestimmung des prädicats leicht zn 
einer zu beschränkten aufifassung verführen, wie sie in unseren gram- 
matiken gang und gäbe ist Wir müssen daran festhalten, dass es 
nur darauf ankommt, dass eine Vorstellung im bewusstseiu an die 
andere angeknüpft wird. 

Wir sind jet^t gewohnt dem verhältniss des subjects zum prä- 
dicat einen engern sinn unterzulegen. Ist das prädicat ein nomen, 
so verlangen wir für die normale satzbildung, dass dasselbe ent- 
weder mit dem subjeet identificiert werde, oder dass es den weiteren 
begriff bezeichne, welchem der engere des subjects untergeordnet wird, 
oder dass es eine eigenschaft angebe, weldie dem begriffe des sub- 
jects inhäriert. Aber in sprüchwörtern werden auch beziehungen ganz 
anderer art durch die grammatische form der nebeneinajiderstellung 


•• •.. .-. 


• • • . . 


101 

von snbject und prädicat ausgedrückt, vgl. ein mann ein wori, gleiche 
bräder gleiche kappen^ viel feinde viel ehr', viele köpfe viele sinne, viel 
geschrei wenig wolle, älter fuchs alte lisi, klein geld kleine arbeit^ neuer 
arzt neuer kirchhof heisse bitte kalter dankj kurz gebet tiefe andachf, 
roier bart untreue art,' gevatter übern zawi gevatter wider herüber, glück 
im spiel unglück in der liebe, mit gevangen mit gehangen, früh gesattelt 
spät geritten, allein getan allein gebüsst: entsprechend in anderen indo- 
germanischen spi'aehen, vgl. fVanz. bon capiiaine bon soldat, banne terre 
mauvais chemin, longue langue courte main, brune matinie belle jaurnie, 
froides mains chaudes amours, feves fleuries temps de folies, soleil ä la 
vue batmlle perdue, point öCargent point de Suisse. Zwar pflegt man 
solche Sätze als verkürzte hypothetische perioden aufzufassen und dem- 
gemäss ein komma zwischen die beiden bestandteile zu setzen, aber 
dass man sie durch eine hypothetische periode umschreiben kannr'(ff^o 
viel geschrei ist, da ist wenig wolle etc.), geht uns hüt gar nichts: an, 
ihre grammatische form ist keine andere als die von «ätzen wie ehe- 
stand wehestand, die gelehrten die verkehrten, bittkauf teurer kauf etc. 
Bei den ersten Sätzen, welche kinder bilden, dient die blosse anein- 
anderreihung von Wörtern zum ausdruck aller möglichen beziehungen. 
Aus der erfahrung gesammelte beispiele werden von Steinthal, Einl. 
S. 534 — 6 beigebracht, vgl. papa hut (= der papa hat einen hüt auf), 
mama baba (= ich will bei der mama schlafen). Wo man sich einer 
fremden spräche zu bedienen genötigt ist, deren man nicht mächtig 
ist, greift man in der not zu dem selben primitiven auskunftemittel 
und wird von der Situation unterstützt verstanden. Man bedeutet z. b. 
jemandem durch die werte wein tisch, dass er den wein auf den lisch 
stellen soll u. dergl. Die bedingungen , welche dazu veranlassen der- 
gleichen Sätze zu erzeugen und es dem hörenden ermöglichen die nicht 
ausgedrückte beziehung der begriffe zu erraten, sind natürlich nicht 
bloss in den anfangen der Sprechtätigkeit der einzelnen oder der 
menschheit vorhanden, sondern zu allen Zeiten. Wenn sie auf den 
höher entwickelten stufen nur in beschränktem masse zur anwendung 
kommen, so liegt dies nur daran, dass vollkommenere ausdrucksmittel 
zu geböte stehen. 

Zur Unterscheidung von subject und prädicat gab es ursprüng- 
lich nur ein mittel, die ton stärke. Im isolierten satze ist das psycho- 
logische prädicat als das bedeutsamere, das neu hinzutretende stets 
das stärker betonte dement. Dies dürfen wir wol als ein durch alle 
Völker und zeiten durchgehendes gesetz betrachten. Ein zweites unter- 
scheidungsmittel könnte die Wortstellung abgegeben haben. V. d. 
Gabelentz in dem oben erwähnten aufsatze meint (s. 376), dass die 
anordnung subject - prädicat (beides als psychologische kategorieen 


102 

betrachtet) aasnahmslos gelt?.^ Diese ansieht seheint mir nicht ganz 
richtig. Wir müssen bei bearteilnng dieser frage die sprachen und die 
fälle ganz bei seite lassen, in denen für die stellang des grammatisehen 
snbjeets und prädicats durch die tradition eine feste regel heraus- 
gebildet ist. Wir dürfen nur solche fälle heranziehen, in denen beide 
den platz yertauschen können, in denen also die stellang nicht dnrcb 
grammatische, sondern lediglich dnrch psychologische normen bedingt 
ist Die ansieht, welche v. d. Gabelentz hegt, dass ein vorangestelltes 
grammatisches pi^d. immer psychologisches subj. sei, trifft allerdings 
in vielen ßlllen za, z. b. in dem Goetheschen Weg ist alies^ was du 
liebtest^ Wieg, warum du dich betrübtest, Weg dein glück und deine ruh'; 
sagen wir aber z. b. ein windsioss ergriff das blait und weg war 65, so 
kann weg anmöglich als psychologisches snbj. gefasst werden. Ebenso 
besteht Übereinstimmung zwischen psychologischem und grammatischem 
subject, wenn auf die bemerkung Müller scheint ein verständiger mmin 
zu sein ein anderer entgegnet ein esel ist er; und so in vielen fällen. 
Der subjectsbegriff ist zwar immer früher im bewusstsein des sprechen- 
den, aber indem er anfängt zu sprechen, kann sich der bedeutsamere 
prädicatsbegriff schon so in den Vordergrund drängen^ dass er zuerst 
ausgesprochen und das subject erst nachträglich angefügt wird. Dies 
kommt häufig vor, wenn der subjectsbegriff schon vorher im gespräebe 
da gewesen ist, vgl. die angefahrten beispiele. Dann hat auch der 
angeredete in der regel, während er das prädicat hört, schon das 
dazu gehörige subj. im sinne, welches daher auch manchmal eben so 
gut weg bleiben kann, vgl „was ist Meier T^'^ „kauf mann (ist er)''. Abei 
auch wenn der angeredete auf das subj. nicht vorbereitet ist, kann 
lebhafter affect die Veranlassung werden, dass sich das präd. an die 
spitze drängt Der sprechende verabsäumt dann zunächst über dem 
interesse an der hauptvorstellung die fär den angeredeten notwendige 
Orientierung, und es fällt ihm erst hinterher ein, dass eine solche er- 
forderlich ist. Es ist ein analoger psychologischer Vorgang, wenn das 
subj. zuerst durch ein pron., dessen beziehung für den angeredeten 
nicht selbstverständlich ist, und erst hinterher bestimmter ausgedrückt 
wird, vgl. ist sie blind, meine liebe (Lessing); sie hindert nicht allem 
nicht, diese binde (ib.); was für ein bild hinterlässt er, dieser schwoll 
von Worten (ib.); mhd. wie jämerltche ez siät, daz hSre lant (Walth.v. 
d. Vogelw.), si ist iemer ungeschriben, diu fröude die si häten (Hartm. 
V. Aue); franz. eile approche, cette mort inexorable,^) Aus den ge- 


Umgekehrt betrachtet Wegener, 8.31 ff. die voranstellung des prädicats 
als das eigentlich normale, eine anschauung, der ich auch nicht beitreten möchte. 
*) Vgl. andere beispiele bei Wegener, s. 41. 


103 

gebenen ausfUhrangen erhellt, dass die sätze mit vorangestelltem psy- 
chologischen prädicat eine Verwandtschaft haben mit den bald weiter 
unten zu besprechenden Sätzen, in denen überhaupt nnr das präd. 
ausgedrückt wird. Sie sind eine anomalie gegenüber der bei ruhiger 
erzählnng oder erörterung vorwaltenden voranstellung des subjects, 
aber doch eine nicht wegzulängnende and nicht gar seltene anomalie. 
Die Wortstellung kann daher nicht als ein mit den anfangen der satz- 
bildung gegebenes unterscheidungsmittel von snbj. und präd. betrachtet 
werden. 

Wie die einzelnen Wörter concrete und abstracto bedentnng 
haben können, so auch die Sätze. Concret ist ein satz, sobald eines 
von den beiden hauptgliedern, das psychologische subject oder das 
psychologische prädicat concret ist Normaler weise ist es das sub- 
ject, welches dem satze concrete natur gibt Concrete und abstracto 
Sätze brauchen der ausdrucksform nach nicht verschieden zu sein. 
Wir können in bezug auf die menschliche natur überhaupt sagen def 
mensch ist sterblich^ wie wir in bezug auf einen einzelnen sagen der 
mensch ist unausstehlich, und nur aus dem zusammenhange und der 
Situation lässt sich die verschiedene natur der Sätze erkennen. In dem 
ersteren satze könnte man auch pluralische ausdrucksweise einsetzen: 
die menschen oder alle menschen sind sterblich. Er bleibt dann aber 
nicht eigentlich abstract; denn alle menschen fasst man wol richtiger 
als einen concreten ausdruck = alle menschen, die existieren. Ist das 
subject concret, so kann der satz nicht abstract sein. Es bleibt aller- 
dings immer noch die^ verschiedene möglichkeit, dass das prädicat 
als etwas dem subject schlechthin zukommendes, als etwas bleibendes 
oder sich widerholendes gedacht werden kann oder als etwas demselben 
nur zu bestimmter zeit anhaftendes. Im ersteren falle besteht gewisser- 
massen eine mittelstufe zwischen einem abstracten und einem concreten 
satze, und es sei daher erlaubt flir diese art von Sätzen in ermangelung 
einer besseren bezeichnung den ausdruck abstract-concret zu ge- 
brauchen. Auch dieser Verschiedenheit braucht keine Verschiedenheit 
der ausdrucksform zu entsprechen. Er spricht schnell kann bedeuten 
„er spricht in diesem augenblicke schnell* und „er pflegt schnell zu 
sprechen*; er ist saumselig kann ein benehmen in einem einzelnen falle 
oder eine bleibende Charaktereigenschaft bezeichnen. 

Unserer behauptung, dass zum satze mindestens zwei glieder ge- 
hören, scheint es zu widersprechen, dass wir sätze finden, die nur aus 
einem werte oder einer eiife einheit bildenden gruppe bestehen. Der 
widersprach löst sich so, dass in diesem falle das eine glied, in der 
regel das logische subject, als selbstverständlich keinen sprachlichen 
ausdruck gefunden hat Es kann aus dem vorher besprochenen er- 


104 

gänzt werden. Insbesondere ist zn beachten, dass es in der weebsel- 
rede sehr häufig den Worten des anderen zu entnehmen ist. Die ant- 
wort pflegt nur aus einem prädicate zu bestehen, das sabject ist ent- 
weder in der frage enthalten, oder die ganze frage ist das logische 
subjeet: 1) „wer hat dich geschlagen? ^^ „jü/öo:" — 2) ,,bisl du das ge- 
wesen? ^^ ,Ja" (nein, gewiss y freilich , doch). Ebenso dienen als prädieat 
zu einem von dem andern aasgesprochenen satze bemerknngen wie zu- 
gestanden, einerlei, ganz gleich, wol möglich, nicht möglich, (wie) sellsatn^ 
getroffen, genug, kein wunder, geschwätz, possen, lügen, unsinn. In 
andern fällen ist die anschauung, die vor dem sprechenden und hören- 
den steht, die Situation das logische subjeet, auf welches die aufmerk- 
samkeit noch durch gebärden hingelenkt werden kann. Diese an- 
schauung kann die redende oder die angeredete person sein, vgl Ihr 
diener, gehorsamer diener, zu he fehl — willkommen, so traurig? warum 
so traurig? Femer gehören hierher namentlich yiele ausrufungen des 
erstaunens und entsetzens und httlfsschreie wie feuer, diebe, mörder^ 
hülfe, sowie viele aufforderungen, auch fragen wie gerade oder ungerade?, 
rechts oder links? Wenn der prinz in Lessings Emilia beginnt Klageih 
nichts als klagen! Bittschriften, nichts als hittschriften!, so sind das 
nur prädicate, das subjeet vnrd durch die briefe gebildet, die er in 
die band nimmt Bei solchen dem sprachliehen ausdruck nach ein- 
gliedrigen Sätzen ist es möglich, dass dasjenige, was fUr den sprechen- 
den psychologisches prädieat ist, fttr den hörenden vielmehr subjeet 
wird. Für denjenigen, der beim anblick eines brandes ausruft feuer, 
ist die Situation subjeet und der allgemeine . begriff feuer prädieat; 
dagegen fttr denjenigen, der feuer rufen hört, ehe er selbst einen 
brand gewahr wird, ist der begriff feuer subjeet und die Situation 
prädieat Es kann auch sätze geben, in denen für beide teile das 
ausgesprochene subjeet, die Situation prädieat ist Es sieht z. b. 
jemand, dass ein kind in gefahr kommt, so ruft er wol der person, 
welcher die bewachung desselben anvertraut ist, nur zu das kind. 
Hiermit ist nur der gegenständ angezeigt, auf den die aufmerksam- 
keit' hingelenkt werden soll, also das logische subj., das präd. ergibt 
sich für die angeredete person aus dem, was sie sieht, wenn sie dieser 
lenkung der aufmerksamkeit folge leistet Oder, wenn von zwei reise- 
gefähiiien der eine bemerkt, dass der andere seinen schirm hat stehen 
lassen, so genügt der blosse ausruf dein schirm, um diesen das prä- 
dieat dazu ergänzen zu lassen. Der vocativ, fttr sich ausgesprochen, 
um jemand herbeizurufen, ihn zu warnen, zu bitten, ihm zu drohen, 
ihm bemerklich zu machen, dass er unter mehreren jetzt an der reihe 
ist etwas zu tun, ist ein solcher sprachlich, aber nicht psychologisch 
prädicatloser satz. Dagegen neben einem verbum in der zweiten 


105 

person ohne subjectspron. kann der voe. als snbj. zu diesem gefasst werden. 
Man interpungiert gewöhnlich Karl^ komm und komm^ Karl^ dagegen du 
komm and komm du, ohne dass ein unterschied des Verhältnisses besteht. 

Hier ist auch festzustellen, wie es sich mit den sogenannten 
verba Impersonalia verhält. Es ist eine vielfach erörterte Streit- 
frage, ob dieselben als subjectlos zu betrachten sind oder nicht. Eine 
kritische erörterung der darüber geäusserten ansichten findet sich in 
der Schrift von Miklosich „Subjectlose sätze" (Zweite aufläge. Wien 
1883). Im wesentlichen auf das von Miklosich beigebrachte material 
stützt sich ein aufsatz von Marty in der Vierteljahrsschr. f. wissen- 
schaftliche philos. VIII, 56 flf. Um die frage richtig zu beantworten 
muss man streng scheiden zwischen der grammatischen form und dem 
dadurch bezeichenten logischen verhältniss. Sehen wir nur auf die 
crstere, so kann es natürlich nicht zweifelhaft sein, dass Sätze wie es 
rauscht, franz. il gele, niederserbisch vono se biyska (es blitzt) ein sub- 
ject haben. Aber alle bemühungen dies es, il, vono auch als logisches 
subj. zu fassen und ihm eine bestimmte ausdeutung zu geben haben 
sich als vergeblich erwiesen. Auch von Sätzen wie lat. pluit, griech. 
vei, sanskr. varsati (es regnet), lit. sninga (es schneit) kann man an- 
nehmen, dass ihnen das formelle subj. nicht fehlt; denn es kann in 
der verbalendung enthalten sein, unter der sich ja auch ein persön- 
liches er oder sie verstehen lässt. Man könnte sich für die entgegen- 
gesetze ansieht allerdings darauf stützen, dass in den betreffenden 
spracnen die dritte person auch neben einem ausgesprochenen sub- ,' 
jecte stehen kann. Aber es lässt sich durch kein mittel beweisen, 
dass das impersonale erst aus dieser verwendungsweise abgeleitet sei. 
Es ist am natürlichsten auch hier ein formelles subj. anzuerkennen. 
Es verhält sich mit der personalendung nicht anders als mit dem 
selbständigen pron. Indem der satz auf die normale form gebracht 
ist, hat er ein formelles subj. erhalten, welches mit dem psycholo- 
gischen nichts zu schaffen hat. Wir müssen eine ältere stufe voraus- 
setzen, auf welcher der einfache verbalstamm gesetzt wurde, eine stufe, 
die im magyarischen wirklich noch vorliegt, wo die 3 sg. kein suffix 
hat (vgl. Miklosich, s. 15). Und von dieser stufe können wir uns eine 
lebendige Vorstellung bilden nach analogie der eben besprochenen aus 
einem nicht verbalen werte bestehenden Sätze. Diese sind wirklich, 
was den sprachlichen ausdruck betrifft, subjectslos. 

Das psychologische subj. ist also in dem satze es brennt ebenso 
wenig ausgedrückt als in dem satze feuer. Aber man darf sich da- 
durch nicht zu der ansieht verleiten lassen, dass überhaupt keins vor- 
handen ist Auch hier findet eine Verknüpfung zweier Vorstellungen 
statt Auf der einen seite steht die Wahrnehmung einer concreten er- 


106 

scheinuDg, anf der andern die. schon in der seele ruhende vorstellüDg 
von brennen oder feuer, anter welche sich die betreffende wahrneh- 
mnng unterordnen lässt. Nur als unvollständiger aasdruck fttr die 
Verbindung dieser beiden demente kann das vrort feuer ein satz sein. 
Man könnte sich denken, dass beim verb. in entsprechender Verwen- 
dung statt des Impersonale der inf. ttblich geworden wäre. Und wirk- 
lich wird dieser gebraucht, wo es sich um eine auffordernng handelt. 
Als commandowort steht z. b. aufsitzen auf gleicher linie mit marsch^ 
und es kann psychologisch als imperativ zu dem unpersönlichen es 
wird aufgesessen betrachtet werden. 

Miklolisch und Marty verkennen die existenz eines psychologischen 
subjects für die unpersönlichen Sätze. Sie halten dieselben wirklich 
fttr eingliedrig mit berufung auf Brentanos psychologie und sehen in 
ihnen einen beweis fttr die theorie, dass das logische urteil nicht not- 
wendig zweigliedrig zu sein braucht. Mitbestimmend fttr diese ansieht 
scheint bei Marty die Beobachtung gewesen zu sein, dass zum aus- 
sprechen einer Wahrnehmung in einem concreten, auch sprachlich zwei- 
gliedrigen Satze noch etwas anderes erforderlich ist als die zusammen- 
fttgung der beiden glieder. Sagen wir z. b. diese bime ist hart^ so 
mttssen wir erst den gegenständ, von dem wir etwas aussagen wollen, 
unter die allgemeine kategorie hirne^ die eigenschaft, die wir an ihm 
bemerkt haben, unter die allgemeine kategorie hart gebracht haben. 
Wir mttssen also, um unser urteil auszusprechen noch zwei httlfsurteile 
gebildet haben. Vergleichen wir damit den Vorgang beim aussprechen 
eines unpersönlichen oder dem sprachlichen ausdrucke nach einglie- 
drigen Satzes wie es brennt oder feuer^ so entspricht hier das urteil 
nur dem, was in dem satze diese bime ist hart nebenurteil war. Man 
könnte also von diesem gesichtspunkte aus meinen, dass der unper- 
sönliche satz wirklich nicht mehr enthält als das prädicat eines nor- 
malen Satzes, und da der letztere als zweigliedrig bezeichnet wird, 
scheint es dann nur consequent, den ersteren als eingliedrig zu be- 
zeichnen. Dabei Übersieht man aber, dass dasjenige, was in dem 
einen falle nur httlfsurteil war, in dem andern Selbstzweck geworden 
ist. Man könnte mit dem gleichen rechte den unterschied vernach- 
lässigen, der zwischen dem satzgliede der sterbliche mensch und dem 
satze der mensch ist sterblich besteht. Unter allen umständen aber ist 
ein satz wie feuer^ es brennt zweigliedrig; denn auch die entsprechen- 
den httlfsurteile sind zweigliedrig. Von eingliedrigen urteilen kann 
ich mir ttberhaupt gar keine Vorstellung machen, und die logiker soll- 
ten die spräche nicht zum beweise fttr die existenz derselben heran- 
ziehen; sonst zeigen sie, dass auch ihr denken noch sehr von dem 
sprachlichen ausdruck abhängig ist, von dem sich zu emanzipieren 
doch ihre aufgäbe sein sollte. 


107 

Nach unseren bisherigen eröiterungen ist es klar, dass unpersön- 
liche und dem sprachlichen ausdmck nach eingliedrige Sätze immer 
concret, nie abstract sind. Denn ihre aufgäbe besteht immer darin eine 
eoncrete anscbannng mit einem allgemeinen begriffe zu vermitteln. 


Wenn wir den satz als ausdruck für die Verbindung zweier Vor- 
stellungen definiert haben, so scheinen dem die negativen sätze zu 
widersprechen, die vielmehr eine trennung bezeichnen. Indessen kommt 
eine solche trennung nicht zum ausdruck, wenn nicht die betreffenden 
Vorstellungen im bewusst$ein des sprechenden aneinander geraten sind. 
Wir können den negativen behauptungssatz als ausdruck dafür be- 
zeichnen, dass der versuch eine beziehung zwischen zwei Vorstellungen 
herzustellen missglückt ist. Der negative satz ist jedenfalls jünger 
als der positive. So viel mir bekannt ist, findet die negation überall 
einen besonderen sprachlichen ausdruck. Es Hesse sich aber sehr wol 
denken, dass auf einer primitiven stufe der sprachentwickelung nega- 
tive Sätze gebildet wären, in denen der negative sinn an nichts anderem 
zu erkennen gewesen wäre als an dem tonfall und den begleitenden 
gebährden. 

Was in bezug auf den unterschied zwischen positiven und nega- 
tiven Sätzen nur als möglich hingestellt werden kann, das gilt jeden- 
falls von dem unterschiede zwischen aussage- und aufforderungs- 
sätzen. Ich wähle die bezeichnung aufforderungssätze als die in- 
differenteste. In der aufforderung ist natürlich bitte, gebot und ver- 
bot, rat und warnung, aufmunterung, auch concession und ablehnung 
oder verbitten enthalten. Es bedarf keiner beispiele dafür, dass für 
alles dies der gleiche sprachliche ausdruck angewendet werden kan^n, 
und dass die verschiedenen nuancen dann nur an dem verschiedenen 
geftthlstone erkannt werden. Wir müssen daran aber auch noch die 
Wunschsätze anknüpfen. Man kann einen wünsch aussprechen in der 
erwai*tung dass das aussprechen einen einfluss auf seine realisierung 
hat, dann ist er eben eine aufforderung; man kann ihn aber auch 
ohne eine solche erwartung aussprechen. Das ist ein unterschied, der 
von dem naiven bewusstsein des kindes und des naturmenschen noch 
nicht oder wenigstens nicht immer beachtet wird. Der dichtersprache 
und selbst der naturwüchsigen Umgangssprache ist es noch heute ge- 
läufig blosse wünsche zu aufforderungen zu steigern und durch den 
imperativ auszudrücken. Noch mehr berühren sich wünsch und auf- 
forderung in conjunctivischen oder optativischen ausdrucksformen. 

Wir sind jetzt gewohnt den aussagesatz als den eigentlich nor- 
malen satz zu fassen. Der aufforderungssatz ist aber ebenso Ursprung- 


108 

lieh, wo nicht gar älter. Die frühesten Sätze, die von kindern ge- 
sprochen werden (die allerfrtthesten bestehen natürlich aas einem ein- 
zigen Worte), haben eine beziehnng zu ihren begierden, sind entweder 
forderungen oder aassagen, die gemacht werden, um ein bedttrfniss 
anzudeuten, das befriedigung verlangt. Es darf angenommen werden, 
dass es sich auf der Mhesten stufe der sprachentwickelung eben 8o 
verbalten hat. Es bedurfte daher ursprünglich auch zur Charakterisie- 
rung des anfforderungssatzes keines besonderen sprachlichen mittels, 
die einfache nebeneinanderstellung von subject und prädicat genügte 
hier eben so gut wie für den aussagesatz, nur der empfindungston 
Hess den unterschied erkennen. Noch heute bedieneil wir uns ja sol- 
cher aufforderungssätze in masse, in denen die aufforderung nicht als 
solche charakterisiert ist. Es sind dies die Sätze ohne verb«, vgl. 
äugen rechts, gervehr auf, hut ab, hierher, alle mann an bord, scherz 
bei seife, aller anfang mit gott, äuge um äuge, die alten zum rat, die 
jwigen zur tat, preis dir, friede seiner asche, dem Verdienste seifte krönen, 
Untergang der lügenbrut. Jedem das seine, fort mit ihm, her damit etc.; 
ferner dem sprachlichen ausdrucke nach eingliedrige sätze wie still, 
hurtig^ laut, sachte, wein, freiheit und gleichheit, schritt, marsch, platz, 
vorsieht, her, weg, hinaus, vorwärts, auf, zu, an die arbeit, zum henker etc. 
In dieser primitiven form erscheinen gerade aufforderungsätze, wäh- 
rend sie für aussagesätze in der regel nicht anwendbar ist. Ans diesem 
negativen umstände entspringt nun allerdings die folge, dass diese 
negativen sätze für uns sofort als aufforderungen zu erkennen sind. 
Doch gibt es immer noch fälle, die zweideutig sind, v^. feuer 2\% 
alarmruf und feuer als commando. 

Auch statt einer bestimmten charakteristischen form des verbums 
kann eine an sich unbestimmte zur aufforderung verwendet werden. 
So das part. perf., vgl. rosen auf den weg gestreut, alles harms vergessen 
(Hölty); in die weit, in die freiheit gezogen (Schi.). Häufiger der inf., 
vgl. absitzen, schritt fahren u. dergl.; im it. ist der inf. üblich nach 
negationen: non ti cruciare; desgleichen im rum., prov. und afranz. (vgl. 
Diez III, 212). Jelly, Geschichte des inf. s. 158. 209 will diese infini- 
tive aus der ursprünglichen dativischen function des infinitirs erklären. 
Eine solche erklärung muss allerdings für den imperativischen inf. im 
griech. als zulässig anerkannt werden. Aber der gebrauch im deut- 
schen und romanischen ist jungen Ursprungs und darf nicht an indo- 
germanische Verhältnisse angeknüpft werden, für die das bewusstsein 
dem Sprachgefühle längst abhanden gekommen war. Für die epoche, 
in welcher dieser gebrauch sich gebildet hat, ist der Inf nichts anderes 
als die bezeichnung des verbalbegriflfes an sich, und diese infinitiv- 
sätze sind daher mit Sätzen wie marsch auf eine Knie zu stellen. Be- 


109 

merkensweii ist, dass anch die 2. sg. des indogermanischen impemtivs 
den reinen tempasstamm zeigt (griech. Xiye), 

Den behauptungs- and anffordernngsätzen stellt man als eine 
dritte klasse die fragesätze^) zur seite. Es lässt sich aber für eine 
solche dreiteilnng der Sätze kein einheitliches princip finden, und diese 
drei Massen können nicht einander coordiniert werden. Vielmehr 
müssen wir eine zwiefache art von Zweiteilung annehmen. Nicht bloss 
die behauptungs-, sondern auch die aufforderungssätze haben ihr pen- 
dant in fragesätzen, vgl, \&t quid faciam gegen quid fach . Man ge- 
braucht daftlr den ausdruck deliberative fragen. Wir könnten sie 
geradezu als frageaufforderungssätze bezeichnen. 

Von den beiden hauptarten der frage ist diejenige, in welcher 
nur ein Satzglied in frage gestellt wird, jedenfalls jüngeren Ursprungs 
als diejenige, in welcher der ganze satz in frage gestellt wird.^) Denn 
zu der ersteren bedarf es eines besonderen fragepronomens, respective 
adverbiams, welches die letztere nicht nötig hat. Das interrogativum 
ist in den indogermanischen sprachen zugleich indefinitiyum. Es gibt 
meines wissens kein kriterium, woran sich erkennen liesse, welche von 
diesen beiden functionen die ursprüngliche ist. Sich die letztere aus 
der ersteren entstanden zu denken macht keine Schwierigkeit. Aber 
auch das umgekehrte wäre denkbar, und dann hätten wir einen weg 
aus der älteren art des fragesatzes in die jüngere. Auf die frage ist 
jemand da? kann man antworten (Ja,) der vaier oder {nein,) niemand. 
Denken wir uns nun die besondere fragestellung hinweg, an die wir 
jetzt gebunden sind, also jemand ist da?, so liegt die berührung mit 
wer ist da? auf der band. Noch näher stehen fragen mit interroga- 
tivum solchen mit indefinitum da, wo eine negative antwort als selbst- 
verständlich erwartet wird, vgl. wer wird das tun? — wird das jemand 
tun?, was kann ich antworten? — kann ich etwas antworten?, wo. ist 
ein solcher mensch zu finden? — ist irgendwo ein solcher mensch zu 
finden? 

Die frage, auf welche man als antwort einfach ja oder nein er- 
wartet, wird in manchen sprachen durch eine besondere partikel, in 
den germanischen und romanischen sprachen- durch die Wortstellung 


*) Vgl. zum folgenden Imme, Die fragesätze nach psychologischen gesichts- 
punkten eingeteilt und erläutert, programme des gymn. zu Cleve 1879. S1. 

3) £s ist bisher noch nicht gelungen eine ganz passende terminologie für 
diese beiden arten zu finden. Delbrück, SFI, 75 nennt die erste verdeutlichungs- 
fragen, die zweite bestätigungsfragen. Imme a. a. o. I, 15 eignet sich den zweiten 
terminus an, während er den ersten durch bestimmungsfragen ersetzt. Mir scheint 
aber gerade der ausdruck bestätigungsfragen nicht recht geeignet, weil er eigentlich 
die erwartiing einer bejahenden antwort einsehliesst. 

^. 

\ 


110 

charakterisiert. Die fragende Wortstellung ist aber nieht von anfang 
an auf den fragesatz beschränkt gewesen. Wir finden sie z. b. im 
ahd., alts. und ags. häufig im behauptungssatz, ygl, verit denne stm- 
iago m lant^ holoda inan truhtin etc. Die frage war demnach an der 
Stellung allein nicht zu erkennen, und erst der fragende ton war das 
entscheidende merkmal, wodurch sie sich von der behauptung schied. 
Wir haben noch jetzt fragen, bei denen dieser ton das einzige charae- 
teristicum ist, nämlich diejenigen, welche kein verbum enthalten, vgl 
niemand da? fertig? ein glas hier? (als frage des keilners); franz. votre 
desir?, engl, yaur will? Wir können uns daher leicht eine Vorstellung 
davon machen, dass es schon lange fragesätze gegeben haben kann, 
ehe irgend ein anderes charakterisierendes mittel dafür gefunden war 
als der fragende ton. Die frage ist daher schon auf ganz primitiver 
stufe möglich, wenn auch natürlich jünger als behauptung und aaf- 
forderung. 

Die reine frage liegt gewissermassen in der mitte zwischen posi- 
tiver und negativer behauptung. Sie verhält sich neutral. Es kann 
an und für sich keinen unterschied machen, ob man sie in eine posi- 
tive oder negative form kleidet, nur dass eben deswegen die positive 
form als das einfachere vorgezogen wird und die negative die function 
erhält eine modification der reinen frage auszudrücken. 

Es gibt nämlich verschiedene derartige modificationen, wodurch 
die frage mehr oder weniger dem Charakter des behauptungssatzes 
angenähert werden kann. So wird sie zur zweifelnden behauptung, 
bei der man also schon zu einer bestimmten annähme geneigt ist und 
nur noch eine letzte bestätigung durch einen anderen erwartet In 
diesem falle tritt die negative frageform ein bei erwartung einer posi- 
tiven antwort: warst du nicht auch dabei? ich glaubte dich zu sehen. 
Es macht für den sinn keinen wesentlichen unterschied, wenn man 
statt dessen die form des positiven behauptungssatzes mit frageton an- 
wendet: du warst auch dabei? du bist (doch) zufrieden? Man kann 
also von beiden selten her zu dieser Zwischenstufe gelangen. 

Aehnlich verhält es sich mit dem ausdruck der Verwunderung. 
Die Verwunderung ist die subjective Unfähigkeit eine vorstellungsmasse 
durch eine andere zu appercipieren trotz einer von aussen, sei es durch 
eigene Wahrnehmung, sei es durch angäbe eines andern, gegebenen an- 
forderung. Hierfür können wir wider entweder die frageform anwenden 
oder die behauptungsform mit frageton: ist Franz tot? — Franz ist tot?, bist 
du schon wider da? — du bist schon wider da? Neutral in dieser hinsieht 
sind die Sätze ohne verbum: du mein bruder? mir das? schon da? so 
früh? ebenso die infinitivischen: so ein schelm zu sein? Es kommen 
auch ausdrücke der Verwunderung vor, bei denen das psychologische 


111 

snbject und prädicat durch und verbunden sind: so Jung und schon so 
verderbt^ a maid and he so mariiai? (Shaksp.). Abgeschwächt wird 
der ansdruck der Verwunderung zu einer blossen einleitungsformel für 
ein gespräch, vgl. ausgeschlafen? so vergnügt? noch immer hei der arbeit?' 
u. dergl. 

Ein specieller fall ist die verwunderte oder entrüstete abweisung 
einer behauptung. Hierfür ist die primitive ausdrucksform ohne verb. 
finitum besonders beliebt: ich ein lügner? er und bezahlen? lat. ego 
Imista? (Cic), franz. moi vous abandonr»er? ü io dir bugie? engl, she 
ask my pardon? how? not know the friend that served you? Auch die 
entrüstete abweisung einer Zumutung kommt vor, vgl. ich dich ehren? 
(Goe.). Ein solcher satz müsste wol den frageaufforderungen zu- 
gerechnet werden. 

Die veranlassung zur frage ist natürlich ursprünglich ein bedttrf- 
niss des fragenden. Es gibt aber auch fragen (jedenfalls jüngeren 
Ursprungs), bei denen der fragsteiler über die antwort, welche darauf 
gehört, nicht in zweifei ist und nur den angeredeten veranlassen will 
diese antwort selbständig zu finden. Hierher gehören die pädago- 
gischen fragen. Tritt eine andeutung darüber hinzu, welche beant- 
wortung der fragende erwartet, so haben wir die art, welche man ge- 
wöhnlich mit dem unbestimmten namen rhetorische fragen bezeichent. 
Man nötigt dadurch den angeredeten eine Wahrheit aus eigener Über- 
legung heraus anzuerkennen, wodurch sie ihm energischer zu gemüte 
geführt wird, als wenn sie ihm bloss von aussen mitgeteilt würde. 


Das verhältniss von subject und prädicat in dem oben be- 
zeiehenten weiten sinne ist das verhältniss, aus dem die übrigen syn- 
taktischen Verhältnisse entspringen mit einer einzigen ausnähme, näm- 
lich der copulativen Verbindung mehrerer demente zu einem satz- 
gliede. Diese Verbindung kann in den entwickelten sprachen durch 
eine partikel bezeichnet werden, es genügt aber vielfach noch die 
blosse aneinanderreihung, weshalb es uns nicht wunder nehmen kann, 
dass man im anfang jeden besondem sprachlichen ansdruck 9^r die 
copulation entbehren konnte. 

Jede andere art der satzerweiterung geschieht dadurch, dass das 
verhältniss von subject und prädicat mehrmals auftritt. Wir unter- 
scheiden zwei hauptfälle. Entweder es verbinden sich gleichzeitig zwei 
glieder mit einem dritten, d. h. es treten zwei subjecte zu einem prä- 
dicate oder zwei prädicate zu einem subjecte, was sich etwa durch 
die formel (a + (b) + c) ausdrücken liesse. Oder es tritt eine Ver- 
bindung von subject und prädicat als subject oder prädicat in ver- 


112 

hältniss zn einem weiteren gliede, was sich darch die formel (a-Hb) 
+ e ausdrücken Hesse. Auch dieses weitere glied kann natürlich 
wider zusammengesetzt sein. 

Ist in dem ersteren falle das logische verhältniss der beiden snb- 
jecte zu dem gemeinsamen prädicate oder das der beiden prädicate 
zu dem gemeinsamen subjecte völlig gleich, so lässt sieh ein solcher 
dreigliedriger satz ohne wesentliche Veränderung des sinnes mit einem 
zweigliedrigen vertauschen, dessen eines glied eine copulative Ver- 
bindung ist Daraus ergeben sich berührungspnnkte und Vermischungen 
zwischen diesen beiden Satzarten. Am reinsten erscheint die dopyel- 
heit eines satzgUedes von der copulativen Verbindung zu einem gliede 
gesondert, wenn das satzgliederpaar ein ihm gemeinsam zugehöriges 
glied in die mitte nimmt ohne anwendung einer copulativen partikel, 
also bei der sogenannten construction cbto xotvov, wie sie im mhd. 
ziemlich häufig ist, vgl do spranc von dem gesidele her Hagene also 
sprach. Sagen wir dagegen da spranc vom sitze Hagen und sprach so 
so haben wir schon eine Übergangsstufe von doppeltem prädicate zu 
einem zusammengesetzten. Dass aber noch keine wirkliche Zusammen- 
fassung der beiden prädicate stattfindet, beweist der bei doppeltem 
subj. ausnahmslose sing, des prädicats {der mann ist tot und die frau). 
In der älteren spräche macht sich die Zusammenfassung geltend, wenn 
hinterher noch ein weiteres prädieat angefügt wird; vgl. Petrus aber 
antwortete und die apostel und sprachen (Lu.), wo wir jetzt auch ein 
neues subj. setzen müssen. Viel schwankender ist das spraehgefübl, 
wenn keine trennung durch einen einschub stattfindet. Dann ist es 
ebenso wol möglich mehrere glieder anzunehmen, die eins nach dem 
anderen mit den übrigen elementen des satzes verknüpft werden, wie 
ein zusammengesetztes, welches auf einmal angeknüpft wird. Die 
erstere auffassung liegt weniger nahe, wenn das satzgliederpaar an 
die spitze, als wenn es an das ende gestellt wird. Das schwanken 
des spracbgeflihls bekundet sieh darin, dass bei einer mehrheit von 
subjecten, von denen wenigstens das zunächststehende ein sing, ist 
das präd. sowol im plur. als im sing, stehen kann. Bei nachstelluDg 
des prädicats müssen wir allerdings jetzt den plur. setzen, aber im 
lat. ist auch der sing, üblich, vgl. Speusippus et Xenocrates et Polemo 
et Crantor nihil ab Aristotele dissentit (Cic); consules, praetor es^ trihuiü 
plebis, senaius, lialia cuncta semper a vohis deprecata est (Cic); film 
atque unus e filiis capius est (Caes.); selbst et ego et Cicero mens 
flagitabit (Atticus). Ebenso it.: le ricchezze^ gli honori e la virtü e stimaia 
grande; franz.: le fer^ le handeau^ la flamme est toute prete (Racine); 
so auch im älteren nhd.: wölken und dunkel ist um ihn her (Lu.); dass 
ihre steine U7id kalk zugerichtet würde (ib.). 


113 

Das logische verhältniss zweier subjeete zu dem nämlichen prä- 
dieate kann aber auch ein verschiedenartiges sein. Dann haben wir 
die grundlage zu der im laufe der spraehentwickelung möglich werden« 
den differenzierung der döppelsubjecte zu subject und object. Wir y 

können uns diesen process am besten verdeutlichen an einem satze 
wie ich rieche den braten. Ohne persönliches subject können wir auch 
noch sagen der braten riecht. Wir können uns danach leicht in eine 
zeit zurückversetzen, in welcher bei völligem mangel jeglichen casus- 
suffixes und jeglicher fixierung der Wortstellung in einem satze wie 
ich riechen braten oder braten riechen ich die Wörter ich und braten unter 
die selbe allgemeine kategorie des psychologischen subjects fielen. 
Die Verwandtschaft zwischen subject und object erhellt ja auch daraus, 
dass das letztere durch Umsetzung des verbums in das passivum zum 
ersteren gemacht werden kann. 

Das object, wenn wir dies wort im weitesten sinne nehmen, kann 
wider sehr verschiedene logische Verhältnisse in sich schliessen. Nun 
können wider mehrere objecto zu dem gleichen prädicat gestellt wer- 
den sowol in gleichem wie in verschiedenem logischen verhältniss. 
Somit ist die veranlassung zu einer den logischen Verhältnissen ent- 
sprechenden grammatischen differenzierung des objects gegeben (aecu- 
sativisches, dativisches, genitivisches obj. etc.). 

Das obj. kann neben dem subj. als ein diesem gleichwertiges 
drittes Satzglied aufgefasst werden, es kann aber auch zu dem prä- 
dicat in ein näheres verhältniss treten als das subj., so dass aus dem 
dreigliedrigen satz ein zweigliedriger wird, indem das obj. mit dem 
präd. zusammen ein glied bildet, und zwar so, dass ersteres dem 
letzteren untergeordnet wird, ihm als bestimmung dient Eine scharfe 
grenzUnie zwischen diesen beiden Verhältnissen gibt es nicht. 

Wie das prädicat eine ihm untergeordnete bestimmung erhalten 
kann, so auch das subj. und das daraus entwickelte obj. Als solche 
bestimmungen dienen uns jetzt vornehmlich substantivische und adjec- 
tivisehe attribute und genitive von Substantiven, aber auch durch prä- 
positionen angeknüpfte substantiva und adverbia. Mit httlfe dieser 
verschiedenen bezeichnungsweisen ist es möglich die Verschiedenheit 
des logischen Verhältnisses zwischen dem bestimmenden und dem be- 
stimmten bis zu einem gewissen grade auch sprachlich auszudrücken. 
Eine spräche, die noch keine flexion und keine Verbindungswörter 
ausgebildet hat, ist dazu nicht im stände. Sie hat wider kein anderes 
mittel als die blosse nebeneinanderstellung des bestimmten und des 
bestimmenden wertes. Dass die dem subj. beigegebene bestimmung 
nicht prädicat ist, kann sich dann, falls nicht etwa schon eine feste 
Wortstellung ausgebildet ist, nur daraus ergeben, dass noch ein drittes 

Paul, Principien. JI. Auflage. S 


114 

wort vorhanden ist, welches durch eine stärkere betonong und etwa 
durch eine kleine pause von den beiden Wörtern, die zusammen das 
subject bilden, abgehoben wird. Das verhältniss des bestimmenden 
elementes zu dem bestimmten ist dem des prädicats zum subject in 
der weite, wie wir es oben gefasst haben, analog. Und wirk lieh 
ist die bestimmung nichts anderes als ein degradiertes prä- 
dicat, welches nicht um seiner selbst willen ausgesprochen wird, son- 
dern nur, damit dem subj. (ob}.) nun ein weiteres präd. beigelegt 
werden kann. Wie die bestimmung des prädicats ihren Ursprung in 
Sätzen mit doppelsubject hat, so die bestimmung des subjects und da- 
nach die adnominale bestimmung überhaupt in Sätzen mit doppel- 
prädicat. 

Die herabdrttckung des prädicats zu einer blossen be- 
stimmung können wir uns am besten an denjenigen fällen klar 
machen, in denen ein verbum finitum davon betroffen ist. Wir haben 
es dabei mit einem processe zu tun, der sich spontan in verschiedenen 
sprachen und epochen vollzogen hat und zum teil noch geschichtlieh 
verfolgbar ist. Den ausgang bildet die oben s. 112 besprochene con- 
struction ano xoivov. Dabei kann es geschehen, dass das eine der 
beiden prädicate sich logisch dem andern unterordnet, so dass es 
durch einen relativsatz ersetzbar wird.^) So zuweilen im ahd. und 
mhd., vgl. mit zühien si ze hüse hat ein frourve saz darinne (= eine 
dame, die darin ihren Wohnsitze hatte), wer was ein man lac vorme Gräl? 
(= der vor dem Grale lag), die worhie ein smit hiez Volcän (mit namen 
Vulcan); nist man, thoh er uuolle, thaz gumisgi al irzelle (es gibt keinen 
menschen, der, wenn er auch wollte, die mensch^imenge ganz zählen 
könnte). Es kann auch ein vom hauptverbum abhängiger casus zu- 
gleich als subject des nebenverbums dienen: von einem slangen was ge- 
bunden (Überschrift einer fabel von Boner); ich hob ein sunt ist wider 


^) Ueber diese erscheinang gibt es eine beträchtliche iiteratur, vgl. besonders 
J.Grimm, Ueber einige fälle der attraction (El. sehr. 3, 312fi.); Steinthal, Assimi^ 
lation und Attraction (Zschr f. völkerps. I, 93 ff. = Kl. sehr. 107 ff.), vgl. besonders 
s. 173 ff.; Tobler, Ueber auslassung und Vertretung des pronomen relativum (Germ. 
XVII, 257 ff.); Jelly, Ueber die einfachste form der hypotaxis im idg. (Curtius Stu- 
dien VI, 217); Rölbing, Untersuchungen über dien ausM des relativpronomens in 
in den germanischen sprachen, Strassburg 1872 ; Erdmann, Syntax Otfrids II, s. 124 ff.; 
Behaghel, Asyndetische parataxe (Germ. XXIV, 167 ff.); Lohmann, Ueber die aus- 
lassung des englischen relativpronomens (Anglia III, 115 ff.). In diesen Schriften 
findet sich zum teil eine von der oben gegebenen stark abweichende auffassung. 
Dagegen, zu polemisieren habe ich für überflüssig gehalten, da es mir scheint, dass 
die richtigkeit desjenigen Standpunktes, dem ich mich angeschlossen habe, des 
Standpunktes von JoUy und Behaghel, einem jeden einleuchten muss, der nicht in 
den banden deei eigenen Sprachgefühles und der traditionellen grammatik belangen ist 


115 

euch (H. Sstchs); dar inne sach er gliizen von holen rot ein glut wart 
auf sein fallen (die auf sein fallen wartete, ib.). Die construction wird 
gegen den ausgang des mittelalters häufiger als Mher. Eine viel 
grössere ausdehnung hat der entsprechende gebrauch im englischen, 
schwedischen und dänischen gewonnen. Beispiele aus Shakespeare: 
there is a devil haunts thee, it is ihy sovereign speaks to thee, here are 
some will thank you, I haue a mind presages me, it is not you I call for. 
In den bisher angeführten beispielen stand das gemeinsame glied 
in der mitte. Es kommen im ahd. auch fälle vor^ in denen es an der 
spitze steht oder zwischen das erste prädicat und seine bestimmnngen 
eingeschoben ist. Es kann dabei als subject oder object oder als 
sonstige adverbiale bestimmung dienen; es braucht auch nicht zu beiden 
prädicaten das gleiche verhältni^s zu haben. Hierher gehören ans 
Otfrid mit Unterordnung des zweiten prädicats fälle wie ihaz selha 
sie imo sngeiun sie hiar bifora zelitun^ (isiB selbe sagten sie ihm, was 
sie vorher erzählt hatten); uuer ist tkes hiar thenke (wer ist, der das 
hier denken sollte); nist man nihein in wuorolti thaz säman al irsageti 
(es gibt keinen menschen in der weit, der das alles zusammen sagen 
könnte). Das erste prädicat ist untergeordnet in folgendem falle: in 
selben uuorton er then man ihd then eriston gitman so utuzrd er hiar 
fon thesemo firdamnot (mit denselben werten, mit denen er den ersten 
mann überwand, ward er hier von diesem verdammt). Dabei nimmt 
so das in selben uuorton noch einmal auf, wie es jeden beliebigen Satz- 
teil aufnehmen kann. In einem anderen falle ist der gemeinsame Satz- 
teil durch ein pron. aufgenommen: allo utdhi in uuorolti thir gotes boto 
sagelU sie quement s6 gimeinit ubar thin houbit. 

Am häufigsten ist das ajto xoivov im ahd. im allgemeinen, 
namentlich negierten satze mit conjunctivischem nebenverbum. Diese 
art kennen auch die romanischen sprachen ^), vgl. ait non vi rimasse un 
sol non lacrimassi; prov. una non sai vas vos non sV aclina, anc non vi 
dona tan mi plagues \ afranz. or n'a baron ne li envoit son ß. 

Ueberblickt man unbefangen die Überlieferung, so wird man die 
ansieht nieht aufrecht erhalten können, dass diese construction Überall, 
wo sie vorkommt, auf tradition von der indogermanischen grundspraehe 
her beruht, es ist vielmehr wahrscheinlich, dass sie sich auch in spä- 
teren epochen spontan erzeugt hat, wiewol schon andere vollkommenere 
ansdmcksformen ausgebildet waren. Ausserhalb des idg. findet sie 
sieh z. b. im arabischen, wo man sich so ausdrückt: t^A ging vorüber 
bei einem manne schlief, vgl. Steinthal, Haupttyp. 367. 

Wenn so das verb. finitum zur geltung einer attributiven bestim- 


i) Vgl. Diez m, 381. 

8* 


116 

mung herabgedrttckt werden konnte, wie viel mehr ein prädieat, wel- 
ches noch keinerlei kennzeichen verbalen Charakters an sich hatte. 
Der ursprang des attributiven Verhältnisses liegt somit klar zu tage. 

In bezug auf die function der bestimmung müssen ge¥ngse 
unterschiede hervorgehoben werden, die gewöhnlich keinen sprachlichen 
ausdruck finden, die aber nichtsdestoweniger logisch sehr bedeutsam sind. 
Die bestimmung braucht den bedeutungsumfang, welchen das als subj. 
fungierende wort an sich oder nach einer anderweitig bereits gegebenen 
begrenzung hat, nicht zu alterieren, indem sie diesem ganzen umfange zu- 
kommt: vgl. der sterbliche mensch, der allmächtige gott, das starre eis\ sie 
kann aber auch, indem sie nur einem teile von dem zukommt, was in 
der usuellen oder bereits durch andere mittel speeialisierten bedeutnng 
des betreffenden wertes enthalten ist, dieselbe individuell verengem: vgl. 
aJte häuser, ein alles haus^ em {der) söhn des königs, die fahrt nach Paris, 
karl der grosse; ebenso das alte haus, insofern es im gegensatz za einem 
neuen gestellt wir^, wogegen diese Verbindung nicht hierher gehört, wenn 
schon ohne das beiwort feststeht, welches haus gemeint ist In den fällen, 
welche unter die zweite kategorie gehören, ist die bestimmung unent- 
behrlich, weil ohne sie das prädieat nicht gtlltig ist. In der ersten kate- 
gorie sind noch folgende Unterscheidungen von belang. Erstens: die 
bestimmung kann als eine dem begriffe, welchem sie beigefttgt wird, 
zukommende schon bekannt sein, wie dies bei der widerholnng der 
stehenden beiwörter in der epischen spräche der fall ist, oder es kann 
durch die bestimmung etwas neues mitgeteilt werden. Im letzteren 
falle hat die bestimmung eine grössere Selbständigkeit, nähert sieh 
dem .werte eines wahren prädjcates. Wir ziehen in diesem falle häufig 
Umschreibung durch einen relativsatz vor: Karl, welcher arm war; Lud- 
wig, der ein geschickter maier war. Zweitens: die bestimmung braucht 
gar keine beziehung zum prädieat zu haben, sie kann aber auch in 
causalbeziehung zu demselben stehen, z. b. der grausame mann achtel 
nicht auf das flehen des unglilcklichen. 

Wir haben die bestimmung als ein abgeschwächtes präd. anf- 
gefasst. Es gibt nun eine Zwischenstufe, auf welcher die bestimmung 
noch eine grössere Selbständigkeit hat, noch nicht so eng mit dem 
subj. verbunden ist, weshalb es angemessener ist sie als ein beson- 
deres Satzglied anzuerkennen. Hierher gehört, was man gewöhnlieh 
prädicatives attribut nennt, z. b. er kam gesund an. Aber auch 
präpositionelle bestimmungen können in dem nämlichen logischen Ver- 
hältnisse stehen, z. b. er bat mich auf den knieen, wofür man ein kniend 
einsetzen könnte. Loser ist das verhältniss des prädicativen attribii- 
tes zum subj. deshalb, weil es nicht eine demselben notwendig und 
dauernd anhaftende eigenschaft, sondern einen zufälligen und vorüber- 


117 

gehenden zustand bezeichnet. Es kann daher als ein selbständiges 
glied neben subj. und präd. betrachtet werden. Die Selbständigkeit 
bekundet sich in -den meisten sprachen durch die freiere Wortstellung 
gegenttber der gebundenen des reinen attributs. Im nhd. hat die 
nähere Verwandtschaft mit dem prädicate noch darin ihren ausdruck 
gefunden, dass wie fUr dieses die unflectierte form des adj. ge- 
braucht wird. 

Nachdem einmal die adverbialen und adnominalen bestimmungen 
sich als besondere kategorieen aus ursprünglichen subjecten oder prä- 
dicaten herausgebildet haben, ist eine weitere complicierung des Satzes 
möglich, indem eine schon aus einem bestimmten und einem bestim- 
menden elemente bestehende Verbindung wider durch ein neues de- 
ment bestimmt werden oder ihrerseits als bestimmung dienen kann, 
und indem femer mehrere bestimmende elemente zu einem bestimmten 
oder mehrere bestimmte zu einem bestimmenden treten können, gerade 
so wie mehrere subjecte zu einem prädicate oder mehrere prädicate 
zu einem subjecte. Beispiele: 1) alle guten geister, Müllers älteste toch- 
ter, er gerät leicht in zorn (zu construieren gerät in zorn + leicht)] — 
2) sehr gute kinder, alles opfernde liehe, er spricht sehr gut; — 3) trübes, 
regnerisches (trübes und regnerisches) weiter, er tanzt leicht und zier- 
lich] — 4) Karls hut und stock, er schlägt weib und kind. 

Die zuerst aufgeführte verbindungsweise pflegt man als das ver- 
hältniss der einschliessung zu bezeichnen. Sie ist nicht immer von 
der dritten scharf zu sondern. Sage ich z. b. grosse runde hüte , so 
macht es keinen wesentlichen unterschied, ob wir diese Verbindung 
als 1 oder 3 construieren. Im nhd. bietet da, wo zwei adjectiva zu- 
sammentreffen, der gebrauch der starken oder schwachen form ein 
mittel das verhältniss der beiordnung und das der einschliessung von 
einander zii scheiden, ein mittel, welches freilich da im stiche lässt, 
wo beide formen lautlich zusammengefallen sind. Aber die Schwierig- 
keit einer correcten aufrechterhaltung der Unterscheidung zeigt sich in 
vielen Verstössen der Schriftsteller gegen die regel der grammatik, vgl. 
die beispiele bei Andr. Sprachg. s. 38 ff. 

Construction 3 und 4 lassen im gründe eine doppelte auffassung 
zu. Sie können entweder, wie oben zunächst angegeben ist, als ajto 
xoivov gefasst werden oder als zusammenfUgung eines dementes mit 
zwei zu einer einheit copulativ verbundenen dementen. Daher zeigt 
sich bei 4 in den sprachen, welche grammatische congruenz entwickelt 
haben das nämliche schwanken in der form des attributs, wie wir es 
oben s. 112 in der form des prädicats gefunden haben. Vgl. einerseits 
franz. le bonheur et le courage constants, la langue et la litterature fran- 
paises] lat. Gai et Appii Claudiorum] anderseits franz. la fille et la 


118 

mere offensee (Racine); lat. Tiberius et Gajus Gracchus, et tribunis et plebe 
incitata in patres (Livius). Aber nicht alle fälle von der selben gram- 
matischen form sind in dieser weise zweideutig. In den angeführten 
; XX / fällen bezeichent jedes von den beiden Substantiven eine selbständige 
Substanz. Es kann aber auch sein, dass durch die Verknüpfung nur 
zwei verschiedene selten des selben gegenständes bezeichnet werden, 
z. b. mein oheitn und Pflegevater. Hier dürfen wir, wo die Verbindung 
selbständig als subj. oder obj. erscheint, nur construieren mein + oheim 
und Pflegevater. Wo jedes wort einen besonderen gegenständ bezeichent, 
zieht man es jetzt im deutschen, wenigstens bei singularen vor auch 
jedem sein besonderes attribut zu geben. Mein oheim und mein Pflege- 
vater bedeutet somit etwas anderes als mein oheim und Pflegevater. Nur 
dann können wir die erstere Verbindung auf eine person beziehen, 
wenn sie ausdrücklich in beziehung auf eine solche gesetzt ist als 
prädicat oder als attribut oder endlich als anrede. Es erscheint je- 
doch auch umgekehrt, wiewol von den grammatikern verpönt, häufig 
die einfache Setzung des attributs neben mehreren Substantiven, die 
jedes einen besonderen gegenständ bezeichnen, vgl. die massenhaften 
beispiele bei Andr. Sprachg. s. 125 ff. So hat Lessing geschrieben über 
die grenzen der maierei und poesie. 

Die bisher besprochenen erweiterungen des satzes waren aus der 
formel (a+(b)+c) hervorgegangen (vgl. s. 111) in Verbindung mit der 
copulativen Verknüpfung. Wir wenden uns zu den erweiterungen nach 
der formel (a -h b) + c. Diese finden wir z. b. vertreten durch die Ver- 
bindung eines verbums mit dem ace. e. inf. oder mit zwei accusativen, 
von denen der eine prädicativ ist: memini — tne audire, reddo — te bea- 
tum. Um den Ursprung dieser constructionen zu verstehen wird man 
aber doch wol einen anderen ausgangspunkt nehmen müssen. Wir 
tun besser uns zunächst an diejenigen föUe zu halten, in denen das 
zusammengesetzte Satzglied (a + b) noch deutUch die form des selb- 
ständigen Satzes zeigt, also ein verb. finitum enthält. Wir überschrei- 
ten hiermit wider die grenzen des sogenannten einfachen satzes und 
greifen in das gebiet des zusammengesetzten über. Es zeigt sich eben 
bei wirklich historischer und psychologischer betraehtung, dass diese 
" Scheidung gar nicht aufrecht erhalten werden kann. Sie beruht auf 
der Voraussetzung, dass das Vorhandensein eines verb. fin. das eigent- 
liche characteristieum des satzes sei, einer ansieht, die auf viele spra- 
chen und epochen gar nicht anwendbar ist, für keine ganz zutrifft 
Wo die deutliche ausprägung eines verb. fin. fehlt, fällt auch die Schei- 
dung zwischen einfachem und zusammengesetztem satze in dem ge- 
wöhnlichen sinne fort. Der sogenannte zusammengesetzte und der so- 
genannte erweiterte satz sind daher ihrem grnndwesen nach voll- 


119 

kommen das nämliche. Es ist deshalb anch eine irrige ansieht, dass 
die herabdrttckung eines satzes znm satzgliede, die sogenannte hypo- 
taxe sich erst anf einer späten sprachstnfe entwickelt habe. Das be- 
stehen des erweiterten satzes, der auch den primitivsten sprachen nicht 
fehlt, setzt ja diese herabdrttckung als vollzogen voraus. Irrtümlich ist 
femer die gewöhnliche ansieht, dass die hypotaxe durchgängig aus der 
parataxe entstanden sei. Man könnte mit dem selben rechte behanp* 
ten, dass die gliederung eines satzes in subj. und präd. aus der copu- 
lativen Verbindung zweier Wörter entstanden sei. Diese ansieht hat 
sich deshalb bilden können, weil die älteste art der hypotaxe aller- 
dings einer besonderen grammatischen bezeichnung entbehrt und bloss 
eine logisch-psychologische ist. Eine solche logische Unterordnung aber 
als beiordnung zu bezeichnen ist durchaus incorrect 

Sehr häufig werden noch jetzt im deutschen und ebenso in andern 
sprachen, die schon einen reich entwickelten satzbau haben, Verbin- 
dungen, welche sich in der form nicht vom hauptsatze unterscheiden, 
als objecto gebraucht. Hierher gehört die oratio directa. Hierher ge»- 
hören femer sätze wie ich behaupte, er ist ein lügner; ich glaube, du 
rasest; ich sehe, du zitterst; bedenke, es ist gefährlich. Auch aufforde- 
rungen und fragen werden in das nämliche abhängigkeitsverhältniss 
gestellt: ich bitte dich (bitte), gib es mir; vgl. lat. quaeso, cogita ac de- 
libera; sage, hast du ihn gesehen; sprich, was bekümmert dich; vgl. lat. 
videte, quantae res his testimomis sunt confectae (Ciq); quaero de ie, qui 
possunt esse beati (Cic); responde, quis me vendit (Plaut). Seltener 
ausser neben dem passivum begegnen derartige subjecte: besser ist, du 
lässt es bleiben; das ma^ht, sie ist sehr mannigfaltig (Less.). 

In allen diesen fällen haben allerdings die subjects- oder objects- 
sätze zugleich eine gewisse' Selbständigkeit, und ohne dass ihnen 
eine selbständige geltung beigelegt wird, können sie abgesehen von 
der oratio directa nicht gebraucht werden. Wir können z. b. nicht 
sagen ich glaubte, du bist krank und eben so wenig ich glaubte, du 
warst krank. Es folgt aber aus dieser beschränkten Selbständigkeit 
nicht, dass das verhältniss zum hauptverbum ursprünglich parataktisch 
ist, sondern in bezug auf das hauptverbum besteht entschiedene hypo- 
taxe und Selbständigkeit nur, insofern von dem Vorhandensein desselben 
abgesehen wird. Die Selbständigkeit ist eine grössere, wenn der regie- 
rende satz nachgestellt oder eingeschoben wird, da dann die abhängig- 
keit erst nachträglich bemerkt wird; vgl. er ist ein lügner, glaube ich 
oder er ist, glaube ich, ein lügner; lat. quid Uli locuti inier se? die mihi 
(Plaut.); signi, die, quid est? (Plaut). Im falle der einschiebung sind 
unsere grammatiker sogar geneigt vielmehr den eingeschobenen satz 
fllr den untergeordneten zu halten, und sie könnten sich darauf be- 


120 

rufen, dasa ein glaube ich ungefähr so viel ist wie ein wie ich glaube 
oder meiner meinung nach oder meines bedünkens. Im älteren nhd. ist 
es ganz ttblieh einen satz zunächst selbständig hinzustellen und ihn 
dann doch zugleich zum subj. oder obj. eines nachfolgenden satzes zu 
machen. Vgl. folgende beispiele aus Hans Sachs: ein evolk dreissig 
jar f ritlich lebete vef^dross den ieufel gar\ der frauen wart sein hab 
vnd gut, geschah nach Christi geburt zrvare vierhundert vnd auch fünfzig 
jüre\ des wirt ein böse letz der Ion, deut der schwänz von dem scorpion\ 
das betrübt weib sich selbst erstach vnd namein kleglich end, beschreibt 
Boccatius; darum Jm Jederman wol sprach, tut Plutarchtis beweisen. Hier 
die ellipse eines das anzunehmen, wäre durchaus ungerechtfertigt 

Aus der Vereinigung von Selbständigkeit und abhängigkeit er- 
klärt sich auch der personengebrauch in derartigen Sätzen, z. b. er 
denkt, er hat was rechtes getan statt ich habe, also nach dem Stand- 
punkte des sprechenden, nicht nach dem Standpunkte dessen, dem 
man den gedanken zuschreibt; ebenso glaube mir, du bist im irr turne; 
er meint, er kann dich betrügen. 

Es kommt auch vor, dass man trotz der logischen abhängigkeit 
die ausgeprägte form der parataxe wählt. So allgemein in der Ver- 
bindung sei so gut und tue das. Vgl. bei H. Sachs ir seidt gewonet 
alle zwen vnd tragt mit euch was nit wU gehn. Andere beispiele bei 
Andr. Sprachg. s. 140. 

Die indirecte rede im deutschen muss jetzt als etwas gramma- 
tisch abhängiges betrachtet werden, und das kennzeichen der abhängig- 
keit dabei ist der conjunqtiv. Sehen wir aber auf den Ursprung der 
construction, so ist es klar, dass hier gleichfalls ein zwitterding zwischen 
logischer abhängigkeit und logischer Selbständigkeit zu gründe liegt 
Eine construction wie er meint, er könne dich beirügen verhielt sich 
ursprünglich nicht anders als das oben angeführte er meint, er kann 
dich betrügen, nur dass die behauptung mit geringerer Sicherheit hin- 
gestellt und deshalb der conj. (opt.) in potentialem sinne gesetzt ist. 
Dass sonst der gebrauch des potentialis in hauptsätzen untergegangen 
ist, hat die aufTassung des Verhältnisses als wirklicher grammatischer 
abhängigkeit gefördert. 

Eine Verbindung nach der formel (a + b) + c kann nun eben 
so wie die einfachere a + b von der geltung eines satzes zu der 
eines Satzgliedes herabgedrttckt werden. Auf diese weise kann ein 
satz zur bestimmung eines nomens, zur apposition werden. Vgl. er 
sprach die worle: das tue ich niemals; eins weiss ich: es geschieht 
nicht wieder; folgendes ist mir begegnet: ich traf einen mann; ein son- 
derbarer Zufall hat sich gestern zugetragen: es begegneten sich zwei 
freunde etc.; er hat die gewohnheit: er erwidert nie einen brief; ich 


121 

habe die i^erzeugung: du wirst dich noch bekehren. Besonders häufig 
ist so ein pron., dem der satz als apposition dient, vgl. d€Ls ist sicher^ 
er wird es nicht wagen; es ist besser ^ du gehst \ lat. hoc relicuomst: si 
infitias ibit, testis mectm est anulus (Ter.); hoc capto commodi: neque 
agri, neque urbis odium nie unquam percipit (Ter.). Ebenso stehen Sätze 
appositioneli zu einem demonstrativen adverbium: er ist so lieb, man 
kann ihm nicht böse sein, 

Ist es nur ein pron., was dureh den satz bestimmt wird, so kann 
man sieh dasselbe auch ohne wesentliche Veränderungen des sinnes 
wegdenken. Dann hat man wider die oben besprochene form, in der 
der satz direct zum subj. oder obj. gemacht wird. Vgl. es ist gewiss, 
du bleibst mit gewiss ist, du bleibst. Beide ausdrucksformen bertthren 
sich also sehr nahe mit einander. 

Umgekehrt kann ein nomen apposition zu einem satze werden; 
vgl. du verdrehst immer die äugen, eine schlechte gewohnheit. Besonders 
üblich ist diese construction, wenn an das nomen noch ein relativsatz 
angeknüpff; wird: er will aufbrechen, ein entschluss, der ihm sehr schwer 
geworden ist. Hier erkennt man wider deutlich die apposition als eine 
degradierung des prädicates. Eben durch diese degradierung ist der 
vorausstehende satz vor der degradierung zu einem blossen subjeete 
bewahrt worden. 

Wir haben so die entwickelung des Satzes von seiner einfachsten 
form zu compliciertester gestaltung verfolgt. Wir wenden uns jetzt zu 
der parataktischen aneinanderfttgung mehrerer sätze. Dieselbe 
steht in parallelismus zu der copulativen aneinanderreihung coordi- 
nierter Satzglieder, weshalb sich auch die ausgebildeten sprachen der 
gleichen hülfsmittel zur bezeichnung beider arten von Verknüpfung be- 
dienen. Im anfang musste auch hier die blosse nebeneinanderstellung 
genügen. Wenn wir nun gesehen haben, dass bei der hypotaxe eine 
gewisse Selbständigkeit des einen gliedes bestehen kann, so zeigt sich 
auf der anderen seite, dass eine parataxe mit voller Selbständigkeit 
der unter einander verbundenen sätze gar nicht vorkommt, dass es 
gar nicht möglieh ist sätze unter einander zu verknüpfen ohne eine 
gewisse art von hypotaxe. Als selbständig, als einen hauptsatz im 
strengsten sinne können wir einen satz nur dann bezeichnen, wenn er 
nur seiner selbst willen ausgesprochen wird, nicht um einem andern 
Satze eine bestimmung zu geben. Demgegenüber müssten wir den 
nebensatz definieren als einen satz, der nur ausgesprochen wird um 
einen andern zu bestimmen. Es liegt nun auf der band, dass ein satz 
zu gleicher zeit seiner selbst willen ausgesprochen werden und doch 
auch einem andern als bestimmung dienen kann, dass es demnach 


122 

zwischen äen beiden extremen eine reihe von Zwischenstufen geben 
muss. Es liegt ferner auf der band, dass gar kein yernttnfüger grund 
vorhanden sein könnte sätze parataktisch an einander zu reihen, wenn 
nicht zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang bestttnde, d. h.wenn 
nicht einer den andern irgendwie bestimmte. Ein rein parataktischeg 
verhältniss zwischen zwei Sätzen in dem sinne, dass keiner den andern 
bestimmt, gibt es also nicht; es ist kein anderer begriff von parataxe 
möglich als der, dass nicht einseitig ein satz den andern, sondern 
beide sich gegenseitig bestimmen. 

Reine parataxe in diesem sinne besteht zwischen parallelsätzen, 
sei es, dass analoges oder dass entgegengesetzes verknüpf!; wird: er 
ist krumm, sie ist schief; er lacht, sie weint. Anders aber steht es 
schon mit der erzählung. Wenn jemand berichtet um zwölf uhr kam 
ich in N, an; ich ging in das nächste hötel; man sagte mir, es sei alles 
besetzt; ich ging weiter, so gibt immer der vorhergehende satz dem 
folgenden eine zeitliche und auch causale bestimmung. Dies ist aber 
eine function, an welche in dem augenblicke, wo er ausgesprochen 
wird, noch nicht gedacht wird. Wir haben demnach wider eine Ver- 
einigung von Selbständigkeit und abhängigkeit. Wir könnten uns eine 
umständlichere ausdrucksweise denken, in welcher der satz immer zwei- 
mal, einmal als selbständig, einmal als abhängig gesetzt würde. Statt 
einer solchen widerholung, die wenigstens nur ausnahmsweise wirklich 
vorkommt, bedient sich die spräche der Substitution durch ein 
pron. oder adv. demonstrativum. Es war für die entwickelung 
der Syntax ein höchst bedeutsamer schritt, dass dem demonstrativam, 
dem ursprünglich nur die beziehung auf etwas in der anschauung vor- 
liegendes zukam, die beziehung auf etwas eben ausgesprochenes ge- 
geben wurde. Dadurch wurde es auch möglich dem psychologischen 
verhältniss, dass ein satz selbständig hingestellt wird und zugleich als 
bestimmung für einen folgenden dient, einen grammatischen ausdrnck 
zu geben. Das demonstrativum kann sich auf einen ganzen satz oder 
auf ein Satzglied beziehen. Auch in dem letzteren falle ist vielfach 
der ganze satz, welcher dieses glied enthält, bestimmend für den 
folgenden. Sage ich z. b. ich begegnete einem kndben; der fragte mich, 
so bezieht sich der auf einem knaben; der bedeutungsinhalt von der 
ist aber durch den allgemeinen begriff hiabe nicht erschöpft, sondern 
erst unter hinzuziehung der übrigen teile des satzes ; es ist der knabe, 
welchem ich begegnete. So wird also gewissermassen durch das 
demonstrativum der vorangehende selbständige satz in ein zusammen- 
gesetztes Satzglied verwandelt, indem sich die übrigen teile des satzes 
dem Worte, auf welches das demonstrativum hinweist, als attributive 
bestimmung unterordnen. 


123 

Gehört es nun zum wesen aller satzverknttpfnng, dass anch die 
selbständig hingestellten sätze eine beimischiing von Unterordnung er- 
halten, so ist es ganz natürlich, dass von hier aus eine stufenweise 
annäherung an gänzliche Unterordnung möglich ist, indem der 
selbständige wert eines satzes n^ehr und mehr gegen die function 
einem andern als bestimmung zu dienen zurücktritt. Bei der erzählung 
doenmentiert sich die logische Unterordnung in den indogermanischen 
sprachen durch Verwendung der relativen tempora (imperf. und plusqu.). 
Vgl. Cincta premebaniur truclbus Capitolia Gällis; Fecerat obsidio jam 
diutunia famem: Juppiter ad soUum superis regale vocatis 'Incipe!' ait 
Marti Ov. Fast. VI, 351. Aehnlich sehr häufig bei Ovid zur einfilhrung 
in die Situation, von der die erzählung ausgeht. Besonders häufig in 
den verschiedensten sprachen ist die form des hauptsatzes mit ent- 
schiedener logischer Unterordnung, wenn ein eben^ gerade, kaum, schon, 
noch XL dergl, beigefügt ist oder bei Wendungen wie es dauerte nicht 
lange u. dgl.; vgl. kaum seh' ich mich auf ebnem plan, flugs schlagen 
meine doggen an (Schiller); lat. vix hene desierat, currus rogat ille 
paternos (Ov.); im lat. auch mit Verbindung durch eine copulative Par- 
tikel: vix ea fatus erat senior, subiloque fragore intonuit laevum (Virg.); 
nee longum tempus et ingens exiit ad caelum (ib.); am häufigsten und 
aaeh in unserer jetzigeA spräche allgemein üblich, erscheint diese coa- 
straction mit einem demonstrativum im nachsatz: ich war noch nicht 
eingeschlafen, da hörte ich einen lärm; es dauerte nicht lange, so kam 
er wider etc. 

Im mhd. ist es nicht selten, dass von zwei asyndetisch neben 
einander gestellten Sätzen, der erste nur zur bestimmung eines Satz- 
gliedes im zweiten dient ^), vgl. ein tnarcgräve der heiz Her man: mit 
deme er iz reden began (ßother); Josephus hiez ein wiser man: alse 
schiere er den rät vermam, mit michelen listen muose er sich vrisien 
(Kaiserchronik); ein wazzer heizet In: da vähten die Beiere mit iti (ib.). 

Bei Sätzen, die durch ein entweder — oder eingeleitet sind, kann 
der erstere derartig logisch untergeordnet sein, dass er einem satze 
gleich kommt, der durch ein wo fem nicht eingeleitet ist, vgl. mhd. die 
ir Christ enHchen anthäiz mit andern gehäizzen habent gemeret, . . . eint- 
weder diu schrift ist gelogen oder si choment in ein vil michel not (Hein- 
rich V. Melk); franz. ou mon amour me irompe, ou Zaire aujourd'hui 
pour Velever a soi descendrait jusqu* a lui (Voltaire). 

Bei umgekehrter satzfolge lässt sich logische Selbständigkeit und 
abhängigkeit nicht in der gleichen weise vereinigen. Dient ein satz 
einem vorhergehenden als bestimmung, so ist es von vornherein klar, 

») Vgl. Behaghel in der einleitung zu Veldekes Eneide sj XXVIII, 


124 

da8S er nur um dessentwillen ausgesprochen wird, vgl. ich kam nach 
hause, es schlug gerade 12 uhr. Ich mussle ihm alles sagen; er war so 
neugierig. Am deutlichsten tritt die abhängigkeit hervor, wenn der 
bestimmende satz in den bestimmten eingeschoben wird. Solche ein- 
geschobenen Sätze (parenthesen) sind ja in allen, auch noch so ent- 
wickelten sprachen reichlich in gebrauch, und zwar unterschiedslos 
bei den verschiedensten logischen beziehungen zum regierenden satze. 
Indem auch sätze, die eine auf f orderung oder frage aus- 
drucken, in logische abhängigkeit treten, werden sie zu bezeichnnngen 
der bedingung oder des Zugeständnisses. Vgl. geh hin: du wirst sehm 
oder so (dann) wirst du sehen; lat cras petita: dabitur (Plaut); sint 
MaecenateSf non deerunt, Flacce, Marones (Mart.); auch bei Verbindung 
durch copulativpartikel: sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir 
sagen, wer du bist; lat. divide et impera; impinge lapidem et digmm 
accipies praemium (Phaedrus). Aus solcher anwendung der aufforde- 
rungssätze sind in verschiedenen sprachen satzformen entsprungen, die 
als abhängig empfunden werden, indem das, was anfangs nur oeca- 
sionell mögliche auffassung war, usuellen wert erhalten hat. Vgl. 
z. b. ich bin dir nah, du seist auch noch so ferne; oder die englischen 
imperative suppose, sag (sag you can swim, *tfs bul a white Shak.), die 
gewissermassen zu conjunctionen geworden sind. Hierher gehören 
auch die lateinischen bedingungsätze mit modo (vgl. ego isla siudia 
non improbo, ' moderaia modo sint) , welches nicht als regierende con- 
junction gefasst werden darf und ja auch noch neben dum stehen kann. 
Ebenso ist bekanntlich aus der frage eine im deutschen und englischen 
sehr übliche und auch den romanischen sprachen nicht fremde form 
der bedingungssätze entstanden {willst du es tun, so beeile dich). 


Cap. VII. 

Bedeutungswandel auf syntaktischem gebiet. 

m 

Von dem, was in cap. 4 über die Wortbedeutung und ihre Wande- 
lungen gesagt ist lässt sich das allgemeinste auch auf die bedeutung 
der syntaktischen Verhältnisse anwende n. Auch bei diesen muss man 
unterscheiden zwischen usueller und occa sionelle r bedeutung; die 
usuelle bedeutung kann eine mehrfache sein, ihre Wandelungen ent- 
springen aus den abweichungen der occasionellen bedeutung und sie 
bestehen entweder in bereieherung oder in Verarmung des Inhalts mit 
entsprechender Verengung oder ausdehnung des umfangs. EigentUm- 
liehe Verhältnisse aber entstehen dadurch, dass wir es hier mit be- 
Ziehungen mehrerer demente auf einander zu tun haben (z. b. amo 
pairem^ amor patris), und dass diese beziehungen zu engeren und 
weiteren gruppen zusammentreten (z. b. verbum — objeetsaccusativ, 
substantivum — genitiv eines anderen substantivums). Demzufolge 
müssen wir ausser dem unterschiede zwischen usueller und occa- 
sioneller bedeutung noch eine andere gleichfalls sehr wichtige Unter- 
scheidung machen, nämlich zwischen der bedeutung einer allgemeinen 
beziehung schlechthin und derjenigen der beziehung zu einem 
bestimmten worte. Von der allgemeinen bedeutung die der acc. 
an sich in seiner beziehung zu jedem beliebigen worte hat, und auch 
von derjenigen, die er in seiner beziehung zu jedem beliebigen tran- 
sitiven verbum hat, ist diejenige zu unterscheiden , die er in der be- 
ziehung auf ein bestimmtes einzelnes verbum hat. Die letztere kann 
speeieller sein und der allgemeinen bedeutung gegenüber mehr oder 
weniger isoliert. Man hat in neuerer zeit vielfach die anschauung der 
älteren grammatiker bekämpft, dass ein casus von einem verbum oder 
einer präposition, ein modus von einer conjunction u. s. f. regiert 
werde, und statt dessen die Setzung des casus oder des modus aus 
seiner allgemeinen bedeutung herzuleiten gesucht. Es muss aber doch 
in gewissem sinne und in gewisser begrenzung an der alten lehre fest- 
gehalten werden. Diese allgemeinen sätze sollen im folgenden durch 
beispiele belegt werden. 


ö 


126 

Für den genitiv lässt sich keine einfache bedeutnng aufstellen, 
aus welcher sich die functionen, die derselbe bereits im urindo- 
germanischen hat, von selbst ergäben. Man muss z. b. den von verben 
und den von Substantiven abhängigen gen. von anfang an als ge- 
sonderte kategorieen ansehen. Betrachten wir die letztere, so können 
wir wol für das indogermanische behaupten, dass der gen., wie es im 
allgemeinen noch im altgriechischen der fall ist, zum ausdruck jeder 
beliebigen beziehung zwischen zwei Substantiven verwendet werden 
konnte; wir könüen daher für diese kategorie eine einfache bedeutung 
von sehr armem inhalt und sehr weitem umfang aufstellen, die nur 
occasionell specialisiert wird. Im nhd. dagegen ist die function des 
gen. neben Substantiven erheblich eingeschränkt. Manche gebrauchs- 
weisen, die noch im mhd. möglich waren, z. b. goldes zein (stab aus 
gold), langes lehens wän (hoffnung auf langes leben) sind jetzt unmög- 
lich geworden. Man muss jetzt nach specielleren bestimmungen suchen, 
wenn man die gebrauchsweise des genitivs angeben will, und dabei 
wird man genötigt mehrere kategorieen zu scheiden, mehrere selb- 
ständige bedeutungen neben einander zu stellen. Diese würden wol 
am einfachsten so angegeben werden: gen. possessivus — gen. parti- 
tivus — gjsn., der anzeigt, dass das regierende subst. das^ was es ist, 
in beziehung auf das abhängige ist (z. b. der hruder des mannes, der 
goit des weines, der dichter des werJces, die tat des helden); die letzte 
kategorie kann sich neben nomina actionis in zwei Unterabteilungen 
scheiden, gen. subjectivus und objectivus: die regier ung des fürsten — 
des landes. Die aufstellung derartiger kategorieen hat man neuerdings 
wol als eine rein logische sonderung betrachtet, die Yon der gram- 
matik fem zu halten sei. Das ist aber doch nicht ganz richtig, voraus- 
gesetzt dass die aufstellung in der gehörigen weise voi^enommen ist. 
Die betreffenden kategorieen haben der ursprünglichen allgemeinen 
bedeutung gegenüber Selbständigkeit gewonnen und erst dadurch ist 
es möglich geworden, dass sie allein sich erhalten haben, während 
die andern verwendungsweisen, die sich gleichfalLder ursprünglichen 
bedeutung unterordnen würden, untergegangen sind. 

Analog dem Verhältnisse des gen. zu dem regierenden substan- 
tivum ist das des accusatiyus zu dem regierenden verbum. Wollen 
wir eine allgemeine bedeutung des acc. aufstellen, unter welche sich 
alle einzelneu verwendungsweisen desselben unterordnen lassen, so 
müssen wir sagen: er bezeichent überhaupt jede art von beziehung 
eines substantivums zu. einem verbum, die sich ausser der des subjeets 
zu seinem prädicate denken lässt Dennoch aber können wir ihn 
nicht in jedem einzelnen falle, in dem eine solche allgemeine be- 
ziehung stattfindet, anwenden, und schon in der indogermanischen 


137 

grundsprache war das unstatthaft, wenn auch die Verwendung noch 
eine viel freiere und ausgedehntere war, wie sich z. b. am griechischen 
erkennen lässt. Die angäbe einer einzigen, alles umfassenden be^ 
deutung genügt daher nicht; wir müssen verschiedene allmählig selb- 
ständig gewordene verwendungsweisen neben einander stellen. Hier 
kommt nun aber hinzu, dass auch in der beziehung auf einzelne verba 
ein fester usus in bezug auf gebrauch oder nichtgebrauch des acc« 
und eine specialisierung der bedeutung eingetreten ist. Wir müssen 
daher unterscheiden zwischen dem freien acc, der von der natur 
des verbums, dem er beigegeben wird, unabhängig ist, und dem ge- 
bnndenen, der nur zu einer beschränkten anzahl von verben und zu 
jedem einzelnen in beschränkter bedeutung gesetzt wird. 

Zu den von alters her üblichen freien verwenduj[igen des accu- 
sativs gehört die zur bezeichnung der erstreckung über räum und zeit 
(nicht bloss neben verben gebraucht); femer der acc. des Inhalts von 
snbatantivett, die mit dem verbum etymologisch verwandt sind (einen 
schweren kämpf kämpfen); im lat. der acc. von städtenamen auf die 
frage Wohin? Eine erst in neuerer zeit ausgebildete Verwendung ist 
die neben sonst intransitiven verben in Verbindung mit einem prädi- 
cativen adjectivum, vgK die äugen rot weinen, das beit nass schwitzm^ 
die füsse nnmd laufen; sich satt essen, voll saufen, krank arbeiten, heiser 
schreien etc^ Hier hätten wir also eine bedeutungserweiterung. Jedoch 
ist zu berücksichtigen, dass zur entstehung dieser construction noch 
besondere factoren mitgewirkt haben; einerseits wol das noch nicht 
völlig erloschene gefühl ftir die gsmz allgemeine bedeutung des aecu* 
sativs, anderseits die analogie von fällen wie einen tot schiessen ^ los 
kaufen, krumm und lahm schlagen. Aehnlich verhält es sich mit con- 
strnctionen vrie er schwatzt das blaue vom himmel herunter, er hat sich 
in mein vertrauen gestohlen, denke dich in meine läge hinein, sich ein-- 
schmeicheln, srch herausreden, sich durchfressen u. dgl. 

Eine gewisse miittelstellung zwischen dem ganz freien und dem 
gebundenen nimmt der aee. neben compositis ein, zu denen die sim- 
plicia entweder intransitiv sind oder eine ganz andere art von acc. 
regieren; eine mittelstellung insofern, als doch wenigstens eine grössere 
anzahl solcher verba sich zu einer grüppe zusammenschliessen und 
sich in der bildung und transitiven Verwendung derselben dem usus 
gegenüber eine gewisse freiheit der bewegung geltend macht. Ins- 
besondere haben die composita mit be- die ganz allgemeine function 
ein intransitives verbum transitiv zu machen oder ein transitives verbum 
zn befähigen eine andere art von object zu sich zu nehmen, vgl be- 
fallen, beschreiben, bestreiten; besetzen, bewerfen, bezahlen. 

Der an ein ' bestimmtes einzelnes verbum gebupdene acc. hat in 


128 

der regel nur eine, durch den nsns begrenzte bedentang. Doch ist 
auch mehrfältigkeit der bedeutang nicht ganz selten, und diese ist 
dann teils alt, vielleicht unmittelbar aus der ursprünglichen allgemeinen 
bedeutnng des accusativs abzuleiten, teils lässt sieh zeigen, dass ur- 
sprünglich nur eine bedeutung ttblich gewesen ist, während die andere 
sich erst äUmähUg durch occasionelle ttberschreitung des usus heraus- 
gebildet hat; vgl fvunden schlagen — den feind nchL — das schweri 
schL, einen mit steinen werfen — steine auf einen w,, einen mit dem 
messer stechen — ihm das messer durch das herz st.^ warte sprechen — 
einen menschen sprechen; lat de f ender e aliquem ab ardore solis — ar- 
darem solis ab aliquo, prohibere calamitatem a provincia — provinciam 
calamitate. ächer jüngere entwiekelung, zum teil nur occasionelle, 
namentlich dichterische freiheit liegt in folgenden constructionen vor: 
ein klnd schenken (= säugen), wasser in einen eimer füllen, lat vina 
cadis onerare (Virg. statt cados vinis), Uberare obsidionem (Liv. statt 
urbem obsidione), griech. daxQva xigjaiv („tränen netzen" statt .mit 
tränen benetzen'' oder „tränen fliessen lassen", Find.), aliia ösvsiv 
(„blut benetzen" statt „mit blut b.", Soph.). Weitere beispiele bei 
Madvig, KL sehr. 837 ^ Weil die beziehung, die der acc. ausdrückt, an 
und für sich eine mehrfache sein kann, ist auch die Verbindung eines 
verbums mit mehreren accusativen etwas, was sich ganz natürlich ergibt. 

Von den indogermanischen präpositionen würde es nicht richtig 
sein, wenn man sagen wollte, dass sie den und den casus regiert 
hätten. Vielmehr war der betreffende casus direct auf das verbnm zn 
beziehen, seine allgemdne bedeutung wurde noch empfunden und 
erhielt durch die präposition nur eine specialisierung, weshalb denn 
auch verschiedene casus neben der selben präposition stehen konnten, 
jeder in seiner eigentümlichen bedeutung. Diesem ursprünglichen zu- 
stande steht das griechische noch einigermassen nahe. Mehr und 
mehr aber hat der casus seine Selbständigkeit gegenüber der prä- 
position eingebüsst, die Verbindung der präposition mit dem casus ist 
gewohnheitsmässig geworden, wobei das geflihl für die bedeutung des 
letzteren verblasst ist. Bei unseren neuhochdeutschen präpositionen, die 
nur einen casus regieren wie zu, um oder mehrere ohne Verschiedenheit 
des Sinnes wie trotz kann von keiner bedeutung des casus mehr die rede 
sein; die anwendung eines bestimmten casus ist nur noch eine tradi- 
tionelle gewohnheit, der kein wahrer wert zukommt. Zwischen dieser 
erstarrung und gebundenheit und der ursprünglichen lebendigkeit und 
freiheit der casus mitten inne steht die Verwendung des dat. und acc. 
in verschiedenem sinne nach in, auf, über, unter. 

Appositionelle construction tritt vielfach ein, wo bei genauerem 
ausdruck ein gen. part. anzuwenden wäre. Nicht bloss so, dass die 


r 


129 

apposition aus mehreren gliedern besteht, die zusammen dem sub- 
stantivurn, wozu sie gesetzt sind, gleichkommen: sie ging en^ der eine hier- 
hin, der andere dorthin; lat. classes populi Romanik cUteram naufragio, alie- 
ram a Pcenis depressam interire (Cie.), capti ab Jugurtha pars in crucem acti 
pars hesiüs objecü sunt (Sali.). Sondern auch wo die ganze apposition nur 
einen teil des zugehörigen subst. repräsentiert. Lat.: Volsci maxima 
pars caesi (Liv.); cetera multitudo decimus quisque ad supplicium lecti 
(Liy.); nosiri ceciderunt tres (Caes.); entsprechend da, wo das subj. nur 
darch die personalendung des verb. ausgedrückt ist: plerique meminimus 
(die meisten von uns, Liv.); Sitnoni adesse me quis nuntiat e (einer von 
euch, Plaut.). Mlid.: si weinten sumeHche (manche von ihnen); jä sint 
iu doch genuogen diu mcere tvoi bekant (vielen von euch). Bei stoflf- 
bezeichnungen, die normaler weise durch den gen. part. ausgedrückt 
werden, tritt daneben das ungenauere appositionelle verhältniss ein. 
Vgl lat: aliquid id genus (statt efus generis Cic), coronamenta omne 
genus (Gato), arma magnus numerus (Liv.). Eüne besondere ausdehnung 
hat diese einfachere constructionsweise im nhd. gegenüber dem mhd. 
gewonnen, vgl. ein stück brot (mhd. stücke br6tes\ ein pfund mehl^ ein 
Scheffel weizen, ein glas wasser, eine menge obst, eine art tisch etc. Die 
coUectiven Stoffbezeichnungen sind in diesem falle durchaus indecli- 
Dabei. Wir dürfen, wenn wir das sprachgefllhl richtig analysieren, 
hier keinen nom. oder acc. mehr anerkennen, sondern nur den stamm 
schlechthin ohne Casusbezeichnung. Die spräche ist zu der primitiven 
constructionsweise zurückgekehrt, wie sie vor der entstehung der casus 
allein möglich war und wie sie uns in den alten compositis vorliegt 

Wie das object so kann sich sogar das sübject eines verbums 
zur bezeichnung einer von dem bisherigen usus abweichenden beziehung 
herausbilden. Vgl. neuhochdeutsche Wendungen wie die bank sitzt voller 
menschen, ihm hängt der himmel voller geigen, der eimer läuft voll wasser 
— läuft leer; viel freier ist die anwendung solcher Verbindungen mit 
vol im mhd , z. b. daz hüs saz edeler vrouwen vol, ouch gienc der wall 
müdes vol, daz gevilde was vollez pavelüne geslagen (vgl. Haupt zum 
Erec 2038), noch bei Hans Sachs den (wald) sach er springen vol der 
wilden tiere, all specer ey voll würme loffen\ ebenso im dänischen. Vgl. 
ferner der narren herz ist wie ein topf, der da rinnt (Lu., auch jetzt 
noch wird rinnen, laufen so gebraucht); dass unsere äugen mit tränen 
rinnen^ nnd unsere augenlieder mit wasser fliessen (Lu.); das gefäss fliesst 
aber; it le vie correvano sangue (Malespini); Span, corrieron sangue los 
rios (Calderon, vgl. Diez IH, 114); lat culter sanguine manat, membra 
sudore fluunt ; engl, the hall thick swarming now with complclated monsters 
(Milton): nhd. der wald erklingt von gesang; das fenster schliesst schlecht, 
ebenso franz. la fenetre ne clöt pas bien. Neben einander stehen die 

Paul, Principien. II. Auflage. 9 


180 

hlume riecht — ' ich rieche die hlume, der wein schmeckt — ich schmecke 
den wein ; entsprechend mhd. stinken, lat. sqpere, franz. sentir. Damit 
auf eine linie zu stellen ist wol auch sehen == aussehen. Stellt man 
sich auf den Standpunkt, dass das verhältniss zwischen subject und 
prädicat ein für alle mal fixiert sein soll, so kommt man dazu ftlr die 
angeführten fälle eine doppelte bedeutung des verbums anzusetzen. 

Die entsprechende Überschreitung des usus findet bei der za- 
sammenfttgung eines substantivums mit einem adjectivischen prädicate 
statt and in noch ausgedehnterem masse bei attributiver Verbindung. 
Während das adjeetivum eigentlich nur ftlr eine dem zugehörigen sub- 
stantivurn inhärierende eigenschaft gebraucht werden sollte, finden wir 
es auch angewendet, wo nur eine indireete beziehung stattfindet. Vgl. 
auf schuldigen wegen (Schi.) = wegen, auf denen man schuldig wird, 
einige gelassene augenblicke (Goe.) ^= augenbUcke, in denen man ge- 
lassen ist; der hoffnungsvollen gäbe (Goe.); hei ihrem unbekannten besucht 
(Le.) = wobei sie unbekannt bleibt; des trones, ungewiss, ob ihn mehr 
vorsieht schützt, als liebe stützt (Le.) = bei dem es ungewiss ist. Viele 
solche freiheiten sind ganz usuell geworden. Wir sagen allgemein em 
trauriges oder fröhliches ereigniss, eine freudige Überraschung, lustige 
oder vergnügte stunden, eine gelehrte abhandkmg, in trunkenem zustande 
törichter weise u. dcrgL, er macht einen kränklichen eindruck, eine karge, 
gäbe. Sicher geht einerseits auf eine person, die nicht nötig hat, be- 
sorgt zu sein, anderseits auf eine sache oder person, um die man nicht 
nötig hat besorgt zu sein; ekel einerseits auf eine person, die leicht 
ekel empfindet, anderseits auf einen gegenständ, vor dem man sich 
ekelt. Werden solche freieren Verknüpfungen nach analogie des nor- 
malen Verhältnisses zwischen subsi und congrnierendem adj. aufgefasst, 
so gelangt man dazu einen wandel der Wortbedeutung zu statuieren. 

Besonders häufig gestattet man sich solche freiheit bei participien. 
Vgl. einer reuenden träne (Le.), lächelnde antwort (Goe.), in der schau- 
dernden stille der nacht (Le.), zum schaudernden concert (Schi.), der 
könig betrachtet ihn mit nachdenkender stille (ib.), in seiner windenden 
todesnot (Goe.), nach dem kostenden preise (Nicolai). Weitere beispiele 
bei Andr. Sprachg. s. 82 ff. Allgemein üblich sind sitzende, liegende 
Stellung, fallende sucht, schwindelnde höhe, im wachenden träume u. a.? 
jetzt verpönt bei nachtschlafender zeit. Sehr gewöhnlich sind im engl. 
Verbindungen wie dying day Sterbetag, parting glass scheidetrunk, wrii- 
ing materials, dining room, sleeping apartment, faUing sickness; vgl. auch 
franz. the dansant, cafe chantani. Tacitus gebraucht haec plebi volentia 
fuere statt volenti u. a. dergl (Draeg. § 193, 3). Beispiele für das part. 
perf. sind ein längst entwöhnter schatier (Goe.), in diesen letzten zer- 
streuten tagen (ib.), der beschuldigten heuchdung (Schi.) = deren ich 


181 

beschuldigt werde; engl, the ravish'd hours (Pamell) = die stunden 
voller entzücken. Allgemein üblich ein eingebildeter mensch, ein bedienter. 
Anf gleiche linie zu stellen ist wol die freie anknüpfung eines 
prädicativen attributes, die zwar als nachlässigkeit verpönt ist, aber 
doch ziemlieh häufig vorkommt, in fällen wie seltene taten werden durch 
Jahrhunderte nachahmend zum gesetze geheiligt (Goe.); lustig davonfah- 
rend wurden die eindrucke des abends noch einmal ausgetauscht (Riehl); 
zurückgekehrt wurde des ermordeten kleidung untersucht (Brachvogel). 
Weitere beispiele, meist aus zeitungen bei Andr. Sprachg. 113. Hier 
fühlt man sich veranlasst zu dem prädicativen attribut ein subj. zu 
ergänzen; aber ebenso könnte man das oben angeführte beispiel mit 
nachdenkender stille ergänzen zu 'mit stille, während welcher er nach- 
denkt', ohne dass doch in dem ausdruck etwas davon liegt 

Bei participialconstructionen ist nur das zeitliche verhältniss 
ausgedrückt, in dem der zustand oder das geschehen, welches durch 
das pari bezeichnet ist, zu dem verb. fin* steht. Es können aber dabei 
noch mannigfache beziehungen bestehen, so dass man bei auflösung 
der participialconstruction durch einen ganzen satz, bald diese, bald 
jene conjunction anwenden muss. Man kann aber darum doch nicht 
sagen, dass die participialconstruction an sich verschiedene bedeutungen 
haben könne, bald die Ursache, bald die bedingung, bald einen gegen- 
satz etc. bezeichne. Diese Verhältnisse bleiben immer nur occasionell 
und accidentiell. Anders dagegen verhält es sich mit nebensätzen, 
die durch eine temporale conjunction eingeleitet sind. Hier kann 
das accidentielle verhältniss zum regierenden satze sich an die con- 
junction anheften und zu einem bestandteile von deren usueller be- 
deutung werden. So muss z. b. die Verwendung von unserem während 
zur bezeichnung eines gegensatzes als eine besondere usuelle function 
neben der grundbedeutung anerkannt werden. Es ergibt sich das ab- 
gesehen von unserem Sprachgefühl daraus, dass diese function auch 
statt hat, wo gar keine gleichzeiligkeit des geschehens zwischen ab- 
hängigem und regierendem satze besteht, vgl. z. b. du belügst mich, 
während ich dir immer die Wahrheit gesagt habe. Ebenso müssen wir 
dem mittelhochdeutschen ^t neben seiner temporalen bedeutung die 
unseres jetzigen causalen da als etwas selbständiges zuerkennen; denn 
es kann im vdderspruch mit der grundbedeutung bei gleichzeitigkeit 
zwischen abhängigem und regierendem satze gebraucht werden, vgl. 
sit ich äne einen vrumen man nun lant niht bevriden kan, so gewinne ich 
gerne einen. Die entwickelung kann dann noch weiter gehen, indem 
die ursprüngliche temporale bedeutung ganz verloren geht vne bei nhd. 
n^eil. Auf ganz entsprechende weise gehen präpositionen von localer 
oder temporaler bedeutung zu causaler über. 

9* 


Cap.VIII. 

Contaminatioii. 

Unter eontamination verstehe ich den Vorgang, dass zwei 
synonyme ausdrucksformen sieh gleichzeitig ins bewnsstsein 
drängen, so dass keine von beiden rein zur geltang kommt, sondern 
eine neue form entsteht, in der sich demente der einen mit elementen 
der andern mischen. Auch dieser Vorgang ist natürlich zunächst indi- 
viduell und momentan. Aber durch widerholung und durch das zu- 
sammentreffen verschiedener Individuen kann auch hier wie auf allen 
übrigen gebieten das individuelle allmählig usuell werden. 

Die eontamination zeigt sich teils in der lautgestaltung ein- 
zelner Wörter, teils in der syntaktischen Verknüpfung. 

Ziemlich selten ist wol mischung aus zwei etymologisch nicht 
zusammenhängenden Wörtern. Auf ein charakteristisches beispiel 
hat Schuchardt hingewiesen. Im ämilischen dialect gibt es ein wort 
cminzipia anfangen, eontamination aus den Wörtern cominciare und prin- 
cipiare der italienischen Schriftsprache. Erleichtert ist die mischung 
bei formen, die sich gegenseitig zu einem paradigma ergänzen. Aelteres 
wis (sei) aus ahd. rvesan wird im mhd. allmählig durch bis verdrängt 
unter einfluss von bist. Ahd. bim (bin) ist wahrscheinlich eine eonta- 
mination aus im (got.) und *bium (ags. bedm); desgleichen nach umge- 
kehrter richtung ags. edm. 

Häufiger mischen sich Wörter, die der gleichen etymologischen 
gruppe angehören. Vgl. gewohnt aus dem adj. mhd. gewon (noch in 
gewohnheit, gewöhnlich) und dem pari mhd. gewent von wenen (ge- 
wöhnen); doppelt aus dem adj. doppel (= franz. double) und dem noch 
im vorigen Jahrhundert ganz üblichen part. gedoppelt \ zu guter letzt aus 
zu guter letz (mhd. letze abschied) und zu letzt. 

Nicht bloss zwei einzelne formen contaminieren sich unter ein- 
ander, sondern auch eine form mit einer ganzen formalen gruppe. 
Auf diese weise entsteht namentlich ein ziemlich häufig vorkommender 
Pleonasmus der bildungselemente, indem eine in ungewöhnlicher 


133 

weise gebildete form noch durch das suffix der normalen bildungg- 
weise bereichert wird. Hierher ^ gehören formen wie nhd. ihrer, ihnen, 
kr er, denen] ahd. inan (aus in unter einfluss von hlintan etc.); nhd. 
Fritzens, Mariens aus älterem Fritzen, Marien, an die noch die ver- 
breitetste genitivendung getreten ist. Femer lat. jactitare, cantitare, 
vmtiiare statt jactare etc. unter einfluss von volitare etc.; spanische 
adjectiva wie celestial, divinal, humanal (vgl. Michaelis s. 38). Beson- 
ders gewöhnlieh ist eine häufung der suffixe des comparativs und 
Superlativs, vgl. nhd.. öftrer (häufig bei Le.); letzteste (Goe.); ahd. meriro 
gegen got maiza', got. aftumists, auhumists, frumists neben afivma, au^ 
huma, fruma, dazu hindumists, spedumists; &^'At\sii, pluriores, minimissi^ 
mus, pessimissimus, extremissimus, postremissimtcs ; griech, oQewreQog, x^- 
QeiorsQog, jtQmridroq u. a. Ebenso zu erklären ist das doppelte präfix 
in gegessen = mhd. gezzen. 

Eine sehr bedeutende rolle spielt die contamination auf syn- 
taktischem gebiete. Ich führe zunächst einige beispiele von bloss 
momentanen anomalien auf, die auf den usus keinen einfluss haben. 
Lessing: um deines lebens wegen\ mischung aus vm . . willen und 7vegen\ 
entsprechend in der Kölnischen zeitung um . . halber (nach Andr. 
Sprachg. 194). Goethe: freitags als dem ruhigsten tage, als ob am frei- 
tage gesagt wäre. Lessing: ich habe nur leugnen wollen, dass ihr als- 
dann der name maierei weniger zukomme; mischung aus leugnen . . 
dass . . zukomme und behaupten . . dass . . weniger zukomme, Hans 
Sachs: Ein jedes thut, als es dann wolt als jhm von jhem geschehen 
soli; dabei mischen sich die beiden gedanken „wie es wollte dass ihm 
von jenem geschehen sollte* und „wie ihm geschehen sollte". Hart- 
mann von Aue: er bereite sich dar zuo als er ze velde wolde komen 
(aus dar zuo daz er ze velde kceme und als er ze velde wolde komen). 
Ib.: des weinens tet in michel ndt aus daz weinen tet in und des weinens 
was in, Goethe: Im betragen unterschied sich auch hier der gesandte 
von Plotho wider vor allen andern; mischung mit „zeichnete sich aus 
vor* oder dergl. Goe.: die Schicksale meiner Wanderschaft werden dich 
mehr davon überzeugen, als die wärmsten Versicherungen kaum tun können; 
hier deutet das kaum eigentlich auf eine ganz andere ausdrucksweise. 

