DIE PROBLEME
DER
GESCHICHTSPHILÜSOPHIE.
EINE ERKENKTNISTHEORETISCHE STUDIE
VON
GEORG SIMMEL.
ZWEITE, VÖLLIG VERÄNDERTE AUFLAGE.
LEIPZIG,
VERLAG VON DUXCKER & HUMBLOT.
1905.
V
SU
Vorwort.
Den Gegenstand dieses Buches bildet das Problem :
wie aus dem Stoffe der unmittelbaren, gelebten \A'irklichkeit
das theoretische Gebilde werde, das wir Geschichte nennen.
Es will zeigen, dafs diese Umbildung eine radikalere ist,
als das naive Bewufstsein anzunehmen pflegt. Damit wird
es zu einer Kritik des historischen Realismus , für den die
Geschichtswissenschaft ein Spiegelbild des Geschehenen
„wie es wirklich war" bedeutet; er scheint damit keinen
geringeren Irrtum zu begehen als der künstlerische Realis-
mus, der die Wirklichkeit abzuschreiben meint, ohne zu
bemerken, wie völlig schon dieses „Abschreiben" die In-
halte der Realität stilisiert. Während der Natur gegenüber
die formende Macht des erkennenden Geistes allgemein an-
erkannt wird, kommt sie an der Geschichte offenbar schwerer
zum Bewufstsein, weil deren Material schon Geist ist; wenn
dieses sich zur Geschichte weiterbildet, heben sich die dazu
wirksamen Kategorien, ihre generelle Selbständigkeit, der
Gehorsam des Stoffes gegen ihre Forderungen, nicht ebenso
deutlich wie in dem Falle der Naturwissenschaft von dem
Stoffe selbst ab. Es handelt sich also um das — nicht im
einzelnen, sondern nur prinzipiell festzustellende — Apriori
des geschichtlichen Erkeunens. Dem historischen Realismus
gegenüber, für den das Geschehen sich ohne weiteres und
höchstens mit quantitativer Zusammendrängung in der
Historik reproduziert, soll das Recht erwiesen werden,
im Kantischen Sinne zu fragen : Wie ist Geschichte
möglich? —
— VI —
Der Weltanschauungswert der Antwort, die Kant auf
seine Frage: Avie ist Natur niögUch? — gegeben hat, liegt
in der Freiheit, die das Ich damit gegenüber aller blofsen
Natur gewonnen hat; indem es die Natur als seine Vor-
stellung produziert und die allgemeinen naturbildenden
Gesetze nichts anderes sind als die Formen unseres Geistes,
ist das natürliche Dasein dem souveränen Ich unterworfen.
Freilich nicht seiner Willkür und deren individuellen
Schwankungen , sondern seinem Sein und dessen Not-
wendigkeiten, die aber nicht aus einer ihm äufserlichen
Gesetzgebung stammen, sondern sein unmittelbares Leben
ausmachen. Damit ist von den zwei Vergewaltigungen, die
den modernen Menschen bedrohen : durch die Natur und
durch die Geschichte, die eine aufgehoben. Beide scheinen
die freie, sich selbst gehörende Persönlichkeit zu ersticken,
die eine, weil ihr Mechanismus die Seele demselben blinden
Zwang unterwarf, wie den fallenden Stein und den spriefsen-
den Halm, die andere, Aveil sie die Seele zu einem blofsen
Schnittpunkt sozialer, durch die Geschichte hin sich spinnen-
der Fäden machte und ihre ganze Produktivität in ein Ver-
walten der Gattungserbschaft auflöste. Über jener Natur-
gefangenheit unseres empirischen Daseins steht seit Kant
die Autonomie des Geistes : das Bewufstseinsbild der Natur,
die Begreiflichkeit ihrer Kräfte, das, was sie für die Seele
sein kann, ist die Leistung der Seele selbst. Nun aber hat
die Fesselung des Ich durch die Natur, vom Geiste gesprengt,
sich in eine solche durch den Geist selbst transformiert:
indem die Persönlichkeit sich in die Geschichte auflöste,
die doch die Geschichte des Geistes ist, schien die Not-
wendigkeit und Übergewalt, von dieser ihr gegenüber ge-
übt, doch noch immer F'reiheit zu sein — in Wirklichkeit
aber ist auch die Geschichte als ein Gegebenes, als eine
Realität, als eine überpersönliche Macht keine geringere
Vergewaltigung des Ich durch ein Aufser-ihm. Die Ver-
führung, für Freiheit zu halten, was in Wirklichkeit Bindung
durch ein Fremdes ist, wirkt hier nur viel subtiler, weil,
was uns hier bindet, des gleichen substantiellen Wesens
mit uns ist. Der Befreiung, die Kant vom Naturalismus
vollbracht hat, bedarf es auch vom Historismus. Vielleicht
gelingt sie der gleichen Erkenntniskritik: dafs der Geist
— VII —
auch das Bild des geistigen Daseins, das wir Ge-
schichte nennen, durch die nur ihm, dem erkennenden,
eigenen Kategorien souverän formt. Den Menschen , der
erkannt wird , machen Natur und Geschichte : aber der
Mensch, der erkennt, macht Natur und Geschichte. Die
bewufstwerdende Form all der geistigen Wirklichkeit , die
als Geschichte jegliches Ich aus sich hervorgehen läfst,
ist selbst aus dem formenden Ich hervorgegangen, dem
Strome des Werdens, in dem der Geist sich erblickt, hat er
selbst seine Ufer und seinen Wellenrhythmus vorgezeichnet
und ihn erst damit zur „Geschichte" gemacht. Die Freiheit
des Geistes, die formende Produktivität ist, gegenüber dem
Historismus auf demselben Wege zu wahren, den Kant
der Natur gegenüber eingeschlagen hat, ist die universelle
Tendenz , der sich die Besonderheit der folgenden Unter-
suchungen einordnet. —
Bei der ersten Auflage dieses Buches war mir dieses
Grundproblem noch nicht hinreichend deutlich, noch weniger
natürlich ist sie wie die jetzige um dasselbe aufgebaut.
Das Buch ist deshalb jener gegenüber als ein völlig neues
zu betrachten, und selbst die Seiten, die aus ihr über-
nommen sind , haben durch die veränderte Grundabsicht
eine mehr oder weniger veränderte Bedeutung erhalten.
Vorwort zur ersten Auflage.
Die Einleitung zu diesen Untersuchungen kann sich dar-
auf beschränken, ihre Charakterisierung als rein erkenn tnis-
theoretische zu betonen. Wie allenthalben die Theorie der
menschlichen Dinge sich scharf gegen die Normgebung für
sie abzugrenzen hat, so liegt der Theorie des Erkennens nur
eine immanente Analyse desselben ob, nur eine Feststellung
seiner Elemente, des Verhältnisses zu seinen selbstgesetzten
Zielen und der Stellung des einzelnen im Zusammenhange
des anderweitigen Wissens. Möchte doch den nachfolgenden
— VIII —
Überlej,-uugen, die die Erkenntniskritik der historischen
Empirie gegenüber vorbereiten, der philosophischen Ge-
sehiclitsbetrachtung gegenüber üben sollen — das Mils-
verstiindnis erspart bleiben, als wollten sie in Tatsachen
des Erkennens ändernd eingreifen, die sie doch vielmehr
nur feststellen wollen.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Erstes Kapitel: Von den inneren Bedingung-en der
Geschichtsforschung- 1 — 66
Der psychische Charakter der Geschichte — 1. Gesetz-
lichkeit und Individualität — 2. Das psychologische Apriori
und seine Entgegengesetztheiten — 4. Bewufste und un-
bewufste Motivierungen — 15. Die Einheit der Persönlich-
keit und die der Gruppe — 20. Begriff des historischen
Verstehens ; die innere Nachbildung — 27. Die Objektivie-
rung individueller Seelenvorgänge — 31. Der Realismus
der Historik — 40. Die Umformung der Wirklichkeit
durch die historischen Kategorien — 41. Verbindung des
psychologischen Momentes mit dem Apriori der Historik
— 50. Die Nachbildung des Nicht-Erlebten — • 56. Das
Verständnis des Persönlichen und des Allgemeinen — 61.
Zweites Kapitel: Von den historischen Gresetzen. . . 67—111
Begriff des Gesetzes — 67. Anwendung auf komplexe
und einfache Erscheinungen — 68. Anmerkung über in-
dividuelle Kausalität — 70. Kausalität von Gesamt-
zuständen — 72. Das Problematische der einfachen
Elemente — 74. Die Einheit des Individuums — 76. Die
historischen Gesetze als Antizipationen — -80. Die Geschichte
als ein Segment des Weltgeschehens und die Auflösung
des Geschichtsbegriffs — 88. Die Eigenbedeutung der
Geschichte als Wirklichkeitswissenschaft — 91. Die tat-
sächlichen Vielheiten als die historisch-methodischen Ein-
heiten — 98. Der Wahrheitsbegriff der Geschichte — 101.
Drittes Kapitel: Vom Sinn der Geschichte .... 112 — 169
Die Geschichte als Gegenstand der Philosophie — 112.
Die metaphysische Sinngebung — 115. Die Formung durch
nicht-theoretische Interessen — 118. Ergänzungen des
Wertbegriffes — 121. Das Interesse am Inhalt der ge-
— X -
•Seite
schichtlichen Wirklichkeit — 127. Der Wichtigkeitsbegriff
— 129. Die Schwelle des historischen Bewufstseins — 1:^1.
Das Interesse an der Wirklichkeit der geschichtlichen In-
halte — 134. Das Interesse am Natur-Erkennen — 139.
Metaphysik und Empirie der Historik — 142. Beispiele
für die Struktur allgemein-geschichtlicher Probleme: Der
Fortschritt in der Geschichte — 145. Der historische
Materialismus — 152. Historischer Skeptizismus und
Idealismus — 168.
Erstes Kapitel.
Von den inneren Bedingnngen der Gescliiclitsforschnn^.
Wenn Erkenntnistheorie überhaupt von der Tatsache
ausgeht, dafs das Erkennen ein Vorstellen und sein Subjekt
eine Seele ist, so wird die Theorie des historischen Er-
kennens weiter dadurch bestimmt, dafs auch sein Gegen-
stand das Vorstellen, Wollen und Fühlen von Persönlich-
keiten, dafs seine Objekte Seelen sind. Alle äufseren Vor-
gänge, jjolitische und soziale, wirtschaftliche und religiöse,
rechtliche und technische würden uns weder interessant
noch verständlich sein, wenn sie nicht aus Seelenbewegungen
hervorgingen und Seelenbewegungen hervorriefen. Soll die
Geschichte nicht ein Marionettenspiel sein, so ist sie die
Geschichte psychischer Vorgänge, und alle äufseren Ereig-
nisse, die sie schildert, sind nichts als die Brücken zwischen
Impulsen und Willensakten einerseits und Gefühlsreflexen
andrerseits, die durch jene äufseren Geschehnisse ausgelöst
werden. Daran ändern auch die Versuche nichts, das
historische Geschehen in seinen besonderen Ausgestaltungen
auf physikalische Bedingungen zurückzuleiten. Die Be-
schaffenheit von Boden und Klima würde für den Lauf der
Geschichte so gleichgültig bleiben, wie Boden und Klima
des Sirius, wenn sie nicht direkt und indirekt die psycho-
logische Verfassung der Völker beeinflufste. So scheint der
seelenhafte Charakter der Historik ihr das Ideal vor-
zuschreiben, eine angewandte Psychologie zu sein, so dafs
sie sich, wenn es eine Psychologie als Gesetzeswissenschaft
gäbe, zu dieser verhalten würde wie Astronomie zur
Mathematik.
Simmel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 1
— 2 —
Demgegenüber meldet sich nun sogleich die Schwierig-
keit: dafs Gesetze nur das Allgemeine an den Gegenständen
des Erkennens zu erfassen vermögen, weil sie besagen, dafs
an joder Erscheinung, die bestimmte Voraussetzungen er-
füllt, bestimmte Erfolge eintreten — völlig unabhängig von
der Individualität dieser Erscheinung. Geschichte aber hat
es mindestens teilweise — ob mehr als teilweise, steht jetzt
nicht zur Erörterung — mit dem Individuellen zu tun, mit
schlechthin einmaligen Persönlichkeiten. Es erscheint als
ein nicht nur utopisches, sondern direkt fehlgehendes Be-
mühen, ein geschichtliches Individuum als den blofsen Treff-
punkt allgemeiner psychologischer Gesetze verstehen zu
wollen, die, nur in anderer Kombination, auch irgend ein
anderes Individuum ergeben, wie es doch das Verhältnis
differenter physikalischer Erscheinungen sein kann. Viel-
leicht aber ist dieser Gegensatz nicht unauflöslich. Die
Relationen , deren Formulierung wir Naturgesetze nennen,
treten immer nur an einem Substrat in die Erscheinung,
das eine gegebene Tatsache ist, d. h. dessen Existenz nicht
selbst wieder aus einem Naturgesetz hergeleitet werden
kann. Selbst wenn man sich eine Vollendung der Natur-
wissenschaften denkt, die alle qualitative Unterschiedlichkeit
der Körper als die aus Gesetzen herzuleitenden Modi-
fikationen eines immer gleichen Grundstoffes erkennt, so
würden wir diesen letzteren zwar als qualitätlos bezeichnen,
weil für die Praxis des Erkennens Qualität immer nur
als Unterschied gegen andere Qualitäten einen Sinn hat.
Genau genommen aber mufs doch auch dieser primäre Stoff
irgendwie „beschaffen" sein, um gerade diesen Gesetzen die
Möglichkeit des Inkrafttretens zu gewähren, und es wäre
noch immer ein andersartiger denkbar, der denselben
Komplex von Gesetzen gültig werden und mit ihm eine ganz
andere Welt entstehen liefse. Dieser unauflösliche Rest,
unter dessen Voraussetzung und bis zu dem als Grenze
hin die Naturgesetze erst die Auflösung der unmittelbaren
materiellen Erscheinungen vollbringen können, besteht nun
vielleicht in ganz derselben Art auf seelischem Gebiet; nur
dafs es hier nicht für alle Erscheinungsreihen einer und
derselbe ist, sondern für jede ein besonderer. Wie die
Materie gewisse erste Bestimmtheiten mit sich bringt, die
— 3 -
der Körperwelt gleichsam als einem Gesamtindividuum
eignen und der Allgemeinheit ihrer Gesetze keineswegs
widersprechen, sondern gerade die tatsächliche Wirksamkeit
dieser ermöglichen — so könnte jede Seele eine ursprüng-
liche Qualität besitzen , die ebensowenig eine gesetzmäfsige
Modifikation eines noch primäreren Gegebenen ist; unter
Voraussetzung dieser würden nun erst die allgemeinen, für
jede Seele gleichmäfsig gültigen Gesetze in Kraft treten
und die empirischen psychischen Erscheinungen erzeugen.
Diese würden so , unbeschadet der Allgemeinheit der Ge-
setze, ersichtlich bei jedem Individuum verschieden sein
können, würden aber damit jedes einzelne nur zu einem
Analogon der ganzen Körperwelt machen. So mag un-
bezweifelt bleiben, dafs dieselben Gesetze der Verbindung
und der Reproduktion der Vorstellungen, der Unterschieds-
empfindlichkeit und der Willensentfaltung, der Apperzeption
und der Suggestibilität an Nero und Luther, an Jesus und
Bismarck gültig waren. Aber diese Gesetze brauchen, um
nicht ohne Angrifi'spunkte in der Luft zu schweben, einen
von ihnen selbst nicht gebildeten, sondern vorgefundenen
Stoff, gleichsam ihr reales Apriori. Und die Beschaöenheitdieses
entscheidet ersichtlich über das sich ergebende Gebilde.
Gewifs reicht unsere Fähigkeit, die Struktur des Seelischen
jenseits der unmittelbaren Bewufstseinsinhalte zu erkennen,
nur zu einer ganz tastenden Symbolik aus, vielleicht auch
deshalb, weil die dazu verfügbaren Kategorien für ganz
andersartige Erkenntnisinhalte gebildet sind. Immerhin
scheint mir diese Betrachtung des Einzeldaseins nach den all-
gemeinen Gesetzen, die dies und jedes andere beherrschen,
auf der einen Seite, und dem rein faktischen Stoff, der so-
zusagen die Auswahl, Kombination, Mafs und Art der Wirk-
samkeit jener Gesetze bestimmt, auf der andern — die Be-
trachtung des Daseins nach diesen beiden Kategorien scheint
mir logisch zulässig ; und sie ermöglicht, die Geltung psycho-
logischer Gesetze mit der Einzigkeit der historischen Individuen
zu vereinen. Was die materielle Natur, wenn sie vollendet
erkannt Aväre, uns in einer einzigen Ausgestaltung bieten
würde: die Besonderheit eines Stoffes, der als ursprüngliche
Tatsache den allgemeinen Gesetzen ihre Geltungswirklich-
keiten ermöglicht und bestimmt — dies würde sich in der
— 4 —
seelischen Natur in unbegrenzt häufigen Abwandlungen
wiederholen. Die Geschichte bliebe immer eine ..An-
wendung" psychologischer Gesetze von unbedingter All-
gemeinheit, aber das Material, das nie aus dem Gesetze
selber zu gewinnen ist, weil es vielmehr Bedingung seiner
Verwirklichung ist, wäre unendlich mannigfaltig und würde
also Realitäten von unvergleichbarer und unreduzierbarer
Individualität ergeben müssen.
In welche wissenschaftliche Kategorie aber auch die
Erkenntnis jener Innerlichkeit der historischen Vorgänge
gehören mag — die Tatsache, dafs sie für alle Schilderung
ihrer Äufserlichkeit den Ausgangspunkt und den Zielpunkt
gibt, fordert nun eine Reihe besonderer Voraussetzungen,
die die Erkenntnistheorie der Historik darzustellen hat.
Kant hat der formenden seelischen Aktivität, gegen-
über allem gegebenen „Stoff" des Vorstellens, ein unerhört
erweitertes Machtgebiet zugewiesen. Alle Erkenntnis, die
nach der naiven Meinung von den Dingen her in uns, die
passiv Aufnehmenden, hinüberstrahlte, erwies er als eine
Funktion des Verstandes, der also durch seine a priori mit-
gebrachten Formen den ganzen Wissensinhalt gestalte. Allein
diese formale Erweiterung kann leicht zu einer sachlichen
Einengung werden, wenn man vergifst, dafs die geistigen
Funktionen , die Kant als das Apriori des Erkennens be-
schreibt, ausschliefslich für das bestehende naturwissen-
schaftliche Erkennen gelten sollen. Es ist sehr fraglich,
ob nicht die Erfahrung von seelischen Dingen nur unter
apriorischen Voraussetzungen „möglich ist", die im Kantischen
System fehlen, ob nicht z. B. die Kausalität, durch die wir
das Eintreten einer Vorstellung als den Erfolg einer anderen
begreifen, von der Verursachung einer physischen Bewegung
\ durch eine andere prinzipiell verschieden ist. Viel wesent-
licher aber ist es, einzusehen, dafs das Kantische Apriori,
das „Erfahrung überhaupt möglich macht", nur die äufserste
Stufe einer Reihe ist, deren niedere tief in die P^inzelgebiete
der Erfahrung hinunterreichen. Sätze, die, gleichsam von
oben gesehen, empirisch sind, d. h. eine Anwendung der
allgemeinsten Denkformen auf spezielles Material darstellen,
können für ganze Provinzen des Erkennens als Apriori
funktionieren. Sie wirken als Verbindungsformen, jenem
eigentümlichen Vermögen des Geistes dienstbar, das jeden
gegebenen Inhalt durch die Art, ihn anzuordnen, zu stimmen
und zu betonen, in die mannigfaltigsten definitiven Gestalten
giefsen kann. Diese Verbindungen, die, in Satzform aus-
gesprochen , als apriorische Voraussetzungen erscheinen,
bleiben in dem Mafse unbewufst, in dem sich überhaupt
das Bewufstsein mehr auf das Gegebene, relativ Aufser-
liche, als auf seine eigene innerliche Funktion richtet.
Dadurch, dafs sie sich den verschiedensten Inhalten in
immer gleicher Weise darbieten, durch ihre Existenz von
jeher wie durch ihre endemische Allgemeinheit, erzeugen
sie jene Gewöhnung an sich, die das Bewufstsein darüber
wie über ein absolut Selbstverständliches weggleiten läfst.
Auch hier gilt, dafs dasjenige, was in der rationalen Ordnung
der Dinge das erste ist — die Erkenntnisfunktion des
Geistes — für unsere Beachtung und Beobachtung das
letzte ist. Wieweit sich aber diese unbewufste Herrschaft
der Verbindungsformen über das Tatsachenmaterial aus-
dehnt, das hat Kant wegen seiner scharfen Trennung des
Apriori von allem Empirischen nicht in vollem Umfange
erkannt; wobei diese Trennung als Methode, Prinzip,
Kategorie völlig aufrechterhalten bleibt und die Diskussion
nur die Inhalte betrifft, die die als apriorisch bezeichneten
Funktionen üben ; von ihnen dürfte sich zeigen, dafs sie für
die speziellen Wissenszweige auch dann noch die volle
Formungskraft des Apriori haben, wenn sie, von den höheren
aus gesehen, die die Kantische Untersuchung allein in Be-
tracht zieht, schon empirisch sind.
Indem wir heute die Erfahrung sich viel höher hinauf
erstrecken lassen, als er es tat, erstreckt sich uns das Apriori
viel tiefer hinunter. Dem Inhalte und der Praxis — freilich
nicht der Systematik der Kategorien — nach bestehen all-
mäligste Übergänge zwischen den allgemeinsten, jedem
Material zugänglichen und über jede Einzelerfahrung er-
hobenen Formen und den speziellen, selbst empirisch ge-
wonnenen und als Apriori nur für gewisse Inhalte anwend-
baren: also etwa zwischen dem Kausalgesetz oder der Zu-
sammenschliefsung des Gleichen an verschiedenen Gegen-
ständen zu einem Begriff einerseits und den methodischen
oder sonstigen Voraussetzungen für ein besonderes Lebens-
— G —
gebiet, für eine besondere Wissenschaft andrerseits. Alle
Kechtsbildung z. B. setzt die Erwünschtheit eines bestimmten
Zustandes voraus. Dal's die menschlichen Verhältnisse die
Erreichung eines solchen nur durch festgesetzte Normen
und dui'ch Strafbestimmungen für deren Übertretung er-
möglichen, ist ein sehr allgemeines Apriori, das eine gewisse
Gestaltung, d. h. Verbindung vorgefundener Vorstellungen,
zur Folge hat. Allein diese Verbindungsform zur Bildung
von Gesetzen ist doch nicht so allgemein , wie etwa die
Kausalverbindung zwischen psychischer Motivierung und
äufserlicher Handlung, die gleichfalls, für die Rechtsbildung
erforderlich, zwischen den Erscheinungen gestiftet, aber nicht
unmittelbar aus ihnen abgelesen werden kann. Andrerseits
aber ist das Apriori, das die Rechtsform überhaupt bildet,
wieder ein allgemeines gegenüber den Voraussetzungen, aus
denen die Rechtsfindung im einzelnen hervorgeht. So be-
wirkt z. B. der Grundsatz, dafs dem Kläger der Beweis ob-
liegt, oder die verschiedene Geltung des Gewohnheitsrechts
eine Formung der Tatsachen zum Zweck der Erkenntnis,
was Rechtens sei — eine Formung, die in dem tatsächlichen
Material selbst nicht liegt, sondern erst eine Deutung an
ihm vollzieht.
/ Aller Verkehr der Menschen ruht in jedem Augenblick
auf der Voraussetzung, dafs gewissen pliysischen Bewegungen
jedes Individuums — Gesten, Mienen, Lauten — seelische
Vorgänge intellektueller, gefühls- oder willensmäfsiger Art
zu gründe liegen. Wie wir das Innere nur nach Analogie
des Äufseren verstehen, was die Sprache schon andeutet^
wenn sie alle seelischen Vorgänge durch Worte zu bezeichnen
pflegt, die aus der Welt der äufseren Anschauung genommen
sind, so verstehen wir andrerseits das Aufsere der Menschen
nur nach untergelegten Innerlichkeiten. Die dazu gehörige
Mischung von Erfahrung und spontaner Weiterführung der-
selben ist leicht durclischaubar : die Erfahrung am eigenen
Ich zeigt uns die Verknüpfung der inneren Vorgänge mit
ihren Äufserungen, infolge wovon wir aus dem gleichen, an
Anderen beobachteten Vorgang auf ein dem unseren analoges
seelisches Ereignis schliefsen. Dafs das Seelenleben der
anderen Menschen, zunächst insoweit es mit ihren Sichtbar-
keiten verknüpft ist, dem eigenen entspricht, mufs für immer
eine Hypothese bleiben, und diese ist, ihrer Funktion nach,
ein Apriori aller praktischen und Erkenntnisbeziehung
zwischen einem Subjekt und anderen Subjekten. Denn wollte
man sagen : die Erfahrung erst überzeugte uns von der
Richtigkeit dieser Annahme, indem Avir jederzeit diejenige
äufsere Handlungsweise, die wir auf diesem Wege vermuten,
eintreten sehen, — so würde man sich im Kreise drehen.
Denn einerseits würden wir zu solcher Vermutung nie
kommen, wenn nicht jene Gleichheit schon vorausgesetzt
würde, und andrerseits führt alle Erfahrung als solche nur zu
immer gröfserer Sicherheit, auf bestimmte Aufserungen
eines Anderen immer bestimmte andere folgen zu sehen : das
Mittelglied des seelischen Vorganges, das diese an jene
knüpft, kann seinem Wesen nach niemals erfahren werden.
Und nun deuten wir nicht nur das einzelne wahrgenommene
Handeln oder Reden durch eine entsprechende psychische
Grundlage, sondern wir konstruieren eine im Prinzip un-
unterbrochene seelische Reihe mit unzähligen Gliedern, die
gar kein unmittelbares Gegenbild im Aufseren haben, legen
unter diese Reihe oder diese vielen Reihen noch einen
Gesamtcharakter der Persönlichkeit, interpretieren äufserlich
gleiche Vorgänge durch sehr mannigfaltige, oft einander
entgegengesetzte psychische, und keineswegs nur, avo wir
Lüge und Verstellung vermuten. Ohne diese weiteren
psychologischen Voraussetzungen, durch die wir die pri-
mären , an die unmittelbaren W^ahrnehmungen geknüpften,
vervollständigen, wäre die Handlung jedes Anderen für uns
nichts als eine sinn- und zusammenhangslose Zusammen-
würflung sprunghafter Impulse.
Wenn man von apriorischen Vorstellungen spricht,
haftet man leicht an dem Gedankeuinhalt derselben, der in
der kompletten Erfahrung wie koordiniert neben dem In-
halt des sinnlich Gegebenen steht, und übersieht, dafs das
Apriori, in Satzform ausgesprochen, nur die Formulierung
innerer Energien ist, die an jenem gegebenen sinnlichen
Material die Formung zur Erkenntnis vollziehen. Das
Apriori spielt eine dynamische Rolle in unserem Vorstellen,
es ist eine reale Funktion, die in ihrem schliefslichen ob-
jektiven Resultate, der Erkenntnis, investiert oder kristalli-
siert ist- seine Bedeutung erschöpft sich nicht in dem
— 8 —
logischen Inhalt der Begriffe, in denen es nachträglich
ausdrückbar ist, sondern in seiner Wirksamkeit für das
Zustandekommen unserer Erkenntniswelt ^). In diesem
Sinne ist es ein apriorischer Satz, dafs die Seele eines
jeden Anderen für uns eine Einheit ist , d, h. einen
verständlichen Zusammenhang von Vorgängen darstellt,
durch welchen oder als welchen wir ihn erkennen. Die
Funktion, die diesem Begriff entspricht, bewirkt jene Er-
gänzung der hinter den Sichtbarkeiten gelegenen psychischen
Tatsachen ; aber sie greift auch darüber hinaus, indem wir
selbst das Aufsere so ergänzen, wie der einmal an-
genommene innerliche Zusammenhang es verlangt, bezw.
so, dafs es überhaupt einen innerlichen Zusammenhang er-
gibt. Man kann wohl behaupten, dafs kaum ein Bericht-
erstatter uns von der mitangesehenen Entwicklung eines
Ereignisses genau das erzählt, was er gesehen hat. Jede
gerichtliche Zeugenvernehmung, jede Erzählung von einem
Strafsenauflauf bestätigt dies. Mit dem besten Bestreben,
bei der Wahrheit zu bleiben, setzt der Erzähler zu dem
unmittelbar Gesehenen Glieder hinzu, die das Ereignis
in dem Sinne vervollständigen, den er aus dem wii-klich
Gegebenen herausgelesen hat — wie ja auch der Hörer,
nach dem Mafse seiner Erfahrungen und der durch sie
bestimmten Phantasie, immer mehr im Geiste sehen mufs,
als ihm tatsächlich gesagt wird. Die Sinnesphysiologie hat
uns unzählige Fälle nachgewiesen, in denen wir an einzelnen
Objekten und Bewegungen die fragmentarischen Eindrücke
der Sinne unljewufst so ergänzen, wie unsere bisherigen
Erfahrungen es verlangen. Bei zusammengesetzten Ereig-
nissen ist dies genau das Gleiche, und zwar wird die
äufserliche Ergänzung im wesentlichen durch psychische
Annahmen bestimmt, durch die Erfahrungen über Kontinuität
und Entwicklung des Seelenlebens, über die Korrelation
unter seinen Energien, über den Ablauf der teleologischen
Prozesse. Alles dieses wird nicht nur auf Anregung durch
die äufseren Verhältnisse hin vorausgesetzt, sondern, nach-
') Das Apriori hat frcilicli noch eine ganz andersartige erkenntnis-
theorotische Rolle, die jenseits alles «Seins und Werdens liegt: als die
ideelle Norm der rein auf ihren Inhalt angesehenen Erkenntnis; aber
von dieser Bedeutung seiner ist augenblicklich nicht die Rede.
— 9 —
dem es vorausgesetzt ist, werden die äufseren Ereignisse
soweit ergänzt, dafs sie nun auch, gemessen an den Er-
fahrungsgesetzen über den Zusammenhang des Innern mit
dem Äufsern, eine den innern Vorgängen ununterbrochen
parallele Reihe ergeben. Gerade diese spontane Ergänzung
des Äuiserlichen ist einer der stärksten Beweise dafür, dafs
auch das Innerliche nicht einfach aus den Tatsachen ab-
gelesen, sondern auf Grund allgemeiner Voraussetzungen
zu ihnen hinzugebracht wird. In den alltäglichen An-
gelegenheiten haben wir allerdings hinreichende Gelegen-
heit, die Richtigkeit jenes Apriori und der besonderen
Schlüsse, in denen es sich ausgestaltet, nachzuprüfen, indem
unserem daraufhin eintretenden Handeln das voraus-
berechnete äufsere Verhalten des Anderen wirklich aus-
nahmslos antwortet. Allein für höhere und kompliziertere
Seelenvorgänge fallen diese Schlüsse sofort ins Ungewisse,
führen zu unzähligen Irrtümern und zeigen eben damit,
dafs sie auch in jenen unzweideutigeren Fällen doch nur
Voraussetzungen sind, die ihre Sicherheit ihrer Brauchbar-
keit für Erkennen und Handeln, aber nicht einer logischen
Notwendigkeit verdanken , die sie aus dem wirklich Ge-
gebenen rational hervorgehen liefse.
Vollständiger und einflufsreicher als in irgend einer
anderen Wissenschaft wiederholen sich diese Voraussetzungen
des täglichen Lebens in der Geschichtsforschung, die sie
freilich durchgehends ungeprüft und unmethodisch auf-
nimmt. Schon wenn jene Interpretationen und Ergänzungen
so selbstverständlich wären, dafs jede äufsere Tatsache sich
unweigerlich und völlig eindeutig unter die für sie passende
rangierte, würde die Feststellung derselben eine bedeutsame
Aufgabe sein. Sie gewinnt aber an Feinheit und Schwierig-
keit aufserordentlich dadurch, dafs wir an das gleiche
innere Ereignis manchmal ganz verschiedene äufsere Folgen
geknüpft sehen. Dies ist uns nur durch eine Verschieden-
heit der seelischen Begleitungen oder Folgen jenes ersten
Ereignisses verständlich, das demgemäfs bald unter die eine,
bald unter die andere ganz entgegengesetzte psychologische
Norm gebracht werden mufs. Z. B. erzählt Sybel (Gesch.
d. Revolutionszeit II, 304) von dem Verhältnis des Wohl-
fahrtsausschusses zu den Hebertisten im Jahre 1793: „Sie
— 10 —
(die Hebertisten) waren bisher mit Robespierre vortrefflich
ausgekommen, weil dieser sich auf ihre Kräfte gestützt und
folglich ihre Wünsche befördert hatte. — Aber was sie von
nun an unwiderruflich trennte, war der einfache Umstand,
dafs Robespierre der Lenker der höchsten Staatsgewalt ge-
worden , die Hebertisten aber in einer untergeordneten
Stellung geblieben waren." Die äufserlichen Tatsachen:
Robespierre befördert die Wünsche der Hebertisten ; sie
schliefsen sich an ihn an; jetzt gewinnt er die herrschende
Stellung; sie fallen von ihm ab — diese Tatsachen bilden
nach den untergelegten psychologischen Voraussetzungen
eine durchaus verständliche Reihe. Und doch sind diese
Voraussetzungen keineswegs so zwingend und unzweideutig,
wie sie zunächst scheinen. Dafs man durch das Befördern
der Wünsche jemandes, durch ihm erzeigte Guttaten seine
Zuneigung und praktische Hingebung erwirbt, kommt oft
genug vor, aber doch auch das Gegenteil. So wird uns
aus den blutigen Geschlechterfehden des Trecento von
einem vornehmen Ravennaten erzählt, der seine gesamten
Feinde in einem Hause zusammen hatte und sie ohne
weiteres vernichten konnte; statt dies zu tun, entliefs er
sie und beschenkte sie noch reichlich. Darauf wären sie
mit verdoppelter Gewalt und List gegen ihn vorgegangen
und hätten nicht geruht, bis sie ihn vernichtet hatten —
und zwar, wie hinzugesetzt wird, weil die Beschämung
über die ihnen geschehene W^ohltat sie nicht hätte ruhen
lassen. Auch hier ist uns die Reihe der äufseren Ereignisse
durchaus verständlich, indem wir als psychologische Voraus-
setzung und Vermittlung eben jene Depression des Per-
sönlichkeitsgefühles ergänzen, die so oft die Wohltat zum
nagenden Wurme in dem Empfangenden und ihn zum
Feinde des W^ohltäters macht. Für unseren Zweck ist
es gleichgültig, ob etwa in dem vorliegenden Beispiele
direkte Aussagen der Beteiligten überliefert sind, die ihre
angeführte psychologische Verfassung aussprechen, so dafs
der Historiker dieselbe nicht als Voraussetzung heran-
zubringen Ijrauchte ; denn nicht nur, dafs er es in un-
zähligen ähnlichen Fällen, in denen nur schlechthin Aufscres
berichtet ist, doch mufs, so würde er auch jene unmittelbare
Überlieferung doch nur akzeptieren, wenn er die eine und
— 11 —
die andere psychologische Verfassung als eine mögliche
kennt und sie vermöge eigener mitgebrachter Erfahrung
nachkonstruieren kann. Weiter verstehen wir, dafs die
Erhöhung Robespierres zum Regierungshaupte feindselige
Handlungen der Hebertisten gegen ihn zur Folge hatte,
doch nur daraus, dafs sie Hais und Eifersucht dieser er-
weckte. Allein wir würden auch den Bericht des entgegen-
gesetzten Erfolges ohne weiteres als wahrscheinlich hin-
nehmen ; dafs die volle Entfaltung der mächtigen Persön-
lichkeit Robespierres, die dominierende Stellung, zu der er
gelangte, jedes Widerstreben der Partei auch innerlich
gebrochen habe, dafs sie in der Erkenntnis, nichts dagegen
zu vermögen, sich wenigstens durch Fügsamkeit und Unter-
ordnung irgend ein Mafs von Mitherrschaft hätte erbalten
wollen — ein Verhalten, das wir aus vorausgesetzten
psychologischen Normen völlig verstehen, wenn es uns etwa
vom römischen Senate in der Epoche der Militärdiktatur
berichtet wird. Wir beruhigen uns in dem einen Falle
damit, dafs die Wohltat, oder die Erlangung der Herrschaft
einen anschliefsenden, im anderen Falle, dafs sie einen aus-
schliefsenden psychischen Effekt hatte, ohne in ihr selbst
als äulserlicher Tat den Grund dieser Verschiedenheit auf-
zufinden. Vielmehr werden wir über die psychologische
Verfassung, die zwischen beiden entschied, erst durch das
folgende Ereignis belehrt, das aber doch seinerseits erst
durch die Annahme eben jenes vorangehenden Seelenaffektes
verständlich wird.
Über demokratische Verfassungen, deren Regierung in
kürzeren Perioden wählbar ist und nur zwischen zwei
Hauptparteien schwankt, hört man, der Mifsbrauch der
Macht seitens der grade herrschenden sei dadurch aus-
geschlossen, dafs sie demnächst selbst die unterdrückte zu
sein und die Revanche der andern zu empfinden fürchten
müsse. Dennoch zeigt diese Situation in Wirkliclikeit ebenso
oft die rücksichtsloseste und unbedachteste Ausnutzung der
momentanen Herrschaft. Um diese Verschiedenheit des Er-
folges bei Gleichheit des äufseren Faktors zu erklären, wird
man auf die Verschiedenheit des inneren zurückgreifen :
der „Charakter" der Persönlichkeiten oder Parteien be-
stimme eben je nach seiner Verschiedenheit, ob der eine
— 12 —
oder der entgegengesetzte Erfolg sich entwickle. Allein
dieses „Charakters", was er auch an sich sei, kann die
Erkenntnis jedenfalls nur durch seine Aufserungen habhaft
werden. Die seelische Veranlassung der Difierenz ist nie-
mals unmittelbar zu ergreifen, sondern bleibt immer eine
der tatsächlichen Erscheinung untergebaute Hypothese;
aber sie zeigt ihre Notwendigkeit für das Verständnis der
Erscheinungen darin, dafs die offenbare Unvermeidlichkeit,
sie aus diesen erst zu erschliefsen und allen ihren Wider-
sprüchen gehorsam nachzugehen — an ihrer Anwendung
und ZulängHchkeit gar nicht irre macht.
Ich führe nur noch ein Beispiel an. Knapp (Die Land-
arbeiter, 82) sagt über die russischen Agrarzustände nach
der Aufhebung der Leibeigenschaft: „Die Bauern ver-
pflichteten sich, gegen Lohn dem Grundherrn so und so
viel Dienste zu leisten. Das taten die Bauern sehr ungern,
denn der veränderte Rechtsgrund tröstet den Bauer nicht
über den Fortbestand der Tatsache, dafs er für den Guts-
herrn arbeitet; und dem Gutsherrn war damit auch nicht
viel geholfen, denn der nun ausbedungene statt erzwungene
Bauerndienst wurde schlecht geleistet, trotz der Bezahlung."
Die erste Begründung setzt als selbstverständlich oder
wenigstens nicht weiterer Diskussion bedürftig voraus, dafs
die Gefühlsfolge eines bestimmten Zustandes sich nicht
ändert, so lange er äufserlich der gleiche bleibt, auch wenn
das innere Moment ganz geändert ist, das ihm ursprünglich
jene Gefühlsfolge verschaffte. Die zweite läfst es Avie etwas
völlig Klares erscheinen, dafs der Bauer, über den man
nicht mehr die volle herrschaftliche Gewalt hatte, sondern
mit dem man paktieren mul's, schlechter als früher arbeitet.
Zeigten etwa die Tatsachen, dafs die ökonomischen Erträge
in Rufsland nach 1804 stetig zugenommen hätten, so würden
genau entgegengesetzte psychologische Gründe Ursache und
Wirkung nicht weniger plausibel verknüpft haben: man
hätte ohne weiteres eingesehen, dafs gerade nicht das äufsere
Tun, sondern die ethische Grundlage und das Motiv, aus
dem es geschieht, darüber entscheidet, ob mit Lust und
Liebe oder mit entgegengesetzten Gefühlen gearbeitet wird.
Und bezüglich der Erzwingung des Bauerndienstes hören
wir umgekehrt aus Preufsen vor Aufhebung der Leibeigen-
— 13 —
Schaft stete Klage, dafs die Fronarbeit die schlechteste^
lässigste und gewissenloseste sei ^). Ohne solche Beispiele,
') Es lohnt sich, aus der Struktur unseres Erkennens wenigstens
ein einzelnes Moment zur Erklärung dieser Erscheinungen heraus-
zuheben. Dafs die gegebene Konstellation in jedem individuellen Fall
ihren Erfolg notwendig macht, ist eine unvermeidliche Voraussetzung
unseres Erkennens. Wenn ihre identische \Yiederkehr dennoch ein
verschiedenes Eesultat zu zeitigen scheint, so kann dies nur so ge-
schehen, dafs eine dennoch vorhandene Verschiedenheit der verur-
sachenden Bedingungen sich unserm Blick entzogen hat. Und zwar
ist der Grund davon, dafs Avir das eigentlich Individuelle der wirk-
samen seelischen Elemente — nach Nuance, Quantität, Art der Zu-
sammenwirkung — gar nicht oder nur sehr unvollkommen begrifflich
erfassen und bezeichnen können. Mit den gleichen Allgemeinbegriffen :
Liebe und Hafs, Machtgefühl und Depression, Intelligenz und Willens-
kraft, Egoismus und Hingebung und vielen anderen benennen wir in
sehr roher Weise Erscheinungen von der gröfsten tatsächlichen Ver-
schiedenheit, welche letztere dann in der Weiterentwicklung der
Konstellation zu sehr deutlicher Wirksamkeit gelangt. Ein einfachstes
Beispiel ist die völlig verschiedene, ja direkt gegensätzliche Wirkung-
ein und derselben seelischen Energie je nach der Quantität, in der sie
auftritt. Von der Liebe etwa wissen wir, dafs sie einmal durch die
Trennung von ihrem Gegenstand erlischt, ein andresmal durch eben-
dieselbe gerade zur heftigsten Leidenschaft entwickelt wird. Der
Grund dieses Unterschiedes dürfte nur sein, dafs die von vornherein
vorhandene Gefühlsenergie in dem ersteren Fall viel schwächer als
im zweiten ist. Es gibt wahrscheinlich in der Quantitätsreihe der-
selben eine Schwelle, mit deren Erreichung der Erfolg einer Trennung
ebenso in sein Gegenteil umschlägt, wie entsprechende Schwellen
unserer Sinnesempfindungen den Wechsel von Lust und Schmerz an
rein quantitative Eeizänderungen knüj^fen. Für die Bestimmtheiten
solcher Gefühlsquantitäten aber haben wir kein auch nur annäherndes
Mafs und Ausdruck, sondern bleiben auf ihre, gegen ihr Quantitatives
ganz gleichgültigen Allgemeinbegriflfe beschränkt, so dafs wir Er-
scheinungen von ganz verschiedener Wirklichkeit und Wirksamkeit
unvermeidlich mit den gleichen Namen bezeichnen und dadurch der
Schein entsteht, dafs es gleiche Ursachen wären, die so verschiedene
Wirkungen erzeugten. Vielleicht aber ist diese Unvollkommenheit
— die sich wie auf die Erfassung der Quantität so auf die der in-
dividuellen Akzente, Färbungen, mitschwebenden Assoziationen be-
zieht — nicht ohne tiefere Begründung. Sie besagt vielleicht, dafs
wir das rein Individuelle an dem psychischen Vorgang überhaupt
nicht in die Form der wissenschaftlichen, begrifflich vermittelten Er-
kenntnis bringen können, ja, dafs .sie überhaupt dem blofsen Erkennen
als solchem nicht zugängig ist; wir können das Seelische vielleicht
überhaupt nur so weit wissenschaftlich verstehend nachbilden, wie ein
— 14 —
die sich in jedem Geschichtswerk unaufhörlich wiederholen,
zu einem billigen und ungerechten Skeptizismus gegen die
psychologische Deutung überhaupt zu mifsbrauchen, sollen
die Unterschiede möglicher Interpretation gerade darauf
aufmerksam machen, dafs man diese nicht als einen immer
gleichen und deshalb zu vernachlässigenden Faktor be-
handeln kann. Am wichtigsten aber treten diese Voraus-
setzungen und die Bedeutung der Wahl unter ihnen in den
unzähligen Fällen hervor, in denen die äufseren Taten nicht
zweifelsfrei und eindeutig überliefert sind, vielmehr ihre
Feststellung und Anordnung von der psychologischen Wahr-
scheinlichkeit abhängt. Und selbst in den sichersten Fällen
ist es nicht „die einfache Tatsache", die über die Ver-
ständlichkeit der Folge entscheidet, sondern mitgebrachte
psychologische Obersätze, zu denen „die einfache Tatsache"
als Untersatz tritt, um das weitere Ereignis als ein mög-
liches und verständliches erscheinen zu lassen. Unter die
sichtbaren Handlungen der Menschen subintelligiert man
solche unsichtbaren Zwecke und Gefühle, die erforderlich
sind, um jene Handlungen in einen verständlichen Zu-
sammenhang zu bringen. Dürften wir über das wirklich
konstatierbare Material der Geschichte nicht hinausgehen,
so wäre es mit der Herstellung irgendwelcher Entwicklung,
mit dem Begreifen irgend einer Einzelheit aus einer anderen
schlimm bestellt. Helmholtz hat einmal ausgesprochen, dafs
der Beweis des Kausalgesetzes ein sehr schwacher wäre,
wenn er aus der Erfahrung gezogen werden sollte-, die
Fälle seiner lückenlosen Beweisbarkeit seien selten im Ver-
hältnis zu der ungeheuren Anzahl derer, die sich der voll-
kommenen ursächlichen Einsicht noch entzögen. Gilt dies
schon für die Vorgänge der unterpsychischen Natur, so
mufs der Beweis der Kausalität aus der strikten Erfahrung
heraus da noch viel seltener werden, wo sich das ver-
wickelte und dunkle Glied der Gehirn Vorgänge zwischen
allgemein Menschliches (mindestens relativ Allgemeines) in ihm lebt,
nämlich dasjenige, was dem Erkennenden und seinem Gegenstand
gemeinsam ist. Die Beschränkung auf den allgemeinen Begriff, der
jenseits aller individuellen Mannigfaltigkeit steht, wäre formal inso-
fern der durchaus angemessene Ausdruck für das, was die Erkenntnis
ihrem Wesen nach inhaltlich leisten kann.
— 15 —
die sichtbaren Vorgänge schiebt, nach deren ursächlicher
Verbindung miteinander gefragt wird. Unter der Voraus-
setzung des — hier nicht diskutierten — psychophysischen
Parallelismus würden wir eine vollkommene Einsicht offen-
bar dann haben, wenn wir die äufserlichen und körperlichen
Einflüsse und Umsetzungen, die zwischen den einzelnen
Taten einer historischen Persönlichkeit Hegen, völlig durch-
schauten und aufserdem den psychischen Wert jedes in
dieser Reihe befindlichen cerebralen Vorganges kennten.
Da dies aber ein unerreichbares, wenn nicht gar wider-
spruchsvolles Ideal ist, so helfen wir uns eben damit, dafs
wir wenigstens psychische Vorgänge unter und zwischen
die äufserlichen Vorgänge schieben.
Der hypothetische Charakter, den alle Erklärung des
äufseren geschichtlichen Geschehens dadurch besitzt, dafs
sie nur auf psychologischem Wege möglich ist — zeigt sich
nicht nur an dem angebbaren Inhalt der Bewufstseins-
vorgänge und der gleichen Wahrscheinlichkeit, die völlig
entgegengesetzten Vermutungen über sie erwerbbar ist. Die
Vieldeutigkeit beginnt vielmehr schon an der Frage, wo
denn überhaupt Bewufstsein das sichtbare Sicb-Ereignen
fundamentiert und wo dies aus unbewufsten Kräften heraus
verläuft. Besonders in den Bewegungen der Massen sehen
wir unzähliges Bedeutsames, Charakteristisches, Zweck-
mäfsiges — ■ oder auch Unzweckmäfsiges — geschehen,
dessen bewufste Motivierung durchaus zweifelhaft ist. Das
ganze Rätsel der unbewufsten Geistigkeit rollt sich auf: es
geschehen äufsere Handlungen, genau denen analog, die sonst
von bewufstem Überlegen und Wollen getragen sind, jetzt
aber ohne Möglichkeit, solches Bewufstsein aufzufinden ;
daraus schliefsen wir, dafs dieselben geistigen Motive auch
diesmal wirksam gewesen sind, nur in der Form der Un-
bewufstheit. Die unbewufste Motivierung ist tatsächlich
nur der Ausdruck dafür, dafs uns die wirklich wirksame
unbekannt ist', sie bedeutet nur, dafs eine bewufste nicht
vorliegt; und dafs wir dieses rein Negative, Ausschliefsende,
zu etwas Positivem machen, das blofs Nicht-Bewufste zu
etwas Unbewufstem, das eine bestimmte Form des Geistigen
sei — das ist eine Erschleichung, das entspricht nur dem
Bedürfnis, die leere Kausalstelle innerhalb des menschlichen
— 16 —
Handelns mit einem geistigen Motiv auszufüllen. Das Leben
der Gruppen scheint gewisse Bestandteile zu enthalten, die
den Instinkt- und Reflexbewegungen des Individuums ent-
sprechen. Wir hören von der Tendenz mancher Volks-
stämme, unwiderstehlich um sich zu greifen und Avie aus
einem Trieb physischen Wachstums heraus ihre Grenzen
unaufhaltsam weiter und weiter zu rücken ; von dem dunklen
Drange der deutschen Völker nach Italien wird gesprochen
wie von dem Instinkte der Zugvögel, die völlig unbewufste
Antriebe in • bestimmte Himmelsrichtungen führen. Wie
weit der Erklärungsversuch hier zu bewufsten Überlegungen
greift oder zu jenen problematischen unbewufsten Zweck-
mäfsigkeiten oder zu einer Art organischen Prozesses, der
den rein physisch veranlafsten Innervationen gleicht — das
wird wohl für immer Sache der persönlichen Interpretation
bleiben. Mindestens einer der Gründe, weshalb das Grenz-
gebiet zwischen bewufsten und nichtbewufsten Erscheinungen
ein so schwankendes ist und entgegengesetzten Deutungen
gleichmäfsig Raum gibt, liegt in der eigentümlichen Gegen-
bewegung innerhalb der Geistesgeschichte : dafs ehemals
bewufste Handlungen allmählich das Bewufstsein ausschalten
und rein mechanisch ausgeübt werden — wie der Klavier-
spieler die zuerst bewufst gesuchte Taste schliefslich durch
einen festgewordenen Assoziationsmechanismus trifft, den
das Notenbild ohne jedes dazwischentretende Bewufstsein
erregt — und dafs, umgekehrt, ursprünglich mechanisch
Getanes ein wachsendes Bewufstsein erwirbt — wie die
Blindheit der Instinkte höheren Normen und klaren Über-
legungen Platz macht. Wenn also z. B. Zweckmäfsigkeit
und Notwendigkeit eine Gruppe zu mehrfacher Kriegführung
veranlafst haben, so kann sich daraus eine kriegerische
Tendenz entwickeln, bei deren späteren Aufserungen man
in dem Bewufstsein der Handelnden vergeblich nach dem
zureichenden Zwecke suchen würde. Oder, die Unter-
worfenheit und Servilität eines Standes unter einen anderen
mag aus ganz bewufsten Ursachen entstanden sein ; haben
diese eine Zeitlang bestanden, so darf man das Bewufstsein
der Individuen nicht mehr um Auskunft nach dem Zwecke
des einzelnen einschlägigen Verhaltens fragen, das durch
einen formal verwandten Reiz in refllektorischer Weise ein-
— 17 —
getreten ist. Es ist offenbar, welchen Irrtümern die naive
Voraussetzung unterliegt, die die sinnvolle Verbindung
zwischen den Handlungen der Einzelnen oder der Gruppen
ohne weiteres in bewufsten psychischen Vorgängen sucht,
aus deren teleologischem Charakter jene entsprängen.
Die andere Wegerichtung bedarf keiner Beispiele.
Steigende Kultur ist allgemein steigendes Bewufstsein, Ab-
sicht statt des Instinktes, Überlegung statt der Preis-
gegebenheit an mechanische Einflüsse, Gefühlsreaktion statt
stumpfer Ergebenheit. Die Entwicklung eines einzelnen
historischen Inhalts mag sich oft als eine Kurve aus beiden
Richtungen darstellen : ursprünglich instinktive Verhaltungs-
weisen mögen zu klarem Bewufstsein aufgestiegen und dann
wieder zu rein mechanischer Ausübung gesunken sein —
wie etwa Kunstübungen zuerst rein triebmäfsig erfolgen und
dann zu einer bewufsten Technik ausgebildet werden, die
aber für den Meister nach langer Übung etwas ganz in-
stinktives und ohne weitere Überlegung angewandtes wird.
