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Full text of "Die probleme der geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische studie"

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DIE  PROBLEME 


DER 


GESCHICHTSPHILÜSOPHIE. 


EINE  ERKENKTNISTHEORETISCHE  STUDIE 

VON 

GEORG  SIMMEL. 


ZWEITE,  VÖLLIG  VERÄNDERTE  AUFLAGE. 


LEIPZIG, 

VERLAG  VON  DUXCKER  &  HUMBLOT. 
1905. 


V 
SU 


Vorwort. 


Den  Gegenstand  dieses  Buches  bildet  das  Problem : 
wie  aus  dem  Stoffe  der  unmittelbaren,  gelebten  \A'irklichkeit 
das  theoretische  Gebilde  werde,  das  wir  Geschichte  nennen. 
Es  will  zeigen,  dafs  diese  Umbildung  eine  radikalere  ist, 
als  das  naive  Bewufstsein  anzunehmen  pflegt.  Damit  wird 
es  zu  einer  Kritik  des  historischen  Realismus ,  für  den  die 
Geschichtswissenschaft  ein  Spiegelbild  des  Geschehenen 
„wie  es  wirklich  war"  bedeutet;  er  scheint  damit  keinen 
geringeren  Irrtum  zu  begehen  als  der  künstlerische  Realis- 
mus, der  die  Wirklichkeit  abzuschreiben  meint,  ohne  zu 
bemerken,  wie  völlig  schon  dieses  „Abschreiben"  die  In- 
halte der  Realität  stilisiert.  Während  der  Natur  gegenüber 
die  formende  Macht  des  erkennenden  Geistes  allgemein  an- 
erkannt wird,  kommt  sie  an  der  Geschichte  offenbar  schwerer 
zum  Bewufstsein,  weil  deren  Material  schon  Geist  ist;  wenn 
dieses  sich  zur  Geschichte  weiterbildet,  heben  sich  die  dazu 
wirksamen  Kategorien,  ihre  generelle  Selbständigkeit,  der 
Gehorsam  des  Stoffes  gegen  ihre  Forderungen,  nicht  ebenso 
deutlich  wie  in  dem  Falle  der  Naturwissenschaft  von  dem 
Stoffe  selbst  ab.  Es  handelt  sich  also  um  das  —  nicht  im 
einzelnen,  sondern  nur  prinzipiell  festzustellende  —  Apriori 
des  geschichtlichen  Erkeunens.  Dem  historischen  Realismus 
gegenüber,  für  den  das  Geschehen  sich  ohne  weiteres  und 
höchstens  mit  quantitativer  Zusammendrängung  in  der 
Historik  reproduziert,  soll  das  Recht  erwiesen  werden, 
im  Kantischen  Sinne  zu  fragen :  Wie  ist  Geschichte 
möglich?  — 


—     VI    — 

Der  Weltanschauungswert  der  Antwort,  die  Kant  auf 
seine  Frage:  Avie  ist  Natur  niögUch? —  gegeben  hat,  liegt 
in  der  Freiheit,  die  das  Ich  damit  gegenüber  aller  blofsen 
Natur  gewonnen  hat;  indem  es  die  Natur  als  seine  Vor- 
stellung produziert  und  die  allgemeinen  naturbildenden 
Gesetze  nichts  anderes  sind  als  die  Formen  unseres  Geistes, 
ist  das  natürliche  Dasein  dem  souveränen  Ich  unterworfen. 
Freilich  nicht  seiner  Willkür  und  deren  individuellen 
Schwankungen ,  sondern  seinem  Sein  und  dessen  Not- 
wendigkeiten, die  aber  nicht  aus  einer  ihm  äufserlichen 
Gesetzgebung  stammen,  sondern  sein  unmittelbares  Leben 
ausmachen.  Damit  ist  von  den  zwei  Vergewaltigungen,  die 
den  modernen  Menschen  bedrohen :  durch  die  Natur  und 
durch  die  Geschichte,  die  eine  aufgehoben.  Beide  scheinen 
die  freie,  sich  selbst  gehörende  Persönlichkeit  zu  ersticken, 
die  eine,  weil  ihr  Mechanismus  die  Seele  demselben  blinden 
Zwang  unterwarf,  wie  den  fallenden  Stein  und  den  spriefsen- 
den  Halm,  die  andere,  Aveil  sie  die  Seele  zu  einem  blofsen 
Schnittpunkt  sozialer,  durch  die  Geschichte  hin  sich  spinnen- 
der Fäden  machte  und  ihre  ganze  Produktivität  in  ein  Ver- 
walten der  Gattungserbschaft  auflöste.  Über  jener  Natur- 
gefangenheit  unseres  empirischen  Daseins  steht  seit  Kant 
die  Autonomie  des  Geistes :  das  Bewufstseinsbild  der  Natur, 
die  Begreiflichkeit  ihrer  Kräfte,  das,  was  sie  für  die  Seele 
sein  kann,  ist  die  Leistung  der  Seele  selbst.  Nun  aber  hat 
die  Fesselung  des  Ich  durch  die  Natur,  vom  Geiste  gesprengt, 
sich  in  eine  solche  durch  den  Geist  selbst  transformiert: 
indem  die  Persönlichkeit  sich  in  die  Geschichte  auflöste, 
die  doch  die  Geschichte  des  Geistes  ist,  schien  die  Not- 
wendigkeit und  Übergewalt,  von  dieser  ihr  gegenüber  ge- 
übt, doch  noch  immer  F'reiheit  zu  sein  —  in  Wirklichkeit 
aber  ist  auch  die  Geschichte  als  ein  Gegebenes,  als  eine 
Realität,  als  eine  überpersönliche  Macht  keine  geringere 
Vergewaltigung  des  Ich  durch  ein  Aufser-ihm.  Die  Ver- 
führung, für  Freiheit  zu  halten,  was  in  Wirklichkeit  Bindung 
durch  ein  Fremdes  ist,  wirkt  hier  nur  viel  subtiler,  weil, 
was  uns  hier  bindet,  des  gleichen  substantiellen  Wesens 
mit  uns  ist.  Der  Befreiung,  die  Kant  vom  Naturalismus 
vollbracht  hat,  bedarf  es  auch  vom  Historismus.  Vielleicht 
gelingt   sie    der    gleichen  Erkenntniskritik:    dafs    der  Geist 


—    VII     — 

auch  das  Bild  des  geistigen  Daseins,  das  wir  Ge- 
schichte nennen,  durch  die  nur  ihm,  dem  erkennenden, 
eigenen  Kategorien  souverän  formt.  Den  Menschen ,  der 
erkannt  wird ,  machen  Natur  und  Geschichte :  aber  der 
Mensch,  der  erkennt,  macht  Natur  und  Geschichte.  Die 
bewufstwerdende  Form  all  der  geistigen  Wirklichkeit ,  die 
als  Geschichte  jegliches  Ich  aus  sich  hervorgehen  läfst, 
ist  selbst  aus  dem  formenden  Ich  hervorgegangen,  dem 
Strome  des  Werdens,  in  dem  der  Geist  sich  erblickt,  hat  er 
selbst  seine  Ufer  und  seinen  Wellenrhythmus  vorgezeichnet 
und  ihn  erst  damit  zur  „Geschichte"  gemacht.  Die  Freiheit 
des  Geistes,  die  formende  Produktivität  ist,  gegenüber  dem 
Historismus  auf  demselben  Wege  zu  wahren,  den  Kant 
der  Natur  gegenüber  eingeschlagen  hat,  ist  die  universelle 
Tendenz ,  der  sich  die  Besonderheit  der  folgenden  Unter- 
suchungen einordnet.  — 

Bei  der  ersten  Auflage  dieses  Buches  war  mir  dieses 
Grundproblem  noch  nicht  hinreichend  deutlich,  noch  weniger 
natürlich  ist  sie  wie  die  jetzige  um  dasselbe  aufgebaut. 
Das  Buch  ist  deshalb  jener  gegenüber  als  ein  völlig  neues 
zu  betrachten,  und  selbst  die  Seiten,  die  aus  ihr  über- 
nommen sind ,  haben  durch  die  veränderte  Grundabsicht 
eine  mehr  oder  weniger  veränderte  Bedeutung  erhalten. 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 


Die  Einleitung  zu  diesen  Untersuchungen  kann  sich  dar- 
auf beschränken,  ihre  Charakterisierung  als  rein  erkenn tnis- 
theoretische  zu  betonen.  Wie  allenthalben  die  Theorie  der 
menschlichen  Dinge  sich  scharf  gegen  die  Normgebung  für 
sie  abzugrenzen  hat,  so  liegt  der  Theorie  des  Erkennens  nur 
eine  immanente  Analyse  desselben  ob,  nur  eine  Feststellung 
seiner  Elemente,  des  Verhältnisses  zu  seinen  selbstgesetzten 
Zielen  und  der  Stellung  des  einzelnen  im  Zusammenhange 
des  anderweitigen  Wissens.    Möchte  doch  den  nachfolgenden 


—     VIII     — 


Überlej,-uugen,  die  die  Erkenntniskritik  der  historischen 
Empirie  gegenüber  vorbereiten,  der  philosophischen  Ge- 
sehiclitsbetrachtung  gegenüber  üben  sollen  —  das  Mils- 
verstiindnis  erspart  bleiben,  als  wollten  sie  in  Tatsachen 
des  Erkennens  ändernd  eingreifen,  die  sie  doch  vielmehr 
nur  feststellen  wollen. 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Erstes   Kapitel:    Von    den   inneren   Bedingung-en    der 

Geschichtsforschung- 1 — 66 

Der  psychische  Charakter  der  Geschichte  —  1.  Gesetz- 
lichkeit und  Individualität  —  2.  Das  psychologische  Apriori 
und  seine  Entgegengesetztheiten  —  4.  Bewufste  und  un- 
bewufste  Motivierungen  —  15.  Die  Einheit  der  Persönlich- 
keit und  die  der  Gruppe  —  20.  Begriff  des  historischen 
Verstehens ;  die  innere  Nachbildung  —  27.  Die  Objektivie- 
rung individueller  Seelenvorgänge  —  31.  Der  Realismus 
der  Historik  —  40.  Die  Umformung  der  Wirklichkeit 
durch  die  historischen  Kategorien  —  41.  Verbindung  des 
psychologischen  Momentes  mit  dem  Apriori  der  Historik 
—  50.  Die  Nachbildung  des  Nicht-Erlebten  — •  56.  Das 
Verständnis  des  Persönlichen  und  des  Allgemeinen  —  61. 

Zweites  Kapitel:  Von  den  historischen  Gresetzen.  .  .  67—111 
Begriff  des  Gesetzes  —  67.  Anwendung  auf  komplexe 
und  einfache  Erscheinungen  —  68.  Anmerkung  über  in- 
dividuelle Kausalität  —  70.  Kausalität  von  Gesamt- 
zuständen —  72.  Das  Problematische  der  einfachen 
Elemente  —  74.  Die  Einheit  des  Individuums  —  76.  Die 
historischen  Gesetze  als  Antizipationen — -80.  Die  Geschichte 
als  ein  Segment  des  Weltgeschehens  und  die  Auflösung 
des  Geschichtsbegriffs  —  88.  Die  Eigenbedeutung  der 
Geschichte  als  Wirklichkeitswissenschaft  —  91.  Die  tat- 
sächlichen Vielheiten  als  die  historisch-methodischen  Ein- 
heiten —  98.     Der  Wahrheitsbegriff  der  Geschichte  —  101. 

Drittes  Kapitel:  Vom  Sinn  der  Geschichte  ....      112 — 169 

Die  Geschichte  als  Gegenstand  der  Philosophie  —  112. 

Die  metaphysische  Sinngebung  —  115.  Die  Formung  durch 

nicht-theoretische    Interessen    —    118.      Ergänzungen    des 

Wertbegriffes  —  121.      Das    Interesse    am   Inhalt    der  ge- 


—     X     - 

•Seite 

schichtlichen  Wirklichkeit  —  127.  Der  Wichtigkeitsbegriff 
—  129.  Die  Schwelle  des  historischen  Bewufstseins  —  1:^1. 
Das  Interesse  an  der  Wirklichkeit  der  geschichtlichen  In- 
halte —  134.  Das  Interesse  am  Natur-Erkennen  —  139. 
Metaphysik  und  Empirie  der  Historik  —  142.  Beispiele 
für  die  Struktur  allgemein-geschichtlicher  Probleme:  Der 
Fortschritt  in  der  Geschichte  —  145.  Der  historische 
Materialismus  —  152.  Historischer  Skeptizismus  und 
Idealismus  —  168. 


Erstes  Kapitel. 
Von  den  inneren  Bedingnngen  der  Gescliiclitsforschnn^. 


Wenn  Erkenntnistheorie  überhaupt  von  der  Tatsache 
ausgeht,  dafs  das  Erkennen  ein  Vorstellen  und  sein  Subjekt 
eine  Seele  ist,  so  wird  die  Theorie  des  historischen  Er- 
kennens  weiter  dadurch  bestimmt,  dafs  auch  sein  Gegen- 
stand das  Vorstellen,  Wollen  und  Fühlen  von  Persönlich- 
keiten, dafs  seine  Objekte  Seelen  sind.  Alle  äufseren  Vor- 
gänge, jjolitische  und  soziale,  wirtschaftliche  und  religiöse, 
rechtliche  und  technische  würden  uns  weder  interessant 
noch  verständlich  sein,  wenn  sie  nicht  aus  Seelenbewegungen 
hervorgingen  und  Seelenbewegungen  hervorriefen.  Soll  die 
Geschichte  nicht  ein  Marionettenspiel  sein,  so  ist  sie  die 
Geschichte  psychischer  Vorgänge,  und  alle  äufseren  Ereig- 
nisse, die  sie  schildert,  sind  nichts  als  die  Brücken  zwischen 
Impulsen  und  Willensakten  einerseits  und  Gefühlsreflexen 
andrerseits,  die  durch  jene  äufseren  Geschehnisse  ausgelöst 
werden.  Daran  ändern  auch  die  Versuche  nichts,  das 
historische  Geschehen  in  seinen  besonderen  Ausgestaltungen 
auf  physikalische  Bedingungen  zurückzuleiten.  Die  Be- 
schaffenheit von  Boden  und  Klima  würde  für  den  Lauf  der 
Geschichte  so  gleichgültig  bleiben,  wie  Boden  und  Klima 
des  Sirius,  wenn  sie  nicht  direkt  und  indirekt  die  psycho- 
logische Verfassung  der  Völker  beeinflufste.  So  scheint  der 
seelenhafte  Charakter  der  Historik  ihr  das  Ideal  vor- 
zuschreiben, eine  angewandte  Psychologie  zu  sein,  so  dafs 
sie  sich,  wenn  es  eine  Psychologie  als  Gesetzeswissenschaft 
gäbe,  zu  dieser  verhalten  würde  wie  Astronomie  zur 
Mathematik. 

Simmel,   Geschichtsphilosophie.     2.  Aufl.  1 


—     2     — 

Demgegenüber  meldet  sich  nun  sogleich  die  Schwierig- 
keit: dafs  Gesetze  nur  das  Allgemeine  an  den  Gegenständen 
des  Erkennens  zu  erfassen  vermögen,  weil  sie  besagen,  dafs 
an   joder  Erscheinung,    die    bestimmte  Voraussetzungen    er- 
füllt, bestimmte  Erfolge  eintreten  —  völlig  unabhängig  von 
der  Individualität  dieser  Erscheinung.    Geschichte  aber  hat 
es  mindestens  teilweise  —  ob  mehr  als  teilweise,  steht  jetzt 
nicht  zur  Erörterung  —  mit  dem  Individuellen  zu  tun,  mit 
schlechthin    einmaligen    Persönlichkeiten.     Es    erscheint  als 
ein    nicht   nur  utopisches,    sondern  direkt    fehlgehendes  Be- 
mühen, ein  geschichtliches  Individuum  als  den  blofsen  Treff- 
punkt   allgemeiner    psychologischer    Gesetze    verstehen    zu 
wollen,    die,    nur  in  anderer  Kombination,    auch  irgend  ein 
anderes   Individuum   ergeben,   wie   es    doch    das  Verhältnis 
differenter    physikalischer  Erscheinungen    sein   kann.     Viel- 
leicht   aber    ist    dieser    Gegensatz    nicht    unauflöslich.     Die 
Relationen ,    deren    Formulierung  wir  Naturgesetze   nennen, 
treten    immer   nur    an    einem  Substrat   in    die  Erscheinung, 
das  eine  gegebene  Tatsache  ist,  d.  h.  dessen  Existenz  nicht 
selbst    wieder    aus    einem    Naturgesetz    hergeleitet    werden 
kann.     Selbst  wenn   man   sich    eine  Vollendung  der  Natur- 
wissenschaften denkt,  die  alle  qualitative  Unterschiedlichkeit 
der    Körper    als    die    aus    Gesetzen    herzuleitenden    Modi- 
fikationen   eines    immer   gleichen   Grundstoffes    erkennt,    so 
würden  wir  diesen  letzteren  zwar  als  qualitätlos  bezeichnen, 
weil    für    die    Praxis    des    Erkennens    Qualität   immer    nur 
als  Unterschied    gegen    andere    Qualitäten    einen    Sinn    hat. 
Genau  genommen  aber  mufs  doch  auch  dieser  primäre  Stoff 
irgendwie  „beschaffen"  sein,  um  gerade  diesen  Gesetzen  die 
Möglichkeit   des  Inkrafttretens  zu  gewähren,    und    es   wäre 
noch     immer     ein    andersartiger    denkbar,     der    denselben 
Komplex  von  Gesetzen  gültig  werden  und  mit  ihm  eine  ganz 
andere    Welt    entstehen    liefse.     Dieser    unauflösliche    Rest, 
unter   dessen    Voraussetzung   und  bis   zu   dem    als   Grenze 
hin  die  Naturgesetze   erst  die  Auflösung  der  unmittelbaren 
materiellen  Erscheinungen  vollbringen  können,  besteht  nun 
vielleicht  in  ganz  derselben  Art  auf  seelischem  Gebiet;  nur 
dafs   es    hier   nicht   für   alle  Erscheinungsreihen  einer   und 
derselbe    ist,    sondern    für   jede    ein    besonderer.     Wie    die 
Materie  gewisse    erste  Bestimmtheiten    mit  sich  bringt,    die 


—     3     - 

der  Körperwelt  gleichsam  als  einem  Gesamtindividuum 
eignen  und  der  Allgemeinheit  ihrer  Gesetze  keineswegs 
widersprechen,  sondern  gerade  die  tatsächliche  Wirksamkeit 
dieser  ermöglichen  —  so  könnte  jede  Seele  eine  ursprüng- 
liche Qualität  besitzen ,  die  ebensowenig  eine  gesetzmäfsige 
Modifikation  eines  noch  primäreren  Gegebenen  ist;  unter 
Voraussetzung  dieser  würden  nun  erst  die  allgemeinen,  für 
jede  Seele  gleichmäfsig  gültigen  Gesetze  in  Kraft  treten 
und  die  empirischen  psychischen  Erscheinungen  erzeugen. 
Diese  würden  so ,  unbeschadet  der  Allgemeinheit  der  Ge- 
setze, ersichtlich  bei  jedem  Individuum  verschieden  sein 
können,  würden  aber  damit  jedes  einzelne  nur  zu  einem 
Analogon  der  ganzen  Körperwelt  machen.  So  mag  un- 
bezweifelt  bleiben,  dafs  dieselben  Gesetze  der  Verbindung 
und  der  Reproduktion  der  Vorstellungen,  der  Unterschieds- 
empfindlichkeit und  der  Willensentfaltung,  der  Apperzeption 
und  der  Suggestibilität  an  Nero  und  Luther,  an  Jesus  und 
Bismarck  gültig  waren.  Aber  diese  Gesetze  brauchen,  um 
nicht  ohne  Angrifi'spunkte  in  der  Luft  zu  schweben,  einen 
von  ihnen  selbst  nicht  gebildeten,  sondern  vorgefundenen 
Stoff,  gleichsam  ihr  reales  Apriori.  Und  die  Beschaöenheitdieses 
entscheidet  ersichtlich  über  das  sich  ergebende  Gebilde. 
Gewifs  reicht  unsere  Fähigkeit,  die  Struktur  des  Seelischen 
jenseits  der  unmittelbaren  Bewufstseinsinhalte  zu  erkennen, 
nur  zu  einer  ganz  tastenden  Symbolik  aus,  vielleicht  auch 
deshalb,  weil  die  dazu  verfügbaren  Kategorien  für  ganz 
andersartige  Erkenntnisinhalte  gebildet  sind.  Immerhin 
scheint  mir  diese  Betrachtung  des  Einzeldaseins  nach  den  all- 
gemeinen Gesetzen,  die  dies  und  jedes  andere  beherrschen, 
auf  der  einen  Seite,  und  dem  rein  faktischen  Stoff,  der  so- 
zusagen die  Auswahl,  Kombination,  Mafs  und  Art  der  Wirk- 
samkeit jener  Gesetze  bestimmt,  auf  der  andern  —  die  Be- 
trachtung des  Daseins  nach  diesen  beiden  Kategorien  scheint 
mir  logisch  zulässig ;  und  sie  ermöglicht,  die  Geltung  psycho- 
logischer Gesetze  mit  der  Einzigkeit  der  historischen  Individuen 
zu  vereinen.  Was  die  materielle  Natur,  wenn  sie  vollendet 
erkannt  Aväre,  uns  in  einer  einzigen  Ausgestaltung  bieten 
würde:  die  Besonderheit  eines  Stoffes,  der  als  ursprüngliche 
Tatsache  den  allgemeinen  Gesetzen  ihre  Geltungswirklich- 
keiten ermöglicht  und   bestimmt  —  dies  würde  sich  in  der 


—     4     — 

seelischen  Natur  in  unbegrenzt  häufigen  Abwandlungen 
wiederholen.  Die  Geschichte  bliebe  immer  eine  ..An- 
wendung" psychologischer  Gesetze  von  unbedingter  All- 
gemeinheit, aber  das  Material,  das  nie  aus  dem  Gesetze 
selber  zu  gewinnen  ist,  weil  es  vielmehr  Bedingung  seiner 
Verwirklichung  ist,  wäre  unendlich  mannigfaltig  und  würde 
also  Realitäten  von  unvergleichbarer  und  unreduzierbarer 
Individualität  ergeben  müssen. 

In  welche  wissenschaftliche  Kategorie  aber  auch  die 
Erkenntnis  jener  Innerlichkeit  der  historischen  Vorgänge 
gehören  mag  —  die  Tatsache,  dafs  sie  für  alle  Schilderung 
ihrer  Äufserlichkeit  den  Ausgangspunkt  und  den  Zielpunkt 
gibt,  fordert  nun  eine  Reihe  besonderer  Voraussetzungen, 
die  die  Erkenntnistheorie  der  Historik  darzustellen  hat. 

Kant  hat  der  formenden  seelischen  Aktivität,  gegen- 
über allem  gegebenen  „Stoff"  des  Vorstellens,  ein  unerhört 
erweitertes  Machtgebiet  zugewiesen.  Alle  Erkenntnis,  die 
nach  der  naiven  Meinung  von  den  Dingen  her  in  uns,  die 
passiv  Aufnehmenden,  hinüberstrahlte,  erwies  er  als  eine 
Funktion  des  Verstandes,  der  also  durch  seine  a  priori  mit- 
gebrachten Formen  den  ganzen  Wissensinhalt  gestalte.  Allein 
diese  formale  Erweiterung  kann  leicht  zu  einer  sachlichen 
Einengung  werden,  wenn  man  vergifst,  dafs  die  geistigen 
Funktionen ,  die  Kant  als  das  Apriori  des  Erkennens  be- 
schreibt, ausschliefslich  für  das  bestehende  naturwissen- 
schaftliche Erkennen  gelten  sollen.  Es  ist  sehr  fraglich, 
ob  nicht  die  Erfahrung  von  seelischen  Dingen  nur  unter 
apriorischen  Voraussetzungen  „möglich  ist",  die  im  Kantischen 
System  fehlen,  ob  nicht  z.  B.  die  Kausalität,  durch  die  wir 
das  Eintreten  einer  Vorstellung  als  den  Erfolg  einer  anderen 
begreifen,  von  der  Verursachung  einer  physischen  Bewegung 
\  durch  eine  andere  prinzipiell  verschieden  ist.  Viel  wesent- 
licher aber  ist  es,  einzusehen,  dafs  das  Kantische  Apriori, 
das  „Erfahrung  überhaupt  möglich  macht",  nur  die  äufserste 
Stufe  einer  Reihe  ist,  deren  niedere  tief  in  die  P^inzelgebiete 
der  Erfahrung  hinunterreichen.  Sätze,  die,  gleichsam  von 
oben  gesehen,  empirisch  sind,  d.  h.  eine  Anwendung  der 
allgemeinsten  Denkformen  auf  spezielles  Material  darstellen, 
können  für  ganze  Provinzen  des  Erkennens  als  Apriori 
funktionieren.     Sie   wirken    als  Verbindungsformen,  jenem 


eigentümlichen  Vermögen  des  Geistes  dienstbar,  das  jeden 
gegebenen  Inhalt  durch  die  Art,  ihn  anzuordnen,  zu  stimmen 
und  zu  betonen,  in  die  mannigfaltigsten  definitiven  Gestalten 
giefsen  kann.  Diese  Verbindungen,  die,  in  Satzform  aus- 
gesprochen ,  als  apriorische  Voraussetzungen  erscheinen, 
bleiben  in  dem  Mafse  unbewufst,  in  dem  sich  überhaupt 
das  Bewufstsein  mehr  auf  das  Gegebene,  relativ  Aufser- 
liche,  als  auf  seine  eigene  innerliche  Funktion  richtet. 
Dadurch,  dafs  sie  sich  den  verschiedensten  Inhalten  in 
immer  gleicher  Weise  darbieten,  durch  ihre  Existenz  von 
jeher  wie  durch  ihre  endemische  Allgemeinheit,  erzeugen 
sie  jene  Gewöhnung  an  sich,  die  das  Bewufstsein  darüber 
wie  über  ein  absolut  Selbstverständliches  weggleiten  läfst. 
Auch  hier  gilt,  dafs  dasjenige,  was  in  der  rationalen  Ordnung 
der  Dinge  das  erste  ist  —  die  Erkenntnisfunktion  des 
Geistes  —  für  unsere  Beachtung  und  Beobachtung  das 
letzte  ist.  Wieweit  sich  aber  diese  unbewufste  Herrschaft 
der  Verbindungsformen  über  das  Tatsachenmaterial  aus- 
dehnt, das  hat  Kant  wegen  seiner  scharfen  Trennung  des 
Apriori  von  allem  Empirischen  nicht  in  vollem  Umfange 
erkannt;  wobei  diese  Trennung  als  Methode,  Prinzip, 
Kategorie  völlig  aufrechterhalten  bleibt  und  die  Diskussion 
nur  die  Inhalte  betrifft,  die  die  als  apriorisch  bezeichneten 
Funktionen  üben ;  von  ihnen  dürfte  sich  zeigen,  dafs  sie  für 
die  speziellen  Wissenszweige  auch  dann  noch  die  volle 
Formungskraft  des  Apriori  haben,  wenn  sie,  von  den  höheren 
aus  gesehen,  die  die  Kantische  Untersuchung  allein  in  Be- 
tracht zieht,  schon  empirisch  sind. 

Indem  wir  heute  die  Erfahrung  sich  viel  höher  hinauf 
erstrecken  lassen,  als  er  es  tat,  erstreckt  sich  uns  das  Apriori 
viel  tiefer  hinunter.  Dem  Inhalte  und  der  Praxis  —  freilich 
nicht  der  Systematik  der  Kategorien  —  nach  bestehen  all- 
mäligste  Übergänge  zwischen  den  allgemeinsten,  jedem 
Material  zugänglichen  und  über  jede  Einzelerfahrung  er- 
hobenen Formen  und  den  speziellen,  selbst  empirisch  ge- 
wonnenen und  als  Apriori  nur  für  gewisse  Inhalte  anwend- 
baren: also  etwa  zwischen  dem  Kausalgesetz  oder  der  Zu- 
sammenschliefsung  des  Gleichen  an  verschiedenen  Gegen- 
ständen zu  einem  Begriff  einerseits  und  den  methodischen 
oder  sonstigen  Voraussetzungen  für  ein  besonderes  Lebens- 


—     G     — 

gebiet,  für  eine  besondere  Wissenschaft  andrerseits.  Alle 
Kechtsbildung  z.  B.  setzt  die  Erwünschtheit  eines  bestimmten 
Zustandes  voraus.  Dal's  die  menschlichen  Verhältnisse  die 
Erreichung  eines  solchen  nur  durch  festgesetzte  Normen 
und  dui'ch  Strafbestimmungen  für  deren  Übertretung  er- 
möglichen, ist  ein  sehr  allgemeines  Apriori,  das  eine  gewisse 
Gestaltung,  d.  h.  Verbindung  vorgefundener  Vorstellungen, 
zur  Folge  hat.  Allein  diese  Verbindungsform  zur  Bildung 
von  Gesetzen  ist  doch  nicht  so  allgemein ,  wie  etwa  die 
Kausalverbindung  zwischen  psychischer  Motivierung  und 
äufserlicher  Handlung,  die  gleichfalls,  für  die  Rechtsbildung 
erforderlich,  zwischen  den  Erscheinungen  gestiftet,  aber  nicht 
unmittelbar  aus  ihnen  abgelesen  werden  kann.  Andrerseits 
aber  ist  das  Apriori,  das  die  Rechtsform  überhaupt  bildet, 
wieder  ein  allgemeines  gegenüber  den  Voraussetzungen,  aus 
denen  die  Rechtsfindung  im  einzelnen  hervorgeht.  So  be- 
wirkt z.  B.  der  Grundsatz,  dafs  dem  Kläger  der  Beweis  ob- 
liegt, oder  die  verschiedene  Geltung  des  Gewohnheitsrechts 
eine  Formung  der  Tatsachen  zum  Zweck  der  Erkenntnis, 
was  Rechtens  sei  —  eine  Formung,  die  in  dem  tatsächlichen 
Material  selbst  nicht  liegt,  sondern  erst  eine  Deutung  an 
ihm  vollzieht. 
/  Aller  Verkehr  der  Menschen  ruht  in  jedem  Augenblick 

auf  der  Voraussetzung,  dafs  gewissen  pliysischen  Bewegungen 
jedes  Individuums  —  Gesten,  Mienen,  Lauten  —  seelische 
Vorgänge  intellektueller,  gefühls-  oder  willensmäfsiger  Art 
zu  gründe  liegen.  Wie  wir  das  Innere  nur  nach  Analogie 
des  Äufseren  verstehen,  was  die  Sprache  schon  andeutet^ 
wenn  sie  alle  seelischen  Vorgänge  durch  Worte  zu  bezeichnen 
pflegt,  die  aus  der  Welt  der  äufseren  Anschauung  genommen 
sind,  so  verstehen  wir  andrerseits  das  Aufsere  der  Menschen 
nur  nach  untergelegten  Innerlichkeiten.  Die  dazu  gehörige 
Mischung  von  Erfahrung  und  spontaner  Weiterführung  der- 
selben ist  leicht  durclischaubar :  die  Erfahrung  am  eigenen 
Ich  zeigt  uns  die  Verknüpfung  der  inneren  Vorgänge  mit 
ihren  Äufserungen,  infolge  wovon  wir  aus  dem  gleichen,  an 
Anderen  beobachteten  Vorgang  auf  ein  dem  unseren  analoges 
seelisches  Ereignis  schliefsen.  Dafs  das  Seelenleben  der 
anderen  Menschen,  zunächst  insoweit  es  mit  ihren  Sichtbar- 
keiten verknüpft  ist,  dem  eigenen  entspricht,  mufs  für  immer 


eine  Hypothese  bleiben,  und  diese  ist,  ihrer  Funktion  nach, 
ein  Apriori  aller  praktischen  und  Erkenntnisbeziehung 
zwischen  einem  Subjekt  und  anderen  Subjekten.  Denn  wollte 
man  sagen :  die  Erfahrung  erst  überzeugte  uns  von  der 
Richtigkeit  dieser  Annahme,  indem  Avir  jederzeit  diejenige 
äufsere  Handlungsweise,  die  wir  auf  diesem  Wege  vermuten, 
eintreten  sehen,  —  so  würde  man  sich  im  Kreise  drehen. 
Denn  einerseits  würden  wir  zu  solcher  Vermutung  nie 
kommen,  wenn  nicht  jene  Gleichheit  schon  vorausgesetzt 
würde,  und  andrerseits  führt  alle  Erfahrung  als  solche  nur  zu 
immer  gröfserer  Sicherheit,  auf  bestimmte  Aufserungen 
eines  Anderen  immer  bestimmte  andere  folgen  zu  sehen :  das 
Mittelglied  des  seelischen  Vorganges,  das  diese  an  jene 
knüpft,  kann  seinem  Wesen  nach  niemals  erfahren  werden. 
Und  nun  deuten  wir  nicht  nur  das  einzelne  wahrgenommene 
Handeln  oder  Reden  durch  eine  entsprechende  psychische 
Grundlage,  sondern  wir  konstruieren  eine  im  Prinzip  un- 
unterbrochene seelische  Reihe  mit  unzähligen  Gliedern,  die 
gar  kein  unmittelbares  Gegenbild  im  Aufseren  haben,  legen 
unter  diese  Reihe  oder  diese  vielen  Reihen  noch  einen 
Gesamtcharakter  der  Persönlichkeit,  interpretieren  äufserlich 
gleiche  Vorgänge  durch  sehr  mannigfaltige,  oft  einander 
entgegengesetzte  psychische,  und  keineswegs  nur,  avo  wir 
Lüge  und  Verstellung  vermuten.  Ohne  diese  weiteren 
psychologischen  Voraussetzungen,  durch  die  wir  die  pri- 
mären ,  an  die  unmittelbaren  W^ahrnehmungen  geknüpften, 
vervollständigen,  wäre  die  Handlung  jedes  Anderen  für  uns 
nichts  als  eine  sinn-  und  zusammenhangslose  Zusammen- 
würflung  sprunghafter  Impulse. 

Wenn  man  von  apriorischen  Vorstellungen  spricht, 
haftet  man  leicht  an  dem  Gedankeuinhalt  derselben,  der  in 
der  kompletten  Erfahrung  wie  koordiniert  neben  dem  In- 
halt des  sinnlich  Gegebenen  steht,  und  übersieht,  dafs  das 
Apriori,  in  Satzform  ausgesprochen,  nur  die  Formulierung 
innerer  Energien  ist,  die  an  jenem  gegebenen  sinnlichen 
Material  die  Formung  zur  Erkenntnis  vollziehen.  Das 
Apriori  spielt  eine  dynamische  Rolle  in  unserem  Vorstellen, 
es  ist  eine  reale  Funktion,  die  in  ihrem  schliefslichen  ob- 
jektiven Resultate,  der  Erkenntnis,  investiert  oder  kristalli- 
siert   ist-    seine    Bedeutung    erschöpft    sich    nicht    in    dem 


—     8     — 

logischen  Inhalt  der  Begriffe,  in  denen  es  nachträglich 
ausdrückbar  ist,  sondern  in  seiner  Wirksamkeit  für  das 
Zustandekommen  unserer  Erkenntniswelt  ^).  In  diesem 
Sinne  ist  es  ein  apriorischer  Satz,  dafs  die  Seele  eines 
jeden  Anderen  für  uns  eine  Einheit  ist ,  d,  h.  einen 
verständlichen  Zusammenhang  von  Vorgängen  darstellt, 
durch  welchen  oder  als  welchen  wir  ihn  erkennen.  Die 
Funktion,  die  diesem  Begriff  entspricht,  bewirkt  jene  Er- 
gänzung der  hinter  den  Sichtbarkeiten  gelegenen  psychischen 
Tatsachen ;  aber  sie  greift  auch  darüber  hinaus,  indem  wir 
selbst  das  Aufsere  so  ergänzen,  wie  der  einmal  an- 
genommene innerliche  Zusammenhang  es  verlangt,  bezw. 
so,  dafs  es  überhaupt  einen  innerlichen  Zusammenhang  er- 
gibt. Man  kann  wohl  behaupten,  dafs  kaum  ein  Bericht- 
erstatter uns  von  der  mitangesehenen  Entwicklung  eines 
Ereignisses  genau  das  erzählt,  was  er  gesehen  hat.  Jede 
gerichtliche  Zeugenvernehmung,  jede  Erzählung  von  einem 
Strafsenauflauf  bestätigt  dies.  Mit  dem  besten  Bestreben, 
bei  der  Wahrheit  zu  bleiben,  setzt  der  Erzähler  zu  dem 
unmittelbar  Gesehenen  Glieder  hinzu,  die  das  Ereignis 
in  dem  Sinne  vervollständigen,  den  er  aus  dem  wii-klich 
Gegebenen  herausgelesen  hat  —  wie  ja  auch  der  Hörer, 
nach  dem  Mafse  seiner  Erfahrungen  und  der  durch  sie 
bestimmten  Phantasie,  immer  mehr  im  Geiste  sehen  mufs, 
als  ihm  tatsächlich  gesagt  wird.  Die  Sinnesphysiologie  hat 
uns  unzählige  Fälle  nachgewiesen,  in  denen  wir  an  einzelnen 
Objekten  und  Bewegungen  die  fragmentarischen  Eindrücke 
der  Sinne  unljewufst  so  ergänzen,  wie  unsere  bisherigen 
Erfahrungen  es  verlangen.  Bei  zusammengesetzten  Ereig- 
nissen ist  dies  genau  das  Gleiche,  und  zwar  wird  die 
äufserliche  Ergänzung  im  wesentlichen  durch  psychische 
Annahmen  bestimmt,  durch  die  Erfahrungen  über  Kontinuität 
und  Entwicklung  des  Seelenlebens,  über  die  Korrelation 
unter  seinen  Energien,  über  den  Ablauf  der  teleologischen 
Prozesse.  Alles  dieses  wird  nicht  nur  auf  Anregung  durch 
die  äufseren  Verhältnisse  hin  vorausgesetzt,   sondern,  nach- 


')  Das  Apriori  hat  frcilicli  noch  eine  ganz  andersartige  erkenntnis- 
theorotische  Rolle,  die  jenseits  alles  «Seins  und  Werdens  liegt:  als  die 
ideelle  Norm  der  rein  auf  ihren  Inhalt  angesehenen  Erkenntnis;  aber 
von  dieser  Bedeutung  seiner  ist  augenblicklich  nicht  die  Rede. 


—     9     — 

dem  es  vorausgesetzt  ist,  werden  die  äufseren  Ereignisse 
soweit  ergänzt,  dafs  sie  nun  auch,  gemessen  an  den  Er- 
fahrungsgesetzen über  den  Zusammenhang  des  Innern  mit 
dem  Äufsern,  eine  den  innern  Vorgängen  ununterbrochen 
parallele  Reihe  ergeben.  Gerade  diese  spontane  Ergänzung 
des  Äuiserlichen  ist  einer  der  stärksten  Beweise  dafür,  dafs 
auch  das  Innerliche  nicht  einfach  aus  den  Tatsachen  ab- 
gelesen, sondern  auf  Grund  allgemeiner  Voraussetzungen 
zu  ihnen  hinzugebracht  wird.  In  den  alltäglichen  An- 
gelegenheiten haben  wir  allerdings  hinreichende  Gelegen- 
heit, die  Richtigkeit  jenes  Apriori  und  der  besonderen 
Schlüsse,  in  denen  es  sich  ausgestaltet,  nachzuprüfen,  indem 
unserem  daraufhin  eintretenden  Handeln  das  voraus- 
berechnete äufsere  Verhalten  des  Anderen  wirklich  aus- 
nahmslos antwortet.  Allein  für  höhere  und  kompliziertere 
Seelenvorgänge  fallen  diese  Schlüsse  sofort  ins  Ungewisse, 
führen  zu  unzähligen  Irrtümern  und  zeigen  eben  damit, 
dafs  sie  auch  in  jenen  unzweideutigeren  Fällen  doch  nur 
Voraussetzungen  sind,  die  ihre  Sicherheit  ihrer  Brauchbar- 
keit für  Erkennen  und  Handeln,  aber  nicht  einer  logischen 
Notwendigkeit  verdanken ,  die  sie  aus  dem  wirklich  Ge- 
gebenen rational  hervorgehen  liefse. 

Vollständiger  und  einflufsreicher  als  in  irgend  einer 
anderen  Wissenschaft  wiederholen  sich  diese  Voraussetzungen 
des  täglichen  Lebens  in  der  Geschichtsforschung,  die  sie 
freilich  durchgehends  ungeprüft  und  unmethodisch  auf- 
nimmt. Schon  wenn  jene  Interpretationen  und  Ergänzungen 
so  selbstverständlich  wären,  dafs  jede  äufsere  Tatsache  sich 
unweigerlich  und  völlig  eindeutig  unter  die  für  sie  passende 
rangierte,  würde  die  Feststellung  derselben  eine  bedeutsame 
Aufgabe  sein.  Sie  gewinnt  aber  an  Feinheit  und  Schwierig- 
keit aufserordentlich  dadurch,  dafs  wir  an  das  gleiche 
innere  Ereignis  manchmal  ganz  verschiedene  äufsere  Folgen 
geknüpft  sehen.  Dies  ist  uns  nur  durch  eine  Verschieden- 
heit der  seelischen  Begleitungen  oder  Folgen  jenes  ersten 
Ereignisses  verständlich,  das  demgemäfs  bald  unter  die  eine, 
bald  unter  die  andere  ganz  entgegengesetzte  psychologische 
Norm  gebracht  werden  mufs.  Z.  B.  erzählt  Sybel  (Gesch. 
d.  Revolutionszeit  II,  304)  von  dem  Verhältnis  des  Wohl- 
fahrtsausschusses zu  den  Hebertisten   im  Jahre  1793:    „Sie 


—     10     — 

(die  Hebertisten)  waren  bisher  mit  Robespierre  vortrefflich 
ausgekommen,  weil  dieser  sich  auf  ihre  Kräfte  gestützt  und 
folglich  ihre  Wünsche  befördert  hatte.  —  Aber  was  sie  von 
nun  an  unwiderruflich  trennte,  war  der  einfache  Umstand, 
dafs  Robespierre  der  Lenker  der  höchsten  Staatsgewalt  ge- 
worden ,  die  Hebertisten  aber  in  einer  untergeordneten 
Stellung  geblieben  waren."  Die  äufserlichen  Tatsachen: 
Robespierre  befördert  die  Wünsche  der  Hebertisten ;  sie 
schliefsen  sich  an  ihn  an;  jetzt  gewinnt  er  die  herrschende 
Stellung;  sie  fallen  von  ihm  ab  —  diese  Tatsachen  bilden 
nach  den  untergelegten  psychologischen  Voraussetzungen 
eine  durchaus  verständliche  Reihe.  Und  doch  sind  diese 
Voraussetzungen  keineswegs  so  zwingend  und  unzweideutig, 
wie  sie  zunächst  scheinen.  Dafs  man  durch  das  Befördern 
der  Wünsche  jemandes,  durch  ihm  erzeigte  Guttaten  seine 
Zuneigung  und  praktische  Hingebung  erwirbt,  kommt  oft 
genug  vor,  aber  doch  auch  das  Gegenteil.  So  wird  uns 
aus  den  blutigen  Geschlechterfehden  des  Trecento  von 
einem  vornehmen  Ravennaten  erzählt,  der  seine  gesamten 
Feinde  in  einem  Hause  zusammen  hatte  und  sie  ohne 
weiteres  vernichten  konnte;  statt  dies  zu  tun,  entliefs  er 
sie  und  beschenkte  sie  noch  reichlich.  Darauf  wären  sie 
mit  verdoppelter  Gewalt  und  List  gegen  ihn  vorgegangen 
und  hätten  nicht  geruht,  bis  sie  ihn  vernichtet  hatten  — 
und  zwar,  wie  hinzugesetzt  wird,  weil  die  Beschämung 
über  die  ihnen  geschehene  W^ohltat  sie  nicht  hätte  ruhen 
lassen.  Auch  hier  ist  uns  die  Reihe  der  äufseren  Ereignisse 
durchaus  verständlich,  indem  wir  als  psychologische  Voraus- 
setzung und  Vermittlung  eben  jene  Depression  des  Per- 
sönlichkeitsgefühles ergänzen,  die  so  oft  die  Wohltat  zum 
nagenden  Wurme  in  dem  Empfangenden  und  ihn  zum 
Feinde  des  W^ohltäters  macht.  Für  unseren  Zweck  ist 
es  gleichgültig,  ob  etwa  in  dem  vorliegenden  Beispiele 
direkte  Aussagen  der  Beteiligten  überliefert  sind,  die  ihre 
angeführte  psychologische  Verfassung  aussprechen,  so  dafs 
der  Historiker  dieselbe  nicht  als  Voraussetzung  heran- 
zubringen Ijrauchte ;  denn  nicht  nur,  dafs  er  es  in  un- 
zähligen ähnlichen  Fällen,  in  denen  nur  schlechthin  Aufscres 
berichtet  ist,  doch  mufs,  so  würde  er  auch  jene  unmittelbare 
Überlieferung  doch  nur  akzeptieren,    wenn  er  die  eine  und 


—    11    — 

die  andere  psychologische  Verfassung  als  eine  mögliche 
kennt  und  sie  vermöge  eigener  mitgebrachter  Erfahrung 
nachkonstruieren  kann.  Weiter  verstehen  wir,  dafs  die 
Erhöhung  Robespierres  zum  Regierungshaupte  feindselige 
Handlungen  der  Hebertisten  gegen  ihn  zur  Folge  hatte, 
doch  nur  daraus,  dafs  sie  Hais  und  Eifersucht  dieser  er- 
weckte. Allein  wir  würden  auch  den  Bericht  des  entgegen- 
gesetzten Erfolges  ohne  weiteres  als  wahrscheinlich  hin- 
nehmen ;  dafs  die  volle  Entfaltung  der  mächtigen  Persön- 
lichkeit Robespierres,  die  dominierende  Stellung,  zu  der  er 
gelangte,  jedes  Widerstreben  der  Partei  auch  innerlich 
gebrochen  habe,  dafs  sie  in  der  Erkenntnis,  nichts  dagegen 
zu  vermögen,  sich  wenigstens  durch  Fügsamkeit  und  Unter- 
ordnung irgend  ein  Mafs  von  Mitherrschaft  hätte  erbalten 
wollen  —  ein  Verhalten,  das  wir  aus  vorausgesetzten 
psychologischen  Normen  völlig  verstehen,  wenn  es  uns  etwa 
vom  römischen  Senate  in  der  Epoche  der  Militärdiktatur 
berichtet  wird.  Wir  beruhigen  uns  in  dem  einen  Falle 
damit,  dafs  die  Wohltat,  oder  die  Erlangung  der  Herrschaft 
einen  anschliefsenden,  im  anderen  Falle,  dafs  sie  einen  aus- 
schliefsenden psychischen  Effekt  hatte,  ohne  in  ihr  selbst 
als  äulserlicher  Tat  den  Grund  dieser  Verschiedenheit  auf- 
zufinden. Vielmehr  werden  wir  über  die  psychologische 
Verfassung,  die  zwischen  beiden  entschied,  erst  durch  das 
folgende  Ereignis  belehrt,  das  aber  doch  seinerseits  erst 
durch  die  Annahme  eben  jenes  vorangehenden  Seelenaffektes 
verständlich  wird. 

Über  demokratische  Verfassungen,  deren  Regierung  in 
kürzeren  Perioden  wählbar  ist  und  nur  zwischen  zwei 
Hauptparteien  schwankt,  hört  man,  der  Mifsbrauch  der 
Macht  seitens  der  grade  herrschenden  sei  dadurch  aus- 
geschlossen, dafs  sie  demnächst  selbst  die  unterdrückte  zu 
sein  und  die  Revanche  der  andern  zu  empfinden  fürchten 
müsse.  Dennoch  zeigt  diese  Situation  in  Wirkliclikeit  ebenso 
oft  die  rücksichtsloseste  und  unbedachteste  Ausnutzung  der 
momentanen  Herrschaft.  Um  diese  Verschiedenheit  des  Er- 
folges bei  Gleichheit  des  äufseren  Faktors  zu  erklären,  wird 
man  auf  die  Verschiedenheit  des  inneren  zurückgreifen : 
der  „Charakter"  der  Persönlichkeiten  oder  Parteien  be- 
stimme   eben  je   nach    seiner  Verschiedenheit,    ob  der  eine 


—     12     — 

oder  der  entgegengesetzte  Erfolg  sich  entwickle.  Allein 
dieses  „Charakters",  was  er  auch  an  sich  sei,  kann  die 
Erkenntnis  jedenfalls  nur  durch  seine  Aufserungen  habhaft 
werden.  Die  seelische  Veranlassung  der  Difierenz  ist  nie- 
mals unmittelbar  zu  ergreifen,  sondern  bleibt  immer  eine 
der  tatsächlichen  Erscheinung  untergebaute  Hypothese; 
aber  sie  zeigt  ihre  Notwendigkeit  für  das  Verständnis  der 
Erscheinungen  darin,  dafs  die  offenbare  Unvermeidlichkeit, 
sie  aus  diesen  erst  zu  erschliefsen  und  allen  ihren  Wider- 
sprüchen gehorsam  nachzugehen  —  an  ihrer  Anwendung 
und  ZulängHchkeit  gar  nicht  irre  macht. 

Ich  führe  nur  noch  ein  Beispiel  an.  Knapp  (Die  Land- 
arbeiter, 82)  sagt  über  die  russischen  Agrarzustände  nach 
der  Aufhebung  der  Leibeigenschaft:  „Die  Bauern  ver- 
pflichteten sich,  gegen  Lohn  dem  Grundherrn  so  und  so 
viel  Dienste  zu  leisten.  Das  taten  die  Bauern  sehr  ungern, 
denn  der  veränderte  Rechtsgrund  tröstet  den  Bauer  nicht 
über  den  Fortbestand  der  Tatsache,  dafs  er  für  den  Guts- 
herrn arbeitet;  und  dem  Gutsherrn  war  damit  auch  nicht 
viel  geholfen,  denn  der  nun  ausbedungene  statt  erzwungene 
Bauerndienst  wurde  schlecht  geleistet,  trotz  der  Bezahlung." 
Die  erste  Begründung  setzt  als  selbstverständlich  oder 
wenigstens  nicht  weiterer  Diskussion  bedürftig  voraus,  dafs 
die  Gefühlsfolge  eines  bestimmten  Zustandes  sich  nicht 
ändert,  so  lange  er  äufserlich  der  gleiche  bleibt,  auch  wenn 
das  innere  Moment  ganz  geändert  ist,  das  ihm  ursprünglich 
jene  Gefühlsfolge  verschaffte.  Die  zweite  läfst  es  Avie  etwas 
völlig  Klares  erscheinen,  dafs  der  Bauer,  über  den  man 
nicht  mehr  die  volle  herrschaftliche  Gewalt  hatte,  sondern 
mit  dem  man  paktieren  mul's,  schlechter  als  früher  arbeitet. 
Zeigten  etwa  die  Tatsachen,  dafs  die  ökonomischen  Erträge 
in  Rufsland  nach  1804  stetig  zugenommen  hätten,  so  würden 
genau  entgegengesetzte  psychologische  Gründe  Ursache  und 
Wirkung  nicht  weniger  plausibel  verknüpft  haben:  man 
hätte  ohne  weiteres  eingesehen,  dafs  gerade  nicht  das  äufsere 
Tun,  sondern  die  ethische  Grundlage  und  das  Motiv,  aus 
dem  es  geschieht,  darüber  entscheidet,  ob  mit  Lust  und 
Liebe  oder  mit  entgegengesetzten  Gefühlen  gearbeitet  wird. 
Und  bezüglich  der  Erzwingung  des  Bauerndienstes  hören 
wir  umgekehrt  aus  Preufsen  vor  Aufhebung  der  Leibeigen- 


—     13     — 

Schaft    stete    Klage,    dafs    die    Fronarbeit    die    schlechteste^ 
lässigste  und  gewissenloseste  sei  ^).     Ohne    solche  Beispiele, 


')  Es  lohnt  sich,  aus  der  Struktur  unseres  Erkennens  wenigstens 
ein  einzelnes  Moment  zur  Erklärung  dieser  Erscheinungen  heraus- 
zuheben. Dafs  die  gegebene  Konstellation  in  jedem  individuellen  Fall 
ihren  Erfolg  notwendig  macht,  ist  eine  unvermeidliche  Voraussetzung 
unseres  Erkennens.  Wenn  ihre  identische  \Yiederkehr  dennoch  ein 
verschiedenes  Eesultat  zu  zeitigen  scheint,  so  kann  dies  nur  so  ge- 
schehen, dafs  eine  dennoch  vorhandene  Verschiedenheit  der  verur- 
sachenden Bedingungen  sich  unserm  Blick  entzogen  hat.  Und  zwar 
ist  der  Grund  davon,  dafs  Avir  das  eigentlich  Individuelle  der  wirk- 
samen seelischen  Elemente  —  nach  Nuance,  Quantität,  Art  der  Zu- 
sammenwirkung —  gar  nicht  oder  nur  sehr  unvollkommen  begrifflich 
erfassen  und  bezeichnen  können.  Mit  den  gleichen  Allgemeinbegriffen : 
Liebe  und  Hafs,  Machtgefühl  und  Depression,  Intelligenz  und  Willens- 
kraft, Egoismus  und  Hingebung  und  vielen  anderen  benennen  wir  in 
sehr  roher  Weise  Erscheinungen  von  der  gröfsten  tatsächlichen  Ver- 
schiedenheit, welche  letztere  dann  in  der  Weiterentwicklung  der 
Konstellation  zu  sehr  deutlicher  Wirksamkeit  gelangt.  Ein  einfachstes 
Beispiel  ist  die  völlig  verschiedene,  ja  direkt  gegensätzliche  Wirkung- 
ein und  derselben  seelischen  Energie  je  nach  der  Quantität,  in  der  sie 
auftritt.  Von  der  Liebe  etwa  wissen  wir,  dafs  sie  einmal  durch  die 
Trennung  von  ihrem  Gegenstand  erlischt,  ein  andresmal  durch  eben- 
dieselbe gerade  zur  heftigsten  Leidenschaft  entwickelt  wird.  Der 
Grund  dieses  Unterschiedes  dürfte  nur  sein,  dafs  die  von  vornherein 
vorhandene  Gefühlsenergie  in  dem  ersteren  Fall  viel  schwächer  als 
im  zweiten  ist.  Es  gibt  wahrscheinlich  in  der  Quantitätsreihe  der- 
selben eine  Schwelle,  mit  deren  Erreichung  der  Erfolg  einer  Trennung 
ebenso  in  sein  Gegenteil  umschlägt,  wie  entsprechende  Schwellen 
unserer  Sinnesempfindungen  den  Wechsel  von  Lust  und  Schmerz  an 
rein  quantitative  Eeizänderungen  knüj^fen.  Für  die  Bestimmtheiten 
solcher  Gefühlsquantitäten  aber  haben  wir  kein  auch  nur  annäherndes 
Mafs  und  Ausdruck,  sondern  bleiben  auf  ihre,  gegen  ihr  Quantitatives 
ganz  gleichgültigen  Allgemeinbegriflfe  beschränkt,  so  dafs  wir  Er- 
scheinungen von  ganz  verschiedener  Wirklichkeit  und  Wirksamkeit 
unvermeidlich  mit  den  gleichen  Namen  bezeichnen  und  dadurch  der 
Schein  entsteht,  dafs  es  gleiche  Ursachen  wären,  die  so  verschiedene 
Wirkungen  erzeugten.  Vielleicht  aber  ist  diese  Unvollkommenheit 
—  die  sich  wie  auf  die  Erfassung  der  Quantität  so  auf  die  der  in- 
dividuellen Akzente,  Färbungen,  mitschwebenden  Assoziationen  be- 
zieht —  nicht  ohne  tiefere  Begründung.  Sie  besagt  vielleicht,  dafs 
wir  das  rein  Individuelle  an  dem  psychischen  Vorgang  überhaupt 
nicht  in  die  Form  der  wissenschaftlichen,  begrifflich  vermittelten  Er- 
kenntnis bringen  können,  ja,  dafs  .sie  überhaupt  dem  blofsen  Erkennen 
als  solchem  nicht  zugängig  ist;  wir  können  das  Seelische  vielleicht 
überhaupt  nur  so  weit  wissenschaftlich  verstehend  nachbilden,  wie  ein 


—     14     — 

die  sich  in  jedem  Geschichtswerk  unaufhörlich  wiederholen, 
zu  einem  billigen  und  ungerechten  Skeptizismus  gegen  die 
psychologische  Deutung  überhaupt  zu  mifsbrauchen,  sollen 
die  Unterschiede  möglicher  Interpretation  gerade  darauf 
aufmerksam  machen,  dafs  man  diese  nicht  als  einen  immer 
gleichen  und  deshalb  zu  vernachlässigenden  Faktor  be- 
handeln kann.  Am  wichtigsten  aber  treten  diese  Voraus- 
setzungen und  die  Bedeutung  der  Wahl  unter  ihnen  in  den 
unzähligen  Fällen  hervor,  in  denen  die  äufseren  Taten  nicht 
zweifelsfrei  und  eindeutig  überliefert  sind,  vielmehr  ihre 
Feststellung  und  Anordnung  von  der  psychologischen  Wahr- 
scheinlichkeit abhängt.  Und  selbst  in  den  sichersten  Fällen 
ist  es  nicht  „die  einfache  Tatsache",  die  über  die  Ver- 
ständlichkeit der  Folge  entscheidet,  sondern  mitgebrachte 
psychologische  Obersätze,  zu  denen  „die  einfache  Tatsache" 
als  Untersatz  tritt,  um  das  weitere  Ereignis  als  ein  mög- 
liches und  verständliches  erscheinen  zu  lassen.  Unter  die 
sichtbaren  Handlungen  der  Menschen  subintelligiert  man 
solche  unsichtbaren  Zwecke  und  Gefühle,  die  erforderlich 
sind,  um  jene  Handlungen  in  einen  verständlichen  Zu- 
sammenhang zu  bringen.  Dürften  wir  über  das  wirklich 
konstatierbare  Material  der  Geschichte  nicht  hinausgehen, 
so  wäre  es  mit  der  Herstellung  irgendwelcher  Entwicklung, 
mit  dem  Begreifen  irgend  einer  Einzelheit  aus  einer  anderen 
schlimm  bestellt.  Helmholtz  hat  einmal  ausgesprochen,  dafs 
der  Beweis  des  Kausalgesetzes  ein  sehr  schwacher  wäre, 
wenn  er  aus  der  Erfahrung  gezogen  werden  sollte-,  die 
Fälle  seiner  lückenlosen  Beweisbarkeit  seien  selten  im  Ver- 
hältnis zu  der  ungeheuren  Anzahl  derer,  die  sich  der  voll- 
kommenen ursächlichen  Einsicht  noch  entzögen.  Gilt  dies 
schon  für  die  Vorgänge  der  unterpsychischen  Natur,  so 
mufs  der  Beweis  der  Kausalität  aus  der  strikten  Erfahrung 
heraus  da  noch  viel  seltener  werden,  wo  sich  das  ver- 
wickelte   und    dunkle    Glied    der   Gehirn  Vorgänge   zwischen 

allgemein  Menschliches  (mindestens  relativ  Allgemeines)  in  ihm  lebt, 
nämlich  dasjenige,  was  dem  Erkennenden  und  seinem  Gegenstand 
gemeinsam  ist.  Die  Beschränkung  auf  den  allgemeinen  Begriff,  der 
jenseits  aller  individuellen  Mannigfaltigkeit  steht,  wäre  formal  inso- 
fern der  durchaus  angemessene  Ausdruck  für  das,  was  die  Erkenntnis 
ihrem  Wesen  nach  inhaltlich  leisten  kann. 


—     15     — 

die  sichtbaren  Vorgänge  schiebt,  nach  deren  ursächlicher 
Verbindung  miteinander  gefragt  wird.  Unter  der  Voraus- 
setzung des  —  hier  nicht  diskutierten  —  psychophysischen 
Parallelismus  würden  wir  eine  vollkommene  Einsicht  offen- 
bar dann  haben,  wenn  wir  die  äufserlichen  und  körperlichen 
Einflüsse  und  Umsetzungen,  die  zwischen  den  einzelnen 
Taten  einer  historischen  Persönlichkeit  Hegen,  völlig  durch- 
schauten und  aufserdem  den  psychischen  Wert  jedes  in 
dieser  Reihe  befindlichen  cerebralen  Vorganges  kennten. 
Da  dies  aber  ein  unerreichbares,  wenn  nicht  gar  wider- 
spruchsvolles Ideal  ist,  so  helfen  wir  uns  eben  damit,  dafs 
wir  wenigstens  psychische  Vorgänge  unter  und  zwischen 
die  äufserlichen  Vorgänge  schieben. 

Der  hypothetische  Charakter,  den  alle  Erklärung  des 
äufseren  geschichtlichen  Geschehens  dadurch  besitzt,  dafs 
sie  nur  auf  psychologischem  Wege  möglich  ist  —  zeigt  sich 
nicht  nur  an  dem  angebbaren  Inhalt  der  Bewufstseins- 
vorgänge  und  der  gleichen  Wahrscheinlichkeit,  die  völlig 
entgegengesetzten  Vermutungen  über  sie  erwerbbar  ist.  Die 
Vieldeutigkeit  beginnt  vielmehr  schon  an  der  Frage,  wo 
denn  überhaupt  Bewufstsein  das  sichtbare  Sicb-Ereignen 
fundamentiert  und  wo  dies  aus  unbewufsten  Kräften  heraus 
verläuft.  Besonders  in  den  Bewegungen  der  Massen  sehen 
wir  unzähliges  Bedeutsames,  Charakteristisches,  Zweck- 
mäfsiges  — ■  oder  auch  Unzweckmäfsiges  —  geschehen, 
dessen  bewufste  Motivierung  durchaus  zweifelhaft  ist.  Das 
ganze  Rätsel  der  unbewufsten  Geistigkeit  rollt  sich  auf:  es 
geschehen  äufsere  Handlungen,  genau  denen  analog,  die  sonst 
von  bewufstem  Überlegen  und  Wollen  getragen  sind,  jetzt 
aber  ohne  Möglichkeit,  solches  Bewufstsein  aufzufinden ; 
daraus  schliefsen  wir,  dafs  dieselben  geistigen  Motive  auch 
diesmal  wirksam  gewesen  sind,  nur  in  der  Form  der  Un- 
bewufstheit.  Die  unbewufste  Motivierung  ist  tatsächlich 
nur  der  Ausdruck  dafür,  dafs  uns  die  wirklich  wirksame 
unbekannt  ist',  sie  bedeutet  nur,  dafs  eine  bewufste  nicht 
vorliegt;  und  dafs  wir  dieses  rein  Negative,  Ausschliefsende, 
zu  etwas  Positivem  machen,  das  blofs  Nicht-Bewufste  zu 
etwas  Unbewufstem,  das  eine  bestimmte  Form  des  Geistigen 
sei  —  das  ist  eine  Erschleichung,  das  entspricht  nur  dem 
Bedürfnis,  die  leere  Kausalstelle  innerhalb  des  menschlichen 


—     16     — 

Handelns  mit  einem  geistigen  Motiv  auszufüllen.  Das  Leben 
der  Gruppen  scheint  gewisse  Bestandteile  zu  enthalten,  die 
den  Instinkt-  und  Reflexbewegungen  des  Individuums  ent- 
sprechen. Wir  hören  von  der  Tendenz  mancher  Volks- 
stämme, unwiderstehlich  um  sich  zu  greifen  und  Avie  aus 
einem  Trieb  physischen  Wachstums  heraus  ihre  Grenzen 
unaufhaltsam  weiter  und  weiter  zu  rücken ;  von  dem  dunklen 
Drange  der  deutschen  Völker  nach  Italien  wird  gesprochen 
wie  von  dem  Instinkte  der  Zugvögel,  die  völlig  unbewufste 
Antriebe  in  •  bestimmte  Himmelsrichtungen  führen.  Wie 
weit  der  Erklärungsversuch  hier  zu  bewufsten  Überlegungen 
greift  oder  zu  jenen  problematischen  unbewufsten  Zweck- 
mäfsigkeiten  oder  zu  einer  Art  organischen  Prozesses,  der 
den  rein  physisch  veranlafsten  Innervationen  gleicht  —  das 
wird  wohl  für  immer  Sache  der  persönlichen  Interpretation 
bleiben.  Mindestens  einer  der  Gründe,  weshalb  das  Grenz- 
gebiet zwischen  bewufsten  und  nichtbewufsten  Erscheinungen 
ein  so  schwankendes  ist  und  entgegengesetzten  Deutungen 
gleichmäfsig  Raum  gibt,  liegt  in  der  eigentümlichen  Gegen- 
bewegung innerhalb  der  Geistesgeschichte :  dafs  ehemals 
bewufste  Handlungen  allmählich  das  Bewufstsein  ausschalten 
und  rein  mechanisch  ausgeübt  werden  —  wie  der  Klavier- 
spieler die  zuerst  bewufst  gesuchte  Taste  schliefslich  durch 
einen  festgewordenen  Assoziationsmechanismus  trifft,  den 
das  Notenbild  ohne  jedes  dazwischentretende  Bewufstsein 
erregt  —  und  dafs,  umgekehrt,  ursprünglich  mechanisch 
Getanes  ein  wachsendes  Bewufstsein  erwirbt  —  wie  die 
Blindheit  der  Instinkte  höheren  Normen  und  klaren  Über- 
legungen Platz  macht.  Wenn  also  z.  B.  Zweckmäfsigkeit 
und  Notwendigkeit  eine  Gruppe  zu  mehrfacher  Kriegführung 
veranlafst  haben,  so  kann  sich  daraus  eine  kriegerische 
Tendenz  entwickeln,  bei  deren  späteren  Aufserungen  man 
in  dem  Bewufstsein  der  Handelnden  vergeblich  nach  dem 
zureichenden  Zwecke  suchen  würde.  Oder,  die  Unter- 
worfenheit und  Servilität  eines  Standes  unter  einen  anderen 
mag  aus  ganz  bewufsten  Ursachen  entstanden  sein ;  haben 
diese  eine  Zeitlang  bestanden,  so  darf  man  das  Bewufstsein 
der  Individuen  nicht  mehr  um  Auskunft  nach  dem  Zwecke 
des  einzelnen  einschlägigen  Verhaltens  fragen,  das  durch 
einen  formal  verwandten  Reiz  in  refllektorischer  Weise  ein- 


—     17     — 

getreten  ist.  Es  ist  offenbar,  welchen  Irrtümern  die  naive 
Voraussetzung  unterliegt,  die  die  sinnvolle  Verbindung 
zwischen  den  Handlungen  der  Einzelnen  oder  der  Gruppen 
ohne  weiteres  in  bewufsten  psychischen  Vorgängen  sucht, 
aus  deren  teleologischem  Charakter  jene  entsprängen. 

Die     andere    Wegerichtung     bedarf    keiner    Beispiele. 
Steigende  Kultur  ist  allgemein  steigendes  Bewufstsein,   Ab- 
sicht   statt    des    Instinktes,    Überlegung    statt    der    Preis- 
gegebenheit an  mechanische  Einflüsse,  Gefühlsreaktion  statt 
stumpfer   Ergebenheit.      Die    Entwicklung    eines    einzelnen 
historischen  Inhalts  mag  sich  oft  als  eine  Kurve  aus  beiden 
Richtungen  darstellen :  ursprünglich  instinktive  Verhaltungs- 
weisen mögen  zu  klarem  Bewufstsein  aufgestiegen  und  dann 
wieder   zu   rein   mechanischer   Ausübung   gesunken  sein  — 
wie  etwa  Kunstübungen  zuerst  rein  triebmäfsig  erfolgen  und 
dann    zu  einer  bewufsten  Technik  ausgebildet  werden,    die 
aber    für   den  Meister    nach    langer  Übung   etwas   ganz    in- 
stinktives und  ohne  weitere  Überlegung  angewandtes   wird. 
Die   beiden  Tendenzen  begegnen  sich  zweifellos  oft  in 
dem    einzelnen    Stadium     einer     Gruppenentwicklung    und 
lassen  es  dadurch  zu  einer  objektiven  Bestimmung,  welches 
Mafs  von  Bewufstsein  und  an  welchem  Punkte  es  ihr  inne- 
wohne,   nicht   kommen.     Die   Entscheidung    darüber   wird 
vielfach    von    der    prinzipiellen  Meinung    abhängen,    ob  die 
Bewegungen  einer  Gruppe  auf  eine  Summe  individueller  Vor- 
gänge oder  auf  einen  überindividuellen  Gesamtgeist  zurück- 
gehen, ob  einzelne  führende  Persönlichkeiten  die  eigentlichen 
Träger  der  Aktion  sind  oder  ob  die  undifferenzierte  Menge 
aus  eigenen  Impulsen  heraus  handelt.    Wem  die  Motivationen 
individuell    zu  sein  scheinen ,    der  wird  ein  entschiedeneres 
Bewufstsein  hinter  die  äufserlichen  Geschehnisse  setzen,  als 
wer   die  Gesamtheiten  als   die  einheitlichen  Subjekte  dieser 
behauptet.     Indem  man    die    grofsen    Männer    als    „das  Be- 
wufstsein"  ihrer  Zeit  bezeichnet  hat,    kommt  dieser  Unter- 
schied  zu  Worte.     Ein    ganz  anderes  Verstehen    der  nüch- 
ternen   Tatsachen,    deshalb    auch,    bei    mangelhafter    Über- 
lieferung,   ganz   andere   Interpolationen    und    Vermutungen 
werden  sich  ergeben,  je  nachdem  man  die  klare  Geistigkeit 
der    Individuen     oder    das     dumpfe    Getriebenwerden    der 
Massen  als  die  Innenseite  der  Ereignisse  konstruiert.    Neben 

Simmel,  Geschichtsphilosophie.    2.  Aufl.  2 


—     18     - 

diesem  Gegensatz  zu  der  bewufsten  Individualität  bietet 
sich  für  die  Deutung  der  Geschichte  noch  ein  anderer  dar : 
die  unpersönlichen  Mächte,  die  sich  teils  als  Ursachen,  teils 
als  Wirkungen  mit  den  Handlungen  und  Zuständen  der 
Persönlichkeiten  verflechten.  Recht  und  Sitte,  Sprache  und 
Denkart,  Kultur  und  Verkehrsform  erstehen  freilich  nicht 
ohne  bewufste  Tätigkeiten  einzelner;  allein  der  Zusaramen- 
schlufs  der  Beiträge,  das  Zustandekommen  der  sozialen 
Form,  die  dies  individuelle  Material  annimmt,  fällt  nicht 
mehr  in  das  Bewufstsein  des  einzelnen  Arbeiters.  Er 
sucht  im  Zusammensein  mit  anderen  den  besten  Ausdruck 
für  Zuneigung  und  Zurückhaltung,  Gleichgültigkeit  und 
Interesse  und  erfindet  damit  Teile  der  gesellschaftlichen 
Verkehrsformen ;  sein  religiöses  Bedürfnis  drängt  ihn  zu 
Worten  und  Handlungen,  in  denen  er  die  sicherste  Brücke 
zum  göttlichen  Prinzip  zu  finden  glaubt  —  und  er  baut 
damit  am  Gebäude  des  Kultus ;  er  sucht  sich  durch  gewisse 
Vorsichtsniafsregeln  in  der  Geschäftsführung  gegen  Über- 
vorteilung zu  schützen  und  gründet  damit  die  allgemeinen 
Handelsusancen.  Von  jeder  Handlung  des  Eigeninteresses, 
die  nicht  schlechthin  destruktiv  ist,  von  jeglicher  Beziehung 
zwischen  Menschen  bleibt  gewissermafsen  als  caput  mortuum 
ein  Beitrag  für  die  Formung  des  öffentlichen  Geistes  zurück, 
nachdem  ihre  Wirkungen  durch  tausend  feine,  dem  Einzel- 
bewufstsein  entzogene  Kanäle  hindurch  destilliert  worden 
sind.  Für  das  Gewebe  des  sozialen  Lebens  gilt  es  ganz 
besonders:  Was  er  webt,  das  weifs  kein  Weber.  Nur 
unter  zweckbewufsten  Wesen  allerdings  können  die  höheren 
sozialen  Gebilde  entstehen;  allein  sie  entstehen  sozusagen 
neben  dem  Zweckbewufstsein  der  Einzelnen,  durch  eine 
Formierung,  die  in  diesem  selbst  nicht  liegt.  So  aber 
zustande  gekommen ,  wirke  n  sie  nun  auf  den  Einzelnen, 
er  findet  sie  als  geistige  Gebilde  vor,  die  eine  ideelle  Existenz 
besitzen,  jenseits  des  Bewufstseins  der  Einzelnen  und  unab- 
hängig von  ihm,  ein  bereitliegender  Allgemeinbesitz,  von 
dem  jeder  beliebig  viele  Teile  für  sich  nutzbar  machen 
kann.  Dabei  ist  es  durchaus  Sache  der  Auffassung,  die 
man  für  diese  eigentümliche  historische  Kategorie  hat,  ob 
und  inwieweit  man  sie  in  dem  Bewufstsein  der  Einzelnen, 
von    dem    sie    abhängen    und  das  von  ihnen    abhängt,    auf- 


—     19    — 

gehen  lassen  will.  Diese  Entscheidungsschwierigkeiten  und 
Unsicherheiten  der  Bewufstseinsanteile  steigern  sich,  sobald 
die  überpersönlichen  Gebilde  mit  eigenen  Bewegungs-  und 
Entwicklungsenergien  ausgestattet  erscheinen.  Die  Lehre 
von  den  wirtschaftlichen  Produktivkräften,  die  die  jeweiligen 
Produktionsformen  entweder  adäquat  erfüllen  oder  über- 
Avachsen  und  sprengen,  setzt  über  das  Wissen  und  Wollen 
der  Individuen  die  Verhältnisse  rein  sachlicher  Potenzen; 
neue  Gesellschaftsformen  ergäben  sich  in  völliger  Unab- 
hängigkeit von  dem  Bewufstsein  und  den  Bestrebungen  ihrer 
Träger,  die  den  Prozefs  erleichtern  oder  erschweren,  aber 
niemals  erzwingen  oder  verhindern  können.  Wenn  also  die 
Sklavenwirtschaft  in  die  Feudalverfassung  und  diese  in  die 
Lohnarbeit  übergegangen  ist  und  aus  der  letzteren  der 
Sozialismus  „sich  entwickeln"  wird,  so  sind  die  erklärenden 
Ursachen  dieser  Wandlungen  nicht  im  Bewufstsein  der 
Subjekte  zu  suchen ,  sondern  in  den  sozusagen  logischen 
Folgen  der  jeweiligen  wirtschaftlichen  Technik,  der  durch 
diese  entwickelten  Produktivkräfte  und  der  Gesellschafts- 
verfassung, in  der  sich  jene  mit  mechanischer  Notwendig- 
keit ausdrücken.  Hier  ist  also  das  Bewufstsein  völlig  aus- 
geschaltet, das  auf  anderen  und  spezielleren  Gebieten,  zwischen 
die  äufseren  Ereignisse  geschoben,  diese  überhaupt  erst  be- 
greiflich macht.  Die  tatsächlichen  Geschichtsauffassungen 
pflegen  von  beiderlei  Deutungsarten  in  unsicher  begrenztem 
Mafse  Gebrauch  zu  machen :  schon  das  blofse  Quantum  des 
Bewufstseins  hinter  den  sichtbaren  Ereignissen  ist  also 
durchaus  streitig  und  die  Kardinalfrage  aller  historischen 
Erklärung  bleibt  so  den  instinktiven  oder  dogmatischen 
Voraussetzungen  der  Interpreten  überlassen.  Eine  be- 
schreibende Erkenntnistheorie  der  Geschichte  hätte  nun  fest- 
zustellen, in  welchen  Fällen  und  in  welchem  Umfang  über- 
haupt von  einem  Bewufstsein  als  Erklärungsprinzip  Gebrauch 
gemacht  wird,  wo  auf  dasselbe  zu  gunsten  dunkler  Instinkte 
oder  unbewufster  Zweckmäfsigkeit  oder  der  selbstgenug- 
samen  Verkettung  blofs  äufserer  Geschehnisse  verzichtet 
wird ;  wie  das  eine  und  das  andere  aus  der  allgemeinen 
Weltanschauung  hervorgeht;  inwieweit  endlich  dem  typischen 
Erklärungsbedürfnis  durch  das  eine  oder  das  andere  sowohl 
prinzipiell  wie  besonderen  Problemen  gegenüber  genügt  wird. 