Wir wenden uns zu solchen fällen, in denen die contamination 
usuell geworden ist oder wenigstens als eine häufig vorkommende 
licenz auftritt. 

Sehr gewöhnlich ist die construction das gehört mein (vgl. DWb 
4a, 2508) aus gehört mir und ist mein. Im engl, sagt man allgemein 
1 am friends with him aus 1 am friend with him und we are friends; 


») Vgl. Bnigman, Morph. Unt. III, 67 flf., Ziemer, Streifz. 146. 


134 

eDtsprecheDd in der dänischen Volkssprache hau er gode Venner med 
hem (er ist gute frennde mit ihr). Gleichfalls der dänischen Volks- 
sprache angehörig ist die wendung jeg feiges med harn (ich folge mit 
ihm) aus jeg feiger med ham und ve feiges ad (wir folgen uns, d.h. 
gehen zusammen).^) Im griech. kommt vor o ijfiiövg rov XQ^^^^^ W 
jtXelöTTiv T^q OTQOTiag aus 6 fj/ii€fvg XQOPog und to ^(iiov rov XQ^^'^ ^^'^ 
entsprechend im span. muchas de virgines statt muchas virgines oder 
mucho de virgines, ä pocos de dias^ una poca de miel, tantas de yerbas, 
la mos de la gente (bei Cervantes); it. in poca d'ora^ la piii della gmte 
(Boccaccio); ähnliche misehungen auch im portug., prov. und afranz. 
(vgL Diez III, 152). Aehnlich ist eine contamination bei dem latei- 
nischen gerundium: poenarum solvendi tempus (Lucrez) aus poenarum 
solvendanwi und poenas solvendi, exemplorum eligendi potestas (Cic.), 
vgl. Draeg. 597da. Cicero sagt eorum partim in pompa, partim in acie 
illtistres esse voluerunt (vgl. Draeg. 100), wobei sich eorum pars und // 
partem mischen; der entsprechende Vorgang ist im älteren nhd. gewöhn- 
lich, vgl. theils leute nennen ihn zum spott den Unverstand (Cronegk). 

Nicht selten ist bei rttckbeziehung die ungenauigkeit, dass sich 
statt des wirklich gesetzten wertes die Vorstellung eines etymologisch 
verwandten unterschiebt, dessen sich der redende gleichfalls hätte be- 
dienen können. So schiebt sich z. b. die Vorstellung der cinwohDcr 
an die stelle der Stadt oder des landes, vgl. griech. OefiiaroxXrjg g)evyti 
sc KsQxvQav, Sv avrAv evsQy irrig (Thuc); lat. Domitius navibus Mas- 
siliam pervenit alque ab iis recepius urbi praeftcitur (Cäes.); Sutrim, 
socios populi Romani (Liv.) ; nhd. so waren wir denn an der grenze von 
Frankreich alles französischen wesens auf einmal bar und ledig, Ihre 
lebensweise fanden wir zu bestimmt und zu vornehm, ihre dichtung kalt 
etc. (Goe.). Andere beispiele sind: innere stärke kann man der Bod- 
merischen und Breiiingerischen kritik nicht absprechen^ und man tnuss 
den ersten als einen Patriarchen ansehn (Herder); het ich mich nicht 
jtmg thun verweiben^ die er mir Jetzt drey far anhengen thet {die he- 
zogen auf ein zu entnehmendes weib, H. Sachs)^); mhd. in dem pdus, 
der wol gekerzet was, die (welche kerzen) harte lichte brunnen (Wolfram); 
enlwäpent wart der töte man und an den lebenden gelegt (als subject 
zu ergänzen diu wäpen, ib.); lat servili tumultu, quos (als ob servorm 
da stünde, Caes.). Am häufigsten ist der fall, dass das relativum anf 
ein possessivpron. bezogen wird, als wenn das personalpron. da stünde, 
vgl. lat. laudare fortunas meas, qui gnatwn haberem tali ingenio prat- 
ditum (Terenz); griech. r^g kiirig sjteiaodov, ov fii^T oxvetre (Soph.); 
mhd. allgemein. 

«) Vgl. Madvig, Kl. sehr. 1932. 

2) Weitere beispiele bei Andr. Spr. 252 ff. 


135 

Ans der vermengung comparativiseher und superlativischer aus- 
drucksweise entstehen im lat. Verbindungen wie hi ceterorwn Brittan- 
norum fugacissimi (Tac.); ommum ante se gerdtorum diligentissimus (Fli- 
nias), vgl. Ziem. Comp. 55 ff. Umgekehrt kommt auch der superl. nach der 
weise des comparativs construiert vor, vgl. omni vero verissimum cer- 
loque certissimum (Amobius). Damit vgl. man anord. hcestr borinn 
hverjun jgfrl (Gripisspi „der höchste* statt „höher als jeglicher ftirst*. 
Im lat. steht öfters neben dem imp. ein jam dudum, z. b. Jam dudum 
sumite poenas, eine mischung der gedanken „nehmt doch" und „ihr 
hättet schon längst nehmen sollen''. 

Nicht selten ist im mhd. nach wizzen die Verbindung eines frage- 
Wortes mit dem inf., z. b. do enweste er wie gebären; man erwartet ein 
verb. finitum, und die construction lässt sich wol nur so erklären, dass 
man eine einwirkung der falle annimmt, in denen der inf. ohne frage- 
wort direct vom verb. abhing. Das selbe gilt natürlich von den ent- 
sprechenden romanischen constructionen, vgl. franz. Je ne sais quel parti 
prendre, ii non so che fare etc. (Diez III, 230). Aehnlich verhalten 
sich it non ho che dire, span. non tengo con quien hablar, franz. f7 
irouoa ä qui parier, la terre foumit de quoi nourrir ses habitants, schon 
spätlat non habent quid respondere (vgl. Diez a. a. o.), engl, how have I 
(hen with whom io hold converse (Milton), then soughi where to lie hid 
(ib.) u. dergL 

Als eine contamination wird es auch zu betrachten sein, wenn 
von einem verbum ein fragesatz abhängig gemacht wird und zugleich 
noch das subject dieses fragesatzes als nominales object, vgl. lat. nosti 
Marcellum quam iardus sit (Gic), viden scelestum ut aucupatur (Plaut), 
observatote eum quam blande palpatur mulieri (Terenz); die modo hominem 
qui Sit (Plaut), patriam te rogo quae sit (Plaut); it. tu 7 saprai bene 
Chi e (Boccaccio), ähnliches häufig in den älteren romanischen sprachen 
(vgl. Diez III, 391). Ebenso steht nominales object neben einem objects- 
satz mit dass, vgL mhd. swenne er dn sile scehe daz si in tdisünden wcere, 
die liset man si nnlen wceren des wunderlichen Alexandres man^ do hiez in 
got daz er dar in gienge, die wil ich daz siz merken; nhd. da ihn sahen alle, 
die ihn vorhin gekannt hatten, dass er mit den propheten weissagete (Lu.), 
welchen ihr sprecht, er sei euer gott (Lu.). Das object des regierenden 
Satzes kann auch im abhängigen object sein, vgl. vierhundert taler, die sie 
nicht nmsste, wie sie sie bezahlen sollte (Le.). So kann auch neben 
einem subjectssatz mit dass als subject noch das subject oder object 
desselben als subject des hauptsatzes treten, vgl. mich will Antonio von 
hinnen treiben und will nicht scheinen, dass er mich vertreibt (Goe.); 
nichts^ was ihn gereuen könnte, dass ers gab (ib.). 

Statt der selbe der oder der gleiche wie sagt man auch der selbe 


186 

wie nnd der gleiche der; ebenso im lat. idem ut, z. b. in eadem sunt 
injusiitia, . ut si in suam rem (üiena converiant (Cic). Häufig begegnet 
man Wendungen folgender art: dass sie nichts spricht kommt daher ^ 
weil sie nichts denkt (Le.); der gedanke wurde dadurch notwendig y 
weil man voraussah (Wieland); wortstreit, der daraus entsteht, weil ich 
die Sachen unter andern combinationen sentiere (Goe.); in dem äugen- 
blicke, wenn wir ihn auch seines bogens beraubt jaÄew (Le.); die grösste 
feinheit eines dramatischen richters zeiget sich darin, wenn er in Jedem 
falle zu unterscheiden weiss (Le.). Allgemein ttblieh, zum teil sogar 
notwendig sind Verbindungen wie jedesmal wenn oder wo (statt dass), 
in dem augenblicke wo (Goe. sagt noch in dem augenblick, dass er amen 
sagte); entsprechend im franz. au temps oü, früher au temps que; zu 
dem zwecke, in der absieht damit; deshalb, deswegen, aus detn gründe 
weil; desto besser weil (mhd. daz)y engl, the rather because neben that. 

Wenn Cicero sagt cum accusatus esset, quod contra rempublicm 
sensisse eum dicerent, so ist das eine mischung aus quod . . sensisse 
eum dicebant und quod . . sensisset. Weitere beispiele bei Draeg. § 537. 
Plato gebraucht sogar construetionen wie rode, mg olfiai, avarfxatoraxov 
elrat (vgl. Ziem. 105). 

Eine im mhd. gewöhnliche construction wäre in gesehe vil schiere 
nun liep (es sei denn, dass ich bald meine geliebte sehe), ich bin oder 
sd bin ich tot. Ungefähr den selben sinn würde die parataktische Ver- 
bindung geben ich gisihe vil schiere min liep oder ich bin tot. Statt 
dessen sagt der minnesinger Steinmar in gesehe vil schiere min lieb 
Ol der (= oder) ich bin tot. Noch auffallender ist eine andere art der 
mischung, bei der oder vor den satz mit ne tritt: ich gelige tot under 
minen van, oder ich nebeherte min ere (Kaiserchronik). Noch weitere 
beispiele bei Dittmar in Zeitsch. f d. Fhilol., ergänzungsb. s. 211. 

Ein prädicatives attribut kann die selbe function haben wie ein 
durch eine coi\junction eingeleiteter nebensatz. In folge davon können 
manche conjunctionen auch dem blossen adj. vorgesetzt werden, wo- 
durch eine genauere bezeichnung des Verhältnisses erreicht wird. So 
besonders im englischen, vgl. talents angel-bright, if wanting worth, are 
shining insiruments (Young); nor ever dld I love thee less, though mmir- 
ning o'er thy wickedness (Shelley); Mac Jan, white putting on his clothes, 
was shot through ihe head (Macaulay).*) Auch im deutschen können 
wir sagen: ich tat es, obschon gezwungen u. dergl Entsprechend wer- 
den im lat. manche conjunctionen dem abl. absol. vorgesetzt, vgl. 
quamvis iniqua pace honeste tamen viverent (Cic); efsi aliquo accepto 
defrimento (Caes.); eisi magno aestu (Cic.).^) Die conjunctionen quasi und 

>) Vgl Mätzner III, s. 72. 
») Vgl. Draeger § 592. 


137 

sivCj die ursprünglich nur satzeinleitend gewesen sein können, werden 
ganz allgemein blossen Satzgliedern beigefügt. 

Umgekehrt führt die Übereinstimmung in der funetion zwischen 
nebensätzen und präpositionellen bestimmungen dazu, präpositionen 
znr einleitung von nebensätzen anzuwenden. So besonders im eng- 
lichen, vgl. for I cannot flauer thee in pride (Sh.), after he hadbegotten 
Seih (Genesis), without they rvere ordered (Marryat); besonders all- 
gemein sind so tu, until üblich. Es muss jedoch berücksichtigt werden, 
dass hier die constructionen mit for that, after that etc. daneben stehen. 
Auch vor iudirecten fragen steht eine präp.: al the idea of how sorry 
she woidd he (Marryat), the daily quarreis about who shall squander 
most (Gay)*); vgl span. este capittUo häbla de como el rey non deba 
consentir; entsprechend im portug. und altit.^). 

Sehr häufig entsteht auch auf syntaktischem gebiet durch con- 
tamination ein pleonasmus. So z. b. im lat. eine häufnng von ver- 
gleichungspartikeln (vgl. Draeg. § 516, 14), wie pariier hoc fit atque ut 
alia facta sunt (Plaut.); damit vgl. man unser volkstümliches als wie. 
Aehnliche häufungen sind lat. qtiasi si (Draeg. § 518, 1 b), nisi si (ib. 
§557f. £). Im engl ist es bekanntlich in vielen fällen möglich eine 
Präposition entweder zum subst. oder zum regierenden verbum zu 
stellen; es kommt aber auch beides combiniert vor, vgl. z. b. that fair 
for which love groan'd for (Shakesp.). Besonders kühn sind fügungen 
wie engl, of our generals (Shakesp.) statt of our general oder our gene- 
rals. Nicht selten wird zu ortsadverbien , die an sich schon die rich- 
tuDg woher bezeichnen, noch eine die nämliche richtung bezeichnende 
präp. gesetzt, die eigentlich mit einem die ruhe an einem orte be- 
zeichnenden adv. verbunden werden sollte, vgl. lat. deinde, exinde, 
dehi7ic, abhinc; nhd. von hinnen^ von dannen^ von wannen. Im lat. findet 
sich beim pass. öfters eine pleonastische bezeichnung des plusqu.: 
censa fuerunt civium capita (Liv.); sicuti praeceptum fuerat (Sali.); vgl. 
Draeg. § 134. Häufig begegnet man Wendungen wie erlauben Sie, dass 
ich mich dabei beteiligen darf vgl. die beispiele bei Andr. Spr. 136. 7. 

Viele beispiele bieten auch hier die Steigerungsformen des adj. 
und adv. Im mhd. wird dem comparativ öfters noch ein baz hinzu- 
gefügt, also grcßzer baz etc.; ebenso im lat, hauptsächlich bei den 
komikem magis oAev potius^ im griech. päXXov (vgl. Ziem. Comp. 154. 5); 
so auch göt. mais vulprizans. Aehnliches kommt auch beim superl. 
vor, vgl. paXiöra fieyiörov (Xen.), die zunächststehendsten (Frankf zeit, 
nach Andr.). Damit zu vergleichen sind Verbindungen wie magis (pofius) 
malle, prius praecipere, JtXiov jiQorcpäv (Xen.), üiqoxbqov :jtQoXapßavBiv 

Vgl. Mätzner III, s. 445. 
2) Vgl. Diez III, s. 388. 


138 

(Dem.). Lessing sagt im Laok. niemand hatte mehr rechte wegen eines 
solchen geschwieres bekannter zu sein. Der eomparativ wird mit 
einer den vorzng bezeichnenden präp. verbunden, die eigentlich nnr 
neben dem positiv stehen sollte: olöoiv tj xvQavvlq jiqo iXevd'BQlrjq rjv 
döJtaöToreQOV (Herodot), alQSTwteQOP tlvac xov xaXbv &dvcctop avtl 
roZ alcxQov ßlov (Xen.), prae illo pleniiis (Gellius), ante aiios immanior 
omnis (Virg.), vgl. Ziem. Comp. 95 flf. Wolfram v. Esehenbach stellt die 
beiden mögliehen Wendungen vollständig neben einander: diu prüevet 
manegen für in baz dan des meeres herren Parziväl {in bezieht sich auf 
Parzival). 

Die weiteste Verbreitung hat der auf contamination beruhende 
pleonasmus auf dem gebiete der negation. Aus unserer jetzigen 
Schriftsprache ist er ziemlich ausgemerzt, aber im vorigen Jahrhundert 
ist er noch sehr gewöhnlich. So steht nach ausdrücken, die einen 
negativen sinn haben, im abhängigen durch dass eingeleiteten satze 
eine uns jetzt unlogisch erscheinende negation, vgl. es kann nicht fehlen^ 
dass die meisten stimmen itzt nicht gegen mich sein sollten (Le.); wird 
das hindern köyinen, dass man sie nicht schlachtet ? (Schi.); der Verfasser 
verbittet sich, dass man seine schrift nicht zu den elenden Spöttereien 
rechne (Claudius); dir abzuraten, dass du sie nicht brächtest (Schi.); nun 
will ich zwar nicht läugnen, dass an diesen biichern nicht manches zu 
verbessern sein sollte (Le.); ich zweifle nicht, dass sie sich nicht beide 
über diese kränkung hinwegsetzen werden (Le.); der lord Shaftesbury er- 
klärt sich dawider, dass man nicht zu viel Wahrheit sagen solle (Über- 
setzung des Tom Jones 1771). Entsprechend heisst es schon im mhd. 
dar umbe liez er daz, daz er niht wolle minnen (Kudrun); ich wil des 
haben rät, daz der küene Hartmuoi U mir niht enstät (ib,); weitere bei- 
spiele bringt Dittmar, Zeitschr. f. d. Philol., ergänzungsband 299 ff. 
Notwendig ist die negation schon im mhd. nicht. Ist der regierende 
satz negieii;, so pflegt im mhd. der abhängige satz nicht durch eine 
conjunction eingeleitet zu werden; man braucht statt dessen bloss die 
negation en mit dem conjunctiv, vgl. min vrouwe sol iuch niht erlän irn 
saget iuwer mmre. Die entstehung dieser constructionen werden wir 
uns so zu denken haben, dass der gedanke des abhängigen satzes 
sich einerseits als abhängig von dem regierenden satze, anderseits als 
etwas selbständiges in das bewusstsein drängte. Wenn es z.b. in der 
Kudrun heisst daz wil ich widerraten, daz ir mich mit besemen gesträfet 
nimmer mir, so ist das eigentlich eine mischung aus den beiden ge- 
danken „davon will ich abraten, dass ihr mich jemals wider straft" 
und „straft mich niemals wider''. Diese erklärung ist allerdings nur 
auf diejenigen fälle anwendbar, in denen der regierende satz positiv 
ist. Erst nachdem die Verwendung der negation usuell geworden ist, 


139 

kann sie anf die fälle mit negativem regierenden satze übertragen sein. 
Es ist möglich, ja wahrscheinlich, dass die Setzung der negation tra- 
dition aus einer zeit her ist, in welcher eine eigentliche grammatische 
sabordination des einen satzes unter den andern überhaupt noch nicht 
stattfand. Immerhin haben wir es auch dann mit einer contamination 
zu tun. Verwandte erscheinungen liegen im lat, in den romanischen 
sprachen und anderwärts vor. 

In entsprechender weise erscheint die negation auch neben dem 
inf., wo die herleitnng ans ursprünglicher Selbständigkeit nicht möglich 
ist; vgl. freilich hüten wir uns sie nicht an den gnädigen herm zu er- 
innern (Goe.); ich habe verschworen nicht mehr an sie zu denken (6oe.); 
ich habe es verredet, in meiner gegenwärtigen läge niemals wieder eine 
nacht in Braunschweig zu bleiben (Le.); der habe ihm verboten, den ring 
weder der königin zu geben, noch dem grafen zurück zu senden (Le.). 
Auch nach einem an sich nicht negativen, aber negierten ausdrucke 
lässt sich negation nachweisen, vgL vnd gentzlich kein hoffnung mehr 
handt zu samb zu kümmert nimmer meh (H. Sachs). 

In verschiedenen sprachen findet sich eine pleonastisehe negation 
nach ohne (vgl. Mätzner, franz. § 268), z. b. franz. sans nul egard pour nos 
scrupules (Biranger); span. sin fuerza ninguna (Calderon); it. senza dir 
niente, span. sin hablar palabra ninguna] franz. sans que son visage n'ex- 
primät la peine (Saint-Pierre); span. sin que nadie le viese (Cervantes); 
nhd. ohne dass wir bei seiner beurteilung weder auf irgend ein gesetz 
noch auf irgend einen zweck rücksicht nehmen (Schi.); ohne dass ich 
weder von dem vorhergehenden noch von dem nachfolgenden irgend unter- 
richtet gewesen wäre (Goe.); ein anderes beispiel bei Andr. s. 145. 
Ebenso nach ausser: ihr findet Widersprüche überall, ausser da nicht, 
wo sie wirklich sind (Le., vgl. Andr. a. a. o.). Nach als, welches auf 
ein vorhergehendes nichts bezogen ist, vgl. es mangelt ihm nichts, als 
dass es nicht gekläret ist (Schoch); es fehlt nichts als dass du nicht da 
bist (Goe.). 

Wörtern, die an sieh keine absolut negative bedeutung haben, 
sondern nur durch litotes wird noch ein eigentlich negatives wort 
hinzugefügt. So kann im mhd. neben seilen ein nie stehen, z. b. ein 
wip, der ich selten nie uergaz (Minnesinger); daz man nie deheineti also 
riehen s6 senftes wiüen selten vant (Biterolf): ebenso ist selten nieman 
== selten, d. h. niemals jemand. Im nhd. findet sich ein negatives wort 
zuweilen nach kaum: nichts mag kaum sein so ungelegen = kaum kann 
etwas so schwierig sein (Fischart, vgl. DWb 5, 355); nach schwerlich : 
schwerlich niemals (Le., vgl. Sanders 2 b, 1048 b). 


Cap. IX. 

Urschöpfung. 

Wir haben es ans bisher zum gesetz gemacht uns unsere an- 
schaunngen über die sprachliehen Vorgänge ans solchen beobachtungen 
zu bilden, die wir an der historisch deutlich zu verfolgenden entwicke- 
lang machen konnten, und erst von diesen aus rttckschlüsse auf die 
Urgeschichte der spräche zu machen. Wir müssen versuchen diesem 
principe auch bei der beurteilung der urschöpfung möglichst treu zn 
bleiben, wenn sich hier auch grössere Schwierigkeiten in den weg 
stellen. Sie unmittelbar zu beobachten bietet sich uns nicht leicht die 
gelegenheit. Denn solche singulären fälle, von denen uns wol einmal 
berichtet wird, wie etwa die willkürliche erfindung des wortes gas 
können nicht gerade viel aufschluss über die natürliche spra<;hent- 
wickelung geben. So schwebt denn über dem vorgange ein gewisses 
mystisches dunkel, und es tauchen immer wider ansichten auf, die ihn 
auf ein eigentümliches vermögen der ursprünglichen menschheit zurück- 
führen, welches jetzt verloren gegangen sein soll. Solche anschauungen 
müssen entschieden zurückgewiesen werden. Auch in der gegenwärtig 
bestehenden leiblichen und geistigen natur des menschen müssen alle 
bedingungen liegen, die zu primitiver sprachschöpfung erforderlich sind. 
Ja, wenn die geistigen anlagen sich zu höherer Vollkommenheit ent- 
wickelt haben, so werden wir daraus sogar die consequenz ziehen 
müssen, dass auch diese bedingungen jetzt in noch vollkommenerer 
weise vorhanden sind als zur zeit der ersten anfange menschlicher 
spräche. Wenn wir im allgemeinen keinen neuen sprachstoflf mehr 
schaffen, so liegt das einfach daran, dass das bedürfniss dazu nicht 
mehr vorhanden ist. Es kann kaum eine Vorstellung oder empfindung 
in uns auftauchen, von welcher nicht eine associationsleituug zu dem 
überlieferten Sprachstoff hinüberführte. Dies massenhafte material, anf 
das wir einmal eingeübt sind, lässt nichts neues neben sich aufkommen, 
zumal da es sich durch mannigfache zusammenfttgung und durch be- 
deutungsübertragung bequem erweitern lässt. Würde man aber das 


141 

experiment machen eine anzahl von kindern ohne bekanntschafi; mit 
irgend einer spräche aufwachsen zu lassen, sie sorgfältig abznschliessen 
und nur auf den verkehr unter sich einzuschränken, so brauchen wir 
kaum zweifelhaft zu sein, was der erfolg sein würde: sie würäen sich, 
indem sie heranwüchsen, eine eigene spräche aus selbstgeschaffenen 
Wörtern bilden. 

Etwas einem solchen experimente wenigstens annähernd gleich- 
kommendes soll wirklich vorliegen. Bekannt ist durch Max Müllers 
Vorlesungen der bericht des Robert Moffat über die sprachlichen zu- 
stände in vereinzelten wüstendörfem Südafrikas. Danach sollen sich 
dort die kinder während häufiger langer abwesenheit ihrer eitern selbst 
eine spräche erfinden. Doch möchte ich ohne die mitteilung genauerer 
beobachtungen nicht zu viel wert auf solche angaben legen. 

Aber wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Wir sind, glaube 
ich, zu der behauptung berechtigt, dass selbst in den sprachen 
der europäischen culturvölker die Schöpfung neuen Stoffes 
niemals ganz aufgehört hat. Nach allen fortschritten, welche die 
indogermanische etymologie in den letzten decennien gemacht hat, 
bleibt immer noch ein sehr beträchtlicher rest von Wörtern, die weder 
auf wurzeln der grundsprache zurückgeführt, noch als entlehnung aus 
fremden sprachen nachgewiesen werden können. Ja, wenn wir den 
Wortvorrat der lebenden deutschen mundarten durchmustern, so finden 
wir darin sehr vieles, was wir ausser stände sind zu dem mittelhoch- 
deutschen wortvorrate in beziehung zu setzen. Glewiss müssen wir die 
Ursache dieses umstandes zu einem grossen teile darin sehen, dass 
unsere Überlieferung vielfach lückenhaft, unsere wissenschaftlichen com- 
binationen noch unvollkommen sind. Immerhin aber bleibt eine be- 
trächtliche anzahl von fällen, in denen schwer abzusehen ist, wie ver- 
mittelst der lautentwickelung und analogiebildung eine anknüpfung an 
älteren sprachstoff je möglich werden soll. Wir werden daher den 
jüngeren und jüngsten Sprachperioden nicht bloss die fähigkeit zur 
urschöpfung zuzuschreiben haben, sondern auch die wirkliche aus- 
tibung dieser fähigkeit. Wir dürfen auch hier die ansieht nicht gelten 
lassen, als seien in der entwickelung der spräche zwei perioden zu 
unterscheiden, die eine, in welcher der ursprüngliche sprachstoff, die 
sogenannten wurzeln, geschaffen würde, und eine zweite, in welcher 
man sich begnügt hätte aus dem vorhandenen Stoffe combinationen zu 
gestalten. In der entwickelung der Volkssprache gibt es "keinen Zeit- 
punkt, in welchem die urschöpfung abgeschlossen wäre. Anderseits 
haben sich gewiss kurz nach den ersten urSchöpfungen die selben 
arten der weiterentwickelung des ursprünglich geschaffenen geltend 
gemaeht, wie wir sie in den späteren perioden beobachtet haben. Es 


142 

besteht in dieser hinsieht zwischen den verschiedenen entwickelungs- 
phasen kein unterschied der art, sondern nnr des grades. Es ändert 
sich nur das verhältniss der urschöpfung zu der traditionellen fort- 
Pflanzung des geschaffenen und zu den anderweitigen mittein der 
Sprachbereicherung, der bedeutungserweiterung durch apperception, der 
combination einfacher elemente, der analogiebildung etc. 

Das wesen der urschöpfung besteht, wie wir schon gesehen haben, 
darin, dass eine lautgruppe in beziehung zu einer vorstellungsgruppe 
gesetzt wird) welche dann ihre bedeutnng ausmacht, und zwar ohne 
vermittelung einer verwandten vorstellungsgruppe, die schon mit der 
lautgruppe verknüpft ist. Eine solche urschöpfung ist zunächst ein 
werk des moments, welches untergehen kann, ohne bleibende sparen 
zu hinterlassen. Damit dadurch eine wirkliche spräche entstehe, müssen 
derartige hervorbringungen auch eine bleibende psychische nachwirkung 
hinterlassen, in folge derer späterhin der laut vermittelst der beden- 
tung, die bedeutung vermittelst des lautes gedächtnissmässig reprodn- 
ciert werden kann. Das wort muss femer auch von andern individaen 
verstanden und dann gleichfalls reproduciert werden. 

Die erfahrungen, die wir über die entstehung neuer Wörter durch 
analogiebildung und die erfassung neuer anschauungen mit hülfe des 
vorhandenen wortvorrats gemacht haben, dürfen wir auch für die be- 
urteilung der urschöpfung verwerten. Wir haben bisher immer ge- 
sehen, dass die benennung des neuen durch eine apperception mit 
dem schon benannten erfolgt, sei es, dass man einfach die schon vor- 
handene benennung auf das neue überträgt, oder dass man aus der- 
selben ein compositum oder eine ableitung bildet; d. h. also: es be- 
steht ein causalzusammenhang zwischen dem neubenannten objeete 
und seiner benennung, vermittelt durch ein früher benanntes objeet 
Dieser causalzusammenhang ist zunächst notwendig, damit die be- 
nennung bei dem, der sie zuerst anwendet, hervorgerufen wird und 
damit sie von andern verstanden werden kann. Erst durch mehrfache 
widerholung wird eine solche causalbeziehung überflüssig, indem die 
bloss äusserliche association allmählig fest genug geknüpft wird. Die 
folgerung, dass auch die urschöpfung, um überhaupt geschaffen und 
verstanden zu werden, eines solchen causalzusammenhanges bedarf, ist 
gewiss nicht abzuweisen. Da es nun ein vermittelndes glied nicht 
gibt, so muss man einen directen Zusammenhang zwischen objeet und 
benennung Erwarten. Ausserdem aber wird das verständniss ursprüng- 
lich ermöglicht gerade so wie bei der anknüpfung neuen vorstellungs- 
inhaltes an ein schon bestehendes wort mit hülfe der durch die Situa- 
tion gegebenen anschauung und der gebärdensprache. 

Wir haben gesehen, dass in der regel nichts in der spräche 


143 

nsaell werden kann, das nicht spontan von verschiedenen individuen 
geschaffen wird. Auch gehört dazu, dass es von dem gleichen indi- 
vidnum zu verschiedenen zeiten spontan, ohne mitwirkung des gedächt- 
nisses geschaffen werden kann. Wenn aber der gleiche lantcomplex 
sieh zu verschiedenen malen und bei verschiedenen individuen an die 
gleiche bedentung anschUesst, so muss dieser anschluss ttberall durch 
eine gleichmässige Ursache veranlasst sein, die ihren sitz in der natur 
des lautes und der bedeutung hat, nicht in einem zufällig begleitenden 
umstände. Es kann zugegeben werden, dass gelegentlich auch eine 
von einem einzelnen einmal geschaffene Verbindung allgemeine Ver- 
breitung findet. Aber die möglichkeit dieses Vorganges ist in bestimmte 
grenzen eingeschlossen. Ist etwa derjenige, welcher zuerst eine be- 
zeiehnung für ein object findet, der entdecker, erfinder des betreffenden 
objects, so dass alle übrigen von ihm darüber unterrichtet werden, so 
ist damit auch der von ihm gefundenen bezeichnung eine autorität ver- 
liehen. Bei den wenigsten objecten ist ein solches verhältniss denkbar. 
In der regel kann es nur die angemessenheit der bezeichnung sein, 
was ihr allgemeinen eingang verschafft, d. h. also wider die innere be- 
ziehung zwischen laut und bedentung, die, wo eine vermittelung fehlt, 
auf nichts anderem beruhen kann als auf dem sinnlichen eindmck des 
lautes auf den hörenden und auf der befriedigung, welche die zur er- 
zengung des lautes erforderliehe tätigkeit der motorischen nerven dem 
sprechenden gewährt. 

Fassen wir nun die Wörter, bei denen ein begründeter verdacht 
vorliegt, dass sie verhältnissmässig junge neuschöpfungen sind, näher 
ins äuge, so zeigt sich, dass es vorzugsweise solche sind, welche ver- 
schiedene arten von geräuschen und bewegungen bezeichnen. Man 
vgl. z. b. nhd. bamheln, hammein, bummeln, himmeln^ balzen (nd. schal- 
lend auffallen), bauten (= hatten — bellen), helfen^ belfern, blaffen, 
blarren, blerren, blatten, platzen, pletten, bletschen, pletschen, plätschern^ 
planschen, panschen, plätschern, blödem, plaudern, bhibbem, plempern, 
blauten, böller, bollern, bullern, ballern, holdem, poltern, bompern, bum- 
pem, buff, buffen, puff, puffen^ burren, htd^eln, puppein, puppern, dudeln, 
fimmeln, fummein, flattern, flinder^ flindem, flinäerling, flandem, flink, 
flinken, flinkem, flirren, flarren, flarten, flartschen, flismen, flispem, flitter, 
flodern, flunkern^ flüstern, gackeln, gackerfi, gatUsche, gautschen, glucken, 
glucksen, grackeln^ hampeln^ humpen, humpeln, hätscheln, holpern, hurren, 
hussen, kabbeln, kichern, kirren, kischen (zischen), klahastern, klachel 
oder klachel (bairisch = glockenschwengel oder anderes baumelndes 
ding), klatschen, Metten, kieschen (= klatschen), klimpern, klirren, 
klunker, knabbeln, knabbern, knacken, knacks, knarpeln, knarren, knarten, 
knarschen^ knirren, knirschen, knurren, knascheln, knaspeln, knastern, 


144 

knisten^ knistern^ kncLsteri^-hart)^ knatschen, kneischen^ knitschen, knutschen^ 
knatlem, kmiiem, knuffen, kauf fein, knüllen, knuppern, knuspern^ kollern^ 
kuUem, krabbeln, kribbeln, krakeln, krakeln, kreischen, kuckem, {cucurire), 
lodern, lullen, mucken, mucksen, munkeln, nutschen, pfuschen, pimpeln^ 
pimpelig^ pinken^ pladdern, plumpen, plumpsen, prassen, prusten, quabbeln, 
quabbelig, quackeln, quaken, quäken, quiken^ qtätschen, rappeln, rapsen, 
rascheln, rasseln, räuspern, rempeln, rummel, rumpeln, rüppeln, schlabbern, 
schlampen, schlampampen, schlockem, schlottern, schlürfen, schmettern, 
schnack, schnacken, schrill, schummeln, schwabein, schwappen, stöhnen, 
stolpern, sirullen, swnmen, surren, tatschen, tatschen, tätscheln, ticken, 
torkeln, turzeln, (hessisch »» torkeln), tuten, wabbeln, wibbeln, watscheln, 
wimmeln, wimmern, wudeln, ziepen, zirpen, zischen, zischeln, zullen 
und zulpen {saugen), züsseln (schütteln), zwitschern. Einige Wörter 
bezeichnen zugleich schall und zerplatzen wie klack, klaff; andere 
schall und Schmutzfleck wie klacks, klecks, klatsch. Ich habe mich 
absichtlich auf solche Wörter eingeschränkt, die Mhestens im spät- 
mittelhochdeutschen nachweisbar sind. Man könnte ebenso eine reich- 
liche liste derartige!* Wörter aus den älteren germanischen dialecten 
zusammentragen, die nichts vergleichbares in den ttbrigen indoger- 
manischen sprachen haben, desgleichen aus dem griechischen und 
lateinischen. Man wird sich dem Schlüsse nicht entziehen können, dass, 
wenigstens so weit unsere beobachtungen zurückreichen, hier das eigent- 
liche gebiet der sprachlichen urschöpfung liegt. 

Dass wir bei dieser art von Wörtern eine innere beziehung von 
klang und bedeutung empfinden, ist allerdings im einzelnen falle kein 
beweis dafür, dass sie wirklich einer solchen beziehung ihren Ursprung 
verdanken. Denn es gibt nachweisslich eine anzahl von Wörtern, die 
erst durch secundäre entwickelung eine solche lautgestaltnng oder eine 
solche bedeutung erlangt haben, dass sie den eindruck onomato- 
poetischer bildungen machen. Aber ein überblick der Wörter in ihrer 
gesammtheit schliesst doch die annähme durchgehenden zufalls aus. 
Es fällt dabei noch ein umstand schwer ins gewicht, nämlich die 
häufigkeit ähnlicher, namentlich nur durch den vokal verschiedener 
Wörter von gleicher oder sehr ähnlicher bedeutung die doch nicht 
lautgesetzlich aus einer grundform abgeleitet werden können. So 
finden sich auch vielfach in verschiedenen sprachen ähnlich klingende 
Wörter dieser art, die doch nach den lautgesetzen nicht verwandt sein 
können. 

Nur aus dem onomatopoetischen triebe erklären sich auch gevrisse 
Umgestaltungen schon fertiger Wörter. Eines der charakteris- 
tischsten beispiele ist mhd. gouch = nhd. kukuk mit den zwischen- 
formen guckauch, kuckuch und ähnlichen. Auch diese bildungen be- 


145 

zeichnen zum teil geränsche, zum teil unruhige bewegungen. Der* 
gleichen Umwandlungen sind von dem lautwandel gänzlich zu trenneQ 
nnd als partielle neuschöpfungen zu betrachten. Auch die weiter 
oben angeführten Wörter können nicht als totale neuschöpfungen be- 
trachtet werden, wie noch später zu erörtern sein wird. • Absolute neu- 
schöpAmgen sind eigentlich nur die interjectionen. 

Es wird hier der ort sein etwas näher auf das wesen dieser 
Wortart einzugehen. Uns muss vor allem die frage interessieren, ob 
man in ihnen mit recht die primitivsten äusserungen der sprechtätig- 
keit zu sehen hat, wie von verschiedenen Seiten angenommen, von 
andern bestritten ist. Wir verstehen unter interjectionen unwillkürliche 
reflexlaute, die durch 'den aflfect hervorgetrieben werden, auch ohne 
jede absieht der mitteilung. Man darf aber darum nicht die Vor- 
stellung damit verknüpfen, als wären sie wirkliche naturlaute, die mit 
arsprttnglicher notwendigkeit aus dem affecte entsprängen wie lachen 
und weinen. Vielmehr sind die interjectionen, deren wir uns gewöhn- 
lich bedienen, gerade so gut durch iie tradition erlernt wie die übrigen 
demente der spräche. Nur vermöge der association werden sie zu 
reflexbewegungen, weshalb denn auch die ausdrücke für die gleiche 
empfindung in verschiedenen sprachen und mundarten und auch bei den 
verschiedenen Individuen der gleichen mundart je nach der gewöhnung 
sehr verschieden sein können. Es ist ja auch eine in den verschie- 
densten sprachen zu machende beobachtung, dass interjectionen aus 
andern Wörtern und wortgruppen entstehen, vgl. z. b. ach gott, alle 
Wetter, goti sei dank, leider. Durch lautveränderungen kann der Ur- 
sprung so sehr verdunkelt werden, dass er selbst bei angestellter 
reflexion nicht mehr zu erkennen ist, vgl. herrje (Jierr jesus\ jemine 
{Jesu domine). Wir sind daher auch bei den in keiner weise analy- 
sierbaren und scheinbar ganz einfachen interjectionen nicht von vorn- 
herein sicher, ob sie nicht auf ähnliche weise entstanden sind. Aber 
anderseits tritt uns gerade unter den erst spät auftauchenden inter- 
jectionen, bei denen eine derartige Verdunkelung der etymologie nicht 
wol anzunehmen ist, eine beträchtliche anzahl entgegen, die entweder 
za gar keinen andern Wörtern in beziehung gesetzt werden können 
oder nur zu der eben besprochenen kategorie, von denen es daher 
mindestens in hohem grade wahrscheinlich ist, dass sie unmittelbar 
durch reflexbewegung entsprungen sind. Die meisten unter diesen 
nnd die individuellsten in bezug auf die lautform und den empfindungs- 
ton sind reactionen gegen plötzliche erregungen des gehörs- oder ge- 
gichtssinnes. So müssen wir wol wenigstens ihr ursprüngliches wesen 
auffassen. Sie werden dann auch bei der erinnerung und erzählung 
ier solche plötzliche erregung wirkenden Vorgänge gebraucht. Ich 

p*aul, Principien. n. Auflage. 10 


146 

meine Wörter wie nhd. paff^ patsch^ hardautZy perdauz, bauz, blauz, blaf, 
buff, puff, bums, futsch, hurre, husch, hussa, klacks, klaps, kladderaäatsch, 
knacks, plump, plumps, ratsch, rutsch, schrumm, schwapp, tvufip etc. 

Manche dieser Wörter sind aaeh substantiva oder haben verba 
zur Seite, nnd es ist dann znm teil schwer zu sa^n, was eigentlich 
das ursprüngliche ist. Es ist das aber auch meht von belang, sobald 
die Wörter als reactionen gegen die siiuieserregung anerkannt sind. 
Der onomatopoetische Charakter solcher Wörter tritt noch stärker her- 
vor bei der häufig angewendeten Verdoppelung und Verdreifachung, 
ganz besonders wenn dabei die mehrfach gesetzten demente dnrcli 
ablaut differenziert werden, vgl. fickfack, gickgack, kliffklaff, klippklapp, 
klitschklatsch, klimperklamper , kribbeskrabbes , krimskrams, mickmack, 
pinkepanke, ripsraps, ritschratsch, Schnickschnack, schnippschnapp (schnür)^ 
stripstrap (struU), schwippschwapp, ticktack, lirumlarum, bimbambum, piff- 
paffpuff; engl, criddle-craddle, widdle-waddle; franz. clic-clac, cric-crac, 
drelin-drelon. Diese Wörter werden zum teil auch als substantiva ge- 
braucht, und es werden direct substantiva so gebildet, vgl. krtfigeh 
krangel, tingeltangel\ auch werden weitere ableitungen aus solchen bil- 
düngen gemacht wie fickfacken, fickfacker, wlbbelwabbelig, üebrigens 
wird dabei mehrfach alter sprachstoff benutzt, der sonst gar keinen 
interjectionellen Charakter hat, vgl. klingklang, Singsang, hickhack, misch- 
masch, Wirrwarr, Zickzack. Vgl. auch onomatopoetische ausgestaltungen 
wie klinglingling (vielleicht aus klinklingkling entstanden), hoppsasa. 
Aus dem selben triebe entsprungen, aber in den grenzen der normalen 
spräche sich haltend sind Verbindungen mehrerer nur durch den voka- 
lismus verschiedener schallwörter, wie flimmen und flammen, flimmern 
und flammem, kickezen und kackezen, klippen und klappen, klippem und 
klappern, klistem und klastem, klifschem und klatschem, knistern und 
knastern, knittern und knattern, krimmen und krammen, kritzen und 
kratzen, gekritz und gekratz, rischeln und rascheln (alle durch beispiele 
aus schriftsteilem belegt). 

Onomatopoetisch sind femer die meisten Wörter der ammen- 
sprache, und auch in ihnen spielt die reduplication eine grosse rolle, 
vgl. wauwau, putput, papa, mama etc. Diese spräche ist nicht eine er- 
findung der kinder. Sie wird ihnen so gut wie jede andere spräche 
überliefert. Ihr wert besteht darini^, dass sie einem leicht erkenn- 
baren pädagogischen zwecke dient. Die innere beziehung des laates 
zur bedeutung, welche in ihr noch besteht und jedenfalls immer neu 
geschaffen wird, erleichtert die Verknüpfung beider sehr erheblich. 
Das geht sogar so weit, dass auch die Wörter der ausgebildeten spräche 
teilweise zuerst in einer composition mit Wörtern der ammensprache 
erlernt werden, vgl. wauwauhund, bäschaf, puthuhn und dergl. 


147 

Zvnschen den ursehöpfungen, durch welche eine schon aas- 
gebildete spräche bereichert wird, und denjenigen, mit welchen die 
sprachsehöpfung überhaupt begonnen hat, ist noch ein bedeutender 
nnterschied. Jene fügen sich, soweit sie nicht reine interjectionen sind, 
m das schon bestehende formensystem ein. Sie erscheinen mit den 
zu der zeit, wo sie geschaffen werden, üblichen ableitungs- und flexions- 
silben. In poltern z. b., wenn es hierher gehört, ist nur polt- durch 
nrschöpfung, -em nach analogie gebildet. Wir können daher in einem 
solchen werte eigentlich nur eine partielle urschöpfung anerkennen. 
Wir sehen übrigens aus diesem beispiele, dass das, was man gewöhn- 
lieh als Wurzel aus einem werte abstrahiert, durchaus nicht immer 
einmal als selbständiges dement existiert zu haben braucht, auch 
nicht in einer älteren lautgestalt, sondern sogleich bei seinem entstehen 
mit einem oder mehreren Suffixen versehen sein kann und versehen 
sein muss, sobald eS der dermalige sprachzustand erfordert. 

Nicht bloss die suffixe werden nach analogie des vorhandenen 
Sprachmaterials geschaffen, sondern auch die function als subst, verb. 
etc., und es wird also auch damit etwas in die neuen Wörter hinein- 
getragen, was nicht auf urschöpfung beruht. 

Bei den ersten Schöpfungen, mit denen die spräche be- 
gonnen hat, kann natürlich von einem solchen mitwirken der ana- 
logie keine rede sein. An ihnen kann noch keine spur einer gram- 
matischen kategorie haften. Sie entsprechen ganzen anschauungen 
Sie sind primitive Sätze, von denen wir uns noch eine Vorstellung 
machen können auf grundlage der s. 104 besprochenen aus einem werte 
bestehenden sätze wie diebe^ feuer, Sie sind also auch wie diese eigent- 
lich prädicate, zu denen ein sinnlicher eindruck das subj. bildet. Da- 
mit der mensch zum aussprechen eines solchen satzes gelangt, muss 
aus der falle dessen, was gleichzeitig in seine Wahrnehmung fällt, 
etwas bestimmtes ausgesondert werden. Da nun diese aussonderung 
noch nicht durch eine logische Operation bewerkstelligt werden kann, 
so muss sie durch die aussenwelt veranlasst werden. Es muss etwas 
vorgehen, wodurch die aufinerksamkeit nach einer bestimmten richtung 
hin fixiert wird. Nicht die ruhende und schweigende weit, sondern 
die bewegte und tönende ist es, deren sich der mensch zuerst bewusst 
wird, und fQr die er die ersten sprachlaute schafft. An stelle einer 
bewegung der Umgebung kann auch eine bewegung des eigenen leibes 
dienen , wodurch die äugen plötzlich auf einen unerwarteten anblick 
gelenkt werden. Der eindruck wird natürlich um so intensiver sein, 
wenn dadurch freude oder schmerz, begierde oder furcht erregt werden. 
Es ist also das die aufinerksamkeit erregende object zugleich mit dem, 
was an dem objecto vorgeht, was durch den sprachlaut bezeichnet 

10* 


148 

wird. Wir nähern uns dieser primitiven Sprechweise noch jetzt in aus- 
rufungen der Überraschung und im affect. Wir können also von den 
ältesten Wörtern sagen, dass sie den unvollkommenen ausdruck einer 
anschauung, wie sie später durch einen satz widergegeben wird, mit 
interjectionellem Charakter verbinden. 

Noch in anderer hinsieht muss es sich mit den ersten urschöpf- 
ungen anders verhalten als mit den später nachfolgenden. Bei den 
letzteren kann von anfang an die absieht der mitteilung mitwirken 
bei den ersteren nicht. Zu absichtlicher austibung einer tätigkeit be- 
hufs eines bestimmten Zweckes gelangen wir erst, nachdem wir die 
erfahrung gemacht haben, dass dieser zweck dadurch erreichbar ist, 
und diese erfahrung machen wir, indem wir sehen, dass die unabsicht- 
lich oder in anderer absieht angestellte tätigkeit den betreffenden erfolg 
gehabt hat. Vor Schöpfung der spräche weiss der mensch nichts da- 
von, dass er einem andern mit httlfe der spraehlaute etwas mitteilen 
kann. Dieser grund allein würde genügen um jede annähme einer 
absichtlichen erfindung zurückzuweisen. Wir müssen in bezug auf die 
ersten sprachlaute durchaus bei Steinthals ^) ansieht stehen bleiben, 
dass sie nichts anderes sind als reflexbewegungen. Sie befriedigen 
als solche lediglich ein bedürfniss des einzelnen individuums ohne 
rücksicht auf sein zusammenleben mit andern. Sobald aber ein sol- 
cher reflexlaut von andern Individuen percipiert wird zugleich mit der 
sinnlichen Wahrnehmung, die ihn hervorgerufen hat, so kann beides in 
beziehung zu einander gesetzt werden. Dass ein anderes Individuum 
diese beziehung empfindet, kann auf dem wirklichen causalzusammen- 
hange beruhen, der zwischen der Wahrnehmung und dem laute durch 
vermittelung der nervenerregung besteht. Sind die verschiedenen Indi- 
viduen im wesentlichen gleich organisiert, so wird der gleiche sinn- 
liche eindruck in ihnen ungefölhr den gleichen reflexlaut erzeugen, und 
sie müssen sich, wenn sie den selben von andern hören, sympathe- 
tisch berührt fühlen. Gewiss aber ist die zahl der so erzeugten reflex- 
laute eine verhältnissmässig geringe gewesen. Erheblich von einander 
abweichende anschauungen werden den gleichen reflexlaut hervorge- 
rufen haben. Es ist daher auch zunächst noch durchaus nicht daran 
zu denken, dass ein solcher laut, auch wenn er widerholt von ver- 
schiedenen Individuen in der gleichen weise hervorgebracht wäre, das 
erinnerungsbild einer bestimmten anschauung wach rufen könnte. Alles, 
was er vermag, besteht nur darin, dass er die aufmerksamkeit erregt 


Vgl. seinen 'Ursprung der spräche' und seine 'Einleitung in die Psycho- 
logie und Sprachwissenschaft'. Ich gehe Über alles, was er meiner meinung nach 
Überzeugend dargetan hat, kurz hinweg. 


149 

Specielleren inhalt gibt erst die anschauung selbst. Dass die aufmerk- 
samkeit der übrigen individuen sich auf denselben gegenständ lenkt, 
welcher in dem einen oder in mehreren den reflexlaut hervorgerufen 
hat, kann zum teil durch die begleitenden gebärden veranlasst sein. 
Wir werden uns überhaupt zu denken haben, dass die lautsp räche 
sich in ihren anfangen an der band der gebärdensprache 
entwickelt hat, dass ihr die Unterstützung durch dieselbe erst nach 
und nach entbehrlich geworden ist, je weiter sie sich vervoUkomment 
hat. Die gebärdensprache muss natürlich gleichfalls von unwillkür- 
lichen reflexbewegungen ihren ausgang genommen haben. . Bei ihr ist 
dieser Ursprung noch viel leichter erkennbar, weil wir sie auf einer 
primitiveren stufe der entwickelung beobachten können. Ist es einem 
individuum widerholt gelungen durch eine reflexbewegung die auf- 
merksamkeit zu erregen, mag sie nun in den äugen, den gesichts- 
zügen, den bänden oder in den sprechorganen ihr endziel finden, so 
wird es allmählig dazu geführt, dass es mit hülfe der betreffenden be- 
wegung auch absichtlich die aufmerksamkeit zu erregen sucht, sobald 
es durch das bedürfniss dazu gedrängt wird. 

Ist einmal die möglichkeit der absichtlichen mitteilung erkannt, 
so hindert nichts mehr, dass zu den durch unwillkürliche reflex- 
bewegung erzeugten lauten auch solche hinzutreten, zu deren erzeugung 
von anfang an die absieht der mitteilung mitgewirkt hat. Wir müssen 
aber betonen die absieht der mitteilung, nicht etwa die absieht ein 
bleibendes Werkzeug der mitteilung zu schaffen. Eine solche absieht 
bleibt wie überall in der natürlichen sprachentwickelung, so auch bei 
der urschöpfung ausgeschlossen. Es ist das bedürfniss des äugen- 
blicks, welches eine neue lautgruppe hervorbringt. Ob aber eine solche 
lautgruppe mit der ersten hervorbringung zu gründe geht, oder ob sie 
eine bleibende Wirkung hinterlässt, das hängt von ihrer beschaflfenheit 
und von vielen zufälligen umständen ab. 

Noch von einer Schwierigkeit müssen wir sprechen, die erst über- 
wunden werden muss, bevor auch nur die ersten anfange einer spräche 
sich herausbilden können, einer Schwierigkeit, die, soviel ich sehe, bis 
jetzt noch nirgends gewürdigt ist. Der urmensch, der noch nicht ge- 
sprochen hat, kann so wenig wie ein neugeborenes kind irgend einen 
sprachlaut willkürlich erzeugen. Auch er muss das erst lernen, auch 
bei ihm kann sich erst allmählig durch mannigfache tätigkeit der 
Sprechorgane ein mit einem lautbilde associiertes bewegungsgeflihl 
herausbilden, welches dann einen regulator für sein sprechen abgeben 
kann. Man darf sich daher nicht einbilden, dass eine lautgruppe, wie 
sie einmal von einem individuum hervorgebracht wurde, nun sofort 
von den andern hätte nachgeahmt werden können. Nicht einmal das 


tU 


150 

selbe individunm konnte sie absichtlich widerholen. Die sache liegt 
für den Urmenschen noch viel schwieriger als für ein kind nnserer 
zeit. Das letztere ist in der regel von einer anzahl von menschen um- 
geben, bei denen sich schon wesentlich übereinstimmende bewegungs- 
gefühle ausgebildet haben. Es hört daher aus' der menge der mög- 
lichen laute eine bestimmt abgegrenzte anzahl immer wider von neuem. 
Damit ist von vornherein eine bestimmte richtnng gegeben, nach wel- 
cher sich seine eigenen bewegungsgefühle entwickeln, der sich seine 
sprechversuche immer mehr annähern. Für den menschen vor der 
Sprachschöpfung gibt es keine norm, keine autorität. Es scheint dem- 
nach, dass das sprechen mit einem durcheinander der verschieden- 
artigsten articulationen , wie sie jetzt nirgends in einer spräche bei- 
sammen zu finden sind, begonnen haben müsse. Wie konnte aber aus 
einem solchen gewirr sich eine gleichmässigkeit des bewegungsgefühles 
herausbilden? 

Wir werden auch von dieser seite her wider zu der annähme 
gedrängt, dass gewisse lautgruppen besonders häufig nicht nur von 
dem gleichen, sondern auch von verschiedenen Individuen spontan, d. h. 
ohne mitwirkung irgend welcher oachahmung im wesentlichen gleich- 
massig erzeugt sein müssen. Nur für solcke den natürlichen bedingungen 
nach bevorzugte lautgruppen kann sich in ermangelung einer schon be- 
stehenden norm ein bewegungsgefühl herausbilden. In einer solchen 
bevorzugten läge befinden sich am ehesten die reinen reflexlaute, and 
an ihnen werden sich die ersten bewegungsgefühle entwickelt haben. 
Wir können es uns auch nicht wol anders vorstellen, als dass die 
bewegungsgefühle für die einzelnen laute sich sehr langsam eins nach 
dem andern entwickelt haben, und dass die traditionelle spräche in 
ihren anfangen sich mit einem minimum von lautzeichen begnügt haben 
wird, wenn auch daneben von den verschiedenen individuen bald dieser, 
bald jener laut gelegentlich hervorgebracht wurde. 

Aus unseren erörterungen geht hervor, dass eine längere aus- 
übung der Sprechtätigkeit vorangegangen sein muss, bis etwas ent- 
steht, was wir allenfalls eine spräche nennen können in dem sinne, 
wie wir von deutscher und französischer spräche reden, sollte es auch 
nur eine aus ein paar Wörtern bestehende spräche sein. Das, was 
wir urschöpfung genannt haben, ist an sich nicht ausreichend eine 
spräche zu schaffen. Es muss gedächtnissmässige bewahrung des ge- 
schaffenen durch die zu einer genossenschaft gehörigen individuen hin- 
zutreten. Erst, wo sprechen und verstehen auf rep^oduction 
beruht, ist spräche da. 

Betrachten wir dies als ausreichend für die anerkennung de& 
Vorhandenseins einer spräche, so müssen wir auch vielen tieren spräche) 


151 

zuschreiben. Man wird schwerlich bestreiten können, dass die lock- 
und Warnrufe derselben schon etwas traditionelles, nicht mehr etwas 
bloss spontanes sind. Sie repräsentieren ein entwickelungsstadinm, 
welches auch die menschliche spräche durchlaufen haben muss, eben 
dasjenige, welches wir zu schildern versucht haben. Damit aber die- 
jenige art von spräche entstehe, die wir jetzt bei dem ganzen menschen- 
geschlechte finden, gehört noch ein weiterer schritt dazu. Es ist ge- 
wiss von grosser bedeutung, dass die zahl der traditionellen Wörter 
nnd damit die zahl der unterschiedenen anschauungen bei dem men- 
schen weit über das mass irgend einer tiergattung hinausgewachsen 
ist, aber der eigentliche charakteristische unterschied der menschen- 
sprache von der tiersprache oder der jetzt bestehenden spräche von 
der früheren entwickelungsstufe liegt in ganz etwas anderem. In der 
zusammen fügung mehrerer Wörter zu einem satze besteht der ent- 
scheidende schritt vorwärts. Erst dadurch wird dem menschen auch 
die möglichkeit gegeben sich von der unmittelbaren anschauung los- 
zulösen und über etwas nicht gegenwärtige« zu berichten. 


Cap. X. 

Isolierung und reactlon dagegen. 

Der zusammenschlnss der sprachelemente zu grnppen muss, wie 
wir gesehen haben, von jedem individuum einer sprachgenossenschaft 
besonders vollzogen werden. Die gruppen sind also durchaus subjek- 
tiver natur. Da aber die elemente, aus denen sie sich zusammen- 
setzen, innerhalb einer bestimmten Verkehrsgemeinschaft im grossen 
und ganzen die nämlichen sind, so muss auch die gruppenbildung bei 
allen der Verkehrsgemeinschaft angehörenden individuen vermöge der 
wesentlichen Übereinstimmung ihrer psychischen Organisation eine ana- 
loge sein. Wie wir daher überhaupt nach einem gewissen durchschnitt 
das in einer bestimmten periode allgemein übliclie darstellen, so sind wir 
auch im stände für jede entwickelungsperiode einer spräche ein im 
wesentlichen allgemeingültiges System der gruppierung aufzustellen. 
Gerade nur dieses allgemeine im wesen der elemente, aus denen sich 
die gruppen zusammensetzen, begründete ist es, woran sich die wissen- 
schaftliche betrachtung halten kann, während die individuellen be- 
sonderheiten von einzelnen, in der grossen masse verschwindenden aus- 
nahmen abgesehen, sich der beobachtung entziehen. 

Vergleichen wir nun unsere abstractionen über die gruppierungen 
aus verschiedenen zeiten mit einander, so gewahren wir beträchtliche 
Verschiedenheiten, und zwar nicht bloss insofern, als eine anzahl ele- 
mente verloren gegangen, andere neu entstanden sind; sondern auch 
da, wo sich die alten elemente erhalten haben*), gruppieren sie sich 
doch anders in folge einer Veränderung, welche die lautform oder die 
bedeutung oder beides durchgemacht hat. Was sich früher fest an- 
einander schloss, hängt jetzt nur noch lose oder gar nicht mehr zu- 
sammen. Was früher keinen Zusammenhang hatte, hat sich jetzt 
zusammengefunden. Den ersteren Vorgang können wir passend als 
Isolierung bezeichnen, da auch die lockerung des Verbandes wenig- 
stens eine partielle isolierung ist. Natürlich ist auch dieser ausdmek 

*) Siehe folgende Seite! 


153 

auf dem unvermeidlichen operieren mit abstractionen basiert. Streng 
genommen dttrfte man nicht sagen, dass das früher zusammenge- 
schlossene sich isoliert habe, sondern nur, dass das in den seelen 
einer Mheren generation zusammengeschlossene sich nicht auch in 
den Seelen einer späteren generation zusammengeschlossen hat. 

Die gruppenbildung beruht auf gleichheit oder ähnlichkeit 
der lautform und der bedeutung. Diese gleichheit oder ähnlich- 
keit beruht bei weitem in den meisten fällen im letzten gründe auf 
etymologischem zusammenhange. Aber nicht der etymologische 
Zusammenhang an sich ist massgebend fttr den zusammenschluss, son- 
dern auf jeder sprachstufe immer nur, soweit er sich zur zeit in totaler 
oder partieller gleichheit von laut und bedeutung zu erkennen gibt; 
nnd umgekehrt hat jede zufällig entstandene gleichheit ganz den selben 
erfolg. Aus der verkennung dieser unläugbaren tatsache fliessen so 
viele fehler der älteren Sprachwissenschaft. 

Wir betrachten in diesem capitel zunächst die lockerung und 
auseinanderreissung der gruppen. Veranlasst wird dieselbe durch 
laut- und bedeutungswandel, zuweilen auch durch die analogie- 
bildung. Zwar wirkt die letztere, wie wir noch sehen werden, vor- 
zugsweise zur herstellung des gestörten Zusammenhanges; indem aber 
verschiedene analogieprincipe sich gegenseitig stören, kann sie auch 
die entgegengesetzte Wirkung haben. 

Dass die verschiedenen bedeutungen eines woi'tes sich mehr und 
mehr gegen einander isolieren können, haben wir schon in cap. 4 ge- 
sehen. Wii' haben femer ib. s. 82 gesehen, dass ein wort als dement 
einer festen syntaktischen Verbindung sich isolieren kann gegenüber 
seiner sonstigen verwendungsweise. Ebenso können die in cap. 5 be- 
sprochenen gruppen von werten und wortformen auseinandergerissen 
werden. 

Die etymologisch -lautlichen gruppen werden zerstört, wenn 
aus irgend welcher Ursache die bedingungen wegfallen, die den laut- 
wechsel veranlasst haben und auf grund deren er sich dann weiter 
analogisch geregelt hat. Durch das Vemersche gesetz ist im urger- 
raanischen ein durchgreifender Wechsel zwischen hartem und weichem 
reibelaut entstanden (h — g, p — b, f—f, s — z), bedingt durch die Stel- 
lung des accentes nach der ursprünglichen (indogermanischen) be- 
tonungsweise. Nachdem diese betonungsweise durch die jüngere, spe- 
cifisch germanische ersetzt war, gab es keinen ersichtlichen lautlichen 
grund mehr flir den Wechsel, derselbe musste daher als ganz Willkür- 

■ ■ 

^) Ich meine erhalten natürlich in dem uneigentlichen sinne, wie man ge- 
wöhnlich von erhaltung in der Sprachgeschichte spricht. Wie der Vorgang seinem 
eigentlichen wesen nach aufzufassen ist, habe ich genugsam dargelegt. 


154 

lieh erscheinen. Es konnte sich zwar ein allgemeines gefiihl dafür 
bilden, dass die betreifenden laute mit einander zu wechseln pflegten, 
aber man konnte sich den Sprachgebrauch nicht mehr anders aneignen, 
als indem man jede einzelne form besonders erlernte. Der lantwechsel 
hatte aufgehört ein lebendiger zu sein, er war erstarrt, tot. Zweitens 
kann ein jüngerer lautwandel zerstörend auf diese ai*t von gruppen 
einwirken. Als beispiel kann hier wider der Wechsel nach dem Ver- 
nerschen gesetz dienen. Statt des urgermanischen wechseis zwichen 
/Pyi hartem und weichen^ reibelaut haben wir im hochdeutschea den Wechsel 
Ä — g (daneben c/r), d — i, f—b (daneben pp\ s — r. Der einartige Wechsel 
hat sich also in mehrere ganz verschiedenartige gespalten, und eine 
solche Spaltung ist immer eine Schwächung. Aber der eigentliche 
hauptfeind der etymologisch-lautlichen gruppen ist die ausgleichende 
Wirkung der stofflich-formalen proportionengruppen, die weiter unten 
zu besprechen ist. 

Die isolierungen, welche auf syntaktischem gebiete eintreten 
können, sind zum teil schon in cap. 7 besprochen. Wir haben hier 
zunächst die isolierungen der verschiedenen bedeutungen eines syntak- 
tischen Verhältnisses gegen einander. Hierdurch werden die syntak- 
tischen proportionengruppen nicht gestört, so lange jede einzelne fhne- 
tion des Verhältnisses vollkommen lebendig bleibt. Aber jede erstar- 
rung durch gewohnheitsmässige Verbindung mit einem bestimmten 
Worte ist eine loslösung aus dem allgemeinen proportionenverbande. 
So kann man z. b. kaum sagen, dass die Verbindung zu dir noch in 
einem analogen verhältniss zu der Verbindung irgend einer andern 
Präposition mit dem dativ stände, geschweige denn, dass eine all- 
gemeinere function des dativs damit vom Sprachgefühl in eine analo- 
gische beziehung gesetzt würde. Innerhalb einer engacea firoportionen- 
gruppe bleibt aber auch diese verbindoag aoeh stehen, und zwar einer 
solchen, in welche donA alle einzelnen Proportionen das selbe glied 
hindurchgeht: zu : dir =- zu : dem vater = zu : allen etc. 

Hier kann dasjenige wort beliebig wechseln, an welchem das 
synikaktisehe verhältniss eine besondere formelle ausprägung hat Es 
gibt noch eine andere art der Isolierung, bei der gerade dieses wort 
fixiert ist, während das andere, an welchem das verhältniss keinen 
ausdruek findet beliebig wechseln kann. Diese Isolierung entsteht da- 
durch, dass constructionsweisen im allgemeinen untergehen, sich aber 
in einzelnen resten erhalten, die wegen ihres häufigen gebrauches sich 
besonders stark eingeprägt haben, so dass sie der Unterstützung durch 
die analogen Proportionen nicht bedürfen und deshalb auch nach dem 
untergange der letzteren dauern können. 

So gibt es im nhd. mehrere functionen des genitivs, die früher 


155 

vollkommen lebendig waren, jetzt aber auf die genitive einiger weniger 
Wörter beschränkt sind, die nun ganz für sieh stehen oder sieh za 
ganz kleinen gmppen zusammensehliessen, welche nur einer sehr ge- 
ringen oder gar keinen analogischen ausbreitang fähig sind. Znr Zeit- 
bestimmung kann abgesehen von den isolierten formein derzeit, Jeder- 
zeit, dieser tage, nächster tage nur der gen. sing, männlicher und neu- 
traler substantiva verwendet werden. Wir können sagen des morgens, 
eines morgens, abends, tages, Jahres aber nicht der stunde, einer stunde 
etc., übrigens auch nicht des monats. Die betreffenden genitive können 
auch kein beliebiges adj. zu sich nehmen, sondern es gibt nur stehende 
formein wie eines schönen tages, morgens. Die function der Zeitbestim- 
mung haftet hier nicht mehr an dem gen. als solchem, sondern an 
dem Suffix {e)s^ dessen ursprüngliche Identität mit dem genitivsuffix 
kaum noch empfunden wird. Man bemerkt dies noch deutlicher an 
den formen ohne artikel abends, morgens, tags^ namentlich aber an der 
altertümlichen form {des) nachts, die von der form, die jetzt als eigent- 
licher gen. functioniert, auch lautlich getrennt ist Noch mehr isoliert 
als diese Zeitbestimmungen sind einige genitive, die ein räumliches 
verhältniss bezeichnen: des weges^ gerades weges, rechter hand^ linker 
hand, allerorten, allerwegen. Ferner einige causale genitive: hungers 
sterben, todes verblichen; auch der hoffnung^ des glaubens leben, wenn 
diese formein nicht anders aufzufassen sind. Zahlreicher, aber eben 
so isoliert sind die, welche ein modales verhältniss ausdrücken. Es 
sind dabei verschiedene Verwendungen zu unterscheiden. Eine gruppe 
verwandter genitive wird prädicativ gebraucht. Man sagt: ich bin der 
fxnmek^ meinung, hoffhung, Zuversicht, des sinnes, des glaubens, nur ohne 
aiükel wUImSy ^Mck anderer ansieht, guter hoffhung, auch etwa er ging 
fort, der meinung, dass ele. £twas anderer art sind guten mutes, guter 
dinge. Schon altertümlich erscheinen remen sixmes^ göttlicher natur u. 
dergl. Unmittelbar wie ein adj. zum subst. gesetzt null ^ffWJii^ .mehr 
als genitive empfunden erscheinen, allerhand, mancherhand, einerhand^ 
keinerhänd, allerlei^ aller art etc. Ausserdem sagt man es ist einerlei. 
Wider andere formein werden adverbial zum verbum gesetzt, wie 
meines bedünkens, meines erachtens, alles ernstes, stehenden fusses, eilen- 
den Schrittes, kurzer hand, leichten kauf es, unverrichteter sache, vorsich- 
tiger weise j törichter w,, vernünftiger w., etc., vorkommenden falls, besten 
f., keines f, etc., keineswegs, einigermassen, gewisserm. etc., dergestalt, 
solchergestalt. Einige von diesen formein werden, wie schon die jetzt 
übliche Schreibung zeigt, geradezu als adverbia angesehen. Das selbe 
gilt von flugs^ spornstreichs^ augenblicks^ teils, grössten teils etc. und den 
aus adjectiven abgeleiteten anders, rechts, links, stets, stracks, bereits, 
besonders, blindlings etc. 


156 

Die fonnel es sei denn dass ist ein rest einer im älteren nhd. 
noch lebendigen construetionsweise, vgl. 1 Mos. 32, 26 ich lasse dich 
nicht, du segnest mich denn; noch allgemeiner war dieselbe im mhd. 
mit der negation en und auch ohne denne. Von dieser älteren weise 
haben wir einen gar nicht mehr erkennbaren rest in dem adverbium 
nur = enwcere. 

Die Isolierung kann nun endlich noch weiter gehen, indem keines 
der mit einander verbundenen glieder mehr frei wechseln kann, so dass 
dann also jede einzelne fonnel nur noch gedächtnissmässig fortgepflanzt 
wird ohne irgend eine neue Verbindung zu erzeugen. 

Es ist im nhd. nicht mehr möglich präpositionen mit einem be- 
liebigen subst. im sing, zu verbinden ohne beifbgung des artikels. 
Man kann z. b. nicht sagen an harne, vor für, zu see etc., sondern nur 
am hause, vor der tür, zur see. In gewissen beschränkteren umkreisen 
aber ist es noch möglich Verbindungen ohne artikel frei zu schaffen, 
z. b. vor liebe, hesorgniss, kummer etc. (zur bezeichnung des hinder- 
nisses); auf ehre, gewinn, Weisheit, geld gerichtet (so kann auf mit 
jedem abstractum oder coUectivnm verbunden werden, um das ziel des 
strebens zu bezeichnen) ; zu gelde, weine^ wasser werden, machen, und so 
bei jedem collectivum, aber die arbeit wird ihm zur erholung, zum ge- 
nuss, der knabe wird zum mann, das mädchen zur frau. Andere Ver- 
bindungen dagegen gehören gar keiner schöpferischen gruppe mehr 
an, und es lässt sich nichts ihnen noch so vollkommen analoges mehr 
neu schaffen. Am zahlreichsten sind wol die formein mit zu: zu hause^) 
(aber nicht zu dorfe, zu Stadt), zu wasser, zu lande (das letztere im 
gegensatz zum ersteren, aber nicht mehr wie mhd. ze lande, analog 
dem zu hause), zu schiffe, wagen, fusse, pferde^ zu anfang, ende, zu 
tische, bette, markte, zu leide, liebe, gute, zurück, zurecht, zunichte; 
anderes ist jetzt auf die Verbindung mit bestimmten verben beschränkt, 
während im älteren nhd. vielfach noch eine freiere gebrauchsweise 
herrscht: zu gründe gehen, zu rande sein mit etwas, zu berge stehen, 
zu köpfe steigen, mir ist zu mute, zu sinne, einem zu gemüte führen, 
zu schaden kommen (aber zum schaden gereichen), zu tode kommen, 
quälen, zu statten kommen, zu wege bringen, zu gesichte kommen, einem 
etwas zu danke machen, einem zu willen sein, zu rate gehen, halten, zu 
abend, zu nacht, zu mittag speisen, zu tage bringen, fördern, aber nicht 
zu tage = am tage oder an diesem tage, wol aber heutzutage. Be- 
merkenswert sind auch die parallelverbindungen zu nutz und frommen, 


^) Man beachte, dass in mehreren dieser formein zu noch zur bezeichnung 
der ruhe an einem orte gebraucht wird, was nur in ganz bestimmten Verbindungen 
möglich ist. 


157 

aber zum frommen, zum nutzen, abgesehen von der wendnng sich etwas 
zu nutze machen; zu spiel und tanz, aber zum spiel, zum tanz; in freud 
md leid, aber in der freude, im leide; in krieg und frieden, aber im 
kriege, im frieden {in frieden hat abweichende bedeatnng); in (durch) 
feld und rvald, aber im felde, im walde, durch das feld, durch den wäld; 
in dorf und Stadt, aber im dorfe, in der Stadt etc. 

Ein anderes hierher gehöriges beispiel ist folgendes. Im mhd. 
kann das adj. in attributiver stellang namentlich nach dem anbestimm- 
ten artikel im nom. sg. aller geschleehter und im acc sg. neutr. noch 
in der sogenannten unflectierten form gebraucht werden, also ein guot 
{schoene) man, frouwe, kint. Dagegen im nhd. kann nur die flectierte 
form gebraucht werden: ein guter mann, eine gute frau, ein gutes kind. 
Zahlreiche spuren aber hat die ältere constructionsweise. hinterlassen 
in den uneigentlichen compositis, die durch zusammenwachsen eines 
adj. mit einem subst. entstanden sind wie ältmeister, hösewicht, kurz- 
rveil, Neumann, Schönbrunn etc. Und femer erscheint die uuflectierte 
form noch in einigen stehenden Verbindungen: gut weiter, schlecht w., 
ander w,, ein gut stuck, ein gut teil, ein ander mal, manch mal, ein 
ander bild (noch im achtzehnten jahrh. ist ander auch sonst häufig), 
gut ding will weile haben. Altertümlich sind Jung Roland, schön Suschen, 
Heb mütterchen. 

Ganz vereinzelte reste sind: zweifelsohne (im mhd. kann nach- 
gestelltes dne mit jedem beliebigen genitiv verbunden werden), mutter- 
seelenallein (im mhd. ist aleine mit dem gen. im sinne von „getrennt 
FOD" in allgemeinem gebrauch), vergissmeinnicht {vergessen früher all- 
gemein mit dem gen. constmiert), dass es got erbarme (mhd. mich er- 
barmet ein dinc mir tut etwas leid). 

Die syntaktischen Isolierungen sind zum teil auch isolierungen 
auf dem gebiete der formalen gruppierung, da ja diese zum guten 
teile auf der syntaktischen function beruht; vgl. namentlich die oben 
angeführten genitive. Die formale Isolierung aber steht vrider in engem 
zusammenhange mit der Isolierung des stofflichen dementes, so- 
weit dieselbe eine folge des bedeutungswandels ist. Eine trennung 
der etymologisch zusammenhangenden formen wird so lange vermieden, 
als die bedeutungsentwickelung der einzelnen sich in parallelen linien 
bewegt. Dies wird um so mehr der fall sein, je mehr sie immer von 
neuem auf einander bezogen werden. Am lebendigsten aber ist die 
beziehnng, wenn sie nicht bloss jede für sich gedächtnissmässig über- 
liefert, sondern auch fortwährend die eine zur andern nach sonstigen 
analogieen hinzugeschaflfen werden. Da, wie wir gesehen haben, bei 
jeder neuschöpfung einer form eine stoffliche und eine formale gruppe 
zusammenvnrken, so bedingen sich beide gegenseitig in bezug auf 


168 

ihre schöpferische kraft. Eine formale isoliemng ist fast immer zu- 
gleich eine stoffliche. Wenn rechts nicht mehr als gen. empfanden 
wird, so steht es auch nicht mehr in so innigem zusammenhange mit 
dem nom. recht. Kunst steht in keinem so engen zusammenhange mit 
können als führung mit führen; denn -ung ist ein noch lebendiges snf- 
fix, mit hülfe dessen wir jederzeit im stände sind neue substantiva ans 
Verben zu bilden, nicht so -sL Ja wir dürfen weiter behaupten, dass 
regierung im sinne von 'regierendes coUegium', mischung = gemischtes, 
kleidung = mittel zum kleiden u. dgl. nicht in so engem zusammen- 
hange mit den betreffenden verben stehen als regierung = das regieren 
etc. Denn nur die bezeichnung einer tätigkeit ist die vollständig leben- 
dige function des Suffixes -ung, in welcher sich jedem transitiven ver- 
bum ein subst. zur seite stellen lässt 

Die auf die flexion bezüglichen gruppen haben natürlich einen 
festeren Zusammenhang als die auf die Wortbildung bezüglichen. Einer- 
seits ist das mass des gemeinsamen dementes ein grösseres, ander- 
seits ist das gefbhl für die bildungsweise am lebendigsten. Charak- 
teristisch ist in dieser hinsieht das verhalten der nominalformen des 
verbums. Sobald sie als wirkliche nomina gebraucht werden, der inf. 
mit dem artikel versehen, das pari zur bezeichnung einer bleibenden 
eigenschaft verwendet vrird, ist der Zusammenhang mit den übrigen 
verbalformen gelockert, und damit die möglichkeit zu einer abweichen- 
den weiterentvrickelung der bedeutung geschaffen. 

Eine bedeutungserweiterung des grundwortes oder des dem 
Sprachgefühl als solches erscheinenden wortes teilt sich leichter der 
ableitung mit, als umgekehrt eine bedeutungserweiterung der ableitung 
dem grundwort. Weil man sich nämlich bei der ableitung leichter an 
das grundwort erinnert als umgekehrt, so knüpft man auch die ab- 
leitung leichter an alle bedeutungen des grundwortes an, als das grnnd- 
wort an alle bedeutungen der ableitung. Deshalb geht der anstoss 
zur isotierung gewöhnlich von einer bedeutungsveränderung der ab- 
leitung aus. Wie das grundwort zur ableitung verhält sieh das simpIex 
zum eompositum. 

Die Ursache zu ungleiehmässiger bedeutungsentwiekelung etymo- 
logisch verwandter Wörter liegt, soweit sie nicht erst die folge ander- 
weitiger isotierung ist, in der von anfang an bestehenden Verschieden- 
heit der function. Ein nomen kann sieh nach richtungen hin ent- 
wickeln, nach denen ihm das verbum nicht nachfolgen kann. In wirk- 
tieher correspondenz mit dem verbum stehen nur die eigentlicben 
nomina agentis und nomina actionis. Sobald das nomen agentis zur 
bezeiehnung einer bleibenden eigensehaft oder des tiägers einer blei- 
benden eigenschaft, das nomen actionis zur bezeichnung eines bleiben- 


159 

den znstandes oder eines produets, eines Werkzeugs geworden ist, so 
kann sieh dann ein weiterer bedeutungsinhalt anheften, wie er sich 
zo einem verbam nicht fügt. So ist nhd. ritier nomen agentis zu 
reiten, wird dann zur bezeichnang eines mannes, der das reiten ge- 
wohnheitsmässig, berufsmässig treibt. Dabei bleibt es zunächst noch 
mit dem verbum innig verbunden. Indem dann aber das wort vor- 
zugsweise von berittenen kriegem gebraucht wird und aus diesen be- 
rittenen kriegem sich ein privilegierter stand entwickelt, ein orden, in 
den man feierlich aufgenommen wird, ist es bei einer bedeutung an- 
gelangt, der überhaupt keine verbale bedeutung entspreche kann. 
Und so hat es denn noch weiter einen sinn bekommen, der mit dem 
ursprünglichen gar nichts mehr zu schaffen hat. Auch für das adv. 
sind manche bedeutungsentwickelungen möglich, die dem adj, unmög- 
lich sind. Man denke z. b. an die allgemein verstärkenden oder be- 
schränkenden adverbien, wie nhd. sehr = mhd. sere von einem adj. 
ser verwundet, ahd. hario und äräto valde von den adjectiven herti 
hart und dräti schnell, nhd. in der Umgangssprache schrecklich, furcht- 
bar, entsetzlich, fast zu fest, auch an solche wie schon zu schön. 

Die etymologischen gruppen und die formen mit lautlicher Über- 
einstimmung und somit auch die aus beiden sich zusammensetzenden 
proportionengruppen erfahren auch durch den lautwandel einwir- 
kongen, die den zusammenhält stark beeinträchtigen oder gänzlich 
zerstören. Es werden durch denselben eine menge zwecklose unter- 
schiede erzeugt. Denn es ist in den allgemeinen Ursachen des laut- 
wandels begründet, dass in den seltensten fällen sich ein laut überall 
da, wo er in der spräche erscheint, auf die gleiche art verändert. 
Selbst ein so spontaner lautwandel, wie die urgermanische lautver- 
sohiebung hat doch gewisse hemmende schranken gefunden, die sich 
einer gleichmässigen durchftlhrung widersetzt haben, indem z. b. in 
den Verbindungen sk, st, sp die Verschiebung unterblieben ist. Noch 
viel mehr veranlassung zu differenzierung ursprünglich gleicher laute 
liegt da vor, wo die Veränderung durch die umgebenden laute oder 
durch die accentuation bedingt ist So entstehen fast bei jedem laut- 
wandel zwecklose unterschiede zwisch<^n den verschiedenen ableitungen 
ans der selben wurzel, zvnschen den verschiedenen flexionsformen des 
selben Wortes (vgl z. b. gr. ör/gco — or/gco — öxixxoq — örlg/ia, nhd. 
sitze — sass, heiss — heitze — hitze; schneide — schnitt; friere — frost 
etc.); die gleichen ableitungs- und flexionssuffixe spalten sich in ver- 
schiedene formen (vgl. z. b. die verschiedenen gestaltungen des indo- 
germanischen Suffixes -/i- in lat. hostis, messis^ pars, in got. ansts — 
gabaurps — qiss; die verschiedene behandlung der nominativendung 
*r in altn. s(mr — stemn [aus *^<mr] — heul — \ss — fugl [aus 


160 

^fiiffir] etc.); ja das gleiehe wort nimmt je naeh der stellmig im satze 
yeischiedene form an (ygL die mehr&ehen formen grieehischer präpo- 
sitionen wie kv — kfi — ey, cm — cvii — ör/). Daraus entspringt für 
die folgenden generationen eine nnnfltze belastnng des gedaehtnisses. 
Zugleich aber ist anch die nnyermeidliche folge die, dass die einzelnen 
formen wegen des yerringerten masses der lautlichen ttbereinstimmnng 
sich jetzt weniger leicht und weniger fest zu gmppen zusammen- 
sehliessen. Die folge davon ist, dass sich ^in. bedentnngswandel weniger 
leicht Yon einem yerwandten worte anf das andere Überträgt Die 
zerstDrong der ttbereinstimmnng in der lautgestaltnng begttnstigt daher 
die zerstörong der ttbereinstimmnng in der bedentong. 

Das absterben der lebendigen bildnngsweisen nimmt meist seinen 
ansgang yon einer lantlichen isoMerong, die häufig sowol stofflich als 
formal ist, die bedeutungsisoUerung kommt erst hinterher. Wir können 
z. b. im germanischen eine periode yoraussetzen, in welcher yielleicht 
aus jedem intransitiyen starken yerbum ein schwaches causatiynm ge- 
bildet werden konnte. Das selbe unterschied sich schon yon der indo- 
germanischen zeit her im wnrzelyocal yom präs. des grundwortes, in- 
dem es aber mit dem sg. ind. prät ttbereinstimmte (brhma — brarm — 
brannjan etc.), war doch eine nahe lautliche beziehung gewahrt Aber 
ein riss trat schon im urgerm. ein durch die Wirkung des Vemerschen 
geseizes, in folge dessen in yielen fällen eine consonantische ab- 
weichung des causatiyums nicht bloss vom präs., sondern auch vom 
sg. prät des grundwortes entstand. Diese abweichung hat weiterhin 
im ahd. mitunter yocalische abweichungen im gefolge. Das causa- 
tiynm nimmt dann abweichend yom sg. prät, wo es möglich ist, den 
umlaut an. So entstehen im mhd. Verhältnisse wie: springen — spranc 
— sprengen^ varen — vuor — tmeren, dhen — sich — sdgen, ziehen — 
zoch — zotigen, genesen — genas — neren. Unter solchen umständen 
war es natttrMch, dass grnndwort und causativum nun ihre eigenen 
wege in der bedeutungsentwiekelung gingen, so dass z. b. in nhd. 
genesen — nähren niemand mehr einen Zusammenhang fühlt Durch 
die erwähnten lautveränderungen wird aber auch die gleichmässigkeit 
der bildungsweise angegriffen, und darunter leidet der Zusammenhang 
der causativa unter einander auch nach der seite der bedeutung und 
ivird schliesslich ganz zerstört 

Das absterben der indogermanischen ableitungssuffixe im ger- 
manischen hat seinen ersten anlass meist in einer lautvei^nderung. 
So erscheint z. b. das i der suffixe -tei, -teu, -io etc. nach der laut- 
verschiebung in ftnffaeher gestalt: t (got paurfts bedttrfniss zu paur- 
ban, gaskafts Schöpfung zu skapjany tnahts macht zu magan, fravaurhts 
vergehen zu vaurkjan\^ p {guqumps znzammenkunft zu qiman, gabaurps 


161 

gebnrt zu bairan), d {-deds tat zu alts. ddn, gamunds gedäehtniss za 
munan), st {-ansts gnade za unnan, cdabrunsts brandopfer zu hrinnan\ 
s {-qis-s rede zu qipan, stass tritt zu standan, gaviss Verbindung zu 
gavldari). Ein bewusstsein ftlr die ursprüngliche identität dieser ver- 
schiedenen lautgestaltungen kann es natttrlich nicht geben. Die grosse 
grappe zerteilt sieh in fttnf kleinere. Keinem von den fünf suffixen 
kommt allgemeingilltigkeit zu. Dazu ist der Zusammenhang mit dem 
grundwort vielfach gelockert durch Veränderungen des wurzelauslauts, 
wofür die beispiele schon gegeben sind. Daher ist die unausbleibliche 
folge gewesen, dass die^ alten suflSxe die fähigkeit verlieren mussten 
noeh zur bildung neuer Wörter zu dienen, dass fortan nur noch die 
alten bildungen gedächtnissmässig weiter überliefert wurden, und zwar 
nnr so weit, als sie wegen häufigen gebrauches einer stütze durch das 
grundwort nicht bedurften. So ist ferner suflfix -wo- abgestorben, weil 
es in vielen fällen in folge der assimilation des n an den vorher- 
gehenden consonanten unkenntlich geworden war, vgl. falls ^= indog. 
plnos etc. 

Der Symmetrie des formensystems ist also im lautwandel ein 
unaufhaltsam arbeitender feind und Zerstörer gegenüber gestellt. Man 
kann sich schwer eine Vorstellung davon machen, bis zu welchem 
grade der zusammenhangslosigkeit, Verworrenheit» und unverständlich- 
keit die spräche allmählig gelangen würde, wenn sie alle Verheerungen 
des lautwandels geduldig ertragen müsste, wenn keine reaction da- 
gegen möglich wäre. Ein mittel zu solcher reaction ist nun aber in 
der analogiebildung gegeben. Mit hülfe derselben arbeitet sich die 
spräche allmählig imnier wider zu angemesseneren Verhältnissen durch, 
zu festerem zusammenhält und zweckmässigerer gruppierung in flexion 
nnd Wortbildung. So sehen wir denn in der Sprachgeschichte ein 
ewiges hin- und herwogen zweier entgegengesetzter Strömungen. Auf 
jede desorganisation folgt eine reorganisation. Je stärker die 
gruppen durch den lautwandel angegriffen werden, um so lebendiger 
ist die tätigkeit der neuschöpfung. 

Wo durch den lautwandel eine unnötige und unzweckmässige 
differenz entstanden ist, da kann dieselbe mit hülfe der analogie be- 
seitigt werden, indem nämlich eine so differenzierte form allmählig 
durch eine neubildung verdrängt wird, welche die betreffende differenz 
nicht enthält Wir können diesen process als ausgleichung be- 
zeichnen, nur müssen wir uns klar darüber sein, dass mit diesem aus- 
druck nicht das eigentliche wesen des Vorgangs bezeichnet ist, dass 
derselbe sich vielmehr aus einer complicierten reihe von einzelvorgängen 
zusammensetzt, wie sie in cap. 5 analysiert sind. 

Gehemmt wird die ausgleichung durch die stofflich-lautlichen 

Paul, Principien. 11. Auflage. 1 1 


v. 


162 

Proportionen. Ein noeh lebendiger, durch solche proportionen ge- 
stützter lantwandel entzieht sieh öfters der ansgleiehang lange zeit, 
jedoch ohne dass er derselben ein nnttberwindliehes hindemiss in den 
weg stellte. Sind einmal die stofflich-lautlichen proportionen durch- 
brochen, so verliert der lantwechsel sehr an Widerstandskraft. 

Wir gehen jetzt dazn über die verschiedenen arten der ans- 
gleiehang näher zn betrachten. Wo ein nnd dieselbe form nnter dem 
einflusse verschiedener Stellung innerhalb des Satzgefüges 
sich in mehrere verschiedene formen gespalten hat, geht der anfäng- 
liche nnterschied in der Verwendung dieser formen verloren, indem die 
eine form auch an solcher satzstelle gebraucht wird, an welcher die 
lauüiche entwickelung zur erzeugung der andern geführt hat. 

G. Curtius in seinen Stadien 10, 205 ff. hat gezeigt, dass sich der 
auslaut der griechischen präpositionen sowie der des acc. sing, des 
artikels in der älteren zeit nach dem anlaut des folgenden wertes 
richtet, z. b. xäd 6h — xax xsg>al^v — xay yow — xajt neölov — 
xav POfiov — xafi fihv — xag qoov — xaX jLajtoQjjv, ro/i ßiXriörov — 
Toy xQOTiöTOV — rov d-Qaövratov — roX XAöxov etc., während in 
späterer zeit eine von diesen mannigfaltigen formen oder die davon 
noch verschiedene adverbialform ^) zur allgemeinen normalform wurde.') 

In den germsmischen sprachen widerholt sieh mehrmals in ver- 
schiedenen Perioden der process, dass die gleichzeitig als adverbien 
und als präpositionen gebrauchten Wörter, je nachdem sie im satze 
vollbetont sind oder enclitisch, und je nachdem sie als enclitica noeh 
einen nebenton tragen oder ganz unbetont sind, sich in zwei oder 
mehr verschiedene formen spalten, deren anfänglicher fnnetionsunter- 
schied aber nicht festgehalten wird, indem sieh die eine form an 
stelle der andern eindrängt, vgl. darüber Beitr. z. gesch. d. deutschen 
spr. VI, 144. 191 ff. 199 ff. 207 ff. 248 ff. 137^ Um nur ein beispiel 
anzuführen, urgerm. id (zu) ist, wo es vollbetont war, also in adver- 
bialem gebrauche ungeschwächt geblieben, als proditicum dagegen zu 
*to verkürzt. Aus dem letzteren entstehen unter verschiedenen accent- 
bedingungen im ahd. za — ze — zi. Diese werden in einigen der 
ältesten denkmäler unterschiedslos neben einander gebraucht, in jüngerer 
zeit setzt sich in jedem dialect eins davon fest. Alle drei werden im 
mhd. zu ze. Neben diesem tritt dann aber die aus tb regelrecht ent- 
wickelte form zuo auch als präp. auf und gelangt im nhd. zur allein- 

1) Dafür muss man wol z. b. ava, ptata, nagd ansehen im gegensatze zu 
äv, xax, nag mit ihren verschiedenen nebenformen; ebenso ivl, nsQl, notl, ngoti 
gegen iv, nsQ, not oder noq, tiqot oder UQoq. 

*) Wieweit in der w^irklichen ausspräche, wieweit blos in der schrift, bleibt 
in einigen fallen noch zweifelhaft. 


163 

herrschaft. Aebnlicb verbält es sieh mit den formen der pronomina 
und des artikels, vgl. Beitr. VI, 1371 144 flf. 

In der Übergangszeit vom ahd. zum mhd. fällt auslautendes r 
nach langem voeal ab in da aus d&r^ hie aus hier etc., bleibt aber 
erhalten in enger Verbindung mit einem folgenden worte, weil es da,nn 
zur folgenden silbe hinttbergezogen wird, also dar an, hier an etc. Im 
nhd. tritt hier auch sonst an stelle von hie und verdrängt letzteres in 
der Schriftsprache allmählig ganz, abgesehen von der Verbindung 
hie und da. Umgekehrt finden sich im mhd. auch die Verbindungen 
hie inne, hie üze und zusammengezogen hinne, hüze, noch jetzt ober- 
deutsch. 

Der process der differenzierung und ausgleichung . kann sich 
mehrmals hinter einander widerholen. Im ahd. hat sich ana in ana 
(adv.) und an (präp.) gespalten; die erstere form hat dann die letztere 
verdrängt. Im mhd. spaltet sich ana wider in ane und an und die 
erstere form wird durch die letztere verdrängt. Eine ähnliche ent- 
wickelnng hat aba (ab) durchgemacht 

Die einwirkung des satzgefbges auf die lautentwickelung begreift 
sich, wie wir gesehen haben, dadurch, dass eine wortgruppe ebenso 
wie das einzelne wort als eine einheit erfasst wird, welche von dem 
hörenden nicht erst in ihre demente zerlegt, von dem sprechenden 
nicht erst aus ihren dementen zusammengesetzt wird. Das verhältniss 
ist also das selbe wie bei einem compositum, wie es denn überhaupt, 
was noch weiterhin zu erörtern sein wird, gar keine scharfe grenze 
zwischen compositum und wortgruppe gibt. Namentlich ist ursprüng- 
lich zwischen der Verbindung der präposition mit einem nomen und 
der mit einem verbum kaum ein unterschied zu machen. In unserem 
falle tritt demnach an die stelle der traditionellen gestalt der gruppe 
eine neugeschaffene Zusammensetzung. 

Es sind dabei zwei verschiedene wege der entwickdung möglich. 
Entweder es greift nur die eine form in die function der andern über, 
oder der übergriff ist ein wechselseitiger. Letzteres wird natürlich dann 
eintreten; wenn die verschiedenen formen in bezug auf häufigkeit des 
Vorkommens einander ungefähr die wage halten, ersteres, wenn die 
häufigkeit der einen die der andern bedeutend überwiegt. In beiden 
fällen ist der erfolg der, dass zunächst eine Zeitlang doppelformen 
(respective . tripelformen etc.) neben einander herlaufen , aber in dem 
einen falle nur auf einem beschränkten gebiete, während sonst ein- 
formigkeit bleibt, in dem andern falle mit unbeschränkter geltung. 
Eine allgemeine einformigkeit ergibt sich dann erst wider im laufe 
der weiteren entwickdung durch den Untergang der einen form. Da, 
wo der mehrformigkeit auf dem einen noch einformigkeit auf dem 

11* 


164 

andern gebiete gegenüber steht, kann es natttrlich nicht zweifelhaft 
sein, welche form den sieg davon tragen mnss. Wo aber die mehr- 
formigkeit einmal allgemein geworden ist, da ist auch das kräftever- 
hältniss kein so ungleiches, der kämpf nicht so leicht zu entscheiden, 
der ansgang von zufälligen umständen abhängig, die &lt uns nicht 
immer zu erkennen sind. Je ungleicher das verhältniss ist, um so 
kürzer ist auch der kämpf, um so früher beginnt auch der angriff. 

Die Spaltung einer form in mehrere verschiedene kann so vor 
sich gehen, dass unter allen umständen eine Veränderung eintritt, aber 
auch so, dass dabei die grundform neben einer oder mehreren ver- 
änderten formen bewahrt bleibt. Im letzteren falle hat bei der wei- 
teren entwickelung die grundform an sich keinen Vorzug vor der ab- 
geleiteten; denn sie wird nicht als solche erkannt Wol aber hat 
diejenige form einen Vorzug vor den übrigen, in welcher das wort er- 
scheint, wenn es von einer beeinflussung durch das Satzgefüge unab- 
hängig ist, mag sie die grundform sein oder nicht Der Franzose, der 
sich nicht vdssenschaftlich mit seiner muttersprache beschäftigt hat, 
weiss nichts davon, dass in a-Hl eine ursprünglichere form steckt als 
in il a, dass in un ami das n eine ursprünglichere anspräche hat als 
in un fils. Er wird, wenn er überhaupt darüber reflectiert, viel eher 
geneigt sein das t für einen einschub, die ausspräche des n in un ami 
für eine abänderung der normalen zu halten. 

Diese bemerkungen lassen sich mutatis mutandis auf jede andere 
art der ausgleichung durch analogiebildung anwenden. 

Wesentlich der selbe Vorgang ist die ausgleichung zwischen laut- 
lich differenzierten formen , die aus dem gleichen stamme, oder Wör- 
tern, die ans der gleichen wurzel gebildet sind. Wir können diese 
ausgleichung die stoffliche nennen im gegensatz zu der formalen, 
die sich zwischen den entsprechenden formen verschiedener Wörter, 
den entsprechenden bildungen aus verschiedenen wurzeln, zwischen 
verschiedenen flexions- oder . Wortbildungssystemen vollzieht Häufig 
ist übrigens die stoffliche ausgleichung zugleich eine formale. 

Beispiele liessen sich zu grossen massen anhäufen. Besonders 
lehrreich sind gewisse durchgreifende differenziemngen, die in einer 
sehr frühen periode eingetreten sind. Mit der reaction gegen dieselben 
haben die nachfolgenden geschlechter oft viele Jahrhunderte zu tun, 
während deren immer ein fall nach dem andern der ausgleichung zum 
opfer fällt, und schliesslich doch nicht selten noch einige residna der 
differenzierung übrig bleiben. Um so mannigfaltiger und zugleich um 
so lehrreicher wird die entwickelung, wenn nach dem eintritt der laut- 
lichen differenzierung die spräche sieh mannigfach dialectisch gespal- 
ten hat Das grossartigste beispiel der art, das mir bekannt ist, liefert 


165 

die vokalabstnfting der indogermanischen nrsprache, deren reste zu be- 
seitigen sich noch die jetzt lebendigen dialecte bemühen. Auf germa- 
nischem gebiete stehen oben an die Wirkungen des Vernerschen ge- 
setzes, wonach im urgerm. die harten reibelante ^, />, f, s sich nach 
ursprünglich betonter silbe erhalten haben, nach ursprünglich unbe- 
tonter zu den entsprechenden weichen (got. g, d, b, z) geworden sind. Die 
bewegung, welche dadurch hervorgerufen ist, empfiehlt sich ganz be- 
sonders zum methodologischen Studium, zumal da man sich dabei auf 
einem sicheren, allgemein anerkannten boden befindet. Der Sprach- 
forscher, der sich einmal die mühe gegeben hat die reactionen gegen 
ein solches lautgesetz bis in alle einzelheiten zu verfolgen, der kann 
unmöglich solche verkehrten behauptungen und einwendungen betreffs 
der analogiebildung vorbringen, wie sie sich leider so vielfach breit 
machen. Und wie mit einem lautgesetze, so ist es mit allen übrigen. 
Es gibt überhaupt kein lautgesetz, das nicht, sobald es einmal in einer 
anzahl von fällen das etymologisch eng zusammenhängende lautlich 
differenziert hat, auch eine reaction gegen diese differenzierung hervor- 
riefe, es sei denn, dass der Unterlassene lautwechsel bleibend durch 
die analogie gestützt wird (vgl. s. 95). Das muss als ein fundamental- 
satz der historischen Sprachforschung anerkannt werden. Man durch- 
snche alle sprachen, deren entwickelung sich continuierlich verfolgen 
lägst, nach einem derartigen lautgesetze, das einige Jahrhunderte, nach- 
dem es gewirkt, noch keinerlei reaction im gefolge gehabt hat. Ich 
bin überzeugt, es darf getrost für den ehrlichen finder eine königliche 
belohnung ausgesetzt werden, niemand wird sie verdienen. 

Wer eine solche entwickelung im zusammenhange verfolgt hat, 
der wird auch nicht, wie dies neuerdings mehrfach geschehen ist, an 
eine formenerklärung, die auf die annähme von ausgleichungen basiert 
ist, den anspruch stellen, dass die ausgleichung in allen von dem laut- 
gesetze betroffenen formen gleichmässig und nach der selben richtung 
hin eingetreten sein müsse. Das heisst eine entwickelung fordern, wie 
sie der erfahrung, die wir aus den wirklich zu beobachtenden tat- 
sachen abstrahieren können, schnurstracks widerspricht. Solche forde- 
rung beruht auch auf einer offenbaren begriffsverwechselung. Für den 
lautwandel allerdings muss man verlangen, dass er überall, wo die 
gleichen lautlichen bedingungen vorhanden sind, gleichmässig eintritt. 
Aber ftlr die ausgleichung kommt gleichmässigkeit oder nichtgleich- 
mässigkeit der lautlichen Verhältnisse gar nicht in betracht. Entweder 
entwickelt sich dabei jede durch stoffliche Verwandtschaft verbundene 
gruppe für sich, oder, wenn mehrere solche gruppen auf einander ein- 
wirken, so geschieht dies dadurch, dass gleichzeitig formale aus- 
gleichung im spiele ist; aber das betroffensein von dem gleichen laut- 


166 

gesetze gibt an sich gar keinen grund ab zu einer gegenseitigen be- 
einflussung bei der ausgleichnng. Dagegen wirken gar manche för- 
dernde und hemmende umstände darauf hin, dass der process in 
den verschiedenen fällen sehr ungleichmässig verläuft. 

Zu diesen gehört auch ein lautliches moment. Solche forinen 
welche durch die Wirkung mehrerer lautgesetze differenziert sind, sind 
der ausgleichnng weniger gttnstig als solche, in denen nur eins davon 
differenzierend gewirkt hat. 

Die bekannte neuhochdeutsche vokaldehnung tritt abgesehen von 
ganz bestimmten Verbindungen niemals vor doppelconsonanten ein, wo- 
vor im gegenteil sogar ursprüngliche länge gekürzt wird (vgl. brachte 
= mhä^brähte, acht = mhA. ähte etc.). Demnach kommt auch der 
2. 3. sg. und der 2. plur. ind. präs., falls der endungsvocal syncopiert 
ist, kürze zu, auch da, wo die übrigen formen des präs. dehnung haben 
eintreten lassen. Bei weitem in den meisten Mlen aber ist ausgleichnng 
eingetreten, so stets im schwachen verbum (z. b. lebe — lebst, lebt), wo 
die vokalqualität durch alle formen hindurch von jeher die gleiche 
war; femer in den starken verben mit wurzelhaftem a: 7ra^e — trägst^ 
trägt (niederdeutsch mit kürze dröchst, dröcht). Dagegen hat sich die 
kürze der 2. 3. sing, erhalten bei den verben, in denen der wurzelvokal 
von alters her zwischen e und i wechselt, allgemein in nehme — nimmst, 
nimmt, trete — trittst, tritt, wenigstens nach der in Niederdeutschland 
üblichen ausspräche auch in lese — lisl, gebe — gibst, gibt. Die Ur- 
sache, warum diese verba der die quantität betreffenden ausgleichnng 
besser widerstand geleistet haben als die andern, haben wir gewiss in 
der gleichzeitigen Verschiedenheit der qualität zu suchen. Das be- 
stätigt sich noch dadurch, dass sie sich in der 2. pl. der ausgleichnng 
nicht entzogen haben. Die differenz zwischen a und ä ist nicht so 
empfunden, weil der umlaut etwas dem Sprachgefühl sehr geläufiges ist. 

Im ahd. hätten die participia der verba lesan, ginesan, uuesan nach 
dem Vernerschen gesetze gileran, gineran, giuueran zu lauten, aber ab- 
gesehen von wenigen resten in den ältesten denkmälem ist mit an- 
lehnung an das präs. gilesan, ginesan, giuuesan eingetreten. Dagegen 
noch im mhd. lauten die participia von kiesen, friesen, Verliesen mit 
beibehaltung des wechseis gekoren, gefroren, verloren. Die gleichheit 
des vokalismus im ersteren, die Verschiedenheit im letzteren ist für den 
consonantismus massgebend gewesen. 