Die beiden Tendenzen begegnen sich zweifellos oft in
dem einzelnen Stadium einer Gruppenentwicklung und
lassen es dadurch zu einer objektiven Bestimmung, welches
Mafs von Bewufstsein und an welchem Punkte es ihr inne-
wohne, nicht kommen. Die Entscheidung darüber wird
vielfach von der prinzipiellen Meinung abhängen, ob die
Bewegungen einer Gruppe auf eine Summe individueller Vor-
gänge oder auf einen überindividuellen Gesamtgeist zurück-
gehen, ob einzelne führende Persönlichkeiten die eigentlichen
Träger der Aktion sind oder ob die undifferenzierte Menge
aus eigenen Impulsen heraus handelt. Wem die Motivationen
individuell zu sein scheinen , der wird ein entschiedeneres
Bewufstsein hinter die äufserlichen Geschehnisse setzen, als
wer die Gesamtheiten als die einheitlichen Subjekte dieser
behauptet. Indem man die grofsen Männer als „das Be-
wufstsein" ihrer Zeit bezeichnet hat, kommt dieser Unter-
schied zu Worte. Ein ganz anderes Verstehen der nüch-
ternen Tatsachen, deshalb auch, bei mangelhafter Über-
lieferung, ganz andere Interpolationen und Vermutungen
werden sich ergeben, je nachdem man die klare Geistigkeit
der Individuen oder das dumpfe Getriebenwerden der
Massen als die Innenseite der Ereignisse konstruiert. Neben
Simmel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 2
— 18 -
diesem Gegensatz zu der bewufsten Individualität bietet
sich für die Deutung der Geschichte noch ein anderer dar :
die unpersönlichen Mächte, die sich teils als Ursachen, teils
als Wirkungen mit den Handlungen und Zuständen der
Persönlichkeiten verflechten. Recht und Sitte, Sprache und
Denkart, Kultur und Verkehrsform erstehen freilich nicht
ohne bewufste Tätigkeiten einzelner; allein der Zusaramen-
schlufs der Beiträge, das Zustandekommen der sozialen
Form, die dies individuelle Material annimmt, fällt nicht
mehr in das Bewufstsein des einzelnen Arbeiters. Er
sucht im Zusammensein mit anderen den besten Ausdruck
für Zuneigung und Zurückhaltung, Gleichgültigkeit und
Interesse und erfindet damit Teile der gesellschaftlichen
Verkehrsformen ; sein religiöses Bedürfnis drängt ihn zu
Worten und Handlungen, in denen er die sicherste Brücke
zum göttlichen Prinzip zu finden glaubt — und er baut
damit am Gebäude des Kultus ; er sucht sich durch gewisse
Vorsichtsniafsregeln in der Geschäftsführung gegen Über-
vorteilung zu schützen und gründet damit die allgemeinen
Handelsusancen. Von jeder Handlung des Eigeninteresses,
die nicht schlechthin destruktiv ist, von jeglicher Beziehung
zwischen Menschen bleibt gewissermafsen als caput mortuum
ein Beitrag für die Formung des öffentlichen Geistes zurück,
nachdem ihre Wirkungen durch tausend feine, dem Einzel-
bewufstsein entzogene Kanäle hindurch destilliert worden
sind. Für das Gewebe des sozialen Lebens gilt es ganz
besonders: Was er webt, das weifs kein Weber. Nur
unter zweckbewufsten Wesen allerdings können die höheren
sozialen Gebilde entstehen; allein sie entstehen sozusagen
neben dem Zweckbewufstsein der Einzelnen, durch eine
Formierung, die in diesem selbst nicht liegt. So aber
zustande gekommen , wirke n sie nun auf den Einzelnen,
er findet sie als geistige Gebilde vor, die eine ideelle Existenz
besitzen, jenseits des Bewufstseins der Einzelnen und unab-
hängig von ihm, ein bereitliegender Allgemeinbesitz, von
dem jeder beliebig viele Teile für sich nutzbar machen
kann. Dabei ist es durchaus Sache der Auffassung, die
man für diese eigentümliche historische Kategorie hat, ob
und inwieweit man sie in dem Bewufstsein der Einzelnen,
von dem sie abhängen und das von ihnen abhängt, auf-
— 19 —
gehen lassen will. Diese Entscheidungsschwierigkeiten und
Unsicherheiten der Bewufstseinsanteile steigern sich, sobald
die überpersönlichen Gebilde mit eigenen Bewegungs- und
Entwicklungsenergien ausgestattet erscheinen. Die Lehre
von den wirtschaftlichen Produktivkräften, die die jeweiligen
Produktionsformen entweder adäquat erfüllen oder über-
Avachsen und sprengen, setzt über das Wissen und Wollen
der Individuen die Verhältnisse rein sachlicher Potenzen;
neue Gesellschaftsformen ergäben sich in völliger Unab-
hängigkeit von dem Bewufstsein und den Bestrebungen ihrer
Träger, die den Prozefs erleichtern oder erschweren, aber
niemals erzwingen oder verhindern können. Wenn also die
Sklavenwirtschaft in die Feudalverfassung und diese in die
Lohnarbeit übergegangen ist und aus der letzteren der
Sozialismus „sich entwickeln" wird, so sind die erklärenden
Ursachen dieser Wandlungen nicht im Bewufstsein der
Subjekte zu suchen , sondern in den sozusagen logischen
Folgen der jeweiligen wirtschaftlichen Technik, der durch
diese entwickelten Produktivkräfte und der Gesellschafts-
verfassung, in der sich jene mit mechanischer Notwendig-
keit ausdrücken. Hier ist also das Bewufstsein völlig aus-
geschaltet, das auf anderen und spezielleren Gebieten, zwischen
die äufseren Ereignisse geschoben, diese überhaupt erst be-
greiflich macht. Die tatsächlichen Geschichtsauffassungen
pflegen von beiderlei Deutungsarten in unsicher begrenztem
Mafse Gebrauch zu machen : schon das blofse Quantum des
Bewufstseins hinter den sichtbaren Ereignissen ist also
durchaus streitig und die Kardinalfrage aller historischen
Erklärung bleibt so den instinktiven oder dogmatischen
Voraussetzungen der Interpreten überlassen. Eine be-
schreibende Erkenntnistheorie der Geschichte hätte nun fest-
zustellen, in welchen Fällen und in welchem Umfang über-
haupt von einem Bewufstsein als Erklärungsprinzip Gebrauch
gemacht wird, wo auf dasselbe zu gunsten dunkler Instinkte
oder unbewufster Zweckmäfsigkeit oder der selbstgenug-
samen Verkettung blofs äufserer Geschehnisse verzichtet
wird ; wie das eine und das andere aus der allgemeinen
Weltanschauung hervorgeht; inwieweit endlich dem typischen
Erklärungsbedürfnis durch das eine oder das andere sowohl
prinzipiell wie besonderen Problemen gegenüber genügt wird.
- 20 —
Die psychologische Konstruktion, die für uns das Bild
geschichtlicher Persönlichkeiten bedingt, hat nun die be-
sondere Schwierigkeit: dafs der Historiker das Gesaratbild
einer Persönlichkeit nur aus ihren einzelnen Äufserungen
gewinnen, diese Einzelheiten aber nur aus einem schon zum
Grunde liegenden Gesamtbild der Persönlichkeit richtig
deuten und gruppieren kann. Wie sich dieser Zirkel in
der Praxis löst, liegt freilich nahe. Zunächst so, dafö an
irgend einem Punkt dogmatisch oder hypothetisch begonnen
werde und das Fortschreiten in der gleichen Richtung nun
durch die IVIöglichkeit oder Unmöglichkeit, alle weiteren
Einzelheiten in dem gleichen Sinne zu interpretieren, jene
erste Annahme bestätigt und zu relativer Gewifsheit bringt
oder umgekehrt zu ihrer Revision zwingt — einer der
häufigen Fälle geistiger Bewegungen, in denen zuerst die
Voraussetzung ihre Folgen, dann aber die Folgen ihre
Voraussetzung tragen. Weiterhin erleichtert sich das Pro-
blematische des Verhältnisses zwischen dem einzelnen Tun
und der Gesamtpersönlichkeit, durch die es gedeutet wird,
vermittels der Tatsache, dafs diese Deutungsmöglichkeiten
der einzelnen Handlung gegenüber in der Praxis keine
unbegrenzten sind. Schliefslich weist jede bestimmte Tat
nur auf einen bestimmten, endlichen Kreis charaktero-
logischer Wurzeln hin — der freilich genug einander aus-
schliefsende Gegensätze enthalten mag — und weist einen
andern erfahrungsgemäfs ab. Wenn eine Mehrheit von
Handlungen desselben Subjekts so auf eine Mehrheit teil-
weise sich deckender Motivkreise hindeutet, bleibt schliefs-
lich ein einziger Charakter, Gesinnung, Triebfeder übrig,
die ihnen allen gemeinsam ist und sich damit als die
einzig mögliche herausstellt. Diese Aushilfen des praktischen
Wissenschaftsbetriebes lassen aber die prinzipielle Schwierig-
keit unberührt, über die sie sich erheben und die in die
Metaphysik der Psychologie hinaufreicht.
Ein Zirkel liegt ja freilich für die Erkenntnis auch
zwischen dem äufseren und dem inneren Geschehen vor.
Alle wirkliche Kenntnis des Aufseren wird nur durch das
Innere, alle Kenntnis des Inneren aber nur durch seine
Dokumentierung im Aufseren gewonnen. Allein dies ist
ohne weiteres zu lösen, weil in dem einzelnen Falle jedes
— 21 —
der beiden Elemente für sich völlig bestimmt gegeben ist,
und das Erkennen sich in einer Wechselwirkung zwischen
ihnen bewegt. Ganz anders aber ist das Verhältnis zwischen
der Einzelbetätigung und dem Ganzen der menschlichen
Seele. Denn dieses Ganze — mag man es Charakter, Natur
des Individuums, Grundstimmung nennen — ist nur an jenem
Einzelnen gegeben, und aus ihm konstruierbar. Das innere
Leben zeigt doch einen völlig einreihigen Ablauf seiner
Momente, unter denen sich freilich die mannigfaltigsten
Kausalitäts- und Verähnlichungsverhältnisse knüpfen, jenseits
deren doch aber nicht eine immer gleich fliefsende Quelle,
aus der jene alle gespeist werden, als eigene Realität auf-
findbar wäre — wenigstens nicht auf rational-wissenschaft-
lichem Wege. Nur in der persönlichen Berührung oder in
der Intuition auf die Imponderabilien hin, die in der Über-
lieferung mitschweben, entsteht uns das Gefühl einer einheit-
lichen Seelenbeschaffenheit von Personen, die unterhalb oder
in allen ihren psychischen Vorgängen beharrte wie eine
Substanz im Wechsel ihrer Akzidenzen oder Schicksale.
Zu begründbarer Erkenntnis aber wird uns ein Charakter
nur als induktives Resultat seiner einzelnen Äufserungen,
oder richtiger: als der zusammenfassende Name für die
Wesentlichkeiten oder Gemeinsamkeiten dieser. Und dennoch
kann es damit nicht sein Bewenden haben ; sondern wir fühlen,
dafs dieser allein verstandesmäfsige Sinn des Charakters
die Hinweisung auf ein darüber hinausliegendes Reales
gibt, auf einen festen Punkt im Menschen, der sich nicht
in die Mannigfaltigkeit seines Wollens und Denkens auflöst,
sondern umgekehrt als der Zusammenhalt und die Deutung
dieses wirkt. Aber der Inhalt desselben wird eben nur
als Synonym für die Summe der sonst bekannt gewordenen
Einzelheiten gewonnen. Es liegt hier also der oft gerügte
Zirkel vor, der aus gegebenen Erscheinungen eine ver-
ursachende „Kraft" konstruiert, um aus dieser dann jene
zu „erklären". Und dennoch ist er hier unausweichlich. Die
seelischen Einzelheiten sind unzählige Male erst ganz zu
verstehen , einzuordnen , zu werten , wenn sie einem be-
stimmten „Charakter" entspringen — eben dem Charakter,
der nur aus diesen Einzelheiten zu erschliefsen ist. Dies
scheint zu den grundlegenden Zirkeln zu gehören, deren
22
Irrigkeit in den nach oben zu gelegenen und in blofsen
Singularitäten bestehenden Schichten unseres Erkennens
nicht hindert, dafs dessen fundamentale Bewegungen dieser
Form nicht entraten können ^).
Die charakterologische E i n h e i t gibt in formaler nicht
weniger als in inhaltlicher Hinsicht der Philosophie der
Historik sehr tiefgreifende Probleme auf. Dafs sie an Personen
■wie an Gruppen vorhanden ist, gehört zu den apriorischen
Voraussetzungen jeder Geschichtsforschung. Wir verstehen
unter ihr, zunächst für den Einzelmenschen, dafs seine Hand-
lungen und Vorstellungen so beschaffen sind, als ob sie die
Hervorbringungen eines numerisch einfachen Seelenwesens
wären, das auch nur soweit veränderlich ist, wie organisches
Wachstum und Verfall es bedingen. Da dieses nun aber
ein blofses x ist, von dem wir weiter nichts aussagen können,
so bedeutet die Einheitlichkeit des Wesens, dafs wir die
Vorstellungen des Menschen aufeinander zurückführen und
auseinander erklären können. Dafür bedarf es gewisser
Prinzipien, deren Herrschaft uns die Einheit der Persönlich-
keit darstellt, welche unmittelbar nicht wahrgenommen
werden kann. Wenn wir also die Einheit der Persönlichkeit
darin sehen, dafs ein Mensch, dessen Leben durch schweres
Unglück verbittert ist, auch in der Welt aufser ihm nur
Leiden und Dissonanzen sieht, wenn wir sagen, es sei der-
selbe Zug, infolgedessen er vielleicht für sich selbst stets
neues Unglück fürchtet und seinen Mitmenschen das Leben
schwer macht, so kennen wir eben psychologische Regeln,
vermöge deren uns einer dieser Vorgänge auf den anderen
genetisch zurückführbar erscheint. Diese Synthesen sind
nicht verständlich, weil sie einheitlich sind, sondern wir
nennen sie einheitlich, weil sie verständlich sind, und als
verständlich erscheinen sie uns nur, weil wir gewöhnt sind,
sie zu beobachten. Deshalb stört es auch die Einheit der
Persönlichkeit nicht, wenn man neben eigenem Leid gerade
das Bestreben, andere glücklich zu machen erblickt, oder
neben demselben gewissermafsen zum Ersatz ein theoretischer
Optimismus auftaucht, wie es oft bei körperlich mifsratenen
') Die Beiego hierfür enthält meine „Philosophie des Geldes".
1 Kap. III. Abschn.
— 23 —
Individuen der Fall ist. Die Einheit der Persönlichkeit
scheint uns bei einem Geizigen ebenso gewahrt, wenn er
das Erworbene um keiner Zukunftschance willen aus Händen
gibt, wie wenn er es mit vollen Händen wegwirft, sobald
er wucherischen Gewinn dafür erhofft. Die Erscheinungen
an und für sich und ihrem Inhalt nach entscheiden also
noch nicht darüber, ob sie eine Einheit bilden, sondern nur
dies, ob man auf irgendwelche bekannten Regeln hin eine
Kausalverbindung zwischen ihnen entdecken kann.
Und während in diesen Beispielen der gleiche Grundzug
nur durch das Mafs und die Richtung seiner Erstreckung
durch die Schichten der gegebenen Umwelt entgegengesetzte
Erscheinungen hervorbringt, bezeichnen wir sogar ganz
prinzipielle und formale Entgegengesetztheiten des Verhaltens
gleichmäfsig als Einheit der Persönlichkeit: wer in den
mannigfaltigsten Lagen sich immer als einer und derselbe
bewährt, in allem Licht- und Schattenwechsel des Lebens
sozusagen immer dasselbe Gesicht zeigt, ist uns nicht „ein-
heitlicher", als der rasch Angepafste und sensibel Reagierende,
der verschiedenen Ansprüchen und Reizen gegenüber immer
ein Verschiedener zu sein scheint; denn er verhält sich doch
wie der Faktor einer Rechnung, der, immer als der identische
beharrend , bei dem Wechsel der übrigen Faktoren ein
wechselndes Resultat ergeben raufs. Ersichtlich wird jenes
erstere Verhalten ganz andere Erscheinungen zu einer gleich
strengen „Einheit" der Persönlichkeit verknüpfen und da-
durch gegenseitig begreiflich machen als dieses letztere.
Der Schlufs also, der bei gewissen gegebenen Handlungs-
weisen einer Person auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit
anderer gezogen wird, ist nie ein unmittelbar logischer,
sondern hängt von einer realen psychologischen Erfahrung
als Obersatz ab. Welchen Einflufs dies und die Erweiterung
davon auf Perioden und Gruppen, auf die Konstruktion des
historischen Verlaufs, auf die Deutung der Einzeltatsachen,
auf die Ergänzung der Überlieferung, auf die Kritik der-
selben ausübt, bedai'f nur der Andeutung. Es wäre nun
die wichtigste Aufgabe für die Philosophie der Historik,
jene einzelnen Normen festzustellen, die wir auf Grund der
„Einheitlichkeit" der Charaktere zu Kriterien der Über-
lieferung und Vehikeln der Darstellung machen, und die, nach-
— 24 —
dem einmal eine bestimmte Tatsache und ihr seelischer Wert
gesetzt ist, von diesen aus ein präjudizierendes Schema für
das entwirft, was künftighin im Bilde dieser Persönlichkeit als
wahrscheinlich und was als unwahrscheinlich zu gelten hat;
die Latitüde, innerhalb deren wir abweichende Handlungen
dennoch für möglich erklären ; die Entwicklungen und Ab-
änderungen, die wir als selbstverständlich, aus dem inneren
Prinzip der Persönlichkeit folgend, annehmen und diejenigen,
bei denen wir eine Erklärung in den äufseren Umständen
meinen suchen zu müssen. Denn zweifellos gibt es sehr
bestimmte Regulative dieser Art, nach denen verfahren wird,
die zwischen dem Historiker und seinem Leser stillschweigend
vorausgesetzt werden, an deren bewufster Konstatierung es
aber noch mangelt.
Besonderer Natur sind die ]\Iittel, durch die die seelische
Einheit einer Gruppe Avissenschaftlich behandelbar wird;
wobei nur diejenige Einheit gemeint ist, von der die
praktische Geschichtsschreibung fortwährenden Gebrauch
macht, ohne die dornige Frage anzurühren, ob sie ein Sonder-
gebilde jenseits der Individuen oder die blofse Summe dieser
ist. Wenn man die Charakterzüge oder Leidenschaften,
die Stimmungen oder Tendenzen ganzer Gruppen schildert,
so sind doch in Wirklichkeit diese psychischen Daten nie-
mals an allen Mitgliedern der Gruppe festgestellt. Viel-
mehr nur an gewissen einzelnen können sie bemerkt und
überliefert Averden, und aus diesen formt man eine einheit-
liche Totalität, in die auch die nicht in die Bemerkbarkeit
tretenden, vielleicht dissentierenden, vielleicht individuell
den Vorgang modifizierenden, ohne weiteres eingeschlossen
werden. Ich wähle aufs Geratewohl Stellen aus Mommsens
Römischer Geschichte: „Ein Schrei der Entrüstung ging
durch ganz Italien." II, 145. Marius zeigte sich „als einen
Feldherren, der den Soldaten in Zucht und doch bei
guter Laune erhielt und zugleich im kameradschaftlichen
Verkehr seine Liebe gewann". II, 102. Die Aristokratie
— „gab sich nicht die mindeste Mühe, ihre Besorgnis und
ihren Ingrimm zu verhehlen". III, 190. „Die Parteien
atmeten auf." III, 193. Und aus Burckhardts Kultur der
Renaissance: „Mit einer grauenerregenden Naivität gesteht
Florenz von jeher seine guelfische Sympathie für die
Franzosen ein." I, 89. „In schrecklichen Augenblicken
erwacht hier und da die Glut der mittelalterlichen Bufse,
und das geängstigte Volk will mit Geifselungen und lautem
Geschrei um Barmherzigkeit den Himmel erweichen," II, 232.
Die Prinzipien , nach denen die Historik hier unbewufst
verfährt, hat ihre Erkenntnistheorie aufzusuchen: ob die
Einheit einer Gruppe nach den seelischen Vorgängen in
ihren Führern konstruiert wird, oder nach einem Durch-
schnittstypus oder nach der Majorität ; welche Zahl vielleicht
oder sicher anders Denkender als quantite negligeable gelten
darf; inwieweit Enge oder Lockerheit des funktionellen Zu-
sammenhanges der Gruppe gestatten oder verbieten, das
unvollständig Gegebene als das Pfand für die einheitliche
Stimmung des Ganzen anzusehen. Wie dem obigen gemäfs
die individuelle Seele, so wird hier die - — kurz gesagt —
Sozialseele von vornherein als eine derart einheitliche
vorausgesetzt, dafs die Fragmente, die allein bekannt sind,
den Schlufs auf die gleiche Beschaffenheit des Nicht-
Bekannten zulassen. Wie sehr es sich hier aber oft um
eine Konstruktion handelt, die nicht nur Unbekanntes
hypothetisch aus der vorausgesetzten Einheit ergänzt, sondern
der mit Sicherheit keine geschichtlich-reale Einheit ent-
spricht, zeigt z, B. Macaulay bei der Angabe, er habe sein
Bild of the temper of political and religious parties ge-
wonnen not from any single work, but from thousands
of forgotten tracts, sermons and satires. In diesem Zu-
sammenhang führt er etwa zehn Argumente an, welche die
Whigs zur Annahme einer Bill bestimmt hätten. Es ist nun
äufserst Avahrscheinlich, dafs im Bewufstsein keines einzigen
Mitgliedes der Partei alle diese gleichzeitig und mit der
gleichen Kraft wirksam waren. Vielmehr ist „die Partei",
deren psychische Einheit diese Motive produziert hat, ein
blofs ideelles Gebilde, eine Fiktion, im Kopfe des Historikers
erwachsen als Synthese zerstreut gelegener Realitäten. Sie
kommt auf dieselbe Weise zustande, wie auch die cha-
rakterologische „Einheit" der individuellen Seele. Die in-
haltliche Verwandtschaft von Vorgängen, die durch einen
gewissen äufseren Rahmen zusammengehalten werden, ihre
funktionellen Beziehungen, die Möglichkeit ihrer teleolo-
gischen Anordnung — alles dies bewirkt die Projektion
— 20 —
auf eine bestimmt charakterisierte Einheit, die nun von
sich aus entscheidet, ob der Anspruch weiterer Momente
auf Zugehörigkeit zu ihr anerkannt werden kann oder ab-
gewiesen werden mufs. Die reine Idealität und blofs
methodologische Genesis aber, die diese Einheit mindestens
in dem einen Typus von Fällen zeigt, machen es wahr-
scheinlich, dafs auch in den anderen wohl Bedürfnisse des
Erkennens zu ihrer Kreierung mitwirken werden, die über
die blofs psychologische Beobachtung, über die blofse Ana-
logie zu dem Ichbewufstsein des erkennenden Subjektes
hinausweisen. Dafs jene psychologische Möglichkeit be-
nutzt wird, hängt erst von höheren Notwendigkeiten der
Erkenntnis ab. Der seelische Zusammenhang, das Mafs
des Abweichungsspielraums, die Ergänzung der mannig-
faltigen Momente zu einem Gesamtbild, kurz das, was wir
die Einheit der Persönlichkeit nennen, ist offenbar eine
methodische Voraussetzung, ohne die es zu der Verständ-
lichkeit und Anordnungseinheit historischer Daten nicht
käme. Sie ist ein Apriori, das Geschichte erst möglich
macht. Die Frage freilich, die Kant für die Aprioritäten
der Natur dahin beantwortet, dafs der Verstand sie dieser
vorschreibt, ohne dafs sie in dem Gegebenen an und für
sich ein Gegenbild fänden, ist hier nicht so scharf und
prinzipienmäfsig zu entscheiden. Die geschichtliche Er-
kenntnis findet ihr Material : das momentane Geschehen als
solches, die rein sachlich -zeitlose Bedeutung des Er-
lebten, das subjektive Bewufstsein der Handelnden — als
eine Art Halbprodukt vor, an dem bereits apriorische
Formen der Auffassung wirksam geworden sind. Die
Kategorien, durch welche aus diesem Stoff Geschichte wird,
bestehen an ihm schon in Ansätzen oder in modifizierten
Verwendungsweisen, sie treten ihm nicht mit solcher Ent-
schiedenheit gegenüber, wie die Kategorie der Kausalität der
blofs zeitlichen Folge. So wenig also — alles Spätere wird
dies zeigen — die Geschichte als Wissenschaft eine, auch nur
der Absicht und dem Prinzip nach gleichartige Reproduktion
des Geschehens ist, so werden doch die Kategorien, deren
Anwendung eben diesen Unterschied stiftet, in dem Material
häufiger ein Gegen bild finden, als die Verstandeskategorien
in dem Sinnenstoff, das Bedürfnis der Historik wird oft
nur eine Steigerung, Systematisierung, logische Vollendung
dessen fordern, was auch das historisch unbearbeitete Objekt
schon enthält. So wird zwischen der Einheit der Persön-
lichkeiten und Gruppen, die eine methodische Form der
Historik zur Bewältigung des Geschehens und insofern
etwas im transszendentalen Sinne Subjektives ist, und der
realen, gelebten, psychologischen Einheit oft, vielleicht immer
ein gleitender Übergang bestehen. Aber diese im begriff-
lichen Inhalte der historischen Kategorien existierende
Verwandtschaft mit dem vorhistorischen Materiale — die
zuzugebende Folge der in ihrer Bedeutung sonst so oft
falsch gedeuteten Tatsache, dafs Subjekt und Objekt der
Historik gleichen, nämlich seelischen Wesens sind — darf
nicht über die generelle Sonderung beider täuschen, nicht
darüber, dafs die Historik von sich aus, ihren eigenen
Lebensbedingungen gemäfs, ihren Stoff in Formen bringt,
die nur auf ihrem Boden gewachsen sind. —
Wenn nun eine geistige — bewufste oder unbewufste —
Begründung der Ereignisse vorausgesetzt wird, gibt die
Besonderung ihrer Inhalte weitere erkenntnistheoretische
Probleme auf Zunächst handelt es sich auch für diese
um eine sehr allgemeine Voraussetzung. Ob die psycho-
logischen Verbindungsglieder, die der Historiker an die
Ereignisse heranbringt, objektiv wahr sind, d. h. wirklich
die seelischen Akte der handelnden Personen nachzeichnen,
würde kein Interesse für uns haben, wenn wir diese Vor-
gänge ihren Inhalten und ihrem Verlaufe nach nicht ver-
stünden. Fände dies nicht statt, so könnte jene Pich tig-
keit durch irgend welche Mittel erreicht sein — wie sie
etwa in einigen Fällen nicht der psychologischen Nach-
konstruktion durch den Historiker zu bedürfen, sondern
durch Aufserungen und Konfessionen der Persönlichkeiten
unmittelbar gegeben zu sein scheint — und wir würden
ihr dennoch nicht zusprechen, was wir Wahrheit nennen.
Was aber bedeutet dieses Verstehen und was sind seine
Bedingungen"? — Die erste derselben ist offenbar, dafs jene
Bewufstseinsakte in uns nachgebildet werden, dafs wir uns,
wie man sagt, „in die Seele der Personen versetzen" können.
Das Verstehen eines ausgesprochenen Satzes besagt, dafs
die Seelenvorgänge des Sprechenden, die in die Worte aus-
— 28 —
liefen, durch eben diese auch im Hörer erregt werden; so-
bald eine wesentliche Differenz zwischen den Vorstellungen
beider Personen stattfindet, ist das von einem zum anderen
gehende Wort entweder mifsverstanden oder unverstanden.
Ein derartig direktes Nachbilden findet indes nur statt und
genügt nur, wo es sich um theoretische Denkinhalte handelt,
bei denen es nicht wesentlich ist, dafs sie als Vorstellungen
gerade dieses Individuums ihren Ausgangspunkt nehmen,
sondern die vielmehr sachliche Inhalte in logischer Form
jedem gleichmäfsig darbieten. Bei objektiven Erkenntnissen
verhalte ich mich zum Gegenstande des Erkennens genau
so wie derjenige, dessen Vorstellungen darüber ich ., ver-
stehe", er vermittelt mir nur deren Inhalt und wird nachher
sozusagen wieder ausgeschaltet — der Inhalt besteht fürder-
hin in meinem Denken parallel mit dem seinigen und ohne
von dem Ursprung aus diesem letzteren eine Umbiegung
oder Modifizierung zurückzubehalten. In diesem Fall trifft
der Ausdruck, dafs ich den Sprechenden verstehe, den
Sachverhalt nicht völlig : ich verstehe eigentlich nicht
den Sprechenden, sondern das Gesprochene. Dies ändert
sieh sogleich, sobald jener zu seiner Aufserung durch eine
persönliche Absicht, durch Voreingenommenheit oder Ärger,
durch Ängstlichkeit oder Spottlust getrieben ist. Indem
wir diese Motive der Aufserung erkennen, haben wir sie
noch in einem ganz anderen Sinne als durch das Begreifen
ihres Sachgehaltes „verstanden" : jetzt erst bezieht dieses
sich nicht nur auf das Gesprochene, sondern auf den
Sprechenden. Diese Art des Verstehens aber und nicht die
erstere kommt historischen Persönlichkeiten gegenüber in
Frage. Und bei ihr bedeutet das „Nachbilden" offenbar
etwas anderes als jenes, nämlich keineswegs ein unver-
ändertes Wiederholen des Bewufstseinsinhaltes der Personen.
Wir behaupten doch jede Art und jeden Grad von Liebe
und Hafs, Mut und Verzweiflung, Wollen und Fühlen
zu verstehen, ohne dafs die Äufserungen, auf die hin das
Bild solcher Affekte in uns entsteht, uns in die gleiche
Befangenheit in ihnen versetzten. Dennoch setzt ersichtlich
derjenige Seelenprozefs, den wir das Begreifen ihrer nennen,
eine psychologische Umformung, eine Verdichtung oder auch
abgeblafste Spiegelung ihrer voraus; irgendwie mufs in ihm
- 29 —
ihr Inhalt enthalten sein. Wenn es die Aufgabe der Ge-
schichte ist, nicht nur Erkanntes zu erkennen, sondern
auch Gewolltes und Gefühltes, so ist diese Aufgabe nur
lösbar, indem in irgendeinem Modus psychischer Umsetzung
das Gewollte mitgewollt, das Gefühlte mitgefühlt wird.
Denn sonst würde nicht ihr irgendwann vorhergegangenes
reales Empfundensein die Bedingung bilden, unter der allein
das eintritt, was wir ihr Verständnis nennen. Wer nie ge-
liebt hat, wird den Liebenden nie verstehen, der Choleriker
nie den Phlegmatiker, der Schwächling nie den Helden,
aber auch der Held nicht den Schwächling ; und umgekehrt
spricht unser Verständnis der Bewegungen , Mienen und
Handlungen Anderer um so leichter an, je öfter wir selbst
die Affekte durchempfunden haben, für die jene das Symbol
sind, und zwar in demselben Mafse leichter oder schwerer,
in dem unsere augenblickliche innere Lage zu ähnlichen
oder zu abliegenden Empfindungen disponiert und also die
psychologische Reproduktion erleichtert oder erschwert.
In irgend einer Umbildung ist also doch die Wiederholung
der im Anderen vorgehenden Bewufstseinsakte mit dem Ver-
ständnis seiner verbunden und für dasselbe unentbehrlich.
Das letzte Motiv, das die Art dieser Umbildung be-
stimmt, ist wohl, dafs die von dem Erkennenden irgendwie
erlebten Gedanken, Gefühle, Strebungen, jetzt eben nicht
als seine eigenen, sondern als die eines anderen, eines Nicht-
Ich vorgestellt werden ; dafs die in dem historischen wie in
jedem psychologischen Verständnis sich erzeugenden Be-
wufstseinsgebilde von ihrer Wurzel im Ich gelöst und einem
anderen Ich aufgepfropft werden. Dies ist eine eigentüm-
liche Komplikation der Tatsache, dafs uns auch inbezug auf
menschliches Sein unsere Erkenntnisobjekte nicht in ihrem
An-Sich, sondern als Erscheinungen gegeben sind. Die
erkenntnistheoretischen Folgen hiervon hat man freilich in
Abrede gestellt. In ganz anderer Weise, ist gesagt worden,
sei uns die Geschichte zugänglich, wie die Natur. Der Unter-
schied zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich habe, wo beides
Seelen wären, einen völlig anderen Sinn als sonst; denn
beide seien nur numerisch, nicht generell verschieden, und
wenn kein Geist ins Innere der Natur dringen könne, so
doch in das eines anderen Geistes, den er völlig adäquat
— 30 —
in sich abzuspiegeln vermöge. Auf einem so leichten Pfeiler
läfst sich indes noch keine Brücke über die Kluft zwischen
dem Ich und dem Kicht-Ich schlagen. Die generelle Gleich-
heit beider hebt zunächst die Notwendigkeit davon nicht
auf, dafs allerhand Veräufserlichungen, Umsetzungen und
Symbolisierungen zwischen ihnen vermitteln. Eine eigent-
liche Abspiegelung, ein unmittelbares, aus der Wesens-
gleichheit folgendes Verständnis wäre Gedankenlesen und
Telepathie, oder setzte eine prästabilierte Harmonie voraus.
Vielmehr, das Erkennen selbst eines geistigen Vorganges
ist doch auch seinerseits ein Prozefs, der nur angeregt
werden kann und schliefslich von dem Subjekt selbst voll-
zogen werden mufs. Allein dies würde schliefslich die
sachliche Parallelität nur aus einer direkten in eine in-
direkte verwandeln ; schliefslich könnte sich trotz aller
nötigen Umwege doch ein Seelenvorgang so genau in einer
anderen Seele abspiegeln, wie die Worte, die dem Tele-
graphenapparat anvertraut werden, sich an dem der anderen
Station reproduzieren, wenngleich dasjenige, was dazwischen
liegt und sie trägt, ihnen völlig heterogene Vorgänge sind.
Allein die sehr viel tiefer liegende Schwierigkeit ist die,
dafs die so produzierten Vorgänge in mir doch zugleich
nicht die meinigen sind, dafs ich sie als historische, obgleich
ich sie vorstelle und sie also meine Vorstellungen sind, als
die eines anderen denke.
Es genügt auch nicht, wenn wir einen anderen erkennen
wollen , dafs wir seine Seelenvorgänge in uns selbst nach-
bilden und uns dazu sagen: aber nicht ich, sondern jener
empfindet so! Denn erstens empfinde ich doch nach der
Voraussetzung tatsächlich so, und jener Zusatz kann auch
nicht nachträglich zu dem Inhalt gemacht werden, wo-
bei dann beides gegeneinander isoliert bliebe, sondern er
mufs jenen Inhalt durchdringen, ihn unmittelbar als sein
Exponent begleiten. Dieses Emi)finden dessen, was ich
' doch eigentlich nicht empfinde, dieses Nachbilden einer
Subjektivität, das doch nur wieder in einer Subjektivität
möglich ist, die aber zugleich jener objektiv gegenüber-
steht — das ist das Rätsel des historischen Erkennens,
dessen Verständnis man bisher noch kaum unseren logischen
und psychologischen Kategorien abzugewinnen versucht hat.
— 31 —
Gewifs ist in diesem Erkennen beides enthalten : das eigene
Vollziehen des fraglichen Aktes und das Bewufstsein, dafs
er an Anderen vorgegangen ist; allein dies ist nur eine
nachträgliche Zerlegung in Elemente, von deren ßesonderung
der historische Erkenntnisprozefs selbst kein Bewufstsein
aufweist. Es handelt sich hier doch nicht um ein nach-
trägliches Zusammenbringen von Bestandteilen, die vorher
getrennt existieren, so wenig wie in der Anschauung der
äufseren Welt die Sinnesempfindung und die Raumanschauung
gesondert vorhanden sind und sich dann zu jener zusamraen-
schliefsen. Die Projizierung eines Vorstellens und Fühlens
auf die historische Persönlichkeit ist ein einheitlicher Akt,
dessen Vorbedingung allerdings ist, dafs ich die fraglichen
psychischen Vorgänge in meinem subjektiven Leben er-
fahren habe. Allein indem sie jetzt als Vorstellungen eines
anderen reproduziert werden, erfahren sie eine psychische
Umformung, die sie von dem eigenen subjektiven Erlebnis
der erkennenden Persönlichkeit ebenso abhebt, wie sie von
dem der erkannten Persönlichkeit abgehoben sind. Wenn
also diese beiden letzteren selbst generell tibereinstimmen,
wenn auch Liebe und Hafs, Denken und Wollen, Lust und
Schmerz als persönliche Ereignisse in der Seele des Er-
kennenden ebendiesen in der Seele des Erkannten genau
wesensgleich waren, so bildet doch nicht dieses unmittelbar
Gleiche die historische Erkenntnis, sondern jener durch die
Projizierung auf einen Anderen umgeformte Vorstellungs-
prozefs.
Die seelische Nachbildung, die die äufseren Ereignisse
psychologisch legitimiert, erfolgt innerhalb einer Kategorie,
gleichsam in einem Aggregatzustand des Vorstellens,
dem die Erkenntnistheorie noch nicht die genügende
Aufmerksamkeit geschenkt hat. Gewisse Vorstellungs-7 j^x». 5.
Verbindungen nämlich werden in uns von dem Gefühl be- ,"'
gleitet, dafs nicht nur die Zufälligkeit und Momentaneität '. : '
des subjektiven Seelenlebens sie vollzieht, sondern dafs sie
typische Gültigkeit haben, dafs die eine Vorstellung von
sich aus Anweisung auf ihr Verbundensein mit der anderen
gibt, unabhängig von der augenblicklichen Seelenlage, die
diese innere Relation der Vorstellungen im Subjekte ver-
wirklicht. Damit ist durchaus nicht die Wahrheitsbedeutung
— 32 —
dieser Vorstellungen gemeint, nicht, dafs ihr Inhalt objektiv-
gültig ist, gleichviel ob wir ihn vorstellen oder nicht. Um
diese übersubjektive Notwendigkeit, die sich jenseits der
psychologischen überhaupt hält, handelt es sich hier nicht,
sondern um eine Überpersonalität der psychologischen
Zusammenhänge selbst, die nur jenseits ihrer Realisierung
in einem einzelnen Bewufstsein steht. Es gibt eben Fälle,
in denen das rein seelische Verbundensein von Vorstellungen
denselben Norracharakter, dieselbe innerlich notwendige und
deshalb übersinguläre Gültigkeit besitzt, wie es bei den auf
Erkenntnis gerichteten Vorstellungen der logische, sachliche
Zusammenhang ihrer Inhalte aufweist. Mit der sogenannten
psychologischen Gesetzmäfsigkeit ist dies freilich verwandt,
aber nur im zweiten Grade und ohne an den Fragwürdig-
keiten teilzuhaben, die den Begriff des psychologischen Ge-
setzes in dem jetzigen Wissensstadium umgeben. Die
Allgemeingültigkeit ist hier vielmehr eine psychologische
Qualität der Vorstellungsweisen selbst, unmittelbar als ein
mit ihnen wie ein Oberton mitschwebendes Gefühl gegeben;
sie kann deshalb bei den einzelnen Individuen ganz ver-
schiedene Vorstellungen begleiten, auch für das einzelne
Individuum diese gelegentlich wechseln, aber da sie sozu-
sagen nur der Ausdruck für einen inneren Charakterzug
der Bewufstseinsakte ist, so entzieht sie sich ebenso der
objektiven Bestätigung wie Widerlegung.
Diese Art der psychologischen Notwendigkeit begleitet
die Vorstellungen, mit denen wir geschichtliche Persönlich-
keiten rekonstruieren oder vielmehr, sie sind eben dann
rekonstruiert, wenn das Bild ihrer seelischen Zustände und
Bewegungen diese Begleitung erworben hat. Dabei können
sie ihrem Inhalt nach völlig individuell und einzig sein.
Wer auf die äufseren Handlungen von Themistokles oder
Moritz von Sachsen hin sich ein Bild ihres Charakters
formt, oder die innere Reihe der Impulse, Vorstellungen,
Gefühle herstellt, durch die jene zusammengehalten und
verständlich werden — der vollzieht diese psychologische
Konstruktion mit einem Gefühl von Notwendigkeit, er
unterscheidet sie, obgleich sie jetzt nur in ihm vorgehen
und von keiner sachlichen Gesetzmäfsigkeit legitimiert
werden, sehr genau von anderen Vorstellungsverbindungen,
— 33 —
die auch als seelische Tatsache in ihm auftreten, die er aber
sozusagen niemandem imputieren kann. Dies Gefühl der
psychologischen Wahrscheinlichkeit mag sich erst nach
mannigfachen Abwägungen einstellen, es mag sich auch
nicht immer für eine der möglichen seelischen Konstella-
tionen mit voller Sicherheit entscheiden; aber soweit es
eben besteht, bildet es das Kriterium, ob ein innerlich auf-
wachsendes seelisches Gebilde auch objektiv gelten soll,
d, h. ob wir es ihm zusprechen, die psychische Lage eines
dritten darzustellen. Zu diesem letzteren Resultat führen
an sich noch nicht Erfahrungen, Erwägungen, psychologische
Regelmäfsigkeiten ; solche vielmehr bilden nur eine Vorstufe,
auf die hin jenes unmittelbar überzeugende Gefühl der
seelischen Lebenswahrheit eintritt, wie wir es auch gegen-
über dem Gedicht oder dem Porträt haben, ohne dafs
doch auch diese ihre Überzeugungskraft theoretisch aus-
drückbaren Erkenntnissen verdankten. Diese mögen vor-
handen sein, sie mögen die Basis auch jenes Gefühls bilden:
ersetzen können sie es nicht, es bleibt immer ein un-
erzwingbares, qualitativ eigenartiges Gebilde, gleichsam der
Kristallisationspunkt, an dem die einzelnen psychischen
Elemente zusammenschiefsen und so, durch überzeugend
nachgefühlte Kräfte untereinander verbunden, die Einheit
einer Persönlichkeit ergeben. Die Färbung derselben kann,
wie gesagt, völlig unvergleichlich sein. Wenn wir so kom-
plizierte und widerspruchsvolle Naturen wie Themistokles
oder Moritz von Sachsen zu verstehen meinen, so denken
wir doch nicht ihre einzelnen Züge und ein mechanisches
Zusammen dieser; sondern wir fühlen sie in ihrem funk-
tionellen Verbundensein zur Einheit der Person. Diese
Einheit hat, so heterogen ihre Elemente logisch erscheinen
mögen, eine Festigkeit, die oft einem scheinbar ähnlichen
Nebeneinander von seelischen Elementen fehlt und hier auf
einmal eine, aus diesen einzelnen nicht deduzierbare Not-
wendigkeit gewinnt. Diese ist nicht aus einem darüber
stehenden Gesetze abgeleitet, sondern etwa der Einheit ver-
gleichbar, die Lionardo in dem seelischen Reichtum der
Gioconda erblickt, oder zu der Goethe die polare Spannung
unserer Gefühlsmöglichkeiten im „Gesang der Geister über
den Wassern" zusammengefafst hat.
Simmel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 3
— 34 —
Diese Konstruierbarkeit psychischer Zusammenhänge,
die von dem unmittelbaren Gefühl der Bündigkeit begleitet
wird und damit die einzige Möglichkeit bietet, das von
Seelen getragene historische Geschehen zu verstehen —
bedeutet eine völlig eigenartige Synthese der Kategorie des
Allgemeinen und Notwendigen mit der des schlechthin In-
dividuellen; oder vielmehr, genau gesprochen, steht sie
jenseits dieses Gegensatzes, der bisher jeden Erkenntnisweg
vor ein korapromifsloses Entweder-Oder stellte. Die charakte-
ristische Verbindung von Impulsen, Stimmungen, Vor-
stellungen, die das Erkenntnisbild einer historischen Per-
sönlichkeit ausmacht, würden wir nicht anerkennen, auf sie
nicht projizieren können, wenn diese Elemente nicht eine
auch ohne Rücksicht auf diese historische Verwirklichung
verständliche, an sich plausible Reihe und Einheit bildeten.
Gewifs kommt sie so nur ein einziges Mal vor; allein auch
dieses eine Mal würde sie — als verständliche — nicht vor-
kommen können, wenn sie nicht einen zeitlos, d. h. hier,
aus der psychologischen Bedeutung und Rolle der Elemente
begreiflichen und nachzuformenden Zusammenhang bildete.
Es ist nicht der Sachgehalt des Psychologischen, sondern
das Psychologische als Sachgehalt selbst, was hier, sozusagen
nach der eigenen Logik der Seelenvorgänge, die gültige, als
notwendig gefühlte Zusammenordnung bildet, und so erst
die Darstellung jener Einzelerscheinung legitimiert, ohne
freilich aufserhalb dieser noch ein zweites Beispiel innerhalb
der Realität zu besitzen. Jener Dualismus des Allgemeinen
und des Individuellen berührt also die hier aufkommende
Erkenntniskategorie garnicht. Die Nachbildbarkeit und
der von aller Einzelverwirklichung in seiner Gültigkeit un-
abhängige Zusammenhang der psychischen Werte geben ihr
die Bedeutung eines schlechthin Allgemein-Gesetzlichen, und
dennoch ist sie kein solches, sondern gleich von vornherein
ist jener Zusammenhang als ein historisch einmaliger gedacht.
Dies aber nicht in dem Sinne, in dem auch jede physische
Erscheinung genau genommen eine einmalige, in absoluter
Realität niemals wiederholte ist; denn diese Einzigkeit ist
hier doch nur die UnUbersehbarkeit der in ihr zusammen-
strömenden allgemeinen Gesetzlichkeiten. Vielmehr ist dort
das Ganze aus einem Einzigkeitspunkte heraus entwickelt
— 35 -
und untersteht dem Begriff der historischen Persön-
lichkeit, d. h. einer solchen, die durch ihre räumliche
und zeitliche Bestimmtheit, ihre Beschaffenheit, ihre ge-
schichtlichen Folgen wie durch ein Koordinatensystem in
eine absolute Einmaligkeit festgelegt ist. Der innere
Grund dieses letzteren Unterschiedes liegt in der Einheit
der persönlichen Seele. Eine noch so unwiederholte Er-
scheinung, zusammengebaut aus Elementen, deren jedes
für sich durch je ein allgemeines Gesetz bestimmt ist,
erscheint uns nicht als ein schlechthin individuelles Ge-
bilde; denn ihre Einzigkeit liegt sozusagen nicht in ihr,
sondern nur in der Form, zu der jene Elemente sich äufser-
lich zusammengefunden haben. Erst wenn ein einheit-
liches Gebilde einzig ist, d. h. wo die Einzigkeit nicht ein
formales und durch den Vergleich mit anderem zugewachsenes
Akzidenz, sondern eine spezifische, innere, vom Zentrum des
Ganzen getragene Qualität ist, — erst da en'iteht das
Bedürfnis , der Rätselhaftigkeit und Unzugängigkeit der
Individualität gegenüber diejenige Beziehung zum
Ganzen, Begreiflichkeit, Einrangierung, zu gewinnen, die
jenen anderen Erscheinungen die Reduzierung auf die all-
gemeine Gesetzlichkeit der Elemente leistet. Und dies
eben scheint nur durch den psychisch-bündigen Zusammen-
hang der Persönlichkeitszüge — wie die überzeugende Nach-
fühlbarkeit sie gewährleistet — gegeben. Denn so gewinnt
dieser Zusammenhang, dieses Persönlichkeitsbild, eine so-
zusagen anonyme Gültigkeit, eine innere, nicht an den
Namen der Person gebundene, die dennoch von vornherein
das Cachet der historischen Individualität, d. h. der einmaligen
Wirklichkeit trägt.
Diese Kategorie des objektiven , aber nur durch sub-
jektives Nachfühlen konstruierbaren Zusammenhanges sub-
jektiv-persönlicher Seelenelemente steht, wie über dem
Gegensatz des Allgemeinen und des Individuellen, so auch
über dem von Ursache und Grund. Die reale Verursachung,
die die psychische Erscheinung B an die andere A knüpft,
ist uns entweder überhaupt nicht erkennbar oder nur in der
Form eines allgemeinen psychologischen Gesetzes. Im er-
kenntnistheoretischen Interesse trennen wir den Inhalt, die
begriffliche Bedeutung seelischer Vorgänge von diesen Vor-
3*
-Be-
gangen selbst als einem blofsen dynamischen Geschehen.
Nur innerhalb dieses letzteren herrschen unmittelbar die
natürlichen Energien und ihre kausale Notwendigkeit. Der
Inhalt, als der die Prozesse sich unserem Bewufstsein
kundgeben, ist gleichsam nur die P^rscheinung derselben,
das Zeichen, an dem wir den Verlauf des Prozesses erkennen,
und das wahrscheinlich bei ganz verschiedenen realen Grund -
Vorgängen sich als das Gleiche ergeben kann. Die Aufgabe
der Psychologie ist, diese Dynamik der seelischen Ereignisse,
für deren Erkenntnis unmittelbar nur ein Symbol: ihr
logisch ausdrückbarer Inhalt, zur Verfügung steht, zu ent-
hüllen, bis sie, in ihrer idealen Vollendung, mit Hilfe all-
gemeiner Gesetze die realen Konsequenzen aus jeder ge-
gebenen seelischen Situation entwickeln könnte. Von dieser
Herleitung der Vorstellungen aus der Ursächlichkeit
psycho-mechanischen Geschehens unterscheidet sich aufs
schärfste die aus Gründen, die auf den logischen Be-
ziehungen ihrer Inhalte beruht. Wir begreifen, dafs sich
auf gegebene Prämissen hin der Schlufssatz einstellt, bei
gewolltem Zwecke die Bestrebung auf die sachlich erforder-
lichen Mittel, bei gewissen organischen Trieben das Gefühls-
interesse für ein Subjekt, das ihnen genug tue. Hier fragen
wir nun nicht nach dem Prozesse, der das eine Glied trüge,
und aus dem mit naturgesetzlicher Kausalität das nächste,
der reale Träger des nächsten Inhaltes, hervorginge. Wir
geben vielmehr zu, dafs diese Konsequenz nicht psychologisch
notwendig einzutreten braucht, dafs der natürlich-tatsächliche
Verlauf des inneren Geschehens vielmehr auch zu einer
anderen führen kann. Wenn sie aber eintritt, so verstehen
wir dies aus der logischen Beziehung der Inhalte, die
gleichsam zeitlos und mit einer ganz anderen als der natur-
gesetzlichen Notwendigkeit sich an dem blofsen seelischen
Sich-Ereignen abrollen. Dafs jemand aus ihm bewufsten
Prämissen einen gewissen Schlufs zieht, würde eine voll-
endete Psychologie aus den vorhandenen seelischen und
dynamischen Verhältnissen seines seelischen Organs durch
die Anwendung allgemeiner Gesetze der psychischen Be-
wegungen verstehen; dafs dieser Schlufs aber ein vernünf-
tiger, der Sache, nicht nur dem tatsächlichen seelischen
Ereignis nach notwendiger ist — das begreifen wir aus den
— 37 —
begrifflichen Verhältnissen der Inhalte, aus dem logischen
Zwange der Prämissen, diesen und keinen anderen Schlufs
aus sich zu entlassen. Die nachbildende Konstruktion des
historischen seelischen Ereignisses nun, ein in sich offenbar
ganz einheitliches Geschehen, hat zu diesen beiden Formen
des Begreifens Gleichheit und Gegensatz. Sie hat den gegen
alles Rationale und Logische gleichgültigen Inhalt der einen.
Denn das blofs Psychologische, das Natürlich-Kausale hat
seinem begrifflichen Inhalte nach mit der vernunftmäfsig-
verständlichen Verknüpfung nicht das geringste zu tun.
Es realisiert mit derselben Notwendigkeit und in dynamisch
ganz gleichartigen Prozessen das Vernünftigste wie das
Widersinnigste, die Gedankensprünge des Narren wie die
ruhige Folgerichtigkeit des juristischen oder mathematischen
Denkens. Die historisch- seelischen Tatsachen zeigen diese
— vom Standpunkt der logischen Notwendigkeit — rein zu-
fälligen Verknüpfungen ; sie sind blofs wirkliche psycho-
logische Prozesse, die mit den rationalen Beziehungen
zwischen den Bedeutungen ihrer Inhalte real und er-
kenntnistheoretisch streng auseinanderzuhalten sind. Aber
gerade sie sollen nun ein Verständnis finden, analog dem
der rationalen Verknüpfungen. Wie wir seelische Vorgänge
verstehen, wenn ihre Inhalte sich logisch entwickeln, wenn
der seelische Prozefs an den nur in diesen Inhalten gelegenen
Notwendigkeiten entlang geht — so zieht sich diese an den
Inhalt, statt an die dynamische Naturgesetzlichkeit geknüpfte
Begreiflichkeit hier in eine Einmaligkeit zusammen. Es
fehlt die aus Naturgesetzen begriffene Notwendig-
keit des psychologischen Geschehens; es fehlt ebenso
die logische Notwendigkeit, mit der sich die Inhalte des
letzteren allgemeingültig verknüpfen. Und doch soll hier
etwas, was als blofs historische Tatsächlichkeit, als kausale
Geschehensreihe auftritt, oft völlig irrational, aus blinden
Trieben geboren, aller Verknüpfung nach Sinn und Bedeutung
entbehrend, — das soll dennoch, wenn auch nur für den je-
weiligen Fall, seinem Inhalte nach als etwas notwendig Zu-
sammengehöriges erkannt werden; die Einheit, die einen
seelischen Inhalt aus dem anderen logisch entwickelt, an den
anderen knüpft, soll nun doch mit ähnlich zusammenhalten-
der Kraft an einem gegen alles Logische als solches gleich-
— 38 —
gültigen Inhalt gefühlt werden, — so sicher, dafs der ganze
Zusammenhang auf ein Minimum von Gegebenheiten hin
konstruiert wird ! Was die Züge eines historischen Charakters,
die Vorstellungskomplexe hinter einem historischen Tun zu
einer verständlichen Einheit zusammenbindet, ist erkenntnis-
theoretisch weder Ursache noch Grund, weder das reale
Gesetz des Geschehens noch das ideale des Inhalts, sondern
ein ganz eigenes Drittes, des Sinnes: dafs die rein tatsäch-
lichen Elemente durch ihre individuelle Färbung und
Lagerung eine nicht gesetzlich festzulegende , sondern nur
nachzufühlende Beziehung und Einheit erhalten ; so dafs
jedes mit dem anderen seinem Inhalte nach, aber eben nur
soweit er individuell genau so bestimmt ist, in der Weise
zusammenhängt, wie begrifflich allgemeine Inhalte ver-
möge der Logik zusammenhängen. Wir schliefsen inner-
halb der historischen Bilder von Art und Grad des einen
seelischen Elementes auf Art und Grad des anderen — aber
nicht im Syllogismus , der auf Allgemeingültiges ausgeht,
sondern in einer Synthesis der Phantasie, die dem schlecht-
hin Individuellen gegenüber den Geltungswert des Rationalen
auf die Zufälligkeit des blofs Geschehenden zu übertragen
Macht und Recht hat.
Vielleicht löst sich hiermit das Rätsel , wie eine sub-
jektiv geformte Seelenverfassung doch eo ipso als die eines
anderen vorgestellt werden kann. Das Vermittelnde ist die
besondere Art von überpersönlicher Gültigkeit des psychischen
Bildes nach der Dynamik und Verknüpfungsart seiner Ele-
mente, einer Gültigkeit, die den Wert der Allgemeinheit
liat, ohne doch begriffliche Allgemeinheit zu sein. Indem
die im Betrachter sich bildenden Reihen von Vorstellungen
und in Vorstcllungsform anklingenden Gefüiilen und
Strebungen von dem Gefühl jener Gültigkeit wie von
einem qualitativen Lokalzeichen begleitet werden, erstrecken
sie sich über ihn selbst hinaus, aber nicht auf jede beliebige
Existenz, wie im allgemeinen Gesetz, sondern auf die eine
psychische Einheit, deren historische Einzigkeit zu den
inneren Bestimmungen jenes Zusammenhanges gehört. Die
Schwierigkeit der historischen Projektion : dafs ich den
nachgebildeten und nur subjektiv vorhandenen Seelen-
vorgang gleichsam aus mir entfernen und auf die historische
— 39 —
Persönlichkeit übertragen mufs — übrigens ersichtlich nur
eine sehr geklärte und gesteigerte Form der Psychologie
der täglichen Praxis — ähnelt dem Problem der naiven
Raiimauffassung: wieso denn das in der Seele fertig ge-
wordene AnschauLingsbild der Dinge für unsere Vorstellung
doch in den Raum aufserhalb der Seele gelange? Das
letztere Rätsel ist dadurch lösbar, dafs die Räumlichkeit
der Dinge (welche das „Aufserhalb der Seele" einschliefst)
eine Form des Vorstellens selbst ist, eine Art, wie die Seele
Sinnesempfindungen verbindet; das Extensiv- Werden dieser
ist ein rein intensives psychisches Geschehen, die Räumlich-
keit ist eine Qualität gewisser Vorstellungen. Dafs seelische
Vorgänge die Form der Geschichte annehmen , d. h, dafs
das Subjekt, das sie trägt, sie als von einem anderen ge-
tragen vorstellt — das ist nicht einfach mit dem Schlag-
wort: Projizierung zu erklären, sondern es handelt sich
grade erst um das Begreifen des Vorganges, den man mit
diesem Wort benennt. Und auch er wird wohl eine innere
Qualität der Vorstellungen selbst bedeuten, eine Art des
Vorstellens selbst. Es geschieht nicht nachträglich etwas
mit der fertig gewordenen und als subjektiv bewufsten Vor-
stellung, sondern die Form, in der sie sich bildet, ist eben
die historische, ihre Art, im Subjekt zu verlaufen, bedeutet
ihrer psychologischen Qualifikation nach, dafs ihr Inhalt
seine Wirklichkeit in einem anderen Subjekt hat. Und die
erkenntnistheoretische Interpretation dieser unmittelbaren
Übertragung scheint mir durch jenes Gefühl der übersub-
jektiven — aber nicht etwa gegenständlich-äufserlichen —
Richtigkeit gewisser psychischer Konstellationen und Ver-
bindungen gegeben, durch das Bewufstsein, in dem Voll-
zuge dieser die eigenen Beziehungen der psychischen In-
halte, unabhängig von ihrem jetzigen Gedachtwerden, zu
\A'orte kommen zu lassen. Bei der historischen Erkenntnis
verengt sich diese über das Subjekt hinübergreifende
Gültigkeit seiner Vorstellungen auf die einzige Persönlich-
keit, die durch sie charakterisiert wird und die durch ihre
räum -zeitliche Bestimmtheit die Möglichkeit ihrer Re-
alisierung darbietet.
Ich bin mir sehr wohl bewufst, dafs dieser Vorschlag,
das psychologisch-erkenntnistheoretische Problem des ge-
- 40 —
7 schichtllclien Verständnisses zu lösen, nur ein erster Versuch
ist und sein Recht vielleicht nur darin hat, das Vorhandensein
des Problems überhaupt in seiner Tiefe deutlich zu machen.
Aber über das speziell- technische Interesse der Historik
hinaus kann diese Überlegung nun versuchen, die Antwort
auf die erkenntnistheoretische Grundfrage der Geschichts-
wissenschaft wie mit einem Schlufsstein abzuschliefsen.
Ihr gegenüber gilt es vor allem die Beseitigung des
naiven Realismus, der sich von dem Erkenntnisbilde der
äufseren Dinge auf das der inneren zurückgezogen hat.