-     20     — 

Die  psychologische  Konstruktion,  die  für  uns  das  Bild 
geschichtlicher  Persönlichkeiten  bedingt,  hat  nun  die  be- 
sondere Schwierigkeit:  dafs  der  Historiker  das  Gesaratbild 
einer  Persönlichkeit  nur  aus  ihren  einzelnen  Äufserungen 
gewinnen,  diese  Einzelheiten  aber  nur  aus  einem  schon  zum 
Grunde  liegenden  Gesamtbild  der  Persönlichkeit  richtig 
deuten  und  gruppieren  kann.  Wie  sich  dieser  Zirkel  in 
der  Praxis  löst,  liegt  freilich  nahe.  Zunächst  so,  dafö  an 
irgend  einem  Punkt  dogmatisch  oder  hypothetisch  begonnen 
werde  und  das  Fortschreiten  in  der  gleichen  Richtung  nun 
durch  die  IVIöglichkeit  oder  Unmöglichkeit,  alle  weiteren 
Einzelheiten  in  dem  gleichen  Sinne  zu  interpretieren,  jene 
erste  Annahme  bestätigt  und  zu  relativer  Gewifsheit  bringt 
oder  umgekehrt  zu  ihrer  Revision  zwingt  —  einer  der 
häufigen  Fälle  geistiger  Bewegungen,  in  denen  zuerst  die 
Voraussetzung  ihre  Folgen,  dann  aber  die  Folgen  ihre 
Voraussetzung  tragen.  Weiterhin  erleichtert  sich  das  Pro- 
blematische des  Verhältnisses  zwischen  dem  einzelnen  Tun 
und  der  Gesamtpersönlichkeit,  durch  die  es  gedeutet  wird, 
vermittels  der  Tatsache,  dafs  diese  Deutungsmöglichkeiten 
der  einzelnen  Handlung  gegenüber  in  der  Praxis  keine 
unbegrenzten  sind.  Schliefslich  weist  jede  bestimmte  Tat 
nur  auf  einen  bestimmten,  endlichen  Kreis  charaktero- 
logischer  Wurzeln  hin  —  der  freilich  genug  einander  aus- 
schliefsende Gegensätze  enthalten  mag  —  und  weist  einen 
andern  erfahrungsgemäfs  ab.  Wenn  eine  Mehrheit  von 
Handlungen  desselben  Subjekts  so  auf  eine  Mehrheit  teil- 
weise sich  deckender  Motivkreise  hindeutet,  bleibt  schliefs- 
lich ein  einziger  Charakter,  Gesinnung,  Triebfeder  übrig, 
die  ihnen  allen  gemeinsam  ist  und  sich  damit  als  die 
einzig  mögliche  herausstellt.  Diese  Aushilfen  des  praktischen 
Wissenschaftsbetriebes  lassen  aber  die  prinzipielle  Schwierig- 
keit unberührt,  über  die  sie  sich  erheben  und  die  in  die 
Metaphysik  der  Psychologie  hinaufreicht. 

Ein  Zirkel  liegt  ja  freilich  für  die  Erkenntnis  auch 
zwischen  dem  äufseren  und  dem  inneren  Geschehen  vor. 
Alle  wirkliche  Kenntnis  des  Aufseren  wird  nur  durch  das 
Innere,  alle  Kenntnis  des  Inneren  aber  nur  durch  seine 
Dokumentierung  im  Aufseren  gewonnen.  Allein  dies  ist 
ohne  weiteres  zu  lösen,    weil   in  dem  einzelnen  Falle  jedes 


—     21     — 

der    beiden  Elemente    für  sich  völlig  bestimmt  gegeben  ist, 
und  das  Erkennen   sich  in  einer  Wechselwirkung  zwischen 
ihnen  bewegt.    Ganz  anders  aber  ist  das  Verhältnis  zwischen 
der    Einzelbetätigung    und    dem    Ganzen    der   menschlichen 
Seele.    Denn  dieses  Ganze  —  mag  man  es  Charakter,  Natur 
des  Individuums,  Grundstimmung  nennen  —  ist  nur  an  jenem 
Einzelnen  gegeben,  und  aus  ihm  konstruierbar.    Das  innere 
Leben    zeigt    doch    einen   völlig    einreihigen    Ablauf    seiner 
Momente,    unter    denen    sich    freilich    die    mannigfaltigsten 
Kausalitäts-  und  Verähnlichungsverhältnisse  knüpfen,  jenseits 
deren    doch  aber  nicht  eine  immer  gleich  fliefsende  Quelle, 
aus  der  jene  alle  gespeist  werden,    als  eigene  Realität  auf- 
findbar wäre  —  wenigstens    nicht  auf  rational-wissenschaft- 
lichem Wege.     Nur  in  der  persönlichen  Berührung  oder  in 
der  Intuition  auf  die  Imponderabilien  hin,  die  in  der  Über- 
lieferung mitschweben,  entsteht  uns  das  Gefühl  einer  einheit- 
lichen Seelenbeschaffenheit  von  Personen,  die  unterhalb  oder 
in    allen    ihren    psychischen    Vorgängen    beharrte    wie    eine 
Substanz    im    Wechsel    ihrer    Akzidenzen    oder    Schicksale. 
Zu    begründbarer  Erkenntnis    aber  wird  uns  ein  Charakter 
nur   als    induktives  Resultat    seiner   einzelnen  Äufserungen, 
oder   richtiger:    als    der    zusammenfassende    Name    für    die 
Wesentlichkeiten  oder  Gemeinsamkeiten  dieser.  Und  dennoch 
kann  es  damit  nicht  sein  Bewenden  haben ;  sondern  wir  fühlen, 
dafs    dieser    allein    verstandesmäfsige   Sinn    des    Charakters 
die    Hinweisung    auf    ein    darüber    hinausliegendes    Reales 
gibt,    auf  einen  festen  Punkt  im  Menschen,    der  sich  nicht 
in  die  Mannigfaltigkeit  seines  Wollens  und  Denkens  auflöst, 
sondern  umgekehrt  als  der  Zusammenhalt  und  die  Deutung 
dieses  wirkt.     Aber    der   Inhalt    desselben  wird  eben  nur 
als  Synonym  für  die  Summe  der  sonst  bekannt  gewordenen 
Einzelheiten  gewonnen.     Es   liegt  hier  also  der  oft  gerügte 
Zirkel    vor,     der    aus    gegebenen    Erscheinungen    eine    ver- 
ursachende „Kraft"    konstruiert,    um    aus    dieser  dann  jene 
zu  „erklären".    Und  dennoch  ist  er  hier  unausweichlich.    Die 
seelischen    Einzelheiten    sind    unzählige   Male    erst   ganz    zu 
verstehen ,    einzuordnen ,    zu    werten ,    wenn    sie    einem    be- 
stimmten „Charakter"   entspringen  —  eben  dem  Charakter, 
der   nur   aus    diesen  Einzelheiten    zu    erschliefsen  ist.     Dies 
scheint   zu   den   grundlegenden  Zirkeln   zu  gehören,    deren 


22     

Irrigkeit  in  den  nach  oben  zu  gelegenen  und  in  blofsen 
Singularitäten  bestehenden  Schichten  unseres  Erkennens 
nicht  hindert,  dafs  dessen  fundamentale  Bewegungen  dieser 
Form  nicht  entraten  können  ^). 

Die  charakterologische  E  i  n  h  e  i  t  gibt  in  formaler  nicht 
weniger  als  in  inhaltlicher  Hinsicht  der  Philosophie  der 
Historik  sehr  tiefgreifende  Probleme  auf.  Dafs  sie  an  Personen 
■wie  an  Gruppen  vorhanden  ist,  gehört  zu  den  apriorischen 
Voraussetzungen  jeder  Geschichtsforschung.  Wir  verstehen 
unter  ihr,  zunächst  für  den  Einzelmenschen,  dafs  seine  Hand- 
lungen und  Vorstellungen  so  beschaffen  sind,  als  ob  sie  die 
Hervorbringungen  eines  numerisch  einfachen  Seelenwesens 
wären,  das  auch  nur  soweit  veränderlich  ist,  wie  organisches 
Wachstum  und  Verfall  es  bedingen.  Da  dieses  nun  aber 
ein  blofses  x  ist,  von  dem  wir  weiter  nichts  aussagen  können, 
so  bedeutet  die  Einheitlichkeit  des  Wesens,  dafs  wir  die 
Vorstellungen  des  Menschen  aufeinander  zurückführen  und 
auseinander  erklären  können.  Dafür  bedarf  es  gewisser 
Prinzipien,  deren  Herrschaft  uns  die  Einheit  der  Persönlich- 
keit darstellt,  welche  unmittelbar  nicht  wahrgenommen 
werden  kann.  Wenn  wir  also  die  Einheit  der  Persönlichkeit 
darin  sehen,  dafs  ein  Mensch,  dessen  Leben  durch  schweres 
Unglück  verbittert  ist,  auch  in  der  Welt  aufser  ihm  nur 
Leiden  und  Dissonanzen  sieht,  wenn  wir  sagen,  es  sei  der- 
selbe Zug,  infolgedessen  er  vielleicht  für  sich  selbst  stets 
neues  Unglück  fürchtet  und  seinen  Mitmenschen  das  Leben 
schwer  macht,  so  kennen  wir  eben  psychologische  Regeln, 
vermöge  deren  uns  einer  dieser  Vorgänge  auf  den  anderen 
genetisch  zurückführbar  erscheint.  Diese  Synthesen  sind 
nicht  verständlich,  weil  sie  einheitlich  sind,  sondern  wir 
nennen  sie  einheitlich,  weil  sie  verständlich  sind,  und  als 
verständlich  erscheinen  sie  uns  nur,  weil  wir  gewöhnt  sind, 
sie  zu  beobachten.  Deshalb  stört  es  auch  die  Einheit  der 
Persönlichkeit  nicht,  wenn  man  neben  eigenem  Leid  gerade 
das  Bestreben,  andere  glücklich  zu  machen  erblickt,  oder 
neben  demselben  gewissermafsen  zum  Ersatz  ein  theoretischer 
Optimismus  auftaucht,  wie  es  oft  bei  körperlich  mifsratenen 


')  Die  Beiego  hierfür   enthält  meine  „Philosophie   des  Geldes". 
1    Kap.  III.  Abschn. 


—     23     — 

Individuen  der  Fall  ist.  Die  Einheit  der  Persönlichkeit 
scheint  uns  bei  einem  Geizigen  ebenso  gewahrt,  wenn  er 
das  Erworbene  um  keiner  Zukunftschance  willen  aus  Händen 
gibt,  wie  wenn  er  es  mit  vollen  Händen  wegwirft,  sobald 
er  wucherischen  Gewinn  dafür  erhofft.  Die  Erscheinungen 
an  und  für  sich  und  ihrem  Inhalt  nach  entscheiden  also 
noch  nicht  darüber,  ob  sie  eine  Einheit  bilden,  sondern  nur 
dies,  ob  man  auf  irgendwelche  bekannten  Regeln  hin  eine 
Kausalverbindung  zwischen  ihnen  entdecken  kann. 

Und  während  in  diesen  Beispielen  der  gleiche  Grundzug 
nur  durch  das  Mafs  und  die  Richtung  seiner  Erstreckung 
durch  die  Schichten  der  gegebenen  Umwelt  entgegengesetzte 
Erscheinungen  hervorbringt,  bezeichnen  wir  sogar  ganz 
prinzipielle  und  formale  Entgegengesetztheiten  des  Verhaltens 
gleichmäfsig  als  Einheit  der  Persönlichkeit:  wer  in  den 
mannigfaltigsten  Lagen  sich  immer  als  einer  und  derselbe 
bewährt,  in  allem  Licht-  und  Schattenwechsel  des  Lebens 
sozusagen  immer  dasselbe  Gesicht  zeigt,  ist  uns  nicht  „ein- 
heitlicher", als  der  rasch  Angepafste  und  sensibel  Reagierende, 
der  verschiedenen  Ansprüchen  und  Reizen  gegenüber  immer 
ein  Verschiedener  zu  sein  scheint;  denn  er  verhält  sich  doch 
wie  der  Faktor  einer  Rechnung,  der,  immer  als  der  identische 
beharrend ,  bei  dem  Wechsel  der  übrigen  Faktoren  ein 
wechselndes  Resultat  ergeben  raufs.  Ersichtlich  wird  jenes 
erstere  Verhalten  ganz  andere  Erscheinungen  zu  einer  gleich 
strengen  „Einheit"  der  Persönlichkeit  verknüpfen  und  da- 
durch gegenseitig  begreiflich  machen  als  dieses  letztere. 
Der  Schlufs  also,  der  bei  gewissen  gegebenen  Handlungs- 
weisen einer  Person  auf  die  Möglichkeit  oder  Unmöglichkeit 
anderer  gezogen  wird,  ist  nie  ein  unmittelbar  logischer, 
sondern  hängt  von  einer  realen  psychologischen  Erfahrung 
als  Obersatz  ab.  Welchen  Einflufs  dies  und  die  Erweiterung 
davon  auf  Perioden  und  Gruppen,  auf  die  Konstruktion  des 
historischen  Verlaufs,  auf  die  Deutung  der  Einzeltatsachen, 
auf  die  Ergänzung  der  Überlieferung,  auf  die  Kritik  der- 
selben ausübt,  bedai'f  nur  der  Andeutung.  Es  wäre  nun 
die  wichtigste  Aufgabe  für  die  Philosophie  der  Historik, 
jene  einzelnen  Normen  festzustellen,  die  wir  auf  Grund  der 
„Einheitlichkeit"  der  Charaktere  zu  Kriterien  der  Über- 
lieferung und  Vehikeln  der  Darstellung  machen,  und  die,  nach- 


—     24     — 

dem  einmal  eine  bestimmte  Tatsache  und  ihr  seelischer  Wert 
gesetzt  ist,  von  diesen  aus  ein  präjudizierendes  Schema  für 
das  entwirft,  was  künftighin  im  Bilde  dieser  Persönlichkeit  als 
wahrscheinlich  und  was  als  unwahrscheinlich  zu  gelten  hat; 
die  Latitüde,  innerhalb  deren  wir  abweichende  Handlungen 
dennoch  für  möglich  erklären ;  die  Entwicklungen  und  Ab- 
änderungen, die  wir  als  selbstverständlich,  aus  dem  inneren 
Prinzip  der  Persönlichkeit  folgend,  annehmen  und  diejenigen, 
bei  denen  wir  eine  Erklärung  in  den  äufseren  Umständen 
meinen  suchen  zu  müssen.  Denn  zweifellos  gibt  es  sehr 
bestimmte  Regulative  dieser  Art,  nach  denen  verfahren  wird, 
die  zwischen  dem  Historiker  und  seinem  Leser  stillschweigend 
vorausgesetzt  werden,  an  deren  bewufster  Konstatierung  es 
aber  noch  mangelt. 

Besonderer  Natur  sind  die  ]\Iittel,  durch  die  die  seelische 
Einheit  einer  Gruppe  Avissenschaftlich  behandelbar  wird; 
wobei  nur  diejenige  Einheit  gemeint  ist,  von  der  die 
praktische  Geschichtsschreibung  fortwährenden  Gebrauch 
macht,  ohne  die  dornige  Frage  anzurühren,  ob  sie  ein  Sonder- 
gebilde jenseits  der  Individuen  oder  die  blofse  Summe  dieser 
ist.  Wenn  man  die  Charakterzüge  oder  Leidenschaften, 
die  Stimmungen  oder  Tendenzen  ganzer  Gruppen  schildert, 
so  sind  doch  in  Wirklichkeit  diese  psychischen  Daten  nie- 
mals an  allen  Mitgliedern  der  Gruppe  festgestellt.  Viel- 
mehr nur  an  gewissen  einzelnen  können  sie  bemerkt  und 
überliefert  Averden,  und  aus  diesen  formt  man  eine  einheit- 
liche Totalität,  in  die  auch  die  nicht  in  die  Bemerkbarkeit 
tretenden,  vielleicht  dissentierenden,  vielleicht  individuell 
den  Vorgang  modifizierenden,  ohne  weiteres  eingeschlossen 
werden.  Ich  wähle  aufs  Geratewohl  Stellen  aus  Mommsens 
Römischer  Geschichte:  „Ein  Schrei  der  Entrüstung  ging 
durch  ganz  Italien."  II,  145.  Marius  zeigte  sich  „als  einen 
Feldherren,  der  den  Soldaten  in  Zucht  und  doch  bei 
guter  Laune  erhielt  und  zugleich  im  kameradschaftlichen 
Verkehr  seine  Liebe  gewann".  II,  102.  Die  Aristokratie 
—  „gab  sich  nicht  die  mindeste  Mühe,  ihre  Besorgnis  und 
ihren  Ingrimm  zu  verhehlen".  III,  190.  „Die  Parteien 
atmeten  auf."  III,  193.  Und  aus  Burckhardts  Kultur  der 
Renaissance:  „Mit  einer  grauenerregenden  Naivität  gesteht 
Florenz    von    jeher    seine     guelfische    Sympathie     für    die 


Franzosen  ein."  I,  89.  „In  schrecklichen  Augenblicken 
erwacht  hier  und  da  die  Glut  der  mittelalterlichen  Bufse, 
und  das  geängstigte  Volk  will  mit  Geifselungen  und  lautem 
Geschrei  um  Barmherzigkeit  den  Himmel  erweichen,"  II,  232. 
Die  Prinzipien ,  nach  denen  die  Historik  hier  unbewufst 
verfährt,  hat  ihre  Erkenntnistheorie  aufzusuchen:  ob  die 
Einheit  einer  Gruppe  nach  den  seelischen  Vorgängen  in 
ihren  Führern  konstruiert  wird,  oder  nach  einem  Durch- 
schnittstypus oder  nach  der  Majorität ;  welche  Zahl  vielleicht 
oder  sicher  anders  Denkender  als  quantite  negligeable  gelten 
darf;  inwieweit  Enge  oder  Lockerheit  des  funktionellen  Zu- 
sammenhanges der  Gruppe  gestatten  oder  verbieten,  das 
unvollständig  Gegebene  als  das  Pfand  für  die  einheitliche 
Stimmung  des  Ganzen  anzusehen.  Wie  dem  obigen  gemäfs 
die  individuelle  Seele,  so  wird  hier  die  - —  kurz  gesagt  — 
Sozialseele  von  vornherein  als  eine  derart  einheitliche 
vorausgesetzt,  dafs  die  Fragmente,  die  allein  bekannt  sind, 
den  Schlufs  auf  die  gleiche  Beschaffenheit  des  Nicht- 
Bekannten  zulassen.  Wie  sehr  es  sich  hier  aber  oft  um 
eine  Konstruktion  handelt,  die  nicht  nur  Unbekanntes 
hypothetisch  aus  der  vorausgesetzten  Einheit  ergänzt,  sondern 
der  mit  Sicherheit  keine  geschichtlich-reale  Einheit  ent- 
spricht, zeigt  z,  B.  Macaulay  bei  der  Angabe,  er  habe  sein 
Bild  of  the  temper  of  political  and  religious  parties  ge- 
wonnen not  from  any  single  work,  but  from  thousands 
of  forgotten  tracts,  sermons  and  satires.  In  diesem  Zu- 
sammenhang führt  er  etwa  zehn  Argumente  an,  welche  die 
Whigs  zur  Annahme  einer  Bill  bestimmt  hätten.  Es  ist  nun 
äufserst  Avahrscheinlich,  dafs  im  Bewufstsein  keines  einzigen 
Mitgliedes  der  Partei  alle  diese  gleichzeitig  und  mit  der 
gleichen  Kraft  wirksam  waren.  Vielmehr  ist  „die  Partei", 
deren  psychische  Einheit  diese  Motive  produziert  hat,  ein 
blofs  ideelles  Gebilde,  eine  Fiktion,  im  Kopfe  des  Historikers 
erwachsen  als  Synthese  zerstreut  gelegener  Realitäten.  Sie 
kommt  auf  dieselbe  Weise  zustande,  wie  auch  die  cha- 
rakterologische  „Einheit"  der  individuellen  Seele.  Die  in- 
haltliche Verwandtschaft  von  Vorgängen,  die  durch  einen 
gewissen  äufseren  Rahmen  zusammengehalten  werden,  ihre 
funktionellen  Beziehungen,  die  Möglichkeit  ihrer  teleolo- 
gischen   Anordnung   —    alles    dies    bewirkt    die    Projektion 


—     20     — 

auf  eine  bestimmt  charakterisierte  Einheit,  die  nun  von 
sich  aus  entscheidet,  ob  der  Anspruch  weiterer  Momente 
auf  Zugehörigkeit  zu  ihr  anerkannt  werden  kann  oder  ab- 
gewiesen werden  mufs.  Die  reine  Idealität  und  blofs 
methodologische  Genesis  aber,  die  diese  Einheit  mindestens 
in  dem  einen  Typus  von  Fällen  zeigt,  machen  es  wahr- 
scheinlich, dafs  auch  in  den  anderen  wohl  Bedürfnisse  des 
Erkennens  zu  ihrer  Kreierung  mitwirken  werden,  die  über 
die  blofs  psychologische  Beobachtung,  über  die  blofse  Ana- 
logie zu  dem  Ichbewufstsein  des  erkennenden  Subjektes 
hinausweisen.  Dafs  jene  psychologische  Möglichkeit  be- 
nutzt wird,  hängt  erst  von  höheren  Notwendigkeiten  der 
Erkenntnis  ab.  Der  seelische  Zusammenhang,  das  Mafs 
des  Abweichungsspielraums,  die  Ergänzung  der  mannig- 
faltigen Momente  zu  einem  Gesamtbild,  kurz  das,  was  wir 
die  Einheit  der  Persönlichkeit  nennen,  ist  offenbar  eine 
methodische  Voraussetzung,  ohne  die  es  zu  der  Verständ- 
lichkeit und  Anordnungseinheit  historischer  Daten  nicht 
käme.  Sie  ist  ein  Apriori,  das  Geschichte  erst  möglich 
macht.  Die  Frage  freilich,  die  Kant  für  die  Aprioritäten 
der  Natur  dahin  beantwortet,  dafs  der  Verstand  sie  dieser 
vorschreibt,  ohne  dafs  sie  in  dem  Gegebenen  an  und  für 
sich  ein  Gegenbild  fänden,  ist  hier  nicht  so  scharf  und 
prinzipienmäfsig  zu  entscheiden.  Die  geschichtliche  Er- 
kenntnis findet  ihr  Material :  das  momentane  Geschehen  als 
solches,  die  rein  sachlich -zeitlose  Bedeutung  des  Er- 
lebten, das  subjektive  Bewufstsein  der  Handelnden  —  als 
eine  Art  Halbprodukt  vor,  an  dem  bereits  apriorische 
Formen  der  Auffassung  wirksam  geworden  sind.  Die 
Kategorien,  durch  welche  aus  diesem  Stoff  Geschichte  wird, 
bestehen  an  ihm  schon  in  Ansätzen  oder  in  modifizierten 
Verwendungsweisen,  sie  treten  ihm  nicht  mit  solcher  Ent- 
schiedenheit gegenüber,  wie  die  Kategorie  der  Kausalität  der 
blofs  zeitlichen  Folge.  So  wenig  also  —  alles  Spätere  wird 
dies  zeigen  —  die  Geschichte  als  Wissenschaft  eine,  auch  nur 
der  Absicht  und  dem  Prinzip  nach  gleichartige  Reproduktion 
des  Geschehens  ist,  so  werden  doch  die  Kategorien,  deren 
Anwendung  eben  diesen  Unterschied  stiftet,  in  dem  Material 
häufiger  ein  Gegen bild  finden,  als  die  Verstandeskategorien 
in    dem    Sinnenstoff,    das    Bedürfnis    der  Historik  wird    oft 


nur  eine  Steigerung,  Systematisierung,  logische  Vollendung 
dessen  fordern,  was  auch  das  historisch  unbearbeitete  Objekt 
schon  enthält.  So  wird  zwischen  der  Einheit  der  Persön- 
lichkeiten und  Gruppen,  die  eine  methodische  Form  der 
Historik  zur  Bewältigung  des  Geschehens  und  insofern 
etwas  im  transszendentalen  Sinne  Subjektives  ist,  und  der 
realen,  gelebten,  psychologischen  Einheit  oft,  vielleicht  immer 
ein  gleitender  Übergang  bestehen.  Aber  diese  im  begriff- 
lichen Inhalte  der  historischen  Kategorien  existierende 
Verwandtschaft  mit  dem  vorhistorischen  Materiale  —  die 
zuzugebende  Folge  der  in  ihrer  Bedeutung  sonst  so  oft 
falsch  gedeuteten  Tatsache,  dafs  Subjekt  und  Objekt  der 
Historik  gleichen,  nämlich  seelischen  Wesens  sind  —  darf 
nicht  über  die  generelle  Sonderung  beider  täuschen,  nicht 
darüber,  dafs  die  Historik  von  sich  aus,  ihren  eigenen 
Lebensbedingungen  gemäfs,  ihren  Stoff  in  Formen  bringt, 
die  nur  auf  ihrem  Boden  gewachsen  sind.  — 

Wenn  nun  eine  geistige  —  bewufste  oder  unbewufste  — 
Begründung  der  Ereignisse  vorausgesetzt  wird,  gibt  die 
Besonderung  ihrer  Inhalte  weitere  erkenntnistheoretische 
Probleme  auf  Zunächst  handelt  es  sich  auch  für  diese 
um  eine  sehr  allgemeine  Voraussetzung.  Ob  die  psycho- 
logischen Verbindungsglieder,  die  der  Historiker  an  die 
Ereignisse  heranbringt,  objektiv  wahr  sind,  d.  h.  wirklich 
die  seelischen  Akte  der  handelnden  Personen  nachzeichnen, 
würde  kein  Interesse  für  uns  haben,  wenn  wir  diese  Vor- 
gänge ihren  Inhalten  und  ihrem  Verlaufe  nach  nicht  ver- 
stünden. Fände  dies  nicht  statt,  so  könnte  jene  Pich tig- 
keit  durch  irgend  welche  Mittel  erreicht  sein  —  wie  sie 
etwa  in  einigen  Fällen  nicht  der  psychologischen  Nach- 
konstruktion durch  den  Historiker  zu  bedürfen,  sondern 
durch  Aufserungen  und  Konfessionen  der  Persönlichkeiten 
unmittelbar  gegeben  zu  sein  scheint  —  und  wir  würden 
ihr  dennoch  nicht  zusprechen,  was  wir  Wahrheit  nennen. 
Was  aber  bedeutet  dieses  Verstehen  und  was  sind  seine 
Bedingungen"?  —  Die  erste  derselben  ist  offenbar,  dafs  jene 
Bewufstseinsakte  in  uns  nachgebildet  werden,  dafs  wir  uns, 
wie  man  sagt,  „in  die  Seele  der  Personen  versetzen"  können. 
Das  Verstehen  eines  ausgesprochenen  Satzes  besagt,  dafs 
die  Seelenvorgänge  des  Sprechenden,  die  in  die  Worte  aus- 


—     28     — 

liefen,  durch  eben  diese  auch  im  Hörer  erregt  werden;  so- 
bald eine  wesentliche  Differenz  zwischen  den  Vorstellungen 
beider  Personen  stattfindet,  ist  das  von  einem  zum  anderen 
gehende  Wort  entweder  mifsverstanden  oder  unverstanden. 
Ein  derartig  direktes  Nachbilden  findet  indes  nur  statt  und 
genügt  nur,  wo  es  sich  um  theoretische  Denkinhalte  handelt, 
bei  denen  es  nicht  wesentlich  ist,  dafs  sie  als  Vorstellungen 
gerade  dieses  Individuums  ihren  Ausgangspunkt  nehmen, 
sondern  die  vielmehr  sachliche  Inhalte  in  logischer  Form 
jedem  gleichmäfsig  darbieten.  Bei  objektiven  Erkenntnissen 
verhalte  ich  mich  zum  Gegenstande  des  Erkennens  genau 
so  wie  derjenige,  dessen  Vorstellungen  darüber  ich  ., ver- 
stehe", er  vermittelt  mir  nur  deren  Inhalt  und  wird  nachher 
sozusagen  wieder  ausgeschaltet  —  der  Inhalt  besteht  fürder- 
hin  in  meinem  Denken  parallel  mit  dem  seinigen  und  ohne 
von  dem  Ursprung  aus  diesem  letzteren  eine  Umbiegung 
oder  Modifizierung  zurückzubehalten.  In  diesem  Fall  trifft 
der  Ausdruck,  dafs  ich  den  Sprechenden  verstehe,  den 
Sachverhalt  nicht  völlig :  ich  verstehe  eigentlich  nicht 
den  Sprechenden,  sondern  das  Gesprochene.  Dies  ändert 
sieh  sogleich,  sobald  jener  zu  seiner  Aufserung  durch  eine 
persönliche  Absicht,  durch  Voreingenommenheit  oder  Ärger, 
durch  Ängstlichkeit  oder  Spottlust  getrieben  ist.  Indem 
wir  diese  Motive  der  Aufserung  erkennen,  haben  wir  sie 
noch  in  einem  ganz  anderen  Sinne  als  durch  das  Begreifen 
ihres  Sachgehaltes  „verstanden" :  jetzt  erst  bezieht  dieses 
sich  nicht  nur  auf  das  Gesprochene,  sondern  auf  den 
Sprechenden.  Diese  Art  des  Verstehens  aber  und  nicht  die 
erstere  kommt  historischen  Persönlichkeiten  gegenüber  in 
Frage.  Und  bei  ihr  bedeutet  das  „Nachbilden"  offenbar 
etwas  anderes  als  jenes,  nämlich  keineswegs  ein  unver- 
ändertes Wiederholen  des  Bewufstseinsinhaltes  der  Personen. 
Wir  behaupten  doch  jede  Art  und  jeden  Grad  von  Liebe 
und  Hafs,  Mut  und  Verzweiflung,  Wollen  und  Fühlen 
zu  verstehen,  ohne  dafs  die  Äufserungen,  auf  die  hin  das 
Bild  solcher  Affekte  in  uns  entsteht,  uns  in  die  gleiche 
Befangenheit  in  ihnen  versetzten.  Dennoch  setzt  ersichtlich 
derjenige  Seelenprozefs,  den  wir  das  Begreifen  ihrer  nennen, 
eine  psychologische  Umformung,  eine  Verdichtung  oder  auch 
abgeblafste  Spiegelung  ihrer  voraus;  irgendwie  mufs  in  ihm 


-     29    — 

ihr  Inhalt    enthalten    sein.     Wenn    es    die  Aufgabe  der  Ge- 
schichte   ist,    nicht    nur   Erkanntes    zu    erkennen,    sondern 
auch  Gewolltes   und  Gefühltes,    so   ist   diese   Aufgabe    nur 
lösbar,  indem  in  irgendeinem  Modus  psychischer  Umsetzung 
das    Gewollte    mitgewollt,    das    Gefühlte    mitgefühlt    wird. 
Denn    sonst  würde   nicht  ihr  irgendwann  vorhergegangenes 
reales  Empfundensein  die  Bedingung  bilden,  unter  der  allein 
das  eintritt,  was  wir  ihr  Verständnis  nennen.    Wer  nie  ge- 
liebt hat,  wird  den  Liebenden  nie  verstehen,  der  Choleriker 
nie    den  Phlegmatiker,    der  Schwächling   nie    den    Helden, 
aber  auch  der  Held  nicht  den  Schwächling ;  und  umgekehrt 
spricht    unser   Verständnis    der   Bewegungen ,    Mienen    und 
Handlungen  Anderer  um  so  leichter  an,  je  öfter  wir  selbst 
die  Affekte  durchempfunden  haben,  für  die  jene  das  Symbol 
sind,  und  zwar  in  demselben  Mafse  leichter  oder  schwerer, 
in    dem    unsere    augenblickliche    innere   Lage    zu    ähnlichen 
oder  zu  abliegenden  Empfindungen  disponiert  und  also  die 
psychologische    Reproduktion     erleichtert     oder    erschwert. 
In  irgend  einer  Umbildung  ist  also   doch  die  Wiederholung 
der  im  Anderen  vorgehenden  Bewufstseinsakte  mit  dem  Ver- 
ständnis   seiner  verbunden    und   für  dasselbe  unentbehrlich. 
Das    letzte  Motiv,    das    die  Art   dieser  Umbildung    be- 
stimmt, ist  wohl,  dafs  die   von  dem  Erkennenden  irgendwie 
erlebten  Gedanken,  Gefühle,  Strebungen,    jetzt  eben  nicht 
als  seine  eigenen,  sondern  als  die  eines  anderen,  eines  Nicht- 
Ich  vorgestellt  werden ;   dafs  die  in  dem  historischen  wie  in 
jedem    psychologischen    Verständnis    sich    erzeugenden    Be- 
wufstseinsgebilde  von  ihrer  Wurzel  im  Ich  gelöst  und  einem 
anderen  Ich    aufgepfropft  werden.     Dies  ist  eine  eigentüm- 
liche Komplikation  der  Tatsache,  dafs  uns  auch  inbezug  auf 
menschliches  Sein  unsere  Erkenntnisobjekte  nicht  in  ihrem 
An-Sich,    sondern    als   Erscheinungen    gegeben    sind.      Die 
erkenntnistheoretischen  Folgen    hiervon   hat  man  freilich  in 
Abrede  gestellt.    In  ganz  anderer  Weise,  ist  gesagt  worden, 
sei  uns  die  Geschichte  zugänglich,  wie  die  Natur.    Der  Unter- 
schied zwischen  dem  Ich  und  dem  Nicht-Ich  habe,  wo  beides 
Seelen    wären,    einen   völlig  anderen  Sinn  als    sonst;    denn 
beide  seien  nur  numerisch,    nicht  generell  verschieden,  und 
wenn    kein  Geist   ins  Innere   der  Natur  dringen  könne,    so 
doch   in  das   eines  anderen  Geistes,    den    er  völlig  adäquat 


—     30     — 

in  sich  abzuspiegeln  vermöge.  Auf  einem  so  leichten  Pfeiler 
läfst  sich  indes  noch  keine  Brücke  über  die  Kluft  zwischen 
dem  Ich  und  dem  Kicht-Ich  schlagen.  Die  generelle  Gleich- 
heit beider  hebt  zunächst  die  Notwendigkeit  davon  nicht 
auf,  dafs  allerhand  Veräufserlichungen,  Umsetzungen  und 
Symbolisierungen  zwischen  ihnen  vermitteln.  Eine  eigent- 
liche Abspiegelung,  ein  unmittelbares,  aus  der  Wesens- 
gleichheit folgendes  Verständnis  wäre  Gedankenlesen  und 
Telepathie,  oder  setzte  eine  prästabilierte  Harmonie  voraus. 
Vielmehr,  das  Erkennen  selbst  eines  geistigen  Vorganges 
ist  doch  auch  seinerseits  ein  Prozefs,  der  nur  angeregt 
werden  kann  und  schliefslich  von  dem  Subjekt  selbst  voll- 
zogen werden  mufs.  Allein  dies  würde  schliefslich  die 
sachliche  Parallelität  nur  aus  einer  direkten  in  eine  in- 
direkte verwandeln ;  schliefslich  könnte  sich  trotz  aller 
nötigen  Umwege  doch  ein  Seelenvorgang  so  genau  in  einer 
anderen  Seele  abspiegeln,  wie  die  Worte,  die  dem  Tele- 
graphenapparat anvertraut  werden,  sich  an  dem  der  anderen 
Station  reproduzieren,  wenngleich  dasjenige,  was  dazwischen 
liegt  und  sie  trägt,  ihnen  völlig  heterogene  Vorgänge  sind. 
Allein  die  sehr  viel  tiefer  liegende  Schwierigkeit  ist  die, 
dafs  die  so  produzierten  Vorgänge  in  mir  doch  zugleich 
nicht  die  meinigen  sind,  dafs  ich  sie  als  historische,  obgleich 
ich  sie  vorstelle  und  sie  also  meine  Vorstellungen  sind,  als 
die  eines  anderen   denke. 

Es  genügt  auch  nicht,  wenn  wir  einen  anderen  erkennen 
wollen ,  dafs  wir  seine  Seelenvorgänge  in  uns  selbst  nach- 
bilden und  uns  dazu  sagen:  aber  nicht  ich,  sondern  jener 
empfindet  so!  Denn  erstens  empfinde  ich  doch  nach  der 
Voraussetzung  tatsächlich  so,  und  jener  Zusatz  kann  auch 
nicht  nachträglich  zu  dem  Inhalt  gemacht  werden,  wo- 
bei dann  beides  gegeneinander  isoliert  bliebe,  sondern  er 
mufs  jenen  Inhalt  durchdringen,  ihn  unmittelbar  als  sein 
Exponent  begleiten.  Dieses  Emi)finden  dessen,  was  ich 
'  doch  eigentlich  nicht  empfinde,  dieses  Nachbilden  einer 
Subjektivität,  das  doch  nur  wieder  in  einer  Subjektivität 
möglich  ist,  die  aber  zugleich  jener  objektiv  gegenüber- 
steht —  das  ist  das  Rätsel  des  historischen  Erkennens, 
dessen  Verständnis  man  bisher  noch  kaum  unseren  logischen 
und  psychologischen  Kategorien  abzugewinnen  versucht  hat. 


—    31     — 

Gewifs  ist  in  diesem  Erkennen  beides  enthalten :  das  eigene 
Vollziehen  des  fraglichen  Aktes  und  das  Bewufstsein,  dafs 
er  an  Anderen  vorgegangen  ist;  allein  dies  ist  nur  eine 
nachträgliche  Zerlegung  in  Elemente,  von  deren  ßesonderung 
der  historische  Erkenntnisprozefs  selbst  kein  Bewufstsein 
aufweist.  Es  handelt  sich  hier  doch  nicht  um  ein  nach- 
trägliches Zusammenbringen  von  Bestandteilen,  die  vorher 
getrennt  existieren,  so  wenig  wie  in  der  Anschauung  der 
äufseren  Welt  die  Sinnesempfindung  und  die  Raumanschauung 
gesondert  vorhanden  sind  und  sich  dann  zu  jener  zusamraen- 
schliefsen.  Die  Projizierung  eines  Vorstellens  und  Fühlens 
auf  die  historische  Persönlichkeit  ist  ein  einheitlicher  Akt, 
dessen  Vorbedingung  allerdings  ist,  dafs  ich  die  fraglichen 
psychischen  Vorgänge  in  meinem  subjektiven  Leben  er- 
fahren habe.  Allein  indem  sie  jetzt  als  Vorstellungen  eines 
anderen  reproduziert  werden,  erfahren  sie  eine  psychische 
Umformung,  die  sie  von  dem  eigenen  subjektiven  Erlebnis 
der  erkennenden  Persönlichkeit  ebenso  abhebt,  wie  sie  von 
dem  der  erkannten  Persönlichkeit  abgehoben  sind.  Wenn 
also  diese  beiden  letzteren  selbst  generell  tibereinstimmen, 
wenn  auch  Liebe  und  Hafs,  Denken  und  Wollen,  Lust  und 
Schmerz  als  persönliche  Ereignisse  in  der  Seele  des  Er- 
kennenden ebendiesen  in  der  Seele  des  Erkannten  genau 
wesensgleich  waren,  so  bildet  doch  nicht  dieses  unmittelbar 
Gleiche  die  historische  Erkenntnis,  sondern  jener  durch  die 
Projizierung  auf  einen  Anderen  umgeformte  Vorstellungs- 
prozefs. 

Die  seelische  Nachbildung,    die  die  äufseren  Ereignisse 
psychologisch  legitimiert,  erfolgt  innerhalb  einer  Kategorie, 
gleichsam      in      einem     Aggregatzustand      des     Vorstellens, 
dem     die     Erkenntnistheorie    noch     nicht     die     genügende 
Aufmerksamkeit    geschenkt     hat.       Gewisse     Vorstellungs-7  j^x».  5. 
Verbindungen    nämlich  werden    in  uns  von  dem  Gefühl  be-     ,"' 
gleitet,   dafs  nicht   nur    die  Zufälligkeit  und  Momentaneität    '. :  ' 
des  subjektiven  Seelenlebens  sie  vollzieht,  sondern  dafs  sie 
typische   Gültigkeit   haben,    dafs    die   eine  Vorstellung    von 
sich  aus  Anweisung  auf  ihr  Verbundensein  mit  der  anderen 
gibt,    unabhängig  von  der  augenblicklichen  Seelenlage,    die 
diese   innere   Relation    der  Vorstellungen    im  Subjekte   ver- 
wirklicht.   Damit  ist  durchaus  nicht  die  Wahrheitsbedeutung 


—     32     — 

dieser  Vorstellungen  gemeint,  nicht,  dafs  ihr  Inhalt  objektiv- 
gültig ist,  gleichviel  ob  wir  ihn  vorstellen  oder  nicht.  Um 
diese  übersubjektive  Notwendigkeit,  die  sich  jenseits  der 
psychologischen  überhaupt  hält,  handelt  es  sich  hier  nicht, 
sondern  um  eine  Überpersonalität  der  psychologischen 
Zusammenhänge  selbst,  die  nur  jenseits  ihrer  Realisierung 
in  einem  einzelnen  Bewufstsein  steht.  Es  gibt  eben  Fälle, 
in  denen  das  rein  seelische  Verbundensein  von  Vorstellungen 
denselben  Norracharakter,  dieselbe  innerlich  notwendige  und 
deshalb  übersinguläre  Gültigkeit  besitzt,  wie  es  bei  den  auf 
Erkenntnis  gerichteten  Vorstellungen  der  logische,  sachliche 
Zusammenhang  ihrer  Inhalte  aufweist.  Mit  der  sogenannten 
psychologischen  Gesetzmäfsigkeit  ist  dies  freilich  verwandt, 
aber  nur  im  zweiten  Grade  und  ohne  an  den  Fragwürdig- 
keiten teilzuhaben,  die  den  Begriff  des  psychologischen  Ge- 
setzes in  dem  jetzigen  Wissensstadium  umgeben.  Die 
Allgemeingültigkeit  ist  hier  vielmehr  eine  psychologische 
Qualität  der  Vorstellungsweisen  selbst,  unmittelbar  als  ein 
mit  ihnen  wie  ein  Oberton  mitschwebendes  Gefühl  gegeben; 
sie  kann  deshalb  bei  den  einzelnen  Individuen  ganz  ver- 
schiedene Vorstellungen  begleiten,  auch  für  das  einzelne 
Individuum  diese  gelegentlich  wechseln,  aber  da  sie  sozu- 
sagen nur  der  Ausdruck  für  einen  inneren  Charakterzug 
der  Bewufstseinsakte  ist,  so  entzieht  sie  sich  ebenso  der 
objektiven  Bestätigung  wie  Widerlegung. 

Diese  Art  der  psychologischen  Notwendigkeit  begleitet 
die  Vorstellungen,  mit  denen  wir  geschichtliche  Persönlich- 
keiten rekonstruieren  oder  vielmehr,  sie  sind  eben  dann 
rekonstruiert,  wenn  das  Bild  ihrer  seelischen  Zustände  und 
Bewegungen  diese  Begleitung  erworben  hat.  Dabei  können 
sie  ihrem  Inhalt  nach  völlig  individuell  und  einzig  sein. 
Wer  auf  die  äufseren  Handlungen  von  Themistokles  oder 
Moritz  von  Sachsen  hin  sich  ein  Bild  ihres  Charakters 
formt,  oder  die  innere  Reihe  der  Impulse,  Vorstellungen, 
Gefühle  herstellt,  durch  die  jene  zusammengehalten  und 
verständlich  werden  —  der  vollzieht  diese  psychologische 
Konstruktion  mit  einem  Gefühl  von  Notwendigkeit,  er 
unterscheidet  sie,  obgleich  sie  jetzt  nur  in  ihm  vorgehen 
und  von  keiner  sachlichen  Gesetzmäfsigkeit  legitimiert 
werden,  sehr  genau  von  anderen  Vorstellungsverbindungen, 


—     33     — 

die  auch  als  seelische  Tatsache  in  ihm  auftreten,  die  er  aber 
sozusagen    niemandem   imputieren   kann.      Dies  Gefühl    der 
psychologischen    Wahrscheinlichkeit    mag     sich    erst    nach 
mannigfachen    Abwägungen    einstellen,    es    mag    sich    auch 
nicht    immer  für  eine  der  möglichen    seelischen  Konstella- 
tionen   mit    voller    Sicherheit   entscheiden;    aber    soweit    es 
eben  besteht,   bildet  es  das  Kriterium,  ob  ein  innerlich  auf- 
wachsendes   seelisches    Gebilde    auch    objektiv   gelten    soll, 
d,  h.  ob  wir  es  ihm  zusprechen,  die  psychische  Lage  eines 
dritten    darzustellen.     Zu    diesem    letzteren  Resultat   führen 
an  sich  noch  nicht  Erfahrungen,  Erwägungen,  psychologische 
Regelmäfsigkeiten ;  solche  vielmehr  bilden  nur  eine  Vorstufe, 
auf    die    hin  jenes    unmittelbar    überzeugende    Gefühl    der 
seelischen  Lebenswahrheit  eintritt,   wie  wir  es  auch  gegen- 
über    dem    Gedicht    oder    dem    Porträt    haben,    ohne   dafs 
doch   auch    diese    ihre   Überzeugungskraft    theoretisch    aus- 
drückbaren Erkenntnissen    verdankten.     Diese  mögen    vor- 
handen sein,  sie  mögen  die  Basis  auch  jenes  Gefühls  bilden: 
ersetzen    können    sie    es    nicht,    es    bleibt   immer    ein    un- 
erzwingbares,  qualitativ  eigenartiges  Gebilde,  gleichsam  der 
Kristallisationspunkt,    an    dem    die    einzelnen    psychischen 
Elemente   zusammenschiefsen    und    so,    durch    überzeugend 
nachgefühlte  Kräfte   untereinander  verbunden,    die  Einheit 
einer  Persönlichkeit  ergeben.    Die  Färbung  derselben  kann, 
wie  gesagt,  völlig  unvergleichlich  sein.    Wenn  wir  so  kom- 
plizierte   und    widerspruchsvolle  Naturen    wie  Themistokles 
oder  Moritz  von  Sachsen  zu  verstehen  meinen,    so  denken 
wir    doch    nicht   ihre  einzelnen  Züge  und  ein  mechanisches 
Zusammen    dieser;    sondern    wir   fühlen   sie  in  ihrem  funk- 
tionellen   Verbundensein    zur    Einheit    der    Person.      Diese 
Einheit  hat,  so  heterogen  ihre  Elemente  logisch  erscheinen 
mögen,    eine  Festigkeit,    die  oft  einem  scheinbar  ähnlichen 
Nebeneinander  von  seelischen  Elementen  fehlt  und  hier  auf 
einmal  eine,    aus   diesen    einzelnen  nicht  deduzierbare  Not- 
wendigkeit  gewinnt.     Diese    ist   nicht    aus    einem    darüber 
stehenden  Gesetze  abgeleitet,  sondern  etwa  der  Einheit  ver- 
gleichbar,   die    Lionardo    in   dem    seelischen  Reichtum    der 
Gioconda  erblickt,  oder  zu  der  Goethe  die  polare  Spannung 
unserer  Gefühlsmöglichkeiten  im  „Gesang  der  Geister  über 
den  Wassern"  zusammengefafst  hat. 

Simmel,  Geschichtsphilosophie.    2.  Aufl.  3 


—     34     — 

Diese  Konstruierbarkeit  psychischer  Zusammenhänge, 
die  von  dem  unmittelbaren  Gefühl  der  Bündigkeit  begleitet 
wird  und  damit  die  einzige  Möglichkeit  bietet,  das  von 
Seelen  getragene  historische  Geschehen  zu  verstehen  — 
bedeutet  eine  völlig  eigenartige  Synthese  der  Kategorie  des 
Allgemeinen  und  Notwendigen  mit  der  des  schlechthin  In- 
dividuellen; oder  vielmehr,  genau  gesprochen,  steht  sie 
jenseits  dieses  Gegensatzes,  der  bisher  jeden  Erkenntnisweg 
vor  ein  korapromifsloses  Entweder-Oder  stellte.  Die  charakte- 
ristische Verbindung  von  Impulsen,  Stimmungen,  Vor- 
stellungen, die  das  Erkenntnisbild  einer  historischen  Per- 
sönlichkeit ausmacht,  würden  wir  nicht  anerkennen,  auf  sie 
nicht  projizieren  können,  wenn  diese  Elemente  nicht  eine 
auch  ohne  Rücksicht  auf  diese  historische  Verwirklichung 
verständliche,  an  sich  plausible  Reihe  und  Einheit  bildeten. 
Gewifs  kommt  sie  so  nur  ein  einziges  Mal  vor;  allein  auch 
dieses  eine  Mal  würde  sie  —  als  verständliche  —  nicht  vor- 
kommen können,  wenn  sie  nicht  einen  zeitlos,  d.  h.  hier, 
aus  der  psychologischen  Bedeutung  und  Rolle  der  Elemente 
begreiflichen  und  nachzuformenden  Zusammenhang  bildete. 
Es  ist  nicht  der  Sachgehalt  des  Psychologischen,  sondern 
das  Psychologische  als  Sachgehalt  selbst,  was  hier,  sozusagen 
nach  der  eigenen  Logik  der  Seelenvorgänge,  die  gültige,  als 
notwendig  gefühlte  Zusammenordnung  bildet,  und  so  erst 
die  Darstellung  jener  Einzelerscheinung  legitimiert,  ohne 
freilich  aufserhalb  dieser  noch  ein  zweites  Beispiel  innerhalb 
der  Realität  zu  besitzen.  Jener  Dualismus  des  Allgemeinen 
und  des  Individuellen  berührt  also  die  hier  aufkommende 
Erkenntniskategorie  garnicht.  Die  Nachbildbarkeit  und 
der  von  aller  Einzelverwirklichung  in  seiner  Gültigkeit  un- 
abhängige Zusammenhang  der  psychischen  Werte  geben  ihr 
die  Bedeutung  eines  schlechthin  Allgemein-Gesetzlichen,  und 
dennoch  ist  sie  kein  solches,  sondern  gleich  von  vornherein 
ist  jener  Zusammenhang  als  ein  historisch  einmaliger  gedacht. 
Dies  aber  nicht  in  dem  Sinne,  in  dem  auch  jede  physische 
Erscheinung  genau  genommen  eine  einmalige,  in  absoluter 
Realität  niemals  wiederholte  ist;  denn  diese  Einzigkeit  ist 
hier  doch  nur  die  UnUbersehbarkeit  der  in  ihr  zusammen- 
strömenden allgemeinen  Gesetzlichkeiten.  Vielmehr  ist  dort 
das  Ganze   aus  einem  Einzigkeitspunkte   heraus  entwickelt 


—    35     - 

und  untersteht  dem  Begriff  der  historischen  Persön- 
lichkeit, d.  h.  einer  solchen,  die  durch  ihre  räumliche 
und  zeitliche  Bestimmtheit,  ihre  Beschaffenheit,  ihre  ge- 
schichtlichen Folgen  wie  durch  ein  Koordinatensystem  in 
eine  absolute  Einmaligkeit  festgelegt  ist.  Der  innere 
Grund  dieses  letzteren  Unterschiedes  liegt  in  der  Einheit 
der  persönlichen  Seele.  Eine  noch  so  unwiederholte  Er- 
scheinung, zusammengebaut  aus  Elementen,  deren  jedes 
für  sich  durch  je  ein  allgemeines  Gesetz  bestimmt  ist, 
erscheint  uns  nicht  als  ein  schlechthin  individuelles  Ge- 
bilde; denn  ihre  Einzigkeit  liegt  sozusagen  nicht  in  ihr, 
sondern  nur  in  der  Form,  zu  der  jene  Elemente  sich  äufser- 
lich  zusammengefunden  haben.  Erst  wenn  ein  einheit- 
liches Gebilde  einzig  ist,  d.  h.  wo  die  Einzigkeit  nicht  ein 
formales  und  durch  den  Vergleich  mit  anderem  zugewachsenes 
Akzidenz,  sondern  eine  spezifische,  innere,  vom  Zentrum  des 
Ganzen  getragene  Qualität  ist,  —  erst  da  en'iteht  das 
Bedürfnis ,  der  Rätselhaftigkeit  und  Unzugängigkeit  der 
Individualität  gegenüber  diejenige  Beziehung  zum 
Ganzen,  Begreiflichkeit,  Einrangierung,  zu  gewinnen,  die 
jenen  anderen  Erscheinungen  die  Reduzierung  auf  die  all- 
gemeine Gesetzlichkeit  der  Elemente  leistet.  Und  dies 
eben  scheint  nur  durch  den  psychisch-bündigen  Zusammen- 
hang der  Persönlichkeitszüge  —  wie  die  überzeugende  Nach- 
fühlbarkeit sie  gewährleistet  —  gegeben.  Denn  so  gewinnt 
dieser  Zusammenhang,  dieses  Persönlichkeitsbild,  eine  so- 
zusagen anonyme  Gültigkeit,  eine  innere,  nicht  an  den 
Namen  der  Person  gebundene,  die  dennoch  von  vornherein 
das  Cachet  der  historischen  Individualität,  d.  h.  der  einmaligen 
Wirklichkeit  trägt. 

Diese  Kategorie  des  objektiven ,  aber  nur  durch  sub- 
jektives Nachfühlen  konstruierbaren  Zusammenhanges  sub- 
jektiv-persönlicher Seelenelemente  steht,  wie  über  dem 
Gegensatz  des  Allgemeinen  und  des  Individuellen,  so  auch 
über  dem  von  Ursache  und  Grund.  Die  reale  Verursachung, 
die  die  psychische  Erscheinung  B  an  die  andere  A  knüpft, 
ist  uns  entweder  überhaupt  nicht  erkennbar  oder  nur  in  der 
Form  eines  allgemeinen  psychologischen  Gesetzes.  Im  er- 
kenntnistheoretischen Interesse  trennen  wir  den  Inhalt,  die 
begriffliche  Bedeutung  seelischer  Vorgänge  von  diesen  Vor- 

3* 


-Be- 
gangen selbst  als  einem  blofsen  dynamischen  Geschehen. 
Nur  innerhalb  dieses  letzteren  herrschen  unmittelbar  die 
natürlichen  Energien  und  ihre  kausale  Notwendigkeit.  Der 
Inhalt,  als  der  die  Prozesse  sich  unserem  Bewufstsein 
kundgeben,  ist  gleichsam  nur  die  P^rscheinung  derselben, 
das  Zeichen,  an  dem  wir  den  Verlauf  des  Prozesses  erkennen, 
und  das  wahrscheinlich  bei  ganz  verschiedenen  realen  Grund - 
Vorgängen  sich  als  das  Gleiche  ergeben  kann.  Die  Aufgabe 
der  Psychologie  ist,  diese  Dynamik  der  seelischen  Ereignisse, 
für  deren  Erkenntnis  unmittelbar  nur  ein  Symbol:  ihr 
logisch  ausdrückbarer  Inhalt,  zur  Verfügung  steht,  zu  ent- 
hüllen, bis  sie,  in  ihrer  idealen  Vollendung,  mit  Hilfe  all- 
gemeiner Gesetze  die  realen  Konsequenzen  aus  jeder  ge- 
gebenen seelischen  Situation  entwickeln  könnte.  Von  dieser 
Herleitung  der  Vorstellungen  aus  der  Ursächlichkeit 
psycho-mechanischen  Geschehens  unterscheidet  sich  aufs 
schärfste  die  aus  Gründen,  die  auf  den  logischen  Be- 
ziehungen ihrer  Inhalte  beruht.  Wir  begreifen,  dafs  sich 
auf  gegebene  Prämissen  hin  der  Schlufssatz  einstellt,  bei 
gewolltem  Zwecke  die  Bestrebung  auf  die  sachlich  erforder- 
lichen Mittel,  bei  gewissen  organischen  Trieben  das  Gefühls- 
interesse für  ein  Subjekt,  das  ihnen  genug  tue.  Hier  fragen 
wir  nun  nicht  nach  dem  Prozesse,  der  das  eine  Glied  trüge, 
und  aus  dem  mit  naturgesetzlicher  Kausalität  das  nächste, 
der  reale  Träger  des  nächsten  Inhaltes,  hervorginge.  Wir 
geben  vielmehr  zu,  dafs  diese  Konsequenz  nicht  psychologisch 
notwendig  einzutreten  braucht,  dafs  der  natürlich-tatsächliche 
Verlauf  des  inneren  Geschehens  vielmehr  auch  zu  einer 
anderen  führen  kann.  Wenn  sie  aber  eintritt,  so  verstehen 
wir  dies  aus  der  logischen  Beziehung  der  Inhalte,  die 
gleichsam  zeitlos  und  mit  einer  ganz  anderen  als  der  natur- 
gesetzlichen Notwendigkeit  sich  an  dem  blofsen  seelischen 
Sich-Ereignen  abrollen.  Dafs  jemand  aus  ihm  bewufsten 
Prämissen  einen  gewissen  Schlufs  zieht,  würde  eine  voll- 
endete Psychologie  aus  den  vorhandenen  seelischen  und 
dynamischen  Verhältnissen  seines  seelischen  Organs  durch 
die  Anwendung  allgemeiner  Gesetze  der  psychischen  Be- 
wegungen verstehen;  dafs  dieser  Schlufs  aber  ein  vernünf- 
tiger, der  Sache,  nicht  nur  dem  tatsächlichen  seelischen 
Ereignis  nach  notwendiger  ist  —  das  begreifen  wir  aus  den 


—     37     — 

begrifflichen  Verhältnissen  der  Inhalte,  aus  dem  logischen 
Zwange  der  Prämissen,  diesen  und  keinen  anderen  Schlufs 
aus  sich  zu  entlassen.  Die  nachbildende  Konstruktion  des 
historischen  seelischen  Ereignisses  nun,  ein  in  sich  offenbar 
ganz  einheitliches  Geschehen,  hat  zu  diesen  beiden  Formen 
des  Begreifens  Gleichheit  und  Gegensatz.  Sie  hat  den  gegen 
alles  Rationale  und  Logische  gleichgültigen  Inhalt  der  einen. 
Denn  das  blofs  Psychologische,  das  Natürlich-Kausale  hat 
seinem  begrifflichen  Inhalte  nach  mit  der  vernunftmäfsig- 
verständlichen  Verknüpfung  nicht  das  geringste  zu  tun. 
Es  realisiert  mit  derselben  Notwendigkeit  und  in  dynamisch 
ganz  gleichartigen  Prozessen  das  Vernünftigste  wie  das 
Widersinnigste,  die  Gedankensprünge  des  Narren  wie  die 
ruhige  Folgerichtigkeit  des  juristischen  oder  mathematischen 
Denkens.  Die  historisch- seelischen  Tatsachen  zeigen  diese 
—  vom  Standpunkt  der  logischen  Notwendigkeit  —  rein  zu- 
fälligen Verknüpfungen ;  sie  sind  blofs  wirkliche  psycho- 
logische Prozesse,  die  mit  den  rationalen  Beziehungen 
zwischen  den  Bedeutungen  ihrer  Inhalte  real  und  er- 
kenntnistheoretisch streng  auseinanderzuhalten  sind.  Aber 
gerade  sie  sollen  nun  ein  Verständnis  finden,  analog  dem 
der  rationalen  Verknüpfungen.  Wie  wir  seelische  Vorgänge 
verstehen,  wenn  ihre  Inhalte  sich  logisch  entwickeln,  wenn 
der  seelische  Prozefs  an  den  nur  in  diesen  Inhalten  gelegenen 
Notwendigkeiten  entlang  geht  —  so  zieht  sich  diese  an  den 
Inhalt,  statt  an  die  dynamische  Naturgesetzlichkeit  geknüpfte 
Begreiflichkeit  hier  in  eine  Einmaligkeit  zusammen.  Es 
fehlt  die  aus  Naturgesetzen  begriffene  Notwendig- 
keit des  psychologischen  Geschehens;  es  fehlt  ebenso 
die  logische  Notwendigkeit,  mit  der  sich  die  Inhalte  des 
letzteren  allgemeingültig  verknüpfen.  Und  doch  soll  hier 
etwas,  was  als  blofs  historische  Tatsächlichkeit,  als  kausale 
Geschehensreihe  auftritt,  oft  völlig  irrational,  aus  blinden 
Trieben  geboren,  aller  Verknüpfung  nach  Sinn  und  Bedeutung 
entbehrend,  —  das  soll  dennoch,  wenn  auch  nur  für  den  je- 
weiligen Fall,  seinem  Inhalte  nach  als  etwas  notwendig  Zu- 
sammengehöriges erkannt  werden;  die  Einheit,  die  einen 
seelischen  Inhalt  aus  dem  anderen  logisch  entwickelt,  an  den 
anderen  knüpft,  soll  nun  doch  mit  ähnlich  zusammenhalten- 
der Kraft  an  einem  gegen  alles  Logische  als  solches  gleich- 


—     38     — 

gültigen  Inhalt  gefühlt  werden,  —  so  sicher,  dafs  der  ganze 
Zusammenhang  auf  ein  Minimum  von  Gegebenheiten  hin 
konstruiert  wird !  Was  die  Züge  eines  historischen  Charakters, 
die  Vorstellungskomplexe  hinter  einem  historischen  Tun  zu 
einer  verständlichen  Einheit  zusammenbindet,  ist  erkenntnis- 
theoretisch weder  Ursache  noch  Grund,  weder  das  reale 
Gesetz  des  Geschehens  noch  das  ideale  des  Inhalts,  sondern 
ein  ganz  eigenes  Drittes,  des  Sinnes:  dafs  die  rein  tatsäch- 
lichen Elemente  durch  ihre  individuelle  Färbung  und 
Lagerung  eine  nicht  gesetzlich  festzulegende ,  sondern  nur 
nachzufühlende  Beziehung  und  Einheit  erhalten ;  so  dafs 
jedes  mit  dem  anderen  seinem  Inhalte  nach,  aber  eben  nur 
soweit  er  individuell  genau  so  bestimmt  ist,  in  der  Weise 
zusammenhängt,  wie  begrifflich  allgemeine  Inhalte  ver- 
möge der  Logik  zusammenhängen.  Wir  schliefsen  inner- 
halb der  historischen  Bilder  von  Art  und  Grad  des  einen 
seelischen  Elementes  auf  Art  und  Grad  des  anderen  —  aber 
nicht  im  Syllogismus ,  der  auf  Allgemeingültiges  ausgeht, 
sondern  in  einer  Synthesis  der  Phantasie,  die  dem  schlecht- 
hin Individuellen  gegenüber  den  Geltungswert  des  Rationalen 
auf  die  Zufälligkeit  des  blofs  Geschehenden  zu  übertragen 
Macht  und  Recht  hat. 

Vielleicht  löst  sich  hiermit  das  Rätsel ,  wie  eine  sub- 
jektiv geformte  Seelenverfassung  doch  eo  ipso  als  die  eines 
anderen  vorgestellt  werden  kann.  Das  Vermittelnde  ist  die 
besondere  Art  von  überpersönlicher  Gültigkeit  des  psychischen 
Bildes  nach  der  Dynamik  und  Verknüpfungsart  seiner  Ele- 
mente, einer  Gültigkeit,  die  den  Wert  der  Allgemeinheit 
liat,  ohne  doch  begriffliche  Allgemeinheit  zu  sein.  Indem 
die  im  Betrachter  sich  bildenden  Reihen  von  Vorstellungen 
und  in  Vorstcllungsform  anklingenden  Gefüiilen  und 
Strebungen  von  dem  Gefühl  jener  Gültigkeit  wie  von 
einem  qualitativen  Lokalzeichen  begleitet  werden,  erstrecken 
sie  sich  über  ihn  selbst  hinaus,  aber  nicht  auf  jede  beliebige 
Existenz,  wie  im  allgemeinen  Gesetz,  sondern  auf  die  eine 
psychische  Einheit,  deren  historische  Einzigkeit  zu  den 
inneren  Bestimmungen  jenes  Zusammenhanges  gehört.  Die 
Schwierigkeit  der  historischen  Projektion :  dafs  ich  den 
nachgebildeten  und  nur  subjektiv  vorhandenen  Seelen- 
vorgang gleichsam  aus  mir  entfernen  und  auf  die  historische 


—    39     — 

Persönlichkeit  übertragen  mufs  —  übrigens  ersichtlich  nur 
eine  sehr  geklärte  und  gesteigerte  Form  der  Psychologie 
der  täglichen  Praxis  —  ähnelt  dem  Problem  der  naiven 
Raiimauffassung:  wieso  denn  das  in  der  Seele  fertig  ge- 
wordene AnschauLingsbild  der  Dinge  für  unsere  Vorstellung 
doch  in  den  Raum  aufserhalb  der  Seele  gelange?  Das 
letztere  Rätsel  ist  dadurch  lösbar,  dafs  die  Räumlichkeit 
der  Dinge  (welche  das  „Aufserhalb  der  Seele"  einschliefst) 
eine  Form  des  Vorstellens  selbst  ist,  eine  Art,  wie  die  Seele 
Sinnesempfindungen  verbindet;  das  Extensiv- Werden  dieser 
ist  ein  rein  intensives  psychisches  Geschehen,  die  Räumlich- 
keit ist  eine  Qualität  gewisser  Vorstellungen.  Dafs  seelische 
Vorgänge  die  Form  der  Geschichte  annehmen ,  d.  h,  dafs 
das  Subjekt,  das  sie  trägt,  sie  als  von  einem  anderen  ge- 
tragen vorstellt  —  das  ist  nicht  einfach  mit  dem  Schlag- 
wort: Projizierung  zu  erklären,  sondern  es  handelt  sich 
grade  erst  um  das  Begreifen  des  Vorganges,  den  man  mit 
diesem  Wort  benennt.  Und  auch  er  wird  wohl  eine  innere 
Qualität  der  Vorstellungen  selbst  bedeuten,  eine  Art  des 
Vorstellens  selbst.  Es  geschieht  nicht  nachträglich  etwas 
mit  der  fertig  gewordenen  und  als  subjektiv  bewufsten  Vor- 
stellung, sondern  die  Form,  in  der  sie  sich  bildet,  ist  eben 
die  historische,  ihre  Art,  im  Subjekt  zu  verlaufen,  bedeutet 
ihrer  psychologischen  Qualifikation  nach,  dafs  ihr  Inhalt 
seine  Wirklichkeit  in  einem  anderen  Subjekt  hat.  Und  die 
erkenntnistheoretische  Interpretation  dieser  unmittelbaren 
Übertragung  scheint  mir  durch  jenes  Gefühl  der  übersub- 
jektiven —  aber  nicht  etwa  gegenständlich-äufserlichen  — 
Richtigkeit  gewisser  psychischer  Konstellationen  und  Ver- 
bindungen gegeben,  durch  das  Bewufstsein,  in  dem  Voll- 
zuge dieser  die  eigenen  Beziehungen  der  psychischen  In- 
halte, unabhängig  von  ihrem  jetzigen  Gedachtwerden,  zu 
\A'orte  kommen  zu  lassen.  Bei  der  historischen  Erkenntnis 
verengt  sich  diese  über  das  Subjekt  hinübergreifende 
Gültigkeit  seiner  Vorstellungen  auf  die  einzige  Persönlich- 
keit, die  durch  sie  charakterisiert  wird  und  die  durch  ihre 
räum -zeitliche  Bestimmtheit  die  Möglichkeit  ihrer  Re- 
alisierung darbietet. 

Ich  bin  mir  sehr  wohl  bewufst,  dafs  dieser  Vorschlag, 
das    psychologisch-erkenntnistheoretische    Problem    des    ge- 


-     40     — 

7  schichtllclien  Verständnisses  zu  lösen,  nur  ein  erster  Versuch 
ist  und  sein  Recht  vielleicht  nur  darin  hat,  das  Vorhandensein 
des  Problems  überhaupt  in  seiner  Tiefe  deutlich  zu  machen. 
Aber  über  das  speziell- technische  Interesse  der  Historik 
hinaus  kann  diese  Überlegung  nun  versuchen,  die  Antwort 
auf  die  erkenntnistheoretische  Grundfrage  der  Geschichts- 
wissenschaft wie  mit  einem  Schlufsstein  abzuschliefsen. 