Die starken verba, die im sg. und pl. des prät. gleichen vokal 
haben, haben auch den durch das Vernersche gesetz entstandenen 
consonantischen unterschied schon frühzeitig aufgehoben, vgl. ahd. slaog 
— sluogun, Meng — hiengun, huob — huobun, hluod — hluodun gegen 
zdh — zugun, meid — mitun. Man sieht, wie auf diese weise selbst 


167 

fonnen, die nicht bloss von dem gleichen lantgesetze betroffen, son- 
dern auch nach funetion nnd sonstiger bildangsweise verwandt sind, 
in verschiedene disposition gesetzt werden. 

Diese erseheiniing verlangt eine psychologische erklärung. Man 
sollte zanäehst meinen, da das, was wir ansgleichnng nennen, von 
einer nensehöpfang nach analogie ansgeht, dass die lautliche gestalt der 
durch die neuschOpfung zurückgedrängten form dabei gar nicht in be- 
tracht käme. Tritt das bild der traditionellen lautlich differenzierten 
form ins bewusstsein, so ist keine neuschöpfung möglich, tritt es nicht 
in das bewusstsein, so ist die neuschöpfnng freigegeben. Nun ist aber 
kein grund abzusehen, warum eine form deshalb leichter ins bewusst- 
sein treten sollte, weil sie sieh lautlich stärker von einer verwandten 
unterscheidet als eine andere. Die Schwierigkeit ist nur zu lösen, wenn 
wir das zusammenwirken rein gedächtnissmässiger reproduction und 
schöpferischer combination, wie wir es für die tägliche hervorbringung 
der schon in der spräche Üblichen formen anerkennen mussten, auch 
bei der Schöpfung von neuen formen annehmen. Es gibt einen zu- 
stand, in welchem das bild der traditionellen form nicht mächtig genug 
ist, um unter allen umständen leichter ins bewusstsein zu treten als 
eine durch analogie veranlasste neubildung, aber doch nicht so schwach 
um vor einer solchen widerstandslos zurttckzuweichen. Es liegen also 
zwei Vorstellungen im kämpfe mit einander darüber, welche von ihnen 
zuerst in das bewusstsein treten und damit die andere zurückdrängen 
soll. Nur wo ein solches verhältniss besteht, kommt die grosse des 
abstandes zmschen der traditionellen form und der eventuellen neu- 
schöpfnng in betraehi Ist nämlich die letztere in begriff sich zuerst 
vorzudrängen, so kann ihr doch die erstere, auch ohne deutlich be- 
wnsst zu werden, eine controUe entgegen stellen, welche das Sprach- 
gefühl in bezug auf jene nicht zu der nötigen unbefangenen Sicherheit 
gelangen lässt und so zum besinnen auf diese treibt. Die Vorstellung 
der traditionellen form wirkt aber um so stärker hemmend, je weiter 
sie ihrem Inhalte nach von der neuen combination verschieden ist. 
Aehnlich wie dem sprechenden ergeht es dem hörenden. Eine neu- 
bildung wirkt um so befremdender auf ihn, vrird um so schwerer gut 
geheissen und nachgeahmt, je mehrseitiger sie der überlieferten form 
widerspricht, sofern überhaupt die erinnerung an dieselbe in seiner 
seele noch einigermassen wirkungskräffcig ist. 

Eine viel wichtigere rolle als der lautliche abstand spielen zwei 
andere momente bei der förderung und hemmung der ausgleichung, 
die grössere oder geringere festigkeit des Zusammenhangs der 
etymologischen gruppen und die grössere oder geringere inten- 
sität, mit der die einzelnen formen dem gedächtnisse ein- 
geprägt sind. 


168 

Die eratere hängt ab von dem grade der ttbereiBBtimmang in der 
bedentung and von dem grade lebendiger bildsamkeit der einzelnen 
formen. Beides steht, wie wir sehon gesehen haben, in wechselbe- 
beziehnng zu einander. Die grössere oder geringere innigkeit des Zu- 
sammenhangs kann schon mit der fanction der formen an sich ge- 
geben sein, wie z. b. die formen des präs. nnter einander enger zu- 
sammenhängen als mit denen des präi, die formen des selben wertes 
enger unter einander als mit den formen der ans der gleichen wurzel 
abgeleiteten Wörter. Es kann aber auch durch secnndäre entwickelung 
der verband gelockert werden. Jede art von isolierung, welche die 
function trifFt erschwert auch die reaotion gegen die isolierung, von 
der die lautgestalt betroffen ist, und macht sie, sobald sie selbst einen 
bestimmten grad erreicht hat, unmöglich. 

Einige beispiele mögen diese Sätze erläutern. Die durch Wirkung 
des Yernerschen gesetzes entstandenen zahlreichen differenzierungen 
des consonantismus sind innerhalb der flexion der nomina schon in 
den ältesten auf uns gekommenen denkmälem ganz getilgt. Wir sehen 
ihre spuren aber noch in manchen unterschiedslos neben einander be- 
stehenden doppelformen. Im verbum dagegen hat sich die differenzie- 
rung besser bewahrt, offenbar untersttttzt durch die damit zusammen- 
treffende vokaldifferenziemng (den ablaut), vgl. mhd. ziuhe — z&ch — 
zugen — gezogen. Wir können nun mehrfach deutlich beobachten, wie 
der später eintretende ausgleichungsprocess damit beginnt, dass der 
nnterschied zwischen sing, und plur. des prät aufgehoben wird, und 
zwar so, dass der sing, dadurch erst vom präs. verschieden gemacht 
wird. Dies ist in den westgermanischen dialecten fast in allen den- 
jenigen fällen geschehen, in denen keine Verschiedenheit des vokalis- 
mus hemmend im wege stand, also ahd. slahu — sluog — shiogun statt 
*sluoh — sluogun, fähu — fiang — fiangun statt */faÄ — fiangun etc. 
Ein beispiel, in dem auch durch die Verschiedenheit des vokalismos 
diese entwickelung nicht verhindert ist, sehen vdr in alts. fitlian. Dieses 
sollte bei rein lautlicher entwickelung das prät./8^Ä — fundun bilden. 
Es heisst aber nur fand — fundun, während im präs. zwar auch schon 
findan, aber doch erst neben fithan auftritt. Die wenigen nhd. reste 
dieses alten wechseis zeigen sämmtlich die abweichung von den älteren, 
noch im mhd. bestehenden Verhältnissen, dass der sing, des prät an 
den plur. angeglichen ist: ziehe — zog (ahd. zdh) — zogen, leide — 
litt (ahd. leid) — litten, schneide — schnitt (ahd. sneid) — sc?mitten, 
siede — sott (ahd. s6d) — sotten, erkiese — erkor (ahd. irkos) — er- 
koren. Ebenso hat sich der ablaut zwar im allgemeinen im nhd. er- 
halten, aber zwischen sg. und pl. des prät. ist übereinstimmuBg her- 
gestellt. 


169 

Vielfach können wir beobachten, dass lautliche differenziernngen, 
die innerhalb der verschiedenen flexionsformen eines wortes entweder 
durchaus oder bis auf geringe reste beseitigt werden, zwischen etymo- 
logisch verwandten Wörtern bestehen bleiben oder nur da getilgt wer- 
den, wo ihre beziehnng zu einander eine sehr enge ist. In den ger- 
manischen sprachen besteht von alters her ein Wechsel zwischen dem 
laate unseres h und unseres ch in der art, dass ersteres im silben- 
anlaute, letzteres im silbenauslaute und vor consonant steht, vgl. mhd. 
rüch (rauh) — g'dn.rühes, ich sihe — er siht (gesprochen wie unser 
sieht) — er sach — wir sähen. In der jetzigen Schriftsprache ist dieser 
Wechsel in der flexion beseitigt ausser in hoch, ausserdem ist auch der 
eomparativ und Superlativ dem positiv angeglichen, abgesehen von 
höher — höchste und näher — nächste. Sonst aber ist er beibehalten, 
vgl sehen — gesteht, geschehen — geschichle, fliehen — flucht, ziehen 

— zucht, Schmach — schmähen. Ein über viele fäUe sich erstreckender 
Wechsel auf vokalischem gebiete war in den altgermanischen dialecten 
anter dem einflusse des vokals der folgenden silbe entstanden, nämlich 
zwischen e und t und zvrischen u und o. Dieser Wechsel ist innerhalb 
der nominalflexion grösstenteils schon vor dem beginne unserer Über- 
lieferung beseitigt. Innerhalb der etymologisch zusammenhängenden 
wortgruppen ist er im mhd. noch durchaus bewahrt, abgesehen von den 
femininbildungen aus nomina- agentis (vgl. got — gotinne [ahd. g%Uinna\ 
doch auch noch hirin neben berinne und wolf — willpinne) und den 
deminutiven (vgl. vogel — vögeün [ahd. fugiR]). Im nhd. tritt dann 
die ausgleichung nur bei ganz besonders enger beziehnng ein. So 
regelmässig zwischen subst und adj. bei Stoffbezeichnungen, z.h.leder 

— ledern (mhd. liderin)^ gold — golden (mhd. gttldin)^ holz — hölzern 
{hulzin), ausserdem z. b. in wort — antwort, antworten (mhd. äniwürte, 
antworten); gold — vergolden (altertümlich noch vergülden). Dagegen 
heisst es noch recht — richten, richtig, gericht; berg — gebirg e\ feld — 
gefiide; herde — hirt\ hold — huld\ foü — ßllen; koch — kilche etc. 

Selbstverständlich tritt da keine ausgleichung ein, wo durch diver- 
gierende bedeutungsentwickelung das gefbhl für den etymologischen 
Zusammenhang ganz geschwunden ist, auch da nicht, wo es so wenig 
rege mehr ist, dass es nicht ohne ein gewisses nachdenken zum be- 
wusstsein kommt Das ist z. b. die Ursache , warum' die eben be- 
sprochenen lautdifferenzen in folgenden fällen bewahrt sind: rauh — 
rauchwerk, rauchwaare, rauchhandel; nach {mhd. nach) — nahe; erde — 
irden, irdisch; gold — gülden (substantiviertes adjectivum). Im mhd. 
existieren von tragen die zusammengezogenen formen du irelst, er treit; 
diese sind im nhd. wider durch trägst, trägt ersetzt, aber in der ab- 
leitung getreide ist die contraction bewahrt Mhd. gar hat in den flec- 


170 

tierteti formen ein w (garwe etc.), welches sich im nhd. lantgesetzlich 
zu b entwickeln mnsste; aber eine flexion gar — ^ar^^ konnte auf die 
daner nicht beibehalten werden, and die flectierten formen richteten 
sich nach dem mnster der nnflectierten ; dagegen in dem yerh. gerben 
blieb das b wegen der abweichenden bedentnngsentwickelnng. Jede 
spräche anf jeder beliebigen entwickelangsstnfe bietet reichliehe belege 
fttr diese erscheinnng. 

Die intensität der gedäehtnissroässigen einprägang ist zunächst 
massgebend fttr das kraftverhältniss der einander gegenüber stehen« 
den factoren, in welcher beziehnng die oben s. 163 gemachten bemer- 
knngen anch hier zutreffen. Wenn z. b. im altnordischen die 1. sg. eonj. 
im präs. wie im prät. anf a ansgeht (gefa, g(efa\ während in allen 
übrigen formen ein i erscheint (geftr, geft, gefim, geft^, geft und gceßr, 
gceß etc.), so sind natürlich die Chancen fttr die erstere sehr ungünstig, 
und so erscheint denn auch in den jüngeren quellen gefi, gceft. Natür- 
lich kann aber unter umständen eine vereinzelte gegen mehrere zn- 
sammenstimmende formen den sieg behaupten, wenn sie fttr sich häufiger 
gebraucht wird als die übrigen zusammen. Wenn z. b. im nhd. ziemen 
das i durch das ganze präs. verallgemeinert ist, wovon dann auch 
statt des alten starken ein neues schwaches prät. gebildet ist, wäh- 
rend doch im mhd. die meisten formen e haben, so liegt dies daran, 
dass die 3. sg. es ziemt wie noch jetzt so schon früher an häufigkeit 
alle andern überwog. 

Die meisten ungleichmässigkeiten aber in der behandlung von 
etymologischen gmppen, die sonst in vollständigem parallelismus zn 
einander stehen, gehen daraus hervor, dass die einzelnen gmppen sieh 
in bezug auf die häufigkeit des Vorkommens und damit in bezog 
auf die leichtigkeit, mit der die einzelnen formen mit ihren traditio- 
nellen unterschieden gedächtnissmässig reproduciert werden können, 
sehr weit von einander unterscheiden. Die seltensten Wörter unter- 
liegen bei sonst gleichen Verhältnissen der ausgleichung am frühesten, 
die häufigsten am spätesten oder gar nicht. Dieser satz lässt sich 
nicht bloss deductiv, sonderfi auch inductiv beweisen. 

Ausserdem aber wird der gang der bewegung durch eine menge 
zufälliger Vorgänge in der Seelentätigkeit der einzelnen individnen 
und ihrer einwirkung auf einander beeinflusst, Vorgänge, die sieh 
unserer berechnung wie unserer beobachtung entziehen. Namentlich 
spielen solche unserer erkenntniss verschlossenen factoren eine grosse 
rolle in dem kämpfe, den die durch ausgleichung entstandenen doppel- 
formen mit einander zu bestehen haben. Wir müssten eben allwissend 
sein, sollten wir im stände sein überall die Ursache anzugeben, wamm 
in diesem falle so, in jenem anders entschieden ist. Und die tatsache 


171 

läS8t sich nicht wegläagnen, dass sehr häufig ganz analoge fälle in 
dem selben dialecte, ein und derselbe fall in verschiedenen dialecten 
abweichenden ausgang haben. So, um nur ein ganz sicheres beispiel 
anzuführen, während das gotische den sogenannten grammatischen 
Wechsel sonst dadurch ausgeglichen hat, dass der consonant des präs. 
nnd des sg. prät. verallgemeinert ist, sind die verba hvairban, svairban, 
skaidan den umgekehrten weg gegangen und haben den consonanten 
des pl. prät. und des part. verallgemeinert, uud gerade in dem letzten 
verbum ist im hochdeuten, welches sonst viel öfter als das gotische 
den consonanten des pl. prät. durchführt, der consonant des präs. zum 
siege gelangt. 

Natürlich aber ist die entwickelung in den einzelnen stoff- 
lichen gruppen nicht ganz unabhängig von der formalen gruppie- 
rnng. Namentlich sobald eine lautliche differenzierung sämmtliche zu 
einer formalen gruppe gehörigen etymologischen parallelgruppen triff!;, 
so ist dadurch ein zusammenwirken der stofflichen und der formalen 
gruppierung bedingt. Dies zusammenwirken ist häufig entscheidend 
ftir die richtung der ausgleichung. Im urgermanischen bestand 
in den zahlreichen nominalbildungen mit Buffix -no ein Wechsel des 
dem n vorangehenden vokales zwischen u (später weiter zu ö-a ent- 
wickelt) und e (i), so dass sich beide nach einer bestimmten regel auf 
die verschiedenen casus verteilten, i) Späterhin wird dann bald u (a), 
bald e (i) durch alle casus eines wortes gleichmässig durchgeführt. So 
stehen im got: formen wie Piudans (könig) solchen wie maurgins (morgen) 
gegenüber, im altn. formen wie Jormunn solchen wie Ot5m% und neben 
einander morgunn und morginn. Aber die hierhergehörigen participia 
haben der regellosen willkür in den sonstigen formen gegenüber 
im göt. stets -an, im altn. stets -m. Wie entscheidend dabei die 
formale gruppierung gewesen ist, zeigt sich besonders daran, dass 
solche participia, die zu reinen adjectiven oder zu Substantiven ge- 
worden sind, teilweise einen andern weg eingeschlagen haben, vgl. 
Sotfuigins (verborgen) gegen fulhans, echtes part. zu filhan verbergen; 
aiffjn (eigentum) substantiviertes part. zu aigan (haben); ferner altn. 
jotunn (riese), altes part. zu eta (essen) mit activer bedeutung. 

Aber nicht bloss für die richtung der ausgleichung, sondern auch 
flir das eintreten oder nichteintreten kann die formale gruppie- 
rung entscheidend sein. Je weniger die lautliche differenzierung den 
formellen parallelismus der einzelnen gruppen unter einander stört, 
desto widerstandsfähiger sind sie gegen die tendenzen zur ausgleichung. 
So wäre z. b. die lange erhaltung der ablautsreihen im germanischen 


;. ^ 


») Vgl. Beitr.VI, 238fF, 


172 

nicht möglich gewesen, wenn etwa jedes verbnm seine eigene art ab- 
laat gehabt, wenn es nicht grössere gmppen von verben mit dem 
gleichen schema gegeben hätte. So lässt sich denn auch der nach- 
weis führen, dass die nns erhaltenen Schemata nnr eine aaslese aus 
den vor beginn unserer ttberliefemng vorhandenen darstellen, indem 
alle diejenigen, die nnr in wenigen exemplaren oder nur in einem 
einzelnen vertreten waren, bis auf geringe reste untergegangen sind. 
An andern lässt sich der Untergang noch historisch verfolgen, z. b. got 
truda — irad — Iriäum — irudans, Aehnlich verhält es sich mit dem 
nmlaat in der 2. 3. sg. ind. präs. der starken verba: ahd. faru — ferist 
— ferit, und so noch nhd. fahre — fährst — fährt. 

Ein anderer umstand, der zur conservierung einer lautlichen diffe- 
renz beiträgt, ist das zufällige zusammentrefifen derselben mit einem 
functionsunterschiede. Wenn z. b. sämmtliche casus des sg. sich 
übereinstimmend sämmtlichen casus des pL gegenüber stellen, so prägt 
sich dieses verhältniss leichter und fester dem gedächtnisse ein, als 
wenn einige formen des sg. mit einigen formen des pl. sich zusammen 
andern formen des sg. und pl. gegenüber stellen. Und so ist es auch 
natürlich, dass, wo in der mehrzahl der fälle die lautliche diflferenzie- 
rung mit dem functionsunterschiede zusammenfällt, die ausgleichung 
sich zunächst auf die näher zusammengehörigen gruppen beschränkt 
und damit die Übereinstimmung zwischen laut- und functionsunter- 
schied vollständig macht Im altdänischen lautet der pl. von harn 
(kind) einem gemeinskandinavischen lautgesetze zu folge bem, barm, 
bsmutn, hsm, während im sg. a durchgeht. Das neudänische hat auch 
für bama, bsrna eintreten lassen. Bei einem andern werte lagh (ge- 
setz) ist schon im altdänischen durch den ganzen pL durchgeführt 
Die ausgleichung innerhalb der engem gruppen ist häufig nur die Vor- 
stufe zu der weiteren ausgleichung. So dringt auch heiktgh schon im 
altdänischen das o bisweilen in den sg., und neudänisch ist lov durch- 
geführt. Das zusammenfallen mit einem functionsunterschiede kann 
aber auch die Ursache zu dauernder bewahrnng eines lautlichen Unter- 
schiedes sein, und dies vor allem dann, wenn er zugleich in der eben 
besprochenen weise durch die formale analogie widerstandsfähig ge- 
macht wird. 

Bei dem zusammentrefifen dieser beiden umstände kann sich die 
Vorstellung von dem lautlichen unterschiede so fest mit der von dem 
functionsunterschiede verbinden, dass dem Sprachgefühl beides unzer- 
trennbar erscheint. Auf diese weise wird allmählig der zufällig ent- 
standene bedeutungslose unterschied zu einem bedeutungs- 
vollen. Er wird es um so mehr, je weniger die bedeutungs Verschie- 
denheit durch sonstige unterschiede in der lautgestaltung deutlich 


178 

gekennzeichent ist So vermag sich die spräche einen ersatz zu 
schaffen fttr den in folge des lautlichen Verfalls eintretenden Verlust 
der charakteristischen merkmale des fnnctionsunterschiedes. 

Der ablaut im germanischen verbum beruht auf einer vocal- 
djfferenziernng, die schon in der indogermanischen Ursprache ein- 
getreten ist. Diese ist eine mechanische folge des wechselnden aceentes 
und hat mit dem functionsunterschiede der einzelnen formen nrsprttng- 
Gch nichts zu schaffen. Sie war auch für die Ursprache etwas durch- 
aueh überflüssiges , abgesehen von der Scheidung zwischen präs.-impf. ^ 
und aorist (vgl. griech. Xelytco, iXsurov, leljtOLUt — eXucov, Xijtoc/ii), 
Namentlich war der perfectstamm durch die reduplication schon deut- 
Heh von dem präsensstamm geschieden. Daher sehen wir denn auch 
im griech. den vocalwechsel zwischen präs. und perf. in entschiedenem 
verfall begriffen; es heisst zwar noch Ae/^co — XiXotJia, aber jtXixa> 
— - :jtixXExa, nicht ^jtijtXoxa- Und von dem ursprünglichen Wechsel 
zwischen sg. und pl. des perf. sind nur noch wenige Überreste vor- 
handen {pUa — löfisv). Dieser verfall des ablauts ist die folge seiner 
ttberflüssigkeit, und überflüssig war er, weil das alte charakteristische 
kennzeichen des perfectstammes, die reduplication, fort und fort getreu 
bewahrt blieb, ausserdem auch der prä.sensstamm vielfach noch be- 
sonders charakterisiert war. Im germ. sind umgekehrt der verfall der 
reduplication und die befestigung des ablautes hand in band gegangen. 
Man kann zwar nicht sagen, dass das eine die Ursache des andern 
gewesen ist. Vielmehr ist der erste anstoss zum verfall der redu- 
plication durch die lautliche entwickelung gegeben, in folge deren ge- 
wisse formen nicht mehr als reduplicierte zu erkennen waren {rgl, 
den typus bSrum), und die conservierung des ablauts ist in erster 
linie durch den reihenparallelismus bedingt. Aber im weiteren ver- 
laufe der entwickelung hat sich ein wechselseitiges causalverhältniss 
herausgestellt. So ist es z. b. charakteristisch, dass im got. haupt- 
sächlich noch diejenigen, verba die reduplication bewahrt haben, bei 
denen die indogermanische vocaldifferenz zwischen präs. und perf (prät.) 
auf lautlichem wege geschwunden ist, und zwar diese sämmtlich, vgl. 
halda — haihald, skaiäa — skaiskaiä, stauta — staitaut. Immerhin ist 
auch für das ahd. ein zwingendes bedürfoiss zur Unterscheidung der 
Wurzelsilbe des präs. und prät. deshalb noch nicht vorhanden, weil 
bei jeder einzelnen person des ind. wie des conj. auch in der endung 
der unterschied ausgedrückt war. Anders im mhd., wo in der 1. 2. pl. 
des ind. und im ganzen conj. der unterschied zwischen präs. und prät. 
lediglich auf der gestalt der Wurzelsilbe beruht, vgl. geben = gäben, 
gebet = gäbet, gebe =^ gcebe etc. Im nhd. ist dazu auch die 2. sg. 
und 8. pl. ind. gekommen. Der ablaut ist also ein immer notwendigeres 


174 

characteristicnm geworden. Aber nnr die nBterseheidnng zwischen 
präg, und prät, nicht die Unterscheidung zwischen dem sg. ind. prät 
oder nur der 1. und 3. sg. ind. prät. einerseits und den übrigen formen 
des Präteritums anderseits hat einen wert. Diese letztere, wie sie 
gleichfalls aus der Ursprache überkommen war, war lediglich durch 
die häufigkeit gewisser verba und den reihenparallelismus gestützt. 
So ist sie denn auch in einigen klassen schon frühzeitig beseitigt (got 
fbr — forum, faifäh — faifähum, ahd. fiang — fiangum). In andern 
hat sie sich bis ins nhd. fortgeschleppt, ist endlich aber doch bis auf 
wenige reste beseitigt. Sicher ist es ein fortschritt in bezug auf Zweck- 
mässigkeit der lautgestaltung, wenn wir jetzt nicht mehr wie im mhd. 
spranc — sprangen, floug — flugen sagen, sondern sprang — sprangtn, 
flog — flogen. Erst im nhd. hat daher der ablaut wahrhaft functionelle 
geltung erlangt. Dabei verdient noch eine erscheinung beachtung. 
Der unterschied zwischen sg. und pl. ist (von den präterito-präsentia 
abgesehen) in der jetzigen Schriftsprache nur in dem häufigen verbum 
werden erhalten, und auch hier überwiegen bereits nebenformen mit 
beseitigung des Unterschiedes. Dagegen gibt es noch eine anzahl von 
verben, in denen zwar der vocal des sg. in den-pl. gedrungen ist, der 
conj. aber seinen eigentümlichen vocalismus bewahrt hat: starb — 
stürbe, schwamm — schwömme (daneben aber schwämme) etc. Da ist 
schon innerhalb engerer grenzen ein lautlicher gegensatz festgehalten, 
aber wider vermöge des Zusammenfalls mit einem functionellen. Da 
aber zum ausdruck des letzteren der umlaut allein genügen würde 
{schwammen — schwämmen)^ so wäre das festhalten des alten vocals 
dennoch etwas überflüssiges. Aber gerade bei denjenigen verben, in 
denen derselbe am festesten haftet {verdürbe, stürbe, würbe, würfe, 
hülfe), kommt etwas anderes hinzu, die Unterscheidbarkeit vom conj. 
präs.: helfe und hälfe, welche form allerdings neben hülfe vorkommt, 
sind zwar graphisch, aber nicht lautlich von einander geschieden. 
Anderseits bildet kein verbum mit durchgehendem i im präs. noch 
einen conj. prät. mit ü (vgl. singe — sünge), weil hier gerade die alte 
form nach der in den meisten mundarten üblichen ausspräche mit dem 
conj. präs. zusammenfallen würde. Und so erklärt es sich, warum 
gerade die verba mit mm und nn noch doppelformen aufweisen 
{schwämme — schwömme, sänne — sonne, vgl. geschwommen, gesonnen 
gegen gesungen). 

Eine ähnliche rolle wie der ablaut hat der durch ein i oder j 
der folgenden silbe hervorgerufene umlaut gespielt. In der männlichen 
2-declination hatte sich im ahd. zufällig das verhältniss herausgebildet, 
dass der ganze sg. unumgelautet bleibt, der ganze plural umgelautet 
wird {ffost — gesti etc.), und aus diesem gründe beharrt die diflferenz. 


175 

Das verhältnigg wird am besten erläutert, wenn wir damit die ge- 
sctuchte des gleichfalls durch den folgenden vocal bedingten wechseis 
zwischen e und i, u und o vergleichen. Die u-dedination rousste im 
nrgerm. etwa folgendermassen aussehen.^) 

sg. pl. sg. pl. 

n. meduz midiviz sunuz suniviz 

g. tnedauz medevö sonauz sonevö 

d. midiu medumiz suniu sunam 

a. medu meduns sunu sununs 

Ein so unzweckmässiger Wechsel konnte sich nicht lange behaupten. 
Wir finden daher nur noch im altnordischen reste davon. Das alt- 
bochdeutsche hat schon in der ältesten zeit in sunu das u durchgeführt, 
in melu, ehu, eru das e^ in situ, quirn das i.^) Notwendig zur Unter- 
scheidung ist der umlaut in der i-declination im ahd. noch nicht, da 
die casus des pl. auch sonst von denen des sg. noch deutlich ge- 
schieden sind; auch im mhd. noch nicht, so lange das e der flexions- 
endungen gewart wird, denn der nom. acc. gen. pl. geste würden wol, 
auch wenn sie des Umlauts entbehrten, mit dem dat sg. gctsie nicht 
leicht verwechselt werden. Sobald aber das e schwindet, wie dies 
namentlich in den oberdeutschen dialecten geschehen ist, bleibt der 
Umlaut im nom. und acc. das einzige Unterscheidungszeichen zwischen 
sg. und pl. Auf diesem Standpunkte der entwickelung hat die t-decli- 
nation einen erheblichen vorzug vor der a-declination, und die rein 
dynamische geltung des umlauts ist vollendet. Das zeigt sich nament- 
Uch daran, dass er weit über sein ursprüngliches gebiet hinausgreift. 
Dies hinausgreifen steht mit dem fehlen oder Vorhandensein eines 
unterscheidenden e im engsten zusammenhange. So hat gerade im 
oberdeutschen der umlaut fast alle umlautsfähigen substantiva der 
alten a-declination ergriffen, vgl. Schmeller, Mundarten Baiems § 796, 
Winteler, Kerenzer mundart s. 170 ff. Man sagt also tag — tag, arm — 
arm etc. Die mittel- und niederdeutschen mundarten und die Schrift- 
sprache haben diese tendenz in viel geringerem grade, und vorwiegend 
nur bei den mehrsilbigen Wörtern wie sattel, wagen, in denen auch sie 
das e des pl. abwerfen. Schon frühzeitig durchgedrungen ist der um- 
laut bei den ursprünglich consonantisch flectierenden und daher einer 
endung im nom. acc. pl. entbehrenden verwandtschaftswörtern: mhd. 
vater — veter, muoter — müeter etc. 


*) Es kommt natürlich fiir unsem zweck nicht in betracht, ob die endungen 
genau zutreffend bestimmt sind. 

«) Vgl. Beitr. z. gesch. der deutschen spr. VI, 80. Eine ausgleichung nach 
verschiedenen richtungen bleibt auch möglich, falls für das ahd. ein lautlicher Über- 
gang des e in i vor u anzunehmen ist. 


<v* 


.■^ 


176 

Auch die formale ansgleiehnng, die wir sehen mehrfach mit in 
die betrachtang hineinziehen mussten, ist häufig reaction gegen eine 
zwecklose lautdifferenzierung. Der hergang ist dann folgender. Es 
sind innerhalb einer bis dahin gleichförmigen bildungsklasse lautliehe 
discrepanzen in einer oder mehreren formen entstanden, so hat sich 
z. b. der gen. bei einigen Wörtern so, bei andern anders gestaltet, 
während in den übrigen casus die gleichmässigkeit nicht gestört ist. 
Dann macht sich die tendenz geltend auch in der einen oder den 
wenigen differenzierten formen die nämliche gleichmässigkeit wider 
herzustellen, die partielle Übereinstimmung der bildungsweise wider in 
eine totale zu verwandeln. Diese art von ausgleichung findet sich be- 
sonders in Verbindung mit der stofflichen, wie die angeführten bei- 
spiele zeigen. Sie ist aber auch ausserdem häufig genug, So gehört 
z. b. hierher die ausgleichung zwischen hartem und weichem reibelaat 
in den casus- und personalendungen der altgermanischen dialekte.') 
Nach dem Yemerschen gesetze war p »= idg. t in p und ti (d), s in 
s (hart) und z (weich) gespalten. Es hiess demnach im urgerm. *tTdesi 
(du trittst), */r^^/»i (er tritt), '^'tTdepe (ihr tretet), *lTd6npi (sie treten) 
gegen Herezi (du trägst), *birebi, *bSrebe, *berondi, während in der 
1. sg. und pL keine differenzierung eingetreten war; ferner in der 
o-declination nom. sg. *stig6s (steg), aber *ehwoz (pferd), npm. pl. *stig6s, 
aber ^ehtvdz, acc. pl. *siigdns, aber *ihwom, während die übrigen casus- 
endungen gleich geblieben waren; und ähnlich in andern flexions- 
Massen. Die darauf eingetretene ausgleichung hat fast überall zn 
gunsten des weichen lautes entschieden, wobei zu bemerken ist, da88 
z im altn. und in den westgerm. dialecten als r. erscheint, im ursprüng- 
lichen auslaut in den letzteren abfällt. Doch hat in einigen fällen 
auch das harte s gesiegt So steht im nom. pl. der a-declination ag8. 
und altfries. dagas neben altn. dagar\ im alts. zeigt der Heliand -os, 
nur vereinzelt o oder a (jgrurio, sluliiä), während in der Freckenhorster 
rolle a häufiger ist als os und as. Das ahd. kennt in appellativen nnr 
a, dagegen in stammbezeichoungen, die zu städtenamen geworden sind, 
auch 'OS, falls dieselben nicht anders aufzufassen sind.^) 

Ein beispiel aus jüngerer zeit ist die widerherstellung des flexions-e 
im nhd. in fällen, wo es schon im mhd. geschwunden war. Besonders 
lehrreich sind die ableitungen mit -en, -er, -eL Bei den Substantiven 
bleibt die mittelhochdeutsche ausstossung des e bestehen, vgl. des morgens, 
dem wagen, die wagen, der wagen, den wagen gegen tages, tage, tagen, 
ebenso schüssel, schusseln gegen schule^ schulen. Dagegen in den ad- 


*) Vgl. Beiträge VI, 548 ff. 

«) Vgl. Kögel, Zschr. f. deutsches altertum 28, s. ItOff. 


177 

jectiven, die wegen der sonstigen durchgängigen gleichformigkeit fester 
znsammengehalten wnrden, ist das e nach analogie der einsilbigen 
wider hergestellt: gefangenes wie langes, gefangene, gefangenen (mhd. 
gevangen)^ andere, anderes, andere (= mhd. ander, anders, ander). 
Die neuhochdentschen formen kommen übrigens schon im mhd. neben 
den syncopierten vor. Wir können dabei wider beobachtungen über 
isoliening machen. Es heisst ansnahmlos die, den eitern gegenüber 
die, den älteren; der jünger, den jungem (subst.) gegen der jüngere, 
den jüngeren (adj.); einzeln, dat. pl. des mhd. adj. einzel; anderseits, 
unserseits gegen andere seile, unsere seile; Vorderseite, hinterseite, 
Oberarm, unterarm, edelmann, innerhalb, ausserhalb, oberhalb, unterhalb 
(nnechte composita, durch zusammenwachsen von adj. und subst. ent- 
standen) gegen die vordere seile etc.; anders gegen anderes. 

Ein anderer fall, in dem der umlaut aus analogen Ursachen 
dynamisch geworden ist, ist der conj. der starken und der ohne 
zwischenvocal gebildeten schwachen präterita, mhd. fuor — füere, sang, 
pl. sungen — süngen, mohte — möhte, brähte — brcehte etc. Hier ist 
der ^mlaut entweder durchgängig oder wenigstens für den pl. einziges 
Unterscheidungsmittel. Die dynamische auffassung im Sprachgefühl 
bekundet sich darin, dass im nhd. bei der sonstigen ausgleichung des 
vokalismns doch der umlaut bleibt {sang, sangen — sänge, für sungen, 
sünge); ferner noch entschiedener im mitteldeutschen in der Über- 
tragung des Umlauts von den ursprünglich vokallosen auf die syn- 
copierten präterita {brante — brente statt brante nach analogie von 
brähte — broBhte)S) 

Ein dritter fall ist der umlaut im präs. gegenüber dem unter- 
bleiben des Umlauts im prät. und pari: ahd. brennu — branta — 
gibranter. Im part. hat sich auf lautlichem wege ein Wechsel ent- 
wickelt: gibrennit — gibrant-. Das nächste resultat der ausgleichung 
ist aber unter diesen umständen, dass die unflectierte form gibrennit 
gegen gibrant zurückgedrängt wird. Dann aber erhält sich der gegen- 
satz in der Wurzelsilbe zwischen präs. und prät-part. Jahrhunderte 
hindurch constant, wiewol er zur Charakterisierung der formen nicht 
notwendig ist. 

Auf diese weise können auch demente des wortstammes in 
flexionsendungen verwandelt werden. Dies ist der fall in unserer 
schwachen declination. In dieser gehört das n (vgl. namen, frauen, 
herzen) zu dem ursprünglichen stamme. Indem aber jede spur der 
ursprünglichen flexionsendung durch den lautlichen verfall getilgt ist, 
und indem anderseits das n im nom. (beim neutrum auch acc.) sg. 


<) Vgl Bech, Germania 15, s. 129 ff. 
Pauly Principien. II. Auflage. 12 


178 

geschwunden ist {name, frau, herz\ so ist es zum charaeteriBticnm der 

obliquen casus im gegensatz zum nom. sg. geworden. Ein anderes 

auf solche weise entsprungenes casussuffix ist das pluralbildende -er 

{rad — rääer,. mann — männer). Die bildungsweise ist von einigen 

neutralen ^-stammen ausgegangen (vgl. lat gentts — generis), in denen 

das s lautgesetzlich zu r geworden war. Im nom. sg. musste dasselbe 

nebst dem vorhergehenden vocal lautgesetzlich sehwinden. Unter der 

einwirkung der vocalischen declination entstand dann zunächst im ahd. 

folgendes Schema. 

sg. pL 

n. kalp kalbir 

g. kalbir-es kalbir-o 

d. kalbir-e kalbir-um 

a. kalp kalbir. 

Im gen. und dat. sg. war das -ir- jedenfalls unnötig und störend. 
Daher sind die betreffenden formen schon in der zeit, aus der unsere 
ältesten quellen stammen, bis auf vereinzelte reste verschwunden und 
durch kaihes, kalbe ersetzt, die nach dem muster der normalflexion 
aus dem nom.-acc. gebildet sind. Nun musste das -ir als characte- 
risticum des pl. erscheinen, um so mehr, weil es im nom.-acc. gar kein 
anderes unterscheidendes merkmal gab. Der functionelle Charakter 
des 'ir = mhd., nhd. -er documentiert sich dann dadurch, dass es all- 
mählig auf eine menge von Wörtern übertragen wird, denen es ur- 
sprünglich nicht zukommt. 

Diese beispiele werden genügen um anschaulich zu machen, wie 
eine ohne rücksicht auf einen zweck entstandene lautliche differen- 
zierung, durch zufälliges zusammentreffen verschiedener umstände be- 
günstigt, ungewollt und unvermerkt in den dienst eines Zweckes ge- 
zogen wird, wodurch dann der schein entsteht, als sei die differenz 
absichtlich zu diesem zwecke gemacht. Dieser schein wird um so 
stärker, je mehr die gleichzeitig entstandenen zweckwidrigen diffe- 
renzen getilgt werden. Wir dürfen unsere aus der verfolgbaren histo- 
rischen entwickelung zu schöpfende erfahrung zu dem satze verall- 
gemeinern, dass es in der spräche überhaupt keine absichtliche zur 
bezeichnung eines functionsunterschiedes gemachte lautdifferenzierung 
gibt, dass der erstere immer erst durch secundäre entwickelung zar 
letzteren hinzutritt, und zwar durch eine unbeabsichtige, den sprechen- 
den individuen unbewusste entwickelung veimittelst natürlich sich er- 
gebender ideenassociation. 


Cap. XI. 

Bildung neuer gmppen. 

Wenn im allgemeinen der lantwandel die wirknng hat nnterschiede 
zu erzeugen, wo früher keine vorhanden waren, so dient er doch auch 
nicht ganz selten dazu vorhandene unterschiede zu tilgen. Das 
ist anter umständen ganz heilsam, meistens aber schädlich, indem auch 
nuterschiede, welche für die kennzeichnung der ftinction wesentlich 
sind, verloren gehen und ausserdem die reinliche sonderung der ein- 
zelnen gruppen von einander unmöglich gemacht wird. Daher pflegt 
aneh diese Wirkung des lautwandels weitere folgen zu haben und 
namentlich viele analogische neubildungen hervorzurufen. 

Der einfachste hierher gehörige Vorgang ist, dass Wörter, die 
etymologisch gar nicht zusammeahängen und auch in ihrer bedentung 
nichts mit einander zu schaffen haben, durch secundäre entwiekelung 
lautlich zusammenfallen, z. b. enkel (talus) = mhd. enkel — enkel 
(nepos) = mhd. enenkel, garhe (manipulus) = mhd. garhe — garbe 
(Schafgarbe) = mhd. garwe, kiel (carina) = mhd. kiel — kiel (caulis 
pennae) = mhd. kil, mähre (narratio) = mhd. mcere — mähre (equa) 
= mhd. merhe, ior (porta) == mhd. ior — ior (stultus) = mhd. idre, 
los (solutus) = mhd. I6s — los (sors) = mhd. löz, ohm (amphora) 
= mhd. dme — ohm (avunculus) = oheim^ schnür (linea) = mhd. snuor 
~ schnür (nurus) — - mhd. snur. Massenhafte beispiele Hessen sich 
namentlich aus dem englischen anfUhren. 

■ - * 

Mitunter verschmelzen zwei solche Wörter trotz der Verschieden- 
heit ihrer bedeutung ftts das Sprachgefühl in eins. Niemand wird 
ohne sprachgeschichtliche kenntnisse vermuten, dass in unseim unter 
zwei ganz verschiedene Wörter zusammengefallen sind, das eine == lat. 
inier, das audere verwandt mit lat. infra (sanskr. andhari). Noch 
weniger wird man darauf verfallen, dass ein schiff lichten anderen 
Ursprung hat (mhd. lihten leicht machen) als die anker lichten (nieder- 
deutsche form fllr lüften). Schlingen (devorare) ist mitteldeutsche form 
flir älteres slinden (vgl. Schlund) und hat sich vielleicht deshalb in 

12* 


180 

der Schriftsprache festgesetzt, weil es mit schlingen = mhd. slingen 
verschmolzen ist Bei der wendnng in die schanze schlagen denkt man 
kaum daran, dass man es mit einem andern worte als dem gewöhn- 
lichen schanze zn tan hat; es ist = franz. chance. Noch beweisender 
sind einige fälle, in denen formale beeinflussung stattgefunden hat 
Zwar dass der übertritt von mahlen (mhd. maln) aus der starken in 
die schwache conjngation sich unter dem einfluss von malen (mhd. 
malen) vollzogen hat, kann man nur vermuten. Schon weniger frag- 
lich ist es, dass der übertritt von laden einladen (= ahd. laddn) in 
die starke eonjugation durch laden aufladen (= ahd. JUadan) veranlasst 
ist; umgekehrt kommen von letzterem auch schwache formen vor, 
z. b. über ladete bei Less., ladest, ladet auch jetzt Sieher ist, dass ein 
starkes er befährt bei Jean Paul zu dem sonst schwachen befahren 
= mhd. vdren durch Verwechselung mit dem starken befaliren (mhd. 
vam) veranlasst ist In Oestreich verwechselt man kennen und können, 
man sagt z. b.: der Schauspieler hat seine rolle nicht gekannt. In den 
beiden letzten fällen sind zwar etymologisch verwandte, aber doch 
wesentlich verschiedene Wörter confundiert. Im mhd. existieren zwei 
etymologisch verschiedene partikeln wan, die eine adversativ, die andere 
begründend — nhd. denn. Die letztere hat eine vollere nebenform 
wände zur Seite. Diese wird nun zuweilen auch in adversativem sinne 
angewendet, wo sie von hause aus nicht berechtigt ist (vgl. Mhd. 
wb. in, 479^). Im ahd. sind die präpositionen int- und in in der 
composition mit einem verbum vielfach in die form m- zusammen- 
geflossen indem das t durch assimilation in den folgenden consonanten 
aufgegangen ist Die doppelheit int- — in- ist denn auch auf solche 
fälle übergegangen, in denen in zu gründe liegt, vgl. nhd. entbrennen, 
entzünden etc. Unser zer- hatte früher eine nebenform ze- (zer- vor 
vokal, ze- vor consonant entwickelt). Diese war lautlich identisch 
mit der ihrem Ursprünge nach ganz verschiedenen präposition ze 
zu. Neben diese trat im mhd. die adverbialform zuo mhd. zu, welche 
allmählig die form ze ganz verdrängt hat Dies zu finden wir nun 
auch für ze- = zer-^ z, b. bei Luther. Entsprechend ist ags. tö- in 
der bedeutung von zer- zu erklären. 

Durch zufälliges partielles gleichwerden der lautgestaltung treten 
unverwandte Wörter zu stofflichen gruppen zusammen. Es ist 
dies die einfachste art der sogenannten Volksetymologie, die sich 
lediglich auf eine umdeutung durch das Sprachgefühl beschränkt, ohne 
dass dadurch die lautform eine Veränderung erleidet. Vorbedingung 
dafür ist, dass die wahre etymologie des einen wertes verdunkelt ist, 
so dass es keine andere, berechtigtere anknüpfung hat 

Solchen umdeutungen unterliegen am häufigsten die glieder eines 


181 

compositams. So wird erwähnen als eine Zusammensetzung mit wähnen 
= mhd. wcenen gefasst, während es vielmehr das mittelhochdeutsche 
{ge)wehenen enthält; hei freitag denkt man an das adj. frei. Am 
meisten sind eigennamen der umdeutnng ausgesetzt, vgl. Reinwald, 
Bärwald, Braunwald, in denen der zweite bestandteil ursprtlnglieh 
nicht «» Silva ist, sondern nomen agentis zu walten; Glaub -recht. 
Lieh recht, die ursprünglich vielmehr composita mit brecht = ahd. 
beraht sind; Sauerlant, verhochdeutsch aus Süerland «=== SMerlant. 
Weitere beispiele bei Andr. Yolkset Hier ist die umdeutnng erfolgt, 
ohne dass sie von Anfang an durch eine Verwandtschaft der bedeutung 
antersttttzt worden wäre. Es wirkt bloss die natürliche erwartung, in 
einem werte, welches seiner lautgestalt nach den eindruck eines com* 
positnms macht, auch bekannte demente zu finden. 

Eigennamen widerstreben einer solchen lediglich an den laut sich 
haltenden secundären beziehung am wenigsten, weil bei ihnen zwar keine 
Übereinstimmung, aber auch kein Widerspruch der bedeutungen mög- 
lieh ist. Es giebt aber auch fälle, in denen es möglich wird zwischen 
den bedeutungen der betreffenden Wörter eine beziehung herzustellen; 
vgl. mhd. endekrist, lautlich entwickelt aus antikrist] nhd. lanzknecht 
aus landes knecht; wahnwitz, wähnsinn, wahnschaffen an wahn {= mhd« 
wän) angelehnt, während mhd. wan leer, nichtig zu gründe liegt; 
friedhof aus mki.. frithof; vormund zu mund schütz; verweisen, nicht zu 
weisen (= mhd..wisen) gehörig, sondern aus mhd, verwtzen. Umringen 
ist, wie noch die schwache flexion zeigt, seinem Ursprünge nach kein 
compositum von ringen, sondern eine ableitung aus dem untergegan- 
genen mhd. ümberinc. Aber die betonung umringen beweist, dass es 
zu einem compositum aus um und ringen umgedeutet ist. Eine weitere 
consequenz der umdeutnng ist dann gewesen, dass man ein part. 
umrungen und selbst ein prät. umrang gebildet hat, vgl. die belege 
bei Sanders II, 764. Auch Wörter, die keine composita sind, aber 
wegen ihrer volleren lautgestalt den eindruck von solchen machen, 
werden auf diese weise zu wirklichen compositis gestempelt; vgl. 
leumund als leuiemund gefasst, aber ableitung aus got. hliuma (ohr); 
weissagen, schon mhd. wissagen = ahd. wizagon, ableitung aus nnzago 
der wissende, prophet; trübsälig, armsälig etc., ableitungen aus trüb- 
scU etc., 'Sal ableitungssuffix. 

Seltener ist es, dass ein wort als ableitung von einem andern 
gefasst wird, mit dem es ursprünglich nichts zu schaffen hat. Nhd. 
sucht wird vom Sprachgefühl als zu suchen gehörig empfunden, ist aber 
hervorgegangen aus mhd. sulit (= got. sauhts\ das mit mhd. suochen 
(got. sökjan) nichts zu schaffen hat Die neuhochdeutsche anlehnung 
an suchen ist ausgegangen von compositis wie Wassersucht, mondsucht, 


182 

gelbsuchi^ schwindsuchi, elfersucht, Sehnsucht, ehrsucht etc., die man als 
begierde nach wasser, nach dem monde, gelb zu werden, zn eifern etc. 
äuffasste. H. Sachs fasst -suht noch als krankheit, wenn er sagt wann 
er hat auch die eifersucht. Vgl; dagegen den bekannten Spruch eifer- 
sucht ist eine leidenschaft, die mit ei fer sucht, was leiden schafft. Laute 
wird als zu laut gehörig empfunden, ist aber ein aus dem arabischen 
stammendes lehnwort. Bei hantieren aus franz. hanter denkt man an 
hand, bei fallieren aus franz. faillir an fällen, bei beschwichtigen^ 
niederdeutsche form zu mhd. swiften, an schweigen, bei schmälen 
(eigentlich schmal, klein machen) an schmähen, Herrschaft, herrlich, 
herrschen sind aus hehr abgeleitet (daher mhd. hSrschaft etc.), werden 
aber jetzt auf herr bezogen, womit sie ursprünglich nur indirect ver- 
wandt sind. 

Von den besprochenen erscheinungen zu sondern ist die eom- 
pliciertere art der Volksetymologie. Diese besteht in einer lautlichen 
Umformung, wodurch ein wort, welches durch zufällige klangähnlich- 
keit an ein anderes erinnert, diesem weiter angeglichen wird. Eine 
solche Umformung kann absichtlich gemacht werden mit dem vollen 
bewusstsein, dass man sich eine Veränderung der richtigen form ge- 
stattet. Derartiger Verdrehungen bedienen sich manche humoristische 
Schriftsteller, in ausgedehntestem masse Fischart. Manche pflanzen 
sich als traditionelle witze fort, besonders in der Studentensprache. 
Diese absichtlich witzige Umformung bietet dem Sprachforscher kein 
problem. Sie geht ihn nur insofern an, als sie von dem naiven sinne 
der kinder und der ungebildeten nicht als Verdrehung erkannt, sondern 
als die eigentliche form aufgenommen und weiterverbreitet wird. Es 

r 

gibt aber zweifellos auch eine absichtslose und unbewusste Umformung, 
die sich als solche durch die abwesenheit jedes vntzes zu erkennen 
gibt. *) Derselben unterliegen fremdwörter, eigennamen und andere 
Wörter, deren etymologie verdunkelt ist, und zwar fast nur composita 
oder solche Wörter, die vermöge ihrer volleren lautgestalt den eindmek 
von compositis machen. Hierbei unterliegt entweder nur das erste 
Clement einer Veränderung, vgl. Jubeljahr (ebräisch Jobel)^ dienstag^ 
Huldreich aus mhd. Uolrich, maulwurf aus mhd. moltwurf, lat auri- 
chalcum aus griech. ogelxaXxog] oder nur das zweite, vgl. hagesiolz, 
Beinhold, Gotthold, Weinhold eie. aus -olt = wält^\ abspannen aus mhi 


^) Noch ist darauf auünerksam zu machen , dass dieselbe nicht mit der in 
cap. 22 zu besprechenden lautsubstitution verwechselt werden darf. Die Wirkungen 
beider Vorgänge sind nicht immer scharf auseinanderzuhalten. 

^) Das h ist allerdings wol kaum je gesprochen worden, und dann liegt nur 
umdeutung vor, die in der Orthographie ihren ausdruck gefunden hat 


183 

sparten (locken), abstreifen aus mhd. ströufen *), einöde aus mhd. eincete 
{cele Suffix); oder beide, vgl. armbrust aus lat arcuhalista, Uehstöckd 
aus lafc liQustitum, f Meisen aus franz. valise^ ehrenhold aus heralt, griech. 
ßvvBÖQiov aus ebräisch sanhedrin. Der eine bestandteil ist umgeformt, 
der andere nur umgedeutet in abseile, Mher apside aus griech. arpig; 
Küssnacht aus Cicssiniacum; wahrscheinlich auch in Mailand aus 
mhd. Milan, Wie schon aus diesen wenigen beispielen ersichtlich ist, 
kann die angleichung dadurch unterstützt sein, dass sich die bedeutung 
des umgeformten Wortes zu der seines musters in beziehung bringen 
liess, aber sie bedarf solcher Unterstützung nicht notwendig. Für die 
erklärung des Vorganges werden wir zunächst zu berücksichtigen 
haben, dass man ganz gewöhnlich die worte und Sätze die man hört, 
ihren lautbestandteilen nach nicht vollkommen exact percipiert, sondern 
teilweise errät, gewöhnlich durch den nach dem zusammenhange 
erwarteten sinn unterstützt. Dabei rät man natürlich auf lautcomplexe, 
die einem schon geläufig sind, und so kann sich gleich beim ersten 
hören statt eines flir sich sinnlosen teiles eines grösseren wertes ein 
ähnlich klingendes übliches wort unterschieben. Ferner aber haftet 
ein wortteil, der sonst gar keinen anhält in der spräche hat, auch 
wenn er richtig percipiert ist, schlecht im gedächtniss, und es kann 
sich daher doch bei dem versuche der reproduction ein als selbständiges 
wort geläufiges dement unterschieben. Und wenn erst einmal, sei es 
beim hören oder beim sprechen, eine solche Unterschiebung stattge- 
funden hat, so hat das untergeschobene vor detn. echten den vorteil, 
dass es sich besser dem gedächtniss einprägt. Es ist ganz natürlich, 
dass sieh dieser Vorgang im allgemeinen auf längere worte beschränkt. 
Denn kürzere sind leichter zu percipieren und leichter zu behalten. 
Ausserdem aber ist man es gewohnt, dass eine anzahl einfacher Wörter 
isoliert da stehen, wenigstens nur mit den allgemein geläufigen und 
beliebig bildbaren ableitungen gruppiert, während man von einem 
Worte, welches den eindruck eines compositums macht, auch erwartet, 
dass die einzelnen demente an einfache Wörter anknüpf bar sind. 

Viel durchgreifender als auf dem stofflichen wirkt der lautliche 
zusammenfall auf dem formalen gebiete. Wir scheiden die hierher 
gehörigen Vorgänge zunächst in zwei hauptgruppen, nämlich je nach- 
dem formen zusammenfallen, die functionell gleich, oder solche, 
die functionell verschieden sind. 

Die auf hebung lautlicher Verschiedenheiten bei functiondler gleich- 
heit kann sehr woltätig wirken, weil sie die bildung der formalen 
gruppen vereinfacht. Mitunter wird dadurch nur die im vorigen capitel 


') Dabei kommt aber auch der mundartliche Übergang von eu in ei in betracht. 


184 

besprochene lautliehe diiferenzierang wider aufgehoben. So fallen z. b. 
die auf gleicher grundlage beruhenden althochdeutschen bildungssilben 
"id, -Ol, -il im mhd. in -el zusammen, ebenso -un, -an, -in in -en etc. 
Zwecklos sind aber auch solche unterschiede wie die doppelte bildung 

des comparativs und Superlativs im ahd. -iro, -ist 6ro, -Ost oder die , 

beiden synonymen weisen der adjectiybildung auf -ag und -t^O' ^^^ 
es ist daher nur ein vorteil, wenn wir jetzt nur -er^ '\e\st und -ig 
haben. Auch der zusammenfall zweier ganzer flexionsklassen wie der 
althochdeutschen verba auf -ön und -in in mhd. -en ist nur eine zweck- 
mässige Vereinfachung. 

Aber nicht immer geht lautlicher zusammenfall so gleichmässig 
durch ganze Systeme von stofflich -formalen proportionen hindurch. 
Meistens trifft er nur einen teil der unter einander zusammenhängenden 
formen. Dann trägt er nicht zur Vereinfachung, häufig aber zur ver- 
wirrung der Verhältnisse bei. 

a) Der lautliche zusammenfall geht zwar durch sämmtliche formen 
eines flexionssystemes hindurch, er trifft aber in der einen flexions- 
klasse oder in mehreren nur einen teil der Wörter, die ursprttnglich 
dazu gehören. Während, wie wir eben gesehen haben, von den drei 
althochdeutschen klassen der schwachen verba im mhd. zwei ganz 
zusammengefallen sind, haben sich ihnen von der dritten klasse (goi 
auf 'jtm) nur die kurzsilbigen vollständig angeschlossen, die langsilbigen 
bleiben noch unterschieden durch die alte syncope des mittelvokals im 
präi und pari perf, und eventuell durch den rückumlaut, vgL maneie, 
lebete, tvenete aus manota, lebeta, wenita zu manen, lehen^ werten neben 
neicte, brante zu neigen, brennen. Die althochdeutsche t-declination ist 
mit der o-declination in bezug auf die endungen vollständig zusammen- 
gefallen, in bezug auf die gestalt des Stammes im plur. aber nur, wenn 
der wurzelvokal nicht umlautsfähig ist. Es ist also hier mit dem za- 
sammenfall immer eine Spaltung verbunden, respective eine Spaltung 
dem zusammenfall vorangegangen. 

b) Der zusammenfall geht zwar durch alle Wörter mehrerer flexions- 
klassen hindurch, aber nicht durch alle formen des flexionssystems. 
Dieser fall ist sehr häufig. So ist die zweite lateinische declination 
mit der vierten nur im nom. und acc. sing, zusammengefallen; ebenso 
die <?- und i-declination im gotischen {fisks, fish — gasts^ gast). 

c) Der zusammenfall trifft nur einen teil der Wörter mehrerer 
flexionsklassen und nur einen teil der formen des flexionssystems. So 
ist im ahd. der nom. und acc. der langsilbigen und mehrsilbigen i-^u- 


*) Abzusehen ist von dem vereinzelten falle einag — eimg, wo eine Ver- 
schiedenheit der bedeutung vorliegt. 


185 

nnd o-stämme zusammengefallen, während diese casus bei den knrz- 
silbigen verschieden geblieben sind, vgL^a*^ wald, arm aus *gas(i(z), 
*ivaldu{z), *armo{z) gegen tvini, sutm und wenigstens vorauszusetzen- 
des *goto. 

Wo der fall a eingetreten ist, da ist der zusammenfall wie die 
trennung der flexionsklassen eine definitive, wogegen keine reaetion 
möglich ist Die bleibende folge ist eine Verschiebung in den maeht- 
yerhältnissen der betreffenden gruppen, indem ja die eine einen Zu- 
wachs auf kosten der andern erhält. Fall b und c dagegen erzeugen 
eine Verwirrung in den gruppierungsverhältnissen. Wo einmal ver- 
schiedene lautliehe modificationen für die nämliche function angewendet 
werden, da ist es am zweckmässigsten, wenn die lautliche Verschieden- 
heit durch alle formen eines Systems hindurchgeht, so dass sieh die 
einzelnen flexionsklassen reinlich von einander sondern lassen, dass 
man es jeder einzelnen form ansieht, welcher klasse sie angehört. 
Sind nun in zwei klassen einige formen übereinstimmend, einige ab- 
weichend, so wird ein wort auf grund der übereinstimmenden formen 
leicht falsch eingeordnet und es treten an stelle der traditionellen for- 
men der einen klasse analogiebildungen, die der andern angehören. 
Aas dem schwanken und der Verwirrung, die dadurch entsteht, kann 
sich dann die spräche allmählig wider zu einfacheren und festeren 
Verhältnissen durcharbeiten. 

Beispiele stehen massenhaft zur Verfügung. Ich verweise insbe- 
sondere auf die gegenseitige beeinflnssung der verschiedenen declina- 
tionsklassen des indogermanischen in den einzelsprachen, die fast 
immer die folge des lautlichen Zusammenfalls in mehreren casus, 
namentlich im nom. und acc. sg. gewesen ist. Meistens haben die so 
zusammenfallenden klassen schon früher einmal eine völlig oder über- 
wiegend identische bildungsweise gehabt, und diese ursprüngliche Iden- 
tität ist erst durch secundäre lautentwickelung verdunkelt worden, 
gegen die eine sofortige reaetion deshalb nicht möglich gewesen ist, 
weil die differenzierung eine zu sehr durchgehende war. So ist z. b. 
die einheit der indogermanischen declination hauptsächlich vernichtet 
durch die unter dem einflusse des aceentes eingetretene vokalspaltung 
and die contraction des Stammauslauts mit der eigentlichen flexions- 
endung. Dies waren so durchgreifende Wandlungen, dass es erst vieler 
weiterer Veränderungen und namentlich abschwächungen bedurffce um das 
getrennte auf einer ganz andern grundlage teilweise wider zu vereinigen. 
Das resultat bei dieser art ausgleichung ist in der regel, dass 
Wörter der einen bildungsklasse in die andere übertreten, und zwar 
entweder alle oder nur einige, entweder in allen formen oder nur in 
einigen. Für das letztere mag folgendes als beispiel dienen. Im goti- 


- 


186 

sehen bIdcI die masealina der /-deelinatioD im Bg. in die a-declination 
übergetreten wegen des lautliehen zusammenfalls im nom. und acc., 
ähnlich im ahd. Der pl. bleibt aber in beiden dialecten noch ver- 
schieden flectiert. Dass die ausgleichung zunächst bei diesem punkte 
stehen bleibt, ist eine folge des nie fehlenden mitwirkens der etymo- 
logischen gmppierung, und es bestätigt sich insofern dadurch wider 
der Satz: je enger der verband, je leichter die beeinfiussung. 

Es ist entweder nur die eine gruppe activ, während die andeie 
sieb mit einer passiven rolle begnttgt, oder es sind bride gnippen zu- 
gleich activ und passiv. Im nhd. sind eine menge schwacher masea- 
lina in die flexion der starken auf -en übergetreten, von denen sie sich 
schon im mhd. nur durch den nom. und gen. sg. unterschieden, vgl 
bogen (= mhd. böge), garten, kragen, schaden etc. Es gibt aber auch 
einige fälle, in denen umgekehrt ein starkes masculinum auf n in die 
schwache flexion übergetreten ist: heide (= mhd. Heiden), kris((e) (= mhd. 
kristen), rabe (= mhd. raben), ^ 

Tritt eine solche gegenseitige beeinfiussung zweier gruppen an 
den nämlichen Wörtern hervor, so kann es geschehen, dass nach 
längeren Schwankungen sich eine ganz neue flexionsweise heraus- 
bildet. So ist durch contamination der beiden eben besprochenen 
klassen eine mischklasse erwachsen: der glavbe — des glaubens, der 
gedanke — des gedankens etc. Die entstehung dieser mischklasse er- 
klärt sich einfach, wenn wir bemerken, dass einmal im nom. wie im 
gen. doppelformen bestanden haben: der glatte — der glauben, des 
glauben — des glaubens. Es hat sich dann in der Schriftsprache der 
nom. der einen, der gen. der andern klasse festgesetzt. So ist femer 
aus der gegenseitigen beeinfiussung der^ schwachen masculina mit ab- 
geworfenem endvokal und der starken eine mischklasse entstanden, 
die den sing, stark und den plur. schwach fiectiert: schmerz, -es, -e — 
schmerze7i. Entsprechend bei den neutris: bell, -es, -e — betten. Das 
am weitesten greifende beispiel der art im nhd. ist die regelmässige 
flexion der feminina auf -e, die zusammengeschmolzen ist aus der 
alten a-declination und der n-declination (der schwachen). Im mhd. 
fiectiert man noch: 


sg. n. 

vröude 

zunge 

fr 

vröude 

Zungen 

d. 

vröude 

Zungen 

a. 

vröude 

Zungen 

pl. n. 

vröude 

Zungen 

g- 

vröuden 

Zungen 

d. 

vröuden 

Zungen 

a. 

vröude 

Zungen 


187 

Im nhd. heisst es durch den ganzen sg. hindurch freude, zunge, durch 
den ganzen pl. hindurch freuden, zungen. Wider ein charakteristischefl 
beispiel einer zweckmässigen Umgestaltung, die ohne bewusstsein eines 
Zweckes erfolgt ist. Die grössere Zweckmässigkeit der neuhochdeut- 
schen y^hältnisse beruht nicht bloss darauf, dass das gedächtniss ganz 
erheblich entlastet ist; es sind auch die beiden allein vorhandenen 
endangen in der angemessensten weise verteilt. Die Unterscheidung 
der numeri ist desshalb viel wichtiger als die Unterscheidung der casus, 
weil die letzteren noch durch den in den mdsten fiülen beigefügten 
artikel charakterisiert werden. Im mhd. kann die vröude und die zun- 
gen acc. sg. und nom. acc. pl. sein, der zungen gen. sg. und pl. Diese 
unsieherheiten sind jetzt nicht mehr möglich, dagegen nur die Unter- 
scheidung zwischen nom. und acc. sg. bei zunge aufgehoben. Sehen 
wir aber, wie sich die Verhältnisse entwickelt haben, so finden wir als 
Vorstufe ein allgemeines übergreifen jeder von beiden Massen in das 
gebiet der andern, welches sich ganz natürlich ergeben musste, nach- 
dem einmal in drei formen (nom. sg., gen. und dat. pl.) lautlicher zu- 
sammenfall eingetreten war. So hatte sich ein zustand ergeben, dass 
jede form sowol auf -e als auf -en auslauten konnte mit ausnähme 
des nom. sg. Es ist dabei keine einzige form mit rücks^cht auf einen 
zweck gebildet, sondern nur ftlr erhaltung oder Untergang der ein- 
zelnen formen ist ihre Zweckmässigkeit entscheidend gewesen. 

Gegenseitige beeinflussung zweier gruppen setzt immer voraus, 
dass das kräfteverhältniss kein zu ungleiches ist. Denn andernfalls 
wird die beeinflussung einseitig werden, auch durchgreifender und 
rascher zum ziele führend. Es sind natürlich immer diejenigen klassen 
besonders gefährdet, die nicht durch zahlreiche exemplare vertreten 
sind, falls diese nicht durch besondere häufigkeit geschützt sind. Der 
geringe umfang gewisser klassen andern gegenüber kann von anfang 
an vorhanden gewesen sein, indem überhaupt nicht mehr Wörter in 
der betreffenden weise gebildet sind, meistens aber ist er erst eine 
folge der secundären entwickelung. Entweder sterben viele ursprünglich 
in die klasse gehörige Wörter aus, wobei namentlich der fall in betracht 
kommt, dass eine ursprünglich lebendige bildungsweise abstirbt und 
nur in einigen häufig gebrauchten exemplaren sich usuell weiter ver- 
erbt. Oder die klasse spaltet sich durch lautdifferenzierung in mehrere 
Unterabteilungen, die, indem nicht sogleich dagegen reagiert wird, den 
zusammenhält verlieren. Möglichste Zerstückelung der einen ist daher 
mitunter das beste mittel um zwei verschiedene bildungsweisen schliess- 
lich mit einander zu vereinigen. Beobachtungen nach dieser seite hin 
lassen sich z. b. an der geschichte des allmähligen Untergangs der con- 
sonantischen und der u-decUnation im deutschen machen. 


188 

Hat einmal eine klasse eine entschiedene Überlegenheit über eine 
oder mehrere andere gewonnen, mit welchen sie einige berühmngs- 
pnnkte hat, so sind ^e letzteren unfehlbar dem Untergänge geweiht. 
Nur besondere häufigkeit kann einigen Wörtern kraft genug verleihen 
sich dem sonst übergewaltigen einflnsse auf lange zeit zu entziehen. 
Diese existieren dann in ihrer Vereinzelung als an o mala weiter. 

Jede spräche ist unaufhörlich damit beschäftigt alle 
unnützen ungleiehmässigkeiten zu beseitigen, für das fune- 
tionell gleiche auch den gleichen lautlichen ausdrnck zu 
schaffen. Nicht allen gelingt es damit gleich gut Wir finden die 
einzelnen sprachen und die einzelnen entwickelungsstufen dieser spra- 
chen in sehr verschiedenem abstände von diesem ziele. Aber auch 
diejenige darunter, die sich ihm am meisten nähert, bleibt noch weit 
genug davon. Trotz allen Umgestaltungen, die auf dieses ziel 
losarbeiten, bleibt es ewig unerreichbar. 

Die Ursachen dieser Unerreichbarkeit ergeben sich leicht aus den 
vorangegangenen erörterungen. Erstens bleiben die auf irgend welche 
weise isolierten formen und Wörter von der normalisierung unberührt 
Es bleibt z. b. ein nach älterer weise gebildeter casus als adverbium 
oder als glied eines compositums, oder ein nach älterer weise gebil- 
detes participium als reine nominalform. Das tut aUerdings der gleich- 
mässigkeit der wirklich lebendigen bildungsweisen keinen abbrueh. 
Zweitens aber ist es ganz vom zufall abhängig, ob eine teilweise 
tilgung der klassenunterschiede auf lautlichem wege, die so vielfach 
die Vorbedingung Äir die gänzliche ausgleichung ist, eintritt oder nicht 
Drittens ist die Widerstandsfähigkeit der einzelnen gleicher bildungs- 
weise folgenden Wörter eine sehr verschiedene nach dem grade der 
stärke, mit dem sie dem gedächtnisse eingeprägt sind, weshalb denn 
in der regel gerade die notwendigsten elemente der täglichen rede als 
anomalieen übrig bleiben. Viertens ist auch die unentbehrliche ttber- 
gewalt einer einzelnen klasse immer erst resultat zufällig zusammen- 
treffender umstände. So lange sie nicht besteht, können die einzelnen 
Wörter bald nach dieser, bald nach jener seite gerissen werden, und 
so kann gerade durch das wirken der analogie erst recht eine chao- 
tische Verwirrung hervorgerufen werden, bis eben das übermass der- 
selben zur heilung der übelstände fllhrt. Bei so viel erschwerenden 
umständen ist es natürlich, dass der process auch im günstigsten 
falle so langsam geht, dass, bevor er nur annähernd zum abschluss 
gekommen ist, schon wider neu entstandene lautdifferenzen der aus- 
gleichung harren. Die selbe ewige wandelbarkeit der laute, welche 
als anstoss zum ausgleichungswerke unentbehrlich ist, wird auch die 
zerstörerin des von ihr angeregten werkes, bevor es vollendet ist 


189 

Wir können uns das an den decUnationsverhältnissen der neu- 
hoehdentsefaen Schriftsprache veranschanliehen. Im fem. sind die drei 
hanptklassen des mhd., die alte i-, a- and n-declination auf zwei 
redneiert, vgl. oben s. 186. Da nun auch die reste der consonantisehen 
und der u-deelination (vgl. z. b. mhd. hanl, pl. hende, hande, handen, 
kende) sieh allmählig in die t-klasse eingefügt haben, so hätten wir 
zwei einfache und leicht von einander zu sondernde Schemata: 1) sg. 
ohne '6, pl mit -e und eyentuell mit umlaut {bajik — bänke, hinderniss 
— hindemisse); 2) sg. mit -e, pl. mit -en {zunge — zungen). In diese 
Schemata aber ftlgen sich zunächst nicht ganz die mehrsilbigen stamme 
auf -er und -el {matter — matter, achsel — . achseln), die nach allge- 
meiner schon mittelhochdeutscher regel durchgängig das e eingebttsst 
haben (wo es tiberhaapt vorhanden war). Diese wtirden noch wenig 
störend sein. Aber es haben auch sonst viele feminina das auslau- 
tende -e im sg. eingebttsst, sämmtliche mehrsilbige stamme auf -inn 
und -ung und viele einsilbige, wie fr au, hvid, kost etc. = mhd./roMw^, 
hulde, koste etc. Der gang der entwickelung bei den letzteren ist wahr- 
scheinlich der gewesen, dass ursprünglich bei allen zweisilbigen femi- 
ninis auf -e doppelformen entstanden sind je nach der verschiedenen 
Stellung im satzgeftlge, und dass dann die darauf eingetretene aus- 
gleiehung verschiedenes resultat gehabt hat. Ausserdem kommt dabei 
der kämpf des oberdeutschen und des mitteldeutschen um die herr- 
schaft in der Schriftsprache in betracht. Wie dem auch sei, jedenfalls 
ist eine neue Spaltung da: zunge — zungen, aber frau — frauen. Und 
gleichzeitig ist es wider vorbei mit der klaren Unterscheidbarkeit der 
beiden hanptklassen: frau stimmt im sg. zu hank, im pl. zu zunge. 
Diese neue Verwirrung war nun allerdings förderlich für die weitere 
ausgleiehung. Die berührung zwischen der formation frau mit der 
formation hank hat zur folge gehabt, dass eine grosse menge von Wör- 
tern, ja die mehrzahl aus der ersteren in die letztere hinübergezogen 
sind, vgl. hurg (pl. bürgen = mhd. hürge\ flut, weit, tutend etc., sämmt- 
liche Wörter auf -heit, -keit, -schaft. Auf diesem wege hätte sich eine 
einheitliche pluralbildung erlangen lassen, auf -en (n), und nur im sg. 
wäre noch die Verschiedenheit von Wörtern mit und ohne e geblieben. 
Aber die bewegung ist eben nicht zu ende gediehen und erhebliche 
reste der alten t-declination stehen störend im wege. 

Ganz ähnliche beobachtungen lassen sich am masculinum und 
neutrum machen, nur dass bei diesen noch mehr verwindende umstände 
zusammentreffen. Auch hier wären die Verhältnisse darauf angelegt 
gewesen eine reinliche Scheidung in der flexion zwischen den Substan- 
tiven ohne -e und denen mit -e im nom. sg. herauszubilden (arm — 
arme, wort — warte, aber funke — funken, äuge — äugen), wenn nicht 


190 

wider die abwerfung des -e in einem teile der Wörter dazwischen ge- 
kommen wäre {mensch — menschen, herz — herzen). 

Der lautliche zusammenfall functionell verschiedener for- 
men vollzieht sich innerhalb der etymologischen gruppen. So wird 
im ahd. der Übergang von auslautendem unbetonten m zu n die ver- 
anlassung zum zusammenfall der secundären endung fttr die 1. und 
3. pL: in den älteren quellen gäbum — gäbun, gäbim — gäbin, in den 
jüngeren für beide personen gäbun, gäbin. In ausgedehntestem masse 
ist solcher zusammenfall veranlasst durch die abschwächung der vollen 
endvokale des ahd. zu gleichförmigem e. So steht mhd. tage = ahd. 
iage (dat sg.) — laga (nom. pl.) — iago (gen. pL); mhd, hanen = ahd. 
hani7i (gen. dat sg.) — hanun (acc. sg. nom. und acc. pl.) — hanöno 
(gen. pl.) — handm (dat. pl), und in den althochdeutschen formen liegt 
zum teil bereits ein zusammenfall früher verschiedener formen vor. 
Der zusammenfall geht nicht immer durch eine ganze flexionsklasse 
hindurch, er braucht nur einen teil der ursprüngUch hineingehörigen 
Wörter zu treffen; vgl. z. b. tag — tage — tagen mit sessel — sessel — 
Sesseln, winter — ^^ winter — wintern und wagen — wagen — wagen. 
Seltener als bei flexionsformen ist der zusammenfall bei ableitungen 
aus der gleichen grundlage. Da solche ableitungen schon fttr sieh ein 
ganzes System von formen bilden können, so kann der zusammenfall 
nach zwiefacher richtung hin ein partieller sein. Es kann einerseits 
aus mehreren ursprünglich lautlich verschiedenen Wortklassen nur ein 
teil der Wörter zusammenfallen. So können im ahd. aus jedem adj. 
zwei schwache verba abgeleitet werden, ein intransitives auf -ön und 
ein transitives auf -en (= got. -Jan). Im mhd. fallen beide klassen 
in den endungen alle zusammen, in der gestalt der Wurzelsilbe aber 
nur zum teil, weil die meisten durch das Vorhandensein oder fehlen 
des Umlautes geschieden bleiben, vgl. einerseits leiden aus leidön = 
unangenehm werden und leiden aus leiden = unangenehm machen, 
riehen reich werden und reich machen, niuwen neu werden und neu 
machen; anderseits armen arm werden — ermen arm machen, srvären 
schwer werden — swwren schwer machen. Es braucht anderseits der 
lautliche zusammenfall sich nicht auf sämmtliche formen zweier ver- 
wandter Wörter zu erstrecken. In nhd. schmelzen sind zwei im mhd. 
durchaus verschiedene Wörter zusammengefallen, smelzen (mit offenem e)^ 
stark und intransitiv und smelzen (mit geschlossenem e), schwach und 
transitiv. Der zusammenfall erstreckt sich aber nur auf die formen 
des präs., und auch von diesen sind die 2. 3. sing. ind. und 2. sg. imp. 
ausgeschlossen: schmilzt, schmilz — schmelzt, schmelze. 

Der lautliche zusammenfall functionell verschiedener formen hat 
nun öfters weitere consequenzen. Eine solche eonsequenz ist die, dass 


m 

ma& sich an die lautliche gleichheit so sehr gewöhnt, dass man sie 
auch aaf fälle ttbeiträgt, in denen sie durch die lautentwickelung noch 
nieht herbeigefbhrt ist. Im ahd. verbum ist durch Übergang des aus- 
lautenden m in n die 1 . plur. der 8. plur. gleich geworden {gäbun aus 
gäbum — gäbun) mit ausnähme des ind. präs., wo die Verschiedenheit 
noch in die mittelhochdeutsche zeit hinübergenommen wird: geben — 
gehent. Diese Verschiedenheit wird zuerst im md., dann auch oberd., 
wie schon oben s. 95 bemerkt ist, durch angleichung der 3. pL an die 
3. pl. des prät. und des conj. beseitigt. Es kann sein, dass dabei auch 
die gewöhnung an die Übereinstimmung der 1. und 3. pl. mitgewirkl^ 
hat. Sicher Wirkung dieser gewöhnung ist es, wenn im alemannischen 
seit dem 14. Jahrhundert formen auf -ent auch Air die 1. pl. gebraucht 
werden. Die ausgleichung zwischen 1. und 3. pl. liegt auch in der 
jetzigen Schriftsprache vor in sind = mhd. sin — sinf; im obersäch- 
sisehen lautet umgekehrt auch die 3. pl. sein. Ein anderes beispiel 
liefert uns die ausgleichung zwischen nom. und acc. im deutschen. 
Im urgermanisehen waren beide casus beim masc. und fem. meistens 
noch verschieden. Gleichheit bestand wahrscheinlich nur im plur. der 
weiblichen a-stämme (got gibos, anord. giafar). Im ahd. ist wie in den 
übrigen westgermanischen dialecten der nom. sg. der o-, i- und t^-stämme 
and der consonantisehen mit ausnähme der sogenannten sehwachen 
declination durch abfall des auslautenden s dem acc. gleich geworden 
ifisc, baig, sunu, man = got. ftsks — fisk, balgs — balg, suntis^ — sunu 
und anord. ftskr — fisk, belgr — belg, sonr — son, matSr — mann)\ ferner 
ist lautlicher zusammenfall eingetreten im nom. acc. plur. der schwachen 
declination {hanun, zungün, urgerm. wahrscheinlich *hano}iiz — *hanonz). 
Dadurch ist die veranlassung zu einer weiteren ausgleichung gegeben. 
Die form des nom. pL der o-, i- und u-stämme und der consonantisehen 
ist in den acc. gedrungen und so die selbe Übereinstimmung wie im 
sg. hergestellt: taga, balgt {belgi\ sunt = got. dagös — dagans, balgeis 

— balgins, sunjus — sununs und anord. dagar — daga, belgir — belgi, 
synir — sunu (sonu)» Die nach den lautgesetzen im ahd. zu erwar- 
tenden formen des acc. wären *tagun, Haigin, *sunun. Bei den conso- 
nantisehen Stämmen ist auch im got. und anord. ausgleichung einge- 
treten ; urgerm. wäre anzusetzen *manniz — *mannunz = ahd. man — 
*mannun, welche letztere form durch die erstere verdrängt ist. Auch 
bei dem adj. und dem geschlechtlichen pron. ist die nominativform in 
den acc. gedrungen: blinie (-a), die {did) = got. blindai — blindans, pai 

— pans. Bei den weiblichen a-stämmen hat umgekehrt die lautliche 
gleichheit beider casus im pl. eine ausgleichung im sg. herbeigezogen. 
Es wurden zunächst beide formen, die des nom. und die des acc, 
promiscue gebraucht, dann setzte sich im allgemeinen die accusativ- 


192 

form fest, während die nominativform auf bestimmte fälle beschränkt 
wurde and mehr nnd mehr ganz versehwand. Während das angel- 
sächsische unterscheidet giefu — giefe, Ar — äre, haben wir im ahd. 
nur die accusativformen geha und ira nnd nebeneinander als nom. und 
acc. halba nnd hälp, nisa und tins etc. In nhd. ist weiter im fem. des 
sehwachen adjectivums die accusativform durch die nominativform ver- 
drängt: lange = m\LdL lange — langen\ ferner die weibliehe nominativ- 
form des artikels durch die accosativform: die «= mhd. diu — die\ 
schon im mhd. nom. siu durch acc. sie. Im rhein fränkischen und alema- 
nischen findet man endlich auch die nominativform des artikels der 
accusativiseh verwendet. 

Tritt in einer spräche zusammenfall der ursprünglich lautlich ver- 
schiedenen casusformen in sehr ausgedehntem masse ein, so kann 
das veranlassung dazu werden, dass die vom zusammenfall verschon- 
ten reste ganz oder grösstenteils getilgt werden, wie dies im englischen 
und in den romanischen sprachen geschehen ist Es entstehen so wider 
reine Stammformen, wie sie vor der casusbildung bestanden, die man 
mit unrecht als nominativ oder accusativ bezeichent. 

Durch partiellen zusammenfall der formen verwandter Wörter wird 
das geftthl fttr die Verschiedenheit dieser Wörter abgestumpft, und es 
mischen sich daher leicht auch die nicht zusammengefallenen formen 
unter einander. Der oben berührte partielle zusammenfall von mhd. 
smälzen und smelzen hat die folge gehabt, dass die starken formen 
schmilzt, schmolz, geschmolzen auch transitiv verwendet sind; die 
schwachen sind jetzt fast ganz ausser gebrauch gekommen. Ebenso 
sind die schwachen formen von verderben, denen ursprünglich allein 
transitive bedeutung zukam durch die ursprünglich nur intransitiven 
starken zurückgedrängt und können jetzt nur noch im moralischen 
sinne gebraucht werden. Bei quellen, schwellen, löschen ist in der 
gegenwärtig als correct geltenden spräche der unterschied gewahrt; 
aber von löschen kommen zuweilen schwache formen in intransitiver 
form vor, z. b. es löscht das licht der steme (Schi.); bei quellen und 
schwellen findet sich Vermischung nach beiden richtungen, z. b. dem das 
frischeste lebest entquellt (Goe.) — gleichwie ein bom sein wasser quiUt 
(Lu.); schwelle, brüst (Goe.), die haare schwellten (Tieck) — die ehrsucht 
schwillt die brüst (Günther), Seifenblasen, die mein hauch geschwollen 
(Chamisso). 


Cap. XII. 

Einflass der fanctionsYeränderung auf die analogiebildmig. 

Die einordnung der einzelnen Wörter und formen nnd der syn- 
taktischen Verbindungen unter die sprachlichen gruppen ist immer 
dnrch ihre function bedingt. Eine Veränderung der fnnction kann 
daher veranlassung zum eintritt in eine andere gruppe werden. Die 
Zugehörigkeit 2U dieser gruppe bedingt dann aber auch eine teilnähme 
an deren schöpferischer kraft. So entstehen analoge neuschöpfangen, 
die sich in einer anderen richtung bewegen, als der Ursprung der be- 
treffenden wortform oder constructionsweise erwarten lässt. Die folgen- 
den beispiele mögen dies im einzelnen veranschaulichen. 

Verwandlung eines appellativums in einen eigennamen veranlasst 
eine entsprechende Veränderung der declination, vgl. die accusative 
und dative Müllern, Schneidern, Beckem etc. Eine folge des christ- 
lichen monotheismus war es, dass von got im ahd. nach analogie der 
eigennamen ein acc. gotan gebildet wurde. Damit zu vergleichen sind 
die dat.-accusative vatern, muttern, wie sie in Berlin üblich sind. 

Die griechischen adverbia auf -oog sind ursprünglich casus der 
o-declination. Nachdem me sich aber einmal aus dem flexionssysteme 
herausgelöst haben und -cog als ein wortbildungssuffix empfunden ist 
hat es sich auch auf andere stamme übertragen können, die in ihrer 
ilexion keinen einfluss von den o-stämmen her erfahren haben, vgl. 
^öicoc, acD^Qova}^ etc. Entsprechend verhält es sich mit dem adverbial- 
snffix -0 im ahd., welches gleichfalls von den o-stämmen auf die alten 
/- und t^-stämme übertragen ist: kleine, harto nach lioho etc. 

Es gibt im nhd. eine beträchtliche zahl von adverbien, die ihrem 
Ursprünge nach genitive sg. aus nominibus sind, wie faJls^ rings, rechts, 
stracks, blindlings. In dem s empfindet man aber schon lange nicht 
mehi' das genitivszeichen, es muss jetzt als ein adverbialsuffix erscheinen. 
In folge davon wird es seit dem siebzehnten Jahrhundert auf andere 
adverbia übertragen, die ihrem Ursprünge nach gleichfalls casus von 
nominibus oder Verbindungen einer präposition mit einem casus sind, 
aber ebensowenig als solche empfunden werden, sondern unter die all- 

Paul, Principien. II. Auflage. 13 


•' 


194 

gemeine kategorie der adverbien getreten sind, vgl. allerdings, (aus 
aller dinge gen. pl.) schlechterdings^ jenseits, disseits (mhd. jendt aec. sg.), 
abseits (ans ab seite\ hinterrücks, im siebenzehnten Jahrhundert auch 
hinterrückens (aus älterem hinterrück, hinterrücken), unterwegs, unter- 
wegens (aus unter wege, unter wegen), vollends (älter vollen, vollend); 
erstens, zweitens etc. Die Verwandlung des s aus einem casussuffix 
in ein wortbildungselement hat es auch ermöglicht, dass dasselbe in 
ableitungen hinttbergenommen isi:. desfallsig, allenfallsig. 

Hans Sachs bildet einen comparativ ftüchser zu ßigs. Es ist das 
eine folge davon, dass der substantivcasus auf eine linie mit den ad- 
jectivischen adverbien getreten ist, denen ursprünglich allein compa- 
ration zukommt. 

Wenn eine syntaktische Verbindung zu einer worteinheit ver- 
schmolzen ist, so wird diese neue einheit nach analogie des einfachen 
Wortes behandelt und dasjenige auf sie übertragen, was in bezug anf 
dieses möglich ist Es kommt in verschiedenen sprachen vor, dass eine 
untrennbare partikel sich an ein pron. anlehnt. Die folge davon kann 
sein, dass die flexion nach dem muster der einfachen Wörter von der 
mitte an das ende verlegt wird. Plautus gebraucht von i-pse noch den 
acc. eumpse, eampse, den abl. eqpse, eapse, die später durch ipsum etc. 
ersetzt sind. Eine ähnliche entwickelung, wie sich besonders an den 
altnordischen mnenformen nachweisen lässt, hat unser pron. diser durch- 
gemacht, ein compositum aus dem artikel und der partikel se. Eine 
grosse bereicherung erwächst der spräche dadurch, dass aus solchen 
durch secundäre Verschmelzung entstandenen compositis die nämlichen 
ableitungen gebildet werden wie aus den einfachen Wörtern, und dass 
sie ebenso wie diese wider als glied eines compositums dienen können; 
vgl. überwinder, Überwindung^ ergiebig, befahrbar, gedeihlich^ betrübniss, 
gevangenschaft^ befangenheit ; edelmännisch, hochmütig ^ jungfräulich^ lan- 
desherrlich, landsmannschaft , grossherzogtum, bärenhäiUer, kindergärt- 
nerinn\ sofortig, bissherig, jenseitig \ rotweinflasche, gänseleberpastete] 
überhandnähme, vorwegnähme, zurücknähme. 

Nicht selten erstarrt eine flexionsform, indem sie auf f&lle 
übertragen wird, denen sie eigentlich nicht zukommt ^ Unser 
selber ist der nom. sg. m. und zugleich der gen. und dat sg. fem. 
und gen. pl eines älteren adj. selb, weHekeB als adj. jetzt nur noch in 
der selbe erhalten ist Das gleichbedeutende selbst = älterem selbes 
ist der nom. und acc. sg. n. und zugleich gen. sg. m. und n. des 
selben wortes. Im mhd. wird das adj. teils stark , teils schwach 


^) Vgl. zum folgenden Brugmann, Ein probiem der homerischen textkritik, 
s. 119ft. 


195 

fleetiert und richtet sieh im genns, nnmeins und casus nach dem 
nomen, auf welches es sieh bezieht^ also im selbem, ir selber. An 
selbes etc. Wenn nun die im mhd. erhaltenen formen sich an stellen 
eingedrängt haben, wo andere am platze gewesen wären, so kann das 
erst eine folge davon gewesen sein, dass das wort nicht mehr als ein 
adj. empfanden wurde. Indem man in selber nnr noch die fanction 
einer energischen identificierung empfand, wendete man die form 
überall an , wo eine solche identificierung auszusprechen war. Ent- 
sprechend verhält es sich mit dem mundartliehen halber: die nacht ist 
halber hiUj es ist halber eins; mit einander, statt dessen man im ahd. 
regelrechte flexion hat: ein anderan, ein andermo etc. Im mhd. kann 
man noch sagen beider des vaier.vnd des stines, wobei des vater und 
des sunes eigenflich in appositionellem verhältniss zu beider steht 
(rewöhnlieher aber ist beide des vaier und des sunes. Es ist also die 
Dominativform beide erstarrt, indem der Ursprung der constmction nicht 
mehr zum bewusstsein kommt und die fhnetion von beide — und sich 
Qnserm sowohl — . als auch annähert Im lai hat der nom. quisque 
neben dem reflexivpron. und dem dazu gehörigen possessivum sein 
gebiet ttberschritten, z. b. nmltis sUn quisque imperium petentibus. Bei 
Plautas findet sich praesenie testibus statt praesenlibus, bei Afranius 
absente nobis; daraps erkennt man, dass die betrefienden partidpial- 
formen sich dem charaeter von piHpositionen genähert hatten. Ver- 
bindungen wie agedum conferte, agedum creemus sind die folge 
davon, dass man dge nicht mehr als 2. sg. imp. empfunden hat^ 
sondern nur als einen allgemeinen ermunternden zuruf. Ent- 
sprechend steht im grieeh. ccfB vor einem plural, ebenso tlxi, g>iQ€, 
iöov;^) femer im lat cave dirumpalis (Plant) u. dergL; in unserer 
Umgangssprache zuweilen warte mal, auch wo die anrede an mehrere 
Personen gerichtet ist od» an eine, die man sonst mit Sie anredet 
Im älteren nhd. wird sielie auch bei der -anrede an eine mehrheit 
gebraucht; vollständig erstarrt sind firanz. miä, voilä. Im spätgrie- 
chisehen werden wq^eZov und wq>€Xa ohne rttcksicht auf person oder 
nnmems wie conjunctionen gebraucht Unser nur ist ans enwmre (es 
wäre denn) entstanden. Dieses enwoere hat sich also auch an stelle 
von enwterest, enwceren, ensi, ensin etc. eingedrängt 

Ein ähnlicher Vorgang ist es, wenn im spätmhd. sich, abhängig 
von einer präp^ auch in Sätze dringt, in denen das subj. die erste 
oder zweite person ist^) Es ist das die folge davon, dass ein über 
sich oder unfer sich nicht mehr analysiert, sondern =-* in die höhe, 
in die tiefe au%efasst wird; vgL unser jetziges vor sich gehn und an 

^) Vgl Bmgnuum a. a. o. 8. 124. 
^ YgL Brogmaim a. a. o. 

13* 


196 

und. für sich. Daher gebraucht man diese yerbmdnngen auch, wo sie 
gar nicht auf das subject, sondern nur auf einen obliquen casus 
bezogen werden können; z. b. heb hinten über sich das gleis (hebe das 
glas in die höhe, UhL Volkslieder). Die selbe erstarrung findet sieh 
bei seiner zeiiy vgl. z. b. die fugend ist unternehmend, wir sind es seiner 
zeit auch gewesen (Hackländer). Entsprechend bei lat. suo loco, sm 
sporUe, suo nomine. Bei römischen Juristen finden sich Verbindungen 
wie si sui Juris sumus. Im anörd. hat sich mit httlfe des reflexivums 
ein medium und passivum herausgebildet Dabei ist das auf sik zu- 
rückgehende 'Sk, jtinger -z, welches ursprünglich nur der dritten person 
zukommen konnte, zuerst auf die zweite, dann auch auf die erste per- 
son übertragen, z. b. lüktmz statt älterem lukomk (= *luko-mik)\ das z 
wurde nicht mehr in seiner ursprünglichen bedeutung, sondern als 
zeichen des mediums oder passivums gefasst. In sehr vielen ober- 
und mitteldeutschen mundarten wird sich auch als reflexivnm für die 
1. plur. gebraucht, hie und da auch für die 2. person. Die gewöhn- 
liche besehränkung auf die 1. plur. ist wol daraus .zu erklären, dass 
bei dieser die Übertragung durch die formelle Übereinstimmung der 
verbalform mit der 3. plur. erleichtert wurde. ^ In bairischen mund- 
arten wird das possessivpron. se'm auch auf das fem. und auf den plur. 
bezogen, vgl. Schmeller s. 198. 

Plautus verbindet die Wörter perire, deperire, demori im sinne von 
„sterblich verliebt sein^ mit dem acc.; desgleichen Virg., Hör. und andere 
arder e ===» „in liebe zu jemand entbrannt sein''. Offenbar ist die con- 
struction dieser Wörter durch die von amare beeinflusst, weil sie in 
ihrer metaphorischen Verwendung dem eigentli<;hen sinne desselben 
nahe kommt. Es lässt sich daraus wol der schluss ziehen, dass sie 
in dieser Verwendung wenigstens in der dichtersprache schon etwas 
verbraucht waren. Denn wäre ihre eigentliche bedeutung noch voll 
lebendig empfunden, so würde eine solche vertauschung der eonstruc- 
tion wol nicht eingetreten seinT Indessen muss hier doch in betracht 
gezogen werden, wie viel etwa auf rechnung einer absichtlichen poe- 
tischen kUhnheit zu setzen ist Anders verhält es sich in bezug anf 
die gewöhnliche prosaische rede. Auch in dieser kommt es häufig vor 
dass ein wort die ihm seiner grundbedeutung nach zukommende con- 
structionsweise mit einer anderen vertauscht, die dazu nicht passt, 
indem es entweder durch ein bestimmtes einzelnes wort oder durch 


^) Die Yon Brugmann a, a. o. s. 123 ausgesprochene ansieht, dass dieses sich 
aus unsich entstanden sei, kann ich nicht teilen, weil die form unsich bereits unter- 
gegangen ist, bevor diese Verwendung von sich auftaucht. Mit Weinhold, Bair. 
gram. § 359 und Schuchardt, Slawodeutsches 3. 107 slawischen einfluss anzunehmen 
verbietet das Verbreitungsgebiet der erscheinung. 


1«7 

eine grappe von wOrtero beeinflnsst wird, denen es sich mit der zeit 
in seiner bedeutnng angenähert hat. Hier ist der eonstrnetions- 
Wechsel ein nntrügliohes kriterinm fttr das verblasseB- der 
grnndbedeatung. Namentlich bekundet sich darin häufig die los- 
lösnng von der ursprünglich zu gründe liegenden sinnlichen an- 
Behauung. 

Fttr diese loslösung sind besonders instrnotiy manche composita 
mit ortsadverbien. Zu einwirken und einwirkung gehört ursprünglich 
die präp. in und diese ist im vorigen Jahrhundert ttblicfa , vgl. sobald 
kunst und Wissenschaft in das leben einwirkt (6oe.); durch die einwir- 
kung in gewisse werkteuge (Garve). Wir setzen jetzt wie beim simplex 
wirken ein auf, und dies beweist, dass uns das geftlhl für die sinn- 
liche anschauung, auf die das ein hinweist verloren gegangen ist. Die 
nämliche vertauschung hat stattgefunden bei einftuss, vgl. gesundheit 
ist ein gut, welches in alles einftuss hat (Garve), und so allgemein im 
vorigen jahrh. (auch bei einfliessen :=: „einfluss haben'' steht Mher in 
und auf)\ einschränken, vgl. es hat längst aufgehört in die engen grenzen 
eingeschränkt zu sein (Le.) etc.; eindrucke vgL die nähe des schönen kindes 
musste wol in die seele des jungen mannes einen so lebhaften eindruck 
machen (Goe.); noch sinnlicher: um durch das grosse dieses todes einen 
unauslöschlichen eindruck seiner selbst in das herz seiner Spartaner zu 
graben (Schi.); doch erseheint es mit auf schon bei Lessing. Abneigung 
gegen oder, wie ältere Schriftsteller auch sagen, vor kann nicht ur- 
sprünglich sein, sondern nur von, was ich allerdings bei Sanders nur 
erst aus Heine belegt finde. Fttr nachdenken über finde ich im Dwb. 
den ältesten beleg aus Schillers Don Earlos; sonst ist auch noch im 
vorigen Jahrhundert der blosse dat. (eigentlich von nach abhängig) 
üblich, z. b. um ihren briefen nachzudenken (Nicolai). 

Wenn man jetzt sagt sei mir willkommen in meinem hause, so ist 
klar, dass der zweite bestandteil des wertes nicht mehr als part. von 
kommen gefasst wird. So lange das geschah, verstand sich auch die 
angäbe einer richtung, z. b. willekomen her in Guntheres lant (Nibe- 
longenlied). 

Ein quin conscendimus equos ist eigentlich „warum besteigen wir 
nicht die pferde*, dem sinne nach aber <= „lasst uns die p forde be- 
steigen'; daher kann man nun auch nach quin einen imp. oder adhor- 
tatiyen conj. setzen, z. b. quin age istud, quin experiamur. Entsprechend 
ist mhd. wan ßrchtent si den stap eigentlich „warum fUrchten sie nicht 
den Stab'', nähert sich aber dem sinne „mögen sie den stab fürchten''; 
in folge davon wird nach wan auch der in Wunschsätzen ohne einlei- 
tende eonjunction übliche conj. prät. gesetzt, z. b. wan hoste ich iuwer 
kunst. Auf die nämliche weise erklärt sieh wahrscheinlich im afranz. 


198 

die verbindang von cor («» quare) mit dem conditionel and dem imp. 
(vgl. Diez III, 214). 

Griech. ovxovv ist ursprünglich = ^also nicht '^ nnd dient zur 
einleitnng einer frage, anf die man eine bejahende antwort erwartet 
Die mit ovxovv eingeleiteten Sätze sind aber allmählig als direete 
positive behanptungen aufgefasst. Daher ist der partikel nnr die fanc- 
tion des folgems verblieben und sie wird in Sätzen verwendet, die gar 
nicht mehr als fragesätze aufgefasst werden können, z. b. neben dem 
imperativ, vgl. ovxovv anicfayi (ib avß-K; ig rov ßlov (Llician).*) Ganz 
die gleiche entwiekelung zeigt im sanskrit na-nu.^) Es dient zunächst 
wie nonne zur einleitung von fragesätzen, dann aber, indem solche 
fragesätze zu behauptungssätzen umgedeutet sind, lässt es sich durch 
„doch wol'' tibersetzen, und kommt dann auch in aufforderungssätzen 
vor, vgl. nanu ucyatäm = es soll doch gesagt werden. 

Der acc. c. inf. konnte ursprünglich jedenfalls nur neben einem 
transitiven verbum stehen, so lange der subjectsacc. noch als direct 
von dem verb. fin. abhängig empfunden wurde, vgl darüber cap. 16. 
Nachdem aber die auffassung sich so verschoben hatte, dass der acc. 
c. inf. als ein abhängiger satz nnd der acc. als subj. desselben gefasst 
wurde, war es möglich die construction weit über ihre ursprüngUchen 
grenzen auszudehnen. So werden im lat. auch verba mit dem acc. c. 
inf. construiert, die keinen objectsacc. bei sich haben können, vrie gau- 
derCj dolere, femer Verbindungen wie magna in spe sum, spem habeo etc. 
In sehr vielen fällen wird dann der acc. c. inf als subject verwendet, 
so nach licet^ accidit, constai etc., nach fas, jus est etc., bei paBsiven 
neben dem nom. c. inf, vgl. non mihi videiur ad beate vivendum satis 
passe virtutem (Cic); Völscos et Aequos extra fines exisse afferiur (Liv.). 
Weiterhin dringt dann der acc. c. inf. auch in sätze ein, die von einem 
andern acc. c. inf. abhängen. So zunächst in lose angeknüpfte relativ- 
sätze, z. b. mundum censent regi numine deorum, ex quo iliud natura 
consequi (Cic), vgl. Draeger § 447, 1. Femer in vergleiohungssätze, 
z. b. ut feras quasdam nulla mitescere arte, sie immitem ejus viri animm 
esse (Liv.); addit etiam se prius occisum 4ri ab eo quam me violatum tri 
(Cic), vgl. ib. 448, 1. 453, 2. In die indirecte frage, z. b. quid sese inter 
pacatos facerey cur in Italiam non revehi (Liv.), vgl. ib. 450, Sogar in 
temporal- und causalsätze, z. b. crimina vitanda esse, quia vitari mtus 
non passe (Seneca), vgl. ib. 448, 2. 8. Die entsprechende ausdehnong 
findet sich im griechischen. Die gewohnheit das subj. zum inf. in der 
form des acc. zu haben, führt hier auch zur Verwendung dieses casns 


*) Vgl. Klihner, Griech. gram. II, 1, s. 717. 

^) Auf diesen parallelisiuus hat mich Brngmann aufmerksam gemacht. 


199 

neben dem durch den art. substantivierten inf., in welchem casus der- 
selbe auch stehen mag, vgl. airiog rov vcxfjß^vat tovg Aaxeöaifiovlovg, 
iia ro ti^v jtoXiv ^Qtjö^at, vjthg rov zavta fitj ylyveö^ai. 

Wenn zwei constructionsweisen sich in ihrer function teilweise 
decken, so kann bei manchen überlieferten syntaktischen Verbindungen 
eine Unsicherheit darüber entstehen, welche von den beiden zu gründe 
liegt. So entsteht eine umdeutung der Verbindung, und diese umdeu- 
tang lenkt die Wirksamkeit der analogie in eine neue bahn. 

Der von einem subst. abhängige gen. hat eine ähnliche function 
wie das attributive adj. In Verbindungen nun wie Hamburger rauch- 
fleisch^ Kieler sprotten liegt als erstes glied der gen. der einwohner- 
bezeichnung zu gründe, dem Sprachgefühl aber liegt es näher dasselbe 
alg ein aus dem Ortsnamen abgeleitetes adj. zu fassen; jedenfalls be- 
ziehen wir es direct auf den ort, und nicht auf die einwohner. Zwar 
lehrt noch die flexionslosigkeit, dass kein wirkliches adj. vorliegt. 
Anderseits aber zeigt die art, wie der artikel bei der Verbindung ver- 
wendet wird {das Hamburger rauchfleisch\ dass der gen. nicht mehr 
als solcher empfunden wird; denn die Stellung des gen. zwischen art. 
nnd subst. ist jetzt unmöglich geworden. Dem ahd. ging ein possesiv- 
pron. zu dem fem. und dem plur. sie ab. Man verwendete statt dessen 
den gen. dieses pron. ira, iro. Auch im mhd. bleibt der gen. ir, aber 
sporadisch fängt man an denselben als adj. zu fassen und adjectivisch 
zu dedinieren. Dieser gebrauch ist im nhd. allgemein geworden, und 
so ist unser possesivpron. ihr entstanden. Die berührung des genitivs 
mit dem attributiven adj. ist wahrscheinlich auch die veranlassung ge- 
wesen ihn nach dem muster des adj. prädicativ zu verwenden, vgl. er 
ist des todes, reines herzens, so sind wir des herm (Lu.) etc. Diese 
Verwendung gehört allerdings wol schon der indogermanischen grund- 
sprache an. 


Cap. XIII. 

Yerschiebnngen in der gruppiernng der etymologlscli 

znsammenliängendeii worter. 