Der Realismus des Erkennens, der die Wahrheit für die
Übereinstimmung des Denkens, im Sinne eines Spiegel-
bildes, mit dem ihm im absoluten Sinn äufseren Gegen-
stande erklärt, ist für die Naturwissenschaft beseitigt. Auch
ist es relativ leicht einzusehen, dafs der Ausdruck des
realen Geschehens durch mathematische Formeln , Atome,
Mechanismus oder Dynamismus nur eine symbolische Formu-
lierung ist, ein Aufbau aus geistigen Kategorien, der nur
ein Zeichensystem für sein Objekt ist und nichts weniger
. als eine deckende Nachzeichnung desselben. Aber in den
geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen verleitet die Gleich-
heit der Erkenntnisfunktion und ihres Objekts — da beide
Geist sind — noch immer zu jenem Naturalismus, der ein
einfaches Abschreiben des einen durch das andere für möglich
und das Mafs seiner Treue für das Wertmafs der Erkenntnis
hält. Noch immer wird der Historik unbefangen die Aufgabe
gestellt, uns das Geschehen sehen zu lassen, „wie es wirk-
lich gewesen ist". Im Gegensatz dazu mufs man sich klar
machen, dafs jede Erkenntnis eine Übertragung des unmittel-
bar Gegebenen in eine neue Sprache, mit nur ihr eigenen
Formen, Kategorien und Forderungen ist. Indem die Tat-
sachen , die inneren nicht Aveniger als die äufseren , zur
Wissenschaft werden, müssen sie auf Fragen antworten, die
in der \^'irklichkeit und in ihrem ursprünglichen Gegeben-
sein nie an sie gestellt werden; um den Bedürfnissen des
Wissens zu genügen, erhalten sie eine Anordnung nach
Vorder- und Hintergründen, eine Betonung singulärer
Punkte, innere Beziehungen nach Werten und Ideen, gleich-
sam über den Kopf der Realität hinweg, die aus ihnen ein
neues Gebilde eigener Art und Gesetzlichkeit schaffen.
— 41 —
Selbst auf einem historischen Gebiet, das das unmittelbare
Rekonstruieren seines Gegenstandes so sehr ermöglicht und die
Darstellung eben dieses in vollem identischem Nach- Erleben
zu fordern scheint, wie die Geschichte der Philosophie —
selbst da handelt es sich nicht um eine mechanische, wenn
auch seelische Abspiegelung der Daten ; sondern es bedarf
einer Formung der vom Philosophen innerlich er-
lebten und geschaffenen und von seinem Historiker nach-
gedachten Denkinhalte, einer Deutung derselben nach den
apriorischen Forderungen des Erkennens, damit jener Roh-
stoff zu dem neuen Gebilde : Geschichte der Philosophie —
werde. Die historische Wahrheit ist keine blofse Repro-
duktion, sondern eine geistige Aktivität, die aus ihrem
Stoff — der als innerliche Nachbildung gegeben ist — etwas
macht, was er an sich noch nicht ist, und zwar nicht nur
durch kompendiöses Zusammenfassen seiner Einzelheiten,
sondern indem sie von sich aus Fragen an ihn stellt, das
Singulare zu einem Sinne zusammenfafst, der oft gar nicht
im Bewufstsein ihrer „Helden" lag, indem sie Bedeutungen
und Werte ihres Stoffes aufgräbt, die diese Vergangenheit
zu einem ihre Darstellung für uns lohnenden Bilde ge-
stalten.
Noch näher scheint die Erkenntnis und ihr Gegen-
stand zusammenzurücken , noch plausibler scheinen die
Formen des Seins und die des Wissens nur zwei Tonarten,
in denen ein und dieselbe Melodie sich abspielt, wenn ein
Subjekt sein eigenes Leben als geschichtliche Entwicklung
betrachtet. Noch deutlicher aber als an anderen Beispielen
wird gerade hier, wo das Original des Erkenntnisgebildes
im unmittelbaren Bewufstsein vorliegt, dal's eine Erkenntnis-
einheit aus diesem Stoff nach apriorischen Formen zustande
kommt, die zwar auf ihn anwendbar, aber nicht aus ihm
ableitbar sind. Wenn wir unser Leben als ein ganzes über-
schauen, so heben wir es zunächst mit all den Umgebungen
und Ereignissen, die es unseres Wissens beeinflufsten , aus
dem Weltgeschehen heraus, das es im weiteren Kreis um-
gibt und durchflicht, aber es nur in einer Weise bestimmt,
die unserem Schicksal mit dem aller anderen Individuen
gemeinsam ist; ebenso scheiden jene inneren Faktoren —
der Intellektualität, der fundamentalen Bedürfnisse, der
— 42 —
selbstverständlichen Gcfühlsreaktionen — aus, die das all-
gemein menschliche Lebensinventar bilden. Beiderlei Ele-
mente sind von einer . näherer Darlegung unbedürftigen
Wichtigkeit für unser Leben, wie es wirklich war. Aber
insoweit keine Beziehung ihrer zu der Individualität
unseres Lebens als solcher sichtbar ist, lassen wir sie für
die Zwecke der Ich-Erkenntnis einfach bei Seite, wie für
die Betrachtung eines Bildes die Leinwand, auf der es
gemalt ist. Das hier Wesentliche ist aber, dafs jene unper-
sönlichen Selbstverständlichkeiten keineswegs in derselben
gleichmäfsigen Weise in einer für sich seienden Ebene
unterhalb des Wesentlichen liegen, wie die Leinwand unter
der Farbenschicht. Sondern sie kreuzen dieses Wesentliche
fortwährend nach den mannigfaltigsten Richtungen, in den
mannigfaltigsten Proportionen und bilden mit ihm eine
lebendige I^inheit; so <lafs der Zusammenhang des indi-
viduellen Lebens, den wir als unsere Geschichte bezeichnen,
eine Isolierung der persönlich-differentiellen Elemente aus
ihrem organischen Verwachsensein mit jenen und eine
Verknüpfung der so herausgehobenen zu einem neuen Ge-
bilde fordert; und dieses verhält sich also zu dem tatsäch-
lichen Lebenslaufe prinzipiell nicht anders wie ein geschicht-
liches Drama zu seinem realen Gegenbild, dessen jahrelangen
und mit tausend Nebenströmungen zusammenfliefsenden
Verlauf es zu drei Theaterstunden umformt. Und keines-
wegs nur durch Zusammenpressen , wie eine kleine Photo-
graphie ein grofses Gemälde reproduziert, sondern durch
völliges Fortlassen von Teilen, ohne die die zurückbehaltenen
und neu zusammengeformten in der Form der Wirklich-
[ k e i t niemals hätten auftreten und sich in verständliche
! Zusammenhänge einordnen können.
Diese neue Form, in der sich die Lebenselemente zu
einem theoretischen Bilde zusamraenschliefsen, mufs all die
vernachlässigten oder unbekannten Energien , mit Hilfe
derer die Wirklichkeit jene in Verbindung setzt, durch
andere Mittel ersetzen. Dahin gehört z. B. die Verlegung
der Wichtigkeitsakzente. Der Augenblick des Erlebens
leiht den einzelnen Ereignissen Bedeutungsgefühle, die die
Kategorie der Betrachtung oft völlig umlagert. Und zwar
nicht nur aus Verblendung, nicht nur, weil das Gegen-
— 43 —
wärtige als solches ein Schwergewicht weit über seine
Sachbedeutung hinaus zu besitzen pflegt, sondern weil für
das gelebte Leben gewisse Dinge von einer Wichtigkeit
sind, die sie für das Verständnis des Lebens keineswegs
besitzen. Die Gefühle, mit denen ein Ereignis eine lange
Entwicklungsepoche ausstattet, gibt diesem oft eine Macht,
von der der eigentliche Inhalt dieser Epoche an Gedanken-
und Willensbestrebungen in den Schatten tritt. Suchen
wir dann aber diese Epoche als Ganzes zu verstehen,
so offenbaren sich diese letzteren doch als die eigentlich
treibenden Mächte, sie schliefslich bilden ihre Substanz
oder zeichnen ihre Marschroute, während jene Gefühle nur
die F 0 r m ihres Erlebens hergaben und so auf dem Stand-
punkt des letzteren freilich jenes Ereignis, auf dem Stand-
punkt des Begreifens, der Konstruktion der Lebenslinie,
aber jene Sachgehalte die Orientierungspunkte abgeben.
Es bedarf nicht der Hervorhebunu-, dafs diese Distanz f
'"' . . . . i
zwischen dem Erlebnis und seinem Erkenntnisbilde sich in .
bezug auf das eigene Ich nur deutlicher, aber prinzipiell
nicht anders offenbart als an jeder historischen Wirklichkeit.
Das Entscheidende ist das Durchbrachen des erkenntnis-
theoretischen Naturalismus, der die Erkenntnis zu einem
Spiegelbild der Wirklichkeit machen will, und die Einsicht,
dafs jene ein ganz neues, eigenen Gesetzen folgendes, nach
besonderen Kategorien in sich geschlossenes Gebilde ist.
Dessen Sonderforra wird auch keineswegs dadurch hin-
reichend ausgedrückt, dafs keine Wissenschaft die Kom-
plexität und qualitativ-intensive Fülle des wirklichen Da-
seins hinreichend ausdrücken könnte. Dieser Gesichtspunkt I
der Quantität, der schliefslich auf ein blofses Erlahmen unserer \
Blickschärfe oder unseres Kraftmafses zurückgeht, über-
windet den Naturalismus noch nicht im Prinzip und ver-
kennt, dafs historische W^issenschaft selbst dann etwas
anderes als die Abspiegelung des Wirklichen wäre, wenn
die volle Treue derselben technisch erzielbar wäre — wie
ein Porträt seine Eigenheit an Wesen und Wert auch
dann noch bewahren würde, wenn die farbige Photographie
die Erscheinung mit absoluter Treue wiedergeben könnte.
Wollte man aber das in sich schon ganz Unzulängliche zu-
geben, dafs die quantitative Undarstellbarkeit des unüber-
- 44 —
sehlich komplizierten Daseins der Wissenschaft ihre spe-
zifische Aufgabe stelle, so würde sich schon daraus auch
die totale Formänderung ergeben, die sie an diesem
Dasein vollzieht. Denn die Verdichtungspunkte, Wichtig-
keiten, charakteristischen Züge und Augenblicke, auf die
jene Mannigfaltigkeit sich für das Erkennen reduziert,
müssen nun doch zu Einheiten verbunden werden: zu
einem nachfühlbaren Charakter, zu einem kontinuierlichen
Verlauf, zu einem verständlichen Zusammenhang, zu einem,
von seinem Mittelpunkt her überschaubaren Kreise von
Phänomenen. Zwischen den Stücken des durch Herausheben
und Weglassen alterierten Materials spinnt sich die Einheit
durch ganz andere Fäden und von ganz anderen Kategorien
aus, als die unmittelbare Wirklichkeit sie zeigt: die
Änderung der Quantität erzeugt schon von sich aus eine
formale, funktionelle. Die politische Geschichte eines
Herrschers etwa erfafst aus der Kontinuität eines reichen
und nach allen Seiten hin expansiven Lebens die politisch-
wichtigen Gedanken und Betätigungen und formt daraus
seinen politischen und als solchen kontinuierlichen Lebens-
lauf. Schwerlich ist irgend ein Moment desselben in der
Isolierung verlaufen, die diese Konstruktion fordert, sondern
in steter psychologischer Verflechtung mit inneren Er-
eignissen anderer Provenienz, in Abhängigkeit von all-
gemeinen Dispositionen des Charakters und der momentanen
Stimmung; ganz verständlich wären sie nur aus dem Leben
als ganzem, und statt dieses Zusammenhanges, der keiner
Wissenschaft erfafsbar ist, erbaut der Historiker einen
neuen, von dem Vereinheitlichungsbegrifi": Politik — aus,
der vielleicht in dieser Allgeraeinheit und abstrakten Klar-
heit niemals in das Bewufstsein des Subjektes getreten ist.
Schon das Gleichnis ginge zu weit, dafs hiermit aus dem
vielfältigen Gewebe des Lebens ein einzelner Faden heraus-
gelöst und den anderen gegenüber, in die die Wirklichkeit
ihn, tragend und getragen, verspinnt, zu einem selbständigen
Gewebe verarbeitet wird. Denn es fehlt die Ununter-
brochenheit, mit der die Stücke eines Fadens in sich zu-
sammenhängen; vielmehr, es handelt sich um Stücke des
Gewebes, die nur gelegentlich und nur teilweise innerhalb
des Ganzen mit einander verbunden sind und erst von
— 45 —
einem Gesichtspunkt aus , den der Betrachtende als
einen alleinherrsehenden und Einheit erzwingenden herbei-
bringt, eine „Geschichte" bilden.
Ich will dies mit einer Analogie aus dem Gebiet der
Kunst verdeutlichen, die keine genaue Parallelerscheinung,
sondern nur ein äufserstes Extrem bedeutet, dem sich das
Verhältnis der Geschichte zur Wirklichkeit asymptotisch
nähert. Die Malerei, z. B. das Porträt, schafft für unsere
Anschauung eine Einheitlichkeit, Beziehung, gegenseitige
Interpretation der Elemente der äufseren Erscheinung, die
mit den realen, unterhalb der Oberfläche der letzteren
wirkenden Kräften nichts zu tun haben. Gewifs binden
diese physiologischen und anatomischen Notwendigkeiten
alle Züge in ein Zusammen und eine Bedingtheit des einen
durch den anderen*, aber für die Kunst ist davon nicht
die Rede, denn s i e hat nur die Anschaulichkeiten als solche
zu deuten und allein nach Forderungen des künstlerischen
Sehens zu einem befriedigenden, in sich geschlossenen Bilde
zu entwickeln. Ja, um die Bedeutung der Erscheinung
in diesem Sinne eindringlich zu machen, mufs das Kunst-
werk oft die physisch wirkliche, also durch die realen
Kräfte notwendige Form der Züge verschieben; es fängt
die Wirklichkeit gleichsam in einem jMedium mit ganz
neuem Brechungswinkel auf und gestaltet sie hier zu einer
Welt eigener Ordnung, nach Harmonien und Kategorien, die
nur für das Verhältnis der Oberflächenelemente und aus den
Bedürfnissen der Anschauung heraus gelten, unabhängig von
den theoretischen Vorstellungen, die das Verhältnis der realen
Substanzen, der Träger jener Oberflächen, nachzeichnen.
Weil der unmittelbare Gegenstand der bildenden Kunst
ausschliefslich die Erscheinung im Sinne des Oberflächen-
bildes ist, halten sich die Prinzipien, nach denen sie aus-
wählt und vereinheitlicht, in einer derartigen Entfernung-
von der Totalität des realen Seins und Geschehens und
geben deshalb der individuellen Subjektivität einen der-
artigen Spielraum der Auswahl und Gestaltung, wie es der
Wissenschaft nicht zukommt. Dennoch ist der Unterschied
nur ein gradueller. Das Bild, das die politische, die Kunst-
geschichte, die Religionsgeschichte, die Wirtschaftsgeschichte
zeichnen, hat zu der Gesamtheit des Geschehens, in dessen
— 46 —
lückenloser Darstellung allein die Gegenstände jener Ge-
schichten so erkannt werden könnten, „wie sie wirklich
waren" — zu dieser Gesamtheit haben sie kein prinzipiell
anderes Verhältnis als das Porträt oder das Landschaftsbild
zu der vollen Wirklichkeit ihrer Gegenstände. Man kann
das Einzelne nicht beschreiben, wie es wirklich war, weil
man das Ganze nicht beschreiben kann. Eine Wissenschaft
von der Totalität des Geschehens ist nicht nur wegen ihrer
nicht zu bewältigenden Quantität ausgeschlossen , sondern
weil es ihr an einem Gesichtspunkt fehlen würde, den
unser Erkennen braucht, um ein Bild, das ihm genüge, zu
formen, an einer Kategorie, unter der die Elemente zusammen-
gehören und die bestimmte derselben mit einer bestimmten
Forderung ergreifen muis. Es gibt kein Erkennen über-
haupt, sondern immer nur eines, das durch qualitativ de-
terminierte, also unvermeidlich einseitige EinheitsbegrifFe
geleitet und zusammengehalten wird; einem schlechthin all-
gemeinen Erkenntniszweck würde die spezifische Kraft
mangeln, irgendwelche Wirklichkeitselemente zu erfassen.
Dies ist der tiefere Grund, weshalb es nur Spezialgeschichten
gibt und alles, was sich allgemeine oder Weltgeschichte
nennt, bestenfalls eine Mehrzahl solcher differentieller Ge-
sichtspunkte nebeneinander wirken läfst oder eine Heraus-
hebung des nach unseren Wertgefühlen Bedeutsamsten
innerhalb des Geschehenen darstellt. Wenn es hin-
reichend vorsichtig verstanden wird, kann man sagen, dafs
jede besondere historische Wissenschaft einen besonderen
Wahrheitsbegriff hat. Ich belege dies, indem ich an der
Gegenüberstellung verschiedener Paare von Geschichtswissen-
schaften zeige, wie zugleich mit dem sachlichen Unter-
schiede ihrer Objekte prinzipielle Unterschiede ihrer Er-
kenntnisideale gegeben sind. Aus diesen Verschiedenheiten
der Fragestellungen und also der Antworten, die die ab-
strakt-allgemeine Wahrheitsforderung befriedigen, läfst sich
folgern, dafs diese Antworten überhaupt nicht objektiv
deckende Abspiegelungen der Wirklichkeit sind, sondern
Bilder, die durch eine Mannigfaltigkeit apriorischer Bedingt-
heiten gestaltet Averden. Die Geschichte der Philologie
etwa hat eine ganz andere Distanz zu ihrem Objekt wie
die Geschichte der Sitten. Jene kann mit dem ihr zur
— 47 —
Verfügung stehenden begrifflichen Ausdruck die sachliche
Wirklichkeit ihres ^Inhaltes — weil er eben selbst schon
aus Worten und Begriffen besteht — viel genauer decken
als diese es vermag, deren Gegenstand"~eine~gerebte Tat-
sächlichkeit ist und nur durch eine viel weitherzigere
Symbolik in einen Erkenntniszusammenhang aufnehmbar
ist. Indem diese nicht weniger behauptet, „Wahrheit'" zu
geben, als jene, Wahrheit aber in diesem empirischen Sinne
doch ein gewisses Verhältnis des Vorstellens zu seinem
Gegenstand bedeutet — sind ersichtlich die Kriterien der
Wahrheit, und nicht nur die technischen, in beiden Fällen
ganz verschieden, die Wahrheitsforderung bedeutet von
vornherein in beiden nicht dasselbe. Eine ebenso grolse aber
in anderer Richtung laufende Differenz der Erkenntnis-
forderung trennt z. B. die Geschichte der Technik von der
der inneren Politik. Was zu jener gehört, bestimmt ihr
Begriff so ziemlich unzweideutig; sie spielt sich an der
Greifbarkeit materieller Gestaltungen ab und wird dadurch
in sich durch eine Grenzlinie zusammengeschlossen, die sie
von den übrigen geschichtlichen Lebensinhalten in der wissen-
schaftlichen Abstraktion reinlich zu trennen gestattet. Wo
aber in der Verflechtung des öffentlichen Lebens die innere
Politik beginnt und aufhört, ist durch kein annähernd so
sicheres Kriterium zu bestimmen. Die Ausbildung der
Wirtschaft wie die äufsere Politik, die Kirchenverfassung
wie die allgemeine Bildungshöhe, das Temperament führender
Persönlichkeiten wie die Stimmung der breiten Massen —
alles dies und tausend anderes bildet das Milieu, mit dem die
innere Politik unlöslich verwächst, so dafs sie, zu einer
Sonderdarstellung herausgelöst, notwendig gröfsere oder
kleinere Stücke jener Fäden und Fasern gleichsam durch
Adhäsion mit und an sich trägt — Stücke, die in ihr keine
volle Entwicklung verlangen dürfen und die so das von
ihr entworfene Bild nicht zu der Geschlossenheit kommen
lassen , das eine Geschichte der Technik besitzt : ihre ein-
zelnen Momente können es nicht zu der Erklärung bis ins
letzte, nicht zu der Totalität der tragenden Faktoren bringen,
die jene erreicht. Sie ist dennoch nicht schlechthin
geringerwertig, die Forderung ist nur von vornherein eine
andere, beide fassen die Wirklichkeit ihres Objektes in ganz
— 48 —
verschiedene Formen des geschichtlichen Wissens, von
denen doch jede bis zu einer ihr genügenden „Wahrheit"
gehingen kann. Ein dritter Typus der Differenz historischer
Erkenntnisse ist an dem Vergleich der Kunstgeschichte
mit der Kirchengeschichte darzulegen. Das Material der
xik ^^ju*-',' . ersteren sind Werke, die diskontinuierlich nebeneinander
^~*^.-x*->^^ stehen, weil jedes eine in sich geschlossene Einheit bildet.
Die Kunstgeschichte aber stellt aus ihnen einen zusammen-
hängenden Verlauf her, als ob ein organisches Wachstum
sie aneinandersetzte wie die Jahresringe eines Baumes;
damit besteht zwischen der gegebenen Form des Materials
und derjenigen, die es als historische Erkenntnis annimmt,
ein ganz anderes Verhältnis, als zwischen der Tatsächlich-
keit des religiösen Gemeindelebens und seiner Darstellung
in der Form der Geschichte. Denn jenes kirchliche oder
religiöse Leben ist wirklich eine Kontinuität, die Taten
einzelner Genies sind nicht nur seltenste Momente dieses
Lebens, sondern auch soweit sie auftauchen, besitzen sie
innerhalb seiner fast nie die Liselhaftigkeit von Kunst-
werken, sind vielmehr gleichsam in die Einheit der Sub-
stanz hineingezogen, die sich in der Geschichte der Religion
entwickelt. Worauf es hier ankommt, ist dieses: eine Ge-
schichte der Kunst fordert, um geschaffen oder nachgedacht
zu werden , ein viel spontaneres Funktionieren der sub-
jektiven Synthesis als eine Geschichte der Kirche, in der
Einheit des Entwicklungsbildes, das in der einen wie in
der anderen geboten wird, steckt dort ein viel gröfserer
Anteil der schöpferischen Konstruktion, der a priori
wirkenden Kategorie, als hier; die Einheit fordert dort
eine fortwährende Interpolation der eigentlich verbindenden
Entwicklungsbewegung zwischen den isolierten Material-
stücken, während sie hier an dem objektiven Kontinuum,
in dem schon das Material lebt, entlang geht. Und dennoch
haben beide geschichtliche Wahrheit im objektiven Sinne,
obgleich der Erkenntnisprozefs sich in beiden in völlig ver-
schiedenem — nicht graduell, sondern funktionell ver-
schiedenem — Verhältnis zwischen der synthetischen
Formenergie des Subjekts und der Gegebenheit seines Stoffes
abspielt.
Diese Beispiele werden ausreichen, um den Schlufs zu
— 49 —
legitimieren: dafs die historische Wahrheit durchaus nicht
als eine Abspiegelung der historischen Wirklichkeit gelten
darf. Wären die Kategorien , die in den vorliegenden Ge-
schichtsbildern überhaupt wirken, immer dieselben, wäre das
Verhältnis der synthetischen Funktionen zu ihrem Materiale
überall das gleiche, so wäre ein historischer Realismus, der
eine naive Identität der Erkenntnis und ihres Gegenstandes
proklamierte, nicht im gleichen Grade ausgeschlossen —
weil jene Kategorien dann ein konstanter Faktor wären,
den man eher vernachlässigen könnte, und weil ihre
durchgängige Gültigkeit sie eher als ein Gegenbild der
Einheit der objektiven Wirklichkeit erscheinen liefse. Die
Verschiedenheit der Porträts desselben Modells von vielen
Künstlern, ihr gegenseitiger Abstand, anhebend von
der Wiedergabe des unmittelbarsten Eindrucks bis zur
gesteigertsten Stilisierung, von der Accentuierung des
seelischen Ausdrucks bis zu der der anschaulichen Form —
während doch alle gleichmäfsig wertvolle Kunstwerke und
gleichmäfsig „ähnlich" sein können — diese Verschieden-
heiten der individuellen Auffassung bei gleichwertiger Lösung
des objektiven Problems beweisen, dafs in der Lösung des-
selben der subjektive Faktor der bestimmende ist; und so
beweist — mutatis mutandis und mit der Reserve, die die
Wissenschaft gegenüber der subjektiven Freiheit des Künst-
lers bewahrt — der Spielraum der historischen Ge-
staltungsformen gegenüber dem realen Geschehen, dafs über
diese Gestaltungen unsere a priori wirksamen Kategorien
entscheiden.
Man könnte, was hier gemeint ist, durch Einstellung
in einen weiteren Rahmen erkenntnistheoretischer Spekula-
tion erläutern. Ich habe hier die Form , die ein Stoff an-
nehmen mufs, um wissenschaftliche Geschichte zu sein, der
unmittelbar gelebten Wirklichkeit die eben dieser Stoff sei,
gegenübergestellt. Nun aber wäre möglich, auch diese als
eine Form anzusehn, in die ein Geschehensinhalt sich
kleidet. Vielleicht nun kann dieser letztere für sich nie-
mals in ein Bewufstsein eingehen, sondern liegt für dieses
im Unendlichen, so dafs die Formen, durch und in die wir
ihn fassen, sich ihm nur in mannigfaltigen Abständen nähern.
Diese reine Wirklichkeit wäre etwa dem reinen Inhalt
Simmel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 4
— 50 —
unserer Begriffe zu vergleichen, den wir uns auch als etwas
Ideelles denken, jenseits seiner psychologischen wie seiner
äufseren Realisierung in logischer Gültigkeit bestehend,
während auch dieses Denken ihn schon in die psycho-
logische Form einführt — da nun einmal die menschliche
Seele die logisch nicht recht explizierbare Fähigkeit besitzt,
den Inhalt ihrer Vorstellungen, das, was sie mit ihnen
meint, so zu denken, als dächte sie ihn nicht, als wäre
er von der Form des Vorstellens gelöst, in der er sich doch
eo ipso befindet. Auch das „wirkliche Erleben" ist eine
apriorische Kategorie, in das unser Vorstellen einen Inhalt
ebenso fafst, wie sie ihn ein anderes Mal als erkannten oder
gesollten aufnimmt. Die Kategorien der Historik wären
dann gleichsam solche zweiter Potenz, indem sie an einem
Material erst wirksam werden können, nachdem es die
Kategorie des Erlebens passiert hat — ungefähr wie ein
und derselbe Inhalt sich uns zunächst in sinnlicher Form dar-
bieten mag, um erst so in die des Verstandes aufgenommen
zu werden.
Mit alle dem ist nun der Gesichtspunkt festgestellt,
von dem aus jene psychologischen Voraussetzungen der
Historik sich in die allgemeine erkenntniskritische Analyse
derselben einordnen. Gegenüber dem gewöhnlichen Hin-
nehmen der Geschichte als eine Reproduktion dessen, was
— äufserlich und innerlich — wirklich war, steigert diese
Darlegung sowohl ihre Annäherung wie ihren Abstand
gegenüber dem Objekt. Sie verlangt einerseits ein durch
das gegebene Material provoziertes und durch irgend eine
Art von Gleichheit psychologisch ermöglichtes Nachbilden
der seelischen Akte der historischen Personen — ohne
welches auch ihre äufserlichen Akte ein unverständliches
Hin und Her räumlicher Substanzen wären. Aber mit der
einfachen Inhaltsgleichheit des seelischen Vorbilds und Ab-
bilds ist es nicht getan , es bedarf vielmehr der Aufnahme
des letzteren in die besondere Kategorie des Historischen,
die sich als Projizierung jenes Inhaltes in eine einmalige,
nach ihrer Stelle in Raum, Zeit und Umständen indivi-
dualisierte Persönlichkeit darstellt. Und damit ordnet sich
diese psychologische Voraussetzung der Historik in die all-
gemeine Erkenntnis ein, dafs diese letztere überhaupt keine
— 51 —
Kopie der Ereignisse „wie sie wirklieh waren" sein kann,
sondern — trotzdem in ihr, zum Unterschiede gegen die
Naturwissenschaft, Geist zum Geiste spricht — eine
Umgestaltung der gelebten Wirklichkeit, abhängig von den
konstruktiven Zwecken des Erkennens und von den aprio-
rischen Kategorien, die diese Erkenntnisart nicht weniger
als die naturwissenschaftliche ihrer Form, d, h. ihrem Wesen
nach zu einem Produkte unserer synthetischen Energien
machen. Erst durch jene psychologischen Überlegungen
vollendet sich die Abweisung des historischen Realismus,
weil erst sie zeigen, dafs auch an dem Punkte, wo die
völligste Kongruenz zwischen Erkennen und Erkanntem
gegeben, ja, durch unsere Xachbildungsforderung selbst-
verständlich zu werden schien — dafs auch an ihm erst die
Weiterbildung über die einfache Identität hinaus das
historische Erkennen erzeugt.
Als Problem der Philosophie der Geschichte, soweit sie
Erkenntnistheorie ist, erscheint demnach, die Aprioritäten
festzustellen und zu erörtern, durch welche aus dem Er-
leben, dem ursprünglichen und dem nachgebildeten, Ge-
schichte als Wissenschaft wird. Dies ist keineswegs eine
einfache Methodologie der Geschichte, sondern wesentlich
eine Untersuchung, wieso ihre einzelnen technischen Ver-
fahrungsweisen dem Gesamterkenntniszweck dienen, welche
Begriffe logisch und psychologisch schon vorausgesetzt
werden müssen, damit es zu den Methoden der vorliegenden
Historik käme. Von diesem Aufgabenkomplex verfolge ich
nur noch diejenige weiter, die uns zu der zuletzt erreichten,
ganz allgemeinen Erkenntnis geführt hat, die innere Nach-
bildung des seelischen Geschehens als Interpretation der
geschichtlichen Wahrnehmbarkeiten.
Wenn Ranke den Wunsch ausspricht, er möchte sein
Selbst auslöschen, um die Dinge zu sehen, wie sie an sich
gewesen sind, so würde die Erfüllung dieses Wunsches
gerade seinen vorgestellten Erfolg aufheben. Nach aus-
gelöschtem Ich würde nichts übrig bleiben, wodurch man
die Nicht-Ichs begreifen könnte, und zwar keineswegs nur,
weil das Ich der Träger jedes Vorstellens überhaupt ist —
wohin auch Ranke seine Aufserung beschränkt hatte.
Sondern weil auch die besonderen, nur durch persönliches
4*
— 52 —
Erleben erreichbaren, von dem individuell differenzierten
Ich garnicht trennbaren Inhalte der unentbehrliche Stoff
für jedes Verständnis Anderer sind. Sie können überhaupt
nur als subjektives Geschehen auftreten, wenngleich sie
innerhalb dieses Charakters dann jene eigenartige, über-
persönliche Notwendigkeit ihrer Inhaltsverknüpfungen er-
werben. Man mag diese Bedingtheit durch die Subjektivität
eine Unvollkommenheit des historischen Erkennens nennen ;
dann gehört sie aber zu denjenigen, mit deren Wegfall
auch der Ertrag überhaupt wegfallen würde, den man durch
die Beseitigung dieses Abzuges zu erhöhen, dachte. Das
klassische Gleichnis für diesen Typus hat Kant geprägt:
wo er von der Taube spricht, die den hemmenden Druck
der Luft fühlt und dadurch auf den Gedanken kommen
könnte, dafs sie im luftleeren Raum viel besser fliegen
würde. Was das Erkennen hemmt, die Subjektivität des
Nacherlebens, ist doch die Bedingung, unter der dies allein
eintreten kann, und was es fördert: die relative Herab-
setzung dieser Subjektivität als solcher, würde, bis zu
absolutem Grade gelangt, das historische Erkennen über-
haupt aufheben.
Der tiefere Grund dafür liegt darin, dafs die formale
Tatsache der Individualität, wie sie an der historischen
Persönlichkeit vorliegt, auch an der historisch erkennenden
wirksam werden mufs, damit jene von ihr rekonstruiert
und begriffen werde. Was wir Individualität nennen, ist
doch eine besondere Art, in der die ihrem Inhalte nach
angebbaren Vorstellungen in einem ßewufstsein vereinigt
sind, eine Form ihres Zusammen, die bei inhaltlich äufserst
verschiedenen Vorstellungskomplexen die völlig gleiche sein
kann — d. h. die gleiche nicht nur ihrem allgemeinen Be-
griff, sondern ihrem Grade nach. Ob die Gleichheit der
charakteristisch-persönlichen Färbung alle Seeleninhalte er-
greift oder einem erheblichen Teil derselben fehlt, so dafs
man sie sich ebenso gut an beliebig anderen Subjekten
denken kann ; ob Tempo und Rhythmik ihres Ablaufes
sich in ihren mannigfaltigen Reihen ei'kennbar wiederholt
oder nicht; mit welcher Energie das innere Leben an einen
Einheitspunkt gesammelt ist und ob dieser in stärkerem
oder schwächerem Sich-Abheben gegen jede andere Per-
— 53 —
sönliclikeit empfunden wird — dies alles bedeutet Grade
der Individualität, deren Gleichheit oder Verschiedenheit
bei irgend welchen Persönlichkeiten von ihren sonstigen
Gleichheiten oder Verschiedenheiten sehr unabhängig ist.
Es scheint aber, als ob gerade die Ähnlichkeit dieses In-
dividualitätsmafses eine der notwendigen Vermittelungen
wäre, durch die der Historiker zum NachschafFen von Per-
sönlichkeiten gelangte. Ein Maler, der eine aufserordentlich
grofse historische Kenntnis seiner Kunst besitzt, hat gesagt:
nur solchen Künstlern, die, vom Standpunkt des malerischen
Könnens, starke Individualitäten seien, eine ganz persön-
liche Technik besäfsen, seien sehr individuelle Porträts ge-
lungen. Und so scheinen auch nur diejenigen Historiker,
die selbst eine stark ausgeprägte geistige Eigenart haben,
geschichtliclie Individualitäten in ihrem Grunde ergreifen
und darstellen zu können. Danach würde das Auslöschen
nicht nur des Ich, sondern sogar seiner gesteigerten und
intensiven Form, der Individualität, gerade die Möglichkeit
des historischen Erkennens zerstören, der man mit ihrer
Zerstörung zu dienen meinte. Hier zeigt sich eben doch
die Eigenart des Gegenstandes der Historik in ihrem Unter-
schied gegen alle Wissenschaften, die ihr Ideal in der
Mathematik haben. Nicht dafs dieser Gegenstand Geist
überhaupt ist, genügt der Tiefe des Problems, sondern dafs
er Individualität ist, und diese nicht logisch berechnet,
sondern nur psychologisch, und zwar durch eine andere
Individualität, aufgefafst werden kann. Diese in be-
stimmtem Sinne unvermeidlich subjektive Auffassung wird
dann freilich von den Forderungen der methodischen Normen
aufgenommen und geformt , um das wissenschaftliche Bild
zu ergeben. Aber diese Normen selbst, ohne die es zu
keiner übersubjektiv anzuerkennenden Erkenntnis käme,
verhalten sich gegen jene besondere Bedingtheit ihres Stoffes
nicht gleichgültig, sondern konzedieren dem Gesamtergebnis
eine variablere, dehnbarere, weniger abschliefsende Art von
Objektivität, als die Naturwissenschaften sie fordern. Die
Unterschiede , die sich nicht nur in der historischen Dar-
stellung, sondern auch in der Feststellung etwa des Lebens-
laufes von Cäsar oder Gregor VII. oder Mirabeau heraus-
stellen müssen, je nachdem eine grofs angelegte oder eine
- 54 —
beschränkte Natur — bei gleicher logischer Intelb'genz — ^
ob eine mehr rationaUstische oder mehr impulsive ihr
Historiker wird, liegen auf der Hand; und ebenso diejenigen^
die aus dem Erfahrungskreise des Historikers stammen: ob
er in engen, kleinbiii-gerlichen Verhältnissen oder im grofsen
Weltverkehr, ob in einem politisch gebundenen oder freien
Gemeinwesen seine Lebensanschauungen gesammelt hat.
Und doch wird das eine wie das andere als wissenschaft-
liche Erkenntnis akzeptiert werden können. Denn wenn
auch subjektive Färbungen und Vorurteile im einzelnen
stets korrigierbar sein mögen, so korrigiert man schliefslich
die unvollkommnere Auffassung doch nur durch eine voll-
kommnere Auffassung und statuiert damit einen Unter-
schied der Erkenntnis, der sich von dem zwischen einem
falsch und einem richtig gerechneten Exempel generell ab-
hebt. Die Objektivität des Erkennens schliefst hier jene
subjektive Mannigfaltigkeit ein, erhebt sich auf ihrer Grund-
lage und kann sie deshalb aus dem Resultat nicht schlecht-
hin ausscheiden , sondern sie nur nach methodischen und
sachlichen Kategorien kritisieren und formen.
Das Mitfühlen mit den Motiven der Personen, mit dem
Ganzen und Einzelnen ihres Wesens, von dem doch nur
fragmentarische Aufserungen überliefert sind ; das Sich-
hineinversetzen in die ganze Mannigfaltigkeit eines ungeheuren
Systems von Kräften, deren jede einzelne nur verstanden
wird, indem man sie in sich von neuem erzeugt — das ist
der eigentliche Sinn der Forderung, dafs der Historiker
Künstler sei und sein müsse. Die gewöhnliche Auffassung^
als trete diese Forderung erst nach abgeschlossener Tat-
sachenforschung und nur mit Rücksicht auf die Dar-
stellung für den Leser in ihre Rechte, ist durchaus
irrig; denn in diesem Sinne tritt die Forderung, ein Kunst-
werk zu sein, überhaupt an jede geistige Schöpfung heran.
Hier aber gilt sie nicht nur der Form, in der die Erkenntnis
sich darbietet, sondern schon dem Inhalte dieser selbst.
Und ihre Bedeutung stammt jetzt daher, dafs doch auch die
Kunst ihr tiefstes Wesen erfüllt, indem sie die Zufälligkeit des
eigenen Erlebens in ein allgemeingültiges Geschehen wandelt,
oder richtiger, indem innerhalb ihrer das Persönliche
unmittelbar als ein allgemeingültiges erlebt Avird. Diese
Allgemeinheit aber hat ain Kunstwerk keineswegs, wie es
oft mifsverstcändlich aufgefafst wird , objektive Bedeutung,
der dargestellte Gegenstand ist keineswegs das Gegenbild
des logischen AllgemeinbegrifFs, der Typus, der eine Viel-
heit von Erscheinungen durch Darstellung des ihnen Ge-
meinsamen vertritt. Sie gilt vielmehr nur für die Subjekte
und bedeutet, dafs prinzipiell jedem beliebigen Geniefsenden
der Sinn und Wert des Kunstwerks irgendwie zugängig sei;
es enthält implicite nicht die Einheit vieler Dinge, sondern
vieler Seelen, indem es die Punkte in ihnen lebendig macht,
an denen sie, bei aller ihrer sonstigen Verschiedenheit,
eine der Hauptsache nach gleichartige Reaktion zu leisten
vermögen. Und dies eben ist die Eigenschaft des von der
Historik bearbeiteten Persönlichkeitsbildes: dafs das objektiv
völlig Individuelle so gestaltet sei, um subjektiv allgemein nach-
bildbar, verständlich zu sein. Dem Individuellen, ja völlig
Einzigartigen diese Art von Allgemeinheit zu verleihen, ist
das künstlerische Geheimnis des Historikers, in dem sich
das Unlernbare an seiner Wissenschaft am entschiedensten
offenbart. — Schon indem der Historiker die Tatsachen so
deutet, formt, anordnet, dafs sie das zusammenhängende
Bild eines psychologischen Verlaufs ergeben, nähert sich
seine Tätigkeit der dichterischen , ohne durch die Freiheit,
die diese in der Gestaltung des Erzählten hat, anders als
graduell von ihr unterschieden zu sein. Denn nachdem der
Dichter einmal sich für einen bestimmten Charakter ent-
schieden hat, nachdem einmal die Verhältnisse seine Per-
sonen in eine bestimmte Richtung getrieben haben, ist auch
er nicht mehr frei, sondern alles, was er geschehen läfst,
hat nur eine begrenzte Latitüde der Abweichung von der
psychologischen Durchschnittserfahrung über solche Menschen
und Ereignisse. Findet der dichterische Prozefs, der, von der
freien Erfindung ausgehend, die weitere Gestaltung derselben
zum schliefslichen Kunstwerk an die bekannten Gesetze des
Geschehens anschliefsen mufs, unter dem Motto statt: „Das
Erste steht uns frei, beim Zweiten sind wir Knechte" —
so kehrt die Historik dies nur um. Beim ersten , bei dem
tatsächlichen Material, an dem ihre Arbeit beginnt, ist sie
gebunden , in der Formung desselben zu dem Ganzen des
historischen Verlaufs ist sie frei, d. h. der Funktionierung
— 56 —
subjektiver Kategorien und dem Gestalten in der Seele des
Historikers überlassen. W an Schopenhauer für das Wesen
der ästhetischen Tätigkeit erklärt: dafs der Intellekt die
Befangenheit im eigenen Ich aufgibt, um völlig in dem Ob-
jekte aufzugehen, von dem ihn nun keine Wesenszweiheit
mehr trennt, sondern das sich restlos in ihm spiegelt, so
dafs er in diesem Augenblick garnichts anderes ist, als eben
dieses Objekt — das ist tatsächlich, von der metaphysischen
Einkleidung abgesehen, auch das Entscheidende für den
Historiker, ja für jeden, der irgendwie historische Erkenntnis
gewinnt. Denn jedes Nachbilden und jedes Verstehen
eines psychologischen Objektes bedeutet, dafs der Ver-
stehende eben den seelischen Vorgang in sich zum Ablauf
bringt, in dessen Erkenntnis er sich versenkt und der er —
insofern das Ich in dem jeweiligen Vorstellen besteht — in
diesem Augenblicke wirklich ist; wobei immer der Vor-
behalt bleibt, dafs die fragliche Identität nicht ein mechanischer
Abklatsch des primären Geschehnisses ist, sondern ein Teil-
haben an jenem, in die Verständlichkeit übertragenen In-
halte oder Sinne desselben. Der künstlerisch Schaffende —
der nur die Steigerung des ästhetisch Betrachtenden, gleich-
sam dessen Hineinwachsen in die Form der Produktivität
ist — versenkt sich nicht in die Realität seines Objekts —
das tut der Former einer Wachsfigur — sondern in das,
was man die „Idee" des Objekts zu nennen pflegt, in den
Inhalt desselben, wie er in der Form des Geistes lebt.
Hierin liegt seine Verwandtschaft mit dem historisch Er-
kennenden , der nicht die trübe Wirkliciikeit des seelisch
Geschehenen in sich noch einmal geschehen läfst, sondern
mit diesem nur teilt, was es allgemein -verständlich bedeutet,
ungefähr wie bei Plato die Idee mit dem realen Einzelding
den wissenschaftlich ausdrückbaren Inhalt teilt.
Aus den hiermit umschriebenen Aufgaben einer Philo-
sophie der Historik, die um eine von sachlich-methodischen
Normen umfafste, in deren Teleologie eingeordnete Psycho-
logie zentrieren, V(!rfolge ich anhangsweise ein Zentral-
problera noch einige Stufen weiter. — Die Nachbildung der
Innenseite des Geschehens, alles historische Verstehen be-
dingend, findet in den bisher besprochenen Modifikationen,
die die naturalistische Wiederholung zu einem vom Er-
— o^ —
kenntniszweck aus geformten Bilde stilisieren, nicht ihre
einzige Komplikation, Vielmehr, abgesehen von aller
Weiterentwicklung des unmittelbaren psychologischen Ma-
terials, birgt dieses selbst die schwer verständliche Tat-
sache, dafs uns jene Nachbildung auch an Inhalten gelingt,
die niemals in das eigene psychische Erleben getreten sind,
dafs wir auf die geeigneten, aber immerhin doch nur
äufseren Anregungen hin uns in die Seelen von Personen ver-
setzen, die mit der unsrigen keinerlei Erfahrungen, keinerlei
Stimmungen, keinerlei Impulse teilen. Was ich oben be-
hauptete: wer nie geliebt hat, würde nie den Liebenden
verstehen, der Feigling nie den Helden usw. — gilt keines-
wegs unbedingt, sondern nur innerhalb von Grenzen, über
die es dort noch nicht hinwegzusehen galt. Gewifs wird
das Verständnis Anderer versagen, wo es einen gar zu
weiten Abstand von den subjektiven, inneren Erfahrungen
des Erkennenden fordern würde; und darum ist ein ge-
wisser Skeptizismus gegenüber unserem „Verstehen" schon
etwa des altgriechischen Lebens und seiner Aufserungen
oder der mittelalterlichen Frömmigkeit, andrerseits der
Naturvölker oder gar der Tierseele durchaus am Platze.
Und dennoch sind wir überzeugt, dafs man kein Cäsar zu
sein braucht, um Cäsar wirklich zu verstehen, und kein
zweiter Luther, um Luther zu begreifen. Die Grenze, an
der unser Verständnis von Personen versagt oder zweifel-
haft wird, liegt also keineswegs da, wo die Deckung unseres
persönlich gelebten Denkens, Erfahrens, Fühlens mit dem
der historischen Persönlichkeit endet, sondern reicht, wenn
auch nicht unbegrenzt, so doch jedenfalls ein Stück weit
über diese Deckungslinie hinaus. Woher nun stammt dieses
Zwischengebiet, in dem eine Reproduktion, das heifst doch,
eine Produktion von Vorstellungen Anderer stattfindet, ohne
dafs irgend ein eigenes Erfahren, eine analoge Seelenhaftig-
keit sie vorgezeichnet hätten? Es ist sehr billig, dies für
blofse Umformung realer Erfahrungen zu erklären. Denn
die Grenze zwischen Materie und Form ist in dieser Hin-
sicht eine willkürliche und bedeutet mehr eine nachträg-
liche Namengebung für einen vorgefundenen Unterschied
der Erkenntnis , als die Möglichkeit , von sich aus diesen
Unterschied zu zeichnen — ganz abgesehen davon, dafs
— 58 —
die spontane Bildung der Form uns kein geringeres Rätsel
aufgeben würde, wie die eines Stoffes; und dann würde
noch die Frage bleiben, weshalb die eine Form, in die wir
von innen heraus den anderweitig gegebenen Erfahrungs-
inhalt bringen, eben jene subjektive Sicherheit ihrer Möglich-
keit und Wirklichkeit besitzt, während andere, die unserer
Phantasie ebenso möglich sind und der Bestätigung aus
der eigenen Erfahrung nicht mehr entbehren wie jene, ein
solches Gefühl nicht mit sich bringen. Die auffälligste und
unausrechenbarste Begabung nach dieser Seite pflegt man
als Genialität zu bezeichnen: der Genius scheint Erkennt-
nisse aus sich selber zu schöpfen, die der nicht-geniale
Mensch nur aus der Erfahrung gewinnen kann. Auf die
leisesten Anregungen hin stellt sich ihm ein innerlich zu-
sammenhängendes, überzeugendes Bild geistiger Vorgänge
dar, Verknüpfungen der Gedanken und Leidenschaften ge-
schichtlicher Personen, für deren Sinnesweise es längst
keine Beispiele mehr gibt; seine Phantasie, das Entlegenste
zusammenbringend, das Wunderlichste deutend, verfügt
dabei über ein Material, das ihm seine Erfahrung nicht zur
Verfügung gestellt haben kann. Mit der völligen Uner-
klärtheit dieser psychologisch-historischen Genialität sich zu
begnügen, ist deshalb besonders mifslich, weil die Frage
sich nicht nur gegen die paar höchsten Genies richtet,
sondern zwischen diesen und den Alltagsmenschen unzählige
vermittelnde Erscheinungen stehen, ja die letzteren selbst
oft genug gelegentliche Ansätze zu der scheinbar über-
empirischen genialen Nachbildung ihnen sonst fremder
Seelenvorgänge zeigen. Dies liegt um so näher, als der
historische Genius doch seine Intuitionen auch seinerseits
nur in Worten niederlegen kann, die die psychischen Pro-
zesse, auf die es ankommt, bei anderen nur anregen und
erleichtern können, den Vollzug derselben aber schliefslich
ihnen überlassen müssen.
Mit dem vollen Bewufstsein , zu einem aus den be-
rechtigtsten Gründen verpönten Mittel zu greifen , möchte
ich dieses Verständnis über alles Selbsterlebte hinaus als
das Bewufstwerden latenter Vererbungen deuten. Die
früheren Generationen haben die organischen Modifikationen,
die mit ihren Seelenvorgängen in unaufgeklärter Weise ver-
— 59 —
blinden waren, auf die späteren in irgend einer Form ver-
erbt; die unermefsliche Fülle, Kleinheit und Gegensätzlich-
keit der einzelnen Teile dieser Erbschaft lassen sie aber
im allgemeinen nicht zum klaren Bewufstsein kommen.
Genie nennen wir nun einen Menschen, in dem dieses Mit-
gegebene so günstig angeordnet ist, dafs seine Reproduktion
leicht, auf minimale Anregungen hin, und zu klarem Be-
wufstsein hinreichend stattfindet. Psychische Prozesse, die
seiner individuellen Erfahrung ganz fern liegen , vollziehen
sich in ihm, weil sie als Gattungserinnerungen in seinem
Organismus abgelagert sind und zwar ausnahmsweise der-
art, dafs die unzähligen Gegenstrebungen und Verdunk-
lungen, die aus der gleichen Quelle fliefsen, sie doch nicht
vom Bewufstsein ausschliefsen. Daraus verstehen wir denn
auch die gelegentlichen Genieblitze sonst ungenialer Per-
sonen und die allgemeine Möglichkeit solcher, dem vom
Genius eröffneten Verständnis zu folgen, wenn den auch in
ihnen vorhandenen Vererbungen durch deutliches Aus-
sprechen und Anregen verwandter Gruppen psychologische
Hilfen zum Emporsteigen in das Bewufstsein gewährt
werden. Hier wäre also in Wirklichkeit das Lernen nur
ein Wiedererinnern. Wenn wir längst entschwundene
Menschen mit der ganzen Fülle ihrer innerlichsten Triebe
in uns nachbilden, wenn uns aus der fragmentarischen Über-
lieferung ihr Charakter entgegenblickt, der sich unter völlig
fremden, nie von uns angeschauten Verhältnissen gebildet
hat, so ist es offenbar vergebens, diese Fähigkeit aus den
Erfahrungen des individuellen Lebens erklären zu wollen,
ebenso wie man die Zweckmäfsigkeit instinktiver Bewegungen
oder Richtung und Richtigkeit sittlicher Impulse nicht aus
dieser Quelle herleiten kann. Wie aber unser Körper die
Errungenschaften vieltausendjähriger Entwicklung in sich
schliefst und in den rudimentären Organen noch unmittelbar
die Spuren früherer Epochen bewahrt, so enthält unser
Geist die Resultate und die Spuren vergangener psychischer
Prozesse von den verschiedenen Stufen der Gattungs-
entwicklung her; nur dafs die Rudimente, die psychischen
Wert haben, gelegentlich noch zweckmäfsig funktionieren.
Das ganze Mafs unseres Verständnisses auch für solche Mit-
lebende, die von unserer eigenen Sinnesart sehr abweichen^
— 60 —
mag daher kommen, dafs unsere Erbschaft von der Gattung
aufser unserem wesentlichen Charakter doch noch Spuren
anderer Ahnencharaktere enthält und uns so das Ver-
stehen — d. h. das Vollziehen der gleichen psychischen
Prozesse wie jene — ermöglicht^). Auch die sinnlich wahr-
nehmbaren Personen bieten uns nur äufserliche Erscheinungen,
nicht einmal vollständige, und auf die unmittelbare Empirie
hin angesehen, ist jeder andere Mensch für uns ein Automat,
jedes seiner Worte ein blofser Schall, in den wir eine Seele
erst aus unserem eigenen Ich hineinlegen müssen. Nur
quantitativ ist von dem Prozefs des Verstehens, den wir
an der Aufserlichkeit solcher Bilder vornehmen, der des
historischen Erkennens verschieden ; dieser findet nur ein
viel unvollständigeres und zusammenhangsloseres Material,
noch unsicherere Hinweise , noch gröfseren Spielraum der
Konjektur und umfassendere Notwendigkeit ihrer. — Im
schlimmsten Fall mag man die Hypothese vererbter Ver-
ständnismöglichkeiten, die die individuelle innere Erfahrung
ergänzen, als eine methodische Fiktion ansehen: die
Erscheinungen verlaufen so, als ob derartige latente
Parallelismen unserer Seele mit den ganz heterogenen Per-
') Dieser Erscheinungskreis mufs mit der häufig festzustellenden
Tatsache zusammenhängen , dafs viele feine und tiefe Psychologen
schlechte praktische Menschenkenner sind. Die psychologische Be-
gabung bedeutet hauptsächlich einen leicht ansprechenden Sinn für
die vorhin beschriebene Logik in den psychologischen Verbindungen,
für jene inneren Notwendigkeiten, die die psychischen Werte der
Vorstellungen aneinanderknüpfen und die als ein Sollen der Erkennt-
nis empfunden werden, wie das der Logik im engeren Sinne — die das
entsprechende für die sachlich-inhaltlichen Werte der Vorstellungen
leistet, — aber kein Müssen, wie es psychologischen Naturgesetzen
eignete. Die Erkenntnis, inwieweit die Bedingungen solcher Fälle an
der einzelnen Realität vorliegen, macht die Menschenkenntnis aus, die
also offenbar ganz andere intellektuelle Fähigkeiten fordert. Diese Zu-
sammenhangslosigkeit, die in der Richtung von der über-praktischen
Psychologie zu der psychologischen Empirie besteht, legt es nahe,
dafs auch in der umgekehrten Richtung (üne — natürlich nicht voll-
ständige — Unabhängigkeit existiert : dafs auch da, wo Erkenntnis
eines Seelischen dem Anschein nach nur durch Reproduktion früher
erfahrener Innentatsachen stattfindet, sie dennoch auch sozusagen
spontan, als eine Produktion von Zusammenhängen und Graden
jjsychischer Tatsachen stattfindet, die die erkennende Seele nie in-
dividuell erlebt hat.
— Ol —
sönlichkeiten beständen ; sie mag ein symbolischer Ausdruck
für die noch unerkannten Energien sein, die diese Er-
scheinungen in Wirklichkeit tragen.
Das rekonstruierende Verständnis hat nun seinen Gegen-
ständen nach zwei Pole, die ihm trotz ihrer äufsersten Ver-
schiedenheit ähnlich grofse Chancen eröffnen, während es
an dem mittleren Gebiet zwischen ihnen bedeutendere
Schwierigkeiten findet. Einerseits nämlich gelingt die innere
Nachbildung scharf umrissener Individualitäten relativ leicht.
Themistokles und Cäsar, Augustin und Kaiser Friedrich II.
glauben wir tiefer und unzweideutiger zu verstehen als
einen typischen Athener des fünften Jahrhunderts oder den
Durchschnittsitaliener vor der Renaissance. Das völlig
Individuelle nämlich, obgleich historisch nur je ein einziges
Mal realisiert, hat doch sozusagen ein allgemeiner mensch-
liches, gewissermafsen zeitloseres Wesen, als die in vielen
Exemplaren existierenden Repräsentanten einer raum-
zeitlich bestimmten Situation. Denn jene grofsen Einzigen
sind für sich und in Ablösung von ihren Umgebungen noch
immer etwas; in ganz andere Epochen versetzt würden sie
freilich eine ganz andere Gesamterscheinung, aber immer
noch den wesentlichen, stets zu identifizierenden Kern dar-
bieten. Die Durchschnittserscheinungen aber bleiben an
ihre Stelle gefesselt, da sie ihren ganzen Sinn nur als Ver-
treter einer bestimmten historischen Situation haben, man
mufs sozusagen zu ihnen hinkommen, während die als Einzel-
charaktere bedeutenden Menschen von ihrer Zeitlichkeit un-
abhängig und leichter in das Verständnis anderer Zeiten
zu rufen und ihnen assimilierbar sind. Jene zwar historisch
festgelegten, aber doch anonymen Wesen erscheinen als je
eine Summe nebeneinanderliegender Eigenschaften, während
in der markanten Individualität die Einheitsform, die alle
Einzelbestimmungen zusammenhält, entscheidend hervortritt.