Ihr  gegenüber  gilt  es  vor  allem  die  Beseitigung  des 
naiven  Realismus,  der  sich  von  dem  Erkenntnisbilde  der 
äufseren  Dinge  auf  das  der  inneren  zurückgezogen  hat. 
Der  Realismus  des  Erkennens,  der  die  Wahrheit  für  die 
Übereinstimmung  des  Denkens,  im  Sinne  eines  Spiegel- 
bildes, mit  dem  ihm  im  absoluten  Sinn  äufseren  Gegen- 
stande erklärt,  ist  für  die  Naturwissenschaft  beseitigt.  Auch 
ist  es  relativ  leicht  einzusehen,  dafs  der  Ausdruck  des 
realen  Geschehens  durch  mathematische  Formeln ,  Atome, 
Mechanismus  oder  Dynamismus  nur  eine  symbolische  Formu- 
lierung ist,  ein  Aufbau  aus  geistigen  Kategorien,  der  nur 
ein  Zeichensystem    für    sein  Objekt    ist  und  nichts  weniger 

.  als  eine  deckende  Nachzeichnung  desselben.  Aber  in  den 
geisteswissenschaftlichen  Erkenntnissen  verleitet  die  Gleich- 
heit der  Erkenntnisfunktion  und  ihres  Objekts  —  da  beide 
Geist  sind  —  noch  immer  zu  jenem  Naturalismus,  der  ein 
einfaches  Abschreiben  des  einen  durch  das  andere  für  möglich 
und  das  Mafs  seiner  Treue  für  das  Wertmafs  der  Erkenntnis 
hält.  Noch  immer  wird  der  Historik  unbefangen  die  Aufgabe 
gestellt,  uns  das  Geschehen  sehen  zu  lassen,  „wie  es  wirk- 
lich gewesen  ist".  Im  Gegensatz  dazu  mufs  man  sich  klar 
machen,  dafs  jede  Erkenntnis  eine  Übertragung  des  unmittel- 
bar Gegebenen  in  eine  neue  Sprache,  mit  nur  ihr  eigenen 
Formen,  Kategorien  und  Forderungen  ist.  Indem  die  Tat- 
sachen ,  die  inneren  nicht  Aveniger  als  die  äufseren ,  zur 
Wissenschaft  werden,  müssen  sie  auf  Fragen  antworten,  die 
in  der  \^'irklichkeit  und  in  ihrem  ursprünglichen  Gegeben- 
sein nie  an  sie  gestellt  werden;  um  den  Bedürfnissen  des 
Wissens  zu  genügen,  erhalten  sie  eine  Anordnung  nach 
Vorder-  und  Hintergründen,  eine  Betonung  singulärer 
Punkte,  innere  Beziehungen  nach  Werten  und  Ideen,  gleich- 
sam über  den  Kopf  der  Realität  hinweg,  die  aus  ihnen  ein 
neues  Gebilde  eigener  Art  und  Gesetzlichkeit  schaffen. 


—     41     — 

Selbst  auf  einem  historischen  Gebiet,  das  das  unmittelbare 
Rekonstruieren  seines  Gegenstandes  so  sehr  ermöglicht  und  die 
Darstellung  eben  dieses  in  vollem  identischem  Nach- Erleben 
zu  fordern  scheint,  wie  die  Geschichte  der  Philosophie  — 
selbst  da  handelt  es  sich  nicht  um  eine  mechanische,  wenn 
auch  seelische  Abspiegelung  der  Daten ;  sondern  es  bedarf 
einer  Formung  der  vom  Philosophen  innerlich  er- 
lebten und  geschaffenen  und  von  seinem  Historiker  nach- 
gedachten Denkinhalte,  einer  Deutung  derselben  nach  den 
apriorischen  Forderungen  des  Erkennens,  damit  jener  Roh- 
stoff zu  dem  neuen  Gebilde :  Geschichte  der  Philosophie  — 
werde.  Die  historische  Wahrheit  ist  keine  blofse  Repro- 
duktion, sondern  eine  geistige  Aktivität,  die  aus  ihrem 
Stoff  —  der  als  innerliche  Nachbildung  gegeben  ist  —  etwas 
macht,  was  er  an  sich  noch  nicht  ist,  und  zwar  nicht  nur 
durch  kompendiöses  Zusammenfassen  seiner  Einzelheiten, 
sondern  indem  sie  von  sich  aus  Fragen  an  ihn  stellt,  das 
Singulare  zu  einem  Sinne  zusammenfafst,  der  oft  gar  nicht 
im  Bewufstsein  ihrer  „Helden"  lag,  indem  sie  Bedeutungen 
und  Werte  ihres  Stoffes  aufgräbt,  die  diese  Vergangenheit 
zu  einem  ihre  Darstellung  für  uns  lohnenden  Bilde  ge- 
stalten. 

Noch  näher  scheint  die  Erkenntnis  und  ihr  Gegen- 
stand zusammenzurücken ,  noch  plausibler  scheinen  die 
Formen  des  Seins  und  die  des  Wissens  nur  zwei  Tonarten, 
in  denen  ein  und  dieselbe  Melodie  sich  abspielt,  wenn  ein 
Subjekt  sein  eigenes  Leben  als  geschichtliche  Entwicklung 
betrachtet.  Noch  deutlicher  aber  als  an  anderen  Beispielen 
wird  gerade  hier,  wo  das  Original  des  Erkenntnisgebildes 
im  unmittelbaren  Bewufstsein  vorliegt,  dal's  eine  Erkenntnis- 
einheit aus  diesem  Stoff  nach  apriorischen  Formen  zustande 
kommt,  die  zwar  auf  ihn  anwendbar,  aber  nicht  aus  ihm 
ableitbar  sind.  Wenn  wir  unser  Leben  als  ein  ganzes  über- 
schauen, so  heben  wir  es  zunächst  mit  all  den  Umgebungen 
und  Ereignissen,  die  es  unseres  Wissens  beeinflufsten ,  aus 
dem  Weltgeschehen  heraus,  das  es  im  weiteren  Kreis  um- 
gibt und  durchflicht,  aber  es  nur  in  einer  Weise  bestimmt, 
die  unserem  Schicksal  mit  dem  aller  anderen  Individuen 
gemeinsam  ist;  ebenso  scheiden  jene  inneren  Faktoren  — 
der    Intellektualität,    der    fundamentalen    Bedürfnisse,     der 


—     42     — 

selbstverständlichen  Gcfühlsreaktionen  —  aus,  die  das  all- 
gemein menschliche  Lebensinventar  bilden.  Beiderlei  Ele- 
mente sind  von  einer  .  näherer  Darlegung  unbedürftigen 
Wichtigkeit  für  unser  Leben,  wie  es  wirklich  war.  Aber 
insoweit  keine  Beziehung  ihrer  zu  der  Individualität 
unseres  Lebens  als  solcher  sichtbar  ist,  lassen  wir  sie  für 
die  Zwecke  der  Ich-Erkenntnis  einfach  bei  Seite,  wie  für 
die  Betrachtung  eines  Bildes  die  Leinwand,  auf  der  es 
gemalt  ist.  Das  hier  Wesentliche  ist  aber,  dafs  jene  unper- 
sönlichen Selbstverständlichkeiten  keineswegs  in  derselben 
gleichmäfsigen  Weise  in  einer  für  sich  seienden  Ebene 
unterhalb  des  Wesentlichen  liegen,  wie  die  Leinwand  unter 
der  Farbenschicht.  Sondern  sie  kreuzen  dieses  Wesentliche 
fortwährend  nach  den  mannigfaltigsten  Richtungen,  in  den 
mannigfaltigsten  Proportionen  und  bilden  mit  ihm  eine 
lebendige  I^inheit;  so  <lafs  der  Zusammenhang  des  indi- 
viduellen Lebens,  den  wir  als  unsere  Geschichte  bezeichnen, 
eine  Isolierung  der  persönlich-differentiellen  Elemente  aus 
ihrem  organischen  Verwachsensein  mit  jenen  und  eine 
Verknüpfung  der  so  herausgehobenen  zu  einem  neuen  Ge- 
bilde fordert;  und  dieses  verhält  sich  also  zu  dem  tatsäch- 
lichen Lebenslaufe  prinzipiell  nicht  anders  wie  ein  geschicht- 
liches Drama  zu  seinem  realen  Gegenbild,  dessen  jahrelangen 
und  mit  tausend  Nebenströmungen  zusammenfliefsenden 
Verlauf  es  zu  drei  Theaterstunden  umformt.  Und  keines- 
wegs nur  durch  Zusammenpressen ,  wie  eine  kleine  Photo- 
graphie ein  grofses  Gemälde  reproduziert,  sondern  durch 
völliges  Fortlassen  von  Teilen,  ohne  die  die  zurückbehaltenen 
und  neu  zusammengeformten  in  der  Form  der  Wirklich- 

[  k  e  i  t    niemals    hätten    auftreten    und    sich    in    verständliche 

!  Zusammenhänge  einordnen  können. 

Diese  neue  Form,  in  der  sich  die  Lebenselemente  zu 
einem  theoretischen  Bilde  zusamraenschliefsen,  mufs  all  die 
vernachlässigten  oder  unbekannten  Energien ,  mit  Hilfe 
derer  die  Wirklichkeit  jene  in  Verbindung  setzt,  durch 
andere  Mittel  ersetzen.  Dahin  gehört  z.  B.  die  Verlegung 
der  Wichtigkeitsakzente.  Der  Augenblick  des  Erlebens 
leiht  den  einzelnen  Ereignissen  Bedeutungsgefühle,  die  die 
Kategorie  der  Betrachtung  oft  völlig  umlagert.  Und  zwar 
nicht   nur    aus  Verblendung,    nicht   nur,    weil    das    Gegen- 


—    43     — 

wärtige  als  solches  ein  Schwergewicht  weit  über  seine 
Sachbedeutung  hinaus  zu  besitzen  pflegt,  sondern  weil  für 
das  gelebte  Leben  gewisse  Dinge  von  einer  Wichtigkeit 
sind,  die  sie  für  das  Verständnis  des  Lebens  keineswegs 
besitzen.  Die  Gefühle,  mit  denen  ein  Ereignis  eine  lange 
Entwicklungsepoche  ausstattet,  gibt  diesem  oft  eine  Macht, 
von  der  der  eigentliche  Inhalt  dieser  Epoche  an  Gedanken- 
und  Willensbestrebungen  in  den  Schatten  tritt.  Suchen 
wir  dann  aber  diese  Epoche  als  Ganzes  zu  verstehen, 
so  offenbaren  sich  diese  letzteren  doch  als  die  eigentlich 
treibenden  Mächte,  sie  schliefslich  bilden  ihre  Substanz 
oder  zeichnen  ihre  Marschroute,  während  jene  Gefühle  nur 
die  F  0  r  m  ihres  Erlebens  hergaben  und  so  auf  dem  Stand- 
punkt des  letzteren  freilich  jenes  Ereignis,  auf  dem  Stand- 
punkt des  Begreifens,  der  Konstruktion  der  Lebenslinie, 
aber  jene  Sachgehalte  die  Orientierungspunkte  abgeben. 

Es  bedarf  nicht  der  Hervorhebunu-,  dafs  diese  Distanz  f 

'"'  .     .  .       .    i 

zwischen  dem  Erlebnis  und  seinem  Erkenntnisbilde  sich  in . 

bezug  auf  das  eigene  Ich  nur  deutlicher,  aber  prinzipiell 
nicht  anders  offenbart  als  an  jeder  historischen  Wirklichkeit. 
Das  Entscheidende  ist  das  Durchbrachen  des  erkenntnis- 
theoretischen Naturalismus,  der  die  Erkenntnis  zu  einem 
Spiegelbild  der  Wirklichkeit  machen  will,  und  die  Einsicht, 
dafs  jene  ein  ganz  neues,  eigenen  Gesetzen  folgendes,  nach 
besonderen  Kategorien  in  sich  geschlossenes  Gebilde  ist. 
Dessen  Sonderforra  wird  auch  keineswegs  dadurch  hin- 
reichend ausgedrückt,  dafs  keine  Wissenschaft  die  Kom- 
plexität und  qualitativ-intensive  Fülle  des  wirklichen  Da- 
seins hinreichend  ausdrücken  könnte.  Dieser  Gesichtspunkt  I 
der  Quantität,  der  schliefslich  auf  ein  blofses  Erlahmen  unserer  \ 
Blickschärfe  oder  unseres  Kraftmafses  zurückgeht,  über- 
windet den  Naturalismus  noch  nicht  im  Prinzip  und  ver- 
kennt, dafs  historische  W^issenschaft  selbst  dann  etwas 
anderes  als  die  Abspiegelung  des  Wirklichen  wäre,  wenn 
die  volle  Treue  derselben  technisch  erzielbar  wäre  —  wie 
ein  Porträt  seine  Eigenheit  an  Wesen  und  Wert  auch 
dann  noch  bewahren  würde,  wenn  die  farbige  Photographie 
die  Erscheinung  mit  absoluter  Treue  wiedergeben  könnte. 
Wollte  man  aber  das  in  sich  schon  ganz  Unzulängliche  zu- 
geben,   dafs   die  quantitative  Undarstellbarkeit  des  unüber- 


-     44     — 

sehlich  komplizierten  Daseins  der  Wissenschaft  ihre  spe- 
zifische Aufgabe  stelle,  so  würde  sich  schon  daraus  auch 
die  totale  Formänderung  ergeben,  die  sie  an  diesem 
Dasein  vollzieht.  Denn  die  Verdichtungspunkte,  Wichtig- 
keiten, charakteristischen  Züge  und  Augenblicke,  auf  die 
jene  Mannigfaltigkeit  sich  für  das  Erkennen  reduziert, 
müssen  nun  doch  zu  Einheiten  verbunden  werden:  zu 
einem  nachfühlbaren  Charakter,  zu  einem  kontinuierlichen 
Verlauf,  zu  einem  verständlichen  Zusammenhang,  zu  einem, 
von  seinem  Mittelpunkt  her  überschaubaren  Kreise  von 
Phänomenen.  Zwischen  den  Stücken  des  durch  Herausheben 
und  Weglassen  alterierten  Materials  spinnt  sich  die  Einheit 
durch  ganz  andere  Fäden  und  von  ganz  anderen  Kategorien 
aus,  als  die  unmittelbare  Wirklichkeit  sie  zeigt:  die 
Änderung  der  Quantität  erzeugt  schon  von  sich  aus  eine 
formale,  funktionelle.  Die  politische  Geschichte  eines 
Herrschers  etwa  erfafst  aus  der  Kontinuität  eines  reichen 
und  nach  allen  Seiten  hin  expansiven  Lebens  die  politisch- 
wichtigen Gedanken  und  Betätigungen  und  formt  daraus 
seinen  politischen  und  als  solchen  kontinuierlichen  Lebens- 
lauf. Schwerlich  ist  irgend  ein  Moment  desselben  in  der 
Isolierung  verlaufen,  die  diese  Konstruktion  fordert,  sondern 
in  steter  psychologischer  Verflechtung  mit  inneren  Er- 
eignissen anderer  Provenienz,  in  Abhängigkeit  von  all- 
gemeinen Dispositionen  des  Charakters  und  der  momentanen 
Stimmung;  ganz  verständlich  wären  sie  nur  aus  dem  Leben 
als  ganzem,  und  statt  dieses  Zusammenhanges,  der  keiner 
Wissenschaft  erfafsbar  ist,  erbaut  der  Historiker  einen 
neuen,  von  dem  Vereinheitlichungsbegrifi":  Politik  —  aus, 
der  vielleicht  in  dieser  Allgeraeinheit  und  abstrakten  Klar- 
heit niemals  in  das  Bewufstsein  des  Subjektes  getreten  ist. 
Schon  das  Gleichnis  ginge  zu  weit,  dafs  hiermit  aus  dem 
vielfältigen  Gewebe  des  Lebens  ein  einzelner  Faden  heraus- 
gelöst und  den  anderen  gegenüber,  in  die  die  Wirklichkeit 
ihn,  tragend  und  getragen,  verspinnt,  zu  einem  selbständigen 
Gewebe  verarbeitet  wird.  Denn  es  fehlt  die  Ununter- 
brochenheit, mit  der  die  Stücke  eines  Fadens  in  sich  zu- 
sammenhängen; vielmehr,  es  handelt  sich  um  Stücke  des 
Gewebes,  die  nur  gelegentlich  und  nur  teilweise  innerhalb 
des    Ganzen    mit    einander   verbunden   sind    und    erst    von 


—    45     — 

einem  Gesichtspunkt  aus ,  den  der  Betrachtende  als 
einen  alleinherrsehenden  und  Einheit  erzwingenden  herbei- 
bringt, eine  „Geschichte"  bilden. 

Ich  will  dies  mit  einer  Analogie  aus  dem  Gebiet  der 
Kunst  verdeutlichen,  die  keine  genaue  Parallelerscheinung, 
sondern  nur  ein  äufserstes  Extrem  bedeutet,  dem  sich  das 
Verhältnis  der  Geschichte  zur  Wirklichkeit  asymptotisch 
nähert.  Die  Malerei,  z.  B.  das  Porträt,  schafft  für  unsere 
Anschauung  eine  Einheitlichkeit,  Beziehung,  gegenseitige 
Interpretation  der  Elemente  der  äufseren  Erscheinung,  die 
mit  den  realen,  unterhalb  der  Oberfläche  der  letzteren 
wirkenden  Kräften  nichts  zu  tun  haben.  Gewifs  binden 
diese  physiologischen  und  anatomischen  Notwendigkeiten 
alle  Züge  in  ein  Zusammen  und  eine  Bedingtheit  des  einen 
durch  den  anderen*,  aber  für  die  Kunst  ist  davon  nicht 
die  Rede,  denn  s  i  e  hat  nur  die  Anschaulichkeiten  als  solche 
zu  deuten  und  allein  nach  Forderungen  des  künstlerischen 
Sehens  zu  einem  befriedigenden,  in  sich  geschlossenen  Bilde 
zu  entwickeln.  Ja,  um  die  Bedeutung  der  Erscheinung 
in  diesem  Sinne  eindringlich  zu  machen,  mufs  das  Kunst- 
werk oft  die  physisch  wirkliche,  also  durch  die  realen 
Kräfte  notwendige  Form  der  Züge  verschieben;  es  fängt 
die  Wirklichkeit  gleichsam  in  einem  jMedium  mit  ganz 
neuem  Brechungswinkel  auf  und  gestaltet  sie  hier  zu  einer 
Welt  eigener  Ordnung,  nach  Harmonien  und  Kategorien,  die 
nur  für  das  Verhältnis  der  Oberflächenelemente  und  aus  den 
Bedürfnissen  der  Anschauung  heraus  gelten,  unabhängig  von 
den  theoretischen  Vorstellungen,  die  das  Verhältnis  der  realen 
Substanzen,  der  Träger  jener  Oberflächen,  nachzeichnen. 
Weil  der  unmittelbare  Gegenstand  der  bildenden  Kunst 
ausschliefslich  die  Erscheinung  im  Sinne  des  Oberflächen- 
bildes ist,  halten  sich  die  Prinzipien,  nach  denen  sie  aus- 
wählt und  vereinheitlicht,  in  einer  derartigen  Entfernung- 
von  der  Totalität  des  realen  Seins  und  Geschehens  und 
geben  deshalb  der  individuellen  Subjektivität  einen  der- 
artigen Spielraum  der  Auswahl  und  Gestaltung,  wie  es  der 
Wissenschaft  nicht  zukommt.  Dennoch  ist  der  Unterschied 
nur  ein  gradueller.  Das  Bild,  das  die  politische,  die  Kunst- 
geschichte, die  Religionsgeschichte,  die  Wirtschaftsgeschichte 
zeichnen,  hat  zu  der  Gesamtheit  des  Geschehens,  in  dessen 


—     46     — 

lückenloser  Darstellung  allein  die  Gegenstände  jener  Ge- 
schichten so  erkannt  werden  könnten,  „wie  sie  wirklich 
waren"  —  zu  dieser  Gesamtheit  haben  sie  kein  prinzipiell 
anderes  Verhältnis  als  das  Porträt  oder  das  Landschaftsbild 
zu  der  vollen  Wirklichkeit  ihrer  Gegenstände.  Man  kann 
das  Einzelne  nicht  beschreiben,  wie  es  wirklich  war,  weil 
man  das  Ganze  nicht  beschreiben  kann.  Eine  Wissenschaft 
von  der  Totalität  des  Geschehens  ist  nicht  nur  wegen  ihrer 
nicht  zu  bewältigenden  Quantität  ausgeschlossen ,  sondern 
weil  es  ihr  an  einem  Gesichtspunkt  fehlen  würde,  den 
unser  Erkennen  braucht,  um  ein  Bild,  das  ihm  genüge,  zu 
formen,  an  einer  Kategorie,  unter  der  die  Elemente  zusammen- 
gehören und  die  bestimmte  derselben  mit  einer  bestimmten 
Forderung  ergreifen  muis.  Es  gibt  kein  Erkennen  über- 
haupt, sondern  immer  nur  eines,  das  durch  qualitativ  de- 
terminierte, also  unvermeidlich  einseitige  EinheitsbegrifFe 
geleitet  und  zusammengehalten  wird;  einem  schlechthin  all- 
gemeinen Erkenntniszweck  würde  die  spezifische  Kraft 
mangeln,  irgendwelche  Wirklichkeitselemente  zu  erfassen. 
Dies  ist  der  tiefere  Grund,  weshalb  es  nur  Spezialgeschichten 
gibt  und  alles,  was  sich  allgemeine  oder  Weltgeschichte 
nennt,  bestenfalls  eine  Mehrzahl  solcher  differentieller  Ge- 
sichtspunkte nebeneinander  wirken  läfst  oder  eine  Heraus- 
hebung des  nach  unseren  Wertgefühlen  Bedeutsamsten 
innerhalb  des  Geschehenen  darstellt.  Wenn  es  hin- 
reichend vorsichtig  verstanden  wird,  kann  man  sagen,  dafs 
jede  besondere  historische  Wissenschaft  einen  besonderen 
Wahrheitsbegriff  hat.  Ich  belege  dies,  indem  ich  an  der 
Gegenüberstellung  verschiedener  Paare  von  Geschichtswissen- 
schaften zeige,  wie  zugleich  mit  dem  sachlichen  Unter- 
schiede ihrer  Objekte  prinzipielle  Unterschiede  ihrer  Er- 
kenntnisideale gegeben  sind.  Aus  diesen  Verschiedenheiten 
der  Fragestellungen  und  also  der  Antworten,  die  die  ab- 
strakt-allgemeine Wahrheitsforderung  befriedigen,  läfst  sich 
folgern,  dafs  diese  Antworten  überhaupt  nicht  objektiv 
deckende  Abspiegelungen  der  Wirklichkeit  sind,  sondern 
Bilder,  die  durch  eine  Mannigfaltigkeit  apriorischer  Bedingt- 
heiten gestaltet  Averden.  Die  Geschichte  der  Philologie 
etwa  hat  eine  ganz  andere  Distanz  zu  ihrem  Objekt  wie 
die   Geschichte   der   Sitten.     Jene    kann    mit   dem    ihr   zur 


—     47     — 

Verfügung  stehenden  begrifflichen  Ausdruck  die  sachliche 
Wirklichkeit  ihres  ^Inhaltes  —  weil  er  eben  selbst  schon 
aus  Worten  und  Begriffen  besteht  —  viel  genauer  decken 
als  diese  es  vermag,  deren  Gegenstand"~eine~gerebte  Tat- 
sächlichkeit ist  und  nur  durch  eine  viel  weitherzigere 
Symbolik  in  einen  Erkenntniszusammenhang  aufnehmbar 
ist.  Indem  diese  nicht  weniger  behauptet,  „Wahrheit'"  zu 
geben,  als  jene,  Wahrheit  aber  in  diesem  empirischen  Sinne 
doch  ein  gewisses  Verhältnis  des  Vorstellens  zu  seinem 
Gegenstand  bedeutet  —  sind  ersichtlich  die  Kriterien  der 
Wahrheit,  und  nicht  nur  die  technischen,  in  beiden  Fällen 
ganz  verschieden,  die  Wahrheitsforderung  bedeutet  von 
vornherein  in  beiden  nicht  dasselbe.  Eine  ebenso  grolse  aber 
in  anderer  Richtung  laufende  Differenz  der  Erkenntnis- 
forderung trennt  z.  B.  die  Geschichte  der  Technik  von  der 
der  inneren  Politik.  Was  zu  jener  gehört,  bestimmt  ihr 
Begriff  so  ziemlich  unzweideutig;  sie  spielt  sich  an  der 
Greifbarkeit  materieller  Gestaltungen  ab  und  wird  dadurch 
in  sich  durch  eine  Grenzlinie  zusammengeschlossen,  die  sie 
von  den  übrigen  geschichtlichen  Lebensinhalten  in  der  wissen- 
schaftlichen Abstraktion  reinlich  zu  trennen  gestattet.  Wo 
aber  in  der  Verflechtung  des  öffentlichen  Lebens  die  innere 
Politik  beginnt  und  aufhört,  ist  durch  kein  annähernd  so 
sicheres  Kriterium  zu  bestimmen.  Die  Ausbildung  der 
Wirtschaft  wie  die  äufsere  Politik,  die  Kirchenverfassung 
wie  die  allgemeine  Bildungshöhe,  das  Temperament  führender 
Persönlichkeiten  wie  die  Stimmung  der  breiten  Massen  — 
alles  dies  und  tausend  anderes  bildet  das  Milieu,  mit  dem  die 
innere  Politik  unlöslich  verwächst,  so  dafs  sie,  zu  einer 
Sonderdarstellung  herausgelöst,  notwendig  gröfsere  oder 
kleinere  Stücke  jener  Fäden  und  Fasern  gleichsam  durch 
Adhäsion  mit  und  an  sich  trägt  —  Stücke,  die  in  ihr  keine 
volle  Entwicklung  verlangen  dürfen  und  die  so  das  von 
ihr  entworfene  Bild  nicht  zu  der  Geschlossenheit  kommen 
lassen ,  das  eine  Geschichte  der  Technik  besitzt :  ihre  ein- 
zelnen Momente  können  es  nicht  zu  der  Erklärung  bis  ins 
letzte,  nicht  zu  der  Totalität  der  tragenden  Faktoren  bringen, 
die  jene  erreicht.  Sie  ist  dennoch  nicht  schlechthin 
geringerwertig,  die  Forderung  ist  nur  von  vornherein  eine 
andere,  beide  fassen  die  Wirklichkeit  ihres  Objektes  in  ganz 


—     48     — 

verschiedene  Formen  des  geschichtlichen  Wissens,  von 
denen  doch  jede  bis  zu  einer  ihr  genügenden  „Wahrheit" 
gehingen  kann.  Ein  dritter  Typus  der  Differenz  historischer 
Erkenntnisse  ist  an  dem  Vergleich  der  Kunstgeschichte 
mit  der  Kirchengeschichte  darzulegen.  Das  Material  der 
xik  ^^ju*-',' .  ersteren  sind  Werke,  die  diskontinuierlich  nebeneinander 
^~*^.-x*->^^  stehen,  weil  jedes  eine  in  sich  geschlossene  Einheit  bildet. 
Die  Kunstgeschichte  aber  stellt  aus  ihnen  einen  zusammen- 
hängenden Verlauf  her,  als  ob  ein  organisches  Wachstum 
sie  aneinandersetzte  wie  die  Jahresringe  eines  Baumes; 
damit  besteht  zwischen  der  gegebenen  Form  des  Materials 
und  derjenigen,  die  es  als  historische  Erkenntnis  annimmt, 
ein  ganz  anderes  Verhältnis,  als  zwischen  der  Tatsächlich- 
keit des  religiösen  Gemeindelebens  und  seiner  Darstellung 
in  der  Form  der  Geschichte.  Denn  jenes  kirchliche  oder 
religiöse  Leben  ist  wirklich  eine  Kontinuität,  die  Taten 
einzelner  Genies  sind  nicht  nur  seltenste  Momente  dieses 
Lebens,  sondern  auch  soweit  sie  auftauchen,  besitzen  sie 
innerhalb  seiner  fast  nie  die  Liselhaftigkeit  von  Kunst- 
werken, sind  vielmehr  gleichsam  in  die  Einheit  der  Sub- 
stanz hineingezogen,  die  sich  in  der  Geschichte  der  Religion 
entwickelt.  Worauf  es  hier  ankommt,  ist  dieses:  eine  Ge- 
schichte der  Kunst  fordert,  um  geschaffen  oder  nachgedacht 
zu  werden ,  ein  viel  spontaneres  Funktionieren  der  sub- 
jektiven Synthesis  als  eine  Geschichte  der  Kirche,  in  der 
Einheit  des  Entwicklungsbildes,  das  in  der  einen  wie  in 
der  anderen  geboten  wird,  steckt  dort  ein  viel  gröfserer 
Anteil  der  schöpferischen  Konstruktion,  der  a  priori 
wirkenden  Kategorie,  als  hier;  die  Einheit  fordert  dort 
eine  fortwährende  Interpolation  der  eigentlich  verbindenden 
Entwicklungsbewegung  zwischen  den  isolierten  Material- 
stücken, während  sie  hier  an  dem  objektiven  Kontinuum, 
in  dem  schon  das  Material  lebt,  entlang  geht.  Und  dennoch 
haben  beide  geschichtliche  Wahrheit  im  objektiven  Sinne, 
obgleich  der  Erkenntnisprozefs  sich  in  beiden  in  völlig  ver- 
schiedenem —  nicht  graduell,  sondern  funktionell  ver- 
schiedenem —  Verhältnis  zwischen  der  synthetischen 
Formenergie  des  Subjekts  und  der  Gegebenheit  seines  Stoffes 
abspielt. 

Diese  Beispiele  werden  ausreichen,  um  den  Schlufs  zu 


—    49     — 

legitimieren:  dafs  die  historische  Wahrheit  durchaus  nicht 
als  eine  Abspiegelung  der  historischen  Wirklichkeit  gelten 
darf.  Wären  die  Kategorien ,  die  in  den  vorliegenden  Ge- 
schichtsbildern überhaupt  wirken,  immer  dieselben,  wäre  das 
Verhältnis  der  synthetischen  Funktionen  zu  ihrem  Materiale 
überall  das  gleiche,  so  wäre  ein  historischer  Realismus,  der 
eine  naive  Identität  der  Erkenntnis  und  ihres  Gegenstandes 
proklamierte,  nicht  im  gleichen  Grade  ausgeschlossen  — 
weil  jene  Kategorien  dann  ein  konstanter  Faktor  wären, 
den  man  eher  vernachlässigen  könnte,  und  weil  ihre 
durchgängige  Gültigkeit  sie  eher  als  ein  Gegenbild  der 
Einheit  der  objektiven  Wirklichkeit  erscheinen  liefse.  Die 
Verschiedenheit  der  Porträts  desselben  Modells  von  vielen 
Künstlern,  ihr  gegenseitiger  Abstand,  anhebend  von 
der  Wiedergabe  des  unmittelbarsten  Eindrucks  bis  zur 
gesteigertsten  Stilisierung,  von  der  Accentuierung  des 
seelischen  Ausdrucks  bis  zu  der  der  anschaulichen  Form  — 
während  doch  alle  gleichmäfsig  wertvolle  Kunstwerke  und 
gleichmäfsig  „ähnlich"  sein  können  —  diese  Verschieden- 
heiten der  individuellen  Auffassung  bei  gleichwertiger  Lösung 
des  objektiven  Problems  beweisen,  dafs  in  der  Lösung  des- 
selben der  subjektive  Faktor  der  bestimmende  ist;  und  so 
beweist  —  mutatis  mutandis  und  mit  der  Reserve,  die  die 
Wissenschaft  gegenüber  der  subjektiven  Freiheit  des  Künst- 
lers bewahrt  —  der  Spielraum  der  historischen  Ge- 
staltungsformen gegenüber  dem  realen  Geschehen,  dafs  über 
diese  Gestaltungen  unsere  a  priori  wirksamen  Kategorien 
entscheiden. 

Man  könnte,  was  hier  gemeint  ist,  durch  Einstellung 
in  einen  weiteren  Rahmen  erkenntnistheoretischer  Spekula- 
tion erläutern.  Ich  habe  hier  die  Form ,  die  ein  Stoff  an- 
nehmen mufs,  um  wissenschaftliche  Geschichte  zu  sein,  der 
unmittelbar  gelebten  Wirklichkeit  die  eben  dieser  Stoff  sei, 
gegenübergestellt.  Nun  aber  wäre  möglich,  auch  diese  als 
eine  Form  anzusehn,  in  die  ein  Geschehensinhalt  sich 
kleidet.  Vielleicht  nun  kann  dieser  letztere  für  sich  nie- 
mals in  ein  Bewufstsein  eingehen,  sondern  liegt  für  dieses 
im  Unendlichen,  so  dafs  die  Formen,  durch  und  in  die  wir 
ihn  fassen,  sich  ihm  nur  in  mannigfaltigen  Abständen  nähern. 
Diese    reine    Wirklichkeit    wäre    etwa    dem    reinen    Inhalt 

Simmel,  Geschichtsphilosophie.    2.  Aufl.  4 


—     50     — 

unserer  Begriffe  zu  vergleichen,  den  wir  uns  auch  als  etwas 
Ideelles  denken,  jenseits  seiner  psychologischen  wie  seiner 
äufseren  Realisierung  in  logischer  Gültigkeit  bestehend, 
während  auch  dieses  Denken  ihn  schon  in  die  psycho- 
logische Form  einführt  —  da  nun  einmal  die  menschliche 
Seele  die  logisch  nicht  recht  explizierbare  Fähigkeit  besitzt, 
den  Inhalt  ihrer  Vorstellungen,  das,  was  sie  mit  ihnen 
meint,  so  zu  denken,  als  dächte  sie  ihn  nicht,  als  wäre 
er  von  der  Form  des  Vorstellens  gelöst,  in  der  er  sich  doch 
eo  ipso  befindet.  Auch  das  „wirkliche  Erleben"  ist  eine 
apriorische  Kategorie,  in  das  unser  Vorstellen  einen  Inhalt 
ebenso  fafst,  wie  sie  ihn  ein  anderes  Mal  als  erkannten  oder 
gesollten  aufnimmt.  Die  Kategorien  der  Historik  wären 
dann  gleichsam  solche  zweiter  Potenz,  indem  sie  an  einem 
Material  erst  wirksam  werden  können,  nachdem  es  die 
Kategorie  des  Erlebens  passiert  hat  —  ungefähr  wie  ein 
und  derselbe  Inhalt  sich  uns  zunächst  in  sinnlicher  Form  dar- 
bieten mag,  um  erst  so  in  die  des  Verstandes  aufgenommen 
zu  werden. 

Mit  alle  dem  ist  nun  der  Gesichtspunkt  festgestellt, 
von  dem  aus  jene  psychologischen  Voraussetzungen  der 
Historik  sich  in  die  allgemeine  erkenntniskritische  Analyse 
derselben  einordnen.  Gegenüber  dem  gewöhnlichen  Hin- 
nehmen der  Geschichte  als  eine  Reproduktion  dessen,  was 
—  äufserlich  und  innerlich  —  wirklich  war,  steigert  diese 
Darlegung  sowohl  ihre  Annäherung  wie  ihren  Abstand 
gegenüber  dem  Objekt.  Sie  verlangt  einerseits  ein  durch 
das  gegebene  Material  provoziertes  und  durch  irgend  eine 
Art  von  Gleichheit  psychologisch  ermöglichtes  Nachbilden 
der  seelischen  Akte  der  historischen  Personen  —  ohne 
welches  auch  ihre  äufserlichen  Akte  ein  unverständliches 
Hin  und  Her  räumlicher  Substanzen  wären.  Aber  mit  der 
einfachen  Inhaltsgleichheit  des  seelischen  Vorbilds  und  Ab- 
bilds ist  es  nicht  getan ,  es  bedarf  vielmehr  der  Aufnahme 
des  letzteren  in  die  besondere  Kategorie  des  Historischen, 
die  sich  als  Projizierung  jenes  Inhaltes  in  eine  einmalige, 
nach  ihrer  Stelle  in  Raum,  Zeit  und  Umständen  indivi- 
dualisierte Persönlichkeit  darstellt.  Und  damit  ordnet  sich 
diese  psychologische  Voraussetzung  der  Historik  in  die  all- 
gemeine Erkenntnis  ein,  dafs  diese  letztere  überhaupt  keine 


—     51     — 

Kopie  der  Ereignisse  „wie  sie  wirklieh  waren"  sein  kann, 
sondern  —  trotzdem  in  ihr,  zum  Unterschiede  gegen  die 
Naturwissenschaft,  Geist  zum  Geiste  spricht  —  eine 
Umgestaltung  der  gelebten  Wirklichkeit,  abhängig  von  den 
konstruktiven  Zwecken  des  Erkennens  und  von  den  aprio- 
rischen Kategorien,  die  diese  Erkenntnisart  nicht  weniger 
als  die  naturwissenschaftliche  ihrer  Form,  d,  h.  ihrem  Wesen 
nach  zu  einem  Produkte  unserer  synthetischen  Energien 
machen.  Erst  durch  jene  psychologischen  Überlegungen 
vollendet  sich  die  Abweisung  des  historischen  Realismus, 
weil  erst  sie  zeigen,  dafs  auch  an  dem  Punkte,  wo  die 
völligste  Kongruenz  zwischen  Erkennen  und  Erkanntem 
gegeben,  ja,  durch  unsere  Xachbildungsforderung  selbst- 
verständlich zu  werden  schien  —  dafs  auch  an  ihm  erst  die 
Weiterbildung  über  die  einfache  Identität  hinaus  das 
historische  Erkennen  erzeugt. 

Als  Problem  der  Philosophie  der  Geschichte,  soweit  sie 
Erkenntnistheorie  ist,  erscheint  demnach,  die  Aprioritäten 
festzustellen  und  zu  erörtern,  durch  welche  aus  dem  Er- 
leben, dem  ursprünglichen  und  dem  nachgebildeten,  Ge- 
schichte als  Wissenschaft  wird.  Dies  ist  keineswegs  eine 
einfache  Methodologie  der  Geschichte,  sondern  wesentlich 
eine  Untersuchung,  wieso  ihre  einzelnen  technischen  Ver- 
fahrungsweisen  dem  Gesamterkenntniszweck  dienen,  welche 
Begriffe  logisch  und  psychologisch  schon  vorausgesetzt 
werden  müssen,  damit  es  zu  den  Methoden  der  vorliegenden 
Historik  käme.  Von  diesem  Aufgabenkomplex  verfolge  ich 
nur  noch  diejenige  weiter,  die  uns  zu  der  zuletzt  erreichten, 
ganz  allgemeinen  Erkenntnis  geführt  hat,  die  innere  Nach- 
bildung des  seelischen  Geschehens  als  Interpretation  der 
geschichtlichen  Wahrnehmbarkeiten. 

Wenn  Ranke  den  Wunsch  ausspricht,  er  möchte  sein 
Selbst  auslöschen,  um  die  Dinge  zu  sehen,  wie  sie  an  sich 
gewesen  sind,  so  würde  die  Erfüllung  dieses  Wunsches 
gerade  seinen  vorgestellten  Erfolg  aufheben.  Nach  aus- 
gelöschtem Ich  würde  nichts  übrig  bleiben,  wodurch  man 
die  Nicht-Ichs  begreifen  könnte,  und  zwar  keineswegs  nur, 
weil  das  Ich  der  Träger  jedes  Vorstellens  überhaupt  ist  — 
wohin    auch    Ranke     seine    Aufserung     beschränkt     hatte. 

Sondern  weil  auch  die  besonderen,    nur  durch  persönliches 

4* 


—     52    — 

Erleben  erreichbaren,  von  dem  individuell  differenzierten 
Ich  garnicht  trennbaren  Inhalte  der  unentbehrliche  Stoff 
für  jedes  Verständnis  Anderer  sind.  Sie  können  überhaupt 
nur  als  subjektives  Geschehen  auftreten,  wenngleich  sie 
innerhalb  dieses  Charakters  dann  jene  eigenartige,  über- 
persönliche Notwendigkeit  ihrer  Inhaltsverknüpfungen  er- 
werben. Man  mag  diese  Bedingtheit  durch  die  Subjektivität 
eine  Unvollkommenheit  des  historischen  Erkennens  nennen ; 
dann  gehört  sie  aber  zu  denjenigen,  mit  deren  Wegfall 
auch  der  Ertrag  überhaupt  wegfallen  würde,  den  man  durch 
die  Beseitigung  dieses  Abzuges  zu  erhöhen,  dachte.  Das 
klassische  Gleichnis  für  diesen  Typus  hat  Kant  geprägt: 
wo  er  von  der  Taube  spricht,  die  den  hemmenden  Druck 
der  Luft  fühlt  und  dadurch  auf  den  Gedanken  kommen 
könnte,  dafs  sie  im  luftleeren  Raum  viel  besser  fliegen 
würde.  Was  das  Erkennen  hemmt,  die  Subjektivität  des 
Nacherlebens,  ist  doch  die  Bedingung,  unter  der  dies  allein 
eintreten  kann,  und  was  es  fördert:  die  relative  Herab- 
setzung dieser  Subjektivität  als  solcher,  würde,  bis  zu 
absolutem  Grade  gelangt,  das  historische  Erkennen  über- 
haupt aufheben. 

Der  tiefere  Grund  dafür  liegt  darin,  dafs  die  formale 
Tatsache  der  Individualität,  wie  sie  an  der  historischen 
Persönlichkeit  vorliegt,  auch  an  der  historisch  erkennenden 
wirksam  werden  mufs,  damit  jene  von  ihr  rekonstruiert 
und  begriffen  werde.  Was  wir  Individualität  nennen,  ist 
doch  eine  besondere  Art,  in  der  die  ihrem  Inhalte  nach 
angebbaren  Vorstellungen  in  einem  ßewufstsein  vereinigt 
sind,  eine  Form  ihres  Zusammen,  die  bei  inhaltlich  äufserst 
verschiedenen  Vorstellungskomplexen  die  völlig  gleiche  sein 
kann  —  d.  h.  die  gleiche  nicht  nur  ihrem  allgemeinen  Be- 
griff, sondern  ihrem  Grade  nach.  Ob  die  Gleichheit  der 
charakteristisch-persönlichen  Färbung  alle  Seeleninhalte  er- 
greift oder  einem  erheblichen  Teil  derselben  fehlt,  so  dafs 
man  sie  sich  ebenso  gut  an  beliebig  anderen  Subjekten 
denken  kann ;  ob  Tempo  und  Rhythmik  ihres  Ablaufes 
sich  in  ihren  mannigfaltigen  Reihen  ei'kennbar  wiederholt 
oder  nicht;  mit  welcher  Energie  das  innere  Leben  an  einen 
Einheitspunkt  gesammelt  ist  und  ob  dieser  in  stärkerem 
oder   schwächerem   Sich-Abheben   gegen   jede   andere   Per- 


—    53    — 

sönliclikeit  empfunden  wird  —  dies  alles  bedeutet  Grade 
der  Individualität,  deren  Gleichheit  oder  Verschiedenheit 
bei  irgend  welchen  Persönlichkeiten  von  ihren  sonstigen 
Gleichheiten  oder  Verschiedenheiten  sehr  unabhängig  ist. 
Es  scheint  aber,  als  ob  gerade  die  Ähnlichkeit  dieses  In- 
dividualitätsmafses  eine  der  notwendigen  Vermittelungen 
wäre,  durch  die  der  Historiker  zum  NachschafFen  von  Per- 
sönlichkeiten gelangte.  Ein  Maler,  der  eine  aufserordentlich 
grofse  historische  Kenntnis  seiner  Kunst  besitzt,  hat  gesagt: 
nur  solchen  Künstlern,  die,  vom  Standpunkt  des  malerischen 
Könnens,  starke  Individualitäten  seien,  eine  ganz  persön- 
liche Technik  besäfsen,  seien  sehr  individuelle  Porträts  ge- 
lungen. Und  so  scheinen  auch  nur  diejenigen  Historiker, 
die  selbst  eine  stark  ausgeprägte  geistige  Eigenart  haben, 
geschichtliclie  Individualitäten  in  ihrem  Grunde  ergreifen 
und  darstellen  zu  können.  Danach  würde  das  Auslöschen 
nicht  nur  des  Ich,  sondern  sogar  seiner  gesteigerten  und 
intensiven  Form,  der  Individualität,  gerade  die  Möglichkeit 
des  historischen  Erkennens  zerstören,  der  man  mit  ihrer 
Zerstörung  zu  dienen  meinte.  Hier  zeigt  sich  eben  doch 
die  Eigenart  des  Gegenstandes  der  Historik  in  ihrem  Unter- 
schied gegen  alle  Wissenschaften,  die  ihr  Ideal  in  der 
Mathematik  haben.  Nicht  dafs  dieser  Gegenstand  Geist 
überhaupt  ist,  genügt  der  Tiefe  des  Problems,  sondern  dafs 
er  Individualität  ist,  und  diese  nicht  logisch  berechnet, 
sondern  nur  psychologisch,  und  zwar  durch  eine  andere 
Individualität,  aufgefafst  werden  kann.  Diese  in  be- 
stimmtem Sinne  unvermeidlich  subjektive  Auffassung  wird 
dann  freilich  von  den  Forderungen  der  methodischen  Normen 
aufgenommen  und  geformt ,  um  das  wissenschaftliche  Bild 
zu  ergeben.  Aber  diese  Normen  selbst,  ohne  die  es  zu 
keiner  übersubjektiv  anzuerkennenden  Erkenntnis  käme, 
verhalten  sich  gegen  jene  besondere  Bedingtheit  ihres  Stoffes 
nicht  gleichgültig,  sondern  konzedieren  dem  Gesamtergebnis 
eine  variablere,  dehnbarere,  weniger  abschliefsende  Art  von 
Objektivität,  als  die  Naturwissenschaften  sie  fordern.  Die 
Unterschiede ,  die  sich  nicht  nur  in  der  historischen  Dar- 
stellung, sondern  auch  in  der  Feststellung  etwa  des  Lebens- 
laufes von  Cäsar  oder  Gregor  VII.  oder  Mirabeau  heraus- 
stellen müssen,  je  nachdem  eine  grofs  angelegte  oder  eine 


-     54     — 

beschränkte  Natur  —  bei  gleicher  logischer  Intelb'genz  — ^ 
ob  eine  mehr  rationaUstische  oder  mehr  impulsive  ihr 
Historiker  wird,  liegen  auf  der  Hand;  und  ebenso  diejenigen^ 
die  aus  dem  Erfahrungskreise  des  Historikers  stammen:  ob 
er  in  engen,  kleinbiii-gerlichen  Verhältnissen  oder  im  grofsen 
Weltverkehr,  ob  in  einem  politisch  gebundenen  oder  freien 
Gemeinwesen  seine  Lebensanschauungen  gesammelt  hat. 
Und  doch  wird  das  eine  wie  das  andere  als  wissenschaft- 
liche Erkenntnis  akzeptiert  werden  können.  Denn  wenn 
auch  subjektive  Färbungen  und  Vorurteile  im  einzelnen 
stets  korrigierbar  sein  mögen,  so  korrigiert  man  schliefslich 
die  unvollkommnere  Auffassung  doch  nur  durch  eine  voll- 
kommnere  Auffassung  und  statuiert  damit  einen  Unter- 
schied der  Erkenntnis,  der  sich  von  dem  zwischen  einem 
falsch  und  einem  richtig  gerechneten  Exempel  generell  ab- 
hebt. Die  Objektivität  des  Erkennens  schliefst  hier  jene 
subjektive  Mannigfaltigkeit  ein,  erhebt  sich  auf  ihrer  Grund- 
lage und  kann  sie  deshalb  aus  dem  Resultat  nicht  schlecht- 
hin ausscheiden ,  sondern  sie  nur  nach  methodischen  und 
sachlichen  Kategorien  kritisieren  und  formen. 

Das  Mitfühlen  mit  den  Motiven  der  Personen,  mit  dem 
Ganzen  und  Einzelnen  ihres  Wesens,  von  dem  doch  nur 
fragmentarische  Aufserungen  überliefert  sind ;  das  Sich- 
hineinversetzen in  die  ganze  Mannigfaltigkeit  eines  ungeheuren 
Systems  von  Kräften,  deren  jede  einzelne  nur  verstanden 
wird,  indem  man  sie  in  sich  von  neuem  erzeugt  —  das  ist 
der  eigentliche  Sinn  der  Forderung,  dafs  der  Historiker 
Künstler  sei  und  sein  müsse.  Die  gewöhnliche  Auffassung^ 
als  trete  diese  Forderung  erst  nach  abgeschlossener  Tat- 
sachenforschung und  nur  mit  Rücksicht  auf  die  Dar- 
stellung für  den  Leser  in  ihre  Rechte,  ist  durchaus 
irrig;  denn  in  diesem  Sinne  tritt  die  Forderung,  ein  Kunst- 
werk zu  sein,  überhaupt  an  jede  geistige  Schöpfung  heran. 
Hier  aber  gilt  sie  nicht  nur  der  Form,  in  der  die  Erkenntnis 
sich  darbietet,  sondern  schon  dem  Inhalte  dieser  selbst. 
Und  ihre  Bedeutung  stammt  jetzt  daher,  dafs  doch  auch  die 
Kunst  ihr  tiefstes  Wesen  erfüllt,  indem  sie  die  Zufälligkeit  des 
eigenen  Erlebens  in  ein  allgemeingültiges  Geschehen  wandelt, 
oder  richtiger,  indem  innerhalb  ihrer  das  Persönliche 
unmittelbar   als    ein    allgemeingültiges    erlebt    Avird.     Diese 


Allgemeinheit  aber  hat  ain  Kunstwerk  keineswegs,  wie  es 
oft  mifsverstcändlich  aufgefafst  wird ,  objektive  Bedeutung, 
der  dargestellte  Gegenstand  ist  keineswegs  das  Gegenbild 
des  logischen  AllgemeinbegrifFs,  der  Typus,  der  eine  Viel- 
heit von  Erscheinungen  durch  Darstellung  des  ihnen  Ge- 
meinsamen vertritt.  Sie  gilt  vielmehr  nur  für  die  Subjekte 
und  bedeutet,  dafs  prinzipiell  jedem  beliebigen  Geniefsenden 
der  Sinn  und  Wert  des  Kunstwerks  irgendwie  zugängig  sei; 
es  enthält  implicite  nicht  die  Einheit  vieler  Dinge,  sondern 
vieler  Seelen,  indem  es  die  Punkte  in  ihnen  lebendig  macht, 
an  denen  sie,  bei  aller  ihrer  sonstigen  Verschiedenheit, 
eine  der  Hauptsache  nach  gleichartige  Reaktion  zu  leisten 
vermögen.  Und  dies  eben  ist  die  Eigenschaft  des  von  der 
Historik  bearbeiteten  Persönlichkeitsbildes:  dafs  das  objektiv 
völlig  Individuelle  so  gestaltet  sei,  um  subjektiv  allgemein  nach- 
bildbar, verständlich  zu  sein.  Dem  Individuellen,  ja  völlig 
Einzigartigen  diese  Art  von  Allgemeinheit  zu  verleihen,  ist 
das  künstlerische  Geheimnis  des  Historikers,  in  dem  sich 
das  Unlernbare  an  seiner  Wissenschaft  am  entschiedensten 
offenbart.  —  Schon  indem  der  Historiker  die  Tatsachen  so 
deutet,  formt,  anordnet,  dafs  sie  das  zusammenhängende 
Bild  eines  psychologischen  Verlaufs  ergeben,  nähert  sich 
seine  Tätigkeit  der  dichterischen ,  ohne  durch  die  Freiheit, 
die  diese  in  der  Gestaltung  des  Erzählten  hat,  anders  als 
graduell  von  ihr  unterschieden  zu  sein.  Denn  nachdem  der 
Dichter  einmal  sich  für  einen  bestimmten  Charakter  ent- 
schieden hat,  nachdem  einmal  die  Verhältnisse  seine  Per- 
sonen in  eine  bestimmte  Richtung  getrieben  haben,  ist  auch 
er  nicht  mehr  frei,  sondern  alles,  was  er  geschehen  läfst, 
hat  nur  eine  begrenzte  Latitüde  der  Abweichung  von  der 
psychologischen  Durchschnittserfahrung  über  solche  Menschen 
und  Ereignisse.  Findet  der  dichterische  Prozefs,  der,  von  der 
freien  Erfindung  ausgehend,  die  weitere  Gestaltung  derselben 
zum  schliefslichen  Kunstwerk  an  die  bekannten  Gesetze  des 
Geschehens  anschliefsen  mufs,  unter  dem  Motto  statt:  „Das 
Erste  steht  uns  frei,  beim  Zweiten  sind  wir  Knechte"  — 
so  kehrt  die  Historik  dies  nur  um.  Beim  ersten ,  bei  dem 
tatsächlichen  Material,  an  dem  ihre  Arbeit  beginnt,  ist  sie 
gebunden ,  in  der  Formung  desselben  zu  dem  Ganzen  des 
historischen  Verlaufs  ist  sie  frei,    d.  h.  der  Funktionierung 


—    56    — 

subjektiver  Kategorien  und  dem  Gestalten  in  der  Seele  des 
Historikers  überlassen.  W  an  Schopenhauer  für  das  Wesen 
der  ästhetischen  Tätigkeit  erklärt:  dafs  der  Intellekt  die 
Befangenheit  im  eigenen  Ich  aufgibt,  um  völlig  in  dem  Ob- 
jekte aufzugehen,  von  dem  ihn  nun  keine  Wesenszweiheit 
mehr  trennt,  sondern  das  sich  restlos  in  ihm  spiegelt,  so 
dafs  er  in  diesem  Augenblick  garnichts  anderes  ist,  als  eben 
dieses  Objekt  —  das  ist  tatsächlich,  von  der  metaphysischen 
Einkleidung  abgesehen,  auch  das  Entscheidende  für  den 
Historiker,  ja  für  jeden,  der  irgendwie  historische  Erkenntnis 
gewinnt.  Denn  jedes  Nachbilden  und  jedes  Verstehen 
eines  psychologischen  Objektes  bedeutet,  dafs  der  Ver- 
stehende eben  den  seelischen  Vorgang  in  sich  zum  Ablauf 
bringt,  in  dessen  Erkenntnis  er  sich  versenkt  und  der  er  — 
insofern  das  Ich  in  dem  jeweiligen  Vorstellen  besteht  —  in 
diesem  Augenblicke  wirklich  ist;  wobei  immer  der  Vor- 
behalt bleibt,  dafs  die  fragliche  Identität  nicht  ein  mechanischer 
Abklatsch  des  primären  Geschehnisses  ist,  sondern  ein  Teil- 
haben an  jenem,  in  die  Verständlichkeit  übertragenen  In- 
halte oder  Sinne  desselben.  Der  künstlerisch  Schaffende  — 
der  nur  die  Steigerung  des  ästhetisch  Betrachtenden,  gleich- 
sam dessen  Hineinwachsen  in  die  Form  der  Produktivität 
ist  —  versenkt  sich  nicht  in  die  Realität  seines  Objekts  — 
das  tut  der  Former  einer  Wachsfigur  —  sondern  in  das, 
was  man  die  „Idee"  des  Objekts  zu  nennen  pflegt,  in  den 
Inhalt  desselben,  wie  er  in  der  Form  des  Geistes  lebt. 
Hierin  liegt  seine  Verwandtschaft  mit  dem  historisch  Er- 
kennenden ,  der  nicht  die  trübe  Wirkliciikeit  des  seelisch 
Geschehenen  in  sich  noch  einmal  geschehen  läfst,  sondern 
mit  diesem  nur  teilt,  was  es  allgemein -verständlich  bedeutet, 
ungefähr  wie  bei  Plato  die  Idee  mit  dem  realen  Einzelding 
den  wissenschaftlich  ausdrückbaren  Inhalt  teilt. 

Aus  den  hiermit  umschriebenen  Aufgaben  einer  Philo- 
sophie der  Historik,  die  um  eine  von  sachlich-methodischen 
Normen  umfafste,  in  deren  Teleologie  eingeordnete  Psycho- 
logie zentrieren,  V(!rfolge  ich  anhangsweise  ein  Zentral- 
problera  noch  einige  Stufen  weiter.  —  Die  Nachbildung  der 
Innenseite  des  Geschehens,  alles  historische  Verstehen  be- 
dingend, findet  in  den  bisher  besprochenen  Modifikationen, 
die    die    naturalistische    Wiederholung    zu    einem    vom  Er- 


—     o^      — 

kenntniszweck  aus  geformten  Bilde  stilisieren,  nicht  ihre 
einzige  Komplikation,  Vielmehr,  abgesehen  von  aller 
Weiterentwicklung  des  unmittelbaren  psychologischen  Ma- 
terials, birgt  dieses  selbst  die  schwer  verständliche  Tat- 
sache, dafs  uns  jene  Nachbildung  auch  an  Inhalten  gelingt, 
die  niemals  in  das  eigene  psychische  Erleben  getreten  sind, 
dafs  wir  auf  die  geeigneten,  aber  immerhin  doch  nur 
äufseren  Anregungen  hin  uns  in  die  Seelen  von  Personen  ver- 
setzen, die  mit  der  unsrigen  keinerlei  Erfahrungen,  keinerlei 
Stimmungen,  keinerlei  Impulse  teilen.  Was  ich  oben  be- 
hauptete: wer  nie  geliebt  hat,  würde  nie  den  Liebenden 
verstehen,  der  Feigling  nie  den  Helden  usw.  —  gilt  keines- 
wegs unbedingt,  sondern  nur  innerhalb  von  Grenzen,  über 
die  es  dort  noch  nicht  hinwegzusehen  galt.  Gewifs  wird 
das  Verständnis  Anderer  versagen,  wo  es  einen  gar  zu 
weiten  Abstand  von  den  subjektiven,  inneren  Erfahrungen 
des  Erkennenden  fordern  würde;  und  darum  ist  ein  ge- 
wisser Skeptizismus  gegenüber  unserem  „Verstehen"  schon 
etwa  des  altgriechischen  Lebens  und  seiner  Aufserungen 
oder  der  mittelalterlichen  Frömmigkeit,  andrerseits  der 
Naturvölker  oder  gar  der  Tierseele  durchaus  am  Platze. 
Und  dennoch  sind  wir  überzeugt,  dafs  man  kein  Cäsar  zu 
sein  braucht,  um  Cäsar  wirklich  zu  verstehen,  und  kein 
zweiter  Luther,  um  Luther  zu  begreifen.  Die  Grenze,  an 
der  unser  Verständnis  von  Personen  versagt  oder  zweifel- 
haft wird,  liegt  also  keineswegs  da,  wo  die  Deckung  unseres 
persönlich  gelebten  Denkens,  Erfahrens,  Fühlens  mit  dem 
der  historischen  Persönlichkeit  endet,  sondern  reicht,  wenn 
auch  nicht  unbegrenzt,  so  doch  jedenfalls  ein  Stück  weit 
über  diese  Deckungslinie  hinaus.  Woher  nun  stammt  dieses 
Zwischengebiet,  in  dem  eine  Reproduktion,  das  heifst  doch, 
eine  Produktion  von  Vorstellungen  Anderer  stattfindet,  ohne 
dafs  irgend  ein  eigenes  Erfahren,  eine  analoge  Seelenhaftig- 
keit  sie  vorgezeichnet  hätten?  Es  ist  sehr  billig,  dies  für 
blofse  Umformung  realer  Erfahrungen  zu  erklären.  Denn 
die  Grenze  zwischen  Materie  und  Form  ist  in  dieser  Hin- 
sicht eine  willkürliche  und  bedeutet  mehr  eine  nachträg- 
liche Namengebung  für  einen  vorgefundenen  Unterschied 
der  Erkenntnis ,  als  die  Möglichkeit ,  von  sich  aus  diesen 
Unterschied   zu   zeichnen   —   ganz    abgesehen    davon,    dafs 


—     58    — 

die  spontane  Bildung  der  Form  uns  kein  geringeres  Rätsel 
aufgeben  würde,  wie  die  eines  Stoffes;  und  dann  würde 
noch  die  Frage  bleiben,  weshalb  die  eine  Form,  in  die  wir 
von  innen  heraus  den  anderweitig  gegebenen  Erfahrungs- 
inhalt bringen,  eben  jene  subjektive  Sicherheit  ihrer  Möglich- 
keit und  Wirklichkeit  besitzt,  während  andere,  die  unserer 
Phantasie  ebenso  möglich  sind  und  der  Bestätigung  aus 
der  eigenen  Erfahrung  nicht  mehr  entbehren  wie  jene,  ein 
solches  Gefühl  nicht  mit  sich  bringen.  Die  auffälligste  und 
unausrechenbarste  Begabung  nach  dieser  Seite  pflegt  man 
als  Genialität  zu  bezeichnen:  der  Genius  scheint  Erkennt- 
nisse aus  sich  selber  zu  schöpfen,  die  der  nicht-geniale 
Mensch  nur  aus  der  Erfahrung  gewinnen  kann.  Auf  die 
leisesten  Anregungen  hin  stellt  sich  ihm  ein  innerlich  zu- 
sammenhängendes, überzeugendes  Bild  geistiger  Vorgänge 
dar,  Verknüpfungen  der  Gedanken  und  Leidenschaften  ge- 
schichtlicher Personen,  für  deren  Sinnesweise  es  längst 
keine  Beispiele  mehr  gibt;  seine  Phantasie,  das  Entlegenste 
zusammenbringend,  das  Wunderlichste  deutend,  verfügt 
dabei  über  ein  Material,  das  ihm  seine  Erfahrung  nicht  zur 
Verfügung  gestellt  haben  kann.  Mit  der  völligen  Uner- 
klärtheit dieser  psychologisch-historischen  Genialität  sich  zu 
begnügen,  ist  deshalb  besonders  mifslich,  weil  die  Frage 
sich  nicht  nur  gegen  die  paar  höchsten  Genies  richtet, 
sondern  zwischen  diesen  und  den  Alltagsmenschen  unzählige 
vermittelnde  Erscheinungen  stehen,  ja  die  letzteren  selbst 
oft  genug  gelegentliche  Ansätze  zu  der  scheinbar  über- 
empirischen genialen  Nachbildung  ihnen  sonst  fremder 
Seelenvorgänge  zeigen.  Dies  liegt  um  so  näher,  als  der 
historische  Genius  doch  seine  Intuitionen  auch  seinerseits 
nur  in  Worten  niederlegen  kann,  die  die  psychischen  Pro- 
zesse, auf  die  es  ankommt,  bei  anderen  nur  anregen  und 
erleichtern  können,  den  Vollzug  derselben  aber  schliefslich 
ihnen  überlassen  müssen. 

Mit  dem  vollen  Bewufstsein ,  zu  einem  aus  den  be- 
rechtigtsten Gründen  verpönten  Mittel  zu  greifen ,  möchte 
ich  dieses  Verständnis  über  alles  Selbsterlebte  hinaus  als 
das  Bewufstwerden  latenter  Vererbungen  deuten.  Die 
früheren  Generationen  haben  die  organischen  Modifikationen, 
die  mit  ihren  Seelenvorgängen  in  unaufgeklärter  Weise  ver- 


—     59    — 

blinden  waren,  auf  die  späteren  in  irgend  einer  Form  ver- 
erbt; die  unermefsliche  Fülle,  Kleinheit  und  Gegensätzlich- 
keit der  einzelnen  Teile  dieser  Erbschaft  lassen  sie  aber 
im  allgemeinen  nicht  zum  klaren  Bewufstsein  kommen. 
Genie  nennen  wir  nun  einen  Menschen,  in  dem  dieses  Mit- 
gegebene so  günstig  angeordnet  ist,  dafs  seine  Reproduktion 
leicht,  auf  minimale  Anregungen  hin,  und  zu  klarem  Be- 
wufstsein hinreichend  stattfindet.  Psychische  Prozesse,  die 
seiner  individuellen  Erfahrung  ganz  fern  liegen ,  vollziehen 
sich  in  ihm,  weil  sie  als  Gattungserinnerungen  in  seinem 
Organismus  abgelagert  sind  und  zwar  ausnahmsweise  der- 
art, dafs  die  unzähligen  Gegenstrebungen  und  Verdunk- 
lungen, die  aus  der  gleichen  Quelle  fliefsen,  sie  doch  nicht 
vom  Bewufstsein  ausschliefsen.  Daraus  verstehen  wir  denn 
auch  die  gelegentlichen  Genieblitze  sonst  ungenialer  Per- 
sonen und  die  allgemeine  Möglichkeit  solcher,  dem  vom 
Genius  eröffneten  Verständnis  zu  folgen,  wenn  den  auch  in 
ihnen  vorhandenen  Vererbungen  durch  deutliches  Aus- 
sprechen und  Anregen  verwandter  Gruppen  psychologische 
Hilfen  zum  Emporsteigen  in  das  Bewufstsein  gewährt 
werden.  Hier  wäre  also  in  Wirklichkeit  das  Lernen  nur 
ein  Wiedererinnern.  Wenn  wir  längst  entschwundene 
Menschen  mit  der  ganzen  Fülle  ihrer  innerlichsten  Triebe 
in  uns  nachbilden,  wenn  uns  aus  der  fragmentarischen  Über- 
lieferung ihr  Charakter  entgegenblickt,  der  sich  unter  völlig 
fremden,  nie  von  uns  angeschauten  Verhältnissen  gebildet 
hat,  so  ist  es  offenbar  vergebens,  diese  Fähigkeit  aus  den 
Erfahrungen  des  individuellen  Lebens  erklären  zu  wollen, 
ebenso  wie  man  die  Zweckmäfsigkeit  instinktiver  Bewegungen 
oder  Richtung  und  Richtigkeit  sittlicher  Impulse  nicht  aus 
dieser  Quelle  herleiten  kann.  Wie  aber  unser  Körper  die 
Errungenschaften  vieltausendjähriger  Entwicklung  in  sich 
schliefst  und  in  den  rudimentären  Organen  noch  unmittelbar 
die  Spuren  früherer  Epochen  bewahrt,  so  enthält  unser 
Geist  die  Resultate  und  die  Spuren  vergangener  psychischer 
Prozesse  von  den  verschiedenen  Stufen  der  Gattungs- 
entwicklung her;  nur  dafs  die  Rudimente,  die  psychischen 
Wert  haben,  gelegentlich  noch  zweckmäfsig  funktionieren. 
Das  ganze  Mafs  unseres  Verständnisses  auch  für  solche  Mit- 
lebende, die  von  unserer  eigenen  Sinnesart  sehr  abweichen^ 


—     60     — 

mag  daher  kommen,  dafs  unsere  Erbschaft  von  der  Gattung 
aufser  unserem  wesentlichen  Charakter  doch  noch  Spuren 
anderer  Ahnencharaktere  enthält  und  uns  so  das  Ver- 
stehen —  d.  h.  das  Vollziehen  der  gleichen  psychischen 
Prozesse  wie  jene  —  ermöglicht^).  Auch  die  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Personen  bieten  uns  nur  äufserliche  Erscheinungen, 
nicht  einmal  vollständige,  und  auf  die  unmittelbare  Empirie 
hin  angesehen,  ist  jeder  andere  Mensch  für  uns  ein  Automat, 
jedes  seiner  Worte  ein  blofser  Schall,  in  den  wir  eine  Seele 
erst  aus  unserem  eigenen  Ich  hineinlegen  müssen.  Nur 
quantitativ  ist  von  dem  Prozefs  des  Verstehens,  den  wir 
an  der  Aufserlichkeit  solcher  Bilder  vornehmen,  der  des 
historischen  Erkennens  verschieden ;  dieser  findet  nur  ein 
viel  unvollständigeres  und  zusammenhangsloseres  Material, 
noch  unsicherere  Hinweise ,  noch  gröfseren  Spielraum  der 
Konjektur  und  umfassendere  Notwendigkeit  ihrer.  —  Im 
schlimmsten  Fall  mag  man  die  Hypothese  vererbter  Ver- 
ständnismöglichkeiten, die  die  individuelle  innere  Erfahrung 
ergänzen,  als  eine  methodische  Fiktion  ansehen:  die 
Erscheinungen  verlaufen  so,  als  ob  derartige  latente 
Parallelismen  unserer  Seele  mit  den  ganz  heterogenen  Per- 


')  Dieser  Erscheinungskreis  mufs  mit  der  häufig  festzustellenden 
Tatsache  zusammenhängen ,  dafs  viele  feine  und  tiefe  Psychologen 
schlechte  praktische  Menschenkenner  sind.  Die  psychologische  Be- 
gabung bedeutet  hauptsächlich  einen  leicht  ansprechenden  Sinn  für 
die  vorhin  beschriebene  Logik  in  den  psychologischen  Verbindungen, 
für  jene  inneren  Notwendigkeiten,  die  die  psychischen  Werte  der 
Vorstellungen  aneinanderknüpfen  und  die  als  ein  Sollen  der  Erkennt- 
nis empfunden  werden,  wie  das  der  Logik  im  engeren  Sinne  —  die  das 
entsprechende  für  die  sachlich-inhaltlichen  Werte  der  Vorstellungen 
leistet,  —  aber  kein  Müssen,  wie  es  psychologischen  Naturgesetzen 
eignete.  Die  Erkenntnis,  inwieweit  die  Bedingungen  solcher  Fälle  an 
der  einzelnen  Realität  vorliegen,  macht  die  Menschenkenntnis  aus,  die 
also  offenbar  ganz  andere  intellektuelle  Fähigkeiten  fordert.  Diese  Zu- 
sammenhangslosigkeit,  die  in  der  Richtung  von  der  über-praktischen 
Psychologie  zu  der  psychologischen  Empirie  besteht,  legt  es  nahe, 
dafs  auch  in  der  umgekehrten  Richtung  (üne  —  natürlich  nicht  voll- 
ständige —  Unabhängigkeit  existiert :  dafs  auch  da,  wo  Erkenntnis 
eines  Seelischen  dem  Anschein  nach  nur  durch  Reproduktion  früher 
erfahrener  Innentatsachen  stattfindet,  sie  dennoch  auch  sozusagen 
spontan,  als  eine  Produktion  von  Zusammenhängen  und  Graden 
jjsychischer  Tatsachen  stattfindet,  die  die  erkennende  Seele  nie  in- 
dividuell erlebt  hat. 


—     Ol     — 

sönlichkeiten  beständen ;  sie  mag  ein  symbolischer  Ausdruck 
für  die  noch  unerkannten  Energien  sein,  die  diese  Er- 
scheinungen in  Wirklichkeit  tragen. 