Wenn man Bämmtliche die gleiche wnizel enthaltenden Wörter 
and formen nach den ursprünglichen bildnngsgesetzen, wie sie durch 
die zergliedernde methode der älteren vergleichenden grammatik ge- 
funden sind, zusammenordnet, so erhält man ein mannigfach geglie- 
dertes System oder ein grösseres System von kleineren Systemen, die 
ihrerseits wider aus Systemen bestehen können. Schon ein einziges 
indogermanisches verbum für sich stellt ein sehr compliciertes System 
dar. Aus dem yerbalstamme haben sich verschiedene tempnsstilmme, 
aus jedem tempusstamme verschiedene modi, erst daraus die verschie- 
denen Personen in den beiden genera entwickelt. Die analytische 
grammatik ist bemüht immer das dem Ursprünge nach nächst ver- 
wandte von dem erst in einem entfernteren grade verwandten zu son- 
dern, immer zwischen grundwort und ableitung zu scheiden, alle Sprünge 
zu vermeiden und nicht etwas, als directe ableitung zu fassen, was 
erst ableitung aus einer ableitung ist. Was aber von ihrem gesichts- 
puncte aus ein fehler in der beurteilung der wort- und formenbildnng 
ist, das ist etwas, dem das sprachbewusstsein unendlich oft ausgesetzt 
ist. Es ist ganz unvermeidlich, dass die art, wie sich die etymologisch 
zusammengehörigen formen in der seele der Sprachangehörigen unter 
einander gruppieren, in einer späteren periode vielfach etwas anders 
ausfallen muss als in der zeit, wo die formen zuerst gebildet wurden. 
Und die folge davon ist, dass auch die auf solcher abweichenden 
gruppierung beruhende analogiebildung aus dem gleise der ursprüng- 
lichen bildungsgesetze heraustritt. Secundärer zusammenfall von laut 
und bedentnng ist dabei vielfach im spiel. Welche wichtige rolle dieser 
Vorgang in der Sprachgeschichte spielt, mag eine reihe von beispielen 
lehren. 

Wir haben im nhd. eine anzahl von alters her überlieferter nomina 
actionis männlichen geschleehts neben entsprechenden starken verben, 
vgl. faU — fallen^ fang — fangen, schlag — schlagen, streit — streiten^ 


201 

lauf — laufen, befehl (ahd. bifelh) — befehlen. Wenn vrir auf das ur- 
sprttngliehe bildungsprincip zarllekgehen, so werden wir sagen müssen, 
dass weder das nomen ans dem verbum, noch das verbum ans dem 
Domen abgeleitet ist, sondern beide direot aas der wurzel. Wir haben 
femer einige fälle, in denen neben einem nomen agentis ein daraus 
abgeleitetes sehwaehes verbum steht, vgl. hass — hassen, krach — 
tacken, schau — schallen, rauch — rauchen, zil — zUen, mard — 
mwrden^ hunger — hungern. Im nhd« sind diese beiden klassen nicht 
auseinander zu halten, namentlich deshalb, weil die yerschiedenheit 
der yerbalendungen im präs. ganz verschwunden ist Es erscheinen 
jetzt schlag — schlagen und hass — hassen einander vollkommen pro- 
portional, und man bildet nun weiter auch zu anderen verben, gleich- 
viel welcher conjugationsklasse sie angehören, nomina einfach durch 
weglassung der endung, vgl. betrag, ertrag, vertrag, betreff, verbleib^ 
hegehr, erfolg, verfolg, belang, betracht, brauch, gebrauch, verbrauch^ be- 
such, versuch, verkehr^ vergleich, berelch, schick^ bericht, arger etc. Im 
mhd. steht neben dem subst. git ein daraus abgeleitetes verbum gttesen. 
Letzteres entwickelt sich im spätmhd. regelrecht zu geitzen, geizen, 
und daraus bildet sich das subst geiz, welches das ältere geit ver- 
drängt 

Wo ein nomen und ein verbum von entsprechender bedeutung 
neben einander stehen, da ist es unausbleiblich, dass die aus dem 
einen gebildete ableitung sich auch zu dem andern in beziehung setzt, 
so dass sie dem Sprachgefühl eben sowol aus dem letzteren wie aus 
dem ersteren gebildet scheinen kann, und diese von dem ursprllng- 
lichen verhältniss abgehende beziehung kann dann die veranlassung 
za neubildungen werden. Unser suf&x -ig (ahd. -ag und -ig) dient ur- 
sprünglich nur zu ableitungen aus nominibus. Aber es stehen ihrer 
form und bedeutung nach Wörter wie gläubig, streitig^ geläufig in eben 
so naher beziehung zu glauben, streiten, laufen wie zu glaube, streit, 
lauf, andere wie irrig sogar in näherer beziehung zu dem betreffenden 
verbum, weil das subst irre in seiner bedeutungsentwickelung dem 
adj. nicht parallel gegangen ist; bei andern wie gehörig, abwendig ist 
dag zu gründe liegende subst. (mhd. höre) verloren gegangen oder 
wenigstens nicht mehr allgemein gebräuchlich. So werden denn eine 
anzahl von adjectiven geradezu aus verben gebildet, vgl erbietig (gegen- 
ttber dem nominalen erbötig\ ehrerbietig, freigebig, ergiebig, ausfindig, 
(doch wobl mit anlehnung an m\A. ßndec). zulässig^ rührig, wackelig, 
dämmerig^ stotterig; auch abhängig kann seiner bedeutung nach nicht 
za ha7ig, abhang, sondern nur zu abhangen gestellt werden. Eben so 
verhält es sich mit den adjectiven auf -isch, von denen wenigstens 
neckisch^ mürrisch, wetterwendisch als ableitungen aus verben aufge- 


202 

fasst werden mttsBen, nach dem mnster solcher wie neidisch, spöttisch, 
argwöhnisch etc. gebildet. Unser snflix -er (ahd. -dri, -eri, mhd. -«r^, 
-^), welches jetzt als allgemekies mittel zur bildnng von nomina agentig 
ans verben dient, wurde ursprünglich nur zu solchen bildungen ver- 
wendet, wie wir sie noch in bürger, müller, schüler und vielen andern 
Wörtern haben. Im got sind sicher nominalen Ursprungs bokareis 
(schrifigelehrter) von boka (im pl. buch), daimonareis (besessener) von 
6ai/i<Dv, motareis (zöUner) von mota (zoll), vullareis (tuchwalker) von 
mlla (wolle), liupareis (sänger) von einem vorauszusetzenden */«w/> «= 
ahd. leod, nhd. lied. Demgemäss werden wir wol auch laisareis (lehrer) 
und sokareis (forscher) nicht von den verben laisjan (lehren) und sok- 
Jan (suchen) abzuleiten haben, sondern von vorauszusetzenden Substan- 
tiven *laisa = ahd. lira, nhd. lehre und *soka = mhd. suoche. Diese 
beiden letzten verben zeigen aber bereits die möglichkeit die bildnng 
in beziehung zu einem verbum zu setzen. Auch neben liupareis steht 
liupon (singen). An solche muster angeschlossen beginnen dann schon 
im ahd. die ableitungen aus verben. Dass die nominale ableitung das 
ursprüngliche ist, sieht man namentlich noch an solchen fallen wie 
zuhtdri (erzieher), aus zuht, nicht aus ziuhan abgeleitet, notnutnftäri 
(räuber). In den fällen, wo der wurzelvokal der nominalen ableitung 
nicht zum präs. des verbums stimmt, tritt mehrfach eine verbale neu- 
bildung daneben, und mitunter haben sich beide bildungen bis ins neu- 
hochdeutsche gehalten, vgl. ritter — reiter, Schnitter — Schneider, näh- 
ter — näher, mähder — mäher, sänger — singer (ahd. nur sang&n\ 
Schilter (als eigenname) = mhd. schüttere (mahler) — schilderer. Die 
abstracta auf ahd. -ida (got. -ipa) scheinen ursprünglich nur aus adjee- 
tiven gebildet zu sein und erst in folge secundärer beziehung aus 
verben: kisuohhida zu kisuohhen, pihaltida zu pihaltan nach chundida — 
chunden — chund etc. 

Wie in der ableitung verhält es sich auch in der composition. 
Die allmähUge umdeutung eines nominalen ersten compositionsgliedes 
in ein verbales und die dadurch hervorgerufenen neubildungen hat 
Osthoff 1) ausführlich behandelt So treten z. b. ahd. walipoto (procu- 
rator), sceltwort, betohtis, spiloman, fastatag, wartman, spurihunt, erbe- 
rehi, welche doch die nomina walt (giwalt), scelta, beta, spil, fasia, 
warta, spuri, erbi enthalten, in directe beziehung zu den verben waltan, 
sceltan, beton, spilon, fasten, wartSn, spurien, erben, und von diesen und 
ähnlichen bildungen auff entspringt die im nhd. so zahlreich gewordene 
klasse von compositis mit verbalem ersten gliede wie esslust, trink- 


*) Das verbum in der nominalcomposition im deutschen, griechischen, slavi- 
schen and romanischen. Jena 1878. 


203 

suchtf schreihfeder, schreibfaul etc. Hierher gehören namentlich viele 
composita mit -bar, -lieh, -sam, -haft^ die aber vom Standpunkte des 
Sprachgefühls ans vielmehr als ableitnngen zu betrachten and mit den 
oben angeführten bildangen auf -ig und -isch gleichzustellen sind, vgl. 
Wörter wie wählbar, imverlilgbar^ unbeschreiblich, empfindlich, empfind- 
sam, naschhaft. Der Übergang zeigt sich besonders deutlich bei sol- 
chen Wörtern wie streitbar, wandelbar, vereinbar. Streitbar kann noch 
ebenso gut auf streit wie auf streiten bezogen werden, aber unbestreit- 
bar nur auf bestreiten. Im mhd. wird wandelbcere durchaus auf wandet 
bezogen, und da dieses gewöhnlich „makel" bedeutet, so bedeutet es 
auch gewöhnlich „mit einem makel behaftet^; im nhd. dagegen ist 
wandelbar, unwandelbar ganz an die bedeutung des verb. wandeln an- 
gelehnt. Im mhd. gibt es ein adj. einbcere, einträchtig, ganz ohne be- 
ziehung auf das verb. denkbar. 

Sehr häufig ist der fall, dass eine ableitung aus einer ableitung 
in directe beziehung zum grundworte gesetzt wird, wodurch dann auch 
wirkliche directe ableitnngen veranlasst werden mit Verschmelzung von 
zwei Suffixen zu einem. So erklärt sich z. b. die entstehung unserer 
neuhochdeutschen suffixe -niss, -ner, -ling. Im got. liegt noch ganz 
klar ein suffix -assus vor (ufar-assus überfluss). Dasselbe wird aber 
am häufigiäten verwendet zu bildungen aus verbis auf -inon, z. b. gud- 
jinassus (priesteramt) von gudjinon (priesterdienst verrichten). Sobald 
man dieses direct auf gudja (priester) bezog, musste man -nassus als 
Suffix empfinden. Ein n fand sich femer in solchen bildungen wie 
ihnassus aus ibns (eben) und in ableitnngen aus participien wie ahd. 
farlaran-issa. So ist es gekommen, dass in den westgermanischen dia- 
leeten, von wenigen altertümlichen resten abgesehen, ein n mit dem 
snffix verwachsen ist. Die bildungen auf -ner gehen aus von nominal- 
stämmen, die ein n enthalten, vgl. gärtner (mhd. gart entere), lügner 
(mhd. lügemere von lügene neben lüge), hafner (mhd. havencere), wagner^ 
oder von verben auf atd. -inSn, vgl. redner (ahd. redinäri aus redindn), 
gleissner (mhd. gettchsencere von gelichsenen). Indem nun z. b. lügner 
zu lüge, redner zu rede, reden in beziehung gesetzt wird, entsteht 
Suffix -ner, das wir z. b. finden in bildner (schon im 14. jahrh. bilde- 
ncere, früher aber bildcere), harfner (mhd. harpfosre), söldner (spätmhd. 
soldencere, früher saldier). In künstler (mhd. kunster) erscheint auch 
'ler als suffix, denn wir beziehen es direct auf kunst, weil das verbum 
künsteln, von dem es eigentlich abstammt, auf speciellere bedeutung 
beschränkt ist. Suffix -ling (in Pflegling, zöglmg etc.) geht aus von 
solchen bildungen wie ahd. ediling (der edele) von edili oder adal, 


») Vgl, Osthoff a. a. o. s. 116 ff. 




204 

chümiltng (nhd. in abkömmling, ankömmlmg) zu (m-)chumilo. So stand 
zwiseben Jung nnd jungilinc wohl auch einmal eine deminntivbildnng 
*junffilo. 

Die neahoehdeutschen verba anf -igen sind ausgegangen von ab- 
leitangen aas adjectiven auf -ig. Mhd. einegen, huldegen^ leidegerij nöi-^ 
egen, manecvaliegm, schedegen, schuldegen stammen unzweifelhaft aas 
einec, fmldec, leidec, ndiec, schadec, schuldec; aber nhd. vereinigen, be- 
leidigen, beschuldigen wird man eher direet auf ein, leid, schuld be- 
ziehen, und bei huldigen und schädigen ist gar keine andere beziehang 
als auf huld und schade mögUeh, weil die vermittelnden adjeetiva ver- 
loren gegangen sind, ebenso nötigen, weil nötig nicht mehr in der be- 
deutung correspondiert So entstehen denn andere direet aus dem sub- 
stantivum wie vereidigen, befehligen, befriedigen, einhändigen; beherzigen, 
sündigen, beschäftigen, oder aus einfachen adjectiven wie beschönigen, 
senftigen, genehmigen. Die verba auf -ern und -ein sind hervorge- 
gangen aus einem kerne von ableitungen aus nominibus anf ahd. -or 
und -al {'Ul, -//), indem z. b. ahd. spurilon (investigare) nicht direet aaf 
das verb. spurten, sondern auf ein vorauszusetzendes adj. *spuril (= altn. 
spurall) zurückgeht; jetzt aber werden sie direkt aus einfacheren verben 
abgeleitet, vgl. folgern, räuchern (spätmhd. rouchem, früher rotichen), er- 
schüttern (mhd., noch im 16. jahrh. erschütten), zögern (aus mhd. zogen\ 
schütteln, lächeln, schmeicheln (aus mhd. smeichen) etc. Auf entspre- 
chende weise haben sich auch die ableitungen aus nominibus wie 
äugeln, frösteln, näseln, frömmeln, klügeln, kränkeln herausgebildet. 

Im mhd. bilden viele adjectiva ein adv. auf -Uche, Yg\.frdtiche, 
gr&zHche, lüterHche, elgenliche, vermezzenliche, sinnecliche, einvalteclkhe, 
Dieserart formen sind natürlich zunächst von adjectivischen eompositis 
auf 'lieh abgeleitet. Indem aber das adv. des simplex ausser gebrauch 
kommt, stellt sich eine directe beziehung zwischen dem adv. des com- 
positums und dem einfachen adj. her. Die entwickelung geht sogar 
noch weiter, indem nach analogie von grimmecHche, stcetecUche u. dgL, 
die. direet auf grim oder grimme, stcete bezogen werden, auch armec- 
liche, miltecliche, snellecliche etc. gebildet werden, wiewol kein armec etc. 
existiert. Die englischen adverbia auf -ly sind des nämlichen ursprangs. 

Aehnliche Vorgänge sind offenbar in menge schon in einer periode 
eingetreten, in der wir die allmählige entvnckelung nicht verfolgen 
können. Wir finden in den verschiedenen indogermanischen sprachen 
schon auf der ältesten uns vorliegenden entwickelungsstufe eine reich- 
liche anzahl von Suffixen, deren lautgestalt darauf hinweist, dass sie 
complicationen mehrerer einfacher suffixe sind, und die wahrscheinlich 
alle so entstanden sind, dass auf die geschilderte weise eine ableituog 
zweiten grades zu einer ersten grades geworden ist. 


-- *"• * ' • • * 
."•'•. • . ► " * 


205 

I 

Zn vielen yenächiebongen der beziehnngen gibt ferner das ver- 
halten von compositis zu einander anlass. Grehen zwei verwandte 
Wörter eine eomposition mit dem gleichen elemente ein, go ist es kaum 
zu vermeiden, dass eine direete beziehnng zwischen den beiden com- 
positis entsteht, und es ergibt sich die conseqaenz, dass das eine nicht 
mehr als compositum , sondern als ableitnng aus einem compositum 
anfgefasst wird. Umgekehrt kann eine ableitnng ans einem composi- 
tum in direete beziehung zu der entsprechenden ableitnng aus dem 
einfachen worte gesetzt werden, und die folge davon ist, dass sie als 
em compositum anfgefasst wiM. 

Ein reichliches material zum beleg fttr diese Vorgänge liefert die 
gesehichte der eomposition im deutschen. Ursprünglich besteht ein 
scharfer unterschied zwischen verbaler und nominaler eomposition. In 
der verbalen werden nur präpositionen als erste compositionsgUeder 
verwendet, in der nominalen nominalstämme und adverbien, anfangs 
nur die mit den präpositionen identischen, später auch andere. In der 
verbalen ruht der ton auf dem zweiten, in der nominalen auf deni 
ersten bestandteile. Bei der Zusammensetzung mit partikeln ist dem- 
nach der accent das unterscheidende merkmal. Sehr häufig ist nun 
der fall, dass ein verbum und ein dazu gehöriges nomen actionis mit 
der selben partikel componiert werden. In einer anzahl solcher falle 
ist das alte verhältniss bis jetzt gewahrt trotz des bedeutungsparalle- 
lismus zwischen den beiden compositis *), vgl. durchbrechen ~ durch- 
bruch, durchschniiden — durchschnitt, durchstechen — durchstich, über^ 
blicken -^ iiberblick^ Überfällen — ü'berfaü, übergeben — ü'bergabe, — 
übernehmen — ü'bemahme, überschauen — ü'berschau,. übefscMdgen — 
Überschlag, übersehen — ü'bersicht, überziehen — uberzug, umgehen — 
liw^an^ (eines dinges Umgang haben), unterhalten — unterhalt, unter- 
scheiden — unterschied, unterschreiben — "Unterschrift, widersprechen 

— Widerspruch. In anderen fällen hat die verschiedene accentuierung 
eine verschiedene lautgestaltung der partikel erzeugt, wodurch si<5h 
verbales und nominales compositum noch schärfer von einander ab- 
heben. Hier ist im nhd. das alte verhältniss nur in einigen wenigen 
fäUen erhalten, wo die bedeutungsentwickelung nicht parallel gewesen 
ist, wie erlauben — Urlaub, erteilen — urteil: Im mhd. haben wir noch 
empfangen — ampfanc, enthäzen — dntheiz, entlä'zen — * dntläz, ent" 
sägen — antsage, begraben — bigraft, besprechen — bispräche, bevähen 

— btvanc, erheben — ürhap^ erstän — ürstende, verbieten — vü'rbot 

^) Im allgemeinen aber neigen die nominalen composita dazu sich an die un- 
eigentlichen verbalen anzulehnen, gerade auch wegen der gleichen betonung, während 
aus den eigentlichen subtantiva auf -ung abgeleitet werden, vgl. durchfahren =s 
durchfahrt — durchfähren = durchfährung etc. . 


/ 


206 

(gerichtliche Vorladung), versetzen — vü'rsäz (Versetzung, pfand), ver- 
ziehen — viirzoc u. a. In allen diesen fällen ist die discrepanz, wo 
die Wörter sich überhaupt erhalten haben, jetzt beseitigt, indem das 
nominale compositum an das verbum angelehnt ist: empfang, Verzug etc. 
In andern fällen ist die ansgleichung schon im älteren mhd. eingetre- 
ten, und die partikel ga- (nhd. ge-) ist mindestens schon im ahd«, wo 
nicht schon im urgermanischen stets unbetont Mitwirkend ist bei 
diesem processe offenbar das verhältniss der verbalen composita zu 
den daraus gebildeten nominalen ableitungen (mhd. erlcesen — erlce- 
scere, erlcemnge etc.), die ihrerseits erst analogiebüdungen nach den 
ableitungen aus einfachen verben sind. Auch inf. und pari, die viel- 
fach zu reinen nominibus sich entwickeln (vgl. nhd. behagen, belieben, 
erbarmen, verderben, vergnügen; bescheiden, erfahren, verschieden etc.), 
und die aus dem letzteren gebildeten substantiva (vgl. gewissen, be- 
scheidenheit, bekanntschaft, Verwandtschaft^ erkenntniss etc.) wirken mit 

Auf der andern seite ist auch das princip, dass ein verbales com- 
positum kein nomen enthalten kann, ftir das Sprachgefühl etwas durch- 
löchert, indem ableitungen wie handhaben, lustwandeln, mutmassen, not- 
taufen, radebrechen (durch die schwache fiexion als ableitung erwiesen, 
vgl. mhd. -breche), ratschlagen, wetteifern, argwöhnen, notzüchtigen^ recht- 
fertigen, verwahrlosen aus handhabe, noizueht, rechtfertig etc. sowie das 
durch Volksetymologie umgedeutete weissagen (ahd. nnzagon aus dem 
adj. nnzag, substantiviert nnzago, der prophet) auch als composita ge- 
fasst werden können. Dadurch ist vielleicht das zusammenwachsen 
syntaktischer gruppen zu compositis {lobsingen, wahrsagen) begünstigt 

Eine andere merkwürdige Verschiebung der beziehungen in der 
composition findet sich durch zahlreiche beispiele im spät* und mittel- 
lateinischen und in den romanischen sprachen vertreten. Wir haben 
hier eine grosse menge von verben, die aus der Verbindung einer prä- 
position mit ihrem casus entweder wirklich abgeleitet sind oder we- 
nigstens ihrer bedeutung nach daraus abgeleitet scheinen, vgl. accorpo- 
rare (ad corpus), incorporare, accordare, excommunicare (ex communione), 
extemporare (extemporalis schon im 1. jahrh. p. Chr.); embailer, deballer, 
embarquer, debarquer, enrager, affronter, achever (ad caput), s^endimancher 
(sich in den Sonntagsstaat werfen), s'enorgueillir^). Hiermit sind aneh 
die bildungen aus adjectiven verwandt, welche bedeuten 'sich in den 
betreffenden zustand hineinversetzen' wie affiner, enivrer, adoucir, af- 
faiblir, ennoblir etc. Die ursprüngliche grundlage für diese bildungen 


*) Mehr beispiele bei Ars^ne Darmesteter, Trait^ de la formation des mots 
compos^s dans la langue fran^aise (Biblioth^que de l'6cole des hautes Stades, 
Sciences phüologiques et historiques 19) Paris 1875, s. 80 ff. 


207 

ist zweierlei gewesen. Einerseits ableitungen ans componierten nomi- 
nibus, vgl. assimiUs — assimilare, Concors — Concor dar e, deformls — 
defortnare (in der bedeutung 'vemnstalten'), degener — degenerare, de- 
pilis — depilare, exanimis — exanimare, exheres — exheredare, exossis 
— exossare, exsucus — : exsiLcare, demens — dementire, insignis — in- 
signire, die sieh verhalten wie sanus — sanare; ferner dedecus — de- 
decorare. Anderseits composita von denominativen verben wie accele- 
rare {celerare dichterisch), adaequare, addensare, aggravare, aggregare, 
appropinquare, assiccare, aitemcare, adutnbrare, dearmare, decalvare, de- 
Honorare, depopulari, despoliare, detruncare, exhonorare, exonerare, inno- 
dare, inumbrare, investire. Beide Hassen mnssten allmählig mit ein- 
ander zusammengeworfen werden und zumal da, wo in der ersten das 
zn gründe liegende nomen, in der zweiten das simplex ausser gebrauch 
kam, in dem bezeichneten sinne umgedeutet werden. 


Cap.XIV. 

Bedentangsdifferenzienmg. 

Eb ist, wie wir gesehen haben, im wesen der spracfaentwieke- 
Inng begründet, dass sich in einem fort eine mehrheit von gleich- 
bedeutenden Wörtern, formen, construetionen heransbfldei 
Als die eine Ursache dieser erscheinung haben wir die analogiebildnng 
kennen gelernt, als eine * zweite con vergierende bedeutungsentwieke- 
lung von verschiedenen Seiten her, wir können als dritte hinzufügen 
die aufnähme eines fremdwortes für einen begriff, der schon durch ein 
heimisches wort vertreten ist (vgl. velter — Cousin^ base — cousinel 
unter welche kategorie natürlich auch die entlehnung aus einem ver- 
wandten dialecte zu stellen ist. 

So unvermeidlich aber die entstehung eines solchen Überflusses 
ist, so wenig ist er im stände sich auf die dauer zu erhalten. Die 
spräche ist allem luxus abhold. Man darf mir nicht entgegen 
halten, dass sie dann auch die entstehung des luxus vermeiden wttrde. 
Es gibt in der spräche überhaupt keine präcaution gegen etwa eintre- 
tende ttbelstände, sondern nur reaction gegen schon vorhandene. Die 
individuen, welche das neue zu dem alten gleichbedeutenden hinza- 
schaffen, nehmen in dem augenblicke, wo sie dieses tun, auf das letz- 
tere keine rttcksicht, indem es ihnen entweder unbekannt ist, oder 
wenigstens in dem betreffenden augenblicke nicht ins bewusstsein tritt. 
In der regel sind es dann erst andere, die, indem sie das neue von 
diesem, das alte von jenem sprachgenossen hören, beides untermischt 
gebrauchen. 

Unsere behauptung trifft wenigstens durchaus fUr die umgang- 
sprache zu. Etwas anders verhält es sich mit der literaturspraehe, 
und zwar mit der poetischen noch mehr als mit der prosaischen. Aber 
die abweichung bestätigt nur unsere grundanschauung, dass bedttrfniss 
und mittel zur befriedigung sich immer in das gehörige verhältniss zu 
einander zu setzen suchen, wozu eben sowol gehört, dass das unnütze 
ausgestossen wird, wie dass die lücken nach möglichkeit ausgefüllt 
werden. Man darf den begriff des bedttrfnisses nur nicht so eng fassen, 


2Ö9 

als ob es sich dabei nnr um Verständigung über die zum gemeinsamen 
leben unumgänglich notwendigen dinge handle. Vielmehr ist dabei 
auch die ganze summe des geistigen interesses, aller poetischen und 
rhetorischen triebe zu berttcksichtigen. Ein durchgebildeter stil, zu 
dessen gesetzen es gehört nicht den gleichen ausdruck zu häufig zu 
widerholen, verlangt natürlich, dass womöglich mehrere ausdruckst 
weisen fttr den gleichen gedanken zu geböte stehen. In noch viel 
höherem grade verlangen versmass, reim, alliteration oder ähnliche 
knnstmittel die möglichkeit einer auswahl aus mehreren gleichbedeu- 
tenden lautgestaltungen, wenn anders ihr zwang nicht sehr unange- 
nehm empfunden werden soll. Die folge davon ist, dass die poetische 
spräche sich die gleichwertigen mehrheiten, welche sich zufällig ge- 
bildet haben^ zu nutze macht, sie beliebig wechselnd gebraucht, wo die 
amgangssprache den gebrauch einer jeden an bestimmte bedingungen 
knttpft, sie beibehält, wo die Umgangsprache sich allmählig wider auf 
einfachheit einschränkt. Dies ist ja eben eins der wesentlichsten 
momente in der differenzierung des poetischen von dem prosaischen 
ausdrucke. Es lässt sich leicht an der poetischen spräche eines jeden 
Volkes und Zeitalters im einzelnen der nachweis ftthren, wie ihr luxus 
im engsten zusammenhange mit der geltenden poetischen technik steht, 
am leichtesten vielleicht an der spräche der altgermanischen alliterie- 
renden dichtungen, die sich durch einen besonderen reichtum an syno- 
nymen auszeichnet. 

Fttr die allgemeine Volkssprache aber ist die annähme eines viele 
Jahrhunderte langen nebeneinanderbestehens von gleichbedeutenden 
doppelformen oder doppelwörtern aller erfahrung zuwiderlaufend und 
mnss mit entschiedenheit als ein methodologischer fehler bezeichnet 
werden, ein fehler der allerdings bei der construction der indogerma- 
nischen grundformen sehr häufig begangen ist. 

Bei der beseitigung des luxus müssen wir uns natürlich wider 
jede bewQSste absieht ausgeschlossen denken. In der unnützen über- 
bürdung des gedächtnisses liegt auch schon das heilmittel dafür. 

Die einfachste art der beseitigung ist der Untergang der mehr- 
fachen formen und ausdrucksweisen bis auf eine. Man kann leicht 
die beobachtung machen, dass der luxus der spräche nur in beschränk- 
tem masse auch ein luxus des einzelnen ist Auf einem gewissen 
gleichmasse in der auswahl aus den möglichen ausdrucksformen be- 
ruht am meisten die charakteristische eigentümlichkeit der individuellen 
Sprache. Denn ist einmal das eine aus irgend welchem gründe ge- 
teufiger geworden als das andere, d. h. ist seine befähigung sich unter 
gegebenen umständen in das bewusstsein zu drängen eine grössere, so 
ist auch die tendenz vorhanden, dass, wo nicht besondere einflüsse 

Paul, Principien. 11. Auflage. 14 


210 

nach der entgegengesetzten seite treiben, dies ttbergewieht bei einer 
jeden nenen gelegenbeit eine verstärkang erhält Sobald nun die 1ibe^ 
wiegende m^jorität einer engeren verkehrsgemeinschafk in der answahl 
aus irgend einer mehrheit zusammentrifft, so ist wider die natürliche 
folge, dass sich die ttbereinstimmung mehr und mehr befestigt und 
nach dem absterben einiger generafionen eine vollständige wird. So 
bilden denn die verschiedenen möglichkeiten der answahl auch eine 
hanptquelle ftir die entstehung dialectischer unterschiede. Natürlich 
kommt es auch vor, dass die answahl auf dem ganzen Sprachgebiete 
zu dem gleichen resultate ftthrt, namentlich da, wo besonders be- 
günstigende bedingungen für die eine form vorhanden sind. 

Neben dieser bloss negativen entlastung der spräche gibt es aber 
auch eine positive nutzbarm achung des luxus vermittelst einer 
bedeutungsdifferenzierung des gleichwertigen. Auch diesen Vor- 
gang dürfen wir uns durchaus nicht als einen absichtUchen denken. 
Wir haben gesehen, dass die verschiedenen bedeutnngen eines wertes, 
einer flexionsform, einer satzfttgung etc. jede fllr sich und eine nach 
der andern erlernt werden. Wo nun eine mehrheit von gleichwertigen 
ausdrücken im gebrauclie ist, deren jeder mehrere bedeutnngen und 
Verwendungsarten in sieh schUesst, da ergibt es sich ganz von selbst, 
dass nicht jedem einzelnen im verkehre die verschiedenen bedeutungeu 
gleichmässig auf die verschiedenen ausdrücke verteilt erscheinen. Viel- 
mehr wird es sich häufig treffen, dass er diesen ausdruek früher oder 
öfter mit dieser^ jenen früher oder öfter mit jener bedentung verbanden 
hört Sind ihm aber die verschiedenen ausdrücke jeder mit einer be- 
sonderen bedeutung geläufig geworden, so wird er auch dabei be- 
harren, falls er nicht durch besonders starke einflüsse nach der ent- 
gegengesetzten Seite getrieben wird. 

Wo die einzelnen momente der entwickelung nicht historisch zu 
verfolgen sind, sondern nur das gesammtresultat vorliegt, da entsteht 
häufig der schein, als sei eine lautdifferenzierung zum zwecke der be- 
deutungsunterscheidung eingetreten. Und noch immer scheuen sich die 
meisten Sprachforscher nicht, etwas derartiges anzunehmen. Schon um 
solche aufstellungen definitiv zu beseitigen, ist es von Wichtigkeit die 
hierher gehörigen fälle aus den modernen sprachen in möglichster 1 
reichlichkeit zu sammeln. 

Am meisten in dieser beziehung ist bisher auf dem gebiete der 
romanischen sprachen geschehen. Schon im jähre 1683 veröffentlichte 
Nicolas Catherinot eine schrift unter dem titel Les Doublets de la 
Langue Frangoyse, die hierher gehöriges material zusammenstellte. 
Seit der begründung der wissenschaftlichen grammatik der romani- 
schen sprachen ist man immer aufmerksam auf den gegenständ ge- 


211 

• 

wesen. Reichliches material ans dem französischen ist zusammenge- 
stellt Ton A. Brächet, Dictionnaire des doablets de la langne fran^aise, 
Paris 1868, Supplement, Paris 1871; aus dem portugiesischen von Coelho 
in der Romania II, 281 ff.; aus dem spanischen, daneben auch aus 
andern romanischen sprachen von Caroline Michaelis, Romanische Wort- 
schöpfung, Leipzig 1876. Eine Zusammenstellung von lateinischen 
doppelwörtern hat M. Br^al gegeben in den M^moires de la sociät6 de 
linguistique de Paris, 1, 162 ff. (1868). Rücksichtlich des germanischen 
ist anzuführen 0. Behage!, Die neuhochdeutschen zwillingswörter, Ger- 
mania 23, 257 ff. Eine kleine Sammlung aus dem englischen steht bei 
Mät2ner, Englische grammatik^ I, 221 ff. Eingehende betrachtungen 
über die differenzierung hat besonders G. Michaelis angestellt (vgl. na- 
mentlich s. 41 ff.). Sie neigt sich entschieden der auch von uns ver- 
tretenen ansieht zu, dass die lautliche und die begriffliche differeuz 
ursprünglich in keinem eausalzusamnüenhange mit einander stehen. 
Noch bestimmter spricht sich Behagel (s. 292) aus: „In der lebendigen 
spräche findet keine absichtliche, bewusste differenzierung der form zum 
zwecke der bedentungsdifferenzierung statt ^. Seine eigene arbeit be- 
schäftigt sich aber wesentlich nur mit der lautlichen seite. 

Das in den genannten arbeiten zusammengestellte material ge- 
bort nun übrigens bei weitem nicht alles unter die kategorie, mit der 
wir es hier zu tun haben. Selbstverständlich müssen alle fälle aus- 
geschlossen werden, in denen ein lehn wort von anfang an in einer 
andern bedeutnng aufgenommen ist als ein altheimisches oder ein in 
früherer zeit oder aus anderer quelle entlehntes wort, gleichviel ob die 
Wörter, wenn man weit genug zurückgeht, auf den gleichen Ursprung 
fbhren. Französisch chose und cause stammen beide aus lat. causa, 
aber ihre bedeutungsverschiedenheit ist nicht aus einer differenzierung 
auf französischem boden entstanden, sondern cause ist als gerichtlicher 
terminus entlehnt zu einer zeit, als chose sich schon zu der allge- 
meinen bedeutung 'sache' entwickelt hatte. So verhält es sich bei 
weitem mit den meisten doppelwörtern der romanischen sprachen, die 
uns deshalb hier gar nichts angehen^), so verhält es sich auch mit 
neuhochdeutschen Wörtern wie legal — loyal, pfalz — palast, puiver — 
puder, spital — hötel etc. Weiter müssen wir aber auch alle die- 
jenigen falle ausschliessen, in welchen die bedeutungsdifferenzierung 
die folge einer grammatischen Isolierung ist. Wenn z. b. das alte par- 
ticipinm bescheiden noch als adj. in der bedeutung modestus gebraucht 
wird, dagegen als eigentliches pari beschieden, so sind zwar in der 

*) C. Michaelis ist gewiss im allgemeinen im irrtume, wenn sie (s. 42 ff.) auch 
die dem lateinischen näher stehende bedeutung der dem lateinischen näher stehenden 
form als ergebniss einer differenzierung auffasst. 

14* 


212 

• 

letzteren Verwendung eine zeit lang bescheiden nnd beschieden neben 
einander hergegangen, aber niemals ist beschieden = modestns ge- 
brancht. 

Auf der andern seite ist in den angeführten arbeiten unsere zweite 
klasse, in der die bedentnngsgleichheit erst anf seenndärer entwieke- 
lang beruht, gar nicht bertlcksiohtigi An einer gesichteten Zusammen- 
stellung von fällen, die als unzweifelhafte differenzierung gleichbedeu- 
tender ausdrücke zu betrachten sind, fehlt es also dennoch. Es wird 
sieh daher empfehlen mit beispielen zur erläuterung des Vorganges 
nicht sparsam zu sein. Ich wähle dieselben grösstenteils aus dem 
neuhochdeutschen. 

Die formen knabe und knappe sind im mhd. vollständig gleieh- 
bedeutend und vereinigen beide die verschiedenen neuhochdeutschen 
bedeutungen in sich. Ebenso werden raben (= nhd. rabe) und rappe 
beide zur bezeichnung des vogels verwendet, während jetzt in der Schrift- 
sprache rappe auf die metaphorische Verwendung für ein schwarzes 
pferd beschränkt isi^) Eine dritte form, rappen mit einem aus den 
obliquen casus in den nom. gedrungenen n hat sich für die münze 
(ursprünglich mit einem schwarzen vogelkopf ) festgesetzt, die ursprüng- 
lich auch rappe, rapp heisst und ausserdem als rabenhdler^ raben- 
Pfennig, rabenbatzen, rabenvierer bezeichnet wird (vgL Adelung). Wie 
kneUfe — knappe verhalten sich mhd. bache (hinterbacken, schinken) — 
backe (urgerm. bako — bakko) zu einander, und es ist daher sehr wahr- 
scheinlich, dass wir es hier mit einer ebenfalls secundären, nur be- 
deutend älteren bedeutungsdifferenzierung zu tun haben. Erst neu- 
hochdeutsch ist die Unterscheidung zwischen reiter («» mhd. rtter) nnd 
ritter, scheuhen und scheuchen, die verschiedene nuancierung in der 
anwendung von Jungfrau und Jungfer. Hain ist eine contraction aus 
hagen und im mhd. sind beide gleichbedeutend (noch jetzt in compo- 
sitis wie hagebuche — hainbuchey hagebuUe — .hainbutie etc.); hagen in 
der abgeleiteten bedeutnng, die jetzt auf hain beschränkt ist, erscheint 
bei B. Waldis. 

Häufig sind die doppelformen, die durch die mischung verschie- 
dener declinationsweisen entstanden sind, differenziert, so Franke — 
franken^ tropf — tropfen (vgl. für die gleichwertige Verwendung die 
beispiele bei Sanders, z. b. Haller : Du bist der Weisheit meer, wir sind da- 
von nur tropfe und umgekehrt Wieland : dem armen tropfen), fleck — 
flecken, /ahrt — fährte, Stadt — statte (mhd. nom. vart, stat — gen. 
verte, stete); zugleich mit Verschiedenheit des geschlechtes der lump — 
die lumpe, der trupp — die trappe, der karren — die karre, der possen 

^) Allerdings vermag ich rabe in der übertragenen bedeutung nicht nacbzii- 
weisen. 


213 

— die passe. Verschiedenheit des geschleehtes bei gleicher nominativ- 
form wird verwertet in der — das band (beispiele fttr der band = 
fascia^ vineulnm im Deutschen wb.), der — die flur (ersteres nur in 
der bedeutung hausflnr, in welcher bedeutung aber auch die flur vor- 
kommt), der — die haft (schon im mhd. mit ziemlich entschiedener 
trennung der bedeutungen), der — das mensch (letzteres noch im sieben- 
zehnten Jahrhundert ohne verächtlichen nebensinn), der — das schild 
(die Scheidung noch jetzt nicht ganz durchgeführt, vgl. Sanders), der 

— das verdienst, der — die see, der — die schwulst (beispiele fttr beide 
geschlechter in eigentlicher wie uneigentlicher bedeutung bei Sanders), 
die — das erkenntniss (letzteres noch bei Kant sehr häufig = cogni- 
tio). Dazu kommen die fälle, in denen verschiedene pluralbildungen 
sich differenziert haben: bände — bänder, dinge — dinger (der jetzigen 
Verwendung entgegen z. b. bei Luther Luc. 21, 26 für warten der dinger 
die kommen sollen auf erden)^ gesichte — gesichter (beispiele von nicht- 
beobachtung des Unterschieds bei Sanders), lichte — lichter (die Unter- 
scheidung nicht allgemein durchgeführt), orte — örter (desgleichen), 
tuche — iücher^ worle — Wörter (beispiele in denen ersteres noch wie 
letzteres verwendet wird bei Sanders 3, 1662^}, säue — sauen (vgl. für 
die ältere zeit stellen wie von den zahmen sauen entsprossen oder wilde 
Säue und baren etc. bei Sanders), e/fecte — effecten. Im älteren nhi 
kommt von druck sowol der ^\. drucke als drücke vor; jetzt existiert 
nur noch der pl. drucke im sinne von „gedruckte werke*, wofür Goethe 
noch drücke gebraucht, dagegen heisst es abdrücke, eindrücke, aus- 
drücke. In ältere zeit zurück geht die differenzierung von tor — tür 
(vgl. Sievers, Beitr. z. gesch. d. deutschen spr. u. lit 5, 111*) und bttch — 
buche (ahd. buch, noch häufig fem., ist die alte nominativform, buocha 
die accusativform); die alten nominativformen buoz, wis, halp sind auf 
die Verwendung in bestimmten formein beschränkt {mir wirdit buoz, 
managa wis^ einhalp etc., noch jetzt anderthalb, drittehalb\ während 
sonst die accusativformen buoza, wisa, halba ttblich geworden sind. 

Diese benutzung verschiedener flexionsformen begegnet uns bei- 
nahe in allen flectierenden sprachen. Aus dem englischen lassen sich 
eine anzahl doppelter pluralbildungen anftthren: cloths kleiderstoffe — 
clothes fertige kleider, während in der älteren spräche so gut wie von 
den meisten übrigen Wörtern beide bildungsweisen untermischt gebraucht 
werden ; pennies pfennige als geldstücke — perice als Wertbestimmung; 
brethren gewöhnlich im übertragenen sinne — brothers im eigentlichen. 
Im holländischen werden die plurale auf -en und -s von einigen Wör- 
tern noch beliebig neben einander gebraucht {vogelen — vogels), von 
andern ist nur die eine üblich {engelen, aber pachters\ wider von 
andern aber werden beide neben einander mit differenzierter bedeu- 


214 

tung gebraucht, wg). hemelen (himmel im eigentUehen sinne) — hemels 
(betthimmel), letteren (brief oder literatnr) — leiters (bnchstaben), mid- 
delen (mittel) — middels (taillen), tafelen (gesetztafeln n. dgl) — iafeh 
(tische), vaderen (voreltera) — vaders (väter), wateren (wasser) — tvaters 
(ströme). Aehnlich stehen sich bei einigen Wörtern die formen anf -en 
und -eren gegenüber: kleeden (tischdecken, teppiehe) — kleederen (klei- 
der), beenen (gebeine) — beenderen (knochen), blöden (blätter im buch) 

— bladeren (im eigentlichen sinne). Aus dem dänischen gehört hier- 
her skatte (schätze) — skatler (abgaben), vadben (waflfen) — vaabener 
(wappen). Wo im altn. a mit g (dem u-umlaut) in der Wurzelsilbe der 
nomina wechselte je nach der beschaffenheit der flexionsendung (z. b. 
sgk(u) — sakar etc.), da sind im späteren' norwegisch zunächst doppel- 
formen entstanden, eine mit a, eine mit o, von denen dann meistens 
entweder die erstere oder die letztere untergegangen ist. In einigen 
fallen aber haben sich beide mit bedeutungsdifferenzierung erhalten: 
gata (gasse) — gota (fahrweg), grav (grab) — grov (grübe), mark (feld) 

— mork (wald), iram (anhöhe) — irom (rand). 

In der flexion des pron. der ist der gegenwärtig bestehende unter- 
schied im gebrauche der kürzeren und der erweiterten formen erst all- 
mählig herausgebildet. Die formen der im gen. sg. fem. und im gen. pl. 
aller gesehlechter und den im dat. pl, die jetzt auf den adjectivischen 
gebrauch beschränkt sind, kommen im siebenzehnten Jahrhundert noch 
häufig, vereinzelt auch noch im achtzehnten im substantivischen vor, 
z. b. bei Goethe die kröne, der mein fürst mich würdig achtet. Dagegen 
werden umgekehrt derer, denen adjectivisch, selbst als blosser artikel 
gebraucht, vgl. z. b. derer dinge, derer leute (Logau), derer gesetze (Klop- 
stock); zu denen dingen, zu denen stunden (Heinrich von Wittenweiler, 
15. jahrh.); noch im achtzehnten jahrh. ist denen in dieser Verwendung 
häufig in der Schriftsprache, und noch jetzt ist dene mit der üblichen 
apocope des n die allgemein herrschende form in alemannischen und 
südfränkischen mundarten. Femer ist der gegenwärtig bestehende g^ 
brauch, dass deren auf den gen. beschränkt ist, dagegen im dat. ans- 
schliesslich der verwendet wird, gleichfalls erst secundär herausge- 
bildet, vgl. von deren ich reden, in deren die Schmeichler seind (Gailer 
von Kaisersberg), o fürstin^ deren sich ein solcher ßrst verbunden (Weck- 
herlin). Endlich ist auch der merkwürdige unterschied, den man jetzt 
in der anwendung der formen derer und deren macht, erst allmählig 
herausgebildet; vgl. wie viel seind deren die da haben (Pauli) und um- 
gekehrt mit mancher kunst, derer sichs gar nit Schemen thar (P. Melissns). 

Schaffen als st. verb. und schöpfen sind aus dem selben paradigma 
entsprungen: got. skapjan prät. sköp. Zum prät. scuof hat sich im nhd. 
neben der alten form scepfen ein neues regelmässiges präs. ^cayfan ge- 


215 

bildet; im mhd. ist dann weiter zu schepfen ein prM.schepfete und ein 
pari geschepfet gebildet Im mhd. sind schuof, geschaffen und schepfete, 
geschepfete gleichbedeutend, vereinigen die bedeutang der beiden nen- 
hoebdentschen Wörter in sich. Die selbe Vereinigung findet sich im 
präs. ^cA^/<?n. Das "pxM^shhaffen erscheint allerdings von vornherein 
anf die bedentang schaffen beschränkt 

Zücken nnd zucken sind ursprünglich gleichbedeutende doppel- 
tormen, vgl. der schon das schwer t zucket (Le.) — den anblick eines 
zückenden (Herder). Ebenso drücken und drucken. 

Die conjunction als ist durch alse hindurch aus aisd entstanden. 
Im mhd. sind beide vollkommen gleichbedeutend, beide nach belieben 
demonstrativ oder relativ. Ebenso wenig besteht ein unterschied der 
bedeutung zwischen danne und denne^ wanne und wenne. Die jetzige 
Verschiedenheit des gebrauches ist durch einen ganz langsamen pro- 
cess entwickelt, und die Zufälligkeit der entstehung zeigt sich noch an 
einem mangel eines logischen principes der differenzierung. Secundät 
ist auch der jetzige unterschied von warum und worum. 

Das partieipium des intransitivums, verdorben und das des ent* 
sprechenden transitivums, verderbt haben sich so geschieden, dass das 
letztere nur noch in moralischem sinne gebraucht wird. Secundär ist 
auch der bedeutungsunterschied von bewegt und bewogen^ vgl z. b. da^ 
meer . . vom winde bewogen (Prätorius), der hat im tanze nicht die beine 
recht bewogen (Kachel), dagegen dass er dardurch bewegt wardy solches 
in eigener person zu erfahren (Buch der liebe). 

Die Wörter auf -ÄeiY, -schaft, -tum sind früher wesentlich gleich- 
bedeutend. Sie können sämmtlich eine eigenschafi; bezeichnen, manche 
haben daneben eine collectivbedeutung entwickelt Auch Wörter auf 
-niss und einfachere bildungen wie höhe, tiefe berührten sich vielfach 
mit ihnen. So ist es auch bis jetzt im ganzen geblieben, aber im ein- 
zelnen haben sich da, wo mehrere dieser bildungen neben einander 
standen, diese meistens irgendwie differenziert. Fälle, in denen die 
verschiedenen gebranchsweisen, die sich jetzt auf mehrere solcher bil- 
dungen verteilen, einmal vollständig in jeder derselben vereinigt waren, 
sind allerdings nicht so häufig, doch vgl. gemein{ä)e gemeinschafi, von 
denen auch gemeinheii ursprünglich in der bedeutung nicht geschieden 
war. Bemerkenswert sind auch klelnheit — kleinigkeit, neuheit — neuig- 
keit, Beispiele für die Mhere unterschiedslose Verwendung des ersten 
paares sind im Deutschen wb. beigebracht, vgl. so verhält es sich auch 
mit gewissen kleinheiten, die es im haushält nicht, sind (Goethe-Zelter- 
seher briefweehsel) — die ausnehmende kleinigkeit der masse (Kant), 
lieber das zweite paar lehrt Adelung, neuheit werde gebraucht „als 
ein concretum, eine neue bisher nicht erfahrne oder erkannte sache, 


216 

wofttr doch neuigkeii üblicher ist*, dagegen „rf/e neuig keit einer nach- 
richte einer empfindung, eines gedankens u. s. f. wofür jetzt in der an- 
ständigen Sprechart neuheit üblicher ist''. 

Entsprechend verhält es sich mit den adjectiven auf -ig, -isch, 
'lieh, 'sam, -haft, -bar, bei denen die jetzt bestehenden bedeutnngsver- 
schiedenheiten, nicht auf bedentungsversehiedenheit der suffixe an sich 
beruhen. Ein treffendes beispiel ist ernstlich — ernsthaft, vgl für den 
älteren gebrauch die stets gar ernstlich und satter sieht (Ayrer) — der 
ernsthaft fleisz (Fischart). 

Im mhd. sind sd und als (also, alse) ganz gleichbedeutend, beide 
sowol demonstrativ als relativ. Im nhd. sind sie differenziert, zunächst 
in der weise, dass so im allgemeinen als dem., als als reL gebraucht 
wird, vgl. z. b. so wol als auch (mhd. sd wol sd oder als rvol als), so 
bald als. Doch ist ein rest des demonstrativen als übrig geblieben in 
alsbald. Im mhd. hat Rhte wie vil Ithte die bedeutung von nhd. leicht 
und vielleicht. Die besehränkung der form ehe auf die conjunction ist 
secundär. Noch Gleim schreibt ehe als Klopfstock, Goe. er soll eh ge- 
wonnen als verloren haben. 

Im mhd. kann sichern so viel bedeuten wie nhd. versichern und 
umgekehrt versichern so viel wie nhd, sichern (z. b. die stat mit müren 
und mit graben v.). Die Unterscheidung von sammeln, Sammlung nnd 
versammeln, Versammlung ist dem älteren nhd. noch fremd; vgl. Moses 
und Aaron . . sameleten auch die ganze gemeinde, Gott ist fast mächtig 
in der samlunge der heiligen (Lu.). — Des festlichen tages, an dem äe 
gegend mit jubei traüben lieset und tritt und den most in die fässer ver- 
sammelt (Goe.); Die linsen sind gleichsam eine Versammlung unendlicher 
prismen (Goe.); Dass sie (die Juden in ihrer Zerstreuung) keiner Versamm- 
lung mehr hoffen dürfen (Lu.). Das einfache öffnen wird früher wie 
jetzt eröffnen in dem übertragenen sinne = offenbaren gebraucht, vgl 
du versprichst mir deine gedanken zu öffnen. Ein ähnliches verhältnifls 
besteht öfter zwischen simplex und compositum oder zwischen ver- 
schiedenen compositis, die ein gemeinsames simplex haben. 

Es müssen hier auch einige Vorgänge besprochen werden, die 
zwar nicht eigentlich differenzierungen sind, die aber aus den näm- 
lichen grundprocessen entspringen wie diese und daher für deren be- 
urteilung wichtig sind. Den ausgangspunkt bildet dabei nicht totale 
sondern partielle gleichheit der bedeutung. 

Der partiellen gleichheit kann eine totale vorangegangen sein, 
die zunächst dadurch aufgehoben ist, dass das eine wort eine bedea- 
tungserweiterung erfahren hat, die das andere nicht mitgemacht hat 
Dann ist sehr häufig die weitere folge, dass das erste aus seiner ur- 
sprünglichen bedeutung von dem letzteren ganz herausgedrängt und 


217 
anf die neue bedentung beschränkt wird. Kristenluom and Krtstenheii 

• 

werden zwar schon von Walther v. d. Vogelweide im heutigen sinne 
einander gegenüber gestellt, aber das letztere wird doch mhd. auch 
noch in der grnndbedeutang == Christentum gebraucht, vgl. z. b. Tristan 
1968 (von einem zu taufenden kinde) durch daz ez dne krüienheit in 
goies namen empfienge. Mhd. wistuom bedeutet das selbe wie wisheit, 
daneben tritt aber die abgeleite bedeutung « rechtsbelehr ung^ auf, und 
auf diese wird dann nhd. rveisium beschränkt Mhd. geUchnisse kann 
noch in dem selben sinne wie gdxchheit gebraucht werden, nhd. gleich^ 
niss hat diese ursprüngliche bedeutung aufgegeben. Indessen (indes) 
hat ursprünglich rein temporale bedeutung, vgl ich bin indess krank 
gewesen (Le.); aus dieser ist es durch unterdessen verdrängt 

Häufiger ist es, dass ein wort, welches früher in seiner bedeu- 
tung von einem anderen ganz verschieden war, irgend einen teil von 
dem gebiete des letzteren occupiert und dann allmähU^ für sich allein 
in beschlag nimmt So ist hasse auf das moralische gebiet einge- 
schränkt (mhd. auch bassiu kleit u. dergl.) durch das übergreifen von 
schlecht (ursprünglich glatt, grade). Aehnliche einschränkungen haben 
erfahren: siech (ursprünglich die allgemeine bezeichnung ftir krank), 
seache, sucht durch kränk, krankheit (ursprünglich schwach, schwäche); 
arg (mhd. auch in der bedeutung geizig) durch karg (ursprünglich 
klug); ais durch wie (ursprünglich fragewort, dann zunächst nur ver- 
allgemeinerndes relativum, ob durch wenn. 

Sehr häufig endlich ist es, dass ein neugebildetes oder aus einer 
fremden spräche entlehntes wort ein älteres aus einem teile seines ge- 
bietes hinausdrängt. So hat mhd. ritterscha/t auch die bedeutung von 
riUertum\ nachdem das letztere wort gebildet ist, büsst es diese ein. 
So ist freundlich durch freundschaftlich angegriffen, wesentlich durch 
wesenhaft, empfindlich durch empfindsam, einig durch einzig, gemein durch 
gemeinsam und allgemein^ lehen durch darlehen, Stegreif durch Steigbügel, 
kümtlich durch kunstvoll 'und kunstreich, bein durch knochen (ursprüng- 
lich mitteldeutsch). 

Diese verschiedenen Vorgänge können in mannigfachen Verknüpf- 
ungen unter einander und mit der eigentlichen bedeutungsdifferenzie- 
rung erscheinen. Soll einmal die geschichte der bedeutungsentwicke- 
lung zu einer Wissenschaft ausgebildet werden, so wird es ein haupt- 
erforderniss sein auf diese Verhältnisse die sorgfältigste rücksicht zu 
nehmen. Auch nach dieser seite hin bestätigt sich unser grundsatz, 
dass das einzelne nur mit stätem hinbUck auf das ganze des sprach- 
materials beurteilt werden darf, dass nur so erkenntniss des causal- 
zusammenhangs möglich ist Wie schon die hier gegebenen andeu- 
tungen erkennen lassen, ist dabei gerade der mangel durchgehender 


218 

logischer principien charakteristisch. Der zufall, die absichtslosigkeit 
liegen zu tage. 

Wir haben oben schon mehrfach an das syntaktische gebiet ge- 
streift. Auch an rein syntaktischen Verhältnissen zeigen sich die 
besprochenen Vorgänge. 

Im ahd. waren in der starken declination des adj. doppelformen 
für den nom. sg. sowie für den acc. sg. n. entstanden : guot — guoter, 
guoHu, guotaz. Im gebrauch dieser formen besteht zunächst kein unter- 
schied. Einerseits wird die sogenannte unflectierte attributiv vor dem 
subst. gebraucht, noch im mhd. allgemein, während sich jetzt bis auf 
wenige isolierte reste die flectierte festgesetzt hat, anderseits wird die 
flectierte auch da gebraucht, wo sich später die unflectierte festgesetzt 
hat; so attributiv nach dem subst, z. b. Jurist guaier, thaz himilricU 
hdhaz Otfrid, noch im mhd. der knappe guoter Parzival, ein wölken so 
trüebez Heinr. v. Morungen neben dem ttblieherem der knappe guot etc.; 
femer als prädicat: ist iuuar mieta mihhihi Tatian, uuird thu stummer 
Otfrid, vereinzelt noch im mhd., z. b. daz daz mte velt voUez /rouwen 
rvcere Parzival 671, 19; so auch ih habetiz io giuuissaz (hielt es immer 
für gewiss) Otfrid, also nazzer muose ich scheiden Walther v. d, Vogelw. 
Bei ein und beim possessivpron. hat sich auch vor dem subst. die un- 
flectierte form festgesetzt, früher standen beide nebeneinander, vgl. dner 
sämo, sinaz kom, einaz fisgizzi Otfrid. 

Die doppelformen ward und wurde haben sieh so geschieden, 
dass ersteres auf die bedeutung des aorists beschränkt ist, während 
im sinne des imperfectums nur das letztere gebraucht werden kann. 
Doch ist die Scheidung nicht durchgeführt, weil wurde in jedem falle 
angewendet werden kann. Dass auch im idg. zwischen dem ind. des 
impf, und dem des aor., sowie zwischen den übrigen modi des präs. 
und denen des aor. ursprünglich keine bedeutungsverschiedenheit be- 
standen hat, dürfen wir mit ziemlicher Sicherheit annehmen. Denn die 
doppelheit ist wahrscheinlich aus eiinem einzigen paradigma entstanden 
dadurch, dass eine durch den wechselnden accent enstandene disere- 
panz zwischen den formen nach zwei verschiedenen seifen hin ausge- 
glichen wurde. Noch auf dem uns überlieferten zustande des sanskrit 
sind die formen nicht in allen klassen des verb. geschieden. Ob man 
got. viljau (ich will) einen opt. präs. oder aor. nennen will , ist ganz 
gleichgültig. Ueberhaupt wird das tempus- und modussystem des idg. 
durch eine anzahl von bedeutungsdifferenzierungen zu stände gekommen 
sein, womit der entgegengesetzte Vorgang, zusammenfall der bedeutung 
verschiedenartiger bildungen band in band ging. 


Cap.XV. 

Psychologische nnd grammatische kategorie. 

Jede grammatische kategorie erzeugt sich auf gmndlage einer 
psychologischen. Die erstere ist ursprünglich nichts als das eintreten 
der letzteren in die äussere erscheinung. Sobald die Wirksamkeit der 
psychologischen kategorie in den sprachlichen ausdrucksmitteln er- 
kennbar wird, wird sie zur grammatischen. Die Schöpfung der gram- 
matischen kategorie hebt aber die Wirksamkeit der psychologischen 
nicht auf. Diese ist von der spräche unabhängig. Wie sie vor jener 
da ist, wirkt sie auch nach deren entstehen fort Dadurch kann die 
anfänglich zwischen beiden bestehende harmonie im laufe der zeit ge- 
stört werden. Die grammatische kategorie ist gewissermassen eine 
erstarrung der psychologischen. Sie bindet sich an eine feste tradi- 
tion. Die psychologische dagegen bleibt immer etwas freies, lebendig 
wirkendes, was sich nach individueller auffassung mannigfach und 
wechselnd gestalten kann. Dazu kommt, dass der bedeutungswandel 
vielfach darauf wirkt, dass die grammatische kategorie der psycho- 
logischen nicht adäquat bleibt. Indem dann wider eine tendenz zur 
aasgleichung sich geltend macht, vollzieht sich eine Verschiebung der 
grammatischen kategorie, wobei auch eigentümliche zwitterverhältnisse 
entstehen können, die keine einfache einordnung in die bis dahin vor- 
handenen kategorieen zulassen. Die betrachtung dieser Vorgänge, die 
wir genauer beobachten können, gibt uns zugleich belehrung über die 
ursprüngliche entstehung der grammatischen kategorieen, die sich 
unserer beobachtung entzieht. Wir wenden uns demnach dazu einige 
der wichtigsten grammatischen kategorieen von den angedeuteten ge- 
siehtspunkten aus zu betrachten. 

Geschlecht.^) 

Die basis fUr die entstehung des grammatischen geschlechtes 
bildet der natürliche geschlechtsunterschied der menschlichen 

Vgl. zu diesem abschnitt besonders Grimm Gr. III, 311—563; El. sehr. III, 
349ff.j Diez III, 92— 8; Miklbsich IV, 17— 37j Schroeder s. aO; Brugmann, Z. f. Spr. 


220 

nod tierischen wesen. Wenn aasserdem noch anderen wesen, auch 
eigensehafts* und tätigkeitsbezeichnnngen, ein männliches oder weib- 
liches geschlecht beigelegt wird, so ist das eine Wirkung der phan- 
tasie, welche diese wesen nach analogie der menschlichen persönlich- 
keit auffässt. Aber weder das natürliche geschlecht noch das der 
Phantasie ist an und für sich etwas grammatisches. Der sprechende 
konnte sich etwas als männliche oder weibliche persönlichkeit denken, 
ohne dass im sprachlichen ausdruck das geringste davon zu spüren 
war. Das sprachliche mittel, woran wir jetzt das grammatische ge- 
schlecht eines snbstantiyums erkennen, ist die congruenz, in welcher 
mit demselben einerseits attribut und prädicat, anderseits ein stell- 
vertretendes pronomen steht. Die entstehung des grammatischen ge- 
schlechtes steht daher im engsten zusammenhange mit der entstehung 
eines wandelbaren adjectivums und pronomens. Die geschlechthehe 
wandelbarkeit des adjectivums setzt voraus, dass sich der geschlechts- 
unterschied an einen bestimmten stammausgang geknüpft hat Diese 
erscheinung liesse sich daraus erklären, dass der betreffende stamm- 
ausgang ursprünglich ein selbständiges wort gewesen wäre, ein pron., 
welchem schon während seiner Selbständigkeit die beziehung auf ein 
männliches oder weibliches wesen zukam. Durchaus notwendig aber 
ist diese annähme nicht. Es liesse sich auch denken, dass rein za- 
fällig sich bei diesem Stammausgange eine überwiegende majoritäti^r 
das männliche, bei jenem eine solche für das weibliche herausgestellt 
hätte. Der geschlechtsunterschied beim pron. kann sich ebenso wie 
beim adj. am Stammausgange zeigen, er kann aber auch durch beson- 
dere wurzeln ausgedrückt werden. Am stellvertretenden pron. hat sich 
wahrscheinlich das grammatische geschlecht am frühesten entwickelt, 
gerade so wie es sich an demselben da, wo es teilweise untergegangen 
ist, also z. b. im engl., am längsten erhält. 

Bei der ersten entstehung des grammatischen geschlechtes wird 
dasselbe durchgängig mit dem natürlichen in. Übereinstimmung gewesen 
sein. AUmählig konnten abweichungen davon entstehen, namentüch 
durch den wandel der Wortbedeutung, auch durch bloss occasionelie 
modification der bedeutung. In folge davon macht sich das natürliche 
geschlecht wider vollständig geltend, zunächst dadurch, dass es eine 
durchbrechung der grammatischen congruenz veranlasst; vgl. fälle wie 
eines frauenzimmers, die sich am artigsten gegen mich erwiesen hatte 
(Goe.); die hässlichste meiner kammermädchen (Wieland); lat dm impor- 


24, 34 ff.; DelbrückIV, 4— 13; W.Meyer, Die Schicksale des lateinischen neuirums 
im romanischen, Halle 1883; Lange, De substantiyis Graecis feminini generis secnndae 
declinationis capita tria, Lipsiae 1885 (Diss.). 


221 

ima prodigia, quos egestas addixerat (Cic); capita canjurationis virgis 
caesi ac securi percussi (Liv.); septem milia hominum in naves impositos 
(Liv.); griech. co q>lXtat, (o jtsQiocä rifitid-elg xixvov (Eur.); q)lXxai* 
Mylc^ov ßla (Aesch.). Von hier aus gelangt man dann zu einem 
Follständigen geschlechtswechsel. So werden im griech. männliche 
Personen- und tierbezeichnungen ohne weiteres auch zu femininen ge- 
macht, indem sie auf weibliche wesen übertragen werden. Es stehen 
z.b. neben einander o — rj ay/eXog, öiödcxaXoc, laxQoq, zvQawog, 
sXa^og, txxog ^) u. a. Umgekehrt hat man in christlicher zeit ein ö 
xa(f^ivog ^) gemacht. Die ursprünglich neutralen deminutiva erhalten 
leicht männliches oder weibliches geschlecht, wenn die deminutivbe- 
deutang verdunkelt wird. So ist die fräulein häufig mundartlich, auch 
bei älteren Schriftstellern. Wenn collectiva oder eigenschaftsbezeich- 
nnngen zu personenbezeichnungen werden, kann ein geschlechtswechsel 
die folge sein. Dem it. la guida entspricht franz. le guide (ursprüng- 
lich ftthrung); franz. le gar de der Wächter ist ursprünglich identisch mit 
la garde die wache; vgl. femer span. el cura der pfarrer, el jmiicia 
der riehter; altbulgarisch junota Jugend, als masc. jttngling, starosta 
alter, als masc. dorfältester; russ. golova fem. haupt, masc. anfahrer. 
Besonders häufig werden weibliehe beinamen zu männlichen Personen- 
namen vgl. lai Alauda, Capella, Stella; it. Colonna, Rosa, Barbarossa, 
Malaspina etc. 

Massgebend für das geschlecht ist öfters die Zugehörigkeit zu 
einer bestimmten wortkategorie. Dies liegt mitunter daran, dass das 
geschlecht der allgemeinen gattungsbezeichnung das der specielleren 
benennung bestimmt So erfolgt denn auch ein gesehlechtswandel 
leicht im anschlnss an begriffsverwandte Wörter. 

Hier greift also die analogie ein. So ist mitiwoch, älter mitte 
rvoche (media hebdomas), noch jetzt mundartlich als fem. gebraucht, 
zum masc. geworden nach den übrigen bezeichnungen der Wochentage; 
entsprechend franz. dimanche. Die fremden Tiber und Rhdne haben sich 
der majorität der deutschen flussnamen angeschlossen. Im griech. sind 
viele bezeichnungen von bäumen und pflanzen weiblich geworden, nach- 
dem einmal für diese klasse in anlehnung an die gattungsbezeich- 
nungen ögvg und ßoxavri das weibliche geschlecht das normale ge- 
worden war.3) Am klarsten zeigt sich dieser pröcess bei solchen Wör- 
tern, die in ihrer eigentlichen bedeutung noch ein anderes geschlecht 
aufweisen und nur in der Übertragung auf pflanzen feminina sind^), 

^) Vgl. Lange a. a. o. s. 27 flf. 
«) Vgl. Lange s. 28. 
') Vgl. Lange a. a. o. s. 35 ff. 
*) Vgl. ibid. s. 11. 


222 

vgl. o xiavog stahl — ^ xvavoq die wegen der farbenähnliehkeit da- 
naeh benannte kornblume. Ebenso neigen die städtenamen zum fem., 
vgl. r Edga/iog ans o xigafiog ton, ^ KiOCog ans 6 xiaöog epheu, ^ 
Magad-oq ans o fiaga&og fenchel, 97 "ijcvoq aus o ^jrro^ ofen, 97 /ctAvod^ 
Stadt — laXvooq personenname.^) 

In anderen fällen sind formelle gründe die Veranlassung zum 
gesehleehtswandel geworden. So war man im lat. gewohnt, dass die 
Wörter auf -a, soweit sie nicht bezeiehnungen für männliche personeD 
waren, weibliches geschlecht hatten. In folge davon erscheinen auch 
die griechischen neutra auf -fia bei vorklassischen und nachklassischen 
Schriftstellern, jedenfalls in anschluss an die Volkssprache als feminina, 
z. b. Schema, dogma, diadema, und sie sind daher auch in den roma- 
nischen sprachen häufig feminina.^) Das dem lat acus entsprechende 
it. ago ist masc. Die altgriechischen feminina auf -oq sind im neu- 
griechischen grösstenteils beseitigt, zum teil durch übertritt ins masc, 
z. b. 6 xXaravoq, 6 xvjtoQiööoq,^) Selbst das natürliche geschlecht hat 
zuweilen den genuswandel nicht verhindert, vgl. mov.papa, profeta als 
feminina.^) 

Der widersprach zwischen dem überlieferten geschleehte des ein- 
zelnen Wortes und demjenigen, welches man nach seiner endung er- 
wartet, kann noch in einer anderen weise ausgeglichen werden, indem 
nämlich nicht das geschlecht, sondern die endung vertauscht wird, 
natürlich mit einer solchen, der das betreffende geschlecht regelmässig 
anhaftet. So erscheint im lat peristromum neben perislroma. Lat socrus 
ergab span. prov. suegra, port. sogra\ lat. nurus it. nuora, span. nueraj 
port. prov. nora, afranz. nore. Auch dieses mittels hat sich das neo- 
griechische bedient um die feminina auf -oq zu beseitigen, daher ij 
nagd-iva, ^ nXaravfi u. a. Schon im altgriechischen steht rj iilvh] 
neben ^ lilvO^oq, ^ eßivrj neben ^ sßevoq u. a.^) In einem teile der 
fälle war das überlieferte geschlecht zugleich das natürliche, ein grund 
mehr, dass es nicht der endung nachgab, sondern diese sich unter- 
warf. Hierher gehört es auch, dass im griech. die männlich gewor- 
denen ^-stamme das nominativs-^ angenommen haben (z. b. veavlagy) 

Bis hierher bewegen wir uns auf einem ziemlich sicheren boden. 
Misslich aber ist es zu entscheiden, wieweit das natürliche gesehlecbt 


») Vgl. Lange a. a. 0. s. 42 ff. 

») Vgl. das nähere bei W. Meyor s. 93 ff. In dieser sehrift findet man viele 
andere beispiele für gesehleehtswandel aus formalen gründen. 

3) Vgl. Hatzidakis, Zsehr. f. vgl. spr. 27, 82 ; Lange a. a. o. s. 9. 

4 Vgl. W. Meyer s. 9. 

^) Vgl. Hatzidakis und Lange a. a. o. 

ö) Vgl. J. Grimm, kl. sehr. s. 357. 


- - 223 

der Phantasie auf den wandel des grammatischen gesehleehtes ein- 
gewirkt hat. Die subjeetive anschauong der einzelnen menschen kann 
sieh dem nämlichen objecte gegenüber sehr verschieden verhalten. Im 
heutigen englisch kann sich diese subjectivität bis zu einem gewissen 
grade ungehemmt geltend machen, und wir können uns danach eine 
Yorstellung davon bilden, wie anfänglich die Übertragung des männ- 
liehen und weiblichen geschlechtes auf gegenstände, die kein natür- 
liches geschlecht haben, vor sich ging. In andern sprachen ist die 
freie tätigkeit der phantasie durch das überlieferte geschlecht einge- 
sehränkt; so lange dieses fest im gedächtniss haftet, kann sie nicht 
zur geltung kommen. Eine gewisse Unsicherheit in bezug auf die tra- 
dition wird daher immer erst den anstoss geben müssen, damit die 
Phantasie nach dieser richtung hin in tätigkeit gerät Ist aber einmal 
das traditionelle geschlecht dem sprechenden gar nicht oder nicht ge- 
nügend eingeprägt, so bedarf es keiner besonders starken erregnng 
der phantasie um ihn dazu zu bringen, dem betreffenden worte ein 
beliebtes geschlecht beizulegen. Denn der geschlechtsunterschied hat 
die spräche derartig durchdrungen, dass es in vielen fällen unmöglich 
ist, das geschlecht unbestimmt zu lassen, und man sich also für irgend 
eins entscheiden muss. Unter diesen umständen gibt oft bloss der Zu- 
fall den ausschlag, d. h. irgend ein geringfügiger umstand, der mit den 
momenten, die ursprünglich die entstehung des grammatischen ge- 
schlechtes veranlasst haben, gar nichts zu schaffen zu haben braucht. 
Man denke an die Verstösse, die man in einer fremden spräche macht . 

Was nun auch die positiven veranlassungen für einen wandel des 
geschlechtes sein mögen, jedenfalls darf auch die negative Veran- 
lassung nicht übersehen werden, die oft von entscheidenderer bedeu- 
tung ist als die positive. Welche rolle sie spielt, lässt sich historisch 
daraus erweisen, dass diejenigen Wörter dem geschleohtswandel beson- 
ders ausgesetzt gewesen sind, bei denen im zusammenhange der rede 
das geschlecht am häufigsten eines charakteristicums entbehrt und sich 
deshalb am wenigsten fest einprägt. Wir haben im plur. gar keinen 
geschlechtsunterschied mehr, auch nicht am artikeL Es ist daher natür- 
lich, dass gerade Wörter, die am häufigsten im plur. gebraucht werden, 
ihr geschlecht verändert haben, zum teil in Verbindung mit einer Ver- 
änderung ihrer lautgestalt, die gleichfalls dadurch ermöglicht ist, dass 
der sing, weniger fest haftete als der plur., vgl wange (mhd. n.), woge 
(mhd. der tväc), locke (mhd. der loc\ trähne (mhd. der trahen\ zähre 
(mhd. der zaher\ wölke (mhd. daz wolkert)^ waffe (mhd. daz wäfen\ ähre 
(mhd. daz eher), binse (mhd. der binez). Wenn ferner viele schwache 
masculina weiblich geworden sind (vgl. meine mhd. gr. § 130 anm. 4), 
so wird das damit zusammenhängen, dass die declination der schwachen 


224 

masculina nnd feminina im mhd. vollkommen identiBch war. Ueber- 
haupt wird kein wort ein grammatisches genus annehmen, welches 
man mit den ihm anhaftenden flexionsendungen nicht zn verbinden ge- 
wohnt ist, abgesehen von den fällen, wo das natürliche geschlecht 
einwirkt Diese passive bedentnng des formalen elementes für den 
geschlechtswandel ist nicht zn verwechseln mit dem oben besprochenen 
activen einflnsse desselben, wiewol sich nicht in jedem einzelnen falle 
die grenzlinie scharf ziehen lässt. 

Das nentrnm ist ursprünglich nichts weiter als das geschlechts- 
lose, wie der name richtig besagt Während das masc. and das fem. 
als psychologische kategorieen existiert haben, bevor sie zu gramma- 
tischen wurden, hat sich das neutrum lediglich in folge der formellen 
abhebung der beiden natürlichen gesehleehter und in folge der durch- 
führung der congruenz zu einem dritten grammatischen genus eon- 
stituiert 

Numerus. 

Auch der numerus wird zu einer grammatischen kategorie nar 
durch ausbildung der congruenz. Auch in den flectierenden sprachen 
ist der plur. nicht durchweg erforderlich, wo es sich um bezeichnnng 
einer mehrheit handelt Jede Vielheit kann von dem sprechenden 
wider als eine einheit zusammengefasst werden. Und so gibt es gerade 
bezeichnungen ftlr eine bestimmte anzahl, die singulariseh sind, wie 
schock, dutzend, mandel, wie ursprünglich durchaus tausend^ hundert 
und wahrscheinlich auch andere Zahlwörter. So sind femer überhaupt 
die sogenannten coUectiva zusammenfassende singularische bezeich- 
nungen für mehrheiten. Da nun die auffassung einer masse als ein- 
heit oder Vielheit so sehr vom subjectiven belieben des sprechenden 
abhängt, so kann seine auffassung auch in Widerspruch geraten mit 
derjenigen, welche durch die grammatische form des gewählten ans- 
druckes angezeigt ist, und diese abweichung der subjectiven auffassnng 
documentiert sich dadurch, dass sie statt des grammatischen numems 
die congruenz bestimmt, was dann zum teil auch abweichungen im 
genus zu folge hat 

Der häufigste fall ist, dass auf ein singularisohes coUeetivum ein 
plur. folgt In unserer gegenwärtigen Schriftsprache, die ja überhaupt 
sehr stark von grammatisch-logischer Schulung beeinflusst ist, ist diese 
erscheinung sehr eingeschränkt Aber noch im vorigen Jahrhundert ist 
sie häufig wie im griech. und lat und noch jetzt im engl. Vgl. ich habe 
mich offenbaret deines vaiers hause^ da sie noch in Egypten waren (Ln.); 
im vollen kreise des volks entsprungen, unter ihnen lebend (Herder); cjw- 
tatl persuadet ut exirent (Caes.); ex eo nvmero^ qui per eos annos con- 


235 

sules fiierunt (Cio.); ängstlich im schlafe liegt das betäubte volk und 
träumt von rettung, träumt ihres ohnmächtigen nmnsches erfiilltmg (Goe.); 
das ßmge paar hatte sich nach ihrer Verbindung nach engagemeni um- 
gesehen (Goe.); the whole nation seems to he running out of their wiis 
(SmoUet); Israel aber zog aus in den streit und lagerten sich (Lu.); alle 
menge deines hauses sollen sterben, wenn sie männer worden sind (La.); 
dass der rest von ihnen sich durch Libyen nach Cyrene retteten und von 
da in ihr Vaterland zurückkamen (Le.); the army of the queen mean to 
besiege us (Sh.); pars saxa jactant (Plaut); concursus populi, mirantium 
quid rei esset (Liv.); o ox^og ij&qoIcB^, d^aviia^ovreg xal löslv ßovXo- 
(isvoi (Xen.). 

Bei manehen Wörtern wird die verknttpfung mit dem plnr. so 
häufig, dass man sie selbst als plnraliseh anffassen kann, falls kein 
formelles element auf den sing, deutet Das ist z. b. der fall bei engl. 
people leute. Die entwiekelung kann noeh weiter gehen, indem der 
widersprach zwischen grammatischem und psychologischem numerus 
dadurch ausgeglichen wird, dass ersterer sich dem letzteren aecommo- 
diert. So ist im üihA. Hute leute an stelle des Singulars Hut volk ge- 
treten; ganz analog sind franz. ^^n^ (afranz. noeh ja furent venu la gent\ 
itgenti (daneben noch gente), b^MIsA. popiUi (Appulejus, Augustinus), 
engl, folks. Im ags. bedeutet -waru civitas, der plur. -wäre cives. Unser 
die geschwister ist hervorgegangen aus dem coUeetivum das geschwister, 
welches noch im vorigen Jahrhundert üblich ist Im got gibt es ein col- 
lectives neutrum fadrein im sinne von eitern. Dieses verbindet man 
nicht nur mit dem plur. des prädicats, sondern setzt auch den artikel 
dazu in den plur.: pai fadrein, pans fadrein. Daneben erscheint es 
dann auch in pluralischer form: ni skulun bama fadreinam huzdjan, ak 
fadreina bamcm. 

Es geschieht auch umgekehrt, dass ein pluralischer ausdruck die 
fnnction eines Singulars erhält, indem die dadurch bezeichneten teile 
za einem einheitlichen ganzen zusammengefasst werden. So sagt 
man ein zehn mark; engl, a two Shillings; sogar there's not another two 
such women (Warren). Femer mhd. ze einen pfingesten; lat una, bina 
castra etc.; engl, if a gallows were on land; there^s some good news (Sh.); 
that cristal scales (Sh.). Schliesslich erhalten solche pluralia auch 
singularische form. Wir gebrauchen jetzt die festbezeichnungen ostem, 
Pfingsten, Weihnachten als singulare (eigentlich dative plur.). Unser buch 
ist im got pluralisch: bdkds, eigentlich buchstaben; noch im ahd. wird 
der pl. für ein buch gebraucht Lat castra wird zuweilen als singu- 
larisches fem. gefasst, und bildet einen gen. castrae; entsprechend ist 
festa in den romanischen sprachen zu einem sing. fem. geworden. Lat 
litt er ae im sinne von ,brief' wird zu it lettera, franz. lettre; mvnaciae 

Paul, Principien. II. Auflage. 15 


2^ 

za ii mmaccia, franz. menace ; nupiiae zu franz. noce neben 9M>ce^; ^«n^- 
frra« zu span. iimebla neben tiniebias. 

Abstraet gebraucht ist das wort eigentlich keines Unterschiedes 
der numeri fähig. Da aber der äusseren form nach ein numerus ge- 
wählt werden muss, so ist es gleichgültig welcher. Die Sätze der 
mensch ist sterblich und die menschen sind sterblich sagen in abstraeter 
geltung das nämliche aus. Daher ist denn auch ein Wechsel der 
numeri in den verschiedenen sprachen gewöhnlich. Otfrid macht die 
Verbindung engilon joh manne. Ein pron., welches sich auf einen ab- 
stracten ausdmck bezieht, steht zuweilen im plur.: nicht als ob m ihm 
kein einziges punkt wäre, die hat er (Herder); ein echter deutscher mam 
mag keinen Franzen leiden, doch ihre weine trinkt er gern (Goe.); nobody 
knows what is to lose a friend, tu they have lost him (Fielding); mhd 
swer gesiht die minnecHchen, dem muoz si wol behagen, daz si ir tugent 
prisent; Jedes triftige beiwort, an denen er glücklich ist (Herder). Das 
pi^d. kann im plur. stehen: mhd. daz ieslicher recke in den saiel saz 
und ir schar schihten; lat tibi guisque vident, eunt obviam (Plaut); uter- 
qme sumus defessi (ib.); vier mertästis culpam (ib.); neuter ad me iretis 
(ib.); it come ogm uomo desinato ebbero; engl, neither of them are rt 
markable (Blair). Die meisten indogermanischen sprachen haben zur 
bezeichnung der allgemeinheit ein singularisches und ein pluraUsehes 
pronomen neben einander {Jeder — alle). Diese können leicht eins in 
das andere ttbergehen. So findet sich schon im lat neben omner der 
sg., z. b. rnüitat omnis amans (Ov.); im it ist der sg. ogni alleinherrscbend 
geworden. Im griech. stehen an<p6rBQoq und afi^porsfoi neben einander. 
Aus beide haben sich singularische formen herausgebildet Häufig ist 
das neutr. beides, vereinzelt schon mhd. Ebenfalls schon mhd. ist ze 
beider sii, vgl beiderseits. Im älteren nhd. kommen andere singola- 
rische Verwendungen des wertes vor: beider bäum (Mathesius), mit bei- 
dem arm (Lohenstein), auf beyde weise (Le.). Umgekehrt ist der plur. 
Jede namentlich im vorigen Jahrhundert häufig (vgl. DWb. 4^, 2290). 

Unanwendbar ist die kategorie des numerus auch bei den reinen 
Stoffbezeichnungen. Denn erst durch die beriicksichtigung der 
form entstehen Individualitäten, entsteht der gegensatz von einzel- 
dingen und mehrheiten. Die stoff bezeicfanungen werden daher meistens 
nur im sing, gebraucht, welcher die nicht vorhandene numemslose form 
ersetzen muss. Es stellt sich aber sehr leicht ein Übergang her vob 
einer stoffbezeichnnng zur bezeichnung für ein einzelding und umge- 
kehrt, indem die individualisierende form leicht hinzu oder weg ge- 
dacht werden kann, vgl. haar, gras, blute, frucht, kraut, kam, rinde, 
tuch, gewantj stein, wald, feld, wiese, sumpf, ^fieide, erde, land, brod, 
kuchen etc. Hierher gehört auch huhn, schwein statt kühner fleisch^ 


827 

Schweinefleisch, lat leparem et gallinam ei anserem (Caes.); lat. fagum 
(Uque ahieiem (Caes.) = bnehen- und tannenholz. So erklärt sieh aneh 
der sing, in fHUen wie der femd zieht heran; der Russe («» das ras- 
sisehe beer) kommt. Entsprechend gebraucht Livins die singulare Ro- 
mmus^ Poenus, eques, pedes ete. und wagt sogar die Verbindung Hispani 
mUtes et funditor Balearis, Bei Seneea findet sieh sogar mtiito hoste. 
Damit vgl. man mit tvillkiirlicher beliebung des ganzen kaufmanns (Micrä- 
Kus) u. a. (vgl. DWb. 5, 337). 

Der sing., wideram in der funetion einer absoluten form, an der 
die kategorie des numerus noch nicht ausgeprägt ist, steht im nhd. 
von vielen Wörtern nach zahlen. Ihren ausgang hat diese oonstructions- 
weise allerdings von solchen fällen genommen, in denen eine wirk- 
liehe pluralform zu gründe liegt, die nur lautlich mit der singular- 
form zusammengefallen ist, so bei mann — p/und, buch. Wenn aber 
die altertttmliehen formen sich gerade nach zahlen erhalten haben, und 
ihrer analogie andere Wörter wie fuss, zoll, mark gefolgt sind, so muss 
das besondere Ursachen haben. Das Sprachgefühl empfindet in den 
altertümlichen Verbindungen so wenig wie in den analogisch nachge- 
sehaffenen eine pluralform. Es ist eben gerade nach einer zahl kein 
bedttiiniss zu einem besonderen ausdruck fttr die mehrheit, da die- 
selbe sch<m hinlänglich durch die zahl gekennzeichent ist So ist man 
zu einer gegen den numerus gleichgültigen, zu einer absoluten form 
gelangt, also wider zu einem Standpunkte, wie er vor der entstehung 
des grammatischen numerus bestand. 

Tempus.1) 

Es sind verschiedene versuche gemacht die tempora der indo- 
germanischen sprachen in ein logisches System zu bringen, wobei 
es nicht ohne willkttrlichkeit und spitzfindelei abgegangen ist. Man 
muss sieh auch hier davor httten sich bei den logischen bestimmungen 
von den vorliegenden grammatischen Verhältnissen und bei der be- 
arteilung der letzteren von rein logischen sonderungen abhängig zu 
machen. Es findet keine volle congruenz der logischen und gramma- 
tischen kategorieen statt. 

Die kategorie des tempus beruht auf dem zeitlichen verhältniss, 
in dem ein Vorgang zu einem bestimmten Zeitpunkt steht. Als solcher 
kann zunächst der angenblick genommen werden, in dem sich der 
sprechende befindet und so entsteht der unterschied zwischen Ver- 
gangenheit, gegenwart und Zukunft, welchem die grammatischen kate- 
gorieen perfectum, präsens, futurum entsprechen. Ich seze das per- 

*) Vgl. zu diesem 'abschnitt Brugmann, Ber. der phiL-hist. class. der sächs. 
geselisch. d. Wissenschaften 1883, s. 169 ff. 

15* 


228 

feotam als den eigentlichen ausdrack für dieses verhältniss, nicht den 
aorist, der allerdings auch in dieser function vorkommt Die gewöhn- 
liche definition, dass das perf. die vollendete, der aor. die vergangne 
handlang bezeichne, ist eine blosse worterklärnng, mit der sich kein 
klarer begriff verbinden lässt Das charakteristische des perf. im 
gegensatz zn aor. nnd imperf. liegt darin, dass es das verhältniss eines 
Vorganges znr gegenwart ausdruckt 

Statt der gegenwart kann nun aber ein in der Vergangenheit 
oder in der znknnft liegender punkt genommen werden, nnd zu diesem 
ist dann wider in entsprechender weise ein dreifaches verhältniss mög- 
lich. Es kann etwas gleichzeitig, vorangegangen oder bevorstehend 
sein. Die gleichzeitigkeit mit einem pnnkte der Vergangenheit hat 
ihren ansdruck im imperfectum gefunden, das ihm vorausgegangene 
wird durch das plusquamperf. bezeichnet, für das in der Vergangen- 
heit bevorstehende ist kein besonderes tempus geschaffen, man mnss 
sich mit Umschreibungen behelfen. Das einem punkte der zukunft 
vorangegangene wird durch das fut ex. bezeichent, das von diesem 
aus bevorstehende kann nur durch Umschreibung ausgedrückt werden, 
das gleichzeitige wird durch das einfache fut gegeben. Bei diesem 
Schema hat der aor, und das, was als ersatz für ihn in den einzelnen 
sprachen eingetreten ist, noch keine stelle gefunden. Er ist das tempns 
der erzählung, d. h. er bezeichnet einen in die Vergangenheit fallenden 
Vorgang, aber nicht in seinem verhältniss zur gegenwart, sondern im 
verhältniss zu einem andern, aber früheren punkte der Vergangenheit 
Hierbei aber wird der betreffende Vorgang nicht als noch bevorstehend, 
sondern als schon erfolgt bezeichnet Der Zeitpunkt, auf den man sich 
stellt, wird immerfort gewechselt und nach vorwärts gerückt 

Was ich von dem verhältniss der wirklich vorliegenden tempora 
zu den ideal zu construierenden gesagt habe, gilt uneingeschränkt nur 
für den indieativ. Für infinitiv und participium wird der Zeitpunkt, 
nach dem man sich richtet, durch das verbum finitum, an welches sie 
angeknüpft sind, bestimmt Es reicht daher dreifaches tempus ans. 
Dieselben tempora, die dazu dienen das verhältniss zu einem gegen- 
wärtigen augenblicke auszudrücken, werden auch gebraucht, um das 
verhältniss zu einem punkte der Vergangenheit oder der zukunft zu 
bezeichnen.^ Dies ist auch die Ursache, warum die participia in Ver- 
bindung mit einem verb. fin. so gut geeignet sind die einer spräche 
mangelnden tempora zu ersetzen. Der imperativ ist seiner natur nach 
immer futurisch, desgleichen der conj. und opt, soweit sie bezeichnen 
dass etwas geschehen soll oder gewünscht wird. 


Vgl. Brugmann a. a. o. s. 174. 


229 

Bevor grammatische tempora ansgebildet waren, mnsste an ihrer 
stelle ein und dieselbe form fnnctionieren und das tempnsverhältniss 
mnsste entweder durch besondere Wörter angedeutet oder ans der 
Situation erraten werden. Eine besondere gegen den tempusnnter- 
schied gleichgültige form liegt nicht mehr vor. Aber die fanction 
einer solchen versieht zum teil das präsens als das am wenigsten 
charakteristische tempns neben der eigentlich präsentischen. Wir 
können uns danach eine Vorstellung von den Verhältnissen machen, 
wie sie vor der ausbildnng der grammatischen tempora bestanden. 

Als absolutes tempns fungiert das präs. zunächst in allen ab- 
straeten Sätzen (vgl. s. 103). Ein satz wie der äffe ist ein Säugetier 
erstreckt sich auf Vergangenheit und zukunft ebenso wie auf die gegen- 
wart. Ist dem abstraeten satze ein anderer untergeordnet, so kann die 
handlung desselben der des hauptsatzes zeitlich vorangehend gedacht 
nnd daher das perf. gesetzt werden: wenn das pferd gestohlen ist^ 
bessert der bauer den stall. Dem abstraeten satze ist also zwar der 
tempusunterschied überhaupt nicht fremd, wol aber die fixierung eines 
ansgangspunktes. 

Der concret- abstracto satz (vgl. s. 108) hat das mit dem rein- 
abstracten gemein, dass kein bestimmter einzelner Zeitpunkt mass- 
gebend ist, dass er vielmehr fttr eine anzahl verschiedener Zeitpunkte 
gilt, weshalb in ihm das präsens gleichfalls Vergangenheit und zukunft 
in sieh schliesst. Seine zeit ist aber doch keine absolute. Sie ist 
vor- und rückwärts in bestimmte grenzen eingeschlossen, und es können 
innerhalb dieser grenzen Unterbrechungen stattfinden. Es können auch 
sämmtliche Zeitpunkte in die Vergangenheit oder zukunft fallen, daher 
kann auch das imperfectum oder perfectum und das futurum stehen. 

Im concreten satze fungiert das präs. in sehr vielen sprachen 
statt des futurums. So namentlich, wenn durch irgend ein anderes 
wort genügend bezeichent ist, dass es sich um ein zukünftiges ge- 
schehen handelt, vgl. ich reise morgen ab, das nächstens erscheinende 
buch; aber auch sonst, wo die Situation kein missverständniss zulässt. 
Es überträgt sich femer der futurische charakt^er des hauptsatzes auf 
den nebensatz, so da^s präs. und perf. futurischen sinn erhalten, vgl. 
wenn er kommt, werde ich dich rufen; wenn ich die arbeit beendigt habe, 
werde ich es dir sagen. Umgekehrt findet sich im griech. präs. des 
hauptsatzes «nach fut. des nebensatzes, vgl. et avrt] ^ ütoXtq krjq>d^öS' 
Tai, exetai xal r/ xaöa JSixsXla (Eur.).*) Im ahd. wird das präs. auch 
ohne jede sonstige Unterstützung futurisch verwendet. 

Eine Verwendung des präs. statt des prät. ist uns nicht geläufig, 


^) Vgl. Brugmann a. a. o. s. 170. 


280 

abgesehen vom präs. bist., bei dem doch wol eine wirkliche verrttckung 
des Standpunktes in der phantasie anzunehmen ist. Im sanskr. aber 
findet sich pura, im grieeh. xoQoq mit dem präs. im sinne des präi, vgl 
xoQoq ye (uv ov xi ^aiilC,tig "» «frtther kamst du nicht häufig'' (Hom.)^) 

Es gibt ferner fäUe, in denen das präs. sich zugleich auf yer- 
gangenheit und gegenwart bezieht; vgL ich weiss das schon lange = ich 
weiss es jetzt und habe es schon lange gewusst; er ist seit 20 Jahren 
verhetratei; so lange ich ihn kenne, habe ich das noch nie an ihm be- 
merki; seitdem er in Rom ist, hat er mir nicht geschrieben. 

Das relative zeitverhältniss zweier in die Vergangenheit oder in 
die Zukunft fallenden Vorgänge bleibt vielfach unbezeichnet Wir sagen 
als ich ihn erreichte neben erreicht hatte, wenn ich ihn finde neben ge- 
funden habe. Im grieeh. steht bekanntlieh in nebensätzen der aor. statt 
des lat plusquamp., im lai selbst nach postquam das perf.; im mhd. 
steht ganz gewöhnlich das einfache präi, wo wir jetzt die Umschrei- 
bung anwenden, welche das plusq. ersetzen muss. Diese ungenauere 
Verwendung der tempora ist die altertümlichere. Das plusquamp. ist 
erst eine secundäre bildung. Noch gewöhnlicher wird das relative 
zeitverhältniss beim part. vernachlässigt, wobei zum teil der mangel 
der eigentlich erforderlichen formen mitwirkt Vgl. in Zug ans land 
steigend, kehrten mr im ochsen ein (Goe., weitere beispiele bei Andr. 
Sprachg. 112); ha^c Mavrus secum ipse diu volvens (andern promittit 
(Sali., vgl. weitere beispiele bei Draeg. § 572). Umgekehrt erseheint 
im lat das part perf. mit präsentischer bedeutung: moritur uxore gra- 
vida relicta (Liv., vgl. Draeg. § 582). Das part. auf -ndus wird nicht 
nur fnturisch, sondern in selteneren fällen auch präsentiseh verwendet: 
volvenda dies, volvendis mensibus (Virg.); alienos fundos signis inferendis 
pelebat (Cic); nee vero superstitione toUenda religio tollitur (Cic, vgl Draeg. 
J- § 599). Das deutsche part. präs^ vereinigt präsentische und perfectische 
bedeutung, vgl. z. b. der noch immer betrauerte^ früh verstorbene vater. 

Für die bedeutung der grammatischen tempora können noch 
manche momente secundärer natur in betracht kommen. Da z. b. ein 
stattgehabter Vorgang ein resultat zu hinterlassen pflegt, so kann bei 
der angäbe, dass ein Vorgang stattgehabt hat, das nachgebliebene 
resultat mitverstanden werden, und dieses eigentlich nur accidentielle 
in der bedeutung kann zur hauptsaehe werden. Indem aber das 
resultat als die eigentliche bedeutung angesehen wird, muss die be- 
deutung des perf. als präsentisch erscheinen. Untergang des Sgent- 
lichen präs. führt dann zu dem, was man in der deutschen grammatik 
pi^teritopräsens nennt 


*) Vgl. ib. 8.1 70 ff. 


231 

In dem nämlichen logischen verhältnisB, wie das präs. zn dem 
das resaltat bezeichnenden perf. steht, können anch verschiedene verba 
za einander stehen, vgl. treten — stehen, fallen — liegen, verstummen 
■— schweigen, erwachen — wachen^ entbrennen — brennen, sich setzen 
— sitzen etc. Während hier das geraten in einen zustand nnd das 
sichbefinden in demselben durch zwei verschiedene sprachliche aus- 
drücke widergegeben wird, gibt es anch fälle, in denen das gleiche 
verb. beides bezeichnen kann. Im mhd. können sitzen, st An, ligen, 
s/dgen den sinn von sich setzen, treten, sich legen oder fallen, ver- 
stummen haben; vgl. nhd. aufsitzen, aufstehn, abstehn etc. und den 
jetzigen oberdeutschen gebrauch von sitzen. In folge davon können 
mhd. ich bin gesezzen und ich sitze gleichbedeutend sein. Entsprechend 
ist es, wenn im griech. goav/co bedeuten kann „ich bin verbannf", aitxA 
«ich bin im unrecht^. Hierher gehört es auch, wenn Vorgänge, die der 
Vergangenheit angehören, deshalb durch ein präsens bezeichnet werden, 
weil ihre Wirkung fortdauert, vgl. er lässt dich grüssen; der herr schickt 
mich; ich höre, dass er zurückgekehrt ist; er schreibt mir, dass aües gut 
steht etc. So gebraucht man im griech. dxovo), jtvv^'ovofiai, ala&ca^o- 
fiai, iMvd-ccvc) u. dergl., und entsprechend verfahren andere sprachen. 

Wir haben schon oben s. 228 gesehen, dass die modalen und 
temporalen Verhältnisse nicht unabhängig von einander sind. Da es 
für den imperativ charakteristisch ist, dass er einen in die zukunft 
fallenden Vorgang bezeichent, so begreift es sich, dass das fut. mit 
hülfe der Situation und des tonfalles imperativisch verstanden werden 
kann, vgl. du wirst das sofort tun. Ebenso kann das fut. optativisch 
werden, vgl. sie me di amabunt, ut me tuarum miseritumst fortunarum 
(Ter.). In den frageaufforderungssätzen (vgl. s. 109) fungieren coiy. 
nnd fut. in der gleichen weise, vgl. lat qmd faciamus mit griech. rl 
Jtoifjao/iev. Sogar als potentialis kann das fut gebraucht werden, vgl. 
das wird sich so verhalten; entsprechend in der lat. Volkssprache, z. b. 
haec erit bono gener e nata (Plaut), vgl. Draeg. § 136; ttber den näm- 
lichen gebrauch in den romanischen sprachen vgl. Diez III, 282; Mätzn. 
franz. s. 72, 3. 4. 75, 2. Man kann an zwei verschiedene erklärungen 
fUr diese erscheinung denken. Erstens : da alles in die zukunft fallende 
etwas unsicheres ist, so könnte die bedeutung des fut sich so ent- 
wickelt haken, dass nur das moment der Unsicherheit übrig geblieben 
wäre. Zweitens aber könnten wir einen satz wie er wird zu hause 
sein i^ffassen als „es wird sich herausteilen, dass er zu hause ist''. 
Ein prät zu diesem potentialen fut ist der französische conditionel. 
Derselbe bezeichent ursprünglich den von einem Zeitpunkte der Ver- 
gangenheit aus zukünftigen Vorgang, wie z. b. noch in dem satze nous 
convinmes que nous partirions le loidemain. Als eigentlicher conditionel 


232 

kann er fatnrischen sinn haben, mnsB es aber nicht Auch im dent- 
sehen gebrauchen wir entsprechend fntnrische Umschreibung, die nicht 
notwendig futurischen sinn hat, aber im conj.: ich würde zufrieden sein. 
Wie das fut. in eine modale bedeutnng ttbergeftlhrt worden ist, so ist 
umgekehrt im lat. der conj. zum fut geworden. 

Genus des verbums. 

Während die tempora und die modi an und fttr sich nichts syn- 
taktisches sind und nur durch die beziehung auf einander, also erst 
im zusammengesetzten satz zum ausdruck syntaktischer Verhältnisse 
werden, ist der unterschied zwischen actiynm und passivum von 
hause aus syntaktischer natur, indem dadurch nichts anderes als ein 
verschiedenes verhältniss des prädicatsverbums zum subj. ausgedrückt 
wird. Was neben dem act object ist, wird neben dem pass. subject 
Die an Wendung des passivums ermöglicht es daher ein psychologisches 
subject, welches sonst die grammatische form des objectes annehmen 
mttsste, aaeh znm grammatischen snbj. zu machen, .nd die» ist ei» 
hauptgrund tfür den gebrauch der passivischen construetion. Im un- 
persönlichen satze ist es an und Air sich einerlei, ob man das act. 
oder das pass. setzt. Der Sprachgebrauch hat sich so geregelt dass 
diejenigen verba, die normaler weise persönlich construiert werden, 
wenn sie ausnahmsweise unpersönlich gebraucht werden, in das passi- 
vum gesetzt werden {es wird gesungen, getanzt etc.), während bei den 
normaler weise unpersönlichen verben das einfachere activum gesetzt 
wird {es regnet, es taut etc.). Es kommen aber bertthrungen zwischen 
activer und passiver construetion vor, vgl. der waid rauscht — es rauscht, 
das haus brennt — es brennt. In den altnordischen sagas findet sich 
sehr häufig in den einleitungen zu einem abschnitte die formel her 
segir hier sagt es »» hier wird gehandelt Im mittellateinischen ist 
dicit gleich einem diciiur der klassischen zeit In einer Überschrift 
des althochdeutschen Isidor heisst es hear quidit unibi dhea bauhnunga 
= hier wird gehandelt von der vorbildlichen darstellung; ähnliches 
auch sonst Entsprechend ist im altnordischen der gebrauch von skal 
in dem sinne „man soll (wird)' und anderes. 

Der gegensatz zwischen act. und pass. konnte sich erst herans- 
bilden, nachdem die Scheidung zwischen subject und object sich voll- 
zogen hatte. Vorher musste jedenfalls die einfache nebeneinander- 
stellnng von subj. und präd. sowol das passive wie das active ver- 
hältniss bezeichnen. Den Wechsel zwischen activer und passiver be- 
deutnng können wir noch an den nominalformen des verbums beob- 
achten, die in ihrer bildungsweise nichts an sich haben, was auf die 
eine oder die andere hinweist 


233 

Das part. präs. erscheiDt im frttheren nhd. öfters in passivem sinne, 
Tgl. seine dabei hegende verräterische absieht (Thttmmel), dem in petto 
habenden gedieht (Sehi.).^ Besonders häufig ist vorhabende reise u. dgL 
Im engl sagt man the horses are putting to die pferde werden ange- 
spannt, the casinos are filling etc.^) Diese passivische Verwendung 
ist genau so au&ufassen wie die oben s. 130 besprochene freie an- 
knttpfung des partieipiums. 

Bei unserem sogenannten part. perf. zeigt es sich sehr deutlieh, 
dass der unterschied zwischen activum und passivum nicht etwas schon 
der bildnng an sieh anhaftendes sein kann, da ja die participia der 
transitiven verba passivisch, die der intransitiven zum teil activisch 
gebraucht werden. Auch diese schranke bleibt nicht vollkommen ge- 
wahrt. Es entstehen Wendungen wie das den grafen befallene ungliick 
(6oe.), des den erwartungen nicht entsprochenen aufenthalts (Gutzkow); 
stattgefunden, stattgehabt sind ziemlich allgemein.^) Namentlich aber 
sind eine anzahl participia transitiver verba in activer bedeutung zu 
reinen adjectiven geworden, vgl. erfahren, verdient, geschworen, gereist, 
gelernt, studiert u. a. 

Im lat. haftet den participien auf -endus, -undus der passivische 
sinn ursprünglich nioht notwendig an, vgl. oriundus, dem sich bei 
älteren schriftsteilem noch andere wie pereundus untergehend, placen- 
dus gefallend etc. an die Seite stellen. Aehnliche beobachtungen lassen 
sich noch weiter im lat. wie in anderen sprachen machen. 