Je mehr das der Fall ist, desto leichter ist die Persönlich-
keit zu begreifen, weil alle Elemente ihrer sich gegenseitig
beleuchten und weil jede singulare Aufserung aus dem
einmal ergriffenen Ganzen herausquillt. An diesem Punkte
scheint das Erkennen des Gleichen durch das Gleiche oder
der naive Realismus seine relativ gröfste Berechtigung zu
haben : die Einheit der erkennenden Seele gibt das Schema
— 62 —
für die Einheitsform der erkannten. Was Kant mit Rück-
sicht auf die Naturwissenschaft festgelegt hat: „Wir erkennen
den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen seiner
Anschauung Einheit bewirkt haben" — gilt im allgemeinsten
Sinne für das historische Erkennen. Wie die Einheit des
Kantischen „Gegenstandes" nichts anderes ist als die Einheit
der Apperzeption, in die die Vielfachheit der Sinneindrücke
einströmt und so ihr Zusammen und ihre Ordnung findet —
so ist die Einheit der geschichtlich-gegenständlichen Persön-
lichkeit für das historische Erkennen die Bewufstseinseinheit
des erkennenden Ich; nur dafs der in diese Form eingehende
Inhalt in dem historischen Falle deutlicher und bestimmter
für sie vorbearbeitet ist als in dem der äufseren Natur, da er
schon von sich aus in dem, unmittelbar nicht zugängigen ^),
Ich der Persönlichkeit seinen Zusammenhang oder auch
seinen Ursprung besitzt, der seine Teile mit dem Cachet
der Zueinandergehörigkeit aus sich entläfst. In je ent-
schiedenerem Mafse die Daten des geschichtlichen Menschen
die Qualität der potentiellen Einheit von ihrem Ich-Ursprung
her zu Lehen tragen, desto sicherer, breiter und tiefer kann
die Apperzeptionseinheit des Erkennenden daran in Funktion
treten. Dies ist der Grund , aus dem die bedeutenden In-
dividualitäten der Geschichte uns vertrauter sind, weshalb
wir sie weniger in die Unüberwindlichkeit des Zeitabstandes
gebannt empfinden als die Erscheinungen, in deren Mannig-
faltigem ihrer geringeren Individualität wegen unsere eigene
synthetische Apperzeption nicht so leicht „Einheit be-
wirken" kann,
Ist es hier die Form des Objektes, die es dem Er-
kennen fügsam macht, so gewährt dessen Verhältnis zum
Inhalt des historischen Gegenstandes einem direkt entgegen-
gesetzten Typus des letzteren die Gunst leichter Verständ-
lichkeit. Die psychologische Rekonstruktion des üblichen
Geschichtsinhaltes geht nämlich dann mit verhältnismäfsiger
Sicherheit und allgemeiner Zustimmung vor sich, wenn es
sich um die Interessen und Bewegungen ganzer Gruppen
^) Darum gilt genau genommen auch hier die Kantische Be-
merkung, dafs die verbindende Einheit nie „vom Objekte gegeben",
sondern „nur vom Subjekte hervorgebracht werden kann".
— 63 —
handelt, und wenn solche auch für die Aktionen der histo-
rischen Einzelpersonen Grundlage und Zielpunkt bilden.
Diese aber sind zunächst aufserordentlich viel einfacher und
unzweideutiger als individuellere Verhältnisse, Bei gröfseren
Massen handelt es sich immer um die primären Grundlagen
der Existenz, um die allgemeinen, grofsen und groben Inter-
essen, in denen sich viele Menschen zusammenfinden können
und über denen sich erst die feineren und schwierigeren
Individualisierungen der seelischen Regungen erheben. Wie
eine Gesamtheit nicht wie ein Einzelner die Aufserungen
ihres WoUens und Denkens absichtlich verstellen kann, so
tut sie es auch nicht unabsichtlich, sondern dokumentiert
ihre Strebungen, ihre psychischen Aktionen und Reaktionen
so deutlich, wie eben die Aufserungen der einfachen, einer
Masse als ganzer eigenen Triebe gegenüber den persönlich
differenzierten deutlich sind.
Hierin offenbart sich, wie wenig zufällig die Verbindung
ist, die der historische Materialismus mit der sozialistischen
Weltanschauung eingegangen ist. An sich läge kein Grund
vor, weshalb nicht auch eine durchaus individualistische
Historik, die nur in den Einzelpersonen als solchen den
Träger, in den Heroen den Sinn aller Geschichte erblickte,
die Interessen des äufseren Lebens als das schliefslich allein
entscheidende Motiv der geschichtlichen Bedingungen pro-
klamieren sollte. Während dies aber eine rein spekulative,
von den psychologischen Tatsachen völlig unbestätigte Ver-
mutung wäre, ist es umgekehrt äufserst plausibel, dafs, wo
die Bewegungen der Massen den ganzen Inhalt der Geschichte
ausmachen sollen, sie auch von denjenigen Motiven getrieben
erscheint, die sich mit Sicherheit in jedem Mitglied der
Masse finden: der Produktion und Reproduktion des un-
mittelbaren Lebens. Dabei ist völlig dahingestellt, ob nicht
jedes dieser Massenelemente für sich höhere, kompliziertere,
differenzierte Eigenschaften besitzt und Schicksale erlebt;
Geschichte aber bilden sie nur mit denjenigen Bestimm-
ungen, die ihnen allen gemeinsam sind, in denen ihre
Kräfte sich zu einer einheitlichen Wirkung addieren; dies
aber können ersichtlich nur jene einfachsten, für jedes
Leben fundamentalen Interessen sein. — Von inhaltlich völlig
anderer Grundgesinnung aus wiederholt die klassische
— (54 —
Geschichtsphilüsopliie des Idealismus diese Reduktion des
historisch Gegebenen auf diejenige Einfachheit der Elemente,
die dem Gemeinsamen an ihnen, dem KoUektivitätscharakter,
entspricht. Sie fand die Vereinigung der subjektiven Frei-
heit mit den objektiven Notwendigkeiten der Vernunft im
Staate, in der Rechtsordnung. Sie empfand nicht, um
welchen Preis beide ihre Allgemeingültigkeit, ihre objektive
Höhe gewinnen : durch ihre abstrakte Schematik, durch ihre
Entferntheit von speziüschen Bestimmungen und Interessen,
durch ihre Gleichgültigkeit gegen alles individuelle Leben,
in dem erst die Möglichkeit von Konflikten und Vertiefungen,
die durch allgemeine Begriffe nicht erschöpfbar sind, ruht.
Zutreffend hat man das Recht als das „ethische Minimum"
bezeichnet, wie der Staat überhaupt das praktische Miniraum
der jeweiligen Kulturlage einbefafst, die Fürsorge für die
allerallgemeinsten Interessen, die Festigung der blofs funda-
mentalen Notwendigkeiten, über denen sich der Reichtum
des persönlichen Lebens erhebt. Je mehr Geschichte nur
Geschichte des Staates ist, desto einfacher und durchschau-
barer ist sie in prinzipieller Hinsicht. Wesen und Leben
der Persönlichkeiten ist die komplizierte, dem unmittelbaren
Ausdruck sich entziehende Form des Daseins; sowohl der
historische Materialismus wie die Konzentrierung des histo-
rischen Interesses auf den Staat bewegen sich jenseits der
Aufgabe, die die Individualität stellt: jener, indem er gleich-
sam innerhalb der letzteren bleibt und den blofsen Stoff
des Lebens betrachtet, diese, indem sie sich über die Form
der Personalität in das begrifflich Allgemeine erhebt.
Gemeinsam ist beiden die methodische Tendenz, die innere
Nachbildung des Geschehens dadurch prinzipiell zu erreichen,
dafs sie sich von der Konstitution und Eigenart des persön-
lichen Lebens auf das zurückziehen, was den Personen das
Gemeinsame und darum das Einfachste, das seelische
Minimum des geschichtlichen Sich-Ereignens ist. Während
die individualistische ProblemsttiUung der Historik das
Moment der Allgemeinheit auf die Seite der Subjekte ver-
legt — sie mufs das ganz individuelle Objekt ganz all-
gemein und den verscliiedensten Persönlichkeiten gleich-
mäfsig nachbildbar und verständlich machen — , liegt es für
diese beiden Tendenzen nach der Seite des Gegenstandes.
— üö —
Nur dafs sie beide den Doppelsinn des „Allgemeinen" unter
sich aufteilen : der historische Materialismus ergreift das All-
gemeine als das jedem Einzelnen gleichmäfsig innewohnende
Interesse, während es für die Staatengeschichte die Einheit
über den Einzelnen bedeutet, dasjenige, woran alle all-
gemein teilhaben, ohne dafs es doch in den Einzelnen ent-
halten wäre. Bei beiden ist ihr sachlich-methodisches Prinzip
zugleich das Vehikel des psychologischen Verständnisses,
es stellt dieses nicht mehr vor die Inkommensurabilität
des Individuums und den unvermeidlichen Subjektivismus
seiner Rekonstruktion, sondern vor die Einfachheit des
„Allgemeinen", die um so sicherer verständlich ist, d. h. die
entsprechenden Inhalte in jeder Seele um so unzweideutiger
anklingen läfst, je primitiver, grundlegender sie sind, also
je ausnahmsloser vererbt, überliefert, verbreitet sie jeder
Seele in irgendwelcher Form einwohnen. Daher verbirgt
sich hier auch leicht die Personalität und Subjektivität des
Nachfühlens im geschichtlichen Erkennen, die wir gegenüber
einzelpersönlichen Vorgängen leichter zugeben. Indem wir
sozial-psychische Prozesse uns zum Objekt machen, indem
wir sie nachempfinden, haben Avir nicht die Vorstellung, auf
unsere Subjektivität und die Zufälligkeit ihrer inneren Er-
fahrungen angewiesen zu sein, sondern ein schlechthin Ob-
jektives vorzustellen.
Hier zeigt sich noch einmal die Verflechtung und die
Scheidung zwischen dem psychologischen und dem sachlich-
methodischen Motiv. Jene beiden Tendenzen der Historik
bedeuten wissenschaftliche Vereinheitlichungen des Sach-
gehaltes der Geschichte, sie sind Formungen des unendlich
komplizierten Geschehens von je einem höchsten Begriff aus.
Das Mittel aber, das sie zur tatsächlichen Erreichung dieses
logisch verständlichen Bildes befähigt, ist die psychologische
Zweckmäfsigkeit ihrer entscheidenden Kategorien, die günstige
Situation, in die ihre Blickpunkte das geschichtliche Material
für die psychologische Nachbildung bringen. Denn schliefslich
sind auch soziale Zustände und Bewegungen — die Statik
des bürgerlichen Lebens vermittels des Rechtes, die Über-
und Unterordnung in der Gruppe, die Vereinigung zu all-
gemeinen Zwecken, die Formung des Zusammenlebens durch
materielle oder ideale Motivierungen — nur durch ein per-
Simmel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 5
— (3() —
sönliches Nachemplinden beurteilbar, ja konstatierbar. Auch
was wir in solchen Bewegungen meinen mit Händen greifen
zu können, können wir doch nur mit der Seele greifen.
In der Einfachheit des „Allgemeinen" in oder über den
Trägern des Geschehens vereint sich die Teleologie der ge-
eignetsten Voraussetzung für das psychologische Verstehen
mit der der wissenschaftlich-sachlichen Einheit; so wenig
diese von sich aus nach den Bedingungen ihrer seelischen
Realisierung fragt, so gewährt sie diese Bedingungen doch
gerade durch die psychologische Struktur, die die Ge-
schichte durch sie gewinnt.
Zweites Kapitel.
Von den historischen Gesetzen.
Dafs die Gesetze, die das Erkennen der Geschichte
beherrschen , in das Forschungsgebiet der Philosophie ge-
hören, wird niemand bestreiten ; dafs aber die Gesetze der
Geschichte selbst aufzusuchen der Philosophie obliegt —
diese nicht selten behauptete Aufgabe der Geschichts-
philosophie erscheint auf den ersten Blick als eine der auf-
fälligsten Zumutungen. Was würde man dazu sagen, wenn
dem Forscher in irgendeiner anderen Wissenschaft, in der
Physik, der Astronomie, der Sprachvergleichung nur die
Beschaffung des singulären Materials obliegen, die Fest-
stellung der Gesetze indes einem Philosophen übertragen
werden sollte? Das Berechtigungsmafs dieser Wunderlich-
keit kann nur aus dem besonderen Sinn erwachsen, der
dem Gesetzesbegriff innerhalb der Geschichte zukommt und
der erst in der Gegenhaltung gegen die allgemeine Bedeutung
dieses Begriffes sichtbar werden kann. Gesetz eines Ge-
schehens überhaupt wird man, ohne Widerspruch zu finden,
als einen Satz definieren können, demgemäfs der Eintritt
gewisser Tatsachen unbedingt — also jederzeit und überall —
den Eintritt gewisser anderer zur Folge hat. Dieser letztere
wird nicht in seiner Reinheit äufserlich sichtbar sein, wenn
anderweitige Ereignisse an derselben Stelle von Raum und
Zeit mit ihm zusammentreffen. Das Entscheidende ist, dafs
jene ersten Tatsachen, sich selbst überlassen, zu diesem
Resultate führen, und dafs sie, mit irgendwelchen anderen
zusammenwirkend, diese zu einer Resultante umbiegen,
aus welcher ihr Anteil jederzeit unverkürzt herauserkannt
werden, kann.
5*
— 68 —
Tatsächlich wirken nun an jedem Punkte der Welt
Kräfte aus sehr verschiedenen Richtungen und Ursprüngen
zusammen. Die Aussonderung jeder von einem einheit-
liehen Gesetz beherrschten Geschehensreihe ergibt sich
daraus, ob jede für sich betrachtete Teilwirkung sich noch
in anderen Komplexen findet und , in ganz verschiedene
Kombinationen eingesetzt, jedesmal das gleiche Resultat
ergibt. Wenn Avir also zunächst einen Gesamtzustand A
in den Zustand B übergehen sehen, so mag uns diese Folge
als gesetzlich erscheinen; nun stellen wir fest, dafs A sich
aus den Bestandteilen a, b, c, B aus a, ß, y zusammensetzt.
Dafs nun etwa a die Folge a gehabt hat, erkennen wir^
wenn wir eine Folge B ^ auf A^ beobachten, wobei A^ aus
a d e, B^ a d £ besteht. Wird dieser Erkenntnisweg
weiter verfolgt, indem auch a und a in Teil Vorgänge zer-
legt werden, deren Beziehungen besonderen Gesetzen unter-
liegen, so mufs er schliefslich an den Elementen alles Ge-
schehens münden, d.h. an den Gesetzen, welche die Be-
ziehungen der kleinsten Teile zueinander regeln und deren
Zusammenwirken die komplexen, unmittelbar erscheinenden
Tatsachen bestimmt.
Von einem eigentlichen Gesetz des Geschehens kann
nun erst da gesprochen werden, wo die Wirkungen dieser
letzten Elemente festgestellt sind. Denn es folgt zwar selbst-
redend, dafs, wenn einmal B aus A hervorgegangen ist, es
auch bei absolut identischer Wiederholung von A immer
wieder aus ihm hervorgehen mufs, und insofern könnte man
sagen , es sei ein Gesetz , dafs A die Ursache von B sei ;
wobei unter A die Gesamtheit aller bis an die Schwelle
von B führenden und es beeinflussenden Umstände verstanden
wird, nicht nur jener übliche abgeschwächte Begriff der Ur-
sache, der nur den positiven und direkten Anstofs zu B,
aber nicht die unzähligen daneben und dazwischen gelagerten
Bedingungen enthält, durch die hin er verläuft und deren
Selbstverständlichkeit ihre doch auch positive Unentbehr-
lichkeit zu verdecken pflegt. Allein die leiseste Veränderung
der Faktoren, aus denen A besteht, macht jene Erkenntnis
sofort hinfällig und wertlos. Sind A (= a b c) und B
(= u ß y) nur als Totalitäten erkannt, so läfst diese Er-
kenntnis nicht den geringsten Schlufs auf das Verhalten
— 69 —
von B zu, sobald etwa a in a' übergebt: erst wenn wir
wissen, dafs die Teilwirkung a von a, ß von b und y von
c ausging, können wir der Änderung von B näherkommen,
weil wir dann wissen, dafs seine Teile ß und y ungeändert
bleiben und das Verhältnis des abgeänderten B zum ur-
sprünglichen nur durch die Änderung von ce bestimmt wird.
Solange wir nur Kollektivwii'kungen kennen , stehen wir
Jeder neuen komplexen Tatsache in bezug auf ihre kausalen
Verknüpfungen völlig unbelehrt gegenüber; denn mag sie
in noch so vielen Punkten mit einer früher festgestellten
übereinstimmen, so genügt doch die kleinste Abweichung,
um jede Bestimmung ihrer Wirkung illusorisch zu machen,
weil wir mangels der Auflösung in Teilursachen und Teil-
wirkungen nicht wissen können, welchen Teil der früher
beobachteten Wirkung die Abänderung in der Ursache
^Iterieren wird. Die Ereignisse, deren Verknüpfung zu
historischen Gesetzen wir suchen, zeigen nun zunächst
diesen Charakter der Komplexität. Über die Mannigfaltig-
keit der Faktoren, die sich zu jedem einzelnen verflechten,
pflegen nur einerseits unsere Begriffsbildungen, andrerseits
unsere Wertgefühle zu täuschen: jene, indem wir für sehr
zusammengesetzte Erscheinungen , um in der Praxis des
Lebens und des Erkennens mit ihnen zu operieren, einheit-
liche Namen geschaffen haben, diese, weil wir aus solchen
Komplexen ein einziges Element als das uns wesentlich
interessierende betonen und die anderen, die im wirklichen
Oeschehen mit jenem verwachsen sind und ohne die es
objektiv den uns interessierenden Bestand gar nicht erlangt
hätte, als quantite negligeable behandeln. Die bisher auf-
gestellten historischen Gesetze leben wohl durchgehends von
einer dieser unrechtmäfsigen Simplifizierungen eines kom-
plexen Materials, vermöge deren Erscheinungen von sehr
grofsen inneren Verschiedenheiten als gleichartig zu gelten
scheinen; wie überall da, wo Staat und Klasse, Religion
und Kultur, Produktionsbedingungen und Stellung der
Frauen, bürgerliche Freiheit und Individualisiertheit und
n\\ die unzähligen Begriffe der gleichen logischen Stufe in
Zusammenhänge gebracht werden, die man in allen Fällen
wiederholt sieht und deshalb als gesetzlich notwendige ver-
kündet. Da nun aber keiner der für das jeweilige Gesetz
in Frage kommenden Fälle mit dem anderen in allen
Faktoren übereinstimmt, so gilt das Gesetz, das aus der
Beobachtung einer Situation und ihrer Folge gezogen
wurde, in Wirklichkeit eben nur für diese selbst, d. h. für
ihre absolut identischen Wiederholungen, nicht aber für all
jene anderen, die nur durch die Unterdrückung ihrer
Differenzen Ursache und Wirkung in identischer Weise
verknüpfen. Da wir nun mangels der Erkenntnis der
elementaren Teilkausalitäten den Faktor nicht kennen,
dessen Variierung in all den mannigfaltigen Fällen das
spätere Ereignis als eine Funktion des früheren auszurechnen
gestattete: so bleibt es bei dem Gesetz für jeden einzelnen
Fall, über den hinaus es auf keinen künftigen Anwendung
findet; denn ohne jene differenzierende Untersuchung der
Elemente können wir nie wissen , ob nicht die irgendwie
vorhandene Differenz des späteren gegen den früheren Fall
gerade denjenigen Faktor betrifft, der in dem letzteren die
Gesamtwirkung an die Gesamtursache gebunden hat^).
') In dieser ganzen Untersuchung ist das allgemeine Gesetz mit
der wirksamen Kausalität identifiziert. Allein diese durchgehends
anerkannte Synonymität ist doch noch einer logischen Kritik zu-
gängig. Ohne Kausalgesetz erkennt man keine Kausalität an ; d. h.
die Zeitfolge des B auf A ist nur dann Verursachung des B durch A,
wenn ein Gesetz besteht, dafs immer und überall, d. h. zeitlos, B
erfolgt, wo A auftritt. Die Bindung der Kausalität an ein derartiges
Gesetz aber erscheint mir nicht logisch unentbehrlich. Ich lasse
dahingestellt, welche Schwierigkeiten oder welche Metaphysik dem
Begriff der Verui'sachung überhaupt innewohnen und nehme ihn in
seinem gewöhnlichen, sachlichen Sinne. Dann erscheint es mir durch-
aus möglich , dafs ein A an einer bestimmten Stelle von Eaum und
Zeit einmal ein B kausal hervorbringe, an einer anderen aber ein C.
Da zweifellos eine Weltordnung denkbar ist, in der A dauernd,
nach einem zeitlos gültigen Gesetz, C erzeugt, ebenso, wie es jetzt
tatsächlich B erzeugt, so spricht kein logischer Grund gegen eine
dritte, in der seine Wirkungen variabel sind. Das Wesentliche ist,
dafs dies nicht die Aufhebung der kausalen Verknüpfung der Ereig-
nisse zu gunsten eines zufälligen, blofsenNacheinandors bedeuten soll,
sondern dafs alles das, was die Kausalität von diesem unterscheidet,
die ganze Innerlichkeit, Produktivität, Notwendigkeit der Verbindung
hierbei bestehen soll — nur dafs sie sich, statt mit einem immer
identischen, mit einem wechselnden Sachinhalt erfüllt. Darum ist
diese Denkmöglichkeit keineswegs gleich der von einem Logiker be-
haupteten: es könne etwa auf einem entfernten Fixstern das Kausal-
71
gesetz aufgehoben sein und alles drunter und drüber gehen. Drunter
und drüber ginge es unter der hier gewagten Voraussetzung durchaus
nicht; die Kausalität in ihrer ganzen Sachlichkeit und Strenge be-
stände vielmehr weiter; nur dafs ihr Inhalt seine Gültigkeit statt
auf alle nur auf einen einzigen Fall erstreckte und sich für den
nächsten abänderte.
Was diese Möglichkeit praktisch unfruchtbar macht, entstammt
nicht logischen, sondern erkenntnistheoretischen Gründen. Dem ein-
maligen, inhaltlich unvergleichlichen Ereignis gegenüber haben wir
kein Mittel, die in Frage stehende echte Kausalität unter seinen
Momenten von deren nur zufälliger, innerlich unverknüpfter Auf-
einanderfolge in der blofsen Zeit zu unterscheiden. Zugegeben, dafs
die Kausalität als Form nicht aus der Erfahrung stammt, so gewinnt
sie doch ihre Verwirklichung jedenfalls nur vermittels der Induktion
aus inhaltlich übereinstimmend verlaufenden Ereignissen. Aus diesen
erst gestaltet unser Erkennen eine reale Darstellung der Kausal-
Kategorie in der Form eines inhaltlich festgelegten „Gesetzes" und
erst von diesem entlehnt es das Recht, die sinnlich-zeitliche Er-
scheinungsfolge mit der unsinnlich-innerlichen Kausalität zu durch-
flechten; diese würde, ohne jene inhaltliche Analogie der Gescheh-
nisse, unserem Erkennen keine Handhabe zu ihrer Anwendung
bieten. Darum mag das oben Beschriebene, das man die individuelle
Kausalität nennen könnte, objektiv bestehen; erkennbar ist uns
Kausalität niemals so , sondern nur in der Form eines allgemeinen
Gesetzes, das an ein Geschehens -Moment eine bestimmte Folge
knüpft, wo und wann auch immer jenes als das gleiche auftritt.
Immerhin eröffnet es auch als blofse Denkmöglichkeit einen
hypothetischen Ausblick auf psychologische Strukturverhältnisse.
Die bisher unüberwundene Schwierigkeit, Gesetze des Seelenlebens
zu entdecken, die frappierende Häufigkeit, mit der die Seele aus
scheinbar völlig gleichen Voraussetzungen völlig verschiedene Folge-
erscheinungen hervorgehen läfst, könnte irgendwie darauf zurück-
gehen , dafs innerhalb der psychischen Vorgänge jene individuelle
Kausalität herrscht. Mit der „Freiheit", die jeden Moment des inneren
Lebens von der Bestimmung durch seine Antezedentien losbindet,
würde dies freilich — mangels der Möglichkeit, Kausalität anders
als in der Form allgemeiner Gesetze zu erkennen — die äufsere
Erscheinung teilen , im Wesen aber nichts mit ihr zu tun haben.
Die ursächliche Bindung wäre genau so streng wie die nach all-
gemeinen Naturgesetzen, nur dafs sie nicht an die Wiederholung des
identischen Inhalts gebunden wäre. Das bisherige Problem der
Freiheitslehre: wie die Kausalität sich mit dem scheinbar gesetzlosen
Wechsel innerhalb unseres Seelenlebens vereinigen liefse — ist un-
lösbar, solange man Kausalität nur in der Form des allgemeinen
Gesetzes denkt, in der allein sie freilich erkennbar ist. Löst man
aber diese beiden Begriffe voneinander und gibt zu, dafs Kausalität
in individueller Form mindestens möglich ist, so verkündet die
Verhindert die Unklarheit über die Kräfte der einzelnen
Teile, die ein historisches Ereignis zusammensetzen, schon
durch diese Betrachtung ihres blofsen Nebeneinanderbestehens
die Aufstellung eines wirkungsvollen historischen Gesetzes,
so wird die Schwierigkeit eines solchen noch viel gröfser,
wenn man die individuellen Kräfte und Ereignisse als die
Ursachen betrachtet, die das an der Oberfläche erscheinende
und als Glied eines Gesetzes bezeichnete Ereignis erst
hervorbringen. Wir hören z. B. als Gesetz aussprechen,
dafs die Geschichte jedes politischen Ganzen mit der
geistigen und bürgerlichen Freiheit Weniger beginne, von
da zu der Mehrerer und endlich zu der Aller fortschreite;
von diesem Höhepunkte iinde wieder ein Zurückgehen der
Bildung, Freiheit und Macht zu den Wenigen und den
Einzelneu statt. Nun ist doch die urs])rüngliche Beschränkung
dieses Zustandes von Glückseligkeit und Freiheit auf Wenige
offenbar nicht die zulängliche Ursache, aus der er nachher
auf Mehrere, und diese Verbreitung nicht die Ursache, aus
der er dann auf Alle übergeht. Und die Tatsache, dafs
Alle ihn besitzen , entfaltet aus sich heraus nicht die reale
Kraft, die ihn nachher auf Wenige einschränkt. Oder es
wird uns als Gesetz der historischen Entwicklung genannt,
dafs die Nationen und die Individuen den Weg über Kind-
heit, Jugend, Mannheit und Greisenalter zurückzulegen
hätten und dafs dem die geistigen Gesamtepochen der
Spekulation, des Glaubens, der Vernunft und des geistigen
Verfalls entsprächen. Offenbar sind auch hiermit die wirk-
lichen Kräfte nicht bezeichnet, die ein Zeitalter in das
andere überführen. Wenn eine Nation in einer gewissen
Epoche gläubig ist, so begreifen wir dadurch noch gar
nicht die notwendigen Anknüpfungen, die sie dann in eine
Unwiederholtheit der psychischen Folgen durchaus keine losgebundene
Freiheit, sondern nur, dafs sich die unbegrenzte Gültigkeit des natur-
gesetzlichen Kausalinhalts zu einer — im Grenzfall — einmaligen
Wirkung zusammengezogen hat. — Da alle Historik in letzter Instanz
nur seelische Ereignisse zum Inhalt hat, so liegt es nahe, diese
Überlegung auf den ßogriflF der historischen Gesetze anzuwenden.
Sie würde begreiflich machen, dafs die Individualität der Ereignisse
der Ableitung aus allgemeinen Gesetzen widerstrebt, ohne doch wie
zufällig und ursachlos entstanden in der Luft zu schweben.
— to —
Epoche des vernunftmäfsigen Forschens überführen. Dis
Jugend eines Volkes ist noch durchaus nicht die zureichende
Ursache, durch die es später zur männlichen Reife gelangt.
Vielmehr, angenommen selbst die so ausgesprochene Reihen-
folge der Zustände sei durchgängig beobachtbar, so würde
damit noch immer nicht ihr innerer und kausaler Zusammen-
hang, d. h. ihr Gesetz, entdeckt, sondern nur ein — bisher —
regelmäfsiges Folgen von Phänomenen festgestellt sein.
Oder endlich: die Produktionsforraen jeder gegebenen
Wirtschaftsepoche sind zunächst den Produktivkräften der-
selben angemessen ; innerhalb ihrer aber steigern diese
letzteren sich unaufhaltsam , bis ihre 'Formen ihnen nicht
mehr genügen und sie diese, erstarrten und veralteten,
endlich sprengen, um sich neue, dem jetzigen Mafs der
Produktivkräfte angemessene zu schaffen. Die treibenden
Kräfte, welche dieser Formel gemäfs die Urproduktion der
Oens in die Sklavenwirtschaft überführten, die Feudalform
in die liberale, die Hauswirtschaft in die Produktion für
den Markt, die Fronleistung des Schollenpflichtigen Bauern
in die Arbeit des freien Lohnarbeiters — diese Kräfte
werden durch jenes „Gesetz" keineswegs kenntlich gemacht,
sondern nur die Abfolge der Erscheinungen an der Ober-
fläche des geschichtlichen Lebens wird mit ihm beschrieben.
Es wäre absolut unmöglich, aus einer gegebenen Produktions-
form mit Hilfe dieses Gesetzes die Art der nächsten zu ent-
wickeln — während jedes wirkliche Naturgesetz das Ent-
sprechende bei gegebener Ursache leisten mufs. In solchen
Beispielen werden Gesamtzustände, welche die erscheinende
Folge sehr vieler Einzelbewegungen und Kräfte sind, in
ihrem — überdies sehr ungewissen — Zeitverhältnis vor-
geführt; dafs der eine in den anderen übergeht, ist das
Resultat des Wirkens sehr vieler spezieller Gesetze, aber
nicht selbst ein Gesetz. Es verhält sich dies gerade so,
wie wenn man das Gesetz aussprechen wollte: die Arten
der Lebewesen ändern in einer Weise ab, die ihre Organe
in ein Verhältnis immer steigender Anpassung zu den um-
gebenden Lebensbedingungen setzt. Angenommen, dies ge-
schähe wirklich und ausnahmslos, so wäre es doch nur
die Folge unzähliger einzelner Wirkungen zwischen den
Organismen und ihrer Umgebung, welche Wirkungen, jede
— 74 —
für sich , besonderen Gesetzen unterliegen. Jener Satz be-
zeichnet nur den Erfolg regelmäfsig zusammenwirkender
Gesetze, er ist kein Begründendes, sondern ein Begründetes.
Die zeitlichen Beziehungen so komplizierter Erscheinungen
sind nicht als Gesetze zu bezeichnen , wenn das Gesetz
wirklich die Ursache angeben soll, welche in der einzelnen
Erscheinung wirkt. Darum dürfen sogar die sogenannten
Keplerschen Gesetze nicht als Naturgesetze im strengen
Sinne gelten. Es ist keine allgemeine Naturkraft anzunehmen,
welche nur darauf gerichtet, deren Inhalt es wäre, dals der
Radius vector der Planeten in gleichen Zeiten gleiche
Flächen bestreicht; dafs sie sich so bewegen, ist die Folge
von Gesetzen, die an einem gewissen vorgefundenen Zustand
der Materie die Bedingungen ihrer Wirkung linden, aber
nicht der Inhalt eines Gesetzes selbst. Ein solches ist viel-
mehr erst das Newtonsche Gravitationsgesetz. Dieses macht
die primäre, zwischen Sonne und Planeten tatsächlich wirk-
same Kraft bekannt, deren Gestaltung zu dem Falle unseres
Planetensystems relativ zufällig ist. Gesetzmäfsig freilich
sind die Bewegungen innerhalb dieses, die Keplers Gesetze
beschreiben, durchaus, wie es durchaus gesetzmäfsig ist,
dafs A dem B auf der Strafse begegnet. Allein man wird
darum kein Naturgesetz annehmen, welches diese Begegnung
bestimmte, sondern ihre Gesetzmäfsigkeit liegt in den unter-
halb der Erscheinung der Begegnung sich abspielenden Be-
wegungen, den psychologischen und physiologischen Impulsen
und Atomvorgängen, deren Kreuzung zu jenem Erfolge führte.
Dafs sie sich aber kreuzten, ist nicht wieder in demselben
Sinne gesetzmäfsig, wie sie selbst es sind ; dies ist vielmehr
eine Erscheinung höherer Ordnung, wenn man will: eine
nur im subjektiven Bewufstsein geschehende Synthesis ein-
facher Reihen, welche letztere allein die den Gesamteffekt
produzierenden Ursachen und also auch allein die Gesetz-
mäfsigkeit derselben enthalten. Und endlich ein einfachstes
Beispiel. Die Bildungsgesetze, die in der Palme wirksam
sind, lassen sie zu einer von allen anderen Bäumen charakte-
ristisch verschiedenen Form aufwachsen. Trotzdem wird
niemand behaupten, dafs es besondere Palmenwachstums-
gesetze in der Natur gäbe. So entwickelt sich das historische
Material zu bestimmten , von allem sonstigen Weltinhalt
- 75 —
unterschiednen Formen , ohne dafs man das Recht hätte,
von besonderen Gesetzen des historischen Werdens zu
sprechen. Gewifs ist es ein gesetznicäfsiger Vorgang, wenn
die Freiheit und die Höhe der Lebenshaltung von der
Minorität zur Gesamtheit auf- und von dieser wieder zu
jener absteigt; oder wenn dem Zeitalter der Spekulation
ein Zeitalter des Glaubens und diesem ein solches der
Forschung folgt. Allein wir dürfen kein besonderes Gesetz
annehmen, welches den einzelnen Ereignissen, deren Erfolg
jene Übergänge sind, ihr Zusammentreffen zu eben diesem
bestimmten Gesamtresultat vorschriebe. Es erhebt sich nicht
ein höheres Gesetz über den niederen Gesetzen, die die
Bewegungen der einzelnen Elemente regulieren, so dafs
jedes dieser letzteren einer doppelten Gesetzgebung — gleich
dem Angehörigen eines Bundesstaates ■ — unterläge; dies
wäre ein völliger Anthropomorphismus. Das einzig Reale
sind die Bewegungen der kleinsten Teile und die Gesetze,
welche diese regeln ; wenn wir eine Summe dieser Be-
wegungen zu einem Gesamtgeschehen zusammenfassen , so
kann für dasselbe nicht ein besonderes Gesetz beansprucht
Averden, da schon durch jene primären Gesetze, und allein
durch sie, jede überhaupt stattfindende Bewegung ihre
zureichende Erklärung und Zurückführung auf die ver-
ursachende Kraft findet.
Verfolgt man indes diesen Gedanken weiter, so gelangt
man an einen Punkt, von dem an seine Richtung umbiegt.
Wenn die Bewegungsverhältnisse der Planeten, die die
Keplerschen Gesetze feststellen, blofse Tatsächlichkeiten
sind, vergleichbar dem beobachteten Aufeinanderfolgen
historischer Gesamtzustände — so bezeichnet doch schliefs-
lich auch die Attraktion der Stoflfteile im umgekehrten
Verhältnis des Entfernungsquadrates nur ein beobachtetes
Neben- oder Nacheinander von Lageverhältnissen; wenn
man sie die wahre Ursache für die relativ zufälligen Tat-
sachen der Keplerschen Gesetze nennt, weil sie für die
einfachen Elemente , diese aber für den Komplex von
Totalerscheinungen gälten — so steigert man eben einen
graduellen Unterschied zu einem absoluten. Die Analyse
in die einfachen Elemente und ihre Beziehungen ist, wie
gleich zu zeigen, ein problematisches Unternehmen. Wie
— 76 —
oft sind irgendwelche Wesenheiten für letzte Bestandteile,
ihre Bewegungen für unmittelbare einheitliche Aufserungen
der einfachen realen Kräfte gehalten worden, bis sich
ergab, dafs es sich auch hier um Resultanten mehrerer
Kräfte, um Formungen sehr viel einfacherer Elemente
handelte. Wir können nicht wissen , ob sich nicht auch
die Attraktion der Stoffe eines Tages als ein Erfolg
des Zusammenkommens verschiedenartiger Bedingungen
und Kräfte enthüllen wird. Dann würde die Ursache der
Gravitationserscheinungen nicht mehr in der Gültigkeit eines
besonderen Gesetzes liegen, sondern darin, dafs die zu-
fälligen Umstände von Zeit und Raum mehreren Gesetzen
die Möglichkeit gaben, zu wirken und sich zu der kom-
plexen und sozusagen historischen Erscheinung zusammen-
zufinden, die das Kewtonsche Gesetz — jetzt seinerseits ein
Begründetes und kein Begründendes — angibt.
Der prinzipielle Gegensatz , um dessen erkenntnis-
theoretische Bedeutung es sich hier handelt, wird in der
Hauptsache mit dem der gesellschaftlichen Gruppe zum
Individuum zusammenfallen. Historische Gesetze betreffen
in der Regel die Schicksale und Entwicklungen von Gesamt-
heiten, als deren einfaches Element der Einzelmensch gilt.
Ist also Avirklich ein Geschehen erst dann in seiner Gesetz-
lichkeit begriffen, wenn seine Komplexität in die Gesetze
seiner einfachen Teile analysiert ist, so wären die proble-
matischen „Gesetze" der individuellen Psychologie die
eigentlichen Gesetze der Historik, da die Gruppen nur
Existenzen zweiter Ordnung seien, nur Komplikationen aus
jenen einfachen Elementen, denen allein ein eigentlich sub-
stantielles Dasein und deshalb allein eine direkte Kausalität
und Gesetzlichkeit zukämen. So „existieren" die Farben-
moleküle, die Buchstaben, die Wasserteilchen; aber das
Gemälde, das Buch, der Flufs seien nur Zusammensetzungen
dieser einfachen Wesenheiten , Formen , die sie annehmen,
sei es in dynamischem Sich-Ineinander-Verweben , sei es
durch ihr Zusammenkommen in einem Bewufstsein. Allein
in dieser Konsequenz kann die logische Analyse überhaupt
kein noch greifbares Objekt als unmittelbare Wirklichkeit
zulassen: jene Elemente, die ich eben als Beispiele der
einfachen und deshalb allein realen Existenz anführte, sind
— ( ( —
selbst schon hoch zusammengesetzte Wesen, und die Frage
nach ihren Elementen kann schliefslich nur an dem ab-
soluten Atom halt machen ; an diesem erst haftet die Wirk-
lichkeit letzter Instanz, und ihm gegenüber ist jegliches
empirische Element nur eine sekundäre, blofs historische
Realität, eine Folge jener tiefst gelegenen Ursachen, aber
nicht der Träger originaler Gesetzlichkeiten. Da dieses
Atom aber ein imaginäres Gebilde ist, eine Hilfskonstruktion,
um gewissen Forschungsrichtungen ihr im Unendlichen
liegendes Ziel als Augenpunkt zu geben — so mufs die
objektive, fundamentale Einheit aus dem Aufbau der wissen-
schaftlichen RealitätsbegrifFe schlechthin verschwinden; an
ihre Stelle treten diejenigen Einheiten, aus denen die Er- \
scheinungen zusammenzusetzen das Interesse der einzelnen ,
Erkenntnisart fordert. Für den Strategen ist eine Baum- 1
gruppe eine Einheit, die ihm mit anderen Elementen zu-
sammen das ihm wichtige Gelände ergibt; dem Forstkundigen
ist der einzelne Baum die Einheit in der ihn interessierenden
Gesamterscheinung; dem Pflanzenphysiologen ist dies die
Zelle des einzelnen Baumes; dem Chemiker die chemischen
Konstituentien der Zelle. Einheit und Zusammengesetztheit I
sind also relative Begriffe, die durchaus nicht dem Gegen- )
satz der Realität und des nur abgeleiteten, durch Kora-
bination entstandenen Gebildes korrespondieren. Sie sind
vielmehr beide gleichmäfsig Kategorien des Erkenn ens,
die jeder, je nach der Art seines Problems, auf die Er-
scheinungen verteilt, sind also beide im metaphysischen
Sinne subjektiv und beide im erkenntnistheoretischen Sinne
objektiv. Es steht also keineswegs von vornherein fest,
dafs die Gesamterscheinungen des geschichtlichen Lebens
erst dann aus ihren Gesetzen begreiflich wären, wenn dies
die erkannten Gesetze der individuellen Existenzen wären.
Wie vielmehr der Forstkundige sehr wohl weifs, dafs der
Baum, der die Einheit des von ihm bearbeiteten Erscheinungs-
komplexes ist, im objektiven Sinne durchaus keine letzte
Einheit ist, er aber darum doch auf dieser Basis die Regel-
mäfsigkeiten jenes Komplexes immer genauer, dem „Gesetze"
sich nähernd , verfolgt — so könnten sehr wohl die Er-
kenntnisinteressen der Geschichte gestatten oder als ihr
spezifisches Apriori fordern, dafs die gesellschaftliche Gruppe
— 78 -
als ihre „Einheit" funktioniere. Von der Überzeugung «aus,
dafs keinerlei Einheit absolut, sondern jegliche nur durch
die Sonderbedürfnisse jedes Wissenszweiges bestimmt ist,
kann man keinen prinzipiellen Grund mehr sehen, aus der
sozialen oder sonstigen Komplexität der geschichtlichen
Erscheinungen die Unmöglichkeit geschichtlicher Gesetze
abzuleiten. Die Kardinalfrage ist nur, ob die Historik
wirklich , aus ihren inneren Bedingungen heraus , an der-
artigen Kom])lexen halt machen kann oder mufs, ob ihre
Erkenntniszwecke sie wirklich darauf verzichten lassen, jene
Begriffe höherer Ordnung, mit denen die historischen Ge-
setze operieren, auf die schlechthin individuellen Vorgänge
zu reduzieren. Auf den ersten Blick erscheint dieser Ver-
zicht freilich ganz unzulässig. Denn jene in der äufseren
Natur niemals erfafsbare Einheit ist, mindestens in einer
Hinsicht, an der individuellen Seele gegeben — wenn sie
auch für die moderne Anschauung etwas anders aussieht,
als für den Glauben an die metaphysische Seelensubstanz.
Die Seele ist deshalb eine Einheit, weil, Avas wir Einheit
nennen, überhaupt nur durch die innere Selbsterfahrung
des Ich zustande kommt. Dafs ein Umkreis von Vor-
stellungen auf einen absoluten Mittelpunkt bezogen wird,
dafs eine Vielheit von Bestinmmngen unzerreilsbar zu-
sammenhängt — das ist nur im seelischen Leben gegeben ;
äufserlich-räumliche Elemente, die als solche in ein unauf-
hebbares Nebeneinander gebannt sind, gewinnen als Bestand-
teile eines Satzes eine Einheit, ein Ineinander, zu denen
es aufserhalb des Bewufstseins keinerlei genaues Gegenbild
gibt. Erst von dorther und nur in einem Gleichnis kann
der Begriff der Einheit in das unpersönliche Sein eingreifen.
Es besteht also nicht ein selbständiger Jiegriff von Elinheit,
der auch auf das menschliche Individuum anwendbar wäre,
sondern umgekehrt: P^inheit ist nichts als der Name für die
eigentümliche Lebensform der Seele, so dafs sie dieser
letzteren freilicli unvermeidlich zukommen mufs.
Haben wir also am menschlichen Bewufstsein, weil
seine Funktion die Vereinheitlichung des objektiv Mannig-
fiiltigen ist, die einzige wirkliche, uns zugängige'Einheit,
so ist die jjersönliche Seele das absolute Element der
komplexen Gebilde, deren P^ormen und Schicksale die
— 79 —
Historik beschreibt. Und so wäre denn doch , in diesem
einzigen Falle, der Punkt genau bezeichenbar, bis zu dem
die Analyse der Komplexitäten gehen und von dem aus
diese aufgebaut werden müfsten , um der Erkenntnisforde-
rung restlos zu genügen • und dieses Element ist sehr viel
konkreter, liegt keineswegs ebenso im Unendlichen, wie jene
absolut einfachen Elemente, deren Synthesen erst die voll-
kommene Erkenntnis der Körperwelt auszumachen scheinen.
Auf allen sonstigen Gebieten mag es zweifelhaft bleiben, ob
die Forschung wirklich bis zu den letzten ihr erreichbaren
Elementen der Erscheinungen gedrungen ist, für die die
Gesetze der realen Energien gelten und denen gegenüber
die unmittelbaren, komplexen Erscheinungen nicht mehr
eigne Gesetzlichkeiten, sondern nur Einzelerfolge und zu-
fällige Verwebungen bedeuten ; hier allein scheint es sicher:
die Einzelseele ist das Element der geschichtlichen Ereig-
nisse, hinter das auf kein noch einfacheres zurückgegangen
werden kann. Demzufolge würde jedes kollektive Ereignis,
z. B. die Schlacht bei Marathon, erst dann „verstanden"
sein, wenn wir die Lebensgeschichte jedes Griechen und
jedes Persers bis zu dem Punkte kennten, an dem sein
Verhalten in der Schlacht psychologisch begreiflich aus
seiner gesamten inneren Entwicklung hervorgeht. Die
psychologischen Gesetze, unter deren Voraussetzung diese
„Begreiflichkeit" eintritt, wären demnach Gesetze der Ge-
schichte — ■ wie die physiologischen und chemischen Gesetze,
die den Aufbau der Zelle zu einem Baume begreiflich
machen, eben Gesetze des Pflanzenlebens sind.
Allein wenn diese phantastische Forderung selbst erfüllt
wäre, so würde die gesuchte Vollständigkeit der Erklärung
noch immer ausstehen. Denn um dieser willen müfste man
jeden einzelnen der seelischen Inhalte zu seinen psychischen
und geschichtlichen Ursprüngen jenseits des persönlichen
Bewufstseins zurückverfolgen. Unzählige Einflüsse des
physischen, kulturellen, personalen Milieus, von überallher
angesponnen , in unendliche Zeitweiten hinüberreichend,
mufsten sich in jedem der Marathonkämpfer treffen, um
sein Verhalten in der Schlacht zu erzeugen. Nicht die Ge-
setze also, die innerhalb der individuellen Seelen die in
ihnen gegebenen Inhalte sich zu den geschichtlich ge-
— 8») —
nannten Erfolgen verweben lassen , machen diese letzteren
hinreichend begreiflich; sondern nur jene andern, in alle
Provinzen des Weltgeschehens eingreifenden, die die indivi-
duellen Seeleninhalte erst ihrerseits genetisch erklären und
die Entwicklungsreihen beherrschen, in denen das Auf-
tauchen dieser Inhalte nur eine Station bedeutet. Der
Schlufs aus der Einheit der Seele auf den definitiv realen
Charakter ihrer als historischen Elementes und auf den
daraus sich ergebenden Wert der psychologischen Gesetze
als historischer — übersieht, dafs die Einheit, zu der das
persönliche Seelenleben die in ihm angeregten Inhalte zu-
sammenschliefst, nur eine formale, funktionelle ist, während
diese Inhalte selbst zu ihrer Erklärung weit darüber hin-
ausreichende Gesetzlichkeiten des gesamten Weltenlaufes
fordern. Die Elemente des Seelenlebens haben gesonderte
Ursprünge, nach deren genetischer Entwicklung zu fragen
uns durch die Einheit, zu der sie in einer bestimmten Seele
zusammengehen, nicht erspart wird. Müssen wir also über-
haupt von den komplexen und miteinander verwebten Er-
scheinungen, die wir Geschichte nennen, auf ihre Elemente
und deren Schicksale zurückgehen , um die Gesetze der
Geschichte zu finden, so ist auch die individuelle Seele,
deren Einheit uns dieses einfache Element zu bieten schien,
dazu nicht zulänglich; denn nicht die seelische Einheit,
sondern ihre Inhalte machen das historische Geschehen aus,
und diese finden in ihr selbst und ihrer Gesetzlichkeit
keineswegs ihre hinreichende genetische Begreiflichkeit.
Von diesem Punkte aus, an dem nun selbst die Re-
duktion auf das einfache historische Element des Individuums
die naturwissenschaftliche Gesetzesforderung an das histo-
rische Material unerfüllt läfst — eröffnen sich zwei Wege,
um dem Problem der historischen Gesetze positive Be-
deutungen abzugewinnen. Der erste sucht den absoluten
oder definitiven Erkenntniswert, den die Kritik jeglicher
Form der historischen Gesetze abgesprochen hat, mindestens
als einen relativen oder provisorischen zurückzuerobern.
Gewifs ist die Erkenntnis der Gesetze, die die Bewegungen
der kleinsten Teile ergeben und allein die wirksamen Kräfte
auch des historischen Geschehens kenntlich machen würden,
ein im Unendlichen liegendes Ziel. Wenn nun das, was
— 81 —
als historische Gesetze gefunden oder gesucht ist, doch auf
dem Wege zu diesem unerreichbaren Ziele läge, so würde
sein Anspruch auf exakte Geltung zwar ein Selbstmifsver-
ständnis, aber keine Annullierung seines Wertes bedeuten;
die historischen Gesetze würden dann vielmehr jenen philo-
sophischen Antizipationen gleichen, mit denen die Erkennt-
nis, noch in weitem Abstand von der Wirklichkeit der
Dinge, einen allgemeinen Überschlag über sie gewann. Der
Gang der wissenschaftlichen Erkenntnis ist doch der, dafs
zuerst ganz allgemeine Normen, höchst umfassende Prin-
zipien aufgestellt werden und erst ein langer Differenzierungs-
prozefs dazu gehört, um die einzelnen Teilvorgänge zu
Problemen werden zu lassen. Mit weiten Begriffen und
allgemeinen Reflexionen beginnt das wissenschaftliche
Denken, es verengert sich in dem Mafse, in dem es ex-
akter wird; mit wenigen höchsten Vorstellungen will es
die Gesamtheit des Seins umfassen und erst nach unzähligen
Versuchen und Verirrungen in den Höhen der Abstraktion
beginnt es mit der Analyse der komplexen Begriffe und
Erscheinungen und verfolgt nun die gesonderten Fäden aus
dem Gewebe, das es vorher als Ganzes und ohne Kenntnis
seiner Struktur meinte beurteilen zu können. Irgend eine
Form des Geschehens, die an der Oberfläche der Erschei-
nungen beobachtet ist, wird zum allgemeinen Gesetz er-
hoben, bis man die Zufälligkeit in dem Zusammenkommen
seiner Faktoren erkennt und nun die Form der letzteren
für das wirklich allgemeine Gesetz hält, bis sich oft genug
an dieser der gleiche Prozefs wiederholt. Es ist im ganzen
der Weg von der philosophischen zur exakten Erkenntnis
der Dinge, der diese Stationen berührt. Die metaphysische
Reflexion greift eine Erscheinung heraus, die sie mehrfach
wiederholt sieht, und macht sie zum Mafs aller Dinge. Und
sie legt dieses Mafs nun unmittelbar an die komplexen
Verhältnisse des Empirischen an; ihr Material sind die
kompliziertesten Erscheinungen; sie begnügt sich gröfsten-
teils mit dem allgemeinen Eindruck, den das Zusammen-
wirken der realen Faktoren auf uns hervorbringt und den
sie auf ein einheitliches Grundgeschehen projiziert; sie ver-
schmäht es in der Regel, diese Erscheinungen selbst erst in.
Simmel, Geschichtsphilosoi hie. 2. Aufl. 6
— 82 —
ihre Bestandteile zu zerlegen. So ist Philosophie in dieser
Richtung eine vorläulige Wissenschaft, deren allgemeinere
Begriffe und Normen uns solange zur Orientierung über
die Erscheinungen dienen, bis die Analyse derselben uns
zu der Erkenntnis ihrer realen Elemente und zur exakten
Einsicht in die unter diesen wirksamen Kräfte verhilft.
Die Metaphysik hat freilich diesen Überschlag über die
Erscheinung der Dinge sogleich als deren letzten Urquell
geschätzt und die Distanz von der Wirklichkeit, die eigent-
lich nach der Seite ihrer Oberfläche, ihres ersten subjektiven
Eindrucks hin lag, wie durch eine Achsendrehung hinter
die Wirklichkeit, als ihren absoluten Grund, verlegt, und
hat durch dieses Starrwerden an der ersten Station ihre
Entwicklung zu differenzierterer und damit dem Objekte
wirklich näher kommender Erkenntnis unendlich erschwert.
Dennoch ist ihr damit eine erste Vereinheitlichung und
geistige Beherrschung der Erscheinungen gelungen, die für
wertlos zu halten, weil sie ein Anfang und kein Ende ist,
nur dem empiristischen Hochmut einfallen kann. Gibt
man selbst von bestimmten, geschichtlich vorliegenden
Problemkreisen der Philosophie zu, dafs sie zum Abgelöst-
werden durch die exakten Wissenschaften bestimmt sind,
so bleibt doch das Recht der Philosophie an sie so lange
unbestritten, bis diese Ablösung erfolgt ist. Die Zahl der
kosmischen Erscheinungen ist eine so bunte, verwirrende,
in tausendfachen Wirbeln und Kreuzungen sich bewegende,
dafs die erste Orientierung über sie nicht wohl anders er-
folgen kann, als indem man irgend eine vielfach • — ■ in un-
mittelbarer oder interpretierter Wirklichkeit — beobachtete
Tatsache, wie den Flufs der Dinge oder ihren einheitlichen
Zusammenhang oder eine Beziehung der Körperwelt zum
Geistigen oder die Abhängigkeit von einer unerklärbaren
Macht, in den Mittelpunkt des Weltbildes stellt und nun
die Gesamtheit der Erscheinungen darauf zurückzuführen
sucht. Mag dies nur mit vielem liiegen und Brechen
möglich sein, so wird man immerhin so einen allerersten
Leitfaden gewinnen , um sich nicht im Gewirre der Er-
scheinungen zu verlieren. Die Metaphysik hat den formalen
Wert, überhaupt ein vollendetes Weltbild nach durchgehen-
den Prinzipien anzustreben — einen Wert, der von den
- 83 —
materiellen Irrtümern ihres Inhalts ganz unabhcängig ist und
selbst dann besteht, wenn ganz andere als philosophische
Denkart unserem Erkenntnistriebe Erfüllung gibt. In ihr
zuerst ist die Voraussetzung lebendig geworden, dals die
Welt überhaupt ein zusammenhängendes Ganzes sei und
als solches begriffen werden könne, dafs der ganze Umfang
ihrer Erscheinungen, deren weit überwiegenden Teil wir
nicht kennen, dennoch mit unseren Begriffen kommensurabel
und ohne Rest durch sie zu verstehen sei — ein Gedanke,
der wahrscheinlich nie entstanden wäre, wenn er auf einen
sachlich fehlerlosen Inhalt hätte warten sollen. So ist die
Philosophie eine Antizipation der realistischen Erkenntnis,
ein intellektuelles Ergreifen der Welt in Bausch und Bogen,
das nach der Struktur unseres Geistes dem Erkennen ihrer
einzelnen und wahrhaft wirksamen Kräfte vorangehen mufs.
Von den unzergliederten Phänomenen , die nach oberfläch-
lichen und einseitig betonten Ähnlichkeiten auf je eine von
ihnen als auf ihre Substanz und ihr Gesetz zurückgeführt
werden, leitet eine allmähliche Differenzierung zu der Er-
kenntnis der Elemente und der primären, zwischen ihnen
spielenden Kräfte, in denen allein die Gesetzmäfsigkeit der
Welt ruht.