Das  rekonstruierende  Verständnis  hat  nun  seinen  Gegen- 
ständen nach  zwei  Pole,  die  ihm  trotz  ihrer  äufsersten  Ver- 
schiedenheit ähnlich  grofse  Chancen  eröffnen,  während  es 
an  dem  mittleren  Gebiet  zwischen  ihnen  bedeutendere 
Schwierigkeiten  findet.  Einerseits  nämlich  gelingt  die  innere 
Nachbildung  scharf  umrissener  Individualitäten  relativ  leicht. 
Themistokles  und  Cäsar,  Augustin  und  Kaiser  Friedrich  II. 
glauben  wir  tiefer  und  unzweideutiger  zu  verstehen  als 
einen  typischen  Athener  des  fünften  Jahrhunderts  oder  den 
Durchschnittsitaliener  vor  der  Renaissance.  Das  völlig 
Individuelle  nämlich,  obgleich  historisch  nur  je  ein  einziges 
Mal  realisiert,  hat  doch  sozusagen  ein  allgemeiner  mensch- 
liches, gewissermafsen  zeitloseres  Wesen,  als  die  in  vielen 
Exemplaren  existierenden  Repräsentanten  einer  raum- 
zeitlich bestimmten  Situation.  Denn  jene  grofsen  Einzigen 
sind  für  sich  und  in  Ablösung  von  ihren  Umgebungen  noch 
immer  etwas;  in  ganz  andere  Epochen  versetzt  würden  sie 
freilich  eine  ganz  andere  Gesamterscheinung,  aber  immer 
noch  den  wesentlichen,  stets  zu  identifizierenden  Kern  dar- 
bieten. Die  Durchschnittserscheinungen  aber  bleiben  an 
ihre  Stelle  gefesselt,  da  sie  ihren  ganzen  Sinn  nur  als  Ver- 
treter einer  bestimmten  historischen  Situation  haben,  man 
mufs  sozusagen  zu  ihnen  hinkommen,  während  die  als  Einzel- 
charaktere bedeutenden  Menschen  von  ihrer  Zeitlichkeit  un- 
abhängig und  leichter  in  das  Verständnis  anderer  Zeiten 
zu  rufen  und  ihnen  assimilierbar  sind.  Jene  zwar  historisch 
festgelegten,  aber  doch  anonymen  Wesen  erscheinen  als  je 
eine  Summe  nebeneinanderliegender  Eigenschaften,  während 
in  der  markanten  Individualität  die  Einheitsform,  die  alle 
Einzelbestimmungen  zusammenhält,  entscheidend  hervortritt. 
Je  mehr  das  der  Fall  ist,  desto  leichter  ist  die  Persönlich- 
keit zu  begreifen,  weil  alle  Elemente  ihrer  sich  gegenseitig 
beleuchten  und  weil  jede  singulare  Aufserung  aus  dem 
einmal  ergriffenen  Ganzen  herausquillt.  An  diesem  Punkte 
scheint  das  Erkennen  des  Gleichen  durch  das  Gleiche  oder 
der  naive  Realismus  seine  relativ  gröfste  Berechtigung  zu 
haben :  die  Einheit  der  erkennenden  Seele  gibt  das  Schema 


—     62     — 

für  die  Einheitsform  der  erkannten.  Was  Kant  mit  Rück- 
sicht auf  die  Naturwissenschaft  festgelegt  hat:  „Wir  erkennen 
den  Gegenstand,  wenn  wir  in  dem  Mannigfaltigen  seiner 
Anschauung  Einheit  bewirkt  haben"  —  gilt  im  allgemeinsten 
Sinne  für  das  historische  Erkennen.  Wie  die  Einheit  des 
Kantischen  „Gegenstandes"  nichts  anderes  ist  als  die  Einheit 
der  Apperzeption,  in  die  die  Vielfachheit  der  Sinneindrücke 
einströmt  und  so  ihr  Zusammen  und  ihre  Ordnung  findet  — 
so  ist  die  Einheit  der  geschichtlich-gegenständlichen  Persön- 
lichkeit für  das  historische  Erkennen  die  Bewufstseinseinheit 
des  erkennenden  Ich;  nur  dafs  der  in  diese  Form  eingehende 
Inhalt  in  dem  historischen  Falle  deutlicher  und  bestimmter 
für  sie  vorbearbeitet  ist  als  in  dem  der  äufseren  Natur,  da  er 
schon  von  sich  aus  in  dem,  unmittelbar  nicht  zugängigen  ^), 
Ich  der  Persönlichkeit  seinen  Zusammenhang  oder  auch 
seinen  Ursprung  besitzt,  der  seine  Teile  mit  dem  Cachet 
der  Zueinandergehörigkeit  aus  sich  entläfst.  In  je  ent- 
schiedenerem Mafse  die  Daten  des  geschichtlichen  Menschen 
die  Qualität  der  potentiellen  Einheit  von  ihrem  Ich-Ursprung 
her  zu  Lehen  tragen,  desto  sicherer,  breiter  und  tiefer  kann 
die  Apperzeptionseinheit  des  Erkennenden  daran  in  Funktion 
treten.  Dies  ist  der  Grund ,  aus  dem  die  bedeutenden  In- 
dividualitäten der  Geschichte  uns  vertrauter  sind,  weshalb 
wir  sie  weniger  in  die  Unüberwindlichkeit  des  Zeitabstandes 
gebannt  empfinden  als  die  Erscheinungen,  in  deren  Mannig- 
faltigem ihrer  geringeren  Individualität  wegen  unsere  eigene 
synthetische  Apperzeption  nicht  so  leicht  „Einheit  be- 
wirken" kann, 

Ist  es  hier  die  Form  des  Objektes,  die  es  dem  Er- 
kennen fügsam  macht,  so  gewährt  dessen  Verhältnis  zum 
Inhalt  des  historischen  Gegenstandes  einem  direkt  entgegen- 
gesetzten Typus  des  letzteren  die  Gunst  leichter  Verständ- 
lichkeit. Die  psychologische  Rekonstruktion  des  üblichen 
Geschichtsinhaltes  geht  nämlich  dann  mit  verhältnismäfsiger 
Sicherheit  und  allgemeiner  Zustimmung  vor  sich,  wenn  es 
sich    um    die   Interessen    und  Bewegungen   ganzer  Gruppen 


^)  Darum  gilt  genau  genommen  auch  hier  die  Kantische  Be- 
merkung, dafs  die  verbindende  Einheit  nie  „vom  Objekte  gegeben", 
sondern  „nur  vom  Subjekte  hervorgebracht  werden  kann". 


—     63     — 

handelt,  und  wenn  solche  auch  für  die  Aktionen  der  histo- 
rischen Einzelpersonen  Grundlage  und  Zielpunkt  bilden. 
Diese  aber  sind  zunächst  aufserordentlich  viel  einfacher  und 
unzweideutiger  als  individuellere  Verhältnisse,  Bei  gröfseren 
Massen  handelt  es  sich  immer  um  die  primären  Grundlagen 
der  Existenz,  um  die  allgemeinen,  grofsen  und  groben  Inter- 
essen, in  denen  sich  viele  Menschen  zusammenfinden  können 
und  über  denen  sich  erst  die  feineren  und  schwierigeren 
Individualisierungen  der  seelischen  Regungen  erheben.  Wie 
eine  Gesamtheit  nicht  wie  ein  Einzelner  die  Aufserungen 
ihres  WoUens  und  Denkens  absichtlich  verstellen  kann,  so 
tut  sie  es  auch  nicht  unabsichtlich,  sondern  dokumentiert 
ihre  Strebungen,  ihre  psychischen  Aktionen  und  Reaktionen 
so  deutlich,  wie  eben  die  Aufserungen  der  einfachen,  einer 
Masse  als  ganzer  eigenen  Triebe  gegenüber  den  persönlich 
differenzierten  deutlich  sind. 

Hierin  offenbart  sich,  wie  wenig  zufällig  die  Verbindung 
ist,  die  der  historische  Materialismus  mit  der  sozialistischen 
Weltanschauung  eingegangen  ist.  An  sich  läge  kein  Grund 
vor,  weshalb  nicht  auch  eine  durchaus  individualistische 
Historik,  die  nur  in  den  Einzelpersonen  als  solchen  den 
Träger,  in  den  Heroen  den  Sinn  aller  Geschichte  erblickte, 
die  Interessen  des  äufseren  Lebens  als  das  schliefslich  allein 
entscheidende  Motiv  der  geschichtlichen  Bedingungen  pro- 
klamieren sollte.  Während  dies  aber  eine  rein  spekulative, 
von  den  psychologischen  Tatsachen  völlig  unbestätigte  Ver- 
mutung wäre,  ist  es  umgekehrt  äufserst  plausibel,  dafs,  wo 
die  Bewegungen  der  Massen  den  ganzen  Inhalt  der  Geschichte 
ausmachen  sollen,  sie  auch  von  denjenigen  Motiven  getrieben 
erscheint,  die  sich  mit  Sicherheit  in  jedem  Mitglied  der 
Masse  finden:  der  Produktion  und  Reproduktion  des  un- 
mittelbaren Lebens.  Dabei  ist  völlig  dahingestellt,  ob  nicht 
jedes  dieser  Massenelemente  für  sich  höhere,  kompliziertere, 
differenzierte  Eigenschaften  besitzt  und  Schicksale  erlebt; 
Geschichte  aber  bilden  sie  nur  mit  denjenigen  Bestimm- 
ungen, die  ihnen  allen  gemeinsam  sind,  in  denen  ihre 
Kräfte  sich  zu  einer  einheitlichen  Wirkung  addieren;  dies 
aber  können  ersichtlich  nur  jene  einfachsten,  für  jedes 
Leben  fundamentalen  Interessen  sein.  —  Von  inhaltlich  völlig 
anderer     Grundgesinnung     aus    wiederholt     die     klassische 


—     (54     — 

Geschichtsphilüsopliie  des  Idealismus  diese  Reduktion  des 
historisch  Gegebenen  auf  diejenige  Einfachheit  der  Elemente, 
die  dem  Gemeinsamen  an  ihnen,  dem  KoUektivitätscharakter, 
entspricht.  Sie  fand  die  Vereinigung  der  subjektiven  Frei- 
heit mit  den  objektiven  Notwendigkeiten  der  Vernunft  im 
Staate,  in  der  Rechtsordnung.  Sie  empfand  nicht,  um 
welchen  Preis  beide  ihre  Allgemeingültigkeit,  ihre  objektive 
Höhe  gewinnen :  durch  ihre  abstrakte  Schematik,  durch  ihre 
Entferntheit  von  speziüschen  Bestimmungen  und  Interessen, 
durch  ihre  Gleichgültigkeit  gegen  alles  individuelle  Leben, 
in  dem  erst  die  Möglichkeit  von  Konflikten  und  Vertiefungen, 
die  durch  allgemeine  Begriffe  nicht  erschöpfbar  sind,  ruht. 
Zutreffend  hat  man  das  Recht  als  das  „ethische  Minimum" 
bezeichnet,  wie  der  Staat  überhaupt  das  praktische  Miniraum 
der  jeweiligen  Kulturlage  einbefafst,  die  Fürsorge  für  die 
allerallgemeinsten  Interessen,  die  Festigung  der  blofs  funda- 
mentalen Notwendigkeiten,  über  denen  sich  der  Reichtum 
des  persönlichen  Lebens  erhebt.  Je  mehr  Geschichte  nur 
Geschichte  des  Staates  ist,  desto  einfacher  und  durchschau- 
barer ist  sie  in  prinzipieller  Hinsicht.  Wesen  und  Leben 
der  Persönlichkeiten  ist  die  komplizierte,  dem  unmittelbaren 
Ausdruck  sich  entziehende  Form  des  Daseins;  sowohl  der 
historische  Materialismus  wie  die  Konzentrierung  des  histo- 
rischen Interesses  auf  den  Staat  bewegen  sich  jenseits  der 
Aufgabe,  die  die  Individualität  stellt:  jener,  indem  er  gleich- 
sam innerhalb  der  letzteren  bleibt  und  den  blofsen  Stoff 
des  Lebens  betrachtet,  diese,  indem  sie  sich  über  die  Form 
der  Personalität  in  das  begrifflich  Allgemeine  erhebt. 
Gemeinsam  ist  beiden  die  methodische  Tendenz,  die  innere 
Nachbildung  des  Geschehens  dadurch  prinzipiell  zu  erreichen, 
dafs  sie  sich  von  der  Konstitution  und  Eigenart  des  persön- 
lichen Lebens  auf  das  zurückziehen,  was  den  Personen  das 
Gemeinsame  und  darum  das  Einfachste,  das  seelische 
Minimum  des  geschichtlichen  Sich-Ereignens  ist.  Während 
die  individualistische  ProblemsttiUung  der  Historik  das 
Moment  der  Allgemeinheit  auf  die  Seite  der  Subjekte  ver- 
legt —  sie  mufs  das  ganz  individuelle  Objekt  ganz  all- 
gemein und  den  verscliiedensten  Persönlichkeiten  gleich- 
mäfsig  nachbildbar  und  verständlich  machen  — ,  liegt  es  für 
diese    beiden  Tendenzen    nach    der  Seite  des  Gegenstandes. 


—     üö     — 

Nur  dafs  sie  beide  den  Doppelsinn  des  „Allgemeinen"  unter 
sich  aufteilen  :  der  historische  Materialismus  ergreift  das  All- 
gemeine als  das  jedem  Einzelnen  gleichmäfsig  innewohnende 
Interesse,  während  es  für  die  Staatengeschichte  die  Einheit 
über  den  Einzelnen  bedeutet,  dasjenige,  woran  alle  all- 
gemein teilhaben,  ohne  dafs  es  doch  in  den  Einzelnen  ent- 
halten wäre.  Bei  beiden  ist  ihr  sachlich-methodisches  Prinzip 
zugleich  das  Vehikel  des  psychologischen  Verständnisses, 
es  stellt  dieses  nicht  mehr  vor  die  Inkommensurabilität 
des  Individuums  und  den  unvermeidlichen  Subjektivismus 
seiner  Rekonstruktion,  sondern  vor  die  Einfachheit  des 
„Allgemeinen",  die  um  so  sicherer  verständlich  ist,  d.  h.  die 
entsprechenden  Inhalte  in  jeder  Seele  um  so  unzweideutiger 
anklingen  läfst,  je  primitiver,  grundlegender  sie  sind,  also 
je  ausnahmsloser  vererbt,  überliefert,  verbreitet  sie  jeder 
Seele  in  irgendwelcher  Form  einwohnen.  Daher  verbirgt 
sich  hier  auch  leicht  die  Personalität  und  Subjektivität  des 
Nachfühlens  im  geschichtlichen  Erkennen,  die  wir  gegenüber 
einzelpersönlichen  Vorgängen  leichter  zugeben.  Indem  wir 
sozial-psychische  Prozesse  uns  zum  Objekt  machen,  indem 
wir  sie  nachempfinden,  haben  Avir  nicht  die  Vorstellung,  auf 
unsere  Subjektivität  und  die  Zufälligkeit  ihrer  inneren  Er- 
fahrungen angewiesen  zu  sein,  sondern  ein  schlechthin  Ob- 
jektives vorzustellen. 

Hier  zeigt  sich  noch  einmal  die  Verflechtung  und  die 
Scheidung  zwischen  dem  psychologischen  und  dem  sachlich- 
methodischen Motiv.  Jene  beiden  Tendenzen  der  Historik 
bedeuten  wissenschaftliche  Vereinheitlichungen  des  Sach- 
gehaltes der  Geschichte,  sie  sind  Formungen  des  unendlich 
komplizierten  Geschehens  von  je  einem  höchsten  Begriff  aus. 
Das  Mittel  aber,  das  sie  zur  tatsächlichen  Erreichung  dieses 
logisch  verständlichen  Bildes  befähigt,  ist  die  psychologische 
Zweckmäfsigkeit  ihrer  entscheidenden  Kategorien,  die  günstige 
Situation,  in  die  ihre  Blickpunkte  das  geschichtliche  Material 
für  die  psychologische  Nachbildung  bringen.  Denn  schliefslich 
sind  auch  soziale  Zustände  und  Bewegungen  —  die  Statik 
des  bürgerlichen  Lebens  vermittels  des  Rechtes,  die  Über- 
und  Unterordnung  in  der  Gruppe,  die  Vereinigung  zu  all- 
gemeinen Zwecken,  die  Formung  des  Zusammenlebens  durch 
materielle  oder  ideale  Motivierungen  —  nur  durch  ein  per- 

Simmel,   Geschichtsphilosophie.    2.  Aufl.  5 


—     (3()     — 

sönliches  Nachemplinden  beurteilbar,  ja  konstatierbar.  Auch 
was  wir  in  solchen  Bewegungen  meinen  mit  Händen  greifen 
zu  können,  können  wir  doch  nur  mit  der  Seele  greifen. 
In  der  Einfachheit  des  „Allgemeinen"  in  oder  über  den 
Trägern  des  Geschehens  vereint  sich  die  Teleologie  der  ge- 
eignetsten Voraussetzung  für  das  psychologische  Verstehen 
mit  der  der  wissenschaftlich-sachlichen  Einheit;  so  wenig 
diese  von  sich  aus  nach  den  Bedingungen  ihrer  seelischen 
Realisierung  fragt,  so  gewährt  sie  diese  Bedingungen  doch 
gerade  durch  die  psychologische  Struktur,  die  die  Ge- 
schichte durch  sie  gewinnt. 


Zweites  Kapitel. 
Von  den  historischen  Gesetzen. 


Dafs  die  Gesetze,  die  das  Erkennen  der  Geschichte 
beherrschen ,  in  das  Forschungsgebiet  der  Philosophie  ge- 
hören, wird  niemand  bestreiten ;  dafs  aber  die  Gesetze  der 
Geschichte  selbst  aufzusuchen  der  Philosophie  obliegt  — 
diese  nicht  selten  behauptete  Aufgabe  der  Geschichts- 
philosophie erscheint  auf  den  ersten  Blick  als  eine  der  auf- 
fälligsten Zumutungen.  Was  würde  man  dazu  sagen,  wenn 
dem  Forscher  in  irgendeiner  anderen  Wissenschaft,  in  der 
Physik,  der  Astronomie,  der  Sprachvergleichung  nur  die 
Beschaffung  des  singulären  Materials  obliegen,  die  Fest- 
stellung der  Gesetze  indes  einem  Philosophen  übertragen 
werden  sollte?  Das  Berechtigungsmafs  dieser  Wunderlich- 
keit kann  nur  aus  dem  besonderen  Sinn  erwachsen,  der 
dem  Gesetzesbegriff  innerhalb  der  Geschichte  zukommt  und 
der  erst  in  der  Gegenhaltung  gegen  die  allgemeine  Bedeutung 
dieses  Begriffes  sichtbar  werden  kann.  Gesetz  eines  Ge- 
schehens überhaupt  wird  man,  ohne  Widerspruch  zu  finden, 
als  einen  Satz  definieren  können,  demgemäfs  der  Eintritt 
gewisser  Tatsachen  unbedingt  —  also  jederzeit  und  überall  — 
den  Eintritt  gewisser  anderer  zur  Folge  hat.  Dieser  letztere 
wird  nicht  in  seiner  Reinheit  äufserlich  sichtbar  sein,  wenn 
anderweitige  Ereignisse  an  derselben  Stelle  von  Raum  und 
Zeit  mit  ihm  zusammentreffen.  Das  Entscheidende  ist,  dafs 
jene  ersten  Tatsachen,  sich  selbst  überlassen,  zu  diesem 
Resultate  führen,  und  dafs  sie,  mit  irgendwelchen  anderen 
zusammenwirkend,  diese  zu  einer  Resultante  umbiegen, 
aus  welcher  ihr  Anteil  jederzeit  unverkürzt  herauserkannt 
werden,  kann. 

5* 


—     68     — 

Tatsächlich  wirken  nun  an  jedem  Punkte  der  Welt 
Kräfte  aus  sehr  verschiedenen  Richtungen  und  Ursprüngen 
zusammen.  Die  Aussonderung  jeder  von  einem  einheit- 
liehen Gesetz  beherrschten  Geschehensreihe  ergibt  sich 
daraus,  ob  jede  für  sich  betrachtete  Teilwirkung  sich  noch 
in  anderen  Komplexen  findet  und ,  in  ganz  verschiedene 
Kombinationen  eingesetzt,  jedesmal  das  gleiche  Resultat 
ergibt.  Wenn  Avir  also  zunächst  einen  Gesamtzustand  A 
in  den  Zustand  B  übergehen  sehen,  so  mag  uns  diese  Folge 
als  gesetzlich  erscheinen;  nun  stellen  wir  fest,  dafs  A  sich 
aus  den  Bestandteilen  a,  b,  c,  B  aus  a,  ß,  y  zusammensetzt. 
Dafs  nun  etwa  a  die  Folge  a  gehabt  hat,  erkennen  wir^ 
wenn  wir  eine  Folge  B  ^  auf  A^  beobachten,  wobei  A^  aus 
a  d  e,  B^  a  d  £  besteht.  Wird  dieser  Erkenntnisweg 
weiter  verfolgt,  indem  auch  a  und  a  in  Teil  Vorgänge  zer- 
legt werden,  deren  Beziehungen  besonderen  Gesetzen  unter- 
liegen, so  mufs  er  schliefslich  an  den  Elementen  alles  Ge- 
schehens münden,  d.h.  an  den  Gesetzen,  welche  die  Be- 
ziehungen der  kleinsten  Teile  zueinander  regeln  und  deren 
Zusammenwirken  die  komplexen,  unmittelbar  erscheinenden 
Tatsachen  bestimmt. 

Von  einem  eigentlichen  Gesetz  des  Geschehens  kann 
nun  erst  da  gesprochen  werden,  wo  die  Wirkungen  dieser 
letzten  Elemente  festgestellt  sind.  Denn  es  folgt  zwar  selbst- 
redend, dafs,  wenn  einmal  B  aus  A  hervorgegangen  ist,  es 
auch  bei  absolut  identischer  Wiederholung  von  A  immer 
wieder  aus  ihm  hervorgehen  mufs,  und  insofern  könnte  man 
sagen ,  es  sei  ein  Gesetz ,  dafs  A  die  Ursache  von  B  sei ; 
wobei  unter  A  die  Gesamtheit  aller  bis  an  die  Schwelle 
von  B  führenden  und  es  beeinflussenden  Umstände  verstanden 
wird,  nicht  nur  jener  übliche  abgeschwächte  Begriff  der  Ur- 
sache, der  nur  den  positiven  und  direkten  Anstofs  zu  B, 
aber  nicht  die  unzähligen  daneben  und  dazwischen  gelagerten 
Bedingungen  enthält,  durch  die  hin  er  verläuft  und  deren 
Selbstverständlichkeit  ihre  doch  auch  positive  Unentbehr- 
lichkeit  zu  verdecken  pflegt.  Allein  die  leiseste  Veränderung 
der  Faktoren,  aus  denen  A  besteht,  macht  jene  Erkenntnis 
sofort  hinfällig  und  wertlos.  Sind  A  (=  a  b  c)  und  B 
(=  u  ß  y)  nur  als  Totalitäten  erkannt,  so  läfst  diese  Er- 
kenntnis  nicht   den   geringsten    Schlufs   auf  das   Verhalten 


—    69    — 

von  B  zu,  sobald  etwa  a  in  a'  übergebt:  erst  wenn  wir 
wissen,  dafs  die  Teilwirkung  a  von  a,  ß  von  b  und  y  von 
c  ausging,  können  wir  der  Änderung  von  B  näherkommen, 
weil  wir  dann  wissen,  dafs  seine  Teile  ß  und  y  ungeändert 
bleiben  und  das  Verhältnis  des  abgeänderten  B  zum  ur- 
sprünglichen nur  durch  die  Änderung  von  ce  bestimmt  wird. 
Solange  wir  nur  Kollektivwii'kungen  kennen ,  stehen  wir 
Jeder  neuen  komplexen  Tatsache  in  bezug  auf  ihre  kausalen 
Verknüpfungen  völlig  unbelehrt  gegenüber;  denn  mag  sie 
in  noch  so  vielen  Punkten  mit  einer  früher  festgestellten 
übereinstimmen,  so  genügt  doch  die  kleinste  Abweichung, 
um  jede  Bestimmung  ihrer  Wirkung  illusorisch  zu  machen, 
weil  wir  mangels  der  Auflösung  in  Teilursachen  und  Teil- 
wirkungen nicht  wissen  können,  welchen  Teil  der  früher 
beobachteten  Wirkung  die  Abänderung  in  der  Ursache 
^Iterieren  wird.  Die  Ereignisse,  deren  Verknüpfung  zu 
historischen  Gesetzen  wir  suchen,  zeigen  nun  zunächst 
diesen  Charakter  der  Komplexität.  Über  die  Mannigfaltig- 
keit der  Faktoren,  die  sich  zu  jedem  einzelnen  verflechten, 
pflegen  nur  einerseits  unsere  Begriffsbildungen,  andrerseits 
unsere  Wertgefühle  zu  täuschen:  jene,  indem  wir  für  sehr 
zusammengesetzte  Erscheinungen ,  um  in  der  Praxis  des 
Lebens  und  des  Erkennens  mit  ihnen  zu  operieren,  einheit- 
liche Namen  geschaffen  haben,  diese,  weil  wir  aus  solchen 
Komplexen  ein  einziges  Element  als  das  uns  wesentlich 
interessierende  betonen  und  die  anderen,  die  im  wirklichen 
Oeschehen  mit  jenem  verwachsen  sind  und  ohne  die  es 
objektiv  den  uns  interessierenden  Bestand  gar  nicht  erlangt 
hätte,  als  quantite  negligeable  behandeln.  Die  bisher  auf- 
gestellten historischen  Gesetze  leben  wohl  durchgehends  von 
einer  dieser  unrechtmäfsigen  Simplifizierungen  eines  kom- 
plexen Materials,  vermöge  deren  Erscheinungen  von  sehr 
grofsen  inneren  Verschiedenheiten  als  gleichartig  zu  gelten 
scheinen;  wie  überall  da,  wo  Staat  und  Klasse,  Religion 
und  Kultur,  Produktionsbedingungen  und  Stellung  der 
Frauen,  bürgerliche  Freiheit  und  Individualisiertheit  und 
n\\  die  unzähligen  Begriffe  der  gleichen  logischen  Stufe  in 
Zusammenhänge  gebracht  werden,  die  man  in  allen  Fällen 
wiederholt  sieht  und  deshalb  als  gesetzlich  notwendige  ver- 
kündet.    Da    nun  aber  keiner  der  für  das  jeweilige  Gesetz 


in  Frage  kommenden  Fälle  mit  dem  anderen  in  allen 
Faktoren  übereinstimmt,  so  gilt  das  Gesetz,  das  aus  der 
Beobachtung  einer  Situation  und  ihrer  Folge  gezogen 
wurde,  in  Wirklichkeit  eben  nur  für  diese  selbst,  d.  h.  für 
ihre  absolut  identischen  Wiederholungen,  nicht  aber  für  all 
jene  anderen,  die  nur  durch  die  Unterdrückung  ihrer 
Differenzen  Ursache  und  Wirkung  in  identischer  Weise 
verknüpfen.  Da  wir  nun  mangels  der  Erkenntnis  der 
elementaren  Teilkausalitäten  den  Faktor  nicht  kennen, 
dessen  Variierung  in  all  den  mannigfaltigen  Fällen  das 
spätere  Ereignis  als  eine  Funktion  des  früheren  auszurechnen 
gestattete:  so  bleibt  es  bei  dem  Gesetz  für  jeden  einzelnen 
Fall,  über  den  hinaus  es  auf  keinen  künftigen  Anwendung 
findet;  denn  ohne  jene  differenzierende  Untersuchung  der 
Elemente  können  wir  nie  wissen ,  ob  nicht  die  irgendwie 
vorhandene  Differenz  des  späteren  gegen  den  früheren  Fall 
gerade  denjenigen  Faktor  betrifft,  der  in  dem  letzteren  die 
Gesamtwirkung  an  die  Gesamtursache  gebunden  hat^). 

')  In  dieser  ganzen  Untersuchung  ist  das  allgemeine  Gesetz  mit 
der  wirksamen  Kausalität  identifiziert.  Allein  diese  durchgehends 
anerkannte  Synonymität  ist  doch  noch  einer  logischen  Kritik  zu- 
gängig. Ohne  Kausalgesetz  erkennt  man  keine  Kausalität  an ;  d.  h. 
die  Zeitfolge  des  B  auf  A  ist  nur  dann  Verursachung  des  B  durch  A, 
wenn  ein  Gesetz  besteht,  dafs  immer  und  überall,  d.  h.  zeitlos,  B 
erfolgt,  wo  A  auftritt.  Die  Bindung  der  Kausalität  an  ein  derartiges 
Gesetz  aber  erscheint  mir  nicht  logisch  unentbehrlich.  Ich  lasse 
dahingestellt,  welche  Schwierigkeiten  oder  welche  Metaphysik  dem 
Begriff  der  Verui'sachung  überhaupt  innewohnen  und  nehme  ihn  in 
seinem  gewöhnlichen,  sachlichen  Sinne.  Dann  erscheint  es  mir  durch- 
aus möglich ,  dafs  ein  A  an  einer  bestimmten  Stelle  von  Eaum  und 
Zeit  einmal  ein  B  kausal  hervorbringe,  an  einer  anderen  aber  ein  C. 
Da  zweifellos  eine  Weltordnung  denkbar  ist,  in  der  A  dauernd, 
nach  einem  zeitlos  gültigen  Gesetz,  C  erzeugt,  ebenso,  wie  es  jetzt 
tatsächlich  B  erzeugt,  so  spricht  kein  logischer  Grund  gegen  eine 
dritte,  in  der  seine  Wirkungen  variabel  sind.  Das  Wesentliche  ist, 
dafs  dies  nicht  die  Aufhebung  der  kausalen  Verknüpfung  der  Ereig- 
nisse zu  gunsten  eines  zufälligen,  blofsenNacheinandors  bedeuten  soll, 
sondern  dafs  alles  das,  was  die  Kausalität  von  diesem  unterscheidet, 
die  ganze  Innerlichkeit,  Produktivität,  Notwendigkeit  der  Verbindung 
hierbei  bestehen  soll  —  nur  dafs  sie  sich,  statt  mit  einem  immer 
identischen,  mit  einem  wechselnden  Sachinhalt  erfüllt.  Darum  ist 
diese  Denkmöglichkeit  keineswegs  gleich  der  von  einem  Logiker  be- 
haupteten: es  könne  etwa  auf  einem  entfernten  Fixstern  das  Kausal- 


71 


gesetz  aufgehoben  sein  und  alles  drunter  und  drüber  gehen.  Drunter 
und  drüber  ginge  es  unter  der  hier  gewagten  Voraussetzung  durchaus 
nicht;  die  Kausalität  in  ihrer  ganzen  Sachlichkeit  und  Strenge  be- 
stände vielmehr  weiter;  nur  dafs  ihr  Inhalt  seine  Gültigkeit  statt 
auf  alle  nur  auf  einen  einzigen  Fall  erstreckte  und  sich  für  den 
nächsten  abänderte. 

Was  diese  Möglichkeit  praktisch  unfruchtbar  macht,  entstammt 
nicht  logischen,  sondern  erkenntnistheoretischen  Gründen.  Dem  ein- 
maligen, inhaltlich  unvergleichlichen  Ereignis  gegenüber  haben  wir 
kein  Mittel,  die  in  Frage  stehende  echte  Kausalität  unter  seinen 
Momenten  von  deren  nur  zufälliger,  innerlich  unverknüpfter  Auf- 
einanderfolge in  der  blofsen  Zeit  zu  unterscheiden.  Zugegeben,  dafs 
die  Kausalität  als  Form  nicht  aus  der  Erfahrung  stammt,  so  gewinnt 
sie  doch  ihre  Verwirklichung  jedenfalls  nur  vermittels  der  Induktion 
aus  inhaltlich  übereinstimmend  verlaufenden  Ereignissen.  Aus  diesen 
erst  gestaltet  unser  Erkennen  eine  reale  Darstellung  der  Kausal- 
Kategorie  in  der  Form  eines  inhaltlich  festgelegten  „Gesetzes"  und 
erst  von  diesem  entlehnt  es  das  Recht,  die  sinnlich-zeitliche  Er- 
scheinungsfolge mit  der  unsinnlich-innerlichen  Kausalität  zu  durch- 
flechten; diese  würde,  ohne  jene  inhaltliche  Analogie  der  Gescheh- 
nisse, unserem  Erkennen  keine  Handhabe  zu  ihrer  Anwendung 
bieten.  Darum  mag  das  oben  Beschriebene,  das  man  die  individuelle 
Kausalität  nennen  könnte,  objektiv  bestehen;  erkennbar  ist  uns 
Kausalität  niemals  so ,  sondern  nur  in  der  Form  eines  allgemeinen 
Gesetzes,  das  an  ein  Geschehens -Moment  eine  bestimmte  Folge 
knüpft,  wo  und  wann  auch  immer  jenes  als  das  gleiche  auftritt. 

Immerhin  eröffnet  es  auch  als  blofse  Denkmöglichkeit  einen 
hypothetischen  Ausblick  auf  psychologische  Strukturverhältnisse. 
Die  bisher  unüberwundene  Schwierigkeit,  Gesetze  des  Seelenlebens 
zu  entdecken,  die  frappierende  Häufigkeit,  mit  der  die  Seele  aus 
scheinbar  völlig  gleichen  Voraussetzungen  völlig  verschiedene  Folge- 
erscheinungen hervorgehen  läfst,  könnte  irgendwie  darauf  zurück- 
gehen ,  dafs  innerhalb  der  psychischen  Vorgänge  jene  individuelle 
Kausalität  herrscht.  Mit  der  „Freiheit",  die  jeden  Moment  des  inneren 
Lebens  von  der  Bestimmung  durch  seine  Antezedentien  losbindet, 
würde  dies  freilich  —  mangels  der  Möglichkeit,  Kausalität  anders 
als  in  der  Form  allgemeiner  Gesetze  zu  erkennen  —  die  äufsere 
Erscheinung  teilen ,  im  Wesen  aber  nichts  mit  ihr  zu  tun  haben. 
Die  ursächliche  Bindung  wäre  genau  so  streng  wie  die  nach  all- 
gemeinen Naturgesetzen,  nur  dafs  sie  nicht  an  die  Wiederholung  des 
identischen  Inhalts  gebunden  wäre.  Das  bisherige  Problem  der 
Freiheitslehre:  wie  die  Kausalität  sich  mit  dem  scheinbar  gesetzlosen 
Wechsel  innerhalb  unseres  Seelenlebens  vereinigen  liefse  —  ist  un- 
lösbar, solange  man  Kausalität  nur  in  der  Form  des  allgemeinen 
Gesetzes  denkt,  in  der  allein  sie  freilich  erkennbar  ist.  Löst  man 
aber  diese  beiden  Begriffe  voneinander  und  gibt  zu,  dafs  Kausalität 
in   individueller  Form  mindestens   möglich   ist,    so   verkündet   die 


Verhindert  die  Unklarheit  über  die  Kräfte  der  einzelnen 
Teile,  die  ein  historisches  Ereignis  zusammensetzen,  schon 
durch  diese  Betrachtung  ihres  blofsen  Nebeneinanderbestehens 
die  Aufstellung  eines  wirkungsvollen  historischen  Gesetzes, 
so  wird  die  Schwierigkeit  eines  solchen  noch  viel  gröfser, 
wenn  man  die  individuellen  Kräfte  und  Ereignisse  als  die 
Ursachen  betrachtet,  die  das  an  der  Oberfläche  erscheinende 
und  als  Glied  eines  Gesetzes  bezeichnete  Ereignis  erst 
hervorbringen.  Wir  hören  z.  B.  als  Gesetz  aussprechen, 
dafs  die  Geschichte  jedes  politischen  Ganzen  mit  der 
geistigen  und  bürgerlichen  Freiheit  Weniger  beginne,  von 
da  zu  der  Mehrerer  und  endlich  zu  der  Aller  fortschreite; 
von  diesem  Höhepunkte  iinde  wieder  ein  Zurückgehen  der 
Bildung,  Freiheit  und  Macht  zu  den  Wenigen  und  den 
Einzelneu  statt.  Nun  ist  doch  die  urs])rüngliche  Beschränkung 
dieses  Zustandes  von  Glückseligkeit  und  Freiheit  auf  Wenige 
offenbar  nicht  die  zulängliche  Ursache,  aus  der  er  nachher 
auf  Mehrere,  und  diese  Verbreitung  nicht  die  Ursache,  aus 
der  er  dann  auf  Alle  übergeht.  Und  die  Tatsache,  dafs 
Alle  ihn  besitzen ,  entfaltet  aus  sich  heraus  nicht  die  reale 
Kraft,  die  ihn  nachher  auf  Wenige  einschränkt.  Oder  es 
wird  uns  als  Gesetz  der  historischen  Entwicklung  genannt, 
dafs  die  Nationen  und  die  Individuen  den  Weg  über  Kind- 
heit, Jugend,  Mannheit  und  Greisenalter  zurückzulegen 
hätten  und  dafs  dem  die  geistigen  Gesamtepochen  der 
Spekulation,  des  Glaubens,  der  Vernunft  und  des  geistigen 
Verfalls  entsprächen.  Offenbar  sind  auch  hiermit  die  wirk- 
lichen Kräfte  nicht  bezeichnet,  die  ein  Zeitalter  in  das 
andere  überführen.  Wenn  eine  Nation  in  einer  gewissen 
Epoche  gläubig  ist,  so  begreifen  wir  dadurch  noch  gar 
nicht  die  notwendigen  Anknüpfungen,  die  sie  dann  in  eine 


Unwiederholtheit  der  psychischen  Folgen  durchaus  keine  losgebundene 
Freiheit,  sondern  nur,  dafs  sich  die  unbegrenzte  Gültigkeit  des  natur- 
gesetzlichen Kausalinhalts  zu  einer  —  im  Grenzfall  —  einmaligen 
Wirkung  zusammengezogen  hat.  —  Da  alle  Historik  in  letzter  Instanz 
nur  seelische  Ereignisse  zum  Inhalt  hat,  so  liegt  es  nahe,  diese 
Überlegung  auf  den  ßogriflF  der  historischen  Gesetze  anzuwenden. 
Sie  würde  begreiflich  machen,  dafs  die  Individualität  der  Ereignisse 
der  Ableitung  aus  allgemeinen  Gesetzen  widerstrebt,  ohne  doch  wie 
zufällig  und  ursachlos  entstanden  in  der  Luft  zu  schweben. 


—       to      — 

Epoche  des  vernunftmäfsigen  Forschens  überführen.  Dis 
Jugend  eines  Volkes  ist  noch  durchaus  nicht  die  zureichende 
Ursache,  durch  die  es  später  zur  männlichen  Reife  gelangt. 
Vielmehr,  angenommen  selbst  die  so  ausgesprochene  Reihen- 
folge der  Zustände  sei  durchgängig  beobachtbar,  so  würde 
damit  noch  immer  nicht  ihr  innerer  und  kausaler  Zusammen- 
hang, d.  h.  ihr  Gesetz,  entdeckt,  sondern  nur  ein  —  bisher  — 
regelmäfsiges  Folgen  von  Phänomenen  festgestellt  sein. 

Oder  endlich:  die  Produktionsforraen  jeder  gegebenen 
Wirtschaftsepoche  sind  zunächst  den  Produktivkräften  der- 
selben angemessen ;  innerhalb  ihrer  aber  steigern  diese 
letzteren  sich  unaufhaltsam ,  bis  ihre  'Formen  ihnen  nicht 
mehr  genügen  und  sie  diese,  erstarrten  und  veralteten, 
endlich  sprengen,  um  sich  neue,  dem  jetzigen  Mafs  der 
Produktivkräfte  angemessene  zu  schaffen.  Die  treibenden 
Kräfte,  welche  dieser  Formel  gemäfs  die  Urproduktion  der 
Oens  in  die  Sklavenwirtschaft  überführten,  die  Feudalform 
in  die  liberale,  die  Hauswirtschaft  in  die  Produktion  für 
den  Markt,  die  Fronleistung  des  Schollenpflichtigen  Bauern 
in  die  Arbeit  des  freien  Lohnarbeiters  —  diese  Kräfte 
werden  durch  jenes  „Gesetz"  keineswegs  kenntlich  gemacht, 
sondern  nur  die  Abfolge  der  Erscheinungen  an  der  Ober- 
fläche des  geschichtlichen  Lebens  wird  mit  ihm  beschrieben. 
Es  wäre  absolut  unmöglich,  aus  einer  gegebenen  Produktions- 
form mit  Hilfe  dieses  Gesetzes  die  Art  der  nächsten  zu  ent- 
wickeln —  während  jedes  wirkliche  Naturgesetz  das  Ent- 
sprechende bei  gegebener  Ursache  leisten  mufs.  In  solchen 
Beispielen  werden  Gesamtzustände,  welche  die  erscheinende 
Folge  sehr  vieler  Einzelbewegungen  und  Kräfte  sind,  in 
ihrem  —  überdies  sehr  ungewissen  —  Zeitverhältnis  vor- 
geführt; dafs  der  eine  in  den  anderen  übergeht,  ist  das 
Resultat  des  Wirkens  sehr  vieler  spezieller  Gesetze,  aber 
nicht  selbst  ein  Gesetz.  Es  verhält  sich  dies  gerade  so, 
wie  wenn  man  das  Gesetz  aussprechen  wollte:  die  Arten 
der  Lebewesen  ändern  in  einer  Weise  ab,  die  ihre  Organe 
in  ein  Verhältnis  immer  steigender  Anpassung  zu  den  um- 
gebenden Lebensbedingungen  setzt.  Angenommen,  dies  ge- 
schähe wirklich  und  ausnahmslos,  so  wäre  es  doch  nur 
die  Folge  unzähliger  einzelner  Wirkungen  zwischen  den 
Organismen  und  ihrer  Umgebung,  welche  Wirkungen,  jede 


—     74     — 

für  sich ,  besonderen  Gesetzen  unterliegen.  Jener  Satz  be- 
zeichnet nur  den  Erfolg  regelmäfsig  zusammenwirkender 
Gesetze,  er  ist  kein  Begründendes,  sondern  ein  Begründetes. 
Die  zeitlichen  Beziehungen  so  komplizierter  Erscheinungen 
sind  nicht  als  Gesetze  zu  bezeichnen ,  wenn  das  Gesetz 
wirklich  die  Ursache  angeben  soll,  welche  in  der  einzelnen 
Erscheinung  wirkt.  Darum  dürfen  sogar  die  sogenannten 
Keplerschen  Gesetze  nicht  als  Naturgesetze  im  strengen 
Sinne  gelten.  Es  ist  keine  allgemeine  Naturkraft  anzunehmen, 
welche  nur  darauf  gerichtet,  deren  Inhalt  es  wäre,  dals  der 
Radius  vector  der  Planeten  in  gleichen  Zeiten  gleiche 
Flächen  bestreicht;  dafs  sie  sich  so  bewegen,  ist  die  Folge 
von  Gesetzen,  die  an  einem  gewissen  vorgefundenen  Zustand 
der  Materie  die  Bedingungen  ihrer  Wirkung  linden,  aber 
nicht  der  Inhalt  eines  Gesetzes  selbst.  Ein  solches  ist  viel- 
mehr erst  das  Newtonsche  Gravitationsgesetz.  Dieses  macht 
die  primäre,  zwischen  Sonne  und  Planeten  tatsächlich  wirk- 
same Kraft  bekannt,  deren  Gestaltung  zu  dem  Falle  unseres 
Planetensystems  relativ  zufällig  ist.  Gesetzmäfsig  freilich 
sind  die  Bewegungen  innerhalb  dieses,  die  Keplers  Gesetze 
beschreiben,  durchaus,  wie  es  durchaus  gesetzmäfsig  ist, 
dafs  A  dem  B  auf  der  Strafse  begegnet.  Allein  man  wird 
darum  kein  Naturgesetz  annehmen,  welches  diese  Begegnung 
bestimmte,  sondern  ihre  Gesetzmäfsigkeit  liegt  in  den  unter- 
halb der  Erscheinung  der  Begegnung  sich  abspielenden  Be- 
wegungen, den  psychologischen  und  physiologischen  Impulsen 
und  Atomvorgängen,  deren  Kreuzung  zu  jenem  Erfolge  führte. 
Dafs  sie  sich  aber  kreuzten,  ist  nicht  wieder  in  demselben 
Sinne  gesetzmäfsig,  wie  sie  selbst  es  sind ;  dies  ist  vielmehr 
eine  Erscheinung  höherer  Ordnung,  wenn  man  will:  eine 
nur  im  subjektiven  Bewufstsein  geschehende  Synthesis  ein- 
facher Reihen,  welche  letztere  allein  die  den  Gesamteffekt 
produzierenden  Ursachen  und  also  auch  allein  die  Gesetz- 
mäfsigkeit derselben  enthalten.  Und  endlich  ein  einfachstes 
Beispiel.  Die  Bildungsgesetze,  die  in  der  Palme  wirksam 
sind,  lassen  sie  zu  einer  von  allen  anderen  Bäumen  charakte- 
ristisch verschiedenen  Form  aufwachsen.  Trotzdem  wird 
niemand  behaupten,  dafs  es  besondere  Palmenwachstums- 
gesetze in  der  Natur  gäbe.  So  entwickelt  sich  das  historische 
Material    zu    bestimmten ,    von    allem    sonstigen    Weltinhalt 


-     75     — 

unterschiednen  Formen ,  ohne  dafs  man  das  Recht  hätte, 
von  besonderen  Gesetzen  des  historischen  Werdens  zu 
sprechen.  Gewifs  ist  es  ein  gesetznicäfsiger  Vorgang,  wenn 
die  Freiheit  und  die  Höhe  der  Lebenshaltung  von  der 
Minorität  zur  Gesamtheit  auf-  und  von  dieser  wieder  zu 
jener  absteigt;  oder  wenn  dem  Zeitalter  der  Spekulation 
ein  Zeitalter  des  Glaubens  und  diesem  ein  solches  der 
Forschung  folgt.  Allein  wir  dürfen  kein  besonderes  Gesetz 
annehmen,  welches  den  einzelnen  Ereignissen,  deren  Erfolg 
jene  Übergänge  sind,  ihr  Zusammentreffen  zu  eben  diesem 
bestimmten  Gesamtresultat  vorschriebe.  Es  erhebt  sich  nicht 
ein  höheres  Gesetz  über  den  niederen  Gesetzen,  die  die 
Bewegungen  der  einzelnen  Elemente  regulieren,  so  dafs 
jedes  dieser  letzteren  einer  doppelten  Gesetzgebung  —  gleich 
dem  Angehörigen  eines  Bundesstaates  ■ —  unterläge;  dies 
wäre  ein  völliger  Anthropomorphismus.  Das  einzig  Reale 
sind  die  Bewegungen  der  kleinsten  Teile  und  die  Gesetze, 
welche  diese  regeln ;  wenn  wir  eine  Summe  dieser  Be- 
wegungen zu  einem  Gesamtgeschehen  zusammenfassen ,  so 
kann  für  dasselbe  nicht  ein  besonderes  Gesetz  beansprucht 
Averden,  da  schon  durch  jene  primären  Gesetze,  und  allein 
durch  sie,  jede  überhaupt  stattfindende  Bewegung  ihre 
zureichende  Erklärung  und  Zurückführung  auf  die  ver- 
ursachende Kraft  findet. 

Verfolgt  man  indes  diesen  Gedanken  weiter,  so  gelangt 
man  an  einen  Punkt,  von  dem  an  seine  Richtung  umbiegt. 
Wenn  die  Bewegungsverhältnisse  der  Planeten,  die  die 
Keplerschen  Gesetze  feststellen,  blofse  Tatsächlichkeiten 
sind,  vergleichbar  dem  beobachteten  Aufeinanderfolgen 
historischer  Gesamtzustände  —  so  bezeichnet  doch  schliefs- 
lich  auch  die  Attraktion  der  Stoflfteile  im  umgekehrten 
Verhältnis  des  Entfernungsquadrates  nur  ein  beobachtetes 
Neben-  oder  Nacheinander  von  Lageverhältnissen;  wenn 
man  sie  die  wahre  Ursache  für  die  relativ  zufälligen  Tat- 
sachen der  Keplerschen  Gesetze  nennt,  weil  sie  für  die 
einfachen  Elemente  ,  diese  aber  für  den  Komplex  von 
Totalerscheinungen  gälten  —  so  steigert  man  eben  einen 
graduellen  Unterschied  zu  einem  absoluten.  Die  Analyse 
in  die  einfachen  Elemente  und  ihre  Beziehungen  ist,  wie 
gleich    zu    zeigen,    ein  problematisches  Unternehmen.     Wie 


—     76     — 

oft  sind  irgendwelche  Wesenheiten  für  letzte  Bestandteile, 
ihre  Bewegungen  für  unmittelbare  einheitliche  Aufserungen 
der  einfachen  realen  Kräfte  gehalten  worden,  bis  sich 
ergab,  dafs  es  sich  auch  hier  um  Resultanten  mehrerer 
Kräfte,  um  Formungen  sehr  viel  einfacherer  Elemente 
handelte.  Wir  können  nicht  wissen ,  ob  sich  nicht  auch 
die  Attraktion  der  Stoffe  eines  Tages  als  ein  Erfolg 
des  Zusammenkommens  verschiedenartiger  Bedingungen 
und  Kräfte  enthüllen  wird.  Dann  würde  die  Ursache  der 
Gravitationserscheinungen  nicht  mehr  in  der  Gültigkeit  eines 
besonderen  Gesetzes  liegen,  sondern  darin,  dafs  die  zu- 
fälligen Umstände  von  Zeit  und  Raum  mehreren  Gesetzen 
die  Möglichkeit  gaben,  zu  wirken  und  sich  zu  der  kom- 
plexen und  sozusagen  historischen  Erscheinung  zusammen- 
zufinden, die  das  Kewtonsche  Gesetz  —  jetzt  seinerseits  ein 
Begründetes  und  kein  Begründendes  —  angibt. 

Der  prinzipielle  Gegensatz ,  um  dessen  erkenntnis- 
theoretische Bedeutung  es  sich  hier  handelt,  wird  in  der 
Hauptsache  mit  dem  der  gesellschaftlichen  Gruppe  zum 
Individuum  zusammenfallen.  Historische  Gesetze  betreffen 
in  der  Regel  die  Schicksale  und  Entwicklungen  von  Gesamt- 
heiten, als  deren  einfaches  Element  der  Einzelmensch  gilt. 
Ist  also  Avirklich  ein  Geschehen  erst  dann  in  seiner  Gesetz- 
lichkeit begriffen,  wenn  seine  Komplexität  in  die  Gesetze 
seiner  einfachen  Teile  analysiert  ist,  so  wären  die  proble- 
matischen „Gesetze"  der  individuellen  Psychologie  die 
eigentlichen  Gesetze  der  Historik,  da  die  Gruppen  nur 
Existenzen  zweiter  Ordnung  seien,  nur  Komplikationen  aus 
jenen  einfachen  Elementen,  denen  allein  ein  eigentlich  sub- 
stantielles Dasein  und  deshalb  allein  eine  direkte  Kausalität 
und  Gesetzlichkeit  zukämen.  So  „existieren"  die  Farben- 
moleküle, die  Buchstaben,  die  Wasserteilchen;  aber  das 
Gemälde,  das  Buch,  der  Flufs  seien  nur  Zusammensetzungen 
dieser  einfachen  Wesenheiten ,  Formen ,  die  sie  annehmen, 
sei  es  in  dynamischem  Sich-Ineinander-Verweben ,  sei  es 
durch  ihr  Zusammenkommen  in  einem  Bewufstsein.  Allein 
in  dieser  Konsequenz  kann  die  logische  Analyse  überhaupt 
kein  noch  greifbares  Objekt  als  unmittelbare  Wirklichkeit 
zulassen:  jene  Elemente,  die  ich  eben  als  Beispiele  der 
einfachen  und  deshalb  allein  realen  Existenz  anführte,  sind 


—     ( (     — 

selbst  schon  hoch  zusammengesetzte  Wesen,  und  die  Frage 
nach  ihren  Elementen  kann  schliefslich  nur  an  dem  ab- 
soluten Atom  halt  machen ;  an  diesem  erst  haftet  die  Wirk- 
lichkeit letzter  Instanz,  und  ihm  gegenüber  ist  jegliches 
empirische  Element  nur  eine  sekundäre,  blofs  historische 
Realität,  eine  Folge  jener  tiefst  gelegenen  Ursachen,  aber 
nicht  der  Träger  originaler  Gesetzlichkeiten.  Da  dieses 
Atom  aber  ein  imaginäres  Gebilde  ist,  eine  Hilfskonstruktion, 
um  gewissen  Forschungsrichtungen  ihr  im  Unendlichen 
liegendes  Ziel  als  Augenpunkt  zu  geben  —  so  mufs  die 
objektive,  fundamentale  Einheit  aus  dem  Aufbau  der  wissen- 
schaftlichen RealitätsbegrifFe  schlechthin  verschwinden;  an 
ihre  Stelle  treten  diejenigen  Einheiten,  aus  denen  die  Er-  \ 
scheinungen  zusammenzusetzen  das  Interesse  der  einzelnen  , 
Erkenntnisart  fordert.  Für  den  Strategen  ist  eine  Baum-  1 
gruppe  eine  Einheit,  die  ihm  mit  anderen  Elementen  zu- 
sammen das  ihm  wichtige  Gelände  ergibt;  dem  Forstkundigen 
ist  der  einzelne  Baum  die  Einheit  in  der  ihn  interessierenden 
Gesamterscheinung;  dem  Pflanzenphysiologen  ist  dies  die 
Zelle  des  einzelnen  Baumes;  dem  Chemiker  die  chemischen 
Konstituentien  der  Zelle.  Einheit  und  Zusammengesetztheit  I 
sind  also  relative  Begriffe,  die  durchaus  nicht  dem  Gegen-  ) 
satz  der  Realität  und  des  nur  abgeleiteten,  durch  Kora- 
bination entstandenen  Gebildes  korrespondieren.  Sie  sind 
vielmehr  beide  gleichmäfsig  Kategorien  des  Erkenn ens, 
die  jeder,  je  nach  der  Art  seines  Problems,  auf  die  Er- 
scheinungen verteilt,  sind  also  beide  im  metaphysischen 
Sinne  subjektiv  und  beide  im  erkenntnistheoretischen  Sinne 
objektiv.  Es  steht  also  keineswegs  von  vornherein  fest, 
dafs  die  Gesamterscheinungen  des  geschichtlichen  Lebens 
erst  dann  aus  ihren  Gesetzen  begreiflich  wären,  wenn  dies 
die  erkannten  Gesetze  der  individuellen  Existenzen  wären. 
Wie  vielmehr  der  Forstkundige  sehr  wohl  weifs,  dafs  der 
Baum,  der  die  Einheit  des  von  ihm  bearbeiteten  Erscheinungs- 
komplexes ist,  im  objektiven  Sinne  durchaus  keine  letzte 
Einheit  ist,  er  aber  darum  doch  auf  dieser  Basis  die  Regel- 
mäfsigkeiten  jenes  Komplexes  immer  genauer,  dem  „Gesetze" 
sich  nähernd ,  verfolgt  —  so  könnten  sehr  wohl  die  Er- 
kenntnisinteressen der  Geschichte  gestatten  oder  als  ihr 
spezifisches  Apriori  fordern,  dafs  die  gesellschaftliche  Gruppe 


—     78     - 

als  ihre  „Einheit"  funktioniere.  Von  der  Überzeugung  «aus, 
dafs  keinerlei  Einheit  absolut,  sondern  jegliche  nur  durch 
die  Sonderbedürfnisse  jedes  Wissenszweiges  bestimmt  ist, 
kann  man  keinen  prinzipiellen  Grund  mehr  sehen,  aus  der 
sozialen  oder  sonstigen  Komplexität  der  geschichtlichen 
Erscheinungen  die  Unmöglichkeit  geschichtlicher  Gesetze 
abzuleiten.  Die  Kardinalfrage  ist  nur,  ob  die  Historik 
wirklich ,  aus  ihren  inneren  Bedingungen  heraus ,  an  der- 
artigen Kom])lexen  halt  machen  kann  oder  mufs,  ob  ihre 
Erkenntniszwecke  sie  wirklich  darauf  verzichten  lassen,  jene 
Begriffe  höherer  Ordnung,  mit  denen  die  historischen  Ge- 
setze operieren,  auf  die  schlechthin  individuellen  Vorgänge 
zu  reduzieren.  Auf  den  ersten  Blick  erscheint  dieser  Ver- 
zicht freilich  ganz  unzulässig.  Denn  jene  in  der  äufseren 
Natur  niemals  erfafsbare  Einheit  ist,  mindestens  in  einer 
Hinsicht,  an  der  individuellen  Seele  gegeben  —  wenn  sie 
auch  für  die  moderne  Anschauung  etwas  anders  aussieht, 
als  für  den  Glauben  an  die  metaphysische  Seelensubstanz. 
Die  Seele  ist  deshalb  eine  Einheit,  weil,  Avas  wir  Einheit 
nennen,  überhaupt  nur  durch  die  innere  Selbsterfahrung 
des  Ich  zustande  kommt.  Dafs  ein  Umkreis  von  Vor- 
stellungen auf  einen  absoluten  Mittelpunkt  bezogen  wird, 
dafs  eine  Vielheit  von  Bestinmmngen  unzerreilsbar  zu- 
sammenhängt —  das  ist  nur  im  seelischen  Leben  gegeben ; 
äufserlich-räumliche  Elemente,  die  als  solche  in  ein  unauf- 
hebbares  Nebeneinander  gebannt  sind,  gewinnen  als  Bestand- 
teile eines  Satzes  eine  Einheit,  ein  Ineinander,  zu  denen 
es  aufserhalb  des  Bewufstseins  keinerlei  genaues  Gegenbild 
gibt.  Erst  von  dorther  und  nur  in  einem  Gleichnis  kann 
der  Begriff  der  Einheit  in  das  unpersönliche  Sein  eingreifen. 
Es  besteht  also  nicht  ein  selbständiger  Jiegriff  von  Elinheit, 
der  auch  auf  das  menschliche  Individuum  anwendbar  wäre, 
sondern  umgekehrt:  P^inheit  ist  nichts  als  der  Name  für  die 
eigentümliche  Lebensform  der  Seele,  so  dafs  sie  dieser 
letzteren  freilicli  unvermeidlich  zukommen  mufs. 

Haben  wir  also  am  menschlichen  Bewufstsein,  weil 
seine  Funktion  die  Vereinheitlichung  des  objektiv  Mannig- 
fiiltigen  ist,  die  einzige  wirkliche,  uns  zugängige'Einheit, 
so  ist  die  jjersönliche  Seele  das  absolute  Element  der 
komplexen    Gebilde,    deren    P^ormen    und    Schicksale    die 


—    79     — 

Historik  beschreibt.  Und  so  wäre  denn  doch ,  in  diesem 
einzigen  Falle,  der  Punkt  genau  bezeichenbar,  bis  zu  dem 
die  Analyse  der  Komplexitäten  gehen  und  von  dem  aus 
diese  aufgebaut  werden  müfsten ,  um  der  Erkenntnisforde- 
rung restlos  zu  genügen  •  und  dieses  Element  ist  sehr  viel 
konkreter,  liegt  keineswegs  ebenso  im  Unendlichen,  wie  jene 
absolut  einfachen  Elemente,  deren  Synthesen  erst  die  voll- 
kommene Erkenntnis  der  Körperwelt  auszumachen  scheinen. 
Auf  allen  sonstigen  Gebieten  mag  es  zweifelhaft  bleiben,  ob 
die  Forschung  wirklich  bis  zu  den  letzten  ihr  erreichbaren 
Elementen  der  Erscheinungen  gedrungen  ist,  für  die  die 
Gesetze  der  realen  Energien  gelten  und  denen  gegenüber 
die  unmittelbaren,  komplexen  Erscheinungen  nicht  mehr 
eigne  Gesetzlichkeiten,  sondern  nur  Einzelerfolge  und  zu- 
fällige Verwebungen  bedeuten ;  hier  allein  scheint  es  sicher: 
die  Einzelseele  ist  das  Element  der  geschichtlichen  Ereig- 
nisse, hinter  das  auf  kein  noch  einfacheres  zurückgegangen 
werden  kann.  Demzufolge  würde  jedes  kollektive  Ereignis, 
z.  B.  die  Schlacht  bei  Marathon,  erst  dann  „verstanden" 
sein,  wenn  wir  die  Lebensgeschichte  jedes  Griechen  und 
jedes  Persers  bis  zu  dem  Punkte  kennten,  an  dem  sein 
Verhalten  in  der  Schlacht  psychologisch  begreiflich  aus 
seiner  gesamten  inneren  Entwicklung  hervorgeht.  Die 
psychologischen  Gesetze,  unter  deren  Voraussetzung  diese 
„Begreiflichkeit"  eintritt,  wären  demnach  Gesetze  der  Ge- 
schichte — ■  wie  die  physiologischen  und  chemischen  Gesetze, 
die  den  Aufbau  der  Zelle  zu  einem  Baume  begreiflich 
machen,  eben  Gesetze  des  Pflanzenlebens  sind. 

Allein  wenn  diese  phantastische  Forderung  selbst  erfüllt 
wäre,  so  würde  die  gesuchte  Vollständigkeit  der  Erklärung 
noch  immer  ausstehen.  Denn  um  dieser  willen  müfste  man 
jeden  einzelnen  der  seelischen  Inhalte  zu  seinen  psychischen 
und  geschichtlichen  Ursprüngen  jenseits  des  persönlichen 
Bewufstseins  zurückverfolgen.  Unzählige  Einflüsse  des 
physischen,  kulturellen,  personalen  Milieus,  von  überallher 
angesponnen ,  in  unendliche  Zeitweiten  hinüberreichend, 
mufsten  sich  in  jedem  der  Marathonkämpfer  treffen,  um 
sein  Verhalten  in  der  Schlacht  zu  erzeugen.  Nicht  die  Ge- 
setze also,  die  innerhalb  der  individuellen  Seelen  die  in 
ihnen    gegebenen    Inhalte    sich    zu    den    geschichtlich    ge- 


—     8»)     — 

nannten  Erfolgen  verweben  lassen ,  machen  diese  letzteren 
hinreichend  begreiflich;  sondern  nur  jene  andern,  in  alle 
Provinzen  des  Weltgeschehens  eingreifenden,  die  die  indivi- 
duellen Seeleninhalte  erst  ihrerseits  genetisch  erklären  und 
die  Entwicklungsreihen  beherrschen,  in  denen  das  Auf- 
tauchen dieser  Inhalte  nur  eine  Station  bedeutet.  Der 
Schlufs  aus  der  Einheit  der  Seele  auf  den  definitiv  realen 
Charakter  ihrer  als  historischen  Elementes  und  auf  den 
daraus  sich  ergebenden  Wert  der  psychologischen  Gesetze 
als  historischer  —  übersieht,  dafs  die  Einheit,  zu  der  das 
persönliche  Seelenleben  die  in  ihm  angeregten  Inhalte  zu- 
sammenschliefst, nur  eine  formale,  funktionelle  ist,  während 
diese  Inhalte  selbst  zu  ihrer  Erklärung  weit  darüber  hin- 
ausreichende Gesetzlichkeiten  des  gesamten  Weltenlaufes 
fordern.  Die  Elemente  des  Seelenlebens  haben  gesonderte 
Ursprünge,  nach  deren  genetischer  Entwicklung  zu  fragen 
uns  durch  die  Einheit,  zu  der  sie  in  einer  bestimmten  Seele 
zusammengehen,  nicht  erspart  wird.  Müssen  wir  also  über- 
haupt von  den  komplexen  und  miteinander  verwebten  Er- 
scheinungen, die  wir  Geschichte  nennen,  auf  ihre  Elemente 
und  deren  Schicksale  zurückgehen ,  um  die  Gesetze  der 
Geschichte  zu  finden,  so  ist  auch  die  individuelle  Seele, 
deren  Einheit  uns  dieses  einfache  Element  zu  bieten  schien, 
dazu  nicht  zulänglich;  denn  nicht  die  seelische  Einheit, 
sondern  ihre  Inhalte  machen  das  historische  Geschehen  aus, 
und  diese  finden  in  ihr  selbst  und  ihrer  Gesetzlichkeit 
keineswegs  ihre  hinreichende  genetische  Begreiflichkeit. 

Von  diesem  Punkte  aus,  an  dem  nun  selbst  die  Re- 
duktion auf  das  einfache  historische  Element  des  Individuums 
die  naturwissenschaftliche  Gesetzesforderung  an  das  histo- 
rische Material  unerfüllt  läfst  —  eröffnen  sich  zwei  Wege, 
um  dem  Problem  der  historischen  Gesetze  positive  Be- 
deutungen abzugewinnen.  Der  erste  sucht  den  absoluten 
oder  definitiven  Erkenntniswert,  den  die  Kritik  jeglicher 
Form  der  historischen  Gesetze  abgesprochen  hat,  mindestens 
als  einen  relativen  oder  provisorischen  zurückzuerobern. 
Gewifs  ist  die  Erkenntnis  der  Gesetze,  die  die  Bewegungen 
der  kleinsten  Teile  ergeben  und  allein  die  wirksamen  Kräfte 
auch  des  historischen  Geschehens  kenntlich  machen  würden, 
ein    im  Unendlichen   liegendes  Ziel.     Wenn   nun    das,    was 


—    81     — 

als  historische  Gesetze  gefunden  oder  gesucht  ist,  doch  auf 
dem  Wege  zu  diesem  unerreichbaren  Ziele  läge,  so  würde 
sein  Anspruch  auf  exakte  Geltung  zwar  ein  Selbstmifsver- 
ständnis,  aber  keine  Annullierung  seines  Wertes  bedeuten; 
die  historischen  Gesetze  würden  dann  vielmehr  jenen  philo- 
sophischen Antizipationen  gleichen,  mit  denen  die  Erkennt- 
nis, noch  in  weitem  Abstand  von  der  Wirklichkeit  der 
Dinge,  einen  allgemeinen  Überschlag  über  sie  gewann.  Der 
Gang  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  ist  doch  der,  dafs 
zuerst  ganz  allgemeine  Normen,  höchst  umfassende  Prin- 
zipien aufgestellt  werden  und  erst  ein  langer  Differenzierungs- 
prozefs  dazu  gehört,  um  die  einzelnen  Teilvorgänge  zu 
Problemen  werden  zu  lassen.  Mit  weiten  Begriffen  und 
allgemeinen  Reflexionen  beginnt  das  wissenschaftliche 
Denken,  es  verengert  sich  in  dem  Mafse,  in  dem  es  ex- 
akter wird;  mit  wenigen  höchsten  Vorstellungen  will  es 
die  Gesamtheit  des  Seins  umfassen  und  erst  nach  unzähligen 
Versuchen  und  Verirrungen  in  den  Höhen  der  Abstraktion 
beginnt  es  mit  der  Analyse  der  komplexen  Begriffe  und 
Erscheinungen  und  verfolgt  nun  die  gesonderten  Fäden  aus 
dem  Gewebe,  das  es  vorher  als  Ganzes  und  ohne  Kenntnis 
seiner  Struktur  meinte  beurteilen  zu  können.  Irgend  eine 
Form  des  Geschehens,  die  an  der  Oberfläche  der  Erschei- 
nungen beobachtet  ist,  wird  zum  allgemeinen  Gesetz  er- 
hoben, bis  man  die  Zufälligkeit  in  dem  Zusammenkommen 
seiner  Faktoren  erkennt  und  nun  die  Form  der  letzteren 
für  das  wirklich  allgemeine  Gesetz  hält,  bis  sich  oft  genug 
an  dieser  der  gleiche  Prozefs  wiederholt.  Es  ist  im  ganzen 
der  Weg  von  der  philosophischen  zur  exakten  Erkenntnis 
der  Dinge,  der  diese  Stationen  berührt.  Die  metaphysische 
Reflexion  greift  eine  Erscheinung  heraus,  die  sie  mehrfach 
wiederholt  sieht,  und  macht  sie  zum  Mafs  aller  Dinge.  Und 
sie  legt  dieses  Mafs  nun  unmittelbar  an  die  komplexen 
Verhältnisse  des  Empirischen  an;  ihr  Material  sind  die 
kompliziertesten  Erscheinungen;  sie  begnügt  sich  gröfsten- 
teils  mit  dem  allgemeinen  Eindruck,  den  das  Zusammen- 
wirken der  realen  Faktoren  auf  uns  hervorbringt  und  den 
sie  auf  ein  einheitliches  Grundgeschehen  projiziert;  sie  ver- 
schmäht es  in  der  Regel,  diese  Erscheinungen  selbst  erst  in. 

Simmel,  Geschichtsphilosoi  hie.    2.  Aufl.  6 


—     82     — 

ihre  Bestandteile  zu  zerlegen.  So  ist  Philosophie  in  dieser 
Richtung  eine  vorläulige  Wissenschaft,  deren  allgemeinere 
Begriffe  und  Normen  uns  solange  zur  Orientierung  über 
die  Erscheinungen  dienen,  bis  die  Analyse  derselben  uns 
zu  der  Erkenntnis  ihrer  realen  Elemente  und  zur  exakten 
Einsicht  in  die  unter  diesen  wirksamen  Kräfte  verhilft. 

Die  Metaphysik  hat  freilich  diesen  Überschlag  über  die 
Erscheinung  der  Dinge  sogleich  als  deren  letzten  Urquell 
geschätzt  und  die  Distanz  von  der  Wirklichkeit,  die  eigent- 
lich nach  der  Seite  ihrer  Oberfläche,  ihres  ersten  subjektiven 
Eindrucks  hin  lag,  wie  durch  eine  Achsendrehung  hinter 
die  Wirklichkeit,  als  ihren  absoluten  Grund,  verlegt,  und 
hat  durch  dieses  Starrwerden  an  der  ersten  Station  ihre 
Entwicklung  zu  differenzierterer  und  damit  dem  Objekte 
wirklich  näher  kommender  Erkenntnis  unendlich  erschwert. 
Dennoch  ist  ihr  damit  eine  erste  Vereinheitlichung  und 
geistige  Beherrschung  der  Erscheinungen  gelungen,  die  für 
wertlos  zu  halten,  weil  sie  ein  Anfang  und  kein  Ende  ist, 
nur  dem  empiristischen  Hochmut  einfallen  kann.  Gibt 
man  selbst  von  bestimmten,  geschichtlich  vorliegenden 
Problemkreisen  der  Philosophie  zu,  dafs  sie  zum  Abgelöst- 
werden durch  die  exakten  Wissenschaften  bestimmt  sind, 
so  bleibt  doch  das  Recht  der  Philosophie  an  sie  so  lange 
unbestritten,  bis  diese  Ablösung  erfolgt  ist.  Die  Zahl  der 
kosmischen  Erscheinungen  ist  eine  so  bunte,  verwirrende, 
in  tausendfachen  Wirbeln  und  Kreuzungen  sich  bewegende, 
dafs  die  erste  Orientierung  über  sie  nicht  wohl  anders  er- 
folgen kann,  als  indem  man  irgend  eine  vielfach  • — ■  in  un- 
mittelbarer oder  interpretierter  Wirklichkeit  —  beobachtete 
Tatsache,  wie  den  Flufs  der  Dinge  oder  ihren  einheitlichen 
Zusammenhang  oder  eine  Beziehung  der  Körperwelt  zum 
Geistigen  oder  die  Abhängigkeit  von  einer  unerklärbaren 
Macht,  in  den  Mittelpunkt  des  Weltbildes  stellt  und  nun 
die  Gesamtheit  der  Erscheinungen  darauf  zurückzuführen 
sucht.  Mag  dies  nur  mit  vielem  liiegen  und  Brechen 
möglich  sein,  so  wird  man  immerhin  so  einen  allerersten 
Leitfaden  gewinnen ,  um  sich  nicht  im  Gewirre  der  Er- 
scheinungen zu  verlieren.  Die  Metaphysik  hat  den  formalen 
Wert,  überhaupt  ein  vollendetes  Weltbild  nach  durchgehen- 
den   Prinzipien    anzustreben    —    einen  Wert,    der  von   den 


-     83     — 

materiellen  Irrtümern  ihres  Inhalts  ganz  unabhcängig  ist  und 
selbst  dann  besteht,  wenn  ganz  andere  als  philosophische 
Denkart  unserem  Erkenntnistriebe  Erfüllung  gibt.  In  ihr 
zuerst  ist  die  Voraussetzung  lebendig  geworden,  dals  die 
Welt  überhaupt  ein  zusammenhängendes  Ganzes  sei  und 
als  solches  begriffen  werden  könne,  dafs  der  ganze  Umfang 
ihrer  Erscheinungen,  deren  weit  überwiegenden  Teil  wir 
nicht  kennen,  dennoch  mit  unseren  Begriffen  kommensurabel 
und  ohne  Rest  durch  sie  zu  verstehen  sei  —  ein  Gedanke, 
der  wahrscheinlich  nie  entstanden  wäre,  wenn  er  auf  einen 
sachlich  fehlerlosen  Inhalt  hätte  warten  sollen.  So  ist  die 
Philosophie  eine  Antizipation  der  realistischen  Erkenntnis, 
ein  intellektuelles  Ergreifen  der  Welt  in  Bausch  und  Bogen, 
das  nach  der  Struktur  unseres  Geistes  dem  Erkennen  ihrer 
einzelnen  und  wahrhaft  wirksamen  Kräfte  vorangehen  mufs. 
Von  den  unzergliederten  Phänomenen  ,  die  nach  oberfläch- 
lichen und  einseitig  betonten  Ähnlichkeiten  auf  je  eine  von 
ihnen  als  auf  ihre  Substanz  und  ihr  Gesetz  zurückgeführt 
werden,  leitet  eine  allmähliche  Differenzierung  zu  der  Er- 
kenntnis der  Elemente  und  der  primären,  zwischen  ihnen 
spielenden  Kräfte,  in  denen  allein  die  Gesetzmäfsigkeit  der 
Welt  ruht. 