Dem inf. ist ursprttnglich so gut wie dem nom. actionis der ver- 
bale genusunterschied fremd. Etwas von genuscharakter erhält er 
zunächst einerseits dadurch, dass ein objectscasns von ihm abhängig 
gemacht wird, anderseits dadurch, dass er auf das subj. des regierenden 
verbums mitbezogen wird {er kann lesen); femer auf ein anderes in 
dem Satze enthaltenes wort, zu welchem er in keinem directen gram- 
matischen verhältniss steht {befehlen steht ihm übel an, durch fliehen 
kann er sich retten etc.). Eine solche beziehung ist an sich nicht durch- 
aus nötig. Sie findet z. b. nicht statt in einem satze wie er befiehlt zu 
schweigen oder not lehrt beten. Hier ist der inf. im gründe weder 
activ noch passiv, sondern genuslos. Im gotischen steht nicht selten 
der einfache inf. an stelle des griechischen inf. pass. in fällen, wo auch 
wir jetzt den umschriebenen passivischen inf. anwenden, z. b. warp />an 
gasn^ütan pamma unledin jah briggan fram aggilum = eyevero öh ano- 
d'avslv rov xxooxov xal avevex^^vai vxo rwv a/yiXmv^) Es wird 

») Vgl. Grimm gr. IV, 66. Andr. Sprg. 82. 
«) Vgl. Mätzner II, s. 56. 
») Vgl Andr. spr. s. 83 ff. 
*) Vgl Granu IV, 57 ff. 


234 

dies unter berttcksiehtigan^ der arsprünglieh neutralen natnr des Infinitivs 
ganz begreiflieh. Andererseits aber begreift es sieh aueh, yne das be- 
dttrfniss in den einzelnen indogermanisehen sprachen allmäblig zur 
sehöpfung eines passiven infinitivs führen musste. Am meisten bedttrfhiBs 
zur Verwendung eines solchen war natttrUeh in denjenigen sprachen, in 
denen sich der acc. zum snbjectscasus des infinitivs herausgebildet hat. 

Ein grammatisches passivnm besteht nur da, wo dassribe ans 
dem gleichen stamme wie das activum gebildet und von demselben 
durch eine besondere formationsweise geschieden ist Annähernd ana- 
log dem verhältniss von pass. zu act ist das verhältniss eines intran- 
sitivums zu dem entsprechenden eausativum, vgl fallen — fällen^ hangen 
— hängen und die nicht aus der nämlichen Wurzel entsprungenen 
paare werden — nmchen, sterben — tödien, {hin)fallen — {hin)werfen. 
Doch besteht der unterschied, dass bei dem intransitivum nicht so nor- 
maler weise wie beim pass. an eine wirkende Ursache gedacht wird. 
Dieser unterschied ist aber leicht verwischbar. Man sagt im grieeh. 
djtod-vfjöxeiv vjto tivog. Im lat wird fio im präs. vollständig als pass. 
zu facto verwendet. So begreifen sich auch nur die Umschreibungen 
für das pass. durch werden und sein. Anderseits zeigen uns die so- 
genanten deponentia den Übergang vom passivnm ins activum. Die- 
selben als eine besondere kategorie gegenttber dem eigentlichen pas- 
sivnm, respective medium aufeustellen kann noch nicht der umstand 
berechtigen, dass sie in einer fremden spräche durch das act über- 
setzt werden. Dagegen fällt ins gewicht der gänzliche vertust des 
ursprünglich dazu gehörigen activums und noch entscheidender eine 
sonst nur dem activum zukommende constructionsweise, so namentlich 
die Verbindung mit einem objectsaccusativ. 

Eine der gewöhnlichsten entstehungsweisen des passivums ist die 
aus dem medium, welches seinerseits aus der composition des acti- 
vums mit dem reflexivpron. entstanden sein kann. Der eigentliche 
hergang ist dabei der, dass aus dem bedeutungsinhalt des medinms 
ein moment schwindet Im medium liegt zugleich das ausgehen von 
dem snbjecte und das übergehen auf dasselbe, im passivnm nur das 
letztere. Bei vielen reflexiven Verbindungen im nhd. ist gleichfalls das 
bewusstsein von einer tätigkeit des snbj. geschwunden, sie nähern sieh 
aber mehr dem einfachen intransitivum vermöge der zwischen diesem 
und dem pass. bestehenden Verwandtschaft; vgl. sich regen, ausdehnen^ 
drehen, teilen; sich freuen, schämen, verwundem, irren etc. Noch mehr 
ist jede active Wirkung des subjects ausgeschlossen bei sich finden, be- 
finden, in Wendungen wie das lässt sich hören^ es lässl sich da gut leben, 
das hört sich gut an, hier tanzt es sich sehr leicht. 


Cap. XVI. 

Yerschiebung der syntaküschen gliederung. 

Wir haben schon in cap. 6 gesehen , dass die gliederung eines 
Satzes, die art und weise, wie man seine bestandteile za engeren and 
weiteren grnppen zusammenfasst, etwas leicht verschiebbares ist. Es 
ist dort auch bereits angedeutet, dass geradezu ein gegensatz zwischen 
dem psychologischen (logischen) verhältniss der Satzbestandteile 
unter einander und ihrem rein grammatischen verhältniss entstehen 
kann. Die syntaktischen formen wie die casus etc. sind zunächst für 
bestimmte Satzteile wie snbj., obj., bestimmung eines sufostantivums etc. 
geschaffen. Sie bezeichnen aber zugleich ein bestimmteres verhältniss, 
als es die blosse aneinanderreihung der Wörter vermag. Indem nun 
die mittel zu einer solchen bestimmteren bezeichnung verwertet werden, 
zugleich aber die alte, nie ganz zu vemiehtende freiheit in der Ver- 
knüpfung der begriffe waltet, entsteht ein widersprach, aus welchem 
sich dann, wenn er usuell wird, neue constructionsweisen entwickeln. 
Die abweichung von der äusseren grammatischen form besteht dabei 
teils in einer anderen Zusammenfassung und trennung der einzelnen 
demente, teils in einer anderen psychologischen anordnung derselben, 
wodurch subj., präd., obj. etc. ihre rollen tauschen. 

Zweigliedrigkeit ist, wie wir gesehen haben, die urform des 
Satzes. Auch die inhaltsreichsten Sätze können zweigliedrig bleiben, 
indem alle bereicherung in einer erweiterang der beiden glieder be- 
steht Die bestimmungen des prädicats, näheres und ferneres object, 
orts-, zeit- und modalbestimmungen können aber auch den wert von 
selbständigen gliedern erlangen, so dass eine vielgliedrigkeit ent- 
steht Umgekehrt kann nun aber aus dieser vielgliedrigkeit wider 
eine einfache gliederang entstehen, indem mehrere glieder zu einem 
zusammengefasst werden ohne rttcksicht auf diejenige gliederung, 
welche die historische entwickelung der betreffenden satzform ver- 
langen würde. Bezeichnen wir das subj. mit.a, das präd. mit b, die 
bestimmungen des letzteren mit griechischen buchstaben, die einzelnen 
grnppen durch klammern, so hätten wir als grundschema (a)(ba^/()) 


236 

and daneben (a)(b)(a)(/3)(7)(((). Darans können sieh dann Schemata 
entwickeln wie (aba/97)(d) oder (aba/SrfXy) etc. oder auch (a)(baj97)(d), 
{9i){haß6){y) etc. nnd noch andere. Das durchbrechen der nrsprttnglichen 
gliedemng kann dann sogar noch weiter gehen, indem anch bestimm- 
nngen des snbj. von demselben losgelöst und mit anderen dementen 
verbunden werden, ebenso des objects etc. 

Vielgliedrigkeit des Satzes in folge von annähernder gleichwertig- 
keit der einzelnen demente findet sich besonders bei ruhiger, zusammen- 
hängender darstdlung. Die gewöhnliche Unterhaltung neigt immer zn 
zwei- oder dreigliedrigkeit. 

Am schärfsten von den ttbrigen gliedern des Satzes sondert sich 
zunächst das psychologische präd. ab als das wichtigste, dessen mit- 
teilung der endzweek des satzes ist, auf welches daher der stärkste 
ton fällt Der satz Karl ßhri morgen nach Berlin kann als viergliedrig 
aufgefasst werden, wenn er ohne irgend welche Vorbereitung des 
hörers ausgesprochen wird, so dass diesem die verschiedenen bestand- 
teile desselben gleich neu sind. Wir können dann auch sagen: es 
werden drei verschiedene prädicate zu dem subj. I^arl gesetzt; oder 
richtiger vielleicht noch: zum subj. Ä'arl tritt das ^rää. fährt, zu dem 
subj. karl fährt das präd. morgen, zu dem subj. Karl fährt morgen das 
präd. nach Berlin. Hierbei wird zwar naturgemäss die letzte bestimmnng 
etwas stärker hervorgehoben als die ttbrigen, aber doch nur um ein 
geringes. Dagegen bei bestimmter, dem sprechenden bekannter dispo- 
sition des angeredeten kann jedes der Vier glieder scharf abgehobenes 
präd. werden. Ist schon von einer reise die rede gewesen, die Karl 
morgen macht, und nur noch das ziel unbekannt, so ist nach Berlin 
präd. Wir könnten uns dann auch ausdrucken: das ziel der reise, die 
Karl morgen macht, ist Berlin. Ist schon von einer bevorstehenden 
reise Karls nach Berlin die rede gewesen und nur noch die zeit unbe- 
stimmt, so ist morgen präd., und wir könnten dann auch sagen: die 
fahrt Karls nach Berlin findet morgen statt. Ist bekannt, das Karl 
morgen . nach Berlin reist und nur noch nicht, ob er dahin geht oder 
fährt, so liegt das präd. in fährt \ wir können aber doch nicht eigent- 
lich sagen, dass fährt psychologisches präd. sei in ttbereinstimmung mit 
der grammatischen form, vielmehr ist es gewissermassen in zwei be- 
standteile zu zerlegen, ein allgemeines verb. der bewegung und eine 
bestimmung dazu, welche die art der bewegung bezeichnet, und nnr 
die letztere ist präd. Ist endlich bekannt, dass morgen jemand nach 
Berlin fUhrt und besteht nur noch ein zweifei in bezng auf die person, 
so ist das grammatische subj. Karl psychologisches präd., und wir 
könnten dann auch sagen: derjenige, der morgen nach Berlin fährt, 
ist EarL 


237 

Dem psychologiBchen prädicate gegenüber können die übrigen 
bestandteile des satzes zusammen als subj. gefasst werden, wie sieh 
schoD aas dem angeführten beispiele ergibt Es kann sieh aber aueh 
ein einzelner bestandteil besonders als snbj. herausheben, weleher dann 
dem prädieate an wiehtigkeit and demgemäss aneh an tonstärke am 
nächsten steht Die übrigen bestandteile erscheinen dann als binde- 
glieder, welche die Verknüpfung von subject und präd. yermitteln und 
die yerknüpfungsweise näher bestimmen. So ist nach psychologischer 
analyse in dem satze Marie hat Zahnschmerzen nicht hat, sondern Zahn- 
schmerzen präd., hat nur bindeglied; in dem satze Fritz pflegt sehr 
schnell zu gehen ist sehr schnell präd., pflegt zu gehen bindeglied; in 
dem satze er gebährdete sich wie ein besessener ist wie ein besessener 
präd., gebährdete sich bindeglied. 

Jedes Satzglied, in weleher grammatischen form es auch er- 
scheinen mag, kann, psychologisch betrachtet, subject oder prädicat 
oder bindeglied sein, respeetive ein teil davon. Subject und prädicat 
können dabei ausser durch die betonnng durch die Stellung markiert 
werden. Tritt im deutschen statt der normalen voranstellung des 
grammatischen subjectes voranstellung eines anderen Satzteiles ein, so 
ist dieser entweder logisches subject oder logisches prädicat, ersteres 
häufiger als letzteres. Im letzteren falle ist dieser teil des satzes zu- 
gleich der stärkstbetonte, im ersteren nicht Die ansieht, der man 
öfter begegnet, dass die voranstellung immer dazu diene den be- 
treffenden teil des satzes über alle andern hervorzuheben, ist daher 
verkehrt 

ßegelmässig psychologisches subj. oder teil desselben ist ein an 
den anfang gestelltes rückweisendes demonstrativum. Denn eben 
weil es zurückweist, vertritt es diejenige Vorstellung, von der in der 
seele des sprechenden und des angeredeten ausgegangen wird, woran 
das weitere als etwas neues angeknüpft wird. Vgl. ich traf einen 
knaben^ den fragte ich; — dem sagte ich; — bei dem erkundigte ich 
mich; — darüber war ich erfreut. Oder ich ging nach hause, da fand ich 
einen brief; ich sah ihn am sonntag zum letzten male^ damals sagte er 
mir, Oder Fritz war gestern bei mir; diesen menschen möchte ich immer 
zum hause hinaus werfen; aber ich muss rücksicht auf seine familie 
nehmen; aus diesem grwide kann ich es nicht. Ebenso ist das rela- 
tivum regelmässig psychologisches subject Das fragepronomen 
dagegen ist regelmässig prädicat oder teil desselben. Für die unbe- 
stimmte fassung desselben substituiert dann die antwort eine bestimmte. 
Wenn daher Cic. sagt ^am utiiitatem aut quem fructum petentes scire 
cupimus illa? oder tu vero quibus rebus gestis, quo hoste superato con-- 
tionem convocare ausus es? so liegt hier das psychologische prädicat 


238 

niebt im verb. initom, Bondern yklmehr im partieipinm und dem, was 
dazn gehört Steta psyeholagisches präd. ist ferner derjenige satzteil, 
dessen yerknttpfdng mit den übrigen dnrch eine negationspartikel 
zarflekgewiesen wird. Vgl. nicht ihn habe ich gemfen «= der, den ich 
gerufen habe, ist nieht er; nicht ihm habe idi das gdd gegeben »= der, 
dem ich das geld gegeben habe, ist nieht er; nicht ßr Um war ich besargt 
= der, für den ich besorgt war, ist nieht er. Die negatien gehurt 
daher zwar nicht immer zum grammatischen, aber stets zum psycho- 
logischen präd., oder richtiger sie bezieht sich immer auf die Ver- 
knüpfung des psychologischen subjects mit dem psychologischen prädi- 
cate. Prädieat ist dann natürlich auch der mit dem negierten Satzteil 
in parallele gestellte gegensätz, vgl nicht am morgen, sondern am mittag 
will ich verreisen. Ferner jeder durch ein nur, allein^ ausschliesslich 
u. dei^l. hervorgehobene satzteil; denn dafür kann man auch ein nicht 
ein anderer {ein anderes), sondern einsetzen. Auch besonders, vor allem, 
am meisten u. dergl. kennzeichnen das präd. 

Der Widerspruch zwischen grammatischem und psychologisehem 
präd. lässt sich durch eine umständlichere ausdrucksweise ver- 
meiden, von der in manchen sprachen reichlicher gebrauch gemaeht 
wird. Vgl. Christen sind es, die das getan haben oder von denen tnan 
das verlangt; engl 7 is thou that robbst me of my lord; franz. c'est m 
qui etc. — franz. c'est a vous qm je m'adresse; engl, it is to you, young 
people, that 1 speak. — was ihn am meisten ärgerte, war ihre gleich 
giütigkeit; engl what I most pHze in woman, is her affections, not her 
intellect. 

Ein mittel, welches im deutschen angewendet wird um das, was 
sonst grammatisches präd. werden müsste, zum subj. zu machen, ist 
die Umschreibung mit tun, vgl verbieten tut es niemand. 

In vielen sprachen findet sich eine interessante ausgleiehaog 
des Widerspruches zwischen grammatischem und psychologisehem sab- 
ject, nämlich in der weise, dass das psychologische subj. im nom., also 
in der form des grammatischen subjects vorantritt und dann noch ein- 
mal durch ein pron. wider aufgenommen wird, dessen form sieh nach 
dem rein grammatischem verhältniss bestimmt. Vgl. ein eichkranz, 
ewig Jung belaubt, den setzt die nachweit ihm aufs haupt (6oe.); franz. 
cette confiance, il l'avait exprimi; it. gli amici vostri non gli conosco] 
mhd. rüemcere unde lügencere, swä die s9n^ den verbiute ich t^nen sanc] 
span. ciaro i virtuoso principe, tanto esta sciencia le plugo\ griech. Ix£7- 
voq ÖB ov öcoom avrw ov6iv; mhd. die Hiunen durch ir haz der garte 
sich zwei tiisent; franz. tous ces crimes c^et(U qu'on faJtt pour la cw- 
ranne, le ciel nous en absaut; it. quelli che hanno cosHtmta una repub- 
licay tra le cose ordinale da loro e stato (Machiavelli); griech. ro /U9^<)^ 


299 

axovT« XLva i^axar^Oai (iiya fiiQoq elg rovro ij tSp XQrni&tiov xrijöig 
^vftßdXXsTai (Plato). ach^ der heiligste van unsem tneben, warum quillt 
aus ihm die grimme pein? (Schi.). Das possesivpron. vertritt dabei die 
stelle eines genitiva: mhd. Parziväl der valschheitswant dn triuwe in 
lirie; engl. '/ is certain, that every man ihat dies iU, the ill is upan is 
omn head (John 4, 1); span. la villa sin regidores, su tritinfo sera brevem 
franz. les soudans, qu'ä genoux cet univers cantemple, leurs mages, leurs 
dfoiis ne sont point man exemple (Voltaire). Eine ähnliche erscheinung 
ist es, wenn ein attribnt zum psychologischen snbj. im nom. erscheint, 
vgl. grieeh. öiadTcoütwv xal öiaXBfOfUvoG; avxA löo^i fioc ovrog 6 avtfQ 
(Plato); löo^BV avtolq cbioxretvai rovg MvtsXtivalovg ijtixaXovvrsg xiiv 
cmodtaaiv (Thnc); jiad-ovöa ovrco deiva XQog xmv q>tXTaxiDv ovöslg 
vxiQ fiov öcuftoPiDv (ifjvlarai (Aeseh.); franz. depuis deux jours, Fatime, 
absent de ce palais, enfin san iendre amaur le rend .ä mes souhaits 
(Voltaire). 

Eine noch weiter gehende ausgleichong des widerspmehs besteht 
darin, dass das psychologische snbj. geradezu die form des gramma- 
tischen erhält, also in den nom. tritt. Am Rhein sagt man nach Andr. 
Spr. 80 es geben dies Jahr nicht viele äpfeL Ebenso wird der nom. ge- 
braucht nach HUdebrand, DWb. 4, la, 1404 in Strassburg, im Oster- 
lande, in Thüringen und Hessen. Aus der literatnr ftthrt Andr. an: 
es gibt nichts lächerlicheres als ein verliebter mann (Börne). Schon 
Goethe (j. G. II, 465) sagt: müssen es hier menschen geben und Herder: 
giebts aber keine andere empfindbarkeit zu tränen als körperlicher schmerz? 
Im letzten falle ist also wenigstens die vergleichung so behandelt, als 
gehöre sie zu einem granmiatischen subjecte. 

Adverbiale bestimmungen, die gewöhnlich, wie schon der 
name zeigt, einfach zum prädicatsverbnm gezogen werden, spielen in 
Wirklichkeit sehr verschiedene rollen im satzgeftige. Einerseits sind 
sie wirklieh bestimmungen des verbums, vgl. ICarl ist langsam, das kind 
zappelt mit händen und füssen. Liegt dann in der adverbialen be- 
Stimmung das eigentlich wertvolle der mitteilung, so kann es als prä- 
dieat, das verbum als bindeglied zwischen ihm und dem subj. gefasst 
werden. Die gliederung kann aber auch die sein, dass das adv. eine 
bestimmung für die Verbindung der übrigen glieder des satzes ist 
Eine scharfe grenze zwischen dieser und der erstbezeichneten gliede- 
rung gibt es nicht. Hierher kann man alle temporalen, localen und 
eausalen bestimmungen ziehen. Dieselben sind dann den ttbrigen be- 
standteilen des satzes gegenüber gewöhnlich psychologisches subject, 
zuweilen auch prädicat, vgl. morgen abend will ich dich besuchen, auf 
dem tische liegen zwei bücher; die bücher liegen nicht auf dem tische, 
sondern m dem kästen. Doch wird hier überall das verbum derartig 


240 

I 

untergeordnet, dass man es auch als bindeglied fassen kann. Dagegen 
gibt es gewisse fälle, in denen das adv. nur als präd. gefasst werden 
kann, welches einem sonst schon in sieh geschlossenen satze beigelegt 
wird. Hierher gehören alle bezeiehnnngen fbr die modalität der aus- 
sage, wie gewiss, sicherlich, wdhrlich, jedenfalls, wahrscheinlich, wohl, 
vielleicht, schwerlich, kaum. Er wird gewiss kommen ist »== es ist ge- 
wiss, dass er kommen wird. Hierher gehören femer leider, vorkommen- 
den falls, andernfalls, sonst, unter diesen umständen, unter dieser he- 
dtngung, bei so bewandter sache n. dergl.; törichterweise und alle übrigen 
bildnngen mit --weise, die sich eben dadurch von den einfachen ad- 
verbien töricht etc. unterscheiden; diese gehen auf das prädieat, jene 
auf die beziehung zwischen subj. und präd. Indem das logische ver- 
hältniss auch grammatisch deutlich ausgeprägt ist, sind ausdrucks- 
formen entstanden wie kaum, dass er mich ansieht^ vielleicht, dass eine 
träne dann von seinem äuge fällt (so häufig im vorigen Jahrhundert); 
glücklicherweise, dass die gemäide so hoch stehen (Goe.). Stehen Ver- 
sicherungen isoliert voran, z.h. gewiss, er wird es tun, so sind sie 
deutlich prädicate zu den nachfolgenden selbständig hingestellten 
Sätzen. 

In sprachen von geringer formeller ausbildung ist der Wider- 
spruch zwischen psychologischem und grammatischem subject oder 
prädieat viel seltener; denn die Veranlassung dazu ist ja eben die aus- 
bildung mannigfaltiger besonderer ausdrucksformen für die verschie- 
denen logischen Verhältnisse der begriffe zu einander. Die eigentilm- 
liehen, uns sehr fremdartig berührenden ausdrucksformen des Daja- 
kischen, die Steinthal, Typen s. 172, 3 anführt, scheinen mir wesent- 
lich darauf zu beruhen, dass das psychologische snbject oder prädieat 
auch zum grammatischen gemacht wird, wobei entweder das erstere 
oder das letztere an die spitze tritt, und dass dann auch diese beiden 
hanptglieder, wenn sie selbst schon zusammengesetzt sind, wider nach 
dem nämlichen principe gegliedert werden. Vgl. namentlich nach Stein- 
tbals Übersetzung boot dieses boot seiner wähl =» dieses boot hat er 
ausgewählt; zeuge zwei diese welches deine begierde = welches von 
diesen beiden zeugen begehrst du? du platz meines gebens «= dir habe 
ich es gegeben; zu sehr ihr geschoben sein bank durch dich «» du hast 
die bank zu sehr geschoben {zu sehr psychologisches prädieat). Vgl. 
damit die arabische construction Omar gestorben sein vater = Omars 
vater ist gestorben (Steinthal, Typen 271), die auch mit den oben 
s. 238 angeführten indogermanischen fügungen correspondiert 

Wie das verhältniss des subjects zum prädieat im psychologischen 
sinne die umkehrung des grammatischen Verhältnisses sein kann, so 
kann die selbe umkehrung auch eintreten bei dem verhältniss des 


241 

bestimmten zur bestimmung. Am leichtesten kann eine unsicher- 
heit darüber entstehen, welches eigentlich das bestimmte, welches das 
bestimmende glied ist, wenn zwei substantiva in appositionellem ver- 
hältniss neben einander stehen. Ich kann z. b. sagen Totila, ein könig 
der Ostgoten oder ein könig der Ostgoten, Totila, Ein solcher roUen- 
tausch der beiden glieder ist aber nur möglich, wenn ihr verhältniss 
zu einander ein loseres ist, wozu bedingung ist, dass es als etwas 
neues mitgeteilt wird. Dann nähert sich das ganze der natnr eines 
Satzes und dann verhält sich immer das voranstehende glied zu dem 
nachfolgenden wie das subject zum prädicat. Wird dagegen das verr 
hältniss als schon bekannt vorausgesetzt, so ist kein beliebiger rollen- 
taugch möglich, und die Stellung entscheidet nichts. Ist z. b. von einem 
Mendelssohn die rede und es fragt jemand „welcher Mendelssohn ist 
gemeint?**, so ist in der antwort „der componist M.** zweifellos Men- 
delssohn das bestimmte, trotzdem es nachsteht. Ebenso sind in herzog 
Bernhard, herr. Müller, bruder Karl, vater Gleim die eigennamen das 
bestimmte, die titel und sonstigen charakterisierenden epitheta das be- 
stimmende. Es kommt aber auch, ohne dass das verhältniss als be- 
kannt vorausgesetzt werden kann, eine straffere Zusammenfassung der 
beiden glieder vor mit beifügung des bestimmten artikels, z. b. der 
Schneidermeister Schulze. Hierbei gehört der artikel nicht zu dem 
ersten gliede, sondern zum ganzen und fasst dasselbe eben dadurch 
za einer einheit zusammen. Denn man kann dafür nicht sagen Schulze 
der Schneidermeister, sondern höchstens Schulze ein Schneidermeister 
oder Schulze Schneidermeister, wenn dazu noch eine weitere bestimmung, 
z. b. in Berlin tritt. Durch diese Veränderung aber würde der zu- 
sammenhält gelockert sein, also die ausdrucksweise einen anderen ein- 
druck machen. Bei dieser ftigung nun ist eigentlich keines von beiden 
gliedern entschieden bestimmtes oder bestimmendes. Unter die appo- 
sitionellen Verhältnisse mit engerem verbände gehört auch die Verbin- 
dung von vor- und zunamen. Es ist nun zweifellos, dass jetzt in Karl 
Malier, Max Oesireicher, Paul Mendelssohn etc. der vorname das be- 
stimmende, der familienname das bestimmte ist; aber ebenso zweifel- 
los, dass das verhältniss anfangs umgekehii war. Es hat also eine 
gliederungsverschiebung stattgefunden. 

Ein adjectivisches attribut kann nicht so einfach die rolle mit 
seinem substantivum tauschen. Es muss hier aber einer häufig vor- 
kommenden ftigung gedacht werden, wobei allerdings der hauptbegriff 
in das adj. gelegt wird. Wenn Grimm sagt jenes heranzuziehen unter- 
sagt die mangelnde lautver Schiebung, so müsste man um die gramma- 
tische form in Übereinstimmung mit der logik zu bringen die gliede- 
rung umkehren, aber zugleich mit einer weiteren Veränderung der 

Paul, Principien. JI. Auflage. 16 


242 

coDStraction: der mangel der lauiver Schiebung» Vgl die beispielsamm- 
lang bei Andr. Spr. s. 122. 3. 

Eine versehiebang ganz anderer art haben wir in wendangen wie 
ein sein wollendes original (Herder), so viele sein wollende kenner (Ebert 
an Lessing), sein sollende griechische simplicitäl (Ififland); ein gewesener 
Soldat, ein sogenanter veiter n. dergl.; franz. un nomme Richard, Hier 
sind die sabstantiva, die eigentlich prädicate zu nieht genannten snb- 
jecten sind, an die stelle dieser subjeete getreten nnd haben damit 
auch die form des participinms bestimmt. Auch in fällen wie sein 
früherer {ehemalige^*) herr, seine spätere {zukünftige) fr au, der angeb- 
liche baron sind die substantiva eigentlich prädicate. 

Indem die auseinanderreissung des grammatisch eigentlich 
eng zusammengehörenden usuell wird, bilden sich neue constrnetioDS- 
weisen heraus, von denen man, wiewol sie ihren Ursprung dem Wider- 
spruche zwischen grammatischer und logischer gliederung verdanken, 
doch nicht mehr sagen darf, dass der widersprach noch bestehe. Das 
ursprünglich nur psychologische verhältniss hat sich dann zu einem 
grammatischen entwickelt 

Häufig löst sich so der genitiv aus der unmittelbaren Verbin- 
dung mit dem worte, von dem er zunächst abhängig war. Wo er von 
einem prädicativen adj. abhängt, ist die Verbindung immer keine ganz 
enge, und es macht nichts aus, ob man ihn als abhängig von dem 
adj. allein oder von dem adj. in Verbindung mit der dazu gehörigen 
copula auffasst. Er hat daher eine ähnliche Selbständigkeit wie ein 
von einem verbum abhängiges object und geniesst die selbe freiheit 
der Stellung. Vgl. des erfolges bin ich sicher. Nun ist der häufig von 
einer solchen Verbindung abhängige gen. es lautlich mit dem ac«. 
(mhd. ez) zusammengefallen nnd in folge davon auch vom sprach- 
geftthl als acc. gefasst worden, vgl. ich bin es zufrieden. Ausserdem 
hat sich traditionell in einigen fällen der gen. nichts zu mhd. iiiht 
erhalten, der nun auch als aec. gefasst werden musste, vgl. ich bin 
mir nichts böses bewusst. Durch diese umstände ist es begünstigt, 
aber wol nicht allein veranlasst, dass weiterhin in mehreren fällen der 
als objectscasus gefasste gen. mit dem objectscasus xar e^oxijv, dem 
acc. vertauscht ist, gerade so wie das bei vielen verben {erwählten, 
vergessen etc.) geschehen ist Vgl. was ich mir kaum noch bewusst war 
(Wieland); sind sie das zufrieden? (Goe. und ähnlich öfters); wir sind 
die probe zufrieden (Rttckert); das bin ich vollkommen überzeugt (Le.); 
so viel bin ich versichert (Le.); ingedenk zu sein die bescheen fragen 
(Weistümer). Häufig ist der acc. bei habhaft werden, ganz allgemein 
bei gewähr werde^i, gewohnt, los, überdrüssig, schuldig sein oder werden. 
Wie das adj. verhält sich natürlich das prädicative adv., daher imxe 


243 

werden jetzt mit acc. Begttnstigt ist der eintritt des aee. jedenfalls 
dadurch, dass von solchen Verbindungen auch Sätze mit dass abhängen 
konnten {ich bin [es] zufrieden, dass du ihn besuchst)^ welche als object 
gefasst werden konnten. Bei manchen dieser Verbindungen lässt sich 
nur der acc. eines pron. nachweisen. Daraus ersieht man die einwir- 
kang des es, Dass aber der Vorgang auch ohne eine solche Unter- 
stützung möglieh ist, ergibt sich aus analogen fällen im griech., vgl. 
möT^liovSi; TjOav xä JtQogi^xovra (Xen.), s^aQPog slfii xa EQcoxcifisva 
(Plato). 

Die an sich festere Verbindung des genitivs mit einem subst 
erscheint gleichfalls vielfach gelockert, indem derselbe logisch nicht 
mehr von dem subst. allein, sondern von der Verbindung des subst. 
mit einem verb abhängig und dadurch zu einem selbständigen satz- 
gliede gemacht ist Sehr häufig ist das im mhd., z. b. des wirdet mir 
buoz (davon wird mir abhülfe); des hän ich guoien willen; des sit äne 
sorge; si wurden des ze räie; ich kwne eines ding es an ein ende (ich 
erfahre etwas ganz genau). Vgl. nhd. des lärmens ist kein ende; aller 
guten dinge sind drei; lass, vafer, genug sein des grausamen spiel s (Schi.); 
nun will ich des briefs ein ende machen (Schi.); des ich ein diener worden 
bin (Lu.); dieses gerechten, welches ihr nun Verräter und mörder gewor- 
den seid (Lu.); ein schiff, dessen man, so es voriXber ist, keine spur finden 
kann (Lu.); den leichten erwähnungen, die seiner einige alte grammatiker 
tun (Le.). Meistens muss mau jetzt an stelle des mhd. genitivs eine 
Präposition anwenden. Aber auch hier wurde das genitivische es um- 
gedeutet und als nom. oder acc. aufgefasst und so das logische subj. 
oder obj. vollständig zum grammatischen gemacht, vgl. es ist genug 
(mhd. genuoc als subst. mit dem gen. verbunden), es ist not, es ist 
zeit etc.; er will es nicht wort haben; er weiss es ihm dank. Die gliede- 
rungsverschiebung hat aber auch weiterhin die folge gehabt, dass der 
gen. mit dem nom. oder acc. vertauscht ist, wobei jedenfalls wider 
die abhängigen Sätze mit dass^ die als subj. oder obj. gefasst werden 
konnten, mitwirkten. Wir sagen jetzt das nimmt mich wunder wie das 
wundert mich; mhd. heisst es des nimet mich wunder = mich ergreift 
Verwunderung darüber. Beispiele für den acc. sind wer wird ihm diese 
kleine Üppigkeit nichl vielmehr dank wissen? (Le.); was er -mir schuld 
gibt (Le., ähnlich auch sonst); in ansehung der stärke wird niemand diese 
assertion in abrede sein (Le., vgl. Blttmners anm. in seiner ausgäbe des 
Laok., 2. aufl., s. 588). Allgemein mit dem acc. verbunden wird das 
jetzt als ein einheitlicher begriff gefasste wahrnehmen (mhd. war = be- 
obachtung). Vgl. lateinische constructionen wie quid tibi nos tactiost 
(Plaut.), quid tibi hanc curatiost rem (ib.), in denen der acc. nicht als 
von dem subst. allein abhängig gefasst werden kann; ferner infitias 

16* 


244 

ire, auctorem esse aliquid. Dazu griech. ?r /liv xQ<ma öoi /io(iq)fjv Iico 
(Enr.) n. ähnliches. 

In den sprachen, welche als negation oder als Verstärkung der- 
selben ein nrsprfinglich substantivisches wort verwenden, findet sich 
daneben ein genitiv, der ursprünglich von diesem substantivum ab- 
hängig war, allmählig aber zu einem selbständigen satzgliede ge- 
worden ist und nun als subj. oder obj. fungiert, während das wort, 
von dem er ursprünglich abhing, seine substantivische natur eingebttsst 
hat Vgl. franz. il tCa pas (point) d*argent, eigentlich: er hat keinen 
schritt (punkt) von geld. Dass das sprachgeflihl nicht mehr an eine 
abhängigkeit von pas oder poini denkt ergibt sich unter andern daraus, 
dass de analogisch auch in andere negative sätze übertragen wird, die 
kein ursprüngliches subst. enthalten (vgl. il n'y a jamais de lots ohser- 
vies\ auch in solche, die nur dem sinne nach negativ sind (vgl. ^an^ 
laisser d'esperance; doit-ü avoir lautre volenti). Aehnlich sind die Ver- 
hältnisse im mhd., vgL des enmac niht ge^n\ nAn vrouwe bizet iuwer 
niht] danach auch also grözer krefte nie mir recke gewan. Vgl. noch 
nhd. hier ist meines bleibens nicht. 

Die deutschen adverbia, welche zugleich präpositionen sind, 
gehen eine engere Verbindung mit einem verbum ein, in folge wovon 
der eigentlich nur von ihnen abhängige casus als abhängig von der 
Verbindung des verbums mit dem adverbium erscheint; vgl. einem ab- 
gewinnen, anliegen, aufdrängen, Überwerfen, unterlegen, vorstellen, zu- 
sprechen; einen anreden, anklagen. Dass wirklich der casus ursprüng- 
lich von dem adverb abhängig ist, geht daraus hervor, dass fllr die 
ältere zeit die regel gilt, dass immer der casus steht, welchen das adv. 
als präp. gebraucht regiert, und besonders daraus, dass die an sieh 
transitiven verba in Verbindung mit einem adv. einen doppelten acc. 
regieren können; so im mhd. noch häufig die verba mit ane {er nm 
ze kinde sich den weisen an), zuweilen die mit üf im alts. auch die 
mit umbi, vgl. stod ine uuerod umbi. Im englischen können wir es 
deutlich verfolgen, wie der von einer präp. abhängige casus sich von 
der directen Verbindung mit derselben löslöst und sich näher zum 
verbum stellt. Diese loslösung ist weitaus in den meisten fällen 
durch das bestreben bedingt das psychologische subject an die spitze 
des Satzes zu stellen. Vgl. and this rieh fair ionm we make him lord 
of (Sh.); washes of all kind I had an antipathy to (Goldsmith); weitere 
beispiele bei Mätzn. II, 518. Die beiden hauptkategorieen, die hierher 
gehören , sind die relativsätze (vgl. a place which we have long heard 
and read of, vgl. ib. 519) und passivsätze {the tailor was seldom talked 
of, vgl. ib. 65 ff.), wobei die passivische construction wie in anderen 
fällen den zweck bat das psychologische subject- auch zum gramina- 


245 

tisehen za machen. Diese art passivischer eonstrnction wird sogar bei 
transitiven wöiiem, die ein object bei sich haben, angewendet (they 
were never taken notice of Sheridan, vgl. ib. 67). Ausserdem ist die los- 
lösang in fragesätzen üblich, wo es sich also um voranstellung des 
prädicates handelt (what humour is the prince of, vgl. ib. 519). 

Ein Satzglied, welches grammatisch von einem inf. abhängt, kann 
psychologisch von der Verbindung dieses Infinitivs mit seinem regens 
abhängig werden; vgl. dies buch werde ich dich nie lesen lasseti; das 
ding selbst Jbin ich weit entfernt zu sehen (Le.); mit welchen sie sich er- 
innern, gegen mich glücklich gewesen zu sein (Le.). In folge davon kann 
das Sprachgefühl darüber unsicher werden, ob das betreffende glied 
eigentlich zu dem inf. oder zu seinem regens in direkte beziehung zu 
setzen ist. Dazu kommt, dass diesen fällen andere sehr ähnlich sehen, 
in welchen wirklich die abhängigkeit von dem verb. fin. das ursprüng- 
liche ist, vgl. was ich zu besorgen habe. So geschieht es, dass eine 
wirkliche Übertragung der rection vom inf. auf das verb. fin. stattfindet, 
die sich deutlich durch Umsetzung in das pass. docamentiert; vgl. hier 
ist sie (Minna v. Barnhelm) auf ansuchen des herrn von Hecht zu spielen 
verboten (Leu); die anklage ist fallen gelassen worden (AUg. zeitg.); die 
Stellung des fürslen Hohenlohe wird zu untergraben versucht (ib.). Damit 
vergleiche man die griechischen beispiele: xiXlcov ögaxficov o/ioXoyrj' 
d-eiöcSv djioXaßelv („da die Übereinkunft getroffen war, dass ich 1000 
drachmen erhalten sollte" Dem.); xä rjulv eg ^QXV^ JtaQayyeXQ'ivra 
Sie^eX&^elv (Plato); tSp jtQosiQrjfievoov ijfisQcov rä kjtir^öeia sx^tv (»der 
tage, für welche es befohlen war Vorrat zu haben ** Xen.). Auf der 
nämlichen Verschiebung beruht auch die Umsetzung von lat. coepi, de- 
sinoj jubeo, prohibeo in das pass. {Über legi coeptus est, jubeor interfici) 
nur dass hier auch der inf. in das pass. tritt, indem eine doppelbe- 
Ziehung des zum subj. gemachten gliedes stattfindet. Auch hei possum 
nnd queo kommt im älteren lat. eine derartige Umsetzung vor, z. b. 
quod tarnen expleri nulla ratione potestur (Lucrez), vgl. Draeger § 93. 
Ferner gehört hierher die umdeutung eines von einem inf. abhängigen 
objects zum subj. des regierenden, von hause aus unpersönlichen ver- 
bums, vgl. Tjv yag ri hv avrotg JCQoCfjxov löelv („was es sich ziemte 
zu sehen* Plato), Xoyov rivä jcQogi^xovra Qfjd^vai (ib.).*) 

Wir haben gesehen, dass die verschiedenartigsten Satzteile, indem 
sich zwei andere neben ihnen als die eigentlich wesentlichen heraus- 
heben, psychologisch als blosse bindeglieder gefasst werden können. 
Indem gewisse Wörter regelmässig so verwendet werden, wird die 
psychologische kategorie zu einer grammatischen, die betreffenden 


') Die oben gegebene darstellung beruht fast ganz auf Madvig kl. sehr. s. 362. 


246 

Wörter werden zu verbindnngswörtern. Verbindungswort nenne 
ich ein wort, welches die function hat das verhältniss zwischen zwei 
begriflfen anzugeben, welches daher auch nur neben zwei solchen be- 
griffen funetionieren kann, so dass es weder ftir sich noch auch bloss 
mit einem begriff verbunden etwas selbständiges darstellen kann. Ver- 
bindungswort zwischen subj. und präd. ist die copula. Neuerdings ist 
die berechtigung zur auf Stellung einer solchen kategorie bestritten, 
und behauptet, dass man die copula wie jedes andere verb. fin. als 
prädicat, das prädicative subst. oder adj. dagegen als bestimmung des 
prädicats zu fassen habe. Diese anschauung scheint mir ein beispiel 
jenes missverständnisses der forderung einer Scheidung zwischen gram- 
matik und logik, worauf ich ob s. 33 hingedeutet habe, ein beispiel 
von einseitiger rttcksiohtnahme auf die äussere grammatische form 
unter Vernachlässigung des functionswertes. Wir dürfen doch nicht 
ausser acht lassen, dass Sätze wie träume sind schäume, glücklich ist 
der mann gleichwertig sind mit Sätzen ohne copula träume schäume, 
glücklich der mann, und dass Sätze von der einfacheren form offenbar 
ursprünglich reichlich gebildet worden und erst allmählig durch Sätze 
mit copula mehr und mehr zurückgedrängt. WoUte man dem ist eine 
Selbständigkeit gegenüber dem substantivischen oder adjectivischen 
prädicate zugestehen, so würden alle hierher gehörigen sätze existen- 
zialsätze sein, was sie doch offenbar dem Sprachgefühl nach nicht 
sind. Welcher unsinn würde herauskommen, wenn wir den satz das 
ist unmöglich aufTassten als „das existiert als etwas unmögliches''. 

Die scheu davor die copula als ein Verbindungswort anzuer- 
kennen entspringt daraus, dass sie vermöge ihrer flexion den verbalen 
Charakter bewahrt. Bei erstarrten formen, die keinem flexivischen 
Wandel unterliegen, scheut man sich weniger den Übergang vom selb- 
ständigen wort zum Verbindungswort anzuerkennen. Dieser Übergang 
kommt immer mit hülfe einer gliederungsverschiebung zu stände, wie 
noch weiterhin an einer reihe von beispielen gezeigt werden wird. 

Eine besondere art von Verschiebung der gliederung besteht darin, 
dass zwei Satzglieder, die eigentlich nur eine indirecte beziehnng 
zu einander haben, indem sie von dem selben dritten abhängen, in 
directe beziehung zu einander gesetzt werden. So ist wol die ent- 
stehung des prädicativen accusativs aufeufassen. Wir können jetzt 
ebenso gut sagen ich mache ihn zum narren wie ich mache einen narren 
aus ihm. Es ist also eine doppelte art des accusativs bei machen mög- 
lich, einer, welcher den gegenständ bezeichent, den die tätigkeit trifft, 
und einer, der das resultat derselben angibt. Setzt man beide zugleich 
zum verbum, wie das im mhd. noch in einigen Wendungen möglich 
ist, z. b. ich mache in ritt er, so muss dabei auch die Vorstellung »er 


247 

wird ritter* oder dergleichen mit ins bewusstsein treten, und ßo werden 
die beiden aecasative in ein yerhältniss zu einander gesetzt nach der 
analogie von snbj. und präd. Diese erklärnng ist anf alle fälle an- 
wendbar, wo in den verschiedenen sprachen ein sahst als prädica- 
tiver acc. gebraucht wird. Die Verwendung des adjectivums als eines 
prädicativen objects liesse sich dann als eine analogie nach der Ver- 
wendung des substantivums fassen. Doch ist ausserdem in betracht 
zu ziehen, dass wir neben ich mache einen menschen glücklich auch 
sagen können ich mache einen glücklichen menschen. Entsprechend ist 
die entstehung des acc. c. inf. zu erklären. Der inf. ist ursprünglich 
ein zweites object zum regierenden verbum. So verhält es sich noch 
bei unserem ich heisse ihn aufstehen, ich lasse ihn arbeiten etc. Der 
inf. kann ja auch ohne einen anderen acc. als object stehen (ich lasse 
arbeiten). Er lehrt mich französich sprechen ist in der construction 
nicht wesentlich verschieden von er lehrt mich die französische spräche. 
So kann man auch lat. neben jubet te facere sagen quod te jübet. 
Ebenso hat der nom. c. inf. seine anologie in der passivischen con- 
struction solcher verba, die einen doppelten acc. bei sich haben können. 
Bihulns nondum audiebatur esse in Syria ist construiert wie Cicero per 
legatos cuncta edoctus] quod ßcssi sunt. Die auffassung des substan- 
tivischen accusativs als eines subjects zu dem inf. ergibt sich dann 
sehr leicht aus der realen natur des Verhältnisses. 

Eine andere nicht ganz seltene art der Verschiebung besteht 
darin, dass ein glied, welches eigentlich zu zwei copulativ oder ad- 
versativ verbundenen gliedern gehört, bloss als zum ersten gehörig 
anfgefasst und in relation zu einer die beiden verbindenden partikel 
gesetzt wird. Unser entweder — oder fassen wir jetzt als zwei cor- 
relative partikeln. Aber entweder ist entstanden aus eindeweder und 
bedeutet eigentlich „eins von beiden*; daher ist entweder das äuge oder 
das herz eigentlich „eins von beiden, das äuge oder das herz*. Folge 
der gliederungsverschiebung ist die erstarrung der form, so dass ent- 
weder zu jedem beliebigen casus und jeder beliebigen wortart gesetzt 
werden kann. Wo entweder — oder zur Verbindung von Sätzen dient, 
zeigt sich die hineinziehung des ersteren in den ersten satz auch an 
der inversion {entweder ist er tot neben er ist tot). Genau ebenso 
verhält es sich mit weder — noch, mit mhd. weder — oder = lat. 
utrum — an, mhd. beide — und = engl, both — and u. a. Wir über- 
setzen \sA. aeqice ac durch „ebenso wie". Aber ein hie mihi aequepla- 
cet atque ille ist eigentlich „dieser und jener gefallen mir in gleicher 
weise*. Dass jedoch eine wirkliche Verschiebung der gliederung statt- 
gefunden hat und dass das vergleichende ac von dem copulativen bis 
zu einem gewisssen grade isoliert ist, zeigt der regelmässige sing, des 


248 

präd. in den fällen, wo das ac an ein gingalarischefl subj. angeknüpft 
wird, femer die Wortstellung nnd endlich solche fälle, in denen eine 
widergabe des ac durch und in keiner weise mehr möglich ist, vgL 
aeque at te peto ac si mea negotia essent. Lehrreich sind verwandte 
constructionen, die noch nicht normal geworden sind, bei denen die 
Verschiebung entweder noch gar nicht eingetreten ist oder wenigstens 
noch nicht usuell geworden. Zuweilen steht a^que et = aeque ac: 
aeque promptum est mihi et adversario meo (Cic), vgl. Draeg. § 311, 18. 
Es findet sich ferner ac oder et auch nach par, similis, idem, alias etc. 
(vgl. ib.): parlier patribus ac plebi carm; pariter corpore et animo (Ter.); 
simul consul ex multis de hostium adventics cognovit et ipsi hostes ade- 
rant (Sali.); solet alia sentire et loqui (Oaelius); viae pariter et pugnae 
(Tac); omnia fuisse in Themistocle paria et Coriolano (Cic); haec eodem 
tempore Caesari mandata referebantur et in Licori vadum reperiebaiur 
(Caes.). Die selbe Verschiebung wie bei lat. ac ist bei anord. ok ein- 
getreten. 

Die nämlichen Verschiebungen wie innerhalb des einfachen Satzes 
finden natürlich auch im zusammengesetzten satze statt, da ja 
zwischen einfachem und zusammengesetztem satze kein eigentlich 
wesentlicher und consequent durchführbarer unterschied besteht. Der 
nebensatz hat die nämliche function wie ein Satzglied, und es gilt da- 
her auch von ihm das selbe wie von jedem anderen gliede in bezog 
auf die gliederung der ganzen periode. Es ist daher falsch, wenn 
man, wie gewöhnlich geschieht, eine jede periode zunächst in haupt- 
satz und nebensatz (resp. mehrere nebensätze) abteilt. Erstens ist zu 
berücksichtigen, dass der nebensatz ein unentbehrliches Satzglied wie 
das subj. vertreten kann (z, b. dass er nicht kommt, ärgert mich) und 
dann ist das, was man den hauptsatz zu nennen pflegt, in Wahrheit 
gar kein satz, sondern nur ein Satzglied oder ein complex von Satz- 
gliedern. Enthält der nebensatz einen entbehrlichen bestandteil der 
periode, z. b. eine Zeitbestimmung, so ist es ja allerdings möglich ihr 
den hauptsatz als etwas für sich bestehendes gegenüber zu stellen, 
aber damit gibt man keine richtige grammatische und nicht immer 
eine richtige psychologische gliederung. Die periode ich fragte ihn 
nach seinem befinden, als ich ihm begegnete zunächst in haupt- und 
nebensatz zu sondern hat nicht mehr berechtigung als in dem satze 
ich fragte ihn gestern nach seinem befinden zu gliedern: ich fragte ihn 
nach seinem befinden + gestern. Wir können ja auch dem nebensätze 
gerade so gut wie dem adv. gestern seine Stellung zwischen den übrigen 
gliedern geben. Endlich enthält der nebensatz gar nicht immer ein 
selbständiges Satzglied, sondern häufig nur einen teil eines gliedes, 
eine bestimmung zu einem gliede, so alle relativsätze, die sich auf ein 


249 

wort des haaptsatzes beziehen. Der nebensatz kann nun aber so gut 
wie jeder andere Satzteil nach psychologischen gesichtspankten eine 
andere eingliederung verlangen wie nach rein grammatischen, und er 
kann ebenso gut wie jeder andere Satzteil an der gliederungsver- 
schiebnng teilnehmen. So ist dann die möglichkeit einer Zweiteilung 
in haupt- and nebensatz häufig erst die folge einer gliederungsver- 
Schiebung. Dabei ist immer der nebensatz psychologisches subj., der 
hanptsatz präd., natürlich in dem weiten sinne, wie wir ihn cap. 6 be- 
stimmt haben. 

Wenden wir den s. 103 zwischen abstracten, concreten und con- 
cret-abstracten Sätzen gemachten unterschied auf den zusammengesetz- 
ten satz an, so ergibt sich, dass die hypothetischen perioden (im 
weitesten sinne) die abstracten und abstract-concreten umfassen. Ab- 
stract sind z. b. wenn es regnet^ wird es nass; wer pech angreift, be- 
sudelt sich\ abstract-concret wenn du es noch nicht weisst, will ich es dir 
sagen; so oft er mir begegnet , frfigt er mich; wer unter euch nicht zu- 
frieden ist, mag es sagen. Der sinn eines jeden abstracten oder ab- 
stract-concreten satzes lässt sich daher durch eine hypothetische periode 
ausdrucken. 

Wie es für den grammatisch nicht als abhängig bezeichenten satz 
einen stufenweisen Übergang von Selbständigkeit zu abhängigkeit gibt, 
so kann sich der grammatisch als abhängig bezeichente mehr und 
mehr der Selbständigkeit nähern. Bei der oben s. 123 charakterisier- 
ten Zwischenstufe zwischen logischer abhängigkeit und Selbständigkeit, 
kann die ^ammatische form bald die der Selbständigkeit, bald die der 
abhängigkeit sein. Nach der bevorzugung der einen oder der andern 
unterscheiden sich verschiedene sprachen und verschiedene Stilgattungen. 
So ist es bekanntlich charakteristisch für die historische periode im 
lateinischen, dass die mitteilung von tatsaehen, welche an sich neu 
sind und einen selbständigen wert haben, die aber zugleich zur zeit- 
lichen und causalen bestimmung einer anderen tatsache dienen, in der 
form eines abhängigen satzes oder einer participialconstruction erfolgt, 
während im deutschen die form des selbständigen satzes vorgezogen 
wird. Nicht selten ist in verschiedenen sprachen die anknüpfung eines 
relativsatzes, welcher das vorhergehende gar nicht bestimmt oder modi- 
ficiert, sondern eine selbständige mitteilung enthält, also gleichen wert 
mit einem copulativ angeknüpften hauptsatze hat. Vgl. er begab sich 
nach Paris, von wo er später nach Lyon ging (= und von da ging er); 
ich traf gestern deinen vater, mit dem ich mich lange unterhielt (gegen 
ich traf heute den herrn wider, mit dem ich mich gestern unterhalten hatte). 
Besonders häufig ist diese anknüpfung bekanntlich im lat, und man 
ist es hier gewohnt längere perioden, die durch ein relativum einge- 


250 

leitet sind, als selbständige Sätze zn betrachten. Ein solches lose an- 
geknüpftes relativam erseheint auch in conjanctionssätzen , wie z. b. 
quod Tiberius quum fteri animadvertit, sinu pugionem eduxH (Bell. Hisp.); 
qiuie si dubia aut proctd essent, tarnen omnes bonos reipublicae subvenire 
decebat (Sali.)*) Ein kriterinm für die verselbständignng des relativ- 
satzes ist der gebranch des imperativs in demselben. Diesen finde 
ich im griech. neuen testament: 2 Tim. 4, 15 ov xai av gw Xdööov nni 
Ehr. 13, 7 cov dvad'BooQovvteq rijv Ixßaötv rfjq dvaCxQoqyfjq /ii[i£tö^B 
xfiv jciöTiv; an beiden stellen auch in Luthers Übersetzung: vor wel- 
chem hüte du dich auch und welcher ende schauet an und folget ihrem 
glauben nach. Entsprechend ist die Verwendung von quamquam und 
etsi =^ jedoch. Das aufgeben des abhängigkeitsverhältnisses tritt uns 
besonders entgegen in einem falle wie do poenas temer Itatis meae; etsi 
quae fuit Uta temeritas? (Cic). So kommt auch unser wiewol, obgleich 
vor, wobei sich das aufgeben des abhängigkeitsverhältnisses in der 
Wortfolge documentiert, vgl. ff^ie darfst du dich doch meinen äugen 
weisen? wiewol du kommst mir recht (Hagedorn); obgleich das weissbrod 
schmeckt auch in dem schloss nicht übel (Hebel). 

So tritt denn auch der fall ein, dass das logische abhängigkeits- 
verhältniss geradezu die umkehrung des grammatischen ist Die 
bekannteste hierher gehörige kategorie, die sich in vielen sprachen 
findet, bilden Zeitbestimmungen, meist mit eben, gerade, noch, kaum 
u. dergl., auf welche der logische hauptsatz nicht bloss, wie wir s. 123 
gesehen haben, in der form des hanptsatzes, sondern auch in der des 
nebensatzes folgen kann ; vgl. kaum war ich angekommen, als ich befeU 
erhielt \ franz. Je n'eus pas mis pied a terre, qtce thdte vint me saluer. 
Einige andere beispiele sind: franz. le dernier des Bourbons serait tue, 
que la France n^en aurait pas moins un roi (Mignet) = wenn auch der 
letzte der Bourbonen getötet wäre, würde Frankreich nichtsdestoweniger 
einen könig haben. Mhd. jane gSt er nie so balde, eme benahte in dem 
walde = mag er auch noch so schnell gehn, die nacht wird ihn im 
walde überraschen. 

Die psychologische gliederung durchbricht auch die grenzen 
zwischen haupt- und nebensatz. Ein häufiger fall ist, dass eine 
Partikel, die eigentlich dem hauptsatze angehört mit einer dazu in be- 
ziehung stehenden den nebensatz einleitenden partikel zu einer einheit 
verschmilzt und nun vom Sprachgefühl das ganze als einleitung des 

^) An und fUr sich beweist allerdings der gebrauch des relativums in einem 
conjunctionssatz nicht lockerung des abhängigkeitsverhältnisses. Vgl. Ln. Ap. 15, 29 
dass ihr euch enhaltei von götzenopfer etc., von welchen so ihr euch enthaltet^ tut 
ihr recht (if (bv ÖLatsQovvreg havtovg ev n^d^ete). Hier ist das rel. gebraucht 
wie sonst als teU eines Satzgliedes. 


251 

nebensatzes aufgefasst wird. Vgl. sowie (got. swaswe, ahd. soso), so dass, 
sobald als, auch wenn] lat. sicut, simulac, postquäm, antequam, priusquam, 
etsi, eliamsi, tam(en)'etsi. Noch viel wichtiger ist es, dass gewisse 
Wörter, namentlich pronomina oder partikeln, die ureprünglich dem 
hanptsatze angehören, zu verbindangsgliedern zwischen diesem und 
einem spychologisch untergeordneten satze werden, der bis dahin noch 
von keiner partikel eingeleitet war, ja überhaupt noch gar kein gram- 
matisches zeichen der abhängigkeit hatte. Diese Wörter pflegen dann 
als ein teil des nebensatzes angesehen zu werden. Auf diese weise 
sind eine menge den nebensatz einleitende conjunctionen entstanden, 
und dieser einfache Vorgang der gliederungsverschiebung ist eines der 
wesentlichsten mittel gewesen, eine grammatische bezeichnung für die 
abhängigkeit von Sätzen zu schaffen. Meistens waren die betrefFen- 
den Wörter ursprünglich hinweisend auf den folgenden logisch ab- 
hängigen satz (vgl. s. 120). Hierher gehört die wichtigste deutsche 
Partikel daz = engl, that^ ursprünglich nom. acc. des demonstrativpro- 
nomens. Ich sehe, dass er zufrieden ist ist hevorgegangen aus einem 
ich sehe das: er ist zufrieden. Nachdem die hineinziehung in den 
nebensatz und die dadurch bedingte Verwandlung in eine conjunction 
sich vollzogen hatte, konnte diese construction ebenso wie der acc. c. 
inf. (vgl. s. 198) auch auf fälle übertragen werden, für die ein nom. 
oder acc. des pron. nicht passte, vgl. ich hin überzeugt (davon), dass 
du schuld hast; er war (so) betroffen, dass er kein wort erwidern konnte. 
Vielfach ist daz auch mit einer regierenden präposition in den neben- 
satz tibergetreten. Vgl. mhd. durch daz er videlen künde, weil er zu 
geigen verstand, eigentlich deswegen: er konnte geigen. Ebenso umbe 
daz, äne daz, für daz, üf daz (selten), bedaz (während dem). Erhalten 
sind davon ohne dass und auf dass; ausser dass, während dass und an- 
statt dass müssen wol als analogieen nach jenen betrachtet werden, 
da die betreffenden präpositionen nicht den acc. regieren. Dagegen 
sind einige präpositionen mit dem dat. des demonstrativpronomens 
erst im nhd. durch Verschiebung zu conjunctionen geworden: nachdem, 
seitdem, indem, währenddem. Vereinzelt erscheint so darum: darum ich 
es auch nicht länger vertragen, habe ich ausgesandt (Lu. 1 Thess. 3, 5). 
Entsprechend verhält es sich mit engl, for that etc., ags. for päm, cbr 
päm. Ferner gehört hierher sd im ahd. und älteren mhd. = so dass. 
So in beteuerungen und beschwörungen: so wahr mir golt helfe, so 
wahr ich hier stehe, wofür man auch sagen kann so wahr wie ich hier 

• 

stehe. So = wie sehr auch, wiewol: so gutmütig et* {auch) ist, das 
mrd er nicht tun; vgl. mhd. so vil ze Salerne von arzenten meister ist, 
aber auch mit einem zweiten relativen sd: s6 manec wert leben sd liebe 
frumt; vgl. dazu engl. Natter e, as green as he looks, rests everywhere 


252 

on dread foundations (Carligle), eine constraction, die in der älteren 
spräche häufig ist, während die neuere meist nur das zweite relative 
OS setzt; vgl. ferner afranz. si — com, nfranz. si — que. In den zu- 
letzt besprochenen fällen ist ausser dem so immer noch ein weiteres 
ihm eigentlich nicht angehöriges dement in den nebensatz gerttcki 
Ebenso verhält es sich mit nhd. sobald (als, wie), so lange {als, wie\ 
{in) sofern, {in) soweit, sowie. Mit unrecht wird dies so vielfach als 
ein ursprüngliches relativum anfgefasst. Auch substantiva, teils mit, 
teils ohne artikel, zum teil in abhängigkeit von einer präposition sind 
in einen logisch untergeordneten satz, der ihnen zur erläutemng diente, 
(vgl. s. 120) eingetreten. Vgl. mhd. die mle ich weit dr\ hove, nhd. die- 
weil, alldieweil, derweil, weil = engl, {(he) wile; nhd. falls, im falle, 
sintemal = sint dem male; seit der zeit er auferstanden ist (Lu.); engl. 
on {upon) condition, in case (beide auch mit nachfolgendem that), he- 
cause. 

Auf einem ähnlichen vorgange beruht im deutschen mindestens 
zum teil der Übergang des demonstrativums in das relativum. Ein 
solcher Übergang erfolgt auf grund der oben s. 114 besprochenen art 
des ojro xoivov. Das gemeinsame glied kann durch das demonstrati?- 
pronomen der oder durch ein demonstratives adv. gebildet werden, 
vgl. liefun thie nan minnotun (Otfrid); thär ther sin friunt uuas iu er lag 
ftardon dag higrdbanir (wo der, welcher früher sein freund gewesen 
war, den vierten tag begraben lag, ib.); ni mag diufal ingegin sm thar 
ir ginermet namon min (nicht kann der teufel widerstehen da, wo ihr 
meinen namen nennt, ib.); thu giangi thara thu uuoltos (du gingst dahin 
wohin du wolltest, ib.); der mich liebt und kennt ist in der weite (6oe.). 
Wir würden hier von unserem Sprachgefühle aus das pron. oder adv. 
als relativ und zum nebensatze gehörig auffassen, und diese auffassnng 
hat sich auch dadurch bekundet, dass sich an stelle des alten demon- 
strativums das andere, mit dem fragewort übereinstimmende relativnm 
eingedrängt hat, welches jetzt in allgemeinen Sätzen allein noch üblich 
ist: wer wagt, gewinnt; wo nichts ist, da hat der kaiser sein recht ver- 
loren, Dass aber das pron. (und demnach auch das adv.) ursprüng- 
lich gleichmässig zum haupt- und nebensatze gehörte, ergibt sich ans 
folgenden gründen. Erstens: das pron. kann mit einem snbst. ver- 
bunden auftreten, welches notwendig auch dem hauptsatz angehören 
muss: in droume sie in zelitun then uueg sie faran scoltun (im träume 
gaben sie ihm den weg an, denn sie fahren sollten, Otfrid), der möhte 
mich ergetzen niht des moeres mir iuwer muni vergiht (der möchte mir 
keinen trost verschaffen für die nachricht, die mir euer mund ver- 
kündet, Wolfram); er sär in tho gisageta thia sälida in thd gaganta 
(Otfrid); diu sich geliehen künde der grdzen sül da zwischen stuont (Wol- 


253 

fram). Zweitens: der casus des pronomens richtet sich im ahd. und 
mhd., auch noch im älteren nhd. gewöhnlich nach dem haaptsatz, wenn 
dieser einen gen. oder dat., dagegen der nebensatz einen nom. oder 
acc. verlangt: uue demo in vinstri scal sino virinä stüten (wehe dem, der 
in finstemiss seine verbrechen bttssen soll, Muspilli); ourvi des da nach 
geschiht (Wolfram); mit all dem ich kan vnd vermag (Hans Sachs). 
Drittens: das pron. kann von einer präp. abhangen und diese mnss 
gleichfalls mit znm haupt- und nebensatz gezogen werden: waz ich 
bosser handelunge erliien hän von den ichs rvol erläzen möhte sin (von 
denjenigen von welchen ich wol damit hätte verschont bleiben können, 
Minnesinger). Viertens: ein fall, der hiervon zu unterscheiden ist, aber 
gleichwol beweisend dafttr, dass das pron. ursprünglich auch dem 
hanptsatze angehört, ist der, dass dasselbe von einer präp. abhängig 
ist, die nur dem hauptsatze angehört, vgl. waz sol trüren fwr daz nie- 
man kan erbenden (Minnesinger); daz ich singe owe von der ich iemer 
dienen sol (Heinr. v. Morungen); auch so, dass der casus nur den forde- 
rungen des hauptsatzes entspricht: der suerii hi demo temple, suerit in 
demo dar inne artdt (schwört bei dem, der darin wohnt, Fragmenta 
theotisea); den vater Srit da zi himili der sun mid den er hat ht in erdi 
giwunnun (Summa theologiae). Wird der nebensatz vorangestellt, dann 
kann das gemeinsame glied noch einmal durch ein pron. oder adv. 
aufgenommen werden, vgl. ther man ihaz giagaleizit thaz sih kuning 
heizit, der uuidarot in alauuär themo keisore sär (der mann, welcher es 
unternimmt sich könig zn nennen, der widersetzt sich fürwahr dem 
kaiser, Otfrid); daz erbe üch üwere vorderen an brächten unt mit her- 
seilte ervächten, weit ir da von entrinnen (Rolandslied); den schaden 
he uns to donde plecht, dar vor krichl he nun sin recht (Reineke vos). 

Für solche fUUe wie die angeführten ist es aus den oben an- 
gegebenen gründen klar, dass das voranstehende glied wirklich als 
ursprünglich gemeinschaftlich aufgefasst werden muss, und dass die 
wideräufnahme desselben ursprünglich auf gleicher Knie steht mit sol- 
chen fällen, wie den schätz den hiez er füeren\ beide schouwen unde 
grüezen swaz ich mich daran versümet Ad« (Walther). Es steht daher 
auch nichts im wege anzunehmen, dass sätze wie ther brüt habet, ther 
scal ther brütlgomo sin (Otfrid) auf die nämliche art entstanden sind. 
Doch soll damit nicht gesagt sein, dass nicht auch relativsätze auf 
grund einer anfänglichen doppelsetzung des demonstrativums ent- 
standen sind. 

Haupt- und nebensatz können sich auch derartig in einander 
schlingen, dass eine sonderung der demente des einen von denen des 
anderen nicht mehr möglich ist, was sich dann auch in der Wort- 
stellung zeigt. Nicht selten wird in vielen sprachen der hauptsatz 


254 

logisch so nntergeordnet, dass man ihn als bindeglied fassen kann, 
und schiebt sich dann in den nebensatz ein. Der voranstehende teil 
desselben bildet dann das psychologische subject oder prädicat. Der 
fall ist daher besonders hänfig in frage- und in relativsätzen. Vgl it 
mio padre e mio fratello dimtni ove sono\ lat. tu nos fac ames (Cic); ver- 
bum cave faxis (Plaut); matrem jvheo requiras (Ov.); dticas volo hodie 
uxorem (Ter,); quid vis eurem? (Plaut); quid tibi vis dicam? (ib); engl. 
something, that I believe will make you smile (Goldsmith); whereof I gave 
thee Charge thou shouidst not eat (Milton); rvhose fellowship therefore 
unmeet for thee good reason was thou freely shouldst dislike (Milton). 
Mhd. zuo Amelolt und Niren nu hoeret wie er sprach (Alphart); die en- 
weiz ich war ich tuo; nhd. eine Sammlung, an deren existenz ich nicht 
sehe warum Mk, Antonio zweifeln wollen (Le.). Engl, but with me I see 
not who partakes; which we would know whence leamed (Milton). Nhd. 
auf diese veralteten Wörter haben wir geglaubt, dass wir unser äugen- 
merk vornehmlich richten müssten\ mhd. tiefe mantel mt sach man daz 
si truogen; zuo sinem brütloufte bat er daz si qucemen; it. questl mercaii 
giudico io che fossero la cagione (Mach.); span. los forzados del rey quiere 
que le dexemos (Cervantes); prov. cosselh m'es ops qu'ieu en prenda (es 
ist nötig , dass ich einen entschluss in bezug darauf fasse); lat hanc 
domum jam multos annos est quom possideo (Plaut); mhd. swie si wil, so 
wil ich daz mn fröude stS] it solo Tancredi avvien che lei connosca 
(Tasso); er hat alles, was man will das ein mann haben soll; mhd. daz 
ich ie wände daz iht woere; franz. voilh des raisons qu'il a cru quefap- 
prouverais\ it. le opere che pajono che abbino in se qualche vir tu (Mach.); 
nhd. was wollen sie denn dass aus mir werde? (Le.); wie wollt ihr, dass 
das geschehe? woher befehlt ihr denn dass er das geld nehmen soll? 
womit wollt ihr dass ich mich beschäftige? die mischung, mit welcher ich 
glaube, dass die moral in heftigen Situationen gesprochen sein will (Le.). 
Dabei entsteht in manchen fällen eine Unsicherheit darüber, ob der 
voranstehende Satzteil noch von dem verbum des grammatischen neben- 
Satzes oder vielmehr von dem des grammatischen hauptsatzes abhängig 
zu machen ist. Wir helfen uns jetzt vielfach durch eine doppelsetznng 
desselben mit verschiedener construction, wodurch das ineinandergreifen 
von haupt- und nebensatz vermieden wird: wovon er wusste, dass er 
es nie erlangen würde. 


Cap. XVII. 

Congrnenz. 

In den flectierenden sprachen besteht die tendenz Wörter, die in 
einer bezieh ung zn einander stehen, für die es kein besonderes aus- 
draeksmittel gibt, möglichst in formelle Übereinstimmung mit einander 
zu setzen. Hierher gehört die eongrnenz in genas, numerus, casus, 
person, wie sie zwischen einem subst. und einem dazu gehörigen präd. 
oder attribut oder einem dasselbe vertretenden pron. oder adj. besteht; 
als verwandte erscheinungen können wir auch die Übereinstimmung in 
tempus und modus innerhalb einer periode anreihen. Diese eongruenz 
ist keineswegs durchgängig als etwas anzusehen, was sich selbstver- 
ständlich aus der natur des logischen Verhältnisses ergibt. Es ist z. b. 
gar kein logischer grund vorhanden, warum das adj. an dem ge- 
sehlechte, numerus und casus des substantivums participieren müsste. 
Wir haben uns vielmehr die Sache so zu denken. Den ausgangspunkt 
für die entstehung der eongruenz haben solche falle gebildet, in denen 
die formelle Übereinstimmung eines wertes mit einem anderen nicht 
durch rücksichtnahme auf dasselbe herbeigeführt, sondern nur durch 
die gleichheit der beziehung bedingt ist. Nachdem aber die eongruenz 
als solche empfunden ist, hat sie ihr gebiet durch analogische Über- 
tragung auf andere fälle weiter ausgebreitet. Dass dies der entwicke- 
lungsgang gewesen ist, werden wir am besten erkennen, wenn wir zu- 
nächst solche fälle betrachten, an denen sich die ausbreitung der eon- 
gruenz noch geschichtlich verfolgen lässt. 

Die Übereinstimmung im gesehlecht und numerus erscheint un- 
logisch über das ihr eigentlich zukommende gebiet ausgedehnt in 
fällen, wo durch das subjeet auf ein noch unbekanntes hingewiesen 
wird, welche» erst durch das präd. einen bestimmten inhalt erhält. 
Das pron., welches das subj. bildet, sollte dann immer im sg. neutr. 
stehen und tut es wirklieh stets im nhd.: das ist der mann\ das sind 
die richtigen; ebenso im franz. ce sont mes fr er es. Dagegen erscheint 
es mit dem präd. in Übereinstimmung gebracht im engl, these are thy 
magnific deeds (Milton); it. e questa la vostra figlia? span. esta es la 


256 

espada] griech. avrij rot dlxrj lörl d^smv (Hom.); lai ea demum firma 
amwitia est (Cic); haec morum vitia sunt (Cic); Athenae istae sunto 
(Plaut); qu(te apud alias iracundia dicitur, ea in imperio superbia atque 
crudelitas appellatur (Sali.); doch auch id tranquillitas erit (Seneea) 
so gewöhnlich im negativen und bedingenden satze. Wir werden 
diese erscheinung wol am besten so auffassen, dass sieh hier das sabj. 
nach dem präd. gerichtet hat wie sonst das präd. nach dem subj. 

In copulativer Verbindung mit pluralia tantum oder Wörtern, die 
im plur. eine eigene bedeutung haben setzen lateinische schriftsteiler 
öfters auch andere Wörter im plur., die sonst nur im sing, gebraucht 
zu werden pflegen : summis opibus atque industriis (Plaut); neque vigiliis 
neque quietibm (Sali.); paupertates — divitiae (Varro); vgl. Draeg. § 7, 4. 

In einem satze wie man nennt (heisst) ihn Friedrich kommt dem 
namen eigentlich kein casus zu, es sollte der blosse stamm stehen; 
auch kann man Friedrich und andere eigennamen, die kein casus- 
zeichen enthalten, als stamm, als absoluten casus auffassen. Man 
könnte femer, insofern eine beziehung auf das nennen in der anrede 
stattfindet, den voc. erwarten, und dieser findet sich wirklich im grieeh. 
rl pe xaXetre xvqu? (Luc. 6, 46), in der Vulgata übersetzt quid vocalis 
me domine?^) In ermangelung eines reinen Stammes muss dann der 
nom. eintreten, der übrigens meistens von dem voc. nicht zu scheiden 
ist Im got ist die eben erwähnte stelle übersetzt hrva mik haitid frauja? 
Entsprechend übersetzt noch Luther was heisst ihr mich aber herr, Herr? 
und so wird der nom. (voc.) auch sonst im mhd. und nhd. gebrancht: 
daz man in hiez der bäruc (Wolfram), ich hiess ihn mein Montan (Geliert); 
den ich herr Stolle nennen hörte (Insel Felsenburg). Das gewöhnliehe 
aber ist jetzt der acc, und schon im got heisst es panzei jah apauslu- 
luns namnida. Dieser acc. ist nur durch die gewohnheit der congmenz 
veranlasst, die man in fällen hatte wie got izei piudan sik silban taujip 
(der sich selbst zum könig macht). 

Ebenso sollte in Wendungen wie er hat den namen Max der reine 
stamm, respective in ermangelung eines solchen der nom. stehen, nnd 
so verhält es sich im deutschen. Im lat aber ist eine construction 
wie l(zctea nomen habet (Ov.) nur poetisch und nachklassisch. Im 
klassischen lat. erscheint der nom. neben nomen nur, wenn dieses selbst 
nom. ist, also congruenz stattfindet, z. b. cui nomen Arethusa est (Cie.). 
Daneben wird der name in congruenz mit der person, der er beigelegt 
wird, gebracht, z. b. nomen Mercuriost mihi (Plaut.). Das entsprechende 
schwanken in bezug auf die congruenz findet sich da, yfo nomen 
acc. ist: filiis duobus Philippum et Alexandrum et filiae Apamam nomina 


») Vgl. Ziemer s. 71. 


257 

imposuerat (Liv.) — cui Superbo cognomen facta indiderunt (Liv.). 
Dieses schwanken zeigt am besten, dass die eongrnenz hier nieht aus 
der natar der saehe entsprangen ist, sondern vielmehr aus einer ge- 
wissen Verlegenheit der sprechenden, die in ermangelnng einer abso- 
Inten form einen casus wählen mussten und dabei irgendwo einen an- 
sehlass suchten, gemäss dem schon die spräche durchdringenden prin- 
cipe der congruenz. 

Eine ähnliche Verlegenheit besteht bei dem prädieativen oder 
prädicativ-attribntiven nomen neben einem inf. Das neuhochdeutsche 
ist insofern gut daran, dass es eine absolute form des adj. hat: es 
glückte ihm unbekannt zu bleiben. Das subst. erscheint, wo es nicht - 
zu vermeiden ist, dass ein bestimmter casus sich zu erkennen gibt, 
immer im nom.: nicht nur er strebt danach berühmt zu werden, sondern 
auch es steht dir frei als verständiger mann zu handeln. Im lat. steht 
der nom., wenn ein anschluss an das subj. des regierenden verbums 
möglich ist: pater esse disce, omitio iratus esse; poetisch ait fuisse naoium 
celernmus (CatuU); rettulit Ajax esse Jovis pronepos (Ov.); ebenso im 
griechischen, auch beim substantivierten inf., in welchem casus dieser 
aach stehen mag: oQtyovxai rov XQcorog ixaörog flyvecd-at (Thuc); 
Uo^B xaööog>og slvat 6ta ro avrog fitj olog r elvai (Plato). Im grieeh. 
findet eine solche anknttpfung auch an einen vom regierenden satze 
abhängigen gen. oder dat. statt: anaciv avdyxfj tA rvQapvcf) xoke/ilq) 
dvai (Plato); ol Aaxeöaifiovioi Kvqov iöiovxo cog XQod-v/iOTdrov jrgög 
TOP noXs/iov yevioß-ai (Ken.). An den dat. in beschränktem masse 
auch im lat: animo otioso esse impero (Terenz); da mihi fallere, da justo 
sanctogue videri (Hör.); nee fortibus illic profuit armentis nee equis ve- 
locibus esse (Ov.) ; allgemein bei licet. Daneben kommt nach licet mihi 
zuweilen der acc. vor (z. b. si civi Romano licet esse Gaditanum, Cic), 
daraus zu erklären, dass der acc. der gewöhnliche subjectseasus beim 
inf. ist.!) 

Ich führe noch einige fäUe an, in denen keine congruenz durch- 
geführt ist und zum teil nicht hat durchgeführt werden können, bei 
denen man sich deshalb in ermangelung des eigentlich einzig berech- 
tigten reinen Stammes mit dem nom. beholfen hat. Wir sagen z. b. 
dem als eine schreiende Ungerechtigkeit bezeichenten befehle, mein beruf 
als lehrer, sogar die Stellung des königs als erster bürg er des Staates; 
in einer läge wie die seinige neben der seinigen. Im lat. finden sich 
constructionen wie Setnpronius causa ipse pro se dicta damnatur; flumen 
Albim transcoidit, longius penetrata Germania quam quisquam priorum 
(Tac.). Hierbei finden ipse und quisquam zwar eine anlehnung bei dem 


«) Vgl. Ziemer s. 96. 
Paul, Principien. II. Auflage. 17 


258 

subjecte des verb. fin., gehören aber eigentlieh nar zu dem ablatiyns 
abs., in welchem sieh ihnen keine anknttpfang bietet') 

Namentlich entsteht eine Verlegenheit des sprechenden da, wo 
eine grammatische congmenz zwischen zwei Satzteilen dem sinne nach 
nicht möglich ist und dazn ein dritter Satzteil tritt, von dem man 
gewohnt ist, dass er mit beiden congmieri Man mnss sich fttr einen 
von den beiden entscheiden, nnd in dieser beziehang kann sich der 
nsns in verschiedenen sprachen verschieden fixieren, auch in einnnd- 
derselben schwanken. 

Snbject — prädicat — eopnla. Das ursprünglich normale ist jeden- 
falls, dass die copula sich im ^numerus wie jedes andere verb. nach 
dem snbj. richtet, und dem entsprechend heisst es z. b. engl, it was my 
arders, tvhat is six winters; franz. c'est eux, c'efait les petites iies; lat 
nequa pax est induciae (GeUius). Im deutschen aber setzen wir bei 
plnralischem präd. die copula im plur.: dc^ sind zwei verschiedene dinge. 
Das gleiche kann in anderen sprachen geschehen: griech. ro ;^a>(»/ot^ 
TOhTO, ojtsQ xq6t£Q0V Evvia bdol hcaXovvxo (Thuc); franz. ce sontla 
des vertus de roi. Es scheint dies dadurch begründet, dass der pliir. 
sich charakteristischer geltend macht als der sing. Doch ist in meh- 
reren sprachen auch das umgekehrte möglich, dass zu plnraliscbem 
subj. und singularischem präd. die copula im sing, gesetzt wird: griech. 
aS xoQff/lat Ixavov svöai/iovelag ar/iislop kcxt (Ant); lat. loca^ quae Nu- 
midia appeUatur (Sali.); engl, two paces in the vilest earlh is room enough 
(Sh.); Span, los encamisados era gente medrosa (Cervantes); nhd. falsche 
wege ist dem herm ein greuel (Lu.). Entsprechend verhält es sieh 
mit der person des verbums. Engl, it was you, is thal you ; franz. dest 
moi, c*est naus, c'est vous, in der älteren spräche auch 4fest eux. Dagegen 
nhd. das waren Sie, sind Sie das; altfranz. ce ne stiis je pas, c'estez vmis. 

Anticipierendes unbestimmtes subj. — logisches subj. — prädicat 
Franz. rarement il arrive des revolutions^ il est des gern de bien. Da- 
gegen deutsch: es geschehen Umwälzungen. 

Ein participium als präd. oder copula kann sich im genus und 
numerus nach einem daneben stehenden prädicativen subst richten 
anstatt nach dem subj. Vgl. griech. xävra ötfiYriCiq ovöa xvyxmi 
(Plato); lat. pauperfas mihi onus visum (Terenz); nisi honos ignominia 
putanda est (Cic.) (dagegen Semiramis puer esse credita est, Justin). 
Das gleiche findet statt beim prädicativen acc: griech. r^r fjdoi'iiv 
61WXBXS (og dyad^ov 6v (Plato); bei attributiver Verwendung: griech. 
To^ dvyariQaq, jiaiöla ovra (Dem.); lat, ludi fuere, Megaiesia appel- 
lata (Liv.). 


*) Vgl. hierzu Madvig Kl. sehr. 367 flf. 


259 

Das präd. kann sich anstatt nach dem subj. nach einer zu diesem 
gehörigen apposition richten: griech. Ofßai, xoXig aCtvYBitwv, ex (liofjg 
r^g ^EXXadog ovrignaötat (Aesch.); lat. Carinthum toiius Graeciae htmen 
extinctum esse voluerunt (Gic.); Volsinii oppidum Tuscorum concremaium 
est; nhd. die Aegypter aber, dies harte und geseizmässige volk, schlug 
gleich die form der regel und der gewohnheit auf ihre versuche (Herder). 
Aach bei Umsetzung in den abl. abs.: omni omatu oratioms tamqtuim 
veste deiracta (Gic). Neben distributiver apposition steht der sing. 
trotz pluralischen subjectes : al rix^ai to avrijg exccörtj sQyov iQya^arai 
(Plato); die sich nach des meisiers iode sogleich entzweiten und offenbar 
jeder nur eine Heschränkte Sinnesart für das rechte erkannte (Goe.); da 
die Kahedine und die sarjande von Semblidac iesHcher siner künste pflac 
(Wolfram). 

Auffallender ist die anpassung des präd. an ein mit dem subj. 
verglichenes nomen; im genus: magis pedes quam arma tuta sunt (Sali.); 
im numerus: me non tantum literae quantum longinquitas iemporis miti- 
gavit (Gic); ei cariora semper otnnia quam decus fuit (Sali.); im genus 
und numerus: quand on est jeunes, riches et j'olies, comme vous, mes- 
dames, on n'en est pas reduites a l'artifice (Diderot); in der person: oaoi 
äöJtsQ rgislg smßovXsvofisd'a (Thuc); in person und numerus: ^ rvxf] dal 
ßikriov 9} ^/laZg ^/läv avrcov ijiifisXovpBd^a (Demosth.). Auffallend ist 
auch die eongruenz des präd. mit einem zweiten durch „und nicht" ange- 
knüpften subjecte: heaven and not we kave safely fought to-day (Shakesp.). 

Im griech. kann sich eine apposition, wenn sie von dem nomen, 
zu dem sie gehört, durch einen relativsatz getrennt ist, im casus nach 
dem relativpron. richten: xixXmjiog xsxoXcorai, ov 6q>d'aXfiov dXacoCBv, 
avxl^Bov noXvq>7ifiov (Odyssee); ol naXaiol kxslvoi, mv ovonaxa fieyaXa 
Uytxaiy HiTxaxov zs xa\ Blavrog (Plato). 

Ein dem. oder rel. kann sich anstatt nach dem subst., auf wel- 
ches es sich bezieht, nach einem von ihm prädicierten nomen richten: 
lat. Leucade sunt haec decreta; id caput Arcadiae erat (Liv.); quod si 
non hominis sumnrnm bonum quaereremus, sed cußisdam animantis, is au- 
fem esset nihil aliud nisi animns (Gic); animal hoc quem vocamus homi- 
nem (Gic); ii sunt, quam tu nationem appeUasti (Gic); in pratis Fla- 
minus, quem nunc circum Flaminium appellant (Liv.); griech. <p6ßog, 
7Jv alöÄ ahtofiBv (Plato). Nach dem relativpron. kann sich dann 
auch noch das präd. des hauptsatzes richten: Carmonenses, quae est 
lange firmissima totius provinciae civiias, per se cohortes ejecit. 

Ein relativpron., welches sich logisch auf ein unbestimmtes subj. 
bezieht, pflegt sich nach dem dazu gehörigen bestimmten prädicat zu 
richten, natürlich dann auch das präd. des pron. So müssen wir im 
deutschen sagen: es war ein mann, der es mir gesagt hat; es sind die 

17* 


260 

besiefi menschen, die dir das raten. Ebenso im franz.: c*est eux qui 
ont bdti. Im franz. richtet sieh dabei auch die person des verbams 
im relativsatz nach dem bestimmten präd.: c^est moi seul qui suis 
coupable. Dagegen nhd.: du bist es, der mich gerettet hat. 

In einem relativsatze tritt das verb. in die erste oder zweite per- 
son im anschloss an das snbj. des regierenden Satzes, wiewol das 
relativpron. sieh auf das präd. bezieht und danach die dritte person 
erfordert würde: lat. non sum ego is consul, qui nefas arbitrer Gracchos 
laudare (Gic); neque tu is es, qui nescias (ib.); engl. 1/ thou beest he, 
who in the happy realms of light didst oulshine mgriads (Milton); / am 
the person, that have had (Goldsmith). Diese constractionsweise könnte 
allerdings anch als contamination anfgefasst werden; in dem letzten 
beispiel hätten sieh also die gedanken „ich bin die person, die gehabt 
hat^ nnd „ich habe gehabt^ mit einander vermischt Das selbe gilt 
von einer flignng wie eine der penibelsten aufgaben, die meiner tätig- 
keit auferlegt werden konnte (statt konnten, Goe.). Damit vgl. man 
allaro bamo betsta thero the io giboran uurdi (Heliand) und secga cbnegum 
pärä pe tirledses trode sceawode (einem der männer, welche des ruhm- 
losen spnr schauten, Beowalf); and so allgemein im altsächsisehen und 
angelsächsischen. 

Das präd. oder attribut kann anstatt mit dem snbj. oder dem 
Worte das es bestimmt, mit einem davon abhängigen genitive eon- 
graieren, vgl. tjX&e d' kjil tpvx^ Stjßalov Teigsalao xqvgeop axrjjtrQor 
sxcov (Hom.); noch auffallender engl, there are eleven days' joumey frm 
Horeb unio Kadishbarnea (Deut. 1, 2). Im franz. sagt man la plupari 
de ses amis r abandonner ent, aber la plupart du peuple voukUt. Wenn 
sonst häufig nach einem coUectivnm mit pluralischem partitiven gen. 
der plur. steht (z. b. eine amahl Soldaten sind angekommen)^ so braucht der 
gen. allerdings nicht als die einzige Ursache fttr den plur. betrachtet za 
werden, da derselbe nach dem coUectivum an sich möglich ist, vgl. s. 224. 

Vereinzelt steht im lat. ein auf eine angeredete person bezügliches 
attribut im voc: quibt4s, Hecior, ab oris exspectate venis? (Virg.). 

An den gegebenen beispielen lässt sich also erkennen, in welcher 
weise die congruenz sich über das ihr ursprünglich zukommende gebiet 
ausgebreitet hat Wir können uns danach eine Vorstellung davon machen, 
wie dieser process sich schon in einer periode vollzogen hat, die weit über 
alle unsere Überlieferung zurückreicht Freilich muss man berücksich- 
tigen, dass flir die älteste epoche die ausbreitung der congruenz nicht 
etwas so unvermeidliches war, weil noch absolute formen ohne flexions- 
suffixe existierten. 

Betrachten wir nun die ersten grundlag en, von denen die con- 
gruenz ausgegangen ist Eine besondere bewandtniss hat es mit der 


261 

coDgraenz des verboms in person und nnmerns. Die verbalformen 
sind ja zumeist durch anlehnong eines Personalpronomens an den 
tempnsstamm entstanden. Wir mttssen jedenfalls eine epoche voraus- 
setzen, in welcher sich substantiva in der gleichen weise mit dem 
stamm verbanden und pronomina auch vor den stamm treten konnten. 
Man konnte daher, um es durch formein zu veranschaulichen, ebenso 
wie gehen ich, gehen du, gehen er etc. auch sagen gehen vaier, vater 
gehm und ich gehen etc. Es gibt verschiedene nichtindogermanische 
sprachen (z. b. das ungarische), in denen die 3. person sg. in gegensatz 
za den übrigen personen eines sufSxes entbehrt In ihnen besteht also 
noch die ursprüngliche art der Verknüpfung nach der formel geheti 
vater oder vater gehen. Die weiterentwickelung geht dann aus von 
einer doppelsetzung des subjects, wozu es auch auf modernen sprach- 
stufen analogieen gibt Vgl der kirchhof er liegt wie am tage, die 
glocke sie donnert ein mächtiges ein*; freilich ist er zu preisen, der 
mann (vgl. oben s. 102); je le sais, moi, il ne voulut pas, lui; toi, tu vivras 
vil et malheureux. Hierher mttssen wir auch die vorwegnähme des 
snbjects durch ein unbestimmtes es ziehen (es genügt ein wort). Die 
doppelte ausdrttckung des pronomens tritt ursprünglich nur ein, wo 
dasselbe besonders hervorgehoben werden soll. Wie dieselbe sich aber 
allraählig ausbreiten kann, besonders durch die lautliche rednction der 
pronominalformen begünstigt, zeigen bairische mundarten, in denen wir 
z. b. folgende häufungen finden : mir hammer {= wir haben wir) oder 
hammer »lir, ess lebts (ihr lebt ihr) oder lebts ess. Es hat sich also 
an den fertigen verbalformen noch einmal der Vorgang widerholt, der 
sich früher an den tempusstämmen vollzogen hat Die enclitisch an- 
gelehnten pronomina sind mit dem verbum verschmolzen und haben 
ihre ursprüngliche subjectsnatur mehr und mehr eingebüsst In der 
indogermanischen grundsprache muss die entwickelung bereits so 
weit gediehen sein, dass die formel vater gehen schon ganz durch 
die formel vater gehen er verdrängt war. Das suffigierte pronomen 
behauptet aber zunächst noch eine zweifache function. In einigen 
fällen dient es noch als subject (lat lego, legii\ in andern zeigt es nur 
durch die congruenz die beziehnng auf das subj. {pater legit, ego scriho). 
In den meisten modernen indogermanischen sprachen ist nur die zweite 
function übrig geblieben. Die hauptursache, welche dazu geführt hat 
die Setzung eines zweiten subjectspronomens allgemein zu machen, 
ist die, dass die suffixe zur Charakterisierung der formen nicht mehr 
ausreichten. Die congruenz des verbalen prädicates mit dem subjecte 
hat übrigens an sich gar keinen wert. Unsere personalendungen würden 
daher ein ganz überflüssiger bailast sein, wenn sie nicht einerseits dazu 
dienten das verbum als solches erkennen zu lassen und anderseits in 


262 

einigen fällen den untersehied des modas anszndrtteken, was aber beides 
sehr nnvoUkommen und in unnötig complieierter weise geleistet wird. 

Was die nominale congruenz betrifft, so ist die des genus und 
numerus jedenfalls zuerst an dem rttckbezttgliehen pron. ausgebildet, 
von welchem ja das grammatische geschlecht seinen Ursprung ge- 
nommen hat (vgl. s. 220). Die congruenz im casus hat sieh zuerst bei 
der apposition eingestellt. Es besteht zwar auch hier an sich keine 
absolute nötigung das casuszeichen doppelt zu setzen.^) Indessen liegt 
es nahe die apposition zu einem Satzteile als eine nochmalige Setzung 
dieses Satzteiles zu fassen. Eine congruenz im gen. und numerus tritt 
bei der apposition auch jetzt nur ein, wo sie durch die natur der 
Sache gefordert wird. Die congruenz des attributiven und prädiea- 
tiven adjectivums kann nur aus der congruenz des appositioaellen and 
prädicativen substantivnms erwachsen sein, d.h. ihre anfange reichen 
zurttck in eine epoche, in welcher sich das adj. noch nicht als eine 
besondere kategorie von der kategorie des substantivnms losgelöst 
hatte. Den ausgangspunkt haben die substantiva gebildet, die man in 
der lateinischen grammatik mobilia nennt, wie coquus — coqua, rex — 
regina etc. Indem solche substantiva in adjectiva ttbei^ngen (vgl. 
unten cap. 20), behielten sie die congruenz bei, und dieselbe ward so 
etwas zum wesen des adjectivums gehöriges. 

Die congruenz im tempus, die sogenannte oonsecutio tempomm 
hat sich im allgemeinen nicht ttber das gebiet hinaus aasgedehnt, 
welches ihr von anfang an zukommt. Die ausnahmen von den darttber 
aufgestellten regeln zeigen, dass ftir das tempus im abhängigen satze 
nicht eigentlich das des regierenden massgebend ist, sondern dass es 
sich selbständig aus inneren gründen bestimmt Etwas weiter ausge- 
dehnt ist schon die congruenz des modus, die dann zuweilen auch 
die des tempus nach sich zieht Vgl. lat fanium vertat error, ut, Cor- 
pora cremata cum scirent, tarnen ea fieri apud inferos fingereni, quae 
sine corporibus nee fieri possent nee intdligi (statt possunt, Cic); in- 
vitus feci, ut fortissimi viri T. Fiammii fratrem e senaiu eßcerem septm 
annis postquam consul fuisset {ftierat, Cic); cum timidius ageret, quam 
superioribtis diebus consuesset (Gaes.)^) Ziemlich durchgehend ist die 
angleichung des modus im mhd. 

^) Wir sehen das namentlich daran, dass in einer jüngeren epoche bei be- 
sonders enger Verbindung das princip der congruenz wider aufgegeben und die 
flexion des ersten bestandteils fortgelassen ist; vgl. mhd. des künic Guntheres ttp, 
an küncc Ärtüses hove; nhd. Friedrich Schülers, des herm Müller (bei Goe. noch 
des herm Carlyle's) etc. H. Sachs sagt sogar herr Achilli, dem ritter. 

«) Vgl Draeger 151, 5. 


Cap. XVIII. 

Sparsamkeit im ausdrucke 

Die sparsamere oder reichlichere Verwendung sprachlicher mittel 
fllr den ansdruck eines gedankens hängt vom bedttrfniss ab. Es 
kann zwar nicht geläugnet werden, dass mit diesen mittein anch viel- 
fach laxus getrieben wird. Aber im grossen und ganzen geht doch 
ein gewisser haushälterischer zug durch die Sprechtätigkeit. Es mttssen 
sich überall ausdrucksweisen herausbilden, die nur gerade sa viel ent- 
halten, als die Verständlichkeit für den hörenden erfordert. Das mass 
der angewendeten mittel richtet sich nach der Situation, nach der vor- 
ausgehenden Unterhaltung, der grösseren oder geringeren ttbereinstim- 
mung in der geistigen disposition der sich unterhaltenden. Es kann 
anter bestimmten Voraussetzungen etwas durch ein wort dem angeredeten 
gerade so deutlich mitgeteilt werden, als es unter anderen umständen 
erst durch einen langen satz möglich ist. Nimmt man diejenige aus- 
drueksform zum massstabe, die alles das enthält, was erforderlich ist, 
damit ein gedanke unter allen umständen fttr jeden verständlich werde, 
so erscheinen die daneben angewendeten formen als unvollständig. 

Es begreift sich daher, dass die sogenannte ellipse bei den 
grammatikem eine grosse rolle gespielt hat. Misst mann allemal den 
knapperen ausdruck an dem daneben möglichen umständlicheren, so 
kann man mit der annähme von ellipsen fast ins unbegränzte gehen. 
Bekannt ist der missbrauch, der damit im 16. und 17. Jahrhundert ge- 
trieben ist. Indessen war dieser missbrauch doch nur die weiter 
gehende durchftthrung von anschauungen, die auch' jetzt noch in 
unseren grammatiken vertreten sind. Es gilt diesen massstab auf- 
zugeben und jede ausdrucksform nach ihrer entstehung ohne hinein- 
tragnng von etwas fremdem zu begreifen. Man wird dann die an- 
setzung von ellipsen auf ein minimum einschränken. Oder aber man 
mttsste den begriff der ellipse in viel ausgedehnterem masse anwenden, 
als es jetzt ttblich ist: man mttsste zugeben, dass es zum wesen des 
sprachlichen ansdrucks gehört elliptisch zu sein, niemals dem vollen 
inhalt des vorgestellten adäquat, so dass also in bezug auf ellipse 


264 

nur ein gradnnterscbied zwischen den verschiedenen ansdracksweisen 
besteht 

Wir betrachten zunächst die ergänznng eines Wortes oder einer 
wortgruppe aus dem vorhergehenden oder folgenden. Hier kann 
zunächst die frage aufgeworfen werden, ob und wieweit man über- 
haupt berechtigt ist von einer ergänzung zu reden. Wir haben oben 
s. 111 gesehen, dass ein Satzteil mehrfach gesetzt werden kann. Die 
ttbrigen demente des Satzes haben dann gleichmässig beziehung zn 
dem einen wie zu dem andern. Man wird schwerlich f&r alle fälle 
behaupten, dass diese eigentlich doppelt gesetzt werden mttssten, dass 
sie einmal wirklich gesetzt, ein; zweites (drittes, viertes) mal zn er- 
gänzen seien. Am wenigsten anwendbar ist der begriff der ergänzung 
bei der constrnction djto xoivov. Aber auch in einem satze wie er 
sah mich und erschrak wird man nicht nötig finden er bei erschrak 
noch einmal zu ergänzen; und ebenso wenig wird man in der Ver- 
bindung mit furcht und hoffnung die präp. vor hoffnung ergänzt sein 
lassen, weil man auch sagen kann mit furcht und mit hoffnung. Es 
fragt sich aber, ob man nicht den begriff der ergänzung ganz fallen 
lassen und dafür die einmalige Setzung mit mehrfacher beziehung snb- 
stituieren kann. Man muss dazu nur aufhören das, was man gewöhn- 
lich einen satz nennt, als eine in sich geschlossene einheit zu be- 
trachten, und ihn vielmehr als glied einer fortlaufenden reihe ansehen. 

Gebräuchlich ist es eine ergänzung anzunehmen in fällen wie die 
deutsche und die französische spräche und noch entschiedener fttr die 
form die deutsche spräche und die französische, Dass wir aber auch 
hier nichts anderes haben, als zwei glieder, die in dem nämlichen ver- 
hältniss zn einem dritten stehen, zeigt der umstand, dass wir zwar 
nicht im deutschen, wol aber in anderen sprachen dergleichen sprech- 
formen mit anderen vertauschen können, wobei die beiden glieder zn 
einer einheit zusammengefasst zu dem dritten (oder richtiger jetzt zwei- 
ten) gUede gestellt werden. Dies bekundet sich durch die anwendung 
des plurals. Man sagt z. b. quarta et Martia legiones (neben legio 
Martia quattaque, beides bei Cic), Falernwn et Capanum agros (var. 
agrum Liv.), it. le lingue greca e IcUina (neben la linguä greca e latina\ 
franz. les langues franpaise et allemande, les onzieme et douzieme sieäeSf 
engl, the german and french languages. 

£in ähnliches verhältniss haben wir da. wo zu einem gemein- 
samen gliede eine mehrheit von einander coiTCspondierenden gliedern 
hinzutritt {Karl schreibt gut, Fritz schlecht). Dass auch hier die ttb- 
liche annähme einer ergänzung überflüssig, ja unzulässig ist, zeigt 
wider die in manchen sprachen vorkommende Setzung des prädicats 
in den plur., vgl, lat. Palatium Romtäus, Remus Aventinum ad inauguran- 


265 

dum templa capiunt (Liv.); dementsprechend auch beim abl abs.: ille 
AnUocho, hie Mithridate pulsis (Tae.). Selbst bei disjanction der snb- 
jeete ist der plnr. des prädicates in versehiedenen sprachen neben dem 
sing, in gebrauch: vgl lat. si quid Socraies aut Aristippus contra morem 
cotisuetadinemque civilem fecerint locui'we sini (Gic); haec si neqae ego 
neque tu fecimus (Cic); Roma an Carlhago jura gentibtts darmt (Liv.); 
franz. ou la honte ou foccasion le detromperont\ ni la douceur, ni lä 
force riy peuvent rien\ engl, nor rvood, nor tree, nor bush are there 
(Scott) Dieser plnr. ist jedenfalls von solchen fällen ausgegangen, in 
denen ohne wesentliche Veränderung des sinnes vertansehnng mit copa- 
lativer Verbindung möglich war, und hat sich dann analogisch auch 
auf solche ausgedehnt, die keine vertauschung zulassen. Er ist ein 
beweis daflir, dass das Sprachgefühl sich das einmal gesetzte prädicat 
nicht doppelt gesetzt gedacht hat. 

Ein gemeinsam zu haupt- und nebensatz gehöriger (respective 
in dem einen zu ergänzender) Satzteil findet sich bei der s. 114 be- 
sprochenen art des cato xoivov und auch bei relativsätzen, die auf 
andere weise entstanden sind, z. b. den lateinischen {qui tacei consentit). 
Ferner im mhd., wenn ein eonjunctionsloser nebensatz im verhältniss 
des objects zu dem regierenden steht: da wände ich stcote ßnde (Minne- 
singer), h er sprach tvere intrunnin (Rother). Seltener sind andere fälle : 
nune weiz ich wie es beginne (Tristan); wes er im gedähte daz ettiu diu 
wolde bedwingen (j. Judith); mUthiu ther heilant gisah thio menigi steig 
u/an berg (Fragm. theot.); kern einer her mit dem opfer, brecht auch 
vil golts darvon (H. Sachs); da ihn die schöne fraw erblicket, winckt 
ihm (ib.); was ich da träumend jauchzt und lilt^ micss wachend nun er- 
fahren (Goe.); dass, indem er ihn gesegnete, ihm gebot und sprach (Lu.). 

Sehr gewöhnlich werden in der wechselrede worte des einen 
vom anderen nicht widerholt. Doch darf man das nicht als argument 
dafär geltend machen, dass eine ergänzung anzunehmen notwendig sei. 
Denn auch die wechselrede muss als etwas continuierlich zusammen- 
hangendes betrachtet werden. 

Als eine starke anomaUe erscheint es uns jetzt, wenn ein Satz- 
glied nicht zwei sich an einander anschliessenden Sätzen gemein ist, 
sondern zwei durch einen dritten getrennten, vgl. swaz er den künic e 
geschalt, des wart ir zehenstunt mir, und (er) Jach, si waere gar ze 
her (Wolfram); wer mit wölfen wil geulen, der muss auch mit in heulen, 
sunst tun sie sich bald meiden und (er) ist hei in unwert (H. Sachs). 
Ebenso, wenn die Sätze, denen das glied gemeinsam ist, sich zwar an 
einander anschliessen, 'aber keine directe beziehung zu einander haben, 
vgl. sd ist geschehen des ir da gert und woenent (ihr meint), mir d wol 
geschehen (Hartmann v. Aue). 