Dieses Entwicklungsschicksal unserer Erkenntnis vom
Ganzen der Welt wiederholt sich gegenüber den einzelnen
Gebieten derselben. Die kosmische Metaphysik setzt sich
in eine Metaphysik der Teile des Kosmos fort. Ich glaube,
dafs die sogenannten historischen Gesetze in derselben Weise
eine Antizipation der exakten Erkenntnis geschichtlicher
Vorgänge sind, wie die metaphysischen Vorstellungen eine
solche für das \^'eltgeschehen überhaupt. Freilich nicht als
Gipfelpunkt des Erkennens, sondern als Ausgangs- oder
Durchgangspunkte für dieses sind sie bedeutsam. Solange
die Gesetze, Avelche die realen Beziehungen der kleinsten
Teile aussprechen, aus denen das geschichtliche Leben sich
zusammensetzt, uns unbekannt sind, halten wir uns an ge-
wisse Regelmäfsigkeiten seiner Oberfläche ; ohne unter diese
hinabzusteigen, fassen wir Erscheinungen zu abstrakten
Regeln zusammen, die freilich im tieferen Sinne nichts er-
klären, aber doch eine erste Orientierung über die Gesamt-
lieit des geschichtlichen Lebens an die Hand geben , und
6*
— 84 —
durch allmähliche Differenzierung und immer weitergehende
Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen eine
Annäherung an die Bevvegungsgesetze der Elemente er-
möglichen. Philosophische Reflexionen schafften zuerst vor-
läutige Vorstellungen über Bewegung und Zusammenhang
der kosmischen Stoffe, über die Stufenreihe der organischen
Formen und ihre Entwicklung, über die mathematische Be-
stimmtheit alles Seins und vieles andere, das die exakte
Wissenschaft ilann aus der Form der Ahnung und der Ab-
straktion, aus den Wahrnehmungen sozusagen unbewaffneter
Augen in die Erkenntnis realer, aber unter der Oberfläche
der Erscheinungen gelegener Kräfte überführte; und ent-
sprechend bringen uns die historischen Gesetze: über die
Differenzierung und Integrierung der Gruppen , über die
materiellen oder geistigen Triebkräfte ihrer Bewegungen,
über den Turnus der Regierungsformen, über das An-
schwellen und Abnehmen ihrer Lebensäufserungen — diese
bringen uns vorläufige Zusammenfassungen der typischen
Erscheinungen der Geschichte, erste Orientierungen über
die Masse der Einzeltatsachen ; wie es für die Metaphysik
gilt, wird die spätere Erkenntnis der wirkenden Gesetze sie
wohl nicht völlig dementieren, sondern ihnen neben dem
unverlierbaren formalen Werte, den sie als Orientierung
und Überblick besitzen, auch noch den einer teilweisen
Antizipation der materiellen Wahrheit lassen. Hier also
liegt die Erklärung jener Wunderlichkeit, nach der der
Beginn dieses Kapitels fragte: wieso die Aufstellung der
Gesetze der Geschichte Sache der Philosophen Aväre — sie
liegt darin , dafs sich die augenblicklich möglichen histo-
rischen Gesetze zu den real wirksamen, mit den Natui-
gesetzen vergleichbaren, so verhalten, wie sich das philo-
sophische Erkennen zu dem exakt wissenschaftlichen ver-
hält. Die spekulative Erkenntnisartist ein Pi'äliminarstadium^
eine Zwischenstufe zwischen der beobachteten komplexen
Einzeltatsache und ihrer Konstruktion aus den Gesetzen,
die ihre Elemente bestimmen.
Von diesem Gesichtspunkt aus werden die Widersprüche
der einzelnen sogenannten historischen Gesetze untereinander
weniger unerträglich, ebenso wie die metaphysischen Prin-
zipien keineswegs darum allen Wert verlieren, weil das eine
— bo —
das direkte Gegenteil des anderen behauptet. Die Weite
des Erfahrungskreises, aus dem philosophische Reflexion
schöpft, gewährt den mannigfaltigsten Grundsätzen Anregung
und Bestätigung. Der Wechsel in allem scheinbar Be-
harrenden wie die Dauer in allem scheinbar Wechselnden,
die zweckmäfsige Anordnung wie die sinnlose Zufälligkeit
des Weltgeschehens, der Einflufs der Subjektivität wie die
unbeugsame Bestimmtheit der Natur — jede dieser Ver-
schiedenheiten kann bei hinreichendem Umfang des Beob-
achtungsfeldes mit gleichmäfsiger Sicherheit gewonnen und,
auf Grund des Einheitstriebes unserer Natur die übrigen
ausschliefsend, zum Mittelpunkt der Weltanschauung werden.
Die stückweise und einseitige Bildung unserer Begriffe be-
wirkt, dafs jeder bei seiner Anwendung auf das Ganze der
Welt durch einen oder viele andere ergänzt werden mufs;
und so hat jeder von ihnen eine relative Berechtigung, die
das metaphysische Denken zu einer absoluten macht. Aber
dies ist nicht in demselben Mafse nutzlos, in dem es irrig
ist. Denn wie weit sich die Geltung eines Prinzips tat-
sächlich ei'sti-eckt, ergibt sich in der Regel erst nach dem
Versuch, es auf alle überhaupt vorkommenden Fälle anzu-
wenden; die Täuschung, die es als ein konstitutives Gesetz
ansieht, hat doch den tatsächlichen Erfolg, dafs es als
heuristische Maxime gewissermafsen probeweise oder regu-
lativ angewandt wird, und so der volle Umkreis seiner
Anwendbarkeit festgestellt wird. Wenn man also z. B.
durch eine Reihe von Beobachtungen ein gewisses Gesetz
des moralischen Fortschritts in der Geschichte gefunden zu
haben glaubt, so ist es durchaus gerechtfertigt, wenn man
auf dasselbe hin nun jede Periode untersucht, und versucht,
ob nicht Analyse und Synthese der Erscheinungen es uns
selbst da entdecken lassen, wo ihr erster Anblick Entgegen-
gesetztes zu beweisen schien. Eine ebenso gerechtfertigte
Bemühung wird an den Satz gewandt, dafs ein moralischer
Fortschritt überhaupt nicht stattfände und dafs die wissen-
schaftliche Untersuchung seines scheinbaren Vorkommens die
durchgängige Unveränderlichkeit des ethischen Quantums
ergäbe. Indem beide entgegengesetzte Prinzipien behandelt
werden, als wäre jedes von ihnen das absolut richtige,
dringt jedes an die Grenze seiner Anwendbarkeit, die ihm
— 86 —
das andere setzt, und ergibt sich das relative Mafs seiner
Berechtigung. Gesetze freilich sind dies nicht, denn ein
Gesetz hat keine Grenze seiner Gültigkeit. Allein es sind
Vorbereitungen auf Gesetze, indem durch die Erkenntnis
der gegenseitigen Begrenzung der entgegengesetzten Maximen
die höhere gewonnen wird, die der einen oder der anderen
die Möglichkeit gibt, in die Erscheinung zu treten, Sa
könnte man z. B. das Prinzip der Kraftersparnis als ein
höheres aussprechen, das die einzelnen Situationen bestimmt,
bald ein Bild stagnierender, bald fortschreitender Sittlich-
keit zu zeigen. Und indem nun dieser höheren Norm Av^ieder
eine anders gerichtete entgegenbehauptet wird und das
weitere Gesetz gesucht wird, von dem die Verwirklichungen
beider nur durch die wechselnden Umstände bestimmte
Erscheinungen sind — nähern wir uns immer mehr jenen
höchsten Gesetzen, die die Bewegungen der einfachsten
Teile bestimmen und durch deren Zusammensetzung das
so allein erklärte Spiel der Geschichte veranlassen. Die
Behauptung, dafs derartige Gegensatzpaare: das „Gesetz"
der Individualisierung und das der Sozialisierung , die
Wirksamkeit des blinden Willens und die gleiche der
logischen Idee, das Beharrungsgesetz und das des Flusses
der Dinge — überhaupt zusammenwirken, läfst der Ge-
staltung des einzelnen Falles noch den weitesten Spielraum;
der Inhalt der Gesetze selbst, für sich betrachtet, gibt
durchaus keinen Anhalt für die Konstruktion des gegen-
seitigen Grenzpunktes. Es bedarf also einer höheren In-
stanz, die diesen bestimmt — , worin aber sollte diese
schliefslich liegen, als in den Kräften und Beziehungen der
einzelnen Elemente, an denen entgegengesetzte Prinzipien
erst ihre relativen Quanta gewinnen und über die hinaus sie
blofse Hypostasierungen sind?
Die historischen Gesetze sind eben Spezialgesetze, sie
lassen die Schicksale eines ganzen Gebietes als einer Ein-
heit auseinander hervorgehen, indem sie das Gebiet einer-
seits gegen seine singulären Elemente, andrerseits gegen
den weitesten kosmischen Umkreis abscheiden. Überall da,
wo man einem Komplex eine besondere Kraft beilegt, die
ihm als diesem Komplex und unterschieden von der Kräfte-
summe seiner Elemente zukäme, und wo man — was nur
~ 87 —
ein anderer Ausdrnck hierfür ist — seine Bewegungen
einer besonderen und einheitlichen Kraft unterstellt, da
kann man sicher sein, sich in einem nur vorläufigen Stadium
der Erkenntnis zu befinden. Denn auch hier macht sich
jene allgemeinste Norm psychischer und sozialer Entwick-
lung geltend : sie geht überall aus von einem umgrenzten,
gegen die Umgebung streng gesonderten Gebilde, das seine
Bestandteile zu enger, in sich ungeschiedener Einheit zu-
sammenschliefst; und sie führt von da aus einerseits zur
Sprengung jenes beschränkten Komplexes und seiner
assimilierenden Auflösung in den weiteren und weitesten
Kreis , andrerseits zur wachsenden Differenzierung und
Selbständigkeit seiner einzelnen Bestandteile. Die Tendenzen
auf die weiteste Allgemeinheit und auf die äufserste Einzel-
heit gehören zusammen und bilden geraeinsam den Fort-
schritt über die Komplexe hinaus, deren jeder eine Anzahl
einzelner Bestandteile ohne Berücksichtigung ihrer Indivi-
dualität in sich schliefst und dafür als Ganzes eine indivi-
duelle Besonderheit für sich beansprucht ^). Die gleiche
Entwicklungsform hält der hier fragliche Erkenntnisprozefs
inne. Dies kleine Segment des Weltkreises, die menschliche
Geschichte, schliefst eine grofse Anzahl einzelner Elemente
in sich, die es unter seinen einheitlichen Begriff bringt, und
beansprucht für sich besondere Gesetze. Der Fortschritt
des Erkenn ens liegt nun darin, dafs einerseits die Besonder-
heit und Geschlossenheit dieses Komplexes aufgelöst wird,
dafs er als anderen koordiniertes Glied des Kosmos und
nur nach den allgemeinen Gesetzen dieses, nicht aber nach
einem besonderen, nur für ihn gültigen verstanden wird.
Andrerseits aber wird jedes Element seiner in seiner Eigen-
heit verfolgt, die in jedem für sich ruhende und entwickelte
Kraft beschrieben und so das Ganze als die Summe der für
sich verstandenen Teile verstanden. Offenbar ist es eine
und dieselbe Bewegung, die sich nach diesen beiden Seiten
erstreckt. Denn die Gesetze der einfachsten Teile, die also
die primären und realen Kräfte aussprechen, sind eben die
im gesamten Kosmos herrschenden. Nur diese haben die
') Ich habe diese Entwicklung in meinen Untersuchungen über
Soziale DiflFerenzierung, Kap. 3, ausführlich dargelegt.
Sicherheit wirklieh allgemeiner Gültigkeit, die den Bewegnngs-
formen der Komplexe nach unseren obigen Ausmachungen
versagt bleibt. Beide Tendenzen, auf das Allgemeinste Avie
auf das P^infachste, gehen glcichmäfsig über die vorläufige
Erkenntnisstufe hinaus, die den Komplex, in dem eine An-
zahl Elemente unter gemeinsamem Gesichtspunkt zusammen-
gefafst sind, als ein Ganzes mit besonderen Gesetzen an-
sehen will.
Es ist nicht zu verkennen , dafs , wenn es sich hier
um eine Keduktion der historischen Gesetze auf kosmische
handelt, damit der Sonderbegriff der Geschichte überhaupt
aufgelöst wird. Und tatsächlich fordert die Tendenz auf
diese Auflösung eine eigene Überlegung, da schon von ihr
aus die ganze INIöglichkeit historischer Gesetze in Frage
gestellt ist. Alle Menschengeschichte ist doch nur ein Aus-
schnitt aus dem gesamten Weltgeschehen, und die Weiter-
entwicklung jeder ihrer Phasen deshalb von unzähligen
Umständen abhängig, zu denen die Spannkräfte nicht aus-
schliefslich in dieser Phase, als einer vom Begriff der Ge-
schichte eingegrenzten, liegen, und die also auch aus ihr
nicht zu berechnen sind. Die Menschengeschichte verläuft
nicht als ein in sich abgeschlossenes Kapitel, von dem etwa
nur Anfang und Ende Beeinflussung und Zusammenhang
mit den kosmischen Kräften hätten, sondern sie entwickelt
sich in fortwährender Endosmose und Exosmose mit diesen
und erfährt von ihnen Kraftwirkungen, deren Quellen ganz
aufserhalb ihrer selbst fliefsen und deshalb auch aus der
genauesten Kenntnis des bisherigen historischen Verlaufes
nicht zu berechnen sind. So wenig man das zukünftige
Verhalten eines Menschen blofs aus seiner Vergangenheit
berechnen kann, weil aufser den Spannkräften, die diese in
ihm bis zu jedem gegebenen Augenblick aufgespeichert hat,
noch unzählige andere Kräfte auf ihn einwirken werden,
die die Richtung und Intensität jener modifizieren; so wenig
innerhalb des Individuums die psychischen Vorgänge eine
geschlossene Kausalität aufweisen, weil einströmende Em-
pfindungen deren Kontinuität unterbrechen und fortwährend
neue, aus dem bisherigen Status nicht berechenbare Elemenie
dem Seelenleben einfügen : so wenig kann man das Leben
der Menschheit als eine selbstgenugsame Entwicklung an-
— 89 —
sehen, deren frühere Stadien alle Keime enthielten, aus
denen eine rein innere Kausalität alles Spätere hervortriebe.
Einflüsse, die einem allem Bisherigen fremden Kräftekreis
entstammen, unterbrechen ihre immanente Entwicklung und
lassen die Gleichheit der Bedingungen, die diese selbst der
Zukunft bietet, in ungeahnte Verschiedenheit der Erfolge
auslaufen. Nur wenn die Menschengeschichte wirklich Welt-
geschichte wäre, würde jeder momentane Zustand derselben
die zureichenden Bedingungen des nächsten und übernächsten
in sich schliefsen, ohne einen abbiegenden Einflufs von
aufsen gewärtigen zu müssen. Für die historischen Spezial-
gebiete ist dies leicht erkennbar, wenngleich nicht immer
anerkannt. Eine Kunstgeschichte z. B. , die auf ein volles
und fundamentales Begreifen der Erscheinungen ausgeht,
kann sozusagen keine immanente sein, d. h. keine, die eine
künstlerische Erscheinung aus der anderen verständlich und
gesetzmäfsig entwickelte, weil die Verhältnisse der Gesell-
schaft, der Religion, des intellektuellen Niveaus, der indivi-
duellen Schicksale die nächsten Erscheinungen mitbestimmen
und doch ihrerseits aus den vorhergegangenen künstlerischen
nicht berechenbar sind. Nicht anders verhält es sich mit
der Wirtschaft, deren geschichtliche Erscheinungen man —
mindestens prinzipiell — aus ökonomischen Naturgesetzen
vollständig zu begreifen meinte. So rein wirtschaftlich die
Erscheinungen dieser Reihe sein mögen, so sind die Energien
und Motive, die eine derselben in die andere überführen,
es keineswegs mit derselben Ausschliefslichkeit; vielmehr,
wenn eine Erscheinung der Produktion, des Besitzes, des
Tausches, der Entlohnung, der Spekulation usw. eine andere
aus sich „entwickelt" oder „erzeugt", so wird Tatsache, Art
und Mafs dieser letzteren durchaus nicht nur durch die rein
wirtschaftlichen Kräfte bestimmt, die die erstere in diesem
Verlauf einzusetzen hat. Abgesehen von den Verhältnissen
sehr hoch entwickelter Wirtschaft, besonders des reinen
Geldgeschäftes, in denen das ökonomische Interesse ab-
schnittsweise eine gleichsam abstrakte Existenz in sich
führt — ist der rein ökonomische Inhalt einer Erscheinung
immer nur einer der Faktoren, die auch den ökono-
mischen Inhalt der nächsten veranlassen und die alle
möglichen personalen, ethischen, physischen, kulturellen
— 90 —
einschliefsen ^). Diese Formung der Einzelgebiete gilt un-
mittelbar für die Gesamtgeschichte. Historische Gesetze
wären demnach nur möglich , wenn die zu den bislierigen
historischen Zuständen hinzutretenden und deren Entwick-
lung beeinflussenden kosmischen (nicht „historischen") Fak-
toren konstante wären, so dafs sie sozusagen beide Seiten
der Gleichung gleichmäfsig afiizierend, für die Berechnung
der einen aus der anderen nicht brauchten in Rechnung
gezogen zu werden; oder wenn sie Gesamtzustände der
Welt, statt sehr variabler Ausschnitte derselben, zum In-
halte hätten. So unbedingt die Schicksale des Weltganzen
in seiner Vergangenheit beschlossen liegen und jeder Ein-
griff in dasselbe abgelehnt werden mufs, der eine aus ihm
selbst nicht ergründbare Kraft in ihm zur Geltung brächte
— so wenig enthält umgekehrt, bei der durchgängigen
Wechselwirkung aller kosmischen Elemente, irgendeine ein-
zelne Geschehensreihe in sich die zureichenden Bedingungen
ihrer weiteren Schicksale, sondern mufs stets auf Eingriffe
vorbereitet sein, die ihr gegenüber als dii ex machina er-
scheinen ; und dies gilt für ein einzelnes Menschenschicksal,
dessen einzelne Phasen wir zu einem einheitlichen Verlaufe
verknüpfen, nicht mehr, als für die Schicksale eines einzelnen
Volkes oder der Menschheit überhaupt.
So hat die Forderung der Gesetzlichkeit für das als
Geschichte bezeichnete Geschehen den spezifischen Begriff
der Geschichte schliefslich aufgelöst. Wir mögen eine ge-
wisse Klasse von Erscheinungen aussondern und unter jenem
Begriffe, der für die Praxis des Erkennens zweckmäfsig ist,
^) Die Tendenz, die ökonomischen Ereignisse als eine einreihige
Kausal Verknüpfung anzusehen, während in Wirklichkeit jedes Folge -
moment ihrer durch Zuflüsse von allen Himmelsrichtungen des Daseins
jenseits des ökonomischen mitbestimmt wird — diese Tendenz treibt
der extreme historische Materialismus noch über den oben bezeichneten
Punkt hinaus. Wie die blofse Freiheit sich allenthalben in das
Streben nach Herrschaft umsetzt, so ist für ihn die Selbständigkeit
des Ökonomischen gegenüber dem ganzen historischen Dasein zu
einer Beherrschung dieses durch jenes geworden. Es ist die genaue
Umkehrung des hier betonten Prinzips: statt von der einzelneu Eeihe
der geschichtlichen Wirklichkeit ihre Verflechtung mit allen anderen,
die jeden Punkt ihrer zum Resultat des Ganzen macht, zu erkennen,
soll das Ganze aus einer seiner einzelnen Reihen entwickelt werden.
— 91 —
einheitlich zusammenfassen. Aber insoweit bleiben es
immer unmittelbare, ihre tieferen Elemente und Kräfte nicht
verratende Erscheinungen, und in dem Augenblick,
wo man zu jenen herabsteigen und ihr sichtbares oder kom-
plexes Resultat aus ihnen herleiten will, zerbricht ihre bis-
her berechtigte Besonderung und sie verflechten sich in das
Spiel der kosmischen Gesamtenergien : jener abgegrenzte
Kreis der „Geschichte" liefert nicht mehr die hinreichenden
Ursachen oder Gesetze, um sein einzelnes Glied zu erklären.
Was die früheren Überlegungen noch als möglich zeigten :
dafs die historischen Gesetze Annäherungen an die Er-
kenntnis der realen VerknUpfungsfaktoren bedeuteten, erhält
damit eine innere Grenze; die weitere Differenzierung und
Realwerden der historischen Gesetze hebt ihren Charakter
als historische Gesetze auf, zum mindesten die Möglich-
keit, aus ihnen allein, soweit sie dies noch sind, das
historische Geschehen abzuleiten. Immerhin aber ist die
contradictio in adjecto im Begriff des historischen Gesetzes
in alledem nur eine relative: die Eigenbedeutung des Ge-
schichtlichen reicht sozusagen quantitativ nicht aus, um die
vom Begriff des Gesetzes gestellte Forderung zu erfüllen.
Der Widerspruch aber verschärft sich zu einem absoluten,
Avenn die Leistungen beider Begriffe nun genauer in der-
jenigen Sonderung konfrontiert werden, in die die wissen-
schaftliche Arbeitsteilung sie stellt.
Hier bedarf es nun zunächst der deutlichsten Fest-
stellung, wo denn die naturgesetzliche Determiniertheit des
Daseins die Grenze findet, an der ihre Leistung für die
Kenntnis dieses Daseins endet. Diese Grenze bezeichnet
zunächst die Tatsache der Naturgesetze selbst. Kein Gesetz
bestimmt, dafs es Gesetze überhaupt und diese bestimmten
Gesetze geben müsse. Denn erweisen liefse sich deren Not-
wendigkeit nur aus einem sie bestimmenden Gesetz, wozu
also dasjenige, um dessen Existenz eben es sich handelt,
schon vorausgesetzt würde. Erst wenn Naturgesetze sind,
können wir auf Grund ihrer etwas beweisen, deshalb sie
selber aber nicht — gerade wie die bürgerlichen Gesetze
nicht selbst etwas Legales sind, sondern erst die Handlungen,
die unter Voraussetzung ihrer erfolgen. Die Existenz der
Naturgesetze ist also etwas blofs Wirkliches, aus Gesetzen
— 92 —
nicht zu Begreifendes, oder wie wir sagen können: eine
historische Tatsache. Eine ebensolche ist die Existenz der
Substanz, deren Formänderungen von den Naturgesetzen be-
stimmt werden. Wenn es einmal eine Welt gibt, so mufs
es logischen und realen Gesetzen zufolge so und so in ihr
zugehen; dafs es sie aber übei'haupt gibt, unterliegt nicht
dem gleichen Mufs, und man kann in Gedanken das gesamte
Sein wegdenken , ohne gegen irgendeine gesetzliche Not-
wendigkeit zu verstofsen. Aber auch diese beiden Gegeben-
heiten reichen noch nicht aus, um es zu dem Spiel der Welt
kommen zu lassen. Jedes Naturgesetz kann nur aussagen,
dafs eine gegebene Form der Materie in eine andere über-
geht; es setzt also immer schon eine bestimmte Formung
voraus und würde über einer völlig undifferenzierten Sub-
stanz , über dem blofsen Sein , ohne Angriffspunkt in der
Luft schweben. Damit es also zu einer Wirkung der Natur-
gesetze überhaupt komme, mufs eine gewisse Differenzierung
innerhalb des Stoffes, eine erste Form desselben schon
gegeben sein, welche demnach nicht selbst wieder ein
Resultat des Wirkens jener sein kann. Die Erkenntnis der
Weltentwicklung, an der Hand der Naturgesetze rückwärts
schreitend, endet in jedem Augenblick an einem — für
jetzt — ersten Zustand der Materie, der ebensowenig natur-
gesetzlich bestimmt ist wie die Existenz der Materie und der
Naturgesetze selbst. Dieser ursprüngliche Zustand^ den die
wachsende Erkenntnis freilich nie als einen absoluten er-
reichen, sondern nur immer weiter hinausschieben kann, gibt
die Veranlassung, dafs an einem gegebenen Punkte das
eine Naturgesetz und kein anderes Anwendung findet. Dafs
von vornherein eine gewisse Mannigfaltigkeit der Form da
ist, die, von der Wirksamkeit der Naturgesetze aufgenommen
und weitergesponnen, die Komplikationen dieser und die
Modifikationen ihrer Erscheinungen ermöglicht, das ist vom
Standpunkt der Naturgesetze aus eben schlechthin zufällig
und eine blofs historische Tatsache. Die Zufälligkeit in
diesem Sinne ist aus unserem Weltbild nicht zu entfernen,
weil der Anfang desselben zufällig war und alles Spätere
nur eine Entwicklung dieses ersten Zustandes ist — eine
Entwicklung, welche erst unter Voraussetzung eben
dieses nicht mehr zufällig ist.
— 93 —
Hieraus ergibt sieh, dafs die Naturgesetze, die psycho-
logisshen eingeschlossen, zur Konstruktion des wirklichen
Daseins nicht ausreichen, dafs es dazu vielmehr gewisser
gegebener Tatsachen bedarf, und zwar nicht nur am ab-
soluten Anfang aller Dinge. Dieses letztere würde genügen,
wenn unsere Kenntnis jener und die der Naturgesetze eine
vollkommene wäre. Angenommen, der Komplex sämtlicher
Naturgesetze wäre uns bekannt, so würde eine einzige Tat-
sache ausreichen, die ganze Welt zu entwickeln. Denn jener
Komplex hat schlechthin ideellen Charakter, von ihm als
alleinigem Ausgangspunkt her führt keine Brücke zur greif-
baren Wirklichkeit, die vielmehr aufserhalb seiner durch
einen besonderen Akt gesetzt sein mufs. Über dieser hat
der Begriff des Naturgesetzes nun eine Welt eröffnet, deren
Bedeutung man glücklich als die des „Geltens" formuliert
hat, ohne damit freilich ihre Rolle für unser Weltbild zu
erschöpfen. Das Gesetz „gilt", gleichviel ob der Fall, den
es beschreibt, einmal oder millionenmal stattfindet und dia
Ausnahmslosigkeit, mit der es bestimmt: wenn A ist, so
ist B — bezahlt es mit der völligen Unfähigkeit , zu be-
stimmen, ob A ist; so bestimmt das Staatsgesetz, dafs einer
Missetat eine gewisse Strafe zu folgen hat, und diese Be-
stimmung gilt, ganz unabhängig von der Häufigkeit oder
Seltenheit ihres Inkrafttretens. Wir pflegen alle Inhalte und
Möglichkeiten unseres Gesichtskreises in eine Alternative
einzustellen: ob sie sind, eine objektive Wirklichkeit,
empirischen oder transszendenten Sinnes, besitzen — oder
ob sie subjektiv gedacht werden , eine psychologische
Existenz, eine bestätigte, irrende, phantastische, führen.
Die Gesetze der Dinge aber bilden ein drittes Reich jenseits
dieser beiden. Dafs siegelten, ist freilich eine blofse Tat-
sache, ein Seiendes ; ihr Inhalt aber, das, was sie bedeuten,
wird von der Frage nach dem Sein überhaupt nicht be-
rührt : was sie aussagen , gilt zwar für das Sein, das Sein
aber nicht für jenes. Ebensowenig aber ist das Gesetz etwas
blofs Gedachtes, ein psychologischer Subjektivismus, von
dem es sich vielmehr aufs gründlichste unterscheidet. Natür-
lich kann das Gesetz von einem einzelnen Bewufstsein vor-
gestellt werden, ganz ebenso wie es von einer einzelnen
Seins-Kombination realisiert werden kann ; es erschöpft aber
— m —
in der psychologischen Darstellung seinen Sinn so wenig
wie in der physisch-konkreten. Wir müssen das Gesetz als
geltend vorstellen, gleichviel ob es gedacht wird oder nicht,
ob wir es richtig erkennen oder uns darüber täuschen. Aus
der besonderen Kategorie lieraus, in der es als Gesetz be-
steht, kann sein Inhalt sich in die Bewulstseinsform wie in
die Wirklichkeitsform kleiden , ohne darum in eine von
diesen oder in eine Mischung oder einen Zwischenzustand
ihrer auflösbar zu sein; sie ist vielmehr, als dem Sein und
dem Denken koordiniert, ebenso wie diese undefinierbar und
nur unmittelbar zu ergreifen, wenn auch noch nicht mit
derselben psychologischen Leichtigkeit und Gewohntheit.
Ist diese erkenntnistheoretische Stellung der Naturgesetze
erst erfafst, so ist es absolut klar, dafs sie von sich allein
aus die Geschichte, die eine Geschichte von Tatsachen ist,
nicht zu konstruieren gestatten. Da sie aber nichtsdesto-
weniger für das Tatscächliche gelten, so ermöglichen sie
von jedem gegebenen Ausgangspunkt die Deduktion oder
das Verständnis des nächsten oder eines anderen Raum-
Zeitinhaltes überhaupt in dem Mafse, in dem die für jenen
ersten Inhalt geltenden Gesetze bekannt sind. Soweit es
daran mangelt, mufs die Kenntnis der Tatsachen als solcher
eintreten. Was wir Verständnis der Tatsachen nennen, ist
in der Regel eine Art Zwischenerscheinung: unsere Gesetzes-
kenntnis reicht zwar nicht aus, den Tatsachenzusammenhang
von einem einzigen Elemente aus aufzubauen , allein wenn
jener uns historisch gegeben ist, hilft uns dies sozusagen
auf die Spränge, an dem Leitfaden der festgestellten Tat-
sachen kommen wir leichter auf die Gesetze, die für sie
gelten, und begreifen so wenigstens nachträglich, weshalb
das „so kommen mufste" , was ohne jenen Leitfaden zu
konstruieren unsere Gesetzeskenntnis nicht zugereicht hätte.
Jener Feststellung des Geschehenen, die man im weitesten
Sinne historisch nennt, könnte die Geschichte also selbst
dann nicht entraten, wenn sie die gesuchten historischen
Gesetze besäfse, und zwar gerade nicht, sobald sie mit dem
Begriff des Gesetzes Ernst macht. Ist jemand geneigt, von
diesen beiden Elementen des Erkenntnisbildes der Welt nur
den erkannten Gesetzen den Titel „\\'issenschaft" zu ver-
leihen, der Tatsachenfeststellung aber, ohne welche jene
— 95 —
niemals ein Bild der Wirklichkeit ergäben , ihn vorzu-
enthalten, so ist dies eine belanglose Eifersucht auf Worte.
Hat man sich jene Machtgrenze der Gesetze gegen die
AMrklichkeit klar gemacht, so stellt uns das Dasein eben
vor zwei gesonderte Arten von Pi'oblemen, die es zu lösen,
aber nicht zu titulieren gilt.
Nun ist diese Grenze freilich innerhalb der Praxis
unseres un vollendbaren Wissens ebenso verschiebbar, Avie
sie es dem Prinzip , dem inneren methodischen Sinne nach
nicht ist, Dafs die Existenz Friedrichs des Grofsen nicht
ebenso berechnet werden kann , wie die des Neptun es
konnte, liegt ersichtlich nur an dem qviantitativen Unter-
schiede zwischen unserem psychologisch -politischen und
unserem astronomischen Wissen. Ich erwähnte schon, dafs,
je geringer die Zahl der gewufsten Gesetze, um so mehr
die Berechnung aus diesen durch die Tatsachenfeststellung
ergänzt werden mufs, um zur Kenntnis des Wirklichen zu
gelangen. Die historisch gewufste Wirklichkeit ist der
Grenzbegriff der gewufsten Naturgesetzlichkeit, da bei Voll-
endung der letzteren eine einzige historische Tatsache zur
Vollendung des Wissens überhaupt genügen würde. Die
prinzipielle Zweiheit des historisch - tatsächlichen und des
Gesetzes- Wissens würde hiermit ihr Minimum von Reali-
sierung erlangen, ohne darum von ihrer Tiefe irgend etwas
zu verlieren; mangels jenes Vollendungsstadiums verbreitert
sich diese jetzt zu dem Unterschiede der Geschichte als
einer Erkenntnis des tatsächlich Stattgehabten, und der Er-
forschung der Gesetze, die zwar zeitlos und also auch für
jenes Geschehende gelten, aber es, wegen ihrer Fremdheit
gegen alle Wirklichkeit, niemals ersetzen können. An un-
zähligen Punkten des Weltbildes müssen die Erscheinungen
als unherleitbare, als blofs gegebene Tatsachen hingenommen
werden; hätten wir aber auch jene restlose Erkenntnis, so
würde noch immer der besondere Inhalt ihrer Zeit- und
Raumstelle das nicht zu rationalisierende Element sein, das
durch Gesetze nicht absolut, sondern immer nur unter Vor-
aussetzung einer vorangegangenen, ihrerseits nun unter der
gleichen Irrationalität stehenden Tatsache deduzierbar wäre.
Wie wir indes früher schon den Begriff der Gesetze
als der Formulierungen reiner Energien aus dem Geschichts-
— 90 —
begriff ausschalten mufsten, da dieser sich jedenfalls auf
Komplikationen des Daseins, jener aber nur auf dessen ein-
fache Elemente bezieht; wie aber die empirische Forschung
sich auf einem kontinuierlichen Wege von einem dieser an
sich unversöhnlichen Extreme zum anderen befindet und
jedes ihrer Stadien beiden zugewandt ist: so verhält sie
sich entsprechend gegenüber dem jetzigen noch radikaleren
Gegensatz zwischen historischer und Gesetzeserkenntnis.
Gewifs wohnt die zeitliche Realität, die die erstere feststellt,
in einer völlig anderen Kategorie als die zeitlose Gültigkeit
von Gesetzen; allein da die Geschichte nie das abstrakte
Sein, sondern nur Seinsinhalte konstatiert, so ist sie dazu
dem einzelnen gegenüber nur dann berechtigt, wenn dieser
durch ein Gesetz als möglich gezeigt wird — wobei die
Möglichkeit steigende Grade besitzt, bis zu dem unerreich-
baren Ideal der Notwendigkeit. Wir erkennen keinen als
Wirklichkeit sich darbietenden Geschichtsinhalt an , der
nicht innerhalb seiner Zusammenhänge von Gesetzen der
inneren und äufseren Natur legitimiert wird ^). Wenn man
die Kantische Lehre in die paradoxe Formel fassen kann :
Erfahrung ist mehr als Erfahrung — d. h. sie enthält aufser
den Sinneselementen , die ihr den spezifischen Charakter
geben , die apriorischen Formen , die zwar von ihr unab-
hängig sind, sie aber nicht von ihnen — so darf man sagen:
Geschichte ist mehr als Geschichte. In ihrer spezifischen
Bedeutung ist sie freilich die Wissenschaft vom Wirklichen,
und das nicht zu rationalisierende , nicht auf Gesetze zu
bringende Seins-Element in ihr stellt sie ihrem Sinne nach
für immer jenseits des ideellen Kelches der Gesetze. Aber
welcher Seinsinhalt denn nun innerhalb seines raum-zeit-
lichen Zusammenhanges anerkannt werden kann, lehren uns,
wie die Technik unseres Erkennens nun einmal beschaffen
ist, nur jene gegen das Sein völlig indifferenten Gesetze. —
1) Ich will hierherein nicht die der allgemeinen Erkenntnis-
tl eorie zugehörige Schwierigkeit mischen: inwieweit die Gesetze,
die uns die Wirklichkeit glaubhaft machen, aus der Wirklichkeit
selbst gewonnen sind. Tatsächlich scheint dies einer jener Zirkel
zu sein, die der relativistische Charakter ixnseres Erkennens diesem
zu Grunde legt. Indessen bleibt die obige Feststellung von dieser
oder einer entgegengesetzten Grundüberzeugung unabhängig.
— 97 —
Neben der graduellen Bedeutung, die historische Ge-
setze mit Rücksicht darauf haben können, dafs Naturgesetze
nur für einfache Elemente gelten können, steht nun, Avie
oben angedeutet, noch ein zweiter möglicher Wert ihrer.
Ich erinnere daran, dafs wir von keinem vorliegenden
Gesetz wissen können, ob es wirklich jene absolute Geltung
hat, die es als Gesetz von einer blofsen Tatsachenfolge
unterscheidet; worauf die praktische Kontinuität der me-
thodisch unbedingt geschiedenen Naturgesetze und histo-
rischen Gesetze zu beruhen schien. Allein diese Kontinuität
läuft nur in einer Richtung: vielleicht ist alles, was
uns heute als Gesetz erscheint, nur zufällige Kombination
der tiefer liegenden wirklichen Gesetzlichkeiten ; die um-
gekehrte Möglichkeit aber gilt für viele Erscheinungen mit
Sicherheit nicht. Die geschichtlichen Erscheinungen sind
jedenfalls Resultate sehr vieler zusammentreffender Be-
dingungen, und deshalb keinesfalls aus je einem Natur-
gesetz herzuleiten. Freilich müssen wir die einfachste Be-
wegungsform, zu der die Analyse bis zu dem gegebenen
Augenblick gedrungen ist, als den realen Grundtypus der
Bewegungen überhaupt und ihr Gesetz als den Ausdruck
der wirkenden Grundkraft ansehen, während wir zugleich
es für möglich halten müssen , dafs auch dieses Einfachste
einmal zu einer blofsen Erscheinung tiefer liegender Kräfte
wird, welche erst ihrerseits die zulängliche Erklärung der
Folgeerscheinung abgäben. Allein zwischen den Gesetzen,
die dieser Möglichkeit als blofser Möglichkeit unterliegen,
und den historischen liegt ein fast unübersehbarer Weg.
Und Avenn wir etwa auch prinzipiell zugäben, dafs das
eigentliche Erfolgen und seine Kraft uns verborgen ist und
wir auf die Beobachtung des blofsen Folgens angewiesen
sind, so bleibt doch der empirische Unterschied zwischen
der kausalen und der blofs zeitlichen Beziehung für die
Zwecke unseres Erkennens bestehen. Mag die Grenze
zwischen beiden eine fliefsende sein ; jedenfalls mufs sie vor
dem kompliziertesten überhaupt beobachteten Geschehen
liegen; und dieses eben ist die Menschengeschichte.
Während damit nun die historischen Gesetze in letzter
Instanz verurteilt scheinen, eröffnet sich ein völlig anderer
Standpunkt ihnen gegenüber, sobald wir, eine oben ein-
Simmel, Gescliichtsphilosophie. 2. Aufl. 7
— 98 —
geleitete Gedankenreihe aufnehmend, das historische Ge-
schehen nicht mehr als Kombination einfacher, im eigent-
lichen Sinne realer Eleraentarvorgänge gelten lassen. Viel-
mehr: das besondere und selbständige Erkenntnisinteresse
der Historik gestattet oder verlangt, dafs die originalen
Synthesen, KollektivbegrifFe, Zusammenhänge, in die sie
die Wirklichkeit gliedert, als Einheiten, ohne das Be-
dürfnis nach weiterer Auflösung, gelten. Vom Standpunkt
der Naturwissenschaft wären sie dies freilich nicht, aber in
deren Problemkreise treten sie auch gar nicht ein , da sie
ausschliefslich um der Zwecke des historischen Erkennens
w'illen gebildet sind. Was man die apriorischen Kategorien
der Historik nennen könnte: die Bildungsgesetze, durch die
der vorwissenschaftliche Wirklichkeitsstoff zu der Möglich-
keit, Erkenntnis zu werden, geformt wird — das geht gar
nicht auf Elemente, die in jeder Hinsicht als Atome gelten
können. Das Erkenntnisideal, das an diesen mündet, ist
von vornherein ein anders gewandtes, ohne darum ein
definitiveres oder legitimeres zu sein. Von diesem Stand-
punkt aus mag man die Denkrichtung der Historik noch
so weit und bis zu ihrer Vollendung verfolgen — man
kommt niemals auf die im naturwissenschaftlichen Sinne
letzten Bestandteile, da diese in einer ganz anderen geistigen
Ebene liegen.
Ich habe vorhin als Beispiel des scheinbar abschliefsen-
den, schlechthin zu erstrebenden „Verständnisses" angeführt,
dafs dieses der Marathonschlacht gegenüber erreicht wäre,
wenn man die Lebensgeschichte jedes individuellen Kämpfers
psychologisch und physiologisch restlos kennte und ver-
stände. Abgesehen nun von der dort geübten Kritik dieses
Ideals, die schliefslich doch noch auf dem gleichen Boden
mit ihm selbst stand, darf man seine unbedingte Gültigkeit,
selbst als Ideal, verneinen. W'enn wir nämlich alles dies
Individuelle Avüfsten , so wären die Fragen, die das histo-
rische Interesse nun einmal stellt, damit noch nicht be-
antwortet. Es will gar nicht oder wenigstens nicht nur
wissen, wie sich dieser und jener einzelne Grieche benommen
hat: es will wissen, wie sich „die Griechen" benommen
haben. Und dieses neue Subjekt ist keineswegs das Resultat
der Addition aller einzelnen Griechen. Denn in dem ein-
— 99 —
zelnen liegen diejenigen Züge, die ihm mit den anderen
gemeinsam sind und in das Gesamtbild des griechischen
Verhaltens oder des griechischen Charakters hinein-
gehören , koordiniert neben den rein persönlichen und
unvergleichbaren ; beides verflicht sich im Individuum so
vollkommen zur Gesamtpersönlichkeit , dafs es in der
auf jenes isolierten Betrachtung gar nicht herauszulösen
ist. Es bedarf also einer Synthese, die von vornherein
über die atomisierende Tendenz hinübergreift und so erst
den Gegenstand zustande bringt, nach dem wir fragen.
Auch wird das gleiche Verhalten in der Schlacht bei
jedem aus irgendwie vom anderen verschiedenen seelischen
Antezedentien resultiert sein ; aber die historische Frage-
stellung geht jetzt nicht auf diese Verschiedenheiten, sondern
auf den Querschnitt, der den Gleichheitspunkt innerhalb
dieser mannigffiltigen Entwicklungen sichtbar macht — der
doch von dem Standpunkt des Individuums aus keine
prinzipiell oder genetisch andere Bedeutung hat, als
seine Differenzpunkte gegen die anderen. Hier wird also
das Material, das die naturwissenschaftlich-individualistische
Betrachtung in die Bewegungen kleinster Teile und deren
Gesetze auflösen mufs, zu Synthesen gebracht, die von den
jetzigen Fragekategorien aus als Einheiten funktionieren
und deren Zusammenhangsformen wir gleichfalls als Gesetze
— wenngleich nicht im Sinne des naturwissenschaftlichen
Ideals, sondern in einem nachher noch zu deutenden —
bezeichnen können.
Einen zweiten Typus von Beispielen bezeichnet das
„historische Gesetz" der Differenzierung als der bestimmenden
Norm der Weltgeschiclite. Die Gesamtheit der Betätigungen,
die das Leben zu seiner Erhaltung fordert, wird in primi-
tiveren Epochen von jedem einzelnen geleistet, und der
Fortschritt besteht darin, dafs sie mehr und mehr verteilt
werden, und ein jeder statt einer Mannigfaltigkeit von Be-
tätigungen nur eine und eine immer spezialisiertere übt;
die Verfeinerung des Gefühlslebens, das Auseinanderwachsen
der Interessen Inhalte, die sich eben dadurch wieder organisch
verschlingen, die Lösung gewalttätiger Sozialisierung, die
Stiftung von Verbänden mit steigender objektiver Zweck-
mäfsigkeit — dies alles sind Wandlungen, die man durch-
— 10(1 —
aus unter den Begriif der Differenzierung bringen kann.
Was freilich diese einzelnen Veränderungen hervorbringt,
sind einzelne besondere Kräfte, durch Not oder zubillige
Konstellation, durch Eifersucht oder Genialität erweckt,
deren Erfolge erst nachträglich in dem Begriif der Diffe-
renzierung zusammen gefafst werden. Die Differenzierung
ist dasjenige, was herauskommt, nachdem alle diese Kräfte
gewirkt haben, und wir können sie nicht als Kollektivkraft
über alle diese, nicht als die einheitliche Energiequelle
setzen , von der nur durch die Zufälligkeit der Lagen ge-
wisse Teilquanta in verschieden erscheinende Aktualität
gerufen würden.
Allein auf jene realen Grundvorgänge und ihre indivi-
duellen Triebkräfte richtet sich die historische Frage keines-
wegs ausschliefslich. Sondern, nachdem derartige Tatsachen
einmal unter den Begriff der Differenzierung gebracht sind,
verlangen wir die mannigfaltigen Stufen und Arten zu
kennen, in denen sich dieselbe entwickelt, die Regelraäfsig-
keiten ihrer Erscheinung, ihre Verknüpfung mit anderen,
die primären Vorgänge von der gleichen Distanz her zu-
sammenfassenden Begriffen, wie Freiheit, Entwicklungstempo,
Kollektivbewufstsein , Form und Inhalt der sozialen Be-
wegungen, Niederschlag derselben in objektiven Gebilden
des Rechtes, der Sitte, der Technik, und vieles andere.
Natürlich sind hier nicht logisch -begriffliche Verhältnisse
und Entwicklungen gemeint, sondern historische, konkrete
Geschehnisse und ihre Regelmäfsigkeiten, aufgelafst nach
ihrer begrifflich ausdrückbaren Gesamterscheinung. Es
handelt sich hier um eine eigenartige Schicht von Begriffen,
die eine besondere Sublimierung der elementaren Tatsachen
darstellen. Wenn wir historische, durch Einzelkräfte ver-
wirklichte Ereignisse oder Zustände als Differenzierung und
Integrierung, als Spannung und Lösung sozialer Energien,
als Aufbau von Schichten, als soziale Infektion, als Be-
schleunigung oder Erstarrung der Lebensprozesse der Gruppe
bezeichnen — so sind dies weder reine Allgemeinbegriffe,
die das Gemeinsame aus primären Daten bezeichneten, noch
reine Symbole, die ein Zeichensystem für diese, ohne jede
inhaltliche Beziehung zu ihnen, darstellen. Vielmehr haben
sie gewissermafsen an diesen beiden Gebilden teil, sie fassen
— lol —
die einzelnen historischen Faktoren nach ihrem Effekt als
Gesamterscheinung, aber der Begriff, der diese ausdrückt,
steht in einer Region für sich, und wenn er auch aus jenen
Quellen der unmittelbaren \Mrklichkeit genährt ist, so hat
er sie doch, wie ein organischer Körper seine Nahrung, in
eine neue Einheit erhoben. Es ist deshalb nicht nur die
Funktion dieser historischen Begriffe und ihrer Anwendungen,
die als Ganzes unkennbare Quantität und Qualität der
historischen Erscheinungen zu überwinden. Denn diese
Aufgabe hat schliefslich nur negativen Charakter, während
das eigentliche Problem, ihre Leistung in der vorliegenden"
Wissenschaft zu deuten, dadurch gestellt war, dafs sie eine
positive neue Begriffs weit aufbauen. Die Beispiele „historischer
Gesetze", die ich oben kritisierte, gewinnen auf diesem
Niveau eine ganz andere Bedeutung, als durch jenen früheren
Anspruch, die verursachenden Energien des unmittelbaren
Geschehens nachzuzeichnen. Galt es etwa als „Gesetz" der
historischen Entwicklung, dafs jede gröfsere Gruppe die
Stadien von Jugend, Männlichkeit und Altersverfall durch-
mache, so konnten wir es ablehnen, in dieser Reihenfolge
die Triebkräfte zu erblicken, die die so zusammengefafsten
Einzeitatsachen erklärten. Wenn wir nun trotzdem fühlen,
dafs diesem Typus von Sätzen irgendeine Wahrheitsbedeutung
innewohnt — abgesehen von der Bestreitbarkeit der einzelnen
Materie — , wenn sich uns das Bild geschichtlicher Ent-
wicklung unzählige Male in derartigen Begriffen darstellt,
so offenbart sich damit eine Erkenntnisforderung, die mit
der nach der unmittelbaren, elementaren Kausalität nicht
mehr zusammenfällt. Denn nachdem die Umbildung des
konkreten und singulären Geschehens zu diesen höheren
historischen Begriffen geschehen ist, ändern sich auch die
Verbindungen, mit denen aus ihnen eine Erkenntnis
erwächst. Wenn wir von dem Gesamtcharakter in der
Konstitution der politischen Gruppe sprechen und behaupten,
dafs derselbe sich an der Verfassung der Einzelfamilie
wiederhole; wenn zwischen politischem Verfall und künst-
lerisch-wissenschaftlichem Aufschwung ein Zusammenhang
erblickt wird; wenn ein beschleunigtes Tempo im Wechsel
der Anschauungen, Moden, Bildungsinteressen, politischen
Richtungen regelmäfsig mit der ökonomischen Vorherrschaft
— 102 —
des Mittelstandes verknüpft scheint — so machen diese Ver-
bindungen das Netzwerk mannigfaltigster Kausalitäten, von
denen die individuellen Ereignisreihen bestimmt werden,
keineswegs kenntlich; aber sie vertreten diese, indem sie
aus den Begriffen, in denen sich die erscheinenden Folgen
jener Einzelereignisse abgelagert haben, ein nur in dieser
Abstraktlonsschiclit heimatberechtigtes Gewebe herstellen;
welches Gewebe sich dann zu den empirischen Einzelheiten
generell verhcält wie die grofsen philosophischen Begriffe
des Seins und ^^'erdens, des Geistes und des metaphysischen
Willens, des All -Lebens und des Mechanismus, deren
Kombinationen der aus ganz anderen Quellen heraus sich
gestaltenden Wirklichkeit „wie aus der Ferne" folgen. In
beiden Fällen sind es besondere Bedürfnisse des Erkennens,
die, von der Verfolgung der einzelnen Wirklichkeitsreihen
und ihrer Gesetze nicht befriedigt, von sich aus die neuen
Distanzen herstellen, in denen sie diese erblicken wollen.
Aber mit den Unterschieden der Distanz fordert der Begriffs-
bau auch einen unterschiednen Stil , der , als Stil , die
Kriterien seiner „Richtigkeit" nur in sich trägt und sie
nicht von der ganz anderen Bedürfnissen entsprungenen
Erkenntnis der unmittelbar empirischen Einzelverhältnisse
entlehnen kann. Das Mifsverständnis dieser Verwechslung
mufs um so sorgfältiger vermieden werden, je näher es
liegt, weil diese letztere Erkenntnis immer der Stoff jener
anderen bleibt, dessen inhaltliche Bedingungen erfüllt sein
müssen, damit die freilich von ganz anderen Erkenntnis-
forderungen ausgehende spezifische „Wahrheit" dieser höheren
historischen Begriffe realisiert werde. Das Verhältnis dieser
zu jenem Material mag ungefähr eine Mittelstufe einnehmen
zwischen dem der Kausalität zu der zeitlich gegebenen
Folge der Wahrnehmungen und dem des Kunstwerkes zu
seinem Beobachtungsmaterial. Es handelt sicK im Prinzip
darum, die formgebende Macht des Erkennens zu durch-
schauen, die sich innerhalb der Historik so leicht verbirgt,
weil schon ihr Gegenstand „Geist" und irgendwie geformt
ist. Aber diese Gestaltungskraft erhebt sich in vielerlei,
über- und nebeneinandergebauten Instanzen oder Potenzen,
und sie wird je nach den verschiedenen Bedürfnissen des
Erkennens ausgeübt, gleichviel ob der durch sie bearbeitete
— 103 —
Stoflf von anderen Gesichtspunkten aus noch als Roh-
material oder als schon bearbeiteter auftritt. Freilich fliefst
hier auch eine Quelle von falschen Schätzungen und Forde-
rungen, indem diejenigen Abstraktionen und Synthesen, die
bei einer gewissen Distanz von dem elementarsten Material
gelten, sich zur Norm für andere aufwerfen, die das Recht
einer anderen Distanz sind. Man kann dies nur mit der
Verwirrung vergleichen, die die Mischung verschiedener
Stile innerhalb eines Kunstwerkes ergibt. Jeder Stil be-~^
stimmt den Abstand von der unmittelbaren Anschauung, den
die Formgebung einhält. Dieser Abstand mag so grofs
sein, wie er will, er mag nur die allerallgemeinsten Wirk-
lichkeitselemente zu phantastischen Gebilden formen, so haben
diese doch auf ihrer Stufe eine „Wahrheit", indem sie ein
konstantes, wie auch abgeblafstes und nur von dem Stil-
gefühl seinerseits bestimmtes Verhältnis zu der Unmittelbar-
keit des Daseins besitzen. Gehen aber die verschiedenen
Abständen entsprechenden Formgebungen durcheinander
— was man als Stilunreinheit bezeichnet — , so entsteht
sogleich das Gefühl von Unwahrheit des Kunstwerkes, weil
jedes Distanzmafs innerhalb dieses die ihm eigene Form-
foi-derung unvermeidlich an das Ganze stellt und sie nicht
überall erfüllt findet. So mögen die Kombinationen der
höheren historischen Begriffe, in die wir den Gesamteindruck
der singulären Erscheinungen zusammenfassen, der Geltung
entbehren, wenn wir sie an den synthetischen Formen
messen , die für diese letzteren gelten , und schliefslich auf
die Bewegungsgesetze der kleinsten Teile ausgehen. Damit
aber wird ihnen ein für sie falsches Ideal gestellt, sie
können nur die Verhältnisse der Dinge angeben, wie diese
sich in den höheren Abstraktionsschichten des Geistes
spiegeln und die die Exaktheit der direkten Erkenntnis des
Singulären überhaupt nicht besitzen dürfen, wenn siedle
ihrer Begriffsschicht eigentümliche Aufgabe erfüllen sollen.
Endlich mag ein drittes Beispiel einen weiteren Typus
dieser „Gesetzlichkeiten" charakterisieren, die die Zusammen-
hänge der zu abstrakteren Einheiten sublimierten Elementar-
vorgänge aussprechen und , weil diese besonderen Form-
forderungen des Denkens entsprechen, auch durch die ge-
naueste Kenntnis jener Einzelereignisse, auf die sie sich
— 104 —
beziehen, nicht überflüssig werden. Wenn es als „soziales
Gesetz" gilt, dafs sich unter 10000 jährlichen Todesfällen
eine bestimmte Anzahl von Selbstmorden finden — so er-
scheint dies ganz niifsverständlich. Denn jeder der in Be-
tracht kommenden Selbstmorde ist nur das Resultat sozialer
und psychologischer Kräfte bczw. der Gesetze, welche diese
beherrschen, und dafs es in Summa dann so und so viele
gibt, ist das Resultat des Wirkens dieser Gesetze an einem
gegebenen Stoff und kann deshalb nicht selbst ein Gesetz
sein. Wiederholt sich nun das Zahlenverhältnis eine Zeit
hindurch kontinuierlich, so zeigt dies nur, dafs die Be-
dingungen für das Inkrafttreten jener Gesetze immer weiter
vorhanden sind ; es drückt also eine Tatsache aus , aber
nicht die Ursache derselben. Den einzelnen Selbstmörder
geht es auch offenbar gar nichts an , ob neben ihm noch
so und so viele andere gleichfalls Selbstmord begehen, und
unter denjenigen Naturgesetzen, aus deren realen Wirkungen
seine Tat hervoi'geht, befindet sich augenscheinlich nicht
dies, dafs unter 10 000 Todesfällen so und so viele Selbst-
morde vorkommen. Die Addition der Fälle ist eine
Synthesis, die der Beobachter vornimmt; dafs sie dies be-
stimmte Resultat ergibt, ist freilich objektiv begründet, aber
doch nur dadurch , dafs jeder seiner Faktoren es ist,
während es einen fehlerhaften Zirkel und eine Art mystischer
Teleologie bedeutet, umgekehrt aus der notwendigen Be-
stimmtheit des Resultates die der Faktoren ableiten zu
wollen.
^^'as diesen statistischen Zusammenhang als etwas rein
Aufserliches und sozusagen Kraftloses erscheinen läfst, ist
nur die an ihn herangebrachte Forderung, die unmittelbaren
Kausalitäten der sozialen Elemente kenntlich zu machen.