Dieses  Entwicklungsschicksal  unserer  Erkenntnis  vom 
Ganzen  der  Welt  wiederholt  sich  gegenüber  den  einzelnen 
Gebieten  derselben.  Die  kosmische  Metaphysik  setzt  sich 
in  eine  Metaphysik  der  Teile  des  Kosmos  fort.  Ich  glaube, 
dafs  die  sogenannten  historischen  Gesetze  in  derselben  Weise 
eine  Antizipation  der  exakten  Erkenntnis  geschichtlicher 
Vorgänge  sind,  wie  die  metaphysischen  Vorstellungen  eine 
solche  für  das  \^'eltgeschehen  überhaupt.  Freilich  nicht  als 
Gipfelpunkt  des  Erkennens,  sondern  als  Ausgangs-  oder 
Durchgangspunkte  für  dieses  sind  sie  bedeutsam.  Solange 
die  Gesetze,  Avelche  die  realen  Beziehungen  der  kleinsten 
Teile  aussprechen,  aus  denen  das  geschichtliche  Leben  sich 
zusammensetzt,  uns  unbekannt  sind,  halten  wir  uns  an  ge- 
wisse Regelmäfsigkeiten  seiner  Oberfläche ;  ohne  unter  diese 
hinabzusteigen,  fassen  wir  Erscheinungen  zu  abstrakten 
Regeln  zusammen,  die  freilich  im  tieferen  Sinne  nichts  er- 
klären, aber  doch  eine  erste  Orientierung  über  die  Gesamt- 
lieit    des  geschichtlichen  Lebens    an    die  Hand  geben ,    und 

6* 


—     84     — 

durch  allmähliche  Differenzierung  und  immer  weitergehende 
Beobachtung  und  Zergliederung  der  Erscheinungen  eine 
Annäherung  an  die  Bevvegungsgesetze  der  Elemente  er- 
möglichen. Philosophische  Reflexionen  schafften  zuerst  vor- 
läutige  Vorstellungen  über  Bewegung  und  Zusammenhang 
der  kosmischen  Stoffe,  über  die  Stufenreihe  der  organischen 
Formen  und  ihre  Entwicklung,  über  die  mathematische  Be- 
stimmtheit alles  Seins  und  vieles  andere,  das  die  exakte 
Wissenschaft  ilann  aus  der  Form  der  Ahnung  und  der  Ab- 
straktion, aus  den  Wahrnehmungen  sozusagen  unbewaffneter 
Augen  in  die  Erkenntnis  realer,  aber  unter  der  Oberfläche 
der  Erscheinungen  gelegener  Kräfte  überführte;  und  ent- 
sprechend bringen  uns  die  historischen  Gesetze:  über  die 
Differenzierung  und  Integrierung  der  Gruppen ,  über  die 
materiellen  oder  geistigen  Triebkräfte  ihrer  Bewegungen, 
über  den  Turnus  der  Regierungsformen,  über  das  An- 
schwellen und  Abnehmen  ihrer  Lebensäufserungen  —  diese 
bringen  uns  vorläufige  Zusammenfassungen  der  typischen 
Erscheinungen  der  Geschichte,  erste  Orientierungen  über 
die  Masse  der  Einzeltatsachen ;  wie  es  für  die  Metaphysik 
gilt,  wird  die  spätere  Erkenntnis  der  wirkenden  Gesetze  sie 
wohl  nicht  völlig  dementieren,  sondern  ihnen  neben  dem 
unverlierbaren  formalen  Werte,  den  sie  als  Orientierung 
und  Überblick  besitzen,  auch  noch  den  einer  teilweisen 
Antizipation  der  materiellen  Wahrheit  lassen.  Hier  also 
liegt  die  Erklärung  jener  Wunderlichkeit,  nach  der  der 
Beginn  dieses  Kapitels  fragte:  wieso  die  Aufstellung  der 
Gesetze  der  Geschichte  Sache  der  Philosophen  Aväre  —  sie 
liegt  darin ,  dafs  sich  die  augenblicklich  möglichen  histo- 
rischen Gesetze  zu  den  real  wirksamen,  mit  den  Natui- 
gesetzen  vergleichbaren,  so  verhalten,  wie  sich  das  philo- 
sophische Erkennen  zu  dem  exakt  wissenschaftlichen  ver- 
hält. Die  spekulative  Erkenntnisartist  ein  Pi'äliminarstadium^ 
eine  Zwischenstufe  zwischen  der  beobachteten  komplexen 
Einzeltatsache  und  ihrer  Konstruktion  aus  den  Gesetzen, 
die  ihre  Elemente  bestimmen. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  werden  die  Widersprüche 
der  einzelnen  sogenannten  historischen  Gesetze  untereinander 
weniger  unerträglich,  ebenso  wie  die  metaphysischen  Prin- 
zipien keineswegs  darum  allen  Wert  verlieren,  weil  das  eine 


—    bo    — 

das  direkte  Gegenteil  des  anderen  behauptet.  Die  Weite 
des  Erfahrungskreises,  aus  dem  philosophische  Reflexion 
schöpft,  gewährt  den  mannigfaltigsten  Grundsätzen  Anregung 
und  Bestätigung.  Der  Wechsel  in  allem  scheinbar  Be- 
harrenden wie  die  Dauer  in  allem  scheinbar  Wechselnden, 
die  zweckmäfsige  Anordnung  wie  die  sinnlose  Zufälligkeit 
des  Weltgeschehens,  der  Einflufs  der  Subjektivität  wie  die 
unbeugsame  Bestimmtheit  der  Natur  —  jede  dieser  Ver- 
schiedenheiten kann  bei  hinreichendem  Umfang  des  Beob- 
achtungsfeldes mit  gleichmäfsiger  Sicherheit  gewonnen  und, 
auf  Grund  des  Einheitstriebes  unserer  Natur  die  übrigen 
ausschliefsend,  zum  Mittelpunkt  der  Weltanschauung  werden. 
Die  stückweise  und  einseitige  Bildung  unserer  Begriffe  be- 
wirkt, dafs  jeder  bei  seiner  Anwendung  auf  das  Ganze  der 
Welt  durch  einen  oder  viele  andere  ergänzt  werden  mufs; 
und  so  hat  jeder  von  ihnen  eine  relative  Berechtigung,  die 
das  metaphysische  Denken  zu  einer  absoluten  macht.  Aber 
dies  ist  nicht  in  demselben  Mafse  nutzlos,  in  dem  es  irrig 
ist.  Denn  wie  weit  sich  die  Geltung  eines  Prinzips  tat- 
sächlich ei'sti-eckt,  ergibt  sich  in  der  Regel  erst  nach  dem 
Versuch,  es  auf  alle  überhaupt  vorkommenden  Fälle  anzu- 
wenden; die  Täuschung,  die  es  als  ein  konstitutives  Gesetz 
ansieht,  hat  doch  den  tatsächlichen  Erfolg,  dafs  es  als 
heuristische  Maxime  gewissermafsen  probeweise  oder  regu- 
lativ angewandt  wird,  und  so  der  volle  Umkreis  seiner 
Anwendbarkeit  festgestellt  wird.  Wenn  man  also  z.  B. 
durch  eine  Reihe  von  Beobachtungen  ein  gewisses  Gesetz 
des  moralischen  Fortschritts  in  der  Geschichte  gefunden  zu 
haben  glaubt,  so  ist  es  durchaus  gerechtfertigt,  wenn  man 
auf  dasselbe  hin  nun  jede  Periode  untersucht,  und  versucht, 
ob  nicht  Analyse  und  Synthese  der  Erscheinungen  es  uns 
selbst  da  entdecken  lassen,  wo  ihr  erster  Anblick  Entgegen- 
gesetztes zu  beweisen  schien.  Eine  ebenso  gerechtfertigte 
Bemühung  wird  an  den  Satz  gewandt,  dafs  ein  moralischer 
Fortschritt  überhaupt  nicht  stattfände  und  dafs  die  wissen- 
schaftliche Untersuchung  seines  scheinbaren  Vorkommens  die 
durchgängige  Unveränderlichkeit  des  ethischen  Quantums 
ergäbe.  Indem  beide  entgegengesetzte  Prinzipien  behandelt 
werden,  als  wäre  jedes  von  ihnen  das  absolut  richtige, 
dringt  jedes  an  die  Grenze  seiner  Anwendbarkeit,  die  ihm 


—     86    — 

das  andere  setzt,  und  ergibt  sich  das  relative  Mafs  seiner 
Berechtigung.  Gesetze  freilich  sind  dies  nicht,  denn  ein 
Gesetz  hat  keine  Grenze  seiner  Gültigkeit.  Allein  es  sind 
Vorbereitungen  auf  Gesetze,  indem  durch  die  Erkenntnis 
der  gegenseitigen  Begrenzung  der  entgegengesetzten  Maximen 
die  höhere  gewonnen  wird,  die  der  einen  oder  der  anderen 
die  Möglichkeit  gibt,  in  die  Erscheinung  zu  treten,  Sa 
könnte  man  z.  B.  das  Prinzip  der  Kraftersparnis  als  ein 
höheres  aussprechen,  das  die  einzelnen  Situationen  bestimmt, 
bald  ein  Bild  stagnierender,  bald  fortschreitender  Sittlich- 
keit zu  zeigen.  Und  indem  nun  dieser  höheren  Norm  Av^ieder 
eine  anders  gerichtete  entgegenbehauptet  wird  und  das 
weitere  Gesetz  gesucht  wird,  von  dem  die  Verwirklichungen 
beider  nur  durch  die  wechselnden  Umstände  bestimmte 
Erscheinungen  sind  —  nähern  wir  uns  immer  mehr  jenen 
höchsten  Gesetzen,  die  die  Bewegungen  der  einfachsten 
Teile  bestimmen  und  durch  deren  Zusammensetzung  das 
so  allein  erklärte  Spiel  der  Geschichte  veranlassen.  Die 
Behauptung,  dafs  derartige  Gegensatzpaare:  das  „Gesetz" 
der  Individualisierung  und  das  der  Sozialisierung ,  die 
Wirksamkeit  des  blinden  Willens  und  die  gleiche  der 
logischen  Idee,  das  Beharrungsgesetz  und  das  des  Flusses 
der  Dinge  —  überhaupt  zusammenwirken,  läfst  der  Ge- 
staltung des  einzelnen  Falles  noch  den  weitesten  Spielraum; 
der  Inhalt  der  Gesetze  selbst,  für  sich  betrachtet,  gibt 
durchaus  keinen  Anhalt  für  die  Konstruktion  des  gegen- 
seitigen Grenzpunktes.  Es  bedarf  also  einer  höheren  In- 
stanz, die  diesen  bestimmt  — ,  worin  aber  sollte  diese 
schliefslich  liegen,  als  in  den  Kräften  und  Beziehungen  der 
einzelnen  Elemente,  an  denen  entgegengesetzte  Prinzipien 
erst  ihre  relativen  Quanta  gewinnen  und  über  die  hinaus  sie 
blofse  Hypostasierungen  sind? 

Die  historischen  Gesetze  sind  eben  Spezialgesetze,  sie 
lassen  die  Schicksale  eines  ganzen  Gebietes  als  einer  Ein- 
heit auseinander  hervorgehen,  indem  sie  das  Gebiet  einer- 
seits gegen  seine  singulären  Elemente,  andrerseits  gegen 
den  weitesten  kosmischen  Umkreis  abscheiden.  Überall  da, 
wo  man  einem  Komplex  eine  besondere  Kraft  beilegt,  die 
ihm  als  diesem  Komplex  und  unterschieden  von  der  Kräfte- 
summe seiner  Elemente  zukäme,    und  wo  man  —  was  nur 


~    87     — 

ein  anderer  Ausdrnck  hierfür  ist  —  seine  Bewegungen 
einer  besonderen  und  einheitlichen  Kraft  unterstellt,  da 
kann  man  sicher  sein,  sich  in  einem  nur  vorläufigen  Stadium 
der  Erkenntnis  zu  befinden.  Denn  auch  hier  macht  sich 
jene  allgemeinste  Norm  psychischer  und  sozialer  Entwick- 
lung geltend :  sie  geht  überall  aus  von  einem  umgrenzten, 
gegen  die  Umgebung  streng  gesonderten  Gebilde,  das  seine 
Bestandteile  zu  enger,  in  sich  ungeschiedener  Einheit  zu- 
sammenschliefst;  und  sie  führt  von  da  aus  einerseits  zur 
Sprengung  jenes  beschränkten  Komplexes  und  seiner 
assimilierenden  Auflösung  in  den  weiteren  und  weitesten 
Kreis ,  andrerseits  zur  wachsenden  Differenzierung  und 
Selbständigkeit  seiner  einzelnen  Bestandteile.  Die  Tendenzen 
auf  die  weiteste  Allgemeinheit  und  auf  die  äufserste  Einzel- 
heit gehören  zusammen  und  bilden  geraeinsam  den  Fort- 
schritt über  die  Komplexe  hinaus,  deren  jeder  eine  Anzahl 
einzelner  Bestandteile  ohne  Berücksichtigung  ihrer  Indivi- 
dualität in  sich  schliefst  und  dafür  als  Ganzes  eine  indivi- 
duelle Besonderheit  für  sich  beansprucht  ^).  Die  gleiche 
Entwicklungsform  hält  der  hier  fragliche  Erkenntnisprozefs 
inne.  Dies  kleine  Segment  des  Weltkreises,  die  menschliche 
Geschichte,  schliefst  eine  grofse  Anzahl  einzelner  Elemente 
in  sich,  die  es  unter  seinen  einheitlichen  Begriff  bringt,  und 
beansprucht  für  sich  besondere  Gesetze.  Der  Fortschritt 
des  Erkenn ens  liegt  nun  darin,  dafs  einerseits  die  Besonder- 
heit und  Geschlossenheit  dieses  Komplexes  aufgelöst  wird, 
dafs  er  als  anderen  koordiniertes  Glied  des  Kosmos  und 
nur  nach  den  allgemeinen  Gesetzen  dieses,  nicht  aber  nach 
einem  besonderen,  nur  für  ihn  gültigen  verstanden  wird. 
Andrerseits  aber  wird  jedes  Element  seiner  in  seiner  Eigen- 
heit verfolgt,  die  in  jedem  für  sich  ruhende  und  entwickelte 
Kraft  beschrieben  und  so  das  Ganze  als  die  Summe  der  für 
sich  verstandenen  Teile  verstanden.  Offenbar  ist  es  eine 
und  dieselbe  Bewegung,  die  sich  nach  diesen  beiden  Seiten 
erstreckt.  Denn  die  Gesetze  der  einfachsten  Teile,  die  also 
die  primären  und  realen  Kräfte  aussprechen,  sind  eben  die 
im    gesamten  Kosmos  herrschenden.     Nur   diese    haben    die 


')  Ich  habe  diese  Entwicklung  in  meinen  Untersuchungen  über 
Soziale  DiflFerenzierung,  Kap.  3,  ausführlich  dargelegt. 


Sicherheit  wirklieh  allgemeiner  Gültigkeit,  die  den  Bewegnngs- 
formen  der  Komplexe  nach  unseren  obigen  Ausmachungen 
versagt  bleibt.  Beide  Tendenzen,  auf  das  Allgemeinste  Avie 
auf  das  P^infachste,  gehen  glcichmäfsig  über  die  vorläufige 
Erkenntnisstufe  hinaus,  die  den  Komplex,  in  dem  eine  An- 
zahl Elemente  unter  gemeinsamem  Gesichtspunkt  zusammen- 
gefafst  sind,  als  ein  Ganzes  mit  besonderen  Gesetzen  an- 
sehen will. 

Es  ist  nicht  zu  verkennen ,  dafs ,  wenn  es  sich  hier 
um  eine  Keduktion  der  historischen  Gesetze  auf  kosmische 
handelt,  damit  der  Sonderbegriff  der  Geschichte  überhaupt 
aufgelöst  wird.  Und  tatsächlich  fordert  die  Tendenz  auf 
diese  Auflösung  eine  eigene  Überlegung,  da  schon  von  ihr 
aus  die  ganze  INIöglichkeit  historischer  Gesetze  in  Frage 
gestellt  ist.  Alle  Menschengeschichte  ist  doch  nur  ein  Aus- 
schnitt aus  dem  gesamten  Weltgeschehen,  und  die  Weiter- 
entwicklung jeder  ihrer  Phasen  deshalb  von  unzähligen 
Umständen  abhängig,  zu  denen  die  Spannkräfte  nicht  aus- 
schliefslich  in  dieser  Phase,  als  einer  vom  Begriff  der  Ge- 
schichte eingegrenzten,  liegen,  und  die  also  auch  aus  ihr 
nicht  zu  berechnen  sind.  Die  Menschengeschichte  verläuft 
nicht  als  ein  in  sich  abgeschlossenes  Kapitel,  von  dem  etwa 
nur  Anfang  und  Ende  Beeinflussung  und  Zusammenhang 
mit  den  kosmischen  Kräften  hätten,  sondern  sie  entwickelt 
sich  in  fortwährender  Endosmose  und  Exosmose  mit  diesen 
und  erfährt  von  ihnen  Kraftwirkungen,  deren  Quellen  ganz 
aufserhalb  ihrer  selbst  fliefsen  und  deshalb  auch  aus  der 
genauesten  Kenntnis  des  bisherigen  historischen  Verlaufes 
nicht  zu  berechnen  sind.  So  wenig  man  das  zukünftige 
Verhalten  eines  Menschen  blofs  aus  seiner  Vergangenheit 
berechnen  kann,  weil  aufser  den  Spannkräften,  die  diese  in 
ihm  bis  zu  jedem  gegebenen  Augenblick  aufgespeichert  hat, 
noch  unzählige  andere  Kräfte  auf  ihn  einwirken  werden, 
die  die  Richtung  und  Intensität  jener  modifizieren;  so  wenig 
innerhalb  des  Individuums  die  psychischen  Vorgänge  eine 
geschlossene  Kausalität  aufweisen,  weil  einströmende  Em- 
pfindungen deren  Kontinuität  unterbrechen  und  fortwährend 
neue,  aus  dem  bisherigen  Status  nicht  berechenbare  Elemenie 
dem  Seelenleben  einfügen :  so  wenig  kann  man  das  Leben 
der  Menschheit   als    eine   selbstgenugsame  Entwicklung   an- 


—    89     — 

sehen,  deren  frühere  Stadien  alle  Keime  enthielten,  aus 
denen  eine  rein  innere  Kausalität  alles  Spätere  hervortriebe. 
Einflüsse,  die  einem  allem  Bisherigen  fremden  Kräftekreis 
entstammen,  unterbrechen  ihre  immanente  Entwicklung  und 
lassen  die  Gleichheit  der  Bedingungen,  die  diese  selbst  der 
Zukunft  bietet,  in  ungeahnte  Verschiedenheit  der  Erfolge 
auslaufen.  Nur  wenn  die  Menschengeschichte  wirklich  Welt- 
geschichte wäre,  würde  jeder  momentane  Zustand  derselben 
die  zureichenden  Bedingungen  des  nächsten  und  übernächsten 
in  sich  schliefsen,  ohne  einen  abbiegenden  Einflufs  von 
aufsen  gewärtigen  zu  müssen.  Für  die  historischen  Spezial- 
gebiete ist  dies  leicht  erkennbar,  wenngleich  nicht  immer 
anerkannt.  Eine  Kunstgeschichte  z.  B. ,  die  auf  ein  volles 
und  fundamentales  Begreifen  der  Erscheinungen  ausgeht, 
kann  sozusagen  keine  immanente  sein,  d.  h.  keine,  die  eine 
künstlerische  Erscheinung  aus  der  anderen  verständlich  und 
gesetzmäfsig  entwickelte,  weil  die  Verhältnisse  der  Gesell- 
schaft, der  Religion,  des  intellektuellen  Niveaus,  der  indivi- 
duellen Schicksale  die  nächsten  Erscheinungen  mitbestimmen 
und  doch  ihrerseits  aus  den  vorhergegangenen  künstlerischen 
nicht  berechenbar  sind.  Nicht  anders  verhält  es  sich  mit 
der  Wirtschaft,  deren  geschichtliche  Erscheinungen  man  — 
mindestens  prinzipiell  —  aus  ökonomischen  Naturgesetzen 
vollständig  zu  begreifen  meinte.  So  rein  wirtschaftlich  die 
Erscheinungen  dieser  Reihe  sein  mögen,  so  sind  die  Energien 
und  Motive,  die  eine  derselben  in  die  andere  überführen, 
es  keineswegs  mit  derselben  Ausschliefslichkeit;  vielmehr, 
wenn  eine  Erscheinung  der  Produktion,  des  Besitzes,  des 
Tausches,  der  Entlohnung,  der  Spekulation  usw.  eine  andere 
aus  sich  „entwickelt"  oder  „erzeugt",  so  wird  Tatsache,  Art 
und  Mafs  dieser  letzteren  durchaus  nicht  nur  durch  die  rein 
wirtschaftlichen  Kräfte  bestimmt,  die  die  erstere  in  diesem 
Verlauf  einzusetzen  hat.  Abgesehen  von  den  Verhältnissen 
sehr  hoch  entwickelter  Wirtschaft,  besonders  des  reinen 
Geldgeschäftes,  in  denen  das  ökonomische  Interesse  ab- 
schnittsweise eine  gleichsam  abstrakte  Existenz  in  sich 
führt  —  ist  der  rein  ökonomische  Inhalt  einer  Erscheinung 
immer  nur  einer  der  Faktoren,  die  auch  den  ökono- 
mischen Inhalt  der  nächsten  veranlassen  und  die  alle 
möglichen   personalen,    ethischen,    physischen,    kulturellen 


—     90     — 

einschliefsen  ^).  Diese  Formung  der  Einzelgebiete  gilt  un- 
mittelbar für  die  Gesamtgeschichte.  Historische  Gesetze 
wären  demnach  nur  möglich ,  wenn  die  zu  den  bislierigen 
historischen  Zuständen  hinzutretenden  und  deren  Entwick- 
lung beeinflussenden  kosmischen  (nicht  „historischen")  Fak- 
toren konstante  wären,  so  dafs  sie  sozusagen  beide  Seiten 
der  Gleichung  gleichmäfsig  afiizierend,  für  die  Berechnung 
der  einen  aus  der  anderen  nicht  brauchten  in  Rechnung 
gezogen  zu  werden;  oder  wenn  sie  Gesamtzustände  der 
Welt,  statt  sehr  variabler  Ausschnitte  derselben,  zum  In- 
halte hätten.  So  unbedingt  die  Schicksale  des  Weltganzen 
in  seiner  Vergangenheit  beschlossen  liegen  und  jeder  Ein- 
griff in  dasselbe  abgelehnt  werden  mufs,  der  eine  aus  ihm 
selbst  nicht  ergründbare  Kraft  in  ihm  zur  Geltung  brächte 
—  so  wenig  enthält  umgekehrt,  bei  der  durchgängigen 
Wechselwirkung  aller  kosmischen  Elemente,  irgendeine  ein- 
zelne Geschehensreihe  in  sich  die  zureichenden  Bedingungen 
ihrer  weiteren  Schicksale,  sondern  mufs  stets  auf  Eingriffe 
vorbereitet  sein,  die  ihr  gegenüber  als  dii  ex  machina  er- 
scheinen ;  und  dies  gilt  für  ein  einzelnes  Menschenschicksal, 
dessen  einzelne  Phasen  wir  zu  einem  einheitlichen  Verlaufe 
verknüpfen,  nicht  mehr,  als  für  die  Schicksale  eines  einzelnen 
Volkes  oder  der  Menschheit  überhaupt. 

So  hat  die  Forderung  der  Gesetzlichkeit  für  das  als 
Geschichte  bezeichnete  Geschehen  den  spezifischen  Begriff 
der  Geschichte  schliefslich  aufgelöst.  Wir  mögen  eine  ge- 
wisse Klasse  von  Erscheinungen  aussondern  und  unter  jenem 
Begriffe,  der  für  die  Praxis  des  Erkennens  zweckmäfsig  ist, 


^)  Die  Tendenz,  die  ökonomischen  Ereignisse  als  eine  einreihige 
Kausal  Verknüpfung  anzusehen,  während  in  Wirklichkeit  jedes  Folge - 
moment  ihrer  durch  Zuflüsse  von  allen  Himmelsrichtungen  des  Daseins 
jenseits  des  ökonomischen  mitbestimmt  wird  —  diese  Tendenz  treibt 
der  extreme  historische  Materialismus  noch  über  den  oben  bezeichneten 
Punkt  hinaus.  Wie  die  blofse  Freiheit  sich  allenthalben  in  das 
Streben  nach  Herrschaft  umsetzt,  so  ist  für  ihn  die  Selbständigkeit 
des  Ökonomischen  gegenüber  dem  ganzen  historischen  Dasein  zu 
einer  Beherrschung  dieses  durch  jenes  geworden.  Es  ist  die  genaue 
Umkehrung  des  hier  betonten  Prinzips:  statt  von  der  einzelneu  Eeihe 
der  geschichtlichen  Wirklichkeit  ihre  Verflechtung  mit  allen  anderen, 
die  jeden  Punkt  ihrer  zum  Resultat  des  Ganzen  macht,  zu  erkennen, 
soll  das  Ganze  aus  einer  seiner  einzelnen  Reihen  entwickelt  werden. 


—     91     — 

einheitlich  zusammenfassen.  Aber  insoweit  bleiben  es 
immer  unmittelbare,  ihre  tieferen  Elemente  und  Kräfte  nicht 
verratende  Erscheinungen,  und  in  dem  Augenblick, 
wo  man  zu  jenen  herabsteigen  und  ihr  sichtbares  oder  kom- 
plexes Resultat  aus  ihnen  herleiten  will,  zerbricht  ihre  bis- 
her berechtigte  Besonderung  und  sie  verflechten  sich  in  das 
Spiel  der  kosmischen  Gesamtenergien :  jener  abgegrenzte 
Kreis  der  „Geschichte"  liefert  nicht  mehr  die  hinreichenden 
Ursachen  oder  Gesetze,  um  sein  einzelnes  Glied  zu  erklären. 
Was  die  früheren  Überlegungen  noch  als  möglich  zeigten : 
dafs  die  historischen  Gesetze  Annäherungen  an  die  Er- 
kenntnis der  realen  VerknUpfungsfaktoren  bedeuteten,  erhält 
damit  eine  innere  Grenze;  die  weitere  Differenzierung  und 
Realwerden  der  historischen  Gesetze  hebt  ihren  Charakter 
als  historische  Gesetze  auf,  zum  mindesten  die  Möglich- 
keit, aus  ihnen  allein,  soweit  sie  dies  noch  sind,  das 
historische  Geschehen  abzuleiten.  Immerhin  aber  ist  die 
contradictio  in  adjecto  im  Begriff  des  historischen  Gesetzes 
in  alledem  nur  eine  relative:  die  Eigenbedeutung  des  Ge- 
schichtlichen reicht  sozusagen  quantitativ  nicht  aus,  um  die 
vom  Begriff  des  Gesetzes  gestellte  Forderung  zu  erfüllen. 
Der  Widerspruch  aber  verschärft  sich  zu  einem  absoluten, 
Avenn  die  Leistungen  beider  Begriffe  nun  genauer  in  der- 
jenigen Sonderung  konfrontiert  werden,  in  die  die  wissen- 
schaftliche Arbeitsteilung  sie  stellt. 

Hier  bedarf  es  nun  zunächst  der  deutlichsten  Fest- 
stellung, wo  denn  die  naturgesetzliche  Determiniertheit  des 
Daseins  die  Grenze  findet,  an  der  ihre  Leistung  für  die 
Kenntnis  dieses  Daseins  endet.  Diese  Grenze  bezeichnet 
zunächst  die  Tatsache  der  Naturgesetze  selbst.  Kein  Gesetz 
bestimmt,  dafs  es  Gesetze  überhaupt  und  diese  bestimmten 
Gesetze  geben  müsse.  Denn  erweisen  liefse  sich  deren  Not- 
wendigkeit nur  aus  einem  sie  bestimmenden  Gesetz,  wozu 
also  dasjenige,  um  dessen  Existenz  eben  es  sich  handelt, 
schon  vorausgesetzt  würde.  Erst  wenn  Naturgesetze  sind, 
können  wir  auf  Grund  ihrer  etwas  beweisen,  deshalb  sie 
selber  aber  nicht  —  gerade  wie  die  bürgerlichen  Gesetze 
nicht  selbst  etwas  Legales  sind,  sondern  erst  die  Handlungen, 
die  unter  Voraussetzung  ihrer  erfolgen.  Die  Existenz  der 
Naturgesetze  ist  also  etwas  blofs  Wirkliches,  aus  Gesetzen 


—     92    — 

nicht  zu  Begreifendes,  oder  wie  wir  sagen  können:  eine 
historische  Tatsache.  Eine  ebensolche  ist  die  Existenz  der 
Substanz,  deren  Formänderungen  von  den  Naturgesetzen  be- 
stimmt werden.  Wenn  es  einmal  eine  Welt  gibt,  so  mufs 
es  logischen  und  realen  Gesetzen  zufolge  so  und  so  in  ihr 
zugehen;  dafs  es  sie  aber  übei'haupt  gibt,  unterliegt  nicht 
dem  gleichen  Mufs,  und  man  kann  in  Gedanken  das  gesamte 
Sein  wegdenken ,  ohne  gegen  irgendeine  gesetzliche  Not- 
wendigkeit zu  verstofsen.  Aber  auch  diese  beiden  Gegeben- 
heiten reichen  noch  nicht  aus,  um  es  zu  dem  Spiel  der  Welt 
kommen  zu  lassen.  Jedes  Naturgesetz  kann  nur  aussagen, 
dafs  eine  gegebene  Form  der  Materie  in  eine  andere  über- 
geht; es  setzt  also  immer  schon  eine  bestimmte  Formung 
voraus  und  würde  über  einer  völlig  undifferenzierten  Sub- 
stanz ,  über  dem  blofsen  Sein ,  ohne  Angriffspunkt  in  der 
Luft  schweben.  Damit  es  also  zu  einer  Wirkung  der  Natur- 
gesetze überhaupt  komme,  mufs  eine  gewisse  Differenzierung 
innerhalb  des  Stoffes,  eine  erste  Form  desselben  schon 
gegeben  sein,  welche  demnach  nicht  selbst  wieder  ein 
Resultat  des  Wirkens  jener  sein  kann.  Die  Erkenntnis  der 
Weltentwicklung,  an  der  Hand  der  Naturgesetze  rückwärts 
schreitend,  endet  in  jedem  Augenblick  an  einem  —  für 
jetzt  —  ersten  Zustand  der  Materie,  der  ebensowenig  natur- 
gesetzlich bestimmt  ist  wie  die  Existenz  der  Materie  und  der 
Naturgesetze  selbst.  Dieser  ursprüngliche  Zustand^  den  die 
wachsende  Erkenntnis  freilich  nie  als  einen  absoluten  er- 
reichen, sondern  nur  immer  weiter  hinausschieben  kann,  gibt 
die  Veranlassung,  dafs  an  einem  gegebenen  Punkte  das 
eine  Naturgesetz  und  kein  anderes  Anwendung  findet.  Dafs 
von  vornherein  eine  gewisse  Mannigfaltigkeit  der  Form  da 
ist,  die,  von  der  Wirksamkeit  der  Naturgesetze  aufgenommen 
und  weitergesponnen,  die  Komplikationen  dieser  und  die 
Modifikationen  ihrer  Erscheinungen  ermöglicht,  das  ist  vom 
Standpunkt  der  Naturgesetze  aus  eben  schlechthin  zufällig 
und  eine  blofs  historische  Tatsache.  Die  Zufälligkeit  in 
diesem  Sinne  ist  aus  unserem  Weltbild  nicht  zu  entfernen, 
weil  der  Anfang  desselben  zufällig  war  und  alles  Spätere 
nur  eine  Entwicklung  dieses  ersten  Zustandes  ist  —  eine 
Entwicklung,  welche  erst  unter  Voraussetzung  eben 
dieses  nicht  mehr  zufällig  ist. 


—     93     — 

Hieraus  ergibt  sieh,  dafs  die  Naturgesetze,  die  psycho- 
logisshen  eingeschlossen,  zur  Konstruktion  des  wirklichen 
Daseins  nicht  ausreichen,  dafs  es  dazu  vielmehr  gewisser 
gegebener  Tatsachen  bedarf,  und  zwar  nicht  nur  am  ab- 
soluten Anfang  aller  Dinge.  Dieses  letztere  würde  genügen, 
wenn  unsere  Kenntnis  jener  und  die  der  Naturgesetze  eine 
vollkommene  wäre.  Angenommen,  der  Komplex  sämtlicher 
Naturgesetze  wäre  uns  bekannt,  so  würde  eine  einzige  Tat- 
sache ausreichen,  die  ganze  Welt  zu  entwickeln.  Denn  jener 
Komplex  hat  schlechthin  ideellen  Charakter,  von  ihm  als 
alleinigem  Ausgangspunkt  her  führt  keine  Brücke  zur  greif- 
baren Wirklichkeit,  die  vielmehr  aufserhalb  seiner  durch 
einen  besonderen  Akt  gesetzt  sein  mufs.  Über  dieser  hat 
der  Begriff  des  Naturgesetzes  nun  eine  Welt  eröffnet,  deren 
Bedeutung  man  glücklich  als  die  des  „Geltens"  formuliert 
hat,  ohne  damit  freilich  ihre  Rolle  für  unser  Weltbild  zu 
erschöpfen.  Das  Gesetz  „gilt",  gleichviel  ob  der  Fall,  den 
es  beschreibt,  einmal  oder  millionenmal  stattfindet  und  dia 
Ausnahmslosigkeit,  mit  der  es  bestimmt:  wenn  A  ist,  so 
ist  B  —  bezahlt  es  mit  der  völligen  Unfähigkeit ,  zu  be- 
stimmen, ob  A  ist;  so  bestimmt  das  Staatsgesetz,  dafs  einer 
Missetat  eine  gewisse  Strafe  zu  folgen  hat,  und  diese  Be- 
stimmung gilt,  ganz  unabhängig  von  der  Häufigkeit  oder 
Seltenheit  ihres  Inkrafttretens.  Wir  pflegen  alle  Inhalte  und 
Möglichkeiten  unseres  Gesichtskreises  in  eine  Alternative 
einzustellen:  ob  sie  sind,  eine  objektive  Wirklichkeit, 
empirischen  oder  transszendenten  Sinnes,  besitzen  —  oder 
ob  sie  subjektiv  gedacht  werden ,  eine  psychologische 
Existenz,  eine  bestätigte,  irrende,  phantastische,  führen. 
Die  Gesetze  der  Dinge  aber  bilden  ein  drittes  Reich  jenseits 
dieser  beiden.  Dafs  siegelten,  ist  freilich  eine  blofse  Tat- 
sache, ein  Seiendes ;  ihr  Inhalt  aber,  das,  was  sie  bedeuten, 
wird  von  der  Frage  nach  dem  Sein  überhaupt  nicht  be- 
rührt :  was  sie  aussagen ,  gilt  zwar  für  das  Sein,  das  Sein 
aber  nicht  für  jenes.  Ebensowenig  aber  ist  das  Gesetz  etwas 
blofs  Gedachtes,  ein  psychologischer  Subjektivismus,  von 
dem  es  sich  vielmehr  aufs  gründlichste  unterscheidet.  Natür- 
lich kann  das  Gesetz  von  einem  einzelnen  Bewufstsein  vor- 
gestellt werden,  ganz  ebenso  wie  es  von  einer  einzelnen 
Seins-Kombination  realisiert  werden  kann ;  es  erschöpft  aber 


—   m    — 

in  der  psychologischen  Darstellung  seinen  Sinn  so  wenig 
wie  in  der  physisch-konkreten.  Wir  müssen  das  Gesetz  als 
geltend  vorstellen,  gleichviel  ob  es  gedacht  wird  oder  nicht, 
ob  wir  es  richtig  erkennen  oder  uns  darüber  täuschen.  Aus 
der  besonderen  Kategorie  lieraus,  in  der  es  als  Gesetz  be- 
steht, kann  sein  Inhalt  sich  in  die  Bewulstseinsform  wie  in 
die  Wirklichkeitsform  kleiden ,  ohne  darum  in  eine  von 
diesen  oder  in  eine  Mischung  oder  einen  Zwischenzustand 
ihrer  auflösbar  zu  sein;  sie  ist  vielmehr,  als  dem  Sein  und 
dem  Denken  koordiniert,  ebenso  wie  diese  undefinierbar  und 
nur  unmittelbar  zu  ergreifen,  wenn  auch  noch  nicht  mit 
derselben  psychologischen  Leichtigkeit  und  Gewohntheit. 
Ist  diese  erkenntnistheoretische  Stellung  der  Naturgesetze 
erst  erfafst,  so  ist  es  absolut  klar,  dafs  sie  von  sich  allein 
aus  die  Geschichte,  die  eine  Geschichte  von  Tatsachen  ist, 
nicht  zu  konstruieren  gestatten.  Da  sie  aber  nichtsdesto- 
weniger für  das  Tatscächliche  gelten,  so  ermöglichen  sie 
von  jedem  gegebenen  Ausgangspunkt  die  Deduktion  oder 
das  Verständnis  des  nächsten  oder  eines  anderen  Raum- 
Zeitinhaltes  überhaupt  in  dem  Mafse,  in  dem  die  für  jenen 
ersten  Inhalt  geltenden  Gesetze  bekannt  sind.  Soweit  es 
daran  mangelt,  mufs  die  Kenntnis  der  Tatsachen  als  solcher 
eintreten.  Was  wir  Verständnis  der  Tatsachen  nennen,  ist 
in  der  Regel  eine  Art  Zwischenerscheinung:  unsere  Gesetzes- 
kenntnis reicht  zwar  nicht  aus,  den  Tatsachenzusammenhang 
von  einem  einzigen  Elemente  aus  aufzubauen ,  allein  wenn 
jener  uns  historisch  gegeben  ist,  hilft  uns  dies  sozusagen 
auf  die  Spränge,  an  dem  Leitfaden  der  festgestellten  Tat- 
sachen kommen  wir  leichter  auf  die  Gesetze,  die  für  sie 
gelten,  und  begreifen  so  wenigstens  nachträglich,  weshalb 
das  „so  kommen  mufste" ,  was  ohne  jenen  Leitfaden  zu 
konstruieren  unsere  Gesetzeskenntnis  nicht  zugereicht  hätte. 
Jener  Feststellung  des  Geschehenen,  die  man  im  weitesten 
Sinne  historisch  nennt,  könnte  die  Geschichte  also  selbst 
dann  nicht  entraten,  wenn  sie  die  gesuchten  historischen 
Gesetze  besäfse,  und  zwar  gerade  nicht,  sobald  sie  mit  dem 
Begriff  des  Gesetzes  Ernst  macht.  Ist  jemand  geneigt,  von 
diesen  beiden  Elementen  des  Erkenntnisbildes  der  Welt  nur 
den  erkannten  Gesetzen  den  Titel  „\\'issenschaft"  zu  ver- 
leihen,   der    Tatsachenfeststellung   aber,    ohne    welche  jene 


—    95     — 

niemals  ein  Bild  der  Wirklichkeit  ergäben ,  ihn  vorzu- 
enthalten, so  ist  dies  eine  belanglose  Eifersucht  auf  Worte. 
Hat  man  sich  jene  Machtgrenze  der  Gesetze  gegen  die 
AMrklichkeit  klar  gemacht,  so  stellt  uns  das  Dasein  eben 
vor  zwei  gesonderte  Arten  von  Pi'oblemen,  die  es  zu  lösen, 
aber  nicht  zu  titulieren  gilt. 

Nun  ist  diese  Grenze  freilich  innerhalb  der  Praxis 
unseres  un vollendbaren  Wissens  ebenso  verschiebbar,  Avie 
sie  es  dem  Prinzip ,  dem  inneren  methodischen  Sinne  nach 
nicht  ist,  Dafs  die  Existenz  Friedrichs  des  Grofsen  nicht 
ebenso  berechnet  werden  kann ,  wie  die  des  Neptun  es 
konnte,  liegt  ersichtlich  nur  an  dem  qviantitativen  Unter- 
schiede zwischen  unserem  psychologisch -politischen  und 
unserem  astronomischen  Wissen.  Ich  erwähnte  schon,  dafs, 
je  geringer  die  Zahl  der  gewufsten  Gesetze,  um  so  mehr 
die  Berechnung  aus  diesen  durch  die  Tatsachenfeststellung 
ergänzt  werden  mufs,  um  zur  Kenntnis  des  Wirklichen  zu 
gelangen.  Die  historisch  gewufste  Wirklichkeit  ist  der 
Grenzbegriff  der  gewufsten  Naturgesetzlichkeit,  da  bei  Voll- 
endung der  letzteren  eine  einzige  historische  Tatsache  zur 
Vollendung  des  Wissens  überhaupt  genügen  würde.  Die 
prinzipielle  Zweiheit  des  historisch  -  tatsächlichen  und  des 
Gesetzes- Wissens  würde  hiermit  ihr  Minimum  von  Reali- 
sierung erlangen,  ohne  darum  von  ihrer  Tiefe  irgend  etwas 
zu  verlieren;  mangels  jenes  Vollendungsstadiums  verbreitert 
sich  diese  jetzt  zu  dem  Unterschiede  der  Geschichte  als 
einer  Erkenntnis  des  tatsächlich  Stattgehabten,  und  der  Er- 
forschung der  Gesetze,  die  zwar  zeitlos  und  also  auch  für 
jenes  Geschehende  gelten,  aber  es,  wegen  ihrer  Fremdheit 
gegen  alle  Wirklichkeit,  niemals  ersetzen  können.  An  un- 
zähligen Punkten  des  Weltbildes  müssen  die  Erscheinungen 
als  unherleitbare,  als  blofs  gegebene  Tatsachen  hingenommen 
werden;  hätten  wir  aber  auch  jene  restlose  Erkenntnis,  so 
würde  noch  immer  der  besondere  Inhalt  ihrer  Zeit-  und 
Raumstelle  das  nicht  zu  rationalisierende  Element  sein,  das 
durch  Gesetze  nicht  absolut,  sondern  immer  nur  unter  Vor- 
aussetzung einer  vorangegangenen,  ihrerseits  nun  unter  der 
gleichen  Irrationalität  stehenden  Tatsache  deduzierbar  wäre. 

Wie  wir  indes  früher  schon  den  Begriff  der  Gesetze 
als  der  Formulierungen  reiner  Energien  aus  dem  Geschichts- 


—     90     — 

begriff  ausschalten  mufsten,  da  dieser  sich  jedenfalls  auf 
Komplikationen  des  Daseins,  jener  aber  nur  auf  dessen  ein- 
fache Elemente  bezieht;  wie  aber  die  empirische  Forschung 
sich  auf  einem  kontinuierlichen  Wege  von  einem  dieser  an 
sich  unversöhnlichen  Extreme  zum  anderen  befindet  und 
jedes  ihrer  Stadien  beiden  zugewandt  ist:  so  verhält  sie 
sich  entsprechend  gegenüber  dem  jetzigen  noch  radikaleren 
Gegensatz  zwischen  historischer  und  Gesetzeserkenntnis. 
Gewifs  wohnt  die  zeitliche  Realität,  die  die  erstere  feststellt, 
in  einer  völlig  anderen  Kategorie  als  die  zeitlose  Gültigkeit 
von  Gesetzen;  allein  da  die  Geschichte  nie  das  abstrakte 
Sein,  sondern  nur  Seinsinhalte  konstatiert,  so  ist  sie  dazu 
dem  einzelnen  gegenüber  nur  dann  berechtigt,  wenn  dieser 
durch  ein  Gesetz  als  möglich  gezeigt  wird  —  wobei  die 
Möglichkeit  steigende  Grade  besitzt,  bis  zu  dem  unerreich- 
baren Ideal  der  Notwendigkeit.  Wir  erkennen  keinen  als 
Wirklichkeit  sich  darbietenden  Geschichtsinhalt  an ,  der 
nicht  innerhalb  seiner  Zusammenhänge  von  Gesetzen  der 
inneren  und  äufseren  Natur  legitimiert  wird  ^).  Wenn  man 
die  Kantische  Lehre  in  die  paradoxe  Formel  fassen  kann : 
Erfahrung  ist  mehr  als  Erfahrung  —  d.  h.  sie  enthält  aufser 
den  Sinneselementen ,  die  ihr  den  spezifischen  Charakter 
geben ,  die  apriorischen  Formen ,  die  zwar  von  ihr  unab- 
hängig sind,  sie  aber  nicht  von  ihnen  —  so  darf  man  sagen: 
Geschichte  ist  mehr  als  Geschichte.  In  ihrer  spezifischen 
Bedeutung  ist  sie  freilich  die  Wissenschaft  vom  Wirklichen, 
und  das  nicht  zu  rationalisierende ,  nicht  auf  Gesetze  zu 
bringende  Seins-Element  in  ihr  stellt  sie  ihrem  Sinne  nach 
für  immer  jenseits  des  ideellen  Kelches  der  Gesetze.  Aber 
welcher  Seinsinhalt  denn  nun  innerhalb  seines  raum-zeit- 
lichen  Zusammenhanges  anerkannt  werden  kann,  lehren  uns, 
wie  die  Technik  unseres  Erkennens  nun  einmal  beschaffen 
ist,  nur  jene  gegen  das  Sein  völlig  indifferenten  Gesetze.  — 


1)  Ich  will  hierherein  nicht  die  der  allgemeinen  Erkenntnis- 
tl  eorie  zugehörige  Schwierigkeit  mischen:  inwieweit  die  Gesetze, 
die  uns  die  Wirklichkeit  glaubhaft  machen,  aus  der  Wirklichkeit 
selbst  gewonnen  sind.  Tatsächlich  scheint  dies  einer  jener  Zirkel 
zu  sein,  die  der  relativistische  Charakter  ixnseres  Erkennens  diesem 
zu  Grunde  legt.  Indessen  bleibt  die  obige  Feststellung  von  dieser 
oder  einer  entgegengesetzten  Grundüberzeugung  unabhängig. 


—     97     — 

Neben  der  graduellen  Bedeutung,  die  historische  Ge- 
setze mit  Rücksicht  darauf  haben  können,  dafs  Naturgesetze 
nur  für  einfache  Elemente  gelten  können,  steht  nun,  Avie 
oben  angedeutet,  noch  ein  zweiter  möglicher  Wert  ihrer. 

Ich  erinnere  daran,  dafs  wir  von  keinem  vorliegenden 
Gesetz  wissen  können,  ob  es  wirklich  jene  absolute  Geltung 
hat,  die  es  als  Gesetz  von  einer  blofsen  Tatsachenfolge 
unterscheidet;  worauf  die  praktische  Kontinuität  der  me- 
thodisch unbedingt  geschiedenen  Naturgesetze  und  histo- 
rischen Gesetze  zu  beruhen  schien.  Allein  diese  Kontinuität 
läuft  nur  in  einer  Richtung:  vielleicht  ist  alles,  was 
uns  heute  als  Gesetz  erscheint,  nur  zufällige  Kombination 
der  tiefer  liegenden  wirklichen  Gesetzlichkeiten ;  die  um- 
gekehrte Möglichkeit  aber  gilt  für  viele  Erscheinungen  mit 
Sicherheit  nicht.  Die  geschichtlichen  Erscheinungen  sind 
jedenfalls  Resultate  sehr  vieler  zusammentreffender  Be- 
dingungen, und  deshalb  keinesfalls  aus  je  einem  Natur- 
gesetz herzuleiten.  Freilich  müssen  wir  die  einfachste  Be- 
wegungsform, zu  der  die  Analyse  bis  zu  dem  gegebenen 
Augenblick  gedrungen  ist,  als  den  realen  Grundtypus  der 
Bewegungen  überhaupt  und  ihr  Gesetz  als  den  Ausdruck 
der  wirkenden  Grundkraft  ansehen,  während  wir  zugleich 
es  für  möglich  halten  müssen ,  dafs  auch  dieses  Einfachste 
einmal  zu  einer  blofsen  Erscheinung  tiefer  liegender  Kräfte 
wird,  welche  erst  ihrerseits  die  zulängliche  Erklärung  der 
Folgeerscheinung  abgäben.  Allein  zwischen  den  Gesetzen, 
die  dieser  Möglichkeit  als  blofser  Möglichkeit  unterliegen, 
und  den  historischen  liegt  ein  fast  unübersehbarer  Weg. 
Und  Avenn  wir  etwa  auch  prinzipiell  zugäben,  dafs  das 
eigentliche  Erfolgen  und  seine  Kraft  uns  verborgen  ist  und 
wir  auf  die  Beobachtung  des  blofsen  Folgens  angewiesen 
sind,  so  bleibt  doch  der  empirische  Unterschied  zwischen 
der  kausalen  und  der  blofs  zeitlichen  Beziehung  für  die 
Zwecke  unseres  Erkennens  bestehen.  Mag  die  Grenze 
zwischen  beiden  eine  fliefsende  sein ;  jedenfalls  mufs  sie  vor 
dem  kompliziertesten  überhaupt  beobachteten  Geschehen 
liegen;  und  dieses  eben  ist  die  Menschengeschichte. 

Während  damit  nun  die  historischen  Gesetze  in  letzter 
Instanz  verurteilt  scheinen,  eröffnet  sich  ein  völlig  anderer 
Standpunkt   ihnen  gegenüber,    sobald    wir,   eine   oben    ein- 

Simmel,  Gescliichtsphilosophie.    2.  Aufl.  7 


—     98     — 

geleitete  Gedankenreihe  aufnehmend,  das  historische  Ge- 
schehen nicht  mehr  als  Kombination  einfacher,  im  eigent- 
lichen Sinne  realer  Eleraentarvorgänge  gelten  lassen.  Viel- 
mehr: das  besondere  und  selbständige  Erkenntnisinteresse 
der  Historik  gestattet  oder  verlangt,  dafs  die  originalen 
Synthesen,  KollektivbegrifFe,  Zusammenhänge,  in  die  sie 
die  Wirklichkeit  gliedert,  als  Einheiten,  ohne  das  Be- 
dürfnis nach  weiterer  Auflösung,  gelten.  Vom  Standpunkt 
der  Naturwissenschaft  wären  sie  dies  freilich  nicht,  aber  in 
deren  Problemkreise  treten  sie  auch  gar  nicht  ein ,  da  sie 
ausschliefslich  um  der  Zwecke  des  historischen  Erkennens 
w'illen  gebildet  sind.  Was  man  die  apriorischen  Kategorien 
der  Historik  nennen  könnte:  die  Bildungsgesetze,  durch  die 
der  vorwissenschaftliche  Wirklichkeitsstoff  zu  der  Möglich- 
keit, Erkenntnis  zu  werden,  geformt  wird  —  das  geht  gar 
nicht  auf  Elemente,  die  in  jeder  Hinsicht  als  Atome  gelten 
können.  Das  Erkenntnisideal,  das  an  diesen  mündet,  ist 
von  vornherein  ein  anders  gewandtes,  ohne  darum  ein 
definitiveres  oder  legitimeres  zu  sein.  Von  diesem  Stand- 
punkt aus  mag  man  die  Denkrichtung  der  Historik  noch 
so  weit  und  bis  zu  ihrer  Vollendung  verfolgen  —  man 
kommt  niemals  auf  die  im  naturwissenschaftlichen  Sinne 
letzten  Bestandteile,  da  diese  in  einer  ganz  anderen  geistigen 
Ebene  liegen. 

Ich  habe  vorhin  als  Beispiel  des  scheinbar  abschliefsen- 
den,  schlechthin  zu  erstrebenden  „Verständnisses"  angeführt, 
dafs  dieses  der  Marathonschlacht  gegenüber  erreicht  wäre, 
wenn  man  die  Lebensgeschichte  jedes  individuellen  Kämpfers 
psychologisch  und  physiologisch  restlos  kennte  und  ver- 
stände. Abgesehen  nun  von  der  dort  geübten  Kritik  dieses 
Ideals,  die  schliefslich  doch  noch  auf  dem  gleichen  Boden 
mit  ihm  selbst  stand,  darf  man  seine  unbedingte  Gültigkeit, 
selbst  als  Ideal,  verneinen.  W'enn  wir  nämlich  alles  dies 
Individuelle  Avüfsten ,  so  wären  die  Fragen,  die  das  histo- 
rische Interesse  nun  einmal  stellt,  damit  noch  nicht  be- 
antwortet. Es  will  gar  nicht  oder  wenigstens  nicht  nur 
wissen,  wie  sich  dieser  und  jener  einzelne  Grieche  benommen 
hat:  es  will  wissen,  wie  sich  „die  Griechen"  benommen 
haben.  Und  dieses  neue  Subjekt  ist  keineswegs  das  Resultat 
der  Addition    aller  einzelnen  Griechen.     Denn   in  dem  ein- 


—    99    — 

zelnen  liegen  diejenigen  Züge,  die  ihm  mit  den  anderen 
gemeinsam  sind  und  in  das  Gesamtbild  des  griechischen 
Verhaltens  oder  des  griechischen  Charakters  hinein- 
gehören ,  koordiniert  neben  den  rein  persönlichen  und 
unvergleichbaren ;  beides  verflicht  sich  im  Individuum  so 
vollkommen  zur  Gesamtpersönlichkeit ,  dafs  es  in  der 
auf  jenes  isolierten  Betrachtung  gar  nicht  herauszulösen 
ist.  Es  bedarf  also  einer  Synthese,  die  von  vornherein 
über  die  atomisierende  Tendenz  hinübergreift  und  so  erst 
den  Gegenstand  zustande  bringt,  nach  dem  wir  fragen. 
Auch  wird  das  gleiche  Verhalten  in  der  Schlacht  bei 
jedem  aus  irgendwie  vom  anderen  verschiedenen  seelischen 
Antezedentien  resultiert  sein ;  aber  die  historische  Frage- 
stellung geht  jetzt  nicht  auf  diese  Verschiedenheiten,  sondern 
auf  den  Querschnitt,  der  den  Gleichheitspunkt  innerhalb 
dieser  mannigffiltigen  Entwicklungen  sichtbar  macht  —  der 
doch  von  dem  Standpunkt  des  Individuums  aus  keine 
prinzipiell  oder  genetisch  andere  Bedeutung  hat,  als 
seine  Differenzpunkte  gegen  die  anderen.  Hier  wird  also 
das  Material,  das  die  naturwissenschaftlich-individualistische 
Betrachtung  in  die  Bewegungen  kleinster  Teile  und  deren 
Gesetze  auflösen  mufs,  zu  Synthesen  gebracht,  die  von  den 
jetzigen  Fragekategorien  aus  als  Einheiten  funktionieren 
und  deren  Zusammenhangsformen  wir  gleichfalls  als  Gesetze 
—  wenngleich  nicht  im  Sinne  des  naturwissenschaftlichen 
Ideals,  sondern  in  einem  nachher  noch  zu  deutenden  — 
bezeichnen  können. 

Einen  zweiten  Typus  von  Beispielen  bezeichnet  das 
„historische  Gesetz"  der  Differenzierung  als  der  bestimmenden 
Norm  der  Weltgeschiclite.  Die  Gesamtheit  der  Betätigungen, 
die  das  Leben  zu  seiner  Erhaltung  fordert,  wird  in  primi- 
tiveren Epochen  von  jedem  einzelnen  geleistet,  und  der 
Fortschritt  besteht  darin,  dafs  sie  mehr  und  mehr  verteilt 
werden,  und  ein  jeder  statt  einer  Mannigfaltigkeit  von  Be- 
tätigungen nur  eine  und  eine  immer  spezialisiertere  übt; 
die  Verfeinerung  des  Gefühlslebens,  das  Auseinanderwachsen 
der  Interessen  Inhalte,  die  sich  eben  dadurch  wieder  organisch 
verschlingen,  die  Lösung  gewalttätiger  Sozialisierung,  die 
Stiftung  von  Verbänden  mit  steigender  objektiver  Zweck- 
mäfsigkeit  —  dies  alles  sind  Wandlungen,    die  man  durch- 


—      10(1     — 

aus  unter  den  Begriif  der  Differenzierung  bringen  kann. 
Was  freilich  diese  einzelnen  Veränderungen  hervorbringt, 
sind  einzelne  besondere  Kräfte,  durch  Not  oder  zubillige 
Konstellation,  durch  Eifersucht  oder  Genialität  erweckt, 
deren  Erfolge  erst  nachträglich  in  dem  Begriif  der  Diffe- 
renzierung zusammen gefafst  werden.  Die  Differenzierung 
ist  dasjenige,  was  herauskommt,  nachdem  alle  diese  Kräfte 
gewirkt  haben,  und  wir  können  sie  nicht  als  Kollektivkraft 
über  alle  diese,  nicht  als  die  einheitliche  Energiequelle 
setzen ,  von  der  nur  durch  die  Zufälligkeit  der  Lagen  ge- 
wisse Teilquanta  in  verschieden  erscheinende  Aktualität 
gerufen  würden. 

Allein  auf  jene  realen  Grundvorgänge  und  ihre  indivi- 
duellen Triebkräfte  richtet  sich  die  historische  Frage  keines- 
wegs ausschliefslich.  Sondern,  nachdem  derartige  Tatsachen 
einmal  unter  den  Begriff  der  Differenzierung  gebracht  sind, 
verlangen  wir  die  mannigfaltigen  Stufen  und  Arten  zu 
kennen,  in  denen  sich  dieselbe  entwickelt,  die  Regelraäfsig- 
keiten  ihrer  Erscheinung,  ihre  Verknüpfung  mit  anderen, 
die  primären  Vorgänge  von  der  gleichen  Distanz  her  zu- 
sammenfassenden Begriffen,  wie  Freiheit,  Entwicklungstempo, 
Kollektivbewufstsein ,  Form  und  Inhalt  der  sozialen  Be- 
wegungen, Niederschlag  derselben  in  objektiven  Gebilden 
des  Rechtes,  der  Sitte,  der  Technik,  und  vieles  andere. 
Natürlich  sind  hier  nicht  logisch -begriffliche  Verhältnisse 
und  Entwicklungen  gemeint,  sondern  historische,  konkrete 
Geschehnisse  und  ihre  Regelmäfsigkeiten,  aufgelafst  nach 
ihrer  begrifflich  ausdrückbaren  Gesamterscheinung.  Es 
handelt  sich  hier  um  eine  eigenartige  Schicht  von  Begriffen, 
die  eine  besondere  Sublimierung  der  elementaren  Tatsachen 
darstellen.  Wenn  wir  historische,  durch  Einzelkräfte  ver- 
wirklichte Ereignisse  oder  Zustände  als  Differenzierung  und 
Integrierung,  als  Spannung  und  Lösung  sozialer  Energien, 
als  Aufbau  von  Schichten,  als  soziale  Infektion,  als  Be- 
schleunigung oder  Erstarrung  der  Lebensprozesse  der  Gruppe 
bezeichnen  —  so  sind  dies  weder  reine  Allgemeinbegriffe, 
die  das  Gemeinsame  aus  primären  Daten  bezeichneten,  noch 
reine  Symbole,  die  ein  Zeichensystem  für  diese,  ohne  jede 
inhaltliche  Beziehung  zu  ihnen,  darstellen.  Vielmehr  haben 
sie  gewissermafsen  an  diesen  beiden  Gebilden  teil,  sie  fassen 


—     lol     — 

die  einzelnen  historischen  Faktoren  nach  ihrem  Effekt  als 
Gesamterscheinung,  aber  der  Begriff,  der  diese  ausdrückt, 
steht  in  einer  Region  für  sich,  und  wenn  er  auch  aus  jenen 
Quellen  der  unmittelbaren  \Mrklichkeit  genährt  ist,  so  hat 
er  sie  doch,  wie  ein  organischer  Körper  seine  Nahrung,  in 
eine  neue  Einheit  erhoben.  Es  ist  deshalb  nicht  nur  die 
Funktion  dieser  historischen  Begriffe  und  ihrer  Anwendungen, 
die  als  Ganzes  unkennbare  Quantität  und  Qualität  der 
historischen  Erscheinungen  zu  überwinden.  Denn  diese 
Aufgabe  hat  schliefslich  nur  negativen  Charakter,  während 
das  eigentliche  Problem,  ihre  Leistung  in  der  vorliegenden" 
Wissenschaft  zu  deuten,  dadurch  gestellt  war,  dafs  sie  eine 
positive  neue  Begriffs  weit  aufbauen.  Die  Beispiele  „historischer 
Gesetze",  die  ich  oben  kritisierte,  gewinnen  auf  diesem 
Niveau  eine  ganz  andere  Bedeutung,  als  durch  jenen  früheren 
Anspruch,  die  verursachenden  Energien  des  unmittelbaren 
Geschehens  nachzuzeichnen.  Galt  es  etwa  als  „Gesetz"  der 
historischen  Entwicklung,  dafs  jede  gröfsere  Gruppe  die 
Stadien  von  Jugend,  Männlichkeit  und  Altersverfall  durch- 
mache, so  konnten  wir  es  ablehnen,  in  dieser  Reihenfolge 
die  Triebkräfte  zu  erblicken,  die  die  so  zusammengefafsten 
Einzeitatsachen  erklärten.  Wenn  wir  nun  trotzdem  fühlen, 
dafs  diesem  Typus  von  Sätzen  irgendeine  Wahrheitsbedeutung 
innewohnt  —  abgesehen  von  der  Bestreitbarkeit  der  einzelnen 
Materie  — ,  wenn  sich  uns  das  Bild  geschichtlicher  Ent- 
wicklung unzählige  Male  in  derartigen  Begriffen  darstellt, 
so  offenbart  sich  damit  eine  Erkenntnisforderung,  die  mit 
der  nach  der  unmittelbaren,  elementaren  Kausalität  nicht 
mehr  zusammenfällt.  Denn  nachdem  die  Umbildung  des 
konkreten  und  singulären  Geschehens  zu  diesen  höheren 
historischen  Begriffen  geschehen  ist,  ändern  sich  auch  die 
Verbindungen,  mit  denen  aus  ihnen  eine  Erkenntnis 
erwächst.  Wenn  wir  von  dem  Gesamtcharakter  in  der 
Konstitution  der  politischen  Gruppe  sprechen  und  behaupten, 
dafs  derselbe  sich  an  der  Verfassung  der  Einzelfamilie 
wiederhole;  wenn  zwischen  politischem  Verfall  und  künst- 
lerisch-wissenschaftlichem Aufschwung  ein  Zusammenhang 
erblickt  wird;  wenn  ein  beschleunigtes  Tempo  im  Wechsel 
der  Anschauungen,  Moden,  Bildungsinteressen,  politischen 
Richtungen  regelmäfsig  mit  der  ökonomischen  Vorherrschaft 


—     102     — 

des  Mittelstandes  verknüpft  scheint  —  so  machen  diese  Ver- 
bindungen das  Netzwerk  mannigfaltigster  Kausalitäten,  von 
denen  die  individuellen  Ereignisreihen  bestimmt  werden, 
keineswegs  kenntlich;  aber  sie  vertreten  diese,  indem  sie 
aus  den  Begriffen,  in  denen  sich  die  erscheinenden  Folgen 
jener  Einzelereignisse  abgelagert  haben,  ein  nur  in  dieser 
Abstraktlonsschiclit  heimatberechtigtes  Gewebe  herstellen; 
welches  Gewebe  sich  dann  zu  den  empirischen  Einzelheiten 
generell  verhcält  wie  die  grofsen  philosophischen  Begriffe 
des  Seins  und  ^^'erdens,  des  Geistes  und  des  metaphysischen 
Willens,  des  All -Lebens  und  des  Mechanismus,  deren 
Kombinationen  der  aus  ganz  anderen  Quellen  heraus  sich 
gestaltenden  Wirklichkeit  „wie  aus  der  Ferne"  folgen.  In 
beiden  Fällen  sind  es  besondere  Bedürfnisse  des  Erkennens, 
die,  von  der  Verfolgung  der  einzelnen  Wirklichkeitsreihen 
und  ihrer  Gesetze  nicht  befriedigt,  von  sich  aus  die  neuen 
Distanzen  herstellen,  in  denen  sie  diese  erblicken  wollen. 
Aber  mit  den  Unterschieden  der  Distanz  fordert  der  Begriffs- 
bau auch  einen  unterschiednen  Stil ,  der ,  als  Stil ,  die 
Kriterien  seiner  „Richtigkeit"  nur  in  sich  trägt  und  sie 
nicht  von  der  ganz  anderen  Bedürfnissen  entsprungenen 
Erkenntnis  der  unmittelbar  empirischen  Einzelverhältnisse 
entlehnen  kann.  Das  Mifsverständnis  dieser  Verwechslung 
mufs  um  so  sorgfältiger  vermieden  werden,  je  näher  es 
liegt,  weil  diese  letztere  Erkenntnis  immer  der  Stoff  jener 
anderen  bleibt,  dessen  inhaltliche  Bedingungen  erfüllt  sein 
müssen,  damit  die  freilich  von  ganz  anderen  Erkenntnis- 
forderungen ausgehende  spezifische  „Wahrheit"  dieser  höheren 
historischen  Begriffe  realisiert  werde.  Das  Verhältnis  dieser 
zu  jenem  Material  mag  ungefähr  eine  Mittelstufe  einnehmen 
zwischen  dem  der  Kausalität  zu  der  zeitlich  gegebenen 
Folge  der  Wahrnehmungen  und  dem  des  Kunstwerkes  zu 
seinem  Beobachtungsmaterial.  Es  handelt  sicK  im  Prinzip 
darum,  die  formgebende  Macht  des  Erkennens  zu  durch- 
schauen, die  sich  innerhalb  der  Historik  so  leicht  verbirgt, 
weil  schon  ihr  Gegenstand  „Geist"  und  irgendwie  geformt 
ist.  Aber  diese  Gestaltungskraft  erhebt  sich  in  vielerlei, 
über-  und  nebeneinandergebauten  Instanzen  oder  Potenzen, 
und  sie  wird  je  nach  den  verschiedenen  Bedürfnissen  des 
Erkennens  ausgeübt,  gleichviel  ob  der  durch  sie  bearbeitete 


—     103     — 

Stoflf  von  anderen  Gesichtspunkten  aus  noch  als  Roh- 
material oder  als  schon  bearbeiteter  auftritt.  Freilich  fliefst 
hier  auch  eine  Quelle  von  falschen  Schätzungen  und  Forde- 
rungen, indem  diejenigen  Abstraktionen  und  Synthesen,  die 
bei  einer  gewissen  Distanz  von  dem  elementarsten  Material 
gelten,  sich  zur  Norm  für  andere  aufwerfen,  die  das  Recht 
einer  anderen  Distanz  sind.  Man  kann  dies  nur  mit  der 
Verwirrung  vergleichen,  die  die  Mischung  verschiedener 
Stile  innerhalb  eines  Kunstwerkes  ergibt.  Jeder  Stil  be-~^ 
stimmt  den  Abstand  von  der  unmittelbaren  Anschauung,  den 
die  Formgebung  einhält.  Dieser  Abstand  mag  so  grofs 
sein,  wie  er  will,  er  mag  nur  die  allerallgemeinsten  Wirk- 
lichkeitselemente zu  phantastischen  Gebilden  formen,  so  haben 
diese  doch  auf  ihrer  Stufe  eine  „Wahrheit",  indem  sie  ein 
konstantes,  wie  auch  abgeblafstes  und  nur  von  dem  Stil- 
gefühl seinerseits  bestimmtes  Verhältnis  zu  der  Unmittelbar- 
keit des  Daseins  besitzen.  Gehen  aber  die  verschiedenen 
Abständen  entsprechenden  Formgebungen  durcheinander 
—  was  man  als  Stilunreinheit  bezeichnet  — ,  so  entsteht 
sogleich  das  Gefühl  von  Unwahrheit  des  Kunstwerkes,  weil 
jedes  Distanzmafs  innerhalb  dieses  die  ihm  eigene  Form- 
foi-derung  unvermeidlich  an  das  Ganze  stellt  und  sie  nicht 
überall  erfüllt  findet.  So  mögen  die  Kombinationen  der 
höheren  historischen  Begriffe,  in  die  wir  den  Gesamteindruck 
der  singulären  Erscheinungen  zusammenfassen,  der  Geltung 
entbehren,  wenn  wir  sie  an  den  synthetischen  Formen 
messen ,  die  für  diese  letzteren  gelten ,  und  schliefslich  auf 
die  Bewegungsgesetze  der  kleinsten  Teile  ausgehen.  Damit 
aber  wird  ihnen  ein  für  sie  falsches  Ideal  gestellt,  sie 
können  nur  die  Verhältnisse  der  Dinge  angeben,  wie  diese 
sich  in  den  höheren  Abstraktionsschichten  des  Geistes 
spiegeln  und  die  die  Exaktheit  der  direkten  Erkenntnis  des 
Singulären  überhaupt  nicht  besitzen  dürfen,  wenn  siedle 
ihrer  Begriffsschicht  eigentümliche  Aufgabe  erfüllen  sollen. 
Endlich  mag  ein  drittes  Beispiel  einen  weiteren  Typus 
dieser  „Gesetzlichkeiten"  charakterisieren,  die  die  Zusammen- 
hänge der  zu  abstrakteren  Einheiten  sublimierten  Elementar- 
vorgänge aussprechen  und ,  weil  diese  besonderen  Form- 
forderungen des  Denkens  entsprechen,  auch  durch  die  ge- 
naueste  Kenntnis  jener  Einzelereignisse,    auf  die   sie   sich 


—     104     — 

beziehen,  nicht  überflüssig  werden.  Wenn  es  als  „soziales 
Gesetz"  gilt,  dafs  sich  unter  10000  jährlichen  Todesfällen 
eine  bestimmte  Anzahl  von  Selbstmorden  finden  —  so  er- 
scheint dies  ganz  niifsverständlich.  Denn  jeder  der  in  Be- 
tracht kommenden  Selbstmorde  ist  nur  das  Resultat  sozialer 
und  psychologischer  Kräfte  bczw.  der  Gesetze,  welche  diese 
beherrschen,  und  dafs  es  in  Summa  dann  so  und  so  viele 
gibt,  ist  das  Resultat  des  Wirkens  dieser  Gesetze  an  einem 
gegebenen  Stoff  und  kann  deshalb  nicht  selbst  ein  Gesetz 
sein.  Wiederholt  sich  nun  das  Zahlenverhältnis  eine  Zeit 
hindurch  kontinuierlich,  so  zeigt  dies  nur,  dafs  die  Be- 
dingungen für  das  Inkrafttreten  jener  Gesetze  immer  weiter 
vorhanden  sind ;  es  drückt  also  eine  Tatsache  aus ,  aber 
nicht  die  Ursache  derselben.  Den  einzelnen  Selbstmörder 
geht  es  auch  offenbar  gar  nichts  an ,  ob  neben  ihm  noch 
so  und  so  viele  andere  gleichfalls  Selbstmord  begehen,  und 
unter  denjenigen  Naturgesetzen,  aus  deren  realen  Wirkungen 
seine  Tat  hervoi'geht,  befindet  sich  augenscheinlich  nicht 
dies,  dafs  unter  10  000  Todesfällen  so  und  so  viele  Selbst- 
morde vorkommen.  Die  Addition  der  Fälle  ist  eine 
Synthesis,  die  der  Beobachter  vornimmt;  dafs  sie  dies  be- 
stimmte Resultat  ergibt,  ist  freilich  objektiv  begründet,  aber 
doch  nur  dadurch ,  dafs  jeder  seiner  Faktoren  es  ist, 
während  es  einen  fehlerhaften  Zirkel  und  eine  Art  mystischer 
Teleologie  bedeutet,  umgekehrt  aus  der  notwendigen  Be- 
stimmtheit des  Resultates  die  der  Faktoren  ableiten  zu 
wollen. 

^^'as  diesen  statistischen  Zusammenhang  als  etwas  rein 
Aufserliches  und  sozusagen  Kraftloses  erscheinen  läfst,  ist 
nur  die  an  ihn  herangebrachte  Forderung,  die  unmittelbaren 
Kausalitäten  der  sozialen  Elemente  kenntlich  zu  machen. 
Tatsächlich  aber  wird  mit  ihm  einem  anderen  Problem 
nachgegangen,  das  nicht  gelöst  und  nicht  ausgeschaltet  wäre, 
auch  wenn  wir  die  individuellen  Geschicke,  die  ihn  kon- 
stituieren, in  ihi-en  Elementen  und  Verursachungen  restlos 
durchschauten.  Denn  vermittels  historisch-sozialer  Kategorien 
bilden  wir  aus  diesen  Einzelfaktoren  und  -reihen  den  Be- 
griff eines  gesellschaftlichen  Ganzen,  dessen  Elemente  für 
das  in  Rede  stehende  Erkenntnisinteresse  nicht  mehr  jene 
singulär-realen  Grundvorgänge,    sondern   die  erscheinenden 


—     105     — 

Ergebnisse  derselben  sind.  Wir  wünschen  jetzt  die  Ver- 
hältnisse dieses  neuen ,  durch  wissenschaftliche  Synthese 
entstandenen  Gebildes:  der  zahlenmäfsig  bestimmten,  zur 
Einheit  zusammengefafsten  Gruppe,  zu  kennen.  Der 
Schicksalslauf  des  einzelnen  Selbstmörders  liefert  freilich 
das  Material  für  die  damit  erhobene  Frage,  aber  er  beant- 
wortet sie  nicht,  da  sie  überhaupt  nicht  in  der  Schicht 
der  unmittelbaren  Realitäten,  sondern  in  denjenigen 
liegen,  die  die  abstrakteren  Kategorien  aus  diesen  er- 
wachsen lassen  —  wie  etwa  die  geometrische  Beschreibung 
von  Kristallformen  und  deren  systematische  Anordnung 
nach  diesem  Gesichtspunkt  nicht  nach  den  Energien  fragt, 
die  den  einzelnen  Kristall  anschiefsen  lassen.  —  In  diesen 
Typus  gehören  die  Feststellungen  derjenigen  Verhältnisse, 
deren  Subjekte  einheitlich  charakterisierte  Teilgruppen 
innerhalb  gröfserer  Zusammenhänge  sind,  wie  wenn  z.  B. 
regelmäfsig  beobachtet  ist,  dafs  konfessionelle  Minoritäten 
einen  kriminell  und  moralisch  günstigeren  Aspekt  bieten 
als  ihre  Umgebung;  dafs  bei  sehr  weitem  und  vermittlungs- 
losem Abstand  der  Klassen  der  innere  Friede  ungestörter 
zu  sein  pflegt  als  bei  gröfserer  Kontinuität  innerhalb  der 
sozialen  Stufen;  dafs  im  Laufe  der  gesellschaftlichen  Ent- 
wicklung diejenigen  Einungen,  von  denen  jede  allen 
sozialen  Bedürfnissen  ihres  Mitgliedes  genügte  und  dieses 
dafür  auch  seiner  ganzen  Persönlichkeit  nach  in  Anspruch 
nahm  ,  durch  eine  Mannigfaltigkeit  solcher  ersetzt  werden, 
von  denen  jede  nur  einem  sachlichen  Einzelzweck  dient, 
und  dafs  diese  Entwicklung  mit  dem  Aufwachsen  grofser 
Zentralgewalten  parallel  geht.  In  all  diesen  Verhältnissen 
fängt  die  Feststellung  zwar  mit  den  individuellen  Reihen 
an,  geht  aber  nicht  innerhalb  ihrer  abvfärts  zu  ihren  indivi- 
duellen Ursachen,  sondern  aufwärts  zu  Einheiten,  die  das 
Erkennen  aus  der  einerseits  kontinuierlicheren,  andrerseits 
zersplitterteren  Wirklichkeit  herausschneidet  —  wie  es  etwa 
zwei  Linien  als  ein  Parallelenpaar  bezeichnet,  ohne  dafs  in 
die  Formel  oder  die  Genesis  der  einen  der  Umstand  irgend- 
wie einträte,  dafs  sie  einer  danebenstehenden  parallel  ist^). 