266 

Das gemeinsame glied kann zwischen den nicht gemeinsamen 
stehen, so dass es sich zn einem jeden gleich bequem fttgt {axo 
xoipovy, oder es steht am anfang oder schlnss des ganzen: dann ist 
es zwar dem einen näher, aber immer noch leicht zn dem andern zu 
ziehen; oder endlich es ist in eine von den wortgruppen, auf die en 
gleichmässig zu beziehen ist, eingefügt: dann erseheint es zunächst nur 
zu dieser gehörig. Uns sind solche einfttgungen nur in der ersten 
grnppe geläufig. Hierbei hat die annähme einer ergänznng in der 
zweiten (dritten etc.) gruppe am meisten für sich. Im mhd. ist ein- 
fttgung in die zweite nicht ganz selten: mäge und mne man (meine 
verwandten und meine lehensleute); gelucke und Sifrides heil; daz ich 
muoz und sterben soL Beispiele aus dem nhd«: nicht sonne, mond und 
Sternenschein, mir glänzte nur mein kind (Bürger); es beU und wüte, wie 
der hund auch immer will (Heinr. Alberts arien). Vgl. ii: // mar Iran- 
quUlo e Vaura era soave (Petrarca); non pur per Varia gemiti e sospiri, 
ma Volon braccia e spalte (Ariost); afranz.: Breton Vensaigne lor signor 
(das feldgeschrei ihres herm) e li Romain crient la lor; griech. oiu 
ßof/iog ovr jbtoXXfovoq öo/iog öoiaei os (Eur.). Bei dieser fftgang 
kann wider von einer ergänznng eigentlich nicht die rede sein. Viel- 
mehr bleibt die erste gruppe unvollständig, bis das gemeinsame glied 
ausgesprochen ist, welches dann in diesem augenbUeke zugleich zur 
Vervollständigung der ersten und der zweiten gruppe dient 

Die function, welche ein gemeinsames glied hat, ist oft nicht 
nach den verschiedenen Seiten hin die gleiche. Hierdurch entsteht 
ein missverhältniss, indem sich das glied in seiner grammatischen form 
nur nach einer seite richten kann. Die scheu vor diesem missverhält- 
niss, welches sich durch widerholung vermeiden lässt, ist in den ver- 
schiedenen sprachen und perioden eine sehr verschiedene. 

Am unanstössigsten ist überall nichtttbereinstimmung in der ge- 
forderten person (auch numerus) des verbums. Vgl. er hat mich eben 
so lieb wie du; du glaubst es, ich nicht; sie reisen morgen ab — ich 
auch. Als abnormität aber erscheint es uns, wenn das gemeinsame 
glied sich nach dem zweiten teile richtet, vgl. avtdg fihv vömg, eym 
öe olvov 3tlv(o (Dem.); dass ich im vater und der vater in mir ist (Ln.); 
non socii in fide^ non exercitus in officio mansit (Liv.). Die differenz 
des tempus ist unberttcksiehtigt in folgenden beispielen: ^/letg ofiotoi 
xai TOTS xai vvv kögiev (Thuc); äXXa fihv JtQotsQov, aXXa 6b vvv jcsiga 
XayBiv (Xen.); die differenz von tempus und modus zugleich in folgen- 
dem: e:n6LÖri ov rote, dXXa vvv 6tt§ov (Dem.). Eine ziemlich gewöhn- 
liche erscheinung ist es wider ^ dass der inf. aus einem verb. fin. zu 
entnehmen ist: er hat gehandelt, wie er musste; noch firei^ im mhd. 
nach der ndn herze ie ranc und iemer muoz; griech. xccpv ^^a^jreog ex(x>, 


267 

olfiai 08 xäi vfiäv rovg jtoXXovg (Plato). Seltener ist so ein part. zu 
entnehmen, vgl. mhd. daz diu mmn dich verleitet, als sl manegen hat. 
Einnnddieselbe form fangiert im dentsehen zuweilen als inf und als 
part: ich habe es nicht und werde es nicht vergessen (Klopstock); vgl. 
weitere beispiele bei Andr. Spraehg. s. 138. H. Sachs sagt zu ehren sein 
wir zu euch kumen, ein histari vns für genumen, wiewol von dem zwei- 
ten verbum das perf. hätte durch haben umschrieben werden müssen. 
Bei den nomina sind dergleichen incongruenzen in der jetzigen 
spräche fast durchweg verpönt, erscheinen aber in der älteren spräche 
häufig, zumal im sechszehnten Jahrhundert, zum teil auch noch bis in 
unser Jahrhundert, und finden sich auch in anderen sprachen reichlich. 
So congruiert das adj. nur mit dem nächststehenden von zwei copu- 
lativ verbundenen Substantiven: aus meinem grossen kummer und traurig- 
keit (Lu.), van eurer saat und Weinbergen (Lu.), sein sonstiger ernst und 
trockenheit (Goe.), seiner gewöhnlichen irockenheit und ernst (ib.); viele 
beispiele bei Andr. Spraehg. 127 ff.; franz. un homme ou une femme noyee\ 
ii in publica utilitä ed onore, le citäed i villagi magnifichi; span. toda 
sa parentela y criados, la multitud y dolor, los pensiamentos y memorias, 
un pabellon o tienda; lat urbem ac portum validum (Liv.). Zu mehreren 
Präpositionen, die verschiedene casus regieren, wird ein wort nur ein- 
mal gesetzt ohne anstand, wenn die verschiedenen casus lautlich ttber- 
einstimmen, z. b. mit und ohne kost; aber auch bei nichtübereinstimmung, 
z. b. um und neben dem hochaltare (6oe.), durch und mittelst der spräche 
(Herder); weitere beispiele bei Andr. Spraehg. s. 128. Ebenso kann 
auch neben mehreren verben die nämliche form mehrere casus reprä- 
sentieren, vgl. lat quod t actum est et ille adjunxit (Cic); quae neqiie ego 
teneo neque sunt ejus generis (ib.); nhd. was geschieht und ich nicht hin- 
dern kann (Le.); eine dose, die er mit 80 gülden bezahlt hätte und nur 
40 wert wäre (6oe.)*); womit uns für die zükunft der himmel schmeicheln 
und bedrohen kann (Goe.); bei dessen gebrauch wir einander mehr 
schmeicheln als verletzen (Goe.)^); leidlicher wer mir vnd het auch lieber 
das drey oder vierteglich fteber (H. Sachs); bei zwischenstellnng vnd 
wissen nit jr widervart mag offt lang haben nit mehr fug (H. Sachs). 
Selbst ein von einer präp. abhängiges wort wird zugleich zum subj. 
des folgenden verbums gemacht: dan leszt er uns für tragen schon das 
heilig euangelion durch sein heilige junger, deuten all christlich pre- 
diger (H. Sachs); von ritter Cainis ich lasz het lieb fraw Gardeleye (ib.). 
Die freiheit wird auch auf solche fälle ausgedehnt, wo eigentlich formen 
von verschiedener lautgestaltung verlangt würden. Namentlich fungiert 


^) Vgl. Andrs. Spraehg. s. 129. 130, 
«) Vgl. ib. 8. 133. 


268 

ein obliquer casus zugleich als subj. zu. einem folgenden verb. So bei 
asyndetischer nebeneinanderstellung: Hess der bischoff die seinen über 
das her laufen, erstachen der etlich (Wiltwolt von Schaumburg, 1507); 
mit Zwischenstellung ich war selb bei dieser hmidiung, gschach e du 
warst geborn (H. Sachs). Ebenso bei Verbindung durch und: sehr häufig 
im mhd., vgl. ez möhte uns wol gelingen und brtehten dir die /rouwen; 
aber auch noch nhd., vgl. er setzte sich auf einen jeglichen unter 
ihnen und wurden alle voll des heiligen geistes (Lu.); den es krenke 
meinelhalben und meinen ohren offenbare (Lu.); atAch dem, der sie ver- 
folgt, und fleht und schenkt und schwöret, wird kaum ein blick gegönnt, 
und wird nur halb gehöret (Le.). Bei Verbindung durch wan (= denn): 
thut euch bedenken, wan wisset selber Je gar wol (H. Sachs). Auch zu 
der oben s. 265 bezeichenten anomalie kann noch incongruenz hinzu- 
treten, vgl. belibe ich äne man bi iu zwei jär oder driu, s6 ist min herre 
lihte tot und kument (kommt ihr) in s6 grdze not (Hartmann v« Aue). 
Beispiele bei djio xoivov mit logischer Unterordnung sind schon oben 
s. 114 und s. 115 gegeben. Im lat. kann auch ein nom. einen acc. 
mit vertreten: qui fatetur . . et . , non timeo (Cic); ein dat. einen acc: 
cui fidem habent et bene rebus suis consulere arbitrantur (ib.). Es kann 
auch ein possessivpron. das betreffende personalpron. mitvertreten: ja 
was ez ie din siie unde hast mir da mite gemachet manege sweere (Hart- 
mann V.Aue); alsobald stunden seine sckenkel und knöchel feste, sprang 
auf (Lu.). Oder ein da, welches mit einem adv. verbunden ist, das 
demonstrativpron,: da mite so müezeget der muot und (das) ist dem Rbe 
ein michel guot (Gottfrid v. Strassburg). Endlich können zwei ver- 
schiedenartige Satzteile zusammengefasst das subject zu einem folgen- 
den verb. bilden, vgl. da vuorte si in bi der hant und säzen zuo ein- 
ander nider (Hartmann v. Aue); do nam daz Constantinis wib ir 
tochter^ die was herHch, unde bätin Dietheriche (Rother); wie herzog 
Jason war dt verbrandt von Medea also genandt; hetten doch vor viel 
zeit vertrieben (H. Sachs); so hertzlieb von hertzlieb musz scheiden vnd 
gentzlich kein hoffnung mehr handt (ib.). 

Wir haben in cap. 16 gesehen, dass zwei hauptbegriffe durch ein 
oder mehrere mittelglieder verknüpft sein können, welche die art 
der Verknüpfung genauer bestimmen, sei es dass dieses verhältniss zu- 
gleich psychologisch und grammatisch ist, oder dass es rein psycho- 
logisch ist und sich mit der grammatischen verknüpfungsweise nicht 
deckt. Da nun häufig daneben ausdrucksweisen vorkommen, welche 
solcher mittelglieder entraten, so ist man leicht geneigt diese für ellip- 
tisch zu erklären. Diese anschauung ist für viele fälle durchaus zu- 
rückzuweisen. Wenn man z. b. statt Hectoris Andromache und Caeciiia 
Met ein genauer sagen könnte Andromache uxor Hectoris und Caeciiia 


269 

ftiia Met ein so folgt daraus doch nicht, dass bei den ktii-zeren ans- 
drucksweisen die formen uxor oder filia zu ergänzen sind, sondern sie 
erklären sich ohne solchen behelf ans der allgemeinen fanction des 
genitiys, und wer hier eine ellipse annimmt, mnss conseqnenterweise 
mit den grammatikern des sechzehnten Jahrhunderts bei jedem genitiv 
eine ellipse annehmen. Daneben finden sieh aber solche ausdrucks- 
formen, fttr welche der bezeichnung elliptiseh eine gewisse bereeh- 
tigang nicht abzusprechen ist, insofern sie auf grund vollständigerer 
ansdrncksweisen entstanden sind, bei denen aber darum doch nicht 
die auslassung eines bestimmten Wortes anzunehmen ist. 

Richtungsbezeichnungen sind gewiss ursprünglich nur neben verben 
der bewegung entwickelt. Man findet nun öfters eine richtung ange- 
geben neben verben, die bereiten oder dergl. bedeuten, vgl. mhd. sich 
bereite von dem lande vil manic ritter slarc (Nibelungenlied), wir siiln 
ouch uns bereiten heim in mniu lant (ib.); d6 säumte man (lud man auf) 
den degenen von dannen wäfen und gewani (ib. C); dt sich gegarwet häten 
ze sirite üf daz velt (Alphart); dö vazte sich der herzöge in des kuniges 
kof (da rüstete sich der herzog, um an den hof des königs zu ziehen; 
Kaiserehronik, und so öfter in diesem denkmal); vgl. griech. q>avBQ6g 
^v olxaös jtaQaöxtva^ofievog (Xen.); ähnlich sxiXsvcav im xa ojiXa 
(ib.).)) Ebenso bei mhd. rümen: heiz inz rümen von dan (Hartmann 
V. Aue), ich rüme dir daz riche von hinnen vlühticliche (Rudolf v. Ems). 
Vgl. ferner griech. ixkaLneiv rtfV jtoXiv elg xo[>qIov. Es ist nicht an- 
zunehmen, dass bei solchen Wendungen dem sprechenden etwa der 
nicht ausgesprochene inf eines bestimmten verbnms wie gehen, reiten 
oder dergl. vorgeschwebt hat Vielmehr ist der psychologische pro- 
eess, dem z. b. die Wendung ütaQacxBvaC^eöd-ai olxaös ihre entstehung 
verdankt, folgender. Es schweben zunächst die beiden begriffe des 
sieh bereitens und des räumlichen zieles, um dessen vnllen man sich 
bereitet, vor und verbinden sich direct mit einander als psychologisches 
sabj. und präd. Indem man aber von Sätzen her wie jtoQevovrai olxaös 
oder jtaQaöxsva^ovtai olxaös jtoQsvsöd-at die gewohnheit hat das 
räumliche ziel in einer bestimmten form auszudrücken, wendet man 
diese form auch hier an. Es wirkt also zweierlei zusammen: einer- 
seits die schon vor der entstehung aller formellen demente der spräche 
vorhandene und immerdar bleibende fähigkeit, die beziehung, in welche 


1) Indem solche Verbindungen gewohnfaeitsmässig werden, kann sich die auf- 
fassung von der bedeutung des verbums verschieben, indem die bewegung in einer 
bestimmten richtung als mit dazu gehörig angesehen und schliesslich zur haupt- 
sache wird. So ist nhd. schicken ursprünglich „ziirecht machen", reise ursprünglich 
„aufbnich", aufbrechen ursprünglich das gegenteil von nvfschlagen (nämlich das 
lager). 


270 

zwei begriife im bewnsstsein zu einaDder getreten sind, mag dieselbe 
nun eine unmittelbar gegebene oder eine dareh andere begriffe ver- 
mittelte sein, dmreb nebeneinanderstellnng der bezeiehnngen flir diese 
begriffe auszudrucken; anderseits die analogie der entwickelten aus- 
dmcksformen. 

Das nämliche verhältniss findet noch in sehr vielen anderen 
fällen statt. Es gehören hierher viele der in cap. 6 besprochenen 
ausdrucksformen, wie scherz bei seiie, wer da? etc. Nachdem einmal 
die meisten Wörter formelle demente in sich aufgenommen hatten, 
konnte die eben bezeichente und in cap. 6 näher erörterte fähigkeit 
sich gar nicht anders äussern, als indem zugleich die bedeutnng dieser 
formalen demente zur geltung kam. Wir betrachten jetzt noch einige 
weitere hierher gehörige constructionsweisen, die gewöhnlich fttr ellip- 
tisch angesehen werden. 

Den schon besprochenen zunächst stehen richtungsbezeichnungen 
nach den verben können, mögen, sollen, wollen^ dürfen, müssen, lassen, 
z. b. ich mag nicht nach hause, ich lasse dich nicht fort. Diese sind 
so usuell geworden, dass sie vom Standpunkte des gegenwärtigen 
sprachgeflihles aus in keinem sinne als elliptisch bezeichent werden 
können. Femer Wendungen wie er ist weg^ er ist nach Rom, die nicht 
anders aufzufassen sind wie er ist in Rom, d. h. weg und nach 
Rom sind als prädicate zu nehmen, ist als copula. Zu vei^leichen 
sind lateinische constructionen wie quanäo cogitas Romam? (Gig,), ipsest 
quem volui obviam (von dem ich wollte, dass er mir entgegen gehen 
sollte, Ter.), puto utrumque ad aqtuis (Cic). 

Wenn wir sagen ich möchte dich nicht anders, als du bist, so wird 
man das schwerlich aus einer ellipse von haben erklären wollen. 
Näher würde anders sein liegen; aber durch einfttgung von sein be- 
käme man eine undeutsche construction. So wenig aber hier ein sein 
ergänzt werden darf, so wenig muss ein sein hinzugedacht werden bei 
lat. Strato physicum se voluit (Cic). 

Im lat. findet sich zuweilen zu einem subjectsnominativ ein aec. 
gesetzt ohne verbum: sits Minervam, fortes fortvna, manus mamm, dii 
meliora; quae cum dixisset, Cotta finem (Cic); ego si litteras tuas (ib.); 
quid tu mihi testis? Diese constructionen werden dadurch nicht er- 
klärt, dass man ein verb. angibt, welches als ergänzung hinzugefügt 
werden müsse. Vielmehr muss man sagen: es sind hier zwei begriffe 
darum in der form des nom. und acc. mit einander verknüpft, weil 
sie in dem selben verhältniss zu einander stehen, wie in einem voll- 
ständigeren satze subject und objeci Entsprechend aufzufassen ist die 
unmittelbare Verbindung eines subjectsnominativs mit einer präpositio- 
neilen bestimmung oder einem adv., vgl. itaque ad tempus ad Pisones 


271 

mnes (Gie.), hoec hactenus (wo hasc freilich auch als acc. gefasst wer> 
den könnte), an tu id ntelius? (Cic), ne quid fernere, ne quid crudeliter 
(Cic); Tovra (ihv oiv 6rj ovroog (Plato). Dafllr gibt es auch im deut- 
gehen analogieen: in lebhafter erzählung sagt man ich rasch hinaus, 
ich hinterher u. tlergl.; vgl. der graf nun so eilig zum tore hinaus (6oe.); 
der Sultan gleich dem tone nach (Wieland). 

In entsprechender weise verbindet sieh ein nebensatz mit einem 
regierenden satze direct, der bei vollständigerem ausdrnck des ge- 
dankens durch vermittelung eines andern nebensatzes oder eines Satz- 
gliedes angeknüpft werden mttsste. Diese verknttpfungsweise kann 
dann auch wider usuell werden, so dass man nichts mehr vermisst. 
Vgl wie Lavater sich hiebei benommen^ sei nur ein beispiel gegeben 
(Goe.), wo wir von unserem Sprachgefühle aus ein daßr vermissen; 
nnd fragst du mich nach diesen beiden schätzen: der lorbeer ist es und 
die gunst der frauen (Goe.); dass ichs dir gestehe, da ergriff ihn mein 
gemüt (Goe.); besuche deine brüder^ obs ihnen wohl gehe (Lu.). Hierher 
gehören auch Wendungen wie was das anbetrifft, was^ ich davon weiss 
n. dergl., die in den verschiedensten sprachen analogieen haben. Ent- 
sprechend verhalten sich infinitivische Wendungen wie die Wahrheit zu 
sagen, es kurz zu sagen, um nur eins anzuführen^ um von allem übrigen 
zu schweigen; femer kurz (ich weiss es nicht), mit einem worte, gerade 
heraus, beiläufig, a propos. 

Eine ergänzung aus der Situation findet statt, wenn statt 
eines snbstantivums mit einer dazu gehörigen bestimmung bloss die 
letztere gesetzt wird. Hierher gehört nicht etwa der gute als bezeich- 
nong für jede beliebige gute person oder das gute als bezeichnung für 
jedes beliebige gute ding. Dabei findet keinerlei art von ellipse statt. 
Der begriff der person, eventuell der männlichen person und der der 
Sache sind durch das geschlecht des artikels bezeichnet. Wir haben 
es hier nur mit den fällen zu tun, in denen eine beziehung auf einen 
specielleren begriff stattfindet; vgl. rechte, linke (band); cälida, frigida 
(aqua) ; alter, neuer, süsser, Burgunder, Champagner etc., axQarog (wein); 
agnina, caprina (caro); Appia (via); aestiva, hibema (castra); natalis 
(dies); quarta, nona (hora); r^ vcrsgala, r^ '^qI^] {^(iig^); octingen- 
tesimo post Romam conditam (anno); decima (pars); loviog (xokjtog); 
M6vöiX9j etc. (rix^rf); ahd. frenkisga (zunga). Wenn man hier eine 
ellipse annehmen will, so ist nicht viel dagegen einzuwenden. Nur 
muss man sich klar machen, dass eine entsprechende ergänzung aus 
der Situation, wie wir in cap. 4 gesehen haben, auch in sehr vielen 
anderen fällen stattfindet, wo es uns nicht einfällt eine ellipse zu sta- 
tuieren. Wenn wir unter der alte alten wein verstehen, so beruht das 
auf der selben unterläge, als wenn wir darunter nicht jeden beliebigen 


272 

alten mann verstehen, sondern einen, den wir gerade vor nns haben 
oder von dem eben gesprochen ist. In den aufgeführten fällen ist die 
besondere Verwendung des adj. schon mehr oder weniger usuell ge- 
worden. Je fester der usus geworden ist, um so weniger ist zum ver- 
ständniss die Unterstützung durch die Situation erforderlich. So werden 
die bezeichnungen alter, neuer wol nur im weinhause, beim weinhandel 
oder, wo sonst schon irgendwie die aufmerksamkeit auf wein gelenkt 
ist, von diesem verstanden und sind überhaupt nur in weinbauenden 
gegenden ttblieh; dagegen Champagner wird ohne alle besondere dis- 
position viel eher auf die bestimmte weinsorte als auf einen einwohner 
der Champagne bezogen. Sobald nun die Unterstützung durch die 
Situation fUr das verständniss entbehrlich ist, so ist auch das wort nicht 
mehr als ein adj. zu betrachten, sondern als ein wirkliches substantivnm, 
und es kann dann von einer ellipse in keinem sinne mehr die rede sein. 

Eine ganz entsprechende entwickelung begegnet uns auch bei 
genitivischen bestimmungen. Vgl. lat. ad Martis, ad Dianae (templam); 
ex Apollodori (libro); de Gracchi apud censares (prAÜOTie)\ franz. lasaml 
Pierre (fete). Im deutschen sind die festbezeichnungen Michaelis^ 
Johatmis, Martini etc. und die Ortsbezeichnungen St. Gallen, St. Georgen, 
St. Märgen vollkommen selbständig geworden und werden nicht mehr als 
ergänzungsbedttrftig und daher auch nicht mehr als genitive empfunden. 

In den besprochenen fällen erhält ein Satzglied Vervollständigung 
seines sinnes aus der Situation. Es kann aber auch ein Satzglied, es 
kann das psychologische subject oder prädicat ganz und gar der 
Situation entnommen werden. Hierher gehören die oben s. 104 be- 
sprochenen scheinbar eingliedrigen sätze, wie /"euer, diebe etc. Auch 
auf die form dieser kann die analogie der vollständigeren Sätze in der 
beschriebenen weise einwirken. Sagt man z. b. in drohendem tone ab- 
wehrend keinen schritt weiter, so ist nur das psychologische präd. 
ausgesprochen, als subj. wird die person verstanden, an welche die 
Warnung gerichtet ist Dass aber das erstere in den acc. tritt, hat die 
gleiche Ursache wie bei den Sätzen von der form Cotta ftnem. Das 
gleiche gilt von Sätzen wie guten tag, schönen dank, herzlichen glück- 
wünsch u. dergL In föUen wie glückliche reise, keine umstände, viel 
glück und vielen andern gibt die form keine Sicherheit darüber, ob 
der acc. gemeint ist In einem satze wie manum de tabula lässt sich 
manum als psychologisches subj. de tabula als präd. auffassen, aber 
der acc manum zeigt, dass auch hierzu wider ein subject aus der Situ- 
ation zu entnehmen und dass das verhältniss zu demselben nach der 
analogie des objects zum subject gedacht ist. Ebenso verhält es sich 
mit ultro istum a me (Plaut.), ex ungue leonem = Ig ovvxcov Xiovta, 
malam Uli pestem (Cic.) etc. Aus dem deutschen gehören hierher sätze 


273 

wie dm köpf in die höhe und danach auch wol solche wie gewehr auf, 
scherz hei seite, davon ein ander mal mehr, wenn auch die lautform 
den ace. nicht erkennen lässt. Auch andere casus, präpositionelle be- 
Stimmungen und adverbia können so gebraucht werden, wie schon die 
angeführten beispiele zeigen; vgl. noch sed de hoc alio loco pluribus 
(Cic), de conjectiura hacienus, nitnis iracunde. 

Zuweilen ist auch das psychologische prädicat aus der Situation 
zn entnehmen, wobei der tonfaU, mienen und gebährdeu die Verständ- 
lichkeit unterstützen können. So z. b. bei unterdrückten drohungen: 
ich will {dich)^ vgl. das bekannte Yirgilische quos ego. Hierher ge- 
boren ausdrücke der Verwunderung oder entrttstung oder des bedauems, 
die nur den gegenständ angeben, über den man sich verwundert oder 
entrüstet oder den man bedauert. Das prädicat wird dabei haupt- 
säehlich durch den gefühlston angedeutet. Vgl snbjectsnominative 
wie dieaer kerl, diese fiUle, der unglückliche, ich armer etc. Ferner 
Infinitive wie so lange zu schlafen, so ein schuft zu sein; lat. tantamne 
rem tarn negligenter agere (Terenz), non puduisse verberare hominem 
senem (ib.); acc. c inf.: te nunc sie vexari, sie jacere, idque fieri mea 
culpa (Cic.) ; vgL Draeg. § 154, 3. 

Auf die nämliche weise erklären sich auch isolierte sätze, die 
die form des abhängigen Satzes haben. Sie sind ursprünglich 
entweder psychologische subjecte oder prädicate, wozu der correspon- 
dierende satzteil aus der Situation verstanden wird, können aber durch 
usuelle Verwendung allmählig den Charakter von selbständigen haupt- 
sätzen erlangen. Ursprüngliche subjecte sind wie die oben angeführten 
ausdrücke der Verwunderung und des bedauems auch solche, die mit 
der conjunction dass eingeführt werden: dass du gar nicht müde wirst! 
dass mir das begegnen muss! dass dir auch so wenig zu helfen ist! 
Femer bedingungssätze als drohungen: wenn er mir in den wurf 
kommt — , ertappe ich ihn nur — ; lat verbum si adderis (Terenz). Be- 
dingungssätze als Wunschsätze: wäre ich erst da! wenn er doch käfne! 
Bedingungssätze, für die man keinen nachsatz zu finden weiss : wenn du 
noch nicht überzeugt bist, weim er aber nicht kommt; lat. si quidem istuc 
impune habueris (Terenz). Bedingungssätze als abweisungen einer be- 
hauptung oder Zumutung, die aus unkenntniss der wahren Verhält- 
nisse gemacht wird: wenn du in mein herz sehen könntest; wenn du 
wüsstesty wie leid es mir tut. Ursprüngliche prädicate oder nach der 
grammatischen form objecto sind wünsch- und anfforderangssätze, mit 
dass eingeleitet: dass ich doch dabei sein könnte; nhd. daz si schiere 
got gehoßne; franz. que faule h son secours ou que Je meure; it. che tu 
sia nuUedetto und so in allen romanischen sprachen. 


Paul, Principien. II. Auflage. 18 


Cap. XIX. 

Entstehung der wortblldnng nnd fliexion* 

Wir haben uns vielfach mit der analogisehen nenschöpfnng auf 
dem gebiete der Wortbildung und flexion beschäftigt. Wir müssen 
jetzt die ursprüngliche, nichtanalogische Schöpfung auf diesem gebiete 
ins äuge fassen. Dieselbe ist nicht etwas primäres wie die einfachsten 
syntaktischen Verbindungen, sondern erst etwas secundäres, langsam 
entwickeltes. Es gibt, soviel ich sehe, nur drei mittel, durch die ans 
blossen einzelnen in keiner inneren beziehung zu einander stehenden 
Wörtern sich etymologische wortgruppen herausbilden. Das eine ist 
lautdifferenzierung, auf die eine bedeutungsdifiPerenzierung folgt Ein 
passendes beispiel dafllr wäre die Spaltung zwischen impf, und aor. im 
idg. (vgl. oben s. 218). ^ Aehnliche Spaltungen sind sehr wol auch 
schon bei den primitiven dementen der spräche denkbar. Doch bilden 
sich in den meisten fällen, die wir beobachten können, durch solche 
differenzierung keine gruppen, indem dabei das gefühl der Zusammen- 
gehörigkeit verloren geht, und noch weniger parallelgruppen , wie in 
dem angeführten falle. Ein zweites mittel ist das zusammentreffen 
convergierender bedeutungsentwickelung mit convergierender lautent- 
Wickelung (vgl. suchen — sucht)^ worüber s. 181 gehandelt ist Dass 
ein derartiger Vorgang nur vereinzelt eintreten kann, liegt auf der 
band. Die eigentlich normale entstehungsweise alles formellen in der 
spräche bleibt daher immer die dritte art, die cpmposition. 

Die entstehung der composition zu beobachten haben wir reich- 
liche gelegenheit In den indogermanischen sprachen sind zwei schich- 
ten von compositis zu unterscheiden, eine ältere, die entwedbr direct 
aus der Ursprache überkommen, oder nach ursprachlichen mustern ge- 
bildet ist, und eine jüngere, die unabhängig davon auf dem boden der 

Ein ganz anderer voigang ist es natürlich, wieWol das gleiche resultat 
herauskommt, wenn ein secundärer lautunterschied nach verlust der übrigen unter- 
scheidenden merkmale zum einzigen zeichen des functionsunterschiedes wird, wie 
in engl, foot — feei, ioolh — teeth, man — men. Wo sich dergleichen formen 
in unseren ältesten Überlieferungen finden, wird sich hanfig nicht entscheiden lassen, 
ob sie diesem oder dem im text besprochenen vorgange ihre entstehung verdanken. 


275 

einzelsprachen entwickelt ist nnd in den modernen sprachen einen 
grossen umfang gewonnen hat. Letztere sehen wir grossenteils vor 
nnsem angen entstehen, nnd zwar durchgängig ans der syntaktischen 
aneinanderreihnng nrsprttnglieh selbständiger demente. Es sind dazn 
Verbindungen jeglicher art tauglich. So entstehen composita aus der 
Verbindung des genitivs mit dem regierenden Substantiv; vgl. nhd. 
hungersnot, hasenfuss, freudenfest, kmdergarten, franz. lunäi {lunce dies), 
Thianville (Theodonis vUla), connS table (comes stabtdi), Montfaucon {mons 
falcanis), Bourg-la-Reine, lat. paierfamiüas, legislator, plehiscitum, capri- 
folium; ans der Verbindung des attributiven adjectivums mit dem sub- 
stantivum, vgl. nhd. edelmann (mhd. noch edel man, gen edeles mannes), 
aitmeister, hochmui, Sehönbrunn, Oberhand, Liebermeister, Liebeskind, 
mrgenrot, franz. demi-cercle, double- feuille, fctax-marche, haute-Justice, 
grand-mere, petite-ßle, belles-letires, cent-gardes, bonjour, prudhomme, 
prin-temps, Beifort, LonguevUle, amour-propre, garde-nationale, ferblanc, 
vinaigre, ViUeneuve, Rochefort, Aigues-Mortes, lat respublica, jusjuran- 
dum; femer nhd. einmal, jenseits (mhd. jendt), einigermassen, mittler- 
weile, franz. eneore {hanc horam), fterement {fera mente), auirefois, autre- 
pari, toujours, longtemps, lat. Jiodie, magnopere, reipsa; aus der appo- 
sitionellen Verbindung zweier substantiva, vgl. nhd. Christkind, gott- 
mensch, fürstbischof prinz-regent, herrgott, Basel-land, franz. mcdtre- 
iailleur, maiitre-gareon, cardinal-ministre , Dampierre (domiwxs Petrus), 
Dammarie (domina Maria), afranz. damedeus (dominus detis)] aus der 
coordination zweier Substantive, nhd. nur zur bezeichnung der Ver- 
einigung zweier länder, wie Schleswig-Holstein, Oestreich-Ühgam; aus 
appositioneller oder copulativer Verbindung zweier adjectiva oder der 
eines adverbiums mit einem adjectivum, was sich nicht immer deut- 
lieh unterscheiden lässt, vgl. nhd. rotgelb, bittersiiss, altenglisch, nieder- 
deutsch, heilgrün, hochfein, gutgesinnt, wolgesinnt, franz. bis-blanc, aigre- 
doux, sourd-muet, bienheureux, mälcontent; aus der addiemng zweier 
Zahlwörter, vgl. nhd. fünfzehn, lat. quindecim; aus der Verbindung des 
adjectivums mit einem' abhängigen casus, vgl. nhd. ausdrucksvoll, sorgen- 
frei, rechtskräftig, lat jurisconsultus, -peritus, verisimilis] aus der Ver- 
bindung zwder pronomina, respective des artikels mit einem pronomen. 
Vgl. nhd. derselbe, derjene (jetzt nur noch in der ableitung derjenige), 
franz. quelque {qwüe quid), autant {alierum tantvm), lequel; aus der Ver- 
bindung eines adverbiums oder einer conjunction mit einem pronomen, 
vgl. nhd. jeder (aus ie-weder), kern (aus nih-ein), franz. celle {ecce illam), 
ceci {ecce istum hie), lat. quisque, quicunque, hie, nullus; aus der Ver- 
bindung mehrerer partikeln, vgl. nhd. daher, darum, hintan, fortan, vor^ 
aus, widerum, entgegen, immer, franz. jamais, ainsi {aeque sic)y avant (ab 
ante), derriere (de retro), dont (de unde), ensemble (in simul), encontre, 

18* 


276 

lat desuper, perinde, Heut, unquam, eiiam; aus der verbindang einer 
Präposition luit einem abhängigen casns, ygl. nhd. amiait, zunichte, 
zufrieden, vorhanden, inzwischen^ entzwei, franz. contremont^ partout , 
endroitf alors (ad illam horam), sur-le-champ, envir&n^ adieu, affaire^ 
sans-culotte^ lat invicem, obviam, illico («» in loco), denuo ( — de novo), 
idcircOf quamobrem] ans der Verbindung eines adverbiums mit einem 
yerbnm, vgl. nhd. auffahren^ hinbringen, ^ersteüen^ heimsuchen^ missUngen^ 
vollführen^ franz. malmener^ maltrcäter, mecanntAtre^ bistoumer^ tat. bene- 
dicere, maledicere; ans der Verbindung eines abhängigen casus mit 
seinem verbum, vgl nhd. achtgeben^ wahrnehmen (ahd. wara^ st fem.), 
wahrsagen^ lobsingen^ handlangen^ hochachten, preisgeben^ franz. maintenir, 
colporter^ bouleversery lat. anitnadvertere^ venum dare — venundare -^ 
venderCj crucifigere^ usuvenire^ manumittere, referre. Auch mehr als 
zwei glieder können so zu einem ^mpositnm zusammenschiessen *), 
vgl. nhd. einundzwanzig^ einundderselbe^ lat decedocto (»» decem et ocio, 
vgl. Corssen, Aussprache des lat ^11, s. 886); franz. iour-ä-tour, tele- 
briete^ vis-h-vis\ franz. aide-de-camp, trait-d'tmion, garde-du-corps, Lan- 
guedoCj beüe-ä-voir, pot-au-feu^ Fierabras, arc-en-cietj Chälons-sur-Mame, 
lat duodeviginti, nhd. brauiinhaaren (biume); lat plusquamperfectum; 
nhd. nichtsdestoweniger, ital. nondimeno. Auch aus abhängigen Sätzen 
entspringen composita, vgl. mhd. newcere zusammengezogen aas 
niur etc. = nhd. nur^ ital. avvegna (adveniat)^ avvegnache^ chicchessia, 
lat quiUbetj quamvis^ quantwnvis^ quamlibet^ ubivis. Ebenso aus Sätzen, 
die der form nach unabhängig sind, aber doch in logischer Unter- 
ordnung, z. b. als einschaltungen gebraucht werden, vgl. nhd. weiss- 
gott^ mhd. neizwaz »» ags. nät hwcet =» lat nescio quid, franz. je 
ne sais quoi, mhd. deiswär (=» daz ist wAr\ franz. peut^ire, pieca, 
nagtiere, lat. licet, ilicet, videlicet, scUicet, forsitan, span. qmza (viel- 
leicht, eigentlich 'wer weiss'). Femer können mit hülfe von metaphem 
Sätze zu compositis gewandelt werden, insbesondere imp^ativsätse, 
vgl. nhd. Fürchtegott, taugemchts, Störenfried, geratewol, vergissmeiwiicM, 
gottseibeitms, franz. baisemain, passe-partout , rendez-wms, neola^t fac- 
simüe^ notabene, vademecum, nolimetangere; nhiLjelängerjelieber, Schwerer 
wird ein wirklicher satz, der seine Selbständigkeit bewahrt^ zu einem 
compositum. Denn das wesen des Satzes besteht ja darin, dass er 
den act der zusammenftigung mehrerer glieder bezeichent, während es 
im wesen des compositums zu liegen scheint die zusammenfägung als 
ein abgeschlossenes resultat zu bezeichnen. Demungeachtet liegen satz- 
composita in den verschiedensten sprachen vor, so namentlich in den 
indogermanischen und semitischen verbalformen. 

*) Ich unterscheide davon natflritch die falle, wo ein compositnm mit einem 
asdem werte eiae neue v^bindnng eingeht 


277 

Der Übergang von syntaktischem geftlge zum compositum ist ein 
80 ailmähliger, dass es gar keine scharfe grenzlinie zwischen beiden 
gibt Das zeigt schon die grosse Unsicherheit, die in der Orthographie 
der modernen sprachen in bezng auf znsammenschreibang oder trennnng 
vieler Verbindungen besteht, eine Unsicherheit, die dann auch zu einer 
vermittelnden Schreibweise durch anwendung des bindestriches geftthrt 
bat Das englische unterlässt vielfach die zasammenschreibung in 
fallen, wo sie anderen Schriftsprachen unentbehrlich scheinen würde. Im 
mhd. sind auch die nach indogermanischer weise gebildeten composita 
vielfach getrennt gesehrieben. 

Die relativität des Unterschiedes zwischen compositum und wort- 
gmppe kann nur darauf beruhen, dass die Ursache, welche den unter- 
sebied hervorruft, ihre Wirksamkeit in mannigfach abgestufter stärke 
zeigt. Man darf diese Ursache nicht etwa, durch die schrift verführt, 
darin sehen wollen, dass sich die glieder eines compositums in der 
ausspräche enger aneinander anschlössen, als die glieder einer wort- 
gruppe. Verbindongen wie artikel und substantivum, präposition und 
substantivum, substantivum und attributives adjectivum oder abhängiger 
genitiv haben genau die gleiche eontinuität wie ein einzelnes wort. 
Man hat dann wol als Ursache den accent betrachtet. Dass die ein- 
heit eines wertes auf der abgestuften Unterordnung seiner übrigen ele- 
mente unter das eine vom accent bevorzugte besteht, ist allerdings 
keine frage. Aber ebenso verhält es sich mit der einheit des Satzes 
and jedes aus mehreren Wörtern bestehenden Satzteiles, jeder enger 
zusammengehörigen wortgruppe. Der accent eines selbständigen wertes 
kann dabei vielfach ebenso tief herabgedrüekt sein als der eines unter- 
geordneten compositionsgliedes. In der Verbindung dtirch liebe hat 
durch keinen stärkeren ton als in durchtrieben, zu in zu bett keinen 
stärkeren als in zufrieden, herr in herr Schulze keinen störkeren als 
in Hausherr. Man kann nicht einmal den unterschied überall durchs 
führen, dass die Stellung des aecents im compositum eine fes.te ist, 
während sie in der wortgruppe weehseln kann. So gut wie ich hirr 
Schulze im gegensatz zu fräu Schulze sage, sage ich auch der haus- 
herr im gegensatz zu die hauffrdu. Es ist auch keine bestimmte 
stellang des hauptaccents zur entstehung dnes eompositums erforder- 
lich, sondern sii9 ist bei jeder beliebigen Stellung möglich. Nur aller- 
dings, damit die jüngere compositionsweise in paralleUsmus zur älteren 
treten ksuin, ist es erforderlieh, dass die accentuation eine gleiche ist. 
Damit z. b. eine bilduiig wie rindsbraten oder rinderbraten als wesent- 
lich identisch mit einer bildung wie rindfteisch empfunden werden 
konnte, war es allerdings nötig, dass der hauptaccent auf den voran- 
stehenden abhängigen genitiv fiel. Wo aber die analogie der älteren 


278 

compositioDsweise nicht in betraeht kommt, da ist auch im deutschen 
die stärkere betouong des zweiten elements kein hinderangsgrund fttr 
die entstehong eines nominalen compositams. 

Es ist überhaupt nichts physiologisches, worin wir den unter- 
schied eines compositums von einer unter einem hauptaceente yer- 
einigten wortgruppe suchen dttrfen, sondern es sind lediglieh die 
psychologischen gruppierungsverhältnisse. Alles kommt da- 
rauf an, dass das ganze den dementen gegenttber, aus denen es zu- 
sammengesetzt ist, in irgend welcher weise isoliert wird. Welcher 
grad von isolierung dazu gehört, damit die verschmdzung zum com- 
positum yoUendet erscheine, das lässt sich nicht in eine allgemein- 
gültige definition fassen. 

Es kommen dabei alle die verschiedenen arten von isolierung in 
betraeht, die wir früher kennen gelernt haben. Entweder kann das 
ganze eine entwickelung durchmachen, welche die einzehien teile in 
ihrer selbständigen Verwendung nicht mitmachen, oder umgekehrt die 
einzelnen teile eine entwickelung, welche das ganze nidit mitmacht, 
und zwar sowol nach seiten der bedeutung als naeh Seiten der lant- 
form, oder es können die einzelnen teile in selbständiger Verwendung 
untergehen, während sie sich in der Verbindung erhalten, oder end- 
lich es kann die verbindungsweise aus dem lebendigen gebrauche ver- 
schwinden und nur in der bestimmten . formel bewahrt bleiben. 

Der eintritt irgend eines dieser Vorgänge kann genttgen um ein 
syntaktisches geflige zu einem compositum zu wandeln. Man pflegt 
aber keineswegs jedes zusammengesetzte Satzglied als ein compositam 
zu betrachten, bei dem bereits eine solche isolierung eingetreten ist 
Gerade diesen Verbindungen mttssen wir unsere besondere aufinerk- 
samkeit schenken, wenn wir die ersten ausätze zur va^chmelzung be- 
obachten wollen. 

Der anfang zur isolierung wird gewöhnlieh damit gemacht, dass 
das syntaktische gefbge einen bedeutungsinhalt erhält, der sich nicht 
mehr genau mit demjemgen deckt, der durch die znsamm^ifttgang 
der einzelnen demente gewonnen wird. Wir haben diesen Vorgang 
schon s. 82 kennen gelernt Die folge ist, dass die einzelnen de- 
mente des gefüges nicht mehr klar zum bewusstsein kommen. Damit 
wird aber auch die art ihrer zusammenfttgung verdunkelt, und damit 
ist der erste ansatz zu einer syntaktischen isolierung gemacht, womit 
sich auch eine formelle verbindet Sobald aber erst einmal ein an- 
fang gemacht ist, so ist auch die möglichkeit zu einem weiteren fort- 
schreiten der isolierung gegeben. 

In bezug auf die syntaktische isolierung mttssen wir zwei fälle 
unterscheiden. Sie braucht nur das verhältniss der oompositionsglieder 


279 

• 

zn einander zu betreffen wie z. b. in kungersnot, edelmann, es kann 
aber auch die Verbindung als ganzes gegenüber den ttbrigen bestand- 
teilen des Satzes isoliert werden. Das resnltat ist dann immer ein 
nnfleetierbares wort, vgl keineswegs, gewissermassen, jederzeit, alldieweü, 
zurecht, abhanden, überhaupt, vorweg, allzumal; lat magnopere, quare, 
quomodo, hodie, aämodwn, interea^ idcirco, quapropter, quamobrem; franz. 
t&ujours, toutefois, encare (»= hanc horam), tnalgre (»» mcUum gfratum\ 
amant, environ, parmi, pourtant, cependant, totU-ä-coup, Erst durch 
seeundäre entwickelung können solche Verbindungen wider flectierbar 
werden,' wie z. b. zufrieden, ddbonnaire (=» de banne air). Wo die flec- 
tierbarkeit durch die Isolierung nicht gestört wird, da kann der fall 
eintreten, dass die Verschmelzung der glieder durch flexion im Innern 
des geftlges gehemmt wird, z. b. in einer Verbindung wie das rote meer, 
mare rubrum, wobei man durch die flexion des roten meer es, maris 
rubri etc. immer an die Selbständigkeit der einzelnen glieder erinnert 
wird. Es mnss erst ein weiterer process hinzukommen, um die volle 
Verschmelzung möglich zu machen, nämlich die erstarmng einer flexions- 
form (in der regel die des nominativs sg.) in folge der Verdunkelung 
ihrer ursprünglichen fhnction, ein Vorgang, den wir s. 194 besprochen 
haben. 

Wie wir s. 194 gesehen haben, erhält das compositum die selbe 
fähigkeit ableitungen aus sich zu erzeugen, wie das einfache wort der 
nämlichen kategorie. Wir finden nun, dass aus einer syntaktischen 
Verbindung, die noch nicht als compositum betrachtet zu werden pflegt, 
eine ableitung nach dem muster eines einfachen Wortes gemacht wird, 
oder dass diese Verbindung wie ein einfaches wort zu einem compo- 
sitionsgliede nach schon vorliegenden mustern gemacht wird. Wir 
müssen daraus den schluss ziehen, dass das Sprachgefühl dieselben 
als eine einheit gefasst hat, dass also jedenfalls ihre entwickelung zu 
einem compositum bereits bis zu einem gewissen grade vollzogen ist. 

Bei copulativen Verbindungen tritt der verschmelzungsprocess 
ein, wenn es möglich ist das ganze unter einen einheitlichen begriff 
zu bringen. Dies ist erstens der fall, wenn die verbundenen elemente 
Synonyma sind, die dieselbe Sache von verschiedenem gesichtspunkte 
ans darstellen, vgl. art und weise^ grund und boden, wind und weiter, 
^eg und steg, sack und pack, handel und wandet, hangen und bangen, 
t'm und treiben, leben und weben, wie er leibt und leb*, frank und frei, 
iveit und breit, hoch und teuer, angst tmd bange, ganz und gar, drauf 
^nd dran, nie und nimmer. Zweitens, we^n die verbundenen elemente 
gegensätze sind, die sich gegenseitig ergänzen, vgl. stadt und land, 
himmel und holte, wol und wehe, alt und Jung, gross und klein, arm und 
reich, dick und dünn. Heb und leid, tun und lassen, dieser und Jener, 


280 

einer und der andere, dies und das, ab und an, ah und zu, auf und ab, 
ein und aus, für und wider, hin und her, hin und wider, drüAer und 
drunter, hüben tmd drüben, hie und da, dann und wann. Dazu kommen 
noch mancherlei andere fälle wie haus und hof, weih und kind, kind 
und kegel, mann und maus. Die beiden gUeder können aneh durch 
das nämliehe wort gebildet werden, vgl durch und durch, für und für, 
nach und nach, über und über^ wider und wider, fort und fort, der und 
der. In dem letzten falle stehen die beiden glieder trotzdem in 
gegensatz zu einander. Bei einigen dieser Verbindungen ist schon eine 
weiter gehende Isolierung eingetreten. Ein kriterinm dafttr, däss eine 
copulative Verbindung als eine einheit gefasst wird, kann man bei 
Substantiven darin sehen, dass ein beigefügtes adj. mit dem zweiten 
gliede congruiert, vgl. durch meinen trewen hilff vnd rat (H. Sachs); mit 
allem mobilen haV und gut (Goe.). Ein anderes häufiger vorkommendes 
ist die flexionslosigkeit des ersten gliedes. Bei den oben angeführten 
Verbindungen aus an und fttr sich flexivischen Wörtern wird meistens 
die flexion gemieden, welche an die Selbständigkeit der glieder er- 
innern würde; man kann z. b. nicht sagen mit sacke nnd packe oder 
grundes und bodens. Es findet sich aber auch flexion bloss am zwei- 
ten gliede, z. b. des zu Abdera gehörigen grund und bodens (Wieland). 
Vgl. femer von tausend durchgeweinten tag- und nachten (Goe.); dm 
wenigen glaube, liebe und hoffnung (Goe.); bei H. Sachs sogar dem nimmer 
goU noch geldts gebrach. Häufig ist die Unterlassung der flexion im 
innern bei der Verbindung zweier adjectiva, vgl. die blank- und blossen 
n\idersprüche (Le.), gegen inn- und äussern feind (Goe.), auf ein oder die 
andere weise (Le.), mit mein und deinem wesen (Le.).^) 

Notwendig ist das unterbleiben d^ flexion im innern auch nach 
dem heutigen Sprachgebrauch in einem falle wie einer schwarz- tmd 
weissen fahne, schwarz- und weisse f ahnen, verschieden im sinne von 
schwarze und weisse fahnen. Dem schwarz^ und weiss analog sind 
die auch zusammengeschriebenen Verbindungen einundzwanzig, einund- 
dreissig etc., früher fle.ctiert eines, und zwanzig. Feste vertandungen^ 
die keine flexion im innern mehr zulassen, sind femer all tmd jeder, 
ein und alles. Zusammengeschrieben wird eimtndderselbe , teils mit, 
teils ohne flexion des ein-. Griech. xaXoxaya&og isit wol unter ana- 
logischer ein Wirkung, der alten indogermanischen compositionsweise 


^) Jedoch ist das unterbleiben der flexion des ersten gliedes kein aweifel* 
loses kriterium dafür, dass eine Zusammenfassung der beiden glieder zu begrifflicher 
einlieit stattgefunden hat. Es' ist bei der Verbindung zweier acyectiva im älteren 
nhd. und noch bei Goethe häufig , H. Bachs sagt sogar weder mit böss noch guten 
dingen. Seltener ist es bei der Verbindung zweier substantiva, vgl. von thier vnä 
menschen (H. Sachs), von mer<^ vnd steten (ib.). 


..-r 


28i 

entetanden; Bonst würde die Stammform xaXo- schwerlich erklärbar 
Bein. Gändiehe verschmelzang wttrde wahrscheinlich häufiger sein, 
wenn nicht die eopnlatiypartikel hemmend wirkte. Diese hemmnng 
wird aii%ehoben, wo dieselbe in folge der lautlichen abschwächung 
nicht mehr als solche erkannt wird, wie in dem niederdeutschen n7en- 
spUi, zusammengesetzt aus den imperativen von rtten und spHten (reissen 
and spleissen). Eine copulatire Verbindung ohne partikel verschmilzt 
leichter. So werden schwarzrotgolden und Oesf reich- Ungarn, die sich 
logisch verhalten wie schwarz und weiss und Neapel und Siciiien als 
wirkliche compösita empfunden. In derjenigen epoche des indogerma- 
nischen, wo es noch keine flexion und keine copulativpartikel gab 
oder beides wenigstens nicht notwendig erforderlich war, musste 
natürlich die Verschmelzung zu einem copulativcompositum (dvandva) 
sehr leicht sein. 

Die Verbindung eines su^bstantivums mit einer attribu- 
tiven, genitivischen oder sonstigen bestimmung kann alle in 
cap. 4 besprochenen arten des bedeutungswandels durchmachen, ohne 
dass das substantivum ftlr sich davon betroffen wird. Sehr häufig ist 
es zunächst, dass das ganze einen reicheren, bestimmteren Inhalt er- 
hält, als denjenigen, der sich ans der Zusammensetzung der teile er- 
gibt Die bestimmung hebt namentlich häufig nur ein unterschei- 
dendes merkmal heraus, während andere daneben bestehende ver- 
schwiegen werden. Dazu können dann weitere modificatione& treten, 
in folge deren das epitheton in seiner eigentHohen bedeutung gar nicht 
mehr zutreffend ist. So ist in der botanischen spräche vif^ ödorata 
nicht ein wohlriechendes veilchen, sondern eine bestimmte veilchen- 
art, die noch durch andere eigenschaften als durch den wohlgemch 
charakterisiert wird, und es wird mit diesem namen auch ein getrock- 
netes veilchen bezeichne;, welebes keine spur von wohlgemch mehr 
von sieh gibt, und ebeneo die niehtblttheodie pflai^e. Unter franz. 
moyen äge versteht man ein bestimmt begrenztes Zeitalter, ohne dass 
sich aus dem worte moyen an sich eine s(dche begrenzung ergibt Ge- 
heimer rat und wirklicher geheimer rat sind titel, die als ganzes eine 
bestimmte traditionelle geltnng haben, wie sie aus den Wörtern geheim 
und mYklich an sich nicht zu ersohüesfen ist Vgl ferner der heilige 
geist, die heilige sekrift, die schönen künste, gebrannte mandeln, kaltes 
blut, der blaue momtag, der grüne donnerstag, der heilige abend, die 
hohe schule; der stein der weisen; die weisen aus dem morgenlande. 
Für die substantivischen bestimmungen ist ^noch zu bemerken, dass 
sie nur dann mit dem bestimmten worte zu einem einheitlichen be- 
griffe verschmelzen können, wenn ihre bedeutung nicht occasionell in- 
dividuf^siert ist; d. h. sie müssen, abgesehen von den eigennamen 


282 

and den bezeiehnnngen fbr solche gegenstände, die als nur einmal 
existierend gedacht werden, in abstraetem sinne gebraucht werden. 
Den angefahrten beispielen von syntaktischen Verbindungen sind nun 
viele ccHnposita analog, teils solche, deren zusammenwachsen historifleh 
verfolgbar ist, wie schwarzwüd, weissbrot, dünnbier, rotdani^ Sauerkraut, 
edelstem \ haubenierche, seidenrmupe, hktmef/ikehl^ bunäesrat; arc-enrciel\ 
teils solche, deren bildungsweise schon in eine vorgeschichtliche zeit 
zurückreicht, wie eisbär, holzwurm, Hirschkäfer, Steineiche. Nicht selten 
wird der nämliche begriff in einer spräche durch ein compositum, in 
einer andern durch eine syntaktische Verbindung bezeichnet, vgl. z. b. 
mittelalier mit mayen dge. 

Eine Unterabteilung dieser grossen Uasse bilden gattungsnamen 
von örtlichkeiten, die mit hülfe einer bestimmung, die an sich gleich- 
falls allgemeiner natur sein kann, zu eigennamen geworden sind, vgl. 
die goldene aue, das rote meer, def schwarze, see, der breite weg (strassen- 
name in Magdeburg und anderswo), die hohe p forte (tomame in Magde- 
burg); die inseln der seeligen, das cap der gtUen hoffhung. Damit vgl 
man die composita Hochburg, Schonbrunn, Kaltbad, Lindenau, Körngs- 
feld\ Hirschberg ^ Strassburg, Steinbach Hierher gehört es auch, wenn 
ein epitheton, das einem eigennamen als unterscheidendes kenn- 
zeichen beigefügt ist, zu einem integrierenden bestandieile des eigen- 
namens wird, indem es als an einem bestimmten Individuum haftend 
erlerat wird, vgl. Karl der grosse — der kahle — der kühne — der 
dicke, Ludwig der fromme — der heilige — diu kind, Wilhelm der er- 
oberer; Daves platz — Daves dörfli; Basel land — Basel Stadt; Zellcan 
see. Damit vgl man die composita Althans, Kleinpaul; Gross^Basel — 
Klein- Basel, Ober/ranken — ühterfratücen, Eichen* Barleben; Kirchzarten. 

Bildliche anwendung ^es wertes wird, wie überhaupt durch den 
Zusammenhang (vgl s. 74), so insbesondere durch eine beigefügte be- 
stimmung als solche erkennbar und verständlich, vgl der löwe des 
tages, das haupt der verschworenen^ die nacht des todes, der abend des 
lebens, die seele des Unternehmens. Das selbe wird durch ein be- 
stimmendes compositionsglied geleistet Man wagt deshalb mit hülfe 
desselben metaphem, die man sich in bezug auf das einfache wort 
nicht gestattet, weil das compositionsglied gleich eine correctnr der 
metapher enthält Vgl neusilber, katzengold, ziegenksmm, bienen- 
königin, bienenwolf, ameisenlöwe^ äp feiwein, namensvetter; hirschkuh, heit 
Pferd, seelöwe, buchweizen, erdapfel, gaUapfel, augapfel, zaunkönig, stiefä- 
knecht, milchbruder. 

Davon zu unterscheiden sind solche fäUe, in denen das compo- 
situm auch eine eigentliohe bedeutung hat irad erst als compositam 
bildlieh verwendet wird, wie himmelsschlüssel , hahnenfuss, lihvenmaul, 
Schwalbenschwanz, Stiefmütterchen, bnmmbär. 


288 

FaBt durchweg syntaktische vertHndungen oder composita sind 
die oben s. 81 besprochenen bezeichnnngen nach teilen des körpers 
und des geistes oder kleidungsstUcken , und zwar deshalb, weil die 
einfachen wMer als an sich nicht charakteristisch zu einer solchen 
Verwendung anbrauchbar sein wttrden. 

Verfolgen wir nun weiter, wie die Verschmelzung der bestimmung 
mit dem bestimmten durch die syntaktische und formale Isolierung ge- 
fördert wird. 

Bei dem zusammenwachsen des genitivs mit dem regierenden 
sabstantivum im deutschen ist zunächst zu beachten, dass es nur bei 
voranstellung des genitivs eintritt Die umgekehrte Stellung taugt zu- 
nächst deshalb nicht zur composition, weil dabei eine flexion im innern 
der Verbindung stattfindet, wodurch man immer wider an die Selbstän- 
digkeit der demente erinnert wird, weshalb auch z. b. im lat die zu- 
sammenfttgung in pater-familias weniger fest ist als in plebiscUum. 
Ferner besteht bei voranstellung des genitivs analogie in der betonung 
za den echten compositis (ahd. tdge^ sierro »» iägosierro, dagegen sterro 
des täges). Das entscheidende moment fUr das zusammenwachsen liegt 
aber in Veränderungen der syntaktischen Verwendung des artikels. 
Wie derselbe vielfach zum blossen casuszeichen herabgesunken ist, so 
ist er insbesondere bei dem genitiv eines jeden appellativums, wel- 
ches nicht mit einem attributiven adjectivum verknüpft; ist, allmählig 
unentbehrlich geworden. Nur der deutlich charakterisierte gen. sing 
der starken masculina und neutra kommt zuweilen noch ohne artikel 
vor, nsuQtentlich in sprttchwörtern (biedermanns erbe) und ttberschriften 
{schä/er$ klagelied, geisies gruss, wandrers nacht Hed etc.). Im ahd. 
fehlt der antikel noch ganz gewöhnlich. Indem sich nun bei dem all- 
mähligen absterben der construction gewisse Verbindungen ohne artikel 
traditionell fortpflanzten, war die Verschmelzung vollzogen. Begünstigt 
wurde sie noch ganz besonders durch die ursprünglich allgemein üb- 
liche und dann gleichfalls absterbende weise, den gen. wie im griech. 
zwischen artikel und dem zugehörigen substantivum zu setzen. Diese 
construetion hat sieh besonders in der spräche des volksepos lange 
lebendig erhalten, allerdings nur bei eigennamen und verwandten Wör- 
tern, vgl im Nibelungenlied daz Guntheres lant, das Mbelunges swcrt, 
diu Swrides hont, daz Etzehn nAp etc.; Verbindungen wie d^ gotes hat, 
segen, diu gotes haut, etc. sind im dreizehnten Jahrhundert noch, allge- 
mein üblich^ In der älteren zeit konnte der genitiv eines jeden sub- 
stantivnms so eisgesehoben werden, ohne selbst mit dem artikel ver- 
banden zu sein, vgl. ther mannes sun (des menschen söhn) häufig bei 
Tatian, then Muuiskes faier (pakemfamilias) ib. 44, 16 (dagegen ihes h* 
fater 72,4 147,8; fcUere hiumskes n^h\ ein ediles mann (ein mann 


284 

von edler abstammnng) Otfrid IV, 35, 1; ähnliche einschiebung zwischen 
Zahlwort und snbstantivnm in zwä dübono gimachun (zwei paar tauben) 
Otfrid I, 14, 24. Indem allmählig unmittelbare nebeneinanderstellnng 
von artikel und snbstantivnm notwendig wnrde, muBste die verbindnng 
vom spraehgefUhl als eine einheit aufgefasst werden. Mit der zeit sind 
vielfach noch formale isoliernngen hinzugekommen, indem sieh die 
älteren formen des genitivs in der composition bewahrt haben {Imden- 
blaft, frauenkirche, hahnen/uss, Schwanenhals, gänseleber, Mägdesprüng, 
nachtigall etc.). Ferner dadurch, dass bei den einsilbigen mascnlinis 
und neutris im compositum gewöhnlich die syncopierten formen ver- 
allgemeinert sind, im simplex die nichtsyncopierten, vgl. hundstag, 
landsmann, Schafskopf, whidshraut gegen hundes etc. (doch auch goites- 
haus, Hebeskummer), Dazu kommt endHch noch, dass die genitivform 
im compositium häufig mit der des nom. pL ttbereinstimmt und da- 
her vom Sprachgefühl, wo die bedeutnng dazu stimmt, an diesen an- 
gelehnt wird, vgl. bienenschwarm, rosenfarbe, bildersacd, äpfelwein, bür- 
germeister. Im letzten falle stimmt die form auch zum nom. sing.; in 
Baierland^ Pommerland (ahd. Beiero lant) nur zu diesem, während der 
pl. des simplex seine flexion verändert hat. 

Die älteste schiebt genitivischer composita im französischen ist 
hervorgegangen aus den alten lateinischen genitivformen ohne hinzn- 
fUgung der präp. de. Im altfranz. ist solche constmctionsweffle we- 
nigstens bei persönlichen begriffen noch allgemein lebendig, z. b. la 
volonte le rei (der wille des königs); sie musste allmählig untei^hen, 
weil die form mit der des dat. und acc. zusammengefallen und des- 
halb die beziehung unklar geworden war. Einige traditionelle reste 
der alten weise haben sieh bis heute erhalten, ohne dass in der schrift 
composition bezachnet würde, vgl. rue St, Jacques etc., eglise SaitU Pierre, 
musee ß^apoleon. In andern fUllen ist die zusammenfbgung fester ge- 
worden, teilweise durch anderweitige isoliemng begünstigt, vgl. H6UI- 
Bleu, Cormitable (comes siabuii)^ Chdieau-Renard, Bourg-la-Reine, Moni- 
faucon, Finiiamebleau {f BUaldi), Durch das sehwiaden jedes easns- 
zeichens ist im franz. im gegensatz zum deutschen die versehmelzung 
auch bei naehstellung des gen. möglich gemaoht Bei der umgekehr- 
ten Stellung musste sie erst recht erfolgen, da dieselbe schon Mhzeitig 
ausser gebrauch kam; daher AbbeoiUe {abbaiis v), TkhnviUe (Theo- 
donis niila). 

Das zusammenwachsen des adjeetivs mit dem zugehörigen snbsi 
geht im deutschen namentlich von der sogenannten unfiectierten form 
aus, die im attributiven gebrauch allmählig ausstirbt, vg^. oben s. 157. 
Im mhd. siiid (ein) jtmc geselle^ (em) edei m<mn, (ein) nmwe Jdr noch 
ganz tlbli<^e constroctionenv im nhd. können Junggeselle, edelmam, neu- 


885 

jähr nur als composita gefasat werden. Einen weiteren ausgaogspunkt 
bilden die schwachen nominatiye von mehrsilbigen adjectiven auf r, l, n, 
die im mhd. ihr e abwerfen, während es im nhd. nach analogie der 
einsilbigen wider hergestellt wird. Im mhd. sind der ober roc, diu 
ober hant, daz ober te'd nooh reguläre syntaktische geflige (daher auch 
noch acc. die obem hont neben die oberhant), im nhd. können der ober- 
rock^ die überhand, das oberteil nur als composita gefasst werden, weil 
es sonst der obere rock etc. heissen mttsste. Indessen reicht das ein- 
fache beharren, bei dem älteren zustande nicht aus um wirkliche com- 
position zn schaffen ^ und viele derartige composita sind schon vor 
dem eintritt dieser syntaktischen Isolierung entstanden. Schon ahd. 
bestehen alifater, frihais, guoität, hdhstuol und viele andere. Vielmehr 
ist der Vorgang der, dass die verl»ndung so formelhaft, der begriff 
so einheitlich wird, dass sich damit für das Sprachgefühl eine flexion 
im Innern des complexes nicht mehr verträgt, und es ist dann natür- 
lich, dftss der eigentliche normalcasus, der nom. sg., der zugleich, weil 
die flexionsendung geschwunden ist, als stamm des wertes erscheint, 
massgebend wird. Seitdem die flexionslose form i^ufgehört hatte, attri- 
butiv verwendet zu werden, war Verschmelzung des adj. mit dem subst. 
viel weniger leicht. Denn die fleetierten formen des nom. sg. (j/tUery 
gute, gutes) hatten von anfang an kein so grosses gebiet und waren 
eben wegen der flexionsendungen nicht so geeignet als Vertreter des 
wertes an sich zu gelten. Es war nun aber auch weniger bedttrfniss 
zu soleben Verschmelzungen, da bereits eine menge composita mit der 
flexionslosen form vorhanden waren, die auch im stände waren ana- 
logische neubildungen zu erzeugen. Doch zeigen sich auch in dieser 
Periode einige Verschmelzungen und ausätze dazu, teils so, dass eine 
Verbindung in die analogie der älteren verschmolzenen Verbindungen 
hinttbergeftthrt wird, vgl geheimrat neben geheime(r) rat, teils so, dass 
die fleetiert^ nominativform verallgemeinert wird, wie in krausemunze, 
jungemagd, in GtUersohn, Liebeskind und anderen eigennamen. Bei 
einigen Wörtern hat sich das geftthl für die einheitlichkeit des begriffs 
darin kund getan, dass trotz der flexion im innern zusammensehreibung 
eingetreten ist, vgl. langenmle^ hohepriester, hohelied. Lessing schreibt 
sogar ein Jüngstesgericht en nägnature. Vgl. auch derselbe, derjenige. 
Auch wo noch keine volle Verschmelzung des attributiven adjec- 
tivums mit dem dazu gehörigen subst. stattgefunden bat, werden doch 
ableitnngen aus der Verbindung gemacht, vgl. hohepriesterlich, lang- 
weilig, kurzatmig, hochgradig, vielzOngig^ vielßprachig, rotbäckig, ein- 
händig, blauäugig, blondhaarig, kleinstädtisch, kieinstädter, Schwarzkünstler^ 
tausendkünstler, einsilbler^ die sich gerade so verhalten wie grossmütig, 
edelmännisch etc. Sie als nominale composita aufeufassen, hindert 


286 

schon der umstand, dass viele der dann voransznsetzenden simplicia 
wie 'wetlig, -atmig, -gradig gar nicht existieren and anch frtther nicht 
existiert haben. 

Ebenso werden solche Verbindungen zn compositionen verwendet, 
die sich trotz aller anfeindnngen von selten der grammatiker nicht 
ausrotten lassen wollen. Der gewöhnliche einwand, den nian gegen 
complexe wie reitende artülerie-caseme macht, dass ja die caseme 
nicht reite, ist im gmnde nicht stichhaltig. Denn das meint niemand, 
der sich dieser Verbindung bedient, und die gliederung ist nicht reitende 
+ artilierie-caseme, sondern reitende artülerie- -f caserne. Aber man 
kommt dabei ins gedränge wegen der flexivischen und nach eongmenz 
strebenden natur des adjectivums. Dasselbe richtet sieh daher in der 
regel nach dem zweiten demente, nicht bloss wo es allenfalls anch 
auf dieses bezogen werden könnte wie in französischer Sprachlehrer, 
freie hfmdzeichnung, sondern auch in anderen fällen wie in der sauem 
gurkenzeit. Bei manchen dieser Verbindungen ist zusammenschreibnng 
liblich geworden, vgl. alteweibersomtnerj armesiinderglöckchen etc. Nichts- 

s 

destoweniger kommt bei diesen eongmenz des adjectivums mit dem 
letzten bestandteil vor. Goethe schreibt auf dem armensünderstühlchen, 
dagegen Heine auf einem armesünderbänkchen , die Kölnische zeitung 
nebst armsünder treppe. Klopstock gebraucht sogar hohpriesiergewand, 
Luise Mllhlbach den gutennachtsgrussA) Im englischen, wo die flexion 
nicht stört, machen solche zusammenfttgungen gar keine Schwierigkeit 
Im franz. geht das zusammenwachsen leichter vor sich, weil die 
Casusunterscheidung verloren gegangen ist. Wenn bloss noch sg. nnd 
pl. unterschieden werden, so hat man jedenfalls schon erheblich weniger 
veranlassung an die fuge erinnert zu werden. Ausserdem kommen 
manche Verbindungen ihrer natur nach nur im sg. (z. b. sainte-icriture, 
terre-sainte) oder nur im pl. (z. b. beaux-arts, belies lettres) vor. Es 
pflegt sich daher sehr leicht das geftthl fttr die einheitlichkeit eines 
solchen complexes durch Setzung des bindestrichs geltend zu machen. 
Ein anderes bedeutsameres kriterium ftir das verhalten des sprach- 
gef\lh1s, gibt die Verwendung des artide partitif. Man sagt z. b. il a 
des belles lettres^ wie man sagt ü a des lettres^ während man sagt il 
a de belles maisons. Formale und syntaktische Isolierungen können 
auch hier hinzutreten um das geftige fester zu machen. Im afranz. 
haben die adjectiva, die im lat. nach der dritten dedination flectieren, 
im fem. noch kein e angenommen, welches erst später nach analogie 
der adjectiva dreier endungen antritt, z. b. grand =» grandis, später 
grande nach bonne etc. In compositis bewahren sich formen ohne e: 


») Vgl. Andr. Sprachg. s. 152 und 64. 


287 

grant mere^ ffrand' messe^ Granviiie, RecUmant, Vilie^eal^ Roche/ort. 
In Vaueluse {vaUis clausa)^ hat das eompositam , von der gonstigen 
lanlgesialt abgesehen, den im nenfranz. eingetretenen gesehleehts- 
wechsel des simplex (ie vat) nieht mitgemaobi Es erfolgen dann anch 
ansgleichoagen ähnlich wie im dentsehen. Bei adjectiven, die häniiger 
in der composition gebrancht werden, wird die form des masc. und 
des sing, yerallgemeinert, so in mi-^ demi-^ mal-- (mal/afon, malheure, 
mali6te\ nu-* (nu-tSte, nu^pieds). Dadnreh ist die composition dentlich 
marqniert. 

Wo im nhd. der genitiv mit einem regierenden adj. znsammen- 
gewachsen ist, da zeigt sich anch vielfach, dass die constmction entweder 
gar nieht oder nicht mehr allgemein üblich nnd durch eine andere er- 
setzt ist, vgl. ehrenreich — reich an ehren, ^eistesarm — arm an geisi, 
freudevüeer — leer van freuden. 

Im nhd. ist es üblich adverbia, wo. sie nach den allge- 
meinen syntaktisehen regeln dem verbum vorangehen, mit diesem 
znsammenzuschreiben, vgl. aufheben^ vordringen, zurückweichen, weg- 
werfen etc. Dass noch keine eigentliche composition eingetreten ist, 
beweist die Umstellung er treibt an, er steht auf etc. Aber anderseits 
beweist die znsammenschreibung, dass man anfängt das ganze als 
eine einheit zu empfinden. 

Bei den meisten dieser Verbindungen liegt eine isolierung gegen- 
ttber den dementen klar vor. Die alten präpositionalen adverbia 
lassen sieh überhaupt nieht mehr ganz frei und selbständig verwenden, 
sondern sind auf einen bestimmten kreis von Verbindungen beschränkt. 
Zu freier syntaktischer zusammenfttgung werden statt ihrer hauptsäch- 
lich Verbindungen mit her und hbi verwendet, vgl hinaus gehen, heran 
kommen, wesentlich verschieden von ausgehen, ankommen. Es kommt 
dazu dann meistens eine selbständige bedeutungsentwickelung der Ver- 
bindung als solcher, vgl. anstehn, ausstehn, vorstehn, zmtehn, auslegen, 
aufbringen, umbringen, zubringen, auskommen, umkommen, vorwerfen, vor- 
gehen etc. Unterstützt aber ist die auffassung dieser Verbindungen als 
eomposita durch die parallelen nominalcomposita wie ankunft, abnähme, 
zunähme, Vorwurf, ausspruch, zusage, anzeige etc. Diese wirken natür- 
lich am leichtesten auf die nominalformen des verbums, bei denen die 
Verbindung schon so wie so am stabilsten ist und um so fester wird, 
je mehr sie sich dem Charakter eines reinen nomens nähern (vgl. das 
folgende capitel), am festesten natürlich dann, wenn nur sie, nicht das 
verb. finitum in einer bestimmten bedeutung üblich werden oder bleiben, 
vgl. aufsehen, nachsehen, abkommen; ausnehmend. Beim pari kann sich 
die Verschmelzung in der bildung von comparativen oder Superlativen 
zeigen, die nur einen sinn haben, wenn das ganze als eine einheit ge- 


faast wird, vgl (He zwei entgegengesetze$ien. eiffenschaflen (6oe.), der ein- 
geborenste begriff (Groe.), unier nachsehendem geseiten (Le.); weitere bei- 
spiele bei Andr. Spraehg. s. 119. Aas der Verbindung des verbiims mit 
dem adv. entspringen dann nominale ableitnngen, die zweifellose wort- 
einheiten sind, wie austreibung^ vorsehuüg^ auf er siehung, absehreU^er, 
anstellig, ausgiebig, zulässig^ angeblich^ absetzbarS) Fttr die adverbialen 
bestimmangen gilt übrigens das selbe wie fttr die snbstanÜTisehen ad- 
nominalen (vgl. s. 281), daas oeeasionelle individnalisiernng die ver- 
schmelznng verhindert. Daher bewahren z. b. die demonstrativen orts- 
adverbien ihre Selbständigkeit: wer da ist, her kommt, nicht dai>/, her- 
kommt. Bei den nominalformen kommen allerdings znsammeiisehrei- 
bungen vor wie sein hiersein, aber man empfindet das gaaae doeh 
nicht so sehr als eine einheit wie etwa einkämmen, zutrauen. Ganz 
anders steht es mit dasein im sinne von «existenz''; hier ist eben da 
nicht individualisiert Entsprechend Verhaltes sieh imt herkommen und 
mit darreichen, darbringen etc», indem dar seine nrspriingliehe fanetion 
als demonstri^tivadv. <= dahin verloren bat £s zeigen sieh ansätse dazn 
auch das verb, fin. in ein wirkliches compositum zu wandeln. Im Jour- 
nalistendeutsch, dem sich hierin auch germanisten ansehliessen , ist es 
üblich geworden zu sagen er anerkennt. Wir sehen demnach deutHeh 
den weg, auf dem auch die alten verbalen composita im germanischen 
(wie durchbrechen, betreiben) und in den anderen indogermaniseheD 
sprachen aus syntaktischen Verbindungen entstanden sind. 

Ein aus eipem a^. abgeleitetes adv. verschmilzt zuweilen mit 
den nominalformra des verbums. Die erste veranlassung dazu wird 
zum teil dadurch gegeben, dass der eine von den beiden bestandteilen 
metaphorisch verwendet wird, vgl tieffühlend, weiigreifend, weUtragend, 
hochfliegend. Noch enger wird die Verbindung, wenn der erste bestand- 
teil eine funetion bewahrt, die er im allgemeinen verloren hat Hier- 
her gehören namentlich die Verbindungen mit wol wie waUeben, wol- 
schmeckend, wolriechend, woliuend etc., die ans der zeit her überliefert 
sind, wo 11^/ noch allgemeines adv. zu gut war. YgL ferner erst- 
geboren aus der zeit^ wo erst den sinn unseres zu erst hatte. Es wirkt 
auch hier die analogie nominaler composita, vgl zartfühlend — zart- 
gefilhl, scharfblickend -r- Scharfblick. Auch hier kann die comparation 
ein kriterium fttr den Vollzug der Verschmelzung sein, vgl bis zur schwer- 
fälligsten, kleinkauendsten Weitschweifigkeit (Schopenhauer); der tief- 
fühlendste geist (6oe.)) die reingewölbteste stim (ib.), die freigelegenste 

') Man könnte versucht sein, diese Wörter vielmehr als nominale composita 
zu fassen, aber man wOrde sich dadurch mit dem Sprachgefühle in widersprach 
setaeii, und man würde teilweise auf simplicia kommen, die gar nicht existieren 
wie sifliig und gebUch. 


289 

wolmmg (ib.). Verbreitet sind Superlative wie weitgreifendste, tioch- 
geehrtest er y hochverehrtester. Noeh merkwürdiger ist, dass von einer 
yerbindnng in der das adv. sehen saperlativiech ist, noeh ein Super- 
lativ gebildet wird, vgl. die zunächststehendsten (Frankf. zeit.).^ 

Auf einer ähnliehen zwitterstufe zwisehen compositum und syn- 
taktischem gefüge stehen manche Verbindungen eines verbums mit 
einem objectsaccusative, vgl. acht geben oder achtgeben, haushalten, 
standhalten, stattfinden, teilnehmen; femer Verbindungen eines verbums 
mit einem prädicativen adj. wie loskaufen, freigeben, freisprechen, feil- 
bieten, feilhalten, hochachten, wertschätzen, gutmachen. Die gründe, 
welche hier die annäherung an die composition veranlassen, sind ganz 
die gleichen wie bei den Verbindungen, die ein adv. enthalten. Es 
kommen dabei aber auch zum teil gliederungsverschiebungen in be- 
tracht, namenflich durchgängig bei der Verschmelzung des prädicativen 
^dj., vgl. s. 247. Der Übergang zum compositum ist natürlich auch 
hier bei den nominalformen am leichtesten. Mit einem objectsaccusativ 
verwachsene participia gibt es in grosser anzahl, vgl. feuerspeiend, 
grundlegend, notleidend, leidtragend, wutschnaubend, segenbringend, nichts- 
sagend. Auch hier kann die comparation als kriterium für eingetretene 
Verschmelzung dienen, vgl. die nichtsbedeuten^ten kleifiigkeiten (Seh.), das 
grundlegendste der mmgesetze (Kölner zeit), am gefährlichsten und feuer* 
(mgendsten (Deutscher reiehstag).^) Es lässt sieh aber keine scharfe 
grenze ziehen zwisehen spontaner Verschmelzung und analogiebildung 
naeh dem muster d^ nominalen oomposita, wie sie zweifellos vorliegt 
in Wörtern wie saftstrotzend, kraftbegabt, mondbeglänzt , die aber fast 
durchweg auf den höheren poetischen Stil beschränkt sind, lleber- 
fthmng in wirkliehe composition haben wir bei lobsingen, wahrsagen 
{wahr substantivisch «= Wahrheit), wobei beeinflussung durch ableitungen 
ans compositis wie ratschlagen, weissagen (vgl. s. 206) mitgewirkt haben 
mag. Ableitungen werden auch aus solchen Verbindungen gebildet, 
bei denen die Verschmelzung noch nicht vollständig ist, vgl. hatis- 
hälter, teilnehmer, freigebig; selbst grundlegung, Preisverteilung, Waffen- 
träger, holzhauer etc.; femer bekanntmachung, kundgebung, lostrennung.^) 


*) Die beispiele nach Andr. Sprachg. s. 120 und 42. 3, wo noch mehr aufge- 
führt werden. 

>) Nach Andr. a. a. o. 

3) Auch hier könnte ein zweifei entstehen, ob die betrefifenden Wörter nicht 
als nominale composita aufzufassen sind, aber das Sprachgefühl entscheidet wider 
fiir die oben ausgesprochene auffassung. Die analogle der nominaleu composition 
mag allerdings etwas mitgewirkt haben, aber bildungen wie freisprechung, bekannt- 
machung würden sich dieser analogie wegen ihrer bedeutung nicht fögen; sie 
mtissten ja sonst = freie sprechung, bekannte machung sein. 

Paul, Principien. 11. Auflage. 19 


290 

Wie die adverbia, 8o verBehmelzen aueli you einer präposition 
abhängige gabstanÜYa bis zs einem gewissen grade mit dem verb. 
Man pflegt zwat Verbindungen wie zu ffrunde legen oder in stand setzen 
nicht zasamaienzasehfeiben ausser beim snbsitantiYierten inf., aber man 
bildet die ableitungen Zugrundelegung^ msiandseizung^ ausserachtlassung^ 
zuhSUfenahme. Dazu die superlativbildung an dem sichtbarsten^ in die 
äugen fallendsten orte (Le.)- 

Ich möchte die anfmerksamkeit noch auf die vielen Verbindungen 
lenken, die wie die oben angeführten copulativen, nicht als coaiposita 
gefasst zu werden pflegen, die aber doch einen einheitlichen b^riff re- 
präsentieren, z. b. so wie so, vor wie nach, nmam für man», schritt ßr 
schritt (vgl franz. vis-hrvis, dos-h-dos, tSte-a-tete), von neuem, von haust 
aus, sobald als möglich, so gut wie, was für ein ^. Bei manchen 
dieser Verbindungen ist das zusammenwachsen zu einer einheit zu- 
gleich eine gliederungsversehiebung im satze, die sich in der constrnc- 
tionsweise bekundet. Wenn z. b. Lessing sagt ein mehr als natürliches 
gift, so ist die attributive Verwendung von mehr als natürlich und die 
flexion am ende nur dadurch möglich geworden, dass diese Verbindung 
als eine einheit gefasst ist wie übematürdich, und dass damit das geftthl 
für die weise der zusammenfttgung gesehwunden ist £j|tspreehend ver- 
halten sich die folgenden constructionen: mit einer nickte weniger ale schönen 
bewegung (Le«), m so wenig als mögliche morte (Le.), ausser der so lang 
€ds möglichen dauer (Le.). Noch auffaUender und dadurch abweichend, 
dass auch eine flexion im innern des g^EUges vorhanden ist> ist die 
mehrfach bei Lessing vorkommende construction m der leizten ahn eine 
zeile. Ftlr so gut wie vgl man Wendungen wie er hol mirs so gut wie 
versprochen. Das zu was für (»* quaUs) gehörige gabst war ursprüng- 
lich von für abhängig. So ist z. bc was habi ihr für pferde eigentlicb 
=» «was habt ihr an stelle der pferde*'. Wenn man aber jetzt sagt 
mit was für pferden, so eigsibt sich daraus, dass was für vobi Sprach- 
gefühl als ein indeelinables attribut au dem sabsi, welches eigentiieb 
von für abhängen sollte, gefasst wird. 

Die Unmöglichkeit zwisohen compositn« und syntaktisehem ge- 
fUge eine feste grenze zu ziehen, zeigt sich auch darin, dass öfters 
glieder eines sonst zweifellosen compositums mit selbständigen Wör- 
tern auf gleiche linie gestellt werden. Man scheut sich nicht zu sagen 
öffentliche und privatmittel , das ordinäre und . das feierkleid. Hans 
Sachs verbind"et sogar gesotten, pachen vnd prat fisch. Es werden femer 
zu dem ersten bestimmenden gliede eines compositums wie zu einem 
selbständigen worte bestimmungen hinzugefügt, nicht bloss solche, die 
allenfalls auch auf das g^nze bezogen werden köonten, wie dankes- 
worte für die gnade, sondern auch andere wie ein herausforderungslied 


291 

zum Zweikampf (Le.), ein böses erinnerungszeichen fllr ihn an die treu- 
losen Griechen (Herder), glavbensfreiheit an nmnder und zeichen (Goe.), 
der Vertragsentwurf mit Deutschland (Kölner zeit), hoffmmgsvoB auf die 
Zukunft (Goe.), erwartungsvoll des ausgangs (Wieland), hopeless to cir*- 
cumvent us join'd (Milton), fearless to he overmatch'd (ib.). Es werden 
endlich pronomina auf ein compositionsglied bezogen: menschengebote, 
die sich von der Wahrheit abwenden (Ln.), er hatte einen ameisenhaufen 
zertreten, die seine herrschaft nicht anerkennen wollten (Goe.), es gibt 
im menschenleben augenblicke, wo er dem wettgeist näher ist als sonst 
(Schi.). 

Zu lantverftnderungen, die eine isolierende Wirkung haben, ist 
in den traditionellen gruppen mannigfache reranlassung gegeben. Wir 
dürfen wol behaupten, wenn wir die ^ntwidk:elung auch nicht histo- 
risch verfolgen können, dass solehe Veränderungen meistens zuerst all- 
gemein bei engerer syntaktilBoher Verbindung eintreten, dann aber durch 
ansgleiehung wider beseitigt werden, und nur da wo in folge der be- 
deotungsentwiekeluig die elemeate sehen zu eng mit einander ver- 
wachsen sind, bewahrt bleiben. Die leichteste veränderuqg ist hin- 
ttberzi^nng eines anslauteiiden cons4manten zur folgenden cdlbe, vgl 
nhd. hinein, hieran, aüein, einander, lai etenm, etiam. Eine solche hin- 
ttberziehnng wirkt da nicht isolierend, wo sie wie im ftanzösischen 
allgemein bei engerer syntaktischer Verbindung eintritt Sie kaim z. b. 
in fällen wie peut-Stre nicht dazu beitragen einen engeren Zusammen- 
hang zn begründen, weil sie auch in il peut avoir eintritt. Wo sie 
aber dnrch einwirkung des etymologischen princips auf die traditio- 
nellen formen beschränkt wird, da werden diese eben dadurch fester 
zusammengefugt f^emer kommt in betracht eontraction eines auslau- 
tenden vokals mit dem anlautenden des folgenden wertes, respective 
elision eines von beiden, vgl. \sA. reapse, magnopere, äliorsum, rursus 
(aus *re'Ursus\ franz. aubepine {alba espina\ Bonnetable (ort im departe- 
ment Sarthe), malaise, got sah (dieser, aus sa-uh\ pammuh (diesem, aus 
pamma-uH)^ mhd. hinne (= hie inne), hüzen = nhd. haussen, nhd. binnen. 
Die ansstossung im französischen artikel {fetat) oder in der präpo- 
sition de begründet wider keine composition, weil sie nach einer all- 
gemeinen regel erfolgt und nicht auf einzelne formein beschränkt ist 
Ein dritter häufig vorkommender fall ist die assimilation eines aus- 
lautenden consotianten an den anlaut des folgenden Wortes, vgl. nhd. 
hoffart, Homburg (= Ilohenburg), Bamberg («s BabenBerg), empor (=^ ent* 
hor\ sintemal (== sint dem mcd)^ lat illico, aff'atim, possum. Die durch- 
greifendste isolierung aber wird durch Wirkungen des accents geschaffen, 
vgl. nhd. nachbar (= mhd. nächgebür)^ Junker («= juncherre\ Jungfer 
(= juncfrouwe\ grummet (= gruonmät), immer (ie mir)^ mannsen, weibsen 

19* 


2d2 

(= mamnei, njÜbes name\ neben (ans in eban, etieben), lai dermo {= de 
novo), iliico, franz. celie (ecce Uia); vgl die entsprechenden erschei- 
nnngen bei den nach indogermanischer weise gebildeten eompositis: 
nhd. adier (mhd. ad^-ar), Wimper (wini-brd), wildpret (wilibräi oder tviih 
bneie), schütze — schuitess {schultheize\ schusler {schuochsütcere, sehoh- 
näher), glied (ßelii), Ueibea (beliben), franz. conier (computare), coucher 
(collocare), coudre (consuere), lai^) sttbigere (gegen agere), reddere (gegen 
dare\ surgere (ans sub-regere), prtebere (ans prm-hibere\ coniio (aas 
conveniio), cuncii (ans co/uncii). 

Seltener ist es, dass lautliche Veränderungen der einfachen Wörter 
die veranlassung zur isolierung geben. Es geschieht das z. b. in der 
weise, dass ein auslautender consonant durch hinttberziehen zum fol- 
genden Worte sich erhält, während er sonst abfällt; vgl. nhd. da (abd. 
dar) wo (ahd. war) gegen daran, woran etc., mhd. hieran etc. gegen hie, 
särie gegen sä. Eine andere modification ist durch die hinüberziehang 
vermieden in vinaigre gegen vin. Wie die geringere tonslä^rke eines 
compositionsgliedes Veränderungen hervorrufen kann, denen das Sim- 
plex nicht unterliegt, so kann sie umgekehrt auch schützend wiiken, 
wo das Simplex unter dem einflusse des haupttons verludert wird, vgl. 
nhd. heran, herein gegen her, franz. cordieu, corbieu gegen coeur. Im 
nhd. wird der vokal eines ersten compositionsgliedes durch die folgende 
doppelconsonanz vor der dehnung geschtttet, der das simplex unter- 
W^gt? vgl« herzog, Hermann, herberge, wollust 

Die selben lautveränderungen , welche das compositum vom sim- 
plex trennen, trennen auch die einzelnen eomposita, welche das gleiche 
glied enthalten, von einander, und auch dadurch verliert das gefühl 
für die Selbständigkeit der glieder an kraft. 

Besonders entscheidend für das zusammenwachsen der elemente 
ist es natürlich auch, wenn das eine als simplex verloren geht; vgl. 
nhd. brautigam (ahd. -gumo mann), nachtigal {-gala Sängerin), weichbild 
{wich" heilig), augenlid {-lid deckel), einerlei {-leie art), wahrnehmen, 
franz. aubepine (aib-), printemps {primum-), tiers-etal (tertitis-), mimiil 
(media-y, bonheur (-avgurium), ormier ('merum). 

Wir haben bisher immer nur den gegensatz von wortgruppe nnd 
Worteinheit im äuge gehabt und uns bemüht alle momente zusammen- 
zufassen, welche dazu dienen die erstere immer entschiedener zur letz- 
teren umzugestalten. Es kommt aber dabei noch ein anderer gegen- 
satz in betracht Die geschilderte entwickelung muss bis zu einem 


*) Man muss, um die entstehung der angefllhrten formen zn Tersteben, w( 
die vorhistorische betonungsweise zurückgehen. 


j 


293 

gewissen punkte gediehen sein, damit der complex den eindrack eines 
compositums macht, sie darf aber auch nicht ttber einen gewissen 
pnnkt hinausgehen, wenn er noch diesen eindruck machen soll und 
nicht vielmehr den eines simplex. Was man vom Standpunkte des 
Sprachgefühls ein compositum nennen darf, liegt in der mitte zwischen 
diesen punkten. 

Syntaktische und formale Isolierung ftthren nicht leicht zur Über- 
schreitung dieses zweiten punktes; in der regel ist es Untergang des 
einen dementes in selbständigem gebrauche, was die Veranlassung gibt, 
oder lautliche Isolierung, namentlich das zusammenschmelzen des laut- 
körpers unter accenteinfliissen. 

Die lebendigkeit des geftthls für die composition zeigt sich be- 
sonders in der fähigkeit eines compositums als muster fttr analogie- 
bildungen zu dienen. Wenn wir die composition aus der syntax ab- 
geleitet haben, so soll damit keineswegs gesagt sein, dass jedes ein- 
zelne compositum ans einem syntaktischen complex entstanden ist. 
Vielmehr sind vielleicht die meisten sogenannten composita in den 
verschiedenen sprachen nichts anderes als analogiebildungen nach sol- 
chen, die im eigentlichen sinne composita zu nennen wären. So ist 
z. b. jedes in der flexivischen periode der indogermanischen grund- 
sprache und vollends jedes innerhalb der einzelsprachlichen entwicke- 
Ittng neugeschaffene eigentliche nominalcompositnm als eine analogiebil- 
dung aufzufassen und nicht als Zusammensetzung eines gar nicht mehr 
existierenden reinen Stammes mit einem flectierten worte. Ebenso sind 
ansere neuhochdeutschen genitivischen und adjectivisehen composita 
zam grossen teile von anfang an nicht syntaktisch gewesen. Das sieht 
man am besten an solchen fällen, wo das aus der genitivendung ent- 
standene s des ersten gliedes auf Wörter tibertragen wird, denen es im 
gen. gar nicht zukommt {regierungsrat etc.) und auf solche, wo der 
genitiv gar nicht hingehört, vgl wahrheitsliebend nach Wahrheitsliebe 
u. dergl. 

Wird die grenze tiberschritten, bis zu welcher das compositum 
dem sprachgeftthl noch als solches erscheint so macht das gebilde, 
von den eventuellen flexionsendungen abgesehen, entweder den ein- 
druck vollkommener einfachheit oder den einer mit einem suffix oder 
präfix gebildeten ableitung. So nehmen sich Wörter wie nhd. amt (goi 
and'bahti\ öhmd (mhd. uo-mät\ schütze (mhd. schuldheize\ echt (aus 
mnd. ihaht = mhd. e'haft\ heute (aus *hiu tagu\ heini (mhd. hi-naht)^ 
Seibt (ahd. Sigi-boto), bange (aus *bi-ango), gönnen (aus *gi'Unnan\ 
fressen (got. frmtan\ nicht (aus ni io wihi\ lai demere (aus *de'emere\ 
promere (aus *pro'emere\ sttrgere (aus *sub-regere\ prorsus (ans *pr(h 


294 

versus) nieht anders aus wie etwa stand, hose, bald, binden, pangere, 
versus) and Wörter wie adler (ahd. adcU-ar)^ schuster (mhd. schuochsiu- 
t(ere)f tvimper (ahd. wint'bräfva\ drittel («» dritte teil), Meinert (= Mein- 
hard) nieht anders als solche wie Schneider, leiter, mittel, hundert. 
Auch in Wörtern wie nachbar, bräutigam, nachtigal wird die letzte silbe 
nieht anders anfgefasst werden wie die vollen ableitungssilben in trvb- 
säl, rechnung n. dergl. 

Hier sind wir bei dem Ursprünge der ableitungssnffixe und 
präf ixe angelangt. Dieselben entstehen anfänglich stets so, dass ein com- 
positionsglied die flihlung mit dem ursprünglich identischen einfachen 
werte verliert Es mnss aber noch mehreres andere hinzukommen, damit 
ein wortbildendes dement entsteht Erstlieh muss das andere glied etymo- 
logisch klar sein, mit einem verwandten worte oder einer verwandten 
wortgmppe associiert sein , was s. b. bei adler, wimper nicht der fall 
ist Zweitens mnss das dement nicht bloss in vereinzelten Wörtern 
anftreten (wie in nachbar, bräutigam)^ sondern in einer gmppe von 
Wörtern und in allen mit gleicher bedentnng. Sind diese beiden be- 
dingongen erftUlt, so kann die gmppe schöpferisch werden und sich 
durch neuschöpfungen nach den auf dem wege der composition ent- 
standenen mustern vermehren. Es muss dann aber drittens noch die 
bedeutung des betreffenden compositionsgliedes entweder schon im 
Simplex eine gewisse abstracte allgemeinheit haben (wie wesen, eigen- 
Schaft, tun) oder sich innerhalb der composition aus der individuelleren, 
sinnlicheren des simplex entwickeln. Dieser letztere umstand kann 
sogar unter umständen entscheidend sein, wenn auch das gefühl des 
Zusammenhangs mit dem simplex noch nicht ganz verloren ist 

Wir haben innerhalb der verfolgbaren historischen entwickelnng 
gdegenheit genug zu beobachten, wie auf die bezeichmste weise ein 
Suffix entsteht Am bekanntesten sind aus dem deutschen -heit, -schaft, 
'tum, "bar, -lieh, -satn, -haft. Der typus eines wertes wie weiblich z. b 
geht zurück auf ein altes bahuvrihi-compositum, urgermanisch *mbo- 
likis^) eigentlich ^weibesgestalt', dann durch metapher ^weibesgestalt 
habend'. Zwischen einem derartigen compositum und dem simplex, 
mhd. lieh, nhd. leiche ist eine derartige discrepanz anfänglich der be- 
deutungen, später auch der lautformen herausgebildet, dass jeder Zu- 
sammenhang aufgehoben ist Vor allem aber hat sich aus der sinn- 
lichen bedeutung des simplex 'gestalt, äusseres ansehen' die abstrac- 
tere ^beschaffenheit' entwickelt Bei einem werte wie Schönheit 


*) Mir kommt es hier und im folgenden nur darauf an die büdungsweise zu 
yerauflchaulichen , und ich will nicht behaupten , dass gerade das als beispiel ge- 
w^te wort zu den ursprünglichen biidungen gehört habe. 


i 


295 

sich erist innerhalb des westgermanischen ans der syntaktischen grnppe 
ein compositum, ans dem compositam eine ableitang eniwiekeli Ur*- 
germ, "^skaunis haidus 'schöne eigenschaft;', daraus regelrecht lantlich 
entwickelt ahd. scSnheit. Durch ttbertragung der flexionslosen form in 
die obliquen casus ist die composition vollzogen gerade wie in hdchzU 
u. dergl, vgl. s. 284. Vermöge seiner abstracten bedeutung wird dann 
das zweite glied zum suffix, zumal nachdem es in selbständiger Ver- 
wendung verloren gegangen ist 

Auch noch in einer späteren zeit nähern sich manche zweite 
compositionsglieder dem Charakter eines suffixes. So sind $chmerzvoii, 
schmerzensreich in ihrer bedeutung nicht verschieden von lat. doiarosus, 
franz. dotUoureux, der unterschied zwischen anmutsvoll und anmuiiff, reiz^ 
voll und reizend ist ein geringer. Das -iel (= teit) in drittel^ viertel etc. 
ist dem sprachgeftthl ein suflSx. Auch in allerhand, allerlei, gewisser- 
massen, seltsamerweise etc. ist der ansatz zur suffixbildung gemacht 
Von -weise könnte man sich recht gut vorstellen, dass es sich bei 
weiter gehender Verallgemeinerung zum durchgehenden adverbialsufQx 
hätte entwickeln können gerade wie -mente in der romanischen Volks- 
sprache. 

Die Scheidelinie zwischen compositionsglied und suffix kann nur 
Dach dena sprachgeflihl bestimmt werden. Objective kriterien zur be- 
nrteilung desselben haben wir in der band, sobald durch die analogie 
bildungsweisen geschaffen werden, die als composita undenkbar sind. 
So könnte man zwar franz. fierement noch als fera mente auffassen, 
aber z. b. ein recemment wäre auf recente mente zurttckgefllhrt wider- 
sinnig. Die grundbedeutung unseres -bar (= mhd. -beere) ist 'tragend, 
bringend'. Wörter wie ehrbar, furchtbar, wunderbar wttrden dazu noch 
einigermassen passen; aber schon mhd. mdgetbmre (jungfi^ulich), meien- 
hcere (zum mai gehörig), scheffenbcere (zum schöffenamt befähigt) nicht 
mehr. Vollends entschieden ist der suflSxcharakter, wenn die analogie 
zum hinttbergreifen in ganz andere Sphären führt wie in vereinbar, be- 
greiflich, duldsam etc., die nur als ableitungen aus vereinen, begreifen, 
dulden gefasst werden können (vgl. darübei* oben s. 20tS); oder wenn 
snffixverschmelzungen stattfinden (vgl. darüber oben s. 203) wie in mhd. 
miltecheit, miltekeit aus miltec-heit, woraus dann analogiebildungen ent- 
springen wie einerseits frömmigkelt, gerechtigkeit , anderseits eitelkeit, 
fieiterkeltf dankbarkeit, abscheulichkeit, folgsamkeit. 

Aus diesen beobachtungen , fzu denen wir leicht aus andern 
sprachen eine menge ähnlicher hinzufügen könnten, müssen wir 
schliessen, dass die suffixbildung nicht das werk einer bestimmten 
vorhistorischen periode ist, das mit einem bestimmten Zeitpunkte ab- 


296 

gesehlossen wäre, sondern vielmehr ein, so lange die spräche sich 
lebendig fortentwickelt, ewig sieh .widerholender process. Wir können 
speeiell yerrnnten, dass anch die gemeinindogermanischen snf&xe nicht 
schon alle vor der entstehnng der flexion vorhanden waren, wie die 
zergliedernde grammatik gewöhnlich annimmt, sondern dass anch die 
vorgesehichtilohe flexivisehe periode nicht ganz nnfrnchtbar in dieser 
beziehnng gewesen sein wird. Wir mttssen die vorgeschichtliche ent- 
stehnng von snffixen durchaus nach dem massstabe beurteilen, den 
uns die geschichtliche erfahrnng an die band gibt, und mit allen 
theorieen brechen, die nicht auf diese erfahrnng basiert sind, die uns 
zugleich den einzigen weg zeigt, auf welchem der Vorgang psycho- 
logisch begreifbar wird* 

Noch ein wichtiger punkt muss hervorgehoben werden. Die ent- 
stehnng neuer suffixe steht in stätiger Wechselwirkung mit dem unter- 
gang alter. Wir dürfen sagen, dass ein suffix als solches unterge- 
gimgen ist, sobald es nicht mehr fähig ist zu neubildungen verwendet 
zu werden. In welcher weise namentlich der lautwandel darauf hin- 
wirkt diese fähigkeit zu vernichten, ist oben s. 160 auseinandergesetzt 
So stellt sich immer von zeit zu zeit das bedttrfiiiss heraus ein zu sehr 
abgeschwächtes, in viele lautgestaltungen zerspaltenes suffix durch ein 
volleres, gleichmässiges zu ersetzen. Dazu bieten sich häufig die ver- 
schmolzenen suffixcomplexe dar. Man sehe z. b., wie im ahd. von den 
nomina agentis auf -äri, den nomina actionis auf -unga, den abstractis 
auf -nissa die älteren einfacheren bildungsweisen zurückgedrängt wer- 
den. In andern fällen aber sind es die composita von der beschrie- 
benen art, die den willkommenen ersatz bieten, in der regel zunächst 
neben die älteren bildungen treten, dann aber rasch wegen ihrer 
grösseren deutlichkeit, ihrer innigeren beziehungen zum grundworte 
ein entschiedenes Übergewicht über diese erlangen und sie bis auf 
eine grössere oder kleinere zahl traditioneller reste überwältigen. So 
verdrängt Schönheit das jetzt veraltete schöne, finsterkeit das noch im 
mhd. lebendige diu vinster etc. 

Auf die gleiche weise wie die ableitungssuffixe enstehen flexions- 
suffixe. Zwischen beiden gibt es ja überhaupt keine scharfe grenze. 
Wir haben auch hier für die vorgeschichtlichen Vorgänge einen mass- 
stab an den geschichtlich zu beobachtenden. Das anwachsen des pro- 
nomens an den tempusstamm lässt sich z. b. durch Vorgänge aus bea- 
tigen bairischen mundarten erläutern, die schon s. 261 besprochen sind. 
Die bildung eines tempusstammes zeigt sich am handgreiflichsten am 
romanischen fut.: fmmerm = amare habeo. Doch es scheint mir tiber- 
flüssig aus der masse des allgemein bekannten und jedem zur band 
liegenden materials noch weitere beispiele zusammenzutragen. 


297 

Zieht man aas unserer beirachtang die methodologischen 
conseqnenzen, so wird man zugestehen müssen, dass das verfahren, 
welehes bisher bei der constmetion der arverhältnisse des indogerma- 
nischen eingeschlagen zu werden pflegte, sehr yerwerflich ist Ich 
hebe einige nach dem obigen selbstverständliche Sätze hervor, nach 
denen die bestehenden theorieen zu corrigieren oder gänzlich umzu- 
stossen sind. 