Tatsächlich aber wird mit ihm einem anderen Problem
nachgegangen, das nicht gelöst und nicht ausgeschaltet wäre,
auch wenn wir die individuellen Geschicke, die ihn kon-
stituieren, in ihi-en Elementen und Verursachungen restlos
durchschauten. Denn vermittels historisch-sozialer Kategorien
bilden wir aus diesen Einzelfaktoren und -reihen den Be-
griff eines gesellschaftlichen Ganzen, dessen Elemente für
das in Rede stehende Erkenntnisinteresse nicht mehr jene
singulär-realen Grundvorgänge, sondern die erscheinenden
— 105 —
Ergebnisse derselben sind. Wir wünschen jetzt die Ver-
hältnisse dieses neuen , durch wissenschaftliche Synthese
entstandenen Gebildes: der zahlenmäfsig bestimmten, zur
Einheit zusammengefafsten Gruppe, zu kennen. Der
Schicksalslauf des einzelnen Selbstmörders liefert freilich
das Material für die damit erhobene Frage, aber er beant-
wortet sie nicht, da sie überhaupt nicht in der Schicht
der unmittelbaren Realitäten, sondern in denjenigen
liegen, die die abstrakteren Kategorien aus diesen er-
wachsen lassen — wie etwa die geometrische Beschreibung
von Kristallformen und deren systematische Anordnung
nach diesem Gesichtspunkt nicht nach den Energien fragt,
die den einzelnen Kristall anschiefsen lassen. — In diesen
Typus gehören die Feststellungen derjenigen Verhältnisse,
deren Subjekte einheitlich charakterisierte Teilgruppen
innerhalb gröfserer Zusammenhänge sind, wie wenn z. B.
regelmäfsig beobachtet ist, dafs konfessionelle Minoritäten
einen kriminell und moralisch günstigeren Aspekt bieten
als ihre Umgebung; dafs bei sehr weitem und vermittlungs-
losem Abstand der Klassen der innere Friede ungestörter
zu sein pflegt als bei gröfserer Kontinuität innerhalb der
sozialen Stufen; dafs im Laufe der gesellschaftlichen Ent-
wicklung diejenigen Einungen, von denen jede allen
sozialen Bedürfnissen ihres Mitgliedes genügte und dieses
dafür auch seiner ganzen Persönlichkeit nach in Anspruch
nahm , durch eine Mannigfaltigkeit solcher ersetzt werden,
von denen jede nur einem sachlichen Einzelzweck dient,
und dafs diese Entwicklung mit dem Aufwachsen grofser
Zentralgewalten parallel geht. In all diesen Verhältnissen
fängt die Feststellung zwar mit den individuellen Reihen
an, geht aber nicht innerhalb ihrer abvfärts zu ihren indivi-
duellen Ursachen, sondern aufwärts zu Einheiten, die das
Erkennen aus der einerseits kontinuierlicheren, andrerseits
zersplitterteren Wirklichkeit herausschneidet — wie es etwa
zwei Linien als ein Parallelenpaar bezeichnet, ohne dafs in
die Formel oder die Genesis der einen der Umstand irgend-
wie einträte, dafs sie einer danebenstehenden parallel ist^).
') Es ist hier zu bemerken — was gleich im Texte seine all-
gemeine Deutung findet — , dafs diese gleichsam an den Oberflächen
lOG —
der geschichtlichen Ei'scheinungon licrgestellten Zuifammeiihängc mit
den tiefer greifenden, auf die kausale Genesis gehenden in der Praxis
kontinuierlich vei'bunden sind. Der Parallelismus der Einzelreihen,
von denen jede in sich die zureichenden Ursachen ihres Verlaufes
einschliefst, geht doch sehr oft auf soziologische Wechselwirkungen
zurück — sei es, dafs die Reihen sich unmittelbar gegenseitig bis
zur Ähnlichkeit modifizieren, sei es, dafs sie eine Wechselwirkung
produzieren oder vorfinden, die sich zu einem herrschenden Sonder-
gebilde verselbständigt hat, und dafs dieses sie alle in gleichmäfsiger,
nivellierender Weise beeinflufst. Selbst die Konstanz ihrer blofs
numerischen Relationen gestattet oft eine Vertiefung, deren Vollendung
bis zur kausalen Gesetzmäfsigkeit gehen würde. Dafs unter m
Todesfällen, etwa 10000, die SelbstmordszifiFer n konstant bleibt,
wird zunächst auf das Gesetz der grofsen Zahl hin behauptet: die
Verschiedenheit der Einflüsse, die jedes Individuum für sich inner-
halb eines vorausgesetzten Milieus bestimmen, gleichen sich für die
Beobachtung aus, sobald man eine sehr grofse Anzahl von Indivi-
duen, hier also 10000, in Betracht zieht; es ist wahrscheinlich, dafs,
wenn sich in weiteren 10000 eine Anzahl sehr vom Durchschnitt
abweichender Individuen findet, eine entsprechende Anzahl nach
anderen Seiten hin abweichender vorkommen werden, so dafs der
Durchschnitt, dem das Resultat n entspricht, sich wieder herstellt.
Nun könnte man aber statt dieses blofsen Wahrscheinlichkeitsexempels,
dessen Faktoren die isolierten Individuen mit für die Rechnung sich
generalisierenden Verschiedenheiten sind, die in Frage kommende
Gesellschaft als ein irgendwie einheitliches Ganzes ansehen, dessen
innere Kräfte sich im Verhältnis seiner Teilnehmerzahl entfalten.
Dann würden durch das soziale Zusammenleben von je 10000 Menschen
Zustände geschaffen, die unter weiterer Voraussetzung ihrer er-
fahrungsmäfsigen charakterologischen Differenzierung tatsächlich n
von ihnen zum Selbstmord treiben. Wir Avissen , dafs die rein
numerischen Abänderungen der Gruppe entschieden qualitative
Modifikationen ihrer Zustände und Geschicke zur Folge haben. Es
könnte nun sehr wohl sein, dafs m, und entsprechend seine Viel-
fachen, gerade dasjenige Quantum bedeuten, bei dem die zu n Selbst-
morden disponierenden sozialen Verhältnisse sich erzeugen. Es
handelt sich also um die beiden, hier nur ganz roh skizzierten
Voraussetzungen: 1. Das Zusammensein der Menschen erzeugt infolge
der Verschiedenheit ursprünglicher Begünstigung an Kraft, Klugheit,
Zufälligkeit der Lage usw. Verhältnisse der Konkurrenz, der Unter-
drückung, der Versagung des Gewünschten; und zwar stellen sich
diese Folgen in verschiedenem Mafse ein , je nach der Ausdehnung
des sie erzeugenden sozialen Ganzen. 2. Unter so und so vielen
Menschen befinden sich so und so viele Choleriker, Sanguiniker,
Phlegmatiker usw. Das Zusammentreffen dieser beiden empirischen
Tatsachen bewirkt als Resultante, dafs in einem sozialen Ganzen
von bestimmter Gröfse eine bestimmte Anzahl von Individuen zum
— 107 —
Die erste Wendung dieser historischen Problemstellung
hatte sich auf den „Typus" gerichtet, dessen 'Art und Ver-
halten mit der genauesten Kenntnis seiner Einzelexemplare
noch nicht gegeben, sondern erst aus ihr durch hinein-
gebrachte Kategorien zu sublimieren ist; die zweite auf
die begrifflichen Ausdrücke, in deren Kombinationen und
Wandlungen das reale Einzelgeschehen sich seiner höheren
historischen Bedeutung nach erfassen liefs, aber nicht durch
blofse Abstraktion des ihm Gemeinsamen, sondern es wie
in einem Spiegel mit besonderen Brechungsgesetzen zu
einem neuen, wenn auch funktionell von jenem abhängigen
Bilde zusammenführend. Die dritte Wendung endlich be-
traf Totalitäten , die das Erkennen durch das synthetische
Nebeneinanderstellen von Einzelwesen hervorbringt *, die
numerischen oder von anderen Kategorien her erfragten
Verhältnisse dieser ergeben sich erst aus den verglichenen
Wirkungen oder Erscheinungen jener Reihen, und sind
nicht durch irgendwelche Kenntnis der Ereignisse und Ge-
schicke zu ersetzen, die sich auf deren singulare Konkret-
heit und Kausalität beschränkt. Es ist wichtig, klarzustellen,
dal's es sich hierbei nicht um ein faute de mieux handelt,
dem die kausale Gesetzmäfsigkeit als die eigentliche und
allein legitime wissenschaftliche Aufgabe gegenüberstände,
sondern um Erkenntnisziele und -formen eigenen Rechtes,
die sich freilich innerhalb des tatsächlichen Erkennens fort-
während miteinander und mit anderen verweben, oft nur in
Anklängen und Bruchstücken auftreten. Aber gerade um
das vielverschlungene Ganze der Historik nach den Richtungs-
linien zu verstehen, die, sich kreuzend und unterbrechend,
ansetzend und abbiegend, das methodische Schema dieses
Ganzen zeichnen, mufs die Erkenntnistheorie seine mannig-
Selbstmord getrieben wird. Wenn also die Zahl m methodisch nicht
nur als eine Zusammenfassung so vieler Einzelwesen gilt, sondern
als ein innerlich verbundenes Sozialwesen, das als solches besondere
Eigenschaften, funktionell abhängig von seiner Ausdehnung, besitzt:
so ist der Satz, dafs unter m Menschen einer bestimmten Kulturlage
n Selbstmörder sind, zwar noch immer kein fertiges „Gesetz", wohl
aber jene Annäherung an ein solches, durch die uns oben die erste
Rechtfertigung des BegriflPes historisch-gesellschaftlicher Gesetze ge-
geben schien.
— 108 —
faltigen Erkenntniswege und -interessen reinlich und prin-
zipiell sondern; Freilich ist dabei ein gewisses Mifsverhältnis
unvermeidlich, indem Erkenntnisformen, die in der Praxis
nur selten, immer mit anderen gemischt, nie in durch-
geführter Konsequenz auftreten, für die Methodenlehre ganz
gleichberechtigt und gleichselbständig neben den praktisch
unvergleichlich wichtigeren stehen, weil ihre innere, begriff-
liche Bedeutung der der Naturgesetze gleicht , deren
systematischer \^'ert von der Häutigkeit oder Durchsichtigkeit
ihrer Anwendungsfälle unabhängig ist.
Ich beschliefse diese HiuAveisung auf Zusammenhänge,
die das historische Material in besondere Erkenntnisformen
giefsen und sich damit neben diejenigen historischen Ge-
setze stellen, die dem naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff
zustreben, — diese beschliefse ich mit einer Analogie aus
der Kunst, von der ich schon im ersten Kapitel nach anderer
Richtung hin Gebrauch gemacht habe. Die Malerei schafft
auch da, wo sie realistisch nur das Gegebene wiederzugeben
sucht, einen Zusammenhang, Gliederung, gegenseitige
Deutung der Elemente der blofsen Anschaulichkeit, die
von den realen, diese produzierenden Kräften völlig absieht
oder sie nur sekundär heranzieht. Sie folgt dem einzelnen
Element nie in seine kausalen Tiefen, sondern verwebt nur
seine optische Oberfläche mit anderen zu einem Gebilde,
dessen innere Verbindungsfäden und ICinheitsprinzipien eben
rein optisch-artistisch sind und in den objektiven, immer
unterhalb der Oberfläche spielenden Naturkausalitäten
absolut kein Gegenbild flnden. Die natürliche Realität
knüpft diese Gegebenheiten eben nach völlig anderen , in
einer ganz anderen Schicht wirksamen Kategorien zusammen,
als die Forderungen der Kunst es tun. So also verhalten
sich jene Kategorien, die die Geschichte nach Typen, nach
Begriffen, nach numerischen Relationen in Zusammenhänge
bringen, Sie schaffen Gebilde nach Forderungen abstrakter
oder rein auf die Erscheinung gerichteter Art und lassen
zwischen diesen die realistische Kausalität gewissermafsen
in der Mitte liegen. Denn die singulären Elemente, die
schliefölich das Objekt der auf diese letztere gerichteten
Erkenntnis sind, bilden für sie nur den Stoff, zu dem sie
freilich ein stetiges Verhältnis haben müssen. Aber von der
— 109 —
Genesis derselben, wie sie in Naturgesetzen aufzufangen ist,
wissen die hier wirksamen Bedürfnisse des Erkennens so
wenig, wie das Porträt den Naturgesetzen nachgeht, denen
gemäfs die von ihm zu neuer Einheit geformte blolse Ober-
fläche des Menschen tatsächlich zustande gekommen ist.
Und nun komme ich nochmals auf den Ausgangspunkt
dieses Kapitels zurück: auf das Recht der Philosophie an
den historischen Gesetzen. In welchen allgemeinen Wissen-
schaftsbegriff man die Beschäftigung mit ihnen einreiht, ist
offenbar eine Erage von sekundärer Wichtigkeit. Zu leugnen
aber ist nicht, dafs die beiden Möglichkeiten, ihnen nach
Zurückweisung ihrer hochfliegenden Ansprüche ein Existenz-
recht zu retten, den beiden Wegen parallel gehen, auf
denen auch die philosophische Spekulation ein solches gewinnt.
Wie ich schon- ausführlich hervorhob, hat diese der
exakten Wissenschaft gegenüber die Rolle des Vorläufers. In
allgemeinem Überschlag, in ahnungsvollem Ergreifen des
noch Unbeweisbaren, in der Kombination von Begrifi'en, die
an der Stelle beobachteter Tatsachenzusammenhänge stehen,
zeichnet sie Erkenntnisbilder, die die methodische Empirie
oft bestätigt, oft widerlegt; aber selbst im letzteren Fall
umschliefsen den materialen Irrtum die grofsen Linien der
Erkenntnistbrmen und -ziele, die bei völligem Ersatz durch
anderen Inhalt dennoch die Erstlinge der Wahrheit bleiben,
oft auch schon die Elemente in sich tragen, für die es nur
glücklicherer Kombinationen bedarf. Allein neben dieser
Bedeutung, die die Philosphie eigentlich nicht von sich,
sondern von den Bestätigungen entlehnt, die sie durch
andere Wissenschaften findet, steht eine ganz andere, die
in ihr selbst beschlossen ist. Sie baut ein Weltbild nach
Kategorien, die mit denen des empirischen Wissens nichts
— oder wenigstens nicht notwendig — zu tun haben: ihre
metaphysische Deutung der Welt steht jenseits der Wahrheit
und des Irrtums, die über die realistisch- exakte entscheiden.
Wenn ihr das Dasein als die Erscheinung des absoluten
Geistes oder Willens gilt, das sittliche Handeln als die
Aufserung unseres Noumenon , Körper und Seele als die
beiden Seiten einer einheitlichen Substanz — so Hegt alles
dies in einem Niveau, das die Kriterien von Bedeutsamkeit
und Richtigkeit ganz in sich selbst trägt. Von diesem
— HO —
Gedankenspiegel aufgefangen, formt sich die Welt zu einem
völlig selbstgenugsamen Bilde und genügt nur philosophischen,
aber keinen aus anderen Bedürfnissen quellenden Forderungen.
]\Ian mag philosophische Spekulationen prinzipiell oder im
einzelnen Falle verwerfen ; aber man kann das billigerweise
nicht auf Grund der Merkmale tun , die für erfahrungs-
wissenschaftliche Erkenntnisse über Richtigkeit und Be-
deutung bestimmen und die die Metaphysik ihrer Problem-
stellung nach ausschliefst. Diese beiden Rechtstitel der
Spekulation entsprechen genau denen der historischen Ge-
setze: sie sind entweder Stationen des unabsehbaren Weges,
der, mit den Naturwissenschaften rangierend, an den Be-
•wegungsgesetzen der historischen Elemente und der Kenntlich-
machung ihrer unmittelbaren Energien mündet, und diesen
Absehlufs bis auf weiteres durch sie antizipiert. Hier liegt
der Punkt, an dem die historischen Gesetze erst dann ganz
falsch werden, wenn sie, unter dogmatischer Erstarrung
eines momentanen Entwicklungsstadiums, ganz richtig zu
sein behaupten. Oder sie bauen aus den historischen Ge-
gebenheiten eine Welt auf Grund von Kategorien auf, die
in der Tatsachenforschung keine Stelle finden und finden
wollen, sondern völlig autonomen Bedürfnissen der Anordnung,
Umsetzung in Begriffe, synthetischen Einheit entspringen.
Sowohl auf dem philosophischen wie auf dem historischen
Gebiet sind beide Geltungsarten oft auf eine und dieselbe
Behauptung anwendbar. Dafs die geschichtliche Evolution
auf eine immer höhere Differenzierung der Persönlichkeiten
oder auf eine immer engere Kollektivierung gehe; dafs die
moralische Kultur sich im Verhältnis der intellektuellen
entfalte oder umgekehrt eine selbständige, gegen die letztere
rein zufällige Entwicklungsformel habe ; dafs die soziale
Freiheit der Individuen mit der Herausbildung eines objek-
tiven Geistes, eines Schatzes überpersönlicher Kulturprodukte
auf wissenschaftlichem, künstlerischem, technischem Gebiete
Hand in Hand gehe — all dieses und ähnliches mag man
einerseits als Vorwegnahmen und Vorbereitungen genau
erkannter, naturgesetzmäfsiger Zusammenhänge ansehen.
Andrerseits aber, in der Schicht begriffsmäfsiger Synthesen,
sind es für sich befriedigende Projizierungen des Geschehens,
die abstrakten oder phänomenologischen Kategorien , von
— 111 —
denen aus das Erkennen derartige Fragen stellt, fordern
keine exakteren oder auf singulärere Wirklichkeiten und
Ursachen zurückgehenden Antworten. Auch diese freilich
mögen oft genug als irrig erkannt werden; was man aber
-an ihre Stelle setzt, sind nur andere Erfüllungen eben der-
selben Erkenntnisformen und halten sich methodisch in
immer gleichem Abstand von dem Ideal der naturwissen-
schaftlichen Kausalität. So enthüllen sich diese beiden Modi
der historischen Gesetze als verschiedene Fragestellungen
des Geistes, zwei Aspekte, die er gemäfs der Mannigfaltig-
keit in seinen theoretischen Bedürfnissen den Dingen gegen-
über gewinnt, von neuem gegen den naiven historischen
Realismus erweisend, dafs diese Aspekte keinen Abklatsch
der Wirklichkeit, sondern eine inner-geistige Formung der-
selben bedeuten; je nach dem Stockwerk gleichsam, in das
man sie aufnimmt, gewinnen sie eine besondere, nur in
dieses gehörige Gestalt. Jene Analogie der historischen
Gesetze mit der Spekulation aber, sozusagen ihrem beider-
seitigen Erkenntnisrhythraus nach, bedeutet keineswegs, dafs
die Geschichte hier eine Kompetenz der Philosophie ge-
worden ist, sondern dafs ganz allgemeine, unsere typischen
Verhältnisse zum Dasein ausdrückende Forderungen und
Kategorien des Erkennens auf beiden Gebieten entsprechende
Formungen ihres Stoffes veranlassen.
Drittes Kapitel.
Vom Sinn der Geschichte.
Die Geringfügigkeit des Interesses, das die erkenntnis-
theoretische Reflexion seitens der Spezialforschung zu rinden
pflegt, erklärt sich, mindestens teilweise, aus der künstlichen
Isolierung, in die sie die im praktischen Erkennen unlös-
lich verbundenen Methoden versetzt. Analysis und Syn-
thesis, Beobachtung und Deutung, Immanenz und Trans-
szendenz der letzteren und viele andere Gegensatzpaare
bezeichnen in fortwährenden Wechseln, Kombinationen,
rudimentären Ansätzen den Weg der gegenständlichen
Forschung; die völligen Entgegengesetztheiten der Denk-
richtung und inneren Bedeutung, die die Erkenntnistheorie
hier erblickt, scheint durch das friedliche Nebeneinander,
ja, das organische Miteinander eben dieser Parteien un-
mittelbar dementiert zu werden. Die Wege der einzelnen
Wissenschaften machen sogar oft einen so völlig einheit-
lichen Eindruck, dals ihre erkenntnistheoretische Zerlegung
gar nicht in ihrer eigenen Struktur vorgezeichnet, sondern
nur durch die des reflektierenden Organes in dem Bilde,
das sie in dieses werfen, erzeugt scheint. Tatsächlich ist
diese Vorstellung nicht ganz irrig. Aber sie konstatiert
zwischen der Erkenntnistheorie und ihrem Gegenstand
durchaus kein für jene ungünstigeres Verhältnis, als es
überhaupt einer Wissenschaft zukommt. Denn keine solche
ist ein genauer Abklatsch der ungebrochenen Wirklichkeit
ihres Objektes, sondern eine Projektion desselben auf eine
neue Ebene, eine Nachzeichnung, die zwar zu jener ein
stetiges Verhältnis hat; aber ihre Mittel und Kategorien
— 113 —
entlehnt sie den besonderen Bedürfnissen und Bedingungen
der wissenschaftlichen Fragestellung, die der Unmittelbarkeit
des Gegenstandes gegenüber einerseits analytischer, andrer-
seits synthetischer erscheint. Und dieses Recht eigengesetz-
licher Formung, das das Erkennen der räumlichen Natur
gegenüber unbezweifelt besitzt, das unsere ganzen Erörter-
ungen ihm auch dem seelisch-geschichtlichen Dasein gegen-
über vindiziert haben — dieses mufs ihm ebenso zukommen,
wo die Erkenntnis selbst sein Objekt ist. Sobald das Er-
kennen erkannt wird, steht es unter denselben Kategorien
und Gestaltungsbedingungen, die auch an jedem anderen
Objekte als solchem den Unterschied zwischen der Erkennt-
nis seiner und seiner erlebten oder für sich seienden Wirk-
lichkeit bezeichnen. In diesem Sinne geschah es, dafs wir
die Bedeutung der historischen Gesetze als Vorstadien
künftiger, auf die Kausalität der Elemente gehender exakter
Erkenntnis streng von derjenigen schieden, die sie als nicht
über sich hinausweisende Synthesen innerhalb einer höheren
Begriffsschicht besitzen — und zugleich bemerkten, dafs
diese beiden Bedeutungen ohne weiteres einer und derselben
Behauptung zukommen können. In dem gleichen Sinne
vereint die Praxis der Empirie wie der Spekulation der
Historik ihre bisher besprochenen Kategorien oder Wege
mit einem weiteren, den die Erkenntnistheorie in einer völlig
abweichenden Richtung laufen sieht und dessen Ziele man
zusammenfassend als den Sinn der Geschichte bezeichnen
könnte.
Selbst die begriffsmäfsigsten Formungen, zu denen sich
die Historik erhob : die historischen Gesetze, betrachtet als
selbstgenugsame Zusammenfassungen der realen Einzelheiten
nach Bedürfnissen der Abstraktion — selbst diese sind, in
qualitativer Hinsicht, rein tlieoretischen, intellektuellen
Wesens, in quantitativer zeichnen sie einzelne Richtlinien
des geschichtlichen Seins und Geschehens nach; es sind
doch die konkreten Erfahrungen, die sie, wenn auch aus
ganz weiter Distanz gesehen und in wechselnden Sublimie-
rungen , auf ihrem Wege begleiten. Darum konnten sie
wohl als eine Analogie der philosophischen Spekulation,
aber nicht als Philosophie gelten. Eine ganz neue Denk-
bewegung, die Tatsachen der Geschichte aufnehmend, eröffnet
Siramel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 8
— 114 —
sieh indes, sobald die Philosophie selbst diese als ihren
Gegenstand ergreift. Was die bisherigen Erörterungen als
philosophische Aufgabe fanden, war die Erkenntnis des
historischen Erkennens. Die Historik lag vor, als Fest-
stellung äufserer Daten und als deren psychologische Deutung,
als Beschreibung von Einzelheiten und als Zusammenfassung
nach Begriffen : wie innerhalb dieses wissenschaftlich Ge-
gebenen sich das real, unmittelbar Gegebene zu den formen-
den Kategorien des erkennenden Subjekts verhielt, war die
allgemeine Frage, die es prinzipiell und in wenigen Einzel-
beispielen zu behandeln galt. Wird nun aber die Geschichte
nicht von dem Gesichtspunkt aus, dafs sie Erkenntnis ist,
sondern nach ihrem Sachgehalt angesehen, nach dem, was
erkannt wird, die Geschichte als Gegenständlichkeit, nicht
als Funktion des vorsteUenden Geistes, — so ergeben die
Probleme ihrer philosophischen Betrachtung, so weit ich sehe,
zweierlei besonders charakterisierte Gruppen. Die eine
basiert darauf, dafs die Geschichte eine Summe empirischer
Einzelheiten ist. Es entsteht also einerseits die Frage, ob
das Ganze ein Wesen und eine Bedeutung besitzt, die aus
keiner Einzelheit für sich zu entnehmen sind, andrerseits
— aber mit jenem vielleicht zusammenfallend — welches
absolute Sein, welche transszendente Wirklichkeit hinter
dem Erscheinungscharakter der empirisch-historischen Ge-
gebenheiten stünde. Neben dieser metaphysischen, aber noch
rein theoretischen Frage erhebt sich die nach den Betonungen
und Gliederungen, die der Inhalt der Geschichte durch die
nicht-theoretischen Interessen der Betrachtenden gewinnt,
und die vorläufig, mit dem Vorbehalt sehr wesentlicher
Modifikationen, die Wer t u n g der historischen Gegebenheiten
heifsen können. Beide Arten, über die Geschichte zu re-
flektieren — durch die sie dem wissenschaftlich erkennen-
den Subjekt ferner und näher rückt — , verschlingen sich,
oft untrennbar, in der tatsächlichen philosophischen Speku-
lation: es gehört zu den typischen Korrelationen innerhalb
der Seele, dafs das Bild des Absoluten, seinem Sinne nach
von allem Subjektiven und aller personalen Singularität am
weitesten abstehend, sich gerade nur der Vertiefung in die
subjektivsten Energien des Fühlens, der Stimmung, der
Willenstendenzen erschliefst. Nun ist zunächst das Verhält-
— 115 —
nis dieser Frage zu den anderen, die der gleiche 8tofF auf-
gibt, genau festzustellen.
Wenn die gesamten Tatsachen der Geschichte uns lücken-
los und irrtumslos bekannt und wenn dazu uns alle Gesetze
aufgedeckt wären, die jedes körperliche Atom und jede Vor-
stellung in ihrem Verhältnis zu allen anderen beherrschen,
so würden doch offenbar die hier fraglichen Probleme damit
noch nicht erledigt sein. Denn alle jene Kenntnisse halten
sich auf dem Gebiete, das wir als das der Erscheinung be-
zeichnen — im weitesten Sinne des Wortes und ohne damit
ein erkenntnistheoretisches Dogma zu vertreten. Es bleibt
also jenseits ihrer jedenfalls die Frage nach der absoluten
Realität, die hinter aller Geschichte steht, wie das Ding an
sich hinter der Erscheinung. Ob dieses Sein aufserhalb der
Erscheinungsreihe in pantheistischer Einheit mit dieser ge-
dacht, oder theistisch ihr gegenüber gestellt, oder materia-
listisch geleugnet wird, ist eine mehr materielle Angelegen-
heit; formell wird diese Reihe metaphysischer Annahmen
dadurch bezeichnet, dal's sie über ein Verhältnis aussagen,
welches zwischen dem Ganzen der Geschichte und einem ihm
irgendwie jenseitigen Prinzip besteht. Die metaphysische
Fi'age steigt dann in dieses Ganze hinab : ob seine Ganzheit
wirklich als eine innerliche Verbundenheit gelten dürfe oder
als ein Komplex von im letzten Grunde selbständigen Teilen *,
ob die Summe der historischen Bewegungen eine für sich
befriedigende Einheit darstelle, oder ob einerseits jedes
Stadium und jedes kleinste Element derselben Sinn und
Bedeutung für sich habe oder andrerseits ihre Gesamtheit
nur im Zusammenschlufs mit den kosmischen Bewegungen
überhaupt ein sinnvolles Ganzes ergebe; ob sich in den
Mannigfaltigkeiten der Geschichte ein ursprünglich einheit-
licher Keim entwickelt oder ihre Einheit nur ein im Unend-
lichen liegender Zielpunkt sei : die allmählich sich ver-
engende Beziehung und Verwebung ursprünglich getrennter
Elemente. All diese Möglichkeiten, bejaht oder verneint,
greifen prinzipiell in das Bild des geschichtlichen Verlaufes
nicht ein, so wenig die symbolische Bedeutung eines Kunst-
werkes die rein artistischen Zusammenhänge alteriert, die
jeden Teil desselben eindeutig und mit selbstgenugsamer
Notwendigkeit bestimmen. Wie die vertiefte Religiosität das
8*
— 11(3 —
Leben als ein Ganzes deutet und tönt, ohne in einen ein-
zelnen Moment einzugreifen und ihm einen anderen realen
Inhalt oder individuelle Bedeutung zu geben, als die imma-
nenten Umstände und Kräfte der empirischen Sphäre ihm
erteilen, — so ergreift die Metaphysik das historiöch Wirk-
liche als eine Ganzheit und setzt es in Zusammenhänge und
Sinngebungen, die gleichsam nur seine Grenzen umfliefsen ;
der Verlauf aller einzelnen Teile erscheint dadurch nicht im
mindesten anders, als wenn diese Deutung ihrer Gesamtheit
überhaupt nicht bestände. Die gleiche historische Tatsäcli-
lichkeit gibt den verschiedensten Antworten auf jene Fragen
die gleiche Chance.
Am deutlichsten vielleicht läfst die Frage nach dem
transszendenten Zweck der Geschichte all dieses hervortreten.
Die Annalime eines göttlichen Wesens, das dieses ganze
Spiel zu einem uns verborgenen oder offenbarten Zweck
abrollen liefse, würde nur die Kausalreihe, als welche wir
es erfahren , in eine teleologische verwandeln , ohne sie in
ihren Inhalten und den Gesetzen, die diese verbinden, irgend-
wie abzuändern. Was die Geschichte als Wissenschaft be-
schreibt, ist der Mechanismus der Mittel, der jenen Zweck
verwirklicht — gerade wie die zu menschlichen Zwecken
gebaute Maschine den Ablauf der in ihr wirksamen Kausal-
prozesse von dem Zweck als solchem nicht durchbrechen
läfst: dieser steht vielmehr vor und hinter dem Apparat,
den wir vom wissenschaftlichen Standpunkt aus rein
mechanisch und ohne den Willensakzent verstehen können,
der ihn in die ganz neue Schicht des Praktischen hebt.
Wird doch auch die Erkenntnis der unterpsychischen Natur
in ihrem rein mechanischen Charakter nicht notwendig da-
durch alteriert, dafs wir ihr Zwecke unterlegen. Wenn wir
die Mittel der organischen Entwicklung festzustellen suchen,
wie es etwa der Darwinismus wollte, so können wir ohne
weiteres diesen ganzen Ablauf als Apparat oder Resultat
einer göttlichen Zwecksetzung ansehen, ohne jedes einzelne
Glied anderswo herzuleiten , als aus den Spannkräften des
vorherigen, die sich nach den Gesetzen des Mechanismus zu
jenem entwickelten. Für die historische Forschung ist es
gleichviel, ob man die Herrschaft Gottes oder des Antichrists,
ob man die schliefsliche Seligkeit aller Seelen oder die
— 117
Scheidung in Begnadigte und Verdammte, ob man die Auf-
lösung alles Geistes in das Nirwana oder die restlose Geist-
werdung alles Daseins für die Ziele hält, ohne welche die
Kräfte überhaupt nicht wirken würden, deren Beschreibung,
als wären sie selbständige, den Inhalt der exakten Forschung
bildet.
Ja, gerade zwischen der Reinheit, mit der die
Immanenz aller real - historischen Erkenntnis vor jedem
Eingriff metaphysischer Instanzen gewahrt bleibt — und
der Weihe aller Geschichte durch die göttliche Zwecksetzung
besteht ein tiefer Zusammenhang. Nicht nur von dem oft
betonten theistischen Dogma aus, dafs der Würde eines
Gottes gerade jene technische Vollkommenheit der Welt-
einrichtung entspricht, die keine weiteren Eingriffe in ihren
Ablauf erfordert und den an einzelnen Stellen mehr als
anderen sichtbaren „Finger Gottes" zu einem kindlichen
Anthropomorphismus macht. Sondern vor allem von der
anderen Seite her: je weniger die Einzelheiten des Lebens
als solche eine metaphysische Bedeutung verraten, um so
dringender wird das Bedürfnis, wenigstens dem Ganzen eine
solche zu leihen, und um so reiner hebt sich das Bild oder
die Ahnung der transszendenten Macht, die dem Ganzen
einen Sinn und Zweck gibt, aus aller trüben Gemischtheit
mit empirischen Vorstellungen heraus^).
1) Dafs nun freilich der Ausschnitt aus dem Weltgeschehen, den
wir Geschichte nennen, als einheitliches Ganzes von solcher meta-
physischen Bedeutung getragen ist, kann gerade als eine derartige
Sonderbeziehung des göttlichen Prinzips zu einer einzelnen Seins-
provinz gelten, als eine Ausnahmestellung des Menschen, die die
innere Gleichmäfsigkeit alles Natürlich-Wirklichen durchbricht und
damit der Metaphysik ihr nur durch den gleichmäfsigen Abstand
von diesem einzuräumendes Recht nimmt. Tatsächlich ist eine
theistische Metaphysik der Geschichte nur annehmbar, wenn sie sich
in eine Metaphysik der Natur überhaupt einordnet. Allein dies kann
so geschehen, dafs die teleologische Leiter, von dem niedrigsten,
unbelebten Dasein beginnend, in dem Menschengeschleclit ihre letzte
Stufe findet, dafs die Geschichte der Menschheit unmittelbar zu dem
absoluten Zwecke hinführt. Da nun für jeden teleologischen Zu-
sammenhang, im Gegensatz zum kausalen, nur die ununterbrochene
Beziehung zu seinem höchsten Punkt erforderlich ist, so ergibt
sich leicht, dafs eine auf die Menschengeschichte beschränkte
theistische Teleologie den oben gerügten Fehler nicht begeht; sie
— 118 —
Das Beispiel der Teleologie leitet zu dem zweiten Typus
gesehichts-nietaphysischcr Probleme über, zu demjenigen,
der durch die Beziehung nicht-theoretischer Interessen zu
dem Bilde des objektiven, historischen Verlaufes entsteht.
Denn jene transszendente Sinngebung des Geschichtsganzen
braucht wenigstens nicht anders auf derartigen Interessen
zu ruhen, wie alles Erkennen überhaupt es tut: was uns
zu theoretischer Betätigung bewegt, kann nicht selbst wieder
etwas Theoretisches sein, sondern nur ein Willensantrieb
und Wertgefühl. Darüber sind wir uns oft nur nicht klar,
wenn und weil der Inhalt, auf den diese Energien sich
richten, ein rein theoretischer ist, und weil wir das Erkennen
nur dann auf praktische Antriebe zurückzuleiten pflegen,
wei.n es durch inhaltlich ihm fremde Motive in Betrieb
gesetzt wird. Jetzt aber handelt es sich darum, jene völlig
gleichmäfsige Färbung aller historischen Elemente, die allein
eine transszendente, ihrer Totalität untergebaute Instanz
zulässig macht, zu durchbrechen und ihre Reihen selb.st zu
gliedern, nach Vorder- und Hintergründen, nach Akzenten
und Gleichgültigkeiten, nach Vorbereitungen und Erfüllungen.
Die teleologische Reflexion belebt das Bild der Geschichte
selbst, wenn die Individualisierung der Seelen oder ihre
Egalisierung, wenn der Reichtum objektiv geistiger Gestal-
tungen oder die sittliche Vollendung, wenn die Steigerung
des Glücksquantums oder die allein erreichbare Minderung
der Leidenssumme als der Zweck oder Sinn der geschicht-
lichen Bewegungen vorgeführt w^ird^).
leugnet keineswegs die gleiche metaphysische Fundamentierung der
übrigen Natur und macht nur von dem Rechte Gebrauch, die teleo-
logisclie Kette, von oben her beginnend, an jedem beliebigen Punkte
für die Betrachtung abzubrechen — wie die kausale Kette das gleiche
Recht bei dein Fortschreiten von unten her besitzt.
') Sobald der Zweck niclit der einer transszendeuten Macht ist,
die um seinetwillen die Geschichte abrollen läfst, begegnet seine
Anwendung auf diese erheblichen logischen Schwierigkeiten; denn
es scheint keinen rechten Sinn zu haben, dafs gewisse Punkte in
ihm die Zwecke sein sollen, zu denen das Übrige Mittel ist, wenn
diese Zwecke nicht von einem Subjekt gesetzt sind, das mindestens
irgendeine Analogie zum mensclilichen Bewufstsein besitzt. Die
Kantische Maxime der Naturzwecke: gewisse Prozesse verliefen so,
als ob sie von einem Zweck geleitet würden, ist hier nur in einem
~ 119 —
ganz abweichenden Sinne anwendbar, weil es sich gerade nicht
um einen Leitfaden für die Erkenntnis der Realitäten handelt, die
vielmehr schon feststehen, nicht um eine erkenntnistheoretische,
sondern eine metaphysische Behauptung. Wenn also die grofsen
Persönlichkelten etwa als die Zwecke der Geschichte gelten, zu
denen die Existenz der Massen nur Mittel sei, oder die sittlichen
Taten, die inmitten des Aufserlich-Historischen vollbracht werden,
oder der Durchbruch der Gerechtigkeit durch alles Zufällige und
Gewalttätige der Ereignisse — so scheint, um dies Teleologische von
dem blofs kausalen Geschehen zu unterscheiden, ein Wesen erforder-
lich zu sein, das sich diese Zwecke setzt. Allein, die Struktur der
auf ihren Sinn hin betrachteten Dinge kann diese Hypostasierung
entbehren. Der Geschichtsmetaphysiker empfindet an dem Lauf der
Ereignisse, den der Geschichtsforscher ihm überliefert und den er in
seine neue Beleuchtung rückt, die Rangierung nach Mitteln und
Zwecken als eine immanente Qualität eben dieser Inhalte: eines Sub-
jektes, das diesen Zweck vorgestellt und daraufhin jene Rangierung
ermöglicht hätte, bedarf es so wenig, wie es für die Anordnung der
Dinge, die den logischen Normen entspricht, eines schöpferischen
Geistes bedarf, der ihnen gemäfs die Dinge gestaltet hätte. Wie sie
eben als Tatsachen vorliegen, erregen sie, je nach der Kategorien-
schicht, die auf sie reagiert, die Vorstellung lo'gischen oder teleo-
logischen Baues. Das Bewufstsein von der Subjektivität in einem
gewissen erkenntnistheoretischen oder metaphysischen Sinne, der
beide Formen entspringen, hat durch die bekannte transszendente
Achsendrehung auf den absoluten Geist geführt, von dem die ver-
nünftige oder die zweckmäfsige Gestaltung der Dinge so ausginge,
dafs wir sie von ihnen ablesen können. Wie aber die Form logischer
Begreiflichkeit dieses Stadium überwunden hat und uns eine un-
mittelbare Bestimmtheit der begriffenen Dinge ist — so kann auch
dieTeleologie als eine den metaphysisch betrachteten Dingen immanente
Qualität gelten. Gewifs wird man das damit ausdrücken können,
dafs die Geschichte so verliefe, als ob ein Geist über ihr gewisse
Momente als Zwecke, denen alles andere diente, konstituiert hätte.
Allein für das metaphysische Bedürfnis ist dies zu wenig oder zu viel:
entweder wird ihm jene absolute, zwecksetzende Macht eine Glaubens-
realität sein, oder es wird ihrer nicht einmal als eines heuristischen
Prinzips bedürfen, sondern es fühlt die Zweckmäfsigkeit als den meta-
physischen Sinn der Ereignisse selbst, der keines irgend persönlichen
Trägers aufserhalb ihrer bedarf. — Man darf die teleologische
Reflexion über die Geschichte nicht mit der Wertreflexion verwechseln.
So häufig beide sich vereinen und jene innere Belebung, die das Ge-
schehen durch seine Gliederung nach Zwecken gewinnt, sich an das
Aufwachsen von Wertpunkten anschliefst — so ist nicht nur die
logische Struktur von Zweck und Wert durchaus verschieden, sondern
ihre geschichtsphilosophischen Inhalte brauchen nicht zusammen-
zufallen. Man kann sehr wohl annehmen, dafs der objektive Welt-
— 120 -
Nun kommt es vor allem darauf an, auch bei diesem
Hinabsteigen der Spekulation in das konkrete Bild der
Ereignisse ihr dennoch zugleich jenen Abstinenzcharakter
zu bewahren, der dieses Bild in der Reinheit exakter Tat-
sachen fortbestehen läfst. Prinzipiell hat dies keine Schwierig-
keit-, denn die nach Zwecken, Werten, Bedeutungen
organisierte oder abgetönte Reihe hat genau denselben Inhalt,
wie die nach theoretischen Kategorien gebaute. Mit den
realen Kräften, die jedes Element dieser Reihe in seiner
Genesis verständlich machen, mit den Begriffen, die seinen
Inhalt logisch explizieren, haben die Lichter und Schatten
absolut nichts zu tun, die ihr Bild in dem Augenblick
erhält, in dem es in die gefühls- und willensmäfsigen
Schichten unseres Bewufstseins fällt. Das einfachste Beispiel
solcher Doppelbetrachtung gibt die sittliche Beurteilung des
Handelns , so dafs es schon eine Trivialität ist, hervorzu-
heben, dafs das kausale Verständnis jegliches Tun als das
genau so notwendige zeigt , wenn unser sittliches Urteil
ihm die höchste Würde, wie wenn es ihm die tiefste
Immoralität zuspricht; und dafs ebenso umgekehrt, das
Reich des Gesollten, das die sittliche Forderung baut, in
seiner Bedeutung überhaupt davon nicht berührt wird, wie
lange oder kurze Strecken weit die psychologische Wirk-
lauf sich zu irgendeinem Zwecke aufgipfle, den eine immanente oder
transszendente Macht ihm vorgesetzt hat, und kann dennoch nicht aus
diesem Zweck, sondern aus irgendeiner Station des Weges zu ihm das
Gefühl eines Wertes gewinnen. An unzählige Punkte der Geschichte
mag sich dieses Gefühl heften, unzählige Male möge es uns sagen,
dafs um dieser Tat, um dieser Empfindung willen, von der wir hören,
es sich wohl lohnte, den ganzen Apparat der Geschichte mit all seinen
Leiden und negativen Werten in Bewegung zu setzen — während
wir zugleich überzeugt sind, dafs nicht um dieser Momente willen,
sondern zu ganz anderen, zukünftigen oder umfassenderen Zwecken,
der Mechanismus der historischen Mittel arbeitet. Wir können ferner
sehr wohl eine objektive Zweckmäfsigkeit des geschichtlichen Ver-
laufs anerkennen und ihm dabei doch den Wert überhaupt absprechen,
etwa mit dem Ausdruck, dafs die Welt zwar relativ so gut und
zweckmäfsig wie möglich, absolut genommen aber äufscrst schlecht
eingerichtet ist und unter dem Nullpunkt des Wertes bleibt. Man
kann endlich jede Zweckmäfsigkeit der historischen Dinge leugnen
und es dennoch als wertvoll empfinden, dafs dieses oder jenes oder
ihre Gesamtlieit existiert.
— 121 —
lichkeit ihm parallel geht. Die Reihe des Geschehens, nach
sittlichen Werten und Unwerten geformt, hat einen absolut
anderen Rhythmus , andere Höhe- und Tiefpunkte , andere
Farben, wie unter der Kategorie der theoretischen Historik
— obgleich beide den absolut gleichen Inhalt haben; jede
von beiden liegt in einer Dimension, in die die andere
nicht hineinreicht. Und neben beide mag sich etwa noch
die ästhetische Betrachtung stellen, die freilich gegenüber
dem Handeln und namentlich seiner historischen Totalität
kaum wirksam geworden ist. Zweifellos aber kann diese
auch nach ästhetischen Werten gegliedert werden. Harmonien
und Kontraste, die Phänomene der Anmut und des Tragischen,
die Stufenreihe vom Schönen durch das ästhetisch Gleich-
gültige zum Häfslichen — diese und viele verwandte Kategorien
teilen auch die Welt des Handelns unter sich auf, und
geben ihr einen Sinn jenseits ihrer blofsen Tatsächlichkeit
wie ihres ethischen Wertes. Die Projektion der Ereignisse
auf diese Ebene erzeugt ein völlig autochthones Gebilde,
Erhebungen und Abflachungen in der Geschehensreihe,
Verknüpftheiten und Lösungen, Belebtheiten und Stagnationen,
die sich in keiner anderen Auffassung des Wirklichen
wiederholen. Und dies ergibt entsprechende Möglichkeiten
der Spekulation : aus den ethischen wie den ästhetischen
Reihen folgen Periodeneinteilungen und Entwicklungen,
Ahnungen eines tieferen Sinnes der Ereignisse, teleologische
Zuspitzungen, kurz, Reflexionen über die Geschichte, die
ihr Wirklichkeitsbild in keiner Weise alterieren, sondern
nur die Art ausdrücken, wie sich gewisse Gefühls- oder
Wertungsinteressen grade an diesem Bilde befriedigen.
Der Bezirk solcher nicht- theoretischen Betonungen, mit
denen wir die theoretische Aufreihung des Geschichtlichen
begleiten und deren Kristallisierung zu besonderen Bildern
die Philosophie der Geschichte ausmacht, ist, soweit ich
sehe, noch nicht in seinem ganzen Umfang festgestellt.
Damit, dafs man diese Betonungen als Wertungen bezeichnet,
wie es zu geschehen pflegt, ist es nicht abgetan. Denn
entweder ist dies ein blofser Allgemeinbegriff, in den man
alle gefühlsmäfsigen Beleuchtungen und nicht-theoretischen
Reihenbildungen der Historik zusammenfafst — dann hat
die Aufgabe damit einen einheitlichen Namen, aber keine
— 122 —
Lösung gewonnen. Oder man meint damit wirklich die
spezifische Qualität, die einzelnen Inhalten als Gliedern
dieser neuen Ordnungen zukommt — so erschöpft sie in
keiner Weise den Reichtum der hier wirksamen Kategorien,
von denen ich einige weitere andeute. Wir bezeichnen
Erscheinungen als „bedeutend", ganz von der Stellung ab-
sehend, die sie auf einer der eigentlichen Wertskalen ein-
nehmen. Sie werden eine solche Stellung haben, ja, diese
kann eine Veranlassung sein, sie als „bedeutend" zu empfinden.
Allein dieser Begriff hat einen anderen Sinn als den des
W^ertes. Das Wertvolle und das Bedeutende enthalten zwei
verschiedene — wenngleich in ihrer Verschiedenheit mehr
zu fühlende, als unzweideutig zu beschreibende — Mischungen
der Betonung, die einer Erscheinung rein in und durch
sich selbst zukommt, mit derjenigen, die sie durch Wirkungen
auf andere Erscheinungen, durch Beziehungen und Ver-
gleiche mit dem sonstigen historischen Dasein gewinnt. Das
Bedeutende besitzt den Doppelsinn des „Guten", das zu-
nächst zu etwas oder für jemanden „gut" ist, dann aber,
diese Relation scheinbar unlogisch abstreifend , sich ver-
absolutiert und eine innere, nur auf das Ideal des Dinges
selbst hinsehende Qualität dieses wird. Diese einzige Relation :
zu demjenigen, was das Ding sein soll, zu dem Bilde seiner
Vollendung, das in ihm selbst wie mit ideellen Linien vor-
gezeichnet ist und der Nachzeichnung durch die Wirklich-
keit harrt — kann in dem Begriff des Guten alle anderen
Relationen beerben , die ihm sonst seine Inhalte gaben.
Irgendwie ähnlich verhält es sich mit dem Bedeutenden.
Rein begrifflich mufs es etwas bedeuten, oder für
jemanden etwas bedeuten. Aber die Qualitäten des un-
mittelbaren Daseins, die, gleichsam über dieses hinaus
greifend, der Erscheinung solche relative Bedeutung ver-
schaffen, können auch rein für sich empfunden werden, und
die Erscheinung ist insofern für uns schlechthin „bedeutend".
Wir bezeichnen damit einen Ak/-ent, der die Personen und
Ereignisse in sehr mannigfachen Stärkegraden trifft und
durch eben diese eine vollkommene Rangierung derselben
ermöglicht: mit den Reihen, die von der Kategorie des
Sittlichen und Unsittlichen, des irgendwie Erfreulichen oder
Unerfreulichen , ja selbst des Starken und Schwachen uns
— 128 —
erwachsen, konsoniert diese nicht, Avenigstens nicht prin-
zipiell. Sie wird es tatsächlich oft tun, Sittliches oder Un-
sittliches, Schönes oder Häfsliches wird seinem Träger die
Qualität verleihen, für uns „bedeutend" zu sein; aber immer
bleibt diese jenem gegenüber ein Novum und so unabhängig,
dafs der gleiche Grad solcher Werte doch oft in die
spezitische Kategorie des Bedeutenden nicht eintritt.
Eine andere der Kategorien, die von unseren Gefühls-
reaktionen her dem objektiven Verlauf des Geschichtlichen
eine Gliederung nach Reizverschiedenheiten läfst, ist das
Extreme und sein Korrelat, das Typische. Ein Interesse,
das jenseits des blofs theoretischen an jenem Verlauf liegt,
knüpft sich an Erscheinungen, wenn wir sie als die äufsersten
Stufen von Qualitätsskalen empfinden, die sich vielleicht aus
historisch ganz auseinanderliegenden Elementen, durch Ver-
gleich sonst ganz heterogener Phänomene gebildet haben.
Die rein formale Tatsache, eine äufserste Grenze mensch-
licher Möglichkeiten vor uns zu haben, erregt eine psycho-
logische Reaktion, die in hohem Mafse von dem Inhalt
dieses Extremseins unabhängig ist. Wie schon nach den
landläufigen Erfahrungen der Praxis „die Extreme sich be-
rühren", so besteht zwischen allem Äufsersten im Sein und
Tun der Menschen eine geheime Verwandtschaft auch in
Hinsicht der Gefühle, mit denen wir es aus dem blofs kau-
salen Verlauf der Ereignisse herausheben — so weit Gefühle
anderer Kategorien das so Zusammengehörige auch aus-
einandertreiben mögen. Aber die Schauer, mit denen wir
die Monstrosität des Verbrechens begleiten, enthalten oft
einen Reiz , dessen Bezeichnung als „dämonisch" eine Art
Entschuldigung enthält, dafs irgendeine Attraktion überhaupt
solche Taten in die Nähe des anderen Wertextrems bringt.
Im formalen Gegensatz zu diesem Interesse steht das an
dem typischen Charakter der Erscheinungen. Beide gelten
gewissermafsen quantitativen Bedeutsamkeiten: jenes dem
äufsersten Quantum einer Qualität, dieses dem Quantum von
Personen oder Ereignissen, das durch eine Einzelerscheinung
vertreten wird. Auch die Schätzung der typischen Be-
deutsamkeit des Einzelnen stellt sich jenseits der kausalen
Aufreihung, aus der es oft ganz anzusammenhängende Tat-
sächlichkeiten als Material zur Typenbildung herausgreifen
— 124 —
mufs; ebenso aber ersichtlich jenseits aller Wertung nach
sonstigen normativen ]\Iafsstäben. Es ist ein ganz primäres
Interesse, das sich an die Erscheinung blofs darum, weil sie
ein Typus ist, knüpft, obgleich natürlich sein Mehr oder
Weniger von der inhaltlichen Bestimmtheit der typisierten
Existenzen abhängen wird. Sowohl das Extreme wie der
Typus ist in höherem Mafse objektiv, in geringerem eine
blofse Projektion unserer Gefühle, wie das Wertvolle oder
das Bedeutende oder einfach das Interessante. Allein wir
erblicken doch einen Sinn des geschichtlichen Daseins
darin , dafs seine Erscheinungen einerseits nicht in der
Gleichförmigkeit mittlerer Qualitäten abrollen, sondern sich
nach allen Richtungen hin zu Extremen steigern ; dafs sie
sich andrerseits nicht unvergleichbar und einander qualitativ
fremd darstellen, sondern eine ideelle Zusammenordnung
besitzen, die einzelne Menschen, Taten, Zustände zu Ver-
tretern eines ganzen Kreises ähnlicher macht. Aus beiden
Tatsachen kann eine Metaphysik der Geschichte Bedeutsam-
keiten konstruieren, aufserhalb jenes blofs exakten historischen
Bildes, in welchem sich die extremen Erscheinungen ebenso
wie die durchschnittlichen, die typischen ebenso wie die ganz
individuellen mit gleichgültiger, innerlich undifferenzierter
Notwendigkeit erzeugen. Dafs die berührten Tatsachen
diese Funktion üben, der Geschichte über das blofs Tat-
sächliche hinaus als Akzentuirung oder Gliederung oder
Vertiefung zu dienen — das ist der Ausdruck der Gefühls-
reaktionen , die das theoretische Bild mit Farben, wie sie
nicht ihm, sondern nur jenen eigen sind, ausstatten.
Diese Erörterungen sehen schon lange auf den Gesichts-
punkt zurück, von dem dieses Kapitel ausging: dafs die
methodischen Begriffe, die die Erkenntnifstheorie ganz ver-
schiedenen Schichten des Denkens zuweist, in der Praxis
desselben fortwährend gemeinsam und abwechselnd an-
gewandt werden. Die Reflexe, die unsere spekulativen und
nicht-theoretischen Interessen auf die Ergebnisse der Historik
werfen, sind freilich die Elemente historischer Metaphysik,
und diese ist ganz anders orientiert als die theoretische
Schilderung des Geschehens und findet in der strengen
Sonderung von letzterer ihr wissenschaftliches Existenz-
recht. Allein jene reine Theorie ist ein nie ganz realisiertes
— 125 —
Ideal und tatsächlich auch ihrerseits von der Wirksamkeit
der metaphysischen Kategorien durchzogen. Die Spekulation
über die Geschichte ist zum grofsen Teil nichts anderes,
als die gesonderte Heraushebung, Vervollständigung,
prinzipienmäfsige Aneinanderordnung von Voraussetzungen
und Triebkräften , die schon in der Gestaltung des
Geschehensraaterials zur exakten Geschichte wirksam sind.
Man -wird jene in ihrer Genesis nicht vollständig verstehen,
wenn man nicht die Ansätze zu ihr, ihre partiellen Wirksam-
keiten, ihr oft verstecktes Sich-Aufarbeiten in den ein-
facheren , konkreten Feststellungen der Historik verfolgt,
die sich freilich ihrem erkenntnistheoretischen Sinn nach
von jener scharf trennen. Die Gebilde, deren reines Wesen
durch einen Begriff der höheren Geistigkeit bestimmt wird,
sind zwar ihrem Sachgehalt und Wert nach von der Art
ihres historischen Aufwachsens ganz unabhängig; allein da
unser Vorstellen sich dieser logischen Sachlichkeit nur
asymptotisch nähern kann und selbst etwas psychologisch-
historisches bleibt, so ist ihm die Einsicht in die geschicht-
lich-reale Entwicklung jener Gebilde doch auch ein Stütz-
punkt für die Einsicht in ihre überhistorisch-sachliche Be-
deutung. So etwa der Religion gegenüber. In unzähligen
Beziehungen des Lebens finden wir Gedankenelemente,
Willenstendenzen , Gefühlserregungen , die , aus ihren
singulären Verbindungen gelöst, gleichsam zum Absoluten
gesteigert und um einen Mittelpunkt gesammelt, zur Religion
werden. Das Verhalten des Patrioten zu seinem Vaterland,
des pietätvollen Kindes zu seinen Eltern, des Enthusiasten
zu seinem Ideal, des Soldaten zu seiner Fahne — alles
dies enthält Momente der Religiosität; Religion ist das
eigne Leben, zu dem sich jene Gefühle erhöhen und ver-
weben, die sonst nur wie in Funken die einzelnen Interessen-
gebiete durchwärmen ; der Gegenstand der Religion ist ihr
Schnittpunkt im Unendlichen , das differentielle und —
richtig verstanden — abstrakte Gebilde, zu dem sie
kristallisieren. Mit dem Rechte, mit der Kunst, verhält es
sich nicht anders. In den einfacheren und konkreten An-
gelegenheiten und Inhalten des Lebens sind fortwährend
Elemente rechtlicher und ästhetischer Art wirksam, als un-
entbehrliche Normen oder als Energien der praktischen Pro-
— 126 —
zesse dienend , aber in dieser Funktion so verstreut und
rudimentär, wie es eben der Zufälligkeit jener Prozesse
entspricht. Aus diesen aber herausgehoben, wachsen sie
schliefsHch zu ideellen Gebilden auf, gewinnen zu ihrer
Geistigkeit einen Körper höherer Ordnung , gehen aus all
den Ansätzen und ausoinanderliegendcn Elementen zu den
Einheiten des nun selbständig bewufsten Rechtes oder der
autonomen Kunst zusammen. So finden sich die Motive,
mit denen die Spekulation über das theoretisch exakte Bild
des Historischen hinausgreift, doch schon in diesem Bild
selbst, aber hier eben nur als Anregungen wirkend, die
von einer gewissen Entfernung her das Material gestalten
helfen, als Voraussetzungen, die nicht sowohl die Einzel-
heiten, als die Tatsache, dafs diese überhaupt theoretisch
fixiert werden, beeinflussen, als oft unbewufste Vorurteile,
die nur den Ton des Ganzen bestimmen und so weder be-
weisbar noch widerlegbar sind. Erst die Geschichts-
philosophie hebt sie aus dieser fragmentarischen und ver-
borgenen Wirksamkeit zur Geschlossenheit in sich und
selbstgenugsamen Vollendung.