')  Es   ist   hier   zu  bemerken   —   was  gleich  im  Texte  seine  all- 
gemeine Deutung  findet  — ,  dafs  diese  gleichsam  an  den  Oberflächen 


lOG     — 


der  geschichtlichen  Ei'scheinungon  licrgestellten  Zuifammeiihängc  mit 
den  tiefer  greifenden,  auf  die  kausale  Genesis  gehenden  in  der  Praxis 
kontinuierlich  vei'bunden  sind.  Der  Parallelismus  der  Einzelreihen, 
von  denen  jede  in  sich  die  zureichenden  Ursachen  ihres  Verlaufes 
einschliefst,  geht  doch  sehr  oft  auf  soziologische  Wechselwirkungen 
zurück  —  sei  es,  dafs  die  Reihen  sich  unmittelbar  gegenseitig  bis 
zur  Ähnlichkeit  modifizieren,  sei  es,  dafs  sie  eine  Wechselwirkung 
produzieren  oder  vorfinden,  die  sich  zu  einem  herrschenden  Sonder- 
gebilde verselbständigt  hat,  und  dafs  dieses  sie  alle  in  gleichmäfsiger, 
nivellierender  Weise  beeinflufst.  Selbst  die  Konstanz  ihrer  blofs 
numerischen  Relationen  gestattet  oft  eine  Vertiefung,  deren  Vollendung 
bis  zur  kausalen  Gesetzmäfsigkeit  gehen  würde.  Dafs  unter  m 
Todesfällen,  etwa  10000,  die  SelbstmordszifiFer  n  konstant  bleibt, 
wird  zunächst  auf  das  Gesetz  der  grofsen  Zahl  hin  behauptet:  die 
Verschiedenheit  der  Einflüsse,  die  jedes  Individuum  für  sich  inner- 
halb eines  vorausgesetzten  Milieus  bestimmen,  gleichen  sich  für  die 
Beobachtung  aus,  sobald  man  eine  sehr  grofse  Anzahl  von  Indivi- 
duen, hier  also  10000,  in  Betracht  zieht;  es  ist  wahrscheinlich,  dafs, 
wenn  sich  in  weiteren  10000  eine  Anzahl  sehr  vom  Durchschnitt 
abweichender  Individuen  findet,  eine  entsprechende  Anzahl  nach 
anderen  Seiten  hin  abweichender  vorkommen  werden,  so  dafs  der 
Durchschnitt,  dem  das  Resultat  n  entspricht,  sich  wieder  herstellt. 
Nun  könnte  man  aber  statt  dieses  blofsen  Wahrscheinlichkeitsexempels, 
dessen  Faktoren  die  isolierten  Individuen  mit  für  die  Rechnung  sich 
generalisierenden  Verschiedenheiten  sind,  die  in  Frage  kommende 
Gesellschaft  als  ein  irgendwie  einheitliches  Ganzes  ansehen,  dessen 
innere  Kräfte  sich  im  Verhältnis  seiner  Teilnehmerzahl  entfalten. 
Dann  würden  durch  das  soziale  Zusammenleben  von  je  10000  Menschen 
Zustände  geschaffen,  die  unter  weiterer  Voraussetzung  ihrer  er- 
fahrungsmäfsigen  charakterologischen  Differenzierung  tatsächlich  n 
von  ihnen  zum  Selbstmord  treiben.  Wir  Avissen ,  dafs  die  rein 
numerischen  Abänderungen  der  Gruppe  entschieden  qualitative 
Modifikationen  ihrer  Zustände  und  Geschicke  zur  Folge  haben.  Es 
könnte  nun  sehr  wohl  sein,  dafs  m,  und  entsprechend  seine  Viel- 
fachen, gerade  dasjenige  Quantum  bedeuten,  bei  dem  die  zu  n  Selbst- 
morden disponierenden  sozialen  Verhältnisse  sich  erzeugen.  Es 
handelt  sich  also  um  die  beiden,  hier  nur  ganz  roh  skizzierten 
Voraussetzungen:  1.  Das  Zusammensein  der  Menschen  erzeugt  infolge 
der  Verschiedenheit  ursprünglicher  Begünstigung  an  Kraft,  Klugheit, 
Zufälligkeit  der  Lage  usw.  Verhältnisse  der  Konkurrenz,  der  Unter- 
drückung, der  Versagung  des  Gewünschten;  und  zwar  stellen  sich 
diese  Folgen  in  verschiedenem  Mafse  ein ,  je  nach  der  Ausdehnung 
des  sie  erzeugenden  sozialen  Ganzen.  2.  Unter  so  und  so  vielen 
Menschen  befinden  sich  so  und  so  viele  Choleriker,  Sanguiniker, 
Phlegmatiker  usw.  Das  Zusammentreffen  dieser  beiden  empirischen 
Tatsachen  bewirkt  als  Resultante,  dafs  in  einem  sozialen  Ganzen 
von   bestimmter  Gröfse   eine  bestimmte  Anzahl  von  Individuen  zum 


—     107     — 

Die  erste  Wendung  dieser  historischen  Problemstellung 
hatte  sich  auf  den  „Typus"  gerichtet,  dessen 'Art  und  Ver- 
halten mit  der  genauesten  Kenntnis  seiner  Einzelexemplare 
noch  nicht  gegeben,  sondern  erst  aus  ihr  durch  hinein- 
gebrachte Kategorien  zu  sublimieren  ist;  die  zweite  auf 
die  begrifflichen  Ausdrücke,  in  deren  Kombinationen  und 
Wandlungen  das  reale  Einzelgeschehen  sich  seiner  höheren 
historischen  Bedeutung  nach  erfassen  liefs,  aber  nicht  durch 
blofse  Abstraktion  des  ihm  Gemeinsamen,  sondern  es  wie 
in  einem  Spiegel  mit  besonderen  Brechungsgesetzen  zu 
einem  neuen,  wenn  auch  funktionell  von  jenem  abhängigen 
Bilde  zusammenführend.  Die  dritte  Wendung  endlich  be- 
traf Totalitäten ,  die  das  Erkennen  durch  das  synthetische 
Nebeneinanderstellen  von  Einzelwesen  hervorbringt  *,  die 
numerischen  oder  von  anderen  Kategorien  her  erfragten 
Verhältnisse  dieser  ergeben  sich  erst  aus  den  verglichenen 
Wirkungen  oder  Erscheinungen  jener  Reihen,  und  sind 
nicht  durch  irgendwelche  Kenntnis  der  Ereignisse  und  Ge- 
schicke zu  ersetzen,  die  sich  auf  deren  singulare  Konkret- 
heit und  Kausalität  beschränkt.  Es  ist  wichtig,  klarzustellen, 
dal's  es  sich  hierbei  nicht  um  ein  faute  de  mieux  handelt, 
dem  die  kausale  Gesetzmäfsigkeit  als  die  eigentliche  und 
allein  legitime  wissenschaftliche  Aufgabe  gegenüberstände, 
sondern  um  Erkenntnisziele  und  -formen  eigenen  Rechtes, 
die  sich  freilich  innerhalb  des  tatsächlichen  Erkennens  fort- 
während miteinander  und  mit  anderen  verweben,  oft  nur  in 
Anklängen  und  Bruchstücken  auftreten.  Aber  gerade  um 
das  vielverschlungene  Ganze  der  Historik  nach  den  Richtungs- 
linien zu  verstehen,  die,  sich  kreuzend  und  unterbrechend, 
ansetzend  und  abbiegend,  das  methodische  Schema  dieses 
Ganzen  zeichnen,  mufs  die  Erkenntnistheorie  seine  mannig- 


Selbstmord  getrieben  wird.  Wenn  also  die  Zahl  m  methodisch  nicht 
nur  als  eine  Zusammenfassung  so  vieler  Einzelwesen  gilt,  sondern 
als  ein  innerlich  verbundenes  Sozialwesen,  das  als  solches  besondere 
Eigenschaften,  funktionell  abhängig  von  seiner  Ausdehnung,  besitzt: 
so  ist  der  Satz,  dafs  unter  m  Menschen  einer  bestimmten  Kulturlage 
n  Selbstmörder  sind,  zwar  noch  immer  kein  fertiges  „Gesetz",  wohl 
aber  jene  Annäherung  an  ein  solches,  durch  die  uns  oben  die  erste 
Rechtfertigung  des  BegriflPes  historisch-gesellschaftlicher  Gesetze  ge- 
geben schien. 


—     108    — 

faltigen  Erkenntniswege  und  -interessen  reinlich  und  prin- 
zipiell sondern;  Freilich  ist  dabei  ein  gewisses  Mifsverhältnis 
unvermeidlich,  indem  Erkenntnisformen,  die  in  der  Praxis 
nur  selten,  immer  mit  anderen  gemischt,  nie  in  durch- 
geführter Konsequenz  auftreten,  für  die  Methodenlehre  ganz 
gleichberechtigt  und  gleichselbständig  neben  den  praktisch 
unvergleichlich  wichtigeren  stehen,  weil  ihre  innere,  begriff- 
liche Bedeutung  der  der  Naturgesetze  gleicht ,  deren 
systematischer  \^'ert  von  der  Häutigkeit  oder  Durchsichtigkeit 
ihrer  Anwendungsfälle  unabhängig  ist. 

Ich  beschliefse  diese  HiuAveisung  auf  Zusammenhänge, 
die  das  historische  Material  in  besondere  Erkenntnisformen 
giefsen  und  sich  damit  neben  diejenigen  historischen  Ge- 
setze stellen,  die  dem  naturwissenschaftlichen  Gesetzesbegriff 
zustreben,  —  diese  beschliefse  ich  mit  einer  Analogie  aus 
der  Kunst,  von  der  ich  schon  im  ersten  Kapitel  nach  anderer 
Richtung  hin  Gebrauch  gemacht  habe.  Die  Malerei  schafft 
auch  da,  wo  sie  realistisch  nur  das  Gegebene  wiederzugeben 
sucht,  einen  Zusammenhang,  Gliederung,  gegenseitige 
Deutung  der  Elemente  der  blofsen  Anschaulichkeit,  die 
von  den  realen,  diese  produzierenden  Kräften  völlig  absieht 
oder  sie  nur  sekundär  heranzieht.  Sie  folgt  dem  einzelnen 
Element  nie  in  seine  kausalen  Tiefen,  sondern  verwebt  nur 
seine  optische  Oberfläche  mit  anderen  zu  einem  Gebilde, 
dessen  innere  Verbindungsfäden  und  ICinheitsprinzipien  eben 
rein  optisch-artistisch  sind  und  in  den  objektiven,  immer 
unterhalb  der  Oberfläche  spielenden  Naturkausalitäten 
absolut  kein  Gegenbild  flnden.  Die  natürliche  Realität 
knüpft  diese  Gegebenheiten  eben  nach  völlig  anderen ,  in 
einer  ganz  anderen  Schicht  wirksamen  Kategorien  zusammen, 
als  die  Forderungen  der  Kunst  es  tun.  So  also  verhalten 
sich  jene  Kategorien,  die  die  Geschichte  nach  Typen,  nach 
Begriffen,  nach  numerischen  Relationen  in  Zusammenhänge 
bringen,  Sie  schaffen  Gebilde  nach  Forderungen  abstrakter 
oder  rein  auf  die  Erscheinung  gerichteter  Art  und  lassen 
zwischen  diesen  die  realistische  Kausalität  gewissermafsen 
in  der  Mitte  liegen.  Denn  die  singulären  Elemente,  die 
schliefölich  das  Objekt  der  auf  diese  letztere  gerichteten 
Erkenntnis  sind,  bilden  für  sie  nur  den  Stoff,  zu  dem  sie 
freilich  ein  stetiges  Verhältnis  haben  müssen.    Aber  von  der 


—     109     — 

Genesis  derselben,  wie  sie  in  Naturgesetzen  aufzufangen  ist, 
wissen  die  hier  wirksamen  Bedürfnisse  des  Erkennens  so 
wenig,  wie  das  Porträt  den  Naturgesetzen  nachgeht,  denen 
gemäfs  die  von  ihm  zu  neuer  Einheit  geformte  blolse  Ober- 
fläche   des    Menschen    tatsächlich    zustande    gekommen    ist. 

Und  nun  komme  ich  nochmals  auf  den  Ausgangspunkt 
dieses  Kapitels  zurück:  auf  das  Recht  der  Philosophie  an 
den  historischen  Gesetzen.  In  welchen  allgemeinen  Wissen- 
schaftsbegriff man  die  Beschäftigung  mit  ihnen  einreiht,  ist 
offenbar  eine  Erage  von  sekundärer  Wichtigkeit.  Zu  leugnen 
aber  ist  nicht,  dafs  die  beiden  Möglichkeiten,  ihnen  nach 
Zurückweisung  ihrer  hochfliegenden  Ansprüche  ein  Existenz- 
recht zu  retten,  den  beiden  Wegen  parallel  gehen,  auf 
denen  auch  die  philosophische  Spekulation  ein  solches  gewinnt. 

Wie  ich  schon-  ausführlich  hervorhob,  hat  diese  der 
exakten  Wissenschaft  gegenüber  die  Rolle  des  Vorläufers.  In 
allgemeinem  Überschlag,  in  ahnungsvollem  Ergreifen  des 
noch  Unbeweisbaren,  in  der  Kombination  von  Begrifi'en,  die 
an  der  Stelle  beobachteter  Tatsachenzusammenhänge  stehen, 
zeichnet  sie  Erkenntnisbilder,  die  die  methodische  Empirie 
oft  bestätigt,  oft  widerlegt;  aber  selbst  im  letzteren  Fall 
umschliefsen  den  materialen  Irrtum  die  grofsen  Linien  der 
Erkenntnistbrmen  und  -ziele,  die  bei  völligem  Ersatz  durch 
anderen  Inhalt  dennoch  die  Erstlinge  der  Wahrheit  bleiben, 
oft  auch  schon  die  Elemente  in  sich  tragen,  für  die  es  nur 
glücklicherer  Kombinationen  bedarf.  Allein  neben  dieser 
Bedeutung,  die  die  Philosphie  eigentlich  nicht  von  sich, 
sondern  von  den  Bestätigungen  entlehnt,  die  sie  durch 
andere  Wissenschaften  findet,  steht  eine  ganz  andere,  die 
in  ihr  selbst  beschlossen  ist.  Sie  baut  ein  Weltbild  nach 
Kategorien,  die  mit  denen  des  empirischen  Wissens  nichts 
—  oder  wenigstens  nicht  notwendig  —  zu  tun  haben:  ihre 
metaphysische  Deutung  der  Welt  steht  jenseits  der  Wahrheit 
und  des  Irrtums,  die  über  die  realistisch- exakte  entscheiden. 
Wenn  ihr  das  Dasein  als  die  Erscheinung  des  absoluten 
Geistes  oder  Willens  gilt,  das  sittliche  Handeln  als  die 
Aufserung  unseres  Noumenon ,  Körper  und  Seele  als  die 
beiden  Seiten  einer  einheitlichen  Substanz  —  so  Hegt  alles 
dies  in  einem  Niveau,  das  die  Kriterien  von  Bedeutsamkeit 
und    Richtigkeit    ganz    in    sich    selbst    trägt.     Von    diesem 


—     HO     — 

Gedankenspiegel  aufgefangen,  formt  sich  die  Welt  zu  einem 
völlig  selbstgenugsamen  Bilde  und  genügt  nur  philosophischen, 
aber  keinen  aus  anderen  Bedürfnissen  quellenden  Forderungen. 
]\Ian  mag  philosophische  Spekulationen  prinzipiell  oder  im 
einzelnen  Falle  verwerfen ;  aber  man  kann  das  billigerweise 
nicht  auf  Grund  der  Merkmale  tun ,  die  für  erfahrungs- 
wissenschaftliche Erkenntnisse  über  Richtigkeit  und  Be- 
deutung bestimmen  und  die  die  Metaphysik  ihrer  Problem- 
stellung nach  ausschliefst.  Diese  beiden  Rechtstitel  der 
Spekulation  entsprechen  genau  denen  der  historischen  Ge- 
setze: sie  sind  entweder  Stationen  des  unabsehbaren  Weges, 
der,  mit  den  Naturwissenschaften  rangierend,  an  den  Be- 
•wegungsgesetzen  der  historischen  Elemente  und  der  Kenntlich- 
machung ihrer  unmittelbaren  Energien  mündet,  und  diesen 
Absehlufs  bis  auf  weiteres  durch  sie  antizipiert.  Hier  liegt 
der  Punkt,  an  dem  die  historischen  Gesetze  erst  dann  ganz 
falsch  werden,  wenn  sie,  unter  dogmatischer  Erstarrung 
eines  momentanen  Entwicklungsstadiums,  ganz  richtig  zu 
sein  behaupten.  Oder  sie  bauen  aus  den  historischen  Ge- 
gebenheiten eine  Welt  auf  Grund  von  Kategorien  auf,  die 
in  der  Tatsachenforschung  keine  Stelle  finden  und  finden 
wollen,  sondern  völlig  autonomen  Bedürfnissen  der  Anordnung, 
Umsetzung  in  Begriffe,  synthetischen  Einheit  entspringen. 
Sowohl  auf  dem  philosophischen  wie  auf  dem  historischen 
Gebiet  sind  beide  Geltungsarten  oft  auf  eine  und  dieselbe 
Behauptung  anwendbar.  Dafs  die  geschichtliche  Evolution 
auf  eine  immer  höhere  Differenzierung  der  Persönlichkeiten 
oder  auf  eine  immer  engere  Kollektivierung  gehe;  dafs  die 
moralische  Kultur  sich  im  Verhältnis  der  intellektuellen 
entfalte  oder  umgekehrt  eine  selbständige,  gegen  die  letztere 
rein  zufällige  Entwicklungsformel  habe ;  dafs  die  soziale 
Freiheit  der  Individuen  mit  der  Herausbildung  eines  objek- 
tiven Geistes,  eines  Schatzes  überpersönlicher  Kulturprodukte 
auf  wissenschaftlichem,  künstlerischem,  technischem  Gebiete 
Hand  in  Hand  gehe  —  all  dieses  und  ähnliches  mag  man 
einerseits  als  Vorwegnahmen  und  Vorbereitungen  genau 
erkannter,  naturgesetzmäfsiger  Zusammenhänge  ansehen. 
Andrerseits  aber,  in  der  Schicht  begriffsmäfsiger  Synthesen, 
sind  es  für  sich  befriedigende  Projizierungen  des  Geschehens, 
die    abstrakten    oder    phänomenologischen  Kategorien ,    von 


—    111    — 

denen  aus  das  Erkennen  derartige  Fragen  stellt,  fordern 
keine  exakteren  oder  auf  singulärere  Wirklichkeiten  und 
Ursachen  zurückgehenden  Antworten.  Auch  diese  freilich 
mögen  oft  genug  als  irrig  erkannt  werden;  was  man  aber 
-an  ihre  Stelle  setzt,  sind  nur  andere  Erfüllungen  eben  der- 
selben Erkenntnisformen  und  halten  sich  methodisch  in 
immer  gleichem  Abstand  von  dem  Ideal  der  naturwissen- 
schaftlichen Kausalität.  So  enthüllen  sich  diese  beiden  Modi 
der  historischen  Gesetze  als  verschiedene  Fragestellungen 
des  Geistes,  zwei  Aspekte,  die  er  gemäfs  der  Mannigfaltig- 
keit in  seinen  theoretischen  Bedürfnissen  den  Dingen  gegen- 
über gewinnt,  von  neuem  gegen  den  naiven  historischen 
Realismus  erweisend,  dafs  diese  Aspekte  keinen  Abklatsch 
der  Wirklichkeit,  sondern  eine  inner-geistige  Formung  der- 
selben bedeuten;  je  nach  dem  Stockwerk  gleichsam,  in  das 
man  sie  aufnimmt,  gewinnen  sie  eine  besondere,  nur  in 
dieses  gehörige  Gestalt.  Jene  Analogie  der  historischen 
Gesetze  mit  der  Spekulation  aber,  sozusagen  ihrem  beider- 
seitigen Erkenntnisrhythraus  nach,  bedeutet  keineswegs,  dafs 
die  Geschichte  hier  eine  Kompetenz  der  Philosophie  ge- 
worden ist,  sondern  dafs  ganz  allgemeine,  unsere  typischen 
Verhältnisse  zum  Dasein  ausdrückende  Forderungen  und 
Kategorien  des  Erkennens  auf  beiden  Gebieten  entsprechende 
Formungen  ihres  Stoffes  veranlassen. 


Drittes  Kapitel. 
Vom  Sinn  der  Geschichte. 


Die  Geringfügigkeit  des  Interesses,  das  die  erkenntnis- 
theoretische Reflexion  seitens  der  Spezialforschung  zu  rinden 
pflegt,  erklärt  sich,  mindestens  teilweise,  aus  der  künstlichen 
Isolierung,  in  die  sie  die  im  praktischen  Erkennen  unlös- 
lich verbundenen  Methoden  versetzt.  Analysis  und  Syn- 
thesis,  Beobachtung  und  Deutung,  Immanenz  und  Trans- 
szendenz  der  letzteren  und  viele  andere  Gegensatzpaare 
bezeichnen  in  fortwährenden  Wechseln,  Kombinationen, 
rudimentären  Ansätzen  den  Weg  der  gegenständlichen 
Forschung;  die  völligen  Entgegengesetztheiten  der  Denk- 
richtung und  inneren  Bedeutung,  die  die  Erkenntnistheorie 
hier  erblickt,  scheint  durch  das  friedliche  Nebeneinander, 
ja,  das  organische  Miteinander  eben  dieser  Parteien  un- 
mittelbar dementiert  zu  werden.  Die  Wege  der  einzelnen 
Wissenschaften  machen  sogar  oft  einen  so  völlig  einheit- 
lichen Eindruck,  dals  ihre  erkenntnistheoretische  Zerlegung 
gar  nicht  in  ihrer  eigenen  Struktur  vorgezeichnet,  sondern 
nur  durch  die  des  reflektierenden  Organes  in  dem  Bilde, 
das  sie  in  dieses  werfen,  erzeugt  scheint.  Tatsächlich  ist 
diese  Vorstellung  nicht  ganz  irrig.  Aber  sie  konstatiert 
zwischen  der  Erkenntnistheorie  und  ihrem  Gegenstand 
durchaus  kein  für  jene  ungünstigeres  Verhältnis,  als  es 
überhaupt  einer  Wissenschaft  zukommt.  Denn  keine  solche 
ist  ein  genauer  Abklatsch  der  ungebrochenen  Wirklichkeit 
ihres  Objektes,  sondern  eine  Projektion  desselben  auf  eine 
neue  Ebene,  eine  Nachzeichnung,  die  zwar  zu  jener  ein 
stetiges   Verhältnis    hat;    aber   ihre    Mittel    und    Kategorien 


—     113     — 

entlehnt  sie  den  besonderen  Bedürfnissen  und  Bedingungen 
der  wissenschaftlichen  Fragestellung,  die  der  Unmittelbarkeit 
des  Gegenstandes  gegenüber  einerseits  analytischer,  andrer- 
seits synthetischer  erscheint.  Und  dieses  Recht  eigengesetz- 
licher Formung,  das  das  Erkennen  der  räumlichen  Natur 
gegenüber  unbezweifelt  besitzt,  das  unsere  ganzen  Erörter- 
ungen ihm  auch  dem  seelisch-geschichtlichen  Dasein  gegen- 
über vindiziert  haben  —  dieses  mufs  ihm  ebenso  zukommen, 
wo  die  Erkenntnis  selbst  sein  Objekt  ist.  Sobald  das  Er- 
kennen erkannt  wird,  steht  es  unter  denselben  Kategorien 
und  Gestaltungsbedingungen,  die  auch  an  jedem  anderen 
Objekte  als  solchem  den  Unterschied  zwischen  der  Erkennt- 
nis seiner  und  seiner  erlebten  oder  für  sich  seienden  Wirk- 
lichkeit bezeichnen.  In  diesem  Sinne  geschah  es,  dafs  wir 
die  Bedeutung  der  historischen  Gesetze  als  Vorstadien 
künftiger,  auf  die  Kausalität  der  Elemente  gehender  exakter 
Erkenntnis  streng  von  derjenigen  schieden,  die  sie  als  nicht 
über  sich  hinausweisende  Synthesen  innerhalb  einer  höheren 
Begriffsschicht  besitzen  —  und  zugleich  bemerkten,  dafs 
diese  beiden  Bedeutungen  ohne  weiteres  einer  und  derselben 
Behauptung  zukommen  können.  In  dem  gleichen  Sinne 
vereint  die  Praxis  der  Empirie  wie  der  Spekulation  der 
Historik  ihre  bisher  besprochenen  Kategorien  oder  Wege 
mit  einem  weiteren,  den  die  Erkenntnistheorie  in  einer  völlig 
abweichenden  Richtung  laufen  sieht  und  dessen  Ziele  man 
zusammenfassend  als  den  Sinn  der  Geschichte  bezeichnen 
könnte. 

Selbst  die  begriffsmäfsigsten  Formungen,  zu  denen  sich 
die  Historik  erhob :  die  historischen  Gesetze,  betrachtet  als 
selbstgenugsame  Zusammenfassungen  der  realen  Einzelheiten 
nach  Bedürfnissen  der  Abstraktion  —  selbst  diese  sind,  in 
qualitativer  Hinsicht,  rein  tlieoretischen,  intellektuellen 
Wesens,  in  quantitativer  zeichnen  sie  einzelne  Richtlinien 
des  geschichtlichen  Seins  und  Geschehens  nach;  es  sind 
doch  die  konkreten  Erfahrungen,  die  sie,  wenn  auch  aus 
ganz  weiter  Distanz  gesehen  und  in  wechselnden  Sublimie- 
rungen ,  auf  ihrem  Wege  begleiten.  Darum  konnten  sie 
wohl  als  eine  Analogie  der  philosophischen  Spekulation, 
aber  nicht  als  Philosophie  gelten.  Eine  ganz  neue  Denk- 
bewegung, die  Tatsachen  der  Geschichte  aufnehmend,  eröffnet 

Siramel,  Geschichtsphilosophie.    2.  Aufl.  8 


—     114     — 

sieh  indes,  sobald  die  Philosophie  selbst  diese  als  ihren 
Gegenstand  ergreift.  Was  die  bisherigen  Erörterungen  als 
philosophische  Aufgabe  fanden,  war  die  Erkenntnis  des 
historischen  Erkennens.  Die  Historik  lag  vor,  als  Fest- 
stellung äufserer  Daten  und  als  deren  psychologische  Deutung, 
als  Beschreibung  von  Einzelheiten  und  als  Zusammenfassung 
nach  Begriffen :  wie  innerhalb  dieses  wissenschaftlich  Ge- 
gebenen sich  das  real,  unmittelbar  Gegebene  zu  den  formen- 
den Kategorien  des  erkennenden  Subjekts  verhielt,  war  die 
allgemeine  Frage,  die  es  prinzipiell  und  in  wenigen  Einzel- 
beispielen zu  behandeln  galt.  Wird  nun  aber  die  Geschichte 
nicht  von  dem  Gesichtspunkt  aus,  dafs  sie  Erkenntnis  ist, 
sondern  nach  ihrem  Sachgehalt  angesehen,  nach  dem,  was 
erkannt  wird,  die  Geschichte  als  Gegenständlichkeit,  nicht 
als  Funktion  des  vorsteUenden  Geistes,  —  so  ergeben  die 
Probleme  ihrer  philosophischen  Betrachtung,  so  weit  ich  sehe, 
zweierlei  besonders  charakterisierte  Gruppen.  Die  eine 
basiert  darauf,  dafs  die  Geschichte  eine  Summe  empirischer 
Einzelheiten  ist.  Es  entsteht  also  einerseits  die  Frage,  ob 
das  Ganze  ein  Wesen  und  eine  Bedeutung  besitzt,  die  aus 
keiner  Einzelheit  für  sich  zu  entnehmen  sind,  andrerseits 
—  aber  mit  jenem  vielleicht  zusammenfallend  —  welches 
absolute  Sein,  welche  transszendente  Wirklichkeit  hinter 
dem  Erscheinungscharakter  der  empirisch-historischen  Ge- 
gebenheiten stünde.  Neben  dieser  metaphysischen,  aber  noch 
rein  theoretischen  Frage  erhebt  sich  die  nach  den  Betonungen 
und  Gliederungen,  die  der  Inhalt  der  Geschichte  durch  die 
nicht-theoretischen  Interessen  der  Betrachtenden  gewinnt, 
und  die  vorläufig,  mit  dem  Vorbehalt  sehr  wesentlicher 
Modifikationen,  die  Wer  t  u  n  g  der  historischen  Gegebenheiten 
heifsen  können.  Beide  Arten,  über  die  Geschichte  zu  re- 
flektieren —  durch  die  sie  dem  wissenschaftlich  erkennen- 
den Subjekt  ferner  und  näher  rückt  — ,  verschlingen  sich, 
oft  untrennbar,  in  der  tatsächlichen  philosophischen  Speku- 
lation:  es  gehört  zu  den  typischen  Korrelationen  innerhalb 
der  Seele,  dafs  das  Bild  des  Absoluten,  seinem  Sinne  nach 
von  allem  Subjektiven  und  aller  personalen  Singularität  am 
weitesten  abstehend,  sich  gerade  nur  der  Vertiefung  in  die 
subjektivsten  Energien  des  Fühlens,  der  Stimmung,  der 
Willenstendenzen  erschliefst.    Nun  ist  zunächst  das  Verhält- 


—     115     — 

nis  dieser  Frage  zu  den  anderen,  die  der  gleiche  8tofF  auf- 
gibt, genau  festzustellen. 

Wenn  die  gesamten  Tatsachen  der  Geschichte  uns  lücken- 
los und  irrtumslos  bekannt  und  wenn  dazu  uns  alle  Gesetze 
aufgedeckt  wären,  die  jedes  körperliche  Atom  und  jede  Vor- 
stellung in  ihrem  Verhältnis  zu  allen  anderen  beherrschen, 
so  würden  doch  offenbar  die  hier  fraglichen  Probleme  damit 
noch  nicht  erledigt  sein.  Denn  alle  jene  Kenntnisse  halten 
sich  auf  dem  Gebiete,  das  wir  als  das  der  Erscheinung  be- 
zeichnen —  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  und  ohne  damit 
ein  erkenntnistheoretisches  Dogma  zu  vertreten.  Es  bleibt 
also  jenseits  ihrer  jedenfalls  die  Frage  nach  der  absoluten 
Realität,  die  hinter  aller  Geschichte  steht,  wie  das  Ding  an 
sich  hinter  der  Erscheinung.  Ob  dieses  Sein  aufserhalb  der 
Erscheinungsreihe  in  pantheistischer  Einheit  mit  dieser  ge- 
dacht, oder  theistisch  ihr  gegenüber  gestellt,  oder  materia- 
listisch geleugnet  wird,  ist  eine  mehr  materielle  Angelegen- 
heit; formell  wird  diese  Reihe  metaphysischer  Annahmen 
dadurch  bezeichnet,  dal's  sie  über  ein  Verhältnis  aussagen, 
welches  zwischen  dem  Ganzen  der  Geschichte  und  einem  ihm 
irgendwie  jenseitigen  Prinzip  besteht.  Die  metaphysische 
Fi'age  steigt  dann  in  dieses  Ganze  hinab :  ob  seine  Ganzheit 
wirklich  als  eine  innerliche  Verbundenheit  gelten  dürfe  oder 
als  ein  Komplex  von  im  letzten  Grunde  selbständigen  Teilen  *, 
ob  die  Summe  der  historischen  Bewegungen  eine  für  sich 
befriedigende  Einheit  darstelle,  oder  ob  einerseits  jedes 
Stadium  und  jedes  kleinste  Element  derselben  Sinn  und 
Bedeutung  für  sich  habe  oder  andrerseits  ihre  Gesamtheit 
nur  im  Zusammenschlufs  mit  den  kosmischen  Bewegungen 
überhaupt  ein  sinnvolles  Ganzes  ergebe;  ob  sich  in  den 
Mannigfaltigkeiten  der  Geschichte  ein  ursprünglich  einheit- 
licher Keim  entwickelt  oder  ihre  Einheit  nur  ein  im  Unend- 
lichen liegender  Zielpunkt  sei :  die  allmählich  sich  ver- 
engende Beziehung  und  Verwebung  ursprünglich  getrennter 
Elemente.  All  diese  Möglichkeiten,  bejaht  oder  verneint, 
greifen  prinzipiell  in  das  Bild  des  geschichtlichen  Verlaufes 
nicht  ein,  so  wenig  die  symbolische  Bedeutung  eines  Kunst- 
werkes die  rein  artistischen  Zusammenhänge  alteriert,  die 
jeden  Teil  desselben  eindeutig  und  mit  selbstgenugsamer 
Notwendigkeit  bestimmen.    Wie  die  vertiefte  Religiosität  das 

8* 


—     11(3     — 

Leben  als  ein  Ganzes  deutet  und  tönt,  ohne  in  einen  ein- 
zelnen Moment  einzugreifen  und  ihm  einen  anderen  realen 
Inhalt  oder  individuelle  Bedeutung  zu  geben,  als  die  imma- 
nenten Umstände  und  Kräfte  der  empirischen  Sphäre  ihm 
erteilen,  —  so  ergreift  die  Metaphysik  das  historiöch  Wirk- 
liche als  eine  Ganzheit  und  setzt  es  in  Zusammenhänge  und 
Sinngebungen,  die  gleichsam  nur  seine  Grenzen  umfliefsen ; 
der  Verlauf  aller  einzelnen  Teile  erscheint  dadurch  nicht  im 
mindesten  anders,  als  wenn  diese  Deutung  ihrer  Gesamtheit 
überhaupt  nicht  bestände.  Die  gleiche  historische  Tatsäcli- 
lichkeit  gibt  den  verschiedensten  Antworten  auf  jene  Fragen 
die  gleiche  Chance. 

Am  deutlichsten  vielleicht  läfst  die  Frage  nach  dem 
transszendenten  Zweck  der  Geschichte  all  dieses  hervortreten. 
Die  Annalime  eines  göttlichen  Wesens,  das  dieses  ganze 
Spiel  zu  einem  uns  verborgenen  oder  offenbarten  Zweck 
abrollen  liefse,  würde  nur  die  Kausalreihe,  als  welche  wir 
es  erfahren ,  in  eine  teleologische  verwandeln ,  ohne  sie  in 
ihren  Inhalten  und  den  Gesetzen,  die  diese  verbinden,  irgend- 
wie abzuändern.  Was  die  Geschichte  als  Wissenschaft  be- 
schreibt, ist  der  Mechanismus  der  Mittel,  der  jenen  Zweck 
verwirklicht  —  gerade  wie  die  zu  menschlichen  Zwecken 
gebaute  Maschine  den  Ablauf  der  in  ihr  wirksamen  Kausal- 
prozesse von  dem  Zweck  als  solchem  nicht  durchbrechen 
läfst:  dieser  steht  vielmehr  vor  und  hinter  dem  Apparat, 
den  wir  vom  wissenschaftlichen  Standpunkt  aus  rein 
mechanisch  und  ohne  den  Willensakzent  verstehen  können, 
der  ihn  in  die  ganz  neue  Schicht  des  Praktischen  hebt. 
Wird  doch  auch  die  Erkenntnis  der  unterpsychischen  Natur 
in  ihrem  rein  mechanischen  Charakter  nicht  notwendig  da- 
durch alteriert,  dafs  wir  ihr  Zwecke  unterlegen.  Wenn  wir 
die  Mittel  der  organischen  Entwicklung  festzustellen  suchen, 
wie  es  etwa  der  Darwinismus  wollte,  so  können  wir  ohne 
weiteres  diesen  ganzen  Ablauf  als  Apparat  oder  Resultat 
einer  göttlichen  Zwecksetzung  ansehen,  ohne  jedes  einzelne 
Glied  anderswo  herzuleiten ,  als  aus  den  Spannkräften  des 
vorherigen,  die  sich  nach  den  Gesetzen  des  Mechanismus  zu 
jenem  entwickelten.  Für  die  historische  Forschung  ist  es 
gleichviel,  ob  man  die  Herrschaft  Gottes  oder  des  Antichrists, 
ob    man    die   schliefsliche   Seligkeit    aller    Seelen    oder    die 


—     117 


Scheidung  in  Begnadigte  und  Verdammte,  ob  man  die  Auf- 
lösung alles  Geistes  in  das  Nirwana  oder  die  restlose  Geist- 
werdung  alles  Daseins  für  die  Ziele  hält,  ohne  welche  die 
Kräfte  überhaupt  nicht  wirken  würden,  deren  Beschreibung, 
als  wären  sie  selbständige,  den  Inhalt  der  exakten  Forschung 

bildet. 

Ja,  gerade  zwischen  der  Reinheit,  mit  der  die 
Immanenz  aller  real  -  historischen  Erkenntnis  vor  jedem 
Eingriff  metaphysischer  Instanzen  gewahrt  bleibt —  und 
der  Weihe  aller  Geschichte  durch  die  göttliche  Zwecksetzung 
besteht  ein  tiefer  Zusammenhang.  Nicht  nur  von  dem  oft 
betonten  theistischen  Dogma  aus,  dafs  der  Würde  eines 
Gottes  gerade  jene  technische  Vollkommenheit  der  Welt- 
einrichtung entspricht,  die  keine  weiteren  Eingriffe  in  ihren 
Ablauf  erfordert  und  den  an  einzelnen  Stellen  mehr  als 
anderen  sichtbaren  „Finger  Gottes"  zu  einem  kindlichen 
Anthropomorphismus  macht.  Sondern  vor  allem  von  der 
anderen  Seite  her:  je  weniger  die  Einzelheiten  des  Lebens 
als  solche  eine  metaphysische  Bedeutung  verraten,  um  so 
dringender  wird  das  Bedürfnis,  wenigstens  dem  Ganzen  eine 
solche  zu  leihen,  und  um  so  reiner  hebt  sich  das  Bild  oder 
die  Ahnung  der  transszendenten  Macht,  die  dem  Ganzen 
einen  Sinn  und  Zweck  gibt,  aus  aller  trüben  Gemischtheit 
mit  empirischen  Vorstellungen  heraus^). 


1)  Dafs  nun  freilich  der  Ausschnitt  aus  dem  Weltgeschehen,  den 
wir  Geschichte  nennen,  als  einheitliches  Ganzes  von  solcher  meta- 
physischen Bedeutung  getragen  ist,  kann  gerade  als  eine  derartige 
Sonderbeziehung  des  göttlichen  Prinzips  zu  einer  einzelnen  Seins- 
provinz gelten,  als  eine  Ausnahmestellung  des  Menschen,  die  die 
innere  Gleichmäfsigkeit  alles  Natürlich-Wirklichen  durchbricht  und 
damit  der  Metaphysik  ihr  nur  durch  den  gleichmäfsigen  Abstand 
von  diesem  einzuräumendes  Recht  nimmt.  Tatsächlich  ist  eine 
theistische  Metaphysik  der  Geschichte  nur  annehmbar,  wenn  sie  sich 
in  eine  Metaphysik  der  Natur  überhaupt  einordnet.  Allein  dies  kann 
so  geschehen,  dafs  die  teleologische  Leiter,  von  dem  niedrigsten, 
unbelebten  Dasein  beginnend,  in  dem  Menschengeschleclit  ihre  letzte 
Stufe  findet,  dafs  die  Geschichte  der  Menschheit  unmittelbar  zu  dem 
absoluten  Zwecke  hinführt.  Da  nun  für  jeden  teleologischen  Zu- 
sammenhang, im  Gegensatz  zum  kausalen,  nur  die  ununterbrochene 
Beziehung  zu  seinem  höchsten  Punkt  erforderlich  ist,  so  ergibt 
sich  leicht,  dafs  eine  auf  die  Menschengeschichte  beschränkte 
theistische  Teleologie   den   oben  gerügten  Fehler  nicht  begeht;    sie 


—     118    — 

Das  Beispiel  der  Teleologie  leitet  zu  dem  zweiten  Typus 
gesehichts-nietaphysischcr  Probleme  über,  zu  demjenigen, 
der  durch  die  Beziehung  nicht-theoretischer  Interessen  zu 
dem  Bilde  des  objektiven,  historischen  Verlaufes  entsteht. 
Denn  jene  transszendente  Sinngebung  des  Geschichtsganzen 
braucht  wenigstens  nicht  anders  auf  derartigen  Interessen 
zu  ruhen,  wie  alles  Erkennen  überhaupt  es  tut:  was  uns 
zu  theoretischer  Betätigung  bewegt,  kann  nicht  selbst  wieder 
etwas  Theoretisches  sein,  sondern  nur  ein  Willensantrieb 
und  Wertgefühl.  Darüber  sind  wir  uns  oft  nur  nicht  klar, 
wenn  und  weil  der  Inhalt,  auf  den  diese  Energien  sich 
richten,  ein  rein  theoretischer  ist,  und  weil  wir  das  Erkennen 
nur  dann  auf  praktische  Antriebe  zurückzuleiten  pflegen, 
wei.n  es  durch  inhaltlich  ihm  fremde  Motive  in  Betrieb 
gesetzt  wird.  Jetzt  aber  handelt  es  sich  darum,  jene  völlig 
gleichmäfsige  Färbung  aller  historischen  Elemente,  die  allein 
eine  transszendente,  ihrer  Totalität  untergebaute  Instanz 
zulässig  macht,  zu  durchbrechen  und  ihre  Reihen  selb.st  zu 
gliedern,  nach  Vorder-  und  Hintergründen,  nach  Akzenten 
und  Gleichgültigkeiten,  nach  Vorbereitungen  und  Erfüllungen. 
Die  teleologische  Reflexion  belebt  das  Bild  der  Geschichte 
selbst,  wenn  die  Individualisierung  der  Seelen  oder  ihre 
Egalisierung,  wenn  der  Reichtum  objektiv  geistiger  Gestal- 
tungen oder  die  sittliche  Vollendung,  wenn  die  Steigerung 
des  Glücksquantums  oder  die  allein  erreichbare  Minderung 
der  Leidenssumme  als  der  Zweck  oder  Sinn  der  geschicht- 
lichen Bewegungen  vorgeführt  w^ird^). 


leugnet  keineswegs  die  gleiche  metaphysische  Fundamentierung  der 
übrigen  Natur  und  macht  nur  von  dem  Rechte  Gebrauch,  die  teleo- 
logisclie  Kette,  von  oben  her  beginnend,  an  jedem  beliebigen  Punkte 
für  die  Betrachtung  abzubrechen  —  wie  die  kausale  Kette  das  gleiche 
Recht  bei  dein  Fortschreiten  von  unten  her  besitzt. 

')  Sobald  der  Zweck  niclit  der  einer  transszendeuten  Macht  ist, 
die  um  seinetwillen  die  Geschichte  abrollen  läfst,  begegnet  seine 
Anwendung  auf  diese  erheblichen  logischen  Schwierigkeiten;  denn 
es  scheint  keinen  rechten  Sinn  zu  haben,  dafs  gewisse  Punkte  in 
ihm  die  Zwecke  sein  sollen,  zu  denen  das  Übrige  Mittel  ist,  wenn 
diese  Zwecke  nicht  von  einem  Subjekt  gesetzt  sind,  das  mindestens 
irgendeine  Analogie  zum  mensclilichen  Bewufstsein  besitzt.  Die 
Kantische  Maxime  der  Naturzwecke:  gewisse  Prozesse  verliefen  so, 
als  ob  sie  von  einem  Zweck  geleitet  würden,  ist  hier  nur  in  einem 


~     119    — 


ganz  abweichenden  Sinne  anwendbar,  weil  es  sich  gerade  nicht 
um  einen  Leitfaden  für  die  Erkenntnis  der  Realitäten  handelt,  die 
vielmehr  schon  feststehen,  nicht  um  eine  erkenntnistheoretische, 
sondern  eine  metaphysische  Behauptung.  Wenn  also  die  grofsen 
Persönlichkelten  etwa  als  die  Zwecke  der  Geschichte  gelten,  zu 
denen  die  Existenz  der  Massen  nur  Mittel  sei,  oder  die  sittlichen 
Taten,  die  inmitten  des  Aufserlich-Historischen  vollbracht  werden, 
oder  der  Durchbruch  der  Gerechtigkeit  durch  alles  Zufällige  und 
Gewalttätige  der  Ereignisse  —  so  scheint,  um  dies  Teleologische  von 
dem  blofs  kausalen  Geschehen  zu  unterscheiden,  ein  Wesen  erforder- 
lich zu  sein,  das  sich  diese  Zwecke  setzt.  Allein,  die  Struktur  der 
auf  ihren  Sinn  hin  betrachteten  Dinge  kann  diese  Hypostasierung 
entbehren.  Der  Geschichtsmetaphysiker  empfindet  an  dem  Lauf  der 
Ereignisse,  den  der  Geschichtsforscher  ihm  überliefert  und  den  er  in 
seine  neue  Beleuchtung  rückt,  die  Rangierung  nach  Mitteln  und 
Zwecken  als  eine  immanente  Qualität  eben  dieser  Inhalte:  eines  Sub- 
jektes, das  diesen  Zweck  vorgestellt  und  daraufhin  jene  Rangierung 
ermöglicht  hätte,  bedarf  es  so  wenig,  wie  es  für  die  Anordnung  der 
Dinge,  die  den  logischen  Normen  entspricht,  eines  schöpferischen 
Geistes  bedarf,  der  ihnen  gemäfs  die  Dinge  gestaltet  hätte.  Wie  sie 
eben  als  Tatsachen  vorliegen,  erregen  sie,  je  nach  der  Kategorien- 
schicht, die  auf  sie  reagiert,  die  Vorstellung  lo'gischen  oder  teleo- 
logischen Baues.  Das  Bewufstsein  von  der  Subjektivität  in  einem 
gewissen  erkenntnistheoretischen  oder  metaphysischen  Sinne,  der 
beide  Formen  entspringen,  hat  durch  die  bekannte  transszendente 
Achsendrehung  auf  den  absoluten  Geist  geführt,  von  dem  die  ver- 
nünftige oder  die  zweckmäfsige  Gestaltung  der  Dinge  so  ausginge, 
dafs  wir  sie  von  ihnen  ablesen  können.  Wie  aber  die  Form  logischer 
Begreiflichkeit  dieses  Stadium  überwunden  hat  und  uns  eine  un- 
mittelbare Bestimmtheit  der  begriffenen  Dinge  ist  —  so  kann  auch 
dieTeleologie  als  eine  den  metaphysisch  betrachteten  Dingen  immanente 
Qualität  gelten.  Gewifs  wird  man  das  damit  ausdrücken  können, 
dafs  die  Geschichte  so  verliefe,  als  ob  ein  Geist  über  ihr  gewisse 
Momente  als  Zwecke,  denen  alles  andere  diente,  konstituiert  hätte. 
Allein  für  das  metaphysische  Bedürfnis  ist  dies  zu  wenig  oder  zu  viel: 
entweder  wird  ihm  jene  absolute,  zwecksetzende  Macht  eine  Glaubens- 
realität sein,  oder  es  wird  ihrer  nicht  einmal  als  eines  heuristischen 
Prinzips  bedürfen,  sondern  es  fühlt  die  Zweckmäfsigkeit  als  den  meta- 
physischen Sinn  der  Ereignisse  selbst,  der  keines  irgend  persönlichen 
Trägers  aufserhalb  ihrer  bedarf.  —  Man  darf  die  teleologische 
Reflexion  über  die  Geschichte  nicht  mit  der  Wertreflexion  verwechseln. 
So  häufig  beide  sich  vereinen  und  jene  innere  Belebung,  die  das  Ge- 
schehen durch  seine  Gliederung  nach  Zwecken  gewinnt,  sich  an  das 
Aufwachsen  von  Wertpunkten  anschliefst  —  so  ist  nicht  nur  die 
logische  Struktur  von  Zweck  und  Wert  durchaus  verschieden,  sondern 
ihre  geschichtsphilosophischen  Inhalte  brauchen  nicht  zusammen- 
zufallen.    Man  kann  sehr  wohl  annehmen,  dafs  der  objektive  Welt- 


—     120     - 

Nun  kommt  es  vor  allem  darauf  an,  auch  bei  diesem 
Hinabsteigen  der  Spekulation  in  das  konkrete  Bild  der 
Ereignisse  ihr  dennoch  zugleich  jenen  Abstinenzcharakter 
zu  bewahren,  der  dieses  Bild  in  der  Reinheit  exakter  Tat- 
sachen fortbestehen  läfst.  Prinzipiell  hat  dies  keine  Schwierig- 
keit-, denn  die  nach  Zwecken,  Werten,  Bedeutungen 
organisierte  oder  abgetönte  Reihe  hat  genau  denselben  Inhalt, 
wie  die  nach  theoretischen  Kategorien  gebaute.  Mit  den 
realen  Kräften,  die  jedes  Element  dieser  Reihe  in  seiner 
Genesis  verständlich  machen,  mit  den  Begriffen,  die  seinen 
Inhalt  logisch  explizieren,  haben  die  Lichter  und  Schatten 
absolut  nichts  zu  tun,  die  ihr  Bild  in  dem  Augenblick 
erhält,  in  dem  es  in  die  gefühls-  und  willensmäfsigen 
Schichten  unseres  Bewufstseins  fällt.  Das  einfachste  Beispiel 
solcher  Doppelbetrachtung  gibt  die  sittliche  Beurteilung  des 
Handelns ,  so  dafs  es  schon  eine  Trivialität  ist,  hervorzu- 
heben, dafs  das  kausale  Verständnis  jegliches  Tun  als  das 
genau  so  notwendige  zeigt ,  wenn  unser  sittliches  Urteil 
ihm  die  höchste  Würde,  wie  wenn  es  ihm  die  tiefste 
Immoralität  zuspricht;  und  dafs  ebenso  umgekehrt,  das 
Reich  des  Gesollten,  das  die  sittliche  Forderung  baut,  in 
seiner  Bedeutung  überhaupt  davon  nicht  berührt  wird,  wie 
lange    oder    kurze  Strecken  weit   die   psychologische  Wirk- 


lauf sich  zu  irgendeinem  Zwecke  aufgipfle,  den  eine  immanente  oder 
transszendente  Macht  ihm  vorgesetzt  hat,  und  kann  dennoch  nicht  aus 
diesem  Zweck,  sondern  aus  irgendeiner  Station  des  Weges  zu  ihm  das 
Gefühl  eines  Wertes  gewinnen.  An  unzählige  Punkte  der  Geschichte 
mag  sich  dieses  Gefühl  heften,  unzählige  Male  möge  es  uns  sagen, 
dafs  um  dieser  Tat,  um  dieser  Empfindung  willen,  von  der  wir  hören, 
es  sich  wohl  lohnte,  den  ganzen  Apparat  der  Geschichte  mit  all  seinen 
Leiden  und  negativen  Werten  in  Bewegung  zu  setzen  —  während 
wir  zugleich  überzeugt  sind,  dafs  nicht  um  dieser  Momente  willen, 
sondern  zu  ganz  anderen,  zukünftigen  oder  umfassenderen  Zwecken, 
der  Mechanismus  der  historischen  Mittel  arbeitet.  Wir  können  ferner 
sehr  wohl  eine  objektive  Zweckmäfsigkeit  des  geschichtlichen  Ver- 
laufs anerkennen  und  ihm  dabei  doch  den  Wert  überhaupt  absprechen, 
etwa  mit  dem  Ausdruck,  dafs  die  Welt  zwar  relativ  so  gut  und 
zweckmäfsig  wie  möglich,  absolut  genommen  aber  äufscrst  schlecht 
eingerichtet  ist  und  unter  dem  Nullpunkt  des  Wertes  bleibt.  Man 
kann  endlich  jede  Zweckmäfsigkeit  der  historischen  Dinge  leugnen 
und  es  dennoch  als  wertvoll  empfinden,  dafs  dieses  oder  jenes  oder 
ihre  Gesamtlieit  existiert. 


—     121     — 

lichkeit  ihm  parallel  geht.  Die  Reihe  des  Geschehens,  nach 
sittlichen  Werten  und  Unwerten  geformt,  hat  einen  absolut 
anderen  Rhythmus ,  andere  Höhe-  und  Tiefpunkte ,  andere 
Farben,  wie  unter  der  Kategorie  der  theoretischen  Historik 
—  obgleich  beide  den  absolut  gleichen  Inhalt  haben;  jede 
von  beiden  liegt  in  einer  Dimension,  in  die  die  andere 
nicht  hineinreicht.  Und  neben  beide  mag  sich  etwa  noch 
die  ästhetische  Betrachtung  stellen,  die  freilich  gegenüber 
dem  Handeln  und  namentlich  seiner  historischen  Totalität 
kaum  wirksam  geworden  ist.  Zweifellos  aber  kann  diese 
auch  nach  ästhetischen  Werten  gegliedert  werden.  Harmonien 
und  Kontraste,  die  Phänomene  der  Anmut  und  des  Tragischen, 
die  Stufenreihe  vom  Schönen  durch  das  ästhetisch  Gleich- 
gültige zum  Häfslichen  —  diese  und  viele  verwandte  Kategorien 
teilen  auch  die  Welt  des  Handelns  unter  sich  auf,  und 
geben  ihr  einen  Sinn  jenseits  ihrer  blofsen  Tatsächlichkeit 
wie  ihres  ethischen  Wertes.  Die  Projektion  der  Ereignisse 
auf  diese  Ebene  erzeugt  ein  völlig  autochthones  Gebilde, 
Erhebungen  und  Abflachungen  in  der  Geschehensreihe, 
Verknüpftheiten  und  Lösungen,  Belebtheiten  und  Stagnationen, 
die  sich  in  keiner  anderen  Auffassung  des  Wirklichen 
wiederholen.  Und  dies  ergibt  entsprechende  Möglichkeiten 
der  Spekulation :  aus  den  ethischen  wie  den  ästhetischen 
Reihen  folgen  Periodeneinteilungen  und  Entwicklungen, 
Ahnungen  eines  tieferen  Sinnes  der  Ereignisse,  teleologische 
Zuspitzungen,  kurz,  Reflexionen  über  die  Geschichte,  die 
ihr  Wirklichkeitsbild  in  keiner  Weise  alterieren,  sondern 
nur  die  Art  ausdrücken,  wie  sich  gewisse  Gefühls-  oder 
Wertungsinteressen  grade  an  diesem  Bilde  befriedigen. 

Der  Bezirk  solcher  nicht- theoretischen  Betonungen,  mit 
denen  wir  die  theoretische  Aufreihung  des  Geschichtlichen 
begleiten  und  deren  Kristallisierung  zu  besonderen  Bildern 
die  Philosophie  der  Geschichte  ausmacht,  ist,  soweit  ich 
sehe,  noch  nicht  in  seinem  ganzen  Umfang  festgestellt. 
Damit,  dafs  man  diese  Betonungen  als  Wertungen  bezeichnet, 
wie  es  zu  geschehen  pflegt,  ist  es  nicht  abgetan.  Denn 
entweder  ist  dies  ein  blofser  Allgemeinbegriff,  in  den  man 
alle  gefühlsmäfsigen  Beleuchtungen  und  nicht-theoretischen 
Reihenbildungen  der  Historik  zusammenfafst  —  dann  hat 
die  Aufgabe  damit    einen    einheitlichen  Namen,    aber  keine 


—     122    — 

Lösung  gewonnen.  Oder  man  meint  damit  wirklich  die 
spezifische  Qualität,  die  einzelnen  Inhalten  als  Gliedern 
dieser  neuen  Ordnungen  zukommt  —  so  erschöpft  sie  in 
keiner  Weise  den  Reichtum  der  hier  wirksamen  Kategorien, 
von  denen  ich  einige  weitere  andeute.  Wir  bezeichnen 
Erscheinungen  als  „bedeutend",  ganz  von  der  Stellung  ab- 
sehend, die  sie  auf  einer  der  eigentlichen  Wertskalen  ein- 
nehmen. Sie  werden  eine  solche  Stellung  haben,  ja,  diese 
kann  eine  Veranlassung  sein,  sie  als  „bedeutend"  zu  empfinden. 
Allein  dieser  Begriff  hat  einen  anderen  Sinn  als  den  des 
W^ertes.  Das  Wertvolle  und  das  Bedeutende  enthalten  zwei 
verschiedene  —  wenngleich  in  ihrer  Verschiedenheit  mehr 
zu  fühlende,  als  unzweideutig  zu  beschreibende  —  Mischungen 
der  Betonung,  die  einer  Erscheinung  rein  in  und  durch 
sich  selbst  zukommt,  mit  derjenigen,  die  sie  durch  Wirkungen 
auf  andere  Erscheinungen,  durch  Beziehungen  und  Ver- 
gleiche mit  dem  sonstigen  historischen  Dasein  gewinnt.  Das 
Bedeutende  besitzt  den  Doppelsinn  des  „Guten",  das  zu- 
nächst zu  etwas  oder  für  jemanden  „gut"  ist,  dann  aber, 
diese  Relation  scheinbar  unlogisch  abstreifend ,  sich  ver- 
absolutiert und  eine  innere,  nur  auf  das  Ideal  des  Dinges 
selbst  hinsehende  Qualität  dieses  wird.  Diese  einzige  Relation  : 
zu  demjenigen,  was  das  Ding  sein  soll,  zu  dem  Bilde  seiner 
Vollendung,  das  in  ihm  selbst  wie  mit  ideellen  Linien  vor- 
gezeichnet ist  und  der  Nachzeichnung  durch  die  Wirklich- 
keit harrt  —  kann  in  dem  Begriff  des  Guten  alle  anderen 
Relationen  beerben ,  die  ihm  sonst  seine  Inhalte  gaben. 
Irgendwie  ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Bedeutenden. 
Rein  begrifflich  mufs  es  etwas  bedeuten,  oder  für 
jemanden  etwas  bedeuten.  Aber  die  Qualitäten  des  un- 
mittelbaren Daseins,  die,  gleichsam  über  dieses  hinaus 
greifend,  der  Erscheinung  solche  relative  Bedeutung  ver- 
schaffen, können  auch  rein  für  sich  empfunden  werden,  und 
die  Erscheinung  ist  insofern  für  uns  schlechthin  „bedeutend". 
Wir  bezeichnen  damit  einen  Ak/-ent,  der  die  Personen  und 
Ereignisse  in  sehr  mannigfachen  Stärkegraden  trifft  und 
durch  eben  diese  eine  vollkommene  Rangierung  derselben 
ermöglicht:  mit  den  Reihen,  die  von  der  Kategorie  des 
Sittlichen  und  Unsittlichen,  des  irgendwie  Erfreulichen  oder 
Unerfreulichen ,  ja   selbst   des  Starken  und  Schwachen  uns 


—     128     — 

erwachsen,  konsoniert  diese  nicht,  Avenigstens  nicht  prin- 
zipiell. Sie  wird  es  tatsächlich  oft  tun,  Sittliches  oder  Un- 
sittliches, Schönes  oder  Häfsliches  wird  seinem  Träger  die 
Qualität  verleihen,  für  uns  „bedeutend"  zu  sein;  aber  immer 
bleibt  diese  jenem  gegenüber  ein  Novum  und  so  unabhängig, 
dafs  der  gleiche  Grad  solcher  Werte  doch  oft  in  die 
spezitische  Kategorie  des  Bedeutenden  nicht  eintritt. 

Eine  andere  der  Kategorien,  die  von  unseren  Gefühls- 
reaktionen her  dem  objektiven  Verlauf  des  Geschichtlichen 
eine  Gliederung  nach  Reizverschiedenheiten  läfst,  ist  das 
Extreme  und  sein  Korrelat,  das  Typische.  Ein  Interesse, 
das  jenseits  des  blofs  theoretischen  an  jenem  Verlauf  liegt, 
knüpft  sich  an  Erscheinungen,  wenn  wir  sie  als  die  äufsersten 
Stufen  von  Qualitätsskalen  empfinden,  die  sich  vielleicht  aus 
historisch  ganz  auseinanderliegenden  Elementen,  durch  Ver- 
gleich sonst  ganz  heterogener  Phänomene  gebildet  haben. 
Die  rein  formale  Tatsache,  eine  äufserste  Grenze  mensch- 
licher Möglichkeiten  vor  uns  zu  haben,  erregt  eine  psycho- 
logische Reaktion,  die  in  hohem  Mafse  von  dem  Inhalt 
dieses  Extremseins  unabhängig  ist.  Wie  schon  nach  den 
landläufigen  Erfahrungen  der  Praxis  „die  Extreme  sich  be- 
rühren", so  besteht  zwischen  allem  Äufsersten  im  Sein  und 
Tun  der  Menschen  eine  geheime  Verwandtschaft  auch  in 
Hinsicht  der  Gefühle,  mit  denen  wir  es  aus  dem  blofs  kau- 
salen Verlauf  der  Ereignisse  herausheben  —  so  weit  Gefühle 
anderer  Kategorien  das  so  Zusammengehörige  auch  aus- 
einandertreiben mögen.  Aber  die  Schauer,  mit  denen  wir 
die  Monstrosität  des  Verbrechens  begleiten,  enthalten  oft 
einen  Reiz ,  dessen  Bezeichnung  als  „dämonisch"  eine  Art 
Entschuldigung  enthält,  dafs  irgendeine  Attraktion  überhaupt 
solche  Taten  in  die  Nähe  des  anderen  Wertextrems  bringt. 
Im  formalen  Gegensatz  zu  diesem  Interesse  steht  das  an 
dem  typischen  Charakter  der  Erscheinungen.  Beide  gelten 
gewissermafsen  quantitativen  Bedeutsamkeiten:  jenes  dem 
äufsersten  Quantum  einer  Qualität,  dieses  dem  Quantum  von 
Personen  oder  Ereignissen,  das  durch  eine  Einzelerscheinung 
vertreten  wird.  Auch  die  Schätzung  der  typischen  Be- 
deutsamkeit des  Einzelnen  stellt  sich  jenseits  der  kausalen 
Aufreihung,  aus  der  es  oft  ganz  anzusammenhängende  Tat- 
sächlichkeiten als  Material  zur  Typenbildung  herausgreifen 


—     124    — 

mufs;  ebenso  aber  ersichtlich  jenseits  aller  Wertung  nach 
sonstigen  normativen  ]\Iafsstäben.  Es  ist  ein  ganz  primäres 
Interesse,  das  sich  an  die  Erscheinung  blofs  darum,  weil  sie 
ein  Typus  ist,  knüpft,  obgleich  natürlich  sein  Mehr  oder 
Weniger  von  der  inhaltlichen  Bestimmtheit  der  typisierten 
Existenzen  abhängen  wird.  Sowohl  das  Extreme  wie  der 
Typus  ist  in  höherem  Mafse  objektiv,  in  geringerem  eine 
blofse  Projektion  unserer  Gefühle,  wie  das  Wertvolle  oder 
das  Bedeutende  oder  einfach  das  Interessante.  Allein  wir 
erblicken  doch  einen  Sinn  des  geschichtlichen  Daseins 
darin ,  dafs  seine  Erscheinungen  einerseits  nicht  in  der 
Gleichförmigkeit  mittlerer  Qualitäten  abrollen,  sondern  sich 
nach  allen  Richtungen  hin  zu  Extremen  steigern ;  dafs  sie 
sich  andrerseits  nicht  unvergleichbar  und  einander  qualitativ 
fremd  darstellen,  sondern  eine  ideelle  Zusammenordnung 
besitzen,  die  einzelne  Menschen,  Taten,  Zustände  zu  Ver- 
tretern eines  ganzen  Kreises  ähnlicher  macht.  Aus  beiden 
Tatsachen  kann  eine  Metaphysik  der  Geschichte  Bedeutsam- 
keiten konstruieren,  aufserhalb  jenes  blofs  exakten  historischen 
Bildes,  in  welchem  sich  die  extremen  Erscheinungen  ebenso 
wie  die  durchschnittlichen,  die  typischen  ebenso  wie  die  ganz 
individuellen  mit  gleichgültiger,  innerlich  undifferenzierter 
Notwendigkeit  erzeugen.  Dafs  die  berührten  Tatsachen 
diese  Funktion  üben,  der  Geschichte  über  das  blofs  Tat- 
sächliche hinaus  als  Akzentuirung  oder  Gliederung  oder 
Vertiefung  zu  dienen  —  das  ist  der  Ausdruck  der  Gefühls- 
reaktionen ,  die  das  theoretische  Bild  mit  Farben,  wie  sie 
nicht  ihm,  sondern  nur  jenen  eigen  sind,  ausstatten. 

Diese  Erörterungen  sehen  schon  lange  auf  den  Gesichts- 
punkt zurück,  von  dem  dieses  Kapitel  ausging:  dafs  die 
methodischen  Begriffe,  die  die  Erkenntnifstheorie  ganz  ver- 
schiedenen Schichten  des  Denkens  zuweist,  in  der  Praxis 
desselben  fortwährend  gemeinsam  und  abwechselnd  an- 
gewandt werden.  Die  Reflexe,  die  unsere  spekulativen  und 
nicht-theoretischen  Interessen  auf  die  Ergebnisse  der  Historik 
werfen,  sind  freilich  die  Elemente  historischer  Metaphysik, 
und  diese  ist  ganz  anders  orientiert  als  die  theoretische 
Schilderung  des  Geschehens  und  findet  in  der  strengen 
Sonderung  von  letzterer  ihr  wissenschaftliches  Existenz- 
recht.   Allein  jene  reine  Theorie  ist  ein  nie  ganz  realisiertes 


—     125     — 

Ideal  und  tatsächlich  auch  ihrerseits  von  der  Wirksamkeit 
der  metaphysischen  Kategorien  durchzogen.  Die  Spekulation 
über  die  Geschichte  ist  zum  grofsen  Teil  nichts  anderes, 
als  die  gesonderte  Heraushebung,  Vervollständigung, 
prinzipienmäfsige  Aneinanderordnung  von  Voraussetzungen 
und  Triebkräften ,  die  schon  in  der  Gestaltung  des 
Geschehensraaterials  zur  exakten  Geschichte  wirksam  sind. 
Man  -wird  jene  in  ihrer  Genesis  nicht  vollständig  verstehen, 
wenn  man  nicht  die  Ansätze  zu  ihr,  ihre  partiellen  Wirksam- 
keiten, ihr  oft  verstecktes  Sich-Aufarbeiten  in  den  ein- 
facheren ,  konkreten  Feststellungen  der  Historik  verfolgt, 
die  sich  freilich  ihrem  erkenntnistheoretischen  Sinn  nach 
von  jener  scharf  trennen.  Die  Gebilde,  deren  reines  Wesen 
durch  einen  Begriff  der  höheren  Geistigkeit  bestimmt  wird, 
sind  zwar  ihrem  Sachgehalt  und  Wert  nach  von  der  Art 
ihres  historischen  Aufwachsens  ganz  unabhängig;  allein  da 
unser  Vorstellen  sich  dieser  logischen  Sachlichkeit  nur 
asymptotisch  nähern  kann  und  selbst  etwas  psychologisch- 
historisches bleibt,  so  ist  ihm  die  Einsicht  in  die  geschicht- 
lich-reale Entwicklung  jener  Gebilde  doch  auch  ein  Stütz- 
punkt für  die  Einsicht  in  ihre  überhistorisch-sachliche  Be- 
deutung. So  etwa  der  Religion  gegenüber.  In  unzähligen 
Beziehungen  des  Lebens  finden  wir  Gedankenelemente, 
Willenstendenzen ,  Gefühlserregungen ,  die ,  aus  ihren 
singulären  Verbindungen  gelöst,  gleichsam  zum  Absoluten 
gesteigert  und  um  einen  Mittelpunkt  gesammelt,  zur  Religion 
werden.  Das  Verhalten  des  Patrioten  zu  seinem  Vaterland, 
des  pietätvollen  Kindes  zu  seinen  Eltern,  des  Enthusiasten 
zu  seinem  Ideal,  des  Soldaten  zu  seiner  Fahne  —  alles 
dies  enthält  Momente  der  Religiosität;  Religion  ist  das 
eigne  Leben,  zu  dem  sich  jene  Gefühle  erhöhen  und  ver- 
weben, die  sonst  nur  wie  in  Funken  die  einzelnen  Interessen- 
gebiete durchwärmen ;  der  Gegenstand  der  Religion  ist  ihr 
Schnittpunkt  im  Unendlichen ,  das  differentielle  und  — 
richtig  verstanden  —  abstrakte  Gebilde,  zu  dem  sie 
kristallisieren.  Mit  dem  Rechte,  mit  der  Kunst,  verhält  es 
sich  nicht  anders.  In  den  einfacheren  und  konkreten  An- 
gelegenheiten und  Inhalten  des  Lebens  sind  fortwährend 
Elemente  rechtlicher  und  ästhetischer  Art  wirksam,  als  un- 
entbehrliche Normen  oder  als  Energien  der  praktischen  Pro- 


—     126     — 

zesse  dienend ,  aber  in  dieser  Funktion  so  verstreut  und 
rudimentär,  wie  es  eben  der  Zufälligkeit  jener  Prozesse 
entspricht.  Aus  diesen  aber  herausgehoben,  wachsen  sie 
schliefsHch  zu  ideellen  Gebilden  auf,  gewinnen  zu  ihrer 
Geistigkeit  einen  Körper  höherer  Ordnung ,  gehen  aus  all 
den  Ansätzen  und  ausoinanderliegendcn  Elementen  zu  den 
Einheiten  des  nun  selbständig  bewufsten  Rechtes  oder  der 
autonomen  Kunst  zusammen.  So  finden  sich  die  Motive, 
mit  denen  die  Spekulation  über  das  theoretisch  exakte  Bild 
des  Historischen  hinausgreift,  doch  schon  in  diesem  Bild 
selbst,  aber  hier  eben  nur  als  Anregungen  wirkend,  die 
von  einer  gewissen  Entfernung  her  das  Material  gestalten 
helfen,  als  Voraussetzungen,  die  nicht  sowohl  die  Einzel- 
heiten, als  die  Tatsache,  dafs  diese  überhaupt  theoretisch 
fixiert  werden,  beeinflussen,  als  oft  unbewufste  Vorurteile, 
die  nur  den  Ton  des  Ganzen  bestimmen  und  so  weder  be- 
weisbar noch  widerlegbar  sind.  Erst  die  Geschichts- 
philosophie hebt  sie  aus  dieser  fragmentarischen  und  ver- 
borgenen Wirksamkeit  zur  Geschlossenheit  in  sich  und 
selbstgenugsamen  Vollendung. 