Wenn man die indogermanische grundform eines wertes, auch 
vorausgesetzt, dass sie richtig eonstruiert ist, nach der ttblichen weise 
in stamm und flexionssuf&x und den stamm wider in wurzel und ab- 
leitungssnffix oder suffixe zerlegt, so darf man sich nicht einbilden, 
damit die demente zu haben, aus denen das wort wirklich zusammen- 
gesetzt ist. Man darf z. b. nicht glauben , dass die 2 sg. opt. präs. 
Hherois (früher als *bharais angesetzt) aus bher + o + i + s ent- 
standen sei. Erstens muss man in betraeht ziehen, dass zwar die 
ersten gmndlagen der Wortbildung und flexion durch das zusammen- 
wachsen ursprünglich selbständiger demente geschaffen sind, dass 
aber diese grundlagen sobald sie einmal vorhanden waren, auch sofort 
als muster für analogiebildungen dienen mussten. Wir können von 
keiner einzelnen indogermanischen form wissen, ob sie aus einem syn- 
taktischen wortcomplex entstanden oder ob sie eine analogiebildung 
nach einer fertigen form ist Wir dürfen aber auch gar nicht einmal 
ohne weiteres voraussetzen, dass der typus einer form auf die erstere 
weise entstanden sein müsste. Vielmehr müssen wir auch schon fttr 
die älteste periode den factor in anschlag bringen, der in den jüngeren 
eine so grosse rolle spielt, die Verschiebung des bildungsprincipes durch 
analogiebildung. So wenig, wie wir die typen besuch, unbestreitbar, 
unveränderlich, vertvaltungsrat auf einen syntaktischen complex zurück- 
ftlhren können, ebenso wenig wird das bei vielen indogermanischen 
bildungen statthaft; sein. Zweitens muss berücksichtigt werden, dass 
auch in denjenigen formen, die wirklich syntaktischen Ursprungs sind, 
die demente nicht mehr in der lautgestaltung vorzuliegen brauchen, 
die sie vor ihrem aneinanderwaehsen hatten. So wenig wie schusters 
aus schu + ster + s entstanden ist, so wenig braucht ein indogerma- 
nischer gen. akmenos aus ak + men + os entstanden zu sein. Eine 
reihe von Veränderungen, welche die demente erst innerhalb des ge- 
ftges erlitten haben können, hat man längst erkannt, andere sind 
neuerdings nachgewiesen. Es ist aber durchaus möglich und sogar 
wahrscheinlich, dass die summe dieser Veränderungen mit dem er- 
kannten noch lange nicht erschöpft ist. 

Noch weniger darf man glauben, dass die durch analyse ge- 
fundenen elemente die urdemente der spräche überhaupt sind. Unser 


2d8 

Unvermögen ein' element zn analysieren beweist gar nichts für dessen 
primitive einbeit 

Oänzlieh fallen lassen mnss man die für die gesebichte der indo- 
germaniseben flexion beliebte sebeidnng in eine periode des anfbaus 
nnd eine periode des Verfalls. Das, was man auf bau nennt, kommt 
ja, wie wir gesehen haben, nur durch einen verfaU zn stände, und da«, 
was man verfall nennt, ist nur die weitere fortsetzung dieses proeesses. 
Aufgebaut wird nur mit httlfe der syntax. Ein soleher aufban kann 
in jeder periode stattfinden, und neuaufgebautes kitt immer als ersatz 
ein da, wo der verfall ein gewisses mass überschritten hat 


Cap. XX. 

Die scheidnng der redeteile. 

Die übliche Scheidung der redeteile in den indogermanischen 
sprachen, wie sie von den antiken grammatikem überkommen ist, 
beruht nicht auf consequent durchgeführten logischen principien, sie ist 
vielmehr zu stände gekommen unter berücksiehtigung sehr verschiedener 
Verhältnisse. Sie trägt daher den character der willkührlichkeit an sich. 
Ihre mängel lassen sich leicht zeigen. Es würde aber nicht möglich 
sein etwas wesentlich besseres an die stelle zu setzen, so lange man 
darauf ausgeht jedes wort in eine bestimmte klasse unterzubringen. 
Der versuch ein streng logisch gegliedertes System aufzustellen ist 
überhaupt undurchführbar. 

Es sind drei punkte, die bei der üblichen einteilung massgebend 
gewesen sind: die bedeutung des wertes an sich, seine function im 
Satzgefüge, sein verhalten in bezug auf flexion und Wort- 
bildung. 

Was den ersten punkt betriflPt, so eorrespondieren zunächst die 
grammatischen kategorieen substantivum, adjectivum, verbum mit den 
logischen Substanz, eigenschafi;, tätigkeit oder richtiger geschehen. Aber 
wenn es auch die eigentliche function des substantivums ist eine Substanz 
zu bezeichnen, wozu ein adj. oder verb. nicht fähig ist, so gibt es doch 
auch substantivische bezeichnungen der eigenschaft und des geschehens. 
Es gibt ferner verba, die dauernde zustände, eigenschaften bezeichnen. 
Die rücksicht auf die bedeutung der Wörter an sieh hat ferner dazu 
mitgewirkt, dass man die pronomina und die Zahlwörter als besondere 
klassen aufgestellt hat. Wenn man diese nun den klassen der sub- 
stantiva und der adjectiva coordiniert, so liegt darin ein starker logi- 
scher fehler. Der gegensatz von subst. und adj. geht auch durch die 
pronomina und Zahlwörter hindurch. Anderseits müsste man, wenn man 
auf dem gebiete der nomina die pronomina und Zahlwörter als besondere 
klassen ausscheidet, die selbe ausscheidung auch auf dem gebiete der 
adverbia vornehmen; denn bene — huc — bis verhalten sich zu einander 
wie bonm — hie — duo. 


300 

Siebt man auf die fanction im satzgefttge, so könnte man die 
Wörter vielleicht zunächst scheiden in solche, die für sich einen satz 
bilden, solche, die fähig sind als Satzglieder zu dienen, und solche, die 
nur zur Verbindung von Satzgliedern dienen, Verbindungswörter. 

Unter die erste klasse könnten wir die interjectionen stellen, die 
isoliert als unvollkommene sätze zu betrachten sind. Aber dieselben 
kommen doch auch als Satzglieder vor, die mit einem subst teils un- 
mittelbar, teils durch vermittelung einer präposition zu einem satze 
verbunden werden, vgl. wehe dem lande, o üJber die toren, mhd. ach 
mnes Hbes. 

Ein vollkommenerer satz mit andeutung von subj. und präd. ist 
ursprünglich das verb. finitum. Wir finden dasselbe aber daneben 
schon auf der ältesten überlieferten stufe als blosses präd. neben einem 
besonders ausgedrückten subjecte und in unserer jetzigen spräche nnr 
so, abgesehen vom imperativ. Es ist daher doch nicht möglich die 
satznatur als kennzeichen des verbums hinzustellen. Und weiter sind 
die sogenannten hülfszeitwörter zu verbindnngswörtern degradiert 

Die Verbindungswörter sind, wie wir s. 245 gesehen haben, dnreh 
eine gliederungsverschiebung aus selbständigen Wörtern entstanden. 
Dieser process widerholt sich immer von neuem. Sie sind daher schon 
deshalb nicht scharf abzugrenzen. Dazu kommt, dass ein wort inner- 
halb des einzelsatzes, dem es angehört, Selbständigkeit haben, aber 
doch zugleich zur Verknüpfung dieses satzes mit einem anderen dienen 
kann. Sage ich z. b. ein mensch, der das glaubt, ist ein narr, so ist 
der innerhalb des relativsatzes selbständiges glied, aber zugleich ver- 
bindungswort zwischen haupt- und nebensatz. Das nämliche gilt über- 
haupt von dem relativen pron. und adv. Es gilt auch von dem de- 
monstrativum, soweit es auf den vorhergehenden oder folgenden 
satz weist, dagegen wider nicht, soweit es auf die vorliegende an- 
schauung geht. 

Versuchen wir dann eine weitergehende teilung, so verwickek 
wir uns wider in Schwierigkeiten. Das subst hat im gegensatz zum 
adjectivum und verbum vor allem die function als subj, zu dienen und 
danach als object im weitesten sinne. Wenn neben den substanz- 
bezeichnungen auch solche substantiva geschaffen sind, die eine eigen- 
Schaft oder ein geschehen bezeichnen, so beruht dies wol anfänglieh 
auf einer phantasievollen anschauung, durch welche eigensehaften und 
Vorgänge zu dingen oder personen gestempelt werden. Weiterhin aber 
ist es eben die fähigkeit der substantivischen bezeichnungen beliebig 
als subj. oder obj. zu dienen, was die veranlassung giebt sie zu schaffen. 
Bei alledem aber kann doch wider auch das subst. attributiv und prä- 
dicativ verwendet werden wie ein adj., und können anderseits aneh 


301 

andere Wörter als subj. fangieren; ich meine nicht etwa bloss als psy- 
ehologisches snbj. im weitesten sinne, sondern auch als grammatisches 
sabj. in dem üblichen beschränkten sinne. Vgl. Sätze wie frisch gewagt 
ist halb gewonnen, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, hin ist hm, verloren 
ist verloren, grün ist die färbe der hoffnung\ ehrlich währt am längsten^ 
doppelt genäht hält gut, Jung gefreit hat niemand gereut, allzu scharf 
macht schartig, gleich wider ist die beste bezahlung, geradezu gibt gute 
rennet. Anch als obj. kann zuweilen ein adj. erscheinen, vgl. er hält 
gut fUr böse; femer abhängig von präpositionen, vgl. schwarz auf weiss, 
aus arg ärger machen. 

Wenden wir ans zu den verbindungswörtem, so erregt die klasse 
der conjunctionen, wie sie gewöhnlich aufgestellt wird, allerhand be- 
denken. Zunächst ist die Scheidung von den demonstrativen und re- 
lativen adverbien, deren Stellung oben (s. 300) characterisiert ist, eine 
ziemlich willkürliche, indem man z. b. wo als adv., als, während als 
conjunctionen bezeichnet. Im einzelsatze unterscheidet man dann prä- 
positionen und conjunctionen, je nachdem casusrection stattfindet oder 
nicht, d. h. also im allgemeinen je nachdem hypotaxe oder parataxe 
stattfindet. Vollständig decken sich allerdings diese beiden Unter- 
scheidungen nicht. Dagegen bezeichnet man alle Verbindungswörter, 
die Sätze unter einander verknüpfen, als conjunctionen, während man 
doch hier auch den unterschied zwischen hypotaxe und parataxe 
machen sollte. Man bezeichnet z. b. ehe, seit, während, wo sie im ein- 
fachen satze auftreten, als präpositionen, wo sie zur Verknüpfung von 
Sätzen dienen, als conjunctionen, während doch die funetion in beiden 
fällen analog ist.^ 

Am consequentesten lässt sich noch die Scheidung nach der 
flexionsweise durchfahren. Und in der tat wird danach die Scheidung 
in drei hauptklassen gemacht, nomina, verba und flexionslose Wörter 
(indeclinabilia, partikeln). Aber auch hierbei zeigen sich die nominal- 
formen des verbums und die substantivierten indeclinabilia wider- 
strebend. Und zu einer weiteren sonderung reicht die rücksicht auf 
die flexion nicht aus. Die indeclinabeln partikeln lassen sich danach 
überhaupt nicht weiter einteilen. Die pronomina weichen in der flexion 
zum teil von den übrigen nomina ab, aber nur zum teil und dann 
wider untereinander. Der unterschied zwischen substantivischer und 
adjectivischer flexion ist kein durchgängiger. Auch die bildbarkeit 
der Steigerungsformen kann nicht als entscheidendes kennzeicfaen des 


*) Ueber die Verwendung von prSpositionen zur einleitnng von nebensStzen 
im engl. vgl. s. 137. 


302 

adjectivums gelten, da sehon die bedeatang maneher adjectiva keine 
steigeruQgsformen zalässt 

Wenn demnach bei der üblichen Scheidung der redeteile so ver- 
schiedenartige rttcksiehten in frage kommen, die mit einander in con- 
flict geraten kennen, so ist es ganz natürlich, dass diese Scheidung 
überhaupt nicht wirklich durchführbar ist Die dabei in betracht 
kommenden Verhältnisse sind zu mannigfaltig und erscheinen in zu 
verschiedenartigen combinationen , als dass eine einordnung in acht 
oder neun rubriken genügen könnte. £s gibt eine menge Übergangs- 
stufen, vermöge deren ein allmähliger Übergang aus der einen Masse 
in die andere möglich ist Ein solcher Übergang erfolgt nach den 
allgemeinen regeln des bedeutungswandels und der analogiebildnng, 
wie wir sie in den voraufgehenden capiteln. kennen gelernt haben. 
Verfolgt n^au diese Übergänge, so erhält man damit zugleich anfklärnng 
über die Ursachen, die ursprünglich eine differenziernng der redeteile 
hervorgebracht haben. 

Betrachten wir zunächst den unterschied zwischen subst und adj. 
Die formelle Scheidung beider beruht in den indogermanischen sprachen 
auf der wandelbarkeit des letzteren nach dem geschleeht und auf der 
bildung der Steigerungsformen. In einzelnen sprachen haben sich dazu 
noch weitere unterscheidungsmittel herausgebildet. So hat namentlich 
das germanische adj. die mögliehkeit einer doppelten, wir können sogar 
sagen dreifachen flexionsweise erlangt (vgl. gut — guter •— der guie\ 
wobei sich formen finden, die in der flexion der substantiva gar keine 
analogie haben. 

Man ist auf grundlage solcher kriterien z. b. nicht zweifelhaft, 
dass man hund für ein subst., ßing fllr ein adj. erklären muss. Aber trotz 
aller formellen diflferen zierung kann das adj. ohne weiteres die function 
eines substantivums erhalten, zunächst oceasionell, dann auch usuell. Es 
findet dabei eine bereicheruug des bedeutuugsinhaltes statt, indem ent- 
weder die ganz allgemeinen Vorstellungen eines dinges oder einer person 
mit aufgenommen werden oder speciellere, aus der Situation sich erge- 
bende (vgl. s. 271). Diese Operation können wir oceasionell mit jedem be- 
liebigen adj. machen, welches denn auch unser jetziger schreibgebraueh 
durch Verwendung der majuskel als subst. anerkennt. Durch traditio- 
nelle Verwendung kann sich dann aus dem substantivierten adj. ein 
reines subst. entwickeln, zumal wenn es gegen die sonstijgen formen 
des adj. irgendwie isoliert wird. Der fortöchritt in der Substantivierung 
bekundet sich hinsichtlieh der eonstruction namentlich durch die Ver- 
knüpfung mit einem attributiven adjectivum, welches an stelle des ad- 
verbiums tritt, oder mit einem gen., der eventueU an stelle eines vom 
adj. regierten dativs tritt Vgl. lat. bonum publicum, malum publicum, 


308 

amicus fidelis; aueh obne dass die ftubstaDtmernng schon so ti^ditionell 
geworden ist, sagt man nonnulli nastri iniqui, nonnullis mviäis meis (vgl. 
Draeg. § 16); vgl ferner engl, my like, equal, better, younger etc. (Mätzn. 
III, s. 232), hü worthier (Milton); mbd. min geliche (woher nhd. meines 
gleichen). Dabei findet sich mischung substantivischer und adjectiviseher 
construction, vgl. lai mtdtorum bene factorum (Cic) In anderer weise 
yermischt sich die auffassung, indem trotz der Substantivierung ein 
Superlativ gebildet wird: mei famUiarissmi^ pessimo pvblico (vgl. Draeg. 
§ 16). Im lat geht die völlige Substantivierung ohne Schwierigkeiten 
vor sich, weil keine abweichung in der flexion besieht. Im deutschen 
dagegen erinnert auch bei schon sehr fortgeschrittener Substantivierung 
doch die adjectivische flexion an die ursprüngliche natur des Wortes. 
Der bekannte, verwandte, gesandte, vertraute, geliebte, verlobte, beamie, 
bediente^ liebste werden jetzt als substantiva empfunden und demgemäss 
eonstruiert {der bekannte des marmes, mein bekannter)^ aber als adjectiva 
verraten sie sieh noch durch den regelmässigen Wechsel starker und 
sehwacber flexion (der bekannte — ein {mein) bekannter)^ die entsprechen- 
den feminina dazu durch die sehwache flexion im sing., die beim eigent- 
lichen subst. ausgestorben ist {die bekannte gegen die zunge). In voll- 
ständige substantiva aber umgewandelt sind der junge {ein junge), der 
greis (mhd. gtise vom adj. gris\ der j^tnger (die beide aus der schwachen 
declination in die starke Übergetreten sind), oberst, Aelteren Ursprungs 
sind feinä, freund, heäand, mhd. mguni (kämpfer) välant (teufel), alles 
alte participia präs., ferner fürst (alter superl.), herr (alt^ eompar. von 
hehr), mensch (adj, mennisch von man) und die neutra gut, übel, recht, 
leid, wild. Diese Verwandlung des adjectivums in ein subst. ist all- 
bekannt und lässt sich in allen sprachen nachweisen. 

Nieht so bekannt und viel interessanter ist der umgekehrte vor* 
gang, die Verwandlung eines substantivums in ein adj. Diese kommt 
zu Stande dadurch, dass etwas aus dem bedeutnngsinhalt ausgeschieden 
wird, indem miadest^is von der Vorstellung einer Substanz abgesehen 
wird, so dass nur die der Substanz anhaftenden qualitäten übrig bleiben. 
OccasioneH findet diese Verwandlung eigentlich schon statt, sobald ein 
subst. als präd. oder attribut verwendet wird. Denn es werden dadurch 
der Substanz des subjects oder des bestimmten wertes nur qualitäten 
beigdegt, es wird nicht ausser dieser noch eine neue Substanz gesetzt. 
Die appositi^n nähert sich namentlich da der natur des adjeetivums, 
wo sie zur specialisierung einer gattting gebraucht wird, zumal wenn 
die Verbindung noch eine vom normalen abweichende kühnheit enthält, 
^gl« griech. avr^Q jcoXlzrjg, qi^xoiq, ojcIIttjq etc., yvvfj öicjtoLva^ sogar 
^aQ&'Bvog xüq; lat exercitus victor (Liv») tirones miUtes (Cie«), bellator 
eguus (Virg. Ov.), bos arator (Sueton); franz. un dieu sauveur {yoHaAre)] 


304 

flaiteur und andere Wörter anf -eur müssen geradezu aueh als adjeeti?a 
angesehen werden. Die adjeetivisehe natur kann sich durch beifttgung 
eines eigentlich nur dem adj. zukommenden abrerbiums bekunden; vgl 
weg du träum, so gold du bist (Goe.); diesen Widerspruch^ so Widerspruch 
als er ist (Le.); so krieg er inn als sie war (ib. und so öfter); so ist er 
fuchs genug (Le.); lat. nemo tarn puer est (Seneca). 

Einige substantiva werden im nhd. in prädicativer Verwendung 
schon geradezu als adjectiva empfunden, unterscheiden sieh aber doch 
dadurch von wirklichen adjectiven, dass sie nicht attributiv und mit 
adjectivischer flexion gebraucht werden. Hierher ziehen lässt sichwol 
schon herr oder meister sein (werden). Goethe sagt: als wenn sie 
(Narciss und Landrinette) herr und meister der ganzen trappe wären. 
Hier zeigen die beiden Wörter noch substantivische natur, insofern ein 
gen. davon abhängt, aber zugleich sind sie wie praedicative adjectiva 
behandelt, da sie sonst nicht unflectiert neben einem pluralischen sab- 
lecte stehen könnten und ausserdem zu der einen weiblichen person 
nicht passen wttrden. Noch entschiedener hierher zu ziehen ist einem 
feind sein wegen des dativs. Femer schuld sein, wobei sich die Iso- 
lierung gegenttber dem snbst. schuld in der Orthographie zeigt; weniger 
entschieden es ist not, zeit, worin es von hause aus gen. ist Koch 
weiter geht die isoliemng in es ist schade, indem das subst. jetzt ge- 
wöhnlich schaden lautet Im mhd. war die entwickelung schon noch 
weiter gegangen. Hier wird schade aueh als prädicat zu persönlichen 
subjecten gebraucht und es kommt auch ein comparativ und Superlativ 
davon vor, z. b. im Trojanerkrieg Konrads v. Wtlrzb. der was den 
/kriechen scheder dan lernen anders bi der ztt;^) femer wird dazu ein 
adv. gebildet wie zu einem adj. : swie schade er lebe (Mhd. wb. 11^ 63^). 
Ebenso wie schade wird im ahd. /ruma (vorteil) gebraucht, z. b. Otfried 
ni, 10, 33 ,mW' quad er thö ,/ruma thaz' (es ist das kein vorteil). 
Schon im mhd. ist daraus ein wirkliches adj. frum, nhd. fromm ge- 
worden. Man sagt ein frumer man etc. Wie sehr dabei die grenzlinie 

*) Auch von andern Substantiven kommen im mhd. steigeningsformen vor, 
selbst wo das satzgeftige die auffassung als adj. nicht zulässt So von zorn, vgl. 
do enkunde Giselhere nimmer zorner gestn; von not, vgl. düner helfe mir nie 
nceter wart; von dürft, vgl. wand im nie orses dürfter wart. Von angst gibt es 
im älteren nbd. einen comp., vgl. also viel engster sol dir werden Lnth. (Wb. 1, 
359»). In diesen fällen hat nicht so wol die analogie des a4). als die des adv. ge- 
wirkt Das zeigt schon die hHufige yorbinduog angst und bange (bange ist ur- 
sprünglich nur adv.). In Gottfrieds Tristan 1 7845 heisst es in was dd zuo einander 
Vit anger und vil ander; ange ist adv. zu enge, ande snbst. (schmerz). Wir ver- 
wenden das adv. noch so in mir ist wol, weh. Lateinische Superlative ans Sub- 
stantiven kommen bei Plantus vor: ooulissime homo, patrue mi pairmssime, jedoch 
wol mit beabsichtigter komischer Wirkung. 


305 

verwischt wird, zeigt eine stelle im Flore 1289 daz wirt in nütze unde 
frume (:kume), wo wir mit rUeksicht auf die Verbindung mit nütze das 
adj., mit rttcksicht auf das auslautende e noch das subst. annehmen 
mttssten. Auch das adj. ernst, welches bei Luther zuerst auffritt, ist 
anf die nämliche weise wie fromm aus dem subst. entstanden. Das 
sahst, geck ist in nieder- und mitteldeutschen dialecten zum adj. ge- 
worden. Entwicht aus mhd. ein wiht, enrviht (eigentlich „ein unbe- 
deutendes wesen" = „gar nichts, nichtig") ist im sechszehnten jahrh. 
vollständiges adj., vgl. entwicht vnd ark (H. Sachs), du bist vil enlwichter 
(ib.), die bös entwichten (Ayrer). 

Der nämliche process hat sich schon in einer viel früheren spraeh- 
periode vollzogen. Sämmtliche sogenannte bahuvrlhi-composita sind 
ursprünglich substantiva. Denn ein ^öoöaxrvXogj ßaQvd-vfiog, ßad-v&Qi^, 
BveXjtK;, magnanimus, ignipes, misericors sind ja eigentlich 'rosenfinger, 
Schwermut, tiefhaar, gute hoffnung, grosssinn, feuerfuss, mitleidiges 
herz.' Der substantivische Ursprung doeumentiert sich zum teil noch 
in einem mangelhaften ausdruek der adjectivischen function. Die mas- 
culinform gododaxrvXog muss auch für das femininum dienen. 

Etwas anders verlaufen ist die entwiekelung bei barfuss aus bar 
vuoz (blosser fnss). Dasselbe wurde zunächst als nom. oder ace. ab- 
solatus gebraucht in der Verbindung barvuoz gän. Jetzt wird es als 
adj. empfunden. Wirkliche adjectivisehe flexion findet sich z. b. bei 
Hans Sachs: mit bar fassen füssen.^) 

Wenn wir davon absehen, ob das nomen unter der kategorie 
ding aufgefasst wird oder nicht, so gibt es allerdings noch in einer 
andern richtung einen gegensatz zwischen subst. und adj. Das adj. 
bezeichnet eine einfache oder als einfach vorgestellte eigenschaft, das 
subst. sehliesst einen complex von eigenschaften in sich. Betrachten 
wir diesen unterschied als die hauptsache, so können wir allerdings 
orator in einer Verbindung wie Cicero orator oder Cicero est orator 
noch als ein reines subst. fassen. Aber dieser unterschied ist wider 
nicht festzuhalten. Er kreuzt sieh mit den andern unterschieden, vgl. 
einerseits adjectiva wie königlich, kriegerisch etc., anderseits substanti- 
vierte adjectiva wie der gute. Auch zwischen diesen gegensätzen gibt 
es eine vermittelung, die unvermerkt von dem einen zum andern hinüber- 
führt. Der Übergang aus der bezeichnung einer einfachen eigenschaft 
in die eines complexes von eigenschaften geht so vor sich, dass ein 
substantiviertes adj. xar' i^oxr^v gebraucht und in dieser gebrauchs- 
weise traditionell wird. Wer das wort zuerst so gebraucht, der ergänzt 
die Vorstellungen, die in der bisher üblichen bedeutung des Wortes 


^) Noch eine andere art des Übergangs ist s. 199 besprochen. 
Paul, Principien. II. Auflage. 20 


306 

noch nicht ansgedrttckt sind. Einem späteren aber, dem dieser ge- 
brauch übermittelt wird, können sich von anfang an die ergänzten 
Vorstellungen ebenso direct an den lautcomplex anfügen wie die grund- 
Yorstellung, und diese braucht sieh ihm nicht mehr vor den andern ins 
bewusstsein zu drängen. Wenn dies nicht mehr geschieht, so ist von 
Seiten der bedeutung der Übergang zum subst. vollkommen, und durch 
weitere Isolierungen kann dann die gänzliche loslösnng vom adj. ein- 
treten, vgl. die oben angeführten beispiele. 

Der umgekehrte Vorgang, dass in einer complication von eigen- 
schaften alle übrigen gegen eine einzelne zurücktreten, läset sich an 
adjectivischen ableitungen au» Substantiven beobachten, die sich zn 
bezeichnungcn ganz einfacher Qualitäten entwickeln. Besonders lehr- 
reich sind in dieser hinsieht die farbenbezeichnungen, vgl. griech. :xoq' 
^VQSOQ von jioQg>vQa (purpurschnecke), g^oivlxsiog von g>olvi^, atQivoc 
(luffcfarben) (iijXivog (quittengelb), lat. coccintis von coccum (Scharlach- 
beere) croceus, crocinus von crocus^ Intens von lutum (wau), mmiaceus 
von minium (zinnober), niveus^ roseus^ violaceus. In allen diesen Wörtern 
liegt an und für sich keine beschränkung der beziehung auf die färbe 
des mit dem grundworte bezeichenten dinges und sie werden zum teil 
auch ohne diese beschränkung verwendet, vgl. ungnenium crocimm, 
vinculum roseum (rosenkranz) etc. Auch substantiva können direct zu 
farbenbezeichnungen werden, vgl jtogqyvQa, coccum, crocus, lutum und 
die modernen lila (= lilac spanischer flieder), rosa, die auch adjeeti- 
visch verwendet werden {ein rosa band). 

Nach massgabe dieses Vorgangs ist die erste entstehung von be- 
zeichnungcn für einfache qualitäten zu beurteilen. Dass diese jünger 
sind als die bezeichnungcn für complicationen ist selbstverständlich, 
wenn wir davon ausgehen, dass ganze anschauungen die allererste 
gr'undlage sind. Auch hier kann es anfänglich nur die momentane 
auffassung des sprechenden gewesen sein, wodurch die übrigen in dem 
complexe enthaltenen qualitäten von der einen in den hintergrund ge- 
drängt sind. Es ist das im gründe der selbe process wie bei der bild- 
lichen Verwendung eines wertes. Wenn wir z. b. sagen der mensch 
ist ein esel^ ein ochse ^ ein schaf, ein fuchs, so haben wir dabei immer 
nur eine bestimmte eigentümlichkeit des betreffenden tieres im ange 
und abstrahieren von den sonstigen eigenschaften. Dies ist nur mög- 
lich, wo ein wort prädicativ oder attributiv gesetzt wird. Denn sowie 
man die Vorstellung eines selbständigen dinges damit verbindet, ver- 
bindet man auch die Vorstellung des ganzen complexes von eigen- 
schaften damit. Indem bei einer anzahl von Wörtern, die sich dazu 
besonders eigneten, die verwendungsweise traditionell wurde, war der 
erste ansatz zur bildung einer besonderen Wortklasse gemacht 


307 

Anch der unterschied zwischen nomen und v erb um ist trotz 
der stärkeren formellen diiferenziernng kein absolut fester. Es. sind 
sehr verschiedene punkte, durch welche das verb. gegenttber dem nom. 
characterisiert ist: personalendung, Unterscheidung von activum und 
medium oder passivum, modus- und tempusbezeichnung. Es ergibt 
sich danach die möglichkeit der existenz von formen, die nur einen 
teil dieser characteristica an sich tragen, und der Spielraum der mannig- 
faltigkeit erweitert sich noch dadurch, dass solche formen die positiven 
characteristica des nomens, Casusbezeichnung und geschlechtsunterschied 
an sich tragen können oder nicht. Und endlich ist bei einer differen- 
zierung der constructionsweise des verbums und nomens die gelegenheit 
zu mannigfachen ttbergängen und Vermischungen gegeben. 

Gewöhnlich werden die personalendungen als das eigentlich for- 
melle characteristicum des verb. angesehen. Danach würden part. und 
inf. von den verbalformen ausgeschlossen, genau genommen auch viele 
formen der 2 sg. imp.; denn ein ßdXXs oder ßaXe ist nichts anderes 
als der blosse stamm des präs. oder aor. Die personalendungen sind 
demnach, wenn wir von der 2 sg. imp. absehen, ursprünglich ein not- 
wenjdiges erforderniss für die function des verbums als normaler satz 
and weiterhin für seine function als präd. oder copula im normalen 
Satze. Sie sind aber doch kein absolutes erforderniss zur satzbildung, 
und andere eigentümlichkeiten des verbums sind von ihnen ganz un- 
abhängig. 

Der bedeutungsgegensatz, in den man gewöhnlich das verb. zum 
adj., respective dem prädicativ oder attributiv gebrauchten subst. setzt, 
hat mit den verbalendungen an sich nichts zu schaffen. Er kann ohne 
dieselben bestehen und kann trotz ihnen fehlen. Ein griechisches 
eyxorslgy ßaöcXevscg kann gerade so viel bedeuten wie syxoTog si, ßaöi- 
hvg bL Der gegensatz ist nur so lange scharf, als das adj. (subst.) 
eine bleibende eigenschaft, das verb. einen zeitlich begrenzten Vorgang 
ausdrückt. Nun kann aber das adj. nicht bloss zur bezeichnung einer 
zum wesen eines dinges gehörigen eigenschaft, sondern auch zur be- 
zeichnung einer vorübergehenden eigenschaft gebraucht werden, und 
damit nähert es sich dem verbalen Charakter. Umgekehrt kann das 
verb. anch zur bezeichnung von zuständen, auch von bleibenden zu- 
ständen gebraucht werden. Wie nahe sich die beiden bedeutungen 
des sich befindens und des geratens in einen zustand mit einander 
berühren, haben wir oben s. 231 gesehen. 

Indem sich mit adjectivischer form und function die bedeutung 
eines zeitlich begrenzten Vorganges verbindet, entsteht das participium, 
welches vor allem den wert hat, dass es den ausdruck für ein geschehen 
in bequemer weise attributiv zu verwenden ermöglicht Wir können 

20* 


308 

den Übergang aus dem eigentlichen adj. in das part. in mehreren fällen 
historisch nachweisen. Unter andern gilt dies von dem deutschen so- 
genannten part. perf. oder prät. {gegeben, gelegt)^ welches so ent- 
standen ist, dass die ans dem idg. überkommenen adjectiva auf -no- 
und -tO' sich in der bedeutang an die aus der gleichen wurzel gebil- 
deten yerba und speciell an das perf. (prät.) derselben angelehnt haben, 
was dann weiterhin auch manche formale anlehnungen zu folge gehabt 
hat. Ebenso verhält es sich mit dem lateinischen und slavischen part. 
perf. Wir müssen eine entsprechende entstehung auch fttr die älteren, 
schon im idg. vorhandenen participia . annehmen. Wir dürfen ganz 
gewiss nicht, wie es von manchen selten her versucht ist, die kategorie 
des adj. aus der des part entstehen lassen, sondern umgekehrt die 
erstere muss vollkommen entwickelt gewesen sein, bevor die letztere 
entstehen konnte. Sie wird ausgegangen sein von formen, die eben 
so wol als ableitungen aus dem präsens- oder aoriststamm aufgefasst 
werden konnten wie als ableitungen aus der wurzel, nach deren mnster 
dann adjectivformen zu andern verbalstämmen gebildet wurden. 

Die teilnähme an dem tempusunterschiede ist der characteristische 
unterschied des part von dem sogenannten verbaladjective. Eine weitere 
consequenz der anlehnung an die formen des verb. ist die Übernahme 
der constructionsweise desselben. Als nomen wird das part nur in 
rücksicht auf das subst construiert, zu dem es als attribut gestellt 
wird. Es kann sich aber noch weiter von dem nominalen character 
entfernen, indem es seinen besonderen weg in der Weiterbildung der 
constructionsweise geht Dadurch, dass in unserem er ist gegangen, er 
wird gefangen, er ist gefangen worden casus und geschlecht nicht mehr 
erkenntlich gemacht werden, ist auch das geftthl für den nominalen 
character geschwächt, wenn auch die construction in den beiden ersten 
Verbindungen die des gewöhnlichen adjectivums ist, in der letzten sich 
davon nur durch das worden gegen sonstiges geworden abhebt Eine 
völlige loslösung von der constructionsweise eines adj. müssen wir in 
er hat ihn gefangen, er hat geruht etc. anerkennen. Zwar lässt sich 
historisch nachweisen, dass ersteres ursprünglich so viel ist wie *er 
hat ihn als einen gefangenen', aber dad ist für das jetzige Sprachge- 
fühl gleichgültig. Früher sagte man habet inan gefanganan^ und da- 
mals war natürlich der nominale character unverkennbar. Eigentümlich 
sind die Verhältnisse bei den entsprechenden Verbindungen in den 
jetzigen romanischen sprachen. Es lässt sich daran deutlich der Über- 
gang aus der allgemein adjectivischen in die speciell participiale con- 
struction beobachten. Im franz. sagt man zwar fai vu les dames, aber 
je les ai vm, les dames que fai vußs. Im italienischen kann man auch 
noch sagen ho veduta la donna, ho vedute le donne neben ho veduto. 


309 

Im spanischen ist die flexion bei der Umschreibung mit hoher schon 
tiberall getilgt; man sagt la carta que he escrito gerade wie he escriio 
um carta. Aber bei der erst später ttblich gewordenen Umschreibung 
mit (ener ist sie umgekehrt ttberall gewahrt: tengo escrita una carta 
wie las cartas que tengo escritas. 

Umgekehrt aber kann das part. stufenweise wider zu rein nomi- 
naler natur zurückgeführt werden. Diese rttckftthrung ist eigentlich 
schon vollzogen, wenn das part. präs. fttr die dauernde oder sich wider- 
bolende tätigkeit, das part. perf. ftir das resultat der tätigkeit ver- 
wendet wird, wie ja jede form des präs. oder perf. verwendet werden 
kann. Eine gebrauchsweise xar e^oxr^v odev im metaphorischen sinne 
oder sonst irgend eine art von isolierung kann die Verwandlung voll- 
ständig machen, vgl. beispiele wie schlagend^ treffend, reizend^ zwingend, 
bedeutend, getrieben^ gelungen, berufen, verstorben, verzogen, verschieden, 
bekannt, unumwunden, verlegen, gewogen, verwegen, erhaben, bescheiden, 
iruyiken, vollkommen etc. Selbst die Verbindung mit einem andern werte 
nach den gesetzten verbaler construction hindert diesen process nicht, 
nur dass dann das ganze im stände sein mnss sich an die analogie 
nominaler composition anzulehnen vgl. ansprechend, auffallend, aus- 
nehmend, anwesend, abwesend, zuvorkommend, hochfliegend, hellsehend, 
wolwollend, fleischfressend, teilnehmend; abgezogen, ausgenommen, hoch- 
gespannt, nef/geboren, wolgezogen etc. 

Als ein characteristicum für die Verwandlung in ein reines adj. 
kann die bildung eines comparativs und Superlativs angesehen werden. 
Bisweilen erscheint dieselbe jedoch neben verbaler construction, vgl. 
dazu erschien mir nichts wünschenswerteres, den char acter der nation 
ehrenderes (Goe.); die Oesireich kräftigenr'sten demente (Kölner zeit).*) 
Ein anderes kriterium ist die constructionsweise, z. b. die Verbindung 
mit einem gen. im lat.; amans tuorum ac tut (Cic), religionum colentes 
(ib.), splitudinis fugiens — societaiis appetens (ib.).2) 

Zum subst. wird das part. wie jedes adj., und das substantivierte 
part. kann wie das adjectivische eine momentane tätigkeit oder einen 
zustand bezeichnen. Es kann auch ebenso wie dieses die verbale 
natur abstreifen, vgl. der liebende, versitzende, geliebte, gesandte, ab- 
geordnete, beamte (= beamtete), mhd. der vamde, gemde, (beide = spiel- 
mann), aus älterer zeit heiland, freund, feind etc., zahn = lat. dens = 
gr. oöovq (pari zu essen, edere). 

Auch das nomen agentis kann ebenso wie das part. entweder 
eine momentane oder eine dauernde, resp. sich widerholende tätigkeit 


Andr. 119flf. 
2) Draeg. § 2o7. 


310 

bezeichnen. In der ersteren verwendnng bleibt es immer eng an das 
verb. angeschlossen, und es wäre recht wol denkbar, dass es ebenso 
wie das part. einn>al verbale constractions weise annähme, dass man 
etwa sagte der erzielter den knaben, wie man ja wenigstens im com- 
positnm knabener zieher den ersten bestandteil als acc. empfindet und 
in analogie zu knaben erziehen setzt. Schon in Verbindungen wie der 
Sieger in der Schlacht, der befreier aus der noi^) ist verbaler character 
ersichtlich, noch mehr in solchen wie griech. vjtrjgirrjg xolc, voiiotq 
oder gar lat. dator divitias, jusia oralor. Umgekehrt kann das nom. 
agentis als bezeichnung dauernder oder widerholter tätigkeit sich mehr 
und mehr dem verb. gegenttber isolieren und damit schliesslich über- 
haupt den character eines nom. agentis einbüssen, vgl. Schneider, bei- 
sitzer, ritter, herzog (heerführer), vater etc. 

Noch ein anderer weg führt vom verb. zum nom. Neben den 
nomina agentis stehen die nomina actionis. Diese können wie die 
substantivischen eigenschaftsbezeichnungen ihren Ursprung nur einer 
metapher verdanken, indem die tätigkeit unter der kategorie des dinges 
aufgefasst wird. Auch sie können eine momentane oder eine dauernde 
widerholte tätigkeit bezeichnen. Auch sie können sich der verbalen 
construction nähern, vgl. die befreiung aus der not, ^ rotg v6(ioi(; 
vütfjQBöla, knäbenerziehung. Und es ist wider die bezeichnung der 
dauernden, widerholten tätigkeit, die zum verlust des characters eines 
nomen actionis führt. Es entwickc^lt sich daraus die bezeichnung eines 
bleibenden zustandes, vgl. besinnung, bewegung, avfregung^ Verfassung^ 
Stellung, Stimmung, 

Von hier aus ist dann auch eine weiterentwickelung zu ding- 
bezeichnungen möglich, wie schon oben s, 81 gezeigt ist. Dabei kann 
das correspondieren der bedeutung mit der des verbums abgebrochen 
werden, vgl. haltung, regung, gleichung, rechnung, festung etc. Und 
durch weitere isolierung kann dann jede spur des verbalen Ursprungs 
vernichtet werden. 

Soweit verhält sich das nom. actionis dem nom. agentis analog. 
Es wird aber auch dem verbalen Charakter noch weit mehr angenähert 
als dieses, weiter sogar als das adj. (part.), nämlich dadurch, dass 
aus ihm der infinitiv (das supinum) entspringt. Der inf. verhält 
sich in sehr vielen beziehungen dem part. analog. Aber während 
dieses im allgemeinen die adjectivische form und die adjectivische 
constructionsweise neben der verbalen bewahrt und nur hie und da 
mit aufgebung der formellen characteristica des adj. für sich eine 
eigenartige constructionsweise entwickelt, so ist fttr den inf. isolierung 


') Vgl. noch auffallendere Verbindungen mit präpositionen bei Andr. s. 209. 


311 

gegenüber der form und constructionsweise des nomens bedingung 
seiner entstehung. Der inf. ist, wie die formelle analyse beweist, ein 
casus eines nom. aetionis und muss ursprünglich nach analogie der 
sonst fttr die Verbindung des nomens mit dem verb. geltenden con- 
structionsweisen gesetzt sein. Aber er darf als casus nicht mehr 
empfanden werden, die constructionsweise darf nicht mehr in analogie 
zu den ursprünglichen mustern gesetzt werden, oder es ist noch kein 
inf Die isolierte form und die isolierte constructionsweise werden 
dann die basis für die weiterentwickelnng. Die form und constructions- 
weise des inf. ist nach der einen seite hin verbal wie die des part., 
nach der andern seite hin aber nicht nominal, sondern specifiseh 
infinitivisch. 

Auch für den inf. gibt es eine stufenweise rückkehr zu nominaler 
natur, aber er findet dabei mehr hindemisse als das part. wegen des 
mangels der flexion. Die annäherung an den nominalen Charakter 
zeigt sich daher, solange nicht besondere unterscheidungsmittel ange- 
wendet werden, zunächst in solchen fällen, wo die Charakterisierung 
durch eine flexionsendung am wenigsten erforderlich ist, d. h. in der 
Verwendung als subject oder object. In satzformen wie wagen gewinnt, 
lat. habere eripitur, häbuisse nunquam (Sen.), vollends in solchen wie 
hlc vereri (= verecundiam) perdidii (Plaut.) dürfen wir wol mit Sicher- 
heit annehmen, dass der inf. nach analogie eines nomens construiert 
ist. Weniger sicher ist das in solchen wie ich lasse schreiben, ich lerne 
reiten. Jedenfalls, wenn hier einmal der inf. nach analogie eines ob- 
jectsaccusativs gesetzt ist, so ist diese analogie für das jetzige Sprach- 
gefühl nicht mehr vorhanden. Schon weniger leicht tritt die Verbindung 
mit Präpositionen ein. Im mhd. ist besonders durch mit dem inf 
üblich; in der römischen Volkssprache tritt die Verbindung von prä- 
positionen mit dem inf. an die stelle des gerundiums [ad legere für ad 
legendum etc.); ebenso zuweilen bei dichtem und späten prosaikern: 
praeter plorare (Hör.), multum interest int er dare et accipere (Sen.). 
Eine weitere annäherung des inf an das nom. bedarf besonderer 
begünstigender umstände. Es gelangen dazu im allgemeinen nur solche 
sprachen, die in dem artikel ein mittel der Substantivierung und casus- 
bezeichnung haben. Daher ist das griechische in dieser beziehung 
weiter gegangen als das lateinische, in welchem letzteren allerdings 
doch auch demonstrativpronomina eine ähnliche Wirkung haben können, 
vgl. totum hoc philosophari (Cic), inhibere illud tuum (ib.). Das nhd. 
aber und die romanischen sprachen sind wider weiter gegangen als 
das griechische, indem in ihnen der inf. auch rücksichtlich der flexion 
dem reinen nomen gleichgesetzt wird. Diese gleichsetzung ist in den 
romanischen sprachen durch die allgemeine tilgung des casusunter- 


312 

schiedes ermöglieht. Das altfranzösische und proveozalische gehen 
aber auch so weit dem inf. das nominativs -s zu geben: li plorers ne 
t' i vaui rien; Meliers chanza es donars que penres. Für das nhd. 
kommt einerseits der umstand in betracht, dass die casasnnterschiede 
bei den Substantiven auf -en bis auf den gen. getilgt sind, anderseits 
die anlehnung des gerundiums (mhd. gebennes, ze gehenne) an den inf., 
mit dem es ursprünglich gar nichts zu tun hat. 

Bei dieser entwickelung sind auch verschiedene stufen in bezog 
auf die beibehaltung der verbalen construetion möglich. Ohne bei- 
fttgung eines artikels oder pronomens findet sie in der regel statt, 
vgl. z. b. mhd. durch behalten den Rp, durch äventiure suochen. Im 
griech. hindert auch der artikel nicht; man sagt to axojttlv rä 
XQayiiara, to lavrovq k^etä^eiv, ixl rm ßsXrlc» xaraöz^öai ttjv 
avxmv öiavoiav. Im nhd. ist, der annähme der nominalen fiexion 
entsprechend, die verbale construetion auf das selbe mass beschränkt 
wie beim nom. actionis. Im mhd. dagegen kommt zuweilen noch echt 
verbale construetion vor; ja sogar ein auf den inf. bezogenes relativum 
kann verbale construetion haben, vgl. Hartman Greg. 2667 des scheliens 
des in der man tete. Tristan 1067 diz sehen daz ich in hän getan. 
Auch in den romanischen sprachen findet sich verbale constraction 
des mit artikel oder pron. versehenen infinitivs neben nominaler, vgl 
it. 0/ passar quesia valle (aber auch il trapassar del rio)\ span. el huir 
la occasion (aber auch al enirar de la ciudad); afranz. au prendre le 
congie, noch bei Montagne // se penoient du tenir le chasteau\ ferner 
ii il conoscer chiaramente, Span, el bien morir, afranz. son sagement 
parier. 

Sobald der durch die flexion bewirkte abstand zwischen inf und 
nomen getilgt ist^ steht der Verwandlung des ersteren in ein reines 
nomen nichts mehr im wege und diese ist daher im nhd. sehr häufig, 
auch in den romanischen sprachen nicht selten, vgl. nhd. leben, abieben, 
leiden, scheiden, schreiben, tun und (reiben, wesen, vermögen, betragen, 
belieben, einkommen, abkommen, auskommen, ansehen, aufsehen, andenken, 
vorhaben, wol wollen, woler gehen, gut dünken etc.; franz. etre, plaisir, 
pouvoir, savoir, savoir-foure, savoir-vivre etc. Dabei können die selben 
bedeutungsveränderungen eintreten wie sonst bei den nomina actionis 
und die selbe Isolierung dem verbum gegenttber. 

Die adverbia sind, soweit wir ihren Ursprung erkennen können, 
fast durchweg aus erstarrten casus von nominibus hervorgegangen, 
teilweise ans der Verbindung einer präposition mit einem casus. Es 
ist danach zu vermuten, dass auch die älteste schiebt der adverbia 
auf ähnliche weise aus nominibus hervorgegangen ist, nur mit dem 
unterschiede, dass dieser process vor die entwickelung der flexion 


313 

fällt, und dass daher noch nicht ein casus, sondern die reine Stamm- 
form zur Verwendung gekommen ist. Das adv. hat die nächste Ver- 
wandtschaft mit dem adj. Es verhält sich zunächst zum verbum, 
dann auch zum adj. analog wie ein attributives adj. zu einem subst. 
Diese Proportionalität zeigt sich denn auch darin, dass im allgemeinen 
ans jedem beliebigen adj. ein adv. gebildet werden kann. 

Die formelle Scheidung des adjectivums von dem adv. beruht auf 
der flexionsfähigkeit des ersteren und der dadurch ermöglichten con- 
gruenz mit dem subst. Wo dies formelle kriterium fortfällt, da kann 
auch die Scheidung von dem Sprachgefühl nicht mehr strict aufrecht 
erhalten werden. Im nhd. ist sie wirklich zum teil durchbrochen, 
nachdem das adj. in prädicativem gebrauche unveränderlich geworden 
ist und nachdem der im mhd. meist noch bestehende unterschied 
zwischen der flexionslosen form des adj. und dem adv, {starc- starke, 
sc/icene-schdfie, guot-woi, bezzer-baz) aufgehoben ist. Wir haben eigent- 
lich kein recht mehr gut in Sätzen wie er ist gut gekleidet, er spricht 
gut und gut in Sätzen wie er ist gut, man hält ihn für gut einander als 
adv. und adj. gegenttberi^ustellen. Das sprachgefbhl weiss von diesem 
unterschiede nichts. Das ersieht man am besten daraus, dass die 
adverbialform des Superlativs in die stelle eingerückt ist, die sonst 
der flexionslosen form des adj. zukommt. Man sagt es ist am besleti 
und selbst du bist am schönsten, wenn etc. 

Anderseits nehmen in verschiedenen sprachen manche adverbia 
neben einem adjectivum adjectivische flexion an. So sagt man im 
franz. toute pure, tout es pures] entsprechend it. tutla livida, span. todos 
desnudos etc.; ebenso it. mezza morie, span. medios desnudos. Auch in 
vielen deutschen mundarten sagt man ein ganzer guier mann, eine 
ganze gute frau\ solche schlechte wäre; eine rechte gute frau (Le.). 

Die function des adjectivums- stimmt besonders überein mit der 
des adverbinms neben nomina aetionis und agentis, vgl. eine gute 
erzählung, ein guier erzähler. Hier bezeichnet das adj. genau so die 
art und weise eines Vorganges wie sonst das adv. Die letztere Ver- 
bindung ist aber zweideutig, indem man gut auch auf die person des 
erzählers überhaupt beziehen kann. Diese Zweideutigkeit würde ver- 
mieden werden, wenn man etwa für den einen fall nach analogie der 
verbalen cönstruction das adv. anwendete; und so sagt man im engl. 
an early riser. Im deutschen helfen wir uns durch Vereinigung der 
begriffe in ein wort, vgl. /rühaufsteher, langeschläfer, schönschreiber, 
feinschmecker etc., ableitungen aus früh aufstehen etc. Die berührte 
Zweideutigkeit ist übrigens nicht auf die nomina agentis beschränkt, 
vgl. ein guter kutscher, ein arger narr, ein grosser esel, ein junger ehe- 
mann. Das adj. kann entweder auf die person schlechthin bezogen 


314 

werden oder aaf die eigeosehaft, welche ihr' durch das sahst, beigelegt 
wird. Im letzteren falle verhält es sich zn dem sahst wie ein adv. 
zu dem adj., das es bestimmt. Entsprechend verhält sich das adj. 
zu sabstantivischen qaalitätsbezeichnungen, vgl. die hohe vortrefflich- 
keit, grosse gute, 

I}a adj. und adv. derartig mit einander correspondieren, so ist 
auch das bedttrfniss vorhanden ftir jeden einzelnen fall beides neben 
einander zu haben. Nun gibt es aber eine grosse menge von adverbien, 
die nicht aus einem adjectivnm abgeleitet sind, und die daher auch 
kein solches zur seite haben. Hier treibt das bedttrfniss dazu auf das 
adv. auch die function des adjectivums zu ttbertragen. Am leichtesten 
wird das adv. prädicativ verwendet, indem neben ihm das verb. ebenso 
wie neben dem adj. zum Verbindungswort herabgesunken ist In Sätzen 
wie er ist da, er ist auf, die tür ist zu, alles ist vorbei, er wird mir 
zuwider wird die construction vom sprachgeflihl nicht anders aufgefasst 
als in solchen wie die tür ist offen, er wird utuDigenehm. Das adv. 
tritt aber auch, indem es einem subst als bestimmung beigefttgt wird, 
auf gleiche linie mit dem adjectivischem attribut Wenn wir im nhd. 
sagen der berg dort, die fahrt hierher, der bäum drüben, so liegt die 
gleichstellung mit dem adj. noch fem wegen der abweichenden Stellung. 
Anders steht es schon mit lateinischen (nicht häufigen) constructionen 
wie nunc hominum mores vides? (Plaut), ignori sumus ante maiorum 
(Virg.), discessu tum meo (Cic.).^) Am meisten aber nähert sich das 
adv. der adjectivischen function, wo es zwischen art und subst ein- 
geschoben wird, wie im griech.: ttjv exet jialöevciv, rijv jtXtjOlov rv- 
Xrjv^ r(p vvv yevei, rj Xlav TQvq)rj; im engl.: on the hither side, the 
above discourse^)] im span.; la sempre senora mia. Im nhd. ist eine 
derai-tige Verwendung des adv. nicht möglich. Man hat um dem be- 
dttrfniss zu gentigen flectierbare Wörter geschaffen. Einerseits durch 
secundäre ableitungen, die nur attributiv, nicht prädicativ verwendet 
werden, vgl. alleinig, hiesig, dortig, obig, jetzig, vorig, nachher ig, sofortig, 
alsbaldig, vormalige diesseitig; seltener solche die auch prädicativ ver- 
wendet werden wie niedrig, übrig (auch alleinig in oberdeutschen 
raundartein). Anderseits haben manche adverbia ohne weiteres flexionß- 
endungen angenommen, was dadurch begttnstigt ist, dass in prädicativer 
Verwendung das adj. sich formell nicht vom adv. abhob, weil die 
flexionslose form angewendet wurde. Vgl. 7iahe^ fern, selten, zufriedeti, 
vorhanden, behende (aus ahd. bi henti), täglich (aus ahd. tagolich), un- 
gefähr, teilweise, anderweit. Dialektisch sagt man ein zues fenster, ein 


») Vgl. Draeger § 79. 

») Vgl. Mätzner III, s. 148. ^. 


315 

weher finger, bairisch ein zuwiderer metisch. Das aus dem adv. 
(eigentlich dat. pl.) neugebildete adj. einzeln hat das diesem zu gründe 
liegende adj. einzel verdrängt. Zu oft werden adjectivische Steigerungs- 
formen gebildet; vgl. lat propior, proximus zu prope und griech. 
lyym^Qoq, hyyvraxoq zu iyyvg. 

In nahe berührung mit dem adv. tritt das adj. als prädicatives 
attribut. Dieser Satzteil steht in nächster beziehung zum subj., an 
welches er durch die congruenz angeschlossen ist, ist aber doch dem- 
selben gegenttber verselbständigt und kann eben deshalb auch in eine 
directe beziehung zum präd. treten. Das adv. dagegen ist an das 
präd. angeschlossen, kann aber diesem gegenüber in ähnlicher weise 
verselbständigt werden und dadurch dem subj. näher treten. Es gibt 
nun auch fälle, in denen eine bestimmung ebensowol zum subj. wie 
zum präd. passt. So begreift es sich, dass in manchen sprachen für 
den gleichen fall sowol das adj. als das adv. gesetzt werden kann, 
oder dass in einer spräche dieses, in der andern jenes ttblich ist. 
Im nhd. steht häufig das adv. einem adj. anderer sprachen gegenttber, 
vgl. allein gegen lat. solus, franz. seul etc.; zuerst und zuletzt gegen 
lat. primus und postremm etc.; gern gegen griech. excov, aöfisvoq, lat. 
libens neben libenter; ungern gegen lat. i7ivifus neben seltenerem i^ivite. 
Auffallender für uns und auch in den fremden sprachen nicht all- 
gemein üblich sind consti*uctionen wie griech. evdov jcavvvxiot (Hom.), 
XQr^VTj aq)d'Ovog Qsovvöa (Xen.), AöcQjtog Jtorafidg eQQVtj fiiyag (Thuc), 
lat. beatissimi viveremtis, propior hostem collocatus, proximi Rhenum in- 
colunt, nocturnusque vocat clamore Cithaeron (Virg.), Aeneas se matuUntcs 
agebat (Virg.), frequens te audivi (Cic), in agmine alque ad virgilias multus 
(= frequenter) adesse (Sali.), est enim mu^ltus in laudanda magnificentia 
(Cic), is nullits (= non) venit (Plaut), tametsi nullus moneas (Ter.); it. 
che piu lontana se ne vada (Ariosi). 

Die Präpositionen und conjunctionen sind als Verbindungs- 
wörter immer erst in folge einer gliederungsverschiebung aus selbstän- 
digen Wörtern entstanden. Diese Verschiebung muss eine definitive 
sein. Oceasionell können ja die verschiedenartigsten Satzteile zu Ver- 
bindungsgliedern herabgedrückt werden. Erst wenn ein wort mit einer 
gewissen regelmässigkeit als Verbindungswort verwendet wird, kann 
es eventuell als präp. oder conj. betrachtet werden. Es gehört dazu 
aber auch noch eine Isolierung seiner constructionsweise gegenüber 
derjenigen, die es als selbständiges wort hatte. Aber auch dann kann 
es daneben als selbständiges wort fnnctionieren, so dass es also nicht 
möglich ist es einfach unter eine bestimmte Wortklasse unterzubringen. 
Dies ist erst möglich, wenn das wort in seiner selbständigen Ver- 
wendung untergegangen ist oder wenn sich mit den beiden ver- 


316 

wendungsweisen eine lautliche differenzierung verbunden hat, oder wenn 
sonst irgend eine isolierung eingetreten ist 

So können wir ftir die präposition folgende definition auf- 
stellen: die präp. ist ein verbindungswort, mit welchem ein casus eines 
beliebigen substantivurns verknüpft werden kann, ohne dass die Ter- 
bindnngsweise noch in analogie zu einer nominalen oder verbalen con- 
structionsweise steht Nach dieser definition werden wir entsprechend 
in einem satze wie er hat ihn seinen Verdiensten entsprechend belohnt 
nicht fttr eine präp. erklären, denn seine consti'uction ist die des ver- 
bums entsprechen. Anders verhält es sich schon mit anstatt. In anstatt 
des mannes ist der gen. ursprünglich das reguläre zeichen der nomi- 
nalen abhängigkeit. Ob er aber noch als solches empfunden wird, 
hängt davon ab, ob man anstatt noch als Verbindung der präp. an mit 
dem subst. statt empfindet Wo nicht, tritt auch die construction mit 
dem gen. aus der gruppe, in die sie bisher eingereiht war, heraus, und 
die präp. ist geschaffen. Es kann in diesem falle das Sprachgefühl 
recht wol noch schwankend, bei verschiedenen Individuen verschieden 
sein. Denn allerdings ist statt kein allgemein übliches subst mehr, 
sondern auf gewisse isolierte Verbindungen beschränkt Sagt man aber 
an meiner statt, so wird man noch stärker an die substantivische natur 
von statt erinnert In anderen fällen ist die isolierung eine absolute 
geworden. Unser nach ist ursprünglich adv. = nahe. Aber zvrtsehen 
seinem ende nahe und nach seinem ende ist jede beziehung abgebro- 
chen, wiewol beide auf die nämliche constructionsweise zurückgehen. 
Hier ist es die Verdunkelung der etymologischen beziehung durch di- 
vergierende bedeutungsentwickelung , was die isolierung der con- 
structionsweise veranlasst hat In anderen fällen ist es das ver- 
schwinden dieser consti'uctionsweise aus dem lebendigen gebrauche. 
Im idg. wurde nach dem comp, wie im lat der abl. gebraucht Diese 
construction war im altgermanischen noch bewahrt, nur dass der abl 
wie allgemein sich mit dem instr. und dat mischte. Indem sie im 
allgemeinen unterging, erhielt sie sich unter andern bei zwei adver- 
bialen comparativen, die durch diese isolierung zu präpositionen wurden, 
mhd. e (nhd. noch in ehedem) und sit (nhd. seit) = got. seifjs in pana,- 
seips, lautlich regelmässiger comp, zu seipus. Bei den ältesten prä- 
positionen des idg. war der casus wol zunächst auf das verb. bezogen. 
Denn er bezeichnete an sich die richtung wohin oder woher oder das 
sichbefinden an einem orte. Die partikel trat nur zur näheren be- 
stimmung des raumverhältnisses hinzu, war also noch adv. Indem die 
casus ausserhalb der Verbindung mit der präp. ihre alte bedentnog 
verloren, wurde eben aus dieser Verbindung eine eigenartige construc- 
tionsweise geschaffen. 


317 

Die entstehnng der eonjunctionen lässt sieh zum teil wie die 
der Präpositionen historiseb verfolgen. Die satzverbindenden entwickeln 
sich zam grossen teil ans den conjnnctionellen adverbien oder isolierten 
formen der conjunctionellen pronomina, die eventuell mit anderen Wör- 
tern verknüpft sind (vgl. daher, darum, deshalb, deswegen, weshalb, in- 
dem). Diese Wörter sind also schon satzverknttpfend, bevor sie reine 
eonjunctionen geworden sind. Ob man sie als solche gelten lassen 
will, hängt sehr von der subjectiven empfindung ab, eine bestimmte 
grenze lässt sich nicht ziehen. Es kommt namentlich darauf an, bis 
zu welchem grade der Ursprung des wertes verdunkelt ist. Eine solche 
Verdunkelung ist notwendig, wenn man das wort als bloss satzver- 
bindend empfinden soll. 

Eine besondere entstehungsweise von eonjunctionen ist oben s. 251 
besprochen. Auch hier liegt meist ein conjunctionelles, und zwar de- 
monstratives pron. oder adv. zu gründe, entweder für sieh oder in Ver- 
bindung mit einem anderen werte. Doch gibt es auch fälle ohne 
demonstrativum wie nhd. weil, falls, engl, because, in case. Aber auch 
hier hat schon den zu gründe liegenden Substantiven der hinweis auf 
das folgende angehaftet. 

Eine anzahl von conjunktionen entsteht aus Wörtern, die einen 
vergleich ausdrücken; vgl. ingleichen, ebenfalls, gleichfalls, gleichrvol^ 
andernfalls, übrigens; griech. o/iog, aXla; lat. celerum; femer die com- 
parative ferner, weiter, vielmehr; lat. potius, nihilominus; franz. mais, 
plutot, nSanmoins. Durch diese Wörter ist auch von anfang an eine be- 
ziehung ausgedrückt, es fehlt dagegen an einem ausdruck dafür, worauf 
die beziehung geht; dies muss aus dem Zusammenhang erraten werden. 

Anders verhält es sich dagegen, wo Versicherungen zu satzver- 
bindenden eonjunctionen geworden sind, ygl. allerdings, freilich, näm- 
lich, wol, zwar (mhd. ze wäre fürwahr); got. raihiis (aber oder denn); 
lat. ceriCf verum, vero, scilicet, videlicel etc. Diese Wörter drücken an 
sieh gar kein verhältniss zu einem andern satze aus. Das logische 
verbältniss, in welchem der satz, in dem sie enthalten sind, zu einem 
anderen steht, wird ursprünglich, ohne sprachlichen ausdruck zu finden, 
hinzugedacht. Indem es nun aber gerade dieses verhältniss ist, wes- 
wegen der sprechende eine ausdrückliche Versicherung hinzuzufügen 
für nötig erachtet, so kommt es, dass allmälig dies verhältniss als 
durch die Versicherung ausgedrückt erscheint. Ebensowenig bezeichnet 
lat. licet ursprünglich eine beziehung zu dem regierenden satze; auch 
hier hat sich eine ursprünglich nur gedachte beziehung secundär an 
diese verbalform angeheftet, die eben dadurch zur conjunction ge- 
worden ist. 

Ein mittel zur bezeichnung der beziehung zweier sätze oder satz- 


318 

teile auf einander liefert die anaphorisehe setznng zweier an sich nicht 
conjunetioneller adverbia, vgl bald — boUd, jetzt — jetzig einmal — 
einmal; modo — tßodo, ntmc — nunc, tum — tum u, dergl. Hiervon zu 
scheiden ist natürlich die entsprechende Verwendung von solchen Wör- 
tern, die an sich schon conjnnctionen sind. 

Der parallelismas in dem verhältniss von Satzgliedern und dem 
von ganzen Sätzen za einander zeigt sich darin, dass die für das eine 
verhältniss geschaffenen verbindnngswörter analogisch anf das andere 
übertragen werden. So werden von alters her fQr beide Verhältnisse 
die gleichen copnlativen und disjunctiven partikeln verwendet Die 
Übertragung von Satzglied auf satz kann man deutlich verfolgen bei 
den Wörtern wie weder, entweder, mhd. beide, vgl. s. 247. Ebenso be- 
steht Übereinstimmung in der Verwendung der demonstrativen und 
relativen vergleichungspartikeln. Hier werden vdr die umgekehrte Über- 
tragung von satz auf Satzglied anzunehmen haben, lieber die sonstige 
Verwendung ursprünglich satzeinleitender conjnnctionen vor Satzgliedern 
vgl, s. 136, über die von präpositionen vor Sätzen s. 137. 

Der unterschied von präp. und conj. im einfachen satze ist durch 
die castirection der ersteren scharf bestimmt. Doch finden sich nichts- 
destoweniger Vermischungen des Unterschiedes. Ob man sagt ich mit 
(sammt) allen übrigen oder ich und alle übrigen kommt dem sinne tiacb 
ungefähr auf das gleiche hinaus, und so geschieht es, dass man zu 
einer durch mit hergestellten Verbindung das präd. oder die apposition 
in den pl. setzt, wo die berücksichtigung des eigentlichen grammatischen 
Verhältnisses den sg. verlangen würde; vgl. scherz mit htUd in anmuts- 
vollem bunde entquollen dem beseelten munde (Schi.) ; griech. ATifioöd-ivrig 
fisrä T(3v övCTgoTfiycov öxevdovrai (Thuk.); lat. ipse dux cum aliquot 
principibus capiuntur (Liv.); filiam cum filio acciios (ib.); engl, old sir 
John with half a dozen more are at the door (Sh.); franz. Vertumie 
avec Pomone ont embelli ces lieux (St. Lambert); weitere beispiele aus 
romanischen sprachen bei Diez HI, 301, aus slavischen bei Miklosieh 
IV, 77.78. Hier müssen wir das Verbindungswort, wenn wir auf den 
dabei stehenden casus sehen, als präp., wenn wir auf die gestalt des 
prädicates sehen, als conj. anerkennen. Beispiele für den wirkliehen 
übertritt von der präp. zur conj. bieten nhd. ausser und ohne, vgl. z. b. 
niemand kommt mir entgegen ausser ein unverschämter (Le.), dass ich 
nicht nachdenken kann ohne mit der feder in der hand (Le.), kein gott 
ist ohne ich (Lu.). Umgekehrt wird die conj. wan in mhd. zu einer 
präp. c. gen., vgl. daz treip er mit der reinen wan eht des alters einen 
(Konr. V. Würzb.). Man begreift demnach, dass da, wo noch keine 
casus ausgebildet sind, eine grenzlinie zwischen präp. und conj. kaum 
bestehen kann. 


319 

Die ttberftthrnng aus der Unterordnung in die beiordnung ist 
noch leichter, wenn von anfang an keine -casusreetion besteht, das ver- 
bindungswort also schon conjunction (conjunctionelles adv.) ist. Dies 
zeigt sich namentlich bei der correlation sorvol — als auch u. dergl., vgl. 
die Zurückweisung, welche sowol Fichte als auch Hegel . . erfahren haben 
(Varnhagen V. Ense); engl, your sister as well as myself are greatly 
ohliged to you (Fielding); lat. ui proprium jus tarn res publica quam 
privala haberent (Frontinus) ; franz. la sante comme la fortune retirent 
leurs /aveurs a ceux qui en abusent (Saint-Evremont) ; Bacchus ainsi 
qu' Hercule etaient reconnus pour demi-dieux (Voltaire). 


Cap. XXI. 

Sprache und schrift. 

Ueber die abweichungen der sprachlichen zustände in der Ver- 
gangenheit von denen in der gegenwart haben wir keinerlei künde, 
die uns nicht durch das medium der schrifl; zugekommen wäre. Es 
ist wichtig für jeden Sprachforscher niemals aus den äugen zu verlieren, 
dass das geschriebene nicht die spräche selbst ist, dass die in schrift 
umgesetzte spräche immer erst einer rttckumsetzung bedarf, ehe man 
mit ihr rechnen kann. Diese rttckumsetzung ist nur in unvollkommener 
weise möglich (auch dessen muss man sich stets bewust bleiben), 
soweit sie aber Überhaupt möglich ist, ist sie eine kunst, die gelernt 
sein will, wobei die unbefangene beobachtung des Verhältnisses von 
schrift und ausspräche, wie es gegenwärtig bei den verschiedenen 
Völkern besteht, grosse dienste leistet 

Die schrift ist aber nicht bloss wegen dieser Vermittlerrolle object 
für den Sprachforscher, sie ist es auch als ein wichtiger faetor in der 
sprachentwickelung selbst, den wir bisher absichtlich nicht berück- 
sichtigt haben. Umfang und grenzen ihrer Wirksamkeit zu bestimmen 
ist eine aufgäbe, die uns noch ttbrig bleibt. 

Die vorteile, welche die geschriebene vor der gesprochenen rede 
in bezug auf Wirkungsfähigkeit voraus hat, liegen auf der band. 
Durch sie kann der enge kreis, auf den sonst der einfluss des indivi- 
duums beschränkt ist. bis zur weite der ganzen sprachgenossensehaft 
anwachsen, durch sie kann er sich ttber die lebende generation hinaus, 
und zwar unmittelbar auf alle nachfolgenden verbreiten. Es ist kein 
wunder, dass diese in die äugen stechenden Vorzüge gewöhnlieh bei 
weitem ttberschätzt werden, auch in der Sprachwissenschaft ttbersebätzt 
sind, weil es etwas mehr nachdenken erfordert sich auch diejenigen 
punkte klar zu machen, in denen die schrift hinter der lebendigen 
rede zurttckbleibt. 

Man unterscheidet gewöhnlich zwischen sprachen, deren ausspräche 
von der schrift abweicht und solchen, in denen man sehreibt wie man 
spricht. Wer das letztere anders als in einem sehr relativen sinne 


821 

nimmt, der befindet sieh in einem folgenschweren irrtum. Die schrift 
ist nicht nur nicht die spräche selbst, sondern sie ist derselben anch in 
keiner weise adäquat. Es handelt sich für die richtige auffassnng des 
Verhältnisses nicht um diese oder jene einzelne discrepanz, sondern 
um eine grundverschiedenheit. Wir haben oben s. 48 flf. gesehen, wie 
wichtig für die beurteilung der lautlichen seite der spräche die con- 
tinuität in der reihe der hinter einander gesprochenen wie in der reihe 
der bildbaren laute ist. Ein aiphabet dagegen, mag es auch noch so 
vollkommen sein, ist nach beiden Seiten hin discontinuierlich. Sprache 
und Schrift; verhalten sich zu einander wie linie und zahl. So viele 
zeichen man auch anwenden mag und so genau man die entsprechen- 
den articulationen der sprechorgane definieren mag, immer bleibt ein 
jedes nicht zeichen für eine einzige, sondern für eine reihe unendlich 
vieler articulationsweisen. Und wenn auch der weg fUr den Übergang 
von einer bezeichenten articulation zur andern bis zu einem gewissen 
grade ein notwendiger ist, so bleibt doch die freiheit zu mancherlei 
Variationen. Und dann erst quantität und accent 

Die wirklich üblichen alphabete bleiben nun auch hinter dem 
erreichbaren weit zurück. Zweck eines nicht der wissenschaftlichen 
phonologie, sondern nur dem gewöhnlichen praktischen bedürfnisse 
dienenden alphabetes kann niemals sein die laute einer spräche von 
denen einer andern, ja auch nur die eines dialectes von denen eines 
andern unterscheidbar zu machen, sondern nur die innerhalb eines 
ganz bestimmten dialectes vorkommenden differenzen zu unterscheiden, 
und dieses braucht auch nur soweit zu geschehen, als die betreffenden 
differenzen von functionellem wert sind. Weiter gehen daher auch die 
meisten alphabete nicht. Es ist nicht nötig, die durch die Stellung in 
der silbe, im werte, im satze, durch quantität und accent bedingten 
unterschiede zu bezeichnen, sobald nur die bedingenden momente in 
dem betreffenden dialecte immer die gleiche folge haben. Wenn z. b. 
im nhd. der harte ^-laut in liist^ brusi etc. durch das gleiche zeichen 
widergegeben wird wie sonst der weiche ^-laut, dagegen in reiszen, 
flieszen durch sz (ss), so beruht das allerdings auf einer historischen 
tradition (mhd. litst — rizen), es ist aber doch sehr fraglich, ob die 
Schreibung sz sich bewahrt haben würde, wenn nicht im silbenanlaut 
das bedürfiiiss vorhanden gewesen wäre zwischen dem harten und 
dem weichen laute zu scheiden (vgl. reiszen — reisen, flieszen — fliesen), 
während in der Verbindung st das st stets hart ist, auch in formen 
aus Wörtern, die sonst weiches s haben (er reist in der ausspräche 
nieht geschieden von er reiszt), Dass die entstehung aus mhd. z nicht 
das allein massgebende gewesen ist, wird durch die Schreibung im 
anslaut bestätigt. Auch hier ist kein unterschied der ausspräche zwischen 

Paul, Principien. 11. Auflage. 21 


322 

dem aus mhd. s und dem aus mhd. z entstandenen s; daa s in hasz, 
heisz wird gesprochen wie das in glas, eis. Man schreibt nun sz im 
auslaut (für mhd. z) nur da, wo etymologisch eng verwandte formen 
mil inlautendem harten s daneben stehen, also heisz — heiszer etc., 
dagegen das^), es, alles ^ aus, auch blos als adv. und bischen = ein 
wenig. Man schreibt auch nicht etwa kreisz — kreises = mhd. kreiz 
— kreizes u. dergl. Aus alledem ist klar, dass die Scheidung der 
Schreibweise nur von solchen fällen ausgegangen ist, in denen eine 
mehrfache ausspräche in dem gleichen dialect möglich war. So ist 
auch bei der schriftlichen fixierung der meisten sprachen nicht das 
bedürfniss empfunden ein besonderes zeichen für den gutturalen und 
palatalen nasal zu verwenden, sondern man hat daftlr das selbe zeichen 
wie für den dentalen angewendet, während der labiale sein besonderes 
hat. Ursache war, dass der gutturale und palatale nasal immer nur 
vor andern gutturalen und palatalen vorkam, also in den Verbindungen 
nk, ng etc., und in dieser Stellung ausnahmslos galt, während der 
labiale und der dentale auch im auslaut und im an- und inlaut vor 
vokalen ttblich waren, daher von einander unterschieden werden mussten. 
Im französischen, wo der guttural auch im wortauslaut und im silben- 
auslaut vor labialen und dentalen erscheint, ist auch wider kein dringendes 
bedürfoiss zu einer besondern bezeichnung vorhanden und würde eine 
solche kaum eingefllhrt sein, auch wenn sonst ein strengerer anschluss 
an die ausspräche durchgedrungen wäre; denn gutturaler nasal ist 
fllr den silbenauslaut ganz allgemeine regel. Es ist ferner nicht nötig 
im nhd. zwischen dem gutturalen und palatalen ch zu unterscheiden. 
Denn die ausspräche ist durch den vorhergehenden vokal zweifellos 
bestimmt und wechselt danach innerhalb des selben Stammes: fach — 
fachet, loch — löcher, buch — bücher, sprach, gesprochen — sprechen, 
spricht Gäbe es dagegen ein palatales ch auch nach a, o, u, ein 
gutturales auch nach e, i, ä, Ö, ü, so würde allerdings das bedürfoiss 
nach Unterscheidung vorhanden und vielleicht auch befriedigt sein. 
Noch weniger ist es notwendig solche unterschiede zu bezeichenen, 
wie sie mit notwendigkeit durch die Stellung im silbenauslaut oder 
anlaut bedingt sind, z. b. bei den verschlusslauten, ob die bildung oder 
die lösung des verschlusses hörbar ist. üeberall schreibt man kk, tt, 
PPj während man doch nicht zweimal die gleiche bewegung ausführt, 
sondern die zweite die umkehr der ersten ist. Nirgends haben auch 
die vielfachen ersparungen in der bewegung bei dem Übergange von 
einem laute zum andern einen lautlichen ausdruck gefunden, vgl. darüber 

Sievers, Grundztige deir lautphysiologie s. 84 flF. 

.. -♦ . 

Die ausnähme in der conju^a^ieii dasz erklärt sich aus dem differenzierongs- 
bedürfniss der grammatiker. 


823 

Allerdings gibt es anch einige alphabete, z. b. das des sanskrit, 
die über das mass dessen, was das unmittelbare praktische bedürfniss 
erheischt, hinausgehen und strengeren ansprüohen der lautphysiologie 
genüge leisten, indem sie auch in solchen * fällen ähnliche, aber doch 
nicht gleiche laute auseinander halten, wo die Unterscheidung für den 
der spräche mächtigen, auch ohne rücksicht auf sinn und Zusammen- 
hang sich von selbst versteht. Viel häufiger aber sind solche alphabete, 
die auch hinter der bezeichenten billigen anforderung noch zurück 
bleiben. Die hauptursache solcher mangelhaftigkeit ist die, dass fast 
sämmtliche Völker nicht sich selbständig ihr aiphabet den bedürfnissen 
ihrer spräche gemäss erschaffen, sondern das aiphabet einer tremden 
spräche der ihrigen, so gut es gehen wollte, angepasst haben. Dazu 
kommt dann, dass in der weiteren entwickelung der spräche neue 
differenzen entstehen können, die bei der einfthrung des alphabetes 
nicht vorgesehen werden konnten. Die selben gründe können übrigens 
auch einen unnützen überfluss erzeugen. Beides, überfluss und mangel 
sind häufig nebeneinander. Als exempel kann das neuhochdeutsche 
dienen. Mehrfache zeichen für den gleichen laut sind c — k — ch 
— ^, c — z, f — V, V — fv, s — sz, ä — e, ai — ei, äu — ew, 
i — y. Ein zeichen, welches verschiedene laute bezeichenen kann, 
ohne dass dieselben durch die Stellung ohne weiteres feststehen, ist 
e, welches aowohl = französisch e als == französisch e sein kann. 
In dem verhältniss von ä und e zeigen sich also luxus und mangel 
vereinigt. Aehnlich ist es mit v (allerdings nur in fremdwörtern) in 
seinem verhältniss zu f und w. Auch ch kann in fremdwörtern ver- 
schiedene geltung haben (chor — charmant). Zur bezeiehnung der 
vokallänge sind mehrere mittel in anwendnng, doppelschreibung, h und e 
(nach i), und doch bleibt sie in so vielen fällen unbezeichent. Diese übel- 
stände sind zum teil so alt wie die aufzeichnung deutscher Sprachdenk- 
male, und machten sich früher in noch störenderer wei^e geltend. 
Andere die früher vorhanden waren, sind allmählig geschwunden. So 
war es gleichfalls eine Vereinigung von luxus und mangel, wenn u 
und V, i und j jedes sowol zur bezeiehnung des vokales als des reibe- 
lautes verwendet wurden und nach rein graphischen traditionen mit 
einander wechselten. In den mittelhochdeutschen handschriffcen sind 
— ö, u (ö) — ü (iu) — uo — üe nicht von einander geschieden. Und 
so könnte man noch weiter in der aufzählung von unvoUkommenheiten 
fortfahren, an denen die deutsche Orthographie in den verschiedenen 
Perioden ihrer entwickelung gelitten hat. 

Nimmt man nun hinzu, dass die accentuation entweder gar nicht 
oder nur sehr unvollkommen bezeichent zu werden pflegt, so ist es 
wol klar, dass auch diejenigen unter den üblichen schriftlichen fixier- 

21* 


324 

nngen, in denen das phonetische prineip nicht durch die rlicksicht auf 
die etymologie nnd den lautstand einer älteren periode beeinträchtigt 
ist, ein höchst unvollkommenes bild von der lebendigen rede geben. 
Die Schrift verhält sieh zur spräche etwa wie eine grobe skizze zu 
einem mit der grössten Sorgfalt in färben ausgeftlhrtem gemälde. Die 
skizze genügt um demjenigen, welchem sich das gemälde fesi; in die 
erinnerung eingeprägt hat, keinen zweifei darüber zu lassen, dass sie 
dieses vorstellen soll, auch um ihn in den stand zu setzen die einzelnen 
figuren in beiden zu identificieren. Dagegen wird derjenige, der nur 
eine verworrene erinnerung von dem gemälde hat, diese an der skizze 
höchstens in bezug auf einige hauptpunkte berichtigen und ergänzen 
können. Und wer das gemälde niemals gesehen hat, der ist selbst- 
verständlich nicht im stände, detailzeichnung, farbengebung und Schat- 
tierung richtig hinzuzudenken. Würden mehrere maier zugleich ver- 
suchen nach der skizze ein ausgeführtes gemälde herzustellen, so 
würden ihre erzeugnisse stark von einander abweichen. Man denke 
sich nun, dass auf dem Originalgemälde tiere, pflanzen, gerate etc. 
vorkämen, welche sie niemals in ihrem leben in der natur oder in 
getreuen abbildungen gesehen haben, die aber eine gewisse äbnlich- 
keit mit andern ihnen bekannten gegenständen haben, würden sie 
nicht nach der skizze auf ihrem eigenen gemälde diese ihnen be- 
kannten gegenstände unterschieben ? So ergeht es . notwendigerweise 
demjenigen, der eine fremde spräche oder einen fremden dialect nur 
in schriftlicher aufzeichnung kennen lernt und danach zu reproducieren 
versucht Was kann er anders tun als für jeden buchstaben und jede 
buchstaben Verbindung den laut und die lautverbindung einsetzen, die 
er in seinem eigenen dialect damit zu verbinden gewohnt ist, und 
nach den principien desselben auch quantität und accent zu regeln, 
soweit nicht abweichungen ausdrücklich durch ihm verständliche zeichen 
hervorgehoben sind? Darüber ist man ja auch allgemein einverstanden, 
dass bei der erlemung fremder sprachen, auch wenn sie sich der 
gleichen buchstaben bedienen, mindestens eine detaillierte beschreibung 
des lautwertes erforderlich ist, und dasz auch diese, zumal wenn sie 
nicht auf lautphysiologischer basis gegeben wird, nicht das vorsprechen 
ersetzen kann. Selbstverständlich aber ist das gleiche bedürfhiss vor- 
handen, wenn uns eine richtige Vorstellung von den lauten eines dia- 
lectes beigebracht werden soU, der mit dem unsrigen zu der selben 
grösseren gruppe gehört Es kommt darauf an die daraus sich er- 
gebenden consequenzen nicht zu übersehen. 

Auf einem jeden in viele dialecte gespaltenen Sprachgebiete 
existieren in der regel eine grosse anzahl verschiedener lautnuancen, 
jedenfalls, auch wenn man nur das deutlich unterscheidbare berück- 


325 

sichtigt and alle schwer merklichen feinheiten bei seite lässt, sehr 
viel mehr, als das gemeinsame aiphabet, dessen man sich bedient, 
baehstaben enthält. In jedem einzelnen dialecte aber existiert immer 
nur ein bestimmter brachteil dieser naancen, indem die nächstverwandten 
sich vielfach aasschliessen, so dass sich ihre zahl, wenn man diejenigen 
nnr fttr eine rechent, die zn scheiden das praktische bedttrfniss nicht 
erfordert, ungefähr mit der zahl der zur verfllgang stehenden baeh- 
staben decken mag. Wenn unter so bewandten umständen an ver- 
schiedenen punkten aufzeichnungen in der heimischen mundart ge- 
macht werden, so ist gar kein anderes verfahren denkbar, als dass 
jeder buchstabe gerade fUr diejenige species einer grösseren gattung 
von lauten verwendet wird, die gerade in der betreffenden mundart 
vorkommt, also hier fttr diese, dort fttr jene. Dabei kommt es auch 
vor, dass wenn zwei nahe verwandte species in einem dialecte neben 
einander vorkommen, ein zeichen fttr beide ausreichen muss, während 
umgekehrt von zwei fttr die übrigen dialecte unentbehrlichen zeichen 
fttr den einen oder andern das eine entbehrlich sein kann. Wir 
brauchen uns nur einige der wichtigsten derartigen fälle anzusehen, 
wie sie auf dem deutschen Sprachgebiete vorkommen, wobei es sich 
nicht blos um die eigentliche mundart, sondern auch um die spräche 
des grössten teiles der gebildeten handelt Der unterschied zwischen 
harten und weichen geräuschlauten besteht in Oberdeutsohland so gut 
wie in Niederdeutschland. Aber während er dort auf der grösseren 
oder geringeren energie der exspiration beruht, kommt hier^) noch 
ein weiteres charakteristicum hinzu, das fehlen oder Vorhandensein 
des Stimmtons. Das obersächsische und thüringische aber kennen 
weder eine Unterscheidung durch den stimmton, noch durch die energie 
der exspiration. Demnach bezeichent also z. b. b fttr den Oberdeutschen 
einen andern laut (tonlose lenis) als fttr den Niederdeutschen (tönende 
lenis) und vrider einen andern fttr den Obersachsen (tonlose fortis). 
Auch k, t, p bezeichnen in gewissen Stellungen fttr den Obersachsen 
und Thttringer einen andern laut (hauchlose fortis) als fttr die masse 
der übrigen Deutschen (aspirata) 2). Das tv spricht der Niederdeutsche 
als labio-dentalen , der Mitteldeutsche als labio-labialen geräuschlaut, 
der Alemanne als consonantischen vokal. Das s im wortanlaut vor t 
und p wird in einem grossen teile Niederdeutschlands als hartes s, 
im übrigen Deutschland vrie sonst seh gesprochen. Das r ist in einem 


^) Auf genauere grenzbestimmungen, die ^u geben mir unmöglich ist, kommt 
es natürlich hier und im folgenden nicht an. Die tatsache ist zuerst festgestellt 
von Winteler, Grammatik der Kerenzer mundart, s. 20 ff. 

*) Vgl. Kräuter, Ztschr. f. vgl. Sprachforschung 21, 30 ff. 


326 

• 

teile lingualer, in dem andern uvularer lant, und noch mannigfache 
sonstige Variationen kommen vor. Das g wird in einem theile Nieder- 
und Mitteldeutschlands, auch in einigen oberdeutschen gegenden als 
gutturaler oder palataler reibelaut gesprochen, entweder durchweg oder 
nur im inlaut. Von jeher ist g in den germanischen dialecten sowol 
zeichen flir den verschlusslaut als für den reibelaut gewesen. Den 
unterschied in der ausspräche des cli nach der natur des vorhergehen- 
den vokales kennt das alemannische nicht Dagegen macht es einen 
unterschied zwischen / = nd. jt? und f = nd. /, den andere gegenden 
nicht kennen. 

Wo die gleichheit des Zeichens bei abweichung der ausspräche 
zusammentrifft mit etymologischer gleichheit, da ist in der sehrift ein 
dialectiseher unterschied verdeckt. Da dies sehr häufig der fall ist, 
zumal wenn man auch die vielen im einzelnen weniger auffallenden, 
aber doch im ganzen sich bemerkbar machenden abweichungen mit in 
betraeht zieht, da femer meist die Quantität, da vor allem die modu- 
lationen der tonhöhe und der exspirationsenergie unbezeiehent bleiben, 
so muss man zugestehen, dass es ein erheblicher teil der dialectischen 
differenzen ist, der in der sehrift nicht zur geltung kommt Gerade 
das macht die sehrift als Verständigungsmittel fttr den grossen verkehr 
noch besonders brauchbar. Aber es macht sie gleichzeitig ungeeignet 
zur beeinflussung der ausspräche, und es ist eine ganz irrige meinung, 
dass man mit dem geschriebenen werte in der selben weise in die 
ferne wirken könne vne mit dem gesprochenen in die nähe. 

Wie kann einer z. b. wissen, wenn er das zeichen g gesehrieben 
sieht, welche unter den mindestens sieben in Deutschland vorkom- 
menden deutlieh unterseheidbaren und zum teil stark von einander 
differierenden aussprachen die des aufzeichners gewesen ist? Wie kann 
er überhaupt aus der blossen Schreibung wissen, dass so vielerlei aus- 
sprachen existieren? Was kann er anders tun als die in seiner heimat 
übliche ausspräche dafür einsetzen? 

Nur die gröbsten abweichungen von der eigenen mundart kann 
man aus der sehrift ersehen, aber auch ohne dass man über die spe- 
cielle beschaffenheit der abweichenden laute etwas sicheres erfährt. 
Soweit man die abweichungen erkennt, ist man natürlich auch im 
Stande sie nachzuahmen. Das kann dann aber nur geschehen mit 
vollem bewusstsein und mit voller absichtlichkeit, indem sich das nach- 
ahmen des fremden dialects als etwas gesondertes li^^n die austibnng 
des eigenen stellt Es ist ein Vorgang, der sich von o^s^neignung 
einer fremden spräche nur dem grade, nicht der art nach unt§A®^^^*' 
der dagegen ganz verschieden ist von jenem unbewussten siclT®^"" 
flussenlassen durch die spräche seiner verkehrsgenossen, wie es ^^ ^ 


\ 


327 

geschildert ist. Grundbedingung fttr dasselbe war eben der kleine 

(räum, innerhalb dessen sich die differenzen der einzelnen von ein- 
ander bewegen, und die unendliche abstufungsfähigkeit der gesproche- 
nen laute. Innerhalb der Sphäre, in welcher diese art der beeinflussung 
ihre stelle hat, zeigt die schrift noch gar keine differenzen und ist 
deshalb unfähig zu wirken. 

Und wie mit der Wirkung in die ferne, so ist es mit der Wirkung 
in die zukunft. Es ist blosse einbildung, wenn man meint in der 
schrift eine controUe für lautveränderungen zu haben. So gut wie an 
verschiedenen orten ziemlich stark von einander verschiedene laute mit 
den gleichen buchstaben bezeichnet werden können, eben so gut und 
noch leichter kann das an dem selben orte zu verschiedenen zeiten 
geschehen. Kein buchstabe steht ja mit einem bestimmten laute in 
einem realen zusammenhange, der sich für sich zu erhalten im stände 
wäre, sondern der Zusammenhang beruht lediglich auf der association 
der Vorstellungen. Man verbindet mit jedem buchstaben die Vorstellung 
eines solchen lautes, wie er gerade zur zeit üblich ist. Der Vorgang 
beim natürlichen lautwandel ist nun der, wie wir s. 52 ff. gesehen haben, 
dass sich an stelle dieser Vorstellung unmerklich eine etwas abweichende 
unterschiebt, die nun der folgenden generation von vornherein als mit 
dem buchstaben verbunden überliefert wird. Das mit dem buchstaben 
verbundene lautbild kann daher keinen hemmenden einfluss auf den 
lautwandel ausüben, weil es selbst durch diesen verschoben Wird. Und 
natürlich überträgt man jederzeit den eben geltenden lautwert eines 
buchstaben auch auf die aufzeichnungen der Vergangenheit. Irgend 
ein mittel den früheren laut wert mit dem jetzigen zu vergleichen gibt 
es überhaupt nicht. Dass mit hülfe wissenschaftlicher Untersuchungen 
etwaige conjecturen über die abweichungen gemacht werden können, 
kommt natürlich hier nicht in betracht. In der regel kann sich auch 
die veränderte ausspräche mit unveränderter Schreibweise lange ver- 
tragen ohne dass daraus irgend welche unzuträglichkeiten entstehen. 
Jedenfalls stellen sich solche erst heraus, wenn die Veränderung eine 
sehr starke geworden ist. Dann aber ist eine Veränderung der spräche 
nach der schrift, wenn überhaupt, nur mit bewusster absieht möglich, 
und eine derartige Veränderung würde wider etwas der natürlichen 
entwickelung durchaus widersprechendes sein. So lange diese ungestört 
ihren weg geht bleibt nichts anderes übrig als die Unbequemlichkeiten 
weiter zu tragen oder die Orthographie nach der spräche zu ändern. 
Es ist nun auch mit allen den besprochenen mangeln der schrift 
noch lange nicht der grad gekennzeichent, bis zu welchem das miss- 
verhältniss zwischen schrift und ausspräche gelangen kann. Wir haben 

91^^ bisher eigentlich immer nur den zustand im äuge gehabt, der in der 

es 


!i 


328 

Periode besteht, wo die spräche erst anfUngt schriftlich fixiert zu werden, 
wo jeder schreibende noch selbständig mit an der Schöpfung der Ortho- 
graphie arbeitet, indem zwar ungefähr feststeht, welches zeichen ilir 
jeden einzelnen laut zu wählen ist, aber nicht, wie das wort als ganzes 
zu schreiben ist, so dass es der Schreiber immer erst, so gut es an- 
gehen will, in seine demente zerlegen und die diesen elementen ent- 
sprechenden buchstaben zusammensetzen muss. Es ist aber keine frage, 
das bei reichlicher Übung im schreiben und lesen das verfahren immer 
mehr ein abgekürztes wird. Ursprünglich ist die Verbindung zwischen 
den lautzeichen und der bedeutung immer durch die Vorstellung von 
den lauten und durch das bewegungsgeftthl vermittelt. Sind aber beide 
erst häufig durch diese vermittelung an einander gebracht, so geben 
sie eine directe Verbindung ein und die vermittelung wird entbehrlich. 
Auf dieser directen Verbindung beruht ja die möglichkeit des geläufigen 
lesens und Schreibens. Man kann das leicht durch eine gegenprobe 
constatieren , indem man jemandem aufzeichnungen in einem dialecte 
vorlegt, der ihm vollständig geläufig ist, den er aber bisher immer nur 
gehört hat; er wird immer erst einige mühe haben sich zurechtzufinden, 
zumal wenn die aufzeichnungen sich nicht genau an das System der 
Schriftsprache mit allen übelständen desselben anschliessen. Und noch 
viel mehr kann man ihn in Verlegenheit setzen, wenn man ihm aufgibt 
einen solchen dialect, sei es auch derjenige, den er von kind auf ge- 
sprochen hat, selbst in der schrift zu verwenden. Er wird eine wirk- 
liche lösung der aufgäbe immer dadurch umgehen, dass er sich in 
ungehöriger weise von der ihm geläufigen Orthographie der Schrift- 
sprache beeinflussen lässt. Das zeigen alle modernen dialectdicbter- 
Diesen hintergrund der jetzt immer als analogen dienenden schrift- 
sprachlichen Orthographie müssen wir uns noch wegdenken, wenn wir 
uns den unterschied klar machen wollen zwischen der Stellung, die wir 
jetzt der niederschrift unserer gemeinsprache gegenüber einnehmen, und 
derjenigen, welche etwa die althochdeutschen Schreiber bei aufzeich- 
nung ihres dialectes einnahmen. Man wird dann auch nicht leicht 
vornehm auf das Ungeschick unserer vorfahren herabsehen. Man wird 
vielmehr finden, zumal wenn man nicht alles durcheinander wirft, 
sondern den schreibgebrauch eines jeden einzelnen fUr sich untersucht, 
dass sie die laute richtiger beobachteten, als es heutzutage zu ge- 
schehen pflegt und das aus einem gründe, der von anderer seite her 
betrachtet als ein mangel den heutigen Verhältnissen gegenüber er- 
scheint: ihnen stand noch keine festgeregelte Orthographie objectiv 
gegenüber, ihnen wurde daher auch nicht der unbefangene sinn ftlr 
den laut durch den stäten hinblick auf eine solche Orthographie ver- 
wirrt. Das will aber ungefähr eben so viel sagen als: sie konnten 


329 

der vermittlting des laatbildes zwischen Schriftbild und bedeatang noch 
nicht entSehren. 

Beides steht in der engsten Wechselbeziehung zu einander. Wenn 
jetzt die directe Verbindung zwischen Schriftbild und bedeutung bei 
allen einigermassen gebildeten eine sehr starke ist, so ist das zu einem 
guten teile der constanz unserer Orthographie zu danken. Man sieht 
das namentlich an solchen Wörtern, die in der ausspräche gleich, in 
der Schrift verschieden sind. Jede abweichung in der Orthographie, 
mag sie auch vom phonetischen Standpunkte aus eine entschiedene 
Verbesserung sein, erschwert das verständiss. Wenn das ein schlagen- 
der beweis fttr die directe Verbindung von schrifl; und ausspräche ist, 
so muss anderseits der negative schluss daraus gezogen werden: je 
weniger constant die schrift, je weniger ist directe Verbindung zwischen 
ihr und der bedeutung möglich. Der mangel an constanz kann auf 
unpassender beschaffenheit des zu geböte stehenden materials oder Un- 
geschick der Schreiber beruhen, indem etwa mehrere zeichen in der 
gleichen Verwendung mit einander wechseln oder umgekehrt ein zeichen 
bald in dieser, bald in jener Verwendung auftritt, oder auf dem fehlen 
regelnder autoritäten, die eine Zusammenfassung und einigung der ver- 
schiedenen orthographischen bestrebungen ermöglichen könnten. Er 
kann aber auch gerade aus lautphysiologischer Vollkommenheit und 
eonsequenz entspringen. Wenn z. b. die Schreibung des Stammes in 
den verschiedenen formen mit dem laute wechselt (mhd. tac — tages, 
neigen — neide etc.), oder wenn gar wie im sanskrit die Schreibung 
einer und derselben form mit der Stellung im satze wechselt, so stehen 
der gleichen bedeutung eine anzahl Variationen der Schreibung gegen- 
über, und in folge davon ist es nicht möglich , dass sich ein ganz be- 
stimmtes schriffcbild mit der ersteren verbindet. So lange die constanz 
der Schreibung fehlt, ist mit aller Übung im lesen und schreiben die 
directe Verbindung nicht vollkommen zu machen. Zugleich aber wirkt 
eben die Übung darauf hin allmählig eine grössere constanz herbeizu- 
führen. Jeder fortschritt der ersteren kommt auch der letzteren zu 
gute und jeder fortschritt in der letzteren erleichtert die erstere. 

So ist denn auch der natürliche entwickelungsgang der Schreib- 
weise einer spräche fortgang zu immer grösserer constanz, auch auf 
kosten der lautphysiologischen genauigkeit. Freilich geht es nicht 
immer in dieser richtung ganz gleichmässig vorwärts. Namentlich 
starke lautveränderungen rufen oft ablenkungen und rückläufige be- 
wegungen hervor. Es sind drei mittel, mit hülfe deren sich die 
Schreibung zur constanz durcharbeitet: beseitigung des Schwankens 
zwischen mehreren verschiedenen Schreibweisen, berücksichtigung der 
etymologie, festhalten an der Überlieferung den lautveränderungen zum 


330 

trotz. Das erste mittel ist auch vom phonetischen Gesichtspunkte be- 
trachtet häufig ein fortschritt oder wenigstens kein rücksehntt, nicht 
selten wird aber damit über das phonetische princip hinausgegriffen, 
die beiden andern sind directe durchbrechungen dieses principes. 
Natürlich aber bleibt daneben doch immer die tendenz wirksam spräche 
und Schrift in grössere Übereinstimmung mit einander zu setzen, welche 
tendenz teils in der beseitigung anfänglicher mängel, teils in der reaction 
gegen die in einem fort durch den lautwandel sich erzeugenden neuen 
übelstände sich betätigt. Indem sie . in de& meisten fällen mit dem 
streben nach constanz in conflict gerät, so zeigt die geschiehte der 
Orthographie das Schauspiel eines ewigen kampfes zwischen diesen 
beiden tendenzen, wobei der jeweilige zustand einen massstab für das 
derzeitige kraftverhältniss der parteien gibt. 

Verfolgen wir die bewegung ins einzelne, so zeigen sich merk- 
würdige analogieen zur entvnckelung der spräche neben beachtens- 
werten Verschiedenheiten. Die letzteren beruhen hauptsächlich aaf 
folgenden punkten. Erstens geschehen die Veränderungen in der Ortho- 
graphie mit viel mehr bewustsein und absichtlichkeit als die der spräche; 
doch muss man sich hüten diese absichtlichkeit zu überschätzen. Zwei- 
tens ist bei dem kämpfe um die Orthographie nicht wie bei dem um 
die spräche die ganze Sprachgenossenschaft beteiligt, sondern jedenfalls 
nur der schreibende (resp. druckende oder drucken lassende) teil der- 
selben und dabei die einzelnen in sehr verschiedenem grade und mit 
sehr verschiedenen kräften; es macht sich in viel stärkerem grade als 
in der spräche das übergewicht bestimmter Individuen geltend. Drittens, 
weil die Wirkungsfähigkeit nicht an die räumliche nähe gebunden ist, 
so können sich auf orthographischem gebiete ganz andere Verzweigungen 
der gegenseitigen beeinflussungen herausstellen als auf sprachlichem. 
Viertens stehen die orthographischen Veränderungen dadurch in ent- 
schiedenem gegensatz zum lautwandel, dass sie nicht in feinen ab- 
stufungen, sondern immer nur sprungweise vor sich gehen können. 

Betrachten wir zunächst die beseitigung des Schwankens zwischen 
gleichwertigen lautzeichen. Ein solches schwanken kann auf mehrfache 
weise entstehen. Entweder sind die zeichen schon in der spräche, der 
man das aiphabet entlehnt, gleichwertig verwendet worden. So verhält 
es sich im ahd. mit den doppelheiten i — j, u — v, k — c, c — ?. 
Oder zwei zeichen haben zwar in dieser spräche verschiedenen wert, 
es fehlt aber der spräche, die sie entlehnt an einem einigermassen ent- 
sprechenden unterschiede; so dass nun beide auf einen laut fallen. 
Namentlich kommen sie dann leicht beide in gebrauch, wenn der eine lant 
der eigenen spräche zwischen den zweien der fremden mitten inne liegt. 
So gab es im oberdeutschen zur zeit der einflihrung des lateinischen 


331 

alphabetes in der guttural- und labialreihe keinen dem lateinischen 
zwischen tönender media und tenuis vollkommen entsprechenden unter- 
sehied) ina silbenanlaut auch nicht einmal einen annähernd entsprechen- 
den, sondern nur einen laut, der sich von der lateinischen media durch 
mangel des stimmtons, von der tenuis durch schwächeren exspirations- 
druck unterschied. Daher ist ein schwanken zwischen g und /r, h und p 
entstanden. Auch das schwanken zwischen / und v (u) und im mittel- 
deutschen das schwanken zwischen v und b ist auf ähnliche weise 
entstanden. Ferner ergeben sich doppelzeichen erst im laufe der 
weiteren entwickelung dadurch, dass zwei ursprünglich verschiedene 
laute zusammenfallen und ihre beiderseitigen bezeichnungen dann mit 
einander ausgetauscht werden. So fallen z. b. im späteren mittelhoch- 
deutsch hartes s und z zusammen, und man schreibt dann auch sas 
für saz und umgekehrt huz für hus etc., letzteres allerdings von anfang 
an seltener. Endlich aber kann Spaltung durch verschiedene entwicke- 
lung des selben schriftzeichens eintreten, man vergleiche lat. i — j, 
u — V, in unserer fracturschrift f und g. Besonders gross kann die 
mannigfaltigkeit werden, wenn in einer spätem periode auf eine ältere 
entwickelungsstufe zurückgegriffen wird, wie wir es z. b. an dem ge- 
brauche der majuskeln neben den minuskeln sehen. 