Die erste übertheoretische Tatsache innerhalb der
Historik ist das Interesse, das die Theorie überhaupt
motiviert. Das Erkennen als Ganzes kann ersichtlich nicht
aus dem Erkennen hervorgehen und ebenso sicher gilt
dieses notwendige Zurückgehen auf nicht-erkenntnismäfsige
Triebfedern auch für die grofsen, gegeneinander selbständigen
Provinzen des Wissens. Es genügt auch nicht, das Interesse
am Wissen überhaupt als die ganz selbstverständliche,
ein für allemal gültige Voraussetzung jeder Wissenschaft
zu bezeichnen , die den Bestand des Erkennens so wenig
alterierte, wie er, nach der anderen Seite hin, durch die
Tatsache, dafs er aufserhalb des Denkens ist, in seinen
Inhalten modifiziert wird. Denn dieses Interesse besteht
durchaus nicht in so unterschiedloser Allgemeinheit; es
gibt vielmehr unzählige mögliche Gegenstände eines Er-
kennens, an die man ein solches nicht wendet, weil ihrem
Erkenntnisbilde der Vv'ert fehlen würde — der Wert, der
in vielen Fällen auf einen anderen zu begründen ist, in
letzter Instanz abcn- auch hier in einer nicht zu ratio-
nalisierenden Schätzung besteht. Es mag einen „Trieb zum
— 127 —
Erkennen überhaupt" geben, in demselben Sinne, wie es
Hunger gibt, als ein rein von seinem terminus a quo her
bestimmtes Gefühl , das als solches überhaupt noch keine
Beziehung zum Objekt, also auch nicht zu einem besonderen
Objekt hat; allein da es unter allen Objekten nur sehr
wenig efsbare und unter diesen nur wenig in dem gegebenen
Augenblick zugängige gibt, so spitzt sich der Hunger praktisch
ohne weiteres auf bestimmte Gegenstände zu. Dem Er-
kennen aber mangelt diese, durch die Sonderart des Triebes
selbst gegebene Auswahl, und der allgemeine Erkenntnis-
trieb würde uns deshalb ratlos vor die UnermefsHchkeit
möglicher Ziele stellen , wenn er sich nicht durch die be-
sondere Kraft, durch die einer seiner termini ad quos
ihn viel mehr als ein anderer anzieht, von vornherein
differenzierte.
Das geschichtliche Erkennen nun haftet an zwei
elementaren Interessen. Einmal an dem historischen In-
halte: an den Verwebungen zwischen dem Schicksal und
den individuellen Energien, an den Gröfsenmafsen des
Wollens und Vollbringens , die die Einzelnen und die
Gruppen zweckvoll oder zwecklos einsetzen, an dem Rhyth-
mus dieses unabsehbaren Spieles von Gewinn und Verlust,
an den Reizen der Verständlichkeit wie denen der Viel-
deutigkeit , mit denen das seelisch - historische Dasein es
unserer Seele vergilt, dafs sie es nie ablesen kann, sondern
immer neu in sich erzeugen mufs. Allein , indem diese
und unzählige andere Interessen, ohne die es für uns über-
haupt keine Geschichte als Forschungsgebiet gäbe, eben
dem Inhalt desselben gelten, würden sie nicht anders
einem Schauspiel zukommen, das eben dieselben vorführte.
Unser Geist hat die eigentümliche Fähigkeit, an seine Vor-
stellungen auch dann Gefühlsreaktionen zu knüpfen, wenn
sie rein ihrem qualitativen Inhalt nach und ohne jede Frage
nach ihrer Realität gedacht sind. Diese Reaktion ist oft
schwächer, oft reiner, oft überhaupt ganz anders getönt,
wie wenn derselbe Inhalt unter der Kategorie der Realität
vorgestellt ist. Den blofsen Gedanken einer sehr edlen
oder sehr abscheulichen Tat, das blofse Vorstellungsbild
einer eigenartig komplizierten Persönlichkeit oder eines
merkwürdigen Schicksals begleiten wir mit Gefühlen, die
— 128 —
weder davon abhängen, dafs wir wissen, diese Menschen
und Ereignisse habe es in Wirklichkeit gegeben, noch ver-
schwinden, wenn wir uns ihrer Irrealität bewufst werden.
Die naheliegende Erklärung: dies seien eben assoziative
Nachklänge derjenigen Reaktionen , die die Wirklichkeit
solcher Inhalte, die auf uns einwirkenden Objektivitäten,
in uns wachgerufen haben oder wachrufen würden — scheint
mir nicht ganz so zutreffend , wie naheliegend. Denn sie
ist zunächst völlig unbewiesen. Liefse es sich wirklich
plausibel machen, dafs keines der fraglichen Gefühle ur-
sprünglich anders als auf die Veranlassung durch einen
seienden Gegenstand hin auftritt, so beweist das nur,
dafs die dem blofsen Inhalt geltenden Gefühle ihrer psycho-
logischen Eigenart nach dieser stärkeren Anregungen durch
sinnliche Wii klichkeiten gleichsam als Schrittmacher be-
dürfen; aber nicht, dafs sie nicht nach Erfüllung dieser
Bedingung als etwas Selbständiges und keineswegs in Um-
fang und Intensität von jenem Abhängiges existierten. Von
derartigen Verhältnissen ist das Seelenleben erfüllt. Wie
oft bedarf es, damit wir zwei Gegenstände als völlig mit
einander übereinstimmend erkennen, nur der leise an-
deutenden Hervorhebung eines einzelnen Gleichheitspunktes !
Aber nicht, dafs dieser demonstriert ist, hat uns von der
fraglichen Gleichheit überzeugt, sondern diese ist unbewufst
oder latent längst in uns vorhanden, und jener ausdrück-
liche Hinweis bricht sozusagen nur das Eis, bewirkt, dafs
nun von ihm ganz unabhängige Verhältnisse uns klar
werden, die es nicht ohne ihn, aber nicht durch ihn werden.
Der Fehlschlufs: einen seelisch-unsinnlichen Vorgang für
die blofse Nachwirkung und (juantitative Herabsetzung
seiner sinnlich- realen Anregung zu halten — ist für alle
naturalistische Psychologie charakteristisch. Es ist nicht
eigentlich der Irrtum des post hoc ergo propter hoc. Denn
eine Verursachung durch die äufsere Erfahrung liegt tat-
sächlich vor; nur ist sie keine andere, als die „Verursachung"
der Pulverexplosion durch den Funken. Ja, man könnte
sagen: was auch die allerhandgreiflichste Erfahrung in der
Seele hervorbringt, ist die Vorstellung ihres logisch aus-
drückbaren Inhaltes, und diesem gelten zunächst alle
Gefühle, die die Erfahrung anklingen läfst. Dafs dieser
— 129 —
Inhalt aufserdem Erfahrung ist, d. h. sich als objektive
Realität verkündet, hat gleichfalls gewisse Gefühlswirkungen,
auf die ich nachher komme, die als Tönung, Weiter-
entwicklung, Abänderung jener wirken mögen : aber dies
hindert absolut nicht, dafs die reinen Inhaltsgefühle eine
Domäne für sich bilden, dafs sie nach dem Verschwinden
der durch das Sein erzeugten in ihrer Eigenheit hervor-
treten und dauern, vor allem, dafs sie in der psychologischen
Analyse von jenen getrennt werden. Nachdem Inhalte
einmal gegeben sind — vielleicht nur durch Erfahrung —
entwickeln sich für sie Interessen, die sich auch bei jeder
anderen Form, in der jene für uns bestehen oder bestehen
könnten, einstellen würden. Dieser Art also ist das eine
Element des historischen Interesses, dasjenige, das der
Sprachgebrauch als die „Interessantheit" im engeren Sinne
bezeichnet. Für dieses, in seiner Reinheit, besteht kein
wesentlicher Unterschied, ob der Vorgang, die Persönlich-
keit , der Zustand , sicher oder unsicher überliefert sind,
auch die chronologische Stelle ist ihm nur wichtig, insofern
sie auf die qualitative Bestimmtheit des Inhaltes von Ein-
flufs ist, was freilich für einen höheren Standpunkt so gut
wie immer der Fall ist. Der innere Sinn dieses Interesses
ist, dafs es sich auch der blofs erdichteten Begebenheit
nicht weniger als der wirklichen leiht, weil es eben blofs
dem Inhalt, aber nicht der Seinskategorie gilt, in der dieser
sich darstellt. Es ist dasjenige, an dem die individuelle
Differenz der für die Geschichte produktiv interessierten
Personen sich auf das wirkungsvollste zeigt. Nicht nur
bezüglich der Abgrenzung des zu behandelnden Gebietes;
sondern, wesentlicher aber nicht immer ebenso deutlich, an
der Zusammendrängung oder Ausführlichkeit der Schilderung,
an der Hervorhebung der entscheidenden Punkte, an der
Wärme oder Kühle des Darstellens, an seinem epischen oder
dramatischen Charakter. Hier an eine Objektivität zu
glauben, die Anordnung und Betonung rein durch die sach-
liche Wichtigkeit bestimmen liefse, ist eine Selbsttäuschung.
Was ist denn „sachlich" wichtig? Beschränkt man die
Wichtigkeit wirklich auf das einzelne Ereignis oder sonstige
historische Elemente, so ist sogleich unzweifelhaft, dafs man
sie „darauf legen" mufs: es ist wichtig, weil es den Be-
Simmel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 9
— 130 —
trachtenden interessiert. Es mag „an sich" sittlich oder
verderblich, gigantisch oder idyllisch, glänzend oder tief
sein — wichtig in dem »Sinne, dafs es den Orientierungs-
oder Organisierungspunkt der geschichtlichen Darstellung
abgibt, ist es ausschliefslich durch das Interesse, das das
Gefühl des historisch Betrachtenden daran knüpft. Ein
sachliches Kriterium scheint sich höchstens zu ergeben,
wenn man über das Einzelelement hinausgehend die
Wichtigkeit von den Folgen seines Eintretens entlehnt.
Allein wenn nun die Folgen nicht eben jenen Wichtigkeits-
akzent zeigen, so ist nicht einzusehen, weshalb ihre Ursache
ihn besitzen sollte. Wenn sie ihn aber zeigen, so über-
trägt ihr objektiver Zusammenhang mit ihrer Ursache ihn
freilich auch auf diese, ohne dafs er selbst darum weniger
subjektiv wäre, als in dem ersten Falle. Man könnte einen
objektiven Charakter der historischen Wichtigkeit noch
dadurch zu gewinnen versuchen, dafs nicht irgendwelche
Qualität der Folgen, sondern ausschliefslich ihre Quantität
darüber entschiede, ob das verursachende historische
Element wichtig wäre: das Folgenreiche wäre als solches
das historisch Wichtige, das Isolierte, das seine Energien
mit seinem eigenen Ablauf erschöpft und die Weiter-
entwicklung nicht nach sich bestimmte, wäre unwichtig.
Dafs die Historik auf das Element, das eine Fülle von
Folgen zu entfalten fähig ist, mit dem Wichtigkeits-Gefühle
reagiert, bliebe freilich immer subjektiv, aber diese Sub-
jektivität wäre objektiv normiert, sie würde als konstante
Voraussetzung mindestens den individuellen oder willkür-
lichen Differenzen entzogen und das berechtigte Mals der
Wichtigkeit wenigstens prinzipiell in jedem einzelnen Fall
erweisbar sein. Allein unmöglich könnten damit die
„Folgen" im naturwissenschaftlich-kausalen Sinne gemeint
sein, von denen überhaupt jedes Geschehen eine unendliche
Reihe entläfst; sondern nur die historisch wichtigen Folgen,
womit dann ersichtlich die Frage wieder auf dem alten
Flecke stände.
Indessen könnte man auf diesem Wege, wenn man ihn
in das ganz Hypothetische und Spekulative fortsetzen
wollte, doch noch einen Schritt näher an eine derartige
objektive Quantitätsbestimmtheit der Wichtigkeit oder des
— 131 —
Interesses historischer Elemente herankommen. Aufser den
Folgen kausal - natürlicher Art, die unermefslich und eben
nur zum kleinsten Teil erkennbar sind, und denen des schon
als historisch-bedeutend Anerkannten, das eine Auswahl aus
dem Erkennbaren darstellt, gibt es die dritte Art: die zwar
erkennbaren oder wenigstens im Überschlag überschauten,
aber noch nicht in die Kategorie der historischen Bedeutung
erhobenen Wirkungen einer Tat, Person, Zuständlichkeit.
Und nun gibt vielleicht doch das blofse Quantum dieser
Folgen, wie wir es bewufst oder unbewufst schätzen, das
Mafs ab, in dem wir mit dem Gefühl historischen Interesses
auf die veranlassenden Elemente reagieren. Diejenigen
unter diesen, die wir als die „wichtigen" bezeichnen, sind
genau angesehen doch wohl solche, deren Folgen uns in
gröfserer Fülle absehbar, quantitativ abschätzbar sind, als
die der „unwichtigen" Ereignisse. So könnte die obige
Forderung, dafs diese Folgen selbst schon historisch be-
deutend sein müfsten, um diese Qualität auf ihren Ausgangs-
punkt zurückzustrahlen, mit logischem Recht abgelehnt
werden: denn historisch interessant wäre uns eben nur das,
worauf innerhalb der uns — klarer oder instinktiver —
erkennbaren Reihen seelischen Geschehens ein gewisses
Quantum von Ereignissen zurückführbar ist. Jedes von
diesen Ereignissen braucht an sich so wenig für die Historik
bedeutsam zu sein, wie von den Hauteindrücken, auf deren
Summierung wir mit einem Schmerzgefühl reagieren, jeder
einzelne schon für sich allein schmerzhaft ist. Beachtet
man nun, dafs das historisch Interessante sich allmählich
abstuft, bis zu Erscheinungen hinunter, die keinerlei Gefühls-
betonung für uns besitzen, oder vielleicht in anderer Hin-
sicht, aber nicht in historischer, — so könnte man von
einer, an jenen Folgen-Quantitäten abmefsbaren Schwelle
des historischen Bewufstseins sprechen. Dieser Be-
griff mufs hier hervorgehoben w^erden, weil er zu den über-
theoretischeu Voraussetzungen der historischen Theorie ge-
hört, die den wissenschaftlichen Realismus und Naturalismus
derselben entscheidend zurückweisen und deren verselbst-
ständigende Höherführung den Stoff oder die Form zu der
Metaphysik der Geschichte abgibt.
Alle höheren Gebiete des Geistes zeigen Schwellen-
— 132 —
Erscheinungen. Vielerlei Formen, ja vielleicht alle, die
ästhetisch wirksam sind, können dies doch erst von einem
bestimmten Gröfsenmafs an; unterhalb dieses haben sie
zwar die Wahrnehmungsschwelle, aber nicht die des
Ästhetischen überschritten. Vielerlei Tatsachen, die im
kleinen Mafsstab indifferent oder humoristisch wirken, über-
schreiten die SchM'elle der tragischen Empündung, sobald
sie in grofsen Dimensionen auftreten, sich als Typen weiter
Lebensprovinzen enthüllen. Das Rechtsbewufstsein entfaltet
seine spezilischen Reaktionen gleichfalls erst auf eine gewisse
Gröfse von Vorgängen hin : der Diebstahl einer Stecknadel
ist zwar zweifellos Diebstahl, er steht ganz innerhalb der
Schwelle dieses Begriffs, aber noch aufserhalb derjenigen,
an der die praktisch -rechtliche Verfolgung eines Reates
beginnt. Und so allenthalben: die Elemente, die die Re-
aktion einer bestimmten Gefühlsschicht hervorrufen, tun
dies erst von einer bestimmten Quantität an, während sie
unterhalb derselben sehr wohl schon die Schwellen einer
oder mehrerer anderer Bewufstseinsenergien überschritten
haben können. Nun gibt es unzählige Ereignisse und
keineswegs nur in der Gegenwart des unmittelbaren, per-
sönlichen Lebens, die wir feststellen können oder könnten,
und die dennoch nicht in das historische Interesse auf-
genommen werden. Wenn wir aus dem Tagebuch einer
sonst unbekannten Person aus dem 18. Jahrhundert er-
sehen, dafs sie mit einer ebenso unbekannten Freundschaft
geschlossen hat oder von lebhafter Teilnahme an der
französischen Revolution erfüllt war, so sind dies zwar
logisch-begrifflich historische Tatsachen; allein in dem
sachlich bedeutsamen Sinne des Wortes sind sie es nicht,
sie haben kein historisches Interesse. Und zwar nicht weil
es ihnen an menschlichem Wert oder Interesse fehlte: wir
könnten von beiden wissen, dafs sie von den tiefsten sitt-
lichen Impulsen getragen, dafs Bewegtheiten und seelische
Schönheiten des höchsten Ranges in ihnen lebten; aber das
läfst sie noch nicht die Schwelle der historischen Bedeutung
überschreiten. Und zwar möglicherweise, weil das Quantum
der von uns überschauten Folgen dieser Tatsachen dazu
nicht erheblich genug ist. Hören wir dasselbe von Personen,
deren Wirksamkeit für weiter folgende Ereignisse uns be-
— 133 —
kannt ist, so gewinnt es historischen Wert, weil wir ver-
folgen oder ahnen können, inwieweit jene Tatsachen ihre
weiterwirkenden Kausalitäten mitbestimmt haben , wir er-
blicken, deutlicher oder verschleierter, eine Vielheit von
Folgen, in die sich eine derartige Freundschaft oder
politische Erregung verzweigt. Ereignisse, die für unsere
Erkenntnis isoliert sind, sind keine „historischen"^); sie
werden es in dem Mafs, in dem wir Folgen-Reihen von
ihnen ausstrahlen sehen. Solche unendlich mannigfaltigen
und in unzählbaren Kreuzungen sich ergehenden Reihen
bilden schliefslich die kompakte Masse, die wir „die Ge-
schichte" schlechthin nennen; und das G-efühl der historischen
Bedeutung, das von dem aller anderen Bedeutungen oder
Werte spezifisch unterschieden ist, ist einer Erscheinung
gegenüber in dem Verhältnis stärker oder schwächer, in dem
sich ihre Wirkungen in diesen — zwar unsicher begrenzten
und in viele relativ gesonderte Provinzen zerfallenden,
seinem Kerne nach aber ganz unzweideutigen — Komplex
verweben. Diese Vielheit der erkennbaren Wirkungen ist
nicht historische Bedeutung im Sinne einer objektiven
Eigenschaft, die dem Ereignis zukäme; aber sie bewirkt
sie in uns , als die Erregung einer besonderen seelischen
Energie. Es ist hier wie mit allen Schwellenerscheinungen :
die quantitative Häufung von Elementen schlägt von einem
bestimmten Punkte an in eine qualitative Modifikation ihres
Efi^ektes um. Dies mag ein Grund sein, weshalb wir Er-
eignissen und Personen naher Vergangenheit gegenüber den
Mangel historischer Perspektive fühlen: sie hatten noch
keine Möglichkeit, weitreichende Folgen zu entwickeln
(was freilich durch eine grofse Wirkung in die Breite er-
setzt werden kann, in welchem Falle auch die noch ganz
nahestehende Persönlichkeit schon spezifisch historisch
wirkt). So können Elemente, zu denen uns die zeitliche
Distanz fehlt — d. h. die Übersehbarkeit ihres Folgen-
Quantums — alle möglichen Werte und Interessen für uns
besitzen ; aber historisches Interesse haben sie solange nicht,
^) Selbstverständlich wirken auch sie als historisch-interessierende,
sobald sie als Charakteristika folgenreicher Typen funktionieren oder
als Beispiele allgemeinerer Zustände, die notwendige Durchgangspunkte
für die Gesamtentwicklung sind.
- 134 —
bis jenes Quantum für unser Bewufstsein den Schwellen-
wert der historischen Reaktion erreicht hat. Es liegt hier
eine entfernte Analogie mit der Vermutung über das Wesen
der ästhetischen Gefühle vor: dafs sie bei einer gewissen
Leichtigkeit und Glätte im Ablauf der assoziierten un-
bewufsten Vorstellungen eintreten, nämlich einer solchen,
die einem sonst unerreichbaren Reichtum derselben in einer
relativ kurzen Zeitdauer wirksam zu werden gestattet.
Auch bei dem Interesse, das wir das historische nennen,
handelt es sich um eine Organisierung des Vorstellungs-
materials, die mit der einzelnen Vorstellung eine nur auf
diesem Wege zu gewinnende Fülle weiterer verbindet.
Natürlich ist die Verknüpfungsart und entsprechend die
angeregte Gefühlskategorie eine völlig andere als in dem
ästhetischen Falle. Aber mindestens dies ist beiden gemein-
sam , dafs die einzelne Vorstellung aus ihrer Isolierung
heraus an die Spitze eines grofsen Zusammenhanges
weiterer, von ihr abhängiger gestellt wird und dafs dadurch
eine spezifische Anregung entsteht, die das entsprechende
Gebiet als eine eigene Interessenprovinz schafft und gegen
andere abgrenzt. Im übrigen ist es viel weniger der An-
spruch dieser Hypothese, in der Quantität kausal erkenn-
barer Abhängigkeiten die hinreichende objektive Grundlage
des subjektiven historischen Interesses festzulegen, als das
Problem selbst zu beleuchten, das ich als die historische
Schwelle bezeichnete: dafs Ereignisse und Personen, Ver-
hältnisse und Organisationen alle möglichen Bedeutungen
und Werte besitzen können, ohne dadurch historisch inter-
essant zu werden ; dafs dies vielmehr eine spezitische
Gefühlsreaktion ist, mit der wir auf bestimmte Anordnungen,
Summierungen, Formzusammenhänge reagieren, um nun
erst auf diese subjektive Bedeutung jener Elemente hin sie
zu dem besonderen Gebilde der Geschichte zusammenzu-
fassen und zu gestalten.
Vielleicht aber schliefst dies noch eine Voraussetzung
ein, an der der bisherige Gedankengang vorübergeführt hat.
Ich hatte von zwei vitalen Interessen gesprochen , die als
solche über-theoretischer Art sind , und die das historische
Erkennen bestimmen. Ich betonte zuerst das Interesse am
Inhalt des Geschehens, das also das gleiche bleibt, auch
- 135 —
wenn dieser Inhalt in anderer Form als der der geschicht-
lichen Wirklichkeit gegeben ist. Aus diesem Interesse-
begrifF entwickelten sich alle bisherigen Bestimmungen, bis
zu dem Begriff einer Schwelle, der eine bestimmte Art und
Mafs von Reizung durch Yerwebung, Erweiterung, Ran-
gierung der gegebenen Elemente fordert, damit das histo-
rische Bewufstsein in Funktion trete. Allein alles dies
bleibt an den Inhalten der Vorstellungen haften, und wenn
es möglich wäre, diese ganzen Ereignisse und ihre Ver-
knüpfungen uns als ein blofses Spiel vorzuführen , als ein
reines Denken, dem kein Sein entspräche, so würde ein dem
historischen mindestens verwandtes Interesse-Gefühl sich
daran knüpfen. Allein irgendein Element würde dennoch
zu der Vollständigkeit dieses fehlen, eines, das zu den bis-
her berührten hinzukommen mufs, um den vollen Effekt
des Historischen zu ergeben und das das zweite der an-
gedeuteten Interessen hervorruft. Dieses kann man als das
Interesse an der Wirklichkeit als solcher bezeichnen.
Unzähliges interessiert die Menschen, nicht weil sein Inhalt
wertvoll, bedeutsam, originell ist — sondern weil es da ist,
weil es die Form der Wirklichkeit hat, während es als
blofser Gedanke, seinem noch so deutlich vorgestellten In-
halte nach, keinerlei Teilnahme erweckt. Im Gegensatz zu
allem vorher Beobachteten, das auch als Spiel, unter der
Kategorie der bloTsen Idealität, uns mit immer gleichen Ge-
fühlen reagieren läfst — verliert vieles andere für uns so-
gleich Bedeutung und Gefühlswert, sobald wir hören, dafs
es „nicht M'ahr" ist. Die Wirklichkeit ist hier wie ein
Lebenssaft, der die blofsen Inhalte der Vorstellungen durch-
strömt, so dafs sie. wenn er sie verläfst, als Interesse- und
wesenlose Schemen zurückbleiben — so wenig das logisch
Ausdrückbare an ihnen ein anderes geworden ist. Wie es
sich in der Praxis verhält : dafs hundert Taler als blofser
Gedankeninhalt gar kein Interesse beanspruchen , hundert
wirkliche dagegen — obgleich, wie Kant hervorhebt, keinen
Pfennig mehr enthaltend — ein sehr lebhaftes, so ist es
auch in der Theorie. Vieles, das als Bild und Idee für uns
keinerlei Bedeutung besitzt , gewinnt diese unmittelbar, so-
bald es als seiend vorgestellt wird. Die Metaphysik hat
bekanntlich dieses Interesse für das Sein so vollständig von
— 13G —
dem für die Inhalte gesondert, dafs sie den absoluten Wert-
gegensatz zwischen beide gelegt hat: das Was der Welt
sei vernünftig und so gut wie möglich, ihr Dafs aber sinnlos
und verderblich. In Spinoza andrerseits fühlt man das leiden-
schaftliche und doch beruhigte Glück über die Tatsache
des Seins — eben dieses blofsen Seins, an dem jeder In-
halt, der immer ein einzelner, besonderer sein mul's, schon
als Einengung, als Wesenloses gilt; Hegel zeigt dem Sein
gegenüber die Kühle des Logikers, der es, eben weil es
jenseits jedes begrifflich ausdrUckbaren Inhalts steht, nur
als das reine Nichts zu bezeichnen weifs; in Schopenhauer
zittert ein Entsetzen über dieses dunkle Fatum des Seins,
zu dem die Dinge verurteilt sind, und aus dem nur die
Flucht in die reine Idealität ihres künstlerischen Bildes oder
in seine Verneinung schlechthin — nicht in die eines ein-
zelnen Inhaltes — retten kann. Mit gröfserer oder geringerer
Deutlichkeit offenbart sich so allenthalben das Interesse, das
sich an diese beiden Seiten der gegebenen Werte in ihrer
Sonderung knüpft; freilich ist es nur die Abstraktion der
Philosophie, die jede dieser spezifischen Interessenströmungen
für sich aufnimmt und reinlich von der anderen scheidet,
während die sonstige Theorie und Praxis beide fortwährend
ineinander webt, ohne dafs darum die tiefe Verschiedenheit
ihres Sinnes gemindert würde.
Dieses Interesse am Sein als solchen ist nun, diesseits
seiner metaphysischen Sublimierung und auf die Tatsäch-
lichkeit eines Inhalts gerichtet, der wesentliche Charakter
aller Historik. Hiermit wird, zur eindeutigen Festlegung
derselben, ein Querschnitt durch die Vorstellungswelt gelegt,
der im vorigen Kapitel angedeutet, aber noch nicht bis zu
Ende gedacht wurde. Der Gegensatz, der dort das Historische
vom Naturwissenschaftlichen schied, war der zwischen der
individuellen Erscheinung und dem Gesetze. Der zeitlose
Zusammenhang des Naturgesetzes, der B schlechthin an A
knüpft, hatte sich zu der Bestimmung, ob A ist, unfähig
gezeigt. Allein die Existenzfrage trat zurück gegenüber
dem Inhaltsproblem: die Naturgesetze sind gegen die in-
dividuelle Konfiguration völlig indifferent, die sich ihnen
gemäfs entwickelt. Denkt man sich die Gesamtheit der
Naturgesetze als einen ideellen Komplex, so könnte es unter
— 137 —
ihrer Herrschaft unzählige verschiedene Welten geben, un-
gefähr wie es unter der Herrschaft der gleichen bürger-
lichen Gesetze sehr viele verschiedene Gruppen geben kann.
Ist diese bestimmte Erscheinung einmal da, so entscheiden
freilich jene Gesetze über ihre Weiterentwicklung ; sie
stehen aber von sich aus nicht nur der Tatsache fern, dafs
diese bestimmte ist, sondern auch der, dafs sie diese be-
stimmte ist. Stände eine anders qualifizierte an der
gleichen Raum- Z ei t-S teil e , so würden aus jenem Komplex
heraus eben andere Gesetze an dieser Stelle in Wirksam-
keit treten , ohne dafs der Komplex selbst in seinem In-
halt und seiner Gültigkeit im geringsten berührt würde.
Von seiner absoluten Allgemeinheit, die nur ein Name für
seine Zeitlosigkeit ist. hebt sich also die einzelne Gestaltung
ab , die von sich aus durch ihre Qualitäten bestimmt,
welche Gesetze für sie zu gelten haben. Die Feststellung
dieses Individuellen ') erschien uns als die Aufgabe der
Historik, im Gegensatz zu der der Naturwissenschaft: für
diese steht das Gesetz, für jene der Fall des Gesetzes in
Frage; und zwar nicht so , dafs derselbe ein Mittel und
Material sei, um auf induktivem oder anderem Wege in die
Erkenntnis des Gesetzes zu münden. Sondern gerade und
nur als einzelner steht er im Zentrum des historischen
Interesses ; und , umgekehrt wie in der Naturwissenschaft,
ist das Wissen um die Gesetze nur das Mittel, die be-
sondere Komplikation und Einheit, an der sie gültig sind,
zu analysieren und zu verifizieren. NaturwissenscKaft und
Historik, die Auffassung des Gegebenen nach seiner Gesetz-
lichkeit oder nach seiner für sich bedeutsamen Sondergestalt,
erscheinen so als zwei Zerlegungskategorien des Einheitlich-
Wirklichen, das in seiner Unmittelbarkeit und Ungebrochen-
heit zu erfassen uns das Organ fehlt. Allein diese polaren
Gegensätze, in die das Weltbild für uns komplementär aus-
einandergeht, zeigen sich von dem jetzt gewonnenen Stand-
^) Um Mifsverständnissen zu begegnen: die historische Indivi-
dualität in diesem blofs methodischen Sinn bedeutet natürlich keines-
wegs nur Einzelpersonen, sondern einzelne, qualitativ charakterisierte
Sondergebilde überhaupt, also Gruppen und Situationen, Zustände
und Gesamtentwicklungen ebenso wie das Sein und Werden des
Persönlichen.
— 138 —
punkt als die beiden Teile einer Auffassungsmöglichkeit:
sie gehören beide in die Kategorie des Inhalts der
Dinge. Das Interesse an der Beschaffenheit des Welt-
laufes trägt beide. Gewifs ist es die seiende Welt, die
wir mit beidem suchen ; aber die in der Wirklichkeit immer
zusammenwirkenden Strömungen darf die logische und
psychologische Analyse scheiden. Gewifs konnte ich hervor-
heben, dafs uns manches als Seiendes interessiert, dessen
blofse Idee uns gleichgültig läfst; allein dies kann über
unsere theoretischen Bestrebungen nicht allein entscheiden,
weil uns sonst alles Seiende gleichmäfsig interessieren würde ;
die Auswahl dessen, was wir innerhalb der Unermefslichkeit
der Objekte erkennen wollen, erfolgt nach dem Interesse
an ihrem Inhalt, das also prinzipiell von der Frage nach
ihrem Sein oder Nicht-Sein unabhängig sein mufs. Indem
wir also die Gegenstände, deren Gesetzlichkeit oder deren
einmalig-individuelle Erscheinung wir erforschen, aus jener
Unermefslichkeit herausheben, zeigt sich die Zusammen-
gehörigkeit dieser beiden Fragestellungen unter der gemein-
samen Kategorie des Inhalts-Interesses, dem nun das Seins-
Interesse, als ein neues Element innerhalb des historischen
Erkennens, gegenübertritt.
Und daraus ergibt sich eine neue Bestimmung des
Sinnes der Historik , soweit sie von übertheoretischen
Interessen — die eben die Theorie begründen — getragen
wird. Es gibt vielerlei Tatsachen der Wirklichkeit, die als
.solche ein ihren Inhalten allein vorenthaltenes Interesse er-
regen. Die Bedeutung alles dessen, was wir Aktualität
nennen, ist vielfach keine andere. Das Gegenwärtige, auch
wenn es uns persönlich absolut nicht berührt und berühren
kann, erregt unsere Teilnahme durch sein starkes Mafs von
Wirklichkeit, während das Vergangene, und gar das Zu-
künftige, sozusagen an Wirklichkeit verliert; seine Realität
scheint uns weniger sicher, es hat kein so unmittelbares,
greifbares Sein. Dieses Interesse am Sein, das auch dem
inhaltlich Indifferenten gewidmet wird , reicht trotz seiner
schon angedeuteten Bedeutung für das historische Interesse
dennoch zu dessen Erzeugung nicht aus. Es ist keineswegs
alles Wirkliche historisch wichtig; und zwar nicht nur, weil,
wenn dies der Fall wäre, die für uns erkennbaren Teile dieser
— 139 —
wichtigen Wirklichkeit so verschwindend gering, so zufällig
verstreut, so hoflfnungslos fragmentarisch wären, dafs „Ge-
schichte" als ein kindisches Unternehmen erscheinen müfste :
der quantitative Abstand von ihrem Ideal, die Gesamtheit
des historisch Wichtigen zu wissen, wäre beim Zusammen-
fall des letzteren mit dem Wirklichen überhaupt ein so un-
ermefslicher, dafs es nicht das Beginnen lohnte. Sondern
ganz positive Interessiertheit, die sich an gewisse Inhalte
der Wirklichkeitsbilder knüpft, gewisse andere draufsen
läfst, mufs sich mit dem Seinsinteresse verbinden, um aus
dem unendlichen Inhalte dieses das Historisch-Wichtige aus-
zusondern. Für sich allein aber, ohne dafs die Seinskategorie
wirksam würde, genügt auch das Inhaltsinteresse nicht; viele
Dinge erregen uns schon als blofse Ideen: in ethischer oder
künstlerischer, in sinnlicher oder logischer Beziehung —
aber die historische Sphäre berühren sie insoweit nicht.
Auch hier wird das Interesse oft lebhafter sein oder erst
entstehen, wenn der Gegenstand der Vorstellung existiert,
aber es ist in seinem Wiesen nicht an diese Existenz ge-
bunden. Wohl aber das des historischen Interesses. Das
Erhebendste oder Abscheulichste, das als blofser Gedanke,
im Bilde, als Möglichkeit der Praxis die höchste Bedeutsam-
keit besitzt, rührt nicht an die spezitische historische Inter-
essensphäre, sobald es nicht wirklich ist — gerade wie
das Wirklichste es nicht tut, wenn es nicht zugleich seinem
Inhalt nach eine bestimmte Bedeutsamkeit besitzt. Damit
wird die Schwelle des historischen Bewufstseins aufs neue
bestimmt. Sie liegt da, wo das Bewufstsein des Seins sich
mit dem der Inhaltsbedeutungen gleichsam schneidet. Diese
Inhaltsbedeutungen haben für sich eine besondere Schwelle,
über die ich oben die Vermutung ihres Bestimmtseins durch
das Folgenquantum äufserte. Wo dieses zusammenschlägt,
entsteht die spezifische Interessiertheit für die Tatsächlich-
keit gewisser ausgewählter Reihen von Ereignissen, Personen,
Zuständen, die die Historik begründet.
Und nun bedarf es nur noch einer weiteren Abgrenzung
gegen das Natur-Erkennen, insoweit auch dieses von einem
Interesse an der Tatsächlichkeit und an der Bedeutung
seines Inhaltes ausgeht. Der Unterschied dürfte der sein,
dafs der Natur gegenüber das Bedeutungsgefühl, genau an-
— 140 —
gesehen, nicht dem Gegenstand, sondern dem Erkennen des
Gegenstandes gilt, dafs dagegen die Bedeutung, die wir die
historische nennen, an dem Objekte selbst haftet. Ein so
starkes Interesse wir an der Struktur der chemischen
Elemente oder an den Beziehungen von Licht und Elek-
trizität, an der Entstehung der Organismen oder an der
Zusammensetzung der atmosphärischen Luft nehmen mögen
— so wissen wir doch, dafs diese für uns so aufregend
rätselhaften und komplizierten Phänomene an sich derselben
einfachen und gleichgültigen Gesetzmäfsigkeit gehorchen,
wie die Bewegung eines Möbels, das wir schieben, oder der
Druck irgend einer Substanz auf ihre Unterlage, Wenn
wir die Natur als objektives Ganzes übersehen, ohne Rück-
sicht auf die sehr mannigfaltigen Verhältnisse unserer Er-
kenntnis und Erkenntnisfähigkeit zu ihr, so fehlen ihr völlig
jene Wesensunterschiede ihrer Elemente, an die allein
unsere an Unterschiede gebundene Gefühlsweise ein Interesse
knüpfen könnte. Es ist immer und überall der gleiche,
jenseits alles spezifischen Sinnes und Wertes stehende Gang
der Energieverwandlungen und StofFumlagerungen. Nur
dafs wir manches davon seit lange, vieles seit kurzem, das
meiste noch gar nicht wissen, dafs einiges sich der Art
unseres Erkennens leicht, anderes schwer erschliefst, dafs
unsere Kategorien und Synthesen die Erscheinungen in
einfache und komplizierte trennen — dies allein gliedert
den eintönigen Ablauf des Naturgeschehens in Wesentliches
und Unwesentliches, Interessierendes und Unbedeutendes.
Dafs das differente Verhalten unseres Erkennens das
Interesse an dem Natürlichen verschieden verteilt, das
ist der Geburtsakt des Interesses an dem singulären
naturwissenschaftlichen Problem — da es innerhalb der
Objektivität der Dinge keine Unterschiede gibt, die ein
solches in uns erzeugen könnten. Dagegen, iimerhalb der
historischen Kategorien liegen Bedeutungsunterschiede in dem
Wesen der Erscheinungen selbst. Je tiefer wir in die Natur
eindringen und je mehr die Differenzen der Distanz zwischen
ihr und unserem Erkenntnisvermögen sich nivellieren, um
so unindividueller, um so mehr durch die „Gleichheit vor
dem Gesetz" beherrscht, steht sie vor uns; denn die Be-
sonderheit ihrer Erscheinungen, die deren genauere Be-
— 141 —
trachtung freilich ergibt, betrifft nur ihre Form, nur die
Komplikation des Allgemeinen zu ihnen , aber nicht ihr
innerstes Prinzip, das vielmehr bei der Umsetzbarkeit der
Energien und der Wanderung der StoflFe für alle das gleiche
ist. Je tiefer dagegen die Erscheinungen, die wir historisch
nennen, sich uns erschliefsen, desto bedeutsamer wird uns
ihre Individualität, desto näher gelangen wir an den
geheimnisvollen Punkt, aus dem die Gesamtqualität der
Persönlichkeit wie eine in sich geschlossene, dem ganzen
sonstigen Dasein gegenüber selbständige Welt hervorgeht.
Gewifs alternieren die Sphären des Allgemeinen und des
Besonderen ebenso auf dem natürlichen wie auf dem
historischen Gebiet, d. h. es ist die Aufgabe, hinter jeder
entdeckten Allgemeinheit durch feinere Analyse die in-
dividuelle Differenziertheit aufzufinden und jede solche
wiederum in allgemeine Gesetze und Typen aufzulösen und
so beide Prinzipien sich als heuristische gegenseitig ab-
lösen zu lassen. Allein diese Gleichheit des Weges geht
doch auf entgegengesetzte Ziele: gewissen Erscheinungen
gegenüber findet er an dem Allgemeinen, anderen gegenüber
am Besonderen seine Endstation, gleichviel ob sie erreichbar
ist oder im Unendlichen liegt. Durch diese Verschiedenheit
der definitiven Tendenz scheiden sich die Wege, trotz der
vielfachen Gleichheit jenes Rhythmus , in den natur-
wissenschaftlichen und den historischen. Das Bedeutungs-
gefühl, ohne das wir an keinen Vorstellungsinhalt die Mühe
des Erkennens wenden würden, findet an den Naturobjekten
unmittelbar kein Gegenbild. Die Natur mag uns als Ganzes
metaphysisch oder gefühlsmäfsig interessieren; aber ihre
einzelnen, in ihrem letzten Wesen völlig ununterschiedenen
Teile können dies zwar ästhetisch, durch die Unter-
schiedenheit ihrer anschaulichen Form, wissenschaftlich
jedoch nur durch die Distanz, in die uns die Zufälligkeit
und Vorläufigkeit unseres unvollkommenen Erkennens zu
ihnen stellt und deren Mannigfaltigkeit die monotone Einheit
ihres objektiven Wesens für unsere Unterschiedsempfindlich-
keit überdeckt. Die Inhaltsbedeutungen aber, die für uns
das Interesse der Historik motivierten, hafteten an deren
Objekten selbst, sie erregen unser Interesse, weil diese in
ihrem eigensten und inneren Sein mannigfaltig und rangiert
— 142 —
sind. Und hiermit zeichnet sich zugleich der Unterschied
des historischen Interesses gegen das psychologische. Denn
jenes hat seiende Objekte, an denen also eine Bedeutung
unmittelbar haften kann, in der Psychologie aber handelt
es sich um Abstraktionen, um die Feststellung von
gesetzlichen oder den gesetzlichen analogen Relationen,
die überall gelten, wo ihre Bedingungen gegeben sind,
selbst wenn dies in der Wirklichkeit nur ein einziges Mal ge-
schähe. Wo eine psychologische Realität erörtert wird, ist
es die Anwendung zeitlos psychologischer Zusammenhänge
auf historisch Gegebenes, aber nicht mehr blofse Psychologie.
Die eigene und difFerentielle Bedeutung, die, allem Persönlich-
Seelischen eigen, den Unterschied des geschichtlichen
Interesses gegen das naturwissenschaftliche stiftet, wirft
jenes nun doch nicht mit dem wissenschaftlich-psychologischen
Interesse zusammen. Hier wird die Grenze durch die
Seins-Tatsache gezogen, die die Historik von der abstrakten
Zeitlosigkeit der Psychologie ebenso trennt, wie die Be-
deutungs-Tatsache sie von der Naturwissenschaft geschieden
hatte.
Dies also sind die allgemeinen übertheoretischen
Interessen , deren Ineinander-Verwachsen das theoretische
Interesse an der Historik erzeugt. Es sind nicht die
apriorischen Voraussetzungen, die, im Sinne des Kantischen
Apriori und seiner früher besprochenen Abstufungen, der
Wissenschaft immanent sind, die ihren inneren Bau be-
stimmen. Sie umfassen sie vielmehr wie das Erdreich die
Wurzel der Pflanze, die zwar ihre Bildungsgesetze rein in
sich bewahrt, aber die ganze Kraft und Möglichkeit, ihr
Leben diesen gemäfs zu leben, doch jenem tragenden und
in sie eingehenden Boden verdankt. Dafs Geschichte für
uns überhaupt einen Sinn hat — ihrem Sachgehalte wie
dessen Erforschtwerden nach — ist daran gebunden, dafs
der Inhalt des Weltlaufs und die Tatsache seiner Wirklich-
keit zwei Interessenströme entfesseln, die, gleichsam unter
einem bestimmten Winkel zusammenfliefsend, nun einen ein-
zigen bilden. Und wie dies als Fundament unterhalb der
Historik liegt, ohne in ihren Gang im einzelnen einzugreifen,
so wächst es als Metaphysik über sie hinaus, und bewahrt
dabei dieselbe Reserve, oder sollte sie wenigstens bewahren.
— 143 —
Was es uns prinzipiell möglich macht, Geschichte zu treiben :
dafs in dem Chaos der Ereignisse und ihrer Überlieferung
überhaupt ein Sinn auffindbar ist, den Begriffe ausdrücken
können — ohne welches auch die realistischste und de-
skriptivste Historik undenkbar wäre und der keineswegs
mit atavistischer Teleologie zusammenfällt — ; dafs mindestens
in abgegrenzten Perioden Fortschritt, oder eine Balance
aufbauender und zerstörender Kräfte, oder ein Herabsinken
aller Werte besteht; dafs die unbewufst und scheinbar aus
tausend differenten Motiven wirkenden Kräfte der Individuen
schliefslich zu wesentlichen Resultaten, zu einer Erfolgs-
einheit zusammengehen; dafs die Existenz dieses ganzen
Spieles einen Wert oder sein Gegenteil hat — alles dies,
herausgelöst aus seiner Rolle als Interessen-Voraussetzung
für den Aufbau historischen Wissens, und über dieses hinaus
vervollständigt und vereinheitlicht, ergibt die Metaphysik
der Geschichte. Die einzelne Metaphysik hebt einen
einzelnen dieser Interessenpunkte heraus und läfst ihn zu
dem absoluten Sinne der ganzen historischen Realität
kristallisieren. So sehr dies ein nur sich selbst genügendes
Spiel der Phantasie sein mag — sein tieferer Rechtsgrund
liegt doch darin, dafs die Wurzeln dieser Metaphysik die
Interessen sind, ohne die es zu einer Historik als Erkenntnis
des Geschehenen nie kommen würde, und die nun, diesen
auf ihnen ruhenden Bau überwachsend, oberhalb seiner sich
ins Transszendente heben. Es ist ein Fall jener typischen
Formel des Geistigen : dafs die Seele gerade dasjenige, was
am tiefsten in ihrem Eigenwesen wurzelt, am weitesten aus
sich heraus zu projizieren liebt. Das Objektive liegt für
sie gleichsam in einer mittleren Distanz; aber ihr Inner-
lichstes, das sich in den subjektivsten Schichten der Seele
erzeugt, streckt sie von sich, in ein Absolutes, Über-
Objektives, als fände sie erst durch diesen Sprung in das
andere Extrem das Gleichgewicht wieder oder die Be-
freiung von dem allzuengen Beisichsein der Subjektivität^).
1) Hier tritt der Problemumfang der Geschiciitsphilosophie
deutlich hervor. Die Philosophie jedes Gebietes liegt einerseits
unterhalb , andrerseits oberhalb der exakten Wissenschaft von dem-
selben. Sie erforscht die Voraussetzungen und Normen, welche das
— 144 —
Diese Interessen, deren Inhalte in intellektueller Sub-
limierung den metaphysischen Sinn der Geschichte ergibt,
sind nun in Wirklichkeit kein nivellierter Baugrund, der
auf die exakte, über ihm errichtete Historik ohne spezifischen
Einflufs bliebe. Vielmehr, neben der generellen Interessiert-
heit, ohne die es prinzipiell keine exakte Geschichte gibt,
und der reinen Metaphysik linden sich in dem Bau jener
allenthalben besondere, alles konkrete Wissen überschreitende
Voraussetzungen; nicht jene apriorischen, die Geschichte
ihrer inneren Form nach möglich machen, sondern sinn-
gebende, die ihre Erkenntnis für uns lohnen. Der Natur
gegenüber bleiben diese — die Kant Ideen der Vernunft
nennt — als Spekulation jenseits des Tatsachenbildes-, die
Geschichte aber wird von ihnen durchflochten. Schon ob
man das Gewicht der historischen Forschung auf Urkunden-
publikationen oder auf zusammenfassende Darstellungen
legt, ob auf Querschnitte durch getrennte Erscheinungs-
komplexe oder auf Reihen, in denen sich ein einheitlicher
Keim entwickelt — dies sind keineswegs blofse Fragen der
Methoden, der Mittel und der Form; sondern indem sie
dies sind, zeigen sie zugleich bestimmte Meinungen und
Gesinnungen über Wesen und Bedeutung der historischen
Tatsachen selbst, trotzdem sie deren unmittelbaren materiellen
Inhalt nicht modifizieren. Statt all diesen formenden, über-
theoretischen und metaphysischen Voraussetzungen mit ab-
strakter Systematik nachzugehen, will ich, zum Abschlufs
dieser Untersuchungen , die Bestimmung des historischen
exakte Erkennen fundainentieren und leiten : die Bedingungen, welche
es erst „möglich machen" und deshalb in ihm selbst keine Stelle
finden; und sie ergänzt zweitens die immer rudimentären Inhalte des
positiven Wissens zu begrifflicher Vollendung, verfolgt die in der
empirischen Wirklichkeit immer verworrenen und abgerissenen Fäden
über diese hinaus, bis sie sich zu einem geschlossenen Denkbild des
Seins zusammenweben. Sowohl die erkenntnistheoretische wie die
metaphysische Aufgabe zentrieren ersichtlich in der Suveränität des
Geistes gegenüber seiner Erfüllung durch das gegebene Weltmaterial,
von der die exakte Wissenschaft abhängt. Aus diesem Zusammen-
hang heraus mag es geschehen, dafs so häufig gerade die apriorischen,
erfahrung-bedingenden Begriffe wieder für das metaphysische Ge-
webe den Zettel bilden, an dem sich die fragmentarischen Welt- und
Lebensinhalte als Einschlag in das Absolute hinaufspinnen.
— 145 —
Bildes durch sie an der Struktur zweier ganz verschiedener
Probleme aufzeigen.
Das eine derselben betrifft den Fortschritt in der Ge-
schichte. Es ist zunächst klar, dafs der Begriff des Fort-
schritts einen Endzustand voraussetzt, der in seiner Ab-
solutheit ideell vorhanden sein mufs, damit die Annäherung
an ihn oder sein höheres Verwirklichungsmafs den späteren
Zustand als den relativ fortgeschrittenen charakterisiere.
Wenn wir in der Geschichte etwa eine Abwechslung
zwischen Epochen mehr individualistischen und solchen
mehr kollektivistischen Charakters bemerken, so wird der
eine die ersteren als die eigentlich fortschreitenden an-
sehen, zwischen welche sich die letzteren nur als gelegent-
liche Hemmnisse und von jedem Fortschritt unzertrennliche
Rückschläge einschieben, während ein anderer die Deutung-
direkt umdreht, weil ihm die kollektive Gestaltung der
Gesellschaft als ihre eigentlich wertvolle erscheint, und er
ihren natürlichen Gang nur insoweit als Fortschritt an-
erkennt, als er sich in der Richtung auf diese bewegt. Ob
wir also in der Geschichte einen Fortschritt sehen odei-
nicht, hängt von einem Ideal ab, dessen Wert als solches
nicht aus jener Reihenfolge der Tatsachen hervorgeht,
sondern unvermeidlich durch die Subjektivität zu ihr hinzu-
gebracht wird. Man könnte etwa die Möglichkeit eines
formalen, d. h. von keinem inhaltsbestimmten Endzweck
abhängigen Fortschrittes diskutieren, — wie Kant eine
formale Moral feststellen wollte, gleichsam ein Schema der
Moral überhaupt, das je nach den Umständen mit dem
verschiedenartigsten Inhalt gefüllt werden kann. Dies wäre
dann der allgemeine Begriff, der zum Inhalt hätte, was all
den verschiedenen Fortschrittsreihen — zur Steigerung wie
zur Vernichtung des Lebens , zur Intellektualisierung wie
zur Moralisierung der Seelen, zu sozialistischen wie zu in-
dividualistischen Zuständen — gemeinsam wäre. Unter dieser
Voraussetzung könnte man, wo die Ereignisse die fragliche
Form aufweisen, von Fortschritt im objektiven Sinne
sprechen, auch wo die materialen Entgegengesetztheiten
der subjektiven Wertsetzungen ihn nur alternierenderweise
anerkennen; gerade wie man, wo guter Wille und Pflicht-
bewufstsein den handelnden Menschen bestimmt, ihm
Simmel, Geschiohtsphilosophie. 2. Aufl. 10
— 146 —
Moralität zuspricht, auch wenn er inhaltlich das Gegenteil
von dem getan hat, was man für seine Pflicht hält. Allein
dies ist logisch nicht angängig. In der moralischen Frage
bestehen zwei logisch und psychologisch trennbare Elemente :
die Gesinnung, als terminus a quo des Handelns, und
der sachliche Zweck — so dafs der Wert einer und der-
selben Handlung widerspruchslos für das eine bejaht, für
das andere verneint werden kann. Für die beiden Bestand-
teile des Fortschrittes aber: dafs einerseits überhaupt eine
Veränderung stattfindet, andrerseits der spätere Moment
derselben wertvoller sei als der frühere — liegt es anders.
Der letztere ist absolut variabel, der Begriff des Wertes
enthält kein allgemeines Element, das unabhängig von der
subjektiv auswählenden Wertsetzung anwendbar wäre. Die
Veränderung aber, die wirklich das Allgemeine an allen
Fortschritten ist, kann doch nicht für sich schon seinen
Begriff anwenden lassen, da sie ebenso das Allgemeine an
allen Rückschritten ist. Man müfste denn — was freilich
in Ansätzen auch vorkommt — schon die Tatsache der
Veränderung als solche und gleichgültig gegen jedes
eventuelle Ziel derselben als Fortschritt empfinden; auch
an dem Rückschritt sei immerhin dies, dafs er Veränderung
ist, ein Fortschritt, so sehr derselbe durch die Schlechtigkeit
seines Inhaltes den Wert der Gesamtaktion herunterdrücke.
Der Gegensatz zum Fortschritt sei nicht der Rückschritt,
sondern der Stillstand — etwa eine geschichtsphilosophische
Wendung der Fichteschen Erklärung der Trägheit für das
Radikal-Böse. Genau betrachtet aber ist dies entweder
doch wieder eine subjektive Wertsetzung oder ein meta-
physischer Glaube. Denn die blofse Bewegtheit und Ver-
änderung wird das Epitheton des Fortschritts nicht ihrem
logisch-begrifflichen Sinne nach erwerben können, sondern
erst wenn man sie über diesen hinaus als etwas Wertvolles
empfindet — was allerdings eventuell ohne Rücksicht auf
den durch sie realisierten Inhalt geschehen mag. Da nun
aber gewisse konservative Gesinnungen , ohne gegen die
Logik zu verstofsen, die Veränderung an und für sich
schon für etwas Unterwertiges , Böses halten — so folgt,
dafs dem Veränderungsbegriff logisch dasjenige Element
fehlt, das ihn zum Äquivalent eines allgemeinen, formalen
— 147 —
Fortschrittsbegriffes machen würde, und dafs er dies nur
durch eine, wiederum auf die individuelle Subjektivität
angewiesene Wertsetzung werden kann. Diese könnte man
nun andrerseits, für die Struktur des Fortschrittsbegriffs
bezeichnend genug, durch eine metaphysische Konstruktion
ersetzen. Die Veränderung ist vielleicht deshalb ohne
weiteres ein Fortschritt, weil am Ende aller Dinge, oder
auch pro rata durch alles Werden hin verteilt, ein absolut
wertvolles, definitives Ziel steht. Erkennbar ist dies für
uns nicht, nicht sein Was, sondern nur sein Dafs ist sicher.
Diesen Tjpus repräsentiert ebenso ein gewisser chiliastisch-
religiöser Glaube wie ein liberalistischer Optimismus. Auf der
Basis desselben kann allerdings jede Veränderung als solche
ein Fortschritt sein, mag sie, an den uns zugängigen Werten
gemessen, auch einen Rückschritt darstellen — innerhalb
des Weltprozesses als Ganzen ist das nicht möglich, sondern
für diesen gibt es nur Retardierungen in Form des Still-
stands. Hier ist man also über die Subjektivität des Wert-
begriffes, wie sie in der Verschiedenheit seiner inhaltlichen
Erfüllung liegt, hinaus, und durch seine Verlegung ins Ab-
solute und gleichzeitige Anonymität kann er jegliche Ver-
änderung logisch als Fortschritt empfinden lassen. Diese,
wie mir scheint, einzige Möglichkeit, von einem formalen,
von der Individualisiertheit der Wertsetzungen unabhängigen
Fortschrittsbegriff zu sprechen, macht deutlich, wie weit
man über die Tatsachen, die den Fortschritt enthalten
sollen, hinausgehen mufs, um ihn in ihnen zu sehen.
Neben der Subjektivität oder Transszendenz des Ideals,
an dem sich die tatsächliche Bewegung der Geschichte als
Fortschritt zeigt, steht eine andere, welche die Fortschritts-
frage in den tiefer gelegenen Teilen ihrer Struktur berührt.
Hat man sich nämlich auch schon über jenes Ideal geeinigt,
so hängt es fernerhin noch von einer durchaus labilen
Begriffsdefinition ab, ob wir dessen empirische Realisie-
rungen als Fortschritt bezeichnen dürfen. Es wäre nämlich
möglich, dafs die wertvollen Punkte der Geschichte gleich-
sam in einer generatio aequivoca entstünden; es brauchte
keine allmähliche auf sie hin gerichtete Entwicklung statt-
zufinden, sondern entweder könnten die natürlichen Kräfte
eine jenen Idealen entsprechende Gestaltung ebenso zufällig
10*
- 148 —
in einem Augenblick produzieren, wie sie im nächsten eine
völlig entgegengesetzte erstehen lassen • oder die Realisierung
der Werte brauchte überhaupt nicht aus den Kräften, deren
eigene Entwicklung die Geschichte hervorbringt, sondern
könnte durch Eingreifen eines Transszendenten entspi'ingen,
wie es etwa religiöse Weltanschauungen in dem Erscheinen
der Heilande oder in der Vorstellung vom jüngsten Tage
lehren. In diesen beiden Fällen scheinen wir von Fort-
schritt in der Geschichte nicht sprechen zu können. Ins-
besondere in Hinsicht auf den ersteren ist dies vielmehr
erst dann möglich, wenn der wertvolle Zustand, den sie
verwirklicht, den Charakter eines irgendwie definitiven trägt.