Die  erste  übertheoretische  Tatsache  innerhalb  der 
Historik  ist  das  Interesse,  das  die  Theorie  überhaupt 
motiviert.  Das  Erkennen  als  Ganzes  kann  ersichtlich  nicht 
aus  dem  Erkennen  hervorgehen  und  ebenso  sicher  gilt 
dieses  notwendige  Zurückgehen  auf  nicht-erkenntnismäfsige 
Triebfedern  auch  für  die  grofsen,  gegeneinander  selbständigen 
Provinzen  des  Wissens.  Es  genügt  auch  nicht,  das  Interesse 
am  Wissen  überhaupt  als  die  ganz  selbstverständliche, 
ein  für  allemal  gültige  Voraussetzung  jeder  Wissenschaft 
zu  bezeichnen ,  die  den  Bestand  des  Erkennens  so  wenig 
alterierte,  wie  er,  nach  der  anderen  Seite  hin,  durch  die 
Tatsache,  dafs  er  aufserhalb  des  Denkens  ist,  in  seinen 
Inhalten  modifiziert  wird.  Denn  dieses  Interesse  besteht 
durchaus  nicht  in  so  unterschiedloser  Allgemeinheit;  es 
gibt  vielmehr  unzählige  mögliche  Gegenstände  eines  Er- 
kennens, an  die  man  ein  solches  nicht  wendet,  weil  ihrem 
Erkenntnisbilde  der  Vv'ert  fehlen  würde  —  der  Wert,  der 
in  vielen  Fällen  auf  einen  anderen  zu  begründen  ist,  in 
letzter  Instanz  abcn-  auch  hier  in  einer  nicht  zu  ratio- 
nalisierenden Schätzung  besteht.    Es  mag  einen  „Trieb  zum 


—     127     — 

Erkennen  überhaupt"  geben,  in  demselben  Sinne,  wie  es 
Hunger  gibt,  als  ein  rein  von  seinem  terminus  a  quo  her 
bestimmtes  Gefühl ,  das  als  solches  überhaupt  noch  keine 
Beziehung  zum  Objekt,  also  auch  nicht  zu  einem  besonderen 
Objekt  hat;  allein  da  es  unter  allen  Objekten  nur  sehr 
wenig  efsbare  und  unter  diesen  nur  wenig  in  dem  gegebenen 
Augenblick  zugängige  gibt,  so  spitzt  sich  der  Hunger  praktisch 
ohne  weiteres  auf  bestimmte  Gegenstände  zu.  Dem  Er- 
kennen aber  mangelt  diese,  durch  die  Sonderart  des  Triebes 
selbst  gegebene  Auswahl,  und  der  allgemeine  Erkenntnis- 
trieb würde  uns  deshalb  ratlos  vor  die  UnermefsHchkeit 
möglicher  Ziele  stellen ,  wenn  er  sich  nicht  durch  die  be- 
sondere Kraft,  durch  die  einer  seiner  termini  ad  quos 
ihn  viel  mehr  als  ein  anderer  anzieht,  von  vornherein 
differenzierte. 

Das  geschichtliche  Erkennen  nun  haftet  an  zwei 
elementaren  Interessen.  Einmal  an  dem  historischen  In- 
halte: an  den  Verwebungen  zwischen  dem  Schicksal  und 
den  individuellen  Energien,  an  den  Gröfsenmafsen  des 
Wollens  und  Vollbringens ,  die  die  Einzelnen  und  die 
Gruppen  zweckvoll  oder  zwecklos  einsetzen,  an  dem  Rhyth- 
mus dieses  unabsehbaren  Spieles  von  Gewinn  und  Verlust, 
an  den  Reizen  der  Verständlichkeit  wie  denen  der  Viel- 
deutigkeit ,  mit  denen  das  seelisch  -  historische  Dasein  es 
unserer  Seele  vergilt,  dafs  sie  es  nie  ablesen  kann,  sondern 
immer  neu  in  sich  erzeugen  mufs.  Allein ,  indem  diese 
und  unzählige  andere  Interessen,  ohne  die  es  für  uns  über- 
haupt keine  Geschichte  als  Forschungsgebiet  gäbe,  eben 
dem  Inhalt  desselben  gelten,  würden  sie  nicht  anders 
einem  Schauspiel  zukommen,  das  eben  dieselben  vorführte. 
Unser  Geist  hat  die  eigentümliche  Fähigkeit,  an  seine  Vor- 
stellungen auch  dann  Gefühlsreaktionen  zu  knüpfen,  wenn 
sie  rein  ihrem  qualitativen  Inhalt  nach  und  ohne  jede  Frage 
nach  ihrer  Realität  gedacht  sind.  Diese  Reaktion  ist  oft 
schwächer,  oft  reiner,  oft  überhaupt  ganz  anders  getönt, 
wie  wenn  derselbe  Inhalt  unter  der  Kategorie  der  Realität 
vorgestellt  ist.  Den  blofsen  Gedanken  einer  sehr  edlen 
oder  sehr  abscheulichen  Tat,  das  blofse  Vorstellungsbild 
einer  eigenartig  komplizierten  Persönlichkeit  oder  eines 
merkwürdigen   Schicksals   begleiten  wir   mit  Gefühlen,    die 


—     128     — 

weder  davon  abhängen,  dafs  wir  wissen,  diese  Menschen 
und  Ereignisse  habe  es  in  Wirklichkeit  gegeben,  noch  ver- 
schwinden, wenn  wir  uns  ihrer  Irrealität  bewufst  werden. 
Die  naheliegende  Erklärung:  dies  seien  eben  assoziative 
Nachklänge  derjenigen  Reaktionen ,  die  die  Wirklichkeit 
solcher  Inhalte,  die  auf  uns  einwirkenden  Objektivitäten, 
in  uns  wachgerufen  haben  oder  wachrufen  würden  —  scheint 
mir  nicht  ganz  so  zutreffend ,  wie  naheliegend.  Denn  sie 
ist  zunächst  völlig  unbewiesen.  Liefse  es  sich  wirklich 
plausibel  machen,  dafs  keines  der  fraglichen  Gefühle  ur- 
sprünglich anders  als  auf  die  Veranlassung  durch  einen 
seienden  Gegenstand  hin  auftritt,  so  beweist  das  nur, 
dafs  die  dem  blofsen  Inhalt  geltenden  Gefühle  ihrer  psycho- 
logischen Eigenart  nach  dieser  stärkeren  Anregungen  durch 
sinnliche  Wii  klichkeiten  gleichsam  als  Schrittmacher  be- 
dürfen; aber  nicht,  dafs  sie  nicht  nach  Erfüllung  dieser 
Bedingung  als  etwas  Selbständiges  und  keineswegs  in  Um- 
fang und  Intensität  von  jenem  Abhängiges  existierten.  Von 
derartigen  Verhältnissen  ist  das  Seelenleben  erfüllt.  Wie 
oft  bedarf  es,  damit  wir  zwei  Gegenstände  als  völlig  mit 
einander  übereinstimmend  erkennen,  nur  der  leise  an- 
deutenden Hervorhebung  eines  einzelnen  Gleichheitspunktes ! 
Aber  nicht,  dafs  dieser  demonstriert  ist,  hat  uns  von  der 
fraglichen  Gleichheit  überzeugt,  sondern  diese  ist  unbewufst 
oder  latent  längst  in  uns  vorhanden,  und  jener  ausdrück- 
liche Hinweis  bricht  sozusagen  nur  das  Eis,  bewirkt,  dafs 
nun  von  ihm  ganz  unabhängige  Verhältnisse  uns  klar 
werden,  die  es  nicht  ohne  ihn,  aber  nicht  durch  ihn  werden. 
Der  Fehlschlufs:  einen  seelisch-unsinnlichen  Vorgang  für 
die  blofse  Nachwirkung  und  (juantitative  Herabsetzung 
seiner  sinnlich- realen  Anregung  zu  halten  —  ist  für  alle 
naturalistische  Psychologie  charakteristisch.  Es  ist  nicht 
eigentlich  der  Irrtum  des  post  hoc  ergo  propter  hoc.  Denn 
eine  Verursachung  durch  die  äufsere  Erfahrung  liegt  tat- 
sächlich vor;  nur  ist  sie  keine  andere,  als  die  „Verursachung" 
der  Pulverexplosion  durch  den  Funken.  Ja,  man  könnte 
sagen:  was  auch  die  allerhandgreiflichste  Erfahrung  in  der 
Seele  hervorbringt,  ist  die  Vorstellung  ihres  logisch  aus- 
drückbaren Inhaltes,  und  diesem  gelten  zunächst  alle 
Gefühle,    die    die    Erfahrung    anklingen    läfst.     Dafs  dieser 


—     129    — 

Inhalt  aufserdem  Erfahrung  ist,  d.  h.  sich  als  objektive 
Realität  verkündet,  hat  gleichfalls  gewisse  Gefühlswirkungen, 
auf  die  ich  nachher  komme,  die  als  Tönung,  Weiter- 
entwicklung, Abänderung  jener  wirken  mögen :  aber  dies 
hindert  absolut  nicht,  dafs  die  reinen  Inhaltsgefühle  eine 
Domäne  für  sich  bilden,  dafs  sie  nach  dem  Verschwinden 
der  durch  das  Sein  erzeugten  in  ihrer  Eigenheit  hervor- 
treten und  dauern,  vor  allem,  dafs  sie  in  der  psychologischen 
Analyse  von  jenen  getrennt  werden.  Nachdem  Inhalte 
einmal  gegeben  sind  —  vielleicht  nur  durch  Erfahrung  — 
entwickeln  sich  für  sie  Interessen,  die  sich  auch  bei  jeder 
anderen  Form,  in  der  jene  für  uns  bestehen  oder  bestehen 
könnten,  einstellen  würden.  Dieser  Art  also  ist  das  eine 
Element  des  historischen  Interesses,  dasjenige,  das  der 
Sprachgebrauch  als  die  „Interessantheit"  im  engeren  Sinne 
bezeichnet.  Für  dieses,  in  seiner  Reinheit,  besteht  kein 
wesentlicher  Unterschied,  ob  der  Vorgang,  die  Persönlich- 
keit ,  der  Zustand ,  sicher  oder  unsicher  überliefert  sind, 
auch  die  chronologische  Stelle  ist  ihm  nur  wichtig,  insofern 
sie  auf  die  qualitative  Bestimmtheit  des  Inhaltes  von  Ein- 
flufs  ist,  was  freilich  für  einen  höheren  Standpunkt  so  gut 
wie  immer  der  Fall  ist.  Der  innere  Sinn  dieses  Interesses 
ist,  dafs  es  sich  auch  der  blofs  erdichteten  Begebenheit 
nicht  weniger  als  der  wirklichen  leiht,  weil  es  eben  blofs 
dem  Inhalt,  aber  nicht  der  Seinskategorie  gilt,  in  der  dieser 
sich  darstellt.  Es  ist  dasjenige,  an  dem  die  individuelle 
Differenz  der  für  die  Geschichte  produktiv  interessierten 
Personen  sich  auf  das  wirkungsvollste  zeigt.  Nicht  nur 
bezüglich  der  Abgrenzung  des  zu  behandelnden  Gebietes; 
sondern,  wesentlicher  aber  nicht  immer  ebenso  deutlich,  an 
der  Zusammendrängung  oder  Ausführlichkeit  der  Schilderung, 
an  der  Hervorhebung  der  entscheidenden  Punkte,  an  der 
Wärme  oder  Kühle  des  Darstellens,  an  seinem  epischen  oder 
dramatischen  Charakter.  Hier  an  eine  Objektivität  zu 
glauben,  die  Anordnung  und  Betonung  rein  durch  die  sach- 
liche Wichtigkeit  bestimmen  liefse,  ist  eine  Selbsttäuschung. 
Was  ist  denn  „sachlich"  wichtig?  Beschränkt  man  die 
Wichtigkeit  wirklich  auf  das  einzelne  Ereignis  oder  sonstige 
historische  Elemente,  so  ist  sogleich  unzweifelhaft,  dafs  man 
sie   „darauf  legen"  mufs:    es  ist  wichtig,    weil  es  den  Be- 

Simmel,    Geschichtsphilosophie.     2.  Aufl.  9 


—     130     — 

trachtenden    interessiert.     Es    mag    „an   sich"    sittlich    oder 
verderblich,    gigantisch    oder   idyllisch,    glänzend    oder  tief 
sein  —  wichtig  in  dem  »Sinne,  dafs  es  den  Orientierungs- 
oder   Organisierungspunkt   der   geschichtlichen    Darstellung 
abgibt,    ist    es    ausschliefslich    durch  das  Interesse,    das   das 
Gefühl    des    historisch    Betrachtenden    daran    knüpft.      Ein 
sachliches    Kriterium    scheint    sich    höchstens    zu    ergeben, 
wenn     man     über     das     Einzelelement     hinausgehend     die 
Wichtigkeit   von    den   Folgen    seines   Eintretens   entlehnt. 
Allein  wenn  nun  die  Folgen  nicht  eben  jenen  Wichtigkeits- 
akzent zeigen,  so  ist  nicht  einzusehen,  weshalb  ihre  Ursache 
ihn    besitzen   sollte.     Wenn    sie   ihn  aber  zeigen,    so  über- 
trägt   ihr    objektiver  Zusammenhang  mit  ihrer  Ursache  ihn 
freilich  auch  auf  diese,   ohne  dafs  er  selbst  darum  weniger 
subjektiv  wäre,  als  in  dem  ersten  Falle.    Man  könnte  einen 
objektiven    Charakter    der    historischen    Wichtigkeit    noch 
dadurch   zu   gewinnen    versuchen,    dafs   nicht  irgendwelche 
Qualität  der  Folgen,    sondern   ausschliefslich  ihre  Quantität 
darüber     entschiede,      ob     das     verursachende     historische 
Element  wichtig  wäre:    das  Folgenreiche   wäre   als   solches 
das  historisch  Wichtige,    das  Isolierte,    das  seine  Energien 
mit    seinem    eigenen    Ablauf    erschöpft     und    die    Weiter- 
entwicklung   nicht    nach    sich    bestimmte,    wäre  unwichtig. 
Dafs   die   Historik   auf  das    Element,    das    eine   Fülle   von 
Folgen  zu  entfalten  fähig  ist,  mit  dem  Wichtigkeits-Gefühle 
reagiert,    bliebe   freilich    immer  subjektiv,    aber  diese  Sub- 
jektivität wäre  objektiv  normiert,    sie  würde   als  konstante 
Voraussetzung  mindestens   den    individuellen   oder  willkür- 
lichen Differenzen    entzogen   und    das   berechtigte  Mals  der 
Wichtigkeit  wenigstens  prinzipiell   in   jedem  einzelnen  Fall 
erweisbar    sein.      Allein     unmöglich     könnten     damit     die 
„Folgen"   im    naturwissenschaftlich-kausalen   Sinne   gemeint 
sein,  von  denen  überhaupt  jedes  Geschehen  eine  unendliche 
Reihe  entläfst;  sondern  nur  die  historisch  wichtigen  Folgen, 
womit   dann   ersichtlich    die   Frage   wieder    auf   dem   alten 
Flecke  stände. 

Indessen  könnte  man  auf  diesem  Wege,  wenn  man  ihn 
in  das  ganz  Hypothetische  und  Spekulative  fortsetzen 
wollte,  doch  noch  einen  Schritt  näher  an  eine  derartige 
objektive  Quantitätsbestimmtheit  der  Wichtigkeit   oder   des 


—     131     — 

Interesses  historischer  Elemente  herankommen.  Aufser  den 
Folgen  kausal  -  natürlicher  Art,  die  unermefslich  und  eben 
nur  zum  kleinsten  Teil  erkennbar  sind,  und  denen  des  schon 
als  historisch-bedeutend  Anerkannten,  das  eine  Auswahl  aus 
dem  Erkennbaren  darstellt,  gibt  es  die  dritte  Art:  die  zwar 
erkennbaren  oder  wenigstens  im  Überschlag  überschauten, 
aber  noch  nicht  in  die  Kategorie  der  historischen  Bedeutung 
erhobenen  Wirkungen  einer  Tat,  Person,  Zuständlichkeit. 
Und  nun  gibt  vielleicht  doch  das  blofse  Quantum  dieser 
Folgen,  wie  wir  es  bewufst  oder  unbewufst  schätzen,  das 
Mafs  ab,  in  dem  wir  mit  dem  Gefühl  historischen  Interesses 
auf  die  veranlassenden  Elemente  reagieren.  Diejenigen 
unter  diesen,  die  wir  als  die  „wichtigen"  bezeichnen,  sind 
genau  angesehen  doch  wohl  solche,  deren  Folgen  uns  in 
gröfserer  Fülle  absehbar,  quantitativ  abschätzbar  sind,  als 
die  der  „unwichtigen"  Ereignisse.  So  könnte  die  obige 
Forderung,  dafs  diese  Folgen  selbst  schon  historisch  be- 
deutend sein  müfsten,  um  diese  Qualität  auf  ihren  Ausgangs- 
punkt zurückzustrahlen,  mit  logischem  Recht  abgelehnt 
werden:  denn  historisch  interessant  wäre  uns  eben  nur  das, 
worauf  innerhalb  der  uns  —  klarer  oder  instinktiver  — 
erkennbaren  Reihen  seelischen  Geschehens  ein  gewisses 
Quantum  von  Ereignissen  zurückführbar  ist.  Jedes  von 
diesen  Ereignissen  braucht  an  sich  so  wenig  für  die  Historik 
bedeutsam  zu  sein,  wie  von  den  Hauteindrücken,  auf  deren 
Summierung  wir  mit  einem  Schmerzgefühl  reagieren,  jeder 
einzelne  schon  für  sich  allein  schmerzhaft  ist.  Beachtet 
man  nun,  dafs  das  historisch  Interessante  sich  allmählich 
abstuft,  bis  zu  Erscheinungen  hinunter,  die  keinerlei  Gefühls- 
betonung für  uns  besitzen,  oder  vielleicht  in  anderer  Hin- 
sicht, aber  nicht  in  historischer,  —  so  könnte  man  von 
einer,  an  jenen  Folgen-Quantitäten  abmefsbaren  Schwelle 
des  historischen  Bewufstseins  sprechen.  Dieser  Be- 
griff mufs  hier  hervorgehoben  w^erden,  weil  er  zu  den  über- 
theoretischeu  Voraussetzungen  der  historischen  Theorie  ge- 
hört, die  den  wissenschaftlichen  Realismus  und  Naturalismus 
derselben  entscheidend  zurückweisen  und  deren  verselbst- 
ständigende  Höherführung  den  Stoff  oder  die  Form  zu  der 
Metaphysik  der  Geschichte  abgibt. 

Alle   höheren   Gebiete    des   Geistes    zeigen    Schwellen- 


—     132    — 

Erscheinungen.  Vielerlei  Formen,  ja  vielleicht  alle,  die 
ästhetisch  wirksam  sind,  können  dies  doch  erst  von  einem 
bestimmten  Gröfsenmafs  an;  unterhalb  dieses  haben  sie 
zwar  die  Wahrnehmungsschwelle,  aber  nicht  die  des 
Ästhetischen  überschritten.  Vielerlei  Tatsachen,  die  im 
kleinen  Mafsstab  indifferent  oder  humoristisch  wirken,  über- 
schreiten die  SchM'elle  der  tragischen  Empündung,  sobald 
sie  in  grofsen  Dimensionen  auftreten,  sich  als  Typen  weiter 
Lebensprovinzen  enthüllen.  Das  Rechtsbewufstsein  entfaltet 
seine  spezilischen  Reaktionen  gleichfalls  erst  auf  eine  gewisse 
Gröfse  von  Vorgängen  hin :  der  Diebstahl  einer  Stecknadel 
ist  zwar  zweifellos  Diebstahl,  er  steht  ganz  innerhalb  der 
Schwelle  dieses  Begriffs,  aber  noch  aufserhalb  derjenigen, 
an  der  die  praktisch -rechtliche  Verfolgung  eines  Reates 
beginnt.  Und  so  allenthalben:  die  Elemente,  die  die  Re- 
aktion einer  bestimmten  Gefühlsschicht  hervorrufen,  tun 
dies  erst  von  einer  bestimmten  Quantität  an,  während  sie 
unterhalb  derselben  sehr  wohl  schon  die  Schwellen  einer 
oder  mehrerer  anderer  Bewufstseinsenergien  überschritten 
haben  können.  Nun  gibt  es  unzählige  Ereignisse  und 
keineswegs  nur  in  der  Gegenwart  des  unmittelbaren,  per- 
sönlichen Lebens,  die  wir  feststellen  können  oder  könnten, 
und  die  dennoch  nicht  in  das  historische  Interesse  auf- 
genommen werden.  Wenn  wir  aus  dem  Tagebuch  einer 
sonst  unbekannten  Person  aus  dem  18.  Jahrhundert  er- 
sehen, dafs  sie  mit  einer  ebenso  unbekannten  Freundschaft 
geschlossen  hat  oder  von  lebhafter  Teilnahme  an  der 
französischen  Revolution  erfüllt  war,  so  sind  dies  zwar 
logisch-begrifflich  historische  Tatsachen;  allein  in  dem 
sachlich  bedeutsamen  Sinne  des  Wortes  sind  sie  es  nicht, 
sie  haben  kein  historisches  Interesse.  Und  zwar  nicht  weil 
es  ihnen  an  menschlichem  Wert  oder  Interesse  fehlte:  wir 
könnten  von  beiden  wissen,  dafs  sie  von  den  tiefsten  sitt- 
lichen Impulsen  getragen,  dafs  Bewegtheiten  und  seelische 
Schönheiten  des  höchsten  Ranges  in  ihnen  lebten;  aber  das 
läfst  sie  noch  nicht  die  Schwelle  der  historischen  Bedeutung 
überschreiten.  Und  zwar  möglicherweise,  weil  das  Quantum 
der  von  uns  überschauten  Folgen  dieser  Tatsachen  dazu 
nicht  erheblich  genug  ist.  Hören  wir  dasselbe  von  Personen, 
deren  Wirksamkeit  für  weiter   folgende  Ereignisse  uns  be- 


—     133     — 

kannt  ist,  so  gewinnt  es  historischen  Wert,  weil  wir  ver- 
folgen oder  ahnen  können,  inwieweit  jene  Tatsachen  ihre 
weiterwirkenden  Kausalitäten  mitbestimmt  haben ,  wir  er- 
blicken, deutlicher  oder  verschleierter,  eine  Vielheit  von 
Folgen,  in  die  sich  eine  derartige  Freundschaft  oder 
politische  Erregung  verzweigt.  Ereignisse,  die  für  unsere 
Erkenntnis  isoliert  sind,  sind  keine  „historischen"^);  sie 
werden  es  in  dem  Mafs,  in  dem  wir  Folgen-Reihen  von 
ihnen  ausstrahlen  sehen.  Solche  unendlich  mannigfaltigen 
und  in  unzählbaren  Kreuzungen  sich  ergehenden  Reihen 
bilden  schliefslich  die  kompakte  Masse,  die  wir  „die  Ge- 
schichte" schlechthin  nennen;  und  das  G-efühl  der  historischen 
Bedeutung,  das  von  dem  aller  anderen  Bedeutungen  oder 
Werte  spezifisch  unterschieden  ist,  ist  einer  Erscheinung 
gegenüber  in  dem  Verhältnis  stärker  oder  schwächer,  in  dem 
sich  ihre  Wirkungen  in  diesen  —  zwar  unsicher  begrenzten 
und  in  viele  relativ  gesonderte  Provinzen  zerfallenden, 
seinem  Kerne  nach  aber  ganz  unzweideutigen  —  Komplex 
verweben.  Diese  Vielheit  der  erkennbaren  Wirkungen  ist 
nicht  historische  Bedeutung  im  Sinne  einer  objektiven 
Eigenschaft,  die  dem  Ereignis  zukäme;  aber  sie  bewirkt 
sie  in  uns ,  als  die  Erregung  einer  besonderen  seelischen 
Energie.  Es  ist  hier  wie  mit  allen  Schwellenerscheinungen : 
die  quantitative  Häufung  von  Elementen  schlägt  von  einem 
bestimmten  Punkte  an  in  eine  qualitative  Modifikation  ihres 
Efi^ektes  um.  Dies  mag  ein  Grund  sein,  weshalb  wir  Er- 
eignissen und  Personen  naher  Vergangenheit  gegenüber  den 
Mangel  historischer  Perspektive  fühlen:  sie  hatten  noch 
keine  Möglichkeit,  weitreichende  Folgen  zu  entwickeln 
(was  freilich  durch  eine  grofse  Wirkung  in  die  Breite  er- 
setzt werden  kann,  in  welchem  Falle  auch  die  noch  ganz 
nahestehende  Persönlichkeit  schon  spezifisch  historisch 
wirkt).  So  können  Elemente,  zu  denen  uns  die  zeitliche 
Distanz  fehlt  —  d.  h.  die  Übersehbarkeit  ihres  Folgen- 
Quantums  —  alle  möglichen  Werte  und  Interessen  für  uns 
besitzen ;  aber  historisches  Interesse  haben  sie  solange  nicht, 


^)  Selbstverständlich  wirken  auch  sie  als  historisch-interessierende, 
sobald  sie  als  Charakteristika  folgenreicher  Typen  funktionieren  oder 
als  Beispiele  allgemeinerer  Zustände,  die  notwendige  Durchgangspunkte 
für  die  Gesamtentwicklung  sind. 


-     134    — 

bis  jenes  Quantum  für  unser  Bewufstsein  den  Schwellen- 
wert der  historischen  Reaktion  erreicht  hat.  Es  liegt  hier 
eine  entfernte  Analogie  mit  der  Vermutung  über  das  Wesen 
der  ästhetischen  Gefühle  vor:  dafs  sie  bei  einer  gewissen 
Leichtigkeit  und  Glätte  im  Ablauf  der  assoziierten  un- 
bewufsten  Vorstellungen  eintreten,  nämlich  einer  solchen, 
die  einem  sonst  unerreichbaren  Reichtum  derselben  in  einer 
relativ  kurzen  Zeitdauer  wirksam  zu  werden  gestattet. 
Auch  bei  dem  Interesse,  das  wir  das  historische  nennen, 
handelt  es  sich  um  eine  Organisierung  des  Vorstellungs- 
materials, die  mit  der  einzelnen  Vorstellung  eine  nur  auf 
diesem  Wege  zu  gewinnende  Fülle  weiterer  verbindet. 
Natürlich  ist  die  Verknüpfungsart  und  entsprechend  die 
angeregte  Gefühlskategorie  eine  völlig  andere  als  in  dem 
ästhetischen  Falle.  Aber  mindestens  dies  ist  beiden  gemein- 
sam ,  dafs  die  einzelne  Vorstellung  aus  ihrer  Isolierung 
heraus  an  die  Spitze  eines  grofsen  Zusammenhanges 
weiterer,  von  ihr  abhängiger  gestellt  wird  und  dafs  dadurch 
eine  spezifische  Anregung  entsteht,  die  das  entsprechende 
Gebiet  als  eine  eigene  Interessenprovinz  schafft  und  gegen 
andere  abgrenzt.  Im  übrigen  ist  es  viel  weniger  der  An- 
spruch dieser  Hypothese,  in  der  Quantität  kausal  erkenn- 
barer Abhängigkeiten  die  hinreichende  objektive  Grundlage 
des  subjektiven  historischen  Interesses  festzulegen,  als  das 
Problem  selbst  zu  beleuchten,  das  ich  als  die  historische 
Schwelle  bezeichnete:  dafs  Ereignisse  und  Personen,  Ver- 
hältnisse und  Organisationen  alle  möglichen  Bedeutungen 
und  Werte  besitzen  können,  ohne  dadurch  historisch  inter- 
essant zu  werden ;  dafs  dies  vielmehr  eine  spezitische 
Gefühlsreaktion  ist,  mit  der  wir  auf  bestimmte  Anordnungen, 
Summierungen,  Formzusammenhänge  reagieren,  um  nun 
erst  auf  diese  subjektive  Bedeutung  jener  Elemente  hin  sie 
zu  dem  besonderen  Gebilde  der  Geschichte  zusammenzu- 
fassen und  zu  gestalten. 

Vielleicht  aber  schliefst  dies  noch  eine  Voraussetzung 
ein,  an  der  der  bisherige  Gedankengang  vorübergeführt  hat. 
Ich  hatte  von  zwei  vitalen  Interessen  gesprochen ,  die  als 
solche  über-theoretischer  Art  sind ,  und  die  das  historische 
Erkennen  bestimmen.  Ich  betonte  zuerst  das  Interesse  am 
Inhalt  des  Geschehens,    das  also  das  gleiche  bleibt,  auch 


-     135     — 

wenn  dieser  Inhalt  in  anderer  Form  als  der  der  geschicht- 
lichen Wirklichkeit  gegeben  ist.  Aus  diesem  Interesse- 
begrifF  entwickelten  sich  alle  bisherigen  Bestimmungen,  bis 
zu  dem  Begriff  einer  Schwelle,  der  eine  bestimmte  Art  und 
Mafs  von  Reizung  durch  Yerwebung,  Erweiterung,  Ran- 
gierung der  gegebenen  Elemente  fordert,  damit  das  histo- 
rische Bewufstsein  in  Funktion  trete.  Allein  alles  dies 
bleibt  an  den  Inhalten  der  Vorstellungen  haften,  und  wenn 
es  möglich  wäre,  diese  ganzen  Ereignisse  und  ihre  Ver- 
knüpfungen uns  als  ein  blofses  Spiel  vorzuführen ,  als  ein 
reines  Denken,  dem  kein  Sein  entspräche,  so  würde  ein  dem 
historischen  mindestens  verwandtes  Interesse-Gefühl  sich 
daran  knüpfen.  Allein  irgendein  Element  würde  dennoch 
zu  der  Vollständigkeit  dieses  fehlen,  eines,  das  zu  den  bis- 
her berührten  hinzukommen  mufs,  um  den  vollen  Effekt 
des  Historischen  zu  ergeben  und  das  das  zweite  der  an- 
gedeuteten Interessen  hervorruft.  Dieses  kann  man  als  das 
Interesse  an  der  Wirklichkeit  als  solcher  bezeichnen. 
Unzähliges  interessiert  die  Menschen,  nicht  weil  sein  Inhalt 
wertvoll,  bedeutsam,  originell  ist  —  sondern  weil  es  da  ist, 
weil  es  die  Form  der  Wirklichkeit  hat,  während  es  als 
blofser  Gedanke,  seinem  noch  so  deutlich  vorgestellten  In- 
halte nach,  keinerlei  Teilnahme  erweckt.  Im  Gegensatz  zu 
allem  vorher  Beobachteten,  das  auch  als  Spiel,  unter  der 
Kategorie  der  bloTsen  Idealität,  uns  mit  immer  gleichen  Ge- 
fühlen reagieren  läfst  —  verliert  vieles  andere  für  uns  so- 
gleich Bedeutung  und  Gefühlswert,  sobald  wir  hören,  dafs 
es  „nicht  M'ahr"  ist.  Die  Wirklichkeit  ist  hier  wie  ein 
Lebenssaft,  der  die  blofsen  Inhalte  der  Vorstellungen  durch- 
strömt, so  dafs  sie.  wenn  er  sie  verläfst,  als  Interesse-  und 
wesenlose  Schemen  zurückbleiben  —  so  wenig  das  logisch 
Ausdrückbare  an  ihnen  ein  anderes  geworden  ist.  Wie  es 
sich  in  der  Praxis  verhält :  dafs  hundert  Taler  als  blofser 
Gedankeninhalt  gar  kein  Interesse  beanspruchen ,  hundert 
wirkliche  dagegen  —  obgleich,  wie  Kant  hervorhebt,  keinen 
Pfennig  mehr  enthaltend  —  ein  sehr  lebhaftes,  so  ist  es 
auch  in  der  Theorie.  Vieles,  das  als  Bild  und  Idee  für  uns 
keinerlei  Bedeutung  besitzt ,  gewinnt  diese  unmittelbar,  so- 
bald es  als  seiend  vorgestellt  wird.  Die  Metaphysik  hat 
bekanntlich  dieses  Interesse  für  das  Sein  so  vollständig  von 


—     13G     — 

dem  für  die  Inhalte  gesondert,  dafs  sie  den  absoluten  Wert- 
gegensatz zwischen  beide  gelegt  hat:  das  Was  der  Welt 
sei  vernünftig  und  so  gut  wie  möglich,  ihr  Dafs  aber  sinnlos 
und  verderblich.  In  Spinoza  andrerseits  fühlt  man  das  leiden- 
schaftliche und  doch  beruhigte  Glück  über  die  Tatsache 
des  Seins  —  eben  dieses  blofsen  Seins,  an  dem  jeder  In- 
halt, der  immer  ein  einzelner,  besonderer  sein  mul's,  schon 
als  Einengung,  als  Wesenloses  gilt;  Hegel  zeigt  dem  Sein 
gegenüber  die  Kühle  des  Logikers,  der  es,  eben  weil  es 
jenseits  jedes  begrifflich  ausdrUckbaren  Inhalts  steht,  nur 
als  das  reine  Nichts  zu  bezeichnen  weifs;  in  Schopenhauer 
zittert  ein  Entsetzen  über  dieses  dunkle  Fatum  des  Seins, 
zu  dem  die  Dinge  verurteilt  sind,  und  aus  dem  nur  die 
Flucht  in  die  reine  Idealität  ihres  künstlerischen  Bildes  oder 
in  seine  Verneinung  schlechthin  —  nicht  in  die  eines  ein- 
zelnen Inhaltes  —  retten  kann.  Mit  gröfserer  oder  geringerer 
Deutlichkeit  offenbart  sich  so  allenthalben  das  Interesse,  das 
sich  an  diese  beiden  Seiten  der  gegebenen  Werte  in  ihrer 
Sonderung  knüpft;  freilich  ist  es  nur  die  Abstraktion  der 
Philosophie,  die  jede  dieser  spezifischen  Interessenströmungen 
für  sich  aufnimmt  und  reinlich  von  der  anderen  scheidet, 
während  die  sonstige  Theorie  und  Praxis  beide  fortwährend 
ineinander  webt,  ohne  dafs  darum  die  tiefe  Verschiedenheit 
ihres  Sinnes  gemindert  würde. 

Dieses  Interesse  am  Sein  als  solchen  ist  nun,  diesseits 
seiner  metaphysischen  Sublimierung  und  auf  die  Tatsäch- 
lichkeit eines  Inhalts  gerichtet,  der  wesentliche  Charakter 
aller  Historik.  Hiermit  wird,  zur  eindeutigen  Festlegung 
derselben,  ein  Querschnitt  durch  die  Vorstellungswelt  gelegt, 
der  im  vorigen  Kapitel  angedeutet,  aber  noch  nicht  bis  zu 
Ende  gedacht  wurde.  Der  Gegensatz,  der  dort  das  Historische 
vom  Naturwissenschaftlichen  schied,  war  der  zwischen  der 
individuellen  Erscheinung  und  dem  Gesetze.  Der  zeitlose 
Zusammenhang  des  Naturgesetzes,  der  B  schlechthin  an  A 
knüpft,  hatte  sich  zu  der  Bestimmung,  ob  A  ist,  unfähig 
gezeigt.  Allein  die  Existenzfrage  trat  zurück  gegenüber 
dem  Inhaltsproblem:  die  Naturgesetze  sind  gegen  die  in- 
dividuelle Konfiguration  völlig  indifferent,  die  sich  ihnen 
gemäfs  entwickelt.  Denkt  man  sich  die  Gesamtheit  der 
Naturgesetze  als  einen  ideellen  Komplex,  so  könnte  es  unter 


—     137     — 

ihrer  Herrschaft  unzählige  verschiedene  Welten  geben,  un- 
gefähr wie  es  unter  der  Herrschaft  der  gleichen  bürger- 
lichen Gesetze  sehr  viele  verschiedene  Gruppen  geben  kann. 
Ist  diese  bestimmte  Erscheinung  einmal  da,  so  entscheiden 
freilich  jene  Gesetze  über  ihre  Weiterentwicklung ;  sie 
stehen  aber  von  sich  aus  nicht  nur  der  Tatsache  fern,  dafs 
diese  bestimmte  ist,  sondern  auch  der,  dafs  sie  diese  be- 
stimmte ist.  Stände  eine  anders  qualifizierte  an  der 
gleichen  Raum- Z ei t-S teil e ,  so  würden  aus  jenem  Komplex 
heraus  eben  andere  Gesetze  an  dieser  Stelle  in  Wirksam- 
keit treten ,  ohne  dafs  der  Komplex  selbst  in  seinem  In- 
halt und  seiner  Gültigkeit  im  geringsten  berührt  würde. 
Von  seiner  absoluten  Allgemeinheit,  die  nur  ein  Name  für 
seine  Zeitlosigkeit  ist.  hebt  sich  also  die  einzelne  Gestaltung 
ab ,  die  von  sich  aus  durch  ihre  Qualitäten  bestimmt, 
welche  Gesetze  für  sie  zu  gelten  haben.  Die  Feststellung 
dieses  Individuellen ')  erschien  uns  als  die  Aufgabe  der 
Historik,  im  Gegensatz  zu  der  der  Naturwissenschaft:  für 
diese  steht  das  Gesetz,  für  jene  der  Fall  des  Gesetzes  in 
Frage;  und  zwar  nicht  so ,  dafs  derselbe  ein  Mittel  und 
Material  sei,  um  auf  induktivem  oder  anderem  Wege  in  die 
Erkenntnis  des  Gesetzes  zu  münden.  Sondern  gerade  und 
nur  als  einzelner  steht  er  im  Zentrum  des  historischen 
Interesses ;  und ,  umgekehrt  wie  in  der  Naturwissenschaft, 
ist  das  Wissen  um  die  Gesetze  nur  das  Mittel,  die  be- 
sondere Komplikation  und  Einheit,  an  der  sie  gültig  sind, 
zu  analysieren  und  zu  verifizieren.  NaturwissenscKaft  und 
Historik,  die  Auffassung  des  Gegebenen  nach  seiner  Gesetz- 
lichkeit oder  nach  seiner  für  sich  bedeutsamen  Sondergestalt, 
erscheinen  so  als  zwei  Zerlegungskategorien  des  Einheitlich- 
Wirklichen,  das  in  seiner  Unmittelbarkeit  und  Ungebrochen- 
heit zu  erfassen  uns  das  Organ  fehlt.  Allein  diese  polaren 
Gegensätze,  in  die  das  Weltbild  für  uns  komplementär  aus- 
einandergeht, zeigen  sich  von  dem  jetzt  gewonnenen  Stand- 


^)  Um  Mifsverständnissen  zu  begegnen:  die  historische  Indivi- 
dualität in  diesem  blofs  methodischen  Sinn  bedeutet  natürlich  keines- 
wegs nur  Einzelpersonen,  sondern  einzelne,  qualitativ  charakterisierte 
Sondergebilde  überhaupt,  also  Gruppen  und  Situationen,  Zustände 
und  Gesamtentwicklungen  ebenso  wie  das  Sein  und  Werden  des 
Persönlichen. 


—     138     — 

punkt  als  die  beiden  Teile  einer  Auffassungsmöglichkeit: 
sie  gehören  beide  in  die  Kategorie  des  Inhalts  der 
Dinge.  Das  Interesse  an  der  Beschaffenheit  des  Welt- 
laufes trägt  beide.  Gewifs  ist  es  die  seiende  Welt,  die 
wir  mit  beidem  suchen ;  aber  die  in  der  Wirklichkeit  immer 
zusammenwirkenden  Strömungen  darf  die  logische  und 
psychologische  Analyse  scheiden.  Gewifs  konnte  ich  hervor- 
heben, dafs  uns  manches  als  Seiendes  interessiert,  dessen 
blofse  Idee  uns  gleichgültig  läfst;  allein  dies  kann  über 
unsere  theoretischen  Bestrebungen  nicht  allein  entscheiden, 
weil  uns  sonst  alles  Seiende  gleichmäfsig  interessieren  würde ; 
die  Auswahl  dessen,  was  wir  innerhalb  der  Unermefslichkeit 
der  Objekte  erkennen  wollen,  erfolgt  nach  dem  Interesse 
an  ihrem  Inhalt,  das  also  prinzipiell  von  der  Frage  nach 
ihrem  Sein  oder  Nicht-Sein  unabhängig  sein  mufs.  Indem 
wir  also  die  Gegenstände,  deren  Gesetzlichkeit  oder  deren 
einmalig-individuelle  Erscheinung  wir  erforschen,  aus  jener 
Unermefslichkeit  herausheben,  zeigt  sich  die  Zusammen- 
gehörigkeit dieser  beiden  Fragestellungen  unter  der  gemein- 
samen Kategorie  des  Inhalts-Interesses,  dem  nun  das  Seins- 
Interesse,  als  ein  neues  Element  innerhalb  des  historischen 
Erkennens,  gegenübertritt. 

Und  daraus  ergibt  sich  eine  neue  Bestimmung  des 
Sinnes  der  Historik ,  soweit  sie  von  übertheoretischen 
Interessen  —  die  eben  die  Theorie  begründen  —  getragen 
wird.  Es  gibt  vielerlei  Tatsachen  der  Wirklichkeit,  die  als 
.solche  ein  ihren  Inhalten  allein  vorenthaltenes  Interesse  er- 
regen. Die  Bedeutung  alles  dessen,  was  wir  Aktualität 
nennen,  ist  vielfach  keine  andere.  Das  Gegenwärtige,  auch 
wenn  es  uns  persönlich  absolut  nicht  berührt  und  berühren 
kann,  erregt  unsere  Teilnahme  durch  sein  starkes  Mafs  von 
Wirklichkeit,  während  das  Vergangene,  und  gar  das  Zu- 
künftige, sozusagen  an  Wirklichkeit  verliert;  seine  Realität 
scheint  uns  weniger  sicher,  es  hat  kein  so  unmittelbares, 
greifbares  Sein.  Dieses  Interesse  am  Sein,  das  auch  dem 
inhaltlich  Indifferenten  gewidmet  wird ,  reicht  trotz  seiner 
schon  angedeuteten  Bedeutung  für  das  historische  Interesse 
dennoch  zu  dessen  Erzeugung  nicht  aus.  Es  ist  keineswegs 
alles  Wirkliche  historisch  wichtig;  und  zwar  nicht  nur,  weil, 
wenn  dies  der  Fall  wäre,  die  für  uns  erkennbaren  Teile  dieser 


—     139     — 

wichtigen  Wirklichkeit  so  verschwindend  gering,  so  zufällig 
verstreut,  so  hoflfnungslos  fragmentarisch  wären,  dafs  „Ge- 
schichte" als  ein  kindisches  Unternehmen  erscheinen  müfste : 
der  quantitative  Abstand  von  ihrem  Ideal,  die  Gesamtheit 
des  historisch  Wichtigen  zu  wissen,  wäre  beim  Zusammen- 
fall des  letzteren  mit  dem  Wirklichen  überhaupt  ein  so  un- 
ermefslicher,  dafs  es  nicht  das  Beginnen  lohnte.  Sondern 
ganz  positive  Interessiertheit,  die  sich  an  gewisse  Inhalte 
der  Wirklichkeitsbilder  knüpft,  gewisse  andere  draufsen 
läfst,  mufs  sich  mit  dem  Seinsinteresse  verbinden,  um  aus 
dem  unendlichen  Inhalte  dieses  das  Historisch-Wichtige  aus- 
zusondern. Für  sich  allein  aber,  ohne  dafs  die  Seinskategorie 
wirksam  würde,  genügt  auch  das  Inhaltsinteresse  nicht;  viele 
Dinge  erregen  uns  schon  als  blofse  Ideen:  in  ethischer  oder 
künstlerischer,  in  sinnlicher  oder  logischer  Beziehung  — 
aber  die  historische  Sphäre  berühren  sie  insoweit  nicht. 
Auch  hier  wird  das  Interesse  oft  lebhafter  sein  oder  erst 
entstehen,  wenn  der  Gegenstand  der  Vorstellung  existiert, 
aber  es  ist  in  seinem  Wiesen  nicht  an  diese  Existenz  ge- 
bunden. Wohl  aber  das  des  historischen  Interesses.  Das 
Erhebendste  oder  Abscheulichste,  das  als  blofser  Gedanke, 
im  Bilde,  als  Möglichkeit  der  Praxis  die  höchste  Bedeutsam- 
keit besitzt,  rührt  nicht  an  die  spezitische  historische  Inter- 
essensphäre, sobald  es  nicht  wirklich  ist  —  gerade  wie 
das  Wirklichste  es  nicht  tut,  wenn  es  nicht  zugleich  seinem 
Inhalt  nach  eine  bestimmte  Bedeutsamkeit  besitzt.  Damit 
wird  die  Schwelle  des  historischen  Bewufstseins  aufs  neue 
bestimmt.  Sie  liegt  da,  wo  das  Bewufstsein  des  Seins  sich 
mit  dem  der  Inhaltsbedeutungen  gleichsam  schneidet.  Diese 
Inhaltsbedeutungen  haben  für  sich  eine  besondere  Schwelle, 
über  die  ich  oben  die  Vermutung  ihres  Bestimmtseins  durch 
das  Folgenquantum  äufserte.  Wo  dieses  zusammenschlägt, 
entsteht  die  spezifische  Interessiertheit  für  die  Tatsächlich- 
keit gewisser  ausgewählter  Reihen  von  Ereignissen,  Personen, 
Zuständen,  die  die  Historik  begründet. 

Und  nun  bedarf  es  nur  noch  einer  weiteren  Abgrenzung 
gegen  das  Natur-Erkennen,  insoweit  auch  dieses  von  einem 
Interesse  an  der  Tatsächlichkeit  und  an  der  Bedeutung 
seines  Inhaltes  ausgeht.  Der  Unterschied  dürfte  der  sein, 
dafs  der  Natur  gegenüber  das  Bedeutungsgefühl,  genau  an- 


—     140     — 

gesehen,  nicht  dem  Gegenstand,  sondern  dem  Erkennen  des 
Gegenstandes  gilt,  dafs  dagegen  die  Bedeutung,  die  wir  die 
historische  nennen,  an  dem  Objekte  selbst  haftet.  Ein  so 
starkes  Interesse  wir  an  der  Struktur  der  chemischen 
Elemente  oder  an  den  Beziehungen  von  Licht  und  Elek- 
trizität, an  der  Entstehung  der  Organismen  oder  an  der 
Zusammensetzung  der  atmosphärischen  Luft  nehmen  mögen 
—  so  wissen  wir  doch,  dafs  diese  für  uns  so  aufregend 
rätselhaften  und  komplizierten  Phänomene  an  sich  derselben 
einfachen  und  gleichgültigen  Gesetzmäfsigkeit  gehorchen, 
wie  die  Bewegung  eines  Möbels,  das  wir  schieben,  oder  der 
Druck  irgend  einer  Substanz  auf  ihre  Unterlage,  Wenn 
wir  die  Natur  als  objektives  Ganzes  übersehen,  ohne  Rück- 
sicht auf  die  sehr  mannigfaltigen  Verhältnisse  unserer  Er- 
kenntnis und  Erkenntnisfähigkeit  zu  ihr,  so  fehlen  ihr  völlig 
jene  Wesensunterschiede  ihrer  Elemente,  an  die  allein 
unsere  an  Unterschiede  gebundene  Gefühlsweise  ein  Interesse 
knüpfen  könnte.  Es  ist  immer  und  überall  der  gleiche, 
jenseits  alles  spezifischen  Sinnes  und  Wertes  stehende  Gang 
der  Energieverwandlungen  und  StofFumlagerungen.  Nur 
dafs  wir  manches  davon  seit  lange,  vieles  seit  kurzem,  das 
meiste  noch  gar  nicht  wissen,  dafs  einiges  sich  der  Art 
unseres  Erkennens  leicht,  anderes  schwer  erschliefst,  dafs 
unsere  Kategorien  und  Synthesen  die  Erscheinungen  in 
einfache  und  komplizierte  trennen  —  dies  allein  gliedert 
den  eintönigen  Ablauf  des  Naturgeschehens  in  Wesentliches 
und  Unwesentliches,  Interessierendes  und  Unbedeutendes. 
Dafs  das  differente  Verhalten  unseres  Erkennens  das 
Interesse  an  dem  Natürlichen  verschieden  verteilt,  das 
ist  der  Geburtsakt  des  Interesses  an  dem  singulären 
naturwissenschaftlichen  Problem  —  da  es  innerhalb  der 
Objektivität  der  Dinge  keine  Unterschiede  gibt,  die  ein 
solches  in  uns  erzeugen  könnten.  Dagegen,  iimerhalb  der 
historischen  Kategorien  liegen  Bedeutungsunterschiede  in  dem 
Wesen  der  Erscheinungen  selbst.  Je  tiefer  wir  in  die  Natur 
eindringen  und  je  mehr  die  Differenzen  der  Distanz  zwischen 
ihr  und  unserem  Erkenntnisvermögen  sich  nivellieren,  um 
so  unindividueller,  um  so  mehr  durch  die  „Gleichheit  vor 
dem  Gesetz"  beherrscht,  steht  sie  vor  uns;  denn  die  Be- 
sonderheit  ihrer   Erscheinungen,    die   deren   genauere   Be- 


—     141     — 

trachtung  freilich  ergibt,  betrifft  nur  ihre  Form,  nur  die 
Komplikation  des  Allgemeinen  zu  ihnen ,  aber  nicht  ihr 
innerstes  Prinzip,  das  vielmehr  bei  der  Umsetzbarkeit  der 
Energien  und  der  Wanderung  der  StoflFe  für  alle  das  gleiche 
ist.  Je  tiefer  dagegen  die  Erscheinungen,  die  wir  historisch 
nennen,  sich  uns  erschliefsen,  desto  bedeutsamer  wird  uns 
ihre  Individualität,  desto  näher  gelangen  wir  an  den 
geheimnisvollen  Punkt,  aus  dem  die  Gesamtqualität  der 
Persönlichkeit  wie  eine  in  sich  geschlossene,  dem  ganzen 
sonstigen  Dasein  gegenüber  selbständige  Welt  hervorgeht. 
Gewifs  alternieren  die  Sphären  des  Allgemeinen  und  des 
Besonderen  ebenso  auf  dem  natürlichen  wie  auf  dem 
historischen  Gebiet,  d.  h.  es  ist  die  Aufgabe,  hinter  jeder 
entdeckten  Allgemeinheit  durch  feinere  Analyse  die  in- 
dividuelle Differenziertheit  aufzufinden  und  jede  solche 
wiederum  in  allgemeine  Gesetze  und  Typen  aufzulösen  und 
so  beide  Prinzipien  sich  als  heuristische  gegenseitig  ab- 
lösen zu  lassen.  Allein  diese  Gleichheit  des  Weges  geht 
doch  auf  entgegengesetzte  Ziele:  gewissen  Erscheinungen 
gegenüber  findet  er  an  dem  Allgemeinen,  anderen  gegenüber 
am  Besonderen  seine  Endstation,  gleichviel  ob  sie  erreichbar 
ist  oder  im  Unendlichen  liegt.  Durch  diese  Verschiedenheit 
der  definitiven  Tendenz  scheiden  sich  die  Wege,  trotz  der 
vielfachen  Gleichheit  jenes  Rhythmus ,  in  den  natur- 
wissenschaftlichen und  den  historischen.  Das  Bedeutungs- 
gefühl, ohne  das  wir  an  keinen  Vorstellungsinhalt  die  Mühe 
des  Erkennens  wenden  würden,  findet  an  den  Naturobjekten 
unmittelbar  kein  Gegenbild.  Die  Natur  mag  uns  als  Ganzes 
metaphysisch  oder  gefühlsmäfsig  interessieren;  aber  ihre 
einzelnen,  in  ihrem  letzten  Wesen  völlig  ununterschiedenen 
Teile  können  dies  zwar  ästhetisch,  durch  die  Unter- 
schiedenheit  ihrer  anschaulichen  Form,  wissenschaftlich 
jedoch  nur  durch  die  Distanz,  in  die  uns  die  Zufälligkeit 
und  Vorläufigkeit  unseres  unvollkommenen  Erkennens  zu 
ihnen  stellt  und  deren  Mannigfaltigkeit  die  monotone  Einheit 
ihres  objektiven  Wesens  für  unsere  Unterschiedsempfindlich- 
keit überdeckt.  Die  Inhaltsbedeutungen  aber,  die  für  uns 
das  Interesse  der  Historik  motivierten,  hafteten  an  deren 
Objekten  selbst,  sie  erregen  unser  Interesse,  weil  diese  in 
ihrem  eigensten  und  inneren  Sein  mannigfaltig  und  rangiert 


—     142     — 

sind.  Und  hiermit  zeichnet  sich  zugleich  der  Unterschied 
des  historischen  Interesses  gegen  das  psychologische.  Denn 
jenes  hat  seiende  Objekte,  an  denen  also  eine  Bedeutung 
unmittelbar  haften  kann,  in  der  Psychologie  aber  handelt 
es  sich  um  Abstraktionen,  um  die  Feststellung  von 
gesetzlichen  oder  den  gesetzlichen  analogen  Relationen, 
die  überall  gelten,  wo  ihre  Bedingungen  gegeben  sind, 
selbst  wenn  dies  in  der  Wirklichkeit  nur  ein  einziges  Mal  ge- 
schähe. Wo  eine  psychologische  Realität  erörtert  wird,  ist 
es  die  Anwendung  zeitlos  psychologischer  Zusammenhänge 
auf  historisch  Gegebenes,  aber  nicht  mehr  blofse  Psychologie. 
Die  eigene  und  difFerentielle  Bedeutung,  die,  allem  Persönlich- 
Seelischen  eigen,  den  Unterschied  des  geschichtlichen 
Interesses  gegen  das  naturwissenschaftliche  stiftet,  wirft 
jenes  nun  doch  nicht  mit  dem  wissenschaftlich-psychologischen 
Interesse  zusammen.  Hier  wird  die  Grenze  durch  die 
Seins-Tatsache  gezogen,  die  die  Historik  von  der  abstrakten 
Zeitlosigkeit  der  Psychologie  ebenso  trennt,  wie  die  Be- 
deutungs-Tatsache sie  von  der  Naturwissenschaft  geschieden 
hatte. 

Dies  also  sind  die  allgemeinen  übertheoretischen 
Interessen ,  deren  Ineinander-Verwachsen  das  theoretische 
Interesse  an  der  Historik  erzeugt.  Es  sind  nicht  die 
apriorischen  Voraussetzungen,  die,  im  Sinne  des  Kantischen 
Apriori  und  seiner  früher  besprochenen  Abstufungen,  der 
Wissenschaft  immanent  sind,  die  ihren  inneren  Bau  be- 
stimmen. Sie  umfassen  sie  vielmehr  wie  das  Erdreich  die 
Wurzel  der  Pflanze,  die  zwar  ihre  Bildungsgesetze  rein  in 
sich  bewahrt,  aber  die  ganze  Kraft  und  Möglichkeit,  ihr 
Leben  diesen  gemäfs  zu  leben,  doch  jenem  tragenden  und 
in  sie  eingehenden  Boden  verdankt.  Dafs  Geschichte  für 
uns  überhaupt  einen  Sinn  hat  —  ihrem  Sachgehalte  wie 
dessen  Erforschtwerden  nach  —  ist  daran  gebunden,  dafs 
der  Inhalt  des  Weltlaufs  und  die  Tatsache  seiner  Wirklich- 
keit zwei  Interessenströme  entfesseln,  die,  gleichsam  unter 
einem  bestimmten  Winkel  zusammenfliefsend,  nun  einen  ein- 
zigen bilden.  Und  wie  dies  als  Fundament  unterhalb  der 
Historik  liegt,  ohne  in  ihren  Gang  im  einzelnen  einzugreifen, 
so  wächst  es  als  Metaphysik  über  sie  hinaus,  und  bewahrt 
dabei  dieselbe  Reserve,  oder  sollte  sie  wenigstens  bewahren. 


—     143    — 

Was  es  uns  prinzipiell  möglich  macht,  Geschichte  zu  treiben : 
dafs  in  dem  Chaos  der  Ereignisse  und  ihrer  Überlieferung 
überhaupt  ein  Sinn  auffindbar  ist,  den  Begriffe  ausdrücken 
können  —  ohne  welches  auch  die  realistischste  und  de- 
skriptivste Historik  undenkbar  wäre  und  der  keineswegs 
mit  atavistischer  Teleologie  zusammenfällt  — ;  dafs  mindestens 
in  abgegrenzten  Perioden  Fortschritt,  oder  eine  Balance 
aufbauender  und  zerstörender  Kräfte,  oder  ein  Herabsinken 
aller  Werte  besteht;  dafs  die  unbewufst  und  scheinbar  aus 
tausend  differenten  Motiven  wirkenden  Kräfte  der  Individuen 
schliefslich  zu  wesentlichen  Resultaten,  zu  einer  Erfolgs- 
einheit zusammengehen;  dafs  die  Existenz  dieses  ganzen 
Spieles  einen  Wert  oder  sein  Gegenteil  hat  —  alles  dies, 
herausgelöst  aus  seiner  Rolle  als  Interessen-Voraussetzung 
für  den  Aufbau  historischen  Wissens,  und  über  dieses  hinaus 
vervollständigt  und  vereinheitlicht,  ergibt  die  Metaphysik 
der  Geschichte.  Die  einzelne  Metaphysik  hebt  einen 
einzelnen  dieser  Interessenpunkte  heraus  und  läfst  ihn  zu 
dem  absoluten  Sinne  der  ganzen  historischen  Realität 
kristallisieren.  So  sehr  dies  ein  nur  sich  selbst  genügendes 
Spiel  der  Phantasie  sein  mag  —  sein  tieferer  Rechtsgrund 
liegt  doch  darin,  dafs  die  Wurzeln  dieser  Metaphysik  die 
Interessen  sind,  ohne  die  es  zu  einer  Historik  als  Erkenntnis 
des  Geschehenen  nie  kommen  würde,  und  die  nun,  diesen 
auf  ihnen  ruhenden  Bau  überwachsend,  oberhalb  seiner  sich 
ins  Transszendente  heben.  Es  ist  ein  Fall  jener  typischen 
Formel  des  Geistigen :  dafs  die  Seele  gerade  dasjenige,  was 
am  tiefsten  in  ihrem  Eigenwesen  wurzelt,  am  weitesten  aus 
sich  heraus  zu  projizieren  liebt.  Das  Objektive  liegt  für 
sie  gleichsam  in  einer  mittleren  Distanz;  aber  ihr  Inner- 
lichstes, das  sich  in  den  subjektivsten  Schichten  der  Seele 
erzeugt,  streckt  sie  von  sich,  in  ein  Absolutes,  Über- 
Objektives,  als  fände  sie  erst  durch  diesen  Sprung  in  das 
andere  Extrem  das  Gleichgewicht  wieder  oder  die  Be- 
freiung von  dem  allzuengen  Beisichsein  der  Subjektivität^). 


1)  Hier  tritt  der  Problemumfang  der  Geschiciitsphilosophie 
deutlich  hervor.  Die  Philosophie  jedes  Gebietes  liegt  einerseits 
unterhalb ,  andrerseits  oberhalb  der  exakten  Wissenschaft  von  dem- 
selben.    Sie  erforscht  die  Voraussetzungen  und  Normen,  welche  das 


—     144    — 

Diese  Interessen,  deren  Inhalte  in  intellektueller  Sub- 
limierung  den  metaphysischen  Sinn  der  Geschichte  ergibt, 
sind  nun  in  Wirklichkeit  kein  nivellierter  Baugrund,  der 
auf  die  exakte,  über  ihm  errichtete  Historik  ohne  spezifischen 
Einflufs  bliebe.  Vielmehr,  neben  der  generellen  Interessiert- 
heit, ohne  die  es  prinzipiell  keine  exakte  Geschichte  gibt, 
und  der  reinen  Metaphysik  linden  sich  in  dem  Bau  jener 
allenthalben  besondere,  alles  konkrete  Wissen  überschreitende 
Voraussetzungen;  nicht  jene  apriorischen,  die  Geschichte 
ihrer  inneren  Form  nach  möglich  machen,  sondern  sinn- 
gebende, die  ihre  Erkenntnis  für  uns  lohnen.  Der  Natur 
gegenüber  bleiben  diese  —  die  Kant  Ideen  der  Vernunft 
nennt  —  als  Spekulation  jenseits  des  Tatsachenbildes-,  die 
Geschichte  aber  wird  von  ihnen  durchflochten.  Schon  ob 
man  das  Gewicht  der  historischen  Forschung  auf  Urkunden- 
publikationen oder  auf  zusammenfassende  Darstellungen 
legt,  ob  auf  Querschnitte  durch  getrennte  Erscheinungs- 
komplexe oder  auf  Reihen,  in  denen  sich  ein  einheitlicher 
Keim  entwickelt  —  dies  sind  keineswegs  blofse  Fragen  der 
Methoden,  der  Mittel  und  der  Form;  sondern  indem  sie 
dies  sind,  zeigen  sie  zugleich  bestimmte  Meinungen  und 
Gesinnungen  über  Wesen  und  Bedeutung  der  historischen 
Tatsachen  selbst,  trotzdem  sie  deren  unmittelbaren  materiellen 
Inhalt  nicht  modifizieren.  Statt  all  diesen  formenden,  über- 
theoretischen und  metaphysischen  Voraussetzungen  mit  ab- 
strakter Systematik  nachzugehen,  will  ich,  zum  Abschlufs 
dieser   Untersuchungen ,    die   Bestimmung   des   historischen 


exakte  Erkennen  fundainentieren  und  leiten :  die  Bedingungen,  welche 
es  erst  „möglich  machen"  und  deshalb  in  ihm  selbst  keine  Stelle 
finden;  und  sie  ergänzt  zweitens  die  immer  rudimentären  Inhalte  des 
positiven  Wissens  zu  begrifflicher  Vollendung,  verfolgt  die  in  der 
empirischen  Wirklichkeit  immer  verworrenen  und  abgerissenen  Fäden 
über  diese  hinaus,  bis  sie  sich  zu  einem  geschlossenen  Denkbild  des 
Seins  zusammenweben.  Sowohl  die  erkenntnistheoretische  wie  die 
metaphysische  Aufgabe  zentrieren  ersichtlich  in  der  Suveränität  des 
Geistes  gegenüber  seiner  Erfüllung  durch  das  gegebene  Weltmaterial, 
von  der  die  exakte  Wissenschaft  abhängt.  Aus  diesem  Zusammen- 
hang heraus  mag  es  geschehen,  dafs  so  häufig  gerade  die  apriorischen, 
erfahrung-bedingenden  Begriffe  wieder  für  das  metaphysische  Ge- 
webe den  Zettel  bilden,  an  dem  sich  die  fragmentarischen  Welt-  und 
Lebensinhalte  als  Einschlag  in  das  Absolute  hinaufspinnen. 


—     145     — 

Bildes  durch  sie  an  der  Struktur  zweier  ganz  verschiedener 
Probleme  aufzeigen. 

Das  eine  derselben  betrifft  den  Fortschritt  in  der  Ge- 
schichte. Es  ist  zunächst  klar,  dafs  der  Begriff  des  Fort- 
schritts einen  Endzustand  voraussetzt,  der  in  seiner  Ab- 
solutheit ideell  vorhanden  sein  mufs,  damit  die  Annäherung 
an  ihn  oder  sein  höheres  Verwirklichungsmafs  den  späteren 
Zustand  als  den  relativ  fortgeschrittenen  charakterisiere. 
Wenn  wir  in  der  Geschichte  etwa  eine  Abwechslung 
zwischen  Epochen  mehr  individualistischen  und  solchen 
mehr  kollektivistischen  Charakters  bemerken,  so  wird  der 
eine  die  ersteren  als  die  eigentlich  fortschreitenden  an- 
sehen, zwischen  welche  sich  die  letzteren  nur  als  gelegent- 
liche Hemmnisse  und  von  jedem  Fortschritt  unzertrennliche 
Rückschläge  einschieben,  während  ein  anderer  die  Deutung- 
direkt  umdreht,  weil  ihm  die  kollektive  Gestaltung  der 
Gesellschaft  als  ihre  eigentlich  wertvolle  erscheint,  und  er 
ihren  natürlichen  Gang  nur  insoweit  als  Fortschritt  an- 
erkennt, als  er  sich  in  der  Richtung  auf  diese  bewegt.  Ob 
wir  also  in  der  Geschichte  einen  Fortschritt  sehen  odei- 
nicht,  hängt  von  einem  Ideal  ab,  dessen  Wert  als  solches 
nicht  aus  jener  Reihenfolge  der  Tatsachen  hervorgeht, 
sondern  unvermeidlich  durch  die  Subjektivität  zu  ihr  hinzu- 
gebracht wird.  Man  könnte  etwa  die  Möglichkeit  eines 
formalen,  d.  h.  von  keinem  inhaltsbestimmten  Endzweck 
abhängigen  Fortschrittes  diskutieren,  —  wie  Kant  eine 
formale  Moral  feststellen  wollte,  gleichsam  ein  Schema  der 
Moral  überhaupt,  das  je  nach  den  Umständen  mit  dem 
verschiedenartigsten  Inhalt  gefüllt  werden  kann.  Dies  wäre 
dann  der  allgemeine  Begriff,  der  zum  Inhalt  hätte,  was  all 
den  verschiedenen  Fortschrittsreihen  —  zur  Steigerung  wie 
zur  Vernichtung  des  Lebens ,  zur  Intellektualisierung  wie 
zur  Moralisierung  der  Seelen,  zu  sozialistischen  wie  zu  in- 
dividualistischen Zuständen  —  gemeinsam  wäre.  Unter  dieser 
Voraussetzung  könnte  man,  wo  die  Ereignisse  die  fragliche 
Form  aufweisen,  von  Fortschritt  im  objektiven  Sinne 
sprechen,  auch  wo  die  materialen  Entgegengesetztheiten 
der  subjektiven  Wertsetzungen  ihn  nur  alternierenderweise 
anerkennen;  gerade  wie  man,  wo  guter  Wille  und  Pflicht- 
bewufstsein     den     handelnden     Menschen     bestimmt,      ihm 

Simmel,  Geschiohtsphilosophie.     2.  Aufl.  10 


—     146    — 

Moralität  zuspricht,    auch  wenn  er  inhaltlich  das  Gegenteil 
von  dem  getan  hat,  was  man  für  seine  Pflicht  hält.    Allein 
dies  ist  logisch  nicht  angängig.     In  der   moralischen  Frage 
bestehen  zwei  logisch  und  psychologisch  trennbare  Elemente : 
die    Gesinnung,    als    terminus    a   quo    des    Handelns,    und 
der    sachliche  Zweck  —   so  dafs    der  Wert    einer    und  der- 
selben Handlung  widerspruchslos    für   das  eine  bejaht,    für 
das  andere  verneint  werden  kann.    Für  die  beiden  Bestand- 
teile  des  Fortschrittes  aber:    dafs   einerseits  überhaupt  eine 
Veränderung    stattfindet,    andrerseits    der    spätere   Moment 
derselben  wertvoller  sei    als  der  frühere  —  liegt  es  anders. 
Der    letztere   ist   absolut   variabel,    der    Begriff  des  Wertes 
enthält  kein  allgemeines  Element,    das  unabhängig  von  der 
subjektiv  auswählenden  Wertsetzung  anwendbar  wäre.    Die 
Veränderung   aber,    die   wirklich    das   Allgemeine   an  allen 
Fortschritten    ist,    kann    doch    nicht   für   sich    schon    seinen 
Begriff  anwenden  lassen,    da  sie  ebenso  das  Allgemeine  an 
allen  Rückschritten   ist.     Man    müfste   denn  —  was  freilich 
in   Ansätzen    auch    vorkommt   —   schon   die   Tatsache   der 
Veränderung     als     solche     und    gleichgültig     gegen     jedes 
eventuelle   Ziel   derselben   als   Fortschritt  empfinden;   auch 
an  dem  Rückschritt  sei  immerhin  dies,  dafs  er  Veränderung 
ist,  ein  Fortschritt,  so  sehr  derselbe  durch  die  Schlechtigkeit 
seines  Inhaltes  den  Wert  der  Gesamtaktion  herunterdrücke. 
Der  Gegensatz    zum  Fortschritt    sei    nicht   der   Rückschritt, 
sondern  der  Stillstand  —  etwa  eine  geschichtsphilosophische 
Wendung  der  Fichteschen  Erklärung  der  Trägheit  für  das 
Radikal-Böse.      Genau    betrachtet    aber    ist    dies    entweder 
doch    wieder    eine   subjektive  Wertsetzung    oder   ein    meta- 
physischer Glaube.     Denn    die  blofse  Bewegtheit   und  Ver- 
änderung wird  das  Epitheton  des  Fortschritts  nicht  ihrem 
logisch-begrifflichen  Sinne  nach  erwerben  können,   sondern 
erst  wenn  man  sie  über  diesen  hinaus  als  etwas  Wertvolles 
empfindet  —  was  allerdings    eventuell   ohne   Rücksicht   auf 
den  durch  sie  realisierten  Inhalt   geschehen  mag.     Da   nun 
aber   gewisse   konservative   Gesinnungen ,    ohne    gegen   die 
Logik    zu    verstofsen,    die    Veränderung    an    und    für    sich 
schon    für    etwas    Unterwertiges ,    Böses    halten  —  so   folgt, 
dafs  dem  Veränderungsbegriff  logisch   dasjenige  Element 
fehlt,  das  ihn  zum  Äquivalent   eines  allgemeinen,    formalen 


—     147     — 

Fortschrittsbegriffes  machen  würde,  und  dafs  er  dies  nur 
durch  eine,  wiederum  auf  die  individuelle  Subjektivität 
angewiesene  Wertsetzung  werden  kann.  Diese  könnte  man 
nun  andrerseits,  für  die  Struktur  des  Fortschrittsbegriffs 
bezeichnend  genug,  durch  eine  metaphysische  Konstruktion 
ersetzen.  Die  Veränderung  ist  vielleicht  deshalb  ohne 
weiteres  ein  Fortschritt,  weil  am  Ende  aller  Dinge,  oder 
auch  pro  rata  durch  alles  Werden  hin  verteilt,  ein  absolut 
wertvolles,  definitives  Ziel  steht.  Erkennbar  ist  dies  für 
uns  nicht,  nicht  sein  Was,  sondern  nur  sein  Dafs  ist  sicher. 
Diesen  Tjpus  repräsentiert  ebenso  ein  gewisser  chiliastisch- 
religiöser  Glaube  wie  ein  liberalistischer  Optimismus.  Auf  der 
Basis  desselben  kann  allerdings  jede  Veränderung  als  solche 
ein  Fortschritt  sein,  mag  sie,  an  den  uns  zugängigen  Werten 
gemessen,  auch  einen  Rückschritt  darstellen  —  innerhalb 
des  Weltprozesses  als  Ganzen  ist  das  nicht  möglich,  sondern 
für  diesen  gibt  es  nur  Retardierungen  in  Form  des  Still- 
stands. Hier  ist  man  also  über  die  Subjektivität  des  Wert- 
begriffes, wie  sie  in  der  Verschiedenheit  seiner  inhaltlichen 
Erfüllung  liegt,  hinaus,  und  durch  seine  Verlegung  ins  Ab- 
solute und  gleichzeitige  Anonymität  kann  er  jegliche  Ver- 
änderung logisch  als  Fortschritt  empfinden  lassen.  Diese, 
wie  mir  scheint,  einzige  Möglichkeit,  von  einem  formalen, 
von  der  Individualisiertheit  der  Wertsetzungen  unabhängigen 
Fortschrittsbegriff  zu  sprechen,  macht  deutlich,  wie  weit 
man  über  die  Tatsachen,  die  den  Fortschritt  enthalten 
sollen,  hinausgehen  mufs,  um  ihn  in  ihnen  zu  sehen. 