Der auf diese weise entstehende luxus wird auf analoge weise 
beseitigt wie der luxus von Wörtern und formen. Die einfachste art 
ist die, dass das eine zeichen sich allmählig ganz aus dem gebrauche 
verliert. Die andere art besteht in der diflferenzierung der anfänglich 
untermischt gebrauchten zeichen. Dieselbe kann sich innerhalb des 
phonetischen princips halten, indem mit dem luxus ein dicht daneben 
stehender mangel ausgeglichen wird, z. b. wenn im nhd. i, u und j, v 
allmählig als vokal und consonant geschieden werden. Nicht selten 
wird für die Unterscheidung die Stellung des lautes innerhalb des 
Wortes massgebend, ohne dass ein phonetischer unterschied vorhanden 
ist, oder wenigstens ohne dass ein solcher von den schreibenden be- 
merkt ist, so wenn j und v lange zeit hindurch hauptsächlich im wort- 
anlaut (auch für den vokal) gebraucht werden; wenn c im mhd. (von 
den Verbindungen ch und seh abgesehen) ganz überwiegend auf den 
Silbenauslaut beschränkt wird {sac, tac, neide, sackes) und dann im 
nhd., weil es in den übrigen fällen durch etymologische Schreibweise 
verdrängt wird, nur noch in der gemination (ck) verwendet wird; 
wenn im mhd. f vor r, l und vor u und verwandten vokalen viel 
häufiger gebraucht wird als vor a, e, o. Eine dritte weise endlich 
besteht darin, dass ohne phonetische oder graphische motivierung sich 
nach Zufall und willkühr in dem einen werte diese, in dem andern 
jene Schreibweise festsetzt. Auf diese weise regelt sich im nhd. das 


332 

yerhältniss von f — v (fall — vater etc.), t — ih (tuch — tkun, gut 
— muth etc.), r — rh, ai — ei, ferner das yerhältniss zwischen be- 
zeichnnng der länge und nichtbezeichnnng and zwischen den ver- 
schiedenen weisen der bezeichnnng (nehmen — geben, aal — wähl, 
viel — ihr etc.). Ein wesentliches moment dabei und ein haupt- 
hinderungsgrnnd, der es nicht znr dnrchftthrnng einer einheitlichen 
Schreibung hat kommen lassen, der sich ja auch neuerdings immer 
wieder einer consequenten reform der Orthographie in den weg stellt, 
ist das bestreben gleichlautende Wörter von verschiedener bedeutnng 
zu unterscheiden. Man vgl. unter andern ferse — verse, fiel — viel, 
tau — thau, ton — thon, rein — Rhein, rede — rhede, leUb — leih, 
Main — mein, rain — rein, los — loos, mal — mald, malen — mahlen, 
war — wahr, sole — sohle, stil — stiel, aale — ahle, heer — hehr, 
meer — mehr, moor — mohr. Sogar verschiedene bedeutungen ur- 
sprünglich gleicher Wörter werden so unterschieden, vgl. das — dasz, 
wider — wieder etc. Hierher gehört auch die festsetzung der früher be- 
liebig zur hervorhebung verwendeten majuskeln als anfangsbuchstaben 
für die substantiva. Auch hierin zeigt sich die tendenz die schritt zn 
Unterscheidungen zu benutzen, welche die ausspräche nicht kennt. 
Diese weise der differenzierung ist eines der am meisten charakte- 
ristischen zeichen fttr die verselbständigung der geschriebenen gegen- 
ttber der gesprochenen spräche. Sie kommt auch erst da vor, wo 
eine wirkliehe Schriftsprache sich von den dialecten losgelöst hat, nnd 
ist das product grammatischer reflexion. Bemerkenswert aber ist, dass 
auch diese reflexion nicht erst Verschiedenheiten der Schreibweise fttr 
ihre Unterscheidungen schafPt, sondern nur die zufällig entstandenen 
Variationen fttr ihre zwecke benutzt. Wo keine solche Variationen 
vorhanden sind, kann auch der differenzierungstrieb nicht zur geltnng 
kommen, vgl z. b. die oben s. 179 angefahrten homonyma. Uebrigens 
zeigt er sich auch nicht in allen denjenigen fällen wirksam, wo man 
es erwarteji könnte. 

Wie die unphonetische differenzierung, so macht sich auch die 
einvnrkung der etymologie am kräftigsten und consequentesten in der 
Schriftsprache geltend, ist aber doch öfter auch schon in mundartlichen 
aufzeiehnungen nicht zu verkennen. Wir können die Verdrängung 
einer älteren phonetischen Schreibweise durch eine etymologische mit 
der analogiebildung vergleichen, durch welche bedeutungslose laut- 
unterschiede ausgeglichen werden, ja wir dürfen sie geradezu als eine 
auf die geschriebene spräche beschränkte analogiebildung bezeichnen, 
fttr die denn auch eben die gesetze gelten, die wir schon kennen 
gelernt haben. Auch hier natürlich ist nicht das etymologische ver- 
hältniss an sich massgebend, sondern die gruppierungsverhältnisse auf 


333 

dem dermaligen stände der spräche. Isolierung schlitzt vor der aus- 
gleichung, und umgekehrt bewirkt secundäre annäherung von laut und 
bedeutung hinttberziehung in die analogie. 

Betrachten wir von diesem gesichtspunkte aus die wichtigsten 
fälle, in denen das nhd. die phonetische Schreibweise des mhd. ver- 
lassen und ausgleichung hat eintreten lassen. Im mhd. wird die media 
im auslaut und vor harten consonanten in der schrift^) wie in der 
ausspräche tenuis, im nhd. nur in der ausspräche, nicht in der schrift: 
mhd. iac, leii, gap^ neide = nhd. tag, leid, gab, neigte. Bewahrung 
der mittelhochdeutschen regel haben wir in haupt (= hoübet, houpi), 
behaupten, weil keine verwandten formen mit nicht syncopiertem vokal 
mehr daneben stehen; in dem eigennamen Schmitt, Schmidt; in schult- 
heiss, wo die Zusammensetzung mit schuld nicht mehr empfunden wird. 
Im mhd. wird consonantengemination im auslaut und vor einem andern 
consonanten nicht geschrieben: mann — mannes, brante — brennen. 
Das nhd. sehreibt die gemination, wo etymologisch eng verbufadene 
formen das muster dazu geben: mann, brannte, mämilich, männchen, 
(doch schon nicht mehr in brand, brunst und dergl.); jedoch im pron. 
man, ferner braniervein, brantwein (nicht mehr als gebratinte wein ver- 
standen); dagegen mit jüngerer anlehnung an herr: herrlich^ herrschaft, 
herrschen mhd. herlich, hirschaft, hersen aus hir = nhd. hehr. Im 
mhd. wird zwar der umlaut des langen a meist als ce vom e geschieden, 
aber der des kurzen mit e bezeichnet. Im nhd. wird ä auch für den 
umlaut des ursprünglich kurzen, jetzt vielfach gedehnten lautes ge- 
braucht, wenn man sich der beziehung zu einer nichtumgelauteten 
form aus der gleichen wurzel noch deutlich bewust ist, also vater — 
Väter, Väterchen, väterlich, kraft — kröfte, kräftig, glas — gläser, 
gläsern, kalt — kälter, kälte, land — gelände, arg — ärger, ärgern, 
fahre — fährst, ebenso im diphthongen bäum — bäume, haut — häute, 
häuten, bärenhäuter (mhd. hüt — hiute); dagegen erbe, ente (mhd. ant, 
gen. ente), enge, enget, besser, regen (verb.), vriewol auch mit offenem e 
gesprochen, leute etc., weil hier unnmgelautete verwandte formen fehlen. 
Beachtenswert ist die Verschiedenheit von ligen — legen, winden — 
wenden und hangen — hängen, fallen — fällen; bei den ersteren findet 
sich zwar auch a im prät {lag, wand), aber es wird nur präs. zu präs. 
in beziehung gesetzt. Wo der gruppenverband gelöst oder wenigstens 
stark gelockert ist, bleibt e, vgl vetter zu vater, gerben zu gar, scherge 
zu schar, hegen, gehege, hecke zu hag, heu zu hauen, fertig zu fart 
(dagegen hoff artig), eitern gegen älteren, behende gegen hände, aus- 


Allerdings in den handschriften nicht so regelmässig als in den kritischen 
ausgaben. 


S36 

ist, sondern spaltnng eintritt, wenn dann nur wider keiner unter den 
verschiedenen lauten mit einem sehon vorhandenen zusammenfällt, so 
bleibt in der regel nichts ttbrig als die alte Orthographie beizubehalten; 
denn man würde um die laute zu unterscheiden mindestens, eines 
Zeichens mehr bedürfen, als zu geböte stehen,, und das lässt sich nicht 
willkürlich erscha£Pen. Nur da ist zu helfen, wo früher ein luxus vor- 
handen war, der sich jetzt zweckmässig ausnützen lässt. Um einiger- 
massen das phonetische princip aufrechtzuerhalten bedürfte es von zeit 
zu zeit gewaltsamer neuerungen, die sich mit der erhaltung der einheit 
in der Orthographie schlecht vertragen. 

Dazu kommt nun, dass die eben besprochene Wirkung der ana- 
logie für die conservierung der formen schwer ins gewicht fällt Und 
endlich ist noch in betracht zu ziehen, dass durch die einfühmng 
phonetischer Schreibung manche Unterscheidungen gänzlich vernichtet 
werden würden, die jetzt noch in der geschriebenen spräche vorhanden 
sind. So würde im französischen in den meisten fällen der pl. nicht 
mehr vom sg. verschieden sein, in manchen auch das fem. nicht mehr 
vom masc. {clair — ctture etc.). In denjenigen fällen aber, wo noch 
Verschiedenheiten blieben, würde die jetzt noch in der Schreibung 
überwiegend bestehende gleichmässigkeit der bildungsweise vernichtet 
sein. 


-- 


Cap. XXII. 

Sprachmischung. 

Gehen wir davon ans, dass es nnr individualsprachen gibt, so 
können wir sagen, dass in einem fort Sprachmischung stattfindet, sobald 
sich überhaupt zwei individuen mit einander unterhalten. Denn dabei 
beeinflusst der sprechende die auf die spräche bezüglichen vorstellungs- 
massen des hörenden. Nehmen wir Sprachmischung in diesem weiten 
sinne, so müssen wir Schnchardt darin recht geben, dass unter allen 
fragen, mit denen die heutige Sprachwissenschaft zu tun hat, keine 
von grösserer Wichtigkeit ist als die Sprachmischung. In diesem sinne 
haben wir die Sprachmischung durch alle capitel hindurch berück- 
sichtigen müssen, da sie etwas von dem leben der spräche unzertrenn- 
liches ist Hier dagegen nehmen wir das wort in einem engeren sinne. 
Hier verstehen wir etwas darunter, was nicht notwendig zum leben 
der spräche gehört, wenn es auch kaum auf irgend einem Sprachge- 
biete ganz fehlt. 

Sprachmischung in diesem engem sinne ist zunächst die beein- 
fiussung einer spräche durch eine andere, die entweder ganz unver- 
wandt ist oder zwar urverwandt, aber so stark differenziert, dass sie 
besonders erlernt werden muss; weiterhin aber auch die beeinflussung 
einer mundart durch eine andere, die dem gleichen continuierlich zu- 
sammenhangenden Sprachgebiete angehört, auch wenn sie noch nicht 
so stark abweicht, dass nicht ein gegenseitiges verständniss zwischen 
den angehörigen der einen und denen der andern möglich wäre. Noch 
eine art von Sprachmischung gibt es, die darin besteht, dass aus einer 
älteren epoche der gleichen spräche schon untergegangenes neu auf- 
genommen wird. 

Wir betrachten zuerst die mischung verschiedener deutlich von 
einander abstehender sprachen. Um den hergang bei der mischung 
zu verstehen, müssen wir natürlich das verhalten der einzelnen indi- 


») Vgl. zu diesem capitel Whitney, On mixture in language (Transactions of 
American Philological Association, 1881) und besonders Schuchardt, Slavodeutsches 
und slavoitalienisches, Graz 1885. 

Paul, Principien. n. Auflage. 22 


338 

vidnen beachten. Die meiste veraDlassnng zur migehnng ist gegeben, 
wo es individnen gibt, die doppelspraehig sind, mehrere sprachen neben 
einander sprechen oder mindestens eine andere neben ihrer mntter- 
sprache verstehen. Ein gewisses minimum von verständniss einer 
fremden spräche ist nnter allen umständen erforderlieh. Denn 
mindestens mnss doch das, was ans der fremden spräche aufgenommen 
wird, verstanden sein, wenn auch vielleicht nicht ganz exact verstanden. 

Veranlassung zur Zweisprachigkeit oder zu einem mehr oder 
weniger vollkommenen verständniss einer fremden spräche ist natttrlich 
zunächst an den grenzen zweier Sprachgebiete gegeben, in verschiedenem 
grade je nach der Intensität des internationalen Verkehrs. Ferner 
durch reisen der einzelnen auf fremdem gebiete und vorttbergehenden 
aufenthalt auf demselben ; in stärkerem grade durch dauernden umzng 
einzelner und vollends durch räumliche Verpflanzungen grosser massen, 
durch eroberungen und kolonisationen. Endlich kann ohne irgend 
welche direete bertthrung mit einem fremden volke die kenntniss seiner 
spräche durch die schrift vermittelt werden. Im letzteren falle pflegt 
die kenntniss auf gewisse durch bildung hervorragende schichten der 
bevölkerung beschränkt zu bleiben. Durch die schriftliche vermittelang 
ist dann nicht bloss entlehnung aus einer lebenden fremden spräche 
möglich, sondern auch aus einer zeitlich zurttckliegenden entwicklnngs- 
stufe derselben. 

Wo durcheinanderwtLrfelung zweier nationen in ausgedehntem 
masse stattgefunden hat, da wird auch die doppelsprachigkeit sehr 
allgemein, und mit ihr die wechselseitige beeinflussung. Hat dabei die 
eine nation ein entschiedenes ttbergewicht über die andere, sei es durch 
ihre masse oder durch politische und wirtschaftliche macht oder durch 
geistige Überlegenheit, so wird sich auch die anwendung ihrer spräche 
immer mehr auf kosten der andern ausdehnen; man wird von der 
Zweisprachigkeit wider zur einsprachigkeit gelangen. Je nach der 
Widerstandsfähigkeit der unterliegenden spräche wird dieser proeess 
schneller oder langsamer vor sich gehen, wird diese schwächere oder 
stärkere spuren in der siegenden hinterlassen. 

Die mischung wird auch bei dem einzelnen nicht leicht in der 
weise auftreten, dass seine rede bestandteile aus der einen spräche 
ungefähr in gleicher menge enthielte wie bestandteile aus der andern. 
Er wird vielleicht, wenn er beide gleich gut beherrscht, sehr leicht 
aus der einen in die andere übergehen, aber innerhalb eines satzge- 
fliges wird doch immer die eine die eigentliche grundlage bilden, die 
andere wird, wenn sie auch mehr oder weniger modificierend einwirkt, 
nur eine secundäre rolle spielen. In noch höherem masse gilt das 
natürlich für denjenigen, der sich keine Sprechfähigkeit in der fremden 


389 

spraehe erworben hat, sondern nur ein besseres oder schlechteres ver- 
ständniss. Bei demjenigen, der zwei sprachen neben einander spricht, 
kann natürlich jede durch die andere beeinflnsst werden, die mutter- 
sprache durch die fremde und die fremde durch die muttersprache. 
Der einfluss der letzteren wird sich in der regel stärker geltend machen. 
Er ist unvermeidlich, so lange man die fremde spräche nicht ganz 
vollständig und sicher beherrscht. Doch kann auch der einfluss des 
fremden idioms auf das eigene ein sehr starker werden, wo man sich 
demselben absichtlich hingibt, was meist die folge davon ist, dass 
man die fremde spräche und cultur höher schätzt als die heimische. 

Wenn nun aber auch der anstoss zur beeinflussung einer spräche 
durch eine andere von individuen ausgehen muss, die der einen wie 
der andern, wenn auch in noch so geringem grade mächtig sind, so 
kann sich diese beeinflussung doch durch die gewöhnliche ausgleichende 
Wirkung des Verkehrs innerhalb der gleichen Sprachgenossenschaft 
weiter verbreiten und sich so auf individuen erstrecken, die mit dem 
fremden idiom nicht die geringste directe bertthrung haben. Die 
letzteren werden dabei nicht bloss von den angehörigen ihres Volkes 
beeinflnsst, sondern unter umständen auch von angehörigen eines 
fremden volkes, die sich ihre spräche angeeignet haben. Natürlich 
werden sie die fremden demente immer nur langsam und in geringen 
Quantitäten aufnehmen. 

Wir müssen zwei hauptarten der beeinflussung durch ein fremdes 
idiom unterscheiden. Erstens kann fremdes material aufgenommen 
werden. Zweitens kann, ohne dass anderes als einheimisches material 
verwendet wird, doch die zusammenfügung desselben und seine an- 
passung an den vorstellungsinhalt nach fremdem muster gemacht 
werden; die beeinflussung erstreckt sich dann nur auf das, was Hum- 
boldt und Steinthal innere sprachform genannt haben. 

Zur aufnähme fremder Wörter in die muttersprache veranlasst 
natürlich zunächst das bedürfniss. Es werden demgemäss Wörter ftlr 
begriffe angenommen, für welche es dieser noch an einer bezeichnung 
fehlt. Es wird in der regel begriflF und bezeichnung zugleich aufge- 
genommen aus der nämlichen quelle. Unter den am meisten in be- 
tracht kommenden kategorieen sind hervorzuheben orts- und personen- 
namen; ferner aus der fremde eingeführte producte. Sind dieselben 
im wesentlichen naturerzeugnisse, so können die bezeichnungen daftlr 
mit der sache von den uncultiviertesten Völkern auf die cultiviertesten 
übergehen, wohingegen die einführung von kunstproducten mit ihren 
benennungen eine gewisse Überlegenheit der fremden cultur voraus- 
setzt, welche allerdings nur sehr einseitig zu sein braucht. Noch 
entschiedener ist eine solche Überlegenheit Voraussetzung bei der tiber- 

22* 


340 

ftthrnng von techniscben^ wissenschaftlichen, religiösen, politischen 
begri£Pen. Eine starke cnltnrbeeinfinssang bringt fast immer einen 
starken import von fremdwörtem mit sieh. Ein bedttrfniss mag noch 
erwähnt werden, welches anch die aufnähme von Wörtern ans einer 
niedrigeren cultnrsphäre veranlassen kann, das der darstellnng fremder 
Verhältnisse, sei es, dass diese darstellnng den zweck der belehmng 
hat und eine wahrheitsgetreue Schilderung und erzählung zu geben 
sucht, sei es, dass sie ftlr poetische zwecke verwendet wird, lieber 
das eigentliche bedttrfniss hinaus geht die entlehnung, wenn die fremde 
spräche und cultur höher geschätzt wird als die eigene, wenn daher 
die einmischung von Wörtern und Wendungen aus dieser spräche für 
besonders vornehm oder zierlich gilt. 

Fast gar keinen schranken unterworfen ist die hinttbernahme von 
Wörtern aus der eigenen spräche in die fremde, die man zu sprechen 
genötigt ist, ohne sie vollständig zu beherrschen. Durch Individuen, 
welche eine spräche als eine fremde reden, können daher in dieselbe 
Wörter der verschiedensten art eingeführt werden. 

Mit entlehnten Wörtern verhält es sich ähnlich wie mit neuge- 
scha£Penen. Derjenige, welcher sie zuerst anwendet^ hat in der regel 
nicht die absieht, sie usuell zu machen. Er befriedigt damit nur das 
momentane bedttrfniss der Verständigung. Bleibende Wirkungen hinter- 
lässt eine solche anwendnng erst, wenn sie sich widerholt, in der 
regel nur, wenn sie spontan von verschiedenen Individuen ausgeht. 
Das lehnwort wird erst ganz allmählig ttblich. Es gibt verschiedene 
grade der ttblichkeit. Es ist zunächst ein beschränkter, durch räum- 
liche nähe oder Übereinstimmung in der cultur gebildeter kreis inner- 
halb einer Volksgemeinschaft, in welchem ein wort ttblich wird, respee- 
tive mehrere solche kreise. In dieser beschränkten geltung bleiben 
viele Wörter, während andere sich auf alle schichten der bevölkemng 
verbreiten. Sind sie ganz allgemein ttblich geworden und haben sie 
nicht etwa in ihrer lautgestalt etwas abnormes, so verhält sich das 
Sprachgefühl zu ihnen nicht anders als zu dem einheimischen sprach- 
gut. Vom Standpunkt des Sprachgefühls aus sind sie keine fremd- 
wörter mehr. 

Eine besondere aufmerksamkeit bei der entlehnung fremder Wörter 
verdient das verhalten gegenttber dem fremden lautmaterial. Wie wir 
gesehen haben, deckt sich der lautvorrat einer spräche niemals völlig 
mit dem einer andern. Um eine fremde spräche exaet sprechen zu 
lernen ist eine einttbung ganz neuer bewegungsgefühle erforderlich. 
So lange diese nicht vorgenommen ist, wird der sprechende immer mit 
den selben bewegungsgefühlen operieren, mit denen er seine mntter- 
sprache hervorbringt. Er wird daher in der regel statt der fremden 


341 

lante die nächstverwandten* seiner mntterspraebe einsetzen und, wo er 
den versneh macht lante, die in derselben nicht vorkommen, zu er- 
zeugen, wird er zunächst fehlgreifen. Durch vieles hören und lange 
ttbnng kann er sich natürlich allmählig eine correctere ausspräche er- 
werben, doch ist es bekanntlich selten, dass sich jemand eine fremde 
Sprache so vollkommen aneignet, dass er nicht mehr als ausländer zu 
erkennen ist. Wo daher eine spräche ihr gebiet über ein ursprünglich 
anders redendes volk ausbreitet, da ist es kaum anders möglich, als 
dass die frühere spräche des Volkes irgend welche spuren in der laut- 
erzeugung hinterlässt, und dass sich auch sonst stärkere abweichungen 
einstellen, weil das bewegungsgeftthl nicht ganz übereinstimmend aus- 
gebildet ist. Wo die erlemung der fremden spräche nur durch ver- 
mittelung der schrift; erfolgt, da kann natürlich von einer nachahmung 
der fremden laute gar keine rede sein, es ist ganz selbstver- 
ständlich, dass die laute der eigenen spräche untergeschoben 
werden. 

Wo ein volk mit einem andern ausser an den grenzen nur durch 
reisen und ansiedlungen einzelner und durch literarischen verkehr in 
bertthrung tritt, da wird nur der kleinere teil die spräche des fremden 
Volkes verstehen, ein noch kleinerer teil sie sprechen und ein ver- 
schwindend kleiner teil sie exact sprechen. Bei der entlehnung eines 
wertes aus einer fremden spräche werden daher ofl; schon diejenigen, 
die es zuerst einführen, laute der eigenen spräche den fremden unter- 
schieben. Aber wenn es auch vielleicht mit ganz exacter ausspräche 
aufgenommen wird, so wird sich dieselbe nicht halten können, wenn 
es weiter auf diejenigen verbreitet wird, die der fremden spräche nur 
mangelhaft oder gar nicht mächlag sind. Der mangel eines ent- 
sprechenden bewegungsgefühls macht hier die Unterschiebung, die 
lautsubstitution, wie wir es mit Gröber nennen wollen, zur notwendig- 
keit. Ist ein fremdes wort erst einmal eingebürgert, so setzt es sich 
auch fast immer aus den materialien der eigenen spräche zusammen. 
Selbst diejenigen, welche wegen ihrer genauen kenntniss der fremden 
spräche den abstand gewahr werden, müssen sich doch der majorität 
fügen. Sie würden sonst pedantisch oder geziert erscheinen. Nur 
ausnahmsweise bürgert sich unter solchen umständen ein fremder laut 
in einer spräche ein, natürlich am leichtesten ein solcher, der einer- 
seits häufig vorkommt, andererseits sich scharf von allen der spräche 
ursprünglich eigenen abhebt. So ist z. b. in die neuhochdeutsche 
Schriftsprache trotz der massenhaften lehnwörter nur ein neuer laut 
eingeführt, das französische j {g) in Jalousie^ genie, genieren etc. Und 
auch hierfür setzen nicht bloss die volksmundarten, sondern auch die 
städtische Umgangssprache den laut unseres seh ein. 


342 

Nicht selten werden mehrere verschiedene fremde laute durch 
den gleichen einheimischen ersetzt. So werden im ahd. lai f, und v 
beide durch f wiedergegeben (gesehrieben zuweilen auch v oder w), 
vgl. fenstar^ fiehar^ ftra etc. — fers, fogat (vocatus), evangelio etc.*) 
Ursache, warum auch v durch / widergegeben wird, ist das fehlen eines 
dem lateinischen genau entsprechenden lautes, indem an stelle unseres 
jetzigen tv noch consonantisches u gesprochen wurde. Ferner wird im 
£^hd. die lateinische fortis p ebenso wie die tönenende lenis h durch 
die dazwischen liegende tonlose lenis widergegeben, gesehrieben bald 
h, bald p, vgl. heh (peh) = pix, bira = pirum, hredigön = praedicare 
etc. — becchi (pecchi) = baccinum, buliz = boletum etc. Ursache ist, 
dass es im oberdeutschen nach der lautverschiebung kein tönendes b 
gab, weil das früher vorhandene seinen stimmton verloren hatte, und 
keine fortis j», weil das frtther vorhandene zu ph verschoben war. 
Umgekehrt kann man den fremden laut bald durch diesen, bald durch 
jenen naheliegenden einheimischen widergeben. Doch wird man wol 
in der regel finden, wo in den lehnwörtern einer spräche der gleiche 
fremde laut bald durch diesen, bald durch jenen laut widergegeben 
ist, dass die aufnähme der Wörter in verschiedenen perioden stattge- 
funden hat; So wird lai v in den ältesten deutschen lehnwörtern 
durch w widergegeben (vgl. rvin, tviccha, pfärvo etc.), wahrscheinlich 
weil es noch wie das deutsche v = consonantischem u oder wenigstens 
noch bilabial war. 2) In den jüngeren althochdeutschen lehnwörtern 
erscheint es als f (vgl. oben); in denen der modernen zeit wider als w. 

Wo die herttbemahme eines wertes nur nach dem gehör und auf 
grund unvollkommener kenntniss des fremden idioms erfolgt, da treten 
sehr leicht noch weitergehende entstellungen ein, die auf einer mangel- 
haften auffassung durch das gehör und auf einem mangelhaften fest- 
halten durch das gedächtniss beruhen. In folge davon werden namentlich 
lautverbindungen, an die man nicht gewöhnt ist, durch geläufigere ersetzt 
und kttrzungen vorgenommen. Sehr leicht tritt Volksetymologie dazu. 

Von den Veränderungen, welche die fremden Wörter bei der auf- 
nähme erleiden, sind diejenigen zu scheiden, die sie erst nach ihrer 
einbttrgerung durchmachen. Da uns aber viele Wörter erst längere 
zeit nach ihrer aufnähme ttberliefert sind, so ist diese Scheidung nicht 
immer so leicht zu machen. Die eingebürgerten fremdwörter nehmen 
natürlich so gut wie die einheimischen an dem lautwandel teil Die 
teilnähme oder nichtteilnahme an einem lautwandel kann uns da, wo 
uns die Überlieferung in stich lässt, aufschluss geben über die relative 

Vgl. Franz die lateinisch-romanischen elemente im althochdeutschen, Stniss- 
burg 1884, s. 20. 22. 

*) Vgl. Franz a. a. 0. 


343 

zeit der entlehnang. Wenn im ahd. das lateinisch t in einigen Wörtern 
als /, in andern als z erseheint (vgl. tempai, turri, abbat, altari — ziagii, 
sträza scuzzüa)^ lat p in einigen als p (ft), in andern als ph oder / 
(vgl pina, priestar — pMl^ phlanza, pHfa, pfeffar)^ so unterliegt es 
keinem zweifei, dass die Wörter mit z und ph oder /"eine ältere schiebt 
von entlehnungen darstellen als die mit t und p. Denn die betreffen- 
den Veränderungen hätten nicht eintreten können, wenn die Wörter 
nicht schon vor der lautverscbiebung aufgenommen gewesen wären, 
so dass sie das Schicksal der echt germanischen teilen konnten. 

Ausserdem sind die fremdwörter bei der weiterverbreitung den 
selben assimilierenden tendenzen unterworfen wie bei der ersten auf- 
nähme. Ein wort kann zunächst von Individuen, die der fremden 
spräche vollständig mächtig sind, ganz oder annähernd genau in der 
fremden lautgestalt aufgenommen werden, dann aber, indem es auf 
solche Individuen ttbertragen wird, die der fremden spräche unkundig 
sind, doch durch Unterschiebung eines andern bewegungsgeftihls, durch 
verhören und durch Volksetymologie entstellt werden. Kommt eine 
solche entstellung bei der grossen masse in allgemeinen gebrauch, so 
kann sie auch auf diejenigen zurückwirken, welchen die originale laut- 
gestalt sehr wol bekannt ist. Sie müssen sich trotz ihres besseren 
Wissens der herrschend gewordenen ausspräche fügen, wenn sie nicht 
unverständlich werden oder afPectiert erscheinen wollen. In anderen 
fällen dagegen erhält sich im munde der gebildeten eine der originalen 
nahe stehende lautgestalt, während sich daneben eine oder mehrere 
abweichende volkstümliche entwickeln, vgl. z. b. corporal — kaporal, 
Sergeant — scharsant, gensd'armes — schandarre (so in Niederdeutsch- 
land), kastanie — kristanje, chirurgus — gregorius, renovieren — renne- 
ßren etc. 

Eine besondere art der assimilation besteht in der Übertragung 
der einheimischen accentuationsweise auf die fremden Wörter. Diese 
erfolgt wol in der regel nicht von anfang an bei der ersten Über- 
tragung, sondern erst nach längerer einbürgerung. Im engl, lässt es 
sich deutliclr verfolgen, wie die französischen Wörter, ursprünglich mit 
französischem accent aufgenommen, erst nach und nach zu der ger- 
manischen betonungsweise übergegangen sind. Im deutschen lässt sich 
das gleiche an den fremden eigennamen beobachten. Im ahd. und 
teilweise noch im mhd; betont man noch Adam, Abel, Daxid etc. Appel- 
lativa dagegen erscheinen schon in den ältesten althochdeutschen denk- 
mälem mit zurückgezogenem accent und Wirkungen dieser Zurück- 
ziehung, vgl. z. b. fogat (vocatm), mettina (matutina), fenstar. Wahr- 
scheinlich aber ist auch bei diesen die Zurückziehung des accentes nicht 
gleich bei der aufnähme eingetreten. 


344 

Durch die beBprocbenen lautUchen mQ4rficatioDen wird ein wort 
immer mehr seinem Ursprünge entfremdet, so dass derselbe selbst für 
demjenigen, der mit der spraehe, ans der es stammt, vertraut ist, un- 
kenntlich werden kann. Zu solcher entfremdung können aber auch 
Veränderungen in der spräche, aus der das wort entlehnt ist, beitragen. 
So beruht unsere ausspräche der aus dem französischen entlehnten 
Wörter zum teil auf einer jetzt in Frankreich nicht mehr bestehenden 
ausspräche, vgl. Paris, concert, officier etc. Noch weiter haben sieh 
deutsche Wörter von der lautgestalt entfernt, in der sie in die roma- 
nischen sprachen übergegangen sind, vgl. z. b. franz. tape, tapon = 
zapfen, it toppo = zapf franz. touaiUe = oberd. zwehle, mitteld. quehle, 
ii drudo = fratU. Ebenso kann die bedentung, mit der das wort ent- 
lehnt ist, sich in der grundsprache ebenso wol verändern wie in der 
Sprache, in die es ttbergegangen ist, und endlich kann es in der grund- 
sprache ganz untergehen. 

Es kann einunddasselbe wort mehrmals zu verschiedenen zeiten 
entlehnt werden. Es erscheint dann in verschiedenen lautgestalten, 
wovon die jüngere sich nahe an die grundsprache anschliesst, während 
die ältere schon mehr oder minder starke Veränderungen durchgemacht 
hat. Mitunter ist die bedentung, mit der ein wort bei der zweiten 
entlehnung aufgenommen wird verschieden von der bei der ersten, und 
es wird daher gar kein Zusammenhang zwischen den beiden formen 
empfunden, vgl. ordnen — ordinieren, dihien — dictieren^ predigen — 
prädicieren, ahd. zabal (Spielbrett) — iavala (beide aus tabula); auch 
prüfen und probieren decken sich nicht in ihrer bedentung. Wo die 
bedentung vollständig übereinstimmt, da geht die ältere form leicht 
unter, vgl. altar, mhd. schon alter; oder es wird die ältere form aaf 
die volkstümliche, mundartliche rede beschränkt, vgl. ade — adieu, 
melodei (aus mhd. melodie regelrecht entwickelt) — melodie (neu aus dem 
fT9.nz.\ phaniasei — phantasie, känel {kännel, handele kener) — kanal, kämi 
— kanUn, kappel — kapelle, keste — kasianie. Besonders häufig sind 
mehrfache formen in folge mehrfacher entlehnung bei personennamen. 
Dabei wird auch vielfach der Ursprung aus der gleichen grundlage 
nicht mehr erkannt, indem die älteren formen nur noch als familien- 
namen erscheinen. Vgl. Andres — Andreas, Bartel — Bartholomäus, 
Michel — Michael, Veiten — Valentin^ Metz — Mattis — Matthias, 
Marx — Markus, Zacher — Zacharias, Merten — Martin etc. 

Zuweilen wird nicht eine völlig neue entlehnung vorgenommen, 
sondern das schon seit längerer zeit eingebürgerte und lautlich modi- 
ficierte lehnwort erfährt nur eine partielle angleichung an das zu gründe 
liegende wort der fremden spräche, vgl. mhd. irache = nhd. drache 
{draco\ mhd. tihten = nhd. dichten (dictare), mhd. Krieche = nhd. 


345 

Grieche {Graecm). Auch Jude beruht wol auf einer wideranlehnung 
an Judaeus und Jude ist die einzige lautgesetzlich entwickelte form. 

Wo gleichzeitig zwei naheverwandte sprachen auf eine dritte 
wirken, da geschieht es leicht, dass aus beiden die einander corre- 
spendierenden Wörter aufgenommen werden, die dann in der bedeutung 
übereinstimmen und in der lautform wenig von einander abweichen. 
Dies verhältniss finden wir namentlich, in den lehnwörtem aus dem lat. 
und dem franz. So haben wir neben einander ideaU und ideell, real 
und reeU, jetzt in ihrer bedeutung differenziert, früher gleichwertig; 
Schiller gebraucht material = materiell. Goethe hat religiös = religiös. 
Einem norddeutschen referendar entspricht ein süddeutsches referendär. 
Statt trinitäi, mctjestät etc. bestehen im mhd. trinität, majestät\ im 16. 
und 17. jahrh. sind beide formen nachweisbar; i) das ä kann nur dem 
franz. entstammen. 

In diesen fällen kann es nicht ausbleiben, dass auch die dem 
französischen entstammende form von dem des lateinischen kundigen 
direct auf dieses bezogen wird. In anderen fällen sind Wörter über- 
haupt nicht direct aus der grundsprache aufgenommen, sondern nur 
aus einer anderen, in der sie lehnwörter sind. So sind griechische 
Wörter zunächst aus dem lateinischen zu uns gekommen, daher mit 
lateinischer betonung und mit der endung -us statt -os. Ebenso sind 
lateinische Wörter, die ihrerseits wider dem griechischen entlehnt sein 
können, durch Vermittlung des französischen auf uns gekommen, vgl. 
m\jLsik, Protestant^ religion etc., ebenso die eigennamen Horaz, Ovid 
etc. Auch hier stellt sich ein für den der Originalsprache kundigen 
directes verhältniss her, und die folge davon ist, dass er, auch 
wenn er Wörter direct aus der Originalsprache entnimmt, diesen 
eine den durch Vermittlung überkommenen analoge lautgestalt gibt, 
dass er z. b. den griechischen in den lateinischen accent umsetzt, 
dass er die lateinischen endungen -us, -um und andere fortlässt, 
dass er den ausgang der lateinischen Wörter auf -io in -ion ver- 
wandelt. Hierher gehört es auch, dass verba, die direct dem lateini- 
schen entnommen sind, die aus dem französischen stammende endung 
'ieren erhalten haben, vgl. negieren, spazieren, poculieren, praedicieren, 
annectieren, regulieren, prästieren, präparieren etc. Aus älterem per- 
sonifteren (z. b. bei Le.) ist mit anschluss an das lateinische personi- 
ficieren geworden. 

Wir haben oben s. 133 gesehen, dass einer ableitung, die mit 
einem weniger gewöhnlichen suffixe gebildet ist, leicht noch das für 
die betreflfende function normale suffix beigefügt wird. Eine besondere 
art dieses Vorganges ist die, dass einem fremden suffixe noch das 

*) Vgl. J. Grimm, Kl. sehr. 1, 337, wo aber die auffassung eine andere ist. 


346 

synoyme einheimische beigefügt wird, vgl. Sicilianer^ Mantuaner^ 
Kantianer; Italiener \ Athenienser^ fValdenser; Genueser, Bologneser \ 
sicilianisch^ italienisch, genuesisch; idealisch, kolossalisch (beides im 
vorigen jahrh. häufig), kollegialisch, musikalisch, physikalisch etc.; prin- 
cessin, äbtissin (mhd. ebbetisse). Die verha anf -ieren sind entstanden, 
indem an die fertige altfranzösische infinitiyform auf -ier noch die 
deutschen verbalendungen angetreten sind. 

Es werden immer nur ganze Wörter entlehnt, niemals ableitungs- 
and flexionssuffixe. Wird aber eine grössere anzahl von Wörtern ent- 
lehnt, die das gleiche snfiGx enthalten, so sehliessen sieh dieselben 
ebenso gut zu einer gruppe zusammen wie einheimische Wörter mit 
dem gleichen suffix und eine solche gruppe kann dann auch produeti? 
werden. Es kann sich das so aufgenommene suffix durch analogische 
neubildung mit einheimischem sprachgut verknüpfen. Der fall ist bei 
ableitungssilben nicht gerade selten. Wir haben im deutsehen nach 
dem muster von abtei etc. ein bäckerei, gerberei, druckerei etc.; nach 
bagage etc. bildungen der Volkssprache wie takelage^ kledage^ bommelage 
etc. (vgl. Andr. Volkset 98) ; nach corrigieren etc. hofieren^ buchstabieren, 
sich erlustieren, mhd. wandelieren, bei H. Sachs gelidmasieret. Vgl. ferner 
romanische bildungen wie ii falsardo mit germanischem suffix, englische 
wie oddity^ morder aus, eatable mit französischem suffix.^) Es gibt bei 
uns mehrere suffixe fremden Ursprungs, die nur in der gelehrtensprache 
üblich sind und sich dann nicht nur mit dementen aus der gleichen 
Sprache verbinden, sondern auch mit solchen aus einer andern fremden 
Sprache, zuweilen auch mit einheimischem sprachgut, vgl. -ist in jtarist^ 
pur ist ^ r omanist ^ tourist, manierist, hornist, hoboist, Carlist etc.; -istims 
in atavismus, purismus, fanatismus, sonambulisnms etc.; -ianer in Heg elianer , 
Kantianer etc. Diese bildungen finden sich zum teil auch im franzö- 
sischen und sind zum teil wol aus dieser spräche entlehnt Wenn 
man bildungen wie purist und purismus wegen der mischung aus einem 
lateinischen und einem griechischen demente beanstandet, so ist das 
insofern nicht zutreffend, als sie weder lateinische noch griechische, 
sondern deutsche, respective französische bildungen sind. 

Seltener werden flexionsendungen auf diese weise au%enommen.^) 
Es gehört dazu schon eine besonders innige bertthrung zweier sprachen. 
Die französische plnralbildung mit s ist in Niederdeutschland ziemlich 
verbreitet: kerls, mädchens, /räuleins, ladens, pleonastiseh in jungens. 
Auch in die Schriftsprache ist sie gedrungen bei ursprünglich indedi- 


*) Vgl. Whitney a. a. o. s. 17. Beispiele von slawischen suffixen in deutschen 
mnndarten bei Schuchardt s. 86. 

') Vgl. hierzu Schuchardt s. 8. 


847 

nablen Wörtern: a*s, o*s, neins, abers, vergissmehmichts, steUdicheins; bei 
fremdwörtern. die auf einen vollen vocal ausgehen und sich deshalb 
in keine sonstige declination einfügen: papas, sophas, mottos, koUhns\ 
weniger allgemein üblich und als correct anerkannt bei solchen auf 
-um-, albums. Weiter verbreitet ist die französische pluralbildung im 
niederländischen, vgl. wans, zons, vaders, broeders, waters, euvels, lakens^ 
vroukens, vogeltjes und so überhaupt die neutra auf -er, -ei, -en und 
die deminutiva; pleonastisch angefügt wird das s in j'ongens, gebenies 
(zu gebente), bladers (neben bladen und bladeren\ benders (neben benderen 
zu ben) u. a. In das indoportugiesische ist die englische genitivendung 
eingedrungen ; man sagt z. b. hombre's casa. Die ausgedehnteste herüber- 
nahme von flexionsendungen. hat in der Zigeunersprache stattgefunden 
So gibt es ein spanisches und ein englisches zigeunerisch. 

Beeinflussung in bezug auf die innere sprachform erfährt eine 
spräche namentlich durch diejenigen, von denen sie als eine fremde 
gesprochen wird. Doch keineswegs ausschliesslich. Für die literatur- 
sprache kommt in dieser hinsieht besonders der einfluss von Über- 
setzungen in betracht. 

Wo ein wort aus einer fremden spräche sich in seiner bedeutung 
nur teilweise mit einem worte der eigenen spräche deckt, da wird 
man leicht dazu verführt, jenem den vollen umfang der bedeutung bei- 
zulegen, die diesem zukommt. Es ist das ja bei Übersetzungsübungen 
einer der häufigsten fehler. Solche fehler können in zweisprachigen 
gebieten leicht usuell werden. *) Ein südslawischer Schriftsteller schreibt 
habt ihr keine scheu und schände, weil sramota , schände" und „schäm* 
bedeuten kann. Von den Deutschruthern wird schnür im sinne von 
„braut* gebraucht, weil im slowenischen nevesta Schwiegertochter 
und braut bedeutet. Häufig wird im slawodeutschen damals von der 
zukunffc gebraucht ; ebenso wo = wohin, weil im slawischen für beides 
das nämliche wort gebraucht wird. 

Ein wesentlich davon verschiedener Vorgang ist es, wenn für 
einen begriff, für den es bisher an einer bezeichnung gefehlt hat, ein 
wort nach dem muster einer fremden spräche geschaffen oder mit 
einem schon bestehenden worte eine bedeutungsübertragung nach diesem 
muster vorgenommen wird. Dieser Vorgang ist besonders in der wissen- 
schaftlichen und technischen spräche neben der directen herübernahme 
fremden materials üblich. Man vergleiche z. b. die versuche die latei- 
nischen grammatischen termini durch deutsche widerzugeben. Jene 
sind ihrerseits nachbildungen der griechischen. 


*) Vgl. Schuchardt s. 95 ff. 


348 

Es werden ferner wortgmppen, die als solche eine eigentümliche 
bedeutang entwickelt haben, nach den einzelnen Worten übertragen. 
So sagt man z.b. in Oestreich es sieht nicht dafür »= «es ist den auf- 
wand oder die mühe nicht wert*^ nach dem mpster des cechischen 
nestq/e za io.^) In Südwestdentschland hört man nicht selten nach 
französischem muster es macht gut wetter. 

Dazu kommt endlich die beeinflussnng der syntax.^) Da die 
Slawen für alle geschleehter und numeri des relativams eine form 
verwenden können, so wird im slawodeutschen häufig was entsprechend 
verwendet, vgl. ein mann, was hat geheissen Jacob; der hiecht, was ich 
mit ihm gefahren bin; auch ich bin nicht in der stadt gewesen, was 
(= solange) er weg ist. Im vorigen jahrh. schrieb man fast allgemein 
nach französischem muster ich lasse ihm das nicht fühlen u. dergL 
Im litauischen ist die deutsche construction was für ein mann wörtlich 
nachgebildet 

Dialectmischung innerhalb eines zusammenhangenden 
Sprachgebietes hebt sich dann von der normalen ausgleichenden 
Wirkung des Verkehrs deutlich ab, wenn sie zwischen dialecten vor 
sich geht, deren gebiete nicht räumlich nebeneinander liegen. Dagegen 
ist keine eigentliche grenze zu ziehen, wenn die gebiete räumlich be- 
nachbart und in beständigem verkehr unter einander sind. Man kann 
dann nur danach einen unterschied machen, ob zwischen den betreff- 
enden dialecten ein scharfer contrast besteht, oder ob die Verschieden- 
heiten gering sind und schon durch Übergangsstufen vermittelt. 

Im allgemeinen gilt hier das gleiche wie von der mischung ver- 
schiedener sprachen. Wortentlehnung ist auch hier der am leichtesten 
und häufigsten eintretende Vorgang. Dagegen wird das lautmaterial 
nicht leicht verändert. Es findet auch hier Substitution der fremden 
laute durch die nächstverwandten einheimischen statt. Daher erseheint 
ein aus einem verwandten dialecte aufgenommenes wort ganz gewöhn- 
lich in der nämlichen lautgestalt, die es erlangt haben würde, wenn 
es aus der zeit der ehemaligen spraeheinheit her sich erhalten hätte. 
So wird es sich in der regel bei geringeren differenzen in der laut- 
entwicklung verhalten. Anders natürlich, wenn zwei dialecte in ihrer 
entwicklung weiter auseinander gegangen sind, so dass, was sich ety- 
mologisch entspricht, sich nicht mehr phonetisch am nächsten liegt 
So ist z. b. das ch in sacht, nichte etc. bei der aufiiahme in das hoch- 
deutsche nicht in das etymologisch entsprechende ft umgesetzt. 

Auf literarischem gebiete entsteht vor der festsetzung einer ge- 
meinsprache sehr gewöhnlich eine mischung dadurch, dass ein denk- 

') Weitere beispiele ans dem slawodeutschen bei Schuchardt s. 96 ff. 
«) Vgl. Schuchardt s. 99 ff. 


849 

mal aus der mundart, in der eB nrsprttnglich verfasst ist in eine andere 
umgesetzt wird. Das ist bei schriftlicher wie bei mündlicher über- 
liefernng' möglich. Die Umsetzung bleibt gewöhnlich eine unvollkommene, 
zumal wenn sich das versmass dagegen sträubt. Diese art von mischung 
ist ganz und gar zu scheiden von derjenigen, welche sich in dem 
organismns der spraehvorstellungen bei den einzelnen Individuen 
vollzieht. 

Entlehnung aus einer älteren sprachstufe kann natürlich nur 
durch veimittlung der schritt erfolgen. Das lautmaterial kann demnach 
nie dadurch beeinflusst werden. Diese art der entlehnung wird in der 
regel nnr mit bewusster absieht bei literarischer production vorgenommen. 
Dabei ist ein unterschied zu beachten. Entweder sollen dabei gewisse 
wirkliehe oder vermeintliche Vorzüge der älteren spräche schlechthin 
wider zu neuem leben erweckt werden, oder die altertümlichkeiten der 
spräche sollen zur Charakterisierung der zeit dienen, in die man durch 
die darstellung versetzt wird. Im letzteren falle wird man leicht viel 
weiter gehen als im ersteren. 


Cap. XXIII. 

Die gemeinsprache. 

In allen modernen cnltnrländern finden wir neben vielfacher 
mnndartlicher Verzweigung eine durch ein grosses gebiet verbreitete 
und allgemein anerkannte gemeinsprache. Wesen and bildung derselben 
zu betrachten ist eine anfgabe, die wir notwendigerweise bis zaletzt 
verschieben mnssten. Wir betrachten wider zanächst die gegebenen 
Verhältnisse, die sich unserer unmittelbaren beobachtung darbieten. 

Wir sind bisher immer darauf aus gewesen die realen Vorgänge 
des Sprachlebens zu erfassen. Von anfang an haben wir uns klar 
gemacht, dass wir dabei mit dem, was die descriptive grammatik eine 
Sprache nennt, mit der Zusammenfassung des usuellen, überhaupt gar 
nicht rechnen dürfen als einer abstraction, die keine reale existenz 
hat. Die gemeinsprache ist natürlich erst recht eine abstraction. Sie 
ist nicht ein complex von realen tatsachen, realen kräften, sondern 
nichts als eine ideale norm, die angibt wie gesprochen werden soll. 
Sie verhält sich zu der wirklichen Sprechtätigkeit etwa wie ein gesetz- 
buch zu der gesammtheit des rechtslebens in dem gebiete, fttr welches 
das rechtsbuch gilt, oder wie ein glaubensbekenntniss, ein dogma- 
tisches lehrbuch zu der gesammtheit der religiösen anschauungen und 
empfindungen. 

Als eine solche norm ist die gemeinsprache wie ein gesetzbach 
oder ein dogma an sich unveränderlich. Veränderlichkeit würde ihrem 
wesen schnurstracks zuwider laufen. Wo eine Veränderung vorge- 
nommen wird, kann sie nur durch eine ausserhalb der norm stehende 
gewalt aufgedrängt werden, durch welche ein teil von ihr aufgehoben 
und durch etwas anderes ersetzt wird. Die veranlassungen zu solchen 
Veränderungen sind auf den verschiedenen culturgebieten analog. Ein 
noch so sorgfältig ausgearbeiteter codex wird doch immer eine gewisse 
freiheit der bewegung übrig lassen, und immer werden sich in der 
praxis eine reihe von unvorhergesehenen fällen herausstellen. Der 
codex kann aber auch Schwierigkeiten enthalten, hie und da mehrfache 
deutung zulassen. Dazu kommt nun missverständniss, mangelhafte 


351 

kenntniss von Seiten derer, die nach ihm verfahren sollten. Er kann 
endlieh vieles unangemessene enthalten teils von anfang an, teils in 
folge einer erst nach seiner festsetznng eingetretenen Veränderung der 
sittlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Diese unangemessenheit 
kann die Veranlassung werden, dass sich das rechtsgeftlhl der gesammt- 
heit oder der massgebenden kreise gegen die durchfUhrung des gesetz- 
buchstabens sträubt. Das zusammenwirken solcher umstände fllhrt 
dann za einer ändernng des gesetzbuches durch die Staatsgewalt. 
Gerade so verhält es sich mit der gemeinsprache. Sie ist nichts als 
eine starre regel, welche die sprachbewegnng zum stillstand bringen 
wttrde, wenn sie Überall stricte befolgt würde, und nur soweit Ver- 
änderungen znlässt, als man sich nicht an sie kehrt. 

Bei alledem ist aber doch der unterschied, dass die gemeinsprache 
nieht eigentlich codificiert wird. Es bleibt im allgemeinen der usus, 
der die norm bestimmt. Es kann das aber nicht der usus der gesammt- 
heit sein. Denn dieser ist weit entfernt davon ein einheitlicher zu 
sein. Aach in denjenigen gebieten, in welchen die gemeinsprache sich 
am meisten befestigt hat, finden wir, dass die einzelnen sehr beträcht- 
lich von einander abweichen, auch wenn wir sie nur in soweit berttck- 
siehtigen, als sie ausdrücklich bestrebt sind die Schriftsprache zu reden. 
Und selbst, wenn diese abweichungen einmal beseitigt wären, so 
mttssten nach den allgemeinen bedingungen der sprachentwickelung 
immer wieder neue entstehen. Sowol um eine einheit herbeizuführen 
als um eine schon vorhandene aufrecht zu erhalten, ist etwas erforder- 
lich, was von der Sprechtätigkeit der gesammtheit unabhängig ist, dieser 
objectiv gegenüber steht. Als solches dient überall der usus eines 
bestimmten engen kreises. 

Wir finden nun aber, soweit unsere beobachtung reicht, dass die 
norm anf zweierlei art bestimmt wird, nämlich einerseits durch die 
gesprochene spräche, anderseits durch niedergeschriebene quellen. Soll 
sich aus der ersteren eine einigermassen bestimmte norm ergeben, so 
müssen die personen, welche als autorität gelten, sich in einem be- 
ständigen oder nach kurzen Unterbrechungen immer widerholten münd- 
lichen verkehre unter einander befinden, wobei möglichst viele und 
möglichst vielseitige berührungen zwischen den einzelnen statthaben. 
In der regel finden wir die spräche einer einzelnen landschaft, einer 
einzelnen Stadt als mustergültig angesehen. Da aber überall, wo schon 
eine wirkliche gemeinsprache ausgebildet ist, auch innerhalb eines so 
engen gebietes, nicht unbeträchtliche Verschiedenheiten zwischen den 
verschiedenen bevölkerungsklassen bestehen, so muss die mustergültig- 
keit schon auf die spräche der gebildeten des betreffenden gebietes 
eingeschränkt werden. Aber auch von dieser kann sich das muster 


352 

emancipieren, und das ist z. b. in Deutschland der fall. Es ist reines 
Vorurteil, wenn bei uns eine bestimmte gegend angegeben wird, in der 
das ^reinste deutsch' gesprochen werden soll. Die mustergültige spräche 
ftlr uns ist vielmehr die auf dem theater im ernsten drama flbliehe, 
mit der die herrschende ausspräche der gebildeten an keinem orte 
vollständig übereinkommt Die Vertreter der bühnensprache bilden 
einen verhältnissmässig kleinen kreis, der aber räumlich weit zerstreut 
ist Die räumliche trennung widerspricht aber nur scheinbar unserer 
behauptung, dass directer mündlicher verkehr notwendiges erfordemiss 
fUr die mustersprache sei. Denn der grad von Übereinstimmung, wie 
er in der bühnensprache besteht, wäre nicht erreicht und könnte nicht 
erhalten werden, wenn nicht ein fortwährender austausch des personals 
zwischen den verschiedenen bühnen, auch den am weitesten von ein- 
ander entlegenen stattfände, und wenn es nicht gewisse centralpunkte 
gäbe und gegeben hätte, die wider den andern als muster dienen. 
Dazu kommt, dass hier auch eine kürzere directe berührung die gleiche 
Wirkung tun kann wie in anderen fällen eine längere deshalb, weil 
eine wirkliche Schulung stattfindet, eine Schulung, die bereits durch 
lautphysiologische beobachtung unterstützt wird. Die Ursachen, warum 
sich gerade die bühnensprache besonders einheitlich und abweichend 
von allen localsprachen gestalten musste, liegen auf der band. Nirgends 
sonst vereinigte sich ein so eng geschlossener kreis von personen aus den 
verschiedensten gegenden, die genötigt waren in der rede zusammen- 
zuwirken. Nirgends war einem verkehrskreise so viel veranlassung 
zur achtsamkeit auf die eigene und die fremde ausspräche, zu bewusster 
bemühung darum gegeben. Es musste einerseits der notwendigkeit 
sich vor einem grossen zuschauerkreise allgemein verständlich zu 
machen, anderseits ästhetischen rücksichten rechnung getragen werden. 
Aus beiden gründen konnten dialectische abweichungen auch nicht 
mehr in der einschränkung geduldet werden , in der sie sich etwa 
zwischen den verschiedenen localen kreisen der gebildeten noch er- 
halten hatten. Es ist selbstverständlich, dass eine gleichmässig durch- 
gehende ausspräche, an die sich das publikum allmählig gewöhnt, das 
verständniss bedeutend erleichtert. Jede ungleichmässigkeit in dieser 
beziehung ist aber auch für das ästhetische gefühl beleidigend, wenn 
sie nicht zur Charakterisierung dienen soll. Gerade aber weil der 
dialect etwas charakterisierendes hat, muss er vermieden werden, wo 
die Charakterisierung nicht hingehört Indem nun verschiedene dia- 
lectische nuancierungen mit einander um die herrschafi; kämpften, 
bevor es zu einer einigung kam, konnte es geschehen, dass, wenn auch 
vielleicht im ganzen die eine überwog, doch in diesem oder jenem 
punkte einer andern nachgegeben wurde. Massgebend für die ent- 


353 

seheidiing mnstite dabei aneh das streben naeh mögliehster deatlichkeit 
Bein. Dies streben mnsste aber aneh zn einer entfemung von der nm- 
gangsspraehe überhanpt ftthren. Diejenigen lantgestaltnngen , welche 
in dieser nnr dann angewendet werden, wenn man sich besonderer 
deatlichkeit befleissigt, wurden in der bühnensprache zn den regel- 
mässigen erhoben. Es wurden insbesondere die unter dem einflasse 
des satzgefttges oder auch der Wortzusammensetzung entstandenen, von 
assimilation oder von abschwächung in folge der geringen tonstärke 
betroffenen formen, naeh möglichkeit wider ausgestossen und durch 
die in insolierter Stellung übliche lautgestalt ersetzt Es wurde mehr- 
fach auf die Schreibung zurückgegriffen, wo die ausspräche schon ab- 
weichend geworden war. Gerade in diesen eigenheiten , welche durch 
das bedttrfniss nach klarer Verständlichkeit ftir einen grossen zuhörer- 
kreis veranlasst sind, kann übrigens die bühn^isprache nie absolutes 
mnster flir die Umgangssprache werden. In dieser würde das gleiche 
angespannte streben nach deutlichkeit als affeotation erscheinen. 

Dureh die btthne wird also ftlr die lautverhältnisse eine festere 
norm geschaffen als durch die Umgangssprache eines bestimmten be- 
zirkes'. Aber auf die lautliche seite beschränkt sich auch ihr regelnder 
einfluss. Im übrigen wird ihr die spräche von den dichtem octroyiert, 
und sie kann nach den anderen Seiten hin nicht ebenso tätig eingreifen 
wie die Umgangssprache. 

Die Übereinstimmung, welche in der spräche desjenigen kreises 
besteht, der als autorität gilt, kann natürlich niemals eine absolute 
sein. Sie geht in einer Umgangssprache nicht leicht über dasjenige 
mass hinaus, welches in der auf natürlichem wege erwachsenen mund- 
art eines engen bezirkes besteht. In einer künstlichen bühnensprache 
kann man allerdings noch etwas weiter kommen. Und wie die normal- 
sprache nicht frei von Schwankungen ist, so unterliegt sie auch all- 
mähliger . Wandlung wie sonst eine mundart Denn sie hat keine 
anderen lebensbedingungen wie diese. Wenn auch die norm einem 
weiteren kreise sich als etwas von ihm unabhängiges gegenüber stellen 
kann, so kann sie dies nicht ebenso dem engeren massgebenden kreise, 
muss vielmehr naturgemäss durch die Sprechtätigkeit desselben all- 
BQählig verschoben werden. Dies würde selbst geschehen, wenn dieser 
engere kreis sich ganz unabhängig von den einfiüssen des weiteren 
halten könnte. Es ist aber gar nicht denkbar, dass er bei dem un- 
unterbrochenen wechselverkehre stets nur gebend, niemals empfangend 
sein sollte. Und auf diese weise wird doch auch die gemeinsprache 
durch die gesammtheit der sprachgenossen bestimmt, nur dass der 
anteil, den die einzelnen dabei haben ein sehr verschiedener ist. 

Die andere norm der gemeinsprache, welche mit hülfe der nieder- 

Paul, Principicn. 11. Auflage. 23 


354 

Schrift geschaffen ist, bietet manche erhebliche vorteile. Erst dnreh 
schrifOiche fixiemng wird die norm unabhängig von den sprechenden 
individnen, kann sie unverändert anch den folgenden generationen 
überliefert werden. Sie kann ferner auch ohne directen verkehr ver- 
breitet werden. Sie hat endlich, soweit sie nur wider die niederge- 
schriebene spräche beeinflussen soll, ein sehr viel leichteres spiel, weil 
nm sich nach ihr zu richten es nicht nötig ist sein bewegungsgefttU 
neu einzuttben, wie man es tun muss um sich eine fremde ausspräche 
anzueignen. Dagegen hat sie anderseits den nachteil, dass sie Air 
abweichungen in der ausspräche noch einen sehr weiten Spielraum 
lässt, wie aus unseren ausftthrungen im vorigen cap. erhellt, daher als 
muster für diese nur schlecht zu gebrauchen ist 

Für die regelung der Schriftsprache im eigentlichen sinne ist es 
jedenfalls möglich den gebrauch bestimmter Schriftsteller, bestimmte 
grammatiken und Wörterbücher als allein massgebende muster hinzn- 
stellen und sich fUr immer daran zu halten. Das geschieht z. b., wenn 
die Nenlateiner die Ciceronianische Schreibweise widerzugeben trachten. 
Aber schon an diesem beispiele kann man wahrnehmen, dass es auch 
da, wo ein ganz bestimmtes muster klar vor äugen steht, schwer mög- 
lich ist etwas demselben ganz adäquates hervorzubringen. Es gehört 
dazu, dass man sich mit dem muster ununterbrochen vollkommen ver- 
traut erhält, und dass man sich ängstlich bemüht alle anderen ein- 
fittsse von sich fem zu halten. Wem es noch am besten gelingt, der 
erreicht es nur durch eine Selbstbeschränkung in der mitteilnng seiner 
gedanken, durch aufopferung aller individualität und zugleich auf kosten 
der genauigkeit und klarheit des ausdrucks. Wie reich auch der ge- 
dankenkreis eines Schriftstellers sein mag, so wird doch selbst der- 
jenige, der mit ihm der gleichen bildnngsepoehe angehört, in ihm nicht 
ftlr alles das, was er selbst zu sagen hat, die entsprechenden dar- 
stellungsmittel finden; viel weniger noch wird es ein späterer, wenn 
die cnlturverhältnisse sich verändert haben. 

Eine Schriftsprache, die dem praktischen bedürfnisse dienen soll, 
muss sich gerade wie die lebendige mundart mit der zeit verändern. 
Wenn sie auch zunächst auf dem usus eines Schriftstellers oder eines 
bestimmten kreises von schriftsteilem beraht, so darf sie doch nicht 
für alle zelten an diesem muster unbedingt festhalten, darf sich zumal 
nicht exclnsiv gegen ergänzungen verhalten, wo das muster nicht ans- 
reicht. Der einzelne darf nicht mehr bei allem, was er schreibt, das 
muster vor äugen hab^n, sondem er muss wie in der mundart die 
Sprachmittel unbewusst handhaben mit einem sicheren vertrauen anf 
sein eigenes gefühl, er muss eben dadurch einen gewissen schöpferischen 
anteil an der spräche haben und durch das, was er schafft, auf die 


355 

ttbrigen wirken. Der spraebgebraueh der gegenwart muss neben den 
alten mastem, wo nicht auBSchliesslich znr norm werden. So verhält 
es sieh mit dem latein des mittelalters. Indem die hnmanisten die 
lebendige entwickelang der lateinischen spräche abschnitten und die 
antiken muster wider zu ausschliesslicher geltung brachten, versetzten 
sie eben damit ganz wider ihre absieht der lateinischen Weltliteratur 
den todesstoss, machten sie unfähig fortan noch den allgemeinen be- 
dttrfnissen des wissenschaftlichen und geschäftlichen Verkehres zu 
dienen. 

Indem sich eine Schriftsprache von den ursprünglichen mustern 
emancipiert, ist es allerdings unvermeidlich, dass sie an gleichmässigkeit 
einbttsst, dass zwischen den einzelnen mannigfache abweiQhungen ent- 
stehen. Aber ein zerfallen in verschiedene räumlich getrennte dialecte, 
wie es in solchem falle bei der gesprochenen spräche unvermeidlich 
ist, braucht darum doch nicht einzutreten. Eine, und zwar die wich- 
tigste quelle der dialectischen differenzierung fällt in der Schriftsprache 
ganz weg, nämlich der lautwandel. Flexion, Wortbildung, Wortbedeu- 
tung, Syntax bleiben allerdings der Veränderung und damit der diffe- 
renzierung ausgesetzt, aber auch diese in einem geringeren grade als 
in der gesprochenen mundart Eine hauptveranlassung zu Verände- 
rungen auf diesem gebiete ist ja, wie wir gesehen haben, der mangel 
an congraenz zwischen den gruppierungsverhältnissen, die auf der laut- 
gestaltung und denen, die auf der bedeutung beruhen. Von diesem 
mangel ist ja natürlich auch die Schriftsprache in ihrer ursprünglichen 
fixierung nicht frei, aber es werden in ihr nicht wie in der gesprochenen 
mundart durch den lautwandel fortwährend neue incongruenzen hwvor- 
gerufen, und es werden nicht die verschiedenen gebiete durch eine 
abweichende lautentwickelung in verschiedene disposition zur analogie- 
bildung gesetzt. Es ist daher zu Veränderungen in den bildungsgesetzen 
für flexion und Wortbildung sehr viel weniger veranlassung gegeben. 
Es treten aber nicht bloss weniger Veränderungen ein, sondern die, 
welche eintreten, können sich, so lange der literarische Zusammenhang 
nicht unterbrochen wird, leicht über das ganze gebiet verbreiten. Wo 
sie nicht die nötige macht dazu besitzen, werden sie in der regel auch 
in dem beschränkten gebiete, in dem sie sich etwa festgesetzt haben, 
übermächtigen einflüssen weichen müssen. Am wenigsten wird die 
einheit der spräche gefährdet sein, wenn die alten muster neben den 
neuen immer eine gewisse autorität behaupten, wenn sie viel gelesen 
werden, wenn aus ihnen regeln abstrahiert werden, die allgemein an- 
erkannt werden. Erhaltung der Übereinstimmung und anbequemung 
an die veränderten colturverhältnisse sind am besten zu vereinigen, 
weifli man sich in der syntax und noch mehr in der formenbildung 

23* 


356 

mögliehst an die alten mnster hält, dagegen in der sehSpfnng neuer 
Wörter und in der anknttpfung neuer bedeutungen an die alten Wörter 
eine gewisse freiheit bewahrt So verhält es sich auch im allgemeinen 
bei den gebildeteren mittellateinischen Schriftstellern. 

An dem mittel- und neulateinischen können wir am besten das 
wesen einer gemeinsprache studieren, die nur Schriftsprache inV). 
Die nationalen gemeinsprachen dagegen sind zugleich schrift- und Um- 
gangssprachen. In ihnen stehen daher auch eine schriftsprachliche 
und eine umgangssprachliche norm neben einander. Es scheint selbst- 
verständlich, dass beide in Übereinstimmung mit einander gesetzt und 
fortwährend darin erhalten werden mttssen. Aber, wie wir im vorigen 
cap. gesehen haben, ist solche ttbereinstimmnng in bezng anf die laut- 
liche Seite im eigentlichen sinne gar nicht möglich, nnd die verselb- 
ständigung der Schrift gegenüber der gesprochenen rede kann so weit 
gehen, dass die gegenseitige beeinflussung fast ganz aufhört. Und 
gerade die einftlhrung einer festen norm begünstigt diese verselb- 
ständigung. Es erhellt daraus, wie notwendig eine besondere norm 
ftlr die gesprochene spräche ist, da sich auf grundlage der blossen 
schriffcnorm kaum eine annähernde Übereinstimmung in den lantver- 
hältnissen erzielen lassen würde, eher freilich noch mit einer Ortho- 
graphie wie die deutsche als mit einer solchen wie die englische. 

Ferner ist zu berücksichtigen, dass zwischen Schriftsprache und 
Umgangssprache immer ein stilistischer gegensatz besteht, dessen be- 
seitigung gar nicht angestrebt wird. In folge davon erhalten sieh in 
der ersteren constructionsweisen, Wörter und Wortverbindungen, die in 
der letzteren ausser gebrauch gekommen sind, anderseits dringt in die 
letztere manches neue ein, was die erstere verschmäht 

Eine absolute Übereinstimmung beider gebiete in dem, was in 
ihnen als normal anerkannt wird, gibt es also nicht Sie sind aber 
auch noch abgesehen von den beiden hervorgehobenen punkten immer 
von der gefahr bedroht nach verschiedenen richtungen hin auseinander 
zu gehen. Die massgebenden persönlichkeiten sind in beiden nur znm 
teil die gleichen, nnd der grad des einflusses, welchen der einzelne 
ausübt, ist in dem einen nicht der selbe wie in dem anderen. Dazu 
kommt in der Schriftsprache das immer wider erneuerte eingreifen der 


>) Eine ganz ausschliesslich nur in der niederschrift lebende und sich ent- 
wickelnde spräche ist allerdings auch das mitteUateinische nicht. Es wurde ja auch 
im mündlichen verkehre verwendet Auf die entwickelung wird das aber von ge- 
ringem einflusse gewesen sein, da die erlemung dock immer an der band schrift- 
licher aufzeichnungen erfolgte. Dagegen ist ein anderer ausserhalb der schriftlichen 
tradition liegender factor jedenfalls von grosser bedeutung gewesen, namentlich 
für die gestaltung der syntax, nämlich die muttersprache der lateinschreibenden. 


357 

älteren schrilFtsteller, während in der Umgangssprache direet nur die 
lebende generation wirkt. Um einen klaffenden riss zu vermeiden, 
muss daher immer von neuem eine art eompromiss zwisehen beiden 
geschlossen werden, wobei jede der andern etwas nachgibt. 

Wir haben oben s. 44 gesehen, dass wir das eigentlich charakte- 
ristische einer mundart im gegensatz zu den übrigen in den lautrer- 
hältnissen suchen müssen. Das selbe gilt von der gemeinsprache im 
gegensatz zu den einzelnen mundarten. Man darf daher eine tech- 
nische spräche oder einen poetischen kunststil ebensowenig mit einer 
gemeinsprache wie mit einer mundart auf gleiche linie setzen. 

In jedem gebiete, fUr welches eine gemeinsprachliche norm be- 
steht, zeigen sieh die sprachen der einzelnen Individuen als sehr 
mannigfache abstufnngen. Zwischen denen, welche der norm so nahe 
als möglich kommen, und denen, welche die verschiedenen mundarten am 
wenigsten von der norm inficiert darstellen, gibt es viele Vermittlungen. 
Dabei verwenden die meisten Individuen zwei, mitunter sogar noch 
mehr sprachen, von denen die eine der norm, die andere der mundart 
näher steht Diese ist die zuerst in der Jugend erlernte , von hause ans 
dem individuum natürliche, jene ist durch künstliche bemühungen im 
späteren lebensalter gewonnen. Hie und da kommt es allerdings auch 
vor, dass man von anfang an zwei nebeneinander erlernt, und durch 
besondere umstände kann mancher auch im späteren alter veranlasst 
werden eine von der norm weiter abweichende spräche zu erlernen 
und sich ihrer zu bedienen. Der abstand zwischen den beiden sprachen 
kann ein sehr verschiedener sein. Er kann so gering sein, dass man 
sie im gemeinen leben nur als etwas sorgfältigere und etwas nach- 
lässigere ausspräche unterscheidet; in diesem falle stellen sich leicht 
aaeh noch wider abstufnngen dazwischen. Es kann aber auch ein 
klaffender gegensatz bestehen. Die grosse des abstandes hängt 
natürlich sowol davon ab, wieweit die natürliche spräche von der norm 
absteht, als davon, wie nahe ihr die künstliche kommt. In beiden 
beziehungen bestehen grosse Verschiedenheiten. Wenn man die künst- 
liche spräche im gemeinen leben schlechthin als Schriftsprache be- 
zeichent, so zieht man dabei eine menge ziemlieh erheblicher localer 
und individueller differenzen nicht in rechnung; wenn man die natür- 
liche spräche schlechthin als mundart bezeichent^ so übersieht man 
bedeutende abstände innerhalb des gleichen engen gebietes. Es kommen 
natürlich auch individuen vor, die sich nur einer spräche bedienen, 
einerseits solche, die in ihrer natürlichen spräche der norm schon so 
nahe kommen oder zu kommen glauben, dass sie es nicht mehr für 
nötig halten sich derselben durch künstliche bemühungen noch weiter 
zu nähern, anderseits solche, die von den bedürfnissen noch unberührt 


358 

sind, die zur schöpfdng nnd anweodnng der gemeinsprache geführt 
haben. 

Je weiter sich die natttrliehe spräche eines individnumg von der 
norm entfernt, um so mehr wird die daneben stehende künstliche 
Sprache als etwas fremdes empfanden; wir können aber auch im all- 
gemeinen behaupten, nm so mehr Sorgfalt wird auf die erlemung der 
künstlichen spräche verwendet, nm so näher kommt man darin der 
norm, namentlich in allen denjenigen punkten, die sich schriftlich 
fixieren lassen. In Niederdeutsehland spricht man ein correcteres Schrift- 
deutsch als in Mittel- und Oberdeutschland. Ebenso ist das sogenannte 
'gut deutsch' der Schweiz ein sehr viel correcteres als etwa das des 
benachbarten badisehen oder würtembergischen gebietes, weil hier die 
Stadtmundarten schon der norm bei weitem mehr genähert sind als 
dort. 

Wenn auf dem selben gebiete viele abstufungen neben einander 
bestehen, so müssen sich diese selbstverständlich fortwährend nnter 
einander beeinflussen. Insbesondere muss das der fall sein bei den 
beiden stufen, die in dem selben Individuum neben einander liegen. 
Alle stufen des gleichen gebietes müssen gewisse eigentümliehkeiten 
mit einander gemein haben. Die der norm am nächsten stehenden 
stufen aus den verschiedenen gebieten müssen sich immer noch einiger- 
massen analog zu einander verhalten wie die der norm am fernsten 
stehenden. 

Ueberall ist die schriftsprachliche norm bestimmter, freier von 
Schwankungen als die umgangssprachliche. Und noch mehr übertrifil 
in der wirklichen ausübung die Schriftsprache nach dieser seite hin 
auch die der norm am nächsten kommenden gestaltungen der Umgangs- 
sprache. Das ist ein satz, dessen allgemeingttltigkeit man durch die 
erfahrung bestätigt finden wird, wohin man auch blicken mag, und 
der sich ausserdem aus der natur der sache mit notwendigkeit ergibt. 
Denn erstens müssen, wie wir gesehen haben, alle feineren unterschiede 
der ausspräche, in der schrift von selbst wegfallen, und zweitens ge- 
lingt es dem einzelnen leichter sich eine bestimmte Schreibweise als 
eine von seiner bisherigen gewohnheit abweichende ausspräche anzu- 
eignen. Es gehört daher nur wenig unbefangene Überlegung dazn, 
um die Verkehrtheit gewisser hypothesen einzusehen, die für eine 
fiühere periode grössere einheit in der gesprochenen als in der ge- 
schriebenen spräche voraussetzen. 

In dem verhältniss der einzelnen individuellen sprachen zur norm 
finden in einem fort Verschiebungen statt. Während dieselben einer- 
seits von den allgemeinen grundbedingungen der natürlichen sprach- 
entwickelung sich nicht emaneipieren können und daher m immer 


359 

r 

weiter gehender differenziemng und damit zu immer weiterer entfemung 
von der norm getrieben werden, bringen anderseits die künstlichen 
bemtthnngen eine immer grössere annäherung an die norm hervor. 
Es ist von Wichtigkeit festzuhalten, dass beide tendenzen neben ein- 
ander wirksam sind, dass nicht etwa, wenn die lelztere zu wirken 
anfUngt, damit die Wirksamkeit der ersteren aufgehoben ist. Die 
stufenweise annäherung an die norm können wir zum teil direct be- 
obachten. Ausserdem aber finden wir alle die entwickelungsstufen, 
welche die einzelnen Individuen nach und nach durchmachen, an ver- 
schiedenen Individuen gleichzeitig neben einander. Sucheii wir uns 
nun die einzelnen Vorgänge klar zu machen^ mittelst deren sich die 
annäherung vollzieht 

Erstens: es lernt ein Individuum zu der bis dahin allein ange- 
wendeten natürlichen spräche eine der norm näher stehende künstliche. 
Das geschieht in den modernen culturländern meist zuerst durch den 
Schulunterricht, und man lernt dann gleichzeitig die Schriftsprache im 
eigentlichen sinne und eine der Schriftsprache angenäherte Umgangs- 
sprache. Man kann aber eine künstliche spräche auch dadurch er- 
lernen, dass man in einen andern verkehrskreis, der sich schon einer 
der norm näher stehenden spräche bedient als derjenige, in dem man 
bisher gelebt hat, neu eintritt, oder dass' man wenigstens zu einem 
solchen kreise in nähere bertthrung tritt als zu der zeit, wo man zu- 
erst sprechen gelernt hat. In diesem falle braucht man eventuell gar 
nicht lesen und schreibe zu lernen. Das verhälthiss des individuums 
zu der neuen spräche ist natürlich immer erst eine zeit lang ein 
passives, bevor es ein actives vrird, d. h. es lernt zunächst die spräche 
verstehen und gewöhnt sich an dieselbe, bevor es sie selbst spricht 
Ein derartiges mehr oder minder intimes passives verhältniss hat der 
einzelne oft zu sehr vielen dialecten und abstufungen der Umgangs- 
sprache, ohne dass er jemals von da zu einem activen verhältniss 
übergeht Dazu bedarf es eben noch eines besonderen antriebes, einer 
besonders energischen einwirkung. Die aneignung der künstlichen 
spräche ist zunächst immer eine unvollkommene, es kann allmählig zu 
immer grösserer Vollkommenheit fortgeschritten werden, viele aber ge- 
langen niemals dazu sie sicher und fehlerfrei anzuwenden. Unter 
allen umständen bleibt die früher angeeignete natürliche spräche eines 
individuums bestimmend ftlr den specifischen Charakter seiner künst- 
lichen spräche. Auch da, wo die letztere sich am weitesten von der 
ersteren entfernt, wird sie doch nicht als eine absolut fremde spräche 
erlernt, sondern immer noch mit beziehung auf diese, die bei der an- 
wendung unterstützend mitwirkt Man richtet sich zunächst, wie über- 
haupt bei der anwendung einer jeden fremden spräche oder mundart, 


360 

so viel als mö^ch naeh den bewegungsgeftthlen , auf die man einmal 
eingeübt ist Die feineren laatliehen abweichnngen der mnsterspraebe, 
welche man naehzabilden strebt, bleiben unbertteksiehtigt. So kann 
es geschehen, dass, selbst wenn die betreffende mustersprache der 
gemeinsprachlichiBn norm so nahe als möglich steht, bei der nach- 
bildnng doch eine dem ursprünglichen dialecte gemässe nuanciemng 
herauskommt Nun aber ist weiter in betracht zu ziehen, dass der 
einzelne in der regel seine künstliche spräche von heimatsgenossen 
lernt, deren spräche bereits auf der unterläge des nämlichen dialectes 
aufgebaut ist. Soweit ferner die künstliche spräche durch lectüre er- 
lernt wird, ist ja die Unterschiebung verwandter laute aus der eigenen 
mundart ganz selbstverständlich. Aber auch Wortschatz und Wortbe- 
deutung, flexion und syntax der künstlichen spräche bilden sich nicht 
bloss naeh den mustern, sondern auch nach dem bestände der eigenen 
natürlichen spräche. Man ergänzt namentlich den wortvorrat, den man 
ans der mustersprache übernommen hat, wo er nicht ausreicht oder 
nicht geläufig genug geworden ist, aus der natürlichen spräche, gebraucht 
Wörter, die man in jener niemals gehört hat oder, wenn man sie auch ge- 
hört hat, nicht zu reproducieren im stände sein würde, wenn sie nicht 
auch in dieser vorkämen. Man verfährt dabei mit einer gewissen unbe- 
fangenen Sicherheit, weil in der tat ein grosser oder der grössere teil der 
in der natürlichen spräche üblichen Wörter aiuch in der mustersprache 
vorkommt, weil man vielfach die lücken seiner kenntniss der letzteren auf 
diese weise ganz richtig ergänzt Es kann dabei aber natürlich auch nicht 
fehlen, dass Wörter in die künstliche spräche hinübergenommen werden, 
welche die mustersprache gar nicht oder nur in abweichender bedeu- 
tnng kennt Wo das selbe wort in der mustersprache und in der 
natürlichen spräche vorkommt, bestehen häufig Verschiedenheiten der 
lautform. Finden sich diese Verschiedenheiten gleichmässig in einer 
grösseren anzahl von Wörtern, so müssen sich in der seele des Indi- 
viduums, welches beide sprachen neben einander beherrscht, parallel- 
reihen herstellen (z. b. nd. water — hd. wasser = eten — essen = loten 
lassen etc.). Es entsteht in ihm ein, wenn gleich dunkles geflkhl von 
dem gesetzmässigen verhalten der laute der einen spräche zu denen 
der andern. In folge davon vermag es Wörter, die es nur aus seiner 
natürlichen spräche kennt, richtig in den lautstand der künstiiiehen 
spräche zu übertragen. Psychologisch ist der Vorgang nicht verschieden 
von dem, was wir als analogiebildnng bezeichent haben. Dabei können 
durch unrichtige Verallgemeinerung der gültigkeit einer proportion fehler 
entstehen, wie ich z. b. von einem in niederdeutscher mundart aufge- 
wachsenen kinde gehört habe, dass es hochdeutsch redend zeller für 
teller sagte. Dergleichen bleibt aber meist individuell und vorüber- 


361 

gehend, da es immer wider eine controlle dagegen gibt Anderseits 
aber zeigen sieh die parallelreihen nieht immer wirksam, nnd es gehen 
auch Wörter in ihrer mundartlichen von dem laatstande der master- 
spraehe abweichenden geatalt in die künstliche spräche über. Uebrigens 
verhält es sich wie mit dem lautliehen, so in allen ttbrigen beziehungen: 
in der regel ist die dem einzelnen zunächst als muster dienende Um- 
gangssprache schon durch ein zusammenwirken der eigentUchen normal- 
spräche mit dem heimischen dialecte gestaltet. X 

Zweitens wirkt die künstliche spräche auf die natürliche, indem 
aus ihr Wörter, hie und da auch flexionsformen und construetionsweisen 
entlehnt werden. Die Wörter sind natürlich solche, welche sich auf 
vorstellungskreise beziehen, für die man sich vorzugsweise der künst- 
lichen spräche bedient. Sie werden wie bei der umgekehrten ent- 
lehnong entweder in den lautstand der natürlichen spräche umgesetzt 
oder in der lautform der künstlichen beibehalten. Es gibt keine ein- 
zige deutsche mundart, die sich von einer solchen infeetion gänzlich 
frei gehalten hätte, wenn auch der grad ein sehr verschiedener ist 

Drittens wird bei den Individuen, die eine künstliche und eine 
natürliche spräche nebeneinander sprechen, der gebrauch der ersteren 
auf kosten der letzteren ausgedehnt Anfangs wird die künstliche 
spräche nur da angewendet, wo ein wirkliches bedürfniss dazu vor- 
handen ist, d. h. im verkehr mit fremden, die einem wesentlich ab- 
weichenden dialectgebiete angehören. Dies^ erfolgt mehr durch 
schriftliche als durch mündliche mittel, es bedarf dafHr mehr einer 
künstlichen Schriftsprache als einer künstlichen Umgangssprache. Im 
verkehr zwischen heimatsgenossen kommt die künstliche spräche zuerst 
da zur anwendung, wo gleichzeitig auf fremde rücksicht genommen 
werden muss. Nachdem sie sich für die literatur und für ofiQcielle 
actenstticke festgesetzt hat, dehnt sie sich überhaupt auf alle schrift- 
liehen aufzeichnungen aus, auch die privater natur, die nieht für fremdes 
dialeetgebiet bestimmt sind. Es ist das die natürliche consequeuz 
davon, dass man an den literarischen denkmälem das lesen und 
schreiben erlernt, infolge wovon es bequemer wird sich an die darin 
herrschende Orthographie anznschliessen als auch noch für die eigene 
mundart eine Schreibung zu erlernen oder selbst zu finden. Weiter 
wird die künstliche spräche üblich für den an schriftliche aufzeich- 
nungen angelehnten öffentlichen vertrag, ftlr predigt, Unterricht etc. 
Erst nachdem sie in allen den erwähnten Verkehrsformen eine ausge- 
dehntere anwendung gefunden bat, wird sie einem teile des Volkes, 
natürlich demjenigen, der sich am meisten in denselben bewegt, der * 
am meisten durch literatur, schule etc. beeinflusst wird, so geläufig, 
dass sie derselbe auch für den privatverkehr in der heimat zu ge- 


362 

brauchen anlfftngt, dass sie zur allgemeinen Umgangssprache der ge- 
bildeten wird. Erst anf dieser entwieklnngsstnfe natürlich kann der 
gebrauch der mnndart im umgange fttr ein zeichen von Unbildung 
gelten, erst jetzt tritt die mundart in der Wertschätzung hinter der 
künstlichen spräche zurttok. In der Schweiz ist man durchgängig noch 
nicht soweit gelangt. In den höchstgebildeten kreisen von Basel, Bern 
oder Zürich unterhält man sich, so lange man keine rttcksicht auf 
fremde zu nehmen hat, in der einem jeden von Jugend auf natürlichen 
spräche, und nimmt auch in den politischen körperschaften an reden 
in Schweizerdeutsch keinen anstoss. Wenigstens annähernd ähnliche 
Verhältnisse waren in Holstein, Hamburg, Mecklenburg und andern 
niederdeutschen gegenden noch vor wenigen deeennien zu finden. In 
ganz Süd- und Mitteldeutschland erträgt man wenigstens in der Um- 
gangssprache noch einen bedeutenden abstand von der eigentlichen 
normalsprache. Schon die betrachtung der noch bestehenden Verhält- 
nisse kann lehren, wie verkehrt die anschauung ist, dass mit der exi- 
stenz einer künstlichen und einer natürlichen spräche von vornherein 
eine herabwürdigung der letzteren gegenüber der ersteren verbunden 
sein müsste, wie verkehrt es femer ist nicht das bedürfniss, sondern 
das streben durch feinere bildung von der grossen masse des volkes 
abzustechen zum ersten motiv fttr die erlemung und ftir die Schöpfung 
einer künstlichen spräche zu machen. Wer dergleichen annimmt, steckt 
eben noch in den verurteilen einer unwissenschaftlichen schulmeisterei, 
die von historischer entwickelung nichts weiss. Die anwendung der 
künstlichen spräche im täglichen verkehr kann in sehr verschieden 
abgestufter ausdehnung statt haben. Zunächst braucht man sie ab- 
wechselnd mit der natürlichen. Dabei macht man dann einen unter- 
schied je nach dem grade, in dem derjenige, mit dem man redet, mit 
der künstlichen spräche vertraut ist und sie selbst anwendet Schliess- 
lich gelangt man vielleicht dazu die natürliche spräche gar nicht mehr 
anzuwenden. Es kommen heutzutage fälle genug vor, in denen man 
diese ganze entwickelung schritt für schritt an einem individuum ver- 
folgen kann. Man gelangt nirgends zu ausschliesslicher anwendung 
der künstlichen spräche, ohne dass eine längere oder kürzere periode 
der doppelsprachigkeit vorangegangen wäre. 

Sind erst eine anzahl von individuen dazu gelangt sich der künst- 
lichen spräche ausschliesslich oder überwiegend zu bedienen, so erlernt 
derjenige teil des jüngeren geschleehtes , welcher vorzugsweise unter 
ihrem einflusse steht, das, was ihnen noch künstliche spräche war, von 
vornherein als seine natürliche spräche. Dass die ältere generation 
auf künstlichem wege zu dieser spräche gelangt ist, ist dann für ihr 
wesen und ihr fortleben in der jüngeren generation ganz gleichgültig. 


363 

Diese verhält sich zu ihr nicht anders als die ältere generation oder 
andere schichten des Volkes zu ihrer von der gemeinsprachlichen norm 
nicht beeinflnssten mnndart. Man mnss sich hüten den gegensatz 
zwischen künstlicher nnd natürlicher spräche mit dem zwischen ge- 
meinsprache nnd mnndart einfach zu confundieren. Man mnss sich 
immer klar darüber sein, ob man die verschiedenen individuellen 
sprachen nach ihrer objectiven gestaltang mit rücksicbt auf ihre grössere 
oder geringere entfemung von der gemeinsprachlichen norm beurteilen 
will oder nach dem snbjectiven verhalten des sprechenden zu ihnen. 
Von zwei sprachen, die man von zwei verschiedenen Individuen hört, 
kann A der norm näher stehen als B, und kann darum doch A natür- 
liche, B künstliche spräche sein. 

Wenn auf einem gebiete ein teil an der ursprünglichen mundart 
festhält, ein anderer sich einer künstlichen eingeführten spräche auch 
flir den täglichen verkehr bedient, so gibt es natürlich eine anzahl von 
individuen, die von frühester kindheit einigermassen gleichmässig von 
beiden gruppen beeinfinsst werden, und so kann es nicht ausbleiben, 
dass verschiedene mischungen entstehen. Jede mischung aber be- 
günstigt das entstehen neuer mischungen. Und so kann es nicht aus- 
bleiben, dass ein grosser reichtum mannigfacher abstufungen auch in 
der natürlichen spräche entsteht. In Ober- und Mitteldeutschland kann 
man fast überall von der der norm am nächsten stehenden gestaltung 
bis zu der davon am weitesten abstehenden ganz allmählig gelangen, 
ohne dass irgendwo ein schroffer riss vorhanden wäre. In der Schweiz 
dagegen, wo die künstliche spräche noch nicht in den täglichen ver- 
kehr eingedrungen ist, sich nicht in natürliche spräche verwandelt hat, 
gibt es zwar eine abstufung zwischen den mundarten, je nachdem sie 
stärker oder schwächer von der Schriftsprache beeinflusst sind, aber 
zwischen der Schriftsprache und der am stärksten von ihr beeinflnssten 
mundart besteht ein durch keine abstufungen vermittelter gegensatz. 
Wenn jemand von hause aus eine der norm näher stehende 
spräche erlernt hat, so hat er natürlich kein so grosses bedürfniss 
noch eine künstliche dazu zu erlernen, als wenn er die reine mundart 
seiner heimat erlernt hätte. Er begnügt sich daher häufig für den 
mündlichen verkehr mit der einsprachigkeit. Die Verhältnisse können 
ihn aber dazu drängen eine noch grössere annäherung an die norm 
anzustreben, und dann wird er widerum zweisprachig, und widerum 
kann seine künstliche spräche einer folgenden generation zur natür- 
lichen werden, und dieser process kann sich mehrmals widerholen. 

Wir haben uns bisher zu veranschaulichen versucht, wie sich die 
Verhältnisse gestalten unter der Voraussetzung, dass schon eine all- 
gemein anerkannte norm für die gemeinsprache besteht. Es bleibt uns 


364 

jetzt noeh ttbiig za betrachten, wie Überhaupt eine solche norm ent- 
stehen kann. Dass eine solche in den gebieten, wo sie jetzt existiert, 
nicht von anfang an vorhanden gewesen sein kann, dass es vorher 
eine periode gegeben haben mass, in der nur reine mundarten gleich- 
berechtigt neben einander bestanden haben, dürfte jetzt wol allgemein 
anerkannt sein. Aber es scheint doch vielen leuten schwer zu fallen, 
sich eine literarisch verwendete spräche ohne norm vorzustellen, und 
die neigung ist sehr verbreitet ihre enstehung so weit als möglieh 
zurückzuschieben. Ich kann darin nur eine nachwirkung alter Vor- 
urteile sehen, wonach die Schriftsprache als das eigentlich allein existenz- 
berechtigte, die mundart nur als eine verderbniss daraus an%efasst wird. 
Dass überhaupt zweifei möglich ist, liegt daran, dass uns aus den 
früheren zeiten nur aufzeiehnungen vorliegen, nicht die gesprochene 
rede. In folge davon ist Vermutungen über die beschaffenheit der 
letzteren ein weiter Spielraum gegeben. Einen massstab für die rieh- 
tigkeit oder nichtigkeit dieser Vermutungen können uns bloss unsere 
bisher gesammelten erfahrungen über die bedingungen des sprachlebens 
geben. Was diesen massstab nicht aushält, muss endlich einmal auf- 
hören sich breit zu machen. 

Unter den momenten, welche auf die Schöpfung einer gemein- 
spräche hinwirken, muss natürlich, wie schon aus unseren bisherigen 
erörternngen hervorgeht, in erster linie das bedttrfniss in betraeht 
kommen. Ein solches ist erst vorhanden, wenn die mundartliche diffe- 
renzierung so weit gegangen ist, dass sich nicht mehr alle glieder der 
Sprachgenossenschaft bequem unter einander verständigen können, und 
zwar dann auch nur ftlr den gegenseitigen verkehr derjenigen, deren 
heimatsorte weit auseinander liegen, da sich zwischen den nächsten 
nachbam keine zu schroffen gegensätze entwickeln. Es kann niehl 
leicht etwas bedenklicheres geben, als anzunehmen, dass sich eine ge- 
meinsprache zunächst innerhalb eines engeren gebietes, das in sich 
noch geringe mundartliche differenzen aufzuweisen hat, ausgebildet 
und erst von da auf die femer stehenden gebiete verbreitet habe. 
Naturgemäss ist es vielmehr, und das bestätigt auch die erfahrung, 
dass eine spräche dadurch zur gemeinsprache wird, dass man sie in 
gebieten zum muster nimmt, deren mundart sieh ziemlich weit davon 
entfernt, während kleinere differenzen zunächst unbeachtet bleiben. 
Ja der gemeinsprachliche Charakter kann dadurch eine besondere 
kräftigung erhalten, dass eine Übertragung auf entschieden fremd- 
sprachliches gebiet stattfindet, wie wir es an der griechischen xoivi] 
und der lateinischen spräche beobachten können. 

Soll demnach ein dringendes bedürfniss vorhanden sein, so muss 
der verkehr zwischen den einander femer liegenden gebieten schon 


365 

zo einer ziemlicben Intensität entwickelt sein, mttssen bereits rege 
commereielle, politische oder literarische beziehnngen bestehen. Von 
den intensitätsverhältnissen des weiteren Verkehres hängt es auch zum 
teil ab, wie gross das gebiet wird, über welches die gemeinsprache 
ihre herrschaft aasdehnt. Die grenzen des gebietes fallen keineswegs 
immer mit denjenigen zusammen, die man am zweckmässigsten ziehen 
wtlrde, wenn man bloss das verhältniss der mnndarten zu einander 
berttcksiehtigen wollte. Wenn auf zwei verschiedenen Sprachgebieten 
die mundartlichen differenzen ungefähr gleich gross sind, so kann es 
doch geschehen, dass sich auf dem einen nur eine gemeinsprache, 
auf dem andern zwei, drei und mehr entwickeln. Es ist z. b. keine 
frage, dass zwischen ober- und niederdeutschen mnndarten grössere 
unterschiede bestehen, als zwischen polnischen und czechischen oder 
serbischen und bulgarischen, ja selbst zwischen polnischen und serbi- 
schen. Es können zwei gebiete mit sehr nahe verwandten mnndarten 
rttcksichtlich der gemeinspraehen, die sich in ihnen festsetzen, nach 
verschiedenen selten hin auseinandergerissen werden, während zwei 
andere mit einander sehr fern stehenden mnndarten die gleiche ge- 
meinsprache annehmen. 

Wieviel auf das bedürfuiss ankommt, zeigt auch folgende beo- 
bachtung. Es ist sehr schwer, wo nicht unmöglich, wenn sich fftr.ein 
grösseres gebiet eine gemeinsprache einigermassen festgesetzt hat, für 
einen teil desselben eine besondere gemeinsprache zu schaffen. Man 
kann jetzt nicht mehr daran denken eine niederdeutsche oder eine 
provenzalische gemeinsprache schaffen zu wollen. Auch die be- 
mtthungen eine besondere norwegische gemeinsprache zu schaffen 
scheitern an der bereits bestehenden herrschaft des dänischen. Um- 
gekehrt ist es auch nicht leicht eine gemeinsprache über ein grösseres 
gebiet zur herrschaft zu bringen, wenn die einzelnen teile desselben 
bereits ihre besondere gemeinsprache haben, durch die für das nächste 
bedttrfhiss schon gesorgt ist. Man sieht das an der erfolglosigkeit der 
panslawistischen bestrebungen. Ebenso wirkt auch eine ganz fremde 
Sprache, wenn sie sich einmal ftlr den literarischen und officiellen ver- 
kehr eingebürgert hat, der bildung einer nationalen gemeinsprache 
hemmend entgegen. So sind die bestrebungen eine vlämische literatur- 
sprache zu gründen nur von geringem erfolge gekrönt, nachdem ein- 
mal das französische zu feste wurzeln geschlagen hat. In sehr aus- 
gedehntem masse hat das lateinische als Weltsprache diesen hemmenden 
einfluss geübt. 

Es ist nur der directe verkehr, für welchen das bedürfniss im 
vollen masse vorhanden ist Für den indirecten besteht es häufig 
nicht, auch wenn die Individuen, zwischen denen die mitteilung statt- 


366 

findet, sich mundartlich sehr fem stehen. Geht die mitteilnng durch 
andere individnen hindurch, deren mundarten dazwischen liegen, so 
kann sie durch mehrfache ttbertragungen eine gestalt erhalten, dass 
sie auch solchen leicht verständlich wird, denen sie in der ursprüng- 
lichen mundart nicht verständlich gewesen wäre. Eine solche Über- 
tragung findet selbstverständlich statt, wenn poetische producte münd- 
lich von einem orte zum andern wandern. Aber ihr unterliegen auch 
aufgezeichente denkmäler, die durch abschrift weiter verbreitet werden. 
Allerdings bleibt die Übertragung gewöhnlich mehr oder minder un- 
vollkommen, so dass misch^alecte entstehen. Massenhafte beispiele 
fttr diesen Vorgang liefern die verschiedenen nationalliteraturen des 
mittelalters. Es ist auf diese weise ein literarischer connex zwischen 
gebieten möglich, die mundartUch schon ziemlich weit von einander 
abstehen, ohne die vermittelung einer gemeinsprache. Ja dieses so 
nahe liegende verfahren verhindert geradezu, dass eine mundart, in 
der etwa hervorragende literarische denkmäler verfasst sind, auf grnnd 
davon einen massgebenden einfluss gewinnt, weil sie gar nicht mit 
den betreffenden denkmälem verbreitet wird, wenigstens nicht in reiner 
gestalt Ganz anders verhält sich die sache, sobald die Verbreitung 
durch den druck geschieht Durch diesen wird es möglieh ein werk 
in der ihm vom Verfasser oder vom drucker gegebenen gestalt unver- 
fälscht überallhin zu verbreiten. Und sollen überhaupt die vorteile des 
druckes zur geltung kommen, so muss ein druck womöglich für das 
ganze Sprachgebiet genügen, und dazu gehört natürlich, dass die darin 
niedergelegte spräche überall verstanden wird. Mit der einführung 
des druckes Wächst also einerseits das bedttrfniss nach 'einer gemein- 
sprache, werden anderseits geeignetere mittel zur befriedigung dieses 
bedürfnisses geboten. Uebrigens ist es auch erst der druck, wodurch 
eine Verbreitung der kenntniss des lesens und Schreibens in weiteren 
kreisen möglich wird. Vor der Verwendung des druckes kann fttr die 
Wirksamkeit einer schriftsprachlichen norm immer nur ein enger kreis 
empfänglich gewesen sein. 

Das bedürfniss an sich reicht natürlich nicht aus eine gemein- 
sprachliche norm zu schaffen. Es kann auch nicht dazu veranlassen 
eine solche willkürlich zu ersinnen. So weit geht die absichtliehkeit 
auch auf diesem gebiete nicht, wie viel grösser sie auch sein mag als 
bei der natürlichen Sprachentwicklung. Ueberall dient als norm zu- 
nächst nicht etwas neu geschaffenes, sondern eine von den bestehenden 
mundarten. Es wird auch nicht einmal eine unter diesen nach Verab- 
redung ausgewählt Vielmehr muss diejenige, welche zur norm werden 
soll, schon ein natürliches übergewicht besitzen, sei es auf commer- 
eiellem, politischem, religiösem oder literarischem gebiete oder auf 


867 

mehreren von diesen zugleich. Die absieht eine gemeinsprache zu 
schafTen kommt erst hinten naeh, wenn die ersten sehritte dazu getan 
sind. Wenigstens ist es wol erst in ganz modeiner zeit vorgekommen, 
dass man ohne eine bereits vorhandene grundlage den plan gefasst 
hat eine gemeinsprache zu schafifen, und dann meist nicht mit günstigem 
erfolge. Man hat sich dabei die Verhältnisse anderer Sprachgebiete, 
die bereits eine gemeinsprache besitzen, zum muster genommen. Als 
die gemeinsprachen der grossen europäischen culturländer begründet 
wurden, schwebten noch keine solche muster vor. Man musste erst 
erfahren, dass es überhaupt dergleichen geben könne, ehe man danach 
strebte. 

Bevor irgend ein ansatz zu einer gemeinsprache vorhanden ist, 
mnss es natürlich eine anzahl von Individuen gebien, welche durch die 
Verhältnisse veranlasst werden sich mit einer oder mit mehreren fremden 
mundarten vertraut zu machen, so dass sie dieselben leicht verstehen 
und teilweise selbst anwenden lernen. Es kann das die folge davon 
sein, dass sie in ein anderes gebiet übergesiedelt sind oder sich vorüber^ 
gehend länger darin aufgehalten haben, oder dass sie mit leuten, die 
aus fremdem gebiete herübergekommen sind, viel verkehrt haben, oder 
dass sie sich viel mit schriftlichen aufzeichnungen, die von dort aus- 
gegangen sind, beschäftigt haben. Die auf diese weise angeknüpften 
beziehnngen können sehr mannigfach sein. Ein angehöriger der mund- 
art A kann die mundart B, ein anderer C ein dritter D erlernen und 
dabei wider umgekehrt ein angehöriger der mundart B oder C oder 
D die mundart A etc. So lange sich die wechselseitigen einflüsse der 
verschiedenen mundarten einigermassen das gleichgewicht halten, ist 
kein fortschritt möglich. Ist aber bei einer mundart erheblich mehr 
veranlassung gegeben sie zu erlernen als bei allen übrigen, und zwar 
für die angehörigen aller mundarten, so ist sie damit zur gemeinsprache 
prädestinieri;. Ihr Übergewicht zeigt sich zunächst im verkehre zwischen 
den ihr angehörigen Individuen und den angehörigen der andern mund- 
arten, indem sie dabei leichter und öfter von den letzteren erlernt wird, 
als deren mundart von den ersteren, während die übrigen mundarten 
unter einander mehr in einem paritätischen verhältniss bleiben. Der 
eigentlich entscheidende sehritt aber ist erst gemacht, wenn die domi- 
nierende mundart auch für den verkehr zwischen angehörigen ver- 
schiedener anderer mundarten gebraucht wird. Es ergibt sich das als 
eine natürliche folge davon, dass eine grössere menge von Individuen 
mit ihr vertraut ist. Denn dann ist es bequemer sich ihrer zu bedienen, 
sobald einmal die heimische mundart nicht mehr genügt, als noch eine 
dritte oder vierte dazu zu erlernen. Am natürlichsten bietet sie sich 
dar, wenn man sich eben so wol an diejenigen. wendet, die ihr von 


868 

natnr angeboren, als an die ttbrige nation, wie es ja bei dem litera- 
risehen verkehre nnd unter der yoranssetzung staatlicher einheit auch 
bei dem politischen der fall ist. In dem angenblicke, wo man sich 
der Zweckmässigkeit des gebranches einer solchen mnndart ftlr den 
weiteren verkehr bewnsst wird, beginnt auch die absichtliche weiter- 
leitang der entwickelang. 

Die mnstergttltigkeit eines bestimmten dialectes ist aber in der 
regel nur eine ttbergangsstnfe in der entwickelnng der gemeinsprach- 
lichen norm. Die nachbildnngen des musters bleiben, wie wir gesehen 
haben, mehr oder minder nnvollkommen. Es entstehen mischnngen 
zwischen dem muster und den yerschiedenen heimatlichen dialeeten 
der einzelnen individnen. Es kann kaum ausbleiben, dass auch diese 
mischdialecte teilweise eine gewisse autorität erlangen, zumal wenn 
sich hervorragende Schriftsteller ihrer bedienen. Auf der andern seite 
unterliegt der ursprüngliche musterdialect als dialect stätiger Ver- 
änderung, während die normalsprache conservativer sein muss, sich 
nur durch festhalten an den mustern vergangener zeiten behaupten 
kann. So muss allmählig der dialect seine absolute mustergttltigkeit 
verlieren, muss mit verschiedenen abweichenden nuancen um die herr- 
Schaft kämpfen. 

Die künstliche spräche eines grossen gebietes pflegt demnach in 
einem gewissen entwickelungsstadium ungefähr in dem selben grade 
dialectisch differenziert zu sein, wie die natürliche innerhalb einer 
landschaft Zu grösserer centralisation gelangt man in der regel nur 
durch aufstellung wirklicher regeln in mündlicher Unterweisung, grana- 
matiken, Wörterbüchern, akademieen etc. Mit welcher bewusstheit und 
absichtlichkeit aber auch eine schriftsprachliche norm geschaffen werden 
mag, niemals kann dadurch die unbeabsichtigte entwickelnng, die wir 
in den vorhergehenden capiteln besprochen haben, zum stillstand ge- 
bracht werden; denn sie ist unzertrennlich von aller spreehtätigkeit 


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