Es mufs irgendeine Garantie vorhanden sein , zwar nicht
dafür, dafs nicht Gegenbewegungen und Stagnationen den
geschichtlichen Fortschritt zeitweise aufhielten und umbögen,
wohl aber dafür, dafs die Realisierung des Wertvollen so-
zusagen das letzte Wort behält, und dafs die Wirklichkeit
nicht einem Mechanismus gehorcht, der über diese Reali-
sierung ebenso gleichgültig hinweggeht, wie er sie hervor-
gebracht hat^).
Die blofse Tatsache, dafs es vorschreitende Epochen
gibt, wie sie sich nach Konstituierung eines Ideals zeigt,
erfüllt noch nicht den Begriff des „Fortschritts in der Ge-
schichte". Es mufs vielmehr ein innerer Zusammenhang
der zeitlich getrennten Teilrealisierungen des Ideals an-
genommen werden, derart, dafs trotz ihres Unterbrochen-
seins und durch die andersgerichteten Epochen hindurch,
die eine sich da anschliefst und von da aus höher führt,
wo die andere aufgehört hat. Eine gewissermafsen unter-
irdische Verbindung zwischen den durch ihr positives Ver-
hältnis zum Ideal charakterisierten Perioden wird voraus-
') Selbstverständlich aber wird der fragliche Fortschritt in der
Geschichte nicht dadurch ausgeschlossen, dafs das Menschengeschlecht
vielleicht einst vernichtet wird, und die kosmischen Kräfte, die in
der Form desselben die Geschichte produziert haben, zu ganz
heterogenen Ausdrucksweisen übergehen. Der Fortschritt, um den
es sich handelt, ist nur ein Fortschritt innerhalb der Geschichte und
seine Aufgipfelung zu einem definitiven Ziele wird dadurch nicht
illusorisch, dafs die Geschichte als Ganzes nicht den Charakter des
Definitiven besitzt.
— 149 —
gesetzt, wenn man behauptet, dafs es einen Fortschritt in
der Geschichte gebe; und dem Verbundensein jener mufs
eine Kraft zugrunde liegen, die über jede ihrer bisherigen
Wirkungen oder Erscheinungen hinausreicht und es gewähr-
leistet, dafs der Mechanismus des Geschehens überhaupt und
künftig trotz aller Abbiegungen doch der Hauptsache nach
in der Richtung jenes Ideals verlaufe. Die Behauptung,
dafs die Geschichte einen Fortschritt darstelle, schliefst mit
einem Wort das Verhältnis der blofsen Zufälligkeit aus, das
sonst zwischen den realen, mechanischen Kräften und unseren
Idealvorstellungen besteht. Dafs die ersteren gelegentlich
die letzteren verwirklichen, genügt jener Behauptung nicht;
sondern die so entstehenden , sich aufgipfelnden Vorgänge
oder Epochen bilden ihr gemäfs eine Einheit der Ent-
wicklung, derart, dafs das Bild und das Verständnis der
späteren nicht mit der Erkenntnis der unmittelbar vorher-
gehenden äufserlichen Situation und ihrer Spannkräfte,
sondern erst durch ihr Verhältnis zu der — vielleicht gar
nicht unmittelbar — vorhergehenden Realisierungsstufe des
Endwertes der Geschichte aufgeschlossen wird.
Noch in einer anderen Richtung verwebt der Fortschritts-
begriff den metaphysischen Einschlag in die Kette des
äufseren Geschehens. Er setzt nämlich weiterhin voraus,
dais das Wesen, von dem man ihn aussagt, ein einheitliches
sei. Eine Anzahl von Vorgängen , deren Inhalt eine auf-
steigende Richtung nach einem Ideal hin zeigt, erscheint uns
dennoch nicht als Fortschritt, sobald sie an getrennten Sub-
stanzen vor sich gehen. Wenn wir von dem Fortschritt in
der Natur sprechen, der von den niedrigsten Organismen
zu immer höheren und höheren Arten führe, so denken wir
uns dabei, freilich oft unklar genug, ein Etwas, das sich
durch die aufsteigenden Formen hindurch entwickelt, einen
Zusammenhang an einem Subjekte — „die Natur'" oder
„das organische Leben" oder ähnl. — , das eben das fort-
schreitende ist, indem es die Reihe dieser Zustände durch-
läuft. Schon der sprachliche Ausdruck braucht die Einheit
des Subjekts, um das Fortschreiten von ihm auszusagen,
und wir würden diesen Begriff nicht anwenden, wenn es
sich zwar um aufeinander folgende und immer wertvollere
Zustände handelte, die aber auf verschiedenen Sternen ver-
— 150 —
wirklicht sind — es sei denn, dafs wir etwa einen Zu-
sammenhang dieser auseinanderliegenden Werte in einem
Weltgeist oder einem NaturinbegrifF voraussetzten. Ent-
sprechend hat nun auch der Fortschritt in der Geschichte
die Einheit des Subjekts, an dem er sich vollzieht, zur
Voraussetzung. Anderenfalls kr)nnte man wohl sagen, der
eine Zustand sei besser und wertvoller als der andere, aber
nicht, er sei der fortgeschrittene, weil hierzu eine wirkliche
Beziehung dieses auf jenen gehört, die doch nur zwischen
Zuständen ebendesselben Subjektes stattfindet.
Nur die Entwicklung dessen, was man den objektiven
Geist nennt, könnte zur Konstatierung einer Ausnahme
verleiten. Die sachlich vorliegenden Resultate der geschicht-
lichen Arbeit: Rechtssätze und Kunstwerke, technische Er-
rungenschaften und kirchliche Dogmen, Verkehrssitten und
wissenschaftliche Erkenntnisse — bilden Reihen, in denen
wir einen Fortschritt feststellen ; und zwar nicht nur so,
dafs sie den Fortschritt der produzierenden Gruppe
markieren oder ausmachen. Sondern vermöge einer ge-
wissen methodischen Abstraktion betrachten wir diese
Sachgehalte des sich entfaltenden Gruppenlebens als rein
objektive Entwicklungen , in denen ein Glied seiner sach-
lichen Bedeutung nach und ganz ohne Rücksicht auf seine
Produzenten oder Träger dem andern gegenüber einen Fort-
schritt darstellt. Das Recht und die Kunst, die Technik und
die Wissenschaft schlechthin entwickelt „sich". Damit aber
kreiert zunächst der Sprachgebrauch ein ideelles Subjekt^
an dem die diskontinuierlich nebeneinanderstehenden Kunst-
werke, oder die ebenso ohne einheitlichen Träger auf-
tauchenden Erkenntnisse usw. als seine Entwicklungen
hafteten. Will man nun diese rein auf ihren objektiven
Inhalt angesehenen Dinge, wenn sie in ihrer Zeitfolge eine
sachlich-logisch aufsteigende Reihe ergeben, als eine
historische Entwicklung charakterisieren, so fordern unsere
Erkenntnisbedingungen als das Apriori derselben ein ein-
heitliches Subjekt, das zwischen jenen atomistisch existierenden
Momenten perennierte und diese erst so zu einer Ent-
wicklung zusammenbrächte. Aber auch jene blofs sach-
liche Höherführung, jene Entwicklung im unhistorisch-
unpersönlichen Sinne würde nicht als solche bestehen
— 151 —
können, Avenn sie nicht als Entwicklung* einer ideellen Seele
— sei es einer persönlich-psychologischen, sei es einer blofs
rationalen — gedacht würde. Z. B. die Stadien der Phi-
losophie, die Brentano für deren Geschichte konstruiert
hat, bilden eine Entwicklung, insofern man das Gefühl
hat, dafs eine dieser Tendenzen psychologisch aus der
andern hervorgehen kann. Jener ideelle Träger, den der
Ausdruck: die Philosophie entwickle sich — symbolisiert,
erscheint so als die Projektion des vom Subjekt nach-
gefühlten Aufsteigens, der inneren, kontinuierlichen Bewegung,
die dieses in dem Vorstellen jener Inhalte erlebt und deren
wachsende Intensität und Wertbegleitung die Zeitreihe der
Ereignisse erst als Entwicklung bezeichnen läfst.
Also selbst dem objektiven Geist gegenüber, wo eine
ohne hinzugedachtes Subjekt geschehende Entwicklung noch
die meisten Chancen hat, kommt sie nicht ohne dieses aus.
Um so mehr bedarf es eines einheitlichen Subjektes, wo
die konkrete Gesamtheit der geschichtlichen Bewegungen
in Frage steht. Wenn nun überhaupt schon jede Projizierung
verschiedener Eigenschaften auf eine einheitliche Substanz
als ihren Träger anerkanntermafsen transszendentalen
Wesens ist, so ist die Zusammenfassung der Völker und
Individuen zu einem sich entwickelnden Ganzen, wie „der
Fortschritt in der Geschichte" es fordert, erst recht eine
subjektive Synthesis, die durch ihre Projizierung in die
objektive Realität hinein metaphysischen Charakter erhält.
Dafs durch den Wechsel der Personen hindurch sich ein
einheitliches Subjekt erhält, dafs ein ui'sprünglicher Keim
vorhanden ist, als dessen Entwicklungen sich die Epochen
der Menschheitsgeschichte ergeben und in dem sie jenen
Beziehungspunkt finden, der sie gegenseitig als fort-
geschrittene oder zurückgebliebene bezeichnen läfst — das
ist eine metaphysische Voraussetzung, ohne die der Fort-
schrittsbegriff nicht bestehen kann. —
Neben dieses Problem der allgemeinen Geschichte, das
durch ihren terminus ad quem bestimmt wird , stelle ich
nun endlich ein anderes, das um ihren terminus a quo zen-
triert und das nicht weniger zeigt, wie die Tatsachen zu
ihrem konstruktiven historischen Sinn erst durch die
Formungskraft von Voraussetzungen über-tatsächlicher Art
— 152 —
kommen. It-li meine den sogenannten historischen Materialis-
mus, dem gemäfs das wirtschaftliche Leben, der Bau und
die Vorgänge des Gruppenlebens, die auf die Produktion
und die Verteilung der Unterhaltsmittel gerichtet sind, die
Gesamtheit des geschichtlichen Lebens nach sich bestimmen:
die innere wie die äufsere Politik, die Religion wie die
Kunst, das Recht wie die Technik. Es steht hier durchaus
nicht in Frage, in welchem Mafse das Prinzip sich an den
Tatsachen der Geschichte hat plausibel durchführen lassen,
inwieweit eine zeitlich-sachliche Anordnung der Ereignisse
und Zustände möglich ist , die ihre kausale Reduktion auf
die Produktionsverhältnisse gestatten. Es handelt sich viel-
mehr ausschliefslich um die erkenntnistheoretische Struktur
der Lehre, um die Voraussetzungen, die aus den ver-
schiedenen Schichten der Erkenntnismittel zu ihr zusammen-
wirken.
Was die Theorie zunächst zu bieten scheint, ist eine
einheitlich - psychologische Deutung des historischen Ge-
schehens. Wenn auch Marx ausdrücklich betont, dafs der
Hunger für sich noch keine Geschichte macht, so würden
doch die Produktions - und Austauschverhältnisse der
materiellen Güter nicht die Kraft, sie zu machen, besitzen,
wenn der Hunger nicht weh täte und dadurch als die
treibende Kraft dahinter stünde. Die Bezeichnung als
Materialismus ist deshalb irreführend. Dafs die Theorie
mit dem metaphysischen Materialismus nichts zu tun hat,
sondern mit jeder monistischen oder dualistischen Meinung
über das Wesen der psychischen Vorgänge vereinbar ist,
liegt auf der Hand. Deshalb könnte Materialismus hier
nur bedeuten, dafs die Geschichte in letzter Instanz von
unbeseelten Energien abhängt. Dies aber widerspricht
gerade dem eigenen Inhalt der Theorie, die die Geschichte
im eminenten Sinne psychologisch motiviert. Gevvifs sind
die Variierungen des Geschichtsinhaltes von Faktoren aufser-
halb des Hungers abhängig, da dieser, als der immer und
überall gleiche, jene nicht erklären könnte; aber er ist
gleichsam der Dampf, der die Maschinen treibt, wie mannig-
faltig auch ihre Konstruktionen seien. Es ist die Gröfse
der Lehre, dafs sie hinter den Gegensätzen und Wandlungen
der Geschichte die Triebfeder sichtbar machen will , die
— 153 —
durch ihre elementare Einfachheit sich dazu qualifiziert, die
Einheit in dem ganzen unermefslichen Getriebe des histo-
rischen Lebens vorzustellen. Es ist nichts anderes als eine
psychologische Hypothese, wie sie im ersten Kapitel be-
handelt worden ist: hinter den äufseren Bewegungen der
Menschen stehen seelische Vorgänge, die im letzten Grunde
auf das Interesse an der „Produktion und Reproduktion
des unmittelbaren Lebens" zurückgehen. Der hypothetische
Charakter der Theorie verbirgt sich nur leicht dadurch,
dafs der seelische Impuls, auf den sie das Sich-Ereignen in
der Menschenwelt zurückleitet, an sich von ganz unbezweifel-
barer Tatsächlichkeit ist, und diesen Charakter auch dem
Aufbau, der sich auf diesen Impuls gründet, zu verleihen
scheint.
Das ist der erste von den mancherlei Punkten, derent-
wegen der historische Materialismus für das Grundproblem
dieser Blätter, die Überwindung des historischen Realismus,
von besonderer Bedeutung ist. Gerade er behauptet, die
unmittelbarste Reproduktion der Wirklichkeit zu sein, und
gerade an ihm läfst sich schrittweise die Formung des blofs
Gegebenen nach den theoretischen und übertheoretischen
Ansprüchen und Voraussetzungen der autonomen Geistigkeit
erweisen. Diese Täuschung über die erkenntnistheoretische
Bedeutung der Methode verringert übrigens den grofsen
Wert nicht, den diese durch die Aufdeckung neuer Kausal-
beziehungen für die Praxis der Geschichtsforschung besitzt.
Neben jener prinzipiellen Tatsache: dafs der historische
Materialismus statt der vorgeblichen Sicherheit eines physio-
logischen Faktums nur den Hypothesenwert psychologischer
Zurückleitung besitzt — wodurch seine Bedeutung nicht
kleiner, sondern gröfser wird — , steht die weitere der
Auswahl, die er aus den möglichen letzten Motivierungen
der Geschichte getroffen hat. Der tatsächliche Anblick des
Lebens bietet eine Wirrnis von Interessenreihen, die durch
das Bewufstsein, durch die Machtverhältnisse, durch die
äufsere Erscheinung hin verlaufen wie die Fäden in einem
Gewebe: jeder ist zwar in sich kontinuierlich, aber nur
begrenzte Abschnitte seiner treten an die Oberfläche, sein
übriger Verlauf findet unterhalb der anderen, in gleicher
Abwechslung an die Obei-fläche kommenden Fäden statt.
— 154 —
Hier ist alles in Wirklichkeit untrennbar verflochten : Wirt-
schaft und Religion, Staatsverfassung und individuelles Leben,
Kunst und Recht, Wissenschaft und Eheformen — und damit
entsteht, was wir Geschichte nennen. Nur durch die Kon-
tinuität der Fäden, von denen jeder, durch die anderen ge-
tragen , abwechselnd an verschiedenen Stellen von Raum,
Zeit und Bewufstsein das Interesse beherrscht, ist die
Situation möglich : dafs es nur Spezialgeschichten gibt, wie
ich oben betonte, und dafs über diesen dennoch als „Idee"
die „Geschichte überhaupt" steht, die raum-zeitliche Ver-
webung all dieser Reihen zu einer Einheit, die wir unmittel-
bar nicht ergreifen können, deren Vorstellung aber das Aus-
einanderfallen des Geschichtsbildes in unzusammenhängende
Splitter hindert. Nun ist es das Verdienst des historischen
Materialismus, diesem apriorisch-ideellen Zusammenhang eine
neue partielle Realisierung und anschaulichen Erweis zu-
gefügt zu haben: er hat plausibel gemacht, dafs die Ent-
wicklungen der Wirtschaft und die der idealen Werte, die
abseits von einander zu verlaufen schienen, mindestens an
vielen Punkten miteinander verflochten sind. Denken wir
uns nun diese Verflechtung den Tatsachen wie den Gesetzen
nach durch den ganzen Verlauf hindurch aufgedeckt, so
folgt freilich, dafs man an der Entwicklung der Wirtschaft
die der gesamten historischen Inhalte abrollen könnte. Ver-
möge der Gesetze der Zusammenhänge Hefsen sich alle Zu-
stände und Ereignisse als Funktionen des wirtschaftlichen
Geschehens erweisen, und dieses als das Symbol der Ge-
schichte überhaupt. So bedeutsam nun auch schon die
Annäherung an diese Erkenntnismöglichkeit ist, so bringt
ihre Voraussetzung mit sich, dafs die Rolle, die Gesamtheit
der Geschichte aus sich entwickeln zu lassen, jeder einzelnen
Reihe in dieser ganz ebenso zukommt, wie der wirtschaft-
lichen. Die Geschichte der Verfassungsformen oder die der
Verkehrssitten, der intellektuellen Bildung oder des Straf-
rechts besitzt mit jeder anderen so ununterbrochene, wenn
auch vielfach vermittelte und wechselnd distanzierte Ver-
bindungen, dafs sie nicht weniger als Erkenntnisgrund der
gesamten Historik dienen könnten. Nun ist es freilich die
Behauptung des historischen Materialismus, in den ökono-
mischen Geschehnissen nicht nur den Erkenntnisgrund,
— 155 —
sondern den Realgrund, die bewegende Ursache aller übrigen
Erscheinungen gewonnen zu haben. Allein angesichts der
ins Unendliche gehenden Alternierungen zwischen den ver-
schiedenen Ereigniskategorien dürfte dies ein voreiliges
dogmatisches Abschneiden der Wirklichkeitsreihe sein. Wir
hören z. B, : die Grofsindustrie kann wegen der Beschaffung
ihrer Materialien und des Absatzes ihrer Produkte keine
Vielheit kleiner Staaten brauchen, und sie habe deshalb
die grofsen Einheitsstaaten der letzten Zeit, Deutschland
und Italien, geschaffen. Angenommen, diese Kausalität
träfe zu — wie steht es mit Frankreich und England,
deren Staatseinheit doch nicht durch die Grofsindustrie be-
wirkt sein kann? Vielleicht ist auch sie seinerzeit aus
wirtschaftlichen Ursachen hervorgegangen; allein, nachdem
sie einmal da war, hat sie ihrerseits dort das Entstehen
der Grofsindustrie aus denselben Zusammenhängen heraus
begünstigt, aus denen andernorts die umgekehrte Kausalität
zu gelten scheint, und ebenso hat auch in dem letzteren Falle
der einmal geschaffene Grofsstaat unzählige Grofsindustrien
erst hervorgerufen. Da nun derartige Wechselwirkungen
sich in einem endlosen und für unser Erkennen anfangs-
losen Prozefs entwickeln, so ist es willkürlich, an welchem
Gliede wir sie mit der Erklärung abschneiden wollen, an
diesem die letzte Ursache aller späteren Erscheinungen der
Reihe zu besitzen — denn jedes Glied, durch welches die
Reihe passiert, ist natürlich die Bedingung der folgenden.
Ein anderes Beispiel aus der Marxistischen Literatur. Calvins
Gnadenwahl sei nichts als der Ausdruck der Tatsache, dafs
in der Handelswelt der Konkurrenz Erfolg oder Bankerott
nicht von der Tätigkeit und dem Geschick des Einzelnen
abhängen, sondern von unbekannten Übermächten, und das
gelte ganz besonders von jener Zeit ökonomischer Um-
wälzung. Wenn dies mehr als ein Witz ist, so ist es jeden-
falls umkehrbar: ein Gemeinwesen, in dem es aus rein
religiösen Gründen zu fatalistischen Überzeugungen ge-
kommen ist, wird in allen Lebensbeziehungen, also auch
in ökonomischen, zum laisser aller neigen, da man von der
Nutzlosigkeit aller prinzipiellen Vorsorge, aller menschlichen
Teleologie und Regulierung durchdrungen ist.
Solange man also an dem Bilde der Geschichte als
— 156 —
einer Verflechtung qualitativ verschiedenartiger Geschehens-
reihen festhält, gewinnt der historische Materialismus aller-
dings eine sonst nicht versuchte Organisierung des Gesamt-
materials, eine aufserordentlich vereinfachende Abstimmung
auf einen Grundton. Sein Glaube aber, damit eine natura-
listische Nachzeichnung der Wirklichkeit zu geben, ist ein
methodischer Irrtum ersten Ranges. Er verwechselt nicht
nur die Stilisierung des von den Erkenntnisinteressen aus
geformten Bildes des Geschehens mit der Unmittelbarkeit
seines natürlichen Verlaufes; sondern aufserdem auch noch
ein Prinzip, das seine Bedeutung als heuristisches, allent-
halben erst gleichsam probeweise anzuwendendes, besitzt,
mit einem konstitutiven, das von vornherein feststeht und
die Tatsachen von sich aus entwickelt. Dafs nämlich das
wirtschaftliche Motiv das Bewufstsein der Menschen durch-
gängig, auch nicht-wirtschaftlichen Inhalten gegenüber, be-
herrsche und diese bewufst erzeuge, behauptet niemand;
was im Unbewufsten vorgeht und wie sich dort die Kausali-
täten knüpfen, weifs niemand; so bleibt als Sinn der ge-
schichts-materialistischen Auffassung nur übrig: die Ereig-
nisse verlaufen so, als ob jenes Motiv die Menschen regiere.
Aber die Verknüpfungen zwischen den äufserlichsten und
den innerlichsten Geschichtsinhalten , auf die gerade der
Materialismus so energisch hingewiesen hat, zusammen mit
der Alternierung, in der bald dieser, bald jener das Bewufst-
sein beherrscht, gewähren die Möglichkeit, als heuristisches
Prinzip zu funktionieren, auch allen möglichen anderen Inter-
essen. Dieses grofse Verdienst des Materialismus, die gegen-
seitige Fremdheit oder Gegnerschaft, die unsere Interessen-
reihen ihrem inneren Sinn und Wert nach trennt, in der
engen Verknüpftheit ihrer geschichtlichen Realisierung und
ihres Verlaufes gezeigt zu haben — gerade dies raubt seinem
Grundmotiv die exzeptionelle Stellung und koordiniert es,
als blofs heuristisches, das die Tatsachen anderer Kategorien
aus sich zu berechnen gestattete, doch diesen anderen,
von denen aus dieselbe Rechnung geschehen könnte. Die
methodische Zweckmäfsigkeit dieser Selbsttäuschung liegt
freilich darin , dafs nur durch die absolutistisch - radikale
Anwendung eines Prinzips der Umfang seines Rechts und
dessen Grenzen wirklich und mit Sicherheit festzustellen sind.
— 157 —
Die dogmatische Beeinträchtigung dieses Vorteils scheidet
erst aus , sobald derartige Prinzipien in heuristische ver-
wandelt sind ; nur dafs freilich der Ersatz ihrer natura-
listischen Verwertung durch das vorsichtigere, nur den Weg
weisende : Als ob — die Formung des Stoffes durch die
Erkenn tnisforderungen offenbart und die realistische
Kopierung der Dinge, an dem Geiste vorbei, durch den sie
Wissenschaft werden — aufs nachdrücklichste dementiert.
Mit jenem Bilde des geschichtlichen Lebens als eines
aus vielen, an sich koordinierten Fäden sich fortwährend
zusammenspinnenden Gewebes ist der Materialismus freilich
nicht einverstanden. Für ihn ist vielmehr die Wirtschaft
die dauernde, in der Fundamentalebene der Geschichte
selbstgenugsam sich entwickelnde Bedingung aller anderen
Entwicklungen, die Unterströmung, die nicht mit anderen
alterniert, sondern diese an jedem Punkte ihres Verlaufes
trägt, gleichsam das Ding -an -sich zu den übrigen Er-
scheinungen der Geschichte. Nur unter der Bedingung
dieser Struktur ist der historische Materialismus als kon-
stitutives Prinzip möglich. Allein gerade sie führt zu einer
Schwierigkeit des historischen Bildes, die sich innerhalb
der materialistischen Theorie als Metaphysik zeigt. Wenn
es nämlich richtig ist, dafs die Entwicklungen von Sitte
und Recht, Religion und Literatur, u. s. f. der Kurve der
wirtschaftlichen Entwicklung folgen , ohne diese selbst im
wesentlichen zu beeinflussen — so sehe ich nicht recht,
wodurch denn die Wandlungen des Wirtschaftslebens selbst
Zustandekommen. Die Erfindung der Schufswaffen, die
Entdeckung Amerikas, die geistige Produktivität am Ab-
schlufs des Mittelalters sollen nicht ihrerseits die Ver-
anlassung zum Übergang der feudalistischen und Natural
Wirtschaft in die neuzeitlichen Wirtschaftsformen gegeben
haben, sondern umgekehrt hätten die letzteren erst von sich
aus jene geistigen, technischen, territorialen Expansionen
gefordert und bewirkt. Allein warum liefsen sich die
Menschen nicht in alle Ewigkeit an Naturalwirtschaft und
Vasallentum genügen? Jede Produktionsform soll ur-
sprünglich für ihre Zeit absolut angemessen gewesen sein ;
da nun aber „ihre Zeit" ausschliefslich von jener selbst
bestimmt wird , so bleibt unklar , woraufhin sich aus der
— 158 —
Angemessenheit der spätere Widerspruch — zwischen
Produktionskräften und -formen — entwickele. Indem
jene anderweitigen Tatsachen zu der Änderung der Pro-
duktionsform nicht mitgewirkt haben sollen, mufs also jedes
Stadium der Wirtschaft wie aus sich selbst und unbefruchtet
die Kräfte enthalten, die es über sich hinaustreiben — eine
Parthenogenesis der wirtschaftlichen Zustände. Die reine
Immanenz dieser Entwicklung wird mit solchen Ausdrücken
bezeichnet: die Produktionsformen der Epoche hätten „sich
überlebt", neue Produktionskräfte hätten „sich entwickelt",
neue Gesellschaftsformen seien „im Werden". Allein dies
alles sind leere Worte, nicht viel besser, als wenn man
„die Macht der Zeit" für die Veränderungen in ihr ver-
antwortlich macht. Es ist fast, als wäre jeder Wirtschafts-
epoche von vornherein ein Mafs von Lebenskraft verliehen,
das sich allmählich von selbst erschöpft. Woher aber der
Wirtschaft dieses Versiegen auf der einen, die wachsenden
Spannungen und Neugeburten auf der andern Seite kommen,
wenn die Wechselwirkung aller historischen Faktoren
ausgeschlossen sein soll — das scheint nur durch eine ge-
heime Metaphysik erklärlich, in der die „Selbstbewegung
der Idee" weiterlebt.
Worauf es hier ankommt, ist nicht eine unfruchtbare
Kritik, sondern der Ertrag, den diese „realistische"
Geschichtstheorie für die Überwindung des Realismus
bringen kann: vielleicht zeigt sie durch die prinzipielle
Konsequenz, die sie auszeichnet, nur besonders deutlich die
Metaphysik, die auch jede andere durchfliefst. Jene gegen-
seitige Einwirkung aller historischen Faktoren nämlich
ist uns zu durchschauen versagt. Während sie allein die
wirkliche Geschichtseinheit ausmacht, kommt jedes uns
mögliche, einheitliche Bild des Gesamtgeschehens nur durch
konstruierende Einseitigkeit zustande. Wir können wohl
einzelne Entwicklungsreihen von einer grofsen geschicht-
lichen Epoche in die andere hinein verfolgen; allein der
Gesamtcharakter der einen wie der andern wird, wenn man
genau zusieht, dabei eigentlich immer schon vorausgesetzt.
Wie ich früher schon hervorhob, entwickelt ein Stadium
einer Reihe nie absolut aus sich selbst das nächste, sondern
dies gelingt nur seinem Zusammenschlag mit den von allen
— 159 —
anderen Reihen gleichzeitig ausgehenden Wirkungen. Werden
dennoch, wie es für unsere Erkenntnisart völlig unvermeid-
lich ist, einzelne Reihen konstruiert, als wären sie selbst-
genugsame, so münden wir ebenso unvermeidlich an jenem
unbefruchteten Weiterwachsen der Reihe aus sich allein,
wir ersetzen unzählige Male die Veranlassungen zur Pro-
duktion eines neuen Stadiums, die dem früheren aus der
Gesamtheit der Weltlage kommt, durch blofse innere An-
triebe, wie durch qualitates occultae. Wie man den
Organismen gegenüber zu mehr oder weniger mystischen
„Entwicklungstrieben" gegriffen hat, so treten in historischen
Darlegungen, mindestens die wahrhaft erklärenden Wechsel-
wirkungen der Elemente ergänzend, Wandlungen und Ent-
wicklungen wie ein selbstverständliches Wachstum auf, als
ob ein gewisser Rhythmus von Entfaltung und Niedergang,
von Selbstbehauptung und Abirrung von vornherein in der
in sich beschlossenen Einheit der Subjekte angelegt wäre.
Diese Metaphysik ist im einzelnen Fall schwer festzustellen,
weil sie in sehr unregelmäfsigen und rudimentären Mafsen
und als naive Gewohnheit des historischen Denkens auf-
tritt; der historische Materialismus aber hat sie sozusagen
rein herausgelöst, indem er der einen Geschehensreihe
eine selbständige Entwicklung gab, den andern gegenüber
beeinflussend aber nicht beeinflufst, und also darauf an-
gewiesen, ihre einzelnen historischen Formungen rein aus
sich selbst, aus einer von vornherein gegebenen Entwicklungs-
direktive herauswachsen zu lassen.
Nun aber tritt innerhalb dieser Lehre ein Gesichts-
punkt auf, der dem hier vertretenen methodischen Prinzip
verwandt ist. Alles, was bisher kritisch eingewendet wurde,
galt der Selbsttäuschung: dafs man die Geschichte
realistisch nachzuzeichnen glaubte, wo unsere Erkenntnis-
kategorien ein nur durch ihre Forderungen stilisiertes
Gebilde schufen. Von einem Vertreter der Theorie scheint
dies gefühlt zu sein; denn er betont, sie sei dadurch ge-
rechtfertigt, dafs die geschichtliche Entwicklung
etwas anderes sei, als das Ganze des mensch-
lichen Lebens. Keineswegs gehöre alles, was wir er-
leben, in die Geschichte hinein, denn diese enthalte nur,
was sich entwickelt, während unser Leben aufserdem viele
-- 160 —
konstante Faktoren enthalte, wie Zeugen, Gebären, Ver-
dauen usw., die keine „Geschichte" hätten. Damit wird
ersichtlich eine bedeutungsvolle begriffliche Linie durch das
Dasein gezogen. In jedem Augenblick bilden seine kon-
stanten und seine variabeln Bestandteile eine real untrenn-
bare Einheit. An den Dauerelementen des Körperhaften
und des Logischen, der Wollungen und Gefühle, der 8innes-
eindrücke und interindividuellen Verhältnisse, die unserer
Kenntnis nach keine „Geschichte" haben, findet das Variable
seine Substanz oder seine Akzidenzen und würde ohne
diese überhaupt keinen ausdenkbaren Zustand ergeben;
beide bauen in völliger Koordination den einzelnen Moment
auf, er nimmt das Element, das vorher und nachher anders
ist, ohne Rücksicht darauf als eindeutig festes hin, er erlebt
andrerseits das inhaltlich immer Wiederkehrende oft genug
als ein Überraschendes und in seiner Wirkung und Kom-
bination Unwiederholtes. Indem der Materialismus nun
verkündet: Geschichte habe es nur mit den variabeln
Elementen des Daseins zu tun, erkennt er sie als eine
Auslese und — unvermeidlich — neue Synthese der Wirk-
lichkeitselemente an. Denn wenn die Konstanten aus-
scheiden, die sich mit jenen zu der absolut realen, gelebten
Wirklichkeit durchdringen, so mufs das Übrigbleibende in
neue und eigne Zusammenhänge gebracht werden ; damit
aber wird es dem Kunstwerk vergleicidich, das nur die Ein-
drücke eines Sinnes erfafst und diese deshalb durch nur
ihm eigne Zusammenhänge zu einem Bilde formen kann,
dessen reales Gegenbild seine Einheit durch sehr viele
andere Beziehungskräfte zustande bringt. Diese Aus-
sonderung der Geschichte aus der Gesamtheit des Ge-
schehenden und ihr Aufbau aus den variabeln Elementen
des letzteren — ist die vollständigste Absage an den naiven
Realismus, die Souveränitätserklärung der Kategorie über
den Stoff. Und dies ist noch weiterer Vertiefung fähig,
wenn wir fernerhin hören: „Die materialistische Geschichts-
auffassung erhebt nicht den Anspruch darauf, die Tatsache
zu erklären und auf ökonomische Bedingungen ohne Rest
zurückzuführen, dafs Cäsar keine Kinder hatte und den
Oktavianus adoptierte, dafs Antonius sich in Kleopatra ver-
liebte und Lepidus ein Schwächling war. Wohl aber glaubt
— IGl —
sie den Zusammenbruch der römischen Republik und das
Aufkommen des Cäsarismus erklären zu können." Diese
letzteren historischen Inhalte sind doch wohl zusammen-
fassende Begriffe, zu denen die entsprechenden Wirklich-
keiten aus lauter einzelnen, individuell bestimmten Tat-
sachen bestehen — die der erste Teil des Satzes als
historisch unerklärbar anerkennt. So erscheinen die Einzel-
ereignisse als solche sozusagen nicht als Geschichte^ sie
werden es erst, indem sie unter Entwicklungsbegriffe ge-
bracht werden, die die „Variabilität" der Reihe kenntlich
machen — wie die räumliche Welt dadurch zustande
kommt, dafs die an sich raumlosen Sinneseindrücke eine
Synthese unter der Auffassungsform der Räumlichkeit er-
fahren. So gewinnen die singulären Tatsachen den Sinn,
der sie als Geschichte bezeichnen läfst. unter der besonderen
Kategorie der Variabilität, die keiner derselben für sich
allein einwohnt, sondern eine vom Auffassenden herbei-
gebrachte Vergleichung, Beziehung, Entwicklungseinheit ist.
Aber hier wie sonst setzt die Lehre die Bedeutung
ihrer prinzipiellen Methodik durch die Einseitigkeit des
Zieles herab, zu dem sie diese verengt. Jenes variable
Element, das allein Geschichte bildet, sei allein die Wirt-
schaft; alle übrigen seien an sich konstant und erlitten
Änderungen nur infolge der Einwirkung jener. An dieser
Behauptung tritt die Willkürlichkeit, mit der die wirtschaft-
liche Reihe allen anderen, ihr koordinierten historischen
gegenüber die Führerschaft usurpiert, in das hellste Licht.
Sie scheint mir deshalb nicht sowohl einer sachlichen,
als einer psychologischen Diskussion zu bedürfen, d. h. zu
ihrer Erklärung nur auf das nicht-theoretische Motiv hin-
zuweisen , das die geschichtsmaterialistische Theorie über-
haupt trägt. Es ist bei den bisherigen Vertretern des
historischen Materialismus doch die praktische sozialistische
Tendenz, derentwegen sie die psychologischen, meta-
physischen, methodischen Formen ihrer Geschichts-
betrachtung mit der Wirtschaft als Inhalt füllen. Und
zwar zunächst aus dem früher berührten Grunde: dafs
für eine soziale Bestrebung, die um die grofse Masse als
solche zentriert, das wirtschaftliche Interesse das ausschlag-
gebende sein mufs, weil kein anderes sich mit gleicher
Simmel, Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 11
— 162 —
Sicherheit in jedem Elemente derselben findet. Dies ist
einerseits der Grund, aus dem die Avirtschaftliche Reihe
dem Materialismus als die eigentlich variable erscheint.
Denn an der Konstanz, die der wirtschaftliche Faktor als
allgemeiner in der Menschenwelt besitzt, müssen sich die
Wandlungen seiner einzelnen Ausgestaltungen mit der
aufserordentlichsten Schärfe abheben. Vielleicht auf keinem
zweiten Interessengebiet zeigt sich eine so starke Spannung
zwischen der begrifflichen Gleichmäfsigkeit seines typischen
Vorkommens und der Mannigfaltigkeit seiner Formen und
Inhalte^). Andrerseits ist begreiflich, dafs die Orientierung
des Geschichtsbildes nach Willens- und Gefühlstendenzen
dann am intensivsten und sozusagen mit dem besten Ge-
wissen geschehen wird, wenn die letzteren sich ihrem Wesen
und Inhalt nach auf die Interessen der grofsen Anzahl
beziehen. Ein individueller bestimmtes Interesse erscheint
eher an unterschiedene, räumlich - zeitliche Umstände ge-
bunden ; wo es aber seine Bestimmtheit und Bedeutung
dadurch erhält, dafs es der Treffpunkt für die Interessen
der Masse überhaupt ist — da wird es sich leicht jenseits
aller Zeitlichkeit und Besonderheit stellen, in eine Höhe,
in der die Deutung der Vergangenheit und die Regulierung
der Zukunft nur noch als zwei Formungen oder Aspekte
derselben Wertsubstanz erscheinen. Die Individuen mögen
noch so verschieden sein — irgend ein wirtschaftliches
Interesse ist in jedem zu finden. Ein politisch-ethisches
Bestreben also, das die grofse Masse als solche zum Inhalt
hat, wird, wo es nicht etwa religiös ist, sich auf die
materiellen Werte richten. Das wirtschaftliche Interesse
ist der Vergangenheit und der Zukunft gemeinsam; deshalb
wird, wo eine praktisch-politische Tendenz der letzteren
und ihrer wirtschaftlichen Gestaltung gilt, um solcher Ein-
heit willen das gleiche Interesse auch die Theorie beherrschen,
1) Höchstens könnte hier noch das Gebiet der Beziehungen
zwischen den Geschlechtern eine Analogie bieten , auf dem gleich-
falls eine unübersehbare Mannigfaltigkeit psychologischer Kombi-
nationen sich auf einer durchgehenden generellen Gleichheit der
Grundlage erhebt. Allein die geschichtlich-greifbaren Formen, zu
denen jene Möglichkeiten von Verhältnissen kristallisiert sind, sind
an Zahl mit denen des wirtschaftlichen Lebens nicht zu vergleichen.
— 163 —
die der Vergangenheit gilt, wird für eine demokratisch-
sozialistische Gesinnung der wirtschaftliche Gesichtswinkel
der allein Geschichte -bildende sein. Die generelle Durch-
gängigkeit und Unaufhebbarkeit des materiellen Interesses,
bei aller Individualisiertheit der Individuen, ist der Punkt,
in dem das um „die Vielen" zentrierende praktische
Interesse sich mit dem ökonomischen Aufbau der Geschichte
gerade als dem einer Einheit und Gesamtheit begegnet.
Dieser Zusammenhang ist noch um eine Stufe zu ver-
tiefen. Die äufsere Absicht jenes Vielheits- Interesses ist
eine Egalisierung. So sehr der moderne Sozialismus die
mechanische Gleichmacherei ablehnt, so mufs doch das Aus-
schalten der unverdienten Vorteile und Zurücksetzungen durch
Geburt, Konjunkturen, Kapitalansammlung, Verschieden-
wertung des gleichen Arbeitsquantums usw. jedenfalls zur
erheblichsten Nivellierung der Lagen gegenüber dem jetzigen
Zustand führen. Diese Nivellierung bleibt, bei allen Vor-
behalten, ein Moment ersten Ranges innerhalb des Sozialismus,
schon als Agitationsmittel und als Ausdruck einer der
fundamentalsten Wertempfindungen der Menschen: immer
wird für gewisse Naturen die Gleichheit ein sich selbst
rechtfertigendes Ideal, ein absolutes Sollen darstellen —
ebenso wie andern die Distanzierung und Abstufung ein
letzter Wert ist, beides weder zu beweisen noch zu Avider-
legen, weil das eine oder das andere schlechthin zu wollen
eine Seinsqualität der Persönlichkeit ist. Und nun ist das
Entscheidende, dafs ein Nivellement vernünftigerweise über-
haupt nur auf dem ökonomischen Gebiete angestrebt werden
kann. Wo es sonst noch in Frage käme : als religiöse
und als politische Gleichheit, ist die eine nicht durch In-
stitutionen zu erreichen, die andere wegen der Notwendig-
keit der Führerschaft, selbst im sozialisiertesten Zustand
nicht herzustellen. Andere Gebiete: das ethische oder das
ästhetische, die Kraft und Vollkommenheit der Individuen,
die von rein persönlichen Chancen abhängigen Schicksale,
die Intelligenz und das Temperament — alle diese Gebiete
würden des Versuches, die persönlichen Differenziertheiten
zu nivellieren, von vornherein spotten. Nur innerhalb der
wirtschaftlichen Produktion und Konsumtion mag dies
denkbar sein : für erstere durch die Vergesellschaftung
11*
— 164 —
der Produktionsmittel und die Wertung aller Produkte
ausschliefslich nach dem Quantum der darauf verwandten
Arbeitszeit, für letztere durch den Beitritt der kommu-
nistischen Tendenz zu diesen. 80 sehr also der Sozialismus
seinem tiefsten Sinne nach mehr ist als ein ökonomisches
Problem, vielmehr eines, das den ganzen Menschen und nicht
nur einen sachlich-einzelnen Inhalt des Lebens angeht —
so mufs sich sein KivelHerungsmoment doch im Wesent-
lichen und Praktischen auf die materielle Lage beschränken.
Aus diesem Grunde neigt der praktische Sozialismus zu
einer materialistisch-ökonomischen Lebensanschauung. Für
ihn ist der Sinn der Geschichte, sich sozialistischen Zu-
ständen zuzuentwickeln, und darum ist ihm ihre Substanz,
dasjenige, was eigentlich Geschichte am Leben ist — nur
der Literessenkomplex , an dem die soziale Nivellierung
allein eine Chance und Ausdenkbarkeit findet: der wirt-
schaftliche. Damit offenbart sich, wie hoch der historische
Materialismus über allem rohen und blofs sensualistischen
Sinn des Materialismusbegriffes steht. Er ist vielmehr die
logische Ausgestaltung einer durchaus auf einen letzten und
höchsten Sinn gehenden Deutung der Geschichte; und so
radikal ist hier alles auf diesen Sinn gestellt, dafs er, durch
die Vermittlung des mit ihm durch die tatsächlichen Ver-
hältnisse solidarisch gewordenen Ökonomismus, allein ent-
scheidet, was überhaupt als „Geschichte" zu gelten hat.
Ebenso radikal ist freilich, auch von hier aus gesehen, die
Selbsttäuschung, in der sich der historische Matei'ialismus
für die realistische, von jedem nicht-objektiven Moment
schlechthin freie Geschichtsauffassung hält. Wenn man
hört: die materialistische Geschichtsbetrachtung führe not-
wendig auf den Sozialismus, als auf die sozusagen durch
sie ausrechenbare Zukunft der Gesellschaft — so ist dies
nur die Folge oder umgekehrte Spiegelung der Tatsache,
dafs der praktische Wille zum Sozialismus auf diese
Geschichtsbetrachtung führen mufs. Es ist die Souveränität
eines Wertgedankens, die auf Grund des dargelegten
Zusammenhanges entscheidet, was überhaupt Geschichte
heifsen soll; woraufhin denn begreiflich die Geschichte
nur auf die Realisierung eben jenes Wertes gehen kann. —
In einem gewissen Sinn freilich ist der historische
— 1(35 -
Materialismus ganz realistischen Wesens: indem er sich
nämlich als den absoluten Gegensatz zu aller „ideologischen"
Geschichtsbetrachtung behauptet — zu derjenigen, die be-
stimmte „Ideen" zu den verursachenden Kräften des Ge-
schehens macht, die Freiheit oder das Glück der Menschen,
die Veredlung der Individuen oder der Rasse, die religiösen
Ideale oder die Rationalisierung des Lebens, den dialektischen
Prozefs oder die sittliche Weltordnung. Für diesen Typus
der Geschichtsmetaphysik rollen die geschichtlichen Er-
eignisse ab wie die Bilder auf der rotierenden Walze
des Kinematographen. Die äufsere Kausalität ist nichts
anderes als der Zusammenhang in der Szenenfolge jener
Bilder, innerhalb dieser Folge scheint jedes Bild seinem
Inhalte nach durch das vorhergehende in seinem Auf-
treten bcAvirkt zu sein. Aber dieser Zusammenhang
besteht nur an der Oberfläche, nur für die Erscheinung,
das eigentlich Treibende ist die unsichtbare Walze, auf
die das Erscheinen jedes Bildes für sich zurückgeht —
eine Idee; sie lenkt die Wirklichkeit an anderen Zügeln
als an denen der Kausalität, die sozusagen ebenso im
absoluten Sinne kraftlos ist, wie jedes jener erscheinenden
Bilder unfähig, das nächste von sich aus wirklich zu er-
zeugen; sie ist das unbedingt Wirksame, für das alle
eventuellen Eigenkräfte der Einzelheiten blofse technische
Mittel oder Dokumentierungsarten wären. Von diesem Ver-
hältnis ist nun, nach dem historischen Materialismus, genau
das Gegenteil richtig. Hielten die Tatsachen wirklich einen
Gang inne, der einer jener Ideen entspricht, so wäre dies
eben jene rein äufsere Zusammenordnung von Szenen, deren
ideell durchgehender Inhalt in keiner Weise die Kraft be-
deutet, die jede einzelne und die Stelle ihres Hervortretens
bestimmt. Jene Illusion, die den Zusammenhang nach dem
begrifflichen Sinn mit den bewegenden Kräften verwechselt,
die Idee mit der Kausalität, will der historische Materialismus
durch die Enthüllung der unmittelbar wirksamen Ursachen
ersetzen; die Ideologie vertauscht die Wirkung mit der
Ursache und hält für die letztere, was nur die äufserste
Erscheinung des wahren Geschehens sein kann: wenn
z. B. die Geschichte wirklich die wachsende Realisierung
der Freiheit wäre, so wäre das nur der jeweilige Erfolg,
— lüO —
in dem die tatsächlichen Vorgänge gipfehi, oder der Begriff,
der diesen zusammentafst, während die Vorgänge selbst die
Wirkungen viel greifbarerer Kräfte sind.
Wenn dies nun wirklich manchen metaphysischen
Irrungen entgegentritt, und zwar besonders jenen verderb-
lichen , die die Darstellung von Tatsachenreihen als etwas
scheinbar selbst exaktes durchziehen — so hat auch hier
wieder das bedeutungsvolle Prinzip eine mifsverständliche
Ausfüllung gefunden. Dadurch, dafs der Idee als Entität,
als metaphysischer Energie die Wirksamkeit auf die Ge-
schichte abgesprochen ist, ist noch keineswegs ausgeschlossen,
dafs sie dieselbe als psychologisches Ereignis besäfse, und
folgt keineswegs, dafs die konkret wirksamen Bewegungs-
kräfte materialistisch-ökonomische sein müssen. Das Reich
Gottes mag als reales Endziel der Geschichte ein Phantasma
sein ; als religiöse Idee im Bewufstsein von Menschen kann
es darum doch äufserst reale Wirkungen geübt haben.
Dem Gegensatz : metaphysische Idee als Triebfeder der
Geschichte — singulär- natürliche Ursachen ihres singulär-
natürlichen Verlaufes, schiebt der historische Materialismus
den anderen unter: ideale Interessen als treibende Kräfte —
materielle Interessen als treibende Kräfte der Geschichte.
Die Beschränkung des entscheidenden und allein wirksamen
historischen Geschehens auf die Wirtschaft entspringt also
einer quaternio terminorum, dem Fehlschlufs, aus der prin-
zipiellen Beschränkung des historischen Verständnisses auf
empirisch konkrete Verursachungen sogleich die Beschrän-
kung dieser letzteren auf eine bestimmte einzelne Interessen-
provinz zu machen — nur weil das , was im ersten Fall
ausgeschlossen wird, mit dem, was im zweiten ausgeschlossen
wird, den Namen „Idee" teilt, der indes dort metaphysisch-
abstrakte, hier aber psychologisch-konkrete Bedeutung hat.
Bezeichnet dies das Recht und die Rechtsgrenzen des
historischen Materialismus in inhaltlicher Beziehung, so
stellt sich in methodischer ein verwandtes Verhältnis heraus.
Der erkenntnistheoretische Idealismus, den diese Blätter
vertreten, setzt sich gegen die Ideologie, wie sie der
Materialismus prinzipiell und vor der Einengung auf das
wirtschaftliche Motiv bekämpft, in keinen geringeren Gegen-
satz als dieser. Denn jene ist tatsächlich ein erkenntnis-
— 167 —
theoretisclier Realismus, ihr ist Geschichte als Wissenschaft
nicht eine besondere geistige Formung der Wirklichkeit
nach den Gestaltungskategorien unseres Erkennen s, sondern
eine Nachzeichnung des Geschehens, wie es wirklich ist —
nur dafs ihr dieses „Wirkliche" ein Metaphysisch-Geistiges
ist. Die Ideologie, für die die Ideen, wie sie sich adäquat
in unserem Denken spiegeln, die tatsächlichen Faktoren der
Geschichte sind, ist ein Materialismus, der sich nur in dem,
was er für den Inhalt der Geschichte hält, aber nicht in
dem methodischen Prinzip von dem Bilde unterscheidet, das
der historische Materialismus von sich selbst entwirft.
In Wirklichkeit aber ist dieser gar nicht in dem Mafse
naturalistisch, das er selbst vorgibt. Indem er die Geschichte
entschieden von dem Gesamtgeschehen des Lebens trennt;
indem er die Möglichkeit historischer Erklärung auf
die unter höherem Begriffe zusammenfafsbaren Ereignis-
komplexe beschränkt; indem er, von dem Wertgefühl für
die wirtschaftlichen Interessen her, aus den vielfach ver-
schlungenen Ereignisreihen die wirtschaftliche als die pri-
märe, die anderen gleichsam aus sicli entlassende bestimmt
— vollzieht er jene Organisierung und Stilisierung des Daseins,
deren dieses, gleichviel ob sie inhaltlich schon zureichend
und widerspruchslos ist, bedarf, um aus einem Chaos durch-
einanderwogender Elemente zu dem besonderen Gebilde der
Geschichte zu werden. Er ist eine Ideologie des Erkennens,
unbeschadet der Tatsache, ja, gerade auf sie gestützt, dafs
er die Ideologie des Geschehens zu beseitigen suchte. Er
sucht den Sinn, den die Geschichte haben mufs, um unseren,
auf einen Sinn des Daseins gerichteten Kategorien des Er-
kennens adäquat zu sein ; aber mangels einer prästabilierten
Harmonie kann sie ihn nur haben, indem jene Kategorien
den vorhistorischen Ereignisstoff selbst zur Geschichte formen.
Dafs aber der historische Materialismus zum Inhalte dieses
Sinnes der Geschichte das Materielle, in gewisser Bedeutung
Unidealste gewählt hat und noch dazu verkennt, dafs auch
dieses nur als psychischer Wert die Geschichte motivieren
kann — dies verhindert ihn, die Idee als Form der Ge-
schichte anzuerkennen ; er ist geneigt, auch für diese Form
einen Realismus zu proklamieren, den sein eigenes Verfahren
dementiert.
— 1G8 —
Im Überblicken der hier vorgelegten Gedankenreihen
liegt die Gefahr nahe, ihre zentrale Gesinnung für eine
skeptische zu halten. Von vornherein wurde „Geschichte"
auf das beschränkt, was unmittelbar überhaupt nicht zu
konstatieren ist, auf die seelischen Vorgänge. Statt dafs
aber diese Wesensgleichheit zwischen Subjekt und Objekt
der Historik zu ihrem realistischen Sich-Decken mit dem
Erkenntnisinhalte führte, zeigte sich, dafs das Erkennen
durchaus keine mechanische Parallelität mit dem Objekte
bedeutet; vielmehr ist es ein mannigfach vermittelter Pro -
zefs, der sehr mannigfache Verhältnisse zu seinem Gegen-
stand besitzt — ganz gleichgültig, ob dieser Gegenstand
selbst Geist ist, ja an dieser substantiellen Einheit mit ihm
erst die funktionelle Autonomie des Erkennens und seiner
Richtigkeit markierend. Und weiter sahen wir: die Typen,
die Begriffe, in die jede Historik das reale Geschehen
bannen mufs, die Synthesen der Reihen zu höheren Gesamt-
erscheinungen — alles dies baut ein Reich des Erkennens,
dessen Sonderart durch noch so genaue Kenntnis der Einzel-
heiten in ihrer Realität und Kausalität nicht zu ersetzen
wäre. Die Geschichte rückt in diesen unzähligen Problemen
von der unmittelbar gelebten oder gegebenen Wirklichkeit,
die wir als die Wirklichkeit schlechthin zu bezeichnen
pflegen, weit ab; aber dafs sie mit jenen diese nicht erreicht,
ist nicht ein Versagen ihrer Kraft, ein Nicht- Können, son-
dern ein Nicht- Wollen, eine ursprünglich andere Richtung,
ein Bau aus demselben Material wie die in ihren Einzel-
heiten zu ergreifende Wirklichkeit, aber nach anderen
Dimensionen und in anderem Stil. Endlich erschien die
ganze Organisation des Geschichtsbildes von Ideen und über-
theoretischen Interessen abhängig; den Sinn der Geschichte,
ohne den wir uns nicht zu dem Entwerfen jenes Bildes ver-
anlafst fühlten , verleihen ihr jene Voraussetzungen , die
sie von der „reinen Tatsache" qualitativ ebenso abscheiden,
wie die Notwendigkeit der Auswahl aus dem Komplex sach-
lich völlig koordinierter Ereignisse es quantitativ tut.
Dies für eine Resignation zu erklären, wäre nicht
sinniger, als wenn man die Kunst darüber anklagen wollte,
dafs sie die Wirklichkeit nicht erreichen könnte, während
in diesem Abstand gerade ihr ganzes Existenzrecht beruht;
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freilich nicht in dem Negativen des Nicht- Erreichens , son-
dern in dem positiven Aufbau, dessen Werte nach eigenen
Mafsstäben, aber durchaus nicht nach der Nähe oder Ferne
jenes Abstandes gemessen werden. Nur wenn man von der
Geschichte das für sie ganz Widerspruchsvolle fordert: zu
beschreiben, „wie es wirklich gewesen ist" — ein Anspruch,
der mit der Wahrheitsforderung durchaus nicht zu-
sammenfällt, weil er zu einer mechanischen Kongruenz
macht, was nur ein funktionelles Verhältnis ist — kann
die hier vertretene Auffassung als ein Skeptizismus er-
scheinen, durch dasselbe Mifsverständnis, das den Kantischen
Idealismus so erscheinen liefs. Vom transszendentalen Realis-
mus ausgehend, mufs man freilich im Skeptizismus münden,
weil jener dem Erkennen eine Aufgabe oktroyiert, die lösen
zu wollen seinem Wesen widerspricht ; sind aber die Gegen-
stände des Erkennens von vornherein durch die Formen
des Erkennens zustande gebracht, so ist von der Unerreich-
barkeit zwischen Subjekt und Objekt, die den Skeptizismus
begründet, nicht mehr die Rede. Dafs die Geschichte ein
Bau aus dem Stoff des Gegebenen ist, der seine Form aus-
schliefslich den Forderungen des Erkennens verdankt, kann
zu der skeptischen Klage: wir könnten die volle Realität
und Ganzheit des geschichtlichen Daseins nicht ergreifen —
nur so lange mifsbraucht werden, wie man die historische
Wahrheit mit der erlebten Wirklichkeit verwechselt, und
aus dieser das Ideal für jene gewinnen will, das doch nur
aus ihr selber erwachsen kann.
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Pierersche Hofbuchdruckerei Stephan Geib,.! &. Co. in Alteuburg.
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