Neben  der  Subjektivität  oder  Transszendenz  des  Ideals, 
an  dem  sich  die  tatsächliche  Bewegung  der  Geschichte  als 
Fortschritt  zeigt,  steht  eine  andere,  welche  die  Fortschritts- 
frage in  den  tiefer  gelegenen  Teilen  ihrer  Struktur  berührt. 
Hat  man  sich  nämlich  auch  schon  über  jenes  Ideal  geeinigt, 
so  hängt  es  fernerhin  noch  von  einer  durchaus  labilen 
Begriffsdefinition  ab,  ob  wir  dessen  empirische  Realisie- 
rungen als  Fortschritt  bezeichnen  dürfen.  Es  wäre  nämlich 
möglich,  dafs  die  wertvollen  Punkte  der  Geschichte  gleich- 
sam in  einer  generatio  aequivoca  entstünden;  es  brauchte 
keine  allmähliche  auf  sie  hin  gerichtete  Entwicklung  statt- 
zufinden, sondern  entweder  könnten  die  natürlichen  Kräfte 
eine  jenen  Idealen  entsprechende  Gestaltung  ebenso  zufällig 

10* 


-     148     — 

in  einem  Augenblick  produzieren,  wie  sie  im  nächsten  eine 
völlig  entgegengesetzte  erstehen  lassen  •  oder  die  Realisierung 
der  Werte  brauchte  überhaupt  nicht  aus  den  Kräften,  deren 
eigene  Entwicklung  die  Geschichte  hervorbringt,  sondern 
könnte  durch  Eingreifen  eines  Transszendenten  entspi'ingen, 
wie  es  etwa  religiöse  Weltanschauungen  in  dem  Erscheinen 
der  Heilande  oder  in  der  Vorstellung  vom  jüngsten  Tage 
lehren.  In  diesen  beiden  Fällen  scheinen  wir  von  Fort- 
schritt in  der  Geschichte  nicht  sprechen  zu  können.  Ins- 
besondere in  Hinsicht  auf  den  ersteren  ist  dies  vielmehr 
erst  dann  möglich,  wenn  der  wertvolle  Zustand,  den  sie 
verwirklicht,  den  Charakter  eines  irgendwie  definitiven  trägt. 
Es  mufs  irgendeine  Garantie  vorhanden  sein ,  zwar  nicht 
dafür,  dafs  nicht  Gegenbewegungen  und  Stagnationen  den 
geschichtlichen  Fortschritt  zeitweise  aufhielten  und  umbögen, 
wohl  aber  dafür,  dafs  die  Realisierung  des  Wertvollen  so- 
zusagen das  letzte  Wort  behält,  und  dafs  die  Wirklichkeit 
nicht  einem  Mechanismus  gehorcht,  der  über  diese  Reali- 
sierung ebenso  gleichgültig  hinweggeht,  wie  er  sie  hervor- 
gebracht hat^). 

Die  blofse  Tatsache,  dafs  es  vorschreitende  Epochen 
gibt,  wie  sie  sich  nach  Konstituierung  eines  Ideals  zeigt, 
erfüllt  noch  nicht  den  Begriff  des  „Fortschritts  in  der  Ge- 
schichte". Es  mufs  vielmehr  ein  innerer  Zusammenhang 
der  zeitlich  getrennten  Teilrealisierungen  des  Ideals  an- 
genommen werden,  derart,  dafs  trotz  ihres  Unterbrochen- 
seins und  durch  die  andersgerichteten  Epochen  hindurch, 
die  eine  sich  da  anschliefst  und  von  da  aus  höher  führt, 
wo  die  andere  aufgehört  hat.  Eine  gewissermafsen  unter- 
irdische Verbindung  zwischen  den  durch  ihr  positives  Ver- 
hältnis   zum   Ideal    charakterisierten  Perioden    wird  voraus- 


')  Selbstverständlich  aber  wird  der  fragliche  Fortschritt  in  der 
Geschichte  nicht  dadurch  ausgeschlossen,  dafs  das  Menschengeschlecht 
vielleicht  einst  vernichtet  wird,  und  die  kosmischen  Kräfte,  die  in 
der  Form  desselben  die  Geschichte  produziert  haben,  zu  ganz 
heterogenen  Ausdrucksweisen  übergehen.  Der  Fortschritt,  um  den 
es  sich  handelt,  ist  nur  ein  Fortschritt  innerhalb  der  Geschichte  und 
seine  Aufgipfelung  zu  einem  definitiven  Ziele  wird  dadurch  nicht 
illusorisch,  dafs  die  Geschichte  als  Ganzes  nicht  den  Charakter  des 
Definitiven  besitzt. 


—     149    — 

gesetzt,  wenn  man  behauptet,  dafs  es  einen  Fortschritt  in 
der  Geschichte  gebe;  und  dem  Verbundensein  jener  mufs 
eine  Kraft  zugrunde  liegen,  die  über  jede  ihrer  bisherigen 
Wirkungen  oder  Erscheinungen  hinausreicht  und  es  gewähr- 
leistet, dafs  der  Mechanismus  des  Geschehens  überhaupt  und 
künftig  trotz  aller  Abbiegungen  doch  der  Hauptsache  nach 
in  der  Richtung  jenes  Ideals  verlaufe.  Die  Behauptung, 
dafs  die  Geschichte  einen  Fortschritt  darstelle,  schliefst  mit 
einem  Wort  das  Verhältnis  der  blofsen  Zufälligkeit  aus,  das 
sonst  zwischen  den  realen,  mechanischen  Kräften  und  unseren 
Idealvorstellungen  besteht.  Dafs  die  ersteren  gelegentlich 
die  letzteren  verwirklichen,  genügt  jener  Behauptung  nicht; 
sondern  die  so  entstehenden ,  sich  aufgipfelnden  Vorgänge 
oder  Epochen  bilden  ihr  gemäfs  eine  Einheit  der  Ent- 
wicklung, derart,  dafs  das  Bild  und  das  Verständnis  der 
späteren  nicht  mit  der  Erkenntnis  der  unmittelbar  vorher- 
gehenden äufserlichen  Situation  und  ihrer  Spannkräfte, 
sondern  erst  durch  ihr  Verhältnis  zu  der  —  vielleicht  gar 
nicht  unmittelbar  —  vorhergehenden  Realisierungsstufe  des 
Endwertes  der  Geschichte  aufgeschlossen  wird. 

Noch  in  einer  anderen  Richtung  verwebt  der  Fortschritts- 
begriff den  metaphysischen  Einschlag  in  die  Kette  des 
äufseren  Geschehens.  Er  setzt  nämlich  weiterhin  voraus, 
dais  das  Wesen,  von  dem  man  ihn  aussagt,  ein  einheitliches 
sei.  Eine  Anzahl  von  Vorgängen ,  deren  Inhalt  eine  auf- 
steigende Richtung  nach  einem  Ideal  hin  zeigt,  erscheint  uns 
dennoch  nicht  als  Fortschritt,  sobald  sie  an  getrennten  Sub- 
stanzen vor  sich  gehen.  Wenn  wir  von  dem  Fortschritt  in 
der  Natur  sprechen,  der  von  den  niedrigsten  Organismen 
zu  immer  höheren  und  höheren  Arten  führe,  so  denken  wir 
uns  dabei,  freilich  oft  unklar  genug,  ein  Etwas,  das  sich 
durch  die  aufsteigenden  Formen  hindurch  entwickelt,  einen 
Zusammenhang  an  einem  Subjekte  —  „die  Natur'"  oder 
„das  organische  Leben"  oder  ähnl.  — ,  das  eben  das  fort- 
schreitende ist,  indem  es  die  Reihe  dieser  Zustände  durch- 
läuft. Schon  der  sprachliche  Ausdruck  braucht  die  Einheit 
des  Subjekts,  um  das  Fortschreiten  von  ihm  auszusagen, 
und  wir  würden  diesen  Begriff  nicht  anwenden,  wenn  es 
sich  zwar  um  aufeinander  folgende  und  immer  wertvollere 
Zustände  handelte,  die  aber  auf  verschiedenen  Sternen  ver- 


—     150    — 

wirklicht  sind  —  es  sei  denn,  dafs  wir  etwa  einen  Zu- 
sammenhang dieser  auseinanderliegenden  Werte  in  einem 
Weltgeist  oder  einem  NaturinbegrifF  voraussetzten.  Ent- 
sprechend hat  nun  auch  der  Fortschritt  in  der  Geschichte 
die  Einheit  des  Subjekts,  an  dem  er  sich  vollzieht,  zur 
Voraussetzung.  Anderenfalls  kr)nnte  man  wohl  sagen,  der 
eine  Zustand  sei  besser  und  wertvoller  als  der  andere,  aber 
nicht,  er  sei  der  fortgeschrittene,  weil  hierzu  eine  wirkliche 
Beziehung  dieses  auf  jenen  gehört,  die  doch  nur  zwischen 
Zuständen  ebendesselben  Subjektes  stattfindet. 

Nur  die  Entwicklung  dessen,  was  man  den  objektiven 
Geist  nennt,  könnte  zur  Konstatierung  einer  Ausnahme 
verleiten.  Die  sachlich  vorliegenden  Resultate  der  geschicht- 
lichen Arbeit:  Rechtssätze  und  Kunstwerke,  technische  Er- 
rungenschaften und  kirchliche  Dogmen,  Verkehrssitten  und 
wissenschaftliche  Erkenntnisse  —  bilden  Reihen,  in  denen 
wir  einen  Fortschritt  feststellen ;  und  zwar  nicht  nur  so, 
dafs  sie  den  Fortschritt  der  produzierenden  Gruppe 
markieren  oder  ausmachen.  Sondern  vermöge  einer  ge- 
wissen methodischen  Abstraktion  betrachten  wir  diese 
Sachgehalte  des  sich  entfaltenden  Gruppenlebens  als  rein 
objektive  Entwicklungen ,  in  denen  ein  Glied  seiner  sach- 
lichen Bedeutung  nach  und  ganz  ohne  Rücksicht  auf  seine 
Produzenten  oder  Träger  dem  andern  gegenüber  einen  Fort- 
schritt darstellt.  Das  Recht  und  die  Kunst,  die  Technik  und 
die  Wissenschaft  schlechthin  entwickelt  „sich".  Damit  aber 
kreiert  zunächst  der  Sprachgebrauch  ein  ideelles  Subjekt^ 
an  dem  die  diskontinuierlich  nebeneinanderstehenden  Kunst- 
werke, oder  die  ebenso  ohne  einheitlichen  Träger  auf- 
tauchenden Erkenntnisse  usw.  als  seine  Entwicklungen 
hafteten.  Will  man  nun  diese  rein  auf  ihren  objektiven 
Inhalt  angesehenen  Dinge,  wenn  sie  in  ihrer  Zeitfolge  eine 
sachlich-logisch  aufsteigende  Reihe  ergeben,  als  eine 
historische  Entwicklung  charakterisieren,  so  fordern  unsere 
Erkenntnisbedingungen  als  das  Apriori  derselben  ein  ein- 
heitliches Subjekt,  das  zwischen  jenen  atomistisch  existierenden 
Momenten  perennierte  und  diese  erst  so  zu  einer  Ent- 
wicklung zusammenbrächte.  Aber  auch  jene  blofs  sach- 
liche Höherführung,  jene  Entwicklung  im  unhistorisch- 
unpersönlichen    Sinne    würde     nicht     als    solche     bestehen 


—     151     — 

können,  Avenn  sie  nicht  als  Entwicklung*  einer  ideellen  Seele 
—  sei  es  einer  persönlich-psychologischen,  sei  es  einer  blofs 
rationalen  —  gedacht  würde.  Z.  B.  die  Stadien  der  Phi- 
losophie, die  Brentano  für  deren  Geschichte  konstruiert 
hat,  bilden  eine  Entwicklung,  insofern  man  das  Gefühl 
hat,  dafs  eine  dieser  Tendenzen  psychologisch  aus  der 
andern  hervorgehen  kann.  Jener  ideelle  Träger,  den  der 
Ausdruck:  die  Philosophie  entwickle  sich  —  symbolisiert, 
erscheint  so  als  die  Projektion  des  vom  Subjekt  nach- 
gefühlten Aufsteigens,  der  inneren,  kontinuierlichen  Bewegung, 
die  dieses  in  dem  Vorstellen  jener  Inhalte  erlebt  und  deren 
wachsende  Intensität  und  Wertbegleitung  die  Zeitreihe  der 
Ereignisse  erst  als  Entwicklung  bezeichnen  läfst. 

Also  selbst  dem  objektiven  Geist  gegenüber,  wo  eine 
ohne  hinzugedachtes  Subjekt  geschehende  Entwicklung  noch 
die  meisten  Chancen  hat,  kommt  sie  nicht  ohne  dieses  aus. 
Um  so  mehr  bedarf  es  eines  einheitlichen  Subjektes,  wo 
die  konkrete  Gesamtheit  der  geschichtlichen  Bewegungen 
in  Frage  steht.  Wenn  nun  überhaupt  schon  jede  Projizierung 
verschiedener  Eigenschaften  auf  eine  einheitliche  Substanz 
als  ihren  Träger  anerkanntermafsen  transszendentalen 
Wesens  ist,  so  ist  die  Zusammenfassung  der  Völker  und 
Individuen  zu  einem  sich  entwickelnden  Ganzen,  wie  „der 
Fortschritt  in  der  Geschichte"  es  fordert,  erst  recht  eine 
subjektive  Synthesis,  die  durch  ihre  Projizierung  in  die 
objektive  Realität  hinein  metaphysischen  Charakter  erhält. 
Dafs  durch  den  Wechsel  der  Personen  hindurch  sich  ein 
einheitliches  Subjekt  erhält,  dafs  ein  ui'sprünglicher  Keim 
vorhanden  ist,  als  dessen  Entwicklungen  sich  die  Epochen 
der  Menschheitsgeschichte  ergeben  und  in  dem  sie  jenen 
Beziehungspunkt  finden,  der  sie  gegenseitig  als  fort- 
geschrittene oder  zurückgebliebene  bezeichnen  läfst  —  das 
ist  eine  metaphysische  Voraussetzung,  ohne  die  der  Fort- 
schrittsbegriff nicht  bestehen  kann.   — 

Neben  dieses  Problem  der  allgemeinen  Geschichte,  das 
durch  ihren  terminus  ad  quem  bestimmt  wird ,  stelle  ich 
nun  endlich  ein  anderes,  das  um  ihren  terminus  a  quo  zen- 
triert und  das  nicht  weniger  zeigt,  wie  die  Tatsachen  zu 
ihrem  konstruktiven  historischen  Sinn  erst  durch  die 
Formungskraft  von  Voraussetzungen  über-tatsächlicher  Art 


—     152     — 

kommen.  It-li  meine  den  sogenannten  historischen  Materialis- 
mus, dem  gemäfs  das  wirtschaftliche  Leben,  der  Bau  und 
die  Vorgänge  des  Gruppenlebens,  die  auf  die  Produktion 
und  die  Verteilung  der  Unterhaltsmittel  gerichtet  sind,  die 
Gesamtheit  des  geschichtlichen  Lebens  nach  sich  bestimmen: 
die  innere  wie  die  äufsere  Politik,  die  Religion  wie  die 
Kunst,  das  Recht  wie  die  Technik.  Es  steht  hier  durchaus 
nicht  in  Frage,  in  welchem  Mafse  das  Prinzip  sich  an  den 
Tatsachen  der  Geschichte  hat  plausibel  durchführen  lassen, 
inwieweit  eine  zeitlich-sachliche  Anordnung  der  Ereignisse 
und  Zustände  möglich  ist ,  die  ihre  kausale  Reduktion  auf 
die  Produktionsverhältnisse  gestatten.  Es  handelt  sich  viel- 
mehr ausschliefslich  um  die  erkenntnistheoretische  Struktur 
der  Lehre,  um  die  Voraussetzungen,  die  aus  den  ver- 
schiedenen Schichten  der  Erkenntnismittel  zu  ihr  zusammen- 
wirken. 

Was  die  Theorie  zunächst  zu  bieten  scheint,  ist  eine 
einheitlich  -  psychologische  Deutung  des  historischen  Ge- 
schehens. Wenn  auch  Marx  ausdrücklich  betont,  dafs  der 
Hunger  für  sich  noch  keine  Geschichte  macht,  so  würden 
doch  die  Produktions  -  und  Austauschverhältnisse  der 
materiellen  Güter  nicht  die  Kraft,  sie  zu  machen,  besitzen, 
wenn  der  Hunger  nicht  weh  täte  und  dadurch  als  die 
treibende  Kraft  dahinter  stünde.  Die  Bezeichnung  als 
Materialismus  ist  deshalb  irreführend.  Dafs  die  Theorie 
mit  dem  metaphysischen  Materialismus  nichts  zu  tun  hat, 
sondern  mit  jeder  monistischen  oder  dualistischen  Meinung 
über  das  Wesen  der  psychischen  Vorgänge  vereinbar  ist, 
liegt  auf  der  Hand.  Deshalb  könnte  Materialismus  hier 
nur  bedeuten,  dafs  die  Geschichte  in  letzter  Instanz  von 
unbeseelten  Energien  abhängt.  Dies  aber  widerspricht 
gerade  dem  eigenen  Inhalt  der  Theorie,  die  die  Geschichte 
im  eminenten  Sinne  psychologisch  motiviert.  Gevvifs  sind 
die  Variierungen  des  Geschichtsinhaltes  von  Faktoren  aufser- 
halb  des  Hungers  abhängig,  da  dieser,  als  der  immer  und 
überall  gleiche,  jene  nicht  erklären  könnte;  aber  er  ist 
gleichsam  der  Dampf,  der  die  Maschinen  treibt,  wie  mannig- 
faltig auch  ihre  Konstruktionen  seien.  Es  ist  die  Gröfse 
der  Lehre,  dafs  sie  hinter  den  Gegensätzen  und  Wandlungen 
der    Geschichte   die   Triebfeder   sichtbar   machen    will ,    die 


—     153    — 

durch  ihre  elementare  Einfachheit  sich  dazu  qualifiziert,  die 
Einheit  in  dem  ganzen  unermefslichen  Getriebe  des  histo- 
rischen Lebens  vorzustellen.  Es  ist  nichts  anderes  als  eine 
psychologische  Hypothese,  wie  sie  im  ersten  Kapitel  be- 
handelt worden  ist:  hinter  den  äufseren  Bewegungen  der 
Menschen  stehen  seelische  Vorgänge,  die  im  letzten  Grunde 
auf  das  Interesse  an  der  „Produktion  und  Reproduktion 
des  unmittelbaren  Lebens"  zurückgehen.  Der  hypothetische 
Charakter  der  Theorie  verbirgt  sich  nur  leicht  dadurch, 
dafs  der  seelische  Impuls,  auf  den  sie  das  Sich-Ereignen  in 
der  Menschenwelt  zurückleitet,  an  sich  von  ganz  unbezweifel- 
barer  Tatsächlichkeit  ist,  und  diesen  Charakter  auch  dem 
Aufbau,  der  sich  auf  diesen  Impuls  gründet,  zu  verleihen 
scheint. 

Das  ist  der  erste  von  den  mancherlei  Punkten,  derent- 
wegen der  historische  Materialismus  für  das  Grundproblem 
dieser  Blätter,  die  Überwindung  des  historischen  Realismus, 
von  besonderer  Bedeutung  ist.  Gerade  er  behauptet,  die 
unmittelbarste  Reproduktion  der  Wirklichkeit  zu  sein,  und 
gerade  an  ihm  läfst  sich  schrittweise  die  Formung  des  blofs 
Gegebenen  nach  den  theoretischen  und  übertheoretischen 
Ansprüchen  und  Voraussetzungen  der  autonomen  Geistigkeit 
erweisen.  Diese  Täuschung  über  die  erkenntnistheoretische 
Bedeutung  der  Methode  verringert  übrigens  den  grofsen 
Wert  nicht,  den  diese  durch  die  Aufdeckung  neuer  Kausal- 
beziehungen  für  die  Praxis  der  Geschichtsforschung  besitzt. 

Neben  jener  prinzipiellen  Tatsache:  dafs  der  historische 
Materialismus  statt  der  vorgeblichen  Sicherheit  eines  physio- 
logischen Faktums  nur  den  Hypothesenwert  psychologischer 
Zurückleitung  besitzt  —  wodurch  seine  Bedeutung  nicht 
kleiner,  sondern  gröfser  wird  — ,  steht  die  weitere  der 
Auswahl,  die  er  aus  den  möglichen  letzten  Motivierungen 
der  Geschichte  getroffen  hat.  Der  tatsächliche  Anblick  des 
Lebens  bietet  eine  Wirrnis  von  Interessenreihen,  die  durch 
das  Bewufstsein,  durch  die  Machtverhältnisse,  durch  die 
äufsere  Erscheinung  hin  verlaufen  wie  die  Fäden  in  einem 
Gewebe:  jeder  ist  zwar  in  sich  kontinuierlich,  aber  nur 
begrenzte  Abschnitte  seiner  treten  an  die  Oberfläche,  sein 
übriger  Verlauf  findet  unterhalb  der  anderen,  in  gleicher 
Abwechslung   an   die   Obei-fläche   kommenden  Fäden    statt. 


—     154    — 

Hier  ist  alles  in  Wirklichkeit  untrennbar  verflochten :  Wirt- 
schaft und  Religion,  Staatsverfassung  und  individuelles  Leben, 
Kunst  und  Recht,  Wissenschaft  und  Eheformen  —  und  damit 
entsteht,  was  wir  Geschichte  nennen.  Nur  durch  die  Kon- 
tinuität der  Fäden,  von  denen  jeder,  durch  die  anderen  ge- 
tragen ,  abwechselnd  an  verschiedenen  Stellen  von  Raum, 
Zeit  und  Bewufstsein  das  Interesse  beherrscht,  ist  die 
Situation  möglich :  dafs  es  nur  Spezialgeschichten  gibt,  wie 
ich  oben  betonte,  und  dafs  über  diesen  dennoch  als  „Idee" 
die  „Geschichte  überhaupt"  steht,  die  raum-zeitliche  Ver- 
webung all  dieser  Reihen  zu  einer  Einheit,  die  wir  unmittel- 
bar nicht  ergreifen  können,  deren  Vorstellung  aber  das  Aus- 
einanderfallen des  Geschichtsbildes  in  unzusammenhängende 
Splitter  hindert.  Nun  ist  es  das  Verdienst  des  historischen 
Materialismus,  diesem  apriorisch-ideellen  Zusammenhang  eine 
neue  partielle  Realisierung  und  anschaulichen  Erweis  zu- 
gefügt zu  haben:  er  hat  plausibel  gemacht,  dafs  die  Ent- 
wicklungen der  Wirtschaft  und  die  der  idealen  Werte,  die 
abseits  von  einander  zu  verlaufen  schienen,  mindestens  an 
vielen  Punkten  miteinander  verflochten  sind.  Denken  wir 
uns  nun  diese  Verflechtung  den  Tatsachen  wie  den  Gesetzen 
nach  durch  den  ganzen  Verlauf  hindurch  aufgedeckt,  so 
folgt  freilich,  dafs  man  an  der  Entwicklung  der  Wirtschaft 
die  der  gesamten  historischen  Inhalte  abrollen  könnte.  Ver- 
möge der  Gesetze  der  Zusammenhänge  Hefsen  sich  alle  Zu- 
stände und  Ereignisse  als  Funktionen  des  wirtschaftlichen 
Geschehens  erweisen,  und  dieses  als  das  Symbol  der  Ge- 
schichte überhaupt.  So  bedeutsam  nun  auch  schon  die 
Annäherung  an  diese  Erkenntnismöglichkeit  ist,  so  bringt 
ihre  Voraussetzung  mit  sich,  dafs  die  Rolle,  die  Gesamtheit 
der  Geschichte  aus  sich  entwickeln  zu  lassen,  jeder  einzelnen 
Reihe  in  dieser  ganz  ebenso  zukommt,  wie  der  wirtschaft- 
lichen. Die  Geschichte  der  Verfassungsformen  oder  die  der 
Verkehrssitten,  der  intellektuellen  Bildung  oder  des  Straf- 
rechts besitzt  mit  jeder  anderen  so  ununterbrochene,  wenn 
auch  vielfach  vermittelte  und  wechselnd  distanzierte  Ver- 
bindungen, dafs  sie  nicht  weniger  als  Erkenntnisgrund  der 
gesamten  Historik  dienen  könnten.  Nun  ist  es  freilich  die 
Behauptung  des  historischen  Materialismus,  in  den  ökono- 
mischen   Geschehnissen    nicht    nur    den    Erkenntnisgrund, 


—     155    — 

sondern  den  Realgrund,  die  bewegende  Ursache  aller  übrigen 
Erscheinungen  gewonnen  zu  haben.  Allein  angesichts  der 
ins  Unendliche  gehenden  Alternierungen  zwischen  den  ver- 
schiedenen Ereigniskategorien  dürfte  dies  ein  voreiliges 
dogmatisches  Abschneiden  der  Wirklichkeitsreihe  sein.  Wir 
hören  z.  B, :  die  Grofsindustrie  kann  wegen  der  Beschaffung 
ihrer  Materialien  und  des  Absatzes  ihrer  Produkte  keine 
Vielheit  kleiner  Staaten  brauchen,  und  sie  habe  deshalb 
die  grofsen  Einheitsstaaten  der  letzten  Zeit,  Deutschland 
und  Italien,  geschaffen.  Angenommen,  diese  Kausalität 
träfe  zu  —  wie  steht  es  mit  Frankreich  und  England, 
deren  Staatseinheit  doch  nicht  durch  die  Grofsindustrie  be- 
wirkt sein  kann?  Vielleicht  ist  auch  sie  seinerzeit  aus 
wirtschaftlichen  Ursachen  hervorgegangen;  allein,  nachdem 
sie  einmal  da  war,  hat  sie  ihrerseits  dort  das  Entstehen 
der  Grofsindustrie  aus  denselben  Zusammenhängen  heraus 
begünstigt,  aus  denen  andernorts  die  umgekehrte  Kausalität 
zu  gelten  scheint,  und  ebenso  hat  auch  in  dem  letzteren  Falle 
der  einmal  geschaffene  Grofsstaat  unzählige  Grofsindustrien 
erst  hervorgerufen.  Da  nun  derartige  Wechselwirkungen 
sich  in  einem  endlosen  und  für  unser  Erkennen  anfangs- 
losen Prozefs  entwickeln,  so  ist  es  willkürlich,  an  welchem 
Gliede  wir  sie  mit  der  Erklärung  abschneiden  wollen,  an 
diesem  die  letzte  Ursache  aller  späteren  Erscheinungen  der 
Reihe  zu  besitzen  —  denn  jedes  Glied,  durch  welches  die 
Reihe  passiert,  ist  natürlich  die  Bedingung  der  folgenden. 
Ein  anderes  Beispiel  aus  der  Marxistischen  Literatur.  Calvins 
Gnadenwahl  sei  nichts  als  der  Ausdruck  der  Tatsache,  dafs 
in  der  Handelswelt  der  Konkurrenz  Erfolg  oder  Bankerott 
nicht  von  der  Tätigkeit  und  dem  Geschick  des  Einzelnen 
abhängen,  sondern  von  unbekannten  Übermächten,  und  das 
gelte  ganz  besonders  von  jener  Zeit  ökonomischer  Um- 
wälzung. Wenn  dies  mehr  als  ein  Witz  ist,  so  ist  es  jeden- 
falls umkehrbar:  ein  Gemeinwesen,  in  dem  es  aus  rein 
religiösen  Gründen  zu  fatalistischen  Überzeugungen  ge- 
kommen ist,  wird  in  allen  Lebensbeziehungen,  also  auch 
in  ökonomischen,  zum  laisser  aller  neigen,  da  man  von  der 
Nutzlosigkeit  aller  prinzipiellen  Vorsorge,  aller  menschlichen 
Teleologie  und  Regulierung  durchdrungen  ist. 

Solange   man   also   an   dem   Bilde    der   Geschichte    als 


—     156     — 

einer  Verflechtung  qualitativ  verschiedenartiger  Geschehens- 
reihen festhält,  gewinnt  der  historische  Materialismus  aller- 
dings eine  sonst  nicht  versuchte  Organisierung  des  Gesamt- 
materials, eine  aufserordentlich  vereinfachende  Abstimmung 
auf  einen  Grundton.  Sein  Glaube  aber,  damit  eine  natura- 
listische Nachzeichnung  der  Wirklichkeit  zu  geben,  ist  ein 
methodischer  Irrtum  ersten  Ranges.  Er  verwechselt  nicht 
nur  die  Stilisierung  des  von  den  Erkenntnisinteressen  aus 
geformten  Bildes  des  Geschehens  mit  der  Unmittelbarkeit 
seines  natürlichen  Verlaufes;  sondern  aufserdem  auch  noch 
ein  Prinzip,  das  seine  Bedeutung  als  heuristisches,  allent- 
halben erst  gleichsam  probeweise  anzuwendendes,  besitzt, 
mit  einem  konstitutiven,  das  von  vornherein  feststeht  und 
die  Tatsachen  von  sich  aus  entwickelt.  Dafs  nämlich  das 
wirtschaftliche  Motiv  das  Bewufstsein  der  Menschen  durch- 
gängig, auch  nicht-wirtschaftlichen  Inhalten  gegenüber,  be- 
herrsche und  diese  bewufst  erzeuge,  behauptet  niemand; 
was  im  Unbewufsten  vorgeht  und  wie  sich  dort  die  Kausali- 
täten knüpfen,  weifs  niemand;  so  bleibt  als  Sinn  der  ge- 
schichts-materialistischen  Auffassung  nur  übrig:  die  Ereig- 
nisse verlaufen  so,  als  ob  jenes  Motiv  die  Menschen  regiere. 
Aber  die  Verknüpfungen  zwischen  den  äufserlichsten  und 
den  innerlichsten  Geschichtsinhalten ,  auf  die  gerade  der 
Materialismus  so  energisch  hingewiesen  hat,  zusammen  mit 
der  Alternierung,  in  der  bald  dieser,  bald  jener  das  Bewufst- 
sein beherrscht,  gewähren  die  Möglichkeit,  als  heuristisches 
Prinzip  zu  funktionieren,  auch  allen  möglichen  anderen  Inter- 
essen. Dieses  grofse  Verdienst  des  Materialismus,  die  gegen- 
seitige Fremdheit  oder  Gegnerschaft,  die  unsere  Interessen- 
reihen ihrem  inneren  Sinn  und  Wert  nach  trennt,  in  der 
engen  Verknüpftheit  ihrer  geschichtlichen  Realisierung  und 
ihres  Verlaufes  gezeigt  zu  haben  —  gerade  dies  raubt  seinem 
Grundmotiv  die  exzeptionelle  Stellung  und  koordiniert  es, 
als  blofs  heuristisches,  das  die  Tatsachen  anderer  Kategorien 
aus  sich  zu  berechnen  gestattete,  doch  diesen  anderen, 
von  denen  aus  dieselbe  Rechnung  geschehen  könnte.  Die 
methodische  Zweckmäfsigkeit  dieser  Selbsttäuschung  liegt 
freilich  darin ,  dafs  nur  durch  die  absolutistisch  -  radikale 
Anwendung  eines  Prinzips  der  Umfang  seines  Rechts  und 
dessen  Grenzen  wirklich  und  mit  Sicherheit  festzustellen  sind. 


—     157     — 

Die  dogmatische  Beeinträchtigung  dieses  Vorteils  scheidet 
erst  aus ,  sobald  derartige  Prinzipien  in  heuristische  ver- 
wandelt sind ;  nur  dafs  freilich  der  Ersatz  ihrer  natura- 
listischen Verwertung  durch  das  vorsichtigere,  nur  den  Weg 
weisende :  Als  ob  —  die  Formung  des  Stoffes  durch  die 
Erkenn  tnisforderungen  offenbart  und  die  realistische 
Kopierung  der  Dinge,  an  dem  Geiste  vorbei,  durch  den  sie 
Wissenschaft  werden  —  aufs  nachdrücklichste  dementiert. 
Mit  jenem  Bilde  des  geschichtlichen  Lebens  als  eines 
aus  vielen,  an  sich  koordinierten  Fäden  sich  fortwährend 
zusammenspinnenden  Gewebes  ist  der  Materialismus  freilich 
nicht  einverstanden.  Für  ihn  ist  vielmehr  die  Wirtschaft 
die  dauernde,  in  der  Fundamentalebene  der  Geschichte 
selbstgenugsam  sich  entwickelnde  Bedingung  aller  anderen 
Entwicklungen,  die  Unterströmung,  die  nicht  mit  anderen 
alterniert,  sondern  diese  an  jedem  Punkte  ihres  Verlaufes 
trägt,  gleichsam  das  Ding -an -sich  zu  den  übrigen  Er- 
scheinungen der  Geschichte.  Nur  unter  der  Bedingung 
dieser  Struktur  ist  der  historische  Materialismus  als  kon- 
stitutives Prinzip  möglich.  Allein  gerade  sie  führt  zu  einer 
Schwierigkeit  des  historischen  Bildes,  die  sich  innerhalb 
der  materialistischen  Theorie  als  Metaphysik  zeigt.  Wenn 
es  nämlich  richtig  ist,  dafs  die  Entwicklungen  von  Sitte 
und  Recht,  Religion  und  Literatur,  u.  s.  f.  der  Kurve  der 
wirtschaftlichen  Entwicklung  folgen ,  ohne  diese  selbst  im 
wesentlichen  zu  beeinflussen  —  so  sehe  ich  nicht  recht, 
wodurch  denn  die  Wandlungen  des  Wirtschaftslebens  selbst 
Zustandekommen.  Die  Erfindung  der  Schufswaffen,  die 
Entdeckung  Amerikas,  die  geistige  Produktivität  am  Ab- 
schlufs  des  Mittelalters  sollen  nicht  ihrerseits  die  Ver- 
anlassung zum  Übergang  der  feudalistischen  und  Natural 
Wirtschaft  in  die  neuzeitlichen  Wirtschaftsformen  gegeben 
haben,  sondern  umgekehrt  hätten  die  letzteren  erst  von  sich 
aus  jene  geistigen,  technischen,  territorialen  Expansionen 
gefordert  und  bewirkt.  Allein  warum  liefsen  sich  die 
Menschen  nicht  in  alle  Ewigkeit  an  Naturalwirtschaft  und 
Vasallentum  genügen?  Jede  Produktionsform  soll  ur- 
sprünglich für  ihre  Zeit  absolut  angemessen  gewesen  sein ; 
da  nun  aber  „ihre  Zeit"  ausschliefslich  von  jener  selbst 
bestimmt  wird ,    so    bleibt  unklar ,  woraufhin    sich   aus    der 


—     158    — 

Angemessenheit  der  spätere  Widerspruch  —  zwischen 
Produktionskräften  und  -formen  —  entwickele.  Indem 
jene  anderweitigen  Tatsachen  zu  der  Änderung  der  Pro- 
duktionsform nicht  mitgewirkt  haben  sollen,  mufs  also  jedes 
Stadium  der  Wirtschaft  wie  aus  sich  selbst  und  unbefruchtet 
die  Kräfte  enthalten,  die  es  über  sich  hinaustreiben  —  eine 
Parthenogenesis  der  wirtschaftlichen  Zustände.  Die  reine 
Immanenz  dieser  Entwicklung  wird  mit  solchen  Ausdrücken 
bezeichnet:  die  Produktionsformen  der  Epoche  hätten  „sich 
überlebt",  neue  Produktionskräfte  hätten  „sich  entwickelt", 
neue  Gesellschaftsformen  seien  „im  Werden".  Allein  dies 
alles  sind  leere  Worte,  nicht  viel  besser,  als  wenn  man 
„die  Macht  der  Zeit"  für  die  Veränderungen  in  ihr  ver- 
antwortlich macht.  Es  ist  fast,  als  wäre  jeder  Wirtschafts- 
epoche von  vornherein  ein  Mafs  von  Lebenskraft  verliehen, 
das  sich  allmählich  von  selbst  erschöpft.  Woher  aber  der 
Wirtschaft  dieses  Versiegen  auf  der  einen,  die  wachsenden 
Spannungen  und  Neugeburten  auf  der  andern  Seite  kommen, 
wenn  die  Wechselwirkung  aller  historischen  Faktoren 
ausgeschlossen  sein  soll  —  das  scheint  nur  durch  eine  ge- 
heime Metaphysik  erklärlich,  in  der  die  „Selbstbewegung 
der  Idee"   weiterlebt. 

Worauf  es  hier  ankommt,  ist  nicht  eine  unfruchtbare 
Kritik,  sondern  der  Ertrag,  den  diese  „realistische" 
Geschichtstheorie  für  die  Überwindung  des  Realismus 
bringen  kann:  vielleicht  zeigt  sie  durch  die  prinzipielle 
Konsequenz,  die  sie  auszeichnet,  nur  besonders  deutlich  die 
Metaphysik,  die  auch  jede  andere  durchfliefst.  Jene  gegen- 
seitige Einwirkung  aller  historischen  Faktoren  nämlich 
ist  uns  zu  durchschauen  versagt.  Während  sie  allein  die 
wirkliche  Geschichtseinheit  ausmacht,  kommt  jedes  uns 
mögliche,  einheitliche  Bild  des  Gesamtgeschehens  nur  durch 
konstruierende  Einseitigkeit  zustande.  Wir  können  wohl 
einzelne  Entwicklungsreihen  von  einer  grofsen  geschicht- 
lichen Epoche  in  die  andere  hinein  verfolgen;  allein  der 
Gesamtcharakter  der  einen  wie  der  andern  wird,  wenn  man 
genau  zusieht,  dabei  eigentlich  immer  schon  vorausgesetzt. 
Wie  ich  früher  schon  hervorhob,  entwickelt  ein  Stadium 
einer  Reihe  nie  absolut  aus  sich  selbst  das  nächste,  sondern 
dies  gelingt  nur  seinem  Zusammenschlag  mit  den  von  allen 


—     159     — 

anderen  Reihen  gleichzeitig  ausgehenden  Wirkungen.  Werden 
dennoch,  wie  es  für  unsere  Erkenntnisart  völlig  unvermeid- 
lich ist,  einzelne  Reihen  konstruiert,  als  wären  sie  selbst- 
genugsame,  so  münden  wir  ebenso  unvermeidlich  an  jenem 
unbefruchteten  Weiterwachsen  der  Reihe  aus  sich  allein, 
wir  ersetzen  unzählige  Male  die  Veranlassungen  zur  Pro- 
duktion eines  neuen  Stadiums,  die  dem  früheren  aus  der 
Gesamtheit  der  Weltlage  kommt,  durch  blofse  innere  An- 
triebe, wie  durch  qualitates  occultae.  Wie  man  den 
Organismen  gegenüber  zu  mehr  oder  weniger  mystischen 
„Entwicklungstrieben"  gegriffen  hat,  so  treten  in  historischen 
Darlegungen,  mindestens  die  wahrhaft  erklärenden  Wechsel- 
wirkungen der  Elemente  ergänzend,  Wandlungen  und  Ent- 
wicklungen wie  ein  selbstverständliches  Wachstum  auf,  als 
ob  ein  gewisser  Rhythmus  von  Entfaltung  und  Niedergang, 
von  Selbstbehauptung  und  Abirrung  von  vornherein  in  der 
in  sich  beschlossenen  Einheit  der  Subjekte  angelegt  wäre. 
Diese  Metaphysik  ist  im  einzelnen  Fall  schwer  festzustellen, 
weil  sie  in  sehr  unregelmäfsigen  und  rudimentären  Mafsen 
und  als  naive  Gewohnheit  des  historischen  Denkens  auf- 
tritt; der  historische  Materialismus  aber  hat  sie  sozusagen 
rein  herausgelöst,  indem  er  der  einen  Geschehensreihe 
eine  selbständige  Entwicklung  gab,  den  andern  gegenüber 
beeinflussend  aber  nicht  beeinflufst,  und  also  darauf  an- 
gewiesen, ihre  einzelnen  historischen  Formungen  rein  aus 
sich  selbst,  aus  einer  von  vornherein  gegebenen  Entwicklungs- 
direktive herauswachsen  zu  lassen. 

Nun  aber  tritt  innerhalb  dieser  Lehre  ein  Gesichts- 
punkt auf,  der  dem  hier  vertretenen  methodischen  Prinzip 
verwandt  ist.  Alles,  was  bisher  kritisch  eingewendet  wurde, 
galt  der  Selbsttäuschung:  dafs  man  die  Geschichte 
realistisch  nachzuzeichnen  glaubte,  wo  unsere  Erkenntnis- 
kategorien ein  nur  durch  ihre  Forderungen  stilisiertes 
Gebilde  schufen.  Von  einem  Vertreter  der  Theorie  scheint 
dies  gefühlt  zu  sein;  denn  er  betont,  sie  sei  dadurch  ge- 
rechtfertigt, dafs  die  geschichtliche  Entwicklung 
etwas  anderes  sei,  als  das  Ganze  des  mensch- 
lichen Lebens.  Keineswegs  gehöre  alles,  was  wir  er- 
leben, in  die  Geschichte  hinein,  denn  diese  enthalte  nur, 
was  sich  entwickelt,   während  unser  Leben  aufserdem  viele 


--     160    — 

konstante  Faktoren  enthalte,  wie  Zeugen,  Gebären,  Ver- 
dauen usw.,  die  keine  „Geschichte"  hätten.  Damit  wird 
ersichtlich  eine  bedeutungsvolle  begriffliche  Linie  durch  das 
Dasein  gezogen.  In  jedem  Augenblick  bilden  seine  kon- 
stanten und  seine  variabeln  Bestandteile  eine  real  untrenn- 
bare Einheit.  An  den  Dauerelementen  des  Körperhaften 
und  des  Logischen,  der  Wollungen  und  Gefühle,  der  8innes- 
eindrücke  und  interindividuellen  Verhältnisse,  die  unserer 
Kenntnis  nach  keine  „Geschichte"  haben,  findet  das  Variable 
seine  Substanz  oder  seine  Akzidenzen  und  würde  ohne 
diese  überhaupt  keinen  ausdenkbaren  Zustand  ergeben; 
beide  bauen  in  völliger  Koordination  den  einzelnen  Moment 
auf,  er  nimmt  das  Element,  das  vorher  und  nachher  anders 
ist,  ohne  Rücksicht  darauf  als  eindeutig  festes  hin,  er  erlebt 
andrerseits  das  inhaltlich  immer  Wiederkehrende  oft  genug 
als  ein  Überraschendes  und  in  seiner  Wirkung  und  Kom- 
bination Unwiederholtes.  Indem  der  Materialismus  nun 
verkündet:  Geschichte  habe  es  nur  mit  den  variabeln 
Elementen  des  Daseins  zu  tun,  erkennt  er  sie  als  eine 
Auslese  und  —  unvermeidlich  —  neue  Synthese  der  Wirk- 
lichkeitselemente an.  Denn  wenn  die  Konstanten  aus- 
scheiden, die  sich  mit  jenen  zu  der  absolut  realen,  gelebten 
Wirklichkeit  durchdringen,  so  mufs  das  Übrigbleibende  in 
neue  und  eigne  Zusammenhänge  gebracht  werden ;  damit 
aber  wird  es  dem  Kunstwerk  vergleicidich,  das  nur  die  Ein- 
drücke eines  Sinnes  erfafst  und  diese  deshalb  durch  nur 
ihm  eigne  Zusammenhänge  zu  einem  Bilde  formen  kann, 
dessen  reales  Gegenbild  seine  Einheit  durch  sehr  viele 
andere  Beziehungskräfte  zustande  bringt.  Diese  Aus- 
sonderung der  Geschichte  aus  der  Gesamtheit  des  Ge- 
schehenden und  ihr  Aufbau  aus  den  variabeln  Elementen 
des  letzteren  —  ist  die  vollständigste  Absage  an  den  naiven 
Realismus,  die  Souveränitätserklärung  der  Kategorie  über 
den  Stoff.  Und  dies  ist  noch  weiterer  Vertiefung  fähig, 
wenn  wir  fernerhin  hören:  „Die  materialistische  Geschichts- 
auffassung erhebt  nicht  den  Anspruch  darauf,  die  Tatsache 
zu  erklären  und  auf  ökonomische  Bedingungen  ohne  Rest 
zurückzuführen,  dafs  Cäsar  keine  Kinder  hatte  und  den 
Oktavianus  adoptierte,  dafs  Antonius  sich  in  Kleopatra  ver- 
liebte und  Lepidus  ein  Schwächling  war.    Wohl  aber  glaubt 


—     IGl     — 

sie  den  Zusammenbruch  der  römischen  Republik  und  das 
Aufkommen  des  Cäsarismus  erklären  zu  können."  Diese 
letzteren  historischen  Inhalte  sind  doch  wohl  zusammen- 
fassende Begriffe,  zu  denen  die  entsprechenden  Wirklich- 
keiten aus  lauter  einzelnen,  individuell  bestimmten  Tat- 
sachen bestehen  —  die  der  erste  Teil  des  Satzes  als 
historisch  unerklärbar  anerkennt.  So  erscheinen  die  Einzel- 
ereignisse als  solche  sozusagen  nicht  als  Geschichte^  sie 
werden  es  erst,  indem  sie  unter  Entwicklungsbegriffe  ge- 
bracht werden,  die  die  „Variabilität"  der  Reihe  kenntlich 
machen  —  wie  die  räumliche  Welt  dadurch  zustande 
kommt,  dafs  die  an  sich  raumlosen  Sinneseindrücke  eine 
Synthese  unter  der  Auffassungsform  der  Räumlichkeit  er- 
fahren. So  gewinnen  die  singulären  Tatsachen  den  Sinn, 
der  sie  als  Geschichte  bezeichnen  läfst.  unter  der  besonderen 
Kategorie  der  Variabilität,  die  keiner  derselben  für  sich 
allein  einwohnt,  sondern  eine  vom  Auffassenden  herbei- 
gebrachte Vergleichung,  Beziehung,  Entwicklungseinheit  ist. 
Aber  hier  wie  sonst  setzt  die  Lehre  die  Bedeutung 
ihrer  prinzipiellen  Methodik  durch  die  Einseitigkeit  des 
Zieles  herab,  zu  dem  sie  diese  verengt.  Jenes  variable 
Element,  das  allein  Geschichte  bildet,  sei  allein  die  Wirt- 
schaft; alle  übrigen  seien  an  sich  konstant  und  erlitten 
Änderungen  nur  infolge  der  Einwirkung  jener.  An  dieser 
Behauptung  tritt  die  Willkürlichkeit,  mit  der  die  wirtschaft- 
liche Reihe  allen  anderen,  ihr  koordinierten  historischen 
gegenüber  die  Führerschaft  usurpiert,  in  das  hellste  Licht. 
Sie  scheint  mir  deshalb  nicht  sowohl  einer  sachlichen, 
als  einer  psychologischen  Diskussion  zu  bedürfen,  d.  h.  zu 
ihrer  Erklärung  nur  auf  das  nicht-theoretische  Motiv  hin- 
zuweisen ,  das  die  geschichtsmaterialistische  Theorie  über- 
haupt trägt.  Es  ist  bei  den  bisherigen  Vertretern  des 
historischen  Materialismus  doch  die  praktische  sozialistische 
Tendenz,  derentwegen  sie  die  psychologischen,  meta- 
physischen, methodischen  Formen  ihrer  Geschichts- 
betrachtung mit  der  Wirtschaft  als  Inhalt  füllen.  Und 
zwar  zunächst  aus  dem  früher  berührten  Grunde:  dafs 
für  eine  soziale  Bestrebung,  die  um  die  grofse  Masse  als 
solche  zentriert,  das  wirtschaftliche  Interesse  das  ausschlag- 
gebende   sein    mufs,    weil    kein   anderes   sich   mit   gleicher 

Simmel,  Geschichtsphilosophie.    2.  Aufl.  11 


—     162     — 

Sicherheit  in  jedem  Elemente  derselben  findet.  Dies  ist 
einerseits  der  Grund,  aus  dem  die  Avirtschaftliche  Reihe 
dem  Materialismus  als  die  eigentlich  variable  erscheint. 
Denn  an  der  Konstanz,  die  der  wirtschaftliche  Faktor  als 
allgemeiner  in  der  Menschenwelt  besitzt,  müssen  sich  die 
Wandlungen  seiner  einzelnen  Ausgestaltungen  mit  der 
aufserordentlichsten  Schärfe  abheben.  Vielleicht  auf  keinem 
zweiten  Interessengebiet  zeigt  sich  eine  so  starke  Spannung 
zwischen  der  begrifflichen  Gleichmäfsigkeit  seines  typischen 
Vorkommens  und  der  Mannigfaltigkeit  seiner  Formen  und 
Inhalte^).  Andrerseits  ist  begreiflich,  dafs  die  Orientierung 
des  Geschichtsbildes  nach  Willens-  und  Gefühlstendenzen 
dann  am  intensivsten  und  sozusagen  mit  dem  besten  Ge- 
wissen geschehen  wird,  wenn  die  letzteren  sich  ihrem  Wesen 
und  Inhalt  nach  auf  die  Interessen  der  grofsen  Anzahl 
beziehen.  Ein  individueller  bestimmtes  Interesse  erscheint 
eher  an  unterschiedene,  räumlich  -  zeitliche  Umstände  ge- 
bunden ;  wo  es  aber  seine  Bestimmtheit  und  Bedeutung 
dadurch  erhält,  dafs  es  der  Treffpunkt  für  die  Interessen 
der  Masse  überhaupt  ist  —  da  wird  es  sich  leicht  jenseits 
aller  Zeitlichkeit  und  Besonderheit  stellen,  in  eine  Höhe, 
in  der  die  Deutung  der  Vergangenheit  und  die  Regulierung 
der  Zukunft  nur  noch  als  zwei  Formungen  oder  Aspekte 
derselben  Wertsubstanz  erscheinen.  Die  Individuen  mögen 
noch  so  verschieden  sein  —  irgend  ein  wirtschaftliches 
Interesse  ist  in  jedem  zu  finden.  Ein  politisch-ethisches 
Bestreben  also,  das  die  grofse  Masse  als  solche  zum  Inhalt 
hat,  wird,  wo  es  nicht  etwa  religiös  ist,  sich  auf  die 
materiellen  Werte  richten.  Das  wirtschaftliche  Interesse 
ist  der  Vergangenheit  und  der  Zukunft  gemeinsam;  deshalb 
wird,  wo  eine  praktisch-politische  Tendenz  der  letzteren 
und  ihrer  wirtschaftlichen  Gestaltung  gilt,  um  solcher  Ein- 
heit willen  das  gleiche  Interesse  auch  die  Theorie  beherrschen, 


1)  Höchstens  könnte  hier  noch  das  Gebiet  der  Beziehungen 
zwischen  den  Geschlechtern  eine  Analogie  bieten ,  auf  dem  gleich- 
falls eine  unübersehbare  Mannigfaltigkeit  psychologischer  Kombi- 
nationen sich  auf  einer  durchgehenden  generellen  Gleichheit  der 
Grundlage  erhebt.  Allein  die  geschichtlich-greifbaren  Formen,  zu 
denen  jene  Möglichkeiten  von  Verhältnissen  kristallisiert  sind,  sind 
an  Zahl  mit  denen  des  wirtschaftlichen  Lebens  nicht  zu  vergleichen. 


—     163    — 

die  der  Vergangenheit  gilt,  wird  für  eine  demokratisch- 
sozialistische Gesinnung  der  wirtschaftliche  Gesichtswinkel 
der  allein  Geschichte -bildende  sein.  Die  generelle  Durch- 
gängigkeit und  Unaufhebbarkeit  des  materiellen  Interesses, 
bei  aller  Individualisiertheit  der  Individuen,  ist  der  Punkt, 
in  dem  das  um  „die  Vielen"  zentrierende  praktische 
Interesse  sich  mit  dem  ökonomischen  Aufbau  der  Geschichte 
gerade  als  dem  einer  Einheit  und  Gesamtheit  begegnet. 

Dieser  Zusammenhang  ist  noch  um  eine  Stufe  zu  ver- 
tiefen. Die  äufsere  Absicht  jenes  Vielheits- Interesses  ist 
eine  Egalisierung.  So  sehr  der  moderne  Sozialismus  die 
mechanische  Gleichmacherei  ablehnt,  so  mufs  doch  das  Aus- 
schalten der  unverdienten  Vorteile  und  Zurücksetzungen  durch 
Geburt,  Konjunkturen,  Kapitalansammlung,  Verschieden- 
wertung des  gleichen  Arbeitsquantums  usw.  jedenfalls  zur 
erheblichsten  Nivellierung  der  Lagen  gegenüber  dem  jetzigen 
Zustand  führen.  Diese  Nivellierung  bleibt,  bei  allen  Vor- 
behalten, ein  Moment  ersten  Ranges  innerhalb  des  Sozialismus, 
schon  als  Agitationsmittel  und  als  Ausdruck  einer  der 
fundamentalsten  Wertempfindungen  der  Menschen:  immer 
wird  für  gewisse  Naturen  die  Gleichheit  ein  sich  selbst 
rechtfertigendes  Ideal,  ein  absolutes  Sollen  darstellen  — 
ebenso  wie  andern  die  Distanzierung  und  Abstufung  ein 
letzter  Wert  ist,  beides  weder  zu  beweisen  noch  zu  Avider- 
legen,  weil  das  eine  oder  das  andere  schlechthin  zu  wollen 
eine  Seinsqualität  der  Persönlichkeit  ist.  Und  nun  ist  das 
Entscheidende,  dafs  ein  Nivellement  vernünftigerweise  über- 
haupt nur  auf  dem  ökonomischen  Gebiete  angestrebt  werden 
kann.  Wo  es  sonst  noch  in  Frage  käme :  als  religiöse 
und  als  politische  Gleichheit,  ist  die  eine  nicht  durch  In- 
stitutionen zu  erreichen,  die  andere  wegen  der  Notwendig- 
keit der  Führerschaft,  selbst  im  sozialisiertesten  Zustand 
nicht  herzustellen.  Andere  Gebiete:  das  ethische  oder  das 
ästhetische,  die  Kraft  und  Vollkommenheit  der  Individuen, 
die  von  rein  persönlichen  Chancen  abhängigen  Schicksale, 
die  Intelligenz  und  das  Temperament  —  alle  diese  Gebiete 
würden  des  Versuches,  die  persönlichen  Differenziertheiten 
zu  nivellieren,  von  vornherein  spotten.  Nur  innerhalb  der 
wirtschaftlichen  Produktion  und  Konsumtion  mag  dies 
denkbar    sein :     für    erstere    durch    die    Vergesellschaftung 

11* 


—     164     — 

der  Produktionsmittel  und  die  Wertung  aller  Produkte 
ausschliefslich  nach  dem  Quantum  der  darauf  verwandten 
Arbeitszeit,  für  letztere  durch  den  Beitritt  der  kommu- 
nistischen Tendenz  zu  diesen.  80  sehr  also  der  Sozialismus 
seinem  tiefsten  Sinne  nach  mehr  ist  als  ein  ökonomisches 
Problem,  vielmehr  eines,  das  den  ganzen  Menschen  und  nicht 
nur  einen  sachlich-einzelnen  Inhalt  des  Lebens  angeht  — 
so  mufs  sich  sein  KivelHerungsmoment  doch  im  Wesent- 
lichen und  Praktischen  auf  die  materielle  Lage  beschränken. 
Aus  diesem  Grunde  neigt  der  praktische  Sozialismus  zu 
einer  materialistisch-ökonomischen  Lebensanschauung.  Für 
ihn  ist  der  Sinn  der  Geschichte,  sich  sozialistischen  Zu- 
ständen zuzuentwickeln,  und  darum  ist  ihm  ihre  Substanz, 
dasjenige,  was  eigentlich  Geschichte  am  Leben  ist  —  nur 
der  Literessenkomplex ,  an  dem  die  soziale  Nivellierung 
allein  eine  Chance  und  Ausdenkbarkeit  findet:  der  wirt- 
schaftliche. Damit  offenbart  sich,  wie  hoch  der  historische 
Materialismus  über  allem  rohen  und  blofs  sensualistischen 
Sinn  des  Materialismusbegriffes  steht.  Er  ist  vielmehr  die 
logische  Ausgestaltung  einer  durchaus  auf  einen  letzten  und 
höchsten  Sinn  gehenden  Deutung  der  Geschichte;  und  so 
radikal  ist  hier  alles  auf  diesen  Sinn  gestellt,  dafs  er,  durch 
die  Vermittlung  des  mit  ihm  durch  die  tatsächlichen  Ver- 
hältnisse solidarisch  gewordenen  Ökonomismus,  allein  ent- 
scheidet, was  überhaupt  als  „Geschichte"  zu  gelten  hat. 
Ebenso  radikal  ist  freilich,  auch  von  hier  aus  gesehen,  die 
Selbsttäuschung,  in  der  sich  der  historische  Matei'ialismus 
für  die  realistische,  von  jedem  nicht-objektiven  Moment 
schlechthin  freie  Geschichtsauffassung  hält.  Wenn  man 
hört:  die  materialistische  Geschichtsbetrachtung  führe  not- 
wendig auf  den  Sozialismus,  als  auf  die  sozusagen  durch 
sie  ausrechenbare  Zukunft  der  Gesellschaft  —  so  ist  dies 
nur  die  Folge  oder  umgekehrte  Spiegelung  der  Tatsache, 
dafs  der  praktische  Wille  zum  Sozialismus  auf  diese 
Geschichtsbetrachtung  führen  mufs.  Es  ist  die  Souveränität 
eines  Wertgedankens,  die  auf  Grund  des  dargelegten 
Zusammenhanges  entscheidet,  was  überhaupt  Geschichte 
heifsen  soll;  woraufhin  denn  begreiflich  die  Geschichte 
nur  auf  die  Realisierung  eben  jenes  Wertes  gehen  kann.  — 
In    einem    gewissen    Sinn    freilich    ist    der    historische 


—     1(35     - 

Materialismus  ganz  realistischen  Wesens:  indem  er  sich 
nämlich  als  den  absoluten  Gegensatz  zu  aller  „ideologischen" 
Geschichtsbetrachtung  behauptet  —  zu  derjenigen,  die  be- 
stimmte „Ideen"  zu  den  verursachenden  Kräften  des  Ge- 
schehens macht,  die  Freiheit  oder  das  Glück  der  Menschen, 
die  Veredlung  der  Individuen  oder  der  Rasse,  die  religiösen 
Ideale  oder  die  Rationalisierung  des  Lebens,  den  dialektischen 
Prozefs  oder  die  sittliche  Weltordnung.  Für  diesen  Typus 
der  Geschichtsmetaphysik  rollen  die  geschichtlichen  Er- 
eignisse ab  wie  die  Bilder  auf  der  rotierenden  Walze 
des  Kinematographen.  Die  äufsere  Kausalität  ist  nichts 
anderes  als  der  Zusammenhang  in  der  Szenenfolge  jener 
Bilder,  innerhalb  dieser  Folge  scheint  jedes  Bild  seinem 
Inhalte  nach  durch  das  vorhergehende  in  seinem  Auf- 
treten bcAvirkt  zu  sein.  Aber  dieser  Zusammenhang 
besteht  nur  an  der  Oberfläche,  nur  für  die  Erscheinung, 
das  eigentlich  Treibende  ist  die  unsichtbare  Walze,  auf 
die  das  Erscheinen  jedes  Bildes  für  sich  zurückgeht  — 
eine  Idee;  sie  lenkt  die  Wirklichkeit  an  anderen  Zügeln 
als  an  denen  der  Kausalität,  die  sozusagen  ebenso  im 
absoluten  Sinne  kraftlos  ist,  wie  jedes  jener  erscheinenden 
Bilder  unfähig,  das  nächste  von  sich  aus  wirklich  zu  er- 
zeugen; sie  ist  das  unbedingt  Wirksame,  für  das  alle 
eventuellen  Eigenkräfte  der  Einzelheiten  blofse  technische 
Mittel  oder  Dokumentierungsarten  wären.  Von  diesem  Ver- 
hältnis ist  nun,  nach  dem  historischen  Materialismus,  genau 
das  Gegenteil  richtig.  Hielten  die  Tatsachen  wirklich  einen 
Gang  inne,  der  einer  jener  Ideen  entspricht,  so  wäre  dies 
eben  jene  rein  äufsere  Zusammenordnung  von  Szenen,  deren 
ideell  durchgehender  Inhalt  in  keiner  Weise  die  Kraft  be- 
deutet, die  jede  einzelne  und  die  Stelle  ihres  Hervortretens 
bestimmt.  Jene  Illusion,  die  den  Zusammenhang  nach  dem 
begrifflichen  Sinn  mit  den  bewegenden  Kräften  verwechselt, 
die  Idee  mit  der  Kausalität,  will  der  historische  Materialismus 
durch  die  Enthüllung  der  unmittelbar  wirksamen  Ursachen 
ersetzen;  die  Ideologie  vertauscht  die  Wirkung  mit  der 
Ursache  und  hält  für  die  letztere,  was  nur  die  äufserste 
Erscheinung  des  wahren  Geschehens  sein  kann:  wenn 
z.  B.  die  Geschichte  wirklich  die  wachsende  Realisierung 
der  Freiheit  wäre,    so  wäre  das  nur  der  jeweilige  Erfolg, 


—     lüO     — 

in  dem  die  tatsächlichen  Vorgänge  gipfehi,  oder  der  Begriff, 
der  diesen  zusammentafst,  während  die  Vorgänge  selbst  die 
Wirkungen  viel  greifbarerer  Kräfte  sind. 

Wenn  dies  nun  wirklich  manchen  metaphysischen 
Irrungen  entgegentritt,  und  zwar  besonders  jenen  verderb- 
lichen ,  die  die  Darstellung  von  Tatsachenreihen  als  etwas 
scheinbar  selbst  exaktes  durchziehen  —  so  hat  auch  hier 
wieder  das  bedeutungsvolle  Prinzip  eine  mifsverständliche 
Ausfüllung  gefunden.  Dadurch,  dafs  der  Idee  als  Entität, 
als  metaphysischer  Energie  die  Wirksamkeit  auf  die  Ge- 
schichte abgesprochen  ist,  ist  noch  keineswegs  ausgeschlossen, 
dafs  sie  dieselbe  als  psychologisches  Ereignis  besäfse,  und 
folgt  keineswegs,  dafs  die  konkret  wirksamen  Bewegungs- 
kräfte materialistisch-ökonomische  sein  müssen.  Das  Reich 
Gottes  mag  als  reales  Endziel  der  Geschichte  ein  Phantasma 
sein ;  als  religiöse  Idee  im  Bewufstsein  von  Menschen  kann 
es  darum  doch  äufserst  reale  Wirkungen  geübt  haben. 
Dem  Gegensatz :  metaphysische  Idee  als  Triebfeder  der 
Geschichte  —  singulär- natürliche  Ursachen  ihres  singulär- 
natürlichen  Verlaufes,  schiebt  der  historische  Materialismus 
den  anderen  unter:  ideale  Interessen  als  treibende  Kräfte  — 
materielle  Interessen  als  treibende  Kräfte  der  Geschichte. 
Die  Beschränkung  des  entscheidenden  und  allein  wirksamen 
historischen  Geschehens  auf  die  Wirtschaft  entspringt  also 
einer  quaternio  terminorum,  dem  Fehlschlufs,  aus  der  prin- 
zipiellen Beschränkung  des  historischen  Verständnisses  auf 
empirisch  konkrete  Verursachungen  sogleich  die  Beschrän- 
kung dieser  letzteren  auf  eine  bestimmte  einzelne  Interessen- 
provinz zu  machen  —  nur  weil  das ,  was  im  ersten  Fall 
ausgeschlossen  wird,  mit  dem,  was  im  zweiten  ausgeschlossen 
wird,  den  Namen  „Idee"  teilt,  der  indes  dort  metaphysisch- 
abstrakte, hier  aber  psychologisch-konkrete  Bedeutung  hat. 

Bezeichnet  dies  das  Recht  und  die  Rechtsgrenzen  des 
historischen  Materialismus  in  inhaltlicher  Beziehung,  so 
stellt  sich  in  methodischer  ein  verwandtes  Verhältnis  heraus. 
Der  erkenntnistheoretische  Idealismus,  den  diese  Blätter 
vertreten,  setzt  sich  gegen  die  Ideologie,  wie  sie  der 
Materialismus  prinzipiell  und  vor  der  Einengung  auf  das 
wirtschaftliche  Motiv  bekämpft,  in  keinen  geringeren  Gegen- 
satz als  dieser.     Denn  jene    ist    tatsächlich    ein  erkenntnis- 


—     167     — 

theoretisclier  Realismus,  ihr  ist  Geschichte  als  Wissenschaft 
nicht  eine  besondere  geistige  Formung  der  Wirklichkeit 
nach  den  Gestaltungskategorien  unseres  Erkennen s,  sondern 
eine  Nachzeichnung  des  Geschehens,  wie  es  wirklich  ist  — 
nur  dafs  ihr  dieses  „Wirkliche"  ein  Metaphysisch-Geistiges 
ist.  Die  Ideologie,  für  die  die  Ideen,  wie  sie  sich  adäquat 
in  unserem  Denken  spiegeln,  die  tatsächlichen  Faktoren  der 
Geschichte  sind,  ist  ein  Materialismus,  der  sich  nur  in  dem, 
was  er  für  den  Inhalt  der  Geschichte  hält,  aber  nicht  in 
dem  methodischen  Prinzip  von  dem  Bilde  unterscheidet,  das 
der  historische  Materialismus  von  sich  selbst  entwirft. 

In  Wirklichkeit  aber  ist  dieser  gar  nicht  in  dem  Mafse 
naturalistisch,  das  er  selbst  vorgibt.  Indem  er  die  Geschichte 
entschieden  von  dem  Gesamtgeschehen  des  Lebens  trennt; 
indem  er  die  Möglichkeit  historischer  Erklärung  auf 
die  unter  höherem  Begriffe  zusammenfafsbaren  Ereignis- 
komplexe  beschränkt;  indem  er,  von  dem  Wertgefühl  für 
die  wirtschaftlichen  Interessen  her,  aus  den  vielfach  ver- 
schlungenen Ereignisreihen  die  wirtschaftliche  als  die  pri- 
märe, die  anderen  gleichsam  aus  sicli  entlassende  bestimmt 
—  vollzieht  er  jene  Organisierung  und  Stilisierung  des  Daseins, 
deren  dieses,  gleichviel  ob  sie  inhaltlich  schon  zureichend 
und  widerspruchslos  ist,  bedarf,  um  aus  einem  Chaos  durch- 
einanderwogender Elemente  zu  dem  besonderen  Gebilde  der 
Geschichte  zu  werden.  Er  ist  eine  Ideologie  des  Erkennens, 
unbeschadet  der  Tatsache,  ja,  gerade  auf  sie  gestützt,  dafs 
er  die  Ideologie  des  Geschehens  zu  beseitigen  suchte.  Er 
sucht  den  Sinn,  den  die  Geschichte  haben  mufs,  um  unseren, 
auf  einen  Sinn  des  Daseins  gerichteten  Kategorien  des  Er- 
kennens adäquat  zu  sein ;  aber  mangels  einer  prästabilierten 
Harmonie  kann  sie  ihn  nur  haben,  indem  jene  Kategorien 
den  vorhistorischen  Ereignisstoff  selbst  zur  Geschichte  formen. 
Dafs  aber  der  historische  Materialismus  zum  Inhalte  dieses 
Sinnes  der  Geschichte  das  Materielle,  in  gewisser  Bedeutung 
Unidealste  gewählt  hat  und  noch  dazu  verkennt,  dafs  auch 
dieses  nur  als  psychischer  Wert  die  Geschichte  motivieren 
kann  —  dies  verhindert  ihn,  die  Idee  als  Form  der  Ge- 
schichte anzuerkennen ;  er  ist  geneigt,  auch  für  diese  Form 
einen  Realismus  zu  proklamieren,  den  sein  eigenes  Verfahren 
dementiert. 


—     1G8     — 

Im  Überblicken  der  hier  vorgelegten  Gedankenreihen 
liegt  die  Gefahr  nahe,  ihre  zentrale  Gesinnung  für  eine 
skeptische  zu  halten.  Von  vornherein  wurde  „Geschichte" 
auf  das  beschränkt,  was  unmittelbar  überhaupt  nicht  zu 
konstatieren  ist,  auf  die  seelischen  Vorgänge.  Statt  dafs 
aber  diese  Wesensgleichheit  zwischen  Subjekt  und  Objekt 
der  Historik  zu  ihrem  realistischen  Sich-Decken  mit  dem 
Erkenntnisinhalte  führte,  zeigte  sich,  dafs  das  Erkennen 
durchaus  keine  mechanische  Parallelität  mit  dem  Objekte 
bedeutet;  vielmehr  ist  es  ein  mannigfach  vermittelter  Pro - 
zefs,  der  sehr  mannigfache  Verhältnisse  zu  seinem  Gegen- 
stand besitzt  —  ganz  gleichgültig,  ob  dieser  Gegenstand 
selbst  Geist  ist,  ja  an  dieser  substantiellen  Einheit  mit  ihm 
erst  die  funktionelle  Autonomie  des  Erkennens  und  seiner 
Richtigkeit  markierend.  Und  weiter  sahen  wir:  die  Typen, 
die  Begriffe,  in  die  jede  Historik  das  reale  Geschehen 
bannen  mufs,  die  Synthesen  der  Reihen  zu  höheren  Gesamt- 
erscheinungen —  alles  dies  baut  ein  Reich  des  Erkennens, 
dessen  Sonderart  durch  noch  so  genaue  Kenntnis  der  Einzel- 
heiten in  ihrer  Realität  und  Kausalität  nicht  zu  ersetzen 
wäre.  Die  Geschichte  rückt  in  diesen  unzähligen  Problemen 
von  der  unmittelbar  gelebten  oder  gegebenen  Wirklichkeit, 
die  wir  als  die  Wirklichkeit  schlechthin  zu  bezeichnen 
pflegen,  weit  ab;  aber  dafs  sie  mit  jenen  diese  nicht  erreicht, 
ist  nicht  ein  Versagen  ihrer  Kraft,  ein  Nicht- Können,  son- 
dern ein  Nicht- Wollen,  eine  ursprünglich  andere  Richtung, 
ein  Bau  aus  demselben  Material  wie  die  in  ihren  Einzel- 
heiten zu  ergreifende  Wirklichkeit,  aber  nach  anderen 
Dimensionen  und  in  anderem  Stil.  Endlich  erschien  die 
ganze  Organisation  des  Geschichtsbildes  von  Ideen  und  über- 
theoretischen Interessen  abhängig;  den  Sinn  der  Geschichte, 
ohne  den  wir  uns  nicht  zu  dem  Entwerfen  jenes  Bildes  ver- 
anlafst  fühlten ,  verleihen  ihr  jene  Voraussetzungen ,  die 
sie  von  der  „reinen  Tatsache"  qualitativ  ebenso  abscheiden, 
wie  die  Notwendigkeit  der  Auswahl  aus  dem  Komplex  sach- 
lich völlig  koordinierter  Ereignisse  es  quantitativ  tut. 

Dies  für  eine  Resignation  zu  erklären,  wäre  nicht 
sinniger,  als  wenn  man  die  Kunst  darüber  anklagen  wollte, 
dafs  sie  die  Wirklichkeit  nicht  erreichen  könnte,  während 
in  diesem  Abstand  gerade  ihr  ganzes  Existenzrecht  beruht; 


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freilich  nicht  in  dem  Negativen  des  Nicht- Erreichens ,  son- 
dern in  dem  positiven  Aufbau,  dessen  Werte  nach  eigenen 
Mafsstäben,  aber  durchaus  nicht  nach  der  Nähe  oder  Ferne 
jenes  Abstandes  gemessen  werden.  Nur  wenn  man  von  der 
Geschichte  das  für  sie  ganz  Widerspruchsvolle  fordert:  zu 
beschreiben,  „wie  es  wirklich  gewesen  ist"  —  ein  Anspruch, 
der  mit  der  Wahrheitsforderung  durchaus  nicht  zu- 
sammenfällt, weil  er  zu  einer  mechanischen  Kongruenz 
macht,  was  nur  ein  funktionelles  Verhältnis  ist  —  kann 
die  hier  vertretene  Auffassung  als  ein  Skeptizismus  er- 
scheinen, durch  dasselbe  Mifsverständnis,  das  den  Kantischen 
Idealismus  so  erscheinen  liefs.  Vom  transszendentalen  Realis- 
mus ausgehend,  mufs  man  freilich  im  Skeptizismus  münden, 
weil  jener  dem  Erkennen  eine  Aufgabe  oktroyiert,  die  lösen 
zu  wollen  seinem  Wesen  widerspricht ;  sind  aber  die  Gegen- 
stände des  Erkennens  von  vornherein  durch  die  Formen 
des  Erkennens  zustande  gebracht,  so  ist  von  der  Unerreich- 
barkeit zwischen  Subjekt  und  Objekt,  die  den  Skeptizismus 
begründet,  nicht  mehr  die  Rede.  Dafs  die  Geschichte  ein 
Bau  aus  dem  Stoff  des  Gegebenen  ist,  der  seine  Form  aus- 
schliefslich  den  Forderungen  des  Erkennens  verdankt,  kann 
zu  der  skeptischen  Klage:  wir  könnten  die  volle  Realität 
und  Ganzheit  des  geschichtlichen  Daseins  nicht  ergreifen  — 
nur  so  lange  mifsbraucht  werden,  wie  man  die  historische 
Wahrheit  mit  der  erlebten  Wirklichkeit  verwechselt,  und 
aus  dieser  das  Ideal  für  jene  gewinnen  will,  das  doch  nur 
aus  ihr  selber  erwachsen  kann. 


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Pierersche  Hofbuchdruckerei  Stephan  Geib,.!  &.  Co.  in  Alteuburg. 


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